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Language: German.
Title: „““Habecks Ministerium will LNG-Lieferungen aus Russland verhindern – Putin spricht von „grüner“ Agenda“““
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Source1: (https%3A%2F%2Fwww.berliner-zeitung.de%2Fpolitik-gesellschaft%2Fgeopolitik%2Fhabecks-ministerium-will-lng-lieferung-aus-russland-verhindern-putin-spricht-von-gruener-agenda-li.2271958%3Fwomort%3DWilhelmshaven): „““
Das Bundeswirtschaftsministerium soll die fünf LNG-Terminals in Deutschland aufgefordert haben, kein russisches Flüssigerdgas anzunehmen. Das berichtet die britische Financial Times, die sich auf ein Schreiben des Wirtschaftsministeriums beruft. Demnach sollte in den kommenden Tagen und Wochen russisches LNG ins schleswig-holsteinische Brunsbüttel geliefert werden.
Das von Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) geführte Ministerium weist in dem Zusammenhang die bundeseigene Deutsche Energy Terminal GmbH darauf hin, „keine Lieferung von russischem LNG anzunehmen“. Dies würde, so das BMWK, den eigentlichen Zweck der neu gebauten LNG-Terminals unterlaufen – nämlich Deutschland nach Beginn des Ukrainekrieges „unabhängig vom russischen Gas“ zu machen. Zuvor soll die Gesellschaft, die für den Betrieb der LNG-Terminals in Deutschland zuständig ist, dem Wirtschaftsministerium mitgeteilt haben, dass mehrere Schiffe aus Russland sich auf den Weg nach Norddeutschland gemacht hätten.
Kremlchef Wladimir Putin kritisierte schon auf dem Waldai-Forum, das vor einer Woche in Sotschi stattfand, eine „grüne Agenda“ in der Wirtschaftspolitik Deutschlands. Für eine große Volkswirtschaft wie Deutschland sei es unmöglich, betonte der russische Präsident, „allein mit neuen, ‚grünen Technologien‘ zu überleben“. Er monierte nicht nur den deutschen Verzicht auf russisches Gas, sondern auch die Haltung der vergangenen Bundesregierungen zur Atomenergie.
EU will ineffektive Russland-Sanktionen besser durchsetzen
Doch zu einer wirtschaftlichen Wiederannäherung wie zu Beginn der 2010er-Jahre wird es zwischen Russland und der EU erst mal nicht kommen. Im Gegenteil: Im EU-Parlament stimmten die Abgeordneten am Donnerstag über eine bessere Durchsetzung der europäischen Russland-Sanktionen ab. Dabei bereitet die EU ihr insgesamt 15. Sanktionspaket gegen Moskau vor – es zielt vor allem darauf ab, Hersteller zu sanktionieren, von denen gewisse Komponenten in russischen Waffen gefunden wurden.
„Wir müssen die Maßnahmen zur Umgehung von Sanktionen verstärken, weil Russland ohne importierte Teile, Chips und andere Komponenten keine Waffen produzieren kann“, sagte der Chefdiplomat der EU, Josep Borrell, im Gespräch mit dem ukrainischen Außenminister Andrij Sybiha. „Wir sollten unsere Sanktionen nutzen, um Russlands industrielle Kapazitäten von Importen aus anderen Ländern zu isolieren“, erklärte Borrell, der demnächst von der ehemaligen estnischen Premierministerin Kaja Kallas als EU-Außenbeauftragter abgelöst werden soll.
Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, der vor fast 1000 Tagen im Februar 2022 begann, beschloss die EU bis dato 14 Sanktionspakete gegen Russland. Sie zielen darauf ab, die Wirtschaftsleistung im geografisch größten Land der Welt zu schwächen und die Fähigkeiten, den Krieg in der Ukraine fortsetzen zu können, zu mindern. Allerdings gelingt es Russland mithilfe seiner Verbündeten sowie seiner geografischen Nachbarn, einen Großteil der Sanktionen zu umgehen. Wirtschaftsexperten bilanzieren, dass die restriktiven Maßnahmen in ihrer Wirkung ineffektiv seien.
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Source 2: (https://www.bundesregierung.de/service/opendata/breg-de/reden-1584988.xml): „““
Arbeiten für die Zukunft
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bk-rede-betriebsraete-telekom-ag-2319690
Thu, 07 Nov 2024 09:00:00 +0100
Bundeskanzler Scholz vor Beitriebsräten
Berlin
Statement BK
Statement-BK
Bei seiner Rede vor den Betriebsräten der Telekom AG–Aktiengesellschaft sprach Bundeskanzler Olaf Scholz über die Herausforderungen, vor denen Deutschland stand und weiterhin steht, allen voran durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Neben der plötzlichen Herausforderung für die Energieversorgung Deutschlands stellt der Krieg mitten in Europa außerdem die europäische Friedens- und Sicherheitspolitik infrage. Die Bewältigung dieser Probleme ließe sich nicht nebenbei „ausschwitzen“, sagte der Kanzler. Sie müssen über den normalen Haushalt hinaus finanziert werden. Das Wichtigste in Kürze: Deutschland hat die bestehende Friedensordnung in der Vergangenheit viel Wohlstand ermöglicht – deshalb bleibt die Unterstützung der Ukraine ein wichtiger Faktor. Diese Unterstützung dürfe aber nicht dazu führen, dass die soziale, innere, äußere und wirtschaftliche Sicherheit gegeneinander ausgespielt werden. „Das ist eine große, zeitlich vorübergehende Herausforderung, vor der wir stehen, bei der aber klar ist, dass wir das außerhalb des normalen Haushalts finanzieren müssen“, erklärt der Kanzler. Damit Deutschland technologisch führend sei, müsse in Forschung investiert und die Möglichkeiten von KI–künstliche Intelligenz genutzt werden. „Wir wollen die Forschung hier haben. Wir wollen auch die Anwendung hier haben. Wir wollen, dass es hier neue Unternehmen gibt, die damit entstehen“, forderte Scholz. Die Bundesregierung sorge für entsprechende Rahmenbedingungen, zum Beispiel durch Bürokratieabbau. Deutschlands Stabilität beruhe auch darauf, dass es ein erfolgreicher Sozialstaat sei. Deshalb stünden Rentenkürzungen nicht zur Debatte. Die Menschen in Deutschland müssen sich auf die Rente verlassen können – und auch darauf, nach 45 Jahren, zwei Jahre früher in Rente gehen zu können. Dies sei kein Privileg, sagte der Kanzler. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Guten Morgen! Moin hätte ich an anderer Stelle gesagt. Ein Teil versteht das. Ich freue mich, dass wir hier miteinander sprechen können, in turbulenten Zeiten, das wurde schon gesagt. Aber mir war es unbedingt wichtig, dass wir hier miteinander über die Zeitläufte, über die Herausforderungen für das Unternehmen, für die Branche, für Arbeitsplätze, Wirtschaft und all das, was uns umtreibt, diskutieren können. Ja, es sind schon ganz besondere Zeiten. Wir haben es eben gehört, und das kann man nur unterstreichen. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat für uns alle viel verändert. Er hat dazu geführt, dass Geschäfte nicht mehr möglich sind, weil die Tätigkeit von Unternehmen dort unterbrochen werden musste. Wir haben gesehen, dass es plötzlich eine riesige Herausforderung für die Energieversorgung Deutschlands ist, weil viele gedacht haben: Von einem Tag auf den anderen 50 Prozent des Gases zu ersetzen, wie soll das denn gehen? – Wir haben eine unglaubliche Energiepreis- und dann Preisinflation erlebt, und ganz schön viele haben gedacht, das werde dauerhaft eine erhebliche Wirtschaftskrise für unser Land mit sich führen. Probleme haben wir, aber die Wirtschaftskrise, die damals alle befürchtet haben, ist nicht gekommen, weil wir uns zusammengerissen und weil wir dafür gesorgt haben, dass wir unsere Energieversorgung auf andere Weise sichern können, mit Gas aus anderen Ländern und mit neuen Terminals, die wir schnell gebaut haben. Aber es bleibt eine unglaubliche Herausforderung. Der Krieg selber ist es auch. Ich denke, es gibt hier wahrscheinlich niemanden in diesem Raum, der nicht abends besorgt in den Fernseher oder in die Social-Media-Nachrichten schaut und verfolgt, was alles tatsächlich geschieht. Ein Krieg in unserer Nachbarschaft hier in Europa! Das größte Land Europas, Russland, hat das zweitgrößte Land, was die Fläche betrifft, die Ukraine, überfallen, um sich einen erheblichen Teil oder die ganze Ukraine einzuverleiben. Das sind Dinge, von denen wir gehofft haben, dass wir sie nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen. Aber jetzt ist es plötzlich Realität geworden, dass einfach deshalb, weil man die Macht hat, ein Krieg geführt wird und unglaublich viele Menschenleben riskiert werden, damit man später, wenn man tot ist, in den Geschichtsbüchern nachlesen kann, man habe das eigene Land um ein paar Kilometer erweitert. Das bedroht den Frieden in Europa, und das dürfen wir nicht einfach so geschehen lassen. Das will ich an dieser Stelle gern ergänzend sagen: Es stellt auch die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung infrage, auf die wir uns in unglaublich vielen Verträgen und immer wieder neu verständigt haben, dass nämlich Grenzen nicht mehr mit Gewalt verschoben werden. Das ist etwas Bedeutendes. Denn es gibt ganz schön viele Politiker in Europa, die als Präsident oder Regierungschef, wenn sie gerade nichts zu tun haben, in Geschichtsbüchern blättern und schauen könnten, wo denn das, was jetzt ihr Land ist, früher einmal war. Wenn das alle tun und plötzlich nachmittags und abends schauen, was alles darinsteht, dann haben wir mit den falschen Konsequenzen daraus unglaublich viele Kriege. Deshalb ist es so wichtig, dass diese Verständigung gegolten hat. Deshalb war es auch so wichtig, dass Bundeskanzler Willy Brandt eines Tages gesagt hat: Ich setze mich dafür ein, dass wir, um Frieden und Sicherheit möglich zu machen, einen Vertrag unterschreiben, in dem die Ostgrenze Deutschlands an der Oder endgültig festgelegt wird. – Das war seine Leistung. Darüber hat es sogar ein Misstrauensvotum im Bundestag und eine Abstimmung der Bürgerinnen und Bürger gegeben. Aber Deutschland hat gesagt: Nie wieder soll ein deutscher Politiker in Büchern blättern und dann sagen: Da, die Grenze müsste verschoben werden. – Das muss das Prinzip für ganz Europa bleiben und sein. Wir haben deswegen und auch aus anderen Gründen wirtschaftliche Probleme und wirtschaftliche Herausforderungen, die wir bewältigen müssen. Das ist klar, und dazu will ich gleich noch etwas sagen. Aber natürlich ist es sehr aufwendig, ein Land dabei zu unterstützen, sich gegen einen solchen Angriff zu verteidigen. Das tun wir, als zweitgrößter Unterstützer in der Welt nach den USA-Vereinigte Staaten von Amerika, in Europa als mit weitem Abstand größter Unterstützer. Allein die Waffenhilfe, die militärische Hilfe, die Deutschland für die Ukraine geleistet hat – und das ist ja nicht alles –, hat sich bisher schon auf fast 30 Milliarden Euro belaufen. Wenn man den Aufwand mit berücksichtigt, den wir haben, weil wir richtigerweise denen, die vor dem Bombenterror aus der Ukraine geflohen sind, hier Aufnahmeschutz gegeben haben, dann geben wir 12 Milliarden Euro pro Jahr aus, um diese Unterstützung möglich zu machen. Das ist viel Geld. Einige sagen, das sei nicht viel Geld. Ich sage: Das ist sehr viel Geld. – Es gibt Bundesländer in Deutschland, die einen geringeren Haushalt haben. Es gibt Ministerien, sehr viele Ministerien der Bundesregierung, die einen kleineren Haushalt haben als diese Summe. Wenn man jetzt zu der Überzeugung kommt, das müssten wir einfach einmal nebenbei ausschwitzen, dann zündet man das Land an. Das will ich ausdrücklich an dieser Stelle sagen. Dann zündet man das Land an. Das bedeutet, dass man dann Entscheidungen treffen muss, dass wir Straßen nicht ausbauen, dass Schulen nicht weiterentwickelt werden, dass wir nicht in die Forschung investieren, dass wir für Wirtschaft und Arbeitsplätze nichts tun können, all die Dinge, die herausfordernd sind, weil wir sagen: Wir wollen das jetzt auf Kosten von Entscheidungen in diesem Land machen. – Die Vorschläge, wie das gehen soll, sind dann auch breit: bei der Rente kürzen, irgendwie bei bestimmten sozialen Sicherungssystemen, bei Gesundheit und Pflege irgendwie zugreifen, um zu sagen: Da holen wir etwas heraus, damit wir das tun können, was unsere Pflicht ist, nämlich Unterstützung zu leisten. Von den Ländern, die die Ukraine unterstützen, gibt es kaum eines, das den Weg geht, all das aus dem laufenden Haushalt finanzieren zu wollen. Ich sage: Deutschland hat das zwar bisher so getan, weil wir alles ausgekratzt haben, was man irgendwo in den Ecken unseres Haushaltes finden konnte. Nur ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem die Entscheidung lautet: Entweder wir spielen innere Sicherheit, äußere Sicherheit, soziale Sicherheit und wirtschaftliche Sicherheit gegeneinander aus und sorgen dafür, dass der Zusammenhalt und das Miteinander in Deutschland nicht mehr funktionieren, oder wir sagen: Das ist eine große, zeitlich vorübergehende Herausforderung, vor der wir stehen, bei der aber klar ist, dass wir das außerhalb des normalen Haushalts finanzieren müssen. Das können wir nicht auf Kosten von Zukunft und Zusammenhalt in Deutschland tun. – Das ist mein Standpunkt. Ja, und das ist auch der Grund – es schauen ja alle Fernsehen und lesen Nachrichten auf Social Media –, warum ich den Bundesminister der Finanzen heute entlassen werde. Ich will gern zugeben, dass ich mir das nicht leicht gemacht habe. Ich zähle zu den Leuten, die sich nicht vor der Verantwortung drücken und sich auch nicht vor dem drücken, was für die meisten das Allerschwerste ist, nämlich Kompromisse zu machen. Es gibt Leute, die sind großartig und sagen immer: Nach vorn, auf die Barrikade, alles nach mir! – Aber die Welt ist nicht so, dass sich alles nur nach einem oder zwei richten würde, sondern wir müssen miteinander auskommen, wir müssen Kompromisse machen. In der Demokratie ist es auch völlig richtig, dass es unterschiedliche Ansichten gibt, die man austragen und mit denen man Lösungen finden muss. Aber die Grundlagen für das, was wir tun, müssen eben auch stimmen. Deshalb finde ich diese Entscheidung richtig – das will ich sagen –, auch nachdem ich sie gestern getroffen habe, und werde das tun, was jetzt für unser Land notwendig ist. Die Regierung tut ihre Arbeit – das wird die nächsten Wochen und Monate so sein –, und die Bürgerinnen und Bürger werden bald die Gelegenheit haben, neu zu entscheiden, wie es weitergehen soll. Das ist ihr gutes Recht. Ich werde deshalb Anfang des nächsten Jahres im Bundestag die Vertrauensfrage stellen und dann am Ende die, um die es wirklich geht, nämlich die Bürgerinnen und Bürger, bitten, zu sagen, wie es in Deutschland weitergehen soll. Ich komme zu den Themen von Wirtschaft und Arbeit, die ich schon angesprochen habe. Ja, das ist eine große Herausforderung – alle wissen das – wegen des Krieges und vieler weiterer Kriege, übrigens auch wegen immer mehr zunehmenden Protektionismus, mit dem wir zu kämpfen haben. Das ist eine unglaubliche Herausforderung, übrigens eine Herausforderung, vor der Deutschland viel mehr steht als alle anderen Länder. Denn wenn man – und manche aus anderen Ländern tun das ja gegenwärtig mit Häme – das deutsche Wirtschaftsmodell beschreiben will, dann muss man sagen: Wir sind die am dichtesten mit der Welt verflochtene Volkswirtschaft der Welt. Es gibt auch noch andere, die ganz viele Güter und Dienstleistungen exportieren, aber es gibt kaum Länder, die so viel exportieren und importieren, wie Deutschland es tut, wenn man das zusammen betrachtet. – Das betrifft fast jedes Produkt, auch viele Dienstleistungen, die wir haben. Auch in diesem Konzern sind überall in der Welt Leute mit Softwareentwicklung und mit anderen Sachen beschäftigt, die auch dazugehören und Teil einer Entscheidung sind, die lautet: Deutschland ist mit der ganzen Welt verbunden, mit Investitionen in anderen Ländern, mit Produkten und Dienstleistungen, die man aus anderen Ländern bekommt, mit Produkten und Dienstleistungen, die wir in andere Länder verkaufen. Damit sind wir ziemlich gut gefahren – das muss man dazusagen – und haben viel Wohlstand für unser Land ermöglicht und in anderen Ländern mitgeschaffen. Wenn jetzt eine Welt beginnen sollte, in der sich alle sich in Zonen aufteilen, in der politische Lager zwischen Ländern geknüpft werden und alles gewissermaßen nicht mehr in der Weise funktioniert, dann werden wir das sicherlich spüren. Das muss man ganz klar sagen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir das tun, was in unserer Macht, was in unserer Hand liegt, nämlich dafür zu sorgen, dass wir deshalb auch weiterhin gut durch die Zukunft kommen, weil wir technologisch vorn dabei sind, weil wir technologisch führend sind. Es ist doch etwas Besonderes, was du gesagt hast. Wir sind mit unseren 84 Millionen Einwohnern die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Davor ist China mit über einer Milliarde Einwohnern, und davor sind noch die USA–Vereinigte Staaten von Amerika mit ein paar hundert Millionen Einwohnern, nicht ganz so viele wie in der EU–Europäische Union, aber wirtschaftlich gleich stark. Da ist dann Deutschland Nummer drei oder vier, je nachdem, wie das mit den Wechselkursen zwischen Euro und Yen gerade ist. Ich finde, es ist ganz, ganz wichtig, dass man sich klar macht, dass das etwas Besonderes ist und dass wir, wenn wir vorn dabei bleiben wollen, das nur hinbekommen können, indem wir das mit modernsten Technologien machen, die in unserem Land auch eine Chance haben. Das ist für mich übrigens ein guter Grund dafür, dass sich die Tagung hier mit künstlicher Intelligenz beschäftigt. Denn – ich will den Tagungsergebnissen und den Diskussionen, die geführt werden, nicht vorgreifen – es gibt ja in Wahrheit eine klare Antwort, die auch dem deutschen Wirtschaftsmodell entspricht. Wir nutzen sie. Wir wollen die Forschung hier haben. Wir wollen auch die Anwendung hier haben. Wir wollen, dass es hier neue Unternehmen gibt, die damit entstehen. Gleichzeitig wollen wir natürlich auch, dass kein Missbrauch mit den Möglichkeiten getrieben wird. Das ist, denke ich, eine Haltung, die man haben kann. Aber das bedeutet eben nicht, sich davor zu verschließen, sondern es bedeutet, die Möglichkeiten zu nutzen und die Risiken zu begrenzen, indem man sich genau auskennt und das Notwendige dazu tut. Deshalb finde ich, das ist ein gutes Thema für diese Tagung. Es ist eine der Zukunftsfragen unserer Volkswirtschaft und der ganzen Welt. Das gilt auch für viele, viele andere Fragen, die uns miteinander umtreiben: Quantencomputer, Robotik, was alles an Technologien da ist, auch das, was wir mit analytischer Biologie verbinden. – Das hängt mit den anderen Dingen zusammen, weil wir plötzlich Dinge in kürzester Zeit ausrechnen können, für die andere vorher 50 Jahre an Rechenarbeiten und -operationen veranschlagen mussten. Das geht jetzt manchmal in Minuten und Sekunden. Das ist das, was jetzt für unsere Zukunft wichtig ist, dass wir einen hohen Aufwand für Forschung und Entwicklung treiben, dass wir dafür sorgen, dass wir eine gute Infrastruktur haben und dass wir das in allen Feldern tun, die für uns von Bedeutung sind. Ein Themenfeld hat natürlich auch mit diesem Unternehmen und seinen Wettbewerbern zu tun. Da besteht – das will ich sagen – eine große Chance für Deutschland. Wir haben es mit dem, was man Hyperscaler nennt, ja nicht so gut hinbekommen, auch nicht die privatwirtschaftlich investierenden Unternehmen. Es gibt jetzt viele andere Wettbewerber, die dabei sehr erfolgreich sind und mittlerweile auch in Deutschland viel investieren. Aber das Telekommunikationsnetz kann sehr wohl das sein, wo wir überholen und bei dem wir sehr gut sind, weil wir eine gute Infrastruktur, ein erstklassiges Angebot und auch die Dinge entwickeln, die damit möglich sind, in den verschiedensten Dimensionen. Das will ich gern möglich machen, indem wir sagen: Unsere Angebote sollen in der ganzen Welt spitze sein. Es darf nirgendwo besser sein, damit die Unternehmen und die Bürgerinnen und Bürger die neuen Möglichkeiten für Glasfaserkabel, für 5G, für all das, was eine Rolle spielt, nutzen können. Wenn wir das tun, dann wird es auch Anwendungen geben, die zum Beispiel die Unternehmen tatsächlich Stück für Stück nutzen. Das geht dann ganz plötzlich, übrigens wie auch bei anderen Themen, die für Modernität wichtig sind, wie zum Beispiel der Elektrifizierung der Mobilität. Ich habe mich mit vielen immer herumgestritten und gesagt: Das geht ganz anders zu, als ihr denkt, wenn es zum Beispiel um Ladeinfrastruktur geht. Jahrelang hat man zu viele Ladesäulen für zu wenige Elektrofahrzeuge, und plötzlich hat man in einem Jahr für die vielen, die neu dazugekommen sind, viel zu wenige, weil man gedacht hat, das gehe Stück für Stück voran. In Wahrheit gibt es Entwicklungen, die ganz langsam gehen, aber dann brechen sie durch, und dann muss man mit der Infrastruktur und den Möglichkeiten, die wir haben, mithalten können. Das ist auch in dem Feld, das für dieses Unternehmen eine Rolle spielt, ganz zentral, dass wir nämlich genügend investieren und mithalten können. Was können wir als Staat tun? – Wir können eine Landschaft schaffen, in der Forschung eine große Rolle spielt, ein Umfeld, in dem wir dafür sorgen, dass die modernste Technologie auch gewollt ist, und selbstverständlich auch die Rahmenbedingungen dafür, dass investiert werden kann. Kabel müssen ja verlegt werden; Mobilfunkmasten müssen gebaut werden. Irgendwer muss sie errichten. Das ist ganz praktische, harte Arbeit, die geleistet werden muss. Wenn es dann mit dem Errichten schnell geht, aber lange dauert mit der Genehmigung, dann hat man so seine Probleme. Deshalb ist das eine der ganz großen Sachen, die wir als Durchbruch in Deutschland hinbekommen müssen. Wir müssen dafür sorgen, dass die über Jahrzehnte in Europa, in Deutschland, in den 16 Ländern, in den 401 Landkreisen und kreisfreien Städten und den 11 400 Gemeinden gewachsenen Vorschriften, Bedenken und Regeln so gestrafft werden, dass die Dinge wieder schnell gehen. Es dauert einfach zu lange. Dazu haben wir ziemlich viele Gesetze gemacht. Es kommen noch ein paar. Ich könnte viele große Abenteuergeschichten darüber erzählen ‑ das werde ich jetzt nicht tun ‑, mit wem ich wie und wie viele Stunden verhandelt habe und um welche Ecke wir gebogen sind, damit es jetzt geht, damit der Mobilfunkmast schneller kommt. Aber eine Sache will ich gern sagen. Da brauchen wir noch einen großen Mentalitätswechsel in Deutschland. Den können wir nicht verordnen, um den können wir uns nur gemeinsam bemühen. Mein Eindruck ist: Mitte der 80er-Jahre hätte der Mitarbeiter der Unteren Naturschutzbehörde, wenn ein Mobilfunkmast gekommen wäre ‑ damals waren es noch nicht so viele ,‑ den Investor angerufen und gesagt: Komm vorbei! ‑ Dann hätten sie sich ins Auto gesetzt, wären dahin gefahren, wo er stehen soll, und dann hätte der eine gesagt: „Ich möchte ihn da bauen“, und der andere hätte gesagt: Geht es nicht da? ‑ Übrigens wäre das auch heute noch ein völlig korrektes rechtliches Vorgehen, dass man das einfach schnell und zügig löst. Jetzt meinen alle, es müssten noch Gutachten über Sichtachsen, über Blumenbestand und verschiedene andere Dinge erstellt werden. Ich wünsche mir, dass wir nicht nur die Gesetze entschlacken, so dass schnell entschieden werden kann, sondern dass die Begeisterung für schnelle, pragmatische Entscheidungen auch überall wächst. Denn das können wir in kein Gesetz schreiben; so muss man sein. Ich will noch ein Thema ansprechen, das schon in meiner Eingangsbemerkung eine Rolle gespielt hat, das aus meiner Sicht aber auch unabhängig von den aktuellen Ereignissen wichtig ist. Ich finde, Deutschlands Stabilität hat etwas damit zu tun, dass wir ein erfolgreicher Sozialstaat sind. Helmut Schmidt hat das einmal gesagt: Neben der Demokratie ist das vielleicht die größte Errungenschaft, die sich die Deutschen erkämpft haben. Das ist ja keine karitative Veranstaltung, wie einige immer meinen. Das ist ja keine Art erweiterter Suppenküche. Ich will das einmal für das Thema der Rente ausführen. Das ist der wichtigste Vermögenswert, den die meisten Bürgerinnen und Bürger haben. Wer jetzt mit 17 die Schule verlässt, hat fünf Jahrzehnte Arbeit vor sich, in denen er oder sie Beiträge zahlt. Dann hofft man doch die ganze Zeit, diese 50 Jahre, dass das etwas ist, auf das man sich verlassen kann, dass das Renteneintrittsalter nicht immer weiter steigt, dass es ein stabiles Niveau gibt. Das will ich gern sagen: Es sind geschützte Werte, die auch das Grundgesetz schützt. Ich bin deshalb dagegen, dass jedes Mal, wenn jemand sich als Reformpolitiker profilieren will, er sagt: Als erstes kürzen wir bei der Rente. – Das haben die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes nicht verdient. Übrigens gibt es ja noch ein kleines Detail. Das muss ich hier anekdotisch noch loswerden, weil es mich so umtreibt und, ehrlich gesagt, auch empört. Es gibt die Möglichkeit, zwei Jahre früher in Rente zu gehen als das gesetzliche Rentenregelalter, wenn man schon 45 Jahre gearbeitet hat. Das wird immer „Rente mit 63“ genannt. Da sind wir gar nicht mehr; das Regelalter liegt ja schon bei 66. Aber das wird in den Fachzeitschriften, in denen sich die Wirtschaftsprofessoren äußern, immer kritisiert. In den Talkshows der Republik wird gesagt, das sei ein Privileg, das müsse sofort abgeschafft werden. Daran stört mich eine Sache. Wenn man mit 17 die Schule verlässt – einige hier im Raum haben sie vielleicht auch mit 15 oder 16 verlassen und haben angefangen zu arbeiten –, dann kommt man auf 45 Jahre vor der Rente. Wenn man studiert hat, dann schafft man das bis 67 nicht. Nun sitzen in so einer Talkshow lauter Leute – ich selbst habe studiert; das ist also keine Diskriminierung von Leuten mit Hochschulstudium –, Professor Sowieso, Doktor Sowieso, Manager Sowieso, und wenn da gesagt wird, das sei ein Privileg, das abgeschafft werden müsse, dann reden lauter Leute, die niemals auf 45 Beitragsjahre kommen werden, darüber, dass Leute, die vor ihrem 20. Lebensjahr angefangen haben, dieses kleine Privileg nicht mehr haben sollen. Das ist falsch. Deshalb glaube ich, dass wir Impulse für wirtschaftliches Wachstum brauchen. Wir müssen etwas dafür tun, dass das mit den Bedingungen für unsere Unternehmen klappt. Wir müssen die Energiepreise in den Griff bekommen, insbesondere die, die dadurch steigen können, dass wir das große Stromnetz ausbauen. Das muss sein, aber es darf keine Kalkulationsbremse für Investitionen werden. Aber wir müssen auch dafür sorgen, dass unser Land zusammenhält. Nur wenn beides klappt, wirtschaftliches Wachstum, gute Forschung, gute Entwicklung, gute Infrastruktur und ein funktionierender sozialer Zusammenhalt, ist Deutschland auch das starke Land, das es sein will und in dessen Traditionen wir auch weiterhin für die Zukunft arbeiten wollen. Schönen Dank.
Deutschland habe auch in Zukunft mit unglaublichen Herausforderungen zu kämpfen. Die soziale, innere, äußere und wirtschaftliche Sicherheit dürfe dabei aber nicht gegeneinander ausgespielt werden – das sagte der Bundeskanzler in seiner Rede bei der Telekom AG–Aktiengesellschaft.
Zusammenhalt und Gemeinschaftsgefühl
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-sportempfang-spd-2318758
Mon, 04 Nov 2024 18:48:00 +0100
Rede des Kanzlers beim SPD-Sportempfang
Berlin
Beim Sportempfang der SPD-Bundestagsfraktion betonte Bundeskanzler Scholz, dass es das Gefühl des gemeinsamen Anpackens, des Stolzes und der Freude über das Erreichte auch über den Sport hinaus brauche. „Aber – und das sage ich hier auch sehr gern – kaum irgendwo wird dieses Gefühl besser transportiert als im Sport. Denn es stimmt, er verbindet, über alle sozialen, kulturellen und sprachlichen Unterschiede hinweg“, so Scholz. Der Kanzler sprach neben dem Spitzensport auch über den Breitensport – und dankte allen Personen, die sich in der Förderung und Unterstützung des Sportes einsetzen. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Liebe Sabine Poschmann, lieber Dirk Wiese, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Athletinnen und Athleten, sehr geehrte Damen und Herren, das zurückliegende Jahr war ein ganz besonderes Jahr für den Sport in Deutschland. So möchte ich zunächst einmal den großartigen Sportlerinnen und Sportlern Danke sagen, die uns in diesem Jahr begeistert und inspiriert haben und mit denen wir mitgefiebert und mitgelitten haben, bei den Olympischen und Paralympischen Spielen in Paris, bei der Fußball EM–Europameisterschaft, aber auch im Wintersport, bei der Handball-EM–Europameisterschaft im Januar, bei internationalen Marathon- und Triathlon-Veranstaltungen, im Radsport, im Basketball. Ich könnte hier noch viel, viel mehr aufzählen. Allen Athletinnen und Athleten, die ihr Bestes gegeben haben, die unglaublich viel Arbeit und Leidenschaft in ihren Sport stecken, sage ich: Sie alle können stolz auf sich sein. Wir alle sind stolz auf Sie. Ich hatte das große Vergnügen, gleich mehrfach in Paris bei den Wettkämpfen dabei zu sein. Ich habe auch unsere Jungs bei der EM–Europameisterschaft im Stadion anfeuern können. Das waren tolle und spannende Spiele mit vollem Einsatz. Mindestens genauso wie die Leistung unserer Mannschaft hat mich der Teamgeist, die Fankultur und der Enthusiasmus überall im Land gefreut. Wir waren gute Gastgeber für eine solche Riesenveranstaltung. Danke allen, die dazu beigetragen haben, von den Sicherheitskräften bis zu den vielen, vielen freiwilligen Helferinnen und Helfern! Ich habe schon im Sommer ein paar Mal erwähnt, wie toll ich Julian Nagelsmanns Botschaft nach dem Ausscheiden aus dem Turnier fand. Trotz Trauer und Enttäuschung, die wir in dem Moment alle gefühlt haben, hat er dazu aufgerufen, uns immer wieder bewusst zu machen, in welch schönem Land wir leben und welche Möglichkeiten wir haben, wenn wir zusammenhalten, wenn wir nicht alles schwarzmalen und wenn wir uns gegenseitig den Erfolg gönnen. Während ich das hier noch einmal in Erinnerung rufe, frage ich mich, woran mich das gerade erinnert. Dieses Gefühl des gemeinsamen Anpackens, des Stolzes und der Freude über das gemeinsam Erreichte brauchen wir auch über den Sport hinaus. Aber – und das sage ich hier auch sehr gern – kaum irgendwo wird dieses Gefühl besser transportiert als im Sport. Denn es stimmt, er verbindet, über alle sozialen, kulturellen und sprachlichen Unterschiede hinweg. Was von diesem Sommer auch bleibt – das gilt nicht nur für den Fußball, sondern für den Hochleistungsbereich aller Sportarten: Der internationale Wettbewerb ist hart. Die Konkurrenz ist stark. Klar ist deshalb: Spitzensport braucht Spitzenbedingungen, und das kostet natürlich auch Geld. Deswegen sieht der Haushaltsentwurf für das kommende Jahr einen Aufwuchs der Sportförderung vor, immerhin um 50 Millionen Euro auf dann 350 Millionen Euro, und das trotz bekanntermaßen geringer Spielräume im Haushalt, die uns auch gerade wieder beschäftigen. Das ist ein starkes Bekenntnis zum Spitzensport in Deutschland. Damit verbindet sich aber zugleich auch der Anspruch, das Geld so einsetzen, dass damit noch mehr tolle Leistungen möglich werden. Nicht erst seit den Spielen in Paris ist doch offensichtlich, dass Länder wie Frankreich, die Niederlande oder Großbritannien bei der Förderung des Spitzensports einiges besser hinbekommen, ganz unabhängig von den individuellen Spitzenleistungen deutscher Sportlerinnen und Sportler. Ich denke, ich spreche für uns alle, wenn ich sage: Wir wollen und wir können dazu aufschließen. Denn wir haben Sportlerinnen und Sportler die weltweit absolute Spitze sind, und noch mehr, die Weltspitze werden können. Natürlich wollen wir alle uns miteinander freuen, wenn in Mailand und Cortina d’Ampezzo, in Los Angeles oder bei den anderen Großwettwerben der kommenden Jahre noch häufiger deutsche Sportlerinnen und Sportler auf dem Siegertreppchen stehen. Deswegen werden wir in dieser Woche im Kabinett ein Gesetz zur Sportförderung auf den Weg zu bringen, das erste überhaupt in Deutschland. Davon wurde hier schon gesprochen. Danke auch der Innenministerin für ihren unermüdlichen Einsatz, uns alle zu überzeugen! Danke auch für die gute Kooperation mit den Sportverbänden! Denn das geht ja nur dann, wenn alle es auch tatsächlich toll finden und es nicht nur so angekündigt wird. Insofern ist das wirklich ein guter Fortschritt. Damit stellen wir die Unterstützung von Spitzensport in Deutschland auf eine transparente, aktuelle und auch verlässliche Grundlage. Der DOSB und alle anderen Verantwortlichen waren in die Erarbeitung dieses Gesetzes eng eingebunden. Wir haben uns angeschaut, was in anderen Ländern gut funktioniert. Eine der Lehren ist: Wir brauchen eine unabhängige Einrichtung, die nach sportfachlichen Kriterien und unbürokratisch entscheidet, wie Fördermittel vergeben werden. Eine solche Sportagentur ist im Sinne der Athletinnen und Athleten. Sie ist im Sinne von Trainerinnen und Trainern und auch im Sinne der Zuschauerinnen und Fans, die mitfiebern und die auf möglichst gute Platzierungen hoffen. Meine Damen und Herren, welche größere Inspiration für solche Erfolge könnte es geben, als die Aussicht auf Olympische und Paralympische Spiele bei uns in Deutschland? München 1972, das liegt lange zurück, zu lange. Damals war Deutschland noch geteilt. Damals war über die Hälfte derjenigen, die heute in Deutschland leben, noch nicht einmal geboren. Damals gab es noch keine Paralympischen Spiele am selben Ort. Deshalb: Ja, es wird Zeit! Seit München 1972 gab es immer wieder Anläufe, Olympia zu uns zu holen. Beim nächsten Mal, finde ich, sollte es klappen. Deshalb müssen wir einiges anders und, ja, auch besser machen als bei früheren Bewerbungen. Ich weiß übrigens, wovon ich rede. Ich habe auch einmal versucht, eine voranzubringen. Wir haben nun zum Beispiel erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik einen Kabinettbeschluss gefasst, mit dem wir eine solche Bewerbung unterstützen, damit die Botschaft, dass die Politik hinter Olympia in Deutschland steht, von Anfang an klar ist. Nun ist der DOSB am Zug, über den Austragungsort und ein gutes Konzept zu entscheiden. Wir unterstützen das nach Kräften. Im Jahr 2040 feiert Deutschland den 50 Jahrestag seiner Wiedervereinigung. Einen viel schöneren Anlass für Spiele in Deutschland kann es doch eigentlich gar nicht geben. Jetzt habe ich viel über den Spitzensport gesprochen, auch deshalb, weil nur dieser in der Zuständigkeit des Bundes liegt. Aber der Spitzensport wäre nichts ohne den Breitensport. Jede Olympiasiegerin, jeder Basketballweltmeister hat irgendwann einmal im Verein um die Ecke angefangen, dort, wo ehrenamtliche Trainerinnen und Coaches bei Wind und Wetter am Spielfeldrand stehen, wo der Zeugwart liebevoll die Sportgeräte pflegt und die Kabine abschließt, wenn alle anderen schon weg sind, wo die Trikots von der lokalen Sparkasse oder dem Versicherungsbüro an der Ecke gesponsert werden, wo das ganze Dorf oder die ganze Stadt den Aufstieg feiert, wo man sich aber auch nach einer Niederlage gegenseitig tröstet. Das ist das A und O des Sports in Deutschland. Dieser Zusammenhalt, dieses Gemeinschaftsgefühl macht ihn so wertvoll. Deshalb danke ich allen Bürgerinnen und Bürgern, die sich in der Förderung und Unterstützung des Sports einsetzen, ob als Beruf oder ehrenamtlich, im Spitzensport oder im Freizeitverein, im Nachwuchs oder bei den Senioren, als Sponsor, Zeugwart oder indem sie Brötchen für die Jugendmannschaft schmieren. Sie alle verdienen größte Anerkennung. Sie alle vollbringen jeden Tag Höchstleistungen für den Zusammenhalt unseres Landes. Danke! Jetzt wünsche ich uns noch einen schönen, gemeinsamen Abend. Schönen Dank fürs Zuhören! Schönen Dank fürs Hiersein! Ich denke, es ist wichtig, dass wir den Sport auch auf diese Weise feiern.
Sport verbindet über alle sozialen, kulturellen und sprachlichen Unterschiede hinweg. Das betonte Bundeskanzler Olaf Scholz beim Sportempfang der SPD-Bundestagsfraktion. Und er dankte allen, die sich in der Förderung und Unterstützung des Sportes einsetzen.
Mehr Dynamik bei Arbeit und Beschäftigung
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-kanzler-bda-2316922
Tue, 22 Oct 2024 00:00:00 +0200
Bundeskanzler beim BDA-Arbeitgebertag
Statement BK
Statement-BK
Inflation, steigende Zinsen, geopolitische Konflikte, belastete Lieferketten – das alles hat Deutschland als industriell geprägtes und exportorientiertes Land stärker herausgefordert als andere, so Kanzler Scholz in seiner Rede beim BDA–Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände-Arbeitgebertag. Das Ergebnis: Die Konjunkur stagniert. Jetzt brauche es wieder mehr Wachstum. Dafür hat die Bundesregierung mit der Wachstumsinitiative ein umfassendes Paket von Maßnahmen beschlossen, das an den entscheidenden Wachstumsfaktoren ansetzt: Abbau überflüssiger Bürokratie, Stärkung des Finanzstandorts, Investitionsanreize und ein bezahlbares, sicheres und nachhaltiges Energieangebot. Das Wichtigste in Kürze: Pakt für Industrie und Arbeitsplätze: Der Kanzler kündigte für diesen Monat einen „Pakt für Industrie und Arbeitsplätze“ an. „Klar ist,“ so der Kanzler, „was wir dort gemeinsam verhandeln, das muss dann auch in die Tat umgesetzt werden. Das ist mein Versprechen an die Industrie und an die Millionen Beschäftigten dort.“ Investitionen: Nötig sind Investitionen in Digitalisierung, in KI–Künstliche Intelligenz und in Ausrüstung – denn auch das sorgt für Produktivitäts- und Innovationssprünge. Die richtigen Anreize dafür zu setzen, sind die zentralen Aspekte der Wirtschafts- und Industriepolitik des Kanzlers. Mehr qualifizierte Arbeitskräfte: Um im globalen Wettbewerb erfolgreich zu sein, braucht es hervorragend ausgebildete sowie gut bezahlte Arbeitskräfte. Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz heißt gut qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland willkommen. Zahl der Arbeitsstunden ausweiten: Die Bundesregierung arbeitet an einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie – beispielsweise durch die Betreuung von Kindern in Ganztagsschulen. Auch der Wunsch im Rentenalter weiterzuarbeiten, darf nicht an der Bürokratie scheitern. Deshalb werden die Vorbeschäftigungsverbote bei der befristeten Beschäftigung abgeschafft. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Meine Damen und Herren, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, lieber Herr Dulger, ich freue mich, dass ich heute hier sprechen kann und dass wir miteinander über die großen Herausforderungen diskutieren können, vor denen wir stehen. 2024 ist ein Jahr mit vielen bedeutenden Jubiläen. Wir haben in den letzten Monaten den 75. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland und des Grundgesetzes gefeiert; die NATO und der Europarat sind 75 Jahre alt geworden, und gerade jetzt in diesen Herbsttagen jähren sich zum 35. Mal die historischen Ereignisse der Friedlichen Revolution in der DDR. Auch den 60. Geburtstag Ihres Präsidenten haben wir in diesem Jahr im Februar schon gemeinsam gefeiert. Lieber Herr Dulger, es war mir eine Ehre, dass ich bei dieser Gelegenheit sprechen konnte und die Festrede halten durfte. Noch einmal alles Gute zu diesem Jubiläum! Ebenfalls zum 60. Mal jährte sich im vorigen Monat eine Begebenheit, die stellvertretend für eine besonders folgenreiche Entwicklung in Deutschland steht. Im September 1964 wurde am Bahnhof von Köln-Deutz die Ankunft von Armando Rodrigues de Sá gefeiert. Rodrigues war ein portugiesischer Zimmermann, und er war im September 1964, übrigens nach den Berechnungen der BDA–Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, der millionste Gastarbeiter, der in die Bundesrepublik kam, um hier zu arbeiten, ein besseres Leben zu finden und um hier zu Wachstum und Wohlstand beizutragen. Es war damals ein Vertreter des Arbeitgeberverbandes der Metallindustrie, der Herrn Rodrigues begrüßte, mit einem Strauß Nelken, einer Ehrenurkunde und einem Moped, Modell Zündapp Sport Combinette. Genau dieses Moped ist heute in Bonn im Haus der Geschichte ausgestellt und dort zu besichtigen. Es wird dort ausgestellt, weil es eine Entwicklung bebildert, die ganz entscheidend für das Wirtschaftswunder der jungen Bundesrepublik in den 50er- und den 60er-Jahren war. Insgesamt etwa 14 Millionen sogenannter Gastarbeiter kamen von 1955 bis 1973 in die Bundesrepublik. Viele von ihnen kehrten später zurück in ihre Heimat. Aber noch viel mehr sind geblieben, und zwar zum Glück für unser Land. Es ist völlig klar: Ohne diese millionenfache Zuwanderung, ohne diesen millionenfachen Zuzug von Arbeitskräften aus allen Ländern wäre das deutsche Wirtschaftswunder nicht möglich gewesen. Mit dieser Feststellung sind wir aber auch mitten in der Gegenwart. Wie schon 1964 besteht auch heute wieder ein großer Bedarf an Arbeitskräften. Trotz der wieder leicht ansteigenden Arbeitslosigkeit ist das der große Trend, der uns in diesem Jahrzehnt und wahrscheinlich den nächsten Jahrzehnten am meisten herausfordern wird. Wie damals brauchen wir auch heute wieder einfache, pragmatische Lösungen, um die Nachfrage deutscher Unternehmen nach Arbeitskräften zu decken. Aber damit hören die Parallelen auch auf. Als Armando Rodrigues 1964 in Köln-Deutz eintraf, brummte die Wirtschaft, rauchten die Schlote und betrug das Wachstum in Deutschland 6,7 Prozent. Angeworben wurden ausländische Arbeitskräfte damals natürlich vor allem, um einfache körperliche Tätigkeiten in Industrie und Gewerbe zu verrichten. In den Jahren dieses Wirtschaftswunders wurden sie benötigt, um die bereits wachsende Wirtschaft weiter in Fahrt zu halten. Auch heute und in den nächsten Jahrzehnten werden wir wieder zusätzliche Arbeitskräfte brauchen, damit wir all die Herausforderungen bewältigen können, vor denen unsere Volkswirtschaft steht. Wir brauchen sie aber nicht wie 1964, um eine sowieso schon brummende Wirtschaft mit billigen Hilfskräften weiter kräftig unter Dampf zu halten. Unsere aktuelle Lage ist eine völlig andere. Wir leben in einer anderen Welt. Zum einen – Sie haben darüber gesprochen – hat Russlands furchtbarer Angriffskrieg auf die Ukraine auch unsere Wirtschaft schwer getroffen. Unsere günstige Energieversorgung war auf einen Schlag weggefallen. Gas und Öl wurden zeitweilig massiv verteuert. Dank energischer Maßnahmen haben wir es geschafft, dass es jetzt schon wieder viel besser ist, auch wenn wir noch nicht da sind, wo wir sein wollen. Inflation, steigende Zinsen, geopolitische Konflikte, belastete Lieferketten, das alles hat unser industriell geprägtes und exportorientiertes Land stärker herausgefordert als viele, viele andere. Es trägt auch dazu bei, dass Bürgerinnen und Bürger ihr Geld lieber erst einmal noch zusammenhalten und manche Unternehmen mit den Investitionen abwarten, die notwendig sind. Das Ergebnis haben Sie beschrieben. Die Konjunktur stagniert. Das wird natürlich noch gefördert, wenn die Stimmung nicht immer zum besten ist. Wir müssen aus dieser unguten Lage, in der schlechte Zahlen zu schlechter Stimmung führen und schlechte Stimmung zu noch mehr schlechten Zahlen, gemeinsam herauskommen. Deshalb bin ich mit dem schönen Film, den Sie hier zum Eingang gezeigt haben, und auch der Botschaft „Deutschland kann das“ sehr einverstanden. Ja, Deutschland kann das. Wir sind ein starkes Land. Wir brauchen wieder mehr Wachstum, und der Kuchen muss größer werden, und zwar für alle. Deshalb hat die Bundesregierung mit der Wachstumsinitiative, über die Sie gesprochen haben, ein sehr umfassendes Paket von Maßnahmen beschlossen, das an den entscheidenden Wachstumsfaktoren ansetzt. Ich will gern sagen: Fast jede Woche beschließt das Bundeskabinett einen Teil dieser Wachstumsinitiative, und das ist in vielen Fällen auch im Bundestag schon entweder beschlossen oder wird demnächst beschlossen. Wir haben vor, alles bis zum Ende dieses Jahres durchzuziehen, damit man davon ausgehen kann, dass die Dinge kommen, die für das Wachstum unseres Landes wichtig sind. Es geht dabei um den Abbau überflüssiger Bürokratie. Das ist ein ganz, ganz großes Thema, über das immer viel zu viel gesprochen wird, sodass in den letzten Jahren mehr darüber geredet wurde, als dass Dinge verändert wurden. Wir haben versucht, das zu tun. Ich komme darauf gleich noch zu sprechen. Es geht darum, unseren Finanzstandort zu stärken. Auch das ist zentral. Auch wenn das nicht das Thema des heutigen Tage ist, will ich doch ausdrücklich sagen: Wir müssen viel dafür tun, dass unser Finanzsystem, dass der Finanzstandort in der Lage ist, das Wachstum mitzufinanzieren. ‑ Wir haben in letzter Zeit viele Initiativen gesehen. Aber entscheidend bleibt doch: Der größte Unterschied zwischen den USA und Europa ‑ das trifft Deutschland gemeinsam mit vielen, vielen anderen Ländern ‑ ist, dass die Wachstumsfinanzierung von Unternehmen über Kapitalmärkte hier nicht in gleicher Weise funktioniert wie dort. Es kann nicht sein, dass ein Teil der „unicorns“, die in Europa entstehen, in den USA an die Börse geht, weil die Wachstumsfinanzierung dort einfacher gelingt, übrigens in großen und zahlreichen Fällen mit Geld, das über die dortigen Finanzinstitutionen aus Europa und auch aus Deutschland kommt, um so die hier entstandenen Unternehmen zu finanzieren. Wir müssen dort also einen ganz großen Unterschied machen. Deshalb sage ich auch an dieser Stelle: Es wird eine der zentralen Aufgaben der nächsten EU-Kommission, über die Kapitalmarktunion nicht nur zu reden, sondern die entscheidenden Weichen zu stellen, damit das klappt. Den Teil, den wir in Deutschland tun müssen, den machen wir. Es geht um Investitionsanreize, um ein bezahlbares, sicheres und nachhaltiges Energieangebot, heute und in der Zukunft. Auch deutlich schnellere Genehmigungsverfahren haben wir mit dem Deutschlandpakt bereits möglich gemacht. Das ist vielleicht das am wenigsten bemerkte, aber, was Genehmigungsverfahren und Genehmigungspraxis betrifft, das am weitesten reichende Veränderungspaket, das in den letzten 20 bis 30 Jahren auf den Weg gebracht wurde. Es ist notwendigerweise einer Verständigung zwischen Bund und Ländern entsprungen. Denn wie ich hier schon einmal gesagt habe: Es hat Jahrzehnte gebraucht, damit der Bund, die Länder, die Gemeinden und die von Ihnen genannte Europäische Union es gemeinsam erfolgreich geschafft haben, so viele bürokratische Regeln und Hemmnisse für Genehmigungen aufzubauen, sodass wir uns jetzt gemeinsam unterhaken müssen, um diese Bürokratie nicht in Jahrzehnten, sondern in kurzer Zeit wieder abzubauen, damit es schnell geht in Deutschland und damit man weiß: Wenn man etwas vorhat, dann kann es auch bald gelingen. Das alles brauchen wir unbedingt, und das muss mit voller Kraft weitergehen. Deutschland ist ein Industrieland mit vielen Betrieben des Mittelstandes, mit Handwerksbetrieben, mit Dienstleistungen. Aber es ist ein Land, in dem die Industrie immer eine große Rolle gespielt hat. Als sie in vielen anderen Ländern Stück für Stück abgebaut wurde und viele Theorien darüber entwickelt haben, dass man ja gar keine starke Industrie mehr brauche, ist das in Deutschland anders geblieben. Es ist bis heute anders und muss auch für die Zukunft anders sein. Wir wollen ein weltweit vernetztes, exportierendes, importierendes, mit Direktinvestitionen im Ausland tätiges Land sein. Aber wir selbst wollen ein starkes Industrieland bleiben. Aber gerade der Industrie macht der Mix aus Modernisierungsdruck, Unsicherheit und Energiekosten, stotternder Weltkonjunktur, hohen Zinsen und kleinteiliger Regulierung besonders zu schaffen. Dauerhaft günstige Energiepreise, weniger Bürokratie und weniger Regulierung, mehr Investitionen, sichere Industriearbeitsplätze, darum geht es. Da müssen wir ran, und zwar gemeinsam mit Unternehmen, Industrieverbänden und auch Gewerkschaften. Noch diesen Monat treffen sich auf meine Einladung hin im Kanzleramt viele, um daran zu arbeiten, dass es gelingen kann, dass wir in der Industrie Arbeitsplätze schaffen. Mit ist besonders wichtig, dass das nicht etwas wird, bei dem sich lauter Pressetermine aneinanderreihen, sondern etwas, bei dem miteinander gesprochen wird. Es geht um Konsense und nicht um das Gegenteil. Es ist notwendig, dass wir an einem Konsens über diese Frage arbeiten. Denn in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage kann selbst das beste Paket nichts werden, wenn die erste Kommentierung ist: „Na ja, schon mal in die richtige Richtung, aber da geht noch mehr!“, und wenn die zweite und dritte ist: Das und das fehlt. ‑ Es muss dann auch die Botschaft ausgehen: Das sind die Maßnahmen, die wir ergreifen müssen, damit es vorwärts geht und wir Wachstum haben. Das muss dann auch gemeinsam gesagt werden können. Denn nur so schaffen wir veränderte Bedingungen, aber auch eine veränderte Stimmung, die für die Wirtschaft genauso wichtig ist. Was dort besprochen wird, muss dann natürlich auch in die Tat umgesetzt werden. Das ist mein Versprechen an die Industrie und auch an die Millionen Beschäftigten in dem Bereich. Aber es ist nicht die ganze Geschichte. Die ganze Geschichte ist, dass wir unser Land, unser gesamtes Wirtschaftsmodell modernisieren müssen, völlig unabhängig von Putins Krieg und all seinen Folgen. Für diese Modernisierung brauchen wir mehr qualifizierte Arbeitskräfte. Wir brauchen mehr Arbeitskräfte, weil unsere Erwerbsbevölkerung schnell altert und schrumpft, wenn wir nicht gegensteuern. Vielleicht auch das noch einmal an dieser Stelle – Sie werden es beim Arbeitgeberverband genau wissen, aber ich glaube, dass es noch gar kein allgemeines Wissen ist, das sich in unserem Land herumgesprochen hat –: In den meisten europäischen Volkswirtschaften wird die Erwerbsbevölkerung dramatisch zurückgehen. Das ergibt sich aus der Demografie nicht nur bei uns, sondern auch in diesen Ländern. Deutschland kann das eine nicht englisch sprechende Land sein ‑ ich sage es im Hinblick auf Migration –, in dem es gelingt, das zu verhindern, weil wir Handlungsmöglichkeiten ausnutzen, damit die Erwerbsbevölkerung in Deutschland hoch bleibt. Aber es ist die große Herausforderung der europäischen Volkswirtschaften, und sie ist sehr, sehr groß; denn alle Berechnungen über Produktivitätspotenziale, über Wachstumsmöglichkeiten, gehen davon aus, dass man keine schrumpfende Erwerbsbevölkerung als Zukunftsherausforderung hat. Deshalb müssen wir das lösen. Es ist die eine große Voraussetzung für Wachstum in der Zukunft! Wir brauchen mehr Arbeitskräfte, weil in den kommenden Jahren viel mehr Beschäftigte in Rente gehen, als nachwachsen werden. Wir brauchen mehr Arbeitskräfte, weil sonst überall in der Wirtschaft, in der Verwaltung und im Gesundheitswesen schon 2030 in unserem Land bis zu fünf Millionen Erwerbstätige fehlen werden. Aber wir brauchen nicht nur einfach mehr Arbeitskräfte, so wie es zur Zeit des Wirtschaftswunders der Fall war. Wir brauchen heute vor allem auch qualifizierte Arbeitskräfte! Wir brauchen Fachkräfte! Wir brauchen viele, viele kluge und kreative Köpfe und tüchtige und zupackende Hände – so viele, wie wir nur irgend gewinnen können für uns hier in Deutschland! Das steigert die Produktivität und auch die Innovationskraft. Und wir brauchen Investitionen unserer Unternehmen in Digitalisierung, in KI, in Ausrüstung; denn auch das sorgt für Produktivitäts- und Innovationssprünge. Die richtigen Anreize für solche Investitionen zu setzen, das ist deshalb ein zentraler Aspekt meiner Wirtschafts- und Industriepolitik. Masse und Durchschnitt, das können sicherlich andere besser. Vor allem: Das können andere aufgrund der Rahmenbedingungen billiger. Im globalen Wettbewerb erfolgreich dabei sein, das können wir als Volkswirtschaft nur mit hochmoderner Industrie und Technologie, mit hervorragend ausgebildeten und gut bezahlten Arbeitskräften. Dann schaffen wir es auch, dass die Marke „Made in Germany“ in Zukunft weltweit weiter glänzt! Mehr Arbeitskräfte für solch eine hochproduktive Volkswirtschaft – was brauchen wir dafür? Ich will da einige zentrale Schlaglichter besprechen. Erstens. Wenn wir darüber reden, dass wir in Deutschland gut ausgebildete Fachkräfte auch aus dem Ausland benötigen, dann muss uns eines immer klar sein: Diesen qualifizierten Frauen und Männern steht heute die ganze Welt weit offen. Deshalb müssen wir uns noch viel mehr anstrengen, um solche Fachkräfte nach Deutschland zu holen und sie für uns zu gewinnen. Mit dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz geht das in Deutschland endlich, und wir haben das sehr entschlossen vorbereitet. Mit diesem Gesetz machen wir grundsätzlich klar: Wer qualifiziert ist und wer hier bei uns in Deutschland anpacken will, der ist hochwillkommen! Damit geeignete Arbeitskräfte dem deutschen Arbeitsmarkt zügig zur Verfügung stehen, beschleunigen wir endlich alle nötigen Prozesse. Schon im kommenden Jahr werden unsere konsularischen Abteilungen digital arbeiten können, sodass auch Visaanträge digital gestellt werden können. Ich wünsche mir, dass alle die neu gewonnene Flexibilität, im Ausland Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu rekrutieren, nutzen, zum Beispiel auch über die neue Möglichkeit von Zeitarbeitsfirmen, eine alte Forderung der Arbeitgeberverbände, auf die wir uns in der Regierung geeinigt haben, mit guten Rahmenbedingungen. Das wird jetzt endlich möglich. Ich glaube, dass wir dann auch im ganz praktischen Doing dafür sorgen müssen, dass wir diese Möglichkeiten jetzt nutzen. Nutzen Sie sie! Wir tun im Übrigen auch etwas, indem wir selbst dafür werben, so mit unserer Plattform „Make it in Germany“, um die Regelungen bekannt zu machen. Der zweite Punkt: Wir müssen, und auch das ist wichtig, die Zahl der Arbeitsstunden, die in Deutschland geleistet werden, ausweiten. Hier sind noch lange nicht alle Möglichkeiten ausgereizt. Wir sind noch längst nicht da, dass wir dabei alle Möglichkeiten ausgereizt haben. Im vorigen Jahr haben 31 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland in Teilzeit gearbeitet. Bei den Männern waren das nur 13 Prozent, bei den Frauen war das die Hälfte, etwa 50 Prozent. Schaut man nur auf die Beschäftigten in Vollzeit, dann stellt man fest: Die arbeiten in Deutschland im Schnitt 40,4 Stunden pro Woche, also nicht weniger als der europäische Durchschnitt und mehr als zum Beispiel Niederländer und Franzosen, Dänen oder Ungarn! Auch viele, gerade jüngere Frauen, die in Teilzeit arbeiten – im Schnitt 22 Stunden pro Woche –, wollen gerne mehr arbeiten und auch mehr verdienen. Aber Beschäftigung in Vollzeit ist für viele kurzfristig nicht so einfach machbar, weil sie Kinder und Beruf irgendwie jongliert bekommen müssen. Unser Land ist immer noch nicht gut aufgestellt, wenn es um die Unterstützung junger Familien geht. Deshalb müssen wir genau daran etwas ändern. Ob Kita oder Grundschule: Ganztagsbetreuung ist eben noch längst nicht überall der Normalfall oder wenigstens verfügbar, und genau das müssen wir ändern! Wenn die Versorgung mit Kitas und Ganztagsschulen besser passen würde, dann wäre in vielen Fällen auch eine Arbeitszeit von 25, 30 oder 32 Stunden und vielleicht auch Vollzeitarbeit gut möglich. Deshalb arbeiten wir auch als Bundesregierung daran, die Betreuungs- und Ganztagsangebote deutlich zu verbessern – nicht nur ihre Platzzahl, nicht nur ihre Qualität, sondern auch ihren zeitlichen Umfang. Am Bund und an der Bundesregierung wird das nicht scheitern. Vier Milliarden Euro stellen wir allein in den kommenden zwei Jahren für die frühkindliche Bildung und ihren Ausbau bereit. Wir haben mit den Ländern eine Vereinbarung über den Ausbau der Ganztagsgrundschulen in ganz Deutschland als flächendeckendes Angebot getroffen, und das ist ein Schritt dafür, dass wir in Deutschland die Bedingungen schaffen, dass die jungen Familien so viel arbeiten können, wie sie wollen, und dass es nicht an äußeren Rahmenbedingungen scheitert, die ganze Arbeitskraft zu nutzen. Ähnlich großes Potenzial wie bei den Beschäftigten in Teilzeit liegt bei denen, die sich in den kommenden Jahren ihrem Renteneintritt nähern. Das ist bekanntlich eine besonders breit aufgestellte Generation. Einige, die dazugehören, sind hier heute im Saal. Deshalb ist es eine gute Nachricht, dass ein Drittel aller Beschäftigten ab 55 Jahren sagt: Wir würden gerne nach Rentenbeginn irgendwie noch weiterarbeiten. Die Bundesregierung wird ihren Teil dazu beitragen, dass es auch wirklich so kommt. Es darf nicht sein, dass der Wunsch, im Rentenalter noch weiterzuarbeiten, am Ende an Bürokratie scheitert – oder weil es sich nicht rechnet. Deshalb werden wir die sogenannten Vorbeschäftigungsverbote bei der befristeten Beschäftigung abschaffen, damit mehr Unternehmen von dieser Möglichkeit und diesen Wunsch ihrer Beschäftigten Gebrauch machen können. Wir erleichtern es Unternehmen, Arbeitnehmer weiter zu beschäftigen, wenn sie die Regelaltersgrenze erreichen. Es ist, glaube ich, ein ganz, ganz großer Fortschritt, den wir hier miteinander zustande gebracht haben, dass das jetzt gehen wird; denn ich glaube, man muss die Möglichkeiten für Weiterbeschäftigung nutzen, ohne dass man die Leute dazu zwingt. Denn auch das gilt, da will ich mich nicht verbergen: Eine Anhebung der Regelaltersgrenze halte ich nicht für richtig. Aber ich halte es für richtig, dass wir es attraktiver machen, weiterzuarbeiten, wenn man möchte, und das kommt jetzt! Meine Damen und Herren, es gibt viele Dinge, die wir noch miteinander besprechen können. Ich glaube, es ist jedenfalls sehr, sehr wichtig, dass wir jetzt die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, dass es auf diese Weise mehr Dynamik bei Arbeit und Beschäftigung in unserem Land gibt. Ein Thema will ich noch ansprechen. Wir werden vielleicht auch noch ein paar Worte darüber wechseln können. Das ist die Frage: Wie bekommen wir es eigentlich hin, dass die Sozialversicherungsbeiträge nicht eine zusätzliche Herausforderung werden? – Sie wissen: Es gab dramatische Diskussionen in den Neunzigerjahren über das, was uns heute droht. Das alles ist nicht eingetreten, und zwar aus einem Grund, über den wir schon gesprochen haben: Arbeit und Beschäftigung haben sich massiv ausgeweitet, und das hat auch die Sozialversicherungssysteme für die Zukunft stabilisiert und sicher gemacht. Ich glaube, und das muss ja hier, auf diesem Arbeitgebertag, auch klar gesagt werden, das ist die Grundlage dafür, dass wir die Stabilität unserer Volkswirtschaft, aber auch unserer sozialen Sicherungssysteme für die Zukunft auch weiter gewährleisten können. Gleichzeitig muss es aber darum gehen, dass wir uns nie vor den Aufgaben drücken, vor denen wir tatsächlich stehen. Eine dieser Aufgaben ist zum Beispiel, immer wieder zu schauen, ob die Systeme, die wir haben, so effizient sind, wie es möglich ist, und ob das dazu führen kann, dass die Beiträge nicht steigen, ohne dass es Leistungskürzungen gibt. Ich finde zum Beispiel, dass die anstehende Krankenhausreform ein sicheres Instrument dazu ist, genau diese Aufgabe zu lösen, also zu verhindern, dass die Beiträge steigen, ohne dass es zu Leistungseinschränkungen kommt. Genau das muss das sein, was uns auch in der Zukunft als Aufgabe bevorsteht. Letzte Bemerkung zu zwei Themen, die Sie angesprochen haben – ich befürchte, dass wir bei dem einen nicht ganz einer Meinung sind, aber doch irgendwie zueinander kommen werden –. Erstens, zum Bürgergeld: Da, glaube ich, sind wir alle beieinander. Wir sind als Menschen dazu geboren, zu arbeiten. Das ist meine feste Überzeugung, übrigens auch meine philosophische Überzeugung. Auch wenn das neulich jemand in der Öffentlichkeit kritisiert hat: Ich glaube, es gehört zu unserer Humanität dazu, dass wir arbeiten und dass wir uns anstrengen. Das ist etwas, das tief in unserer Kultur verwurzelt ist, und das sollte auch so bleiben. Weil das so ist, werden wir jetzt auch bei der Bürgergeldreform Dinge ändern – Sie haben das angesprochen –, weil das ja kein bedingungsloses Grundeinkommen ist, etwas, bei dem man hingehen und sagen kann: Ich habe keine Lust, zu arbeiten, ich nehme das Geld. Das ist keine Wahlfrage! Deshalb haben wir uns fest entschlossen, dass wir hier etwas verändern. Die Gesetze sind auf den Weg gebracht, und wir versuchen, es leichter zu machen, dass wir diejenigen in Arbeit bringen, bei denen das heute nicht gelingt und die vielleicht auch nicht mitwirken. Das gilt nicht für die übergroße Zahl der Bürgergeldempfänger, wie wir wissen. Aber auch der Teil, der sich gewissermaßen entzieht, hat eben eine klare Botschaft verdient: Das finden wir nicht richtig! Deshalb werden wir jetzt viele der Erleichterungen und Lockerungen, die in der Coronazeit beschlossen worden sind, wieder rückgängig machen, damit klar ist: Das Bürgergeld ist eine Leistung, solange man nicht wieder Arbeit hat, aber das Ziel müssen Arbeit und Beschäftigung sein. Auch das ist für uns ganz zentral. Da, wo wir vielleicht nicht immer ganz einer Meinung sind ‑ ‑ ‑ Obwohl, doch! Ich verfolge die Politik ja schon länger, und erstmals habe ich gehört: Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände ist für den Mindestlohn (vereinzelter Beifall) ‑ ein bisschen vereinzelt, aber das habe ich herausgehört – und sie ist auch dafür, dass wir ein gutes Verfahren haben, wie er wieder regelmäßig angepasst wird. Ich will nicht darum herumreden: Aus meiner Sicht wäre es gut gewesen, wenn beim letzten Mal eine andere Entscheidung herausgekommen wäre. Das habe ich gesagt, und dazu stehe ich auch. Denn das ist aus meiner Sicht die eigentliche Perspektive, dass auch die Mindestlohnkommission ihre Kraft und Legitimation aus der sozialpartnerschaftlichen Verständigung zieht. Die ist nämlich die Grundlage dafür, dass Deutschland einen solchen Wohlstand in Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Beschäftigten in den letzten Jahrzehnten erarbeitet hat. Und wenn das wieder gelingt, dann wird ja alles gut. In diesem Sinne schönen Dank fürs Zuhören!
„Wir brauchen wieder mehr Wachstum“, betonte der Bundeskanzler beim BDA–Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände-Arbeitgebertag in Berlin. Mit der Wachstumsinitiative habe die Bundesregierung ein umfassendes Paket von Maßnahmen beschlossen, das an den entscheidenden Wachstumsfaktoren ansetze.
Bei Zukunftstechnologien ganz vorn mitspielen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/digital-gipfel-2024-2316708
Mon, 21 Oct 2024 00:00:00 +0200
Rede des Kanzlers beim Digital-Gipfel 2024
Statement BK,Wirtschaft und Klimaschutz,Digitales und Verkehr
Digitale Technologien sind entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Dafür trägt der Erfindergeist, die Innovation und der Fleiß Deutschlands heute noch, so Bundeskanzler Scholz in seiner Rede auf dem Digital-Gipfel 2024. Auch schafft die Bundesregierung wichtige Rahmenbedingungen. Denn: „Mein Ziel ist, dass Deutschland – dass auch insbesondere unsere Industrie – bei Zukunftstechnologien ganz vorn mitspielt“, so der Kanzler. Als Schwerpunkte nannte er allen voran Künstliche Intelligenz, Quantencomputing und Virtual Reality. Das Wichtigste in Kürze: Gute Bedingungen für Innovationen: Laut dem aktuellen Innovationsindex des BDI–Bundesverbands der Deutschen Industrie liegt Deutschland auf Platz 2 aller großen Industrieländer. Die OECD–Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bescheinigt außerdem: Aus der ganzen Welt kommen KI–Künstliche Intelligenz-Talente hierher. Deutschland liegt mittlerweile auf Platz 3 der beliebtesten Länder. „Als einzige große Volkswirtschaft Europas investieren wir mehr als drei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung“, so der Bundeskanzler. Private Investitionen will die Bundesregierung weiter steuerlich fördern. Fortschritte bei der digitalen Infrastruktur: „Die gute Nachricht ist: Auch in Deutschland geht vieles schneller und einfacher. Man muss es nur machen“, erklärte Kanzler Scholz. Mittlerweile verfügen so 99 Prozent der Haushalte über Zugang zu einem 5G-Netz. Von Mitte 2022 und bis Ende 2023 ist der Anteil der Haushalte und Unternehmen, für die ein Glasfaseranschluss verfügbar ist, um mehr als 75 Prozent gestiegen. Digitalen Wandel souverän gestalten: „Mein Anspruch ist, dass wir die digitale Transformation so gestalten, wie es zu uns passt – zu unserer Wirtschaft und zu unseren Werten“, so der Kanzler. Dafür müssen die notwendigen Kompetenzen in zentralen Schlüsseltechnologien – wie der Halbleiterindustrie oder der Quantentechnologie – in Deutschland gebündelt werden. Innovationsfreundliche Rahmenbedingungen: Die europäische Verordnung zu Künstlicher Intelligenz ist das erste umfassende Regelwerk für KI–Künstliche Intelligenz weltweit. Sie soll Schutz bieten, ohne Innovationen abzuschneiden. Im Rahmen der Vereinten Nationen stimmte Deutschland dem Global Digital Compact zu und setzte sich dabei mit seinen europäischen Partnern für eine innovationsfreundliche und vor allem zielgenaue KI–Künstliche Intelligenz-Regulierung ein. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Lieber Herr Dr. Wintergerst, meine Damen und Herren, auch von meiner Seite noch einmal herzlich willkommen auf diesem herausragend wichtigen Dialogforum! Es ist herausragend wichtig, weil es keine wirtschaftliche Entwicklung, keinen gesellschaftlichen Prozess, keine sicherheitspolitische Frage und keine globale Herausforderung gibt, für die Digitalisierung nicht eine ganz zentrale Rolle spielt. Mir ist bewusst, dass das in diesem Kreis keine revolutionäre Feststellung ist. Seit dem ersten Digital-Gipfel im Jahr 2006 wurde auf diesen Treffen immer wieder festgehalten, wie wichtig es wäre ‑ ich zitiere jetzt mal aus den Veröffentlichungen der vergangenen 18 Jahre – „den IT-Standort Deutschland zu stärken“, „zukunftsträchtige Wachstumsfelder zu entwickeln“ und „die erfolgskritischen Handlungsfelder anzugehen“. Alles total richtig! Alles absolut nötig! Die Realität ist allerdings, dass zu lange zu wenig passiert ist. Auf unternehmerischer und staatlicher Seite blieb es zu lange beim „Man müsste einmal“. Der Digitalisierungsrückstand, der so über die Jahre entstanden ist, hat nicht nur unsere Verwaltung ausgebremst und frustriert Bürgerinnen und Bürger, er behindert auch Investitionen und Wachstum. Keine Angst, das wird jetzt kein Abgesang, insbesondere auch nicht auf unser Land; davon halte ich nämlich überhaupt nichts! Ein solcher Abgesang ist auch völlig unangebracht, weil die Kräfte, die in unserem Land stecken – Erfindergeist, Innovationskraft und Fleiß – auch heute noch tragen. Aber wir müssen uns ins Zeug legen. Ein ganz wichtiger Faktor dafür ist, unsere Produktivität zu steigern. Mehr Produktivität erreichen wir zum einen, indem wir Arbeit in Deutschland attraktiver machen – für Inländer genauso wie für Leute, die hier bei uns mit anpacken wollen. Deshalb ist es eine durch und durch gute Nachricht, was die OECD uns bescheinigt: Aus der ganzen Welt kommen KI-Talente nach Deutschland. Wir liegen mittlerweile auf Platz drei der beliebtesten Länder. Mehr Produktivität erreichen wir zum anderen durch die Digitalisierung selbst. Gerade angesichts unserer demografischen Entwicklung dürfen wir dieses Potenzial nicht länger vernachlässigen. Deswegen haben wir nach mehr als einem Jahrzehnt des Stillstands ein Jahrzehnt der bitter nötigen Modernisierung begonnen. Mein Ziel ist, dass Deutschland, dass auch insbesondere unsere Industrie bei Zukunftstechnologien ganz vorn mitspielt. Dabei geht es um KI, Quantencomputing oder Virtual Reality, etwa durch die Nutzung von digitalen Zwillingen. Dabei geht es aber auch um Technologien im Bereich der Sicherheit und der Verteidigung, um Kernfusion, um Luft- und Raumfahrt und um Bio- und Umwelttechnologien. Ohne das anschließende Gespräch vorwegzunehmen, will ich ein paar Gedanken beisteuern zu den drei Begriffen des diesjährigen Mottos: innovativ, souverän und international. Erstes Stichwort: innovativ. Innovationen sind das A und O, um als Industrieland auch in Zukunft ganz vorne mitzuspielen, und das Zeug dazu, wie gesagt, haben wir! Erst kürzlich hat der BDI–Bundesverband der Deutschen Industrie den Innovationsindex für 2024 veröffentlicht. Deutschland liegt da ‑ ganz anders, als man das sonst so zeitungslesend und sich umhörend mitbekommt ‑ bei allem Verbesserungspotenzial auf Platz zwei aller großen Industrieländer. Allein Südkorea liegt davor. Alle anderen – darunter die USA, Frankreich, Großbritannien, Japan und China – liegen dahinter. Auch laut OECD ist Deutschland im internationalen Vergleich sowohl bei den öffentlichen als auch den privaten Innovationsinvestitionen international führend. Als einzige große Volkswirtschaft Europas investieren wir mehr als drei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung, und deswegen gehören deutsche Unternehmen – von großen Automobilherstellern bis hin zu „hidden champions“ aus dem Mittelstand – zu den innovativsten und innovationsintensivsten der Welt. Auch bei der industriellen Anwendung von KI sind wir schon jetzt besser, als oft behauptet wird. Aber das reicht nicht. Ich will, dass Deutschland ‑ Wirtschaft und Staat gemeinsam – noch mehr in Zukunftstechnologien investiert. Dabei müssen wir auch mehr selbst machen als machen lassen. Es reicht nicht, nur allein auf Einkäufe bei anderen zu setzen. Die massiven privaten Investitionen, die dafür notwendig sind, wollen wir weiter steuerlich fördern und das auch weiter ausweiten. In Brüssel machen wir zudem gemeinsam mit Frankreich und anderen Druck, damit wir endlich die europäische Kapitalmarktunion zustande bringen, damit mehr privates Kapital hier nach Europa kommt und nicht erst den Umweg über die USA nehmen muss, damit es hier in Europa investiert wird. Gleichzeitig möchten wir bei Investitionen aber auch mehr Mut entwickeln. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt wird in den USA dreimal so viel wie in Deutschland als Wagniskapital investiert. So kann das nicht weitergehen. Nur mit mehr Risikoaffinität können wir unsere großen Baustellen angehen. Nur so werden wir besser beim Transfer von der Forschung in die Anwendung, und nur so werden aus Innovationen auch neue Geschäftsmodelle hier in Deutschland. Es geht beim Thema Innovation aber nicht nur um die Finanzierung, sondern natürlich muss auch das Umfeld stimmen. Deshalb tragen wir die Altlasten ab, von denen ich eingangs gesprochen habe. Die gute Nachricht ist: Auch in Deutschland geht vieles schneller und einfacher ‑ man muss es nur machen. Mittlerweile ist für 99 Prozent der Haushalte 5G-Netzabdeckung verfügbar. Zwischen Mitte 2022 und Ende 2023 ist der Anteil der Haushalte und Unternehmen, für die ein Glasfaseranschluss vorliegt und verfügbar ist, um mehr als 75 Prozent gestiegen. Wir werden auch Open RAN–Funkzugangsnetz (engl. Radio Access Network) und 6G weiter voranbringen, indem wir die Forschung und Entwicklung in der EU dazu forcieren und uns bei der Netzwerktechnik eine starke Position erarbeiten. Wir haben uns in den vergangenen drei Jahren einen neuen Rahmen für die Datenökonomie gegeben. Mit dem Mobilitätsdatengesetz und dem Gesundheitsdaten-Nutzungsgesetz haben wir die Datennutzung in ganz wichtigen Schlüsselsektoren erheblich vereinfacht. Außerdem arbeiten wir gerade an einem Forschungsdatengesetz. Direkte Folge: milliardenschwere Investitionen zum Beispiel in der Pharma- und Biotechindustrie am Standort Deutschland in diesem Bereich und – auch das gehört dazu –ganz ohne staatliche Förderung. Zweites Stichwort: souverän. Mein Anspruch ist, dass wir die digitale Transformation so gestalten, wie es zu uns passt – zu unserer Wirtschaft und zu unseren Werten. Voraussetzung dafür ist aber, dass wir in zentralen Schlüsseltechnologien hier bei uns in Deutschland die notwendigen Kompetenzen haben. Das gilt weit über die strategisch so wichtige Halbleiterindustrie hinaus, die hier bei uns massiv Kapazitäten aufbaut und die wir auch weiter dabei unterstützen werden. Ein Beispiel dafür ist die Entwicklung von Quantentechnologien: In diesem Monat hat IBM in Ehningen sein erstes Quantenrechenzentrum außerhalb der USA vorgestellt. Im Mai war ich bei der Vorstellung eines vollständig in Deutschland entwickelten Quantencomputers in Hamburg dabei. Auch in München und an anderen Orten in Deutschland werden Quantencomputer entwickelt. Unsere Ausgangsposition ist also ‑ übrigens in diesem Fall auch dank staatlicher Unterstützung – sehr gut. Um ein unternehmerisch geprägtes Quantenökosystem in Deutschland aufzubauen, braucht es jetzt aber auch strategisch weitsichtige Investitionsentscheidungen und das Engagement von deutschen Unternehmen. Investieren Sie ‑ es lohnt sich. Denn Rechenpower ist schon jetzt ein ganz zentraler Pfeiler unseres wirtschaftlichen Fortschritts. In Jülich werde ich im kommenden Jahr einen der leistungsstärksten Hochleistungsrechner der Welt eröffnen. Amazon, Microsoft und auch europäische Unternehmen investieren in die Rechen- und KI-Infrastruktur in Deutschland. Zusammengenommen ist das ein echter Aufbruch, der den Industriestandort Deutschland krisenunabhängiger und zukunftsfest macht. Und schließlich, drittes Stichwort: international. Zunächst einmal gilt: Wir handeln europäisch eng abgestimmt. Ein Meilenstein ist die europäische Regulierung zur künstlichen Intelligenz – die erste umfassende weltweit. Sie soll Schutz bieten, ohne Innovationen abzuschneiden. Microsoft etwa hat sich nicht trotz, sondern gerade wegen dieses klaren Rahmens dafür entschieden, in Deutschland zu investieren. Faire Wettbewerbsbedingungen, die unser gemeinsamer Markt bietet, sind auch weiterhin ein echter Wettbewerbsvorteil. Damit müssen wir dann aber auch einen globalen Anspruch auf Mitgestaltung verbinden. Bei meinem Besuch der Generalversammlung der Vereinten Nationen im vergangenen Monat haben wir in New York den Global Digital Compact beschlossen. Deutschland und Europa haben sich dabei für eine innovationsfreundliche und vor allem eine zielgenaue KI-Regulierung eingesetzt. Gleichzeitig haben wir darauf gepocht, dass nicht nur staatliche Perspektiven einfließen, sondern auch die Interessen der Wirtschaft, der Anwenderinnen und der Nutzer. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam anpacken für ein zukunftsfähiges und zuversichtliches Deutschland, für ein Land, das Lösungen für alle Herausforderungen aus eigener Kraft entwickeln kann – gemeinsam mit unseren europäischen und internationalen Partnern natürlich. Dass Sie alle ‑ Unternehmen, Verbände, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft ‑ sich bei den Fragen auf diesem Weg auch weiterhin einbringen, ist unerlässlich. Damit dieses Jahrzehnt der Modernisierung gelingt, braucht es schließlich nicht nur Tempo und Offenheit für Veränderungen, sondern auch eine Verständigung darauf, dass diese Veränderungen zu uns und unseren Werten passen, dass sie das Leben und Arbeiten der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und Europa einfacher und besser machen. Danke, dass Sie genau diese Verständigung durch Ihre vielfältigen Beiträge möglich machen und vorantreiben. Mir ist es wichtig, dass dieser Austausch weitergeht ‑ unter anderem beim Digital-Gipfel 2025, der im kommenden Jahr in Stuttgart stattfinden wird. Und nun freue ich mich sehr auf das Gespräch. Schönen Dank!
Digitalisierung spielt eine zentrale Rolle in vielen Bereichen – insbesondere in der Wirtschaft. Kanzler Scholz machte beim Digital-Gipfel deutlich, welche Stärken der Standort Deutschland hat und wie die Bundesregierung daran arbeitet, sie weiter auszubauen.
„Die Zukunft der Automobilindustrie ist elektrisch“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-bk-batterie-recycling-2316722
Mon, 21 Oct 2024 00:00:00 +0200
Rede von Kanzler Scholz zur Eröffnung eines Batterie-Recycling-Werks
Statement BK
Beste Bedingungen für die Elektromobilität in Deutschland – diese möchte die Bundesregierung laut Bundeskanzler Scholz schaffen. Bei der Eröffnung der Batterie-Recycling-Fabrik von Mercedes-Benz im baden-württembergischen Kuppenheim betonte er: „Die Zukunft der Automobilindustrie ist elektrisch.“ Die Batteriebranche ist somit ein wichtiger Schlüssel für die Mobilitäts- und Energiewende. Das Werk ist ein Beispiel dafür, wie wertvolle Ressourcen im Kreislauf geführt werden können. Das spart Rohstoffe und sorgt für stabilere Lieferketten. Diese Kreislaufwirtschaft ist daher ein Wachstumsmotor und gleichzeitig ein wesentlicher Baustein, damit Deutschland seine Klimaziele erreicht. Mercedes-Benz investiert in Kuppenheim einen zweistelligen Millionenbetrag in die Recyclinganlage, die auch von der Bundesregierung im Rahmen eines Forschungsprojekts gefördert wird. In der Fabrik können mehr als 96 Prozent der Ausgangsmaterialien aus den Altbatterien recycelt werden. Die zurückgewonnenen Materialien sollen in die Produktion von 50.000 Batteriemodulen pro Jahr fließen. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrter Ola Källenius, sehr geehrter Herr Burzer, sehr geehrter, lieber Ergün Lümali, sehr geehrte Ministerin Walker, sehr geehrter Herr Bürgermeister Mußler, meine Damen und Herren, diese Fabrik verbindet zwei Leidenschaften der Deutschen miteinander: das Auto und das Recycling. Ola Källenius hat eben schon kurz erklärt, wie das Batterierecycling bei E-Autos bislang abläuft. Schwarze Masse, das klingt nach einer Mischung aus Grundlagenphysik und Star Wars. Zum Glück gibt es hier einige Leute, die davon mehr verstehen als ich. Was aber jedem sofort einleuchtet, ist, dass das, was Sie hier vorhaben, Sinn ergibt. Die ganze Welt redet über „derisking“ und Rohstoffsicherheit. Welch besseren Ansatz dafür könnte es geben, als die Rohstoffe wiederzuverwenden, die schon hier bei uns sind? Sinn ergibt das auch deshalb, weil ohne Batterien nichts läuft, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Egal mit wem ich spreche, mit Ihnen, lieber Ola Källenius, mit den Chefs von BMW, Volkswagen, Opel und Ford, alle sagen mir dasselbe: Die Zukunft der Automobilindustrie ist elektrisch. – Das ist keine Ideologie und erst recht keine Entscheidung gegen irgendeine andere Technologie, sondern schlicht die Einsicht, dass die ganze Welt auf diese Technologie setzt. Deshalb muss das Autoland Deutschland hier ganz vorn mit dabei sein, und das sind wir, manchen Unkenrufen zum Trotz. Manche sagen, China könne das mit den Elektromotoren viel besser als wir. Mich erinnert das immer ein bisschen an die 80er-, 90er- und Nullerjahre. Damals waren es erst die Japaner und dann die Koreaner, die den deutschen Autobauern vermeintlich den Rang abliefen. Klar, auch dort werden gute Autos gebaut, genau wie in China! Aber die deutschen Unternehmen müssen sich vor dieser Konkurrenz nicht fürchten. Natürlich brauchen wir ein „level playing field“, faire Wettbewerbsbedingungen. Darüber reden wir, darüber redet auch die EU völlig zurecht mit Peking. Aber der ganz überwiegende Teil der in China produzierten Autos, der hierher nach Deutschland kommt, stammt von deutschen und internationalen Marken. Das wird in der öffentlichen Debatte ja manchmal vergessen. Deshalb bin ich ‑ ich habe es schon öffentlich gesagt, und wiederhole es hier – gegen Zölle, die uns selbst schaden. Die EU soll solche Instrumente lieber dort nutzen, wo unfaires und WTO-widriges Dumping und ebensolche Subventionen unsere Produzenten benachteiligen, beispielsweise in der Stahlindustrie. Protektionismus und Handelskriege schaden uns. Denn als Exportland leben wir vom offenen Handel mit der ganzen Welt. Deshalb brauchen wir nicht die besten Zölle, sondern die besten Autos und die modernsten Technologien. Diese in Europa einzigartige Fabrik zeigt, wie viel Potenzial in unserem Land steckt, wie viele gute Ideen entstehen und wie schnell sie umgesetzt werden. Ich gratuliere Mercedes-Benz zu dem Mut und zu der Weitsicht, hier zu investieren. Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die dieses Projekt mit ihrem Engagement und ihrem Know-how möglich gemacht haben, sage ich: Vielen herzlichen Dank! Wenn wir in Deutschland auch künftig die weltbesten Autos bauen möchten – und das können wir! ‑, dann muss Deutschland ein Leitmarkt für neue Technologien sein. Daher tun wir viel dafür, dass die Elektromobilität hier bei uns in Deutschland beste Bedingungen hat. Deshalb das Deutschlandnetz mit 9.000 Schnelladepunkten, deshalb das Gesetz, damit an allen großen Tankstellen Schnellladestationen entstehen, deshalb ein Lkw–Lastkraftwagen-Schnellladenetz an 350 Standorten, deshalb mehr netzunabhängige Ladestationen und deshalb die steuerliche Förderung für elektrische Fahrzeuge. Das alles ist Teil einer neuen industriepolitischen Agenda, die gute Bedingungen für unsere Unternehmen schafft und Arbeitsplätze sichert. Dazu zählen dauerhaft günstige, verlässliche Energiepreise, die auch die E-Mobilität voranbringen. Wir haben dafür bei Strom- und Gaspreisen schon ganz schön viel getan. Wenn wir die Preise dauerhaft verlässlich und stabil halten – das habe ich am Mittwoch im Bundestag vorgestellt –, dann kann das auch für die Zukunft weiterhin bedeutend bleiben. Darüber reden wir nun mit der Industrie, den Gewerkschaften, Unternehmen und Verbänden. Der Ausbau der Ladeinfrastruktur darf allerdings nicht an deutschen Grenzen haltmachen. Deshalb erwarten wir von der EU-Kommission die enge Überprüfung der EU-Verordnung zum Infrastrukturaufbau und eine aktive Unterstützung des europaweit ambitionierten Ladeinfrastrukturaufbaus. Ein Zukunftsfeld, in dem Europa schon weltweit führend ist, und zu dem diese neue Fabrik ebenso passt, ist die Kreislaufwirtschaft. Für die Kreislaufwirtschaft sprechen nicht nur ökologische Gründe, sondern auch wirtschaftlich rechnet sich das. Deshalb arbeiten wir an der Nationalen Kreislaufwirtschaftsstrategie. Bis Ende des Jahres soll sie verabschiedet werden. Der zweite Erfolgsfaktor für den Industriestandort Deutschland heißt Forschung und Entwicklung. Wenn unsere Technologien besser sind als die der Mitbewerber, dann sichert das Arbeitsplätze, Produktion und Wohlstand. Deshalb ist es so wichtig, dass deutlich über drei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung fließen. Mit unserer Wachstumsinitiative sorgen wir dafür, dass Unternehmen, die investieren, dadurch Steuern sparen. Wie sinnvoll industrienahe Forschung ist, das kann man hier in Kuppenheim sehen. Sie haben mit dem KIT–Karlsruher Institut für Technologie, der TU Clausthal und der TU Berlin als wissenschaftlichen Partnern zusammenarbeitet. Gut! Denn was nützt die schönste Idee in der Schublade einer Uni, wenn sie nicht auch Realität erlebt und funktioniert? Eben war schon von den Kuppenheimer Vorfahren von Tim Walz die Rede. Auch Tim Walz glaubt an eine gute industrielle Zukunft, so wie ich. Er ist ebenfalls oder gerade deshalb ein echter E-Auto-Fan. Er hat, frei übersetzt, einmal gesagt: Leute aus Minnesota wissen: Man muss im Eishockey dorthin skaten, wo der Puck ist. Und der Puck, das ist die E-Mobilität. Das ist unwiderlegbar, so Tim Walz. Ich sehe das ähnlich, und deshalb wünsche ich Ihnen alles Gute für diese wegweisende Fabrik. Schönen Dank.
Es sei wichtig, dass das Auto-Land Deutschland bei der Elektromobilität ganz vorne mit dabei sei, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede zur Eröffnung der Batterie-Recycling-Fabrik von Mercedes-Benz in Kuppenheim.
Die Herausforderungen der Chemie-Industrie fest im Blick
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bk-rede-jubilaeum-brenntag-2315658
Wed, 16 Oct 2024 19:06:00 +0200
Rede von Kanzler Scholz beim Chemie-Weltmarktführer Brenntag
Wirtschaft und Klimaschutz,Statement BK
Statement-BK
Bundeskanzler Scholz hat beim 150-jährigen Jubiläum des Chemieunternehmens Brenntag in Essen unterstrichen, dass Deutschland starke Industrieunternehmen aus der Chemiebranche braucht. Dafür setzt er sich ein – auch mit seiner heute im Bundestag vorgeschlagenen industriepolitischen Agenda. Das Wichtigste in Kürze: Für eine starke Industrie: Die Bundesregierung fördert die deutsche Industrie durch zahlreiche Maßnahmen: So stärkt sie Forschung und Entwicklung in Unternehmen durch steuerliche Entlastungen, baut unnötige Bürokratie ab, sichert Fachkräfte und sorgt für dauerhaft niedrige, verlässliche Energiepreise. Entlastung bei den Stromkosten: Gerade bei den Energiepreisen hat der Bundeskanzler erneut betont, dass er sich – neben den bereits beschlossenen Entlastungen – für weitere Schritte einsetzt, sodass noch mehr Unternehmen von den Entlastungen profitieren können. Für den Chemiestandort Deutschland: Die Bundesregierung bekennt sich zudem mit ihrer Chemie-Strategie zu einem starken Chemiestandort Deutschland. Bei allen Schritten zur Förderung des Wirtschaftsstandortes „habe ich auch die besonderen Herausforderungen der Chemie-Industrie fest im Blick“, so Bundeskanzler Scholz in Essen. Die in Essen ansässige Firma Brenntag wurde 1874 in Berlin als Eiergroßhandel gegründet. Heute ist sie Weltmarktführer in der Distribution von Chemikalien und betreibt ein weltweites Netzwerk mit rund 600 Standorten in 72 Ländern. Sie ist Vorreiter bei nachhaltiger und klimafreundlicher Produktion und beschäftigt über 17.700 Mitarbeitende aus aller Welt. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Ladies and gentlemen, just a short note before I begin: I am aware, your programme tonight is in English. In a nutshell, that shows what Brenntag has grown into in the past 150 years: a successful and truly global player with employees from all over the world. But it is customary for a German Chancellor in Germany to speak German – and it will make life a little bit easier for the journalists present. So I do hope you understand, that I will further continue my speech in German. Sehr geehrter Herr Dr. Kohlpaintner, sehr geehrte Frau Dr. Neumann, sehr geehrter Herr Ridinger, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Brenntag, meine Damen und Herren, was war zuerst da: Henne oder Ei? – Diese Frage hat schon Philosophen der Antike beschäftigt. Mit Blick auf Brenntag aber ist die Antwort klar: Am Anfang war das Ei. Das würde man nicht vermuten beim Weltmarktführer in der Distribution von Chemikalien, bei einem DAX–Deutscher Aktienindex-Konzern. Aber die Geschichte von Brenntag beginnt tatsächlich mit der Gründung eines Eiergroßhandels in Berlin. Fünf Kilometer vom heutigen Kanzleramt entfernt war das. 1874 hätte sich Philipp Mühsam wahrscheinlich nicht träumen lassen, dass sein Unternehmen einmal zu den erfolgreichsten in Deutschland zählen würde, präsent mit Standorten auf der ganzen Welt, oder dass wir heute den 150. Geburtstag mit so vielen Gästen und dem weltberühmten Gewandhausorchester feiern. Dass es so kam, hat drei Gründe: Mut, die Fähigkeit, sich anzupassen an neue Bedingungen, ein Gespür für die Wünsche der Kunden. Philipp Mühsam hatte diesen Mut, diese Anpassungsfähigkeit und dieses Gespür. Alle drei Eigenschaften zeichnen Ihr Unternehmen bis heute aus. Fangen wir mit Mut an. Philipp Mühsam hat das Unternehmen nicht nur gegründet, sondern auch noch einmal ganz von vorne angefangen. Er hat sich vom Brot- und Buttergeschäft, dem Eiergroßhandel, getrennt und schon früh auf den Handel mit Chemikalien gesetzt. Unter den Nationalsozialisten sah sich die jüdische Familie später gezwungen, das Unternehmen weit unter Wert zu verkaufen und auszuwandern. Auch dieses dunkle Kapitel gehört zur Geschichte dieses Unternehmens und unseres Landes. Nach dem Krieg folgte der nächste Neuanfang im zerstörten Deutschland: der Umzug ins Ruhrgebiet, der Aufschwung während der Wirtschaftswunder-Jahre mit Tankstellen und Schifffahrt und immer wieder die ganz grundlegende Umgestaltung des Unternehmens. Diese Bereitschaft zur Veränderung und die Fähigkeit, sich an neue Bedingungen anzupassen, ziehen sich bis heute durch. Sie haben Brenntag schließlich im Jahr 2000 zum Weltmarktführer in der Distribution von Chemikalien gemacht hat. Eine bemerkenswerte Leistung! Alle Hochachtung davor! Brenntag hat das geschafft, weil die Verantwortlichen die richtigen Entscheidungen getroffen haben und weil sie verstanden haben, dass ohne ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nichts funktionieren würde. Das beginnt mit der Ausbildung. Brenntag ist mehrfach ausgezeichnet als hervorragendes Ausbildungsunternehmen. Ich finde das wichtig, weil es zeigt, woher unsere Stärke als Industrienation kommt: von den gut ausgebildeten und hart arbeitenden Frauen und Männern in unserem Land, die sich weiterbilden, die familienfreundliche Arbeitsplätze und gute Betreuung finden, die freiwillig weiterarbeiten, auch wenn sie das Rentenalter schon erreicht haben. Fachkräfte sind die Grundlage für alles, was wir in diesem Land erfinden, bauen, verbessern, exportieren. Deshalb setze ich mich mit der Bundesregierung so für unsere Fachkräfte ein. Viele von ihnen sind auch aus anderen Ländern zu uns gekommen, um hier mit anzupacken – auch hier bei Brenntag. Wir alle müssen dafür sorgen, dass das weiter möglich bleibt. Die Politik hat das getan mit Gesetzen wie dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz, aber auch Unternehmen und jede und jeder Einzelne von uns. Weltoffenheit ist für uns als Exportland enorm wichtig, nicht nur mit dem Blick auf die Fachkräfte, sondern auch mit Blick auf neue Märkte. Deshalb halte ich auch nichts vom „decoupling“, also davon, sich von ganzen Ländern und Regionen abzukoppeln. Unsere Ambition sollte auch nicht sein, die besten Zölle zu haben, sondern die besten Produkte zu verkaufen, die ganze Welt zu überzeugen mit Qualität und Leistung „Made in Germany“. Das ist unser Erfolgsmodell als Volkswirtschaft. Mehr Handel mit mehr Partnern aus mehr Ländern – so sieht in einer unsicheren Welt vernünftiges Risikomanagement aus. Ich habe zu Beginn von drei Gründen gesprochen, die Brenntag seit 150 Jahren erfolgreich machen: Mut, die Fähigkeit, sich anzupassen an neue Bedingungen, und – der dritte Grund aus meiner Sicht – ein Gespür für die Wünsche der Kunden. Effizienz, Ressourcen schonen, Klimaneutralität – das sind Wünsche, die bei vielen Ihrer Kunden eine immer größere Rolle spielen. Deshalb ist es gut, wenn Brenntag auch hier Vorreiter ist. Das hat Erfolg bei den Kunden. Damit sichern Sie Arbeitsplätze und wirtschaftlichen Erfolg. Diese Innovationskraft der Chemiebranche, sei es im chemischen Recycling oder bei der industriellen Nutzung von CO–Kohlenstoffdioxid2, treibt den Fortschritt insgesamt voran. Das macht auch die Chemieindustrie in Deutschland stärker. Ich sage das in einer Zeit, in der es die heimische Industrie nicht leicht hat. Die Energiepreise, die durch den russischen Angriffskrieg stark gestiegen waren, haben in der Chemieindustrie besonders zu Buche geschlagen. Mit Erfolg haben wir uns gegen die hohen Energiepreise, die gestiegene Inflation, die Unsicherheit der Unternehmen gestemmt. Inzwischen sind die Preise wieder gesunken. Aber zugleich gibt es viel Unsicherheit, gerade auch in Ihrer Branche, wie sich die Preise künftig entwickeln werden und was das für die Produktion in Deutschland heißen könnte. Für mich ist ganz klar: Deutschland braucht eine starke Industrie. Genau darum geht es auch bei meiner industriepolitischen Agenda, die ich heute im Bundestag vorgestellt habe. Ich will, dass Deutschland erfolgreiches Industrieland bleibt – mit seinen Weltmarkführern und guten Industriearbeitsplätzen und erfolgreichen Händlern; denn die gehören dazu. Wir entlasten Unternehmen steuerlich, die in Forschung und Entwicklung investieren. Wir bauen weiter unnötige Bürokratie ab. Auch die EU muss das übrigens tun. Wie gut, dass ich gerade nach Brüssel fahre! Wir haben uns verpflichtet, bei EU–Europäische Union-Regeln nicht immer noch draufzusatteln, sondern sie eins zu eins umzusetzen. Wir sichern unserer Industrie die Fachkräfte, die wir brauchen, um auch in Zukunft zu wachsen. Und nicht zuletzt sorgen wir dauerhaft dafür, dass es niedrige, verlässliche Energiepreise gibt. Die Stromsteuer für produzierendes Gewerbe und Landwirtschaft haben wir auf das europäische Mindestmaß gesenkt und die EEG-Umlage praktisch abgeschafft. Die Strompreiskompensation haben wir verlängert und ausgeweitet. Ich will, dass diese Kompensation mehr Unternehmen begünstigt. Wie der Super-Cap ist das eine Regelung, die dazu beiträgt, dass es wirklich alle schaffen können. Energieintensive Unternehmen entlasten wir auch beim Netzentgelt, und auch das soll eine Entlastung bleiben, die auch auf weitere Unternehmen ausgedehnt wird. Das würde jedenfalls sehr, sehr helfen. Bei alldem habe ich aber die besonderen Herausforderungen der Chemie fest im Blick. Deshalb habe ich mich beim Chemie-Gipfel mit der Branche zusammengesetzt und ein Paket mitgebracht, das die Branche stärker macht. Mit unserer Chemie-Strategie bekennen wir uns dazu. Wir sind uns zum Beispiel einig, wie wichtig eine differenzierte Betrachtung und pragmatische Lösungen für Ewigkeitschemikalien wie PFAS–Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen sind, und das gilt auch für das europäische Projekt – nennen wir es mal so – „REACH“. Natürlich müssen wir strenge Rücksicht auf die Risiken nehmen. Aber die Regulierung sollte deutlich weniger restriktiv sein als der Vorschlag der EU-Kommission. All diese Maßnahmen werden helfen, dass Deutschland ein starker Chemiestandort bleibt. Was wir dazu sonst noch brauchen, bringen Sie bei Brenntag mit: Mut, die Fähigkeit, sich anzupassen an neue Bedingungen, ein Gespür für die Wünsche der Kunden und – das kann man auch heute Abend hier erleben – tolle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Meine Damen und Herren, das heute hier ist Ihr Festtag. Sie haben dieses Unternehmen mit Ihrer Arbeit groß gemacht. Und deshalb sage ich Ihnen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Brenntag hier im Saal und auf der ganzen Welt heute: Vielen herzlichen Dank. Und wenn wir schon dabei sind – hier oben halten heute ja einige Leute wie ich Reden, ein weltberühmtes Orchester spielt Musik –: Aber ohne die Technikerinnen und Techniker, die Sicherheitsleute, die Kellnerinnen und Kellner, die Organisatorinnen und Organisatoren, bei denen im Hintergrund die Fäden zusammenlaufen, wäre das alles nicht möglich. Und deshalb möchte ich an diesem schönen Tag auch Ihnen schönen Dank sagen, ganz persönlich von mir, aber auch von allen im Publikum, die gleich klatschen: Dieser Applaus ist für Sie alle! Alles Gute, schönen Dank und Glück auf, Brenntag!
Die Chemiefirma Brenntag ist eine von vielen Weltmarktführern aus Deutschland. Bundeskanzler Scholz hat bei ihrem 150-jährigen Jubiläum bekräftigt, dass er sich dafür einsetzt, dass Deutschland erfolgreicher Industriestandort bleibt.
Menschen weltweit ein gesünderes Leben ermöglichen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-world-health-summit-2315040
Mon, 14 Oct 2024 00:00:00 +0200
World Health Summit
Berlin
Statement BK,Auswärtiges
Statement-BK
Der World Health Summit ist eine der weltweit führenden Global-Health-Konferenzen, die jährlich in Berlin stattfindet. Die Leitveranstaltung, die sogenannte „Investment Round“, dient dazu, Finanzmittel für die World Health Organization (WHO) zu mobilisieren. Es geht dabei um das 14. Allgemeine Arbeitsprogramm der WHO für den Zeitraum 2025 bis 2028. Das Wichtigste in Kürze: Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte einen deutschen Finanzbeitrag von mindestens 360 Millionen Euro für das Arbeitsprogramm der WHO 2025 bis 2028 an. Die WHO brauche eine nachhaltige Finanzierung, um planen und flexibel reagieren zu können. Es sei wichtig, die finanzielle Verantwortung auf mehr Schultern zu verteilen. Der Bundeskanzler wies in seiner Rede darauf hin, dass mit dem Geld für die WHO vielen Frauen und Männern – und vor allem Kindern – ein gesünderes Leben ermöglicht werden könne. Er erinnerte an die wichtige Rolle, die die WHO kürzlich beim Ausbruch des Mpox-Virus in Zentralafrika gespielt hatte. Die Covid-Pandemie habe gezeigt, dass Pandemien nicht an Ländergrenzen haltmachten. Daher werde man sich weiterhin dafür einsetzen, dass es zum Abschluss eines Internationalen Pandemieabkommens komme. Lesen Sie hier Mitschrift der Rede auf Englisch: Director-General Tedros, Bill Gates, Minister Lauterbach, Karl, Excellencies, Ladies and gentlemen, “Whoever saves one life saves the world entire.” Most of you are probably familiar with this maxim from the Talmud. Saving as many lives as possible is what the World Health Organization aspires to. One number reflects just how lofty this aspiration is: 40 million lives. That is how many lives the WHO will be able to save over the next four years. Because there are more vaccines that protect against serious diseases. Because there is better access to doctors, nurses, clinics. Because medical staff receive more professional training. Because meaningful data is collected. The World Health Summit each year shows how far we have come – and what must be tackled next. With the money that we collect at this pledging event today, we can enable many women and men – and above all children – to live healthier lives. With less pain, fewer infections, less suffering. Many thanks for coming to Berlin from around the world to be here. I join in bidding you a warm welcome! One very recent example illustrates how important the World Health Organization is. In August, there was an outbreak of mpox in Central Africa. This disease is particularly dangerous for people who cannot access clean water or reliable medical care. Who do not have space to isolate. Who have weak immune systems. The World Health Organization sprang into action following the outbreak and declared it a public health emergency of international concern – the highest level of alarm. This shows how swiftly the organisation can act. After providing initial emergency assistance, the WHO called on the research community to share data and on countries to donate vaccines. I am pleased that the German Government was immediately able to offer 100,000 doses. Vaccination campaigns are now being organised on the ground and staff are being trained to carry them out. Together with UNICEF and Gavi, the Vaccine Alliance, work is being done to ensure that everyone can be safely vaccinated, with clean needles, vaccines kept at the right temperature, tents, qualified staff, a vaccination campaign. The alarm levels help all countries to better assess emergency situations such as the mpox outbreak and to make decisions accordingly. In May this year, at the last World Health Assembly, we improved the categorisation of the alarm levels and made specific adjustments to the International Health Regulations. This is particularly important for tackling the most serious diseases there are: Ebola, mpox, the Marburg virus and polio. This enables us to better tailor our response when something happens. We live in a deeply interconnected world. Aeroplanes take off every second, transporting goods and passengers around the globe. Sometimes they also carry viruses on board. The COVID-19 pandemic made it definitively clear that an outbreak of infectious disease anywhere in the world affects us all. Pandemics do not stop at borders. This represents a global challenge, one that we can only properly tackle together. And so we are continuing to campaign for an international pandemic instrument to be concluded – sooner rather than later. An instrument that should improve prevention and preparedness as well as enable us to respond more swiftly to pandemics and cooperate more closely with other states. This is important. The World Health Organization’s work benefits us all. What it needs for this work is sustainable financing that gives it the certainty to plan ahead and the flexibility to react. I am therefore pleased that the member states have decided on a gradual increase of their assessed contributions. These will partially cover the Fourteenth General Programme of Work. We have to find other ways to fund the rest. This includes making good use of synergies with other stakeholders in global health, such as Gavi, CEPI and the Global Fund. Recently, just a handful of countries have provided large amounts of funding. It would be better for us to spread the responsibility across many more shoulders. Every contribution counts – no matter how small. Ladies and gentlemen, That is why we have invited you to this pledging event. I am especially pleased to see that both old acquaintances and new donors are prepared to support the World Health Organization. My thanks go to the Wellcome Trust as well as the Gates Foundation for their unwavering efforts. Bill Gates, Your goal und your foundation’s top priority are to eradicate polio. Your decades of tenacious work show how difficult this is. But thanks to everything that you and your fellow campaigners have done over the last years, we are better able to fight many other infectious diseases, too. I would like to take this opportunity to say to you in person, most sincerely: Thank you so much! And I thank all of the states, foundations and business representatives who have made pledges here in Berlin today. Germany, too, supports sustainable financing for the WHO. And so I am pleased to be able to share with you today that Germany will be providing the World Health Organization with a total of at least 360 million euro for the next General Programme of Work. Together with our French and Norwegian friends, I appeal to you: Join us! Let us support the WHO together! Let us save lives together. Ladies and gentlemen, This pledging event is a great success! We have built trust for a healthier world and we will continue to do so. And so I say to all of you, from the bottom of my heart: Thank you very much.
Gesundheit ist eine globale Herausforderung, Pandemien machen nicht vor Ländergrenzen Halt. Zur nachhaltigen Finanzierung der Weltgesundheitsorganisation WHO kündigt Kanzler Scholz beim World Health Summit einen Beitrag von 360 Millionen Euro an.
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Feier zu 40 Jahren privater Rundfunk
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/40-jahre-privater-rundfunk-2314714
Thu, 10 Oct 2024 00:00:00 +0200
Verband VAUNET
Berlin
Wirtschaft und Klimaschutz,Aufgaben_des_Kanzlers,Statement BK
Sehr geehrter Herr Grewenig, sehr geehrter Herr Schmitter, sehr geehrter Herr Habets, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Alex, sehr geehrte Vertreter der Länder und sehr geehrte Medienschaffende, meine Damen und Herren, ich hatte vor kurzem Besuch von Daniel Kehlmann im Kanzleramt. Er erzählte von einem befreundeten Drehbuchautor aus Los Angeles. Dieser Freund durfte eine KI für Drehbuchautoren testen. Danach sagte er: Daniel, mir bleiben vielleicht noch drei, maximal fünf gute Jahre. – Denn diese KI war so gut, dass er nur die Hauptfiguren, den Plot und die Atmosphäre für eine neue Serie beschreiben musste, und ein paar Minuten später hatte er das Drehbuch auf dem Rechner, sechs Folgen, fertig geschrieben. Das zeigt, wie tiefgreifend diese Veränderung ist. Vieles, was dann möglich wird, können wir uns heute noch gar nicht vorstellen. Das wirft Fragen auf und bereitet vielen verständlicherweise auch Sorge. Das war vor 40 Jahren ähnlich. Als der private Rundfunk startete, standen ähnlich große Fragen im Raum: Wird dann überhaupt noch jemand Zeitung lesen? Werden sich die Menschen noch über Politik informieren? Entscheidet der Werbepartner über Programminhalte? Die Verantwortlichen hatten damals Lust auf Neues und großes Vertrauen. Sie haben den Medienmarkt revolutioniert. Mit einer unglaublichen Energie und einer unvergleichlichen Aufbruchsstimmung sind die neuen Radiosender und Fernsehkanäle damals an den Start gegangen. Auch die öffentlich-rechtlichen Programme haben profitiert. Das war Pionierarbeit, vor allem bei den vielen privaten Lokalsendern und ‑stationen vor Ort. Heute gibt es über 600 private Radio- und TV-Programme. Sie erreichen jeden Tag über 50 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Zwei Erkenntnisse aus dieser Zeit: Erstens: Alle Angebote finden ihr Publikum, nur sind heute die Zielgruppen kleiner und sehr viel klarer umrissen. Es gibt nicht mehr das eine große Lagerfeuer auf dem kleinen Fernseher, um das sich abends alle im Wohnzimmer versammeln, sondern eher viele kleine Feuer. Die zweite Erkenntnis: Es gibt nicht die bessere und die schlechtere Unterhaltung. Da sollte man keinen Dünkel haben. Die Vielfalt der Privaten bedeutet schlicht und einfach: Sie erreichen mehr und andere Zuhörerinnen und Zuschauer. ‑ Das heißt aber gleichzeitig für die Privaten: Sie müssen dann umso mehr auch den Anspruch haben, gute Informationen zu bieten, und ihm gerecht werden. Die Aufteilung, dass es bei den Öffentlich-Rechtlichen die sachlichen Informationen und bei den Privaten die seichte Unterhaltung gibt, stimmt schon lange nicht mehr. Deshalb gebe ich Interviews nicht nur bei ARD und ZDF, sondern bin genauso gern bei RTL, wie gerade erst am Dienstag, bei ProSiebenSat.1 und den vielen anderen. Genauso war ich auch in Podcasts zu Gast. Warum brauchen wir all diese sehr verschiedenen Angebote? – Weil sie genauso vielfältig sind wie die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Sie haben gerade meine Rede zitiert, in der ich das auch gesagt habe. Unabhängige und vielfältige Medienangebote sind wie die Meinungsfreiheit Grundlage für einen demokratischen Diskurs und damit für unsere Demokratie. Deshalb steht Artikel 5 so weit vorn im Grundgesetz. Vor 40 Jahren, zum Start des privaten Rundfunks in Deutschland, gab es noch kein Internet. Privater Rundfunk, das ist mittlerweile auch das Smartphone, das in jeder Tasche steckt. Hier kann ich alles konsumieren und selbst senden. Das Rezept dort für ein großes Publikum: Je lauter, einseitiger und emotionaler, desto wahrscheinlicher ist eine große Reichweite. – Lautstärke aber kann Qualität nie ersetzen. Einseitigkeit ersetzt keine Tiefe. Emotionen ersetzen keine Fakten. Deshalb sind immer auch die Journalistinnen und Journalisten nötig, die sortieren, einordnen und hinterfragen, die Redakteurinnen und Redakteure, die Themen vom Anfang an bis zum Ende denken. Nötig sind alle Medienschaffenden, die ein Interesse daran haben, dass nicht die radikalste These, die steilste Behauptung, die freizügigsten Bilder im Mittelpunkt stehen. Denn wenn es zu laut wird, ziehen sich die Leisen zurück. Aber gerade jetzt brauchen wir alle Stimmen für unsere Demokratie und unsere Freiheit. Deutschland hat eines der vielfältigsten Mediensysteme der Welt, und das soll auch so bleiben. 40 Jahre privater Rundfunk, das ist mehr als die Hälfte der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Die Privaten haben diese Geschichte mitgeschrieben, eine Erfolgsgeschichte. VAUNET–Verband privater Medien steht wie kein anderer Verband für die Interessenvertretung der privaten Medien in Deutschland. Dafür mein herzlicher Dank an alle, die daran mitgewirkt haben! Lassen Sie uns die Erfolgsgeschichte unseres Landes gemeinsam weiterschreiben! Schönen Dank.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat an der Jubiläumsfeier des Verbandes VAUNET–Verband privater Medien zum 40-jährigen Bestehen der privaten Medien in Deutschland teilgenommen. Der Kanzler hielt einen Impulsvortrag – hier der Wortlaut zum Nachlesen.
Grußwort des Kanzlers zur Eröffnung des Lichtfests in Leipzig
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/grusswort-eroeffnung-lichtfest-2314562
Wed, 09 Oct 2024 00:00:00 +0200
35 Jahre Friedliche Revolution
Leipzig
Aufgaben_des_Kanzlers,Inneres und für Heimat,Statement BK
Bundeskanzler Olaf Scholz: Liebe Bürgerinnen und Bürger von Leipzig – „Bürgerinnen und Bürger“: das ist ja ein wichtiges Wort, weil es etwas mit Selbstermächtigung zu tun hat, mit Demokratie und Freiheit –, ich bin sehr froh, dass wir alle hier auf diesem Platz stehen können und dass die Möglichkeit besteht, sich zu erinnern an das, was 1989 passiert ist. Ich will das hier noch einmal sagen: Es steht da stolz „89“ an dem Turm, aber es ist auch eine Botschaft – eine Botschaft, dass es möglich ist, die Freiheit friedlich zu erkämpfen. Es standen unzählige da und haben sich, nachdem sich viele in der Nikolaikirche versammelt hatten, auf den Weg gemacht, sind den Ring entlanggegangen und wussten nicht, auf was sie sich da eingelassen haben und welche Risiken und Gefahren sie eingehen. Unglaublich viel Staatssicherheit, Polizei, Militär war aufgefahren worden, und manche haben sich schon tagelang Sorgen gemacht, was wohl passieren wird, ob das in einem Blutbad endet, wie kurz zuvor in China auf dem Tian’anmen-Platz, oder ob ganz viele verhaftet werden, und was eigentlich passiert, wenn so viele Krankenhäuser auf 24-Stunden-Bereitschaft eingestellt werden. Aber trotz aller Furcht, die jeder und jede Einzelne gehabt haben mag – und da wird es nicht wenige gegeben haben – haben sie gefühlt, dass die Gemeinschaft, dass der Zusammenhalt Kraft gibt und dass sie es wagen können. Und sie haben es gewagt. Die Diktatur der SED, der DDR-Staat mit aller seiner Macht und Gewalt ist zurückgewichen und hat es geschehen lassen. Damit war nicht nur Leipzig, war nicht nur die DDR, war nicht nur Deutschland, nicht nur Europa verändert, sondern die ganze Welt. Weil es möglich war, die Freiheit und die Demokratie zu erringen. Deshalb dürfen wir auch heute und in diesen Tagen nicht vergessen, dass es ein Erbe und eine Mahnung von den mutigen Frauen und Männern, die damals hier gestanden haben und den Ring entlanggegangen sind, gibt: Es ist die Mahnung, dass für die Freiheit, für die Demokratie, für das Recht jedes Einzelnen und jeder Einzelnen, so zu leben, wie sie es selber gut finden, und sich nicht von anderen vorschreiben zu lassen, wie man leben soll, dass für diese Freiheit zu kämpfen sich immer lohnt. Es ist ein großer Tag, den wir heute haben.
In Leipzig haben die Bürgerinnen und Bürger an die Friedliche Revolution 1989 erinnert. Auch mit einem Lichtfest, an dem Bundeskanzler Scholz teilnahm.
Bekenntnis zum Start-up-Standort Deutschland
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/start-up-summit-germany-2309024
Tue, 17 Sep 2024 19:45:00 +0200
WIN – Wachstums- und Innovationskapital für Deutschland
Aufgaben_des_Kanzlers,Wirtschaft und Klimaschutz
Beim Start-up-Germany Summit in Berlin hat der Bundeskanzler Mitte September gemeinsam mit Wirtschaftsminister Habeck und Finanzminister Lindner eine Absichtserklärung zur WIN–Wachstums- und Innovationskapital für Deutschland-Initiative unterzeichnet. Mit dieser WIN–Wachstums- und Innovationskapital für Deutschland-Initiative bekennt sich ein breites Bündnis von Wirtschaft, Verbänden, Politik und der KfW zum deutschen Finanzstandort und zur Förderung von Start-ups. Dabei wurde ein umfangreiches Maßnahmenpaket zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Wachstums- und Innovationskapital in Deutschland vereinbart. Außerdem wollen die teilnehmenden Unternehmen etwa zwölf Milliarden Euro bis 2030 in die weitere Stärkung des deutschen Venture Capital-Ökosystems investieren. Das Wichtigste in Kürze: Die WIN–Wachstums- und Innovationskapital für Deutschland-Initiative ist eine gute Nachricht für Start-ups und den Standort Deutschland. Mit ihr sollen private Investitionen in Wagniskapital (Gelder, die in neu gegründete Unternehmen investiert werden), in Start-ups und in Innovationstechnologien mobilisiert werden. Wachstumsfinanzierungen sind für die Innovationskraft Deutschlands und Europas von entscheidender Bedeutung. Gerade in Zeiten sich verschiebender geopolitischer Kräfteverhältnisse ist die Stärkung unserer Wettbewerbsfähigkeit und technologischen Souveränität von zentraler Bedeutung. Dabei bauen wir insbesondere auf junge und dynamische Unternehmen als Innovationsmotoren. Die Bundesregierung hat die Rahmenbedingungen für Start-ups in Deutschland in den letzten Jahren kontinuierlich verbessert. Die Start-up-Strategie unterstützt unter anderem durch neue Förderprogramme sowie Beratungen bis hin zu praxistauglichen Gesetzen, Talentgewinnung über Diversität und der Stärkung von Gründerinnen und Gründern bis hin zu Ausgründungen aus der Wissenschaft und zu Reallaboren. Die Start-up-Strategie der Bundesregierung: Im Sommer 2022 hat die Bundesregierung erstmals eine umfassende Start-up-Strategie vorgelegt. Von den 130 Maßnahmen sind etwa 80 Prozent inzwischen verwirklicht. In der Folge wurden im ersten Halbjahr 2024 rund 15 Prozent mehr Start-ups als noch im Halbjahr davor neu gegründet. Das sind 1.384 neue Start-ups in Deutschland. Derzeit arbeiten etwa 522.000 Menschen in Deutschland in Start-ups. Es gibt 31 „Einhörner“ in Deutschland, das sind Start-ups, mit einer Unternehmensbewertung von mindestens einer Milliarde US–United States-Dollar. Mit dem Zukunftsfonds stellt die Bundesregierung bis zum Jahr 2030 zudem zehn Milliarden Euro zur Verfügung und hebelt damit auch private Investitionen. Das stärkt die Wachstumsfinanzierung in Deutschland. Mit dem Wachstumsfonds Deutschland hat die Bundesregierung Mittel von institutionellen Investitionen mobilisiert. Der Fonds hat Ende letzten Jahres sein Zielvolumen von einer Milliarde Euro erreicht und ist bereits in rund 25 Venture Capital Fonds investiert. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Lieber Robert, lieber Christian, sehr geehrte WIN–Wachstums- und Innovationskapital-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, meine Damen und Herren, es freut mich sehr, dass ich heute hier sein kann. Meine Anreise aus Zentralasien hat etwas länger gedauert, aber diesen Termin mit Ihnen allen hier wollte ich auf keinen Fall verpassen. Umgekehrt bin ich natürlich sehr froh, dass Sie hier noch so zahlreich anwesend sind, um gemeinsam diesen Start-up Germany Summit der Bundesregierung zu beschließen. Das war ja auch für Sie alle ein sehr langer und sehr reichhaltiger Tag – ich habe mir davon schon berichten lassen. Ein Tag, der gezeigt hat, wie vielfältig, dynamisch und erfolgreich die deutsche Start-up-Landschaft ist. Ein Tag, der gezeigt hat, wie umfassend Bund und Länder Start-ups mit ihren Instrumenten der Förderung und Finanzierung unterstützen, also mit Steuergeld. Ein Tag, der wiederum neue Impulse gesetzt hat – inhaltliche Impulse, aber auch Impulse für die noch bessere Vernetzung aller Akteurinnen und Akteure. Einen Höhepunkt des Tages haben wir gerade erlebt: Das war die Unterzeichnung der Absichtserklärung zur Initiative Wachstums- und Innovationskapital für Deutschland, eben kurz WIN–Wachstums- und Innovationskapital. Die WIN–Wachstums- und Innovationskapital-Initiative ist eine gute Nachricht für unsere Start-ups und eine gute Nachricht für den Wirtschaftsstandort Deutschland überhaupt. Denn das grundsätzliche Problem ist ja dieses: Die Wachstumsperspektiven in Europa, auch hier bei uns in Deutschland, sind noch immer erheblich ungünstiger als die Wachstumsperspektiven etwa in den USA. Dieser Rückstand hat damit zu tun, dass unser Kapitalmarkt fragmentiert ist und dass das viele Geld, das hier existiert, nicht ausreichend in das Wachstum von Unternehmen investiert wird. Unsere Unternehmen brauchen bessere Finanzierungsmöglichkeiten, damit sie hier in Deutschland und Europa wachsen können und nicht wegen mangelndem Kapitalzugang beispielsweise in die USA abwandern. Genau hier muss Europa also dringend aufholen. Wir müssen es endlich schaffen, dass das viele Geld, das in Europa real vorhanden ist, auch privatwirtschaftlich in europäische Unternehmen und ihr Wachstum investiert wird. Deshalb setzen wir uns auf der europäischen Ebene auch weiterhin vehement dafür ein, dass die Vertiefung der Kapitalmarktunion vorankommt. Zugleich setzen wir schon heute mit der WIN–Wachstums- und Innovationskapital-Initiative für mehr Wachstums- und Innovationskapital ein wichtiges Aufbruchssignal für Deutschland. Damit mobilisieren wir Investitionen in Wagniskapital, in Start-ups und in zukunftsweisende Technologien. Damit stärken wir den deutschen Wachstumskapitalmarkt und zugleich die Innovationskraft unserer Wirtschaft. Denn wir wollen unseren Wohlstand erhalten und unsere Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Wenn wir das erreichen wollen, dann brauchen wir eben nicht nur eine starke Industrie und einen starken Mittelstand – die brauchen wir unbedingt –; vielmehr ist eine dynamische Gründungslandschaft als Treiber der Transformation mindestens genauso entscheidend. Das war übrigens schon immer so. Das Weltunternehmen Siemens war einmal ein Start-up mit einer Idee und zehn Mitarbeitern, 1847 gegründet in einem Hinterhof in Berlin-Kreuzberg. Der Halbleiterhersteller NXP ist im Wesentlichen aus Philips erwachsen und entwickelt – übrigens gemeinsam mit Start-ups – auch Quantencomputer. Aber hervorgegangen ist auch NXP selbst am Anfang des vorrätigen Jahrhunderts nicht zuletzt aus einem kleinen Start-up für Röntgenröhren in Hamburg-Hammerbrook. Auch SAP war einmal ein Startup, bestehend nur aus Dietmar Hopp, Hasso Plattner und drei weiteren jungen Männern, die sich Anfang der Siebzigerjahre in der Mannheimer Filiale von IBM kennengelernt hatten. Der Rest ist Geschichte, aber solche Unternehmensgeschichten müssen in Deutschland auch heute möglich sein – und erst recht in der Zukunft. Von der guten Idee zum Start-up zum Welterfolg: Das ist die Aufgabe, und daran arbeiten wir jetzt gemeinsam. Deshalb danke ich heute noch einmal allen beteiligten Vertreterinnen und Vertretern aus Wirtschaft und Verbänden für ihren Einsatz in den letzten Monaten. Ich danke den Teams in der KfW, im BMF–Bundesministerium für Finanzen, im BMWK–Bundesministerium für Wirtschaft und Klima und auch in meinem Haus. Wir alle zusammen haben diese WIN–Wachstums- und Innovationskapital-Initiative möglich gemacht. Wir alle zusammen setzen damit einen weiteren wichtigen Baustein für eine zukunftsfähige Start-up-Landschaft in Deutschland. Das zeigt, was Staat und Wirtschaft gemeinsam für den Standort leisten können, wenn gute Ideen und der Wille zum Aufbruch zusammenkommen. Von Ideen und von Aufbruch zeugt aber nicht nur dieser heutige Start-up-Gipfel. Die gesamte Startup-Landschaft in Deutschland ist in Bewegung, nach vorne und nach oben – mit Mut und Zuversicht und mit Unternehmergeist. Erkennen lässt sich das am Gründungsgeschehen: So wurden in Deutschland im ersten Halbjahr 2024 fast 1400 Start-ups neu gegründet, 15 Prozent mehr als im Halbjahr davor. Erkennen lässt sich das mittlerweile an rund 30 „Einhörnern“ in Deutschland. Erkennen lässt sich das an den vielen Start-up-Hotspots in Deutschland, etwa in Berlin, Hamburg, München und vielen anderen Städten, aber auch in der Nähe von Forschungshochburgen wie Aachen und Heidelberg. Erkennen lässt sich das an den vielen Veranstaltungen, die es mittlerweile von und für Start-ups gibt – zum Beispiel die HTGF Family Days; die Messe Bits & Pretzels; die Veranstaltung Stage 2, bei der Ausgründungen aus der Wissenschaft im Mittelpunkt stehen; die VC-Academies der KfW; dazu noch diverse Formate der Bundesländer. Erkennen lässt sich der Aufwärtstrend auch an den Studien, die es mittlerweile zu Start-ups in Deutschland gibt. Erkennen lässt sich die Dynamik am Interesse deutscher und internationaler Investoren an den hiesigen Start-ups. Erkennen lässt sich das an der Verbändelandschaft, etwa daran, dass der Bundesverband Deutsche Start-ups, erst 2012 gegründet, inzwischen schon 1200 Mitglieder hat. Liebe Frau Pausder, das ist eine eindrucksvolle Erfolgsgeschichte. In diesem Jahr hat Ihr Verband schon zum fünften Mal die German Start-up Awards ausgerichtet. Letztes Jahr konnte ich selbst dabei sein. Gerade erst haben Sie Ihre Innovationsagenda 2030 vorgestellt. Untertitel: „Weltklasse Made in Germany“. Meine Damen und Herren, genau darum muss es uns allen in den der Tat gehen; genau das muss unser Anspruch sein. Start-ups sind dafür ganz entscheidend. Sie sind wichtig für Innovationen, für Wettbewerbsfähigkeit, für künftiges Wachstum und neue Arbeitsplätze. Das gilt erst recht in einer Zeit, in der sich die geopolitischen Kräfteverhältnisse deutlich verschieben; einer Zeit, in der mit dem brutalen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine der Imperialismus wieder zurückgekehrt ist nach Europa; einer Zeit, in der uns die industrielle und die digitale Transformation vor völlig neue Aufgaben stellt. Wenn wir in Deutschland alle diese Herausforderungen bewältigen wollen – und das müssen wir ja schaffen –, dann brauchen wir als Motoren der Innovation gerade auch junge und dynamische Unternehmen. Deshalb hat die Bundesregierung die Rahmenbedingungen für Start-ups in Deutschland in den letzten Jahren kontinuierlich verbessert, und diesen Weg werden wir fortsetzen. Nur ein paar Schlaglichter will ich nennen: Die Bundesregierung hat zügig ihre Start-up-Strategie erstellt und bereits im Sommer 2022 verabschiedet. Rund 80 Prozent der Maßnahmen sind inzwischen verwirklicht. Das reicht von Talentgewinnung über Diversität und die Stärkung von Gründerinnen bis hin zur Ausgründung aus der Wissenschaft und zu Reallaboren. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Finanzierung, und gerade hier haben wir versucht, vieles voranzubringen. Mit dem Zukunftsfonds stellt die Bundesregierung bis 2030 zehn Milliarden Euro zur Verfügung, hebelt damit auch private Investitionen und stärkt so die Wachstumsfinanzierung in Deutschland. Mit dem Wachstumsfonds Deutschland haben wir Mittel von institutionellen Investitionen mobilisiert. Der Fonds hat Ende letzten Jahres sein Zielvolumen von einer Milliarde Euro erreicht und ist bereits in rund 25 Venture Capital Fonds investiert. Der DeepTech & Climate Fonds wiederum ist bereits in rund zehn Technologie-Start-ups investiert, darunter ein Start-up, das Quantencomputer entwickelt, ein Startup, das komprimierte Algorithmen für den Betrieb von Quantencomputern entwickelt, und ein Startup, das ein Fusionskraftwerk bauen will. Auch das bewährte Förder- und Finanzierungsinstrumentarium entwickeln wir stetig weiter. Der High-Tech Gründerfonds IV zum Beispiel hat mit fast 500 Millionen Euro eingesammeltem Kapital und rund 45 beteiligten Investoren alle Erwartungen übertroffen. Mit dem ersten Zukunftsfinanzierungsgesetz verbessern wir die Bedingungen für innovationsstarke junge Unternehmen und KMU nachhaltig, modernisieren den Finanzplatz Deutschland und stärken die Aktienkultur in Deutschland. Vor allem haben wir die Mitarbeiterkapitalbeteiligung gestärkt, damit Deutschland noch attraktiver wird für hochqualifizierte Arbeitnehmer. Wir haben auch Maßnahmen ergriffen, um Börsengänge zu erleichtern. So öffnen wir auch kleinen Unternehmen den Weg an den Kapitalmarkt. Genauso wichtig: Die Finanzmarktaufsicht modernisieren wir weiter. Mit dem Gesetzentwurf zum Zweiten Zukunftsfinanzierungsgesetz schließlich wollen wir an den Erfolg des Vorgängers anknüpfen und die Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität des Finanzstandortes Deutschland weiter stärken. Das alles zusammen zeigt: Wir geben Impulse. Aber es bleibt dabei: Am Ende kommt es auf das Engagement privater und institutioneller Investoren an, und genau deshalb ist der heutige Fortschritt mit der WIN–Wachstums- und Innovationskapital-Initiative so besonders wichtig und erfreulich. Neben der Finanzierung vergessen wir aber auch nicht die weiteren Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Modernisierung und Wachstum. Ich will hier nur drei Punkte nennen, weil sie gerade für Start-ups so entscheidend sind: Erstens: Chips, und zwar sehr viele. Wir stärken und entwickeln die Mikroelektronik hier in Deutschland weiter – etwa durch die Förderung des neuen Joint Ventures von TSMC mit Infineon, Bosch und NXP in Dresden, das kürzlich mit dem Bau begonnen hat und, das will ich sagen, mit weiteren Investitionsprojekten. Unser Mikroelektronikfinanzierungsprojekt umfasst fast 30 Projekte, etwas mehr sogar. Es gibt auch welche, die nicht vorankommen. Das haben wir gerade wieder erlebt. Ich finde, das ist ein Argument, in dieser Sache voranzukommen. Denn eigentlich sind bei dieser ganz wichtigen Ressource für die Zukunft unseres Technologiestandortes vor langer Zeit falsche Weichenstellungen getroffen worden. Wir hatten ziemlich große Player, auch auf dem ganzen Weltmarkt, was Mikroelektronik betrifft. Die gibt es immer noch. Die heißen jetzt NXP und Infineon, sie hatten früher andere Namen. Bosch gibt es auch noch – und viele andere. Sie sind noch da. Aber die großen Investitionen haben zu einer bestimmten Zeit nicht stattgefunden wegen der hohen Kapitalbindung und der Fluktuation, wie wir sie jetzt auch bei Intel gesehen haben. Das Unternehmen ist weltweit in Schwierigkeiten geraten und jetzt zu einer Pause seiner Investitionen gekommen. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass wir das damals nicht gemacht haben und überall in der Welt Halbleiterfabriken entstanden sind. Das war irgendwie gut, solange man gedacht hat, das ist irgend so eine „commodity“. Aber in Wahrheit ist das nicht so. Darum herum verbinden sich ganz viele Strukturen, die für die Zukunftsfähigkeit unseres Standortes von zentraler Bedeutung sind. Und deshalb sage ich ausdrücklich: Wir werden dafür Sorge tragen, dass Deutschland nicht nur das Zentrum der Halbleiterproduktion in Europa bleibt, sondern sein Gewicht in dieser Frage auch weiter ausbaut. Es ist gut, dass dort vieles klappt, auch wenn einiges dabei schwierig wird. Es muss dieser Weg gegangen werden. Nun gibt es ja viele Dinge, die man hier noch anführen kann, wo alles vorankommen muss, ob das nun Photovoltaik, die Windenergie, der Ausbau unseres Stromnetzes und all die Investitionen sind, die stattfinden. Das muss jetzt sein. Wir brauchen Innovation für Deutschland. Ich wollte das an dieser Stelle noch dazu sagen, weil uns das gerade aktuell bewegt. Zweitens. Fachkräfte, Fachkräfte, Fachkräfte. Die Regelungen des neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetzes werden dazu beitragen, dass wir in Deutschland auch in Zukunft die Arbeitskräfte haben, die wir brauchen. Auch an einfachen und digitalen Visaverfahren wird intensiv gearbeitet. Vielleicht hat ja jemand von Ihnen die bahnbrechende Idee, wie das geht, dass das schnell und einfach ist. Und wir schließen moderne Migrationsabkommen. Gerade haben wir eins mit Usbekistan unterzeichnet. Wir hatten vergangene Woche eins mit Kenia. Damit ist Nairobi, Afrikas Start-up-Hauptstadt, für uns auch an diese Möglichkeiten angebunden. Und drittens: Weg mit überflüssigen Regelungen. 80 Prozent der über 150 zwischen Bund und Ländern vereinbarten Beschleunigungsvorhaben sind schon in Arbeit. Das muss ich an dieser Stelle kurz zwischendurch sagen. Echt, wir haben 150 Beschleunigungsmaßnahmen vereinbart. Kaum einer hat es mitbekommen – und wir haben sie umgesetzt. Auch das hat noch keiner mitbekommen. Aber alles zusammen wird dazu beitragen, dass sich etwas ändert. Denn ehrlicherweise haben wir in den letzten 30 Jahren so viele Vorschriften aufgebaut, dass weder die Verwaltung noch die Unternehmen damit zurechtkommen können, also eigentlich gar keiner. Das ist eine Situation, bei der wir es nicht lassen können. Das müssen wir ändern. Darum wollen wir vorankommen und auch bei Planungs- und Genehmigungsverfahren die Digitalisierung mit vorantreiben, weil das auch helfen kann, Dinge schneller zu machen. Und wir beginnen in einzelnen Verfahren bereits von Anfang an, Künstliche Intelligenz zu nutzen, zum Beispiel bei den vielen nötigen Genehmigungen zum Aufbau unseres Wasserstoffnetzes. Da hoffen wir, dass wir mehr davon lernen. Denn auch das gehört zu den Wahrheiten, die wir nicht vergessen dürfen. In allen europäischen Ländern, in vielen Ländern, ist es mit der Produktivität nicht so vorangekommen, wie man sich das gedacht hat. In zwei Bereichen ist das besonders relevant: Dienstleistungen und öffentliche Verwaltung. Wenn wir dort jetzt mit Digitalisierung, mit KI – mit all den Technologien – und einer Entschlackung der Genehmigungsverfahren nachholen können, dann, glaube ich, kann das einen richtigen Boost für Investitionen und Unternehmertum in Deutschland auslösen. Da, wo ich das konkret beschrieben habe, wird durch die KI versucht, eine Bearbeitungszeit von acht Stunden auf eine Stunde zu reduzieren. Vielleicht geht es ja noch schneller – also sehr interessant. Als Teil unserer Wachstumsinitiative werden wir Berichts- und Nachweispflichten weiter konsequent abbauen. Außerdem werden wir regelmäßige Praxischecks durchführen. Wer die Zukunft gewinnen will, der darf nicht ständig in die Vergangenheit schauen und den Leuten erzählen: „Früher war alles besser.“ Das stimmt nämlich nicht. Ich wünsche mir ein zukunftsfähiges und zuversichtliches Deutschland, ein Land, das Lösungen für alle Herausforderungen aus eigener Kraft entwickelt, gemeinsam mit unseren europäischen und internationalen Partnern. Vielen Dank an das Wirtschaftsministerium für die Organisation des heutigen Tages. Vielen Dank an Sie und an alle, die heute hier dabei waren. Vielen Dank an alle, die bei uns in Deutschland für Innovationen, für Start-ups und den Standort Deutschland arbeiten. Lassen Sie uns neugierig und kreativ bleiben. Lassen Sie uns den Drive von heute mitnehmen und gemeinsam für eine gute Zukunft unseres Landes arbeiten – mit einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft in einer freien, weltoffenen und innovationsfreudigen Gesellschaft. Das ist der Weg, und diesen Weg werden wir gemeinsam gehen. Schönen Dank und einen schönen Abend! [Box]
Start-ups bringen Deutschland mit innovativen Ideen und Produkten voran. Sie können neue Impulse geben, innovative Technologien entwickeln und so die digitale Transformation und den Klimaschutz voranbringen – auch mit gemeinwohlorientierten Geschäftsideen.
„Der 9. Oktober hat die Welt verändert“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-35-jahre-friedliche-revolution-2314186
Wed, 09 Oct 2024 00:00:00 +0200
Rede des Kanzlers zu 35 Jahren Friedliche Revolution
Inneres und für Heimat,Statement BK
1989 entwickelten sich in der DDR friedliche Massenproteste. Zentraler Ort der Friedlichen Revolution und Ausgangspunkt der Montagsdemonstrationen war die Stadt Leipzig. Der Mut der Menschen, gegen das SED–Sozialistische Einheitspartei Deutschlands-Regime auf die Straße zu gehen sowie die grenzenlose Freude über den Fall der Mauer sind zu den bedeutendsten historischen Ereignissen geworden. „Der 9. Oktober 1989 hat die Welt verändert. Die mutigen Bürgerinnen und Bürger in Leipzig haben an diesem Tag die Welt verändert“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz beim Festakt zum 35. Jahrestag der Friedlichen Revolution in Leipzig. Das Wichtigste in Kürze: Der Bundeskanzler erinnerte in seiner Festrede im Gewandhaus zu Leipzig an die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse im Herbst vor 35 Jahren, innerhalb der DDR, aber auch europaweit. Zudem mahnte er Populisten und Extremisten, die Worte „Wir sind das Volk“ nicht zu missbrauchen. Daneben nahm der Kanzler am Friedensgebet in der Nikolaikirche teil. Das Gebet war im September 1989 Ausgangspunkt der Montagsdemonstrationen. Der Kanzler: „Als die Bürgerinnen und Bürger an diesem 9. Oktober von den Holzbänken der Nikolaikirche aufstanden, wussten sie nicht, wie weit sie kommen würden. Sie wussten nicht, ob sie sich nachts wieder in ihr eigenes Bett legen könnten, oder ob sie auf dem kalten Asphalt, im Arrest, in der Notaufnahme enden würden. Und doch gingen sie los, jede und jeder Einzelne mit Furcht, zusammen aber mit unglaublichem Mut.“ Die Proteste blieben gewaltfrei. Einen Monat später fiel die Mauer. [Clip] Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, liebe Freundinnen und Freunde der Stadt Leipzig aus dem In- und Ausland, liebe Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Ereignisse des 9. Oktober 1989, meine Damen und Herren, es waren wacklige, teils unscharfe Bilder, die in den Tagen nach dem 9. Oktober 1989 über die westdeutschen Sender liefen. Auf den heimlich vom Turm der Reformierten Kirche aufgenommen Bildern von Aram Radomski und Siegbert Schefke waren einzelne Personen kaum zu erkennen. Was man aber erkennen, was man auf den Aufnahmen noch vielmehr hören konnte: Da sind Abertausende auf den Straßen von Leipzig gewesen. „Wir sind das Volk“. Es war ganz besonders dieser Satz, der fast ohrenbetäubend in den Himmel über Leipzig aufstieg, ein Satz gegen die Angst, der heute noch Gänsehaut auslöst, auch bei mir, dem Westdeutschen aus Hamburg, der heute auch Brandenburger aus Potsdam ist. Ein Satz, dessen Entschlossenheit ein ganzes System aus den Angeln hob. Eben noch schien die Mauer unüberwindbar; einen Monat später brachte das Volk sie zu Fall. Der 9. Oktober 1989 hat die Welt verändert. Die mutigen Bürgerinnen und Bürger in Leipzig haben an diesem Tag die Welt verändert. Die Vorgeschichte des Tages reicht allerdings deutlich weiter zurück. Hier brach sich ein lange aufgestauter Fluss seine Bahn. Marianne Birthler hat eben davon berichtet. Opposition und Widerstand hatte es in der DDR immer gegeben, trotz Repression, auch nach dem brutal niedergeschlagenen Aufstand des 17. Juni 1953 und besonders seit Beginn der 1980er-Jahre. An vielen Orten in der DDR kamen immer neue Gruppen hinzu, aus den Kirchen, aus dem Umweltschutz, aus der Friedensbewegung. Das war Opposition. Das war Widerstand. Das war Mut. Im Einzelnen hatten diese Gruppen sehr unterschiedliche Ziele. Den einen ging es vor allem darum, die unglaubliche Umweltzerstörung zu beenden, hier in Leipzig vor allem die extreme Luft- und Wasserverschmutzung. Andere wollten historische Städte vor dem völligen Zerfall retten. Viele verlangten das Ende von Indoktrinierung, Militarismus und Blockkonfrontation. Wieder andere und immer mehr wollten der DDR nur noch den Rücken kehren. Aber eines war ihnen allen gemeinsam. Sie wollten ein besseres Leben für alle Bürgerinnen und Bürger der DDR. Es ging ihnen darum, Unfreiheit, Angst und Stasiwillkür zu überwinden. Es ging ihnen um Würde. Hier in Leipzig fanden all diese Motive am 9. Oktober 1989 zusammen. Hier verbanden sie sich zu einer einzigen mächtigen Bewegung: „Wir sind das Volk“. Hakt Euch alle unter! Gemeinsam sind wir stark. Zusammen werden wir dieses Land zum Guten verändern. Es war diese Überzeugung, dieses Gemeinschaftsgefühl, diese Botschaft der Zuversicht, die vom 9. Oktober ausging. Viele Frauen und Männer, die damals aufstanden, sind heute wieder hier. Den heutigen Tag können wir feiern, weil Sie damals dabei waren. Sie haben die Welt verändert. Danke für Ihren Mut, meine Damen und Herren! Wir sind das Volk. Es ist unerträglich, wie schäbig Populisten und Extremisten diese Worte heute missbrauchen. Sie sagen „wir“ und meinen „ihr nicht“. Sie sagen „Volk“ und meinen „Rasse“. Sie bekämpfen die Demokratie. Der Widerspruch zur Freiheitslosung der Frauen und Männer des 9. Oktober 1989 könnte nicht größer sein. Mich empört dieser Missbrauch, auch weil er den Mut von Bürgerinnen und Bürger in der DDR vor 35 Jahren verhöhnt. Denn diejenigen, die sich am 9. Oktober 1989 von der Nikolaikirche aus auf den Weg machten, sich vom Vorplatz langsam in Richtung der Universität und dann auf den Innenstadtring bewegten, sie hatten die Gerüchte gehört. Viele Lastwagen mit Bewaffneten waren nach Leipzig gebracht worden. Tausende Polizisten, Kampfgruppenmitglieder und NVA–Nationale Volksarmee-Soldaten standen bereit. Medizinisches Personal wurde zu Spät- und Nachtschichten eingezogen. In den Krankenhäusern der Stadt waren Blutkonserven aufgestockt worden. Die chinesische Lösung stand im Raum. Das Tiananmen-Massaker war gerade erst vier Monate her. Als die Bürgerinnen und Bürger an diesem 9. Oktober von den Holzbänken der Nikolaikirche aufstanden, wussten sie deswegen nicht, wie weit sie kommen würden. Sie wussten nicht, ob sie nachts wieder in ihren eigenen Betten liegen könnten oder ob sie auf dem kalten Asphalt, im Arrest, in der Notaufnahme enden würden. Und doch gingen sie los, jede und jeder Einzelne mit Furcht, zusammen aber mit unglaublichem Mut. Was also für ein Hohn, was für eine unerträgliche Verachtung für den Mut der Protestierenden von Leipzig damals, wenn sich heute die Feinde der Demokratie auf den 9. Oktober berufen, um unsere Demokratie zu bekämpfen! Meine Damen und Herren, der 9. Oktober 1989 war nicht nur der Kulminationspunkt einer deutschen, sondern auch einer europäischen Entwicklung. Was in Berlin, in Ungarn, in Prag in den Fünfziger- und Sechzigerjahren noch brutal niedergeschlagen worden war, war Ende der 1980er-Jahre an vielen Orten überall in Europa kaum noch aufzuhalten. Auf dem erwähnten Video vom 9. Oktober hört man auch laute „Gorbi, Gorbi“-Rufe. Denn es war auch Michail Gorbatschows Politik der Öffnung und Umgestaltung, es war die Politik von Glasnost und Perestroika, die die Möglichkeit einer friedlichen Veränderung in Europa überhaupt erst eröffnet hat. Dem Umsturz in der DDR gingen die richtungweisenden Umbrüche in Ungarn und, getragen durch die Solidarność, in Polen voraus. Die Veränderungen in der DDR und der Tschechoslowakei liefen fast parallel – auch mit gegenseitiger Unterstützung. Ganz konkret war es das Paneuropäische Picknick in Ungarn im August 1989, das die Tür zum 9. Oktober schon einen Spalt breit aufgestoßen hatte. Es war zwischen Sopron und Sankt-Margareten im Burgenland, wo der „erste Stein aus der Mauer geschlagen wurde“, wie es Helmut Kohl 1990 formulierte. Der Aufstand gegen die Unfreiheit, gegen Bevormundung, gegen Diktatur war immer auch ein europäischer Aufstand. Die Freiheit, die in Deutschland errungen wurde, haben wir auch unseren östlichen Nachbarn zu verdanken. Deshalb setze ich mich nicht nur für Freiheit und Frieden in Deutschland ein, sondern für Freiheit und Frieden in ganz Europa. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Erbe der Friedlichen Revolution gebietet uns auch, uns für die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer einzusetzen, für ihr Recht auf Demokratie und für ihr Recht auf Frieden. Die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger auf dem Maidan 2014 hatten dieselben Ziele wie die Bürgerinnen und Bürger der DDR 25 Jahre zuvor. Es ging darum, das eigene Schicksal in die Hände zu nehmen, es ging um das Ende der Fremdbestimmung. Als „Revolution der Würde“ bezeichnen die Ukrainerinnen und Ukrainer deshalb ihren damaligen Aufstand. Heute, an diesem Tag der Freude in Deutschland, erfüllt es mich mit großem Schmerz, dass der Ukraine eine friedliche Revolution, wie wir sie heute feiern können, nicht vergönnt war, dass Russland der Ukraine diese Freiheit mit brutalster Gewalt entreißen will, dass 35 Jahre nach Öffnung des Eisernen Vorhangs Hunderttausende für einen imperialistischen Wahn geopfert werden. Allen, die vor 35 Jahren für Frieden auf die Straßen gegangen sind, die sich auch heute gegen Krieg und Gewalt einsetzen und die das sicher beim Friedensgebet in der Nikolaikirche bekräftigen werden, pflichte ich bei: Ja, jetzt ist die Zeit für Frieden. Das gilt jeden einzelnen Tag seit diesem schrecklichen 24. Februar 2022. Die bittere Wahrheit aber bleibt: Dieser Frieden wird erst kommen, wenn Russland dazu bereit ist. Wenn Putin seinen Angriffskrieg einstellt, dann schweigen morgen die Waffen. Das ist doch die Wahrheit! Heute ist es die Ukraine, die in Europa an vorderster Front die Freiheit verteidigt. Wir werden, wir müssen sie dabei unterstützen, bis endlich ein gerechter Frieden herrscht. Dabei werden wir niemals das Ziel aufgeben, in Zukunft auch wieder Wege zu finden, wie wir Frieden durch Kooperation sichern können. Russland hat sich Schritt für Schritt aus den Vereinbarungen zur Abrüstung zwischen den Weltmächten verabschiedet. Solche Vereinbarungen brauchen wir aber, auch wenn das heute angesichts der Zeitenwende als fernes Ziel erscheint. Wir werden deswegen nicht müde, unser politisches und diplomatisches Gewicht in die Waagschale zu werfen, um gesamteuropäische Institutionen wie die OSZE–Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, den Europarat, und die neu geschaffene Europäische Politische Gemeinschaft zu stärken. Denn es ist der Auftrag unserer Geschichte, dass irgendwann alle Bürgerinnen und Bürger Europas in Frieden, Freiheit und demokratischer Selbstbestimmung leben können. „Das Alte galt nicht mehr, und das Neue war noch nicht da.“ So haben Sie, Frau Birthler, einmal die Zeit nach dem 9. Oktober beschrieben. In dieser Zeit des Übergangs wurden viele Hoffnungen und Erwartungen geweckt, die nicht eingelöst wurden vielleicht auch nicht alle eingelöst werden konnten. Auf die Verheißung der Einheit folgte an zu vielen Orten erst einmal der wirtschaftliche Zusammenbruch. Im Schlepptau der lange ersehnten Freiheit kamen Massenarbeitslosigkeit und Massenabwanderung. In diesen Jahren war ich kein Politiker, sondern habe in meinem erlernten Beruf gearbeitet, nämlich als Anwalt. Als junger Arbeitsrechtler kam ich Anfang der Neunzigerjahre hierhin nach Leipzig. Beim Schwermaschinenbaukonzern TAKRAF–Tagebau-Ausrüstungen, Krane und Förderanlagen habe ich Betriebsräte unterstützt. Sie kämpften um mehr als 30.000 Arbeitsplätze. Viele dieser Arbeitsplätze konnten wir damals nicht retten. Das gehört zur Wahrheit der Transformation. Mit der Überführung an die Treuhand kam für viele der großen Betriebszusammenschlüsse die Aufspaltung und für eine Reihe der neuen Unternehmen bald die Insolvenz. Das hautnah mitzuerleben ging mir sehr nah. Von den tiefen Spuren und auch Narben, die diese Zeit hinterlassen hat, höre ich auch heute noch, etwa wenn ich in meinem Wahlkreis in Brandenburg unterwegs bin. Ich möchte das hier ganz klar sagen: Zu den Enttäuschungen und Narben der Umbruchjahre hat auch die Selbstgewissheit der Westdeutschen Republik beigetragen. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik waren Frauen und Männer in Leipzig, Cottbus und Stralsund plötzlich zu Bürgerinnen und Bürgern eines Landes geworden, das sie selbst nicht mit errichtet und auch nicht ausgestaltet hatten. Es war jetzt auch ihre Republik, aber doch noch nicht so richtig. An grundlegender Umgestaltung, etwa durch eine neue Verfassung, hatten im Westen nur wenige Interesse. Zum einen natürlich und vollkommen verständlich, weil es vorher hatte schnell gehen müssen. Niemand wollte jetzt die historische Chance auf ein geeintes Deutschland aufs Spiel setzen. Zu groß waren die Ungewissheiten. Die Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger der DDR bei der selbst erkämpften und erarbeiteten Demokratisierung und in Vorbereitung der Volkskammerwahl 1990 wurden vielfach beiseite gewischt als Randnotizen des Unrechtssystems SED–Sozialistische Einheitspartei Deutschlands-Diktatur, über das man im wiedervereinigten Deutschland schnell den Mantel der Geschichte decken wollte. Was sollte man schon davon lernen, geschweige denn übernehmen so die leider weitverbreitete Ansicht. Meine Vorgängerin Angela Merkel berichtete beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit 2021 vom Gefühl der Frauen und Männer ihrer Generation, die Zugehörigkeit zum wiedervereinigten Deutschland immer wieder neu beweisen zu müssen. Sie zitierte eine Publikation der Konrad-Adenauer-Stiftung drei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer, in der in einem Beitrag über sie vom „Ballast ihrer DDR-Biografie“ die Rede war. Sie erzählte das nicht, um sich zu beschweren, sondern als Beispiel für das, was viele Bürgerinnen und Bürger Ostdeutschlands in den Jahren nach der Wiedervereinigung erlebten. Sagen wir es klar: solche Ignoranz macht wütend, auch zu Recht. Der Mangel an Respekt hinterlässt Narben auch das gehört hierher, 35 Jahre danach. Meine Damen und Herren, ja, wir haben nicht alles gut gemacht. Aber was nutzt uns diese Erkenntnis, wenn sie uns nicht jeden Tag Ansporn ist, es besser hinzubekommen? „Der Kampf um Demokratie muss der tägliche Kampf gegen den Spruch sein: Man kann sowieso nichts machen.“ So formulierte es 1993 in der Frankfurter Paulskirche ein großer Bürgerrechtler, der im vergangenen Monat verstorbene Friedrich Schorlemmer. Wenn wir heute 35 Jahre Friedliche Revolution feiern, dann feiern wir also keine perfekte Einheit und schon gar nicht vollständige Einigkeit. Wir feiern nicht, dass uns alles gelungen ist, sondern wir feiern, wie viel uns trotz allem gelungen ist. Wir sind ein Volk, trotz aller Schwierigkeiten, trotz aller Fehler, trotz aller Widerstände. Uns eint mehr, als uns jemals trennen kann. Das ist die Lehre der Geschichte, um die es am heutigen Tag geht. Das sollten wir uns überall in Deutschland unermüdlich immer wieder sagen. Lassen Sie mich deswegen mit einem weiteren Zitat von Friedrich Schorlemmer schließen, in dem er auf das Erbe des 9. Oktober 1989 Bezug nimmt: „Mundtot gemacht, ihrer Würde beraubt, … zu Ja-Sagern dressiert, … zu Schweigern erzogen, haben sich dieselben Menschen schließlich selbst aufgemacht, sind aufgestanden, haben Mut zu sich gefasst und den Mut, etwas sich! zu riskieren. Solch endlich aufgeweckter Bürgersinn, der Gewalt widerstehend, bleibt nötig, darf nicht erlöschen …“ In diesem Sinne freue ich mich sehr auf die Eröffnung des Lichtfests. Schönen Dank! Fotoreihe: Feiern zum 35. Jahrestag der Friedlichen Revolution in Leipzig [Fotoreihe]
Vor 35 Jahren gingen zehntausende Menschen in Leipzig auf die Straße, um für Freiheit und Demokratie zu demonstrieren. Bundeskanzler Scholz würdigte die Stadt Leipzig und die Bürgerinnen und Bürger. Sie hatten den Mut, gegen die SED–Sozialistische Einheitspartei Deutschlands-Diktatur aufzustehen.
Nachhaltige Entwicklung gelingt nur mit gesellschaftlichem Zusammenhalt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bk-rede-beim-rat-fuer-nachhaltige-entwicklung-2313932
Tue, 08 Oct 2024 11:14:00 +0200
Rat für Nachhaltige Entwicklung
Berlin
Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz
Statement-BK
Auf der Jahreskonferenz des Rats für nachhaltige Entwicklung hat Bundeskanzler Scholz über die Bedeutung des gesellschaftlichen Zusammenhalts einerseits und nachhaltiger Entwicklung andererseits gesprochen. „Ein Land, das in seinem Inneren nicht zusammenhält, wird auch keine nachhaltige Entwicklung hinbekommen. Und zugleich gilt umgekehrt: Ein Land, das im 21. Jahrhundert keine nachhaltige Entwicklung hinbekommt, wird sich auf Dauer immer schwerer mit seinem inneren Zusammenhalt tun“, resümiert der Kanzler. Der erstmals 2001 berufene Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) berät die Bundesregierung in Fragen der Nachhaltigkeit, benennt dringende Handlungsfelder und trägt dazu bei, Nachhaltigkeit zu einem wichtigen öffentlichen Anliegen zu machen. Die 15 Ratsmitglieder werden jeweils für drei Jahre vom Bundeskanzler ernannt. Die Mitglieder stehen mit ihrem fachlichen Hintergrund für die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Aspekte nachhaltiger Entwicklung. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede Sehr geehrter Herr Ratsvorsitzender Hoffmann, lieber Rainer, sehr geehrte Frau stellvertretende Vorsitzende Röstel, liebe Gunda, sehr geehrte Ratsmitglieder, sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich, dass auch dieses Jahr wieder bei Ihrer Jahreskonferenz für mich die Möglichkeit besteht, dabei zu sein. Ganz herzlichen Dank für die Einladung! Sie haben gerade schon viel darüber diskutiert, wie wir als Gesellschaft einer Polarisierung entgegentreten, wie wir zusammenstehen und eine nachhaltige Zukunft schaffen können. Ich freue mich auch auf die Gelegenheit, dass wir das im direkten Austausch weiter fortsetzen können. Hier möchte ich mich darauf beschränken, zunächst einmal ein paar knappe Bemerkungen zu machen. Zunächst: Ich finde es gut und wichtig, dass Sie sich bei dieser Jahreskonferenz vordringlich damit beschäftigen, welches Verhältnis besteht zwischen gesellschaftlichem Zusammenhalt einerseits und nachhaltiger Entwicklung andererseits. Es ist die Aufgabe, vor der wir heute stehen. Dabei ist ganz klar: Das Gebot der Stunde heißt mehr Zusammenarbeit und mehr Dialog. Denn die Wechselbeziehung zwischen dem Zusammenhalt und dem nachhaltigen Erfolg einer Gesellschaft liegt ja ziemlich eindeutig auf der Hand: Ein Land, das in seinem Inneren nicht zusammenhält, wird auch keine nachhaltige Entwicklung hinbekommen. Und zugleich gilt umgekehrt: Ein Land, das im 21. Jahrhundert keine nachhaltige Entwicklung hinbekommt, wird sich auf Dauer immer schwerer mit seinem inneren Zusammenhalt tun. Was da oftmals beschrieben oder heraufbeschworen wird, ist eine Negativspirale, in der sich ausbleibende Erfolge und schwindender Zusammenhalt gegenseitig bedingen. Ich will überhaupt nicht im Grundsatz bestreiten, dass es diesen negativen Zusammenhang gibt – natürlich gibt es den –, und manche Akteure haben ausdrücklich ein Interesse an dem Teufelskreis. Ich werde da nichts kleinreden. Dass es in Deutschland, in Europa und auch in den Vereinigten Staaten politische Polarisierung gibt, dafür haben zuletzt etliche Wahlen Anschauungsmaterial geliefert, bei uns etwa die jüngsten Landtagswahlen und die Europawahlen im Sommer. Wo radikal-völkische, autoritäre und populistische Bewegungen Zulauf erhalten, da müssen sich alle demokratischen Parteien und alle anderen Verantwortlichen fragen, was sie besser machen können. Dass in jüngster Zeit große Krisen viele Bürgerinnen und Bürger verunsichert haben, das ist so. Pandemie, Kriege, Klimawandel, irreguläre Migration, Inflation, das alles hat Spuren hinterlassen. Bei wem denn wohl nicht? Auch gezielte Desinformationskampagnen von außen zur Destabilisierung und zur Zersetzung unserer freiheitlichen Demokratie tun hier zweifellos ihre eigene Wirkung. Dass sich Bürgerinnen und Bürger angesichts vielfältiger Veränderungen in der Welt und bei uns im Land überfordert oder abgehängt fühlen, das gibt es als Tendenz. Und dass manchen zwischendurch, einigen sogar dauerhaft, die Zuversicht abhandenkommt, auch das stimmt leider. Das alles gibt es also. Aber die entscheidende Frage ist doch: Wenn man den Erfolg unseres Landes will, wenn man den Aufbruch will, wenn man positive Ergebnisse will, wenn man will, dass uns nachhaltige Entwicklung gelingt, was sollte dann im Zentrum von Kommunikation, Debatten und Diskursen stehen? Es ist völlig klar, was jedenfalls nicht hilft. Vor wenigen Tagen erst hat der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert gesagt, es gebe in Deutschland eine „gewisse Tendenz zur Übellaunigkeit“. Er hat hingewiesen auf den „Unterschied zwischen gefühlter und tatsächlicher Lage“. Er hat sogar seiner eigenen Partei ausdrücklich eine Warnung hinterlassen: „Die Opposition muss aufpassen, dass sie nicht unfreiwillig zur Festigung der negativen Stimmung im Land beiträgt.“ Ich weiß, Norbert Lammert ist ein nachdenklicher Mann, und deshalb stimme ich ihm hier einmal ausdrücklich zu. Niemandem, der eine gute und nachhaltige Zukunft für unser Land will, kann an kollektiver Übellaunigkeit gelegen sein. Ich meine: Nicht Polarisierung, nicht das ständige Beschwören von gesellschaftlichen Trennlinien und Katastrophenszenarien führt zu nachhaltig guter Entwicklung. Mein Eindruck ist: Alle Diskurse zu Zerrissenheit, Polarisierung und angeblich fehlendem Zusammenhalt in Deutschland beschreiben allenfalls eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite dieser Medaille aber steht: So weit liegen wir in Deutschland in zentralen Fragen gar nicht auseinander. Die ganz große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger ist pro Klima- und Naturschutz – und will zugleich keine Überforderung. Eine ganz große Mehrheit ist pro Arbeitskräfte aus dem Ausland – und zugleich für die Kontrolle der irregulären Migration. Die ganz große Mehrheit ist pro Unterstützung der angegriffenen Ukraine bei ihrer Verteidigung – und will zugleich Diplomatie. Die ganz große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger packt einfach an, statt zu meckern, und zwar überall – im Beruf, in Vereinen und Initiativen, ehrenamtlich und durchaus tief aus dem Innern intrinsisch motiviert. Das alles reicht aber nicht, wenn es uns nicht auch auf der internationalen Ebene gelingt, Vertrauen, Dialog und Zusammenhalt zu organisieren. Mit dem UN–Vereinte Nationen-Zukunftspakt haben wir gezeigt, dass Zusammenarbeit rund um den Globus mit 193 Staaten ‑ auch heute ‑ möglich ist. Ich war in New York dabei und habe aufs Neue erlebt: Die übergroße Mehrheit der Mitgliedstaaten will zusammenarbeiten, ob aus dem globalen Norden oder aus dem globalen Süden. Der UN–Vereinte Nationen-Zukunftsgipfel und der UN–Vereinte Nationen-Zukunftspakt waren dabei nicht das Ende unserer Zusammenarbeit, sondern die große Chance für einen neuen Anfang. Jetzt kommt es darauf an, von der Zeit- und Zielbeschreibung zum praktischen Handeln zu kommen. Seit gestern wird mit der Hamburg Sustainability Conference – die ist schon erwähnt worden – die Brücke geschlagen von der Zielformulierung hin zur praktischen Umsetzung. Und nun kommt Ihre Jahreskonferenz noch dazu. Deshalb war ich gestern in Hamburg dabei, deshalb bin ich heute hier bei Ihnen. Die Hamburg Sustainability Conference soll neue Allianzen zwischen Staaten, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft ermöglichen, und vor allem soll sie ganz konkrete Lösungsansätze für strukturelle Veränderungen voranbringen. Beispiel „green shipping“ ‑ dazu ist etwas Konkretes vereinbart worden. Beispiel Global Battery Alliance ‑ auch dazu ist etwas sehr Konkretes vereinbart worden. Wenn wir moderne Mobilität wollen – und das wollen wir –, dann müssen wir die dazu notwendigen Rohstoffe so fördern und verarbeiten, dass sie uns tatsächlich den Weg zu CO–Kohlenstoffdioxid2-neutraler Mobilität ermöglichen. Andererseits müssen wir sicherstellen, dass das nicht zur Zerstörung von Umwelt und Natur beiträgt, sondern dass das mit den besten Bedingungen geschieht, die man sich vorstellen kann. Und das will ich ganz klar sagen: Wenn wir das so sehen, wenn wir viele Elektrofahrzeuge in Deutschland und Europa sehen wollen, dann werden wir den Bergbau nicht auf die übrige Welt beschränken können. Dann hat das auch Konsequenzen für Europa und für uns. Auch das muss gesagt werden. Und wenn wir uns freuen, dass in Serbien Lithium abgebaut wird, dann müssen wir uns auch freuen, dass das in Freiberg und gleich hinter der Grenze in Tschechien auch passiert. Das ist, glaube ich, dann ein Teil der Wirklichkeit, bei der wir klar sein müssen. Aber wir haben die Fähigkeiten und die Technologien, das so zu machen, dass die Beeinträchtigungen der Umwelt ganz gering bis gar nicht vorhanden sind ‑ auch dies, wie ich finde, ein Beitrag unserer technologischen Kompetenzen. Und wir haben natürlich auch die Anforderung zu bewältigen, dass diejenigen, die den Bergbau bei sich vor Ort erleben, davon tatsächlich profitieren. Ich jedenfalls bin überzeugt, dass das geht. Vielleicht noch eine Bemerkung: Wir müssen auch ein bisschen auf den technischen Fortschritt setzen, der uns ermöglicht, weniger von schwer erreichbaren Rohstoffen für die Batterien der Zukunft verbrauchen zu müssen. Aus meiner Sicht gehört dazu unbedingt, dass wir das in eine Kreislaufwirtschaft einbinden, in der die mühselig geförderten Rohstoffe immer wieder verwendet werden. Das hat dann oft Entscheidungen bei der Produktion von Batterien und anderen Gütern zur Folge, wenn man sie so produziert, dass tatsächlich möglichst viel wiederverwertet werden kann – also ein zentrales Thema von Nachhaltigkeit, aber auch von Klarheit in der Sache. Nun bin ich einmal bewusst ins Detail gegangen. Manchen klingt das vielleicht zu kleinteilig. Aber meine Überzeugung ist: Mut zur Zukunft, Zuversicht und Zusammenhalt wachsen immer da, wo uns ganz konkrete, ganz praktische Aufgaben begegnen, die wir uns vornehmen und wo wir Lösungen erzielen, und dann macht man weiter. Das gilt für uns hier im Land, das gilt für die Welt insgesamt. Deshalb schönen Dank fürs Zuhören, für die Einladung – und ich freue mich auf die Fragen.
Dringende Fragen der Nachhaltigkeit lassen sich nur in der Gemeinschaft erreichen. Auf dem jährlich stattfindenden Rat für nachhaltige Entwicklung appelliert Bundeskanzler Scholz an den Mut zur Zuversicht und das gemeinsame Erzielen von Lösungen.
Jüdische Bürgerinnen und Bürger müssen in Deutschland sicher leben können
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/gedenkzeremonie-synagoge-hamburg-2313476
Mon, 07 Oct 2024 19:30:00 +0200
Ein Jahr nach dem Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel
Aufgaben_des_Kanzlers,Inneres und für Heimat,Auswärtiges
Statement-BK
Zum ersten Jahrestag des Angriffs von Hamas-Terroristen auf Israel hat Bundeskanzler Olaf Scholz an einer Gedenkzeremonie in der Hamburger Synagoge Hohe Weide teilgenommen. Es sei bedrückend, dass noch immer zahlreiche Geiseln in Gaza festgehalten würden. Auch auf die vermehrten antisemitischen Übergriffe in Deutschland ging Scholz ein und bekräftigte: Deutschland werde alle Möglichkeiten des Rechtsstaats nutzen, damit Jüdinnen und Juden hier sicher leben können. [Video] Lesen Sie hier die Mitschrift des Statements: Vor einem Jahr hat die Hamas Israel überfallen, mehr als tausend israelische Bürgerinnen und Bürger getötet, erniedrigt, vergewaltigt, das alles dokumentiert und gefilmt – und vergessen wir nicht: auch viele, die zum Beispiel bloß bei einem Musikfestival anwesend waren. Wir sind immer noch erschüttert. Deshalb ist es auch so bedrückend zu wissen, dass unverändert unzählige israelische Bürgerinnen und Bürger, viele davon auch deutsche Staatsbürger, in Gaza inhaftiert und als Geiseln gehalten werden. Es ist jetzt notwendig, dass es bald zu einem Waffenstillstand kommt, der mit der Freilassung der Geiseln verbunden ist, und dass wir unsere Verantwortung wahrnehmen. Das gilt auch für unser Land und für die Situation hierzulande. Es ist bedrückend zu sehen, dass Antisemitismus eine größere Rolle spielt als in den letzten Jahren – und das war schon immer schlimm und bedrückend. Deshalb müssen wir alles dafür tun, gegenzuhalten und sicherzustellen, dass die jüdischen Bürgerinnen und Bürger unseres Landes auch sicher leben können. Wir werden das tun mit allen Möglichkeiten, die unser Rechtsstaat uns zur Verfügung stellt; aber wir werden es auch tun als Bürgerinnen und Bürger und uns klar auf die Seite unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger stellen, die sich auf uns verlassen können müssen und sich auf uns verlassen können. Schönen Dank. Am 7. Oktober 2023 haben Hamas-Terroristen Israel angegriffen. Über 1.000 Menschen wurden bei den Angriffen ermordete, über 200 Männer, Frauen und Kinder in den Gaza-Streifen verschleppt – einige befinden sich bis heute in der Gewalt der Terroristen.
Zum ersten Jahrestag des Angriffs von Hamas-Terroristen auf Israel hat Kanzler Scholz an einer Gedenkzeremonie in der Hamburger Synagoge Hohe Weide teilgenommen. Lesen Sie hier sein Statement im Wortlaut.
Wachstum und Nachhaltigkeit zusammendenken
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/hamburg-sustainability-conference-2313528
Mon, 07 Oct 2024 10:36:00 +0200
Hamburg Sustainability Conference
Aufgaben_des_Kanzlers
Statement-BK,Nachhaltigkeit
Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Hamburg Sustainability Conference eröffnet. Die HSC–Hamburg Sustainability Conference findet 2024 zum ersten Mal als neue globale Plattform statt – mit dem Ziel, praktische Lösungen für das Erreichen der 17 globalen Nachhaltigkeitsziele zu erarbeiten, die mit der Agenda 2030 von der Weltgemeinschaft verabschiedet wurden. In seiner Eröffnungsrede hob der Kanzler hervor, dass jeder einzelne Mensch die Chance erhalten müsse, nicht in Armut zu leben. Wohlstand für alle sei ein globales und erreichbares Ziel. Mit dieser Konferenz soll nun die Brücke von den politischen Nachhaltigkeitszielen auf UN–Vereinte Nationen-Ebene hin zur praktischen Umsetzung geschlagen werden. Das Wichtigste in Kürze: Das globale Ziel Wohlstand für alle kann der Planet nur überstehen, wenn die Technologien und Produktionsweisen aus dem 19. oder 20. Jahrhundert verabschiedet werden. „Es führt kein Weg daran vorbei, das notwendige wirtschaftliche Wachstum der Welt vom CO–Kohlenstoffdioxid2-Ausstoß zu entkoppeln“, sagte Scholz. Unverzichtbar für das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele sei das Know-how und die Investitionen der Privatwirtschaft. Deshalb müssen gemeinsame Finanzierungsinstrumente entwickelt werden, um öffentliche und private Gelder leichter zusammenzuführen. Auf der HSC–Hamburg Sustainability Conference wird daher die „Hamburg Sustainability Platform“ gegründet. Das Bundesentwicklungsministerium wird der globalen Batterie Allianz (Global Battery Alliance) beitreten, um beim Abbau der Batterierohstoffe, Lithium und Kobalt Umweltstandards einzuhalten. Unter Einbeziehung aller weltweit wichtigen Akteure knüpft die Hamburg Sustainability Conference an den 2024 verhandelten Zukunftspakt der UN an. Die Konferenz mit rund 1.600 Teilnehmenden aus mehr als 100 Staaten wurde vom Bundesentwicklungsministerium in Kooperation mit dem Entwicklungsprogramm der UN (UNDP– United Nations Development Programme), der Michael Otto Stiftung und der Stadt Hamburg initiiert. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrte Herren Staatspräsidenten, sehr geehrte Premierministerinnen und Premierminister, Ministerinnen und Minister, Exzellenzen, sehr geehrte hochrangige Vertreterinnen und Vertreter von Regierungen und internationalen Organisationen, von Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen, sehr geehrter Herr Bürgermeister, lieber Peter, lieber Michael Otto, meine Damen und Herren, herzlich willkommen hier in meiner Heimatstadt! Herzlich willkommen zur Hamburg Sustainability Conference! Diese Konferenz macht in den nächsten zwei Tagen da weiter, wo der Zukunftsgipfel der Vereinten Nationen in New York aufgehört hat. Dort hat sich die Staatengemeinschaft vor zwei Wochen darauf verständigt, wie wir gemeinsam drängende globale Herausforderungen angehen werden, wie wir zum Beispiel die internationale Finanzarchitektur so gestalten können, dass sie effektiver dazu beiträgt, die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Wie Sie vielleicht wissen, waren es Deutschland und Namibia, die gemeinsam als sogenannte Ko-Faszilitatoren den Zukunftspakt verhandelt haben. Diesen Zukunftspakt haben wir nun am Sonntag vor zwei Wochen in New York beschlossen. Ich will ausdrücklich sagen: Mich hat dieser Summit of the Future sehr ermutigt. Er hat mich in meiner Überzeugung bestärkt, dass wir Lösungen für gemeinsame globale Herausforderungen im Austausch miteinander entwickeln müssen und dass es vor allem darauf ankommt, ins konkrete Handeln zu kommen. Darum geht es. Dafür sind Sie und ich heute in Hamburg. Mit dieser Konferenz wollen wir nun die Brücke von den politischen Nachhaltigkeitszielen auf UN–Vereinte Nationen-Ebene hin zur praktischen Umsetzung schlagen. Zu den großen Herausforderungen unserer Zeit gehören die globale Ungleichheit und der menschengemachte Klimawandel. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Ländern, in denen die Ungleichheit zunimmt. Die fünf reichsten Männer der Welt haben ihr Vermögen seit 2020 von 405 Milliarden US-Dollar auf 869 Milliarden US-Dollar mehr als verdoppelt. Zugleich gehören der gesamten ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung nur zwei Prozent des globalen Vermögens. Weltweit lebt fast jeder zehnte Mensch in extremer Armut. Zugleich erleben wir überall die Auswirkungen des Klimawandels: verheerende Überschwemmungen in West- und Zentralafrika, massive Waldbrände in Kanada, Sturmfluten in den Vereinigten Staaten, Überschwemmungen bei uns in Europa. Das alles sind globale Probleme. Sie hängen eng miteinander zusammen, sie betreffen uns alle, und sie lassen sich nur lösen, wenn die globale Gemeinschaft an einem Strang zieht, wenn wir den Willen zeigen, die Probleme zusammen zu lösen. Wir brauchen den Dialog, wir brauchen neue Allianzen, neue Partnerschaften, und, ja, wir brauchen auch den Mut, Misstrauen zu überwinden. Plattformen wie diese Konferenz schaffen den Raum, abseits von Verhandlungen innovative Ideen für konkrete Lösungen zu entwickeln und auf den Weg zu bringen. Wir alle stehen vor der Aufgabe, unsere Weltgesellschaft, unsere Wirtschaft und unsere Infrastruktur in eine ressourcenschonende klimaneutrale Zukunft zu führen. Dabei tragen die industrialisierten Gesellschaften eine besondere Verantwortung. Jeder einzelne Mensch muss die Chance erhalten, nicht in Armut zu leben und ein besseres Leben zu führen. Wohlstand für alle ist ein globales Ziel. Aber das wird unser Planet nicht überstehen, wenn wir weiterhin auf Technologien und Produktionsweisen aus dem 19. und 20. Jahrhundert setzen. Für die Weltgemeinschaft bedeutet das konkret: Wir müssen unsere fossilen Energiequellen durch erneuerbare ersetzen oder erst gar nicht in sie einsteigen. Es führt kein Weg daran vorbei, das notwendige wirtschaftliche Wachstum der Welt vom CO2-Ausstoß zu entkoppeln. In vielen Ländern gelingt das bereits. Die Lösungsansätze und Technologien dafür haben wir. Klimaschutz oder Entwicklung – das ist die falsche Frage, im globalen Norden und im globalen Süden. Meine Damen und Herren, gemeinsam muss die Weltgemeinschaft in den nächsten Jahren die Transformation schaffen – sozial, ökonomisch und ökologisch. Sozial heißt, das zentrale Prinzip der Agenda 2030 nie aus den Augen zu verlieren: „Leave no one behind!“ Ökonomisch brauchen wir die Entwicklung hin zu echter Kreislaufwirtschaft und die gemeinsame Überzeugung, dass wir Wachstum und Nachhaltigkeit zusammendenken müssen. Ökologische Transformation, das bedeutet, dass wir unsere Lebensgrundlagen schonen, schützen und wiederaufbauen, wo wir sie zerstört haben. Es heißt für alle Staaten, in Klimaneutralität und nachhaltiges Wirtschaften zu investieren, um den Wohlstand zu erhalten und auszubauen. Verabschiedet wurden die Nachhaltigkeitsziele 2015; wir haben es schon gehört. Vorangekommen sind wir. Aber warum haben wir es seitdem alle zusammen nicht geschafft, bei diesen Themen gut genug voranzukommen? Die Ursache sehe ich in den vielfachen Krisen, denen wir gegenüberstehen. Der fortschreitende Klimawandel, die Nachwirkungen der Covidpandemie und die vielen internationalen Krisen und Konflikte, das alle setzt viele Länder unter großen Druck. Einen besonderen Rückschlag bedeutet der brutale russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Welt darf sich nicht wieder in längst überwundene Blöcke aufteilen lassen. Im Gegenteil, die Welt sollte wieder mehr zusammenfinden. Heute vor einem Jahr sind Terroristen der Hamas in Israel eingefallen, haben israelische Bürgerinnen und Bürger entführt, vergewaltigt und ermordet. Weit über eintausend Menschen kamen bei diesem bestialischen Angriff ums Leben. Fast 240 wurden entführt. Viele sind noch immer als Geiseln in der Gewalt der Terroristen. Liebe Freunde in Israel, wir fühlen mit euch das Entsetzen, den Schmerz, die Ungewissheit und die Trauer. Wir stehen an Eurer Seite. Die Terroristen der Hamas müssen bekämpft werden. Offensichtlich ist auch: Ein Jahr Krieg hat unvorstellbares Leid über die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen gebracht. Die tägliche Erfahrung von Gewalt und Hunger ist keine Grundlage, aus der Gutes erwachsen kann. Menschen brauchen Hoffnung und Perspektiven, wenn sie dem Terror abschwören sollen. Deshalb setzt sich die Bundesregierung für einen Waffenstillstand ein, für eine Befreiung der Geiseln und für einen politischen Prozess, auch wenn er heute ferner scheint denn je. Und dennoch: Die Palästinenserinnen und Palästinenser sollen ihre Angelegenheiten in Eigenverantwortung regeln können. Die Sicherheitsbedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger Israels müssen berücksichtigt werden. Deshalb kann das Ziel dieses Prozesses nur sein: zwei Staaten, in denen Israelis und Palästinenser dauerhaft in Frieden miteinander leben können. Das wird nur möglich sein, wenn es uns gelingt, einen Flächenbrand in der Region zu verhindern. Die iranischen Raketenangriffe auf Israel sind eine weitere Eskalation in einer ohnehin angespannten Lage. Wir haben diese Angriffe im Kreis der G7-Staats- und ‑Regierungschefs auf das Schärfste verurteilt. Die Hisbollah und der Iran müssen ihre Attacken auf Israel einstellen. Gemeinsam mit unseren Partnern werden wir uns weiterhin dafür einsetzen, eine Waffenruhe zwischen Israel und der Hisbollah zu vermitteln. So kann der Einstieg in die volle Umsetzung der UN–Vereinte Nationen-Sicherheitsresolution 1701 gelingen, die klar vorschreibt, dass sich die Hisbollah aus dem Grenzgebiet zu Israel zurückziehen muss. Hieran werden wir weiterhin mit Hochdruck arbeiten. Nun zurück zum Thema unserer Konferenz: Die Bedingungen der notwendigen Transformation bleiben schwierig. Wie können wir die Lage dennoch verbessern? Zwei entscheidende Punkte will ich nennen: Erstens. Wir müssen die Last der Krisenbewältigung und die Verantwortung für die sozial gerechte ökologische Transformation auf mehr starke Schultern verteilen. Alle Regierungen müssen ihre Verantwortung wahrnehmen. Auf Deutschland und die Europäische Union ist dabei Verlass. Zugleich müssen wir den Kreis derjenigen ausweiten, die öffentliche Mittel bereitstellen. Das gilt zum Beispiel im Rahmen der zukünftigen Ausrichtung der Klimafinanzierung auf der anstehenden COP29. Zusätzlich müssen wir verstärkt private Akteure und Investoren ins Boot holen und deshalb die Rahmenbedingungen für private Investitionen verbessern; denn Regierungen allein können das Ruder nicht herumreißen. Ich will es ganz deutlich sagen: Ohne das Know-how und die Investitionen der Privatwirtschaft sind die Sustainable Development Goals nicht zu erreichen. Deshalb müssen wir es schaffen, gemeinsame Finanzierungsinstrumente zu entwickeln, um öffentliche und private Mittel leichter zusammenzuführen. So geben wir unserer Aufholjagd den notwendigen Impuls, um die Agenda 2030 noch zu erreichen. Deshalb rufen wir auf dieser Konferenz die Hamburg Sustainability Platform ins Leben, eine internationale, öffentlich-private Initiative, die große private Investitionen mobilisiert, um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Dazu werden Finanzvehikel vereinheitlicht, dazu werden öffentliche und private Investitionen einfacher zusammengeführt. Perspektivisch kann auf diese Weise ein enormes Investitionsvolumen freigesetzt werden. Es geht bei dieser Konferenz aber nicht nur darum, Mittel zu mobilisieren. Es geht hier in Hamburg auch um die Frage, auf welchen Feldern wir noch besser werden müssen. Dazu gehört die Kooperation zwischen multilateralen Entwicklungsbanken, damit mit den vorhandenen Mitteln größere Wirkungen erzielt werden. Dazu gehört der Austausch darüber, wie Risiken in Ratings präziser und transparenter dargestellt werden können, um Investitionen im globalen Süden zu erleichtern. Dazu gehören Lösungen dafür, wie wir angesichts wachsender Klimarisiken mit Verschuldung umgehen. Zweitens. Um nachhaltig voranzukommen, müssen wir neue Formate nutzen, neue Formate, um die Ideen und Expertisen aller Beteiligten an einen Tisch zu bringen, Formate, bei denen Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam über wirksame Instrumente beraten; wohlgemerkt: Stimmen aus dem globalen Süden und aus dem globalen Norden! Nennen will ich an dieser Stelle ausdrücklich auch die Arbeit des Klimaclubs. Hier arbeiten wir inzwischen mit 42 Mitgliedern an kooperativen Lösungen im Übergang zu einer klimafreundlichen Industrie – und zwar über Kontinente und Ländergrenzen hinweg – und der Möglichkeit, die Länder des globalen Südens zu unterstützen. Ich will Ihnen dafür ein konkretes Beispiel nennen, das zugleich gut zur Hafenstadt Hamburg passt. Zwei Drittel der Güter, die weltweit gehandelt werden, transportiert die Seeschifffahrt. Deshalb spielen Häfen für eine exportorientierte Wirtschaft und die Versorgung mit erneuerbaren Energien eine so zentrale Rolle. Zugleich gibt es aber noch zu wenig Alternativen zu fossilen Antriebsstoffen, vor allem Schweröl. Damit die Schifffahrt nachhaltig wird, sind also neue Allianzen nötig, Allianzen zwischen Regierungen, Kraftstoffproduzenten, Häfen, Werften und Reedereien. Deshalb fordert die Bundesregierung gemeinsam mit den anderen EU–Europäische Union-Mitgliedstaaten international verbindliche Maßnahmen, erstens die Einführung eines Kraftstoffstandards und zweitens die Bepreisung von Treibhausgasemissionen mittels einer globalen Treibhausgasabgabe. Aktuell laufen hierzu die Verhandlungen im Rahmen der Internationalen Maritimen Organisation. Nötig sind auch Vorreiterallianzen. Deshalb wird Deutschland mit der Green Shipping Initiative grüne Schifffahrtskorridore vorantreiben. Konkret unterstützen wir dabei eine Vereinbarung von weltweit agierenden Unternehmen zur engeren Zusammenarbeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Zugleich wird eine Vereinbarung auf den Weg gebracht mit dem Ziel, die Zusammenarbeit bei der technologischen Entwicklung, bei der Ausbildung von Fachkräften und beim Wissenstransfer zu verbessern. Nach diesem Muster sind weitere Allianzen nötig, um weltweit erneuerbare Energien voranzutreiben; Allianzen, um klimaresiliente Ernährungssysteme zu ermöglichen; Allianzen, um lokale Wertschöpfung zu stärken und bessere Jobs mit gerechter Bezahlung zu schaffen; Allianzen, um nachhaltige Mobilität zu fördern. Auch hierzu ein ganz konkretes Beispiel: Batterien werden für die Mobilität der Zukunft und eine funktionierende Energiewende eine entscheidende Rolle spielen. Beim Abbau der Batterierohstoffe, Lithium und Kobalt etwa, kommt es darauf an, dass Umweltstandards eingehalten werden. Wir müssen gemeinsam sicherstellen, dass die beteiligten oder betroffenen Bürgerinnen und Bürger vor Ort davon profitieren. Die Global Battery Alliance ist hierfür die wichtigste globale Partnerschaft. Sie setzt sich für nachhaltigere Batterielieferketten und dafür ein, den ökologischen Fußabdruck von Batterien zu verbessern. Bislang besteht die Allianz aus etwa 170 Mitgliedern, vor allem Unternehmen aus dem globalen Norden. Hier, auf der Hamburg Sustainability Conference, wird das deutsche Entwicklungsministerium dieser Allianz beitreten – im Schulterschluss mit Sambia und Serbien, die ebenfalls ihren Beitritt vorbereiten. Das Beispiel zeigt: Bei all den Allianzen, die wir schmieden, muss es immer darum gehen, dass mehr Menschen weltweit an Fortschritt und Wohlstand beteiligt werden. Genau dafür wurde die Hamburg Sustainability Conference ins Leben gerufen. Sie leistet einen wichtigen Beitrag dafür, die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, weil sie Allianzen zwischen Staaten und Allianzen mit Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft ermöglicht und weil sie konkrete Lösungen entwickelt. Und auch nach Hamburg geht es weiter: Die Vorbereitungen zur 4. Entwicklungsfinanzierungskonferenz in Spanien 2025 laufen auf Hochtouren. Klar ist: Die Aufholjagd um die Entwicklungsziele ist damit nicht erledigt. Deshalb ist es gut, dass sich die Hamburg Sustainability Conference als mehrjähriger Prozess versteht. Was auf der Konferenz beschlossen wird, das werden die Teilnehmenden auch in den Folgejahren konkretisieren und in die Tat umsetzen. Das wird aber nur gelingen, wenn wir Vertrauen zueinander aufbauen, wenn wir uns als Team verstehen und nicht als Gegenspieler. Deshalb meine Bitte: Nutzen Sie die vertraulichen Gesprächsräume, die auf dieser Konferenz geschaffen werden! Kompromisse und gemeinsame Entscheidungen gelingen immer dann am besten, wenn Zielkonflikte offen angesprochen werden. Hier in Hamburg haben Sie die Gelegenheit dazu! Das gegenseitige Vertrauen der Weltgemeinschaft wieder zu stärken und zugleich zu zeigen, dass mit starken internationalen Partnerschaften globale Herausforderungen gemeistert werden können, das ist das Ziel für dieser Konferenz. Nur mit mehr Zusammenarbeit werden wir unsere Aufholjagd erfolgreich schaffen können, die Nachhaltigkeitsziele doch noch erreichen. Nur so werden wir Hunger, Armut und Ungleichheit dauerhaft reduzieren. Nur so können wir eine sozial gerechte ökologische Transformation vorantreiben. Denn das ist die Gemeinschaftsaufgabe unserer Generation. Ich lade Sie ein: Lassen Sie uns gemeinsam weiter daran arbeiten! Schönen Dank!
Bei der Hamburg Sustainability Conference hat Kanzler Scholz betont, dass sich globale Probleme nur in der Gemeinschaft lösen lassen: „Gemeinsam muss die Weltgemeinschaft in den nächsten Jahren die Transformation schaffen – sozial, ökonomisch, ökologisch.“
„Unsere Einheit in Freiheit – sie bleibt unser gemeinsames Fundament“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-rede-tag-der-einheit-2312480
Thu, 03 Oct 2024 12:00:00 +0200
Rede des Kanzlers zum Tag der Deutschen Einheit
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Bundeskanzler Olaf Scholz hat zum Tag der Deutschen Einheit an die Ereignisse im Herbst vor 35 Jahren erinnert: An die mutigen Bürgerinnen und Bürger der DDR, die mit der friedlichen Revolution die SED-Diktatur in die Knie zwangen. „Wir feiern das große Glück, dass am 3. Oktober 1990 die Teilung Deutschlands endgültig überwunden wurde“, sagte der Kanzler beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in Schwerin. Das Wichtigste in Kürze: Kanzler Scholz sprach in seiner Festrede auch über die Erfolgsgeschichte der Deutschen Einheit. Massenarbeitslosigkeit sei in Ostdeutschland inzwischen Geschichte, es gebe ein hohes Wirtschaftswachstum – und die Unterscheidungslinie Ost/West spiele gerade für viele Jüngere kaum noch eine Rolle. „Die Geschichte der Deutschen Einheit ist nicht zu Ende. Wir müssen ihr neue Kapitel hinzufügen“, sagte der Kanzler. Wo immer Politik bessere Lebenschancen und gleichwertige Lebensverhältnisse schaffen könne, da müsse das geschehen. „Und genau daran arbeiten wir gemeinsam, auf allen Ebenen.“ Der Tag der Deutschen Einheit wurde 2024 in Schwerin gefeiert, der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern. Unter dem Motto „Vereint Segel setzen“ fand ein Bürgerfest statt, bei dem die Bundesregierung mit vielen Informationen, Gesprächen, Bürgerdialogen und einem Unterhaltungsprogramm vertreten war. [Video] Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin! Sehr geehrte Repräsentanten des Bundes und der Länder! Exzellenzen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Der Tag der Deutschen Einheit ist ein Festtag, ein Freudentag und ein nationaler Feiertag. Genau deshalb sind wir heute hier: um zu feiern. Wir feiern das große Glück, dass am 3. Oktober 1990 die Teilung Deutschlands endgültig überwunden wurde – die Teilung in zwei Staaten, die einander feindselig gegenüberstanden, eingebettet noch dazu in verfeindete Militärbündnisse. Erst unter der Losung „Wir sind das Volk“, dann immer klarer unter der Losung „Wir sind ein Volk“ hatten im Herbst vor 35 Jahren mutige Bürgerinnen und Bürger der DDR mit ihrer friedlichen Revolution die kommunistische Diktatur der SED in die Knie gezwungen. Am 9. November 1989 brachten sie die Berliner Mauer zu Fall. Nur vier Monate später, am 18. März 1990, wählten die Bürgerinnen und Bürger der DDR – erstmals frei und geheim – ein neues Parlament. Dieses Parlament – die Volkskammer – entschied am 23. August 1990 mit überwältigender Mehrheit den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland – mit Wirkung zum 3. Oktober. Und nun, an diesem 3. Oktober 1990, war der Tag der Vereinigung da. Heute vor 34 Jahren schlossen sich die auf dem Gebiet der DDR neu gegründeten Länder der Bundesrepublik Deutschland an: das endlich nicht mehr zweigeteilte Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Das Zeitalter von Mauer, Schießbefehl und Teilung, das Zeitalter der Diktaturen und des Kalten Krieges – das alles war endlich Geschichte in ganz Deutschland. „(I)n freier Selbstbestimmung“ hatten die Deutschen an diesem Tag ihre „Einheit und Freiheit (…) vollendet“. So steht es in der Präambel unseres Grundgesetzes, wie sie 1990 im Einigungsvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR neu formuliert wurde. Jedes Jahr am 3. Oktober feiern wir Deutschen seither das große Glück, dass es damals so gekommen ist. Und es ist gut, dass wir uns – und andere – bei dieser Gelegenheit immer wieder daran erinnern: Alles hätte auch ganz anders ausgehen können in dieser dramatischen Zeit – weit weniger selbstbestimmt, weit weniger friedlich, weit weniger glücklich und am Ende ohne deutsche Einheit in Freiheit – so wie sie uns heute, mehr als drei Jahrzehnte später, ziemlich selbstverständlich vorkommt. – Manchmal allzu selbstverständlich, wie ich finde. Denn die Gefahr der gefährlichen Zuspitzung, die Gefahr der gewaltsamen Eskalation, die Gefahr des Scheiterns und Entgleisens der revolutionären Entwicklung war 1989 immer wieder gegeben: bereits im Spätsommer 1989 etwa, als Tausende von verzweifelten Bürgerinnen und Bürger aus der DDR in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Zuflucht suchten; am 9. Oktober, als in Leipzig Zehntausende unerschrocken demonstrierten, obwohl stündlich mit der brutalen Niederschlagung ihres Protests gerechnet werden musste; oder in der dramatischen Freiheitsnacht an der Berliner Mauer vom 9. auf den 10. November. Aber auch noch in den Monaten danach blieb die Lage ungewiss – weil sich erst noch erweisen musste, ob die Sowjetunion, ob Europa und die Welt ein wiedervereinigtes Deutschland überhaupt akzeptieren würden. Von vornherein klar war das mitnichten. Viele trugen damals Bedenken, zahllose Hürden mussten überwunden werden. Unvergessen der berühmte Satz von Margaret Thatcher aus jener Zeit: „Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen, jetzt sind sie wieder da.“ – Selbstverständlich war also gar nichts in diesen atemlosen, aufgewühlten Monaten. Und genau deshalb ist es so wichtig, dass wir uns daran erinnern, wie sehr die Sache damals Spitz auf Knopf stand. Immer mal wieder ist kritisiert worden, dass wir Deutschen den 3. Oktober zum neuen Nationalfeiertag gemacht haben, ein Datum – so heißt es dann gerne –, das nur für einen trockenen Verwaltungsakt stehe. Wäre nicht doch der 9. Oktober geeigneter gewesen, jener Leipziger Tag der Tapferkeit, der sich in der nächsten Woche zum 35. Mal jährt? Oder hätte es eher der 9. November sein sollen, dieser Schicksalstag der deutschen Geschichte gleich in mehrfacher Hinsicht? Oder hätte es doch beim 17. Juni bleiben sollen – so wie bereits in der Bundesrepublik bis 1990 – in Erinnerung an den ersten großen Volksaufstand für Freiheit und deutsche Einheit 1953 in der DDR? Argumente lassen sich für jeden dieser Tage finden – sogar gute Argumente. Aber ich will heute deutlich sagen: Ich bin sehr einverstanden damit, dass die Entscheidung seinerzeit auf den 3. Oktober fiel, denn der 3. Oktober 1990, das war der Tag, an dem die Deutschen in Ost und West sicher sein konnten: Diese Etappe haben wir geschafft! Die Vereinigung unserer beiden Staaten – die ist uns geglückt. Und insofern stimmt der Satz aus der Präambel unseres Grundgesetzes sehr präzise: An diesem 3. Oktober 1990 hatten wir Deutschen das Zusammenfügen unserer beiden früheren Teilstaaten tatsächlich in freier Selbstbestimmung vollendet. Wenn das kein Grund zum Feiern ist – zum Feiern am heutigen 3. Oktober und auch noch in vielen Jahren! Aber, meine Damen und Herren, „vollendet“, das hat ja nicht nur den einen Wortsinn, dass eine Etappe „geschafft“ oder ein Kapitel „fertiggestellt“ ist. Unter „Vollendung“ verstehen wir üblicherweise zugleich, dass etwas „perfekt“ ist: „unübertrefflich“, „makellos“, „nicht mehr weiter zu verbessern“. Ich verrate hier kein Geheimnis: Vollendet in diesem Sinne ist die Deutsche Einheit auch nach 34 Jahren natürlich nicht. Woran das liegt und was das bedeutet – auch darüber müssen wir gerade heute reden. Einer der maßgeblichen „Architekten der deutschen Einheit“ war Wolfgang Schäuble. Als der Bundestag im Juni 1991 darüber stritt, wo im soeben wiedervereinigten Deutschland zukünftig der Sitz von Parlament und Regierung liegen solle, in Berlin oder in Bonn, da sagte Schäuble diese Sätze: „Wir haben die Einheit unseres Volkes im vergangenen Jahr wiedergefunden. Das hat viel Mühe gekostet. Nun müssen wir sie erst noch vollenden. Auch das kostet noch viel Mühe.“ Wir alle wissen: Das hat in all den Jahren seither viel Mühe gekostet. Es kostet immer noch viel Mühe – und ich werde darüber sprechen. Aber eines will ich doch zunächst sagen: Wenn wir uns die damalige Ausgangslage in Erinnerung rufen, dann sind wir gleichwohl weit vorangekommen. Es gibt kein einziges vergleichbares Land der Welt, das in den vergangenen Jahrzehnten vor einer ähnlichen Herausforderung stand wie Deutschland: vor der Herausforderung nämlich, zwei über vier Jahrzehnte hinweg geteilte, völlig verschieden organisierte Teilgesellschaften zusammenzubringen – wirtschaftlich, politisch, kulturell und mental. „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ – Willy Brandt sagte das gleich nach dem Mauerfall. Und er hatte Recht. Aber er ahnte: Dieses Zusammenwachsen wird nicht einfach werden. Was uns dabei seither gelungen ist – und was uns dabei noch nicht gelungen ist –: Fair und angemessen bewerten lässt sich das überhaupt nur, wenn wir uns klarmachen, wie riesengroß und wie einzigartig das Vorhaben war, mit dem wir es da auf einmal zu tun hatten. – Zeit vergeht. Und natürlich fällt es mit wachsendem zeitlichem Abstand zur Wirklichkeit der deutschen Teilung immer schwerer, das schiere Ausmaß der Aufgabe begreiflich zu machen, an die wir Deutschen aus Ost und West uns damals gemeinsam machen mussten und durften. Darin liegt durchaus ein Problem: Wie werden wir in Zukunft die Erinnerung wachhalten an diese beispiellosen Jahre des Umbruchs, als unsere zwei so unterschiedlichen Deutschlands aufeinandertrafen und zueinanderfanden? Und wie kriegen wir es hin, dass in Zukunft weder Verklärung noch Verbitterung das Bild bestimmen, weder bloßes Hörensagen noch achtloses Vergessen, sondern eine realistische Vorstellung von der Größe der Aufgabe, die in den Jahren seit 1990 zu bewältigen war, und genau deshalb auch ein angemessener Stolz auf das, was wir seither gemeinsam in Deutschland geschafft haben – denn gemeinsam geschafft haben wir viel, unendlich viel sogar! Ich selbst bin kein Ostdeutscher – wie jeder weiß, aber ich lebe seit Jahren in Ostdeutschland, und im Deutschen Bundestag vertrete ich einen ostdeutschen Wahlkreis. Und ich erinnere mich noch sehr präzise daran, wie dramatisch sich die Lage im Osten kurz nach dem Ende der DDR entwickelte. Damals kam ich als junger Anwalt für Arbeitsrecht nach Leipzig, um bei dem großen Schwermaschinenbaubetrieb TAKRAF Betriebsräte zu unterstützen, die verzweifelt um den Erhalt von Arbeitsplätzen kämpften. Ich habe damals hautnah miterlebt und verstanden, was der radikale Umbruch aller – aber auch wirklich aller – Lebensverhältnisse den Bürgerinnen und Bürgern im Osten abverlangte. Für Millionen von Ostdeutschen bedeutete der Umbruch damals Befreiung und Neuanfang. Aber für Millionen war der Umbruch in den Jahren nach der Einheit für vor allem ein Zusammenbruch – ein Zusammenbruch ihres gesamten bisherigen Lebens, so wie sie es gekannt und gelebt hatten, eine Entwertung ihres Wissens, ihrer Erfahrungen, ihrer Lebensleistung. Das gehört zur Geschichte unserer deutschen Jahrzehnte seit 1990. Das darf niemals vergessen oder unter den Teppich gekehrt werden. Und hier liegt wohl eine der Ursachen für die noch immer besondere Stimmung – die besondere Verstimmung – und für politische Besonderheiten, die Ostdeutschland heute kennzeichnen. Aber nicht nur in Ostdeutschland erleben wir Landtagswahlen, bei denen sich manchmal bis zu einem Drittel der Wählerinnen und Wähler gerade für eine autoritäre und nationalradikale Politik entscheidet, für Populisten, die unsere freiheitliche Demokratie bekämpfen. Das ist verhängnisvoll. Das schadet Sachsen, Thüringen und Brandenburg! Das schadet Hessen und Bayern! Das schadet unserem gesamten Land – unserer Wirtschaft und unserem Ansehen in der Welt. Es wird noch viel harte Arbeit nötig sein, um diese Entwicklung zurückzudrehen. Aber an eines will ich heute deutlich erinnern: Die ganz große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger überall in Deutschland steht ganz fest auf dem Boden unserer freiheitlichen Ordnung. Das sind die Vernünftigen und Anständigen. Das sind die, die nicht nur motzen, sondern anpacken – für unser Land. Diese Mitte ist viel größer als die Radikalen an den Rändern. Auch das vereint uns heute an diesem Tag der Deutschen Einheit. Gerade deshalb ist es mir wichtig, eines ganz klar zu sagen: Wir sollten niemals vergessen und kleinreden, was im Osten seit 1990 geleistet, was hier aufgebaut wurde und wie weit wir gemeinsam vorangekommen sind – in Deutschland insgesamt. Damals in den Besprechungszimmern bei TAKRAF in Leipzig hätte ich mir nicht ansatzweise vorstellen können, wie sich Ostdeutschland entwickeln würde. Heute können wir sagen: Gemessen an etlichen handfesten Kriterien ist die Deutsche Einheit eine Erfolgsgeschichte: Inzwischen sind die schweren Jahre der Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland Geschichte – wie überall sonst in Deutschland werden auch im Osten Arbeitskräfte händeringend gesucht. Inzwischen – schon seit zehn Jahren – ist ein Wirtschaftswachstum in Ostdeutschland zu verzeichnen, das höher ist als das in Westdeutschland. Und hier in Mecklenburg-Vorpommern war es im ersten Halbjahr 2024 mit 3,1 Prozent sogar am höchsten. Ministerpräsidentin Manuela Schwesig wies bereits darauf hin. Inzwischen spielt die Unterscheidungslinie Ost/West gerade für viele Jüngere in Deutschland kaum noch eine Rolle. Inzwischen hat sich die Lebenszufriedenheit der Deutschen in Ost und West weitgehend angeglichen. Inzwischen lassen sich viele globale Technologie-Unternehmen gerade auch in Ostdeutschland nieder. Sie kommen, weil Strom aus Wind und Sonne hier schon heute reichhaltig zur Verfügung steht. In Ostdeutschland leben 15 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner Deutschlands, aber 28 Prozent der erneuerbaren Energie werden hier für uns alle in Deutschland produziert. Auch das ist so eine ostdeutsche Erfolgsgeschichte! Und übrigens: Diese Investoren profitieren bis heute oft von Grundlagen und Erfahrungen aus der Zeit vor 1989. Der Aufstieg von „Silicon Saxony“ zur international führenden Region der Mikroelektronik wäre niemals möglich gewesen, hätte es in Dresden nicht schon zu DDR-Zeiten mehrere große Betriebe der Mikroelektronik gegeben. Meine Damen und Herren! „Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen“, schrieb William Faulkner. Christa Wolf hat das in ihrem berühmten Roman „Kindheitsmuster“ zitiert. Recht hatten sie beide. Denn jede Gegenwart trägt in sich ja immer die Prägungen der Vergangenheit – im Guten wie im Schlechten. Wir in Deutschland wissen das. Deshalb gilt: Kein „Silicon Saxony“ ohne das Know-how der Ingenieure und Mitarbeiter der früheren Mikroelektronik-Kombinate in Dresden, Erfurt oder Frankfurt (Oder) – und darüber dürfen wir uns alle freuen. Auch dass es im Osten bis heute besser klappt mit den Kitaplätzen – auch darauf hat Frau Ministerpräsidentin hingewiesen – ist eine Spätfolge früherer Verhältnisse. Aber andere historische Prägungen sind weit weniger günstig für das Gelingen der Deutschen Einheit: zum Beispiel, dass die ostdeutschen Länder im Durchschnitt sehr viel dünner besiedelt sind als die westdeutschen; zum Beispiel, dass in Ostdeutschland die Einkommen noch immer niedriger ausfallen als in Westdeutschland – obwohl hier mehr Arbeitsstunden geleistet werden; zum Beispiel, dass im Osten die Vermögen immer noch viel geringer sind und deshalb im Osten auch viel weniger vererbt und gestiftet wird; zum Beispiel, dass im Osten noch immer kaum eine Konzernzentrale steht, dass es hier noch immer weniger Forschungseinrichtungen gibt, dass Länder und Gemeinden hier noch immer weniger Steuereinnahmen zur Verfügung haben; zum Beispiel, dass Ostdeutsche immer noch deutlich unterrepräsentiert sind in den Führungspositionen von Medien, Wirtschaft, Verwaltung, Rechtsprechung oder Militär. Manche dieser Defizite lassen sich beheben – mit geduldiger und beharrlicher Arbeit: Gegen niedrige Einkommen helfen Investitionen, höhere Mindestlöhne, engere Sozialpartnerschaft, mehr Tarifbindung und ordentliche Tarifverträge. Gegen die Benachteiligung ländlicher Regionen hilft aktive Regionalpolitik, wie wir sie in Deutschland – verglichen mit anderen Ländern – seit jeher intensiv betreiben. Und was den Anteil von Ostdeutschen in den Chefetagen unseres Landes angeht: Der lässt sich, guter Wille vorausgesetzt, überall systematisch steigern. Die Bundesregierung jedenfalls hat dafür ein Konzept beschlossen und geht – die Bundesverwaltung betreffend – als hoffentlich gutes Beispiel voran. Auch andere Institutionen, Organisationen oder Branchen können und sollten hier ihre Verantwortung wahrnehmen – schon aus wohlverstandenem Eigeninteresse. Denn von den besonderen Erfahrungen und Kompetenzen der Ostdeutschen profitieren alle – überall in Deutschland. Meine Damen und Herren! Die Geschichte der Deutschen Einheit ist nicht zu Ende. Wir müssen ihr neue Kapitel hinzufügen, dazu möchte ich an diesem 3. Oktober hier in Schwerin aufrufen: Wo immer Politik bessere Lebenschancen und gleichwertige Lebensverhältnisse schaffen kann, da muss das geschehen. Und genau daran arbeiten wir gemeinsam, auf allen Ebenen! Doch manche grundlegenden Prägungen der Vergangenheit sind zäh und dauerhaft. Die schon erwähnte in vielen Teilen Ostdeutschlands geringe Besiedlungsdichte zum Beispiel bestand schon lange vor Gründung der DDR. Die Folgen aber, im Hinblick auf Wirtschaft oder Infrastruktur, wirken weiter in Gegenwart und Zukunft. Und es ist unwahrscheinlich, dass sich solche historischen Prägungen ohne Weiteres verändern lassen. „Ungleich vereint“ – so hat deshalb der Soziologe Steffen Mau sein neues Buch genannt. Untertitel: „Warum der Osten anders bleibt.“ Hört endlich auf, eine völlige Angleichung des Ostens an den Westen zu erwarten – das empfiehlt uns Mau. Von Bayern oder vom Saarland erwarte schließlich auch niemand, dass sie sich an den Rest der Republik angleichen. Und niemand fragt: Wann wird Dithmarschen endlich so wie Dortmund? Warum ist das Emsland noch immer anders als das Allgäu, der Hunsrück noch immer anders als Hannover? Ich gebe Steffen Mau Recht: Die Vorstellung, die Deutsche Einheit wäre dann „vollendet“, wenn der Osten irgendwann einheitlich exakt so ist wie der Westen – wo es doch diesen einen einheitlichen Westen gar nicht gibt –, diese Vorstellung hilft uns im vereinten Deutschland tatsächlich nicht mehr weiter. Sie sorgt nur für Verbitterung und Frust, weil sie gar nicht erreichbar oder erstrebenswert ist. Sie wird der enormen Vielfalt innerhalb Ostdeutschlands und innerhalb Westdeutschlands überhaupt nicht gerecht. Unsere innere Vielfalt ist kein Defizit – sie ist eine besondere Stärke unseres Landes. Unsere Einheit in Freiheit, die wir heute vor 34 Jahren „wiederfanden“ – sie bleibt unser gemeinsames Fundament. Wenn wir aber auf diesem Fundament ein lebenswertes Gebäude für eine gemeinsame gute Zukunft errichten wollen, dann brauchen wir dafür die gesamte Vielfalt unseres Landes. Lassen Sie uns heute beides feiern: unsere Einheit und unsere Vielfalt. Und morgen machen wir uns wieder an die Arbeit! Schönen Dank! Fotoreihe: Tag der Deutschen Einheit in Schwerin [Fotoreihe]
Vereint Segel setzen – Deutschland hat die Deutsche Einheit 2024 in Schwerin gefeiert. Mit einem Bürgerfest, einem Ökumenischen Gottesdienst und einem Festakt, bei dem Kanzler Scholz die Festrede hielt. „Wir haben gemeinsam viel geschafft – unendlich viel sogar.“
Rede des Bundeskanzlers zum 75. Arbeitsjubiläum von Prof. Reinhold Würth
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bk-rede-arbeitsjubilaeum-wuerth-2312662
Wed, 02 Oct 2024 00:00:00 +0200
Arbeitsjubiläum bei Würth
Statement BK,Wirtschaft und Klimaschutz
Wirtschaft_und_Handel
Bei der Festveranstaltung zum 75. Arbeitsjubiläum des Unternehmers Reinhold Würth hat Bundeskanzler Olaf Scholz eine Festrede gehalten. Darin würdigte er die facettenreiche und menschennahe Persönlichkeit und das große Engagement – nicht nur für die deutsche Wirtschaft, sondern auch für soziale und kulturelle Belange. Der Unternehmer ist besonders für sein kulturelles Engagement bekannt: Zum Würth-Universum gehören eine Kunstsammlung von Weltrang, ein Symphonieorchester der Spitzenklasse sowie Museen, Ausstellungen, Bildungseinrichtungen und Begegnungsorte weltweit. Auch politisch äußert sich Reinhold Würth immer wieder – zuletzt positionierte er sich klar gegen rechtsextremistische Positionen. Reinhold Würth stieg mit 14 Jahren als Lehrling seines Vaters in das Unternehmen ein, übernahm es im Alter von 19 Jahren nach dessen Tod und baute es in wenigen Jahren zu einem Konzern aus. Die Firma wurde 1949 als Schraubenhandlung gegründet. Aktuell besteht die Würth-Gruppe nach Angaben des Unternehmens aus über 400 Gesellschaften in 80 Ländern. Das Familienunternehmen beschäftigt 88.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrter Herr Prof. Würth, sehr geehrte Frau Würth, sehr geehrte Mitglieder der Familie, Herr Landeshauptmann, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, Minister, Landräte und Bürgermeister, liebe Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und Weggefährten von Reinhold Würth, meine Damen und Herren! Alles an diesem Festtag ist außergewöhnlich: der Jubilar, die Gäste, die Musik und natürlich das Jubiläum selbst. Ein 75. Arbeitsjubiläum zu feiern, das dürfte für die allermeisten von uns ein einmaliges Erlebnis sein. Danke, sehr geehrter Herr Professor Würth, dass Sie uns ermöglichen, bei diesem schönen Jubiläum dabei zu sein; eine wirkliche Leistung! Ich möchte natürlich gleich zu Beginn meiner Rede unterstreichen, dass ich gegen die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters und dafür bin, dass tüchtige Leute auch weiterhin nach 45 Arbeitsjahren, zwei Jahren früher, in Rente gehen dürfen. Aber wer will, soll länger arbeiten können. Freiwilliges Weiterarbeiten ‑ so wie bei Ihnen – ermöglichen wir, und die Bundesregierung begrüßt das ganz, ganz ausdrücklich! Das ist erwünscht und, wie man am Beispiel Reinhold Würths sieht, ein Segen für unser ganzes Land. Mit der Wachstumsinitiative sind wir gerade dabei, das auch gesetzlich zu untermauern. Wir machen es attraktiver, dass Beschäftigte, die Spaß an der Arbeit haben, länger arbeiten. In Zeiten von Fachkräftemangel ist deren Erfahrung ein Schatz, auf den wir nicht verzichten können und nicht verzichten wollen. Niemand verkörpert das besser als Reinhold Würth. Wäre er nach 45 Arbeitsjahren in Ruhestand gegangen – vollkommen unvorstellbar bei ihm –, er hätte seine Berufstätigkeit knapp nach Eintritt seiner Mid-Career-Phase beendet. Dabei wissen wir nicht nur aus der Kunst: Gerade die späteren Schaffensphasen sind oft die bedeutendsten; wobei sich das bei Reinhold Würth erst dann sicher beurteilen ließe, wenn er mit der Arbeit aufhörte – oder zumindest darüber nachdächte. Doch das steht wohl noch lange nicht an. Als Laudator wiederum stellt mich bereits die bloße Zeitspanne dieses Arbeitslebens vor eine brutale Kuratierungsentscheidung: Wo anfangen? Was weglassen? Worauf den Scheinwerfer richten? Hinzu kommt, dass die Persönlichkeit von Reinhold Würth mit Worten wie „facettenreich“ und „vielseitig“ gänzlich unzureichend beschrieben ist. Anlässlich Ihres 80. Geburtstags schrieb Claus Detjen über Sie, dass Sie „Aufkleber nicht mögen, die Ihnen angeheftet werden“. Vermutlich würden solche Aufkleber an Ihnen aber auch einfach nicht haften bleiben, weil sie immer nur einen Bruchteil Ihrer Persönlichkeit beschreiben würden. Wer sich Reinhold Würth über die zahlreichen Bücher, Interviews und Publikationen nähert, die über ihn existieren, der trifft auf einen innovativen Traditionalisten und traditionsbewussten Erneuerer, auf einen packenden Erzähler und interessierten Zuhörer, auf einen kaufmännischen Kunstsammler und kunstliebenden Kaufmann, auf einen klar kalkulierenden Unternehmer und herzlichen Familienmenschen. Reinhold Würth ist heimatverbundener Weltbürger, Anker und Visionär, Menschenfreund und Kritiker in einem. Er gilt als ernst und humorvoll, liberal und sozial, sparsam und lebensfroh, altmodisch und innovativ, störrisch und liebenswert, ungeduldig und langmütig, streng und warmherzig zugleich. Wenn die Deutschlehrer unseres Landes ihren Schülerinnen und Schülern beibringen, was in der Rhetorik ein Oxymoron, ein innerer Widerspruch, ist – und ich hoffe, das tun sie noch –, dann greifen sie beispielsweise auf Paul Celans Formulierung von der „schwarzen Milch“ zurück. Sie könnten ihre Schüler alternativ auch die Eigenschaften studieren lassen, die Reinhold Würth in sich vereint. Dann würde zugleich auch der Beweis erbracht, dass vermeintlich gegensätzliche Charaktereigenschaften und Begabungen sich durchaus zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen können. Dieses harmonische Ganze zu würdigen, bleibt gleichwohl eine Herausforderung. Ich will mich ihr über drei Begriffe nähern, die in Reinhold Würths Leben eine zentrale Rolle spielen, mehr noch, die bei ihm eine produktive Symbiose eingegangen sind. Es sind die Begriffe Arbeit, Kultur und Familie. Mit dem Begriff der Arbeit möchte ich beginnen; schließlich ist der Anlass dieser Feier ein Arbeitsjubiläum, auch wenn sich diese Feier für uns Gäste so gar nicht nach Arbeit anfühlt. „Arbeit ist das halbe Leben“ sagt der Volksmund. Reinhold Würth widerlegt diesen Satz wie erläutert schon rein mathematisch. 78,2 Jahre beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes in Deutschland. Daran gemessen sind 75 Arbeitsjahre plus X weit mehr als ein halbes Leben. Mit 14 begann Reinhold Würth in der väterlichen Schraubenhandlung; das haben wir schon gehört. Bereits mit 15 führte seine erste Verkaufsreise ihn allein nach Düsseldorf. Welche Eltern würden das heute noch zulassen? Nach dem viel zu frühen Tod des Vaters übernahm er mit 19 ‑ damals nach dem damaligen Recht eben noch minderjährig – die Geschäftsleitung, an seiner Seite die Mutter Alma als engste Ratgeberin, Mutmacherin und Unterstützerin. Mit 24 hatte er den Umsatz bereits fast verzehnfacht, auf mehr als 1,1 Millionen Mark. Mit 27 gründete er in den Niederlanden die erste Auslandsgesellschaft. Dutzende weitere sollten folgen. Viele von Ihnen kennen natürlich diese Rahmendaten, die mit wachsendem zeitlichem Abstand umso beeindruckender wirken. Sie dokumentieren eine Erfolgsgeschichte, die in den USA–Vereinigte Staaten von Amerika längst nationales Kulturgut wäre, Beleg für die Lebendigkeit des amerikanischen Traums. Aber Reinhold Würth als Aushängeschild des „German Dream“? Ich vermute, er würde das mit der Bescheidenheit eines „Bubs aus Hohenlohe“ und mit dem Misstrauen gegenüber solcherlei „Aufklebern“ von sich weisen. Ohnehin vermögen Daten und Zahlen allein den Erfolg eines Reinhold Würth nicht zu erklären. Dafür muss man über die Person Reinhold Würth sprechen, über Reinhold Würth als Menschenkenner, Menschenfänger und Menschenfreund, der seine Arbeit liebt und darüber sagt, dass der Verkäuferberuf der schönste auf der ganzen Welt sei, und zwar, weil man dabei permanent mit allen Sorten von Menschen, die auf Gottes Erdboden leben, in Kontakt komme. Geschäftssinn kommt natürlich hinzu. Auch den zeigte Reinhold Würth schon früh. Schon in der Schule – so hat es mir eine vertrauenswürdige Quelle verraten – verlieh er Romanhefte an seine Mitschülerinnen und Mitschüler, wohlgemerkt gegen Leihgebühr. Dass Reinhold Würth zugleich unglaublich großzügig ist, wissen alle, die für ihn arbeiten oder in den vergangenen 75 Jahren gearbeitet haben. Anstrengung belohnt er. Wer viel leistet, der soll sich auch richtig freuen und feiern. Auch das gehört zum Erfolgsprinzip Würth. Umso dankbarer sind wir, Ihre Gäste, dass wir heute gänzlich anstrengungslos in den Genuss dieser schönen Feier kommen. Damit ist auch der Beweis erbracht, dass Arbeit für Sie, sehr geehrter Herr Würth, zwar rechnerisch weit mehr ist als das halbe Leben, aber dass Sie der Arbeit keineswegs alles andere unterordnen. Arbeit geht für Sie über ihre ökonomische Bedeutung hinaus. Das verbindet uns. Der von mir sehr geschätzte Philosoph Axel Honneth sieht in der Arbeit den zentralen Ort, an dem die Freiheit des Einzelnen verwirklicht wird, und zwar durch die Zusammenarbeit mit anderen, durch Austausch und durch wechselseitige Anerkennung. Zusammenarbeit, Austausch, Anerkennung – das passt gut zum Unternehmer Würth, der die Arroganz einmal als den Tod jeder zwischenmenschlichen oder geschäftlichen Beziehung bezeichnet hat. Das passt auch gut zum Unternehmen Würth, in dem das wichtigste Wort dem Vernehmen nach Danke lautet – ich hoffe, es stimmt ‑ und in dem Erfolg immer damit verbunden wird, der Gesellschaft etwas zurückzugeben, sei es durch Ihr großes Engagement im Bereich der Bildung, für Inklusion und den Behindertensport oder für die Kultur. Das ist dann auch der zweite Begriff, den wohl nicht nur ich eng mit Reinhold Würth verbinde, der Begriff der Kultur. Da ist zunächst diese von Wertschätzung und Hilfsbereitschaft geprägte Unternehmenskultur, die Reinhold Würth so wichtig ist. Zahllos sind die Geschichten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen er in schwierigen Situationen unter die Arme gegriffen hat. Dass zur Unternehmenskultur für Reinhold Würth auch Kultur im Unternehmen zählt, ist inzwischen weit über Künzelsau, Hohenlohe und Deutschland hinaus bekannt. Zum Würth-Universum zählen eine Kunstsammlung von Weltrang, ein Symphonieorchester der Spitzenklasse, dazu Museen, Ausstellungen, Bildungseinrichtungen und Begegnungsorte weltweit. Museen seien die demokratischsten Orte, haben Sie einmal gesagt, lieber Herr Würth, weil dort alle gleich seien. Das stimmt –zumindest dann, wenn Kultureinrichtungen zugänglich sind, erschwinglich für alle, und ich weiß, darauf legen Sie größten Wert. Das ist gut, denn Demokratie braucht Kultur. Eine vielfältige Gesellschaft wie unsere braucht Orte, an denen wir uns begegnen, an denen wir uns vergewissern, wer wir sind und woher wir kommen, an denen wir bei dem gemeinsamen Betrachten eines Bildes oder beim Hören eines Musikstücks verstehen: Was auch immer uns unterscheiden mag – weltanschaulich, politisch, ökonomisch oder aufgrund unserer unterschiedlichen Lebenswege –, uns eint doch viel mehr, als uns trennt. Das wieder stärker zu verinnerlichen, würde unserem Land guttun. Es würde auch denjenigen das Geschäft erschweren, die vor allem das Trennende betonen – zwischen arm und reich, West und Ost, Stadt und Land oder zwischen denjenigen, die schon immer hier leben, und denen, die neu hinzugekommen sind. Den Spaltern und Angstmachern klar und deutlich zu widersprechen – auch das gehört für Sie, lieber Herr Würth, zu einer demokratischen Kultur. Danke dafür! Sie haben in den vergangenen Monaten und Jahren immer wieder klar Stellung gegen Rechtsextremisten bezogen. Natürlich muss der Kampf gegen deren gefährliches Gedankengut in erster Linie politisch geführt werden. Aber in einer Republik wie unserer ist das Politische eben nicht allein den Politikern vorbehalten, sondern „res publica“, die Sache aller. Danke, Herr Professor Würth, dass Sie daran keinerlei Zweifel lassen! Die Bundesregierung tut das ihre. Um den Extremisten den Nährboden zu entziehen, müssen die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, dass es trotz der vielen Krisen und Veränderungen gut ausgehen kann für sie und ihre Familien und dass Deutschland funktioniert. Dazu gehören so alltägliche Dinge wie dass die Bahn wieder pünktlich fährt, dass unsere Infrastruktur modernisiert und Genehmigungen zügiger erteilt werden, dass wir kontrollieren, wer zu uns kommt und wer nicht. Vieles davon wurde zu lange schleifen gelassen. Aber wir sind dabei, das zu ändern und aufzuräumen mit dem Schlendrian, damit es in Zukunft jedenfalls wieder besser wird. Meine Damen und Herren, eine Feier dieses außergewöhnlichen Jubiläums wäre nicht vollständig ohne den dritten Begriff, den ich noch erwähnen möchte. Es geht um den Begriff Familie. Das Unternehmen habe immer mit am Tisch gesessen, heißt es aus den Reihen Ihrer Familie, sehr geehrter Herr Professor Würth – eben wurde uns das ja auch noch einmal ganz konkret bestätigt –, und zugleich wissen wir: Ohne diese Familie gäbe es das Unternehmen nicht. Tüchtigkeit und Demut hat Sie der Vater gelehrt. „Tue recht und scheue niemand!“ – diese Einstellung hat Ihnen Ihre Mutter mit auf den Weg gegeben. Sie füllen sie zweifellos mit Leben. Ihre Kinder und Enkelkinder unterstützen und fördern Sie, manchmal fordern Sie sie auch. So haben Sie es gemeinsam geschafft, das Unternehmen gut für kommende Generationen aufzustellen. Den größten Anteil am gemeinsamen Erfolg aber hat wohl Ihre Ehefrau Carmen, über die Sie selbst sagen: Die Hälfte des heutigen Erfolgs verdanke ich meiner Frau, weil sie so großzügig war, mir diese Zeit zur Verfügung zu stellen. – So gilt auch Ihnen, liebe Frau Würth, und allen anderen Mitgliedern der Familie – stellvertretend für die vielleicht nicht Anwesenden – Dank und Anerkennung dafür, dass aus einem Zwei-Mann-Betrieb in Künzelsau ein Weltkonzern mit heute mehr als 88 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wurde, wobei man die letztere Zahl ruhig noch einmal mit drei multiplizieren darf, wenn man so denkt und handelt wie Reinhold Würth; denn für ihn erstreckt sich die Verantwortung eines Unternehmens eben nicht nur auf die eigene Familie und den Betrieb, sondern selbstverständlich auch auf die Angehörigen seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Auch das macht für ihn ein Familienunternehmen aus, und so liegt vielleicht in diesem letzten der drei Begriffe – Arbeit, Kultur und Familie – das größte Geheimnis für den Erfolg von Reinhold Würth. Deshalb soll zum Schluss meiner Rede das Mitglied Ihrer Familie zu Wort kommen, das Sie am längsten und engsten auf Ihrem Weg begleitet hat. Beim Würth-Kongress in Südafrika hat Ihre Ehefrau Carmen Würth vor einigen Jahren gesagt: Allem, was wir ohne Liebe tun, dem fehlt etwas. – Gut, dass Reinhold Würth das, was er getan hat – für dieses Unternehmen, für die Kultur, für seine Familie und für unser Land –, mit Liebe tut, und das seit nunmehr 75 Jahren. Schönen Dank dafür! Im Namen von uns allen: Herzlichen Glückwunsch zu diesem außergewöhnlichen Arbeitsjubiläum!
Reinhold Würth arbeitet seit 75 Jahren für die Würth-Gruppe – dem Weltmarktführer in der Entwicklung, der Herstellung und dem Vertrieb von Montage- und Baumaterial. Kanzler Scholz gratulierte ihm zum Jubiläum und würdigte in seiner Rede das Engagement des Unternehmers.
Erfolg im harten, weltweiten Wettbewerb
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-rede-unternehmertag-bga-2312976
Wed, 02 Oct 2024 00:00:00 +0200
Rede des Bundeskanzlers beim BGA-Unternehmertag
Wirtschaft und Klimaschutz,Statement BK
Freihandelsabkommen,Wirtschaft_und_Handel
Die Rede des Bundeskanzlers zum Unternehmertag des Bundesverbandes Groß-, Außenhandel (BGA) in Berlin war tagesaktuell: Am Vormittag hatte Bundeskanzler Olaf Scholz noch mit seinem Kabinett über die geplante Abstimmung über Zölle auf chinesische E-Autos beraten. Zu diesem Thema bekräftigte er in seiner Rede vor dem BGA–Bundesverband Groß-, Außenhandel, wie wichtig die Fortsetzung der EU-Verhandlungen mit China über Strafzölle auf E-Autos sei. „Mehr Handel mit mehr Partnern aus mehr Ländern – so sieht in einer unsicheren Welt auch vernünftiges Risk-Management aus.“ Daher müssten die Verhandlungen mit China über den Handel mit Elektrofahrzeugen weitergehen. „Und deswegen müssen wir endlich dort anpacken, wo chinesische Billigimporte unserer Wirtschaft tatsächlich schaden, beispielsweise beim Stahl.“ Das Wichtigste in Kürze: Bei internationalen Handelsabkommen sprach sich der Kanzler dafür aus, künftig Abkommen aufzuteilen: Es solle einen EU-Only-Teil geben und einen zweiten Teil, an dem die Mitgliedstaaten beteiligt werden müssen. Dieser zweite Teil könne dann für alle Staaten einzeln in Kraft treten, die ihn ratifizieren. Denn: Die Zuständigkeit für Handelspolitik sei an die EU gegeben worden, damit mehr Abkommen geschlossen werden. Es sei auch besonders wichtig, die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen MERCOSUR–Gemeinsamer Südamerikanischer Markt (span. Mercado Común del Sur) schnell abzuschließen. Um die Industriearbeitsplätze in Deutschland zu sichern, sprach sich der Kanzler für eine industriepolitische Agenda aus, die Unternehmen, Gewerkschaften und Politik umfasst. Dazu gehöre das Engagement für den Standort Deutschland und ein klares Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft. Er verwies auch auf die Stärkung der deutschen Wirtschaft durch die Wachstumsinitiative der Bundesregierung. Bei den Energiekosten sagte Scholz den Unternehmen Entlastung zu. Er setze sich insbesondere dafür ein, dass die Übertragungsnetzentgelte nicht immer weiter steigen. So würden am Standort Deutschland wettbewerbsfähige Strompreise insbesondere für die energieintensive Industrie gesichert. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrter Herr Präsident Jandura, sehr geehrter Herr Börner, meine sehr geehrten Damen und Herren, vielen Dank für die Einladung, heute hier sprechen zu können! Beginnen möchte ich mit einem herzlichen Glückwunsch – Ihnen allen zum 75. Geburtstag des BGA–Bundesverbandes Groß- und Außenhandel und Ihnen, Herrn Jandura, zur gestrigen Wiederwahl als dessen Präsident! Gegründet im März 1949, ist der BGA–Bundesverband Groß-, Außenhande sogar zwei Monate älter als unser Grundgesetz, dessen 75. Geburtstag wir im Mai gefeiert haben. Ich will diese Daten hier ganz bewusst zusammenbringen, weil eines klar ist: Um in Deutschland in diesen vergangenen 75 Jahren zu einem international geachteten und wohlhabenden Land voranzukommen und es dazu zu machen, reichte es nicht aus, nur eine gute Verfassung zu haben. Dafür brauchte es zugleich auch die Millionen Männer und Frauen, die angepackt und unser Land aufgebaut haben. Dafür brauchte es Unternehmerinnen und Unternehmer, die Risiken eingegangen sind. Dafür brauchte es Verbände wie den BGA–Bundesverband Groß-, Außenhande, die die Interessen ihrer Mitglieder mit Nachdruck gegenüber der Politik vertreten. Dafür brauchte und braucht es immer auch die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Politik, erst recht in krisenhaften Zeiten. So sind wir erfolgreich durch die vergangenen 75 Jahre gekommen, und so gehört uns auch die Zukunft, wenn wir zusammenstehen. Dass Deutschland eine der am stärksten globalisierten und exportstärksten Volkswirtschaften überhaupt ist, das ist kein Zufall. Das liegt daran, dass wir uns für Offenheit und weltweite Vernetzung entschieden haben, und es liegt daran, dass Sie diese Netze geknüpft haben. Es ist ganz entscheidend der Groß- und Außenhandel, der die deutsche Wirtschaft zum Global Player macht. Sie und Ihre Dienstleister planen, organisieren, transportieren 24/7. Sie halten unser Land am Laufen, und zugleich bringen Sie die Welt nach Deutschland. Sie versorgen unser Land mit Arzneimitteln und Impfstoffen für unser Gesundheitssystem, mit frischen Lebensmitteln für unsere Supermärkte und Restaurants, mit Kabeln und Zement für unsere Baustellen, mit chemischen Grundstoffen für unsere Industrie. Darauf können Sie stolz sein, gemeinsam mit den rund zwei Millionen fleißigen Frauen und Männern in ihren 140.000 Betrieben. „Wir handeln für Deutschland“ – unter dieses Motto stellen Sie den heutigen Tag. Gut so! Was den Handel angeht und das Tun. Deshalb möchte ich darüber sprechen, was wir jetzt für uns wichtig finden, was uns als Priorität wichtig ist. Und ich will ganz konkret sagen, was wir tun und wie wir handeln. Zentrales Thema für den BGA–Bundesverband Groß-, Außenhande und zentrales Thema für unser Land ist der Freihandel. Sie haben eben sehr ausführlich darüber gesprochen. Hier beobachten wir alle einen ziemlich unheilvollen Trend: Überall werden Gräben gezogen und Mauern aufgestockt. Man will Risiken und letztlich auch ausländische Konkurrenz vermeiden, indem man den Kreis der Handelspartner immer weiter verengt. Von „decoupling“ ist die Rede. Ich will Ihnen ganz klar sagen, was ich davon halte, nämlich überhaupt nichts. Freier Handel, uns mit anderen zu messen und mit Qualität und Leistung „Made in Germany“ zu überzeugen, das war in all den Jahrzehnten immer das Erfolgsmodell unserer Volkswirtschaft. Wir handeln gern mit Freunden, aber nicht nur mit denen. Mehr Handel mit mehr Partnern aus mehr Ländern, so sieht in einer unsicheren Welt auch vernünftiges Risk-Management aus. Natürlich müssen wir unsere Wirtschaft vor unfairen Handelspraktiken schützen. Wir müssen auf einem „level playing field“ bestehen. Es gibt Dispute, auch lang anhaltende Dispute. Unsere Reaktion als EU darf aber nicht dazu führen, dass wir uns selbst schädigen. Deswegen müssen die Verhandlungen mit China in Bezug auf Elektrofahrzeuge weitergehen, und deswegen müssen wir endlich dort anpacken, wo chinesische Billigimporte unserer Wirtschaft tatsächlich schaden, beispielsweise beim Stahl. Letztlich muss es darum gehen, dass die Welthandelsorganisationen und ihre Prinzipien wieder mehr beachtet werden. Dafür setze ich mich auch persönlich nach Kräften ein. Die Rechtsbarkeit zur Beilegung von Handelsstreitigkeiten muss wieder funktionieren – dann braucht man weniger Zollstreitereien –, und China sollte auf die Sonderbehandlung verzichten, die es als Entwicklungsland in Anspruch genommen hat. Beides zusammen kann dazu führen, dass wir endlich die Blockade bei der WTO aufheben, die ein wirkliches Ärgernis ist. Ich bin überzeugt, dass es die Prinzipien sind, auf die wir uns im Rahmen der WTO schon verständigt haben, mit denen wir auch aktuelle Konflikte lösen können, und es ist sehr schade, dass Länder, die diese Prinzipien international durchgesetzt haben, sich jetzt davon verabschieden. Es ist ja nicht nur ein Land, mit dem wir da Probleme haben, sondern es sind auch beste Freunde. Für eine ambitionierte Freihandelsagenda braucht man natürlich auch die Europäische Union. Aber um es klipp und klar zu sagen: Wir in Deutschland haben die Zuständigkeit für die Handelspolitik nicht an Europa abgegeben, damit dann keine Abkommen mehr geschlossen werden, sondern damit mehr Abkommen zustande kommen, und davon kann in letzter Zeit wirklich nicht die Rede sein. In der geopolitischen Lage, in der wir uns befinden, ist das schlicht nicht akzeptabel. Deshalb erwarten wir von der Kommission und auch von den anderen Mitgliedstaaten, dass wir uns hier zusammenraufen und endlich vorankommen. Ein paar Worte zu den Beschleunigungsmaßnahmen, für die ich mich in dieser Hinsicht einsetze: Wichtig ist, dass neue Handelsabkommen in Zukunft grundsätzlich als „EU-only“-Abkommen ausgestaltet werden. Das ist die Voraussetzung dafür, dass sie erst einmal schnell fertig werden. So verhindern wir jahrelange Verzögerungen durch Ratifizierungsprozesse in den Mitgliedstaaten. Deshalb will ich, dass wir Abkommen aufteilen – in einen „EU-only“-Teil und einen zweiten Teil, an dem die Mitgliedstaaten beteiligt werden müssen. Das kann dann aber so ausgestaltet werden, dass dieser zweite Teil nicht erst in Kraft tritt, wenn alle Staaten ihn akzeptiert haben, sondern dass er für diejenigen einzelnen Staaten, die ihn schon ratifiziert haben, sofort Geltung erlangen kann, wenn das der Gegenpart auf der anderen Seite auch getan hat. Ich glaube, das wäre ein großer Fortschritt, und wir hätten dann endlich mehr Freihandelsverträge und würden darüber nicht nur Vorträge hören. Ganz besonders die Verhandlungen hinsichtlich MERCOSUR–Gemeinsamer Südamerikanischer Markt (span. Mercado Común del Sur) sollten jetzt schnell abgeschlossen werden. Ich freue mich, dass die technischen Verhandlungen hinsichtlich MERCOSUR weit fortgeschritten sind, und ich habe wiederholt und gemeinsam mit vielen meiner Amtskollegen aus anderen EU-Mitgliedstaaten deutlich gemacht, dass die große Mehrheit der Mitgliedstaaten das Abkommen auch politisch unterstützt. Für die letzten Meter der Verhandlungen brauchen wir jetzt Pragmatismus und Flexibilität auf allen Seiten, denn das MERCOSUR–Gemeinsamer Südamerikanischer Markt (span. Mercado Común del Sur)-Abkommen ist wegweisend für die Diversifizierung und die Stärkung der Resilienz unserer Wirtschaft. Wir, das kann ich Ihnen versichern, bleiben da dran. Sie können sich darauf verlassen: Wir werden alles dafür tun, dass diese Geschichte nun einmal ein gutes Ende findet! Wenn wir nun schon einmal in Brüssel sind, dann möchte ich auch über ein anderes Problemfeld sprechen, das Sie benannt haben, Herr Jandura: Wie können wir die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union stärken und die Belastung etwa durch Berichtspflichten abbauen? – Um das vorauszuschicken: Ich erwarte von der neuen Kommission keine kleinen Schritte. Ich erwarte eine grundsätzliche Neuaufstellung beim Thema Wettbewerbsfähigkeit insgesamt. Mario Draghi hat es in seinem im September veröffentlichten Bericht sehr klar formuliert: Entschlossenes Handeln ist unerlässlich, sonst wird Europa abgehängt. Deshalb werden wir für unsere Ziele kämpfen. Unsere Unternehmen brauchen bessere Möglichkeiten, an Eigenkapital zu kommen, damit sie hier in Deutschland, hier in Europa wachsen können und nicht wegen mangelnden Kapitalzugangs abwandern, beispielsweise in die USA. Deshalb setze ich mich gemeinsam mit dem französischen Präsidenten weiter dafür ein, dass die Kapitalmarktunion endlich kommt. Der Binnenmarkt muss weiter ausgebaut werden, wo er noch fragmentiert ist. In vielen Bereichen, besonders in der Verteidigungsindustrie und bei Zukunftstechnologien wie Raumfahrt und künstlicher Intelligenz, gibt es ungenutzte Skaleneffekte. Die müssen wir heben; denn es geht nur so, wenn es gut gehen soll mit unserer Zukunft. Auch bei der EU-Gesetzgebung erwarte ich einen klaren Kurs in Richtung Wettbewerbsfähigkeit. Wo bestehende Verordnungen zueinander in Widerspruch stehen, wo Verordnungen die Wirtschaft lähmen, da müssen sie geändert werden, und ich sage: geändert oder abgeschafft. Wo geplante Vorhaben der Wettbewerbsfähigkeit schaden, da müssen sie zurückgestellt oder auch ganz zurückgenommen werden. Deswegen stellen wir uns beispielsweise gegen die Pläne aus Brüssel, den Patentschutz im Pharmabereich zu verkürzen. Der ist wichtig für die Entwicklung unserer Pharmaindustrie. Wir werden die Kommission auch beim Wort nehmen, wenn es darum geht, Berichtspflichten abzubauen. Von 25 Prozent war da die Rede. Ich sage: Das kann nur der Anfang sein. Gleichzeitig werden wir in Deutschland Berichts- und Nachweispflichten weiter konsequent abbauen, und das will ich gerne einmal am Beispiel des Lieferkettensorgfaltspflichtgesetzes erläutern. Unsere Wachstumsinitiative sieht vor, dass Berichtspflichten, die künftig nicht sowieso nach der europäischen Lieferkettenrichtlinie bzw. nach der europäischen Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung bestehen werden, in Deutschland schnell entfallen sollen. Die Gesetzgebung bereiten wir gerade vor. Damit wird mit Blick auf die Lieferketten bald nur noch rund ein Drittel der Unternehmen berichtspflichtig sein, und damit werden dann nur noch weniger als 1.000 Unternehmen betroffen sein. Bei der ab 2025 einsetzenden Nachhaltigkeitsberichterstattung wollen wir den geplanten Umfang der Berichtspflichten nicht akzeptieren. Das sind teilweise irre viele Berichtspunkte, die da abgeliefert werden müssen. Wir setzen uns deshalb bei der Europäischen Kommission dafür ein, die Vorgaben zum Inhalt der Berichterstattung deutlich zu reduzieren. Und wir werden – ich weiß, dass das vielen von Ihnen unter den Nägeln brennt – verbindliche Standards dafür festlegen, wie Unternehmen Informationen innerhalb der Lieferketten abfragen. Denn, das hat sich herausgestellt: Es sind gar nicht die Unternehmen, die unmittelbar betroffen sind, es sind die vielen Nachfragen, die bei anderen Unternehmen gestellt werden und die als Problem weitergegeben werden. Plötzlich – mir sind solche Beispiele erzählt worden – steht man als Bäckerei, die ein größeres Unternehmen beliefert, vor der Frage, wie man jetzt diese ganzen Zettel ausfüllen soll. Unser Ziel ist, dass auch nachgelagerte kleinere und mittlere Unternehmen, die eigentlich gar nicht selbst berichtspflichtig sind, nicht durch die Hintertür belastet werden. Auch das wird schwer, aber wir wollen genau das erreichen. Lassen Sie mich zu meinem letzten Punkt kommen, mit dem Sie sich als Unternehmerinnen und Unternehmer genauso intensiv beschäftigen wie wir in der Bundesregierung: der wirtschaftlichen Lage in Deutschland. Die Diagnose vorab – ich denke, da sind wir uns alle einig – Deutschland wächst zu wenig. Damit können und damit dürfen wir uns nicht abfinden. Sie kennen die Gründe genauso gut wie ich und eigentlich alle: die Auswirkungen von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Lage in Nahost, aber auch eine grundsätzliche Abschwächung der Weltkonjunktur. Unter anderem geht Chinas Bedeutung als Wachstumsmotor zurück. Und natürlich – darüber haben wir schon gesprochen – die Fragmentierung des Welthandels durch Zollrestriktionen. Die mit am meisten globalisierte Volkswirtschaft der Welt, die deutsche nämlich, hat auch am meisten durch die ganzen Beschränkungen des weltweiten Handels zu leiden. Hinzu kommen aber auch hausgemachte Wachstumshindernisse, und Sie haben das selbst auch schon beschrieben: Straße, Schiene, Energieversorgung, Verwaltung, Fachkräfte, Digitalisierung. Wir merken es an allen Ecken und Enden: Zu viel ist zu lange liegen geblieben. Gemächlichkeit im Stil der Neunzigerjahre können wir uns in einer sich rapide ändernden Welt aber nicht mehr leisten, und deswegen haben wir nach einem Jahrzehnt des Stillstands ein Jahrzehnt der bitter nötigen Modernisierung begonnen. Der Ausbau der erneuerbaren Energien boomt, auch der Ausbau der Leitungsnetze. In vergangenen Monaten haben die erneuerbaren Energien schon knapp 60 Prozent unseres Stromverbrauchs abgedeckt. Noch vor drei Jahren waren es 40 Prozent. Damit sind die erneuerbaren Energien unser wichtigster Energieträger und gleichzeitig Garant für eine prinzipiell günstige Energieversorgung. 90 Prozent des Bundesgebietes sind inzwischen mit 5G versorgt, für doppelt so viele Haushalte wie vor zwei Jahren gibt es Glasfaseranschlüsse, und der Ausbau geht weiter. Es tut sich also etwas – aber natürlich noch nicht genug und nicht schnell genug. Wir als Bundesregierung unterstützen auch die Wirtschaft bei ihrer Modernisierung, indem wir nämlich mehr in die Modernisierung unserer Infrastruktur investieren und indem wir systematisch Genehmigungsverfahren beschleunigen. Viele der neuen Regelungen sind gerade erst in Kraft getreten und werden das in den nächsten Wochen und Monaten tun, und ich hoffe, das werden wir dann auch als Fortschritt in der Praxis sehr schnell spüren. Aber, das spüren wir auch jeden Tag, da sind über Jahrzehnte hinweg mit großer Liebe und Sorgfalt gemeinsam Vorschriften entwickelt worden: -vom Bund, von den 16 Ländern, von den 401 Landkreisen und kreisfreien Städten, von den 11 400 Gemeinden und von noch mancher Bundesinstitution. Ja, und jetzt müssen wir das alles wieder ändern, damit es doch etwas unbürokratischer zugeht, und zwar mit mehr Tempo, als wir das aufgebaut haben, denn so viel Zeit haben wir nicht. Was die Infrastruktur betrifft, gibt es Teile, die sehr privatwirtschaftlich sind ‑ da schaffen wir die Rahmenbedingungen; große Teile unserer Infrastruktur werden von der privaten Wirtschaft betrieben ‑, und dort, wo der Staat selbst dahintersteht, bei Straßen und Eisenbahnen, haben wir die Mittel wie schon angekündigt massiv ausgeweitet. Wir unterstützen auch, indem wir die Förderung von Forschung und Entwicklung stärker ausweiten ‑ Teil unserer Wachstumsinitiative ‑, indem wir die entscheidenden Zukunftstechnologien hier nach Deutschland holen. Da will ich schon sagen, dass es gar nicht so schlecht ist, dass wir jetzt mehr Halbleiterproduktion haben und dass das mit Quantencomputern klappt; ich habe gute Beispiele in Hamburg und München gesehen und war gerade bei IBM in Ehningen, wo man jetzt das einzige nicht in den USA existierende Quantencomputerrechenzentrum auf den Weg gebracht hat. Wir fördern auch künstliche Intelligenz und Biotechnologie. Wir unterstützen, indem wir unserer bestehenden Industrie den Rücken stärken, der Chemie- und Pharmaindustrie mit dem Chemie- und dem Pharmapaket. Das klingt so abstrakt, aber das sind ganz konkrete Gesetze, die wir verabredet haben und die auf den Weg gebracht werden. Bei der Pharmabranche, bei der Medizinbranche, sieht man schon jetzt die Erfolge: „Greenfield“-Investitionen in Milliardenhöhe an vielen Stellen ohne öffentliche Subventionen, einfach weil plötzlich Daten genutzt werden können und die Forschung einfacher geht. Das ist doch einmal Angebotspolitik, wie man sie sich richtig gut vorstellen kann! Der Automobilbranche helfen wir mit Steuervorteilen für E-Autos und mit dem Ausbau des Ladenetzes und der Ladeinfrastruktur. Wir unterstützen, indem wir die Stromkosten gesenkt haben. Wir wissen: Die Strompreise sind nach den extremen Preissteigerungen der Rekordzeit wieder deutlich gefallen, auch weil wir neue Importwege erschlossen haben. Die Stromsteuer für produzierendes Gewerbe und Landwirtschaft wurde auf das europäische Mindestmaß gesenkt. Die Strompreiskompensation wurde verlängert und ausgeweitet. Wir stützen auch, indem wir bei der Infrastruktur in Vorleistung gehen und als erstes Land ein flächendeckendes Wasserstoffnetz – übrigens privatwirtschaftlich ‑ aufbauen. Damit können Unternehmen darauf vertrauen, dass schon Ende der Zwanzigerjahre die Voraussetzungen für die Versorgung der Wirtschaft mit Wasserstoff erfüllt sein werden, und das geht in vielen Dimensionen. Ich war zweimal dabei, wie Stackproduktionen in Deutschland auf den Weg gebracht wurden, in Berlin und Anfang dieser Woche in Hamburg. Das ist weltweit führende Technologie aus Deutschland für eines der für die industrielle Produktion wichtigsten Gase der Zukunft, und wir können, glaube ich, darauf stolz sein, dass das Ingenieurinnen und Ingenieure und Unternehmen in Deutschland möglich gemacht haben. Natürlich haben wir die Wachstumsinitiative beschlossen. Von der beschließen wir jetzt ganz konkret, nachdem sie einmal auf den Weg gebracht worden ist, fast bei jeder Sitzungszusammenkunft des Kabinetts einen Teil – heute wieder mehrere –, damit das alles auch tatsächlich Realität wird. Wir wollen damit den Wirtschaftsstandort und unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken. Darin sind wichtige steuerliche und arbeitsrechtliche Maßnahmen enthalten, um unmittelbar einen substanziellen Wachstumsimpuls zu setzen, und wir werden die degressive Abschreibung verlängern und ausweiten, um private Investitionen zu fördern. Natürlich stärkt die Wachstumsinitiative ganz besonders auch die Import- und Exportwirtschaft und kleine und mittlere Unternehmen. Ein Beispiel: Exportkontrolle. Das Verfahren beim Export ist viel zu bürokratisch und es dauert viel zu lange. Das wissen wir, und das wissen viele von Ihnen besser als ich. Das schwächt unsere Exportunternehmen auf den globalen Märkten. Deshalb werden wir künftig beschleunigte Verfahren, Sammelgenehmigungen und Dauergenehmigungen nutzen und damit die Verfahrensdauer bei Routinevorgängen erheblich abkürzen. Und wir hören an dieser Stelle nicht auf. In dieser Zeit des Umbruchs und der aktuellen Unsicherheit besonders der Industrie setze ich mich dafür ein, dass wir unsere Unterstützung auch weiter ausbauen. Planungssicherheit ist in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung. Deutschland ist Industrieland. Auch der Groß- und Außenhandel hängt an der Industrie. Meine Maxime ist daher klar: Ich werde um die Industriearbeitsplätze in Deutschland kämpfen. Und damit selbstverständlich auch um die Arbeitsplätze in den industrienahen Dienstleistungen. Wir brauchen einen Schulterschluss für eine industriepolitische Agenda, die Unternehmen, Gewerkschaften und Politik gemeinsam voranbringen. Ein Thema will ich hier herausgreifen, das für viele wichtig ist, die Stromkosten. Davon war schon die Rede, und das bleibt es auch. Sie sind ein wichtiger Teil dieser Agenda. Auch wenn die Strompreise wieder gefallen sind, müssen wir uns für weitere Entlastungen einsetzen, damit wir am Standort Deutschland wettbewerbsfähige Strompreise insbesondere für die energieintensive Industrie sichern. Denn die Strompreiskompensation, von der schon die Rede war, entlastet bereits viele energieintensive Unternehmen bei den Strompreisen, aber nicht alle. Wir sollten also schauen, ob wir dort den Kreis der entlasteten Unternehmen ausweiten können, insbesondere für die besonders bestoffenen Sektoren wie die Chemie- und die Glasindustrie. Energieintensive Unternehmen werden auch beim Netzentgelt entlastet. Ich will, dass Unternehmen, die auch in Zukunft einen konstant hohen Stromverbrauch haben, weiter dauerhaft von den reduzierten Netzentgelten profitieren können. Auch bei der Befreiung von Netzentgelten profitieren jedoch nicht alle vergleichbar energieintensiven Unternehmen. Daher muss die Entlastungsregelung möglichst auch auf weitere Unternehmen ausgedehnt werden. Das würde sehr, sehr helfen. Es ist natürlich ganz grundsätzlich so, dass alle Unternehmen, die jetzt investieren, wissen müssen, was bei den Übertragungsnetzentgelten auf sie zukommt. Da wird ja viel spekuliert, weil alle ahnen, dass für den Netzausbau hohe Investitionen erforderlich sind. Auch wenn sich die Befürchtung nicht bewahrheiteten – da gibt es ganz unterschiedliche Berechnungen –, schon allein die Unsicherheit schadet. Daher setze ich mich dafür ein, die Sicherheit zu schaffen, dass die Übertragungsnetzentgelte nicht immer weiter steigen. Kurzfristig könnte das, wo nötig, durch einen Bundeszuschuss bei den Übertragungsnetzentgelten verwirklicht werden. Langfristig können wir ein Amortisationskonto einführen, wie es in der Wachstumsinitiative beschrieben ist. Dieses Konto können wir so gestalten, dass es zu keinem Anstieg der Übertragungsnetzentgelte über einen maximalen Wert hinaus kommt. Schließlich – auch das will ich hier ansprechen – muss der untragbare Zustand enden, dass Unternehmen, die neu investieren, einen Standort erweitern wollen, Anlagen anschließen wollen, sehr lange auf beantragte Stromanschlüsse warten müssen. Hier werden wir mit Ländern, Gemeinden und den örtlichen Netzbetreibern klären, dass Investitionen nicht mehr von solchen Basics ausgebremst werden. Das darf kein Hindernis für Wachstum in Deutschland sein. Meine Damen und Herren, Deutschland exportiert in alle Welt. Deutschland importiert aus aller Welt, auch Vorprodukte. Deutsche Unternehmen investieren im eigenen Land, aber auch überall sonst in der Welt, übrigens auch schon immer in Ländern mit niedrigeren Löhnen. Das ist vollkommen richtig und auch gut so. Das ist unser Wirtschaftsmodell, und das werden wir vonseiten der Bundesregierung auch entschieden verteidigen. Sie können sich darauf verlassen. Das gehört zur vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Politik, die ich anfangs erwähnt habe. Teil dieses Modells war und ist allerdings auch das Prinzip, dass es dabei für alle in den Unternehmen gut ausgehen muss. Dazu gehört das Engagement für diesen Standort, und natürlich gehört dazu auch ein Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft. Deswegen erwarten wir schon von den so global engagierten Unternehmen mit ihren vielen Standorten, dass sie sich auch für den Teil der Arbeitsplätze, die in Deutschland sind, stark machen – trotz der Tatsache, dass es wahrscheinlich etwas höhere Löhne zu zahlen gilt als anderswo. Das war und ist so. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir das auch für die Zukunft erhalten und dass nicht in einer Situation, in der von Unternehmen vielleicht auch einmal Fehlentscheidungen getroffen wurden, diese dann auf dem Rücken der Belegschaft ausgebadet werden. Ich halte es für zentral, dass wir das auch als wichtige Botschaft aussenden: Wir wollen gemeinsam durch die Krise gehen, und das können wir auch miteinander und zusammen hinbekommen. Deshalb war es für uns auch richtig, wenn ich das sagen darf, dass wir bei der MEYER WERFT eingestiegen sind, einem Unternehmen mit Aufträgen, mit einem Produktionskonzept, mit einer guten Agenda und einem Problem aus der Vergangenheit. Das haben wir gemacht, aber es soll für die Zukunft helfen. Meine Damen und Herren, 75 Jahre BGA, das sind 75 Jahre steter Verbesserung und Modernisierung. Das sind tausende Räder und tausende Hände, die perfekt ineinander greifen. Das ist Verlässlichkeit für Millionen Bürgerinnen und Bürger 24/7. 75 Jahre BGA, das sind auch 75 Jahre Erfolg im harten weltweiten Wettbewerb. Das sind 75 Jahre Deutschland als Global Player. Machen Sie weiter so. Machen wir gemeinsam weiter so. Handeln wir weiter entschlossen für Deutschland. Schönen Dank!
Internationale Handelspolitik, Zölle, Freihandelsabkommen, Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplätze und Strompreise. Über diese aktuellen Themen sprach Bundeskanzler Scholz zum 75. Jubiläum des Bundesverbandes Groß- und Außenhandel (BGA).
Deutschland kann Quanten-Computer
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/quantencomputing-ibm-2312434
Tue, 01 Oct 2024 11:00:00 +0200
Zukunftstechnologie in Ehningen bei Stuttgart
Wirtschaft und Klimaschutz,Aufgaben_des_Kanzlers
Statement-BK
Bundeskanzler Olaf Scholz hat an der Eröffnung des IBM Quanten-Rechenzentrums in Ehningen bei Stuttgart teilgenommen und dort eine Rede gehalten. Nach einem Rundgang und der symbolischen Eröffnung des Rechenzentrums hat der Bundeskanzler ein Gespräch mit Beschäftigten von IBM geführt. In seiner Rede hob Bundeskanzler Scholz die industriepolitische Bedeutung der Standortentscheidung hervor. Diese reiht sich ein in zahlreiche weitere große Investitionen in Schlüsseltechnologien in Deutschland. Diese Branchen brauche ein Industrieland wie Deutschland, um auch in Zukunft gutes Geld zu verdienen. Deutschland müsse genau bei diesen Zukunftsfelder „ganz vorne mit dabei sein.“ Das Wichtigste in Kürze: Erfolg für den Standort Deutschland Die heutige Eröffnung des ersten und bisher einzigen IBM-Quanten-Rechenzentrums außerhalb der USA zeigt, dass die Zusammenarbeit vor Ort und der Aufbau von Zukunftstechnologien in Deutschland erfolgreich sind. Kein Zufall Bundeskanzler Scholz unterstrich in Ehningen, dass vom Aufbau dieser Schlüsseltechnologien sowohl Deutschland profitiert – mit mehr Unabhängigkeit und guten Arbeitsplätzen – als auch die Unternehmen – dank der Weltoffenheit Deutschlands und Mitarbeitenden mit technologischer Spitzenkompetenz. Es sei daher „kein Zufall“, dass sich IBM „für Deutschland, für Ehningen entschieden“ habe. Die Zukunfts- und Schlüsseltechnologie Quantentechnologie hat besonders vielversprechende Anwendungsperspektiven. Die Bundesregierung unterstützt ihre Entwicklung und den Aufbau neuer Kompetenzen – seit 2020 mit mehr als zwei Milliarden Euro. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrter Herr Krishna, sehr geehrter Herr Gil, sehr geehrte Frau Assis, sehr geehrter Herr Wendt, sehr geehrte Abgeordnete, meine Damen und Herren! Denken Sie an eine Lochkarte – da haben Sie wahrscheinlich alle sofort ein ähnliches Bild vor Augen. Bei einem Quantencomputer ist das anders: Da ist die Vorstellung etwas diffuser. Die meisten Leute würden wahrscheinlich sagen: Ein Quantencomputer ist ein Rechner, der sehr viel größer und schneller ist als alle, die wir bisher haben. So einfach ist die Sache nun auch wieder nicht. Wir werden auch künftig klassische Computer nutzen. Aber Quantencomputer können tatsächlich einige Aufgaben viel leichter lösen als andere Rechner, zum Beispiel das Faktorisieren großer Zahlen. Wofür klassische Computer Tage brauchen, brauchen sie Sekunden. Zurück zu den Lochkarten: Auch die waren zu ihrer Zeit ein Quantensprung – auch wenn das ein sehr abgegriffenes Bild ist. Mit der Lochkartenmaschine von Herman Hollerith begannen die Ära der Datenverarbeitung und die Erfolgsgeschichte von IBM. Hollerith war der Sohn deutscher Einwanderer in den USA. 1910 schickte er einen Mitarbeiter in die Heimat seiner Eltern. Der hatte 120 Reichsmark Startkapital und gründete die Deutsche Hollerith-Maschinen Gesellschaft, die DEHOMAG–Deutsche Hollerith-Maschinen Gesellschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die DEHOMAG–Deutsche Hollerith-Maschinen Gesellschaft umbenannt in Internationale Büro-Maschinen Gesellschaft – die Muttergesellschaft in den USA hieß da schon IBM. Der Rest ist Geschichte. Heute zeigen Sie und wir zusammen, dass wir diese deutsch-amerikanische Geschichte fortschreiben. Die USA sind unser wichtigster Handelspartner. Viele deutsche Unternehmen investieren in den USA und immer mehr amerikanische Unternehmen hier bei uns. Wir haben etwa Amazon und Microsoft gehört, die Milliardeninvestitionen für Rechenzentren und Cloud Computing in Deutschland angekündigt haben. Lilly investiert Milliarden in die Pharmabranche. Es ist richtig, dass wir die Produktion von Halbleitern in Deutschland und Europa vorantreiben, mit Infineon, Global Foundries und Wolfspeed, also amerikanischen Unternehmen – auch wenn sich die Intel-Investitionen in Magdeburg verzögern. Andere machen auch mit; dafür steht die Investition von ESMC, einem Joint Venture von TSMC, Infineon, Bosch und NXP. Quantencomputer, Halbleiter, KI, Pharma, Bio- und Klimatechnologien: Diese Auswahl ist kein Zufall. Wir reden da über Schlüsseltechnologien und Branchen, die ein Industrieland wie Deutschland braucht, um auch in Zukunft gutes Geld zu verdienen. Es sind genau diese Zukunftsfelder, wo wir ganz vorne mit dabei sein müssen, wo wir nicht abhängig sein dürfen von anderen. Dafür muss man sich nur fragen, womit unsere Unternehmen in Zukunft Geld verdienen und wo gute Arbeitsplätze entstehen. Denn das, was wir schon können und was wir schon machen, reicht nicht mehr. Es geht vielmehr darum, neue Dinge zu entwickeln, mit denen wir weiter vorne mit dabei sind. Wenn immer alles so bliebe, wie es war, säßen wir heute noch vor den Lochkartenmaschinen. Im Automobilbereich wird es immer darum gehen, die Karosserie zu bauen – und das kann man sehr unterschiedlich gut machen. Ankommen wird es aber auch auf gute Batterien, energiesparende Technologien und natürlich Software. In der Pharmabranche wird es um Bio- und Gentechnologien gehen, mit denen man Medikamente entwickeln kann, die genau zu den Patientinnen und Patienten passen. Mit Quantencomputern sind da ordentliche Leistungsschübe drin; denn mit Quantencomputern wird einiges einfach noch viel schneller gehen als gedacht. IBM hätte dieses Rechenzentrum überall auf der Welt bauen können, aber Sie haben sich für Deutschland, für Ehningen entschieden. Das freut uns, aber natürlich ist das kein Zufall. Deutschland ist schließlich ein weltoffenes Land. Wir freuen uns über die Unternehmen, die zu uns kommen und mit denen wir weltweit Geschäfte machen. Deutschland profitiert von den Unternehmen, die hierher kommen, und konkret von IBM beim Quanten-Ökosystem; aber auch, weil die „Systemanalyse Programmentwicklung“ von fünf ehemaligen IBM-Mitarbeitern gegründet wurde. Alle wissen, welches Unternehmen daraus geworden ist. Es nennt sich jetzt bekannterweise SAP und ist das wertvollste deutsche Unternehmen. Das heißt, die Möglichkeiten, die aus Unternehmen und ihrem Wachstum und ihren Technologien entstehen, sind viel größer, als man selber denkt. Ich möchte deshalb an dieser Stelle noch einmal sehr klar sagen: Wir profitieren von der weltweiten Zusammenarbeit. Deglobalisierung und Abschottung sind Irrwege. Sie würden unseren Wohlstand gefährden. Unternehmen wie IBM kommen nach Deutschland, weil sie wissen, dass hier Frauen und Männer mit technologischer Spitzenkompetenz arbeiten. Ein Drittel der Absolventinnen und Absolventen unserer Unis kommen aus den MINT-Fächern. Gerade erst hat uns die OECD–Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung-Studie bescheinigt, dass auch viele internationale Studierende wegen der guten MINT-Ausbildung zu uns kommen. Aber wir müssen uns darum kümmern, dass uns die Fachkräfte nicht ausgehen. Nicht Arbeitslosigkeit, sondern Arbeiterlosigkeit heißt das Problem heute und auf absehbare Zeit. Deshalb haben wir mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz die Grundlage dafür geschaffen, dass Deutschland mit seinem modernsten Einwanderungsrecht, das wir jetzt haben, alles machen kann, um genügend Arbeits- und Fachkräfte zu gewinnen. Jetzt müssen wir den Fachkräften das Ankommen noch leichter machen, ihre Qualifikationen schneller anerkennen und die Bürokratie für sie und die Unternehmen abbauen. Meine Damen und Herren, der Weg von den Lochkarten zu Computern, schnellem Internet und weltweit erfolgreichen Technologiekonzernen war weit. Jetzt gehen wir mit den Quantencomputern einen nächsten Schritt. Die Nachfrage der Kunden ist offenbar da, sodass Sie sich bei IBM für ein Quantenrechenzentrum hier vor Ort entschieden haben. Ich bin mir sicher, langfristig werden alle Technologieunternehmen von Quantencomputern profitieren, und die Länder, in denen die Quantencomputer gebaut werden, ebenfalls. Deshalb unterstützen wir den Aufbau von Zukunftstechnologien in Deutschland. 2021 ist mit dem IBM Q System One der erste physische Quantencomputer auf EU–Europäische Union-Boden errichtet worden. Den hatte IBM zusammen mit der Fraunhofer-Gesellschaft als Partnerin und mit starker politischer Unterstützung auf den Weg gebracht – das war schon damals ein gutes und ein richtiges Signal. Erst recht gilt das angesichts des Ausbaus zu einem Quantenrechenzentrum und dieser Eröffnung heute. Es ist das einzige Quantenrechenzentrum von IBM außerhalb der USA. Wie ich höre, soll auch die Zusammenarbeit mit der Fraunhofer-Gesellschaft weitergehen, und das Land Baden-Württemberg unterstützt kräftig die weitere Entwicklung. Die Bundesregierung treibt die Entwicklung von Quantentechnologie insgesamt in Deutschland voran. Dafür haben wir eine gute Basis. Von den großen Volkswirtschaften Europas gibt ausschließlich Deutschland seit mehreren Jahren über drei Prozent des BIP–Bruttoinlandsprodukt für Forschung und Entwicklung aus. Das ist die Grundlage unseres ökonomischen Erfolgs und unseres Wohlstands. Zwei Milliarden Euro haben wir seit 2020 in die Förderung der Quantentechnologien investiert, mit Fokus auf Quantencomputing. Das war mir schon als Finanzminister ein großes Anliegen. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als wir alle zusammengesessen und über diese Frage gesprochen haben und ich gesagt habe: „Statt jetzt zu lamentieren sollten wir einmal sagen: Wir wollen so etwas in Deutschland entwickeln und bauen.“ Einige zukunftsträchtige Projekte haben wir auch schon auf den Weg gebracht: einen Quantencomputer auf Ionenfallenbasis, den NXP im Mai in Hamburg zusammen mit Start-ups im Rahmen der QCI entwickelt hat. Ein weiteres Beispiel sind Infineon und die eleQtron GmbH, die gemeinsam Quantenprozessor-Einheiten für skalierbare Quantencomputer entwickeln. Ich denke, das sind große Fortschritte, die zeigen, dass hier in Deutschland ein ganz großes Netzwerk von Kompetenzen zum Thema Quantencomputing entsteht, das gerade dadurch stark wird, dass es zentrale Player und viele andere gibt, die mit großer Kraft investieren, und damit alles zusammen seine Bedeutung entfalten kann. Ich bin daher dankbar für die Entscheidung für diesen Standort, und wir freuen uns auf viele weitere Jahre IBM in Deutschland! Vielen Dank auch an die Fraunhofer-Gesellschaft, ohne deren Einsatz dieser Erfolg auch nicht möglich gewesen wäre. Deutschland – das jedenfalls kann man sagen – kann Quantencomputer, und das zeigt auch dieses Quantenrechenzentrum hier in Ehningen. Viel Erfolg damit! Schönen Dank!
Bei der Eröffnung des ersten Quanten-Rechenzentrums von IBM außerhalb der USA hat Kanzler Scholz betont, dass es genau diese Schlüsseltechnologien seien, die ein Industrieland wie Deutschland brauche.
Grüner Wasserstoff für die Energiewende
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/gruener-wasserstoff-2312314
Mon, 30 Sep 2024 00:00:00 +0200
Bundeskanzler eröffnet Gigahub-Anlage
Wirtschaft und Klimaschutz,Statement BK
Energie
Wasserstoff spielt eine entscheidende Rolle, um CO–Kohlenstoffdioxid2-Emmissionen in der Industrie und vielen anderen Bereichen zu senken, denn einige Bereiche wie beispielsweise die Schifffahrt oder die Chemieproduktion lassen sich nicht effizient elektrifizieren. Um Wasserstoff herzustellen, braucht es sogenannte Elektrolyseure oder Elektrolyse Stacks. Die Stacks werden jetzt in großer Stückzahl bei dem Unternehmen Quest One am Standort Hamburg-Rahlstedt produziert. Nach Berlin ist diese Fünf-Gigawatt-Anlage die zweite Gigafabrik für die Elektrolyseurproduktion „Made in Germany“ – Ein echter Meilenstein beim Wasserstoffhochlauf. Das Wichtigste in Kürze: 2030 soll in Deutschland 80 Prozent des Stroms aus erneuerbarer Energie produziert werden. Vor drei Jahren waren es noch 40 Prozent. Das zeigt, dass günstigen Strom, selbst zu produzieren, möglich ist. Deshalb spielt Wasserstoff für die Industrienation Deutschland eine entscheidende Rolle. Die Bundesregierung hat das Elektrolyse-Ziel verdoppelt. Bis 2030 soll die Elektrolyse in Deutschland auf 10 Gigawatt ausgebaut werden. Dafür wird der Bau von großen Elektrolyseuren gefördert und auch die nötige Infrastruktur errichtet. So soll in einer ersten Stufe bis 2032 ein Wasserstoffkernnetz in Betrieb gehen. Dieses Netz ist in den EU–Europäische Union-Binnenmarkt eingebettet und verbindet alle wichtigen Zentren, die Wasserstoff erzeugen oder verbrauchen. Die Wasserstoffproduktion im großen Stil ist nicht zuletzt durch die industrienahe Forschung möglich. Deshalb fördert die Bundesregierung Industrie- und Forschungsprojekte. Über drei Prozent des BIP–Bruttoinlandsprodukt fließen in Forschung und Entwicklung ‑ mehr als in jeder anderen der großen Volkswirtschaften Europas. Wasserstoff durch Elektrolyse: Bei der Elektrolyse wird Wasser in sogenannten Stacks in Wasserstoff aufgespalten. In Rahlstedt sollen diese Stacks für die Wasserstoffherstellung nun in Serie gehen. Das heißt, dass viele Schritte, die bislang per Hand getan wurden, zukünftig in industriellem Maßstab automatisiert hergestellt werden. Jährlich soll so eine Kapazität von fünf Gigawatt produziert und dabei rund drei Viertel der Produktionszeit eingespart werden. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Wenn alle einverstanden sind, würde ich es so halten wie unsere britischen Freunde und nicht noch einmal alle einzeln begrüßen, sondern einfach sagen: „All protocol observed.“ Oder, wie man in Hamburg sagt: Moin! Es ist schön, mal wieder in Rahlstedt zu sein. Es ist schon ein bisschen her, seit ich hier zur Schule gegangen bin. Damals war zwar die Elektrolyse längst bekannt, aber das lief alles auf ziemlich kleiner Flamme. Dass wir hier einmal mit grünem Wasserstoff auftreten würden, dass wir ihn herstellen könnten aus Wind- und Sonnenenergie, dass wir damit etwa Kraftwerke, Schiffe und auch Flugzeuge antreiben könnten, davon hat uns in der Schule noch niemand etwas erzählt. Das war eine Idee aus der Wissenschaft, aber so eine von der Sorte: „Ja, ja, lass‘ die mal reden. Die müssen das ja alles nicht bezahlen.“ Kopfschütteln in der Politik, Pläne für irgendeine ferne Zukunft in den Schubladen der Unternehmen. Und jetzt stehen wir hier. Diese ferne Zukunft ist da. Dass wir hier gemeinsam heute eine Fünf-Gigawatt-Anlage einweihen – einen Gigahub für die Stackproduktion –, das ist ein echter Meilenstein für den deutschen Wasserstoffhochlauf. Nach Berlin ist dieser Gigahub schon der zweite beeindruckende Start für eine Gigafabrik für die Elektrolyseurproduktion made in Germany. Das zeigt: Zukunftsweisende Großprojekte sind in Deutschland möglich und rechnen sich. Wir setzen auf grünen Wasserstoff, fördern die Grundlagenforschung, geben Impulse und sehen an Tagen wie diesen und heute: Das funktioniert! Das verdanken wir auch den vielen Forscherinnen und Forschern und innovativen Unternehmen, die diesen Fortschritt unermüdlich vorangetrieben haben, und das verdanken wir auch Ihrer unternehmerischen Weitsicht, die es braucht für große Zukunftsinvestitionen wie diese. Deshalb sage ich an dieser Stelle an Ihr Unternehmen, Herr von Plettenberg, das schon seit den Neunzigerjahren unermüdlich an der Wasserstofftechnologie geforscht hat, und an Sie, Herr Pötsch und Herr Lauber, dass Sie mit klugen Investments die Transformation tatkräftig vorantreiben und Ihre Unternehmen, aber auch die Ihrer vielen Kunden zukunftsfest aufstellen. Vielen herzlichen Dank! Dieser Tag und auch dieser Start sind aber auch Ergebnis politischen Handelns. Inhaltlich haben meine Vorredner schon einiges dazu gesagt. Ich verspreche Ihnen also: Ich mache es kurz. Aber es gibt drei Punkte, die sind mir sehr wichtig, erstens, dass wir uns nicht darauf ausruhen, dass wir die drittgrößte Volkswirtschaft auf der Welt sind – mit gerade einmal einem Prozent der Weltbevölkerung –, sondern dass wir nach vorn denken und heute die Grundlagen dafür legen, dass wir morgen weiter ganz vorne mit dabei sind, zweitens, dass wir unsere Energieversorgung auf sichere Füße stellen und hierfür jetzt auch das Wasserstoffnetz schnell aufbauen, und drittens, dass Forschung und Innovation noch schneller in die Praxis gebracht werden. Der Vorsprung wird zum Wettbewerbsvorteil, mit dem wir in Deutschland Geld verdienen, damit nachhaltige Wertschöpfung in deutschen Unternehmen erfolgt; denn sie sind beim technologischen Know-how der Konkurrenz voraus, zum Beispiel auch der aus China, Herr von Plettenberg. 2030 wollen wir in Deutschland 80 Prozent unseres Stroms aus erneuerbarer Energie produzieren. In den zurückliegenden Monaten waren es um die 60 Prozent. Vor drei Jahren waren es noch 40. Auch das zeigt: Es geht! Günstiger, selbst produzierter Strom ist die Grundlage für eine sichere und bezahlbare Energieversorgung. Das ist wichtig für die Wirtschaft. Deshalb bauen wir Wind- und Sonnenstrom im Rekordtempo aus. Aber gerade für die Industrienation Deutschland spielt auch Wasserstoff eine ganz entscheidende Rolle; denn nicht alles lässt sich effizient elektrifizieren. Herr von Plettenberg hat es auch schon ausgeführt. Zum Beispiel Schiffe, Flugzeuge, die Stahl- oder Chemieproduktion, für all diese großen und sehr großen Maschinen, Fabriken und Motoren brauchen wir Wasserstoff, dieses kleine Molekül, ohne das es auf der Erde gar kein Leben gäbe. Lieber Herr von Plettenberg, Sie haben Ihr Unternehmen sehr treffend in „Quest One“ umbenannt, weil der Klimawandel eine wahre Herausforderung darstellt und Wasserstoff das erste Element im Periodensystem ist – jetzt hat wahrscheinlich jeder kurz diese bunte Tafel aus der Schule vor Augen, die auch in meinem Gymnasium Heegen hier in Rahlstedt hing –, und dieses kleine Element kann eine entscheidende Rolle spielen bei der Dekarbonisierung der Industrie auf der ganzen Welt. Deutschland hat jetzt die Chance, da weiter Pionier und ein Technologieführer zu sein. Deshalb haben wir in den letzten 15 Monaten ordentlich Tempo gemacht – „Deutschland-Tempo“. Erstens. Wir haben unser Elektrolyseziel verdoppelt. Bis 2030 wollen wir die Elektrolyse in Deutschland auf zehn Gigawatt ausbauen. Dafür fördern wir den Bau von großen Elektrolyseuren – auch hier in Hamburg. Auf dem Gelände des ehemaligen Kohlekraftwerks Moorburg wird zum Beispiel ein 100-Megawatt-Elektrolyseur gebaut, inklusive angeschlossenem Wasserstoffverteilnetz. Gleichzeitig bringen Sie, meine Damen und Herren, mit Gigaproduktionsfabriken wie dieser hier die industrielle Serienfertigung von Stacks einen großen Schritt voran. Zweitens. Parallel dazu bauen wir die nötige Infrastruktur. In einer ersten Stufe soll bis 2032 unser Wasserstoffkernnetz in Betrieb gehen. Es ist eingebettet in den EU–Europäische Union-Binnenmarkt, und es verbindet alle wichtigen Zentren, die Wasserstoff erzeugen oder verbrauchen. Die Finanzierung läuft weitgehend privat. Die Bundesnetzagentur arbeitet aktuell mit Hochdruck daran, den Antrag dafür noch im Herbst zu genehmigen. Dann können die Netzbetreiber loslegen: neue Leitungen bauen, Gasleitungen umwidmen und so weiter. Mitte Juli hat das Wirtschaftsministerium Förderbescheide für 23 IPCEI–Important Projects of Common European Interest-Projekte übergeben, die für ganz Europa von großem Interesse sind. 4,6 Milliarden Euro staatliche Förderung stehen für diese Projekte zum Bau von Wasserstoffleitungen, Elektrolyseuren und Speichern zur Verfügung. Es kann also losgehen. Drittens. Auch auf EU–Europäische Union-Ebene haben wir uns für eine vernünftige Regulierung eingesetzt, damit Unternehmen flexibel arbeiten können und Wasserstoffprojekte wirtschaftlicher werden. Und, meine Damen und Herren – das stand ja auch letzte Woche in der Presse –, wir setzen uns in Brüssel aktiv dafür ein, dass die Grünstrombezugskriterien beim Delegierten Rechtsakt handhabbarer werden, damit sie den Wasserstoffhochlauf pushen und nicht langsamer machen. Dafür haben wir uns übrigens von Anfang an eingesetzt, und wir kämpfen dafür weiter. Ich glaube, wir müssen an dieser Stelle einfach zur Kenntnis nehmen, dass es manche Entscheidungen gibt, die man, wenn sie einmal dastehen, nicht mehr so richtig erklären kann. Was haben Sie sich dabei gedacht – um das einmal sehr platt zu sagen –, die Dinge so miteinander zu kombinieren? Darin sind viele, viele Details, die der praktischen Realität nicht gerecht werden. Deshalb müssen wir da etwas tun. Das ist auch eine der ganz großen Anforderungen an die künftige Kommission. Wir können uns nicht immer damit beschäftigen, dass wir nach Brüssel gehen und versuchen, das Schlimmste zu verhindern, wenn es um irgendwelche Regeln geht, um dann dem heimischen Publikum zu erklären: Das ist zwar keine gute Regelung, aber sie hätte noch schlimmer kommen können. – Ich glaube, so kann das in der europäischen Politik nicht weitergehen. Es müssen Regelungen sein, die man nicht rechtfertigen muss, weil man das Schlimmste verhindert hat, sondern man soll begründen können, dass sie pragmatisch gemacht worden sind, in der Realität funktionieren und auch den Test durch die Unternehmen bestehen können. Viertens. Wir fördern Industrie- und Forschungsprojekte. Über drei Prozent unseres BIP–Bruttoinlandsprodukt fließen in Forschung und Entwicklung – mehr als in jeder anderen der großen Volkswirtschaften Europas. Das ist und bleibt die Basis unseres Wohlstands. Dank industrienaher Forschung wissen wir, wie eine Wasserstoffproduktion im großen Stil möglich ist, wie sich Wasserstoff am besten transportieren lässt und wie man ihn in den Unternehmen am besten nutzen kann. Unter anderem mit Leitprojekten des Forschungsministeriums wie H2Giga, H2Mare und TransHyDE unterstützen wir das. Davon hat auch dieser Standort hier profitiert, auch dadurch sind Sie so schnell in die Serienfertigung gelangt. Gut so! Unabhängig davon, wie schnell wir hier vorankommen und wie viel wir gerade parallel auf den Weg bringen – einen großen Teil des Wasserstoffs, den wir in Zukunft brauchen, werden wir vermutlich importieren müssen. Deshalb bauen wir unsere Energie- und Importpartnerschaften aus – sehr breit gefächert, damit wir nicht einseitig von nur einem Land abhängig sind. Denn es ist beim Wasserstoff so wie bei der Energieversorgung insgesamt und auch bei den Halbleitern, den Quantencomputern, der KI–Künstliche Intelligenz, der Biotechnologie oder der Fusionsenergie: Deutschland und Europa dürfen in diesen strategischen Zukunftsbereichen nicht von wenigen anderen Ländern abhängig sein, sondern wir wollen unser Know-how weiter ausbauen und hier selbst produzieren. Darum geht es, dafür sorgen wir. Meine Damen und Herren, bis jetzt waren Elektrolyseure Handarbeit. Wenn der Schritt zur automatisierten Produktion im industriellen Maßstab gelingt, sinken die Kosten und die Zeit für die Fertigung. Mit der Serienfertigung wollen Sie hier in Rahlstedt 75 Prozent der Produktionszeit einsparen – das ist beeindruckend! Das zeigt, was in unserem Land alles möglich ist! Vorletzte Woche erst ist eine BDI–Bundesverband der Deutschen Industrie-Studie erschienen, die zeigt: Wir liegen im internationalen Vergleich der großen Industrienationen auf Platz zwei bei der Innovationsfähigkeit. Vielleicht ist das unter all den anders orientierten Meldungen untergegangen; deshalb sage ich es noch einmal, Platz zwei! Für die Zukunft ist unsere Wirtschaft insoweit also ganz gut aufgestellt, auch wenn man oft anderes hört. Es ist mir deshalb wichtig, dass wir alle zusammen nach vorn denken, weniger meckern und mehr machen. Von Hamburg-Rahlstedt geht heute also ein Zeichen aus. Dafür müsste jetzt nur noch jemand den Startknopf drücken, und dann kann es losgehen. Schönen Dank!
Der Bundeskanzler hat eine Fabrik für die moderne Herstellung von umweltfreundlichem Wasserstoff eröffnet. Zukunftsweisende Großprojekte wie die neue Gigahub-Anlage seien in Deutschland möglich und rechneten sich, sagte er beim Unternehmen Quest One in Hamburg.
Geflüchtete kommen schneller in Arbeit
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bk-rede-zum-jobturbo-2312244
Mon, 30 Sep 2024 00:00:00 +0200
Erfahrungsaustausch zum Jobturbo
Statement BK
Arbeitsmarkt,Arbeit und Soziales
Im Oktober 2023 haben Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und die Bundesagentur für Arbeit den sogenannten Jobturbo gestartet. Das übergeordnete Ziel der Initiative ist es, Geflüchtete, die Bürgergeld beziehen, schneller in Arbeit zu bringen als zuvor. Deshalb werden zum Beispiel Geflüchtete in den Jobcentern engmaschiger beraten und berufsspezifische Sprachkurse angeboten. Unternehmen, Gewerkschaften, Jobcenter und Geflüchtete leisten dabei gleichermaßen einen Beitrag. Bei dem Treffen im Kanzleramt dankte Bundeskanzler Olaf Scholz Vertreterinnen und Vertretern dieser Gruppen für ihr Engagement. Anschließend tauschte er sich mit ihnen darüber aus, was gut läuft, und wo es noch Verbesserungsbedarf gibt. Das Wichtigste in Kürze: Die Arbeitskraft ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist von enormer Bedeutung für den Arbeitsmarkt, die Sozialsysteme und das Steueraufkommen. Ohne die zunehmende Zahl der ausländischen Beschäftigten wären die Erwerbstätigen in Deutschland um 163.000 Personen zurückgegangen – und das innerhalb eines Jahres. Trotz konjunkturell schwieriger Lage ist die Beschäftigung von Geflüchteten im Vergleich zum Vorjahr angestiegen: Bei den Menschen aus der Ukraine auf 266.000 und bei den Geflüchteten aus den acht wichtigsten Asylherkunftsländern auf 704.000. Das ist in beiden Fällen ein Plus von 71.000 mehr Menschen in Arbeit (Stand Juli 2024). Der Kanzler setzt sich gegenüber den Ländern dafür ein, dass Anerkennungen noch schneller, digitaler, einheitlicher und einfacher gehen als zuvor. Als neuen Ansatz prüft die Bundesregierung daher etwa eine einheitliche bundesweite Zuständigkeit für die Anerkennung von Pflegefachkräften. Insgesamt wünscht sich der Kanzler mehr Pragmatismus, denn in den meisten Berufen könne man auch ohne Anerkennung der Berufsabschlüsse arbeiten. Sehen Sie hier einen Mitschnitt der Veranstaltung: Das hat sich mit dem Jobturbo geändert: Die Jobcenter und Arbeitsagenturen beraten die Geflüchteten engmaschiger. Zahlreiche Veranstaltungen und Messen bringen verstärkt Arbeitgeber und Geflüchtete zusammen. Neben bestehenden Sprachkursen wurden berufsspezifische Kurse eingeführt. Sie helfen, Sprachkenntnisse für den konkreten Arbeitsplatz zu erwerben und sich dort besser zu integrieren. Und: Geflüchtete werden gezielter informiert – etwa über die sozialen Netzwerke oder Migrantenorganisationen. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Liebe Andrea, lieber Hubertus, liebe Reem, lieber Herr Terzenbach, meine Damen und Herren, ich möchte mit einem dreifachen Dank beginnen: Mein erster Dank geht an Sie alle dafür, dass Sie heute hier sind und wir uns austauschen können über das, was geht, was gut läuft, und auch darüber, wo es noch Verbesserungsbedarf gibt. Mein zweites Dankeschön richtet sich an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Jobcenter. Wir haben es gerade schon im Film gesehen: Von Umdenken und Neustart war da die Rede mit Blick auf den Jobturbo. Vor allem aber aufgrund des russischen Kriegs in der Ukraine hatten Sie buchstäblich über Nacht hunderttausende Kundinnen und Kunden zusätzlich zu beraten und zu vermitteln – Frauen und Männer, die oft ganz andere Voraussetzungen, Hürden und Qualifikationen mitbringen, als das vorher bei den Kundinnen und Kunden in den Jobcentern der Fall war. Dass und wie sie diese Aufgabe angenommen haben, ist aller Ehren wert. Dank Nummer drei geht an alle Geflüchteten, die hier in Deutschland arbeiten und dazu beitragen, unseren Wohlstand zu sichern, und an ihre Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die ihnen eine Chance dazu gegeben haben. Einige von ihnen sind heute hier herzlich willkommen! Ich kann mir vorstellen, wie schwer es ist, in einem fremden Land von Null anzufangen, ohne Sprachkenntnisse, ohne anerkannte Berufsabschlüsse und vielleicht auch in einem ganz neuen Arbeitsgebiet. Das verdient Unterstützung und das verdient auch Anerkennung. Unterstützung und Anerkennung verdienen auch die vielen Unternehmen, Handwerksbetriebe, Krankenhäuser, Kitas und Pflegeheime, die Geflüchtete beschäftigen auch wenn die Deutschkenntnisse vielleicht noch nicht perfekt sind oder wenn der Stempel der Anerkennungsbehörde für eine ausländische Berufsqualifikation noch nicht da ist. Mein Credo ist: Wir brauchen maximalen Pragmatismus auf allen Seiten. Vor allem muss aber über allem ein Ziel stehen, und das lautet, Geflüchtete schneller als bisher in Arbeit zu bringen. Natürlich spielt dabei auch der Gedanke eine Rolle, dass wir Nichtstun nicht mit Steuergeldern unterstützen wollen; denn das ist niemandem vermittelbar, das schadet der Akzeptanz von Geflüchteten und insgesamt auch der ganz vielen Fleißigen, die hier ja mit anpacken. Deshalb haben wir auf die Schnelle Arbeitsverbote für Geflüchtete gelockert und ein Chancenaufenthaltsrecht für Langzeitgeduldete geschaffen. Geflüchtete möglichst schnell in Arbeit zu bringen, ist aber noch aus einem weiteren Grund wichtig: Arbeit ist – davon bin ich zutiefst überzeugt – das entscheidende Kriterium für gelungene Integration. Und Arbeit ist viel mehr als Geld verdienen. Am Arbeitsplatz hat man Kolleginnen und Kollegen und ein soziales Umfeld wir haben eben schon ein paar Beispiele dazu gehört und haben auch gehört, wie genau das betont wurde. Man lernt im täglichen Austausch die Sprache und natürlich auch viel über das Land, in dem man lebt. Und vor allem ist ein Arbeitsplatz immer auch damit verbunden, dass man Bestätigung und gesellschaftliche Anerkennung bekommt. Aus all diesen Gründen haben wir Ende vergangenes Jahres den Jobturbo ins Leben gerufen, und ich erinnere mich noch sehr gut an die vielen ausführlichen Diskussionen, die alle hier Versammelten dazu hatten. In einem konjunkturell schwierigen Umfeld stieg die Beschäftigung von Personen aus der Ukraine und den wichtigsten acht Asylherkunftsländern im Vorjahresvergleich an, und zwar im Juli 2024 – das sind die aktuellen Zahlen – auf 266.000 bei den Ukrainerinnen und Ukrainern – das ist ein Plus von 71.000 – und bei den Personen aus den wichtigsten Asylherkunftsländern auf 704.000 – das ist ganz zufällig ebenfalls ein Plus von 71.000 im Vergleich zum Vorjahr. Der Jobturbo hat seit Oktober 2023 zu diesem Anstieg beigetragen, und die Frage ist, ob das schon ein Erfolg ist. Ich finde: Ja. Können und wollen wir noch besser werden? Ebenfalls ja. Eine neue Studie der OECD bescheinigt uns zwar, dass wir in Deutschland vor allem mittel- und langfristig sehr ordentliche Ergebnisse erzielen, was die Integration Geflüchteter in den Arbeitsmarkt angeht. Da sind wir besser als das Gros vergleichbarer europäischer Länder. Das liegt natürlich auch daran, dass wir mit unseren Sprach- und Integrationskursen ein solides Fundament für die Arbeitsaufnahme legen. 86 Prozent der männlichen Flüchtlinge, die vor acht Jahren ins Land kamen, gehen hier in Deutschland inzwischen einer Arbeit nach eine Zahl, die sich, glaube ich, nicht allgemein herumgesprochen hat. Bei Frauen – das muss ich hier dann aber auch gesagt haben – sieht das anders aus. Da spielt vieles eine Rolle – sagen wir einmal, auch fehlende Kinderbetreuung, aber es wird auch noch viele andere Ursachen geben, die dazu beitragen, dass das noch nicht geklappt hat. Da müssen wir auch mit kulturellen Verständnissen von Arbeit und Familie, glaube ich, ein bisschen weiterkommen. Inzwischen tun wir sehr viel, damit wir dazu beitragen können, dass die Betreuungsinfrastruktur in Deutschland besser wird. Wir investieren 4 Milliarden Euro in Kitas und bessere Betreuungsmöglichkeiten. Vor allem aber müssen wir insgesamt noch schneller und pragmatischer werden, wenn es um die Vermittlung geht. Für mich heißt das zweierlei: Erstens: Schon beim allerersten Gespräch sollte geklärt werden, was jemand gelernt hat und welche Arbeitserfahrung sie oder er hat. Das sollte auch für die Arbeitsvermittlung hinterlegt werden. Wenn nötig, kann dann gleich ein Anerkennungsverfahren gestartet werden, möglichst parallel zu den Integrationskursen. Da dürfen wir auch keine Zeit verlieren; das können wir uns in Zeiten des Arbeits- und Fachkräftemangels nicht leisten. Deshalb steuern wir um. Mit über 65.000 positiv beschiedenen Anerkennungsverfahren – ein Plus von immerhin 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr – haben wir 2023 einen neuen Höchstwert erzielt. Ich will ausdrücklich sagen: Das ist vor dem Hintergrund der Vergangenheit ein Erfolg. Ich weiß noch, dass ich einmal als Arbeitsminister vorgeschlagen habe, da etwas zu ändern, was dann erst im zweiten Anlauf schließlich gelang. Seitdem gibt es so etwas, aber es ist eben noch weit weg von perfekt, und deshalb setzen wir uns gegenüber allen Verantwortlichen, insbesondere in den Ländern, dafür ein, dass Anerkennungen insgesamt schneller, digitaler, einheitlicher und einfacher werden. Die allermeisten der bundesrechtlich geregelten Anerkennungsanträge bearbeiten 47 zuständige Stellen – das müssen weniger werden –, und die Kriterien dürfen nicht in jedem Land und in jeder Kammer anders sein. Als neuen Ansatz prüfen wir daher eine einheitliche bundesweite Zuständigkeit für die Anerkennung von Pflegefachkräften. Aber vergessen wir nicht: In den meisten Berufen kann man ja auch ohne Anerkennung arbeiten. Da wünsche ich mir auch mehr Pragmatismus in der Wirklichkeit, die in anderen Ländern nicht so ist wie bei uns. Länder mit einer anderen als unserer großartigen Berufstradition gehen damit etwas lockerer um – zum Beispiel die USA, wo es die Beruflichkeit als Kriterium gar nicht so gibt. Und wenn es auch wirklich in Berufslaufbahnen vorkommt – das muss ausdrücklich gesagt werden –, dass ein Tellerwäscher Millionär wird, so ist eben ein permanentes „training on the job“, was die Realität ausmacht. Die Leute beweisen sich im Betrieb, weil es diese schönen Berufsabschlüsse, die wir so haben, nicht in gleichem Ausmaß gibt. Das ist nicht gut. Aber wenn jetzt daraus wird, dass man auch im privatwirtschaftlichen Bereich, nur weil man nicht den richtigen Zettel hat, nicht einmal zeigen kann, welche Talente man hat, dann ist das ein Problem und eine kulturelle Tradition, mit der wir sogar ohne Gesetzesänderung brechen können. Mein zweiter Punkt betrifft den Jobturbo und seine drei Phasen. Ja, Spracherwerb ist wichtig und bewusst als Phase 1 des Jobturbos ausgestaltet. Aber das heißt eben nicht, dass nicht parallel zum Spracherwerb auch schon gearbeitet werden kann oder in Arbeit vermittelt werden sollte. Ich weiß, für viele Berufe ist Deutsch wichtig, aber es gibt eben auch viele Tätigkeiten, wo man auch mit geringen Deutschkenntnissen anfangen kann. Die Migration der Gastarbeiter in die Westdeutsche Bundesrepublik und der Vertragsarbeiter in die DDR ist weitgehend ohne Spracherwerb geschehen. Die Leute mussten gleich anfangen zu arbeiten. Nun muss es ja nicht immer so sein. Wir haben unsere Integrations- und Sprachkurse. Aber dass jemand quasi davon abgehalten wird loszuarbeiten, wenn Arbeitgeber und Beschäftigte das wollen, das sollte nicht die Realität unserer Republik sein, sondern da müssen dann, glaube ich, auch mehrere ihre Haltung ändern. Ich glaube, manche Unternehmen, die in ihren eigenen Archiven noch sehen können, wer in den Sechzigerjahren zu ihnen gekommen ist, könnten vielleicht auch lernen, dass sie es einfach wagen können, Leute einzustellen, die Talent haben und anpacken wollen. Der Rest hat sich ja damals auch ganz gut ergeben. Warum sollte das nicht auch heute so sein? Also, ich werbe auch hier wieder für Pragmatismus bei den Geflüchteten, bei den Arbeitgebern und natürlich – das darf ich sagen – bei den Jobcentern und den Vermittlern dort. Ich möchte jedenfalls alle, die hier sind, dazu ermutigen. Vielleicht darf ich noch etwas loswerden: Wenn es gut läuft, man schon alphabetisiert ist und sich im Wesentlichen mit nichts anderem beschäftigt – gute Voraussetzungen, die nicht immer gegeben sind –, dann – das habe ich mir sagen lassen – dauert es kaum mehr als ein Jahr, um Deutsch so zu sprechen, dass man sich überall und mit allen austauschen kann, und zwar sehr gut. Das ist vielleicht ein Hinweis darauf, dass das gar keine so unüberwindbare Hürde ist. Natürlich gebe ich zu: Wenn da Leute zur Vermittlung anstehen, die vielleicht in ihren eigenen Ländern kaum alphabetisiert worden sind oder nur drei, vier Jahre zur Schule gegangen sind, dann ist das schwieriger. Aber die Welt ist schon so, dass sich ganz viele davon im Laufe des Lebens all diese Fähigkeiten und Qualifikationen angeeignet haben, und deshalb sollten wir es einfach einmal darauf anlegen und sagen: Hier, versucht alles, damit das klappt. Der CEO–Geschäftsführer (engl. Chief Executive Officer) des Jobvermittlers Stepstone, Sebastian Dettmers, hat vor einiger Zeit ein Buch geschrieben und es „Die große Arbeiterlosigkeit“ statt „Arbeitslosigkeit“ genannt. An dem Befund ist einiges dran, gerade wenn man auf unsere demografische Entwicklung schaut und darauf, wie viele sogenannte Babyboomer in den kommenden Jahren in Rente gehen werden. Zugleich wissen wir: Es gibt kein Land der Erde, dessen Wirtschaft auf Dauer wächst, und das dabei eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung hat. Deshalb müssen wir alles, wirklich alles daransetzen, um diejenigen, die bereits hier sind, möglichst schnell in Arbeit zu bringen. Wie wichtig das ist, das zeigt der Blick auf zwei Zahlen: Die Zahl ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist in den vergangenen zwölf Monaten um 283.000 Personen gestiegen. Ohne diese Beschäftigten wäre die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland um 163.000 gesunken, und das innerhalb eines Jahres. Wer sich in Europa umschaut, sieht, dass ähnliche Entwicklungen in anderen Ländern sogar stattfinden, weil sie keinen Ausgleich über Arbeitskräfte aus anderen Ländern haben. Die Prognosen, die das für die Erwerbstätigkeit mancher Länder in Europa bedeutet, mag man sich gar nicht ausmalen, aber sie sind doch sehr überraschend. Deshalb – darauf will ich alle hinweisen – wäre es schon gut, wenn man ein offenes Verständnis für Arbeitskräfte, die im Arbeitsmarkt tätig sind und aus anderen Ländern kommen, beibehält und fortentwickelt. Das hat Deutschland in den letzten Jahrzehnten geholfen – bei Sozialversicherungsbeiträgen, die nicht zu hoch geworden sind, beim Steueraufkommen, bei der Finanzierung unserer Aufgaben – und, das kann man ziemlich einfach rechnen, das wird so bleiben. Wir jedenfalls wollen, dass Deutschland ein wachsendes Land bleibt. Dafür haben wir ein modernes Einwanderungsrecht geschaffen, eine Wachstumsinitiative, die Arbeitsanreize setzt, bessere Betreuungsangebote auf den Weg gebracht und – last but not least – eben den Jobturbo. Ihre Mitarbeit daran zu würdigen, ist mir ein wichtiges Anliegen. Deshalb sind wir heute hier. Nun freue ich mich auf den Austausch und übergebe an Andrea Nahles, die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, die hier natürlich nicht fehlen darf. Schönen Dank fürs Zuhören.
Die Beschäftigung von Geflüchteten aus der Ukraine und anderen Asylherkunftsländern ist gestiegen. Dazu hat auch der Jobturbo beigetragen, der im Jahr 2023 gestartet wurde. Bundeskanzler Scholz hat zu einem Erfahrungsaustausch ins Bundeskanzleramt eingeladen.
Ohne Diskriminierung leben und lieben
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/zweite-queerpolitische-menschrechtskonferenz-2312148
Fri, 27 Sep 2024 00:00:00 +0200
Zweite queerpolitische Menschenrechtskonferenz
Statement BK
Die freie Entfaltung der Persönlichkeit ist Grund- und Menschenrecht und muss geschützt werden; gleichzeitig verschärft sich die Situation für queere Menschen weltweit immer weiter. „Alle müssen hier in Deutschland frei, ohne Angst und in Sicherheit leben können. Sicher vor Hass, Gewalt, Diskriminierung und Beleidigung“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner Rede bei der zweiten queerpolitischen Menschenrechtskonferenz der SPD-Bundestagsfraktion in Berlin. Der Staat habe eine Schutzpflicht, der er nachkommen müsse. Deshalb habe die Bundesregierung das Strafrecht reformiert und dafür gesorgt, dass geschlechtsspezifische und gegen die sexuelle Orientierung gerichtete Taten erfasst und härter bestraft werden. Außerdem geht es um eine Gesellschaft des Respekts. „Eine Gesellschaft, in der niemand auf andere herabschaut. In der alle so leben können, wie sie das möchten – solange sie die Freiheit anderer dadurch nicht einschränken“, sagte Scholz. Die Bezeichnung „queer“ wird oft als Sammelbezeichnung für lesbisch, bisexuell, schwul, trans*, inter* oder mehr verwendet. Sie steht aber auch als eigenständige Selbstbezeichnung, die die begrenzenden Kategorien wie „homo-/heterosexuell“ oder „männlich/weiblich“ in Frage stellt. Lesen Sie mehr zu dem Thema auf regenbogenportal.de, einem Angebot des BMFSJ–Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Danke für die Einladung! Zunächst einmal will ich sagen: Gutes Timing! Ihr habt eure Konferenz ganz bewusst nicht in den Juni gelegt, wenn überall übrigens endlich auch am Kanzleramt die Regenbogenfahnen gehisst werden, wenn im ganzen Land CSD–Christopher Street Days stattfinden, wenn jedes Unternehmen ganz besonders bunte Kampagnen schaltet. Ihr habt euch für eure Konferenz stattdessen den September ausgesucht, wenn die parlamentarische Arbeit wieder losgeht. Damit sendet ihr gleich zwei wichtige Signale: Erstens: Es gibt noch viel Arbeit zu tun für Gleichstellung, Respekt und Anerkennung hier bei uns und weltweit. Zweitens: Das Anliegen, dass alle sicher und ohne Diskriminierung leben und lieben können, das ist nicht nur einen Monat im Jahr wichtig, sondern jeden Tag. Queer ist man schließlich auch nicht nur, wenn auf dem CSD gemeinsam demonstriert und gefeiert wird, sondern 365 Tage im Jahr am Arbeitsplatz, bei der Wohnungsmiete, im Krankenhaus oder im Pflegeheim, im digitalen Raum, wo queere Menschen oft angefeindet werden; auf der Straße oder in der U-Bahn, wo sich queere Pärchen fragen, ob sie sicher sind, wenn sie Händchen halten oder sich küssen; in der Schule, wo Jugendliche ausgegrenzt werden. Eines will ich daher sagen, was selbstverständlich klingt, aber leider nicht immer selbstverständlich ist: Alle müssen hier in Deutschland frei, ohne Angst und in Sicherheit leben können sicher vor Hass, Gewalt, Diskriminierung und Beleidigung. Hier hat der Staat eine Schutzpflicht. Und der muss er nachkommen. Deshalb haben wir das Strafrecht reformiert. Deshalb haben wir dafür gesorgt, dass geschlechtsspezifische und gegen die sexuelle Orientierung gerichtete Taten als solche erfasst und härter bestraft werden. Für Hass, Gewalt und Intoleranz gibt es keine Toleranz. Schutz und Sicherheit sind das A und O, aber es geht noch um mehr. Wie ihr wisst trete ich ein für eine Gesellschaft des Respekts, eine Gesellschaft, in der niemand auf andere herabschaut, in der alle so leben können, wie sie das möchten natürlich solange sie die Freiheit anderer dadurch nicht einschränken. Darum geht es doch im Kern übrigens auch, wenn wir über die anstehende Reform des Abstammungsrechts reden oder über das neue Selbstbestimmungsrecht. Diese Reformen bedrohen niemanden. Sie nehmen auch niemandem etwas weg. Aber sie bedeuten den Betroffenen unendlich viel. Deshalb werbe ich in der Diskussion darüber für Gelassenheit und eben für Respekt. Noch einen letzten Punkt möchte ich hinzufügen: Ich finde es gut, dass ihr bei eurer Konferenz auch über den deutschen Tellerrand hinausschaut. Klar, auch hier bei uns gibt es noch viel zu verbessern; wir wissen das alle. Aber die Diskriminierung und Verfolgung queerer Personen in vielen anderen Teilen der Welt ist um ein Vielfaches schlimmer, um nicht zu sagen unerträglich. Das dürfen wir, die wir für internationale Solidarität und Menschenrechte eintreten, niemals vergessen. In den vergangenen zwei Jahren haben wir uns als Vorsitz der Equal Rights Coalition gemeinsam mit Mexiko auf internationaler Bühne immer wieder klar gegen Gewalt und Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung, der Geschlechtsidentität oder Geschlechtscharakteristika gestellt. Auf meinen Reisen ins Ausland treffe ich mich regelmäßig mit NGO–Nichtregierungsorganisationens und Menschenrechtsgruppen nicht nur, aber auch, um ihnen den Rücken zu stärken. Ich spreche die Menschenrechtslage in meinen Gesprächen in kritischen Ländern an, und das ist wirklich nötig. Georgien zum Beispiel hat gerade ein Anti-LGBTQI–lesbisch, gay (schwul), bisexuell, transgender, queer und intersexual-Gesetz verabschiedet, das diskriminierend ist und grundlegende Menschenrechte verletzt. Ich sage ganz deutlich: Damit entfernt sich Georgien auch von Europa. Gut, dass ihr in solchen Fällen hinschaut, und gut, dass ihr zusammenhaltet und solidarisch seid. In diesem Sinne wünsche ich euch viel Erfolg bei eurer Konferenz! Schönen Dank, dass ihr euch für mehr Respekt einsetzt nicht nur im Juni, sondern an 365 Tagen im Jahr. Schönen Dank!
„Es gibt noch viel Arbeit zu tun für Gleichstellung, Respekt und Anerkennung – hier bei uns und weltweit.“ Das betonte Bundeskanzler Olaf Scholz in seinem Grußwort bei einer queerpolitischen Menschenrechtskonferenz der SPD-Bundestagsfraktion in Berlin.
„Unsere Zusammenarbeit zeigt, was alles möglich ist“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bk-empfang-un-zukunftsgipfel-2310994
Mon, 23 Sep 2024 00:00:00 -0400
Rede des Bundeskanzlers beim Empfang zum UN-Zukunftsgipfel
New York
Statement BK
Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Es handelt sich hierbei um eine Übersetzung Exzellenzen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Freunde der Vereinten Nationen, es ist mir eine Freude, heute Abend mit Ihnen allen hier zu sein – danke, dass Sie dabei sind. Heute feiern wir den Zukunftspakt! Wir feiern unser erneutes Bekenntnis zur Charta der Vereinten Nationen, zum Völkerrecht, zur Agenda 2030, zum Übereinkommen von Paris und zum Schutz der Menschenrechte. Wir feiern unsere einhellige Unterstützung dafür, wesentliche institutionelle Reformen des internationalen Systems voranzutreiben, insbesondere des Sicherheitsrats und der internationalen Finanzarchitektur. Wir feiern den globalen Konsens für die Schaffung einer Welt, die sicher, friedlich, gerecht, inklusiv und nachhaltig ist, und in der Chancengleichheit und Wohlstand verwirklicht sind. Eine Welt, in der Wohlergehen, Sicherheit, Würde und Gesundheit Realität sind, nicht nur für einige wenige, sondern für die Menschheit insgesamt. Aber indem wir diesen Konsens geschmiedet haben, haben wir noch mehr erreicht – etwas noch Größeres bewirkt. Wir setzen dem aggressiven Narrativ der Spaltung, Polarisierung und Unsicherheit, das unsere Debatten in so vielen Ländern vergiftet, etwas entgegen. Wir beweisen, dass Zusammenarbeit noch immer Ergebnisse liefert; dass der Multilateralismus lebt; dass es globale Solidarität gibt. Wir zeigen der Welt, dass uns sehr viel mehr verbindet, als uns spaltet. Ich bin dankbar, dass wir – Namibia und Deutschland gemeinsam – zu diesem Erfolg beitragen konnten. Kurz vor dem Start des Global Calls, den wir vor zehn Tagen organisiert haben, um Unterstützung für diesen Gipfel einzuwerben, machte mein Freund Präsident Mbumba darauf aufmerksam, dass dies vermutlich der allererste „Dreier-Call“ zwischen Berlin, Windhuk und New York war. Ich möchte nur hinzufügen: Nachdem der erste Versuch so erfolgreich war, stellen Sie sich einmal vor, was wir alles erreichen können, wenn wir das in Zukunft öfter tun! Aber ganz im Ernst: Unsere Zusammenarbeit zeigt, was alles möglich ist, wenn zwei Partner aus verschiedenen Regionen unserer Erde mit unterschiedlichen Zielen, unterschiedlichen Hintergründen, aber mit gemeinsamen Grundsätzen, sich die Hand reichen. Mein Freund Präsident Mbumba und ich wissen, wie viel Mühe und Engagement in die Verhandlungen geflossen sind, die zum Zukunftspakt geführt haben. Die Verhandlungen verliefen keineswegs reibungslos. Manchmal schien es, als rücke ein Konsens in immer weitere Ferne – nur um im allerletzten Moment doch wieder erreichbar zu sein. Daher möchte ich insbesondere den beiden Ständigen Vertretern – Neville Gertze und Antje Leendertse (sie harmonieren so gut, dass sich sogar ihre Namen reimen) – für ihr Engagement und für die intensive Arbeit danken, die sie und ihre Teams geleistet haben. (Ja, das verdient einen kräftigen Applaus!) Meine Damen und Herren, in der Diplomatie geht es nicht nur um die großen Übereinkünfte. Es geht genauso um Hartnäckigkeit, Geduld und Vertrauensbildung über einen langen Zeitraum. Dafür setzt sich Deutschland in allen unseren multilateralen Bemühungen nachdrücklich ein. Andere einzubeziehen, Konsensbildung, die Verteidigung unserer gemeinsamen Grundsätze – dieser Geist der Zusammenarbeit liegt auch unserer Kandidatur für einen nichtständigen Sitz im UN–Vereinte Nationen-Sicherheitsrat 2027/2028 zugrunde. Wir stehen bereit, zu weltweitem Frieden und internationaler Sicherheit beizutragen, und wir wären für Ihre Unterstützung dankbar! Exzellenzen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, von uns allen hängt es ab, ob der Zukunftspakt echte und dauerhafte Veränderungen für die Menschen überall auf der Welt herbeiführt. Nachdem nun die Verhandlungen beendet sind, stehen wir vor einer neuen Aufgabe. Der Aufgabe, den Worten Taten folgen zu lassen, die Hoffnung von heute in die Realität von morgen umzuwandeln. Bevor wir jedoch wieder an die Arbeit denken, lassen Sie uns heute Abend feiern. Danke, dass Sie hier sind, und danke für Ihre Unterstützung.
Beim Empfang des UN–Vereinte Nationen-Zukunftsgipfels bewertete Kanzler Scholz den UN–Vereinte Nationen-Zukunftspakt als einen „globalen Konsens für die Schaffung einer Welt, die sicher, friedlich, gerecht, inklusiv und nachhaltig ist.“ Der Pakt zeige, dass die Nationen der Welt viel mehr verbindet als sie spaltet.
„Wir brauchen den Pakt für die Zukunft mehr denn je“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-bundeskanzler-scholz-zukunftsgipfel-2310618
Sun, 22 Sep 2024 00:00:00 +0200
Rede von Bundeskanzler Scholz beim UN-Zukunftsgipfel
New York
Auswärtiges,Statement BK
Bundeskanzler Olaf Scholz sprach anlässlich der Eröffnung des Zukunftsgipfels vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen. In seiner Rede, hob er die weltweiten Herausforderungen hervor, vor denen die UN-Mitgliedsstaaten gemeinsam stehen. „Durch den Pakt werden diese Herausforderungen nicht nur anerkannt. Vielmehr bringen wir darin unsere Entschlossenheit zum Ausdruck, sie anzugehen!“ Das Wichtigste in Kürze: Internationale Ordnung gestärkt: Der Zukunftspakt wurde in der UN-Generalversammlung angenommen. Er stellt, so Bundeskanzler Scholz, einen „globalen Konsens“ dar. Der Pakt stärkt den Multilateralismus und damit auch die Vereinten Nationen. Auf gemeinsames Handeln geeinigt: Mit dem Zukunftspakt werden in einer Zeit geopolitischer Umbrüche gemeinsame Herausforderungen gemeinsam angegangen: „Nicht alleine, nicht jeder für sich, sondern gemeinsam – Ost und West, Nord und Süd“, so der Kanzler. Ziele festgelegt: Der Zukunftspakt sei ein „Kompass, der uns in eine gerechtere, inklusivere und kooperativere Welt führt“, sagte Scholz. Die UN-Staaten machen sich auf einen gemeinsamen Weg in eine Welt, in der Frieden, Sicherheit, Würde und ein gesunder Planet für die gesamte Menschheit gewährleistet werden soll. Gemeinsamer Erfolg: Deutschland und Namibia haben die Koordinierung der Verhandlungen für den Zukunftspakt übernommen. In den vergangenen zwei Jahren wurden zahllose Gespräche im Hintergrund geführt, um den Zukunftsgipfel und den -pakt vorzubereiten. [Video] Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Es handelt sich hierbei um eine Übersetzung Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, ich möchte all meinen Vorrednerinnen und Vorrednern, insbesondere den Jugendvertretungen, herzlich für ihre wichtigen Beiträge danken. Wegen ihnen, den jungen Menschen auf der ganzen Welt, sind wir heute zusammengekommen. Es geht darum, wie sie sich eine bessere Welt vorstellen, es geht um ihre Zukunft. Ein besonderes Wort des Dankes gilt Ihnen, Herr Präsident. Ihre Führungsrolle war wirklich wichtig. Heute, in Zeiten großer Spannungen und Unsicherheit, brauchen wir den Zukunftspakt dringender als je. In den vorherigen Reden wurde bereits dargelegt, wie eng unsere Schicksale durch die weltweiten Herausforderungen, vor denen wir stehen, miteinander verbunden sind: Krieg, Klimawandel, Armut und Hunger, Hindernisse für den freien und fairen Handel, weltweite Gesundheitsbedrohungen, technische Entwicklungen wie KI, die neben riesigen Chancen auch die Gefahr missbräuchlicher Verwendung und einer Verschärfung wirtschaftlicher Ungleichgewichte bergen. Durch den Pakt werden diese Herausforderungen nicht nur anerkannt. Vielmehr bringen wir darin unsere Entschlossenheit zum Ausdruck, sie anzugehen! Nicht alleine, nicht jeder für sich, sondern gemeinsam – Ost und West, Nord und Süd. Der Zukunftspakt kann uns als Kompass dienen. Als Kompass, dessen Nadel in Richtung einer stärkeren Zusammenarbeit und Partnerschaft weist, statt hin zu mehr Konflikten und Zersplitterung. Als Kompass, der uns in eine gerechtere, inklusivere und kooperativere Welt führt. Der Pakt bringt zum Ausdruck, dass wir entschlossen sind, das Vertrauen in unsere gemeinsamen Institutionen wiederherzustellen. Er macht deutlich, dass all das Gerede von Spaltung, Polarisierung und Unsicherheit nicht das Ende unserer Vereinten Nationen sein wird. Weil wir noch immer zusammenarbeiten. Weil wir einander noch immer vertrauen. Weil wir uns noch immer zu den Grundsätzen der UN-Charta bekennen. Und weil wir noch immer dazu bereit sind, einander mit Respekt und Fairness zu behandeln. Respekt und Fairness – von diesen Grundsätzen werden auch Namibia und Deutschland geleitet, die gemeinsam die Verhandlungen des Pakts geführt haben. Wir stammen von verschiedenen Kontinenten, die politische und sozioökonomische Lage in unseren Ländern ist unterschiedlich. Und doch ist es uns gelungen, freundschaftlich zusammenzuarbeiten. Vielen Dank, Präsident Mbumba, für Ihre Freundschaft und die herausragende Zusammenarbeit! Ich möchte darüber hinaus allen danken, die uns dabei geholfen haben, die Verhandlungen so weit voran zu bringen. Der heute vorliegende Text ist die Errungenschaft der zahlreichen Männer und Frauen, die Erschöpfung, das gelegentliche Gefühl von Frustration sowie politische und ideologische Meinungsverschiedenheiten überwunden haben, um heute diesen globalen Konsens zu erzielen. Sie haben bewiesen, dass der Multilateralismus lebendig ist. Dass wir es schaffen, eine gemeinsame Grundlage zu finden. Lasst uns Schritt für Schritt in Richtung einer Welt gehen, die sicher, gerecht, inklusiv und nachhaltig ist, und in der Chancengleichheit und Wohlstand verwirklicht sind – eine Welt, die vor allem friedlich ist. In dem Pakt ist dargelegt, wie diese Schritte aussehen – es sind über 50, um genau zu sein. Würden wir diese Schritte nicht unternehmen, würde nicht nur die Geschichte über uns urteilen, sondern auch die Jugend auf der ganzen Welt. Der Weg ist steinig. Doch war er das nicht schon immer? Deutschland wird seine Hand jedem reichen, der diesen Weg mit uns gehen möchte. Gehen wir los. Die Zukunft beginnt jetzt. Herzlichen Dank!
Beim Zukunftsgipfel der Vereinten Nationen wurde der Zukunftspakt angenommen. „Der Zukunftspakt kann uns als Kompass dienen“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz anlässlich der Eröffnung des Gipfels vor der UN-Generalversammlung.
Neues Kapitel für den Chemiestandort Deutschland
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-des-kanzlers-in-wesseling-2310112
Thu, 19 Sep 2024 12:25:00 +0200
Rede des Kanzlers bei Grundsteinlegung der LyondellBasell-Recyclinganlage
Bundeskanzler Olaf Scholz hat zusammen mit dem Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, an der Grundsteinlegung für die chemische Recyclinganlage des Unternehmens LyondellBasell in Wesseling bei Köln teilgenommen. Vor Ort besuchte der Kanzler zudem das Ausbildungszentrum des Unternehmens und sprach mit Auszubildenden sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Anlage wird jährlich bis zu 50.000 Tonnen Haushalts-Kunststoffe in neue Kunststoffe recyclen können. Das Besondere: Auch die Kunststoffe, die sich bislang nicht mechanisch haben recyceln lassen und daher in der Müllverbrennung landeten, kann die neue Anlage recyceln. In seiner Rede betonte der Kanzler, dass der Chemiestandort Deutschland eine gute Zukunft hat und auf die Unterstützung der Bundesregierung zählen kann. Das Wichtigste in Kürze: Vertrauensbeweis in den Standort: Die Großinvestition ist ein Vertrauensbeweis in die Stärke des Chemiestandortes Deutschland. Die Bundesregierung habe unter anderem mit der Wachstumsinitiative und dem Strompreispaket wichtige Entlastungen auf den Weg gebracht – gerade auch für die energie- und ressourcenintensive Chemieindustrie. Zukunftsweisende Investition: Kunststoffrecycling ist Teil der Kreislaufwirtschaft – einem Zukunftsfeld, für das nicht nur ökologische Gründe sprechen, sondern auch wirtschaftliche sowie sicherheitspolitische. Denn das Recycling mache die Wirtschaft unabhängiger von Rohstoff-Importen. Kreislaufwirtschaft fördern: Europa ist bereits jetzt führend in der Kreislaufwirtschaft. Um diese weiter zu fördern, will die Bundesregierung laut Kanzler Scholz bis Ende des Jahres eine Nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie verabschieden. Zudem setzt sie sich bei der Europäischen Kommission für einen industriellen Hochlauf ein. Gemessen an den Umsätzen ist LyondellBasell der drittgrößte Chemiekonzern weltweit. Das 2,7 Quadratkilometer große Werk in Wesseling ist mit mehr als 1.400 Mitarbeitenden, darunter rund 150 Auszubildende, ein wichtiger Produktionsstandort und Innovationszentrum. Zusammen mit dem benachbarten Standort in Knapsack ist es der größte LyondellBasell-Standort Europas. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Wüst, sehr geehrter Herr Vanacker, meine Damen und Herren! Deutschland recycelt gern – sogar sehr gern. Wir bringen unser Altglas zum Container, schmeißen Plastik in die gelbe Tonne, Altpapier in die Papiertonne und bringen Batterien oder Sperrmüll zum Wertstoffhof. Das klappt so gut, weil alle mitmachen. Ein sehr großer Teil unseres Papiermülls und über 70 Prozent der Verpackungen werden in Deutschland wiederverwertet. Die Betonung liegt dabei auf „Wert“. Recycling spart ja nicht nur eine Menge Geld, sondern auch eine Menge Rohstoffe – Erdöl, Erze und Sand. Deswegen ist jede Recyclinganlage eine gute Idee, zumal eine dermaßen große, wie sie hier jetzt gebaut wird. Sie kann 50.000 Tonnen Kunststoff pro Jahr verarbeiten. Das ist mal eine Hausnummer, würde ich sagen. Herr Vanacker, vielen Dank an LyondellBasell für diese Investition in die Zukunft und schönen Dank für die Einladung zur Grundsteinlegung. Ich freue mich, dass ich heute hier dabei sein kann. Ich habe gerade mit einigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gesprochen, die hier teilweise schon seit vielen Jahren arbeiten. Sie haben mir erzählt, wie wichtig es ist, dass wir uns hier auch zum Standort für Chemie in Deutschland bekennen, gerade was diesen Standort hier betrifft. Dieses Werk gehört seit über 70 Jahren zu Wesseling wie der Dom zu Köln – gut, der steht schon etwas länger da. Wer in Köln oder in Bonn wohnt, fährt immer mal wieder mit der Linie 16 der KVB an diesem silbernen Koloss vorbei oder auf der 555 mitten durch. Im Dunklen strahlen dann Hunderte Leuchtröhren. Mit 2,7 Quadratkilometern ist dieses Werk so groß wie eine Stadt. Den Eindruck hatte ich übrigens auch eben, als wir von einem Ende zum anderen gefahren sind. Ich habe meinem Fahrer gesagt: Das dauert aber lange. Das ist ein Zeichen dafür, was für eine große Anlage das wirklich ist. Das ist jedenfalls keine Fabrik wie jede andere, sondern eine gigantische Anlage. Sie steht in einer der wichtigsten Chemieregionen Europas. Und ab heute ist diese Region – und damit der Chemiestandort Deutschland – um eine Facette reicher. Diese neue chemische Recyclinganlage wird aus jeder Menge altem Kunststoff jede Menge neuen machen. Und dabei nimmt sich die Anlage genau jene Kunststoffabfälle vor, die sich bislang nicht mechanisch recyceln lassen und deswegen in der Müllverbrennung landen. Die Bundesregierung setzt sich gegenüber der EU-Kommission folgerichtig dafür ein, dass Rezyklat-Einsatzquoten für Einweggetränkeflaschen pragmatisch angerechnet werden, damit der industrielle Hochlauf, den Sie hier begonnen haben, auch tatsächlich gelingt. Das ist ein neuer Weg statt eines „Weiter so!“. Das langfristige Ziel ist klar: möglichst gar kein Plastikmüll mehr. Aber bis dahin brauchen wir noch eine Weile. Deshalb ist jeder Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel ein guter. Und diese Recyclinganlage ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Deutschland, meine Damen und Herren, ist ein zentraler Standort für die Chemieindustrie in der Welt. Ich will, dass das so bleibt. Das habe ich auch in der vergangenen Woche auf dem Chemie-&-Pharma-Gipfel des VCI betont; einige von Ihnen waren ja auch dabei. Was ich dort angekündigt habe, ist die Chemiestrategie, auf die wir uns in der Bundesregierung verständigt haben. Damit stärken wir den Chemiestandort Deutschland, der zuletzt zu kämpfen hatte, vor allem aufgrund der Energiepreise, die nach dem russischen Angriffskrieg stark gestiegen waren. Inzwischen haben sich die Preise wieder normalisiert, auch weil wir in der Krise schnell und effektiv reagiert haben. Mit dem Strompreispaket und der Wachstumsinitiative haben wir wichtige Entlastungen auf den Weg gebracht. Die Chemie ist eine energie- und ressourcenintensive Industrie. Sie braucht auch auf dem Weg in Richtung Klimaneutralität besondere Unterstützung. Deshalb haben wir die Strompreiskompensation bis 2030 verlängert, und wir setzen uns gegenüber der Europäischen Kommission dafür ein, dass noch weitere Bereiche der Wirtschaft mit diesem Konzept entlastet werden können. Das nützt der Chemie ganz besonders. Wir gehen aber auch an die strukturellen Probleme ran, die sich über Jahre aufgestaut haben. Wir machen richtig Tempo beim Ausbau der erneuerbaren Energien – Herr Wüst hat berichtet, wie sich das hier in Nordrhein-Westfalen auswirkt – und richtig Tempo auch beim Stromnetzausbau. Hier in Nordrhein-Westfalen kann man das, wie schon beschrieben, beobachten. Das schafft die Basis für günstige Preise. Wir bauen bürokratische Hürden ab und haben den Regelungsdschungel für Genehmigung neuer Industrieanlagen ziemlich gelichtet. Ich weiß nicht, ob Sie bei der Planung hier schon in den Genuss davon gekommen sind; ich bezweifle es. Aber spätestens beim nächsten Investment wird es so weit sein. Wir haben uns auch verpflichtet, bei EU-Regeln nicht immer noch draufzusatteln, sondern sie hier in Deutschland eins zu eins umzusetzen. Wir fördern die Kreislaufwirtschaft und investieren in Forschung an Innovationen – übrigens mehr als jedes andere große Land Europas – mit über 3 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts. Vielleicht darf ich das an dieser Stelle kurz ausführen: Von den großen Volkswirtschaften Europas ist ausschließlich Deutschland die, die mehr als 3 Prozent des Inlandsprodukts der Wirtschaftsleitung für Forschung und Entwicklung ausgibt. Das ist seit Ewigkeiten die Grundlage unseres ökonomischen Erfolgs, und deshalb müssen wir auch mit allen Maßnahmen, die wir ergreifen, dafür Sorge tragen, dass exakt das so bleibt. Denn mit dem, was wir schon können und was wir schon machen, werden wir nicht mehr lange wirtschaftlich erfolgreich sein können; denn nachmachen können das ja viele, und dann wird es überall billiger. Vielmehr geht es darum, neue Dinge zu entwickeln, mit denen wir vorne mit dabei sind. Wir stärken deshalb auch die Naturwissenschaften an unseren Schulen, damit wir auch in Zukunft Industriemechaniker, Elektronikerinnen für Automatisierungstechnik und Chemikanten haben, die hier gebraucht werden. Und wir sorgen dafür, dass uns die Fachkräfte nicht ausgehen. All das bringt uns als Industrieland voran. Und es passt dazu, was in der Antwerpener Erklärung gefordert wird, lieber Herr Vanacker: eine moderne Infrastruktur, CO2-freie Energie zu niedrigen Kosten, Investitionen in die Beschäftigten. Und genau darüber haben wir uns auch schon unterhalten. Wir sind uns einig, dass Europa aufholen muss bei der Wettbewerbsfähigkeit und Innovationen, die schneller in die Praxis gebracht werden müssen. Ein Zukunftsfeld, wo Europa das bereits jetzt zeigt und weltweit führend ist, ist die Kreislaufwirtschaft. Dafür sprechen nicht nur ökologische Gründe, auch wirtschaftlich rechnet sich das. Und selbst sicherheitspolitisch ergibt die Kreislaufwirtschaft Sinn, weil wir uns damit unabhängiger machen von Rohstoffimporten aus Regionen, von denen wir womöglich nicht einseitig abhängig sein möchten. All das berücksichtigen wir in der Nationalen Kreislaufwirtschaftsstrategie, an der wir gerade arbeiten und die bis Ende des Jahres verabschiedet werden soll. Das Schlüsselprinzip denkt die Kreislaufwirtschaft schon beim Design mit, damit Produkte zum Beispiel wiederverwendbar sind oder man sie leicht auseinander- und wieder zusammenbauen kann. Dass Kreislaufwirtschaft funktioniert, zeigt hier die Pionierarbeit bei LyondellBasell. Sie wird Strahlkraft entwickeln. Sie wird Nachahmer finden; da bin ich mir ziemlich sicher. Meine Damen und Herren, was ein Katalysator ist, das wissen die meisten Leute, die ein Auto haben oder das mal im Chemie-Unterricht gelernt haben. Unter Recycling können sich auch alle etwas vorstellen. Aber chemisches katalytisches Recycling, wie in dieser Anlage, ist für die meisten etwas Neues – für uns jetzt nicht mehr, da wir das alles ja gerade erklärt bekommen haben. Wir wissen nun: Katalytisches Recycling ist ein Baustein der Zukunft, die heute hier in Wesseling beginnt. LyondellBasell hätte diese Anlage überall auf der Welt bauen können. Sie haben sich aber bewusst für Deutschland entschieden, weil Sie zuversichtlich sind, dass dieser Standort eine gute Zukunft hat. Das bin ich auch. Wir legen deshalb heute nicht nur den Grundstein für diese Recyclinganlage, sondern fügen der Geschichte der Chemieindustrie in Deutschland ein neues Kapitel hinzu – eines, das sicher in die Zukunft weist: mit guten Arbeitsplätzen, die es auch in 10, 20 und 30 Jahren noch geben wird, mit einer moderneren Produktion und weniger CO2. So wie hier stellen an ganz vielen Orten in Deutschland, in Europa und auf der ganzen Welt Unternehmen ihre Produktion um, bauen neue Anlagen, investieren in die Zukunft. Sie meckern und klagen nicht, sondern sie machen. Auch das ist der richtige Weg. Viel Erfolg mit diesem Investment und schönen Dank.
Das Unternehmen LyondellBasell baut in Wesseling eine neue Recyclinganlage für Kunststoffe. Bundeskanzler Olaf Scholz hat an der Grundsteinlegung der Anlage teilgenommen – und in seiner Rede betont, dass der Chemiestandort Deutschland eine gute Zukunft hat.
„Eine lange und gute Tradition“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-empfang-jugend-forscht-2309402
Wed, 18 Sep 2024 00:00:00 +0200
Kanzler-Empfang für „Jugend forscht“
Statement BK,Bildung und Forschung
Seit inzwischen mehr als 40 Jahren werden die Preisträgerinnen und Preisträger von „Jugend forscht“ ins Bundeskanzleramt eingeladen und so gewürdigt. Mehr als 10.000 junge Menschen haben sich in diesem Jahr am Wettbewerb beteiligt, der 1965 vom ehemaligen Chefredakteur des „stern“, Henri Nannen, ins Leben gerufen wurde. Nach der Preisverleihung überreichte Bundeskanzler Olaf Scholz seinen Sonderpreis für die originellste Arbeit an Maja Leber (16) und Julius Gutjahr (17) für ihr Projekt „Verkehrte Seifenblasen. Neue Erkenntnisse zu Antibubbles“. Das sind von einer sehr dünnen Luftschicht umschlossene Wasserblasen in Seifenwasser. Im Anschluss hatten die anwesenden Jungforscherinnen und Jungforscher Gelegenheit, dem Bundeskanzler Fragen zu stellen. Der Sonderpreis des Bundeskanzlers wurde 1971 erstmals ausgelobt, um die Bedeutung der Förderung des Forschungsnachwuchses hervorzuheben. „Jugend forscht“ fördert besondere Leistungen und Begabungen in den sogenannten MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik mit dem Ziel Jugendliche auch langfristig für diese Themen zu begeistern und in ihrer beruflichen Orientierung zu unterstützen. Bis heute nahmen fast 300.000 junge Menschen teil. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede des Bundeskanzlers: Sehr schön, dass alle da sind! Ich hoffe, es hat schon sehr viele interessante Begegnungen gegeben und wird noch mehr geben. Alle haben ja auch viel vorgeleistet, was wir ja hier miteinander sehen und erfahren werden. Ich glaube, dass das, was wir heute alles mitbekommen, schon auch damit zu tun hat, dass ein wenig geforscht wird, dass man sich über die Zukunft Gedanken macht, und wenn man in unserem Land etwas braucht, dann exakt das; jedenfalls ist das meine feste Überzeugung. „Jugend forscht“ im Bundeskanzleramt gibt es schon seit 43 Jahren, notwendigerweise also nicht in diesem Gebäude – denn so lange steht das noch gar nicht, wie man hoffentlich sehen kann –, aber in all den Residenzen des Kanzleramtes, die es zuvor gab. Hier in Berlin, aber dann vorher auch in Bonn hat das schon eine lange Tradition, und das finde ich auch ganz gut. Natürlich sind es ziemlich, ziemlich viele, die forschen. Hier sitzt jetzt eine kleine Auswahl, aber real sind es 10 000, die mitgemacht haben. Insofern darf, glaube ich, jeder und jede auch ein bisschen stolz sein, dass man jetzt hier sein kann, weil das ja auch ein bisschen Ausdruck von dem ist, was hier geleistet worden ist. Ich hoffe, dass daraus ein bisschen mehr Spirit für unser ganzes Land entsteht, dass alle so sein wollen wie diejenigen, die jetzt hier sind und die ihr seid, weil ich glaube: Das ist das, was wir richtig brauchen können. Im Übrigen können wir das auch in Diskussionen brauchen, die ja in der Regel sehr aufgeregt sind. Es gibt die Blasen im Netz, über die wir alle viel diskutieren, in denen sich irgendwelche Leute selbst bestätigen, dass sie mit einer sehr abseitigen Meinung schon immer recht hatten. Das kommt jetzt häufiger vor, „bubbles“ gewissermaßen. Aber es gibt wiederum auch Forschung, die sich mit diesen Dingen verbindet, und mit einem Teil davon werden wir heute konfrontiert. Deshalb darf ich jetzt sagen und habe ein bisschen auch die Ehre, zu sagen, wer den Sonderpreis für die originellste Arbeit bekommen hat, nämlich Maja Leber und Julius Gutjahr vom Goethe-Gymnasium Emmendingen, und zwar wegen des Projekts „Verkehrte Seifenblasen. Neue Erkenntnisse zu Antibubbles“, also ein bisschen etwas, mit dem wir uns ansonsten auf ganz andere Weise beschäftigen. Noch einmal schönen Dank fürs Kommen, schönen Dank für die Forschung vorweg! Geben Sie viel Spirit an viele andere weiter! Ich freue mich auf das, was wir jetzt hier miteinander mitbekommen. – Die beiden Preisträger!
Bundeskanzler Scholz empfing die Preisträgerinnen und Preisträger des 59. Bundeswettbewerbs „Jugend forscht“ im Kanzleramt. Dabei verlieh der Kanzler auch seinen Sonderpreis für die originellste Arbeit an das Projekt „Verkehrte Seifenblasen“.
Zentralasien ist für Deutschland eine äußerst wichtige Region
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-bundeskanzler-scholz-z5-2308994
Tue, 17 Sep 2024 08:20:00 +0200
Rede von Bundeskanzler Scholz beim Z5-Treffen
Astana
Aufgaben_des_Kanzlers
Bundeskanzler Olaf Scholz hat am sogenannten Z5-Treffen in Astana teilgenommen. Dort betonte der Kanzler: „Zentralasien ist für Deutschland seit jeher eine äußerst wichtige Region. Wir blicken auf über 30 Jahre diplomatische Beziehungen und eine deutlich längere Geschichte zurück.“ Er bekräftigte sein Angebot vom vergangenen Jahr: Deutschland stehe bereit, die Region weiter zu unterstützen. Regionale Kooperation und Integration seien wichtig – für Frieden, für Wohlstand und für ein gutes Miteinander. Die Beziehungen zu den zentralasiatischen Staaten zu vertiefen sei ein strategisches Ziel für Deutschland – und ein ganz persönlicher Wunsch des Kanzlers. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrter Herr Präsident Tokajew, sehr geehrter Herr Präsident Dschaparow, sehr geehrter Herr Präsident Rahmon, sehr geehrter Herr Präsident Berdimuhamedow, sehr geehrter Herr Präsident Mirsijojew, Exzellenzen, verehrte Gäste, es ist mir eine große Freude, Sie alle heute hier in Astana zum zweiten Gipfel zwischen den Staaten Zentralasiens und Deutschlands zu treffen. Ganz herzlichen Dank an Sie, Präsident Tokajew, dass Sie das mit Ihrer Einladung hierher nach Kasachstan möglich gemacht haben. Ich habe schon gestern erzählt, dass dies meine erste Reise als Bundeskanzler nach Zentralasien ist. Erste Eindrücke sind ja oft ziemlich prägend, und ich muss sagen, dass ich sowohl von der beindruckenden wirtschaftlichen Dynamik als auch von der großen Herzlichkeit hier tief beeindruckt bin. Das werde ich mit nach Berlin nehmen. Sehr geehrte Herren Präsidenten, ich sehe Ihre zweite Teilnahme an diesem Format als ein Zeichen des Vertrauens, das Sie in die Beziehungen zu Deutschland setzen. Das freut mich sehr; denn die Beziehungen zu Ihren Staaten zu vertiefen, ist ein strategisches Ziel für Deutschland und auch mein ganz persönlicher Wunsch. Vor einem Jahr haben wir mit der strategischen Regionalpartnerschaft dafür einen wichtigen Grundstein gelegt. Diese Partnerschaft ermöglicht uns, bestehende Kooperationen zu vertiefen und bislang ungenutzte Potenziale zu erschließen. Ich möchte dieses Treffen nutzen, um das bisher Erreichte zu würdigen und gleichzeitig die großen Möglichkeiten in den Blick zu nehmen, die vor uns liegen. Zentralasien ist für Deutschland seit jeher eine äußerst wichtige Region. Wir blicken auf über 30 Jahre diplomatische Beziehungen und eine deutlich längere Geschichte zurück. Deutsche Spuren gibt es überall in Zentralasien. Umgekehrt reicht auch der Einfluss Zentralasiens seit Jahrhunderten bis nach Mitteleuropa, aller Mauern – physischer und politischer – zum Trotz, die uns jahrzehntelang getrennt haben. Heute können wir sagen: Noch nie war der Austausch zwischen unseren Gesellschaften so eng – und er nimmt stetig zu: politisch, wirtschaftlich und kulturell. Das wollen wir fortsetzen und weiter intensivieren. Denn gerade in Zeiten globaler Unsicherheit brauchen wir enge vertrauensvolle internationale Partner. Wir teilen auch wichtige Grundsätze. Diese sind nicht östlich oder westlich, nicht europäisch oder asiatisch. Diese Grundsätze sind universell – sie stehen in der Charta der Vereinten Nationen –, und wenn sich alle daran hielten, wäre die Welt ein sehr viel besserer Ort. Ich bin froh, dass wir uns darüber sehr einig sind. Wenn wir heute eine erste Bilanz unserer strategischen Partnerschaft ziehen, dann sticht noch etwas sehr positiv hervor: die Entwicklung unserer Wirtschaftsbeziehungen. Wie groß das Interesse ist, hier noch eine Schippe draufzulegen, zeigt sich auch darin, dass mich eine hochrangige, breit aufgestellte Wirtschaftsdelegation begleitet. Dies ist Ausdruck des wachsenden Interesses in der ganzen Breite der deutschen Wirtschaft an Zentralasien. Ich bin überzeugt, dass unser anschließender Austausch mit den Vertretern der Wirtschaft hier wertvolle Impulse für die weitere Entwicklung und Zusammenarbeit liefern wird. Ein Thema, das mir für diesen Gipfel besonders am Herzen liegt, ist die Zusammenarbeit innerhalb Ihrer Region. Sie ist entscheidend, um Herausforderungen wie Wasserknappheit, Klimawandel, Fragen der Konnektivität und auch der gesellschaftlichen Resilienz anzugehen. Denn diese Probleme betreffen alle und können nur gemeinsam gelöst werden. Seit unserem letzten Treffen hat es große Fortschritte gegeben. Ich möchte das Angebot vom vergangenen Jahr bekräftigen: Deutschland steht bereit, weiter zu unterstützen. Denn wir haben in unserer eigenen Geschichte erfahren, wie wichtig regionale Kooperation und Integration sind – für Frieden, für Wohlstand und für ein gutes Miteinander. Tauschen wir uns also weiter aus über gemeinsame Projekte, die zur Stabilität und nachhaltigen Entwicklung der Region beitragen. Und nun freue mich sehr auf den ganz konkreten, weiteren Austausch mit Ihnen: Wo sehen Sie zusätzliches Potenzial für unsere Beziehungen? Welche Bereiche sollten wir gemeinsam vertiefen? Wo kann Deutschland sich weiter engagieren? Nochmals herzlichen Dank für den wunderbaren Empfang hier in Astana und sehr viele positive erste Eindrücke. Schönen Dank!
Bundeskanzler Olaf Scholz hat im Rahmen seiner Zentralasienreise am Z5-Treffen in Astana teilgenommen. Dort betonte der Kanzler: „Die Beziehungen zu Ihren Staaten zu vertiefen, ist ein strategisches Ziel für Deutschland und auch mein ganz persönlicher Wunsch.“
Wirtschaftsbeziehungen weiter vertiefen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-wirtschaftsforum-astana-2308770
Mon, 16 Sep 2024 14:46:00 +0200
Rede des Kanzlers beim deutsch-kasachischen Wirtschaftsforum
Astana
Statement BK,Wirtschaft und Klimaschutz,Aufgaben_des_Kanzlers
Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrter Herr Präsident Tokajew, meine Damen und Herren, es ist mir eine große Freude, heute zum ersten Mal als Bundeskanzler hier in Kasachstan zu sein. Unsere Länder verbinden über 30 Jahre diplomatische Beziehungen und eine noch sehr viel längere, wechselvolle Geschichte. Unsere Länder verbinden aber vor allem auch unzählige persönliche Bindungen, Familien- und Lebensgeschichten. Die 200 000 Bürgerinnen und Bürger deutscher Herkunft in Kasachstan und die mehr als 800 000 Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, die aus Kasachstan nach Deutschland eingewandert sind, sie bilden eine feste Brücke zwischen unseren Ländern, die wir sehr schätzen, die wir pflegen und die uns auch in Zukunft verbinden wird. Dafür arbeiten wir eng zusammen in der Kultur- und Bildungspolitik, mit der Deutsch-Kasachischen Universität in Almaty, mit deutschen Partnerschulen und mit vielfältigen Austauschprogrammen. Natürlich ist diese enge menschliche Verbindung auch ein wichtiger zusätzlicher Motor für unsere gute wirtschaftliche Zusammenarbeit, um deren entschiedenen Ausbau es hier und heute gehen soll. Jetzt ist dafür die richtige Zeit – und zwar nicht trotz, sondern wegen der unruhigen internationalen Lage, wegen der Störungen im internationalen Handel und auch wegen der vielen globalen Herausforderungen, allen voran durch den Klimawandel. In dieser Zeit der Unsicherheit brauchen wir enge, vertrauensvolle internationale Partnerschaften über Grenzen, über kulturelle Unterschiede und auch über teilweise unterschiedliche Weltsichten hinweg. Das unterstreicht die Bedeutung unserer Beziehungen und deren Konstanz gegenüber der gesamten Region Zentralasien. Kasachstan nimmt darin für uns eine ganz zentrale Rolle ein. Mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt, sowohl absolut als auch pro Kopf, ist Kasachstan der größte Handelspartner Deutschlands in der Region. Dieses gestiegene Interesse unserer Unternehmen aneinander freut mich. Gleichzeitig bin ich dankbar für den vertrauensvollen Dialog zwischen uns, mit dem wir verhindern wollen, dass der Handel zwischen uns zur Umgehung von Sanktionen missbraucht wird. Kasachstan zieht deutsche Investoren an und bietet dafür ein günstiges Umfeld. Das wissen wir und das wissen auch deutsche Unternehmen sehr zu schätzen. Ich weiß, dass deutsche Unternehmen und ihre Produkte auch hier in Kasachstan einen guten Ruf haben Das liegt sicherlich auch daran, dass sie keinen Extraktivismus, keinen Raubbau betreiben, sondern verantwortlich handeln ‑ indem sie gute Arbeitsplätze hier vor Ort schaffen, indem sie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und deren Ausbildung schätzen und darin investieren, indem sie hohe soziale und Umweltstandards setzen und indem sie mehr Wertschöpfung auch hier vor Ort schaffen. Beide Seiten profitieren von diesem Austausch, weil wir unsere Wirtschaften so diversifizieren und widerstandsfähiger machen. Ein ganz konkretes Beispiel hierfür sind die Öllieferungen aus Kasachstan, die uns sehr geholfen haben, nachdem Russland als Versorger ausgefallen war. Sie waren und sind von entscheidender Bedeutung, insbesondere für die Raffinerie in Schwedt, wo wir zahlreiche Arbeitsplätze erhalten konnten. Für diese wichtige Zusammenarbeit, die fortgesetzt wird, sind wir Kasachstan sehr dankbar. Wie umfassend die deutsch-kasachische Zusammenarbeit ist, zeigt sich an der schieren Fülle der Themen. Erstes Stichwort: Klimawandel. Dieser wirkt sich ganz besonders stark auf die Länder Zentralasiens aus. Deswegen arbeiten wir in der von Deutschland ins Leben gerufenen Initiative „Green Central Asia“ zusammen, um Klimarisiken zu begegnen und die Widerstandsfähigkeit der kasachischen Wirtschaft zu erhöhen. Der Umbau unserer Wirtschaft in Richtung Klimaneutralität bringt Chancen, gerade auch für die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern. Bereits heute arbeiten wir in Sachen Energiesicherheit, nachhaltigen Wirtschaftens und der Entwicklung der nötigen Infrastruktur eng zusammen. Hinzu kommt das Thema Wasserstoff. Das Projekt „Hyrasia One“ ist ein beeindruckendes Beispiel für die Möglichkeiten, die sich uns bieten. Es ist eines der größten Projekte für grünen Wasserstoff in der Region, mit dem Zeug dazu, ein echtes Leuchtturmprojekt für unsere Zusammenarbeit zu werden. Dass sich das deutsche Büro für Wasserstoffdiplomatie in Zentralasien für Kasachstan als Standort entschieden hat, war kein Zufall, sondern unterstreicht die wichtige Rolle, die Kasachstan hier spielt. Das Wasserstoffbüro arbeitet übrigens gerade an einer Studie zum weiteren Potenzial für die Erzeugung von grünem Wasserstoff in ganz Zentralasien. Das schafft die Basis für weitere konkrete Projekte, und ich lade sowohl staatliche Verantwortliche als auch Unternehmen in Zentralasien und Deutschland herzlich ein, sich daran zu beteiligen. Zweites Stichwort: Transformation. Wir schauen auf Kasachstan als wichtigen Partner, wenn es um kritische Rohstoffe geht. Gemeinsam streben wir daher an, diese auch für eine erfolgreiche Energiewende notwendigen Rohstoffe unter Einbeziehung deutscher Technologien und deutschen Know-hows zu gewinnen und stärker in den Fokus unseres wirtschaftlichen Austauschs zu stellen – und zwar so, dass mehr Wertschöpfung hier vor Ort generiert wird. Drittes Stichwort: Konnektivität. Wir wollen zwischen unseren Regionen enger zusammenrücken, und das heißt, die Transportwege schneller ausbauen. Im Vordergrund steht vor allem der Ausbau des mittleren Korridors. Die Europäische Global Gateway Initiative wird wichtige Infrastrukturprojekte auch in Kasachstan, einem Fokusland der Initiative, anschieben. Von politischer Seite aus werden wir all das weiter flankieren. Erst im vergangenen Jahr war der deutsche Bundespräsident hier. Durch meine heutige Reise möchte ich unser Interesse an noch engeren Beziehungen unterstreichen. Die deutsche Wirtschaft teilt das Interesse; das zeigt die hochrangige, breit aufgestellte Wirtschaftsdelegation, die mich begleitet. Schön, dass Sie alle dabei sind! Ich setze vor allem auf zwei Formate, um unsere Wirtschaftsbeziehungen weiter zu vertiefen: den Deutsch-Kasachischen Wirtschaftsrat und den Berliner Eurasischen Club. Beide Plattformen bieten Unternehmen die Möglichkeit, sich zu vernetzen, sich auszutauschen und gemeinsam Projekte voranzutreiben. Ich danke allen sehr, die sich dort einbringen, und ich ermutige diejenigen, die das noch nicht tun, sich das einmal anzuschauen. Jetzt freue ich mich sehr auf den Austausch mit Ihnen allen. Es interessiert mich, wie Sie die Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern erleben und welche Ideen Sie haben. Schönen Dank insbesondere an die kasachische und die deutsche Wirtschaft für die Organisation dieses Forums!
Jetzt sei die richtige Zeit, um die gute wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Kasachstan weiter auszubauen – und zwar nicht trotz, sondern wegen der unruhigen internationalen Lage. Darauf wies Kanzler Scholz beim deutsch-kasachischen Wirtschaftsforum hin.
Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen stärken
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-wirtschaftsroundtable-2308712
Mon, 16 Sep 2024 06:24:00 +0200
Rede von Bundeskanzler Scholz beim deutsch-usbekischen Wirtschaftsroundtable
Samarkand
Statement BK,Wirtschaft und Klimaschutz,Auswärtiges
„Zum Wohl der Volkswirtschaften beider Länder“, wollen Deutschland und Usbekistan gemeinsam die Möglichkeiten der Rohstoffe, die sich in Usbekistan befinden, nutzen und entwickeln. Dies sagte Bundeskanzler Scholz in seiner Rede am Montag beim deutsch-usbekischen Wirtschaftsroundtable in Samarkand. Beide Länder hätten im Zuge seines Besuchs eine Reihe von wirtschaftlichen Vereinbarungen unterzeichnet. Man spüre die Dynamik, und davon profitierten auch die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen der Länder, so der Kanzler. Usbekistan und die gesamte Wirtschaft Zentralasiens sei für die Zukunft wichtig. Am Dienstag soll der Z5+1-Gipfel mit den Regierungschef der fünf zentralasiatischen Staaten (Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan) und Deutschland fortgesetzt werden. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrter Herr Präsident Mirsijojew, meine Damen und Herren, es ist mir eine große Freude, meinen ersten Besuch als Bundeskanzler in Zentralasien hier in Samarkand zu beginnen. Samarkand hat in Deutschland und weltweit einen fast magischen Klang. Man denkt an die historische Seidenstraße, an Handelskarawanen, an blaue Moscheen und goldglitzernde Plätze und Paläste. Was man aber bei aller Pracht und Schönheit nicht vergessen darf: Es handelt sich auch um eine ordentliche Boomtown, in der es sich wirtschaftlich richtig gut entwickelt. Deshalb ist es neben aller Faszination eben auch wichtig, dass mich heute eine große Wirtschaftsdelegation aus Deutschland begleitet. Es ist beeindruckend, wie stark die Wirtschaft sich entwickelt und wie die Modernisierung vorankommt. Man spürt die Dynamik, und davon profitieren auch unsere bilateralen Wirtschaftsbeziehungen. Gleichzeitig ist es gut, dass wir uns regelmäßig austauschen, damit der Handel zwischen uns nicht für die Umgehung von Regeln genutzt wird, die international gelten. Ein großer Katalysator unserer Beziehungen ist auch das große Interesse, dass es bei den Bürgerinnen und Bürgern Ihres Landes an Deutschland gibt. Viele lernen die deutsche Sprache, interessieren sich für die Kultur. Sie sind herzlich willkommen! Deshalb ist es auch gut, dass wir jetzt eine Migrationspartnerschaft vereinbart haben, die es ermöglicht, dass Fachkräfte aus Usbekistan leichter nach Deutschland kommen können, aber auch, dass damit verbunden viele zusätzliche Ausbildungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit der deutschen Wirtschaft stattfinden können. Das sind neue Möglichkeiten, die wir alle gemeinsam nutzen wollen. Wir haben gestern eine ganze Reihe von wirtschaftlichen Vereinbarungen unterzeichnet, und darüber hinaus hat es sehr konkrete Kontakte der mich begleitenden Unternehmen mit Ihren Behörden und Unternehmen gegeben, was ein großer Fortschritt ist. Sie haben das im Einzelnen sehr sorgfältig geschildert. Deshalb will ich das nicht wiederholen, aber ausdrücklich unterstreichen: Das ist eine gute Sache. Aus meiner Sicht gilt das auch für ganz konkrete Vorhaben, die durch die Besprechung vorangekommen sind, etwa die Aktivitäten des Unternehmens Aurubis. Wir wollen gemeinsam die Möglichkeiten der Rohstoffe, die hier sich befinden, nutzen und entwickeln, zum Wohl der Volkswirtschaften beider Länder. Wir wollen in vielen technologischen Bereichen zusammenarbeiten. Das ist von großer Bedeutung. Natürlich gilt für uns insgesamt, dass Ihr Land und die gesamte Wirtschaft Zentralasiens auch für die Zukunft wichtig sind. Deshalb freue ich mich, dass wir unseren Z5+1-Gipfel, den wir in Berlin hatten, jetzt im Rahmen dieser Besuchsreise fortsetzen können. Das ist ein guter Fortschritt und zeigt, wie sich die Beziehungen entwickeln. In einer Welt, die immer stärker vernetzt und gleichzeitig von Unsicherheiten geprägt ist, ist es schlicht vernünftig, gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Vernunft setzt sich am Ende durch! Das hat schon der in Afshana im heutigen Usbekistan geborene Universalgelehrte Ibn Sina, der in Europa und Deutschland als Avicenna bekannt ist, vor 1000 Jahren geschrieben und gelehrt, ein paar Jahrhunderte nach ihm Immanuel Kant in Deutschland. Es verbindet uns also sehr viel. Machen wir also mehr aus unseren Beziehungen. Schönen Dank an die usbekische und deutsche Wirtschaft für die Organisation dieses Round Table, und ich freue mich auf den Austausch miteinander.
Es sei beeindruckend, wie stark sich die Wirtschaft Usbekistans entwickle und „wie die Modernisierung vorankommt“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede beim deutsch-usbekischen Wirtschaftsroundtable am Montag.
„Chemieindustrie ist Basis unseres Erfolgs“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/verbandstagung-chemieindustrie-2308160
Thu, 12 Sep 2024 12:34:00 +0200
Rede des Kanzlers bei der Verbandstagung der chemischen Industrie
Wirtschaft und Klimaschutz,Bildung und Forschung,Aufgaben_des_Kanzlers
Statement-BK
Bundeskanzler Olaf Scholz hat in Berlin bei der Verbandstagung der chemischen Industrie teilgenommen. In seiner Rede sprach der Kanzler die Erfolgsbedingungen der Branche und die neue Chemie-Strategie der Bundesregierung an. Die Politik unterstützt die Branche mit Bürokratieabbau, einer ausgeweiteten Forschungszulage und leichterem Zugang zu Risikokapital. Als Teil ihrer Wachstumsinitiative will sie damit weitere private Investitionen anregen, gerade auch in Forschung und Entwicklung. Das Wichtigste in Kürze: Entwicklung ist wichtig für die Industrie: In Deutschland investieren Unternehmen und Staat mehr als 120 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung. Das ist prozentual mehr als in jeder anderen Volkswirtschaft Europas und Basis des Erfolgs. Die Bundesregierung hat die steuerliche Forschungszulage verbessert. Ab 2025 beträgt die maximale Zulage für kleinere und mittlere Unternehmen 4,2 Millionen Euro. EU-Umweltpolitik pragmatisch weiterentwickeln: Die PFAS–Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen- und REACH–Registration, Evaluation, Authorisation of CHemicals-Verordnungen sind EU-Vorschriften. PFAS–Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen – heißen Ewigkeitschemikalien, weil sie sich in der Umwelt nicht abbauen und teilweise giftig sind. Es gibt für viele von ihnen aber noch keinen Ersatz – das ist Aufgabe zukünftiger Forschung. Wo der Einsatz von PFAS–Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen schädlich ist und es Alternativen gibt, sollen sie verboten werden. Wo der Nutzen überwiegt und keine Alternativen existieren, muss der Einsatz mit Übergangsfristen und Ausnahmen möglich bleiben, zum Beispiel bei Medizinprodukten, Halbleitern oder Elektrolyseuren. Chemie-Strategie stärkt Standort Deutschland: Der Chemiegipfel im Kanzleramt vor einem Jahr hat fünf wichtige politische Ansätze ergeben. Die Bundesregierung lehnt ein Totalverbot ganzer chemischer Stoffgruppen ab. Sie verringert bürokratische Hürden und fördert Kreislaufwirtschaft und Forschung. Zudem stärkt sie die MINT-Bildung in der Schule. Die energieintensiven Industriezweige entlastet sie bei den Energiepreisen mit der Verlängerung der Strompreiskompensation bis 2030, der Senkung der Stromsteuer und setzt sich für weiterhin bezahlbare Netzentgelte ein. Pharma-Strategie wirkt: 2023 hat die Pharmaindustrie 95 Milliarden Euro erwirtschaftet und Milliarden in den Standort Deutschland investiert. Der Verband der Chemischen Industrie e. V. vertritt die Interessen von rund 2.300 Unternehmen aus der chemisch-pharmazeutischen Industrie. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrter Herr Steilemann, ich habe gehört, dass Sie heute Vormittag erneut zum Präsidenten des VCI–Verband der Chemischen Industrie gewählt wurden. Dazu kann man nur sagen: Herzlichen Glückwunsch! Sehr geehrter Herr Große Entrup, liebes VCI–Verband der Chemischen Industrie-Präsidium, liebe Birgit Biermann, liebe Katja Scharpwinkel, meine Damen und Herren, Chemie ist der Anfang von allem. Wenn man sich das einmal bewusst macht, dann wird sehr klar, warum wir heute hier sind. Ohne die Chemie gäbe es kein Leben. Ohne die Chemie gäbe es aber auch keine Industrie. Aus der Grundstoffindustrie entstehen alle Autos, die wir fahren, alle Maschinen, die wir exportieren, Mikrochips, Polymere und Arzneimittel. Deshalb ist die Chemieindustrie Basis unseres Erfolgs als Industrienation. Unsere Industrie ist erfolgreich, weil sie sich ständig weiterentwickelt. Vor drei Wochen war ich in Marl bei Evonik. Wir haben uns die Rheticus-Anlage gemeinsam angeschaut. Sie nutzt CO2–Kohlendioxid als Rohstoff für Spezialchemikalien. Das heißt, man braucht weniger fossile Rohstoffe, wenn man die Spezialchemikalien herstellt. Das zeigt zweierlei. Erstens: Chemie ist als klimafreundliche Produktion in unserem Land möglich, nicht nur bei uns, sondern auch auf der ganzen Welt. – Zweitens: Forschung wirkt. Das Rheticus-Projekt ist Teil der Kopernikus-Projekte, einer der großen Forschungsinitiativen für die Energiewende. Sie zeigt, dass sich gute Ideen aus der Forschung mit der Industrie zusammen schnell in konkrete Produkte umwandeln lassen. Auf dieses Tempo kommt es an. Unternehmen und Staat investieren in Deutschland mehr als 120 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung. Das ist auch prozentual so viel, wie es keine andere der großen Volkswirtschaften Europas tut. Das ist und bleibt die Basis unseres Erfolgs. Wenn manchmal gefragt wird, warum eigentlich Deutschland so große Exporterfolge hat, dann kann man viele Gründe nennen, aber der hohe Anteil an Forschung und Entwicklung ist die zentrale Grundlage dafür. Wenn man in anderen Nationen manchmal darüber diskutiert, woher diese Exporte kommen und ob wir irgendwas falsch machen, dann ist die Antwort: Das muss überall so sein. Vielleicht darf ich den Vergleich hier noch anführen, der mich immer umgetrieben hat: Wenn man sich die Rangfolge der Nationen in der Welt und ihrer Ausgaben für Forschung und Entwicklung anschaut, dann stellt man fest, dass die USA und China und dann immer Japan und Deutschland kommen. Würde aber überall in der Europäischen Union so viel von der Wirtschaftsleistung für Forschung und Entwicklung ausgegeben wie in Deutschland, wäre Europa vornan. Aber das ist nicht der Fall. Deshalb ist es schon etwas ganz Besonderes, dass das bei uns so ist, und deshalb ist es auch unsere zentrale Aufgabe, dass wir das für die Zukunft weiterhin möglich machen. Deshalb haben wir die steuerlichen Forschungszulagen verbessert und ausgeweitet. Gerade erst haben wir die maximale Zulage noch einmal erhöht, jedenfalls als Gesetzesantrag der Bundesregierung, auf 4,2 Millionen Euro pro Jahr für kleine und mittlere Unternehmen, die ja gerade die Chemiebranche in Deutschland so sehr prägen. Es ist wichtig, dass das bald in Kraft tritt. Aber ich kenne auch Ihre aktuelle Studie, die zeigt, dass deutsche Chemieunternehmen ihre Forschung verstärkt auch in anderen Ländern etablieren. Als Gründe geben sie niedrige Kosten, bessere Förderprogramme und weniger Bürokratie als in Deutschland an. Zum Bürokratieabbau hier in Deutschland, von dem seit vielen Jahrzehnten immer wieder gesprochen wird und über den Sie viele Politikerreden gehört haben, ohne dass sich für Sie das Gefühl einstellte, dass da was passiert ist, komme ich gleich noch. Da wir zum Glück einen großen Binnenmarkt haben, regeln wir vieles gemeinsam in Brüssel, zum Beispiel PFAS–Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen und die REACH–Registration, Evaluation, Authorisation of Chemicals-Verordnung. Darüber muss ich hier sprechen. PFAS–Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen sind als Ewigkeitschemikalien bekannt, weil sie sich in der Umwelt nicht abbauen, zum Teil giftig sind und damit ein Problem, was übrigens, denke ich, niemand infrage stellt. Für viele von ihnen gibt es aber noch keinen Ersatz. Deshalb ist Ihre Forschung an Innovationen und Alternativen für PFAS–Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen so wichtig, meine Damen und Herren. Ein undifferenziertes Totalverbot dieser ganzen chemischen Stoffgruppen lehnen wir aber ab. Dort, wo der Einsatz von PFAS–Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen schädlich ist und es bessere Alternativen gibt, sollten die Stoffe verboten werden. Dort, wo es noch keine Alternativen gibt und ihr Nutzen überwiegt, muss ihr Einsatz möglich bleiben, etwa bei Medizinprodukten, bei Halbleitern oder bei Elektrolyseuren. Bis es Alternativen gibt, brauchen wir deshalb Übergangsfristen und Ausnahmen. Auch wichtig ist uns – das ist Konsens in der Bundesregierung –, dass bei der Novelle der REACH–Registration, Evaluation, Authorisation of Chemicals-Verordnung der risikobasierte Ansatz beibehalten werden soll. Auch das ist eine Forderung von Ihnen, und wir bekennen uns sehr klar dazu. Sowohl bei REACH–Registration, Evaluation, Authorisation of Chemicals als auch bei PFAS–Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen setzen wir uns für eine praktikable und ausgewogene Regulierung für Sie ein. Darauf können Sie sich auch für die Zukunft verlassen. In den Brüsseler Dschungeln ist es ja wichtig, dass man einen klaren Kompass hat. Eines ist klar: Die Industrie braucht Planungssicherheit. – Die Bundesregierung wird deshalb mit Ihnen dazu auch seitens des Bundeskanzleramts im Gespräch bleiben, so wie wir es die ganze Zeit schon sind. Deutschland ist ein zentraler Standort für die Chemieindustrie in der Welt. Ich will, dass das so bleibt. Deshalb habe ich vor einem Jahr zum Chemiegipfel ins Kanzleramt eingeladen. Wir haben miteinander gesprochen, große Chemieunternehmen und KMU–kleine und mittlere Unternehmen, Verbände und Gewerkschaften, ausgewählte Bundesländer sowie die relevanten Ministerien der Bundesregierung. Das Treffen war der Auftakt für ein Jahr inhaltlicher Arbeit. Das ist getan. Deswegen freue ich mich, dass hier heute ein paar Worte zur Chemiestrategie gesagt werden können, mit der wir den Chemiestandort stärken wollen. Allen, die daran mitgearbeitet haben, sage ich an dieser Stelle aber erst einmal für ihre fachliche Expertise, für ihren Input und für all das Engagement vielen Dank. Ohne das wäre es nicht gegangen. Danke für die Arbeit! Aus meiner Sicht gibt es fünf wichtige Ergebnisse. Wir lehnen ein undifferenziertes Totalverbot chemischer Stoffgruppen ab. Zu PFAS–Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen habe ich gerade erklärt, warum wir das richtig finden. Wir bauen bürokratische Hürden ab. Wir fördern die Kreislaufwirtschaft und die Forschung an Innovationen. Wir stärken ‑ auch das ist ein Thema, über das wir viel gesprochen haben – die MINT–Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik-Bildung in der Schullaufbahn für die Fachkräfte, die wir in der Zukunft brauchen. Denn es ist zentral, dass wir immer genügend Frauen und Männer haben, die sich in diesen Bereichen betätigen wollen. Fünftens haben wir die Strompreiskompensation bis 2030 verlängert, was wichtig war, abgesichert ist und für Planungssicherheit zentral ist, und werden uns gegenüber der Europäischen Kommission dafür einsetzen, dass noch weitere Bereiche der Wirtschaft entlastet werden können. Denn wir müssen uns das für eine solche Ausnahme jeweils gewissermaßen genehmigen lassen. Wir haben ganz genau geschaut, in welchem Bereich es Unternehmen gibt, bei denen man nicht so richtig weiß, warum sie nicht auch selbst davon profitieren dürfen. Das alles nützt einem energieintensiven Industriezweig wie der Chemie ganz besonders. Denn auch wenn Studien dazu unterschiedliche Ergebnisse liefern, liegt es auf der Hand, dass Ihr Strombedarf steigen wird. Zudem werden wir uns dafür einsetzen, dass Unternehmen, die ihren Stromverbrauch nicht flexibilisieren können, auch weiterhin bezahlbare Netzentgelte haben. Das ist ein zentrales Thema, dessen Dringlichkeit wir sehr gut verstanden haben und worüber wir viel diskutieren. Wir wollen unseren Beitrag leisten, dass das möglich ist. Deshalb streben wir auch eine beihilfekonforme Verlängerung der Regelung – jetzt wird es ganz technisch – des Paragraf 19 Absatz 2 der Stromnetzentgeltverordnung an. Ich bin so präzise, weil hier viele Fachleute sitzen, die genau wissen, worum es geht. Die Öffentlichkeit muss es dann akzeptieren, dass über so ein Detail geredet wird. Es ist wichtig. Wir wollen die Entlastungswirkung möglichst verlängern. Es ist notwendig. Wir haben diese Industrie, und wir wollen sie, und deshalb müssen die Bedingungen dafür auch stimmen. Mit der Strompreiskompensation und der Senkung der Stromsteuer auf das europäische Minimum können Ihre Unternehmen nun langfristig planen. Zur langfristig sicheren, bezahlbaren und nachhaltigen Energieversorgung gehören auch die erneuerbaren Energien. Wir sehen Zuwachsraten, die vor zwei Jahren kaum jemand für möglich gehalten hätte. Im ersten Halbjahr dieses Jahres lag der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung schon bei über 60 Prozent. 80 Prozent sollen es 2030 sein. Es ist also gar kein Wunschdenken, dass wir tatsächlich dahin kommen, und zwar – das muss immer dazugesagt werden – bei steigender Stromproduktion. Richtig Tempo ist auch in den Netzausbau gekommen. Von den 14.000 Kilometern an neuen Stromleitungen, die bisher gesetzlich vorgeschrieben sind, ist inzwischen über ein Drittel im Bau oder genehmigt. Verglichen mit Ende 2019 haben wir die Ausbauzahlen verdoppelt. Das ist erst der Anfang. Denn wir lassen uns von dem Ergebnis gesetzgeberischer Entbürokratisierungskonsequenzen ermutigen, weiterzumachen, um zu versuchen, dass Dinge schnell genehmigt werden können und wir das Tempo erreichen, das wir brauchen. Tempo ist überhaupt entscheidend, und mehr Tempo brauchen wir eben auch bei der Modernisierung unserer Industrie. Der Umbau hin zu einer klimafreundlichen Produktion ist ganz bestimmt die größte Veränderung unserer Wirtschaft seit Beginn der Industrialisierung ‑ kleiner kann man das, glaube ich, nicht formulieren, und deshalb muss es auch so gesagt werden. Deshalb werden wir unseren Unternehmen in diesem Aufbruch beiseitestehen und es so leicht wie möglich machen. Dafür bauen wir, wie schon gesagt, bürokratische Hürden ab. Wer schon einmal mit dem Bundes-Immissionsschutzgesetz zu tun hatte, der weiß: Es hält, was sein komplexer Name verspricht. Dabei geht es um etwas ganz Zentrales, nämlich um die Modernisierung von Industrieanlagen, um Energieversorgung, um die Genehmigung klimafreundlicher Anlagen und Maschinen oder um Elektrolyseure, die wir zur Wasserstoffproduktion brauchen – und viele, viele andere Produktionstätigkeiten ohnehin. Für all das braucht man imissionsschutzrechtliche Genehmigungen. Mit dem bisherigen Tempo und Prüfaufwand bekommen wir und unsere Ämter das beim besten Willen nicht hin. Ich habe mir die Sachen einmal angeguckt: Wenn man das hochrechnet, würden wir keine der Ziele, die wir haben, tatsächlich erreichen, und die Verwaltungen, die sich damit beschäftigen, sind schon jetzt am Limit. Deshalb haben wir gerade die größte Reform des Bundes-Immissionsschutzgesetzes seit 30 Jahren beschlossen ‑ ganz bewusst mit diesem Ziel der Beschleunigung und der Vereinfachung. Vor allem ist das die erste Reform, die nicht noch irgendwelche Regelungen draufpackt – ich glaube, das ist eine alte Forderung von Ihnen –, sondern die Dinge einfacher macht. Mit den Ländern haben wir einen Pakt für Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung beschlossen, dessen Umsetzung läuft. Wir haben uns auch verpflichtet, bei EU-Regeln nicht immer nur noch draufzusatteln, sondern sie eins zu eins umzusetzen. Das gilt übrigens auch für die europäische Lieferkettenrichtlinie, die wir jetzt so umsetzen, wie wir sie haben, und wo wir die Entlastungswirkung, die das bei der Angleichung des europäischen „level playing field“ jetzt mit sich bringen kann, auch tatsächlich schnell nutzbar machen wollen. Mit Ihnen, den Unternehmerinnen und Unternehmern, arbeiten wir eng zusammen, damit wir weiterhin qualifizierte Fachkräfte aus aller Welt zu uns holen können. All das sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass Deutschland ein starker Chemiestandort bleibt. Ich bin zuversichtlich, dass von unserer neuen Chemiestrategie ähnliche Impulse ausgehen werden wie von der Pharmastrategie, die einige wegen der Nähe der Unternehmen ja auch ganz gut kennen. Die wirkt nämlich; denn die Unternehmen finden die Pharmastrategie nicht nur gut und das Bekenntnis zum Pharmastandort wichtig, sondern sie sind froh über weniger Bürokratie und schnellere Genehmigungen. Hierbei hat sich auch ein großes Umfeld geboten hat, um neue Möglichkeiten zu nutzen – etwa die Nutzbarmachung von digitalen Daten, die wir in unserem Gesundheitswesen haben, für die Forschung. Wir haben den größten Datenschatz der Welt für die Forschung von Pharmaunternehmen geöffnet. Das ist etwas, was alle anderen Länder jetzt neidisch betrachten und was für die Dinge eine große Hilfe ist. Wir haben außerdem eine Pharmastrategie, eine Medizinforschungsstrategie auf den Weg gebracht, die es jetzt möglich macht, dass viele, viele Genehmigungsprozesse viel leichter sind. Ich bin irritiert gewesen, als ich gehört habe, dass manche 50 Ethikkommissionen bemühen müssen, um ihre jeweiligen Forschungen durchzubringen und dass alles so lange dauert. Ich habe das mit anderen Ländern verglichen und habe mir von vielen von ihnen Briefe schreiben lassen mit ganz konkreten Forderungen, wie man das ändern kann, und was man im Einzelnen machen muss, um Tempo hinzubekommen und die Rahmenbedingungen zu verbessern. Für mich ist das dann auch eine große Ermutigung; denn wir sehen, dass diese beiden Dinge – zum einen die Öffnung des Datenschatzes für die Forschung und zum anderen die Medizinforschungsstrategie, die Pharmastrategie ‑ mit der Erleichterung von Rahmen- und Genehmigungsbedingungen dazu geführt haben, dass jetzt fast ohne Subventionen – ich hätte sogar hundert Prozent sagen können, es sind aber nur 98 Prozent, glaube ich – milliardenschwere Investitionen in den Pharmastandort Deutschland stattfinden. Das ist ein großer Fortschritt, für den wir lange gearbeitet haben. Und ich freue mich deshalb immer über die vielen Einladungen zu den Spatenstichen für neue Fabriken in Deutschland; denn die Greenfield-Investitionen in diesem Bereich sind schon sehr beeindruckend, und davon wünsche ich mir mehr – auch für die gesamte Chemiebranche. Um das noch einmal bei der Pharmaindustrie zu sagen: Das Vertrauen hat dazu geführt, dass die Pharmabranche in den vergangenen Jahren 95 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung erwirtschaftet hat, und die Unternehmen beschäftigen mehr als eine Million Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. Das ist wichtig. Es wird investiert in neue Hightech-Standorte, und dort entstehen viele neue zusätzliche Arbeitsplätze. Mit unserer Wachstumsinitiative, die die Bundesregierung jetzt auf den Weg gebracht hat, setzen wir Anreize für private Investitionen und einen leichteren Zugang zu Risikokapital – damit nicht nur die guten Ideen aus Deutschland kommen, sondern es auch gelingt, dass wir hier wachsen und hier Geld verdient wird. Das ist übrigens ein Thema, das mich umtreibt; denn ich habe mir einmal Zahlen für ganz Europa angeschaut und festgestellt, dass das kein deutsches Problem ist, sondern dass das ein europäisches Thema ist: Was wird eigentlich aus den Unternehmen, die aus kleinen Größenordnungen wachsen, den „unicorns“, wie das so gesagt wird? Eine Statistik hat uns gesagt: Von 120 europäischen „unicorns“ sind wegen der besseren Finanzierungsbedingungen 40 in die USA gegangen. Das hat nicht mit staatlicher Tätigkeit zu tun, aber das hat mit der Frage zu tun: Wie bekommen wir eigentlich das viele Geld, das in Europa vorhanden ist, in unternehmerische Investitionen übertragen, damit in die Unternehmen hereingegangen wird und sie wachsen? Wir haben uns fest vorgenommen, dass wir die Rahmenbedingungen so setzen, dass das gesetzgeberisch möglichst alles funktioniert, und dass wir alles dafür tun, damit das, was für Europa und damit auch für uns in Deutschland zentral ist, wirklich gelingt, nämlich dass nicht nur weiter viele Reden zum Bürokratieabbau gehalten werden, sondern dass das jetzt tatsächlich mit Tempo und Planungsbeschleunigung vor sich geht und wir das auch hinbekommen – man sieht die Erfolge, und wir machen weiter. Das gilt aber auch mit Blick auf die lange Rede über Banken und Kapitalmarktunion: Wir brauchen einen Unterschied zu dem, was wir heute in Europa vorfinden und was das eine Kernelement der Wachstumsschwäche Europas zum Beispiel im Vergleich zu den USA ist, nämlich dass wir einen mit weniger Eigenkapital ausgestatteten Kapitalmarkt haben, wo weniger durch Eigenkapital und durch Aufstockung der Beteiligung an Unternehmen investiert wird und wo weniger über Eigenkapitalwachstum finanziert wird. Wir sind vielmehr sehr auf die Kreditfinanzierung durch Banken ausgerichtet. Das ist etwas, was wir ändern müssen. Das können wir nicht alleine ändern, aber das hat jetzt die höchste Priorität, damit wir hier in Europa und gerade auch in Deutschland alle Wachstumschancen ausnutzen können. Das ist ein gemeinsames Vorhaben mit dem französischen Präsidenten, und auch die Kommissionspräsidentin hat es sich auf die Agenda gesetzt. Jetzt muss aus den vielen, vielen Reden, die dazu gehalten werden sind, endlich einmal etwas folgen, das man als Tat übersetzen kann. Meine Damen und Herren, wer etwas voranbringen will, der muss das hier in Deutschland tun wollen. Das muss unser gemeinsames Ziel sein, und dafür stellen wir politisch die Weichen. Dazu gehören die Chemie- und Pharmastrategie, die Wachstumsinitiative und auch die Strompreiskompensation – ich habe das alles gerade erwähnt. Wir brauchen aber natürlich auch Mut, Unternehmensgeist und Zuversicht. Und noch etwas müssen wir unbedingt verteidigen: unsere Weltoffenheit, die Populisten ganz rechts und ganz links außen immer deutlicher infrage stellen. Sie haben dazu Ende des letzten Jahres in einem Gastbeitrag in der „WELT“ klare Worte gefunden, Herr Große Entrup. Das ist wichtig, denn wir sind ein Exportland, das von einer vernetzten Weltwirtschaft profitiert. Allein der europäische Binnenmarkt beschert uns in Deutschland jedes Jahr einen Wohlstandsgewinn von 1.000 Euro pro Kopf. Ich setze mich dafür ein, dass wir aktiv für neue Freihandelsabkommen international werben und dass der Stillstand, der in den letzten Jahrzehnten in Europa stattgefunden hat, ein Ende findet. Ich habe das bei einer Veranstaltung einmal so gesagt – und wiederhole das hier gerne –: Wir haben die Kompetenz zum Abschluss von Handelsverträgen nicht an die Europäische Union abgegeben, damit keine mehr abgeschlossen werden, sondern weil wir uns davon das Gegenteil erwartet haben. Das muss jetzt auch endlich so werden. Ich habe jetzt mit einigen europäischen Staatschefs einen Brief an die neue alte Kommissionspräsidentin geschrieben und sie gebeten, das voranzutreiben. Wir haben uns auch eine Strategie überlegt, an der wir hier in Deutschland auch intensiv arbeiten, wie wir es eigentlich hinbekommen, dass nicht immer einzelne Länder diese Abkommen aufhalten können und die Ratifizierung so lange dauert. Da gibt es Wege, und wir müssen uns einfach trauen, hier neue Wege zu beschreiten, damit das passiert. Die Bedeutung Europas kann nur dadurch gewahrt bleiben, dass es mit aller Welt Handel treibt und dass es die Möglichkeiten nutzt, die es mit seiner eigenen Stärke hat. Das soll dann auch durch solche Verträge unterstrichen werden. Meine Damen und Herren, wir sind eine Wirtschaft, die von Investitionen aus dem Ausland profitiert, und eben auch von Frauen und Männern hier bei uns in Deutschland – auch das gehört zur Weltoffenheit dazu. Wer etwas anderes behauptet, wer Unternehmen wünscht, dass sie scheitern, weil sie sich für Offenheit und Toleranz einsetzen, wer Deutschland aus politischem Kalkül schlechtredet, der hat mich als seinen härtesten Gegner – und ich weiß mich da mit dem VCI–Verband der Chemischen Industrie in guter Gesellschaft. Viel Erfolg für den Chemie & Pharma Summit und gute Gespräche! Alles Gute!
Bundeskanzler Scholz hat beim Chemie & Pharma Summit 2024 die Bedeutung der Forschung für die Weiterentwicklung der Industrie betont. Lesen Sie hier, welche Rolle die chemische Industrie für Deutschlands Erfolg spielt.
„Nie waren freie Medien und guter Journalismus so wichtig“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-bk-70-jahre-bdzv-2307876
Thu, 12 Sep 2024 00:00:00 +0200
Jahreskongress des Bundesverbandes Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV)
Berlin
Inneres und für Heimat,Aufgaben_des_Kanzlers
Unter dem Motto „Freie Presse, starke Demokratie – in guter Verfassung?“ trafen sich in Berlin die Digitalpublisher sowie Zeitungsverlegerinnen und -verleger, anlässlich des 70. Gründungsjubiläums des Bundesverbands BDZV–Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger. Der Kongress stellt die Wahrung der Meinungsfreiheit für die Demokratie in Zeiten von Künstlicher Intelligenz und Desinformation in den Mittelpunkt. In seinem Impulsvortrag bekannte sich der Bundeskanzler als „passionierter Zeitungsleser“. Er betonte außerdem die Chancen und Risiken Künstlicher Intelligenz, die auch dazu führe, dass die Bedeutung von Glaubwürdigkeit und Qualitätsjournalismus weiter zunehme. In Zeiten der „grenzenlosen Informationsflut im Internet und den sozialen Medien“ sei die journalistische Einordnung besonders notwendig. Zudem sprach Kanzler Scholz sich auch für die Relevanz von Lokalberichterstattung aus. Es sei wichtig, Wege zu finden, „mit gutem Journalismus Geld zu verdienen – um die tiefgehenden Recherchen genauso wie die Berichterstattung über den lokalen Handball-Verein zu finanzieren“, so Scholz. Der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger e. V.–eingetragener Verein kurz: BDZV–Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger ist ein Interessenverband der deutschen Tages-, Sonntags- und politischen Wochenpresse. Er vertritt die Interessen der digitalen Verlage und Zeitungsverlage in Deutschland und der Europäischen Union. 318 Medienmarken sind mit rund 2800 digitalen journalistischen Angeboten im BDZV–Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger, also organisiert. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Meine sehr geehrten Damen und Herren, Herzliche Glückwünsche zu 70 Jahren BDZV–Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger! Einen „Impuls zu freier Presse und Demokratie“ haben Sie sich von mir gewünscht. Dass ich diesem Wunsch als passionierter Zeitungsleser – und zwar von Politik über Lokales bis Feuilleton – gern nachkomme, versteht sich von selbst. Salbungsvolle Worte über das hohe Gut, das die Pressefreiheit zweifellos ist, möchte ich Ihnen trotzdem ersparen und mich dem Thema lieber über drei kleine Begebenheiten nähern, die sich in den vergangenen Wochen zugetragen haben. Die erste davon spielt in Thüringen. Eine journalistische Kollegin von Ihnen, Eva Schulz, hat dort mit ihrem Kamerateam über den Landtagswahlkampf berichtet. Am Rande einer AfD-Wahlkampfveranstaltung wollte zunächst überhaupt niemand mit einer Vertreterin des ZDF sprechen. Als Eva Schulz dann später doch einen Interviewpartner fand, sagte der ihr sinngemäß, die deutschen Medien würden von der Politik doch sowieso gezwungen, so zu berichten, wie die Politik es ihnen vorgibt. Etwas flapsig könnte ich dazu jetzt sagen: Der tägliche Blick in die Zeitungen beweist mir irgendwie das glatte Gegenteil. Aber im Ernst: Die Wahrnehmung, Politik und Medien seien ein und dieselbe Sauce – so fernliegend Ihnen und mir das auch erscheinen mag –, die muss uns schon zu denken geben. Denn für die Glaubwürdigkeit von Medien ist kritische Distanz entscheidend. Vor dieser kritischen Distanz habe ich daher großen Respekt, mehr noch: Was ich bei meiner täglichen Zeitungslektüre besonders genieße, sind gerade die Sichtweisen, die ich noch nicht auf dem Schirm hatte, die Argumente, die meinen widersprechen – soll ja vorkommen. Das führt dann nicht zum sofortigen Umdenken, aber es regt natürlich das Nachdenken an. Meine Damen und Herren, dass Politik und Medien in Teilen der Bevölkerung so wahrgenommen werden, wie ich das gerade aus Thüringen geschildert habe, hat natürlich Ursachen. Eine fällt mir immer wieder auf, wenn ich im Land unterwegs bin. Die Fragen, die mir Ihre Kolleginnen und Kollegen in Berlin stellen, sind oft ganz andere als die, die mir im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern begegnen. Beispiel Ukraine: In Berlin bin ich über Monate und Jahre hinweg eigentlich immer nur gefragt worden, warum wir als zweitgrößter Unterstützer der Ukraine nicht noch viel mehr zahlen oder liefern – Waffensystem X oder Marschflugkörper Y. Wohlgemerkt: Diese Fragen sind völlig legitim, es gibt sie auch in der Bevölkerung. Aber mindestens genauso so oft bin ich auf Marktplätzen, bei Bürgerdialogen oder Wahlkampfkundgebungen gefragt worden, warum wir überhaupt die Ukraine unterstützen, ob es nicht sicherer und besser für Deutschland wäre, gar keine Waffen mehr zu liefern, und ob die Milliarden, die wir in die Unterstützung der Ukraine investieren – zu Recht, das steht für mich außer Frage, damit das hier klar ist –, nicht in deutschen Schulen oder für Bahnschienen viel besser angelegt wären. Wenn solche Fragen in der deutschen Medienlandschaft jedoch allenfalls am Rande vorkommen – und dort nur von Figuren am extremen Rand des politischen Spektrums laut gestellt werden, nicht aber von den Medien selbst –, dann ist das ein Problem, weil diejenigen im Land, die sich genau diese Fragen stellen, sich dann nicht wiederfinden. Auch die Politik trägt natürlich Verantwortung, und das soll hier auch nicht ausgeblendet werden. Deshalb habe ich in den zurückliegenden Wochen und Monaten immer wieder klar für meinen Kurs der Unterstützung der Ukraine geworben – der verlässlich ist, entschlossen und besonnen zugleich. Dieser Kurs ist nicht nur richtig. Er lässt sich auch durchhalten – solange wie nötig. Andere hingegen, die hier in Berlin noch vor einigen Monaten mit neuen Forderungen punkten wollten, haben sich still und leise in die Büsche geschlagen. Die waren plötzlich gar nicht mehr zu hören in Sachsen und Thüringen beim Thema Ukraine-Unterstützung. Und ihre Kandidaten hatten scheinbar freien Lauf, den Sound der populistischen Konkurrenz von ganz rechts oder ganz links außen nachzuahmen. Auch solch ein Zickzackkurs aber sorgt draußen im Land für Verunsicherung. Was ist also zu tun – für Medien und Politik gleichermaßen? Ich würde sagen: Hinhören und alle Fragen thematisieren, die die Leute im Land bewegen. Der Politik, auch der Regierungspolitik, würde dabei helfen: Weniger Profilierung in eigener Sache, dafür volle Konzentration auf die Sache. Und den Medien täte gut: Weniger den Scheinwerfer auf die Egos der Handelnden zu richten und dafür mehr auf das Handeln selbst. Mehr Fakten statt Nudging. Mehr Meinungsvielfalt statt Berliner Blase. Mehr Information, weniger Kampagnen. Vielleicht einfach: Berichterstattung. Das wäre ein Gewinn – für das Vertrauen in die Medien und die Politik – und damit zugleich auch für unsere Demokratie, für unser Land. Noch etwas muss natürlich hinzukommen: Man muss die Leute auch ganz praktisch erreichen. Hier sind Sie, die Verlegerinnen und Verleger, besonders gefordert. Sie müssen Wege finden, mit gutem Journalismus Geld zu verdienen – um die tiefgehenden Recherchen genauso wie die Berichterstattung über den lokalen Handball-Verein zu finanzieren. Und gleichzeitig müssen Sie innovative digitale Angebote und neue Finanzierungsmodelle entwickeln und stehen dabei in Konkurrenz zur grenzenlosen Informationsflut im Internet und den sozialen Medien. Vielleicht liegt aber genau dort auch ein Geschäftsmodell für den Journalismus von morgen? Das habe ich zumindest den Studierenden und Absolventinnen und Absolventen der Deutschen Journalisten Schule in München gesagt, als ich dort im Frühsommer zu Gast war. Einen Podcast aufnehmen, das kann im Prinzip jeder, der ein Smartphone hat. Aber mit einem Interview-Partner eine echte Unterhaltung führen, die mehr ist als Profilierung oder Geschwätz – das ist eine hohe Kunst. Das ist die Kunst des guten Journalismus. Die zweite Begebenheit, von der ich kurz berichten möchte, hat sich vor einigen Wochen in Papenburg im Emsland zugetragen. Es ging um ein Hilfspaket für die angeschlagene Meyer-Werft – Sie alle haben das mitverfolgt, und wir haben gerade im Bundestag das Go bekommen für unsere Unterstützung. Vor allem aber ging es um Tausende Arbeitsplätze auf der Werft und viele weitere tausend in einer Region, die wie keine zweite in Deutschland am Schiffbau hängt und davon lebt. Natürlich wird eine Betriebsversammlung dort nicht im nationalen Fernsehen übertragen oder von den großen Medienhäusern live gestreamt. Dazu betrifft sie den Busfahrer in Landshut oder die Einzelhandelskauffrau in Chemnitz zu wenig. Für die Familienangehörigen der Werft-Arbeiter aber, für die Leute in Dutzenden Zuliefererbetrieben ging es an dem Morgen um Alles oder Nichts. Und die NOZ–Neue Osnabrücker Zeitung, die dort vor Ort als Ems-Zeitung erscheint, war da für ihre Abonnenten – per Live-Stream und mit einem minutenaktuellen Live-Ticker aus der Veranstaltung. Mir hat das wieder einmal gezeigt: Lokale Medien sind das Rückgrat unserer Medienlandschaft. In vielen Regionen sind sie sogar die einzige unabhängige Quelle für lokale Nachrichten. Und diese lokalen Nachrichten bewegen die Bürgerinnen und Bürger oft mindestens genauso stark wie die große Politik. Deshalb bin ich auch fest überzeugt: Lokale News bleiben ein Geschäftsmodell. Lokale Medien haben eine Zukunft. Die dritte Begebenheit, von der ich erzählen möchte, handelt von einem Buch, das ich kürzlich gelesen habe und das mich nachdenklich gemacht hat. Einige von Ihnen werden es kennen – es heißt „The Coming Wave“ und stammt vom Mitgründer von DeepMind, Mustafa Süleyman. Er setzt sich darin intensiv mit den Chancen, aber eben auch mit den Risiken und Gefahren von Künstlicher Intelligenz auseinander – gerade auch mit Blick auf die Medien. Mustafa Süleyman schreibt: AI has the potential to revolutionize many aspects of our lives, including the media, by enhancing creativity, improving personalization, and uncovering new insights. But with this power comes the risk of deepening misinformation, eroding trust, and manipulating public opinion. It’s a double-edged sword (…). Ich finde es gut, dass Sie über dieses zweischneidige Schwert Künstliche Intelligenz hier bei Ihrem Kongress genau so diskutieren – als Risiko und als Chance. Im besten Fall kann KI die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten ergänzen und vieles erleichtern. Weniger Zeitaufwand für simple Informationssammlung, dafür mehr Zeit für persönliche Recherche – das wäre Ihnen zu wünschen. Und zugleich macht KI–künstliche Intelligenz journalistische Einordnung notwendiger denn je. Ich würde sogar sagen: Nie waren freie Medien und guter Journalismus so wichtig. Wir brauchen Sie, damit wir nicht versinken – in einem Meer aus Informationen und Desinformationen und in den Wellen der Tagesaktualität, des jüngsten Spins, der lautesten Zuspitzung. Damit KI tatsächlich dem Qualitätsjournalismus und der Pressefreiheit dient, muss außerdem klar sein, dass die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten weiter als solche geschützt und erkennbar bleibt. Qualitätsjournalismus gibt es nicht ohne bezahlte Journalisten, gibt es nicht ohne wirtschaftlich starke Verlage, gibt es nicht zum Nulltarif. Die unlängst verabschiedete europäische KI-Verordnung versucht den Spagat zwischen KI–künstliche Intelligenz-Offenheit und dem Schutz kreativen, menschlichen Schaffens. Das ist ein wichtiger erster Schritt. In Brüssel setzen wir uns auch für die Bekämpfung von Desinformation ein und haben erfolgreich darauf hingewirkt, dass Journalistinnen und Journalisten besser vor Einschüchterungen durch missbräuchliche Klagen geschützt werden. In Deutschland fördern wir dazu den Aufbau einer Beratungsstelle speziell für Medienschaffende. Und noch etwas habe ich erst kürzlich mit Ursula von der Leyen aufgenommen. Das hat zwar nichts mit KI zu tun, aber ich will es hier trotzdem erwähnen, weil der BDZV–Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger und andere Medienverbände mir dazu im August einen Brief geschrieben hatten. Es geht um die EU-Entwaldungsverordnung und ihre Auswirkungen auf Printprodukte. Um es klar zu sagen: Die Verordnung muss praxistauglich sein. Und deshalb habe ich mich bei Ursula von der Leyen dafür eingesetzt, dass die Verordnung ausgesetzt wird, solange die auch vom BDZV–Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger aufgeworfenen offenen Fragen nicht geklärt sind. Meine Damen und Herren, von Thüringer Marktplätzen über Werften im Emsland bis zur EU-Entwaldungsverordnung – das sind vielleicht nicht die Themen und Schauplätze, die man auf dem Zettel haben musste für eine Rede zum 75. Jubiläum des BDZV–Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger. Aber was ist schon erwartbar in diesen Tagen in Ihrem und in meinem Metier? Mich freut es, wenn ich Sie ein wenig unterhalten und mitnehmen konnte in meine Gedanken. Nehmen Sie es als Zeichen der Wertschätzung eines – zumindest meist – sehr glücklichen Zeitungslesers gegenüber Ihrer Zunft. Schönen Dank!
Anlässlich des 70. Jubiläums des Bundesverbandes Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) betonte Bundeskanzler Scholz die Bedeutung der Pressefreiheit und die Notwendigkeit guter Lokalberichterstattung.
„Inklusion ist eine Daueraufgabe“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-bk-jahresempfang-behindertenbeauftragter-2307642
Tue, 10 Sep 2024 17:00:00 +0200
Rede des Kanzlers beim Jahresempfang des Behindertenbeauftragten
Aufgaben_des_Kanzlers,Arbeit und Soziales
Statement-BK
Bundeskanzler Scholz hat auf dem Jahresempfang des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange für Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, an ein wichtiges Jubiläum erinnert: Seit 30 Jahren heiße es in Artikel 3 des Grundgesetzes: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Besonders in Zeiten, in denen die freiheitlich-demokratische Grundordnung dieses Landes herausgefordert werde, brauche es Menschen, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung einsetzen, sagte der Kanzler in seiner Rede. Und appellierte, dass es mehr Zusammenhalt und Inklusion brauche. Außerdem erläuterte er, welche inklusionspolitischen Vorhaben die Bundesregierung bislang umgesetzt hat, und was sie sich für die weitere Legislaturperiode noch vorgenommen hat. Das Wichtigste in Kürze: Die Bundesregierung setzt sich laut Scholz dafür ein, eine Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes auf den Weg zu bringen. Damit würden auch private Anbieter von Produkten und Dienstleistungen künftig dazu verpflichtet werden, Barrieren abzubauen. Bereits im nächsten Jahr soll das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz in Kraft treten. Neue Computer und Handys müssten dann zum Beispiel barrierefrei bedienbar sein. Zu Beginn dieser Legislatur hat die Bundesregierung außerdem bereits das „Gesetz zur Förderung des inklusiven Arbeitsmarktes“ verabschiedet. Dadurch können Arbeitgeber, wenn sie einen Menschen mit Behinderung beschäftigen, höhere Lohnkostenzuschüsse erhalten. Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sollen so ausgerichtet werden, dass die Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt besser gelingt. Dazu wird die Bundesregierung laut Scholz demnächst einen Gesetzentwurf vorlegen. Im Jahr 1994 beschloss der Bundestag die Aufnahme des Satzes „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ in Artikel 3 des Grundgesetzes. In seiner ursprünglichen Fassung hatte das Grundgesetz diese Benachteiligung nicht ausdrücklich verboten. Die Behindertenrechtsbewegung ab Anfang der 1970er und das UN-Jahr der Behinderten 1981 rückten das Thema in den Fokus. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Lieber Herr Dusel, liebe Frau Bentele, sehr geehrte Gäste, in diesem Jahr feiern wir 75 Jahre Grundgesetz, 75 Jahre Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Man könnte meinen, damit sei eigentlich alles gesagt. Denn Artikel 1 schützt den Wert- und Achtungsanspruch eines jeden Menschen, und zwar unabhängig von seinen speziellen Eigenschaften, unabhängig vom sozialen Status und unabhängig von körperlichen und geistigen Fähigkeiten, ganz einfach Kraft seines Menschseins. Man könnte meinen, mit Inkrafttreten des Grundgesetzes seien die Belange von Menschen mit Behinderungen konsequent beachtet worden. Doch wir wissen, dass es leider nicht so war. Unser Grundgesetz formuliert richtige und notwendige Ansprüche. Durchsetzen aber müssen wir sie. Das bleibt auch 75 Jahre später noch genauso wichtig wie am Tag, als das Grundgesetz in Kraft trat. Das Grundgesetz feiern können wir dennoch, dank Frauen und Männern, die seinen Prinzipien zur Durchsetzung verhelfen, gegen Anfeindungen und gegen Widerstände, gegen gesellschaftliche Vorbehalte und auch immer gegen Gleichgültigkeit, gegen den schulterzuckenden Verweis auf Schwierigkeiten in der Umsetzung. Damit sind wir bei einem weiteren ganz zentralen Jubiläum in diesem Jahr. „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Obwohl das so offensichtlich ist, hat es bis 1994 gedauert, bis dieser Grundsatz vor 30 Jahren endlich ausdrücklicher und einklagbarer Teil unserer Verfassung wurde. Formell eingebracht wurde der Antrag damals von der SPD-Bundestagsfraktion unter dem Vorsitz von Hans-Jochen Vogel. Vorausgegangen war ein jahrelanges Engagement von Interessenvertretungen und Verbänden behinderter Menschen. Dahinter standen damals wie heute Frauen und Männer, die sich mit ihrem Engagement für die Rechte von Menschen mit Behinderung um die Achtung der Menschenwürde in unserem Land insgesamt verdient machen – Frauen und Männer wie Sie. Ihnen allen möchte ich ganz herzlich für Ihren unermüdlichen Einsatz für unsere Demokratie danken. Bitte bleiben Sie dran! Bleiben Sie hartnäckig, und bleiben sie auch laut! Das gilt umso mehr in Zeiten, in denen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung herausgefordert wird, in denen Populisten mit Hass, Menschenfeindlichkeit und Ausgrenzung Stimmung machen, in denen Inklusion als Ideologieprojekt und Menschen mit Behinderungen als Belastungsfaktor verächtlich gemacht werden. Das ist unerträglich. Solche Menschenfeindlichkeit weise ich mit aller Schärfe zurück. Ich bin davon überzeugt, dass unsere Antwort mehr Zusammenhalt und mehr Inklusion sein muss. Dazu gehören gleiche Chancen für Menschen mit Behinderungen, dazu gehört das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, und dazu gehört natürlich auch Sichtbarkeit. So wie in den Tagen der gerade zu Ende gegangenen Paralympischen Spiele, bei denen unsere Athletinnen und Athleten uns alle mit sportlichen Höchstleistungen beeindruckt haben. Ich bin mir übrigens vollkommen sicher, dass es diese sportlichen Leistungen und die großartige Stimmung sein werden, die in Erinnerung bleiben, und nichts anderes. Sichtbarkeit muss aber natürlich auch außerhalb großer Sportereignisse das Ziel sein, an jedem ganz normalen Tag. Dabei ist eines klar: Inklusion ist eine Daueraufgabe. Es gilt, dranzubleiben, und zwar für Bund, Länder und Gemeinden, mit großen und manchmal auch mit vielen kleinen Schritten. Zu den größeren Schritten zählt sicherlich, dass im kommenden Jahr endlich das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz in Kraft tritt. Dann müssen zum Beispiel neue Computer und Handys barrierefrei bedienbar sein. Bereits zu Beginn der Legislaturperiode haben wir das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes verabschiedet. Arbeitgeber können jetzt höhere Lohnkostenzuschüsse bekommen, wenn sie einen Menschen mit Behinderung einstellen und beschäftigen. Und Arbeitgeber, die keinen einzigen Schwerbehinderten beschäftigen, müssen eine deutlich höhere Ausgleichsabgabe zahlen. Gut so! Mit dem Programm „Altersgerecht Umbauen“ unterstützen wir diejenigen, die ihre Wohnung barrierefrei gestalten müssen. Denn im eigenen Zuhause zu leben, das ist für viele nicht nur ein Herzenswunsch, sondern schafft Lebensqualität. Ich freue mich, dass wir die Mittel für dieses wichtige Programm in diesem Jahr auf 150 Millionen Euro verdoppeln konnten, und das trotz knapper Kassen. Mit dem Mobilitätsdatengesetz erreichen wir, dass Informationen zur Auslastung von Rollstuhlplätzen in Bussen und Bahnen nun verpflichtend bereitgestellt werden. Und wir sorgen beispielsweise mit einer neuen DIN–Deutsches Institut für Normung-Norm dafür, dass Ladestationen für E–Elektro-Autos auch barrierefrei gebaut werden können. Meine Damen und Herren, das alles sind Fortschritte. Aber wie der UN–Vereinte Nationen-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen letztes Jahr festgestellt hat, sind wir noch lange nicht fertig mit unseren Aufgaben. Es gibt noch viele Baustellen auf dem Weg in die inklusive Gesellschaft, und das gilt manchmal ganz wörtlich. Wir brauchen zum Beispiel noch viel mehr barrierefreie oder barrierearme Wohnungen. Damit wir schneller bauen können, erarbeiten wir gerade mit den Ländern einheitliche Standards. Wir stehen zu dem Ziel, die bestehenden gesetzlichen Ausnahmen bei der Barrierefreiheit im Nahverkehr abzuschaffen. Dazu sind wir mit den Ländern im Gespräch. Wir wollen das gemeinsam hinkriegen. Wir sind dabei, die Werkstätten für behinderte Menschen stärker auf die Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt auszurichten. Dazu werden wir demnächst einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Auch auf dem Weg zu einem inklusiven Bildungssystem unterstützt die Bundesregierung die Länder so gut es geht. Mit dem neuen Startchancen-Programm ist beispielsweise auch der Ausbau moderner und barrierefreier Schulen möglich. Und schließlich darüber freue ich mich besonders geht es endlich voran mit der Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes. Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, sollen künftig auch private Anbieter von Produkten und Dienstleistungen verpflichtet werden, Barrieren für Menschen mit Behinderungen abzubauen. Ich weiß, Sie warten auf diese Reform. Wir setzen uns dafür ein, dass sie jetzt schnellstmöglich auf den Weg gebracht wird. An die Adresse all derjenigen, die vor den Schwierigkeiten bei der Umsetzung warnen: Niemand erwartet Unmögliches. Es geht um angemessene Vorkehrungen, die den Unternehmen letztlich auch neue Kundinnen und Kunden bringen. Meine Damen und Herren, wenn wir über Gleichstellung reden, schauen wir natürlich auch über Deutschland hinaus. Sie wissen es: Menschen mit Behinderungen gehören weltweit zu den am stärksten benachteiligten Gruppen. Deshalb rücken wir die Inklusionspolitik auch international in den Fokus. Im Oktober gibt es erstmals überhaupt eine G7–Großen Sieben-Ministerkonferenz zum Thema Inklusion und Behinderung, und im kommenden April richten wir hier in Berlin gemeinsam mit Jordanien und der International Disability Alliance den dritten Global Disability Summit aus. Dort werden wir konkrete Maßnahmen und Verpflichtungen diskutieren, um die Situation von Menschen mit Behinderungen weltweit zu verbessern. „Demokratie braucht Inklusion“ Sie bringen es mit Ihrem Motto hervorragend auf den Punkt, lieber Herr Dusel. Und Sie leben es, mit Ihrem beherzten, leidenschaftlichen Einsatz für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Gleiches gilt für die Sozial- und Wohlfahrtsverbände, die Beschäftigten bei den Leistungserbringern, die vielen Ehrenamtlichen, Familien und Freunde. Ihnen allen sage ich heute vielen Dank für ihren Dienst für andere, vielen Dank für ihren Dienst an unserer Demokratie. Wenn ich heute einen Wunsch äußern darf, dann ist es dieser: Bleiben wir gemeinsam dran. Schönen Dank!
Auf dem Jahresempfang des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, hat Kanzler Scholz sich für mehr Inklusion und Zusammenhalt ausgesprochen.
„Deutschland bleibt ein wachsendes Land“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-jahresempfang-dilomatischer-corps-2307630
Tue, 10 Sep 2024 00:00:00 +0200
Rede des Kanzlers beim Jahresempfang für das Diplomatische Corps
Aufgaben_des_Kanzlers,Wirtschaft und Klimaschutz,Auswärtiges
Statement-BK
Deutschland als „Global Player“, mehr Freihandelsabkommen sowie die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten: In seiner Rede bei dem Jahresempfang für das Diplomatische Corps hat Bundeskanzler Scholz betont, dass das Land sich trotz der wirtschaftlichen Herausforderungen der vergangenen Jahre nicht in einer Rezession befinde, sondern vielmehr die Weichen gestellt habe, „dass Deutschland als Industrieland erfolgreich bleibt“. Vor den diplomatischen Vertreterinnen und Vertretern ihrer Länder warb der Bundeskanzler für Vertrauen in die Bundesrepublik: „Deutschland bleibt ein wachsendes Land. Deutschland bleibt „open for business“. „Deutschland bleibt ein Global Player, und zwar aus Überzeugung.“ Das Diplomatische Corps umfasst alle Botschafterinnen und Botschafter der in Deutschland akkreditierten Staaten sowie die Leiterinnen und Leiter einiger in der Bundesrepublik ansässiger internationaler Organisationen. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrter Herr Nuntius, Exzellenzen, meine Damen und Herren, herzlich Willkommen hier im Kanzleramt zu diesem wahrhaft weltumspannenden Austausch! Viele von Ihnen habe ich natürlich schon bei Veranstaltungen, Besuchen, Gesprächsrunden getroffen, manch einen auch im Fußballstadion. Aber es ist das erste Mal für mich als Bundeskanzler, dass wir in diesem Format zusammenkommen. Umso mehr freue ich mich, dass es heute klappt. Herzlich willkommen! Ich habe dabei Ihnen gegenüber einen Nachteil und einen Vorteil zugleich: Ich bin kein gelernter Diplomat. Das heißt zum einen, dass ich mit großem Respekt und viel Anerkennung auf das blicke, was Sie tagtäglich für die Zusammenarbeit und Freundschaft zwischen unseren Ländern leisten. Herzlichen Dank dafür! Zum anderen verschafft mir das Nichtdiplomatsein die Freiheit, heute sehr offen mit Ihnen zu sprechen – darüber, wie Deutschland auf die Welt blickt, aber auch darüber, wie Deutschland sich in dieser Welt verortet; denn ich weiß: Sie sind Expertinnen und Experten nicht nur für außenpolitische Fragen. Nicht wenige von Ihnen beschäftigen sich seit vielen Jahren intensiv mit Deutschland. Sie sind Expertinnen und Experten für unsere Besonderheiten und Merkwürdigkeiten. Sie sind in Ihren Ländern als Deutschlanderklärerinnen und -erklärer gefragt. Ich kann mir vorstellen, dass diese Aufgabe derzeit keine leichte ist. Wohin steuert Deutschland politisch? Was bedeutet das Erstarken extremer Kräfte, wie wir es gerade wieder bei zwei Landtagswahlen erlebt haben? Wie und wann findet die deutsche Wirtschaft zurück zu mehr Wachstum? Bekommen die Deutschen das hin mit der Energiewende und dem Hochlauf der Wasserstofftechnologien – als eines der wichtigsten Industrieländer der Welt? Wie geht es sicherheitspolitisch weiter in Europa, nachdem Russland den zentralen Grundsatz unserer Friedensordnung aufgekündigt hat, nämlich Grenzen nicht mit Gewalt zu verschieben? Und wo ist eigentlich Deutschlands Platz, Deutschlands und Europas Platz in einer Welt, in der sich die Gewichte verschieben, die multipolar ist? All diese Fragen sind berechtigt. Es sind Fragen, die nicht nur Sie sich stellen, sondern die auch wir selbst uns stellen. Ich würde sogar noch weiter gehen: In sehr vielen unserer Länder stellen sich Bürgerinnen und Bürger ganz ähnliche Fragen. Wir leben in Zeiten des Umbruchs, und das sorgt für Verunsicherung. Die Pandemie hat tiefe Spuren hinterlassen, tiefere, als man oberflächlich sieht. Der Klimawandel ist kein abstraktes Phänomen mehr, sondern wird für alle spürbar, besonders natürlich in den ärmsten Ländern. Unsere Antwort darauf – die Dekarbonisierung unserer Industrie und des Verkehrs, der Umbau unserer Energieversorgung – ist noch von niemandem erprobt, und dennoch ist diese Antwort richtig. In Deutschland und auch in vielen Ihrer Länder kommen die Folgen hinzu, die Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat: sicherheitspolitisch, ökonomisch, auch psychologisch. Krieg in Europa, das war für viele in Deutschland fast unvorstellbar geworden. Militärische Abschreckung und Landesverteidigung galten als Relikte aus dem Kalten Krieg. Mit all diesen großen Fragen gleichzeitig konfrontiert zu sein, das macht etwas mit den Leuten. Die zentrale Frage, die auch mir immer wieder gestellt wird, lautet: Kann das alles gut ausgehen für mich, für meine Familie, für meine Kinder und Enkelkinder? – Die Unsicherheit, die darin mitschwingt, nutzen Populisten und Extremismen gnadenlos aus. Lange Zeit haben wir Deutschen das vor allem in anderen Ländern beobachtet, aber das Phänomen macht auch keinen Bogen um Deutschland. Wie also können wir Klarheit und Orientierung geben in einer Zeit, in der keiner zu 100 Prozent sicher vorhersagen kann, wo genau wir in 10, 20, 30 Jahren stehen? Meine Haltung ist klar: Unseriöser politischer Wettbewerb entlastet uns nicht davon, seriös an Lösungen zu arbeiten und immer wieder Antworten in der Sache zu geben. Bei allem Lärm der deutschen Innenpolitik, der auch Ihnen sicherlich nicht verborgen bleibt, kann ich sagen: Genau das tun wir! Und im 300. Geburtsjahr von Immanuel Kant lasse ich mir die Zuversicht nicht nehmen, dass vernünftige Lösungen sich am Ende durchsetzen. Ich will zunächst den Scheinwerfer auf die deutsche Wirtschaft richten. Fragte man eine Volkswirtschaftsstudentin im Examen, welche Prognose sie für ein Land abgeben würde, dessen stark exportgetriebene Volkswirtschaft auf eine ungewöhnlich schwache internationale Nachfrage trifft, dem buchstäblich über Nacht 40 Prozent seiner Energieversorgung abgedreht wird, das nach einer historischen Nullzinsphase plötzlich mit stark steigenden Zinsen konfrontiert ist, die Antwort wäre: Das Land steckt in einer tiefen, tiefen Rezession. Deutschland hat all diese Dinge erlebt. Aber wir haben unsere Energieversorgung umgestellt. Wir haben keine tiefe Rezession erlebt, auch wenn ich mir mehr Wachstum wünschen würde. Vor allem aber haben wir in den vergangenen zwei Jahren die Weichen dafür gestellt, dass Deutschland als Industrieland erfolgreich bleibt – auch in 10, 20, 30 Jahren. Das zeigt sich übrigens schon an vielen Stellen, und das wird sich auch noch weiter herumsprechen. Der Hochlauf der erneuerbaren Energien boomt, weil wir Genehmigungen und Ausbau massiv beschleunigt haben. Heute kommen schon fast 60 Prozent unserer Energie aus erneuerbaren Quellen. Vor drei Jahren lag dieser Anteil noch bei rund 40 Prozent. 2030 sollen es 80 Prozent sein. Das kriegen wir hin. Die Energiepreise sind deutlich gesunken. Der Rahmen für den Ausbau unserer Wasserstoffinfrastruktur steht, übrigens weitgehend privat finanziert. Darauf können sich auch Ihre Regierungen verlassen, wenn es um Wasserstoffpartnerschaften und Investitionen in Ihren Ländern für Produktionen geht. Halbleiter sind für unser Land mit unserer Industriestruktur – Autos, Elektronik, Maschinenbau ‑ unerlässlich. Wir sind dabei, zum Zentrum der Chipindustrie in Europa zu werden. TSMC, Intel, Infineon, NXP, Bosch, sie alle siedeln sich gerade hier an der einen oder anderen Stelle an oder erweitern ihre Standorte. Ähnlich sieht es bei den Batteriefabriken, im Pharmabereich oder bei Biotechnologie aus. Wir investieren auf Rekordniveau in unsere Infrastruktur, in Forschung und Entwicklung sowie in neue Technologien. Wir empfangen auch ausländische Arbeitskräfte mit offenen Armen. Die OECD hat dazu gerade eine interessante Studie vorgelegt. Demnach ist Deutschland bei der Integration von Eingewanderten in Arbeit der erfolgreichste EU-Staat. Dieser Statistik wollen wir glauben. Wir werden unseren Arbeitskräftebedarf damit auch in Zukunft durch Migration decken können, wenn wir gleichzeitig irreguläre Migration besser steuern und legale Migration erweitern und erleichtern. Was ich sagen will ist: Deutschland bleibt ein wachsendes Land. Deutschland bleibt „open for business“. Deutschland bleibt ein Global Player, und zwar aus Überzeugung. Ich oute mich hier gern als jemand, der sich eine gerechte Globalisierung vorstellt und für freien Handel einsetzt. Das sagen wir übrigens auch der neuen Europäischen Kommission und unseren europäischen Partnern. Wir müssen endlich mit den vielen Freihandelsabkommen vorankommen, die schon viel zu lange in der Pipeline sind. Wer Europas Souveränität stärken will, wer einseitige Abhängigkeiten reduzieren will, der muss den Weg für mehr freien Handel mit noch mehr unterschiedlichen Partnern öffnen. Deglobalisierung und Abschottung sind jedenfalls Irrwege, und zwar Irrwege, auf denen uns die wenigsten Länder folgen würden. Denn dank der Globalisierung, dank einer weltweiten Arbeitsteilung haben mehr als eine Milliarde Frauen und Männer in Asien, in Afrika, in Lateinamerika und der Karibik den Weg aus der Armut geschafft. Ich will es hier einmal ganz ausdrücklich sagen: Dass viele Ihrer Länder so dynamisch wachsen und dass dort der Wohlstand wächst, sehe ich nicht als Bedrohung, sondern als einen Grund für gemeinsame Freude und als die Chance auf eine bessere Zukunft. Es ist auch vollkommen legitim, dass wachsende Wirtschaftskraft und wachsender politischer Einfluss mit der Forderung nach größerer Repräsentanz einhergehen. Die Reform der internationalen Finanzinstitutionen, die Reform des UN–Vereinte Nationen-Sicherheitsrates, die Aufnahme der AU–Afrikanische Union in die G20, die enge Kooperation der G7–Großen Sieben mit Partnern des globalen Südens, das alles sind Ansätze, die Deutschland voll und ganz unterstützt und sogar vorantreibt. Denn eines steht für mich völlig außer Zweifel: Eine multipolare Welt muss sich auch in unseren Institutionen und Formaten widerspiegeln. Wir brauchen auch in Zukunft einen funktionierenden Multilateralismus. In weniger als zwei Wochen findet in New York ein Gipfel zur Zukunft der Vereinten Nationen statt. Im Zentrum steht der Zukunftspakt, dem alle Staaten der Welt zustimmen sollen. Gemeinsam mit unseren Freunden aus Namibia haben wir die Koordinierung der Verhandlungen für diesen Pakt übernommen. Wir wollen dann die Charta der Vereinten Nationen und ihre Prinzipien wie die souveräne Gleichheit aller Staaten und die Verpflichtung zur friedlichen Beilegung von Konflikten bekräftigen, und wir wollen einen großen Schritt weitergehen, den Rahmen der internationalen Zusammenarbeit an die Realitäten einer multipolaren Welt anzupassen. Die Verhandlungen sind jetzt auf der Zielgeraden, und ich möchte Sie alle bitten: Unterstützen Sie unsere Bemühungen! Es ist nicht mehr viel Zeit. Dabei geht es um mehr als um einzelne Anliegen, die jedes unserer Länder berechtigterweise hat. Es geht darum, ob wir in einer Zeit geopolitischer Umbrüche das Signal senden: Wir finden noch „common ground“. – Sollten Sie also über unser Treffen hier in Ihre Hauptstädte berichten – ich könnte mir vorstellen, dass das passiert –, dann erneuern Sie bitte meine Einladung an Ihre Staats- und Regierungschefs, in New York dabei zu sein. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich die defätistische Gegenposition vorzustellen: Zahnlose UN–Vereinte Nationen, Papier ist geduldig, funktioniert nicht, usw–und so weiter. Nur können wir uns zum einen angesichts der großen globalen Herausforderungen diesen Zynismus nicht mehr leisten, und zum anderen ist diese Sichtweise auch erwiesenermaßen falsch. Ich will ein paar Beispiele für ganz zentrale Bereiche nennen, in denen wir vorankommen, auch trotz mancher Differenzen. Beispiel Klimawandel: In einer Welt mit zur Mitte des Jahrhunderts zehn Milliarden Bewohnerinnen und Bewohnern, in der Industrieproduktion und Wohlstand wachsen, ist Klimaneutralität überlebenswichtig. Unsere gemeinsamen Bemühungen zeigen Erfolge. Alle Vertragsstaaten des Pariser Klimaübereinkommens haben nationale Klimaschutzpläne für dieses Jahrzehnt erarbeitet. Etwa 80 Länder haben bereits Langfriststrategien für Treibhausgasneutralität bis Mitte des Jahrhunderts vorgelegt. Das sendet die notwendige, klare Botschaft auch an Investoren und Unternehmen: Investiert jetzt! Denn die Transformation in Richtung Klimaneutralität ist unumkehrbar. Wenn wir ehrlich miteinander sind, dann ist doch eines vollkommen klar: Öffentliche Gelder werden zur Finanzierung der Transformation niemals ausreichen. Ohne private Investitionen geht es nicht. Auf 125 Billionen US-Dollar haben Expertinnen und Experten der Vereinten Nation den weltweiten Investitionsbedarf geschätzt, um 2050 klimaneutral zu sein. Also führt gar kein Weg daran vorbei, die Klimafinanzierung stärker darauf auszurichten, private Großinvestitionen zu mobilisieren und Finanzierungsmodelle abzusichern. Das kann funktionieren, weil sich mit dem Aufbruch ins postfossile Zeitalter wirtschaftliche Chancen und Geschäftsmodelle verbinden. Man denke nur an den Aufbau eines globalen Wasserstoffmarktes oder an das Potenzial vieler Länder, Exporteure erneuerbarer Energien zu werden, statt Importeure fossiler Kraftstoffe zu bleiben. Am Anfang jedes Geschäftsmodells steht natürlich immer die Frage nach der Finanzierung. Dabei haben es Entwicklungs- und viele Schwellenländer besonders schwer. Das gehen wir an, indem wir dafür sorgen, dass Entwicklungsbanken solche Investitionen absichern, und indem wir Kooperationen wie die Just Energy Transition Partnerships auf den Weg bringen. Ein weiterer, deutsch-chilenischer Beitrag, der mir sehr wichtig ist, ist der Klimaclub. Darin arbeiten wir ganz konkret an gemeinsamen Standards für mehr Kooperation, mehr Transparenz und mehr Konvergenz bei der Dekarbonisierung unserer Industrie. Zweites Beispiel: Wir arbeiten an einer Reform der internationalen Finanzarchitektur und der internationalen Schuldensituation. Um nachhaltiges Wachstum in Afrika, Asien, Lateinamerika und der Karibik zu stärken, kann es aber natürlich nicht nur um Schuldenmanagement gehen. Wir wollen auch für höhere Einnahmen durch mehr Wertschöpfung vor Ort sorgen. Faire Kooperation statt Extraktivismus, dafür habe ich mich auf meinen Reisen immer wieder eingesetzt. Dieses Prinzip gilt nun auch für die „european critical raw materials“ und den entsprechenden „act“ dazu. Gerade erst hat die Europäische Kommission mitgeteilt, dass in einer ersten Runde über 170 Projekte eingereicht wurden. Damit gehen Finanzierungsgarantien, Investitionen in Infrastruktur, Bildungsprojekte usw–und so weiter. einher. Es lohnt sich jedenfalls, daran gemeinsam weiterzuarbeiten. Das letzte Feld, auf das ich eingehen möchte, betrifft die Frage von Krieg und Frieden. Durch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, durch den Terrorangriff der Hamas auf Israel mit seinen Auswirkungen auf den gesamten Nahen Osten ist sie zur bestimmenden Frage für die internationale Zusammenarbeit in dieser Zeit geworden. Nun kann man sich bei der Antwort lange darüber austauschen, wer wem Doppelstandards vorhalten kann. Ich halte das für vertane Zeit. Stattdessen sollten sich alle auf einen globalen Standard besinnen, der uns alle schützt. Das sind die Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen. Ich bin froh darüber, dass die überwältigende Mehrheit der Staaten diese Prinzipien unterstützt. Das zeigt sich an den Abstimmungen in der Generalversammlung genauso wie in den Verhandlungen zum Zukunftspakt. Was heißt das nun für den Krieg Russlands gegen die Ukraine? – Wir können und wir werden niemals akzeptieren, dass Grenzen mit Gewalt verschoben werden. In einer multipolaren Welt verteidigen wir Prinzipien wie die Unabhängigkeit, die Souveränität und die territoriale Integrität entweder gemeinsam, oder wir setzen sie jeder für sich aufs Spiel. Mit wachsendem Einfluss geht natürlich auch wachsende Verantwortung in globalen Fragen einher. Deswegen ist es so wichtig, dass sich auch Länder wie China, Brasilien, Indien, Südafrika und viele andere engagieren und deutlich machen: Dieser Krieg muss enden, und zwar nicht so, dass die Prinzipien der Vereinten Nationen dauerhaft beschädigt sind, sondern indem sie wiederhergestellt werden. – Darum ging es bei der Friedenskonferenz im Juni in der Schweiz. Darum wird es in Zukunft gehen, wenn, wie vom ukrainischen Präsidenten vorgeschlagen, dann hoffentlich auch Russland am Tisch sitzt und ernsthaft verhandelt. Ich möchte Sie alle bitten: Unterstützen Sie das, auch im Austausch mit Ihren Regierungen! Das Völkerrecht und die Prinzipien der Vereinten Nationen sind auch, was den Konflikt im Nahen Osten betrifft, unser Standard. Das heißt zuallererst: Israel hat das Recht, sich gegen den Terror der Hamas zu verteidigen. – Zugleich kennt auch der Krieg Regeln. Das bedeutet: Die Hamas muss alle Geiseln freilassen, und Israel hat die Pflicht, Zivilisten zu schützen und humanitäre Hilfe zuzulassen. – Dazu brauchen wir endlich einen Waffenstillstand, der vereinbart wird und der länger anhält und sicherstellt, dass die Geiseln endlich freigelassen werden. Wir brauchen endlich auch wieder eine Perspektive für eine dauerhafte Lösung des Konflikts, eine Lösung, die ein friedliches Miteinander zwischen Israel und einem palästinensischen Staat ermöglicht. In den vergangenen Jahren wurden die Verfechter einer Zweistaatenlösung oft nur noch als Träumer belächelt. Heute wird immer klarer: Es wird nicht anders gehen. Exzellenzen, meine Damen und Herren, das war jetzt ein ziemlicher Parforceritt von der deutschen Innenpolitik bis hin zu den globalen Fragen, die Sie und mich tagtäglich beschäftigen. Mich würde interessieren, wie Sie auf diese Fragen und auf unser Land blicken. Schließlich sind wir Deutsche bekannt dafür, das Glas oft eher halb leer als halb voll zu sehen. Dabei kann man in den USA gerade beobachten, wie ansteckend und begeisternd gute Laune sein kann. Mich spricht diese Zuversicht jedenfalls an. In diesem Sinne freue ich mich jetzt darauf, auch gute, fröhliche Gespräche zu haben. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie heute hier sind. Schönen Dank für alles, was Sie für die Beziehung zwischen Ihren Ländern und Deutschland tun! Schönen Dank.
Beim Jahresempfang des Diplomatischen Corps im Kanzleramt warb Bundeskanzler Scholz für mehr Freihandelsabkommen und betonte, dass Deutschland in den letzten zwei Jahren die Weichen dafür gestellt habe, damit die Bundesrepublik als Industrieland erfolgreich bleibe.
Begeisterung für Technologie bewahren
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-ifa-2024-2306970
Fri, 06 Sep 2024 19:00:00 +0200
Rede des Kanzlers bei der Internationalen Funkausstellung
Berlin
Wirtschaft und Klimaschutz,Digitales und Verkehr,Aufgaben_des_Kanzlers
Statement-BK
Bundeskanzler Olaf Scholz hat in Berlin die diesjährige Internationale Funkausstellung IFA eröffnet. Bei einem Rundgang am Freitag informierte sich der Bundeskanzler aus erster Hand über die neuesten Innovationen – sowohl von weltbekannten Herstellern als auch von Start-ups aus Deutschland. Die Bundesregierung unterstützt Firmen und Gründerinnen und Gründer auf vielfältige Weise. Mit ihrer Wachstumsinitiative will sie weitere private Investitionen anregen, gerade auch in Forschung und Entwicklung. Das Wichtigste in Kürze: Fortschritt „Made in Germany“: Die Bundesregierung wird sich weiter dafür einsetzen, dass innovative Produkte in Deutschland produziert werden – auch um die Abhängigkeit von anderen zu verringern. Unter anderem die Ansiedlung von Chipherstellern wie TSMC in Dresden zeigt, dass dieser Weg erfolgreich ist. Schnellere Netze: Grundlage vieler innovativer Produkte ist ein schnelles Internet. Die Bundesregierung hat mit entschlossenen Maßnahmen den Ausbau des Glasfasernetzes und der 5G-Netze erheblich beschleunigt. Vertrauen durch Sicherheit: Gleichzeitig blendet die Bundesregierung die Sicherheit nicht aus: Sowohl bei den 5G-Netzen als auch bei der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz wurden hier wichtige Schritte beschlossen – auch um das Vertrauen in innovative Technologien zu stärken. Grund zur Zuversicht: Bundeskanzler Scholz betonte, er sehe Grund zur Zuversicht: Die Bundesregierung gebe der Wirtschaft mit der Wachstumsinitiative neue Impulse, Deutschland verfüge über großartige und innovative Hersteller und gehöre bei der KI-Forschung zur Weltspitze. Die Internationale Funkausstellung (IFA) ist die weltweit führende Messe der Unterhaltungselektronik und der Haushaltsgeräteindustrie. Sie feiert in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen und findet vom 6. bis zum 10. September in Berlin statt – ganz im Zeichen der neuesten Entwicklungen um Digitalisierung, Künstliche Intelligenz (KI), Vernetzung sowie Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister Kai Wegner, sehr geehrte Frau Dr. Warneke, sehr geehrter Herr Lindner, meine Damen und Herren, ich war neun Jahre alt, als Willy Brandt 1967 auf die Bühne der Großen Deutschen Funkausstellung trat, über ihm drei Kronleuchter, hinter ihm ein großes Orchester, vor ihm ein Publikum aus Männern in Anzügen, neben ihm auf dem hölzernen Pult ein großer Knopf. Er drückte den Knopf, und das Bild wurde bunt, zumindest in 6000 Haushalten, die schon einen Farbfernseher hatten, obwohl es noch gar kein Farbfernsehen gab. Auch ich erinnere mich noch an dieses Ereignis. Denn dafür bin ich alt genug. Ich erinnere mich sowohl an Testbilder, die das Programm beendeten, als auch an Schwarzweißfernsehen und daran, dass es später Farbfernsehen wurde. Das war schon ein ganz einschneidendes Ereignis. Ich weiß nicht, ob alle es damals so empfunden haben. Wir wissen heute, wie weit es gereicht hat. Nach dieser Funkausstellung fing in vielen Familien das Sparen an. Denn die ersten Farbfernseher kosteten um die 3000 Mark, also mehrere Monatsgehälter der Zeit. Willy Brandt behielt wie so oft recht, als er damals sagte: „Das Farbfernsehen will kein Luxusartikel bleiben.“ Heute kosten die günstigsten Geräte nicht einmal mehr 200 Euro. Was für eine Veränderung! Sie sind keine Luxusartikel mehr, sondern gehören ganz selbstverständlich zu unserem Alltag. Dazu passt das neue Motto der IFA–Internationale Funkausstellung: Innovationen für alle. – Es sind Innovationen, die unser Leben schöner, leichter und besser machen. Zu sehen gibt es sie auf der IFA–Internationale Funkausstellung, schon seitdem die Ausstellung vor 100 Jahren zum ersten Mal ihre Tore geöffnet hat. Doch eigentlich muss man noch viel weiter zurückgehen als bis 1924, um den Erfolg der IFA–Internationale Funkausstellung zu verstehen, circa zweieinhalb Millionen Jahre weiter zurück. Damals erfanden unsere ganz frühen Vorgänger die ersten heute noch bekannten Werkzeuge. Von dort war es zwar noch ein sehr weiter Weg zur Smartwatch oder zum Roboter, der mit uns spricht. Aber der Wunsch, unseren Alltag schöner, leichter und besser zu machen, der steckt ganz tief in uns. Die Geschichte der Menschheit ist von Erfindungen geprägt. Ja, Technologie ist die entscheidende Triebfeder für den menschlichen Fortschritt. Am Ende ist immer wieder das wahr geworden, was sich Willy Brandt mit Blick auf den Farbfernseher gewünscht hat. Eine Technik, die einfach zu handeln und gut ist, setzt sich durch. Daran hatte die IFA–Internationale Funkausstellung großen Anteil. Danke dafür! Aber natürlich spielen auch andere Faktoren eine Rolle: weltweite Arbeitsteilung, Automatisierung, grenzüberschreitender Handel, der für weltweiten Wettbewerb sorgt und damit für niedrigere Preise. Deshalb – das will ich hier klar sagen – dürfen wir den Freihandel und länderübergreifende Lieferketten übrigens auch nicht über Bord werfen. „Decoupling“ und „friend-shoring“, das sind Irrwege, teure Irrwege. Lassen Sie uns stattdessen die Risiken minimieren, indem wir mehr Handel mit unterschiedlichen Partnern betreiben. Aber abschotten dürfen wir uns nicht. (Beifall) ‑ Der Beifall war davon abhängig, ob hier viele Wirtschaftsvertreter oder viele Politiker sitzen. Die Wirtschaftsvertreter sind sich einig: Abschotten dürfen wir uns nicht. Eine Messe wie diese ist eine gute Gelegenheit, neue Kontakte zu knüpfen. Meine zweite Botschaft lautet: Wir müssen uns die Begeisterung für Technologie bewahren, gerade hier in Deutschland. Denn dann bleiben wir das führende Industrieland, das wir sind. So wie jeder von uns zumindest in Grundzügen versteht, wie ein Auto funktioniert, wie man ein Smartphone oder einen Computer bedient, so müssen wir auch den Ehrgeiz haben, künstliche Intelligenz für uns zu nutzen, in der Wirtschaft, in den Büros, aber eben auch im Alltag. Wir müssen wissen wollen, was Halbleiter sind und warum sie so wichtig für unsere Industrie sind. Ich würde wetten, dass ich auf meinem Eröffnungsrundgang morgen kein einziges Gerät zu sehen bekomme, dass ohne moderne Hochleistungschips auskommt. Denn ohne Chips geht heute fast nichts und in Zukunft noch weniger. Für die Elektronik- und Unterhaltungsbranche gilt das allemal. Deshalb will ich hier auf der IFA–Internationale Funkausstellung bekräftigen: Wir werden am rasanten digitalen Fortschritt dranbleiben und dabei nicht von anderen abhängig sein. Deshalb hat die Bundesregierung intensiv daran gearbeitet, dass die großen Chiphersteller in Deutschland Produktionsstandorte aufbauen. Das hat geklappt, in weniger als zwei Jahren. Aus meiner Sicht ist das ein enormer Erfolg. Erst kürzlich war ich beim Spatenstich für die neue Fabrik von ESMC in Dresden. Jeder dritte in Europa gefertigte Chip kommt schon jetzt aus Sachsen. Das ist wichtig. Denn damit wird künftig Geld verdient, ob in Elektroautos oder in intelligenten Haushaltsgeräten. Wichtig ist natürlich auch, dass Ihre Kundinnen und Kunden all die schönen, intelligenten und miteinander vernetzten Geräte auch tatsächlich nutzen können. Ich erinnere mich noch an mein erstes Handy, das ich damals liebevoll Nokiabrikett genannt habe. Heute gibt es smarte Waschmaschinen, intelligente Backöfen und schlaue Haushaltsroboter. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie brauchen eine gute Internetverbindung. – Sonst wird aus Technik, die begeistert, schnell Elektroschrott, der frustriert. Dafür haben wir einiges vereinfacht und auch beschleunigt. So haben wir im Juli ein Gesetz auf den Weg gebracht, das den Telekommunikationsnetzausbau als überragendes öffentliches Interesse feststellen soll. Kleinere Mobilfunkmasten kann man schon jetzt leichter bauen. Das haben wir mit den Ländern im Deutschlandpakt vereinbart. Das Verfahren zum Mobilfunkausbau in Bahntunneln dauert jetzt nur noch halb so lange. Allein im Jahr 2023 ist die Zahl der Haushalte, für die Glasfaseranschlüsse verfügbar sind, um fast 40 Prozent gestiegen. Sie sind jetzt für fast jeden dritten Haushalt in Deutschland verfügbar. Beim Ausbau der 5G-Netze sind wir in der EU mittlerweile eines der führenden Länder. Auf 90 Prozent der Fläche und für fast 99 Prozent der Haushalte in Deutschland ist mindestens das 5G-Netz eines Anbieters verfügbar. Beim Netzempfang unterwegs und bei der Bereitstellung von Gigabitgeschwindigkeit zu Hause schließen wir gezielt die letzten Lücken, auch auf dem Land. Dieser Ausbau und dieses Tempo machen Begeisterung für Technologie erst möglich, und zwar nicht nur auf der IFA–Internationale Funkausstellung , sondern auch und gerade im Wohnzimmer. Wenn ich von Begeisterung für Technologie spreche, dann meine ich damit übrigens keinen blinden Zukunftsoptimismus. Begeisterung für Technologie setzt Vertrauen in die Technologie voraus. Die Geräte und das Mobilfunknetz müssen zuverlässig sein, und sie müssen sicher sein. Damit kennen sich die deutschen und europäischen Hersteller aus. Sie bauen Geräte, die lange halten, die man gut reparieren kann und deren Wertstoffe sich wiederverwenden lassen. Es ist den Leuten heute wichtig, dass wir weniger Ressourcen verbrauchen und mehr recyclen. Die Bundesregierung arbeitet gerade an einer Nationalen Kreislaufwirtschaftsstrategie. Das Schlüsselprinzip dafür heißt „Design for Circularity“, damit die Materialien möglichst lange im Kreislauf bleiben. Dann bleibt neben der Zuverlässigkeit noch der Aspekt der Netzsicherheit. Über 5G habe ich eben schon gesprochen. 5G ist Teil unserer kritischen Infrastruktur. Deshalb hat die Bundesregierung mit den Betreibern vereinbart, dass bis spätestens Ende 2026 keine kritischen Komponenten mehr in den 5G-Kernnetzen eingesetzt werden. In den 5G-Zugangs- und ‑Transportnetzen werden bis spätestens Ende 2029 die kritischen Managementsysteme ersetzt. Das, meine Damen und Herren, ist der richtige Weg. Auch im Umgang mit KI dürfen wir die Risiken nicht ausblenden. Kaum jemand macht das so klar wie Mustafa Suleyman in seinem beeindruckenden Buch „The Coming Wave“, wirklich kein Fortschrittsskeptiker. Aber gerade weil Suleyman selbst ganz vorn dabei ist, warnt er auch vor Gefahren, zumindest dann, wenn wir die Entwicklung einfach laufen lassen. Deshalb haben wir mit dem EU AI Act weltweit das erste KI-Gesetz verabschiedet, mit dem wir ein sicheres Umfeld für Investitionen schaffen und gleichzeitig das Vertrauen der Nutzerinnen und Nutzer stärken. Meine Damen und Herren, wir schaffen Sicherheit, damit daraus Vertrauen entstehen kann. Beide sind die Voraussetzungen für eine Technologieoffenheit und auch für eine Technologiebegeisterung, die auf der IFA schon seit 100 Jahren zu Hause sind. Davon brauchen wir mehr in unserem Land. Offenheit und Begeisterung sind das Gegenteil zum Pessimismus, zur Angstmacherei und zur Weltuntergangsstimmung. Die schlechte Stimmung und das Schlechtreden schaden der deutschen Wirtschaft. Das merken Sie als Konsumgüterhersteller am allermeisten. Seit einigen Monaten werden in Deutschland rekordverdächtige Lohnabschlüsse erzielt. Die Reallöhne steigen. Damit sich das aber auf den Konsum überträgt, braucht es weniger Pessimismus und mehr berechtigte Zuversicht. Wir haben auch Grund zur Zuversicht. Die Bundesregierung hilft ein bisschen. Sie hat kürzlich eine Wachstumsinitiative beschlossen, und wir wollen alle Maßnahmen noch in diesem Jahr verabschieden und umsetzen. Wir haben in diesem Land großartige Hersteller von Qualitätsgeräten, die lange halten. Wir haben Ingenieurinnen und Techniker, die mit neuen Ideen ständig ihre Produkte verbessern. Unsere KI-Forschung gehört zur absoluten Weltspitze. Das alles ist auf der IFA–Internationale Funkausstellung zu sehen, diesem Schaufenster für Innovationen, die unser Leben schöner, leichter und besser machen. Seit 1924 ist hier die Zukunft spürbar, und das wird auch in den kommenden 100 Jahren so bleiben. Ich wünsche Ihnen alles Gute und erkläre die IFA–Internationale Funkausstellung 2024 hiermit für eröffnet.
„Innovation für alle“ – unter diesem Motto findet die Internationale Funkausstellung in Berlin statt. Bei der Eröffnung betonte Bundeskanzler Scholz, dass die Bundesregierung auch weiter den digitalen Fortschritt stärken wird. Lesen Sie hier, warum er Grund zur Zuversicht sieht.
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Betriebsversammlung der Meyer Werft
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bk-betriebsversammlung-meyer-werft-2304012
Thu, 22 Aug 2024 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Lieber Andreas Hensen, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Stephan, sehr geehrter Herr Wirtschaftsminister, lieber Olaf, lieber Daniel Friedrich, liebe Familie Meyer, sehr geehrter Herr Schmitz, vor allem liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss nicht lange darum herumreden, weshalb ich nun heute nach Papenburg gekommen bin. Es geht in diesen Tagen um die Zukunft der Meyer Werft. Ich kann mir vorstellen, wie sehr euch alle die Unsicherheit belastet, die da in den letzten Tagen und Wochen eine große Rolle gespielt hat, nicht nur für alle hier Versammelten und diejenigen, die hier arbeiten und heute nicht hier sein können, sondern auch für die Familien und Freunde, ja, die ganze Region. Alle machen sich Sorgen um die Zukunft der Meyer Werft. Ich bin deshalb heute aus Berlin hierhergekommen, um zu sagen: Wir lassen euch mit euren Sorgen nicht allein! Wenn jemand in Schwierigkeiten steckt, dann packen wir alle gemeinsam an. So sind wir! So ist Deutschland! Das ist jedenfalls mein Prinzip. Fast 16 Jahre ist es her, dass ich zuletzt hier auf der Werft war. Im November 2008 war das; damals war ich Arbeitsminister. Vielleicht erinnert sich sogar noch jemand daran. Aber es gab ja hier viele Besuche von Leuten, insofern ist das nicht ganz sicher. Schließlich gehören viele aber schon seit vielen Jahren und manchmal seit Generationen zur „Meyer-Werft“-Familie. Ich habe jedenfalls in den vergangenen Tagen, in denen wir so intensiv über die Zukunft eures Unternehmens verhandelt haben, an meinen Besuch hier gedacht und daran, was für tolle Arbeit hier geleistet wird. Schiffe aus Papenburg und der Region sind auf den Weltmeeren „state of the art“, und darauf könnt ihr stolz sein. Wobei die Bezeichnung „Schiff“ eigentlich viel zu klein gegriffen ist für das, was hier vom Stapel läuft. Was hier gebaut wird, sind eigentlich kleine Städte – mit allem, was dazugehört. Zu den schönsten und aussagekräftigsten Geschichten über die Meyer Werft gehört, dass ihr zum Beispiel auch Deutschlands größter Theaterbauer seid. 15 Millionen Einzelteile hat so ein Ozeanriese ‑ habe ich mir jedenfalls sagen lassen ‑, 15 Mal mehr als ein Airbus A380. Das zeigt: Die Meyer Werft ist nicht irgendein Unternehmen, sondern ein industrielles Kronjuwel unseres Landes. Wir reden über 3000 Arbeitsplätze allein hier auf der Stammwerft in Papenburg. Wir reden über knapp 6000 Beschäftigte bei rund 200 Zulieferbetrieben ‑ vom Tischler bis zum Hightechunternehmen ‑ allein hier in Weser-Ems, und wir reden über 17 000 Arbeitsplätze deutschlandweit, die auf die eine oder andere Weise von der Meyer Werft abhängen. Es ist eben keine Übertreibung, wenn man sagt: Der Wohlstand, den ihr euch hier im Emsland und in Ostfriesland in den vergangenen Jahrzehnten hart erarbeitet habt, der hängt zu einem großen Teil an der maritimen Wirtschaft und am Schiffbau. Aber auch Deutschland insgesamt profitiert davon. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind ein starkes Industrieland. Wir sind eine erfolgreiche Handelsnation. Wir sind ‑ manchmal gerät das aus dem Blick: mit 84 Millionen Einwohnern unter mehr als acht Milliarden Menschen ‑ die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Diese Stellung als Industrieland, als Handelsnation, als führende Volkswirtschaft hängt unmittelbar von einer leistungsfähigen maritimen Wirtschaft ab, und hier, in eurer Region, ist ein ganz wichtiger Ort, ein Zentrum dieser maritimen Wirtschaft in Deutschland. Nirgendwo sonst ist die gesamte maritime Wertschöpfungskette auf so kleinem Raum so hochspezialisiert zuhause. Das ist ein Trumpf, den wir nicht aufgeben dürfen und den wir nicht aufgeben werden, liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit bin ich zurück bei dem Grund für meinen Besuch. Ihr alle kennt die Ursachen, weshalb diese traditions- und erfolgreiche Werft in Schwierigkeiten geraten ist. Da spielen die Folgen der Pandemie eine große Rolle und das Bestellverhalten auf den Märkten. Sicher, auch strukturelle Fragen auf der Werft sind ein Punkt. Selbst für ein weltweit agierendes Unternehmen wie die Meyer Werft sind die wirklich speziellen Bedingungen bei der Finanzierung des Baus von Kreuzfahrtschiffen eine Herausforderung. Klar ist aber auch: Eure Produkte sind nicht das Problem, im Gegenteil. Die Auftragsbücher sind randvoll. Die Qualität, die hier abgeliefert wird, sucht weltweit ihresgleichen. Die Schiffe sind Aushängeschilder für das Beste, was made in Germany ausmacht. Als Ausbildungsbetrieb, als Partner von Hochschulen und andern Bildungseinrichtungen seid ihr ein Treiber für Forschung und Innovation, gerade bei den Zukunftsthemen der Branche wie Ressourceneffizienz und CO2-Neutralität. Wenn sich dann eines eurer Schiffe auf den Weg in Richtung des Dollarts macht, stehen Zehntausende entlang der Ems Spalier. Ihr seid der Stolz einer ganzen Region. Ihr seid, auch wenn ich das Wort nach der Bankenkrise eigentlich nie wieder in den Mund nehmen wollte, systemrelevant für die maritime Wirtschaft und den Schiffbau in Deutschland. Deshalb war es für mich auch nie eine Frage, ob wir der Meyer Werft in dieser Lage helfen wollen, sondern für mich war nur die Frage: Wie bekommen wir das hin? ‑ Ich habe gerade schon erwähnt, dass wir als Bundesregierung mit dem Land Niedersachsen ‑ Stephan und Olaf ‑, dem Werftmanagement, der Familie Meyer und den Banken in den zurückliegenden Wochen intensiv verhandelt und große Fortschritte erzielt haben. Klar ist: Wir alle wollen das Fortbestehen der Werft sichern und damit auch alles, was an dieser Werft hängt. Ein bisschen Detailarbeit gibt es noch zu tun, das ist klar. Gespräche mit Banken über die Finanzierung der vielen neuen Schiffaufträge laufen. Der Bundestag muss befasst werden, nicht nur formal. Wir sprechen auch mit der Europäischen Kommission. Das alles ist unsere Arbeit, und es gehört dazu. Aber das kann ich heute klar sagen: Der Bund trägt seinen Teil zur Lösung bei, und wenn alle anderen mitziehen, was ich erwarte, dann bekommen wir die Sache hin. Der Schiffbau hier in Papenburg und in der ganzen Region hat eine Zukunft. Wir stehen zu einer starken maritimen Wirtschaft in Deutschland. Wir stehen zur Meyer Werft, liebe Kolleginnen und Kollegen. Eines will ich gern noch hinzufügen. Wenn wir in dieser Lage helfen, dann nicht deswegen, weil der Staat der bessere Unternehmer wäre oder weil die Mitglieder der Bundesregierung ganz viel vom Schiffbau verstünden, sondern um in einer ganz besonderen Lage das Vertrauen der Märkte in die Zukunft der Meyer Werft zu stärken. Ziel ist, dass möglichst bald die Stabilität und die Zukunftschancen der Werft mit überzeugendem privatwirtschaftlichen Engagement sichergestellt werden. Mit allen Beteiligten bauen wir der Meyer Werft so eine stabile Brücke in die Zukunft, wie wir das zum Beispiel auch getan haben, als es während der Coronakrise darum ging, Lufthansa oder TUI zu retten. Auch das ist uns gelungen. Deshalb ist das etwas, womit wir Erfahrung haben und was wir gern tun. Ich bin euch allen hier auch sehr dankbar dafür, dass ihr mitzieht. Das ist nicht leicht. Der Betriebsratsvorsitzende und die Gewerkschaft wissen das ganz genau. Die Rahmenvereinbarungen, die der Betriebsrat, IG Metall und die Geschäftsführung im Juli abgeschlossen haben, enthalten für alle Seiten schwierige Zugeständnisse. Aber das zeigt eben auch, was wir in Deutschland an der Sozialpartnerschaft haben und wie wichtig eine starke betriebliche Mitbestimmung ist. Deshalb bitte ich euch: Macht so weiter! Helft mit, dass hier auch in Zukunft die weltbesten Kreuzfahrtschiffe gebaut werden! Helft mit, dass der Name Meyer-Papenburg auch in den kommenden 229 Jahren ‑ denn so lange gibt es die Werft ja schon ‑ auf allen Weltmeeren präsent ist! Ich bin mir sicher, es geht weiter mit der Meyer Werft hier in Papenburg. Meine Unterstützung habt ihr. Schönen Dank.
Bundeskanzler Scholz hat die Betriebsversammlung der Meyer Werft besucht und dort eine Rede gehalten. Lesen Sie hier die Rede im Wortlaut.
„Neues Kapitel der europäischen Luftverteidigung“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-besucht-flugabwehr-2306274
Wed, 04 Sep 2024 00:00:00 +0200
Rede des Kanzlers bei der Bundeswehr in Todendorf
Statement BK
Sicherheit und Verteidigung,Sicherheitspolitik
Die Einführung des Luftverteidigungssystems IRIS-T SLM in die Bundeswehr ist sichtbarer Teil der Zeitenwende und wird eine Lücke in der Luftverteidigung schließen. Das Waffensystem leistet einen wichtigen Beitrag für die Landes- und Bündnisverteidigung und ist Teil der europäischen Luftverteidigung, die damit gestärkt wird. Bundeskanzler Olaf Scholz besuchte die Flugabwehrraketengruppe 61 der Bundeswehr in Todendorf in Schleswig-Holstein. Er nahm dort gemeinsam mit Verteidigungsminister Boris Pistorius an der Indienststellung des ersten Luftverteidigungssystems IRIS-T SLM–Infra Red Imaging System – Tail/Thrust Vector Controlled, Surface Launched Medium Range teil. Das Ausbildungszentrum für die Flug- und Raketenabwehr mit IRIS-T SLM–Infra Red Imaging System – Tail/Thrust Vector Controlled, Surface Launched Medium Range wird ebenfalls an diesem Standort eingerichtet. Das Wichtigste in Kürze: Reaktion auf russische Aggression: Die Einführung des Luftabwehrsystems IRIS-T SLM–Infra Red Imaging System – Tail/Thrust Vector Controlled, Surface Launched Medium Range ist gelebte Zeitenwende. Russlands völkerrechtswidriger Angriff auf die Ukraine hat die europäische Friedensordnung gebrochen. Außerdem rüstet Russland seit vielen Jahren massiv auf, gerade auch im Bereich von Raketen und Marschflugkörpern. Dabei hat das Land Abrüstungsverträge wie den INF–nukleare Mittelstreckensysteme (engl. Intermediate Range Nuclear Forces)-Vertrag gebrochen. Starke Luftverteidigung notwendig: Deutschland baut eine starke Luftverteidigung mit der European Sky Shield Initiative auf, an der sich bis jetzt 21 europäische Staaten beteiligen. IRIS-T–Infra Red Imaging System – Tail/Thrust Vector Controlled ist Teil dieser Initiative, durch die Sicherheit und Frieden in Europa gewahrt werden soll. Stationierung von abstandsfähigen Präzisionswaffen: Neben der Luftverteidigung braucht Deutschland abstandsfähige Präzisionswaffen, um sich gegen Russland verteidigen zu können. Bis in Europa entwickelte Systeme bereitstehen, werden in Deutschland zunächst ab 2026 amerikanische Raketen stationiert. Der Kanzler machte deutlich: „Es geht uns dabei einzig und allein darum, mögliche Angreifer abzuschrecken. Jeder Angriff auf uns muss ein Risiko für den Angreifer bedeuten. Es geht uns darum, den Frieden hier bei uns zu sichern und Krieg zu verhindern – und um nichts anderes!“ Das bodengebundene Luftverteidigungssystem IRIS-T–Infra Red Imaging System – Tail/Thrust Vector Controlled ist in Deutschland hergestellte Hochtechnologie. Das System zeigt bei der Verteidigung in der Ukraine eine außergewöhnlich hohen Trefferquote von 95 bis 100 Prozent. Dieser Erfolg hat IRIS-T–Infra Red Imaging System – Tail/Thrust Vector Controlled zu einem der weltweit am stärksten nachgefragten Luftverteidigungssysteme gemacht. [Fotoreihe] Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrter Herr Bundesminister, lieber Boris, sehr geehrter Herr Diehl, sehr geehrter Herr Rauch, sehr geehrter Generalleutnant Gerhartz, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages und des Landtags, liebe Kameradinnen und Kameraden der Bundeswehr, liebe Zivilbeschäftigte, meine Damen und Herren, oder, wie wir hier oben etwas weniger wortreich sagen: Moin! Es ist sehr gut, heute hier in Todendorf zu sein. „Indienststellung und Meldung einer Anfangsbefähigung“ – das klingt ein bisschen technisch. Übersetzt auf Hochdeutsch heißt das: Los geht’s! Hier in Todendorf nimmt heute ein neues Kapitel der europäischen Luftverteidigung Gestalt an. Begonnen hat dieses Kapitel mit der Zeitenwende, Russlands furchtbarem Angriff auf die Ukraine und die europäische Friedensordnung. Wir haben daraus schnell die nötigen Konsequenzen gezogen, indem wir Fähigkeitslücken schließen und Beschaffungsbürokratie abbauen, indem wir das nötige Geld bereitstellen – Stichwort Sondervermögen und Zwei-Prozent-Ziel –, indem wir eng mit der Industrie kooperieren – inklusive bei der Ausbildung – oder indem wir einsteigen in den Aufbau einer echten europäischen Luftverteidigung im Rahmen der NATO. Das alles war überfällig. Umso schöner ist, wie schnell das hier funktioniert hat, und dafür möchte ich allen Beteiligten – der Bundeswehr, der Firma Diehl, den Ausbilderinnen und Ausbildern, unseren europäischen Partnern, den Verwaltungen in Gemeinde, Land und Bund – ganz herzlich Danke sagen. Sie alle wissen: Das hier ist nicht irgendein Projekt. Hier geht es ohne jede Übertreibung um die Wahrung von Sicherheit und Frieden in Europa. Mit dem Angriff auf die gesamte Ukraine hat Russland die wichtigste Grundlage unserer europäischen Friedensordnung gebrochen, nämlich die auch von Willy Brandt und Helmut Schmidt erreichte Verständigung, dass Grenzen nicht mit Gewalt verschoben werden dürfen. Seit vielen Jahren rüstet Russland massiv auf, gerade auch im Bereich von Raketen und Marschflugkörpern. Putin hat Abrüstungsverträge wie den INF–nukleare Mittelstreckensysteme (engl. Intermediate Range Nuclear Forces)-Vertrag gebrochen. Er hat Raketen bis nach Kaliningrad verlegt, 530 Kilometer Luftlinie von Berlin. Darauf nicht angemessen zu reagieren, wäre fahrlässig. Ja, durch Nichthandeln geriete der Frieden auch bei uns in Gefahr. Das lasse ich nicht zu. Für unsere Verteidigung heißt das zweierlei, erstens: Wir bauen mit der European Sky Shield Initiative eine starke Luftverteidigung auf. Wie lebenswichtig eine starke Flug- und Raketenabwehr sein kann, lässt sich auf dramatische Weise an der Front und in den Städten der Ukraine beobachten. IRIS-T–Infra Red Imaging System – Tail/Thrust Vector Controlled ist dort zum Schutzwall gegen die zahllosen Raketen geworden, die täglich von Russland auf die Ukraine geschossen werden. Die große Nachfrage der Ukraine und vieler anderer Partner nach diesem lebenswichtigen Schutz ist daher mehr als verständlich. Gemeinsam mit der Industrie tun wir alles, um diesen Bedarf zu decken. Wir konnten der Ukraine wenige Monate nach Kriegsbeginn das erste System liefern. Bereits seit August 2023 werden hier in Todendorf ukrainische Kameradinnen und Kameraden daran ausgebildet. Inzwischen sind in der Ukraine vier Systeme IRIS-T SLM–Infra Red Imaging System – Tail/Thrust Vector Controlled, Surface Launched Medium Range im Einsatz. Dazu kommen eine hohe Zahl von Flugkörpern und drei verwandte Systeme IRIS-T SLS. Acht weitere Systeme IRIS-T SLM–Infra Red Imaging System – Tail/Thrust Vector Controlled, Surface Launched Medium Range und neun Systeme IRIS-T SLS haben wir verbindlich bestellt. Jeweils zwei davon werden noch dieses Jahr geliefert, der Rest ab 2025. Das zeigt: Die deutsche Unterstützung für die Ukraine lässt nicht nach. Wir haben vorgesorgt und so rechtzeitig Verträge und Finanzierung gesichert, dass sich die Ukraine auch in Zukunft voll auf uns verlassen kann. Das zeigt auch: Unsere Industrie ist hochleistungsfähig, wenn sie die nötige Planungssicherheit hat. Diehl Defence hat die Produktion von Flugkörpern im vergangenen Jahr bereits verdreifacht. Dieses Jahr wird es erhebliche weitere Steigerungen geben. Das erlaubt uns neben der massiven Unterstützung der Ukraine dieses Hochleistungssystem jetzt auch in die Bundeswehr einzuführen. Lieber Herr Diehl, lieber Herr Rauch, dafür sage ich Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vielen herzlichen Dank. In der Ukraine hat IRIS-T–Infra Red Imaging System – Tail/Thrust Vector Controlled bis heute über 250 Raketen, Drohnen und Marschflugkörper abgeschossen und unzählige Leben gerettet. Das System zeigt eine beeindruckende Trefferquote von 95 Prozent oder noch viel mehr. Einige sprechen immer von hundert Prozent. Es ist jedenfalls ziemlich beeindruckend. Dieser Erfolg hat IRIS-T zu einem der weltweit am stärksten nachgefragten Luftverteidigungssysteme gemacht. Wir sind stolz, dass diese weltweit führende Hochtechnologie hier in Deutschland zu Hause ist. Künftig wird nun auch unsere Bundeswehr über diese Technologie verfügen. Gut so! Sechs Systeme sind bestellt; das erste wird uns gleich feierlich übergeben. Das ist ein bedeutender Schritt für die Sicherheit unseres Landes, nachdem die Luftverteidigung lange vernachlässigt wurde. Zugleich ist das ein bedeutender Schritt auch für die europäische Sicherheit. Ich begrüße ganz herzlich die Vertreterinnen und Vertreter der Länder, die mit uns am Aufbau einer europäischen Luftverteidigung zusammenarbeiten, als sichtbarer Beitrag zur Stärkung der europäischen Säule der NATO. IRIS-T–Infra Red Imaging System – Tail/Thrust Vector Controlled ist Kernbestandteil der European Sky Shield Initiative. Ich habe diese Zusammenarbeit im August 2022 in Prag vorgeschlagen. Inzwischen sind 21 Länder dabei. Der zugrunde liegende Gedanke ist simpel: Wir wollen, dass möglichst viele europäische Staaten dieselben Systeme beschaffen. Dafür öffnen wir unsere Rahmenverträge mit der Industrie für Partner. Auch bei der Ausbildung arbeiten wir eng zusammen, wie hier in Todendorf. Ich bin mir sicher: Das, was hier gemeinsam entsteht, ist eine Blaupause für die europäische Verteidigungszusammenarbeit weit über den Bereich der Luftverteidigung hinaus. Boris Pistorius und ich sind heute hier, um das zu würdigen. Wir wollen den engen Schulterschluss von Verteidigungsindustrie und Politik zum Ausdruck bringen. Für Ihren Mut, Ihre Schnelligkeit und Ihre Innovationskraft sagen wir also Danke. Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt. Neben einer starken Luftverteidigung brauchen wir in Europa abstandsfähige Präzisionswaffen, damit wir auf diesem strategisch wichtigen Feld keine gefährliche Lücke gegenüber Russland haben. Wir haben das bereits in unserer Nationalen Sicherheitsstrategie im vergangenen Jahr so festgelegt, und das setzen wir konsequent um. Bis Systeme bereitstehen, die wir hier in Europa entwickeln, werden wir auf amerikanische Raketen zurückgreifen. Ab 2026 sollen sie in Deutschland stationiert werden. Allen, die an dieser Entscheidung Zweifel haben, möchte ich sagen: Es geht uns dabei einzig und allein darum, mögliche Angreifer abzuschrecken. Jeder Angriff auf uns muss ein Risiko für den Angreifer bedeuten. Es geht uns darum, den Frieden hier bei uns zu sichern und Krieg zu verhindern, um nichts anderes. Boris Pistorius und ich stehen zu unserem Wort, die Bundeswehr im Licht der Zeitenwende zur stärksten konventionellen Armee Europas zu machen, als unser Beitrag zur Sicherheit unseres Landes, als unser Beitrag zum Frieden in Europa. Schönen Dank.
Das erste Luftverteidigungssystem IRIS-T SLM–Infra Red Imaging System – Tail/Thrust Vector Controlled, Surface Launched Medium Range wurde an die Bundeswehr übergeben. Bundeskanzler Scholz besuchte die Flugabwehrraketengruppe 61 in Schleswig-Holstein: „Hier geht es – ohne jede Übertreibung – um die Wahrung von Sicherheit und Frieden in Europa.“
„Halbleiter sind der Treibstoff des 21. Jahrhunderts“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-scholz-dresden-tsmc-2303520
Tue, 20 Aug 2024 00:00:00 +0200
Rede von Kanzler Scholz beim Spatenstich zur TSMC-Halbleiterfabrik
Bundeskanzler Scholz hat das Gelände der zukünftigen TSMC-Fabrik in Dresden besucht. Der taiwanesische Halbleiterhersteller TSMC will sich mit einer Milliardeninvestition am Aufbau einer Chipproduktion in Dresden engagieren. Das Wichtigste im Überblick: Halbleiter sind der Treibstoff des 21. Jahrhunderts. Daher ist es eine gute Nachricht, dass TSMC und seine europäischen Partner mit dem European Chips Act die nötigen Anreize haben, in Deutschland zu investieren. Die in Dresden gefertigten Chips helfen mit, gute Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen. Sie machen die deutsche Wirtschaft widerstandsfähiger – vom Großkonzern bis zum Mittelstand. Mit TSMC kommt ein echter Pionier nach Dresden, den Ort der europäischen Chip-Industrie. Denn: Mehr als 80.000 Beschäftigte in und um Dresden sind jetzt schon in der Mikroelektronik- und IT-Branche tätig. Generell ist der Industriestandort Ostdeutschland ein hochinnovativer Impulsgeber. Das zeigen unter anderem die Milliardeninvestitionen in Sachsen und Sachsen-Anhalt: von Bosch, Infineon, NXP – und natürlich von TSMC. Insbesondere für nachhaltige Zukunftstechnologien sind Halbleiter wichtig. Um nicht abhängig von anderen Weltregionen zu sein, ist es daher wegweisend, dass sich Chip-Fabriken in Deutschland und Europa ansiedeln und die Halbleiter-Kapazitäten wachsen. Bis 2030 soll ein Fünftel der weltweiten Halbleiterproduktion in Europa stattfinden. Die Bundesregierung steht hinter diesem Ziel und leistet mit vielen Projekten einen entscheidenden Beitrag zur europäischen Souveränität in dem strategisch entscheidenden Sektor Halbleiter. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Dear C. C. Wei, sehr geehrter Herr Hanebeck, sehr geehrter Herr Sievers, sehr geehrter Herr Asenkerschbaumer, sehr geehrte Frau Kommissionspräsidentin, liebe Ursula, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Damen und Herren, vielen Dank für die Einladung nach Dresden! Zu allererst möchte ich die Taiwan Semiconductor Manufacturing Company noch einmal offiziell hier in Deutschland, hier in Europa begrüßen. Herzlich willkommen, TSMC! Wir freuen uns ganz besonders darüber, dass Sie sich für unser Land entschieden haben. Wir sind begeistert, dass ein so wichtiger Akteur der weltweiten Halbleiterszenerie jetzt hier bei uns einen Standort errichtet. Mit TSMC kommt ein echter Pionier mit einer langen Geschichte nach Dresden. Sie kommen an den richtigen Ort. Hier in Dresden schlägt das Herz der europäischen Chipindustrie. Zugleich wertet Ihr Kommen dieses Mikroelektronikcluster noch weiter auf. Ich habe schon oft betont, warum Investitionen in die Halbleiterindustrie in Deutschland und in Europa so wichtig sind. Man kann es aber gar nicht oft genug sagen. Halbleiter sind der Treibstoff, das Erdöl, des 21. Jahrhunderts, eines Jahrhunderts, das wirtschaftlich und industriell von zwei Megatrends geprägt ist, nämlich von der umfassenden Digitalisierung unseres Lebens und von der Dekarbonisierung, dem weltweiten Abschied von den fossilen Energieträgern, von Erdöl, Erdgas und Kohle. Wer bei diesen beiden Megatrends vorn dabei sein will ‑ das wollen und das können wir ‑, der braucht vor allem eines: Halbleiter. Für Deutschland als Industrieland ist das eine, wenn nicht gar die zentrale Zukunftsfrage. Genau deshalb ist heute die Innovationskraft der Männer und Frauen so entscheidend, die in Unternehmen wie TSMC, Bosch, Infineon und NXP tätig sind. Ganz herzlichen Dank für Ihre wichtige Arbeit! Meine Damen und Herren, wir haben uns ehrgeizige Ziele gesetzt. Wir wollen ein führendes Industrieland bleiben. Zugleich sind wir auf gutem Weg, schon 2030 80 Prozent unserer Energie aus erneuerbaren Quellen zu beziehen. Im Jahr 2045 soll Deutschland dann vollständig klimaneutral sein. Das schaffen wir nur mit Anstrengungen in allen Bereichen unseres Lebens und Wirtschaftens. Das schaffen wir nur, wenn wir Windkraft und Photovoltaik ausbauen, und zwar in dem Tempo, das wir in den letzten zwei Jahren erreicht haben. Das schaffen wir nur mit klimaneutraler Mobilität. Alle diese Bereiche haben aber eines gemeinsam: Sie brauchen Halbleiter, sehr, sehr viele Halbleiter, immer mehr Halbleiter. Nur als Beispiel: Schon heute stecken in einem durchschnittlichen E-Auto mindestens doppelt so viele Chips wie in einem Verbrenner. Auch für unsere Übertragungsnetze und für jede KI-Anwendung brauchen wir sie. Um es ganz klar zu sagen: Wachstum und Wohlstand, Fortschritt und wirtschaftliche Entwicklung, das alles wird uns auch in Zukunft gelingen, mit Halbleitern. Das ist gut für TSMC, das ist gut für Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wichtig aber ist nicht nur das, sondern auch, dass überhaupt weiter in die Halbleiterindustrie investiert wird. Wichtig ist auch, dass die Halbleiterkapazitäten besonders hier bei uns in Europa und in Deutschland wachsen. Der Grund ist einfach. Wenn wir nämlich feststellen, dass wir bei unseren nachhaltigen Zukunftstechnologien von Halbleitern abhängig sind, dann dürfen wir bei der Versorgung mit Halbleitern nicht von anderen Weltregionen abhängig sein, sondern dann brauchen wir Halbleiterfabriken hier bei uns in Europa, in Deutschland. Dabei geht es nicht ‑ das will ich ausdrücklich sagen ‑ um Autarkie oder den Rückbau globaler Liefer- und Wertschöpfungsketten. „Decoupling“, uns also von einzelnen Märkten abzukoppeln, das wäre ganz sicher der falsche Weg. Aber „derisking“, die kluge, vorausschauendes Diversifizierung unserer Bezugsquellen, den Ausbau eigener Kompetenzen und Kapazitäten, das brauchen wir. Ich sage ganz bewusst Ausbau, nicht Aufbau. Denn Deutschland hat auf diesem Gebiet eine große eigene Tradition vorzuweisen. Dafür stehen schon die Namen der an diesem Projekt beteiligten Unternehmen. Auch Silicon Saxony ist nicht nach 1990 plötzlich vom Himmel gefallen. Hier in Dresden wurde erfolgreich an die Geschichte des VEB Kombinat Robotron in der DDR angeknüpft. Um diese großen deutschen und europäischen Traditionen fortzuführen, müssen wir aufpassen, dass wir selbst weiterhin an der Spitze der Innovation dabei sind. Die EU-Kommission hat deshalb ein klares Ziel formuliert. Bis 2030 soll ein Fünftel der weltweiten Halbleiterproduktion hier bei uns in Europa stattfinden. Liebe Ursula von der Leyen, hinter diesem Ziel steht die Bundesregierung voll und ganz. Wir leisten mit diesem und vielen anderen Projekten einen entscheidenden Beitrag zur europäischen Souveränität in dem strategisch entscheidenden Sektor der Halbleiter. Den European Chips Act unterstützen wir nicht nur, wir treiben ihn aktiv voran und füllen ihn mit Leben. Dazu trägt der heutige Tag entscheidend bei. Es ist eine tolle Nachricht, dass TSMC und seine europäischen Partner mit dem Chips Act im Rücken die nötigen Anreize haben, hier in Deutschland zu investieren. Die hier in Dresden gefertigten Chips helfen mit, gute Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen. Sie machen unsere Industrie vom Großkonzern bis zum Mittelstand widerstandsfähiger, und sie versorgen unsere Unternehmen mit den Bauteilen, die sie für die Industrie 4.0, für die Digitalisierung und für umweltfreundliche Technologien brauchen. Meine Damen und Herren, noch einen Punkt will ich hier sehr klar ansprechen. Manche kritisieren, dass die Bundesregierung mit hohen Fördermitteln große und erfolgreiche Unternehmen bei ihren Investitionen unterstützt, und es werden viele Fragen aufgeworfen. Ich will deshalb vier klare Antworten geben. Erstens: Wir brauchen die Halbleiter überall, in allen Branchen, in fast jedem Unternehmen. Jede einzelne Branche in Deutschland hat ein ganz direktes, ureigenes Interesse daran, dass ihr Zugang zu Halbleitern gesichert ist. Heute und mehr noch in der Zukunft gilt: Ohne Halbleiter keine Industrie, ohne Halbleiter keine Dienstleistungen. ‑ Deshalb unterstützen wir die Halbleiterherstellung. Zweitens: Die Halbleiterfertigung ist eine der kapitalintensivsten Industrien überhaupt. Eine einzige Maschine kann mehrere hundert Millionen Euro kosten. Wenn wir diese Produktion in Europa haben wollen, wo sie nicht immer und unbedingt am günstigsten zu machen ist, dann müssen wir das finanziell ermöglichen. Wenn wir das nicht tun, dann tun es andere und wächst unsere Abhängigkeit. Auch deshalb unsere Unterstützung für die Halbleiterindustrie hier bei uns in Deutschland und in Europa. Drittens: Mit der Förderung der Halbleiterindustrie unterstützen wir nicht nur die Halbleiterindustrie selbst. Rund um die neu entstehenden Fabriken entstehen ganze Netzwerke aus Forschung und Entwicklung, aus Start-ups und Zuliefererbetrieben. Hier bei Ihnen in Sachsen ist das besonders offensichtlich. Silicon Saxony ist mittlerweile weltweit ein Begriff. Diese Region zählt heute auf dem Gebiet Mikroelektronik und IT zu den forschungsstärksten Regionen überhaupt. Mehr als 80 000 Beschäftigte sind heute schon hier rund um Dresden in dieser Branche tätig. Das sind mehr als 80 000 gut bezahlte, zukunftssichere Jobs. Ich bin dem sächsischen Wirtschaftsminister Martin Dulig sehr dankbar dafür, dass er zwischen der Handwerkskammer, der IHK und den großen Chipunternehmen eine Verabredung vermittelt hat, die dazu führt, dass die großen Investitionen und die neuen Fachkräfte auch in kleinen Unternehmen, bei den KMU ankommen. Darüber wurde eben schon berichtet. Das ist, wie ich finde, ein guter Fortschritt und eine gute Botschaft an den Mittelstand in Sachsen. Das neue TSMC-Halbleiterwerk wird dieser Entwicklung einen zusätzlichen Schub verleihen und die Wirtschaftskraft der gesamten Region weiter stärken. Deshalb unterstützen wir die Halbleiterindustrie. Viertens: Um die neuen Fabriken herum siedeln sich weitere Unternehmen an, von denen es viele ohne diese Fabriken gar nicht gäbe. Das sind Unternehmen, die etwa im Design oder in der Softwareentwicklung aktiv sind, in der Wartung oder in der Verpackung. Auch die Zulieferer haben wiederum ihre Zulieferer. Die Baubranche profitiert, Handwerk und Gewerbe profitieren, Cateringbetriebe und Dienstleister aller Art profitieren, bis hin zu Einzelhandel und Gastronomie vor Ort. Ja, auch deshalb unterstützen wir die Halbleiterindustrie. Diese Unterstützung setzen wir fort, auch in den kommenden Jahren. Meine Damen und Herren, jeder Region tut es gut, wenn sie sich weiterentwickelt, wenn sie kluge Köpfe und fleißige Hände anzieht. Genau das erleben wir hier gerade. Dass wir den heutigen Spatenstich für ein weiteres zukunftsweisendes Projekt hier in Dresden feiern, ist Teil einer besonderen Erfolgsstory Ost. Der Industriestandort Ostdeutschland, das ist heute eben nicht mehr nur die sprichwörtliche verlängerte Werkbank, sondern das ist ein hochinnovativer Impulsgeber. Das zeigen die Milliardeninvestitionen in Sachsen und Sachsen-Anhalt von Intel, von Bosch, von Infineon, von NXP und natürlich von TSMC. In Thüringen wird in Batterien investiert. Brandenburg boomt mit Elektroautos. Mecklenburg-Vorpommern ist etwa bei der Geothermie vorn dabei. Auffällig ist: Gerade in traditionellen Industrieregionen entstehen heute wieder hochmoderne Schlüsselindustrien. ‑ Sachsen ist ein Paradebeispiel dafür: Jeder dritte in Europa gefertigte Chip kommt hier aus dieser Region. ‑ Es ist gut, dass diese Entwicklung mit dem heutigen Spatenstich weitergeht. Aber das will ich an dieser Stelle ebenfalls klar sagen: Damit diese positive Entwicklung auch zukünftig weitergeht, müssen auch die gesellschaftlichen und die politischen Bedingungen weiterhin stimmen. Dafür brauchen wir weiterhin Offenheit für Investitionen und Lust auf Zukunft statt Abschottung und Zukunftsangst. Dafür brauchen wir weiterhin ein proeuropäisches und weltoffenes Deutschland statt Nationalismus und Ressentiments. Weltoffenheit und Zuversicht, wenn wir uns das bewahren, wenn wir das verteidigen, dann wird diese Großinvestition sicherlich nicht die letzte sein, die wir in Silicon Saxony und in Ostdeutschland erleben. In diesem Sinne wünsche ich TSMC mit seinen Partnern gutes Gelingen für dieses wichtige Projekt und uns allen weiterhin viel Erfolg bei unseren gemeinsamen Aufgaben. Schönen Dank!
Bundeskanzler Scholz hat sich in Dresden erfreut gezeigt, dass sich TSMC für den Standort in Sachsen entschieden hat. In Dresden schlage das Herz der europäischen Chip-Industrie, betonte Scholz.
Zugehörigkeit und volle Anerkennung
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bundeskanzler-bei-einbuergerungsfeier-2303374
Mon, 19 Aug 2024 00:00:00 +0200
Rede des Kanzlers bei Einbürgerungsfeier in Bremen
Statement BK,Aufgaben_des_Kanzlers
Im vorigen Jahr wurden über 200.000 Menschen in Deutschland eingebürgert – elf davon bekamen ihre Einbürgerungsurkunde am Montag im Beisein von Bundeskanzler Olaf Scholz in Bremen überreicht. Dort hielt er eine Rede und begrüßte die neuen Staatsbürgerinnen und -bürger. „Sie haben sich entschieden, zu Deutschland zu gehören – mit allen Rechten und Pflichten. Ich freue mich sehr darüber“, betonte Scholz bei der Einbürgerungsfeier. Das Wichtigste im Überblick: Einbürgerungen als Chance: Integration gelingt millionenfach. Im europäischen Vergleich zeigt sich: Deutschland steht laut OECD–Internationale Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (engl. Organisation for Economic Co-operation and Development) bei der Einbeziehung von Eingewanderten in den Arbeitsmarkt auf Platz eins. „Wir in Deutschland sind darauf angewiesen, dass die besten Köpfe und die tüchtigsten Hände zu uns kommen“, sagte Olaf Scholz. Es brauche noch viel, viel mehr fleißige Kräfte, die hier arbeiten und leben wollen. Integration von Anfang an: Eine erfolgreiche Integration hat drei Elemente: Sprache, Bildung und Arbeit. „Das heißt natürlich: Sprach- und Integrationskurse sofort“, so Scholz. Das bedeutet aber auch: Keine unnützen Beschäftigungsverbote mehr, sondern ein Leben aus eigener Kraft – wo immer und so schnell wie möglich. Einwanderung mit klaren Regeln: Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts erleichtert und beschleunigt die Einbürgerungsverfahren. „Wir sorgen dafür, dass wir Einwanderung in Deutschland endlich zeitgemäß und zukunftsgewandt gestalten“, betonte der Kanzler. Zentrale Elemente sind die Akzeptanz der Mehrstaatigkeit und die Verkürzung der erforderlichen Aufenthaltsdauer bei guter Integration. Die Offenheit setzt aber auch klare Regeln voraus: Wer keine Aufenthaltsberechtigung hat, der kann nicht in Deutschland bleiben. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Lieber Andreas Bovenschulte, lieber Ulrich Mäurer, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ausländerbehörden, liebe Angehörige, ganz besonders aber am heutigen Tag liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ab heute kann ich Sie vollkommen zutreffend so begrüßen; denn seit Kurzem – und einige von Ihnen tatsächlich erst seit heute – sind Sie deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Das hat eine politische Bedeutung und eine rechtliche. Aber für jeden und jede von Ihnen hat es vor allem eine ganz persönliche Bedeutung. Es bewegt mich immer wieder sehr, wenn ich höre, was sich alles im Leben derjenigen ändert, die zu deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern werden. Damit sind große Hoffnungen verbunden, Hoffnungen auf ein Leben in Sicherheit, ein Leben in Freiheit, in einer Demokratie, in einem Rechtsstaat. Aber auch kleinere Hoffnungen werden wahr: Manche können, ausgestattet mit ihrem deutschen Pass, zum ersten Mal überhaupt ohne Visum quer durch Europa reisen oder zum ersten Mal das Land ihrer Vorfahren besuchen. Sie dürfen jetzt in Deutschland wählen gehen und sich wählen lassen. Vielleicht wollen Sie ja auch einen Verein gründen, oder Sie wollen in der deutschen Nationalmannschaft spielen und bei den Olympischen Spielen für unser Land antreten. Jetzt können Sie auch das, und wenn nicht Sie, dann schaffen es Ihre Kinder oder Ihre Enkel. Wir sind hier, um genau das zu feiern. Sie haben sich entschieden, deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu werden. Sie haben sich entschieden, zu Deutschland zu gehören – mit allen Rechten und Pflichten. Ich freue mich sehr darüber; denn eine Einbürgerung ist das stärkste Bekenntnis zu unserem Land, zu unseren Werten, zu unserer Demokratie und zu unserem Grundgesetz. Liebe neue Bürgerinnen und Bürger, manche von Ihnen sind aus Syrien geflohen, aus dem Iran oder aus Afghanistan. Die elf unter Ihnen, die heute hier die Einbürgerungsurkunde erhalten, stammen aus der Ukraine, aus Guinea, Ghana, Äthiopien, Mexiko, Kolumbien, Jordanien, Syrien und Russland. Wie viele verschiedene Lebenswege, Lebensgeschichten und Erfahrungen sind hier versammelt, allein schon in dieser kleinen, zufälligen Auswahl! Aber Sie alle haben eines gemeinsam: Sie alle haben sich hier in Deutschland ein neues Leben aufgebaut. Sie alle haben die deutsche Sprache gelernt, Sie alle haben hier Ihre neue Heimat gefunden. Die Wege, die Sie dafür zurücklegen mussten, waren weit und ganz sicher nicht einfach. Aber Sie sind diese Wege gegangen. Sie haben sich angestrengt. Sie haben etwas erreicht für sich und für Ihre Familien, und Sie haben Großes geleistet. Und, ja, Sie waren auch in den vergangenen Jahren schon Teil unserer Gesellschaft, haben längst zum Gemeinwohl beigetragen, haben hier bereits dazugehört. Aber jetzt, jetzt sind Sie Deutsche, ohne Fragezeichen, ohne Zweifel, ohne Wenn und Aber. Ich bin sehr froh darüber, dass sich in unserem Land immer mehr Männer und Frauen mit Einwanderungsgeschichte für diesen Schritt entscheiden. Im vorigen Jahr wurden mehr als 200.000 Frauen, Männer und Kinder in Deutschland eingebürgert, rund ein Fünftel mehr als 2022. Deshalb, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Verwaltung: Das ist auch Ihr Erfolg, hier in Bremen und im ganzen Land. Danke dafür! Jede und jeder Einzelne von Ihnen leistet eine sehr wichtige und verantwortungsvolle Arbeit – nicht nur für die neuen Bürgerinnen und Bürger, auch für unser Land insgesamt. Stellvertretend für alle Kolleginnen und Kollegen überall in Deutschland sage ich deshalb heute noch einmal ganz herzlichen Dank! Ich kann Ihnen zugleich sagen: Die Bundesregierung ist intensiv dabei, Ihnen die Arbeit in den Ausländer- und Einbürgerungsbehörden zu erleichtern. Wir vereinheitlichen und vereinfachen die Verfahren, und – ganz entscheidend – gemeinsam mit den Ländern treiben wir die Digitalisierung der Ausländerbehörden intensiv voran. Meine Damen und Herren, ganz hier in der Nähe, in Bremerhaven, gibt es ein hochinteressantes Museum, das Deutsche Auswandererhaus. Es erinnert an einen wichtigen Teil der Geschichte unseres Landes, an Zeiten nämlich, in denen es die Deutschen waren, die ihre Heimat verließen oder verlassen mussten, um ein besseres Leben in der Fremde zu suchen. Allein in Bremerhaven gingen im 19. Jahrhundert mehr als sieben Millionen Auswanderer an Bord von Schiffen, die sie nach Übersee brachten, die meisten von ihnen nach Amerika. Heute stammen 45 Millionen Bürgerinnen und Bürger der USA von deutschen Vorfahren ab, und niemand käme auf die verrückte Idee zu sagen, „Das sind gar keine richtigen Amerikaner“, weil die Vereinigten Staaten ein Einwanderungsland sind, ein Land, dessen Aufstieg, Erfolg und Wohlstand ohne Einwanderung gar nicht möglich gewesen wäre. Inzwischen ist auch Deutschland ein Einwanderungsland, und zwar nicht erst seit heute, sondern seit Jahrzehnten. Viele sogenannte Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter – in der ehemaligen DDR hießen sie Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter – haben unser Land mit aufgebaut. Frauen und Männer mit Einwanderungsgeschichte haben Deutschland mitgeprägt und bereichert – kulturell, sozial und wirtschaftlich. Sie gehören längst zu Deutschland – als Nachbarn, Kollegen, Freunde, Familienmitglieder. Auch unser Erfolg, auch unser Wohlstand in den vergangenen Jahrzehnten wäre gar nicht möglich gewesen ohne Einwanderung. Heute gehen mehr Leute in unserem Land einer Arbeit nach als je zuvor in der Geschichte. Diesen Erfolg verdanken wir allein der Tatsache, dass es in den vergangenen Jahren so viele fleißige Frauen und Männer aus dem Ausland zu uns gebracht hat. Zu den fleißigen Frauen und Männern gehören übrigens auch viele anerkannte Geflüchtete, die hier Schutz gesucht und gefunden haben. Meine Damen und Herren, ein erfolgreiches Einwanderungsland zu sein, das verschafft Deutschland eine historische Chance: die Chance, als offenes und vielfältiges Land in einer globalisierten Welt auch in Zukunft Erfolg zu haben, die Chance, genügend Arbeitskräfte zu gewinnen und zu halten, um ein wirtschaftlich gedeihendes Land zu bleiben, die Chance, unseren starken Sozialstaat zu erhalten, weil wir auch in Zukunft ein wachsendes Land sind. Deshalb war es höchste Zeit, aus diesen Einsichten endlich die richtigen Schlüsse zu ziehen. Das haben die Bundesregierung und der Bundestag getan – mit dem modernsten Einwanderungsrecht, das wir in Deutschland je hatten, einem Einwanderungsrecht mit klaren Regeln, einem Einwanderungsrecht, das die Art von Einwanderung ermöglicht und fördert, die wir in Deutschland brauchen. Ich bin tief überzeugt: Die allermeisten Bürgerinnen und Bürger wissen längst, dass Deutschland nur als Einwanderungsland erfolgreich sein kann, und die Bürgerinnen und Bürger erwarten zugleich – und zu Recht –, dass der Staat die Einwanderung wirksam ordnet. Genau das tun wir. Offenheit setzt klare Regeln voraus. Wer keine Aufenthaltsberechtigung hat, hier in Deutschland, der kann auch nicht in Deutschland bleiben. Meine Damen und Herren, wir erleben große Einwanderungserfolgsgeschichten in unserem Land. Wir erleben, dass Integration millionenfach gelingt. Deshalb stört es mich seit vielen Jahren, wie zu oft über Einwanderung und Integration diskutiert wird. Da ist von Scheitern die Rede und von Überforderung. Dafür lassen sich Beispiele finden, keine Frage, und die dürfen auch nicht unter den Teppich gekehrt werden. Aber die positiven Beispiele überwiegen millionenfach, und auch das muss gesagt werden. Das bestätigt uns ganz aktuell in einem Länderbericht auch die OECD, die internationale Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Im europäischen Vergleich zeigt sich zum Beispiel: Deutschland steht bei der Einbeziehung von Eingewanderten in den Arbeitsmarkt auf Platz eins. Als Bundesregierung schaffen wir mit unseren Gesetzen die Grundlagen für diese millionenfach positive Realität. Wir sorgen dafür, dass wir Einwanderung in Deutschland endlich zeitgemäß und zukunftsgewandt gestalten. Integration von Anfang an, das ist unser Maßstab. Das hat drei entscheidende Komponenten: Sprache, Bildung und Arbeit. Das heißt natürlich: Sprach- und Integrationskurse sofort. Und das heißt auch: Keine unnützen Beschäftigungsverbote mehr, sondern ein Leben aus eigener Kraft – wo immer möglich, so schnell wie möglich. Entscheidend ist, dass wir die Regelungen für die Einwanderung von Fach- und Arbeitskräften verbessert haben. Denn wir in Deutschland sind darauf angewiesen, dass die besten Kräfte und Köpfe und die tüchtigsten Hände zu uns kommen. Wir brauchen Ingenieure und Informatiker. Wir brauchen Logistiker und Verkäuferinnen. Wir brauchen Epidemiologinnen und Informationselektroniker. Wir brauchen Bürokauffrauen und Gärtner für den Landschaftsbau. Wir brauchen Friseurinnen, Industriekaufleute, Sprach- und Integrationsmittlerinnen – und das sind beispielhaft nur einige wenige der vielen, vielen Berufe, für die wir in Deutschland dringend gute Leute brauchen. Aber es sind genau diejenigen Berufe, denen die elf Frauen und Männer nachgehen, die heute hier ihre Einbürgerungsurkunden erhalten. Auch deshalb: Wie gut, dass Sie hier sind! Herzlichen Dank! Aber wir brauchen noch viel, viel mehr kluge Köpfe und fleißige Kräfte, die hier bei uns arbeiten und leben wollen und die sich dann auch dafür entscheiden, auf Dauer hier bei uns zu bleiben und Deutsche zu werden, genau wie Sie es getan haben. Deshalb haben wir dafür gesorgt, dass Frauen und Männer wie Sie – die sich anstrengen, die hier arbeiten, die unsere Werte teilen und die ihre Zukunft hier in Deutschland sehen – einfacher als bisher Deutsche werden können. Künftig muss man seine bisherige Staatsangehörigkeit dafür nicht mehr aufgeben. Manch einer kritisiert das, nach dem Motto: „Entweder, man ist Deutscher, oder man ist Inder, Mexikaner oder Senegalese – zwei Staatsangehörigkeiten, das geht nicht.“ Mich hat das nie überzeugt. Fast alle Einwanderungsländer lassen Mehrstaatigkeit als etwas ganz Normales zu und fahren damit ganz gut. Auch bei uns konnten schon bisher rund 60 Prozent der Eingebürgerten ihre Staatsangehörigkeit behalten, 40 Prozent dagegen nicht. Das war alles andere als gerecht. Vor allem aber widerspricht das doch vollkommen der Lebensrealität ganz vieler Bürgerinnen und Bürger. Wer mit Frauen und Männern wie Ihnen spricht, wer mit Spätaussiedlerinnen redet, mit Geflüchteten, auch mit heimatvertriebenen Deutschen und ihren Nachkommen, der hört immer wieder: Heimaten gibt es auch im Plural. Denn natürlich hängt das Herz oft noch an dem Ort, an dem man geboren wurde, aus dem die eigene Familie stammt, und zugleich kann unser Herz offen sein für eine neue Heimat, so wie Sie Deutschland in Ihr Herz geschlossen haben. Unser neues Einbürgerungsrecht trägt dem Rechnung. Es sendet eine klare Botschaft in die Welt: Wer hier auf Dauer lebt, wer hier arbeitet und wer unsere Demokratie schätzt und ehrt, soll deutsche Staatsbürgerin oder deutscher Staatsbürger werden wollen. Wer etwas vorhat, wer sich anstrengt, wer etwas aus seinem eigenen Leben machen will, der ist hier in Deutschland willkommen, genau so wie Sie, liebe Neubürgerinnen und Neubürger! Ihre Geschichten und Ihre Lebensleistungen beeindrucken und, ja, berühren mich, gerade weil Sie Ihren Weg gegangen sind, auch gegen viele Widerstände. Ich wünsche mir, dass Ihre Leistungen in Deutschland gesehen und anerkannt werden, respektiert und gewürdigt, und zwar von allen! Denn genau das haben Sie verdient. Wahr ist allerdings auch, und Sie wissen es selbst: Ganz am Ziel sind wir dabei noch nicht. Rassismus, Antisemitismus und andere menschenfeindliche Einstellungen sind in Deutschland noch nicht überwunden, um es einmal zurückhaltend zu formulieren. Sie alle wissen: Es gibt politische Akteure, die die massenhafte Vertreibung von Menschen mit Migrationsgeschichte anstreben. Rassismus ist für viele Menschen leider Alltag. Deshalb sage ich hier in aller Klarheit: Unser Rechtsstaat ist stark, unsere Demokratie ist wehrhaft. Jede und jeder in Deutschland – jede und jeder von Ihnen – muss sich jederzeit darauf verlassen können, dass der Staat eine klare Antwort auf Gewalt, Hass und Hetze gibt. Dieses Versprechen ergibt sich zwingend aus den Grundwerten unserer Verfassung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ So steht es schon im allerersten Artikel unserer Verfassung, und das gilt! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Menschenwürde und Demokratie, innere und äußere Sicherheit, individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit, Gleichheit vor dem Gesetz – das sind die Werte unserer Verfassung. Das sind die Werte, die unser Land im Kern zusammenhalten. Zu diesen Werten bekennt sich die ganz große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. Unser „Wir“ unterscheidet nicht danach, ob jemand eine Einwanderungsgeschichte hat oder nicht, wie ein Mensch aussieht, wen er liebt und woran er glaubt. Unser „Wir“, das schließt Sie ein. Dazu gehört auch, dass Sie die Geschicke unseres Landes mitbestimmen können: Gehen Sie wählen! Lassen Sie sich vielleicht sogar wählen! Gestalten Sie gesellschaftlich und politisch mit! Engagieren Sie sich! Das alles steht Ihnen jedenfalls jetzt offen. Das alles stärkt unsere Demokratie, das stärkt unseren Zusammenhalt, das stärkt unser Land. Deshalb ist der Schritt, den Sie heute gehen, ganz entscheidend, für Sie persönlich und zugleich für die Zukunft unseres Landes. Ich freue mich sehr, dass wir diesen besonderen Moment gemeinsam feiern. Schönen Dank!
Bundeskanzler Olaf Scholz hat an einer Einbürgerungsfeier in Bremen teilgenommen. In seiner Rede gratulierte er den Neubürgerinnen und -bürgern und zeigte die Chancen auf, die gelungene Integration mit sich bringe. Einwanderung brauche aber auch klare Regeln.
„Danke für unermüdlichen Beitrag für mehr Humor, Lachen und Optimismus“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-bei-stoppelmarkt-2303330
Mon, 19 Aug 2024 00:00:00 +0200
Rede des Kanzlers beim Stoppelmarkt in Vechta
Statement BK,Aufgaben_des_Kanzlers
Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: (Dem Bundeskanzler wird ein Glas Wasser gereicht.) ‑ Ich wollte ein Bier. Das war Diskriminierung von Bundespolitikern. (Heiterkeit und Beifall) Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Stephan, sehr geehrter Herr Bürgermeister, lieber Kristian, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, liebe Mitglieder des Marktausschusses, liebe Gäste und Freunde des Stoppelmarktes, moin und schönen Dank für die Einladung, wobei ich schon hinzufügen muss, dass ich vor dieser Rede deutlich mehr Manschetten hatte als vor der Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Auch andere waren besorgt. Sobald ich erzählt habe, dass ich nach Vechta zum Stoppelmarkt fahre, gab es zunächst überraschte und besorgte Gesichter. Lars Klingbeil: Olaf, du musst lustig sein! Stephan Weil: Olaf, das ist nicht wie im Bundesrat! Hubertus Heil: Olaf Scholz, du weißt schon, das muss eine humorvolle Rede sein! Boris Pistorius: Olaf, du musst in Sachen Witz schweres Geschütz auffahren! Auch bei der renommierten Vechtaer Stoppelmarktszeitung klingen Bedenken an. Der Scholz sei doch eher ein Schweiger als ein Redner, so ist da zu lesen. So, so! Ich sage es einmal so: Es war nicht leicht, sich diesen Ruf zu erarbeiten. Geholfen hat natürlich, dass ich in einem norddeutschen Umfeld aufgewachsen bin: geboren in Osnabrück, aufgewachsen in Hamburg, wobei für die richtigen Hamburger der lebenslustige Süden bekanntlich gleich südlich der Elbe beginnt. Aber Hamburg! Joja Wendt singt mit seiner Band, den Söhnen Hamburgs: Manche sagen wir sind dröge. Doch das ist ’ne glatte Löge. Wir denken vor dem Sprechen nach, Wenn’s sein muss auch ’nen ganzen Tag. So sind wir. Wenn wir Hamburg verlassen, dann heißt es schnell, wir redeten nicht viel. Als ich 2002 Generalsekretär der SPD wurde, habe ich mir gedacht: Wenn alle finden, dass du zu wenig redest, dann wiederholst du das, was du gesagt hast, einfach so lange, bis sie alle es wirklich gehört und verstanden haben. ‑ Das war einigen dann auch nicht recht. Jedenfalls bekam ich so den Spitznamen Scholzomat. Und nun Vechta. Bei der Lektüre der Stoppelmarktszeitung habe ich eine Liste mit Bewertungen gefunden, ein bisschen wie der Medaillenspiegel der deutschen Athletinnen und Athleten bei den Olympischen Spielen in Paris. Beim genauen Hinsehen war aber klar, dass meine rund 50 Vorrednerinnen und Vorredner gnadenlos auf einer Skala von null bis vier bewertet wurden. Nachdem ich das gesehen hatte, wurde ich noch ein Stück demütiger. So stehe ich jetzt hier und erwarte demnächst mein Urteil. Geunkt haben übrigens auch die Landwirtschaftspolitiker in der Fraktion, nach dem Motto: Die Landwirte haben dich mit ihren Treckern in Berlin besucht. Jetzt planst du wohl einen Gegenbesuch in Vechta? Auch Alexander Bartz hat mir natürlich Stoppelmarkttipps mitgegeben, also Verhaltenshinweise bis ins kleinste Detail: Erst ein Stück Kilmerstuten bei Ludger Fischer, als Hauptgang ein Kotelett bei Schmedes und zum Herunterspülen ein, zwei Bier bei Linnemann. Insofern bin ich deutlich besser vorbereitet als bei meinem ersten Zusammentreffen mit dem Marktausschuss, mit Jan, Libett und Bürgermeister Kater. Von ihnen bekam ich die offizielle Einladung zum Stoppelmarkt. Davon war schon die Rede. Von diesem Zusammentreffen mit dem Marktausschuss gibt es auch ein YouTube-Video. Ich sage einmal so: Gewisse Zweifel sind mir dabei anzusehen und auch irgendwie anzuhören. Mein Zitat von damals: „Ich hoffe, ich habe mich da auf etwas Vernünftiges eingelassen!“ Nach meinem Rundgang heute Morgen kann ich jedenfalls feststellen: Vernünftig ist vielleicht nicht alles, was man an sechs Tagen Stoppelmarkt so macht und zu sich nimmt. Auch hier im Zelt sind manche Augenringe tiefer als die von Robert Habeck, Christian Lindner und mir nach 80 Stunden Haushaltsberatung und durchverhandelter Nacht. Aber manche Sachen machen eben gerade deshalb Spaß, weil sie unvernünftig sind. ‑ Dieser Satz war übrigens ausschließlich auf den Stoppelmarkt gemünzt und auf gar keinen Fall auf die Zusammenarbeit in der Bundesregierung! Die ist nämlich vernünftig und macht Spaß. (Oh! im Publikum) ‑ Wie ich dieses Gemurmel nun deuten soll, weiß ich nicht. Übrigens: Ich habe gehört und sehe ja auch, dass Dennis Rohde und Christian Dürr heute hier sind. Wenn ich das gewusst hätte, dann hätten wir das mit dem Haushalt sehr viel nervenschonender hier auf dem Stoppelmarkt regeln können, nämlich nach dem Motto: Über ein halbleeres Glas redet es sich halbvoll viel leichter. Aber im Ernst, das Problem der Bundesregierung ist doch eher Folgendes: Manche der Beteiligten können ihre Freude an guter Zusammenarbeit und gemeinsamen Erfolgen einfach sehr gut verbergen. Es haben halt nicht alle in Berlin so ein überbordendes hanseatisches Temperament wie ich. Ich vermute übrigens, dass mich Kristian Kater genau deshalb hierher eingeladen hat. Letztes Jahr hattet Ihr Wolfgang Bosbach als karnevalserprobte, rheinische Stimmungskanone. Das war bestimmt super! Tja, und nun komme ich. Aber Sie haben natürlich recht. Es muss mehr gelacht werden. Vor allem in Deutschland ist in Sachen von Freude, Lockerheit und Zuversicht noch Luft nach oben. Gar nicht so wenige verbreiten ganz gezielt schlechte Laune und betreiben Schwarzmalerei. Das hilft aber niemandem. Natürlich leben wir in ernsten und auch in schwierigen Zeiten. Erst die Pandemie, die vielen bis heute in den Knochen steckt. Das gilt ganz besonders für diejenigen, die zum Beispiel eine Gastwirtschaft oder solche Märkte betreiben. Kaum war das Schlimmste vorüber, Russlands brutaler Angriff auf die Ukraine mit spürbaren Folgen auch für uns. Wie konnte es bei einem Krieg so dicht bei uns in Europa auch anders sein. Energiekrise, Strompreise, Zinsen, Inflation, dazu über eine Million ukrainischer Flüchtlinge, die hier bei uns in Deutschland Schutz vor Putins Krieg gefunden haben ‑ ich kann jeden verstehen, der sich bei so vielen Herausforderungen und so viel Ungewissheit fragt: Wohin soll das alles eigentlich noch führen? Ja, das sind Herausforderungen mit denen wir wirklich nicht gerechnet hatten. Aber wir haben jede einzelne dieser Herausforderungen bewältigt, und zwar gemeinsam. Unsere Wohnungen sind warm geblieben. Unsere Betriebe hatten Strom. Die Inflation ist wieder gesunken. Löhne und Renten steigen wieder, und zwar deutlich. Die Preisbremsen beim Strom und die steuerfreien Sonderzahlungen für die Beschäftigten haben gewirkt. Mit vereinten Kräften haben wir die vielen Geflüchteten insbesondere aus der Ukraine untergebracht. Danke an alle, die das vor Ort und überall in Deutschland getan haben! Bund, Länder, Gemeinden, Kirchen, Vereine, unzählige Ehrenamtliche, alle haben geholfen. [Fotoreihe] Na klar, das alles war ein großer Kraftakt. Aber das war ein Kraftakt, den wir bewältigt haben. Genau das zeigt uns doch, was wir in uns und was wir aneinander haben. Ich jedenfalls bin für dieses große Engagement dankbar. Viele bei uns packen an, viele helfen, viele legen die Hände zum Glück nicht in den Schoß und meckern nur von der Seitenlinie. Das zeichnet unser Land aus. Machen wir uns nicht kleiner als wir sind! Sommermärchen hin oder her, Julian Nagelsmann hat das nach der tollen Heim-EM doch wunderbar auf den Punkt gebracht. Deshalb will ich unseren Bundestrainer zitieren: „Es ist wichtig, zu realisieren, in welch schönem Land wir leben, landschaftlich und kulturell, was wir für Möglichkeiten haben, wenn wir alle zusammenhalten und nicht alles extrem schwarzmalen, dem Nachbarn nichts gönnen und von Neid zerfressen sind. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der Dinge alleine macht und dann automatisch schneller, besser weiterkommt, als wenn er sie mit jemandem zusammen macht.“ Meine Damen und Herren, liebe Stoppelmarktfreunde, ich habe mich gefreut, dass der Bundestrainer das einmal so klar ausgesprochen hat. Die allergrößte Gefahr für unser Land ist doch nicht, dass wir vor lauter guter Laune zu übermütig werden. Die allergrößte Gefahr für unser Land ist doch, dass Miesepeterigkeit die Oberhand gewinnt, dass Missgunst und Zukunftsangst die Oberhand gewinnen. Deshalb regt es mich auf, wenn Deutschland permanent schlechtgeredet wird, wenn es permanent heißt, unser Land sei total gespalten. Das ist doch ziemlicher Quatsch. Tüünkram sagen wir zu so etwas nicht nur in Hamburg. Nein, unser Land ist nicht total gespalten. Verändert hat sich vor allem, dass sich solcher Tüünkram so rasant und völlig unwidersprochen verbreiten kann. Früher lief das doch so wie hier auf dem Stoppelmarkt: Karl-Heinz hat vielleicht einen zu viel gehabt und dann irgendeinen Quark erzählt. Dann haben die um ihn Sitzenden gesagt: Mann, Karl-Heinz, was für einen Kram hast du da erzählt? – Heute schreibt Karl-Heinz so etwas auf Facebook oder Twitter und findet dann 20 andere Karl-Heinze, die denselben Quatsch erzählen. Schon denkt er: Alle ticken so. Aber, liebe Freunde, Tüünkram bleibt Tüünkram. Das müssen wir alle online nur genauso laut und deutlich sagen wie am Stammtisch, im Verein, in der Kantine oder auf dem Stoppelmarkt. Viel gewonnen wäre schon, wenn man einmal über die Themen redete, die uns wirklich betreffen. Wie wir uns anreden oder was wir in der Kantine oder am Abendbrottisch essen, gehört jedenfalls nicht dazu. Das soll jeder und jede halten, wie es passt. Bezahlbare Wohnungen, anständige Schulen, vernünftige Straßen, eine verlässliche Rente, das sind doch die Brot-und-Butter-Sachen, die wirklich wichtig sind. Darüber müssen wir reden. Nur ein Beispiel: 80 Prozent der Menschen finden, dass wir etwas gegen den Klimawandel tun müssen. Genau das passiert ja auch. Man schaue sich allein all die Biogasanlagen, die Solardächer und die Windräder an, die überall hier in Südoldenburg entstanden sind und entstehen. Niedersachsen als Energieland Nummer eins, wer hätte das noch vor zehn Jahren für möglich gehalten? – Okay, Stephan Weil natürlich. Statt sich in Gorleben auf die Gleise zu schnallen, hat er nämlich vernünftige Energiepolitik für dieses Land gemacht. 80 Prozent finden das gut, solange – das ist wichtig – keiner überfordert wird. Aber die öffentlichen Debatten dominieren entweder ein paar Verrückte, die den Klimawandel komplett leugnen, oder diejenigen, die sich in Berlin, Köln oder Frankfurt auf die Straße oder auf die Rollbahn kleben. Dabei schadet das nicht nur ihren eigenen Zielen, sondern das ist, unter uns gesagt, auch ziemlich bekloppt. Wenn Ihr mich fragt: Handeln ist besser, als sich irgendwo festzukleben. Liebe Stoppelmarktfreunde, 80 Prozent der Menschen wissen auch ganz genau: Nicht Arbeitslosigkeit ist heute unser Problem, sondern Arbeiterlosigkeit. – Wir brauchen Frauen und Männer, die hier mit anpacken, auch aus dem Ausland. Aber wem sage ich das hier in einem Landkreis, wo praktisch Vollbeschäftigung herrscht! Wie würde es denn hier aussehen ohne all die Frauen und Männer mit Migrationsgeschichte, in den Mastbetrieben, in den Handwerksbetrieben, in den Krankenhäusern, in den Pflegeheimen oder auf dem Bau? Ich denke, das will sich keiner von uns wirklich vorstellen. 80 Prozent der Menschen sind übrigens auch dafür, dass wir Kriegsflüchtlingen in Not helfen, wie wir das bei den Frauen, Männern und Kindern aus der Ukraine getan haben. Das hat hier in der Region vorbildlich geklappt, auch deshalb, weil es viele helfende Hände gegeben hat. Zugleich erwarten diese 80 Prozent auch, dass wir geltendes Recht durchsetzen und dass diejenigen, die kein Bleiberecht bei uns haben, dann auch wieder gehen, und zwar schneller, als das in den vergangenen Jahren gelungen ist. Menschlichkeit und Ordnung, darum geht es doch. In den vergangenen Jahren haben wir die irreguläre Migration schon deutlich gesenkt, übrigens zusammen mit Ländern und Kommunen. Das ist ein großer Erfolg und zeigt, es geht. Solche Antworten in der Sache brauchen wir und keine Debatten über offene Grenzen für alle oder Extremisten, die in Potsdamer Villen ihre Vertreibungspläne schmieden. Liebe Stoppelmarktfreunde, dass Tradition etwas Schönes ist, kann man hier auf der Westerheide Jahr für Jahr erleben. Aber keiner hier käme doch auf die Idee zu sagen, früher sei alles besser gewesen. Na, einige schon, aber die meisten nicht. Manche reden gern von der guten alten Zeit. Bloß, so gut war sie eben nicht. Wer wüsste das besser als ihr hier im Oldenburger Münsterland? Was würden wohl Eure und unsere Großeltern sagen, wenn sie all die schnieken Häuser und Höfe hier sehen würden, die schönen Innenstädte, die vielen neuen Autos und die modernen Unternehmen, alles, was diese Region heute so lebenswert macht, eine Region, die noch vor ein paar Jahrzehnten eben nicht für besonderen Wohlstand stand, sondern eher für harte, entbehrungsreiche Landarbeit, eine Region, die bis weit in die Nachkriegszeit als Armenhaus der Republik galt, die noch Mitte der 80er-Jahre die höchste Arbeitslosen-Quote in Westdeutschland hatte? Damals kam sogar das DDR-Fernsehen in Friesoythe vorbei, um über das Versagen beim Klassenfeind zu berichten. Heute sitzen hier zwischen Barßel und Damme, zwischen Goldenstedt und Lindern Dutzende Weltmarktführer. Richtig ausgesprochen, oder? (Heiterkeit und Beifall) Ja! Stephan, es geht gleich beim ersten Mal. Bruttoinlandsprodukt: seit 2000 mehr als verdoppelt. Beschäftigtenzahl: um 76 Prozent erhöht. Damit seid ihr ein Vorbild fürs ganze Land. Das ist euer Verdienst und das Verdienst aller, die hier mitangepackt und Dinge vorangebracht haben. Welche Veränderungen das mit sich gebracht hat, hat niemand so schön aufgeschrieben wie Ewald Frie, der Historiker aus dem Münsterland, in seinem Buch „Ein Hof und elf Geschwister“. Darin geht es um Respekt und um Wertschätzung für das, was die Generationen vor uns aufgebaut und erarbeitet haben, aber eben ganz ohne Pathos und ohne falsche Nostalgie, ganz ohne: Früher war alles besser. Eben nicht! Klar, man kann und man darf veränderte Konsumgewohnheiten beklagen, strengere Umweltauflagen oder das zu enge Korsett Brüsseler Bürokratie für die Landwirte. Das müssen wir gemeinsam angehen, auch zusammen mit der Stoppelmarktveteranin Ursula von der Leyen. Noch wichtiger ist aber, was sich hier in Vechta und Cloppenburg schon längst tut, nämlich die Zukunft der Landwirtschaft, die Zukunft dieser Region selbst in die Hand zu nehmen. Ein agrartechnologisches Silicon Valley sei das Oldenburger Münsterland. So habe ich es kürzlich irgendwo gelesen, und ich finde, das stimmt. Das stimmt, und zwar, weil hier gerade nicht alles so geblieben ist, wie es schon immer war, von so schönen Traditionen wie dem Stoppelmarkt einmal abgesehen. Schon 2006, lange bevor alle von Nitrateintrag oder Tierwohl geredet haben, hat Uwe Bartels als niedersächsischer Landwirtschaftsminister und Bürgermeister dieser Stadt Vorschläge für eine bessere Landwirtschaft gemacht, gesünder und umweltschonender. Das ist und bleibt der richtige Weg. Auch an der Uni Vechta, bei trafo:agrar, wird intensiv an der Zukunft der Landwirtschaft geforscht, und zwar nicht im Elfenbeintürmchen, sondern ganz handfest, oft direkt auf dem Acker oder im Stall, so, wie man das hier eben macht. Deshalb ist die gute Nachricht vom Vechtaer Stoppelmarkt an den Rest der Republik: Der nachhaltige Nachschub an Currywurst und Kotelett ist auch in Zukunft gesichert. Danke, Oldenburger Münsterland! Liebe Stoppelmarktfreunde, danken will ich auch den Veranstaltern des Vechtaer Stoppelmarkts. Auch deshalb bin ich heute hier. Danke für euren jahrelangen, unermüdlichen Beitrag für mehr Humor, für mehr Lachen und für mehr Optimismus! Wobei ein Blick in die USA zeigt: Selbst das herzlichste Lachen von Kamala Harris provoziert einige so maßlos, dass es dort Thema im Wahlkampf ist. Da wird gesagt, dass sich Lachen für eine Politikerin nicht gehöre, ja, dass Frauen überhaupt nicht lachen sollten. Damit entlarven sich die großen Miesepeter, die Schlechte-Laune-Macher endgültig. Wer anderen die Lebensfreude missgönnt, wer andere am Lachen hindern will, der sollte besser nicht über das Leben anderer Entscheidungen treffen. Ich gestehe: So herzlich und laut wie Kamala Harris kann ich nicht lachen. – Aber ein Landesfürst aus dem tiefen Süden hat mir immerhin einmal schlumpfiges Grinsen bescheinigt, sozusagen die norddeutsche Variante. Damit kann ich gut leben. Liebe Stoppelmarktfreunde, Heimat und Weltoffenheit, das kann man von diesem Landstrich hier lernen und, dass Heimat eben nichts Rückwärtsgewandtes und Verstaubtes ist, sondern offen und lebendig. Heimat macht man nicht sturmfest, indem man sie mit Zähnen und Klauen verteidigt, sondern mit Zuversicht und Ideen. Das hat der Südoldenburger Regisseur und Journalist Torsten Körner gesagt, vor zwei Jahren auf dem Münsterlandtag. Heimat sei eine Hassverbotszone. So hat er es auf den Punkt gebracht. Heimat als Hassverbotszone, genau darum geht es doch. Das funktioniert, weil hier norddeutsche Gelassenheit und südoldenburgische Toleranz zusammenkommen. Vechta ist übrigens der beste Beweis dafür. Hier dürfen Konservative einen SPD-Bürgermeister ins Amt wählen, hier darf ein grüner Bundeslandwirtschaftsminister das Bierfass auf dem Stoppelmarkt anstechen, hier dürfen sogar Leute aus Lohne im Publikum sitzen, und hier darf ein Bundeskanzler im Bierzelt eine Festrede halten, von dem es heißt, er sei ein dröger Fischkopp, dazu noch einer, der in Osnabrück geboren und evangelisch getauft wurde. Ich habe das einmal recherchieren lassen. Dass ich der erste gebürtige Osnabrücker seit dem Westfälischen Frieden bin, der hier auf dem Stoppelmarkt reden darf, stimmt nicht ganz. Christian Wulff war auch schon hier. Aber ich weiß diese große Geste der Südoldenburger Toleranz trotzdem sehr zu schätzen. Schönen Dank dafür und weiterhin viel Spaß hier auf dem Stoppelmarkt!
„Vor dieser Rede hier hatte ich deutlich mehr Manschetten als vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede auf dem Stoppelmarkt. Bei Volksfesten wie in Vechta geht es für ihn um Zusammenhalt und Miteinander.
Pressestatement von Bundeskanzler Scholz bei den Olympischen Spielen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bundeskanzler-rede-olympische-spiele-2302310
Fri, 09 Aug 2024 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Aufgaben_des_Kanzlers,Statement BK
Bundeskanzler Scholz: Ich besuche jetzt zum zweiten Mal die Olympischen Spiele hier in Paris. Wir haben großartige sportliche Leistungen gesehen und werden noch viele erleben. Das gilt ganz besonders auch für die deutschen Sportlerinnen und Sportler, die hier teilnehmen. Ein großer Glückwunsch ist unseren französischen Freundinnen und Freunden auszurichten. Was hier in Paris gelungen ist, ist wirklich großartig. Es sind tolle Spiele, die auch für die Olympischen Spiele und den Geist, der damit verbunden ist, werben. Es ist ein Geist der olympischen Exzellenz, der Fairness und der Zusammenarbeit, und das ist, denke ich, gerade auch in diesen Zeiten ganz wichtig, in denen wir in dieser Welt leben. Deshalb freue ich mich auch über das, was wir hier erleben dürfen, und hoffe, dass das ein bisschen ansteckend ist. Wie Sie wissen, ist es ja unser Plan, Olympische Spiele in Deutschland auch wieder in den Blick zu nehmen. Insofern ist das eine große Inspiration, die wir hier gemeinsam erleben. Schönen Dank. [fotoreihe]
Bundeskanzler Scholz hat erneut die Olympischen Spiele in Paris besucht und mehrere Wettkämpfe selbst beobachtet. „Was hier in Paris gelungen ist, ist wirklich großartig“, betonte Scholz. Lesen Sie hier das gesamte Statement.
Rede von Kanzler Scholz auf der Welt-AIDS-Konferenz
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-welt-aids-konferenz-2300674
Mon, 22 Jul 2024 17:50:00 +0200
Im Wortlaut
Statement BK
Gesundheit
Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrte Frau Lewin, sehr geehrte Frau Byanyima, meine Damen und Herren! In jeder Minute stirbt ein Mensch an AIDS–Erworbenes Abwehrschwäche-Syndrom (engl. Acquired Immune Deficiency Syndrome). Ein Mensch in jeder Minute! Das müssen wir ändern. Unser gemeinsames Ziel ist es, die AIDS–Erworbenes Abwehrschwäche-Syndrom (engl. Acquired Immune Deficiency Syndrome)-Epidemie bis 2030 zu beenden. Zwar machen wir Fortschritte, doch wir sind noch nicht am Ziel. Deshalb setzen wir unsere Arbeit fort – gemeinsam und weltweit. Als einer der größten Geber trägt Deutschland im aktuellen Zyklus 1,3 Milliarden Euro zum Globalen Fonds zur Bekämpfung von AIDS–Erworbenes Abwehrschwäche-Syndrom (engl. Acquired Immune Deficiency Syndrome), Tuberkulose und Malaria bei. Und wir werden den Fonds weiter unterstützen. Warum ist das so wichtig? Weil die Programme, die durch den Fonds finanziert werden, neunundfünfzig Millionen Menschen das Leben gerettet haben. Neunundfünfzig Millionen! Diese Zahl spricht für sich. Außerdem unterstützen wir UNAIDS–Gemeinsame Programm der Vereinten Nationen für HIV/AIDS (eng. Joint United Nations Programme on HIV/AIDS) und die Weltgesundheitsorganisation und werden weiterhin ein verlässlicher Partner sein. Gemeinsam mit Frankreich und Norwegen unterstützt Deutschland die Investitionsrunde der Weltgesundheitsorganisation als einer der Gastgeber für die europäische Region. Dies ist von zentraler Bedeutung, denn die Weltgesundheitsorganisation braucht größere Unterstützung. Sie ist die Kette, die die verschiedenen Instanzen, die sich für weltweite Gesundheit einsetzen, bei ihren Bemühungen um Finanzierung sowie bei ihrer Koordinierung, Standardisierung und Arbeit vor Ort verbindet. Ich möchte andere Geber dazu aufrufen, sich zu beteiligen und einen Beitrag zu leisten – damit die Kette gestärkt wird und ihre Glieder noch zuverlässiger werden. Gesundheit ist überall ein vordringliches Thema. Alle Krisen, Kriege, Naturkatastrophen und Pandemien haben Folgen für die Gesundheit – und sie wirken sich hauptsächlich auf diejenigen aus, die von Armut, Benachteiligung und Diskriminierung betroffen sind. Auch das müssen wir ändern. Und damit es sich ändert, sind vier Strategien entscheidend. Wir brauchen mehr Forschung, bessere Prävention, eine Aufklärung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, sowie gründliche Tests. Lassen Sie mich kurz auf die einzelnen Punkte eingehen. Zunächst ist die Forschung in unserem Kampf gegen HIV von überragender Bedeutung, denn dieses Virus ist komplexer und anpassungsfähiger als andere. Die aktuellen Fortschritte, auch durch mRNA–Boten-Ribonukleinsäure (eng. messenger ribonucleic acid), machen uns zuversichtlich, dass in nicht allzu ferner Zukunft ein Impfstoff gegen HIV zur Verfügung stehen wird. In Deutschland haben wir in diesem Bereich ein florierendes Forschungsumfeld. Lassen Sie uns also gemeinsam die Forschung vorantreiben – um Menschenleben zu retten und das Leben der Menschen zu verbessern. Zweitens sollten wir die Prävention besser aufstellen. Die verfügbaren Mittel zur HIV-Prophylaxe haben sich als äußerst wirksam erwiesen und senken die Zahl der Neuinfektionen. Zudem erhalten in Deutschland mehr als 95 Prozent aller Menschen, bei denen HIV diagnostiziert wurde, eine Behandlung. Weltweit erhielten im Jahr 2023 über 30 Millionen Menschen eine antiretrovirale Therapie. Diese Therapien sind meistens erfolgreich und unterbinden die weitere Übertragung fast vollständig. Darüber hinaus ist Deutschland weiterhin bestrebt, das dritte Ziel von UNAIDS–Gemeinsame Programm der Vereinten Nationen für HIV/AIDS (eng. Joint United Nations Programme on HIV/AIDS) zu erreichen, nämlich dass 95 Prozent aller Infizierten ihre Diagnose kennen. Forschung und Prävention sind die beiden wichtigsten Maßnahmen, um die Zahl der Infektionen zu senken und die Behandlung zu verbessern. Mein dritter Punkt – Aufklärung und Sprachgebrauch – ist jedoch ebenso von Belang. Der Sprachgebrauch beeinflusst, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen. Ein Mensch mit dem Etikett „AIDS–Erworbenes Abwehrschwäche-Syndrom (engl. Acquired Immune Deficiency Syndrome)-Infizierter“ wird anders wahrgenommen als ein „Mensch, der mit HIV lebt“. Deshalb ist es so wichtig, in einer Weise zu kommunizieren, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, anstatt die Krankheit in den Vordergrund zu rücken. Eine Kommunikation, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, macht es außerdem leichter, die Krankheit und die Behandlungsmöglichkeiten zu verstehen. In Deutschland bieten die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Deutsche Aidshilfe weiterhin Öffentlichkeitsarbeit und gezielte Beratung an, damit alle Menschen Zugang zu den von ihnen benötigten Informationen haben. Zu guter Letzt müssen wir auch gründlicher testen. Woran wir jedoch wirklich weiter arbeiten müssen, ist der Kampf gegen Diskriminierung und Stigmatisierung. Dies betrifft jede einzelne Person, die mit HIV lebt. Deshalb kündige ich heute an, dass Deutschland sich der Globalen Partnerschaft von UNAIDS–Gemeinsame Programm der Vereinten Nationen für HIV/AIDS (eng. Joint United Nations Programme on HIV/AIDS) für Maßnahmen zur Beendigung von HIV-bezogener Stigmatisierung und Diskriminierung in all ihren Formen anschließen wird. In diesem Frühjahr haben Menschen überall in Deutschland das 75-jährige Bestehen unseres demokratischen Grundgesetzes gefeiert. Der allererste Artikel unseres Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Fünfundsiebzig Jahre später hat dieser Artikel 1 nichts von seiner Kraft eingebüßt. In unserem Land ist jede und jeder Einzelne zu schützen – egal, wo man herkommt, egal, wie gesund man ist, egal, wen man liebt. Vielen Dank!
Bei der Eröffnung der Welt-AIDS–Erworbenes Abwehrschwäche-Syndrom (engl. Acquired Immune Deficiency Syndrome)-Konfrenz in München hob Bundeskanzler Olaf Scholz das gemeinsame Ziel hervor, die AIDS–Erworbenes Abwehrschwäche-Syndrom (engl. Acquired Immune Deficiency Syndrome)-Epidemie bis 2030 zu beenden. Daran arbeite man weiter – gemeinsam und weltweit.
Rede von Bundeskanzler Scholz beim Feierlichen Gelöbniss von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr am 20. Juli 2024 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-feierlichen-geloebniss-von-soldatinnen-und-soldaten-der-bundeswehr-am-20-juli-2024-in-berlin-2300094
Sat, 20 Jul 2024 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Bundesminister Pistorius, lieber Boris, Exzellenzen, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter aus Bund und Ländern, sehr geehrte Angehörige, meine Damen und Herren, liebe Soldatinnen und Soldaten, seit fast 80 Jahren haben wir Deutschen das Glück, in Frieden zu leben. Seit bald 35 Jahren leben wir in einem Land vereint, in Freiheit. Frieden und Freiheit – beides war noch nie selbstverständlich. Und doch wird uns gerade heute bewusst, wie sehr es auf diejenigen ankommt, die Frieden und Freiheit mutig verteidigen. Mit dem Angriff auf die gesamte Ukraine hat Russland den Grundkonsens aufgekündigt, dass Grenzen niemals mehr mit Gewalt verschoben werden dürfen. Diese Zäsur für Europas Friedensordnung habe ich als Zeitenwende bezeichnet. Diese Zeitenwende bedeutet, dass wir uns mehr anstrengen müssen, um unseren Frieden zu sichern und unsere Freiheit zu verteidigen. Deshalb stehen wir unverbrüchlich an der Seite der überfallenen Ukraine. Deshalb übernehmen wir größere Verantwortung innerhalb der NATO, vor allem an der Ostgrenze unseres Bündnisses. Und deshalb stärken wir unsere Bundeswehr, damit Sie und alle Ihre Kameradinnen und Kameraden die bestmögliche Unterstützung erhalten, die Sie für Ihren Dienst benötigen. Nicht nur der Frieden in Europa, auch unsere Freiheit steht unter Druck. In einem von ihnen so bezeichneten Wettstreit der Systeme wähnen sich autoritäre Regime weltweit auf der Siegerstraße. Und auch im Inneren eigentlich aller freiheitlichen Gesellschaften verzeichnen Bewegungen Zulauf, die in Gewaltherrschern wie Putin ihre Vorbilder suchen, die Freiheit nur den „eigenen“ Leuten zugestehen und Würde nur denjenigen, die in ihr Weltbild passen. Sie sprechen Ihr Gelöbnis also in einer fordernden Zeit. Sie versprechen heute, Ihrem Land, der Bundesrepublik Deutschland, treu zu dienen und das Recht und die Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger unseres Landes tapfer zu verteidigen. Sie haben sich freiwillig, manche von Ihnen neben Ihrem zivilen Beruf, zum Dienst für unser Land gemeldet, obwohl – oder gerade weil – Frieden und Freiheit heute nicht selbstverständlich sind, gerade weil Frieden und Freiheit heute mutige Verteidigerinnen und Verteidiger brauchen. Das zeugt von einer tiefen Auseinandersetzung mit zwei großen Fragen: Was ist mir wichtig im Leben? Und: Was kann ich für mein Land tun? Wie Sie diese beiden Fragen für sich beantwortet haben, kann man hier eindrucksvoll sehen. Wenn Sie gleich Ihr Gelöbnis sprechen, dann übernehmen Sie – jede und jeder Einzelne von Ihnen – Verantwortung für die Sicherheit aller, für den Frieden und die Freiheit der 84 Millionen Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Das verdient Anerkennung. Das verdient Respekt. Der Schritt, den Sie heute gehen, erfordert Entschlossenheit und, ja, auch Mut. Entschlossenheit und Mut – kaum ein anderer Tag der deutschen Geschichte steht dafür so sehr wie der 20. Juli 1944. Heute vor 80 Jahren versuchten deutsche Offiziere um Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg den Umsturz gegen Hitler. Dieser Ort hier, der Bendlerblock, war das Zentrum des militärischen Widerstandes. Vom Bendlerblock aus sollte der Umsturzversuch organisiert werden. Die Widerstandskämpfer des 20. Juli wollten ein anderes, ein besseres Deutschland, ein Deutschland, das das Recht achtet und nicht mit Füßen tritt, ein Deutschland, das die Würde aller seiner Bürgerinnen und Bürger schützt, anstatt Millionen von ihnen zu ermorden oder in einen verbrecherischen Krieg zu schicken. Ein Deutschland, das Frieden sucht mit seinen europäischen Nachbarn, anstatt die Welt mit Krieg und Leid zu überziehen. Die Widerstandskämpfer des 20. Juli hatten nicht das Glück, dieses andere, bessere Deutschland noch zu erleben. Und doch legten sie einen der Grundsteine für unser demokratisches Land, für unser Land, das der Würde des Menschen, der Freiheit des Einzelnen, einem geeinten Europa und dem Streben nach Frieden in der Welt verpflichtet ist. Von vielen der Widerstandskämpfer aus den Reihen des Militärs wissen wir, dass sie gerade in den Anfangsjahren von Diktatur und Krieg hin- und hergerissen waren. Hin- und hergerissen zwischen ihrem soldatischen Eid und dem, was ihnen ihr Gewissen und die Sorge um die Zukunft Deutschlands geboten: nämlich aufzubegehren gegen Vernichtungskrieg und Massenmord. Am Ende entschieden sie sich, ihrem Gewissen zu folgen, und haben das mit dem Leben bezahlt. Unsere verfassungsmäßige Ordnung ist auf dem Prinzip aufgebaut, dass niemand mehr vor dieser grausamen Wahl stehen soll, kein Zivilist, keine Zivilistin, auch keine Soldatin und kein Soldat. Heute in der Bundeswehr zu dienen heißt deswegen, Bürger oder Bürgerin zu bleiben – ein Bürger oder eine Bürgerin in Uniform. Heute in der Bundeswehr zu dienen erfordert, dass Sie selbst denken und nicht einfach nur blind gehorchen. Es erfordert, dass Sie auch selbst keine unrechtmäßigen Befehle geben. Es bedeutet, dass Sie Verantwortung übernehmen und den Mut haben, auch in schwierigen Situationen das Richtige zu tun. Diese Grundsätze der Inneren Führung der Bundeswehr lassen sich damit auch aus dem Erbe des deutschen Widerstands herleiten. Sie sind die Antwort auf die Rolle der Streitkräfte in der NS-Diktatur. Sie machen ganz unmissverständlich klar, wo die Bundeswehr steht und wo der Beruf der Soldatin und des Soldaten seit jeher hingehört – nämlich in die Mitte unserer demokratischen Gesellschaft. Das sehen immer mehr so. Das war lange überfällig. Diesen Wandel in der Wahrnehmung und auch der Wertschätzung unserer Parlamentsarmee wird die Bundesregierung weiter mit Kräften unterstützen. Darauf können Sie sich verlassen. Dass wir auf einem guten Weg sind, zeigt die große Mehrheit im Bundestag, mit der wir in diesem Jahr die Einführung eines Veteranentags beschlossen haben. Das zeigen auch der große Respekt und die Wertschätzung, die unsere Soldatinnen und Soldaten überall erfahren – für ihren Beitrag im Bündnis und bei der Bewältigung internationaler Krisen, auch für ihren Einsatz im Inland, im Katastropheneinsatz und nicht zuletzt auch im Heimatschutz. Liebe Rekrutinnen und Rekruten, Ihre Angehörigen und Freunde sehen Sie vielleicht heute zum ersten Mal in Uniform. Tragen Sie sie mit Stolz, als sichtbares Zeichen im Alltag, dass Sie die Werte schützen, für die unser Grundgesetz seit 75 Jahren steht. Sie sind Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Uniform. Sie dienen Deutschland. Ich wünsche Ihnen Kraft, Entschlossenheit und Erfolg auf Ihrem Weg. Mögen Sie Ihre Aufgaben mit Tapferkeit und Verantwortungsbewusstsein erfüllen und mögen Sie stets sicher zurückkehren. Vielen Dank.
„Wir dürfen jeden Tag leben, wofür die Frauen und Männer des Widerstands gestorben sind“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-zum-80-jahrestag-des-20-juli-1944-2300090
Sat, 20 Jul 2024 00:00:00 +0200
Rede zum 80. Jahrestag des 20. Juli 1944
Das Wichtigste in Kürze: Es waren Bürgerinnen und Bürger mit sehr unterschiedlichen politischen und religiösen Überzeugungen, die sich gegen das nationalsozialistische Regime auflehnten: Frauen und Männer, Soldaten und Zivilisten, Christen und Atheisten, Sozialdemokraten, Kommunisten und Liberale, Gewerkschafter und Unternehmer. In den frühen Jahren der Bundesrepublik galten die Widerständler vielen noch als „Verräter“. 1954 begründete Bundespräsident Theodor Heuss mit seiner Rede zum 20. Juli die Tradition des anerkennenden Gedenkens. Bundeskanzler Scholz erinnerte in seiner Rede an das Gewissen der Widerstandsangehörigen, die die „Majestät des Rechts“ wiederherstellen wollten und an ihren Glauben an ein anderes Deutschland jenseits des nationalsozialistischen Unrechtsstaats. Scholz ging weiter darauf ein, dass es auch in der Gegenwart auf den Einsatz aktiver Bürgerinnen und Bürger ankomme und zwar sowohl im Freundeskreis und in der Nachbarschaft als auch in Vereinen, Initiativen oder Organisationen. Lesen Sie hier die Mitschrift der gesamten Rede: Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Repräsentanten des Bundes und der Länder, Exzellenzen, liebe Angehörige der Stiftung 20. Juli 1944, meine sehr geehrten Damen und Herren! „Wir würden es verdienen, in alle Welt verstreut zu werden, wie der Staub vor dem Winde, wenn wir uns in dieser zwölften Stunde nicht aufrafften und endlich den Mut aufbrächten, der uns seither gefehlt hat. Verbergt nicht eure Feigheit unter dem Deckmantel der Klugheit. Denn mit jedem Tag, da ihr noch zögert, da ihr dieser Ausgeburt der Hölle nicht widersteht, wächst eure Schuld.“ Diesen verzweifelten Ruf, diese Anklage, diese Aufforderung fanden im Sommer 1942 einige Hundert zufällig ausgesuchte Empfänger im Raum München in ihrer Post. Absender: Die Weiße Rose. Das Risiko, das die Mitglieder der Weißen Rose bereits mit dem Verschicken solcher Briefe eingingen, war immens. Feindbegünstigung, Wehrkraftzersetzung, Hochverrat – das gesetzgewordene Unrecht der Nazi-Diktatur hatte zahllose Werkzeuge, die alle dem gleichen Ziel dienten: jeden Gedanken an Widerstand von vornherein abzuschrecken, jedes widerständige Handeln mit größtmöglicher Brutalität zu bestrafen. Die Mitglieder der Weißen Rose wussten, was ihnen für diese Briefe drohte. Sie starben 1943, ermordet von der gleichgeschalteten NS-Justiz. Sie hatten sich entschieden, ihr Leben zu riskieren: für ein höheres Ziel, für den – wie es im sechsten und letzten Flugblatt der Weißen Rose hieß – „Aufbruch gegen die Verknechtung Europas durch den Nationalsozialismus, im neuen gläubigen Durchbruch von Freiheit und Ehre“. Der Text dieses letzten Flugblatts wurde ins Ausland geschmuggelt. Er gelangte über Skandinavien nach Großbritannien, wurde dort hunderttausendfach vervielfältigt und im Sommer 1943 von Flugzeugen der Alliierten über Deutschland abgeworfen. Als die meisten ihrer Mitglieder schon ermordet waren, wurden die Weiße Rose und ihre Botschaft damit in der deutschen Bevölkerung doch noch weithin bekannt. Verantwortlich für den Schmuggel des Flugblatts war der Begründer des Kreisauer Kreises: Helmut James Graf von Moltke – später zum Tode verurteilt wegen seiner Planungen für ein Deutschland nach Hitler. Ermordet in Plötzensee am 23. Januar 1945. Meine Damen und Herren, wir sind heute zusammengekommen an diesem 80. Jahrestag des Umsturzversuches gegen Adolf Hitler, um den Deutschen Widerstand in seiner Gesamtheit zu ehren, um den Mut jedes und jeder Einzelnen zu würdigen, sich dem nationalsozialistischen Unrechtsregime zu widersetzen – und um auch 80 Jahre danach das wichtige Gespräch darüber weiterzuführen, was vom deutschen Widerstand bleibt. Denn das bleibt eine zentrale Sinnfrage unseres Landes, gerade auch heute, in dieser unruhigen Zeit, in der Sicherheit und Frieden in Europa gefährdet sind. Welche Linien verlaufen also zwischen den so unterschiedlichen Mitgliedern des Widerstands? Was brachte Bürgerinnen und Bürger unterschiedlichster politischer und religiöser Überzeugungen dazu, sich gegen die Diktatur des Bösen aufzulehnen – Männer und Frauen, Soldaten und Zivilisten, Christen und Atheisten, Sozialdemokraten, Kommunisten und Liberale, Gewerkschafter und Unternehmer? Was verband die, deren Namen wir kennen, mit den stillen Helden, deren Identitäten nicht überliefert sind, nach denen keine Straßen und Plätze benannt wurden? Sie alle handelten nach ihrem Gewissen. „Wir haben uns vor Gott und unserem Gewissen geprüft – es muss geschehen.“ So formulierte es Claus Schenk Graf von Stauffenberg wenige Tage vor dem 20. Juli 1944. Und Sie handelten im Glauben an die Bedeutung des eigenen Beitrags. Die Mitglieder der Weißen Rose verfassten ihre Flugblätter im Glauben daran, dass sie verständige Leser finden würden. Sie vertrauten darauf, dass es hinter all der Unmenschlichkeit irgendwo doch noch ein gutes Deutschland gab, für das sich das Risiko einzugehen lohnte. Und als die Verschwörer des 20. Juli ihren Plan verwirklichten, da taten sie das in der Überzeugung, dass es einen Weg Deutschlands zurück in den Kreis der zivilisierten Nationen geben musste. Sie glaubten an die Möglichkeit, die „Majestät des Rechts“ wiederherzustellen – wie es in der nie gehaltenen Regierungserklärung für den Fall der Machtübernahme formuliert war. Es war dieser Glauben an die Möglichkeit eines anderen Deutschlands, den der nationalsozialistische Unrechtsstaat um jeden Preis zerstören wollte. Im Zusammenhang mit dem Umsturzversuch vom 20. Juli wurden bis zum Ende des Krieges etwa 200 Personen hingerichtet oder in den Tod getrieben. Ihre Leichname äscherte man ein, ihre Asche verstreute man – um nur ja jegliche Erinnerung an sie zu vernichten. Die Familien der Widerstandskämpfer wurden von der Gestapo verfolgt und mit Sippenhaft belegt. Hitler und seine Helfer meinten, sie hätten damit nicht nur den Widerstand gebrochen, sondern auch dessen Akteure aus dem Gedächtnis der Deutschen gelöscht. Wie sehr sie sich irrten! Der Umsturzversuch am 20. Juli 1944 ist gescheitert – die verbindenden Ziele des Widerstands sind es nicht. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Wie könnte man die „Majestät des Rechts“ besser auf den Punkt bringen als mit diesem ersten Artikel unseres Grundgesetzes? Wir können heute, 80 Jahre danach, gemeinsam bezeugen, dass sich die Frauen und Männer des Widerstands in unserem Land nicht getäuscht haben. Es gibt den Gegenentwurf zur Nazi-Diktatur. Es gibt das andere, das bessere Deutschland – freiheitlich, demokratisch, rechtsstaatlich. Es ist das Deutschland unseres Grundgesetzes. Oder genauer – und darum geht es mir heute -: Es ist das Deutschland der vielen Millionen Bürgerinnen und Bürger, die dieses Grundgesetz Tag für Tag wirksam werden lassen. Denn vergessen wir nicht: Selbst nach der totalen Niederlage, selbst im Wissen um den Zivilisationsbruch der Shoah benötigte die junge Bundesrepublik – trotz Grundgesetz – noch etliche Jahre, bis die Rehabilitierung der Attentäter des 20. Juli und ihrer Familien gesellschaftlich akzeptiert wurde. Nötig dafür waren mutige Bürgerinnen und Bürger, wie der Jurist Fritz Bauer, der in den 50-er Jahren als Generalstaatsanwalt in Braunschweig – gegen heftige Widerstände – für eine Einsicht kämpfen musste, die uns heute völlig offensichtlich scheint: dass nämlich, wie Bauer im sogenannten Remer-Prozess formulierte, „ein Unrechtsstaat, der täglich Zehntausende Morde begeht, jedermann zur Notwehr berechtigt.“ Meine Damen und Herren, wie kaum ein anderer Tag lädt der 20. Juli 1944 ein zu Überlegungen nach dem Muster „Was wäre, wenn …“ und konfrontiert uns doch zugleich mit der Unabänderlichkeit dessen, was tatsächlich geschah. Dennoch: Vom Deutschen Widerstand bleibt, dass wir gerade nicht vor der Geschichte resignieren müssten. Das Vergangene können wir nicht mehr ändern. Doch in ihrem Werden ist die Geschichte in unserer Hand. In der Gegenwart – in jeder Gegenwart – kommt es auf den Beitrag jedes und jeder Einzelnen an. Nur so kann Unrecht beendet werden. Nur so wird eine bessere Zukunft möglich. Es war diese Überzeugung, die die Mitglieder des Widerstands in all ihrer Verschiedenheit verband. Es war diese Überzeugung, die Fritz Bauer leitete. Es war diese Überzeugung, die im Juni 1953 überall in der DDR Bürgerinnen und Bürger mit der Forderung nach freien Wahlen auf die Straßen und Plätze trieb. Und es war erneut diese Überzeugung – „Auf mich kommt es an“ -, die am 9. Oktober 1989 in Leipzig 70 000 Bürgerinnen und Bürger dazu brachte, ihre Angst vor dem SED-Regime zu überwinden. Gemeinsam gingen sie auf die Straße, gemeinsam leiteten sie die friedliche Revolution ein, die kaum ein Jahr später in die Deutsche Einheit münden sollte. „Auf mich kommt es an“ – es ist diese Überzeugung, die uns auch heute verbinden muss. Dafür brauchen normale Bürgerinnen und Bürger im demokratischen Deutschland keine lebensgefährlichen Heldentaten zu vollbringen. Dennoch muss uns allen klar sein: Unsere Demokratie ist auf unseren unermüdlichen Einsatz angewiesen, auf den Einsatz jeder und jedes Einzelnen. „Sie braucht Menschen, die Verantwortung übernehmen“ – wie Sie es in Ihrem Manifest zum heutigen Tag formuliert haben, liebe Vertreterinnen und Vertreter der Stiftung 20. Juli. Deswegen lebt unsere Demokratie davon, dass sich aktive Bürgerinnen und Bürger in ihr engagieren: mit Freunden oder in der Nachbarschaft, in Vereinen oder Verbänden, in Organisationen, Initiativen oder einer demokratischen Partei. Deswegen lebt unsere Demokratie davon, dass wir uns im Alltag mit Respekt begegnen. Dazu gehört auch die Unterstützung für diejenigen, die sich beruflich für ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger einsetzen: unsere Polizei, unsere Feuerwehren, unsere Rettungsdienste, unser Katastrophenschutz und natürlich unsere Bundeswehr. Und deswegen lebt unsere Demokratie davon, dass wir jeder Art von Menschenfeindlichkeit und jedem Extremismus entgegentreten. Deshalb sage ich hier – 80 Jahre nach dem 20. Juli 1944 – ganz klar: Diejenigen, die unsere Demokratie bekämpfen, werden stets auf unseren entschiedenen Widerstand treffen! Was auch zu diesem 80. Jahrestag des 20. Juli 1944 gehört, ist der Blick über Deutschland hinaus. Wenn wir heute an die Frauen und Männer des Deutschen Widerstands erinnern, dann stehen sie zugleich stellvertretend für den gesamten Widerstand in Europa. In wenigen Tagen jährt sich zum 80. Mal der Warschauer Aufstand der Polnischen Heimatarmee gegen die deutsche Besatzungsmacht. Wir erinnern auch an die französische Résistance, deren Generalstreik vor 80 Jahren die Befreiung von Paris einleitete. Und im Jahr 2024 können wir diesen 20. Juli nicht begehen ohne Gedanken an die tapferen Bürgerinnen und Bürger der Ukraine, die seit mehr als zwei Jahren dem verbrecherischen russischen Angriffskrieg widerstehen. Ein Krieg, mit dem Russlands Machthaber erklärtermaßen das Ziel verfolgt, die Ukraine zu erobern und als souveränes Land zu zerstören – 79 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und 79 Jahre nach Inkrafttreten der Charta der Vereinten Nationen. Schon aus der Verantwortung vor unserer eigenen Geschichte kann es in dieser Lage für Deutschland nur einen Platz geben: an der Seite der Ukraine! Meine Damen und Herren, sehr viel ist über den 20. Juli gesagt und geschrieben worden. Lehrbücher, Spielfilme, Dokumentationen – es gibt in der deutschen Vergangenheit wenige Ereignisse mit so viel Aufladung und so wechselhafter Rezeptionsgeschichte. Für sehr viele der heute hier Versammelten ist der 20. Juli 1944 aber auch Ausgangspunkt einer sehr persönlichen Suche, Ausgangspunkt lebenslanger Fragen, oft auch eines lebenslangen Sehnens – nach nicht oder kaum gekannten Eltern, nach Großeltern und Urgroßeltern, deren Namen bis in die heutige Zeit hallen. Dass sie gleichzeitig die öffentliche Geschichte und das persönliche, individuelle Vermächtnis der Frauen und Männer des Widerstands im Hier und Jetzt hält – das ist ein großes Verdienst der Stiftung 20. Juli. Ich danke allen von Herzen, die sich dort beteiligen und engagieren. Sie haben sich um unser Land und um unsere Demokratie verdient gemacht. Bitte bleiben Sie dabei – auch mit dem Verlust der letzten Zeitzeugen wird Ihr Wirken wichtiger denn je! Meine Damen und Herren, was also bleibt heute, 80 Jahre danach? Neben Wachsamkeit bei der Verteidigung unserer Demokratie darf es auch Stolz auf unsere Demokratie sein. Wir feiern in diesem Jahr 75 Jahre Grundgesetz und 35 Jahre friedliche Revolution. Deutschland ist ein angesehenes Land, fest verankert in der Europäischen Union – ein Verteidiger des Völkerrechts, mit Freunden und Partnern in der ganzen Welt. Wir dürfen jeden Tag leben, wofür die Frauen und Männer des Widerstands gestorben sind. Schätzen und bewahren Sie dieses Glück! Halten wir zusammen! Und blicken wir mit Zuversicht nach vorn! Vielen Dank.
Lesen Sie hier die Rede von Bundeskanzler Scholz zum 80. Jahrestag des 20. Juli 1944, gehalten auf der zentralen Gedenkfeier in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.
Die Gesundeitswirtschaft in Deutschland existiert in allen Facetten
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bundeskanzler-rede-siemens-healthineers-2299868
Mon, 08 Jul 2024 00:00:00 +0200
Rede des Kanzlers bei der Siemens Healthineers AG
Erlangen
Aufgaben_des_Kanzlers,Statement BK
Gesundheit
Die Siemens Healthineers AG hat sich zum Ziel gesetzt, ressourcenschonend zu arbeiten und gleichzeitig die Arbeitsplätze im Gesundheitssektor attraktiver zu machen. Nach einem Rundgang im Unternehmen hielt Bundeskanzler Olaf Scholz eine Rede vor den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Dabei hob er hervor, dass es einige Punkte gebe, auf die die Menschen in Deutschland stolz sein könnten – dazu gehöre insbesondere die Gesundheitswirtschaft. Das Wichtigste in Kürze: Gesundheitswirtschaft in Deutschland: Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz führt dazu, dass Deutschland das Land ist, das forschenden Unternehmen die meisten Gesundheitsdaten – anonymisiert und gesichert – zur Verfügung stellt. Das ist die wichtigste Grundlage für wissenschaftlichen Fortschritt. Gleiches gilt für das Medizinforschungsgesetz in der Pharmaindustrie Ziel ist es, dass alle eine gute Zukunft in Deutschland haben: Zu den wichtigsten Punkte, um das umzusetzen, gehört die Investition in Forschung und Entwicklung, die Schaffung eines Energiesystems, das mit der zukünftigen Anforderung unserer Industrie zusammenpasst, und dass Entscheidungen nicht aufgeschoben werden. Rente: Die Bundesregierung wird in Deutschland ein stabiles Rentenniveau garantieren. Noch in diesem Jahr soll ein Gesetz beschlossen werden, das das für die nächsten zwei Jahrzehnte völlig festschreibt, damit Rente verlässlich ist. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede des Bundeskanzlers: Schönen Dank für die Einladung, für die Gelegenheit, ein paar Worte zu sagen, und selbstverständlich schönen Dank auch für das, was ich jetzt schon alles mitkriegen konnte! Der Betriebsrundgang war für mich nämlich wirklich sehr beeindruckend, nicht nur wegen der Technologien, die ich kennenlernen durfte, und der Art und Weise, wie das alles funktioniert – es ist ja für jemanden, der auch ab und zu einmal Patient gewesen ist und in diesen Geräten irgendwie drin gelegen hat, ganz interessant, das einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten –, sondern was mich am meisten beeindruckt hat, ist auch die Begeisterung, die ich bei ganz vielen Beschäftigten gesehen habe, bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die mir das erklärt und gezeigt haben. Die mögen das, was sie da tun, und diese Arbeit, und ein bisschen ist das ja auch das, was uns in Deutschland auszeichnet, dass wir das gerne tun, dass wir gerne gute Arbeit tun und gerne unsere Arbeit machen. Deshalb schönen Dank für die Einladung! Ich bin gebeten worden, auch ein bisschen zur allgemeinen Lage und zu dem, was uns so umtreibt, zu sagen. Das will ich tun, hier am Anfang, aber auch gerne in dem Gespräch, das wir miteinander führen werden. Aber zuallererst will ich natürlich auch über die Gesundheitswirtschaft in Deutschland sprechen, in der das, was an industrieller Medizin existiert, was hier produziert wird, auch eine ganz, ganz große Rolle spielt. Das ist ein wichtiger Wirtschaftszweig in Deutschland. Wir haben viele berühmte Wirtschaftszweige, über die jeden Tag gesprochen wird und zu denen auch jeder eine Meinung hat. Aber es gibt einige – die sind auch sehr berühmt, die sind vor allem sehr erfolgreich, verdienen viel Geld und sind im globalen Wettbewerb durchaus leistungsfähig –, bei denen das weniger geschieht. Das ist nicht ganz gerecht, wenn ich das ausdrücklich sagen darf; denn zum Beispiel das, was hier produziert wird, was hier erdacht und erforscht wird, ist gut für unsere Gesundheit, aber auch für viele in der ganzen Welt, wie wir eben gehört haben, und so ist es auch. Deshalb, finde ich, kann man sehr wohl stolz sein auf das, was in Deutschland an Gesundheitswirtschaft in all ihren Facetten existiert. Ein bisschen hängt es ja auch zusammen. Dass wir leistungsfähige Krankenhäuser und ein leistungsfähiges Gesundheitssystem haben – bei allem, was sich verbessern lässt –, ist fast ein Alleinstellungsmerkmal, das wir nur mit wenigen Ländern in der Welt teilen. Wir haben gleichzeitig immer schon eine ganz leistungsfähige Pharmaindustrie, Forschung im Gesundheitsbereich und in der Pharmakologie, aber wir haben eben auch die Medizinindustrie, die erfolgreich ist und durchaus einen großen Beitrag zu der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unseres Landes leistet. Was können wir tun, als diejenigen, die in der Politik Verantwortung haben, dass das so bleibt? – Der erste Satz ist wichtig für uns als Bürger und als Patienten wie für den wirtschaftlichen Zusammenhang, nämlich weiter dafür zu sorgen, dass wir ein leistungsfähiges Gesundheitswesen mit guten Krankenhäusern und all dem, was dazugehört, haben; denn das ist die Basis für alles, dass das hier existiert. Zweitens aber geht es darum, dass wir ganz genau verstehen, was die Herausforderungen sind, vor denen die Unternehmen stehen, um dann zu versuchen, in ganz konkreten Schritten und Entscheidungen die Bedingungen dafür zu schaffen, dass weiteres Wachstum, weitere Arbeitsplatzsicherung, weitere Fortschritte möglich sind. Da sind wir in den letzten Tagen, Wochen und Monaten ganz erheblich weitergekommen. Es gibt ein paar Schlagworte, die man manchmal vielleicht in der Zeitung oder im Fernsehen verfolgen kann, an denen das deutlich wird. Wir haben zum Beispiel sehr viele Entscheidungen zur Digitalisierung unseres Gesundheitswesens getroffen. Wir haben ein Gesetz mit dem schönen Namen Gesundheitsdatennutzungsgesetz gemacht. – Du kennst das! – Das klingt ganz langweilig, ist aber ganz spannend; denn übersetzt heißt das, dass Deutschland jetzt das Land ist, das forschenden Unternehmen die meisten Gesundheitsdaten – anonymisiert, wohlgemerkt, und gesichert – zur Verfügung stellt, dies in einer Zeit, in der das vielleicht die wichtigste Grundlage für wissenschaftlichen Fortschritt ist, den man in der Gesundheitsforschung erreichen kann, und in der es deshalb existenziell ist, auf Daten zugreifen zu können. Die Konsequenz alleine dieses Gesetzes ist, dass mehrere Unternehmen entschieden haben, in Deutschland zu investieren, und dies real. Ich war bei einem schon bei der Grundsteinlegung. Für die war das im Rahmen einer Entscheidung zwischen drei unterschiedlichen Standorten der Grund für die Entscheidung für Deutschland. Das Gleiche gilt für das, was wir im Bereich der Pharmaindustrie gemacht haben, wo wir entsprechende Vereinbarungen dazu getroffen haben, wie man besser pharmazeutische Forschung in Deutschland haben kann. Ein letzter Ausdruck davon, gerade letzte Woche im Bundestag beschlossen, ist das Medizinforschungsgesetz. Auch daraus folgt, dass Unternehmen sagen: Es lohnt sich, hier zu investieren, weil die Rahmenbedingungen so günstig sind, dass wir das am besten machen können, vor allem wettbewerbsfähig! Natürlich wünsche ich mir – darüber haben wir heute am Rande des Betriebsbesuchs auch gesprochen –, dass wir auch viele konkrete Vorschläge von diesem Unternehmen und der Branche bekommen, was wir noch tun können, um die Medizinindustrie, die die Apparate herstellt, in ihren Rahmenbedingungen noch zu verbessern, weil das ja für uns billig und am Ende etwas ist, das die Arbeitsplätze sichert, die zum Beispiel hier existieren. Zusammengefasst: Ich bin sehr froh über dieses Unternehmen und über die ganze Branche, und ich bin froh über alle, die hier arbeiten und möglich machen, dass das ein großer Erfolg und ein erfolgreiches Unternehmen aus Deutschland ist! Insgesamt ist die Stimmung ja nicht immer zum Besten. Deshalb war ich sehr dankbar, wenn ich das hier sagen darf, für die sportliche, aber auch emotionale Leistung unserer Nationalmannschaft. Die haben alle hinter sich versammelt, und ich fand sehr beeindruckend, was der Trainer gesagt hat. Der hat gesagt: Leute, guckt mal, was für ein schönes Land wir sind, welche Möglichkeiten wir haben, und wenn alle jetzt immer auf Depression machen, kommen wir hier auch nicht weiter. Wir müssen uns einmal für uns selbst und für das, was wir können, begeistern! – Ich finde, das hat er völlig richtig formuliert. Deshalb will ich sagen: Das sollte in Zukunft die Stimmung in unserem Land sein. Wir können was, wir wollen was erreichen, und wir reden darüber, wie wir das am besten zustande kriegen! Trotzdem: Wir leben in Zeiten des Umbruchs, und darüber will ich gerne etwas sagen. Die Umbrüche sind vielfältig. Alle haben das in letzter Zeit auch selbst auf der Reihe. Corona hat ganz viel geändert. Plötzlich gibt es Homeoffice, was früher gar nicht erlaubt war. Jetzt gibt es viele andere Möglichkeiten. Aber es hat auch viele umgetrieben, einige haben es immer noch nicht verdaut, und manche Freundschaft ist noch nicht wieder gekittet. Das muss man ja auch ganz nüchtern und klar sagen. Dann gibt es den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, etwas, das vielen Angst macht. Ich weiß das von meiner Mutter, aber auch vielen anderen Älteren, die mich ansprechen, die ganz andere Erinnerungen an Krieg und Zerstörung haben und die sich angesichts eines Krieges in unserer unmittelbarsten Nachbarschaft richtig Sorgen machen, eines Kriegs, der ja auch die Friedens- und Sicherheitsarchitektur der letzten Jahrzehnte infrage stellt. Das klingt so abstrakt, aber es ist ja ganz konkret übersetzbar: Wir hatten die Verständigung in Europa, und eigentlich hat man das auch in der ganzen Welt versucht, dass man Grenzen nicht mit Gewalt verschiebt, dass es nicht so ist, wie es im Mittelalter hier in Deutschland und noch lange danach in ganz Europa war, dass, wenn sich einer stark genug fühlt, er einfach sagt: Jetzt gucke ich einmal, was ich kriegen kann vom Nachbarland! Das aber ist jetzt passiert, und das hat unglaubliche Konsequenzen. Wir müssen dem Land, das angegriffen wird, helfen. Das ist nicht einfach. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere eigene Sicherheit gestärkt wird, indem wir die NATO–North Atlantic Treaty Organization stark machen, indem wir in Deutschland mehr Geld für Verteidigung ausgeben. Aber bei allem, was man da politisch diskutieren kann und wir vielleicht auch diskutieren, ist eines klar: Sicherer fühlt man sich nicht, wenn so ein Krieg so nahebei stattfindet. Die Konsequenzen waren auch ziemlich schnell zu spüren: Energiekrise, Inflation. Wir sind durchgekommen. Wir haben es geschafft, dass wir eine Situation hinbekommen, in der wir nicht plötzlich kein Gas und kein Öl mehr haben, obwohl 50 Prozent davon über Nacht weg waren und die Preise explodiert sind. Das hat die Staatsverschuldung ordentlich in die Höhe getrieben, aber wir haben uns irgendwie gerettet. Nun sind wir fast durch und haben geschafft, was keiner geglaubt hat, nämlich dass wir das überleben – und dann sind all die anderen Themen da, die uns umtreiben: Was machen wir, damit wir irgendwie in einer Welt leben können, die demnächst nicht acht, wie jetzt, sondern zehn Milliarden Einwohner hat, und wie können wir zusammenleben, wenn alle so leben wie wir jetzt oder wie wir in den Fünfzigerjahren, aber zehn Milliarden Mal und nicht nur in Europa und Nordamerika? Das ist nämlich der Unterschied! Natürlich kann man Autos produzieren, so wie immer schon. Aber für zehn Milliarden Leute? Da wird es nicht nur an Öl und Gas fehlen, sondern das ist auch nicht gut für die Frage, wie man atmen kann. Wenn jetzt überall in der Welt Autobahnen, Eisenbahnen, Flughäfen und Forschungseinrichtungen entstehen, Millionenstädte – was alles gut ist und was man jedem gönnen kann und was heute realistisch geworden ist –, dann bedeutet das ganz eindeutig, dass uns das nur gelingen kann – um die Mitte dieses Jahrhunderts, 2050; das ist nicht weit von jetzt –, wenn wir das auf eine Art und Weise machen, in der wir das Klima nicht beschädigen. Deshalb ist die industrielle Überlebensfähigkeit, der Wohlstand unseres Landes, daran geknüpft, dass wir herausfinden, wie das geht, und das schaffen. Ich komme gleich noch einmal darauf zu sprechen. Es gibt noch viele andere Themen, die uns umtreiben und von denen ich weiß, dass sie viele bewegen, lauter Schlagwörter wie künstliche Intelligenz. Darüber haben wir heute auch gesprochen, weil das hier in die Apparate eingebaut wird. Aber da machen sich Leute Sorgen: Was heißt es für meine Perspektiven, arbeiten zu können, wenn so riesige Produktivitätsschritte damit verbunden sein sollten? – Für Deutschland kann man sagen: Das haben wir immer hingekriegt, meistens. Aber nur weil es immer geklappt hat, ist man sich nicht sicher, dass es beim nächsten Mal auch klappt. Ich bin ganz zuversichtlich, aber man muss es ja wissen. Andere Schlagwörter: Quantencomputer oder die Frage der Robotik. Nun arbeiten viele ja mit Robotern zusammen. Einige können schon mit ihnen persönlich sprechen. Aber ganz sind wir noch nicht da angekommen. Das ist trotzdem etwas, an dem man merkt: Da ändert sich etwas! Vor allem, wenn man hier schon vor 30 Jahren gearbeitet hat, weiß man, was sich geändert hat. Das Gleiche gilt für solche Dinge wie die analytische Biologie, in der in der Verknüpfung all dieser Dinge ganz große Veränderungen auf uns zukommen. Dann sagen ganz viele Leute: Das ist ja toll, aber wie geht das für mich aus? – Ich glaube, das ist auch ein Stück der Unsicherheit, über die Nagelsmann gesprochen hat. Er hat gesagt: Ein bisschen mehr Optimismus, wir kommen da schon durch. – Aber die Unsicherheit ist ja da. Das Letzte – das habe ich schon gesagt –, das in diese Reihe gehört und worüber man sich Klarheit verschaffen muss, ist die Globalisierung selbst. An diesem Unternehmen kann man sehen, was einem dazu alles einfallen kann. Siemens Healthineers würde nicht wirtschaftlich erfolgreich existieren, wenn nicht der ganze Weltmarkt ihr Ziel wäre – Europa, Nordamerika, Südamerika, Asien, Afrika –, mit vielen künftigen Wachstumsmärkten, auch mit Produktionsstätten anderswo. Gleichzeitig macht das einigen Sorgen, weil natürlich ein Stück des Sicherheitsgefühls, das wir hierzulande hatten und haben, darauf beruht: Die anderen können viel weniger als wir. Aber man muss schon ziemlich blöd sein, um das zu glauben. Da passiert schon ganz schön viel! Das alles kommt zusammen, und die Frage ist: Wie können wir es schaffen, dass es eine gute Zukunft für uns in Deutschland gibt, für jeden von uns, nicht nur für die Leute, die fünf Sprachen sprechen und alle möglichen Studiengänge absolviert haben, sondern für alle, auch für die Leute, die am Band arbeiten, für diejenigen, die irgendwie bei Amazon oder im Lebensmitteleinzelhandel arbeiten? – Meine feste Überzeugung ist: Das geht, wenn wir ein paar Prinzipien beachten, die wir jetzt im Blick haben müssen. Das Erste ist: Wir müssen immer ganz viel in Forschung und Entwicklung investieren. Dabei sind wir besser als andere. Deutschland gibt über drei Prozent seiner Wirtschaftsleistung, seines Sozialprodukts, für Forschung und Entwicklung aus. Kein anderes europäisches großes Land tut das. Es ist übrigens der Grund für den deutschen Exporterfolg, auch von Mittelständlern, von kleinen Betrieben, dass das in der Natur unserer Volkswirtschaft ist. Wenn man die Dinge, die man vor 30 und vor 20 Jahren gemacht hat, jetzt immer noch macht, dann kann man damit definitiv kein Geld mehr verdienen und auch keine Arbeitsplätze sichern. Aber das muss so bleiben, und wir müssen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Forschung und Entwicklung eine große Rolle spielen. Eben habe ich über unsere verschiedenen Strategien im Bereich der Gesundheitswirtschaft und auch der Medizintechnologie gesprochen. Aber das gilt für viele weitere Bereiche, in denen wir die Rahmenbedingungen so gut wie möglich machen können und müssen und dafür sorgen, dass Forschung steuerlich besonders gefördert wird. Dafür haben wir erste Schritte gemacht, und das machen wir weiter. Der zweite Punkt ist: Wir dürfen Entscheidungen nicht aufschieben. Wenn man die Energieversorgung, die ja für das, was wir machen müssen, ziemlich zentral ist, auf Erneuerbare umstellen will ‑ ich sage das auch in Bayern ‑, dann muss man das auch tun. Wir sind aus der Atomkraft ausgestiegen, übrigens parteiübergreifend und der Sicherheit halber zweimal, einmal Rot-Grün, Schröder/Fischer, einmal Schwarz-Gelb, Merkel/Westerwelle. Nun ist es so. Wir haben auch beschlossen, dass wir aus der Kohleverstromung aussteigen, und zwar spätestens 2038. Gleichzeitig wissen wir, dass wir 2030 mehr Strom brauchen als heute, weil sich die Wirtschaft elektrifiziert. Überall merkt man das. Das kann man wahrscheinlich auch hier in diesem Betrieb sehen und in einigen noch viel mehr. Das kann man dann nicht nur sagen, sondern das muss man dann auch tun. Also haben wir alle Gesetze geändert, damit das klappt. Denn ich hatte mir das angeguckt und ausgerechnet, dass wir mit den bestehenden Gesetzen alles Mögliche schaffen werden, aber nicht, 2030 Strom zu 80 Prozent und auch noch mehr aus erneuerbaren Energien zu haben. Jetzt können wir sagen: Das werden wir schaffen. Wir brauchten für ein Stromsystem, das auf Wind, Sonne, Wasser und Biomasse beruht, auch bessere Leitungen. Das haben wir auch geändert, sodass die Übertragungsnetze jetzt früher fertig werden und nicht später. Wir brauchen auch ein paar Kraftwerke, die angeschaltet werden können – eine Firma namens Siemens baut ein paar davon, hoffen wir –, Kraftwerke, die dann anspringen, wenn es gerade nicht genug davon gibt. Diese haben wir mit der Kraftwerksstrategie jetzt auf den Weg gebracht. Wir brauchen außerdem Wasserstoff. Dafür bauen wir jetzt das Leitungsnetz, privatwirtschaftlich mit 22 Milliarden Euro, nicht der Staat. Wir müssen Elektrolyseure und Speicher möglich machen. Warum erzähle ich so viel Technik? – Nicht, damit man das auswendig aufsagen kann, sondern um zu sagen: Wir haben die Dinge entschieden, und es ist jetzt plausibel zu sagen, dass wir es hinbekommen werden, dass wir das Ziel 2030 erreichen und 2040 genug Strom für alles haben, was dann notwendig ist, wahrscheinlich noch einmal doppelt so viel. Genau das ist der Weg, den man beschreiten muss. Deshalb Punkt zwei meiner Antwort: Wir haben das nicht mehr nur noch angekündigt, sondern die Entscheidungen getroffen, die dazu führen, dass es klappt. Der dritte Punkt hängt ein bisschen damit zusammen, wie immer alles miteinander zusammenhängt. Es ist der folgende: Tempo. Tempo, Tempo, Tempo! Ich kann einfach nicht mehr ertragen, dass es viele Jahre dauert, Dinge zu genehmigen. Nun muss man nicht davon fasziniert sein, wenn es in anderen Ländern Entscheidungen gibt, die ohne rechtliche Verantwortung passieren. Aber dass anderswo ein Gebäude oder eine Bahnlinie in der Zeit, in der wir sie planen, schon gebaut sind, bevor wir mit dem ersten Bauschritt loslegen, ist nicht naturgegeben. Das kann man ändern. Das gilt für Tausende anderer Entscheidungen, ob es Autobahn oder Eisenbahn ist, ob es Stromlinien sind, ob es Betriebsgenehmigungen oder Baugenehmigungen für Unternehmen sind, für all das. Auch dazu will ich gerne verkünden: Wir haben ein riesiges Gesetzgebungsprogramm, um all die Widerstände zu beseitigen, die einer schnellen Planungsgenehmigung in all diesen Fragen entgegenstehen. Was brauchen wir also für eine gute Zukunft? – Forschung und Entwicklung, ein Energiesystem, das mit der zukünftigen Anforderung unserer Industrie zusammenpasst, und Tempo. Das ist dann vielleicht ganz im Sinne des Bundestrainers das, was wir auch mit der Mannschaft Deutschland hinbekommen müssen: Tempo und diese Dinge. – Das, glaube ich, ist eine Aufgabe. Ich will zwei, drei Dinge daran anschließen, die mir wichtig sind, weil es nicht nur um Arbeitsplätze, Industrie und Modernisierung geht, sondern um die Frage, wie das Miteinander klappt. Das hat etwas damit zu tun, dass Gesellschaften, die sich schnell ändern, eines auf alle Fälle brauchen: Zusammenhalt, dass man sich nicht alleine fühlt, sondern dass alle zusammenhalten. – Ich finde, das ist zentral. Es ist zentral, dass wir uns nicht gegeneinander aufbringen lassen. Übrigens, Fußnote, die Kerndiskussion, die wir geführt haben, als es um den Bundeshaushalt ging: Dabei kann man sich ja in die Details verlieben, und die Abgeordneten wissen zu jedem Punkt etwas zu sagen. Sehr gut! Aber der eigentliche Punkt, um den es am Ende immer noch ging, bis wir uns morgens um 5 Uhr nach 80 Stunden Verhandlungen in der Regierung verständigt hatten – gut investierte Zeit, das sage ich ausdrücklich –, war: Lassen wir es zu, dass eine Situation entsteht, in der Dinge gegeneinander ausgespielt werden, Dinge wie die Notwendigkeit, die Ukraine zu unterstützen, die Tatsache, dass wir mehr Geld für die Bundeswehr ausgeben müssen, und die Anforderung, dass wir einen funktionierenden Sozialstaat brauchen, dass die Renten stabil sein müssen und dass wir dafür sorgen müssen, dass man sich sicher fühlen kann, dass wir etwas für Kinder tun? Die Mühe war es wert, weil wir eine Lösung gefunden haben, die das ausschließt und besagt: Wir spielen das nicht gegeneinander aus. Jetzt zurück von der Fußnote, die der Bundeshaushalt in echt ja nur ist! Auch wenn das immer eine „Tagesschau“-Meldung wert ist, geht es doch um den größeren Blick auf die Frage wie wir zusammen leben wollen. Was das angeht, haben wir im Augenblick, finde ich, ein bisschen die Theorie, als ob es einen Kuchen gäbe, der immer nur neu verteilt würde. Wenn man das tief in seinem Innern denkt, dann kann man nicht großzügig sein, dann kann man nicht sagen: „Ja, da müssen wir Geld investieren, da braucht jemand Unterstützung, da sollte man etwas machen“, sondern denkt immer gleich mit: „Und ich bekomme es dann nicht.“ Deshalb sind Gesellschaften, die immer denken, die Welt sei eine Torte, die man nicht größer machen kann, immer schlecht gelaunt. Das gibt es auch überall sonst. Denn sonst würden all die merkwürdigen Wahlergebnisse in unserer Nachbarschaft und auch hier oder in den USA–United States of America gar nicht denkbar sein. Das ist eine Art Nullsummendenkens, das Gefühl, es gehe nichts voran, sondern es werde immer nur untereinander neu verteilt. Daraus gibt es nur einen Ausweg, nämlich den, dass man auf die Zukunft setzt, dass man Dynamik, Wachstum, zusätzliche Arbeit möglich findet und dass man sagt: Daraus finden wir die Kraft, um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu organisieren. – Ich finde, genau das ist der richtige Weg. Deshalb will ich auch auf das eine Thema, um das ich gebeten worden bin, zu sprechen kommen, nämlich zum Beispiel auf die Frage: Was ist mit der Rente? Das ist der größte Vermögenswert, den die meisten Deutschen haben. Wäre das nicht staatlich organisiert, würde das auch bei der Vermögensrechnung im Vergleich verschiedener Länder angerechnet. Hätten wir keine staatliche Rentenversicherung, müsste jeder für sein eigenes Alter vorsorgen und mindestens so viel ausgeben wie heute. Dann würde das persönlich als Wert begriffen. Ich finde unser System besser. Es ist ja seit dem 19. Jahrhundert entwickelt, eine deutsche Tradition. Aber ich sage ausdrücklich: Es ist Vermögen. Es ist sogar vom Grundgesetz geschützt. Da kann nicht einfach einer kommen und sagen: Ich kürze diese Renten jetzt einfach von einem Tag auf den anderen. – Schleichend, das geht, aber von einem Tag auf den anderen ist das schwer. Aus dem Grunde ist es ganz wichtig, dass man über diese wichtige Sache klare Auskünfte hat, und zwar auch und gerade, wenn man sehr jung ist. Es wird ja immer diskutiert, als wäre das eine Sache für 60-Jährige, die sich Gedanken darüber machen, wie es demnächst weitergeht. Aber die Wahrheit ist genau andersherum. Für sie ist das auch wichtig, weil es ja unmittelbar bevorsteht und man dann nicht mehr so viel in seinem Leben ändern kann, sondern mit dem klarkommen muss, was man bis dahin hat. Aber wenn ich mit 17 die Schule verlasse und hier eine Lehre mache, dann habe ich fünf Jahrzehnte Arbeit vor mir. Das weiß jeder 17-Jährige und jede 17-Jährige. Fünf Jahrzehnte! Wenn ich fünf Jahrzehnte einzahle, dann möchte ich doch gerne wissen, wie das ausgeht, wenn ich es gemacht habe. Es gibt lang anhaltende Ehen, aber nicht alle halten 50 Jahre. Das ist schon eine lange Zeit. Deshalb gibt es von mir die klare Aussage: Wir werden in Deutschland ein stabiles Rentenniveau garantieren. Darauf kann sich jeder verlassen. Wir werden noch dieses Jahr ein Gesetz beschließen, das das für die nächsten zwei Jahrzehnte völlig festschreibt, damit man sich auf die Rente verlassen kann. Ich möchte auch noch über das reden, was in den Zeitungen immer „Rente mit 63“ heißt. In Wahrheit heißt es: Rente für langjährig Versicherte, die 45 Jahre eingezahlt haben. – Diese können ein bisschen früher in Rente gehen – wenn wir bei 67 angelangt sind, dann mit 65, um es sich einmal klar zu machen –, ohne Abschläge zu riskieren. Was wird da geschimpft! Allerdings gibt es einen kompletten Unterschied zwischen dem, was im Fernseher passiert, und dem, was vor dem Fernseher passiert. Im Fernsehen sitzen immer Experten und Schlaumeier, die sagen: Das muss weg! – Vor dem Fernseher sitzen immer Leute und sagen: Bloß nicht! –Wenn ich auf Veranstaltungen bin, fragen mich immer Leute, ob man nicht neu erfinden müsste, dass jemand, der früh angefangen und eine schwere Arbeit hat, vielleicht ein bisschen früher in Rente gehen kann. Deshalb liegt darin auch eine Fiesheit, wenn ich das einfach einmal aus meiner Sicht ganz ungeschminkt sagen darf. Ich hatte das Glück, eine Juristenausbildung zu haben, die schnell fertig war. Einstufig hieß sie damals. Das gibt es nicht mehr. Ich war in sechs Jahren mit dem zweiten Staatsexamen fertig. In dieser Zeit sind heute die meisten nicht mit dem Ersten fertig. Es lag nicht an mir, sondern am System; ich hatte Glück. Dann habe ich noch meinen Zivildienst gemacht, und dann habe ich angefangen zu arbeiten, mit 27. Jetzt rechne man einmal 27 plus 45! Die Zusammenfassung davon ist: Alle Menschen, die eine akademische Qualifikation haben, werden natürlich nicht auf 45 Jahre Arbeit kommen. Aber sie schlagen immer vor, dass diejenigen, die mit der Lehre angefangen haben, damals noch mit 15 und 16, es okay finden sollen, dass diese Möglichkeit, zwei Jahre früher in Rente zu gehen, abgeschafft werden soll. Ich finde, das ist eine unfaire Aufteilung, und ich bin in der Frage ganz entschieden. Dass diese Möglichkeit besteht, werden wir nicht ändern. Damit ich hier nicht zu lange rede, fasse ich das letzte Thema an, um das ich gebeten worden bin, Berufsausbildung. Dazu will ich gerne etwas sagen, kurz und knackig. Wir können das ja nachher vertiefen. Die Berufsausbildung ist eine Tradition, die wir in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts aus der Handwerkstradition entwickelt haben, die wir in die Fabriken und Kontore der damaligen Zeit überführt haben. Die ganze Welt beneidet uns darum, dass wir das mit der dualen Ausbildung gemacht haben. Für mich ist die Lehre, die duale Ausbildung unverändert die wichtigste Ausbildung in Deutschland. Deshalb wünsche ich mir, dass alle Betriebe ihre Kapazitäten nutzen, um so viel auszubilden, wie es möglich ist, und ich wünsche mir, dass wir in Deutschland diese Form der Berufsausbildung auch für die Zukunft mit aller Kraft unterstützen, stärken und in die Zukunft fortschreiben. Es bleibt die wichtigste Ausbildung in Deutschland und ist die Basis für unsere Zukunft. Schönen Dank!
Kanzler Scholz machte sich ein Bild von dem Unternehmen, das Lösungen und Konzepte für die Gesundheitsversorgung der Zukunft entwickeln will. In seiner Rede bei der Siemens Healthineers AG betonte er die Bedeutung der Gesundheitswirtschaft in Deutschland.
Sicherheit schaffen und Vertrauen stiften – Tag für Tag
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kommunale-unternehmen-2297460
Thu, 04 Jul 2024 00:00:00 +0200
Rede des Kanzlers beim Verband kommunaler Unternehmen
Wirtschaft und Klimaschutz,Statement BK
Wirtschaft_und_Handel
Es gebe zwar große Aufgaben, aber auch Anlass zur Zuversicht, unterstrich Bundeskanzler Olaf Scholz beim Festakt zum 75. Jubiläum des Verbands kommunaler Unternehmen (VKU) in Berlin. Die Tatsache, dass die Energieversorgung in Deutschland nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine trotz vieler Sorgen aufrechterhalten werden konnte, habe gezeigt: „Ja, es geht. Unser Land funktioniert.“ Stadtwerke, Müllabfuhr, Busse und Bahnen, Wasserwerke und Energieversorger leisteten hier einen wichtigen Beitrag. Sie versorgen die Bürgerinnen und Bürger Tag für Tag mit dem Selbstverständlichen und halten Deutschland in Ordnung. Dafür dankte Kanzler Scholz den mehr als 300.000 Beschäftigten der Mitgliedsunternehmen. Das Wichtigste in Kürze: Rekordinvestitionen: In Deutschland wurde lange zu wenig investiert. Daher sieht der Bundeshaushalt in diesem Jahr Investitionen auf Rekordniveau vor – auch in den Kommunen. Zudem setzt sich die Bundesregierung auf nationaler und europäischer Ebene dafür ein, mehr Kapital zu mobilisieren und Investitionen in Deutschland noch attraktiver zu machen. Planungsbeschleunigung: Die Bundesregierung macht – mit Unterstützung auch der kommunalen Unternehmen – weiter mehr Tempo bei der Modernisierung Deutschlands. So wird das Planungsrecht schneller und einfacher gemacht, die Wärmewende vorangetrieben und die Energiewende weiter beschleunigt. Deutschland-Tempo: Diese Maßnahmen zeigen Wirkung. Der schnellere Ausbau der Stromnetze, der Boom bei den Erneuerbaren Energien und die deutlich verbesserte Mobilfunk- und Glasfaserversorgung sind nur einige Beispiele. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede des Bundeskanzlers: Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Dr. Kämpfer, lieber Ulf, sehr geehrter Herr Liebing, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter von Gemeinden, Stadtwerken und kommunalen Unternehmen aus dem ganzen Land, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der VKU–Verband kommunaler Unternehmen-Familie, meine Damen und Herren, Sie haben einige der Meilensteine und Zeitenwenden erwähnt, sehr geehrter Herr Dr. Kämpfer, die unser Land in den vergangenen 75 Jahren erlebt hat: der Wiederaufbau, noch in den Ruinen des Krieges, die Wiedervereinigung, die Corona-Pandemie, die Energiekrise durch Russlands Angriffskrieg. An all diesen Wegmarken waren die kommunalen Unternehmen zur Stelle. Sie haben unser Land erst ans Laufen gebracht und dann immer wieder am Laufen gehalten. Der Rückblick auf diese stolze Geschichte gehört untrennbar zu einem Jubiläum, wie wir es heute feiern. Aber es geht dabei um mehr, und so habe ich Ihre Rede auch verstanden. Sie war ein Appell, dass wir uns unsere Stärken und unser Können bewusst machen, gerade in schwierigen Zeiten – ein Appell, die Modernisierung unseres Landes, den Aufbruch in eine gute neue Zeit beherzt anzugehen und dabei nie die Zuversicht zu verlieren: Das Morgen kann besser werden als das Gestern oder das Heute. Die Zuversicht ist die Triebfeder der Moderne. Ohne das Versprechen, dass die Dinge gut ausgehen für einen selbst, für die eigenen Angehörigen oder Freunde, haben freiheitliche, demokratische Gesellschaften einen schweren Stand. Deshalb müssen wir diese Zuversicht immer wieder neu begründen. Zur Wahrheit gehört aber: Gar nicht wenigen droht in diesen Zeiten die Zuversicht in eine bessere Zukunft abhandenzukommen. Groß ist die Verunsicherung, die ungekannte Krisen wie die Pandemie, Russlands Angriffskrieg, die Energiekrise, Inflation und irreguläre Migration hinterlassen haben. Das spüre ich bei meinen Gesprächen und Besuchen im ganzen Land, das spüren Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – Sie haben das gerade auch geschildert – und das zeigt sich in den Wahlergebnissen – übrigens nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa und sogar darüber hinaus. Was ist also zu tun? Sie haben es gerade bereits angedeutet, und ich will den Faden gerne aufnehmen. „We made it“: Mit diesem Satz habe ich Anfang 2023 meine letzte Rede hier beim VKU–Verband kommunaler Unternehmen begonnen. Damals lag ein enorm schwieriger Winter hinter uns, ein Winter, in dem wir alle mit bangem Blick auf jede Wettervorhersage geschaut haben, immer in der Hoffnung, dass es bloß nicht wochenlang eiskalt würde, und in der Hoffnung, dass wir die Flüssiggasterminals schnell genug ans Netz bekommen, damit die Gasreserven reichen. Sie wissen, wie die Sache ausgegangen ist: Unsere Wohnungen sind warm geblieben, unserer Industrie ging die sichere Energie nicht aus. Wir hatten genug Gas besorgt, um das Land sicher durch den Winter zu bringen. Sie alle taten das, was so selbstverständlich klingt, weil Sie es seit 75 Jahren verlässlich tun: Sie stellten die Versorgung Ihrer Kunden sicher. Selbst die Preissprünge konnten wir abfedern, sodass viele im Land das Gefühl hatten: Am Ende ist es gar nicht so schlimm gekommen, wie wir befürchtet haben. In der Wissenschaft spricht man da manchmal vom Präventionsparadox, weil es zwar menschlich, aber eben auch paradox ist, dass man das Verhindern von Risiken und Gefahren oft einfach hinnimmt, als sei es selbstverständlich, und erst der Worst Case eintreten muss, damit eine Leistung auch tatsächlich sichtbar wird. Psychologisch betrachtet mag da etwas dran sein, aber als Maxime für unser Handeln taugt dieser Gedanke trotzdem nicht. Wir, die wir Verantwortung für unser Land tragen, müssen dafür sorgen, dass der Worst Case nicht eintritt. Unsere Aufgabe ist es, immer wieder Lösungen in der Sache anzubieten und so zu zeigen: Ja, es geht. Unser Land funktioniert, weil Stadtwerke, Müllabfuhr, Busse, Bahnen, Wasserwerke und Energieversorger ihre Arbeit machen; weil wir gerade in schwierigen Zeiten sehr viel hinkriegen in Deutschland; weil wir gute Leute haben. Im Fall des VKU–Verband kommunaler Unternehmen sind es über 300 000 gute Leute, die jeden Tag aufstehen, die unsere Bürgerinnen und Bürger mit dem vermeintlich Selbstverständlichen versorgen, die Deutschland in Ordnung halten, die unser Land Tag um Tag ein Stück moderner machen – und all das mit einer unaufgeregten Zuverlässigkeit, die gerade jetzt, gerade in unsicheren Zeiten, fundamental wichtig ist, weil sie Sicherheit schafft und auch Vertrauen stiftet. Dass denjenigen, die das vermeintlich Selbstverständliche leisten, nicht immer der nötige Dank und Respekt gezollt wird, davon können Sie sicherlich ein Lied singen. Zumindest heute würde ich das gerne ändern. Deshalb sage ich Ihnen und allen Beschäftigten, die bei Ihnen tätig sind, im Namen unseres ganzen Landes Danke dafür, dass Sie unser Land am Laufen halten. Ja, vor uns liegen große Aufgaben. Wir müssen das Land sicherer machen, nach außen wie nach innen. Unsere Infrastruktur, unsere Industrieanlagen, unsere Energie- und Wärmeversorgung, das alles braucht einen Modernisierungsturbo. Klimaneutral werden und ein starkes Industrieland bleiben, so lautet die Aufgabe in den kommenden 20 Jahren. Aber wahr ist eben auch: Wir haben solche Veränderungen auch früher schon hinbekommen. Das kann Zuversicht geben. Wer allerdings heute vor renovierungsbedürftigen Brücken im Stau steht, wer seit Jahren auf schnelles Internet wartet, wer miterlebt, dass man für eine neue Leitung manchmal zehn, zwölf Jahre braucht, der hat nicht unbedingt das Gefühl, in einem Land zu leben, das vorankommt. Jahrelang haben wir zu wenig investiert. Daher sieht der Bundeshaushalt in diesem Jahr Investitionen auf Rekordniveau vor, und diesen Kurs werden wir auch fortführen mit unserem Haushalt, bei dem wir kurz vor Ende der Beratungen sind. – Nur für Sie habe ich einmal unterbrochen. Die Modernisierung unseres Landes ist ein Generationenprojekt, und das dürfen wir nicht an den nötigen Investitionen scheitern lassen. Die Stromnetze, die großen überregionalen Leitungen, aber insbesondere auch die Verteilnetze bei Ihnen vor Ort müssen schneller ausgebaut werden; denn unsere Unternehmen – und nicht nur die – warten darauf. Für die Wärmewende muss in vielen Orten die Fernwärme massiv ausgebaut werden, davon ist schon gesprochen worden. All das braucht Kapital. Deshalb müssen die kommunalen Unternehmen sich in die Lage versetzen, mehr Eigenkapital aufzunehmen. Zugleich setzen wir uns als Bundesregierung auf nationaler und europäischer Ebene dafür ein, mehr Kapital zu mobilisieren und Investitionen in Deutschland noch attraktiver zu machen. Der zweite große Hebel neben mehr Investitionen ist mehr Tempo – und wir machen Tempo, auch mit Unterstützung der ganzen VKU–Verband kommunaler Unternehmen-Familie. Wir haben uns das gesamte Planungsrecht vorgenommen und gehen das systematisch durch, und zwar mit einem einzigen Ziel: die Dinge schneller und einfacher machen. Die ersten Erfolge sehen wir inzwischen. Auch das kann Zuversicht schaffen, weil die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltag spüren: Da ändert sich was, da verbessert sich endlich was. Der Ausbau der Photovoltaikanlagen boomt. Unser Jahresziel von 88 Gigawatt neu installierter Leistung beim Solarstrom haben wir schon im Mai erreicht. Steil aufwärts geht es auch bei der Windkraft: Statt 4000 Megawatt im Vorjahr haben wir 2023 Windleistung von 8000 Megawatt neu genehmigt – doppelt so viel, wie das noch vor einem Jahr der Fall war. Der Ausbau des Stromnetzes wurde lange Zeit politisch ausgebremst. Inzwischen haben wir auch da die Ausbauzahlen verglichen mit 2019 verdoppelt. Als Verantwortliche vor Ort müssen Sie aber immer auch die Netzanschlüsse mit bedenken – jeder kennt das Problem. Keine Energiewende ohne Wärmewende: Deswegen haben wir wuchtige Förderprogramme auch für effiziente Gebäude und Wärmenetze sowie für die kommunale Wärmeplanung aufgelegt. Die E-Mobilität kommt voran. Seit Amtsantritt der Bundesregierung haben wir die Zahl der Ladepunkte verdoppelt. Die Zahl der Hypercharger ist innerhalb der vergangenen zwei Jahre sogar um sage und schreibe 270 Prozent auf über 15 000 gestiegen. Im vermeintlichen Funkloch Deutschland sind mittlerweile mehr als 97 Prozent der Fläche mit 4G versorgt, rund 92 Prozent sogar mit 5G. Auch beim schnellen Internet zu Hause geht es vorwärts. Allein im Jahr 2023 ist die Zahl der Haushalte, für die Glasfaseranschlüsse verfügbar sind, um mehr als ein Drittel gestiegen, und bei den Unternehmen sogar um 43 Prozent. Ich sage das so genau und so detailliert, weil das die Dynamik zeigt. Das zeigt auch: Deutschland kann Tempo, wenn wir uns nicht zu Tode regulieren, sondern einfach mal machen. Einfach mal machen: Das könnte auch ein gutes Motto für den VKU–Verband kommunaler Unternehmen und seine Mitglieder sein. Was es heißt, einfach mal zu machen, haben sie in den vergangenen 75 Jahren wieder und wieder gezeigt. Deshalb bin ich mir sicher: Wir sind auch für die Zukunft gut aufgestellt. Es kann und es wird gut ausgehen für unser Land. Diese Zuversicht ist berechtigt. Daran haben Ihre Arbeit und die Arbeit Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen großen Anteil. Schönen Dank dafür!
Die kommunalen Unternehmen und ihre mehr als 300.000 Beschäftigten leisten einen wichtigen Beitrag zur Modernisierung Deutschlands. Das hat Kanzler Scholz beim Festakt zum 75. Jubiläums des Verbands betont.
Wegweisendes Projekt für die ganze Region
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/strukturwandel-lausitz-2294554
Wed, 26 Jun 2024 00:00:00 +0200
Erste Universitätsklinik Brandenburgs
Cottbus
Statement BK
Das Carl-Thiem-Klinikum in Cottbus hat sich zum größten Versorger stationärer Krankenhausleistungen im Land Brandenburg entwickelt. Zum 1. Juli 2024 wird aus dem Klinikum die erste Universitätsklinik Brandenburgs die „Medizinische Universität Lausitz – Carl Thiem“. Finanziert wird der Aufbau unter anderem mit Geld vom Bund, das den Strukturwandel in den Regionen fördern soll, die vom Kohleausstieg betroffen sind. Bundeskanzler Olaf Scholz nahm am Festakt zum 110-jährigen Bestehen des Klinikums in Brandenburg teil, der zugleich der neuen Universitätsklinik gewidmet war. „Die Gründung einer Universitätsklinik ist eine gute Idee für Cottbus, für die Lausitz, für Brandenburg und für Deutschland“, betonte der Bundeskanzler in seiner Rede. Das wichtigste in Kürze: Die Gründung der Medizinischen Universität Lausitz in Cottbus trägt laut Kanzler Scholz einen wesentlichen Beitrag zum Strukturwandel der Region bei. Neue Universitätsklinik als medizinischer Ausbildungs- und Forschungsstandort: Bis zu 200 Medizinerinnen und Mediziner sollen an der neuen Universitätsklinik jährlich ausgebildet werden; 80 Professuren und 1.300 neue Arbeitsplätze für Fachkräfte entstehen. Die Bundesregierung fördert den Aufbau des Universitätsklinikums in Cottbus mit 1,9 Milliarden Euro und den Strukturwandel in der gesamten Lausitz mit 10,3 Milliarden Euro. Das sei ein ganz wichtiger Teil des Zukunftsprojekts in dieser Region. Natürlich sicherten ein neues ICE-Werk, ein Industriepark und eine neue Universitätsklinik für sich allein nicht die Zukunft einer ganzen Region – „aber all das zusammengenommen ist schon einmalig in Deutschland“, betonte Kanzler Scholz. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Woidke, lieber Dietmar, sehr geehrte Frau Ministerin Schüle, liebe Manja, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Schick, lieber Tobias, sehr geehrter Herr Scholl, meine Damen und Herren, lieber Herr Brodermann, ich weiß noch, wie wir beide 2019 – damals war ich noch Finanzminister – hier in Cottbus beim Bäcker saßen. Wir haben über die Idee dieser Uniklinik gesprochen, über die Größe und den Anspruch dieses Projekts, und wir waren uns einig: Eine Universitätsklinik – das ist eine gute Idee für Cottbus, für die Lausitz, für Brandenburg und für Deutschland. Bis zu 200 Medizinerinnen und Mediziner, die wir in Deutschland dringend brauchen, sollen hier in Cottbus künftig Jahr für Jahr ausgebildet werden. 80 Professuren entstehen, 1.300 neue Arbeitsplätze für Fachkräfte aus der Region, aus dem ganzen Land und aus der ganzen Welt. Das ist groß – und deshalb freue ich mich, heute dieses Ereignis mit Ihnen allen feiern zu können. Schönen Dank! Groß ist es auch deshalb, weil es so gar nicht passen will zu der Erzählung, die sich über Jahre und Jahrzehnte in den Köpfen festgesetzt hat über die Lausitz: Randlage, abhängig von der Braunkohle, keine schnellen Zugverbindungen, dünn besiedelt, schrumpfende Bevölkerung – Sie alle wissen, wovon ich spreche. Und auch manche Lausitzerin und mancher Lausitzer hat sich in den zurückliegenden Jahren immer wieder die bange Frage gestellt: Was wird aus meiner Region, wenn die Braunkohle geht? Gehen hier die Lichter aus oder geht es hier weiter in den nächsten Jahren? Strukturwandel – für viele in Deutschland und ganz besonders hier in Ostdeutschland war das jahrelang ein Synonym für das Ende von etwas, für Unsicherheit, für die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz oder den der Kinder und Enkel. Meine Damen und Herren, hier in der Lausitz zeigen Sie gerade, dass es auch anders geht. Strukturwandel hier ist zum Zukunftsprojekt geworden für eine ganze Region. Grundsteinlegungen für Großprojekte, Einweihungen, Gründungsveranstaltungen wie diese heute hier – all das gehört zum Alltag eines Bundeskanzlers. Aber in keiner Region war ich dafür in den zweieinhalb Jahren seit meinem Amtsantritt so häufig wie bei Ihnen hier in der Lausitz. Natürlich sichern ein neues ICE Werk, einer der größten Batteriespeicher Europas, ein Industriepark und selbst eine neue Universitätsklinik für sich allein nicht die Zukunft einer ganzen Region. Aber zusammengenommen ist das, was hier gerade passiert, einmalig in Deutschland. Alle, die daran hier vor Ort mitgearbeitet haben, spüren das. Sie alle sind Teil von etwas Großem, Teil des Wandels dieser Region, eines neuen Kapitels der Geschichte der Lausitz. Das passt auch zu Brandenburgs starker Wirtschaft, die drei Jahre hintereinander einen Spitzenplatz im Vergleich aller Bundesländer belegt hat und die allein im vergangenen Jahr über zwei Prozent gewachsen ist, also deutlich stärker als in fast allen anderen Bundesländern. Lieber Dietmar, das ist auch Dein Verdienst und der Verdienst einer Landesregierung, die Investitionen und Innovationen ins Land holt. Deshalb sage ich an dieser Stelle Dir und allen, die seit Jahren daran arbeiten, dass wir diesen Tag hier und heute feiern können, vielen herzlichen Dank. Der Bund fördert diesen Aufbruch mit 10,3 Milliarden Euro. Davon fließen 1,9 Milliarden Euro allein in den Aufbau der Universitätsmedizin in Cottbus. Ich möchte heute aber nicht über Milliardensummen reden – das mache ich derzeit fast täglich in den Haushaltsverhandlungen in Berlin. Ich möchte über den Kopf und das Herz der Medizin sprechen, die hier seit 110 Jahren zu Hause ist und für die sich nun ein neues Kapitel öffnet. Ich fange mit dem Kopf an: Das ist die Forschung; wir haben es ja gerade schon gehört. Aus dem 110 Jahre alten Carl-Thiem-Klinikum wird eine Uniklinik, ein kleines Wort, das aber einen großen Unterschied macht. Es ist die erste staatliche Universitätsmedizin in Brandenburg und damit ein wegweisendes Projekt für die ganze Region. Die Schwerpunkte der neuen Uniklinik werden auf der Gesundheitssystemforschung und der Digitalisierung liegen. Diese Schwerpunkte werden es sein, die diese neue Uniklinik so besonders machen. Eine Frage, die dabei im Fokus steht, lautet: Wie können Gesundheitsdaten von Patientinnen und Patienten besser genutzt werden, um Krankheiten zu erforschen, zu erkennen und zu heilen? Bereits im März ist dafür ein wichtiges Gesetz in Kraft getreten: Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz. Es hilft Forscherinnen und Forschern, die damit einen besseren Zugang zu Gesundheitsdaten bekommen – für bessere Therapien, wirksamere Medikamente und Forschung auf Spitzenniveau. Mit dem Digitalgesetz und der Einführung der elektronischen Patientenakte wollen wir es schaffen, dass alle, die im Gesundheitssystem arbeiten, digital miteinander vernetzt werden, damit im Klinikalltag weniger Zeit für Papierkram draufgeht und mehr Zeit bleibt für die Patientinnen und Patienten. Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz und das Digitalgesetz helfen einem innovativen Klinikum wie diesem. Wie wir Gesundheitsdaten sinnvoller nutzen – und vor allem digitaler –, das sind aber auch Zukunftsthemen für unser Gesundheitssystem insgesamt, Zukunftsthemen, bei denen die Lausitz mit Ihrem Fachwissen und durch Ihre tägliche Arbeit zur „Modellregion“ wird. Und damit sind wir beim Herzen der Medizin, den Frauen und Männern, die jeden Morgen – in vielen Fällen sehr früh – aufstehen und Leben retten, die Schmerzen lindern, pflegen, diagnostizieren und operieren, die diesen Laden am Laufen halten, auf die wir uns alle verlassen können. Liebe Manja, du hast im Mai für einen Tag Deine Akten gegen die Praxiserfahrung in der Notaufnahme des Carl-Thiem-Klinikums getauscht. Die Pflegerinnen und Pfleger, die Ärztinnen und Ärzte haben dich sehr beeindruckt, hast du mir erzählt. Wie viel Zeit sie sich für ihre Patientinnen und Patienten genommen haben – trotz knappem Personal, trotz Stress und Überstunden! Aber in den kommenden Jahren werden viele Beschäftigte in unseren Kliniken und Praxen in Rente gehen. Gleichzeitig werden viele Frauen und Männer heute älter als früher; das ist auch ein Erfolg der Gesundheitsversorgung in unserem Land. Das heißt aber: 2040 könnten 150.000 Pflegekräfte und 30.000 Ärztinnen und Ärzte fehlen, wenn wir jetzt nicht gegensteuern. Das tun wir. Lieber Herr Scholl, Sie haben für das Carl-Thiem-Klinikum vom Aufstieg in die Champions League gesprochen. Und wie im Fußball brauchen wir auch für unser Gesundheitssystem die besten Talente – ob in Deutschland geboren oder in anderen Ländern, ob hier ausgebildet oder woanders, ob Deutsch-Muttersprachler oder Deutsch-Lernende. Wer zu uns kommt und hier anpacken möchte, ist uns herzlich willkommen. Dafür haben wir mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz das modernste Einwanderungsrecht geschaffen, das unser Land je hatte. Gerade auch in den Gesundheitsberufen und in der Wissenschaft wollen wir dadurch mehr gute Leute nach Deutschland holen. Schon heute wurde ein Viertel unserer Ärztinnen und Ärzte nicht in Deutschland geboren oder hat ausländische Eltern. Auch viele Pflegerinnen und Pfleger haben eine Migrationsgeschichte. Unsere Krankenhäuser und Praxen wären ohne sie alle ziemlich leer. Auch hier in Cottbus kommen die Beschäftigten am Klinikum aus 55 verschiedenen Ländern – aus Polen, Vietnam, Ägypten, Brasilien, Israel, Indonesien oder der Ukraine. Sie alle sind Teil dieser Klinik und der Erfolgsgeschichte, die wir heute feiern. Deutschland ist ein vielfältiges Land – und wir lassen uns nicht spalten. Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Carl-Thiem-Klinikums – viele von Ihnen sind heute Abend hier: Sie alle werden die neue Uniklinik mit aufbauen und der wichtigste Teil von ihr sein. Sie halten alles am Laufen, Sie sind das Herz unserer Medizin. Dafür von Herzen vielen Dank! Meine Damen und Herren, als Carl Thiem, der Namensgeber der bisherigen und der neuen Cottbuser Klinik 1877 hierherzog, war die Lausitz eine Tuchmacherregion. Die Webstühle in den Tuchfabriken waren schlecht gesichert, immer wieder gab es Unfälle. Arbeiter brachen sich den Arm und sollten trotzdem so schnell wie möglich wieder arbeiten. Carl Thiem, von dem wir gerade gesprochen haben, wurde hier in Cottbus zum „Vater der Unfallheilkunde“ – zu Kopf und Herz dieses von ihm mitgegründeten Krankenhauses. Er wäre bestimmt stolz gewesen, zu sehen, wie sich sein Lebenswerk bis heute entwickelt hat – und auf das große Kapitel, das jetzt noch hinzukommt, das Sie gemeinsam schreiben. Ich wünsche Ihnen dafür jetzt nicht Hals- und Beinbruch, sondern lieber allen erdenklichen Erfolg! Schönen Dank.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat am Festakt zur Gründung der ersten Universitätsklinik in Brandenburg teilgenommen. Die „Medizinische Universität Lausitz – Carl Thiem“ in Cottbus steuere einen wesentlichen Beitrag zum Strukturwandel in der gesamten Region bei.
„Diese Grundsteinlegung macht Mut“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-grundsteinlegung-siemensstadt-2294088
Tue, 25 Jun 2024 00:00:00 +0200
Siemensstadt Square
Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen,Statement BK
Bauen_und_Wohnen,Statement-BK
Die Siemensstadt bleibt auch in Zukunft, was sie seit 125 Jahren ist – ein Ort des Aufbruchs, ein Ort der Zukunft und der Zuversicht“, sagte der Bundeskanzler bei der Grundsteinlegung des „Siemensstadt Squares“ in Berlin-Spandau. Hier soll nicht nur bezahlbarer Wohnraum entstehen, sondern auch ein klimaneutrales Stadtquartier mit moderner Industrie und Forschung. Die Bundesregierung unterstützt diesen modernen Umbau der Industrie und ihre Digitalisierung. „Wir müssen Tempo machen! Wir müssen gute Bedingungen schaffen für Investitionen! Deshalb setze ich mich weiterhin mit allem Nachdruck dafür ein“, das sicherte der Kanzler in seiner Rede zur Grundsteinlegung zu. Das Wichtigste in Kürze: Bezahlbarer Wohnungsbau: 35.000 Menschen sollen bis 2035 in Siemensstadt Square leben und arbeiten. Hier sollen etwa 2.700 Wohneinheiten entstehen, davon fast ein Drittel Sozialwohnungen. Die Bundesregierung investiert 18,15 Milliarden Euro in den sozialen Wohnungsbau und hat zudem die Mittel für zinsvergünstigtes Bauen aufgestockt. So soll mehr bezahlbarer Wohnraum geschaffen und die Baukonjunktur gestärkt werden. Klimaschutz: Die künftige Siemensstadt wird auf den 250.000 Quadratmetern von Anfang an als CO2-neutrales Viertel geplant. Die Bundesregierung fördert das klimafreundliche Bauen, so dass hier nachhaltiger und klimafreundlicher Wohnraum entstehen kann – mit anderen Materialien und in modularer Bauweise. Digitale, innovative Industrie: Die Bundesregierung macht Tempo für schnellere Genehmigungen und setzt Rahmenbedingungen für neue Technologien, etwa mit dem Gesundheits- und dem Mobilitätsdatengesetz. Aber auch die Initiativen zu Künstlicher Intelligenz, Quantencomputing und Robotik sollen neue Technologien fördern. Digitale und innovative Geschäftsmodelle sollen sich in Berlin und darüber hinaus mit traditioneller Industrie und Gewerbe verzahnen. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede Sehr geehrter Herr Busch, sehr geehrte Frau von Siemens, sehr geehrter Regierender Bürgermeister Wegner, sehr geehrte Damen und Herren! Die Siemensstadt ist etwas ganz Besonderes. Hier, auf den sumpfigen Nonnenwiesen zwischen Berlin und Spandau, entstand innerhalb der ersten 30 Jahre des vorigen Jahrhunderts aus dem Nichts ein neuer Stadtteil, der weltweit zum Inbegriff der Industriemoderne wurde. Hier schuf der aufstrebende Siemens-Konzern eine beispiellose Elektropolis im Grünen, ein einzigartiges städtebauliches Phänomen – „Fabrikstadt“ und „Wohnstadt“ in einem. Hier wurde der sachlich-moderne Siemens-Stil der Industriearchitektur geprägt – zweckmäßig, geradlinig, zeitgemäß und von schlichter Schönheit. Das berühmte Schaltwerk-Hochhaus etwa ‑ direkt hier hinter mir ‑ zeugt davon. Entworfen vom Siemens-Architekten Hans Hertlein, war dieses Bauwerk 1928 der erste Fabrikhochbau in Europa, eine großartige Ikone der Industriegeschichte für alle Zeit. Aber hier in der Siemensstadt wurde nicht nur modernste Elektrotechnik entwickelt und produziert. Hier wurden zugleich hochwertige Infrastruktur und soziale Einrichtungen geschaffen ‑ Schulen, Sportanlagen, Kindertagesstätten, sogar die von Siemens finanzierte eigene S-Bahn-Strecke gleich hier vor mir. Nicht zuletzt entstanden hier in den Jahren der Weimarer Republik vier herausragende, bis heute vorbildliche Wohnsiedlungen, allen voran die Großsiedlung Siemensstadt, entworfen von so berühmten Vertretern des Neuen Bauens wie Hans Scharoun, Walter Gropius und Hugo Häring. Das alles macht die historische Siemensstadt so besonders. Mit umso größerer Freude bin ich der Einladung gefolgt, heute Mittag gemeinsam mit Ihnen allen die Neugründung der Siemensstadt zu begehen. Mit der Grundsteinlegung heute wollen Sie die große Geschichte dieses Stadtteils zeitgemäß weiterschreiben. Wie sich diese urbane Transformation vollziehen wird, das erahnen wir bereits hier auf dieser Baustelle. Aber man muss, ehrlich gesagt, schon eine ganze Menge Vorstellungskraft mitbringen, um sich hier bereits heute ein plastisches Bild von dem Zukunftsort zu machen, so wie er an diesem Ort in den nächsten Jahren wachsen soll. Auch darum ist es gut, dass Siemens die neue Siemensstadt der Zukunft mit Hilfe eines „Digitalen Zwillings“ bis ins kleinste Detail anschaulich machen kann. Wir haben eben davon gehört. Wir werden uns das im Anschluss auch noch genauer im Showroom Ihres Verwaltungsgebäudes ansehen, und ich bin schon sehr darauf gespannt, wie sich die digitale und die reale Welt in der Simulation verbinden. 35 000 Bürgerinnen und Bürger werden bis 2035 in der neuen Siemensstadt leben und arbeiten. Schon das allein ist eine großartige Perspektive in dieser Zeit! Aber die Weiterentwicklung dieses Stadtquartiers, die wir heute anstoßen, ist viel mehr als nur ein Neubauvorhaben. Sie wollen mit dem Projekt die Welten von Arbeit und Forschung, Wohnen und Leben auf neue Weise verbinden, Welten, die bei Licht betrachtet auch in der historischen Siemensstadt bereits zusammen gedacht wurden. Genau diese Idee für unsere Zeit neu zu interpretieren – darum geht es. Der urbane Raum soll eben nicht nur Schlafstadt sein, nur Arbeitswelt oder nur Konsumort. Deshalb werden hier ab sofort mehr als 70 Hektar der Siemensstadt als vielfältiger neuer urbaner Raum geöffnet und entwickelt. Städtebaulich noch getrennt gedachte Sphären werden in einem Zukunftsort zusammenführt. Dafür planen und bauen Sie 2700 Wohneinheiten, Parks, eine neue Grundschule, zwei neue Kitas, dazu weitere soziale und kulturelle Einrichtungen. Sogar die seit 1980 stillgelegte Siemens-S-Bahn wird auf ihrer früheren Trasse wieder rollen. Forschung, Industrie und Gewerbe, Start-ups und eingeführte Unternehmen, Wissenschaft, Aus- und Weiterbildung, Begegnung und Lebenswelt, Wohnen und moderne Mobilität, Nachbarschaft und Heimat – alle diese Aspekte soll die neue Siemensstadt zusammenführen, und zwar digital, nachhaltig und energieeffizient. Wie gesagt, die Siemensstadt ist einzigartig ‑ schon deshalb wird auch die neue Siemensstadt, Siemensstadt Square, ein Unikat sein ‑, und trotzdem weist dieses Beispiel ehrgeizigen Stadtumbaus weit hinaus über die Siemensstadt selbst und auch weit hinaus über Berlin. Es zeigt: Wir in Deutschland haben uns aufs Neue auf den Weg gemacht! Deutschland ist Industrieland, und Deutschland bleibt Industrieland – kaum irgendwo wird das so klar wie gerade hier an diesem Ort. Aber das heißt eben nicht, dass wir stehenbleiben, und auch das wird kaum irgendwo so klar wie gerade hier in der Siemensstadt. Wir können stolz darauf sein, dass in Deutschland die Industrie weiterhin mehr als 20 Prozent zu unserer Wertschöpfung und unserem Wohlstand beiträgt, mehr als in vielen anderen Ländern Europas. Dabei geht es nicht nur um bestimmte Branchen der Industrie. Vielmehr liegt unsere Stärke gerade in unserer industriellen Breite über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Siemens ist dabei nicht nur ein traditioneller Eckpfeiler, sondern auch heute wieder ein echter Motor des Fortschritts. Das ist gut; denn Deutschland muss sein Geschäftsmodell immer wieder neu erfinden, um global wettbewerbsfähig zu sein, und zwar auch mit disruptiven Innovationen, mit neuen Produkten und marktgerechten Dienstleistungen. Industrie heißt längst schon Vernetzung und Digitalisierung. Neue Wertschöpfung entsteht heute dort, wo es gelingt, die Stärken des verarbeitenden Gewerbes geschickt mit der digitalen Ökonomie zu verbinden – in Netzwerken, neuen Verfahren und Produktionsinnovationen. Auch hier haben Sie bei Siemens Ihre Kompetenzen, mit denen Sie die Siemensstadt zum Zukunftsort entwickeln wollen. Ich will es ausdrücklich sagen: Die Bundesregierung hat das allergrößte Interesse daran, dass der Umbau unserer Industrie unter den Bedingungen der Digitalisierung gelingt. Aktuell sehen wir, wie sich die konjunkturelle Lage nach zwei schwierigen Jahren ‑ geprägt von externen Krisen und einer schwachen Weltkonjunktur ‑ wieder aufhellt. Aber das reicht noch nicht. Wir müssen ran an verkrustete Strukturen! Wir müssen Tempo machen! Wir müssen gute Bedingungen schaffen für Investitionen! Deshalb setze ich mich weiterhin mit allem Nachdruck dafür ein, dass wir Planungs- und Genehmigungsverfahren in unserem Land deutlich beschleunigen, dass bei uns in Deutschland Energie nachhaltig, bezahlbar und sicher verfügbar ist, dass wir immer die Fach- und Arbeitskräfte haben werden, die unsere Wirtschaft benötigt, und dass wir weit offen sind für neue Technologien und Innovationen hier an unserem Standort. Den gesetzlichen Rahmen für mehr Innovation entwickeln wir weiter, etwa mit einem Gesetz zur Nutzung von Gesundheitsdaten, mit einem Mobilitätsdatengesetz, auch mit Initiativen zu künstlicher Intelligenz, zu Quantencomputing und Robotik. Welche neuen Möglichkeiten sich daraus ergeben, das werden wir sicher gerade hier in der neuen Siemensstadt erleben. So soll etwa für Ausbildung, Studium und Schule ein Metaverse virtuelle Simulationen und interaktive Lernmaterialien bereitstellen. Die Lernenden werden so weltweit mit Expertinnen und Experten zusammenarbeiten können, und das Lernen soll effektiver, sicherer und praxisnäher gestaltet werden. Siemens verknüpft damit erstmals in umfassender Weise seine Expertise in der Digitalisierung von Lebenswelten mit der Quartiersgestaltung. Im gesamten Dreieck von Potsdam bis Berlin-Buch und Adlershof wollen Sie die Stärken Berlins in Ihr Projekt integrieren, seine renommierte Start-up-Szene und seine großen Zentren von Forschung und Wissenschaft. Digitalisierung und neue Geschäftsmodelle sollen sich hier mit den traditionellen Feldern von Industrie und Gewerbe verzahnen und befruchten. Auch das ist bemerkenswert: Die neue Siemensstadt wird von Anfang an als CO2-neutraler Stadtteil geplant, und alle Bewohner der Zukunftsstadt sollen mit einem digitalen Tool ihren CO2-Fußabdruck ermitteln und damit bewusste Entscheidungen zur Verringerung der eigenen Umweltauswirkungen treffen können. Das wird dieses Quartier nicht nur besonders lebenswert machen. Die neue Siemensstadt wird so auch ein Schaufenster in die Stadt der Zukunft und zum Beweis dafür, dass man auch zu überschaubaren Kosten nachhaltig und klimafreundlich bauen kann. Für den Städtebau in Deutschland ist das ein großes Thema; denn wir wollen ja die lebenswerten Innenstädte erhalten und schaffen und dabei natürlich auch das historische Erbe unseres Gebäudebestands sichern. Nachhaltiges und klimafreundliches Bauen zu tragbaren Kosten, das ist möglich, aber das erfordert Umdenken – bei den Verfahren und den Materialien, oder wenn es um serielles Bauen geht. Deshalb ist es gut, dass Siemens hier seine Kompetenz einbringt und Energieeffizienz großschreibt. Gespannt sein dürfen wir dabei auf den bislang größten Abwasserwärmetauscher in Europa ‑ darüber wurde schon geredet ‑, der dafür sorgen wird, dass die Nutzerinnen und Nutzer der neuen Siemensstadt CO2-neutral leben, arbeiten und lernen werden. Bereits im Jahr 2027 wird die Energiezentrale das Areal mit seinen 250 000 Quadratmetern denkmalgeschütztem Bestand sowie das Neubaumodul klimaneutral gestalten. Das Projekt Siemensstadt Square beweist: Eine gute neue Zeit ist möglich! Für mich gehört dazu ausdrücklich das Ziel, dass hier fast ein Drittel des Wohnraums sozialer Wohnraum werden soll. Moderne, hochwertige Wohnungen, für alle Bürgerinnen und Bürger bezahlbar – das war auch eine Grundidee der großen Architekten in der Ära des Neuen Bauens. Es ist gut, dass auch daran gerade hier in der Siemensstadt wieder angeknüpft wird; denn ich will in Deutschland keine Verhältnisse wie in manchen anderen Ländern, wo sich die Polizistin, der Facharbeiter, die Krankenschwester, der Angestellte in den großen Städten keine Wohnung mehr leisten kann. Diesen Trend ‑ auch hier bei uns ‑ müssen wir umkehren. Auch deshalb investiert die Bundesregierung auf Rekordniveau in den sozialen Wohnungsbau und hat die Mittel für zinsvergünstigtes Bauen aufgestockt. So stützen wir zugleich die Baukonjunktur in schwierigen Zeiten. Jetzt geht es los. Diese Grundsteinlegung macht Mut; denn sie zeigt, was wir in Deutschland schon heute schaffen können – in der Stadtplanung und beim Bau von modernen Quartieren. Die Siemensstadt bleibt auch in Zukunft, was sie seit 125 Jahren ist – ein Ort des Aufbruchs, ein Ort der Zukunft und der Zuversicht. Dem gesamten Projekt, dem Unternehmen und allen Beteiligten wünsche ich jeden erdenklichen Erfolg. Schönen Dank!
Die Grundsteinlegung des neuen Wohnquartiers „Siemensstadt Square“ in Berlin Spandau zeige „Deutschland ist Industrieland, und Deutschland bleibt Industrieland – kaum irgendwo wird das so klar wie gerade hier an diesem Ort“, das sagte Bundeskanzler Olaf Scholz.
Zukunftsinvestitionen haben Priorität
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/prioritaet-zukunftsinvestitionen-2293696
Mon, 24 Jun 2024 00:00:00 +0200
Bundeskanzler beim Tag der Industrie
Berlin
Aufgaben_des_Kanzlers,Statement BK,Wirtschaft und Klimaschutz
Statement-BK,Wirtschaft_und_Handel
Bundeskanzler Olaf Scholz appellierte beim Tag der Industrie des BDI–Bundesverband der Deutschen Industrie, die Transformation der Wirtschaft als eine Chance anzunehmen, um Deutschland zu modernisieren und neues Wachstum zu schaffen. Denn um Freiheit und Demokratie zu erhalten, gelte es die wirtschaftliche Kraft in Deutschland und in Europa – den Fleiß, die Erfindergeist und die Innovationskraft – zu stärken. Die Konferenz des Bundesverbandes der Deutschen Industrie steht unter dem Motto „Zusammenhalt in polarisierten Welten“. Der Kanzler warb für die enge Partnerschaft von Wirtschaft und Politik. Das Wichtigste in Kürze: Zusammenhalt für Freiheit und Demokratie: Die Bundesregierung tut alles dafür, um Freiheit und Demokratie in Deutschland und Europa zu stärken sowie die Ukraine beim Wiederaufbau und der europäischen Integration zu unterstützen. Die deutsche Wirtschaft trägt Erhebliches dazu bei. Europas Wirtschaft stärken: Der Bundeskanzler setzt sich nachdrücklich für mehr und bessere europäische Freihandelsabkommen ein. Zugleich gilt es die Wirtschaft vor unfairen Handelspraktiken schützen – idealerweise mit einvernehmlichen Lösungen. Die Bundesregierung erwartet von der neuen EU-Kommission einen ambitionierten Bürokratieabbau. Die Bundesregierung wird die europäische Lieferkettenrichtlinie unternehmensfreundlich umsetzen. Nationale Reformagenda: Die Bundesregierung macht erfolgreich Tempo beim Ausbau der Erneuerbaren Energien, der Energienetze und damit für künftig sinkende Energiekosten. Sie investiert 100 Milliarden Euro an Zukunftsausgaben und wird diesen weiter Priorität geben. Die Bundesregierung spricht intensiv darüber, wie Entlastungen verstetigt werden könnten. Mit einem Dynamisierungpaket sollen weitere Arbeitsanreize kommen, etwa auch durch steuerliche Anreize. Sie vereinfacht und beschleunigt Planungs- und Genehmigungsverfahren zur Modernisierung und für wirtschaftliches Wachstum in Deutschland. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrter Herr Russwurm, sehr geehrte Frau Gönner, meine Damen und Herren, ich habe viel geklatscht. Insofern habe ich bei Ihrer Rede viel Übereinstimmung festgestellt. Zusammenhalt in polarisierten Welten. – Ich finde es gut und wichtig, dass sich in diesem Jahr dieses Motto und – so verstehe ich es – auch diese Aufgabe für Sie gestellt hat. Dass unser Zusammenhalt in Deutschland und in Europa gefährdet ist, hat nicht zuletzt auch der Ausgang der Wahlen zum Europäischen Parlament gezeigt. Pandemie, Krieg, Klimawandel, irreguläre Migration, Inflation: Große Krisen haben viele Bürgerinnen und Bürger enorm verunsichert, so sehr verunsichert, dass gar nicht so wenigen die Zuversicht abhanden zu kommen droht, dass wir durch das durchkommen, dass wir die Aufgaben, die wir vor uns haben, bewältigen werden, dass die Transformation unserer Wirtschaft keine abstrakte Bedrohung ist, sondern eine Chance, das Land zu modernisieren und neues Wachstum zu schaffen. Auf diese Zweifel müssen und werden wir reagieren. Wir, das sind alle verantwortlichen Kräfte in unserem Land: Politik, Wirtschaft, und Zivilgesellschaft, Bund, Länder und Gemeinden, Regierung und demokratische Opposition. Es steht viel auf dem Spiel. In vielen Ländern Europas haben Parteien und Bündnisse zugelegt, die spalten wollen, die brechen wollen mit der EU, mit unserem Wirtschaftsmodell, mit dem Sozialstaat, mit unserer transatlantischen Bindung, mit den Prinzipien von Freiheit und Demokratie. Wenn wir diesen Trend stoppen wollen, dann müssen wir alles daransetzen, Zusammenhalt und Zuversicht zu stärken und in Teilen auch neu zu begründen. Das ist die zentrale Aufgabe unserer Zeit. Das ist auch meine wichtigste Aufgabe als Bundeskanzler. Ich bin davon überzeugt: Wir brauchen die enge Partnerschaft zwischen Wirtschaft und Politik, um sie gemeinsam zu meistern. Meine Damen und Herren, es wäre falsch, in einen Wettbewerb mit den Populisten und Extremisten einzusteigen und in ihr Geschäft mit den Sorgen der Leute angesichts der Krisen. Wir, die wir Verantwortung für unser Land tragen, müssen immer wieder in der Sache antworten, immer wieder konkret zeigen, dass Politik und Wirtschaft ernsthaft an Lösungen arbeiten und dass wir zu Verständigungen fähig sind, die unser Land voranbringen. Wir müssen auch herausstellen, dass es unser Modell der Freiheit ist, das auch wirtschaftlich die besten Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet. Das schützt übrigens auch vor einer Nullsummenspielmentalität, die Neid und Missgunst fördert. Wachstum kann uns davor schützen, dass es immer nur um die Verteilung des gleichen Kuchens geht. Zusammenhalt in polarisierten Welten, darum geht es auf drei verschiedenen, aber natürlich sehr eng miteinander verbundenen Ebenen: global, in Europa und in Deutschland. Mit der globalen Perspektive möchte ich beginnen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine führt uns täglich vor Augen, wo der tiefste geopolitische Bruch derzeit verläuft: zwischen den Verteidigern der Charta der Vereinten Nationen und denen, die das Völkerrecht durch das Faustrecht ersetzen wollen. Dass wir das nicht hinnehmen, haben wir vor wenigen Tagen im Kreis der G7 und auf der Ukraine-Friedenskonferenz in der Schweiz noch einmal bekräftigt. Ich bin dankbar dafür – Sie haben es eben noch einmal unterstrichen –, dass auch die deutsche Wirtschaft diesen Kurs seit Beginn des russischen Angriffskriegs aus voller Überzeugung mitträgt. Danke für diese Solidarität! Mehr noch: Deutsche Unternehmen spielen heute schon eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung, beim Wiederaufbau und der europäischen Integration der Ukraine. Das ist bei der Wiederaufbaukonferenz hier in Berlin deutlich geworden, auf der Vereinbarungen und Ankündigungen im Umfang von 16 Milliarden Euro für den Wiederaufbau erzielt wurden, viele auch von deutschen Unternehmen. Auch dafür möchte ich mich an dieser Stelle ganz ausdrücklich bedanken. Ein weiteres Feld der globalen Fragmentierung ist der Freihandel. Überall werden die Zäune engmaschiger. Neue Handelsschranken werden hochgezogen. Von allen möglichen Formen von „shoring“ ist die Rede, zum Beispiel von „friendshoring“. Das ist nicht meine Politik als Bundeskanzler. Natürlich müssen wir unsere Wirtschaft vor unfairen Handelspraktiken schützen, idealerweise mit einvernehmlichen Lösungen. Deshalb ist es gut, dass die EU-Kommission der chinesischen Seite im laufenden Antisubventionsverfahren weitere Gespräche anbietet. Ich habe sehr darauf gedrungen und auch mit der Kommissionspräsidentin sehr sorgfältig darüber gesprochen. Bis zum 4. Juli ist ja noch ein wenig Zeit. Klar ist aber, dass wir auch von der chinesischen Seite an dieser Stelle ernsthafte Bewegung und Fortschritte benötigen werden. Meine Damen und Herren, Freihandel ist eine der Grundlagen unseres Wohlstands in Deutschland und in Europa. Deswegen werde ich mich gegenüber der neuen EU-Kommission mit Nachdruck für mehr und bessere Freihandelsverträge einsetzen. Sie haben von dieser Notwendigkeit bereits gesprochen. Lassen Sie es mich etwas flapsig sagen: Wir haben die Zuständigkeit für die Handelspolitik nicht an Europa gegeben, damit keine Abkommen mehr geschlossen werden, sondern damit mehr Abkommen zustande kommen. Davon kann, ehrlich gesagt, gegenwärtig nicht die Rede sein. Das ist in der geopolitischen Lage, in der wir uns befinden, nicht akzeptabel. Ich erwarte von der nächsten Kommission und auch von den anderen Mitgliedstaaten, dass wir uns hierzu zusammenraufen und endlich vorankommen. Eine Beschleunigungsmaßnahme könnte sein, Handelsabkommen „EU only“ abzuschließen, um so jahrelange Verzögerungen durch die Ratifizierungsprozesse in den Mitgliedstaaten zu verhindern. Diese Diskussion müssen wir sehr sorgfältig führen. Aber wir brauchen etwas mehr Pragmatismus und mehr Geschwindigkeit in dieser Angelegenheit. Wenn wir dann Freihandelsverträge haben, in denen nicht all das steht, was man sich wünschen könnte, die aber schnell geschlossen werden, dann haben wir alle einen Gewinn davon. Damit sind wir bei Europa und der Frage, wie wir den Zusammenhalt auf unserem Kontinent stärken. Die kurze Antwort: Damit Europa weiterhin erfolgreich ist, müssen wir offen bleiben, resilient und wirtschaftlich stark. Überragend wichtig dabei ist: Unsere Unternehmen brauchen bessere Finanzierungsmöglichkeiten, damit sie in Deutschland und Europa wachsen können und nicht aus Gründen mangelnden Kapitalzugangs beispielsweise in die USA abwandern. Deshalb setze ich mich gemeinsam mit dem französischen Präsidenten vehement dafür ein, die Kapitalmarktunion endlich zustande zu bringen. Das will ich an dieser Stelle ausdrücklich unterstreichen. Ich glaube, das ist eines der zentralen Wachstumshemmnisse, das wir in Europa haben. Das ist kein abstraktes Politikerwort. Wir haben einmal untersucht, wie viele Start-ups, die dabei waren, zu großen Unternehmen zu wachsen, dieses Wachstum anderswo fortsetzen, weil der Kapitalzugang nicht funktioniert hat. Wir müssen es endlich schaffen, dass das viele Geld, das in Europa real vorhanden ist, auch privatwirtschaftlich in Unternehmen und ihr Wachstum in Europa investiert wird. Die Hürden, die dem entgegenstehen, müssen jetzt und in dieser Legislaturperiode der Kommission beseitigt werden. Gleichzeitig arbeiten wir im Sinne der europäischen Industrie weiterhin daran, den Binnenmarkt auszubauen, wo er noch fragmentiert ist. Sie haben das Thema ebenfalls angesprochen. Das gilt ganz besonders für die Verteidigungsindustrie und bei Zukunftstechnologien wie Raumfahrt und künstlicher Intelligenz. Da gibt es ungenutzte Skaleneffekte. Diese wollen wir heben, wie wir uns das in der Mikroelektronik oder bei Batterietechnik schon angeschaut und vorangebracht haben. Zuletzt ist es wichtig, dass wir das enorme Dickicht an Bürokratie auf EU-Ebene lichten. Wir erwarten von der neuen Kommission einfachere und schnellere Verfahren und einen ambitionierten Plan zum Abbau von Bürokratie. Bei handelsrechtlichen Berichtspflichten haben wir KMUs schon erheblich entlastet. Mehr als 50.000 Unternehmen in Deutschland profitieren jetzt davon. Gleichzeitig setzen wir uns bei der EU-Kommission dafür ein, dass noch mehr kleine und mittlere Unternehmen bei Verwaltungsausnahmen und dem Zugang zu Fördermitteln berücksichtigt werden. Das wäre eine ganz erhebliche Erleichterung für den deutschen Mittelstand, und deshalb bleiben wir daran. Ich kann Ihnen heute zusagen: Auch die europäische Lieferkettenrichtlinie werden wir in Deutschland für eine unternehmensfreundliche Gesetzgebung nutzen. Damit bin ich bei meinem dritten Punkt: Wie stärken wir den Zusammenhalt in Deutschland? Auch hier die Kurzversion vorab: Es geht darum, unser Land so zu modernisieren, dass die Bürgerinnen und Bürger die Zuversicht zurückerlangen, dass es gut ausgeht für uns alle, dass die Kräfte, die in unserem Land stecken, der Fleiß, der Erfindungsgeist, die Innovationskraft, auch heute noch tragen und uns eine gute Zukunft sichern werden. Ja – ich habe es schon gesagt –, dafür braucht es wirtschaftliches Wachstum und einen leistungsfähigeren Staat, für seine Bürgerinnen und Bürger genauso wie für die Unternehmen. Sie haben Recht, lieber Herr Russwurm, wenn Sie in Ihrem jüngsten Positionspapier zum Standort Deutschland, das Sie hier dargestellt haben, feststellen Über Jahre wurde zu wenig investiert und wurden nötige strukturelle Reformen in unserem Land ausgesessen. Wenn man viel sitzt und dann nach langer Zeit wieder ans Laufen kommt, dann tut es am Anfang in den Beinen weh. Das kann ich Ihnen als jemand sagen, der erst sehr spät in seinem Leben zum Joggen, zum Sport gekommen ist und deshalb all diese Dinge einmal durchgemacht hat. Der erste Muskelkater schmerzt besonders. Aber er ist ein notwendiger Schritt, um fitter zu werden und bei jedem Lauf mehr Tempo zu machen. Genau da sind wir in Deutschland gerade. Natürlich höre ich bei meinen Besuchen in Unternehmen im ganzen Land und bei meinen regelmäßigen Gesprächen mit dem BDI–Bundesverband der Deutschen Industrie und anderen Wirtschaftsverbänden, wo die Probleme liegen. Arbeitskräftemangel, ein verlässliches, bezahlbares Energiesystem, zu geringe Investitionen, zu viel Bürokratie und überhaupt zu wenig Tempo, das sind die Baustellen, die deshalb auch nicht zufällig im Zentrum meiner Arbeit stehen und die der Kern dessen sind, was ich eine moderne Angebotspolitik nenne, mit der wir Deutschland fit bekommen. Stichwort „Arbeitskräftemangel“: Wir haben angepackt und unter anderem das modernste Einwanderungsrecht beschlossen, das dieses Land je hatte. Auch Sie haben es so bezeichnet. Seit Anfang dieses Monats ist mit der Chancenkarte nun auch der dritte und letzte Baustein des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes in Kraft getreten, damit Sie die Talente bekommen, die Sie in Ihren Unternehmen brauchen. Wir bleiben daran. Wir haben im Übrigen auch schon das, was Sie eben mit Blick auf die Digitalisierung gesagt haben, in Angriff genommen. Jedenfalls planen wir, dass alle Konsulate Deutschlands ab dem Beginn des nächsten Jahres, ab Beginn des Jahres 2025, digitalisiert sein werden. Es wäre natürlich ein großer Fortschritt, wenn es uns tatsächlich gelänge, dieses Ziel zu erreichen. Auch verhandeln wir über ein Dynamisierungspaket, um unter anderem das Arbeitsangebot in Deutschland auszuweiten, indem wir freiwilliges längeres Weiterarbeiten deutlich attraktiver machen und indem wir mehr dafür tun, um die Erwerbstätigkeit von Eltern zu erleichtern, aber auch indem wir Arbeitsanreize für alle anderen erhöhen, zum Beispiel auch durch steuerliche Anreize. Stichwort „Energie“: Wenn wir uns bald mit der EU-Kommission auf den Rahmen für eine Kraftwerksstrategie einigen, dann haben wir fast alle Elemente zusammen, die wir für ein dekarbonisiertes Stromsystem in Deutschland brauchen: die Beschleunigung beim Ausbau der erneuerbaren Energien, den Ausbau der Stromnetze, die Kraftwerksstrategie, damit „twenty-four seven“ genügend Strom vorhanden ist, unsere Strategie zur Speicherung von CO2 und die Einigung auf den Rahmen für das Wasserstoff-Kernnetz. Das alles sind zentrale Fragen. Beim Wasserstoff-Kernnetz sind wir den ersten Schritt gegangen, übrigens mit einer privatwirtschaftlichen Lösung, deren Rahmen wir geschaffen haben. Wir haben nicht darauf gesetzt, dass der Staat dieses Netz errichtet, sondern wir haben dafür gesorgt, dass die bisherigen Gasnetzbetreiber im Wesentlichen diese Investitionen tätigen können. Wir haben dafür gesorgt, dass eine Behörde dafür zuständig ist, die Bundesnetzagentur, damit sie das Ineinandergreifen der Netzstrukturen gut planen kann und damit nicht plötzlich jemandem das Gas abgeschaltet wird, der es noch braucht, weil man da jetzt gern eine Wasserstoffleitung hätte, und natürlich auch deswegen, damit der nächste von Ihnen eben angemahnte Schritt erfolgt, geplant für das nächste Jahr, der dann die Weiterplanung des Verteilnetzes auch für Wasserstoff bedeutet, sodass alle wissen: Sie kommen auch daran. – Alles das ist zentral. Dann haben wir auch die Planungssicherheit, die wir brauchen. Dann können wir Stück für Stück darüber reden, dass man weiß, wo es jetzt langgeht, und darauf setzen kann, auch bei den langfristigen Investitionen für unser Land. Es bleibt die Frage der Energiepreise. Auch dazu haben wir uns mit dem BDI–Bundesverband der Deutschen Industrie und den weiteren Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft zuletzt intensiv ausgetauscht. Mir ist bewusst, dass die Transformation und die weltweit unterschiedlichen Energiepreisniveaus – heute wie gestern – eine Herausforderung für den Standort Deutschland darstellen. Immerhin hat sich die Situation bezüglich der Energiepreise gegenüber den Krisenjahren deutlich entspannt, und die Märkte erwarten weitere positive Entwicklungen. Das hat mit unserer Ausweitung des Angebots zu tun – Stichwort: „LNG–Liquefied Natural Gas-Terminals“ –, aber auch mit der Abschaffung der EEG-Umlage, der Absenkung der Stromsteuer für produzierende Unternehmen auf den europäischen Mindestsatz und der Fortschreibung und Ausweitung der Entlastungen für energieintensive Unternehmen. Das ist eine Entlastung um viele Milliarden, die jetzt in vielen Fällen vom Steuerzahler als Gesamtheit geschultert werden. Wie wir das verstetigen, auch darüber sprechen wir übrigens gerade intensiv. Denn auch hier gehört es dazu, dass Planungssicherheit gegeben sein muss. Wenn eine Entlastung auf ein paar Jahre festgeschrieben ist, dann überlegt man bei einer mehrjährigen Investition, wie es danach sein wird. Dazu sollen Sie Klarheit bekommen. Das ist ein Thema, über das wir reden. Gleichzeitig geht es natürlich auch um das Thema der Netzentgelte der Zukunft. Wir werden deshalb den Netzausbau bedarfsgerecht, wirtschaftlich und effizient ausgestalten und dadurch Kosten senken. Mit dem schnelleren Ausbau der Übertragungsnetze sinken perspektivisch viele Kosten, zum Beispiel auch die Redispatchkosten. Sie haben in einem Jahr schon einmal 4,8 Milliarden betragen, zuletzt drei Milliarden. Dabei geht es um richtig viel Geld. Deshalb ist es ganz zentral, dass wir diesen Ausbau vorantreiben. Mit jeder Leitung, die fertiggestellt wird, entstehen Kostensenkungen, die für alle wirksam werden. Stichwort „Investitionen“: Ich habe das aktuelle BDI–Bundesverband der Deutschen Industrie-Papier dazu bereits erwähnt, das ja auch öffentlich auf große Resonanz gestoßen ist. Ich stimme Ihrer Analyse vollkommen zu. Wir brauchen hohe Investitionen. Denn wir haben unsere Infrastruktur, wie schon gesagt, zu lange auf Verschleiß gefahren. Dafür zahlen wir heute doppelt und dreifach, zum Beispiel mit Zugverspätungen, mit Brückensperrungen und maroden öffentlichen Gebäuden. Die Antwort kann nur sein, weiterhin auf hohem Niveau zu investieren, und zwar in die Infrastruktur, in die wirtschaftliche Modernisierung und in unsere Resilienz. Das tun wir in diesem Jahr mit über hundert Milliarden Euro an Zukunftsausgaben. Wir bewegen uns damit auf deutlich höherem Niveau als vor der Pandemie. Ich will dem Ergebnis unserer laufenden Verhandlungen zum Haushalt 2025 nicht vorgreifen. Aber so viel kann ich schon sagen: Zukunftsinvestitionen für unser Land werden auch im nächsten Jahr hohe Priorität haben. Natürlich wollen wir auch private Investitionen fördern. Ich könnte mir vorstellen, dass wir in Sachen von Abschreibungen und Forschungsförderung noch eine Schippe auf das drauflegen, was uns mit dem Wachstumschancengesetz gelungen ist. Dafür brauchen wir, wie wir gesehen haben, aber natürlich die Zustimmung von vielen, zum Beispiel auch der Länder. Aber ich hoffe, auch mit Ihrer Unterstützung geht da in den kommenden Monaten noch etwas! Das bringt mich zum letzten Stichwort: „Tempo“. Der Faktor Zeit, so schien es, spielte in den vergangenen Jahrzehnten so gut wie keine Rolle. Egal ob es um den Ausbau von Schiene, Straßen, Brücken, Mobilfunk, Glasfaser oder Energieversorgung ging, überall das gleiche Bild, überall die gleiche Antwort: Superkompliziert, das dauert alles ewig. Meine Damen und Herren, diese Bundesregierung ist angetreten, um diesen untragbaren Zustand der Selbstlähmung zu überwinden. Ich nenne ein paar Beispiele – es sind bewusst Beispiele – dafür, was wir schon auf den Weg gebracht haben, auch, um Sie zu motivieren, dass Sie uns antreiben, noch mehr zu tun. Wer schon einmal mit dem Bundesimmissionsschutzgesetz zu tun hatte, der weiß: Es hält, was sein bürokratischer Name verspricht. Dabei werden Unternehmen in Deutschland bis 2030 20.000 Genehmigungen dieser Art brauchen – zusätzlich. Dabei geht es um die Modernisierung von Industrieanlagen, um den Ausbau von Speichern, um nachhaltige Energieversorgung oder um Elektrolyseure, die wir zur Wasserstoffproduktion brauchen. Mit dem bisherigen Tempo und Prüfaufwand bekommen das unsere Ämter auch beim besten Willen nicht hin. Die sind ja heute schon am Limit. Deshalb haben wir gerade die größte Reform seit 30 Jahren in diesem Bereich beschlossen, und zwar endlich eine, die Dinge einfacher macht. Künftig gilt: In den allermeisten Fällen kann losgebaut werden, noch während das Genehmigungsverfahren läuft, Stichwort „vorzeitiger Maßnahmenbeginn“. Dass das gut funktioniert, haben wir zum Beispiel bei den Flüssiggasterminals oder beim Bau der Tesla-Fabrik in Brandenburg gesehen. Wir verzichten an schon bestehenden Standorten grundsätzlich auf vorgelagerte Prognoseentscheidungen – noch so ein schönes Wort in Behördendeutsch. Man traut es sich kaum zu sagen, aber diese Vorprüfung hatte bisher genauso lange gedauert wie manchmal das Genehmigungsverfahren selbst, nämlich rund zehn Monate, und das waren dann die schnellen Genehmigungsverfahren. Ein Erörterungstermin findet künftig nur noch statt, wenn der Antragsteller das möchte, und dann muss das binnen vier Wochen passieren. Unterlagen können künftig nachgereicht werden, ohne dass das ganze Genehmigungsverfahren dadurch aufgehalten wird. Damit die Behörden auch wirklich zu Potte kommen, können Genehmigungsfristen nicht mehr beliebig verlängert werden, sondern nur noch ein einziges Mal und das um maximal drei Monate. Damit solch eine Genehmigung nicht zwischen die Räder von Denkmalschutz, Brandschutz, Bauaufsicht, Wasser- und Bodenmanagement, Natur- und Umweltschutz, Straßen- und Verkehrsrecht gerät, kann die hauptzuständige Behörde den anderen künftig Fristen setzen oder bei Verzögerungen für sie mitentscheiden. Um die Ämter zu entlasten können Unternehmen Projektmanager einsetzen, die das Projekt von A bis Z betreuen und in Zusammenarbeit mit den Ämtern alle Genehmigungen besorgen. Nicht zuletzt werden alle Verfahrensschritte komplett digitalisiert. Wer einmal ein immissionsschutzrechtliches Verfahren durchlaufen hat, der weiß, was das bedeutet: Es ist nerven- und rückenschonend, weil nicht mehr Dutzende Aktenordner mit Bauplänen, Prüfberichten und Gutachten in irgendwelche Ämter getragen werden müssen. Zweites Beispiel: Verkehr. Den spürbarsten Nachholbedarf – das hat ja auch Ihre Studie herausgearbeitet ‑ haben wir, was Straßen, Schienen und Brücken betrifft. Hier heißt das Zauberwort: „überragendes öffentliches Interesse“. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Sanierung der Bahn, der Ausbau von Nadelöhren auf unseren Autobahnen und der Neubau maroder Brücken jetzt rechtlich absolute Priorität genießen. Das bedeutet weniger Prüfaufwand, weniger Gutachtenberge, weniger Verzögerungsmöglichkeiten und vor allem viel mehr Tempo! Allein die Liste der 138 beschleunigten Autobahnprojekte liest sich wie das „Best of“ der deutschen Staunachrichten: Kamener Kreuz, Autobahnkreuz Mannheim, Heumarer Dreieck, Frankfurter Nordwestkreuz, Autobahndreieck Hannover-West – wahrscheinlich jeder hat da schon gestanden und geflucht. Das geht jetzt voran mit den Genehmigungen und dem Ausbau. Auch beim Ausbau der Schiene wollen wir weniger Störungen und mehr Verlässlichkeit im gesamten Netz. Mit der Einigung im Vermittlungsausschuss haben wir deswegen den Weg für die umfassende Sanierung, Modernisierung und Digitalisierung der am stärksten belasteten Korridore frei gemacht. Auch die Länder wirken mit; denn wir haben ja einen Deutschlandpakt mit ihnen abgeschlossen, der im Herbst verabredet wurde. Nur ein Beispiel: Wenn bisher eine marode Brücke einfach nur durch eine neue ersetzt werden musste, war ein komplett neues Planfeststellungsverfahren nötig – mit allem, was dazugehört: Einreichung der Pläne, öffentliche Bekanntmachung, Auslegung der Planunterlagen usw. usf. Jetzt hat Niedersachsen das einfach abgeschafft, zumindest dann, wenn die neue Brücke nicht deutlich größer wird oder völlig anders verläuft. Das heißt konkret: Schon jetzt gibt es in Niedersachsen 30 Brückenneubauten, bei denen auf ein solch formelles Verfahren komplett verzichtet wird. Das ist ein gutes Beispiel. So kriegen wir Tempo hin! Drittes Beispiel: Netzausbau. Niemand konnte mir erklären, weshalb eine aufwändige Bundesfachplanung, ein komplettes Planfeststellungsverfahren oder eine Alternativenprüfung notwendig ist, die zusammen Jahre dauern, wenn eine Stromleitung einfach nur dort verlegt werden soll, wo auch heute schon eine liegt. Über all die Prüf- und Genehmigungserfordernisse ist der Bau neuer Leitungen zum Generationenprojekt geworden. Also haben wir gesagt: Weg mit überflüssigen Extrarunden. Allein die Bündelung neuer und bestehender Leitungen spart im Schnitt zweieinhalb Jahre. Selbst Projekte, die schon laufen, werden dadurch schneller fertig, zum Beispiel die enorm wichtige Ultranet-Stromtrasse von NRW nach Baden-Württemberg – Fertigstellung nun 2026 statt 2027. Wann ‑ darf ich das hier einmal fragen? – hat jemand in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten überhaupt einmal gehört, dass solch ein Großprojekt nicht Jahre später fertig wird, sondern deutlich früher? Von den 14.000 Kilometern an neuen Stromleitungen, die bisher gesetzlich vorgeschrieben sind, ist inzwischen über ein Drittel fertiggestellt, im Bau oder genehmigt. Verglichen mit Ende 2019 haben wir die Ausbauzahlen verdoppelt, und das ist erst der Anfang; denn mit den beschlossenen Vereinfachungen werden wir noch schneller. Die Bundesnetzagentur erwartet, bis Ende 2025 einen großen Teil der Bundesvorhaben genehmigt zu haben. Noch ein Beispiel: Energieversorgung. Beim Ausbau von Wind- und Solarenergie sehen wir Zuwachsraten, die noch vor zwei Jahren kaum einer für möglich gehalten hätte. Für Solarstrom steht im EEG als Ziel für Ende 2024: 88 Gigawatt. Dieses Ziel haben wir bereits Anfang Mai erreicht statt Ende Dezember. Wir sind also „on track“. Weil die Förderung attraktiver wurde, weil wir dafür gesorgt haben, dass Direktvermarktungskosten wegfallen, gibt es auch große Anlagen, die davon profitieren. Für die Windenergie gilt das Gleiche. Hier sind Windräder über Jahre hinweg politisch bekämpft worden. Selbst da, wo man das Potenzial von Windkraft früh erkannt hatte, waren unsere Verfahren zu kompliziert und langwierig. Wir haben jetzt all diese Verfahren verkürzt und dazu beigetragen, dass das alles schneller geht. Das führt dazu, dass die Dinge im Schnitt auch tatsächlich zwei Jahre früher fertig werden, als das bisher der Fall war. In dem Sinne glaube ich, dass wir ein großes Tempo gewonnen haben und dass wir dieses Tempo auch in den nächsten Jahren beibehalten werden. Ich jedenfalls bin fest davon überzeugt, dass wir jetzt eine Situation haben müssen, in der wir diesen Ausbau unserer Energieerzeugungsanlagen auch weiter vorantreiben. Ich erspare Ihnen weitere Details, aber einmal musste das sein, weil ich Ihnen ankündige, dass wir mit dieser Präzision durch das gesamte Planungsrecht in Deutschland marschieren werden und dafür sorgen werden, dass die Dinge, die in Deutschland schnell geschehen müssen, auch schnell geschehen. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Aus meiner Sicht haben wir Großes in unserem Land nötig. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass Tempo entsteht, dass wir die Bürokratie abbauen, dass investiert wird, privatwirtschaftlich und vom Staat, in dem notwendigen Ausmaß, das wir brauchen. Wir müssen auch ein bisschen dafür sorgen, dass wieder Zuversicht auf die Zukunft entsteht. Das kann man in dem Tempo erreichen, an dem die Leute sehen: Es geschieht etwas! Das gilt nicht nur für alle Bürgerinnen und Bürger ganz privat, das gilt natürlich auch für die Unternehmen. Denn sie müssen wissen, wenn sie investieren, dass das eine Investition ist, die sich auch über die langen Zeiträume hinweg, die diese Investition tragen muss, tatsächlich rechnet. Dass die Bedingungen stimmen, dass es immer genügend bezahlbare Energie gibt, dass sie gewissermaßen das Umfeld haben, das sie dazu brauchen. Aber wenn wir das machen, wenn die Jahre des Aussitzens vorbei sind, wenn wir das Potenzial wecken, das in unserem Land steckt, dann haben wir auch eine gute Zukunft vor uns, und zwar auch in polarisierten Zeiten. Dann können wir stark sein in Deutschland, in Europa, und friedlich mit den übrigen Ländern der Welt leben. In diesem Sinne: Schönen Dank!
„Wir müssen dafür Sorge tragen, dass Tempo entsteht, dass wir Bürokratie abbauen, dass investiert wird, privatwirtschaftlich und vom Staat“, sagte der Bundeskanzler Olaf Scholz beim Tag der Industrie des BDI–Bundesverband der Deutschen Industrie.
Technologien, die Leben retten können
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-bei-translationszentrum-2293508
Fri, 21 Jun 2024 12:02:00 +0200
Zentrum für Zell- und Gentherapie in Berlin
Berlin
Statement BK
Statement-BK
Bundeskanzler Olaf Scholz hat an der Gründung des neuen Translationszentrums für Zell- und Gentherapie in Berlin teilgenommen. Gen- und Zelltherapien haben das Potenzial, die Behandlung von Krebs, Autoimmunerkrankungen, neurodegenerativen Erkrankungen und vielen seltenen genetischen Krankheiten grundlegend neu aufzustellen. Bei neuartigen Biotechnologien und bei der mRNA-Technologie ist die deutsche Forschung international mit führend. „Wir investieren mehr als drei Prozent des BIP in Forschung und Entwicklung, und damit mehr als alle anderen großen Länder Europas In diesem Fall sind es sogar Technologien, die Leben retten oder verbessern“, sagte der Kanzler. Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Meine sehr geehrten Damen und Herren, Rudolf Virchow war seiner Zeit voraus. Er erforschte Zellen und schrieb schon Mitte des 19. Jahrhunderts, „daß diese kleinen Elemente, die Zellen, die eigentlichen Herde des Lebens und demnach auch der Krankheit sind“. Ohne Rudolf Virchow, ohne seine Erforschung der Zellen als Bausteine allen Lebens wären wir vielleicht heute nicht hier. Krebs, Parkinson, Autoimmunerkrankungen, seltene genetische Krankheiten, sie alle lassen sich heute viel besser behandeln als zu Rudolf Virchows Zeiten. Dank der Medizin und den Biowissenschaften wissen wir um ein Vielfaches mehr über unseren Organismus und darüber, wie er funktioniert. Und doch bleiben einige der ganz großen Fragen bestehen, die sich schon Rudolf Virchow stellte: Wie entstehen manche Krankheiten, und, noch wichtiger, wie können wir sie verhindern? – Denn es gibt immer noch Krankheiten, die sich nicht behandeln lassen – wir haben es schon gehört – Krankheiten, für die es keine Therapien oder Medikamente gibt. Diesen Satz muss man einmal sacken lassen. Denn krank zu sein, ist das eine. Aber unheilbar krank zu sein, ist noch etwas ganz anderes. Genau dort aber zeigt sich das ganz große Potenzial der Zell- und Gentherapien, an allererster Stelle natürlich für die Patientinnen und Patienten, aber auch für die Wirtschaft und für die Wissenschaft. Damit lassen sich Krankheiten heilen, für die es bislang noch keine Behandlung gibt, oder besser noch, man kann verhindern, dass solche Krankheiten überhaupt entstehen. Schon jetzt laufen Hunderte klinischer Studien zur Entwicklung von Gen- und Zelltherapeutika und werden auch an der Charité schon Patientinnen und Patienten damit behandelt. Aber es sind bislang nur wenige Produkte in Europa zugelassen. Dieses Translationszentrum kann das ändern. Schon in drei Jahren wollen Sie hier starten. Das ist ambitioniert und beeindruckend. Hier wurde mehrfach versichert, dass es gelingen wird. Ich schaue nach! Denn was wir heute hier feiern ist neben dem Startschuss auch eine einzigartige Form der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Industrie und Politik. Mit der Charité ist die größte Universitätsklinik Europas an Bord, Innovationstreiber nicht nur in der Medizingeschichte – Rudolf Virchow habe ich schon erwähnt –, sondern eben auch in der Gegenwart und Zukunft. Man denke nur an die Erfindung des ersten wirksamen Coronatests oder die hier laufende Spitzenforschung zu menschlichen Organmodellen. Hinzu kommt mit der Bayer AG ein Pharmaunternehmen von Weltrang. Bayer Leverkusen ist in diesem Jahr sehr verdient und zum ersten Mal Deutscher Meister geworden. Bayer ist selbst auch ein deutscher Meister, beispielsweise in der Herstellung von Arzneimitteln. Auch bei der Forschungsintensität liegt Bayer auf einem Spitzenplatz. Deshalb ist Ihr Unternehmen ein großartiger Partner, um die Grundlagenforschung der Charité direkt in Therapien zu überführen, in Therapien, die weltweit Patientinnen und Patienten helfen, wieder gesund zu werden oder gesund zu bleiben. Denn das ist genau die Lücke, die wir mit diesem Zentrum schließen wollen, von der Grundlagenforschung in die Praxis. Diese Translation, diese Übersetzung ist wichtig. In der Grundlagenforschung sind wir traditionell in Deutschland spitze, aber auf dem Weg in die Praxis gelegentlich noch „lost in translation“. Das wollen wir ändern. Dieses Wir schließt natürlich auch das Land Berlin und den Bund mit ein. Klar ist: Gerade am Anfang brauchen neue Technologien auch staatliche Förderung. Deshalb helfen wir, indem der Bund den Bau der Herstellungsanlage und auch die Gründung und den Aufbau des Zentrums mit rund 80 Millionen Euro unterstützt. Zugleich bin ich fest davon überzeugt, dass sich dieses Zentrum sehr bald auch wirtschaftlich tragen wird. Denn langfristig haben sich sinnvolle Technologien immer durchgesetzt. In diesem Fall sind es sogar Technologien, die Leben retten oder verbessern. Das ist ein Trend, der alle Zeit überdauert. Der Gründer des KI-Unternehmens DeepMind, Mustafa Suleyman, beschreibt das in seinem Buch „The Coming Wave“ so: „Nahezu jede grundlegende Technologie, die jemals erfunden wurde, … folgt einem einzigen, scheinbar unumstößlichen Gesetz: Sie wird billiger und einfacher in der Anwendung, und schließlich findet sie umfassende Verbreitung.“ Ich bin mir ganz sicher: Diesen Weg werden auch die Zell- und Gentherapien weiter gehen. Wir investieren mehr als drei Prozent des BIP in Forschung und Entwicklung, und damit mehr als alle anderen großen Länder Europas. Das ist übrigens auch ein Grund dafür, warum wir mit nur 84 Millionen Einwohnern die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt sind: Weil wir forschungsstarke Unternehmen haben, weil wir herausragende akademische und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen haben. Insbesondere bei neuartigen Biotechnologien und bei der mRNA-Technologie ist die deutsche Forschung international mit führend. Herausragende Talente, eine starke industrielle Basis in der chemischen und pharmazeutischen Industrie, spezialisierte Zulieferer im Mittelstand und ausgeprägtes Branchenwissen, all das zeichnet uns aus. Gleichzeitig ist der Standortwettbewerb härter geworden. Deshalb hat die Bundesregierung Ende 2023 die Pharmastrategie auf den Weg gebracht. Ein zentraler Baustein ist der Gesetzentwurf für ein Medizinforschungsgesetz, mit dem klinische Studien und Zulassungen von Arzneimitteln einfacher und schneller werden. Bereits im März ist ein wichtiges Gesetz in Kraft getreten, das Gesundheitsdatennutzungsgesetz. Es hilft Forscherinnen und Forschern, die damit einen besseren Zugang zu Gesundheitsdaten bekommen. Wenn sie mehr Daten haben, werden sie diese auch besser nutzen können, zum Beispiel dafür, Zusammenhänge zu erkennen. Ich war in den vergangenen Wochen bei vielen Unternehmen aus der innovativen Gesundheitswirtschaft. Die Rückmeldungen waren eindeutig. Die Pharmastrategie und die angesprochenen Gesetze sind richtig, und sie sind wichtig. Sie sind ein Grund dafür, hier in Deutschland zu investieren, in Forschungsgebäude, in Hightechproduktionsstätten, in neue Arbeitsplätze. Damit diese Arbeitsplätze auch mit den besten Leuten besetzt werden können, haben wir die Einwanderung von Fachkräften ganz erheblich erleichtert. Auch das werden Sie bei Bayer und hier an der Charité hoffentlich bald im Alltag spüren. Dieses Translationszentrum kann damit zum Kern oder, besser gesagt, zum Zellkern eines ganzen Organismus von gen- und zellbasierten Therapien werden, zu einem zweiten Boston, wie es hier öfter genannt wurde – denn dort gibt es bereits ein ähnliches Zentrum –, zu einem Boston an der Spree, wobei es hier um die Forschung geht. Ich war ja in der Stadt. Sie sieht ganz anders aus. Dazu brauchen wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Unternehmerinnen und Unternehmer, die sowohl die kleinsten Details im Zellkern als auch das große Ganze sehen, nämlich die Medizin der Zukunft, die Antworten auf die großen Fragen gibt, die sich schon Rudolf Virchow stellte. Gut, dass wir beides hier in Deutschland haben, sowohl mutige Forscherinnen und Forscher als auch innovative Unternehmerinnen und Unternehmer. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg für dieses visionäre Projekt. Meine Unterstützung dafür haben Sie. Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz anlässlich der Grundsteinlegung für das Translationszentrum für Zell- und Gentherapie.
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Ukraine Recovery Conference 2024 am 11. Juni 2024 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-ukraine-recovery-conference-2024-am-11-juni-2024-in-berlin-2291664
Tue, 11 Jun 2024 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Staatspräsident Selenskyj, lieber Wolodymyr, liebe Ursula von der Leyen, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter von Regierungen und internationalen Organisationen, von Unternehmen und Kommunen, von Verbänden und Nichtregierungsorganisationen, liebe Freundinnen und Freunde der Ukraine, meine Damen und Herren! Lugano, London und heute Berlin ‑ zum dritten Mal seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine versammeln wir uns als Unterstützerinnen und Unterstützer zu einer Ukraine Recovery Conference. Es ist allerdings die erste dieser Konferenzen, seitdem die Ukraine EU-Beitrittskandidat ist. Und deshalb passt es gut, dass diese Konferenz nun erstmals in einem EU-Mitgliedsstaat stattfindet. In diesem Sinne: Herzlich willkommen in Berlin! Es ist uns eine Freude und eine Ehre, dass du, lieber Wolodymyr, zusammen mit so vielen anderen Vertreterinnen und Vertretern aus der gesamten Ukraine heute hier bist. Ich weiß, solche Reisen in Kriegszeiten sind jedes Mal eine besondere Strapaze und auch ein Risiko. Umso mehr wissen wir eure Anwesenheit zu schätzen. „Laskawo prosimo“ ‑ ein ganz besonders herzliches Willkommen allen unseren ukrainischen Freunden und Gästen! In dem Video haben wir gerade gesehen, mit welchem Mut, mit welch unglaublichem Durchhaltevermögen Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern jeden Tag ihre Heimat verteidigen, ihrer Arbeit nachgehen. Züge fahren, in Schulen wird unterrichtet, in Krankenhäusern operiert, in Fabriken produziert, auf den Feldern Mais oder Getreide geerntet. Das geschieht nicht im Normalbetrieb ‑ Krieg kann und darf nie zur Normalität werden ‑, aber mit so viel Kraft und Ausdauer, dass es uns bewegt und Mut macht. Eine von unzähligen Geschichten: Fast auf den Tag genau heute vor zwei Jahren griff Russland eine Fabrik im Kyjiwer Stadtteil Darnyzja an. Dort wurden Eisenbahnwaggons hergestellt, unter anderem zum Transport von Getreide in alle Welt. Und dort werden weiter Eisenbahnwaggons hergestellt. Denn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fabrik haben nach dem Angriff weiter produziert ‑ in halb zerstörten Hallen, ohne Heizung im Winter und mit notdürftig repariertem Dach. Auf die Frage, wie das überhaupt gehe, antwortete der Direktor der Fabrik schlicht: „It’s in the people.“ Dieser Satz sagt viel aus über die Ukrainerinnen und Ukrainer, die niemals aufgeben, die ihr Land verteidigen und am Laufen halten. Weil das so ist, meine Damen und Herren, können wir eines mit Sicherheit sagen: Russland wird mit seinem imperialistischen Angriff nicht durchkommen! Die Ukraine geht den Weg, den die Ukrainerinnen und Ukrainer für sich gewählt haben: demokratisch, in Freiheit, in Europa. Diesen Weg gehen wir mit euch, lieber Wolodymyr ‑ und deshalb arbeiten wir heute in Berlin weiter am Wiederaufbau einer starken, freien, europäischen Ukraine! Stärke, Prinzipienfestigkeit ‑ das sind auch die Voraussetzungen dafür, dass Putin erkennt: Es wird keinen militärischen Sieg und keinen Diktatfrieden geben. Er muss seinen brutalen Feldzug beenden und Truppen zurückziehen. Diese Erkenntnis zu befördern, darum geht es bei dem Friedensgipfel, zu dem wir am Wochenende in der Schweiz zusammenkommen. Dort werden wir mit Partnern aus allen Teilen der Welt deutlich machen: Wir unterstützen das Völkerrecht und die Charta der Vereinten Nationen! Das heißt in diesem Fall: Wir unterstützen die angegriffene Ukraine, so lange wie nötig. Nie waren die Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine so eng und so vertraut wie heute. Seit dem 24. Februar 2022 haben wir 28 Milliarden Euro allein an militärischer Unterstützung geleistet oder zugesagt. Weitere Milliarden an ziviler Unterstützung kommen hinzu. Was die ukrainische Armee aktuell am dringendsten braucht, sind Munition und Waffen, vor allem zur Luftverteidigung. Deshalb liefern wir ein drittes Patriot-Flugabwehrsystem an die Ukraine, dazu IRIS-T-SLM-Flugabwehrsysteme, Gepard-Flakpanzer, Flugkörper und Artilleriemunition ‑ alles in den kommenden Wochen und Monaten. Ich möchte alle, die heute hier sind, ganz herzlich bitten: Unterstützen Sie unsere Initiative zur Stärkung der ukrainischen Luftverteidigung, mit allem, was möglich ist! Denn der beste Wiederaufbau ist der, der gar nicht stattfinden muss. Im Februar haben Wolodymyr Selenskyj und ich eine Vereinbarung über unsere Sicherheitszusammenarbeit und langfristige Unterstützung unterschrieben. Mehr als ein Dutzend anderer Länder haben das auch getan. Diese Vereinbarungen sind Versicherungen für die Zukunft der Ukraine in Frieden und Freiheit ‑ Versicherungen auch für Unternehmerinnen und Unternehmer wie Sie, die sich bereits heute wirtschaftlich in der Ukraine engagieren oder darüber nachdenken. Der Wiederaufbau und die Modernisierung des Landes werden massive Investitionen nötig machen. Mit nahezu 500 Milliarden US-Dollar rechnet die Weltbank in den kommenden zehn Jahren. Übermorgen werden Präsident Selenskyj und ich uns beim G7-Gipfel in Apulien wiedersehen. Ich werde mich dort für weitreichende und langfristige Zusagen für die Ukraine einsetzen. Angesichts der Dimension, über die wir hier reden, muss privates Kapital hinzukommen. Der Wiederaufbau der Ukraine ‑ das ist und das muss auch ein Business Case sein. Dabei werden diejenigen vorne dabei sein, die sich frühzeitig engagieren, die ihre Wirtschaftsbeziehungen zur Ukraine jetzt pflegen und ausbauen. Für die deutsche Wirtschaft kann ich sagen: Sie tun das. Hunderte deutscher Unternehmen sind in der Ukraine aktiv, mit 35 000 Beschäftigten allein im Automobilsektor. Trotz des Kriegs gibt es keinen Abfluss deutscher Investitionen. Unser Handelsvolumen ist im Vergleich zur Vorkriegszeit deutlich gestiegen. Bei der Zahl neuer Investitionsgarantien der Bundesregierung liegt die Ukraine weltweit auf Platz eins. Die Mitgliederzahl unserer Außenhandelskammer in Kyjiw ist vergangenes Jahr um über 60 Prozent gestiegen. Das alles zeigt mir: Die Wirtschaft versteht, welches Potenzial die Ukraine hat. Sie ist ein großes Land mit einer gut ausgebildeten Bevölkerung. Trotz der schweren Auswirkungen des Krieges soll die Wirtschaft dieses Jahr wieder wachsen. Derzeit kurbeln vor allem Investitionen im Baubereich die Wirtschaft an. Aber auch die ukrainische Landwirtschaft ist ein Global Player. Dass der Export von Agrargütern inzwischen wieder auf Vorkriegsniveau liegt, ist eine enorme Leistung und wichtig für die Ernährungssicherheit weltweit. Großes Potenzial hat die Ukraine bei erneuerbaren Energien und Wasserstoff, aber auch in aufstrebenden Sektoren wie Digitalisierung und IT, Rüstung, Gesundheitstechnologie und Pharma. Deshalb werden diese Felder auf unserer Konferenz ganz besonders im Fokus stehen. Wenn wir über den Wiederaufbau der Ukraine sprechen, dann sprechen wir über den Wiederaufbau eines zukünftigen neuen EU-Mitgliedstaates. Wenige Monate nach Beginn des russischen Kriegs haben wir der Ukraine gemeinsam das feste Versprechen gegeben: Die Zukunft der Ukraine liegt in der Europäischen Union. Das gilt. Seitdem hat sich die Ukraine unter schwierigsten Bedingungen auf den Weg Richtung EU gemacht. Trotz des Krieges arbeitet sie konsequent an Reformen. Wir unterstützen das, weil wir überzeugt sind: Eine leistungsfähige Verwaltung auf allen Ebenen, konsequente Korruptionsbekämpfung, eine inklusive Gesellschaft ‑ das sind Voraussetzungen auch für privates Engagement und den Erfolg des Wiederaufbaus. Mit dem Ukraine-Plan hat die Ukraine ihre Reformagenda klar ausbuchstabiert. Im Februar hat die EU dafür Finanzhilfen in Höhe von 50 Milliarden Euro zugesagt. An diesem Reformplan können sich alle orientieren, auch private Unternehmen. Wir flankieren privates Engagement in der Ukraine, wo wir können. Um vor allem kleine und mittlere ukrainische Unternehmen zu unterstützen, haben wir anlässlich unserer Konferenz heute eine internationale Allianz geschlossen. Gemeinsam mit Partnern wie der Weltbank, der Europäischen Union und der japanischen Agentur für internationale Zusammenarbeit unterstützen wir zum Beispiel den ukrainischen Business Development Fund. Vorbild dabei ist die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau. Ohne dir, liebe Ursula, vorgreifen zu wollen, arbeiten wir intensiv daran, die Bereitstellung von Eigenkapital für ukrainische Unternehmen zu verbessern, und gemeinsam mit der Europäischen Kommission und weiteren nationalen wie internationalen Partnern sind wir auf einem guten Weg, substanzielle Anreize für private Investitionen in Schlüsselbereiche der ukrainischen Wirtschaft zu setzen. Mit dem Ukraine Business Guide, zum Beispiel, bündeln wir alle Förderangebote der Bundesregierung für Unternehmen, die in der Ukraine tätig werden wollen. Gemeinsam mit den USA haben wir den Business Advisory Council initiiert, der die Ukraine und Geberstaaten beraten wird. Gestern fand die erste Sitzung statt. Sie werden die Stimme der Wirtschaft sein und ein Motor für institutionelle Reformen und wirtschaftliche Modernisierung. Erster Vorsitzender des Business Advisory Council wird Dr. Christian Bruch, Präsident und CEO von Siemens Energy. Wenn ich das sagen darf: Das ist eine hervorragende Wahl. Denn das Thema Energie steht für uns alle ganz oben auf der Tagesordnung. Nach wie vor greift Russland die Energieinfrastruktur der Ukraine fast täglich an. Doch aller Angriffe zum Trotz konnte die ukrainische Energieversorgung bisher überwiegend aufrechterhalten werden. Wir haben dabei geholfen ‑ nicht nur durch den Schutz und die Reparatur zerstörter Umspannwerke oder Leitungen, sondern auch durch Investitionen in die Dekarbonisierung und Energieeffizienz sowie in eine dezentrale, resiliente Energieversorgung. Im Stromsektor ist die Ukraine übrigens bereits Teil der Europäischen Union. Seit unsere Stromnetze im März 2022 verbunden wurden, hat die Ukraine immer wieder überschüssigen Strom in die EU exportiert und damit auch zur Energiesicherheit bei uns beigetragen. Daran wird deutlich, was auch für den Wiederaufbau der Ukraine insgesamt gilt: Er nützt allen Beteiligten! „It‘s in the people“ ‑ mit diesem Gedanken habe ich begonnen. Er prägt auch unsere Konferenz. Der Ukraine und Deutschland war es wichtig, dass heute auch zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der Regionen, der Kommunen und der Zivilgesellschaft dabei sind. Noch eine Gruppe sollten wir nicht vergessen, wenn wir über den Wiederaufbau reden und die Chancen, die damit verbunden sind. Ich denke an die vielen Ukrainerinnen und Ukrainer, die in unseren Ländern Zuflucht gefunden haben vor Russlands Kriegsterror, über eine Million allein hier in Deutschland. Niemand von uns kann ihnen heute sagen, wann der Krieg endet. Aber was wir sagen können, ist dies: Er wird enden. Wir bauen die Ukraine wieder auf ‑ stärker, freier und wohlhabender als zuvor. Dabei können Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern, die heute in unseren Ländern leben, lebendige Brücken sein, Frauen und Männer, die die Sprache des anderen Landes sprechen, die heute hier in Unternehmen arbeiten, die vielleicht schon morgen eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau der Ukraine spielen. „It’s in the people!“ Willkommen in Berlin! „Slava Ukraini!“
Für eine starke, freie und europäische Ukraine
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-scholz-ukraine-recovery-conference-2291836
Tue, 11 Jun 2024 00:00:00 +0200
Ukraine Recovery Conference 2024
Statement BK
Das Wichtigste in Kürze: Die durch den russischen Angriffskrieg verursachten Verluste und Schäden in der Ukraine sind immens und mit öffentlichen Mitteln allein nicht zu bewältigen. Deswegen steht bei der Ukraine Recovery Conference die Mobilisierung von privatem Engagement, insbesondere durch Unternehmen, im Vordergrund. Der Bundeskanzler hob in seiner Eröffnungsrede hervor: Die Ukraine geht den Weg, den die Ukrainerinnen und Ukrainer für sich gewählt haben: demokratisch, in Freiheit, in Europa. Und deshalb arbeiten wir weiter am Wiederaufbau einer starken, freien, europäischen Ukraine. Wiederaufbau meint auch den Wiederaufbau eines zukünftigen Mitgliedstaates der EU – die Zukunft der Ukraine liegt in der EU. Der Wiederaufbau und die Modernisierung des Landes machen massive Investitionen nötig – angesichts der Dimensionen braucht es dazu privates Kapital. Gemeinsam mit Partnern wie der Weltbank, der EU und der japanischen Agentur für internationale Zusammenarbeit unterstützt Deutschland den ukrainischen Business Development Fund. Vorbild ist die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau. Vor allem kleine und mittlere ukrainische Unternehmen können davon profitieren. Sehen Sie sich hier die Rede an: [Video] Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede: Sehr geehrter Staatspräsident Selenskyj, lieber Wolodymyr, liebe Ursula von der Leyen, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter von Regierungen und internationalen Organisationen, von Unternehmen und Kommunen, von Verbänden und Nichtregierungsorganisationen, liebe Freundinnen und Freunde der Ukraine, meine Damen und Herren! Lugano, London und heute Berlin – zum dritten Mal seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine versammeln wir uns als Unterstützerinnen und Unterstützer zu einer Ukraine Recovery Conference. Es ist allerdings die erste dieser Konferenzen, seitdem die Ukraine EU-Beitrittskandidat ist. Und deshalb passt es gut, dass diese Konferenz nun erstmals in einem EU-Mitgliedsstaat stattfindet. In diesem Sinne: Herzlich willkommen in Berlin! Es ist uns eine Freude und eine Ehre, dass du, lieber Wolodymyr, zusammen mit so vielen anderen Vertreterinnen und Vertretern aus der gesamten Ukraine heute hier bist. Ich weiß, solche Reisen in Kriegszeiten sind jedes Mal eine besondere Strapaze und auch ein Risiko. Umso mehr wissen wir eure Anwesenheit zu schätzen. „Laskawo prosimo“ – ein ganz besonders herzliches Willkommen allen unseren ukrainischen Freunden und Gästen! In dem Video haben wir gerade gesehen, mit welchem Mut, mit welch unglaublichem Durchhaltevermögen Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern jeden Tag ihre Heimat verteidigen, ihrer Arbeit nachgehen. Züge fahren, in Schulen wird unterrichtet, in Krankenhäusern operiert, in Fabriken produziert, auf den Feldern Mais oder Getreide geerntet. Das geschieht nicht im Normalbetrieb – Krieg kann und darf nie zur Normalität werden –, aber mit so viel Kraft und Ausdauer, dass es uns bewegt und Mut macht. [fotoreihe] Eine von unzähligen Geschichten: Fast auf den Tag genau heute vor zwei Jahren griff Russland eine Fabrik im Kyjiwer Stadtteil Darnyzja an. Dort wurden Eisenbahnwaggons hergestellt, unter anderem zum Transport von Getreide in alle Welt. Und dort werden weiter Eisenbahnwaggons hergestellt. Denn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fabrik haben nach dem Angriff weiter produziert ‑ in halb zerstörten Hallen, ohne Heizung im Winter und mit notdürftig repariertem Dach. Auf die Frage, wie das überhaupt gehe, antwortete der Direktor der Fabrik schlicht: „It’s in the people.“ Dieser Satz sagt viel aus über die Ukrainerinnen und Ukrainer, die niemals aufgeben, die ihr Land verteidigen und am Laufen halten. Weil das so ist, meine Damen und Herren, können wir eines mit Sicherheit sagen: Russland wird mit seinem imperialistischen Angriff nicht durchkommen! Die Ukraine geht den Weg, den die Ukrainerinnen und Ukrainer für sich gewählt haben: demokratisch, in Freiheit, in Europa. Diesen Weg gehen wir mit euch, lieber Wolodymyr – und deshalb arbeiten wir heute in Berlin weiter am Wiederaufbau einer starken, freien, europäischen Ukraine! Stärke, Prinzipienfestigkeit ‑ das sind auch die Voraussetzungen dafür, dass Putin erkennt: Es wird keinen militärischen Sieg und keinen Diktatfrieden geben. Er muss seinen brutalen Feldzug beenden und Truppen zurückziehen. Diese Erkenntnis zu befördern, darum geht es bei dem Friedensgipfel, zu dem wir am Wochenende in der Schweiz zusammenkommen. Dort werden wir mit Partnern aus allen Teilen der Welt deutlich machen: Wir unterstützen das Völkerrecht und die Charta der Vereinten Nationen! Das heißt in diesem Fall: Wir unterstützen die angegriffene Ukraine, so lange wie nötig. Nie waren die Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine so eng und so vertraut wie heute. Seit dem 24. Februar 2022 haben wir 28 Milliarden Euro allein an militärischer Unterstützung geleistet oder zugesagt. Weitere Milliarden an ziviler Unterstützung kommen hinzu. Was die ukrainische Armee aktuell am dringendsten braucht, sind Munition und Waffen, vor allem zur Luftverteidigung. Deshalb liefern wir ein drittes Patriot-Flugabwehrsystem an die Ukraine, dazu IRIS-T-SLM-Flugabwehrsysteme, Gepard-Flakpanzer, Flugkörper und Artilleriemunition ‑ alles in den kommenden Wochen und Monaten. Ich möchte alle, die heute hier sind, ganz herzlich bitten: Unterstützen Sie unsere Initiative zur Stärkung der ukrainischen Luftverteidigung, mit allem, was möglich ist! Denn der beste Wiederaufbau ist der, der gar nicht stattfinden muss. Im Februar haben Wolodymyr Selenskyj und ich eine Vereinbarung über unsere Sicherheitszusammenarbeit und langfristige Unterstützung unterschrieben. Mehr als ein Dutzend anderer Länder haben das auch getan. Diese Vereinbarungen sind Versicherungen für die Zukunft der Ukraine in Frieden und Freiheit – Versicherungen auch für Unternehmerinnen und Unternehmer wie Sie, die sich bereits heute wirtschaftlich in der Ukraine engagieren oder darüber nachdenken. Der Wiederaufbau und die Modernisierung des Landes werden massive Investitionen nötig machen. Mit nahezu 500 Milliarden US-Dollar rechnet die Weltbank in den kommenden zehn Jahren. Übermorgen werden Präsident Selenskyj und ich uns beim G7-Gipfel in Apulien wiedersehen. Ich werde mich dort für weitreichende und langfristige Zusagen für die Ukraine einsetzen. Angesichts der Dimension, über die wir hier reden, muss privates Kapital hinzukommen. Der Wiederaufbau der Ukraine – das ist und das muss auch ein Business Case sein. Dabei werden diejenigen vorne dabei sein, die sich frühzeitig engagieren, die ihre Wirtschaftsbeziehungen zur Ukraine jetzt pflegen und ausbauen. Für die deutsche Wirtschaft kann ich sagen: Sie tun das. Hunderte deutscher Unternehmen sind in der Ukraine aktiv, mit 35.000 Beschäftigten allein im Automobilsektor. Trotz des Kriegs gibt es keinen Abfluss deutscher Investitionen. Unser Handelsvolumen ist im Vergleich zur Vorkriegszeit deutlich gestiegen. Bei der Zahl neuer Investitionsgarantien der Bundesregierung liegt die Ukraine weltweit auf Platz eins. Die Mitgliederzahl unserer Außenhandelskammer in Kyjiw ist vergangenes Jahr um über 60 Prozent gestiegen. Das alles zeigt mir: Die Wirtschaft versteht, welches Potenzial die Ukraine hat. Sie ist ein großes Land mit einer gut ausgebildeten Bevölkerung. Trotz der schweren Auswirkungen des Krieges soll die Wirtschaft dieses Jahr wieder wachsen. Derzeit kurbeln vor allem Investitionen im Baubereich die Wirtschaft an. Aber auch die ukrainische Landwirtschaft ist ein Global Player. Dass der Export von Agrargütern inzwischen wieder auf Vorkriegsniveau liegt, ist eine enorme Leistung und wichtig für die Ernährungssicherheit weltweit. Großes Potenzial hat die Ukraine bei erneuerbaren Energien und Wasserstoff, aber auch in aufstrebenden Sektoren wie Digitalisierung und IT , Rüstung, Gesundheitstechnologie und Pharma. Deshalb werden diese Felder auf unserer Konferenz ganz besonders im Fokus stehen. Wenn wir über den Wiederaufbau der Ukraine sprechen, dann sprechen wir über den Wiederaufbau eines zukünftigen neuen EU-Mitgliedstaates. Wenige Monate nach Beginn des russischen Kriegs haben wir der Ukraine gemeinsam das feste Versprechen gegeben: Die Zukunft der Ukraine liegt in der Europäischen Union. Das gilt. Seitdem hat sich die Ukraine unter schwierigsten Bedingungen auf den Weg Richtung EU gemacht. Trotz des Krieges arbeitet sie konsequent an Reformen. Wir unterstützen das, weil wir überzeugt sind: Eine leistungsfähige Verwaltung auf allen Ebenen, konsequente Korruptionsbekämpfung, eine inklusive Gesellschaft ‑ das sind Voraussetzungen auch für privates Engagement und den Erfolg des Wiederaufbaus. Mit dem Ukraine-Plan hat die Ukraine ihre Reformagenda klar ausbuchstabiert. Im Februar hat die EU dafür Finanzhilfen in Höhe von 50 Milliarden Euro zugesagt. An diesem Reformplan können sich alle orientieren, auch private Unternehmen. Wir flankieren privates Engagement in der Ukraine, wo wir können. Um vor allem kleine und mittlere ukrainische Unternehmen zu unterstützen, haben wir anlässlich unserer Konferenz heute eine internationale Allianz geschlossen. Gemeinsam mit Partnern wie der Weltbank, der Europäischen Union und der japanischen Agentur für internationale Zusammenarbeit unterstützen wir zum Beispiel den ukrainischen Business Development Fund. Vorbild dabei ist die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau. Ohne dir, liebe Ursula, vorgreifen zu wollen, arbeiten wir intensiv daran, die Bereitstellung von Eigenkapital für ukrainische Unternehmen zu verbessern, und gemeinsam mit der Europäischen Kommission und weiteren nationalen wie internationalen Partnern sind wir auf einem guten Weg, substanzielle Anreize für private Investitionen in Schlüsselbereiche der ukrainischen Wirtschaft zu setzen. Mit dem Ukraine Business Guide, zum Beispiel, bündeln wir alle Förderangebote der Bundesregierung für Unternehmen, die in der Ukraine tätig werden wollen. Gemeinsam mit den USA–United States of America haben wir den Business Advisory Council initiiert, der die Ukraine und Geberstaaten beraten wird. Gestern fand die erste Sitzung statt. Sie werden die Stimme der Wirtschaft sein und ein Motor für institutionelle Reformen und wirtschaftliche Modernisierung. Erster Vorsitzender des Business Advisory Council wird Dr. Christian Bruch, Präsident und CEO–Chef-Executive-Officer von Siemens Energy. Wenn ich das sagen darf: Das ist eine hervorragende Wahl. Denn das Thema Energie steht für uns alle ganz oben auf der Tagesordnung. Nach wie vor greift Russland die Energieinfrastruktur der Ukraine fast täglich an. Doch aller Angriffe zum Trotz konnte die ukrainische Energieversorgung bisher überwiegend aufrechterhalten werden. Wir haben dabei geholfen – nicht nur durch den Schutz und die Reparatur zerstörter Umspannwerke oder Leitungen, sondern auch durch Investitionen in die Dekarbonisierung und Energieeffizienz sowie in eine dezentrale, resiliente Energieversorgung. Im Stromsektor ist die Ukraine übrigens bereits Teil der Europäischen Union. Seit unsere Stromnetze im März 2022 verbunden wurden, hat die Ukraine immer wieder überschüssigen Strom in die EU exportiert und damit auch zur Energiesicherheit bei uns beigetragen. Daran wird deutlich, was auch für den Wiederaufbau der Ukraine insgesamt gilt: Er nützt allen Beteiligten! „It‘s in the people“ – mit diesem Gedanken habe ich begonnen. Er prägt auch unsere Konferenz. Der Ukraine und Deutschland war es wichtig, dass heute auch zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der Regionen, der Kommunen und der Zivilgesellschaft dabei sind. Noch eine Gruppe sollten wir nicht vergessen, wenn wir über den Wiederaufbau reden und die Chancen, die damit verbunden sind. Ich denke an die vielen Ukrainerinnen und Ukrainer, die in unseren Ländern Zuflucht gefunden haben vor Russlands Kriegsterror, über eine Million allein hier in Deutschland. Niemand von uns kann ihnen heute sagen, wann der Krieg endet. Aber was wir sagen können, ist dies: Er wird enden. Wir bauen die Ukraine wieder auf – stärker, freier und wohlhabender als zuvor. Dabei können Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern, die heute in unseren Ländern leben, lebendige Brücken sein, Frauen und Männer, die die Sprache des anderen Landes sprechen, die heute hier in Unternehmen arbeiten, die vielleicht schon morgen eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau der Ukraine spielen. „It’s in the people!“ Willkommen in Berlin! „Slava Ukraini!“
Bundeskanzler Olaf Scholz hat im Beisein des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Ukraine Recovery Conference 2024 in Berlin eröffnet. Scholz betonte: Wir bauen die Ukraine wieder auf.
Rede von Bundeskanzler Scholz beim Festakt „125 Jahre Opel“ am 8. Juni 2024 in Rüsselsheim
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-festakt-125-jahre-opel-am-8-juni-2024-in-ruesselsheim-2291442
Sat, 08 Jun 2024 00:00:00 +0200
Rüsselsheim
Statement BK
Lieber Herr Huettl, lieber Herr Tavares, lieber Herr Oberbürgermeister, lieber Herr Ministerpräsident, lieber Uwe Baum, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Opelanerinnen und Opelaner, meine Damen und Herren! 125 Jahre Automobilbau hier in Rüsselsheim – das ist eine große und eindrucksvolle Geschichte. Seit Autos in unserer Gesellschaft eine Rolle spielen, wird hier in Rüsselsheim Tag für Tag daran gearbeitet, sie noch besser zu machen. Seit dem ersten Opel-Patentmotorwagen „System Lutzmann“ mit seinen 3,5 PS, der hier 1899 zum ersten Mal zusammengeschraubt wurde, ist viel passiert. Mehr als 75 Millionen Opel-Fahrzeuge wurden in diesen 125 Jahren gebaut ‑ was für eine unglaubliche große Zahl ‑, und ein großer, großer Teil davon hier bei Ihnen in Rüsselsheim, aber auch in den anderen Opel-Werken, etwa in Bochum, in Kaiserslautern und seit 1990 in Eisenach. Generationen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben Ihr Unternehmen zu einer großen Marke, die Opel heute immer noch ist, und auch zu der vielfältigen Opelaner-Familie gemacht, wie sie gerade hier am Stammsitz Rüsselsheim entstanden und zusammengewachsen ist. Die Kolleginnen und Kollegen kamen zuerst hier aus der Region und dann aus anderen Teilen Deutschlands. Tausende von Vertriebenen und Geflüchteten aus den ehemaligen Ostgebieten fanden hier in den 50er-Jahren dank Opel neue Arbeit, neues Auskommen und auch eine neue Heimat. Noch viel mehr Neubürgerinnen und Neubürger zog es seit den 60er-Jahren aus dem Ausland hierher nach Rüsselsheim, hierher zu Opel. Sie kamen aus Griechenland, sie kamen aus der Türkei, sie kamen aus Spanien, Italien, Marokko und aus vielen, vielen anderen Ländern. Auch sie fanden hier gute Arbeit und eine neue Heimat. Sie alle zusammen haben dieses Unternehmen und diese Stadt aufgebaut und so erfolgreich gemacht. Sie alle zusammen ‑ Ihre Kinder, Ihre Enkel und Urenkel ‑ sind heute Opel. Sie alle zusammen sind heute das moderne Rüsselsheim. Ohne Sie alle hätte es mit dem Wirtschaftswunder niemals geklappt – nicht hier bei Opel, nicht hier in Rüsselsheim und auch nicht in Deutschland insgesamt. Allen, die diese riesige Erfolgsgeschichte mitgeschrieben haben, will ich heute deshalb sagen: Danke! Sie haben Großartiges geleistet und geschaffen. Ganz herzlichen Dank! Heute ist Opel, so wie andere Automobilunternehmen, auf dem Weg in die Elektromobilität. Sie haben schon heute in jeder Modellreihe ein vollelektrisches Modell im Angebot, und Sie sind fest entschlossen, schon sehr bald nur noch E‑Fahrzeuge herzustellen. Hier an diesem traditionsreichen Standort Rüsselsheim wenden Sie sich damit aufs Neue der Zukunft zu. Aufs Neue überschreiten Sie mit dem Mut, den Sie haben, Grenzen und zeigen Selbstbewusstsein. „Forever Forward“ – so nennen Sie das. Immer weiter vorwärts seit 1899. Herzlichen Glückwunsch dazu! Genau das ist der Weg. Und das ist übrigens Rüsselsheim, weil hier die Automobilindustrie eine große Rolle spielt, und es ist von Bedeutung weit über den Ort hinaus. Denn es bringt doch nichts, nur stur am Alten festzuhalten, nur weil es uns damit eine lange Zeit gut ging. Es bringt doch nichts, die Augen vor den Realitäten unserer Zeit zu verschließen. Eine entscheidende Realität unserer Zeit ist der menschengemachte Klimawandel. Deshalb reden wir nicht nur über den Umbau zur Klimaneutralität. Wir packen das an. Dabei ist der Verkehrssektor ‑ wie wir alle wissen ‑ entscheidend wichtig. Mit klimaneutralem Strom angetriebene Fahrzeuge sind dafür notwendig. Deshalb sage ich gerade heute, einen Tag vor der Europawahl: Wir stehen zum Ausbau der Elektromobilität. Wer das jetzt zurückdrehen will, der gefährdet nicht nur alles bereits Erreichte, sondern gefährdet auch unseren zukünftigen Erfolg, unseren zukünftigen Wohlstand als Industrienation. Gerade jetzt investieren doch die Unternehmen in die E-Mobilität – Opel und viele andere. Gerade jetzt wächst die Modellvielfalt. Auch preisgünstige Modelle kommen hinzu, was ich ganz zentral finde. Gerade jetzt entsteht überall eine neue Ladeinfrastruktur. Erst vor wenigen Tagen haben wir uns auf ein Gesetz verständigt, das bis Ende 2027 für Schnellladestationen an allen großen Tankstellen in Deutschland sorgt. Auch die Zahl der E-Fahrzeuge ist gestiegen. Deshalb kommt es gerade jetzt darauf an, dass wir diesen Weg weitergehen. Den eigenen Weg zu Ende gehen – so haben Sie das hier bei Opel schon immer gemacht. Es war ja nicht so, dass von Anfang an alle vom Automobil überzeugt waren. Sogar Ihr eigener Firmengründer war das nicht. Adam Opel hatte erfolgreich Nähmaschinen gebaut und darauf gesetzt, dann auch auf Fahrräder. Eben wurden sie schon erwähnt. Der Automobilbau und das Automobil blieben ihm irgendwie suspekt. Und tatsächlich: Nur elf verkaufte Opel-Fahrzeuge im ersten Jahr waren noch kein ganz berauschender Erfolg. Aber die Söhne blieben dran. Sie verbesserten, sie entwickelten weiter, und sie schafften dann den großen Durchbruch. Ich habe überhaupt keinen Zweifel: Wir werden auch in diesem Jahrhundert mit unserer Automobilindustrie ganz vorne dabei sein, wenn wir im Zeitalter der Elektromobilität auf Fortschritt und Erneuerung setzen. „Forever Forward“ – dabei muss es auch in Deutschland bleiben. Am Fortschritt zweifeln und Erneuerung und Umbau hinauszögern, das würde sich bitter rächen. Wenn wir das tun, dann werden andere uns überholen. Dann werden wir auch unseren Einfluss darauf verlieren, wohin die Reise auf der Welt geht. Deshalb: Uns mit den anderen messen und mit Qualität und Leistung „Made in Germany“ überzeugen, muss auch im 21. Jahrhundert unser Ehrgeiz sein. Das war in all den Jahrzehnten immer das Erfolgsmodell unserer Volkswirtschaft. Dabei ist klar: Dafür brauchen wir einen fairen und freien Welthandel. Das will ich gerade in diesen Tagen sagen, in denen man oft den Eindruck hat, dass manche die Idee vom freien Wettbewerb und freien Märkten für überholt halten. Das Gegenteil davon heißt Protektionismus, heißt Abschottung und regelwidrige Zollschranken. Das macht letztlich alles nur teurer und uns alle zusammen nur ärmer. Wenn ich dynamische deutsche Unternehmen wie Opel sehe, dann bin ich überzeugt: Sie werden in einem fairen Wettbewerb bestehen, auch gegen neue Konkurrenten zum Beispiel aus China. Genau das ist uns doch in der Vergangenheit auch gelungen, als neue Wettbewerber aus Japan und Korea bei uns auf den Markt kamen. Wir verschließen unsere Märkte nicht gegenüber ausländischen Unternehmen. Denn das wollen wir umgekehrt für unsere Unternehmen auch nicht. Was China angeht, ist unsere Automobilindustrie ja gerade dort auch sehr aktiv und wahrscheinlich auch in Zukunft wirtschaftlich erfolgreich. Die ganze Vergangenheit und die Leistungsfähigkeit sprechen dafür. Ich bin davon überzeugt. Ob Opel in Rüsselsheim seit 125 Jahren oder neuerdings Tesla in Brandenburg: Die Automobilproduktion in Deutschland ist kein Auslaufmodell, sondern unverändert eine wichtige Zukunftsbranche. Die Hersteller und die vielen Zulieferer in Deutschland, unsere überragenden Fachkräfte ‑ also Sie alle zusammen und Ihre vielen, vielen Kolleginnen und Kollegen ‑ sind unsere Assets. Diese Assets, diese Asse werden wir auch in Zukunft einsetzen. Das gilt genauso für unsere Neuansiedlungen in Zukunftsbranchen: Wir erleben derzeit überall in unserem Land, dass sich neue Branchen hier ansiedeln, dass neu investiert wird. Die großen neuen Werke, die die Halbleiterhersteller wie Intel, Infineon, Bosch, NXP, TSMC oder Wolfspeed oder auch die Batteriezellfertiger wie Northvolt in Deutschland bauen, sind Beispiele dafür, dass in Deutschland massiv investiert wird. An ihnen zeigt sich die Anziehungskraft unserer starken deutschen Autoindustrie, und sie belegen die Bedeutung dieser Autoindustrie für unsere Gesamtwirtschaft und damit für unser aller Wohlstand. Gerade weil wir genau wissen, wie wichtig diese Branche ist, erkennen wir auch die großen Herausforderungen für die Zukunft und die Bedeutung des Umbaus. Es geht darum, dass wir auch die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die vielen Zulieferer mitnehmen. Es geht darum, dass die Weiter- und Umqualifizierung der Kolleginnen und Kollegen klappt. Deshalb werden wir uns alle im Bund und in den betreffenden Ländern mit Maßnahmen und Programmen hervortun und alle unterstützen, die in dem Prozess diese Unterstützung benötigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit bin ich zum Schluss noch einmal bei Ihrer Bedeutung für die Entwicklung Ihres Unternehmens und ganz aktuell auch beim Umbau von Opel. Ihnen wurde und Ihnen wird eine ganze Menge abverlangt. Das weiß ich, und das wissen alle ganz genau. Sie antworten darauf mit Einsatz, mit Engagement, mit dem Willen, das Motto „Forever Forward“ mit Leben zu erfüllen, Tag für Tag. Das verdient jeden Respekt, das verdient jede Anerkennung. Es ist ja noch nicht so lange her, da ging es Opel weniger gut. Wir alle erinnern uns noch und wissen das sehr genau. Die Zukunft der Marke, die Standorte und die Arbeitsplätze standen im Feuer. Seitdem ist es Opel ‑ also Ihnen allen ‑ auf eindrucksvolle Weise gelungen, wieder aufzustehen. Als Teil des Stellantis-Konzerns ist Opel heute wieder erfolgreich und hat das Potenzial, weiterhin erfolgreich zu bleiben. Das ist Ihr Verdienst. Das ist Ihre Leistung. Darauf können Sie stolz sein. Bleiben Sie dabei! Machen Sie das weiterhin so vorbildhaft, wie es hier seit 125 Jahren gemacht wird! Dann haben Opel und Rüsselsheim eine Zukunft, auch in den nächsten 125 Jahren. – Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz beim Tag der Bauindustrie am 5. Juni 2024 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-tag-der-bauindustrie-am-5-juni-2024-in-berlin-2290766
Wed, 05 Jun 2024 00:00:00 +0200
Berlin
Statement BK
Sehr geehrter Herr Hübner, meine Damen und Herren, es war mir sehr wichtig, heute zu Ihnen zu kommen. Ich weiß um die derzeitigen Schwierigkeiten Ihrer Branche, ich weiß um die Bedeutung für unsere Volkswirtschaft und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mit mehr als 350 000 Unternehmen mit 2,6 Millionen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, mit 370 Milliarden Euro Umsatz ist die Bauwirtschaft insgesamt im wahrsten Sinne des Wortes der Schlüsselsektor unseres Landes. Denn auf dem Weg in unsere Zukunft als klimaneutrales, erfolgreiches Industrieland mit lebenswerten Städten für alle Einkommensschichten müssen wir gemeinsam viele Türen öffnen. Aber keine einzige von ihnen öffnet sich ohne die Arbeit der vielen hochmotivierten und fachlich hervorragend qualifizierten Frauen und Männer, die wissen, wie man Häuser, Straßen, Brücken, Fabrikhallen und Kraftwerke baut. Es sind die Ingenieurinnen, Beton- und Stahlbetonbauer, Fliesenlegerinnen, Industrieisolierer und Kranführerinnen, es sind die Tiefbau-, Straßen- und Gleisbauer und es sind die 40 000 Auszubildenden, es sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bauwirtschaft, ohne die sich in Deutschland nichts bewegen würde. Danke dafür! Lassen Sie mich mit einer Nachricht einsteigen, die für unser Land, aber auch für Ihre Branche eine gute ist: Deutschlands Bevölkerung wächst. Nie hatte Deutschland so viele Einwohner wie heute, und anders als noch vor ein, zwei Jahrzehnten legen die Berechnungen der Experten nahe, dass wir noch mehr werden. In den Siebzigerjahren dieses Jahrhunderts könnte Deutschland nach heutigen Schätzungen bis zu 90 Millionen Einwohner haben. Die schlechte Nachricht muss ich allerdings gleich anschließen: Daran haben wir zu lange nicht geglaubt. Immer wieder haben Planerinnen und Planer gedacht, dass unsere Städte und unser Land quasi zu Ende entwickelt seien und dass man es bei der Infrastruktur mit ein paar Ausbesserungsarbeiten bewenden lassen kann ‑ und wie Sie gesagt haben, ist das auch nicht immer vollständig gemacht worden. So haben wir unsere Infrastruktur auf Verschleiß gefahren, anstatt sie auszubauen, und bezahlen für alle Einsparungen bei Schiene, Straße, Stromleitungen und Telekommunikationsnetz heute doppelt und dreifach, mit Zugverspätungen, Straßensperrungen und Funklöchern. Bleiben wir zunächst beim Wohnungsbau: Dort hat man sich eingeredet, dass man neben ein wenig Innenverdichtung und Renovierung darauf setzen könnte, dass Wohnraum quasi zwischen den verschiedenen Generationen durchgewechselt wird. Wie wir aber sehen, funktioniert das nicht. Denn es wächst nicht nur die Bevölkerung: Seit Jahrzehnten schon wachsen die Bedürfnisse nach mehr Platz und damit auch die durchschnittlichen Wohnungsgrößen, ausgedrückt in Quadratmetern pro Person. Nun wird es aber keiner Planungsbehörde gelingen, den älteren Mietern einer 90-Quadratmeter-Wohnung einzureden, dass 50 Quadratmeter irgendwie auch reichen würden, zumal der heutige Mietpreis dort wahrscheinlich höher wäre als in der größeren Wohnung. Ebenso wenig wird man alle Familien von den Vorzügen hochverdichteter Innenstädte überzeugen können. Wie also weiter? Ende Februar dieses Jahres habe ich am Spatenstich für einen komplett neuen Stadtteil in Freiburg teilgenommen. Dietenbach wird er heißen, und dort entstehen in einem der angespanntesten Wohnmärkte Deutschlands Wohnungen für 16 000 Personen ‑ und zwar nicht irgendwelche Wohnungen, sondern solche, die die Wohnungsnot tatsächlich lindern, weil von Anfang an darauf geachtet wird, dass die Wohnungen günstig gebaut werden und bezahlbar bleiben. In seinem Buch „The New Urban Crisis“ beschreibt der Stadtforscher Richard Florida, wie Wohnen in vielen amerikanischen Städten so teuer geworden ist, dass sich normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Krankenschwestern, Polizisten, Arbeiter in einer Fabrik das nicht mehr leisten können. Während es in den Siebzigerjahren und sogar den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts für einen Arbeiter in New York oder San Francisco noch möglich war, sich eine Wohnung zu mieten, ist das heute praktisch unvorstellbar. Schon diejenigen, die ein Durchschnittsgehalt haben, müssen in weniger attraktive Orte ziehen oder sehr große Pendlerdistanzen in Kauf nehmen. Die Gentrifizierung einzelner Stadtteile führte laut Richard Florida nach und nach zur „Plutokratisierung“ ganzer Städte. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich freue mich über jede und jeden, die bzw. der sich eine Neubauwohnung für 20 oder 22 Euro Miete pro Quadratmeter oder Kaufpreise jenseits einer Million leisten kann ‑ nur zu! Aber das ist nicht das Gros der Familien in unserem Land, und ich möchte in Deutschland keine Verhältnisse, wo erst Einwohner mit niedrigen und dann immer mehr auch Frauen und Männern mit mittleren Einkommen regelrecht aus den Städten gedrückt werden. Jedem hier werden sicher einige Städte in Deutschland einfallen, bei denen solche Tendenzen erkennbar sind. Wir müssen also handeln, und das heißt vor allem: Es müssen neue, bezahlbare Wohnungen geschaffen werden. Wir müssen mehr und anders bauen. Natürlich braucht es weiter Innenverdichtung, aber bitte mit vernünftigen Regeln und nicht mit den tausenden Vorschriften, die das Ganze wieder unglaublich teuer machen ‑ dazu komme ich noch. Aber wir brauchen auch Neubau in großem Stil. Deswegen ist es richtig, dass in unserem Land schon mehr als 20 neue Stadtteile entstehen, auch auf der grünen Wiese, an den Orten, wo wirklich Nachfrage nach Wohnungen besteht ‑ und zwar nicht als Satellitenstädte mit all den Problemen, die man damit so verbindet, sondern mit der nötigen Infrastruktur, Straßen, Schienen und Radwegen, aber genauso auch Geschäften, Grünflächen, Stromtrassen, Ladesäulen, Glasfaser und Mobilfunkabdeckung. Das gemäß des Bedarfs hinzubekommen ‑ Neubau von bezahlbarem Wohnraum im großen Stil in Verbindung mit der Erneuerung und dem Ausbau unserer Infrastruktur, in Verbindung mit der grundlegenden Modernisierung unseres Landes ‑, das ist eine der komplexesten Herausforderungen, vor denen wir derzeit stehen ‑ wir als Team aus Staat und Privatwirtschaft. Meine Damen und Herren, deswegen brauchen wir alle Hände an Deck bzw. auf der Baustelle. Nach der Zinswende, nach der Inflation, nach den Kostensteigerungen der vergangenen Jahre sehen wir nicht nur im Gewerbebau und im Tiefbau, sondern inzwischen auch im Wohnungsbau Anzeichen für eine Stabilisierung. Die Bauzinsen sind genauso wie Preise für Baumaterialien zuletzt etwas gefallen. Das spiegeln uns auch die Hypothekenfinanzierer wider, die von wachsendem Interesse insbesondere bei privaten Bauherren berichten. Durch sind wir noch lange nicht, aber viele Expertinnen und Experten sehen dank der gesunkenen Inflation Spielräume für Zinssenkungen der Europäischen Zentralbank, und vielleicht hören wir ja auch bald entsprechende Nachrichten. Meine Damen und Herren, parallel dazu haben wir seitens der Bundesregierung einiges auf den Weg gebracht, um die schwierige Lage auf dem Bau zu verändern. Wir sind endlich wieder mit Nachdruck in die soziale Wohnraumförderung eingestiegen. Insgesamt stellt der Bund den Ländern bis 2027 dafür mehr als 18 Milliarden Euro zur Verfügung. Wenn die Länder sich wie üblich beteiligen, werden 45 Milliarden daraus, und das ist dann ein Rekordniveau, eine Verdreifachung im Vergleich zum Beispiel zur letzten Legislaturperiode. Vielleicht darf ich das an dieser Stelle sagen, weil ja zu Recht auch immer nachgewiesen wird, dass viele Wohnungen nicht mehr als Sozialwohnungen geführt werden, weil sie aus der Förderbindung herausgefallen sind. Sie spielen trotzdem eine ganz zentrale Rolle. Ich habe mir das einmal angeschaut: In den großen und mittleren Städten in Deutschland, in denen der geförderte Wohnungsbau in den letzten hundert Jahren eine Rolle gespielt hat, sind oft die Hälfte der Wohnungen irgendwann in dieser Zeit einmal als geförderte Wohnungen entstanden. Das hat diese Städte bis heute bezahlbar gehalten, das darf man nicht vergessen. Ganz oft sind die Wohnungen auch nicht sehr teuer geworden, wenn sie von kommunalen Wohnungsgesellschaften, von Genossenschaften oder von Vermietern, die eh nicht das Letzte aus allem herausholen, gehalten werden. Das ist aber etwas, was den Markt immer mitgeprägt hat, und deshalb ist die Tatsache, dass dafür wieder mehr Geld zur Verfügung steht, wichtig für den Wohnungsbau in Deutschland. Erst heute haben wir in der Bundesregierung außerdem beschlossen, eine neue Wohngemeinnützigkeit einzuführen. So schaffen wir einen weiteren Anreiz, dass Sie mehr bezahlbaren Wohnraum herstellen können ‑ dann im Wesentlichen privatwirtschaftlich initiiert, aber dafür schaffen wir einen Rahmen, und es gibt Frauen und Männer, die ihr Vermögen für diese Zwecke einsetzen wollen. Warum wollen wir ihnen nicht möglich machen, dass das in großer Zahl geschieht? Übrigens kennen wir alle ‑ wenn ich das bei dieser Gelegenheit einflechten darf ‑ auch noch die vielen Siedlungsteile, die einmal von Firmen errichtet worden sind. Das ist ja auch irgendwie ein wenig aus der Mode gekommen, und ich hoffe, dass es ein bisschen anders wird. Wir haben die steuerlichen Rahmenbedingungen dafür geschaffen. Jetzt müssen nur noch viele Unternehmen auf die Idee kommen, dass das vielleicht etwas mit HR zu tun haben könnte. Hinzukommt ein großes Paket zur Stabilisierung der Bau- und Wohnungswirtschaft. Wir unterstützen bezahlbares, nachhaltiges Bauen durch zinsverbilligte Kredite mit insgesamt mehr als zwei Milliarden Euro für dieses und das vergangene Jahr. Wir verbessern die Wohneigentumsförderung für Familien mit insgesamt 700 Millionen Euro für 2023 und 2024. Zudem fördern wir den Umbau leerstehender Gewerbeimmobilien zu neuen Wohnungen und unterstützen mit dem Programm „Jung kauft Alt“ den Erwerb von älteren Bestandsgebäuden. Dafür haben wir in diesem Jahr fast 500 Millionen Euro eingeplant. Zusätzlich haben wir verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten und Steueranreize für den Bau von bezahlbaren Wohnungen geschaffen. Auch darüber hinaus ‑ es geht ja nicht nur um Wohnungen ‑ investieren wir wieder in unser Land ‑ in diesem Jahr deutlich mehr als 100 Milliarden Euro. Sie haben ausgerechnet, dass die 100 Milliarden gar keine 100 Milliarden sind. Wir finden aber, es sind 100 Milliarden. Die Investitionsquote des Bundes liegt in diesem Jahr bei fast 15 Prozent. Das sind 80 Prozent mehr als unter der Vorgängerregierung, trotz der Haushaltskonsolidierung, und ich will Ihnen, weil Sie es angesprochen haben, gerne zusagen: Wir werden auch weiter eine hohe Investitionsquote haben ‑ für alles, was notwendig ist, aber ganz besonders auch für die Infrastruktur in unserem Land. Wir investieren nicht mit der Gießkanne, sondern gezielt dort, wo das zusätzliches Wachstum verspricht, auch für die Bauindustrie. Es werden neue Windkraftanlagen und Glasfaserleitungen gebaut. Wir erneuern Schienen, wir bauen bessere Straßen und neue Brücken. Hersteller von Mikrochips, Batterien, Biotechnologie, IT und KI investieren Milliardensummen in Deutschland. Auch solche Investitionen tragen zur Stabilisierung Ihrer Branche bei, meine Damen und Herren, und auch deshalb setze ich mich mit Nachdruck dafür ein. Nur ein Beispiel: Ich war vor einigen Wochen in Alzey in Rheinland-Pfalz. Dort investiert der Pharmahersteller Eli Lilly 2,3 Milliarden Euro in ein hochmodernes Werk. 1000 Arbeitsplätze entstehen dort dauerhaft, wurde mir gesagt, und noch einmal knapp 2000 weitere in der Aufbauphase, vor allem in der Bauwirtschaft. Eines muss aus meiner Sicht noch hinzukommen, damit es wieder richtig aufwärts geht in der Bauindustrie, und das hängt weder von Zinsentscheidungen noch von der internationalen Konjunktur ab, dafür brauchen wir weder Förderprogramme noch Abschreibungen noch Subventionen. Die Rede ist natürlich vom Bürokratieabbau und von schnelleren Verfahren ‑ Sie haben das zu Recht ganz ausführlich dargelegt. Von den über Jahre von Bund, Ländern und Kommunen und der EU geschaffenen Zuständen muss ich Ihnen hier wahrscheinlich nicht viel erzählen. Mich hat vor kurzem aber doch wieder eine Zahl aus Brandenburg erschrocken. Bei der Vorstellung eines Beschleunigungsprogramms zum Netzausbau schilderte der brandenburgische Wirtschaftsminister die derzeitige Ausgangslage. Größere Projekte im Stromnetz seien dort aus Sorge um das letzte Promille Rechtssicherheit praktisch nicht mehr genehmigbar. Man sei bei durchschnittlich zwölf Jahren Antragsdauer angekommen. Wir brauchen nicht darum herumzureden: Wenn diese Zustände so bleiben ‑ und die Geschichte aus Brandenburg ist definitiv kein Einzelfall ‑, dann haben wir nicht nur beim Bauen und bei der Energiewende, sondern dann haben wir als Land insgesamt ein riesiges Problem. Das muss sich ändern. Dennoch haben viele frühere Regierungen davor kapituliert, dieses Bürokratiedickicht zu lichten. Aber damit ist ‑ das will ich Ihnen sehr klar versprechen ‑ jetzt Schluss. Deshalb haben wir uns auf den Deutschlandpakt geeinigt, um Planungs- und Genehmigungsverfahren schneller und einfacher zu machen. Mit den ersten Beschleunigungspaketen haben wir schon eine Trendwende zumindest bei den Ausbauzahlen und auch bei den Genehmigungsdauern für erneuerbare Energien erreicht. Erstmals sind wir fast „on track“, was unsere Ausbauziele angeht. Jetzt machen wir mit der größten Reform des Immissionsschutzgesetzes seit 30 Jahren weiter. Vielen muss ich vielleicht erst einmal erklären, was sich dahinter verbirgt ‑ Ihnen aber nicht, denn Sie wissen ja aus der Praxis, wie viele Aktenordner an Gutachten, Anträgen, Plänen und Zeichnungen Sie bislang in die Ämter tragen mussten. Da wird dann zum Beispiel geprüft, ob ein Windrad oder eine umweltfreundlichere, effizientere Industrieanlage negative Auswirkungen auf irgendeine Vogel- oder Blumenart hat. Da folgen dann Ortstermine und Expertengutachten, und darüber gehen Monate ins Land. Nicht falsch verstehen: Ich will den Blumen und den Vögeln gar nichts. Aber beim Bau neuer Leitungen, beim Aufbau einer neuen Energieversorgung oder klimafreundlicher Produktion, da geht es doch gerade um den Umwelt- und Klimaschutz und da geht es um Zeit. Deshalb wollen wir nicht mehr nur die einzelne Blume betrachten, sondern das „bigger picture“, die Empfindlichkeit des ganzen Gebiets. Wir setzen zur weiteren Beschleunigung jetzt außerdem auf voll digitalisierte Verfahren mit mehr Möglichkeiten, diese abzukürzen, auf klarere Fristenregelungen und auf vorzeitigen Baubeginn. Zusätzlich werden wir im Bund noch in diesem Jahr eine umfassende Novelle des Baugesetzbuches auf den Weg bringen. Darin werden wir unter anderem die Bauplanung und den Wohnungsbau vereinfachen und beschleunigen und den Ausbau der Energieversorgung erleichtern. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch ein wichtiges Anliegen der Bauindustrie ansprechen: Wir haben uns im Koalitionsvertrag zum Ziel gesetzt, das Vergaberecht umfassend zu reformieren. Auch Sie haben das eben angesprochen, und ich will Ihnen hier die Antwort geben: Das passiert auch. Die Vorteile liegen nämlich ganz klar auf der Hand: Vereinfachung und Beschleunigung. Den Gesetzgebungsvorschlag dazu legen wir in Kürze vor. Vorgesehen ist zum Beispiel mehr Flexibilität beim Losgrundsatz, der größere Bauvorhaben aufteilt und bisher in die Länge gezogen hat. Ich weiß, das war und ist auch bei Ihnen durchaus umstritten und einigen gleichzeitig ein Dorn im Auge. Wir schauen weiter, wo wir schneller und einfacher werden können und müssen, und zwar mit der Zielsetzung, dass unser Land modernisiert wird und wir gleichzeitig mehr erschwinglichen Wohnraum zum Beispiel schaffen, damit unsere Städte und Dörfer bezahlbar und lebenswert bleiben. Das ist unser Anspruch, und dabei will ich auch bleiben. Auch deshalb habe ich seinerzeit einmal gesagt ‑ ich muss es hier ansprechen ‑: Wir brauchen 400 000 neue Wohnungen im Jahr ‑ wohl wissend, dass dies selbst unter normalen Bedingungen eine große Herausforderung werden würde. Durch die Tatsache, dass wir nun durch Krisen geschüttelt worden sind ‑ mit der coronabedingten Lieferkettenkrise und den Folgen für Preise, mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Explosion der Energiepreise sowie der ganzen Kostenkonsequenz ganz besonders für die Bauwirtschaft und auch für viele andere ‑ ist das schwerer geworden, als wir es uns gedacht haben. Weil das jetzt so schwer ist, dürfen wir uns aber nicht auf den immerhin erreichten knapp 300 000 Wohnungen ausruhen, sondern wir müssen sagen: Da muss etwas an Wachstum geschehen. Diese Botschaft möchte ich auch hier unbedingt sagen; denn Sie müssen als Unternehmen ja in Kapazitäten investieren, die in der Lage sind, diese Nachfrage auch zu bedienen. Wenn Sie nicht daran glauben, dann wird es nicht gelingen, genügend Produktionskapazität zu haben. Verlassen Sie sich deshalb darauf: Wir werden nicht aufhören, ehrgeizige Ziele zu setzen. Wir müssen die großen Herausforderungen unseres Landes bewältigen. Zumal wir ja manche Potenziale noch gar nicht richtig nutzen ‑ serielles Bauen zum Beispiel, Sie haben darüber geredet. Ich habe mich sehr früh damit auseinandergesetzt ‑ auch in einem anderen Amt, das ich als Bürgermeister einer größeren Stadt hatte ‑, und es war ganz interessant, diese Diskussion zu führen. Ich darf vielleicht anekdotisch sagen, was mich als allererstes überzeugt hatte. In der Flucht- und Migrationskrise haben wir der städtischen Wohnungsbaugesellschaft irgendwann gesagt: Könnt ihr nicht diese Siedlung an anderer Stelle noch einmal bauen? Die hatte ja einen Preis für Architekten bekommen. Das haben die dann auch gemacht. Das hat keiner gesehen, weil die Stadt groß genug ist; man sieht dann nicht, dass da so ein ähnliches Haus steht. Das Ergebnis war aber eine erhebliche Kosteneinsparung ‑ und zwar nur durch etwas, was gar nicht geplant war, nämlich einfach nur die Wiederholung einer Sache, die schon einmal gemacht worden war. Aber wenn man das jetzt macht, dann kann man da sehr viel einsparen ‑ zum Beispiel, indem die Grundstruktur eines Hauses immer wieder gebaut werden kann, wenn sie einmal genehmigt worden ist. Deshalb haben wir uns im Rahmen des Deutschlandpaktes ‑ auf den ich schon zu sprechen gekommen war ‑ vorgenommen, dass die Länder Typengenehmigungen gegenseitig anerkennen. Nun wissen Sie ja: Der erste Schritt ist, dass es die Möglichkeit der Typengenehmigung in jedem Land geben muss, und dann muss sie noch gegenseitig anerkannt werden. Wir wollen das aber unbedingt erreichen; denn das spart eine Menge Geld und Zeit. Außerdem macht das Industrialisierungsprozesse, Modernisierungsprozesse in der Bauwirtschaft überhaupt erst möglich; denn ansonsten kann das nur schwer gelingen. Ich finde, es ist wichtig, dass wir das versuchen, genauso wie noch Luft nach oben ist, wenn es um die Digitalisierung des Bauwesens geht. Sie haben alles gesagt, was dazu zu sagen ist. Wir wollen uns an die Arbeit machen, um das möglich zu machen, damit Planungen und Genehmigungen von Gebäuden schneller, effizienter und kostengünstiger möglich sind. Insofern ist es gut, dass wir nun alle Länder verpflichtet haben, bis spätestens Mitte 2024 flächendeckend den digitalen Bauantrag einzuführen. Mitte 2024 ‑ Sie alle haben ja einen Kalender bei sich. Ich glaube, wir fragen einmal nach. Es könnte aber klappen. Jedenfalls ist das ein Teil des Deutschlandpaktes, den wir miteinander vereinbart haben. Das kann ‑ Sie haben darauf hingewiesen ‑ auch nur der Beginn sein; denn wir müssen alle Vorteile nutzen, die die Digitalisierung und auch die Nutzung von KI für das Bauen mit sich bringen können. Meine Damen und Herren, ich könnte jetzt noch eine Weile weitermachen ‑ Sie wissen selbst am besten, wie weit das Feld ist, auf dem wir uns hier bewegen. Ich muss und will aber zum Schluss kommen und will deshalb mit dem Gedanken vom Anfang schließen, weil hier wirklich der Unterschied zur Herangehensweise der Vergangenheit herauskommt: Deutschland wächst. Das ist eine gute Nachricht. Und wir sind auf dem Weg, klimaneutral zu werden und ein erfolgreiches, lebenswertes Industrieland zu bleiben. Auch das ist positiv. Dafür aber reicht die jahrelange Verwaltung des Istzustandes nicht mehr aus. Vielmehr braucht es dafür einen Ausbau der Infrastruktur, mehr Wohnungen, mehr Tempo, mehr Investitionen und auch mehr Mut, einfach mal zu machen ‑ im Team zwischen Staat und Privatwirtschaft. Das ist unsere Orientierung, das ist die Basis für unsere Baupolitik. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der 79. Bankwirtschaftlichen Tagung des Bundesverbands der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken am 5. Juni 2024 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-79-bankwirtschaftlichen-tagung-des-bundesverbands-der-deutschen-volksbanken-und-raiffeisenbanken-am-5-juni-2024-in-berlin-2290768
Wed, 05 Jun 2024 00:00:00 +0200
Berlin
Statement BK
Sehr geehrte Frau Kolak, sehr geehrte Frau Müller-Ziegler, sehr geehrter Herr Quinten, meine Damen und Herren! „Die guten alten Zeiten, wo der Nachbar dem Nachbarn auf’s Wort, ohne Schuldschein, aus der Not half, sind vorüber. Mißtrauen ist an Stelle des Vertrauens getreten; ein Bruder hilft kaum noch dem andern; in Geldangelegenheiten hört alle Gemütlichkeit auf.“ Mit dieser Klage beginnt Friedrich Wilhelm Raiffeisen sein Buch über „Darlehenskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung“ von 1866, vielen hier gut bekannt. Untertitel des Buches ‑ ich finde, auf den kommt es an ‑: „Praktische Anleitung“. Raiffeisen blieb nämlich nicht nur bei der Problembeschreibung. Ihm ging es um ganz praktische Linderung der Not, um den Zusammenschluss zur ‑ Zitat ‑ unbedingtesten Selbsthilfe, zur Entfaltung der Kräfte der seinerzeit verarmten Bevölkerung. Die gleiche Idee, gemeinschaftliche Selbsthilfe, trieb Hermann Schulze-Delitzsch an, als er 1849 mit der Gründung einer Schuhmachergenossenschaft die Grundlage der heutigen Volksbanken legte. Gemeinsam sind wir stark. Dieser genossenschaftlichen Idee fühle ich mich sehr verbunden, und zwar auch durch mein Berufsleben. Als ich noch Rechtsanwalt war, habe ich acht Jahre lang als Syndikus den Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften beraten. Das hat mich geprägt. Ich erinnere mich gern daran. Es waren die Genossenschaftsbanken und ihre Vorläufer, die der genossenschaftlichen Idee in Deutschland zum Durchbruch verhalfen. Die Volks- und Raiffeisenbanken leben diese Idee bis heute. Sie stehen für Vertrauen, Transparenz, und Fairness. Sie stehen als Verbund für Solidarität und Selbstverantwortung. Sie geben Sicherheit, weil sie regional verankert sind und ihre Kundinnen und Kunden persönlich kennen, weil sie auch in schwierigen Zeiten wie zum Beispiel der Coronapandemie und der Energiekrise da waren und Finanzierungen und Liquidität bereitgestellt haben und weil sie jetzt auch bei der Bewältigung der tiefgreifenden Transformation unseres Landes eine zentrale Rolle spielen. Der Wandel sind wir, unter dieses Motto haben Sie diese Tagung gestellt, und genauso ist es. Sie tragen überall in Deutschland dazu bei, die für Transformation notwendigen privaten Investitionen zu finanzieren und an die richtigen Stellen zu lenken. Gerade unser Mittelstand steht vor großen Investitionen in die Digitalisierung und in eine klimafreundliche Produktion. Dabei ist es von überragender Bedeutung, dass er starke Finanzierungspartner wie die Volks- und Raiffeisenbanken an seiner Seite hat. Denn es ist der deutsche Mittelstand, der mit seiner Flexibilität und beeindruckenden Innovationskraft unsere Wirtschaft seit Jahrzehnten an der Weltspitze hält und der für gute Arbeitsplätze auch in Zukunft steht. Gleichzeitig stehen die Volks- und Raiffeisenbanken an der Seite der Sparerinnen und Sparer, die etwas fürs Alter anlegen wollen. Sie stehen an der Seite junger Familien, die in die eigenen vier Wände ziehen und ein Haus oder eine Wohnung finanzieren möchten. Sie stehen seit 170 Jahren auch an der Seite ihrer Gemeinden und Landkreise vor Ort. Überall in Deutschland setzen sie sich für zivilgesellschaftliches Engagement und gesellschaftlichen Zusammenhalt ein, sei es durch Ausstellungen in ihren Filialräumen, durch Sponsoring des lokalen Stadtfestes oder durch die Unterstützung des Sportvereins. Anfang des Jahres habe ich gemeinsam mit Ihnen, Frau Kolak, beispielsweise den Großen Stern des Sports an einen Sportverein in Thüringen verliehen. Gemeinsam sind wir stark, das Motto hat sich auch dort bewährt. Mehr noch: Nur gemeinsam sind wir stark. Auf diese genossenschaftliche Botschaft kommt es an, gerade jetzt, wo Extremisten und Populisten unser Land spalten und das vereinte Europa zerstören wollen. Für Ihren wichtigen Beitrag zum Wohlstand und zum Zusammenhalt unseres Landes sage ich Ihnen deshalb heute ausdrücklich schönen Dank. Meine Damen und Herren, der Wandel sind wir, das heißt auch, kaum jemand kennt unsere Wirtschaft und unsere Herausforderungen so in- und auswendig wie die über 700 Genossenschaftsbanken. Kaum jemand ist so nah dran. Kriege und Konflikte, allen voran der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der Klimawandel, die schwächelnde Weltkonjunktur und auch unsere strukturellen Probleme, zum Beispiel Bürokratie, (Beifall) Investitionsstau und Arbeitskräftemangel, all das wirkt sich bei den Mitgliedern sowie Kundinnen und Kunden der großen Volksbank Berlin genauso aus wie bei Deutschlands kleinster Bank, der Raiffeisenbank in Gammesfeld. ‑ Reden bildet ja auch, und ich habe gedacht, ich fahre da mal vorbei. Für uns alle überall in Deutschland sind das gerade Zeiten großer Veränderung. Das bringt natürlich Unsicherheit über die Zukunft mit sich. Unsere Antwort darauf: Wir bleiben nicht bei der Problembeschreibung, wir schaffen praktische Abhilfe. Über drei Felder will ich sprechen, auf denen es besonders darauf ankommt, das sozusagen im genossenschaftlichen Geist zu tun, weil wir die nötigen Veränderungen nur gemeinsam hinbekommen. Thema Bürokratie, ein großes Ärgernis für viele Unternehmen, Bürgerinnen und Bürger und ein realwirtschaftliches Problem. An dem spontanen Beifall hat man gesehen, wie sehr es auf Ihrer Seele lastet. Über Jahrzehnte haben wir wirklich liebevoll ein Bürokratiedickicht angerichtet. Die EU, der Bund, Länder und Gemeinden, alle haben sich viel Mühe gegeben. Es zu lichten, geht nur, indem man sich auch wieder unterhakt, EU, Bund, Länder und Kommunen. Viele frühere Regierungen haben davor kapituliert, weil es wahnsinnig anstrengend ist. Aber damit ist Schluss. Angesichts des Aufbruchs, den wir vor uns haben, können wir es uns schlicht nicht mehr leisten. Deshalb haben wir uns vergangenes Jahr auf den Deutschlandpakt geeinigt, um Planungs- und Genehmigungsverfahren schneller und einfacher hinzubekommen. Mit den ersten Beschleunigungspaketen haben wir schon eine Trendwende bei den Ausbauzahlen und auch bei den Genehmigungsdauern für erneuerbare Energien erreicht. Erstmals sind wir fast „on track“, was unsere Ausbauziele betrifft. Das war jahrelang nur gewünscht. Jetzt machen wir mit der größten Reform des Immissionsschutzgesetzes seit 30 Jahren weiter. Das klingt schon wieder bürokratisch. Aber gerade Prüfunterlagen in diesen Bereichen füllen meterlange Aktenwände. Mir hat auch schon jemand berichtet, er habe zwei Lastwagen gemietet, um seinen Antrag in der Behörde abzugeben. Es wird geprüft, ob ein Windrad oder ein Elektrolyseur negative Auswirkungen auf irgendeine Vogel- oder Blumenart hat. Ich möchte nicht falsch verstanden werden; ich will den Blumen und Vögeln nichts. Aber beim Bau neuer Leitungen, beim Aufbau einer neuen Energieversorgung oder klimafreundlicher Produktion geht es doch gerade um die Umwelt und den Klimaschutz. Uns hierbei selbst im Weg zu stehen, können wir uns auch nicht mehr leisten. Deshalb setzen wir dabei jetzt voll auf digitalisierte Verfahren und mehr Möglichkeiten, diese abzukürzen, auf klarere Fristenregelungen und auf vorzeitigen Baubeginn. Gerade erst haben wir zudem Unternehmen weiter von unnötiger Bürokratie entlastet. Insgesamt spart das Bürokratieentlastungspaket, das wir im vergangenen Sommer geschnürt haben, unseren Unternehmen rund drei Milliarden Euro jährlich. Das sind aber gar nicht die Dinge, über die ich zuvor gesprochen habe, sondern dabei geht es wirklich um Berichtspflichten und all das, was das Leben mühselig macht. Auch da geht noch was. Wir sind ‑ das wissen wir ‑ noch lange nicht am Ziel. Aber wir treiben diese Aufgabe mit aller Konsequenz voran. Ganz wichtig ist dabei selbstverständlich der Blick nach Brüssel, von wo die meisten Vorgaben kommen. Ursula von der Leyen hat versprochen, mindestens 25 Prozent der Berichtpflichten abzuschaffen. Wir sagen: Dann mal los! Das kann im Übrigen auch nur ein Anfang sein. Wir haben uns zusammen mit Frankreich vorgenommen, dass wir nach der Europawahl fest daran bleiben. Darüber gibt es eine sehr präzise Verabredung zwischen dem französischen Präsidenten und mir. Wir werden dafür sorgen, dass Bürokratieabbau eines der Kernanliegen der neuen Europäischen Kommission wird. Dazu gehört für mich auch eine Überprüfung und Vereinfachung des Finanzmarktregelwerks, besonders bei den Berichts- und Meldepflichten. Das gilt insbesondere auch für kleinere und mittlere Banken. Schon als Finanzminister ‑ das wissen einige hier ‑ habe ich mich für mehr Verhältnismäßigkeit in der Bankenregulierung stark gemacht, insbesondere mit Blick auf die deutschen Sparkassen und Volksbanken. Zweites großes Thema: Arbeitskräfte. ‑ Eine gute Nachricht für den Standort ist: Wir haben so viele Beschäftigte wie noch nie in Deutschland. ‑ Die schlechte: Überall bleiben Arbeitsplätze unbesetzt. Es ist dieser Mangel an Arbeitskräften, der unser Wachstumspotenzial, das die Volkswirte und Volkswirtinnen immer errechnen, perspektivisch am stärksten bremst. Deswegen setzen wir gerade alle Hebel in Bewegung, um mehr qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland zu haben. Wir unterstützen bei der Aus- und Weiterbildung in den Unternehmen. Wir investieren in den Ausbau der Ganztagesbetreuung. Wir fördern KI-Investitionen in den Unternehmen, um die knappe Ressource Arbeitskraft effektiver einzusetzen. Ich setze ich mich auch dafür ein, dass es noch attraktiver wird, freiwillig über den gesetzlichen Renteneintritt hinaus zu arbeiten. Es geht um Freiwilligkeit. Das wäre ja schon etwas. Über das Wie sprechen wir auch in unserer Regierung. Unter dem Strich bleibt es aber dabei, dass wir auch Arbeitskräfte von außerhalb Deutschlands brauchen. Deswegen haben wir das Fachkräfteeinwanderungsgesetz geschaffen. Es soll dabei helfen, dass wir als Land mit den modernsten rechtlichen Rahmenbedingungen es schaffen können, durch unsere Offenheit wirtschaftliches Wachstum auch in der Zukunft zu ermöglichen. Wie sehr das notwendig ist, kann man daran sehen, dass es ziemlich düstere Vorausrechnungen für manche Volkswirtschaften gibt, die für sich ganz andere Entscheidungen getroffen haben und für die die Reduktion der Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Bevölkerung schon jetzt in großen Zahlen vorherberechnet werden kann. Wenn wir mit Offenheit den Rahmen dafür schaffen, dass wir wirtschaftlich wachsen können, dann haben wir etwas richtig gemacht. Das dritte Thema ist der Investitionsstau, und das muss man natürlich bei Banken ansprechen. Den gehen wir an und setzen Mittel gezielt dort ein, wo das Wirtschaftswachstum auslöst. In diesem Jahr sind das insgesamt über 100 Milliarden Euro. Die Investitionsquote des Bundes aus dem Bundeshaushalt liegt bei fast 15 Prozent und damit doppelt so hoch wie noch unter der Vorgängerregierung im Jahr 2021, und das trotz der überall besprochenen und diskutierten Haushaltskonsolidierung ‑ für Glasfaserleitungen, für die Erneuerung der Schienen, bessere Straßen und neue Brücken, für Programme, mit denen ein flächendeckendes Ladesäulennetz, der Wasserstoffhochlauf, die Transformation von Industrieprozessen, energetische Gebäudesanierung oder Mikroelektronik gefördert werden, und für die Förderung der Schlüsseltechnologien der Zukunft. Neben technologischer Souveränität und Wertschöpfung liegen in den Ansiedlungen, die wir so ermöglichen, immer auch große Chancen für die jeweilige Region, für Start-ups, für die Bauwirtschaft und das Handwerk, für den ganzen Mittelstand, und zwar nicht nur in den klassischen Schwerpunktregionen, sondern auch im Kreis Dithmarschen in Schleswig-Holstein, in Alzey in Rheinland-Pfalz oder in der Lausitz. Wie attraktiv Zukunftsinvestitionen in Deutschland sind, zeigt sich an den ausländischen Investitionsprojekten in unserem Land, die Germany Trade & Invest gemeldet wurden. Demnach sind 2023 sogenannte „Greenfield- und Erweiterungsinvestitionen“ um 37 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen, gerade in wichtigen Schlüsselbereichen: bei Halbleitern, Batterien, Software, erneuerbaren Energien, Biotechnologie und Pharma. Meine Damen und Herren, damit dieser Standort Deutschland sein Potenzial wirklich entfalten kann, muss er natürlich auch ein weltweit wettbewerbsfähiger Finanzstandort sein. Ich habe das vor kurzer Zeit beim Bankentag gesagt und will das gern auch hier bekräftigen, vor einem besonders leistungsfähigen Teil unseres Bankenwesens. – Das war für Sie gedacht! (Beifall) Wir setzen uns konsequent dafür ein, den deutschen Kapitalmarkt und die Attraktivität des Finanzstandorts weiter zu stärken. Durch das Zukunftsfinanzierungsgesetz wird es für Start-ups und Wachstumsunternehmen künftig leichter, privates Kapital für Investitionen zu mobilisieren und innovative Entwicklungen voranzutreiben. Mit dem Wachstumschancengesetz verbessern wir die steuerlichen Rahmenbedingungen für Unternehmen. Wir verstärken Abschreibungsmöglichkeiten und erhöhen die steuerliche Forschungsförderung. Damit das nötige Kapital für die Transformation unseres Landes bereitsteht, setze ich mich mit allem Nachdruck für einen leistungsfähigeren Kapitalmarkt ein, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in Europa. Wir haben auf dem letzten Europäischen Rat vereinbart, dass wir nun endlich substanzielle Fortschritte bei der Vertiefung der europäischen Kapitalmarktunion machen wollen. Emmanuel Macron und ich sind uns einig. Auch das schreiben wir der Europäischen Kommission ins Stammbuch, die nach der Europawahl ihr Amt übernimmt! Seit Jahren wird die Vollendung der europäischen Kapitalmarktunion in Sonntagsreden beschworen, und wahrscheinlich hat hier jeder und jede schon einmal eine solche gehört. Sobald es aber um konkrete Maßnahmen geht, bröckelt die Unterstützung. Deshalb muss man jetzt einfach loslegen! Ein paar Punkte sind wichtig, die ich nennen will: eine stärkere Harmonisierung der nationalen Insolvenzrechtsregime, gemeinsame Steuerstandards, eine stärkere Harmonisierung der Kapitalmarktaufsicht, die Stärkung des Verbriefungsmarktes zur Finanzierung der Realwirtschaft und die Verbesserung des Zugangs für Privatanleger zu einer breiteren Palette von Finanzprodukten, beispielsweise durch Einführung von europaweiten Spar- und Rentenprodukten. Meine Damen und Herren, ich will es einfach noch einmal sagen: Das Thema ist viel wichtiger, als immer wahrgenommen wird. Ich habe gerade eine Statistik gelesen, wonach in der letzten Zeit von ungefähr 140 sich entwickelnden „Unicorns“ mehr als 40 aus Europa weggewandert sind, weil sie die Equity-Finanzierung nicht hinbekommen haben, und das, obwohl Geld ohne Ende vorhanden ist. Das heißt, die Frage ist schon ziemlich zentral, ob der europäische Kapitalmarkt in der Lage ist, Wachstumsfinanzierung für Unternehmen zu betreiben, wie das in sehr umfassender Weise zum Beispiel in den USA gelingt. Deshalb darf das kein Thema sein, bei den wir denken: Das kann man ja auch noch machen. – Deshalb ist es auch mit der von mir angesprochenen Rückkehr zum Verbriefungsrecht nicht getan. Das war schon schlimm, was da alles passiert ist. Das, was man nach der letzten Finanzkrise an Veränderungen vorgenommen hat, ist zu weit gegangen. Aber wir brauchen auch eine Finanzierung von wachsenden Unternehmen, und das müssen wir insgesamt gemeinsam hinbekommen, sonst gehen uns jeden Tag Wachstumschancen verloren, und das kann nicht der Staat machen. Vielleicht darf ich es auch etwas flapsig formulieren: Fast überall in Europa, immer auf ähnliche Weise ‑ auch wir in Deutschland mittlerweile ganz gut ‑, haben wir es mit simuliertem Kapitalismus hinbekommen, dass die Start-up-Finanzierung funktioniert. Da gibt es dann überall Fonds, bei denen der Staat dabei ist, wenn Start-up-Finanzierung stattfindet. Das hat den Markt groß gemacht. Gut so! Aber für die Wachstumsfinanzierung, um die es geht, ist das nicht in gleicher Weise gelungen, und das ist eigentlich auch die originäre Aufgabe des Kapitalmarkts. Wir werden keine Beamten finden, die entscheiden: In dieses Unternehmen muss man investieren. – Das jemand machen, der etwas von der Sache versteht, und deshalb brauchen wir einen leistungsfähigen Kapitalmarkt. Neben einer Vertiefung der Kapitalmarktunion bedarf es auch einer Vollendung der Bankenunion. Mir ist bewusst, wie zentral das Thema für Sie ist und dass Sie natürlich auch gerne wissen wollen, wie es mit dem Vorschlag einer gemeinsamen europäischen Einlagensicherung weitergeht. Deshalb will ich Ihnen noch einmal ganz klar meine Position sagen: Die Position der Bundesregierung zur Bankenunion und zu EDIS hat sich nicht verändert. Wir sind bereit, eine europäische Rückversicherung für nationale Einlagensicherungssysteme als Teil eines umfassenden Gesamtpakets zu schaffen, jedoch nur unter der Voraussetzung einer weiteren Stärkung des Abwicklungsregimes und einer wirksamen Verhinderung einer übermäßigen Konzentration von Staatsanleihen in Bankbilanzen. Voraussetzung ist auch, und das ist mir besonders wichtig, der Erhalt der Institutssicherung der Sparkassen und Genossenschaftsbanken in Deutschland. Denn in Deutschland und in anderen Mitgliedstaaten haben wir gut funktionierende Sicherungssysteme für kleinere Banken. Diese sollten nicht ohne Not gefährdet werden. Im Juni 2022 haben wir auf EU-Ebene zum Ablauf eine klare Reihenfolge, eine klare Sequenz vereinbart: Der Fokus liegt zunächst auf der Reform des Krisenmanagementrahmens von Banken. Die Arbeiten zu den verbleibenden Elementen der Bankenunion inklusive EDIS sollen erst im Anschluss daran wieder aufgenommen werden. Der in diesem Zusammenhang jüngst von Abgeordneten des Europäischen Parlaments diskutierte Vorschlag entspricht zum einen nicht der vereinbarten Reihenfolge, und er ist auch inhaltlich unzureichend, da er die Besonderheiten der Institutssicherungssysteme gerade nicht in angemessener Weise berücksichtigt. Deshalb bleibt der Erhalt der Institutssicherung auch unsere Richtschnur bei den Verhandlungen zur Reform des Krisenmanagementrahmens von Banken; Sie können sich darauf verlassen. Ja, es ist wichtig, Lücken im Rechtsrahmen zu schließen. Die Vorschläge der Kommission sehen allerdings eine sehr weitreichende ‑ aus meiner Sicht an vielen Stellen zu weitreichende ‑ Umgestaltung des bestehenden, bewährten Systems vor. Das hat das Europäische Parlament bei seiner Positionierung nicht hinreichend berücksichtigt, und deshalb müssen wir für Korrektur sorgen. Wir haben uns im Vertrag, der der Bildung meiner Regierung zugrunde liegt ‑ genannt wird das ja Koalitionsvertrag ‑, ganz klar zur Institutssicherung bekannt. Dafür setzen wir uns deshalb als ganze Regierung auch gemeinsam ein. Meine Damen und Herren, vor 170 Jahren ganz sprichwörtlich aus tiefster Not geboren, stehen die Volksbanken und Raiffeisenbanken heute ganz zentral für das Wohlstandsversprechen unseres Landes, und gleichzeitig helfen Genossenschaftsmodelle auch heute noch Frauen und Männern weltweit, selbstbestimmt ihren Weg aus der Armut zu gehen, ihre Kräfte zu entfalten, wie Friedrich Wilhelm Raiffeisen 1866 formulierte. Nicht umsonst hat Mohamed Yunus für die Umsetzung des Genossenschaftsgedankens in der modernen Entwicklungspolitik 2006 den Friedensnobelpreis erhalten, und nicht umsonst wurde die Genossenschaftsidee 2016 auf Vorschlag Deutschlands als immaterielles Kulturerbe der Menschheit von der UNESCO anerkannt. Gemeinsam sind wir stärker. Nur gemeinsam! Das ist eine Erfolgsgeschichte aus Deutschland und weltweit, und das ist eine ganz hervorragende Voraussetzung und ein gutes Motto für die Zukunft. Schönen Dank für die Einladung!
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Eröffnung der ILA 2024 am 5. Juni 2024 in Schönefeld
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-eroeffnung-der-ila-2024-am-5-juni-2024-in-schoenefeld-2290664
Wed, 05 Jun 2024 00:00:00 +0200
Schönefeld
Statement BK
Sehr geehrter Herr Schöllhorn, verehrter Herr Ministerpräsident, lieber Dietmar, liebe Franziska Giffey, meine Damen und Herren, liebe Gäste der ILA, 115 Jahre liegt der erste Überlandflug per Flugzeug in Deutschland inzwischen zurück. Damals flog der französische Flugpionier Hubert Latham mit einem Antoinette-Eindecker vom Tempelhofer Feld zum gerade neu eröffneten Flugplatz Johannisthal-Adlershof. Für die zehn Kilometer brauchte er 14 Minuten und 31 Sekunden. Heute schafft das die BVG. Damals wurde Hubert Latham vom Publikum begeistert gefeiert. Weniger begeistert hingegen waren die staatlichen preußischen Autoritäten. Wegen groben Unfugs bekam Latham ein Strafmandat über 150 Mark. Diese Geschichte zeigt zweierlei: Erstens: Flugzeuge können heute deutlich mehr als 1909. Zweitens: Das Verhältnis zwischen Luftfahrtbranche und Staat hat sich grundlegend gewandelt, und zwar zum Besseren. Das ist bereits mein zweiter Besuch als Bundeskanzler auf der ILA. Ich bin sehr gern wieder hier, weil ich damit auch zum Ausdruck bringen möchte, dass die Bundesregierung größtes Interesse an einer starken Luft- und Raumfahrtbranche in Deutschland und Europa hat. Ihre Innovationen und Erfindungen begeistern nicht nur das Publikum hier auf der ILA. Was ich auf meinem Rundgang gerade an Innovationen gesehen habe, das wirkt wie ein Katalysator für technologischen Fortschritt und Wettbewerbsfähigkeit in unserem Land weit über Ihre Branche hinaus. Deshalb gibt es für Ihre Pionierleistungen heute keine Strafmandate mehr, sondern den vollen Rückhalt der von mir geführten Bundesregierung. Wir wollen die deutsche und europäische Luftfahrtindustrie weltweit auf einem Spitzenplatz sehen, und zwar in allen drei Dimensionen, die auch hier auf der ILA im Fokus stehen: in der zivilen Luftfahrt, bei der Verteidigung und nicht zuletzt in der Raumfahrt. Mit der Raumfahrt möchte ich auch beginnen. Raumfahrt, da denken viele an Kindheitsträume von Astronauten, Raketen, den Blick in die Unendlichkeit. All das löst zwar eine enorme Faszination aus, wirtschaftspolitisch und strategisch aber hat die Branche in der Vergangenheit oft ein Dasein in einer Nische gefristet, die kleiner war als ein Nanolauncher, jedoch völlig zu Unrecht, wenn man bedenkt, welch wachsende Bedeutung Satelliten- und Weltraumtechnologie hat. Deshalb bin ich froh, dass uns Europäerinnen und Europäern in wenigen Tagen hoffentlich ein großer Raumfahrtmoment bevorsteht. Deutschland hat einen raschen Erststart der Ariane 6 immer befürwortet. Mehr noch, wir wollen diesem Träger eine klare Perspektive geben, auch über den Erstflug hinaus. Deshalb haben wir Unterstützung für die Zulieferer zugesagt, die dadurch nun Planungssicherheit bekommen. Der Erststart der Ariane 6 ist aber nicht nur eine Bestätigung europäischer Ingenieurskunst nach zehn Jahren harter Vorarbeit. Die A6 stellt endlich Europas eigenen Zugang zum All mit einem Großträgersystem wieder her und damit Europas technologische Souveränität auf einem entscheidenden Feld für die Wettbewerbsfähigkeit unseres Kontinents. Die Fähigkeit, jederzeit auch im All handeln und Satelliten in Umlaufbahnen bringen zu können, ist kommerziell, aber auch verteidigungspolitisch unerlässlich. Neben Großträgersystemen brauchen wir dafür auch verlässliche und innovative Kleinsysteme. Längst zeigt uns Amerika, welch bahnbrechende Produkte gerade in der Trägertechnologie durch privaten Wettbewerb entstehen. Ich habe mich deshalb nachdrücklich dafür eingesetzt, dass wir auch in der europäischen Raumfahrt die Zeichen der Zeit erkennen und auf die Kräfte des Marktes setzen. Der Trägerwettbewerb in Europa, den wir bei der letzten ESA-Ministerratskonferenz in Sevilla verabredet haben, ist ein wichtiger Schritt dazu. Unsere Industrie braucht diesen Wettbewerb nicht zu fürchten. Hier auf der ILA kann jeder sehen, wie viel Deutschland in Sachen von Trägersystemen und in anderen Bereichen von New Space zu bieten hat. Mit Spannung schauen wir in diesem Jahr zum Beispiel auf den Erststart der ersten deutschen Microlauncher, übrigens im Kern alle privat finanziert. An dieser Stelle herzlichen Glückwunsch an das Unternehmen Hyimpulse zum gelungenen Erststart in Australien und weiterhin viel Erfolg auch für Isar Aerospace und Rocket Factory Augsburg bei ihren Plänen! Die Bundesregierung und auch das Bundeskanzleramt werden Ihre Aktivitäten weiterhin eng begleiten. Denn ich bin davon überzeugt, dass wir hier erst am Anfang stehen. Europa braucht eine eigene Satellitenmegakonstellation, ob fürs Internet der Dinge oder fürs autonome Fahren und Fliegen von morgen. Gerade weil das ein Geschäftsmodell ist, lässt sich eine solche Konstellation aus dem Markt heraus im Wettbewerb entwickeln. Die Bundesregierung wird das weiterhin flankieren und die nötigen Rahmenbedingungen schaffen. Deshalb haben wir im Spätsommer vergangenen Jahres eine neue Raumfahrtstrategie verabschiedet. Derzeit arbeiten wir an Deutschlands erstem Weltraumgesetz. Die Wirtschaft und die Forschung fordern das schon lange. Nun kommt es, und das Ziel ist klar: mehr Rechtssicherheit und mehr Wachstumsmöglichkeiten für New Space und die gesamte Raumfahrtwirtschaft. Meine Damen und Herren, die Politik in Deutschland hat nicht nur die Raumfahrt lange Zeit stiefmütterlich behandelt. Auch um die Rüstungswirtschaft hat sie in der Vergangenheit einen zu großen Bogen gemacht, auch hier auf der ILA. Das ist vorbei. Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine hat ganz Deutschland vor eine neue sicherheitspolitische Realität gestellt. Deutschland bekennt sich zur Landes- und Bündnisverteidigung und zum Zwei-Prozent-Ziel klar und unmissverständlich. Dafür gibt es das Sondervermögen. Dabei bleibt es. Darauf können Sie sich verlassen. Heute sehen wir klarer denn je, wie wichtig eine europäische und deutsche Verteidigungsindustrie ist, die alle wichtigen Waffengattungen und die nötige Munition kontinuierlich produzieren kann. Dies gilt natürlich auch in den Dimensionen von Luftverteidigung und Weltraum. Hier stand bislang das Kampfflugzeug im Mittelpunkt. Künftig wird es stärker um die Vernetzung von bemannten und unbemannten Plattformen gehen, um moderne Sensoren und Effektoren, um Drohnen, um Cloud- und KI-Technologien oder um den Loyal Wingman, dessen Prototypen ich gerade besichtigen konnte. Ich möchte, dass unsere Industrie in all diesen Bereichen ganz vorne mitspielt, in Sachen Forschung und Technologie, aber eben auch in der Produktion, am besten digitalisiert. Das ist eine enorme Herausforderung; denn in den Jahrzehnten vor 2022 wurde in Deutschland und in ganz Europa zu wenig in die Ausstattung unserer Streitkräfte investiert. Die Industrie hatte daher Kapazitäten heruntergefahren, Standorte geschlossen und Investitionen in neue Technologien vertagt. Das ändert sich gerade. Diese verteidigungsindustrielle Kehrtwende hat zwei gleichermaßen wichtige Dimensionen: Erstens schließen wir rasch die wichtigsten Fähigkeitslücken ‑ dafür brauchen wir neue Produkte, die auf dem Markt verfügbar sind ‑, und zweitens sorgen wir dafür, dass unsere Industrie in Deutschland und Europa nun Produktionskapazitäten aufbaut und Technologien weiterentwickelt. Dafür brauchen Sie verlässliche Aufträge von uns. Ich will gar nicht verhehlen, dass es zwischen diesen beiden Zielen nicht auch Zielkonflikte geben kann, zumindest auf kurze Sicht. Gerade weil in der Vergangenheit so wenig nachgefragt wurde, hat unsere heimische Industrie nicht mehr alles marktverfügbar im Angebot, was die Bundeswehr heute dringend benötigt. Dann weichen wir auf Produkte von Verbündeten aus, Beispiel „schwerer Transporthubschrauber“. Auf manches können wir schlicht nicht warten. Schnelligkeit aber ist nur ein wichtiger Aspekt. Zugleich setze ich mich mit Nachdruck für den Erhalt und den Ausbau von Produktionskapazitäten ein. Deshalb werden wir noch in dieser Legislaturperiode 20 weitere Eurofighter bestellen, zusätzlich zu den 38 Flugzeugen, die derzeit noch in der Pipeline sind. Zudem setzen wir uns für weitere Perspektiven beim Eurofighter ein, auch, was den Export betrifft. Ich hatte im Januar ja schon Gelegenheit, die Eurofighter-Produktion in Manching zu besuchen. Wir werden dort für eine kontinuierliche Auslastung sorgen. Das bietet Sicherheit für Airbus, für den Standort, aber auch für die gesamte Zuliefererkette. Und wir werden ‑ möglichst gemeinsam mit unseren Partnern ‑ in die Weiterentwicklung des Eurofighters investieren, einschließlich der Entwicklung von unbemannten Begleitern. KI, Cloud und Loyal Wingman, sie werden dann eine Brücke zu FCAS bilden, dem Luftkampfsystem der Zukunft. Gerade in diesen Zukunftsfeldern hat die deutsche Industrie bei FCAS die Führungsrolle. Das ist eine große Chance, ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen! Wir können es uns in Europa schlicht nicht mehr leisten, eine deutlich größere Zahl konkurrierender Waffensysteme zu haben als etwa die USA. Wir brauchen weniger Systeme und solche, in denen sich die Stärken unserer Industrie klar widerspiegeln. Dann erreichen wir auch die nötige Interoperabilität zwischen Europas Streitkräften und höhere Stückzahlen. Dann erreichen wir im Übrigen auch Größenordnungen, die uns bei Innovationen und Technologien in die globale Spitzengruppe bringen. Deshalb bin ich froh, dass wir bei FCAS gemeinsam mit Frankreich in den vergangenen Monaten entscheidend vorangekommen sind. Deshalb werben wir bei unseren Partnern dafür, Verteidigungsgüter gemeinsam zu beschaffen, zum Beispiel im Rahmen der European Sky Shield Initiative für eine gemeinsame europäische Luftverteidigung im Rahmen der NATO. Zum Schluss ‑ last, but not least ‑ möchte ich noch ein paar Worte zur zivilen Luftfahrt sagen. Zunächst einmal: Nach den schwierigen Pandemiejahren ist der Aufwind unter Ihren Flügeln erfreulich und beeindruckend. Bei Airbus läuft es hervorragend. Die deutschen Fluggesellschaften stehen gut da. Das Fluggastaufkommen in Deutschland ist inzwischen fast wieder auf Vorkrisenniveau. Auch die Buchungszahlen für den Sommer sehen gut aus. Bei innovativen Technologien wie niedrig fliegenden, elektrisch angetriebenen Transportmitteln wird in Deutschland wichtige Pionierarbeit geleistet, zu besichtigen hier auf der ILA. Aber natürlich steht auch Ihre Branche vor Herausforderungen. Die wohl größte davon ist das klimaneutrale Fliegen, ein Ziel, das Ihre Branche sich selbst gesteckt hat. Dass die ILA gerade dort einen besonderen Schwerpunkt setzt, ist genau richtig. Diese ILA zeigt auch: Neue Technologien zur Dekarbonisierung sind längst Realität. Wasserstoffprojekte spielen dabei eine große Rolle. Wenn wir in Europa 2035 im emissionsfreien Flieger sitzen wollen, müssen wir daher die Optionen von Brennstoffzelle und Direktverbrennung im Antrieb weiter austesten. Die Bundesregierung unterstützt das, denn die technologischen Anforderungen bleiben enorm. Heute schon spielen erneuerbare Flugkraftstoffe, kurz SAF, eine entscheidende und wachsende Rolle. Mit der RefuelEU-Aviation-Verordnung haben wir daher ambitionierte Beimischquoten vereinbart und einen Rahmen für den SAF-Hochlauf geschaffen. Das ermöglicht verlässliche Investitionen. Ergänzt wird das durch den EU-Emissionshandel und auch global, im Rahmen von CORSIA. Zugleich werden wir auch in Zukunft darauf achten, dass der europäische Luftverkehr konkurrenzfähig bleibt. Für den Einsatz klimafreundlicher Kraftstoffe heißt das etwa, dass sie zu wettbewerbsfähigen Preisen produziert und verfügbar gemacht werden müssen. Was in Sachen SAF schon alles funktioniert, auch das zeigt die ILA. Noch nie waren so viele klimafreundliche Kraftstoffe auf einer ILA im Einsatz. Ich bin sicher: Wir werden gerade in diesem Bereich weiter schnelle Fortschritte und echte Entwicklungssprünge erleben. So war es in der Luftfahrt vor 115 Jahren, und so ist es in Ihrer Branche bis heute geblieben. Innovation und Pioniergeist haben bei Ihnen Tradition! In diesem Sinne: „Keep on pioneering aerospace“ – die ILA Berlin 2024 ist hiermit eröffnet!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der 20. Preisverleihung des Wettbewerbs startsocial am 4. Juni 2024 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-20-preisverleihung-des-wettbewerbs-startsocial-am-4-juni-2024-in-berlin-2290298
Tue, 04 Jun 2024 11:56:00 +0200
Berlin
Statement BK
Sehr geehrter Herr Dr. Düsedau, sehr geehrte Vertreter der Fördererunternehmen und vor allem sehr geehrte Ehrenamtliche, herzlich willkommen im Bundeskanzleramt zur 20. Preisverleihung des Wettbewerbs startsocial! Ich freue mich, dass Sie heute alle hierhergekommen sind. Auf dem Demokratiefest zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes habe ich mich mit Frauen und Männern getroffen, die sich für unser Land und für den Zusammenhalt einsetzen. Einer von ihnen, ein junger Mann, hat mir gesagt: „Die Ressource, die uns als Ehrenamtler am meisten fehlt, ist Zeit.“ Gleichzeitig habe ich von der Keynote des Stipendiatentages im Frühjahr gehört. Bei der sagte eine ehemalige Teilnehmerin Ihres Wettbewerbs: „Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich.“ Ich glaube, beides ist richtig. Trotzdem ist es alles andere als selbstverständlich, was Sie alle, liebe Ehrenamtliche, und auch die Vertreterinnen und Vertreter der Förderunternehmen für Ihre Projekte leisten, was die 29 Millionen Frauen und Männer jeden Tag leisten, die sich freiwillig in unserem Land und für die Gemeinschaft engagieren. Sie geben Erste-Hilfe-Kurse, löschen Feuer, lesen vor, schützen die Natur, verteilen Essen, begleiten Sterbende in den letzten Stunden ihres Lebens, oft neben Familie und Beruf. Sie investieren freiwillig ihre Zeit, um anderen zu helfen, und schaffen damit das, was man mit keinem Geld der Welt kaufen kann: Zusammenhalt. Auch startsocial hat von Beginn an Wirtschaft und Ehrenamt miteinander verbunden: „Made in Germany“ mit „Help in Germany“. Der Wettbewerb startsocial hat seit seiner Gründung Maßstäbe gesetzt: In den 20 Wettbewerbsrunden wurden inzwischen 2000 einzelne Vereine und Initiativen gefördert, aber gleichzeitig immer auch das große Ganze. Startsocial hilft, das Ehrenamt dauerhaft und langfristig gut aufzustellen. Das passiert ja nicht von alleine, sondern ist nur möglich, weil sich so viele mit Herzblut engagieren: die Coaches und Juroren, die ehrenamtlichen Mitglieder, der Beirat, das hauptamtliche Team und die ehrenamtlichen Initiativen selbst. Hinzu kommen die Fördererunternehmen, die durch ihre Unterstützung den ganzen Wettbewerb erst ermöglichen, und natürlich Sie, lieber Herr Dr. Düsedau. Sie sind der Mann der ersten Stunde und seit über 20 Jahren mit dabei. Ich bin froh, startsocial als Schirmherr unterstützen und begleiten zu dürfen. Für Ihr Engagement sage ich Ihnen allen heute: Vielen herzlichen Dank! Jetzt steht natürlich noch der Sonderpreis aus. Liebe Ehrenamtliche, Sie haben es schon unter die besten 25 in die Bundesauswahl geschafft. Dazu gratuliere ich Ihnen! Sie sind heute alle Gewinnerinnen und Gewinner! Umso schwerer haben Sie es mir und meinem Team gemacht, mich heute für ein Projekt zu entscheiden, aber ich musste; so sind die Regeln. Ich habe den Geburtstag unseres Grundgesetzes gerade schon erwähnt. Unseren Grundrechten und Werten verdanken wir Freiheit, Frieden und Wohlstand. Das Grundgesetz gibt uns Halt und Orientierung, und, ja, es ist ein Bollwerk gegen jene, die unsere Demokratie verachten und unser Miteinander zerstören wollen. Leute, die Lokalpolitikerinnen, Bürgermeister, Ehrenamtliche und selbst Polizisten, Rettungssanitäterinnen und Feuerwehrleute angreifen, Rechtsextremisten, die über die Vertreibung von Zuwanderern und Deutschen mit Migrationshintergrund schwadronieren, Leute, wie die auf Sylt, die mit einem Aperol in der Hand hetzerische und verfassungsfeindliche Parolen grölen, und ‑ das sage ich ausdrücklich ‑ islamistische Täter, die Gewalt gegen Polizisten ausüben – alles das können wir nicht hinnehmen. Verfassungsfeindlich sind diese Aktivitäten auch deshalb, weil unser Grundgesetz als Antwort auf Diktatur, Krieg, Mord und Zerstörung ganz bewusst die Würde aller in den Mittelpunkt stellt, ohne Wenn und Aber. Die Nationalsozialisten legten nicht nur Europa in Schutt und Asche. Sie ermordeten sechs Millionen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger und gingen erbarmungslos gegen alle vor, die nicht in ihr Weltbild passten, und das vor den Augen aller, an jedem Ort in Deutschland. Das Projekt, das ich heute ganz besonders auszeichnen möchte, erinnert daran – vor Ort, ganz konkret, in der hessischen Stadt Weilburg. Der Verein „Weilburg erinnert“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Erinnerung an die Vergangenheit wachzuhalten, damit die Geschichte sich nicht wiederholt, damit wir die richtigen Schlüsse daraus ziehen für unser Zusammenleben heute, als eine Gesellschaft des Respekts. Liebe Frau Schiebel, lieber Herr Huth, für Ihr herausragendes und mutiges Engagement zeichne ich Sie und Ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter mit dem diesjährigen startsocial-Sonderpreis aus. Herzlichen Glückwunsch!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des 75. Jubiläums der Deutschen Journalistenschule (DJS) am 3. Juni 2024 in München
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-75-jubilaeums-der-deutschen-journalistenschule-djs-am-3-juni-2024-in-muenchen-2290366
Mon, 03 Jun 2024 17:40:00 +0200
München
Statement BK
Sehr geehrte Frau Löwisch, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Söder, liebe Schülerinnen und Schüler der DJS, liebe ehemalige DJSler, meine Damen und Herren! Ein Geständnis vorweg: Mein Tag beginnt mit einer Zeitung. Und zwar am liebsten auf Papier. Und er endet auch mit der Zeitung, die Online-Ausgaben kann ich ja schon abends auf dem Tablet lesen. Ich lese nicht nur den Politikteil, sondern fast alles. Denn das ist ja das Beste an einer gut gemachten Zeitung: Nicht nur das bestätigt zu sehen, was man schon weiß. Sondern zu entdecken, worauf man noch nicht gestoßen ist. Wenn also jemand fragt: Wofür brauchen wir Zeitungen, Zeitschriften, Radio, Podcasts, Talkshows oder Nachrichtensendungen, wo doch jede Information im Internet zu finden ist – noch dazu umsonst? Wofür brauchen wir noch Journalistinnen und Journalisten, wo doch jede und jeder mit dem Handy Videos aufnehmen kann und sie online stellen kann? Wo KI wissenschaftliche Aufsätze schreiben und Nachrichten passgenau auf die Vorlieben des Empfängers zuschneiden kann? Dann antworte ich: Wir brauchen Sie als Orientierung! Damit wir nicht versinken – in einem Meer aus Informationen und Desinformationen. Wir brauchen Sie vor allem jetzt. Denn gesicherte Informationen sind absolut essenziell für die politische Debatte – und für die öffentliche Debatte erst recht. Deshalb ist es ein Problem, wenn einige behaupten, dass „die Politik“ und „die Medien“ zu ein und derselben Sauce gehörten. Dabei ist ja genau das Gegenteil richtig: Kritische Distanz halten zu denen, über die sie berichten, das zeichnet gute Journalistinnen und Journalisten aus. Eine Distanz, die den Blick weitet und das unabhängige Urteil schärft. Als Politiker sage ich: Das respektiere ich und das schätze ich. Denn ich glaube, diese kritische Distanz ist ein wesentlicher Bestandteil guter Berichterstattung, wie sie hier an der DJS seit 75 Jahren gelehrt wird. Aber zurück zur Sauce. Ich glaube, es geht da um Entfremdung. Ein Gefühl der Entfremdung gegenüber vermeintlichen und tatsächlichen Eliten, zu denen Politik und Journalismus gleichermaßen gezählt werden. Für die Politik kann ich sagen: Sie ist daran nicht immer ganz unschuldig. Wenn persönliche Ambitionen das Ringen um inhaltliche Lösungen überlagern; wenn die schnelle Schlagzeile wichtiger scheint, als das Webersche „Bohren harter Bretter“; wenn Streit nicht der Sache dient, sondern der eigenen Profilierung – dann wenden sich Bürgerinnen und Bürger schnell mal kopfschüttelnd ab. Und dann verführt die Politik den Journalismus, nicht über die Sache selbst zu berichten, sondern über die Performance, über Typen und Egos, Gewinner und Verlierer. Journalismus beschränkt sich dann auf Theaterkritik. Nun soll es aber heute einmal nicht um den Blick der Medien auf die Politik gehen. Sondern umgekehrt, um den Blick eines Politikers auf den Journalismus und die Medien. So jedenfalls verstehe ich die Einladung an mich, diese Festrede zu halten. Die Frage, die ich mir stelle, und die sicher auch viele von Ihnen beschäftigt: Wie kommt es, dass das Vertrauen „der Öffentlichkeit“ in die deutschen Medien und die Politik seit Jahren abnimmt? Dabei muss man eigentlich noch eine andere Frage voranstellen. „Was ist eigentlich diese ominöse Öffentlichkeit – wo finde ich die?“ Eins zumindest scheint klar: Die Zeiten, in denen Tagesschau, Wetten dass, Sportstudio oder Tatort das große Lagerfeuer war, um das sich die Nation versammelt hat, die sind allesamt vorbei. Und sie kommen auch nicht wieder. Zu vielfältig sind nicht nur die Angebote und Kanäle. Statt des einen großen Lagerfeuers gibt es heute sehr viele kleinere. Darauf müssen Politik und Medien gleichermaßen reagieren, wenn sie Öffentlichkeit herstellen und nicht nur schrumpfende Teile davon erreichen wollen. Und ich finde, das muss der Anspruch sein. Denn es ist gefährlich, Teile unserer Gesellschaft aus dem Blick zu verlieren, deren Tag eben nicht mit der Tageszeitung beginnt und mit den Tagesthemen endet. Die keine Lokalzeitung mehr abonnieren. Nicht umsonst bin ich als Bundeskanzler und auch der Ministerpräsident inzwischen zu finden auf TikTok, Instagram, WhatsApp und X unterwegs oder nehme Fußball-Podcasts auf. Beim Singen und Tanzen mache ich nicht mit, das unterscheidet mich von Markus Söder. Da habe ich eine klare rote Linie gezogen. Auch viele von Ihnen in den Redaktionen, in den Verlagshäusern und auch an der DJS testen immer wieder neue Formate und Outlets. Dabei stehen Sie dann in mehr oder weniger direkter Konkurrenz zu circa fünf Milliarden Nutzerinnen und Nutzern sozialer Medien weltweit, die posten, Content produzieren, influencen, kommentieren und bloggen. Der Unterschied aber ist: Sie sind Journalistinnen und Journalisten! Sie geben Orientierung, die wir gerade in den sozialen Medien jeden Tag dringender brauchen. Meine Bitte ist: Nehmen Sie diese Rolle wahr, denn das kann niemand so gut wie Sie. Sie haben die nötige Ausbildung. Bei aller berechtigten Sorge um die Finanzierung unabhängiger Qualitätsmedien glaube ich aber auch, dass dort künftig noch mehr das Geschäft der Medien zu finden sein wird. Mit relevanten Inhalten lässt sich auch in Zukunft Geld verdienen, davon bin ich zutiefst überzeugt. Auf TikTok präsent zu sein, ist erstmal leicht. Es genügt ein Smartphone, eine App und eine Aktentasche. Aber einen komplexen politischen Inhalt so herunterzubrechen und einen Dreh zu finden, der auch auf dieser Plattform funktioniert, ist ungleich schwieriger. Einen Podcast aufzunehmen, ist kein Hexenwerk. Aber eine Unterhaltung so zu gestalten, dass sie Substanz hat und nicht nur Geschwätz ist, das ist die hohe Kunst. Eine Kunst, die Sie hier an der DJS gelernt haben oder gerade lernen. Das wird für den Journalismus, davon bin ich überzeugt, in Zukunft noch wichtiger sein. Gleichzeitig aber muss Journalismus besser sein denn je, um oben zu schwimmen im Meer aus Information und Desinformation. Denn es ist ja nicht damit getan, nur neue Kanäle zu bespielen und neue Zielgruppen zu gewinnen. Es geht natürlich auch um die Qualität der Inhalte – das ist und bleibt zentral. Aus meiner eigenen Erfahrung als passionierter Zeitungsleser kann ich Ihnen sagen: Es gibt sie, die glücklichen Leser-Zeitungs-Beziehungen, auch heute noch. Auch ein Sozialdemokrat kann bei der Lektüre einer Zeitung mit eher konservativer Ausrichtung froh sein. Sapere aude – den Mut haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen! Kant hat das zum Leitsatz menschlicher Aufklärung erhoben. Aber damit das Selberdenken möglich ist, brauche ich eine Breite an Informationen und einen Ort, wo ich diese finde. Wer gezielt nur nach einer speziellen Nachricht zu einem Thema sucht, der landet bei Google oder ChatGPT. Und wer nur eine Meinung wahrnehmen möchte, im Zweifel die eigene, der landet in der Echokammer des eigenen Milieus. Der Unterschied zu einer gut gemachten Zeitung oder einer professionellen Nachrichtensendung aber ist, dass ich die dortige politische Tendenz vielleicht nicht toll oder richtig finde. Aber dass ich eben nicht noch woanders hinschauen muss, um das Gefühl zu haben: Ich bin rundum gut informiert. Ich kann mir eine eigene Meinung bilden. Selbst denken. Was medial vorkommt und was nicht – diese Kuratierung – ist deshalb von fundamentaler Bedeutung. Sie strukturiert unsere Welt. Eine Ihrer Kolleginnen von der ZEIT hat vor einigen Wochen ein Stück darüber geschrieben und das hat mir zu denken gegeben. Sie schrieb darin mit Blick auf die deutschen Medien zu Themen wie Russlands Krieg in der Ukraine oder der Corona-Pandemie: „Suggeriert wird ein Konsens, den es in Deutschland nicht gibt.“ Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin überzeugt, Corona-Einschränkungen waren nötig. Sie haben vielen Leuten ihr Leben gerettet. Und Deutschland ist aus gutem Grund der mit Abstand größte Unterstützer der Ukraine in Europa. Aber auch ich stelle immer wieder fest, dass mir bei Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern im ganzen Land oft völlig andere Fragen gestellt werden als in Interviews. Statt Fragen nach bestimmten Waffensystemen höre ich dort Sorgen vor einer Ausweitung des Kriegs und manchmal auch Fragen, ob unsere Unterstützung nicht schon zu weit geht. Bei Weitem nicht alle, die so denken, sind radikal. Aber das sind Sorgen, die öffentlich – wenn überhaupt – dann nur als Äußerungen aus dem extremen politischen Spektrum wahrnehmbar sind. Dann aber muss es uns nicht wundern, wenn Leute sich überhört fühlen. Wenn in einer Studie ein Viertel der Befragten sagt: Themen, die mir wichtig sind, werden in den Medien „gar nicht ernst“ genommen. Dann ist das ein alarmierender Befund. Zwei Vorschläge möchte ich beisteuern, die vielleicht Abhilfe schaffen können. Erstens: Ich weiß, Sie müssen zuspitzen und vereinfachen, damit komplexe Sachverhalte verständlich bleiben. Das ist nicht nur ihr Job. Das ist absolut notwendig. Aber ich verrate Ihnen vermutlich kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage: Manches gerät mir dann doch zu simpel. In einer Zeit wachsender Komplexität, kann Berichterstattung nicht weniger komplex werden, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Und deshalb mein Appell für mehr Meinungsvielfalt in einem Blatt. Mehr Fakten statt Nudging. Mehr Inhalte statt Kampagnen. Mehr Information statt Haltung. Das täte unserem Land gut. Zweitens: Um die ganze Breite der Bevölkerung anzusprechen, muss sich auch in den Redaktionen etwas verändern. In den Lokalredaktionen, aber auch in der Hauptstadt. In Berlin berichten oft Männer über Männer. Die Debatte über Frauen in Führungspositionen hält an – auch in den Verlagen und den Sendern. Es gibt noch immer zu wenig ostdeutsche Stimmen, die deutschlandweit gehört werden. Bei der Vielfalt in den Redaktionen ist, vorsichtig gesagt, noch Luft nach oben. Wir als Bundesregierung fördern deshalb das Projekt „Stark für Vielfalt“ der Neuen Deutschen Medienmacherinnen und haben auch die Initiative #dukannstjournalismus der DJS unterstützt. Denn nicht alle jungen Leute sind mit deutschen Zeitungen großgeworden, hören morgens den Deutschlandfunk oder schauen abends mit ihren Eltern die Fernseh-Nachrichten. Aber gerade diese Leute brauchen wir, wenn wir möglichst alle in unserem Land erreichen wollen. Einem Land, in dem 25 Prozent einen Migrationshintergrund haben. Wenn wir Meinungsvielfalt in den Blättern und Sendungen wollen, wenn wir wollen, dass Qualitätsjournalismus eine Zukunft hat. Ich glaube fest an diese Zukunft. Künstliche Intelligenz kann Journalistinnen und Journalisten bei ihrer Arbeit unterstützen. Aber sie kann gerade die Guten nicht ersetzen. Einfache Nachrichten schreiben, den Wetter- und Börsenbericht, das mag wohl bald die KI erledigen. Die dpa-Meldung auf acht Zeilen eindampfen. Aber ausgewogen kommentieren und einordnen, investigativ recherchieren und porträtieren? Wie dieser Beruf geht, das kann man seit 75 Jahren hier an der DJS auf hervorragende Weise lernen. Das ist wichtig, denn die Bürgerinnen und Bürger – und auch ich – wir verlassen uns auf Sie. Ohne eine freie, unabhängige und vielfältige Presse wird es nicht nur schwierig mit dem Selberdenken. Ohne eine freie, unabhängige und vielfältige Presse gibt es keine Demokratie. Seit 75 Jahren sorgt die DJS zuverlässig für den besten Nachwuchs unserer freien Presse. Deshalb sage ich heute nicht nur: Herzlichen Glückwunsch! Sondern auch: Alles Gute und herzlichen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Ostdeutschen Wirtschaftsforums 2024 am 2. Juni 2024 in Bad Saarow
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-ostdeutschen-wirtschaftsforums-2024-am-2-juni-2024-in-bad-saarow-2290038
Sun, 02 Jun 2024 00:00:00 +0200
Bad Saarow
Statement BK
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir zunächst zwei Vorbemerkungen. Wir erleben hier ein bisschen Regen, aber wir wissen: Während wir hier tagen und ein bisschen Regen erleben, gibt es im Süden Deutschlands vor allem Unwetter. Es gibt auch Unwetterwarnungen für einige Bereiche in Brandenburg, das will ich hinzufügen. Aber das ist schon eine große Herausforderung, mit der wir da immer wieder konfrontiert sind. Gerade dieses Jahr sind es sehr, sehr viele Hochwasserereignisse, die uns zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten erreicht haben. Manche sind einfach nur das, was sie schon immer waren: Sie zeigen uns, wie kräftig und gewaltig die Natur ist. Aber manche – das dürfen wir auch nicht vergessen – haben natürlich auch etwas zu tun mit den veränderten klimatischen Bedingungen und mit Herausforderungen, vor denen wir stehen angesichts des Anstiegs der Erdtemperatur und des Klimawandels. Und deshalb will ich sagen: Da ist eine Aufgabe. Aber jetzt geht es darum, Kollegialität zu zeigen mit denjenigen, die um ihr Hab und Gut kämpfen, die ihr Überleben sichern müssen. Schönen Dank allen, die da helfen. Und wir kommen hier zusammen zum Gespräch; wir unterhalten uns miteinander. Das ist die Grundlage für Fortschritt, für Verbesserung in der Gesellschaft, Öffentlichkeit, das offene Gespräch. Unterschiedliche Meinungen austauschen, das ist die Grundlage dafür, dass wir unseren Wohlstand erreichen können und unsere Freiheit sichern. Deshalb bedrückt es mich, dass wir sehen, dass immer mehr Gewalt im öffentlichen Raum eine Rolle spielt, Gewalt gegen Helfer – gerade jetzt in dieser Situation ist das besonders bedrückend, das zu sehen -, gegen diejenigen, die helfen wollen, ob das nun ein Autobahnunfall ist oder eine Naturkatastrophe, Gewalt gegen diejenigen, die unterstützen, Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten und – das will ich ausdrücklich sagen – der schreckliche Angriff auf den Polizisten, der eine Veranstaltung abgesichert hat – ist etwas, was uns alle bedrücken muss. Gewalt kann von uns niemals akzeptiert werden. Wir werden gegen alle vorgehen, die mit Gewalt den demokratischen Raum einzuschränken versuchen. Und ich sage das an alle, ob sie nun aus einem linksextremistischen, einem rechtsextremistischen Motiv oder aus einem islamischen Motiv Gewalt gegen andere ausüben, ob das Gewalt ist gegen sich links oder in der Mitte oder rechts engagierende demokratische Politikerinnen und Politiker: Sie ist immer nicht akzeptabel und wird von uns nicht hingenommen werden. Deshalb will ich ausdrücklich auch an die Täter und all diejenigen, die mit Gewalt versuchen, demokratische Räume einzuschränken, sagen: Unterschätzt uns nicht! Wir sind ein demokratischer Staat. Wir werden das nicht dulden und mit allen Möglichkeiten von Recht und Gesetz gegen euch vorgehen. Und lassen Sie mich das zum Schluss sagen: Ich bin immer noch sehr bedrückt von dem Vorfall – den ich eben angesprochen hatte – in Mannheim. Lasst uns gemeinsam bei dem Polizisten sein, der um sein Leben ringt – immer noch ringt -, und hoffen wir, dass er eine Chance hat, durchzukommen. Sehr geehrte Frau Premierministerin Šimonytė, liebe Ingrida, sehr geehrter Herr Nehring, sehr geehrter Herr Mehne, sehr geehrter Herr Russwurm, meine Damen und Herren, ich freue mich, heute wieder hier im schönen Bad Saarow zu sein, sozusagen im Davos Ostdeutschlands, wie Sie das immer gesagt haben. Vielleicht geht es ja irgendwann umgekehrt und bei der Eröffnung in Davos sagen Sie, Sie haben ja das Bad Saarow für größere Diskussionszusammenhänge – von Berlin kommend allerdings deutlich günstiger gelegen als dieses Davos. Und das möchte ich dann hier auch noch mal erwähnen. Ich habe die Einladung auch in diesem Jahr sehr, sehr gerne angenommen, weil es in der Tat sehr viel zu besprechen gibt – viele wichtige Herausforderungen hat Herr Russwurm gerade schon aufgezählt – und weil dieses Forum für den offenen, konstruktiven Austausch und für den Hands-on-Spirit steht, mit dem wir diese Herausforderungen angehen, und der ist ja die Grundlage der enorm erfolgreichen Entwicklung des Wirtschaftsstandortes Ostdeutschland. Ich habe diese Einladung auch wegen des besonderen Jahrestages gern angenommen, den wir dieses Jahr begehen und den wir auch ganz besonders hier, beim Ostdeutschen Wirtschaftsforum, feiern sollten. Ich spreche von der EU-Osterweiterung vor 20 Jahren. Diese Erweiterung ist eben nicht nur für unsere östlichen Partner eine große Erfolgsgeschichte, sondern auch für Deutschland und ganz besonders für Ostdeutschland, Ostdeutschland, das sich mit einem Mal nicht nur geografisch, sondern auch politisch und wirtschaftlich in der Mitte der erweiterten Europäischen Union befand und das wie kaum eine andere Region mit seinen Nachbarländern zusammenarbeitet und davon profitiert. Ob in Unternehmen, Krankenhäusern, Hotels oder Gaststätten, gerade in den grenznahen Gebieten sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Polen und der Tschechischen Republik kaum wegzudenken. Unser Außenhandelsvolumen allein mit diesen beiden Ländern hat sich seit der EU-Erweiterung verfünffacht. Gerade deutsche und ostdeutsche Unternehmen haben in allen Beitrittsländern massiv investiert und neue Produktionsstandorte aufgebaut. Das Bruttoinlandsprodukt deines Landes, liebe Ingrida, ist in diesem Zeitpunkt über 200 Prozent gestiegen. Ich finde, das ist eine Botschaft der Zuversicht, auch für die heutigen EU-Beitrittskandidaten auf dem Balkan, in der Republik Moldau, in der Ukraine und perspektivisch in Georgien. Dass sie alle dazugehören wollen zur Europäischen Union, dass wir mit ihnen darüber verhandeln, das ist auch das Ergebnis einer seit 2004 völlig veränderten geopolitischen Lage, die ich eine „Zeitenwende“ genannt habe. Es waren unter anderem die baltischen Länder, die stets vor den imperialistischen Ambitionen Russlands gewarnt haben. Spätestens seit Putins brutalem Angriff auf die gesamte Ukraine ist völlig klar, was er will: Grenzen mit Gewalt verschieben und damit unsere Friedensordnung in Europa zerstören. Aber wir lassen das nicht zu. Seit beinahe 10 Jahren zeigt die Nato Präsenz an der Ostgrenze des Bündnisgebietes. Deutschland war von Beginn an in einer Führungsrolle, vor allem in Litauen. Und weil die Bedrohung durch Russland anhalten wird, haben wir und andere Alliierte im vergangenen Jahr beschlossen, zusätzliche Einheiten ins Baltikum zu verlegen und künftig eine ganze Brigade dauerhaft dort zu stationieren. Das ist ein Novum für Deutschland und für die Bundeswehr. Aber diese sicherheitspolitische Wende ist nötig, um Russland zu zeigen: Wir sind bereit, jeden Quadratzentimeter Nato-Territoriums gegen Angriffe zu verteidigen – und das gilt. Denn ohne Sicherheit ist alles andere nichts. Und auch Diplomatie – die heute schon stattfindet und die es natürlich braucht – wird nur erfolgreich sein aus einer Position der Stärke, und diese Stärke hat natürlich wirtschaftliche, technologische und auch soziale Aspekte. Nur wenn wir zusammenhalten, wenn unsere Wirtschaft wächst, wenn wir gute Arbeitsplätze haben und genügend Leute, die die Arbeit machen, sind wir als Land stark. Aus dieser Perspektive lohnt es sich, über den Titel, der schon erörtert wurde, nachzudenken, unter den Sie das Ostdeutsche Wirtschaftsforum in diesem Jahr gestellt haben: Fast Forward. Fast Forward ist zum einen eine sehr treffende, objektive Gegenwartsbeschreibung: Dekarbonisierung, Digitalisierung, KI-Nutzung. Wir gehen gerade mit enormer Geschwindigkeit mitten durch eine sehr grundlegende Modernisierung unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Und gerade mit Blick auf die exponentiell steigenden Kapazitäten von Künstlicher Intelligenz steht es zu erwarten, dass sich das Veränderungstempo in den kommenden Jahren noch deutlich steigern wird. Fast Forward ist zum anderen auch ein Gefühl ganz vieler Bürgerinnen und Bürger, die Sorge, abgehängt zu werden, die Kontrolle zu verlieren. Mich erinnert das an ein bekanntes Gedicht des gebürtigen Dresdners Erich Kästner, dessen Todestag sich dieses Jahr zum 50. Mal jährt. Ich zitiere: „Der Globus dreht sich. Und wir dreh’n uns mit. Die Zeit fährt Auto. Doch kein Mensch kann lenken.“ So heißt es in „Die Zeit fährt Auto“, erschienen vor bald 100 Jahren. Das zeigt doch: Zeiten großer Veränderung waren schon immer Zeiten großer Unsicherheit über die Zukunft. Das hat wirtschaftliche, das hat gesellschaftliche und das hat politische Auswirkungen. Extremisten versuchen heute wie damals genau diese Unsicherheit auszunutzen, Angst und Unruhe zu schüren: Da werden wirtschaftlich ruinöse Wahnvorstellungen von D-Mark und D-Exit verbreitet. Da werden Wahlplakate abgerissen, da werden Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer angegriffen, da wird die Demokratie verächtlich gemacht. Und vielleicht darf ich das an dieser Stelle sagen: Ich war sehr bedrückt über den jüngsten Angriff auf den CDU-Politiker Kiesewetter. Auch das meine ich, wenn ich vorhin gesagt habe: Die Täter sollen sich nicht sicher fühlen, wir werden gegen alle vorgehen und wir werden es nicht akzeptieren, dass solche Gewalt stattfindet. Ich möchte hier – bei diesem Forum der Chancen Ostdeutschlands – ganz klar sagen: Wir lassen das nicht zu. Unsere Demokratie ist eben wehrhaft. Nach Krieg und Zerstörung, nach Diktatur und Teilung begehen wir in diesem Jahr den 35. Jahrestag der Friedlichen Revolution und – dank dieser Revolution – gemeinsam den 75. Jahrestag des Grundgesetzes. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, der Schutz der Menschenwürde, der Einsatz für ein geeintes, friedliches Europa – dafür steht unser Land. Diesen Werten haben wir Freiheit, Frieden und unseren Wohlstand zu verdanken. Diese Werte müssen wir verteidigen und diese Werte müssen wir leben: durch Engagement in Vereinen, Organisationen und Bürgerinitiativen und ganz einfach durch Respekt im Umgang miteinander, aber auch durch klare Worte von Unternehmerinnen und Unternehmern und von Wirtschaftsverbänden. Wer unsere Demokratie bedroht, wer die Europäische Union beschädigen will, der bedroht Arbeitsplätze und unseren Wohlstand. Der bedroht unsere Sicherheit. Und ich bin sehr froh, dass der BDI hier stets mit der allergrößten Deutlichkeit Stellung bezieht, Herr Russwurm. Sie haben es eben wieder getan. Danke dafür! Meine Damen und Herren, dieses Forum hier steht für klare Ansagen, und so will ich es auch halten: Über lange Jahre haben wir nötige Reformen in unserem Land ausgesessen. Wenn man viel sitzt und dann wieder nach langer Zeit ans Laufen kommt, dann tut es am Anfang auch mal in den Beinen weh. Das kann ich Ihnen als jemand sagen, der erst sehr spät zum Joggen gekommen ist: Genau so war’s. Ja, der erste Muskelkater schmerzt besonders. Aber er ist auch ein notwendiger Schritt, um fitter zu werden, um bei jedem Lauf mehr Tempo zu machen. Genau da stehen wir in Deutschland gerade jetzt. Angesichts unserer zyklischen und strukturellen Wachstumsschwächen sind konsequentere Reformen zur Stärkung unserer Wettbewerbsfähigkeit unbedingt erforderlich – und danach handeln wir: Wir gehen das Thema Arbeitskräftemangel an, wir haben die Weichen gestellt für ein verlässliches, bezahlbares Energiesystem der Zukunft, wir sorgen für die Zukunftsinvestitionen und wir sorgen für mehr Tempo und weniger Bürokratie. Das sind die vier Elemente einer modernen Angebotspolitik, mit der wir Deutschland fit kriegen. Und ich will zu den vier Punkten kurz etwas sage. Erstens: Arbeitskräfte. Wir unterstützen Unternehmen bei der Aus- und Weiterbildung in den Betrieben. Wir investieren in den Ausbau der Ganztagsbetreuung. Und wir arbeiten an Vorschlägen, die es noch attraktiver machen, freiwillig über den gesetzlichen Renteneintritt hinaus zu arbeiten. Wir haben sinnlose Arbeitsverbote abgeschafft, die Geflüchtete zum Rumsitzen verdammt hatten. Wir haben den Job-Turbo ins Leben gerufen, um Geflüchtete aus der Ukraine und weiteren Ländern schneller in Arbeit zu bringen. Und ich möchte Sie an dieser Stelle bitten: Unterstützen Sie uns, auch, indem Sie Leute einstellen, die vielleicht noch nicht perfektes Deutsch sprechen. Das lernen sie schon bei der Arbeit. Und nicht zuletzt haben wir mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz endlich dafür gesorgt, dass diejenigen, die hier gebraucht werden und die mit anpacken wollen, schnell und ohne allzu viel Bürokratie auch kommen können. Gleichzeitig werde ich auch in diesem Kreis nicht müde zu betonen, dass es im Wettbewerb um Arbeitskräfte auch einen Wettbewerb um Löhne gibt. Der Mindestlohn beschreibt das absolute Minimum. Wer gute Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sucht, der muss im Wettbewerb mit anderen bereit sein, auch mehr als dieses Minimum anzubieten. Zweiter Punkt: Sichere, saubere und bezahlbare Energie. Die Großhandelspreise liegen jetzt wieder auf dem Vorkrisenniveau, öfter sogar darunter; zum Teil hat der Markt dafür gesorgt – zum Teil aber auch wir, als Regierung. Wir haben das Angebot ausgeweitet – Stichwort: Flüssiggasterminals. Wir haben die EEG-Umlage abgeschafft; das kann bis zu 20 Milliarden im Jahr für den Bundeshaushalt kosten. Wir haben die Stromsteuer für das produzierende Gewerbe und die Landwirtschaft fast auf null reduziert. Wir haben die Entlastungen für energieintensive Unternehmen fortgesetzt und ausgeweitet. Und wir schauen uns an, wie sich das fortführen lässt. Parallel – und das ist mindestens ebenso wichtig – haben wir das Fundament für Deutschlands Energiesystem der Zukunft gelegt. Beim Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland haben wir zum ersten Mal das Tempo erreicht, das wir brauchen, um 2030 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien zu produzieren. Übrigens verdanken wir das ganz besonders auch den ostdeutschen Ländern. Zugleich sorgen wir mit der Kraftwerksstrategie vor – für Zeiten, in denen gerade kein Wind weht und die Sonne auch nicht scheint. Und auch der Rahmen für unser Wasserstoff-Kernnetz steht – privat finanziert und staatlich abgesichert. Damit haben wir fast alles zusammen, was wir für eine sichere und bezahlbare Energieversorgung und in Zukunft in Deutschland brauchen. Dritter Punkt: Investitionen. Wir investieren in diesem Jahr deutlich mehr als 100 Milliarden Euro. Die Investitionsquote des Bundes liegt in diesem Jahr bei fast 15 Prozent. Das sind 80 Prozent mehr als unter der Vorgängerregierung im Jahr 2021 – trotz Haushaltskonsolidierung, über die so viel diskutiert wird. Und wir investieren nicht mit der Gießkanne, sondern gezielt dort, wo die Grundlage für volkswirtschaftliches Wachstum besteht: in Glasfaserleitungen, in die Erneuerung der Schienen, bessere Straßen und neue Brücken, in ein flächendeckendes Ladesäulennetz, den Wasserstoffhochlauf, die Transformation von Industrieprozessen, in energetische Gebäudesanierung und die Förderung von Mikroelektronik. Und wir sehen auch die Erfolge: Gerade in Ostdeutschland findet gerade eine wirkliche Reindustrialisierung statt. TESLA, CATL und Infineon, Intel, Amazon und TSMC – diese Investoren aus aller Welt haben sich für Milliardeninvestitionen in Ostdeutschland entschieden – zunächst einmal wegen der ostdeutschen Standortstärken: gute Hochschulen und Forschungseinrichtungen, Gewerbeflächen in Größenordnungen, die es in den anderen Ländern oft gar nicht mehr gibt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die technologieinteressiert und industriefreundlich sind. Pragmatische Verwaltungen von der Landes- bis zur Kommunalebene und mehr produzierte als verbrauchte Energie, insbesondere, wenn es um die Erneuerbaren geht. Gerade das Letzte ist ein selbstgeschaffener Standortvorteil, dessen Gewicht bei zukünftigen Ansiedlungsentscheidungen nur noch weiter steigen wird. Dafür muss natürlich der Ausbau der Erneuerbaren Hand in Hand mit dem Netzausbau gehen. Ein gutes Beispiel, wie das gehen kann, kommt direkt hier aus Brandenburg. Hier hat die Landesregierung sich mit den Verteilnetzbetreibern gerade auf ein gemeinsames Programm geeinigt, um Planungs- und Genehmigungszeiten deutlich zu verkürzen. Hands-on-ostdeutsch – ich hoffe, dass das auch anderswo Schule macht. Und das bringt mich zum vierten und letzten Punkt: Bürokratie; Herr Russwurm hat sehr zu recht darüber schon gesprochen. Ein Ärgernis für viele Unternehmen, Bürgerinnen und Bürger und ein echtes, realwirtschaftliches Problem! Ich bin sicher, wir reden gleich noch vertieft darüber und es wird wahrscheinlich manche Frage genau dazu geben. Bei der Vorstellung des Beschleunigungsprogramms erklärte der brandenburgische Wirtschaftsminister dem RBB, dass größere Projekte zum Netzausbau aus Sorge um das letzte Promille Rechtssicherheit mittlerweile praktisch nicht mehr genehmigbar wären. Durchschnittlich 12 Jahre Antragsdauer! Das kann nicht so bleiben, um es sehr klar zu sagen. Und dennoch haben viele frühere Regierungen davor kapituliert, dieses Bürokratiedickicht zu lichten – weil es wahnsinnig anstrengend ist: Man braucht die Europäische Union, den Bund, die Länder, die Kommunen. Aber genau mit dieser Haltung ist jetzt Schluss. Deshalb haben wir uns auf einen Deutschlandpakt geeinigt, um Planungs- und Genehmigungsverfahren schneller und einfacher zu machen. Mit den ersten Beschleunigungspaketen haben wir schon eine Trendwende bei den Ausbauzahlen und auch bei der Genehmigungsdauer für erneuerbare Energien erreicht. Erstmals sind wir „on track“, was unsere Ausbauziele betrifft. Jetzt machen wir mit der größten Reform des Immissionsschutzgesetzes seit 30 Jahren weiter. Das klingt ziemlich bürokratisch. Aber wer einmal irgendwo etwas gebaut hat oder eine Anlage in Betrieb genommen hat, der weiß: Gerade diese Prüfunterlagen füllen meterlange Aktenwände. – Neulich hat mir jemand gesagt, er hätte zwei Lastwagen gemietet, um das zur Behörde zu fahren. – Da wird dann geprüft, ob ein Windrad oder ein Elektrolyseur negative Auswirkungen auf irgendeine Vogel- oder Blumenart hat. Ich will das klarstellen: Ich will den Blumen und Vögeln nichts. Aber beim Bau neuer Leitungen, beim Aufbau neuer Energieversorgung oder klimafreundlicher Produktion, da geht es doch gerade um den Umwelt- und Klimaschutz. All das wegen einer Blume, die auch ein paar Meter weiter wachsen kann, aufzuhalten, können wir uns schlicht nicht mehr leisten. Und deshalb setzen wir da jetzt auf voll digitalisierte Verfahren mit mehr Möglichkeiten, das abzukürzen, auf klarere Fristenregelungen und auf vorzeitigen Baubeginn. Wir sind noch lange nicht am Ziel, das will ich sehr klar sagen, aber wir treiben das mit großer Konsequenz voran. Meine Damen und Herren, Fast Forward – dabei wird es bleiben in den kommenden Jahren. Das Gute ist: Ostdeutschland kann Veränderung. Offen, konstruktiv, Hands-On. Und so verteidigen wir unser geeintes Europa. So verteidigen wir die demokratische Entwicklung der vergangenen 35 Jahre. Und so schreiben wir unsere wirtschaftliche Erfolgsgeschichte fort – gerade hier in Ostdeutschland. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz zur Aktivierung eines Quantencomputerprototyps bei NXP am 30. Mai 2024 in Hamburg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zur-aktivierung-eines-quantencomputerprototyps-bei-nxp-am-30-mai-2024-in-hamburg-2289568
Thu, 30 May 2024 00:00:00 +0200
Hamburg
Sehr geehrter Herr Reger, sehr geehrte Geschäftsführung von NXP, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Start-ups eleQtron und Parity Quantum Computing Germany, sehr geehrter Herr Tschentscher, lieber Peter, verehrte Abgeordnete, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, meine Damen und Herren! Es freut mich ganz besonders, heute wieder bei NXP in Hamburg sein; es wurde schon darüber geredet. Zuletzt war ich hier eben im Februar 2015, damals noch als Erster Bürgermeister, um den Spatenstich für das Gebäude zu setzen, vor dem wir da stehen. Jetzt bin ich zurück, weil heute hier der Quantencomputer QSea I eingeweiht werden soll. Das ist ein bahnbrechendes und auch aufregendes Ereignis! Ich bin froh, dass ich dabei sein kann, vor allem aus zwei Gründen. Erstens erlebe ich hier und jetzt ganz praktisch, was sich an dieser Stelle seit dem Spatenstich vor neun Jahren getan hat. Dieser Standort hat sich weiterentwickelt, von einem Ort der Produktion zu einem Ort mit vielen, vielen Innovationen. Als Hersteller von Halbleitern treibt NXP die Entwicklung voran. Sichere Kommunikation, Sensor- und Halbleitertechnologien, vernetzte Geräte, digitale Infrastrukturen – darum geht es, gerade auch hier in Hamburg. NXP und Hamburg stehen damit beispielhaft für Innovation in Deutschland, beispielhaft auch für Entwicklungen der jüngsten Zeit, die die Bundesregierung aktiv vorantreibt. Nur einige Punkte will ich schlaglichthaft hervorheben: Da sind unsere Erfolge bei der Stärkung der Mikroelektronik in Deutschland, etwa das Joint Venture von TSMC mit Infineon, Bosch und NXP in Dresden ‑ ESMC soll daraus werden ‑ und weitere riesige Investitionsprojekte, die wir im Rahmen des European Chips Act fördern. Da ist das Important Project of Common European Interest für Mikroelektronik und Kommunikationstechnologie, ebenfalls mit Beteiligung von NXP. Allein in Deutschland lösen wir so Investitionen von mehr als zehn Milliarden Euro aus. Das alles kriegen wir hin, weil wir hier bei uns in Deutschland großartige Unternehmen haben und übrigens immer schon hatten. NXP ist eines davon, als niederländisches Unternehmen hervorgegangen aus Philips und noch früher ‑ hier am Standort Hamburg ‑ aus der vor genau 100 Jahren gegründeten Firma Valvo. Peter Tschentscher hat davon gesprochen. Auch Bosch und Infineon gehören dazu. Mit diesen und weiteren Unternehmen wird Deutschland jetzt das Zentrum der Halbleiterindustrie in Europa. Dafür haben wir uns bewusst entschieden. Dafür haben wir viel getan. Daran arbeiten wir. Das ist eine richtige, eine strategische Weichenstellung für die Zukunft unseres Landes. Denn Halbleiter sind der Rohstoff des 21. Jahrhunderts. Ohne Halbleiter keine Autoindustrie, kein Maschinenbau, keine Elektronik. Die eigenständige Halbleiterproduktion in Deutschland sichert unsere Zukunft als Industrieland. Dabei hilft auch unser neues Fachkräfteeinwanderungsgesetz ‑ seine Regelungen werden massiv dazu beitragen, dass wir in Deutschland auch in Zukunft die Arbeitskräfte haben, die wir brauchen ‑, dabei hilft unser beharrlicher Einsatz für die Verbesserung der Bedingungen für Start-ups in Deutschland, und dabei hilft nicht zuletzt unsere Förderung von Quantentechnologien; dazu gleich mehr. Das alles brauchen wir für die Modernisierung unseres Landes. Das Thema Quanten führt zum zweiten Grund dafür, dass der heutige Anlass für mich so erfreulich ist. Ich habe während der Pandemie vor fast genau vier Jahren gesagt: „Wir wollen mit Wumms aus der Krise kommen!“ Damals hatte die Bundesregierung gerade ihr großes Konjunktur- und Zukunftspaket beschlossen. Wir haben die Gunst der Stunde genutzt, in diesem Paket auch die Förderung der Quantentechnologien vorzusehen, Milliarden von Euro für die Entwicklung von Quantencomputing, Quantensensorik und Quantenkommunikation. Verwendet werden die Mittel auf zwei Wegen, erstens über die Forschungsförderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, zweitens über das Bundeswirtschaftsministerium und das Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt mit ihrer Quantencomputing-Initiative. Frau Christmann als Beauftragte des BMWK und Frau Kaysser-Pyzalla als Präsidentin des DLR sind heute ja ebenfalls hier, um den erzielten Fortschritt zu würdigen. Denn der Prototyp, der hier heute aktiviert wird, ist im Rahmen genau dieser Initiative entstanden. NXP hat sich gemeinsam mit der eleQtron GmbH und der Parity Quantum Computing Germany GmbH in einem offenen Wettbewerb durchgesetzt und den Auftrag des DLR erhalten, einen 10-Qubit-Ionenfallen-Prototyp zu entwickeln. Projektbeginn war im März 2023. Heute wird er eingeweiht und dann ins DLR-Netzwerk zur Nutzung eingebunden. Dieser Auftrag fügt sich in weitere Aufträge des DLR ein, die auch weitere Technologien abdecken, die in Zukunft für Quantencomputing wichtig werden können, zum Beispiel Neutralatome und photonische Systeme. Besonders bemerkenswert ist hierbei die Förderung über Aufträge. Denn damit wird von Anfang an befördert, was wir bei den Quantentechnologien erreichen wollen: dass dafür hier in Deutschland ein unternehmerisches Ökosystem wächst. Das konkrete Projektbeispiel hier zeigt: Die Impulse, die wir für Wissenschaft und Wirtschaft gesetzt haben, tragen erste Früchte. Zudem zeigt sich: Wir in Deutschland können uns mit unseren Anstrengungen im internationalen Vergleich sehen lassen. In einer aktuellen Studie schreibt die Unternehmensberatung McKinsey, dass vom Quantencomputing besonders die Sektoren Chemie, Biowissenschaften, Finanzen und Mobilität profitieren werden. Möglich seien hier, so McKinsey, Wertschöpfungspotenziale von zwei Billionen Dollar in den nächsten zehn Jahren. Das heißt, gerade diejenigen Branchen, die bei uns in Deutschland besonders stark vertreten sind, werden besonders stark profitieren. Schon deshalb müssen wir allergrößtes Interesse an der Entwicklung und Anwendung von Quantencomputing haben, und unsere Ausgangsposition ist alles andere als schlecht: In der Forschung sind wir ganz vorne dabei. Auch bei den Patenten im Quantencomputing sieht es für Deutschland im internationalen Vergleich gut aus. Die deutsche Wirtschaft arbeitet an diesem Thema, etwa im Quantum Technology & Application Consortium, in dem 13 große deutsche Unternehmen kooperieren. Auch Start-ups und Ausgründungen aus der Wissenschaft sind dabei, wissenschaftliche Erkenntnisse in Geschäftsmodelle zu verwandeln, auch mit Hilfe von Aufträgen des DLR. Wichtig ist, dass wir diesen unternehmerischen Ansatz weiterverfolgen, so wie er in der Quantencomputing-Initiative eben zum Ausdruck kommt. Entscheidend wird sein, dass der Transfer von der Forschung in die Anwendung und in Geschäftsmodelle zügig gelingt, und zwar nicht irgendwo auf der Welt, sondern hier bei uns in Deutschland. Zum Gelingen tragen auch andere Faktoren bei, ein starkes Start-up-Ökosystem etwa und gute Finanzierungsbedingungen für Start-ups. Mit dem Zukunftsfonds stellt die Bundesregierung bis 2030 zehn Milliarden Euro zur Verfügung und stärkt damit die Wachstumsfinanzierung in Deutschland. Die meisten Instrumente des Zukunftsfonds sind mittlerweile am Markt und senden innovationsfördernde Signale. So finanziert etwa der Deep Tech & Climate Fonds ein Start-up, das komprimierte Algorithmen für den Betrieb von Quantencomputern entwickelt. Wir geben dafür Impulse. Am Ende aber kommt es auf das Engagement privater und institutioneller Investoren an, und da muss Europa dringend aufholen, gerade auch gegenüber den Vereinigten Staaten, die einen viel größeren Kapitalmarkt haben. Deshalb sind Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und ich fest entschlossen, beim Thema Kapitalmarktunion endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Das Ziel ist klar. Es geht darum, dass unser Land und Europa bei allen entscheidenden Zukunftstechnologien ‑ bei allen entscheidenden Zukunftstechnologien! ‑ im globalen Maßstab vorne dabei sind. Dazu gehören etwa Quantentechnologien, künstliche Intelligenz, Biotechnologie und Kernfusion. Nur wenn wir überall auf der Höhe der Zeit sind, können wir Einfluss darauf nehmen, wohin die Reise geht. In diesem Sinne stehen NXP und Halbleiter, DLR und Quantencomputing für Innovation und Technologie made in Germany. Dieses Projekt hier trägt dazu bei, dass in Deutschland Zukunft und Zuversicht zusammengehören. Ganz herzlichen Dank an alle, die dazu beigetragen haben! Jetzt bin ich gespannt auf Ihren Quantencomputer. Ich hoffe, wir können den Prototyp jetzt bald einweihen. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz zur Jahresversammlung des Verbandes deutscher Unternehmerinnen e. V. am 28. Mai 2024
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zur-jahresversammlung-des-verbandes-deutscher-unternehmerinnen-e-v-am-28-mai-2024-2288828
Tue, 28 May 2024 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte Frau Präsidentin Arbabian-Vogel ‑ geehrt worden sind Sie eben schon durch den umfassenden Applaus; danke für Ihre Arbeit! ‑, sehr geehrte Frau Schweizer, Exzellenzen, sehr geehrte Unternehmerinnen, meine Damen und Herren, am Wochenende haben wir mit einem großen Demokratiefest 75 Jahre Grundgesetz gefeiert. Dass wir diese Verfassung haben, ist keine Selbstverständlichkeit, schon gar nicht, dass sie so kurz nach Diktatur, Krieg und Zerstörung beschlossen wurde, mit einem unmissverständlichen Bekenntnis zur Würde aller Menschen, mit all den Werten und Prinzipien, die unser Land so lebenswert machen. Wir leben in Freiheit, Frieden und Wohlstand, weil wir unser Grundgesetz haben und weil dieses Grundgesetz seiner Zeit voraus war. Das zeigt schon dieser eine Satz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Das war 1949 keineswegs die Beschreibung einer gesellschaftlichen Realität. Ehefrauen durften nur arbeiten, wenn das, wie es damals hieß, mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar war. Nicht einmal die Hälfte der Frauen war in den Nachkriegsjahren überhaupt erwerbstätig, was nicht heißt, dass sie nicht ebenfalls sehr viel gearbeitet haben. Ohne all die Hausarbeit, Sorgearbeit, Erziehungsarbeit, ohne das Trümmerwegräumen wäre das Wirtschaftswunder nie möglich gewesen. Aber diese Arbeit blieb unbezahlt und deshalb auch unsichtbar. Vor diesem Hintergrund und in dieser Zeit den ersten branchenübergreifenden Interessenverband für Unternehmerinnen zu gründen, war revolutionär. Nicht nur unsere Verfassung war ihrer Zeit voraus, auch Käte Ahlmann war es. Die Gründerin Ihres Verbandes hatte 1931 die Carlshütte bei Rendsburg übernommen, einen der ältesten und größten Industriebetriebe in Schleswig-Holstein. Sie war eine der bedeutendsten Unternehmerinnen des 20. Jahrhunderts und beschäftigte 3000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und zwar in einer Zeit, in der Frauen in Führungspositionen noch eine absolute Ausnahmeerscheinung waren. Sie wollte, dass sich das ändert. Also gründete sie mit einer Gruppe engagierter Unternehmerinnen in Köln 1954 Ihren Verband. Nach der Wiedervereinigung kam eine ganze Welle von Unternehmerinnen aus Ostdeutschland hinzu. Heute engagieren sich ‑ Sie wissen es besser als ich ‑ 1800 frauengeführte Unternehmen vor allem aus dem Mittelstand im VdU, die zusammen einen Jahresumsatz in Höhe von 85 Milliarden Euro erwirtschaften. Aber wenn ich heute den Satz höre: „Wir sind doch längst alle gleichberechtigt“, dann kann ich nur sagen: Schön wär’s! Und Zeit wäre es. ‑ Ja, wir sind zum Glück sehr viel weiter als 1949. Aber auch heute beschreibt der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ leider nicht die Realität, dafür umso mehr Anspruch und Auftrag an uns alle. Deshalb ist es gut, dass sich der VdU bis heute für Gleichstellung stark macht, für mehr Frauen in vermeintlichen Männerberufen, die das ja nur deshalb sind, weil man denkt, dass das, was man da tut, irgendwie vom Chromosomensatz abhinge. Der Verband setzt sich für mehr Frauen in Führungspositionen ein, dafür, dass Gründerinnen und Unternehmerinnen genauso gut an Kapital kommen wie Gründer und Unternehmer. Für Ihren Einsatz und Ihr Engagement sage ich an dieser Stelle deshalb erst einmal vielen herzlichen Dank. Es ist nicht hinnehmbar, dass die volle Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern im Beruf bis heute keine Selbstverständlichkeit ist. Dabei wissen wir ‑ das ist durch jede Menge Studien und ganz viel praktische Erfahrung hinreichend belegt ‑: Aufsichtsräte, Vorstände, Geschäftsführungen, Verwaltungen, eigentlich alles funktioniert besser, wenn Führungsaufgaben von Frauen und Männern erledigt werden. ‑ Dennoch sind Frauen in Führungspositionen noch immer unterrepräsentiert. Das gilt auch für den Bund als Staat. Das Ziel der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Bundesverwaltung steht inzwischen im Gesetz, und zwar bis Ende 2025. Das ist nicht weit weg. Mitte 2023 waren wir bei 45 Prozent, also schon ziemlich nahe daran. 50 Prozent bis Ende nächsten Jahres wären wirklich ein starkes Signal. Wir tun alles dafür, dass wir dieses Ziel auch tatsächlich erreichen. Denn das wäre nicht nur ein starkes Signal an alle ambitionierten Frauen, sondern auch an viele Unternehmen und Organisationen, die sich heute immer noch schwertun. Ich bin sicher: Wenn wir das schaffen, dann nur, weil wir uns dieses Ziel gesetzt haben und weil dieses Ziel ein ambitioniertes war. Kürzlich war ich beim Pharmaunternehmen Merck in Darmstadt. Dort kann man ein Unikum treffen: die einzige weibliche CEO eines DAX-Konzerns. Eine aus 40, das klingt nach Lotterie oder schlechtem Witz. Aber das ist die Realität in Deutschland im Jahr 2024. Zwar ist der Anteil weiblicher Führungskräfte in der Privatwirtschaft insgesamt in den letzten Jahren angestiegen, aber vor allem dort, wo wir, wie vom VdU schon früh gefordert, mit entsprechenden Gesetzen verbindliche Vorgaben gemacht haben. Seit 2021 gilt ein Mindestbeteiligungsgebot für gut 60 Unternehmen. Das ist verpflichtend. Sie müssen mindestens eine Frau in ihren Vorstand berufen, wenn er aus mehr als drei Personen besteht. Die meisten von ihnen machen das schon. Es soll auch einige gegeben haben, die den Vorstand von drei auf zwei Mitglieder reduziert haben. Eine viel größere Gruppe von Unternehmen muss für ihre Führungskräfte lediglich selbst ein Ziel festlegen. 53 Prozent dieser Unternehmen geben schlicht eine Null für die Vorstandsebene an. Auch wenn das neuerdings begründet werden muss, hat es niemand schamhaft davon abgehalten, das zu tun. Mit anderen Worten: Da steht keine Frau, überhaupt keine. ‑ Das ist ein Armutszeugnis. Das zeigt erstens, dass es Quoten braucht ‑ leider, so muss man ausdrücklich hinzufügen ‑, und zweitens: Wo verbindliche Quoten gelten, da wirken sie auch. Meine Damen und Herren, Frauen Karrierewege zu verbauen, ist aber nicht nur ein demokratiepolitisches und ein gesellschaftliches Problem. Wir können uns das auch als Volkswirtschaft schlicht nicht mehr leisten. Uns fehlen Arbeitskräfte, und zwar an allen Ecken und Enden. Über Jahrzehnte haben wir Wirtschaft- und Arbeitsmarktpolitik mit dem Ziel gemacht, Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Heute fehlt uns nicht die Arbeit, sondern die Arbeiterinnen und Arbeiter. Das heißt, wir müssen besser werden bei der Ausbildung, bei der Weiterbildung, bei der Fachkräfteeinwanderung. Wir müssen aber unbedingt auch besser werden bei den Beschäftigungsmöglichkeiten junger Eltern und vor allem von Frauen. In kaum einem anderen Land ist die Teilzeitquote gerade bei Frauen so hoch wie in Deutschland. Dass gut ausgebildete Mütter zuhause ihre Kinder betreuen, obwohl sie gerne mehr Stunden in der Woche in ihrem Beruf arbeiten würden, das kann so nicht bleiben. Deshalb sage ich ausdrücklich, wenn darüber geklagt wird, dass nicht genug gearbeitet wird: Da wären neben der Begeisterungsfähigkeit für die Jugend, die nicht nur Yoga machen will, sondern etwas anpacken will, eben auch etwas zu tun, damit wir es hinbekommen, dass es tatsächlich für junge Eltern möglich ist, Beruf und Familie so gut miteinander zu vereinbaren, wie sie das gerne wollen. Dann ergibt die Klage Sinn. Mit den Ländern haben wir uns deshalb geeinigt, dass sie ab 2026 ‑ ich wiederhole: ab 2026 ‑ flächendeckend in Deutschland die Ganztagsgrundschule einführen. (Zuruf: Oh, wow!) Oh, wow! – Der Bund unterstützt die Länder dafür auch mit viel Geld, sonst wäre das nicht möglich gewesen. Aber ich kann Ihnen ausdrücklich sagen: Das waren echt harte Verhandlungen! Es gab großen Krach, immer wieder Gespräche, und die frühere Kanzlerin und ich haben die Verhandlungen ganz intensiv geführt, bis wir dann zu einem Ergebnis gekommen sind, das jetzt so aussieht, dass es mit der ersten Grundschulklasse 2026 beginnen wird. Es gibt Länder in Deutschland, in denen das längst der Fall ist, aber es gibt auch Länder in Deutschland, in denen das gar nicht der Fall ist. Wir müssen uns wohl auf diesen langwierigen Prozess einlassen, der manchen Eltern heute nichts mehr nützen wird, weil wir sonst nicht zu Potte kommen. Aber wer sich wie die meisten hier ja auch ein bisschen im Ausland auskennt und andere Schulsysteme anderer Länder sieht, der weiß: Wir sind da schon ein Sonderfall, und es ist wichtig, dass wir diese Sonderstellung beseitigen und mehr Ganztagsangebote in Deutschland haben. Ein zweiter Punkt, an dem wir ansetzen: Frauen gründen bislang seltener Unternehmen als Männer. Derzeit liegt der Anteil der Gründerinnen bei 37 Prozent, bei Start-up-Gründungen noch darunter; dort ist nur an jedem fünften Unternehmen eine Gründerin beteiligt. Ein Grund dafür: Frauen haben weniger Zugang zu Wagniskapital. Das ist empirisch ziemlich gut belegt. Sie erhalten seltener Venture Capital, und wenn sie es bekommen, dann ist es weniger als bei ihren männlichen Mitbewerbern. Um Anreize für Gründerinnen zur Start-up-Gründung zu erhöhen, haben wir zum Beispiel die EXIST-Förderrichtlinien angepasst. Gemischte Teams werden nun eher gefördert, Hochschulen erhalten für Coaching und Begleitung gemischter Teams mehr Geld, und es gibt mehr Anreize für Professorinnen, die sich als Mentorinnen einbringen. Wir beobachten außerdem, dass Frauen bei technisch orientierten Gründungen seltener vertreten sind. Damit sich das ändert, setzen wir schon in der Schule an und fördern Mädchen und Frauen in MINT-Fächern, weil es eben noch nie gestimmt hat, dass Mädchen kein Mathe können ‑ hier wissen es ziemlich viele sehr genau ‑, dass Frauen nichts mit Technik am Hut haben, dass Informatik nur etwas für Männer ist. Auch wenn sich die Gerüchte hartnäckig halten, sie stimmen nicht, und wir tun etwas dagegen. Natürlich kann der Staat solche gesellschaftlichen Stereotypen nicht allein bekämpfen und einfach wegverordnen. Natürlich sind unsere Förderung und Unterstützung nur ganz kleine Schritte. Aber sie gehen in die richtige Richtung. Denn wir brauchen jede und jeden, die und der hier bei uns mit anpacken will, und wir müssen alles dafür tun, dass das auch möglich wird. Als Industrieland leben wir von unseren Ideen. Gute Autos und Maschinen bauen inzwischen auch viele andere auf der Welt. Wir wollen trotzdem ganz vorne dran sein, und wir müssen unverändert den Ehrgeiz haben, bessere zu bauen. Es sind Ideen und Innovationen, die gerade dem deutschen Mittelstand auf dem Weltmarkt so oft den entscheidenden Vorsprung verschaffen. Deshalb fördern wir auch den Aufbau von Zukunftstechnologien wie Halbleiter, Batterietechnik, KI und Biowissenschaften in Deutschland, und da ist in den vergangenen Monaten eine Menge passiert. Die ausländischen Investitionsprojekte für Neuansiedlungen sind in Deutschland 2023 um 37 Prozent gestiegen. Ich werde diesen Satz noch hundertmal sagen, bis er das erste Mal in der Zeitung steht. In kaum einem anderen großen Industrieland investieren Unternehmen und Staat so viel in Forschung und Entwicklung wie in Deutschland, und zugleich gehen wir auch an die strukturellen Versäumnisse heran, die unser Wachstum ausbremsen. Eine moderne Angebotspolitik muss Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen, Bürokratie abbauen, in die Infrastruktur investieren ‑ analog und digital ‑, für sichere und bezahlbare Energie sorgen und ‑ nicht zuletzt ‑ für genügend gut qualifizierte Arbeitskräfte. Da sind wir dran, und zwar in allen Bereichen, und ich hoffe, dass wir darüber gleich auch gerne noch ausführlicher sprechen können. Liebe Frau Schweizer, Käte Ahlmann war nicht nur eine erfolgreiche Stahlunternehmerin und die Gründerin dieses Verbandes, sie war auch Ihre Großmutter. Wenn die Unternehmerinnen in den ersten Verbandsjahren bei ihr im Wohnzimmer saßen, haben Sie als junge Abiturientin zugehört. Sie haben erzählt, dass Käte Ahlmann Ihnen mehr über Wirtschaft beigebracht hat, als Sie später während Ihres gesamten Studiums gelernt haben. Aber nicht nur das, Sie hat Ihnen auch Worte mit auf den Weg gegeben, die Sie Ihr Leben lang begleiten. Die möchte ich zum Schluss zitieren, weil sie auf den Punkt bringen, was wir allen Mädchen und jungen Frauen mitgeben sollten: „Man muss wissen, was man kann, und das auch einsetzen. Dann kann man unendlich viel erreichen.“ Verehrte Unternehmerinnen, Sie alle wissen, was Sie können und setzen das ein. Sie sind die Vorbilder, die Ihnen selbst früher vielleicht gefehlt haben. Herzlichen Glückwunsch zu allem, was Ihr Verband in den vergangenen 70 Jahren für unser Land erreicht hat. Machen Sie weiter, bis Anspruch und Wirklichkeit in unserer Gesellschaft nicht mehr auseinanderfallen in dem schönen Satz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Mich haben Sie dabei an Ihrer Seite. Schönen Dank!
in Berlin
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Verabschiedung von Hasso Plattner am 16. Mai 2024 in Mannheim
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-verabschiedung-von-hasso-plattner-am-16-mai-2024-in-mannheim-2283462
Thu, 16 May 2024 00:00:00 +0200
Mannheim
Hallo Mannheim, hallo SAP! Lieber Christian Klein, liebe Mitglieder des Vorstands, lieber Pekka Ala-Pietilä, liebe Mitglieder des Aufsichtsrates, lieber Dietmar Hopp, lieber Henning Kagermann, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, liebe Familie Plattner, meine Damen und Herren, aber vor allem natürlich lieber Herr Professor Dr. Plattner! Als Sie vor ein paar Monaten Ihren 80. Geburtstag feierten, da hat man Sie gefragt, wie Sie selbst auf Ihre Karriere zurückblicken. Und was haben Sie geantwortet? „Im Großen und Ganzen ist es gut gelaufen.“ Lieber Hasso Plattner, tiefer gestapelt geht es ja nicht. Zum Glück haben Sie die Argumente dafür, wie untertrieben Ihr Satz war, gleich mitgeliefert. Ganz am Anfang hätten Sie und Ihre Mitstreiter eben bloß davon geträumt, vielleicht irgendwann hundert Mitarbeiter zu haben, hundert Millionen Mark Umsatz zu machen. Na klar, auch das wäre ein großer Erfolg gewesen. In Wirklichkeit ist es dann aber doch etwas anders gekommen, und wir haben es eben schon ein bisschen gehört. Heute hat SAP weltweit mehr als 110 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Heute macht SAP einen jährlichen Umsatz von über 30 Milliarden Euro. Heute ist SAP mit über 200 Milliarden Euro Börsenwert das mit Abstand wertvollste Unternehmen in Deutschland. Heute zählen 99 der 100 größten Unternehmen auf der Welt zu Ihren Kunden. Kurz gesagt, heute läuft die gesamte Weltwirtschaft auf Software der Marke SAP. Was für eine unfassbare globale Erfolgsgeschichte aus Deutschland! Und Sie, lieber Hasso Plattner, Sie haben diese Geschichte geschrieben ‑ als Mitbegründer von SAP, als unermüdlicher Ideengeber und Antreiber, als Technologiechef, als Vorstandsprecher und schließlich über 20 Jahre lang als Vorsitzender des Aufsichtsrats. Wohlgemerkt, im Alleingang geschrieben haben Sie die großartige globale Erfolgsstory SAP natürlich nicht, sondern, so wie es zu Ihnen passt, immer gemeinsam mit anderen, immer zugleich im produktiven Wettstreit ‑ gemeinsam zuerst mit Ihren vier Mitgründern in den Start-up-Jahren ‑ mit Dietmar Hopp natürlich, mit Claus Wellenreuther, mit Klaus Tschira und mit Hans-Werner Hector ‑, gemeinsam mit den vielen ehrgeizigen Kolleginnen und Kollegen, die dann sukzessive in der Unternehmensführung nachrückten ‑ vor allem der große Name Henning Kagermann darf hier natürlich nicht fehlen ‑, gemeinsam mit Generationen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hier in Deutschland, in Europa, in den USA und weltweit, die sich immer wieder mitreißen und motivieren ließen von Ihrem unbändigen Vorwärtsdrang, und gemeinsam seit fast zwei Jahrzehnten auch mit Ihrem Betriebsrat hier bei SAP, einer Einrichtung, die Sie anfangs nicht ganz so notwendig fanden, aber die sich ja doch mittlerweile gut in die Unternehmenskultur eingebunden hat. Ich glaube, Mitbestimmung ist auch ein Markenzeichen aus Deutschland, das ganz gut funktioniert. Lieber Hasso Plattner, mit SAP haben vor allem Sie und Ihre vier Gründungspartner Wirtschaftsgeschichte und ‑ ich glaube, das ist nicht zu groß gegriffen ‑ tatsächlich auch Globalisierungsgeschichte geschrieben ‑ in Karlsruhe, wo Sie in jungen Jahren Nachrichtentechnik studierten, in Mannheim, wo Sie in der dortigen IBM-Filiale Ihren Kollegen Dietmar Hopp aus Hoffenheim kennenlernten, ein paar Kilometer weiter in Weinheim, wo Sie 1972 Ihr Unternehmen als Gesellschaft bürgerlichen Rechts mit dem schönen Namen „Systemanalyse Programmentwicklung“ gründeten. Man fragt sich ja, was wohl passiert wäre, wenn Sie bei diesem lang zu sprechenden deutschen Namen geblieben wären und wie die Geschichte dann weitergegangen wäre. Ganz in der Nähe, in der Kleinstadt Östringen, wurde dann das Nylonfaserwerk ICI Ihr allererster Geschäftskunde. Es ist schon oft beschrieben worden ‑ wir haben eben ja sogar die Lochkarten und all das gesehen ‑: ICI fragte genau das nach, was Sie damals als die Ersten und überhaupt Einzigen zu bieten hatten, nämlich Unternehmensdatenverarbeitung am Bildschirm direkt und in Echtzeit. In Östringen bei ICI konnten Sie die erste Version Ihrer Standardsoftware für Unternehmen entwickeln. Diese Standardsoftware hat die wirtschaftliche Globalisierung der vergangenen Jahrzehnte so dynamisch, wie sie verlaufen ist, überhaupt erst möglich gemacht. Deshalb kann man sagen ‑ das ist vielleicht übertrieben, aber wirklich nur ein bisschen ‑: In Östringen steht die Wiege der Globalisierung. In Walldorf, wieder nur ein paar Kilometer weiter, fand Ihr junges Unternehmen schließlich seinen Stammsitz. Mehr als ein halbes Jahrhundert liegt dieser historische Aufbruch nun zurück. Sie und Ihre Mitstreiter waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort, mit der richtigen Idee und dem richtigen Know-how. Daraus folgte alles Weitere. Jetzt, lieber Hasso Plattner, schließt sich der Kreis also genau hier in Mannheim, wo alles irgendwie anfing. Mit dem Ende Ihrer Amtszeit als Vorsitzender des Aufsichtsrats von SAP nimmt nun auch der letzte der fünf legendären Gründerväter seinen Abschied, zumindest in formaler Hinsicht. Wohlgemerkt, nach allem, was man weiß, verlassen Sie ein wohlbestelltes Feld. Das Thema künstliche Intelligenz kann SAP in den nächsten Jahren noch einmal einen ganz neuen Schub verleihen. Darauf haben Sie selbst in einem großen Interview vor ein paar Tagen hingewiesen. Und ich bin mir sicher, dafür sorgt Christian Klein, dafür sorgen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und dafür wird auch Ihr Nachfolger sorgen. Alles Gute also für diese Aufgaben! Trotzdem ist klar: Für das gesamte Unternehmen SAP geht eine Ära zu Ende, nicht weniger. Aber, lieber Hasso Plattner, ob es sich umgekehrt auch für Sie selbst wie das Ende einer Ära anfühlt, weiß ich nicht so ganz genau. Erklärt haben Sie, Sie seien schon als Aufsichtsratsvorsitzender sowieso gar nicht mehr so richtig in der Firma gewesen. Mein persönlicher Eindruck: Da war wieder eine kleine Untertreibung dabei! Man hört, Sie hätten in den vergangenen Jahren noch eine ganze Menge Einfluss bei SAP gehabt, und womöglich ist es ja so, dass dieser Einfluss gar nicht ausschließlich mit dem Amt zu tun hat, das Sie da bekleidet haben. Womöglich wurzelt Ihr Einfluss ja vor allem darin, dass Sie einfach immer wieder neue Ideen ausbrüten, immer wieder kühne Pläne schmieden, immer wieder ehrgeizige Vorhaben vorantreiben. Ich glaube, Sie können auch gar nicht anders; dafür brauchen Sie gar kein Amt. Ich lebe ja in Potsdam, so wie Sie, und darum weiß ich auch, wovon ich da rede. Günther Jauch, der uns eben hier eingeführt hat, weiß da auch Bescheid und hat ja auch ein bisschen darauf hingewiesen, dass die Nachbarschaft zu dem Museum Barberini nicht so weit weg ist. Deshalb konnte uns auch gar nicht entgehen, was für ein unglaubliches Feuerwerk an Ideen und Projekten Sie in den letzten Jahrzehnten in Ihrer Wahlheimatstadt gezündet haben, nicht nur in Potsdam, aber da eben ganz besonders. Das fällt mir natürlich als jemand, der dort lebt, auch auf. Auch wenn wie hier in Baden, am anderen Ende unseres Landes, sind, diese Eloge muss jetzt auch noch sein; denn an Ihrem Potsdam hängen Sie mit ganzem Herzen. Es ist nicht übertrieben, lieber Hasso Plattner: Wenn Sie als Stifter, Mäzen und Förderer für diese Stadt so viel getan haben, dann ist es richtig, zu sagen, dass das schlicht und einfach entscheidend für das Aufblühen von Potsdam in den letzten Jahrzehnten war. Gerade die Stadt, die ich die Ehre habe, im Deutschen Bundestag zu vertreten, verdankt Ihnen unendlich viel. Sie haben den Wiederaufbau des Potsdamer Stadtschlosses entscheidend finanziert, das heute Sitz des Brandenburger Landtags ist. Sie haben Potsdam mit der Errichtung und Etablierung des Museums Barberini mitten auf die Weltkarte vor allem der impressionistischen Kunst gesetzt, in einer Liga mit Paris, Chicago und New York. Ich habe gerade diese Kunst auch in Paris betrachten können und kann sagen: Wirklich eine Liga! Das ist schon ganz beeindruckend. Mit dem Museum Minsk haben Sie in Potsdam nicht nur ein wichtiges Stück Architektur der DDR-Moderne gerettet, sondern Sie haben sogar noch ein weiteres strahlendes kulturelles Highlight in dieser Stadt geschaffen. Das alles prägt Potsdam. Das strahlt weit darüber hinaus. Noch viel weiter über Potsdam hinaus wirkt Ihr HPI, das Hasso-Plattner-Institut für Softwaresystemtechnik. Dieser Standort zukunftsweisender Wissenschaft ist in Deutschland einzigartig. Sie haben ihn schon 1998 gestiftet, gegründet, finanziert und seitdem aktiv lehrend und forschend auch selbst geprägt. Ich finde, ganz besonders mit dem HPI haben Sie eine Institution geschaffen, die auf ganz wunderbare Weise verkörpert, was Sie immer ausgemacht hat und weiterhin ausmacht: Das ist Ihre Lust aufs Neue. Das ist Ihr Vorwärtsdrang, Ihre Neugierde und zugleich Ihr Drang, gründlich nachzudenken und den Dingen auf den Grund zu gehen. Das ist nicht zuletzt, wie es Dietmar Hopp formuliert hat, Ihre schier unermüdliche Schaffenskraft. Lieber Hasso Plattner, als Sie vor zehn Jahren das SAP Innovation Center in Potsdam eröffneten, haben Sie einen entscheidenden Satz formuliert: „You cannot postpone a change for too long which has to happen.“ – Notwendige Erneuerung darf man eben nicht zu lange vor sich herschieben. Wenn man es doch tut, so erklärten Sie weiter, dann wird sich das irgendwann rächen: „And then you have less and less energy to fight back.“ – Dann hat man eben weniger Kraft, sich zu behaupten. Sie haben diese Sätze damals als Mahnung an Ihr eigenes Unternehmen gemeint. Sie sind aber von universeller Gültigkeit, und sie sind auch universell richtig. Wir in Deutschland haben in den letzten Jahrzehnten ja auch manche nötige Erneuerung zu sehr auf die lange Bank geschoben ‑ bei der Digitalisierung und der Infrastruktur und bei unserer industriellen Transformation Richtung Klimaneutralität. Gerade haben wir deshalb jetzt den Hebel umgelegt. Genau deshalb bin ich Ihnen ausdrücklich dankbar für diese Mahnung und Intervention. Sie kommen ‑ das darf man nach der Lebensgeschichte sagen ‑ aus berufenem Munde. Denn wer in Deutschland wüsste besser als Sie, wie Innovation funktioniert, und wer könnte überzeugender darlegen, nämlich aus erfolgreicher Erfahrung, dass Innovation keine Bedrohung ist, sondern eine Chance, gerade für unser Land der Ingenieure, Tüftlerinnen und Erfinder! Darum, lieber Hasso Plattner, mischen Sie sich bitte auch weiterhin ein! Ihre Erfahrung und ihre Rastlosigkeit, beides wird weiterhin gebraucht, ob in Potsdam oder in Berlin. Meine Tür steht Ihnen immer offen. Herzlichen Dank und alles Gute!
Rede von Bundeskanzler Scholz beim IHK-Tag 2024 der DIHK am 15. Mai 2024 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-ihk-tag-2024-der-dihk-am-15-mai-2024-in-berlin-2282894
Wed, 15 May 2024 00:00:00 +0200
Berlin
Schönen Dank für die Einladung und für die Gelegenheit, ein paar Worte zu sagen! Aber bevor ich das tue im Hinblick auf das, was ich mir vorgenommen habe, will ich noch ein paar Worte zu den Fragen sagen, die angesprochen worden sind. Zunächst einmal: Ich war in meinem Leben, bevor ich von Beruf Politik gemacht habe, was erst mit 40 Jahren der Fall gewesen ist, viele Jahre Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht. Deshalb kann sich jeder die gute Antwort auf diese Frage vorstellen. Ich bin ein großer Fan von Tariflöhnen, und zwar solchen, die ordentlich ausgehandelt und gut bemessen sind, das gehört selbstverständlich mit dazu. Das gilt dann auch für meine eigenen Beschäftigungsfragestellungen. Die zweite Frage: Wer kann mich aus der Ruhe bringen? ‑ Das kann man so und so sehen. Das geht ja auch im positiven Sinne, also freundlich, aufmunternd und nach vorn gerichtet. Meine Frau. Was meine Arbeitszeit betrifft, ist die 45-Stunden-Woche in der Tat etwas, was ich fast als Freizeit empfinden würde. Aber ich denke, es steht jedem Bürger zu, das von dem Regierungschef des Landes mit 84 Millionen Einwohnern auch so zu erwarten. Selbstverständlich habe ich persönlich vor, freiwillig weit über das gesetzliche Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten, was nichts daran ändert, dass ich natürlich dagegen bin, das gesetzliche Renteneintrittsalter anzuheben, weil ich denke, dass das zwei verschiedene Dinge sind. Übrigens hat das auch viel mehr kalkulatorische Aspekte, nämlich die Frage, wie hoch die Rente eigentlich ist, als die Frage, wann man das konkret macht. Immerhin eine Sache ist uns diesbezüglich in den vergangenen zwei Jahrzehnten gelungen, nämlich dass die Zahl derjenigen, die ziemlich viel länger arbeiten, gegenüber der Zahl zu Ende des vergangenen Jahrtausends erheblich zugenommen hat, und zwar wegen eines besseren Arbeitsmarktes, wegen viel mehr Menschen, die nicht gewissermaßen in Vorruhestand geschickt wurden, sondern eine echte Perspektive haben, weiterzuarbeiten. Das will ich für mich auch sagen: Der Lackmustest für einen gut funktionierenden Arbeitsmarkt und dafür, was die Perspektiven älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer angeht, ist die Frage: Wenn ich, weil es mit dem eigenen Unternehmen vielleicht nicht so gut läuft ‑ das passiert ja mitunter ‑, mit Ende 50, Anfang 60 meinen Job verliere, wird mir dann ein ähnlicher und gleich gut bezahlter neu angeboten? ‑ Wenn diese Frage in Deutschland überwiegend mit Ja beantwortet wird, dann, glaube ich, steigt das Alter noch einmal ein bisschen nach oben. Insofern wollen und müssen wir, denke ich, gemeinsam erreichen, dass Unternehmen es super finden, 62-Jährige neu einzustellen, und dass Beschäftige finden, das sei eine super Gelegenheit. Das wollen wir erreichen. Sehr geehrter Herr Adrian, sehr geehrter Herr Dr. Wansleben, meine Damen und Herren, schönen Dank für den freundlichen ‑ ich hätte fast gesagt: familiären ‑ Empfang! Aber es stimmt schon; mit kaum jemand spreche ich so regelmäßig und so offen wie mit der DIHK und den anderen Spitzenverbänden der Wirtschaft. Das ist mir wichtig, und das ist auch nötig. Denn natürlich hat die deutsche Wirtschaft in den vergangenen gut zwei Jahren seit Russlands Überfall auf die Ukraine ungekannte Herausforderungen erlebt. In dieser Lage müssen wir schauen, dass die offenen Märkte nicht unter die Räder geraten. Protektionismus macht am Ende alles nur teurer. Was wir brauchen ist ein fairer und ein freier Welthandel. Das will ich gerade in diesen Tagen sagen. Natürlich ist niemand von uns zufrieden, wenn die deutsche Volkswirtschaft stagniert oder nur um 0,3 Prozent wächst, wie es für dieses Jahr vorhergesagt wird. Es gibt Gründe dafür, dass wir in dieser Lage sind. Das hat mit der gesunkenen Dynamik auf den Weltmärkten einschließlich einer deutlich gedämpften Nachfrage aus China und natürlich mit geopolitischer Unsicherheit nach dem russischen Angriffskrieg zu tun. Das macht Angst und Sorge und hat Einfluss auf Investitionsverhalten, ganz abgesehen davon, dass ein wirklich großer Raum wirtschaftlicher Tätigkeit nicht mehr als Partner zur Verfügung steht. Der doppelte Energieschock bei der Versorgung und bei den Preisen hat uns umgetrieben und als Folge dann natürlich Inflation und sprunghaft gestiegene Preise und Zinsen. Deshalb ist es eine gute Nachricht, dass wir zum Beispiel im Hinblick auf die Inflation inzwischen sagen können: Sie liegt wieder bei zwei Prozent. ‑ Auch die Geschäftsaussichten verbessern sich. Die Produktion ist im ersten Quartal gestiegen. Weil man tagesaktuell berichten soll: Erst gestern kam die gute Nachricht von Germany Trade and Invest, dass die ausländischen Investitionsprojekte in Deutschland 2023 um 37 Prozent gestiegen sind, vor allem in Schlüsselbereichen wie den Bereichen von Halbleitern, erneuerbaren Energien und Pharma. Amazon hat erst heute Morgen bestätigt, dass es in den nächsten Jahren rund acht Milliarden Euro in Rechenzentren in Deutschland investieren will. ‑ Das alles zeigt: Ein stabiler Aufschwung ist möglich. Aber ohne strukturelle Veränderungen geht es nicht. Denn wir wollen nicht nur die konjunkturellen Schwächen überwinden, sondern langfristig Wachstum. Deshalb setzen wir auf eine moderne Angebotspolitik. Über Jahrzehnte haben wir liebevoll ein Bürokratiedickicht angelegt, die Europäische Union, der Bund, die Länder und Gemeinden, alle gemeinsam, parteiübergreifend und mit großem Engagement. Das haben wir jetzt. Das müssen wir jetzt lichten. Denn das bringt viel, und es kostet nichts. Wir investieren auf Rekordniveau in Infrastruktur und Digitalisierung. Denn dabei ist viel zu lange viel zu wenig passiert. Wir haben in den vergangenen zehn Jahren auch zu wenig getan, um eine verlässliche, bezahlbare und weitgehend eigenständige Energieversorgung in Deutschland zu sichern. Auch da sind wir dran, und zwar im Deutschlandtempo, wie ich es genannt habe, bei der Eröffnung der ersten LNG-Terminals an Norddeutschlands Küsten. Mittlerweile gibt es viel mehr davon, nicht nur in Wilhelmshaven, sondern auch in Stade, Brunsbüttel und in Mukran. Wir bauen sie weiter aus, damit ihre Importkapazitäten steigen. Russland hatte seine Energielieferungen von heute auf morgen gekappt. Die Preise sind explodiert. Aber diesen drastischen Anstieg haben wir nun erfolgreich gestoppt. Auch wenn die niedrigeren Preise noch nicht bei allen Unternehmen angekommen sind ‑ das muss man ja ausdrücklich sagen ‑, weil viele langfristige Verträge geschlossen haben, die heute noch wirken, liegen die Großhandelspreise jetzt wieder auf dem Vorkrisenniveau oder sogar darunter, weil wir das Angebot zum Beispiel mit den Flüssiggasterminals ausgeweitet und weil wir Steuern reduziert haben oder die EEG-Umlage nicht mehr erheben. Das macht in diesem Jahr fast 20 Milliarden Euro aus, die jetzt der Bundeshaushalt trägt und die vorher von allen Stromkunden mitbezahlt wurden, privaten Bürgerinnen und Bürgern, aber auch mittelständischen Unternehmen. Diesen Betrag schultern wir jetzt gemeinsam, aber eben nicht in der persönlichen Rechnung im Betrieb. Das gilt für die Stromsteuer für das produzierende Gewerbe und die Landwirtschaft, die jetzt auf das europäische Mindestmaß reduziert worden ist. Natürlich haben wir auch Entlastungen für ganz besonders energieintensive Unternehmen fortgeschrieben und ausgeweitet. Parallel dazu ‑ das ist mindestens ebenso wichtig ‑ haben wir das Fundament für Deutschlands Energiesystem der Zukunft gelegt. Dieses Fundament ist mittlerweile ziemlich sicher. Zeiten großer Veränderung ‑ das wissen wir ‑ sind Zeiten von Unsicherheit über die Zukunft. Deshalb will ich heute sagen: Alle können sich darauf verlassen, dass die Energie in Deutschland sicher und auch in der Perspektive bezahlbar bleiben wird. Wir haben dafür in den letzten zweieinhalb Jahren viele wichtige Entscheidungen getroffen, die für unsere Zukunft von allergrößter Bedeutung sind. Das ist der Kern dessen, was ich eben Angebotspolitik genannt habe. Es geht darum, die Anreize für Investitionen zu verbessern, Arbeitsplätze zu sichern und Wachstum möglich zu machen. Wenn man die Wirtschaftsweisen fragt ‑ ich habe gerade mit ihnen zusammen zu Mittag gegessen und über die Vorschläge, die Sie uns heute präsentiert haben, und darüber, was Sie sich für die Zukunft vorstellen, diskutiert ‑, dann geben sie auf die Frage, wie man Wachstum beschleunigen kann und was das Wachstum am meisten bremst, immer eine Antwort, die auch Sie schon erwähnt haben und die auch bei mir eben schon vorgekommen ist, nämlich: Bürokratie als ein ganz zentrales Thema ‑ ich habe darüber gesprochen ‑, die Infrastruktur ‑ ich habe über das Thema, gesprochen ‑ und natürlich zu Recht die Energiepreise. Auch diese sind ein Thema. Am häufigsten werden aber fehlende Arbeitskräfte genannt. Das steht ganz vorn. Es ist ja auch eine ganz besondere Situation. Wenn man solch einen Beruf ausgeübt hat wie ich, bevor ich mit 40 Jahren Abgeordneter wurde, wenn man so dicht an denjenigen ist, die arbeiten, wenn man ein paar Jahre in der Politik gewesen ist, dann weiß man, dass es eine besondere Aussage ist, die man jetzt machen kann: Wir haben Vollbeschäftigung, und das Problem großer Massenarbeitslosigkeit, das wir um die Jahrtausendwende hatten und das alle für fast unüberwindbar gehalten haben, wird uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ‑ glücklicherweise für die jungen Leute ‑ nicht begegnen. Aber damit ist auch eine große Herausforderung verbunden. Es fehlt an allen Ecken und Enden an genügend und insbesondere an qualifizierten Arbeitskräften. Über Jahrzehnte ist Arbeitslosigkeit ein Thema gewesen. Das hat eigentlich schon in den Achtzigerjahren begonnen. Jetzt ist das die neue Frage. Es ist einmal ein kleiner Bestseller mit dem tollen Titel „Arbeiterlosigkeit“ geschrieben worden. Er hat sich ganz gut verkauft, wahrscheinlich nur wegen der Überschrift. Aber es ist jedenfalls ein Hinweis darauf, was wir als Frage vor uns haben. Jetzt müssen wir alles dafür tun, um diese Situation richtig zu verstehen. Wir haben in Deutschland eine Rekordzahl von Frauen und Männern, die arbeiten, 46 Millionen. So viele waren es noch nie. Auch die Zahl der Arbeitsstunden von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern lag noch nie so hoch wie im vergangenen Jahr ‑ alle zusammengerechnet wohlgemerkt, nicht jeder Einzelne, da gibt es ja sehr unterschiedliche Zeiten. Aber wir dürfen uns ‑ das ist natürlich auch ein Grund für unsere heutige Zusammenkunft ‑ darauf auf keinen Fall ausruhen. Denn der Zuwachs auf dem Arbeitsmarkt, den wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, geht fast ausschließlich auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus anderen EU-Mitgliedstaaten zurück. Dabei stoßen wir unterdessen an erkennbare Grenzen. Hinzu kommt, dass in den nächsten Jahren 13 Millionen sogenannter Boomer in Rente gehen. Als wir jünger waren hießen wir noch Babyboomer. Mittlerweile sind wir in der Sprache der Jüngeren nur noch die Boomer. Aber viele von uns gehen jedenfalls in Rente. Dieses Thema wird uns noch ziemlich stark beschäftigen. 90 Prozent aller Maschinenbauunternehmen in Deutschland suchen nach Fachkräften. Deshalb ist die Frage dieses IHK-Tages absolut zentral: Wie findet man diejenigen, die morgen unsere Arbeit machen? Auf diese Frage gibt es aus meiner Sicht vier Antworten. Erstens mit einer zeitgemäßen Ausbildung ‑ das ist und bleibt das A und O ‑, zweitens mit gezielter Weiterbildung, drittens mit familienorientierten Arbeitsplätzen und viertens mit dem modernsten Einwanderungsrecht, das wir in Deutschland jemals hatten. Wenn man das Arbeitsleben mit einem Langstreckenflug vergleicht, dann ist die Schulzeit so etwas wie die Vorbereitung auf den Start. Stimmt die Richtung, in die man startet, schaffen es alle rechtzeitig zum Take-off. Knapp 50 000 Schülerinnen und Schüler verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss. Das kann nicht so bleiben. Ich denke, darin müssen wir uns alle sehr einig sein und dürfen es nicht nur bei Worten und Reden belassen, sondern müssen sehr konkret handeln, damit die Zahl derjenigen, die ohne Abschluss von unseren Schulen gehen, sich dramatisch reduziert. Damit sich das ändert, unterstützt der Bund die Länder, wo er kann, beim Kitaausbau, bei der digitalen Ausstattung von Schulen, beim Ganztag an Grundschulen und bei besonders benachteiligten Schülerinnen und Schülern. Denn wir brauchen alle diese Jugendlichen später für die Arbeit, die in Deutschland getan werden muss. Nach dem Schulabschluss beginnt das Berufsleben. Um im Bild zu bleiben: Das ist der Take-off, der darüber entscheidet, auf welcher Flughöhe man später reisen wird und wie der Flug werden wird. Die duale Berufsausbildung, die Lehre, das ist auch aus meiner Sicht unverändert die wichtigste Ausbildung in Deutschland. Gerade erst hatten wir den neuen Berufsbildungsbericht auf dem Kabinettstisch. Die Zahl der unbesetzten Ausbildungsstellen ist weiter gestiegen. Gleichzeitig bleiben aber mehr Bewerberinnen und Bewerber ohne einen Platz. Das Matching zwischen Angebot und Nachfrage gelingt gerade nicht besonders gut. Aber in dieser Situation gibt es auch zwei gute Nachrichten. Erstens steigt die Zahl der Auszubildenden das zweite Jahr in Folge. Das hatten wir in den letzten Jahrzehnten nicht so oft. Damals war das oft langsam abwärtsgehend. Zweitens sind 2022 so viele Auszubildende von ihren Betrieben übernommen worden wie seit über 20 Jahren nicht mehr. Der ganze Erfolg unseres dualen Systems beruht auf Unternehmerinnen und Unternehmern, die sich jedes Jahr aufs Neue dazu entscheiden, auszubilden. Das sagt sich so leicht, ist aber in Wahrheit der eigentliche, entscheidende Unterschied zwischen Deutschland und den allermeisten Ländern auf der Welt. In all den Ämtern, die ich in meinem Leben schon ausüben durfte, als Arbeitsminister, als Bürgermeister und jetzt auch als Bundeskanzler, bin ich von anderen immer wieder gefragt worden: Ihr habt so eine tolle duale Berufsausbildung, können wir das auch haben? ‑ Ich sage ihnen immer: Ja. Aber es gibt ein Merkmal, dass, wenn man Systeme vergleicht, völlig unbeachtet bleibt. Es gibt ein in der Welt einzigartiges Engagement von Unternehmen für die Ausbildung der jungen Leute. ‑ Anderswo ‑ das müssten sie ja überwinden ‑ gibt es Akademien. Man geht zwei oder drei Jahre dorthin und hat dann einen Berufsabschluss, aber die ganze Zeit in der Schule. Das ist natürlich ein völliger Unterschied zu dem, was wir haben. Wir stellen die jungen Leute ein, haben sie im Betrieb, bilden sie aus, und gleichzeitig findet noch etwas statt, was in den Berufsschulen gemacht wird. Aber der erste Punkt ist ‑ ich finde, das darf man nie vergessen ‑, dass es die Unternehmen sind. Jedes Jahr neu müssen sich ganz viele entscheiden und sagen: Ich bin einer von denen, der das wieder macht, und das, obwohl man vielleicht letztes Mal Streit mit seinen Lehrlingen hatte, obwohl alle ganz anders aussehen als damals, als man selbst jung war, oder was weiß ich. Das ist jedenfalls so. Deshalb ist es mir wichtig, an dieser Stelle all den Ausbilderinnen und Ausbildern in den Betrieben, den ehrenamtlichen Prüferinnen und Prüfern, von denen viele zum ersten Mal bei einem IHK-Tag sind, auch allen Verantwortlichen in den Kammern und den Unternehmerinnen und Unternehmern vor Ort ganz ausdrücklich zu sagen: Haben Sie herzlichen Dank! Als Bundesregierung unterstützen wir mit den Jugendberufsagenturen vor Ort, mit der Ausbildungsgarantie, mit der Allianz für Aus- und Weiterbildung und dem Sommer der Berufsausbildung. Alle diese Initiativen sind so wichtig, weil jeder Jugendliche, der den richtigen Beruf findet, dem Arbeitsmarkt für die nächsten 45 Jahre oder länger erhalten bleibt. Das heißt natürlich nicht, dass man 45 Jahre oder länger das Gleiche machen muss, im Gegenteil. Deshalb ist es gut, dass Betriebe und Kammern heute überall in Deutschland auf mehr Weiterbildung im Betrieb setzen. Es ist gut, dass diese Möglichkeiten genutzt werden und dass es diese Möglichkeiten gibt. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bereits in den Unternehmen sind, sind die wichtigste Ressource. Bei meinem Besuch bei Siemens in Erlangen habe ich einen gelernten Metzger kennengelernt, der dort vor 20 Jahren in der Reparaturabteilung angefangen hat. Nach einer zweijährigen Weiterbildung hat er 2023 seinen IHK-Abschluss als Facharbeiter geschafft, mit über 50 Jahren. Jetzt könnte er Roboter programmieren. Von diesen Beispielen brauchen wir noch mehr. Wer bei der Telekom mit Kupfer gelernt hat, macht heute Glasfaser. Wer bei BMW mit Verbrennungsmotoren gelernt hat, baut heute E-Autos. Das steigert die Produktivität, das Wachstum und die Wertschöpfung, und es bedeutet auch höhere Löhne. Es gibt den Vorschlag, dass zukünftig die Gehälter in Stellenausschreibungen mit veröffentlicht werden. Dann sähen alle auf einen Blick, dass sich eine Weiterbildung für gute Löhne und konkrete Perspektiven lohnt. Vielleicht brauchen wir solche Anreize, ich weiß es nicht. Aber es zeigt ein bisschen, dass man die Motivation steigern muss, daran etwas zu tun. Bis 2030 soll mehr als die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland an Weiterbildung teilnehmen. Das ist unser Ziel. Das haben wir uns nicht allein ausgedacht, sondern mit den hier versammelten Verbandsvertretern besprochen. Wir haben auch das Aus- und Weiterbildungsgesetz beschlossen und werden das Aufstiegs-BAföG weiter erhöhen. Die DIHK mit ihren Kammern im ganzen Land ist für die gezielte Weiterbildung eine ganz wichtige Partnerin. Darüber hinaus können wir im Hinblick auf die Beschäftigungsmöglichkeiten junger Familien und vor allem von Frauen noch besser werden. In kaum einem anderen Land ist die Teilzeitquote gerade bei Frauen so hoch wie in Deutschland. Ich kann das immer an schönen Vergleichen sagen. Wir hatten früher immer geschaut, wie hoch die Frauenerwerbsquote ist. Dann haben wir nach den skandinavischen Zahlen geschaut. Sie waren besonders gut, in Norwegen und Schweden. Sie stiegen allmählich. Jetzt sind wir fast gleichauf. Es gibt keinen echten Unterschied mehr. Aber wenn man darauf schaut, wie viele in Vollzeit und wie viele in Teilzeit arbeiten, dann sieht man, dass dabei noch eine große Differenz besteht. Das hat natürlich etwas damit zu tun, dass irgendwann einmal, vor über hundert Jahren, in Deutschland entschieden wurde, dass anders als in der ganzen Welt die Ganztagsschule irgendwie keine gute Idee sei, sondern man auf Halbtagsschule setzt. Diesen Sonderweg beenden wir jetzt in kleinen Schritten, überall ein wenig. Wir haben mit den Ländern ein Gesetz verhandelt, wonach sie Stück für Stück ab 2026 flächendeckend in Deutschland die Ganztagsgrundschule einführen. Aber das zeigt auch, welche Herausforderungen für junge Familien, für Frauen und Männer bestehen, die mit ihren Kindern gemeinsam das Berufsleben begleiten wollen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir den Kitaausbau und den Ganztagsanspruch umsetzen. Natürlich brauchen wir auch noch viele andere Anreize, die man nutzen kann, damit wir dabei vorankommen. Ich denke, dass wir noch Gestaltungsmöglichkeiten für familienorientierte Arbeitsplätze, flexible Arbeitszeiten oder manchmal, wo man sich das leisten kann, vielleicht auch Betriebskitas haben. Wer familienorientierte Arbeitsplätze schafft, der wird auch weiterhin gute Leute finden. Das rechnet sich für alle, für die Beschäftigten und für die Betriebe. Ganz unabhängig davon, wie es uns gelingt, das alles in Deutschland gut auf den Weg zu bringen, brauchen wir Fachkräfte und Arbeitskräfte auch aus dem Ausland. Dafür haben wir das Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen, eines der modernsten in der Welt. Das habe ich am Anfang so angeberisch gesagt, ich meine es aber auch so. Deutschlands Volkswirtschaft ist eine der der offensten der Welt. Daran hängt unser Wohlstand. Dazu gehört ein attraktiver Arbeitsmarkt für Talente aus aller Welt. Es ist mir wichtig, das hier noch einmal klar und deutlich zu sagen: Wer diese Offenheit aufs Spiel setzt, wer allen Ernstes einen Austritt aus der Europäischen Union fordert, der hat schon lange kein Unternehmen mehr von innen gesehen, der hat Ihnen nicht zugehört, meine Damen und Herren. Das darf in unserem Land nicht passieren. Solche populistischen Forderungen dürfen weder das Miteinander beeinträchtigen, noch den Wohlstand und die Zukunft unseres Landes. Dazu gehört, dass natürlich alle, die ausländische Fachkräfte einwerben, die Prozesse beschleunigen, bei der Wohnungssuche helfen und dass wir unsere Behörden und Verfahren digitalisieren. Denn viele gute Bewerber haben noch fünf weitere Angebote in anderen Staaten. Auch bei denjenigen, die bereits hier sind, setzen wir an. Deshalb haben wir sinnlose Arbeitsverbote abgeschafft, die zum Beispiel Geflüchtete zum Herumsitzen verdammt haben. Das ist zwar noch ganz neu und hat sich noch nicht ganz herumgesprochen, aber es ist jetzt Gesetz. Wir haben zum Beispiel den Jobturbo ins Leben gerufen, um Flüchtlinge aus der Ukraine und acht weiteren Ländern schneller in Arbeit zu bringen. Das sollten wir gern noch ausweiten. Ich kann nur alle ermutigen, uns dabei zu unterstützen, damit Unternehmen auch Menschen einstellen, die vielleicht noch nicht das perfekteste Deutsch sprechen. Sie können das lernen, auch mit Angeboten während der Arbeit, die wir machen. Vielleicht sollte man sich noch daran erinnern: Als die Fachkräftemigration der 60er-Jahre in Westdeutschland stattgefunden hat, weil es schon einmal einen riesigen Arbeitskräftemangel gab ‑ eine entsprechende Lösung gab es für die damalige DDR mit den vietnamesischen Fachkräften ‑, waren auch nicht alle mit fließendem Deutsch unterwegs. Die Bedingungen waren viel schlechter als heute. Trotzdem ist damals etwas gelungen. Deshalb sollten wir, finde ich, die Sache angehen und versuchen, das hinzubekommen. Ich war bei meinem schönen Bild vom Langstreckenflug. Man sollte vielleicht noch die Landung ansprechen, also den Übergang in die Rente. Ein bisschen habe ich es anfangs schon getan. Ich denke, dass es, wenn man freiwillige Lösungen dafür schafft, gut möglich ist, dass man über das Renteneintrittsalter hinaus arbeiten kann, wenn man das selbst möchte. Mein Eindruck ist, dass es mehr als genug Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gibt, die das wollen. Wir müssen jetzt die Bedingungen dafür schaffen, dass das ein Match für die Unternehmen und für die Beschäftigten wird, die das für sich persönlich eine gute Perspektive finden. Alle diese Dinge wollen wir nicht nur bereden, sondern wir arbeiten daran. Deshalb kann uns das vielleicht auch helfen. Arbeit, über die ich hier gesprochen habe, ist viel, viel mehr als Geldverdienen, so viel mehr als die Zeit, die man in der Fabrik, in der Werkstatt, an der Kasse oder im Büro verbringt. Zu arbeiten heißt, in Gemeinschaft zu sein, Werte zu schaffen, sein Wissen zu nutzen und es weiterzugeben. Ich freue mich, dass Sie und all die Kammern vor Ort dieses wichtige Thema so entschlossen angehen. Auf weiterhin gute Zusammenarbeit und auf eine gute Diskussion! Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz beim Global Solution Summit am 7. Mai 2024 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-global-solution-summit-am-7-mai-2024-in-berlin-2279998
Tue, 07 May 2024 11:14:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Professor Snower, meine Damen und Herren, schön, heute wieder hier bei Ihnen zu sein. „Moving beyond the crisis“ lautet das Thema in diesem Jahr ‑ Krise im Singular. Angesichts der Vielzahl an Konflikten und bewaffneten Auseinandersetzungen, der Vielzahl globaler Herausforderungen und Krisen hätten bestimmt nicht wenige für den Titel eher den Plural gewählt. Und doch finde ich den Titel mit der Krise im Singular gut gewählt. Denn in ihm schwingt ein Gedanke mit, der aus meiner Sicht ganz zentral ist. Es gibt keine isolierten Krisen. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat weltweit für steigende Preise für Energie und Nahrungsmittel gesorgt. Die Pandemie hat rund um den Globus große Löcher in die Staatshaushalte gerissen ‑ mit Folgen bis heute, besonders in den ärmsten Ländern. Und der Klimawandel ist per se eine globale Herausforderung ‑ mit Auswirkungen auf Wirtschaft, Finanzen, Gesundheit, Sicherheit und Politik. Der Historiker Adam Tooze hat diese miteinander verwobenen und voneinander abhängigen Herausforderungen eine Polykrise genannt. Was ich mit diesem Begriff verbinde, ist zweierlei. Zum einen: Es reicht nicht, jede dieser Entwicklungen ‑ Kriege, Energiekrise, Inflation, Schulden, Klimawandel, Migration ‑ isoliert zu betrachten. Und fast noch wichtiger: Es reicht nicht, wenn einzelne Länder oder Weltregionen sich allein um das ihnen geografisch oder politisch naheliegendste Problem kümmern. Mit den begrenzten Mitteln, über die selbst die einflussreichsten Länder verfügen, lassen sich allenfalls die lokalen Symptome einer globalen Polykrise lindern. Die Polykrise selbst aber ist für uns „too big to ignore“. Sie in den Griff zu kriegen ist möglich. Aber dafür ist die Frage „Wo liegen die Interessen Afrikas, Lateinamerikas oder Asiens?“ genauso relevant wie die Frage: „Wo stehen die USA, Europa, China oder Russland bei Thema A, B oder C?“ Dieser notwendigen Globalisierung unseres Denkens und unserer Lösungssuche hat sich der Global Solutions Summit von Beginn an verschrieben. Schönen Dank dafür! Der Begriff der Polykrise ist übrigens keine Chiffre für resigniertes Nichtstun, nach dem Motto: Wenn alles irgendwie mit allem zusammenhängt, wo soll man da überhaupt ansetzen? Ich möchte über drei Felder sprechen, die einer globalen Kraftanstrengung bedürfen, bei denen wir aber auch über überlappende Interessen und existierende, realistische Lösungsansätze diskutieren müssen. Erstens: In einer Welt mit ‑ zur Mitte des Jahrhunderts ‑ zehn Milliarden Bewohnerinnen und Bewohnern ist Klimaneutralität kein Wunschtraum für Idealisten, sondern überlebensnotwendig für unseren Planeten und Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand. Was mich zuversichtlich macht: Unsere gemeinsamen Bemühungen zur Begrenzung des Klimawandels zeigen Erfolge. Alle Vertragsstaaten des Pariser Klimaübereinkommens haben nationale Klimaschutzpläne für dieses Jahrzehnt erarbeitet. Gleichzeitig haben 78 Länder Langfriststrategien für Treibhausgasneutralität bis Mitte des Jahrhunderts vorgelegt. Das sendet eine klare Botschaft, auch an Investoren und Unternehmen: Die Transformation in Richtung Klimaneutralität ist unumkehrbar. Ein Zurück in die fossile Ära kann und wird es nicht geben. Das belegt auch der Konsens, den wir bei der COP in Dubai im vergangenen Jahr erreicht haben: Verdreifachung der erneuerbaren Energien, Verdoppelung der Energieeffizienzrate und Abkehr von fossilen Energieträgern. Trotz aller geopolitischen Verwerfungen ‑ ich komme noch dazu ‑ haben die G20 dabei eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Denn beim Gipfel in Delhi ist es uns gelungen, innerhalb der G20 konkrete Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz zu vereinbaren. Ich will hier aber auch die Probleme klar benennen: Das wohl größte besteht darin, dass die nötigen finanziellen Mittel für die Transformation der gesamten Weltwirtschaft in Richtung Klimaneutralität mobilisiert werden. Auf 125 Billionen Dollar schätzten beispielsweise Experten der Vereinten Nationen den weltweiten Investitionsbedarf, um 2050 klimaneutral zu sein. Allein diese Schätzung zeigt: Mit öffentlichen Mitteln der klassischen Industrieländer allein wird das niemals gelingen. Um nicht missverstanden zu werden: Die Länder stehen zu ihrer Verantwortung, Gelder für die Minderung des CO2-Ausstoßes und für die Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels bereitzustellen. Aber selbst eine Vervielfachung der öffentlichen Mittel, die schlicht unrealistisch ist, brächte uns nicht ans Ziel. Um erfolgreich zu sein, muss die Klimafinanzierung weltweit viel stärker darauf ausgerichtet werden, private Investitionen zu mobilisieren. „It’s the economy, stupid“ ‑ dieser Satz gehört auch an diese Stelle. Natürlich verbinden sich mit dem Aufbruch ins postfossile Zeitalter wirtschaftliche Chancen und lukrative Geschäftsmodelle. Man denke nur an den Aufbau eines globalen Wasserstoffmarktes oder an das Potenzial vieler Länder, Exporteure erneuerbarer Energien statt Importeure fossiler Kraftstoffe zu werden. Am Anfang jedes Geschäftsmodells aber steht die Frage nach der Finanzierung. Dabei haben es Entwicklungs- und viele Schwellenländer besonders schwer. Deshalb müssen wir da ran. Etwa dadurch, dass wir die Entwicklungsbanken für solche Investitionen absichern, oder durch Kooperationen wie die Just Energy Transition Partnerships. Ein Beitrag, den Deutschland leistet und der mir sehr wichtig ist, ist der Klimaclub mit seinen mittlerweile 38 Mitgliedern. Über ihn es eben schon gesprochen worden. Im Klimaclub arbeiten wir an gemeinsamen Standards für Kooperation, mehr Transparenz und mehr Konvergenz bei der Dekarbonisierung unserer Industrie. Gerade arbeiten wir beispielsweise an einer gemeinsamen Definition für grünen Stahl. Private Investitionen hängen nicht zuletzt auch an guten Investitionsbedingungen in den jeweiligen Ländern selbst. Daran arbeiten wir unter anderem im G20 Compact with Africa. Beim Treffen im vergangenen November in Berlin haben wir mit unseren afrikanischen Partnern beispielsweise vereinbart, noch enger in Sachen Energie und grünen Wasserstoffs zusammenzuarbeiten. Als G7 flankieren wir das durch die Partnerschaft für globale Infrastruktur und Investitionen, die wir in Elmau ins Leben gerufen haben. Dadurch setzen wir Anreize für milliardenschwere privatwirtschaftliche Investitionen in die globale Infrastruktur insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern. Dieser Weg, private Investitionen mit öffentlichen Mitteln zu ermöglichen und zu hebeln, ist angesichts der Dimensionen der Energie- und Klimakrise der einzige Erfolg versprechende. Das zweite Feld, auf das ich eingehen möchte: Wir brauchen konkrete Lösungen bei der Reform der internationalen Finanzarchitektur und der internationalen Schuldensituation. Als Deutschland setzen wir uns deswegen nachdrücklich für eine Reform der Weltbank ein. Wir haben schon einiges erreicht. Bei der Jahrestagung im vergangenen Jahr in Marrakesch wurde eine neue Zielsetzung der Weltbank beschlossen. Armutsbekämpfung geht nun Hand in Hand mit dem Erhalt unserer Lebensgrundlagen und dem Schutz globaler öffentlicher Güter. Auch für die Weltbank gilt, was ich gerade in Sachen Klimafinanzierung gesagt habe: Wir brauchen „more bang for the buck“. Dass wir es mit der Reform der Weltbank ernst meinen, zeigen wir auch durch unsere finanzielle Unterstützung. Als erstes Land weltweit hat Deutschland der Weltbank daher im vergangenen Jahr über 300 Millionen Euro an Hybridkapital zugesagt. Das sind Mittel, mit denen die Weltbank ihre Kreditvergabe erhöhen kann und die private Investitionen hebeln sollen, und zwar oft mit dem Faktor eins zu acht oder eins zu zehn. Seitdem haben sich bereits zehn Partner dieser Idee mit Hybridkapital und Garantien angeschlossen. So kann die Weltbank in den kommenden zehn Jahren bis zu 70 Milliarden US-Dollar an neuen Krediten vergeben. Das ist ein Anfang, und vor allem ist das ein neuer, wesentlich klügerer Weg, als nur in den Kategorien von Kredit oder Zuschuss zu verharren. Das hilft auch einkommensschwachen Ländern. Doppelt so viele von Ihnen als vor zehn Jahren stecken in einer Verschuldungskrise oder stehen zumindest kurz davor. Mit dem Common Framework haben wir als G20 einen Mechanismus geschaffen, um Schulden zu restrukturieren und tragfähige Lösungen für unsere Partner zu erzielen. Aber trotz Schuldenkrise kommen wir mit diesem Mechanismus nur langsam voran, obwohl das Interesse groß ist. Deshalb müssen wir uns fragen, was wir daran noch verbessern können. Ich denke zum Beispiel an effizientere Abwicklung sowie einheitlichere Prozesse, aber auch an eine Öffnung des Common Framework für Länder mit mittlerem Einkommen. Klar ist für mich auch, dass sich China als einer der größten Gläubiger insgesamt stärker beteiligen muss, um die Schuldenlast der ärmsten Länder nachhaltig zu verringern. Auch darüber habe ich mit Präsident Xi vor Kurzem in Peking gesprochen. Um nachhaltiges Wachstum in Afrika, Asien und Südamerika zu stärken, kann es aber natürlich nicht nur um Schuldenmanagement gehen. Wir müssen auch für höhere Einnahmen durch mehr Wertschöpfung vor Ort sorgen. Deutschland tritt zum Beispiel dafür ein, dass mehr Wertschöpfung in der Rohstoffverarbeitung in den Ländern erfolgen soll, in denen die Rohstoffe abgebaut oder erneuerbare Energien produziert werden. Wir haben uns auch erfolgreich dafür eingesetzt, dass dieses Prinzip im EU Critical Raw Materials Act großgeschrieben wird, der im April verabschiedet wurde. Dort steckt großes Potenzial für wirtschaftliche Kooperation mit unseren Partnern in Afrika, Asien und Südamerika und deren nachhaltige Entwicklung. Ein ganz wichtiger Beitrag für höhere Einnahmen ist auch die Umsetzung der Reform der internationalen Unternehmensbesteuerung. Nach langen Verhandlungen in der OECD haben wir uns auf ein Modell geeinigt, das von weit mehr als 100 Staaten mitgetragen wird. Das ist ein ganz wichtiger Erfolg. Aber es bleiben noch zu viele Schlupflöcher, die Ungleichheit und unfairen Wettbewerb verstärken. Da bleiben wir weiter dran. Das ist schließlich eine Frage globaler Gerechtigkeit. Das dritte Feld, auf das ich eingehen möchte, betrifft die Frage von Krieg und Frieden. Durch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, durch den Terrorangriff der Hamas auf Israel samt seinen regionalen Auswirkungen und durch Kriege und Konflikte an anderen Schauplätzen – in Afrika und Asien – ist sie die bestimmende Frage für die internationale Zusammenarbeit unserer Zeit. Und sie hat das Potenzial, diese Zusammenarbeit nachhaltig zu erschüttern. Statt uns nun gegenseitig Doppelstandards zu unterstellen, sollten wir uns auf den einen globalen Standard besinnen, den es gibt und der uns alle schützt, und das sind die Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen. Mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine heißt das: Wir können und werden niemals akzeptieren, dass Grenzen mit Gewalt verschoben werden. Prinzipien wie die Unabhängigkeit, die Souveränität und die territoriale Integrität verteidigen wir entweder alle gemeinsam, oder wir setzen sie jeder für sich aufs Spiel. Zumal ich die globalen Auswirkungen des russischen Angriffskriegs eingangs beschrieben habe: Inflation, Energiekrise, Lebensmittelknappheit usw. Je mehr Länder wie China, Brasilien, Indien und viele andere Russland bedeuten, dass es reicht, dass dieser Krieg enden muss, dass Russland Truppen zurückziehen muss, umso größer ist die Chance auf einen baldigen Frieden. Umso größer ist aber auch die Chance, dass diplomatische Bemühungen ‑ wie zum Beispiel von der Schweiz mit der Friedenskonferenz geplant ‑ uns einem gerechten Frieden jedenfalls ein kleines Stück näher bringen. Dass der globale Süden hier eine wichtige Rolle spielt und auch spielen muss, ist durchaus ein Spiegel einer Welt in der Polykrise, wie ich sie zu Anfang beschrieben habe. Es ist auch im Interesse unserer Partner in der G20, ein Signal für einen dauerhaften und einen gerechten Frieden für die Ukrainerinnen und Ukrainer zu senden. Denn ohne Frieden kann es keine nachhaltige Entwicklung geben. Das Völkerrecht und die Prinzipien der Vereinten Nationen sind unser Standard, auch was den Konflikt im Nahen Osten betrifft. Das heißt zunächst, Israel hat das Recht, sich gegen den Terror der Hamas zu verteidigen. Zugleich kennt auch der Krieg und dieser Krieg Regeln. Das bedeutet, die Hamas muss alle unschuldigen Geiseln freilassen ‑ sie hat es weiterhin in der Hand, das Blutvergießen zu beenden ‑, und Israel hat die Pflicht, Zivilisten zu schützen und humanitäre Hilfe zuzulassen. Auch Deutschland und die USA haben ihren Beitrag zur Versorgung der Bevölkerung in Gaza mit Lebensmitteln, Medikamenten und anderen Hilfsgütern geleistet und werden das weiter tun, und es muss ja noch mehr dieser Hilfe nach Gaza gelangen. Dazu brauchen wir endlich einen Waffenstillstand, der länger anhält und der zugleich sicherstellt, dass die israelischen Geiseln freigelassen werden, und wir brauchen auch endlich wieder eine Perspektive für eine dauerhafte Lösung des Konflikts, eine Lösung, die ein friedliches Miteinander zwischen Israel und einem palästinensischen Staat ermöglicht. Meine Damen und Herren, ja, es ist so: Vielfältige, miteinander verflochtene Herausforderungen umgeben uns, und es deutet wenig darauf hin, dass sich das einfach so bald ändern wird. Unsere Pflicht ist es aber, darüber nicht in Resignation zu versinken, sondern mit offenen Augen nach vorne zu schauen. Denn auch die Lösungen umgeben uns, wenn wir global zusammenarbeiten – Regierung, Thinktanks und Zivilgesellschaft. Dafür steht diese Veranstaltung, und dafür danke ich Ihnen allen recht herzlich. Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz beim 16. Petersberger Klimadialog am 26. April 2024 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-16-petersberger-klimadialog-am-26-april-2024-in-berlin-2274740
Fri, 26 Apr 2024 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Staatspräsident Alijew, es freut mich, dass Sie als Ausrichter der kommenden Klimakonferenz heute hier zu Gast sind. Sehr geehrte Damen und Herren Ministerinnen und Minister, liebe Annalena Baerbock, meine Damen und Herren, es ist gut, Sie alle in Berlin begrüßen zu können. Von hier aus blicken wir auf die erfolgreiche Klimakonferenz von Dubai zurück. Wir alle gemeinsam bemühen uns, dass die Konferenzen in Baku im November und in Belém im kommenden Jahr an diesen Erfolg anknüpfen werden. Dazu wollen wir mit dem Petersberger Klimadialog beitragen. Lassen Sie mich den Blick gleich zu Beginn auf das große Ganze richten. Unsere gemeinsamen Bemühungen zur Begrenzung des Klimawandels zeigen Erfolge. Wir müssen schneller werden, und wir müssen besser werden, aber die Richtung stimmt. Alle Staaten haben nationale Klimaschutzpläne für dieses Jahrzehnt erarbeitet. 78 Länder haben Langfriststrategien mit dem Ziel der Treibhausgasneutralität bis zur Mitte des Jahrhunderts vorgelegt. Der Mechanismus des Pariser Abkommens zeigt Wirkung. Die Transformation in Richtung Klimaneutralität ist unumkehrbar, nicht zuletzt deshalb, weil sie auch ökonomisch Sinn ergibt. Wir alle wissen: Ein Zurück in die fossile Ära kann und wird es nicht geben. Stattdessen müssen wir die Chancen der Zukunft ergreifen. ‑ Genau das tun wir, und zwar weltweit. Das belegt der Konsens von Dubai zur Verdreifachung der erneuerbaren Energien, zur Verdoppelung der Energieeffizienzrate und zur Abkehr von fossilen Energieträgern. Die Vereinigten Arabischen Emirate, Aserbaidschan und Brasilien haben es sich jetzt als Troika zur Aufgabe gemacht, die nächsten Schritte in Richtung COP29 und COP30 bis zur Vorlage der neuen NDCs gemeinsam zu gehen. Diese neue Form der Zusammenarbeit über Kontinente hinweg begrüße ich sehr. Die Bundesregierung wird sie nach Kräften unterstützen. Meine Damen und Herren, Deutschland ist auf Kurs. Im vorigen Jahr waren die Emissionen gegenüber 1990 fast halbiert, und dies gerade in dem Jahr, in dem wir zeitgleich aus der Atomenergie ausgestiegen sind. Aktuelle Zahlen zeigen: Wir können auch unser Ziel für das Jahr 2030 erreichen, die Emissionen um 65 Prozent zu reduzieren. Den Ausbau der erneuerbaren Energien haben wir stark beschleunigt. Der Ausbau für Windenergie an Land hat sich fast verdoppelt. Wir haben 2023 fast 15 Gigawatt neuer Photovoltaikanlagen ans Netz gebracht. Die Kohleverstromung ist um 20 Prozent zurückgegangen und lag 2023 auf dem niedrigsten Niveau seit 1990. Zugleich liegen die Großhandelspreise für Strom wieder auf dem Niveau vor der Energiekrise oder sogar darunter. Auch bei der industriellen Transformation kommen wir voran. Wir haben Klimaschutzverträge für die emissionsintensive Industrie auf den Weg gebracht. Wir bauen das erste Wasserstoffnetz Europas, übrigens weitgehend privat finanziert, und unterstützen die Umstellung unserer Stahlindustrie. Klimatechnologie wird in Deutschland immer mehr zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig. Mit dem European Green Deal haben wir in Europa gemeinsam ein riesiges Klimaschutz- und Wachstumspaket auf den Weg gebracht. Diesen Weg werden wir nach den Europawahlen weitergehen, damit die EU ihr Ziel der Klimaneutralität 2050 erreicht. Meine Damen und Herren, so wie Deutschland wird jedes Ihrer Länder seinen eigenen Pfad in Richtung Klimaneutralität gehen. Wichtig ist, dass wir uns dabei gegenseitig unterstützen. Ein handfester Beitrag, den Deutschland leistet, ist der Klimaclub, den wir gemeinsam mit unseren chilenischen Freunden und allen bislang 38 Mitgliedsstaaten weiter voranbringen werden. Der Klimaclub soll dazu beitragen, dass wir bei der Dekarbonisierung unserer Industriesektoren mehr Kooperation, mehr Transparenz und mehr Konvergenz erreichen. Als erstes konkretes Ziel haben wir uns vorgenommen, bis zur COP29 einen gemeinsamen Standard für grünen Stahl zu entwickeln. Mein Ziel ist, dass wir den Klimaclub zu einem Format entwickeln, in dem wir uns bei der Dekarbonisierung der Industrie enger abstimmen und die „Spillover“-Effekte nationaler Entscheidungen offen diskutieren. Das umfasst etwa die internationale Wirkung von Subventionen, die Entwicklung grüner Märkte oder die Vermeidung neuer Handelsbarrieren. Wir wollen außerdem die Unterstützung für Entwicklungs- und Schwellenländer verbessern, damit auch sie schneller auf klimafreundliche Industrieprozesse umsteigen können. Meine Damen und Herren, eine Daueraufgabe für uns alle besteht darin, weltweit Investitionen für die Transformation zu mobilisieren. Dieses Jahr wird in Baku ein neues Klimafinanzierungsziel für die Zeit nach 2025 verhandelt. Anders als vor 15 Jahren geht es nicht mehr nur darum, Zukunftstechnologien anzuschieben, sondern es geht ganz wesentlich darum, die Verbreitung der Technologien weltweit zu finanzieren, die heute schon verfügbar und kostengünstig sind. 2,4 Billionen US-Dollar jährlich werden laut der Independent High-Level Expert Group on Climate Finance bis 2030 für die Transformation in den Entwicklungs- und Schwellenländern benötigt. Das ist eine gewaltige Summe. Weil wir hier unter uns sind, unter Freunden und Gleichgesinnten, will ich den Elefanten im Raum auch ansprechen: Öffentliche Gelder allein, dazu von einer überschaubaren Gruppe von Ländern, werden für Investitionen in dieser Größenordnung bei bestem Willen nicht ausreichen. Eine Diskussion, die nur auf öffentliche Finanzierungszusagen fixiert ist, greift viel zu kurz. Wir brauchen eine neue Herangehensweise an die Finanzierung des Klimaschutzes weltweit. Drei Punkte sind mir dabei wichtig. Erster Punkt: Investitionen in den Klimaschutz sind eine gemeinsame globale Aufgabe. Dabei ist klar: Arme und besonders vom Klimawandel bedrohte Länder werden wir weiterhin besonders unterstützen. ‑ Die Industrieländer stehen zu ihrer Verantwortung, Gelder für die Minderung des CO2-Ausstoßes und die Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels bereitzustellen. Auch auf Deutschland ist dabei Verlass. Im Jahr 2022 haben wir sechs Milliarden Euro zur Klimafinanzierung aus Haushaltsmitteln bereitgestellt. Wir setzen uns dafür ein, die internationale Finanzarchitektur weiterzuentwickeln, etwa mit der Reform der Weltbank und anderer multilateraler Entwicklungsbanken. Meiner Ankündigung, erstmals sogenanntes Hybridkapital für die Weltbank zur Verfügung zu stellen, haben sich bei der Frühjahrstagung letzte Woche weitere Länder angeschlossen, so dass elf Milliarden Dollar an Hybridkapital und Garantien zustande gekommen sind. Insgesamt kann die Weltbank somit über die nächsten zehn Jahre bis zu 70 Milliarden Dollar an zusätzlichen Krediten vergeben. In Dubai hat Entwicklungsministerin Schulze zudem gemeinsam mit Ihnen, Herr Al-Jaber, eine Anschubfinanzierung von jeweils 100 Millionen Dollar für den Loss-and-Damage-Fonds angekündigt. Erstmals hat ein Industrieland gemeinsam mit einem neuen Geber öffentliche Mittel zugesagt. Solche gemeinsamen Zusagen für Klimafonds auf breiterer Geberbasis sind der richtige Weg. Die Welt von 2024 ist nicht mehr die Welt von Rio 1992, als wenige Industrieländer sehr vielen Schwellen- und Entwicklungsländern gegenüberstanden. Seitdem sind viele Schwellenländer selbst zu großen Emittenten mit steigender Wirtschaftskraft geworden, während der Anteil der Industrieländer an den weltweiten Emissionen stark zurückgegangen ist. Länder, die in den vergangenen dreißig Jahren signifikant zu Emissionen beigetragen haben, müssen auch zur öffentlichen Klimafinanzierung beitragen, wenn sie dazu ökonomisch in der Lage sind. Zweiter Punkt: Die Klimafinanzierung muss viel stärker darauf ausgerichtet werden, private Investitionen in nachhaltiges Wachstum zu ermöglichen. Das gelingt zum Beispiel, indem Entwicklungsbanken Investitionen in lokalen Währungen absichern, oder durch Kooperationen wie die Just Energy Transition Partnerships, bei denen wir mit Entwicklungsbanken und privaten Investoren große Vorhaben gemeinsam vorantreiben. Auch im G20 Compact with Africa arbeiten wir mit unseren Partnern daran, das Umfeld für private Investitionen zu verbessern, mit klarem Schwerpunkt auf den Energiebereich. Dabei haben wir auch das Problem der Verschuldung im Blick. Wir planen, unser umfassendes bilaterales Schuldenumwandlungsprogramm zu modernisieren. Das ist zwar kein Allheilmittel, aber dann könnten zukünftig auch reformbereite vulnerable Länder mittleren Einkommens für eine Klimaschuldenumwandlung infrage kommen. Dritter Punkt: Es geht auch um gute Rahmenbedingungen für Investitionen in den einzelnen Ländern selbst zum Beispiel durch klare Fahrpläne für die Dekarbonisierung. Das Update der nationalen Klimabeiträge ist deshalb für alle Länder auch eine Chance, Investitionen in grüne Technologien abzusichern. Privaten Investoren geht es um einen verlässlichen regulatorischen Rahmen und um Good Governance. Wir sollten die NDCs außerdem breiter denken und Aspekte wie wirtschaftliche Entwicklung und soziale Gerechtigkeit stärker berücksichtigen. Meine Damen und Herren, ich habe heute bewusst sehr offen über die Herausforderungen für die Klimafinanzierung gesprochen, wohl wissend, dass vielleicht nicht alle von Ihnen mir in jedem Punkt zustimmen. Aber genau darin liegt aus meiner Sicht der große Mehrwert eines Formats wie des unseren hier. Es geht darum, informell und abseits der großen Konferenzen nach Lösungen zu suchen, konstruktiv, offen und kreativ, mit dem Ziel vor Augen, das uns alle hier zusammenbringt: Wohlstand und Wachstum in einer klimaneutralen Welt. Jetzt freue ich mich sehr auf unser Gespräch. Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz bei den Familienunternehmer-Tagen 2024 des Verbands „Die Familienunternehmer“ am 25. April 2024 in Wiesbaden
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-den-familienunternehmer-tagen-2024-des-verbands-die-familienunternehmer-am-25-april-2024-in-wiesbaden-2274466
Thu, 25 Apr 2024 00:00:00 +0200
Wiesbaden
Sehr geehrte Frau Präsidentin Ostermann, schönen Dank für die starke Rede und die vielen Fragen, die damit verbunden sind! Wir werden ja im Anschluss noch ein bisschen miteinander diskutieren. Dabei kann dann auf alles im Einzelnen eingegangen werden. Liebe Familienunternehmerinnen und Familienunternehmer, meine Damen und Herren, ich komme gerade aus Darmstadt, von einer Grundsteinlegung bei der Firma Merck. In einem hochmodernen Forschungszentrum soll dort künftig unter anderem mRNA-Technologie entwickelt werden, mit der man Krebs bekämpfen und sogar heilen könnte. Hunderte Millionen investiert Merck allein in dieses Zentrum, 1,5 Milliarden Euro insgesamt in Darmstadt. Aber es ist noch eine andere Zahl, die mir besonders im Kopf geblieben ist, die Zahl 13. Merck ist ein Familienunternehmen in 13. Generation. 13 Generationen haben es geprägt und verändert, haben investiert und geforscht, Traditionen fortgeführt, aus Fehlern gelernt und vor allem immer wieder Neues ausprobiert. So kommt es, dass das Pharmaunternehmen Spitzenprodukte in der eigenen Halbleitersparte herstellt. Ohne dieses Engagement, ohne diese Verbindung aus Stolz auf Tradition und Lust auf Zukunft wäre aus der kleinen Apotheke am Schlossgraben in Darmstadt niemals ein Weltkonzern geworden. Es sind Erfolgsgeschichten wie diese, die den legendären Ruf deutscher Familienunternehmen prägen, ob klein, ob groß, ob bekannter Weltmarkführer oder „hidden champion“, Erfolgsgeschichten, wie auch Sie und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sie tagtäglich schreiben. Über drei Millionen Familienunternehmen schaffen und erhalten über die Hälfte der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze. Sie setzen sich für unsere soziale Marktwirtschaft ein, für gutes Unternehmertum und für den Standort. Das haben wir eben wieder gehört. Dafür sage ich Ihnen vor allem herzlichen Dank. Seit meinem Amtsantritt habe ich eine ganze Reihe ganz unterschiedlicher Familienunternehmen besucht. Dabei habe ich natürlich auch gehört, was Sie als Familienunternehmen bewegt. Einiges davon haben Sie gerade schon erwähnt, liebe Frau Ostermann. Es wäre sicherlich noch manches dazugekommen, wenn sie noch mehr gesagt hätten. Darauf möchte ich heute auch eingehen. Im Zentrum steht für mich dabei eine Politik, die das Angebot stärkt ‑ Sie haben es gesagt ‑, so, wie Sie in einem Brief an mich auch vorgeschlagen haben. Eine solche moderne Angebotspolitik hat aus meiner Sicht vier entscheidende Elemente: erstens bezahlbare, sichere und nachhaltige Energie, zweitens Investitionen in Infrastruktur und neue Technologien, drittens weniger Bürokratie und nicht zuletzt, viertens, gut ausgebildete Fachkräfte. Meine Damen und Herren, Russlands Angriff auf die Ukraine und Moskaus Stopp der Gaslieferungen nach Deutschland haben die Energiepreise zwischenzeitlich explodieren lassen. Innerhalb kürzester Zeit mussten wir eine ganz neue Importinfrastruktur aufbauen. Das ist gelungen. Im laufenden Jahr sollen sich die Einfuhrkapazitäten für Flüssiggas an den deutschen Küsten gegenüber 2023 noch einmal mindestens verdoppeln. Gerade heute hat ein Gericht entschieden, dass die Eröffnung eines weiteren Terminals in Mukran zulässig gewesen ist. Das war nicht ganz einfach. Die ersten gingen noch einigermaßen, weil alle Angst vor dem kalten Winter hatten. Danach aber war die Zustimmung zu solchen Investitionen nicht mehr so stark, wie es vorher der Fall war, und man musste richtiggehend ein wenig drücken, damit das klappt. Insofern ist das heute eine gute Nachricht. All das, was wir dafür getan haben, hat die Energiepreise stabilisiert. Inzwischen liegen die Großhandelspreise wieder auf dem Vorkrisenniveau oder sogar darunter. Das fühlt sich noch nicht für jeden so an, wahrscheinlich auch nicht für jeden in diesem Saal, abhängig davon, wo man selbst und wo der Lieferant eingekauft hat und wie lange bestehende Verpflichtungen er eingegangen ist. Aber der Indikator der Großhandelspreise ist sehr wichtig, weil er heißt: In diese Richtung geht es. ‑ Da ist wirklich etwas wieder in die richtige Richtung bewegt worden, weil wir diese Kapazitäten so schnell ausgebaut haben. Frau Ostermann, Sie haben vor einem Jahr laut und deutlich gesagt: Wir brauchen jetzt keinen Industriestrompreis. ‑ Sie haben es eben wiederholt. Sie haben gesagt: Wir sind gegen eine dauerhafte Subvention auf Kosten der Steuerzahler, die den Wettbewerb verzerrt. ‑ Dementsprechend haben wir uns für einen anderen Weg entschieden ‑ auch darauf haben Sie hingewiesen ‑, gerade auch mit dem Blick auf die vielen Mittelständler und die Familienunternehmen in unserem Land. Statt Subventionen, die wir in der Krise gebraucht haben ‑ der Staat hat fast hundert Milliarden zusätzlicher Schulden gemacht, um Energiepreise nach dem russischen Angriffskrieg für die notwendige Zeit zu subventionieren, aber nicht als Dauerlösung ‑, haben wir die Stromsteuer radikal reduziert, und zwar für alle Unternehmen des produzierenden Gewerbes und auch für die Landwirtschaft. Schon zuvor, im Jahre 2022, hatten wir die EEG-Umlage abgeschafft. Das klingt ein bisschen bürokratisch, aber das kann eine zusätzliche Belastung in Höhe von 13 Milliarden bis 20 Milliarden Euro auf den Strompreis bedeuten. Das wird jetzt nicht mehr mit der Stromrechnung bezahlt, sondern wir finanzieren das gewissermaßen über die Steuerzahlerrechnung aus dem Haushalt. Das hat aber unmittelbar den produzierenden Unternehmen geholfen, die bisher mit dieser Abgabe trotz höherem Stromverbrauch belastet gewesen sind. Damit entlasten wir die Unternehmen um diese Milliarden Euro zusätzlich. Aktuell sprechen wir in der Bundesregierung darüber, wie wir die Entlastungen für die Unternehmen fortschreiben können. Denn diese Entscheidung ist immer zeitlich befristet, und wir würden das gern verlängern, damit wir den Markt stärken, statt ihn zu verzerren. Wir achten dabei auch etwas, was jetzt immer wieder neu diskutiert wird, und zwar völlig zu Recht, nämlich die Systemkosten. Denn der Ausbau unseres Stromnetzes und der Ausbau der erneuerbaren Energien muss und soll uns vor zu hohen Stromkosten bewahren. Erneuerbare Energien machen wettbewerbsfähige Strompreise möglich. Das gilt auch für Speicher und Netze. Die Systemkosten dürfen den Strom allerdings nicht unnötig verteuern. Wir brauchen deshalb eine kosteneffiziente Transformation unseres Energiesystems. Genau daran arbeiten wir jeden Tag und bleiben dran. Sie können sich sicher sein: Wir behalten den Mittelstand auch künftig im Blick, und zwar nicht nur, wenn es um die diskutierte Energiepolitik geht. Der zweite ganz wichtige Aspekt unserer Angebotspolitik betrifft die Investitionen. Dabei geht zunächst darum, unsere Infrastruktur für das 21. Jahrhundert fit zu machen, und zwar analog wie digital. Dass dabei in den vergangenen Jahren zu viel liegengeblieben ist, wissen wir alle. Das ändern wir jetzt. Wir fördern, wir investieren, und wir machen Tempo: bei den Windrädern und Solarparks, bei den Brücken und Straßen und bei sauberen Kraftwerken. Für ein modernes und fortschrittliches Land brauchen wir eben eine Infrastruktur, die zuverlässig und einwandfrei funktioniert. Das gilt für die Energiewende, für die Wärmeversorgung und auch für die Modernisierung von Schienen, Straßen und Brücken. Aber mindestens genauso wichtig ist für mich das Tempo, das ich Deutschlandtempo genannt habe. Deshalb ist der Infrastrukturausbau, der unsere Volkswirtschaft voranbringt, seit dieser Legislaturperiode in vielen Gesetzen als von überragendem öffentlichen Interesse beschrieben worden. Das ist die juristische Formel, mit der wir durchsetzen wollen, dass es nicht ewig lange Planungsprozesse gibt und dass nicht gegen den notwendigen Ausbau der Infrastruktur entschieden werden kann, sondern es immer und so oft wie möglich eine Entscheidung für den Infrastrukturausbau, für Bauvorhaben, für Planungsvorhaben, für all das, was wir brauchen, gibt. Für mich ist das ein großer Durchbruch. Jetzt wollen wir diese neuen Möglichkeiten auch nutzen, damit das Tempo tatsächlich entsteht und nicht nur rechtlich möglich ist. Ganz klar ‑ darum sitzen wir hier ‑ brauchen wir neben staatlichen vor allem private Investitionen. Autos, Maschinen und auch Hochtechnologie wie Halbleiter und Biotechnologie, all das wird inzwischen an vielen Orten der Welt hergestellt. Der Vorsprung, den Unternehmen wie Ihre auf dem Weltmarkt haben, war, ist und bleibt ein Vorsprung durch Innovation. Deshalb ist es wichtig, dass Unternehmen und Staat in Deutschland mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung investieren und damit mehr als die anderen großen europäischen Volkswirtschaften. Ich glaube, dass uns der Blick auf diese Zahl ein bisschen verlorengegangen ist. Aber das ist der eigentliche Grund ist, warum die deutsche Volkswirtschaft so stark ist. Denn tatsächlich rühren die Exportstärke und die Wettbewerbsfähigkeit nicht daher, dass wir das, was wir vor 50 Jahren gemacht haben, unverändert so machen wie vor 50 Jahren, sondern daher, dass viele, viele neue Produkte und Dienstleistungen dazugekommen sind, die auch das Ergebnis von Weiterentwicklung, von Forschung, von Innovation sind. Es macht einen Unterschied aus, in welcher Größenordnung Volkswirtschaften in Forschung und Entwicklung investieren. Für uns ist es deshalb ein ganz zentraler Punkt, dass wir den Vorsprung, den Deutschland vor allen anderen europäischen großen Nationen hat, halten, indem wir dabei weiter an der Spitze sind. Wir wollen das ausbauen. Deshalb haben wir im Wachstumschancengesetz neben den Abschreibungsbedingungen, der Verlustverrechnung und der Wohnungsbauförderung vor allem mehr steuerliche Forschungsförderung möglich gemacht. Ich erzähle Ihnen kein Geheimnis, wenn ich sage: Ich könnte mir dabei auch noch kraftvollere Impulse vorstellen. ‑ Dafür müssten wir allerdings noch einige überzeugen, bei den Länder und bei mancher Gesetzgebung auch bei der Opposition. Aber wir wollen dranbleiben. Wir haben jetzt einen Schritt geschafft, und wir gehen gern auch noch weiter. Das dritte Element einer Politik, die Wachstum stärkt, ist der Abbau von Bürokratie. Sie haben darüber gesprochen, und auch ich habe es jetzt schon mehrfach erwähnt. Ich habe bewusst auch öffentlich gesagt: Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten ein solches Regeldickicht geschaffen, dass es inzwischen kaum noch administrierbar ist. ‑ Ich denke, jeder hat gesehen, dass das die letzten 30, 40, 50 Jahre mit größter Liebe vorangegangen ist. Überall hat sich jemand noch etwas Neues ausgedacht. Aber mittlerweile gilt das nicht nur für die Unternehmen, sondern auch für die Verwaltung: Sie wissen gar nicht, wie sie mit den Dingen umgehen sollen, die sie jetzt umsetzen müssen. ‑ Deshalb ist es unsere Aufgabe, dass wir das ändern. Darum haben wir uns fest vorgenommen, nicht nur darüber zu reden, nicht nur eine der üblichen Politikerreden zu halten, in der steht: „Bürokratie muss abgebaut werden“, wonach alle fröhlich wieder nach Hause gehen, sondern uns tatsächlich an die Arbeit zu machen und etwas zu schaffen. Wir haben im vergangenen Jahr in Meseberg ein Bürokratieabbaupaket geschnürt, das allein eine Entlastung in Höhe von mehr als drei Milliarden Euro bringt. Es war nicht das erste, und es wird nicht das letzte sein. Ein Beispiel daraus, weil die Forderung danach auch von Ihrem Verband kam: Der Abschluss eines Arbeitsvertrages wird einfacher, weil Arbeitgeber und Arbeitnehmer ihn nicht mehr handschriftlich unterzeichnen müssen. Mit dem Deutschland-Pakt beschleunigen und vereinfachen wir auch Planungs- und Genehmigungsverfahren. Wir schauen uns im Mai zusammen mit den Ländern an, wie weit wir schon sind. Denn ich will, dass Deutschland wirklich umsteuert und wir überall mehr Tempo machen. Gerade gestern hatte ich mit meinen Ministern eine Sitzung. Darin sind wir die knapp 200 Einzelaufträge für den Bund durchgegangen, und ich kann Ihnen berichten: Wir sind bei ziemlich vielen dabei, die jetzt umzusetzen. Vieles ist auch schon beschlossen worden. Gerade diese Woche wird der Bundestag ein paar der Regelungen auch schon auf den Weg bringen, und die nächsten kommen jetzt alle so richtig in gutem Tempo voran. Das ist ein großer Umbau der Art und Weise, wie in Deutschland entschieden wird. Dass das so konkret ist, war mir wichtig, weil es ‑ Sie natürlich ausgenommen ‑ ja Verbandsvertreter gibt, die einem wirklich Briefe schreiben, die man auf folgende Weise kurz zusammenfassen kann: Alles muss anders werden! – Dann kann man ja eigentlich nur zurückschreiben: Sehr wohl! – Aber ich hätte doch gerne eher konkrete Vorschläge, dass man sagt: Hinsichtlich dieser Regelung wird es immer eng, und dann dauert das so lange. Kann man da nicht etwas machen? – Dann kann man sich auch daranmachen, und das haben wir gemacht, und das werden wir auch weiter tun. Das muss zu einem Prinzip werden; denn das, was ich eben geschildert habe, ist ja das reale Problem. Die Dinge sind teilweise über Jahrzehnte entstanden, aber jetzt ist die Last so groß, dass wir irgendwie einen Weg beschreiten müssen, dass wir es hinbekommen, dass die Dinge schnell vonstattengehen können. Das hilft bei den Investitionen, aber natürlich auch bei der Entwicklung dessen, was der Staat an Infrastruktur für unser Land mit finanzieren muss. Wir arbeiten an einem einfacheren Bau- und Planungsrecht und an Entlastungen im Vergaberecht. Wir wollen die Hürden gerade für kleinere Unternehmen senken, die sich für öffentliche Aufträge interessieren, aber vor viel Papierkram zurückschrecken. Apropos Papierkram: Das Statistische Bundesamt ermittelt ja immer so eine Art Papierkram-Index. Irgendwie sagen mir meine Leute immer, ich solle überall verkünden, der sei jetzt auf einem Allzeitniedrigniveau. Das mache ich aber nicht, weil es irgendwie kontraintuitiv wäre. Aber das ist jedenfalls trotzdem etwas, das ja zeigt, dass schon auch viel geändert wird, und das sollte uns dann eher ein Ansporn sein, es so lange weiterzumachen, bis Sie sagen: Ich habe es gemerkt! – Ich weiß also: Wir bleiben dran, und Sie können sich darauf verlassen, dass wir das als ein großes Thema in Deutschland voranbringen. Sie haben es gesagt: Ein Teil der Vorschriften ‑ ein ziemlich großer Teil ‑ kommt aus der Europäischen Union. Das merkt man ja schon an dem, was Sie gesagt haben: Corporate Sustainability Reporting Directive. Das klingt irgendwie nicht wie ein deutsches Gesetz. Davon sind schon eine ganze Reihe da. Deshalb bin ich froh, dass wir jetzt die Ankündigung der EU-Kommission haben, dass sie 25 Prozent der Berichtsvorlagepflichten auf EU-Ebene abschaffen will. Ich kann Ihnen versichern, wir haben der Präsidentin der Kommission gesagt: Wir nehmen Sie beim Wort. Und der französische Präsident und ich haben gemeinsam verabredet, dass wir da hinterher sind! Weil wir ja nicht nur auf andere zeigen wollen, sage ich: Auch bei der nationalen Umsetzung von Vorschriften der EU wollen wir alles dafür tun, dass da keine Bürokratiemonster entstehen. Deshalb haben wir auch einige Möglichkeiten genutzt und zum Beispiel bei der Bilanzrichtlinie die Schwellenwerte für Unternehmen angehoben. Davon profitieren 52 000 Unternehmen, weil sie auf einen Schlag die Berichtspflichten nicht mehr haben, die sie bisher erfüllen mussten. Meine Damen und Herren, noch etwas muss hinzukommen, um Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum in Deutschland zu sichern. Das wichtigste Element einer modernen Angebotspolitik ‑ das sagen uns alle Studien und Wirtschaftsinstitute, und im Übrigen fühlt und sieht es auch jeder ‑ sind genügend Arbeitskräfte, gerade angesichts unserer Demografie. Deshalb ist es eine gute Nachricht, dass heute so viele Frauen und Männer einer Arbeit nachgehen wie nie zuvor in Deutschland, nämlich 46 Millionen. Der Zuwachs auf dem Arbeitsmarkt, den wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, geht dabei fast ausschließlich auf das Konto von Arbeitskräften aus anderen europäischen Ländern. Doch langsam stoßen wir, was diese Ressource für Arbeit und Wachstum in Deutschland betrifft, an unsere Grenzen, weil wir die Möglichkeiten der Europäischen Union ausgeschöpft haben. Deshalb haben wir mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz die Grundlage dafür geschaffen, dass sich Unternehmen die Talente und Arbeitskräfte, die sie brauchen, auch tatsächlich weltweit suchen können. Es ist wohl auch im Vergleich das modernste Gesetz, das es in dieser Welt in dieser Hinsicht gibt, und wir werden jetzt alles dafür tun, dass das auch tatsächlich in der Praxis umgesetzt wird ‑ mit der Digitalisierung unserer Konsularabteilungen, mit der Digitalisierung der zuständigen Behörden ‑, sodass das einfachere und einfach handhabbare Verfahren werden. Da gibt es noch Probleme. Es liegt schon einmal nicht mehr an den Gesetzen. Jetzt muss noch der Rest klappen, aber da sind wir dran. Zweitens brauchen wir mehr Ganztagsbetreuung; denn die Schwierigkeiten, die Familien haben, Arbeit und Kinder miteinander gut in die Zukunft zu führen, sind eine wirkliche Belastung – nicht nur für die Familien, die darunter zu leiden haben, sondern tatsächlich für unser ganzes Land und alle, die sich Gedanken machen, wie das eigentlich klappen soll. Ich finde, man sieht es in den Teilen Deutschlands, die es gibt ‑ einen davon habe ich einmal regiert ‑, dass es tatsächlich geht, nämlich Ganztagsbetreuung in der Krippe, der Kita und in allen Schulen, weitgehend gebührenfrei und mit einem Angebot, das auch immer verfügbar ist. Das macht einen Unterschied! Wenn Frauen und Männer gemeinsam Kinder haben, aufziehen wollen, dann brauchen sie Bedingungen, unter denen es möglich ist, dass sie sich um die Kinder kümmern können und ihre beruflichen Träume und Aufgaben erfüllen können. Das geht nur, wenn wir diese Besonderheit Deutschlands ändern; denn tatsächlich ist die Teilzeitschule ja eine Entwicklung, die es in fast keinem anderen Land der Welt gibt, und wir müssen dazu kommen, dass wir da an das anschließen, was die Eltern, was die Familien und was die Kinder brauchen, natürlich auch die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Außerdem unterstützen wir die Aus- und Weiterbildung in Unternehmen. Noch etwas schauen wir uns intensiv an: Wir wollen es für Ältere attraktiver machen, über den Renteneintritt hinaus freiwillig weiterzuarbeiten. Ich bin ganz sicher, dass ich da auf Sie als gute Partnerinnen und Partner stoße; denn man muss es dann natürlich auch toll finden, dass 67-Jährige und vielleicht noch Ältere, die man schon seit 30 Jahren in der Firma kennt, immer noch dabei sind. Aber es ist so, dass es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gibt, die das für sich gerne wollen, und es ist so, dass es Unternehmen gibt, die das auch gerne wollen. Ich weiß, weil ich in dieser Hinsicht ja sogar vom Fach bin ‑ ich bin ja Rechtsanwalt gewesen und habe mich um solche Themen gekümmert, bevor ich Politik gemacht habe ‑, dass manche vor den Herausforderungen zurückscheuen, die damit verbunden sind, weil sie nicht wissen, wie lang „über das Renteneintrittsalter hinaus“ denn ist. Da denken wir jetzt darüber nach, ob wir gute Lösungen finden, die das gewissermaßen für alle Seiten attraktiv machen. Vieles muss ja freiwillig gehen. Wir brauchen keine Zwangsregeln, sondern, dass die Menschen ihre Potenziale entfalten können, und dafür wollen wir gerne sorgen. Weil Sie die sozialen Sicherungssysteme angesprochen haben, Frau Ostermann, möchte ich eines hinzufügen: Mehr Leute in Arbeit zu bringen, das ist die beste Politik, um unsere sozialen Sicherungssysteme stabil zu halten. Dass das funktionieren kann, haben uns die letzten 20 Jahre gezeigt; denn anders, als uns Ende der Neunzigerjahre gesagt wurde, liegen die Beitragssätze der Sozialversicherungen heute niedriger als vor 20 Jahren. – Pause. Aber ich wollte sagen: Es ist so. – Das hat ganz viel damit zu tun, dass eben mehr Leute arbeiten, dass uns das gelungen ist, und das hat dazu beigetragen, dass die sozialen Sicherungssysteme stabiler finanziert werden können, als es sonst der Fall wäre. Insofern liegt auch das wichtigste Geheimnis dessen, wie wir verhindern, dass die Kosten zu sehr explodieren, darin, dass wir immer ziemlich viele haben, die hierzulande arbeiten. Wenn das klappt, dann ist das eine gute Grundlage. Eine gute Kinderbetreuung, ein kostenloses Bildungssystem, eine stabile Gesundheitsversorgung – gerade in Zeiten von Veränderungen, Transformation und Fachkräftemangel sind diese Sicherheiten wichtig für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Für Rente, Pflege, Gesundheit haben die Bürgerinnen und Bürger Beiträge gezahlt. Darauf gründen Ansprüche, die übrigens auch vom Eigentumsschutz des Grundgesetzes garantiert werden. Unser Sozialstaat darf deshalb ‑ das ist mir wichtig zu sagen ‑ nicht allein auf karitative Aufgaben und auf eine karitative Veranstaltung reduziert werden. Er ist für ziemlich viele der Bürgerinnen und Bürger ein wichtiger Teil der Lebensplanung und gibt Sicherheit bis weit hinein in die Mittelschicht unseres Landes. Meine Damen und Herren, wie kaum ein anderes Land profitiert Deutschland von seiner Offenheit – von der Offenheit internationaler Märkte und des EU-Binnenmarkts, von der Offenheit für Talente aus dem Ausland, von offenem Handel und fairem Wettbewerb. Deshalb bin ich Ihrem Verband und auch Ihren Unternehmen sehr dankbar, dass Sie Haltung zeigen gegenüber denjenigen, die diese Offenheit aufs Spiel setzen, die einen Austritt aus der Europäischen Union und die Abschottung unseres Arbeitsmarkts fordern und die so die Axt anlegen an die Grundlagen unseres Wohlstands. Lassen wir sie damit nicht durchkommen! Deutschland ist viel besser, als die Populisten und Angstmacher es uns weismachen wollen. Deshalb gefällt mir auch der Titel dieser Familienunternehmer-Tage: „Mit Zuversicht nach vorn!“ Ja, die vergangenen zwei Jahre waren alles andere als einfach: erst Russlands Krieg in der Ukraine und der Energiepreisschock, dann die Inflation, steigende Zinsen ‑ eine Steigerung um mehr als 4 Prozent in gut einem Jahr ‑, dazu eine schwächelnde Weltwirtschaft und geringere Nachfrage, vor allem aus China. Das war schon sehr viel Gegenwind. Aber wir sind da durchgekommen. „Ein Hauch von Frühling“, so haben die Analysten der KfW ihre Konjunkturprognose gerade überschrieben. Die Inflationsrate liegt so niedrig wie seit drei Jahren nicht, nahe dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank. Damit sehen Analysten sinkende Zinsen in Reichweite. Die Geschäftserwartungen im Mittelstand und bei den Exporteuren ziehen an. Auch das Mittelstandsbarometer hat zuletzt einen deutlichen Sprung gemacht. Die Kaufkraft steigt endlich wieder, auch dank Instrumenten wie der steuerfreien Inflationsprämie. Das Wichtigste ist aus meiner Sicht aber: Die reale Bruttowertschöpfung in der Industrie ist stabil geblieben, und das trotz Inflation und trotz des vorübergehenden Produktionsrückgangs in den energieintensiven Branchen. Das bedeutet schlicht und einfach: Deutschlands Industrie wird effizienter. Ehrlich gesagt: So gelingt uns die Transformation. Daran haben die Familienunternehmen einen ganz großen Anteil. Übrigens finde ich es deshalb auch gerechtfertigt ‑ Sie wissen ja, welches Parteibuch ich so mit mir herumschleppe ‑, dass die Familienunternehmen weniger Erbschaftsteuer zahlen, wenn sie Arbeitsplätze sichern, weil Sie diese Arbeitsplätze langfristig sichern, weil Sie Werte bewahren und sich zugleich immer wieder neu erfinden. Das spüre ich übrigens bei jedem meiner Unternehmensbesuche und auch heute hier. In diesem Sinne: „Mit Zuversicht nach vorn!“ Herzlichen Glückwunsch zum 75. Jubiläum Ihres Verbandes, und ich freue mich auf die Diskussion!
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der symbolischen Grundsteinlegung für ein neues Forschungszentrum der Firma Merck in Darmstadt am 25. April 2024 in Darmstadt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-symbolischen-grundsteinlegung-fuer-ein-neues-forschungszentrum-der-firma-merck-in-darmstadt-am-25-april-2024-in-darmstadt-2274462
Thu, 25 Apr 2024 00:00:00 +0200
Darmstadt
Sehr geehrte Frau Garijo, liebe Belén, sehr geehrter Herr Baillou, sehr geehrter Herr Heinzel, meine Damen und Herren, vor allem aber liebe Merck‘ser, bevor ich zu dem schönen Anlass komme, der uns heute eigentlich hier zusammenführt, möchte ich zwei kurze persönliche Bemerkungen machen. Die erste lautet: Happy Birthday, lieber Johannes Baillou! Dass der Termin für diese Grundsteinlegung auf Ihren 59. Geburtstag fällt, ist natürlich Zufall. Das bietet mir nicht nur die Gelegenheit, Ihnen heute persönlich zu gratulieren, sondern es unterstreicht auch, dass dieser Weltkonzern Merck seit 1668 die DNA eines echten deutschen Familienunternehmens in sich trägt. Ihr Vorgänger im Amt hat anlässlich des 350-jährigen Bestehens von Merck gesagt: „Unser ehrgeiziges Ziel ist es, die Firma in besserem Zustand an die zwölfte Generation zu übergeben“ ‑ die zwölfte Generation! Inzwischen ist es sogar die 13. Generation. Wer auf eine solche Geschichte zurückblickt, der hat nicht nur ökonomisch viel richtig gemacht. Ohne Pioniergeist, ohne Innovation und Forschung wäre aus der Stadtapotheke des Apothekers Friedrich Jacob Merck niemals eines der führenden Pharma-, Biotech-, Elektronik- und Life-Science-Unternehmen der Welt geworden. Es ist der Mut, immer wieder Neues zu erproben, der ein Unternehmen wie Merck jung und damit erfolgreich hält. Frauen spielen dabei für die Geschicke von Merck schon früh eine entscheidende Rolle. Als Johann Franz Merck 1741 starb, rettete seine Frau Elisabeth Catharina mit ihrer klugen Finanzpolitik das Merck‘sche Geschäft. Heute würde man wohl von der ersten weiblichen CFO sprechen. Die erste weibliche CEO folgte dann 1805 mit Adelheid Merck, die nach dem frühen Tod ihres Mannes das Unternehmen lenkte. Liebe Frau Garijo, hier bei Merck sind Sie also nicht die erste weibliche CEO. Dafür sind Sie nach wie vor die einzige CEO in einem DAX-Konzern. Das bringt mich zu meiner zweiten persönlichen Vorbemerkung: Ich finde, „corporate Germany“ hat hier dringenden Nachholbedarf. Das zeigen übrigens auch alle internationalen Rankings zu Frauen in Führungspositionen. So kann man den anderen 39 DAX-Unternehmen und vielen weiteren hierzulande eigentlich nur zurufen: Nehmt euch ein Beispiel an Merck. Gute Führung hat nichts mit X- oder Y-Chromosomen zu tun, sondern mit Leadership. Anfang des Jahres haben Sie, liebe Frau Garijo, der „ZEIT“ in einem Interview gesagt, was Sie antreibt. „Ich würde gern Krebs besiegen“, so war dort zu lesen. Dieser Satz ist die perfekte Brücke zu dem, was wir heute hier feiern. Denn die Biowissenschaften, die hier im Advanced Research Center ein neues Zuhause bekommen, versprechen genau diese Art medizinischer Durchbrüche. Wir haben das während der Corona-Pandemie erlebt, als Forscherinnen und Forscher mittels der mRNA-Technologie innerhalb kürzester Zeit lebensrettende Impfstoffe entwickelt haben. Dass diese Impfstoffe dann auch millionenfach produziert werden konnten, daran hatten und haben Nano-Lipid-Partikel aus dem Hause Merck großen Anteil. Wenn Uǧur Șahin von BioNTech heute davon spricht, Krebs könnte langfristig kontrollierbar, ja sogar heilbar sein, dann hat das auch mit den Fortschritten in den Biowissenschaften zu tun, an denen hier bei Merck geforscht und gearbeitet wird. Nun investiert Merck hier am Stammsitz in der Wissenschaftsstadt Darmstadt 1,5 Milliarden Euro, mehrere hundert Millionen davon in Biowissenschaften ‑ und damit in eine Boom-Branche, deren Umsatz in den vergangenen Jahren im Schnitt um fünf Prozent gewachsen ist. Investitionen in dieser Größenordnung sind aber nicht nur ökonomisch, medizinisch und wissenschaftlich vielversprechend. Sie sind auch ein Bekenntnis zu Deutschland als starkem Pharma-, Industrie- und Forschungsstandort und ‑ das will ich gerne hinzufügen ‑ als starkem Standort der Biowissenschaften. Und diese Investitionen sind bei Weitem nicht die einzigen. Vor gut zwei Wochen war ich nicht weit von hier in Alzey beim Spatenstich für eine 2,3 Milliarden Euro Arzneimittelfabrik von Eli Lilly. Novo Nordisk, BioNTech und AbbVie investieren gerade ebenfalls hunderte Millionen in Rheinland-Pfalz. Daiichi-Sankyo und Roche investieren jeweils über eine Milliarde Euro in Bayern und Baden-Württemberg. Das sind Investitionen in Größenordnungen, wie wir sie in Deutschland seit langer Zeit nicht erlebt haben. Sie zeigen, dass wir auf einem guten Weg sind mit den Änderungen, die wir schon auf den Weg gebracht haben, um der Pharma- und Biotechbranche gute Rahmenbedingungen zu bieten. Und ich sage ganz klar: Diesen Aufbruch werden wir als Bundesregierung weiter mit aller Kraft unterstützen. Mit unserem neuen Zukunftsfonds von zehn Milliarden Euro unterstützen wir Start-ups, viele davon auch im Pharmabereich und in den Biowissenschaften. Das geht Hand in Hand mit privaten Finanzierungsinstrumenten wie M Ventures, über die Merck seit 2009 unter anderem in die Biotechnologie investiert. Gerade erst haben wir die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten für Forschungsausgaben noch einmal verbessert. Schon heute sind wir das große Land in Europa mit den höchsten Ausgaben für Forschung und Entwicklung, aber wir wollen da noch weiter vorankommen. Ja, wir haben hier in Deutschland und Europa führende Biotechunternehmen und Technologien, um die China, die USA und andere uns beneiden. Wir haben uns das gemeinsam ja erst in der vergangenen Woche in China angeschaut, liebe Frau Garijo. Ich möchte, dass das so bleibt. Dass Unternehmen wie Merck weiterhin in Deutschland und Europa investieren und Arbeitsplätze schaffen. Dass auch in Zukunft hier die Technologien entstehen, die auf der ganzen Welt gebraucht werden. mRNA-Technologie, personalisierte Medizin, mithilfe von KI entwickelte Arzneimittel und Medizinprodukte: Das alles sind ja nicht nur Wirtschaftszweige, mit denen sich gutes Geld verdienen lässt. Sie versprechen medizinische Durchbrüche. Zugleich hat die Biotechnologie das Zeug dazu, die Industrie zu revolutionieren ‑ neben der Pharmabranche auch die Chemie-, Textil-, Kosmetik- und Lebensmittelbranchen. Dieses enorme Potenzial sieht auch die Europäische Kommission. Deshalb hat sie im März zehn Maßnahmen vorgeschlagen, damit Europa in der Biotechnologie international wettbewerbsfähig bleibt und seine starke Stellung ausbaut. Wir als Bundesregierung unterstützen das. Deshalb habe ich mich seit meinem Amtsantritt immer wieder mit Unternehmen wie Ihrem ausgetauscht und gefragt: Was müssen wir tun, um Forschung, Entwicklung, Technologie und Arbeitsplätze hier in Deutschland zu halten und weiter zu stärken? Einen Teil der Antwort kann man in der Pharmastrategie erkennen, die wir als Bundesregierung im Dezember beschlossen haben und über die eben geredet worden ist. Wir schaffen damit Anreize für noch mehr Forschung und noch mehr Produktion von Pharma- und Biotechnologie in Deutschland. Dafür haben wir ein Gesetz verabschiedet, mit dem wir forschenden Unternehmen den Zugang zu Gesundheitsdaten erleichtern. Zusammen mit dem Europäischen Gesundheitsdatenraum stärkt das den Forschungsstandort Deutschland. Wir evaluieren gerade die gesetzlichen Regelungen zum Arzneimittelmarkt, damit Medikamente bezahlbar bleiben und Forschung sich lohnt. Übrigens: Darauf achten wir auch in den laufenden Verhandlungen über das EU-Pharma-Paket. Und wir haben vor wenigen Wochen im Kabinett das Medizinforschungsgesetz beschlossen; auch das wurde eben angesprochen. Damit vereinfachen und beschleunigen wir die Genehmigungsverfahren für klinische Prüfungen und die Zulassung von Arzneimitteln. Bearbeitungszeiten verkürzen wir, unnötige Doppelt- und Dreifachanträge schaffen wir ab. Die Kabinettvorlage und den Gesetzentwurf, unterschrieben vom Gesundheitsminister und der Umweltministerin, habe ich auch mitgebracht ‑ sozusagen als Beweisstück dafür, dass wir in Sachen „Pharma und Biotech made in Germany“ an einem Strang ziehen. Ich habe entschieden, diesen Gesetzentwurf in die Zeitkapsel zu legen, die wir gleich in den Grundstein des neuen Gebäudes einlassen; denn dieses Gesetz sowie die gesamte Pharmastrategie der Bundesregierung sind Bausteine für einen starken Pharma- und Biotechstandort in Deutschland mit Zukunft. In dieser Zukunft wird die Firma Merck ihren festen Platz haben. Warum ich da so sicher bin? Weil sich dieses weltoffene, forschungsstarke Unternehmen seit 356 Jahren immer wieder neu erfindet. Dieses Unternehmen, liebe Merck‘ser, das sind Sie alle: die 11 200 hochqualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus über hundert Nationen allein hier in Darmstadt, 63 000 weltweit; eine Geschäftsführung, die konsequent in Aus- und Weiterbildung investiert; ein Betriebsrat, der das fördert und unterstützt. So arbeiten Sie gemeinsam an einer guten Zukunft für Ihr Unternehmen und für unser ganzes Land. Herzlichen Dank dafür und schönen Dank für die Einladung!
Rede von Bundeskanzler Scholz beim 23. Deutschen Bankentag am 23. April 2024 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-23-deutschen-bankentag-am-23-april-2024-in-berlin-2272962
Tue, 23 Apr 2024 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Sewing, sehr geehrter Herr Herkenhoff, meine Damen und Herren, ich freue mich, wieder beim Bankentag dabei zu sein, und das hier im Berliner Westhafen in unmittelbarer Nähe zu Wasser und Schiffen. Das gefällt mir als Hamburger besonders gut. Auch das dazugehörige Motto „Navigieren durch unruhige Zeiten“ ist treffend gewählt. Denn die Zeiten sind unruhig, und in rauer See kommt es besonders auf die Navigation an. Navigieren bedeutet im Seewesen zwei Dinge, erstens, den Standort eines Schiffes zu bestimmen und, zweitens, es auf dem richtigen Kurs zu halten. Fangen wir mit dem Standort an. Wo stehen wir als Industrieland und als Volkswirtschaft, und wo stehen die Banken? In der weltweiten Finanzkrise des Jahres 2008 standen die Banken im Fokus der Kritik. Heute können wir sagen: Gesetzgeber und Bankenaufsicht, aber besonders auch die Banken selbst haben aus der Finanzkrise gelernt. Sie haben weitreichende und wirksame Reformen durchgeführt. So hat etwa der Aufbau höherer Eigenkapitalpuffer die Widerstandsfähigkeit Ihrer Institute gestärkt. Anders als in der Finanzkrise 2008 sind die Banken heute nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung. Als wir in der Coronapandemie und während der Energiekrise große Rettungs- und Stabilisierungsprogramme aufgelegt haben, waren Sie an unserer Seite und an der Seite Ihrer Kundinnen und Kunden. Sie haben Finanzierungen und Liquidität bereitgestellt und so ganz maßgeblich zur Krisenlösung beigetragen. Dafür will ich Ihnen heute ausdrücklich danken. Danke! Aber wir brauchen starke Banken nicht nur als Krisenfeuerwehr. Ohne einen leistungsfähigen Finanzsektor keine Transformation. Das muss jedem klar sein. Denn der globale Umbau unserer Volkswirtschaften für das postfossile Zeitalter und die Digitalisierung unserer Gesellschaften erfordern und ermöglichen Investitionen, die überhaupt nur mit privatem Kapital zu leisten sind, in Form von Krediten, aber auch mit Kapitalbeteiligungen. Mario Draghi hat kürzlich die Zahl von 500 Milliarden Euro pro Jahr in den Raum gestellt. Das ist eine ganze Menge. Auch wenn man sich diese Zahl vielleicht nicht eins zu eins zu eigen machen muss, zeigt sich doch die Dimension der Aufgabe. Zur Standortbestimmung gehört auch ein nüchterner Blick auf unsere Volkswirtschaft und ihre Wettbewerbsfähigkeit. Klar ist: Die Stagnation im vergangenen Jahr, 0,2 Prozent Wachstum in diesem Jahr ‑ das ist zu wenig; da geht mehr. Wenn wir es genau betrachten, dann sehen wir, dass es Gründe dafür gibt, zum Beispiel zuallererst externe Gründe. Die Weltkonjunktur kühlt sich ab. China wächst deutlich langsamer als früher. Wir mussten innerhalb weniger Monate vollständig auf die Energie aus Russland verzichten mit der Folge explodierender Energiepreise. Innerhalb eines Jahres sind die Leitzinsen von einem historisch außergewöhnlichen Tief um etwa vier Prozentpunkte gestiegen. Daneben gibt es natürlich auch strukturelle Wachstumsthemen. Es fehlt nicht an Arbeit, aber an Arbeitskräften. Wir haben zu lange zu wenig getan, um eine verlässliche, bezahlbaren Energieversorgung in Deutschland zu sichern. Wir hemmen uns selbst mit Bürokratie und Überregulierung in vielen Bereichen. Wir müssen auch schwere Versäumnisse bei Investitionen in Infrastruktur und Digitalisierung aufholen. Alle diese Hemmnisse, meine Damen und Herren, gehen wir an. Das ist für mich der Kern einer modernen Angebotspolitik in Zeiten der Transformation und Veränderung. Damit bin ich beim zweiten Teil der Navigation, dem richtigen Kurs. Das Ziel ist klar. Wir wollen, und wir müssen in einer Welt mit dann wahrscheinlich knapp zehn Milliarden Einwohnern bis 2045 klimaneutral werden. Wir wollen dabei ein starkes Industrieland bleiben. Damit das gelingt haben wir umgesteuert. Erstens: Wir setzen alle Hebel in Bewegung, um mehr qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland zu haben. Denn der Mangel an Arbeitskräften ist der Faktor, der unser Wachstum am stärksten bremst. Deswegen haben wir das Fachkräfteeinwanderungsgesetz geschaffen. Deswegen unterstützen wir bei der Aus- und Weiterbildung in den Unternehmen. Deswegen investieren wir in den Ausbau der Ganztagesbetreuung. Deswegen fördern und brauchen wir KI-Investitionen in unseren Unternehmen. Deswegen setze ich mich dafür ein, dass es noch attraktiver wird, freiwillig über den gesetzlichen Renteneintritt hinaus zu arbeiten. Zweitens: Wir sorgen für ausreichend bezahlbare Energie. Diese werden wir zukünftig viel weniger importieren müssen, sondern hier herstellen. Beim Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland haben wir annähernd das Tempo erreicht, das wir brauchen, um 2030 Strom zu 80 Prozent aus erneuerbaren Energien zu produzieren. Wohlgemerkt, es wird mehr Strom sein als heute, den wir dann brauchen. Bei der Solarenergie liegen wir schon über dem Soll. Beim Wind an Land hat sich die genehmigte Leistung innerhalb des vergangenen Jahres beinahe verdoppelt. Der Genehmigungsrekord ist der Ausbaurekord in ein, zwei Jahren. Auch beim Ausbau der Übertragungsnetze sehen wir, dass die Entwicklung Fahrt aufnimmt. Bisher dauerte der Bau von Leitungen immer länger als vorgesehen; nun geht es zum ersten Mal schneller als zwischenzeitlich geplant. Zugleich haben wir für Zeiten, in denen kein Wind weht und die Sonne nicht scheint, vorgesorgt. Mit dem, was in den Medien ein bisschen abstrakt als Kraftwerksstrategie diskutiert wurde, sorgen wir dafür vor, dass mit dem Bau moderner, hochflexibler und klimafreundlicher Kraftwerke auch dann Energie zur Verfügung steht, wenn es mit Sonne und Wind umweltbedingt nicht gleich funktioniert. 24 Stunden Strom am Tag, sieben Tage die Woche und auch viel mehr als heute, das brauchen wir für die Wirtschaft und Industrie der Zukunft. Auch der Rahmen für unser Wasserstoffkernnetz steht, übrigens privat finanziert, wenn auch staatlich abgesichert. Damit haben wir mittlerweile alle Elemente für die Energieversorgung der Zukunft in Deutschland fast beisammen. Drittens: Wir werden schneller und einfacher. Über den beschleunigten Hochlauf beim Ausbau der erneuerbaren Energien habe ich eben gesprochen. Grund dafür ist, dass wir diesem Ziel gesetzlichen Vorrang in Planungsprozessen eingeräumt haben. Das wirkt. Deswegen haben wir solch einen Vorrang auch bei Stromnetzen, Wasserstoffnetzen und bei Bahntrassen eingeführt. Wir arbeiten aber auch an einem einfacheren Baurecht, und wir arbeiten eng mit den Ländern zusammen. Ende des vergangenen Jahres haben wir uns auf einen sogenannten Deutschlandpakt verständigt. Gemeinsam beschleunigen und vereinfachen wir Planungs- und Genehmigungsverfahren in einer Menge und Dimension, wie es in Deutschland in den letzten 30 oder 40 Jahren noch nicht der Fall gewesen ist. Wir haben richtig viel vor. Denn die letzten 30 oder 40 Jahre ‑ wenn man sich genau umblickt und zurückschaut, dann sieht man, dass es wahrscheinlich noch viel länger zurückreicht ‑ haben wir mit viel Liebe und Mühe dafür gesorgt, dass es immer schwieriger und komplizierter wurde, Genehmigungen zu bekommen. Nun müssen wir uns eben entsprechend viel anstrengen und genauso viel Liebe und Mühe aufwenden, um das alles wieder in die andere Richtung zu drehen. Viele Wirtschaftsverbände waren an der Erstellung eng beteiligt. Auch deswegen wird der Deutschlandpakt echte Verbesserungen bringen. Damit das alles nicht nur Ankündigung bleibt, schauen wir im Mai gemeinsam mit den Ländern, wie weit wir schon sind und wo wir noch mehr Tempo brauchen. Denn ich will, dass Deutschland wirklich umsteuert. Vielleicht darf ich an dieser Stelle auch über eine Sache sprechen, die mich immer umtreibt. Es gibt vielleicht in Unternehmen, auch in Banken und Kapitalinstitutionen, aber auf alle Fälle auch in der Politik Situationen, in denen man nicht anfängt, weil man denkt, man werde sowieso nicht fertig. Das ist in einem föderalen Staat eine ganz große Herausforderung. Verantwortlich sind immer die, um die es abends in der „Tagesschau“, bei „heute“ und in den verschiedenen anderen Nachrichtensendungen geht, was nach 20 Uhr diskutiert wird. Aber zuständig sind manchmal diejenigen, die dort nicht vorkommen, was übrigens bei manchen der Dinge, wie Sie erleben, dazu führt, dass man ziemlich ungeniert als Zuständiger Forderungen an die Unzuständigen richten kann. Ein Beispiel abseits dessen, was Genehmigungsprozesse betrifft, die Digitalisierung von Ausländerbehörden: Dafür gibt es genau 560 Verantwortliche in Deutschland. Aber sollen wir deshalb, weil es ja nicht klappen kann, sich zu streiten, darauf verzichten, die Dinge hinzubekommen? ‑ Meine Antwort ist nein. Deshalb haben wir es einfach einmal geschafft, uns so lange zu streiten, bis wir jetzt eine feste Vereinbarung über die Digitalisierung sämtlicher Ausländerbehörden in Deutschland haben. Das gilt natürlich auch für die vielen Planungs- und Genehmigungsverfahren überall in Deutschland. Immer ist irgendjemand zuständig. Wenn man den Beratern folgt, die einem immer die falschen Ratschläge geben, dann würde man sagen: Fang die Sache nicht an! Du bist nur für einen Teil zuständig. Wenn du hinterher sagst: „Ich habe einen Erfolg“, dann sagen dir die Leute: „Das und das und das klappt nicht“, woran du gar nichts ändern kannst. ‑ Deshalb müssen wir im föderalen Staat, der die Stärke und die Kraft Deutschlands ausmacht, es aber auch schaffen, effiziente Regelungen durchzusetzen, indem wir so etwas wie ein Unterhaken organisieren und dann auf allen Ebenen die Beschleunigungsschritte gehen, die tatsächlich nur zusammen einen Erfolg haben, und als Politiker das Risiko eingehen, dass wir für Misserfolge, die wir selbst gar nicht in der Hand haben, mit haftbar gemacht werden. Aber Nichtstun ist keine Alternative mehr. Gerade erst haben wir auch die Unternehmen weiter von unnötiger Bürokratie entlastet. Insgesamt spart das letzte Entlastungspaket, das wir im vergangenen Sommer beschlossen haben, rund drei Milliarden Euro jährlich. Das ist bei der Größe der deutschen Volkswirtschaft nicht bei jedem ein großer Betrag, aber es ist schon einmal etwas, was wir tun. Klar ist aber auch, und das werden Sie jeden Tag empfinden: Wir sind noch lange nicht am Ziel. Deshalb treiben wir die Veränderung auch weiter mit großer Konsequenz voran. Ganz wichtig ist dabei selbstverständlich der Blick nach Brüssel. Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat versprochen, mindestens 25 Prozent der Berichtspflichten abzuschaffen. Ich sage einmal: Das wäre einmal ein Anfang! Denn, ehrlich gesagt, stammt auch ein großer Teil ‑ vielleicht sogar der allergrößte Teil ‑ der Dinge, die wir heute als bürokratische Pflichten empfinden, aus Regulierungen, die einmal in Brüssel beschlossen worden sind, und da ist es ja noch schwieriger, eine Veränderung durchzusetzen, weil man überhaupt nicht weiß, wen man denn so als Wähler verantwortlich machen soll für die ganzen vielen Entscheidungen, die da getroffen worden sind. Aber trotzdem, es wäre ein Anfang. Außerdem haben wir uns mit Frankreich fest verbündet, dass wir nach den Europawahlen genau daran arbeiten wollen. Wir werden übrigens auch darauf achten, dass die Finanzindustrie vom Bürokratieabbau profitiert. Denn es hat sich gezeigt, dass es an einigen Stellen über das Ziel hinausgeschossene Regelungen gibt. Wir setzen uns deswegen für eine Überprüfung und Vereinfachung des Finanzmarktregelwerkes ein. Besonders bei den Berichts- und Meldepflichten gibt es da manches zu tun. Viertens: Wir gehen den Investitionsstau an und setzen Mittel gezielt dort ein, wo das volkswirtschaftliche Wachstum ausgelöst werden kann. In diesem Jahr sind das insgesamt fast 110 Milliarden Euro für Glasfaserleitungen, für die Erneuerung von Schienen, bessere Straßen und neue Brücken, für Programme, mit denen ein flächendeckendes Ladesäulennetz, der Wasserstoffhochlauf, die Transformation von Industrieprozessen, energetische Gebäudesanierung oder Mikroelektronik gefördert werden. Auch für die kommenden Jahre haben wir hohe Investitionen des Bundes geplant. Dazu kommen noch die Investitionen der Länder und Kommunen. Vor meiner Chinareise hat ein Experte zu mir gesagt, die Autoindustrie müsse statt Autos künftig Smartphones auf Rädern bauen. Das ist sicher übertrieben. Aber eines stimmt: Im Mobilitätswettbewerb vorne mit dabei ist derjenige, der die leistungsstärksten Batterien baut, der die besten Halbleiter herstellt und die beste Software programmiert. Als breit aufgestelltes Exportland müssen wir für sehr viele Felder sicherstellen, dass wir unsere technologische Souveränität und unsere industrielle Wettbewerbsfähigkeit sichern, weil doch klar ist, dass wir nicht mit der billigen Produktion von Massengütern unseren Platz behaupten werden, sondern, indem wir bei Technologie und Innovation spitze sind. Das macht Made in Germany seit jeher aus, und das soll auch so bleiben. Um das zu erreichen, geben wir, Staat und Unternehmen, erhebliche Summen für Forschung und Entwicklung aus, drei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts. Auch an der Stelle will ich das noch einmal kurz unterstreichen. Wenn man die großen Nationen Europas anschaut, dann sind wir die einzige mit mehr als drei Prozent für Forschung und Entwicklung, und wenn man sich das Weltranking derjenigen anschaut, die viel Geld für Forschung und Entwicklung ausgeben, sind da die USA, China, Japan und Deutschland, und dann ist da ganz lange kein anderer europäischer Staat, aber vor allem auch nicht die Europäische Union als Gesamtheit, die eigentlich vorne liegen müsste ‑ ganz vorne, wenn alle das in dieser Größenordnung machen würden. Manchmal macht man sich ja Gedanken über die Gründe für den Exportüberschuss der deutschen Volkswirtschaft oder darüber, warum wir nach manchen Rechnungen, was die weltwirtschaftliche Kraft angeht, jetzt auf Platz drei liegen, obwohl wir nur 84 Millionen Einwohner haben. Aber das hat ganz viel mit genau diesem Thema zu tun. Forschung und Entwicklung müssen weiter hoch bleiben, privat und staatlich. Nur zusammen bringt das die Grundlage für das Wachstum und den Fortschritt für morgen. Wir investieren im Übrigen auch ganz entschlossen in die Förderung von Schlüsseltechnologien. Die vielen Neuansiedlungen, die wir so für Deutschland gewinnen konnten ‑ bei Halbleitern, in der Batterietechnologie, bei künstlicher Intelligenz und im Pharmabereich ‑, bringen neben technologischer Souveränität und unmittelbarer Wertschöpfung auch großen Nutzen für die jeweilige Region, für Start-ups und für den deutschen Mittelstand. Denn solche Investitionen ziehen weitere Ansiedlungen nach sich und lassen so ganze Cluster entstehen. Dafür das richtige Umfeld zu schaffen, das ist der Schlüssel, um erfolgreich zu sein in der laufenden, tiefgreifenden Transformation, die in ihren Ausmaßen wohl nur mit der industriellen Revolution verglichen werden kann. Dabei ist klar: Um als Deutschland mit einem Prozent der Weltbevölkerung, um als EU mit reichlich fünf Prozent der Weltbevölkerung global vorne dabei zu bleiben, um Wachstums- und Innovationsfinanzierung zu verbessern, brauchen wir nicht nur öffentliches, sondern auch viel privates Kapital. Ich habe Mario Draghis Schätzung von 500 Milliarden Euro im Jahr eben schon erwähnt und will das einfach nur noch einmal unterstreichen: Es ist eine Menge, und das ist überwiegend nicht staatlich, was ich auch in Brüssel überall einmal vortragen werde. Um uns diesem Bedarf auch nur anzunähern, brauchen wir einen tieferen und leistungsfähigeren Kapitalmarkt in Europa. Wir müssen Unternehmen, darunter auch Start-ups, Finanzierungsmöglichkeiten und Kapital für Investitionen bieten, damit sie nach Deutschland und Europa wollen, anstatt auf andere Kontinente ausweichen zu müssen, um dort zu wachsen und zu expandieren. Ich weiß: Die Banken und internationale Finanzinvestoren stehen bereit, scheitern jedoch häufig an national organisierten Kapitalmärkten in Europa. Deshalb will ich hier sehr klar sagen: Es ist meine Überzeugung, dass der wesentliche Unterschied für die Wachstumsperspektiven der USA oder Europas in der fehlenden Kapitalmarktunion und auch der fehlenden Bankenunion liegt. Wir werden das zu einem Thema größter Priorität machen müssen, weg von irgendwelchen Fachexpertenausschüssen, hin dazu, dass das politisch vorangetrieben wird. Es gibt so viel, was man bedenken muss bei dieser Frage. Ich greife nur ein Thema auf, über das ich gleich vielleicht noch zwei Sätze sagen werde, das Insolvenzrecht. Ja, vielleicht gibt es 27 Mal das beste Insolvenzrecht der Welt. Aber vielleicht wäre es besser, wir hätten einmal das zweitbeste, aber einheitlich für alle 27. Das muss sich ja gar nicht auf alle Bereiche des Insolvenzrechts erstrecken, aber diese Perspektive muss sein! Natürlich haben einige in der Vergangenheit davon profitiert, dass sie ein bisschen von Sondervorteilen ihrer Regulierung oder Steuerpraxis Gebrauch gemacht haben. Aber wenn, das zu verteidigen, heißt, dass wir die Größe des europäischen Kapitalmarkts nicht voll zur Entfaltung bringen können, dann bedeutet das, auf Wachstum zu verzichten, und das kann kein staatlicher Investitions- und Innovationsfonds ersetzen. Wir können helfen mit dem, was wir da machen, aber wir können nicht das ersetzen, was privates Kapital zustande bringen muss. Wir brauchen mehr Dynamik, wir brauchen mehr Fortschritt, und wir brauchen mehr Bereitschaft, alte Zöpfe abzuschneiden. Substanzielle Fortschritte bei der Vertiefung der Kapitalmarktunion sind also notwendig. Angesichts des Investitionsbedarfs ist das für die Zukunft Europas und unserer Wettbewerbsfähigkeit, wie ich eben gesagt habe, von entscheidender Bedeutung. Es ist eben die Zeit, um das noch einmal zu unterstreichen, die dickeren Bretter zu bohren. Wir brauchen eine Harmonisierung des Insolvenzrechts, wie ich gesagt habe. Wir wollen mehr gemeinsame Steuerstandards. Wir wollen eine stärkere Harmonisierung der Kapitalmarktaufsicht, ohne dass alles gleich an einer Stelle zusammengefasst wird, aber so, dass es zusammenpasst. Wir wollen eine Stärkung des Verbriefungsmarktes zur Finanzierung der Realwirtschaft, und wir wollen, dass Privatanleger Zugang zu einer breiteren Palette von Finanzprodukten erhalten. Hinsichtlich all dieser Punkte arbeiten wir mit der französischen Regierung intensiv an konkreten Vorschlägen, und das ist uns wichtig, weil wir jetzt den Druck machen müssen, damit etwas passiert, und hoffen, dass, wenn wir dabei gemeinsam vorgehen, das alle anderen motiviert, auch mitzumachen. Wir hatten gerade die Debatte im Europäischen Rat; Sie haben das angesprochen. Es war sehr interessant. Da haben wir noch etwas vor uns! Es haben sich sehr viele gemeldet, ganz aufgeregt. Aber es geht jetzt darum, dass wir uns trauen, diese Dinge auch anzugehen und sie nicht weiter schleifen zu lassen. Dass wir auch noch eine Vollendung der Bankenunion brauchen, das muss ich hier vielleicht nicht sagen, aber will ich trotzdem noch einmal vertiefen. Es ist für mich wichtig, dass das nicht vergessen wird; denn es ist gut und richtig, dass wir in der Europäischen Union gemeinsame Regeln zur Bankenaufsicht und Abwicklung geschaffen haben. Aber die Bankenunion ist mehr als nur ein gemeinsames Sicherheitsnetz, wie manche denken. Wir brauchen einen gemeinsamen Markt für Bankdienstleistungen. Wir brauchen insbesondere bessere Rahmenbedingungen für grenzüberschreitend tätige Banken. Sie müssen volle Flexibilität dabei haben, ihr Kapital und ihre Liquidität innerhalb der Bankenunion einzusetzen. Wir benötigen ebenfalls einen effizienteren, besseren und günstigeren Zugang zur Finanzierung. Lassen Sie mich hinzufügen: Wir setzen uns mit ganzer Kraft dafür ein, gerade den Finanzstandort Deutschland dabei weiter zu stärken. Weil zu dieser Stärkung auch die Vernetzung mit den wichtigen Regulierungsbehörden gehört, freue ich mich sehr, dass es gelungen ist, die neue EU-Anti-Geldwäschebehörde in Frankfurt anzusiedeln. Meine Damen und Herren, ja, die Zeiten sind unruhig. Auch an Deutschland geht das nicht spurlos vorbei. Aber wir navigieren da gut hindurch. Das zeigen ja nun auch einige wichtige Kennzahlen. Die Inflation liegt so niedrig wie seit drei Jahren nicht. Viele Experten rechnen demnächst wieder mit sinkenden Zinsen. Die Zahl der Beschäftigten ist so hoch wie nie, und auch die Produktionszahlen in Deutschland springen wieder an: im Februar 5,7 Prozent Wachstum in der Automobilindustrie, 4,6 Prozent in der Chemieindustrie, 7,9 Prozent im Baugewerbe, 4,2 Prozent bei den besonders energieintensiven Unternehmen. Wir wissen, wo wir stehen, unser Ziel ist klar, und wir haben die Segel richtig gesetzt. Der weiter nötige Rückenwind, der kommt besonders auch von Ihnen, von der Finanzwirtschaft, und gerade deshalb schönen Dank für die Einladung!
Rede von Bundeskanzler Scholz beim Festakt zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant am 22. April 2024 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-festakt-zum-300-geburtstag-von-immanuel-kant-am-22-april-2024-in-berlin-2272896
Mon, 22 Apr 2024 00:00:00 +0200
Berlin
Meine Damen und Herren, es sind besonders die runden Jubiläen, die große Aufmerksamkeit auslösen. Dabei ist es am Ende natürlich Zufall, dass sich Kants Geburtstag gerade in diesem Jahr zum 300. Mal jährt. Ein glücklicher Zufall; denn ich finde, gerade jetzt hat uns Kant so viel zu sagen wie lange nicht ‑ gerade in diesem Jahr, gerade in dieser Zeit, nicht nur in philosophischer Hinsicht, sondern auch in politischer und geopolitischer Perspektive. Das fängt schon damit an, dass Kant aus Königsberg stammt. Hier wuchs er auf, hier lebte er Zeit seines Lebens, hier forschte und lehrte er jahrzehntelang an der Albertus-Universität. Dass Kant Königsberg niemals verließ, kommt uns heute seltsam vor. Kant selbst war damit vollkommen im Reinen. „(E)ine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse“, schrieb er, „kann schon für einen schicklichen Platz zur Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann“. Ich selbst finde, Reisen bildet. Eigene sinnliche Wahrnehmung, eigenes Erleben und eigene Anschauung, das schadet eigentlich nie. Aber so viel stimmt jedenfalls: Königsberg zur Zeit Kants, das war alles andere als ein unbedeutender Ort irgendwo weitab vom Schuss. Ostpreußens Metropole war zu Kants Zeit mit 60 000 Einwohnern eine der größten Städte Deutschlands, ein bedeutender Ort von Handel und Schifffahrt, von Kultur und Wissenschaft ‑ kleiner als Berlin oder Hamburg zwar, aber damals deutlich größer als Köln, als München, Leipzig oder Frankfurt. Die Stadt Immanuel Kants, das ist Königsberg immer noch. Und diese Stadt liegt auch heute, in Kilometern gerechnet, nicht weiter entfernt von uns als damals. Von Berlin aus sind es bis Königsberg kaum mehr als 500 Kilometer Luftlinie, also nicht weiter als die Strecken von Berlin nach Aachen, nach Karlsruhe, Ulm oder München. Es kommt uns allerdings viel weiter vor. Es kommt uns so vor, als wäre dieses Königsberg ganz weit weg und irgendwie aus unserer Zeit herausgefallen. Denn Kants Königsberg heißt heute Kaliningrad und gehört zu Russland ‑ seit 1946 als Hauptstadt der Oblast Kaliningrad zuerst zur Sowjetunion, seit 1992 dann zur Russischen Föderation. Und genau damit gerät der Jubilar Kant mitten hinein in die geopolitischen Verwerfungen unserer Zeit, mitten hinein in die Zeitenwende, die Russlands Machthaber Putin mit seinem brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hat. Nicht nur Kants Heimatstadt, Russlands Exklave Kaliningrad, liegt wieder in einer besonders neuralgischen Zone europäischer Geschichte und Politik. Auch Kants große Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit dauerhaften Friedens in kriegerischer Zeit gehört heute wieder ganz oben auf die Tagesordnung. Deshalb ist es eine gute Idee, Kants großartige Schrift Zum ewigen Frieden gerade jetzt aufs Neue zur Hand zu nehmen. Ich habe das getan, und ich will gerne sagen: In diesem einen sehr schmalen Band findet sich vieles, was uns heute Orientierung und trotz allem auch Zuversicht geben kann. Über einige Aspekte davon will ich heute sprechen. Meine Damen und Herren, wichtig ist zunächst, dass der große Jubilar selbst und sein Werk in den Umwälzungen der Gegenwart nicht unter die Räder kommen. Berichten aus Kaliningrad zufolge ist Kant dort heute allgegenwärtig. Die Kant-Vereinnahmung ist umfassend, der Philosoph von Königsberg ist heute so etwas wie die „Marke“ von Kaliningrad. Sein Geburtshaus wurde zwar schon vor langer Zeit abgerissen, aber dafür heißt die Universität der Stadt seit 2005 Immanuel-Kant-Universität. Es gibt in Kaliningrad den „Kant-Market“ und Kant-Schokolade, man trinkt Kant-Glühwein und kauft Kant-Kühlschrankmagnete und Kant-Becher. Und wenn in Kaliningrad Brautpaare heiraten, dann lassen sie sich ‑ leicht makaber ‑ vor Immanuel Kants Grab fotografieren. Das alles scheint eine direkte Folge der persönlichen Kant-Leidenschaft zu sein, die Russlands Präsident in den vergangenen Jahren immer wieder öffentlich bekundet hat. Kant, so betont Putin, sei einer seiner „Lieblingsphilosophen“. Wörtlich erklärte er im Juli 2005 bei einem Besuch an Kants Grab: „Kant war ein kategorischer Gegner der Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten durch Krieg. Und wir versuchen, uns an diesen Teil seiner Lehre zu halten. (…) Ich glaube, dass die Vision, die Kant dargelegt hat, von unserer Generation verwirklicht werden sollte und kann.“ ‑ So Putin. Und erst vor drei Jahren, 2021, ordnete Putin per Dekret an, Kant sei in Russland aus Anlass seines 300. Geburtstags ausgiebig zu feiern: als einer der größten Denker und Philosophen der Menschheit. Vorgesehen war auch ein großer internationaler Kongress, der eigentlich jetzt, in diesen Tagen, in Kaliningrad stattfinden sollte. Aber dann trat ein, was alles verändert hat. Auf Putins Befehl überfielen Russlands Truppen die gesamte Ukraine, ein unabhängiges und völkerrechtlich souveränes Nachbarland. Zur Begründung hat Putin seither eine verwirrende Vielfalt von Begründungen geliefert. Schon vor dem Krieg, im Sommer 2021, hatte er in seinem Aufsatz unter dem Titel Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern behauptet, beide Nationen seien in Wirklichkeit „ein Volk“. Das ist so falsch, wie das Motiv dahinter durchschaubar ist. Die Ukraine, das ist eine eigenständige Nation mit eigener Geschichte und vielfältiger eigener Kultur. Unabhängig davon ist die Ukraine ein souveräner Staat, also ‑ um es mit Kant zu sagen – „eine Gesellschaft von Menschen, über die niemand anders als [dieser Staat] selbst zu gebieten und zu disponieren hat“. Putin leugnet das alles. Ihm geht es mal um die, wie er sagt, „Entnazifizierung“ der Ukraine, dann wieder um die Notwendigkeit, Russland gegen die angebliche Aggression des von ihm so genannten „kollektiven Westens“ zu verteidigen. Den Krieg angefangen habe demnach auch gar nicht Russland, sondern dieser „kollektive Westen“. Meine Damen und Herren, alle diese Versuche, Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen, sind an den Haaren herbeigezogen. Sie sind abwegig und ausgedacht. Sie unterstellen Bedrohungen Russlands, die es nicht gibt. Schon Kant kritisierte hellsichtig die ungute Angewohnheit, „böse Absichten an anderen zu erklügeln“. Genau damit haben wir es auch hier zu tun. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Putins brutaler Überfall auf die Ukraine ist ein war of choice, ein von Putin selbst gewählter Angriffskrieg. Es ist Russlands Machthaber, der diesen größten militärischen Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg angezettelt hat ‑ mutwillig, zerstörerisch und unprovoziert. Unter Putins Oberbefehl haben Russlands Soldaten seit Beginn ihrer Vollinvasion in der Ukraine unbeschreibliche Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung begangen, haben wahllos Zivilisten erschossen, gefoltert, vergewaltigt und Kinder verschleppt. Niemals vergessen dürfen wir die Massaker, die russische Soldaten in Butscha und in Irpin an Zivilisten verübt haben. Ich selbst habe diese furchtbaren Verwüstungen in Irpin mit eigenen Augen gesehen. Die Bilder dieses Tages werde ich immer in mir tragen. Unter Putins Oberbefehl haben russische Truppen auch anderswo in der Ukraine Wohngebiete, Bahnhöfe, Krankenhäuser, Schulen und ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht. Mariupol, Bachmut, Popasna, Rubischne oder Awdijiwka: Diese und andere Namen stehen für zerstörte Städte, für ausgelöschte Gemeinwesen. Sie stehen für einen Vernichtungswillen, wie ihn in seiner schieren Maßlosigkeit wohl die wenigsten von uns im Europa des 21. Jahrhunderts noch für möglich gehalten hätten. Unter Putins Oberbefehl hat Russlands Krieg gegen die Ukraine weltweit die Versorgung mit Lebensmitteln, Energie und Rohstoffen aus dem Gleichgewicht gebracht, mit schlimmen Folgen gerade in vielen Ländern des globalen Südens. Unter Putins Oberbefehl verheizt Russland seit Kriegsbeginn zugleich Bürgerinnen und Bürger seines eigenen Landes zu Hunderttausenden an der Front. Zwangsrekrutierte und Söldner, Strafgefangene, Junge und Alte, in vielen Fällen Angehörige ethnischer Minderheiten, sie alle werden als Kanonenfutter in den Tod getrieben ‑ wahllos, bedenkenlos, erbarmungslos. Oder um die beißende Kritik aufzugreifen, die der Aufklärer Kant an den despotischen Staatsoberhäuptern seiner Zeit übte: Unter Putins Oberbefehl werden in Russland heute wieder Untertanen als ‑ Kants Worte ‑ „nach Belieben zu handhabende Sachen gebraucht und verbraucht“. Genau diese Instrumentalisierung und Verzweckung von Menschen war es, die Kant anprangerte. Genau das steht all seinen Vorstellungen vom Recht des Menschen, von der Freiheit, Autonomie und Würde jedes Menschen diametral entgegen. Schon deshalb hat Putin nicht die geringste Berechtigung, sich auf Kant zu berufen. Meine Damen und Herren, was für Kants Vorstellung von Menschenrecht und Menschenwürde gilt, das gilt genauso für seine Gedanken zu Krieg und Frieden. Auch hier hat Putin nicht das geringste Recht, sich positiv auf Kant zu beziehen ‑ im Gegenteil. Seit Russland unter Putins Oberbefehl seinen neoimperialen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, ist in Europa und über Europa hinaus nichts mehr, wie es war. „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie davor“, so habe ich es am 27. Februar 2022 im Deutschen Bundestag gesagt. Die Folgen dieser historischen Zäsur haben wir seither gemeinsam zu bewältigen ‑ und wir bewältigen sie. Dazu gehört, dass wir die Ukrainerinnen und Ukrainer in ihrem tapferen Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit unterstützen ‑ humanitär, finanziell und auch mit Waffen. Ich halte das nicht nur politisch und strategisch für erforderlich, ich halte das auch friedensethisch für geboten. Denn die Verteidigung der eigenen Existenz gegen einen Aggressor schafft ja überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass die Ukraine frei und ohne Zwang über Frieden verhandeln kann und auch Russland zu solchen Verhandlungen bereit ist. Deshalb unterstützen wir die angegriffene Ukraine gemeinsam mit allen unseren Partnern ‑ so lange, wie das notwendig ist. Meine Damen und Herren, mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine fügt Putin nicht zuletzt seinem eigenen Land und vor allem den Bürgerinnen und Bürgern seines eigenen Landes schwersten Schaden zu. Wirtschaft, Kultur, zivilgesellschaftlicher Austausch, Wissenschaft und Forschung: Auf jedem nur denkbaren Gebiet ist es das Regime Putins selbst, das Russinnen und Russen millionenfach um ihre Freiheit und Lebenschancen bringt, um Entwicklung und Zukunft ‑ oder nochmals im Kant’schen Begriff gesprochen: um Menschenwürde und Autonomie. Beispielhaft für diese umfassende Selbstschädigung steht das diesjährige Kant-Jubiläum. Es war unausweichlich, dass sich die deutsche Kant-Gesellschaft entschlossen hat, ihren internationalen Jubiläumskongress in diesem Jahr anders als geplant nicht in Kaliningrad zu veranstalten. Denn es ist doch offensichtlich: Aufklärung und Angriffskrieg – das passt nicht zusammen. Kategorischer Imperativ und Kriegsverbrechen – das passt nicht zusammen. Daraus folgt aber keineswegs, dass Putin und sein Machtapparat nun von sich aus darauf verzichten würden kann, Kant für ihre Zwecke zurechtzubiegen. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade in diesem Jubiläumsjahr sind aus Russland besonders verstörende und abwegige Kant-Auslegungen zu hören. Erst Anfang dieses Jahres erklärte Putin bei einem Besuch in Kaliningrad: „Kant ist ein fundamentaler Denker, und sein Aufruf, den eigenen Verstand zu nutzen, ist höchst aktuell. Für Russland bedeutet das praktisch, dass wir uns von unseren nationalen Interessen haben leiten lassen.“ ‑ So, so! Ich bezweifle ausdrücklich, dass Immanuel Kant ausgerechnet dies im Sinn hatte, als er 1784 den Ausruf „Sapere aude!“ zum Wahlspruch der Aufklärung erklärte. Um nationale Interessen ging es Kant bei seiner „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ ganz sicher nicht. „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ ‑ Das zielte vielmehr auf individuelles „Selbstdenken“, auf Kritik, auf die Würde, Autonomie und Freiheit jedes und jeder Einzelnen. Das alles wird in Putins Autokratie heute täglich mit Füßen getreten und im Keim erstickt, etwa mit den Mitteln der Zensur, der digitalen Desinformation und Überwachung. Wo die „Staatseigentümer“ – auch dies ein Begriff Kants – des 21. Jahrhunderts solche Praktiken einsetzen, da wollen sie eben keine selbstdenkenden Bürgerinnen und Bürger. Vielmehr wollen sie unwissende und unmündige Untertanen, weil sie eben nur diese als „nach Belieben zu handhabende Sachen“ für ihre eigenen Zwecke manipulieren und „verbrauchen“ können. Dass Kant solche Methoden aufs Schärfste verurteilen würde, daran kann nicht der geringste Zweifel bestehen. Trotzdem bleibt Putins Regime bestrebt, Kant und sein Werk um fast jeden Preis zu vereinnahmen. Der langjährige Russlandkorrespondent der „ZEIT“, Michael Thumann, bringt es so auf den Punkt: „Es gibt mindestens zwei Kants, einen Philosophen, den wir in Deutschland verehren, und einen in Kaliningrad begrabenen Denker, der für Putins Weltbild anschlussfähig gemacht wird.“ Doch Kants Anschlussfähigkeit an Krieg und Gewalt hat Grenzen, selbst in Russland. Das erklärt womöglich, weshalb aus dem russischen Machtapparat neuerdings auch kantfeindliche Töne zu hören sind. Vor dem Kongress der russischen Gesellschaft für Politikwissenschaft erklärte jüngst der Gouverneur der Region Kaliningrad, Anton Alichanow: „Heute, im Jahr 2024, haben wir den Mut, zu behaupten, dass nicht nur der Erste Weltkrieg mit dem Werk Immanuel Kant begann, sondern dass auch der aktuelle Konflikt in der Ukraine mit ihm seinen Anfang nahm.“ ‑ Kant, so Alichanow, sei nicht nur „einer der geistigen Schöpfer des modernen Westens“, er habe auch eine „fast direkte Verbindung zu dem globalen Chaos“, mit dem wir zu tun hätten. Mehr noch, er habe „eine direkte Verbindung zum militärischen Konflikt in der Ukraine“. Man reibt sich die Augen. Ausgerechnet Kant, für den doch der Friede das „höchste Gut“ überhaupt war, soll nun an Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine schuld sein. Wenn Kant am russischen Krieg gegen die Ukraine tatsächlich schuld wäre, wie würde das dann mit Putins vielfältigen Versuchen zusammenpassen, Kant trotzdem als „größten Denker der Menschheit“ für Russlands Zwecke einzuspannen? Meine Damen und Herren, es ist ganz einfach. Das alles passt hinten und vorn nicht zusammen. Es passt deshalb nicht zusammen, weil Kant als Stichwortgeber für Angriffskrieg, Völkerrechtsbruch und Despotie schlechthin nicht infrage kommt. Kants kategorische Haltung ist völlig klar. „Kein Staat soll sich in die Verfassung eines anderen Staates gewalttätig einmischen“, schreibt er. Genau das aber tut Russland in der Ukraine. Eindringlich warnt Kant vor Angriffskrieg und Söldnertum, vor dem „Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen“. Nichts anderes aber stellt doch das zynische Verheizen eigener Rekruten, Strafgefangener und Söldner dar, wie es das russische Regime im Kampf gegen die Ukraine massenhaft betreibt. Kein Staat, fordert Kant weiter, solle sich im Krieg mit einem anderen „solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen“. Methoden wie die „Anstellung von Meuchelmördern“ und „Giftmischern“, der heimtückische Einsatz „höllischer Künste“ oder die „Anstiftung des Verrats in dem bekriegten Staat“ – das alles dürfe auf keinen Fall geschehen. Wir würden das Gemeinte heute anders formulieren, aber es ist völlig klar, worum es Kant ging. Methoden wie diese kommen uns aus dem aktuellen russischen Vorgehen nur zu bekannt vor. Kant warnt eindringlich vor ihrem Einsatz. Denn, so schreibt er: „(I)rgend ein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes muss mitten im Kriege noch übrig bleiben, weil sonst auch kein Frieden abgeschlossen werden könnte und die Feindseligkeit in einen Ausrottungskrieg ausschlagen würde.“ Kant nimmt hier hellsichtig vorweg, was in unserem Atomzeitalter möglich geworden ist, die „Vertilgung beider Teile zugleich“, was, so Kant, am Ende „den ewigen Frieden nur noch auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung stattfinden lassen würde“. Meine Damen und Herren, schon diese Beobachtungen und Überlegungen zeigen, dass der große Aufklärer Kant alles andere als ein naiver Friedensprediger war. So wie wir heute, lebte er in einem Zeitalter größter Umwälzungen und kriegerischer Konflikte. Über die Bösartigkeit der menschlichen Natur machte er sich keine Illusionen, noch weniger über, wie er schrieb, „Staatsoberhäupter, die des Krieges nie satt werden können“. Trotzdem und gerade deshalb denkt Kant darüber nach, wie dauerhafter Friede möglich werden könnte. Trotzdem und gerade deshalb hält Kant dem Recht des Stärkeren die Autorität des Rechts entgegen. Trotzdem und gerade deshalb setzt Kant auf die Zukunft und den Fortschritt. Genau das macht die eindringliche Aktualität seines Entwurfs Zum ewigen Frieden aus. Genau deshalb lohnt es sich so sehr, dieses kleine Buch gerade jetzt, gerade in dieser unfriedlichen Zeit wieder zurate zu ziehen. Für Kant stand fest: „Der Friedenszustand (…) ist kein natürlicher Zustand, der vielmehr ein Zustand des Krieges ist. (…) Er muss also gestiftet werden.“ Gestiftet, gehütet, organisiert, immer neu gesichert und notfalls wiederhergestellt und zwar immer mit den Mitteln des Rechts und der Politik, welche Kant ausdrücklich als „ausübende Rechtslehre“ verstand. Meine Damen und Herren, wir Europäer müssen uns nach Jahrzehnten des Friedens erst wieder an den Gedanken gewöhnen: Der Friede, den die meisten von uns so lange als selbstverständliche Normalität und „natürlichen Zustand“ erlebt haben – er ist genau dies nicht. Er ist eben nicht „natürlich“. Er muss auch heute noch – und heute wieder – „gestiftet“ werden. Umso wichtiger ist es, dass wir uns klarmachen, welche politischen und rechtlichen Bedingungen es sind, die Frieden unter Staaten zwar nicht garantieren, aber doch begünstigen und grundsätzlich möglich machen. Für Kant sind dies die rechtlich garantierte Freiheit und Gleichheit aller Staatsbürger – und übrigens auch Staatsbürgerinnen – in repräsentativen Demokratien, eine funktionierende Gewaltenteilung, eine liberale und frei debattierende Öffentlichkeit, ein florierender Welthandel mit seinem, so Kant, „wechselseitigen Eigennutz“ und nicht zuletzt: ein föderaler Völkerbund von souveränen Staaten. Eine globale Rechtsordnung, in der alle Staaten nach innen republikanisch und demokratisch verfasst sind und nach außen die Rechte aller anderen Staaten respektieren, darin lag für Kant das anzustrebende „Heil der Welt“. Denn das wäre dann eine Welt, in der sich international kein kleinerer Nachbar mehr vor dem größeren fürchten müsste und in der innerhalb aller Staaten die Bürgerinnen und Bürger vor Willkür geschützt wären. Ich möchte gern sagen: Dieses Denken, diese Überzeugung, diese Zielsetzung Kants hat mich für meine eigene politische Arbeit tief geprägt. Das jedenfalls ist die Quintessenz dessen, was auch ich für erstrebenswert halte, gegen alle Widerstände und Rückschläge, aber doch, mit Kant gesprochen, „in kontinuierlicher Annäherung“. Meine Damen und Herren, keine einzige der aus Kants Sicht notwendigen Zutaten zu dauerhaftem Frieden war zu seinen eigenen Lebzeiten irgendwie erprobt, geschweige denn fest etabliert. Inzwischen ist vieles davon Wirklichkeit geworden, bei uns in Deutschland, im Rahmen der Europäischen Union, zum Teil auch auf globaler Ebene. Wir haben viel mehr erreicht, als Kant selbst vermutlich für möglich gehalten hätte. Machen wir uns klar, wie unverzichtbar, ja wie kostbar diese Errungenschaften sind, wenn es uns um den Frieden geht, heute mehr denn je! Ja, wir haben jeden Grund, fortbestehende Unzulänglichkeiten unserer Errungenschaften zu kritisieren und zu korrigieren; einen UN-Sicherheitsrat etwa, in dem Russland seine eigene Sanktionierung und Verurteilung per Veto verhindern kann; oder ein Völkerrecht, dem anders als von Kant erhofft leider noch kein durchsetzungsstarkes Weltgericht zur Seite steht. Zumindest eingetrübt ist auch die Hoffnung, der weltweite „Handelsgeist“ werde quasi aus sich selbst heraus dauerhaften Frieden sichern, weil er, so Kant, „mit dem Kriege zusammen nicht bestehen kann“. Trotzdem: Wir sollten um Himmels Willen nicht den Leichtsinn besitzen, das seit Kants Zeit Erreichte – ob aus Übermut oder aus Überdruss – aufs Spiel zu setzen. Denn es wäre das höchste politische Gut überhaupt, das wir damit gefährden würden: der Frieden selbst. Meine Damen und Herren, es bleibt die brennend aktuelle Frage, wie morgen wieder Friede möglich werden kann, wo heute noch erbittert Krieg geführt wird, wo geschossen wird und Menschen sterben, so wie derzeit in der Ukraine oder auch, in einem ganz anders gelagerten Konflikt, in Gaza. Dieses Thema betrifft nicht nur diejenigen Menschen, die von solchen Kriegshandlungen ganz direkt in Mitleidenschaft gezogen werden. Es beschäftigt auch die Bürgerinnen und Bürger hier bei uns im Land. Offensichtlich ist, dass wir in Kants „Zum ewigen Frieden“ keine praktischen Handreichungen zur Lösung von kriegerischen Konflikten im 21. Jahrhundert finden können. Aber einige sehr kluge und bedenkenswerte Hinweise finden sich bei Kant eben doch. Einen davon habe ich bereits erwähnt. Er betrifft die Notwendigkeit, im Krieg auf sämtliche Methoden zu verzichten, die jedes Restvertrauen zwischen den Kriegsgegnern zerstören und so einen späteren Friedensschluss unmöglich machen würden. Wir können nur eindringlich an die Kriegsparteien unserer Zeit appellieren, sich dieser Gefahr bewusst zu sein – und entsprechend zu handeln. Kants zweiter Hinweis betrifft die Frage, zu welchen Bedingungen Kriegsparteien Frieden schließen können und schließen sollen. Für Kant ist es klar: Wer angegriffen wird, der darf sich verteidigen, und er soll auch nicht gezwungen sein, sich auf einen Friedensvertrag einzulassen, den der Aggressor in dem „bösen Willen“ abschließt, den Krieg bei „erster günstiger Gelegenheit“ wieder aufzunehmen. Ein solcher Friedensschluss, schreibt Kant, „wäre ja ein bloßer Waffenstillstand, Aufschub der Feindseligkeiten, nicht Friede, der das Ende aller Hostilitäten bedeutet“. Ich meine, diese Warnung Kants sollten wir bedenken, wenn wir nach Auswegen aus den Kriegen unserer Zeit suchen. Wo geschossen und gestorben wird, da mag ein Waffenstillstand dann erstrebenswert sein, wenn er die Aussicht bietet, dass damit der Weg zu einem dauerhaften und gerechten Frieden eingeschlagen werden kann, zumindest das. Wo aber am Ende nichts Besseres ausgehandelt oder vermittelt werden könnte, als ein zeitweiliger „Aufschub der Feindseligkeiten“, da wäre dieses Ergebnis eben schon der Auftakt zum nächsten Krieg. Die Gefahr jedenfalls ist groß. Und wo die Rechte des Einzelnen nichts gelten, wo Unterdrückung herrscht und Willkür – auch dort kehrt kein dauerhafter Friede ein. Nichts anderes gibt Kant uns doch mit auf den Weg, wenn er insistiert: „Das Recht der Menschen muss heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten.“ Wir alle wünschen uns Frieden für unsere Zeit. Aber ein Frieden um jeden Preis – das wäre keiner. Auch diese Einsicht lehrt uns Kant. Vernunft und historische Erfahrung sollten uns anleiten, sie zu beherzigen. Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz beim Gipfel für Forschung und Innovation auf der Hannover Messe am 22. April 2024
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-gipfel-fuer-forschung-und-innovation-auf-der-hannover-messe-am-22-april-2024-2272766
Mon, 22 Apr 2024 00:00:00 +0200
Hannover
Sehr geehrter Herr Professor Kaschke, sehr geehrte Frau Frank, sehr geehrter Herr Professor Cantner, sehr geehrter Herr Professor Haug, sehr geehrter Herr Dr. Schütte, meine Damen und Herren! Die Hannover Messe ist der analoge Zwilling unserer deutschen Industrie – genauso so laut, genauso schnell und genauso beeindruckend. Ich komme gerade jetzt vom Messerundgang, und lassen Sie es mich so sagen: Was ich da gesehen habe, zeigt, warum wir zur Weltspitze gehören. Maschinen, Stahl, Chemie, Autos, exzellente Technik – das sind Deutschlands traditionelle Stärken, und genau diese Stärken kombinieren unsere Unternehmen mit neuen Ideen, Technologien und Innovationen. Auch das hat in Deutschland Tradition. In den Zukunftstechnologien wie KI haben wir in Deutschland ebenfalls starke Player. Ich freue mich, dass Jonas Andrulis nachher hier noch sprechen wird. Das sind genau die Technologien, die wir für eine klimaneutrale Welt brauchen. Etwa zehn Milliarden Menschen sollen 2050 auf der Welt leben. Der Wohlstand in den Ländern Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und der Karibik soll bis dahin im Schnitt das Niveau erreichen, das wir in Europa und in Nordamerika in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts hatten. Das ist natürlich erfreulich, denn es bedeutet: Hunderte Millionen Menschen weniger werden dann in Armut leben. Aber es gehört nicht viel Fantasie dazu, um sich vorzustellen: Wenn diese Entwicklung mit fossilen Technologien stattfindet, dann wird unser Planet sehr bald kein angenehmer Ort mehr zum Leben sein. Deshalb ist doch klar, worin unsere Aufgabe als Wirtschaftsmacht und als Forschungsland liegt, nämlich die Technologien zu entwickeln, die der Welt Fortschritt und Wachstum versprechen, ohne die Erde zu ruinieren: Batterien, die länger halten, als andere und die recyclebar sind, leistungsfähige Elektrolyseure, mit denen wir Wasserstoff herstellen, Maschinen, die uns auch bei komplexeren Arbeiten unterstützen, Autos, die herausragende Qualität und klimafreundliche Technologie vereinen. Was wir dafür brauchen, sind gute Ideen. Eine besonders gute Idee von Ihnen war es deshalb, dass Sie aus dem Forschungsgipfel in diesem Jahr den „Gipfel für Forschung und Innovation“ gemacht haben, um mit ihm hierher, zur Hannover Messe, zu kommen. Das unterstreicht, worauf es ankommt: Forschung und Industrie müssen noch enger zusammenrücken. Ich habe das gestern schon angedeutet, und ich will das hier noch einmal bekräftigen. Unternehmen in vielen Ländern der Erde haben ähnliche Standards für Autos und Solarpanels und produzieren Medikamente, Aluminium oder Rohstahl. Das ist erst einmal nicht schlimm, im Gegenteil; gerade deutsche Unternehmen profitieren davon bis heute. Zugleich bedeutet das aber: Unsere Produkte müssen auch in Zukunft immer noch ein „My“ innovativer und technologisch ausgefeilter sein, als die aus anderen Ländern. Was heute hier erfunden wird, das ist morgen unser Wettbewerbsvorteil. In der angloamerikanischen Welt formuliert man das etwas weniger romantisch. „Innovate or bust“, lautet dort die Devise, und da ist etwas dran. Forschung ist der entscheidende Erfolgsfaktor Deutschlands als erfolgreiches Industrie- und Exportland. Auch deshalb investieren wir gemeinsam ‑ Unternehmen und Staat ‑ so viel Geld in Forschung und Entwicklung wie noch nie. Mehr als 120 Milliarden Euro waren es 2022, mehr als gut drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist so viel wie in keiner anderen der großen Volkswirtschaften Europas. Deshalb ist ein gutes Signal damit verbunden, dass 2023 zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder mehr Patente angemeldet wurden. In Europa liegen wir auf Platz zwei. Das deutsche Unternehmen mit den meisten Patentanmeldungen im vergangenen Jahr war übrigens Bosch. Glückwunsch dazu, Frau Rückert, und schön, dass Sie gleich auf dem Podium dabei sind und mitdiskutieren. Klar ist aber auch: Wir ruhen uns auf solchen Erfolgen nicht aus. Spitzenplätze halten wir nicht von alleine. Private Investitionen unserer Unternehmen werden dabei immer im Mittelpunkt stehen. Aber der Staat kann unterstützen und Anreize setzen. Mit dem Wachstumschancengesetz haben wir gerade steuerliche Forschungszulagen verbessert und ausgeweitet, und ich könnte mir gut vorstellen, dass wir hier noch weiter gehen, wie wir das ursprünglich ja auch vorhatten. Dafür müssen natürlich die Länder und die geschätzte Opposition ein bisschen mitziehen, aber darum werbe ich hier einmal. Gerade in Sachen Wagniskapital und privater Zukunftsinvestitionen sind uns andere Länder voraus. Übrigens gilt für viele Bereiche Europas, dass die auch anders und langsamer sind, als das etwa in den USA der Fall ist. Das alles ist kein Geheimnis. Mich ärgert es jedenfalls, was ich von jungen deutschen Unternehmen höre, zum Beispiel in einem Zukunftsfeld wie der Laserfusion, nämlich dass sie hier in Deutschland zwar einige Millionen an öffentlicher Forschungsförderung bekommen können, dass aber in den USA dreistellige Millionensummen winken, von Wagniskapitalfonds oder privaten Unternehmen. Anleger und Unternehmen sollten auch hier bei uns mehr Risiko eingehen. Natürlich brauchen wir einen echten europäischen Kapitalmarkt. Seit Jahren wird darüber debattiert. Emmanuel Macron und ich haben uns vorgenommen, in den kommenden Jahren endlich Nägel mit Köpfen zu machen, wenn man ein so handwerkliches Bild in Zeiten von KI verwenden darf, damit Europa mithalten kann mit den USA und China. Erfolgreiche deutsche Start-ups in Biotech, Kreislaufwirtschaft, New Space und ziviler Raumfahrt zeigen: Bei der Finanzierung in der Frühphase sind wir in Deutschland ganz gut aufgestellt. Beispiele wie die TUM in München zeigen, wie erhebliches Innnovationspotenzial gut auf dem Weg in die Gründung begleitet wird. Besser werden wollen wir bei der Finanzierung in der Wachstumsphase, zum Beispiel mit dem Zukunftsfonds, mit dem zehn Milliarden Euro bis 2030 zur Verfügung stehen. Der DeepTech & Climate Fonds und der Wachstumsfonds sind schon am Markt aktiv. Mit dem Zukunftsfinanzierungsgesetz haben wir es Start-Ups und jungen Unternehmen leichter gemacht, privates Kapital zu mobilisieren und ihre Entwicklungen voranzutreiben; denn wir wollen, dass Deutschland nicht nur in der Grundlagenforschung immer wieder spitze ist, sondern dass diese Technologien dann auch von deutschen Firmen weiterentwickelt, vermarktet und verkauft werden. Dafür brauchen wir mehr Tempo beim Transfer von der Forschung in die Praxis, zum Beispiel in der Robotik. Hier entstehen ‑ zurückgehend auf Empfehlungen des Zukunftsrats ‑ aktuell zwei sehr wichtige Robotikinitiativen in Deutschland. Neben dem akademisch ausgerichteten Robotics Institute Germany hat sich ein Konsortium aus kleinen und großen Unternehmen für KI-basierte Robotik gebildet. Es steht kurz vor dem Start, und das zeigt klar, dass wir gemeinsam am Standort wichtige industrielle Initiativen voranbringen können. Großes Potenzial für die Zukunft sehe ich auch in den Biowissenschaften, die in den vergangenen Jahren im Schnitt um fünf Prozent pro Jahr gewachsen sind. Was Deutschland hier zu leisten im Stande ist, das haben Institutionen wie die Charité oder Unternehmen wie BioNTech und viele andere während der Pandemie bewiesen. Letztes Jahr habe ich mich mit Uğur Şahin von BioNTech getroffen, und er hat mir sinngemäß gesagt: Deutschland hat Forscherinnen und Forscher, die super sind, gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und tolle Unis. Aber wenn man ein neues Verfahren oder ein neues Medikament erproben will, dann gibt es zig verschiedene Ethikkommissionen, zig unterschiedliche Datenschutzregeln und -ämter und unzählige Bestimmungen der Europäischen Union, des Bundes und der Länder, die Forschung regeln. – Wir waren uns schnell einig: So kann das nicht bleiben. Ohne gute Daten ist Forschung heute kaum noch möglich. Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz macht deshalb Gesundheitsdaten leichter und schneller nutzbar, senkt bürokratische Hürden, senkt und erleichtert Forschung in Deutschland. Mit dem Medizinforschungsgesetz sorgen wir für Tempo in der klinischen Forschung und für schnellere Genehmigungen und Zulassungen, damit es für die Pharma- und Biotechunternehmen in Deutschland einfacher möglich wird, ihre Patente hier zu entwickeln und auch Arzneimittel hier zu produzieren. Dass das angenommen wird, zeigen Milliardeninvestitionen von Biotech- und Pharmaunternehmen in neue Forschungszentren und Produktionsstätten überall in Deutschland. Weniger Bürokratie und dafür mehr Freiheit für die Forschung – das ist der Weg, den wir gehen wollen. Einen letzten Punkt möchte ich noch ansprechen, weil er zu einem modernen Forschungsland unbedingt dazugehört. Ein amerikanischer Gesprächspartner hat mir vor nicht allzu langer Zeit berichtet, dass die Hälfte der Doktoranden an US-Unis in MINT-Fächern nicht in den USA geboren wurde. Die meisten von ihnen bleiben nach ihrem Abschluss als hochqualifizierte Fachkräfte im Land. Auch als Unternehmensgründer sind sie oft extrem erfolgreich. Mehr als die Hälfte der US-Start-ups, die mehr als eine Milliarde Dollar wert sind, haben Einwanderer gegründet. Ich finde, Deutschland kann und muss sich daran ein Beispiel nehmen. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz haben wir das modernste Zuwanderungsrecht geschaffen, das es je in Deutschland gab. Aber natürlich gibt es neben den Gesetzen noch eine weitere Hürde, gerade im Vergleich mit englischsprachigen Ländern. Das ist unsere schöne, aber komplizierte Sprache. Ich finde, sie darf kein Hindernis für Forscherinnen und Forscher und Hochschullehrer in Deutschland sein! Mit unseren Forschungseinrichtungen von Weltrang, mit unserer starken, innovativen Industrie, die Arbeitskräfte sucht, haben wir beste Voraussetzungen im Wettbewerb um die klügsten Männer und Frauen aus aller Welt. Deshalb möchte ich diesen Forschungsgipfel auch für einen Appell nutzen, an Sie, als Vertreter von Wissenschaft und Forschung, aber auch an die Verantwortlichen in den Bundesländern und den Hochschulen. Ich finde, dass deutsche Studierende Englisch sprechen und verstehen können müssen. Was auch immer man über den Schulunterricht in Deutschland sagt: Dafür reicht es. Deshalb ist es gut, wenn ihnen für ihre fachlichen Themen mehr fremdsprachliche Dozenten, Hochschullehrerinnen und Forscher zur Verfügung stehen, mit denen sie sich austauschen können. Ich meine das ganz genau so, nicht so, wie es ab und zu gemacht wird ‑ ein englischsprachiges Curriculum, bei dem lauter Leute die ganze Zeit Englisch sprechen ‑, sondern so, dass man einfach unterstellt: Wer in Deutschland Abitur hat und die Hochschulreife besitzt, der kann einem Vortrag auf Englisch folgen, der kann an einem Unterrichtsprogramm, an einem Forschungsprogramm mit einem Englisch sprechenden Dozenten teilnehmen. Dass wir die einfach akquirieren, ohne dass sie gewissermaßen halb verpflichtet werden, dann in deutscher Sprache über Philosophie, über Ingenieurswissenschaften, über Medizintechnik, über Physik oder Chemie zu sprechen, das könnte viel, viel mehr verbreitet sein, weil wir dann die Besten der Welt auch in unseren Forschungseinrichtungen akquirieren können, einfach, indem wir unterstellen: Hierzulande ist jeder in der Lage, der an einer Universität studiert oder forscht, auch Englisch zu sprechen und zu verstehen. Vielleicht würde uns das auch dazu führen, dass wir viele aus aller Welt attrahieren, um eine Zeitlang in Deutschland ihre wissenschaftliche Expertise voranzutreiben. Weil Forschung und Innovation vom Austausch leben, will ich es hierbei erst einmal belassen. Ich habe eben gesagt, dass die Hannover Messe zeigt, warum wir zur Weltspitze gehören. Dazu gehört auch, dass wir uns als Land immer wieder neu erfinden. Danke für Ihren Einsatz für ein forschungsfreundliches und innovatives Deutschland! Sie haben mich dabei fest an Ihrer Seite! Nun freue ich mich auf die Diskussion. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Eröffnung der Hannover Messe am 21. April 2024
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-eroeffnung-der-hannover-messe-am-21-april-2024-2272492
Sun, 21 Apr 2024 00:00:00 +0200
Hannover
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Jonas, sehr geehrte Frau Kommissionspräsidentin, liebe Ursula, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Stephan, meine sehr geehrten Damen und Herren Minister und Abgeordnete, sehr geehrter Herr Köckler, sehr geehrter Herr Russwurm, meine Damen und Herren, „Pioneering the Green Industrial Transition” ‑ so habt ihr, lieber Jonas, euren Auftritt als Gastland auf der Hannover Messe überschrieben. Was ihr in nordischer Bescheidenheit weggelassen habt: Pioniere industrieller Transition seid ihr schon seit mindestens 1902. In dem Jahr kaufte ein gewisser Sam Eyde seinen ersten Wasserfall ‑ ja, einen Wasserfall. Was mich zu der Frage führt, Jonas: Geht das in Norwegen eigentlich noch heute? Jedenfalls begann dort in einer kleinen Schlucht in den norwegischen Bergen die Geschichte Norwegens als Energieproduzent von Weltrang, und die Industrialisierung Norwegens erhielt dort einen ganz entscheidenden Schub. Dank der Energie aus Wasserkraft baute Sam Eyde gleich zwei Unternehmen auf, die bis heute zu den größten Norwegens zählen: Norsk Hydro und Elkem. Diese Geschichte ‑ und auch deshalb gehört sie hierher ‑ war von Beginn an auch eine deutsch-norwegische Geschichte; denn Sam Eyde hat in Berlin Ingenieurwesen studiert, und seine unternehmerische Karriere begann er in Hamburg, einer Stadt, zu der ich bekanntermaßen eine gewisse persönliche Verbindung habe. Außerdem ersetzte er sehr bald das nach ihm benannte Birkeland-Eyde-Verfahren, mit dem er Kunstdünger herstellte, durch das deutlich effizientere Verfahren der deutschen Chemiker Fritz Haber und Carl Bosch. So stieg Eyde in die Produktion von Ammoniak ein ‑ Ammoniak, wie ihn die deutsche EnBW und ihr norwegisches Partnerunternehmen ab 2026 an der norwegischen Westküste CO2-neutral herstellen wollen ‑ eine Weltpremiere. Dieser grüne Ammoniak wird unter anderem Containerschiffe antreiben. Das weltweit erste dieser Art, die „Yara Eyde“, benannt nach Norwegens großem Industriepionier, wird gerade für eines eurer Chemieunternehmen gebaut. Es wird Güter zwischen Oslo, Hamburg und Bremerhaven transportieren. Das sind nur einige Beispiele, die zeigen, dass Deutschland und Norwegen fast symbiotisch miteinander verbunden sind. Die größte elektrische Autofähre der Welt überquert den Oslofjord mit Technik von Siemens Energy. Norsk Hydro und andere Unternehmen treiben in Norwegen die Produktion von grünem Aluminium voran. Abnehmer sind unter anderem nahezu alle deutschen Autohersteller. Lieber Jonas, was ich damit sagen will, ist klar: Ihr gehört genau hierher, nach Hannover. Gerade in Zeiten, in denen Fragen der sicheren und sauberen Energieversorgung als Voraussetzung der industriellen Transformation im Fokus stehen, ist ein Pionier wie Norwegen das perfekte Partnerland der Hannover Messe. Es freut mich, dich heute hier zu sehen. Danke sagen möchte ich auch für eure Unterstützung, als Russland nach seinem furchtbaren Angriff auf die Ukraine seine Energielieferung nach Deutschland gekappt hat. Dass es uns gelungen ist, uns innerhalb weniger Monate komplett von russischer Energie unabhängig zu machen, haben wir ganz besonders Norwegen zu verdanken. Ihr habt uns zuverlässig Gas geliefert, sogar mehr als ursprünglich vereinbart, und werdet auch in den kommenden Jahren unser größter Gaslieferant sein. Dafür erschließt Norwegen zusätzliche Gasfelder. Und das ist ‑ das sage ich an dieser Stelle ganz klar ‑ nötig für die Versorgungssicherheit Deutschlands und Europas. Klar ist uns allen aber natürlich auch: Das Zeitalter fossiler Energien geht zu Ende. Für uns alle bedeutet das, industrielle Prozesse umzustellen. Für Norwegen heißt das, auch ein bedeutender Versorger mit sauberer Energie aus Wind- und Wasserkraft zu werden. Die Voraussetzungen dafür könnten kaum besser sein: Ihr habt viel Wind und Wasser, eine vorhandene Pipelineinfrastruktur und enorme Expertise im Energiebereich. Und was wichtig ist in solchen Umstellungsphasen: Ihr habt einen verlässlichen Partner und Abnehmer für diese Energie, und der sitzt hier in diesem Raum: die deutsche Industrie. Unternehmen aus unseren beiden Ländern tun gerade alles dafür, dass 2030 die ersten Wasserstoffmoleküle von Norwegen nach Deutschland fließen. Ich bin der EU-Kommission sehr dankbar, liebe Ursula, dass sie mit uns an einem Strang zieht und das Vorhaben in den kommenden Monaten als ein Projekt von strategischer Bedeutung für ganz Europa einstufen wird. So kommt noch mehr Tempo in dieses Projekt. Zusammenarbeiten werden wir auch beim Abscheiden von CO2, Stichwort CCS ‑ es ist schon erwähnt worden. Denn wir wissen: Nicht alle Industrieprozesse werden sich bis 2045 vollständig dekarbonisieren lassen. Norwegen ist da technologisch führend, und deshalb setzen wir gemeinsam auch auf diese Technologie im Kampf gegen den Klimawandel. Eines brauchen wir für die Transformation natürlich unabhängig von Wasserstoff und CCS, und das ist mehr Strom ‑ klimafreundlich produziert und zu bezahlbaren Preisen. Mehr Tempo haben wir bereits in den Ausbau der erneuerbaren Energien gebracht, um 2030 80 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien herzustellen. Bei der Solarenergie liegen wir bereits über dem Soll. Beim Wind an Land hat sich die genehmigte Leistung innerhalb des vergangenen Jahres beinahe verdoppelt. Letzten Sommer haben sich BP und TotalEnergies für Milliardensummen Flächen für neue Offshore-Windanlagen gesichert. Der Ausbau der Übertragungsnetze nimmt Fahrt auf. Bisher dauerte der Bau von Leitungen immer länger als vorgesehen. Nun geht es zum ersten Mal schneller als zwischenzeitlich geplant. Als wir 2022 entschieden haben, dem Ausbau der erneuerbaren Energien gesetzlichen Vorrang einzuräumen, da hätten wohl die wenigsten geglaubt, dass wir diesen Turnaround so schnell schaffen. Und zugleich sorgen wir vor für Zeiten, in denen kein Wind weht und die Sonne nicht scheint. Mit der Kraftwerksstrategie treiben wir den Bau moderner, hochflexibler und klimafreundlicher Kraftwerke voran. Auch der Plan für unser Wasserstoffkernnetz steht ‑ privat finanziert, aber staatlich abgesichert. Damit haben wir nun praktisch alle Elemente für die Energieversorgung der Zukunft in Deutschland beisammen. Das ist eine wichtige Nachricht, auf die ich hier auf der Hannover Messe noch einmal hinweisen möchte. Der Weg hierher war in den vergangenen zwei Jahren sicherlich anstrengend und fordernd für uns alle. Aber wenn Sie mich fragen, lieber Herr Russwurm, dann waren das eben zwei Turnaround-Jahre. Wir haben die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine für unser Land in den Griff bekommen, und wir sind den nötigen Wandel unserer Energieversorgung angegangen. Natürlich schauen wir auf die wirtschaftlichen Kennzahlen ‑ zum Beispiel auf das Bruttoinlandsprodukt, das zuletzt stagniert hat und das dieses Jahr nur langsam wächst. Dafür gibt es auch Gründe. Wir sind eine Exportnation, und einer unserer weltweit größten Handelspartner ‑ ich war erst letzte Woche dort ‑ wächst deutlich langsamer als zuletzt. Wir sind ein Industrieland, und als solches mussten wir innerhalb weniger Monate vollständig auf Energie aus Russland verzichten, was die Energiepreise zwischenzeitlich explodieren ließ ‑ Ursula von der Leyen hat darauf hingewiesen. Die Leitzinsen sind innerhalb eines Jahres von einem historisch außergewöhnlichen Tief um satte 4,5 Prozent gestiegen. All das hat unsere Volkswirtschaft massiv gefordert. Kein Wunder also, dass letztes Jahr hier in Hannover ein staatlich subventionierter Industriestrompreis noch ein großes Thema war. Inzwischen liegen die Großhandelspreise für Gas und Strom wieder auf dem Vorkrisenniveau oder sogar darunter. Das gilt für alle Unternehmen, ob groß, ob klein, und ganz besonders für die energieintensiven Unternehmen, die von der Strompreiskompensation profitieren. Wir haben außerdem die Stromsteuer für das gesamte produzierende Gewerbe radikal gesenkt. Wir entlasten energieintensive Unternehmen bis 2027 um bis zu fünf Milliarden Euro pro Jahr über die schon erwähnte Strompreiskompensation. Aktuell sprechen wir in der Bundesregierung darüber, wie wir diese Entlastung fortschreiben können, und dabei nehmen wir die Kosten des Stromsystems insgesamt in den Blick. Weil es beim Strompreis natürlich auch um die internationale Wettbewerbsfähigkeit geht, will ich noch einen Hinweis hinzufügen: Es stimmt, in den USA und manch anderen energiereicheren Ländern liegen die Energiepreise unter denen in Deutschland. Diese Differenz hatte sich kurz nach dem russischen Lieferstopp vervielfacht ‑ zulasten unserer Industrie. Inzwischen aber liegt auch dieser Abstand wieder auf dem Niveau, das unsere Unternehmen lange Zeit kannten und mit dem sie seit Jahren und Jahrzehnten umgehen müssen. Meine Damen und Herren, die gesunkenen Energiepreise stützen auch die Konjunktur insgesamt ‑ gerade auch in den energieintensiven Branchen, die es zuletzt besonders schwer hatten. Mit dem Jahresbeginn ist die Produktion in diesen Branchen merklich gestiegen, genau wie in der gesamten Industrie. Deshalb auch ein paar Fakten: Die Inflation liegt inzwischen bei 2,2 Prozent, sie ist so niedrig wie seit 36 Monaten nicht. Die Preiserwartungen der Unternehmen befinden sich auf dem niedrigsten Stand seit dem März 2021. Damit rücken aus Sicht vieler Expertinnen und Experten sinkende Zinsen in Reichweite, weil wir nah dran sind am Preisstabilitätsziel der Europäischen Zentralbank. Die Beschäftigung liegt in Deutschland auf Rekordhoch. Die Arbeitslosigkeit bleibt historisch niedrig. Auch die Beiträge zur Sozialversicherung sind nicht höher als vor 20 Jahren, sondern niedriger. Der DAX, der ja nichts anderes widerspiegelt als die Erwartungen der Anleger in die größten deutschen Unternehmen, ist über die vergangenen Monate deutlich gestiegen ‑ ebenso das IFO-Geschäftsklima und die Konsumlaune der Verbraucher. Selbst in gebeutelten Branchen wie dem Bausektor gibt es Licht am Horizont: Die Zahl der neu abgeschlossenen Hypothekenverträge liegt seit Jahresbeginn wieder auf dem Niveau von 2020, und auch die Bauproduktion zog letztlich merklich an. Vor allem aber ‑ und das ist aus meiner Sicht das Wichtigste ‑ ist die reale Bruttowertschöpfung in der Industrie trotz der Inflation und trotz des vorübergehenden Produktionsrückgangs stabil geblieben. Das bedeutet schlicht und einfach: Der Beitrag der deutschen Industrie zu Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung ist ungebrochen, auch in der Transformation. Und darauf kommt es an, wenn über Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit gesprochen wird. Die deutsche Industrie lebt nicht davon, dass wir heute noch dieselben Autos oder Maschinen bauen wie vor 20 oder 30 Jahren. Wovon unser Land auch in Zukunft lebt, ist doch, was auf dieser Messe hier zu sehen ist: dass wir Neues entwickeln, dass wir Produkte kontinuierlich verbessern, dass wir zukunftsweisende Technologien erforschen und anwenden ‑ aber wem sage ich das. Autos und Maschinen bauen können auch andere. Aber wenige können das so gut wie wir. Der Grund dafür ist, dass wir als Land, Staat und Unternehmen gemeinsam mehr als andere in Forschung und Entwicklung investieren, nämlich deutlich mehr als drei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts. Diesen Kurs setzen wir fort. Gerade erst haben wir mit dem Wachstumschancengesetz einen weiteren Impuls bei der steuerlichen Forschungsförderung gesetzt, und ich könnte mir gut vorstellen, da noch weiter zu gehen. Meine Damen und Herren, genug bezahlbare Energie und mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung: Das sind zwei zentrale Elemente einer Politik, die das Angebot stärkt. Das wichtigste Element einer solchen modernen Angebotspolitik aber ‑ das sagen uns nahezu alle Studien und Wirtschaftsinstitute ‑ ist die Verfügbarkeit von Arbeitskräften ‑ gerade hier in Deutschland, gerade angesichts unserer Demografie. Das aktuelle Beschäftigungshoch, über das ich gerade gesprochen habe, verdanken wir fast ausschließlich der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union und dem Zuzug von rund sechs Millionen Arbeitskräften aus anderen Mitgliedsstaaten. Dafür mussten wir nicht allzu viel können. Also ruhen wir uns darauf auch nicht aus. Deshalb das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ‑ eines der einfachsten und modernsten weltweit. Deshalb mehr Unterstützung für die Aus- und Weiterbildung in Unternehmen ‑ und ich kann Sie nur ermutigen: Nutzen Sie das. Deshalb mehr Investitionen in Ganztagsbetreuung, auch damit mehr Frauen aus der Teilzeit in die Vollzeit wechseln können. Deshalb solche smarten, KI-getriebenen Technologien, wie wir sie gerade von den Gewinnern des Hermes Award gesehen haben und wie man sie hier in Hannover tausendfach entdecken kann. Maschinen, die uns einfache Arbeiten abnehmen, sodass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in höher qualifizierte Tätigkeiten wechseln können. All das steigert Produktivität und Wachstum, und auch da kann ich mir vorstellen, noch weiter zu gehen. Etwa, indem wir es noch attraktiver machen, über den Renteneintritt hinaus freiwillig weiterzuarbeiten ‑ wohlgemerkt freiwillig. Oder indem wir die Transparenz unseres Arbeitsmarktes erhöhen, sodass sich Beschäftigte leichter auf besser bezahlte und höher qualifizierte Jobs bewerben können. Auch das steigert Produktivität. Zu einer modernen Angebotspolitik gehört natürlich auch, dass wir schneller werden und einfacher. Da sind wir uns vollkommen einig ‑ Herr Russwurm hat darüber gesprochen, und ich unterstreiche das. Bürokratieabbau kostet nichts und bringt viel. Deshalb reden wir nicht nur darüber, sondern wir machen. Vielleicht darf ich an dieser Stelle noch einfügen: Man hatte mir vorgeschlagen zu sagen, dass das Statistische Bundesamt herausgefunden hat, dass wir bei dem Papierkram und bei Bürokratiesachen im Augenblick auf einem Allzeitniedrigniveau liegen. Da habe ich gesagt: Das ist kontraintuitiv. Deshalb trage ich Ihnen das auch nicht vor, aber ich wollte es trotzdem nicht verheimlichen. Mehr als drei Milliarden Euro bringt allein das Bürokratieabbaupaket, das wir in Meseberg vergangenes Jahr geschnürt haben. Mit dem Deutschlandpakt, den wir letztes Jahr gemeinsam mit den Ländern, Stephan Weil, geschnürt haben, vereinfachen wir zum Beispiel das Bau- und Planungsrecht und sorgen für schnellere Genehmigungsverfahren. Für den Bund kann ich sagen: Ein wesentlicher Teil der weit über hundert konkreten Aufträge ist schon in der Umsetzung. Hinzu kommen höhere Schwellenwerte nach der EU-Bilanzrichtlinie. Das bedeutet ja nichts anderes als weniger Berichtspflichten für viele tausend Mittelständler. Parallel arbeitet die Kommissionspräsidentin ‑ sie hat uns davon berichtet ‑ mit unserer Unterstützung daran, im EU-Recht weitere Berichtsvorlagepflichten abzuschaffen. Das Ziel sind mindestens 25 Prozent. Das ist auch richtig, wie der Beifall eben gezeigt hat; denn die meisten bürokratischen Regeln stammen aus Brüssel. Und noch eine Hoffnung verbinden wir mit der Europäischen Union, nämlich neue Handelsabkommen ‑ da sind wir uns einig, liebe Ursula. Damit das schneller und einfacher gelingt, brauchen wir mehr Abkommen in Alleinzuständigkeit der Europäischen Union, sogenannte EU-only-Abkommen. Wir haben Handelspolitik ja ganz bewusst europäisiert, damit mehr und bessere Abkommen abgeschlossen werden und nicht zu wenige. Wir haben die Kompetenz abgegeben, damit es Handelsabkommen gibt, und deshalb müssen auch noch ein paar zusätzliche neu hinzukommen. Dass manche der Verhandlungen mit lateinamerikanischen oder asiatischen Staaten nun schon zehn oder 20 Jahre laufen, halte ich für vollkommen inakzeptabel. In dieser globalen Lage, in der überall neue protektionistische Tendenzen aufkommen, sind hier alle Mitgliedstaaten gefordert, pragmatisch zu sein, und das erwarten wir natürlich auch von unseren Handelspartnern. Einen letzten Punkt möchte ich noch nennen, der zu einer modernen Angebotspolitik unbedingt dazugehört: Der Staat muss für eine zukunftsfähige Infrastruktur sorgen. Da ist viel zu viel liegen geblieben und viel zu wenig investiert worden. Deshalb ändern wir das, indem wir Rekordsummen in bessere Straßen, Schienen und Brücken investieren, aber auch in unsere digitale Infrastruktur. Innerhalb eines Jahres, von 2022 auf 2023, sind die verfügbaren Glasfaseranschlüsse für unsere Unternehmen um rund 40 Prozent gestiegen. Eine leistungsfähige Infrastruktur, eine sichere, bezahlbare, saubere Energieversorgung: Das sind Voraussetzungen dafür, dass Unternehmen hier in Deutschland investieren. Und das tun viele Unternehmen ‑ Sie alle kennen etwa die Namen der großen Halbleiter- und Batteriehersteller. Einige dieser Investitionen fördern wir auch seitens des Bundes, weil wir ‑ etwa, was die Chip-Industrie angeht ‑ im weltweiten Wettbewerb stehen, mit den USA, mit China und anderen. Gerade für Deutschland ist es entscheidend, dass wir bei diesen digitalen Schlüsseltechnologien vorne dabei sind. Denn Chips, Batterien und KI, die stecken nicht nur in unseren Autos und in unseren Maschinen, sondern damit wird in Zukunft Geld verdient. Deshalb holen wir das nach Deutschland und nach Europa. Sehr oft geht das übrigens ‑ auch das muss hier gesagt werden ‑ ohne staatliche Förderung. Ich will einmal sagen: Vor einiger Zeit waren alle der Meinung, so etwas müsse überhaupt ganz ohne staatliche Förderung gehen. Nun ist da so ein weltweiter Wettbewerb entstanden, und wir können ja auch ein bisschen mithalten. Das machen wir auch. Aber trotzdem: Es geht auch ohne. Viele Beispiele dafür sind in letzter Zeit zu besichtigen gewesen. Das zeigt zum Beispiel ein Blick in eine andere Boom-Branche, die Pharma- und Biotech-Industrie. Auch dort fließen gerade Milliardeninvestitionen nach Deutschland, und zwar fast ausschließlich privat. Was dabei aber hilft ‑ und darum erwähne ich das hier ‑, ist, dass wir Zulassungs- und Prüfverfahren mit dem Medizinforschungsgesetz gerade vereinfacht haben und dass wir ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz beschlossen haben, das es forschenden Unternehmen leichter macht, digitale Gesundheitsdaten zu nutzen. Die Pharmaunternehmen, die hier gerade investieren, haben mir alle gesagt ‑ ganz praktisch ‑: Wegen dieser beiden Gesetze ist die Entscheidung für die Investition in Deutschland gefallen. Genau das verstehe ich unter Angebotspolitik: Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, bei denen jeder sagt: Es rechnet sich übrigens auch ohne Subventionen. Das ist etwas, das dazu beiträgt, dass die Unternehmen eine gute Entwicklung nehmen können. Das ist ein Beispiel, das wir ganz präzise sehen, und davon brauchen wir noch mehr. Meine Damen und Herren, „perception is reality“ heißt ein beliebter Spruch aus der Beratungsbranche. Da ist insofern etwas dran, als die subjektive Wahrnehmung gerade in der Wirtschaft eine große Rolle spielt. Stimmung und Lage sind da nicht immer deckungsgleich. Deshalb schließe ich mit einer kleinen Bitte: Lassen Sie uns den Wirtschaftsstandort Deutschland stark machen und nicht schwachreden. Ein paar Argumente dafür wollte ich Ihnen heute vortragen; das war mir ein Bedürfnis ‑ ich glaube, Sie haben es irgendwie gemerkt. Danke, dass Sie alle Teil dieser größten Industrie- und Zukunftsmesse der Welt sind. Danke, lieber Jonas, dass ihr unsere Gäste seid. Danke an das Team der Deutschen Messe für alles, was Sie hier jedes Jahr wieder auf die Beine stellen. Die Hannover Messe 2024 ist hiermit eröffnet.
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Frühjahrstagung der Landesgruppen Niedersachsen/Bremen und Nordrhein-Westfalen der SPD-Bundestagsfraktion am 19. April 2024 auf Norderney
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-fruehjahrstagung-der-landesgruppen-niedersachsen-bremen-und-nordrhein-westfalen-der-spd-bundestagsfraktion-am-19-april-2024-auf-norderney-2272466
Fri, 19 Apr 2024 00:00:00 +0200
Norderney
Schönen Dank für die Einladung und für die Gelegenheit, hier ein paar Worte zu sagen! Es ist ja schon ganz besonders, hierherzukommen. Insofern fängt der Tag schon einmal großartig an, und ich glaube, dass das vielen so geht. Ich habe vorhin beim Hereingehen gesagt: Das ist ja auch einer der wichtigsten Urlaubsorte der Nordrhein-Westfalen. – Insofern ist es ja gar kein Zufall, dass die beiden Landesgruppen hier gemeinsam tagen. Die Welt, in der wir gegenwärtig leben, ist von vielen Krisen geprägt, die uns herausfordern. Eine, die uns jeden Tag mit großer Sorge erfüllt und die wir intensiv betrachten, ist die Entwicklung im Nahen Osten, der furchtbare Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober und das, was wir jetzt an weiterer Entwicklung erleben: der Krieg in Gaza und all die Konsequenzen, die das auch für die Bürgerinnen und Bürger, die dort leben, hat, und natürlich die Sorge um alle Menschen, die von Krieg und all den Folgen, die damit verbunden sind, betroffen sind. Gestern Nacht hat es erneut eine militärische Aktivität gegeben, über die gegenwärtig auch in den Medien schon ein wenig berichtet wird. Darüber kann und will ich nicht mehr sagen, als dass für uns weiter ein ganz klares Prinzip gilt: Alle müssen jetzt und in der nächsten Zeit dafür sorgen, dass es nicht zu einer weiteren Eskalation des Krieges kommt. Das ist das, was wir als Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit unseren Freunden und Verbündeten klar vertreten, mit den USA, mit den anderen Staaten der G7, mit unseren Kolleginnen und Kollegen in Europa. Das ist auch die Rolle, die wir haben müssen, um dafür zu sorgen, dass es eine gute Perspektive gibt. Wir haben über die Situation oft gesprochen. Deshalb, will ich sagen, gehört für uns auch dazu, dass wir uns nicht nur immer klar dazu bekannt haben, dass Israel jedes Recht hat, sich gegen den Angriff, den die Hamas gestartet hat, zu verteidigen, sondern auch dazu, dass das entlang der Regeln des Völkerrechts geschehen muss, dass die Belange der Zivilbevölkerung in Gaza beachtet werden müssen, dass es jetzt nicht zu groß angelegten Offensiven in Rafah kommt, dass humanitäre Hilfe nach Gaza gelangen kann und dass eine Perspektive für die palästinensische Bevölkerung in Westbank und Gaza gefunden wird, aber auch für die ganze Region. Die setzt voraus, dass ein friedliches Miteinander zwischen Israel und einem palästinensischen Staat möglich wird, der Westbank und Gaza umfasst. Das ist unsere Haltung, die wir vertreten. Ich habe diesen Krieg, diese Entwicklung, wegen der Aktualität der Ereignisse heute Nacht als Allererstes angesprochen. Aber es ist nicht der einzige, der uns besorgt, und auch das spricht ja auch Bände über die Welt, in der wir gegenwärtig leben. Viele Kriege sind es, die uns gegenwärtig Sorgen machen, und man mag sie gar nicht alle aufzählen: den Bürgerkrieg in Myanmar, das, was im Jemen stattfindet, die Entwicklung im Sudan, in Somalia. In Mosambik gibt es einen Bürgerkrieg, der sich unverändert auszuweiten droht, und niemand weiß, was im Kongo und darum herum geschehen wird. Auch da mag es bald zu einer großen militärischen Eskalation kommen. Wir wissen: Wenn wir die ganze Welt anschauen, ließe sich diese Liste von Kriegen und großen Auseinandersetzungen verlängern. Der Sahel ist eine solche Region, weil unsere Bemühungen ‑ zusammen mit vielen anderen und den Vereinten Nationen ‑, für Frieden und eine bessere Entwicklung zu sorgen, keine Erfolge gebracht haben. Das muss man ja sagen. Aber es ist ein weiteres Zeichen dafür, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist. Das Deutlichste, das uns jetzt am meisten umtreibt, ist natürlich der brutale Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Das, was Russland macht, ist ‑ ich will das hier an dieser Stelle und auch bei dieser Zusammenkunft hier an diesem Ort sagen ‑ eine Zeitenwende, weil es die Sicherheitsarchitektur und damit das Gefühl dafür, dass Sicherheit und Frieden in Europa eine Perspektive haben, aufgekündigt hat. Es gab eine Verständigung in der Welt, und diese Verständigung existierte gerade in Europa, dass Grenzen nicht mehr mit Gewalt verschoben werden sollen. Das hat Russland aufgekündigt. Das ist die Zeitenwende, und deshalb unterstützen wir die Ukraine bei ihren Bemühungen, das Land, die Integrität des Landes und die Souveränität zu verteidigen. Wir tun das am umfangreichsten in Europa und meistens auch als Erste und als Schnellste. Es ist ja vielleicht ab und zu wichtig, das hier in Deutschland zu sagen; denn anderswo gibt es gar keinen Zweifel mehr daran, dass wir diejenigen mit der größten und umfassendsten Unterstützungsleistung sind und dass wir diejenigen sind, die auch die wichtigen Dinge oft als Allererste, im größten Umfang und zuverlässig zur Verfügung gestellt haben. Gerade erst haben wir die Entscheidung getroffen, neben den zwei Patriot-Batterien, die wir zur Verfügung gestellt haben, eine weitere dorthin zu verbringen. Das ist eine weitreichende Entscheidung, und Boris und ich haben darüber lange miteinander diskutiert, das hin und her gewogen, weil das ja etwas ist, das wir auch unter dem Gesichtspunkt unserer eigenen Verteidigungsfähigkeit gut bedenken müssen. Aber wir haben diesen Schritt noch einmal gemacht, sodass wir als Deutsche der Ukraine Luftverteidigung in größtem Umfang und auch den effektivsten Teil in allen Dimensionen bereitgestellt haben, weil wir jetzt noch einmal viele dazu aufrufen wollen, dass sie mitmachen, dass sie genauso wie wir schauen, vielleicht nicht nach der dritten Batterie, sondern nach der ersten. Aber da müssen ja doch noch welche möglich sein! Es braucht, damit die Ukraine sich gegen die Angriffe aus der Luft verteidigen kann, jetzt noch einmal zusätzlich zu der weiteren, die wir geliefert haben, sechs neue Patriot-Batterien als Verteidigungsmöglichkeit, und wir fordern unsere europäischen Freunde und Verbündeten auf, die jetzt bereitzustellen. Wir sind klar: Wir unterstützen die Ukraine mit allen Möglichkeiten, die erforderlich sind, und dabei geht es eben auch um Verteidigung und darum, dass die Waffen geliefert werden, die Munition, die gebraucht wird. Aber wir bemühen uns schon seit Langem darum, dass auch nicht vergessen wird, dass auch diplomatische Bemühungen notwendig sind. Deshalb haben wir immer alles unterstützt, was in dieser Hinsicht von großer Bedeutung war, zum Beispiel die Verhandlung über das Getreideabkommen, zum Beispiel die Verhandlung über einen Gefangenenaustausch, zum Beispiel die Frage, wie man gewährleisten kann, dass die Sicherheit des Atomkraftwerkes Saporischschja nicht gefährdet wird, und, und, und. Aber ganz besonders gilt das für den großen Prozess, der jetzt schon lange im Gange ist, in dem wir versuchen, Gesprächsformate zu pflegen, weil es ja so viele nicht gibt, die weit über die Ukraine hinausreichen. Es hat Treffen in Kopenhagen, in Dschidda, in Valletta, in Davos gegeben, bei denen nicht nur die vielen Unterstützer und Freunde, die die Ukraine hat, zusammengekommen sind, sondern auch andere, die sich ein bisschen weniger klar entschieden haben, wenn es darum geht, was sie denken, wie die Dinge weitergehen sollen; zum Beispiel aus dem arabischen Bereich, Südafrika, Brasilien und auch China. Das ist immer noch eine Pflanze, die viel gegossen werden muss, aber es ist etwas, das es gibt und das wir pflegen und von dem wir hoffen, dass dort demnächst weitere Zusammenkünfte möglich werden, bei denen etwas hinsichtlich der großen Frage beschlossen wird ‑ nicht schon jetzt; das ist leider klar‑, wie es mit dem Krieg zu Ende geht, wie man eine Lösung finden kann, die einen Diktatfrieden Russlands verhindert und eine Perspektive für die Ukraine bietet, die ihre Unabhängigkeit und Souveränität und Integrität als Demokratie verteidigt. Aber das sind doch Punkte, die dazugehören. Deshalb ist es in dem Sinne ein ganz wichtiger Schub gewesen, ein ganz wichtiger Fortschritt, dass diese Frage jetzt in meinen Gesprächen mit dem chinesischen Präsidenten und dem chinesischen Regierungschef auch eine Rolle gespielt hat und dass wir uns gemeinsam zu solchen Bemühungen bekannt haben, zu den Themen, die dort besprochen werden und die Friedenszusammenkünfte in der Schweiz als eine notwendige Sache begriffen und beschrieben haben. Das ist etwas, das in diesem mühseligen Prozess unverzichtbar ist, und ich bin dankbar, dass Deutschland und auch ich dazu einen Beitrag leisten konnten, dass das jetzt möglich wird. Die Politik bewegt sich in der Welt in Dimensionen, die nicht den Gesetzmäßigkeiten von kurzfristigen, aufploppenden Nachrichten in irgendwelchen Social-Media-Kanälen entsprechen. Sicherlich ist es auch nicht so, wie es für die Dramaturgie eines Tages im Netz perfekt wäre: Erst die eine Meldung, nachmittags die Lösung aller Weltprobleme. – Manchen Kommentar zu diesen Fragen habe ich so verstanden, als ob das Realität wäre in der Welt, in der wir leben. Aber ich glaube, das spricht eher wenig für das Beurteilungsvermögen derjenigen, die sich so zu diesen Dingen verhalten. Die Bürgerinnen und Bürger, die sind sehr klar und sehr vernünftig. Sie wissen: Wir müssen beides tun, die Ukraine unterstützen und diese Möglichkeiten und Formate mühselig, beharrlich und mit aller Geduld voranbringen. Wir haben nur diese Möglichkeiten. Wir haben natürlich auch über die wirtschaftliche Entwicklung in China gesprochen. Vielleicht darf ich das sagen: Ich war erst in Chongqing, 32 Millionen Einwohner, dann in Schanghai, 25 Millionen, dann in Peking, 22 Millionen, und jetzt bin ich auf Norderney, 6000. Aber wir haben auch größere Städte. Aber welche mit 25 Millionen sind nicht dabei, übrigens überhaupt in Europa nicht. Man sieht also, dass China ein Land ist, das sich dramatisch entwickelt, in dem es Regionen und Bereiche gibt, die wirtschaftlich dicht dran sind an dem, was wir an Wohlstand und technologischer Kompetenz haben. Gleichzeitig ist die zweitgrößte Wirtschaftsnation der Welt auch in vielen Teilen noch ein Land, das viel, viel Entwicklungsbedarf vor sich hat, ganz anders als die ‑ jedenfalls nach aktueller Statistik ‑ drittgrößte Wirtschaftsnation der Welt, die Bundesrepublik Deutschland mit 84 Millionen Einwohnern. Manchmal, glaube ich, müssen wir uns das noch einmal sagen: Das ist die Wirklichkeit. Da sind die USA mit weit mehr als 300 Millionen Einwohnern, da ist China mit weit mehr als einer Milliarde Einwohnern, und dann kommt Deutschland. Manchmal kommt Japan vor uns, die haben nämlich mehr Einwohner. Es ist auch egal, ob wir auf Platz drei oder vier sind, aber im Augenblick zählen die meisten uns auf Platz drei – mit viel weniger Einwohnern, mit 84 Millionen. Was für eine gigantische ökonomische Leistung! Was für eine Wirtschaftskraft verbirgt sich hinter dieser Berichterstattung über Wirtschaftskraft in der Welt! Deshalb muss es natürlich darum gehen, dass wir jetzt alles dafür tun, dass wir Wohlstand für die zukünftigen Generationen in Deutschland sichern können, dass wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass das gut geht und gut ausgeht. Das müssen wir jetzt entscheiden, jetzt, wo wir noch acht Milliarden Einwohner auf der Welt haben, damit es auch klappt, wenn wir um 2050 herum zehn Milliarden haben werden. Deshalb müssen wir auch jetzt Bedingungen schaffen, unter denen diese Welt von zehn Milliarden gut miteinander wachsen und sich entwickeln kann und friedlich bleibt, diese Welt mit vielen neuen Mächten neben Europa und Nordamerika und vielleicht unseren asiatischen Freunden und Verbündeten wie Korea und Japan oder Australien, mit vielen anderen großen Ländern mit oft 500 Millionen, einer Milliarde, 1,4 Milliarden Einwohnern, nicht nur einem, sondern vielen! Darum sind die Fragen, wie wir das hinbekommen, von so zentraler Bedeutung. Eine Sache, die für wirtschaftlichen Handel und fairen Wettbewerb und gute Entwicklungsbedingungen zentral ist, ist, dass wir drei Dinge für uns als Deutsche klar begreifen. Erstens. Wir sind als eine der erfolgreichsten Exportnationen der Welt auf einen funktionierenden Welthandel angewiesen, und deshalb sollten wir neue Initiativen starten, die dafür Sorge tragen, dass die Welthandelsorganisation und ihre Prinzipien wieder mehr beachtet werden, wenn es um Subventionen geht, wenn es um faire Handelsbeziehungen geht, auch, wenn man über die Frage redet, wie gewissermaßen Überkapazitäten in der Welt ausgebreitet werden oder was auch sonst. Es gibt Prinzipien, auf die wir uns schon verständigt haben, und sie sind auch geeignet, die Konflikte zu lösen. Deshalb gilt es, einen neuen Anlauf zu nehmen, die Welthandelsorganisation stark zu machen. Zweitens brauchen wir eine neue Nord-Süd-Politik. Es ist sehr wichtig, dass wir auf Augenhöhe mit diesen Ländern sprechen. Drittens brauchen wir eine starke Europäische Union. Ich war gerade beim Europäischen Rat, wo wir diese Fragen beredet haben und zusammen mit Frankreich eine Initiative ergriffen haben, um jetzt noch einmal etwas für die Kapitalmarktunion zu tun. Ich meine, es wird ja jeden Tag gemutmaßt, warum das Wachstum in den USA größer ist als in Europa. Aber in Wahrheit steht alles fest: Es ist im Wesentlichen der fehlende Kapitalmarkt, die Tatsache, dass das viele Geld, das in Europa eingesammelt wird, nicht in Wachstum in Europa investiert wird. Diese Bedingungen müssen wir ändern. Es ist doch ein Anachronismus, dass die Kapitalsammelstellen in Europa das Geld zusammensammeln, in die USA transferieren und es von dort in Wachstumsfinanzierung und Start-ups in Europa investiert wird! Wir müssen das selbst können, und das muss jetzt mutig vorangebracht werden. Es darf nicht bei dem Stillstand der letzten zehn, 20 Jahre bleiben! Aber wir brauchen als Europäische Union, und das schließt den Kreis, den ich hier aufgemacht oder begangen habe, auch Freihandelsabkommen. Deshalb habe ich mich noch einmal dafür eingesetzt, dass das jetzt endlich vorankommt. Es sind so viele Abkommen nicht zu Ende verhandelt: mit den Staaten im Süden Amerikas, mit Indonesien, mit den ganzen ASEAN-Staaten, mit Indien. Das kann nicht alles zehn, 20 Jahre dauern. Ich sage auch hier als deutscher Bundeskanzler: Wenn wir der Europäischen Union die Kompetenz für Handelsverträge gegeben haben, dann nicht, damit da keine abgeschlossen werden, sondern, damit da welche zustande kommen! Das jedenfalls habe ich in Brüssel klar gemacht. Unser Land ist durch das, was mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, den vielen weiteren Kriegen und den Konsequenzen daraus verbunden ist, natürlich besonders herausgefordert gewesen. Wir sind vor zwei Jahren als Regierung angetreten, um das Land voranzubringen, einen Turnaround zustande zu bringen und Fortschritt möglich zu machen. Wir haben uns auch trotz den widrigen Zeiten darangemacht. Aber ganz plötzlich mussten wir nicht nur etwas dafür tun, die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes zu stärken und der Ukraine dabei zu helfen, sich zu verteidigen, sondern wir mussten auch sofort mit den ökonomischen Konsequenzen umgehen, die sich in dramatisch steigenden Energiepreisen und vielem, vielem anderen gezeigt haben, was Veränderung von Handelsströmen, von Märkten, von Lieferbeziehungen und allem anderen betrifft, was dabei eine Rolle spielt. Liebe Freundinnen und Freunde, wir haben es geschafft! Das hätte uns niemand vorhergesagt. Ich erinnere mich noch an die Gespräche, die ich international geführt habe, bei denen der eine oder andere die Häme im Gesicht kaum verbergen konnte in der Annahme, Deutschland bekomme jetzt eine zehn- oder zwanzigjährige Wirtschaftskrise. Übrigens bestand bei den europäischen Partnern überhaupt große Sorge, weil Deutschland als großes Land in der Mitte und mit Handels- und Lieferbeziehungen überallhin, auch in Europa, natürlich der Wirtschaftsmotor der gesamten Europäischen Union ist. Apropos, weil Direktinvestitionen deutscher Unternehmen im Ausland plötzlich ein Problem sind: Was ist denn nach 1990 mit dem Fall des Eisernen Vorhangs wohl passiert? ‑ Überall Zulieferer und Direktinvestitionen deutscher Fabriken in Polen, in Tschechien, in der Slowakei, in Ungarn, in Rumänien, in Bulgarien und immer so weiter, auch in den Balkanstaaten! Zighunderte Milliarden an Direktinvestitionen sind dorthin geflossen, was jetzt die Wirtschaftsbeziehungen unserer Länder ausmacht. Das ist innerhalb kürzester Zeit passiert, und niemand wäre seinerzeit auf die Idee gekommen, das sei ein Ausdruck ökonomischer Fehlentwicklungen, sondern das, was damals passiert ist, wurde sehr gelobt. Jetzt ist die Arbeitslosigkeit in vielen dieser Länder so gering, dass es mit den Direktinvestitionen schon schwierig wird, weil man die Arbeitskräfte nicht überall findet und jeder Zentimeter mit Fabriken zugebaut ist, die neu entstanden sind. Ich sage das deshalb, weil es natürlich zum ökonomischen Modell unseres Landes dazugehört, dass wir mit der ganzen Welt Handel treiben, dass wir Güter und Dienstleistungen dahin verkaufen, daher beziehen und dass wir in anderen Ländern investieren. Das ist die Grundlage unseres volkswirtschaftlichen Wohlstands, und das müssen wir auch verteidigen. Aber wir haben es geschafft. Wir haben es getan. Das sichtbarste Beispiel sind die norddeutschen Küsten. Dort stehen nicht nur die tollen Windräder, sondern gar nicht versteckt auch mehrere Terminals, über die jetzt Gas nach Deutschland kommen kann, in Wilhelmshaven, in Stade, in Brunsbüttel und in Mukran, übrigens mit Genehmigung, jetzt im Betrieb. Wir haben es geschafft, es mit dem Gas aus Norwegen, mit dem Gas aus den westeuropäischen Häfen, mit dem Ausbau der Gasleitungen in Deutschland, die natürlich nicht auf solche Verkehre ausgerichtet waren ‑ dafür mussten wir auch Staus auflösen ‑, in kürzester Zeit hinzubekommen, eine sichere Energieversorgung für Deutschland zu gewährleisten. Wir haben mit Zigmilliarden ‑ 200 hatten wir ins Fenster gestellt ‑ dafür gesorgt, dass die deutsche Wirtschaft nicht zusammenbricht, und die Energiepreise für Unternehmen und für Bürger subventioniert. Jetzt können wir sagen: Es ist noch nicht für jeden unmittelbar fühlbar, weil manche noch die Preise aus den Einkaufsvorgängen der letzten Zeit zahlen, aber im Großhandelsbereich und damit sehr schnell bei allen Unternehmen im produzierenden Bereich und bei den Bürgerinnen und Bürgern sind wir bei Preisen vor dem russischen Angriffskrieg. Sie liegen teilweise darunter. Es ist eine Leistung dieser Regierung, diese Bedingungen in kürzester Zeit hergestellt zu haben. Aber das Tempo, das wir dabei vorgelegt haben, muss auch für Deutschland insgesamt gelten. Deshalb ist einer der ganz großen Punkte für den Turnaround Deutschlands, den wir uns mit dem Antritt dieser Regierung vorgenommen haben, dass wir dafür Sorge tragen, dass alles viel schneller geht. Jetzt klagen auch viele, die früher den Mund gehalten haben. Aber es sind Gesetze, die 20, 30, 40 Jahre alt sind. Es waren immer CDU-Regierungen, die für den größten Teil dessen, was heute Schwierigkeiten macht, Verantwortung tragen, die den Ausbau der erneuerbaren Energien, des Energienetzes, den Umbau der Volkswirtschaft behindert haben. Wir haben diese Gesetze Schritt für Schritt beiseitegeräumt und uns mit dem Deutschlandpakt, den wir mit den Ländern vereinbart haben, noch ein großes Restpaket vorgenommen. Wir werden Deutschland schneller machen. Wir haben den größten Teil schon geschafft. Der Rest kommt in den nächsten Wochen und Monaten. Dann ist es das größte Beschleunigungspaket für Genehmigungsverfahren, das in Deutschland jemals stattgefunden hat. Es ist eine Grundlage für den Turnaround unseres Landes. Man kann sehen, dass das passiert. Ich habe es schon gesagt: Die Windkraftanlagen werden ausgebaut, offshore und onshore. Das Stromnetz wird ausgebaut. Wir sorgen für mehr Solarenergie. Auch das geht schneller voran. Wir sorgen jetzt dafür, dass Speicherkapazitäten gebaut werden. Wir bauen Kraftwerke, die dann anspringen, wenn Sonne und Wind gewissermaßen ihre Arbeit nicht leisten können. Wir bauen Batteriespeicher im Netz. Wir sorgen dafür, dass das besser funktioniert. Wir werden deshalb eine stabile, dauerhaft bezahlbare Energieversorgung für Deutschland gewährleisten können, mit den erneuerbaren Energien und mit der Möglichkeit, dass jedes deutsche Unternehmen, dass für seinen Verkauf gewährleisten muss, dass seine Produkte CO2-neutral hergestellt sind, dies auch beweisen kann. Das findet doch statt, wenn man sich in der Welt umschaut! Alle müssen das irgendwann können. Aber wenn sie das in Deutschland nicht können, weil wir anders produzieren, dann wird das riesige Nachteile für die Marktentwicklung in der Zukunft haben. Deshalb ist es richtig, dass wir diesen Weg gehen. Die Energie wird bezahlbarer, sie wird stabil und sicher zur Verfügung stehen, und jedes Unternehmen kann auf seine Produkte „CO2-neutral“ schreiben und das 2030, 2035, 2040 erreichen, je nachdem, wie die Unternehmensziele sind, weil wir die richtigen Weichen gestellt haben. Ich glaube, dass das auch für die Halbleiterinvestitionen in Deutschland gilt. Wir haben großartige Unternehmen hier und übrigens immer schon gehabt. Bosch ist eines davon, das mit Halbleitern erfolgreich ist. Infineon ist eines davon. Es hieß früher einmal Siemens Halbleiter. NXP ist eines davon, auch ein Unternehmen, das aus einem anderen großen Elektronikkonzern entstanden ist. Es gibt jetzt riesige Investitionen im Saarland, in Magdeburg, in Dresden, von großen Unternehmen, die weltweit operieren. Deutschland wird das Zentrum der Halbleiterindustrie in Europa. Das haben wir gemacht, und ich finde, es ist eine richtige Weichenstellung für die Zukunft unseres Landes. Wir tun das Gleiche, wenn es darum geht, die Zukunft im Bereich von Gesundheit und Pharma zu gewährleisten, übrigens mit Gesetzen, die der Deutsche Bundestag beschlossen und auf den Weg gebracht hat. So unmittelbar habe ich es fast noch nie erlebt. Ich kann euch jedenfalls sagen, dass es bei den Grundsteinlegungen für Pharmaunternehmen, bei denen ich dabei sein durfte und mit denen privatwirtschaftliche Investitionen in Milliardenhöhe verbunden sind, immer so war, dass sie gesagt haben: Es sind das Gesundheitsdatennutzungsgesetz und das Medizinforschungsgesetz, das jetzt auf den Weg gebracht worden ist, die die Grundlage dieser Investitionen darstellen. ‑ Wir haben die Angebotsbedingungen für Investitionen in Deutschland verbessert, damit Deutschland wachsen kann und der Turnaround gelingt. Ich will an dieser Stelle auch noch kurz erwähnen, dass das auch für die Investitionen in Rechenkapazitäten in diesem Land gilt. Die Investitionen von Microsoft vor allem in Nordrhein-Westfalen aufgrund der Bemühungen vieler sozialdemokratischer Bürgermeister, das ist wirklich etwas ganz Besonderes. Nachdem ich mit den Vertretern von Microsoft eine Pressekonferenz gemacht und deren Investition in Höhe mehrerer Milliarden begrüßt habe, haben sich übrigens beleidigte Konkurrenten gemeldet. Ich habe ihnen gesagt: Ab einer Milliarde komme ich immer. ‑ Ich glaube, es wird Gelegenheiten geben. Da passiert noch etwas. In dem Sinne also bemühen wir uns auch weiterhin um Bedingungen, die gut für wirtschaftliches Wachstum sind. Daran arbeiten wir. Lasst mich kurz noch drei Aspekte nennen, die für den Turnaround unseres Landes von größter Bedeutung sind und an die wir uns gemacht haben. Zunächst einmal ist es das Thema der Migration. Ich will es ausdrücklich ansprechen, weil wir in diesem Feld Veränderungen auf den Weg gebracht haben, die seit 25 Jahren nicht so bedeutend gewesen sind. Wir haben zum einen ‑ auch das gehört zu den Angebotsbedingungen für wirtschaftliches Wachstum in Deutschland ‑ dafür gesorgt, dass wir die Offenheit unserer Volkswirtschaft gewährleisten. In den letzten Jahren ist das Wachstum nur möglich gewesen, weil im Wesentlichen aus Europa sechs Millionen Arbeitskräfte nach Deutschland gekommen sind, in kurzer Zeit. Übrigens ist das der Grund, warum die Sozialversicherungsbeiträge geringer sind, als sie vor 20 Jahren waren. Das ist auch der Grund, der dazu geführt hat, dass wir überhaupt Wachstum hatten, dass unsere Produktionspotenziale nicht noch geringer sind, als sie ohne dieses gewesen wären, und dass wir sie ausbauen können, weil wir jetzt die Offenheit gewährleisten, und zwar mit dem Arbeitskräfteeinwanderungsgesetz, mit dem Staatsangehörigkeitsrecht und mit der praktischen Umsetzung, mit umfangreichen Digitalisierungen und schnell entscheidenden Behörden in den Konsularabteilungen und den Ausländerbehörden. Da müssen wir noch etwas tun, aber das gehen wir an. Zum anderen haben wir aber auch das Management der irregulären Migration besser hinbekommen. Wir haben das schon im Mikromanagement getan und im Einzelnen geschaut, welche Gesetze der Bund machen muss. Mit dem letzten Schritt, mit der Bezahlkarte, ist das umfassendste Veränderungsprogramm beschlossen worden, das seit 25 Jahren bewegt worden ist. Die Sprücheklopfer, die immer einmal wieder für eine Sonntagszeitung ein Interview mit einer absurden Forderung haben, wissen gar nicht mehr, was an Dingen, die noch irgendwie vernünftig klingen, sie noch fordern sollen. Deshalb fordern sie immer Unvernünftigeres. Denn wir haben alles getan, was ein vernünftig denkender Mensch verlangen kann. Das gilt auch dann, wenn es um die Frage geht, was wir im Hinblick auf Europa in dieser Frage tun. Dass die GEAS-Reform ‑ ich danke Katarina Barley und all den anderen Europäerinnen und Europäern aus unserer Parteienfamilie ‑, dass die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems jetzt zustande gekommen ist, ist auch unser Verdienst. Das war wichtig. Denn die Leute sitzen immer nur da, reden nur und tun nichts. Acht Jahre lang ist nichts passiert, und kaum regiert eine sozialdemokratische Innenministerin und hilft Katarina Barley mit, schon gelingt das. Das ist der Erfolg, auf den wir auch hinweisen sollten, wenn es um diese Themen geht. Lasst mich noch einen Veränderungspunkt, einen Turnaround benennen. Was wir beim Thema der Sicherheit tun, ist sehr entscheidend. Ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung, die Stärkung der NATO, in der jetzt alle das Zwei-Prozent-Ziel erreichen wollen, neue Mitglieder in der NATO, Finnland und Schweden, die Unterstützung der Ukraine: Das ist eine umfassende Korrektur sicherheitspolitischer Entscheidungen, die wir auf den Weg gebracht haben und die für die Sicherheit und Zukunftsfähigkeit unseres Landes zentral ist. Boris, ich danke dir für deinen Einsatz. Zuletzt und weil es am meisten angegriffen wird, im Rückgriff auf das, was ihr vermutlich gestern diskutiert habt, wenn ich deinen Bericht richtig verstanden habe: Wir haben auch einen Turnaround für unser Land gemacht, wenn es um den sozialen Zusammenhalt und um Gerechtigkeit geht. Man muss das alles vielleicht noch einmal aufzählen, etwa den Mindestlohn. Wir haben dafür gesorgt, dass diejenigen, die fleißig sind, aber zu wenig verdienen, ein besseres Einkommen haben, mit dem Mindestlohn, dass sie auch zurechtkommen können, mit einem höheren Wohngeld, mit dem, was wir im Bereich von Kindergeld und Kinderzuschlag zustande gebracht haben und mit der Reduzierung der Sozialversicherungsbeitragsbelastung für Geringverdiener und auch mit vielen Steuererleichterungen, die dabei möglich geworden sind, für sie und für die, die darüber verdienen ‑ ich sage mal: von 2000 Euro bis 6000 Euro. Auch diese brauchen unseren Blick und unsere Unterstützung. All das haben wir getan. Respekt für die, die arbeiten, ist wirklich das Programm, das wir verfolgt haben, und das werden wir auch weiterhin tun. Darf ich eine Meldung der letzten zwei Tage hier erwähnen? (Zuruf: Ja! – Zuruf: Aber nur eine positive!) ‑ Eine positive, ja! ‑ Die Zahl der Kinder, die den Kinderzuschlag bekommen, ist um etwa 200 000 gewachsen. Ich habe erst einmal nachgefragt, ob das stimmt. Es stimmt. Das heißt, da hat etwas geklappt! Rolf Mützenich hat das durchgesetzt, die Kindergelderhöhung und den Kinderzuschlag, die Verbesserung. Wir haben auch kleine Korrekturen vorgenommen, die dazu führen, dass das jetzt mehr in Anspruch genommen wird. Das war immer unsere Vorstellung. Das Beste für Kinder, damit sie nicht arm sind, dass wenigstens ein Elternteil, aber möglichst beide arbeiten, dass es aber dann, wenn es mit der Arbeit nicht für ein gutes Einkommen für die Familie reicht, trotzdem so ist, dass man nicht Bürgergeld als Aufstocker bekommen muss, sondern gut zurechtkommen kann. Mit den Entscheidungen, über die ich eben berichtet habe, haben wir genau das möglich gemacht. Wir denken an Leute, die fleißig sind, viel arbeiten und nicht immer genug verdienen. In dem Sinne werbe ich dafür, dass wir uns nicht auf dem ausruhen, was wir erreicht haben, dass wir es aber durchaus mit Stolz betrachten. In dem Sinne werbe ich dafür, dass wir jenen entgegentreten, die, weil sie ihre Süppchen kochen wollen, dieses wirtschaftliche starke Land herunterreden und die Perspektiven, die wir haben, nicht voranbringen wollen. Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass wir in dieser Lage, in der die Konjunktur allmählich wieder besser wird, die Inflation zurückgeht, die reale Kaufkraft steigt, die Renten steigen, in der die Zinsen sinken werden, in der die Erwartung der Wirtschaft wieder wächst, die Produktion wieder zunimmt, dass wir in dieser Zeit diejenigen sind, die die Zuversicht vermitteln, dass wir eine Perspektive haben, die gut für Deutschland ist, dass wir als Partei der Zuversicht auftreten und dass wir dabei nicht vergessen, zu sagen: Dieser Turnaround für unser Land, den wir nach vielen Jahren des Stillstands hinbekommen haben, ist uns nicht in den Schoß gefallen, sondern den haben wir hart erarbeitet, und wir bleiben dran!
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der zentralen Abschlussveranstaltung der Bundeswehr nach Ende der UN-Mission in Mali
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-zentralen-abschlussveranstaltung-der-bundeswehr-nach-ende-der-un-mission-in-mali-2270716
Thu, 11 Apr 2024 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Verfassungsorgane, sehr geehrte Bundesministerinnen, sehr geehrter Herr Bundesminister, liebe Soldatinnen und Soldaten, liebe zivile Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, liebe Angehörige, meine sehr geehrten Damen und Herren! Zehn Jahre war die Bundeswehr Teil der MINUSMA-Mission der Vereinten Nationen und der europäischen Ausbildungsmission EUTM in Mali. Weit mehr als 20 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten haben in Mali sowie am Transportstützpunkt im Nachbarland Niger gedient ‑ fern der Heimat, fern der Familie, unter teilweise sehr gefährlichen Bedingungen. Ihre Beteiligung, der Einsatz der Bundeswehr, war richtig. Die ursprünglichen Ziele der Mission, für die Sie Ihr Leben und Ihre Gesundheit riskiert haben, sie waren richtig. Vor zehn Jahren, da stand der malische Staat vor dem Kollaps. Islamistische Terroristen und Separatisten drohten eine Stadt nach der anderen zu überrennen. Sie verbreiteten Angst und Schrecken unter der Bevölkerung. Es war richtig, die damalige Chance für Frieden zu ergreifen und das Land und seine Bevölkerung zu schützen ‑ an der Seite unserer Partner, auf Bitten der malischen Regierung und mit einem Mandat des UN-Sicherheitsrats. Denn Deutschland steht seinen Partnern bei. Deutschland nimmt seine Verantwortung als Mitglied der Vereinten Nationen ernst. Auf Deutschland ist Verlass. Das macht uns als Land aus, und das bleibt. Hinzu kommt ‑ und das kann Sie alle mit Stolz erfüllen: Mit Ihrem Einsatz haben Sie zehntausende Menschenleben geschützt ‑ auch das bleibt. Wenn wir heute zusammenkommen, dann auch um das Andenken all derer in Ehren zu halten, die im Laufe dieses Einsatzes ihr Leben verloren haben, aufseiten der Bundeswehr und ‑ auch das gehört hierher ‑ aufseiten der Partnerländer bei dieser Mission, die zu den gefährlichsten in der Geschichte der Vereinten Nationen gehörte. Wir erinnern uns heute hier in Berlin ganz besonders an die beiden Bundeswehrkameraden, die bei dem tragischen Hubschrauberabsturz am 26. Juli 2017 starben. Wir denken aber auch an diejenigen, die bei dem brutalen Selbstmordanschlag auf einen Konvoi am 25. Juni 2021 verwundet wurden, und an all die anderen Frauen und Männer der Bundeswehr, die so viel riskiert haben in diesem Einsatz für unser Land. Für Ihren Dienst, für Ihr Engagement und Ihre Bereitschaft, ans Äußerste zu gehen und manchmal noch darüber hinaus, dafür möchte ich Ihnen heute Danke sagen. Das werden wir nicht vergessen. Das bleibt uns in Erinnerung. Meine Damen und Herren, genauso richtig, wie es 2013 war, diesen Einsatz zu beginnen, so folgerichtig war es im Mai 2023, den Abzug einzuleiten. Denn Verantwortung zu übernehmen bedeutet auch, Konsequenzen aus veränderten Rahmenbedingungen zu ziehen. Wo wir vom Gastland nicht mehr gewollt sind, wo eingeschränkte Bewegungsfreiheit und politische Rahmenbedingungen die Auftragserfüllung unmöglich machen, da müssen wir Einsätze auch beenden. So war es in Mali, wo die Verantwortlichen in Bamako den Friedensprozess von Algier und letztlich die vollständige UN-Mission MINUSMA aufgekündigt haben. Und dennoch: Mali und die gesamte Region zu stabilisieren angesichts der terroristischen Bedrohung, das bleibt weiterhin wichtig ‑ für die Millionen Bewohnerinnen und Bewohner des Sahel und für uns in Europa, und zwar auch nach dem Abzug der Bundeswehr und nach Beendigung der Mission MINUSMA. Wir können und werden uns deswegen nicht von dieser Region abwenden. Dazu gehört der Austausch mit den Regierenden in der Region, auch wenn dieser Austausch schwierig ist. Dazu gehört auch, dass wir gemeinsam mit unseren Partnern, etwa in der Sahel-Allianz, immer wieder neu nach Möglichkeiten suchen, wie wir uns künftig engagieren. Dazu gehört ganz entschieden auch der Ausbau unserer Zusammenarbeit mit der Afrikanischen Union und mit der Regionalorganisation ECOWAS. Es geht heute um Ihre Leistungen in zehn Jahren UN-Einsatz in Mali. Chronologisch am Ende, in der Schwierigkeit jedoch ganz weit vorn steht die geordnete und umsichtige Rückverlegung, die im vergangenen Dezember zu Ende gegangen ist. Dieser Abzug unter komplizierten und unsicheren Bedingungen, diese Herkulesaufgabe, wie der Verteidigungsminister das bei der wohlbehaltenen Rückkehr des letzten Einsatzkontingentes genannt hat, war wie eine zusätzliche Mission in der Mission. Wie Sie Ihre Aufgaben unter schwierigsten Umständen erfüllt haben, diese herausragende Teamleistung steht symbolhaft für die Professionalität und Kameradschaft in unserer Bundeswehr. Darauf können alle beteiligten Frauen und Männer stolz sein. Wir sehen leider keine Anzeichen dafür, dass die Welt zu einem friedlicheren Ort wird. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat uns vor Augen geführt, wie zentral die Landes- und Bündnisverteidigung ist. Stabilisierungseinsätze werden aber auch Aufgabe der Bundeswehr bleiben. Aufgabe der Politik ist es, aus den Erfahrungen der Vergangenheit Lehren für unser künftiges Engagement zu ziehen. Ich finde es deshalb sehr gut, dass die Auslandseinsätze evaluiert werden, so auch derzeit der Bundeswehreinsatz in Mali. Diese Erkenntnisse werden uns auch für zukünftige Einsätze leiten. Ich denke, eine ganz zentrale Lektion ist uns jetzt schon allen klar: Militär kann ein sicheres Umfeld schaffen. Dauerhafte Stabilisierung ist aber nur dann möglich, wenn sie im Einsatzland gewollt ist und die Regierungen dieser Länder von ihrem Volk getragen werden und die Lebensbedingungen verbessern. Sicherheit und Hoffnung auf eine bessere Zukunft bedingen einander. Wir müssen unsere Auslandseinsätze stets einem Realitätscheck unterwerfen. Liebe Soldatinnen und Soldaten, wir haben entschieden, die Bundeswehr finanziell, materiell und personell zu stärken. Aber alle politischen Weichenstellungen sind nichts ohne die Menschen, die diese jeden Tag umsetzen – ob in Einsätzen wie in Mali, auf dem Truppenübungsplatz oder in einem Büro hier im Inland. Ich möchte, dass dieser Dienst der Truppe für Deutschland die Wertschätzung erfährt, die er verdient. Im Rahmen der Bundeswehrtagung im vergangenen Herbst habe ich betont, dass dazu auch gehört, unsere Veteraninnen und Veteranen stärker zu ehren. Ich freue mich sehr, dass seitdem die Idee eines Veteranentages weit vorangekommen ist und dass es dafür breite Unterstützung im Bundestag gibt. Ich bin sicher, dass die letzten Details bald geklärt werden und dass wir diesen Tag bald zum ersten Mal gemeinsam begehen können – als Tag der Anerkennung und der Ehrung für Leistungen wie Ihre, aber auch als Tag, um klarzumachen, dass unsere Freiheit auch verteidigt werden muss. Abschließend möchte ich hier noch einmal ganz besonders allen Familien und Angehörigen, Freunden und Verwandten danken, dafür, dass sie die Abwesenheit ihrer Liebsten während des Einsatzes schultern und den Alltag stemmen, oftmals sicher auch in Angst und Sorge, und dass Sie große Stützen sind, wenn jemanden das Erlebte nicht so einfach loslässt. Sie haben meinen tiefsten Respekt. Sie alle haben unsere Anerkennung und große Dankbarkeit verdient! Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz beim symbolischen Spatenstich für den neuen Produktionsstandort von Eli Lilly and Company am 8. April 2024 in Alzey
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-symbolischen-spatenstich-fuer-den-neuen-produktionsstandort-von-eli-lilly-and-company-am-8-april-2024-in-alzey-2269124
Mon, 08 Apr 2024 00:00:00 +0200
Alzey
Sehr geehrter Herr Ricks, dear Dave, sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Malu, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, Ministerinnen und Minister, Herr Generalkonsul Scharpf, Herr Landrat, Herr Bürgermeister, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Lilly, meine Damen und Herren! Schon diese lange Anrede zeigt: Heute ist ein besonderer Tag für Alzey und für die ganze Region – ein besonders guter Tag. Wir haben es gerade schon gehört: 2,3 Milliarden Euro investiert Lilly hier in den Aufbau einer neuen, hochmodernen Produktionsstätte für Pharmazeutika. 1000 gute Arbeitsplätze sollen hier entstehen. Wir reden über eine, wenn nicht gar die größte Einzelinvestition in den Pharmastandort Deutschland seit der Wiedervereinigung. Mir ist zugetragen worden, an was sich manche der alt eingesessenen Alzeyerinnen und Alzeyer dadurch erinnert fühlen, nämlich an ein Ereignis in den Sechziger-, Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Damals gab es schon einmal einen Aufbruch in und aus Alzey. Der Unternehmer Karl-Heinz Kipp hatte damals hier und zwar genau hier, im Gewerbegebiet Ost das erste große SB-Warenhaus auf der grünen Wiese eröffnet. Die Kunden rannten ihm buchstäblich die Türe ein. Ein kleines Wirtschaftswunder made in Alzey war das. Lieber Herr Bürgermeister Jung, Sie haben meinen Kolleginnen und Kollegen erzählt, was Sie derzeit auf vielen Jubiläumsfeiern und auf runden Geburtstagen hören, gerade von den Älteren, nämlich dass jetzt wieder so etwas in Gang kommt, dass es hier in Alzey jetzt wieder einen solchen Aufbruch geben kann wie damals. Ich finde das bemerkenswert und auch berührend. Oft genug wird ja einer guten alten Zeit hinterhergetrauert, anstatt sich auf eine gute neue Zeit einzulassen. Die Grundlagen für diese gute neue Zeit, die legen wir heute gemeinsam. Die Alzeyer Erfolgsgeschichte hat viele Mütter und Väter. Einigen von ihnen möchte ich heute ganz besonders herzlich danken. Da ist natürlich zuallererst das Unternehmen selbst, Lilly, das sich mit dieser Investition klar zu Deutschland als starkem, führenden Pharma- und Industriestandort bekennt. Das freut uns, denn Lilly bringt große Erfahrung mit. Vor 101 Jahren brachte Ihr Unternehmen das erste industriell hergestellte Insulin auf den Markt. Einer der Forscher, denen das gelang, war der Chemiker George Clowes, ausgebildet übrigens in Deutschland. Dem Kampf gegen Diabetes ist Lilly auch heute noch verpflichtet. Arzneimittel von Lilly retten Leben, sie lindern Krankheiten, auch in der Neurologie, in der Onkologie, in der Immunologie und in vielen anderen Bereichen. Zur Alzeyer Erfolgsgeschichte gehört auch das Land Rheinland-Pfalz. Liebe Malu, sehr geehrte Frau Ministerin Schmitt, beim Aufbau des Biotech- und Life-Science-Clusters hat das Land wirklich alles richtig gemacht. Starke Grundlagenforschung, praxisnahe Forschungseinrichtungen, die gezielte Förderung von Innovationen, eine aktive Ansiedlungspolitik – das alles zahlt sich jetzt aus. Es ist noch kein Jahr her, da waren wir gemeinsam bei Boehringer in Ingelheim und haben den Grundstein für die neue „Chemical Innovation Plant“ gelegt. Seither habt Ihr in Mainz die Deutschlandzentrale von Novo Nordisk eröffnet. BioNTech baut dort ein neues Gebäude für seine Krebsforschung; ebenso das Helmholtz-Institut zusammen mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum und der Universität Mainz. Erst Anfang des Jahres hat an der Uni ein neues Institut seine Arbeit aufgenommen, das die Life-Sciences durch computerbasierte Methoden voranbringen will, und wie ich höre, gibt es auch ein Stück rheinaufwärts in Ludwigshafen, bei AbbVie, schöne Entwicklungen. Der Aufbruch, der hier gerade stattfindet, der ist schon phänomenal. Eines ist bei solchen Ansiedlungen unerlässlich, und das sind starke Partner vor Ort, die Tempo machen, die Probleme aus dem Weg räumen. Denn die meisten Vorschriften sind ja überall in Deutschland gleich. Den Unterschied macht, wenn vor Ort entschieden wird, die Dinge so schnell und unkompliziert wie möglich auf die Beine zu stellen. Dass das geht und wie das geht, das haben alle bewiesen, die hier auf kommunaler Ebene Verantwortung tragen, allen voran die Erschließungsgesellschaft Alzey. Gerade einmal elf Monate ist es her, seit Lilly und die Verantwortlichen aus Alzey erstmals miteinander Kontakt hatten. Nach nur sechs Monaten folgte dann bereits die Ankündigung dieser Milliardeninvestition, und nun, gerade einmal fünf Monate später, der Spatenstich. Das ist rekordverdächtig! Für das Alzey-Tempo, das Sie vorlegen, sage ich Ihnen, Herr Landrat, und Ihnen, Herr Bürgermeister, stellvertretend für Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort: Schönen Dank! Eines ist dabei wichtig auch dabei kann man sich Alzey zum Vorbild nehmen , nämlich, wie Sie die Bürgerinnen und Bürger mitgenommen haben. Denn natürlich verändert ein solches Großprojekt die Stadt und die ganze Region. Bislang pendeln viele Alzeyerinnen und Alzeyer zum Arbeiten nach Mainz oder in die anderen Großstädte im Rhein-Main-Gebiet. Künftig wird es das auch andersherum geben. Manche der neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Lilly werden sicherlich auch hierherziehen wollen, so schön, wie es hier bei Ihnen in Rheinhessen ist. Das bedeutet, dass die Stadt genug Wohnungen braucht, dazu auch Schul- und Kitaplätze. Gut ist es, wenn alles das von Anfang an mitgedacht und mitgeplant wird wie hier in Alzey. Gut ist auch, dass Lilly selbst von Anfang an den Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern gesucht hat. Natürlich helfen der Zusammenhalt und die sprichwörtliche Weltoffenheit der Menschen in dieser Gegend, von der der Rheinhesse Carl Zuckmayer einmal treffend als der „Kelter Europas“ gesprochen hat. Das war nicht nur auf den Wein bezogen, der hier gemacht wird, sondern vor allem auf die unterschiedlichen Völker und Stämme, die seit Römerzeiten hier durchgezogen und oft dageblieben sind. Eines möchte ich noch hinzufügen. Deshalb bin ich heute hierhergekommen. Was immer wir als Bund tun können, um den Pharmastandort Deutschland noch weiter zu stärken, das werden wir tun. Ich erinnere mich an unser Telefonat, lieber Dave Ricks, und daran, wie viele Gespräche Sie auch mit dem Wirtschafts- und dem Gesundheitsminister und mit der Wissenschaftsministerin geführt haben, um die Weichen für diese Investition zu stellen. Ähnliche Investitionen gibt es auch jenseits der Landesgrenzen von Rheinland-Pfalz. Daiichi-Sankyo investiert über eine Milliarde Euro in Bayern, Roche über eine Milliarde Euro in Bayern und Baden-Württemberg, Merck bis 2025 1,5 Milliarden Euro in Hessen, um nur einige der größeren zu nennen. Das hat mit einem Weltklassenetz aus Maschinen- und Anlagenbauern, aus Zulieferern und Forschungseinrichtungen zu tun und natürlich mit den hervorragend ausgebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die wir in Deutschland haben. Dass diese Investitionsentscheidungen aber gerade jetzt so Schlag auf Schlag kommen, das liegt auch daran, wie wir als Bundesregierung die Dinge verändert haben. In keinem anderen großen Land Europas liegen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung höher als bei uns. Auch deshalb liegt Deutschland bei den Patentanmeldungen im Gesundheitsbereich auf dem zweiten Platz hinter den USA. Gerade erst haben wir die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten für Forschungsausgaben noch einmal verbessert. Mit einem neuen Zukunftsfonds in Höhe von zehn Milliarden Euro bis 2030 unterstützen wir Start-ups, viele davon auch im Pharmabereich und in den Biowissenschaften. Wir haben durch gezielte Preisanpassungen Lieferengpässe bei wichtigen Arzneimitteln abgefedert. Mit der Pharmastrategie und dem Medizinforschungsgesetz setzen wir nun Anreize für mehr Forschung und Produktion in Deutschland und Europa. Mit dem Medizinforschungsgesetz werden wir auch die klinischen Prüfungen vereinfachen und Bürokratie abbauen. Das ist ein zentraler Meilenstein unserer Pharmastrategie, und ich danke Minister Lauterbach dafür, dass er das so entschieden voranbringt. Auch in der Europäischen Union arbeiten wir an einem Pharmapaket, mit dem wir Zulassungsverfahren europaweit beschleunigen. Dabei achten wir darauf, dass sich Forschung und Innovation auch in Zukunft lohnen und Urheberrechte geschützt werden. Sie haben mir in unserem Gespräch eben noch einmal erläutert, wie bedeutend das ist und wie sehr es gerade Deutschland ist als das eine Land in der Welt, das immer wieder die Urheberrechte, „intellectual property“, so sehr schützt und in vielen internationalen Konferenzen darauf besteht, dass das eine Grundlage für Forschung und Innovation ist. Es ist nicht leicht, wenn man manchmal der einzige ist, der laut die Stimme erhebt, aber bisher war es ganz erfolgreich. Auch bei den Gesundheitsdaten geht es voran. Erst vor wenigen Tagen ist ein neues Gesetz in Kraft getreten, das forschenden Pharmaunternehmen den Zugang zu Gesundheitsdaten erleichtert. Gemeinsam mit dem Europäischen Gesundheitsdatenraum stärkt das unseren Forschungsstandort im internationalen Wettbewerb. All das sind Bausteine, die Erfolgsgeschichten wie diese hier in Alzey möglich machen. Als Bund bleiben wir dabei am Ball. Meine Damen und Herren, auf dem Weg hierher vom Flugplatz in Wiesbaden kommt man an vielen wohlklingenden Ortsnamen vorbei. Es sind Orte, die jeder Weinliebhaber kennt: Saulheim, Udenheim, Armsheim, Alzey natürlich. Daran wird sich auch nichts ändern. Aber eines ist seit heute anders. Künftig werden Alzey und die Region nicht mehr nur für ihren guten Wein bekannt sein, sondern auch als ein starkes Zentrum der Pharmaindustrie in Deutschland, dank Lilly und dank allen, die an dieser Erfolgsgeschichte mitschreiben. Schönen Dank dafür!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Baubeginns der Northvolt Gigafactory am 25. März 2024 in Heide (Holstein)
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-baubeginns-der-northvolt-gigafactory-am-25-maerz-2024-in-heide-holstein–2267138
Mon, 25 Mar 2024 00:00:00 +0100
Heide (Holstein)
Sehr geehrter Herr Carlsson, sehr geehrter Herr Haux, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Günther, sehr geehrter Herr Bundesminister Habeck, lieber Robert, meine Damen und Herren, oder wie mir als Hamburger ganz vertraut ist: Moin! Ich bin froh, heute hier an der Nordwestküste zu sein. Das ist eine Gegend, die ich, wie ich schon gesagt habe, gut kenne und die mir dementsprechend auch am Herzen liegt. Mir gefallen die Weite, das windige Wetter, die See und die direkte und pragmatische Art der Offenheit hier oben im Norden. All das waren schon früher gute Gründe, hierher zu reisen. Aber zur Wahrheit gehört: Lange reimte sich hier auf Ferienparadies auch Strukturschwäche ‑ mit den Folgen, die Sie alle kennen. Doch etwas Entscheidendes hat sich in den vergangenen Jahren verändert, und die Auswirkungen sind hier an der Küste ganz besonders spürbar: Wir haben gemeinsam entschieden, in unserem Land bis 2045 klimaneutral zu werden. Und noch wichtiger: Wir haben es inzwischen auch tatsächlich angepackt. Dadurch sind aus der Weite, dem windigen Wetter, der See und der pragmatischen Art hier oben im Norden jetzt nicht nur Feriengründe geworden, sondern eben auch knallharte Standortvorteile. Eigentlich kann das niemanden überraschen; denn wer sich die Wirtschaftsgeschichte anschaut, der sieht: Wirtschaft hat sich schon immer gerne dort angesiedelt, wo Energie war. In manchen Gegenden lag Kohle in der Erde, wie im Ruhrgebiet oder im Saarland. Die hatten Glück, denn dort entstand fast automatisch auch industrielle Wertschöpfung. Und dann gab es andere, die nicht so viel Glück hatten. Ändern konnte man daran nicht so leicht etwas. Mit der Energiewende in unserem Land und weltweit haben sich diese Spielregeln noch einmal geändert. Windig und sonnig ist es an vielen Orten in Deutschland. Biogas und Geothermie lassen sich in ganz unterschiedlichen Gegenden nutzen. Noch werden diese Standortvorteile nicht überall in Deutschland schon so gut genutzt wie hier zwischen Norderwöhrden, Lohe-Rickelshof und Heide. Natürlich weht hier immer eine frische Brise. Aber es war keine Fügung, sondern eine klare Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger, der Landesregierung hier in Schleswig-Holstein, der Gemeinden, unter anderem hier im Kreis Dithmarschen, konsequent auf die Windenergie zu setzen ‑ und das schon seit vielen, vielen Jahren ‑, Wind zum Rohstoff zu machen. Es war auch eine ganz klare Entscheidung, offen und pragmatisch zu sein, um schnell die rechtlichen Voraussetzungen für ein Milliardenprojekt wie die Northvolt Gigafactory zu schaffen. Heute und hier zeigt sich: Es war genau die richtige Entscheidung. Als Bezeichnung für einen solchen selbstgemachten Standortvorteil, bei dem Planung, Entwicklung und Genehmigung schnell und unbürokratisch ineinandergreifen, habe ich schon häufiger von Deutschlandtempo gesprochen. Ich war drauf und dran, das hier wieder zu tun. Dann aber habe ich von der Dithmarschen-Geschwindigkeit gehört ‑ die ist ja auch schon lange bekannt. Und ich muss sagen: Das passt ganz hervorragend; denn die Dithmarschen Geschwindigkeit beschreibt perfekt, worauf es hier ankommt. Denn natürlich ist es wichtig, in Berlin und in Kiel die rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen. Das haben wir gemacht, und das setzen wir konsequent fort. Wir haben den Ausbau der erneuerbaren Energien massiv beschleunigt, sodass wir inzwischen auf Kurs sind, um bis 2030 80 Prozent unseres Stroms klimaneutral und klimafreundlich herzustellen ‑ in ganz Deutschland. Der Ausbau der Energieproduktion aus Wind, Wasser und Sonne hat inzwischen gesetzlichen Vorrang vor anderen Rechtsgütern. Dadurch gehen Planungsverfahren viel schneller und einfacher. Aber alle schönen Gesetze, alle Vereinfachungen, jede persönliche Bemühung von Land und Bund helfen nicht, wenn nicht am Ende auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der jeweiligen Behörden vor Ort und die gewählten Vertreter und Vertreterinnen der Kommunen sagen: Wir nutzen die neuen Möglichkeiten, wir überzeugen die Bürgerinnen und Bürger, dass eine solche Fabrik unterm Strich Vorteile bringt, und legen los. Nicht lange schnacken, einfach machen! Man könnte also sagen, die Dithmarschen-Geschwindigkeit ist die Voraussetzung für das neue Deutschlandtempo. Und wie Dithmarschen das hingekriegt hat, das ist extrem beeindruckend. Hier sind ganz viele über sich hinausgewachsen, um in zwei kleinen Gemeinden mit zusammen kaum 2500 Einwohnern das Genehmigungsverfahren für eine 5-Milliarden-Euro-Hightech-Batteriefabrik auf 110 Hektar Fläche hinzubekommen. Zu dieser Leistung sage ich: Herzlichen Glückwunsch! Man kann sich nur ganz viele Dithmarschens überall in unserem Land wünschen. Ihre Geschwindigkeit, Ihr Unterhaken, Ihr „Nicht lang schnacken, einfach machen“, das brauchen wir in Deutschland. Denn Investitionen wie die von Northvolt sind für unser Land und für Europa von strategischer Bedeutung. Deutschland war, ist und bleibt ein starkes Industrieland, und die Herstellung guter Autos bleibt auch über den Verbrennungsmotor hinaus Rückgrat unserer Industrie. Dafür brauchen wir Batteriezellen made in Germany, made in Europe. Deshalb ist es eine gute Nachricht für unser ganzes Land, auch in Wolfsburg, München, Stuttgart, Ingolstadt, Grünheide, Köln, Rüsselsheim, Zwickau und wo überall sonst Autos und Autoteile hergestellt werden, dass hier im Norden künftig klimafreundlich produzierte Batteriezellen für eine Million Autos im Jahr entstehen. So sichern wir unsere technologische Souveränität, und so sichern wir Wertschöpfung in Europa. Ich will gerne sagen, dass das ein Weg ist, den unser Land auch ganz generell eingeschlagen hat. Wir befinden uns ja in einer Zeit des großen Umbruchs, und aus meiner Sicht kann der Umbruch gar nicht groß genug geschätzt werden. Das, was wir gerade erleben, entspricht wahrscheinlich der großen industriellen Mobilisierung Deutschlands am Ende des 19. Jahrhunderts, wo ein Ineinandergreifen von Staat und privatwirtschaftlichen Investitionen, beides in großen Dimensionen, den wirtschaftlichen und industriellen Aufstieg Deutschlands ermöglicht hat und die Grundlagen gelegt hat für vieles, was wir heute ganz selbstverständlich finden. Aber gleichzeitig ist das eine Zeit, in der man darauf setzen muss, dass der Mut sich auch auszahlt, dass die neuen Technologien funktionieren und dass das unsere Welt bestimmen wird. Ich glaube, das kann man eigentlich nur schaffen, indem man sieht, dass man Fahrt aufgenommen hat, dass die Dinge klappen und dass das vorankommt. Sonst schreibt man nur Papiere, zweifelt oder hat Mut, aber jedenfalls geht nichts voran. Dass wir jetzt sagen können ‑ anders als noch vor zwei Jahren; das muss sehr klar so gesagt werden ‑, dass wir das schaffen werden mit den 80 Prozent Strom aus erneuerbaren Energien schon 2030, und dass wir kurz danach über 100 Prozent kommen werden, das ist etwas, was die Grundlage für die Zuversicht bilden kann, die wir für unsere wirtschaftliche und industrielle Zukunft brauchen. Und das ist ja wichtig, denn wir brauchen, wie wir hier sehen können, viel mehr Strom, als wir in der Vergangenheit eingesetzt haben. Das heißt, der Umstieg auf Erneuerbare und irgendwann 100 Prozent durch Windkraft auf hoher See und an Land, Solarenergie, Biomasse bedeutet ja, dass wir es hinbekommen müssen, den Strom in größerer Menge zu produzieren. Das ist also ein großer, großer Anstieg der Produktionskapazitäten. Das bedeutet, dass wir ‑ nicht überall; der Ministerpräsident hat darauf hingewiesen ‑ große Stromleitungen durch ganz Deutschland verlegen müssen. Auch da haben wir neues Tempo aufgenommen. Die Genehmigungsbescheide purzeln jetzt nur so aus den Genehmigungsbehörden, während vorher gar nichts vorankam. Wir liegen zurück, aber wir haben das Tempo aufgenommen, um den Rückstand der letzten 10, 15 Jahre wieder aufzuholen, damit das alles rechtzeitig gelingt. Wir haben entschieden, dass wir einmal ein Gesetz machen, das voraussetzt, dass man ständig vorangehen muss und dass man nicht immer so Stück für Stück guckt. Wir planen das Stromsystem des Jahres 2045, wenn wir klimaneutral sein werden. Daraufhin haben unsere Planungsbehörden jetzt schon fünf große weitere Übertragungsnetz-Stromleitungen für Deutschland geplant. Das hätten sie sonst so im Drei-Jahres-Rhythmus nach dem Motto „mal da eine, mal dort ein bisschen“ getan. Da gibt es also einen riesigen Umstieg in der Betrachtung, aber auch eine unglaubliche Beschleunigung; denn wir wissen, dass selbst dann, wenn es schnell geht, es immer dauert. Wir haben außerdem entschieden, dass wir jetzt etwas machen, das durch Deutschlands Zeitungen, durch Radio, Fernsehen und Internetnachrichten geisterte, nämlich eine Kraftwerkstrategie. Der Minister kann das rauf und runter sagen, aber viele Leute überlegen sich: Was ist denn nun eine Kraftwerkstrategie, Kraftwerke haben wir doch schon immer gehabt. Es geht dabei um eine ganz einfache Tatsache, nämlich dass wir sagen können: Wenn einmal aus Versehen, obwohl wir mehr als 100 Prozent theoretische Kapazität zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien haben, das mit dem Wind und der Sonne nicht ausreicht, dann haben wir Kapazitäten, die wir in diesen Momenten zuschalten können. Auch das bringen wir gerade auf den Weg, damit das mit der Versorgung mit Strom aus erneuerbaren Energien 24 Stunden am Tag und sieben Tagen die Woche klappt ‑ und zwar mehr Strom, als heute verbraucht wird. Das ist unterwegs. Unterwegs ist auch eine über 20 Milliarden Euro schwere Entscheidung für ein Wasserstoffnetz in Deutschland. Denn die Industrie der Zukunft wird, wo sie heute zur Produktion Kohle, Gas und Öl einsetzt, in Zukunft auf Wasserstoff setzen. Also muss dieses Netz ja da sein, bevor viel Wasserstoff da durchfließt; denn wenn ich irgendwo in Deutschland sage „Ich schalte jetzt für meine Fabrik das Gas ab und will in Zukunft Wasserstoff einsetzen“, dann kann ich ja nicht sagen „Und wer baut mir jetzt die Leitung?“. Diese Leitung muss ja schon da sein, damit überall irgendwer die Entscheidung trifft: Wir machen das jetzt. Wir sehen manchmal an den Förderbescheiden für Stahl, für Chemie und für vieles andere, die wir verschicken, dass wir auch die industrielle Produktion auf Klimaneutralität umstellen, damit das um die Mitte dieses Jahrhunderts auch tatsächlich klappt. Denn wenn jetzt nicht investiert wird, dann stehen auch in 15 und 20 Jahren nicht die Fabriken, bei denen das anders geht. Das alles geschieht also, und deshalb glaube ich, dass alle ein bisschen Hoffnung haben können, weil wir das Tempo aufgenommen haben, das nötig ist, damit wir am Ziel anlangen, und weil die Zuversicht, die wir für so eine große Modernisierung unserer Volkswirtschaft brauchen, auch tatsächlich entsteht. Und hier ist ein Ort, der Zuversicht ausstrahlt ‑ danke dafür! Aber wir wollen auch vor Ort bleiben. Hier entsteht ja viel. Durch Aus- und Weiterbildung wächst das Know-how in einer ganz zentralen Zukunftstechnologie heran. 3000 zukunftssichere Arbeitsplätze entstehen hier bei Northvolt, und laut Prognosen noch einmal mehr als 10 000 im Umfeld. Daraus ergeben sich riesige Möglichkeiten für den Mittelstand, bei der Konstruktion der Fabrik selbst ‑ ich habe gehört, dass die ersten Treffen dazu sehr gut besucht waren ‑ und natürlich auch beim späteren Betrieb und in der Forschung. Der Grund, weshalb Fabriken wie diese gerade hier in Deutschland entstehen und weshalb auch amerikanische Autohersteller ihre E-Auto-Fabriken in Brandenburg und im Rheinland bauen, weshalb Software- und Chip-Unternehmen gerade hier bei uns investieren, ist doch der: Der deutsche Mittelstand und die Millionen von Beschäftigten dort sind hochgradig wettbewerbsfähig, agil und innovativ. Deswegen bin ich überzeugt, dass die Entscheidung von Northvolt für Dithmarschen die richtige ist, und dass es genau richtig ist, diese Ansiedlung hier auch mit Mitteln des Bundes zu unterstützen. Danke, lieber Robert Habeck, dass du dich für dieses wichtige Zukunftsprojekt auch ganz persönlich eingesetzt hast! Meine Damen und Herren, der heutige Tag zeigt: Wir können mit Zuversicht nach vorne schauen. Deutschlands industrielles Herz wird natürlich auch weiter zum Beispiel in München, in Wolfsburg, in Stuttgart und an vielen anderen sehr traditionellen Standorten schlagen. Aber es schlägt zukünftig auch hier an der Nordwestküste ‑ dank Ihrer Arbeit und dank der Dithmarschen-Geschwindigkeit. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Eröffnung der Leipziger Buchmesse am 20. März 2024 in Leipzig
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-eroeffnung-der-leipziger-buchmesse-am-20-maerz-2024-in-leipzig-2266512
Wed, 20 Mar 2024 00:00:00 +0100
Leipzig
Sehr geehrter Herr Premierminister Rutte, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Jambon, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmer, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Jung, sehr geehrte Frau Schmidt-Friderichs, sehr geehrte Frau Böhmisch, sehr geehrter Herr Buhl-Wagner, meine sehr geehrten Damen und Herren! Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzer ‑ ‑ ‑ (anhaltende Zurufe) ‑ Hör auf zu brüllen! Schluss! – Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzer, Verlegerinnen und Verleger, Besucherinnen und Besucher – uns alle führt hier in Leipzig die Macht des Wortes zusammen, nicht die Macht des Geschreis! (stürmischer Beifall) Uns alle ‑ und da schließe ich mich ein ‑ verbindet die Liebe zum Lesen. Ob als Kind abends vor dem Einschlafen, als junger Politiker im Zug zwischen Hamburg und Bonn, oder jetzt, wann immer es meine Zeit erlaubt – seit ich denken kann, begleiten mich Bücher durch mein Leben. Dabei bin ich genauso wenig auf ein ‑ ‑ ‑ (anhaltende, fortgesetzte Zurufe) ‑ Ich glaube, dass es nicht richtig ist, Demokratie mit lautem Brüllen zu verwechseln. Deshalb bitte ich noch einmal, allen, die hier anwesend sind, die Möglichkeit zu geben, an diesem Gespräch und dieser Veranstaltung teilzunehmen. Ich jedenfalls glaube, das wäre in aller Sinne! (Beifall) Aber ich will es noch einmal sagen: Wir reden hier über Bücher und darüber, wie sehr sie unser Leben bestimmen und uns miteinander bewegen. Ich bin dabei genauso wenig wie viele andere auf ein ganz bestimmtes Genre festgelegt, wie zum Beispiel diese Messe hier auch nicht. Wissenschaft oder Gesellschaft, Abenteuer oder Krimi, Sachbuch oder Roman – wenn man es zulässt, dann wartet hinter dem Buchdeckel die Überraschung, die uns im Netz oft abhandenkommt, weil uns Algorithmen dort vor allem das zeigen, was wir sowieso gut finden oder gut finden sollen. Wenn man es zulässt, dann findet sich aber überall etwas Interessantes, Spannendes oder Berührendes. Über diesen Aspekt würde ich gern sprechen: Lesen als Zulassen. Wir lassen andere Perspektiven als die eigene zu. Wir erleben, was uns selbst nie zuteilwurde. Wir nehmen persönlich Anteil an Entwicklungen, die uns sonst vielleicht kaltlassen würden. (Zurufe) Mit jedem Kapitel, mit jeder neuen Seite können wir Gegensätze überwinden, die im Alltag manchmal unüberbrückbar scheinen, wie wir auch jetzt hier sehen! Lesen ist deswegen der tägliche Beweis, dass wir uns trotz unserer Unterschiede verstehen können, dass unsere Gesellschaften in Deutschland, in Europa, mitnichten dazu verdammt sind, auseinanderzudriften. Folgen wir denen nicht, die uns spalten wollen, (Beifall) die ganzen Gruppen in diesem Land die Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft absprechen wollen. Glauben wir niemals denen, deren Antworten am Ende auf Intoleranz, Ausgrenzung und Hass hinauslaufen und deren verrückte Dexit-, D-Mark- und Remigrationspläne unser Land nicht nur moralisch, sondern auch wirtschaftlich ruinieren würden. Glauben wir stattdessen an das, was uns verbindet. Es verbirgt sich auch zwischen denen, die möglichst klug und gebildet darüber sprechen können. Literatur lebt von den Buchdeckeln hier in Leipzig – in all seinen Facetten. Umso schöner, dass sich bei „Leipzig liest“, dem größten europäischen Lesefest, davon auch in diesem Jahr wieder hunderttausende Literaturfans in der ganzen Stadt überzeugen können. Denn Literatur lebt nicht nur von denjenigen, die lesen, sich darüber austauschen, die zulassen. Darum freut es mich ganz besonders, dass der KulturPass in diesem Jahr in die Verlängerung geht. Das ist ein digital abrufbares Angebot der Bundesregierung für alle, die in diesem Jahr 18 Jahre alt werden. Sie erhalten ein Budget von 100 Euro, das sie frei für eine große Zahl kultureller Angebote einsetzen können ‑ beispielsweise auch, um ermäßigten Eintritt hier bei der Buchmesse zu erhalten. Und was nun ist die Leistung, für die der Kulturpass am meisten genutzt wird? Es ist tatsächlich, allem Kulturpessimismus zum Trotz, der Erwerb von Büchern ‑ mit deutlichem Abstand auf Platz eins. Auch das zeigt doch: Jede Geschichte, die erzählt wird, ist es wert, erzählt zu werden. Deswegen ist unsere vielfältige Verlagslandschaft von unschätzbarem Wert. Deswegen sind die tausenden Bücher, die hier jedes Jahr vorgestellt werden, gute Nachrichten für unser Land. Ich bin sehr froh, dass wir in diesem Jahr die Niederlande und Flandern als Gäste hier in Leipzig begrüßen können. Mit ihrem gemeinsamen Auftritt in diesem Europawahljahr stehen sie für das, was uns im vereinigten Europa ausmacht. Wir haben uns gemeinsam entschieden, die Brüche der Vergangenheit zu überwinden. Wir haben uns entschieden, das Gemeinsame zu sehen, ohne unsere Traditionen preiszugeben und ohne die Geschichte zu vergessen. Dass das geht, das zeigt Europa, das zeigt auch dieser gemeinsame Auftritt. „Alles außer flach“ ‑ mir gefällt auch dieses gemeinsame Motto sehr gut. Als Hamburger, aus den niedrigen Landen Deutschlands kommend, kann ich damit viel anfangen. Und in der Tat, wo könnte der Kontrast zwischen der Höhe über oder manchmal sogar unter dem Meeresspiegel und den künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen größer sein als in Flandern und in den Niederlanden. Man würde bei dem Versuch scheitern, hier aufzuzählen, was flämische und niederländische Meister für die Malerei, was flämische und niederländische Wissenschaftler für den Fortschritt, was niederländische und flämische Philosophen, Kartografen, Juristen oder Theologen für das Wohlergehen der Menschen und der Menschheit geleistet haben. Deswegen will ich mich beim Blick in die Geschichte auf einen Ausschnitt beschränken, der aus meiner Sicht auch eine wichtige Botschaft für uns heute enthält. Auf dem Großteil des Gebiets der heutigen Niederlande existierte mit der Republik der Vereinigten Niederlande schon Ende des 16. Jahrhunderts ein Vorbote des modernen Bürgerstaats. Natürlich war dieser frühe Staat alles andere als perfekt. Unter anderem mit der damals begründeten Rolle als Kolonialmacht setzt sich ja auch die Gegenwartsliteratur in den Niederlanden intensiv auseinander. Aber trotz eines Unabhängigkeitskriegs gegen die spanische Krone, trotz ungünstiger Voraussetzungen ‑ keine Bodenschätze, anders als heute kaum Landwirtschaft ‑ war dieser Staat ungemein erfolgreich. Denn die dort herrschende Religionsfreiheit zog Frauen und Männer aus ganz Europa dorthin, um freier arbeiten, forschen und schreiben zu können. Wissenschaftliche Bücher, die an anderen Orten verboten waren, konnten in den Niederlanden plötzlich frei gedruckt und verbreitet werden. Die Niederlande wurden das Verlagshaus Europas und ein Leuchtturm des Geistes. Hugo Grotius legte die Grundsteine für das moderne Völkerrecht und das Seerecht. Baruch de Spinoza begründete die moderne Religionskritik. Christian Huygens begründete die Wellentheorie des Lichts und leistete Bahnbrechendes in der Mechanik und der Astronomie. Antoni van Leeuwenhoek entwickelte das moderne Mikroskop und legte damit die Grundlagen der Zellbiologie. Gleichzeitig erreichte die Malerei eine nie dagewesene Blüte. Hunderte Meister produzierten zehntausende Gemälde im Jahr ‑ zum ersten Mal Bilder für Bürger und von Bürgern. Werke, die uns noch heute einen unvergleichlichen Einblick geben in das tägliche Leben einer Gesellschaft auf dem Weg in die Moderne. Was diese Geschichte zeigt? ‑ Gerade Europa mit seiner kleinen Fläche, mit seiner gemessen an anderen Weltregionen relativ kleinen Bevölkerung, ohne viele Bodenschätze, dieses Europa ist dann und nur dann erfolgreich, wenn wir frei im Denken und weltoffen bleiben, wenn wir uns nicht verschließen, wenn die erste Frage nicht lautet: „Woher kommst du?“, sondern: Was kannst du? ‑ Dann wird Europa auch in dem tiefgreifenden Umbruch, durch den wir gerade gehen, weiterhin erfolgreich sein. Literatur kann uns dabei Orientierung geben. Ihrem Manifest zur Buchmesse haben die Kuratorinnen des Gastlandprogramms, Bettina Baltschev und Margot Dijkgraaf, einen Satz mit einer wichtigen Mehrdeutigkeit vorangestellt: Wenn die Welt sich verändert, verändert sich auch die Literatur. ‑ Ja, die Literatur folgt dem Lauf der Welt. Sie reagiert auf Kriege, auf die Klimakrise, auf Flucht und Vertreibung. Sie spiegelt die wichtige Auseinandersetzung mit kolonialer Vergangenheit, mit Rassismus und Diskriminierung, mit der Angst vor Veränderung genauso wie mit glücklichen Veränderungen. Nur eines ist sie eigentlich nie, statisch. Damit ist sie ein hochsensibler Sensor für die Welt von morgen. In ihr zeigen sich die ersten Ausschläge des Kommenden. Sie kann Veränderungen vorgreifen, bevor wir diese in der Welt entdecken. Die Literatur verändert die Welt; auch dieser Satz gehört hierher auf die Leipziger Buchmesse. Danken möchte ich daher den vielen Autorinnen und Autoren, die uns die Welt gestern, heute, morgen durch ihre Augen sehen lassen, besonders natürlich den Gästen aus den Niederlanden und aus Flandern. Danken möchte ich auch all denjenigen, die uns fremdsprachige Literatur überhaupt erschließen, den Übersetzerinnen und Übersetzern. Tausende übersetzter Titel werden Jahr für Jahr in Deutschland veröffentlicht, Tausende Welten, die sonst im wahrsten Sinne das Wortes unverständlich geblieben wären. Ohne Sie, liebe Übersetzerinnen und Übersetzer, gäbe es schlicht keine Weltliteratur und damit noch weniger Verbindendes in einer Welt, die zwar besser vernetzt ist denn je, die sich dadurch aber nicht automatisch besser versteht. Meine Damen und Herren, es ist eine bittere Erkenntnis: Wir leben nicht in friedlichen Zeiten. Der verbrecherische russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der mörderische Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel und der Krieg in Gaza, hunderttausendfaches Leid, unendliche Trauer, unendliche Wut. Selten war es leichter, sich von dieser Wut mitreißen zu lassen. Ich habe von Lesen als Zulassen gesprochen, als täglich praktizierte Bereitschaft, die eigene Perspektive infrage zu stellen, seine eigene Blase zu verlassen, sich an die Stelle des anderen zu begeben. Diese Bereitschaft ist und bleibt gerade jetzt wichtig. Sie ist essenziell für unsere Demokratie. Deswegen habe ich mich darüber gefreut, dass in diesem Jahr Omri Boehm für sein Buch mit dem Titel „Radikaler Universalismus“ mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wird. Lieber Herr Boehm, Sie rufen uns im 300. Geburtsjahr Immanuel Kants in Erinnerung, welche Impulse auch heute von diesem großen europäischen Aufklärer für unser Miteinander hier und heute, für unsere demokratischen Gesellschaften ausgehen können. Gegen die lautstarke Betonung des Trennenden führen Sie uns das Verbindende zwischen uns vor Augen, nämlich die Anerkennung der Gleichheit aller Menschen. Auch von mir herzlichen Glückwunsch zur heutigen Ehrung! Meine Damen und Herren, wir leben nicht in friedlichen Zeiten. Ich verstehe es deswegen gut, wenn sich manche fragen: Was nutzt die Macht des Wortes gegen die schreckliche Tat? – Ja, es ist so. Nichts bringt die unschuldigen Opfer von Krieg und Terror zurück zu ihren Eltern, Kindern und Freunden. Das Schwarz kann man nicht weiß reden, die Nacht nicht zum Tag. Dennoch können Worte Trost und Halt geben. Worte können uns mit anderen verbinden und Kraft geben. Alle Gesellschaften sind aus Worten entstanden, und keine Gesellschaft kommt ohne Worte aus. Unsere Gesellschaft, unsere Demokratie ist stark dank Ihrer Arbeit. Haben Sie vielen Dank dafür!
(Während der ersten vier Minuten der Rede gab es anhaltende Zurufe.)
Rede von Bundeskanzler Scholz beim Jubiläumsempfangs „50 Jahre Seeheimer Kreis“ am 19. März 2024 in Berlin
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Tue, 19 Mar 2024 00:00:00 +0100
Berlin
Liebe Genossinnen und Genossen, schönen Dank für die Einladung, schönen Dank für die Gelegenheit, hier zu sprechen! Als ich 1975 in die SPD eintrat ‑ ein Jahr nach diesem Treffen in Lahnstein ‑, habe ich mir, ehrlich gesagt, nicht vorgestellt, dass ich zum 50. Jubiläum dieses Gesprächskreises als Bundeskanzler hier sprechen werde. Danke dafür, dass ihr das möglich gemacht habt! Zu den Gründungsideen dieses jetzt „Seeheimer Kreis“ genannten Gesprächsformats gehörte ja nämlich eigentlich immer der Pragmatismus, der Versuch, dafür zu sorgen, dass man gut regieren kann, dass man vernünftig auf das blickt, was sich die Bürgerinnen und Bürger so vorstellen, und dass das vermittelbar bleibt, was man versucht, in Regierungshandeln zu übersetzen. Pragmatismus ist wahrscheinlich das eine wichtige Kennzeichen dieses Kreises. Ein zweites ist wahrscheinlich: besser regieren als nicht regieren. Aber es ist auf alle Fälle etwas, das die ganze Zeit getragen hat. Ich selbst ‑ das, glaube ich, ist kein so großes Geheimnis ‑ habe dann in den Siebziger- und Achtzigerjahren nicht so sehr dem Pragmatismus nach vorne geholfen, aber am Ende des Tages ist es ja gut ausgegangen, und wahrscheinlich habt ihr dazu einen ganz wesentlichen Beitrag geleistet. Deshalb auch dafür schönen Dank! „Mit Augenmaß“ steht da, und „Mit Leidenschaft“ auf der anderen Seite, und das sind ja die richtigen Übersetzungen für gute Politik. Das ist das, was die Bürgerinnen und Bürger von uns, die in Verantwortung stehen, erwarten, dass wir mit Augenmaß handeln, dass wir uns nicht irremachen lassen von all dem, was an öffentlicher Aufregung um uns herum passiert, sondern dass wir versuchen, vernünftige Lösungen, die tatsächlich helfen, zustande zu bringen. Aber das ist nichts, was sich einfach in der erstarrten Idee beschreiben lässt, alles so zu machen, wie es immer schon war, und ein bisschen etwas anders zu machen. Es ist etwas, das damit zu tun hat, dass man die Welt besser machen will. Deshalb gehört zu jedem Augenmaß und zu allem Pragmatismus, der für gute Politik verantwortlich ist, auch immer dazu, dass er von dieser Idee getrieben ist, dass wir für etwas Politik machen, dass wir nicht einfach nur dabei sind, sondern dass wir etwas gestalten wollen, was unserem Land eine bessere Zukunft verschafft. Deshalb gehören Augenmaß und Leidenschaft eben zusammen, und der Seeheimer Kreis steht wie kaum eine andere politische Bestrebung in diesem Land genau für diese Zielsetzung. Nun sind ja zu diesem Jubiläum eines Gesprächskreises sehr viele eingeladen, auch diejenigen, die zur Parlamentarischen Linken gehören und die sich mit dem Netzwerk verbinden. Sie wurden auch ausdrücklich genannt. Wenn man sich die heutigen Zeiten im Verhältnis zu den Zeiten anschaut, wie ich sie mir vorstelle, dass sie in der Bundestagsfraktion der Siebzigerjahre gewesen sind, dann kann man sagen: Eigentlich passen alle ganz gut zusammen, verstehen sich ordentlich und arbeiten zusammen. Flügel gibt es in dieser Weise, wie das damals wohl der Fall gewesen ist, heute nicht mehr, und das ist eine Führungsleistung aller in den verschiedenen Gesprächsgruppen der SPD, aber auch der gesamten Fraktion, Rolf Mützenich. Ich glaube, diesen Stil des Zusammenhaltens müssen wir uns auch für die Zukunft bewahren! Es ist ja etwas ein wenig Überraschendes mit der SPD passiert, nämlich das, dass sie sich nach viel Streit und viel Hin und Her zusammengerauft hat. Erst haben viele Bürgerinnen und Bürger und auch viele in der SPD gar nicht geglaubt, dass das länger als zwei Monate halten wird. Aber dann hat es gehalten. Es hat viele Jahre gehalten, bis zur Bundestagswahl, und es hält seither. Die SPD, die den Seeheimer Kreis ja deshalb bekommen hat, weil sie so zerstritten war, ist heute mit dem Seeheimer Kreis und auch seinetwegen eine Partei, die vollständig geschlossen miteinander die Regierungsarbeit trägt, die gemeinsam nach vorn geht und in der alle zusammenhalten. Diese Leistung hält nun schon ein paar Jahre an. Sie hat den Wahlkampf getragen. Sie hat die bisherige Regierungszeit getragen. Ich wünsche mir, dass aus der Tatsache, dass dies den Erfolg der SPD ausgemacht hat, auch die Erkenntnis gewonnen wurde: Dabei bleiben wir. Das ändern wir nicht mehr. Wir halten zusammen. Ich weiß nicht, wie ich darauf komme, aber ich will ausdrücklich sagen: Man könnte von dieser Erfahrung auch andere profitieren lassen. ‑ Deshalb ist es mein ausdrücklicher Wunsch, dass diese Erkenntnisse auch für die Zusammenarbeit in der Regierung gelten. Ja, es gibt schon unterschiedliche Einsichten, die man hat, und man muss sich zusammenraufen. Aber es ist doch die Art und Weise, wie man das miteinander vorträgt. Deshalb glaube ich: Da ist etwas drin mit Unterhaken, auch in der Regierung. Wenn von dem heutigen Tag und dieser so beeindruckenden Veranstaltung an dieser Stelle der Spirit für die ganze Regierung noch einmal neu gezündet wird, dann war dies ein ganz erfolgreicher Tag. Nun ist jetzt nicht die Gelegenheit und der Ort, eine umfassende politische Rede über all das zu halten, was zu sagen ist. Das will ich auch nicht tun. Aber ich will nicht verhehlen, dass wir in sehr ernsten Zeiten zusammenkommen. Sehr ernste Zeiten waren es auch, als Helmut Schmidt regiert hat. Wir erinnern uns an den Terrorismus, der unser Land heimgesucht hatte, und viele, viele andere Dinge, die stattgefunden haben. Aber heute ist es eben doch etwas, was sich diejenigen, die so sehr für die Entspannungspolitik der Siebziger- und der beginnenden Achtzigerjahre gekämpft haben, damals wohl nicht in dieser Art vorgestellt haben: ein Russland, das erneut mit brutaler Aggression versucht, einfach Territorium zu erobern. Ja, seinerzeit hat sich niemand etwas über die Sowjetunion vorgemacht, über die Macht der Sowjetunion im Ostblock, über die Herrschaft über die Länder Mittel- und Osteuropas, die immer eine Knechtschaft gewesen ist, ausgeübt von der Machtstruktur und den Panzern der damaligen Sowjetunion. Aber sie haben versucht, auf dieser Basis eine Politik zu entfalten, die Entspannung möglich gemacht hat, die einen Weg zu einer Verständigung gefunden hat, die schon seinerzeit mit der KSZE und heute mit der OSZE in Dokumenten niedergelegt worden ist: Grenzen werden nicht mehr mit Gewalt verschoben. Deshalb ist das ein so furchtbarer Angriff auf die Ukraine, für die Ukraine und ihre Bürgerinnen und Bürger, für all diejenigen, die Tod und Zerstörung erleiden müssen sowieso, übrigens auch für die vielen russischen Soldaten, die für den Machtwahn des Präsidenten geopfert werden. Es sind unzählige, die ihr Leben gelassen haben, damit irgendjemand in den Geschichtsbüchern, die er nicht mehr lesen kann, dann herausfindet, dass man sagt: Er hat zehn Zentimeter zusätzliches Territorium erobert. ‑ Auch das ist etwas, was zu den Schrecklichkeiten dieser Zeit gehört. Aber das ist auch der Grund für unsere Sorge; denn dass wir uns nicht voreinander fürchten müssen, das ist die Grundlage der Zivilordnung, in der wir in unseren Ländern leben. Es ist aber, wie man im 300. Geburtsjahr von Kant sagen darf, auch das Grundprinzip des Miteinanders der Völker, dass wir nicht auf Krieg aus sind, sondern auf ein friedliches Miteinander der Völker. Deshalb will ich erneut sagen: Das ist die Zeitenwende, dass Russland diese Sicherheit infrage gestellt hat, und deshalb werden wir die Ukraine so lange unterstützen wie notwendig. Was wir auch brauchen, ist natürlich ein Verständnis für die Zeit, in der wir leben, und diese Zeit ist gerade in unseren Ländern mit einer großen Herausforderung versehen. Es läuft auch anderswo gut ‑ das ist die Globalisierung. Milliarden Menschen sind aufgestiegen zu Lebensverhältnissen, die viel besser sind, als sie vor 40, 50 Jahren auch nur vorstellbar waren. Wir dürfen und können hoffen, dass in wenigen Jahrzehnten vielleicht fast die ganze Welt einen Wohlstand hat, wie wir ihn vielleicht um die Mitte des letzten Jahrhunderts hatten. Was für ein Gewinn, wenn man das über acht oder zehn Milliarden Menschen sagen kann! Aber gleichzeitig ist natürlich ein Stück Sicherheit in unseren Ländern darüber verloren gegangen: die Sicherheit, dass, weil wir so viel anders sind, bestimmte Dinge nicht infrage gestellt werden können. Wir müssen also alles dafür tun, dass wir jetzt mit den Entscheidungen, die wir hier und heute treffen, dafür Sorge tragen, dass in 10, 20 und 30 Jahren die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sagen können: Wir sind weiter vorne dabei, wir sind technologisch mit an der Spitze, der Wohlstand in unserem Land ist sicher und alle haben eine gute Perspektive. Das ist die Frage, um die heute gerungen wird. Zeiten großer Unsicherheit sind auch immer eine Stunde für die rechten Populisten, für die Leute, die mit der Vergangenheit verheiratet und in sie verliebt sind, die das absurde Versprechen machen, man könnte zurückgehen. Dabei kann man ja noch nicht einmal plausibel sagen: „Es kann alles immer bleiben, wie es ist“. Das, was mit diesen spalterischen Tendenzen tatsächlich zur Debatte steht, ist vielmehr der Versuch, die Gesellschaft über Parolen zu spalten, um daraus ein politisches Geschäft zu machen. Wir müssen deshalb mit dem Fortschritt, mit dem Erfolg der technologischen Modernisierung, mit der Sicherheit, die wir darüber für die Zukunft unseres Landes schaffen können, die Basis für allen rechten Populismus entziehen. Das ist eine gemeinsame Arbeit, die wir haben. Wir müssen diesen Populisten entgegentreten; auch das will ich hier und an dieser Stelle sagen. Denn es kann nicht akzeptiert werden, dass wir einfach hinnehmen, dass rechtsextreme Parolen politisch diskutiert werden. Wir müssen gegenhalten. Wir müssen das nicht nur als Staat mit unseren Möglichkeiten, sondern wir müssen das als Gesellschaft, als Bürgerinnen und Bürger, wir müssen das als politisch Verantwortliche tun. Wir dürfen sie mit ihren Vorhaben nicht durchkommen lassen. Wir wissen die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger hinter uns, aber wir müssen uns gerade machen und den Populisten entgegentreten, damit sie keine Zukunft haben. Nun will ich noch eines loswerden, weil das eine Erkenntnis ist, die zu Politik mit Augenmaß und Leidenschaft dazugehört, nämlich dass wir sicher sind, dass in diesem Land zwei Dinge zueinander gehören, für die die Sozialdemokratische Partei und ganz besonders all diejenigen, die sich so aktiv engagieren wie dieser Gesprächskreis, besonders stehen: Demokratie und Sozialstaat gehören zusammen. Unser Sozialstaat ist eine der wichtigsten Errungenschaften neben der Demokratie, die wir erreicht haben, hat Helmut Schmidt einmal gesagt. Recht hat er! Lasst uns dafür weiter kämpfen ‑ mit Augenmaß und Leidenschaft. Schönen Dank, alles Gute zum 50.!
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Konferenz der Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung zum achtzigjährigen Jubiläum der Veröffentlichung „Weg zur Knechtschaft“ am 19. März 2024 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-konferenz-der-friedrich-august-von-hayek-stiftung-zum-achtzigjaehrigen-jubilaeum-der-veroeffentlichung-weg-zur-knechtschaft-am-19-maerz-2024-in-berlin-2266222
Tue, 19 Mar 2024 00:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Professor Weidmann, sehr geehrter Herr Professor Gerken, sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Kaja, sehr geehrter Herr Bundespräsident, lieber Herr Köhler, meine Damen und Herren! „Wir sind heute alle Kapitalisten.“ Das hat der Ökonom Branko Milanović in seinem Buch „Kapitalismus global“ geschrieben. Diese Erkenntnis hätte Friedrich August von Hayek vielleicht nicht überrascht, aber doch ein wenig gefreut. Milanović hat vor einigen Jahren nachgezeichnet, wie sich der Kapitalismus ‑ von wenigen Ausnahmen wie Nordkorea abgesehen ‑ global als das dominierende Wirtschaftssystem durchgesetzt hat. Insofern ‑ so könnte man auf den ersten Blick meinen ‑ gehören viele der großen ideologischen Debatten, die wir auch heute noch mit dem Namen Hayek verbinden, der Vergangenheit an. In Teilen ist das sicher so. Hayek war ‑ wie wir alle ‑ auch ein Kind seiner Zeit. Doch ein zweiter Blick zeigt: Hinter dem Befund des globalen Siegs des Kapitalismus bleibt viel Raum für, sagen wir einmal, Interpretationen. Da gibt es das kapitalistische Modell chinesischer Prägung mit stark staatswirtschaftlich-dirigistischen Elementen. Da gibt es Rohstoffökonomien wie Russland, wo der Staat oder staatsnahe Oligarchen die großen Unternehmen kontrollieren und auch darüber entscheiden, was mit den Gewinnen passiert. Jetzt werden sie für die Kriegsführung eingesetzt. Wir erleben, dass Zölle und Handelsbeschränkungen keineswegs tot sind, im Gegenteil! Manchmal werden sie nur geschickter als früher etikettiert. Kürzlich habe ich bei einer Veranstaltung in New York sinngemäß gesagt: „Ich hoffe, ich bin nicht der letzte verbliebene Freihändler hier im Raum.“ Das hat natürlich für Heiterkeit gesorgt. Aber dass der Freihandel weltweit derzeit einen schweren Stand hat, das macht mir schon Sorgen. Denn wir wissen doch: Zölle und Abschottung bedeuten am Ende höhere Preise, freier Handel hingegen sorgt für mehr Innovation und niedrigere Preise. Hayeks großes Lebensthema war die Freiheit, vor allem, aber eben nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, und genau deshalb lohnt sich die Beschäftigung mit seinen Ideen gerade heute. Zwei Flugstunden von hier verteidigen die Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Land, ihre Freiheit gegen den andauernden russischen Angriff. Du hast darüber schon gesprochen, liebe Kaja. Auf dem Spiel stehen nicht weniger als die Grundprinzipien unserer europäischen Friedensordnung: Gewalt darf Grenzen nicht verschieben, Macht ist an Recht gebunden, Macht muss an Recht gebunden sein. Diese Prinzipien verteidigen wir, indem wir die Ukraine unterstützen. Ja, wir tun das besonnen und eng abgestimmt mit unseren Partnern in Europa und in der ganzen Welt. Vor allem aber tun wir das langfristig und verlässlich. Putin glaubt, er habe den längeren Atem als die freiheitlichen Demokratien. Nur, wenn wir ihm das Gegenteil beweisen, wird es einen gerechten Frieden in der Ukraine geben – und damit auch Frieden in Europa. Hayek hatte schon zwei Weltkriege miterlebt. Der zweite war noch nicht vorbei, als er den „Weg zur Knechtschaft“ veröffentlichte. Er war Wissenschaftler. Ihm ging es ums Prinzip. Er selbst hat das an der Universität Köln einmal so formuliert: „Ich bin nicht […] in erster Linie an den unmittelbaren Problemen der Praxis interessiert. Der eigentliche Wirtschaftspolitiker muss sich mit dem befassen, was im bestehenden Zustand der öffentlichen Meinung politisch möglich ist. Er muss ständig Kompromisse schließen zwischen dem, was ihm eigentlich richtig erscheint, und dem, was unter den gegebenen Umständen praktikabel ist.“ Ich zitiere nur. Mit der Aufgabenbeschreibung kann ich mich durchaus anfreunden, wobei es ja auch Situationen geben kann, in denen das Richtige und das Praktikable Hand in Hand gehen. Ganz in diesem Sinne möchte ich heute gern ein paar Worte dazu sagen, wie aus meiner Sicht eine moderne Angebotspolitik, die in diese Zeit passt, ausgestaltet sein sollte. Ganz wichtig ist, erstens: Wirtschaftliches Wachstum bleibt die Triebfeder von Wohlstand und Entwicklung weltweit. Begriffe wie „de-growth“ oder gar die Forderung, auf wirtschaftliche Entwicklung zugunsten der Umwelt zu verzichten, stoßen in den aufstrebenden Ländern Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und der Karibik auf Kopfschütteln oder bestenfalls auf taube Ohren. Das heißt nicht, dass diese Länder unsere Sorge vor dem Klimawandel und seinen Folgen nicht teilen. Im Gegenteil: Viele von ihnen sind Hauptleidtragende der Klimakrise. Aber diese Länder suchen ‑ so wie wir auch ‑ nach Wegen, Wachstum klimafreundlich zu organisieren. Mir ist wichtig, dass wir die Möglichkeit einer positiven Perspektive für unsere Welt nie verlieren. Deshalb will ich sagen, dass unsere Welt, die heute acht Milliarden Einwohner hat und die 2050 etwa zehn Milliarden haben wird, vielleicht, wenn es gut läuft, und es sieht ein bisschen eher danach aus, als ob es gut laufen könnte, 2050 für fast alle Bürger des Planeten den Wohlstand möglich machen wird, den wir 1950 hatten. Aber man stelle sich einmal vor, wir würden die Wirtschaft 2050 so betreiben, wie wir sie 1950 betrieben haben. Es wäre kein guter Ort zum Leben, zum Atmen. Wir würden den Klimawandel nicht aufgehalten haben. Es wären schlimmste Bedingungen, und manche der Illusionen über ewig billige Preise für Kohle, Gas, Öl, Uran und was weiß ich auch immer würden schnell verpuffen. Aber wir müssen doch hoffen, dass es mindestens gelingt, dass der Wohlstand der Welt so anwächst, dass Milliarden Menschen außerhalb Europas und Nordamerikas die Möglichkeiten haben, ein Leben zu führen, das unserem nicht unähnlich ist! Das wird aber nur mit unglaublichem technologischen Fortschritt gelingen, mit Wandel, den wir jetzt organisieren, mit Technologien, die es möglich machen, dass mehr Wohlstand möglich ist, ohne dass wir das Leben auf dem Planeten erschweren. Deshalb geht es bei der Bekämpfung der Klimakrise auch aus meiner Sicht in erster Linie um Technologien und Maschinen, um Know-how und tatsächlich auch um Kapital. All das ist hier bei uns ‑ in den klassischen Industrieländern ‑ vorhanden. Gleichzeitig sind wir auf der Suche nach neuen Energiequellen und Energielieferanten, von denen viele auch im globalen Süden beheimatet sein werden, etwa, wenn es um Wasserstoff, den wir importieren werden, wie wir heute Kohle, Gas und Öl importieren ‑ nicht nur; wir produzieren ihn auch ‑, geht. Welch ein Markt daraus entstehen kann ‑ gerade für uns als technologiestarkes Industrieland ‑, das müsste man Hayek sicher nicht erklären. Zweitens. Wachstum hier in Deutschland schaffen wir zudem, indem wir Wachstumsbremsen lösen. Schaut man auf all die Studien zum Potenzialwachstum in Deutschland, dann ist ganz klar, wo sie die größte Wachstumsbremse für Deutschland sehen: im Mangel an Arbeitskräften. Sie alle kennen die Zahlen: Die Babyboomer ‑ heute, erwachsen, Boomer genannt ‑ gehen in Rente. 13 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verlassen in den kommenden 15 Jahren den Arbeitsmarkt. Dass wir trotzdem die höchste Beschäftigtenzahl aller Zeiten haben, hat vor allem mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union zu tun. Eine moderne Angebotspolitik muss diesen Erfolg fortschreiben, und das ist möglich, zunächst natürlich, indem wir das tun, was wir hierzulande bewirken können, indem wir mit Aus- und Weiterbildung alles dafür tun, dass die Arbeitskräfte in unserem Land ihre Fähigkeiten maximal entfalten können. Das gilt für den Übergang von der Schule in die Berufsausbildung, neben dem Studium unverändert die wichtigste Ausbildung in Deutschland. Aber es gilt auch für diejenigen, die schon beschäftigt sind. Als ich während der Finanzkrise, die dem Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers folgte, Arbeitsminister in Deutschland war, habe ich für die Zeit der Beschäftigungslosigkeit während der Kurzarbeit, die ich im großen Umfang in Deutschland möglich gemacht habe, dafür geworben, Weiterbildung zu machen. Mein Eindruck war: Ich habe alle, die das gemacht haben, persönlich kennengelernt. Das spricht nicht für großen Erfolg. Aber jetzt, wenn ich in den Betrieben herumgehe, sehe ich, dass passiert ist, was ich mir damals erträumt habe, dass die Unternehmen sich im eigenen Laden umgeschaut haben, in der eigenen Fabrik, und gesehen haben: Ich habe hier Vierzigjährige und Fünfzigjährige als Un- und Angelernte oder solche, die am Band stehen, aber Bäcker gelernt haben. Warum biete ich denen nicht die Möglichkeit, jetzt noch in meinem Betrieb selbst als Fünfundvierzigjähriger oder als Fünfzigjährige eine Berufsausbildung zu beginnen, die zu dem passt, was gebraucht wird? – Ich habe sie gesehen, die stolzen Frauen und Männer, die das gemacht haben. Das ist ein Potenzial, das noch völlig unausgeschöpft ist und das wir heben müssen. Aber ‑ auch das will ich sagen ‑ wir müssen dafür sorgen, dass es mit der Frauenerwerbstätigkeit in Deutschland besser wird, indem wir im Umgang mit den Beschäftigungsmöglichkeiten junger Familien besser werden. Im internationalen Vergleich ist das, was wir da zu bieten haben, wirklich peinlich. Es gibt einzelne Länder in Deutschland, in denen gibt es das alles, was es auch woanders gibt und was wir wollen: ein flächendeckendes Angebot an Krippen und Kitas, Ganztagsangebote an allen Schulen in allen Jahrgangsstufen, auch gebührenfrei. Als ich Regierungschef eines Landes in Deutschland war ‑ des Staates Hamburg, eines kleinen Landes, das einen Beitrag zum deutschen föderalen Erfolg leistet ‑, habe ich eben diese Möglichkeit genutzt und gesagt: Das machen wir so! – Das hat unmittelbare Konsequenzen für die Erwerbstätigkeit. Wir sollten das nicht unterschätzen! Ich bin froh, dass wir in der letzten Legislaturperiode ein Gesetz gemacht haben, in dem wir mit einem Beitrag des Bundes die Länder dazu überredet haben, dass sie bis 2029 den Ganztag in der Grundschule einführen. Ich sage als Kommentar: immerhin. Aber das Wichtigste an Potenzial, das wir nutzen müssen, ist die Fachkräfte- und Arbeitskräftezuwanderung, um uns vor dem Arbeitermangel in Deutschland zu beschützen. Ich habe es eben schon gesagt: In der Vergangenheit mussten wir nicht viel können. Wir hatten ja die Freizügigkeit in der Europäischen Union mit mehr als 400 Millionen Bürgerinnen und Bürgern, mit mehr als 200 Millionen Erwerbstätigen, und sie hat dazu geführt, dass alle Prognosen der Neunzigerjahre nicht gestimmt haben. Statt dass die Zahl der Beschäftigten zurückgegangen ist, ist sie um Millionen ‑ um sechs Millionen ‑ gestiegen. Wir haben heute den höchsten Stand an Erwerbstätigen in der Geschichte Deutschlands: 46 Millionen, eine sehr, sehr große Zahl. Aber ich habe ja schon über die Boomer geredet. Wir brauchen mehr Arbeitskräfte, und die Europäische Union ist nicht mehr eine ausreichende Ressource für die Anforderungen des deutschen Arbeitsmarktes, wie übrigens diejenigen berichten können, die woandersher gekommen sind. Unsere Offenheit und die Kraft unserer Volkswirtschaft hat Auswirkungen in den Ländern des Balkans, in vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas, aus denen Arbeitskräfte in großer Zahl nach Deutschland gekommen sind, viele aus Polen, Millionen. Jetzt müssen wir weiter schauen. Deshalb haben wir es in einer Zeit angestrengter Debatten geschafft, Entscheidungen zu treffen, die vielleicht die richtigen, mutigen Entscheidungen sind, nämlich die Offenheit zu verteidigen, die unsere wirtschaftliche Kraft in den letzten Jahren mit ermöglicht hat. Mit dem Arbeitskräfteeinwanderungsgesetz, das wahrscheinlich das modernste auf der ganzen Welt ist und mithalten kann mit Regelungen in Kanada, den USA, Australien, Neuseeland und wo auch immer, kann unser Land seine Erfolgsgeschichte fortschreiben. Deshalb ist übrigens die plausibelste Statistik des Bundesamtes, dass wir 2070 90 Millionen Einwohner haben werden und nicht 84 Millionen, und die plausibelste Vorhersage ist nicht die pessimistische, der wir jeden Tag begegnen, sondern dass wir als offene Volkswirtschaft unser Mangelproblem, was Arbeitskräfte betrifft, bewältigen werden und wir deshalb Wachstum und Produktionspotenziale haben werden, die heute mit der statistischen Methode, nur die Vergangenheit in die Zukunft zu rechnen und sich Neues nicht vorstellen zu können, nicht erkannt werden können. Doch, wir haben es gemacht, und jetzt bauen wir noch alles aus, was man im Doing braucht: digitale Konsulate ‑ was Anfang nächsten Jahres der Fall sein wird ‑, eine bessere Praxis hierzulande, Vereinfachung von Vorschriften. Wir wollen nicht, dass Deutschland nicht wachsen kann, weil es nicht zusätzliche Arbeitskräfte von außerhalb gibt. Gleichzeitig haben wir es aber geschafft, die Perspektive zu öffnen, dass das auch politisch getragen werden kann. Es war ein nicht immer, aber am Ende doch gewollter Vorgang, dass das Arbeitskräfteeinwanderungsgesetz und das neue Staatsangehörigkeitsrecht in der gleichen Zeit fertig geworden sind wie auf der anderen Seite unsere Regelung zum Management der irregulären Migration. Denn eine Gesellschaft, die offen ist, muss ihren Bürgerinnen und Bürgern auch versprechen, dass sie die Sache im Griff hat. Man kann zum Beispiel, wenn man offen für Arbeitskräftezuwanderung ist, nicht gleichzeitig sagen, es kann jeder kommen und sagen „Ich bleibe auch hier, ich bin Flüchtling“, wenn es nicht stimmt. Deshalb mussten wir diesen Teil verändern, und wir haben es gemacht. Das war ‑ wenn ich dir das gestehen darf ‑ in einem föderalen Staat sehr, sehr schwierig. Denn für alles das, wofür in deinem Land die Regierung direkt verantwortlich ist, ist in Deutschland 16-mal jemand verantwortlich, nämlich eines der Länder, 401 Landkreise und kreisfreie Städte, 11 400 Gemeinden, 560 Ausländerbehörden. Wir haben in drei großen Runden mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder über ihre und unsere Kompetenzen verhandelt. Was uns betrifft, kann ich sagen: Wir haben die weitreichendsten Gesetzesveränderungen der letzten 25 Jahre für den Umgang mit der irregulären Migration beschlossen, die man sich überhaupt vorstellen kann. Alles, was man vernünftigerweise wollen kann, ist gemacht und beschlossen worden. Man sieht es ‑ wenn ich mir diesen Witz erlauben darf ‑ am Trennungsschmerz von Herrn Söder und dem Oppositionsführer. Denn sie bringen immer noch einmal Punkte, aber es sind keine vernünftigen mehr. Manche hat sogar das Verfassungsgericht schon für verfassungswidrig erklärt. Ich glaube, wir haben eine Grundlage geschaffen, diese Offenheit, weil wir das Management beherrschen können, auch verteidigen zu können. Denn das gehört aus meiner Sicht immer dazu, dass es eine gute Verwaltung gibt und einen Staat, der funktioniert, auf den man vertrauen kann. Ein bisschen ist im Realen noch zu tun. Vielleicht ein Vorschlag für die Leute mit Trennungsschmerz: Wenn man wieder einmal etwas Neues vorschlagen will, dann sollte man sich erst dann wieder melden, wenn die Digitalisierung der eigenen Ausländerbehörden abgeschlossen ist oder aber, wenn die Verwaltungsgerichtsverfahren, die diejenigen anstrengen, die Asyl beantragen, überall kurz sind. Das geht nämlich. In Rheinland-Pfalz sind es dreieinhalb Monate, in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Bayern um die 20. Es gibt sogar Länder mit 40 Monaten. Das wollen wir natürlich ändern. Ich komme zurück zum Thema. ‑ Warum sage ich das? Angebotspolitik heißt, in diesem Fall dafür zu sorgen, dass wir genügend Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt haben. Wir haben die Weichen dafür gestellt, und deshalb dürfen wir zuversichtlich sein. Ein zweiter Teil ist aus meiner Sicht für die Frage wichtig, wie man Wachstum verbessern kann, und das ist Bürokratieabbau. Ich befürchte, Herr Hayek hat sich nicht vorstellen können, was man noch alles an Bürokratie abbauen kann ‑ so viel war noch nicht zusammen. Wir haben uns in den letzten Jahrzehnten überall sehr viel Mühe gegeben ‑ auf allen Ebenen der Politik in Europa, in Deutschland, in den 16 Ländern, in den Landkreisen ‑, es immer schwieriger zu machen. Meine These ist: Wir haben heute einen Zustand erreicht, wo an vielen Stellen niemand mehr die Gesetze, die wir beschlossen haben, noch exekutieren kann. Das ist spätestens ein Warnsignal, dass es so nicht weitergeht. Jedenfalls müssen wir mehr Tempo erreichen, indem wir auch ganz viel an Vorschriften verändern, die dem bisher im Wege stehen. Ich jedenfalls habe mir das vorgenommen. Wir haben in unserem föderalen Staat eine Vereinbarung mit den Ländern in über 100 Gesetzesvorhaben geschlossen, damit das klappt. Letzte Ausführung zu diesem Thema der Angebotsbedingungen und der Wachstumsbremsen, die wir lösen müssen: Was ist die eine Ursache für den Erfolg der deutschen Volkswirtschaft bei den Exporten? Es ist Forschung und Entwicklung. Das wird aus meiner Sicht völlig unterschätzt. Aber wenn man sich die großen europäischen Länder anschaut ‑ nicht die kleinen; darunter sind super Beispiele ‑, dann wird man außer Deutschland kein einziges finden, das mehr als drei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Forschung und Entwicklung ausgibt: nicht Großbritannien, nicht Frankreich, nicht Spanien, nicht Italien usw. Das ist auch der Grund, warum die volkswirtschaftlichen Statistiken in der Welt so verschoben sind: Platz eins die USA, Platz zwei China, Platz drei Japan, Platz vier Deutschland. Irgendwo zwischen Japan und Deutschland oder vielleicht sogar vor China und den USA müsste die Europäische Union liegen, hätte sie insgesamt so viele Forschungsaufwendungen wie in einigen Ländern und auch wie bei uns. Das ist die Ursache. Es ist die Wahrheit: Wir werden in einer innovativen Gesellschaft mit vielen Disruptionen von den Dingen, die wir vor 20 Jahren konnten, nicht mehr viel Einkommen erwarten dürfen. Es müssen Sachen sein, die wir noch nicht kennen und erst entwickeln müssen. Dafür ist es zum einen notwendig, Wachstumsbremsen zu lösen, zweitens gilt es, Wachstum gerade in Zukunftsbranchen möglich zu machen ‑ und dafür müssen wir die nötigen Investitionen tätigen. Da kann der Staat helfen ‑ das muss er auch in Zeiten der Transformation ‑ und das durch Anreize unterstützen. Aber es bleiben privatwirtschaftliche Investitionen im Mittelpunkt. Das ist auch mein dritter Punkt, und damit bin ich gar nicht so weit weg von Hayek. Denn anders als manchmal dargestellt, wollte Hayek keinen Laissez-faire-Staat. Hayek wollte, dass der Staat für öffentliche Güter sorgt, für Schulen und Straßen und die Landesverteidigung. Und wenn er noch leben würde, würde er die digitale Infrastruktur sicherlich einbeziehen. Klar ist: Der Staat hat dabei nie der bessere Unternehmer zu sein. Seine Aufgabe besteht darin, Leitplanken zu setzen und Planungssicherheit zu ermöglichen ‑ gerade in Zeiten wie diesen, gerade mitten innerhalb der größten Veränderung unserer Wirtschaft seit der industriellen Revolution. Denn es reicht ja nicht nur zu proklamieren: Bis 2045 sind wir klimaneutral, den Rest macht ihr schon. Unternehmen wollen wissen, woher sie rund um die Uhr Strom bekommen, wie viel die Energie künftig kostet und wann ein Wasserstoffnetz in Deutschland steht. Deshalb haben wir zurückgerechnet und gefragt: Wann genau muss was getan werden, damit Deutschland 2045 klimaneutral wirtschaften kann? Was braucht es, damit schon 2030 80 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien kommen? Auf der Basis haben wir dann all die Planungsbeschleunigungsgesetze gemacht, haben wasserstofffähige Flüssiggasterminals gebaut, haben die Grundlagen für ein Wasserstoffnetz gelegt ‑ übrigens mit über 20 Milliarden Investitionen rein privatwirtschaftlich betrieben ‑, haben mit den Versorgern eine Kraftwerkstrategie vereinbart, die eine verlässliche Stromversorgung sicherstellt, auch wenn mal keine Sonne scheint und kein Wind weht. Vielleicht muss man das einmal übersetzen: Wir setzen auf die erneuerbaren Energien, wissen aber genau, dass es, selbst wenn wir 120 Prozent Windstrom und Solarstrom haben, Momente gibt, in denen das nicht reicht, und dann müssen sonst unwirtschaftliche Kraftwerke einspringen können. Genau diese haben wir jetzt auf den Weg gebracht, damit das Gesamtsystem funktioniert. Das wirkt. Ein Blick auf die aktuellen Preise und die Futures für Strom und Gas reichen aus, um das festzustellen. Noch vor wenigen Monaten, und gefühlt in den Köpfen immer noch, haben wir hier in Deutschland hitzige Diskussionen über einen staatlich subventionierten Industriestrompreis von sechs Cent pro Kilowattstunde geführt. Heute bewegen sich die Strompreise am Spotmarkt bereits wieder in dieser Größenordnung. Die Terminmärkte rechnen mit einem weiteren Absinken. Auch deshalb bin ich froh, dass wir das damals nicht gemacht haben, einen dauersubventionierten Strompreis einzuführen. Gleiches gilt übrigens für die Rufe, die jetzt manch einer wiedererhebt, man müsse nun den Sozialstaat schrumpfen, die Renten kürzen oder Arbeitnehmerrechte abbauen. Neu ist das alles nicht ‑ falsch bleibt es trotzdem. Hayek selbst spricht sich explizit für einen Sozialstaat aus. Denn in der Marktwirtschaft sei jeder Bürger einem gewissen Maß an Unsicherheit ausgesetzt. Eine Mindestsicherung sei notwendig, damit jede Bürgerin und jeder Bürger immer wieder aufs Neue die Möglichkeit habe, sich an Arbeit und Wissensproduktion zu beteiligen. Was zu Hayeks Zeiten galt, gilt heute umso mehr. Wir stehen im Wettbewerb um die besten und klügsten Köpfe weltweit. Eines unserer wichtigsten Argumente dabei ist auch unser Sozialstaat mit seinem bezahlbaren Gesundheitssystem und seiner kostenlosen Bildung. Wir reden auch hier und heute über die größten Veränderungen unserer Zeit und über die Verunsicherung, die sie bei vielen Bürgerinnen und Bürgern hinterlassen. Was es heißt, wenn Populisten und Extremisten diese Verunsicherung ausnutzen, kann man in vielen westlichen Gesellschaften beobachten ‑ welches Risiko diese Populisten und Extremisten auch für die wirtschaftliche Entwicklung darstellen, ebenso. Deshalb ist Sicherheit ‑ das schließt soziale Sicherheit ein ‑ in diesem Wandel so wichtig, und deshalb achten wir bei allem, was wir tun, auch auf soziale Ausgewogenheit. Deutschland ist ein starkes Land mit einer robusten Wirtschaft und einem gut funktionierenden Arbeitsmarkt, gerade weil unser gesellschaftlicher Zusammenhalt stark ist, gerade weil wir eine Tradition starker Sozialpartner haben. Dieser innere Zusammenhalt, diese gesellschaftliche Solidarität, ist gefährdet, wenn die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck gewinnen, gesellschaftliche Veränderungen wie die Transformationen gingen für sie und ihre Angehörigen nicht gut aus. Eine moderne Angebotspolitik für die heutige Zeit bedeutet daher, dass jede und jeder, der arbeitet und sich anstrengt, davon leben können muss. Darum war zum Beispiel die Anhebung des Mindestlohns so wichtig, von der in Deutschland volle sechs Millionen Beschäftigte profitiert haben, und deshalb setze ich mich übrigens auch ‑ das will ich gerade hier sagen ‑ für mehr Tarifbindung und Sozialpartnerschaft ein. Ich finde auch die Arbeit von Gewerkschaften richtig und wichtig, auch wenn ich zum aktuellen Tarifkonflikt im Bahnbereich sage: Irgendwann sollte man einmal zum Ergebnis kommen. Hayek hat das mit den Gewerkschaften durchaus anders gesehen ‑ das muss gesagt werden ‑ und sie dafür kritisiert, diejenigen, die auch für Löhne unterhalb von Tarifverträgen arbeiten würden, von der Arbeit fernzuhalten. Aber ein solches Argument hinterfragt sich oder wird ohne Bedeutung, wenn nicht Massenarbeitslosigkeit, sondern Arbeitskräftemangel herrscht, was unser Thema der nächsten Jahrzehnte sein wird. Das ist ‑ das darf nicht verschwiegen werden ‑ nicht die einzige Stelle, wo wir uns heute, sozusagen beim Blick in den Rückspiegel, anders entscheiden würden als Friedrich August von Hayek. Dass er, eigentlich ein Mahner gegen Tyrannei, in späteren Jahren einen Militärdiktator wie Augusto Pinochet in Wirtschaftsfragen beraten hat, ist für uns Heutige sicher schwer zu verstehen. Umso wichtiger finde ich, dass wir uns in dieser Zeit klar und deutlich auf eines verständigen. Kapitalismus allein bedeutet noch keine Freiheit. Zur wirtschaftlichen Freiheit gehört immer auch die politische Freiheit dazu. Und nun freue ich mich auf das Gespräch. Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Konferenz „Europe 2024“ am 19. März 2024 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-konferenz-europe-2024-am-19-maerz-2024-in-berlin-2266182
Tue, 19 Mar 2024 00:00:00 +0100
Berlin
Im August 2022, ein halbes Jahr nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die ganze Ukraine, habe ich an der Karlsuniversität in Prag über die historische Herausforderung gesprochen, der wir in Europa ins Gesicht sehen. Die Frage lautet damals wie heute: Wie bewahren wir die europäische Friedensordnung vor einem neoimperialen Russland, das Grenzen mit Gewalt verschieben will und in der Demokratie nur noch auf dem Papier existiert, wo Oppositionelle getötet werden und Wahlen zu einem Schauspiel mit vorbestimmten Drehbuch verkommen sind? Was also muss das freie, demokratische Europa an dieser Wegmarke seiner Geschichte tun? Zu allererst haben wir die historische Aufgabe, das nach innen gerichtete Friedensprojekt Europa weiterzuentwickeln, und zwar indem wir die Europäische Union in die Lage versetzen, ihre Sicherheit, ihre Unabhängigkeit und ihre Stabilität auch gegenüber Herausforderungen von außen zu sichern. Die vergangenen beiden Jahre haben gezeigt, dass Europa an dieser Prüfung wieder einmal gewachsen ist. Noch vor wenigen Jahren, nach dem Brexit und während der Coronapandemie, war überall vom Zerfall der Europäischen Union die Rede, vom Ende des europäischen Projekts. Heute, wenige Jahre später, wächst unsere Union. Wir haben neuen Schwung in den Beitrittsprozess mit Ländern des westlichen Balkans gebracht. Die Ukraine, Moldau und Georgien wollen der EU beitreten. Auch die EU selbst hat erkannt, welche geopolitische Bedeutung diese Erweiterung hat. Europa 2024 heißt auch: Wir verteidigen unsere europäische Souveränität. Wir arbeiten bei unserer Verteidigung enger denn je zusammen. Wir schaffen die Grundlage für eine gemeinsame europäische Luftverteidigung im Rahmen der NATO. Wir stimmen uns bei Rüstungsprojekten eng ab. Wir schützen wichtige Handelswege, etwa mit der neuen EU-Operation im Roten Meer. Von zentraler Bedeutung für den Frieden in Europa bleibt die verlässliche dauerhafte Unterstützung der Ukraine. Erst Anfang Februar haben wir als Europäische Union den Weg für ein weiteres Unterstützungspaket im Umfang von 50 Milliarden Euro frei gemacht. Auch im Weimarer Dreieck haben wir unsere gemeinsamen Anstrengungen zur Unterstützung der Ukraine gerade noch einmal intensiviert. Hinzu kommen unsere nationalen Anstrengungen, die viele Länder in den vergangenen Wochen noch einmal gesteigert haben. Allein Deutschland hat für die militärische Unterstützung der Ukraine mittlerweile rund 28 Milliarden Euro bereitgestellt oder fest eingeplant. Wir beschaffen Munition für die Ukraine auf dem Weltmarkt. Gleichzeitig fahren wir die Produktion innerhalb Europas hoch. Das alles tun wir mit einem klaren Ziel vor Augen. Wir wollen einen gerechten und dauerhaften Frieden in der Ukraine, kein russisches Diktat. Dafür muss der russische Präsident verstehen: Wir, unsere Partner und Verbündeten, unterstützen die Ukraine so lange wie nötig. Europa 2024 heißt auch, die Gräben zu schließen, die uns über Jahre gespalten und geschwächt haben. Das gilt beispielsweise für die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Jahrelang wurde darum gerungen. Jetzt liegt endlich eine europäische Lösung auf dem Tisch, die Humanität und Ordnung sichert, mit einem wirksamen Grenzschutz und einem verpflichtenden Solidaritätsmechanismus zwischen den Mitgliedsstaaten. Auch im Bereich der Wirtschaft sind uns echte Durchbrüche in Richtung auf mehr Wettbewerbsfähigkeit, mehr Innovation und weniger Abhängigkeit gelungen. Wir alle haben noch die Engpässe bei den Halbleitern vor Augen, die infolge der Coronapandemie viele Bänder zum Stillstand gebracht haben. Mit dem Chips Act und der Förderung europäischer Gemeinschaftsprojekte haben wir darauf reagiert. In Europa und ‑ das kann ich sagen ‑ besonders in Deutschland entsteht gerade eines der weltweiten Zentren der Halbleitertechnik. Microchips made in Europe helfen der Wirtschaft. Sie sichern unseren technologischen Vorsprung und gute Arbeitsplätze in Europa für die nächsten Jahrzehnte. Ein Meilenstein ist auch die europäische Regulierung zu künstlicher Intelligenz, die erste umfassende weltweit. Sie bietet Schutz, ohne Innovationen abzuschneiden. Microsoft hat sich nicht trotz, sondern gerade wegen dieses klaren Rahmens dafür entschieden, in den nächsten beiden Jahren drei Milliarden Euro in Deutschland zu investieren. Das zeigt doch, dass die fairen Wettbewerbsbedingungen des „level playing field“, das unser gemeinsamer Markt bietet, ein riesiger Wettbewerbsvorteil bleiben. Diesen Vorteil müssen wir uns erhalten. Dazu zählt es, unnötige Bürokratie abzubauen, nicht nur national, sondern eben auch in Europa. Die Kommission hat angekündigt, 25 Prozent der Berichtspflichten für Unternehmen abzuschaffen. Das ist ein Anfang, aber nach den Europawahlen geht sicherlich noch mehr. Entscheidend voranbringen wollen wir auch die Banken- und Kapitalmarktunion. Das klingt technisch. Aber am Ende geht es darum, ob wir genug privates Kapital mobilisieren, um die Transformation unserer Wirtschaft und unsere Gesellschaften zum Beispiel hin zur Klimaneutralität finanzieren zu können. In den USA, wo es einen riesigen Kapitalmarkt gibt, gelingt das. Die EU muss hierbei dringend aufholen. Europa bleibt auch 2024 „work in progress“. Im Sommer 2022 habe ich in Prag betont, dass gerade in einer wachsenden Europäischen Union Reformen notwendig sind, zum Beispiel was die internen Abstimmungsprozesse angeht. Viele haben sich dieser Forderung mittlerweile angeschlossen. Noch im Juni soll ein Reformfahrplan stehen. Ein handlungsfähiges Europa, wie wir es in den vergangenen zwei Jahren erlebt haben, ist übrigens auch die beste Antwort auf die Extremisten und Populisten, die es in fast allen europäischen Ländern gibt. Wir werden Europa nicht jenen überlassen, die von Dexit, D-Mark und Deportationen schwadronieren und damit unsere Einheit und unseren Wohlstand gefährden, die Autokraten wie Putin nacheifern und Freiheit, unsere Rechtsstaatlichkeit und unsere Demokratie verachten. Ein geeintes Europa und nur ein geeintes Europa hat die allerbesten Chancen, das 21. Jahrhundert in unserem, im europäischen Sinn mitzuprägen und mitzugestalten, mit dem größten Binnenmarkt der Welt, mit führenden Forschungseinrichtungen, innovativen Unternehmen, mit stabilen und wehrhaften Demokratien, mit einer sozialen Versorgung und einer öffentlichen Infrastruktur, die auf der Welt ihresgleichen suchen. Darum geht es in Europa 2024. Ich freue mich auf die Diskussion und warte auf die Fragen.
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Festveranstaltung „125 Jahre Zentralverband Deutsches Baugewerbe“ am 15. März 2024 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-festveranstaltung-125-jahre-zentralverband-deutsches-baugewerbe-am-15-maerz-2024-in-berlin-2265574
Fri, 15 Mar 2024 00:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Schubert-Raab, sehr geehrter Regierender Bürgermeister Wegner, sehr geehrte Frau Bundesministerin, liebe Klara, meine Damen und Herren, Carl Legien war ein Handwerker. Er war einer, der sich hochgearbeitet hat, vom einfachen Drechslergesellen zu einem der wichtigsten Gewerkschaftsführer des vergangenen Jahrhunderts. Seinen Namen kennen heute nicht mehr viele. Aber ein Abkommen ‑ darüber wurde eben schon gesprochen ‑ ist in Erinnerung geblieben, das er 1918 zusammen mit dem Großindustriellen Hugo Stinnes unterschrieben hat, Legien als Verhandlungsführer der Gewerkschaften, Stinnes als Vertreter der Unternehmen. Das Stinnes-Legien-Abkommen markierte den Beginn einer neuen Zeit, weil die Arbeitgeber die Gewerkschaften zum ersten Mal offiziell als gleichberechtigte Tarifpartner anerkannten. Das Abkommen war ein Wendepunkt, der bis heute dafür steht, was Deutschland ausmacht und was Deutschland stark macht: Mitbestimmung und Tarifautonomie, selbstbewusste Partner, die auf Augenhöhe miteinander verhandeln. ‑ Sie sind die Basis unserer sozialen Marktwirtschaft. Warum erzähle ich das gleich am Anfang? ‑ Weil damals etwas begann, was bis heute weiterwirkt. Heute ist eben ein Festtag für den Zentralverband Deutsches Baugewerbe, Ihr Festtag, meine Damen und Herren. 35 000 kleine und mittelständische Unternehmen der deutschen Bauwirtschaft sind im ZDB vertreten. Drei Viertel der Beschäftigten im Bauhauptgewerbe kommen aus dem Handwerk. Ob Holzbau oder Stuck-Putz-Trockenbau, ob Kälte- oder Brandschutz, ob Estrich oder Fliesen verlegt, ob Straßen oder Häuser gebaut werden: Man kann sich darauf verlassen, dass das ordentlich gemacht wird. Jedes einzelne Handwerk steht für Qualität und für Zuverlässigkeit. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber stärken zusammen mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern den sozialen Zusammenhalt, und sie stärken unsere Wirtschaft. Denn immer wieder aufs Neue gelingt es ihnen, vernünftige Lösungen zu finden, von denen beide Seiten profitieren, gerade in schwierigen Zeiten. Was Anfang des vergangenen Jahrhunderts einmal als Frontstellung von Arbeitgebern gegen Gewerkschaften begann, hat sich zu einer Sozialpartnerschaft entwickelt, von der Sie alle, von der wir alle in Deutschland profitieren. Die Verbände des Baugewerbes sind dabei Partner, auf die wir uns alle verlassen können. Dafür sage ich herzlich: Schönen Dank! In den vergangenen 125 Jahren hat sich in Deutschland eine Menge verändert. Kurz nach der Gründung Ihres Verbandes gab es einen regelrechten Bauboom in Deutschland, rasend schnell wachsende Städte, neue Viertel und Industrieanlagen und ein immer dichteres Schienennetz. Ich erlaube mir die Bemerkung, dass das mit den heutigen rechtlichen Regeln nicht in dem Tempo gelungen wäre. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag das Land in Trümmern. Es folgten Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Mit aller Kraft bauten unsere Eltern und Großeltern dieses Land wieder auf. Die Bevölkerung wuchs und mit ihr die Nachfrage nach bezahlbaren Wohnungen. Die Lebenserwartung stieg, auch der Wohlstand, und mit diesem Wohlstand entstand der Wunsch nach größeren Wohnungen. Das ist bis heute so. Denn dass Deutschland schrumpfe, war eine Fehlprognose, die uns viel zu lange begleitet hat. Dass unsere Städte schon zu Ende entwickelt seien, auch das war eine Fehlprognose. Alle, die uns das voraussagten, haben sich komplett verrechnet. Wir haben heute viele wachsende Städte und Orte, an denen Familien, an denen viele Menschen zusammenkommen, arbeiten und leben wollen. Dafür brauchen wir in Deutschland viele, viele zusätzliche und vor allem bezahlbare Wohnungen. Ich habe das mit dem Taschenrechner selbst einmal nachgerechnet ‑ ehrlicherweise muss ich sagen: auf dem Handy ‑: Eine vierköpfige Familie zahlt in einer 70-Quadratmeter-Wohnung heute im Schnitt 600 Euro Miete. Das sind die Bestandsmieten. Die Preise für Neuvermietungen aber ‑ ich will gern glauben, dass sie zwischen 20 und 25 Euro pro Quadratmeter liegen, wenn keine Förderung einfließt ‑ heißen, dass diese vierköpfige Familie 1000 Euro mehr im Monat zahlen müsste. Dann ist doch klar, dass die vielen normalen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land auch mehr verdienen müssten, wenn es sonst keine Aktivitäten gibt, ob Krankenschwestern oder Polizisten, Arbeiter oder die Handwerkerinnen und Handwerker. Gerade die, die diese Häuser bauen, sind die arbeitende Mitte unseres Landes, und die arbeitende Mitte muss sich doch die Miete leisten können. Als Bundesregierung setzen wir dabei vor allem auf drei Wege: Wir investieren, wir fördern, und wir machen Tempo. ‑ So viel wie jetzt hat der Bund noch nie in den Bau von bezahlbarem Wohnraum investiert. Über die KfW ergänzen wir die Kreditförderung für Familien und den klimafreundlichen Neubau, zum Beispiel mit einem Programm, das speziell den Bau von kleineren Wohnungen anstoßen soll. Dazu wird Klara Geywitz sicherlich gleich noch mehr sagen. Mit dem Wachstumschancengesetz werden wir nochmals erleichterte Abschreibungsmöglichkeiten für den Wohnungsbau schaffen. Das Paket liegt zwar immer noch im Bundesrat, aber, Herr Regierender Bürgermeister, wir beide sind zuversichtlich, dass es uns gelingen wird, dass es in veränderter Form jetzt beschlossen wird. Wichtig ist, dass wir damit ein Zeichen setzen, dass Unternehmen den Impuls bekommen, mehr in unserem Land zu investieren. Dazu kommt der Deutschlandpakt. Bei der Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung werden Bund und Länder eine Menge Bürokratie abbauen und die Wirtschaft entlasten. Viele Wirtschaftsverbände waren eng beteiligt. Auch deshalb wird der Deutschlandpakt echte Verbesserungen bringen. Über 100 Einzelvorhaben werden jetzt in großem Tempo durchgesetzt, damit Deutschland schneller wird und mit dem Tempo vorankommt, das notwendig ist. Dazu kommt auch noch das Bürokratieentlastungsgesetz, das der Justizminister gerade vorgestellt hat und das wir im Kabinett beschlossen haben. Auch das wird unsere Wirtschaft um Milliarden entlasten. Außerdem ist es, wie ich finde, höchste Zeit, dass wir unsere Vorbehalte dagegen überwinden, auch neue Stadtteile zu bauen. In den nächsten Jahren entstehen an vielen Orten in Deutschland ganz neue Stadtteile, die den Druck aus dem Wohnungsmarkt herausnehmen, in Hamburg, München und Köln, aber auch in Augsburg, Duisburg und in Freiburg. Dort war ich zum Beispiel Ende Februar beim Spatenstich für den neuen Stadtteil Freiburg-Dietenbach. Mich hat beeindruckt, wie ein junger Oberbürgermeister mit seiner Stadt vorangeht und das Problem beim Schopf packt. 16 000 Freiburgerinnen und Freiburger werden hier ein neues Zuhause finden. Die Hälfte der Wohnungen wird öffentlich gefördert. Ich bin davon überzeugt, dass wir viele Dietenbachs in Deutschland brauchen. Zugleich ist es wichtig, dass wir nicht das eine tun und das andere lassen. Beides muss parallel stattfinden, Neubau und Nachverdichten, mehr Bauland ausweisen und Innenentwicklung, Umbau und Aufstocken. Das alles werden wir zusammen mit den Ländern erleichtern, damit Wohnungen näher an Gewerbe herangebaut werden können, damit keine teuren Extrastellplätze für Autos mehr nötig sind, wenn Häuser umgebaut werden oder ein neues Dachgeschoss bekommen. Es gibt unglaublich viele Vorschriften, die man vereinheitlichen, vereinfachen und sogar abschaffen kann. Unser gemeinsames Ziel lautet, Bauen schneller, einfacher und billiger zu machen. Die Bauministerinnen und Bauminister der Länder und Klara Geywitz durchforsten dafür akribisch alle Vorschriften. Etliches haben sie schon auf den Weg gebracht, was die Kosten senkt und das Bauen unbürokratischer möglich macht. Als Nächstes brauchen wir einen Durchbruch des seriellen Bauens. Dabei reden wir nicht über Plattenbausiedlungen alter Machart, auch wenn das manche gerne behaupten. Serielles Bauen heißt einfach, dass die Grundstruktur eines Hauses immer wieder gebaut werden kann, wenn sie einmal genehmigt worden ist, am besten sogar bundesweit. Ja, wir sind ein föderaler Staat, aber wir können auch aufeinander vertrauen. Wenn die Feuerpolizei und die Baubehörde eines Landes einen Typ genehmigt hat, dann können doch 15 weitere Länder denken: „Das geht auch bei uns; das wird schon richtig sein“, damit man nicht jedes Mal von vorn anfängt, mit den irren Kosten, die das jeweils bedeutet. So sparen wir nicht nur eine Menge Geld, sondern, was jetzt ja auch wichtig ist, auch eine Menge Zeit. Treiben Sie das bitte mit voran, meine Damen und Herren! Denn es ist doch klar: Wenn die Kosten im Wohnungsbau wieder stimmen, wenn mehr und schneller gebaut wird, dann profitieren am Ende alle davon. Noch ist die Lage gerade im Wohnungsneubau nicht so wie in den anderen Bereichen im Hochbau, bei der Gebäudesanierung und im Tiefbau. Aber vieles spricht dafür, dass sich der Wohnungsbau jetzt stabilisieren könnte. Die Inflation ist deutlich gesunken. Mit ihr sinken auch die Bauzinsen. Unser Arbeitsmarkt ist bemerkenswert robust. In Deutschland sind so viele Frauen und Männer beschäftigt wie noch nie, im Baugewerbe mit über 2,6 Millionen so viele wie seit 20 Jahren nicht. Dank steigender Löhne wächst auch die Kaufkraft, und die Baupreise könnten nach Jahren der Steigerung in diesem Jahr endlich wieder sinken. Die Baumaterialien ‑ nicht alle, aber viele ‑ sind schon wieder günstiger geworden. Ich habe es schon gesagt: Wir fördern, wir investieren, und wir machen Tempo, aber nicht nur bei den Wohnungen, sondern auch bei den Windrädern und Solarparks, bei Brücken und Straßen und bei sauberen Kraftwerken. Für ein modernes und fortschrittliches Land brauchen wir eine Infrastruktur, die zuverlässig und einwandfrei funktioniert. Das gilt für die Energiewende, für die Wärmewende und auch für die Modernisierung von Schienen, Straßen und Brücken. Von den enormen Investitionen soll besonders die Bauwirtschaft profitieren, und zwar dauerhaft. Allein in diesem Jahr investiert die Bundesregierung über 26 Milliarden Euro in die Verkehrsinfrastruktur, vor allem in Schienen und Brücken. Aber mindestens genauso wichtig ist, dass jetzt wirklich mit Deutschlandtempo losgelegt wird. Deshalb sind Bauprojekte, die unsere Volkswirtschaft voranbringen, seit dieser Legislaturperiode von ‑ das ist ein Rechtsbegriff ‑ überragendem öffentlichen Interesse. Das war ein Durchbruch. Denn jetzt geht es einfacher mit voller Kraft voran. Nach vielen Jahren des Zögerns bauen wir die nachhaltige Energieversorgung unseres Landes auf und aus. Darauf können sich die Unternehmen, darauf können sich die Bürgerinnen und Bürger verlassen. Wie bei Ihnen steht auch bei uns ganz oben auf der Agenda: Deutschland braucht bezahlbare und sichere Energie. ‑ Genau dafür sorgen wir mit ebendiesen Investitionen, die im großen Umfang stattfinden. Genauso wichtig wie bezahlbare und sichere Energie sind die Frauen und Männer, die wissen, wie man Häuser, Straßen, Brücken, Kraftwerke und Windräder baut, die Handwerkerinnen und Handwerker in diesem Land. Sie sind diejenigen, die die Zukunft bauen. Vor zwei Wochen habe ich zum Münchner Spitzengespräch die Vertreter von BDA, BDI, DIHK und ZDH getroffen. Allen war klar, dass das wichtigste Wachstumshemmnis für Deutschland heute und in den nächsten Jahren ein möglicher Arbeitskräftemangel ist. Die gute Nachricht dabei lautet: Die große Herausforderung heißt heute nicht mehr Arbeitslosigkeit. ‑ Die weniger gute Nachricht lautet: Auch Arbeiterlosigkeit ist ein Problem. ‑ Sie ist ein Problem, das wir lösen müssen und das wir lösen werden, wenn wir an einem Strang und in die gleiche Richtung ziehen. Frühzeitige Berufsorientierung an den Schulen hilft, damit weniger Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss die Schule abbrechen und damit mehr eine gute Orientierung haben. Jugendberufsagenturen helfen, damit diejenigen, die eine Ausbildung suchen, auch mit den Unternehmen zusammenkommen. Ein paar der jungen Handwerker, die im Nationalteam Deutsches Baugewerbe bei den EuroSkills im vergangenen Jahr angetreten sind, habe ich eben kurz treffen können. Sie haben gezeigt: Deutschland ist spitze. ‑ Sie sind ein Aushängeschild für die hohe Qualität unserer dualen Ausbildung. Sie sind die Botschafterinnen und Botschafter unserer nächsten Fachkräftegeneration. Deshalb von hier aus auch: Viel Erfolg auch bei den WorldSkills 2024 in Lyon! Wer heute eine Ausbildung beginnt, ein Handwerk lernt und als hochqualifizierte Fachkraft unser Land voranbringt, der findet andere Bedingungen vor als Carl Legien Ende des vorletzten Jahrhunderts. Der Achtstundentag, der Anspruch auf Tarifverträge, die Mitbestimmung durch Betriebsräte, alles, was er und Hugo Stinnes miteinander verhandelten, kommt uns selbstverständlich vor. Damals war es bahnbrechend neu. Es ist gut, dass dieser kluge Weg vor mehr als 100 Jahren eingeschlagen wurde. Wir in Deutschland profitieren noch immer davon. Denn am Ende geht es um ein möglichst gutes Leben für alle, heute genauso wie damals. Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute und dem Verband noch ein langes Leben und viele Aufgaben! Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Spatenstichs für den neuen Stadtteil Freiburg-Dietenbach am 27. Februar 2024
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-spatenstichs-fuer-den-neuen-stadtteil-freiburg-dietenbach-am-27-februar-2024-2262382
Tue, 27 Feb 2024 11:52:00 +0100
Freiburg
Einen schönen guten Tag und noch einmal schönen Dank für die Einladung, Herr Oberbürgermeister! Ich will gerne sagen, dass ich sofort zugesagt habe, als die Einladung kam; denn das ist heute natürlich schon ein bedeutendes Ereignis. Es handelt sich um einen Mut machenden Moment in Deutschland, in dem alle gegenwärtig über die Frage reden: Wie geht nun einmal wieder etwas voran? „Nicht meckern, sondern machen“ ist vielleicht der Slogan, der aus dieser Veranstaltung herausgehen sollte. Dafür danke! Wir brauchen in Deutschland viele, viele Wohnungen ‑ und vor allem bezahlbare Wohnungen ‑, die an vielen unterschiedlichen Orten in unserem Land entstehen. Wir wissen, dass das Problem auch nicht verschwinden wird. Es hat immer wieder einmal jemand gedacht ‑ und das hat die Baukonjunkturen dann jeweils auch beeinträchtigt ‑, dass man die Städte eigentlich schon zu Ende entwickelt hat. Aber tatsächlich haben all diejenigen, die uns das vorausgesagt haben, sich komplett verrechnet. Denn wir haben wachsende Städte, große, kleine, viele Orte, wo Familien, wo viele Menschen zusammenkommen und miteinander arbeiten und leben wollen, und sie brauchen dafür Wohnungen, einen Ort, an dem sie gut leben können, und eine gute Nachbarschaft. Manchmal denkt man ja auch, alles, was wir heute schon kennen, wäre schon immer so da gewesen. Aber wahrscheinlich reicht ein Blick in die Geschichte dieser Stadt und mancher anderer, um sich vorzustellen, dass dort in den letzten 200 Jahren ein irres Wachstum von sehr kleinen Zahlen aus stattgefunden hat. Das ist immer damit verbunden gewesen, dass man nicht nur Innenverdichtung hinbekommen hat, sondern tatsächlich auch neue Wohnungen an neuen Stellen gebaut hat. Das wird auch in Zukunft weiter eine große Herausforderung für Deutschland bleiben. Zumal ja eine Sache ganz offensichtlich ist: Deutschland wächst. Wir haben die höchste Zahl an Einwohnern seit Ewigkeiten, und die realistischen Statistiken, die uns das Bundesamt vorrechnet, gehen davon aus, dass das auch so weitergehen wird. Das ist zum einen so, weil wir das große Glück haben ‑ nicht jeder von uns und jede, aber doch die allermeisten ‑, viel länger zu leben, als das früher der Fall gewesen ist. Das führt ja auch dazu, dass der Wohnungsbedarf steigt; denn wenn wir viele Generationen haben, die alle jeweils in einer eigenen Wohnung leben, dann bedeutet das Wachstum in den Städten. Das ist etwas, das wir uns klar machen müssen. Wenn man bedenkt, dass Deutschland vielleicht in den Siebzigerjahren dieses Jahrhunderts 90 Millionen Einwohner haben wird und nicht wie jetzt 84 oder 85 Millionen, dann ist offensichtlich, dass sich das alles nur lösen lässt, wenn wir zusätzlichen Wohnungsbau genau dort hinbekommen, wo Frauen und Männer, wo Kinder, wo Junge und Alte, wo viele leben wollen, weil das für ihr Leben und das, was sie sich vorgenommen haben, wichtig ist. Darum ist Wohnungsbau eine ganz zentrale Herausforderung, und wir müssen das hinbekommen. Ich will mich, wenn ich das an dieser Stelle machen darf, mit manchen Meinungen auseinandersetzen, die dazu auch im Raum sind. Zum Beispiel heißt es, man müsse das nicht machen und es reiche, die Wohnungen neu zu verteilen. Da wünsche ich allen sehr viel Spaß bei der Errichtung entsprechender Planungsbehörden; ich wünsche allen auch viel Spaß dabei, zu erläutern, dass jemand jetzt aus seiner 60-Quadratmeter-Wohnung ausziehen soll, weil 40 Quadratmeter doch reichen ‑ oder was weiß ich, wie man sich diese Diskussion vorstellt. Das kann doch nicht funktionieren, und deshalb sollten wir uns mit solchen Argumenten und Plänen, die man überall hört, auch nicht weiter auseinandersetzen; denn sie halten uns von der eigentlichen Aufgabe ab, tatsächlich neue und zusätzliche Wohnungen zu bauen. Es gibt einen amerikanischen Stadtforscher, der eine Zeit lang bei jedem Immobilienkongress herumgereicht worden ist und dessen Bücher auch viele gelesen haben: Richard Florida. Er hat uns ausführlich geschildert, wie wir Städte lebenswert und attraktiver machen können und was dazu hilft ‑ eine liberale Umwelt zum Beispiel, ein gutes Miteinander und dass es ein gemischtes Miteinander in den Städten gibt. Er hat damit großen Erfolg gehabt und ist deshalb auch immer wieder zu vielen Kongressen eingeladen worden. Aber er hat dann irgendwann ein neues Buch geschrieben. Dieses Buch hat dazu geführt, dass er nicht mehr so oft eingeladen wurde, aber es handelt von dem, was wirklich los ist. Dieses Buch hat den Titel „The New Urban Crisis“ bekommen, und es beschreibt für die USA, dass die Städte so teure Orte geworden sind, dass viele, die normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind ‑ Krankenschwestern, Polizisten, Arbeiter in einer Fabrik, Handwerkerinnen ‑, sich das Leben an diesen Orten nicht mehr leisten können. Er beschreibt auch ziemlich ausführlich, dass es in den Siebzigerjahren und sogar noch in den Achtzigerjahren in New York für einen Arbeiter möglich war, sich eine Wohnung zu mieten, dass das aber heute in den allermeisten Orten unvorstellbar ist. Er beschreibt dann auch für alle Orte in den USA, wie sich diese Entwicklung über viele Jahrzehnte zugetragen hat und das dazu geführt hat, dass diejenigen, die wenig Geld haben, sehr große Pendlerdistanzen in Kauf nehmen müssen und manchmal in Orte ziehen müssen, die dann nicht so attraktiv sind wie die, in denen sie vorher gelebt haben. Das heißt, er hat gesagt ‑ was ja selten ist in der Wissenschaft und in der Politik ‑: Ich habe da etwas nicht ganz richtig gesehen ‑ nicht, weil das, was er vorher zur Attraktivität von Innenstädten, von Stadtquartieren, von modernen Lebensmöglichkeiten aufgeschrieben hat, falsch war, sondern weil es falsch war zu denken, dass es nicht darauf ankommt, in diesen Orten und in diesen Städten auch neuen und zusätzlichen Wohnungsbau zustande zu bekommen. Das ist die Aufgabe, vor der wir uns nicht aus Bequemlichkeit drücken dürfen, und deshalb ist es richtig ‑ und ich wiederhole: das ist das, was zu meiner Annahme der Einladung geführt hat ‑, dass wir in Deutschland 20 neue Stadtteile an den Orten bauen, wo wirklich Nachfrage nach Wohnungen besteht und wir uns nicht alleine auf Innenverdichtung beschränken. Die Innenverdichtung muss man aber auch durchführen, und da gibt es unglaublich viele Vorschriften, die man ändern und abschaffen kann. Zum Beispiel sind viele ganz lange nicht darauf gekommen, dass, wenn man es toll findet, Dachgeschossausbau zu machen oder Häuser, die schon existieren, ein bisschen aufzustocken, man dies nicht machen kann, weil dann gesagt wird: Dann müssen aber neue Garagen gebaut werden. Das ist aber eine Vorschrift, die an vielen Stellen in Deutschland noch existiert. Die Bauministerinnen und Bauminister haben verabredet, das zu ändern. Aber das ist einfach unvorstellbar, wenn man irgendwie unter einem Haus noch eine Tiefgarage bauen soll, damit man oben noch zwei Stockwerke darauf bauen kann. Oder es gibt Vorschriften, die dazu gut sind, dass es ab einer bestimmten Geschosshöhe irgendwie so sein müsse, dass da noch ein Fahrstuhl dazukommt. Das kann man ja sagen, wenn man Neubau macht. Ist das aber eine vernünftige Vorschrift, wenn auf ein existierendes vierstöckiges Gebäude noch ein fünftes Stockwerk obendrauf kommt? Ich sage Nein. Deshalb ist es richtig, dass die Bauministerinnen und Bauminister und die Bundesbauministerin miteinander und mit der Bauwirtschaft ein ganz langes Maßnahmenprogramm vereinbart haben, einschließlich neuer baurechtlicher Vorschriften, die mit vielen dieser bürokratischen Regelungen in Bund und Ländern Schluss machen, damit mehr gebaut werden kann, einfacher gebaut werden kann und auch billiger gebaut werden kann! Wenn man über neue Stadtteile redet, dann kommt ‑ der Oberbürgermeister hat darauf auch angespielt ‑ natürlich sofort der Einwand: Das ist ja alles wie die Plattenbauten, die in den Sechziger-, Siebziger, manchmal noch Achtzigerjahren errichtet worden sind. Nein, das ist es nicht. Worüber wir reden, ist serielles Bauen. Das heißt, dass man Dinge auch immer wieder machen kann, dass man es zum Beispiel auch möglich macht, dass die Grundstruktur eines Hauses genehmigt wird und dann noch einmal wieder gebaut werden kann, mal mit Satteldach, mal als Flachdach, mal mit, mal ohne Balkon, mal mit Backstein, mal mit Verputzung, was weiß ich. Aber die Grundstrukturen sind schon fertig und müssen nicht jedes Mal wieder neu geplant und genehmigt werden – mit den irren Kosten, die das jeweils hat. Ich frage mich, wenn man dieses Bild hier hinter mir und vor Ihnen sieht, was denn eigentlich so schlimm daran wäre, wenn es rechtlich zulässig wäre, eines der schönen Häuser, das wir da sehen, zu nehmen und zu sagen: Das ist schon einmal genehmigt, bis hin zur Feuerpolizei, das kann auch in einer anderen Stadt gebaut werden, sogar außerhalb Baden-Württembergs! Das stelle ich mir als serielles Bauen vor und als erhebliche Verbilligung des Bauens, wenn wir so etwas machen und das rechtlich möglich machen. Dann, will ich dazusagen, müssen wir natürlich die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass das auch geht. Dass die Bautätigkeit jetzt zum Erliegen gekommen ist, hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass so ganz plötzlich die Zinsen gestiegen sind. Die Zinshöhe ist eine Herausforderung, aber sie ist nicht die höchste Zinssumme, die jemals von Bauherren und Baufrauen zu bewältigen war. Hier im Raum sitzen wahrscheinlich auch einige, die ihre eigenen Häuser bei neun Prozent Zinsen gebaut haben, und es ist die größte Zahl an Wohnungen in Westdeutschland errichtet worden, als die Zinsen in Deutschland tatsächlich in dieser Größenordnung lagen. 1972 waren es mehr als 700 000 Wohnungen, die im Westen Deutschlands ‑ in ganz Deutschland 800 000 Wohnungen ‑ gebaut worden sind, innerhalb eines Jahres und bei sehr hohen Zinsen. Natürlich waren die Bedingungen damals anders, und vieles war überhaupt anders, als es jetzt ist. Aber eines kann man doch sagen: Irgendwie ist das nicht der entscheidende Grund. Wichtig ist natürlich, dass es so plötzlich passiert ist, und das ist eine Herausforderung, die viele Projekte und viele Projektentwicklungen auch gefährdet hat. Darüber muss man klar reden. Deshalb bin ich ganz froh, dass mit der Politik, die die Europäische Zentralbank auf den Weg gebracht hat, ja nicht nur ein Zinsanstieg verbunden ist, sondern auch die Perspektive, dass es wieder heruntergeht, wenn wir die Inflation besiegt haben. Danach sieht es jetzt aus, dass die Inflationsrate zurückgeht und dass wir dann gleichzeitig auch geringere Zinssätze in der Zukunft haben dürften, sodass das Bauen aus dieser Perspektive wieder etwas einfacher wird. Was wir aber auch machen müssen, ist natürlich, dass wir helfen, dass das Bauen finanziert werden kann, dass man das hinbekommt. Ein großes Thema ‑ auch das ist angesprochen worden ‑ ist der soziale Wohnungsbau. Es hat ja doch die Theorie gegeben, der sei überflüssig, alles gehe mit Individualförderung. Nun haben wir das Wohngeld erhöht. Aber ich will ausdrücklich sagen: Das sind schon ganz gewaltige Lohnsteigerungen, die notwendig wären, damit manche der frei finanzierten Mieten von jemandem geleistet werden können, der als Geselle in einem Handwerksbetrieb arbeitet, oder von einer Frau, die als Krankenschwester tätig ist. Das kommt dann mit den heutigen Höhen bei Weitem nicht hin. Deshalb muss man sich klarmachen, dass wir auch einen öffentlichen Auftrag haben, dazu beizutragen, dass die Finanzierung solcher Wohnungen und auch solcher Stadtteile billiger wird. Deshalb hat die Bundesregierung die Mittel für den sozialen Wohnungsbau erheblich aufgestockt, auf jetzt zusammen 18 Milliarden Euro, die zur Verfügung stehen für das, was gemacht wird, zusammen mit Ländern und Gemeinden. Deshalb haben wir Finanzierungsmöglichkeiten für den Wohnungsbau wieder neu aktiviert, die zum Beispiel dazu beitragen sollen, dass, wenn man etwas ökologischer als vorgeschrieben arbeitet, man dafür eine zusätzliche Förderung bekommen kann. Das hilft. Das Programm, das da gerade wieder freigezeichnet worden ist, ist fast schon wieder überlaufen, aber es zeigt, was für eine große Nachfrage in diesem Zusammenhang existiert. Wir haben auch noch mal ein neues Programm für kleinere Wohnungen auf den Weg gebracht, die dann billiger sein sollen und die man mitfinanzieren kann, und wir haben ganz konkret in dem, was jetzt als Wachstumschancengesetz diskutiert wird und im Bundesrat verhandelt wird, noch einmal erleichterte Abschreibungsmöglichkeiten für den Wohnungsbau geschaffen, neue Möglichkeiten eröffnet, damit es mit mehr Wohnungen in diesem Land losgehen kann. All das ist notwendig, denn wir brauchen größere Zahlen, der Bauüberhang muss abgebaut werden, und wir brauchen viele, viele neue zusätzliche genehmigte und gebaute Wohnungen. Es sollte jetzt auch losgehen, und es sollte deshalb auch eine Ermutigung sein, dass das heute hier mit dem Spatenstich beginnt, eine Ermutigung, es nachzumachen und sich auf die langen Wege und langen Reisen zu begeben, die dazu notwendig sind. Denn auch wenn wir mit dem Baurecht alles einfacher machen, wird es so sein, dass solche Projekte lange geplant werden müssen, dass viele mitreden und mitgestalten, und wird es so sein, dass man die Bürgerinnen und Bürger überzeugen muss. Das ist das ganz Besondere an diesem Projekt, dass es die Entscheidung der Bürger schon gegeben hat, dass es eine Mehrheit gewesen ist, die gesagt hat: Wir wollen das. Das zeigt, dass unsere Demokratie nicht nur von denjenigen getragen wird, die immer auf ihre eigenen Interessen schauen, sondern von einem Gemeinschaftsverständnis, von einem Verständnis für künftige Generationen. Darum ist das heute ein guter Tag für Deutschland. Nicht meckern, sondern machen!
in Freiburg-Dietenbach
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Festveranstaltung aus Anlass des 60. Geburtstages von BDA-Präsident Dr. Rainer Dulger am 20. Februar 2024
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-festveranstaltung-aus-anlass-des-60-geburtstages-von-bda-praesident-dr-rainer-dulger-am-20-februar-2024-2261128
Tue, 20 Feb 2024 00:00:00 +0100
Berlin
Meine Damen und Herren, vor allem sehr geehrter Herr Dr. Dulger, zu Ihrem 60. Geburtstag gratuliere ich Ihnen von ganzem Herzen. Über Ihre Einladung habe ich mich besonders gefreut. Manche finden es vielleicht etwas überraschend, dass gerade ich Ihr Festredner bin. Schließlich schauen Sie ja der Bundesregierung qua Amt gewissermaßen kritisch auf die Finger. Aber ich finde, das passt schon. Wir haben eigentlich eine ganze Menge gemeinsam. Das fängt damit an, dass wir beide der Generation der Boomer angehören. Wir sind also zwei von sehr, sehr vielen. Heute stellen die Geburtsjahrgänge 1955 bis 1970, also die Boomer, fast 30 Prozent der Bevölkerung in unserem Land. Und wenn wir uns hier in diesem Saal so umgucken, dann sehen wir: Ziemlich viele aus dieser Kohorte sind heute dabei, um mit Ihnen ein bisschen zu feiern und Ihnen natürlich zu gratulieren. Ihr Jahrgang ‑ 1964 ‑ ist sogar der geburtenstärkste Jahrgang überhaupt in der Geschichte unseres Landes. Als eines von 1,36 Millionen Kindern in beiden Teilen Deutschlands wurden Sie 1964 geboren. Nur zum Vergleich: Im vorigen Jahr hatten wir in Deutschland noch etwa 700 000 Geburten, grob gerechnet also halb so viele wie 1964. Und ich erinnere mich auch noch an meine Jugend. Da hatte ich immer das Gefühl: Da sind so viele andere Kinder unterwegs. ‑ Das hat dann mit der Zeit ein bisschen nachgelassen, aber man merkt, es wird auch wieder anders. Insofern ist da vielleicht ein Trend für die Zukunft sichtbar. Aber es ist schon etwas ganz Besonderes, was man früh gemerkt hat: Man ist mit vielen unterwegs. Meine Damen und Herren, da neigt sich ‑ das bleibt aber trotzdem zu sagen ‑ langsam eine Ära ihrem Ende zu, und die Zeit nach uns Boomern wird anders sein, mit ziemlicher Sicherheit nicht einfacher, sondern komplexer. Demografie, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Klimakrise, industrielle Transformation, der Aufstieg des globalen Südens, die Wiederkehr von Krieg, Imperialismus und autoritären Bewegungen in Europa ‑ das alles macht jedenfalls eines klar: Die Lösungen für die Welt von heute und morgen finden wir nicht in der Welt von gestern. Die Rückkehr in irgendeine „gute alte Zeit“ ist keine realistische Option. Jetzt kommt es darauf an, dass wir gemeinsam daran arbeiten, dass es eine „gute neue Zeit“ geben kann ‑ auch für neue Generationen, die uns allen nachfolgen. Ich meine: Das ist die große Verantwortung, der wir gemeinsam gerecht werden müssen. Denn als Boomer sind wir zugleich die Kinder von Wiederaufbau und ‑ im Westen ‑ Wirtschaftswunder. Die große Erfolgsgeschichte unserer bundesrepublikanischen Demokratie war schon angelegt, als wir auf den Plan traten. Diese Erfolgsgeschichte hatte Millionen Mütter und Väter, unsere Mütter und Väter. Millionen von fleißigen Arbeitern und Arbeiterinnen, Trümmerfrauen, Ausgebombte, Spätheimkehrer, Kriegsweisen, Geflüchtete und Vertriebene: Sie alle mussten erst einmal neu Fuß fassen nach dem von Deutschland angezettelten Zweiten Weltkrieg. Das gilt nicht zuletzt auch für die vielen erfolgreichen Unternehmer in unserem Land. Einer von diesen erfolgreichen Unternehmern, lieber Herr Dulger, war Ihr Vater. Sie haben schon davon gesprochen. Jahrgang 1935, geboren in Bessarabien, als Kind geflüchtet aus Ostpreußen, etablierte er sich nach dem Krieg in Heidelberg als Ingenieur und Erfinder, als Selfmademan, als Gründer und Kulturmäzen. Mit seinem 1960 gegründeten Unternehmen verkörperte Viktor Dulger beispielhaft die Ära des Wirtschaftswunders. Kurz nach der Jahrtausendwende haben dann Sie gemeinsam mit Ihrem Bruder die Leitung der ProMinent GmbH übernommen ‑ Sie haben darüber eben schon ausführlich berichtet ‑, und unter Ihrer beider Führung stieg das Unternehmen in seinem Segment der Dosierpumpen zum Weltmarktführer auf. Damit steht es ziemlich stellvertretend für die vielen inhabergeführten Hidden Champions in Deutschland. Das will ich gerne auch sagen: Das ist etwas ganz Besonderes in unserem Land ‑ etwas, das es in vielen anderen Ländern nicht gibt. Ich habe einmal ein Gespräch geführt mit einem englischstämmigen Geschäftsführer in Deutschland, der mir wirklich gesagt hat, er sei deshalb in Deutschland aktiv, weil es so viele mittelständische Unternehmen – ein paar hundert, wenige tausend Unternehmen, die den ganzen Weltmarkt bespielen –, in vielen anderen Ländern Europas nicht gibt. Das ist eine Besonderheit, die unser Land wie nur wenige Länder kennzeichnet. Wer manchmal fragt, wo eigentlich die wirkliche Stärke der deutschen Wirtschaft herkommt, der kann eine klare Antwort geben: einmal durch unseren Mittelstand und seine globale Orientierung auf dem Weltmarkt, und natürlich auch ‑ was immer unterschätzt wird ‑ durch Forschung und Entwicklung, die einen so großen Beitrag zur wirtschaftlichen Exportstärke Deutschlands leisten. Auch das kann man eigentlich mit einfachen volkswirtschaftlichen Zahlen betrachten. Wer sich die großen europäischen Volkswirtschaften anguckt, der wird sehr genau sehen, dass die Frage der Exportstärke unmittelbar in Relation zu der Frage steht: Wie groß sind eigentlich die Ausgaben von Forschung und Entwicklung, staatlich und vor allem in den Unternehmen? Da liegen wir eben einsam vorne als Bundesrepublik Deutschland ‑ und das ist die eine andere wichtige Voraussetzung für unseren heutigen wirtschaftlichen Erfolg. Wenn man sich die Statistik sogar noch einmal global anschaut, dann gibt es auch interessante Einsichten. Wenn man das Länderranking macht, sind es im Augenblick: die USA, China, Japan, Deutschland. Aber eigentlich müssten es sein: die Europäische Union, die USA, China. Nur weil es eben keineswegs der Fall ist, dass überall in Europa so viel für Forschung und Entwicklung aufgewandt wird, wie das in Deutschland der Fall ist, bleibt die Gesamtentwicklung Europas vielleicht hinter den Möglichkeiten, und da liegt eine große Aufgabe vor uns allen, wo wir etwas tun müssen. Die mittelständischen Unternehmen, über die ich eben als die eine Grundlage gesprochen habe, sind es jedenfalls, die das Rückgrat unserer Volkswirtschaft bilden. Sie bilden gute Arbeitsplätze, sie schaffen Wohlstand. Oft wirken sie auch als Stabilitätsanker in ihrer jeweiligen Region. Und deshalb ist es gut, dass bei der heutigen Veranstaltung das Unternehmertum in Deutschland im Fokus steht und dass Sie darüber auch so viele Worte gefunden haben. Ich will das ausdrücklich sagen; man kann es gar nicht oft genug sagen. Und das mit dem Tatort, das müssen wir unbedingt aufgreifen. Ich weiß nicht, ob der Bundeskanzler sich jetzt beim Fernsehrat des einen oder anderen Senders beschweren sollte, aber das Bild ist wirklich falsch, und so sollte es nicht weitergetragen werden. Denn ohne mutige Unternehmer keine Innovation, kein technischer Fortschritt, keine duale Ausbildung, keine sicheren Arbeitsplätze und Einkommen und auch keine Steuereinnahmen; ohne mutige Unternehmer keine soziale Marktwirtschaft und auch kein „Made in Germany“ als global geachtete Marke. In dieser Einschätzung, lieber Herr Dulger, sind wir uns sicherlich einig. Unsere Übereinstimmung geht aber noch weiter. Genau wie Sie bin ich nämlich davon überzeugt, dass zu der ganz großen Stärke unserer Demokratie unsere funktionierende Sozialpartnerschaft dazugehört. Dass Sie das so sehen ‑ Sie haben es eben ausgeführt ‑, zeigt sich auch darin, dass Sie als Unternehmer seit vielen Jahren zusätzlich noch besondere gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Unter anderem standen Sie drei Jahre lang an der Spitze von Südwestmetall. Acht Jahre lang waren Sie Präsident von Gesamtmetall. Sie engagieren sich etwa für die Universität Heidelberg, für die Hochschule Mannheim und für die Stiftung der deutschen Wirtschaft. Aber seit 2020 sind sie vor allem eines: Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Als Spitzenorganisation der deutschen Wirtschaft vertritt die BDA die Interessen von rund einer Million Unternehmen mit fast zwei von drei Beschäftigten in Deutschland. Damit ist die BDA eine tragende Säule unserer sozialen Marktwirtschaft, einer der Sozialpartner, die sich im kooperativen Konflikt miteinander über Löhne und Arbeitsbedingungen verständigen. Kooperation im Konflikt, das klingt widersprüchlich, aber es bedeutet: Starke Partnerschaft braucht ein starkes Gegenüber. Wir brauchen starke Arbeitgeberverbände und starke Gewerkschaften, die gemeinsam Verantwortung für ihre Mitglieder, aber auch für unser Gemeinwesen als Ganzes übernehmen. Wie Sie sehe ich deshalb mit Sorge, dass die Tarifbindung in Deutschland abnimmt. Wir werden mit einem Tariftreuegesetz unseren Beitrag leisten, um das zu ändern. Um den Trend entscheidend umzukehren, brauchen wir aber vor allem auch gemeinsame Vorschläge von BDA und DGB. Die Umsetzung solcher gemeinsamen Vorschläge ‑ sofern die Bundesregierung dafür gebraucht wird; das ist ja nicht immer der Fall, wie Sie gesagt haben ‑ wird jedenfalls nicht an uns scheitern. Meine Damen und Herren, die Folgen, die die Coronakrise und der russische Angriff auf die Ukraine für Deutschland hatten, waren immens. Die hohe Inflation hat viele Bürgerinnen und Bürger hart getroffen. Gerade in diesen schwierigen Zeiten hat sich aber zugleich gezeigt, wie gut die Sozialpartner zusammenarbeiten, wenn es darauf ankommt ‑ untereinander und auch mit der Politik. Ein sehr gutes Beispiel dafür sind unsere Gespräche im Rahmen der Konzertierten Aktion. Hier wurde gemeinsam die abgabenfreie Inflationsausgleichsprämie beschlossen. Das klingt technisch, aber am Ende hat allein dieses Instrument Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durch eine wirklich fordernde Zeit geholfen. Zugleich haben wir den Kurs der EZB gestützt, die Inflation schnell und erfolgreich zu drücken. Auch unser deutscher Exportüberschuss ist inzwischen zurück auf seinem früheren Vor-Corona-Niveau: 22,2 Milliarden Euro betrug er im vorigen Dezember, fast so viel wie beim Allzeithoch vom April 2016. Sie, lieber Herr Dulger, haben gemeinsam mit Yasmin Fahimi gehandelt. Damit haben Sie entscheidend mitgeholfen, unsere Volkswirtschaft zu stärken, und damit haben sie zugleich ausdrücklich gezeigt: Die Sozialpartnerschaft lebt. Viele Länder beneiden Deutschland um diese gute Zusammenarbeit. Das hat auch maßgeblich immer mit den handelnden Personen an der Spitze zu tun. Das ist ja kein System, das von alleine funktioniert, sondern es funktioniert, weil es Frauen und Männer gibt, die das für sich als Aufgabe begreifen ‑ und übrigens auch immer die Leadership haben, die Führungsfähigkeit, Entscheidungen zu treffen und Kompromisse möglich zu machen. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich bedanken: bei Ihnen, Herr Dulger, bei Frau Fahimi und bei den vielen, vielen anderen, die daran weiter mitwirken. Herzlichen Dank im Namen des ganzen Landes! Als Arbeitgeberpräsident haben Sie aber noch eine weitere Rolle neben der des Sozialpartners ‑ und Sie haben eben auch gezeigt, wie sehr ‑: Sie setzen sich intensiv für die Belange der deutschen Wirtschaft ein, für große und kleine Unternehmen, für Industriebetriebe und für Dienstleister. Hier erwartet man von Ihnen deutliche Worte, und die finden Sie auch ‑ in Richtung der Bundesregierung und mancher anderer. Das gehört dazu und ist okay. Der Blumenstrauß der Wünsche, der uns von vielen aus sehr unterschiedlichen Richtungen in den letzten Wochen erreicht hat, umfasst mindestens die folgenden Forderungen: Wir sollen die Sicherheit der Energieversorgung garantieren. Wir sollen deutlich mehr in Sicherheit und Verteidigung unseres Landes investieren. Wir sollen für die energieintensive Industrie oder am besten gleich für alle Unternehmen die Energiepreise subventionieren. Wir sollen deutlich mehr Geld investieren in moderne Verkehrsinfrastruktur, in Digitalisierung und Bildung. Wir sollen die Steuern für die Unternehmen senken. Zugleich sollen wir bestehende Subventionen keinesfalls kürzen, ja zugunsten der Transformation sogar noch neue Subventionen bereitstellen ‑ auch das ist gefordert worden; nicht immer von den gleichen. Und fast hätte ich es vergessen: Bei all dem sollen wir selbstverständlich stabile Staatsfinanzen garantieren und die Schuldenbremse einhalten. Meine Damen und Herren, irgendwie ist das schwierig. Ganz auf einmal geht das alles nicht. Die gute Botschaft ist: Ja, es gibt Wachstumsprogramme, die kein Geld kosten, zum Beispiel Bürokratieabbau und Planungsbeschleunigung ‑ Sie haben davon gesprochen ‑, und die sind wirklich notwendig. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich sagen, dass ich keines von den Worten zurücknehme, die ich bei der letzten Veranstaltung, die Sie zitiert haben, gesprochen habe. Ja, es ist wirklich notwendig. Wir haben über viele Jahrzehnte Stück für Stück mit großer Liebe unglaublich viele Vorschriften aufgebaut auf den Ebenen der Länder, der Landkreise, der Städte, des Bundes und der Europäischen Union. Manchmal sitzt man dann als Verantwortlicher im Unternehmen oder auch als Verantwortliche in einer Verwaltung und weiß gar nicht, wie das alles gehen soll. Ich glaube, das ist ein Problem, und wir müssen uns aus diesem Dickicht an Vorschriften befreien. Das ist dringend notwendig. Und das machen wir ja auch; das treiben wir sogar voran mit vielen, vielen Maßnahmen, die wir ergriffen haben. Aber wenn es um Geld geht, können wir eben nicht allen Wünschen zugleich nachkommen, sondern dann müssen wir Prioritäten setzen. Auch das tun wir. Vielleicht darf ich bei dieser Gelegenheit für eine Sekunde ein ganz klein bisschen aktueller werden und sagen: Da gibt es so ein Wachstumschancengesetz, und wenn das beschlossen werden könnte, dann wäre das eine erhebliche Erleichterung für viele Unternehmen, für kleine und große Unternehmen, für den ganzen Mittelstand in Deutschland. Es wäre gut, wenn das trotz aller politischen Konflikte jetzt schnell über die Bühne gehen könnte. Wir müssen etwas tun und tun etwas, zum Beispiel beim Thema bezahlbare und sichere Energie. Die Folgen von Russlands furchtbarem Angriffskrieg gegen die Ukraine haben uns hier in Deutschland hart getroffen, weil wir nicht gut vorbereitet waren. Die Bundesregierung hat in kürzester Zeit alle notwendigen Entscheidungen getroffen: in Rekordzeit gebaute LNG-Terminals, neue Importwege ‑ alle wissen, wovon ich rede. Nach vielen Jahren des Hinauszögerns sichern wir jetzt mit Entschlossenheit die verlässliche und nachhaltige Versorgung unseres Landes, indem wir die erneuerbaren Energien ausbauen. 2021 betrug der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung noch 42 Prozent. Voriges Jahr lagen wir zum ersten Mal überhaupt schon über 50 Prozent. Mit der Kraftwerksstrategie haben wir jetzt auch die Weichen dafür gestellt, dass der Strom auch dann verlässlich fließt, wenn einmal kein Wind weht und die Sonne nicht scheint. Das ist notwendig für ein Gesamtsystem, damit es funktioniert. Mit der Senkung der Stromsteuer für produzierende Unternehmen auf das europäische Minimum haben wir etwas getan, was das gesamte produzierende Gewerbe entlastet. Dazu kommt noch die Fortführung und Ausweitung der Strompreiskompensation einschließlich des Super Cap“ für besonders energieintensive Unternehmen. Was nicht die großen Unternehmen, aber viele mittelständische Unternehmen entlastet, ist auch die je nach Jahr fast 20 Milliarden Euro große Entlastung von der EEG-Umlage im Strompreis. Das sind also ganz erhebliche Veränderungen. Da jetzt auch die Preise für die von uns eingekaufte Energie auf den internationalen Märkten wieder sinken, gibt es in dem Bereich der Unternehmen der mittelständischen Wirtschaft schon ziemlich viele, die wieder bei Preisen angelangt sind, die auf dem Niveau liegen, auf dem sie vor der Krise gelegen haben. Das ist noch nicht die Lösung aller Dinge, aber doch ein ganz großer Fortschritt. Das zweite Thema ist die Planungsbeschleunigung. Ich habe eben schon davon gesprochen, und auch Sie haben es gesagt. Es geht um etwas, was wir wirklich mit großer Wucht aufgreifen müssen, damit es tatsächlich gelingt. Anfang November des vorigen Jahres haben wir gemeinsam mit den Ländern den Deutschlandpakt für Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung beschlossen. Viel davon wird bereits in die Tat umgesetzt. Das andere ist in intensiver Vorbereitung und wird schnell geschehen. Als wir diese Maßnahmen entwickelt haben, waren viele, auch viele Verbände, sehr eng beteiligt. Deshalb enthält der Pakt substanzielle Verbesserungen. Ein wichtiger Bestandteil des Deutschlandpakts ist die Digitalisierung der Antrags- und Genehmigungsverfahren zum Beispiel für die Wasserstoffnetze oder Industrieanlagen oder für Bauvorhaben und Windräder. Wir arbeiten daran, dass das klappt, genauso wie bei den Mobilfunkmasten, deren Genehmigung künftig, wenn ein Antrag gestellt wird und die Behörde nach drei Monaten nicht entschieden hat, automatisch erteilt werden soll und die dann auch gebaut werden können. Wir haben auch das Baurecht entschlackt und uns auch dort ein langes Programm vorgenommen, damit wir es schneller hinbekommen, eine Werkshalle, ein Verwaltungsgebäude oder ein Wohngebäude zu bauen. Das sind nur einige Beispiele. Für sich genommen mag jede einzelne dieser Maßnahmen irgendwie kleinteilig erscheinen. Aber das macht die Sache nur kommunikativ nicht einfach; richtig ist sie trotzdem. Denn im Ganzen ist die Wirkung groß. Das ist es, was wir wirklich brauchen. Denn Sie brauchen ja nicht erneut viele Leute, die Vorträge darüber halten, dass der Bürokratieabbau endlich vorankommen muss, sondern der Bürokratieabbau muss endlich vorankommen. Das Letzte, was ich hier aufgreifen will ‑ auch Sie haben davon gesprochen, indem Sie über die Unternehmenskultur bei sich selbst in Ihrem Unternehmen gesprochen haben ‑, ist der Kampf gegen den Arbeitskräftemangel. Hierbei kommt es zum einen darauf an, dass wir alle Potenziale heben, die wir hier bei uns im Land noch heben können. Da gibt es noch einige. Aber wir wissen gleichzeitig auch, dass das nicht reichen wird. Deshalb kommt es zum anderen darauf an, dass wir Arbeitskräfte aus anderen Ländern gewinnen, wie es in den letzten Jahren in großem Umfang der Fall war. Wir als Boomer wissen es aus eigener, unser bisheriges Leben begleitender Erfahrung ganz genau: Unser Wohlstand und die Leistungskraft unserer Unternehmen würden ohne die vielen Bürgerinnen und Bürger, die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte nach Deutschland eingewandert sind, gar nicht existieren. Jetzt brauchen wir dringend weitere Zuwanderer in unseren Arbeitsmarkt. Hierbei sind wir mit Riesenschritten vorangekommen. Wir haben nun mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz eines der modernsten Gesetze dieser Art auf der Welt. Grundsätzlich gilt: Wer hier bei uns anpacken will und wer hier bei uns anpacken kann, der ist hier bei uns in Deutschland willkommen. Die Voraussetzungen sind mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz geschaffen. Jetzt kommt es darauf an, dass die Wirtschaft die neuen Möglichkeiten auch nutzt. Damit das gut klappt, arbeiten wir daran, die praktischen Verfahren für die Einreise, für die Visavergabe und die Anerkennung ausländischer Qualifikationen zu verbessern. Wahrscheinlich weiß jeder und jede hier im Raum genau, wovon die Rede ist. Denn das ist im Alltag der Unternehmen doch eine große Mühe. Aber auch hierbei geht es um Tempo. Auch hierbei geht es darum, so schnell wie irgend möglich die Versäumnisse der Vergangenheit aufzuholen. Lieber Herr Dulger, meine Damen und Herren, eines will ich noch gern hinzufügen, weil es manchmal etwas untergeht. All diese Veränderungen, die wir angestoßen haben und vorantreiben, verlangen unserem Land viel ab, und zwar gerade deshalb, weil sie parallel zur Bewältigung ungekannter und längst vergessener externer Krisen stattfinden. Unvergessen bleibt für mich jedenfalls, wie klar sich die Arbeitgeberverbände nach Putins Angriff auf die gesamte Ukraine geäußert haben. „Freiheit und Demokratie gibt es … nicht zum Nulltarif“, das haben Sie am 27. Februar 2022, dem Tag meiner Rede im Bundestag, gesagt und zugleich den Kurs gestützt, mehr in unsere Verteidigung zu investieren. Dass dies auch zu Lasten anderer Ausgaben gehen würde, war Ihnen klar. Ja, Sie haben diese Neuorientierung als „eine für die Entwicklung von Wirtschaft und Arbeit notwendige Reaktion“ bezeichnet. Daran werden wir beide in diesen Tagen und in den kommenden Jahren immer weder erinnern müssen. Denn: Ohne Sicherheit ist alles andere nichts. Klar ist auch: Die aktuellen Krisen und die nötigen Reaktionen darauf sorgen auch für Verunsicherung bei uns und eigentlich überall in den klassischen westlichen Industrieländern. Deshalb ist bei allen nötigen Veränderungen eines besonders wichtig, nämlich, dass wir die soziale Balance und damit den Zusammenhalt unserer Gesellschaft festigen. In dieser Zeit müssen wir in Deutschland Maß und Mitte wahren. Deshalb bin ich sehr froh darüber, Herr Dulger, dass auch Ihnen der Kampf gegen Extremismus, Rassismus und Antisemitismus ein dringendes Anliegen ist. Sie haben dies eben zu Eingang Ihrer Rede noch einmal sehr, sehr klar gemacht. Danke dafür! Die BDA hat in ihrer gemeinsamen Erklärung mit dem DGB klare Worte gefunden. Darin heißt es: „Unser gemeinsames Verständnis von Wohlstand und Freiheit beinhaltet unwiderruflich das Bekenntnis zum Grundgesetz und zur Einheit Europas. … den aktuellen Remigrationsplänen der Rechtsextremisten erteilen wir eine klare Absage. Unsere Betriebe sind ein Spiegel der Gesellschaft. Die Menschen, die bei uns und mit uns arbeiten, sind unsere Kolleginnen und Kollegen, unsere Nachbarn und Freunde. … Jede Mitbürgerin und jeder Mitbürger muss sich in unserem Land sicher fühlen. Dafür stehen wir gemeinsam ein.“ Diese Sätze sind einerseits ein weiterer Beweis dafür, wie gut die Sozialpartnerschaft in Deutschland funktioniert, wenn es darauf ankommt. Sie zeigen andererseits, dass wir auch hier am selben Strang und in dieselbe Richtung ziehen. Wir haben ein geteiltes Interesse am erfolgreichen Kampf gegen politischen Extremismus. Tragen wir gemeinsam dazu bei, dass wir angesichts dieser großen Aufgabe das Wesentliche im Blick behalten! Ja, Deutschland muss sich verändern und es verändert sich, sogar ziemlich rasant. Diese Veränderungen bekommen wir dann erfolgreich hin, wenn wir dabei als Gesellschaft, und zwar als demokratische Gesellschaft, zusammenbleiben. Lieber Herr Dulger, das neue Buch des Soziologen Heinz Bude handelt von den Boomern. Darin beschreibt er die Lebenslage, in der sich viele Angehörige unserer Generation heute befinden. Ich will das zitieren: „Man ist beruflich in der Position, dass einem niemand mehr etwas vormachen kann, man stellt im Kontakt mit Freunden, Kolleginnen, Bekannten und Verwandten eine halbwegs respektable Person mit einer bestimmten Lebenserfahrung dar, man kann als öffentliche Person einen gewissen Einfluss entfalten und eine gewisse Bedeutung beanspruchen.“ Professor Bude fügt hinzu: „Um den sechzigsten Geburtstag herum wird einem dann klar, was man jetzt hinnehmen muss und was man noch bewirken kann.“ ‑ Lieber Herr Dulger, ich bin mir ziemlich sicher: Mit Ihrer Erfahrung, Ihrer Schaffenskraft und Ihrem Augenmaß werden Sie in den kommenden Jahren noch Vieles bewirken. Dafür wünsche ich Ihnen von Herzen alles Gute und freue mich auf die weitere kritisch-konstruktive Zusammenarbeit und viele Begegnungen. Schönen Dank!
in Berlin
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Münchner Sicherheitskonferenz am 17. Februar 2024
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-muenchner-sicherheitskonferenz-am-17-februar-2024-2260366
Sat, 17 Feb 2024 09:03:00 +0100
München
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Exzellenzen, lieber Herr Heusgen, meine Damen und Herren, seit zwei Jahren tobt in der Ukraine nun schon der größte Landkrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Täglich fordert Russlands Aggression unschuldige Opfer. Täglich wird in der Ukraine geweint, getrauert und gestorben. Und darum will ich mich in meiner Rede heute auf diesen Krieg in unserer Nähe konzentrieren. Trotz enormer eigener Verluste sind wesentliche Teile der russischen Streitkräfte intakt. Russland hat seine Armee seit vielen Jahren auf diesen Krieg vorbereitet und auf allen Ebenen neue gefährliche Waffensysteme entwickelt. Die russische Volkswirtschaft arbeitet längst im Kriegsmodus. Putin hat Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft und Kultur in Russland praktisch gleichgeschaltet. Wer sich für Freiheit und Demokratie einsetzt, muss um sein Leben fürchten. Was das bedeutet, zeigt uns die erschütternde, die empörende Nachricht vom Tod Alexei Nawalnys in russischer Haft. Und nicht zuletzt schickt Putin immer mehr Soldaten an die Front. Zwei Jahre nach Kriegsbeginn müssen wir uns alle fragen: Tun wir genug, um Putin zu signalisieren: „We are in for the long haul“? Tun wir genug, wo wir alle doch genau wissen, was ein russischer Sieg in der Ukraine bedeuten würde? Nämlich das Ende der Ukraine als freier, unabhängiger und demokratischer Staat, die Zerstörung unserer europäischen Friedensordnung, die schwerste Erschütterung der UN-Charta seit 1945 und nicht zuletzt die Ermutigung an alle Autokraten weltweit, bei der Lösung von Konflikten auf Gewalt zu setzen. Der politische und finanzielle Preis, den wir dann zu zahlen hätten, wäre um ein Vielfaches höher als alle Kosten unserer Unterstützung der Ukraine heute und in Zukunft. Was folgt aus dieser Bestandsaufnahme für uns? Was muss daraus folgen für die NATO und für Europa? Zwei Dinge sind aus meiner Sicht zentral. Erstens. Die Bedrohung durch Russland ist real. Darum muss unsere Fähigkeit zur Abschreckung und Verteidigung glaubwürdig sein und glaubwürdig bleiben. Dabei gilt weiterhin: Wir wollen keinen Konflikt zwischen Russland und der NATO. Deshalb sind sich alle Unterstützer der Ukraine seit Beginn des Krieges einig: Wir schicken keine eigenen Soldaten in die Ukraine. Zugleich müssen Putin und die Militärs in Moskau verstehen: Wir, das stärkste Militärbündnis der Welt, sind in der Lage, jeden Quadratmeter unseres Bündnisgebiets zu verteidigen. Dafür ist es wichtig, dass wir den europäischen Pfeiler der NATO weiter stärken, auch im Bereich der Abschreckung. Ich erzähle Ihnen vermutlich nichts Neues, wenn ich sage: Deutschland investiert dieses Jahr und auch in den kommenden Jahren, in den 20er-, den 30er Jahren und darüber hinaus, zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung. Wir müssen uns mehr denn je darum kümmern, dass unsere Abschreckung modernen Anforderungen gerecht wird. Deshalb haben wir in der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung unter anderem festgelegt ‑ ich zitiere ‑, „die Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähige Präzisionswaffen“ zu fördern. Darüber sprechen wir mit Frankreich und Großbritannien. Das fügt sich ein in die Bemühungen von Emmanuel Macron und mir, die europäische Verteidigungsindustrie zu stärken. Denn unabhängig davon, wie Russlands Krieg in der Ukraine endet, unabhängig auch davon, wie anstehende Wahlen diesseits oder jenseits des Atlantiks ausgehen, eins ist doch vollkommen klar: Wir Europäer müssen uns sehr viel stärker um unsere eigene Sicherheit kümmern, jetzt und in Zukunft. Die Bereitschaft dazu ist sehr groß. Das habe ich auch Präsident Biden bei meinem Besuch vergangene Woche in Washington gesagt. Unsere Anstrengungen in den zurückliegenden 24 Monaten unterstreichen das. Und zugleich waren Joe Biden und ich uns in einem vollkommen einig: Unser transatlantisches Bündnis bleibt auch in Zukunft wertvoll und stark ‑ und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks ‑, weil uns gemeinsame Werte und Überzeugungen verbinden: Freiheit, Demokratie, die Stärke des Rechts und der Respekt vor der Würde eines jeden Menschen. Dafür bin ich dem Präsidenten und all unseren nordamerikanischen Freunden hier im Publikum zutiefst dankbar. Thank you for being such strong allies and friends! Lassen Sie mich auch klar sagen: Jegliche Relativierung der Beistandsgarantie der NATO nützt nur denen, die uns ‑ so wie Putin ‑ schwächen wollen. Mein zweiter Punkt betrifft unsere Unterstützung der Ukraine. Die Europäische Union und die Mitgliedstaaten haben dafür bisher knapp 90 Milliarden Euro bereitgestellt. Die 50 Milliarden Euro allein an finanzieller Hilfe, die wir gerade für die kommenden Jahre zusätzlich beschlossen haben, kommen da noch oben drauf. Wir haben mehr als vier Millionen ukrainische Flüchtlinge hier bei uns in der Europäischen Union aufgenommen, eine Million davon allein in Deutschland. Das alles war und das bleibt richtig! Erst gestern haben Präsident Selensky und ich eine Vereinbarung unterzeichnet, mit der wir der Ukraine dauerhafte Sicherheitszusagen machen. Das zeigt: Unsere Unterstützung ist breit und umfangreich, vor allem aber ist sie langfristig angelegt. Schon jetzt beläuft sich die von Deutschland bereits geleistete und geplante militärische Unterstützung auf gut 28 Milliarden Euro. Für das laufende Jahr haben wir unsere Militärhilfe auf mehr als sieben Milliarden Euro nahezu verdoppelt. Zusagen für die kommenden Jahre in Höhe von sechs Milliarden kommen hinzu. Ich wünsche mir sehr ‑ und ich werbe gemeinsam mit einigen anderen europäischen Kolleginnen und Kollegen auch hier ganz eindringlich dafür ‑, dass ähnliche Entscheidungen in allen europäischen Hauptstädten getroffen werden. Ich weiß, das ist nicht leicht. Auch hier in Deutschland ist das nicht leicht. Wie in anderen Ländern gibt es auch bei uns kritische Stimmen, die fragen: Sollten wir das Geld nicht für andere Zwecke ausgeben? Moskau befeuert solche Zweifel noch mit gezielten Desinformationskampagnen, mit Propaganda in den sozialen Medien. Wahr ist: Dieser Krieg mitten in Europa verlangt auch uns einiges ab. Ja, Geld, das wir jetzt und in Zukunft für unsere Sicherheit ausgeben, fehlt uns an anderer Stelle. Das spüren wir. Ich sage aber auch: Ohne Sicherheit ist alles andere nichts. Nur wenn wir alle die dafür nötigen Mittel solidarisch und langfristig bereitstellen, wird unsere Verteidigungsindustrie ihre Produktion verlässlich steigern und damit auch zu unserer Sicherheit beitragen. Die Vereinigten Staaten haben der Ukraine seit Kriegsbeginn etwas mehr als 20 Milliarden Dollar an militärischer Hilfe pro Jahr geleistet – bei einem Bruttoinlandsprodukt von 28 Billionen Dollar. Eine vergleichbare Anstrengung muss doch das Mindeste sein, was auch jedes europäische Land unternimmt. Denn schließlich reden wir über die größte Sicherheitsbedrohung auf unserem Kontinent, über einen Krieg hier, in Europa, auch wenn dieser Krieg globale Folgen hat. Nur, wenn wir hier glaubwürdig sind, dann wird auch Putin begreifen: Einen Diktatfrieden auf Geheiß Moskaus wird es nicht geben, weil wir das nicht zulassen werden! Damit bin ich bei dem Silberstreif am Horizont, lieber Christoph Heusgen, von dem Sie gestern in Ihrer Eröffnungsrede gesprochen haben. Diesen Silberstreifen gibt es, und er ist breiter, als man beim Blick in die Nachrichtensendungen oder die Zeitungen manchmal glauben mag. Wir stehen geschlossener zusammen denn je. Schweden und Finnland haben sich entschieden, der NATO beizutreten. Wir haben in der NATO neue Verteidigungspläne beschlossen. Wir in Deutschland haben ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr in unserer Verfassung verankert. Davon sind inzwischen rund 80 Prozent vertraglich gebunden. Verteidigungsminister Pistorius und ich haben entschieden, eine deutsche Kampfbrigade dauerhaft an der Ostflanke der NATO, in Litauen, zu stationieren. Der NATO-Gipfel in Washington im Juli wird zeigen, wie sehr Europa inzwischen zur Sicherheit des euroatlantischen Raums beiträgt. Das ist doch eine gute Nachricht zum 75. Geburtstag der Allianz. Russland dagegen hat kein einziges seiner Kriegsziele erreicht. In zwei Wochen wollte Putin Kyiv einnehmen. Zwei Jahre später hat die Ukraine mehr als die Hälfte der russisch besetzten Gebiete befreit. Die Kontrolle über das westliche Schwarze Meer hat Russland verloren. All das ist zuallererst das Verdienst der ukrainischen Streitkräfte. Vor ihrem Mut und ihrem hart erkämpften Erfolg habe ich allergrößten Respekt! Aber auch unser aller Unterstützung hat dazu beigetragen. Das sollte uns doch Ansporn sein, jetzt nicht nachzulassen, sondern diesen Weg entschlossen weiterzugehen. Deutschland ist genau das, entschlossen, und zugleich dankbar für unseren Zusammenhalt, heute und in Zukunft. Schönen Dank!
in München
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich seines Besuchs bei Rheinmetall am 12. Februar 2024
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-seines-besuchs-bei-rheinmetall-am-12-februar-2024-2259372
Mon, 12 Feb 2024 00:00:00 +0100
Unterlüß
Sehr geehrte Frau Premierministerin, liebe Mette, sehr geehrter Herr Papperger, sehr geehrter Herr Bundesminister, lieber Boris, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages und des Landtags, Herr Landrat, Frau Bürgermeisterin, Herr Ortsbürgermeister, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Bundeswehr, liebe Rheinmetallerinnen und Rheinmetaller, meine Damen und Herren! Schon diese Anrede macht es deutlich: Heute ist ein ganz besonderer Tag, ein besonderer Tag für Unterlüß und die Südheide, für die Region und für Niedersachsen, ein besonderer Tag aber auch für die Sicherheit unseres Landes und ganz Europas. Deshalb möchte ich mit einem großen Dank beginnen. Danke an alle, die Anteil daran hatten, dieses Projekt so schnell voranzubringen! Danke vor allem auch an Rheinmetall und an Sie, Herr Papperger! Mit Ihrer Investition in Höhe von 300 Millionen Euro in das neue Niedersachsenwerk legen Sie die Grundlage dafür, die Bundeswehr und unsere Partner in Europa eigenständig und vor allem dauerhaft mit Artilleriemunition zu versorgen. Die Dimensionen dieses Projekts und auch die des schon bestehenden Werks sind wirklich beeindruckend. Das hat uns der Rundgang gerade noch einmal gezeigt. 200 000 Artilleriegeschosse pro Jahr, dazu Sprengstoff und Komponenten für Raketenartillerie sollen hier künftig entstehen. Das klingt beeindruckend, und es ist beeindruckend. Andererseits wissen wir, dass an der Front in der Ost- und Südukraine derzeit mehrere Tausend Artilleriegeschosse abgefeuert werden, wohlgemerkt, pro Tag. Das zeigt, wie wichtig eine eigenständige und dauerhafte Produktion solcher Munition ist. Zur Wahrheit gehört, dass es eine solche Produktion vor der Zeitenwende nicht gab, nicht in Deutschland und auch nicht in vielen anderen europäischen Partnerstaaten. Die Depots der Bundeswehr waren ziemlich leer. Viel zu lange ist Rüstungspolitik in Deutschland so betrieben worden, als ginge es dabei um einen Autokauf. Wenn ich mir in zwei oder drei Jahren einen VW Golf kaufen möchte das sage ich hier in Niedersachsen einmal , dann weiß ich heute, dass es ihn geben wird. Ich muss dann vielleicht drei oder sechs Monate darauf warten; aber danach steht das Auto auf dem Hof. Aber so funktioniert Rüstungsproduktion eben nicht. Panzer, Haubitzen, Hubschrauber und Flugabwehrsysteme stehen nicht irgendwo im Regal. Wenn über Jahre hinweg nichts bestellt wird, dann wird auch nichts produziert. Das ist ziemlich klar. Umso bemerkenswerter ist es, wie schnell Rheinmetall die Produktion hochgefahren hat, und umso wichtiger ist es, dass auf das jahrelange Wegsehen nun ein Hinsehen und Hingehen folgen. Auch deshalb sind Boris Pistorius und ich uns einig und heute hier. Wir wollen damit unsere Anerkennung dafür zum Ausdruck bringen, wie schnell Rheinmetall und auch andere Unternehmen der Verteidigungsindustrie in die Bresche gesprungen sind. So wie hier in Unterlüß sind in ganz Deutschland viele Tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerade dabei, neue Produktionsstraßen zu errichten, Schichten auszuweiten und den Betrieb hochzufahren. Mit dem Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro, mit unserer inzwischen eingelösten Zusage, jetzt und in Zukunft zwei Prozent unserer Wirtschaftsleistung für die Verteidigung unseres Landes und unser Bündnispartner einzusetzen, haben wir die Grundlage dafür gelegt. Auf diese Zusage können sich die Bundeswehr und die Industrie verlassen. Denn für mich ist völlig klar: Nur so kann nachhaltig geplant und beschafft werden. Nur so erreichen wir unser Ziel, die Bundeswehr wieder zu einer der leistungsfähigsten konventionellen Streitkräfte in Europa zu machen. Das ist dringend erforderlich. Denn so hart diese Realität auch ist, leben wir nicht in Friedenszeiten. Russlands Angriffskrieg und Putins imperiale Ambitionen, die er ganz offen formuliert, sind eine große Gefahr für die europäische Friedensordnung. In dieser Lage gilt: Wer Frieden will, der muss mögliche Aggressoren erfolgreich abschrecken. Der wohl wichtigste Beitrag, den wir derzeit für Frieden und Sicherheit in Europa leisten können, ist unsere Unterstützung der Ukraine. Sie haben das schon erwähnt, lieber Herr Papperger, und auch du, Mette, hast das getan. Ja, wir sind militärisch der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine nach den USA. Genau genommen sind unsere Zusagen für das laufende Jahr, fast acht Milliarden Euro und weitere sechs Milliarden Euro für die kommenden Jahre, derzeit sogar die größte bestehende Zusage überhaupt. Das ist aber kein Grund zur Prahlerei, die sowieso eine schlechte Eigenschaft wäre, sondern eher ein Grund zur Sorge. Ich habe bei meinem Gespräch in Washington Ende vergangener Woche deutlich gemacht, dass die Ukraine auch in Zukunft die Unterstützung der Vereinigten Staaten braucht. Präsident Biden tut alles dafür. Er kämpft dabei gegen große innenpolitische Widerstände, und ich hoffe sehr, dass er sie überwinden kann. Auch mit Mitgliedern des amerikanischen Kongresses habe ich gesprochen und ihnen gesagt: Es geht hier nicht um irgendeinen Krieg weit entfernt in Europa. In der Ukraine entscheidet sich, ob unsere Friedensordnung, ob unsere regelbasierte Welt eine Zukunft hat. Russland muss scheitern mit dem Versuch, sich mit Gewalt seinen Nachbarstaat einzuverleiben. Nicht nur die Vereinigten Staaten, auch alle europäischen Länder müssen noch mehr zur Unterstützung der Ukraine tun. Die bisherigen Zusagen reichen schlicht nicht aus. Deutschlands Kräfte allein reichen nicht. Ich bin deshalb sehr froh darüber, dass sich im Senat so unmittelbar nach meinem Besuch eine Bewegung in Richtung einer Unterstützung eines Finanzpakets gezeigt hat. Ich hoffe, das kann dort abschließend so beraten werden, und ich hoffe natürlich auch, dass das Repräsentantenhaus zustimmen wird. Wir wissen, wie wichtig der amerikanische Beitrag ist. Umso dankbarer bin ich für die Zusammenarbeit mit Ländern wie Dänemark. Was ihr leistet, liebe Mette, das ist wirklich beeindruckend. Und auch was wir gemeinsam leisten, kann eine Blaupause sein für die engere europäische Verteidigungszusammenarbeit. Dänemark und Deutschland beschaffen gemeinsam Kampfpanzer, Haubitzen und dringend benötigte Artilleriemunition für die Ukraine. Dänische und deutsche Unternehmen kooperieren bei der Lieferung von Aufklärungsdrohnen. Dänemark ist der von Deutschland initiierten European Sky Shield Initiative beigetreten, mit der wir die europäische Luftverteidigung im Rahmen der NATO stärken wollen. Diesen Weg gehen wir weiter, und wir wünschen, dass sich uns noch mehr Länder anschließen. Die nötigen finanziellen Mittel sind dabei das eine. Eine starke Verteidigung braucht aber eben auch eine solide industrielle Grundlage und die entsteht, wenn wir Europäer unsere Bestellungen bündeln, wenn wir unsere Mittel zusammenführen und der Industrie somit Perspektiven für die nächsten 10, 20 oder 30 Jahre geben. Wir müssen weg von der Manufaktur hin zur Großserienfertigung von Rüstungsgütern. Genau dafür steht dieser Tag heute. Dafür steht die Ausweitung dieses Werks hier in Unterlüß. Ich wünsche mir, dass hier von Unterlüß ein Signal ausgeht an unser ganzes Land, das Signal nämlich, dass es bei solch sicherheitsrelevanten Ansiedlungen, Erweiterungen und Projekten schnell gehen kann und muss. Auch hier gilt das Deutschlandtempo, wenn es zum Beispiel um Genehmigungen für neue Werke wie dieses geht. Hier in Unterlüß setze ich deshalb auf die Unterstützung von allen, die daran beteiligt sein werden im Land, im Landkreis, in den Kommunen, in der Bundeswehr und natürlich auch bei Rheinmetall. Vorhaben wie dieses haben Vorbildcharakter. Sie tragen auch zu einem Umdenken in unserem Land bei davon bin ich fest überzeugt , weil sie das Bewusstsein dafür schärfen, wie wichtig es ist, eine so flexible, moderne und tüchtige Verteidigungsindustrie zu haben. Dass durch dieses Vorhaben außerdem über 300 fast 500, haben wir gehört attraktive und gut bezahlte Arbeitsplätze hier in der Südheide entstehen, ist mehr als nur ein erfreulicher Nebenaspekt. Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Sie können stolz sein auf das, was Sie hier leisten. Sie arbeiten im wahrsten Sinne des Wortes zum Wohl unseres Landes. Danke dafür. Meine Damen und Herren, auf dem Weg hierher habe ich erfahren, was die „Deutsche Wochenschrift“ es tut nichts zur Sache, aber das war eine Parteizeitung der CDU im Jahr 1959 über Unterlüß geschrieben hat, nämlich, dass es ein Dorf ohne Acker und Vieh sei. Das liegt natürlich an der Vergangenheit. Erst war Unterlüß Eisenbahnersiedlung, dann Industriestandort. Was Sie hier in Unterlüß aufgebaut haben, was hier gerade neu entsteht, das ist schon etwas ganz Besonderes für die Region und für unser ganzes Land. Und deshalb ist es mir wichtig, bei diesem Spatenstich heute mit dabei zu sein. Schönen Dank für die Einladung.
Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz zum Netzwerktreffen der Allianz der Chancen am 26. Januar 2024 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-olaf-scholz-zum-netzwerktreffen-der-allianz-der-chancen-am-26-januar-2024-in-berlin-2256456
Fri, 26 Jan 2024 00:00:00 +0100
Berlin
Schönen Dank für die Einladung! Ich habe mich, damit ich mich mit Ihnen nett unterhalten kann, heute Morgen mit Drogen in die Lage dazu versetzt. Ich bin ein bisschen erkältet. Aspirin Complex ist aber perfekt. Insofern geht es jetzt einigermaßen. Ich möchte mich erst einmal dafür bedanken, dass wir hier zusammenkommen können und dass wir es geschafft haben, so viele Dinge auf den Weg zu bringen, so viel Veränderung, so viel Perspektivenwechsel zustande zu bringen. Denn es ist doch eigentlich wirklich so: Wir brauchen eine Veränderung in der Arbeitswelt. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch die Unternehmen vor der Zukunft nicht fürchten. Wenn wir das erreichen wollen, dann müssen wir ganz konkrete Perspektiven beschreiben und Lebensverhältnisse so erörtern, dass man sich vorstellen kann, dass die Dinge für einen gut ausgehen. Dann werden immer gern einige politische Stanzen gesagt. Eine davon lautet „Sicherheit im Wandel“. Sie ist aber ziemlich gut. Deshalb kann man sie wiederholen. Denn darum geht es tatsächlich. Es gibt Veränderung. Davor können wir niemanden beschützen. Aber wir alle gemeinsam können es als unsere Aufgabe begreifen, dass das keine Bedrohung ist, dass man das Gefühl hat: Es ändert sich etwas, aber ich komme in der Zukunft auch weiterhin zurecht. Das gilt für die Arbeitswelt insgesamt, zwischen Unternehmen, für das, was sich ökonomisch in unserem Land insgesamt zuträgt, mit neuen technologischen Entwicklungen, mit weltweiten Lieferkettenbeziehungen und ökonomischen Beziehungen, aber es gilt eben auch für das, was in den einzelnen Unternehmen jeweils ganz konkret stattfindet. Mir ist es wichtig, dass wir immer alles dazu beitragen, dass diejenigen, die in die Arbeitswelt, in die Berufswelt hineinkommen wollen, gute Perspektiven haben. Darum war eines meiner mir persönlich wichtigsten Anliegen in verschiedensten Ämtern, die ich in der Vergangenheit hatte, so etwas wie das Konzept der Jugendberufsagenturen voranzubringen. In Hamburg habe ich das als Bürgermeister ganz exemplarisch durchprobieren können, mit sehr konkreten Strukturen, die funktionieren. Es hat real etwas verändert. Das ist nicht nur ein neues Schild irgendwelcher Einrichtungen, sondern man hat dafür gesorgt, dass alle Jugendlichen tatsächlich erreicht werden, dass man sich schon in der Schule mit der Frage beschäftigt, welche Berufe es alles gibt. Denn die Umfragen in den Schulen sehen, denke ich, immer noch ziemlich genau so aus wie 1950 oder 1960. Es sind noch sehr weitreichende Berufstätigkeiten hinzugekommen, Influencer und Spieleentwickler, alles das. Aber davon einmal abgesehen, bleibt es eigentlich eine Liste, die sich von dem, was man früher schon gekannt hat, nicht groß unterscheidet. Tatsächlich gibt es viel, viel mehr Berufe, die den jungen Leuten offenstehen und für die sie geworben und interessiert werden können. Darum ist es, denke ich, auch unverändert eine große Aufgabe, die wir überall in Deutschland haben, die Schulen und auch die Bildungsministerien davon zu überzeugen, dass sie das machen. Man muss früh einsteigen, damit gute Ergebnisse erzielt werden können. Ich will es etwas flapsig formulieren: Die ersten Versuche sind so etwas wie gehobener Bastelunterricht. Das hat mit Berufsorientierung relativ wenig zu tun. Erst dann, wenn das über Jahre hinweg weiterentwickelt wird, kann daraus etwas werden, was tatsächlich einen Unterschied macht. Man muss manchmal auch zählen. Auch das war mir wichtig. Wie viele von denen, die nach der neunten oder zehnten Klasse die Schule verlassen, haben unmittelbar im Anschluss oder in zeitlicher Nähe einen Vertrag für eine Berufsausbildung, den sie unterschreiben können? ‑ Es sind viel weniger, als wir immer gedacht haben. Das zeigt, warum es so wichtig ist, Wege zu beschreiben, wie wir genau diese Veränderung tatsächlich um- und durchsetzen können. Für mich jedenfalls ist das mit der Jugendberufsagentur gelungen, auch deshalb, weil am Ende alle zusammengearbeitet haben, die Jobcenter, die staatlichen Berufsschulen, die Arbeitsagentur usw. und dafür gesorgt haben, dass hinter einer Tür alle eng zusammenarbeiten. Andrea Nahles und ich haben in verschiedenen Ämtern, die wir hatten, immer dafür gesorgt, dass uns auch der Datenschutz nicht aufhält. Am Anfang haben wir irgendwelchen jungen Leuten dicke Packen hingelegt, und sie durften dann blind unterschreiben, dass sie damit einverstanden sind, dass sich alle alles erzählen. Mittlerweile haben wir das gesetzlich erlaubt, und insofern ist es einfacher geworden. Aber das zeigt, dass man sich an ein Problem erst einmal heranmachen muss, um es dann lösen zu können. Ich finde jedenfalls, dass da, wo es mit den Jugendberufsagenturen besonders gut funktioniert, der Übergang von der Schule in eine Berufsausbildung viel erfolgreicher ist als anderswo. Das gilt natürlich erst recht für diejenigen, die nicht gleich etwas finden, sondern über Praktika, die sie in Betrieben leisten, und mit dem, was die Berufsschulen im ersten Jahr anbieten, in eine Berufsausbildung einmünden. Auch das finde ich sehr, sehr gut. Auch wichtig ist mir, dass wir uns mit der Frage der Veränderung in den Betrieben beschäftigen. Der Wegebau wurde schon genannt. Aber das hat natürlich auch etwas mit ganz konkreten Perspektiven zu tun. Ich will es gern sagen: Mein Besuch bei Continental in Hannover bewegt mich noch immer. Denn tatsächlich beeindruckt es einen sehr und stimmt es einen sehr positiv, wenn man sieht, dass jemand mit 46 Jahren, mit 51 Jahren noch eine neue berufliche Perspektive in der Firma findet, in der er oder sie schon so lange Zeit arbeitet. Das ist mit unglaublich viel Stolz und mit unglaublich viel Ermutigung verbunden. Das bricht mit allen Tabus und Traditionen, die wir immer schon hatten. Ich denke, dass es deshalb auch wichtig ist, dass wir an dieser Sache arbeiten. In der Finanzkrise 2008 und 2009 habe ich als damaliger Arbeitsminister versucht, Weiterbildungsprogramme wie Sauerbier anzubieten. Ich denke, ich habe alle zehn gesehen, die in Deutschland gemacht worden sind. Das war natürlich noch nicht so flächendeckend. Insofern hat sich, denke ich, etwas geändert. Wir haben eine veränderte Wirklichkeit erreicht, die heute dazu führt, dass überall geschaut wird: Was machen wir mit denen, die schon im Betrieb sind? Warum soll jemand, der 26 Jahre ist, warum soll eine, die 34 Jahre ist, nicht noch einmal eine Berufsausbildung machen, wenn das Leute sind, die jeden Tag zur Arbeit kommen, die das tun, die eine gute Einstellung haben, aber eben nicht das gelernt haben, was sie in der Firma tun, oder überhaupt keine Berufsausbildung hatten? Wenn wir da eine Veränderung hinbekommen, dann würde das vielen Unternehmen neue Ressourcen erschließen, die sie bisher gar nicht im Blick hatten. Es würde aber auch vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern das Gefühl schaffen, dass es, egal wie sich die Dinge verändern, immer einen Weg gibt, wie man mit seinen eigenen Talenten und Fähigkeiten dabei sein kann. Ich denke, das ist das, was sich die meisten Menschen zutiefst wünschen. Insofern sind diese beiden Dinge für mich etwas ganz Bewegendes und haben mich auch motiviert, hierher zu kommen und über die Fragen mitzudiskutieren, die anstehen: unsere Jugendberufsagenturen, die Weiterbildung in der Arbeit und alles, was damit zusammenhängt. Wir müssen unsere Fachkräftesicherung in Deutschland vorantreiben. Das klingt abstrakt, ist aber etwas ganz Konkretes mit jedem Tag Arbeit in den Unternehmen. Wir haben eben schon ein paar Aspekte besprochen. Es betrifft uns aber eben auch als Gesellschaft insgesamt. Deshalb gehört, denke ich, beides zusammen, zunächst einmal die Potenziale, die wir im Inland haben, zu heben, dafür zu sorgen, dass alle Talente genutzt werden und nichts liegengelassen wird. Wenn das, wie es heißt, ein Markt wird, der von den Bewerbern ausgeht, und wenn sich das umdreht, dann muss man natürlich auch schauen, wie man alle überzeugen kann, dass sie mitmachen sollten und dass sie eine Chance haben. Ich glaube, dass es dabei auch wichtig ist, sich immer wieder sich zu sagen: Die meisten entwickeln sich bei der Arbeit ja auch weiter – für ganz junge Leute gilt das sowieso. Ich glaube, wir haben ein bisschen vergessen, dass jemand, der 16 oder 17 Jahre alt ist, eben noch nicht ganz erwachsen ist, und dass deshalb ein Unternehmen nicht jemanden am Band erwarten kann, der 25 und promoviert ist, sondern möglicherweise jemanden, der genau das für sich als Perspektive entwickelt hat. Wir müssen unsere inländischen Potenziale also heben. Und wir müssen dafür sorgen, dass für die Arbeit, die hierzulande zu leisten ist, weiter Zuwanderung stattfinden kann. Da ist Deutschland anders als viele andere Länder mittlerweile gesetzgeberisch sehr weit vorangeschritten. Wir haben alle rechtlichen Möglichkeiten, um Arbeitskräfte aus dem Ausland hier in Deutschland einzusetzen. Für diejenigen, die aus der Europäischen Union kommen, braucht man gar nichts können, man muss sie nur gewinnen; aber da gibt es ja keine rechtlichen Hürden. Das ist ein Aspekt und ein Phänomen, das von denjenigen, die Prognosen über den Arbeitsmarkt gemacht haben, über Jahre immer irgendwie unterschätzt worden ist. Aber wenn es eine „workforce“ von über 200 Millionen in der Europäischen Union gibt, dann ist das eben in der Tat ein sehr großer Arbeitsmarkt, und da gibt es viele Möglichkeiten. Das hat für uns in Deutschland in den letzten Jahren sehr viele Probleme gelöst, die wir sonst gehabt hätten. Aber wir brauchen jetzt eben noch mehr Arbeitskräfte, und es reicht nicht mehr, auf die Europäische Union alleine zu gucken. Deshalb kommt unser Fachkräfteeinwanderungsgesetz, unser Arbeitskräfteeinwanderungsgesetz, jetzt zum richtigen Zeitpunkt. Da gibt es eigentlich keine relevanten Hürden mehr, außer dass man es jetzt machen muss. Das ist etwas für die Unternehmen, aber auch für uns als Staat, für die Bundesagentur und für viele andere. Wir werden das ja nicht so machen wie in den 60er-Jahren, wo dann große Teams aus der Bundesanstalt für Arbeit, glaube ich, in alle Welt gefahren sind, Leute sich angestellt haben, Reihenuntersuchungen gemacht wurden und dann die Leute einfach verfrachtet wurden. So geht es jetzt nicht, und so wollen wir das auch nie wieder haben. Aber es ist eben doch so, dass wir gemeinsam gucken müssen: Wie können wir diejenigen überzeugen, die hier eingesetzt werden können? Bei meinen Besuchen in vielen Staaten in Asien, in Afrika, im Süden Amerikas stelle ich fest, dass es eine große Bereitschaft gibt, mit uns Vereinbarungen abzuschließen, die darauf hinauslaufen, dass wir in der Lage sind, Arbeitskräfte zu holen. Ich glaube, dass das im Übrigen bei der aktuellen Debatte über viele andere Themen, die sich mit irregulärer Migration beschäftigen, auch ein guter Rahmen ist. Denn wir können ja diesen Ländern ein Angebot machen, das letztendlich lautet: Diejenigen, die wir für den Arbeitsmarkt brauchen, die können wir holen und da gibt es Möglichkeiten. Dafür erwarten wir aber, dass diejenigen zurückgenommen werden, die nicht bleiben können. Diese Verträge, diese Migrationspartnerschaften, versuchen wir jetzt überall abzuschließen. Meine Überzeugung ist: Das wird auch ein großer Beitrag sein für die Beschäftigung in Deutschland und dafür, dass es eben anders ausgeht, als einige uns sagen. Die volkswirtschaftlichen Prognosen sagen immer: Wir werden ein Wachstumsproblem haben, weil wir nicht genug Arbeitskräfte haben. Diese volkswirtschaftlichen Prognosen hat es auch schon vorher gegeben, und sie hatten falsch gelegen, denn wir hatten ja aus den besagten Gründen viele zusätzliche Arbeitskräfte. Deutschland hat den höchsten Stand an Erwerbstätigkeit, den wir je hatten. Das ist das Ergebnis der letzten Jahre und nicht nur der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt durch die Unternehmen, sondern eben auch der Tatsache, dass viele dazugekommen sind und hier ihr Talent einsetzen und mitarbeiten. Das ist ein guter Fortschritt. Jetzt müssen wir pragmatisch dafür sorgen, dass wir die neuen gesetzlichen Möglichkeiten einsetzen, damit das auch tatsächlich funktioniert, und dazu gehört eben die Zuwanderung von Arbeitskräften zusammen mit der Begrenzung der irregulären Migration. Was uns noch wichtig ist ‑ und darüber sollten wir hier auch sprechen ‑, ist die Frage: Was ist mit denjenigen, die als Flüchtlinge bzw. Geflüchtete in Deutschland sind? Das sind sehr viele, und da gibt es viele Möglichkeiten. Auch das hat sich geändert: Wir haben die Zeiträume, die man hinter sich bringen muss, um erwerbstätig sein zu können, wenn man sich hier in Deutschland als Flüchtling aufhält, massiv reduziert. Da gibt es praktisch kein Hindernis; denn es wird wohl kaum jemand sagen, dass er jemanden, der angekommen ist, jetzt gleich, also bevor sechs Monate vergangen sind, direkt beschäftigen wird. Da müssen wir also, glaube ich, nicht mehr viel machen. Jetzt kommt es aber darauf an, dass man die Möglichkeiten auch nutzt und dass man diejenigen, die hier in Deutschland sind und die eine Perspektive haben, hier zu bleiben, auch mit Beschäftigungsmöglichkeiten versieht. Das ist das, was wir uns mit dem Job-Turbo vorgenommen haben, sowohl für Flüchtlinge allgemein als auch ganz besonders für die vielen Hunderttausend, die aus der Ukraine gekommen sind, worunter viele Arbeitskräfte sind. Da haben wir ja eine ganz merkwürdige Ausgangssituation: Wenn wir die Umfragen zugrunde legen, dann sind 80 Prozent davon mehr oder weniger qualifiziert. Das ist nicht alles in die Systeme, in die Erfassungsregime aufgenommen worden, aber wenn wir beim ifo-Institut nachfragen, dann erfahren wir: Da sind hohe Qualifikationen vorhanden. Das ist also eine Gruppe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die mit dem, was sie können, auf dem deutschen Arbeitsmarkt gut eingesetzt werden können. Wir haben jetzt zwei Jahre lang vielen Sprachkurse angeboten, und diese Sprachkurse sind auch von vielen wahrgenommen worden. Sicherlich ist das nicht bei jedem schon ein solches Deutsch wie das, das hier von uns gerade miteinander versucht wird, aber es ist doch so, dass es für den Arbeitsmarkt reichen müsste. Ich will auch sagen: Die Arbeitskräfte, die wir in den 60er- und 70er-Jahren geholt hatten, hatten gar keine Sprachkurse gemacht, und die sind trotzdem in die Fabriken gegangen. Da sind wir jetzt doch ein bisschen betulich geworden, wenn es darum geht, Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Ich möchte Sie also ausdrücklich aufrufen mitzuhelfen, diejenigen aus der Ukraine, die jetzt hier in Deutschland leben, in Lohn und Brot zu bringen; denn das ist für die Akzeptanz in der Bevölkerung, aber auch für die Perspektiven der Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich hier befinden und sich hier aufhalten, von großer Bedeutung. Deshalb bin ich der Bundesagentur, Andrea Nahles und dem Bundesarbeitsministerium sehr, sehr dankbar, dass sie alles dafür tun, dass wir diese Dinge voranbringen und dass das in enger Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und mit Unternehmen funktionieren kann. Mehr will ich nicht sagen, auch weil ich es physisch gar nicht mehr kann. Ich hoffe aber, dass wir noch ein bisschen gut diskutieren können. Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese großartige Initiative. Ich habe gehört: Das ist eine, die funktioniert. Das soll dann so sein. Schönen Dank!
Grußwort des Bundeskanzlers Scholz beim Empfang der Karnevalisten am 18. Januar 2024 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/grusswort-des-bundeskanzlers-scholz-beim-empfang-der-karnevalisten-am-18-januar-2024-in-berlin-2254324
Thu, 18 Jan 2024 17:07:00 +0100
Berlin
BK Scholz: Einen schönen guten Tag! Ich freue mich, dass Sie alle hier im Kanzleramt sind. Damit ist viel Vorfreude auf das, was noch kommt, verbunden, nicht im Kanzleramt, sondern bei den eigentlichen Ereignissen. Ich glaube, dass das eine ganz tolle Volkstradition ist, die es in Deutschland gibt, regional unterschiedlich verteilt. Sie wissen, dass ich den größten Teil meines Lebens in Hamburg verbracht habe. Dort gibt es diese Tradition auch, aber anders. Insofern ist es für mich schon etwas ganz Besonderes, das zu sehen. Allerdings glaube ich, dass sich überall in Deutschland und auch hier in Berlin die Politik viel Mühe gibt, erheiternde Begebenheiten für den Austausch bei den Gelegenheiten zu ermöglichen. Insofern sind wir alle miteinander verbunden. Der Spruch ist ja bekannt: Jede Jeck is anders. Ich denke, das ist etwas zutiefst Menschliches, weil es unser Miteinander beschwört und die Tatsache, dass wir in unserer ganzen Unterschiedlichkeit, was unsere Lebensverhältnisse, was unsere Einstellungen, Haltungen und Hoffnungen betrifft, aber auch das, was wir beruflich machen, trotzdem alle gemeinsam Jecken sind und uns auch anerkennen. Das ist ein sehr schöner, humaner Zug am Leben. Der Spaß gehört sowieso dazu. Deshalb noch einmal: Herzlich willkommen! Ich freue mich, dass Sie alle da sind.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der feierlichen Inbetriebnahme des neuen Instandhaltungswerks der Deutschen Bahn am 11. Januar 2024 in Cottbus
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-feierlichen-inbetriebnahme-des-neuen-instandhaltungswerks-der-deutschen-bahn-am-11-januar-2024-in-cottbus-2252652
Thu, 11 Jan 2024 00:00:00 +0100
Cottbus
Sehr geehrter Herr Lutz, sehr geehrte Frau Gerd tom Markotten, lieber Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland, lieber Carsten, sehr geehrter Ministerpräsident, lieber Dietmar, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Tobias, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will gerne sagen, dass ich ganz berührt bin, was in kurzer Zeit gelingen kann; denn ich erinnere mich noch ziemlich genau an die Gespräche, die ich, als ich noch Finanzminister war, mit Dietmar Woidke über die Frage geführt habe, ob wir das irgendwie hinkriegen und ob es bei all den Debatten über die Zukunft der Kohleregion in Deutschland auch möglich ist, eine solche industrielle Investition auch tatsächlich zustande zu bringen. Ich will hier gar nicht in die Details gehen und alles ausplaudern, was vielleicht irgendwann einmal in einer Biografie des langjährigen Ministerpräsidenten Woidke irgendwo in 15 Jahren geschrieben wird, sondern ich will sagen: Es ist so, dass eigentlich nicht so viele dafür waren. Man musste etwas dafür machen. Dass wir uns untergehakt haben und dass wir auch die Bahn auf unserer Seite hatten, das war die Grundlage dafür, dass das gegen alle Bedenkenträger gelungen ist. Deshalb möchte ich mich bei denen, die schon damals mitgeholfen haben, ganz herzlich für diese Leistung bedanken. Ein ICE besteht aus vielen tausend Einzelteilen. Damit er fährt, müssen alle diese einzelnen Teile an der richtigen Stelle und einsatzbereit sein. Auch diese Halle besteht aus vielen tausend Einzelteilen. Sie sind jetzt alle an der richtigen Stelle und einsatzbereit, und das Sie haben es gerade erwähnt, Herr Lutz sogar noch vor dem ursprünglichen Zeitplan. Es ist ja noch keine zwei Jahre her, dass ich zum Spatenstich hier war. Da standen wir hier unter freiem Himmel und da war dieses neue Werk noch ein kühner Plan. Es ist ja kein Geheimnis, dass gerade große Bauprojekte in Deutschland oft zu lange dauern, nach dem Motto: bloß kein Risiko, dafür lieber noch ein paar Gutachten mehr. Aber damit kommen wir nicht weit und auch nicht weiter. Ich finde, dass es gerade in diesen Zeiten sehr wichtig ist, sich klarzumachen, dass es etwas Besonderes ist, wenn hier in kürzester Zeit ein anspruchsvoller Bau hochgezogen wird. Alle sind rechtzeitig fertig geworden. Das ist es, was ich meine, wenn ich ich bleibe einmal bei dem Begriff vom Deutschlandtempo spreche. Aber vor allem, will ich sagen, ist es ja gut, wenn es dort einen kleinen Wettbewerb gibt, wer nun am schnellsten ist: diejenigen, die die LNG-Terminals bauen, diejenigen, die neue Strecken errichten, diejenigen, die hier ein ICE-Ausbesserungswerk errichten oder diejenigen, die überhaupt in dem eigenen Bundesland viel Tempo machen? Ich finde, das, was der Ministerpräsident hier gesagt hat, muss unterstrichen werden: Dass das Wirtschaftswachstum in Brandenburg im ersten Halbjahr 2023 so groß ausgefallen ist, ist nicht von alleine entstanden, sondern da haben welche was gemacht auch diejenigen, die politische Verantwortung haben. Danke dafür! Auch für die Verantwortlichen vor Ort, lieber Herr Oberbürgermeister, gilt das ja; denn die Vorschriften sind ja immer alle die gleichen. Egal, wo in Deutschland man so etwas macht: Die Vorschriften sind wirklich die gleichen. Aber ob man damit dann so umgeht, dass man ganz gemächlich eins nach dem anderen macht, oder ob man das so macht, dass man versucht, die Dinge schnell und zügig zu lösen: Das macht den Unterschied und das ist hier geschehen. Die Bahn hat sich dabei mutig auf etwas Neues eingelassen. Das Partnerschaftsmodell Schiene ist schon angesprochen worden, und ich bin ganz beeindruckt davon, dass das funktioniert. Wenn man sich das von den Experten erklären lässt, hat man den Eindruck, das müsste eigentlich schon seit 50 Jahren so gemacht werden so ganz besonders klingt das ja nicht. Aber die Wahrheit ist eben doch: Manches ist ganz besonders, wenn man es dann eben endlich so macht, wie es immer schon hätte sein sollen. Deshalb ist es auch beeindruckend, dass das hier gleich seinen Erfolg gezeigt hat. Ich finde, das ist etwas, was wir festhalten sollten. Das Neue Werk Cottbus setzt dabei Maßstäbe für große Vorhaben überall in Deutschland. Ich sage deshalb auch großen Dank, denn wir brauchen ja mehr davon. Es ist aber nicht nur das Partnerschaftsmodell Schiene, das dieses Projekt so innovativ macht, sondern auch der Beton, aus dem die Halle gebaut ist. Ich möchte das gerne einmal hervorheben, weil ja manch einer meint, in Deutschland gäbe es zu wenige gute Ideen oder die Hürden lägen zu hoch, wenn man solche Ideen umsetzen möchte: Ein Start-up aus Cottbus hat herausgefunden, wie man Fertigteile für eine Halle wie diese mit weniger Zement herstellt, die aber trotzdem genauso haltbar sind. Weniger Zement heißt auch weniger CO2. Es ist also eine Innovation aus der Lausitz, die eine Antwort auf eine der großen Fragen unserer Zeit gibt: Wie schaffen wir es, weiter mit Beton zu bauen, aber mit weniger Emissionen? Das ist ja nicht nur wichtig für Großprojekte wie diese Halle, sondern auch für die vielen Häuser und Wohnungen, die wir in den kommenden Jahren brauchen, für die ganze Infrastruktur, die wir erneuern müssen. Es ist wichtig, dass wir zeigen, dass industrieller Wohlstand, dass unser Wohlstand überhaupt auch in Zukunft weiter möglich sein wird, aber mit weniger CO2-Emissionen. Der neue Beton, der hier in Cottbus ersonnen wurde, zeigt noch etwas, nämlich dass die Transformation zur Klimaneutralität nicht nur gut ist für unsere Umwelt und das Klima, sondern eben auch für Chancen und Arbeitsplätze. Lieber Dietmar, Brandenburg zeigt seit Jahren, wie es geht. Ich habe es schon gesagt: Es gibt hier ein großes Tempo und ein großes Wachstum. Hier entstehen Arbeitsplätze, die gute Jobs mit sich bringen. Die Tesla Gigafactory hat gezeigt, was Wachstum und Beschleunigung hier verursachen können, aber das ist eben nicht das einzige Beispiel. Ich habe in den letzten Jahren viele Betriebe gesehen, bei denen man merken konnte: Hier ist etwas Besonderes los. Deshalb möchte ich an dieser Stelle noch etwas erwähnen, worauf einige und auch ich selbst schon rekurriert haben: Brandenburg hatte im ersten Halbjahr 2023 das mit Abstand größte Wirtschaftswachstum im Vergleich aller Länder. Das hat fast chinesische Dimensionen und insofern soll es einmal erwähnt werden. Die Kooperation zwischen der Deutschen Bahn und der LEAG für das Neue Werk ist ein weiteres Paradebeispiel dafür, wie es geht. Die Deutsche Bahn ist auch deshalb hierher nach Cottbus gekommen, weil sie hier auf die Erfahrung und auf die Qualifikation der Brandenburgerinnen und Brandenburger zurückgreifen kann und will. Das ist doch auch der riesengroße Unterschied zwischen dem, was wir heute hier erleben, und dem, was hier vor 20, 30 Jahren unter dem Begriff Strukturwandel stattgefunden hat. Ich war seinerzeit als Anwalt für Arbeitsrecht viel in den damals noch neuen Bundesländern unterwegs. Ich habe Frauen und Männer beraten und vertreten, deren Betriebe abgewickelt wurden, wie es da so lapidar hieß. Heute wissen wir: Damals ist uns unglaublich viel Wissen und unglaublich viel Erfahrung verloren gegangen. Das darf und das wird es nicht wieder geben. In Deutschland haben so viele Frauen und Männer einen Arbeitsplatz wie niemals zuvor. Deutschland hat die höchste Beschäftigungszahl in der Geschichte des Landes. Das ist etwas sehr Bemerkenswertes, gerade in diesen Zeiten. Wenn Städte wie Cottbus heute ein Problem haben, dann ist es sicher nicht mehr der Arbeitsmangel, sondern der Arbeitskräftemangel. Wir brauchen gut ausgebildete Fachkräfte, und zwar viele. Die gibt es in Deutschland, aber viele wohnen auch woanders. Cottbus und die Lausitz haben Vorteile wie günstige Wohnungen, gute Kinderbetreuung, die unberührte Natur direkt vor der Haustür. Wenn gut bezahlte und sichere Arbeitsplätze dazukommen, sind das überzeugende Argumente für die Region. Wir brauchen auch Arbeitskräfte von anderswo ich habe es schon gesagt , die wir mit offenen Armen empfangen. Wer mit anpackt, ist willkommen ob schon immer hier oder zugezogen. Denn mit der Wirtschaft muss es aufwärts gehen, und das gelingt nur, wenn Arbeitskräfte bei uns sind. Wir sind ein weltoffenes Land, das einen festen Platz hat im geeinten Europa. Meine Damen und Herren, wir stehen hier wohl im modernsten Bahnwerk Europas, in der längsten Wartungshalle mit perspektivisch 1200 Arbeitsplätzen für Mechatroniker, Elektrikerinnen, Maschinenbauer. Ich will an dieser Stelle gerne sagen: Das freut mich besonders, denn wenn über Strukturwandel in Regionen geredet wird, wenn darüber geredet wird, dass neue Arbeitsplätze geschaffen werden, dann hat schon der eine oder die andere die Sorge, es ginge da um Forschungsinstitute. Um die geht es immer auch, aber es geht eben auch um Arbeitsplätze wie die, die schon da sind, sodass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an anderer Stelle ihre Fähigkeiten, die sie erworben haben, nutzen können. Deshalb ist dieses Werk für mich eines der bewegendsten Zeugnisse einer gelungenen Veränderung in einer Region, weil man sagen kann: Genau das, was die tollen Frauen und Männer, die bisher in der Region gearbeitet haben, können, das wird auch in Zukunft gebraucht. Das sind nicht allein ihre Kinder und Enkel die auch , sondern das sind sie selber mit so einer Arbeit, wie sie sie bisher gemacht haben, und auch das ist ja mindestens so wichtig mit sicherer und gut bezahlter Arbeit. Für all das steht dieses Werk. Das zeigt: Der Trend dreht sich, und er hat sich hier in Cottbus und an vielen anderen Orten in Ostdeutschland schon gedreht. Es sind ja nicht nur diese riesigen Hallen der Bahn, die schon entstanden sind und noch gebaut werden; vielmehr setzt das Bahnwerk Impulse für das ganze Umfeld. Hier entstehen Ausbildungsplätze, die Stadt erwartet, dass noch mehr Fachkräfte zuziehen, und nach Jahrzehnten der Abwanderung geht es jetzt darum, wo man neue zusätzliche Wohnmöglichkeiten schaffen kann. Ein Projekt nach dem anderen geht in der Region an den Start. In den nächsten Jahren entsteht der Lausitz Science Park, in dem Forschungsinstitute von DLR, Fraunhofer, Leibniz und Helmholtz eigene Standorte aufbauen. 10 000 Beschäftigte können hier eines Tages arbeiten. Es kommt die erste Uniklinik nach Brandenburg auch darüber haben Dietmar Woidke und ich uns viel unterhalten und dafür gesorgt, dass gegen viele, viele Widerstände dieses Projekt etwas werden kann. Im ehemaligen Braunkohletagebau Cottbus Nord soll der Cottbusser Ostsee entstehen, der größte künstliche Binnensee in Brandenburg. Und der ICE kommt nicht nur aus der Lausitz, sondern er fährt in Zukunft auch in die Lausitz das ist unser gemeinsames Projekt, Herr Lutz. Allerdings ist Zugfahren im Augenblick ja ein spannendes Abenteuer. Viele Grüße an diejenigen, die jetzt hier streiken! Ich hoffe, dass es da bald zu einer Verständigung kommt, sodass wir uns auf die Bahn verlassen können. Es geht also von Cottbus ein Signal der Zuversicht aus, das weit über die Stadt hinaus strahlt, zumal gerade die Bahn für den Transport in Zukunft eine viel größere Rolle spielen wird. Dafür brauchen wir eine Bahn, die ihre Fahrkäste schnell und zuverlässig transportiert. Wir brauchen eine Bahn, die als Arbeitgeber attraktiv ist und die technisch einwandfrei funktioniert. Wir alle wissen über Pünktlichkeit und Bahn wird ja auch viel diskutiert , dass das heute noch nicht so ist. Zu lange wurde die Infrastruktur der Bahn auf Verschleiß gefahren. Deshalb halten wir an unseren Plänen fest, die Schienen und Gleise, die Signalanlagen und alles, was dazugehört, nun Schritt für Schritt zu erneuern. Dafür stärken wir die Deutsche Bahn mit Eigenkapitalerhöhungen von 20 Milliarden Euro bis 2029 eine gigantische Summe, aber wer weiß, was alles investiert werden muss, damit wir auf den Stand kommen, den wir für unser großes Industrieland richtig finden. Man wird sehen: Das ist auch dringend notwendig. Wir hoffen natürlich, dass wir mit diesem Eigenkapital noch viel mehr Mittel mobilisieren, die dann investiert werden können und den Betrieb der Bahn für die Zukunft sichern. Klar, Bauarbeiten führen erst einmal zu Beeinträchtigungen. Das ist auf jeder Baustelle so. Da müssen auch einmal Strecken gesperrt werden. Aber das machen wir jetzt; denn eins kann ja nicht sein, nämlich dass wir die Sache immer vor uns herschieben. Wir müssen jetzt viel mehr anpacken. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Weichen für die Zukunft gestellt werden da passt das Bild, das so oft benutzt wird, ausnahmsweise einmal. Denn bei diesem Werk kommt zusammen, was uns erfolgreich macht: Kooperation und Klimaschutz, Tempo und Transformation, Mut und Machen. Dann läuft’s. Meine Damen und Herren, wir leben ja in aufgeregten Zeiten. Ein bisschen haben wir das auch gehört, und es gehört auch zur Demokratie dazu, dass man sich seine Meinung sagt. Aber hier an dieser Stelle ist jetzt doch zu sehen, wie etwas richtig vorangeht. Sie können stolz sein auf das, was Sie geschafft haben. Herzlichen Glückwunsch dazu und viel Erfolg bei all dem, was hier noch geschafft werden wird! Ich freue mich jedenfalls, dass es jetzt losgeht. Glück auf und schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz beim Gemeindetag des Zentralrates der Juden in Deutschland am 16. Dezember 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-gemeindetag-des-zentralrates-der-juden-in-deutschland-am-16-dezember-2023-in-berlin-2249916
Sat, 16 Dec 2023 20:12:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Dr. Schuster, meine Damen und Herren, ich bin froh, heute bei Ihnen zu sein. Das ist heute mein erster Gemeindetag als Bundeskanzler, aber nicht der erste Gemeindetag in meinem Leben. Im Jahr 2012 fand der Gemeindetag in meiner Heimatstadt Hamburg statt. Als Erster Bürgermeister durfte ich seinerzeit daran teilnehmen. Dieter Graumann wünschte sich den Gemeindetag in seiner Rede damals als ein Fest der Vielfalt des Judentums in Deutschland. Ich glaube, sein Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Für welche Vielfalt der Gemeindetag elf Jahre später steht, wird mit einem Blick in das über hundertseitige Programmheft dieser vier Tage ganz klar: Politik und Gesellschaft, Religion und Gemeinschaft, Soziales und Nachhaltigkeit, Kultur und Erinnern, Gegenwart und Zukunft. Ein beeindruckendes Fest der Vielfalt, ein Fest der Gemeinschaft, ein Fest des Zusammenlebens. Was ich mir darüber hinaus als Botschaft dieses Gemeindetags wünsche, das habe ich als Hamburger Bürgermeister 2012 formuliert, und das empfinde ich als Bundeskanzler 2023 genauso tief und in diesen Tagen noch dringender: Dieser Gemeindetag muss für unser ganzes Land ein Fest der Selbstverständlichkeit des jüdischen Deutschlands sein. Genauso selbstverständlich, genauso alltäglich, letztlich genauso unspektakulär wie das Deutschland jedes anderen Glaubens und auch Nichtglaubens. In diesen Tagen mag das wie ein frommer Wunsch erscheinen, weit ab von der Realität. Wir alle haben den Schrecken des 7. Oktobers vor Augen. Auch meine Gedanken sind heute Abend bei all denen, deren Angehörige und Freunde von den Terroristen der Hamas ermordet worden sind, und bei den unzähligen Familien, die weiter um ihre Liebsten bangen. Aber ich weigere ich mich, den Wunsch nach selbstverständlichem Zusammenleben, diesen Anspruch an unser Land, aufzugeben. Gerade jetzt! Diesen Anspruch einzulösen, das beginnt mit Sichtbarkeit. Vergangene Woche hatte ich die Freude und die Ehre, das erste Licht des Chanukkaleuchters am Brandenburger Tor zu entzünden. Der Leuchter war sehr hoch, sodass man mit einer Hebebühne zu den Kerzen hinaufgefahren werden musste. Sie haben die Aufnahmen möglichweise gesehen. Den Teil mit der Hebebühne hatte ich in der Vorbereitung des Termins anscheinend überlesen. So stand ich etwas unerwartet plötzlich mehr als zehn Meter hoch über dem Pariser Platz. Von dort oben auf der Höhe der Kerzen blickt man weit über den Pariser Platz hinaus. Auch das Licht der Kerze war weithin sichtbar. In dem Moment erschien es mir nicht als ein frommer Wunsch, sondern fast als eine Notwendigkeit zu sagen: Dieses Licht gehört genau hierhin, an den prominentesten Platz unseres Landes, ins Herz der deutschen Hauptstadt, in unsere Mitte als ein Zeichen von Hoffnung und Zuversicht in schwerer Zeit, aber auch als ein deutliches, unmissverständliches Zeichen jüdischer Selbstverständlichkeit. Der Selbstverständlichkeit, dass Chanukka zu Deutschland gehört genauso wie Weihnachten und das Zuckerfest, dass Synagogen zu Deutschland gehören wie Kirchen und Moscheen und dass wir in diesem Land untrennbar zusammengehören. Einige, zu viele in unserem Land, wollen das nicht verstehen oder, schlimmer noch, nicht akzeptieren. Die Bilder feiernder Zustimmung, die Bilder öffentlicher Terrorunterstützung die wir nach den schrecklichen Verbrechen der Hamas am 7. Oktober in Deutschland gesehen haben, sind alarmierend, und sie sind beschämend. Ich habe es am 9. November in der Beth-Zion-Synagoge hier in Berlin gesagt und möchte es hier nochmal bekräftigen: Unser Rechtsstaat nimmt das nicht hin. Wir schützen die jüdischen Gemeinden. Wir bekämpfen in Deutschland jede Form von Antisemitismus, Terrorpropaganda und Menschenfeindlichkeit. Wir verfolgen mit den Mitteln des Strafrechts diejenigen, die Terrorismus unterstützen und antisemitisch hetzen. Wir regeln mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht ganz klar, dass Antisemitismus einer Einbürgerung entgegensteht. Meine Damen und Herren, ich will hier aber auch deutlich sagen: Für die Selbstverständlichkeit, die ich mir und uns allen wünsche, für die Selbstverständlichkeit, die aus dem Motto dieses Gemeindetages „Zusammen leben“ spricht, brauchen wir mehr als das Strafrecht, die Polizei und die Justiz, weit mehr. Zusammen zu leben ist mehr als nebeneinanderher zu leben. Zusammen zu leben heißt, zuzuhören, hinzusehen und Hilfe anzubieten, wenn jemand Sorgen hat. Jede und jeder in diesem Land verdient in schweren Zeiten Solidarität und Mitgefühl, ohne Einschränkung, ohne Relativierung, ohne Ja-aber. Das ist es, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Deshalb bekümmert es mich, wenn Igor Levit und viele andere fragen, warum Jüdinnen und Juden ihre eigenen Solidaritätskonzerte und ihre eigenen Solidaritätskundgebungen organisieren müssen, und wenn sie fragen, wo die Anteilnahme bleibt, wo die Frage bleibt: Wie geht es Dir? Deshalb bekümmert es mich zutiefst, wenn Sie, Herr Schuster, davon sprechen, dass es für jüdische Bürgerinnen und Bürger in den vergangenen Wochen zunehmend schwer geworden sei, sich in unserem Land zugehörig zu fühlen. Eine solche Entwicklung können wir nicht hinnehmen. Wir müssen uns ihr entgegenstemmen. Dem Mangel an Empathie gegenüber Jüdinnen und Juden in Deutschland, aber natürlich auch gegenüber Jüdinnen und Juden in Israel müssen wir entgegentreten. Wie also können wir Empathie wecken? Wie können wir Interesse an der Breite und Vielfalt des Judentums wecken? Ein Schlüssel ist und bleibt Bildung. Dabei geht es zuallererst um die Erinnerung an das von Deutschen begangene Menschheitsverbrechen der Shoah. Die Erinnerung daran muss ganz zentral in den Bildungseinrichtungen unseres Landes wachgehalten werden. Dieser Auftrag wird in Zukunft ohne Zeitzeugen nur noch dringender. Neben der Vermittlung von Fakten geht es um die Vermittlung der Verantwortung, die sich aus unserer Geschichte ergibt, einer Verantwortung, die jede und jeder, der in unserem Land lebt, als eigene wahrnehmen muss, unabhängig von der eigenen Herkunft und dem sozialen oder kulturellen Hintergrund. Zu dem angesprochenen Bildungsauftrag gehört auch die Vermittlung von Wissen über die Geschichte und Gegenwart des Staates Israel und des Nahostkonflikts sowie über die verschiedenen Ausprägungen von Antisemitismus. Ich bin deshalb froh darüber, dass die Kultusministerkonferenz in der vergangenen Woche beschlossen hat, das noch stärker im Unterricht zu verankern. Unwissenheit und Uninformiertheit verstärken Vorurteile. Wir sehen, wie sehr diese Gefahr durch die Nutzung sozialer Netzwerke noch zugenommen hat. Umso wichtiger ist es, dass wir Antisemitismus als solchen benennen, egal ob er politisch motiviert ist oder religiös, ob er von links kommt oder von rechts, ob er sich als Kunst tarnt oder als wissenschaftlicher Diskurs, ob er in Schulen oder Universitäten zu hören ist. Schließlich muss es zu diesem Bildungsauftrag ‑ ich möchte sagen: zu unser aller Bildungsanspruch ‑ gehören, mehr über das Leben der jüdischen Gemeinden in unserem Land zu wissen. Wir sind Bürgerinnen und Bürger desselben Landes. Wir sind Nachbarinnen und Nachbarn, Arbeitskolleginnen und ‑kollegen. Es gehört doch zur Herzensbildung, Anteil zu nehmen, wenn unsere Nachbarinnen und Nachbarn, Arbeitskolleginnen und ‑kollegen trauern und Angst haben. Es gehört auch dazu, sichtbar zu sein. Diese Herzensbildung zu vermitteln, das ist es, was die große Margot Friedländer tut, wenn sie unermüdlich mit Jugendlichen, mit Schülerinnen und Schülern spricht. Diese Herzensbildung zu vermitteln, das ist es auch, was die Freiwilligen des Programms Meet a Jew tun, mit denen ich mich gerade eben getroffen habe. Ich bin ihnen sehr dankbar dafür. Das war ein sehr interessantes und sehr wärmendes Gespräch. Ich habe dabei noch viel gelernt. Gleichzeitig kann das nicht die Aufgabe Einzelner sein. Wir alle haben die Aufgabe, uns jeden einzelnen Tag richtig zu entscheiden: für Empathie, für Solidarität, für ein offenes Ohr und ein offenes Herz. Das ist die Basis unserer offenen Gesellschaft, unseres Zusammenlebens. Das ist die Selbstverständlichkeit, von der ich zu Beginn gesprochen habe, die Selbstverständlichkeit des jüdischen genauso wie des christlichen oder muslimischen, des religiösen oder nichtreligiösen, des vielfältigen, freien Deutschlands. Dieses Deutschland verteidigen wir. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch anfügen: In dieser Zeit bedeutet, dieses Deutschland zu verteidigen, auch, dass wir an der Seite Israels stehen. Deutschland steht an der Seite Israels mit ganz konkreter Hilfe, mit politischen Gesprächen, in denen wir über das, was zu tun ist, diskutieren, aber selbstverständlich auch immer wieder, wenn in der öffentlichen Debatte das Recht Israels, sich selbst zu verteidigen, infrage gestellt wird. Das werden wir nicht zulassen. Alle können sich auf Deutschland verlassen. Ich wünsche uns noch einen schönen Abend. Haben Sie herzlichen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz beim Chanukkalichtentzünden am 7. Dezember 2023 am Brandenburger Tor
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-chanukkalichtentzuenden-am-7-dezember-2023-am-brandenburger-tor-2247968
Thu, 07 Dec 2023 00:00:00 +0100
Berlin
Sehr verehrter Herr Rabbiner Teichtal, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, liebe Na’ama und liebe Ofir Weinberg, sehr verehrte Damen und Herren, ich freue mich, heute am Chanukkafest teilhaben zu können. Gleich werden wir gemeinsam die erste Kerze des Chanukkaleuchters entzünden. Damit bringen wir Licht in diesen winterlichen Tag hier am Brandenburger Tor. Ich wünsche mir, dass das Licht dieses Leuchters weit über diesen Platz hinausstrahlt– noch länger als die acht Tage des Chanukkafestes. Chanukka steht für Hoffnung und Zuversicht. Beides brauchen wir in diesen Tagen ganz besonders. Der Terrorangriff der Hamas auf Israel hat uns alle tief erschüttert. Er richtet sich gegen den einzigen jüdischen Staat und seine Bewohnerinnen und Bewohner. Er richtet sich aber zugleich gegen die Menschlichkeit selbst. Deshalb versucht die Hamas, ihre Opfer zu entwürdigen, zu dehumanisieren. Daran gibt es nichts zu rechtfertigen und zu relativieren. Diesem Terror muss jede und jeder von uns klar entgegentreten. Unser tiefes Mitgefühl gilt allen, die am 7. Oktober und in der Zeit danach Freunde und Familienangehörige verloren haben. Wir trauern mit ihnen um die Opfer, und unsere Gedanken sind bei denen, die um ihre Liebsten bangen. Weit mehr als 100 Personen sind als Geiseln immer noch in der Gewalt der Terroristen. Auch sie müssen unverzüglich freigelassen werden. Wir arbeiten weiter mit ganzer Kraft und auf allen diplomatischen Kanälen daran, dass das bald möglich wird. Zugleich schützen wir die jüdischen Gemeinden hier in Deutschland. Dass dies nach den Terrorangriffen der Hamas und den Reaktionen darauf nötig ist, ist traurig und erschreckend zugleich. Wir nehmen es nicht hin, wenn jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger Angst haben müssen, offen ihre Religion, ihre Kultur, ihren Alltag zu leben, wenn sie ihr grundlegendes Recht wahrnehmen, sichtbar zu sein, ein Recht, das alle Menschen in unserer Gesellschaft haben, ohne Unterschied. Polizei und Justiz gehen deswegen konsequent gegen jede Form von Antisemitismus, Terrorpropaganda und Menschenfeindlichkeit in Deutschland vor. Doch das allein reicht nicht. Ich bin froh, dass auch viele Bürgerinnen und Bürger die jüdische Gemeinschaft mit Worten und Taten unterstützen. Mitgefühl und Solidarität mit unseren jüdischen Nachbarn, Freunden, Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen zu zeigen, das ist in diesen Tagen besonders wichtig. So kann jede und jeder von uns den Worten „Nie wieder“ Kraft verleihen. Auch deswegen bin ich heute hier und sehr gern hierhergekommen, Herr Rabbiner Teichtal. Dieser Chanukkaleuchter gehört genau hierher. Vor das Brandenburger Tor. Ins Herz unserer Hauptstadt. Als Symbol der Hoffnung und der Zuversicht und als Symbol der untrennbaren Zugehörigkeit jüdischen Glaubens, jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger zu diesem, unserem Land! Ich wünsche Ihnen, Ihren Familien und Freunden und allen jüdischen Gemeinden in Deutschland und weltweit ein frohes und kraftspendendes Chanukkafest. Chanukka sameach!
Rede von Bundeskanzler Scholz beim deutsch-brasilianischen Wirtschaftsforum am 4. Dezember 2023 in Berlin
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Mon, 04 Dec 2023 00:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Lula, sehr geehrter Herr Minister Haddad, sehr geehrter Herr Minister Habeck, lieber Robert, sehr geehrter Herr Kramer, meine Damen und Herren, kurz nach deiner erneuten Wahl zum Präsidenten, lieber Lula, hast du auf Twitter das nennt sich jetzt X zwei deiner Lieblingsbücher empfohlen. Darunter war ein Buch der brasilianischen Schriftstellerin Ana Maria Gonçalves. Darin steht der schöne und, wie ich finde, sehr wahre Satz ich werde jetzt gar nicht erst versuchen, ihn im Original widerzugeben : Er sagte, dass diejenigen, die Freunde haben, verdientermaßen auch alles andere haben. Lieber Präsident Lula, ich freue mich, dich hier in Deutschland als Freund begrüßen zu können. Unsere Regierungskonsultationen heute haben gezeigt, dass unsere Freundschaft ein starkes Fundament auch für die Zukunft ist. Wir wollen mehr internationale Zusammenarbeit und mehr Handel, um unsere globale Wirtschaft zu stärken. Wir wollen, dass internationales Recht eingehalten wird, und zwar von allen Staaten. Zugleich machen wir uns für eine inklusive, multilaterale Ordnung, für die Bekämpfung von Armut und für funktionierenden Klimaschutz stark. Deshalb bin ich froh darüber, dass du seit dem 1. Dezember die G20-Präsidentschaft innehast und dass Brasilien 2025 die Weltklimakonferenz ausrichten wird. Du kannst dich dabei auf Deutschlands volle Unterstützung verlassen. Deutschland und Brasilien sind Wirtschaftspartner. Ebenso wichtig aber ist, dass wir zugleich auch Wertepartner sind. Wir sind starke, lebendige Demokratien und blicken ähnlich auf die großen Veränderungen, die wir weltweit erleben. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat die Globalisierung rund eine Milliarde Frauen, Männer und Kinder vor allem in Asien, Afrika und natürlich auch in Lateinamerika und der Karibik aus der Armut geführt. Das ist ein enormer Erfolg. Diese Regionen wachsen wirtschaftlich und demografisch. Neue Industrien entstehen. Die Nachfrage nach Rohstoffen und Konsumgütern steigt. Um es klar zu sagen: Darin sehe ich keine Bedrohung. Die Frauen und Männer in diesen aufstrebenden Ländern und Regionen haben denselben Anspruch und dasselbe Recht auf Wohlstand wie die Bürgerinnen und Bürger Europas und Nordamerikas. Zugleich wissen wir alle: Wenn sich Wachstum weiterhin auf fossile Energieträger stützt, dann hält unser Planet das nicht aus. Deshalb ist doch ganz klar, worin die gemeinsame Aufgabe besteht, die vor uns liegt. Es geht darum, gute Arbeitsplätze für die Zukunft zu sichern und Wirtschaftswachstum zu ermöglichen, ohne dadurch unseren Planeten zu zerstören. Dafür braucht es saubere Technologien, wie sie die deutsche Wirtschaft bietet. Dafür braucht es zugleich in großem Umfang privates Kapital. Deshalb freue ich mich darüber, dass heute so viele brasilianische und deutsche Unternehmerinnen und Unternehmer hier sind. Wir alle spüren die Aufbruchstimmung in Brasilien. Wir alle spüren den Willen deiner Regierung, etwas zu bewegen, und zwar mit dem gebührenden Respekt gegenüber allen, die hart arbeiten, und mit dem nötigen Engagement für eine starke Demokratie. Am Wochenende haben wir bei der COP in Dubai Bilanz gezogen, wie weit wir bei den Pariser Klimazielen gekommen sind. Klar ist: Wir müssen uns beeilen, um das 1,5-Grad-Ziel noch zu erreichen. Da ist die Wissenschaft ziemlich klar. Wir wollen daher zum einen den Ausbau erneuerbarer Energien weltweit verdreifachen und zum anderen die Energieeffizienz verdoppeln, beides bis 2030. Darin liegt auch eine Chance für unsere Zusammenarbeit. Unter den großen Volkswirtschaften der Welt ist Brasilien seit Anfang des Jahres diejenige mit dem höchsten Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung. Das ging zuletzt vor allem auf einen massiven Ausbau von Solar- und Windenergie zurück. In Deutschland ist der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromproduktion in den vergangenen zwei Jahren von gut 40 Prozent auf rund 60 Prozent gewachsen. Schon heute ist Brasilien unser mit Abstand wichtigster Wirtschaftspartner und der bedeutendste Investitionsstandort auf dem Kontinent. Mehr als 1000 deutsche Unternehmen sind in Brasilien engagiert. Sie erwirtschaften etwa zehn Prozent des industriellen Bruttoinlandsprodukts und sichern 250 000 Arbeitsplätze in Brasilien. Deutschland wiederum ist Brasiliens wichtigster Handelspartner in der Europäischen Union. Unsere Auslandshandelskammern in São Paulo und in Rio de Janeiro zählen zu den größten und ältesten weltweit. Ich möchte, dass wir dieses enorme Potenzial noch weiter ausschöpfen. Deshalb sind wir heute hier. Deshalb war es mir wichtig, sofort nach deiner Amtseinführung Anfang des Jahres nach Brasilien zu reisen und an unsere traditionell hervorragenden Beziehungen anzuknüpfen. Deshalb haben wir heute eine Partnerschaft für eine sozial gerechte und ökologische Transformation vereinbart. Meine Damen und Herren, für viele Ihrer Unternehmen und für unsere Bürgerinnen und Bürger ist eine sichere, bezahlbare Energie- und Rohstoffversorgung unerlässlich. Nachdem Russland die Ukraine angegriffen hat, haben wir unsere Lieferketten und unsere Energieversorgung hier in Deutschland auf eine breitere Basis gestellt. Klar ist: Auch in Zukunft werden wir Energie aus anderen Ländern importieren schon, weil wir für die Elektrifizierung großer Teile unserer Industrie und des Verkehrs mehr Strom als heute brauchen. Hinzu kommt die Versorgung mit Wasserstoff, über die wir vor wenigen Wochen eine Einigung mit den Netzbetreibern erzielt haben. Unser Ziel ist, dass ein Wasserstoff-Kernnetz bis 2032 alle industriellen Zentren unseres Landes mit den Häfen und Kraftwerken verbindet. Dabei setzen wir auf zuverlässige Partner wie Brasilien. Brasilien hat dafür beste Voraussetzungen. Ich habe Brasiliens Potenzial für erneuerbare Energien gerade schon erwähnt. Gleiches gilt für unsere Zusammenarbeit bei anderen Rohstoffen, und auch hier haben wir ein gemeinsames Ziel: die faire Aufteilung der Wertschöpfung. Deutschland tritt dafür ein, dass mehr Wertschöpfung in der Rohstoffverarbeitung in den Ländern erfolgen sollte, in denen die Rohstoffe abgebaut werden. Kooperation und nachhaltige Nutzung statt Extraktivismus, so lautet unser Angebot. Deutsche Unternehmen haben hier viel anzubieten: innovative Technik und nachhaltige und hocheffiziente Lösungen, ob bei der Industrie 4.0, im Maschinenbau, im Verkehr oder bei der Digitalisierung. Ich sage Ihnen, liebe brasilianische Freunde: Nutzen Sie dieses Know-how und dieses Potenzial! Als Bundesregierung wollen wir das flankieren. Wir stellen Exportkredit- und Investitionsgarantien für Projekte bereit zu günstigeren Bedingungen als bisher. Auch davon profitiert die deutsch-brasilianische Zusammenarbeit. Natürlich wollen wir auch den ganz großen Hebel nutzen, den wir als Regierungen haben, um die Wirtschaftsbeziehungen zwischen uns zu vertiefen. Sie wissen schon, worauf ich hinauswill. Viel zu lange schon diskutieren wir über das Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem MERCOSUR oder MERCOSUL, wie man bei Ihnen in Brasilien sagt. Die Einigung im Jahr 2019 war ein erster Schritt. Jetzt geht es darum, das Abkommen über die Ziellinie zu bringen, und deshalb werbe ich für Pragmatismus auch auf Seiten der EU und diese Metapher werden unsere brasilianischen Gäste bestimmt verstehen um Zug zum Tor. Es lohnt sich. Denn zusammen werden wir eine der größten Freihandelszonen der Welt bilden mit rund 780 Millionen Einwohnern. So setzen wir ein deutliches Zeichen für offene Märkte, faire Standards, gute Arbeitsplätze und regelgebundenen Handel. Gerade in Zeiten eines weltweit erstarkenden Protektionismus wäre dieses Signal kaum zu überschätzen. Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Lula, meine Damen und Herren, wir haben alles, was es für eine noch viel engere Partnerschaft zwischen unseren beiden Ländern braucht: den politischen Willen, Unternehmen, die eng miteinander verbunden sind, Volkswirtschaften, die sich ergänzen, geteilte Werte und einen gemeinsamen Blick auf die Welt. Womit wir das verdient haben? Ana Maria Gonçalves würde vermutlich sagen: mit unserer Freundschaft. Denn wer Freunde hat, wie Brasilien und Deutschland es sind, der verdient auch alles andere. Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der 28. Konferenz der Vereinten Nationen zum Klimawandel am 2. Dezember 2023 in Dubai
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-28-konferenz-der-vereinten-nationen-zum-klimawandel-am-2-dezember-2023-in-dubai-2247232
Sat, 02 Dec 2023 07:51:00 +0100
Dubai
Exzellenzen, meine Damen und Herren, erstmals seit dem Klimaabkommen von Paris ziehen wir hier in Dubai Bilanz. Wo also stehen wir als Weltgemeinschaft? Noch ist es möglich, dass wir die Emissionen in dieser Dekade so weit senken, dass wir das 1,5-Grad-Ziel einhalten. Aber die Wissenschaft sagt uns ganz klar: Wir müssen uns dafür sehr beeilen ‑ aller geopolitischen Spannungen zum Trotz. Denn der Klimawandel bleibt die große, weltumspannende Herausforderung unserer Zeit. Wir haben alle nötigen Mittel, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Die Technologien sind da: Windkraft, Photovoltaik, elektrische Antriebe, grüner Wasserstoff. 2022 sind so viele Gigawatt erneuerbare Energien ans Netz gegangen wie noch nie. 1,3 Billionen Dollar wurden weltweit in saubere Energien und Technologien investiert ‑ so viel Geld für den Klimaschutz wie noch nie. Die Nachfrage nach fossilen Energien hat sich verlangsamt. Der Höchststand ist in Sichtweite. Deutschland treibt diese Entwicklungen mit Nachdruck voran. Als erfolgreiches Industrieland wollen wir 2045 klimaneutral leben und arbeiten. In der Europäischen Union und in Deutschland haben wir deshalb für weniger Bürokratie und mehr Tempo beim Ausbau erneuerbarer Energien gesorgt. So haben wir den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung auf ein neues Rekordhoch gesteigert ‑ von 45 Prozent vor drei Jahren auf fast 60 Prozent heute. Und Deutschland nimmt weiter Fahrt auf. Aber auch weltweit wollen wir zu mehr Tempo beim Klimaschutz beitragen und die Energiewende zu einer globalen Erfolgsgeschichte machen. Wir müssen jetzt alle die feste Entschlossenheit an den Tag legen, aus den fossilen Energieträgern auszusteigen, zuallererst aus der Kohle. Dafür können wir bei dieser Klimakonferenz die Segel setzen. Drei konkrete Vorschläge möchte ich Ihnen dafür heute unterbreiten: Erstens: Machen wir den Ausbau erneuerbarer Energien zur energiepolitischen Priorität Nummer eins ‑ weltweit! Einigen wir uns hier in Dubai auf zwei verbindliche Ziele: zum einen auf die Verdreifachung des Ausbaus erneuerbarer Energien und zum anderen auf eine Verdoppelung der Energieeffizienz ‑ beides bis 2030! Solange wir noch auf Gas angewiesen sind, müssen wir es so klimafreundlich wie möglich erzeugen und transportieren. Methanemissionen der Energiewirtschaft können wir einfach und günstig reduzieren. Wir sollten dafür hier in Dubai den globalen Methan-Pledge als wichtigen Beitrag zur Senkung der Methan-Emissionen anerkennen. Mein zweiter Punkt betrifft unsere internationale Zusammenarbeit. Wir brauchen Formate, in denen wir gemeinsam Lösungen für die Herausforderungen der Transformation entwickeln ‑ konkret, pragmatisch, Schritt für Schritt. Mit 36 Staaten haben wir gestern den Klimaclub gegründet, um gemeinsam die globale Transformation des Industriesektors zu beschleunigen. Mein herzlicher Dank gilt Chile als Co-Vorsitz und auch allen anderen Staaten für ihr Engagement und die guten Ergebnisse, die wir schon jetzt erreicht haben. Wir bleiben da nicht stehen. Ein weiteres drängendes Thema ist die Reform der internationalen Finanzarchitektur. Dieses Jahr sind wir da zum Beispiel bei der Weltbank ein gutes Stück vorangekommen. Das muss weitergehen ‑ in enger international Zusammenarbeit. Mein dritter Vorschlag dreht sich um Solidarität und Verantwortung. Deutschland hat sein Ziel, mindestens sechs Milliarden Euro pro Jahr für die internationale Klimafinanzierung bereitzustellen, schon im Jahr 2022 übertroffen. Rechnet man die dadurch gehebelten Mittel dazu, kommen wir auf rund zehn Milliarden Euro jährlich. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir unser Ziel, gemeinsam mit den anderen Industriestaaten 100 Milliarden Dollar jährlich für den internationalen Klimaschutz bereitzustellen, ebenfalls erreichen. Wir unterstützen damit die Wälder und den Schutz der Biodiversität, die Anpassung an Klimaveränderungen und die Minderung des CO₂-Ausstoßes ‑ weltweit, und besonders in den verwundbarsten Ländern. Das meinen wir mit Solidarität. Für diese Solidarität steht auch der Fonds zum Umgang mit Verlusten und Schäden, die der Klimawandel verursacht hat. Vorgestern wurden hier in Dubai die Eckpfeiler des Fonds von 197 Staaten einvernehmlich angenommen. Zu diesem Erfolg werden auch wir beitragen. Konkret stehen 100 Millionen Dollar aus Deutschland bereit und 100 Millionen Dollar von unserem Gastgeber, den Vereinigten Arabischen Emiraten. Für uns ist wichtig, dass dieser neue Fonds den verwundbarsten Ländern zu Gute kommt, und dass möglichst viele von uns diesen Fonds unterstützen. Denn Verantwortung tragen auch die Länder, deren Wohlstand in den letzten drei Dekaden enorm gewachsen ist und die heute großen Anteil an den weltweiten Emissionen haben. Wir brauchen auch Ihre Unterstützung. Dann werden wir den Erwartungen und Herausforderungen gerecht, die die Welt an uns alle richtet. Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Verleihung der German Dream Awards am 30. November 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-verleihung-der-german-dream-awards-am-30-november-2023-in-berlin-2247230
Sat, 30 Dec 2023 00:00:00 +0100
Berlin
Einen schönen Abend und herzlichen Dank für die Gelegenheit, heute ein paar Worte an Sie und euch zu richten. Mir ist das wichtig, weil das, was Düzen Tekkal und all ihre Unterstützerinnen und Unterstützer mit German Dream ins Leben gerufen haben, sehr wichtig ist für unser Land. Dass sie dafür zum Teil angefeindet werden, das schmerzt. Umso mehr möchte ich Ihnen für Ihren Mut danken, klar Stellung beziehen für unseren Zusammenhalt in Vielfalt. Seit vielen Jahren stört es mich, wie wir als Gesellschaft über Themen wie Migration, Zuwanderung und Integration diskutieren. In 95 % der Debatten, Zeitungsartikel und Fernsehbeiträge geht es um Negativbeispiele, ums Scheitern, um Ängste und Ressentiments. All das gibt es auch, keine Frage, zumal in einem Land, das jahrelang die Augen vor der Realität verschlossen hat, dass es längst ein Einwanderungsland ist. Was aber in diesen Debatten und Berichten völlig verloren geht, ist doch, wie sehr Deutschland seit Jahrzehnten davon profitiert, dass Frauen und Männer aus anderen Ländern hierherkommen, hier mit anpacken, zu unserem Land gehören wollen – und auch zu unserem Land gehören. Ihre Geschichten, ihre Lebensleistungen beeindrucken und berühren mich und viele andere, gerade weil sie es häufig schwerer hatten als andere und trotzdem ihren Weg gegangen sind. „Wo ist das Narrativ von einem chancenreichen Deutschland, von einem Land, in dem sich Träume erfüllen können?“ – Diese Frage haben Sie, liebe Düzen Tekkal, an den Anfang Ihres Buches „German Dream“ gestellt. Ich könnte mir die Antwort darauf jetzt ganz einfach machen und sagen: Die Antwort sitzt neben Ihnen und euch – die Antwort sind Sie selbst: mit Ihren Lebensgeschichten und Ihren Erfolgen, mit Ihrem Mut und Ihrer Bereitschaft, sich für unser Land zu engagieren. Die etwas längere Version meiner Antwort geht so: Deutschland ist in den vergangenen 100 Jahren von einem Auswanderungsland zu einem Hoffnungsland für Einwanderer aus aller Welt geworden. Darin liegt eine historische Chance, die Chance, als offenes, vielfältiges Land in einer globalisierten Welt auch in Zukunft Erfolg zu haben, die Chance, ein wirtschaftlich erfolgreiches Land zu bleiben – trotz unserer demografischen Entwicklung, die Chance, unseren Sozialstaat zu erhalten, weil wir auch in Zukunft ein wachsendes Land sind. Um diese große Chance zu nutzen, haben wir im Sommer das modernste Einwanderungsrecht beschlossen, das Deutschland je hatte. Es sendet eine eindeutige Botschaft an die Welt: Wer etwas vorhat, wer sich anstrengt, wer etwas aus sich und dem eigenen Leben machen will, ist hier in Deutschland willkommen. Und es sendet auch eine Botschaft nach innen: Wir werden uns noch stärker darum bemühen, dass Frauen und Männer ihren Traum gerade hier in Deutschland realisieren wollen, denn das ist ja keineswegs selbstverständlich. Integration von Anfang an – das ist in Zukunft der Maßstab. Dabei hat gelungene Integration aus meiner Sicht drei entscheidende Voraussetzungen: Sprache, Bildung und Arbeit. Das heißt: Schnellere Verfahren, sofortige Sprach- und Integrationskurse und ein Leben aus eigener Kraft – wo immer das möglich ist. Das ist die Idee hinter dem neuen Chancen-Aufenthaltsrecht, das jenen die Arbeitsaufnahme ermöglicht, die schon lange hier und gut integriert sind. Das ist die Idee dahinter, dass wir unsere Sprach- und Integrationskurse, unsere Kitas, Schulen und Universitäten, auch unseren Arbeitsmarkt von Beginn an für Geflüchtete aus der Ukraine geöffnet haben. Das ist die Idee dahinter, dass wir auf unsinnige Arbeitsverbote verzichten, die neu Angekommene zum Nichtstun verdammen. Natürlich ist Integration nicht auf Spracherwerb und Arbeit beschränkt. Eine demokratische Gesellschaft wie unsere, in der alle offen ihre Meinung sagen können, in der Männer und Frauen gleiche Rechte haben und sich nach ihrem Willen frei entfalten können, in der Bürgerinnen und Bürger mit ganz unterschiedlichen kulturellen, religiösen oder familiären Prägungen zusammenleben – eine solche Gesellschaft braucht etwas, das sie im Kern zusammenhält. Zusammenhalt braucht ein Fundament gemeinsamer Werte. Auch das verbinde ich mit German Dream. Daran arbeiten Sie mit den Wertedialogen ganz aktiv. Gerade in diesen Tagen ist das ungemein wichtig. Denn dieses Wertefundament umfasst auch die Geschichte unseres Landes und die Lehren, die wir gemeinsam aus ihr ziehen. Ich bin mir sicher: Sie alle sind über die Verherrlichung des Hamas-Terrors und den offenen Hass gegen Jüdinnen und Juden auf unseren Straßen und im Netz genauso erschüttert wie ich. Unser Strafrecht stellt hier eine klare Grenze auf: Antisemitische Hetze ist strafbar. Die öffentliche Billigung von Straftaten ist strafbar. – Und wir tun alles, um die Sicherheit jüdischer Bürgerinnen und Bürger gewährleisten. Aber das allein reicht nicht aus. Ich habe noch das Interview im Ohr, lieber Herr Levit, das sie vor zwei Wochen der „ZEIT“ gegeben haben. Sie sagen darin: „Wenn ihr an Demokratie glaubt, und euer Land ist an einem Punkt, wo jemand wie ich rennen muss: Dann müsst auch ihr rennen.“ – Und ich habe Sie im Ohr, sehr geehrte Frau Friedländer, wenn Sie uns immer wieder sagen: „Respekt gehört allen Menschen.“ – Es ist diese Erkenntnis, dass wir in einer Gesellschaft des Respekts alle füreinander einstehen müssen, die uns nicht abhandenkommen darf. Wenn jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger daran zweifeln, dann haben wir als Gesellschaft insgesamt ein Problem. Frauen und Männer jüdischen Glaubens sind ein unverzichtbarer Teil unseres Landes. Daran dürfen wir niemals irgendeinen Zweifel aufkommen lassen. Und zugleich müssen wir auch jenen klar entgegentreten, die nun allen fünf Millionen Musliminnen und Muslimen in Deutschland ihren Platz in unserem Land absprechen. Der Anspruch, der für jede und jeden von uns gilt, ist doch folgender: Wer in Deutschland lebt, muss unsere freiheitliche Verfassung akzeptieren – und kann sich zugleich auf ihren Schutz verlassen. Unser „Wir“ unterscheidet nicht danach, ob jemand eine Einwanderungsgeschichte hat oder nicht, auch nicht danach, wie wir aussehen oder woran wir glauben. Hinter diesem „Wir“ – davon bin ich überzeugt – steht die ganz große Mehrheit in unserem Land, die sich zu unserer freiheitlichen Ordnung und ihren Werten bekennt. Einen starken Ausdruck findet dieses Bekenntnis übrigens in der deutschen Staatsbürgerschaft. Sie anzunehmen bedeutet, dieses Land als das eigene zu begreifen. Und zugleich muss dieser Schritt bedeuten, dass die neuen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger dann auch wirklich dazugehören, ohne dass ihre Zugehörigkeit immer wieder infrage gestellt wird und ohne, dass sie eine frühere Staatsangehörigkeit unbedingt aufgeben müssen. Zugehörigkeit hat ja viele Facetten. Ich werbe deshalb schon seit vielen Jahren dafür: Wer hier auf Dauer lebt, wer hier arbeitet und sich zu den Grundwerten unserer Demokratie bekennt, sollte deutsche Staatsbürgerin oder deutscher Staatsbürger werden. Deutsch ist, wer mitmacht in unserem Gemeinwesen, wer an unserer gemeinsamen Zukunft arbeitet, wer die eigene Perspektive einbringt, wer die eigenen Ideen und Potenziale entfaltet und damit zugleich zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft beiträgt. So, wie es die fantastischen Frauen und Männer tun, die Sie heute zu Recht mit dem German Dream Award ehren. Herzlichen Glückwunsch an alle Preisträgerinnen und Preisträger! Vielen Dank Ihnen allen für Ihr beispielhaftes Engagement! Und vor allem: Lassen Sie uns weiter gemeinsam an unserem German Dream arbeiten – für unser Hoffnungsland Deutschland!
Rede von Bundeskanzler Scholz beim Festakt zum 75-jährigen Jubiläum der KfW am 29. November 2023 in Berlin
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Wed, 29 Nov 2023 00:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Wintels, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett und aus dem Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren! Sie haben die 80er-Jahre gerade als ein Jahrzehnt des Fortschritts beschrieben, sehr geehrter Herr Wintels. Ich erinnere mich daran, dass es sich für mich als Juso damals eher anders anfühlte. Aber das zeigt nur: Stimmung und tatsächliche Lage klaffen manchmal eben auseinander. Aber dazu später mehr. Heute ist es jedenfalls allen klar: Die 80-er waren allenfalls so etwas wie das Aufwärmen für den Marathon, den wir jetzt laufen. Die Welt ist aufgebrochen in eine klimaneutrale Zukunft. Wir selbst stecken mittendrin in der größten Transformation unserer Wirtschaft seit der Industriellen Revolution im vorletzten Jahrhundert, als global vernetztes Land, als innovatives Land, als starkes Land. Diese Position der Stärke haben wir uns in den vergangenen 75 Jahren erarbeitet. Welchen Weg wir dabei zurückgelegt haben, zeigt der Blick zurück, zurück auf den 18. November 1948, den Tag, an dem das Gesetz über die Kreditanstalt für Wiederaufbau in Kraft getreten ist. Die deutsche Wirtschaft war nach dem Krieg völlig am Boden. Häuser und Wohnungen lagen in Trümmern. Es gab nicht genug Wohnraum, nicht genug zu essen, nicht genug Kohle und Energie. In ihrer Ausgabe vom 18.11.1948 berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ über die dramatische Berlin-Blockade und über ein neues Grundgesetz, das gerade erst in Arbeit war. Und „Die Zeit“ beschrieb den Hauptstadtstreit zwischen Frankfurt und Bonn. Heute wissen wir, wie das ausgegangen ist und wie weit wir gekommen sind. Dass unser Land so schnell wieder auf die Beine gekommen ist, lag auch an einer Idee der Amerikaner, die geradezu visionär war angesichts ihrer Tragweite und angesichts dieses zerstörerischen Krieges, den Deutschland angezettelt hatte. Der amerikanische Außenminister George Marshall sagte damals über seinen Plan für Deutschland und Europa: Its purpose should be the revival of a working economy in the world so as to permit the emergence of political and social conditions in which free institutions can exist. – Dieser Gedanke, dass es eine enge Wechselwirkung gibt zwischen politischer Freiheit, sozialer Absicherung und einer funktionierenden Wirtschaft trägt unser Land bis heute. Seine Wurzeln liegen im Marshall-Plan, aus dem damals auch die Kreditanstalt für Wiederaufbau hervorging, als Bank an jener Schnittstelle zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, als Bank, auf die man sich bis heute verlassen kann, und zwar auch oder vielleicht gerade dann, wenn es schwierig wird. 75 Jahre KfW, das sind 75 Jahre deutsche Geschichte. Unser Land hat sich verändert und mit ihm unsere Bank – vom Wiederaufbau bis zum Wirtschaftswunder, von der Wende bis zur Energiewende, von der Finanzkrise bis zur Corona-Pandemie. Als Finanzminister habe ich damals – es fühlt sich wie damals an, auch wenn das Ende der Pandemie noch keine zwei Jahre her ist – auf das Engste mit der KfW zusammengearbeitet. Gemeinsam haben wir uns gegen die Folgen gestemmt, damit die Corona-Krise nicht in eine Wirtschaftskrise mündet. Wir haben einen Schutzschirm aufgespannt für Unternehmen, die wegen der Pandemie in Schwierigkeiten geraten waren. Aber – typisch KfW eben – nicht allein für die Großen gab es KfW-Schnellkredite, sondern auch für die Kleinen und für die Soloselbstständigen. Sie waren da als Helper of last resort. Ohne sie wäre uns das nicht gelungen. Dafür sage ich heute und hier noch einmal herzlichen Dank. Wir feiern heute, was uns in der Vergangenheit gelungen ist. Aber untrennbar damit verbunden ist die Zukunft, die noch vor uns liegt. Sie haben eben von Zuversicht gesprochen, lieber Herr Wintels: Die ist uns Deutschen nicht unbedingt in die Wiege gelegt, und politisch verordnet werden kann sie schon gar nicht. Aber ich habe es zu Beginn schon angedeutet: Es ist schon auffällig, wie sehr gerade in Deutschland Stimmung und tatsächliche Lage auseinanderfallen. Natürlich geht es nicht spurlos an uns vorbei, dass Russland als ehemals größter Gaslieferant von heute auf morgen seine Lieferungen einstellt. Natürlich spürt eine exportstarke Wirtschaft wie unsere, wenn die Weltkonjunktur lahmt – und das stärker als andere -, und natürlich müssen wir eigene Versäumnisse aufholen, Defizite, die mit zu geringen Investitionen in unsere Infrastruktur und die Digitalisierung zu tun haben, mit fehlenden Arbeitskräften, auch mit zu viel Bürokratie und zu vielen Vorschriften. Aber klar ist doch auch: Deutschland hat als eines von ganz wenigen klassischen Industrieländern heute überhaupt noch eine starke wettbewerbsfähige Industrie. Ein überholtes Modell sei das, so hieß es in den vergangenen 20 Jahren immer wieder. Gut, dass wir nicht auf diese Stimmen gehört haben. Denn wer, wenn nicht wir, sollte heute die Technologien und Maschinen entwickeln, die die Welt morgen für die Klimaneutralität braucht? Deutschland schrumpft auch nicht, so wie es nahezu alle Demoskopen uns noch vor 10, 20 Jahren vorhergesagt hatten – im Gegenteil: Noch nie haben so viele Frauen und Männer in Deutschland gearbeitet wie heute: 46 Millionen. Mit über 84 Millionen Einwohnern sind wir heute ein wachsendes Land, und wir tun alles dafür, damit das auch morgen so bleibt. Und schließlich, ja: Wir werden weiter in die Zukunft investieren – mit der KfW an unserer Seite. Natürlich wird das mit den Investitionen jetzt auch noch mal neu zu organisieren sein im Hinblick auf die Entscheidung, die die Bundesregierung dem Bundestag vorschlagen möchte, was den Bundeshaushalt für die Zukunft betrifft. Aber ich und andere haben es schon wiederholt gesagt: Wir wollen uns dieser Aufgabe stellen und werden das auch hinbekommen, dass wir genau diese Zukunftsinvestitionen auch hinbekommen werden. Auch andere haben längst erkannt, welche großen Chancen in der Transformation liegen. Die USA treiben mit dem Inflation Reduction Act erneuerbare Energien und klimafreundliche Technologien gezielt voran und holen auch abgewanderte Industrien zurück. In China werden mehr Solaranlagen, Windräder, Batteriefabriken und E-Autos gebaut als irgendwo sonst auf der Welt – wenn auch mit massiven Subventionen in die staatlich gelenkte Wirtschaft. Aber wir treten nicht nur gegen die USA und China an, auch aus vielen Ländern in Asien, Afrika, Lateinamerika und der Karibik sind dank der Globalisierung längst ernstzunehmende Wettbewerber mit eigenen leistungsfähigen Industrien geworden. Die Welt wartet nicht auf uns. Um unsere Stärken zu nutzen, müssen wir uns jetzt auch zu investieren trauen, und zwar so, dass daraus mehr Arbeitsplätze und mehr Wachstum entstehen. Wer jetzt, wer heute die richtigen Entscheidungen für kluge Investitionen in die Zukunft trifft, kann morgen saubere Technologien exportieren. Er kann die besten E-Autos bauen sowie Chips und Batterien dafür, und er kann Strom aus erneuerbaren Energien günstig herstellen. Das ist doch der Standortvorteil, den wir uns in den kommenden Jahren erarbeiten müssen, im Vertrauen auf unsere Stärken und mit dem nötigen Mut zu Veränderung. Unsere Ziele für die Transformation haben wir klar formuliert. 80 % des Stroms, den wir verbrauchen, soll bis 2030 aus erneuerbaren Energien kommen. 50 % der Wärme, die wir produzieren, soll bis 2030 klimaneutral erzeugt werden. Bis 2045 wollen wir endgültig klimaneutral wirtschaften und arbeiten. Das ist alles sehr ambitioniert, das liegt ja auch nicht weit in der Zukunft, sondern ziemlich nah in der Zukunft, aber wir kriegen das hin. Schon jetzt haben wir vieles aufgeholt, was in den vergangenen Jahren liegen geblieben war. 2021 lag der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung noch bei 42 %, seit Mai 2023 liegt dieser Anteil bei rund 60 % und zum Teil darüber. Von 40 auf 60 % Erneuerbare in nur 2 Jahren – und wir bleiben dabei am Ball. Anfang des Monats haben wir uns mit den Ländern auf Teil 1 des Deutschlandpakts geeinigt. Es geht um mehr Tempo, um einfachere Verfahren und um weniger Bürokratie, damit Anlagen, Netze, Speicher, damit Leitungen und das Wasserstoffnetz sehr schnell genehmigt und dann auch gebaut werden. Auch dabei steht die KfW an unserer Seite. 36 % ihres Fördervolumens stehen für Investitionen in den Klima- und Umweltschutz bereit, unter anderem für Offshore-Windparks, für Solaranlagen, für Ladesäulen und für die energieeffiziente Sanierung von Gebäuden. Damit setzen Sie die richtige Priorität und dafür sage ich auch vielen Dank. Was für die Energiewende gilt, gilt auch für den Wohnungsbau. Sie haben eben von einer Kultur gesprochen, die Veränderung als Chance begreift. Genau so eine Kultur brauchen wir auch beim Bauen, damit wir mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen: mit seriellem und modularem Bauen, weniger Vorschriften und Gutachten, die die Kosten in die Höhe treiben, mit schnellerer Planung und Genehmigung, digitalen Bauanträgen, mehr Bauland in den Kommunen. Als Bund haben wir den sozialen Wohnungsbau wieder zur Priorität erklärt, das ist wichtig und das muss weitergehen. Denn bezahlbares Wohnen ist eine der ganz großen sozialen Fragen in unserem Land; die müssen wir zusammen lösen. Und zugleich brauchen wir private Investitionen, wie die KfW sie möglich macht. In den Förderprogrammen verbinden sie Wirtschaftsförderung, Klimaschutz und sozialen Zusammenhalt. Auch hier bewegen sie sich an der Schnittstelle zwischen Politik und Wirtschaft und Gesellschaft, die ich eben beschrieben habe. Typisch KfW, könnte man also sagen. Noch ein letzter Punkt ist mir wichtig, ich habe ihn gerade schon angedeutet: Seit Gründung der KfW vor 75 Jahren haben sich die Gewichte in der Welt gründlich verschoben. Viele der aufstrebenden Länder Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und der Karibik blicken zu Recht mit wachsender Zuversicht und großem Selbstvertrauen in die Zukunft. Wenn wir sie auch in der Zukunft als Partner halten oder neu gewinnen wollen, dann müssen wir ihnen auch echte Partnerschaft bieten, und zwar besser heute als morgen, Energiepartnerschaften, saubere Industrien aufbauen und unsere Volkswirtschaften gemeinsam diversifizieren. Deshalb habe ich vergangene Woche zahlreiche meiner Kolleginnen und Kollegen aus Afrika zum Compact with Africa der G20 nach Berlin eingeladen. Deshalb bin ich seit Amtsantritt immer wieder in Asien, Afrika und Lateinamerika unterwegs gewesen und habe dort an neuen Partnerschaften mit Deutschland und Europa gearbeitet. Viele Projekte, die beiden Seiten nutzen, scheitern nicht an Willen und Engagement unserer Partner vor Ort, sondern an den Finanzierungsbedingungen für viele Länder des globalen Südens. Sie ahnen, worauf ich hinaus will: Auch hier ist das Engagement der KfW-Entwicklungsbank unerlässlich und wird in Zukunft noch wichtiger. Und auch dieses Engagement steckt in Ihrer DNA. Meine Damen und Herren, der Marshall-Plan ist aufgegangen. Der Wiederaufbau ist gelungen. Mehr noch: Das Zusammenspiel aus funktionierender Wirtschaft, politischer Freiheit und sozialer Absicherung ist zu einem Merkmal unseres Landes geworden: der sozialen Marktwirtschaft. Die KfW hatte daran von Beginn an einen großen Anteil. Ich freue mich, dass wir das heute gemeinsam feiern. Sie können stolz sein auf das, was Sie jeden Tag für unser Land und seine Bürgerinnen und Bürger leisten. Schönen Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der KfW! Herzlichen Glückwunsch und ein schönes Fest!
Rede von Bundeskanzler Scholz beim „4th G20 Investment Summit“ – German Business and the CwA Countries am 20. November 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-4th-g20-investment-summit-german-business-and-the-cwa-countries-am-20-november-2023-in-berlin-2244960
Mon, 20 Nov 2023 00:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrte Herren Staatspräsidenten, sehr geehrte Herren Premierminister, Ministerinnen und Minister, Exzellenzen, sehr geehrter Herr Schäfer, sehr geehrte Unternehmensvertreterinnen und -vertreter, meine Damen und Herren, vor drei Wochen, auf meiner Reise nach Nigeria, traf ich in einem aus Schifffahrtscontainern zusammengesetzten Incubator-Hub in Lagos junge nigerianische Gründerinnen und Gründer. Die Stimmung dort war von ansteckendem Optimismus geprägt, von dem Glauben an die eigene Kreativität und von der Entschlossenheit, dieses Jahrhundert zu einem afrikanischen Jahrhundert zu machen. Ich glaube, dass dieses afrikanische Selbstbewusstsein, das ich nicht nur in Nigeria, sondern auch bei meinen Besuchen in Senegal, Südafrika, Äthiopien, Kenia und Ghana erlebt habe, berechtigt ist. Für viele Länder in Afrika, aber auch in Asien, Lateinamerika und der Karibik war die Globalisierung der vergangenen zwanzig, dreißig Jahre eine enorme Erfolgsgeschichte. Weltweit mehr als eine Milliarde Frauen und Männer haben mit Fleiß und großen Anstrengungen den Weg aus der Armut geschafft. Die afrikanische Mittelklasse hat sich in den letzten dreißig Jahren auf 330 Millionen Frauen und Männer verdreifacht. Es ist die Privatwirtschaft, es sind die mutigen und innovativen Unternehmerinnen und Unternehmer auf dem ganzen Kontinent, die sich etwas trauen und dieses Wachstum möglich machen. Sie entwickeln kreative Lösungen für die vorhandenen Probleme und sehen die Chancen in Afrika. Sie können am besten einschätzen, was funktioniert und wie aus Ideen Projekte und Produkte werden. Der Compact with Africa ist die zentrale Initiative der G20, um dieses riesige Potenzial Afrikas noch weiter zur Entfaltung zu bringen, und zwar als Partnerschaft in beiderseitigem Interesse und zur Erreichung globaler Ziele, etwa in Sachen Klimaneutralität, Nachhaltigkeit und Resilienz unserer Volkswirtschaften. Diese Ziele werden wir hier in Europa nicht ohne die Zusammenarbeit mit unseren afrikanischen Partnerinnen und Partnern erreichen. Seitdem der Compact with Africa unter deutscher G20 Präsidentschaft 2017 ins Leben gerufen wurde, geht es dabei um zweierlei, erstens darum, gemeinsam private Investitionen und Beschäftigung zu fördern, und zweitens darum, Reformen in den Partnerländern voranzubringen, um den Boden für wirklich nachhaltiges Wachstum zu bereiten, das bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommt. Der Compact with Africa wirkt. Die Compact-Länder schneiden im Vergleich zu Gesamtafrika wirtschaftlich überdurchschnittlich ab. Im vergangenen Jahr lag das Wirtschaftswachstum der Compact-with-Africa-Partnerländer fast doppelt so hoch wie das der restlichen afrikanischen Länder. Im vergangenen Jahr wurden in den Partnerländern zudem Direktinvestitionen in Höhe von 133 Milliarden Dollar angekündigt. Das ist ein Anstieg um das Sechsfache im Vergleich zum Vorjahr und mehr als doppelt so viel wie im gesamten restlichen Afrika zusammen. Auch das Exportwachstum der Compact-with-Africa-Länder war im vergangenen Jahr dreimal höher als in den anderen Ländern des Kontinents. Das sind beeindruckende Zahlen, die mit eindrucksvollen Reformen in Partnerländern einhergehen, beispielsweise im Steuerwesen oder bei der Investitionsförderung. Mit solchen Reformen tragen Partnerländer entscheidend dazu bei, ihr Geschäftsumfeld und ihre Investitionsbedingungen zu verbessern, und das zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger. Auch dank dieser Erfolge ist das Interesse reformwilliger Staaten an einem Beitritt zum Compact with Africa ungebrochen hoch. Vor wenigen Tagen wurde die Demokratische Republik Kongo offiziell aufgenommen. Ich freue mich sehr, dass wir heute auch Angola, Kenia und Sambia als Beitrittsinteressenten hier in Berlin begrüßen können. Diese Erfolgsgeschichte wollen und werden wir fortschreiben. Deswegen hat die Bundesregierung eine ganze Reihe von Entscheidungen getroffen, um Unternehmen beim Engagement auf dem afrikanischen Markt zu unterstützen. Mit dem AfricaGrow-Fonds und dem Programm AfricaConnect stellen wir unter anderem Projektmittel und Eigenkapital für kleine und mittlere Unternehmen und für Start-ups zur Verfügung. Mit AfricaConnect wurden bislang über 50 Vorhaben in 15 afrikanischen Ländern gefördert, vom Logistik-Start-Up in Ägypten über Lebensmittelverarbeitung in Benin bis zum Generikahersteller in Marokko. Bei meinem kürzlichen Besuch in Ghana habe ich mit Studentinnen und Studenten auch über die überkommene Vorstellung von Afrika und die zu geringen Kenntnisse über Afrika hier in Europa gesprochen, die ein echtes Hindernis für Investitionen in Afrika darstellen können. Nur halb im Scherz meinte ein Teilnehmer, manchmal müsse man erläutern, dass Afrika nicht ein Land, sondern ein ganzer Kontinent mit über 50 Ländern sei. In diesem Kreis mögen wir darüber ungläubig den Kopf schütteln. Wahr bleibt jedoch, dass es erhebliche Unterschiede bei der Sichtbarkeit und bei der Anbindung afrikanischer Länder an die internationalen Investitions- und Handelsströme gibt. Im Oktober hat die Bundesregierung stärkere Anreize für eine Diversifizierung der Außenwirtschaftsbeziehungen beschlossen. Wir wollen Unternehmen dabei unterstützen, neue Handelspartner zu finden und neue Wertschöpfungsketten zu erschließen. Dazu dienen beispielsweise günstigere Garantiekonditionen für Projekte in Staaten, die bisher weniger im Fokus unserer Wirtschaft standen, die aber als aufstrebende Produktionsstandorte und Handelspartner großes Potenzial besitzen. Um die Einstiegsschwelle in neue Märkte zu senken, stellen wir Unternehmen darüber hinaus ein vielfältiges Beratungsprogramm zur Verfügung, sei es mit dem Managerfortbildungsprogramm, dem Wirtschaftsnetzwerk Afrika, dem Auslandsmesseprogramm oder unserem expandierenden AHK-Netzwerk. Eine ganze Reihe von deutschen Unternehmen, die derzeit ihr Engagement in den Partnerländern des Compact with Africa ausbauen, stimmt mich zuversichtlich, dass wir damit auf dem richtigen Weg sind. Ich denke dabei etwa an große Infrastrukturvorhaben in Ägypten, Investitionen in Medizintechnologie in Tunesien und Angola oder innovative solarbetriebene Entsalzungsanlagen in Ostafrika. Klar ist aber auch: Die besten Schulungen, Förderprogramme und Informationsveranstaltungen werden die bestehenden Ungleichgewichte in der internationalen Wahrnehmung zwischen den sehr unterschiedlichen Ländern Afrikas nicht vollständig beseitigen. Riesiges Potenzial, vergleichbare Standards und mehr Wachstum in allen afrikanischen Ländern zu erreichen, liegt daher in der Ausweitung des innerafrikanischen Freihandels durch die African Continental Free Trade Area. Dadurch entsteht gerade mit mehr als 50 Ländern und 1,3 Milliarden Menschen eine der größten Freihandelszonen der Welt und damit die Chance zu größerer wirtschaftlicher Diversifizierung und zur Schaffung afrikanischer Wertschöpfungsketten. Eine funktionierende Freihandelszone wird gleichzeitig auch das Marktpotenzial für Investoren enorm erhöhen. Dieses Zukunftsprojekt wollen wir weiterhin eng begleiten. Deswegen unterstützen wir die Verhandlungen und die Implementierung des Abkommens als größter Geber finanziell und auch mit Expertise und Beratung. Auch die Europäische Union kann hierfür Beiträge leisten. Schließlich kennt sie sich mit der Schaffung eines Binnenmarkts aus. Meine Damen und Herren, ich habe über die Globalisierung und über die wachsende afrikanische Mittelklasse gesprochen. 2050 wird unser Nachbarkontinent 2,5 Milliarden Einwohner haben, fast viermal so viel wie Europa. Diese 2,5 Milliarden Frauen und Männer haben denselben Anspruch auf ein Leben in Wohlstand wie wir hierzulande. Verzicht zu predigen, wird nicht funktionieren, abgesehen davon, dass wir dabei auch nicht allzu glaubwürdig wären. Aber wenn die Länder Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und der Karibik den gleichen Entwicklungspfad wählen, den wir in Europa oder Nordamerika vor gut 150 Jahren mit Öl, Kohle und Gas eingeschlagen haben, dann wird unser Planet das nicht verkraften. Deshalb sind wir hier in Europa gefordert, einen anderen, besseren Weg aufzuzeigen. Wir müssen zeigen, wie Wachstum und soziale und wirtschaftliche Entwicklung funktionieren können, ohne unser Klima und unsere Umwelt zu zerstören. Erneuerbare Energien, klimafreundliche Technologien, der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft über Länder und Kontinente hinweg, wirtschaftliche Diversifizierung, all das birgt ein unglaubliches Potenzial für eine engere Zusammenarbeit zwischen uns und den wachsenden Ländern auf unserem Nachbarkontinent, für eine Zusammenarbeit zum Wohl beider Seiten. Diese gerechte Energiewende bringen wir zusammen mit der EU und mit afrikanischen Partnerländern voran. Ganz zentral ist dabei die Africa-EU Green Energy Initiative. Deswegen freue ich mich, heute hier ankündigen zu können, dass wir dafür bis 2030 vier Milliarden Euro für Beratung, Investitionen und für die weitere Hebelung von privatem Engagement zur Verfügung stellen werden. Um es ganz klar zu sagen: Hierbei geht es nicht um Entwicklungshilfe nach den überholten Schemata von Gebern und Nehmern. Hierbei geht es um Investitionen, die sich für beide Seiten auszahlen. Denn wir in Deutschland werden auf dem Weg zur Klimaneutralität im Jahr 2045 beispielsweise große Mengen grünen Wasserstoffs brauchen und einen großen Teil davon importieren, und zwar‑ unter anderem aus Afrika. Viele afrikanische Länder haben nämlich deutlich größere Potenziale für erneuerbare Energien und die wettbewerbsfähige Produktion von Wasserstoff als wir. Ich bin überzeugt davon, dass es hierbei großartige Möglichkeiten für den Ausbau der Zusammenarbeit zwischen deutschen und afrikanischen Unternehmen gibt. Auch das habe ich bei meinem Besuch in Nigeria deutlich gemacht. Dort betreiben wir bereits ein Wasserstoffbüro und wollen auch insgesamt ein Partner beim ehrgeizigen Ausbau der erneuerbaren Energien sein. Gleichzeitig ist klar, dass die Anfangsinvestitionen in die Wasserstoffproduktion erheblich sind und deswegen klare Signale für eine langfristige und belastbare Zusammenarbeit gebraucht werden. Die Compact-with-Africa-Konferenz soll das Signal aussenden, dass Sie auf Deutschland als Partner zählen können. Mit dem Power to X-Entwicklungsfonds und weiteren Angeboten unterstützen wir Länder mit dem entsprechenden Potenzial dabei, lokale Wasserstoffwirtschaften und deren Wertschöpfungsketten aufzubauen. Und wir werden grünen Wasserstoff in großen Mengen abnehmen. Für die besonders gut aufgestellten afrikanischen Ländern bieten sich hierbei also große Chancen, Teil des Markthochlaufs in Deutschland und Europa zu werden. Erlauben Sie mit zum Abschluss einen Blick vom Wachstum in Afrika zurück auf das Wachstum in Deutschland. Alles deutet darauf hin, dass wir die konjunkturelle Delle überwunden haben, die Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, die Energiekrise und die stockende weltweite Nachfrage ausgelöst haben. Im kommenden Jahr rechnen alle Wirtschaftsforscher mit spürbarem Wirtschaftswachstum. Dennoch müssen wir uns eines zentralen Faktors bewusst sein, der es uns erschwert, unser volles Wachstumspotenzial auszuschöpfen. Die Wirtschaftsweisen haben das in ihrem Jahresgutachten gerade noch einmal bestätigt. Ich spreche vom Mangel an Arbeitskräften, der mit dem Renteneintritt von 13 Millionen sogenannten Boomern weiter zunehmen wird. Während bei uns Arbeitskräfte fehlen, haben viele Länder in Afrika einen hohen Anteil junger Frauen und Männer, die Arbeit suchen und ihre Chancen nutzen wollen. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz haben wir gerade das modernste Einwanderungsrecht geschaffen, das es in diesem Land je gab. Es schafft die Möglichkeit, aus dem Ausland zum Arbeiten hierher zu kommen und hier mit anzupacken. Flankieren werden wir das durch Migrationspartnerschaften auch mit afrikanischen Staaten. Es geht darum, die Voraussetzungen für eine Arbeitsaufnahme hier in Deutschland zu schaffen, zum Beispiel durch Sprachkurse oder gezielte Ausbildungsangebote. Im Gegenzug erwarten wir natürlich, dass Bürgerinnen und Bürger, die hier in Deutschland kein Bleiberecht haben, wieder in ihre Heimatländer zurückkehren können. Der Interessenausgleich liegt ja nun auf der Hand. Meine Damen und Herren, das Wachstumspotenzial in Afrika ist riesig. Bei der Lösung globaler Fragen ist unser Nachbarkontinent schlicht unumgänglich. Wir wollen, wir müssen ihn als Partner für die nachhaltige Wirtschaft der Zukunft gewinnen und weiter stärken. Daran führt kein Weg vorbei. Das ist die Essenz des Compact with Africa. Daran werden wir heute weiter arbeiten. Ich freue mich schon auf die Diskussion. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Konferenz „Ostdeutschland 2030 – Heimat und Zukunft“ vom 17. November 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-konferenz-ostdeutschland-2030-heimat-und-zukunft-vom-17-november-2023-2244962
Fri, 17 Nov 2023 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Leipzig
Schönen Dank, lieber Carsten Schneider, lieber Michael Kretschmer! Liebe Ministerpräsidentinnen, liebe Ministerpräsidenten, Herr Oberbürgermeister und alle anderen, die hier sind von Kapital und Arbeit: Das finde ich in der Tat von größter Bedeutung. Eine große Rede will ich nicht halten, denn ich finde, Carsten Schneider hat schon eine solche gehalten mit vielen, vielen Themen, die uns miteinander bewegen können. Und in beiden Eingangsbemerkungen sind ja die wichtigsten Themen für das, was wir hier zu diskutieren haben und was die Zukunft im Osten Deutschlands, in Ostdeutschland, betrifft, angesprochen worden. Ich will deshalb ganz persönlich beginnen: „Heimat und Zukunft“ hießt es hier. Heimat ist der Osten Deutschlands auch für mich. Ich wohne in Brandenburg, in Potsdam. Und was ich ganz besonders wichtig finde für mich und wo ich gar nicht beschreiben kann, wie bewegt ich davon unverändert bin: Ich bin 1998 einmal in den Deutschen Bundestag gewählt worden als Abgeordneter des Wahlkreises Hamburg-Altona und dann wiederholt, immer wieder, bis ich Bürgermeister in Hamburg wurde. Und ich bin direkt gewählter Abgeordneter eines Wahlkreises im Osten Deutschlands. Das bedeutet mir sehr, sehr viel. Wenn wir also heute über Heimat sprechen, dann ist das eine Heimat, mit der man viel mehr verbindet, als dass man darüber redet. Das ist ein Ort, in dem ich selber wohne. Und das Gleiche gilt für die Frage der Zukunft. Auch da will ich einmal zurückgreifen – nicht so weit, wie Sie es eben gemacht haben, sondern etwas weniger, aber nicht viel weniger weit zurückgesprungen: Ich habe in den 90er-Jahren als Arbeitsrechtsanwalt sehr, sehr viele Betriebsräte und Gewerkschaften im Osten Deutschlands beraten bei den Umbruchprozessen, die damals stattgefunden haben. Darüber könnte ich stundenlang erzählen, weil ich viele tolle Frauen und Männer getroffen habe, die natürlich herausgefordert waren mit einer der schlimmsten Situationen für ihr eigenes Leben, für den Ort, wo sie gearbeitet haben: Was da weitergeht, ist immer wieder neu verhandelt worden. Aber es ist für mich ganz besonders wichtig und auch bewegend zu sehen, dass wir heute in der einer komplett anderen Situation sind, dass es tatsächlich so ist, dass die Zukunft sich mit dem Osten Deutschlands verbindet, dass die modernsten Dinge, die in Deutschland stattfinden, ganz besonders im Osten Deutschlands stattfinden. Aufgezählt worden ist das alles schon, und deswegen will ich es nicht wiederholen, aber vielleicht im Hinblick auf eine amerikanische Automobilfabrik in Brandenburg; das ist ja auch ein Ereignis, das man gar nicht geringschätzen darf. Vor kurzem war ich in Köln. Dort ist demnächst „100 Jahre Ford in Deutschland“. Dort ist gerade eine Entscheidung getroffen worden für den Umbau dieser Fabrik für den Elektromobilbau. Aber die nächste große amerikanische Ansiedlung in Deutschland, die hat jetzt im Osten Deutschlands stattgefunden. Dort ist eine sehr erfolgreiche Fabrik mit Elektrofahrzeugen. Auch die westdeutschen Automobilhersteller haben hier ihre Fabriken eröffnet mit der Elektromobilität zuallererst, und ich finde, das ist ein ganz klares Zeichen dafür, dass hier was nach vorn geht. Das gilt für Batteriefabriken, das gilt für die Frage der Halbleiterproduktion, über die hier gesprochen worden ist. Und anstatt viele Worte darüber zu machen, will ich sagen: Klar haben wir noch einmal ganz neue Herausforderungen bekommen mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Aber weil in einer solchen Situation vielleicht auch klare Ansagen wichtig sind: Ich will unbedingt, dass diese Investitionen im Osten Deutschlands stattfinden, in Magdeburg, in Dresden – übrigens auch im Saarland, wo ja auch eine solche Ansiedlung stattfindet. Das ist ein Zeichen für die Zukunft. Dass tatsächlich die Halbleiterproduktion in Europa, vor allen Dingen in Deutschland und ganz besonders im Osten Deutschlands stattfindet, ist ein wichtiges Zukunftssignal für uns alle. Ansonsten haben wir alle Voraussetzungen für eine gute Zukunft. Arbeitskräfte brauchen wir auch noch; darüber hat Carsten Schneider gesprochen. Vielleicht reden wir auch miteinander darüber. Aber das soll dann die eine Bemerkung dazu bleiben: Wer hätte sich in den 90er-Jahren, wer hätte sich noch zur Jahrtausendwende vorstellen können, dass das Problem, mit dem wir in Zukunft zu kämpfen haben, nicht Arbeitslosigkeit ist, sondern „Arbeitermangel“, wie ein Bestseller das getauft hat, eine Herausforderung, vor der wir alle stehen und die wir gemeinsam bewältigen müssen, aber auch ein Grund, gemeinsam anzupacken und „Heimat und Zukunft – Ostdeutschland 2030“ in den Blick zu nehmen. Schönen Dank.
in Leipzig
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des HDE-Handelskongresses am 16. November 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-hde-handelskongresses-am-16-november-2023-in-berlin-2244958
Thu, 16 Nov 2023 14:51:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr von Preen, sehr geehrter Herr Genth, liebe Mitglieder und Gäste des Handelskongresses des HDE, „50 Prozent der Wirtschaft sind Psychologie“ – Sie kennen den Satz, den wahlweise Ludwig Erhard oder Alfred Herrhausen gesagt haben soll. „Außer im Handel“, möchte man sagen, „da macht Psychologie wohl eher 70 Prozent aus.“ Kaum ein anderer Wirtschaftszweig beruht so stark auf Vertrauen, auf Zuversicht, auf der oft gemessenen und viel beschworenen Konsumlaune der Verbraucherinnen und Verbraucher, und klar ist: Diese Laune könnte besser sein. Gerade als die Coronapandemie überwunden war, überfiel Russland die Ukraine – mit dramatischen Folgen für die Frauen, Männer und Kinder in der Ukraine, aber auch mit spürbaren Auswirkungen auf unsere Sicherheit, unsere Wirtschaft und unsere Energieversorgung. Die Preisanstiege im Energiesektor und bei Lebensmitteln haben die Inflation angeheizt. Mit dem brutalen Terrorangriff der Hamas auf Israel ist nun ein weiterer furchtbarer Konflikt in Europas Nachbarschaft hinzugekommen. Das alles ‑ wen wundert es? ‑ verunsichert die Bürgerinnen und Bürger, und diese Unsicherheit schlägt sich natürlich auch im Konsumverhalten nieder. Sie haben das gestern bereits angesprochen, lieber Herr von Preen: Die Bürgerinnen und Bürger gehen sparsamer mit ihrem Geld um und halten sich bei manchen Anschaffungen zurück. Aber ich sage auch ganz klar: Die konjunkturelle Lage selbst ist inzwischen besser, als die Stimmung vermuten lässt. Letzte Woche hat der Sachverständigenrat der sogenannten Wirtschaftsweisen sein Jahresgutachten vorgelegt. Sie benennen sehr klar, was den Standort Deutschland in den zurückliegenden zwei Jahren belastet hat: die Energiekrise aufgrund des russischen Angriffskriegs, die weltweite geldpolitische Straffung, auch die schleppende Entwicklung in China. Zugleich gehen sie wie auch die Bundesregierung davon aus, dass die deutsche Wirtschaft im kommenden Jahr trotz dieser Widrigkeiten wieder wachsen wird; nicht viel, aber immerhin. Die Inflation nimmt kontinuierlich ab und ist im Oktober auf den niedrigsten Stand seit mehr als zwei Jahren gefallen. Die Wirtschaftsweisen sehen die Inflation für 2024 bei 2,4 Prozent. Lieferengpässe lösen sich auf. Die Erwerbsquote in Deutschland liegt so hoch wie noch nie. Erst vor einigen Tagen haben wir erstmals die Schwelle von 46 Millionen Erwerbstätigen überschritten. In den nächsten Wochen und Monaten werden viele Geflüchtete aus der Ukraine ihre Integrationskurse beenden, und ich kann Sie angesichts von 120 000 unbesetzten Stellen im Einzelhandel nur ermutigen: Nutzen Sie dieses Potenzial! Gut für die Bürgerinnen und Bürger und für den Handel gleichermaßen ist auch, dass die Reallöhne erstmals seit mehr als zwei Jahren wieder gestiegen sind. Das verdanken wir verantwortungsvollen Sozialpartnern, und auch die Bundesregierung hat dazu beigetragen, indem wir im Rahmen der Konzertierten Aktion den Weg für steuerfreie Einmalzahlungen geebnet haben. Die positive Entwicklung wird sich im nächsten Jahr fortsetzen, übrigens auch bei den Renten, die der Lohnentwicklung ja immer mit gewisser Verzögerung folgen. Das alles kommt nicht von ungefähr, sondern ist Ausweis der Stärke und Robustheit des Standorts Deutschlands. Und, ja, dazu müssen auch die politisch Verantwortlichen ihren Beitrag leisten! Ich möchte das an vier Themen festmachen, erstens der Energie. Darüber ist hier sicherlich viel gesprochen worden. Aber deshalb ist die wichtigste Feststellung: Die Horrorprognosen, die wir im letzten Jahr hatten, sind nicht eingetreten. All das, was uns vorhergesagt wurde, als Russland seine Gaslieferungen nach Deutschland eingestellt hat ‑ immerhin 50 Prozent unserer Gasversorgung ‑ hat sich nicht bewahrheitet – deshalb, weil wir im Rekordtempo die Flüssiggasterminals an den norddeutschen Küsten ausgebaut haben, weil wir neue Importwege über die westeuropäischen Häfen gesucht haben, weil wir mehr Gas aus Norwegen bekommen, aber weil es auch immer mehr eine Wirkung zeigt, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland vorankommt. Bei Windrädern, bei Netzen und beim Wasserstoff haben wir viele, viele Fortschritte erreicht. 80 Prozent des Stroms, den wir 2030 bekommen wollen, soll aus erneuerbaren Energien stammen. Damit ist auch die Grundlage dafür gelegt, dass wir bezahlbare Strompreise haben werden; denn es ist eine billige Form der Stromproduktion, mit der wir nicht von Lieferanten fossiler Energien aus anderen Ländern abhängig sind, die immer einmal wieder an der Preisschraube drehen und uns dann entsprechende ökonomische Schwierigkeiten machen. 80 Prozent, das bedeutet übrigens „von einer größeren Menge“; denn tatsächlich müssen wir die Stromproduktion in Deutschland ausweiten. Genau das ist gegenwärtig der Fall; denn vieles von dem, was in der Zukunft wichtig sein wird, wird elektrifizierter sein, als es heute der Fall ist. Deshalb bin ich ziemlich froh über die wachsende Zahl von PV-Anlagen, die man auf Dächern des Handels sieht, aber auch über die wachsende Zahl von Ladesäulen auf Parkplätzen. Deshalb bleibt auch in der Zukunft das für die Bezahlbarkeit Wichtigste, das wir zustande bringen können, dass wir dafür sorgen, dass die erneuerbaren Energien ausgebaut werden. Sie wissen: Wegen der Übergangssituation, in der wir uns befinden ‑ mit den noch immer bedeutenden fossilen Ressourcen, der Tatsache, dass sie so auf die Preise durchschlagen, und der Notwendigkeit, diese langfristige Entwicklung strukturell billiger Strompreise möglich zu machen ‑, haben wir dafür gesorgt, dass die politischen Kosten für die Strompreise bei den produzierenden Unternehmen weggenommen werden. Da fragt sich mancher: Warum nicht auch ich? – So ist es immer, wenn man solche Entlastungen und Verbesserungen organisiert. Aber die Antwort ist sehr klar: Neben den fiskalischen Begrenzungen, die wir haben, geht es doch darum, dass wir dort, wo sonst Produktion ins Ausland weggehen könnte, einen Beitrag dazu leisten wollen, dass das hierzulande stattfinden kann. Das wirkt sich dann auch auf Einkaufspreise und alles andere aus, wenn die Strukturen, die für das, was notwendig ist, so sehr auf Strom angewiesen sind, in dieser Weise unterstützt werden. Das Zweite, das für unsere Zukunft von großer Bedeutung ist und an das wir dringend heran müssen, ist die Planungsbeschleunigung. Nun hat man sich ja als Politiker schon fast nicht mehr getraut, darüber zu reden, weil fast alle von Ihnen in ihrem Leben wahrscheinlich schon einmal gedacht haben: „Das habe ich auch schon gehört.“ Ständig wird irgendwie Bürokratieentlastung versprochen, ständig kommen neue Bürokratieentlastungspakete. Wir machen auch eines, das vierte. Aber man hat immer das Gefühl: „Ich merke es nicht, und geredet haben schon viele.“ Deshalb, finde ich, brauchen wir in dieser Frage einen großen Durchbruch, und das ist das, was ich einen Deutschlandpakt genannt habe. Wir müssen sicherstellen, dass wir tatsächlich zulangen, dass wir gewaltig zugreifen und versuchen, Dinge zu ändern, damit in Deutschland schneller entschieden wird, damit Bürokratie abgebaut wird und damit das bei den Entscheidungen real messbar wird, die zum Beispiel auch Unternehmen treffen. Weil es ja doch ‑ ich will nicht „Jahrhundertwerk“ sagen ‑ ein Werk von mehreren Jahrzehnten ist, dass wir so weit gekommen sind, wie wir heute sind, muss man sich natürlich auch an alle Beteiligten gleichermaßen wenden; denn über Jahrzehnte haben Bundesregierungen, Mitglieder des Deutschen Bundestags, Landesregierungen, Landkreise und Kommunen daran gearbeitet, dieses Vorschriftendickicht zu erarbeiten, mit dem wir heute zu kämpfen haben. Ehrlicherweise muss man sagen: Manche der gesetzlichen Regelungen, die wir heute haben, sind gar nicht mehr administrierbar. Niemand weiß, wie er das machen soll. Sie fürchten sich vor irgendwelchen Auskünften, die Sie geben müssen, mit tausend Fragen, die für irgendeine Planungsentscheidung beantwortet werden müssen. Diejenigen, die Ihnen die Fragen schicken, fürchten sich auch. Denn auch sie müssen damit ja umgehen. Ständig werden irgendwo Gutachten gebraucht. Ich bin davon überzeugt, dass wir gar nicht so viele Gutachter haben, wie wir bräuchten, um all diese Gutachten in der nächsten Zeit zu erstellen. Deshalb muss ordentlich Remedur geschaffen werden. Mit dem Deutschlandpakt haben wir mit den Ländern hundert konkrete gesetzliche Regelungen aufgeschrieben, die wir in kurzer Zeit ändern, damit in Deutschland alles schneller geht. Natürlich brauchen wir auch Zukunftsinvestitionen in Deutschland, ganz besonders was die Infrastruktur betrifft. Der Handel kann ein großes Lied davon singen. Wir müssen die Infrastruktur weiter ausbauen und haben deshalb erhebliche Investitionen in diesem Bereich vorgesehen und geplant. Ohne, dass ich jetzt auf alle Einzelheiten dessen eingehen kann, welche Schlussfolgerungen wir aus dem jüngsten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ziehen werden, kann ich sagen: Dass wir eine Rekordquote bei Investitionen erreichen, wird in jedem Fall gewährleistet sein. Wir werden das sicherstellen. Denn es ist für die Funktionsfähigkeit unserer Volkswirtschaft von größter Bedeutung. Meine Damen und Herren, was wir auch brauchen ‑ darüber habe ich schon ein bisschen gesprochen ‑, sind Arbeitskräfte, Fachkräfte. Deshalb ist es für mich sehr berührend, dass sich hier, bevor ich auf die Bühne getreten bin, junge Frauen und Männer, die Auszubildende im Handel sind, dargestellt und dass sie gezeigt haben, dass es eine Zukunft für sie selbst, für den Beruf, den sie ergriffen haben, aber auch im Handel und mit ihren Möglichkeiten gibt. Ich bin davon überzeugt, dass es darum auch in Zukunft gehen wird. Um unsere Wirtschaft aufrechterhalten zu können, müssen wir dafür sorgen, dass wir immer genügend Arbeitskräfte haben. Das wird viel mit dem zu tun haben, was wir selbst können, also mit der Ausbildung junger Leute, die die Schule verlassen. Dabei brauchen wir noch neue Anstrengungen, weil es nicht gelingt, alle Ausbildungsstellen zu besetzen und weil es trotz der Tatsache, dass es mehr Ausbildungsstellen gibt als Nachfrage, auch nicht gelingt, alle jungen Leute, die eine Ausbildung suchen, in eine Ausbildung zu bringen. Es wird unsere große Aufgabe sein, das zu ändern. Es gibt auch eine Ausbildungsfrage, die sich später stellt. Ich bin immer wieder ganz beeindruckt, wenn ich die Gelegenheit habe, bei Unternehmensbesuchen zu sehen, wie das funktioniert. Es geht um die Frage: Was ist eigentlich mit den 30-, 40- und 50-Jährigen? ‑ Mancher sucht dringend nach neuen Arbeitskräften, die fachlich qualifiziert sind, hat sie als Angelernte aber schon im eigenen Unternehmen. Warum nutzen wir nicht die neuen Möglichkeiten, die geschaffen worden sind, um diese bereits bekannten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in großer Zahl zu qualifizieren und als Fachkräfte im eigenen Unternehmen zu halten? Ich habe jedenfalls gesehen, dass das funktioniert. Das erste Mal habe ich mich mit einer solchen Frage beschäftigt, als ich Arbeitsminister war, während der damaligen Finanzkrise und im Zusammenhang mit dem Kurzarbeitskonzept, das ich seinerzeit entwickelt habe. Damals konnte ich fast alle Fälle, in denen das während der Kurzarbeit genutzt worden war, persönlich kennenlernen. So wenige waren es. Aber jetzt sehe ich schon, dass das in vielen Unternehmen im großen Stil gemacht wird. Es ist sehr berührend, zu sehen, dass 50-jährige Männer und Frauen in der Firma, in der sie tätig sind, noch einmal eine Berufsqualifizierung gewählt haben und damit für die nächsten Jahre gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Betrieb sind. Ich glaube, das ist wichtig. Deshalb geht es mir schon darum, dass wir diese Möglichkeiten nutzen. Vielleicht darf ich noch eine Bemerkung ergänzen. Während der Coronapandemie wurde den Arbeitskräften im Handel und den Kassiererinnen und Kassierern viel Beifall geklatscht. Das war sehr richtig. Das war wohltuend. Das war auch bitter nötig. Denn sie haben in einer schwierigen Zeit durchaus Risiken in Kauf genommen, um im sprichwörtlichen Sinne den Laden am Laufen zu halten. Noch einmal danke dafür! Zu klatschen, wenn man selbst in Not ist, ist okay. Aber der Respekt, der damals bezeugt worden ist, und die Wertschätzung für diese Arbeit, die sollten auch jetzt, wenn gerade kein Corona in diesem Ausmaß in unserem Land grassiert, existieren. Deshalb werbe ich sehr dafür, dass wir versuchen, das für die Zukunft hinzubekommen. Eine letzte Bemerkung zum Thema Fachkräfte: Ich will klarmachen, dass ich weiß, dass es allein mit der Beschäftigung neu ausgebildeter junger Leute nicht gehen wird, dass es nicht reicht, Arbeitsbedingungen familienfreundlicher zu machen und mehr Ganztagsbetreuung in Kitas und Schulen zu organisieren, obwohl das hilft. Ich weiß, dass es nicht reicht, nur Ältere neu mit Beschäftigungschancen zu versehen, obwohl es sehr viel ändern würde, wenn 58-Jährige und 61-Jährige gute Einstellungschancen in unserem Land hätten. Aber wir werden auch Arbeitskräfte aus dem Ausland brauchen. Deshalb bin ich sehr stolz darauf, dass wir in dieser Zeit mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das wir auf den Weg gebracht haben, die modernste rechtliche Grundlage dafür geschaffen haben, dass das in Deutschland funktioniert. Wir sind im internationalen Vergleich vornan. Wir sorgen jetzt dafür, dass die Bürokratie abgebaut wird, damit das einfacher gelingt, mit vielen, vielen Einzelregelungen. Aber wir haben diese Möglichkeit. Wir haben auch eine Erfahrung ‑ ich habe es eben schon gesagt ‑: 46 Millionen Erwerbstätige, das ist der höchste Stand der Beschäftigung in Deutschland seit Ewigkeiten. So viele Erwerbstätige hat es noch nie gegeben. Das hat etwas damit zu tun, dass in den letzten Jahren Arbeitskräfte aus dem Ausland gekommen sind, viele davon aus der EU. Sechs Millionen Menschen sind in den Arbeitsmarkt gegangen. 13 Millionen Boomer werden demnächst in Rente gehen. Ich sehe hier einige, die auch so etwa in dieser Altersgruppe sind. Sie hier gehen natürlich nicht in Rente. Aber von den anderen werden es einige tun. Deshalb ist meine feste Überzeugung, dass wir das auch für die Zukunft hinbekommen müssen. Wir haben jetzt die Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass das funktioniert. Weil es eine aktuelle Debatte ist, auch dieser Satz: Weil wir modern sind, wenn es um Fach- und Arbeitskräfteeinwanderung geht, weil wir denjenigen, die herkommen, Integrationsperspektiven, und denen, die gut integriert sind und die deutsche Sprache sprechen, eine Chance bieten auch die Staatsangehörigkeit unseres Landes zu erwerben, wie es in den USA seit 200 Jahren der Fall ist, haben wir gleichzeitig auch die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir das Management und die Begrenzung der irregulären Migration hinbekommen. Beides sind zwei Seiten einer Medaille. Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, dass wir gute Möglichkeiten haben, unser Land voranzubringen. Sie spielen dabei eine große Rolle. Was wir brauchen, sind Vertrauen und Zuversicht, mit denen wir die Probleme unseres Landes lösen, und zwar durch ‑ ich habe es gesagt ‑ eine verlässliche und bezahlbare Energieversorgung, durch schnellere Planungsverfahren und weniger Bürokratie, durch die längst überfällige Modernisierung unserer Infrastruktur und durch die Sicherung von Arbeitskräften. Die Weichen dafür haben wir gestellt. Deshalb wird sich auch ‑ jedenfalls ist das meine Hoffnung ‑ die Zuversicht einstellen, die Sie brauchen, damit sich in unserem Land diejenigen, die Ihre Geschäfte besuchen wollen, in guter Stimmung dafür finden. Deshalb geht es darum, diese Dinge schnell zu tun und die Stärken Deutschlands herauszustellen und nicht schlechtzureden. Dann bleiben wir gemeinsam am Ball. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des 18. Gewerkschaftstags der NGG am 13. November 2023 in Bremen
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Mon, 13 Nov 2023 00:00:00 +0100
Bremen
Was für ein Übergang: „I Want To Break Free“, und dann die Gelegenheit, ein paar Worte zu sagen. Aber in der Tat geht es schon darum, dass wir alle uns dafür einsetzen, in einer Gesellschaft zu leben, in der man Respekt genießt, in der man sich darauf verlassen kann, dass das, was man leistet, auch angemessen gewürdigt wird, und in der man etwas zu sagen hat. Darum geht es auch mit diesen und vielen anderen Worten, die wir heute gehört haben. Ich bin sehr dankbar, dass ich heute hier auf diesem Gewerkschaftskongress sprechen kann; denn diese Gewerkschaft weiß so genau wie keine andere, was in diesem Land los ist. Es gibt Unglaubliche, die sehr viel arbeiten und sehr schwere Arbeit leisten, aber dafür nicht gut bezahlt werden. Auch wenn das wahrscheinlich heute schon mehrfach gesagt worden ist, berührt mich unverändert, was es eigentlich bedeutet hat, dass es mit der Einführung des Mindestlohns vor einiger Zeit eine Gehaltserhöhung für sechs Millionen Bürgerinnen und Bürger des Landes gegeben hat. Das heißt, vorher haben sie weniger verdient. Als wir jetzt den Mindestlohn auf 12 Euro angehoben haben, hat es noch einmal etwa sechs Millionen gegeben, die danach ein besseres Gehalt gehabt haben ‑ kein ausreichendes und nichts, von dem man große Sprünge machen kann. Aber vorher haben sie weniger verdient. Ich finde, wir wollen und sollten in einer Gesellschaft leben, in der alle sicher sein können, dass sie ordentlich bezahlt werden. Wir müssen alles dafür tun, dass das auch die Realität unseres Landes ausmacht. Für mich ist das auch ein Ausdruck von Wirksamkeit gewesen. Es zeigt, dass es etwas bedeutet, was man tut, und manchmal auch, was man will. Aber es bedeutet vor allem, dass die Verhältnisse und die Lebenssituation so vieler Bürgerinnen und Bürger dieses Landes eben nicht egal sind. Das ist genau das, was wir mit vielem, was wir miteinander tun, auch ändern müssen. Da müssen wir dazu beitragen, dass die Dinge besser werden. Der Mindestlohn ‑ das will ich klar sagen ‑ ist ein Mittel. Er ist eine Untergrenze. Aber er ist nicht das, was ein ordentlicher Tariflohn darstellt. Deshalb geht es zum einen darum, dass wir Mindestlöhne angemessen erhöhen. Aber zum anderen müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass Tarifbindung in diesem Land eine größere Bedeutung hat als heute. Yasmin hat es angesprochen, und ich will dazu auch nicht schweigen: Aus meiner Sicht ist das, was mit der jetzt anstehenden Erhöhung passiert, nicht in Ordnung. Wir haben gesagt ‑ die NGG war die Gewerkschaft, die mit als Erste dafür gekämpft hat, dass es einen Mindestlohn in Deutschland gibt ‑: Wir wollen einmal das Prinzip durchbrechen, dass das sozialpartnerschaftlich in der Mindestlohnkommission verhandelt wird ‑ aber natürlich nicht mit der Idee, dass dann entgegen aller Tradition von Sozialpartnerschaft bei der ersten Entscheidung nach dieser gesetzlichen Mindestlohnerhöhung eine Mehrheitsentscheidung gegen die Gewerkschaften stattfindet. Das können wir nicht auf sich beruhen lassen. Weil Tarifbindung wichtig ist, will ich auch sagen: In der Tat arbeiten wir daran, das, was wir uns vorgenommen haben, umzusetzen. Das heißt, dass wir auch entsprechend sicherstellen wollen, dass bei öffentlichen Aufträgen und Vergaben berücksichtigt wird, dass die Löhne auch so sind, wie es sich aus Tarifverträgen ergibt. Deshalb werden wir an dem Vergabegesetz arbeiten und die versprochenen Veränderungen auch durchsetzen. Ich habe am Anfang den Blick bewusst und viel mehr, als manche sich das denken, darauf gerichtet, dass viele nicht so viel verdienen. Auch ein Blick in die Statistiken zeigt einem das Gleiche, was man immer wieder erfährt, wenn man in die Betriebe hineinguckt und weiß, was real verdient wird. Bevor ich Abgeordneter wurde, habe ich viele Jahre als Anwalt für Arbeitsrecht gearbeitet und Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer, Betriebsräte und Gewerkschaften vertreten. In den vielen Jahren, in denen ich das gemacht habe, habe ich mir ein sehr klares Bild darüber verschafft, wie Löhne und Gehälter wirklich sind und wie sich die Arbeitsbedingungen real zutragen. Für mich ist daher ganz zentral, dafür zu arbeiten, dass wir immer im Blick haben, wie es wirklich ist. Dazu gehört für mich, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun, um ein besseres Zurechtkommen möglich zu machen. Ich bin sehr froh, dass wir bei den vielen krisenhaften Herausforderungen, die wir jetzt hatten, viele Entscheidungen getroffen haben, die sich unmittelbar auch auf diejenigen ausgewirkt haben, die im unteren Bereich der Lohnskala berufstätig sind. Wir haben gesagt, wir wollen dafür Sorge tragen, dass die Sozialversicherungsbeitragsbelastung in diesem Einkommensbereich reduziert wird. Wer sehr wenig verdient, hat manchmal eine Nettogehaltserhöhung von 50 Euro durch die Entscheidung bekommen, dass wir die Zone mit geringeren Beiträgen für die gleiche Leistung bis auf 2000 Euro ausgedehnt haben. Wir haben dafür Sorge getragen, dass es steuerliche Erleichterungen gibt, die auch in diesem Bereich gelten. Wir haben dafür Sorge getragen, dass jemand, der trotzdem nicht genug verdient, einen besseren Zugang zu Wohngeldleistungen haben und sie beantragen kann und dass auch mehr das bekommen. Des Weiteren haben wir dafür Sorge getragen, dass es neben dem Wohngeld eine Möglichkeit gibt, besser zurechtzukommen, wenn man seine eigene Familie ernähren muss. Deshalb haben wir entschieden, dass das Kindergeld für das erste, zweite und dritte Kind auf 250 Euro angehoben wird. Der Kinderzuschlag wird ebenfalls auf diese Größenordnung angehoben. Alles zusammen sind die größten Verbesserungen der Einkommenssituation für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im unteren Bereich, die es in den letzten 20, 30 Jahren gegeben hat. Ich finde, das waren richtige Entscheidungen, nicht nur wegen der krisenhaften Zeiten. Wir werden da weitermachen ‑ entlang der Dinge, die wir zu bewältigen haben, und der Aufgaben, die wir zu lösen haben. Gleichzeitig sind wir aber auch herausgefordert, uns mit den vielen großen Krisen zu beschäftigen. Einige haben das bereits angesprochen. Wir sind losgegangen, als die Coronapandemie noch im Gange war. Kaum einer erinnert sich daran, aber im Winter 2021 war das noch ein Thema. Wir sind weitermarschiert, als der russische Angriffskrieg auf die Ukraine begann. Dieser Krieg, der bis heute fortgesetzt wird, führt dazu, dass in Europa, in unserer unmittelbaren Nähe, jeden Tag Kinder, Ältere, Familien, Frauen und Männer sterben, weil jemand Bomben und Raketen auf das Land der Ukraine wirft, damit er es erobern kann. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, habe ich eine Zeitenwende genannt ‑ eine Zeitenwende, weil die Verständigung, die wir in Europa hatten, dass Grenzen nicht mit Gewalt verschoben werden, mit dem russischen Angriffskrieg aufgekündigt worden ist. Das ist der Grund, warum wir die Ukraine unterstützen. Für mich ist es sehr bedrückend zu sehen, dass dieser Krieg so lange dauert. Klar, Putin hat geplant, in zwei bis vier Wochen ein ganzes Land zu erobern. Man muss ihn auch sehr wörtlich nehmen; denn er hat ja alles, was er jetzt macht, angekündigt. Er hat gesagt, die Ukraine und Belarus ‑ das hat sogar der dortige Diktator gehört ‑ gehören eigentlich zu Russland, und das will er sich einverleiben. Das ist die Realität, und darum geht es. Deshalb ist auch klar, dass wir verstanden haben, was das für uns nicht nur mit Blick auf die Ausrichtung unserer Verteidigungs- und Sicherheitspolitik und die Unterstützung der Ukraine, sondern auch in ökonomischer Hinsicht bedeutet. Nach den unglaublich vielen Programmen, die notwendig waren, um die ökonomischen und sozialen Folgen der Coronapandemie zu bewältigen, mussten wir jetzt sehr viele Entscheidungen treffen, deren wichtigstes Ziel ist zu verhindern, dass die Ökonomie, die Wirtschaft in Deutschland aufgrund des Krieges, den Russland führt, und der Entscheidung Russlands, zum Beispiel die Energieversorgung in Deutschland einzustellen und die Gaslieferungen nicht mehr fortzusetzen, zusammenbricht. Wir haben es geschafft, das zu bekämpfen. Wir sind durch den Winter gekommen, ohne dass es flächendeckend Fabrikschließungen gegeben hat, ohne dass die Wohnungen kalt geworden sind und ohne dass es eine lang anhaltende zehnjährige Wirtschaftskrise als Folge dieser Entscheidung gegeben hat. Niemand hätte uns das zugetraut. Das ist, wie ich finde, eine große Gemeinschaftsleistung in Deutschland. Zu den Maßnahmen, die wir ergriffen haben, gehört selbstverständlich, dass wir alles dafür tun, damit die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das auch bewältigen können. Ein paar Maßnahmen habe ich bereits genannt. Eine möchte ich noch einmal herausheben, weil sie von den Gewerkschaften auch genutzt wurde. Wir haben die Möglichkeit geschaffen, Sonder- und Einmalzahlungen steuer- und abgabenfrei tätigen zu können, damit in dieser drängenden Zeit bei den Bürgerinnen und Bürgern netto mehr ankommt. Ich bin froh, dass die Gewerkschaften diese Gelegenheit genutzt haben und viele dieser Vereinbarungen zustande gekommen sind. Zu den Konsequenzen dieses Krieges gehört auch, dass uns noch klarer geworden ist, wie sehr die Energiepreise für unsere wirtschaftliche Entwicklung von großer Bedeutung sind. Damit jetzt nicht alles schlecht läuft, haben wir ‑ ich habe das eben schon gesagt ‑ einen Kreditfonds, einen Stabilisierungsfonds mit bis zu 200 Milliarden Euro aufgesetzt, um die Energiepreise zu subventionieren und zu ermöglichen, dass man angesichts der Tatsache, dass die Preise für Gas, Öl und Kohle durch die Decke gegangen sind und vieles nicht mehr weitergegangen wäre, zu Hause seine Rechnungen noch bezahlen kann. Auch das hat uns durch diese Krise geholfen. Das muss uns auch eine Lehre sein, um zu verstehen, dass eine Sache richtig bleibt: Wir müssen diese Abhängigkeiten sehr schnell und sehr zügig reduzieren. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass wir unsere Energieversorgung auf erneuerbare Energien aufbauen. Das ist billiger, das ist stabiler. Diese Versorgung kann auch niemand per Beschluss irgendwo in einer Regierungszentrale einstellen. Das wollen wir mit den vielen Gesetzen schaffen, die wir gemacht haben. Mit dem gleichen Tempo, mit dem die Flüssiggasterminals an den norddeutschen Küsten entstanden sind, sollen jetzt die Offshore-Windkraft, die Onshore-Windkraft, die Biomasse, die Wasserkraft und das Stromnetz ausgebaut werden, damit wir am Ende dieses Jahrzehnts tatsächlich 80 Prozent erneuerbare Energien erreichen und damit eine stabile bezahlbare Energieversorgung in Deutschland möglich machen, die global wettbewerbsfähig ist. Damit das bis dahin jeder hinbekommt, werden wir jetzt neben der unmittelbaren Bekämpfung der unglaublichen Preissteigerungen, die wir nach dem russischen Angriffskrieg gesehen haben, auch etwas dafür tun müssen, damit die Preise bezahlbar bleiben. Wir haben deshalb vorgeschlagen, alle politischen Kosten und alle Kosten, die von außen auf die Strompreise wirken, für die Unternehmen, um die es geht und die hohe Kosten aufgrund der Stromrechnungen haben, wegzunehmen. Wir haben entschieden, dass die Stromsteuer für das produzierende Gewerbe auf das Minimum, das EU-rechtlich zulässig ist, gesenkt wird. Alle Betriebe, auch diejenigen, die von den bisherigen Regelungen profitiert haben, profitieren dann besser als bisher, auch viele weitere, bei denen das bisher nicht der Fall war. Das ist eine massive, unverändert milliardenschwere Entlastung zulasten des Steuerzahlers, aber zugunsten einer vernünftigen wirtschaftlichen Entwicklung. Das ist genau der richtige Vorschlag, wie ich finde. Wir haben auch entschieden, dass wir die Voraussetzung dafür schaffen wollen, dass die Betriebe, die ganz viel Strom verbrauchen, weiter dabei unterstützt werden, das zu schaffen, und zwar mit Dingen, die hier nicht jeder auswendig aufsagen kann, aber die trotzdem ziemlich aufwendig sind wie Strompreiskompensation und Super-Cap. Aber es sind Regelungen, die dazu beitragen, dass es wirklich alle schaffen können. Genau das ist das Ziel unserer Entscheidungen. Lasst mich das auch benennen, weil es um ein Thema geht, das für die Zukunft wichtig ist. Viele sind sich nicht sicher, ob das gut ausgeht. Wir sind die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Wir haben mit 46 Millionen Erwerbstätigen den höchsten Beschäftigungsstand in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. So viele hat es noch nie gegeben. Das muss man sich immer klarmachen. In dieser Situation müssen wir natürlich schauen, wie das in 10, 20 und 30 Jahren sein wird. Aus meiner Sicht gibt es darauf eine klare Antwort: Das wird uns nur gelingen, wenn wir technologisch vorne dabei sind, wenn wir die Veränderungen durchführen, die jetzt notwendig sind, um zum Beispiel CO2-neutral zu wirtschaften, um von der Digitalisierung zu profitieren. Wir müssen dies so voranbringen, dass es für unsere Volkswirtschaft dazu beiträgt, dass wir eine gute Zukunft haben. Meine Sicht ist: Das kann man mit den Maßnahmen schaffen, über die ich hier gesprochen habe, und wenn alles sehr viel schneller geht. Das ist eine der Entscheidungen, die wir gerade unter dem Thema Deutschlandpakt getroffen haben, mit dem wir auch sicherstellen wollen, dass es jetzt nicht mehr so ist, dass eine Windkraftanlage sechs Jahre zur Genehmigung braucht oder eine Fabrik, die neu errichtet wird, ein sehr langfristiges Projekt ist. Das alles wird schneller, zügiger, als es heute der Fall ist. Ich habe mir den Chemiepark in Leuna angeschaut. Für alle, die noch nicht dort waren: Dies war eine interessante Besichtigung. Dabei habe ich festgestellt, wie er errichtet worden ist: Anfang der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts auf der grünen Wiese, in zwei Jahren, mit Techniken, die es bis dahin nur im Labor gab, und dann 10 000 Beschäftigten. Wer könnte sich heute vorstellen, dass es bis dahin überhaupt ein Genehmigungsverfahren gegeben hätte? Ich finde, das muss uns nicht dazu führen, dass wir jetzt nicht mehr hinschauen. Aber dass es schneller geht, ist doch angesichts der Tatsache, dass der Chemiepark immer noch da ist, ein Zeichen, das wir erkennen sollten. Ich bitte mitzuhelfen, dass wir Deutschland schneller machen. Wir sind herausgefordert. Ich habe über die Herausforderungen gesprochen, die wir alle sofort im Kopf haben: Corona, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und jetzt auch noch der furchtbare, brutale Überfall der Hamas auf israelische Bürgerinnen und Bürger. Ich will wirklich sagen, dass die Bilder, die wir alle sehen konnten, die Barbarei, die Erniedrigung, die Dehumanisierung von Menschen, die nicht nur getötet, sondern auf schlimmste Weise misshandelt und erniedrigt worden sind, etwas sind, was ich mir nicht habe vorstellen können. Aber es ist passiert und war geplant. Es kam nicht plötzlich, sondern es ist geplant gewesen, genau das zu tun. Deshalb will ich als Kanzler unseres Landes und als Kanzler eines Landes, das geschichtlich verantwortlich ist für die Schoah und den Tod von Millionen Juden in Europa ist, sagen: Wir stehen an der Seite Israels. Es hat das Recht, sich zu verteidigen. Weil wir das tun und weil dies die Werte sind, um die es geht, setzen wir uns natürlich dafür ein, dass humanitäre Hilfe nach Gaza gelangen kann, dass Staatsangehörige anderer Länder, dass Kranke dort herauskommen können, dass es auch nicht passiert, dass es Übergriffe in der Westbank gibt. Wir setzen uns dafür ein, dass alles getan wird, dass die Geiseln freigelassen werden. Natürlich haben wir auch eine klare Perspektive; denn ein dauerhafter Frieden wird nur möglich sein, wenn Israel und ein palästinensischer Staat friedlich nebeneinander existieren können. Die Zweistaatenlösung ist etwas, was wir immer vertreten haben. Das tun wir auch jetzt, in dieser Situation, weil es um eine Perspektive geht. Aber dabei ist klar: Eine Organisation wie die Hamas, die wir in Deutschland zu Recht als terroristisch eingestuft haben, deren Ziel die Ermordung von Juden ist, die Vertreibung der israelischen Bürgerinnen und Bürger aus dem Gebiet, in dem sie heute leben, ist nicht die Grundlage für ein Zweistaatenmodell. Das ist eine Terrororganisation, und sie muss bekämpft werden. Herausgefordert sind wir auch in anderer Hinsicht. Eben sind ein paar Plakate hochgehalten worden, mit denen für eine „SPIEGEL“-Ausgabe geworben wurde. Ich will darauf gern eingehen, weil das ein Thema ist, das uns alle umtreibt. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Gelegenheit habe, ein paar Worte dazu zu sagen. Deutschland ist ein Land, dessen Wohlstand und Wirtschaftskraft ohne Millionen von Bürgerinnen und Bürgern, die über viele Jahrzehnte nach Deutschland eingewandert sind, nicht existieren würde. Manche erinnern sich noch an die Debatten Ende der 90er-Jahre, vor der Jahrtausendwende, als diskutiert worden ist, wie es mit unserer Sozialversicherung weitergeht, welche Rentenbeiträge, welche Krankenversicherungsbeiträge wir zahlen werden. Damals sind uns Zahlen vorgerechnet worden, mit denen wir jetzt bei 25 bis 30 Prozent Rentenbeitrag für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen wären. Wir sind weit darunter. Ähnliches kann man für die anderen sozialen Sicherungssysteme sagen. Es ist aus dem Grund, den ich eben geschildert habe, nicht so gekommen. Die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland ist nicht gesunken, wie es sich all die klugen Statistiker ausgerechnet hatten, sondern sie ist um Millionen gestiegen. Wir haben mehr Erwerbstätige in Deutschland, als es je in der Geschichte dieses Landes der Fall gewesen ist. Wir werden unseren Wohlstand nur sichern können, wenn wir auch weiter einen Zuwachs an Erwerbstätigen haben und wenn es uns gelingt, die 13 Millionen Frauen und Männer um die 60 Jahre, die demnächst als sogenannte Boomer in Rente gehen, zu ersetzen. Das wird nicht nur mit besseren Berufsausbildungsangeboten, mit Studienplätzen, mit Weiterbildung, mit besseren Bedingungen für junge Familien gelingen, damit Frauen und Männer arbeiten und sich um ihre Kinder kümmern können, sondern auch mit besseren Chancen für ältere Arbeitnehmer, die Ende 50 oder Anfang 60 sind und ihren Job verlieren. Das wird auch in Zukunft nur möglich sein, wenn es uns gelingt sicherzustellen, dass Fachkräfte, dass Arbeitskräfte aus anderen Ländern nach Deutschland kommen und hier mit anpacken, damit es in den Krankenhäusern klappt, damit es in den Fabriken klappt, damit es in den Pflegeeinrichtungen klappt und damit es auch in Hotellerie und Gastronomie klappt. Wir wollen, dass genau das auch in Zukunft möglich ist. Deshalb haben wir das modernste Fachkräfteeinwanderungsgesetz der Welt geschaffen. Das gibt es vergleichbar an keiner zweiten Stelle in der Welt. Selbst klassische Einwanderungsländer können uns in dieser Frage nicht mehr überbieten. Jetzt sorgen wir dafür, dass dieses schon beschlossene Gesetz aus dem Sommer dieses Jahres auch mit viel Bürokratieabbau einfacher umsetzbar wird, als es gegenwärtig oft der Fall ist. Aber es ist da, und wir senden damit die Botschaft: Das genau wollen wir erreichen. Wir haben diese Botschaft um ein Gesetzesvorhaben ergänzt, das demnächst zur Abstimmung ansteht. Denn wir wollen ja aus dem Fehler, den Deutschland gemacht hat, als die vielen, die man Gastarbeiter genannt hat, in den 60er- und70er-Jahren gekommen sind, eine Lehre ziehen. Die Arbeitskräftemigration nach Deutschland in dieser Zeit ist damals mit der Idee erfolgt: Alle gehen bald wieder. ‑ Hier sitzen einige, die vielleicht dabei waren, als man ihnen gesagt hat: Ihr seid ja bald wieder weg. Ich kann nur sagen: Auch von denen, die da gekommen sind, haben viele gedacht, es ist eine Episode in ihrem Leben. Aber es ist ganz anders gewesen. Nur, aus der Tatsache, dass das so ist, haben wir noch nicht genügend Schlüsse gezogen. Wer zu der Zeit in die USA, ein klassisches Einwanderungsland, eingewandert ist, der wollte als Erstes eine Arbeitserlaubnis ‑ die heißt ja Greencard und ist nicht wie bei uns; es ist aber das Gleiche ‑ und dann schnell die Staatsbürgerschaft haben. Dass wir jetzt sagen: „Wir wollen auch, dass diejenigen, die gut integriert sind, die einen Arbeitsplatz haben, die die deutsche Sprache können, die hier dabei sind, so wie in anderen Ländern zum Beispiel nach fünf Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen können“, das ist eine Botschaft, die über das hinausgeht, was wir sagen, nämlich dass wir das Ganze jetzt modernisieren wollen. Es ist die Botschaft: Wir wollen, dass, wer hierherkommt, wer hier arbeitet, wer sich hier integriert, in unserer Demokratie bitte auch mitentscheiden darf. Es kann auch nicht sein, dass so viele, die jeden Tag zur Arbeit gehen, nichts zu sagen haben, wenn in Deutschland gewählt wird. Das machen wir. Was wir auch machen, ist: Wir stellen das individuelle Grundrecht auf Asyl nicht infrage. Ich wehre mich gegen all diejenigen, die das Asylrecht rückgängig machen wollen. Wir müssen es verteidigen. Es ist in einer bitteren Zeit eingeführt worden. Als die Nazis hier geherrscht haben, sind Millionen Deutsche geflohen. Viele haben ihr Leben nur retten können, weil sie ins Ausland gekommen sind und irgendwo Schutz gefunden haben, übrigens auch viele derjenigen, die später politische Verantwortung in Deutschland hatten. Einige erinnern sich vielleicht noch an die furchtbaren Geschichten von Schiffen, die in Hamburg und Bremen abgelegt haben, mit Flüchtlingen aus Deutschland, die versucht haben, irgendwo von Bord zu gehen, um ihr Leben zu retten, und dann in Kuba, in den USA, an anderen Orten nicht heruntergekommen und wieder zurückgefahren sind. Viele davon sind dann in den KZs gelandet und doch noch gestorben. Deshalb gibt es in Deutschland das Asylrecht, und wir haben es zu beschützen. Jemand, der politisch verfolgt ist, der vor einem Krieg flüchtet und um sein Leben läuft, der muss auch in Deutschland Schutz finden können. Wenn wir wollen, dass es eine reguläre Migration von Arbeitskräften und Talenten gibt, und wenn wir wollen, dass wir das individuelle Asylrecht schützen, dann muss auch klar sein, dass diejenigen, die sich hier auf diesen Schutz berufen, aber die Schutzgründe nicht vortragen können, keine Perspektive haben, dass sie trotzdem für immer bleiben können. Das geht eben nicht gleichzeitig. Deshalb ist es wichtig, dass wir die irreguläre Migration reduzieren. Deshalb ist es wichtig, dass wir das Management der irregulären Migration besser in den Griff bekommen. Das fängt mit ganz banalen Sachen an, die erst mal gar nichts mit Gesetzen zu tun haben. Wenn jemand, der abgelehnt wird, vor Gericht dagegen vorgeht, dauert das in der ersten Instanz in Rheinland-Pfalz vier Monate und in einem anderen Bundesland 40 Monate. Dafür gibt es keine Gründe. Deshalb sage ich: Diese Dinge zu ändern und für ein effizienteres Management in dieser Frage zu sorgen, das ist die Grundlage dafür, dass wir das aufrechterhalten können, was wir wichtig finden, nämlich einen individuellen Schutz für diejenigen, die vor Verfolgung und vor dem Krieg fliehen müssen, und auch die Möglichkeit einer geordneten Zuwanderung von Arbeitskräften nach Deutschland. Beides gehört zusammen. Wer sich vor einer dieser drei Aufgaben drückt, der gefährdet jeweils die anderen. In dem Sinne bin ich sehr dankbar, dass das Thema Pappplakat noch einmal angesprochen wurde und ich die Gelegenheit hatte, ein paar Worte dazu zu sagen. Ich will zu dem zurückkommen, was uns hier versammelt. Ich bin überzeugt, dass die Demokratie nicht funktioniert, wenn sie nicht auch aus der Perspektive derjenigen gedacht wird, die arbeiten. Der Philosoph Axel Honneth hat vor einiger Zeit ein, wie ich finde, ganz nettes Buch über den arbeitenden Souverän geschrieben. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir nicht dieser Soap Opera folgen, die man manchmal sehen kann, in der sich lauter blendende Leute irgendwie in supertollen Berufen mit vier Fremdsprachen und sehr guten Gehältern über ihre neuesten Lebensentscheidungen austauschen, sondern dass wir sagen: Arbeit ist etwas Reales. Das ist schwer. Dazu gehört, dass es auch ordentliche Arbeitsbedingungen gibt. Das geht nicht ohne Gewerkschaften. Das geht nicht ohne Mitbestimmung. Das geht nicht ohne Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ich stehe dafür, dass das für Deutschland auch in Zukunft der Fall sein wird. Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Bundeswehrtagung „Zeitenwende gestalten“ am 10. November 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-bundeswehrtagung-zeitenwende-gestalten-am-10-november-2023-in-berlin-2236184
Fri, 10 Nov 2023 00:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Minister, lieber Boris, meine Damen und Herren, verehrte Repräsentanten der Militärseelsorge, sehr geehrter Herr Generalinspekteur der Bundeswehr, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Bundeswehrtagung, es war mir ein Anliegen, heute wieder bei Ihnen zu sein. Meine erste Bundeswehrtagung vor gut einem Jahr fand im Zeichen der Rückkehr des Imperialismus nach Europa statt. Damals wie heute gilt es, die richtigen Konsequenzen für unser Handeln aus Russlands Eroberungskrieg zu ziehen. Nämlich, diesen Angriff auf die elementaren Regeln des Völkerrechts mit Entschiedenheit, Klarheit und mit Stärke zu beantworten. Das haben wir getan und das tun wir – unverbrüchlich an der Seite der Ukraine, klar in der Solidarität mit unseren Alliierten, und unmissverständlich in der Entschlossenheit, unsere Bundeswehr durch Bereitstellung nie dagewesener Finanzmittel für ihre so wichtige Aufgabe gut auszustatten. Das alle wäre nicht möglich gewesen ohne Ihren unermüdlichen Einsatz, ohne den Einsatz Ihrer Kameradinnen und Kameraden. Dafür sage ich Ihnen heute: Vielen Dank! Die weltpolitische Lage bestärkt uns darin, wie wichtig und notwendig dieser Kurswechsel ist. Wir alle sind erschüttert über den grausamen Terror der Hamas und ihrer Unterstützer gegen Israel. Gemeinsam mit den Vereinigten Staaten und unseren europäischen Verbündeten und Partnern in der Region setzen wir diplomatisch alles daran, dass daraus kein Flächenbrand wird. Deutschlands Platz ist dabei an der Seite Israels. So bitter es ist: Wir leben in der Welt nicht in Friedenszeiten. Unsere Friedensordnung ist in Gefahr. Aber wir haben bewiesen, dass wir mit den Herausforderungen wachsen. Niemand kann heute mehr ernsthaft in Zweifel ziehen, worum wir uns in Deutschland lange herumgedrückt haben, nämlich, dass wir eine schlagkräftige Bundeswehr brauchen. Wir brauchen Streitkräfte, die in der Lage sind, unser Land zu schützen, Streitkräfte, die mit Fähigkeiten, Personal und Material bereitstehen, um die Sicherheit des Bündnisgebietes zu verteidigen, und zwar überall dort, wo die Allianz sie benötigt. Um das zu erreichen haben wir die Finanzierung der Bundeswehr nachhaltig gesichert. Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro ist ein erster, wichtiger Schritt. Damit erreichen wir 2024 das NATO-Ziel von zwei Prozent, erstmals seit mehr als drei Jahrzehnten. Doch es steht völlig außer Frage, dass die Zeitenwende, die Russlands Angriffskrieg bedeutet, ein langfristiges, dauerhaftes Umsteuern erfordert. Deshalb habe ich bereits am 27. Februar 2022 im Bundestag angekündigt, dass wir die Verteidigungsausgaben dauerhaft auf zwei Prozent anheben, und diese Zusage gilt. Sie ist einer neuen sicherheitspolitischen Realität geschuldet! Deshalb arbeiten wir an einem Anpassungspfad für den Verteidigungshaushalt, der dies auch nach Verausgabung des Sondervermögens sicherstellt. Denn nur wenn sich die Bundeswehr darauf verlassen kann, können auch Beschaffungsprozesse nachhaltig geplant und umgesetzt werden. Wobei klar ist: Geld ist nicht alles. Zentraler Handlungsauftrag, der aus der Zeitenwende folgt, ist die Überwindung der organisatorischen und bürokratischen Schwerfälligkeiten, die die Truppe seit Jahren ausbremsen. Dass dieses Beschleunigungssignal auch in der Truppe verstanden wurde, zeigt die Anzahl der sogenannten 25-Millionen-Euro-Vorlagen für den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages in diesem Jahr. Diese wird voraussichtlich mit über 50 einen Höchststand erreichen. Es ist auch ein gutes Zeichen, dass bereits mehr als die Hälfte und bis Jahresende voraussichtlich zwei Drittel des Sondervermögens vertraglich gebunden sein werden. So konnten wichtige Rüstungsprojekte wie zum Beispiel das Kampfflugzeug F-35, das Luftverteidigungssystem Arrow 3, neue schwere Transporthubschrauber und weitere Schützenpanzer Puma aus dem Sondervermögen finanziert werden und werden absehbar die Fähigkeiten der Bundeswehr erheblich verbessern. Bitte machen Sie weiter so. Gehen Sie auch komplexe Prozesse mutig an, machen Sie Dinge möglich. Zum Umgang mit der Zeitenwende gehört auch, Lehren aus dem aktuellem Kriegsgeschehen zu ziehen und unsere Ausrüstung und Beschaffung entsprechend anzupassen. Wir sehen jeden Tag in der Ukraine und auch in Israel, welche Gefahren von Drohnen und Raketen ausgehen. Die European Sky Shield Initiative zur europäischen Luftverteidigung ist daher von ganz zentraler Bedeutung für unsere Sicherheit. Ich habe diese Kooperation letztes Jahr in meiner Rede an der Prager Karlsuniversität vorgeschlagen, weil die Vorzüge eines gemeinsamen europäischen Vorgehens hier offensichtlich sind. So kann diese Initiative der Ausgangspunkt für eine noch viel engere Rüstungskooperation in Europa sein. Die brauchen wir – aus finanziellen, aber auch aus operativen, logistischen und bündnispolitischen Gründen. In diesem Sinne haben wir das Kampfflugzeugprojekt FCAS mit Frankreich und Spanien vorangebracht und werden nun auch das Kampfpanzerprojekt in deutscher Führung mit Frankreich zügig voranbringen. In diesem europäischen Verbund spielt die Bundeswehr bei der Verteidigung Europas eine zentrale Rolle. Deutsche Soldatinnen und Soldaten, deutsches Gerät sind schon heute wesentliche Sicherheitsgaranten an der Ostflanke des Bündnisses. Ich glaube der litauische Generalstabschef hier im Publikum wird mir da zustimmen. Unsere künftige, permanente Stationierung einer Brigade in Litauen ist aber nur die Speerspitze unseres Engagements im Osten. Auch in den anderen baltischen Staaten, in Polen, der Slowakei und in Rumänien, tragen wir zur Sicherheit des Luftraums bei, verstärken wir die Präsenz am Boden, aber auch die Abschreckungsfähigkeit des Bündnisses zur See. Diese Aufgabe, die wir im Rahmen der Rückversicherung unserer östlichen Nachbarn übernommen haben, wird uns auch in Zukunft begleiten. Das ist aber nur der Anfang; denn mit Umsetzung der Verteidigungsplanung der NATO werden wir noch weit stärker gefordert. Unsere geografische Lage in Europa bringt es mit sich, dass Deutschland als die zentrale Drehscheibe für die Allianz funktioniert. Wie stark wir da aufgestellt sind, davon konnte ich mich in diesem Jahr gleich mehrfach überzeugen: bei der Luftwaffenübung „Air Defender“ im Juni und vor nicht einmal drei Wochen in Köln, wo Soldaten der Bundeswehr und der US Army zusammen mit zivilen Akteuren wie den Blaulichtorganisationen die Zusammenarbeit und Logistik in komplexen Gefährdungssituation geübt haben. Dabei wurden auch die neu aufgestellten Heimatschutzregimenter einbezogen, unter Einsatz von Reservedienstleistenden. Auch das ist gelebte integrierte Sicherheit, wie wir sie in unserer Nationalen Sicherheitsstrategie beschreiben! Alles muss ineinandergreifen, damit die Sicherheit in unserem Land gewährleistet ist, damit wir auch wehrhaft bleiben. Ich habe es hier im letzten Jahr deutlich formuliert: Schwerpunktaufgabe der Bundeswehr ist die Landes- und Bündnisverteidigung, und das gilt weiterhin. Aber das heißt nicht, dass wir uns von der Welt abwenden. Wir tragen mehr denn je internationale Verantwortung und müssen dieser auch durch militärisches Engagement, wenn nötig, gerecht werden. Die große Bedeutung unseres Einsatzes im Nahen Osten, bei UNIFIL und im Irak ist uns in den letzten Wochen noch einmal ganz besonders vor Augen geführt worden. Gleichzeitig bringen wir Einsätze auch zu Ende. Wenn Sie nicht mehr erforderlich sind, aber auch ‑ so frustrierend das ist ‑, wenn die Ziele der Mission mangels Kooperation des Gastlandes nicht mehr zu erfüllen sind. Mit der Beendigung des MINUSMA-Einsatzes und der in diesen Wochen stattfindenden Rückverlegung deutscher Soldatinnen und Soldaten aus Mali endet eine Ära für die Bundeswehr, ohne dass wir mit der Situation in der Region zufrieden sein können. Dennoch war die Beteiligung richtig, weil die ursprünglichen Ziele der Mission, für die Sie Ihr Leben und Ihre Gesundheit riskiert haben, richtig waren, weil Menschenleben geschützt und ein vollständiger Kollaps Malis und ein Überrennen des Landes durch Terroristen verhindert worden sind. Ich danke deswegen allen, die über die Jahre hinweg daran Anteil hatten, für Ihren Einsatz! Das schließt ganz besonders auch den Dank an die Soldatinnen und Soldaten des aktuellen, 24. Einsatzkontingents ein. Für die umsichtige und besonnene Durchführung einer gefährlichen Rückverlegung unter, wie wir jeden Tag wahrnehmen können, schwierigsten Bedingungen. Zusätzlich zur Landes- und Bündnisverteidigung und dem internationalen Krisenmanagement sind Sie, unsere Streitkräfte, auch immer wieder der sprichwörtliche Helfer in Not. Sei es der Evakuierungseinsatz im Sudan, sei es Hilfe nach Naturkatastrophen in der Türkei oder in Slowenien – die Bundeswehr hat auch in diesem Jahr einmal mehr bewiesen, dass auf sie Verlass ist. Das beeindruckt nicht nur mich, sondern auch unsere internationalen Partner. Ich habe die Bundeswehr in den vergangenen Monaten häufig besucht, weil es mir wichtig ist, nachzuvollziehen, wie die Stärkung unserer Verteidigungsfähigkeit und der Bundeswehr vorankommt, weil ich Ihnen und Ihren Kameraden und Kameradinnen dafür politischen Rückhalt geben möchte und weil es mir wichtig ist, mit Ihnen im Gespräch zu blieben. Dabei habe ich mir auch ein Bild von der Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte in Deutschland machen können. Mehr als 7000 ukrainische Soldatinnen und Soldaten hat die Bundeswehr in diesem Jahr bereits ausgebildet. Die Ausbilderinnen und Ausbilder tragen an zentraler Stelle dazu bei, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer ihre Heimat verteidigen können. Darauf können Sie stolz sein, und ich bin überzeugt: Mit Ihrer guten Ausbildung helfen Sie, viele Leben zu retten. Vielleicht kann das ein Trost sein, wenn man am Ende der Lehrgänge ukrainische Kameradinnen und Kameraden in Richtung Front verabschieden muss. Wir sehen nämlich leider keine Anzeichen dafür, dass Russland seinen mörderischen Angriffskrieg in absehbarer Zeit einstellen und Truppen zurückziehen wird. Das aber ist ja das Ziel unserer Unterstützung. Wir bleiben daher auch in Zukunft gefordert, und wir halten Wort und werden die Ukraine weiter unterstützen – solange wie nötig! Daran lassen wir keinerlei Zweifel aufkommen. Zusätzlich werden wir auch Israel, wo immer nötig, bei der Ausübung seines Selbstverteidigungsrechts unterstützen. Ich danke der Bundeswehr für all diese Kraftanstrengungen, seien es die medial präsenten oder die unterhalb der öffentlichen Wahrnehmung stattfindenden. Meine Damen und Herren, in den vergangenen 18 Monaten haben wir nichts weniger als unsere militärische Kultur, die DNA bundesrepublikanischer Sicherheitspolitik, neu justiert. Ich bin Boris Pistorius sehr dankbar, dass er so umsichtig wie zielstrebig die notwendigen strukturellen Reformen im Ministerium und in der Truppe angeht. Er hat meine volle Unterstützung hierbei; denn nur wenn wir mit der Zeit gehen, können wir die Zeiten mitgestalten. In meinen Gesprächen landauf und landab spüre ich, dass die Wertschätzung in der Bevölkerung für das, was die Bundeswehr leistet, in diesen unruhigen Zeiten enorm gestiegen ist. Mir liegt am Herzen, den Dienst in Uniform mit all seinen Konsequenzen und die Anerkennung dafür noch weiter in die Mitte unserer ganzen Gesellschaft zu rücken; denn mehr Präsenz fordert mehr Verständnis und Respekt für die Truppe, und auch das spielt eine immer wichtigere Rolle: Verständnis und Respekt helfen auch bei der Personalgewinnung. Schließlich hat die Bundeswehr ein Alleinstellungsmerkmal: Sie ist zentraler Garant unserer Sicherheit und unserer Freiheit. In der breit aufgestellten Bundeswehr gibt es auch für die Breite unserer Gesellschaft einen Platz. Egal aus welchem Landesteil man kommt, welches Geschlecht oder welche Herkunftsgeschichte man hat, egal ob man akademisch oder praktisch interessiert ist, ob man sich für Luft- oder Seefahrt begeistert, ob man ein Talent für Cyber oder für Mechanik hat: Es kann jede und jeden mit Stolz erfüllen, zur Verteidigung unseres Landes beizutragen! Alle Ideen, wie wir das im öffentlichen Bewusstsein noch stärker verankern können, sind hochwillkommen. In diesem Zusammenhang begrüße ich die Idee, in Deutschland auch unsere Veteranen noch stärker zu ehren, vielleicht auch durch einen Veteranentag. Ich weiß, dazu gibt es bereits verschiedene Überlegungen im parlamentarischen Raum. Ich würde so eine Initiative aus der Mitte des Bundestages jedenfalls begrüßen. Meine Damen und Herren, mich stimmt das gemeinsam Erreichte sehr optimistisch. Im Eilschritt haben wir die richtigen Konsequenzen aus der Zeitenwende gezogen: mehr Investitionen in die Bundeswehr, klarer Fokus auf Landes- und Bündnisverteidigung, Unterstützung der Ukraine, mehr Tempo und mehr Entscheidungsfreude. Meine Bitte an Sie als Führungskräfte ist: Tragen Sie diesen Wandel in die Truppe! Belohnen Sie als Vorgesetzte innovatives Denken, leben Sie auch eine Fehlerkultur. Wie sagt man so schön: Fail, learn, repeat – fail better! Sie haben meine politische Rückendeckung dafür. Darauf können Sie sich verlassen!
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Gedenkveranstaltung zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November 2023 in Berlin
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Thu, 09 Nov 2023 00:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Schuster, sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Frau Präsidentin des Bundestags, sehr geehrte Frau Präsidentin des Bundesrats, sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sehr geehrter Herr Botschafter Prosor, liebe Frau Friedländer, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett, dem Bundestag und den Ländern, verehrte Ehrengäste, meine sehr geehrten Damen und Herren, einige von Ihnen waren vielleicht dabei, als Eli Fachler vor zehn Jahren hier an dieser Stelle von seinen Erinnerungen an die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 berichtete. Verborgen hinter den Gardinen der Familienwohnung erlebte er als 15-jähriger Junge damals mit, wie seine Synagoge hier in der Brunnenstraße geplündert und geschändet wurde. Er schilderte das Krachen der zerstörten Einrichtung, das Zersplittern der Holzbänke, das Klirren der zerstörten Fenster. Er schilderte seine Todesangst am Ende eines, wie er es formulierte, zunächst „gewöhnlichen Tages“, der mit dem Besuch der Schule begonnen hatte. Dass wir uns heute hier in der Beth Zion Synagoge versammeln können, haben wir allein der besonderen Lage dieses Gebäudes zu verdanken eng umgeben von weiteren Häusern. Die Täter wagten es nicht, hier Feuer zu legen zu groß die Gefahr eines Übergreifens der Flammen. So erschütternd es ist: Dass dieses Gebäude nicht vollständig in Schutt und Asche sank, verdanken wir am Ende der Banalität der konkreten Bebauung. Keine Nachbarn oder Augenzeugen waren zur Stelle, die den Tätern in den Arm fielen. Niemand stellte sich schützend vor dieses Haus, hier in der Brunnenstraße 33. Und auch nach jener Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, als Straßen im ganzen Land von den Glasscherben jüdischer Schaufenster übersät waren, als Jüdinnen und Juden aus ihren Wohnungen und Häusern hinaus verhaftet und abgeführt wurden, blieb offener Protest fast vollständig aus. Von wenigen couragierten Frauen und Männern abgesehen blieben die Deutschen stumm. Auf die vielfache Frage von Nachgeborenen, warum seine Generation denn nichts getan habe, als jüdische Deutsche 1938 massenhaft entrechtet, verschleppt und ermordet wurden, erklärte der Theologe Martin Niemöller nach dem Krieg die bittere Logik der schrittweisen Zerstörung eines Gemeinwesens. Bis mitten in die Gräuel der Shoah hinein habe man sich immer sagen können: Es trifft ja nicht mich, es trifft ja „die anderen“. Sie kennen den Ausspruch, er ist oft zitiert worden, und es gibt ihn in verschiedenen Fassungen: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Jude. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ Meine Damen und Herren, „wir“ und „die da“, die anderen, die nicht dazugehören: Mit dieser Einteilung beginnt der Abstieg einer Gesellschaft in die Katastrophe der Indifferenz, der Intoleranz, der Inhumanität, wie Martin Niemöller ihn beschrieben hat. Die nötige, die zentrale Antwort darauf gibt unsere Verfassung gleich in ihrem allerersten Satz: Die Würde des Menschen jedes Menschen ist unantastbar. Das ist keine bloße Feststellung das ist unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es, die Menschenwürde zu verteidigen; uns aktiv gegen die Unterteilung in „wir“ und „die da“, gegen Ausgrenzung, zu stellen. Meine Damen und Herren, Ausgrenzung trifft Jüdinnen und Juden seit Jahrhunderten besonders immer noch und immer wieder, auch hier in unserem demokratischen Deutschland, und das nach dem von Deutschen begangenen Zivilisationsbruch der Shoah. Das ist eine Schande. Mich empört und beschämt das zutiefst. Wenn 2023 wieder Türen und Wände mit Davidsternen beschmiert werden, um Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens auszugrenzen und ihre Wohnungen und Geschäfte zu markieren; wenn die Terroristen der Hamas für die Ermordung, die Quälerei, die Entmenschlichung ihrer Opfer auf unseren Straßen und Plätzen gefeiert werden; wenn jüdische Frauen und Männer Angst haben, offen ihre Religion, ihre Kultur, ihren Alltag zu leben, ihr grundlegendes Recht wahrzunehmen, sichtbar zu sein als Angehörige unserer Gesellschaft; wenn Brandsätze auf die Synagoge hier in der Brunnenstraße geworfen werden, 85 Jahre nach den Pogromen von 1938 – dann gerät in der Tat etwas aus den Fugen, Herr Schuster. Dabei darf es nicht darauf ankommen, ob Antisemitismus politisch motiviert ist oder religiös, ob er von links kommt oder von rechts, ob er sich als Kunst tarnt oder als wissenschaftlicher Diskurs, ob er seit Jahrhunderten hier gewachsen ist oder von außen ins Land kommt. Jede Form von Antisemitismus vergiftet unsere Gesellschaft, so wie jetzt islamistische Demonstrationen und Kundgebungen. Wir dulden Antisemitismus nicht nirgendwo. Im Kern geht es darum, das Versprechen einzulösen, das in den Jahrzehnten nach 1945 wieder und wieder gegeben wurde; das Versprechen, auf dem unser demokratisches Deutschland gründet; das Versprechen: „Nie wieder!“. Dieses Versprechen müssen wir gerade jetzt einlösen nicht nur in Worten, sondern vor allem auch in unserem Handeln. Nie wieder: Das bedeutet zuallererst den physischen Schutz von jüdischen Einrichtungen und Gemeinden. Diesen Schutz sicherzustellen ist, wie Sie, Herr Bundespräsident, vor kurzem formuliert haben, Staatsaufgabe und Bürgerpflicht zugleich. Aber das allein reicht natürlich nicht aus. Sie haben Recht, Herr Schuster: Wenn Jüdinnen und Juden in Deutschland hinter immer größeren Schutzschilden leben müssen, dann ist das unerträglich. Nie wieder: Das bedeutet daher auch, dass Polizei und Justiz geltendes Recht konsequent durchsetzen. Nichts, rein gar nichts keine Herkunft, keine politische Überzeugung, kein kultureller Hintergrund, kein angeblich postkolonialer Blick auf die Geschichte kann als Begründung herhalten, die Ermordung, das grausame Abschlachten Unschuldiger zu feiern. Jede Form von Antisemitismus, Terrorpropaganda und Menschenfeindlichkeit bekämpfen wir in Deutschland. Wer Terrorismus unterstützt, wer antisemitisch hetzt, den werden wir strafrechtlich verfolgen. Mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht regeln wir ganz klar, dass Antisemitismus einer Einbürgerung entgegensteht. Nie wieder: Das gilt nicht nur auf den Straßen und Plätzen unseres Landes, sondern auch im Netz, wo gezielte Falschmeldungen besonders junge Menschen erreichen, wo Weltbilder geformt, aber eben auch deformiert werden. Darum ist es wichtig, dass wir in dem, was wir tun, konsequent sind. Deshalb muss auch jeder wissen: Antisemitismus wer das macht, riskiert auch aufenthaltsrechtlichen Status. Es ist gut, dass die Europäische Kommission die neuen rechtlichen Möglichkeiten gegenüber großen Onlineplattformen, die wir mit dem Digital Services Act gemeinsam geschaffen haben, energisch nutzt. Verstöße der Plattformbetreiber soll Europa ahnden. Das ist richtig und nötig, denn systematische Desinformation und menschenverachtende Hetze gefährden die Basis unserer Demokratie. Nie wieder – das bedeutet, dass wir die Erinnerung an das von Deutschen begangene Menschheitsverbrechen der Shoah wachhalten. Die Verantwortung, die sich aus unserer Geschichte ergibt, müssen alle, die hier in unserem Land leben, und alle, die in diesem Land leben wollen, annehmen und als ihre eigene begreifen. Sie ist das Fundament unseres demokratischen Gemeinwesens. Die Einsicht in unsere gesellschaftliche und geschichtliche Verantwortung muss weitergegeben werden in Schulen, Universitäten, in der Ausbildung, in Integrationskursen und im tagtäglichen Leben. Damit die junge Generation historische Vorgänge begreift, für die es in ihren Familien keine Zeitzeugen mehr gibt, und damit wir im Einwanderungsland Deutschland auch jene erreichen, in deren Herkunftsländern über die Shoah nicht oder vollkommen anders gesprochen wird. Das ist bitter nötig. Zugleich dürfen wir denen nicht auf den Leim gehen, die jetzt ihre Chance wittern, über fünf Millionen muslimische Bürgerinnen und Bürgern pauschal den Platz in unserer Gesellschaft abzusprechen. Alle, die hier leben, müssen sich an demselben Maßstab messen lassen, und das ist unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung, die Vielfalt und Respekt gegenüber anderen einfordert und garantiert. Nie wieder – das bedeutet natürlich Freundschaft und Verbundenheit mit Israel. Die schreckliche Zäsur des 7. Oktober 2023 lässt nur einen Schluss zu: Deutschlands Platz ist an der Seite Israels. Israel hat das Recht, sich gegen den barbarischen Terror der Hamas zur Wehr zu setzen, Terror, der Unschuldige ermordet, Terror, der unterschiedslos Soldaten und Zivilisten massakriert, Männer und Frauen, Alte und Kleinkinder, Terror, der den einzigen jüdischen Staat und seine Bewohnerinnen und Bewohner vernichten will. Unser Mitgefühl gilt allen, die Freunde und Familienangehörige verloren haben. Unsere Gedanken sind bei denen, die weiter um Kinder, Eltern, Geschwister, Ehepartner, um ihre Liebsten bangen, die als Geiseln in der Gewalt der Terroristen sind. Mit einigen von ihnen konnte ich bei meinem Besuch in Israel sprechen. Ihre herzzerreißende Sorge und ihr Schmerz lassen mich nicht los. Die Bundesregierung wird weiter alles alles in unserer Macht Stehende tun, damit die Geiseln nach Hause kommen. Zu unserer Freundschaft mit Israel gehört auch, dass wir den Austausch zwischen Deutschen und Israelis weiter nach Kräften fördern und pflegen, wo immer es nur geht: mit Jugendbegegnungen und Freiwilligendiensten, in Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung, in Kunst und Kultur, zwischenstaatlich und zwischenmenschlich. In dieser Verbundenheit werden wir uns auch weiter für einen stabilen, dauerhaften Frieden im Nahen Osten einsetzen. Nie wieder – das bedeutet nicht zuletzt auch, dass wir aufstehen gegen den Hass. Ich bin deswegen sehr froh, dass viele Bürgerinnen und Bürger überall in Deutschland ihre Solidarität mit den Opfern des Hamas-Terrors gezeigt haben – bei Kundgebungen und Mahnwachen oder in den sozialen Netzwerken. Das gibt Zuversicht, das stärkt unser Gemeinwesen. Ich danke allen, die Gesicht zeigen für Menschlichkeit! Meine Damen und Herren, unser Deutschland gründet darauf, dass wir unteilbar zusammenstehen, dass Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens selbstverständlich dazugehören und dass wir Terror und Hass gemeinsam die Stirn bieten. Nie wieder – das gilt, das lösen wir ein, heute, morgen und für alle Zeit. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz zur feierlichen Einweihung der Siemens Energy Gigafactory für Elektrolyseure am 8. November 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zur-feierlichen-einweihung-der-siemens-energy-gigafactory-fuer-elektrolyseure-am-8-november-2023-2235518
Wed, 08 Nov 2023 13:51:00 +0100
in Berlin
Berlin
Sehr geehrter Herr Dr. Bruch, Monsieur le Ministre Lescure, sehr geehrter Herr Minister Habeck, lieber Robert, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, verehrter Herr Botschafter Delattre, sehr geehrter Herr Mansmann, sehr geehrter Herr Jackow, meine Damen und Herren! „Es war einmal“ – so fangen Märchen an, auch Industriemärchen. Es war einmal die AEG, die 1904 eine Dampfturbinenfabrik vom Berliner Wedding hierher nach Moabit in die Huttenstraße verlegte. Ein berühmtes Zeugnis dieser Zeit ist die Montagehalle nebenan, von den Zeitgenossen damals als „Kathedrale der Arbeit“ und „Festraum für Maschinenbau“ beschrieben. Die Produktion wuchs, der Erfolg stellte sich ein. Jahrzehnte später fusionierten AEG und Siemens zur Kraftwerksunion. Auf Dampfturbinen folgten Gasturbinen. Sie zählen bis heute zu den leistungsstärksten und effizientesten weltweit. Die Produktion wuchs weiter, der Erfolg stellte sich ein. „Fast forward“ in die Gegenwart: Siemens Energy übernimmt das Gasturbinenwerk Huttenstraße und verlegt auch seine Konzernleitung hierher. Die hier gebauten Gasturbinen können bereits heute zu 50 Prozent mit Wasserstoff betrieben werden. Bis 2030 sollen 100 Prozent möglich sein. Dann sollen ja auch welche gebaut werden – im Rahmen unserer Strategie, die wir für unsere Energiesicherheit in Deutschland planen. Um diesen Wasserstoff zu produzieren, entscheidet Siemens Energy, hier nicht nur Turbinen zu bauen, sondern eben auch Elektrolyseure, und zwar nicht per Einzelfertigung, sondern industriell, im Multi-Gigawatt-Maßstab, zu 100 Prozent mit Strom aus erneuerbaren Energien versorgt. Sie ahnen schon, was jetzt kommt: Die Produktion wird weiter wachsen, der Erfolg wird sich auch hier wieder einstellen. Meine Damen und Herren, drei Dinge zeigt dieses Industriemärchen von Berlin-Moabit. Erstens: Mit Energieproduktion und allem, was man dafür braucht, lässt sich Geld verdienen, gestern, heute und auch in der klimaneutralen Zukunft. Zweitens: Die Kassandrarufe von der vermeintlichen Deindustrialisierung Deutschlands und Europas führen vollständig in die Irre. Der Aufbruch unserer Industrie ins Zeitalter der Klimaneutralität schafft nicht nur die Nachfrage für das, was hier künftig produziert wird, sondern dieser Aufbruch macht es überhaupt erst möglich, dass sich ein Industriebetrieb wie Siemens Energy mitten in einer Stadt von fast vier Millionen Einwohnern neu ansiedeln und ausweiten kann – weil diese Industrie sauber ist, und weil auch alle weiteren Voraussetzungen stimmen; dazu aber später mehr. Noch etwas Drittes zeigt die Entwicklung dieses Standorts ganz, ganz deutlich: In dieser Veränderung liegt keine Bedrohung. Transformation ist eben kein Synonym für Produktionsverlagerung und Arbeitsplatzabbau, sondern vielmehr eine Bedingung für wirtschaftlichen Erfolg und gute Arbeitsplätze. Insofern, lieber Herr Dr. Bruch, ist dieser Tag heute nicht nur ein guter Tag für Siemens Energy. Er ist auch ein guter Tag für Berlin, für Deutschland und für ganz Europa. Schließlich, und das freut mich ganz besonders, sehr geehrter Herr Minister Lescure: Diese Gigafactory ist auch ein deutsch-französisches Leuchtturmprojekt, hervorgegangen aus dem Technologiedialog unserer Regierungen. Mit Air Liquide und Siemens Energy bündeln hier zwei Technologiegiganten ihr Wasserstoff-Knowhow. Das ist ein schönes Beispiel für die enge Verbundenheit unserer beiden Länder. Das ist aber auch ein beeindruckender Meilenstein für Europas Wettbewerbsfähigkeit, wenn man bedenkt, welch zentrale Rolle Wasserstoff für die weltweite Energiewende spielen wird. Denn es wird Bereiche in der Industrie und in Teilen des Verkehrssektors geben, die sich nicht oder nicht effizient elektrifizieren lassen. Da werden wir Wasserstoff brauchen, aufgrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und der veränderten Lage auf den Energiemärkten übrigens früher als zuvor gedacht. Darum haben wir das ursprüngliche Ziel unserer Nationalen Wasserstoffstrategie verdoppelt. Bis 2030 wollen wir nun zehn Gigawatt heimische Elektrolysekapazität aufbauen. Das ist eine große Aufgabe. Aber der heutige Tag bestärkt mich in der Überzeugung: Wir kriegen das gemeinsam hin. Mit der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes haben wir Ende Mai den Rahmen für die neue Wasserstoffinfrastruktur geschaffen. Auch auf EU-Ebene arbeiten wir an guten regulatorischen Rahmenbedingungen, etwa beim delegierten Rechtsakt zur Definition von grünem Wasserstoff oder bei der Novelle des EU-Gasmarktpakets. Hier in Deutschland befinden wir uns in den Endzügen der Planung eines Wasserstoffkernnetzes, das in den EU-Binnenmarkt eingebettet ist und das bis 2032 alle wichtigen Erzeugungs- und Verbrauchszentren unseres Landes verbindet und dabei Speicher, Kraftwerke und Importkorridore integriert. Was natürlich eine besondere Leistung ist: All das wird überwiegend privat finanziert sein, begleitet allerdings durch gute öffentliche Rahmensetzung, die wir mit der investierenden Wirtschaft besprochen haben. Eine Schwierigkeit ist nämlich, dass die Investitionskosten zunächst hoch sein werden, die Einnahmen in der Hochlaufphase dagegen aber noch vergleichsweise gering. Wie wir das mittelfristig ausgeglichen bekommen und Investitionen attraktiv machen, darüber sind wir mit den Fernleitungsnetzbetreibern nach intensiven Gesprächen vergangene Woche zu einer guten Lösung gekommen. Das wird jetzt schnell in abschließend vom Bundestag zu behandelnde Gesetze gegossen. Neben dem richtigen Regelwerk und der Infrastruktur wird der Wasserstoffmarkt anfangs natürlich auch noch Nachfrageanreize brauchen. Auch dafür sorgen wir, EU-weit mit der Förderung von Wasserstoffgroßprojekten als „Important Projects of Common European Interest“, national mit unserem Förderprogramm zur Dekarbonisierung der Industrie, mit den Klimaschutzverträgen des Bundeswirtschaftsministeriums, die Mehrkosten ausgleichen, wo klimafreundliche Produktionsverfahren derzeit noch nicht konkurrenzfähig sind, und nicht zuletzt mit den Programmen des Bundesforschungsministeriums, die helfen, Transport und Nutzung von Wasserstoff schnell in die Praxis zu bringen und die Produktion zu skalieren. Davon hat auch diese neue Produktionsstätte profitiert; wir haben es schon gehört. Aber Ihre Unternehmen, lieber Herr Dr. Bruch, lieber Herr Jackow, investieren nicht wegen der staatlichen Fördermöglichkeiten gerade hier in Berlin. Solche Möglichkeiten bestehen schließlich auch anderswo. Sie sind hier, weil es hier ein gewachsenes industrielles Umfeld gibt – mit zuverlässigen Zulieferern und vielversprechenden Abnehmern. Davon zeugen die vollen Auftragsbücher für Elektrolyseure, für Turbinen, aber auch für die anderen Produkte und Dienstleistungen von Siemens Energy. Nicht zuletzt dieser positive Ausblick hat die Bundesregierung überzeugt, dass Siemens Energy hervorragende Wachstumsperspektiven besitzt. Wie Sie alle sicherlich wissen, befindet sich die Bundesregierung in sehr konstruktiven und sehr zielorientierten Gesprächen, wie ein notwendiges Absicherungspaket für dieses beeindruckende Auftragsvolumen aussehen könnte. Ein Bankenkonsortium sowie die Siemens AG sind intensiv in diese Gespräche involviert; denn ich erwarte, dass jetzt alle Beteiligten ihren Beitrag leisten. Auch das will ich gern sagen: Ich bin zuversichtlich, dass wir sehr bald zu einer guten Lösung kommen werden, wenn jetzt alle ihrer Verantwortung gerecht werden. Meine Damen und Herren, einen Standortfaktor habe ich noch nicht erwähnt. Dabei war er bei der Entscheidung für den Standort Berlin dem Vernehmen nach entscheidend. Dieser Faktor, das sind die tüchtigen Männer und Frauen, die hier oft seit Jahrzehnten an Energielösungen arbeiten. Einige von ihnen haben sich für den Einstieg in die Produktion von Elektrolyseuren unternehmensintern fortgebildet. Andere ziehen sogar von Erlangen an den Standort Berlin und bringen ihr Know-how mit. Ich freue mich, dass ich gleich im Anschluss einige davon kennenlernen werde. Auf sie und ihre Bereitschaft, neue Wege zu gehen, kommt es in dieser Zeit ganz, ganz, ganz besonders an! Dafür sage ich Ihnen und all den anderen Kolleginnen und Kollegen von Herzen: Schönen Dank! Sie sind hier Teil von etwas wirklich Großem. Denn der Einstieg in die Multi-Gigawatt-Produktion von Wasserstoff birgt enormes Potenzial. Allein die zwölf Elektrolyseure, die an Air Liquide gehen sollen, werden 28 000 Tonnen Wasserstoff für die Industrie und den Mobilitätssektor produzieren. 250 000 Tonnen CO2 können so eingespart werden. Dafür wären normalerweise 25 Millionen Bäume nötig. Das entspricht einer Waldfläche, die größer ist als das ganze Land Berlin. All das schaffen Sie mit zwölf Ihrer Elektrolyseure, und ähnliche Projekte stehen in den Startlöchern. Meine Damen und Herren, Anfang des letzten Jahrhunderts, als dieses Werk hier entstand, da sprach der Technikhistoriker Conrad Matschoss von der Dampfmaschine als dem „Prinzen, der das Dornröschen Industrie aus ihrem Schlummer erweckte“. Die Prinzen unserer Zeit, das sind die Elektrolyseure und die Wasserstoffturbinen, die Sie hier bauen werden. Damit schreiben Sie das Industriemärchen fort, das hier an der Huttenstraße vor 119 Jahren begann, und zwar ganz real, im Hier und Jetzt. Schönen Dank dafür, und allen Beteiligten viel Erfolg bei dem Projekt!
Rede von Bundeskanzler Scholz zum 20. Deutschen Betriebsrätetag sowie zum 15. Deutschen Betriebsrätepreis am 7. November 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zum-20-deutschen-betriebsraetetag-sowie-zum-15-deutschen-betriebsraetepreis-am-7-november-2023-2235460
Tue, 07 Nov 2023 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Bonn
BK Scholz: Lieber Thorsten Halm, liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz herzlichen Dank für die Einladung. Ich bin sehr froh, dass ich hier bei euch zum 20-jährigen Jubiläum des Deutschen BetriebsräteTags, zum 15-jährigen Jubiläum des Deutschen Betriebsräte-Preises sein kann. Ich erinnere mich ganz gut daran, wie ich 2009 als Arbeitsminister und Schirmherr den ersten Deutschen Betriebsräte-Preis übergeben durfte. Vermutlich bin ich deswegen noch einmal eingeladen worden. Das war auch hier in Bonn, im Collegium Leoninum. Allerdings erinnere ich mich nicht, dass alle das gleiche T-Shirt anhatten. Das war damals wahrscheinlich noch anders, oder meine Erinnerung hat mich verlassen. Jedenfalls kommt sie nicht. Mit dem Gold-Preis wurde damals der Betriebsrat von Karstadt für das Projekt „Mensch im Mittelpunkt – ein Unternehmen in der Krise“ ausgezeichnet. Übrigens erleben wir gerade die letzten Ausläufer der damals auch schon bekannten Entwicklung. Die Betriebsrätinnen und Betriebsräte bei Karstadt hatten sich vor und während des Insolvenzverfahrens unermüdlich dafür eingesetzt, Arbeitsplätze zu erhalten und Standorte zu sichern. Das hat mich sehr beeindruckt. Auch in den Jahren danach, in meiner Zeit als Finanzminister, war es mir immer wichtig, mit diesem Forum einen Austausch zu haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist kein Zufall, dass der BetriebsräteTag nun schon seit 2011 gerade hier im früheren Bonner Bundestag stattfindet. Für mich ist es übrigens auch ein ganz besonderer Moment. Ich war in meinem ersten Leben Fachanwalt für Arbeitsrecht. Es gab dann aber doch noch eine kurze Phase, in der es mir gelungen war, Abgeordneter des Bundestages hier in Bonn zu sein. 1998 gewählt, hatte ich dann eine kurze Zeit erst noch ohne Büro, weil die neuen Abgeordneten warten mussten, bis die alten endlich ausgezogen sind. Anfang 1999 hatte ich dann ein Büro im Langen Eugen, der jetzt anders genutzt wird, und konnte mir dann, glaube ich, aus dem 13. Stock alles angucken, bevor ich dann im Sommer mit allen anderen Abgeordneten nach Berlin umgezogen bin. Für mich war das aber ein wichtiger Moment. Denn ich bin ja aufgewachsen mit all den Bildern vom Deutschen Bundestag und den großen Debatten der Zeit, als ich jung war. Und dass ich dann noch mal kurz gucken konnte, wie es so war, um dann nach Berlin umzuziehen, fand ich gut. Mir gefällt auch das diesjähriges Motto „Mehr Mitbestimmung wagen“, angelehnt natürlich an das große Wort von Willy Brandt. Manche glauben ja, in schwierigen Zeiten wie diesen bräuchten wir weniger Demokratie und gar weniger Mitbestimmung. Das Gegenteil ist richtig: Wir brauchen mehr davon, und zwar auf allen Ebenen: in unseren Parlamenten, in unseren Kommunen und eben auch in den Betrieben. Denn die Demokratie macht eben nicht am Werkstor Halt – und vor allem sollte sie es nicht. Warum das so wichtig ist, das habe ich mir auf sehr praktische Weise selbst erarbeitet. Ich bin ja, wie einige wissen, Anwalt für Arbeitsrecht gewesen und habe Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Betriebsräte – auch Personalräte – und Gewerkschaften vertreten. Für mich ist das nicht nur beruflich eine wichtige Erfahrung gewesen, sondern auch weil ich viele tolle Frauen und Männer kennengelernt habe, die sich einsetzen und die – das ist auch meine Erfahrung gewesen – in vielen Betrieben, in die ich dann reingekommen bin, der eigentliche Stabilitätsanker waren und auch mehr von dem Unternehmen wussten als die Unternehmensleitung. Die Betriebsräte kämpfen mit aller Kraft, wenn es zum Beispiel um den Abbau von Arbeitsplätzen geht oder Betriebe abgewickelt werden; das ist immer ein ganz, ganz schlimmer Moment. Und sie sind natürlich immer ganz nah dran und immer dabei, wenn es um gute Arbeitsbedingungen geht, um den Arbeitsschutz. Ganz intensiv haben wir alle diese Frage während der Corona-Pandemie diskutiert, wie Arbeit weitergehen kann und was man dort am besten organisieren kann. Oder sie kämpfen, wenn es um sehr, sehr moderne Betriebsvereinbarungen geht, zum Beispiel um Fragen der Qualifizierung und Weiterbildung. Ich jedenfalls fand immer, da können viele ganz viel und ohne die würde der Laden nicht laufen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die große Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft wird nur mit Betriebsräten als Stabilitätsankern gelingen. Ich glaube, dass hier alle genau wissen, was da auf uns zukommt. Manche haben sich in der Geschichte ein bisschen umgeschaut. Aber das, was jetzt vor uns liegt, ist von der Dimension her ungefähr das, was mit der industriellen Mobilisierung Deutschlands am Ende des 19. Jahrhunderts verbunden war, als Deutschland erst richtig zu seiner Größe als Industrieland aufgewachsen ist, als, anders als heute, in zwei, drei Jahren große Betriebe entstanden sind. Ich habe einmal den Chemiepark Leuna besucht; heute ist es ein Park. Da ist Anfang der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts in zwei Jahren eine Fabrik mit allem aus dem Boden gestampft worden, wo vorher keiner wohnte und dann 10 000 Leute arbeiteten. Heute wäre es in der Zeit planungsrechtlich wahrscheinlich nicht mal bis zur Grundsteinlegung gekommen. Damit sich das ändert, haben wir gestern zusammen mit den Ländern einen „Deutschlandpakt“ mit vielen Planungsbeschleunigungen vereinbart. Nur, die Realität ist: Wenn wir 200 Jahre Industriegeschichte in Europa und in der Welt haben und die im Wesentlichen auf der Nutzung fossiler Ressourcen – auf Kohle, Gas und Öl – beruhte und wir in 23 Jahren um 2045 herum klimaneutral und immer noch Industrieland und weltweit wettbewerbsfähig sind, dann passiert da was. Das heißt, jeden Tag wird es in allen möglichen Dimensionen Entscheidungen geben, die dann am besten laufen, wenn sich auch Betriebsräte darum kümmern. Was wird zum Beispiel aus den Kolleginnen und Kollegen, deren Qualifikation zwar groß ist, die aber nicht mehr gefragt sind, sondern andere? Da, finde ich, ist ein ganz wichtiger Aufgabenbereich, dafür Sorge zu tragen, dass die Unternehmen nicht denken: „Wir trennen uns von den einen und holen uns andere neu rein“, sondern dass man guckt, welche Potenziale in den eigenen Belegschaften eigentlich vorhanden sind. Übrigens ist dies ganz unabhängig von der Transformation, die wir jetzt erleben, angesichts einer Diskussion über Fachkräftemangel, wie ich finde, ohnehin ein ganz guter Gedanke. Ich habe jetzt viele Betriebe gesehen, in denen das passiert ist, wofür ich mich 2008/2009 als Arbeitsminister eingesetzt habe. Dort qualifiziert man 30-, 40-, 50-jährige Beschäftigte, die schon lange in der Firma sind. Manche sind angelernte Arbeiter, manche haben eine Ausbildung, aber in einem völlig anderen Beruf. Dann sind die in die Firma gekommen und machen noch mal die Qualifizierung. Da habe ich sehr stolze Frauen und Männer kennengelernt. Das geht nämlich, wenn man das als Thema entdeckt. Und wenn sich alle über Fachkräftemangel beklagen, können sie ja mal gucken, wen sie so alles in der Firma haben. Da fallen ihnen dann bestimmt ein paar auf. Die moderne Welt ist unglaublich verbunden mit all den Fragen moderner Technik, und das hat mich schon in meiner Arbeitsrechtszeit sehr bewegt. Ich nehme an, das wird hier auch Gesprächsthema gewesen sein: Es gibt ja im Betriebsverfassungsgesetz eine kleine Regelung, die für etwas ganz anderes gedacht war, aber letztendlich dem Betriebsrat bei fast allem, was mit moderner Technik zusammenhängt, einen Einfluss ermöglicht. Ich weiß sogar noch die Nummer, obwohl ich seit 1998 nicht mehr praktiziere: § 87 Abs. 1 Nr. 6 des Betriebsverfassungsgesetzes. Ich habe viele Betriebsvereinbarungen abgeschlossen. Das war interessant. Es geht aber auch darum, zu gucken, wie wir dafür Sorge tragen können, dass es eine gute wirtschaftliche Zukunft der Unternehmen gibt, wenn so viel neu investiert wird. Wir selber – das will ich an dieser Stelle jenseits von Arbeitsrechts- und Betriebsbeziehungen sagen – werden alles dafür tun, dass das gelingt, und zwar mit einer ausreichenden Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen, mehr Strom, mehr Wasserstoff. Wir begleiten Unternehmen bei den Investitionen, die sie jetzt brauchen, auch wenn sie etwas ganz Neues mit neuen Techniken wagen. Das wird mal ganz spektakulär sein in einem großen Unternehmen, wenn plötzlich das Stahlwerk nicht mehr mit Kohle betrieben wird, sondern mit Strom erst aus Gas und dann aus Wasserstoff. Es ist manchmal auch weniger spektakulär. Aber wenn der Maschinenbauer jetzt KI macht, hat das auch was zu bedeuten, und dann sind Betriebsräte gefragt. Insofern, glaube ich, können wir zuversichtlich sein, dass wir das hinbekommen. Aber das wird nur mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihren Anwälten gelingen, die sich für ihre Belange in solchen Veränderungsprozessen einsetzen, und das sind die Betriebsräte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass wir natürlich gucken müssen, wie wir die weiter stärken können, zumal das eine so gute und lange Tradition für unser Land ist. Deshalb ist es auch ein Ziel der Regierung, dass wir das Betriebsverfassungsgesetz weiterentwickeln werden. Wie immer wird es da bestimmt auch Diskussionen geben, aber ich bin sicher, dass die Vereinbarungen, die wir gefunden haben, auch umgesetzt werden. Dazu zählt zum Beispiel ein Thema, das mich sehr bewegt, nämlich die Frage des digitalen Zugangsrechts für Gewerkschaften zu Betrieben. Das klingt so, als ob das eine Nebensache wäre. Aber wenn alles digitaler wird, dann ist auch das von großer Bedeutung. Und natürlich müssen wir auch etwas dafür tun, dass die Behinderung demokratischer Mitbestimmung auch ohne Strafantrag verfolgt werden kann. Ich jedenfalls glaube, dass es furchtbar ist, wenn tatsächlich versucht wird, das, was ein legitimes Bürgerrecht ist, nämlich in den Betrieben mitzubestimmen, zu bekämpfen, indem man diejenigen, die sich so einsetzen wollen, unsicher macht, verfolgt, angreift. Leider passiert das immer wieder, und deshalb ist es meine feste Absicht, dass wir die Rechtslage, die das heute nicht hergibt, verbessern. Einige wird es vielleicht bewegen – nicht alle, weil es sehr unterschiedlich ist in den Betrieben. Aber die, die es bewegt, wissen, wovon die Rede ist: Wir sind jetzt dabei, eine Neuregelung der Frage von mehr Sicherheit bei der Betriebsratsvergütung hinzukriegen. – Es sind offenbar doch mehr. Es ist jedenfalls kein einfaches Thema. Aber ich glaube, da ist jetzt eine gute Lösung von drei sehr honorigen Leuten, die große Erfahrung haben, vorgeschlagen worden, und sie haben etwas gemacht, was Konsens stiften kann. Die Bundesregierung hat das Gesetz bereits auf den Weg gebracht. Jetzt muss es nur noch der Bundestag schaffen, das auch zu beschließen. Ja, vielleicht noch das zum Schluss, bevor wir miteinander diskutieren: Ich glaube, dass wir uns ein Demokratieverständnis angewöhnen müssen, in dem wir die Mitbestimmung der Beschäftigten und ihre Rechte als einen zentralen Bestandteil unserer insgesamt gelingenden Demokratie begreifen. Das ist nicht etwas, was es so nebenbei gibt. Und dass das in Deutschland eine so lange Tradition hat, das ist etwas, was mich sehr wohl mit Stolz erfüllt. Ich will schon sagen, dass mich sehr beeindruckt hat, dass einer der Philosophen dieser Republik, Axel Honneth, jetzt ein Buch mit dem schönen Titel „Der arbeitende Souverän“ geschrieben hat. Besser kann man eigentlich nicht ausdrücken, was er sagen sollte: Demokratie ohne Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ein wichtiger Teil der Diskussion in unserer Gesellschaft und der Entscheidungsfindung in den Betrieben sind, wird nicht gut funktionieren. Deshalb bedanke ich mich bei allen, die hier sind, für ihre Arbeit und freue mich auf unsere Debatte.
in Bonn
Rede von Bundeskanzler Scholz zum 25. Gewerkschaftstag der IG Metall am 24. Oktober 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zum-25-gewerkschaftstag-der-ig-metall-am-24-oktober-2023-2232712
Tue, 24 Oct 2023 14:32:00 +0200
Im Wortlaut
Frankfurt am Main
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schönen Dank für die Einladung und die Gelegenheit, ein paar Worte zu sprechen und das genau auf diesem Kongress zu tun. „Zeit für Zukunft“ ‑ ich finde, das ist ein Motto, das man in dieser Zeit nicht klüger hat wählen können; denn wir sind ja von vielen Anforderungen herausgefordert, die erfüllt werden müssen, damit wir eine gute Zukunft bekommen. Aber wir sind auch herausgefordert von einer ganzen Reihe von Kräften und politischen Einflussnahmen, die versuchen, eigentlich die Zukunft zu verbauen und in die Vergangenheit zurückzugehen. Ich bin fest davon überzeugt: Keine Gesellschaft kann gut funktionieren, die nicht an eine eigene Zukunft glaubt, die nicht davon überzeugt ist, dass es besser wird und dass man das durch das, was wir tun, auch erreichen kann. Deshalb ist „Zeit für Zukunft“ genau das, was wir in Deutschland brauchen. Danke, dass diese wichtige Industriegewerkschaft das für sich als zentrales Thema gefunden hat. Selbstverständlich geht es, wenn wir über „Zeit für Zukunft“ reden, auch um die industrielle Zukunft unseres Landes. Wir sind ein Industrieland. Viele, die hier versammelt sind, haben sich ihr ganzes Leben lang um die Weiterentwicklung unserer Industrie gekümmert. Diese Gewerkschaft und vieles andere, was in diesem Land entstanden ist, wäre ohne die industrielle Modernisierung Deutschlands im 19. Jahrhundert nicht möglich gewesen. Es geht darum, jetzt dafür zu sorgen, dass es eine industrielle Zukunft für Deutschland und für Europa auch im 21. Jahrhundert gibt. Bevor ich zu all den Fragen komme, die uns miteinander bewegen und über die wir hier auch miteinander diskutieren können, will ich erst einmal sagen: Herzlichen Glückwunsch, Christiane Benner, zur Wahl! Das ist ein gutes Ergebnis für dich und auch für all die anderen, die hier gewählt worden sind. Das sind beeindruckende Zeugnisse des Vertrauens. Aber es ist auch etwas Besonderes, dass nach so langer Zeit das erste Mal eine Frau an der Spitze dieser Organisation steht. Herzlichen Glückwunsch dazu! Jörg Hofmann, ich möchte dir ausdrücklich noch einmal für die Arbeit danken, die du in den letzten Jahren für die Gesellschaft, für dieses Land, für die Gewerkschaft und für die Mitglieder der Gewerkschaft geleistet hast, aber auch für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit, die wir in den letzten Jahren hatten. Da waren ja manche Dinge zu bewältigen und zu lösen, etwa wenn es um die Zukunft der Automobilindustrie ging oder ganz konkret ‑ jetzt, als die Energiepreise explodiert sind ‑ um die Frage, wie wir mit Kompensationen arbeiten und auch dafür Sorge tragen können, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit der Möglichkeit einer Sonderzahlung, die steuer- und abgabenfrei erfolgen kann, durch die Zeit kommen. Das alles haben wir gemeinsam vorangebracht. Deshalb kann ich wirklich sagen: Du hast dich sehr verdient gemacht. Aber ich bin auch dankbar für die freundschaftliche Zusammenarbeit. Ich habe eingangs über die Zukunft der Industrie gesprochen und gesagt, wie wichtig sie für uns ist; das will ich sehr klar sagen. Das bedeutet, dass wir die Lage richtig verstehen müssen. Denn tatsächlich hat sich viel geändert, jeder kann das für sich beschreiben: ob es nun die Digitalisierung ist oder das, was jetzt neu auf uns zukommt mit der künstlichen Intelligenz und all den Möglichkeiten, aber auch den Gefahren, die damit verbunden sind. Wir haben erlebt, was angesichts der Notwendigkeit, auf eine Form der industriellen Produktion umzusteigen, die ohne fossile Ressourcen auskommt, passiert. Das ist wahrscheinlich die allerwichtigste industrielle Modernisierung. Schaffen wir es in Deutschland, in so kurzer Zeit, wie sich die Welt das vorgenommen hat, nämlich bis zur Mitte dieses Jahrhunderts, bis 2045, ein starkes Industrieland zu sein und gleichzeitig CO2-neutral zu wirtschaften? Diese Frage treibt viele um. Ich bin sicher, dass sie jeden Tag irgendwo jemanden und auch alle, die auf diesem Kongress versammelt sind, bewegt. Wir sind in die richtige Straße eingebogen. Aber das ist eine neue Straße, die bisher nicht benutzt worden ist. Das ist eine große Anstrengung. Wer sich das erklären will, muss sich an die große industrielle Modernisierung Ende des 19. und auch noch Anfang des 20. Jahrhunderts zurückerinnern, von der ich schon gesprochen habe. Damals sind in kurzer Zeit große Fabriken entstanden, wo vorher nichts stand. Tausende Arbeitnehmer haben plötzlich dort gearbeitet und sind aus vielen Teilen Deutschlands und manchmal auch Europas dahingekommen, um für sich und ihre Familien eine gute Zukunft zu entwickeln. Das ist seinerzeit von einem Tag auf den anderen passiert. Jetzt stehen wir vor einem Umbruch, der nicht kleiner ist. Alles das, was wir in 250 Jahren Industriegeschichte erlebt haben, beruhte auf der Nutzung von Kohle, Öl und Gas. Wenn das jetzt in ganz kurzer Zeit zu Ende gehen soll, dann ist es nicht verwunderlich, dass sich viele Fragen stellen und viele auch nicht sicher sind, ob das wirklich gut geht. Wenn man sich als Land, als Europa, als Welt auf diesen Weg macht, dann ist es bedeutsam, dass man an die Zukunft glaubt und dass man konkrete Schritte beschreibt, die dafür erforderlich sind. Ich will den ersten und wichtigsten Schritt beschreiben, über den hier auch gesprochen worden ist, nämlich: Wie bekommen wir die Energieproduktion in Deutschland billig, bezahlbar und ausreichend hin? ‑ Das heißt auch, dass wir über ganz konkrete Dinge in diesem Land sprechen müssen: Wie schaffen wir es, dass es nicht nur bei einem Spruch bleibt, wenn man sagt, 2030 sollen 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien kommen? Denn wir wissen: Angesichts der industriellen Veränderungen brauchen wir dann sogar mehr Strom als heute. Der muss dann zu 80 Prozent aus Erneuerbaren kommen und bezahlbar sein. Wenn man sich über Unsicherheiten Gedanken macht, dann hat das natürlich etwas damit zu tun, dass alle gemerkt haben, was wir getan haben: Wir sind aus der Atomenergie ausgestiegen, zur Sicherheit sogar zweimal, nämlich einmal Anfang der Jahrtausendwende und dann noch einmal nach dem Fukushima-Unglück unter einer schwarz-gelben Regierung der Kanzlerin Merkel, die vorher wieder eingestiegen war. Damit das eine schöne Geschichte gibt, haben wir am Ende noch drei, vier Monate drangehängt. So wird der Ausstieg aus der Atomenergie insgesamt ein großes Drama. Wir haben uns entschieden und per Gesetz geregelt, dass wir bis spätestens 2038 aus der Kohleverstromung aussteigen. Aber was wir wirklich nicht in dem gleichen Tempo und nicht mit der gleichen Konsequenz vorangetrieben haben, waren die Fragen: Wo steigen wir eigentlich ein? Bekommen wir das mit dem Ausbau der Erneuerbaren hin? Bekommen wir das mit dem Ausbau der Stromnetze hin? Wie können wir gewährleisten ‑ jeder, der etwas von Industrie versteht, weiß, wie wichtig das ist ‑, dass wir 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche Strom verfügbar haben, der dann aus diesen Quellen kommt? ‑ Das ist, wenn Wind und Sonne dabei eine Rolle spielen, nicht so selbstverständlich wie bei den Ressourcen, die bisher genutzt worden sind. Alle dazu notwendigen Entscheidungen sind immer wieder vertagt worden. Wir haben jetzt dafür gesorgt, dass sie getroffen worden sind, dass wir es hinbekommen werden, diesen Ausbau tatsächlich zu erreichen, weil wir Gesetze geändert haben, weil wir Ziele geändert haben und weil wir schon jetzt sehen, dass das Tempo erreicht worden ist, das man dazu braucht. Wir brauchen fünf bis sechs neue Windkraftanlagen an Land pro Tag, damit das bis 2030 etwas wird, und noch viel Offshore. Wir brauchen 30, 40 Fußballfelder Solaranlagen pro Tag, damit das klappt. Letzteres haben wir schon fast erreicht. 30 am Tag ist das, was gegenwärtig in Deutschland stattfindet. Bei den Windkraftanlagen an Land sind wir jetzt bei den Genehmigungen in dieser Größenordnung. Aber da waren wir lange auch nicht. Insofern ist das ein großer Fortschritt. Natürlich gibt es die von jedem zu besichtigenden furchtbaren Verzögerungen beim Ausbau der Stromnetze. Das alles ist hinter der Zeit. Darüber macht man sich als Betriebsrat, als Gewerkschafterin und Gewerkschafter, als Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer und auch als Unternehmensvertreter schon Sorgen. Wenn ich jetzt darauf setze, dass das alles kommt, es aber nicht da ist, wenn meine Investitionen getätigt sind, dann haben wir ein Problem, auch die Unternehmen. Aus diesem Grund ist das Tempo so wichtig, dass wir das gemacht haben, dass wir unsere Chancen genutzt haben und dass wir jetzt Gesetze auf den Weg gebracht haben, die sogar schon das Stromnetz des Jahres 2045 planen und festlegen und die Leitungen, die man dazu braucht, schon jetzt auf den Weg bringen, damit es nicht wieder zu den Verzögerungen wie in der Vergangenheit kommt. Ich will noch etwas über das Stromnetz sagen. 24/7 habe ich gerade gesagt, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Es wird nicht nur bei den Anlagen und den Stromnetzen bleiben. Wir müssen auch dafür sorgen, dass es Kraftwerke gibt, die stabil produzieren in dem Augenblick, in dem gerade für den Moment nicht genug Strom zur Verfügung steht. Das heißt, auch jetzt müssen wir Entscheidungen über die Entwicklung, den Bau und die Investitionen solcher Kraftwerke treffen. Ein anderes Thema ‑ genauso wichtig für die künftige industrielle Struktur unseres Landes ‑: Gelingt es eigentlich, dass es, wenn alle auf Wasserstoff setzen wollen, auch genügend Wasserstoff gibt und er auch bei den Leuten ankommt? ‑ Deshalb werden wir jetzt ‑ der Plan ist, noch in diesem Jahr ‑ die Entscheidung für eine 20 Milliarden Euro ‑ vielleicht noch mehr ‑ teure Struktur eines Wasserstoffnetzes in Deutschland treffen. Das muss privatwirtschaftlich gestemmt werden. Man wird zehn Jahre lang kein Geld damit verdienen, jedenfalls nicht mit dem, was da durchfließt. Aber es muss ja da sein, weil sonst niemand darauf setzen kann, dass diese Dinge auch tatsächlich funktionieren. Man sieht: Wir haben diese große infrastrukturelle Modernisierung im Blick, die dazu notwendig ist. Wir werden das machen, damit sich alle darauf verlassen können: Es wird in Deutschland auch um die Mitte dieses Jahrhunderts gut bezahlte, global wettbewerbsfähige Industriearbeitsplätze geben. Aber sie können zurückgreifen auf Strom aus erneuerbaren Quellen und auf Wasserstoff, den wir auch immer mehr aus erneuerbaren Quellen herstellen. Wir brauchen natürlich auch eine Lösung für die gegenwärtige Situation. Ich will erst einmal über das sprechen, was uns gelungen ist. Dazu zählt nicht nur die Strompreiskompensation, die wir für private Verbraucher und Unternehmen möglich gemacht und wofür wir zig Milliarden ins Fenster gestellt haben. Dazu zählt auch, dass wir es geschafft haben, die Gasversorgung Deutschlands zu gewährleisten. Niemand hat gedacht, dass das gelingt. Ich jedenfalls erinnere mich noch ziemlich genau an das, was ich im Herbst des letzten Jahres alles gelesen habe, wie es uns hierzulande und der ganzen Welt gehen würde ‑ einige auch mit einer gewissen Häme, viele mit großer Sorge, weil Deutschlands Wirtschaft zumindest mit der europäischen und fast in jedes Land hinein verflochten ist. Auch ein Automobilzulieferer in Tschechien oder Rumänien hat Angst, wenn es hier schlecht läuft; das muss man ganz klar dazusagen. Insofern ist das ein großes Thema gewesen. Aber wir haben es hinbekommen: mit mehr Gas aus Norwegen, mit Gas aus den westeuropäischen Häfen, mit dem Ausbau unseres Gasnetzes, an dem wir dran sind, und mit neuen Terminals an den norddeutschen Küsten. Das hat geklappt. Wir sind durch den Winter gekommen. Wir bauen diese Strukturen weiter aus, obwohl wir ja zur Mitte des Jahrhunderts nicht mehr auf fossile Ressourcen angewiesen sein wollen. Ich will ausdrücklich sagen: Das ist auch notwendig. Denn solange wir zum Beispiel Gas benötigen, ist die Frage, ob es in genügendem Umfang und auch auf preiswerte Weise nach Deutschland gelangen kann, zentral dafür, welche Preise wir bezahlen. Wenn wir die Infrastrukturen weiterentwickeln, dann ist das genau der Weg, den wir jetzt beschreiten müssen, damit wir die Preise herunterbekommen. Nur einmal zur Verdeutlichung: 180 Milliarden Kubikmeter Gas sind von Russland nach Europa exportiert worden. Davon kommen jetzt noch 40, 50 in Südosteuropa an. Wenn jetzt ganz Europa, auch Deutschland, plötzlich sagt: „Wir kaufen anderswo in der Welt Gas ein“, das da ja nicht gerade zum Abholen vorgesehen war, dann kann man sich vorstellen, warum die Preise im letzten Jahr so explodiert sind. Das ist auf die ganze Welt zugekommen und hat überall die Preise angehoben. Dass wir jetzt mit allem, was wir gemacht haben, so weit herunter sind, ist ein unglaublicher Erfolg. Aber wir dürfen nicht nachlassen; denn solange wir mit dem Ausbau der Erneuerbaren noch nicht durch sind, müssen wir sicherstellen, auf das zurückgreifen zu können, was wir jetzt brauchen. Das sind für eine bestimmte Zeit auch noch unsere fossilen Ressourcen, bis das andere sie ersetzt. Der Preis soll bezahlbar sein. Das wird auch mit den erneuerbaren Energien möglich sein. Das kann man ziemlich genau nachrechnen. Ich will das, weil man sich manchmal vor anderen Ländern fürchtet, ein bisschen beschreiben: Ein neu gebautes Atomkraftwert ‑ einige meinen ja, das ist eine Lösung ‑ ist irgendwann Ende der 30er-Jahre fertig und hat dann 12 bis 15 Milliarden Euro pro Stück gekostet. Die Strompreise kann dann überhaupt niemand bezahlen. Sie herunterzusubventionieren, würde jeden Staatshaushalt der Welt sprengen, wenn sie auf das Niveau herunterkommen sollen, das wir mit den erneuerbaren Energien in Deutschland erreichen, mit Windkraft, mit der Sonne, mit dem guten Stromnetz, mit Biomasse und mit Wasserkraft. Das ist unsere Möglichkeit, die wir haben. Bis dahin müssen wir dafür sorgen, dass kein Unternehmen, weil es nicht durchhält, das nicht schafft. Das ist ja die Forderung, die ihr hinter eurer Formulierung verborgen habt. Natürlich werden wir das möglich machen. Wir können uns das auch genau anschauen. Heute ist in einer Zeitung beispielsweise zu lesen: Wenn man den Strompreis der Zukunft zugrunde legt und dann noch betrachtet, was wir an Möglichkeiten haben, zum Beispiel mit der Strompreiskompensation oder dem Spitzenausgleich, dann kommt man auf sehr wettbewerbsfähige Preise für hoch energieintensive Unternehmen in Europa. Das ist genau das, was wir jetzt tun: Wir denken darüber nach, wie wir mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien und mit den Instrumenten, die wir EU-rechtlich einsetzen können und die uns auch genehmigt sind, ein Gesamtkomposit zustande bringen, das dazu führt, dass kein Unternehmen, das viel Energie verbraucht und jetzt auf bezahlbare, wettbewerbsfähige Strompreise angewiesen ist, schließen muss, weil das in dem Übergangsregime nicht möglich ist. Mit der Kombination aus vielen Einzelmaßnahmen werden wir diese Herausforderung bewältigen können. An ihr arbeiten wir intensiv. Wir wollen das zusammen mit den Gewerkschaften und mit den Unternehmen machen. Ich kann sagen: Wir werden eine gute Lösung finden. Wir werden sogar eine Lösung suchen, die nicht nur einmal hier erzählt wird, beschlossen werden kann und dann von der EU-Kommission nicht genehmigt wird, sondern eine, die dann tatsächlich dazu beiträgt, dass kein Unternehmen diese Situation nicht überlebt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch viele andere Dinge, die zu dieser Modernisierung dazukommen. Ich wollte aber, weil der Strom eine so große Rolle spielt, unbedingt etwas mehr dazu sagen. Wir werden ja auch noch diskutieren können. Ich möchte aus meiner Sicht auch sagen, dass wir natürlich daran arbeiten müssen, dass es auch bei den anderen Strukturen stimmt, etwa wenn wir über Mobiltelefone reden und die Infrastruktur, die dazu erforderlich ist, wenn wir von den Möglichkeiten reden, die 5G in den Unternehmen darstellen kann, und wenn wir über die Frage reden, wie das mit der Glasfaserinfrastruktur in Deutschland und ganz klassisch mit Eisenbahn und Straße ist. Es gibt etwas, was für alle Themen, die ich besprochen habe, eine große Rolle spielt, was uns alle umtreibt und was aus meiner Sicht zu den ganz großen Schwierigkeiten gehört: Es dauert alles zu lange. Wenn man das sagt, gerade als Politiker, dann sagen alle immer: Das habe ich schon gehört. Wenn es eng wird, kommt immer einer und sagt: „Das muss alles schneller gehen“, geht weg und kümmert sich um das nächste Thema. Passiert ist da nicht so viel. Daran sind alle schuld. Die letzten 20, 30 Jahre, wahrscheinlich noch länger, haben wir liebevoll mit ganz unterschiedlichen Bundesregierungen, ganz unterschiedlichen 16 Landesregierungen und vielen Verantwortlichen in den Kommunen Vorschriften gebaut und gebastelt, die dazu beitragen, dass es immer langsamer geworden ist. Für alles braucht man ein Gutachten. Dinge, die eigentlich schnell gehen sollen, dauern viele Jahre. Nun bin ich hier bei der IG Metall. Aber ich will ausdrücklich ‑ ‑ ‑ (Zurufe) ‑ Schönen Dank für die Sprüche! Ich gehe gleich auch noch auf die Frage der Zukunft ein. Ich habe ja etwas zur industriellen Zukunft Deutschlands gesagt. Aber es gibt noch viele andere Fragen, über die ich gleich reden werde. Ich will sehr ausdrücklich sagen: Für mich spielt es schon eine große Rolle, dass wir das Thema Geschwindigkeit jetzt nicht wieder nur als Geste formulieren, dass wir sagen: Da müsste man etwas tun. Das ist der Grund, warum ich einen Deutschlandpakt in dieser Frage vorgeschlagen habe. Wenn Bund, Länder und viele Verantwortliche vor Ort jahrzehntelang Vorschriften gebastelt haben, die man nicht mehr administrieren kann, die dazu führen, dass die Genehmigung einer Windkraftanlage sechs Jahre dauert, dass man ein Stromkabel in einem halben Jahr, in einem Jahr oder in zwei Jahren verlegen kann, man aber davor zehn, zwölf Jahre Planungsprozess hat, dann ist das etwas, was jetzt geändert werden muss. Genau das werden wir jetzt tun mit den Dingen, die wir zusammen mit den Ländern vorbereiten. Es kommt also dazu. Weil über die Zukunft geredet worden ist, will ich ausdrücklich sagen, dass für mich die Frage der jungen Leute und ob es genügend Ausbildungsplätze gibt, eine zentrale Rolle spielt. Ich glaube, wir müssen die Chance, die jetzt da ist, auch nutzen. Denn es kann ja nicht sein, dass wir einerseits auf eine Zeit zustreben, in der es Arbeits- und Fachkräftemangel und in einigen Bereichen sogar Überangebote an Ausbildungsplätzen gibt, es aber andererseits nicht gelingt, allen jungen Leuten, die die Schule verlassen, eine gute Berufsausbildung zu ermöglichen. Deshalb will ich hier noch einmal sagen: Wir werden alles dafür tun, dass der Übergang von der Schule in den Beruf mit den Jugendberufsagenturen, mit großer Unterstützung besser gelingt. Wir wollen, dass jeder junge Mann und jede junge Frau eine Berufsausbildung hat, wenn er oder sie ihre beruflichen Qualifikationen nicht auf andere Weise erwirbt. Ich wünsche mir auch, dass das nicht nur am Anfang der Berufslaufbahn gilt. Ich stelle fest und habe in vielen Betrieben gesehen: Viele sind schon lange dort beschäftigt. Die machen schon lange ihren Job und leisten etwas in der Firma, in der sie tätig sind. Aber sie waren in einem anderen Beruf ausgebildet oder sind dort als Angelernte tätig. Warum eigentlich ist es in Deutschland nicht noch viel mehr Mode als in einigen erfolgreichen Betrieben, dass man auch mit 30, 40 oder 50 Jahren noch einmal eine Berufsausbildung machen kann, und zwar in der Firma, in der man schon tätig ist? ‑ Das muss in Deutschland ein ganz normales Modell sein. Ich hoffe, wir können gemeinsam dafür kämpfen. Für mich hat das auch etwas mit der Frage der besseren Vereinbarkeit von beruflicher Tätigkeit und dem Glück junger Familien zu tun. Wir müssen auch dafür sorgen, dass es in Deutschland besser gelingt, so etwas zu tun: mit mehr Ganztagsangeboten in Krippen und Kitas und auch mit ausreichenden Angeboten an den Schulen. Natürlich muss die Arbeitswelt so sein, dass es für Familien gut funktioniert. Für unsere Zukunft bedeutet das, dass wir jetzt die Beschäftigungspotenziale heben können und müssen, die es in Deutschland gibt. Das sind die jungen Leute mit der Berufsausbildung. Das sind diejenigen, die schon beschäftigt sind und noch eine neue Qualifikation bekommen können. Das sind die Leute ‑ auch das muss gesagt werden ‑, die vielleicht mit Ende 50 ihren Job verlieren und noch eine plausible Perspektive haben müssen, wieder einen ähnlichen gut bezahlten Job anfangen zu können. Das würde etwas ausmachen, während es nichts nützt, wenn jetzt irgendjemand vorschlägt, das gesetzliche Renteneintrittsalter noch einmal anzuheben. Das halte ich für ausgeschlossen. Aber klar, wir müssen auch dafür Sorge tragen, dass wir Arbeitskräfte aus anderen Ländern bekommen. Deutschlands Wohlstand wäre ohne Arbeitskräfte, die außerhalb Deutschlands geboren worden sind, niemals möglich gewesen. Heute hat etwa ein Viertel der Bevölkerung dieses Landes einen, wie es so schön heißt, Zuwanderungshintergrund. Das sind nicht nur die Gastarbeiterkinder aus den 60er-Jahren, sondern das sind ganz viele aus vielen Ländern, die nach Deutschland gekommen sind und die dazu beigetragen haben, dass der Laden hier läuft. In den letzten Jahren ist unser wirtschaftliches Wachstum überhaupt nur möglich gewesen, weil das mit den Möglichkeiten der Freizügigkeit in der Europäischen Union einfach ging. Aber das wird nicht mehr reichen. Von den sogenannten Boomern, also den um die 60-Jährigen ‑ einige sitzen ja auch hier, Jörg ‑, gehen jetzt einige in Rente. Aber ich will ausdrücklich sagen: 13 Millionen werden wir nicht kompensieren durch mehr Berufsausbildung, durch eine bessere Beteiligung von Frauen im Arbeitsleben und durch bessere Chancen für Ende 50-, Anfang 60-Jährige, sich noch einmal einen neuen Job zu suchen, sondern wir werden noch welche brauchen, die zusätzlich kommen. Wir haben mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz die modernste Grundlage dafür geschaffen, dass das in Deutschland in den nächsten Jahren möglich sein wird. Ich halte das, verbunden mit dem geplanten modernisierten Staatsangehörigkeitsrecht, für eine der Grundlagen für einen guten Zusammenhalt in diesem Land, aber auch für wirtschaftlichen Wohlstand, den wir in der Zukunft brauchen. Ich will das hier ausdrücklich ansprechen, weil es natürlich kompliziert ist, wenn man zu denjenigen zählt, die ihr Talent hier in Deutschland entfalten, aber man dann in den Medien ständig den Eindruck erweckt bekommt, als ob man nicht gewollt sei, als ob das nicht der Fall sei und man nicht eine so großartige Lebensbiografie hinter sich hätte. Deshalb ist es wichtig, dass wir die richtigen Worte sprechen und dass wir das Richtige tun. Es geht um Fachkräftezuwanderung. Das ist das, worüber ich hier gesprochen habe, weil wir das für den Arbeitsmarkt brauchen. Aber natürlich wird für Deutschland immer auch klar sein, dass wir denjenigen, die weglaufen vor politischer Verfolgung, vor Krieg und Terror, der sie bedroht, und deren Leben geschützt werden muss, in Deutschland auch Schutz gewähren. Das darf und wird nicht infrage gestellt sein. Weil man aber ja nicht ausweichen soll, will ich sehr ausdrücklich sagen, dass aus meiner Sicht auch dazu gehört, dass man, wenn man Schutz gewährt, auch klarstellt, dass diejenigen, die im Rahmen der Fachkräftezuwanderung nicht als Arbeitskräfte hierhergekommen sind und auch keinen Schutz bekommen können, weil sie nicht politisch verfolgt worden sind, weil sie nicht vor einem Krieg davongelaufen sind, wieder zurückgehen müssen. Eine humanistische Politik, die Schutz für Flüchtlinge gewährt, muss auch die Kraft haben, das gut zu organisieren. Alles andere wird nicht funktionieren und wird auch nicht die Zustimmung aller Bürgerinnen und Bürger dieses Landes bekommen. Deshalb passt es zusammen und ist es eine Politik aus einem Guss, wenn man sagt: Wir machen das mit der Fachkräftezuwanderung und mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht. Wir gewähren denjenigen, die Schutz brauchen, Schutz. Aber wir stellen auch klar, dass diejenigen, die nach Deutschland kommen und diesen Schutz nicht gewährt bekommen, wieder in ihre Heimatländer zurückkehren. Für diese Art von Politik setze ich mich ein. Ich will jetzt nicht alle Themen ansprechen, die wichtig wären, aber doch noch ein paar nennen. Ich finde, in diesem Land wird zu wenig verdient. Das sieht man daran, dass wir mit den Mindestlohnerhöhungen der letzten Zeit immer Millionen Menschen ein besseres Einkommen beschafft haben. Als es um 8,50 Euro ging, haben 6 Millionen mehr verdient. Als wir 12 Euro eingeführt haben, haben am Tag danach schon wieder 6 Millionen mehr verdient. Das waren sehr viele Bürgerinnen und Bürger und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dieses Landes. Deshalb darf man auch nicht darum herumreden. Wir müssen etwas tun, damit diejenigen, die wenig verdienen, besser zurechtkommen ‑ mit besseren Löhnen und am besten natürlich nicht nur durch Mindestlöhne, sondern auch durch Tarifverträge, die mehr verbreitet sind, als es heute der Fall ist. Wir werden das auch mit einem Tariftreuegesetz unterstützen, das die Bundesregierung vorbereitet und das sich die Regierung vorgenommen hat. Wir werden das unterstützen, indem wir den Gewerkschaften mehr Möglichkeiten in den Betrieben geben, auch was die neuen digitalen Kompetenzen betrifft. Wir werden das unterstützen, indem wir dafür sorgen, dass Mitbestimmung in Deutschland weiter ein Kern von Sozialpartnerschaft bleibt. Die betriebliche und die Unternehmensmitbestimmung gehören dazu. Weil ich schon über diejenigen, die wenig verdienen, gesprochen habe, will ich noch zwei, drei Punkte dazu sagen. Manches wird ja verbessert, und niemand bekommt es mit: zum Beispiel die Erwerbsminderungsrente für Bestandsrentner, die wir milliardenschwer angehoben haben, zum Beispiel, dass wir das Kindergeld für das erste, zweite und dritte Kind auf 250 Euro angehoben haben, zum Beispiel, dass wir den Kinderzuschlag für erwerbstätige Familien, die wenig verdienen, auf 250 Euro pro Kind angehoben haben, zum Beispiel, indem wir für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die wenig verdienen, das Wohngeld verbessert haben. Viel mehr bekommen es jetzt. Es gibt auch viel mehr an Unterstützung. Man kann, wenn man noch einen Punkt mit im Kopf hat, noch einen ganz wichtigen Satz sagen: Wir haben auch noch die Sozialversicherungsbeitragsbelastung für diejenigen, die weniger als 2000 Euro verdienen, reduziert. Sie zahlen nicht den vollen Beitrag, bekommen aber die ganze Leistung. Wenn man das alles zusammenrechnet, sind das die größten Entlastungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit geringen Einkommen, die größten Nettoverbesserungen im Einkommensbezug durch politische Maßnahmen, die in den letzten Jahren überhaupt jemals stattgefunden haben. Ich finde, das ist ein richtiges Zeichen in einer schweren Zeit, in der viele nicht wissen, wie sie ihre nächste Rechnung bezahlen sollen. Weil ich ja Gewerkschafter bin und als Arbeitsrechtsanwalt angefangen habe, könnte ich jetzt noch lange weitermachen. Das will ich aber nicht, weil wir ja noch ein bisschen diskutieren wollen. Ich möchte mich bei allen hier bedanken – bedanken für die Arbeit in all den Jahren. Deutschland ist ein starkes Land ‑ nicht trotz, sondern wegen der Sozialpartnerschaft. Deutschland ist ein starkes Land ‑ wegen der Betriebsräte, wegen der Gewerkschaften und dieser Kultur. Wir müssen sie auch für die Zukunft sichern. Dann ist nämlich immer wieder Zeit für Zukunft.
Rede von Kulturstaatsministerin Roth anlässlich der Konferenz “What’s the Point of History … If We Never Learn?“ – Dialog, Erinnerung und Solidarität in Europa. Neue Herausforderungen für Public History und historische Bildung.
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-roth-anlaesslich-der-konferenz-what-s-the-point-of-history-if-we-never-learn-dialog-erinnerung-und-solidaritaet-in-europa-neue-herausforderungen-fuer-public-history-und-historische-bildung–2233086
Mon, 16 Oct 2023 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin, Humboldt Forum
Kulturstaatsministerin
Kultur
– Es gilt das gesprochene Wort. – Vor neunzig Jahren, im Spätsommer 1933 erschien bei Querido in Amsterdam die deutsche und bei Gallimard in Paris parallel die französische Ausgabe eines Essays von Heinrich Mann mit dem „Der Haß“, Untertitel: „Deutsche Zeitgeschichte“. Es war zum einen die Abrechnung des ins französische Exil geflüchteten Schriftstellers mit den neuen Machthabern in Deutschland. Zum anderen war es literarische Prophetie. Früher als andere erkannte Heinrich Mann, was da 1933 in Deutschland die Macht übernommen hatte – der Hass; und klarer als andere sah er voraus, was daraus folgen würde: Krieg. „Denn Krieg“, schrieb Heinrich Mann, „Krieg ist eigentlich, sobald eine rücksichtslos nationalistische Herrschaft sich irgendwo einrichtet.“ An den zu Unrecht fast vergessenen Essay Heinrich Manns muss ich in diesen Tagen, in diesen Zeiten immer öfter denken, in denen Nationalismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus, in denen aggressive Intoleranz und Ausgrenzung, Hass und Hetze – mit anderen Worten: die Inhumanität in immer mehr Ländern die Herrschaft erobert und „sich eingerichtet hat“. Die grauenhaften Massaker der Hamas an Frauen, Kindern, Männern in Israel; die entgrenzte Gewalt gegen Menschen, weil sie Jüdinnen und Juden sind, erfüllen mich mit tiefer Trauer und Schmerz. Der Terror in Israel und der verbrecherische Überfall Putins auf die Ukraine sind die jüngsten, fürchterlichen Bestätigungen von Heinrich Manns Befund. Der Angriffskrieg Russlands verursacht nicht nur unermessliches menschliches Leid, er ist auch ein gezielter Krieg gegen die Kultur des Landes. Die geschichtliche und kulturelle Identität der Ukrainerinnen und Ukrainer soll ausgelöscht werden, um ihren gesellschaftlichen Zusammenhalt und ihre Widerstandskraft zu zerstören. Deshalb werden historische Gebäude, Denkmäler und Ausgrabungsstätten angegriffen, Museen geplündert, Bibliotheken und Archive zerstört, Kunstschätze geraubt. Damit soll nicht nur das historische Gedächtnis der Ukraine ausgelöscht werden, nicht weniger auch die Erinnerungen der Russinnen und Russen an die Schnittstellen der russischen und der ukrainischen Kultur. Nach Marcel Proust sind gemeinsame Erinnerungen „die besten Friedensstifter“. Ein gewichtiger Grund für Putin und anderen Despoten, sie zu bekämpfen. „Friedensstifter“ sind die natürlichen Feinde der Despotie. Deshalb stehen wir als Demokrat:innen an der Seite der Ukrainerinnen und der Ukrainer und aller, die von der Vernichtung ihrer kulturellen Identität bedroht sind. Denn wir sind die natürlichen Verbündeten der „Friedensstifter“. Es ist für uns heute selbstverständlich, in demokratischen Gesellschaften zu leben und uns auf Rechtsstaatlichkeit verlassen zu können – die meisten von uns kennen es nicht mehr anders! Und gerade darin liegt eine Gefahr; denn Demokratie, Meinungsfreiheit, Toleranz und die Akzeptanz der Rechte von Minderheiten sind alles andere als selbstverständlich. Nicht nur in Deutschland und Europa, sondern weltweit beobachten wir antidemokratische Tendenzen und die Verbreitung nationalistischer Ideologien. Es ist offensichtlich: Die Demokratie steht unter Druck und wird bedroht. Und die Demokratie ist nicht immun. Dieser Grundpfeiler unserer freiheitlichen Lebensweise, die freiheitliche Verfasstheit Europas muss bewahrt und geschützt werden. Gerade der Blick auf die deutsche Geschichte des vorigen Jahrhunderts macht deutlich, was geschieht, wenn Nationalismus und Intoleranz triumphieren. Wie können die Erfahrungen von Nationalismen, totalitären Ideologien, Kriegen und Diktaturen genutzt werden, um Frieden und gemeinsame Verantwortung für künftige Generationen zu stärken? Die Antwort darauf kann nur lauten: Der internationale Austausch über die Grundlagen und über die künftige Ausgestaltung einer auf gemeinsamen Werten beruhenden Erinnerungskultur ist für uns alle unverzichtbar. Das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität hat sich zum Ziel gesetzt, „im freundschaftlichen Geist …die Geschichte der europäischen Nationen miteinander (zu) verbinden, um zu einer europäischen Erinnerungskultur beizutragen“. Das ist heute wichtiger denn je. Mit der Globalisierung und mit der Zuwanderung von Menschen mit unterschiedlichen weltanschaulichen, kulturellen und politischen Hintergründen nach Europa verändern sich auch die Gesellschaften Europas. Deutschland und seine europäischen Nachbarn sind vielfältiger geworden, Diversität wird mehr und mehr zu einem strukturellen Merkmal. Aber: Wie lässt sich in einem sich derart verändernden Umfeld die Vergangenheit Europas vermitteln? Wie lassen sich Menschen erreichen, die vielleicht selbst gerade erst vor Krieg und Verfolgung hierher geflohen sind? Ich begrüße es sehr, dass die heutige Veranstaltung dem Thema „Migrationsgesellschaften und ‚Europäisches Gedenken‘“ einen eigenen Schwerpunkt widmet. Das ist eine echte Herausforderung für die Zukunft, und es ist wichtig, dass Sie dazu neue Ideen entwickeln. Auf dem Programm der jetzt beginnenden Veranstaltung steht auch das Panel: „Nationale Interessen und transnationale Solidarität. Erinnerung – Umgang mit kontroversen Themen und Akteur/innen“ – ich bin sehr gespannt, auf die Ergebnisse. Wenn ich von „europäischem Erinnern“ spreche, dann meine ich kein normiertes, kein vereinheitlichtes Wissen und sicher kein europäisches Schulbuch. Das Ziel kann auch nicht die Herstellung eines vereinheitlichten Geschichtsbildes sein. Es geht um das Respektieren und das Verstehen des Anderen, um das Einbeziehen seiner Perspektive auf die Vergangenheit und die Zukunft. Es geht also um die Erweiterung des eigenen Horizonts um die Sichtweisen des Nachbarn. In diesem Sinn kann das „europäische Erinnern“ bei der Gestaltung des „gemeinsamen Europa“ einen wichtigen Beitrag leisten. Dafür ist die Arbeit des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität mit seinem Einsatz für eine zukunftsgerichtete Verständigung über die Vergangenheit in Europa essentiell. Sein Ziel ist, die Menschen in Europa näher zu bringen. Es gibt kein besseres. Auf unsere Unterstützung können Sie selbstverständlich auch in Zukunft zählen. Für Ihre Tagung wünsche ich Ihnen viel Erfolg – eine so wichtige Tagung des Erinnerns in die Zukunf
Auf der Konferenz im Berliner Humboldt Forum erinnerte Kulturstaatsministerin Roth daran, dass Demokratie, Meinungsfreiheit, Toleranz und die Akzeptanz der Rechte von Minderheiten alles andere als selbstverständlich seien. Angesichts dessen sei der internationale Austausch über die Grundlagen und die künftige Ausgestaltung einer auf gemeinsamen Werten beruhenden Erinnerungskultur unverzichtbar, so die Kulturstaatsministerin.
Rede von Bundeskanzler Scholz beim 6. deutsch-ukrainischen Wirtschaftsforum am 24. Oktober 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-6-deutsch-ukrainischen-wirtschaftsforum-am-24-oktober-2023-in-berlin-2232628
Tue, 24 Oct 2023 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Staatspräsident Selensky, sehr geehrter Herr Premierminister Schmyhal, sehr geehrter Herr Adrian, sehr geehrter Herr Bruch, meine Damen und Herren! Es war mir wichtig, auch in diesem Jahr beim deutsch-ukrainischen Wirtschaftsforum zu sprechen. Seit mehr als 600 Tagen wehrt sich die Ukraine heldenhaft gegen einen von Russland begonnenen, verbrecherischen Angriffskrieg, der auf nichts weniger als die Vernichtung der ukrainischen Staatlichkeit gerichtet ist. Dieser Angriff ist zugleich auch ein Angriff auf das grundlegende Prinzip der europäischen und internationalen Friedensordnung, nämlich dass Grenzen nicht mit Gewalt verschoben werden dürfen. Auch deshalb darf Russland mit seinen imperialistischen Motiven nicht durchkommen. Auch deshalb unterstützen wir die Ukraine wirtschaftlich, finanziell, humanitär und auch mit Waffen. Diese Unterstützung wird in keiner Weise dadurch beeinträchtigt, dass wir seit den schrecklichen Morgenstunden des 7. Oktober natürlich zugleich mit größter Anteilnahme und in größter Sorge nach Israel und in den Nahen Osten schauen. Beiden Ländern ‑ Israel und der Ukraine ‑ gilt unsere unverbrüchliche Solidarität. Putin hat die Ukraine überfallen, weil er in imperialistischer Verblendung mit einem einfachen und schnellen Sieg rechnete. Er hat sich geirrt. Und er irrt sich erneut, wenn er glaubt, länger durchzuhalten als wir. Die Ukraine wird nicht aufhören, für ihre Freiheit zu kämpfen. Das ist in diesen mehr als 600 Tagen vollkommen unmissverständlich klar geworden. Unsere Zusage gilt: Wir unterstützen die Ukraine – so lange wie nötig! Zusammen mit unseren Partnerinnen und Partnern aus der EU, der G7 und vielen anderen Ländern lassen wir keinen Zweifel an unserer Entschlossenheit und unserer Durchhaltefähigkeit aufkommen. Unsere zivile und militärische Hilfe beläuft sich seit Kriegsbeginn auf 24 Milliarden Euro. Damit ist Deutschland hinter den USA der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine. Im aufziehenden Winter spannen wir einen Schutzschirm gegen neuerliche russische Angriffe auf die Energie-, Wasser- und Wärmeinfrastruktur auf. Denn es zeichnet sich ab, dass Russland erneut Kälte und Energieknappheit als Waffe gegen die Zivilbevölkerung einsetzen will. Um den Himmel über der Ukraine gegen russische Drohnen und Raketen zu sichern, haben wir ein Winterpaket im Wert von noch einmal 1,4 Milliarden Euro geschnürt. Es enthält unter anderem ein weiteres Patriot-System, ein weiteres Iris-T-System sowie weitere Gepard-Flakpanzer mit neu dafür hergestellter Munition. Jede Fabrik, die nicht zerstört wird, jede Stromleitung, die geschützt werden kann, jedes Unternehmen, in dem weiter produziert wird, hilft schließlich dabei, die Ukraine auch wirtschaftlich zu stabilisieren, und die Ukraine ist da auf einem guten Weg, Herr Premierminister. Drei Prozent Wirtschaftswachstum in diesem Jahr, robuste Prognosen auch für 2024 ‑ das zeigt: Die Ukraine ist „open for business“, auch in diesen Zeiten, und wir unterstützen sie dabei, indem wir helfen, Kriegsschäden zu verhindern und zu beseitigen, und indem wir bereits seit dem vergangenen Jahr den Wiederaufbau unterstützen ‑ nach dem Motto „Build back better!“. Erst vergangene Woche haben wir einen Zuschuss von knapp 80 Millionen Euro auf den Weg gebracht, mit dem der ukrainische Energieversorger Kriegsschäden im Stromnetz beheben und gleichzeitig die Energieeffizienz des Gesamtnetzes verbessern kann. Wenn man weiterdenkt, etwa an das große Potenzial, das die Ukraine im Bereich der erneuerbaren Energien hat, dann sind das echte Zukunftsinvestitionen. Potenzial hat die Ukraine übrigens nicht nur im Energiebereich, etwa beim Wasserstoff, sondern genauso in der Zulieferindustrie, im Agrarbereich, im IT-Sektor und bei kritischen Rohstoffen. Sie haben das erwähnt, Herr Ministerpräsident, und die Konferenz hier in Berlin unterstreicht das. Es ist sicher kein Zufall, dass trotz des Krieges mehr als 2000 deutsche Unternehmen in der Ukraine aktiv sind – mit mehr als 35 000 Angestellten allein bei Zulieferern im Automobilsektor. Wer heute in die Ukraine investiert, der investiert in ein künftiges EU-Mitgliedsland, das Teil unserer Rechtsgemeinschaft und unseres Binnenmarkts sein wird. Wie schnell der Beitrittsprozess geht, hängt von den Reformen ab, die die ukrainische Regierung unternimmt. Klar ist: Jede dieser Reformen wird das Investitionsklima weiter verbessern. Und klar ist auch: Wir werden die Ukraine auf ihrem Weg in die EU begleiten und auch bei den Reformen mit aller Kraft unterstützen. Um Investitionen in der Ukraine bereits jetzt zu erleichtern, haben wir in enger Rücksprache mit der Wirtschaft und Industrie noch einmal Verbesserungen bei den verfügbaren Garantieinstrumenten erreicht ‑ bei der Höhe der Garantieübernahme, bei den Antragsgebühren und auch beim bürokratischen Aufwand. Damit federn wir bestehende Risiken ab ‑ wobei die Wirtschaft natürlich am Ende von Ihnen, von den Unternehmerinnen und Unternehmern, gemacht wird. Deshalb ist es ein gutes Signal, sehr geehrter Herr Adrian, dass die Auslandshandelskammer mit eigenen Programmen deutsche Unternehmen in der Ukraine vernetzt, die sich in den unterschiedlichen Sektoren am Wiederaufbau beteiligen wollen. Die Privatwirtschaft wird bei dieser Mammutaufgabe Wiederaufbau eine ganz zentrale Rolle spielen. Und ich bin sicher: Auf die Expertise und das Engagement der deutschen Industrie ist dabei Verlass. Wir als Bundesregierung sorgen dabei für den nötigen politischen Rahmen. Schon beim Europäischen Rat Ende dieser Woche werden wir unseren gemeinsamen Willen zur finanziellen Unterstützung der Ukraine bekräftigen. Und ich werde mich dafür einsetzen, dass wir bis Ende des Jahres die konkreten Lösungen auf den Weg bringen, um eine nachhaltige Unterstützung der Ukraine für die kommenden Jahre zu sichern. In der EU wollen wir dafür eine Ukraine-Fazilität schaffen, die Zuschüsse und Darlehen bündelt, private und öffentliche Investitionen koordiniert und in der auch die technischen und weiteren unterstützenden Maßnahmen zusammengefasst werden, die wir als Europäische Union für Beitrittskandidaten zur Verfügung stellen. Richtschnur für diesen Wiederaufbau aus einem Guss soll ein von der Ukraine selbst erarbeiteter Plan sein, der mit der EU und auch international gut abgestimmt ist. Finanzielle Unterstützung wird dort auch mit der Erfüllung wichtiger Reformschritte verbunden. Bei der Abstimmung und der Erarbeitung von Reformschwerpunkten mit Partnern über die EU hinaus kommt auch der internationalen Geberplattform, die ich während der deutschen G7-Präsidentschaft im vergangenen Jahr ins Leben gerufen habe, wieder und weiter eine wichtige Rolle zu. Im Juni des kommenden Jahres werden wir zudem die internationalen Unterstützer der Ukraine ‑ gemeinsam mit Ihrer Regierung, Herr Premierminister ‑ zur Ukraine Recovery Conference 2024 nach Berlin einladen. Ziel ist es auch dort, der Ukraine langfristige wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung zu sichern ‑ sowohl durch die beteiligten Staaten als auch durch den Privatsektor. Dabei denken wir den Beitrittsprozess der Ukraine zur EU immer schon mit. Meine Damen und Herren, auf einen Aspekt möchte ich zum Schluss noch eingehen, weil er aus meiner Sicht der Garant dafür ist, dass sich die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine in Zukunft noch besser, noch dynamischer entwickeln. Neben der EU-Integration der Ukraine ist das der Umstand, dass fast eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer inzwischen hier in Deutschland leben und arbeiten. Viele von ihnen beenden in diesen Wochen und Monaten ihre Integrationskurse. Viele sprechen inzwischen Deutsch. Fast alle sind gut ausgebildet. Den deutschen Unternehmerinnen und Unternehmern hier, die oft unter einem Mangel an Arbeitskräften leiden, möchte ich daher einen Rat geben: Nutzen Sie dieses große Potenzial! Integrieren Sie die Ukrainerinnen und Ukrainer, die hier bei uns sind, in Ihre Unternehmen! Selbst wenn diese Frauen und Männer nach dem Krieg zurück in die Ukraine gehen, sind sie für Ihre Unternehmen ein Gewinn, weil sie dann menschliche Brücken bilden in ein Land, das als EU-Beitrittskandidat enormes Wirtschaftspotenzial birgt ‑ ein Land mit Millionen fleißigen, gut ausgebildeten Bürgerinnen und Bürgern; ein Land, mit dem wir ‑ auch dank der Ukrainerinnen und Ukrainer, die derzeit hier bei uns leben ‑ enger verbunden sind, als jemals zuvor. Lieber Denys Schmyhal, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Ukraine, die Aufgabe, vor der Sie stehen, ist groß. Sie erfüllen sie, während Ihr Land mit einem Angriffskrieg überzogen wird. Unsere Solidarität, unsere Unterstützung und unsere Hochachtung dafür sind Ihnen sicher. Und ich denke, ich spreche auch im Namen der deutschen Wirtschaft und uns aller hier, wenn ich sage: Die Ukraine kann sich auf Deutschland verlassen. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz zur Eröffnung der Weill-Synagoge in Dessau-Roßlau am 22. Oktober 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zur-eroeffnung-der-weill-synagoge-in-dessau-rosslau-am-22-oktober-2023-2231994
Sun, 22 Oct 2023 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Dessau- Roßlau
Sehr geehrter Herr Botschafter Prosor, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Dr. Wassermann, sehr geehrter Herr Dainow, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Reck, verehrte Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Dessau, meine Damen und Herren! 85 Jahre nach der Zerstörung der Synagoge dieser Stadt schließen wir heute eine Lücke ‑ mit einem neuen jüdischen Gotteshaus, gut sichtbar, mitten in Dessau. Was für ein Vertrauensbeweis Ihrer kleinen und zuletzt durch die Aufnahme von Menschen aus der Ukraine wachsenden Gemeinde, Herr Dr. Wassermann, die Teil ist einer vielfältigen jüdischen Gemeinschaft in unserem Land. Was für ein Geschenk! Was für ein Glück! Doch diese Worte ‑ „Geschenk“, „Glück“ ‑ mögen uns heute nicht so recht über die Lippen kommen. Uns alle bewegt zutiefst, was am 7. Oktober in Israel geschehen ist. Wir sind erschüttert, wie viele Frauen und Männer, Babys, Kinder und Ältere dem barbarischen ‑ und hier passt dieses Wort: barbarischen ‑ Terror der Hamas zum Opfer gefallen sind. Wir fühlen mit allen, die Freunde und Familienangehörige verloren haben, die um Kinder, Eltern, Geschwister, Ehepartner, um ihre Liebsten bangen, um diejenigen, die als Geiseln in der Gewalt der Terroristen sind. Einige dieser Angehörigen konnte ich bei meinem Besuch in Tel Aviv persönlich treffen. Ihr Schmerz bricht einem das Herz. Deshalb wird die Bundesregierung alles tun, was in unserer Macht steht, damit alle Geiseln freikommen. Und auch das möchte ich hier sagen: Es empört mich zutiefst, wie antisemitischer Hass und menschenverachtende Hetze sich seit diesem schicksalhaften 7. Oktober Bahn brechen ‑ im Internet, in den sozialen Medien, rund um die Welt und ‑ beschämenderweise ‑ auch hier bei uns, in Deutschland. Ausgerechnet hier, in Deutschland. Deutsche haben das Menschheitsverbrechen der Shoa begangen. Deshalb muss unser „Nie wieder!“ unverbrüchlich sein. Meine Damen und Herren, der 7. Oktober markiert eine Zäsur ‑ eine Zäsur zuallererst für den Staat Israel, der das völkerrechtlich verbriefte Recht hat, sich gegen den Terror zur Wehr zu setzen ‑ Terror, der Unschuldige ermordet, Terror, der den jüdischen Staat Israel vernichten will. Für Deutschland kann es in dieser Lage nur einen Platz geben: Den Platz fest an der Seite Israels. Das habe ich auch Präsident Herzog, Premierminister Netanjahu und dem neu in die Regierung eingetreten Minister Gantz gesagt, als ich am Dienstag zu Besuch in Israel war. Und diese Zusage, sehr geehrter Herr Botschafter, übersetzen wir in praktische Solidarität mit Ihrem Land. Wenn Israel Deutschland in dieser Lage um Hilfe bittet, dann helfen wir. Meine Damen und Herren, der 7. Oktober markiert eine Zäsur nicht nur für Israel, nicht nur für Jüdinnen und Juden weltweit, sondern für uns alle, weil der Terror in seiner ganzen Brutalität und Abscheulichkeit sich gegen die Menschlichkeit selbst richtet. Die Terroristen wollen Unfrieden stiften zwischen den Völkern und den Religionen. Sie wiegeln auf und säen Hass ‑ nicht nur im Nahen Osten, auch hier bei uns. Wir müssen alles daransetzen, dass diese Saat nicht aufgeht. „Lethargie ist im jetzigen Moment völlig unangebracht“ – das schrieb der berühmte Kurt Weill, der Sohn des Dessauer Kantors Albert Weill, nach dem diese Synagoge benannt sein wird, kurz nach seiner Flucht vor den Nationalsozialisten an seinen Verleger. Lethargie ist unangebracht; Wegsehen ist unangebracht; Schweigen ist unangebracht, wenn Jüdinnen und Juden auf unseren Straßen nicht sicher sind, wenn Davidsterne auf Häuser geschmiert werden, wenn Brandsätze auf Synagogen geworfen werden, wenn die Opfer des Terrors verhöhnt und die Täter verherrlicht werden, wenn Hass und Gewalt gegen Jüdinnen und Juden mit einem unerträglichen „Ja, aber“ relativiert werden – in perfider Täter-Opfer-Umkehr. Jetzt gilt es, meine Damen und Herren. Jetzt muss sich zeigen, was „Nie wieder!“ bedeutet. Jetzt müssen wir zeigen, was unser „Nie wieder!“ bedeutet. Deshalb wird unser Staat jüdisches Leben überall und zu jeder Zeit schützen und verteidigen. Dass dazu Polizistinnen und Polizisten vor Synagogen und anderen jüdischen Einrichtungen nötig sind, ist beschämend. Doch noch viel beschämender, noch viel katastrophaler ist es, wenn Synagogen in Deutschland angegriffen werden – so wie vor vier Jahren unweit von hier in Halle. Antisemitischer Hass und menschenverachtende Hetze sind in Deutschland strafbar. Unsere Polizei und unsere Justiz müssen unsere Gesetze durchsetzen – und das werden sie auch. Für Antisemitismus darf es in Deutschland keinerlei Toleranz geben ‑ egal, ob dieser Antisemitismus politisch motiviert ist oder religiös, ob er von links oder rechts kommt, ob er seit Jahrhunderten hier gewachsen ist oder von außen ins Land gekommen ist. Antisemitismus bleibt, was er ist: ein Gift, das sich aus dumpfen Ressentiments, aus Empathielosigkeit und einem Mangel an Toleranz speist; ein Gift, das unsere Gesellschaft zersetzt und unsere Demokratie gefährdet. Daher ist der Kampf gegen Antisemitismus immer zugleich der Kampf für eine bessere, menschlichere, aufgeklärte Gesellschaft – und somit eine Aufgabe aller. Wenn ich das hier in Dessau sage, dann muss ich natürlich an einen der größten Söhne dieser Stadt denken, an den Wegbereiter der europäischen Aufklärung und des emanzipierten Judentums in Deutschland, an einen großen Vorkämpfer für Toleranz, Gleichberechtigung und Respekt: Moses Mendelssohn. „Betrachtet uns, wo nicht als Brüder und Mitbürger, doch wenigstens als Mitmenschen und Miteinwohner des Landes“ – so schrieb er seinen christlichen Zeitgenossen 1783 ins Stammbuch. Welch trauriger Befund ist es da, wenn Jüdinnen und Juden auch heute immer noch und immer wieder zweifeln müssen, ob dieses Land auch ihr Land ist. Umso zuversichtlicher macht es mich, wenn wir jüdischem Leben in Deutschland heute einen neuen Raum geben ‑ einen Raum, fest in Stein gemauert. Diese Synagoge mitten hier in Dessau sagt: Jüdisches Leben ist und bleibt ein Teil Deutschlands. Es gehört hierher. Wir werden alles tun, um jüdisches Leben zu schützen und zu stärken! „Wir“ – dieses Wort ist in Deutschland nicht denkbar, nicht sagbar ohne Jüdinnen und Juden einzubeziehen. Auch dafür steht dieses Gebäude; auch dafür steht dieser Dessauer Lückenschluss. Das macht den heutigen Tag dann doch zu einem Glück und zu einem Geschenk. Schönen Dank!
in Dessau-Roßlau
Rede von Kulturstaatsministerin Roth zur Eröffnung der 75. Frankfurter Buchmesse
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-roth-zur-eroeffnung-der-75-frankfurter-buchmesse-2231268
Tue, 17 Oct 2023 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Frankfurt am Main
Kulturstaatsministerin
Kultur
Eine Buchmesse ist ein Marktplatz der Worte, ein Umschlagplatz der Schriften, Literaturen und Lesarten. All das ist kaum denkbar ohne seine Anfänge, seine Ursprungsorte, ohne die Schriftvölker des Nahen und Mittleren Ostens. Was wären wir ohne Euch?! Was steht auf dem Spiel, wenn Ihr dem Wort nicht mehr traut? Schriften wollen gelesen werden, Literatur will Stille, Konzentration, braucht die Bereitschaft seiner Leser:innen, sich der Welt, dem eigenen Selbst und dem Anderen zu öffnen. Wer Kinder ermordet, Frauen vergewaltigt und Familien verschleppt, wer Menschen in Geiselhaft nimmt, gibt all das der Barbarei preis, zerstört jede Grundlage für Verständigung und ein menschliches Miteinander. Raketen auf Israel, Angriffe auf Städte und Ortschaften nahe der Grenze zum Gazastreifen, Terroristen der Hamas, die Jagd auf Zivilist:innen machen, auf feiernde Besucher:innen des Supernova-Festivals nahe des Kibbuz Re’im: Terroristen, die Hunderte töten und ebenso viele verschleppen – eine Autostunde von Tel Aviv. Es ist ein Angriff auf Frauen und Männer und Kinder in Israel und auf ihre Gäste aus aller Welt. Es ist ein Angriff auf Menschen, weil sie Jüdinnen und Juden sind. Es ist ein Angriff auf den Staat Israel, auf seine Kultur, auf seine offene Gesellschaft, die sich genau dort, wo sie angegriffen wurde, gegen niemanden richtete. Das verurteile ich und das verurteilen wir zutiefst. Wir sind voller Trauer und Schmerz an der Seite der Opfer, an der Seite der Angehörigen, die um ihre Liebsten bangen. Leider gibt es auch die Bilder aus unserem Land, die uns zeigen, wie Anhänger der Hamas den Blutrausch feiern. Dafür kann es und dafür darf es keinerlei Toleranz geben, das ist absolut inakzeptabel. Wenn jüdische Menschen in Deutschland Angst haben, ihre Kinder zur Schule zu schicken, in die Synagoge zu gehen oder auf der Straße als Jüdinnen und Juden erkannt zu werden, dann sage ich: Nie wieder ist jetzt! Dann brauchen wir alle Mittel unseres wehrhaften Rechtsstaats, um den Hass und alle, die ihn predigen, in die Schranken zu weisen. Es ist es unsere Aufgabe das so reiche und vielfältige jüdische Leben in unserem Land – und es ist ein großes Glück, dass es das in unserem Land wieder gibt – gerade jetzt zu schützen, zu fördern und zu stärken. Dafür wollen wir als Gesellschaft Zeichen setzen. Zeichen setzen der Solidarität mit Israel und mit den Jüdinnen und Juden, die Teil unseres Landes sind. Zeichen setzen gegen inhumane Barbarei, ein Zeichen setzen für die Menschlichkeit. Wie können wir aber in solch schweren Zeiten ein Fest des Buches feiern, wie es hier bei der Frankfurter Buchmesse geschieht – und in den nächsten Tagen auch geschehen sollte? Gerade in diesen so dunklen Zeiten öffnet das Lesen unseren Blick, schafft Verständnis über alle Grenzen hinweg und lehrt uns Empathie. Gerade in jetzt brauchen wir die Freiheit des Denkens, die Vielfalt der Bücher und Perspektiven – und genau dafür steht die Frankfurter Buchmesse. Denn Lesen erlaubt Erlebnisse, die einem selbst nie zu Teil wurden, ermöglicht neue Erkenntnisse und Sichtweisen. Lesen bedeutet Freude und Anteilnahme an Geschichten, die einem ganz neue Welten eröffnen. Mit jedem Kapitel, mit jeder neuen Seite können wir Gegensätze überwinden, die im Alltag manchmal unüberbrückbar scheinen. Lesen ist der tägliche Beweis, dass wir uns trotz unserer Unterschiede verstehen können, dass unsere Gesellschaft mitnichten dazu verdammt ist, auseinander zu driften. Auch wenn manche das behaupten und bewerben. Deswegen ist jede Geschichte, die erzählt wird, es auch wert, erzählt zu werden. Literatur lebt nicht nur von denen, die möglichst klug und gebildet darüber sprechen können. Literatur lebt von denjenigen, die lesen, die sich tief darin versenken. Deswegen ist die vielfältige Verlagslandschaft in unserem Land von unschätzbarem Wert für unsere Demokratie. Deswegen sind die tausenden von Büchern, die hier jedes Jahr vorgestellt werden, eine gute Nachricht für unser Land. „Waben der Worte“ – das Motto, das Ihr Land, Frau Präsidentin, für seinen Auftritt als Gastland der diesjährigen Buchmesse gewählt hat, bringt die verbindende, die Halt gebende und Gemeinschaft stiftende Wirkung von Literatur wunderbar zum Ausdruck. Im Gedicht „Ich habe es Euch gesagt“ des slowenischen Lyrikers Srečko Kosovel ist von der Honigwabe der Menschheit die Rede, die jenseits der Beschränkung auf einzelne Nationen wachse. Und „Waben der Worte“ ist das Motto Sloweniens. Es ist ein schönes Bild, das Einsammeln der Worte, in einem Land, das aus dem Vollen schöpfen kann, in dem neben der Amtssprache Slowenisch, auch Italienisch, Ungarisch, Deutsch, Kroatisch, Serbisch und Romani gesprochen wird. Slowenien ist ein Bienenstock der Worte, der Sprachen, der Kulturen, Hinterlassenschaften von Eroberern aus großen, benachbarten Sprachräumen, die kamen und wieder gingen. „Wir haben überlebt, weil wir Leser sind“, sagte Miha Kovac unlängst der FAZ. Denn das Lesen lehre denken und eine kleine Nation in Europa müsse das Denken beherrschen. Ihr Land, Frau Präsidentin, war in seiner Geschichte fast immer ein Grenzland. „Krain“, „krajina“, „Grenzmark“ – die alte Bezeichnung für einen der heutigen Landesteile Sloweniens weist darauf hin. Allzu oft in der europäischen wie auch in der slowenischen Geschichte waren solche Wörter gleichbedeutend mit dem Recht des Stärkeren, mit Krieg und Besatzung. Mit Fremdherrschaft und dem mühevollen Ringen um Eigenständigkeit. Heute führt uns Russlands verbrecherischer Krieg gegen die Ukraine genau diese überwunden geglaubte Geschichte vor Augen. Ein verbrecherischer Angriffskrieg, der der ukrainischen Kultur das Recht absprechen will, zu existieren, der dieser Kultur den Garaus machen möchte. Ein Krieg, der sich auch gegen die Kultur der Demokratie richtet, gegen die Selbstbestimmung von Menschen, wie sie leben wollen, Menschen in unserer direkten Nachbarschaft, die die Freiheit haben wollen, in der Sprache ihrer Wahl zu lesen, die Bücher, die sie möchten, die frei schreiben und sprechen wollen. Es ist eine große Errungenschaft der europäischen Einigung, dem Los, Grenzland zu sein, die Gemeinschaft in Vielfalt entgegengestellt zu haben. Dass aus der Gefahr der geographischen Lage der Vorteil wurde, Schmelztiegel zu sein, Kreuzungspunkt und Ort der Begegnung. Gelegen zwischen Mittelmeer, Balkan und den Alpen ist Slowenien europäische Vielfalt auf kleinstem Raum. Einflüsse aus allen Himmelsrichtungen aufsammelnd – und daraus neue Wortwaben schaffend. So hat der große slowenische Dichter, France Prešeren, Teile seines Werkes auch auf Deutsch verfasst. Und die slowenische Schriftstellerin Alma Karlin war zwischen den beiden Weltkriegen eine der populärsten deutschsprachigen Reiseschriftstellerinnen. Und gleichzeitig war es doch auch das leidenschaftliche Festhalten an der eigenen Sprache, das die reiche, kulturelle Identität erhalten hat, die wir hier in Frankfurt entdecken können. Den 32 Jahren seit Gründung der Republik Slowenien stehen über 1.000 Jahre alte Schriftzeugnisse in slowenischer Sprache gegenüber. Und heute ein riesiger Reichtum, eine prall gefüllte Bienenwabe literarischer Produktionen. In einem Land mit zwei Millionen Staatsangehörigen erscheinen jährlich rund 3.500 Bücher, davon 300 Gedichtbände. Kein Wunder, dass Slowenien mitunter als das Land mit der dichtesten Dichte an Dichtern gepriesen wird. Ich freue mich jedenfalls sehr, dass so viele slowenische Autorinnen und Autoren hier in Frankfurt sind und uns erlauben, die Welt durch ihre unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten – traditionell, modern, vielfältig, slowenisch und typisch europäisch. Und ich freue mich, dass diese Messe dazu beitragen wird, dass noch mehr Werke aus Slowenien in deutsche Buchhandlungen gelangen. Besonders danken möchte ich an dieser Stelle all denjenigen, die uns fremdsprachige Literatur überhaupt erst erschließen, den Übersetzerinnen und Übersetzern. Über 9.400 übersetzte Titel wurden in Deutschland veröffentlicht – allein im vergangenen Jahr. 9.400 Welten, die sonst im wahrsten Sinne das Wortes unverständlich geblieben wären. Sie, liebe Übersetzerinnen und Übersetzer, bereiten uns den Weg. Sie machen andere Wirklichkeiten erfahrbar. Ohne Sie gäbe es schlicht keine Weltliteratur. Meine Damen und Herren, ich habe vorhin vom Lesen gesprochen als täglich praktizierte Bereitschaft, die eigene Perspektive in Frage zu stellen, sich an die Stelle der anderen zu begeben. Diese Bereitschaft ist wichtig, sie ist essenziell für unsere Demokratie. Gerade jetzt, in einer Zeit voller Umbrüche, Herausforderungen und auch Sorgen. In der vermeintlich einfache Lösungen Hochkonjunktur haben. Gerade jetzt brauchen wir Bücher und das Zulassen anderer Meinungen als Gegengewicht und als Immunisierung gegen die Angriffe von Demokratiefeinden und Rechtsstaatsverächtern, gegen Populismus und Propaganda. Gerade in Zeiten von Krieg und Krisen kann Literatur für die Betroffenen von Terror und Krieg helfen, Erlebtes und Erfahrungen zu verarbeiten, gegen die Sprachlosigkeit anzukämpfen, schier Unbeschreibliches zu beschreiben. Literatur kann uns helfen, zu verstehen und mitzufühlen. Buchhändlerinnen und Buchhändler bieten nicht nur Inspiration und Beratung. Buchhandlungen sind auch wichtige Kulturorte überall im Land. Deswegen bin ich froh über die guten Umsätze auf dem Buchmarkt und insbesondere darüber, dass der größte Vertriebsweg immer noch der klassische Buchhandel ist. Deswegen werden wir die Buchbranche auch weiterhin unterstützen. Mit dem Buchpreisbindungsgesetz, dem reduzierten Mehrwertsteuersatz oder dem besonderen Posttarif für den Versand von Büchern. Natürlich auch mit der vielfältigen Literaturförderung, mit der Vergabe des Deutschen Buchhandlungs- und des Verlagspreises und mit der Unterstützung von Buchhandlungen und Verlagen durch das Programm „Neustart Kultur“ nach der Corona-Pandemie. Besonders gefreut habe ich mich über den Erfolg des KulturPasses. Mittlerweile nutzen über 200.000 der jetzt schon 18-Jährigen ihr Budget von 200 EURO für ihre „Reise“ in die Kultur – und einige davon hoffentlich in den nächsten Tagen auch die Möglichkeit, um damit ermäßigten Eintritt hier bei der Buchmesse zu erhalten. Und was nun ist das Angebot, für das der Kulturpass am meisten genutzt wird? Es ist tatsächlich, allem Kulturpessimismus zum Trotz, der Erwerb von Büchern. Mit deutlichem Abstand auf Platz 1. Bereits über 260.000 Bücher haben sich die jungen Menschen damit seit Mitte Juni in einen Buchladen geholt, im Bereich Bücher wurde ein Umsatz von über 4 Millionen Euro erzielt. Das ist doch ein deutliches, ein starkes Signal. Und es gibt Hoffnung für die nächsten 75 Jahre dieser Buchmesse! Der KulturPass ist ein Angebot der Demokratie. Es ist durchaus nicht uneigennützig. Jeder Bürger, jede Bürgerin, hat Anspruch auf Teilhabe – am öffentlichen Gespräch, an Bildung und an der Kultur. Für die Demokratie wiederum ist unabdingbar, dass möglichst viele Bürger:innen diesen Anspruch selbstbewusst wahrnehmen. Der Kulturpass soll das jungen Menschen nachhaltig erleichtern. Für unsere so wertvolle Kultur der Demokratie brauchen wir Sie – Sie, die Bücher möglich machen, die für die ganze Freiheit und Vielfalt des Schreibens, des Publizierens, des Lesens, des Denkens stehen. Deshalb ist es so wichtig, dass der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an Salman Rushdie vergeben wird. Ein starkes Signal. Und ein klares Zeichen gegen den Fanatismus und für die Macht des Buches und die Macht des freien Wortes. Und genau dafür steht die Frankfurter Buchmesse.
In Vertretung von Bundeskanzler Olaf Scholz, der kurzfristig nach Israel gereist ist, hat Kulturstaatsministerin Roth die Franfurter Buchmesse eröffnet. Bevor Roth auf die Bedeutung des Lesens und das diesjährige Gastland Slowenien einging, verurteilte sie ausdrücklich den Angriff auf Israel. „Wir sind voller Trauer und Schmerz an der Seite der Opfer, an der Seite der Angehörigen“, sagte sie.
Rede von Bundeskanzler Scholz beim Deutschen Arbeitgebertag 2023 der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände am 18. Oktober 2023
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Wed, 18 Oct 2023 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Schönen Dank für die Einladung! Schönen Dank auch für die netten letzten Worte am Schluss, auch zum Zusammenhang von Sozialdemokratie und Industrie! Das ist in der Tat gar nicht so zufällig. Denn diese politische Partei ist zusammen mit der Industrialisierung in Deutschland und im Kampf um die Demokratie entstanden. Insofern ist das ein Thema, das immer noch aktuell ist. Danke für diesen Schluss Ihrer Rede! Ich bin auch dafür dankbar, dass Sie akzeptieren, dass ich nur kurz hier dabei sein kann, weil uns alle furchtbare Dinge umtreiben, der furchtbare Angriff der Hamas auf Israel, das Töten von Bürgerinnen und Bürgern des Landes, die unglaublichen Szenen, die wir gesehen haben, wie Menschen um ihr Leben gelaufen sind, wie sie erniedrigt worden sind, wie Kinder getötet worden sind. Das alles geht uns nicht aus dem Kopf. Natürlich ist das ein Zeichen für die schwierige und bedrohliche Lage im für uns nahen Osten, für all das, was an Gefahren für Frieden und Sicherheit noch auf uns zukommen kann. Ich bin deshalb ganz überzeugt davon, dass zwei Dinge in dieser ganz konkreten Lage richtig sind. Das erste ist, dass wir unverbrüchlich an der Seite Israels stehen und dass sich Israel auf uns und unsere Unterstützung verlassen kann. Das zweite ist, dass wir alles dafür tun, dass es nicht zu einer weiteren Eskalation der Situation kommt, zu einer neuen Front im Norden, bei allen möglichen terroristischen Gruppen, die von allen Seiten in diesen Krieg eingreifen wollen, sodass die ganze Region in diese Eskalation und das, was daraus dann folgen würde, hineingezogen würde. Deshalb habe ich sehr bewusst sehr früh mit dem israelischen Premierminister, aber eben auch mit dem Emir von Katar, mit dem türkischen Präsidenten, mit dem ägyptischen Präsidenten und heute Morgen mit dem König von Jordanien, einem sehr klugen Mann und gutem Partner auch unseres Landes, gesprochen. Selbstverständlich wird das mit meinem Besuch fortgesetzt, den ich gleich im Anschluss an unser Treffen in Israel haben werde, um auch genau das auszudrücken. Ich bin sehr froh, dass ich mich dabei auf die Bürgerinnen und Bürger des Landes, aber auch auf Sie alle verlassen kann. Die Zeit ist voller solcher Krisen. Denn während wir jetzt diese neue Lage im für uns nahen Osten betrachten, wissen wir, dass immer noch der Krieg zugange ist, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat, mit dramatischen Konsequenzen für die Entwicklung der Welt, für die ökonomischen Entwicklungsmöglichkeiten unglaublich vieler Länder in der Welt, aber eben auch ganz konkret für uns in Europa und in Deutschland. Es ist immer noch ein furchtbarer Krieg, der uns vieles abfordert und viele, viele Veränderungen notwendig gemacht hat. Sie haben über die Zeitenwende gesprochen. Denn diese ist ja darin verborgen, dass Russland mit seinem Angriffskrieg die Verständigung über die Friedens- und Sicherheitsarchitektur Europas aufgekündigt hat, dass nämlich mit Gewalt keine Grenzen verschoben werden. Das ist es, was den Frieden und die Sicherheit so bedroht, und das ist der Grund, warum wir die Ukraine unterstützen, mit Waffen, mit finanzieller und humanitärer Hilfe, warum wir als Land dies nach den USA am stärksten tun und warum wir gleichzeitig entschieden haben, dass wir mehr für unsere Verteidigung ausgeben werden, dass wir, wie schon lange angekündigt, zwei Prozent unserer Wirtschaftsleistung entsprechend der NATO-Kriterien aufwenden werden, um die Sicherheit im Bündnis der NATO gemeinsam gewährleisten zu können. All das ist eine Konsequenz dieses furchtbaren Krieges. Wir alle spüren es, aber wir stehen zu unserer Verantwortung und tragen die Entscheidungen, die dazu notwendig sind. Der Krieg hat auch in ökonomischer Hinsicht seine Konsequenzen gehabt. Ich jedenfalls erinnere mich noch gut an das, was alles im Herbst des vergangenen Jahres diskutiert worden ist, kurze Zeit, nachdem der russische Präsident entschieden hatte, die Gaslieferungen nach Europa und nach Deutschland weitgehend einzustellen, bei uns komplett. Weil überall im Internet und in manchen Texten, die man anderswo liest, die russische Propaganda ganz schön wirkt, will ich es noch einmal sagen: Nein, es gibt bis heute keine Sanktionen auf Gaslieferungen aus Russland. Es ist der russische Präsident, der entschieden hat, diese Gaslieferungen einzustellen. Wir sind es, die es geschafft haben, in einer von niemandem erwarteten Weise in kürzester Zeit diese 50 Prozent unserer Gasversorgung durch Importe aus anderen Gegenden der Welt zu ersetzen. Ich denke, das ist etwas, worauf wir stolz sein können. Wir beziehen unser Gas jetzt aus Norwegen, über westeuropäische Häfen und über neu errichtete Terminals an den norddeutschen Küsten, die wir auch weiter ausbauen. Das ist ein Zeichen für das, was wir können, und dafür, in welchem Tempo wir Dinge zustande bringen können. Aber zunächst einmal ist es etwas, mit dem ehrlicherweise kaum jemand gerechnet hat, kaum jemand hierzulande und noch weniger überall in der Welt. Dass uns das gelungen ist, ist aber auch ein Zeichen für die Möglichkeiten, die wir haben. Deshalb will ich hier ganz klar sagen: Deutschlandtempo darf es nicht nur in einer solchen Not geben. Deutschlandtempo ist nicht nur dann angesagt, wenn es darum geht, die Energieversorgung zu gewährleisten. Deutschlandtempo brauchen wir überall, wenn es um Entscheidungen des Staates und Handeln und Planungen geht. Weil uns das gelungen ist, bitte ich Sie, ein wenig darauf zu vertrauen, dass, wenn ich und meine Regierung jetzt über mehr Tempo reden, das nicht eine von den vielen schon lange gehörten Reden von Politikern ist, die schon seit Jahrzehnten sagen: Mehr Tempo und Bürokratieabbau! ‑ Ich denke, wenn Sie eine solche Reihe aufmachen, dann können Sie Statements von fast jedem dazu finden. Ein Teil des Frusts oder der Verunsicherung, die viele von Ihnen haben, rührt ja daher, dass man es schon so oft gehört hat und dass es dann so oft keine richtig praktischen Konsequenzen hatte. Das, finde ich, muss klar und offen ausgesprochen werden. Deshalb ist es mir auch wichtig zu sagen: Genau das wollen wir ändern. ‑ Ich habe unser Land aufgefordert, zu einem Deutschlandpakt zusammenzukommen, in dem wir all das, was es so langsam macht, was uns daran hindert, schnell und zügig zu sein, abbauen und verändern, und dies gemeinsam zu tun, die Bundesregierung, der Bundestag, die Länder, die Gemeinden, die Landkreise und selbstverständlich auch, wenn es geht, über die Regierung hinweg die Oppositionsparteien. Wir brauchen einen gemeinsamen Entschluss, dass wir unser Land schnell machen. Ich will alles dafür tun, dass das gelingt. Viele haben gefragt, warum es jetzt ein Deutschlandpakt sein muss. Ich will das sehr klar beschreiben. Wir haben Jahrzehnte damit zugebracht, liebevoll, mit großer Gestaltungsintensität und auch mit viel Spaß am Detail dafür zu sorgen, dass es sehr kompliziert geworden ist. Ehrlicherweise muss man sagen, dass fast jeder schon dabei war, noch irgendwelche Vorschriften zu fordern und Anforderungen zu stellen. Das Ergebnis ist aber ‑ das muss man ehrlicherweise sagen ‑, dass manche gesetzlichen Regelungen, manche Vorschriften, die wir haben, gar nicht mehr exekutierbar sind. Vielleicht gibt es in dem einen oder anderen Vorstand hier auch jemanden, der dafür Verantwortung zu tragen hat, dass er die Unterschrift leistet, ohne zu wissen, was es bedeutet. Aber manchmal habe ich das Gefühl, in manchem Landratsamt fordern wir von den zuständigen Mitarbeitern, dass sie angesichts dessen, was alles sie prüfen müssen, am Ende eine Entscheidung treffen, ohne das alles getan haben zu können. Wir haben es übertrieben; das ist meine feste Überzeugung. Allein wofür überall Gutachten erforderlich sind! Jetzt gibt es ja gleich die erste Notreaktion. Das haben Sie wahrscheinlich auch schon irgendwo gelesen. Jetzt sollen Gutachterdatenbanken aufgestellt werden, damit man überhaupt einen Gutachter findet. Das ist ja schon einmal eine gute Idee. Aber ich will ausdrücklich sagen: Wenn wir all das, was wir schnell hinbekommen müssen, nur mit all den Gutachtern, die wir real verfügbar haben, herstellen können, dann werden wir unsere Ziele nicht in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren, sondern erst in hundert Jahren erreichen. Deshalb müssen wir das ändern. Weil, wie gesagt, alle liebevoll daran mitgewirkt haben, müssen jetzt auch alle liebevoll an der Veränderung mitarbeiten. Ansonsten wird das nichts werden. Das ist allerdings etwas, wobei ich doch Hoffnung habe. Denn wir haben schon angefangen. Als ich im Deutschen Bundestag vom Deutschlandpakt redete, haben viele vielleicht gedacht: Was kommt denn jetzt als Nächstes? ‑ Aber ich wusste ja schon, dass wir ein sehr intensives Gespräch zum Beispiel mit den Ländern in Deutschland hatten. Während wir hier sitzen, wird gerade intensiv über ein sehr, sehr umfangreiches und sehr ausführliches Paket an Gesetzesänderungen verhandelt, die genau dieses Ziel verfolgen. Denn wenn man das ankündigt, dann darf man es nicht bei einer Aktion belassen. Aber einen großen Schritt am Anfang muss man machen, damit alle mutig weitermachen können. Daher will ich Ihnen sagen: Ich bin sehr zuversichtlich, dass, wenn ich Anfang November mit den Ländern zusammenkomme, wir ganz konkret viele der Vorschriften, die Sie lange stören, auch angreifen und verändern werden, damit in unserem Land die Geschwindigkeit, die wir brauchen, auch tatsächlich entsteht. Nur aufhören werden wir danach nicht. Das will ich ausdrücklich sagen. Ich wünsche mir auch von Ihnen noch viele Vorschläge, was Tempo betrifft. Denn das ist ja doch die Wahrheit: Weil es so oft so war, dass so viele gesagt haben „Wir machen das jetzt“, und dann nichts kam, haben auch so viele gesagt: Macht mal! ‑ Dann kam auch kein konkreter Vorschlag. Wir hätten es also schon gern ganz konkret, damit wir auch ganz detailliert in diese Dinge hineingehen können, um die Geschwindigkeit zu erreichen, die wir brauchen. Das hat übrigens auch etwas damit zu tun, dass wir jetzt alles unternehmen müssen, damit Sie bei Ihren unternehmerischen Entscheidungen darauf setzen können, dass das gelingt, was wir uns miteinander vorgenommen haben. Es ist ja viel von Unsicherheit und Verunsicherung die Rede, und das gibt es ja wirklich – angesichts von COVID-19 und der Konsequenzen, die das hatte, angesichts des russischen Angriffskriegs und der Konsequenzen, die er hat, angesichts der jetzt neuen Katastrophe, die wir mit den furchtbaren Terrorangriffen der Hamas erleben, aber auch, wenn es etwa darum geht, den großen industriellen Modernisierungsschritt hinzubekommen, den es bedeutet, wenn wir um die Mitte dieses Jahrhunderts herum CO2-neutral wirtschaften wollen. Das ist ja ein Ziel, das nicht nur wir haben. Das hat sich mehr oder weniger die ganze Welt vorgenommen. Selbst wenn wir es nicht ganz pünktlich schaffen: Das ist, allein für unser Land betrachtet, die größte industrielle Modernisierung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Wenn wir uns daran zurückerinnern, wie das vor sich gegangen ist, als Deutschland seinen Startpunkt als erfolgreiche, weltweit wettbewerbsfähige Industrienation hatte, dann können wir uns auch vorstellen, was das jetzt bedeutet. Ich habe einmal den Industriepark in Leuna besucht. Der ist nicht Ende des 19. Jahrhunderts, sondern Anfang des 20. entstanden, in den Zwanzigerjahren, wenn ich mich richtig erinnere, und dies innerhalb von zwei Jahren auf der grünen Wiese mit dann 10 000 Mitarbeitern und lauter Verfahren, die vorher nur im Labor ausprobiert worden waren. So etwas ging schon einmal in unserem Land! Vielleicht müssen wir nicht genauso schnell sein, aber fast so schnell zu sein, wäre nicht so schlecht bei den Dingen, die wir uns vornehmen. Wenn man sich vorstellt, dass die Genehmigung von Windkraftanlagen, von Offshore-Windparks oder von Leitungen so lange dauert, dass man in dieser Geschwindigkeit in keinem Fall vorankommt, dann müssen wir das ändern. Darum haben wir uns, was die sichere Versorgung mit preiswertem Strom und preiswerter Energie für die Zukunft betrifft und was die Versorgung mit Wasserstoff für die Zukunft betrifft, vorgenommen, dass wir den Blickwinkel politischen Handelns umdrehen. Der geht nämlich normalerweise vorwärts. Das ist auch gut, wenn man nach vorne blickt. Aber „Eines nach dem anderen“ ist kein so richtig funktionierendes Prinzip, sondern man muss doch einmal schauen: Was heißt es eigentlich, wenn wir sagen, 2030 sollen 80 Prozent des Stroms in Deutschland aus erneuerbaren Quellen kommen? Dann bedeutet das, dass wir einmal zählen müssen, wie viele Offshore-Windparks, wie viele Onshore-Windanlagen, wie viele Solarkraftanlagen, wie viel Biomasse, wie viel Wasserkraft und was für ein Stromnetz wir dafür brauchen! Diese Betrachtung ist ‑ das will ich sagen ‑ vorher nie angestellt worden. Das machen wir jetzt, jetzt zum ersten Mal, dass wir real rechnen und auch Stück für Stück gucken und jedes Mal sehen, wenn es irgendwo zu langsam geht, was dann schneller und innerhalb kürzerer Zeit noch hinterherkommen muss. Wir haben ausgerechnet, dass es zum Beispiel mehr als fünf Onshore-Windkraftanlagen pro Tag bedarf, um das hinzubekommen, 30 Fußballfelder an Solaranlagen, und das ist nur ein Teil! Diese unglaubliche, elendige Verzögerung der Stromleitung von Nord nach Süd, von Nordost nach Südwest, ist ja eine, die uns heute ohne Ende beeinträchtigt! Deshalb haben wir die Gesetze geändert, um das Tempo zu erreichen. Ich kann Ihnen hier sagen, was Windkraft und Solaranlagen betrifft: Wir sind, was entweder Genehmigungen oder Bautätigkeiten angeht, schon innerhalb von Monaten auf das Tempo gekommen, das wir brauchen und dann bis 2030 durchhalten müssen. Aber ich garantiere Ihnen: Wir werden mit allem, was wir entscheiden, genau das gewährleisten. Wer also jetzt darauf setzt, dass es 2030 diese Menge und ja dann auch bezahlbareren und billigeren Strom in Deutschland geben wird, die wir angekündigt haben und die eine größere als heute ist, der kann unternehmerisch darauf setzen, dass das klappt. Wir werden auch weiter für die Dreißiger- und Vierzigerjahre planen. Schon jetzt haben wir per Gesetz vorgesehen, dass das Stromnetz des Jahres 2045 geplant wird, weil wir rückwärts von dort aus schauen, was passieren muss; denn es muss ja dann jetzt bald mit den zusätzlichen fünf Leitungen losgehen, die wir brauchen, damit das funktioniert. Das Gleiche gilt für die täglich 24-stündige Gewährleistung von Stromkapazitäten in Deutschland. Es reicht ja nicht, dass wir ihn haben, wenn gerade der Wind weht. Das muss ja immer der Fall sein. Also werden wir jetzt darüber entscheiden, wie wir zusätzliche Kraftwerke bauen, die in den Dreißigerjahren anspringen, wenn es in irgendeiner Weise eine Flaute gibt. Wir werden jetzt die milliardenschweren Investitionen lostreten ‑ privatwirtschaftlich, über den Bau eines Wasserstoffnetzes ‑ und das, was damit verbunden ist. Die Vorbereitungen und die Gesetzgebung sind sehr weit fortgeschritten. Wenn Unternehmen nämlich auf Wasserstoff als Gas der Zukunft setzen, dann wollen sie ja auch, dass der verfügbar ist und nicht überall mit dem Lastwagen angefahren werden muss. Das ist das, was wir jetzt machen, und wir werden dafür sorgen, dass es Importkapazitäten und Elektrolysekapazitäten in Deutschland gibt, damit man das tun kann. Wir haben also einen sehr infrastrukturellen Blick auf die Frage geworfen, was wir tun müssen, damit wir als Volkswirtschaft global wettbewerbsfähig bleiben und damit wir im internationalen Wettbewerb bestehen. Denn das ist ja das eigentliche Geheimnis des Geschäftsmodells Deutschlands, dass es mittelständische, große, kleine Unternehmen gibt, die alle zusammen am Weltmarkt agieren, von denen ganz viele in der ganzen Welt mit dem tätig sind, was sie produzieren und verkaufen, was sie an Dienstleistungen entwickeln. Das funktioniert aber nur mit der Infrastruktur, die wir für die Zukunft brauchen. Damit diese unternehmerische Aktivität unsubventioniert stattfinden kann, werden wir jetzt die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Infrastruktur unseres Landes mithält und dass wir Strom und auch Wasserstoff zu bezahlbaren Preisen in Deutschland verfügbar haben werden. Lassen Sie mich noch einen kurzen Satz zu einer falschen Abbiegung sagen, die wir vor ein paar Jahrzehnten genommen haben, Unternehmen und Staat gemeinsam, als wir zugelassen haben, dass trotz der hohen Kompetenzen im Halbleiterbereich die Halbleiterproduktionsindustrie nicht ganz ‑ es gibt ja unverändert sehr leistungsfähige Unternehmen, die auch in aller Welt wettbewerbsfähig sind ‑, aber doch in viel größerem Maße aus Deutschland weggegangen ist. Wir wollen sie jetzt wiederhaben. In der Welt sind auch ganz viele unterwegs, die sagen: Es ist ganz zentral für die industrielle Entwicklung der Zukunft, dass Halbleiter in großer Menge und auch hoher Qualität verfügbar sind, und es wäre falsch, sie nur an einer Stelle oder wenigen Stellen der Welt produzieren zu lassen. Sie müssen an verschiedenen Stellen hergestellt werden, auch in Europa. Die gute Botschaft, über die ich hier berichten kann, ist: Fast alle Unternehmen, die „Jetzt brauchen wir einen europäischen Standort“ gesagt haben, haben sich wegen des immer noch vorhandenen Ökosystems, wegen der Qualität des Industriestandorts, wegen seiner Universitäten und seiner Bildungsinfrastrukturen für Deutschland entschieden. Ich habe zwar gelesen, das läge auch an unserem Geld. Das ist der kleinere Teil der Wahrheit; denn andere hätten es auch zur Verfügung gestellt, und wir sind in der EU einem strikten Wettbewerbsregime unterworfen. Wir dürfen gar nicht mehr als andere geben. Aber es ist richtig, dass Halbleiterproduktion, dieser wichtige Baustein für die technologische Entwicklung der Zukunft, in Europa und in Deutschland eine so zentrale Rolle spielt, und ich finde, es ist ein gutes Zeichen für unseren Wirtschaftsstandort, dass hier in Europa, hier in Deutschland investiert wird, und zwar mit den modernsten Technologien, und dass sie hierhin kommen und nicht irgendwo anders. Lassen Sie mich zum Schluss noch das Thema der Arbeitskräfte und ganz zum Schluss auch noch der Sozialpartnerschaft ansprechen; denn das ist ja bei einer Tagung von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern ganz unbedingt richtig. Wenn man liest, was uns Ökonomen weltweit oder hierzulande aufschreiben, dann ist das, worüber sie sich die meisten Sorgen machen, die Frage, ob es in der Zukunft genug Arbeitskräfte geben wird. Es ist auch nicht besonders viel Intelligenz nötig, um das zu verstehen. Man kann es ja ausrechnen. Von der Gruppe, von der ich hier viele sehe ‑ ich gehöre ja selbst dazu ‑, die niedlich als die Babyboomer beschrieben wird ‑ ich meine, wir sind alle plus/minus 60, aber bitte ‑, gehen etwa 13 Millionen in Rente; Herr Dulger und ich nicht, aber alle anderen. Das, was klar ist, ist, dass wir das nur hinbekommen können, wenn wir hierzulande alles dafür tun, gute Absolventen unserer Schulen zu haben, wenn sich möglichst viele für eine Berufsausbildung, die ich unverändert für die wichtigste Ausbildung in Deutschland halte, oder für ein Studium entscheiden. Ich will hier für diese Berufsausbildung auch noch einmal werben, weil sie ja voraussetzungsreich ist. Wenn man international herumkommt, dann sagen immer ganz viele: Ihr in Deutschland habt doch diese tolle duale Berufsausbildung. Können wir die auch haben? – Dann sage ich ihnen: Ja. Aber ihr solltet wissen: Die ist am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, über das ich schon gesprochen habe, als sich hier im Rahmen der Industrialisierung alle entschieden haben, dass sie das mittelalterliche System der Lehre in die Industriehallen und in die Kontore übertragen. Das ist bis heute so. Aber das Besondere an der dualen Ausbildung ist das Duale. Das heißt, die Unternehmerinnen und Unternehmer in Deutschland tragen einen substanziellen Teil der Verantwortung für die Ausbildung junger Leute bei. Sie haben immer schon in diejenigen investiert, die bei ihnen arbeiten. Ich finde, das ist etwas, das eine kulturelle Besonderheit unseres Landes ist, auf die wir stolz sein können, und die sollten wir für die Zukunft pflegen! Mein Wunsch ist, dass wir das mit denjenigen tun, die die Schulen verlassen, und da muss sich der eine oder die andere vielleicht noch einmal einen Ruck geben. Ich glaube, auch hier sitzt jemand im Saal, über den man einmal gesagt hat, als er 14 oder 15 war: Aus dir wird nichts mehr. – Aber ich bin sicher: Es gibt ganz viele, bei denen man nicht vergessen darf, wie jung sie sind und was noch möglich ist, wenn man ihnen eine Chance gibt, und die Berufsausbildung ist eine der besten, die man sich vorstellen kann. Das Zweite: Bitte gucken Sie sich die Leute an, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bei Ihnen schon arbeiten. Ich habe in den letzten Monaten wirklich viele herzzerreißende Projekte gesehen, die Unternehmen entwickelt haben, wo 40-Jährige oder 50-Jährige, die als Angelernte in den Betrieben tätig waren, noch einmal eine Berufsausbildung gemacht haben, und zwar in großer Zahl ‑ mit Unterstützung unserer Bundesagentur, aber auch mit dem Unternehmen und dessen Initiative. Das ist ein großes Glück für diejenigen, die das gemacht haben, und es ist eine unglaublich ungehobene Ressource in unserem Land. Deshalb auch da mein Wunsch: Gucken Sie einmal, ob das nicht überall geht. Wenn das stattfände, würden wir einen Teil unserer Fachkräfteprobleme lösen können mit denen, die wir schon kennen, und von denen wir wissen, dass sie gute Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind. Dann brauchen wir natürlich noch ein bisschen etwas an Fortschritten bei der Frauenerwerbstätigkeit. Wir sind schon fast an das skandinavische Niveau herangekommen, aber noch nicht ganz; und wir sind es gar nicht, wenn es um die Frage „Teilzeit oder Vollzeit?“ geht. Deshalb werbe ich dafür, dass wir Familienglück und Berufsglück besser miteinander vereinbar machen ‑ mit den Unternehmen, aber selbstverständlich auch mit unseren Angeboten, was Kindergärten, Krippen und Ganztagsangebote in Schulen betrifft ‑, damit es gelingt, dass junge Familien beides hinkriegen: das Glück, das sie miteinander suchen, und das Glück, das sie bei ihrer Arbeit erreichen wollen. Ich finde, das geht. Natürlich wäre es auch gut, wenn wir es hinbekommen, dass diejenigen, die Ende 50 oder Anfang 60 sind, sollte es ihnen zum Beispiel passieren, dass sie ihren Job verlieren, eine Chance haben, anderswo wieder eingestellt zu werden. Es wäre ja, wenn wir die Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Blick haben, ein großer Fortschritt, wenn man sagt: Der oder die war jetzt so lange bei meinem Konkurrenten, und jetzt nehme ich den oder die. Auch das ist also eine Möglichkeit, die noch nicht ganz ausgeschöpft ist. Was wir aber auch brauchen, sind Fachkräfte aus dem Ausland. Das haben wir jetzt viele Jahre lang ganz gut hingekriegt, ohne etwas können zu müssen, nämlich mit der Freizügigkeit in der Europäischen Union; denn da kann sich ja jeder morgens aufmachen und abends einen Arbeitsvertrag in Deutschland unterschreiben. Aber jetzt haben wir gemerkt: Das reicht nicht mehr. Deshalb haben wir mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz die Möglichkeit geschaffen, dass man aus aller Welt geeignete Frauen und Männer bitten kann, hier in Deutschland berufstätig zu sein. Das werden wir auf dieser gesetzlichen Grundlage besser als viele, viele andere Länder hinkriegen; denn das ist das Modernste, was es im internationalen Vergleich jetzt gibt. Was wir noch hinkriegen müssen, ist, dass die Verfahren etwas unbürokratischer sind. Das ist eine Untertreibung, da gibt es noch viel zu tun; aber genau das haben wir uns jetzt vorgenommen. Selbstverständlich brauchen wir auch die Mitarbeit von Ihnen daran, die richtigen Leute in aller Welt zu identifizieren. Aber es wird funktionieren, so wie es ja schon oft in Deutschland funktioniert hat. Deshalb ist der eine Teil, den wir jetzt und heute unternehmen, dass wir dafür sorgen. Diese Möglichkeit schaffen wir. Als ein Land, das offen ist für Arbeitskräfte aus aller Welt ‑ und das ja schon sehr lange ‑ und diese Arbeitskräfte auch braucht, damit das klappt und irgendwer die Arbeit anstelle der Babyboomer macht, müssen wir aber immer gleichzeitig auch sicherstellen, dass das im gesamten Rahmen funktioniert. Deshalb muss man da einen Unterschied machen zwischen der geordneten, legalen Arbeitskräfte- und Fachkräftemigration sowie der Migration von den Leuten, die hier im Lande studieren oder irgendwo als Wissenschaftler arbeiten wollen, und derjenigen, die irregulär stattfindet. Ja, Deutschland ‑ gerade vor dem Hintergrund seiner Geschichte ‑ ist verpflichtet, denjenigen Schutz zu gewähren, die vor politischer Verfolgung oder vor Krieg und Tod davonlaufen. Aber wenn jemand diesen Weg nutzt, um ein Aufenthaltsrecht in Deutschland zu bekommen, aber gar nicht Schutz vor Verfolgung benötigt, dann müssen wir mit dieser Situation auch so umgehen können, dass wir sagen: Wir können sicherstellen, dass diejenigen auch wieder gehen. Das ist das, wozu wir jetzt alle Weichen gestellt haben: eine europäische Vereinbarung von Solidarität, aber auch indem wir sagen: Grenzen müssen geschützt werden, auch die der EU, und wenn das nicht genügend klappt, wie es gegenwärtig der Fall ist, machen wir auch was in unseren Grenzen. Wir haben jetzt jedenfalls den Schutz an den Grenzen zur Schweiz, zu Österreich, zu Tschechien und Polen verstärkt, um sicherzustellen, dass wir verhindern können, dass da einfach Leute durchgewunken werden. Es sind so viele, die über den Balkan oder über das Mittelmeer durch viele Länder Europas ziehen und das erste Mal in Deutschland einen Asylantrag stellen. Das kann kein vernünftiges System sein. Deshalb müssen wir mit den anderen verabreden, wie wir das machen. Das scheint in Europa jetzt zu gelingen. Aber wir müssen auch selber unseren Beitrag leisten, zum Beispiel durch den ausreichenden Schutz der Grenze. Und auch dort gibt es natürlich viel, was man im Verwaltungsverfahren verbessern kann, und das verhandle ich mit den Ländern: Digitalisierung zum Beispiel; 24 Stunden Erreichbarkeit; dass vielleicht das erstinstanzliche Asylverfahren nicht immer so lange dauert, sondern nur sechs Monate; dass wir es hinbekommen, dass alles zügig und einfach organisiert wird; und dass wir Tricks mit guter Gesetzgebung überwinden. Alles das werden wir machen. Aber der Kern dessen, was wir brauchen, um diese Herausforderung zu bewältigen, ist eine, in der die beiden Stränge gut zusammenpassen. Wir haben nämlich zum ersten Mal etwas anzubieten, wenn wir mit den Regierungen anderer Länder über die Frage reden: Was ist eigentlich, wenn wir euch bitten, eure Staatsbürger zurückzunehmen? Das ist nämlich die größte Schwierigkeit. Die am wildesten auftretenden rechten Populisten der Welt treten vor allem wild auf und kriegen auch niemanden zurück, weil sie ja nichts bewirken können, wenn die Länder, aus denen jemand kommt oder durch die jemand eingereist ist, nicht mitarbeiten. Deshalb ist der Kern dessen, was wir jetzt vorzuschlagen haben, etwas, wo unsere Interessen sich fügen. Wir können sagen: Diejenigen deiner Bürgerinnen und Bürger, die interessiert sind und zu den Anforderungen unseres Arbeitsmarktes passen, werden es viel einfacher haben, in Deutschland eine Perspektive zu finden. Aber dafür, dass wir das vereinbaren, hätten wir gerne unbürokratische, einfache und schnelle, zügige Verfahren für die Rücknahme. Das ist aus meiner Sicht genau das, was wir jetzt erreichen müssen und wo wir uns dann unterscheiden werden von vielen Sprücheklopfern, die das heimische Publikum immer mit markigen Worten adressieren, aber nichts zustande bringen. Wir nützen dann zugleich der Wirtschaft und der Ordnung unseres staatlichen Wohls. Ich will hier zum Schluss kommen ‑ vor allem, weil ich ja auch noch weiterreisen muss ‑, aber eines möchte ich doch noch sagen, und dann da enden, wo Sie auch ein wenig geendet haben: Es ist in Deutschland eine Stärke unserer Volkswirtschaft, der sozialen Marktwirtschaft, dass wir die Sozialpartnerschaft haben, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sich zwar kabbeln ‑ das ist ihr Beruf ‑, aber trotzdem immer wieder zueinanderkommen, und dass man gemeinsam daran arbeitet, dass der Wirtschaftsstandort sich gut entwickelt, damit es gute Löhne geben kann und unsere Wirtschaft global wettbewerbsfähig bleibt. Das ist etwas, was uns auszeichnet, und das sollte es weiter tun. Ohne Sie geht das nicht. Danke dafür!
Rede von Kulturstaatsministerin Roth zur Verleihung des Theaterpreises des Bundes 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-roth-zur-verleihung-des-theaterpreises-des-bundes-2023-2230158
Wed, 11 Oct 2023 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
– Es gilt das gesprochene Wort. – Anreden, Wir wollen heute den Theaterpreis des Bundes verleihen und die deutsche Theaterlandschaft feiern. Aber wie sollen, wie können wir feiern? Was wir seit dem vergangenen Wochenende erleben, erschüttert mich. Erschüttert uns. Raketen auf Israel, Angriffe auf Städte und Ortschaften nahe der Grenze zum Gazastreifen, Terroristen der Hamas, die Jagd auf Zivilist:innen machen, auf feiernde Besucher:innen des SuperNova-Festivals nahe des Kibuzz Re’im, Terroristen, die Frauen vergewaltigen, Hunderte töten und ebenso viele verschleppen – eine Autostunde entfernt von Tel Aviv. Es ist ein Angriff auf Frauen und Männer und Kinder in Israel und auf ihre Gäste aus aller Welt, es ist ein Angriff auf Menschen, weil sie Jüdinnen und Juden sind, ein Angriff auf den Staat Israel, auf seine Kultur, auf eine offene Gesellschaft, die sich genau dort, wo sie angegriffen wurde, gegen niemanden richtete. Ich verurteile das zutiefst. Wir sind voller Trauer und Schmerz an der Seite der Opfer, an der Seite der Angehörigen, die um ihre Liebsten bangen. Und es gibt auch die Bilder aus Neukölln, die uns zeigen, wie Anhänger der Hamas den Blutrausch feiern und Süßigkeiten an ihr Publikum verteilen. Ich kann sie nicht vergessen. Und ich kann sie nicht verstehen. Ich kann sie absolut nicht akzeptieren. „All the world’s a stage“, schrieb Shakespeare, „and all the men and women merely players“. Wenn das stimmt, dann werden an vielen Orten der Welt zur Zeit Tragödien aufgeführt. In Israel. In der Ukraine. In Afghanistan. Im Iran. Und in anderer Weise auch hier in Deutschland. Wir erleben einen Rechtsruck, der beispiellos ist in der Geschichte der Bundesrepublik. Was bedeutet es für unsere Demokratie, wenn eine Partei, die das Grundrecht auf Asyl abschaffen und unsere Grenzen schließen will, die rassistisch hetzt und Menschen mit Behinderungen ausgrenzen will und wenn eine Partei, die Verbrechen der Nationalsozialisten in einen „Vogelschiss“ der Geschichte umdeutet, stetig wachsenden Zulauf erntet? Unsere Demokratie ist stark. Aber sie ist nicht immun. Sie wird angegriffen von Demokratiefeinden und Rechtsstaatsverächtern. Und Menschen haben Angst in unserem Land. An vielen Orten richten sich derzeit Hass und Gewalt gegen Menschen, die sich dem Diktat der Unfreiheit nicht beugen wollen, die frei sein, frei wählen, frei leben wollen. Überall richtet sich die Gewalt gegen die Kultur einer offenen Gesellschaft und auch gegen die Freiheit von Kunst und Kultur. Das muss uns umtreiben! Dagegen müssen wir zusammenstehen! Manchmal habe ich das Gefühl, in einem Wirbelsturm zu stehen – noch auf festem Grund, aber um uns herum fliegt die Welt, wie wir sie kannten, dröhnend auseinander. Wir suchen nach Halt, nach Erklärung, nach Orientierung. Und all das finden wir genau hier: im Theater. Hier erleben wir Momente absoluten Glücks, die Magie der Schauspielkunst. Wir können uns in Bewunderung verlieren, für die, die diese Kunst beherrschen. Und diese Momente des Glücks prägen sich uns ein, gerade weil sie flüchtig sind. Sie sind Wegmarken auf unserer Reise durch diese irrlichternde Welt. Hier dürfen wir die Fragen stellen, die uns umtreiben, auch solche, die weh tun. Das Theater ist ein Ort des Austauschs, der Zwiesprache, des konstruktiven Streits und der Auseinandersetzung, ganz gleich, wo wir es besuchen, in der Stadt, im ländlichen Raum – unsere Gegenwart finden wir hier wie dort. Es gibt keine globalen Themen, die nicht auch lokale Bedeutung haben. Im Theater werden sie verhandelt. Und das macht die Theater so wichtig für eine demokratische, offene Gesellschaft. Das Theater hält uns dazu an, Fragen zu stellen. Deshalb ist es nicht nur ein Ort der Kunst, es ist ein Ort der Begegnung. Und wenn ich sage, es ist auch ein Ort der Demokratie, dann nicht, weil das Theater unsere Fragen beantworten muss. Das Theater muss, wie alle Kunst, überhaupt nichts. Es muss keine Fragen beantworten und erst recht keine Handlungsanweisungen geben. Es ist absolut frei. Es bietet uns aber Kunst, die Möglichkeit, uns selbst und anderen zu begegnen, dem Leben und seinen Abgründen ins Gesicht zu sehen, die Bühne, auf der wir alle uns bewegen, zu verstehen. Hier werden wir nicht allein gelassen in dieser Konfrontation mit uns selbst. Das Theater eröffnet uns Perspektiven, Wahrnehmung mit allen Sinnen und öffnet uns so für den Anderen, für ein Gegenüber. Der Theaterpreis des Bundes will diejenigen auszeichnen, die dabei Großes leisten. Er ist ein „Ermutigungspreis“. Er soll Theater und Spielstätten außerhalb der Metropolen oder an ihren Rändern stärken und ihre Leistung in das öffentliche Bewusstsein, auf die große Bühne, ins Rampenlicht heben. Wir haben den Preis überarbeitet, wir haben ihn in seinem Profil geschärft, um noch deutlicher zu machen: Es ist etwas Besonderes, hier ausgezeichnet zu werden. Es gibt nur EINEN, DEN Theaterpreis des Bundes und zusätzlich drei Auszeichnungen in den Kategorien Stadttheater & Landesbühnen, Privattheater & Gastspielbühnen und Freie Produktionshäuser. Wir zeichnen mit dem Preis Häuser und ihre künstlerischen Teams aus, die innovativ, mutig und mit großer Energie daran arbeiten, dass Theater zu einem Erlebnis für alle wird. Wir haben während der Pandemie gemerkt, wie schmerzlich uns diese Gemeinschaft fehlt, was es bedeutet, allein mit sich selbst zu sein: der Vorhang zu und alle Fragen offen. Zurück bleibt eine verletzte Gesellschaft. Die heute hier ausgezeichneten Bühnen haben in besonderer Weise dafür gesorgt, manche dieser Verletzungen zu heilen. Da ist das Theaterhaus Jena, das als Reformmodell nach der Friedlichen Revolution im Bühnenhaus des zerstörten Stadttheaters der Stadt Jena gegründet wurde. Mit kollektiver Leitung und mit immer neuen Formen der Theaterarbeit sucht es den Dialog mit dem Publikum, mit der Stadtgesellschaft, und verortet Theater seitdem immer wieder neu. Das LOFFT Leipzig legt als freies Produktionshaus besonderes Augenmerk auf so genannte marginalisierte Gruppen. So gibt es beispielsweise mit der hauseigenen FORWARD DANCE COMPANY (Sie wurde vom Goethe-Institut ausgewählt, am 19. Mai 2023 den Deutschen Pavillon der Architektur Biennale in Venedig zu eröffnen) ein hoch interessantes Tanzensemble, eine mixed-abled Tanzcompany, die modellhaft im deutschsprachigen Raum ist. Und schließlich das Chamäleon-Theater, das bei hohem künstlerischem Anspruch niedrigschwellig ein neues Publikum erschließt und mit unglaublicher Magie auch theaterferne Menschen ins Theater lockt und vor allem eine Kunstform, den zeitgenössischen Zirkus mit seiner unglaublichen Kunstfertigkeit und Schönheit, für uns alle aufschließt. Es sind Bühnen, die sonst nicht im Fokus des überregionalen Feuilletons stehen, die aber Orte der Begegnung und vor allem Orte der Kunst sind. Ich freue mich sehr, dass auch der erste Theaterpreis des Bundes, den ich heute Abend verleihen darf, an eine solche Bühne geht. Das Ballhaus Naunynstraße ist der Ursprung des Postmigrantischen Theaters. Es ist ein Ort des Empowerments und der Förderung des künstlerischen Nachwuchses. Es bietet denen eine künstlerische Heimat, die an den großen Bühnen noch nicht so selbstverständlich beheimatet sind, wie sie es längst sein sollten. Herzlichen Glückwunsch an Wagner Pereira de Carvalho [Aussprache: Pere-ira dschi Carvalju] und sein Team! Die ausgezeichneten Häuser stehen stellvertretend für das vielfältige Theater in unserem Land. Es gibt die Stadt- und Staatstheater, Landesbühnen, ungezählte freie Theater und Produktionshäuser, Privattheater, Gastspielhäuser und mobile freie Gruppen. Die Vielfalt, sie existiert aber nicht nur an den Orten und in den Arten des Theaters. Es sind Ästhetik, Ausdrucksmittel, Sprache, Anlässe der Aufführungen und nicht zuletzt Sie, die Künstlerinnen und Künstler, die diese Vielfalt ausmachen. Sie zu erhalten und die Bühnen dabei – zum Beispiel mit dem Theaterpreis des Bundes – zu unterstützen, das ist mein Ziel. Deshalb freut es mich, dass es uns auch mit dem KulturPass gelingt, jungen Menschen in großer Zahl in die Theater der Republik zu bringen. Fast 200.000 18-jährige haben ihr Budget von 200 Euro bereits freigeschaltet und machen davon – auch Gebrauch, auch indem sie ins Theater gehen. Es wurden tausende Tickets über die App gekauft. Und die neue Spielzeit hat gerade erst begonnen. Über 160 Theater haben sich bisher registriert, hinzu kommen viele Häuser, die ihre Vorstellungen über ihre Ticketing-Anbieter direkt ins KulturPass-System bringen. Ich will, dass es noch mehr werden. Machen Sie mit beim KulturPass, werben Sie bei Ihren Kolleg:innen dafür. Nutzen Sie diese Chance, junge Menschen die Welt des Theaters zu öffnen! Ich danke allen und vor allem den Preisträgerinnen und Preisträgern, für ihre Arbeit, für ihr Engagement, für ihr Herzblut, mit dem sie uns diese Welt erschließen. Ich weiß aus eigener Erfahrung sehr genau, dass Theater Arbeit bedeutet, schwere Arbeit, aber auch beglückende Arbeit, vielleicht die schönste, die ich kenne – neben der Politik natürlich. Das Theater ist unverzichtbar. Wir brauchen es, wir brauchen Sie in der Auseinandersetzung mit uns selbst und unserer Zeit. Danke dafür! Von Herzen.
Der Theaterpreis des Bundes wurde in diesem Jahr zum fünften Mal verliehen. In ihrer Rede würdige Kulturstaatsministerin Roth die ausgezeichneten Bühnen als Orte der Kunst und der Begegnung von großer gesellschaftlicher Relevanz. Davor ging Roth auf die aktuelle politische Situation ein und verurteilte ausdrücklich den Angriff auf Israel.
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Wirtschaftskonferenz 2023 der SPD-Bundestagsfraktion am 11. Oktober 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-wirtschaftskonferenz-2023-der-spd-bundestagsfraktion-am-11-oktober-2023-in-berlin-2229634
Wed, 11 Oct 2023 19:10:00 +0200
Berlin
Liebe Verena, lieber Rolf, schönen Dank für die Einladung, für die Gelegenheit, hier ein paar Worte zu sagen. Ich will es am Ende nicht zu lang werden lassen, weil wir miteinander diskutieren wollen, aber es ist natürlich schon eine ganz besondere Zeit, in der wir hier diskutieren. Corona hat uns alle noch irgendwie im Griff gehabt, da dachten wir: Jetzt geht es wieder los! – Und dann kam dieser furchtbare Krieg, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat, mit dramatischen Konsequenzen, was Energiepreise betrifft, was Energiesicherheit betrifft zum Beispiel. Wer hätte im letzten Herbst so sicher, wie sich heute alle fühlen, vorhersagen können, dass wir durch den Winter kommen? Wer hätte wirklich geglaubt, dass ein Land, das 50 % seines Gases aus Russland importiert hat, wenn dieser Import von Russland plötzlich gestoppt wird, in der Lage ist, das zu ersetzen, ohne vorher die Infrastrukturen gebaut zu haben, die man braucht, damit das auch tatsächlich funktioniert? Aber wir haben es hingekriegt. Und wir haben auch mit sehr viel Geld, das wir eingesetzt haben, dazu beigetragen, dass man durch eine solche Zeit kommen kann. Wir haben das Thema der Inflation, das nicht nur mit dem Krieg, nicht nur mit Corona, sondern mit auch mit säkularen Veränderungen zu tun hat, über die manche Ökonomen lange geschrieben haben, aber wenig gehört wurden, als sie nämlich gesagt haben: Das ist eine ganz besondere Phase, die wir die letzten 30 Jahre hatten, mit Vollbeschäftigung und wenig Inflation – was ja letztendlich etwas damit zu tun hatte, dass ein Teil der Welt für einen anderen Teil der Welt viel produziert hat. Aber da ist was entstanden: in Asien, im Süden Amerikas, sogar auch in vielen Orten Afrikas und hoffentlich noch viel mehr, wo jetzt eigenständige Nachfrage entsteht. Und das merken wir, denn in dem Augenblick, in dem das passiert ist, wird es natürlich so sein, dass die Dinge, die dort bisher billig waren, auch für uns teurer werden. Eine Entscheidung, die wir aus dem Krieg ableiten, dass wir uns nicht immer nur auf eine Lieferkette verlassen wollen oder auf einen Exportmarkt, auf einen Standort für die Direktinvestitionen, hat ja Konsequenzen für die Kosten, die das hat. Hier ist über Intel gesprochen worden, das sich freundlicherweise diversifiziert und in Europa investieren möchte und auch darauf gekommen ist, dass diese Investitionen dann auch in Deutschland ganz vernünftig wären – wie manche andere von den Wettbewerbern auch. Aber es ist ja eine Entscheidung, nicht am eigenen Standort zu kleben, weil die Welt sicherer ist, wenn man viele Standorte hat. Diese Investition ist eine, von der wir profitieren, aber sie findet jetzt überall statt – mal mit dem einen, mal mit dem anderen Ergebnis. Trotzdem, finde ich, das sind sehr herausfordernde Zeiten, und es kommen immer wieder neue dazu. Eine will ich hier nicht unerwähnt lassen: Das ist der terroristische Angriff der Hamas auf Israel. Ich will es ganz offen sagen: Da geht es mir nicht anders als wahrscheinlich jeder und jedem hier im Raum. Wenn man die Bilder sieht von den verschleppten Kindern, Frauen, Familien, den Leuten, die im Bett ermordet werden, die da gedemütigt werden, durch die Straßen gezerrt werden, als Tote noch erniedrigt werden, dann ist das etwas, was einen nicht verlässt und wo man auch den Schrecken spürt, den in Israel alle noch viel mehr spüren, weil sie Angst haben um das eigene Leben, um das Leben der Freunde und Verwandten und der Liebsten. Das ist etwas, was uns sehr berührt, und ich bin sehr dankbar, dass ich morgen vor dem Deutschen Bundestag eine Regierungserklärung dazu abgeben kann, die aber auch von dem unterstützt wird, was die Parteien in Deutschland, viele Parteien in Deutschland gemeinsam am Wochenende erklärt haben, von dem, was wir von den demokratischen Fraktionen des Deutschen Bundestages hören, die eine gemeinsame Erklärung auf den Weg gebracht haben. Hier geht es auch gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte darum, dass wir Solidarität zeigen mit Israel als ein geeintes Land im Bewusstsein um die eigene geschichtliche Verantwortung, aber auch in dem Bewusstsein, dafür zu Sorge zu tragen, dass Frieden und Sicherheit in Israel gewährleistet sind. Ein großes Thema bewegt uns auch, nicht nur uns. Wenn man sich in der Welt umschaut, gilt das für viele reiche Länder, etwa die USA, so ähnlich wie für Europa: Das ist die Frage der Migration einerseits und der irregulären Migration als ein Teil davon, der Fluchtbewegung, die aus aller Welt stattfindet in sichere und oft auch reiche Länder wie unseres. Wir wissen, dass das etwas ist, wo wir auch Verantwortung übernehmen müssen und auch Verantwortung übernehmen wollen, denn der eine oder andere erinnert sich noch, was aus der Zeit der Naziherrschaft berichtet worden ist: dass Schiffe hier abgelegt haben und nirgendwo anlegen konnten und wieder zurückgekehrt sind und dass die Menschen, die zurückgekehrt sind, die voller Hoffnung aus Deutschland geflohen waren, alle gestorben sind. – Ein Grund übrigens, warum wir in Deutschland das Recht auf Asyl in das Grundgesetz geschrieben haben, als individuelles Recht. – Das sind übrigens von denen, die Anträge stellen, 1,5 % – die meisten anderen haben andere Schutzgründe -, die wir aus internationalen oder auch europäischen Verträgen akzeptieren wie andere in der Welt auch. Aber es gab Gründe, warum wir das getan haben, und das darf man, wenn über die Herausforderungen spricht, die man nicht übersehen darf, nicht beiseitelassen. Dieser humanistische Impuls gehört zu den Gründungsbedingungen unserer Republik dazu. Aber das will ich ganz klar sagen: Es kommen gegenwärtig viel zu viele auf irreguläre Weise nach Europa und nach Deutschland. Deshalb ist es auch unsere Aufgabe, die irreguläre Migration nach Deutschland zu begrenzen, dafür zu sorgen, dass weniger kommen. Die Zahlen sind ganz beeindruckend, die wir da haben. Wir haben bei denjenigen, die aus der Ukraine gekommen sind, etwa 1 Million Menschen Schutz gewährt – mehr als zum Beispiel in unserem Nachbarland Polen heute sind -, eine große Zahl. Das hat ganz gut – mit viel Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger – funktioniert. Aber es sind dann eben durch die Weltläufe letztes Jahr auch noch 240 000 weitere gekommen, die Anträge gestellt haben, und dieses Jahr können 300 000 werden, vielleicht auch mehr. Wenn man das alles für zwei Jahre zusammenzählt, braucht sich niemand, der politische Verantwortung hat, vor dem Satz zu drücken, dass es mehr sind, als sich leicht bewältigen lassen, auch für ein großes Land wie Deutschland, und es deshalb darum geht, dass die Zahlen reduziert werden. Wir haben dazu viele Entscheidungen getroffen, zum Beispiel, dass wir uns mit den anderen europäischen Ländern einig sind, dass die Grenzen, die Außengrenzen Europas sicher gemacht werden müssen. Wir haben uns auch sehr dafür eingesetzt, dass Europa endlich zusammenarbeitet, es einen solidarischen Mechanismus gibt. Das ist jetzt nach vielen, vielen Jahren bei der Innenministertagung der europäischen Innenminister gelungen, und wir haben das jetzt im Gespräch mit dem Europäischen Parlament und werden es hinkriegen. Wir haben gesagt, wir werden einen Weg beschreiten, den wir immer mal wieder gegangen sind, zuletzt vor, ich glaube, acht Jahren, dass Länder, aus denen so viele kommen, aber kaum einer anerkannt wird – wie Moldau und Georgien, Länder, die in die Europäische Union wollen -, als sichere Herkunftsstaaten gelten, sodass die Verfahren ganz schnell und zügig sind. Wir haben uns mit den Ländern darüber verständigt, wie Verfahren schnell und zügig sein können: dass alle Behörden vor Ort 24 Stunden erreichbar sind, dass es Digitalisierung gibt, dass wir aber auch zum Beispiel zusammenarbeiten, die Verfahren effizient zu machen. Das ist richtig. Natürlich verstehe ich jeden, der versucht, die Ineffizienzen unseres Systems irgendwie auch zu nutzen. Aber als Staat müssen wir dafür sorgen, dass wir effizient sind. Deshalb habe ich entschieden, dass wir heute die Abstimmung unter den Ministerien der Bundesregierung mit den Ländern und mit den Verbänden über ein Rückführungspaket suchen, das wir in Deutschland auf den Weg bringen wollen, wo all die vielen Einzelschritte enthalten sind, die dazu führen, dass es besser und einfacher gelingt, solche Rückführungen auch möglich zu machen. Darunter ist zum Beispiel auch eine Regelung, die sagt: 28 Tage Gewahrsam im Vorfeld der Abschiebung, wenn eine notwendig geworden ist, ist möglich, wenn das auf andere Weise nicht gelingen kann. Das ist kein einfacher Schritt, aber einer, der dazugehört, wenn man die Effizienz des ganzen Systems gewährleisten will. Die Länder diskutieren auch gegenwärtig über diese Dinge, und sie wünschen Ähnliches. Das gilt auch für manches andere, was jetzt diskutiert wird in Bezug auf Gemeinschaftseinrichtung, über die Frage, ob man mehr Sachleistungen gewähren kann, über die Frage, ob man gemeinnützige Arbeit vor Ort anbieten kann. Wir begrüßen das, wenn Länder und Gemeinden solche Angebote machen. Sie stehen im Gesetz und können genutzt werden. Dagegen werden wir nicht nur nichts haben, sondern wir werden alle dabei unterstützen, das zu tun. Aber wichtig ist, dass wir in dieser Frage zusammenarbeiten. Deshalb hoffe ich, dass aus der Tagung, die die Ministerpräsidenten jetzt haben, bis zum Freitag auch etwas kommt, das den Dingen sehr ähnlich ist, die wir jetzt ein Jahr lang vorbereitet und Stück für Stück auf den Gesetzgebungsweg gebracht haben. Es spricht alles dafür, wenn ich so höre, was da diskutiert wird. Und ich habe auch neben den Vertretern der Länder die Sprecher der Ministerpräsidentenkonferenz, Herrn Rhein und Herrn Weil, und auch den Oppositionsführer für Freitagabend eingeladen, weil es gut wäre, wenn man in dieser Sache zusammenarbeitet. Das wollte ich hier noch loswerden, obwohl es vielleicht keine wirtschaftspolitische Frage ist, aber sie bewegt alle, und deshalb wollte ich es sagen. Ich glaube, das ist ein Thema, wo der Staat zeigen muss, dass er auch Dinge unter Kontrolle hat. Das gehört zu unseren Aufgaben. Aber ich bin da bei einem Thema, das uns, wenn es um wirtschaftliches Wachstum geht, auch bewegen muss, nämlich die Frage: Haben wir genug Arbeitskräfte? Das wird hier auch eine Rolle gespielt haben. Ich weiß jedenfalls, dass das jeden Tag ein Thema ist für viele Betriebe, kleine, mittelständische, große Betriebe, Dienstleistungsbetriebe, Industriebetriebe. Alle fragen: Wie wird was? – Und alle haben ja, wenn sie den Taschenrechner anschauen, auch Gründe. Die etwas niedlich beschriebene Generation, der Rolf und ich auch gehören, sind die Babyboomer, so Männer und Frauen knapp unter und knapp über 60 – ich sehe noch ein paar andere. 13 Millionen von uns gehen demnächst in Rente – ich nicht; ich habe mir vorgenommen, länger zu arbeiten. Das ist ja ein Trend, andere tun das auch; insofern gar nicht schlecht. Aber: 13 Millionen ist ganz schön viel. Und das werden wir auffangen können, indem wir einfach supergut sind, was schulische Bildung betrifft, indem wir alles tun, was da notwendig ist: mit Krippen, mit Kitas, mit Ganztagsangeboten, mit immer wieder neuen Möglichkeiten, dass alle zu einem ordentlichen Schulabschluss kommen. Das ist gut, wenn wir es schaffen, zum Beispiel mit Jugendberufsagenturen dafür zu sorgen, dass der Übergang von der Schule in die Berufsausbildung oder später in ein Studium für andere gelingt, dass die eine oder andere Qualifikation für viele relevant ist, indem wir Erwerbstätigkeit attraktiver machen – auch in einer Runde vieler Unternehmer möchte ich für Mindestlöhne und gute Löhne werben -, indem wir dafür Sorge tragen, dass es immer wieder geht. Ich habe mich wirklich sehr gefreut als ich viele Betriebe besucht hab, die endlich tun, wofür ich als Arbeitsminister in den Jahren 2008/2009 fast vergeblich geworben habe: nämlich, dass sie 30-, 40-, 50-Jährige, die schon lange im Betrieb sind und als Ungelernte und Angelernte arbeiten, jetzt qualifizieren, sodass sie dann breiter eingesetzt werden können. Dafür gibt es sogar Förderungen. Wir müssen natürlich etwas bei der Erwerbstätigkeit von Frauen tun. Da ist nicht nur die Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen unverändert, ein bisschen sehr groß, sondern es ist eben auch so, dass es an vielen Stellen, wo Frauen was tun könnten, gar keine oder nur wenige sind. Da könnte noch was gehen. Die Erwerbstätigkeit von Frauen ist besser geworden, wir sind schon fast an skandinavischen Verhältnissen dran, aber es ginge noch was. Und wenn wir die Teilzeitquote auch ein bisschen reduzierten und ein bisschen skandinavischer würden, dann ginge noch viel mehr. Aber all das zusammen und auch, wenn wir es schaffen, dass Älter sagen „Ich möchte gerne bis zum Eintrittsalter der Rente arbeiten“ oder vielleicht darüber hinaus freiwillig und ohne Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters, dann wird das alles zusammen nicht reichen, um diese 13 Millionen zu ersetzen. Und deshalb brauchen wir auch Fachkräftezuwanderung. Das ist mir ganz, ganz wichtig. Ich habe ja eben etwas über irreguläre Migration gesagt. Aber eine reguläre Migration von Männern und Frauen, die genau das mitbringen, was wir brauchen, was wir benötigen, vom Arbeiter, von der Arbeiterin, von der Pflegekraft bis zu den Ärzten und Ingenieuren, das würde uns natürlich sehr nützen. Wie sehr der Wohlstand mancher Nationen davon abhängt, dass sie diese Offenheit zeigen, kann man ja an den USA sehen. Da ist eine Sache, die mir nie aus dem Kopf geht: Die Hälfte derjenigen, die in den USA einen Doktor macht – einen Ph.D., also so etwas Ähnliches -, ist nicht in den USA geboren. Gestern habe ich in Hamburg zusammen mit meinem Freund Emmanuel Macron und den Ministern aus Deutschland und Frankreich ein Gespräch mit einem deutschen AI-Experten geführt, der Professor in Stanford ist und Unternehmer, Herr Socher für die, die ihn kennen wollen, und er hat mir gesagt: 80 % von denen, mit denen er in Kalifornien zusammenarbeitet, sind nicht in den USA geboren. Deshalb ist natürlich auch unser Wohlstand sehr wohl davon abhängig, dass es uns immerhin gelungen ist, dass wir heute eine Bevölkerung haben, die 25 % Zuwanderungshintergrund hat – mit sehr konservativer Zählungsweise. Aber dass wir das können und wir das machen müssen, bedeutet auch, dass wir diese beiden Dinge immer in ihrer eigenständigen Wirklichkeit betrachten müssen: die irreguläre und die reguläre Migration, dass wir die Wechselverhältnisse verstehen, aber dass wir trotzdem jeweils jeden Pfad für sich ordentlich organisieren, damit wir die Kontrolle behalten – und manchmal passen die auch zusammen. Denn wenn ich mit einem Land, aus dem wir Fachkräfte und Arbeitskräfte brauchen, einen Vertrag mache, indem ich sage „Da steht drin, die können kommen“ – und wie das einfach und gut organisiert funktionieren kann -, „die wir brauchen, weil sie einen Arbeitsvertrag haben, sie werden hier gebraucht, oder wir haben ein Punktesystem“ und gleichzeitig sage „Aber die, die zurückgehen müssen, die müsst ihr zurücknehmen“, ob das nun Straftäter sind, wo wir das erwarten dürfen, oder Leute, die den falschen Weg gesucht haben, über Asyl zu versuchen, die Zuwanderung zu organisieren, die also nicht wegen Fluchtgründen passiert ist, dann ist das etwas, was funktionieren kann. Die Reden mancher Politiker sind ja in dieser Welt immer so – das ist für Deutschland nicht anders als überall sonst -, dass sie sagen: „Das muss man so machen!“ Und dann guckt man – und was passiert? – Nichts. Dann kommt die nächste Rede: „Das muss man so machen!“ Und was passiert? – Nichts. Wir sollten uns auf die Dinge konzentrieren, die wirksam sind. Was niemand überwinden kann, ist, dass die eigene Hoheit, das, was man durch eigene Gesetze regeln kann, immer an der eigenen Staatsgrenze endet. Und wenn man will, dass andere jemanden zurücknehmen, muss man sie davon überzeugen, dass sie es machen. Da haben wir allerdings jetzt wegen der Tatsache, dass wir Arbeitskräfte brauchen, das beste Argument für faire Verträge, die in unserem Interesse sind und im Interesse derjenigen, mit denen wir sie abschließen. Das wollen wir machen, auch zugunsten unserer Wirtschaft. Wir wollen die Wirtschaft erneuern, und wir wollen sie CO2-neutral machen, das ist hier mehrfach besprochen worden – mit verschiedensten Perspektiven. Eine große Herausforderung, ich glaube, darüber muss man nicht lange philosophieren. Aber es ist eine, bei der es jetzt ganz wichtig ist, dass wir den Moment erleben, dass alle sich sicher sind: Es wird gelingen. Um die Größe dessen, was wir gerade machen, verstehbar zu machen, sage ich mir immer und teile es dann anderen gern mit: Das ist fast so wie die industrielle Mobilisierung, die Deutschland am Ende des 19. Jahrhundert hatte. Leuna, Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden, in zwei Jahren auf der grünen Wiese mit dann 10 000 Arbeitsplätzen, mit lauter Verfahren, die überhaupt noch nicht industriell erprobt waren; die kamen direkt vom Labor in die Fabrik. So etwas ging. Dieses Tempo, auch die Begeisterung für den Fortschritt, das brauchen wir jetzt auch, und das Zutrauen, dass es gelingen wird. Und wenn ich beschreiben soll, was, glaube ich, gerade das Thema ist für viele Unternehmen und für viele Bürgerinnen und Bürger auch: Wird es so sein oder wird es nicht so sein? Kann man das glauben, dass das gelingt? Darüber sollten wir reden und nicht drum herumreden. Meine Antwort ist: Ja. Aber es gibt Gründe, warum alle – oder viele – nicht so sicher sind. Das Erste ist: Es ist ja alles neu. Also bevor es geklappt hat, kann man ja nicht sicher sein, dass es klappen wird. Und es ist nicht einfach mehr vom selben oder sonst was, es ist anders. Aber wenn es dann erst mal klappt und man sieht, wie das so alles läuft, dann geht es auch immer schneller, und das Zutrauen wird immer größer. – Wir sind in dem Moment, wo wir losfahren müssen und alle auf den Zug aufspringen müssen. Das ist das, was wir gerade als Leistung – auch emotional und moralisch – als Nation hinkriegen müssen. Dann ist es gleichzeitig so, dass unglaublich viele ja auch geprägt sind von dem, was sie gesehen haben. Unser Land ist ja großartig. Wir sind, damit es so richtig hält, zweimal aus der Atomenergienutzung ausgestiegen, einmal Anfang der Jahrtausendwende mit Schröder und Fischer und dann noch mal – Schwarz-Gelb – mit Frau Merkel nach dem Reaktorunglück von Fukushima. Und weil das Drama ja noch nicht genug ist, haben wir am Ende noch mal diskutiert: Sollen wir es noch mal ein paar Monate verlängern? – Haben wir gemacht! Also eigentlich zweieinhalbmal. Aber nun sind wir draußen. Wir haben noch eine zweite Entscheidung getroffen: Wir steigen aus der Kohleverstromung aus. Die ist ganz fest schon in der letzten Regierung mit Frau Merkel und mir vereinbart worden. Eine große Konferenz, Herr Brudermüller war auch dabei, bis in die Nacht haben wir verhandelt. Wir hatten vorher mit den Ländern besprochen, wie viel Geld wir für die Transformation zahlen; es ist dann das Doppelte geworden, aber egal – oder wie auch immer. Jedenfalls: Das hätten wir schon mal geschafft. Aber dann hat keiner gemerkt, dass wir irgendwo einsteigen, dass das klappt, sondern alles hat sich verzögert: Die Ausbauziele für die Stromleitungen rückten immer weiter nach hinten! Irgendwelche Leute haben sich fast angekettet, dass man hier nicht bauen soll. Dann mussten sie auch noch unter die Erde! Überall hat sich die Zeit der Genehmigung von Windkraftanlagen – Onshore, Offshore – verlängert, sechs Jahre für so eine kleine – klein sind die ja nicht mehr – Windkraftanlage. Das ist doch absurd! Wenn man das alles zusammenzählt, muss man doch wahrheitsgemäß sagen: Wenn wir sich alles nur so vor sich hin entwickeln ließen, würden wir nicht rechtzeitig fertigwerden. Das gehört zur Wahrheit dazu. Mit diesen Gesetzen, mit denen meine Regierung im Jahre 2021 angefangen hat, würden wir das nicht rechtzeitig schaffen. Darum haben wir ganz viele neue Gesetze beschlossen. Aber man muss die Mentalität umdrehen. Wir dürfen nicht alles eins nach dem anderen machen und dann sehen, dass das eine sich zum anderen fügt, sondern wir müssen sagen: Wenn es bedeutet, 80 % erneuerbarer Strom und auch noch mehr als heute, nicht 600, sondern vielleicht 750 oder 800 Terrawattstunden Strom 2030, in sieben Jahren, dann müssen wir mal zählen: Wie viele Windkraftanlagen sind das eigentlich? Wie viele Stromnetze sind das eigentlich? Und müssen rückwärts gucken: Was für ein Tempo brauchen wir, damit das auch tatsächlich gelingt? Und das, was ich Ihnen gerne hier erzählen möchte, ist: Exakt das haben wir gemacht. Wir haben alle diese Entscheidungen getroffen, wir haben die Gesetze geändert und wir ändern sogar noch ein paar, damit es noch schneller wird. Aber die Botschaft ist: Wir sind soweit. Bei den Genehmigungen haben wir die Geschwindigkeit für Onshore-Windanlagen erreicht, die wir brauchen, um 2030 das Ziel zu erreichen. Bei den Solaranlagen haben wir sogar schon die Größenordnungen bei den Gebauten. Und wenn wir so weitermachen, noch ein bisschen Tempo da reinpacken, dann wird das auch gelingen. Wir haben Gesetze geändert, europaweit Gesetze geändert, die dazu beitragen sollen, dass die Geschwindigkeit zunimmt. Das, finde ich, ist erst mal die eine gute Botschaft: Man kann mittlerweile berechtigterweise darauf setzen, dass es gelingen wird. Wir haben noch vieles andere getan, zum Beispiel ins Gesetz geschrieben: Wie sieht das endgültige Stromsystem 2045 aus? – Dann bleibt es nämlich nicht bei den lange verzögerten Leitungen, die wir gegenwärtig kennen, dann kommen noch fünf dazu – große: von Nord nach Süd, von West nach Ost und quer durchs Land! Aber dann wissen wir es jetzt schon, es steht jetzt schon im Gesetz: Man kann gleich anfangen zu planen, ist schneller und kann dann auch bauen, damit es rechtzeitig fertig ist. Darauf kann man sich dann verlassen. Wir machen uns jetzt die Gedanken, wie man ein 24/7-Stromsystem organisiert. Denn es ist ja nicht so, dass die allermeisten sagen „Ich nehme den Strom, wenn er da ist“ – auch schick, kann man machen, aber nicht für alle. Deshalb, finde ich, muss man dann auch sicherstellen, dass das so ist. Und wir brauchen entsprechende Erzeugungskapazitäten, wenn es keine Sonne, keinen Wind gibt und das mit Wasserkraft und Biomasse alles nicht reicht, um trotzdem den Strom zu produzieren, den die Industrie und die Wirtschaft, wir alle brauchen. Auch diese Entscheidung treffen wir jetzt. Wir wissen, dass die Zukunft der CO2-neutralen Industrie elektrifiziert ist. Wir wissen aber auch, dass sie ein Gas braucht, statt Öl und Gas, ein natürliches Gas, nämlich Wasserstoff. Aber dann muss der in großen Mengen produziert werden, hierzulande mit den Elektrolyseuren, die wir regulatorisch mal freischalten müssen, sodass das einfach auch gebaut werden kann und nicht durch lauter rechtliche Vorschriften verhindert wird, womit das niemals ein Geschäftsmodell wird. Und dann müssen wir dafür Sorge tragen, dass wir den Wasserstoff importieren können und andere ein großes Business weltweit spannen mit uns zusammen, das so groß ist wie das Gas- und Ölbusiness der Vergangenheit, mit Argentinien und Südafrika, mit Namibia, mit der Arabischen Halbinsel, mit der Ukraine, mit vielen anderen. Und das tun wir auch. Und wir bauen ein Wasserstoffnetz. Dieses Jahr werden wir, wenn es klappt, die Entscheidung treffen: über eine privatwirtschaftliche, mehr als 20-Milliarden-Investition für die Errichtung eines Wasserstoffnetzes, wobei natürlich nicht am Anfang das Geld verdient wird, sondern über 30, 40, 50 Jahre. So etwas kann ein ordentlicher Kapitalismus wie der deutsche – er hat es sich aber abgewöhnt, weil immer schon alles da war. Deshalb sind wir sehr weit mit denen, die das machen, und organisieren in guter, öffentlich privater Partnerschaft, wie das funktionieren kann, dass man jetzt loslegt mit der Investition, wissend, dass am Anfang weniger Wasserstoff durch die Rohre kommt als später und das über die Strecke sich rechnen muss. Aber wir machen das. Das heißt: Wofür ich hier werben will, ist, das Vertrauen darin zu haben, dass wir genau verstanden haben, was zu tun ist, damit die infrastrukturellen technologischen Voraussetzungen geschaffen sind für eine wirtschaftliche Entwicklung, die CO2-neutral ist und uns als Industrieland wettbewerbsfähig hält. Nun gibt es ja immer noch einige, die glauben: Das mit dem Gas und Öl, das kommt alles wieder. – Das glaube ich nicht. Wir werden Öl verarbeiten, aber als Material, so wie wir Stahl verarbeiten, aber wir heizen nicht mehr damit und wir benutzen das nicht als Treibstoff und als Brennstoff. Deshalb ist es so wichtig, dass man sich einmal anknüpfend an das, was ich anfangs gesagt habe, eine Frage beantwortet: Was passiert eigentlich, wenn mit Höhen und Tiefen, hin und her, aber doch über die Strecke der Erfolg der Globalisierung immer weiter geht und 2050 vielleicht 10 Milliarden Menschen auf der Welt – vielleicht 2050, vielleicht erst 2070 – einen Wohlstand haben wie wir 1950? Dafür haben wir nicht genug Gas in keiner Erde verbuddelt, nicht genug Kohle, nicht genug Öl und auch alles Mögliche andere nicht, übrigens, glaube ich, auch nicht genug Uran. Diese Frage muss man sich immer beantworten, wenn man sagt: Das ist doch bisher gutgegangen und das geht auch noch gut. – Alle verstehen nicht, dass das eine Frage der Mathematik ist, wo man einmal rechnen muss: Wenn jetzt alle auch industrielle Nachfrager werden so wie wir, was wir ihnen ja wünschen, dass das da genauso ist, mit genauso vielen Autos wie in Deutschland, überall, in Afrika, in Lateinamerika, in Asien – das geht nicht gut mit den Technologien, die wir heute haben, und das wird unbezahlbar. Deshalb ist das nicht nur ein Gutes-Herz-Argument, wenn wir sagen „Wir wollen das“, es ist auch für unsere eigene ökonomische Zukunft unverzichtbar, dass wir es schaffen, Wohlstand zu produzieren, ohne Biodiversität und Klima zu beeinträchtigen, und genau das ist der Weg, den wir eingeschlagen haben. Zwei Dinge sind mir noch wichtig. Das Erste ist: Es muss schneller gehen. Ich habe es für die Transformation, die ich konkret beschrieben habe, schon gesagt. Aber es gilt natürlich insgesamt. Geschwindigkeit hat auch was mit Wachstum zu tun – übrigens auch mit der Frage, wo die Investition stattfindet. Es hilft ja manchmal, wenn man schon mal Bürgermeister war. Also da ist zum Beispiel eine Industrieansiedlung, und in der Stadt wird gesagt „Wir haben da einen fertigen Bebauungsplan, die Anschlussstraße ist auch schon fertig, eigentlich kannst du nächstes Jahr loslegen und da deine Halle errichten“. Und wenn es ganz doll läuft: „Wir haben schon eine gebaut, vielleicht passt sie.“ Der andere sagt: „Ja, da ist die Fläche, Bebauungsplan ist in vier Jahren fertig, wollen wir das Projekt wagen?“ Wenn man denn so ein Ding wie Intel vorhat, dann ist das vielleicht eine Nummer. Oder wenn Herr Brudermüller kommt und sagt „Ich möchte hier noch mal ein Leuna bauen“, dann sagen wir auch „Alles wird gemacht“. Es ist trotzdem etwas, was man im Blick haben muss: Geschwindigkeit zählt. Und das Vertrauen in die Geschwindigkeit ist auch wichtig für die Investitionen. Ich war jetzt in New York, habe dann die Gelegenheit genutzt, mir das Empire State Building zeigen zu lassen, ein altes Gebäude, trotzdem hoch, sehr hübsch. Bauzeit, glaube ich, 15 Monate. In der Zeit hätten wir es nicht genehmigt – und auch sonst niemand mehr in der entwickelten Welt, auch in den USA nicht. Da müssen wir uns jetzt gar nicht schlimmer finden als die anderen, wir sind nur so wie alle anderen auch. Und das ist, glaube ich, der Punkt, wo das, was ich Deutschlandpakt genannt habe, ins Spiel kommt. Es ging um die Frage: Können wir uns einmal unterhaken und all die Dinge tun, die notwendig sind, damit wir das Tempo auch erreichen? Denn es ist ja liebevoll mit Sorgfalt, mit Energie und Fantasie über Jahrzehnte von allen Parteien, von Kommunen, Landkreisen, Ländern und Bundesregierungen daran gearbeitet worden, dass wir da sind, wo wir heute sind. Und das ist dann irgendwann einmal zu viel. Und da geht’s auch um banale Fragen. Eine der Sachen haben wir jetzt beschlossen: Wir machen eine Gutachterdatenbank, damit man, wenn man einen Gutachter braucht, einen findet. Aber die eigentliche Frage ist: Wieso braucht man so viele Gutachter? Und hat schon einer mal gezählt, ob das, was wir vorhaben, mit der physikalisch möglichen Menge an Gutachtern realisiert werden kann? Die Antwort ist: Nein. Das heißt, wir haben gar keine Chance, bei dem zu bleiben, was wir haben. Deshalb habe ich das bewusst so angelegt als überparteiliches und überinstitutionelles Konzept, denn wenn alle so lange in die eine Richtung gegangen sind, dann müssen sie, glaube ich, auch gemeinsam in die andere gehen und sich dabei immer sagen „Ist gar nicht so schlimm, was wir machen“, und „Das ist hoffentlich das, was gelingt.“ Ich habe gesagt, das war die vorletzte, die letzte Bemerkung soll auch noch kommen, und dann sind wir zu Ende mit dem, was ich hier eingangs sagen möchte. Ich werbe auch ganz unabhängig davon für Optimismus oder Zuversicht, was den Wirtschaftsstandort Deutschland betrifft. Wir kennen alle die Probleme, sie sind hier erörtert worden, ich stimme allen zu, aber ich sage ausdrücklich: Das ist schon komisch: Wenn jetzt so viele Direktinvestitionen in Deutschland stattfinden, wenn große und kleine Unternehmen entscheiden, sie wollen in Europa investieren, und kommen dann auf Deutschland, und wir irgendwie das Gefühl haben, das Gegenteil sei der Fall. Ich war neulich bei Ford in Köln und durfte mit einem Herrn Ford gemeinsam irgendwie daran arbeiten, dass es demnächst Elektrofahrzeuge aus diesem bald 100 Jahre alten Werk in Köln geben wird. Das wird jetzt umgebaut, und dann kommen die daher. Große Industriegeschichte, ein amerikanisches Unternehmen in Deutschland. Ein neu aufgekommener amerikanischer Automobilkonzern mit Elektrofahrzeugen hat sich überlegt, er möchte eine große Fabrik in Europa bauen, und ist auf Deutschland und Brandenburg gekommen und will die noch mal vergrößern. Brandenburg hatte gerade ein Wirtschaftswachstum von 6 %. Das ist die Lage, in der wir das Gefühl haben: An uns geht alles vorbei. Es gibt mehrere Batteriefabriken, die in Deutschland investiert werden, und wir wollen noch ein paar mehr haben und verhandeln darüber. Das ist doch nicht schlecht. Über die Halbleiter ist hier schon gesprochen worden. Das ist ja auch eine merkwürdige Geschichte. Die kommen ja deshalb nach Deutschland, weil das Ökosystem einer hochqualifizierten Halbleiterproduktion hier immer noch vorhanden ist und hier, in Deutschland, auch großartige Halbleiter produziert werden, das Know-how existiert. Und eigentlich sind nur Staat und Industrie irgendwann vor 30 Jahren abgebogen und haben gesagt: Das ist ein Geschäft, das ist uns zu teuer, das hat zu hohe Kapitalbindung, das soll andere machen, das gibt’s immer billig irgendwo zu kaufen. – Dann haben wir gelernt: Das war wohl ein Irrtum. Aber als sich dann die vielen Unternehmen – und das ist ja nicht nur Intel, das ist Wolfspeed, das ist Bosch, das ist Infineon, das ist GlobalFoundries, die schon da sind – entschieden haben, hier neu und groß zu investieren, da haben sie es getan in ein Ökosystem hinein, das schon existiert. Und das soll dann der Schluss sein. Wir sollten zuversichtlich bleiben. Wir können es auch. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Jahreskonferenz des Rats für Nachhaltige Entwicklung am 10. Oktober 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-jahreskonferenz-des-rats-fuer-nachhaltige-entwicklung-am-10-oktober-2023-in-berlin-2229418
Tue, 10 Oct 2023 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Ratsvorsitzender Hoffmann, lieber Reiner, liebe Heidi, verehrte Ratsmitglieder, meine Damen und Herren, letzten Monat habe ich am Gipfeltreffen zu den globalen Zielen für nachhaltige Entwicklung in New York teilgenommen; du hast es gerade schon erwähnt, lieber Reiner. Die Botschaft, die von dieser Halbzeitbilanz ausging, war eindeutig: Die Zeit drängt. Bis 2030 sind es nur noch sieben Jahre, und richtig ist auch: Wir sind in vielen Teilen der Welt noch nicht ‑ zum Teil auch nicht mehr ‑ auf Kurs, um die Agenda 2030 zu erreichen. Dafür gibt es auch Gründe. Die Coronapandemie hat nicht nur sehr viele Leben gekostet. Sie hat auch Lieferketten unterbrochen, die Weltwirtschaft massiv beeinträchtigt, und sie hat Kindern und Jugendlichen weltweit den Zugang zu Bildung erschwert. Der brutale Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt, bringt nicht nur furchtbares Leid für die Ukrainerinnen und Ukrainer. Er hat auch zu Rekordpreisen bei Getreide und Düngemitteln, Öl und Gas geführt – mit gravierenden Auswirkungen, besonders in den ärmeren Ländern. Natürlich ‑ du hast es erwähnt – wird der Ausbruch der Gewalttaten der Hamas gegen israelische Bürger, gegen den israelischen Staat, auch Konsequenzen haben, die weit darüber hinaus reichen. Trotzdem will ich gerade hier und an dieser Stelle sagen: Israel kann sich auf die Solidarität unseres Landes verlassen. Natürlich kommen zu den Entwicklungen, die wir sehen, noch die Folgen des menschengemachten Klimawandels, die den Lebensraum von deutlich mehr als einem Drittel der Weltbevölkerung bedrohen. Diese Gründe dürfen uns aber nicht davon abhalten, so schnell wie möglich wieder „back on track“ zu kommen. Dafür werfen wir all unsere ganze Kraft als innovatives und wohlhabendes Industrieland in die Waagschale. Dabei geht es ja auch um Glaubwürdigkeit. Natürlich sind die klassischen Industrieländer historisch gesehen für einen Großteil der Treibhausgasemissionen verantwortlich, auch wenn Länder wie China inzwischen selbst zu riesigen Treibhausgasemittenten geworden sind. Umso wichtiger ist es, dass wir unsere Zusagen einhalten, und das tun wir – endlich, muss man allerdings wohl sagen. Wir sind der zweitgrößte Geber öffentlicher Entwicklungsleistungen weltweit und werden das wohl auf absehbare Zeit auch bleiben. Wir haben unseren Beitrag zur internationalen Klimafinanzierung seit 2014 auf mittlerweile über sechs Milliarden Euro verdreifacht. Auch insgesamt werden die Industrieländer in diesem Jahr wohl ihre Zusage erfüllen, 100 Milliarden Dollar für die Klimafinanzierung zu mobilisieren. Das ist ein wichtiges Signal. Auch bei der Klimakonferenz im Dezember in Dubai müssen ja Fortschritte erzielt werden. Wichtig ist mir, dass wir uns dort auf gemeinsame Ausbauziele für erneuerbare Energien und für Energieeffizienz verständigen. Wir erwarten, dass sich auch nicht klassische Geberländer zukünftig an der internationalen Klimafinanzierung beteiligen. Aber zum Thema Glaubwürdigkeit gehört noch mehr. Die Länder des globalen Südens werden sich von uns nicht sagen lassen, dass sie zugunsten des Klimaschutzes auf Wachstum verzichten können. Die Zahl derer, die in äußerster Armut leben, ist seit 1990 um drei Viertel gesunken. Das ist zuallererst eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte, eine Geschichte von globaler Arbeitsteilung und von Wachstum. Also muss unsere Aufgabe doch darin bestehen, Wachstum zu ermöglichen, ohne dadurch unseren Planeten zu zerstören, und deshalb ist es so wichtig, dass wir hier in Europa die nötigen Technologien entwickeln und ausprobieren und der Welt zeigen: Es funktioniert! Dafür sind in den kommenden Jahren enorme Investitionen nötig. In Europa und weltweit reden wir da nicht mehr über Milliarden, sondern über Billionen. Öffentliches Geld reicht dafür bei Weitem nicht aus. Wir brauchen in großem Umfang privates Kapital. Umso wichtiger, dass wir gemeinsam mit den aufstrebenden Ländern des globalen Südens neue Investitionsmöglichkeiten schaffen! Deutschland tritt zum Beispiel dafür ein, dass mehr Wertschöpfung in der Rohstoffverarbeitung in den Ländern erfolgen sollte, in denen die Rohstoffe abgebaut oder erneuerbare Energien produziert werden. Kooperation und nachhaltige Ressourcennutzung statt Extraktivismus – so lautet unser Angebot. Im Rahmen der G7 haben wir Partnerschaften für eine gerechte Energiewende auf den Weg gebracht. Sie ermöglichen private Investitionen und helfen Partnerstaaten dabei, klimaneutrale Industrien aufzubauen, und auch bei der Reform der internationalen Finanzarchitektur muss es darum gehen, mit begrenzten öffentlichen Mitteln mehr privates Kapital zu mobilisieren. Wir wollen die Weltbank dazu in eine Transformationsbank verwandeln, damit gezieltere Anreize für Investitionen in globale öffentliche Güter wie den Schutz des Klimas und der Biodiversität, aber auch in die Prävention von Pandemien gesetzt werden können. Als erstes Land überhaupt stellen wir der Weltbank dafür sogenanntes Hybridkapital zur Verfügung. Damit lässt sich eine bis zu achtfache Hebelwirkung am Kapitalmarkt erzielen. Darüber hinaus gehen wir die Schuldenkrise an, die sich in vielen Entwicklungsländern verschärft. Aber nicht nur wir gehen mit großen Schritten voran. Die USA unter Präsident Biden machen endlich ernst beim Klimaschutz. Die Ausbauzahlen bei den erneuerbaren Energien in China und in vielen anderen Teilen Asiens sind atemberaubend. Die afrikanischen Staaten haben vor gut einem Monat ihren ersten kontinentalen Klimagipfel beendet – mit einem Bekenntnis zu klimafreundlichem und ressourcenschonendem Wachstum. Die Amazonas-Anrainerstaaten haben sich im August auf Maßnahmen zum Schutz des Regenwaldes und seiner einzigartigen Biodiversität und Ressourcen verständigt. So ist die zweite Botschaft, die ich aus New York mitgenommen habe, eine durchaus zuversichtliche: Es gibt weltweit eine neue Entschlossenheit, gemeinsam voranzukommen beim Erreichen der SDGs. Das gewachsene Selbstbewusstsein der aufstrebenden Länder Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und der Karibik sollten wir dabei als Chance benutzen. Ich habe ja gerade schon zwei Initiativen aus Afrika und Lateinamerika erwähnt, die Ausdruck dieses Selbstbewusstseins sind und die uns zugleich weltweit voranbringen können. Mir zeigt das: Es lohnt sich, in engere Partnerschaften mit diesen Ländern und Regionen zu investieren. Das war der Grund, weshalb ich wichtige Vertreterinnen und Vertreter aus Asien, Afrika und Lateinamerika im vergangenen Jahr zu unseren Beratungen beim G7-Gipfel eingeladen hatte. Daraus sind Ideen wie das Bündnis für globale Ernährungssicherheit oder der Schutzschirm gegen Klimarisiken entstanden, Ideen, die Solidarität mit Leben füllen, die den Ländern des globalen Südens zeigen: Eure Anliegen sind auch uns wichtig. Voraussetzung für all diese internationalen Bemühungen ist, dass wir auch national unsere Hausaufgaben in Sachen Nachhaltigkeit machen, zum einen, weil wir nur dann ein starker Wirtschaftsstandort bleiben und nur dann auch künftig Spielräume haben, um in die Zukunft zu investieren, und zum anderen, weil wir nur dann glaubwürdig bleiben und international gehört werden. Deshalb will ich mich hier ganz deutlich zur Umsetzung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie bekennen. Wir haben gerade im Kabinett Halbzeitbilanz gezogen, wie Ihnen wahrscheinlich Staatsministerin Ryglewski heute Vormittag berichtet hat, und wir setzen für die Zukunft drei klare Prioritäten. Erstens: Wir beschleunigen unsere Energiewende, damit Energie in Deutschland und Europa sauber, sicher und bezahlbar ist. Zweitens: Wir sorgen dafür, dass Deutschland ein wachsendes Land bleibt, dass wir auch in Zukunft genügend Arbeitskräfte haben. Drittens: Wir setzen uns ein für Sicherheit im Wandel, für Zusammenhalt, gerade in der Transformation. Bei der Energiewende kommen wir voran. Um die fünf Windkraftanlagen an Land pro Tag brauchen wir, um 2030 80 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien zu produzieren. Zumindest, was die Genehmigungen angeht, haben wir diese Zahl in den vergangenen Monaten zum Teil schon überschritten. Allein im September wurden 182 neue Windenergieanlagen genehmigt, mit jeweils über fünf Megawatt Leistung. Bei der Photovoltaik haben wir den Zubau in nur einem Jahr im Schnitt fast verdoppelt. Mehr als 30 Fußballfelder an Solaranlagen werden derzeit in Deutschland gebaut ‑ wohlgemerkt: pro Tag ‑, weil wir die gesetzlichen Hürden gesenkt und Prozesse beschleunigt haben. Wir brauchen nämlich vor allem eines: Tempo – beim Ausbau des Stromnetzes, auch beim Aufbau des Wasserstoffnetzes, und auch da geht es mit großen Schritten voran. Damit wir uns dabei nicht in unseren über Jahrzehnte hinweg aufgebauten, liebevoll gezimmerten Regeln und Verordnungen verheddern, habe ich den Ländern und Kommunen den Deutschlandpakt angeboten und vorgeschlagen. Er wurde auch in der Rede vorhin erwähnt, wenn auch nicht ganz so lobend, wie ich es mir vorgestellt hätte. Aber er ist gut. Inzwischen haben die Länder zu unseren Vorschlägen Rückmeldungen geschickt, sehr konstruktiv, und dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Wir werden nun sehr zügig klären, wie wir gemeinsam auf allen Ebenen unseres Staates für noch mehr Tempo sorgen. Wir werden ja noch miteinander diskutieren, aber vielleicht darf ich das an dieser Stelle noch einmal sagen: Es muss aufgehen, was wir sagen. – Wer sich Gedanken darüber macht, warum die einen oder anderen Bürger vielleicht etwas unsicher sind, ob sie darauf setzen sollen, dass das alles, was wir uns vorgenommen haben, gut ausgeht, der kann sich die Antwort gleich selbst mitgeben. Denn es sind große Veränderungen. Am Anfang von Veränderungen ist es nicht so, wie dann in den späteren Filmen Jahrzehnte danach gesagt wird, dass alle von vornherein begeistert dabei sind. Nein, es ist eine Zeit, in der alle unsicher sind und in der man sich wirklich fragt: Kann das gut funktionieren? Wird es klappen, Industrieland zu bleiben? Werden wir Arbeitsplätze haben? Werden sie gut bezahlt sein? Werden wir überhaupt genug Strom haben? Was ist, wenn ich als Unternehmer darauf setze, 2030 erneuerbaren Strom in der notwendigen Menge zu haben, er dann aber gar nicht da ist? Was ist, wenn ich auf Wasserstoff setze, und es ihn dann gar nicht gibt? – All diese Fragen müssen beantwortet werden. Deshalb denke ich schon, dass es nicht nur eine Sache derjenigen ist, von denen man immer erwartet, dass sie sagen: „Planungsbeschleunigung, Planungsbeschleunigung, Planungsbeschleunigung!“, und die dann übrigens oft gar keine konkreten Vorschläge machen, sondern dass das auch für diejenigen gilt, die sich vielleicht über Jahre politisch anders positioniert hatten, weil sie sagen: Das ist erst einmal die Aufgabe von anderen. – Wenn nicht tief im Kopf der Bürgerinnen und Bürger und vieler Unternehmen ist, dass es klappen wird, dann wird der Zweifel daran wachsen, ob es überhaupt richtig ist, diesen Weg zu beschreiten. Deshalb ist es so essenziell, dass wir uns vor dieser Herausforderung ‑ das ist das Tempo ‑ nicht drücken. Also, bitte gemeinsam Tempo machen! Neben einfacheren Regeln und mehr Entscheidungsfreude brauchen wir dafür natürlich auch die Frauen und Männer, die an der Transformation mitarbeiten, zupackende Angestellte in Genehmigungsbehörden, vor allem aber auch Ingenieurinnen, Solartechniker, Installateurinnen und viele mehr, weil sie dafür sorgen, dass wir die Transformation schaffen. Wir brauchen jede und jeden Einzelnen. Deshalb haben wir die vielen Maßnahmen ergriffen, damit wir mit vielen Weiterbildungsmaßnahmen dazu beitragen können, dass die Fachkräfte da sind, die die Solaranlage aufs Dach bringen, die die Wärmepumpe installieren und genau wissen, wie das richtig geht und welche die am besten ausgewählte ist usw. usf. Dazu gehört natürlich auch, dass all diejenigen, die schon in den Betrieben sind, jetzt nicht durch andere ersetzt werden, die man ja gar nicht hat, sondern dass man tatsächlich versucht, gemeinsam zu lernen, was jetzt für die künftigen Anforderungen erforderlich ist. Wir werden auch ‑ das will ich an dieser Stelle sagen ‑ weiterhin ein Land sein müssen, das seine Arbeitskräfte auch aus dem Ausland in Deutschland mit einsetzt. Das haben wir über Jahrzehnte getan, und das hat in erheblichem Maße zu unserem Wohlstand beigetragen. Ich will auch in diesen schwierigen Zeiten sagen: Arbeitskräfte, Fachkräfte, die nach Deutschland kommen, werden wir auch in Zukunft brauchen. Mir ist bewusst, dass das, was ich gerade skizziert habe, unser Land vor große Herausforderungen stellt und dass sich große Veränderungen abzeichnen. Klimaneutral zu leben und zu arbeiten und gleichzeitig starkes Industrieland zu bleiben, das ist der größte Wandel seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Natürlich fragen sich viele Bürgerinnen und Bürger erst einmal, wie das für sie ganz persönlich, für ihre Familie, für ihren Betrieb, für ihr Dorf, ihre Stadt ausgeht. Ich habe davon gesprochen. Deshalb ist es mir auch wichtig, dass auf diesem Weg alle mitkommen können. Wir haben dafür gesorgt, dass 83 Millionen, 84 Millionen Bürgerinnen und Bürger gut durch den vergangenen Winter gekommen sind, dass sie mit den gestiegenen Energiepreisen zurechtkommen. Wir werden genauso auch bei allen künftigen Beschlüssen und Vorhaben sehr genau darauf achten, dass der Wandel niemanden überfordert, dass die Bürgerinnen und Bürger spüren: Ja, das geht eben gut aus, auch für mich, weil erneuerbare Energien auf Dauer sicherer und günstiger sind, weil ein Elektroauto mittelfristig bares Geld spart, weil sich eine neue, staatlich geförderte Heizung schon nach einigen Jahren amortisiert, weil Investitionen in die Zukunft neue, gute Arbeitsplätze schaffen, übrigens auch in Gegenden unseres Landes, die lange nicht zu den Boomregionen zählten. So möchte ich mit einem kleinen Beispiel aus Freiberg in Sachsen schließen, das ganz gut hierher passt, zum einen natürlich deshalb, weil dort der Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz, der auf dieser Veranstaltung vielleicht schon zweihundertmal zitiert wurde, vor rund 300 Jahren die erste Nachhaltigkeitsidee aufschrieb, man solle nicht mehr Bäume fällen, als im Wald nachwachsen können, und zum anderen, weil Freiberg gerade dabei ist, ein wichtiger Standort der Halbleiterindustrie zu werden. In Freiberg entstehen Wafer, die wir für Computer, Smartphones, Elektroautos und Windkraftanlagen dringend brauchen, Technik von heute für die Nachhaltigkeit von Morgen, Innovationen, die unsere Wirtschaft nachhaltiger machen und die gute Arbeitsplätze sichern. Hier zeigt sich im Kleinen, was Nachhaltigkeit im Großen bedeutet, nämlich nicht einer vermeintlich guten alten Zeit nachzuhängen, sondern jetzt die Grundlagen für eine gute, eine bessere neue Zeit zu legen. Das müssen wir uns immer wieder bewusst machen. Der Rat für Nachhaltige Entwicklung unterstützt die Bundesregierung mit seiner wertvollen Arbeit auf dem Weg in diese neue Zeit. Für diese Arbeit und all die Zeit, die Sie investieren, sage ich Ihnen heute von ganzem Herzen: Danke. Nun freue ich mich auf den Austausch.
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Feier zum 100. Geburtstag von BMW-Motorrad am 28. September 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-feier-zum-100-geburtstag-von-bmw-motorrad-am-28-september-2023-in-berlin-2226464
Thu, 28 Sep 2023 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Zipse, sehr geehrter Herr Markus Schramm und sehr geehrter Herr Helmut Schramm, sehr geehrter Herr Wegner, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von BMW, meine Damen und Herren, wenn wir heute 100 Jahre BMW-Motorrad feiern, dann feiern wir natürlich 100 Jahre deutscher Industriegeschichte, 100 Jahre Entwicklung und Innovation, 100 Jahre Bestehens im weltweiten Wettbewerb und auch 100 Jahre Begeisterung im Motorsport. 100 Jahre BMW-Motorrad, das bedeutet aber auch 100 Jahre Fertigung in Deutschland, 100 Jahre Schweißen, Fräsen und Lackieren. Frühschicht, Spätschicht, Teamarbeit. 100 Jahre Stolz auf die eigene Leistung und bestimmt auch darauf, was andere mit den Motorrädern leisten, die man selbst hergestellt hat. Das Stichwort Motorsport ist schon gefallen. Ich möchte hier und heute diese vielen Lebensleistungen anerkennen. Deshalb habe ich die Einladung, heute mit Ihnen zu feiern, sehr gern angenommen. Denn das Industrieland Deutschland lebt von Frauen und Männern, die sich für einen Beruf in der Industrie entscheiden. Wie sie arbeiten, davon konnte ich mir hier schon im vergangenen Dezember ein Bild machen. Handwerk trifft Hightech, Digitalisierung in der Aus- und Weiterbildung, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit den unterschiedlichsten Herkunftsgeschichten, die alle für ein 100-jähriges Traditionshandwerk brennen, das hat mich beeindruckt. Ich bin froh, dass BMW mit der heutigen Eröffnung der Motorrad-Welt auch vielen Neugierigen ermöglicht, zu entdecken, was hier in Berlin dank Ihrer Arbeit entsteht. Berlin ist eine Metropole der Mobilität. 54 Jahre nach dem Beginn der Fertigung hier in Spandau ist das immer noch nicht überall bekannt. Hier steht die einzige Motorradfabrik Deutschlands. Hier produzieren mehr als 2000 Berlinerinnen und Berliner – und natürlich auch Brandenburgerinnen und Brandenburger – 150 000 Motorräder im Jahr, oft mehr als 800 am Tag. 85% davon werden in die ganze Welt exportiert. Mit Qualität made in Berlin schafft BMW einen weltweiten Marktanteil von über 15 Prozent. Wir haben das eben schon gehört. Diesen Erfolg schaffen die Mitarbeitenden hier mit ihrer Hände Arbeit und natürlich mit der Hilfe von hervorragenden, hoch spezialisierten Maschinen, die nicht selten auch aus Deutschland stammen, von einem der unzähligen „hidden champions“ aus dem deutschen Mittelstand. 85 Prozent Exportanteil bedeutet weltweite Wertschätzung für die Qualität. Es ist diese Wertschätzung, dieses Vertrauen in die Qualität, die unser Land wohlhabend gemacht haben. Ich möchte es ganz klar sagen: Die Basis dieses Erfolges ist freier Handel. Natürlich haben wir in den vergangenen Jahren gemerkt, wie gefährlich einseitige Abhängigkeiten sein können, besonders seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Die Antwort darauf kann aber nicht sein, sich im Handel nur noch auf befreundete Staaten zu beschränken oder immer größere Hürden aufzubauen. Die Antwort ist, sich breiter aufzustellen. Darauf haben wir uns auch im Kreis der wirtschaftsstarken Demokratien, der G7, geeinigt. Kein „decoupling“, sondern „derisking“. Nicht weniger, sondern mehr Absatzmärkte, nicht weniger Handel, sondern mehr Handel mit unterschiedlichen Partnern. Deshalb werden wir in der EU mit allem Nachdruck für Freihandelsabkommen arbeiten. Wir sehen, dass das auch Früchte trägt. Zu kaum einem Zeitpunkt wurden gleichzeitig mehr Abkommen verhandelt und vorangebracht. Mit Kenia und Neuseeland sind die Verhandlungen schon abgeschlossen. Auch mit Australien, dem MERCOSUR, Mexiko und Indonesien sind wir auf einem guten Weg. All das sichert hier in Spandau gute und zukunftssichere Arbeitsplätze, und das sichert Wertschöpfung in Deutschland. Genau darum geht es uns als Regierung. Wir machen made in Germany mit Ihnen, mit der Industrie zusammen, zukunftsfest. Wir werden zeigen, dass wir als bedeutendes Industrieland bis 2045 Klimaneutralität erreichen können und dass auf dem Weg dahin riesige wirtschaftliche Chancen für unser Land liegen. Dazu drehen wir derzeit an vielen, vielen Stellschrauben. Wir sichern nach Jahren des Hinauszögerns jetzt entschlossen eine verlässliche und nachhaltige Energieversorgung unseres Landes durch den rasanten Ausbau der erneuerbaren Energien. Allein der Bund wird im kommenden Jahr deswegen mehr als 110 Milliarden Euro in die Hand nehmen, um die Modernisierung unserer Industrie, den Klimaschutz und unsere Infrastruktur voranzubringen. Wir bringen Zukunftsbranchen nach Deutschland, um unsere industrielle Basis weiter zu stärken. Firmen aus der ganzen Welt haben sich in den vergangenen Monaten entschieden, in Halbleiter, Batterien und Cleantech made in Germany zu investieren, insgesamt mehr als 80 Milliarden Euro. Es ist doch klar, dass wir solche Investitionen unterstützen, die den Standort langfristig und strategisch stärken. Das werden wir auch weiterhin tun. Gleichzeitig lichten wir mit dem Deutschland-Pakt das Bürokratiedickicht, das unsere Wirtschaft so behindert und so viel Kraft kostet. Dabei schauen wir genauso wie Sie auch nach Brüssel. Gemeinsam mit den europäischen Partnern, insbesondere der französischen Regierung, ergreifen wir eine Initiative für Bürokratieentlastung, bessere Rechtsetzung und moderne Verwaltung in Europa. Dass es bei sehr umfangreichen Arbeiten manchmal knirscht und rumpelt, das kennen viele von Ihnen. Aber ich bin sicher, dass sich diese Mühe für unser Land auszahlt. Wir sind auf einem guten Kurs. Die Länder haben sich sehr konstruktiv zu unseren Vorschlägen aus dem Deutschland-Pakt eingebracht und haben auch ihrerseits Vorschläge gemacht. Wir schauen uns das alles im Detail an und werden dazu auch zeitnah mit Ländern und Gemeinden sprechen. Es ist aber schon jetzt klar, dass sehr viele gute Aspekte darin enthalten sind. Es geht in die richtige Richtung. Meine Damen und Herren, mit einigen von Ihnen konnte ich mich zu Anfang des Monats schon auf der IAA austauschen. Mobilität ist und bleibt eine Schlüsselbranche für unser Land. Der weltweite Bedarf nach nachhaltiger Fortbewegung wächst weiter. Ich bin froh, dass von München noch einmal das klare Signal für nachhaltige Mobilität in Deutschland und aus Deutschland ausgegangen ist. Was wir dort gesehen haben, macht mir nicht nur Hoffnung, sondern das macht auch Lust auf die Zukunft. Ich weiß, dass wir in der Motorradbranche eine etwas andere Situation bei der Weiternutzung von Verbrennermotoren haben als im Autobereich. Ich konnte mich aber schon beim Werksbesuch im vergangenen Jahr selbst davon überzeugen, dass bei BMW-Motorrad auch das Thema der E-Mobilität großgeschrieben und weiter vorangetrieben wird, und das besonders erfolgreich für die Nutzung in Ballungsräumen wie hier in Berlin, in denen Emissionsminderung auch ein ganz grundsätzliches Thema des Zusammenlebens ist. Ich möchte beim Thema des Zusammenlebens nochmals unterstreichen, wie wichtig es ist, BMW hier in Berlin zu haben. Die Entscheidung von BMW, im Jahre 1969 mit einer großen Produktionsstätte nach Westberlin zu kommen, in diese Frontstadt des Kalten Krieges, das hatte schon eine große Symbolkraft, auch deshalb, weil in dieser von Mauern und Unfreiheit umgebenen Stadt nicht irgendetwas gebaut wurde, sondern mit Motorrädern ein Produkt, das in den Augen ganz vieler für mehr stand als nur für Fortbewegung, nämlich für Freiheit und Unabhängigkeit. Zumal im Jahr 1969, dem Jahr von Easy Rider. Ich weiß nicht genau, ob die BMW-Planer das genau mit dem Film abgestimmt hatten, aber es kann sein. Heute zeigen Sie im mit mehr als 5000 Einwohnern pro Quadratkilometer dicht besiedelten Spandau, dass Industriebetriebe auch in Metropolen ihren Platz finden, und zwar mit Automatisierung, guter Organisation, mit gegenseitiger Rücksichtnahme und mit Pragmatismus. Dass Sie hier seit 2015 mehr als eine halbe Milliarde investiert haben, ist ein großer Vertrauensbeweis für Berlin. Mit der herausragenden Aus- und Weiterbildung, die Sie hier anbieten, stärken Sie bleibende Fundamente unseres Landes auch in der Hauptstadt. Industrie, Herstellung, Handwerk, weltweit geschätzte Wertarbeit, dieser Geburtstag macht eben Lust auf die Zukunft. Herzlichen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz beim GIZ-Jahresempfang am 26. September 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-giz-jahresempfang-am-26-september-2023-in-berlin-2225916
Tue, 26 Sep 2023 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Vorstandssprecher, lieber Thorsten, liebe Frau Hoven, liebe Frau Herken, liebe Svenja, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag, vor allem aber liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der GIZ, meine Damen und Herren, in der vergangenen Woche war ich in New York und habe dort bei dem SDG-Gipfel und vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen gesprochen. 50 Jahre ist es her, seit damals zwei deutsche Staaten den Vereinten Nationen beigetreten sind. Ich habe in meiner Rede vor der Generalversammlung einen Satz von Willy Brandt zitiert, den er damals dort gesagt hat: „In einer Welt, in der zunehmend jeder auf jeden angewiesen ist und jeder von jedem abhängt, darf Friedenspolitik nicht vor der eigenen Haustür haltmachen.“ Ich finde, dieser Satz gehört nicht nur in die Generalversammlung der Vereinten Nationen. Er passt mindestens so gut hierher: zur deutschen Entwicklungszusammenarbeit und zu ihren Verantwortlichen, und zwar, weil Entwicklungszusammenarbeit Friedenspolitik ist ‑ davon bin ich fest überzeugt ‑, und zum anderen, weil wir in dieser Welt aufeinander angewiesen sind, weil wir voneinander abhängen ‑ so, wie es Willy Brandt schon vor 50 Jahren auf den Punkt gebracht hat. Das gilt heute natürlich noch um ein Vielfaches mehr. Die Pandemie hat uns gezeigt, dass ein Virus sich nicht für Grenzen von Ländern und Kontinenten interessiert, und zugleich hat sie neue Diskussionen und Kooperationen hervorgebracht: über resilientere, nachhaltigere Lieferketten, über Impfstoffproduktion in Afrika, über einen internationalen Pandemievertrag. Wie sehr wir aufeinander angewiesen sind, zeigt auch Russlands brutaler, imperialistischer Angriffskrieg. Natürlich sind es die Ukrainerinnen und Ukrainer, die darunter Tag für Tag am meisten leiden. Aber die Folgen dieses Kriegs sind nicht auf die Ukraine beschränkt, nicht einmal nur auf Europa. Die ganze Welt spürt sie, weil Energiepreise steigen, weil Nahrungsmittelpreise steigen, weil Düngemittel fehlen, weil Hunger und Armut wachsen. Hinzu kommen der Klimawandel, der Verlust von Biodiversität, Wasserknappheit oder Migration, die per se grenzüberschreitend sind und die wir auch nur bewältigen können, wenn wir über Grenzen hinweg zusammenarbeiten. Das ist, wie gesagt, keine neue Erkenntnis. Neu aber sind die Umstände unserer Zusammenarbeit. Die kurze Phase der Unipolarität nach dem Ende des Kalten Krieges ist Geschichte, auch wenn die Vereinigten Staaten künftig weiter großen Einfluss und große Verantwortung in der Welt haben werden. Und anders als manch anderer bin ich überzeugt: Diese Unipolarität wird auch nicht durch eine neue Bipolarität zwischen den USA und China ersetzt, schon weil aufstrebende Länder wie Indien, Indonesien, Brasilien, Vietnam, Südafrika, Nigeria, Ägypten oder Mexiko längst selbst zu demografischen, ökonomischen und auch politischen Schwergewichten geworden sind, die sich nicht einfach einreihen werden in den einen oder den anderen Block. Multipolarität ist insofern eine Realitätsbeschreibung. Was aber heißt das für uns in Deutschland und Europa und für die Entwicklungspolitik nach der Zeitenwende? Drei Ideen möchte ich dazu beisteuern. Erstens: Für viele Länder in Asien, Afrika, Lateinamerika und der Karibik war die Globalisierung der vergangenen 20, 30 Jahre eine enorme Erfolgsgeschichte. Industrialisiert sind daher längst nicht mehr nur die klassischen Industriestaaten. In den letzten 30 Jahren haben mehr als eine Milliarde Frauen und Männer in Ländern in Afrika, Asien, in Lateinamerika und der Karibik mit Fleiß und großen Anstrengungen den Weg aus der Armut geschafft. Und eines steht für mich völlig außer Frage: Die Bürgerinnen und Bürger dort haben denselben Anspruch auf ein Leben in Wohlstand wie wir. Diesen Ländern Verzicht zu predigen, wird nicht funktionieren ‑ abgesehen davon, dass wir dabei auch nicht allzu glaubwürdig wären. Nur wenn sie dabei den gleichen Weg wählen, den wir in Europa oder Nordamerika vor gut 150 Jahren eingeschlagen haben ‑ mit Öl, Kohle und Gas ‑, dann wird unser Planet das nicht verkraften. Deshalb werbe ich hier, aber auch international, für einen anderen Weg: Wir müssen zu denjenigen gehören, die zeigen, wie Wachstum und soziale und wirtschaftliche Entwicklung funktionieren, ohne unser Klima und unsere Umwelt zu zerstören, indem wir selbst uns entschlossen aufmachen, 2045 eines der ersten klimaneutralen Industrieländer zu werden, indem wir hier in Deutschland die Maschinen und Technologien entwickeln, die die Welt für die Dekarbonisierung braucht ‑ davon profitiert dann auch unsere innovative, forschungsstarke Industrie ‑, und indem wir unser Know-how und unsere Erfahrungen mit der Welt teilen, natürlich in dem Wissen, dass konkrete Lösungen lokal entwickelt werden müssen. Nach diesem Prinzip arbeitet die GIZ bereits sehr erfolgreich, und darin möchte ich Sie heute bestärken. Erneuerbare Energien, der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft über Länder und Kontinente hinweg, wirtschaftliche Diversifizierung ‑ all das birgt ein unglaubliches Potenzial für eine engere Zusammenarbeit zwischen uns und den aufholenden Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika. Eine Zusammenarbeit zum Wohl beider Seiten! Um dieses Potenzial zu heben, braucht es natürlich Investitionen, und da reden wir mit Blick auf die Transformation weltweit nicht über Milliarden, sondern über Billionen, über Summen, die überhaupt nur mit privatem Kapital zu stemmen sind ‑ und dieses Kapital gibt es. Also muss doch eine Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit und ‑finanzierung sein, Anreize für genau solche Investitionen zu schaffen und zusammen mit den Partnerländern funktionierende „business cases“ zu bauen. Darüber reden wir, wenn wir die Reform der internationalen Finanzarchitektur vorantreiben, insbesondere mit den multilateralen Entwicklungsbanken. Darüber haben wir auch beim G20-Treffen Anfang des Monats in Delhi beraten. Und ich bin froh, dass die multilateralen Entwicklungsbanken umsteuern; dass sie weiter die Armut bekämpfen, aber verstärkt auch globale öffentliche Güter finanzieren, wie Klima- und Umweltschutz oder die Prävention von Pandemien. Doch genauso dringend wie die Finanzierung sind Know-how und Beratung, wie die GIZ sie leistet ‑ partnerschaftlich und respektvoll. Das bringt mich zu meinem zweiten Punkt: Zusammenarbeit in einer multipolaren Welt erfordert ein völlig neues Miteinander; eine Politik ‑ und das schließt die Entwicklungspolitik ein ‑, die Partnerschaft nicht nur behauptet, sondern tatsächlich lebt und umsetzt. Als wir letztes Jahr unseren G7-Vorsitz hatten, war es eines meiner ganz zentralen Anliegen, wichtige Partner aus Asien, Afrika und Lateinamerika mit an den Tisch zu bringen, eben weil wir aufeinander angewiesen sind, weil wir voneinander abhängen. Vom Krieg bis zum Klimawandel: Die großen globalen Herausforderungen können wir nur gemeinsam bewältigen. Diese Überzeugung muss sich übrigens auch in der „global governance“ niederschlagen. Deshalb habe ich mich zum Beispiel dafür eingesetzt, dass wir die Afrikanische Union nun in Delhi als neues Mitglied der G20 aufgenommen haben, und deshalb reden wir über strukturelle Reformen der internationalen Finanzarchitektur. Vor allem aber muss unsere gesamte Zusammenarbeit von Respekt und Anerkennung getragen sein. Die Länder Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und der Karibik sind verständlicherweise sensibel für jede Form westlicher Bevormundung oder gar Doppelmoral. Nicht immer ist dieser Vorwurf gerechtfertigt, aber es gibt schon Bereiche, da müssen wir uns ändern. Ich denke hier zum Beispiel an die EU-Handelspolitik. Natürlich haben wir Interesse an hohen Umwelt- und Sozialstandards. Aber wir müssen auch darüberhinausgehende Interessen unserer Partnerländer wahrnehmen und attraktive Angebote machen. Ich weiß, Sie brauche ich davon nicht zu überzeugen, Ihre Arbeit ist von genau dem partnerschaftlichen Ansatz geprägt, für den ich werbe. Umso mehr kommt es in unserer multipolaren Welt auf Ihre Erfahrung an. Nur ein Beispiel: Die ganze Welt spricht derzeit von resilienten Lieferketten und von Diversifizierung, gerade im Rohstoffbereich. Warum sorgen wir nicht gemeinsam mit den Ländern, in denen die Rohstoffe abgebaut werden, dafür, dass auch der erste Verarbeitungsschritt dort stattfinden kann? Partnerschaft statt Extraktivismus: Das muss doch Europas Angebot sein. So sorgen wir für mehr Wertschöpfung vor Ort und zugleich für größere wirtschaftliche Sicherheit bei uns. Insbesondere bei der Begleitung von Rohstoffprojekten hängt viel am Aufbau von Kapazitäten vor Ort und an der Schaffung eines investitionsfreundlichen nationalen Rechtsrahmens, der Menschenrechte und sozial-ökologische Standards integriert. Genau dort hat die GIZ hervorragende Expertinnen und Experten. Und deshalb ‑ das ist mein dritter und letzter Punkt ‑ brauchen wir gerade heute eine starke Entwicklungszusammenarbeit. Wir haben im vergangenen Jahr erneut die 0,7-Prozent-ODA-Quote erreicht. Das ist kein Selbstzweck, sondern Ausdruck vorausschauender Politik. Wir sind weltweit der zweitgrößte bilaterale Geber und werden das voraussichtlich auf absehbare Zeit auch bleiben. Die Wertschätzung, die wir dafür erfahren, war vergangene Woche in New York überall spürbar: Beim SDG-Gipfel, beim Klimagipfel, bei allen meinen bi- und multilateralen Treffen. In einer multilateralen Welt sind Wertschätzung und Verlässlichkeit eine ganz entscheidende Währung. Auch das habe ich im Kopf, wenn ich davon spreche, dass Entwicklungspolitik Friedenspolitik ist. Und zugleich weiß ich: Keine Regierung der Welt kann allein genug Geld bereitstellen, um überall auf der Welt gleichzeitig Länder bei ihrer Entwicklung unterstützen zu können. Umso wichtiger scheint mir, dass wir auch hier neue Wege gehen. Über das notwendige Zusammenspiel zwischen Entwicklungszusammenarbeit und privaten Investitionen habe ich schon gesprochen. Ich möchte Sie auch ermutigen, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen und noch stärker als früher die Kooperation mit europäischen und internationalen Partnern zu suchen. Team Europe und Global Gateway der EU sind da die Stichworte, aber auch eine noch engere Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen oder der Einstieg in neue Allianzen wie die Just Energy Transition Partnerships, die wir als G7 ins Leben gerufen haben. Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der GIZ, in Deutschland und in der ganzen Welt, Sie arbeiten weltweit daran, der Zukunft ein freundliches Gesicht zu geben ‑ unter schwierigen, teils schwierigsten Umständen, in Gefahr und in Krisen. Sie arbeiten jeden Tag für den Frieden und für eine nachhaltige Entwicklung. Sie geben Hoffnung. Und ja, Sie tun Gutes. Dafür danke ich Ihnen ganz herzlich!
Rede von Bundeskanzler Scholz beim Empfang der Preisträgerinnen und Preisträger des Bundeswettbewerbs von „Jugend forscht 2023“ am 26. September 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-empfang-der-preistraegerinnen-und-preistraeger-des-bundeswettbewerbs-von-jugend-forscht-2023-am-26-september-2023-2225818
Tue, 26 Sep 2023 11:06:00 +0200
Berlin
Einen schönen guten Tag! Ich freue mich, dass alle hier sind und sich vor allem im Vorfeld so viel angestrengt und eine ganze Reihe von sehr wichtigen Forschungsleistungen zustande gebracht haben. Ich finde, das ist ein ganz beeindruckender Wettbewerb, der nun schon viele Jahrzehnte unser Land prägt. Ich erinnere mich jedenfalls daran, dass es ihn schon gab, als ich selbst noch zur Schule gegangen bin. Insofern ist es eine richtige Tradition, und ich bin deshalb ganz stolz und glücklich, dass ich heute hier mit allen Preisträgerinnen und Preisträgern, mit all denjenigen, die etwas gemacht haben, zusammen sein kann und wir uns über die Ergebnisse freuen und ein wenig verstehen können, worum es geht. In der Vorbereitung habe ich auch gesehen, dass es anders als früher ganz viele junge Frauen und Mädchen gibt, die sich an den Forschungen beteiligt haben. Auch das ist ein Fortschritt und, wie ich finde, eine Verbesserung gegenüber der Situation, wie wir sie kennen. Insofern große Dankbarkeit, große Begeisterung und auch ein wenig das Gefühl, dass ich mir deshalb um die Zukunft unseres Landes etwas weniger Sorgen machen muss. Denn am Ende wissen wir: Die Zukunft hängt an Forschung und Entwicklung. Die Dinge, die wir schon können, werden uns weder Wohlstand noch Reichtum bescheren. Ab und zu kann man mit Berufstätigkeiten, die vor 300 Jahren auch so ähnlich gemacht wurden wie heute, noch etwas werden. Aber in den allermeisten Fällen gibt es richtig etwas an Wertschöpfung, gute Löhne, Arbeitsplätze mit Dingen, die wir noch gar nicht kennen. Deshalb muss sie irgendjemand erforschen. Also bin ich ganz begeistert von dem, was hier gemacht worden ist. Es ist vorgesehen, dass wir einen Sonderpreis haben, der hier verliehen wird, wenn der Bundeskanzler dabei ist. Zwei haben ihn bekommen, Charlotte Klar und Katharina Austermann vom Humboldt-Gymnasium in Berlin, die sich mit etwas beschäftigt haben, das ich während meines Jurastudiums niemals verhandelt habe: Bewegung von pyrolytischem Grafit auf Magnet-Array mit Wärme. ‑ Ich bin beindruckt. Bitte!
in Berlin
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der 3. Nationalen Luftfahrtkonferenz am 25. September 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-3-nationalen-luftfahrtkonferenz-am-25-september-2023-2225542
Mon, 25 Sep 2023 10:15:00 +0200
Hamburg
Sehr geehrter Herr Spohr, sehr geehrter Herr Bundesminister Habeck, sehr geehrter Herr Bundesminister Wissing, sehr geehrter Herr Bürgermeister Tschentscher, meine sehr geehrten Damen und Herren, das Fliegen verbindet Deutschland mit der Welt. Wir sind eine der wichtigsten und am engsten vernetzten Exportnationen auf dem Globus, wir sind ein Hochtechnologiestandort, und weil das so ist, sind die Luftfahrt und die Luftfracht für unsere Volkswirtschaft und für unseren Industriestandort unentbehrlich. Der internationale Luftverkehr ist ohne Deutschland nicht vorstellbar. Es gibt praktisch kein Flugzeug weltweit, das ohne in Deutschland hergestellte Teile fliegt. Jedes sechste Verkehrsflugzeug wird in Deutschland endmontiert. Im zivilen Flugzeugbau treibt Europa Innovationen voran, auch bei der Ressourceneffizienz und der Erprobung neuer, klimafreundlicher Technologien. All das zeigt: Die Luftfahrtbranche gehört zu Deutschland, und die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass das auch so bleibt. Die vergangenen Jahre waren für die Luftfahrt nicht leicht, vor allem wegen der Pandemie. Als die Lage am schwierigsten war ‑ Sie haben darüber gesprochen, Herr Spohr ‑, hat die Bundesregierung den Airlines unter die Arme gegriffen. Das hat sich gelohnt, und ich sage auch im Nachhinein: Das war die richtige Entscheidung. Es zeigt: Zusammenhalt zahlt sich aus, gerade dann, wenn es schwierig wird. Die Pandemie ist vorüber, und wir erleben nun, was die Luftfahrtbranche betrifft, einen Aufschwung. Aus der Krise ist die Luftfahrt in Deutschland nämlich stark hervorgegangen, und es geht ihr heute gut. Dass eine Branchenkonferenz mit dieser Bemerkung von Ihnen eröffnet wurde, ist natürlich etwas ganz Besonderes. Das zeigt sich natürlich auch ganz besonders an Ihrem Unternehmen. Die Lufthansa gehört zu den größten Airline-Konzernen der Welt, erwartet in diesem Jahr hohe Gewinne und ist auch weiter auf Expansionskurs. Der Cargobereich hatte ja schon in der Pandemie deutlich zugelegt. Dank der Luftfracht kommen unsere deutschen Industrieprodukte und Ersatzteile pünktlich und zuverlässig in anderen, auch weit entfernten, Ländern an. Meine Damen und Herren, die Unternehmen der Luftverkehrswirtschaft beschäftigen Hunderttausende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in gut bezahlten und sicheren Jobs, auch bei den Zulieferern. Gerade unsere mittelständischen Zulieferer sind moderne und hoch spezialisierte Unternehmen. Mit ihrer breiten Wertschöpfungsbasis haben sie einen großen Anteil daran, dass Flugzeuge jeden Tag weltweit abheben. Wir brauchen dafür Fachkräfte, und zwar die besten. Deshalb sind hervorragend ausgebildete Fachkräfte für unseren Erfolg als Exportnation überall wichtig, und das gilt natürlich auch für diese Branche. Ob Forschende oder Technikerinnen, Designer oder Pilotinnen, Monteure, Logistikerinnen, Informatiker und viele andere mehr – sie alle zu finden und zu qualifizieren, das ist eine der großen Herausforderungen, vor denen Sie als Arbeitgeber gerade stehen. Für uns in Deutschland heißt das auch: Fachkräfte aus anderen Ländern müssen leichter zu uns kommen können. Sie sollten nicht Monate auf ein Visum oder eine Arbeitserlaubnis warten müssen. Dafür haben wir das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen. Es ist nun das modernste Einwanderungsrecht, das Deutschland jemals hatte. Mit einer starken Industrie, einem modernen Mittelstand und den besten Fachkräften gelingt der Take-off in eine gute neue Zeit. In dieser neuen Zeit wird sich die Luftverkehrsbranche, aber auch unsere gesamte Industrie, ganz grundlegend verändern. Unser großes Ziel ist klar: Bis 2045 wollen wir klimaneutral werden und dabei zugleich ein erfolgreiches Industrieland mit weiteren Wachstumsmöglichkeiten bleiben. Die Luftfahrtbranche setzt alles daran, Europas Luftfahrt bis 2050 CO₂-neutral machen zu können. Das ist ein starkes Signal und ein Signal mit Perspektive; schließlich planen und investieren Sie langfristig. Sie treffen jetzt die Entscheidungen für die nächsten zwanzig oder dreißig Jahre und investieren nicht nur in Ihre Flotte, sondern auch in unsere Zukunft. Industrie und die Politik stehen hier in einer gemeinsamen Verantwortung. Die Luftfahrt ist verantwortlich für knapp drei Prozent der weltweiten CO₂-Emissionen. Es ist klar, dass das noch weniger werden soll. Klar ist aber auch: In puncto klimafreundliche Technologien steht die deutsche Luftfahrtindustrie schon jetzt an der Weltspitze. Das zeigen klimaneutrale Kraftstoffe, das zeigen elektrisch betriebene Flugzeuge, Wasserstoffantriebe und effiziente Turbinen, die den Einsatz klimaneutraler Kraftstoffe ermöglichen. Wir wissen: Viele dieser Technologien werden nicht morgen früh alle zum Einsatz kommen. Aber wenn wir das Ziel haben, dass bis Mitte dieses Jahrhunderts CO2-Neutralität erreicht werden kann, dann müssen wir uns mit den technologischen Möglichkeiten von Übermorgen genauso beschäftigen wie mit ihrem Input in die technologischen Entwicklungen, die jetzt, aktuell, stattfindenden, und die Verbesserungen betrachten, die jetzt auch schon unmittelbar möglich sind. Mit klimaneutralen Kraftstoffen kann man die Flugzeuge weiter nutzen, die es auch heute schon gibt und für die große Batterien keine Option sind. Ich weiß, dass es für die Unternehmen eine Herausforderung ist, die Beimischquoten zu erfüllen; denn der Produktionshochlauf muss erst beginnen, und Sie stehen dabei in einem internationalen Wettbewerb. Sie sehen: Ich hatte vor, das zu sagen, was Sie angesprochen haben, und wir sind uns der Probleme genau bewusst. Doch wir können zeigen, dass das geht, und wir können unter Beweis stellen, dass die Herstellung von klimaneutralen Kraftstoffen auch in Deutschland funktioniert. Ich freue mich deshalb auch über die Initiative, die mit dem Projekt „NetZero“ rund um den Flughafen Leipzig verbunden ist. Zum Markthochlauf dieser Kraftstoffe haben wir uns in Deutschland bekannt und werden auch weiter daran arbeiten. Was den Wettbewerb verzerrt, was dazu führen könnte, dass Arbeitsplätze verlagert werden, das werden wir natürlich nicht hinnehmen. Deshalb haben wir uns für Regeln eingesetzt, mit denen wir „carbon leakage“ frühzeitig erkennen und auch verhindern. Die Gesetze sollen ja nicht zulasten europäischer und deutscher Flughäfen und Airlines gehen. Das ist nicht ihr Sinn und Zweck. Was beim Wasserstoffantrieb möglich ist, das zeigt die Luftfahrtforschung, und das zeigen viele Flieger in dieser Halle, die wir sehen konnten und die ich mir eben ein bisschen angeschaut habe. Perspektivisch ist der Wasserstoffantrieb sicherlich auch in Serienflugzeugen möglich. Bei der Advanced Air Mobility sehen wir, dass es solche Fortschrittsentwicklungen gibt, und daran erkennt man, was unsere Ingenieurinnen und Ingenieure eben können. Das gilt auch für Drohnen, die entwickelt werden müssen, die zu den neuen Technologien der zivilen Luftfahrt mit enormen wirtschaftlichen Potenzialen gehören. Ich bin stolz darauf, dass gleich mehrere potenzielle Hersteller der innovativen Fluggeräte bei uns in Deutschland ihre Heimat haben. Denn sie können uns im Alltag helfen, etwa wenn Medikamente oder auch Pakete bis an die Haustür geliefert werden sollen. Wir sind jedenfalls gespannt, was die technologischen Möglichkeiten eröffnen. Neue Technologien der zivilen Luftfahrt gründen oft auch auf Erkenntnissen, die aus der militärischen Luftfahrt stammen. Die haben wir in unserem Hintergrund ja schon gehört, und deshalb will ich auch hier klar darüber sprechen. Die militärische Luftfahrt ist wichtig für uns, für unsere Sicherheit, aber eben auch für unsere Industrie und unsere Exportfähigkeiten. Darum setzen wir uns auch für die Weiterentwicklung des Eurofighters ein, genauso wie auf das Leitprojekt FCAS, das wir gemeinsam mit Frankreich und Spanien als Luftkampfsystem der Zukunft entwickeln. Damit zeigen wir, dass in Europa handlungsfähiger und souveräner gearbeitet werden kann und dass wir wissen, wie es geht, dass wir technologisch auf der Höhe der Zeit bleiben. Wenn wir über europäische Souveränität reden, über eine starke europäische Säule in der NATO, dann gehört auch das dazu. Luftfahrtindustrie findet überall in Deutschland statt. Der Bürgermeister ‑ er weiß, dass mir das sehr wichtig ist ‑ hat aber darauf hingewiesen, dass Hamburg dabei immer eine zentrale Rolle spielen wird. Der Luftfahrtstandort hier ist ein wichtiger Innovationstreiber und ein starker Standort mit fast 40 000 hoch qualifizierten Beschäftigte in der Metropolregion in 3000 Unternehmen. Das ist schon ein bemerkenswertes industrielles Cluster! Man kann das auch beim Airbus A321XLR sehen, der wohl das innovativste und effizienteste Serienflugzeug der Welt sein wird, für Langstrecken bis zu elf Stunden. Das ist eine bemerkenswerte Leistung und natürlich umso bemerkenswerter, wenn man weiß, dass das aus einem Flugzeug weiterentwickelt worden ist, das gar nicht für die Langstrecke konzipiert war. Dass das geht, ist ja auch ein Beweis für die Innovationsfähigkeit der Luftfahrtindustrie. Dieses Flugzeug ist klimafreundlich. Es verbraucht 30 Prozent weniger Kraftstoff pro Sitzplatz im Vergleich zu den Flugzeuggenerationen davor. Airbus Hamburg leitet die Pilotphase für die Serienproduktion dieses Fliegers. Dass wir das hier und heute würdigen können, zeigt, dass es sich gelohnt hat, sich für den Standort einzusetzen. Sowohl für Airbus als auch für die vielen anderen Unternehmen unseres Luftfahrtclusters in Deutschland ist es wichtig, dass wir zeigen, was wir können. Wir sind erfolgreich mit der Integration von Hochtechnologien. Ich glaube, das ist etwas ganz Besonderes. Wir wünschen uns weitere Innovationen in der Luftfahrt, nicht nur in Hamburg, sondern in ganz Deutschland, beim Nachfolgeprogramm für den Airbus A320, aber auch überall, wo Wasserstoff- und Batterieflugzeuge entwickelt und irgendwann gebaut werden. Das sind langfristige Investitionen in gute Arbeitsplätze, in erfolgreiche Technologie und in die Zukunft unseres Wirtschaftsstandortes. Was wir dafür brauchen, ist natürlich eine gute Infrastruktur. Wenn Wasserstoff bei uns Gas, Kohle und Öl ersetzen soll, dann brauchen wir sehr viel davon. Darüber ist ja schon gesprochen werden. Einen Teil davon können wir selbst herstellen, andere Teile werden wir importieren. Darum werden wir noch in diesem Jahr den Aufbau einer Wasserstoffleitungsinfrastruktur auf den Weg bringen. Das ist ein weitreichendes Zukunftsprojekt. Wenn wir diese Entscheidung jetzt treffen, dann geht es um viele zehn Milliarden, die privatwirtschaftlich investiert werden und sich dann über Jahrzehnte rentieren sollen. Aber wenn eine solche Weichenstellung jetzt nicht getroffen wird, kann niemand darauf vertrauen, dass das mit dem Wasserstoff am Ende etwas ist, worauf man setzen darf. Deshalb ist es so wichtig, dass das jetzt passiert. Darum können sich aber alle darauf verlassen: Das tun wir auch. Aufs Beschleunigen kommt es ja nicht nur beim Fliegen an, sondern auch bei der Energiewende. Damit die Energiekosten sinken, brauchen wir genau diese Infrastrukturen, auch damit die klimaneutralen Kraftstoffe bezahlbar werden. Saubere und bezahlbare Energie entscheidet über unseren Wirtschaftsstandort. Deshalb ist es wichtig, dass wir hier auch alles tun, um die notwendige Beschleunigung beim Ausbau der Erneuerbaren Energien zustande zu bekommen, die die Grundlage, zum Beispiel für die Wasserstoffproduktion, sein wird. Ich will Ihnen jedenfalls versichern, dass wir uns vorgenommen haben, die über Jahrzehnte aufgebauten liebevoll gezimmerten Strukturen von rechtlichen Regelungen, die uns am schnellen Handeln hindern, aufzubrechen. Das ist dann auch das Ziel hinter dem Deutschlandpakt. Einige haben sich ja gefragt, warum ich ein solches Angebot an die Länder, an die Gemeinden und auch an die große Oppositionspartei gemacht habe. Das ist ganz einfach: Wir waren in den letzten Jahrzehnten alle zusammen dabei, die Vorschriften, die uns jetzt behindern, zu entwickeln. Also müssen wir sie auch zusammen wieder abbauen, damit es das nötige Tempo für unser Land gibt, und genau das versuchen wir damit zu erreichen. Meine Damen und Herren, wir haben auch schon manches an Geschwindigkeitszuwachs gesehen, etwa beim Zuwachs von PV-Anlagen, beim Ausbau der Windkraft oder beim Ausbau des Leitungsnetzes. Wir werden uns darauf jetzt nicht ausruhen, sondern entsprechend weitermachen, damit das auch tatsächlich klappt. Wir können uns nur wünschen, dass sich nicht nur die Vorschriften ändern, sondern auch alle den Mut haben, diese einfachen Wege dann zu nutzen. Die besten Gesetze helfen nichts, wenn niemand den Bescheid unterschreibt, wenn man noch einmal ein Gutachten braucht, um wirklich sicher zu sein, dass man nichts falsch tut. Irgendwann muss man einmal entscheiden. Ich finde, das sollte möglichst früh im Stadium von Prozessen geschehen, damit wir alle wissen: Die Dinge können auch schnell und zügig vorangehen. Dass das schon einmal ging, habe ich jetzt beim Besuch in New York festgestellt. Ich hatte einen kurzen Abstecher auf das Empire State Building, ein sehr großes Hochhaus. Das wurde ‑ das haben sie mir erzählt ‑ in 15 Monaten gebaut. Wer stellt sich vor, dass heute in Deutschland ein Hochhaus dieser Größenordnung in 15 Monaten überhaupt geplant worden ist? Das, glaube ich, müssen wir wieder ein bisschen ändern, damit wir vielleicht nicht in 15 Monaten zur Planung und zum Bauen kommen, es aber doch nicht so viel länger dauert ‑ wie das seinerzeit schon einmal möglich war. Meine Damen und Herren, vor hundert Jahren waren Flugzeuge noch dröhnende Kisten. Heute schätzen die Passagiere die hohe Qualität und die Sicherheit moderner Maschinen und Airlines, auf die sie sich verlassen können. Übrigens werden sie auch leiser. Das wird manchen Flugplatz auch noch attraktiver für seine Nachbarn machen, und auch darauf kann man ein bisschen setzen. Und so stehen wir vor der technologischen Entwicklung: für unseren Wirtschaftsstandort und für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Wenn wir uns heute hier umschauen, dann sehen wir, dass wir weit gekommen sind. Ich jedenfalls bin überzeugt: Der Luftfahrtstandort Deutschland hat eine sehr gute Zukunft. Die Dritte Nationale Luftfahrtkonferenz soll nunmehr eröffnet sein!
in Hamburg
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Festveranstaltung „175 Jahre Diakonie“ am 22. September 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-festveranstaltung-175-jahre-diakonie-am-22-september-2023-2225392
Fri, 22 Sep 2023 20:23:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Lilie, sehr geehrte Frau Ratsvorsitzende, sehr geehrte Frau Vizepräsidentin Pau, sehr geehrte Damen und Herren, 1848 hat Johann Hinrich Wichern auf dem Kirchentag in Wittenberg das Wort ergriffen; davon ist hier schon berichtet worden. Es war heute auf den Tag genau vor 175 Jahren. Seine Geschichte kennen Sie alle, meine Damen und Herren. Sie ist uns eben auch vielfältig berichtet worden. Ich erinnere mich auch noch aus meinen Hamburger Zeiten daran. Denn das Rauhe Haus habe ich als Erster Bürgermeister einige Male besucht. Mit der Rede von Johann Hinrich Wichern nahm die Diakonie in Deutschland ihren Anfang. Sie war aufrüttelnd; sie war programmatisch, und sie war mindestens eine Stunde lang. Ich habe versucht, das zu recherchieren. Es gab unterschiedliche Berichte. Sie haben eben von 90 Minuten geredet. Ich habe auch eine Quelle gefunden, in der stand: fünf Stunden. Das glaube ich zwar nicht, aber lang war es auf alle Fälle. Ich verspreche aber, dass ich das heute anders halten und mich etwas kürzer fassen werde. 1848, das war eine Zeit gewaltiger Umbrüche. Die industrielle Revolution brachte große technologische Fortschritte, aber eben auch viel soziales Elend. Kinder mussten arbeiten. Es gab 16-Stunden-Arbeitstage. Die Arbeitsbedingungen waren schlecht, aber auch die Wohnungen zu eng und zu schmutzig, sodass sich Krankheiten ausbreiten konnten. Hunger war alltäglich. Johann Hinrich Wichern wollte daran etwas ändern. Er wollte, dass sich die evangelische Kirche stärker und systematischer denen zuwendet, die am wenigsten haben und am meisten Hilfe brauchen. Das hat sie getan. Sie tut es bis heute. Sie alle, meine Damen und Herren, arbeiten jeden Tag dafür, dass es anderen besser geht, von denen manchen die Zeit und die Kraft oder das Geld fehlt, um sich selbst für ihre eigenen Interessen einzusetzen. Die Diakonie versteht sich als ihre Anwältin, so wie alle anderen Wohlfahrtsverbände auch. Genau dafür brauchen wir sie, als starke Stimme. Aber sie ist noch mehr als eine Fürsprecherin. Sie lässt ihren Worten Taten folgen. 600 000 Beschäftigte, 700 000 Ehrenamtliche in Tausenden von Einrichtungen mit über einer Million Betten und Plätze. Was die Diakonie und alle anderen Wohlfahrtsorganisationen leisten, das ist für die ganze Gesellschaft wichtig. Sie pflegen die, die im Alter Hilfe und Zuwendung brauchen. Sie pflegen die, die krank sind, die körperlich oder geistig beeinträchtigt sind. Sie sind für die Jüngsten in unserer Gesellschaft in den Kitas da, aber auch für Familien, die Hilfe brauchen. Die Diakonie ist in nahezu allen sozialen Diensten aktiv und erreicht damit zehn Millionen Bürgerinnen und Bürger. Es fällt auf: Überwiegend ‑ Sie haben es gesagt ‑ sind Frauen beschäftigt. Aber der Männeranteil in den sozialen Diensten soll ja wachsen. Die Diakonie steht für die Würde und Einzigartigkeit jedes Einzelnen ein. Das ist die Basis des Handelns, die Sie ebenso wie die Caritas aus Ihrem christlichen Verständnis heraus ableiten. Für Ihren Einsatz und für Ihr Engagement sage ich herzlich Danke. Unser Land gerechter zu machen, das ist das Ziel der Diakonie. Das ist ein Ziel, für das auch wir als Bundesregierung uns einsetzen. Helmut Schmidt hat einmal gesagt: „Ich halte den Sozialstaat, wie wir ihn in Deutschland und anderen Staaten kennen, für die größte Kulturleistung, die die Europäer im Lauf dieses schrecklichen 20. Jahrhunderts zustande gebracht haben.“ Ich sehe das genauso. Deshalb möchte ich Ihnen sagen: Wir stehen für einen starken Sozialstaat. Der Sozialstaat ist im Grundgesetz in Artikel 20, Absatz 1 festgehalten. Er sichert Zusammenhalt gerade in schwierigen Zeiten wie diesen. Auch deshalb haben wir uns dafür eingesetzt, dass der Mindestlohn steigt, auf 12 Euro. Was mir besonders wichtig war und woran ich schon vor meiner Zeit als Bundeskanzler gearbeitet habe, war der Pflegemindestlohn. Denn es ist meiner Meinung nach nicht nur fair, gute Löhne zu zahlen. Es ist eine schwere Arbeit, und sie ist wichtig für uns alle. Deshalb helfen bessere Löhne gleichzeitig gegen den Fachkräftemangel. Darum wird auch dieser Lohn weiter steigen. Zugleich haben wir die Steuern und Sozialabgaben für diejenigen gesenkt, die wenig verdienen, an der Supermarktkasse arbeiten oder Pakete austragen, Tag für Tag, oft mehr als 40 Stunden die Woche. Das sind Leistungsträgerinnen und Leistungsträger, die unser Land am Laufen halten. Ich sage das ganz bewusst und ausdrücklich, weil unter einem Leistungsträger manchmal nur jemand verstanden wird, der sehr viel Geld verdient. Das ist keineswegs eine richtige Betrachtung unserer Welt. Die diese Arbeit machen, sie haben ein ordentliches Auskommen verdient. Das ist für mich eine Frage des Respekts. Als ich vor Kurzem beim Statistischen Bundesamt in Wiesbaden war, habe ich mich daher über eine Zahl am meisten gefreut: Das Fünftel derjenigen, die am wenigsten verdienen, hatte trotz Inflation in der vergangenen Zeit deutliche Lohnzuwächse. Wir haben, als wegen des russischen Angriffskriegs die Energiepreise durch die Decke gegangen sind, mit Energiepreispauschalen und anderen Maßnahmen zu helfen versucht. Das hat vielen durch eine schwierige Zeit geholfen. Wir haben jetzt das Kindergeld erhöht. Allein das bedeutet für eine Familie mit zwei Kindern über 700 Euro mehr im Jahr. Wir haben den Kinderzuschlag für alle erhöht, die arbeiten, bei denen das Gehalt aber nicht für die ganze Familie reicht. Ich sage das deshalb, weil das hier eben erwähnt wurde. Wir wollen auch eine Kindergrundsicherung schaffen, die auf diesen Maßnahmen aufbaut. Ich war im Sommer in meinem Wahlkreis unterwegs. Dabei habe ich mit Ehrenamtlichen gesprochen, die mit Kindern arbeiten, deren Eltern nicht viel in der Tasche haben. Ein Satz ist mir sehr in Erinnerung geblieben: Arme Kinder haben keine Wünsche. ‑ Aber nicht deshalb, weil sie wunschlos glücklich sind, sondern weil Armut ihren Alltag prägt. Sie haben sich an eine Situation angepasst, in der kein Platz für Wünsche ist. Dabei brauchen gerade Kinder die Hoffnung, dass sie eine gute Zukunft für sich haben. Das können wir natürlich nicht per Gesetz verordnen. Aber wir können die Voraussetzungen dafür schaffen, und die geplante Kindergrundsicherung ist dafür ein wichtiger Fortschritt. Weil der Sozialstaat wichtig ist, haben wir auch an anderen Stellen versucht, unseren Beitrag zu leisten, mit einem höheren Wohngeld, mit Renten, die angestiegen sind und die wir jetzt, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, angeglichen haben, mit dem Bürgergeld, einer wichtigen Reform, die viele Jahre gefordert wurde und jetzt Aus- und Weiterbildung intensiver in den Mittelpunkt der aktiven Arbeit stellt. Das alles ist mir wichtig, weil diejenigen, die hart arbeiten, mit dem Geld, das sie dabei verdienen auch zurechtkommen müssen. Es geht in unserer Gesellschaft deshalb immer auch um gute Löhne, damit wir eine gute Voraussetzung für den Zusammenhalt haben. Eine Gesellschaft, die zusammenhält und die solidarisch ist, kommt in schwierigen Zeiten besser durch. Das haben nicht nur wissenschaftliche Studien gezeigt; das erlebt jeder ganz genau, und das verstehen auch alle. Um genau diesen Zusammenhalt ging es auch im denkwürdigen Jahr 1848, dem Gründungsjahr der Diakonie. Es war ein zentraler Moment unserer Demokratiegeschichte. Zwischen den Barrikaden und der Paulskirche entstand eine politische Kultur. Grundrechte, Gewaltenteilung, nationale Einheit forderten die Revolutionäre. Die Idee einer freien Gesellschaft, aber auch die Idee staatsbürgerlicher und sozialer Rechte war damit in der Welt. In seiner Rede in Wittenberg sagte Johann Hinrich Wichern am 22. September 1848: „Der Wendepunkt der Weltgeschichte, in welchem wir uns gegenwärtig befinden, muss auch ein Wendepunkt in der Geschichte der christlichen … Kirche werden“. An einem solchen Wendepunkt unserer Geschichte stehen wir heute wieder. Wir wollen klimaneutral leben und arbeiten und gleichzeitig Industrieland bleiben. Das ist der größte Wandel seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Natürlich sind deshalb viele unsicher, wie das ausgeht. Wichtig ist, dass alle spüren: Das kann gut ausgehen, für sie ganz persönlich. ‑ Deshalb ist es mir auch wichtig, dass alle auf diesem Weg mitkommen und dass es Sicherheit im Wandel gibt. Eben deshalb bleiben soziale Rechte so wichtig. Ich bin dankbar dafür, dass unser Staat dabei auf tatkräftige Unterstützung der Diakonie und vieler anderer Wohlfahrtsverbände zählen kann. Ohne sie geht es nicht. Wir brauchen die Bürgerinnen und Bürger, die sich Tag für Tag engagieren, in Vereinen und Organisationen, in den Kirchen und eben der Diakonie. Sie halten unser Land zusammen. Sie verändern es seit 175 Jahren zum Besseren. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Jubiläum und alles Gute!
in Berlin
Rede von Bundeskanzler Scholz zum Festakt 75 Jahre Deutscher Bauernverband am 21. September 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zum-festakt-75-jahre-deutscher-bauernverband-am-21-september-2023-2224892
Thu, 21 Sep 2023 14:40:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident Rukwied, liebe Bäuerinnen und Bauern, meine Damen und Herren, 75 Jahre Deutscher Bauernverband, das sind auch 75 Jahre deutscher Geschichte. 1948, im Jahr Ihrer Gründung, litten die Bürgerinnen und Bürger unter der Ernährungsnot der Nachkriegszeit. Nahrung war knapp. Lebensmittel gab es vorwiegend auf Lebensmittelmarken und Bezugsscheine. Im Juni des Jahres trat in den westlichen Besatzungszonen die Währungsreform in Kraft. Die Deutsche Mark ersetzte Reichsmark und Rentenmark. Wenige Tage später begann die Berlin-Blockade. Fast ein Jahr lang wurde die Bevölkerung von Westberlin per Luftbrücke mit Nahrungsmitteln versorgt. Genau in dieser aufgewühlten Zeit, Anfang Oktober 1948, fand in München die Gründungsversammlung des Deutschen Bauernverbandes statt. Ernährungssicherheit, das war das zentrale Thema in diesen bewegten Monaten rund um die Geburtsstunde des Deutschen Bauernverbandes. Landwirtinnen und Landwirte gaben ihr Bestes, damit die Bevölkerung satt werden konnte. Sie haben damit maßgeblich zum Wiederaufbau unseres Landes und zum Gelingen unserer sozialen Marktwirtschaft beigetragen. Heute steht das Thema der Ernährungssicherheit erneut im Fokus von Politik und Öffentlichkeit. Tag für Tag verursacht Russlands brutaler Angriffskrieg in der Ukraine Tod, schreckliches Leid und Vernichtung. Dabei greift Russland auch gezielt die Landwirtschaft an. Getreidelager und Häfen werden mutwillig zerstört. Das ist ein eklatanter Bruch des Völkerrechts, den wir aufs Schärfste verurteilen. Russlands Krieg hat die Preise für Nahrungs- und Futtermittel weltweit steigen lassen. Noch mehr Menschen leiden dadurch an Hunger, vor allem in den ärmsten Regionen der Welt. Präsident Putin weigert sich, das Schwarzmeer-Getreideabkommen zu verlängern. Damit zeigt er, dass er nicht davor zurückschreckt, Hunger als Waffe einzusetzen und damit die ganze Welt zu bedrohen. Leidtragende sind die Schwächsten der Welt und natürlich die Landwirtinnen und Landwirte in der Ukraine. Ich habe es gestern im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gesagt und appelliere von hier aus erneut eindringlich an Präsident Putin: Machen Sie Schluss mit der Zerstörung von Getreidelagern und Hafenanlagen! Nehmen sie das Getreideabkommen wieder auf! Gleichzeitig arbeiten wir gemeinsam mit der Europäischen Union an Alternativen, um Getreide aus der Ukraine herauszubekommen, per Schiene, per Schiff und auf dem Landweg. Es ist ein großer Erfolg, dass die Ukraine aktuell über die sogenannten Solidaritätskorridore so viel exportieren kann. Das alles zeigt: Landwirtschaft spielt auch heute eine zentrale Rolle für uns hier in Deutschland, aber auch für die weltweite Ernährung. Vielen Bürgerinnen und Bürgern ist in den vergangenen Monaten bewusst geworden, wie groß die strategische Bedeutung der heimischen Landwirtschaft für unser Land ist. Meine Damen und Herren, liebe Bäuerinnen und Bauern, Sie sind es, die uns Tag für Tag mit hochwertigen, gesunden und bezahlbaren Nahrungsmitteln versorgen. Sie leisten zugleich einen sehr wichtigen Beitrag zur weltweiten Ernährungssicherung. Dafür herzlichen Dank im Namen aller in Deutschland! Ich weiß, auf Sie ist Verlass, so, wie vor 75 Jahren auf die Landwirtinnen und Landwirte Verlass war. Vergangen ist seitdem ein Dreivierteljahrhundert harter Arbeit, harter Arbeit, wie sie sich die Nichtlandwirte oft kaum vorstellen können, ein Dreivierteljahrhundert, in dem Landwirtinnen und Landwirte Tag für Tag in aller Frühe aufgestanden sind, bei Wind und Wetter, in dem sie an Urlaub oder auch nur an Wochenende oft nicht denken konnten, in dem sie Verantwortung für ihren Hof, für die Felder und ihre Tiere trugen und in dem sie gewaltige Umbrüche gemeistert haben. Der Film und auch Ihre Rede haben das ein bisschen untermalt. Denken Sie nur an die Vergemeinschaftung der Agrarpolitik auf europäischer Ebene. Mit ihr nahm die Landwirtschaft eine Vorreiterrolle in der europäischen Integration ein. Oder denken Sie an die deutsche Einheit, die teilweise völlig neue Strukturen und Betriebsformen in Deutschland insgesamt allgemein gemacht hat. Dem Deutschen Bauernverband ist es gelungen, die ostdeutschen Landesverbände zu integrieren und als gemeinsame starke Stimme für die gesamtdeutsche Landwirtschaft zu agieren. Auch dafür gebührt Ihnen Dank. Insgesamt hat kaum ein Wirtschaftszweig in den vergangenen 75 Jahren einen derart rasanten Wandel erlebt wie die deutsche Landwirtschaft. Wir reden also über 75 Jahre, in denen sich die Landwirte fortlaufend auf neue Umweltbedingungen und veränderte gesellschaftliche Anforderungen einstellen mussten. Wir reden über 75 Jahre, in denen sie die Landwirtschaft mit enormer Innovationskraft modernisiert haben. Wir reden über 75 Jahre, in denen sie die Kulturräume und das Zusammenleben auf dem Land geprägt und gleichzeitig die Veränderungen mitgestaltet haben. Einen besonders erhellenden Einblick in das schiere Ausmaß dieser Umbrüche gewinnt, wer das Buch „Ein Hof und elf Geschwister“ zur Hand nimmt. Darin beschreibt der Historiker Ewald Frie am Beispiel seines elterlichen Hofes im Münsterland sehr anschaulich die Veränderungen, die sich in der Landwirtschaft von Generation zu Generation vollzogen haben. Kontinuität und Wandel auf dem Land, hier ist beides mit Händen zu greifen. Darum bin ich sehr froh darüber, dass gerade ein Buch zu diesem Thema mit dem diesjährigen Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet worden ist. Ich finde es auch ermutigend, dass gerade dieses Buch zugleich auf ein riesiges öffentliches Interesse gestoßen ist. Fries Bestseller ist erst im Februar dieses Jahres erschienen und wird bereits in der 12. Auflage gedruckt. Das schaffen nicht viele Bücher. Das bestätigt aber auch meinen Eindruck: Das Interesse an Landwirtschaft und ländlichem Raum wächst wieder in unserer Gesellschaft, und das ist gut so. Denn mit ihrer Leistung in den vergangenen Jahrzehnten haben sich die deutschen Landwirtinnen und Landwirte jeden Respekt und, ja, auch Hochachtung verdient. Ich will zu Ihrem Jubiläum nicht nur über die Vergangenheit reden. Ich habe mir diesen Abstecher aber erlaubt, weil er mich zuversichtlich stimmt für die Zukunft. Aber auch heute erlebt die Landwirtschaft tiefgreifende Umbrüche. Sie haben davon gesprochen. Während wir vor 75 Jahren allein die Ernährungssicherung im Vordergrund betrachtet haben, kommen heute Herausforderungen auf vielen weiteren Gebieten hinzu. Die Landwirtschaft muss sich mit der Klimakrise auseinandersetzen, sich an den Klimawandel anpassen und zum Klimaschutz beitragen. Das sind große Herausforderungen. Sie muss sich mit dem Rückgang der Biodiversität auseinandersetzen, der auch für die Landwirtschaft eine Bedrohung ist. Sie muss den gestiegenen Erwartungen von Verbraucherinnen und Verbrauchern an Umwelt- und Tierschutz gerecht werden. Bei allem braucht sie ein solides ökonomisches Fundament. Denn wir alle gemeinsam in Deutschland sind auf eine starke Landwirtschaft angewiesen. Landwirtschaft bedeutet eben auch, dass es ein Geschäftsmodell ist, das funktionieren muss. ‑ Ja, genau, da wollte einer klatschen. Sie wissen es aus eigener Erfahrung und natürlich aus Ihrer täglichen Arbeit: Die Anforderungen sind größer geworden, auch die Spannungsfelder, und es ist ziemlich kompliziert, mit all dem zurechtzukommen. ‑ Einfache Lösungen gibt es sowieso nicht. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir es gemeinsam schaffen können. Die Bäuerinnen und Bauern, die Landwirtinnen und Landwirte, die Politik, die Verbraucherinnen und Verbraucher, wir alle müssen gemeinsam versuchen, unsere Zukunft zu gewinnen. Deshalb finde ich es gut, dass der nächste Programmpunkt hier „Zukunft Landwirtschaft“ heißt. Er setzt seinen Schwerpunkt auf Chancen und Möglichkeiten dessen, was Sie vorhaben. Natürlich freue ich mich besonders darüber, dass dabei auch die Perspektiven junger Landwirtinnen und Landwirte besprochen werden. Denn am Ende sind wir alle auf sie angewiesen. Sie müssen ja weitermachen und dafür sorgen, dass das alles auch klappt, nicht nur mit weiteren 75 Jahren Verband, sondern auch mit der Landwirtschaft, und zwar ‑ ehrlicherweise muss man das sagen ‑ in den nächsten Jahrhunderten. Zupackende, mutige und kreative Bürgerinnen und Bürger wie Sie sind es, die unser Land braucht. Deshalb bin auch froh darüber, dass wir gemeinsam versuchen, diese zukunftsfähige nachhaltige Landwirtschaft zu entwickeln. Über die Zukunftskommission Landwirtschaft wurde schon gesprochen. Sie hat sich große Verdienste erworben. Es geht darum, dass alle versuchen, gemeinsam Perspektiven zu entwickeln. Ich denke, dass man sagen kann, dass es schon einen Konsens zumindest über die Entwicklungspfade gibt, die wir gemeinsam beschreiten müssen, wenn es um Nachhaltigkeit in ökologischer Hinsicht und um ökonomische Tragfähigkeit geht. Das ist kein Gegensatz, sondern eine gemeinsam zu bewältigende Aufgabe. Ich denke, das geht wirklich. Es besteht Konsens, jedenfalls in meinen Augen, dass das keine Sache ist, die man bei irgendwem abladen kann, zum Beispiel bei den Landwirten, sondern dass es eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft ist. Wir müssen uns Ihre Sorgen und Ihre Gedanken auch selbst machen. Denn das Interesse an einer zukunftsfähigen Landwirtschaft haben wir aus jeder Perspektive in diesem Land, wenn es um unsere Volkswirtschaft geht, wenn es um den Landschaftsschutz geht, um die Biodiversität, die Umwelt, aber eben auch die Nahrungsmittelsicherheit. Das wird große Herausforderungen für uns alle mit sich bringen, denen wir uns aber stellen können. Ich jedenfalls bin davon überzeugt, dass Sie am allerbesten wissen, dass da wirklich Herausforderungen bestehen. Hitzewellen merken Sie genauso wie alle anderen, aber auch unmittelbar am ökonomischen Ertrag. Dürreperioden sind für landwirtschaftliche Betriebe unmittelbar spürbar. Unberechenbarer Starkregen kann die Arbeit eines ganzen Jahres infrage stellen und löst Schaden auf den Feldern und in den Wäldern aus. Deshalb glaube ich, dass wir das gemeinsam anpacken und versuchen müssen, auch dort, wo die Debatten in der Vergangenheit vielleicht ein bisschen gegeneinander gerichtet waren, das Gegenteil zu bewirken. Ich bin dem Verband und Ihnen, aber auch allen anderen hier sehr dankbar dafür, dass das mit großem Erfolg gelungen ist und dass wir uns nicht vor der Aufgabe drücken, die wir gemeinsam haben. Dazu gehört auch, sich neue Dinge auszudenken. Insofern unterstreiche ich Ihren Appell, dass es auch darum geht, einmal ein bisschen machen zu können, austesten zu können, was es an neuen Möglichkeiten gibt. Dabei wollen wir Sie gern unterstützen. Es gibt viele Dinge, die man diskutieren kann, etwa wenn es um die Speicherung von Kohlendioxid im Boden oder die Emissionsminderung in der Nutztierhaltung geht. Man muss einen pragmatischen Weg finden, wie das geht. Das kann man sich nicht am grünen Tisch ausdenken. Es geht um innovative Techniken und natürlich immer auch um die Frage: Kann man die erneuerbaren Energien nicht nur nutzen, sondern auch als ein zusätzliches Ertragsfeld für die Landwirtschaft selbst einsetzen? ‑ Alles das ist wichtig, wenn wir über die Zukunft reden, die wir gemeinsam haben. Ich bin davon überzeugt, dass wir die Handlungsbedarfe bewältigen können und bin dankbar dafür, dass wir als Bundesregierung, als ‑ ich denke, das kann ich auch sagen ‑ Deutscher Bundestag und als diejenigen, die in der Politik in Bund, Ländern und Gemeinden Verantwortung tragen, mit diesem Verband einen guten Partner haben. Manches ist in der Vergangenheit schon gelungen. Das ist hier schon ausführlich gesagt worden. Deshalb werde ich das nicht noch einmal aufzählen. Aber ich will gern unterstreichen, dass es genau so ist. Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher setzen auf Sie. Denn sie wollen nicht nur satt werden ‑ das war ein großes Thema in der Vergangenheit ‑, sondern sie wollen, dass es auch mit der Qualität der Produkte klappt und dass sie das bei ihrer Kaufentscheidung berücksichtigen können. Ich denke, dass man mit dem Vertrauen in die Landwirtschaft, das existiert und das wir pflegen und ausbauen müssen, auch die Grundlage dafür schaffen kann, dass genau das gelingt. Es ist etwas, an dem wir gemeinsam arbeiten müssen. Vertrauen entsteht nicht dadurch, dass man eine Werbekampagne schaltet oder die besten PR-Berater hat, sondern es entsteht dadurch, dass man es jeden Tag auf dem Feld und in der eigenen Arbeit begründet. Ich jedenfalls bin deshalb davon überzeugt, dass wir alle zusammen etwas für eine zukunftsfähige Landwirtschaft beitragen können, die Bürgerinnen und Bürger, die politisch Verantwortlichen und eben auch Sie. 75 Jahre Deutscher Bauernverband, das heißt 75 Jahre Stabilität im Wandel, 75 Jahre, in denen der Deutsche Bauernverband für die Politik immer ein verlässlicher Ansprechpartner gewesen ist, 75 Jahre mit unzähligen beeindruckenden Lebenswerken und 75 Jahre, die jedenfalls mich für die Zukunft zuversichtlich stimmen. Heute ist Ihre Feier. Seien Sie stolz auf das, was Sie geleistet haben und jeden Tag weiterhin leisten! Auf Sie kommt es an. Auf Ihre tägliche Arbeit auf den Feldern und den Höfen unseres Landes sind Millionen von Bürgerinnen und Bürgern angewiesen. Wir schulden Ihnen dafür Respekt. Herzlichen Dank also, herzlichen Glückwunsch und ein schönes Fest!
in Berlin
Rede von Bundeskanzler Scholz in der Offenen Debatte im VN-Sicherheitsrat zur Ukraine am 20. September 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-in-der-offenen-debatte-im-vn-sicherheitsrat-zur-ukraine-am-20-september-2023-2224620
Wed, 20 Sep 2023 00:00:00 +0200
New York
Sehr geehrter Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen, Exzellenzen, es ist fast 19 Monate her, dass Russland einen brutalen Angriffskrieg gegen seinen souveränen Nachbarn, die Ukraine, begonnen hat. Zehntausende Soldatinnen und Soldaten sowie ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten sind getötet worden. Unzählige ukrainische Kinder sind entführt worden. Russische Truppen haben gemordet, vergewaltigt und gefoltert. Sie machen Städte und Dörfer dem Erdboden gleich. Sie verminen ganze Landstriche und verwandeln so Kornfelder in Todesfallen. Dieser Krieg findet in Europa statt. Doch seine Folgen sind überall auf der Welt zu spüren. Russland hat dem Weltmarkt bewusst Millionen Tonnen Getreide und Düngemittel entzogen, die von Ländern auf der ganzen Welt benötigt werden, um Ernährungssicherheit zu gewährleisten. Russland zielt bewusst auf Getreidesilos und Hafeninfrastruktur. Und Russland hat einseitig die Schwarzmeer-Getreide-Initiative aufgekündigt und so die Armut und Ernährungsunsicherheit überall auf der Welt verschärft. Dafür gibt es keine Rechtfertigung. Alle Behauptungen, dass russische Exporte von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Düngemitteln durch Sanktionen behindert werden, sind falsch. Es gibt keine Sanktionen, die solche Exporte behindern. Im Gegenteil, Russland dominiert den globalen Markt für Düngemittel. Das Jahr 2022 war ein Rekordjahr für russische Weizenexporte. Der Grund dafür, dass das Leid in der Ukraine und überall auf der Welt andauert, ist erschütternd einfach: Russlands Präsident will seinen imperialistischen Plan zur Eroberung seines souveränen Nachbarn, der Ukraine, umsetzen. Herr Präsident, die Vereinten Nationen haben sehr deutlich gemacht, was sie von Russlands Angriffskrieg halten, zuletzt am 23. Februar dieses Jahres. Die Generalversammlung hat zu einem umfassenden, gerechten und dauerhaften Frieden aufgerufen. Diese Aufforderung richtet sich an Russland. Bis heute wurde sie nicht beantwortet. Nichts tönt heute lauter als Russlands Schweigen als Reaktion auf diesen globalen Friedensappell. Manche behaupten, dass dieser Krieg mit diplomatischen Mitteln hätte verhindert werden können. Frankreich und Deutschland haben seit dem Beginn von Russlands Angriff auf die Ostukraine 2014 jedoch Hunderte Treffen mit Moskau und Kiew abgehalten. Unser Ziel war es, eine diplomatische Lösung zu finden, die im Einklang mit dem Völkerrecht steht. All diese Bemühungen sind gescheitert, weil eine Seite – nämlich Russland – sich für Krieg statt Diplomatie entschieden hat. Dennoch hat es nicht an diplomatischen Anstrengungen gefehlt. Einige meiner Vorrednerinnen und -redner haben zu einem sofortigen Waffenstillstand aufgerufen. Ich würdige ihre gute Absicht. Wir alle wollen, dass das Töten aufhört – besser heute als morgen. Und trotzdem müssen wir uns vor scheinbar einfachen Lösungen hüten, die Frieden nur dem Namen nach versprechen. Frieden ohne Freiheit ist Unterdrückung. Frieden ohne Gerechtigkeit ist ein Diktat. In den Resolutionen der Generalversammlung haben wir den Weg zum Frieden aufgezeigt: Frieden bedeutet Achtung der VN-Charta. Frieden bedeutet Achtung der territorialen Unversehrtheit und politischen Unabhängigkeit der Ukraine. Das ist das Versprechen, das die VN-Charta jedem Mitgliedstaat der VN gibt. Niemand wünscht sich Frieden sehnlicher als die Ukrainerinnen und Ukrainer. Der Friedensplan, den der ukrainische Präsident uns heute erneut vorgelegt hat, ist ein Beleg dafür. Die Gespräche, die vor Kurzem in Kopenhagen und Dschidda stattgefunden haben, waren wichtig – diese Arbeit sollte fortgesetzt werden. Sie sollte mit einem Ziel fortgesetzt werden: einen Frieden zu finden, der die Grundsätze der VN-Charta achtet. Herr Präsident, je entschlossener wir uns gemeinsam hinter diese Grundsätze stellen, je entschiedener wir uns für einen gerechten Frieden einsetzen und je geeinter wir in unserer Ablehnung der russischen Aggression zusammenstehen, desto früher wird dieser Krieg beendet sein. Und desto früher wird das menschliche Leiden beendet sein – in der Ukraine und überall auf der Welt. Dieses Ziel ist es wert, dass wir uns mit all unserer Kraft dafür einsetzen. Vielen Dank.
in New York
Rede von Bundeskanzler Scholz zur 78. Generaldebatte der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 19. September 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zur-78-generaldebatte-der-generalversammlung-der-vereinten-nationen-am-19-september-2023-2224500
Tue, 19 Sep 2023 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
New York
Herr Präsident, meine Damen und Herren, fast auf den Tag heute vor 50 Jahren traten zwei deutsche Staaten den Vereinten Nationen bei, als 133. Mitglied die damalige Deutsche Demokratische Republik, als Mitglied Nummer 134 die Bundesrepublik Deutschland. Dieser Schritt hat für uns Deutsche bis heute große Bedeutung. Denn mit der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen war für mein Land ‑ Urheber furchtbarer Kriege und grausamer Verbrechen ‑ die Möglichkeit verbunden, zurückzukehren in die Familie friedliebender Völker. Für diese Chance sind wir zutiefst dankbar. Die Rückkehr war nicht frei von Voraussetzungen. Vorausgegangen war dem deutsch-deutschen Beitritt eine visionäre Politik der Entspannung. Sie folgte dem Ziel, „die Gräben des Kalten Krieges zuzuschütten“, wie mein Vorgänger, Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt, es vor 50 Jahren hier in New York formulierte. Drei Dinge waren dafür unerlässlich, erstens das klare Bekenntnis beider deutschen Staaten, Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Niedergelegt wurde das im Grundlagenvertrag zwischen Bonn und Ost-Berlin sowie in den Verträgen, die die Bundesrepublik mit ihren östlichen Nachbarn schloss. Die zweite Voraussetzung war der Verzicht auf jegliche Form des Revisionismus, indem die nach dem Zweiten Weltkrieg neu entstandenen Grenzen Deutschlands als unverletzlich anerkannt wurden. Diese Entscheidung stieß damals bei vielen Bürgerinnen und Bürgern Westdeutschlands auf Ablehnung. Im Rückblick hat sie sich als richtig erwiesen. Die dritte Voraussetzung war schließlich eine Politik, die die Realität des Kalten Krieges nicht ausblendete und die zugleich immer darauf gerichtet blieb, den Status quo, also die Konfrontation der Blöcke und damit auch die unnatürliche Teilung Deutschlands, zu überwinden. Wenn ich hier und heute auf diese Anfänge unserer Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen zurückblicke, dann nicht nur aus historischem Interesse, sondern weil das Gewaltverbot immer noch das unerreichte Kernversprechen unserer Vereinten Nationen bildet, weil die Unverletzbarkeit von Grenzen und die souveräne Gleichheit der Staaten auch in unserer multipolaren Welt verteidigt werden muss, und zwar von uns allen, und weil wir auch heute ‑ gerade heute ‑ den Mut, die Kreativität und den Willen brauchen, Gräben zu überwinden, Gräben, die sich tiefer auftun denn je. Diesen drei Idealen ‑ dem Verzicht auf Gewalt als Mittel der Politik, der Ablehnung jeglicher Form des Revisionismus und dem Bekenntnis zur Zusammenarbeit über Trennendes hinweg ‑ fühlt Deutschland sich zutiefst verpflichtet. Uns Deutschen haben diese Ideale das große Glück beschert, heute in einem vereinten Land zu leben, in Frieden mit unseren Nachbarn, mit Freunden und Partnern auf der ganzen Welt. Zugleich gilt heute umso mehr das, was Willy Brandt hier bereits vor 50 Jahren sagte: „In einer Welt, in der zunehmend jeder von jedem abhängt, darf Friedenspolitik nicht vor der eigenen Haustür haltmachen“. Deutsche Politik kann und wird sich nie darin erschöpfen, ohne Rücksicht auf andere unsere Interessen durchzusetzen. Weil wir wissen: Unsere Freiheit, unsere Demokratie und unser Wohlstand sind zutiefst mit dem Wohlergehen Europas und der Welt verknüpft. Deshalb lautet das Gebot der Stunde auch nicht weniger Kooperation als heute ‑ heute vielleicht als „decoupling“ oder als „Zusammenarbeit nur unter Gleichgesinnten“ verpackt ‑, sondern mehr Kooperation, die Stärkung bestehender Allianzen genauso wie die Suche nach neuen Partnern. Denn nur so lassen sich auch die Risiken allzu einseitiger Abhängigkeiten abbauen. Das gilt umso mehr in einer Welt, die ‑ anders als vor 50 Jahren ‑ nicht mehr nur zwei Machtzentren kennt, sondern viele unterschiedliche. Multipolarität ist keine neue Ordnung. Wer damit verbindet, dass kleinere Länder der Hinterhof größerer Länder sind, der irrt. Multipolarität ist keine normative Kategorie, sondern eine Zustandsbeschreibung. Wer in einer multipolaren Welt nach Ordnung sucht, der muss hier, bei den Vereinten Nationen, beginnen. Deshalb unterstützt Deutschland das UN-System und leistet als zweitgrößter Geber nach den Vereinigten Staaten aus voller Überzeugung seinen Beitrag. Nur die Vereinten Nationen ‑ auf Basis der Werte, die in ihrer Charta verkörpert sind ‑ lösen den Anspruch universeller Repräsentanz und souveräner Gleichheit aller vollumfänglich ein. Das gilt weder für die G7 oder die G20 ‑ so wichtig sie für die weltweite Abstimmung sind ‑ noch für BRICS oder andere Gruppen. Ich weiß, was manche dem entgegenhalten: Sind die Vereinten Nationen nicht allzu oft handlungsunfähig, gelähmt von den Antagonismen ihrer heterogenen Mitgliedschaft? – Denjenigen sage ich: Die Blockade einiger weniger, und seien sie noch so einflussreich, darf uns doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir, die ganz große Mehrheit der Staaten, uns in vielem einig sind. Wir alle ‑ fast alle ‑ wollen, dass Gewalt als Mittel der Politik geächtet bleibt. Wir alle haben ein Interesse daran, dass die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit und die politische Unabhängigkeit unserer Länder geachtet werden, und wir alle sollten wissen, was dies voraussetzt, nämlich dass wir diese Rechte auch anderen zugestehen. Diese goldenen Regeln sind universell, auch wenn viele von uns noch nicht mit am Tisch saßen, als die UN-Charta 1945 verabschiedet wurde. Doch schon zehn Jahre später, im indonesischen Bandung, waren es die vom Kolonialismus befreiten Staaten Afrikas und Asiens, die ihre Stimme für Selbstbestimmung, für territoriale Unversehrtheit, für souveräne Gleichheit aller Staaten und für eine Welt ohne Kolonialismus und Imperialismus erhoben. Dies scheint heute aktueller denn je. An diesen Prinzipien müssen wir alle ‑ ob groß oder klein ‑ uns messen lassen. Diese Prinzipien müssen auch bei der Neuordnung unserer multipolaren Welt die Grundlage bilden! Nur dann lassen sich auch die globalen Herausforderungen unserer Zeit lösen. Die größte davon ist der menschengemachte Klimawandel. Natürlich tragen die klassischen Industrieländer beim Kampf gegen die Klimakrise ganz besondere Verantwortung. Zugleich gehören heute viele weitere Länder zu den größten Emittenten. Statt nun auf andere zu warten, müssen wir alle gemeinsam mehr tun für die Erreichung der Pariser Klimaziele. Jede und jeder Einzelne von ihnen muss die Chance erhalten, das gleiche Maß an Wohlstand zu erlangen wie die Bürgerinnen und Bürger in Europa, Nordamerika oder Ländern wie Japan oder Australien. Doch wenn sich diese wirtschaftliche Entwicklung mit den Technologien und Produktionsweisen des 19. oder 20. Jahrhunderts vollzieht ‑ mit Verbrennermotoren und Kohlekraftwerken ‑, dann wird unser Planet das nicht überstehen. Daraus folgt doch eines: Wir müssen wirtschaftliche Entwicklung entkoppeln vom Ausstoß von CO2. In vielen Ländern gelingt das bereits, denn die Lösungsansätze und Technologien dafür haben wir. Als starkes Technologieland bieten wir an, hier zum gemeinsamen Wohl zusammenarbeiten. Wenn Produzenten erneuerbarer Energien und deren industrielle Nutzer über Kontinente hinweg zusammenfinden, schaffen wir gemeinsam neuen Wohlstand – an vielen Orten dieser Welt. Ich bin froh, Ihnen heute ankündigen zu können: Deutschland erfüllt auch seine Zusagen zur internationalen Klimafinanzierung. Von zwei Milliarden Euro im Jahr 2014 über vier Milliarden Euro im Jahr 2020 haben wir unseren Beitrag im letzten Jahr auf sechs Milliarden Euro verdreifacht. Damit halten wir Wort. Das tun auch die Industrieländer insgesamt, die dieses Jahr wohl erstmals ihr Ziel von 100 Milliarden Euro für die internationale Klimafinanzierung erfüllen werden. Das ist ein wichtiges Signal, ein überfälliges Signal, bevor wir im Dezember in Dubai Bilanz ziehen und über neue Klimaschutzpläne ab 2030 verhandeln. Mir ist wichtig, dass wir dabei so konkret und so verbindlich wie möglich sind. Deshalb werbe ich dafür, dass wir uns in Dubai klare Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien und für mehr Energieeffizienz setzen. Genauso ambitioniert werden wir bei der Erreichung der SDGs, der Ziele für nachhaltige Entwicklung, sein. Klimaschutz oder Entwicklung ‑ diese Abwägung geht nicht auf. Unser Gipfel gestern hat mir gezeigt, wie dringend wir auch bei den SDGs aufholen müssen. Deshalb wollen wir beim Summit of the Future im kommenden Jahr, den wir gemeinsam mit unseren Freunden aus Namibia vorbereiten, weiter Tempo machen und die Umsetzung der Agenda 2030 vorantreiben. Wichtig ist mir in diesem Kontext, dass wir für mehr private Investitionen in Afrika, Asien, Lateinamerika und der Karibik sorgen. Nur ein Beispiel: Die ganze Welt redet derzeit über die Diversifizierung von Lieferketten und über Rohstoffsicherheit. Wäre es da nicht ein Anfang, dass wenigstens der erste Verarbeitungsschritt vor Ort stattfände, dort, wo die Rohstoffe im Boden liegen? Deutschland und die deutsche Wirtschaft jedenfalls sind offen dafür, genau solche Partnerschaften einzugehen. Wir alle stehen in den kommenden Jahren natürlich vor der Herausforderung, unsere Wirtschaft, unsere Energieversorgung und unsere Infrastruktur in eine ressourcenschonende, klimaneutrale Zukunft zu führen. Das bedarf hoher Investitionen. Damit diese Investitionen gestemmt werden können, müssen wir die Schuldenkrise vieler Länder adressieren und die internationale Finanzarchitektur modernisieren. Ich habe es eingangs gesagt: Deutschland klebt nicht am Status quo, auch in dieser Frage nicht. Wir wollen, dass sich etwas ändert. Ich setze mich dafür ein ‑ zuletzt beim G20-Gipfel in Delhi ‑, dass sich die multilateralen Entwicklungsbanken reformieren, damit sie mehr zur Finanzierung von globalen öffentlichen Gütern wie dem Schutz von Klima und Biodiversität oder der Prävention von Pandemien beitragen können. So haben es die G20 auch in Delhi beschlossen. Deutschland unterstützt diese Reform – auch finanziell. Als erstes Land investieren wir 305 Millionen Euro Hybridkapital in die Weltbank, Kapital, mit dem die Weltbank laut den Erwartungen mehr als zwei Milliarden Euro an zusätzlichen Krediten vergeben kann. Meine Damen und Herren, Generalsekretär Guterres hat heute Morgen auf die rasant steigenden humanitären Bedarfe angesichts der vielen Krisen weltweit hingewiesen. Deutschland ist der zweitgrößte Geber humanitärer Hilfe weltweit, und wir werden auch weiter an der Seite der Menschen in größter Not stehen. Auch unsere Vereinten Nationen selbst dürfen nicht am Status quo kleben, meine Damen und Herren, und damit meine ich zweierlei. Erstens: Die Vereinten Nationen müssen sich den Herausforderungen der Zukunft zuwenden, so wie auch Generalsekretär António Guterres das vorschlägt. Eine der ganz großen Fragen ist dabei aus meiner Sicht, wie wir Innovation und technologischen Fortschritt für die ganze Menschheit nutzbar machen können. Künstliche Intelligenz etwa birgt große Chancen, und zugleich kann sie die Spaltung der Welt zementieren, wenn nur einige davon profitieren, wenn Algorithmen nur einen Teil der Realität berücksichtigen, wenn der Zugang auf die reicheren Länder beschränkt ist. Deshalb fördert Deutschland mit Nachdruck den Austausch zum Global Digital Compact. Dabei sollten wir auch über gemeinsame Regeln für den möglichen Einsatz generativer künstlicher Intelligenz als Waffe sprechen. Eine weitere Zukunftsfrage ist, wie die Vereinten Nationen selbst die Realität einer multipolaren Welt abbilden. Bisher tun sie das nicht ausreichend. Nirgendwo ist das so augenfällig wie bei der Zusammensetzung des Sicherheitsrats. Deshalb freue ich mich, dass immer mehr Partner ‑ darunter drei der ständigen Mitglieder ‑ erklärt haben, in der Reformfrage vorankommen zu wollen. Klar ist doch: Afrika gebührt mehr Gewicht, so wie auch Asien und Lateinamerika. Unter dieser Prämisse lässt sich über einen Text mit verschiedenen Optionen verhandeln. Solche ergebnisoffenen Verhandlungen sollte kein Land mit Maximalforderungen blockieren. Auch wir tun das nicht. Letztlich liegt es in der Hand der Generalversammlung, über eine Reform des Sicherheitsrates zu entscheiden. Bis dahin möchte Deutschland als nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates Verantwortung übernehmen, und ich bitte Sie, unsere Kandidatur für die Jahre 2027/2028 zu unterstützen. Meine Damen und Herren, wenn ich in diesen Tagen und vor dieser Versammlung vom Frieden rede, dann sind meine Gedanken bei denjenigen, für die Frieden ein ferner Traum ist, bei den Sudanesinnen und Sudanesen, die Opfer eines grausamen Machtkampfes zwischen zwei Kriegsherren geworden sind, bei den Frauen und Männern im Osten Kongos oder, ganz aktuell, bei den Menschen in Karabach ‑ die erneuten militärischen Aktivitäten, davon bin ich überzeugt, führen in die Sackgasse; sie müssen enden ‑ und natürlich bei den Ukrainerinnen und Ukrainern, die um ihr Leben und ihre Freiheit kämpfen, um die Unabhängigkeit und die territoriale Integrität ihres Landes, um die Wahrung genau der Prinzipien, denen wir uns alle in der UN-Charta verpflichtet haben. Doch nicht nur die Ukraine stürzt Russlands Angriffskrieg in großes Leid. Unter Inflation, wachsender Verschuldung, Düngemittelknappheit, Hunger und steigender Armut leiden Bürgerinnen und Bürger weltweit. Gerade weil dieser Krieg unerträgliche Folgen rund um den Globus hat, ist es gut und richtig, dass sich die Welt auch an der Suche nach Frieden beteiligt. Zugleich müssen wir uns vor Scheinlösungen hüten, die „Frieden“ lediglich im Namen tragen. Denn Frieden ohne Freiheit heißt Unterdrückung. Frieden ohne Gerechtigkeit nennt man Diktat. Das muss nun endlich auch Moskau verstehen. Denn vergessen wir nicht: Russland ist für diesen Krieg verantwortlich, und es ist Russlands Präsident, der ihn mit einem einzigen Befehl jederzeit beenden kann. Doch damit er das tut, muss er verstehen, dass wir ‑ die Staaten der Vereinten Nationen ‑ es ernst meinen mit unseren Prinzipien, dass wir in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts keinen Platz mehr für Revisionismus und Imperialismus sehen. Kaum jemand hat das hier in New York so treffend formuliert wie unser Kollege, der Botschafter Kenias. Nach Russlands Einmarsch in die Ukraine hat er im Sicherheitsrat Folgendes gesagt: „Rather than form nations that looked ever backward into history with a dangerous nostalgia, we chose to look forward to a greatness none of our many nations and peoples had ever known.” Fellow delegates, Germany’s history holds many lessons about the dangers of such nostalgia. That is why we chose a different path when we joined the United Nations 50 years ago, the path of peace and reconciliation, the path of recognizing existing borders, the path of cooperation with all of you in the pursuit of a better, a more equitable world. It started with a solemn promise that we made 50 years ago, a promise every one of us made upon joining the United Nations, namely „to unite our strength to maintain international peace and security“. Let us all do our best to live up to that promise. Vielen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz bei dem 6. Bundeskongresses von ver.di
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-dem-6-bundeskongresses-von-ver-di-2223926
Sun, 17 Sep 2023 00:00:00 +0200
Berlin
Lieber Frank Werneke, liebe Martina Rößmann-Wolf, liebe Yasmin Fahimi, liebe Kolleginnen und Kollegen, „Morgen braucht uns.“ ‑ Das ist das ganz wichtiges Motto, das dieser Kongress gewählt hat, weil es zwei Botschaften beinhaltet. Erstens die Botschaft, dass es eine gute Zukunft gibt. Das ist eine zentrale Frage, mit der wir uns heute auseinandersetzen müssen. Denn viele Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, aber nicht nur bei uns sind sehr verunsichert. Sie machen sich Sorgen über die Zukunft und fragen, wie das alles weitergehen soll, wenn es noch um die Nachwirkungen der Coronapandemie geht, wenn es um die Frage geht, was aus dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine mit all den verheerenden Konsequenzen und dem fürchterlichen Leid, den Menschen, die diesem russischen Krieg zum Opfer gefallen sind, folgt, was daraus auch für uns und für unsere Sicherheit in Europa folgt, wenn wir die Frage diskutieren, was mit der Globalisierung und all ihren Konsequenzen für unsere Zukunft in unseren Ländern passiert und natürlich was aus dem menschengemachten Klimawandel folgt. All das sind viele Fragen, die Verunsicherung auslösen. Aber wenn wir darauf die Antwort der rechten Populisten geben, die sich in die Vergangenheit verliebt haben und darauf setzen, dass es irgendwie so sein könnte, wie es schon einmal war, dann geben wir die falsche Antwort. Die Zukunft und die Zuversicht gehören zu jeder progressiven Bewegung in diesem Lande dazu. Deshalb und darum bin ich so froh über dieses Motto. Denn wir haben eine Chance auf eine gute Zukunft und können alles dafür tun, dass es tatsächlich so kommt. Das beginnt zum Beispiel bei der Frage der ökonomischen Modernisierung unseres Landes, die zugleich die Antwort auf den menschengemachten Klimawandel ist. Nur dann, wenn es uns gelingt, jetzt und in wenigen Jahren die Grundlagen dafür zu legen, dass wir Arbeit und Beschäftigung voranbringen können, dass in andere Wege der Energieproduktion investiert wird, in den Ausbau unseres Stromnetzes, in den Aufbau eines Wasserstoffnetzes, in industrielle Modernisierung überall in unserem Land, wenn wir Perspektiven haben, dass die Technologien der Zukunft in Deutschland stattfinden, etwa mit der Halbleiterproduktion, nur dann kann Zuversicht tatsächlich gelingen. Ich bin aber davon überzeugt, dass uns das gelingen wird, dass wir diese Investitionen jetzt auf den Weg bringen und dass wir es damit auch schaffen, sowohl gute Arbeitsplätze für die Zukunft zu erreichen als auch den menschengemachten Klimawandel in diesem Lande schon 2045 aufzuhalten. Das ist die Aufgabe, die wir haben. Darum geht es, wenn wir über Zuversicht und Morgen diskutieren. Das gilt natürlich auch dann, wenn wir die Frage des Zusammenhalts besprechen. Eine Gesellschaft, die eine Zukunft haben will, muss zusammenhalten. Sie muss dafür sorgen, dass alle den notwendigen Respekt bekommen, den sie für ein sicheres Leben brauchen. Deshalb war es ein richtiger und notwendiger Schritt, dass wir in Deutschland alles dafür getan haben, einen Mindestlohn zu bekommen, und dass wir alles dafür getan haben, dass er mit einem einzigen Schritt, den der Bundestag beschlossen hat, auf 12 Euro angehoben wird. Ich sage: Eine ordentliche Lohnuntergrenze gehört zur Sozialpartnerschaft in diesem Lande dazu. Weil es angesprochen wurde, will ich es sagen: Ich war genauso unglücklich darüber wie alle hier ‑ Yasmin hat es für uns alle gesagt ‑, dass die Mindestlohnkommission eine solche Erhöhung vorgeschlagen hat, wie sie es getan hat. Man muss das durchaus kritisch bewerten und kann es auch. Denn die Sozialpartnerschaft in diesem Lande hätte es geboten, eine einvernehmliche Entscheidung zu fällen und nicht mit Mehrheit zu entscheiden. Das ist der Fehler, der dort gemacht worden ist. Wir brauchen gute Löhne. Deshalb haben wir auch im Pflegebereich Mindestlöhne, die angehoben worden sind und angehoben werden. Deshalb haben wir dafür gesorgt, dass im Bereich der Pflege gesetzliche Regeln sicherstellen, dass Lohndumping in Pflegeeinrichtungen nicht einfach weiter so praktiziert werden kann wie in der Vergangenheit. Aber ich sage gleichzeitig dazu: Die Grundlage für gute Löhne sind neben einer ordentlichen wirtschaftlichen Entwicklung immer auch Tarifpartnerschaft und Tarifverträge. Sie sind das stabile Fundament unseres Landes. Wir brauchen mehr Tarifverträge und nicht weniger. Als Gewerkschafter beklage ich sehr wohl, dass die Tarifbindung zurückgegangen ist. Als Bürger dieses Landes und auch als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland setze ich mich dafür ein, dass wir wieder mehr Tarifbindung bekommen. Deshalb gehört dazu auch, dass wir dort, wo staatliche Aufträge vergeben werden, mit Tariftreuegesetzen dagegen arbeiten, dass das mit Dumpinglöhnen bewerkstelligt wird. Die Regierung hat sich das vorgenommen, und wir werden das tun. Das gehört zu den großen Aufgaben, die wir uns für die Zukunft vorgenommen haben. Was zu unserem Land, zu Respekt und Zusammenhalt auch dazugehört, ist der Sozialstaat, das Miteinander, das wir hier aufgebaut haben. Ich will ausdrücklich sagen: Es ist ein gutes Zeichen, dass wir in diesen Zeiten die sozialstaatlichen Sicherungen in Deutschland verbessert haben. ‑ Ich stelle mich all denjenigen entgegen, die sagen: Weil die Zeiten schwierig sind, muss der Sozialstaat zurückgefahren werden. ‑ Das Gegenteil ist richtig; das Gegenteil ist der Fall. Wir haben das mit weitreichenden Entscheidungen, die wir schon getroffen haben, schon getan, zum Beispiel was die Verbesserung der Erwerbsminderungsrenten betrifft. Wir werden das tun, indem wir das umsetzen, was wir uns vorgenommen haben, indem wir ein stabiles Rentenniveau in Deutschland über das Jahr 2025 hinaus garantieren. Das ist fest vereinbart, und ich werde alles dafür tun, damit diese Vereinbarung auch umgesetzt wird. Für mich gehört auch dazu, dass wir in letzter Zeit Verbesserungen organisiert haben, und zwar mit der Bürgergeldreform, auch dadurch, dass wir dafür gesorgt haben, dass mehr Bürgerinnen und Bürger, die erwerbstätig sind oder Rente beziehen, vom Wohngeld profitieren können, als es in der Vergangenheit der Fall war, und dass sie mehr bekommen und selbstverständlich auch mit der aktuellen Kindergelderhöhung und der Erhöhung des Kinderzuschlages. Die Perspektive, die aus der massiven Anhebung des Kindergeldes für das erste, zweite und dritte Kind und des Kinderzuschlages entwickelt werden soll, ist die Kindergrundsicherung. Denn Kinder sollen nicht von der Arbeitsverwaltung unterstützt werden, sondern sie sollen von einem einheitlichen System unterstützt werden, das für alle gewährleistet wird. Die Kindergeldkassen sind, wie wir es vorgesehen haben, eine gute Institution dafür. Sie werden dazu beitragen, dass das Miteinander in unserer Gesellschaft besser wird. Lasst mich zum Schluss etwas sagen, was auch dazugehört. „Morgen braucht uns“, das heißt auch ganz klar: Es geht um etwas, das wir erringen müssen. Das bedeutet, dass wir uns dafür einsetzen müssen. Dafür sind die Gewerkschaften gut und unverzichtbar. Aber dazu gehört auch, dass wir denen entgegentreten, die, weil sie die Vergangenheit hochhalten, weil sie das Ressentiment schüren und weil sie die Spaltung in dieser Gesellschaft voranbringen, die demokratischen Entwicklungen unseres Landes gefährden. Wir brauchen eine ganz klare Haltung gegen rechtspopulistische Parteien und Bestrebungen in diesem Land. Sie sind nicht für die Zukunft. Sie stehen für Rückschritt und Spaltung. Schönen Dank für die vielen Transparente! Ich will auf einen Aspekt, der darauf genannt wird, eingehen. Ja, aus meiner Sicht ist es eine große Bedrohung, die der russische Angriffskrieg auf die Ukraine darstellt. Er ist ein Angriff auf die Friedens- und Sicherheitsordnung Europas. Er ist ein Angriff auf die Verständigung, die über Jahrzehnte gegolten hat, dass mit Gewalt keine Grenzen verschoben werden. Wir waren sehr froh darüber, dass das in vielen Papieren festgeschrieben wurde. In Dokumenten von weitreichender Bedeutung, bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in der NATO-Russland-Grundakte und vielen, vielen weiteren war es aufgeschrieben. Man stelle sich vor, überall würden irgendwelche Staats- und Regierungschefs anfangen, in Geschichtsbüchern zu blättern und zu schauen, wo die Grenzen einmal verlaufen sind. Wenn jeder daraus das Recht ableitet, Krieg gegen seinen Nachbarn zu beginnen, um sich einen Teil des Territoriums anzueignen, dann haben wir keinen Frieden, sondern Krieg für lange Zeit. Deshalb muss die Friedens- und Sicherheitsordnung Europas verteidigt werden, die genau diese Aussage beinhaltet hat: Keine Kriege, um Grenzen zu verschieben! Aber dazu gehört auch, dass ein Land sich, wenn es überfallen wird, wenn es angegriffen wird, verteidigen kann. Es ist eine zynische Aussage, jemandem, auf dessen Territorium die Panzer eines anderen Landes rollen, zu sagen, er solle verhandeln statt sich zu verteidigen. Das ist keine Forderung, die wir hier sagen können. Wir alle wünschen uns Frieden. Niemand wünscht ihn sich mehr als die Ukrainerinnen und Ukrainer, die so viel Zerstörung ihres Landes erlebt haben und erleben und die so viele Tote zu beklagen haben. Aber die Grundlage dafür ist, dass der russische Präsident einsieht, dass er Truppen zurückziehen muss. Das ist die Grundlage für Verhandlungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Morgen braucht uns“, das ist in vielerlei Hinsicht wahr. Es beinhaltet die Aussage, dass wir zuversichtlich sein können, eine gute Zukunft zu haben, aber auch die unmissverständliche Botschaft: Von allein kommt es nicht. Es braucht uns, und es braucht starke Gewerkschaften. Es braucht ver.di in Deutschland.
in Berlin
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der 13. Nationalen Maritimen Konferenz
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-13-nationalen-maritimen-konferenz-2223386
Thu, 14 Sep 2023 00:00:00 +0200
Sehr geehrter Herr Bundesminister Habeck, lieber Robert, sehr geehrte Frau Staatssekretärin Kluckert, sehr geehrter Dieter Janecek, verehrter Herr Bürgermeister Bovenschulte, lieber Andreas, meine Damen und Herren, der Panamakanal ist eine der wichtigsten Wasserstraßen der Welt. 14 000 Schiffe passen jedes Jahr durch dieses Nadelöhr, es sei denn, es regnet zu wenig, so wie in diesem Sommer. Dann ist der Wasserpegel zu niedrig, die Containerschiffe stehen im Stau, Container kommen nicht rechtzeitig da an, wo sie hinsollen, und das Nadelöhr wird noch enger, als es ohnehin schon ist. Zu wenig Wasser in Panama kann die Weltwirtschaft genauso durcheinanderwirbeln wie die Havarie der „Ever Given“ vor gut zwei Jahren im Suezkanal. Hier zeigt sich, wie sehr die Dinge zusammenhängen ‑ der Klimawandel und unterbrochene Lieferketten, Umwelt und Logistik, Regen in Panama oder ein Schiffsunglück und die Weltwirtschaft. Und weil diese Fragen miteinander zusammenhängen, dürfen auch unsere Antworten nicht eindimensional sein: Wir müssen unsere Emissionen senken und weiterhin erfolgreich unsere Produkte exportieren. Wir müssen uns gegen Lieferengpässe wappnen, aber ohne gewachsene Lieferbeziehungen zu kappen. Wir wollen bis 2045 klimaneutral werden und zugleich ein starkes Industrieland bleiben. Das ist es, woran wir jeden Tag arbeiten. Was wir dafür brauchen, ist ein fairer und freier Welthandel. Dieser Welthandel läuft zu rund 90 Prozent über Schiffe. Die umgeschlagenen Waren können Medikamente sein, die man in Leipzig in der Apotheke kauft und deren Vorprodukte aus Indien stammen, oder Maschinen aus Bayern, die nach Amerika exportiert werden, Nahrungsmittel und Rohstoffe, ohne die unser Land nicht funktioniert. Alles läuft über die Häfen. Und dennoch: Außerhalb der Logistikcommunity und jenseits von Hafenstädten wie Bremen, Hamburg, Wilhelmshaven, Lübeck, Rostock oder Duisburg wurden die deutschen Häfen von vielen Entscheidungsträgern lange Zeit vernachlässigt. In einer Epoche zunehmender Globalisierung war es zwar beruhigend zu wissen, dass an den norddeutschen Kais und den Binnenhäfen Jahr für Jahr immer mehr Container umgeschlagen wurden. Aber wirklich relevant schien dies für viele Externe leider nicht. Es galt als selbstverständlich, dass die Waren schon irgendwie ihren Weg zu Industrie und Verbrauchern finden würden. Ähnlich verhielt es sich mit der maritimen Industrie an der Küste. Nach dem jahrzehntelangen Werftensterben schien es für Außenstehende sicherlich nicht verkehrt, dass es noch ein paar Betriebe gab, die Kreuzfahrtschiffe und U-Boote bauen konnten. Aber letztlich waren auch das Dinge, die manchen Entscheidern eher zweitrangig schienen. Diese Sicht auf die Häfen und die maritime Branche hat sich fundamental geändert. Seit uns Corona gezeigt hat, wie anfällig unsere Lieferketten waren, seit Russland die Ukraine angegriffen hat und seitdem in diesem furchtbaren Krieg jeden Tag Männer, Frauen und Kinder sterben, seit wir unsere Energieversorgung innerhalb kürzester Zeit unabhängig gemacht haben von russischen Importen ‑ seitdem ist klar: Deutsche Häfen sind mehr als Betriebsstätten der Reedereien, mehr als Kostenstellen. Unsere Häfen sind Zentralen der Energiewende, sie sind Anlaufstellen sicherer Handelsrouten, Umschlagplätze für funktionierende Lieferketten, und sie sind Schutzräume unserer kritischen Infrastruktur. Auch für unsere Tore zur Welt ist eine neue Zeit angebrochen. Der ehemalige amerikanische General Hodges hat vor gut einem Jahr in einem Interview gesagt: „Hamburg und Bremerhaven sind tatsächlich die wichtigsten Häfen, auf die die NATO angewiesen ist.“ Die Versorgung der Bundeswehr und unserer Partner hängt ab von den Häfen. Die Verlegung von Truppen zur Unterstützung unserer Verbündeten hängt ab von den Häfen. Übrigens nutzen wir das Sondervermögen für die Bundeswehr auch, um mit etwa 13 Milliarden Euro ihre maritime Ausstattung zu modernisieren. Die deutschen Seehäfen, aber auch die maritime Infrastruktur sind wichtig für unsere Sicherheit: Leitungen, Pipelines, Kabel ‑ sie alle verbinden uns mit anderen Ländern. Sie sind die Lebensadern für unseren modernen, hochindustrialisierten Staat. Diese kritische Infrastruktur müssen wir schützen: vor Stürmen, die über uns hinwegfegen, aber eben auch vor Hackern, die angreifen, und vor Terroristen, die Anschläge planen. Deshalb ist es so wichtig, dass der Bund, die Länder, die Kommunen sowie die privaten Betreiber den Schutz unserer kritischen Infrastruktur intensivieren. Beim NATO-Gipfel in Vilnius haben wir auf Vorschlag von Norwegen und Deutschland vereinbart, dass ein maritimes Zentrum der NATO eingerichtet wird ‑ für die Sicherheit kritischer Infrastruktur, die unter Wasser liegt. Bei uns in Deutschland ist das KRITIS-Dachgesetz in der Abstimmung. Für den physischen Schutz kritischer Infrastrukturen, etwa große Kraftwerke, Krankenhäuser oder auch Verkehrsinfrastruktur wie Häfen. Natürlich gibt es keinen 100-prozentigen Schutz vor Katastrophen, Sabotage oder menschlichem Versagen. Aber ohne Investitionen in unsere Sicherheit gibt es keine Freiheit, keine Stabilität und auch keinen Wohlstand, und das schließt die maritime Sicherheit ein. Die Bundesregierung wird sich deshalb verstärkt für die deutschen Seehäfen engagieren. So haben wir es im Koalitionsvertag verankert. Die neue Nationale Hafenstrategie ist in Arbeit. Sie ordnet die Aufgaben und Prioritäten für die nächsten Jahre neu. Mir ist wichtig, dass sie, wenn es geht, noch in diesem Jahr vom Kabinett beschlossen wird. Zwei Bedingungen müssen erfüllt sein, damit diese neue Strategie Erfolg haben kann. Erstens brauchen wir mehr Investitionen in die Zukunft unserer Häfen. Die Reedereien und die großen Logistiker haben in den vergangenen Jahren gut verdient. Sie haben mit ihren Gewinnen in eigene Terminals und in Logistikunternehmen investiert. Auch die großen Logistiker investieren entlang der Wertschöpfungskette. Das ist nicht nur völlig legitim, das ist gut für die Zukunft unserer Häfen. Natürlich ist auch der Staat gefordert, in erster Linie natürlich die Länder, in denen die Häfen liegen. Sie haben ja durchaus ein finanzielles Interesse am Erhalt einer wettbewerbsfähigen Infrastruktur und eine zentrale Rolle bei ihrer Entwicklung. Das sage ich jetzt mal als jemand, der früher selbst in einer anderen Freien und Hansestadt politische Verantwortung getragen hat. Als jemand, der auf Landes-, aber auch auf Bundesebene schon einige Verhandlungen geführt hat, formuliere ich das hier bewusst etwas vorsichtig. Der Bund bekennt sich klar zu seinem Teil der Verantwortung für leistungsstarke und zukunftssichere Häfen mit den notwendigen Hafeninfrastrukturen. Wir wollen gleichzeitig Impulse setzen zum Gelingen der Transformation in Richtung Digitalisierung, Klimaneutralität und Sicherung der Energieversorgung. Dazu stehen wir als Bund mit den Ländern in einem vertrauensvollen Dialog. Ich bin zuversichtlich: Zusammen werden wir gute Ergebnisse erarbeiten. Ich weiß: Aus Sicht der Länder gehört dazu auch eine Erhöhung der finanziellen Mittel. Meine Damen und Herren, unsere Häfen und die maritime Branche sind für den Arbeitsmarkt sehr wichtig. Aus meiner Zeit als Bürgermeister weiß ich: Allein der Hamburger Hafen sichert in ganz Deutschland weit über eine halbe Million Arbeitsplätze ‑ auf den Werften und im Schiffbau, bei den Zulieferern, in der Handelsflotte, in den See- und Binnenhäfen, in der Meerestechnik. 1,35 Millionen Beschäftigte halten die hafenabhängige Industrie in Deutschland am Laufen. Bundesweit sichern Häfen direkt wie indirekt bis zu 5,6 Millionen Arbeitsplätze. Fast immer sind das gut bezahlte, qualifizierte Jobs, sichere Arbeitsplätze an Land und auf See, die wir erhalten wollen. Dafür ‑ das ist mein zweiter Punkt ‑ dürfen wir nicht am Alten festhalten. Wir brauchen eine europäische Hafenpolitik, die sicherstellt, dass der Wettbewerb fair bleibt, dass sich die deutschen Häfen auf einem Level Playing Field mit den Hafenstandorten in Europa behaupten können. Und wir brauchen deutsche Häfen, die bei den Mengen, Kosten und der Produktivität besser werden. Viel hängt ganz klar davon ab, wie automatisiert sie arbeiten, wie digitalisiert die Prozesse funktionieren und wie sie Innovationen voranbringen. Wir unterstützen digitale Testfelder und innovative Hafentechnologien. So können Lieferketten und logistische Prozesse besser vernetzt werden. Das stärkt die Leistungsfähigkeit der deutschen Seehäfen für die Zukunft. Auch Deutschlands Entscheidung, bis 2045 klimaneutral zu werden, sollten wir als Chance begreifen, als Auftrag zum Handeln. Mit ihrer guten Schienenanbindung haben gerade die deutschen Seehäfen hier einen Vorteil. Den wollen wir stärken. Deshalb wird die Bundesregierung weiter daran arbeiten, dass die Container besser auf die Schiene kommen. Nicht zuletzt verspricht die Energiewende neue Aufgaben und neue Aufträge für unsere Häfen. Auch weil sie so flexibel waren, haben wir die Energieversorgung Deutschlands im letzten Winter gesichert. Dafür stehen die neuen LNG-Terminals in Wilhelmshaven, in Stade, in Brunsbüttel, in Lubmin und künftig auch in Mukran auf Rügen ‑ errichtet im neuen Deutschland-Tempo. Dieses Deutschland-Tempo muss zum Standard werden, und zwar überall in Deutschland; denn wir befinden uns mitten im größten Umbau unserer Volkswirtschaft seit Beginn der Industrialisierung. Deshalb habe ich den Ländern und Kommunen vergangene Woche im Bundestag angeboten, unsere Kräfte zu bündeln und mit einem Deutschland-Pakt gemeinsam dafür zu sorgen, dass Deutschland schneller, moderner und sicherer wird. Für die maritime Wirtschaft heißt das: Wir treffen bis Jahresende alle wichtigen Entscheidungen, die wir zum Aufbau eines Wasserstoffkernnetzes brauchen ‑ von den Häfen mit ihren neuen LNG-Terminals bis in die industriellen Ballungsgebiete unseres Landes. Wir schaffen Platz für die großen Errichterschiffe, damit die riesigen Offshore-Windkraftanlagen aufgebaut werden können. Dafür haben wir die Ausbauziele im vergangenen Jahr erhöht, um 30 Gigawatt Offshore-Windenergie bis zum Jahr 2030 zu installieren. Dafür nutzen wir auch den Klima- und Transformationsfonds in der Größenordnung von 60 Millionen Euro pro Jahr bis 2026. Eine große Chance für die deutschen Häfen und für die maritime Industrie sind auch Konverter-Plattformen. Sie sind für das Gelingen der Energiewende unerlässlich. Die Bundesregierung hat diese Bedeutung erkannt. Ich bin zuversichtlich, dass wir zügig geeignete Standorte identifizieren und Projekte vorantreiben können. Damit wir grünen Wasserstoff auf See erzeugen können, haben wir im kommenden Jahr rund 100 Millionen Euro im Haushalt veranschlagt. Robert Habeck wird sicherlich gleich noch ein bisschen mehr dazu sagen. Da passiert also eine Menge Auch die Seeschifffahrt selbst hat vor Kurzem einen großen Fortschritt für das Klima gemacht. Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation hat es beschlossen: Klimaneutralität bis 2050. Das ist ein starkes Signal, das in einer weltweit agierenden Branche natürlich auch nur weltweit funktionieren kann. Das wird überall Investitionen auslösen ‑ in innovative Schiffe, die sauberer fahren. Auch davon kann Deutschlands maritime Wirtschaft nur profitieren, weil sie schon jetzt ‑ mehr als andere ‑ auf Nachhaltigkeit setzt. Meine Damen und Herren, die Zeiten, in denen die Häfen, die Seeschifffahrt und die maritime Wirtschaft zwar wahrgenommen, aber nicht wichtig genommen wurden, sind vorbei. In den aktuellen Krisen haben sie alle hervorragend funktioniert. Dafür sage ich heute: „Danke!“ Lassen Sie uns die neue Zeit für unsere Häfen und die Seeschifffahrt gemeinsam zu einer besseren Zeit machen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei dieser Maritimen Konferenz und immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel. Schönen Dank.
in Bremen
Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz bei der DFL-Gala „60 Jahre Bundesliga“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-olaf-scholz-bei-der-dfl-gala-60-jahre-bundesliga–2223338
Wed, 13 Sep 2023 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Watzke, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Fußballer der ersten Stunde der Bundesliga und der zweiten und aller folgenden, liebe Fußballerinnen, die Sie inzwischen mit Erfolg Ihre eigene Bundesliga etabliert haben, sehr gern bin ich bei Ihnen hier im Tempodrom in Kreuzberg und spreche über ein Thema, das die Nation um alle Lagerfeuer versammeln kann, wie wir eben schon gehört haben – immer noch wie kaum ein zweites -: 60 Jahre Fußball-Bundesliga. Ganz aktuell freut es mich, dass die neue Saison, die 61., bisher nach drei Spieltagen schon drei verschiedene Tabellenführer hatte. Vielleicht stimmt es ja gar nicht, was eine Tageszeitung hier in Berlin neulich befürchtete: dass die Bundesliga am Kipppunkt sei, weil ja immer derselbe Verein Meister werde – immer! Es heißt, die Generation TikTok interessiere sich nicht mehr für Vereine, Mannschaften oder die Bundesliga, sondern nur für individuelle Stars wie Messi oder Ronaldo. Und sowieso leide die Bundesliga unter dem Altwerden ihres Publikums. Welches Kraut dagegen gewachsen ist, welche Verjüngungskur, welche Modernisierung der deutsche Profifußball braucht, das wissen Sie am besten als Verantwortliche und Macher der deutschen Fußballliga im Zusammenspiel mit dem Deutschen Fußballbund und den Aktiven und den Fans. Oder sollte ich das eher als offene Frage in den Raum stellen, die neue Antworten verlangt? Vorerst bin ich aber noch beim FC Bayern und seinen 17 Rivalen. Vielleicht setze ich mich mit dem folgenden Satz schon in die Nesseln, aber ich sage ihn doch: Aus der Hauptstadt unserer Republik gönne ich von Herzen allen den Titel, die sich ihn durch gute Arbeit verdienen – auf dem Platz, beim Einbinden des Publikums und natürlich auch beim Umgang mit den Finanzen. Ein paar Verzierungen, schöne Kombinationen, Traumpässe, wie sie früher genannt wurden, sind auf dem Platz gern gesehen – ökonomische Übersteiger sollte man sich gut überlegen. Was Berlin betrifft, so hat die Stadt im Fußball ein Alleinstellungsmerkmal verloren. Zuletzt war sie die einzige noch mit zwei Vereinen in der Ersten Bundesliga. Das stand ihr als Hauptstadt ja eigentlich ganz gut zu Gesicht. Aber ist es nicht bemerkenswert, dass nun alle Klubs aus 18 verschiedenen Orten unseres vielfältigen Landes kommen? Vom hohen Norden bis in den Schwarzwald, vom tiefen Westen bis nach Sachsen! Wo in Europa gibt es das sonst? Meine Damen und Herren, nicht nur die verschiedenen Regionen sind in der Bundesliga vertreten. Mehr als früher sind auch die Vereine oder Kapitalgesellschaften von vielfältiger Gestalt. Wir sehen traditionelle Vereinsstrukturen in Konkurrenz mit Marketingprojekten, die, so sagen Kritiker, der Seele des Spiels keinen wirklichen Platz mehr ließen. Wir sehen Klubs und Fangemeinden, die unverdrossen dem berühmten Satz folgen: „… aber entscheidend is‘ auf‘m Platz.“ Aber wir sehen auch neue Konzepte, mit denen versucht wird, Fußballbegeisterung ausdrücklich in einen sozialen Zusammenhang zu bringen, Integration und Diversität als Werte hervorzuheben, auch politische Bekenntnisse zu äußern. Nicht neu – schon lange nicht mehr – ist das starke und erfreuliche Standing, das sich der Frauen- und Mädchenfußball erspielt und erkämpft hat. Dass gleicher Lohn für gleiche Tore übrigens auf der professionellen Ebene eher früher als später der Standard werden sollte, das sehe ich weiterhin so. Überall im Profisport erleben wir den Zwang, wirtschaftlich den Kopf oben zu behalten, sich dem internationalen Wettbewerb zu stellen und sich dabei Vermarktungsstrategien auszudenken, die das Ganze tragfähig machen. Aber wir sehen auch Vereine, die mehr Abstand zum „money go round“ zu halten versuchen und die – ich zitiere eine andere Tageszeitung – mit kontinuierlich guter und unaufgeregter Arbeit gute Geschichten schreiben. Ich sehe das alles mit Interesse, halte mich mit parteilichen Äußerungen aber zurück. Dass ich als Bürgermeister einer schönen und großen Stadt zwei Mal zu Relegationsspielen angereist bin, war natürlich Ehrensache. Meine Damen und Herren, die Bundesliga der frühen Jahre hatte sehr schnell ihre glanzvollen Auftritte. Aber das Publikum blieb nach der ersten Begeisterung kritisch. Und bevor sie richtig aufgehübscht war, die Liga, musste noch manches ausgebeult, nötigenfalls überspachtelt werden, Stichwort: der Bestechungsskandal. Dieser erforderte 1971 und in den Folgejahren viel Arbeit, nachdem schon 1965 versucht worden war, den ersten Skandal per Lizenzentzug auszubügeln. Viel Aufklärungsarbeit wurde geleistet, Vereine und Spieler gelobten Besserung, aber die eigentliche Wende kam auf dem Rasen. Bayern kontra Gladbach, das Dauerduell, erwies sich als ungleich spannender als der Skandal. Es wurde an frühere Europacup-Erfolge angeknüpft. Und dann kam die Erfolgszeit der Nationalelf, die natürlich von der Bundesliga und ihrer Leistungskonzentration profitierte. Der in beiden damaligen Teilen Deutschlands sehr verehrte Sachse Helmut Schön formte eine Mannschaft, die europaweit bewundert wurde und Titel gewann. Es muss nach dem ersten Sieg in Wembley gewesen sein, als der Buchtitel berühmt wurde „Netzer kam aus der Tiefe des Raumes.“ Was das genau bedeutete, wussten anfangs vielleicht nur Hennes Weisweiler, sein Trainer, und Günter Netzer selbst. Aber die anderen ahnten, dass der Fußball auf einer höheren Ebene, auf englischem Rasen ohne Maulwurfshügel, kurz gesagt, dass der Fußball in einer anderen Liga war. Trotzdem hat es bis 1995 gedauert, also volle 30 Jahre, bis die erste Zuschauerbestmarke übertroffen wurde. Erst da erwiesen sich frühere Unkenrufe endgültig als falsch, zum Beispiel, dass zu viel Fußball im Fernsehen nachteilig und auf Dauer ruinös sein würde. Das wurde diskutiert. Im Gegenteil: Die Konkurrenz verschiedener TV-Anbieter ab den 1990ern hat der Bundesliga einen neuen Schub gegeben, trotz Rückschlägen und Krisen. Auch die Rückkehr zahlreicher Topspieler aus Italien und anderen Ländern und vor allem die Vereinigung mit dem ehemaligen DDR-Fußball taten der Bundesliga gut. Und über Zuschauerflauten – wie noch Ende der 1980er – redet heute niemand mehr. Bei dem Wandel hat sich eines aber nie wirklich geändert: Der Amateurfußball blieb die Basis und das ist er bis heute, von der F-Jugend bis zu den Super-Senioren, Boys and Girls. Aber für die Hobbyspielerinnen und -spieler war es möglich geworden, sich an einem Spielniveau zu orientieren, das auch das eigene Kicken beflügelte. Einen Traumpass zu spielen wie der schon zitierte Günter Netzer, das war fast genauso schön, wie ein Tor zu schießen. Oder eine Parade zu zeigen wie Merle Frohms. Meine Damen und Herren, was also ist der Fußball der Zukunft, und wie sieht der Profifußball der Bundesliga der Zukunft aus? Zwei Fragen, die wohl unterschiedliche Antworten erfordern, und die Antworten müssen nicht von mir kommen, aber sie müssen zusammenpassen. Sport ganz allgemein hat schon immer wichtige soziale Aufgaben gehabt und viele davon erfüllt er aus sich heraus. Denn Sport ist mittendrin in der Gesellschaft und kann integrieren. Sport steht auch für Gegensätze, für Freundschaft und Abgrenzung, für ehrlichen Wettkampf und Doping, für Spontaneität und Taktikzwänge, für Spaß und Kommerz. Er ist nicht besser und nicht schlechter als sein Umfeld, als wir. Aber er lässt uns nach denselben Regeln weiterkämpfen, egal woher wir kommen, was wir glauben, wie wir aussehen, ob wir den Schiedsrichter mögen, ob wir die Produkte kaufen, für die auf den Trikots geworben wird. Sport gibt jeder und jedem die Chance, sich durch Leistung zu bewerben und zu beweisen und durch Teamfähigkeit Erfolg zu haben. Sport bringt junge Leute von der Straße und reißt alte vom Sofa. Sport integriert. Er tut es wirklich. Meine Damen und Herren, ich glaube, dass vieles davon auch für den Profibereich gilt und er darauf bedacht sein muss, seiner Vorbildfunktion gerecht zu werden. Da gehört Respekt gegenüber denen dazu, die das Ganze tragen und letztlich auch die Millionenabschlüsse erst möglich machen. Und das sind die Fans. Es gibt Kritiker intern wie draußen. Es gibt Vorstellungen von einem besser in die Zeit passenden Fußball, einem Fußball, wo Superstars nicht für Geld vor leeren Rängen kicken. Wie dieser Fußball sein soll, ist ein weites Feld. Es reicht von der Vorstellung von noch passgenauerer Kommerzialisierung bis hin zum Gegenteil. Reclaim the game, zu Deutsch: Holt euch das Spiel zurück.- Zurück wohin? Oder: Weiter wohin? Sie merken schon: Ich überlasse es zum Schluss gern der Fachwelt und den Fans, diese Diskussionen weiterzuführen. Verfolgen werde ich sie – von der Tribüne, als interessierter Beobachter. Schönen Dank und Ihnen allen einen wundervollen Abend!
in Berlin
Rede von Bundeskanzler Scholz zur Jahrestagung des Markenverbandes am 13. September 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zur-jahrestagung-des-markenverbandes-am-13-september-2023-in-berlin-2223180
Wed, 13 Sep 2023 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Kallerhoff, sehr geehrter Herr Falke, liebe Mitglieder und Gäste des Markenverbandes, „Dafür stehe ich mit meinem Namen“, so lautete über Jahre hinweg ein berühmter Werbeslogan. Ihr Verband, der Markenverband, steht mit seinem Namen seit 120 Jahren für fairen und freien Wettbewerb, für Qualität und für Verlässlichkeit. Darauf vertrauen die Verbraucherinnen und Verbraucher, wenn sie ein Markenprodukt kaufen. Dieses Vertrauen ist hart erarbeitet. Dafür investieren Sie Zeit und Geld in Produkte, die oft auch weit über unsere Grenzen hinaus bekannt sind. Ich kann Ihnen gern berichten, dass mich, wenn ich als deutscher Bundeskanzler unterwegs bin, Vertreter vieler Länder darauf ansprechen und am liebsten deutsche Produkte kaufen würden, weil sie sich darunter etwas Qualitätsvolles vorstellen können. Wenn wir Marken schützen, dann schützen wir dieses Vertrauen. Darum sind Marken wichtig, und darum ist natürlich auch der Markenschutz wichtig. Deshalb bekenne ich mich ganz ausdrücklich zu einem starken Markenschutz in Deutschland und auch in der Europäischen Union. Markenschutz gehört zur sozialen Marktwirtschaft ebenso wie fairer und freier Wettbewerb. Ich stimme Ihnen völlig zu, sehr geehrter Herr Kallerhoff: Den fairen Wettbewerb freier Unternehmen müssen wir stärken. Schließlich ist Wettbewerb die beste Garantie für gute Qualität und möglichst günstige Preise. Deshalb brauchen wir dort, wo dieser faire Wettbewerb fehlt, ein funktionierendes Wettbewerbsrecht und auch eine Behörde, die dieses Recht durchsetzen kann. Darüber sind sich in Deutschland seit Ludwig Erhards Zeiten alle einig. Mit der 11. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen hat die Bundesregierung daher in diesem Sommer das Bundeskartellamt gestärkt und ihm zusätzliche Instrumente an die Hand gegeben. Wenn das Kartellamt künftig feststellt, dass der Wettbewerb gestört ist, weil etwa immer weniger Anbieter auf einem Markt sind, dann kann es eingreifen. Es kann Konzentrationstendenzen stoppen oder den Zugang zu diesem Markt erleichtern. Wenn im Herbst auch noch der Bundesrat dem Gesetz zustimmt, dann ist das Bundeskartellamt besser denn je aufgestellt, um fairen Wettbewerb zwischen all Ihren unterschiedlichen Marken und natürlich auch insgesamt auf den Märkten, was ja Ihr Petitum war, sicherzustellen. Sie verstehen bestimmt, dass ich hier jetzt nicht einzelne Marke herausgreife. Dafür sind einfach zu viele hier anwesend. Ich möchte stattdessen über eine Marke sprechen, die Sie alle miteinander verbindet, Sie alle hier im Raum, meine Damen und Herren, und natürlich auch uns als Bundesregierung und alle in Deutschland. Das ist die Marke Deutschland. Denn sie spielt für die wirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten, für den ökonomischen Erfolg Ihrer Unternehmen und von uns allen eine ganz zentrale Rolle. Ich habe es eben schon gesagt: In vielen Ländern hilft uns der gute Ruf. Als jemand, der eine Anwaltskanzlei gegründet und ganz erfolgreich betrieben hat, kann ich Ihnen sagen: Selbst dann, wenn man nicht werben darf, gibt es so etwas wie eine Marke. Jeden Tag kommen Kunden zu einem, von denen man gar nicht wusste, warum. Aber irgendwer muss etwas weitererzählt haben. Deshalb gehört zur Markenpflege natürlich nicht nur die teuer gekaufte Public Relations und die ganze Werbung, sondern es gehört auch dazu, dass man etwas anbietet, was wirklich Qualität hat. Das gilt natürlich auch für unser eigenes Land. Es ist mein Ziel als Bundeskanzler dieses Landes, dass wir unseren Wirtschaftsstandort stärken und uns auf die Zukunft vorbereiten, die vor uns liegt. Deshalb an dieser Stelle auch ein paar Worte zur aktuellen Lage: Wir sind eine Exportnation. Immer wieder, fast rituell, können wir feststellen, dass in dem Augenblick, in dem das passiert, was Exportnationen immer einmal wieder passiert, dass nämlich die Weltwirtschaft schwächelt und wir es auch merken, alle anfangen, das infrage zu stellen. Das ist aber nicht richtig. Denn die Flautephasen sind diejenigen dazwischen, und die eigentlichen sind die, um die es uns geht. Ich jedenfalls finde es völlig überzeugend, dass wir so viele Unternehmen in Deutschland haben, auch kleine und mittelständische, die den Weltmarkt in Betracht ziehen, wenn sie um ihre Marke und um ihre Produkte kämpfen. Wir sollten unseren Charakter als Exportnation nicht infrage stellen. Das ist ein Erfolgsmodell für unser Land. Natürlich sind wir auch herausgefordert, weil die Energiepreise jetzt in die Höhe gegangen sind, übrigens aus Gründen, die man ziemlich einfach verstehen kann. Russland hat zum Beispiel etwa 180 Milliarden Kubikmeter Gas nach Europa geliefert, eine ziemliche Menge. Davon sind noch gerade einmal 40 verblieben. Nur in Südosteuropa kommen sie noch an, und ein paar Sachen über Flüssiggas an einigen Häfen. Aber wenn die Lieferung von Gas, die über Jahrzehnte so organisiert war, für uns plötzlich weitgehend, zu 50 Prozent, wegfällt, übrigens durch Entscheidungen der russischen Regierung, dann ist das eine große Herausforderung. Denn wenn wir es gut machen, dann kaufen wir uns das Gas woanders. Aber die Märkte sind gerade nicht jahrelang darauf vorbereitet, dass nun plötzlich eine Gasnachfrage aus Europa in Höhe von 140 Milliarden Kubikmetern dazukommt. Das haben wir in den plötzlichen Preissteigerungen gemerkt. Was haben wir getan, um damit umzugehen? ‑ Wir haben erst einmal subventioniert. Wir haben uns das Recht gegeben, mit zusätzlichen Staatsschulden in Höhe von 200 Milliarden Euro durch eine solche Situation zu kommen. Es ist besser gelaufen. So, wie es aussieht, haben wir so viel nicht gebraucht. Aber das war unsere eine Reaktion. Die andere aber, die mindestens ebenso wichtig ist, ist, dass wir uns dafür entschieden haben, zu sagen: Wir sorgen dafür, dass wir auf gute Weise und möglichst preiswert von woanders unsere Energielieferungen – dabei geht es aktuell um die fossilen – hereinbekommen können. Wir haben in kürzester Zeit an den norddeutschen Küsten Flüssiggasterminals errichtet. Wir sind dabei, sie weiter auszubauen und weitere zu errichten. Wir bekommen mehr Gas aus Norwegen und über die westeuropäischen Häfen. Es ist eingetreten, was niemand diesem Land im vergangenen Herbst zugetraut hat, nämlich, dass wir keinen kalten Winter in den Wohnungen und in den Fabriken hatten und dass wir es geschafft haben, die Energieversorgung dieses Landes sicherzustellen. Auch das hat unseren guten Ruf in der Welt wiederhergestellt. Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren haben wir von niedrigen Zinsen sehr profitiert. Viele, wahrscheinlich auch viele hier, haben schon Reden gehalten und bemerkt: So geht es nicht weiter, dass man, wen man sein Geld irgendwo auf die Bank bringt, in Wahrheit noch etwas dazugeben muss. Das ist ja die Situation, die wir zuletzt gespürt haben. Aber wenn sich dann plötzlich etwas ändert, die Europäische Zentralbank das tut, was sie als stabilitätsverpflichtete Zentralbank tun muss, und die Zinsen wieder auf ein historisch niedriges Niveau steigen, dann führt das natürlich zu Anpassungskrisen, weil sich überall alle auf die Situation mit ganz geringen Zinsen eingestellt hatten. Dabei sind wir jetzt eigentlich nur wieder auf dem niedrigen Niveau vieler Jahrzehnte davor. Weil der Wohnungsbau eine Rolle spielt, nur einmal dieser kleine Hinweis: Als wir schon einmal 700 000 Wohnungen in einem Jahr gebaut haben, in Westdeutschland, 1972, lagen die Zinsen bei neuneinhalb Prozent! Man muss also schon wissen, woran die Dinge liegen, die man zu bewältigen hat. In diesem Fall sage ich: Das ist etwas, was eigentlich ein Stück Normalisierung darstellt. Schade, dass es so plötzlich gekommen ist und kommen musste. Natürlich ist es ein Anpassungsprozess, mit dem wir jetzt zu kämpfen haben. Aber dass es unsere Zukunftsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit infrage stellen würde, wenn die Zinsen nicht null, sondern vier Prozent betragen, das kann niemand wirklich ernsthaft behaupten. Aus meiner Sicht bedeutet das aber, dass wir jetzt mit dieser Aufgabe umgehen müssen und, was zum Beispiel den hier nicht ganz so relevanten Wohnungsbau betrifft, dafür sorgen müssen, dass er vorankommt und Wohnungen plant, die sich die meisten Bürgerinnen und Bürger leisten können. Natürlich gibt es auch noch Versäumnisse, die hausgemacht sind. Sie haben vielleicht etwas mit dem Deutschlandtempo zu tun, über das ich eben geredet habe, als wir in kürzester Zeit Flüssiggasterminals an den norddeutschen Küsten errichtet haben. Wir müssen schneller werden. Wir brauchen mehr Tempo. Wir können uns nicht in die Situation ergeben, dass es nun eben über Jahrzehnte immer weiter so gekommen ist, dass lauter Vorschriften jedes Handeln einschränken und beschränken und dass es vor allem sehr, sehr lange dauert. Als diejenigen, die in den Gemeinden, in den Landkreisen, in den Ländern und im Bund Verantwortung haben, müssen wir uns auch einmal fragen, ob diese in den letzten 30, 40, 50 Jahren allmählich gebauten Regeln überhaupt noch administrierbar sind. Was macht eigentlich solch ein armer Mitarbeiter in einem Landratsamt, wenn er eine Genehmigung für irgendeine neue Anlage erteilen soll, die noch nie erteilt wurde? Fünf Jahre lang Gutachten bestellen und gucken? Einfach unterschreiben? Es ist ja die Frage, was die Regeln sind, die wir haben wollen. Deshalb, finde ich, brauchen wir jetzt eine große, große Anstrengung, in der wir alles dafür tun, dass Entscheidungen schnell und zügig getroffen werden können, weil das die Grundlage dafür ist, dass man sie überhaupt in Angriff nimmt und dass man darauf setzen kann, dass sie schnell und zügig umgesetzt werden. Das ist es, was wir als Deutschlandpakt jetzt in unserem Land brauchen. Tempo, das ist also die große Frage, um die es geht. Wir sollten sie auch nicht verwirrt diskutieren, indem man alles Mögliche noch mit hineinpackt, was man schon immer mal sagen wollte – das ist ja beliebt. Sondern es geht wirklich darum: Muss es sechs Jahre dauern, bis eine Windkraftanlage genehmigt ist, oder geht es in sechs Monaten? Viele von Ihnen werden Solaranlagen auf Ihre Fabrikhallen gepackt haben. Aber viele von Ihnen würden mir, wenn wir ein Zweiergespräch hätten, berichten: Anschluss der Anlage: ein Dreivierteljahr! Weil es die Netzbetreiber nicht schaffen; weil die Regeln nicht da sind; weil irgendein Gutachter sagen muss: Alles fein gemacht. Ich glaube, das sind all die Dinge, die wir ändern müssen. Wenn wir das hinbekommen, dann wird das, glaube ich, eine eigene Dynamik für unsere Volkswirtschaft entfalten. Ich jedenfalls will alles dafür tun, dass das nicht mehr immer nur beredet, sondern auch tatsächlich gemacht wird. Weil es eine Rolle für das spielt, was Sie sich trauen, will ich auch etwas über Energiepreise in unserem Land sagen und sagen, worauf Sie setzen können. Wir sind in einer großen Umbruchsphase. Wir haben unsere Energieversorgung jahrzehntelang im Wesentlichen auf Kohle und Gas und ein bisschen auf Atomkraft gebaut. Das hat funktioniert und ist der Weg, den wir eingeschlagen haben. Noch viel mehr haben ganz viele Unternehmen Produktionsprozesse, die technisch auf dem beruhen, was seit 200 Jahren mit der Industrialisierung verbunden ist, nämlich der Nutzung fossiler Ressourcen, sodass es weit über das hinaus, was wir an Energie für die Stromproduktion verbrauchen, noch viele Bereiche gibt, die solche fossilen Ressourcen einsetzen. Wenn wir jetzt wissen, dass das nicht mehr lange so weitergehen wird, weil wir uns weltweit verabredet haben, um die Mitte dieses Jahrhunderts CO2-neutral zu wirtschaften – Deutschland will das 2045 erreichen. Dann ist das zuallererst eine Frage, bei der ganz viele unsicher sind, bei der sich alle fragen, ob das überhaupt funktionieren kann und wie das gehen soll, wenn man als Unternehmer, als Unternehmerin dann selbst eine Entscheidung trifft, ob man darauf setzen kann, dass das, was man dabei voraussetzt, existiert und existieren wird. Das sind zentrale Fragen. Darum ist es mir wichtig, auch diese Gelegenheit beim Markenverband, bei dem es um die Wirtschaft geht, zu nutzen, um Sie dazu zu ermuntern, darauf zu setzen, dass wir das hinbekommen werden. Ich kann Ihnen das gerade im Bereich der Energieversorgung sagen, die für Sie ja wichtig wird. Denn tatsächlich ist CO2-Neutralität in vielen Fällen Elektrifizierung von Prozessen, die bisher anders gewesen sind. Wenn wir über CO2-neutralen Stahl diskutieren, dann geht es um Direktreduktionsanlagen, für die jetzt statt Kohle Strom eingesetzt wird und Gas oder Wasserstoff. Wenn wir das Gleiche in der Chemie diskutieren, dann geht es um Unmengen mehr Strom als vorher statt dem, was wir bisher mit fossilen Ressourcen zu machen versucht haben. Wenn wir über Prozesse in vielen anderen der Grundstoffindustrien diskutieren, dann ist es immer wieder die gleiche Frage. Ob es elektrische Automobile, Trucks, Wärmepumpen und was auch immer sind, es geht um Strom. Darum haben wir ein paar Weichen gestellt. Die erste ist, die Wahrheit zu sagen, dass wir nämlich in kurzer Zeit viel mehr Strom brauchen als heute. Jahrelang ist behauptet worden, es gehe nur um den Umbau der bestehenden Produktionsmengen durch andere Produktionsweisen, aber es könne bei der Menge bleiben, die wir haben. Wegen dessen, was ich eben gesagt habe, ist das aber nicht wahr. Wir müssen also wahrscheinlich schon am Ende dieses Jahrzehnts etwa 800 Terawattstunden Strom in Deutschland produzieren. Heute sind es 650. Wir werden in den 30er-Jahren 1000 Terawattstunden brauchen. Darum ist Tempo auch hierbei ganz zentral. Es hängt alles miteinander zusammen. Wir haben also diese Wahrheit gesagt. Die zweite ist: Wir haben alle Gesetze durchforstet und im vergangenen und in diesem Jahr schon viele Gesetzesänderungen gemacht, deren einziges Ziel es ist, den Ausbau der Erzeugungskapazität für erneuerbaren Strom und der Stromleitungen, die man dafür in Deutschland braucht, voranzutreiben. Die ersten Ergebnisse sehen wir. Ich habe alle aufgefordert, sich zu erschrecken, und gesagt: Wir brauchen um die fünf Windkraftanlagen an Land pro Tag, damit das hinhaut mit 80 Prozent Strom aus Erneuerbaren, mehr als heute im Jahr 2030. Wir haben im Monat Juni die Zahl der Genehmigungen gehabt, die man braucht, damit das mit dem Bau hinhauen kann. Wenn wir das Tempo halten, dann klappt es also. Das Gleiche gilt für die Solaranlagen: 30 Fußballfelder pro Tag. Auch das haben wir schon erreicht. Wir schauen immer, ob es noch mehr sein muss und ob wir das Tempo beschleunigen müssen. Wir haben auch viele Gesetze gemacht, damit die Stromleitungen, verdammt noch einmal, endlich fertig werden. Es kann doch nicht sein, dass wir eine so existenzielle Entscheidung treffen, immer überparteilich: Rot-Grün, Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot, aus der Atomenergie und der Kohleverstromung auszusteigen und dass wir das Tempo bei dem, was wir dann anstelle dessen brauchen, niemals aufgenommen haben. Das ist doch die Realität. Das muss jetzt anders werden. Dass wir einen Streit darüber hatten, ob Stromleitungen doch lieber unter der Erde verlegt werden sollen, und dass das dazu geführt hat, dass wir viele Jahre später fertig werden, ist doch Wahnsinn, wenn man weiß, dass diese Stromleitungen genau dahin führen, wo es jetzt gebraucht wird. Jetzt beschweren sich die örtlichen Verantwortlichen, die aber selber dafür mitgekämpft haben, dass es lange dauert. Das kann man nicht mehr so weitermachen! Deshalb sage ich Ihnen: Wir werden es hinbekommen. Wir monitoren die Situation. Wir schauen uns das rückwärts an: Was brauchen wir 2030? Werden wir das alles gebaut bekommen? Was müssen wir ändern, damit das funktioniert? Warum erzähle ich solche Details? Ich erzähle sie, um Sie dazu zu ermuntern, darauf zu setzen, dass es klappt, und Ihre Investitionsentscheidungen gewissermaßen spekulativ darauf zu setzen, dass der Staat einmal funktioniert. Das ist jedenfalls das, was wir vorhaben. Nur weil ich schon dabei bin, will ich auch das gern noch sagen: Wir werden das übrigens auch für die andere Frage hinbekommen, die wir brauchen. Das ist das Wasserstoffnetz und die Wasserstoffproduktion. Denn wenn wir Wasserstoff statt Gas, Kohle und Öl einsetzen wollen, dann müssen wir ihn in rauer Menge haben. Einen Teil werden wir hierzulande herstellen können, und einen Teil werden wir wie auch heute alle solche Sachen importieren. Aber wir werden noch in diesem Jahr, spätestens Anfang nächsten Jahres die Entscheidung treffen, dass wir eine Wasserstoffleitungsinfrastruktur bauen. Das ist wahrscheinlich eine Investition in Höhe von über 20 Milliarden Euro, die privatwirtschaftlich jetzt begonnen wird und sich in 30 Jahren zurückverdient. Aber das muss man miteinander zustande bekommen. Wir bereiten die Voraussetzungen dafür vor, dass das geht, damit Sie, wenn Sie Ihre Technik, mit der Sie Ihre tolle Marke herstellen, so organisieren, dass sie darauf ausgerichtet ist, dann auch alles als Angebot haben werden. Für mich sind das wichtige Dinge, die wir für die Zukunft brauchen, und wir wollen auch gern weiter daran arbeiten, dass das passiert. Insofern sind der Deutschlandpakt und die damit verbundenen Beschleunigungen für uns eine große Herausforderung. Wir werden das Stück für Stück machen, viele Dinge. Ich freue mich über jeden, der noch einen ganz konkreten praktischen Vorschlag in dieser Frage hat. Vielleicht noch der Satz: praktische, konkrete Vorschläge. Auch Sie in Ihrem neuen Amt ermuntere ich dazu. Wir erhalten jeden Tat Vorschläge von Verbänden, in denen steht: Alles muss besser werden! Dazu kann ich nur sagen: Einverstanden! Wir hätten es gern mehr im Detail. Das andere wollen wir auch. Das ist also, glaube ich, eine gute Sache. Aber es gibt viel, was wir voranbringen können. Ich will nicht alles ansprechen, was wir uns vorgenommen haben. Aber weil wir über die Marke Deutschland und über die Frage, wie sie stehen kann, reden: Natürlich wissen wir, dass man, wenn man in einer Phase ist, in der das Wachstum gerade schwächelt – wir können hoffen, dass es nächstes Jahr besser wird – trotzdem Anregungen dafür geben muss, dass alle jetzt investieren. Sie als Markenvertreter wissen, was passiert, wenn alle abwarten. Sie haben ein super Produkt, und Ihre Kunden sagen: In zwei Jahren ist es auch noch super; also warte ich mal zwei Jahre. Wenn eine ganze Volkswirtschaft aus lauter Entscheidungsträgern in Unternehmen oder privaten Bürgerinnen und Bürger besteht, die sagen: „Na, schwierige Zeit! Warten wir mal ab!“, dann kommen wir wirklich in ökonomischen Trouble. Übrigens kommen wir auch dann in ökonomischen Trouble, wenn sich die ganzen Politikunternehmer ständig zu Wort melden, auf Baisse spekulieren und das Land schlechtreden. Dann müssen wir irgendwann Hunderte Milliarden an Schulden machen, um die schlechte Lauen wieder zu vertreiben. Das ist, finde ich, keine günstige Variante. Deshalb wäre es aus meiner Sicht besser, wir würden uns aufraffen und die Probleme anpacken. Aber wir wollen es leicht machen, jetzt mutig zu sein. Deshalb gehört zu dem, was Sie in den Zeitungen als Wachstumschancengesetz gelesen haben, auch die Aussage: Es gibt, zum Beispiel die Möglichkeit, Sonderabschreibungen für bewegliche Güter vorzunehmen – auch für den Wohnungsbau haben wir das getan – schlichtweg damit Sie bei der Frage: „Warte ich noch zwei Jahre, oder mache ich es jetzt?“ sagen: Jetzt! Das ist die Idee dahinter. Deshalb machen wir es auch nicht unbefristet, sondern vorübergehend, damit Sie nämlich jetzt gewissermaßen diese besondere Situation nutzen, um den eigenen Mut belohnt zu bekommen. Ein Satz über unsere Zukunft: Was ist hier los? Wir investieren ziemlich viel aus öffentlichen Mitteln, viel mehr als viele denken: 54 Milliarden Euro aus dem Haushalt, Allzeithoch, 58 Milliarden Euro aus einem Klima- und Transformationsfonds, alles nächstes Jahr! In früheren Zeiten hätte man das ein gigantisches Konjunkturprogramm genannt. Das ist es nicht, weil es so investiv ausgerichtet ist und auch nicht die Politik der Zentralbank konterkarieren soll. Aber dahinter steht richtig Power, und sie wird sich in unserer Volkswirtschaft auch bemerkbar machen. Das Gleiche gilt für das, was wir an privatwirtschaftlichen Investitionen in unserem Land erwarten dürfen. Batteriefabriken werden in Deutschland errichtet. Ein amerikanischer Autohersteller hat sich dazu entschieden, seine Europafabrik in Deutschland zu errichten. Zuletzt war es Ford in Köln. Das ist bald hundert Jahre her. Jetzt kommt noch Tesla nach Brandenburg und hat es dort gemacht. Aber während das passiert und sie über Produktionsausweitungen nachdenken, diskutieren einige darüber, dass Deutschland ein schlechter Standort sei. Das ist unplausibel. In der Welt wird gerade diskutiert: Wie können wir uns sicherer aufstellen? Wie können wir sicherstellen, dass wir nicht von einer einzelnen Region abhängig sind, sodass Schwierigkeiten es uns nicht unmöglich machen, unsere ökonomische Tätigkeit aufrechtzuerhalten? Wie können wir deshalb dafür sorgen, dass wir in allen Weltregionen Halbleiterfabriken haben und dass Chips produziert werden? Alle sagen: Wir machen das jetzt nicht nur in Asien, sondern auch in Amerika, und wir machen das in Europa. In Europa entscheiden sich praktisch alle relevanten industriellen Player der Welt dafür, das in Deutschland zu tun, im Saarland, in Magdeburg, in Dresden. Dort werden zig Milliarden investiert, privatwirtschaftlich. Der Staat gibt auch noch etwas dazu, weil es so eine Neuerung ist. In einer solchen Situation darüber zu reden, dass das ein eigenwilliger Standort sei, ist unplausibel. Sie bekommen auch woanders die öffentliche Förderung. Sie haben sich aber für den Standort Deutschland entschieden, übrigens auch deshalb, weil wir auch bei Halbleitern noch nie schlecht waren und immer ganz substanzielle Anbieter und Unternehmen hier in diesem Land gehabt haben, bis heute. Das alles zusammen macht diese Kraft aus. Deshalb – ich komme zum Schluss – bin ich sehr dankbar dafür, dass ich hier sprechen konnte, dass ich gewissermaßen zu Ihrem Jubiläum hier das Wort ergreifen kann, aber dass ich Ihnen auch versichern kann, dass es auch weiterhin gelingen wird, dass die Marken, die aus Deutschland kommen, sich selbst in diesem Land und weltweit behaupten, und zwar wegen der guten Qualität, wegen der unternehmerischen Leistung, wegen der guten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wegen Forschung und Entwicklung und natürlich wegen des Schutzes der Marken, aber auch deswegen, weil Sie mit Ihren Marken – denn wir alle zusammen machen das aus – einen sehr großen Beitrag dafür leisten, dass es klappt mit Ihren Marken und dass es klappt mit der Marke Deutschland. In diesem Sinne, schönen Dank für die Einladung!
Rede von Bundeskanzler Scholz bei dem Internationalen Friedenstreffen der Gemeinschaft Sant’Egidio am 12. September 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-dem-internationalen-friedenstreffen-der-gemeinschaft-sant-egidio-am-12-september-2023-2223004
Tue, 12 Sep 2023 11:18:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Professor Riccardi, sehr geehrter Herr Professor Impagliazzo, Eminenzen, Exzellenzen, sehr geehrte Repräsentanten der Kirchen und Religionen, meine Damen und Herren, herzlich Willkommen in Deutschland ‑ oder vielmehr: Ein herzliches „Willkommen zurück“! Es freut und ehrt uns, dass Ihr Friedenstreffen nun bereits zum vierten Mal in Deutschland stattfindet. Sie sind hier nicht nur allzeit gern gesehene Gäste ‑ Sie sind auch zu Besuch bei Freunden. Mit Ihrem Treffen in Berlin unterstreichen Sie die Verbundenheit zwischen Ihrer Gemeinschaft und einem Land ‑ Deutschland ‑, dessen eigener Weg zum Frieden gesäumt ist von furchtbaren Irrtümern, von imperialer und nationalistischer Verblendung, die Europa und die Welt zwei Mal in unvorstellbares Leid gestürzt hat. Und gerade deshalb ist Deutschland heute ein Land, das jedem aus tiefer Überzeugung die Hand reicht, der Frieden wagt. Zu Beginn möchte ich Ihnen von einem Buch erzählen, das ich über den Sommer endlich lesen konnte und das mich seither beschäftigt. Einige von Ihnen kennen es sicherlich. Es stammt von dem amerikanischen Professor Graham Allison, der Titel lautet: „Destined to War“ ‑ zum Krieg verdammt. Ausgehend vom antiken Gegensatz zwischen Sparta und dem aufsteigenden Athen beschäftigt Allison sich mit der sogenannten „Falle des Thukydides“, also mit der Annahme, dass der Aufstieg neuer Großmächte zwangsläufig in einen Krieg mit dem bisherigen Hegemon mündet. Dabei schwingt natürlich die aktuelle, äußerst beunruhigende Frage mit, ob Krieg in einer zunehmend multipolaren Welt wie der unsrigen am Ende unvermeidbar ist. Die rein statistische Antwort des Buches lautet: In zwölf der 16 untersuchten Fälle kam es in den zurückliegenden fünf Jahrhunderten der Menschheitsgeschichte in solchen Konstellationen zum Krieg. Für den Pessimisten folgt daraus: Es steht schlecht um den Frieden ‑ nämlich 3:1 für den Krieg. Sant’Egidio aber hat sich mit einer solchen Arithmetik niemals abgefunden. Im Gegenteil: Ihre ganze Bewegung gründet in der Absage an eine vermeintliche Logik des Kriegs. Sie setzen ihr die „audacity of peace“ entgegen, die Kühnheit des Friedens. Deshalb sind Sie heute hier. Deshalb bin auch ich heute sehr gerne gekommen, denn ich teile nicht nur Ihre Zuversicht, sondern auch Ihr Ziel: Frieden zu wagen. Doch mit dieser Feststellung allein ist es in der Praxis nicht getan. Wir alle wissen das. Heute sehnt sich wohl niemand in Europa so sehr nach Frieden wie die Ukrainerinnen und Ukrainer. Jeden Tag verteidigen sie ihre Freiheit, ihre Heimat, ihr Leben gegen die imperialen, historisch verblendeten Machtfantasien des Herrschers im Kreml. Der Friedensplan, für den Präsident Selensky weltweit wirbt, bringt diese Friedenssehnsucht klar zum Ausdruck. Und zugleich müssen wir uns vor Schein-Lösungen hüten, die „Frieden“ lediglich im Namen tragen. Frieden ohne Freiheit heißt Unterdrückung. Frieden ohne Gerechtigkeit nennt man Diktat. Deshalb stehen wir voll und ganz hinter den Forderungen der Ukraine nach einem gerechten Frieden, der die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen respektiert und der die Prinzipien der territorialen Integrität und Unabhängigkeit achtet. Deshalb unterstützen wir die Ukrainerinnen und Ukrainer bei der Verteidigung ihrer Heimat. Wir tun das auch, indem wir Waffen liefern. Diese Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen ‑ und wir machen sie uns nicht leicht. Gerade weil wir um die Wirkung der von uns gelieferten Waffen wissen, stimmen wir uns eng ab und prüfen immer wieder sehr genau, was in der gegenwärtigen Situation geboten und was verantwortlich ist. Aber das ändert nichts an meiner Grundüberzeugung: Das Recht muss die Gewalt überwinden, nicht umgekehrt. Alles andere hieße, das Recht des Stärkeren anzuerkennen. Wohin dieser Weg führt, das haben uns Jahrhunderte kolonialer Ausbeutung und kriegerischer Zerstörung doch gelehrt. Für mich folgt daraus: Wir werden die Ukraine in ihrem Recht auf Selbstverteidigung weiter unterstützen ‑ so lange wie nötig. Das halte ich nicht nur politisch und strategisch für erforderlich, sondern auch friedensethisch für geboten. Der Deutschen Bischofkonferenz bin ich dankbar dafür, dass sie dies in ihrer Erklärung gleich nach Beginn des russischen Angriffskriegs ganz unmissverständlich klargestellt hat. „Der Aggression widerstehen ‑ den Frieden gewinnen“, so haben die Bischöfe ihre Erklärung überschrieben ‑ und zwar in dieser Reihenfolge. Weil das eine, nämlich die eigene Existenz gegen den Aggressor zu verteidigen, überhaupt erst die Voraussetzung dafür ist, dass eine unabhängige, freie Ukraine den Frieden zurückgewinnt und auch Russlands Führung zu echten Verhandlungen bereit ist. Von dieser Realität muss unsere Suche nach Frieden ausgehen. Deshalb bin ich Ihnen dankbar, Herr Professor Riccardi, dass Sie neben der Hoffnung auf Frieden zugleich immer auch Realismus im Tun einfordern und die Arbeit von Sant’Egidio daran ausrichten. Wenn in den jüdisch-christlichen Schriften davon die Rede ist, dass der Wolf beim Lamm Schutz findet, dass Kalb und Löwe zusammen weiden, dann ist das ja leider weder damals noch heute die Beschreibung unserer Wirklichkeit, sondern die Verheißung und Aufforderung, für eine andere, bessere, friedvollere Welt zu arbeiten. Anders ausgedrückt: Wir dürfen zwar die Augen nicht davor verschließen, dass der Mensch des Menschen Wolf sein kann. Aber wir dürfen uns mit diesem Verdikt auch nicht abfinden. Zumal dieser berühmte Satz von Plautus noch einen zweiten Teil hat. Vollständig lautet er: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, zumindest solange man sich nicht kennt. Damit bin ich wieder bei Sant’Egidio und dem Prinzip, das Ihre Gemeinschaft seit Ihrer Geburtsstunde im Jahr 1968 prägt. Sie setzen auf die friedensstiftende Kraft der Begegnung, des gegenseitigen Kennens und Erkennens, des Lernens voneinander. Es ist diese Kraft, die früher oder später zu der Erkenntnis führt, dass wir alle Menschen sind – ausgestattet mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und gleicher Würde, egal, wo man geboren wurde, egal, ob oder woran man glaubt. Diese Erkenntnis im Alltag durchzusetzen, ist die Aufgabe aller Staaten, die sich zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bekannt haben. Zugleich, und das zeigt die erfolgreiche Arbeit von Sant’Egidio, liegt es in der Macht und in der Verantwortung von religiösen Führern wie Ihnen, diese Erkenntnis unserer gemeinsamen, verbindenden Humanität zu stärken, gerade weil im Namen der Religion nicht nur Frieden geschaffen, sondern eben auch Kriege geführt wurden und immer noch geführt werden, gerade weil Religion missbraucht wurde und missbraucht wird, um Frauen und Männern ihre Menschenrechte vorzuenthalten. Umso bedeutender ist es, wenn Sie Ihre Stimmen gemeinsam für den Frieden und für gegenseitigen Respekt erheben, so wie Sie, Großimam al-Tayyeb, als Sie im Jahr 2019 gemeinsam mit Papst Franziskus erklärt haben, „dass die Religionen niemals zum Krieg aufwiegeln und keine Gefühle des Hasses, der Feindseligkeit, des Extremismus wecken und auch nicht zur Gewalt oder zum Blutvergießen auffordern“ dürfen. Diese Erkenntnis, dass nicht der Krieg heilig ist, sondern der Frieden, ist zum gemeinsamen Fundament Ihrer Arbeit geworden. Sie folgt dem Prinzip, dass derjenige, der Frieden will, den Frieden auch vorbereiten muss. Wie das geht, das hat Sant’Egidio rund um die Welt bewiesen, etwa durch Ihre erfolgreiche Vermittlung im Bürgerkrieg in Mosambik, durch Unterstützung bei der Entwaffnung von Kämpfern in der Zentralafrikanischen Republik, durch Ihre Versöhnungsarbeit im Südsudan, zusammen mit Vertretern der anglikanischen Kirche. Diese Aufzählung ließe sich verlängern, und ich will Sie ausdrücklich ermutigen, Ihre humanitäre Arbeit in der Ukraine mit aller Kraft fortzusetzen. Dazu zählt Hilfe für Geflüchtete, dazu gehören Gespräche über den Austausch von Gefangenen. Oft sind es ja genau solche Fortschritte im Kleinen, die helfen, irgendwann den Boden für ein Ende der Gewalt und damit für einen gerechten Frieden zu schaffen. Daran arbeiten auch wir. Zuletzt ist es der Ukraine mit unserer Unterstützung und der vieler anderer befreundeter Länder gelungen, wichtige Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas an einen Tisch zu bringen, darunter China, Indien, Ägypten, Saudi-Arabien und Brasilien. Gemeinsam arbeiten wir nun daran, die unterschiedlichen Elemente der ukrainischen Friedensformel und Grundsätze für eine Friedenslösung weiter voranzubringen. Das ist nicht einfach ‑ auch mit Blick auf die unterschiedlichen Wahrnehmungen des russischen Krieges in der Welt -, und das kostet Mühe und Zeit, Zeit, die wir eigentlich nicht haben, weil Russland in der Ukraine unterdessen weiter bombardiert, foltert und tötet. Doch so sehr die Zeit drängt – Papst Franziskus hat recht, wenn er die Arbeit für den Frieden als die „Arbeit geduldiger Handwerker“ bezeichnet. Das ist eine treffende Beschreibung, weil daraus die Erkenntnis spricht, dass Frieden nicht vom Himmel fällt, sondern das Produkt menschlicher Anstrengung ist, und dass der Weg zum Frieden vom Kleinen hin zum Großen führt. Handwerker des Friedens zu sein, das heißt, für gleiche Rechte, gleiche Pflichten, gleiche Würde jeden Tag einzutreten. Der Weg beginnt dort, wo wir dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche überall auf der Welt gute Bildungschancen haben, wo wir ernsthaft und solidarisch gegen Armut und gegen die Folgen des menschengemachten Klimawandels kämpfen, wo wir Frauen und Männer bei uns aufnehmen, die vor Krieg und politischer Verfolgung fliehen. Das ist ein Gebot der Menschlichkeit! Zugleich müssen wir dafür sorgen, dass die Akzeptanz dafür in unseren Gesellschaften erhalten bleibt. Auch das gehört hierher, wenn wir Frieden als „gesellschaftlichen Frieden“ verstehen und wenn wir den großen Vereinfachern, den Schwarz-Weiß-Malern, den Angstmachern und den Populisten etwas entgegensetzen wollen. Diesen Weg des Friedens sollten wir wagen zu gehen, und zwar in wachsender Gemeinsamkeit. Denn in einer Welt mit vielen neuen Kraftzentren, in Gesellschaften, die immer vielfältiger und individueller werden, müssen wir alle neu lernen, in gegenseitigem Respekt für unsere Unterschiede zusammenzuleben. Das gilt in der multipolaren Welt. Das gilt auch in einem Land wie Deutschland, in dem heute Menschen vieler verschiedener Religionen und Weltanschauungen zusammenleben. Hier nicht das Trennende zu suchen, sondern das Verbindende, nämlich die unantastbare Würde jeder und jedes Einzelnen, auch das bedeutet „Frieden zu wagen“. Was immer ich als deutscher Bundeskanzler dazu beitragen kann, das will ich gerne tun. Für den unermüdlichen Einsatz, mit dem Sant’Egidio und Sie alle Frieden wagen, sage ich Ihnen allerdings heute von ganzem Herzen: Vielen Dank!
in Berlin
Roth: Teilhabe, Nachhaltigkeit und Erinnerungskultur stärken
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/haushaltsrede-2222724
Wed, 06 Sep 2023 00:00:00 +0200
Haushaltsdebatte im Bundestag
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort – Kreativität, Fortschritt, Freiheit, Offenheit, Menschlichkeit – all das ist Kultur, ist die Grundlage unseres Zusammenlebens. Als ich an dieser Stelle meine erste Haushaltsrede als Staatsministerin für Kultur und Medien hielt, war der Krieg gegen die Ukraine einen Monat alt. In der Zwischenzeit sind 560 Tage und Nächte brutalen Tötens und systematischen Zerstörens vergangen. Eineinhalb Jahre Krieg gegen die Ukraine, Krieg gegen eine offene und demokratische Gesellschaft, Krieg gegen ihre Kultur. Aber wir sind nicht machtlos. Wir sind nicht schwach. Unsere Stärke hat Namen: Freiheit und Solidarität. Es ist das Privileg von Demokratinnen und Demokraten, anderen im Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung zur Seite zu stehen, und genau das tun wir. Als Kulturstaatsministerin kämpfe ich für die Kultur und ebenso für die Kultur der Demokratie, heute mehr denn je. Denn es geht um die Freiheit der Kunst, um die Freiheit der Kreativität. Eine offene Gesellschaft lebt von Kreativität, lebt von widerstreitenden Ideen, und dafür brauchen wir die Vielfalt der ganzen Gesellschaft, brauchen wir Diversität, brauchen wir Respekt und Wertschätzung füreinander. Eine solche Kulturpolitik wird auch Widerspruch aushalten können und aushalten müssen. Unbedingt dazu gehört Teilhabe. Teilzuhaben an kulturellen, an gesellschaftlichen, an politischen Entwicklungen und Entscheidungen – das ist die demokratische Kulturpolitik, für die wir stehen. Teilhabe bedeutet: Barrieren niederreißen und rein ins Leben. Das wollen wir gerade für die junge Generation. Wer ins eigenständige Leben startet, will sich umtun, will ausprobieren, will kennenlernen. Das will der KulturPass allen ermöglichen, die in diesem Jahr 18 Jahre alt werden. Und er ist jetzt schon ein Erfolg. Es haben sich viele tausend Nutzer und Nutzerinnen registriert. Diesen Erfolg wollen wir gemeinsam fortsetzen, und dafür werbe ich bei Ihnen. Ja, die Rahmenbedingungen sind schwierig, gerade auch für die Kultur. Doch wir als Bundesregierung haben unter widrigen Bedingungen viel für die Kultur erreicht; auch dafür geht mein Dank an den Finanzminister. Wir haben gelernt und gehandelt. Eine Lehre aus der Corona-Zeit war, das hervorragende zivilgesellschaftliche Engagement gerade der freien Kulturszene zu stützen. Deswegen haben wir die Förderung der Bundeskulturfonds auf fast 34 Millionen Euro heraufgesetzt. Wir sorgen für Kontinuität und Stabilität bei unseren Einrichtungen; denn gerade in Zeiten der Unsicherheit sind öffentliche Kulturinstitutionen Orte der Begegnung, Orte der Vergewisserung, Orte des Austauschs und der Vielfalt – geschützte Räume. Sie sollen Leuchttürme sein, die den Weg in eine gute Gesellschaft weisen. Neben vielen anderen Einrichtungen wird die Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit zusätzlich 4 Millionen Euro für den Betriebshaushalt in ihrem wichtigen und notwendigen Reformprozess begleitet und gefördert. Wir stärken die Deutsche Welle in ihrem Kampf gegen Desinformation und Propaganda mit zusätzlichen 10 Millionen Euro, und wir stellen sicher, dass die Kulturstiftung des Bundes der wichtige kreative Anker in unserem Land bleibt. Kultur ist auch Erinnerung. Ohne Erinnerung gibt es keine Kultur, sagt uns Elie Wiesel. Ohne sie gibt es keine Zivilisation, keine Gesellschaft und keine Zukunft. Deswegen bauen wir die Förderung der unverzichtbaren Arbeit der Gedenkstätten aus. Wie unverzichtbar sie ist, wird gerade in diesen Tagen deutlich. Es geht darum, Verantwortung zu erkennen, Verantwortung anzunehmen. Es geht nicht um Abbitte und Absolution. Nur wer auch in die Abgründe der eigenen Geschichte blickt, wird die Herausforderungen der Gegenwart erkennen. Das sage ich mit Blick auf die aktuelle Debatte um die Reform der Beratenden Kommission, der sogenannten Limbach-Kommission. Hier wollen wir deutlich weiter gehen, als die Vorgängerregierungen das getan haben; denn es geht um faire und gerechte Lösungen vor dem Hintergrund des Menschheitsverbrechens der Shoah. Zur Erinnerungskultur, für die wir uns unvermindert intensiv einsetzen – und das ist ein echtes Herzensanliegen von mir –, gehört selbstverständlich auch die Auseinandersetzung mit dem SED-Unrecht. Und wir widmen uns verstärkt unserer kolonialen Vergangenheit und den blinden Flecken in unserem kollektiven Gedenken daran. Aber erinnern müssen und wollen wir auch an die rassistischen Mordtaten der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart. Vom Brandanschlag auf ein jüdisches Altenheim in München 1970 über Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen, den NSU, die Anschläge von Halle und Hanau bis zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke zieht sich die Spur des rassistischen Terrors durch Deutschland. Wir könnten nicht von Erinnerungskultur sprechen, würden wir diese Taten, würden wir diese Opfer verschweigen. Das ist moderne Erinnerungskultur in einer Einwanderungsgesellschaft, aus der eine bessere gemeinsame Zukunft wachsen kann. Eine der größten Herausforderungen, vor der wir weltweit stehen, ist die Klimakrise; wir sehen die dramatischen Ereignisse in Griechenland in den letzten Stunden. Die Klimakrise wird mehr und mehr zur Überlebensfrage dieses Jahrhunderts. Es geht uns daher darum, auch in der Kulturpolitik die Rahmenbedingungen für eine Kultur der Nachhaltigkeit, für eine Ästhetik der Nachhaltigkeit zu schaffen. Denn die Klimakrise geht uns alle an, und ich bin sehr froh, und es ist sehr gut, dass die Anlaufstelle Green Culture jetzt ihre Arbeit aufnimmt. In einer Zeit, die geprägt ist von Krisen, von Konflikten, von Krieg braucht es Kunst und Kultur mehr denn je. Kunst und Kultur sind kein Luxus, den man sich nur in guten Zeiten leisten kann. Sie sind die Stimme, sie sind der Sound unserer Demokratie. Deswegen bitte ich Sie um Unterstützung für unseren Haushaltsentwurf.
Bei der Generaldebatte im Deutschen Bundestag stellte Kulturstaatsministerin Claudia Roth zentrale kulturpolitische Vorhaben im Haushalt 2024 vor. Neben einer Fortsetzung des „KulturPass“ warb Roth dort unter anderem für mehr Nachhaltigkeit in der Kultur sowie eine Stärkung der Erinnerungskultur, die auch die Einwanderungsgesellschaft mehr in den Blick nimmt. „In einer Zeit, die geprägt ist von Krisen, Konflikten und Krieg braucht es Kunst und Kultur mehr denn je“, betonte Roth.
Rede von Bundeskanzler Scholz zur Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag am 6. September 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zur-haushaltsdebatte-im-deutschen-bundestag-am-6-september-2023-2221590
Wed, 06 Sep 2023 00:00:00 +0200
Berlin
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Merz, ich will ganz ausdrücklich sagen: Es funktioniert nicht mit den Popanzen in dieser Republik. Und der wichtigste Popanz, den Sie eben aufgebaut haben, hat etwas zu tun mit der Aufkündigung eines Konsenses, den wir hier mit Zweidrittelmehrheit – sogar etwas mehr – gefasst haben, als wir das Sondervermögen für die Bundeswehr beschlossen haben. Und Sie werden dem Ernst der Lage, der mit der Zeitenwende einhergeht, die der russische Angriffskrieg auf die Ukraine darstellt, überhaupt nicht gerecht mit Ihrer nur rhetorisch gemeinten Rede. Das ist schlecht, weil die Aufgabe, auf die Zeitenwende zu reagieren, die der russische Angriffskrieg darstellt, und die Bedrohung, die er für die Sicherheitsarchitektur in Europa darstellt, uns ja nicht nur in dieser, sondern viele, viele Legislaturperioden beschäftigen wird. Und ja, wir geben jetzt die 100 Milliarden Euro aus, damit die Bundeswehr ab dem nächsten Jahr 2 Prozent NATO-Quote an Finanzmitteln zur Verfügung hat. Und ja, schon jetzt, schon heute, ist klar, dass wir allerspätestens ab 2028 zusätzliche 25 Milliarden, vielleicht auch fast 30 Milliarden Euro für die Bundeswehr aus dem Bundeshaushalt direkt finanzieren müssen. Und deshalb dienen dem Ernst der Lage nicht Rhetorik und Popanze, sondern dass wir mit allem, was wir jetzt tun, dazu beitragen, dass wir in dem Jahr in der Lage sein werden, diese Haushaltsmittel auch aufzubringen. Wir garantieren der Bundeswehr 2 Prozent NATO-Quote auch 2028, 2029 und 2030, in den ganzen 30er-Jahren. Das soll jetzt so sein. Und dazu passt es nicht, Herr Merz, dass Sie in dem, was Sie gesagt haben, darauf verweisen, dass Sie hier in dieser Woche Steuervorschläge gemacht haben, die alle noch irgendwie zu verstehen versucht werden, weil sie ja gar nicht so genau sind, aber bei denen man jedenfalls errechnen kann, dass sie 20 Milliarden, vielleicht 30 Milliarden Euro kosten, einfach so. Wie geht das zusammen, wenn wir wissen, dass wir jetzt schon jedes Jahr diszipliniert sein müssen, damit wir 2028, 2029 diese Mittel aufbringen können? Und Sie machen Vorschläge, als gäbe es kein Morgen. Das sollten wir nicht mehr tun. Und ja, ich will auch sagen: Wir müssen uns um die Leistungsträger in dieser Gesellschaft kümmern. Auch mit Ihnen bin ich der Meinung, dass dazu gerne auch Leute gehören, die sehr viel Geld verdienen. Ich möchte, dass es in diesem Land erfolgreiche Unternehmen gibt, Start-ups; Leute, die mit dem, was sie schaffen, Millionäre werden – eine gute Sache. Aber, Herr Merz, Sie haben einen merkwürdigen Leistungsträgerbegriff. Ich glaube, der fängt erst ab 120 000 Euro im Jahr an, und Leute, die arbeiten und jeden Tag berufstätig sind und 40 Stunden, 45 Stunden die Woche arbeiten, zählen bei Ihnen nicht dazu. Deshalb haben Sie hier mal so schlankweg vorgeschlagen, dass Leute, die viele Jahrzehnte berufstätig waren, nicht mehr ein paar Jahre früher ohne Abschläge in Rente gehen können, übrigens zwei Jahre vorher als alle anderen. Das finden Sie eine Bedrohung für das Zusammenleben in Deutschland, dass so fleißige Leute diese Möglichkeit haben. Was für ein Leistungsbegriff ist das bei Ihnen? Und ohnehin, Herr Merz, finde ich interessant, dass zu den Vorschlägen, die Sie bei den Sozialreformen am wichtigsten finden, gehört, dass wir das gesetzliche Renteneintrittsalter anheben sollen. Das kommt immer wieder als Obsession bei Ihnen in allen Vorschlägen vor. Ich sage: Das ist nicht gerecht gegenüber den fleißigen Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes. Herr Merz, das musste jetzt sein, weil Ihr Popanz so groß war. Aber trotzdem will ich ausdrücklich sagen, dass das eigentlich nicht die Situation für die ganz klassischen Schlagabtausche in diesem Bundestag ist, auch bei dieser Debatte, wobei das aber jedem freisteht. Der Krieg, die Energiekrise, die Inflation, die Folgen der Klimakrise: Das alles sorgt für gewaltige Veränderungen – Veränderungen, die vielen Bürgerinnen und Bürgern Sorge machen, die für Verunsicherung sorgen. Was die Bürgerinnen und Bürger in einer solchen Lage von uns erwarten, ist doch kein Schattenboxen hier im Bundestag. Sie wollen Orientierung, mutige Kompromisse, zupackende Arbeit für unser Land. Das ist der Anspruch an uns alle: an die Regierungsparteien, die in den letzten Monaten zu viel gestritten haben, und genauso an die demokratische Opposition. So setzen wir denen etwas entgegen, die politischen Profit schlagen wollen aus Abstiegsszenarien und Panikmache. Die allermeisten Bürgerinnen und Bürger wissen, dass die selbsternannte Alternative in Wahrheit ein Abbruchkommando ist – ein Abbruchkommando für unser Land. Unser Wohlstand ist auf das Engste verknüpft mit der Europäischen Union. Deshalb sind die Forderungen nach neuen Schlagbäumen zwischen den Mitgliedstaaten, nach einem Rückbau der Europäischen Union und nach einem radikalen Abbau des Sozialstaats nichts als mutwillige Wohlstandsvernichtung. Umso mehr sind wir, die demokratischen Kräfte, gefordert, an wirklichen Lösungen zu arbeiten. Zu viel ist in den vergangenen Jahren auf die lange Bank geschoben worden. Wer heute mit der Bahn oder mit dem Auto von Hamburg nach München fährt, der erlebt bei jeder Weichenstörung oder jeder Brückenbaustelle, wie sehr unsere Infrastruktur auf Verschleiß gefahren wurde. Statt in die Zukunft zu investieren, haben wir über die Pkw-Maut diskutiert. Die jahrelange Vernachlässigung unserer Bundeswehr bis zur Zeitenwende ist hier schon so oft debattiert worden, dass ich darüber nicht mehr als das zu Anfang Gesagte sagen muss. Es war eine Koalition unter CDU-Führung, die die großen Sparprogramme bei der Bundeswehr gemacht hat. Don’t forget, never forget: 2010 – vergessen Sie es nicht! -, Sie waren das. Die Vorgängerregierungen haben beschlossen, aus der Kernenergie auszusteigen und aus der Kohleverstromung. Wohlgemerkt, beides finde ich richtig – nur, wer aussteigt, der muss umso dringender einsteigen: einsteigen in die erneuerbaren Energien. Genau das tun wir jetzt, übrigens auch dort, wo der Nachholbedarf am größten ist: im Süden und Westen unseres Landes. Seit Jahren ist unübersehbar, dass wir in Deutschland auf einen Mangel an Arbeitskräften zusteuern. Das sehen wir. Das ist etwas, das uns seit vielen Jahren umtreibt. Und deshalb ist es ganz, ganz wichtig, dass wir alles dafür tun, dass wir diesen Arbeitskräftemangel bekämpfen können. Ich finde es wichtig, dass wir jetzt auch gestartet sind mit den Maßnahmen, die wir mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz auf den Weg gebracht haben. Aber genauso wie bei dem Ausbau der erneuerbaren Energien, genauso wie bei den Maßnahmen, die wir ergreifen müssen, damit wir es schaffen, dass Fachkräfte in unserem Land da sind, genauso ist es überall wichtig, dass wir Tempo machen. Deshalb noch mal an dieser Stelle: Wenn uns zum Beispiel ein großer Versorger wie EON sagt, er hat 600 Verfahren am Laufen und nur wenige davon sind bisher abgewickelt worden für den Ausbau der Verteilnetze, dann ist das etwas, das wir nicht mehr so lassen können, wie es heute ist. Das ist meine feste Überzeugung. Das geht so nicht weiter. In der Zeit, in der wir über die Verlängerung einer einzigen U-Bahn-Linie oder über einen Hochhausbau sprechen und dies planen, werden in anderen Ländern ganze Strecken gebaut. Die Bürgerinnen und Bürger sind diesen Stillstand leid, und ich bin es auch. Immer wenn ich in den letzten Monaten in Deutschland unterwegs gewesen bin, habe ich die Botschaft gehört: Sorgt dafür, dass wir unser Land auf Vordermann bringen und dass wir schneller werden, unkomplizierter und weniger bürokratisch – so wie es zum Beispiel mit dem Deutschlandticket der Fall gewesen ist, das den öffentlichen Nahverkehr so viel attraktiver gemacht hat, so wie mit dem Deutschland-Tempo, mit dem wir innerhalb weniger Monate neue Flüssiggasterminals ans Netz gebracht haben. Solche Erfolge haben zwei Voraussetzungen: erstens moderne Gesetze, schnelle Verfahren, weniger Bürokratie und zweitens die Bereitschaft aller – wirklich aller -, an einem Strang zu ziehen und das natürlich in eine Richtung: der Bund, die Länder, Städte und Gemeinden, Unternehmen und Behörden, Verbände und Gewerkschaften. Nur gemeinsam werden wir den Mehltau aus Bürokratismus, Risikoscheu und Verzagtheit abschütteln, der sich über Jahre und Jahrzehnte hinweg über unser Land gelegt hat. Dieser Mehltau lähmt unsere Wirtschaft, und er sorgt für Frust bei den Leuten im Land, die einfach wollen, dass Deutschland ordentlich funktioniert: dass die Bahn pünktlich fährt, dass unsere Infrastruktur analog und digital zu der Besten in Europa zählt, dass ihnen die Ämter unter die Arme greifen und keine Schwierigkeiten machen. Das erwarten die Bürgerinnen und Bürger nach Jahren des Stillstands. In meiner Verantwortung als Bundeskanzler möchte ich Ihnen daher heute ein Angebot machen. Mein Vorschlag richtet sich an die 16 Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder, an die Landrätinnen und Landräte, an die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister überall in unserer Republik, und mein Vorschlag richtet sich ausdrücklich auch an Sie, verehrter Herr Merz, als Vorsitzender der größten Oppositionsfraktion und einer Partei, die im Bundesrat, in den Ländern und Kommunen Verantwortung trägt. Wir brauchen eine nationale Kraftanstrengung. Lassen Sie uns unsere Kräfte bündeln! Beweisen wir den Bürgerinnen und Bürgern, wozu unser Land, unser Föderalismus und unsere Demokratie imstande sind. Viele im Lande warten geradezu sehnsüchtig auf einen solchen Schulterschluss. Ich möchte Ihnen deshalb gerne einen Pakt vorschlagen, sagen wir: einen Deutschland-Pakt – einen Deutschland-Pakt, der unser Land schneller, moderner und sicherer macht. Tempo statt Stillstand, Handeln statt Aussitzen, Kooperation statt Streitereien. Das ist das Gebot der Stunde. Als Bundeskanzler kann ich natürlich einen solchen Aufbruch nicht verordnen. Für den Bund kann ich aber fest zusagen: Wir gehen mit ganzer Kraft voran. Der Deutschland-Pakt setzt dort an, wo die Bürgerinnen und Bürger Fortschritte am dringendsten erwarten: bei der Energieversorgung, die sauber, sicher und bezahlbar sein muss, beim Bau neuer Wohnungen und Häuser, bei der Modernisierung und Digitalisierung unserer Infrastruktur, bei der Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen, bei einer schnellen, leistungsfähigen und digitalen Verwaltung. Wir haben den 16 Ländern dazu sehr konkrete Vorschläge gemacht, und aus meinen Gesprächen mit Ländern und Kommunen weiß ich: Sie teilen unser Ziel, schneller, moderner und sicherer zu werden. Das gilt übrigens für alle Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder, egal welcher Partei sie angehören. „Schneller“, das heißt, dass wir die Deutschland-Geschwindigkeit zum Maßstab für alle großen Erneuerungsprojekte in unserem Land machen, zum Beispiel, indem wir auch noch die letzten Hürden beim Ausbau der erneuerbaren Energien abräumen. Das ist auch der schnellste und nachhaltigste Weg für niedrige Strompreise. Als ich vor einigen Monaten gesagt habe, wir brauchen „vier bis fünf neue Windräder und viele, viele Fußballfelder Photovoltaikanlagen pro Tag“, da haben mich viele gefragt: Wie soll das gehen? Aber wir sehen: Es geht. Wir haben schon 30 Fußballfelder Solaranlagen, die pro Tag installiert werden. Und es geht sogar noch viel mehr. Schauen wir uns an, was zum Beispiel bei den Windkraftanlagen passiert! Dort haben wir im Juni 200 Genehmigungen gehabt. Wenn das alles in diesem Tempo auch gebaut wird und wir es halten können, sind die vier bis fünf Windräder pro Tag auch erreichbar. Das ist das, was wir heute wissen. Und ich bin froh, dass in vielen Ländern jetzt auch das Tempo zugenommen hat. In Schleswig-Holstein, Niedersachsen und auch in Nordrhein-Westfalen ist die Zahl der Genehmigungen deutlich gestiegen, teilweise um 60 Prozent. Das muss Schule machen, etwa wenn wir in den nächsten Jahren die Netze für Strom und Wasserstoff ausbauen. Der Ausbau der Netze wird Investitionen von mehr als 100 Milliarden Euro auslösen und Tausende gute Arbeitsplätze schaffen. Bis Ende des Jahres stehen die Pläne für den Aufbau des Wasserstoffkernnetzes. Was wir aber vor allem brauchen, sind natürlich überall Beschäftigte in den Planungsbehörden, in den Bauämtern, die schnell und zügig und unkompliziert die Genehmigungen erteilen. Vielleicht hat es früher gereicht, dass man für irgendeinen Flugplatz oder ein anderes Vorhaben 5, 10 oder 15 Jahre braucht. Aber das ist vorbei. Wir müssen jetzt das Tempo erreichen, das den Herausforderungen unseres Landes entspricht. Dann haben wir auch die Möglichkeit, dass wir die große Transformation hinkriegen, die ja immerhin so groß ist wie die industrielle Modernisierung Deutschlands am Ende des 19. Jahrhunderts. „Schneller“ heißt natürlich auch, dass wir die Planungsprozesse überall digitalisieren. Schluss mit 2 Meter Aktenordnern für den Bau eines Solardachs oder einer Mobilfunkantenne. „Schneller“ heißt, dass Gutachten und Umweltdaten, die oft schon da sind, nicht noch mal vorgelegt werden. „Schneller“ heißt, dass wir EU-Regeln zum Naturschutzrecht eins zu eins umsetzen, damit das überall gleich funktioniert. „Schneller“ heißt, dass alle 16 Länder bis Ende des Jahres Bauanträge auch digital annehmen. „Schneller“ heißt, dass nicht noch weitere Gutachter und Sachverständige für Genehmigungen gebraucht werden, wenn ein Handwerksmeister bestimmte Gebäude und Gebäudeteile plant. „Schneller“ heißt, das Raumordnungsrecht so zu ändern, dass überall im Land neue Geothermieanlagen entstehen können. „Schneller“ heißt, dass wir eine Anlaufstelle schaffen für Schwertransporte auf Autobahnen, damit die Rotorblätter für Windräder und vieles andere besser transportiert werden können. „Schneller“ heißt, auf manche Genehmigungspflicht einfach mal zu verzichten, damit Glasfaserleitungen zu den Nutzern kommen. Alles das heißt „schneller“, und darum geht es. Wir müssen das Bürokratiedickicht lichten. Der Deutschland-Pakt ist genau das: Arbeit im Maschinenraum unseres Staates, das Drehen an Hunderten von Reglern, um dafür zu sorgen, dass der Tanker Deutschland auf Touren kommt. Damit das gelingt, muss unser Staat natürlich jetzt überall den Schritt in das Digitalzeitalter machen. Ziel des Deutschland-Pakts ist eine moderne, digitale und bürgernahe Verwaltung. Vergangene Woche in Meseberg haben wir Eckpunkte für ein Bürokratieentlastungsgesetz beschlossen, das besonders kleine und mittlere Betriebe von unnötigem Papierkram entlasten soll. Auch gegenüber Brüssel setzen wir uns für weniger Bürokratie und schnellere Entscheidungen ein, zum Beispiel in Beihilfeverfahren. Das wollen wir auch gerne mit Frankreich vorantreiben. Seit der Bund und die Länder sich 2017 darauf verständigt haben, ihre wichtigsten Verwaltungsleistungen zu digitalisieren, hat der Bund 85 Prozent seiner Leistungen umgesetzt. Länder und Kommunen haben bisher ein Viertel der zugesagten Leistungen online zugänglich gemacht. Und dabei reden wir über sehr zentrale Fragen wie die Beantragung von Personalausweisen, die Verlängerung des Führerscheins oder die Ummeldung nach dem Umzug. Ich weiß, in mehr als 10 000 großen und kleinen Städten und vielen Gemeinden mit ganz unterschiedlicher IT- und Personalausstattung ist das alles nicht trivial. Aber es ist den Bürgerinnen und Bürgern schlicht nicht mehr zu erklären, dass sie zwar im Internet einkaufen, Geld überweisen und ihren Urlaub buchen können, aber dass solch grundlegende Verwaltungsleistungen noch immer nicht überall in Deutschland online möglich sind. Das muss sich ändern. Und – ganz wichtig -: Dieses Vorhaben scheitert nicht am Geld. In den zurückliegenden vier Jahren hat der Bund den Ländern und Kommunen dafür 1,4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt; Hunderte Millionen können noch abgerufen werden. Auch über andere Großbaustellen werden wir mit den Ländern im Rahmen des Deutschland-Pakts reden. Was stauanfällig Straßen und marode Brücken angeht, sorgen wir per Gesetz dafür, dass schneller geplant und gebaut wird. Das muss jetzt auch passieren. Auch den Investitionsstau bei der kaputtgesparten Bahn gehen wir an. 24 Milliarden Euro an zusätzlichem Investitionsspielraum erhält die Bahn in den kommenden vier Jahren. Das ist das größte Investitionsprogramm in so kurzer Zeit; ich sage mal, seit der Dampflok – ein großer Schub nach vorn. Wer selber schon mal ein Haus gebaut hat, weiß, da gibt es viele Baustellen. Aber ich bin sicher, die Bürgerinnen und Bürger werden dafür Verständnis haben, weil Sie sehen: Jetzt wird endlich angepackt, anstatt unsere Infrastruktur weiter verfallen zu lassen. Eine der zentralen Botschaften des Deutschland-Pakts ist daher auch: Wir denken über den Tag hinaus. Wir legen heute den Grundstein für den Wohlstand und die Stabilität in unserem Land in den nächsten 10, 20 und 30 Jahren. Ich sage das auch in Richtung derjenigen, die irgendwie immer von der Deindustrialisierung unseres Landes sprechen. Die große Leistungsfähigkeit unserer Industrie habe ich gerade gestern bei der IAA Mobility, der Internationalen Automobil-Ausstellung, sehen können. Das ist kein Land, dem die Deindustrialisierung bevorsteht, sondern ein Land, das weltweit wettbewerbsfähig ist mit seiner leistungsfähigen Industrie. Ja, niemand kann zufrieden sein, wenn Deutschlands Wirtschaft nicht wächst. Doch wir werden strukturelle Probleme nur mit strukturellen Antworten lösen. Das beste Wachstumsprogramm ist, wenn ein Betrieb statt drei Jahre künftig vielleicht nur drei Monate auf eine Baugenehmigung oder die Betriebserlaubnis wartet; zumal solche strukturellen Verbesserungen auch günstiger und nachhaltiger sind als Dauersubventionen. Ich halte auch nichts vom schuldenfinanzierten Strohfeuer namens Konjunkturprogramm, das die Inflationsbekämpfung, die so wichtig ist seitens der Europäischen Zentralbank, konterkarieren würde. Wir sorgen stattdessen dafür, dass unsere Unternehmen jetzt in die Zukunft investieren können. Die Beschlüsse, die wir vergangene Woche in Meseberg getroffen haben, senden eine klare Botschaft: Wer jetzt in saubere Energie und Klimaschutz investiert, der spart dank der Investitionsprämie viel Geld. Mit der Ausweitung des Verlustvortrages sorgen wir mit einem Schlag für mehr Liquidität in den Unternehmen. Rückwirkend ab dem 1. Oktober werden neue großzügige Abschreibungsregeln für alle beweglichen Wirtschaftsgüter möglich, damit auch kleine und mittlere Unternehmen investieren können und die großen auch. Und Betriebe, die Geld in Forschung und Entwicklung investieren, können künftig mehr von der Steuer absetzen. Und natürlich – das Wichtigste -: Großzügige Abschreibungsregeln werden auch den Bau neuer Häuser und Wohnungen unterstützen. Das sorgt für mehr Investitionen in der Bauwirtschaft; denn wir wollen das Ziel nicht aufgeben, mehr Wohnungen in diesem Land zu bauen. Ja, die Zinserhöhungen haben zu einer Anpassungskrise geführt, die steigenden Baupreise auch; die zu hohen Grundstückspreise übrigens auch. Aber ganz wichtig ist, dass wir darüber nicht aufhören, zu verstehen, dass jetzt in großer Zahl bezahlbare Wohnungen für Millionen Menschen in diesem Land gebaut werden müssen. Und deshalb werden wir alles tun, damit wir so weit kommen, dass wir tatsächlich jedes Jahr und Jahr für Jahr 400 000 Wohnungen errichten können. Wir werden das auch beim Baugipfel besprechen. Aber ich sage ausdrücklich: Vielleicht war da die eine oder andere Wohnung, bei der man sehr viel Geld bezahlen muss, um da einziehen zu können, zu viel geplant und waren zu wenige Wohnungen geplant, die sich jemand leisten kann, der auch zu den Leistungsträgern gehört, weil er 40 Stunden die Woche arbeitet, aber nicht so viel verdient. 18 Milliarden Euro stecken wir in den geförderten Wohnungsbau, damit das auch funktioniert. Und natürlich dürfen wir unser wichtigstes Instrument nicht vergessen: den Klima- und Transformationsfonds. Allein im kommenden Jahr sind darin 58 Milliarden Euro Investitionen möglich: in die Wasserstoffwirtschaft, in die Halbleiterindustrie, in saubere Energie, in klimafreundliche Mobilität, in digitale Infrastruktur und in die Sanierung von Gebäuden. Rekordinvestitionen aus dem Bundeshaushalt kommen noch dazu: 54 Milliarden für bessere Schienen und Brücken, schnelles Internet oder Ladesäulen. Alles das zusammen sind 110 Milliarden Euro, mit denen wir in der Lage sind, trotz der Tatsache, dass wir jetzt mit den Ausgaben, die wir für Investitionen in unserem Land tätigen, vorsichtig umgehen müssen, die Schuldenregel der Verfassung einhalten. Wir sehen übrigens auch erste Erfolge. Mehr als 80 Milliarden Euro investieren internationale Unternehmen in den Standort Deutschland, und zwar in Zukunftsbranchen wie Biotechnologie und Batteriefertigung, Clean-Tech, in klimaneutralen Stahl und künstliche Intelligenz. Und wir sind gerade dabei zu dem Halbleiterstandort in Europa zu werden. Die 30-Milliarden-Euro-Investition von Intel in Magdeburg ist die größte ausländische Einzelinvestition in der Geschichte Europas. Hinzu kommen die neuen Fabriken von Infineon in Sachsen, von Wolfspeed und ZF im Saarland, die Investitionen von GlobalFounderies in Dresden und zuletzt der Einstieg von TSMC in die Chipproduktion, auch in Dresden, übrigens im Verbund mit NXP, Infineon und Bosch. Denn es ist ja nicht so, dass wir in dieser Frage technologisch erst alles lernen müssen. Jede dieser Investitionen stärkt unsere technologische Souveränität, und jede dieser Investitionen sorgt dafür, dass Dutzende Zulieferer davon profitieren und für gute und sichere Arbeitsplätze und für Aufträge beim lokalen Handwerk sorgen. Ganze Städte und Regionen profitieren auf Dauer davon. Deshalb werden wir als Bund diesen großen Fortschritt, der mit der Wiederansiedlung der Halbleiterindustrie in Europa, und zwar in Deutschland, verbunden ist, auch weiter unterstützen; übrigens tun das andere Länder auch – um das mal im Hinblick auf eine etwas merkwürdige Debatte hierzulande zu sagen. Wenn man die Unternehmen fragt, was der größte Unsicherheitsfaktor für sie ist, dann sind das nicht so sehr die Energiepreise oder die Frage, ob sie noch mehr Subventionen bekommen können, sondern dann ist das der Mangel an Arbeitskräften. Das ist in der Tat die große Herausforderung für unser Land. Und deshalb tun wir erst mal alles dafür, dass diejenigen, die hierzulande aufwachsen, auch die besten Bedingungen vorfinden und dass sie eine gute Ausbildung und einen guten Arbeitsplatz bekommen. Damit das klappt, haben wir Mittel in Höhe von 4 Milliarden Euro bereitgestellt, damit die Länder und Gemeinden Kitas ausbauen können. Wer allerdings behauptet, wir können völlig ohne Arbeitskräfte aus dem Ausland auskommen, der hat in den letzten Jahren nicht mit Handwerksmeistern, Mittelständlern und Krankenhausbetreibern gesprochen. 13 Millionen Beschäftigte gehen bis Mitte des kommenden Jahrzehnts in den Ruhestand. Deshalb ist es notwendig, dass wir das auch tun. Ich appelliere an alle, dass das jetzt schon beschlossene Fachkräfteeinwanderungsgesetz überall in Deutschland umgesetzt wird, damit wir unbürokratisch Möglichkeiten schaffen und der Krankenpfleger aus Georgien und die IT-Spezialisten aus Indien nicht Monate auf ein Visum oder eine Arbeitserlaubnis warten müssen. Moderne, untereinander vernetzte Ausländerbehörden nützen übrigens auch an anderer Stelle. Wer hier kein Aufenthaltsrecht hat, der muss unser Land natürlich wieder verlassen. In Meseberg haben wir beschlossen, Georgien und Moldau als sichere Herkunftsländer einzustufen. Das ist ein wichtiger Fortschritt im Kampf gegen die irreguläre Migration. Ich bin der Bundesinnenministerin sehr dankbar dafür, dass sie den Ländern auch in Sachen Rückführung bei der Ausweitung der Abschiebehaft und an vielen anderen Stellen ganz konkrete Verbesserungsvorschläge gemacht hat. Schönen Dank für diese Arbeit! Auch das muss Teil des Deutschland-Paktes sein. Und mir ist schon aufgefallen, was passiert. Die Bundesregierung hat alles, was zu tun ist, auf den Weg gebracht. Über die sicheren Herkunftsländer habe ich eben gesprochen. Über Verbesserungen aller seit Jahren nicht zustandegekommenen Regelungen bei der rechtlichen Organisation der Abschiebung habe ich auch gesprochen. Über die europäische Verständigung über einen Solidaritätsmechanismus, damit nicht alle zu uns kommen, sondern damit ein gemeinsames Verfahren entwickelt wird, haben wir hier schon diskutiert. Wir haben darüber diskutiert, wie die Digitalisierung der Ausländerbehörden vorangeht und, und, und. Aber dann, wenn das alles passiert, suchen Sie sich immer noch das nächste Thema. So viel, wie hier auf der Agenda steht, haben CDU-Innenminister in den letzten Jahren nicht vorangebracht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach drei außergewöhnlichen Krisenjahren steht der Bundeshaushalt 2024 für die Rückkehr zur Normalität und für einen solide finanzierten Staat. Wir investieren, ohne an der falschen Stelle zu kürzen, weil wir wissen: Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass alle mitkommen können auf dem Weg in die Zukunft unseres Landes. Durch den Ausgleich der kalten Progression haben 48 Millionen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler mehr Netto vom Brutto. Wir reden hier über den größten steuerlichen Inflationsausgleich, wie ihn eine Bundesregierung jemals vorgenommen hat. Danke für den Applaus aus der CDU. Die Tarifpartner machen millionenfach Gebrauch von unserem Vorschlag, den Beschäftigten mit steuer- und abgabenfreien Einmalzahlungen durch die Inflation zu helfen. Und das alles zeigt Wirkung: Erstmals seit zwei Jahren steigt die Kaufkraft in Deutschland wieder. Am deutlichsten sind die Löhne übrigens bei denjenigen gestiegen, die am wenigsten verdienen, und darauf bin ich ganz besonders stolz. Das ist auch ein Erfolg des Mindestlohns und der beschlossenen Reduzierung von Steuern und Sozialabgaben für Geringverdiener. Auch die Renten sind zum 1. Juli so stark angehoben worden wie seit Jahrzehnten nicht. Mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist die Rentenangleichung zwischen Ost und West endlich geschafft. Auch die Familien hat diese Bundesregierung massiv unterstützt. Allein das höhere Kindergeld bedeutet für eine Familie mit zwei Kindern über 700 Euro mehr im Jahr; beim Kinderzuschlag sind es bis zu 500 Euro. Das alles fließt ein in die neue Kindergrundsicherung, die im Jahr 2025 eingeführt wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Krieg, Klimawandel, Energiekrise, Inflation, die Folgen der Pandemie – niemand hat sich die Lage ausgesucht, mit der wir es derzeit zu tun haben. Aber gerade wenn man bedenkt, wie groß diese Herausforderungen sind, wird doch ganz besonders deutlich, was wir hinbekommen, wenn wir zusammenhalten. Wir haben die Pandemie überstanden mit weniger Opfern als viele andere Staaten. Wir haben entschlossen auf Russlands Angriffskrieg und seine dramatischen Folgen reagiert, ohne dass die NATO Kriegspartei geworden ist. Nach den Vereinigten Staaten von Amerika sind wir der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine. Wir haben unser Land innerhalb weniger Monate aus der Abhängigkeit von russischer Energie befreit – ohne Versorgungsengpässe, ohne Blackouts, ohne Wutwinter – ja, ohne Wutwinter! Wir kommen voran bei der Aufgabe, unser Land so aufzustellen, dass unsere besten Tage nicht hinter uns liegen, sondern vor uns. Auch das kriegen wir hin, wenn wir zusammenhalten. Genau das erwarten die Bürgerinnen und Bürger doch von uns: dass wir unsere Kraft zusammennehmen und gemeinsam anpacken. Dieses Angebot mache ich Ihnen heute mit dem Deutschland-Pakt. Schönen Dank.
in Berlin
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Eröffnung der IAA Mobility am 6. September 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-eroeffnung-der-iaa-mobility-am-6-september-2023-2221428
Tue, 05 Sep 2023 00:00:00 +0200
München
Sehr geehrte Frau Müller, vielen Dank für die vielen lieben Worte, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Söder, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Reiter, lieber Dieter, meine Damen und Herren, das Wochenende hat mir ganz persönlich noch einmal gezeigt: So schön Joggen ist, für manche Strecken nimmt man doch besser das Auto. Umso passender ist es, heute hier bei Ihnen auf der Internationalen Automobilausstellung IAA Mobility zu sein. IAA 2023, das bedeutet 135 Jahre Zukunftsbranche Mobilität. Denn es war im Rahmen der Kraft- und Arbeitsmaschinenausstellung im Jahr 1888, dass der Benz Patent-Motorwagen Nummer 3 zum ersten Mal hier auf den Straßen Münchens vorgeführt wurde, und zwar, wie es die „Münchener Neuesten Nachrichten“ damals schrieben, mit vorzüglichem Erfolg. Das seltsame Gefährt sei allgemein angestaunt worden und die liebe Jugend habe es in dichten Scharen verfolgt. Sie alle wissen, wie es weiterging. Nach dem Gewinn der Goldmedaille der Ausstellung wurde aus dem Concept Car rasch das erste serienmäßig gebaute Benzinautomobil der Welt. Die deutsche Automobilindustrie war geboren. Deutlich unbekannter ist allerdings, dass sich vor 135 Jahren noch eine zweite Revolution ereignete, und zwar keine 300 km von hier entfernt, in Coburg in Oberfranken. In der Elektroabteilung seiner Maschinenfabrik entwickelte der Unternehmer Andreas Flocken seinerzeit mit dem Flocken Elektrowagen nämlich das wahrscheinlich erste vierrädrige Elektromobil der Welt. Die lokale Presse sagte auch diesem Automobil eine erfolgreiche Zukunft voraus. Das Gefährt sei einfach und praktisch konstruiert und dürfte nach Fertigstellung großes Interesse hervorrufen. Es hat dann zwar deutlich länger gedauert, bis sich die E-Autos als Technologie durchsetzten. Dafür aber ist das Interesse daran und ihr Zukunftspotenzial heute umso größer. Noch etwas zeigt diese Geschichte: Auch die E-Mobilität hat tiefe Wurzeln hier in Deutschland. Von diesen tiefen Wurzeln, von 135 Jahren Erfahrung im Autobau, profitiert die Automobilwirtschaft in Deutschland bis heute. Welche Kraft darin steckt, das können wir hier auf dieser beeindruckenden Messe bewundern. Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt: Mobilität bleibt ein Zukunftsversprechen, nicht nur für unser Land, sondern weltweit. Wir leben in einer Welt mit nun acht Milliarden Menschen, zur Mitte des Jahrhunderts mit voraussichtlich zehn Milliarden Menschen, in der zentrale Errungenschaften des Fortschritts endlich nicht mehr nur den Bewohnern der wohlhabendsten Länder vorbehalten sind. Die Länder, die sich im Zuge der Globalisierung größeren Wohlstand erarbeitet haben, und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dort haben kein geringeres Recht und keinen geringeren Anspruch auf die Möglichkeiten der Moderne als wir. Das ist eine gute Nachricht für die Mobilitätsbranche. Denn die Geschäfte werden Ihnen nicht ausgehen. Fortbewegung ist ein universelles menschliches Bedürfnis. Gleichzeitig sind wir uns darin einig, dass wir uns in Zukunft so fortbewegen müssen, dass unser Planet und unsere Umwelt nicht darunter leiden. Dem riesigen, weiter steigenden Bedarf müssen wir ein nachhaltiges Angebot gegenüberstellen. Dass Sie das können, ist eine der ermutigendsten Botschaften unserer Zeit. Hieran zeigt sich, wozu menschlicher Erfindergeist in der Lage ist. Deshalb möchte ich Ihnen heute und an dieser Stelle dafür Danke sagen. Danke für die Entschlossenheit Ihrer Branche, die notwendigen Schritte in Richtung einer nachhaltigen Zukunft zu gehen! Schönen Dank! Denn zentraler Treiber des Aufbruchs, den wir gerade gemeinsam unternehmen, das sind Sie, Zulieferer und Hersteller, mit Ihren mehr als 750 000 hoch qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern allein hier in Deutschland. Ich bin davon überzeugt, dass niemand E-Mobilität attraktiver macht als die Hersteller leistungsfähiger, schöner und ‑ das möchte ich an dieser Stelle auch sagen ‑ erschwinglicher E-Autos. Wir sehen natürlich, dass dabei viele neue Unternehmen neben die etablierten Hersteller treten, attraktive Angebote zu einem konkurrenzfähigen Preis machen und manchmal Marktanteile gewinnen. Zwei Bemerkungen will ich dazu machen. Erstens: Faire Konkurrenz belebt das Geschäft. Sie ist im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie war, ist und bleibt die Triebfeder für Innovationen. Deshalb ‑ das ist meine zweite Bemerkung ‑ sollte uns Konkurrenz anspornen, also nicht schrecken. In den 80er-Jahren hieß es: Jetzt überrollen japanische Autos alle anderen Märkte. Zwanzig Jahre später waren es Autos made in Korea. Heute sind es vermeintlich chinesische Elektroautos. Ja, auch außerhalb Deutschlands werden gute Autos gebaut und entwickelt. Schön, dass so viele internationale Hersteller und Zulieferer hier in München sind. Willkommen! Zugleich steht doch die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Autolandes Deutschland völlig außer Frage. Ich wüsste kaum einen anderen Standort weltweit, der auf so engem Raum ein solches Know-how in Sachen des Automobilbaus, eine solche Dichte an Zulieferern, an mittelständischen Weltmarktführern und auch so viel anwendungsbezogene Forschung in Sachen des Automobils aufzuweisen hat wie Deutschland. Deswegen ist es kein Zufall, dass in Europa fast jedes zweite und in China fast jedes fünfte Auto von deutschen Herstellern kommt. Es ist auch kein Zufall, dass Tesla sein Werk für Europa in Brandenburg errichtet hat und nun noch weiter ausbaut und dass sich Ford ‑ das Unternehmen produziert schon bald 100 Jahre hier in Deutschland Autos ‑ entschieden hat, E-Autos für den europäischen Markt zukünftig in Köln herzustellen. Das alles ist Ausdruck der Leistungsfähigkeit unseres Landes. Meine Damen und Herren, die Mobilitätswende ist eine große Aufgabe, aber sie ist eine Teamaufgabe. Ich komme heute zu Ihnen als überzeugtes Mitglied dieses Teams: Klimaneutrale Mobilität in Deutschland und aus Deutschland. Für uns als Bundesregierung bedeutet das: Wir schaffen jetzt die Voraussetzungen, damit Deutschland bis 2045 klimaneutral wird und zugleich starkes Industrieland bleibt. Allein der Bund wird deswegen im kommenden Jahr mehr als 110 Milliarden Euro investieren, um die Modernisierung unserer Industrie und den Klimaschutz voranzubringen. Das sind zum einen Investitionen in Höhe von 54 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt für die Erneuerung der Schienen, für bessere Straßen und neue Brücken, für Glasfaserleitungen und vieles mehr. Zum anderen sind das die Ausgaben des Klima- und Transformationsfonds in Höhe von 58 Milliarden Euro, und zwar für Programme, mit denen beispielsweise ein flächendeckendes Ladesäulennetz, der Wasserstoffhochlauf, die Transformation von Industrieprozessen, die energetische Gebäudesanierung oder die Mikroelektronik gefördert werden. Damit diese Mittel auch schnell ankommen, bauen wir Bürokratie ab und beschleunigen alle nötigen Verwaltungsverfahren. Dabei schauen wir übrigens auch nach Brüssel. Gemeinsam mit den europäischen Partnern, insbesondere mit der französischen Regierung, wollen wir eine Initiative für Bürokratieentlastung, bessere Rechtsetzung und moderne Verwaltung in Europa ergreifen. Drei Felder, auf denen wir Tempo machen, will ich hier herausheben. Erstens: die Ladeinfrastruktur. Unser Ziel ist klar: Laden muss so einfach oder noch einfacher werden als tanken. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir im Jahr 2030 15 Millionen Elektroautos auf deutschen Straßen haben. Dieses Ziel ist nicht neu. Neu ist, dass wir es auch umsetzen. Seit wir Ende 2021 damit angefangen haben, ist die Anzahl der öffentlichen Ladepunkte schon um mehr als die Hälfte auf über 90 000 gestiegen. Doch das ist erst der Anfang. Wir werden als erstes Land in Europa in den nächsten Wochen ein Gesetz auf den Weg bringen, mit dem die Betreiber von fast allen Tankstellen dazu verpflichtet werden, Schnelllademöglichkeiten mit mindestens 150 Kilowatt für E-Autos bereitzustellen. Damit gehört Reichweitenangst bald endgültig der Vergangenheit an. Parallel sorgen wir dafür, dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger ihre eigene Tankstelle zu Hause haben; denn das ist doch eines der schlagenden Argumente für die E-Mobilität. 700 000 private Ladestationen sind in Deutschland bereits in Betrieb, die wir über die KfW gefördert haben. 300 000 weitere sind in Planung. Und auch hier machen wir weiter Tempo: Mit dem im August beschlossenen Solarpaket haben wir die Einrichtung privater Fotovoltaikanlagen zum Beispiel auf Balkonen ganz erheblich vereinfacht. Und damit wir das auch direkt dem Wechsel zur klimaneutralen Mobilität zugutekommen lassen können, setzen wir im Herbst ein KfW-Programm auf, das die Installation von privaten Ladestellen in Kombination mit Solaranlagen und Speichern fördert. Damit wird die Tankstelle zu Hause noch attraktiver. Mit Strom volltanken kostet dort dann nur noch wenige Euro, wenn überhaupt. Das bringt mich dann direkt zum zweiten Punkt: Strom. Die Entscheidung für ein E-Auto fällt umso leichter, wenn diese Entscheidung nicht nur ökologisch verantwortungsvoll ist, sondern sich auch wirtschaftlich rechnet. Schon jetzt kostet Benzin im Vergleich zu Strom auf 100 Kilometern knapp das Dreifache. Ein durchschnittliches E-Auto amortisiert sich damit oft schon nach fünf Jahren. Ab da fährt man also nicht nur sauberer, sondern auch billiger. Ich will, dass diese Zeitspanne weiter sinkt. Daran haben Sie als Hersteller natürlich über die Preise einen wichtigen Anteil. Aber auch der Staat leistet seinen Beitrag, vor allem, was günstigeren Strom angeht. Heute liegen die Strompreise zum Glück wieder unter dem Niveau von vor dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, auch dank unserer Energiepreisbremse. Dauerhaft und strukturell aber drückt nur der noch weitere beherzte Ausbau der erneuerbaren Energien die Strompreise. Dieser Ausbau geht rasant voran: Bei den Fotovoltaikanlagen liegen wir bei über 30 Fußballfeldern pro Tag. Das ist fast doppelt so viel wie noch vor einem Jahr. Auch bei der Windenergie kommt endlich richtig Tempo auf: Allein im Juli wurden 95 Windräder neu in Betrieb genommen, und deutlich über 200 sind genehmigt worden. Damit sind wir bei den Genehmigungen auf Kurs, um mehr als die vier bis fünf pro Tag bauen zu können, die wir brauchen, um bis 2030 80 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien herzustellen. Das zeigt: Es geht, und es geht viel schneller, als die meisten erwartet haben. Den dritten Punkt will ich gern „Sicherheit in geopolitisch aufregenden Zeiten“ nennen. Wir alle haben in den vergangenen Jahren gesehen, wie schnell und massiv aus politischen auch wirtschaftliche Herausforderungen werden können. Im Kreis der wirtschaftsstarken Demokratien, den G7, haben wir gemeinsam beschlossen, diesen Herausforderungen mit Entschlossenheit und Augenmaß zu begegnen ‑ mit „derisking“ und nicht mit „decoupling“. Es geht nicht darum, jahrelang gewachsene Lieferbeziehungen zu kappen oder sich aus wachsenden Märkten zu verabschieden. Aber zugleich sorgen wir gemeinsam mit Ihren Unternehmen dafür, dass wir uns breiter aufstellen und risikoreiche Abhängigkeiten in strategisch wichtigen Bereichen beenden. Ein zentrales Beispiel sind Technologien wie Halbleiter. Sie wissen das besser als ich, denn der Halbleitermangel im letzten Jahr war der Flaschenhals der Autoindustrie. Deswegen bin ich sehr froh, dass sich in den vergangenen Monaten so viele Firmen aus der ganzen Welt für Investitionen in Deutschland entschieden haben. Über 80 Milliarden Euro für Zukunftsbranchen wie die Halbleiterproduktion, die Batteriefertigung und Cleantech: Das schafft nicht nur tausende gute zukunftssichere Arbeitsplätze, sondern das stärkt dauerhaft die wirtschaftliche Sicherheit unseres Landes. Deutschland ist gerade dabei, zu dem europäischen Halbleiterstandort zu werden ‑ auch für die Autoindustrie. Die 30 Milliarden-Euro-Investition von Intel in Magdeburg ist die größte Einzelinvestition in der Geschichte Europas. Hinzu kommen die neuen Fabriken von Infineon in Sachsen, von Wolfspeed und ZF im Saarland, und zuletzt der Einstieg von TSMC zusammen mit Bosch, NXP und Infineon in die Chipproduktion in Dresden, wo es mit Global Foundries bereits einen großen Produzenten für die Chips gibt, die viele Ihrer Unternehmen brauchen. Auch bei der Batteriefertigung gehen wir in riesigen Schritten voran. Von der Produktionskapazität, die wir im Jahr 2030 in Deutschland brauchen, sind bereits heute zwei Drittel im Aufbau oder in konkreter Planung. ACC, Northvolt, CATL und alle großen deutschen Automobilhersteller investieren massiv in neue Batteriefabriken, landauf und landab. Erlauben Sie mir dazu übrigens auch noch eine Anmerkung, weil ich weiß, dass das derzeit hier in Bayern und für BMW ein Thema ist: Ich werbe dafür, dass Bürgerinnen und Bürger solche Investitionsentscheidungen als große Chance für ihre Gemeinden betrachten. Deswegen hoffe ich, dass die Bürgerbefragung im Landkreis Straubing-Bogen im Sinne der nachhaltigen Mobilität ausgeht. Das schafft gute Arbeitsplätze für die nächsten Jahre und Jahrzehnte. Es geht aber nicht nur um Halbleiter oder Hochleistungsbatterien: Auch unsere traditionellen Stärken machen wir zukunftsfest. ThyssenKrupp, Salzgitter, ArcelorMittal, die Stahl-Holding-Saar: Alle wollen hier in Deutschland grünen Stahl herstellen, und wir fördern das. Auch das ist ein wichtiger Beitrag zu nachhaltigen Autos „Made in Germany“. Meine Damen und Herren, ich will hier ganz deutlich sagen: Solche Investitionen zu unterstützen ist eine bewusste Stärkung unserer technologischen Souveränität und des Automobilstandortes Deutschland. Mit diesem Geld sichern wir technologischen Vorsprung und gute, zukunftsfähige Arbeitsplätze. Das werden wir fortführen, so wie das auch unsere weltweiten Wettbewerber tun. Ein anderer wichtiger Aspekt ist die verlässliche Versorgung mit strategisch wichtigen Rohstoffen. Viele von Ihnen treffen hier bereits Vorsorge. Wir flankieren das zum Beispiel durch Rohstoffpartnerschaften mit anderen Staaten. Hier in Deutschland schaffen wir gleichzeitig die Voraussetzungen dafür, dass wir einen immer größeren Teil des eigenen Rohstoffbedarfs ressourcenschonend und klimafreundlich mit dem decken, was schon bei uns vorhanden ist und was sich recyceln lässt. Die eigentliche Antwort auf einseitige Abhängigkeiten lautet aber: mehr Diversifizierung ‑ nicht weniger, sondern mehr Absatzmärkte, nicht weniger Handel, sondern mehr Handel mit unterschiedlichen Partnern. Deshalb, liebe Frau Müller, werden wir in der Europäischen Union mit allem Nachdruck für Freihandelsabkommen werben. Und das trägt Früchte. Es gibt wohl kaum einen Zeitpunkt in der Vergangenheit, an dem gleichzeitig mehr Abkommen verhandelt und vorangebracht wurden wie heute. Mit Kenia und Neuseeland sind die Verhandlungen schon abgeschlossen, und ich bin zuversichtlich, dass wir bald auch gute Nachrichten aus den Verhandlungen mit Australien, dem MERCOSUR, Mexiko und Indonesien melden können. Meine Damen und Herren, die erste Mobilitätsrevolution ging vor 135 Jahren hier von München aus, und auch die zweite Revolution, die Revolution hin zu klimaschonender Mobilität, ist hier auf der IAA zu Hause. Wir gehen diesen Weg als Team, mit 135 Jahren Erfahrung im Rücken und in dem Wissen, dass Ihre Innovation, Ihr Erfindergeist und Ihr Know-how auch künftig die Welt bewegen. Haben Sie schönen Dank!
in München
Rede von Kulturstaatsministerin Roth anlässlich des Gedenkens an den 1. September 1939 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-roth-anlaesslich-des-gedenkens-an-den-1-september-1939-in-berlin-2221100
Fri, 01 Sep 2023 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort – Was hat der Krieg, den die Ukraine erleidet, der Europa erschüttert, aus diesem Tag gemacht, aus diesem 1. September, der über vier Jahrzehnte in einem Teil Deutschlands als Weltfriedenstag (Tag des Friedens) gefeiert und im anderen als Anti-Kriegstag begangen wurde? Was sagt uns dieses Datum heute? Haben wir verstanden, was am 1. September 1939 geschah? Unter dem Eindruck des 24. Februars 2022, frage ich mich, ob wir uns nicht ebenso an den 1. August, den 1. Juli oder den 1. März 1939 erinnern sollten? Was geschieht in der Zeit, die einem Krieg vorausgeht, die auf ihn zuführt, auf den Moment zwischen Krieg und Frieden, die furchtbare Spannung, auf diesen letzten unwiederbringlichen Moment der Stille, der Stille vor dem ersten Schuss. Wie viel Hass und Missgunst müssen zusammenkommen, um diese Spannung zu erzeugen? Und wie viel mehr Verstand und Mut erforderte es, ihre Entladung zu verhindern? Wie lange müssen Lügen, Größenwahn und Raserei die Vernunft belagern, bis es zum Krieg kommt? Zum Krieg, der zum Schlimmsten zählt, was Menschen anderen Menschen antun können? Der Krieg, an den wir heute erinnern, begann in der Nacht vom 1. auf den 2. September 1939, als ein deutsches Bombergeschwader die Menschen im polnischen Wielun aus dem Schlaf riss und das Schulschiff Schleswig-Holstein das Feuer auf die polnischen Befestigungen der Westerplatte vor der Freien Stadt Danzig eröffnete. Er kannte von der ersten Minute an kein anderes Ziel als Vernichtung. Er überstieg jede Vorstellung, jedes Maß. Ihm folgten die Schrecken der deutschen Besatzung und nach seinem Ende Jahrzehnte der kommunistischen Fremdbestimmung. Als Polen sich schließlich selbst – und Europa – befreite, war ein halbes Jahrhundert vergangen. Deshalb erinnert uns jeder 1. September auch an den 23. August 1939, an die Perfidie des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts, mit dem die herrschenden Akteure Polen und auch die baltischen Länder ein weiteres Mal teilten und seiner Freiheit beraubten. Der 1. September 1939 ist ein Tag, der nicht vergangen ist. Er ist mehr als eine schmerzhafte Erinnerung im Gedächtnis von Polen und Deutschen. Wir haben mit ihm zu tun. Er ist gegenwärtig im Verhältnis unserer Länder. Er bestimmt es. Doch über seine Folgen, die Grausamkeit der deutschen Besatzungsherrschaft in Polen, wissen wir, wissen die Deutschen wenig, zu wenig, viel zu wenig. Doch eben diesen Teil unserer Geschichte zu kennen, ist die Verantwortung, die uns der 1. September 1939 aufträgt. Und dafür wollen und werden wir uns einsetzen. Wir haben mit diesem Krieg und seinen Folgen zu tun, weil „mit deutscher Schuld zu tun hat“, wer als Deutscher geboren ist. Was Thomas Mann den Deutschen im Mai 1945 sagte, gilt auch heute. Nicht, weil wir schuldig sind, sondern weil sich schuldig macht, wer nicht alles versucht, Gewaltherrschaft und die Zerstörung, die sie mit sich bringt, zu verhindern. Das ist unsere Verantwortung. Wer von deutscher Kultur spricht, sollte nicht schweigen über die polnische, über Warschau, über Krakau, über das Museum, das brennt, über das Schöne, das Kostbare, das Zerstörte. Anna Swirszczynska, deren Gedichte wir heute hören dürfen, hat nicht geschwiegen. Und ihre Stimme ist eine starke, unverwechselbare, weibliche, ungemein moderne Stimme unter den zahlreichen Großen der polnischen Literatur des vergangenen Jahrhunderts. Kein geringerer als Czeslaw Milosz gehörte zu ihren Bewunderern. Dass wir Anna Swirszynska in Deutschland kaum kennen, ist ein Umstand, den wir sehr bald ändern sollten. Denn wie gut wir einander kennen und was wir voneinander lernen, entscheidet nicht nur über das Verhältnis von Polen und Deutschen. Nicht nur Deutsche und Polen brauchen einander. Europa braucht uns. Gedenken und historische Reflexion sollen unsere Beziehungen begleiten, mahnte uns der frühere polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski. Sie müssen es, denn sie sind die Grundlage nicht nur für Verständigung, sondern für Verstehen. Ob und wie gut wir einander verstehen, hat längst eine europäische Dimension erlangt. Deshalb brauchen wir, hier in Berlin, einen Ort der Erinnerung, einen Ort der Begegnung, der Wissen und Verständnis füreinander fördert. Wir, Polen und Deutsche, stehen hier an diesem Ort, 84 Jahre nach dem Überfall Deutschlands auf Polen, ein Menschenalter nach dem verheerendsten Krieg, den Europa erlebt hat, als politische und militärische Verbündete. „Es ist unsere Nachbarschaft, die darüber entscheidet, ob und wann das geteilte Europa zusammenwachsen wird“, hat uns Wladyslaw Bartoszewski aufgetragen. Wir wissen, er hat recht. Und wir wissen, es liegt in unserer Verantwortung. Vor wenigen Wochen war ich in Warschau. Neben vielen Begegnungen war für mich das bewegendste Erlebnis das Wiedersehen mit Marian Turski. Er hat mich an die Hand genommen, hat mich durch das Polin-Museum geführt und hat mir von seinem Kampf und dem seiner Frau ums Überleben im Ghetto erzählt. Er hat mir mit diesem ich-gebe-Dir-meine-Hand die Hand zur Versöhnung ausgestreckt. Er hat mir sein Vertrauen bekundet. Dieses Vertrauen gibt uns die Verantwortung zu gedenken, die Chance, uns zu begegnen und uns zu verstehen in einem deutsch-polnischen Haus.
Mit dem Angriff des nationalsozialistischen Deutschlands auf Polen begann in der Nacht auf den 1. September der Zweite Weltkrieg. Ein Krieg, der von der ersten Minute an kein anderes Ziel als Vernichtung gekannt habe, sagte Kulturstaatsministerin Roth bei der Gedenkveranstaltung am 84. Jahrestag des Überfalls. „Diesen Teil unserer Geschichte zu kennen, ist die Verantwortung, die uns der 1. September 1939 aufträgt. Und dafür wollen und werden wir uns einsetzen“, betonte sie.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der feierlichen Einweihung der Geothermieanlage Eavor-Loop am 24. August 2023 in Geretsried
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Thu, 24 Aug 2023 00:00:00 +0200
Geretsried
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Söder, sehr geehrte Frau Bundesministerin Stark-Watzinger, liebe Bettina, Minister Schulz, sehr geehrte Staatsminister Aiwanger, Glauber und Blume, sehr geehrter Herr Bürgermeister Müller, ‑ aus eigener Tradition muss ich sagen: Erster Bürgermeister ‑, Mister Redfern, sehr geehrter Herr Mölk, meine Damen und Herren! 300 Kilometer nördlich von hier, in Windisch-Eschenbach, haben Geologinnen und Geologen in den 80er-Jahren ein neun Kilometer tiefes Loch in den bayerischen Boden gebohrt. Das war das Kontinentale Tiefbohrprogramm der Bundesrepublik Deutschland. Und es drang so weit in die Erdschichten vor wie noch niemand zuvor in Deutschland. Was man allerdings auch dazu sagen muss: Die Ingenieurinnen und Forscher wollten damals eigentlich genau senkrecht nach unten in die Erde bohren. Nach getaner Arbeit aber lag das Ende dieser Bohrung um 300 Meter zur Seite verschoben. Je tiefer es ging, desto heißer wurde es da unten, und das elektronische Vertikalbohrsystem hat irgendwann nicht mehr funktioniert. Ich erwähne diese Geschichte, weil ich eines verdeutlichen möchte: Das ist eine technische Meisterleistung, die Sie sich mit diesem Projekt hier in Geretsried vorgenommen haben, meine Damen und Herren. Denn hier geht es ja nicht nur in die Tiefe. Sie müssen auch unter der Erde ziemlich genau dort rauskommen, wo Sie hinwollen. Wenn dieser Versuch gelingt, wäre das nicht nur ein großes Stück Ingenieurskunst, sondern ein noch größerer Fortschritt für unsere Wärmewende. Denn dann könnte man Geothermie unabhängig vom Thermalwasser an sehr vielen Orten nutzen, wo das bislang noch nicht geht, und auch in größeren Mengen. Das hieße: Mehr saubere Wärmeversorgung, und die bringt uns näher an unsere Klimaziele. Dafür – das ist klar ‑ reicht business as usual nicht aus. Dafür muss man sich auch mal etwas trauen und neuen, hochinnovativen Technologien eine Chance geben, und genau das tun Sie. Dafür von Herzen Erfolg! Ich finde das richtig und wichtig; denn Erdwärme bringt die ganze Energiewende voran. Sie sollte eine viel bedeutendere Rolle spielen, als sie das bisher tut. Die Idee, die Wärme unter der Erde als Energie auch über der Erde zu nutzen, ist so naheliegend, weil diese Wärme ja immer da ist ‑ unabhängig von Wind und Wetter, unabhängig von den Jahreszeiten. Deshalb haben sie übrigens schon die Römer eine ganze Weile vor uns genutzt, im ersten Jahrhundert. Damals heizten sie ihre Häuser und ihre Thermen mit heißem Quellwasser ‑ auch hier in Bayern, zumindest südlich des Limes. Denn hier gibt es eine ganze Menge heißes Wasser unter der Erde. Deshalb liegt hier ein bedeutender Teil der 42 Projekte der tiefen Geothermie, die in Deutschland in Betrieb sind. Aber auch anderswo nimmt das Interesse an dieser Form der Geothermie zu: 12 Anlagen werden neu gebaut. Erst im April habe ich eine davon eingeweiht ‑ in Schwerin, im hohen Norden. Weitere 82 sind deutschlandweit in Planung. Das läuft also ganz gut. Und trotzdem geht da eben noch viel mehr. Forscherinnen und Forscher der Geothermie-Allianz Bayern haben gezeigt, dass die Geothermie einen Großteil der Wärmeversorgung in Deutschland abdecken könnte. Und Expertinnen und Experten des Geoforschungszentrums GFZ in meinem Wohnort Potsdam haben vergangenes Jahr eine Roadmap für die Entwicklung der Tiefen Geothermie in Deutschland vorgestellt. Ihr Fazit: Geothermie kann Wärmewende. Die Tiefengeothermie ist vor allem für unsere Kommunen und ihre Wärmeversorgung interessant. Bei der herkömmlichen Technologie liegt die größte Herausforderung darin, geeignete heiße Quellen zu finden, das so genannte Fündigkeitsrisiko. Im vergangenen Jahr haben wir als Bund deshalb eine Initiative gestartet, mit der wir Explorationsprojekte fördern, Risiken abfedern und untersuchen, wo sich Geothermie besonders lohnt. Unser Ziel ist, so viel Erdwärme wie möglich bis 2030 zu erschließen und zehnmal so viel Erdwärme ins Wärmenetz einzuspeisen wie heute. Das ist ambitioniert. Aber eine sichere und vor allem bezahlbare Versorgung mit erneuerbarer Energie ist ein Vorteil nicht nur für unsere Bürgerinnen und Bürger, sondern auch für unsere Wirtschaft ganz entscheidend – für Standortentscheidungen und für Investitionen. Wir sind dabei, Deutschland bis 2045 zu einem der ersten klimaneutralen Industrieländer der Welt zu machen. Wir räumen unnötige Bürokratie aus dem Weg, setzen die Ausschreibungsvolumina hoch und beschleunigen Planungsverfahren deutlich. Dabei setzen wir auf alle erneuerbaren Energien. Denn wer nur auf eine Sache setzt, der macht sicher etwas falsch. Bei den Photovoltaikanlagen hat sich der Zubau in Deutschland innerhalb des vergangenen Jahres fast verdoppelt, von 17 auf mehr als 30 Fußballfelder an Photovoltaikanlagen, wohlgemerkt pro Tag. Wir haben letzte Woche im Kabinett ein Solarpaket beschlossen, mit dem wir den Ausbau der Solarenergie beschleunigen, und es geht darum, selbst erzeugten Sonnenstrom besser zu nutzen. Auch bei der Windkraft hat sich in den vergangenen zwölf Monaten Entscheidendes getan. Allein im Monat Juni dieses Jahres wurden mehr als 200 neue Windräder genehmigt. Das sind mehr als doppelt so viele wie im Jahr zuvor, mehr als sechs pro Tag, und jetzt schon mehr als die vier bis fünf, die wir pro Tag bauen wollen, um unser Ziel im Jahr 2030 zu erreichen! Das sind gute Nachrichten auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland und für Investorinnen und Investoren. Zahlreiche Unternehmen planen gerade Großinvestitionen in Deutschland ‑ in neue Batteriefabriken, in Halbleiterfabriken, in neue Netze und Anlagen. Erst vor wenigen Wochen waren der Ministerpräsident und ich in Erlangen. Denn Siemens investiert eine Milliarde Euro in Deutschland, unter anderem in einen Campus für Hightech und in hochautomatisierte Fabriken. Insgesamt reden wir über Investitionen von rund 80 Milliarden Euro, die da innerhalb weniger Monate zusammengekommen sind. Daran werden Zehntausende gute Arbeitsplätze hängen, auch bei Zulieferern und lokalen Handwerksunternehmen, im klassischen deutschen Mittelstand. Was all diese Investoren interessiert, ist, ob in der Zukunft vor Ort genügend bezahlbare erneuerbare Energie vorhanden sein wird. Auch deshalb freue ich mich über den Pioniergeist von Ihnen. Mit heißer Erde für warme Wohnungen sorgen, uns weniger abhängig machen von Energieimporten und auch noch das Klima schützen! Wenn wir neuen Ideen und Projekten wie diesem eine Chance geben, kann daraus neuer Wohlstand erwachsen. Deshalb wünsche ich Ihnen und uns allen, dass Deutschland das erste Land in Europa wird, in dem der Eavor-Loop in nennenswertem Maßstab funktioniert. Alles Gute für dieses Vorhaben! Übrigens: Das tiefe Loch in Windisch-Eschenbach gibt es immer noch. Dort untersuchen Forscherinnen und Forscher bis heute die Gesteinsschichten und was man sonst noch alles so aus Bohrkernen herauslesen kann. Falls Sie am Wochenende also noch nichts vorhaben: Man kann es auch besichtigen. Schönen Dank und viel Erfolg!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Unternehmertages NRW am 16. August 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-unternehmertages-nrw-am-16-august-2023-2214040
Wed, 16 Aug 2023 17:23:00 +0200
Düsseldorf
Sehr geehrter Herr Kirchhoff, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, Ministerinnen und Minister, meine Damen und Herren, schönen Dank für die Einladung und für die Gelegenheit, gleich noch mit Ihnen ins Gespräch zu kommen und die Fragen weiter zu erörtern. Danken möchte ich Ihnen auch für das, was Sie in diesen Tagen leisten; denn natürlich gehen wir als Land und als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt gerade durch sehr fordernde Zeiten. Krieg, Energiekrise, Inflation, die Folgen der Coronapandemie ‑ all das geht an Ihren Unternehmen nicht spurlos vorbei. Solche externen Faktoren lassen sich allerdings auch nicht per Knopfdruck abstellen. Und dennoch: Gemeinsam können wir dafür sorgen, dass unser Land gut damit zurechtkommt; denn bei allen Schwierigkeiten ‑ eines lässt sich nicht bestreiten: Deutschland ist deutlich besser durch diese Krisenzeit gekommen, als viele uns das vorhergesagt haben. Unser Kurs, die Ukraine zu unterstützen ‑ entschlossen und zugleich besonnen ‑, hat sich als richtig erwiesen. Dazu gehört: Die NATO ist nicht Kriegspartei geworden, und das wird auch so bleiben. Aus der Coronapandemie sind wir am Ende besser herausgekommen als viele andere Länder ‑ mit weniger Todesopfern und dank zielgerichteter Hilfen sowie der Möglichkeit zur Kurzarbeit auch mit geringeren wirtschaftlichen Einbußen. Was wurde uns nicht alles vorhergesagt, als Russland im vergangenen Jahr um diese Zeit seine Gaslieferungen eingestellt hat: Wutwinter, Energieengpässe, Gaszwangsrationierung, eine tiefe Rezession. Nichts davon ist eingetreten, weil wir rechtzeitig genügend Gas eingespeichert haben, weil wir mit beispielloser Geschwindigkeit Flüssiggasterminals ans Netz geholt haben, weil wir Gas über die westeuropäischen Häfen und zusätzliches Gas aus Norwegen importiert haben und weil viele Haushalte und Unternehmen Gas eingespart oder auf andere Energiequellen umgestellt haben. Natürlich müssen die Energiepreise weiter sinken. Ich werde gleich noch mehr dazu sagen. Aber von den extremen Preisen des vergangenen Jahres sind wir meilenweit entfernt, weil wir ihnen mit unseren Energiepreisbremsen die Spitze genommen haben. Aktuell ist Strom für Neukunden so günstig wie zuletzt vor Beginn des russischen Angriffskriegs. Das soll kein Aufruf sein, jetzt die Hände in den Schoß zu legen. Ganz im Gegenteil! Aber diese Beispiele zeigen doch: Unser Land ist durchaus in der Lage, die Probleme unserer Zeit zu meistern. Das gilt erst recht für Versäumnisse, die hausgemacht sind. Die Energiewende wurde jahrelang viel zu zögerlich vorangetrieben. In den vergangenen 10, 15 Jahren hat der Staat zu wenig in unsere Infrastruktur und in die Digitalisierung investiert. Der Mangel an Fachkräften hat sich seit Jahren abgezeichnet. Aber zur Wahrheit gehört: Ein modernes Einwanderungsrecht war zuvor politisch nicht durchsetzbar. Ich stimme Ihnen zu: Unser Staat muss dringend wieder lernen, Tempo zu machen ‑ auf allen Ebenen. Doch diese Probleme sind zum Glück nicht nur erkannt und benannt. Wir befinden uns mitten in einer Zukunftswende. Ich will das am Beispiel von Nordrhein-Westfalen deutlich machen. Bei NRW denken viele als Erstes an Industrieriesen wie thyssenkrupp, Bayer oder Rheinmetall, an weltweite Dienstleister wie die Deutsche Post DHL oder die Deutsche Telekom. NRW, das ist aber auch ein breit aufgestellter, starker Mittelstand mit unzähligen „hidden champions“. Die sprichwörtlichen „Fabriksken im Keller“, wie man bei Ihnen vor Ort so sagt, Herr Kirchhoff, sind gemeint, die aber gar nicht so sehr im Keller sind, sondern sehr oft auch Weltmarktführer und die in der ganzen Welt mitspielen. Angesichts dieser strukturellen Breite und Tiefe ist es nicht verwunderlich, dass man die aktuellen Herausforderungen und Chancen für unsere Wirtschaft hier in Nordrhein-Westfalen wie durch ein Brennglas betrachten kann. Also, reden wir vom Industrieland Nordrhein-Westfalen. Seine große Stärke ist, dass hier auf relativ kleinem Raum praktisch alle Glieder der wichtigsten Wertschöpfungsketten zusammenkommen: von der Grundstoffchemie bis zum fertigen Kunststoff oder Pharmaprodukt, von der Stahlerzeugung bis zum fertigen Auto oder der komplexen Maschine. Ich will es ganz klar sagen: Ich will, dass das so bleibt. Nehmen Sie zum Beispiel die Stahlindustrie. Es gibt einige auch bekannte Ökonomen, die uns sagen: Es ist doch nicht so schlimm, wenn hier in Deutschland kein Stahl mehr produziert wird. Dann kommt er eben von anderswo. ‑ Ich bin da entschieden anderer Meinung. Eine hochspezialisierte Industrieregion wie Nordrhein-Westfalen lebt davon, dass alle Verarbeitungsstufen hier vor Ort sind. Ich möchte, dass eine Zukunftstechnologie wie die Herstellung von grünem Stahl nicht nur in den USA oder in Asien zu Hause ist, sondern von Anfang an auch hier in Deutschland. Deshalb ist es richtig, dass der Bund und das Land thyssenkrupp dabei unterstützen, um die Ecke von hier, in Duisburg, die erste zu 100 Prozent wasserstofffähige Direktreduktionsanlage für die Stahlproduktion zu bauen. Projekte wie dieses zeigen: Es ist kein Widerspruch, klimaneutral zu werden und zugleich ein starkes Industrieland zu bleiben. Das zeigen übrigens auch die Milliardeninvestitionen in Zukunftstechnologien, die wir derzeit im ganzen Land erleben ‑ all dem gleichzeitigen Gerede von der Deindustrialisierung zum Trotz. Es ist manchmal etwas merkwürdig, dass am gleichen Tag in der gleichen Sendung oder in der gleichen Zeitung von diesen milliardenschweren Direktinvestitionen berichtet wird und sich dann die allgemeine Klage erhebt, das Gegenteil sei der Fall. Ich finde, da sollten doch die Fakten zählen. Vor anderthalb Jahren galt der Halbleitermangel als die große Wachstumsbremse unserer Industrie. Was Chips angeht, war Europa abgehängt und abhängig, vor allem von asiatischer Konkurrenz. Was ist seitdem passiert? ‑ Die Lieferketten haben sich stabilisiert. Vor allem aber ist Deutschland gerade dabei, zu dem Halbleiterstandort Europas zu werden, zu einem der bedeutendsten weltweit. Intel investiert 30 Milliarden in eine neue Chipfabrik in Magdeburg. Das ist die größte Einzelinvestition in der Geschichte Europas. Infineon baut in Dresden eine neue Halbleiterproduktion auf. Wolfspeed und ZF machen das im Saarland. Erst vergangene Woche hat der größte Chiphersteller der Welt, TSMC aus Taiwan, angekündigt, zusammen mit Bosch, Infineon und NXP hier in Deutschland eine moderne Fabrik für die Herstellung von 300-mm-Chips zu bauen ‑ für die Chips also, die gerade unsere Automobilindustrie ganz besonders braucht. Davon profitiert natürlich auch Nordrhein-Westfalen. Erst im Juni war ich bei Ford in Köln, wo demnächst die E-Autos für den europäischen Markt vom Band laufen. Auch Zulieferunternehmen wie Ihres, lieber Herr Kirchhoff, brauchen solche Chips. Deshalb ist es richtig, dass der Bund diese Investitionen fördert und zugleich in die Infrastruktur investiert, damit die Rahmenbedingungen für unsere Wirtschaft besser werden. Wir investieren in eine Erneuerung der Bahn, in bessere Straßen und neue Brücken, in ein flächendeckendes Ladesäulennetz, in Glasfaserleitungen und in den Wasserstoffhochlauf. In diesem und im kommenden Jahr steht dafür allein im Bundeshaushalt die Rekordsumme von 54 Milliarden Euro zur Verfügung ‑ über 40 Prozent mehr, was Investitionen betrifft, als 2019, dem letzten Jahr vor der Coronapandemie. Im Wirtschaftsplan des Klima- und Transformationsfonds stehen für das nächste Jahr zusätzlich fast 58 Milliarden Euro, die in genau die Aufgaben investiert werden können und sollen, über die ich eben gesprochen habe und die für unsere Zukunft so wichtig sind. Wenn man beides zusammenführt, sind das mehr als 100 Milliarden Euro öffentlich unterstütztes Direktinvestment. Das ist eine ziemlich große Summe. Ich glaube, dass sie bei den Debatten über die Frage, was zu tun ist, eine Rolle spielen sollte. Weil in diesen Tagen so oft vom amerikanischen Inflation Reduction Act die Rede ist, will ich eines hinzufügen: Wir Europäer müssen uns nicht verstecken. Mit dem Green-Deal-Industrieplan macht die Europäische Union Investitionen in Europa deutlich unkomplizierter und auch attraktiver. Hinzu kommt der schon erwähnte deutsche Klima- und Transformationsfonds. Ich habe die Summe genannt, die im Wirtschaftsplan für das nächste Jahr zur Verfügung steht. Insgesamt stehen in diesem Fonds 210 Milliarden Euro für die nächsten Jahre bereit. Das ist ziemlich viel an Mitteln für Investitionen genau in die Bereiche, um die es hier tatsächlich geht. Damit können wir in den nächsten Jahren kraftvoll investieren: in die Entwicklung und Ansiedlung neuer Technologien, in die Energieversorgung, in klimafreundliche Mobilität, in digitale Infrastruktur und in die Sanierung von Gebäuden. Gemessen an der Größe unseres Landes und unserer Wirtschaftskraft kann es dieser Fonds durchaus mit dem aufnehmen, was wir aus den USA kennen. Auch das zeigen übrigens die Entscheidungen ganz unterschiedlicher Unternehmen, sich hier in Deutschland anzusiedeln oder neue Geschäftsfelder zu erschließen und auszubauen. Siemens baut seinen neuen High-Tech-Campus nicht in China oder den USA, sondern in Erlangen. Varta, BASF, CATL, Northvolt, ACC und viele andere investieren überall im Land in neue Batteriefabriken. Alle großen Stahlhersteller in Deutschland arbeiten am Umstieg auf grünen Stahl. Über thyssenkrupp habe ich schon gesprochen. Ich könnte noch Salzgitter erwähnen. ArcelorMittal ist dabei, entsprechende Entscheidungen zu treffen und dabei auch unterstützt zu werden. Die Liste ließe sich lange fortführen. Zusammen summieren sich die Zukunftsinvestitionen, die das Wirtschaftsministerium registriert, weil sie in Berührung mit unseren Förderprogrammen stattfinden, auf über 80 Milliarden Euro. Das ist nicht wenig Investment, das überall in Deutschland geplant ist. Eine Frage, die jeden Investor interessiert und die jeder uns und auch Ihnen stellt, ist natürlich die nach der Energieversorgung und den damit verbundenen ‑kosten. Ein entscheidender Standortvorteil ist, ob vor Ort genug erneuerbare Energie vorhanden ist. Auch das sollte nicht vergessen werden. Bei vielen Investitionen spielt genau das eine Rolle, weil die Unternehmen für den Weitervertrieb und den Verkauf ihrer Produkte nachweisen müssen, dass das in ausreichender Menge aus CO2-neutraler Produktion stammt. Deshalb ist erneuerbare Energie eine Voraussetzung für viele der langfristigen Investitionsentscheidungen, die jetzt jeden Tag in der Welt getätigt werden. Was das angeht, stehen der Norden und der Osten unseres Landes momentan besser da als unsere industriellen Ballungszentren im Westen und im Süden. Deshalb müssen wir auch Übertragungsnetze und Speicher mit neuer Deutschland-Geschwindigkeit, mit neuem Deutschland-Tempo, zu dem Sie aufgerufen haben, bauen. Der Chef von E.ON hat in einem Interview vor Kurzem sinngemäß gesagt: Um die nötige Infrastruktur für die Energiewende zu bauen, braucht sein Unternehmen allein in einem der Netzgebiete rund 600 Planfeststellungsverfahren. Außer beim Anschluss der Tesla-Fabrik in Brandenburg haben die Behörden der betroffenen Länder bisher kein einziges dieser Verfahren abgeschlossen. So kann und so wird es nicht weitergehen! Darüber reden wir derzeit auch intensiv mit den Ländern und den Kommunen. Als Bund haben wir gleich zu Beginn unserer Regierungszeit drei große Pakete geschnürt, um mehr Tempo möglich zu machen. Der Ausbau der Erneuerbaren hat nun Vorrang vor anderen Rechtsgütern bei Abwägung. Zwei Prozent der Landesfläche sollen für Windenergie zur Verfügung stehen. Das Planungs- und Genehmigungsrecht haben wir vereinfacht und beschleunigt, unter anderem indem wir den Dauerkonflikt zwischen Naturschutz und dem Ausbau der erneuerbaren Energien aufgelöst haben. Und wir bleiben da dran. Gesetz für Gesetz trimmen wir auf Schnelligkeit, damit wir bis 2030 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien herstellen. Ich will ausdrücklich sagen: Es wird mehr Strom sein als heute; denn wir werden mit der Strommenge, die wir heute haben, nicht auskommen, weil zur Dekarbonisierung der Industrie in großem Umfang die Nutzung von Strom dazugehört. Deshalb rechnen wir um das Jahr 2030 mit 750 bis 800 Terawattstunden statt der heutigen 650. Ich sage auch klar: In den 30er-Jahren werden wir etwa 1000 Terawattstunden Strom brauchen. Weil man das ernst nehmen muss, haben wir die Methode geändert. Wir haben nicht gesagt: „Das muss kommen. Gucken wir mal, wie weit wir kommen“, sondern wir haben gefragt: „Wann muss was fertig sein?“ ‑ Wir gehen jetzt rückwärts und fragen, wie wir das hinbekommen, damit die Dinge zu den Zeitpunkten, zu denen es notwendig ist, auch tatsächlich fertiggestellt sind. Ganz bewusst und um diese Frage vom abstrakten Reden zu etwas Konkretem werden zu lassen, habe ich vor einigen Monaten öffentlich ausbuchstabiert, was das bedeutet: vier bis fünf Windräder und 43 Fußballfelder Photovoltaikanlagen ‑ wohlgemerkt pro Tag ‑, dazu Speicher und Tausende Kilometer neue Leitungen. Als ich das erstmals öffentlich gesagt habe, haben viele den Kopf geschüttelt nach dem Motto: Wie soll das denn funktionieren? ‑ Heute sehen wir: Es geht. In den ersten sechs Monaten haben wir im Schnitt jeden Tag über 30 Fußballfelder Photovoltaik installiert. Das sind fast doppelt so viele als noch vor einem Jahr. Bei den Windrädern haben wir im ersten Halbjahr rund 400 neu ans Netz genommen ‑ über 50 Prozent mehr als in der gleichen Zeit im Vorjahr. Vor allem aber haben wir dank einfacherer Regeln allein im Juni 211 neue Windräder in Deutschland genehmigt. Das sind sieben pro Tag, also bereits mehr als die vier bis fünf, die wir im Schnitt pro Tag bauen müssen. NRW liegt beim Zubau inzwischen auf Platz drei der Bundesländer. Bei den Ausschreibungen der Bundesnetzagentur belegt NRW mit 859 Megawatt den ersten Platz ‑ so wie es sich für ein Land gehört, das immer schon Energieland war. Mir zeigt das: Deutschland-Geschwindigkeit geht nicht nur beim Bau von Flüssiggasterminals. Deutschland-Geschwindigkeit funktioniert auch beim Bau von Windrädern und Solaranlagen, von Überlandleitungen und Speichern, beim Bau von Kraftwerken, die Wasserstoff-ready sind und die wir brauchen, wenn der Strom aus Sonne, Windkraft und Wasserkraft nicht ausreicht. Vielleicht noch diese Bemerkung: Wir treffen jetzt die Entscheidung, damit diese Kraftwerke, die als Prototypen neu entwickelt werden müssen und so noch nicht gebaut worden sind, in den 30er-Jahren in ausreichender Zahl tatsächlich ihren Betrieb aufnehmen können. Wir haben das nicht als abstrakte Planung gemacht. Die von Ihnen vor Kurzem wahrgenommene Meldung der Europäischen Union war ja, dass sie uns die Unterstützung dieser Investments genehmigt hat. Wir werden das jetzt auf den Weg bringen; denn das muss jetzt losgehen, damit das 2030 und in den folgenden Jahren auch tatsächlich gebaut ist. Das gilt auch für das Wasserstoffnetz, für das wir bis zum Jahresende die notwendigen Voraussetzungen schaffen werden. Dazu der Hinweis: Wir haben uns entschieden, dass das ein privatwirtschaftliches Investment sein wird. Wir wollen, dass sich die heutigen Gasnetzbetreiber auch diese Aufgabe vornehmen. Aber das ist ein sehr, sehr ambitioniertes Projekt; denn damit das klappt, müssen jetzt diejenigen, um die es dabei geht, Entscheidungen treffen und alle zusammen Milliarden investieren, damit sie Geld über einen Zeitraum von 20, 30, vielleicht 40 Jahren verdienen. In den ersten Jahren wird das ein Investment sein, das notwendig ist, damit das mit der Wasserstoffwirtschaft auch tatsächlich klappt. Aber da fließt dann noch nicht genug durch, um die Finanzierungskosten für die Netze darüber wieder einzubringen. Das muss über eine so lange Strecke geschehen. In enger Zusammenarbeit zwischen den Verantwortlichen in der Bundesnetzagentur, den politisch Verantwortlichen und der Wirtschaft kann es gelingen, dass wir jetzt eine so gigantische Infrastrukturaufgabe auf den Weg bringen, damit alles rechtzeitig entsteht und zur Verfügung steht. Wir werden das jetzt tun. Da ist es vielleicht sogar ein Vorteil, dass wir wegen der Notwendigkeit, die Energieversorgung Deutschlands mit Gas sicherzustellen, jetzt an den norddeutschen Küsten LNG-Terminals gebaut haben; denn damit ist der Rahmen geschaffen, der uns in die Lage versetzt, die übrige Investition drum herum zu gruppieren. Das ist eine gute Nachricht für das Energieland NRW; denn mit all diesen strukturellen Verbesserungen werden wir auch die Strompreise Schritt für Schritt drücken können. Ich weiß: Gerade die energieintensiven Branchen warten darauf. Nordrhein-Westfalen hat ja bekanntermaßen sehr viele davon. Aber auch das gehört zur Wahrheit dazu: Ein schuldenfinanziertes Strohfeuer, das die Inflation wieder anheizt, oder eine Dauersubvention von Strompreisen mit der Gießkanne können wir uns nicht leisten und wird es deshalb auch nicht geben. Das wäre ökonomisch falsch, fiskalisch unsolide und würde sicherlich auch falsche Anreize setzen. Ich danke den Marktwirtschaftlern unter den Anwesenden. ‑ Wir setzen stattdessen auf strukturelle Lösungen. Wir beschließen noch in diesem Monat ein Wachstumschancengesetz. Damit bauen wir Bürokratie ab und fördern Investitionen, ganz besonders in Forschung und Entwicklung und in klimafreundliche Produktion. Vor allem aber entlasten wir Unternehmen auf breiter Front. Dazu werden wir zeitlich befristet deutlich bessere Abschreibungsbedingungen schaffen. Das sorgt unmittelbar für höhere Liquidität in Ihren Unternehmen und sendet das Signal: Die richtige Zeit zu investieren ist jetzt! Auch für Start-ups, kleine und mittlere Unternehmen bringen wir Erleichterungen auf den Weg ‑ vor allem was den Zugang zum Kapitalmarkt angeht. Gerade heute haben wir das Zukunftsfinanzierungsgesetz beschlossen, das alle diese Regelungen beinhaltet, und als Kabinett auf den Weg gebracht. Meine Damen und Herren, parallel arbeiten wir mit den Ländern intensiv daran, Planungs-, Genehmigungs- und Verwaltungsverfahren noch weiter zu beschleunigen und unseren Staat einfacher und digitaler zu machen, auch mithilfe von künstlicher Intelligenz. Die Vorschläge des Bundes dazu liegen derzeit bei den Ländern. Ich wünsche mir hierzu in den kommenden Monaten sehr klare, gemeinsame Beschlüsse, damit das auch funktioniert. Ein Feld, bei dem dringend mehr Tempo auch in den Verwaltungen nötig ist, ist die Suche nach Fachkräften. Sie selbst haben davon gesprochen. Wir brauchen Arbeitskräfte und Fachkräfte. Ich will ausdrücklich dazusagen: Das ist in den letzten Jahren ganz gut gelungen. Dazu mussten wir aber nicht allzu viel können; denn die Freizügigkeit in der Europäischen Union hat es uns ermöglicht, dass wir eine ganz andere Situation auf dem Arbeitsmarkt haben, als uns die Statistiker Ende der 90er-Jahre vorgerechnet und vorhergesagt haben. Millionen zusätzliche Arbeitskräfte sind im deutschen Arbeitsmarkt tätig. Wir haben die höchste Zahl von Erwerbstätigen in der Geschichte unseres Landes. Wir haben die höchste Zahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigter in der Geschichte unseres Landes und wären, hätten sich die Vorausberechnungen von vor 20 Jahren bewahrheitet, heute bei niedrigsten Werten, unterhalb der Werte, die wir um die Jahrtausendwende hatten. Das ist die reale Veränderung, die stattgefunden hat. Aber nun geht es darum, dass wir in einer Situation, in der das nicht mehr so ganz einfach geht, trotzdem das schaffen, was für unseren Arbeitsmarkt wichtig ist, nämlich genügend Arbeitskräfte zu begeistern, um in unseren Unternehmen zu arbeiten. Wir sorgen dafür, das inländische Potenzial besser auszuschöpfen. Dazu gehört auch die Weiterbildung im Betrieb. Ich will ausdrücklich sagen, dass ich mich noch ganz gut an die Lehman-Brothers-Krise und den ersten großflächigen Einsatz von Kurzarbeit erinnere, bei dem wir miteinander gesprochen und zusammen gehandelt haben. Ich habe damals versucht, die nicht Beschäftigten in Weiterbildungsprogrammen unterzubringen. Ich konnte alle, die das gemacht haben, persönlich besuchen. Das war nicht so erfolgreich. Aber jetzt sehe ich ganz viele Betriebe, die etwas herausgefunden haben: Es gibt viele, die bei ihnen als Angelernte, als Ungelernte tätig sind, die seit Jahren eine gute Arbeit leisten und deren Handlungsspektrum man noch einmal erweitern kann, obwohl sie schon 31, 42 oder 51 Jahre alt sind. Und das klappt. Das zeitigt sehr große Erfolge. Ich kann nur allen empfehlen, das auch in dem großen Stil zu machen, wie manche Unternehmen es jetzt tun. Natürlich geht es auch darum, es für Ältere leichter zu machen, dass sie berufstätig sein können. Das ist mit den Gesetzen zur gleichzeitigen Beschäftigung während der Rente möglich geworden. Jetzt muss man nur alle überzeugen, damit sie auch Lust haben. Das ist eine Aufgabe, die dann, glaube ich, bei Ihnen liegt. Das Gleiche gilt für die gezielte Vorbereitung Jugendlicher auf eine Ausbildung. Wir wissen zusammen mit den Gemeinden und den Ländern: Wir brauchen gute Kinderbetreuungsmöglichkeiten; denn natürlich wird sich manche junge Frau oder mancher junge Mann erst dann für Vollzeitarbeit entscheiden, wenn das mit der Berufstätigkeit und dem Unterstützen der eigenen Kinder auch klappt. Das ist eine zentrale Aufgabe. Aber ich muss Ihnen nicht sagen, dass das alles nicht ausreichen wird; das wissen Sie selbst. Die Lücke ist groß, wenn 13 Millionen Babyboomer ‑ ein niedliches Wort für Leute um die 60 ‑ bis Mitte des nächsten Jahrzehnts in Rente gehen. Deshalb haben wir mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das Sie eben schon erwähnt haben, das modernste Einwanderungsrecht geschaffen, das Deutschland je hatte. Das lässt sich auch im internationalen Vergleich sehen. Natürlich kommt es jetzt auf die Umsetzung an ‑ bei uns allen. Das wissen wir. Deshalb legen wir die Hände, mit denen wir Gesetze gemacht haben, nicht in den Schoß, sondern wir werden ganz praktisch schauen: Wie können wir es so einfach und so unbürokratisch wie möglich regeln, damit die vielen Frauen und Männer in der Welt, die gerne hier arbeiten würden und die mit ihren Fähigkeiten und Talenten gebraucht werden, das auch tatsächlich können? Deshalb sind wir froh über die Verständigung mit den Ländern hinsichtlich der Digitalisierung der Ausländerbehörden. Das wird uns sehr helfen, auch die Prozesse zu entbürokratisieren. Wir werden uns auch für das, was im Ausland geschieht, noch neue Wege anschauen, wie wir das so einfach wie möglich machen können, damit das tatsächlich klappt, damit Ihre Unternehmen die Frauen und Männer bekommen, die Sie für Ihre Tätigkeit brauchen. Meine Damen und Herren, seit dem 19. Jahrhundert ist Nordrhein-Westfalen ein Integrationsland. Damals zogen Arbeiter aus halb Europa ins boomende Ruhrgebiet. Ich bin überzeugt: Diese DNA kommt Nordrhein-Westfalen auch heute zugute, wenn es darum geht, gute Leute zu finden, die hier mit anpacken wollen. Industrieland, Energieland, Integrationsland ‑ eine Zuschreibung fehlt noch, wenn wir über die Stärken des Landes Nordrhein-Westfalen reden. Nordrhein-Westfalen ist auch ein erfahrenes Transformationsland. Bei einem seiner Besuche in Nordrhein-Westfalen hat der frühere Bundespräsident Joachim Gauck über den Strukturwandel gesagt: „Es ist zur Last geworden, was einst Reichtum begründet hat.“ Ich finde, die Erfolgsgeschichte dieses Landes beweist aber noch etwas ganz anderes, nämlich dass die vermeintliche Last des Strukturwandels auch neuen Wohlstand begründen kann. Mit dem Aufbruch weg von rauchenden Schloten und Zechen hin zu innovativen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen hat Nordrhein-Westfalen doch bewiesen, wie anpassungsfähig, resilient und erfolgreich deutsche Unternehmen im Wandel sind. Diese Erfahrung ist heute Gold wert; denn wir stecken mitten in der größten Erneuerung unserer Wirtschaft seit Beginn der Industrialisierung ‑ angetrieben von der Digitalisierung und der Dekarbonisierung. In puncto Transformation aber macht Ihnen hier in Nordrhein-Westfalen keiner etwas vor. Das gibt Zuversicht, die wir gut gebrauchen können; denn Bedenkenträger und Kassandra-Rufer gibt es da draußen schon genug. Also, packen wir’s an!
in Düsseldorf
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Startschusses für einen Erweiterungsbau am Siemens-Standort Erlangen am 13. Juli 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-startschusses-fuer-einen-erweiterungsbau-am-siemens-standort-erlangen-am-13-juli-2023-2202514
Thu, 13 Jul 2023 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Erlangen
Sehr geehrter Herr Busch, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, liebe Siemensianerinnen und Siemensianer, meine Damen und Herren, Johann Georg Halske kennen wahrscheinlich die meisten von Ihnen. Das kann man bestimmt nicht überall in Deutschland so sagen, aber hier in Erlangen schon. Als Werner von Siemens und Johann Halske sich 1846 kennenlernen, da ist Siemens gerade auf der Suche nach einem fähigen Handwerker. Denn er braucht jemanden, mit dem er seinen Zeigertelegrafen bauen kann, jemanden, der seine innovative Idee in anfassbare Technik verwandelt. Die beiden gründen mit ihrer Innovation die Telegraphen Bau-Anstalt von Siemens & Halske. Der Rest ist Geschichte, und diese Geschichte schreiben Sie heute fort. Nathalie von Siemens, die Ururenkelin des Unternehmensgründers, hat es so gesagt: „Unsere Tradition und unser Erbe sind eine Quelle der Inspiration für die Zukunft.“ Um genau diese Zukunft geht es heute. Sie werden in Deutschland in den kommenden Jahren eine Milliarde Euro investieren, 500 Millionen Euro davon, wie wir gehört haben, allein hier am Standort Erlangen. Das ist ein starkes Signal. Damit stärkt Siemens die Innovationskraft unseres ganzen Landes. Wir sind ein innovatives Land, und wir wollen es auch bleiben, zum Beispiel mit künstlicher Intelligenz und digitalen Zwillingen. Sie haben es eben beschrieben, lieber Herr Busch: innovative, unerlässliche Technologien für die Zukunft, die schon heute funktionieren, deren tatsächliche Nutzung wir aber weiter ausbauen müssen. Wir haben in Deutschland nämlich schon jetzt Vorteile gegenüber Wettbewerbern, wenn es darum geht, wie wir unsere industriellen Anlagen steuern. Wir haben auch Wettbewerbsvorteile bei der Produktion. Noch ausbaufähig ist aber die Nutzung der Daten aus der Produktion und der Anlagensteuerung. Denn diese Daten sind Gold wert, wenn Unternehmen sie aktiv nutzen und teilen, vor allem, um mit den Daten KI-Systeme zu trainieren. Das Potenzial von Daten und künstlicher Intelligenz wollen und werden wir besser nutzen. Denn das bedeutet Wertschöpfung in Deutschland und in der Europäischen Union. Wir unterstützen entsprechend Innovationen und den Transfer von der Forschung in die Praxis. Das zeigen viele Beispiele wie die Plattform Industrie 4.0, Catena-X, Manufacturing-X, wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischen Interesse oder unsere Förderung von Quantentechnologien. So sichern wir Arbeitsplätze in Deutschland und in der Europäischen Union, und so schaffen wir Wirtschaftswachstum. Wir gehen den Weg mit unserer Wirtschaft in die klimaneutrale Zukunft, und zwar als starkes Industrieland. Dazu haben wir uns im Koalitionsvertrag und in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie verpflichtet. Das wird der größte Umbruch und Aufbruch seit Jahrzehnten. Der Weg zu mehr Klimaschutz ist auch ein Weg des Fortschritts. Wir stellen Deutschland breiter auf und diversifizieren unsere Lieferketten und die Versorgung mit wichtigen Rohstoffen. Sie kennen dabei unsere Devise: „Derisking“ und nicht „decoupling“. ‑ Das haben wir beim G7-Gipfel in Hiroshima klar signalisiert. Auch bei Siemens erkenne ich diese Strategie. Sie haben es eben beschrieben, Herr Dr. Busch. Zwei Milliarden Euro investiert Siemens in China, in den USA, in Singapur und auch in Deutschland für Forschung, Produktion und Entwicklung. Sie setzen auf weltweites Wachstum, auf viele starke Standbeine, die ihre Stärken voll ausspielen und von denen die anderen profitieren. Sie setzen auf Erlangen als eines dieser starken Standbeine. So kann digitale industrielle Fertigung made in Germany aussehen. Sie wollen diesen neuen Campus für die Zusammenarbeit mit Start-ups, mit KMU, mit der FAU und mit den Forschenden der Fraunhofer-Gesellschaft öffnen. Solche Ökosysteme funktionieren in Franken gut. Denn das ist hier ein traditioneller Hightechstandort. Wir können deshalb mit Zuversicht nach vorn schauen. Denn diese Standorte werden in unserem Land immer zahlreicher. Ausländische Unternehmen haben 2022 eine Rekordsumme in Deutschland investiert. Bei Halbleitern haben wir zuletzt viel erreicht. Wolfspeed und ZF in Ensdorf, Infineon in Dresden. Intel hat gerade in Magdeburg mit mehr als 30 Milliarden Euro die größte ausländische Direktinvestition zugesagt, die es in Deutschland und in Europa je gab. Diese Investitionen kommen dem deutschen Wirtschaftsstandort im Ganzen und auch dem bayerischen Ökosystem zugute. Wir arbeiten als Bundesregierung daran, dass Deutschland einer der weltweit großen Produzenten für Halbleiter wird; denn diese sind essenziell für eine vernetzte und klimaneutrale Industrie. Allen ist klar: Kein Windrad und kein E-Auto läuft ohne Hightech, kein intelligentes Stromnetz der Zukunft ohne KI ‑ ohne Hightech keine Energiewende. Aber eines dürfen wir vor dem Hintergrund der rasend schnellen technischen Entwicklung nicht vergessen: All diese neuen Hightech-Maschinen und Halbleiter muss auch jemand bedienen und bauen. In Deutschland sagen über 40 Prozent der Unternehmen, dass ihnen genügend gute Leute fehlen. Große Unternehmen sind sogar stärker betroffen als kleinere. Und wo die Fachkräfte fehlen, da wächst Wirtschaft langsamer. Allein für Mittelfranken wächst der Engpass von 30 000 Fachkräften in diesem Jahr auf bis zu 60 000 Fachkräfte, die in vier Jahren fehlen könnten: Mechatronikerinnen und IT-Experten, Energietechnikerinnen und Programmierer. Hier setzen wir an: Wir schaffen auf der einen Seite das modernste Einwanderungsrecht, das Deutschland je hatte und das sich auch international gut vergleichen kann. Damit sollen künftig qualifizierte Arbeitskräfte, die gerne in Deutschland leben und arbeiten möchte, das auch tun können. Gleichzeitig ist aber klar, dass wir mit der Zuwanderung nur einen Teil der Fachkräftelücke schließen können. Wir brauchen auch jede und jeden Einzelnen, die schon hier sind. Deshalb kümmern wir uns mit einer Ausbildungsgarantie darum, dass das für junge Leute klappt, und wir unterstützen Unternehmen, die in die Aus- und Weiterbildung investieren. Sie machen das hier bei Siemens sehr konsequent. Herr Armbruster, ich fand das, was Sie uns hier eben geschildert haben, sehr beeindruckend, und ehrlicherweise hat mich das sehr bewegt. Denn solange ich mich politisch mit dem Thema „Wie kann man Qualifizierung im Arbeitsleben organisieren?“ auseinandersetze ‑ schon als Arbeitsminister habe ich das getan ‑, war es immer mein Wunsch, dass wir es hinbekommen, nicht nur allen jungen Leute eine Chance zu geben, nach der Schule eine Berufsausbildung zu machen und den Übergang von der Schule in den Beruf voranzubringen, sondern auch sicherzustellen, dass es möglichst viele gibt, die schon in den Betrieben sind und diese Chance noch einmal ergreifen. Mit 27, mit 37, mit 47 und auch mit 57 noch. Das muss möglich sein. Sie sind mittlerweile nicht das einzige Beispiel dafür, dass so etwas klappen kann ‑ auch hier ‑, sondern eines von vielen; denn das klappt auch bei vielen, vielen anderen Unternehmen. Deshalb danke für Ihren Mut, aber danke auch dafür, dass in den Unternehmen und hier bei Siemens dieses große Potenzial für Beschäftigung nun neu entdeckt und auch gehoben wird! Es wird wahrscheinlich interessante Erfahrungsberichte geben, wenn man dann in der Berufsschule ist und neben 17-, 18- und 21-Jährigen sitzt. Ich glaube aber, das ist jetzt für alle Seiten nicht ganz schlecht. Den einen oder anderen Aspekt, der einen auch umtreiben kann, muss man dann noch irgendwie bewältigen. Es hat ja viele gegeben, die irgendwie ganz froh waren, dass das mit der Schule einmal zu Ende ist ‑ und nun soll wieder gelernt werden. Aber ich glaube, wenn das gut funktioniert und genau an dem ansetzt, was man ja in Wahrheit schon irgendwie kann, dann ist das ein großer Fortschritt. Deshalb, glaube ich, brauchen wir viel mehr davon in Deutschland. Sie wissen alle, dass zu einem erfolgreichen Unternehmen immer beide Seiten gehören: die Idee und ihre Umsetzung, der Kopf und die Hände, die akademische Brillanz und die handwerkliche Präzision. Das hat schon die Geschichte von Siemens & Halske gezeigt, und das gilt auch heute noch. Meine Damen und Herren, für die Stadt Erlangen war es ein Glück, dass Siemens sich entschieden hat, hier nach dem Zweiten Weltkrieg eine große Produktion aufzubauen und hier den Himbeerpalast zu bauen. Was hier damals mit wenigen Arbeitenden begann, ist heute mit unglaublich vielen Beschäftigten der größte Firmenstandort der Siemens AG weltweit. Tradition und Zukunft: Hier funktioniert das immer schon zusammen. Deshalb wünsche ich Ihnen für diese Zukunft nun alles Beste! Vielen Dank.
in Erlangen
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Einweihung des Hans-Böckler-Hauses des Deutschen Gewerkschaftsbundes am 10. Juli 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-einweihung-des-hans-boeckler-hauses-des-deutschen-gewerkschaftsbundes-am-10-juli-2023-in-berlin-2201368
Mon, 10 Jul 2023 00:00:00 +0200
Berlin
Schönen Dank für die Einladung und alles Gute und alle guten Wünsche an diejenigen, die ein bisschen dafür gesorgt haben, dass dieses Haus überhaupt entstehen konnte, und zwar ‑ es wurde schon gesagt ‑ termingerecht und tariftreu! Beides ist sehr wichtig, wenn man eine solche Architektur in Empfang nimmt und dann seine Jahre darin zubringen will. Ich will auch gern sagen, dass ich glaube, dass sich diejenigen, die das Haus geplant haben, gute Gedanken gemacht haben. Anders als der eine oder die andere bin ich nämlich fest davon überzeugt, dass auch die Demokratie ihren eigenen Ausdruck in guter Architektur finden kann und dass es schon etwas ausmacht, wenn man einen dräuenden Granitbau hat, den uns die Nazis irgendwo in Berlin hingestellt haben. Für mich war es jedenfalls etwas ganz Bedrückendes, dass ich, als ich Arbeitsminister geworden war, erst einmal feststellen musste, dass das Gebäude das ehemalige Propagandaministerium von Goebbels war. Es ist beeindruckend, zu sehen, wie Architekten unserer Zeit aus diesem Gebäude mit einer völlig veränderten Innenarchitektur auch ein Zeichen für demokratischen Austausch und Meinungsbildung und für Helligkeit gemacht haben. Aber die Räume, die damals gebaut wurden, hatten kleine Türen und hohe Flure, sodass man sich richtiggehend eingeschüchtert fühlt. Ich finde deshalb, das es schon möglich ist, mit offener und weltläufiger Architektur auch etwas der modernen Gesellschaft, für die wir stehen, und auch der Freiheit, die wir so lieben, auszudrücken. Das ist hier, soweit ich es sehen kann, gelungen. Deshalb einen herzlichen Glückwunsch an die Bauleute, aber auch an die Architektinnen und Architekten! Als das damalige Gebäude entstand, war es auch ein Symbol. Yasmin hat es schon gesagt. Es war ein Zeichen dafür, dass es nach dem Mauerbau weitergehen sollte mit dem, was uns in der sozialen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland ausmacht, zu der die Gewerkschaften so unmittelbar gehören. Demokratie kann ohne Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechte nicht funktionieren. Das ist nichts, was man auf der einen Seite so und auf der anderen Seite anders haben kann. Es ist ganz wichtig, dass wir uns den Zusammenhang zwischen Demokratie und Gewerkschaften, zwischen Demokratie und den Rechten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, zwischen Demokratie und der Demokratie im Betrieb mit der betrieblichen Mitbestimmung und der Unternehmensmitbestimmung, wie sie in Deutschland entstanden sind, klarmachen. Das sind stolze Leistungen der demokratischen Kultur unseres Landes. Ich finde es deshalb auch gar nicht so schlecht, dass ich vor Kurzem an einer Debatte mit dem Philosophen Honneth über den arbeitenden Souverän teilnehmen durfte. Das ist übrigens ein sehr empfehlenswertes Buch, wenn ich das nebenbei sagen darf. Aber es macht im Übrigen auch klar, dass das keine Welt neben der Welt ist, in der wir als Gleiche abstimmen und uns zu Wahlen bewerben, sondern es ist eine Welt, die unmittelbar die Art und Weise berührt, wie unsere Demokratie funktioniert. Aber damals, als dieses Gebäude gebaut wurde, war es ein Symbol, ein Zeichen auch für die Freiheit. Deshalb war es seinerzeit eine mutige Entscheidung, es zu errichten. Was dazu gesagt wurde, was es architektonisch ausdrücken sollte, haben wir eben schon gehört. Aber es ist auch damals jemand gekommen, der dieses Gebäude begleitet hat, der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, der hier war und für sich ausgedrückt hat, was es zeigen soll: ein Symbol für das Vertrauen in die Zukunft Berlins. Er hat dem Deutschen Gewerkschaftsbund deshalb sehr für seine Entscheidung gedankt, das Gebäude, das vormals hier an dieser Stelle stand, zu errichten. Deshalb fand und finde ich es ganz bezeichnend, den Moment noch einmal in Erinnerung zu rufen. Wenn hier ein neues Gebäude steht, gewissermaßen auf den Füßen, auf den Fundamenten des vorherigen, dann ist es manchmal richtig, sich auch noch an den Moment zu erinnern. Nachdem hier so viele Bilder überreicht wurden, gibt es auch eines vom Kanzler. (Der Redner überreicht der Vorsitzenden des DGB ein gerahmtes Bild.) Das ist ein Bild von der Eröffnung des damaligen Gewerkschaftshauses mit dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt und ein paar Bauleuten dahinter, die mit Helm dastanden. Ich finde, es ist ein gutes Zeichen. Wenn es in diesem Gebäude seine Wirkung fortsetzen kann, dann wäre das eine schöne Sache. Ich jedenfalls wünsche den deutschen Gewerkschaften, dem Deutschen Gewerkschaftsbund, dir und allen Kolleginnen und Kollegen alles Gute, dass dieser Ort seine Bedeutung für unser Miteinander in unserer sozialpartnerschaftlich geprägten Welt entfalten kann und dass das Gebäude, so freundlich es auch daherkommt, ein Ausdruck von Macht ist. Alles Gute!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des 50-jährigen Firmenjubiläums von dm am 9. Juli 2023 in Rheinstetten
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-50-jaehrigen-firmenjubilaeums-von-dm-am-9-juli-2023-in-rheinstetten-2201250
Sun, 09 Jul 2023 13:28:00 +0200
Rheinstetten
Sehr geehrter Herr Werner, sehr geehrte Frau Ministerin Hoffmeister-Kraut, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Mentrup, liebe Kolleginnen und Kollegen! Gut, dass heute Sonntag ist. Sonntags ist mein Terminkalender meist etwas weniger voll als an anderen Tagen. Wir haben ja eben schon gehört: Wenn ich mich bewege, berührt das auch noch ganz schön viele andere. Danke für den Dank an meine Mitarbeiter. Und so konnte ich heute spontan zusagen, als Sie, lieber Herr Werner, mich vor einigen Wochen zu diesem Festakt eingeladen haben. Herzlichen Dank dafür! Mir ist es wichtig, heute bei Ihnen zu sein. Denn 50 Jahre dm, das sind 50 Jahre Geschichte unseres Landes. Als dieses Unternehmen gegründet wurde, hieß der Bundeskanzler Willy Brandt, das geteilte Deutschland wurde gerade erst in die UNO aufgenommen, und aufgrund der Ölkrise wurde zum ersten Mal ein Sonntagsfahrverbot verhängt. Einige hier werden sich vielleicht noch erinnern. Ich jedenfalls hatte als Kind eine leere Straße, auf der ich spielen konnte. 50 Jahre dm, das sind auch Tausende, Zehntausende Berufsleben, Tag um Tag früh aufstehen, die Ersten in der Innenstadt sein, Regale einräumen, ein Lächeln und ein freundliches Wort für die Kundinnen und Kunden. 50 Jahre dm, das sind Zehntausende Familien, die mit diesem Unternehmen und auch durch dieses Unternehmen ihren Weg gegangen sind, mit Stolz auf das Erreichte, getragen von der Sicherheit eines guten Arbeitsplatzes und auch von dem Wir-Gefühl, für das das Unternehmen steht. Das kann man heute hier sehr eindrucksvoll sehen. Mir war es wichtig, hierherzukommen, um Lebenswerke von Einsatz und Verlässlichkeit zu würdigen: das Lebenswerk des leider im vergangenen Jahr verstorbenen Gründers von dm, Götz Werner, und Ihren Einsatz, Ihre Verlässlichkeit, die Lebenswerke von Zehntausenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die hinter diesem Unternehmen stehen und auf die dieses Unternehmen baut. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, seit Russlands brutalem Angriff auf die Ukraine, der täglich Menschenleben kostet, blicken wir auch neu auf die Sicherheit Europas und unseres Landes. Erst vor drei Wochen haben wir Deutschlands erste Nationale Sicherheitsstrategie beschlossen. Dabei ging es in erster Linie um die Sicherheit unseres Landes vor Gefahren von außen, von innen und durch die Klimakrise. Ich möchte heute bei Ihnen noch über einen weiteren wichtigen Aspekt von Sicherheit in unserem Land sprechen. Sicherheit, das sind auch 50 erfolgreiche Jahre eines Unternehmens wie dm. Das ist ein Arbeitgeber, der verlässlich zu seinen Mitarbeitern steht und auf Dialog und aktive Mitbestimmung Wert legt. Das ist ein Unternehmen, das mir Entwicklungschancen eröffnet, etwa durch Weiterbildung oder Studium, und das ist ein Ausbildungsbetrieb, der mich so auf das Berufsleben vorbereitet, dass ich mit Selbstbewusstsein und Zuversicht nach vorne blicken kann. Sicherheit, das sind fast 50 000 Arbeitsplätze in mehr als 2000 Märkten allein in Deutschland. Und es gibt auch Sicherheit, wenn für gute Arbeit auch gute Löhne gezahlt werden. Ich finde es deswegen gut, dass dm die Möglichkeit genutzt hat, die wir als Bundesregierung in Reaktion auf die Energiekrise geschaffen haben, nämlich steuer- und abgabenfreie Inflationsausgleichsprämien zu gewähren. Das bringt nicht allein Anerkennung zum Ausdruck, sondern es stärkt auch direkt die Kaufkraft vieler Familien, wenn die Preise teurer werden. Wie wichtig das ist, sehen Sie jeden Tag bei Ihren vielen Kundinnen und Kunden. Die Sicherheit, die ein verlässlicher Arbeitgeber seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gibt, ist die eine Seite; die andere ist: Gerade der Einzelhandel gibt auch unserer Gesellschaft Sicherheit. Noch nie zuvor war das für jede und jeden in unserem Land so deutlich spürbar wie während der Coronapandemie. Als mitten in der Pandemie fast alle anderen Läden geschlossen werden mussten, da waren Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen weiter für uns alle da. Sie waren es, die die Bürgerinnen und Bürger mit dem Nötigsten versorgt haben. Ihr Da-Sein, Ihre tägliche Arbeit, Ihre Verlässlichkeit hat unsere Städte und unsere Gesellschaft in diesen schweren Zeiten zusammengehalten und tut es auch heute, Tag für Tag. Dafür sage ich Ihnen heute im Namen der Bundesregierung und im Namen ganz vieler Frauen und Männer in unserem Land: Herzlichen Dank. Meine Damen und Herren, ich habe Götz Werner nicht kennengelernt, was ich bedaure. Ich bedaure das zum einen, weil wir uns sicher über unsere gemeinsame Freude am Rudersport unterhalten hätten, und zum anderen, weil ich mit ihm gerne über seinen Einsatz für Zusammenhalt und Arbeit gesprochen hätte. Götz Werner hat einmal gesagt: „Die Zusammenarbeit in einem Unternehmen ist ein Miteinander-Füreinander-Leisten.“ Ich finde, besser könnte man das Ideal eines Unternehmens und, wenn ich das hinzufügen darf, auch unserer Gesellschaft kaum auf den Punkt bringen. Zu diesem Miteinander-Füreinander gehört der Respekt für andere Meinungen und Überzeugungen als die eigene, und dazu gehört der Respekt für andere Berufsbilder und Bildungsbiografien. Denn was viele erst in der Pandemie wieder gemerkt haben, das muss doch ganz selbstverständlich jeden Tag in unserem Land gelten: Der Manager ist nicht besser oder schlechter als der Paketbote, die Professorin nicht besser als der Lagerist. Alle werden gebraucht; alle tun etwas Wichtiges für unser Land. Alle tragen dazu bei, dass Deutschland eine gute Zukunft hat. Stichwort Zukunft. Mir gefällt das Motto, das dm für dieses Jubiläum gewählt hat: „Lust auf Zukunft“. Der positive Blick nach vorn ist genau die Einstellung, die ich mir für unser Land insgesamt wünsche. Und mehr noch: Wir haben allen Grund, verliebt in die Zukunft zu sein, denn all die Untergangspropheten, die Ewiggestrigen, die Bedenkenträger irren sich. Was haben sie uns nicht alles schon vorhergesagt! Dass unsere Bevölkerung schrumpft, dass wir heute nicht 85, sondern nur noch 70 Millionen Deutsche sein würden, dass Putin die Ukraine in wenigen Tagen überrollen würde, dass hier in Deutschland im wahrsten Sinne des Wortes die Lichter ausgehen, wenn Russland uns kein Gas mehr liefert. Nichts davon ist so gekommen, weil wir uns mit aller Kraft, unserem Können und unserer Zuversicht dagegengestemmt haben. Heute hat unser Land mehr Beschäftigte als je zuvor. Die Ukraine weiß sich gegen den mörderischen Angriff aus Russland tapfer zu verteidigen, auch dank unserer Unterstützung. Und wir haben uns unabhängig gemacht von russischem Gas und Öl, ohne Wirtschaftseinbruch, und das in nicht einmal einem Winter. Meine Damen und Herren, noch etwas kann uns zuversichtlich stimmen, nämlich dass uns die Arbeit nicht ausgehen wird. Vor 15, 20 Jahren hatten viele in vielen Teilen Deutschlands noch mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Heute droht uns das Gegenteil. Mit dem Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge müssen wir aufpassen, dass uns keine Arbeiterlosigkeit droht. Aber auch dagegen können wir etwas tun. Wir unterstützen zum Beispiel Unternehmen, die in die Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter investieren. Wir machen Eltern von kleinen Kindern bessere Betreuungsangebote, damit sie Arbeit und Familie verbinden können. Jedoch wird das absehbar nicht genug sein. Deshalb brauchen wir Frauen und Männer auch aus anderen Ländern, die hier bei uns mit anpacken. Wie sehr unser Land davon profitiert, ja, wie sehr wir auf diese Hilfe auch angewiesen sind, das erleben viele von Ihnen täglich, tagtäglich in ihren Teams. Schließlich ist dm bekannt dafür, nicht zu fragen, woher jemand kommt, sondern was er oder sie mitbringt und erreichen will. Genau diese Einstellung braucht auch unser ganzes Land. Wir wollen diejenigen für den deutschen Arbeitsmarkt gewinnen, die hier in unseren Läden, unseren Krankenhäusern, Kitas und Betrieben mit anpacken wollen. Deshalb schaffen wir für Deutschland gerade das vielleicht modernste Arbeitskräftezuwanderungsgesetz der Welt. Davon profitieren dann nicht nur große Unternehmen, sondern auch die kleinen und mittelständischen Unternehmen, auf die Baden-Württemberg zu Recht so stolz ist und die vielfach schon jetzt händeringend nach Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern suchen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich geht es in der Arbeitswelt von morgen nicht nur darum, ausreichend Arbeitskräfte zu gewinnen. Es geht auch darum, für gute Arbeit zu sorgen, für Arbeit, die sich an den technischen und gesellschaftlichen Fortschritt anpasst, an Digitalisierung, an Automatisierung und die immer auch zum übrigen Leben, das wir jenseits der Arbeit haben, passt. Ich sehe es als Aufgabe der Politik, Unternehmen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf diesem Weg zu begleiten. Denn Sie, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sind diejenigen, die unser Land und unsere Gesellschaft zusammenhalten. Sie tragen unsere Demokratie. Meine Damen und Herren, 50 Jahre dm, das sind 50 Jahre Verlässlichkeit im Wandel, das sind Zehntausende Berufsleben, Zehntausende beeindruckende Lebenswerke. Dieser Tag heute ist Ihre Feier. Sie können stolz darauf sein, was Sie leisten und was Sie geleistet haben. Mit dem, was Sie Tag für Tag tun, erreichen Sie Millionen Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Dafür sind wir Ihnen alle sehr, sehr dankbar. Schönen Dank für die Einladung.
Rede von Kulturstaatsministerin Roth anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Bucerius Kunst Forums
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-bucerius-kunst-forum-2201338
Sat, 08 Jul 2023 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Hamburg
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort – Kunst gibt keine Antworten, sie stellt Fragen. Das mag ein Gemeinplatz sein, aber es scheint mir doch eine Erfahrung zu sein, die viele teilen. Wir gehen in Ausstellungen und Museen, weil wir die Werke einer Künstlerin oder eines Künstlers sehen wollen. Wir versprechen uns Anregung und Impulse, eine Reaktion auf die Welt, in der wir leben, suchen nach Spuren und Deutungen, nach einer Vermittlung von Vergangenem und Gegenwärtigem. Ausstellungsräume, wie das Bucerius Kunst Forum, das wir heute feiern, nehmen Einfluss, sie setzen Impulse, greifen ein in die Auseinandersetzung mit einer immer vielfältigeren Welt, einer immer größeren Dichte an Themen, Krisen und Konflikten; einer Welt, deren Radius sich immer weiter ausdehnt und die doch immer dichter an uns herantritt. Museen, Ausstellungsorte und Kultureinrichtungen sind gesellschaftliche Akteure. Und der Raum, den sie unserer Auseinandersetzung bieten, wird immer wichtiger – für den Diskurs, den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und damit auch für die Demokratie – für die Kultur der Demokratie. Ich finde es beispielsweise großartig, dass Sie in einer Zeit, in der Journalistinnen und Journalisten – und damit auch die Pressefreiheit an sich – angegriffen werden, Zeichen setzen. Kultur der Demokratie in einer Zeit, in der der brutale Angriffskrieg Putins in der Ukraine nicht nur tausende Menschenleben fordert, nicht nur Millionen Menschen ihre Heimat raubt, sondern auch ein Propagandakrieg ist, auch ein Krieg gegen die Kultur. Mein ukrainischer Kollege hat mir erst kürzlich erzählt, wie Kultureinrichtungen systematisch angegriffen werden – mit dem Ziel, die kulturelle Identität der Ukraine auszulöschen. Als ich in Odessa war, ist mir noch klarer geworden, welche Bedeutung Kunst und Kultur für eine Demokratie haben. Das ist die Stimme, der Sound der Demokratie. Das macht Ausstellungsräume wie das Bucerius Kunst Forum bedeutend. Für Kulturpolitikerinnen, mehr noch für Kulturstaatsministerinnen sind solche Ausstellungsräume, die privates gemeinnütziges Engagement mit anhaltendem Erfolg verbinden, deshalb – selbstverständlich – eine reine Freude. Hamburg ist reich an Stifterinnen und Stiftern sowie Förderinnen und Förderern von Kunst, Kultur und sozialen Einrichtungen. Und ihr Engagement beweist nebenbei, dass „reich“ nicht zwangsläufig „unsexy“ bedeuten muss. Die anwesenden Berlinerinnen und Berliner werden das verkraften. Über diese Art vom Reichtum kann sich jedes Land, jede Stadt und jede Gemeinde nur freuen. Denn Kulturpolitik kann nur dann wirklich erfolgreich sein, wenn sie gesamtgesellschaftlich angegangen wird, wenn Teilhabe an und Zugang zu Kultur staatlich und nichtstaatlich ermöglicht werden. Und die Kultur der Demokratie ist im besonderen Maße darauf angewiesen, auf Einmischung, auf Partizipation und Mitwirkung. Ich freue mich wirklich sehr, dem Bucerius Kunst Forum zu seinem 20-jährigen Bestehen gratulieren zu können. Vor allem aber will ich der Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius danken, für zwei Jahrzehnte ihres Engagements. Mit Ihrer Hilfe ist das Bucerius Kunst Forum zu einem Ausstellungsort geworden, dessen Bedeutung nach nur zwei Jahrzehnten unbestritten ist. Zu verdanken hat es das seiner klugen Führung und seinen kreativen Kurator:innen. Und mit einer ebenso klugen Besetzung geht es auch ins dritte Jahrzehnt. Das ist das größte Geschenk zum Jubiläum. Und es ist, wie alles andere hier auch, selbstgemacht. Doch noch dazu wird uns ein Geschenk gemacht: Lee Miller eröffnet ein Jubiläumsjahr, in dem das Bucerius Kunst Forum ausschließlich Kunst von Frauen zeigen wird. Das ist ein wichtiges Signal. Gerade in Kunst und Kultur sind gleiche Zugänge, gleiche Teilhabe und gleiche Bezahlung von Frauen noch lange nicht selbstverständlich. Dieser Fokus ist für sich genommen schon eine starke Entscheidung. Lee Miller ist noch dazu die Entscheidung für eine ungemein couragierte Künstlerin des 20. Jahrhunderts. Lee Miller ist unübersehbar eine Frau. Sie ist es in ihrer Person, in ihrer Kunst, in ihrem Leben, in ihrer Zeit. Und doch finde ich die Frage schwer zu beantworten, was ihr selbst dieses Frausein in den sieben Jahrzehnten zwischen 1907 und 1977 bedeutet hat. Ihre Lebenszeit ist geprägt von Konventionen und ebenso von dem erklärten Willen, sie zu brechen. Doch wer die Fotografien der 19jährigen als Modell der amerikanischen Vogue sieht, kann sich auch fragen, ob diese Frage sie überhaupt beschäftigt hat. Keine Konvention, die zu ihrer Zeit mit diesem Frausein verbunden war, hätte sie je von etwas abgehalten: „She went for it, whatever it was“, sagt ihre Biografin Carolin Burke. Und sie tat das mit einer Selbstverständlichkeit, die voraussetzt, dass sie es als Selbstverständlichkeit ansah, als Lee Miller tun zu können, was sie wollte, also zweifelsohne auch alles, was Männer taten. Sie hinterließ selbst als Model nie den Eindruck nur Objekt der Darstellung zu sein. Sie scheint immer beides – Subjekt und Objekt – zu vereinen. Sind die Fotografien, die in dieser Zeit von ihr entstehen, sind ihre Haltung, ihr Blick, nicht ebenso neu, wie die Fotografien, die sie später in New York und Paris, von sich und anderen machen wird? Selbstverständlich sind der Einfluss und die Anleitung der Surrealisten in den Fotografien Lee Millers erkennbar: Man Ray, mit dem sie ein Verhältnis eingeht, oder Max Ernst. Aber alles ist ebenso erkennbar von Lee Miller herself. Sie prägt ihr Werk, nicht andere. Sie ist in allem, was sie in ihrem Leben tat, sie selbst. Sie ist es, die sich als Kriegsreporterin für die amerikanische Vogue 1944 den vorrückenden Alliierten in Europa anschließt. Sie fotografiert den ersten Napalm-Angriff der Kriegsgeschichte in St-Malo, die Befreiung von Paris aber auch die von Dachau und Buchenwald. Sie beginnt zu schreiben, weil sie es als Reporterin muss. Und es gelingt ihr auch das. Vor allem aber bringt sie ihre Fotografien zum Sprechen. Diese Bilder von Opfern und von Tätern sind wahrhaftig bis zur Schmerzgrenze und zeigen doch ebenso ihren Blick, ihre Perspektive, ihr Motiv, das Bild Lee Millers. Ein Bild, das wie ein guter Text, von sich erzählt, für sich spricht. Für uns, für dieses Land sind sie von enormer Bedeutung. Was Lee Miller zeigt, finden wir in keinem anderen Bild dieser Zeit. Sie stellt die eine, alles überragende Frage: Warum? Sie stellt sie uns. Wer versucht sie zu beantworten, wird die Vergangenheit befragen müssen. Und er wird versuchen müssen, nicht an der Gegenwart zu verzweifeln. Das Bild, das sie am Ende bekannt machen wird, zeigt sie selbst: Lee Miller in Adolf Hitlers Badewanne. Auf dem schmutzigen Badevorleger davor: die Stiefel, die sie Stunden zuvor noch in Dachau getragen hat. Am Ende misslingt ihr die Rückkehr in ein Leben nach dem Krieg. Kein seltenes Phänomen: Niemand geht unversehrt aus einem Krieg in den Ruhestand, in ein beschauliches Leben auf dem Land, in die englische Provinz. Lee Miller packt die Arbeit ihres Lebens in Kisten und Kartons, um sie auf dem Dachboden ihres Hauses dem Zufall zu überlassen. In der letzten Phase ihres Lebens ist sie eine passionierte Köchin. Auch das holt sie aus sich selbst heraus, à la Miller. Dass die Frau ihres Sohnes, Antony Penrose, die Kisten mit Fotos und Texten nach Lee Millers Tod 1977 wiederentdeckte, ist unser Glück. Dear Mister Penrose, „when I grew up I knew virtually nothing about my mom‘s past achievements. It was a book that she had closed“, you said in documentary about your mother. That we got to know her, we owe mainly to you. Wenn die Kunst uns, wie ich glaube, Fragen stellen will, dann sind die Fotografien von Lee Miller große Kunst. Ich habe noch viele Fragen. Es sind Fragen, wie man sie in Museen und Ausstellungen stellt. Fragen, die Museen und Ausstellungshäuser wie das Bucerius Kunst Forum zu so unverzichtbaren Orten machen. Lieber Herr Hartung, liebe Frau Baumstark, liebe Frau Gimmi, lieber Herr Penrose, vielen Dank für diesen Ort und für diese Ausstellung!
Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Bucerius Kunst Forums hat Kulturstaatministerin Roth die Ausstellung „Lee Miller – Fotografin zwischen Krieg und Glamour“ eröffnet. Sie würdigte die Arbeit des Ausstellungshauses und auch die Entscheidung, im Jubiläumsjahr ausschließlich Kunst von Frauen zu präsentieren. Gerade in Kunst und Kultur seien gleiche Zugänge, gleiche Teilhabe und gleiche Bezahlung von Frauen noch lange nicht selbstverständlich, sagte Roth.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Verleihung des Deutschen Nationalpreises an Anselm Kiefer am 6. Juli 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-verleihung-des-deutschen-nationalpreises-an-anselm-kiefer-am-6-juli-2023-in-berlin-2200982
Thu, 06 Jul 2023 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte Frau Weber und sehr geehrter Herr Knapp von HANGARMUSIK, sehr geehrte Frau Wagner und sehr geehrte Frau Chimamoto von Démos der Pariser Philharmonie, sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin Rehlinger, sehr geehrter Herr Botschafter Delattre, meine Damen und Herren, wir ehren heute Anselm Kiefer, der sich wie kaum ein anderer bildender Künstler um die Aufarbeitung und auch um das Aufwühlen und Freilegen deutscher Geschichte verdient gemacht hat. Die Laudatio von Florian Illies hat uns das schon sehr sorgfältig nahegebracht. Sie, Herr Kiefer, sind damit auch in Ihrer Wahlheimat Frankreich ein höchst angesehener und wichtiger Botschafter deutscher zeitgenössischer Kunst, ein Botschafter des geschichtsbewussten und des modernen Deutschlands. Diese Leistung will ich in diesem 60. Jahr des Élysée-Vertrages besonders hervorheben. Erlauben Sie mir an dieser Stelle vorab auch einen herzlichen Glückwunsch an die beiden großartigen Orchesterprojekte für Kinder und Jugendliche aus Deutschland und Frankreich, HANGARMUSIK aus Berlin und Démos der Pariser Philharmonie, die heute mit dem Förderpreis der Deutschen Nationalstiftung geehrt werden. Beide Projekte stehen beispielhaft für gelebtes Europa, für Integration mit Respekt, mit Ideen, mit Engagement und mit offenen Armen. Lieber Anselm Kiefer, in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Jahre 2008 sagte der Kunsthistoriker Werner Spieß über Sie und Ihre Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der eigenen Zeit, dass Sie – ich zitiere – „auf eklatante und lästige Weise gegen Vergessen und für Aufklärung“ kämpften. Es gehe Ihnen darum, die Verbrechen des Nationalsozialismus keineswegs als ein metaphysisches, unerklärliches Unheil darzubieten, sondern in einem aufdringlichen, beängstigenden Hier und Jetzt. Was dabei immer wieder hervortritt sind die Erinnerungen eines Kindes der unmittelbaren Nachkriegszeit: Düsteres, Verbranntes, Zerstörtes. Und dahinter: Krieg, Flucht und Vertreibung. Sie werden häufig mit der Aussage zitiert, Ihre Biografie sei die Biografie Deutschlands. Das trifft zweifellos zu. Dennoch muss man einen wichtigen Zusatz machen: Ihre Biografie ist dadurch auch eine Biografie Europas. Ihre Kunst ist es, das in unserer deutschen und europäischen Geschichte Verschüttete freizulegen, hartnäckig und auch gnadenlos. Denn es ist fast gleich, wo in Europa man den Boden aufwühlt; irgendwann gelangt man zu einer dieser Schichten von Asche, die ein prägendes Material Ihres Werkes ist. Wohin man auch schaut, gelangt man zu den zugedeckten und manchmal verschütteten Zeugnissen der Schrecken, die unsere gemeinsame, europäische Geschichte bereithält. Auch als die riesigen Wassermassen des Kachowka-Stausees in der Ostukraine abgelaufen waren, zeigten erste Fotos vom einstigen Grund des Sees menschliche Skelette. Niemand kennt die Namen der Toten. Vermeintlich sind unter ihnen auch Überreste von Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg, wie sie auch schon früher im Raum Kachowka geborgen wurden. Dieses deutsche und gleichzeitig europäische Erbe hat Sie in Ihrer Arbeit nie losgelassen. Mein Vorredner Florian Illies hat Sie, wenn ich es richtig sehe, dafür gerade auch ein wenig als einen Erneuerer der Historienmalerei verstanden. Aber was Sie dabei freilegen und uns im wahrsten Sinne des Wortes vorhalten, ist von erschreckender Aktualität. Krieg und Verheerung, ausgebrannte, zerschossene und zerbombte Häuser, das ist kein Bild aus Geschichtsbüchern. Das ist tägliche Realität in der Ukraine, hier in Europa, kaum weiter von Berlin entfernt als Barjac, der Ort ihres langjährigen Wirkens in Frankreich. Was wir mit dem russischen Angriffskrieg dort in der Ukraine erleben, ist das erschreckende Wiedererwachen dessen, was wir lange sicher in der europäischen Friedensordnung eingeschlossen geglaubt hatten: kriegerischer Imperialismus und mörderische Verachtung für die elementarsten Regeln des Völkerrechts. In einem Interview mit dem „Figaro“ haben Sie einmal gesagt: Ich bin weder düster noch pessimistisch, aber ich bin nicht von einem Baum gefallen, ohne Verbindung zur Geschichte. Dass sich die Tür zur Hölle öffnen könne, dieser Gedanke verfolge Sie. Spätestens seit dem 24. Februar 2022 leben wir mit der schwer erträglichen Erkenntnis, dass die Tür zum Wahnsinn des Krieges nicht so fest verschlossen war, wie wir es glaubten. Sie wurde von Putin brutal aufgerissen, und sie steht weiterhin offen, weil Putin diesen Krieg und die Vernichtung der Staatlichkeit der Ukraine weiterhin will. Meine Damen und Herren, der Überfall Russlands auf die Ukraine zeigt, dass sich längst vergessen geglaubte Schrecken der Geschichte wiederholen können. Dass die Tür zum Krieg eben aufgerissen werden kann, wenn man sich nicht dagegen stemmt. Die Antwort darauf ist die Antwort, die wir seit Beginn dieses Krieges geben. Diese Antwort lautet immer wieder: Zusammenhalt. Die Ukraine stemmt sich gegen diesen Angriffskrieg, gegen die Tür, die Putin aufgestoßen hat. Und wir stemmen uns gemeinsam mit ihr – für Frieden, für Freiheit, für Unabhängigkeit, für Demokratie und für das Recht einer jeden Nation, über ihre Zukunft selbst zu entscheiden. Denn kein Staat gehört zur Einflusssphäre eines anderen Staats. Kein Staat ist durch erlebte und erlittene Geschichte in den Orbit eines anderen gezwungen. „Die einzige rationale Einstellung zur Geschichte der Freiheit besteht in dem Eingeständnis, dass wir es sind, die für sie die Verantwortung tragen“, so schreibt Karl Popper. Gerade angesichts der blutigen Vergangenheit Europas gibt uns dieses Urteil auch Grund für vorsichtige Zuversicht. Denn, so Popper weiter: „Wir können die Geschichte interpretieren im Sinn unseres Kampfes für die offene Gesellschaft, für eine Herrschaft der Vernunft, für Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und für die Kontrolle des internationalen Verbrechens. Obwohl die Geschichte kein Ziel hat, können wir ihr dennoch diese unsere Ziele auferlegen.“ Dass sich die Schrecken der Geschichte nicht wiederholen müssen, dafür steht das Zusammenwachsen Europas. Dafür steht auch die deutsch-französische Freundschaft. Nach Jahrhunderten des gegenseitig angetanen Leids, von Kriegen und Zerstörung steht diese Freundschaft für die Möglichkeit des Friedens, und zwar gerade auch durch die fortgesetzte Beschäftigung, das Hinterfragen, das Freilegen unserer gemeinsamen Geschichte. Ihr Verdienst, lieber Anselm Kiefer, in diesem Prozess des Freilegens geht über die bildende Kunst weit hinaus. Ein roter – in Ihrem Fall vielleicht ein bleigrauer – Faden ist der fortwährende künstlerische Dialog mit deutschsprachiger Literatur, insbesondere mit den Werken von Paul Celan, dem Sie zuletzt Ende 2021/Anfang 2022 in Paris eine große Ausstellung gewidmet haben, sowie mit Ingeborg Bachmann, über die Sie einmal sagten, dass Sie sich in einem immerwährenden Austausch mit ihr befinden. In einem ihrer bekanntesten Gedichte hat Ingeborg Bachmann eine europäische Utopie beschrieben, die Sie in einem Werk mit dem gleichen Titel aufgegriffen haben. Auf Ihrem Gemälde ziehen sich tiefe Furchen eines Weges durch ein weites Feld, einem am oberen Rand liegenden hellen Horizont entgegen. Der Titel Ihres Werkes so wie auch von Ingeborg Bachmanns Gedicht: „Böhmen liegt am Meer“. Was zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Gedichts im Jahr 1964 noch kaum denkbar war und auf Ihrem Gemälde aus dem Jahre 1995, mit dem hinter dem Horizont verborgenen Meer, letztlich offenbleibt, diese Utopie ist mit der Europäischen Union Wirklichkeit geworden; denn keine undurchdringliche Grenze trennt Böhmen mehr vom Meer, nicht von Nord- noch Ostsee, nicht vom Mittelmehr oder vom Atlantik. In der Europäischen Union haben wir aus dem einst Unerreichbaren täglich gelebte Realität gemacht. Eine Realität, die natürlich auch die bestehenden, manchmal tiefen Furchen zwischen West und Ost, Nord und Süd überwinden muss. Darin liegt die Probe, die wir immer wieder neu zu bestehen haben; die Probe, von der Ingeborg Bachmann sagt, dass „Böhmen sie bestand und eines schönen Tags ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt.“ Dieses „Böhmen am Wasser“ ist unser in Frieden und Freiheit geeintes Europa. Und wir werden weiter für das Recht einstehen, dass diejenigen, die zu unserer europäischen Familie gehören, auch die Perspektive haben, zur Europäischen Union zu gehören. Falls Waldimir Putin geglaubt hat, er könne die Ukraine mit Panzern und Bomben davon abhalten, diesen Weg zu beschreiten, dann hat er sich geirrt. Er hat nichts als das Gegenteil bewirkt. Im Angesicht unserer Geschichte kann unsere Antwort nämlich nur die entschiedene Unterstützung der Ukraine, der Republik Moldau, der Länder des westlichen Balkans und auch Georgiens auf ihrem Weg nach Europa sein. Dass dieses Bewusstsein unserer Geschichte weiterbesteht, daran haben Sie, lieber Anselm Kiefer, mit Ihrem Werk einen wichtigen Anteil – als ein deutscher und dabei zutiefst europäischer Künstler und als ein unermüdlicher Arbeiter an der Vergangenheit, der uns damit eine zentrale Orientierung für die Zukunft gibt. Dafür gebührt Ihnen Dank und Anerkennung. Ich gratuliere Ihnen deshalb ganz herzlich zum Preis der Deutschen Nationalstiftung!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Produzentenfests 2023 am 4. Juli 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-produzentenfests-2023-am-4-juli-2023-in-berlin-2200322
Tue, 04 Jul 2023 20:40:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Schönen Dank für die Einladung! Die Party ist ja schon losgegangen, deshalb soll hier nicht lange geredet werden, sondern eigentlich im Wesentlichen guten Tag gesagt werden, und dann ist die Rede schon zu Ende. Ein paar mehr Bemerkungen will ich aber doch machen. Ich freue mich, dass so viele das tun, was Sie heute zum Feiern zusammentreibt, also Filme machen in Kino und Fernsehen und bei den anderen Möglichkeiten, die man nutzen kann: die Schauspielerinnen und Schauspieler, die Produzenten, die Regisseurinnen und Regisseure ‑ alle, die da aktiv sind. Ich finde, das ist etwas, was zur Kultur unseres Landes unmittelbar dazugehört und was ganz wichtig ist, weil wir darüber die Möglichkeit haben, die Welt auf ganz andere Weise zu sehen, Menschen zu begegnen, denen wir sonst vielleicht gar nicht begegnet wären, und uns Perspektiven anzuschauen, die wir selber gar nicht haben. Das macht Lebendigkeit aus, das macht Demokratie aus und das sorgt dafür, dass wir auch miteinander zurechtkommen. Das ist in diesen Zeiten vielleicht auch eine der ganz wichtigen Botschaften: dass wir die Verschiedenheit unseres Landes nicht nur hinnehmen, sondern dass wir sie erst einmal als große Bereicherung und als großes Glück begreifen ‑ wenn sich das auch im Film ausdrückt, dann ist das eine gute Sache ‑ und dass wir auch gelassen miteinander sind. Ich habe an anderer Stelle einmal gesagt: Wir müssen einander aushalten. Ich finde, wenn sich alle so furios begegnen, dann ist das vielleicht die wichtigste Botschaft, die man mit all dem, was da zusammengebracht wird, auch verbinden kann. Ich jedenfalls bin ganz beglückt darüber, dass es eine so lebendige Filmkultur in Deutschland gibt. Wir werden unseren kleinen Beitrag dazu leisten, dass das auch weiter so bleibt. Ich habe gehört, es soll hier auch um Filmförderung gehen ‑ aber das verhandeln wir nicht hier auf der Bühne. Aber dass das auch notwendig ist, will ich nicht bestreiten, und dass es gut gemacht sein soll, noch viel weniger. Insofern haben wir hier etwas miteinander zu bereden und miteinander zu besprechen. Trotzdem: Heute ist ein großer Moment; denn hier kommen viele zusammen, die sonst immer wieder in verschiedenen Konstellationen Sachen auf den Weg bringen und etwas schaffen. Heute wird nichts geschaffen, aber miteinander gefeiert. Schönen Dank für die Einladung!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Johannisempfangs der EKD am 21. Juni 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-johannisempfangs-der-ekd-am-21-juni-2023-in-berlin-2197816
Wed, 21 Jun 2023 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte Frau Ratsvorsitzende, meine Damen und Herren, herzlichen Dank für die Einladung dazu, hier auf dem Johannisempfang einige Worte an Sie zu richten. Ich will über ein Thema sprechen, das Politik und Religion, Staat und Kirche bei aller gebotenen Trennung gleichermaßen beschäftigt und beschäftigen muss, weil es sowohl für unsere Demokratie als auch für jede Religionsgemeinschaft geradezu konstitutiv ist. Ich spreche über das Schaffen von Gemeinschaft, Gemeinschaft verstanden im Sinne der Gemeinschaft der Gläubigen oder, politisch betrachtet, im Sinne eines ‘Wir‘, das grundlegend für die Mitwirkung an und für die Akzeptanz von demokratischen Entscheidungen ist. In ihrem vor wenigen Monaten erschienenen Buch konstatiert die Verfassungsrechtlerin Sophie Schönberger eine schleichende Bedeutungsverschiebung vom Wir zum Ich, weg von der Gemeinschaft, hin zum Individuum. Sie führt das ‑ ich zitiere ‑ auf die abnehmende Bereitschaft zurück, den anderen auszuhalten. Der Soziologe Andreas Reckwitz wiederum spricht mit Blick auf die Spätmoderne von Gesellschaften der Singularitäten. Die Digitalisierung verstärkt den Trend zum Unter-sich-und-seinesgleichen-Bleiben. Die Folge lässt sich in der Politik, aber auch in unseren gesellschaftlichen Debatten beobachten, dort, wo Erwartungshaltungen zunehmend unverhandelt aufeinandertreffen. Zu Recht warnen Sie, Frau Kurschus, vor einer binären Logik, die nur falsch oder richtig, Sieger oder Verlierer, schwarz oder weiß kennt, zum Beispiel entweder noch mehr Waffenlieferungen oder Frieden schaffen ohne Waffen oder entweder Festung Europa oder offene Grenzen. Dieses rigide Entweder-oder bringt uns nicht weiter. Deshalb ist das Erste, was wir uns vornehmen sollten, die gesamte Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Nehmen wir Russlands furchtbaren Angriffskrieg gegen die Ukraine, diesen infamen Bruch der europäischen Friedensordnung. Es war wichtig, klar Stellung zu beziehen. Der Überfallene hat das Recht, sich zu verteidigen. Friedensliebe heißt nicht Unterwerfung. Friede bedeutet nicht die Preisgabe der eigenen Freiheit. Deswegen bin ich Ihnen, liebe Frau Kurschus, und den 20 Landeskirchen sehr dankbar dafür, dass Sie sich wenige Tage nach dem Überfall Russlands unmissverständlich an die Seite der Ukrainerinnen und Ukrainer gestellt haben. Zugleich habe ich großen Respekt davor, wie intensiv und auch kontrovers Sie im Licht des Krieges über eine neue kirchliche Friedensethik diskutieren und ebendadurch ganz unterschiedliche Sichtweisen zusammenführen. Dass dieser Weg funktionieren kann, zeigt mir die Debatte über die genannten Waffenlieferungen an die Ukraine. Natürlich gab und gibt es diejenigen, die von Beginn an viel schneller viel mehr gefordert haben, genauso wie es diejenigen gibt, die Waffenlieferungen rundheraus ablehnen. Nur dann, wenn man sich erkennbar mit den Argumenten auseinandersetzt, entsteht Akzeptanz auch für einen Kurs der Mitte. Meine zweite Empfehlung ist: Haben wir Mut zur Klarheit! ‑ Ich will das an unserem Umgang mit Fluchtmigration deutlich machen. Es gibt Grundprinzipien, die unverrückbar gelten müssen. Jemanden aufzunehmen, der vor Krieg und Verfolgung flieht, ist und bleibt ein Gebot der Menschlichkeit. Deshalb haben wir nicht gezögert und unsere Grenzen, unsere sozialen Sicherungssysteme und unseren Arbeitsmarkt für über eine Million Frauen, Männer und Kinder aus der Ukraine geöffnet. Offene Häuser und offene Herzen kamen hinzu. Dafür bin ich den unzähligen Helferinnen und Freiwilligen in unserem Land, aber auch den Religionsgemeinschaften und kirchlichen Einrichtungen zutiefst dankbar. Zur Wahrheit gehört auch: Nicht alle, die zu uns kommen, fliehen vor Krieg und Verfolgung. Nicht jedem, der voller Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland kommt, kann Deutschland ein solches Leben ermöglichen. Das gilt es zu berücksichtigen, gerade weil wir Flüchtenden in Not auch in Zukunft helfen wollen. Nur so erhalten wir auch die Zustimmung dafür, dass Deutschland Zuwanderung braucht, Zuwanderung, die wir ermöglichen, und zwar mit dem weltweit wohl modernsten Einwanderungsrecht. Übermorgen wird der Bundestag darüber abstimmen. Ein drittes Element muss noch hinzukommen, um unsere Gesellschaft auch in diesen fordernden Zeiten beisammenzuhalten, nämlich eine gewisse Gelassenheit anderen Sichtweisen gegenüber. Ich habe großes Verständnis für die Ungeduld gerade der Jungend, wenn es um den Kampf gegen die Klimakrise geht. Schließlich geht es um unsere, aber ganz besonders um ihre Zukunft. Deshalb arbeiten wir mit Hochdruck daran, unser Land, immerhin eines der wirtschaftsstärksten Industrieländer der Welt, bis 2045 klimaneutral zu machen. Das ist eine Generationenaufgabe. Gerade weil eine Generationenaufgabe der Kraft aller bedarf, dürfen wir einen Teil der Bevölkerung darüber nicht verlieren. Das aber, so finde ich, droht, wenn manche Protestformen auf weit verbreitetes Unverständnis stoßen. Demokratin oder Demokrat zu sein, heißt, auch andere Haltungen als die eigene gelten zu lassen. Das ist eine Frage des Respekts. Für diesen Respekt setze ich mich ein. Im Kompromiss, so meinen manche, liege eine Schwäche. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Nach Kompromissen zu suchen, bedeutet eben nicht, dass Interessen Einzelner geopfert oder ignoriert werden, sondern es bedeutet, dass die Anliegen so vieler Bürgerinnen und Bürgern wie möglich einfließen. Es ist dieses Ringen um Mehrheiten, das Werben um Verbündete, das uns als Demokratie stark macht, das einen Ausgleich zwischen Individuum und Gemeinschaft schafft und uns so als Gesellschaft zusammenhält. Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des 60-jährigen Bestehens des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung am 21. Juni 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-60-jaehrigen-bestehens-des-sachverstaendigenrats-zur-begutachtung-der-gesamtwirtschaftlichen-entwicklung-am-21-juni-2023-in-berlin-2197728
Wed, 21 Jun 2023 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte Frau Puttrich, sehr geehrte Frau Professor Schnitzer, verehrte Mitglieder des Sachverständigenrats, meine Damen und Herren, 60 Jahre Sachverständigenrat, das bedeutet 59 Jahresgutachten mit 16 781 Seiten, vollgepackt mit ökonomischem Sachverstand und immer geschrieben in der Annahme, alle Politikerinnen und Politiker läsen sie. Ihr Gewicht beziehen Ihre Analysen aber nicht aus den rund 350 Seiten pro Gutachten. Dieses Gewicht beziehen Sie aus Ihrer Unabhängigkeit und daraus, dass sich der Sachverständigenrat eben nicht nur als weiser Beobachter oder ordnungspolitisches Gewissen versteht, das über den Dingen schwebt und einmal im Jahr den Zeigefinger hebt. Als Wirtschaftsweise sind Sie das wichtigste, anerkannteste und gefragteste wirtschaftspolitische Beratungsgremium des Landes. Mit Ihrem Sachverstand sorgen Sie dafür, dass die Öffentlichkeit versteht, was gut läuft und was nicht und dass wir als Bundesregierung das Für und Wider unserer Entscheidungen fundiert abwägen können. Seit nunmehr 60 Jahren sind Ihre Gutachten zu so etwas wie der Enzyklopädie der sozialen Marktwirtschaft Deutschlands herangewachsen, über Monate hinweg intensiv vorbereitet, mit höchster wirtschaftspolitischer Kompetenz. Deshalb möchte ich heute nicht nur den aktuellen und ehemaligen Mitgliedern des Sachverständigenrats zu diesem Jubiläum herzlich gratulieren, sondern auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des wissenschaftlichen Stabes. Schön, dass heute so viele von Ihnen dabei sind! Dieser Erfolg des Sachverständigenrats war kein Selbstläufer. Allein sieben Jahre hat es vom ersten Vorschlag bis zur Gründung 1963 gedauert. Nur zum Vergleich: Das ist ungefähr die Zeitspanne, die es bislang dauerte, um in Deutschland eine Windenergieanlage zu planen, zu genehmigen und zu bauen. ‑ Das haben wir zum Glück geändert, aber dazu später mehr. Historisch betrachtet war es jedenfalls ein Glücksfall, dass Ludwig Erhard solch ein Dickkopf war. Anders als Konrad Adenauer, der in der Hinsicht auch nicht schlecht war, war er davon überzeugt, dass Deutschland diesen unabhängigen Sachverständigenrat brauche. Er sollte recht behalten. Nicht nur Ihre Gutachten sind wertvoll für unsere Wirtschaftspolitik. Ebenso wichtig ist Ihr Beitrag dort, wo Ihr ökonomischer Sachverstand ganz unmittelbar in politisches Handeln mündet. Ein aktuelles Beispiel ist die Gaspreiskommission unter Ihrem Vorsitz, liebe Frau Grimm. Die Vorschläge der Kommission haben wir fast eins zu eins umgesetzt und damit die Folgen der hohen Energiepreise für Unternehmen und Privathaushalte abgefedert. Das war ein starkes Signal und hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass die Energiepreise wieder deutlich gesunken sind. Heute sind sie so niedrig wie seit zwei Jahren nicht mehr. Ein weiteres Beispiel ist Ihr Beitrag zur Konzertierten Aktion, liebe Frau Schnitzer. Sie haben dabei geholfen, die steuerfreien Einmalzahlungen auf den Weg zu bringen, die von Arbeitgebern und Gewerkschaften inzwischen breit genutzt werden. Das entlastet viele Beschäftigte angesichts steigender Preise. Zugleich helfen solche Einmalzahlungen dabei, dass sich die Inflation nicht auf Dauer festsetzt. Denn darunter würden gerade die Frauen und Männer mit den kleineren Einkommen ganz besonders leiden. Liebe Frau Schnitzer, Sie sind die erste Vorsitzende in der langen Geschichte des Sachverständigenrates. Beim 50-jährigen Jubiläum sagte meine Vorgängerin im Amt, Angela Merkel, dass man wohl noch 50 Jahre warten müsse, bis sich das Geschlechterverhältnis im Rat angeglichen habe. Ganz so lange hat es zum Glück dann doch nicht gedauert. Ich freue mich, dass heute drei von fünf Mitgliedern Frauen sind, vor allem, wenn man bedenkt, dass es ganze 40 Jahre gedauert hat, bis mit Beatrice Weder di Mauro überhaupt eine Frau in den Sachverständigenrat berufen wurde. Sie haben es eben geschildert, und nicht nur über die Zigarren haben Sie gesprochen. Dabei hat ökonomischer Sachverstand nichts damit zu tun, ob man ein Mann oder eine Frau ist. Dennoch ist es wichtig, verschiedene Perspektiven auf die Welt, auf den Alltag und auch auf die Forschungsfragen in einem Raum zu versammeln. Gerade weil Sie diese unterschiedlichen Perspektiven bündeln, wird Ihre Beratung nicht nur von der Politik hochgeschätzt, sondern auch von der Öffentlichkeit, zumal die Themen, die Sie aufgreifen, den Alltag der Bürgerinnen und Bürger ganz unmittelbar betreffen. In die Tiefen der digitalen Echokammern mag Ihr unabhängiger und sachlicher, auf Evidenz basierender ökonomischer Rat trotzdem leider noch nicht immer durchdringen. Umso wichtiger ist, dass und wie Sie Ihre Expertise in den sozialen Medien, in Interviews, Talkshows oder auf vielen anderen Wegen unters Volk bringen. Davon profitieren unsere gesellschaftlichen Debatten, und davon profitieren alle, die nicht die Zeit haben, 350-Seiten-Gutachten durchzuarbeiten. Ökonomischen Sachverstand brauchen wir ganz besonders für die größte Aufgabe, die unserem Land in den kommenden Jahren bevorsteht, nämlich klimaneutral zu wirtschaften und zu leben und gleichzeitig Industrieland zu bleiben. 2045, in wenig mehr als 20 Jahren, endet die Zeit der fossilen Rohstoffe in Deutschland, jedenfalls was ihre Nutzung zum Antreiben und für das Heizen betrifft. Der Weg dorthin wird nicht leicht, zumal wir in den zurückliegenden Jahren zu wenig Wegstrecke gemacht haben. Hinzu kommt, dass jede Veränderung anstrengend ist, und hier reden wir über die größte Veränderung seit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert. Viele Bürgerinnen und Bürger stellen sich die Frage: Geht das alles gut aus für mich, für meine Kinder und Enkel? ‑ Auf diese Frage müssen wir überzeugende Antworten geben. Andernfalls werden diejenigen noch größeren Zulauf bekommen, die mit der Angst der Bürgerinnen und Bürger und mit schlechter Laune Politik machen. Welches Risiko das gerade für Deutschland als offene, global vernetzte Volkswirtschaft birgt, das muss ich Ihnen nicht sagen. Der Aufbruch in Richtung Klimaneutralität muss eine überzeugende und für alle spürbare Wachstumsgeschichte werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Wachstumsgeschichte Realität wird, und zwar aus vier Gründen. Erstens: Die Zeit der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland ist auf absehbare Zeit passé. Rund 46 Millionen Frauen und Männer gehen Tag für Tag zur Arbeit. Das sind mehr denn je. Natürlich werden in den kommenden Jahren sehr viele Babyboomer in Rente gehen. Aber diese Lücke wird nur dann zum Problem, wenn wir sie nicht füllen. Deshalb schaffen wir in diesen Tagen das wohl modernste Einwanderungsrecht der Welt. Deshalb fördern wir Aus- und Weiterbildung in den Unternehmen. Deshalb sorgen wir für bessere Betreuungsangebote, die dabei helfen, Familie und Beruf besser zu verbinden. Mit all dem erhöhen wir Deutschlands Produktivität. Damit schaffen wir Wachstum. Wachstumstreiber Nummer zwei sind Innovationen. Manchmal höre ich, die Investitionen in erneuerbare Energien seien wachstumsneutral, weil man am Ende ja nur ein Kohle- oder Gaskraftwerk durch einen Windpark oder einen Elektrolyseur ersetze. Doch schon jetzt haben wir mit diesem Wandel Innovationssprünge erlebt, und wir werden sie weiterhin erleben. Bei diesem Wandel ist Europa übrigens führend in der Welt. Als Bundesregierung setzen wir jedenfalls auf Forschung und Entwicklung, auf Innovationssprünge made in Germany. Bei den klimarelevanten Technologien gelingt uns das immer wieder. Die Solarwirtschaft war Paradebeispiel dafür, wie eine verfehlte Wirtschaftspolitik eine ganze Branche aus dem Land getrieben hat. Jetzt ist Deutschland bei der Leistung bestimmter Hochleistungszellen wieder führend. Wir fördern industriegeführte Wasserstoffprojekte, damit wir zum Beispiel mit den Elektrolyseuren schnell von der Handarbeit in die Serienfertigung kommen. Wir arbeiten auch daran, dass Deutschland einer der weltweit großen Produktionsstandorte für Halbleiter werden kann. Dafür steht die Einigung mit Intel von Montag. Mit mehr als 30 Milliarden Euro wird es die größte ausländische Direktinvestition, die es in Deutschland je gab. Gerade weil Deutschlands Wirtschaft innovationsstark ist, gerade weil wir bei klimaneutralen Lösungen in der Industrie schon weiter sind als andere, werden wir vom globalen Trend hin zur Klimaneutralität profitieren können. Das ist die dritte große Wachstumschance für Deutschland. Die aufstrebenden Länder des globalen Südens haben denselben Anspruch und dasselbe Recht auf Wohlstand wie Europa und Nordamerika. Deshalb liegt es doch in unserer Hand, die Technologien herzustellen, die die ganze Welt braucht, damit das klimafreundlich gelingen und das Wachstum klimafreundlich zugehen kann. Die Breite und Tiefe der deutschen Industrie mit ihren mittelständischen Weltmarktführern im ganzen Land ist dabei unsere große Stärke. Der vierte Wachstumstreiber sind ‑ das wird hier niemanden überraschen ‑ die Kräfte des Marktes. Ohne oder gar gegen diese Kräfte wird es nicht gehen. CO2-Zertifikate werden in Zukunft knapper und damit teurer. Das klar zu sagen, ist ein Teil der Verlässlichkeit, auf den die Wirtschaft angewiesen ist. Dass wir dabei vorübergehend soziale Härten abfedern und unsere Unternehmen vor unfairem Wettbewerb schützen müssen ‑ Stichwort: Grenzausgleich ‑, das liegt auf der Hand. Auch hier werbe ich letztlich aber für ein möglichst globales, von ordnungspolitischen Vorstellungen geprägtes System wie den internationalen Klimaklub, der neue Zollwettbewerbe verhindern soll. Es geht um gemeinsame Regeln für die beteiligten Länder und gleiche Wettbewerbsbedingungen für unsere Unternehmen. Auch unsere nationalen Ziele müssen planbar und verlässlich sein: 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien und 15 Millionen Elektrofahrzeuge auf unseren Straßen bis 2030, Klimaneutralität bis 2045. Eine aktuelle Studie von internationalen Wirtschaftsprüfern zeigt, dass Deutschland unter den attraktiven Standorte für Investitionen in erneuerbare Energien mittlerweile auf Platz zwei steht. Wir haben nach dieser Studie China überholt. Vor uns liegen jetzt nur noch die USA. Aber das alles passiert nicht einfach so. Wir rechnen das Jahr für Jahr durch, vergrößern die Ausschreibungen für Wind- und Solarparks, fördern den Wasserstoffhochlauf und sorgen für Übertragungsnetze und Speicher, damit auch das Chemieunternehmen oder der Stahlkonzern wissen: 2030 bekommen sie genug Strom für ihre Produktion. ‑ Das passiert jetzt. Darauf können sich die Unternehmen verlassen. Eines ist dabei entscheidend: mehr Mut auf allen Ebenen. Wenn jedes Landratsamt und jede Kommune bei der Genehmigung eines neuen Elektrolyseurs oder eines neuen Windparks erst ein halbes Dutzend Gutachten einholt, dann sind wir 2080 noch nicht klimaneutral, weil wir schlicht nicht genug Gutachterinnen und Gutachter für all diese Gutachten haben. Deshalb haben wir die Genehmigungsverfahrenen in den vergangenen anderthalb Jahren erheblich beschleunigt und vereinfacht. Einfachere Regeln nützen aber nur dann etwas, wenn sie auch genutzt werden. Damit das passiert, wollen wir uns noch in diesem Jahr mit den Bundesländern auf einen Pakt verständigen, mit dem wir die Planung weiterbeschleunigen. Ein Pakt, in dem wir alle uns verpflichten, dass das Deutschlandtempo nicht nur beim Bau von LNG-Terminals möglich ist. Das Deutschlandtempo ist auch bei der Transformation möglich, die vor uns liegt und für die wir unser Land wieder auf Wachstum programmieren. Meine Damen und Herren, ich bin dankbar dafür, dass Sie uns auch dabei helfen werden. Das gilt natürlich insbesondere für die Wirtschaftsweisen. Wir bleiben auf ihre kritische Begleitung, ihren fachlichen Rat und ihre wichtigen Hinweise angewiesen. Denn natürlich haben Sie recht, liebe Frau Schnitzer, wenn Sie sagen: „Kein verantwortungsvoller Ökonom glaubt, die Zukunft exakt voraussagen zu können“. Doch das hindert uns nicht daran, weiter dafür zu arbeiten, dass die Zukunft eine gute Zukunft sein wird, geprägt von Wachstum und Fortschritt. Das haben wir in der Hand. So viel Prognose sei gewagt: Die Voraussetzungen dafür stehen alles andere als schlecht. ‑ Für alle Nichthanseaten: Das war norddeutsch für: Unsere Chancen stehen ziemlich gut. Herzlichen Glückwusch zu Ihrem Jubiläum und schönen Dank für die Einladung!
Rede von Kulturstaatsministerin Roth beim Festakt zum 20-jährigen Bestehen der Stiftung Bayerische Gedenkstätten
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-roth-beim-festakt-zum-20-jaehrigen-bestehen-der-stiftung-bayerische-gedenkstaetten-2197570
Mon, 19 Jun 2023 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
München
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort – Vor einiger Zeit sah ich in der Komischen Oper in Berlin die Operette „Der Ball im Savoy“ in der wunderbaren Inszenierung von Barrie Kosky. Die Musik schrieb der jüdische Komponist Paul Abraham, das Libretto der jüdische Schriftsteller und Schlagertexter Fritz Löhner-Beda. Weihnachten 1932 war diese Operette eine der letzten Uraufführungen in der untergehenden Weimarer Republik. Abraham wurde aus Deutschland vertrieben, Löhner-Beda 1938 ins KZ–Konzentrationslager Dachau verschleppt, dann nach Buchenwald und schließlich im Dezember 1942 in Auschwitz ermordet. Ist es möglich, diese großartige Musik, die sentimentalen, hintergründigen und lebensprallen Liedtexte zu hören, ohne an die Konzentrationslager zu denken, in denen nach 1932 Millionen Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma, politische Gegnerinnen und Gegner der Nationalsozialisten, Homosexuelle, Christinnen und Christen, Zeugen Jehovas und andere vernichtet wurden? Für Sie, die Zeit- und Augenzeuginnen und -zeugen, die Angehörigen, die Sie heute hierhergekommen sind, nicht. Auch Barrie Kosky hat daran gedacht und wohl deshalb den Abend mit einem Abschiedslied enden lassen, das Löhner-Beda für eine andere Operette geschrieben hatte. Der Refrain lautet: „Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände/ Good night, good night, good night/ Schön war das Märchen, nun ist es zu Ende/ Good night, good night, good night.“ Wir Heutigen wissen, welches schöne Märchen damals, Weihnachten 1932 katastrophal zu Ende ging – die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, ihr Versprechen der Humanität und der Menschenwürde. Aber wen meine ich, wenn ich von uns Heutigen spreche. Warum erinnern wir uns noch an Fritz Löhner-Beda? Und warum daran, dass er ein Gefangener in Dachau war? Ich habe, bevor ich hierhergekommen bin, noch einmal nachgeschlagen, wie lange es her ist, dass aus dem ehemaligen Konzentrationslager Dachau eine Gedenkstätte wurde. Vor 58 Jahren, also 20 Jahre nach Kriegsende, wurde sie eröffnet. Wer weiter recherchiert, erfährt, dass diese 20 Jahre Verzug keine Ausnahme sind. Die Idee der Gedenkstätten, Dokumentationszentren und Erinnerungsorte hat Zeit gebraucht, bis sie sich durchgesetzt hatte. In einigen Fällen mehr als sechs Jahrzehnte. Dass sie sich durchgesetzt hat, haben wir zuallererst den ehemaligen Gefangenen selbst zu verdanken, ihrem oft jahrzehntelangen Kampf um das, was wir Deutschen heute so selbstbewusst Erinnerungskultur nennen. Wir können uns nicht rühmen, sie erfunden zu haben. Dass wir uns heute in Dachau und an anderen Orten wie Neuengamme, Bergen-Belsen, Sachsenhausen, Ravensbrück, Buchenwald, Mittelbau-Dora und Flossenbürg an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern, verdanken wir Menschen wie Ihnen, lieber Herr Naor. Ihre Teilnahme an diesem Festakt bewegt mich sehr. Als Ihnen 2018 der bayerische Ministerpräsident Markus Söder den Bayerischen Verdienstorden verlieh, sagte er über Sie: „Er personifiziert wie kaum ein anderer die Werte Versöhnung, Völkerverständigung und Freundschaft.“ Sie wurden als 13-Jähriger in das Ghetto Kaunas verschleppt, dann in das KZ–Konzentrationslager Stutthof und von dort in Außenlager des KZ–Konzentrationslager Dachau deportiert, wurden in der Zwangsarbeit geschunden und mussten noch im Frühjahr 1945 den Todesmarsch überstehen. Sie sind nach Israel emigriert, aber sie sind immer wieder nach Deutschland, nach München zurückgekehrt. Seit 2017 sind Sie Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees und seit 2005 ordentliches Mitglied des Stiftungsrates der Stiftung Bayerische Gedenkstätten. Vor allem aber sind Sie, lieber Herr Naor, ein Mensch mit einem himmelweiten Herz, in dem für alles Platz ist, nur nicht für Hass. Meinen innigsten Dank für Ihr großes und wichtiges Engagement. Von Menschen wie Ihnen, lieber Herr Naor, kann es nie genug geben, aber es gibt immer zu wenige. Wir brauchen Menschen wie Sie, gerade in Zeiten, in denen der Hass in vielen Ländern, auch in Deutschland, immer mehr Anhängerinnen und Anhänger gewinnt, die antisemitischen und rassistischen Lügnerinnen und Lügner das große Wort führen und der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist. Russlands Krieg gegen die Ukraine vernichtet nicht nur Menschenleben, er soll auch ihre Geschichte und ihre Kultur auslöschen. Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen, auch weil der Hass nicht die Herrschaft über uns gewinnen soll. Ihre Botschaft und die Ihrer Mitgefangenen und Mitstreiterinnen und Mitstreiter, dem Hass abzuschwören, lieber Herr Naor, ist hier und an anderen Orten in Deutschland auf offene Ohren getroffen und fruchtbar geworden. Deshalb sind wir heute hier, um das 20-jährige Bestehen der Stiftung Bayerische Gedenkstätten zu würdigen, eine Stiftung, die es nicht gäbe, ohne den Gedanken, dass die Erinnerung an nationalsozialistisches Unrecht nicht allein ein staatlicher Auftrag bleiben kann. Er muss von der Gesellschaft selbst getragen und mit Leben gefüllt werden. Es ist auch die Einsicht einer nachfolgenden Generation, die verstanden hat, dass ein ehemaliges KZ–Konzentrationslager für sie zum Schandfleck wird, wenn die Taten, die dort begangen wurden geleugnet, verharmlost und vergessen werden sollen. Das Versprechen der Humanität und der Menschenwürde, das die erste deutsche Demokratie nicht einlösen konnte, hat die Bundesrepublik bei ihrer Gründung 1949 nicht nur erneuert, sondern im Grundgesetz als höchsten Wert von Staat und Gesellschaft in Artikel 1 festgeschrieben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist mehr als ein unverbindlicher Appell und auch mehr als ein Versprechen – diese sechs Worte bilden den Kern der Identität der Bundesrepublik. Wer sie ernst nimmt, muss sich zuallererst klarmachen, dass die nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in dem Versprechen, die Menschenwürde unter den Schutz des Staates zu stellen, nachklingen. Die Menschenwürde, das weiß Artikel 1 des Grundgesetzes, ist antastbar. Das bedeutet: Die Erinnerung daran muss uns allen und zu jeder Zeit präsent bleiben. Das macht die Arbeit der Stiftung so wertvoll, ja unverzichtbar. Die Gedenkstätten schützen und bewahren nicht nur die Erinnerung an die deutschen Verbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sie vermitteln damit zugleich die herausragende Bedeutung der Garantie der Menschenwürde heute und in Zukunft. Das leistet die Stiftung mit ihren Gedenkstätten auf vorbildliche Weise. Dafür gebührt ihr und allen Mitarbeitenden unser aller Dank und Anerkennung. Lassen Sie mich eine Bitte formulieren: In Bayern engagieren sich sehr viele Bürgerinnen und Bürger im Bereich der Aufarbeitung und Vermittlung der lokalen, regionalen und überregionalen NS-Geschichte und Erinnerungsarbeit auf vorbildliche und innovative Weise. Dabei haben sie unterschiedliche Zugänge und thematische Ansätze. Sie leisten herausragende Arbeit, die nicht verloren gehen darf. Sie archivieren Dokumente, sie beantworten Anfragen Angehöriger, forschen und kuratieren Ausstellungen. Diese Ehrenamtlichen veranstalten Erinnerungswerkstätten, beschäftigen sich mit Einzelschicksalen, geben Führungen vor Ort oder in Gedenkstätten. Aber sie setzen sich auch für den Erhalt der Bauwerke ein, die für die Erinnerungskultur im Freistaat von Bedeutung sind. Die Arbeit, die diese Ehrenamtlichen leisten, indem sie an NS-Verbrechen erinnern, an jüdisches Leben wie es in Bayern zum Alltag gehörte, wichtige Bildungsarbeit übernehmen und sich antisemitischen Strömungen entgegenstellen, müssen wir wertschätzen und unterstützen. Vielen Dank dafür! Walter Benjamin, den die Nationalsozialisten 1940 in den Tod trieben, schrieb damals verzweifelt die prophetischen Worte: „Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.“ Denn der Feind, den Benjamin meinte, löscht eben nicht nur Leben aus, sondern auch die Erinnerung. Das, meine Damen und Herren, darf nicht wieder geschehen. Deutschland und die Deutschen brauchen die Stiftung Bayerische Gedenkstätten. Ich garantiere Ihnen, dass die Bundesregierung und ich als verantwortliche Staatsministerin Ihre unverzichtbare Arbeit auch in Zukunft nach besten Kräften unterstützen werden.
„Die Gedenkstätten schützen und bewahren nicht nur die Erinnerung an die deutschen Verbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, betonte Kulturstaatsministerin Roth beim Festakt in der Münchner Residenz. Sie vermittelten damit zugleich die herausragende Bedeutung der Garantie der Menschenwürde heute und in Zukunft. Die Stiftung Bayerische Gedenkstätten leiste dies mit ihren Einrichtungen auf vorbildliche Weise, so Roth.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des 11. deutsch-chinesischen Forums für wirtschaftliche und technologische Zusammenarbeit am 20. Juni 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-11-deutsch-chinesischen-forums-fuer-wirtschaftliche-und-technologische-zusammenarbeit-am-20-juni-2023-in-berlin-2197576
Tue, 20 Jun 2023 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Li, sehr geehrter Herr Minister Zheng, lieber Robert, meine Damen und Herren, dieses 11. Forum für wirtschaftliche und technologische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und China ist etwas Besonderes, schon weil es sowohl für Premierminister Li als auch für mich selbst eine Premiere ist. Hinzu kommt, dass Ihre allererste Auslandsreise als Ministerpräsident Sie heute hierhergeführt hat. Das ist eine Geste, die wir zu schätzen wissen. Sie unterstreichen damit, wie wichtig Ihnen die deutsch-chinesischen Beziehungen und persönliche Begegnungen sind. Nach der Pandemie mit ihren reduzierten Kontakten gibt es auch viel aufzuholen ‑ das haben wir heute während unserer Regierungskonsultationen gespürt, bei denen wir uns mit einer ganz breiten Palette an bi- und multilateralen Themen beschäftigt haben ‑, und natürlich gilt das auch für unsere Unternehmen, die seit vielen Jahren eng und erfolgreich zusammenarbeiten. Klar ist auch: Wir gehen durch geopolitisch herausfordernde Zeiten. Das wirkt sich auch auf die internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen aus. Daher haben wir heute auch darüber gesprochen, wie die chinesische Regierung ihren Einfluss auf Russland geltend machen kann, um Russlands fürchterlichen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu beenden. Territoriale Integrität und staatliche Souveränität ‑ in der Charta der Vereinten Nationen fest verankert ‑ müssen die Grundlage für unser Handeln bilden. Gerade für Exportnationen wie China und Deutschland sind verlässliche Regeln und stabile weltpolitische Bedingungen von ganz besonderer Bedeutung. Unsere beiden Länder wollen weiter wirtschaftlich wachsen. Beide profitieren vom Handel miteinander und von gegenseitigen Investitionen. Ein Bestand von mehr als 100 Milliarden Euro an deutschen Direktinvestitionen in China kann sich dementsprechend auch sehen lassen, und auch chinesische Investitionen in Deutschland sorgen hier für Wachstum und Arbeitsplätze und für Fortschritt auf dem Weg zur Klimaneutralität. Auch bei der Entwicklung klimafreundlicher Technologien habe ich in unseren Gesprächen heute Nachmittag auf beiden Seiten ein großes Interesse an einer engen Zusammenarbeit wahrgenommen. Dies wollen wir im Rahmen des Klima- und Transformationsdialogs weiterführen und auch vertiefen. Auch das Thema Kreislaufwirtschaft wollen wir voranbringen, und schließlich haben wir ein Memorandum of Understanding zur Elektro- und Wasserstoffmobilität unterzeichnet, ein ganz zentrales Thema bei der Transformation. Chinesische und deutsche Unternehmen haben einander viel zu bieten – übrigens auch in Bereichen, in denen manch einer meint, andere hätten uns schon den Rang abgelaufen. So kommt die effizienteste Solarzelle seit einigen Monaten gerade wieder aus Deutschland, und auch bei vielen anderen wichtigen Bausteinen von Solaranlagen sind deutsche Unternehmen Technologieführer. Die Liste könnte man fortsetzen. Klar ist: Für jedes Land dieser Welt wird es leichter, seine Klimaziele zu erreichen, wenn wir fairen Wettbewerb, offenen Marktzugang und ein „level playing field“ zulassen. Schließlich fördert Wettbewerb Innovationen. Wir alle kommen schneller voran mit der Transformation, wenn wir Technologien miteinander teilen, ohne befürchten zu müssen, dass Urheberrechte missachtet werden. Globale Arbeitsteilung hat in der Vergangenheit Wohlstand geschaffen ‑ hier in Deutschland, in China und an anderen Orten der Welt ‑, und zugleich haben die Pandemie und die geopolitischen Entwicklungen Sorgen vor unterbrochenen Lieferketten und riskanten Abhängigkeiten verstärkt. Viele Unternehmen reagieren zu Recht darauf. Risiken zu mindern, bedeutet aber keine Abkehr von der Globalisierung. Im Gegenteil: Der offene und geregelte Welthandel macht unsere Volkswirtschaften widerstandsfähiger, stärker und wohlhabender, weil er uns ermöglicht, unterschiedliche Lieferanten, verschiedene Standorte und viele Absatzmärkte zu haben. In diesem Sinne liegen funktionierende Wirtschaftsbeziehungen zwischen China und Deutschland in unserem gegenseitigen Interesse. Da hilft regelmäßiger Austausch. Deshalb bin ich froh, dass wir heute zu unseren Regierungskonsultationen zusammengekommen sind, und darin liegt auch der Wert dieses deutsch-chinesischen Wirtschaftsforums. Schönen Dank für die Einladung!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Tages der Industrie am 19. Juni 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-tages-der-industrie-am-19-juni-2023-in-berlin-2197414
Mon, 19 Jun 2023 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Russwurm, meine Damen und Herren, ich kann nahtlos dort anknüpfen, lieber Herr Russwurm, wo Sie gerade aufgehört haben. Sie haben völlig recht. Wir gehen durch außerordentlich stürmische, anstrengende und fordernde Zeiten, und zwar in Deutschland, in Europa und weltweit. Gerade schien die Coronapandemie überwunden, da überfiel Russland die Ukraine mit allen furchtbaren Folgen, die das für die Frauen und Männer in der Ukraine hat, aber eben auch mit den Auswirkungen auf unsere Sicherheit, unsere Wirtschaft und unsere Energieversorgung. Hinzu kommen geopolitische Unwägbarkeiten in einer zunehmend multipolaren Welt, dazu die Herausforderung, vor die der Klimawandel uns alle stellt, Stichwort: Transformation, und schließlich ‑ auch das haben Sie angesprochen ‑ der Mangel an Arbeitskräften, der sich verschärft, wenn die Babyboomer in den kommenden Jahren in Rente gehen und wir nichts gegen den Arbeitskräftemangel tun. Das wirft die Frage auf, warum in den vergangenen Jahren so vieles liegen geblieben ist. Ich finde, zur Ehrlichkeit gehört: Der Status quo war bei vielen, auch vielen Unternehmen, ziemlich populär. ‑ Kein Wunder, wenn man bedenkt, welch eine Ausnahmezeit das vergangene Jahrzehnt, auch historisch betrachtet, war! Geld hat praktisch nichts gekostet. Die Globalisierung hat uns eine weltweite Arbeitsteilung just in time mit kontinuierlichem Wachstum bei hohen Löhnen und geringer Inflation in Europa und Nordamerika ermöglicht. Dank der Freizügigkeit in der Europäischen Union konnte unsere Wirtschaft von einem stetigen Zuwachs an gut ausgebildeten Arbeitskräften profitieren. Dass eine solche Ausnahmezeit nicht ewig währen würde, war eigentlich klar. Umso wichtiger ist, dass wir in den vergangenen Monaten vom Reden ins Handeln gekommen sind. So haben wir all die Horrorszenarien vermieden, von denen noch vor wenigen Monaten die Rede war. Vier oder fünf Prozent Rezession, Gas- und Stromabschaltungen in der Industrie, Energiepreise, die noch höher klettern als im vergangenen Sommer, keine einzige dieser Prognosen ist eingetreten, weil wir uns gemeinsam erfolgreich dagegengestemmt und weil wir etwas getan haben. Nicht nur auf unserem klaren Kurs gegen die russische Aggression in der Ukraine hat der BDI die Bundesregierung stets unterstützt, sondern auch beim Einsparen von Energie. Sie, lieber Herr Russwurm, waren Mitglied der Konzertierten Aktion und auch der Expertenkommission Gas und Wärme. Sie haben an der Blaupause für die Energiepreisbremsen mitgewirkt, und Sie haben gemeinsam mit weiteren Verbandspräsidenten und Gewerkschaftsvorsitzenden die steuer- und abgabenfreie Inflationsausgleichsprämie entworfen, um die Härten der Inflation für die Beschäftigten abzufedern. Die Sozialpartner machen von der Prämie umfangreich Gebrauch. Sie stärkt die Kaufkraft in unserem Land. Der „gesellschaftliche Tisch der Vernunft“, wie der ehemalige Finanzminister Karl Schiller die Konzertierte Aktion einmal nannte, hat gute Arbeit geleistet. Für all diese Unterstützung, für diese enge Zusammenarbeit in fordernden Zeiten sage ich heute ganz herzlichen Dank. Mit großen Hilfspaketen haben wir unser Land sicher durch die Coronapandemie und durch den vergangenen Winter geführt. Hinzu kommen die Milliardeninvestitionen in unsere Sicherheit, das Sondervermögen für die Bundeswehr. All das war richtig. Genauso richtig aber ist es, dass wir diese Ausnahmesituation nicht zum Normalfall werden lassen und dass wir nun Schritt für Schritt wieder zur fiskalpolitischen Normalität von vor der Coronakrise und vor der Energiekrise zurückkehren. Dieser Logik folgt unsere Haushaltspolitik für die kommenden Jahre. Nach den krisenbedingten Milliardenausgaben führen wir die Ausgaben wieder auf ein Niveau zurück, mit dem wir vor den Krisen über Jahre hinweg gut zurechtgekommen sind. Ich weiß: Das ist nach den Ausnahmejahren vielleicht gewöhnungsbedürftig. ‑ Denn das erfordert klare Prioritäten. Sie haben solche angemahnt, Herr Russwurm. Genau diese Prioritäten setzen wir. Priorität hat zunächst einmal die Sicherheit unseres Landes. Russland hat den Krieg nach Europa zurückgebracht. Deshalb stärken wir unsere Bundeswehr. Priorität hat, dass wir klimaneutral werden und ein starkes Industrieland bleiben. Deshalb investieren wir in den Ausbau der erneuerbaren Energien, in neue Technologien, in umweltfreundliche Mobilität und klimafreundliche Gebäude. Priorität hat, dass wir unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt bewahren, gerade in einer Zeit solch großer Veränderungen. Deshalb sorgen wir für soziale Sicherheit im Wandel, dafür, dass niemand vor unlösbare Aufgaben gestellt wird, nicht der Familienbetrieb und auch nicht die Mieterin, der Hausbesitzer, die Familie, der Industriearbeiter, der Rentner oder die Pendlerin mit ihrem Benziner. Sicherheit, Klimaneutralität, Zusammenhalt, das sind die drei Prioritäten, die der Haushalt 2024 abbilden wird. Das heißt umgekehrt aber auch: Manche Subvention und manches Förderprogramm stehen auf dem Prüfstand. ‑ Daran wird es Kritik geben, da mache ich mir nichts vor. Hinter jeder Zuwendung steht schließlich ein Empfänger, hinter jeder Subvention ein Interesse. Aber nach beispiellosen Krisenjahren mit beispielloser Schuldenaufnahme ist es unsere Pflicht, unser Land solide in die Zukunft zu führen. Nur so erhalten wir uns und künftigen Generationen Spielräume, wie wir sie in den jüngsten Krisenzeiten nutzen konnten. Nur so ist das nachhaltig. Für diesen Kurs stehe ich. Diesen Kurs vertrete ich aus tiefer Überzeugung. Ich bin dankbar für die Unterstützung auch dafür seitens des BDI. Unsere gute Zusammenarbeit in den vergangenen Monaten gibt Zuversicht für die Aufgaben, die vor uns liegen. Die größte davon ist ohne Frage die Transformation unserer Wirtschaft, unser Weg in die klimaneutrale Zukunft, und zwar als starkes Industrieland. Es stimmt, die Grundlage für Wirtschaftswachstum ist ein grundsätzlich freier Markt in einem verlässlichen politischen Rahmen. Für einen solchen Rahmen reicht es aber nicht, wie in der Vergangenheit ambitionierte Ziele in ferner Zukunft zu setzen. Politik hat auch die Aufgabe, den Bürgerinnen und Bürgern und den Unternehmen zu sagen, wie wir dorthin kommen. Das tun wir. Deutschlands Transformationsplan steht. Drei große Kapitel gehören dazu. Das erste Kapitel ist die Transformation unseres Energiesystems. Sie haben davon gesprochen. Wenn im Jahr 2030 morgens in den Fabriken die Arbeit losgeht, wird unser Strom zu 80 Prozent aus erneuerbaren Energien stammen. Dazu bauen wir die Erzeugungskapazitäten drastisch aus, und zwar auf 200 Gigawatt Photovoltaik, 115 Gigawatt Wind an Land, 30 Gigawatt Wind auf See, 10 Gigawatt Wasserstoffproduktion. Um das zu sagen: All die Entscheidungen, die dazugehören und die Sie angemahnt haben, werden jetzt getroffen und vorbereitet. Das gilt für das Wasserstoffnetz. Darüber sind wir auch im Gespräch mit der Wirtschaft weit vorangeschritten. Das gilt für die wasserstofffähigen Gaskraftwerke, von denen Sie gesprochen haben. Wir verhandeln nur noch mit der Kommission über die Genehmigung für das Gesetz, sodass alle Investitionen auf den Weg gebracht werden können. Denn so, wie Sie es gesagt haben, ist es. Wenn wir 2030 ‑ bei einigen Dingen Anfang der 30er-Jahre ‑ fertig sein wollen, dann müssen jetzt in diesem Jahr oder spätestens am Beginn des nächsten Jahres alle Entscheidungen getroffen sein, dann müssen milliardenschwere privatwirtschaftliche Investitionen getätigt werden, zum Beispiel in das Wasserstoffnetz und bezüglich der Frage der Erzeugung von Strom, wenn Sonne und Wind ihren Beitrag gerade nicht leisten können, weil er ja von Sonne und Wind abhängig ist. Genau das machen wir und werden es jetzt tun und nicht irgendwann. Überhaupt ist das vielleicht ein ganz großer Wechsel in der politischen Vorgehensweise gegenüber früheren Jahren. Wenn ich mir die anekdotische Erzählung erlauben darf: Wenn ich als Anwalt einen Mandanten hatte, dann war die erste Frage darauf gerichtet, dass ich weiß, ob eine Frist abläuft. Wann muss das fertig sein? Es kann ja sein, dass er sich erst so spät aufgemacht hat, dass es noch am selben Tag ist. Es wäre schlecht, wenn man das einen Tag später herausbekommt. ‑ Ein wenig in der Art haben wir das jetzt als Prinzip für unser Land gemacht. Wenn wir sagen, dass wir 2030 die Ausbauziele erreicht haben wollen, dann bauen wir rückwärts alle Gesetze und alle Entscheidungen so um, dass wir 2030 fertig sein können. Genau das geschieht jetzt, und darum geht es für die Zukunft unseres Landes. Das ist nicht nur eine klimapolitische und ökologische Notwendigkeit. Schon heute sind die Gestehungskosten von Energie aus Wind und Sonne deutlich günstiger als die aller anderen Energieformen. Wären wir beim Ausbau der Windkraft im Süden und Südwesten dort, wo wir im Norden und Osten schon stehen, und hätten wir bereits die erforderlichen Netze, dann hätten wir schon heute deutschlandweit deutlich geringere Energiepreise. Damit aus dem „hätten“ ein „haben“ wird, machen wir jetzt Tempo. Den dazu nötigen Turbo haben wir in den vergangenen anderthalb Jahren in unseren Transformationsplan eingebaut: über 7000 Quadratkilometer Fläche für Windräder ‑ das ist zehnmal die Fläche Hamburgs –, keine transformationsverschleppenden Gerichtsverfahren mehr, ein schnellerer, ökologischer und sinnvollerer Artenschutz, dazu eine bessere Verzahnung von Raumordnungs- und Planfeststellungsverfahren. Bei Übertragungsnetzen, bei Windkraftanlagen und auch bei Ersatzbrücken auf Autobahnen haben wir mit diesen Gesetzen schon jetzt eine Halbierung der Planungs- und Genehmigungszeiten möglich gemacht. Das wird genau so weitergehen. Das Deutschlandtempo der Transformation unseres Energiesystems ist Gesetz und wird es bald oder ist, anders ausgedrückt, verlässliche Realität. Kapitel zwei des Transformationsplans ist die Dekarbonisierung der Industrie. Ausgangspunkt dafür ist meine feste Überzeugung, dass Unternehmen die besseren Unternehmer sind. Deshalb setzen wir bei Dekarbonisierung auf die Kräfte des Marktes. Der Weg, auf den wir uns als Mitgliedstaaten der Europäischen Union geeinigt haben, ist ein steigender, aber eben auch ein für alle transparenter und kalkulierbarer CO2-Preis. Ein solcher Preis löst klimaschonende Investitionen aus, und zwar ohne eine Vorgabe zu machen, in welche Technologien konkret investiert werden soll. Diese Entscheidungen treffen allein Sie, meine verehrten Vertreter der Unternehmen. Übrigens ist Deutschland gerade zum zweitattraktivsten Land für Investitionen in erneuerbare Energien aufgestiegen, wie eine Studie internationaler Wirtschaftsprüfer zeigt. Wir haben China überholt. Vor uns liegen nur noch die USA. Noch sind die klimapolitischen Ambitionen weltweit sehr heterogen. Solange das so ist, stellen wir sicher, dass es für unsere heimischen Unternehmen fair zugeht. Mit dem CO2-Grenzausgleich sorgt die EU international für ein „level playing field“. Das nützt ganz besonders der innovationsstarken deutschen Industrie. Zudem haben wir unter deutscher G7-Präsidentschaft den internationalen Klimaklub ins Leben gerufen. Es geht darum, die klimapolitischen Ambitionen weltweit zu koordinieren. Denn alle Länder gehen unterschiedliche Wege. Die Ziele sind auch dort überall sehr ambitioniert. Aber es muss ja zusammenpassen. Man sieht, dass das funktioniert. Die Zahl der Klubmitglieder steigt. Darunter sind viele aufstrebende Volkswirtschaften wie Indonesien, Vietnam, Argentinien, Kolumbien oder Kenia. Das zeigt: Nicht nur Deutschland und Europa sind auf dem Weg der Dekarbonisierung ihrer Industrie. ‑ Ich muss Ihnen nicht sagen, welche Wachstumschancen dann gerade für deutsche Unternehmen darin stecken, die bei klimafreundlichen Lösungen oft führend sind. Das dritte Kapitel unseres Transformationsplans ist die Frage nach qualifizierten Arbeitskräften. Mit Stand von heute ist der Fachkräftemangel die wohl größte Wachstumsbremse für unser Land. Wenn man volkswirtschaftliche Studien betrachtet und alle Leute, die uns vorhersagen, es werde niemals gut werden, dann sieht man, dass der Fachkräftemangel das wichtigste Argument ist, dass sie dabei vortragen. Aber wir tun etwas dagegen. Zum einen unterstützen wir Unternehmen, die in die Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter investieren. Das ist unverändert eine große Ressource, die jeder und jede von Ihnen gut kennt. Ich bin immer wieder beeindruckt, was passiert, wenn Unternehmen langjährige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weiterqualifizieren, die manchmal als Angelernte tätig waren, aber schon fachlich tätig sind. Ich bin immer wieder beeindruckt, was an Potenzial und Möglichkeiten daraus entsteht. Wir machen Eltern von kleinen Kindern bessere Betreuungsangebote, damit sie Arbeit und Familie idealer verbinden können. Aber das alles wird uns nicht helfen und wird nicht ausreichen. Deshalb brauchen wir in Deutschland ein modernes Einwanderungsrecht. Wir haben mit den Gesetzen für ein Fachkräfteeinwanderungsrecht und seine Reform, die wir auf den Weg gebracht haben, jetzt die dazu notwendigen Weichen gestellt. Ich kann Ihnen exklusiv sagen, dass sich die gesetzgebenden Fraktionsmehrheiten heute Morgen schon gefunden haben, sodass das Gesetz zügig zustande kommt. Es wird erhebliche Verbesserungen und Innovationen mit sich bringen. Wir können, denke ich, sagen: Deutschland, das ohnehin eine ganz lange Geschichte von Umgang mit Zuwanderung in den Arbeitsmarkt hat, wird das Land sein, das das modernste Arbeitskräfteeinwanderungsrecht der Welt bekommt. Wir können uns mit allen modernen Gesetzgebungen überall auf unserem Planeten messen. Es ist dann an uns mit der Verwaltung und ihren unbürokratischen Prozessen und an Ihnen mit Ihren engagierten Entscheidungen, aus der Sache etwas zu machen. Aber es kommt jetzt. Das ist nichts, über das wir abstrakt reden. Ich finde es eine wirklich gute Sache, dass wir an das anknüpfen können, was wir in den letzten Jahren ohne allzu großes eigenes Zutun schon geerntet haben. Ich habe es eingangs gesagt. Die Zuwanderung durch die Freizügigkeit in der Europäischen Union hat uns geholfen. Sie hat uns hierher geführt. Ohne diese zusätzlichen Arbeitskräfte, die in den letzten zehn oder 15 Jahren nach Deutschland gekommen sind, wäre unsere wirtschaftliche Entwicklung nicht so gut verlaufen, wie es tatsächlich der Fall war. Jetzt aber reicht das nicht mehr, und wir müssen uns weiter in der Welt umschauen und müssen deshalb Regeln schaffen, die dazu führen, dass wir immer die Kontrolle über das Migrationsgeschehen behalten ‑ das ist klar ‑, die aber gleichzeitig den Unternehmen, den kleinen und mittelständischen Betrieben, dem Handwerker, der Handwerkerin und den großen Unternehmen die Möglichkeit gibt, ihre Anforderungen erfüllen zu können. Ich will Ihnen gern zusagen, dass wir, wenn das Gesetz gemacht ist, über den Teil „unbürokratisches Handling“ und „schnell und zügig“ auch ununterbrochen nicht nur im Gespräch sein werden, sondern das auch zusammen hinbekommen. Wir haben das in Deutschland schon einmal geschafft, als die Arbeitskräftenot groß war, und wir werden es wieder schaffen, wenn wir das jetzt tun. Was, so denke ich, gut hilft: Die Einstellung in unserem Land ist die richtige dazu. Wir sind längst Einwanderungsland. Deshalb machen wir diese Reform. Das wird dazu beitragen, dass unsere Wirtschaft und unser Wohlstand weiter wachsen können. Meine Damen und Herren, bei allem, was wir für die Transformation unserer Volkswirtschaft tun, operieren wir hier in Deutschland natürlich nicht im luftleeren Raum. Deutschland ist und bleibt eine der offensten und am engsten vernetzten Volkswirtschaften in der Welt. Darauf basiert unser Wohlstand. Zugleich nehmen wir zur Kenntnis, dass die Risiken gewachsen sind, zum Beispiel im Bereich der Halbleiter. Dort sind wir in der Vergangenheit in einseitige Abhängigkeiten geraten. Mit dem European Chips Act und dem Ziel der EU-Kommission, bis 2030 20 Prozent der weltweiten Halbleiterproduktion nach Europa zu holen, wird die Abhängigkeit Deutschlands und der EU verringert. Das klappt sehr gut. Jeder dritte Chip, der in Europa produziert wird, kommt aus Sachsen. Unternehmen wie Infineon und Wolfspeed investieren neu in Deutschland. Sie alle haben die Investitionsentscheidung vor Kurzem verfolgen können. Weitere sind in den Startlöchern. In Unternehmenszentralen weltweit werden neue Investitionspläne geschmiedet. Wenn sie alle so umgesetzt werden ‑ und daran arbeiten wir, übrigens auch heute wieder ‑, dann wird Deutschland zu einem der großen Halbleiterproduktionsstandorte weltweit. Das ist vielleicht einmal eine gute Botschaft in einer Zeit, in der sich alle ein bisschen angewöhnt haben, darüber zu reden, was alles nicht läuft. Tatsächlich läuft alles gerade auf Deutschland zu. Das ist eine gute Nachricht. Durch solche Investitionen diversifizieren wir unsere Lieferketten und ermöglichen deutschen und europäischen Unternehmen, die von ihnen benötigten Chips in der EU zu besorgen. Es entstehen gute und zukunftsfähige Arbeitsplätze in einer innovativen Branche. Die Bundesregierung treibt die Diversifizierung auch auf anderen Feldern weiter voran. Auch Lieferketten und die Versorgung mit strategisch wichtigen Rohstoffen müssen resilienter werden. Deshalb war es so wichtig, dass vom G7-Gipfel in Hiroshima ein ganz klares Signal ausging: „de-risking“, ja; „de-coupling“, nein. Nicht nur, weil morgen die deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen stattfinden, will ich hinzufügen: Diese Formel gilt ausdrücklich auch für China. ‑ In Hiroshima haben wir unsere Erwartungen klar formuliert, dass China den Status quo im Ost- und im Südchinesischen Meer nicht gewaltsam ändert und sich an die internationalen Regeln hält. Zugleich haben wir die Notwendigkeit betont, mit China in globalen Fragen zusammenzuarbeiten. Die G7 hat kein Interesse daran, Chinas wirtschaftlichen Aufstieg zu behindern. Zugleich schauen wir genau hin, um gefährliche wirtschaftliche Abhängigkeiten zu vermeiden. Dazu gehört, wieder mehr heimische Rohstoffvorkommen zu erschließen. Den Bedarf unserer Volkswirtschaft an Rohstoffen wie Lithium und Kobalt für Batterien oder Iridium und Scandium für die Elektrolyse werden wir so allerdings nicht decken können. Durch Rohstoffpartnerschaften zum Beispiel mit Chile oder Aserbaidschan unterstützen wir deshalb Ihre Unternehmen dabei, neue Lieferketten aufzubauen. Daneben wollen wir weitere Partnerschaften aufbauen, zum Beispiel mit Indonesien. Bei meinen Reisen in den zurückliegenden Monaten, bei meinen Gesprächen mit Partnern weltweit, wird eines immer mehr deutlich: Viele Länder sind reich an Rohstoffen, haben selbst aber zu wenig von diesem Reichtum. ‑ Den Förderländern nützt es, wenn zumindest die erste Verarbeitungsstufe dort vor Ort stattfinden kann. Uns hilft das bei der Diversifizierung unserer Lieferbeziehungen. Diese Idee gehört daher in die EU-Handelspolitik. Ich bin froh, dass wir dieses Bekenntnis zur Förderung der lokalen Wertschöpfung in Hiroshima auch im G7-Rahmen verankert haben. Nicht überall auf der Welt sind die politischen Verhältnisse stabil genug, damit deutsche Unternehmen Investitionen im Ausland wagen. Was aus Sicht eines Betriebes als zu risikoreich erscheint, ist aber aus gesamtwirtschaftlicher Sicht oft dennoch wichtig. Deshalb unterstützt die Bundesregierung Unternehmen mit Investitionsgarantien. Gegenwärtig läuft ein Prozess, in dem wir die Bedingungen für solche Garantien anpassen und auf mehr Länder ausrichten. Schließlich stärken wir die Resilienz unserer Rohstoffversorgung, unsere Lieferketten und den weltweiten Wohlstand, indem wir auf freien Handel setzen. Bei einer ganzen Reihe von Freihandelsabkommen sind wir dem Ziel deutlich näher gekommen. Mit dem Mercosur etwa, Mexiko, Australien, Indonesien und Kenia etwa und auch mit Indien, einem sehr wichtigen Partner, haben wir die Verhandlungen nach langer Pause endlich wieder aufgenommen. Mit Chile und Neuseeland sind die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen. Das Abkommen mit Kanada hat der Bundestag bereits ratifiziert. Auch hier kommen wir vom Reden ins Tun, und diese neue Dynamik gefällt mir. Etwas zu tun, zu handeln, die Dinge in die Hand zu nehmen, das ist das Gebot in stürmischen, anstrengenden, fordernden Zeiten. Dass dies nach Jahren des Stillstands nicht ganz ohne Knirschen, ohne Kritik, ohne ein Ringen um den besten Weg abgeht, liegt, wie ich finde, auf der Hand. In einem Interview vor einigen Tagen bin ich dazu befragt worden. Meine Antwort lautete: „Hätten wir ein bisschen schneller angefangen, wären wir auch ein bisschen weiter. … wir haben gerade noch rechtzeitig die Kurve gekriegt, aber es quietscht ab und zu, weil die Kurve so scharf ist.“ Das Wort Zukunftswende, mit dem Sie den heutigen Tag der Industrie überschrieben haben, lieber Herr Russwurm, hätte gut dorthin gepasst. Denn genau das trifft es. Wir sind mitten in der Zukunftswende. Es ist gut, dass wir einen klaren Transformationsplan für unser Land haben. Es ist gut, dass wir danach handeln. Schönen Dank für die Einladung! Ich freue mich auf die Diskussion.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953 am 17. Juni 2023 in Berlin
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Sat, 17 Jun 2023 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin, sehr geehrter Herr Bundesratspräsident, sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, sehr geehrte Frau Präsidentin des Abgeordnetenhauses, sehr geehrter Herr Hobrack, Exzellenzen, meine Damen und Herren, der Volksaufstand des 17. Juni 1953 in der DDR ist eines der wichtigsten und auch stolzesten Ereignisse in der Freiheitsgeschichte unseres Landes. Warum das so ist, darüber will ich heute sprechen. Ich will auch sagen, warum ich meine, dass uns allen, Ost- und Westdeutschen, die Ereignisse des 17. Juni gerade heute, volle 70 Jahre danach, wieder näher sind als in manchen früheren Zeiten. Im Jahr 1983 in seiner Rede zum 30. Jahrestag des Volksaufstandes beschrieb der konservative Historiker Michael Stürmer den 17. Juni als „Tag bitterer Erinnerung und fortdauernder Beunruhigung“. Vor allem aber bezeichnete Stürmer den 17. Juni 1953 als ‑ ich zitiere – „Tag der Verlegenheit, als Tag des betretenen Wegsehens und der angestrengten Beschäftigung mit der Freizeit“. Die Verlegenheit und das betretene Wegsehen hatten ihren Grund. Das Aufbegehren der Bürgerinnen und Bürger der DDR gegen das diktatorische Regime der SED hatte sich ‑ so schien es jedenfalls ‑ als vergeblich erwiesen. Eine Million mutiger Männer und Frauen hatten im Juni 1953 den Volksaufstand getragen. In mehr als 700 Städten und Dörfern der gesamten DDR hatten sie aufbegehrt, gestreikt, demonstriert, ihre Stimmen erhoben, verzweifelt und zugleich voller Hoffnung. Freie Wahlen, Rücktritt der Regierung, „Nieder mit der SED“, „Freilassung aller politischen Häftlinge“, „Wiedervereinigung“ – flächendeckend im ganzen Land waren das die politischen Forderungen der Bürgerinnen und Bürger. Es war ein ganz und gar spontanes Aufbegehren ohne zentrale Führung und Strategie. Am Ende hatten die Aufständischen des 17. Juni keine Chance. Ihr Aufstand wurde von den Soldaten und Panzern der sowjetischen Besatzungstruppen niedergeschlagen. Diese allein konnten das verhasste stalinistische Regime der SED in dieser Lage noch retten. Ohne ihren Einsatz wäre die erst vier Jahre zuvor gegründete DDR an diesem Tag bereits wieder beendet gewesen. Aber so kam es eben nicht. Mindestens 55 Menschen fanden damals den Tod, erschossen, zum Tode verurteilt, hingerichtet. 15 000 Bürgerinnen und Bürger der DDR wurden inhaftiert, Tausende verurteilt, teilweise zu langjährigen Haftstrafen. Von den Machthabern der SED als faschistischer Putschversuch denunziert, wurde der Volksaufstand des 17. Juni in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zum großen Tabu der DDR. Die Machthaber wollten nicht darüber reden; die Bürgerinnen und Bürger durften nicht darüber reden. So wurde der 17. Juni in der DDR aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verdrängt. Dabei hatte sich am 17. Juni 1953 wahrhaft Historisches ereignet. Das Volk der DDR hatte sich mutig gegen die stalinistische Diktatur erhoben, gegen Unrecht und Unterdrückung, für ein besseres Leben, für Freiheit, für Demokratie, für Selbstbestimmung, für nationale Einheit. Umso ausgiebiger pflegte man in der Bundesrepublik das Andenken an den Volksaufstand der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger. Hier wurde noch im selben Jahr der 17. Juni zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Doch geendet hatte der Aufstand vermeintlich in einem „tragischen Fehlschlag“, wie Bundeskanzler Willy Brandt 1973 anlässlich der 20. Wiederkehr des 17. Juni formulierte. Aus der Perspektive des Jahres 1973 ist diese Deutung nur zu verständlich. Denn der 17. Juni 1953 und dann erst recht – acht Jahre später – der Bau der Mauer im Jahr 1961 hatten zwei Dinge klargemacht. Zum einen: Das diktatorische Regime der SED besaß in der eigenen Bevölkerung weder Rückhalt noch Legitimität. Zum anderen aber: Solange sich dieses Regime im Ernstfall auf den Einsatz sowjetischer Panzer und Soldaten verlassen konnte, bestand in der DDR nicht die geringste Aussicht auf eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse, keine Aussicht auf ein Ende der kommunistischen Diktatur. Das erklärt das tiefe Gefühl der Ohnmacht, das der 17. Juni und auch der Mauerbau in beiden Teilen Deutschlands hinterließen. Es erklärt ebenfalls die Wahrnehmung in jener Zeit, die Opfer des Volksaufstandes vom 17. Juni seien vergebliche Opfer gewesen. Aber diese Opfer waren nicht vergeblich. Heute sehen wir das klarer. Die Opfer des 17. Juni waren so wenig vergeblich, wie drei Jahre später die Opfer des Aufstands im polnischen Posen, so wenig vergeblich wie die Opfer der ungarischen Revolution von 1956, die Opfer von Protest und Widerstand in Rumänien und Bulgarien, die Opfer der Märzunruhen in Warschau, Danzig und Krakau 1968, die Opfer des Prager Frühlings ebenfalls 1968 oder die Opfer der polnischen Aufstände von 1970 und 1976. Ja, jeder einzelne dieser Aufstände gegen die kommunistischen Diktaturen in Europa wurde gewaltsam niedergeschlagen. Jeder einzelne dieser Aufstände scheiterte. Mit Abstrichen gilt das sogar noch für die große polnische Revolution der Solidarność, die im Sommer 1980 auf der Leninwerft in Danzig begann und binnen kürzester Zeit das gesamte Land erfasste. Selbst diese mächtige Freiheitsbewegung wurde mit der Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 noch einmal unterdrückt, wenn auch nur notdürftig und zeitweilig. Aber alle diese Bewegungen und Volksaufstände untergruben immer wieder den Herrschaftsanspruch der kommunistischen Diktaturen in Europa. Sie alle trugen dazu bei, dass überall in Europa die große Vision von einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung lebendig blieb. Genau diese große Vision von Freiheit und Selbstbestimmung ging schließlich 1989 unverhofft, aber eben nicht ohne historischen Kontext doch noch in Erfüllung. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat darauf hingewiesen, dass die ostdeutschen Revolutionäre und Revolutionärinnen von 1989 die Aufständischen des 17. Juni nicht als ihre Vorgänger erkannten, weil sie, so Kowalczuk, „über deren Existenz überwiegend nichts wussten“. Dennoch führt eine direkte Linie vom 17. Juni 1953 zum Herbst 1989. Die Zeit war eine andere. Die Umstände hatten sich gewandelt. Unter Führung von Michail Gorbatschow war die Sowjetunion nicht mehr bereit, die Herrschaft der SED gewaltsam zu verteidigen. Aber es waren 1989 immer noch dieselben Ziele und Werte, um die es den Bürgerinnen und Bürgern ging: Freiheit und Selbstbestimmung. Freiheit und Selbstbestimmung, genau darum geht es heute wieder in Europa. In Echtzeit erleben wir in diesen Monaten den tapferen Abwehrkampf, mit dem die Ukrainer und Ukrainerinnen ihr Land gegen Russlands imperialen Angriffskrieg verteidigen. Sie kämpfen für die Werte, auf denen auch unsere freiheitliche Demokratie gegründet ist. Sie kämpfen für einen gerechten Frieden, der Landraub nicht belohnt. Sie verteidigen das Grundprinzip unserer europäischen Friedensordnung, dass Gewalt nicht Grenzen verschieben darf und Macht an Recht gebunden ist. Darum unterstützen wir die Ukraine gemeinsam mit unseren Partnern in Europa und in der ganzen Welt wirtschaftlich, humanitär, ja, mit Waffen und vor allem auf Dauer. Zugleich lässt uns das heutige Schicksal der Ukraine besser begreifen und nachvollziehen, was vor sieben Jahrzehnten die Bevölkerung der DDR aufwühlte. Rewoljuzija hidnosti, Revolution der Würde, diesen Namen haben die Ukrainerinnen und Ukrainer der großen Protestbewegung gegeben, mit der sie im Winter 2013/2014 auf dem Maidan die freiheitliche und europäische Ausrichtung ihres Landes erkämpften. Eine Revolution der Würde, genau das war auch der Volksaufstand des 17. Juni in der DDR. Heute gedenken wir dieser Revolution für Freiheit und Selbstbestimmung. Stellen wir gemeinsam sicher, dass ihre Werte und ihre Ziele weiterleben! Dann werden die Opfer des 17. Juni niemals vergeblich gewesen sein. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der startsocial-Bundespreisverleihung 2023 am 13. Juni 2023 in Berlin
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Tue, 13 Jun 2023 00:00:00 +0200
Berlin
Liebe Ehrenamtliche, verehrte Freunde und Förderer von startsocial, meine Damen und Herren, es sind wirklich beeindruckende Geschichten, die wir gerade gehört haben. Deshalb freue ich mich sehr, dass ich heute bei dieser Preisverleihung dabei sein kann und gleich noch den Sonderpreis verleihen darf. Wo wären wir als Land ohne die vielen Stunden freiwilliger Arbeit, die Sie als Ehrenamtliche Tag für Tag leisten? Dieses Engagement für unsere Gesellschaft ist heute wichtiger denn je. Denn wir leben in einer Zeit, die aufreibend, fordernd und auch anstrengend ist, weil Veränderungen anstrengend sind. Aber was wäre die Alternative? Nichts zu tun, angesichts des Klimawandels, der die Zukunft künftiger Generationen gefährdet? Tatenlos zuzusehen, wie die Ukraine von Russland überrollt wird? Nicht in unsere Sicherheit zu investieren, nachdem die Bundeswehr so lange stiefmütterlich behandelt wurde? Nicht zu helfen, wenn 1,2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer vor Russlands Bomben und Raketen zu uns fliehen? Die Augen davor zu verschließen, dass die geburtenstarken Jahrgänge in den nächsten Jahren in Rente gehen und wir deshalb dringend Fachkräfte aus dem Ausland brauchen? Wir packen all diese Herausforderungen an, so, wie Sie alle jeden Tag in Ihren Projekten etwas tun und anpacken, pragmatisch und mit großem Herzen. Dabei ist es ein ganz besonders wichtiges Thema, Zusammenhalt. Nur wenn wir als Gesellschaft niemanden zurücklassen, wird uns der Aufbruch in die Zukunft gelingen. Deshalb haben wir vergangenen Winter mit milliardenschweren Entlastungspaketen dafür gesorgt, dass niemand von den steigenden Energiepreisen überfordert wird. Deshalb werden wir auch in Zukunft darauf achten, dass beim Aufbruch in die klimaneutrale Zukunft alle mitkommen, die Hausbesitzerin genauso wie der Mieter, der kleine Handwerksbetrieb genauso wie das energieintensive Industrieunternehmen. Das wird nicht einfach. Umso mehr müssen wir gemeinsam alle Kräfte in unserem Land mobilisieren, die für den nötigen Zusammenhalt sorgen, Kräfte, die sich für andere einsetzen, so, wie Sie es tagtäglich tun, meine Damen und Herren. Sie stehen heute hier für über 600 000 Vereine und Organisationen in ganz Deutschland und damit für viele Millionen engagierter Bürgerinnen und Bürger. Für Ihren Einsatz möchte ich Ihnen hier im Saal stellvertretend für alle, die sich vor Ort in Deutschland einsetzen, herzlich Danke sagen. Mit Ihrem Engagement zeigen Sie: Zukunft und Zuversicht passen zusammen. ‑ Deshalb war es mir heute wichtig, hierherzukommen, zur startsocial-Preisverleihung. Die Bundesregierung steht hinter dem Ehrenamt. Wir fördern Freiwilligendienste und Mehrgenerationenhäuser. Wir fördern die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt, die freiwillige Arbeit besonders in ländlichen Regionen unterstützt. Wir suchen den Austausch mit zivilgesellschaftlichen Initiativen. Im vergangenen Sommer sind innerhalb weniger Wochen Hunderttausende Frauen, Männer und Kinder aus der Ukraine zu uns geflüchtet. Ich habe dann zahlreiche Hilfsorganisationen ins Kanzleramt eingeladen. Wir haben darüber gesprochen, wie wir unsere Kräfte bündeln können und wo es noch Verbesserungsbedarf gibt. Dabei sind viele gute Ideen zusammengekommen. Das zeigt, wie wichtig ein solcher Austausch ist. Um diese Beteiligung sicherzustellen, gibt es die Engagementstrategie des Bundes. Ich möchte Sie herzlich einladen, Ihre Ideen und Änderungsvorschläge auch dort einzubringen. Allerdings nehme ich an, dass Sie das längst tun. Liebe Ehrenamtliche, es ist das eine, sich Tag für Tag ins Zeug zu legen, um anderen zu helfen, um den Zusammenhalt in unserem Land zu stärken. Sie wollen aber noch mehr. Alle Initiativen, die heute hier vertreten sind, haben eines gemeinsam. Sie wollen sich noch besser aufstellen, auch mit Unterstützung von Profis aus der Wirtschaft. Genau dafür haben sie das startsocial-Stipendium genutzt. Jedes einzelne Ihrer Projekte ist ein Musterbeispiel für soziales Engagement, das direkt dort ankommt, wo es gebraucht wird. Ein Projekt, hat mich neben all den anderen, die mich beeindruckt haben, ganz besonders beeindruckt. Es beschäftigt sich mit einem Thema, das in den langen Pandemiejahren ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist, nämlich mit der mentalen Gesundheit von jungen Menschen. Kinder und Jugendliche haben ganz besonders gelitten, als Kitas, Schulen und Universitäten zeitweise geschlossen waren, als sie ihre Freunde und Klassenkameradinnen, Oma und Opa plötzlich nicht mehr treffen konnten, als Sportvereine, Musikschulen und Jugendzentren geschlossen waren. Berliner Studierende haben den Verein Kopfsachen gegründet, sicher nicht ganz zufällig im ersten Pandemiejahr 2020. Sie wollten etwas für Kinder und junge Erwachsene tun und deren mentale Gesundheit stärken. Genau das tun sie. Sie haben in kurzer Zeit schon unglaublich viel erreicht. Ihre Workshops erreichen mittlerweile Tausende junger Leute, aber auch Lehrerinnen, Erzieher und Erzieherinnen sowie Eltern. Das ist die Prävention, die wir brauchen. Das zeigt, wie wichtig mentale Gesundheit und ein offener Umgang damit sind, nicht nur während der Pandemie. Liebe Engagierte bei Kopfsachen, liebe Leonie Müller, lieber Willi Weisflog, lieber Mirko von Bargen, ich darf Sie stellvertretend für all Ihre Mitstreiterinnen und Unterstützer auf die Bühne bitten. Für Ihr herausragendes Engagement und Ihre inspirierende Arbeit verleihe ich Ihnen hiermit den diesjährigen startsocial-Sonderpreis des Bundeskanzlers. Dieser Applaus ‑ so verstehe ich es ‑ gilt natürlich auch allen anderen Preisträgerinnen und Preisträgern des heutigen Tages und all denen, die keinen Preis bekommen haben. Danke, dass Sie Zusammenhalt in unserem Land unterstützen und stärken! Vor allem: Machen Sie alle weiter so!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Eröffnung des Ford Cologne EV Centers am 12. Juni 2023 in Köln
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Mon, 12 Jun 2023 14:40:00 +0200
Köln
Sehr geehrter Herr Ford, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, meine sehr geehrten Damen und Herren! „Kein Band in der deutschen Automobilindustrie läuft so schnell wie das Endmontageband in Köln-Niehl.“ Das schrieb der „SPIEGEL“ schon vor 50 Jahren. Anspruchsvoll war die Arbeit schon damals, und sie ist es bis heute geblieben. Und noch etwas ist heute noch immer so wie damals, etwas, das erst einmal paradox klingt: Hier, im Kölner Ford-Werk, wird Geschichte geschrieben, weil hier immer wieder Zukunft entsteht. Vor fast 100 Jahren hat Ihr Vorfahr, sehr geehrter Herr Ford, dieses Werk eingeweiht, zusammen mit dem Bürgermeister Konrad Adenauer. Damals fuhren noch so gut wie keine Autos über die Kölner Straßen. Dafür waren noch eine ganze Menge Pferde unterwegs. Seitdem sind bei der Ford Motor Company am Standort Köln rund 18 Millionen Fahrzeuge vom Band gerollt. Auf das schnellste Endmontageband folgte Anfang dieses Jahrtausends der Industriepark mit den Zulieferern direkt vor Ort, eine Revolution in der europäischen Automobilproduktion. Heute folgt hier der nächste Schritt in die Zukunft der Automobilindustrie. Vielleicht markiert dieser Tag heute für manche von Ihnen auch einen Abschied – vom Verbrenner, vom Fiesta. Aber ich hoffe, es ist ein Abschied ohne allzu viel Wehmut, weil heute eben nicht nur etwas endet. Hier in Köln beginnt eine neue Ära, die Ära der Elektromobilität bei Ford in Europa, mit dem ersten Ford-Werk, das ausschließlich Elektrofahrzeuge produziert. Als Bundesregierung unterstützen wir den Umstieg vom Verbrennungsmotor auf E-Mobilität. Ein ganz zentrales Thema ist dabei der Ausbau der Ladeinfrastruktur; denn tatsächlich wird es ja nur funktionieren, wenn diejenigen, die sich elektrifizierte Fahrzeuge, Elektromobile, kaufen, auch sicher sein können, dass sie ihr Fahrzeug tatsächlich überall laden können. Wir haben dazu schon weitreichende Entscheidungen getroffen und bereiten die nächsten vor, damit man eigentlich an jeder Tankstelle eine Möglichkeit findet, Elektrofahrzeuge zu laden, damit das überall am Straßenrand und vielleicht auch bei dem einen oder anderen Einkaufszentrum und Supermarkt der Fall ist. Wir haben uns ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Wir wollen, dass 2030 15 Millionen Elektrofahrzeuge in Deutschland unterwegs sind. Wir wollen auch erreichen, dass das begleitet wird von einer großen Investitionsoffensive in all das, was für die künftige elektrifizierte Mobilität mit Fahrzeugen notwendig ist, Batteriefabriken zum Beispiel, die hier in Europa und in Deutschland entstehen sollen. Dazu sind schon viele Entscheidungen gefallen. Wir bereiten vor, dass noch weitere fallen können, damit die Versorgung mit diesem für die künftigen Elektrofahrzeuge essenziellen Teil auch auf Produktion beruht, die hier in Deutschland und in Europa stattfindet. Das gilt auch für die Frage der vielen Produktionsstandorte für E-Mobilität. Deshalb bin ich froh, dass das hier zwar nicht der erste in Deutschland ist, aber ein weiterer und eben, wie ich schon gesagt habe, so ein besonderer für Ford. Das zeigt im Übrigen eines, das wir nicht vergessen dürfen: Die Zukunft ist schon bei uns. Sie ist schon mit uns. Sie findet gerade statt. Ganz anders, als die einen oder anderen immer wieder sagen und quälend argumentieren: Diejenigen, die jeden Tag am Band stehen, die in den Fabriken arbeiten, wollen, dass die Zukunft mit uns und mit ihnen ist. Sie wollen nicht auf eine Technologie setzen, die vielleicht in 20 Jahren keine Rolle mehr spielt, sondern sie wollen bei den Technologien dabei sein, die für die Zukunft wichtig sind. Das gilt auch für die Elektromobilität, wenn denn das die Zukunft der Automobilindustrie ist, und alle Unternehmen, die in der Branche sind, sehen das so und investieren Hunderte Milliarden, damit das klappt. Wenn das so ist, dann soll es auch das Ziel sein, dass Automobilproduktion in Deutschland eine solche Rolle für den Weltautomobilmarkt spielt, wie das auch bisher der Fall war. Das gelingt nur, wenn man vorne dabei ist; das weiß jeder und jede, die hier in den Fabriken arbeitet, und überall sonst, wenn es um dieses Unternehmen geht. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der menschengemachte Klimawandel ist die entscheidendste Veränderung unserer Zeit. Deshalb haben wir uns als Land entschieden, schon 2045 klimaneutral zu werden. Deshalb verabschiedet sich gerade die ganze Welt vom Verbrennungsmotor. Entsprechende Entscheidungen sind überall getroffen und politische Resolutionen, noch mehr, gefasst worden. Einen solchen Wandel gestaltet man nicht, indem man einer vermeintlich guten alten Zeit nachtrauert, sondern indem man auf eine neue, auf eine bessere Zeit setzt, auf Mobilität, die sauber ist, die dafür sorgt, dass wir den Jüngeren eine Welt hinterlassen, in der auch sie gut leben können. Das soll ja auch gesagt werden: Wenn sich die Welt so entwickelt, wie wir das wünschen, wenn der Wohlstand überall in den Ländern Asiens, Afrikas und im Süden Amerikas kommt, wenn die auch so viele Autos auf den Straßen haben wollen, wie das bei uns der Fall ist, dann wird das nur gelingen, wenn diese Mobilität sauber ist – mit den Technologien, die wir jetzt hier entwickeln und die hier jetzt an den Start gehen. Für diesen Neuanfang steht das Electric Vehicle Center, das wir heute eröffnen. Das ist ‑ wir haben es schon gehört ‑ die größte Investition in der Unternehmensgeschichte in das Kölner Ford-Werk und zugleich ein unmissverständliches Bekenntnis zum Standort, zur Autoproduktion in Deutschland, zur E-Mobilität und zum Aufbruch. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar, sehr geehrter Herr Ford. Vor allem ist diese unternehmerische Entscheidung ein großer Vertrauensbeweis gegenüber der gesamten Belegschaft von Ford in Köln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit vielen Jahrzehnten macht ihr dieses Werk zu einem der effizientesten in ganz Europa. Einer eurer Kollegen ist Sami Özberk. Ich habe eben mit ihm sprechen können. Schon der Großvater war einer der allerersten sogenannten Gastarbeiter ‑ so hieß das seinerzeit ‑ aus der Türkei, die hierher nach Köln gekommen sind. Bei Ford waren damals mehr türkischstämmige Arbeitnehmer beschäftigt als in jedem anderen Industriebetrieb in Deutschland. Viele von ihnen sind geblieben – zum Glück. Sie haben unsere Wirtschaft und unser gemeinsames Land mit aufgebaut, so wie Familie Özberk. Nicht nur Sami Özberks Großvater arbeitete hier, auch sein Vater Hakan arbeitet bei Ford, und inzwischen auch er selbst, der Enkel. Drei Generationen Ford, drei Generationen Köln. Ford, das ist Köln. Der Spirit dieser Stadt und der Spirit von Ford passen zusammen, und die Firmenkultur bei Ford ist Teil der Kölner Lebensart. Sami Özberk hat dieses Gefühl in einem Film so beschrieben: „Für die meisten von uns ist das blaue Oval nicht nur ein Job. Es ist ein Teil unseres Lebens, ein Teil unserer Familie.“ Auch heute brauchen wir wieder qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland, 400 000 pro Jahr, so sagen es uns die Expertinnen und Experten. Die Arbeit wird uns in den nächsten Jahren nicht ausgehen. Deshalb stimmt der Bundestag in wenigen Tagen über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ab. Doch ein Gesetz ist erst einmal nur ein Stück Papier. Was es braucht, damit Integration gelingt, damit Zusammenarbeit entsteht, das leben Sie, das lebt ihr hier Tag für Tag bei Ford in Köln. Deshalb möchte ich zum Schluss um eines bitten: Bewahrt diesen Spirit, um immer wieder zusammen und voll Zuversicht in eine erfolgreiche Zukunft zu starten, so, wie wir das heute hier tun! And now, Mr. Ford, I understand that the big moment has come. Please join me again on the stage.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Ostdeutschen Wirtschaftsforums am 11. Juni 2023 in Bad Saarow
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-ostdeutschen-wirtschaftsforums-am-11-juni-2023-in-bad-saarow-2195536
Sun, 11 Jun 2023 00:00:00 +0200
Bad Saarow
Sehr geehrter Herr Nehring, sehr geehrter Herr Mehne, sehr geehrter Herr Russwurm, liebe Manuela, liebe Freunde, meine Damen und Herren! „The east German economy finally gets a boom“, so titelte der britische „Guardian“ vor einigen Monaten. Ostdeutschlands Wirtschaft erlebt endlich einen Boom. Die üblicherweise nicht zu Übertreibungen neigende „Financial Times“ berichtete nach dem letztjährigen Ostdeutschen Wirtschaftsforum vom „surprising revival of eastern Germany“, dem überraschenden Wiedererstarken Ostdeutschlands. Ich stimme ja nicht immer allen Medienberichten aus vollem Herzen zu, in diesem Fall aber doch, vielleicht abgesehen von dem Wort „überraschend“; denn wirklich überraschend ist der Boom nicht, den wir derzeit in Ostdeutschland erleben. Dieser Boom ist das Produkt eines zumindest in Europa einmaligen Zusammenspiels von drei Faktoren. Dazu gehören Unternehmen und Beschäftigte mit Transformationserfahrung; dazu gehört die vorausschauende staatliche Förderung von Zukunftsbranchen, und dazu gehören attraktive Standortbedingungen – von der Verfügbarkeit erneuerbarer Energien über Bauland bis hin zu unternehmensnaher Forschung und moderner Infrastruktur. Man muss sich nur einmal einige der industriellen Cluster anschauen, die sich hier in Ostdeutschland in den vergangenen Jahren herausgebildet haben: E-Mobilität in Brandenburg und Sachsen, Bioökonomie und Logistik in Mitteldeutschland, Silicon Saxony, inzwischen der führende Chipstandort Europas, Photonik in Thüringen. Kaum eine Zukunftstechnologie, kaum eine Wachstumsbranche ist hier in Ostdeutschland nicht bereits zu Hause oder sucht gerade hier ein neues Standbein. Diese Suche erleben wir landauf und landab. Die Milliardeninvestitionen von Tesla in Grünheide, von CATL in Arnstadt, von Bosch in Dresden oder von Siltronic in Freiberg gehen durch die Medien, und alle Beteiligten können zu Recht stolz auf sie sein. Ich selbst war Anfang Mai in Dresden bei der Grundsteinlegung für die neue Halbleiterfabrik von Infineon. Diese Milliardeninvestitionen sind längst keine einsamen Leuchttürme mehr. Erst recht entstehen dort keine verlängerten Werkbänke für Unternehmen anderswo. Wenn wir über die Chip- und IT-Branche rund um Dresden reden, dann sprechen wir inzwischen über 75 000 Hightecharbeitsplätze ‑ Tendenz steigend ‑ in Weltkonzernen, aber eben auch in kleineren und mittelständischen Zulieferern und Start-ups. In Brandenburg spricht man vom Tesla-Effekt. Gemeint ist, dass sich dort auch kleinere Unternehmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette der E-Mobilität ansiedeln, von der Rohstoffgewinnung für Batterien bis hin zum fertigen Auto. Noch einen Effekt haben die zahlreichen Ansiedlungen. Sie schaffen nicht nur gute, sichere Arbeitsplätze in der Region; sie tragen auch zur Diversifizierung unserer Lieferketten bei. Dabei spielen Rohstoffe eine zentrale Rolle. Deshalb arbeiten wir in der EU mit dem Critical Raw Materials Act daran, Europa eine verlässliche Versorgung mit strategisch wichtigen Rohstoffen zu sichern. Am kommenden Mittwoch verabschieden wir im Kabinett unsere Nationale Sicherheitsstrategie. Auch sie legt genau hierauf einen Schwerpunkt. Wir setzen uns für neue Freihandelsabkommen der EU mit Ländern in Südamerika, Asien und Afrika ein. Denn so optimistisch man mit Blick auf die Entwicklung in Ostdeutschland sein kann, so gibt es natürlich auch Risiken. Die geopolitische Lage zählt dazu. Unsere multipolare Welt mit vielen aufstrebenden Machtzentren ist unübersichtlicher geworden. Wir müssen uns um neue Partnerschaften bemühen, und das tun wir auch. In der Ukraine tobt weiterhin Russlands brutaler Angriffskrieg mit all den Auswirkungen, die das auch für uns und unsere Wirtschaft hat. Aber erinnern Sie sich daran, wo wir vor einem Jahr standen und worüber wir damals hier in Bad Saarow gemeinsam diskutiert haben? Über Blackouts und die Rationierung von Gas im Winter, über das Ende der Raffinerie in Schwedt. Nichts davon ist so gekommen. Wir haben in kürzester Zeit Flüssiggasterminals installiert und ans Netz genommen. Schwedt hat seit Januar kein Öl mehr aus Russland bezogen und läuft trotzdem stabil, übrigens auch durch eine Pipeline aus Rostock, weil wir uns von Anfang an um den Weiterbetrieb des Standorts gekümmert und gemeinsam mit den Bundesländern ein Sonderprogramm für die Zukunft der ostdeutschen Raffineriestandorte aufgelegt haben. Um die Gasversorgung gerade in Ostdeutschland auch in Zukunft zu sichern, haben wir den Weg für ein LNG-Terminal im Osten frei gemacht. Das sorgt nicht nur für Zustimmung. Ich habe selbst mit den Rüganern vor Ort darüber diskutiert. Aber wir brauchen verlässliche Energie, um den industriellen Aufschwung nicht abzuwürgen, den wir in Ostdeutschland gerade jetzt erleben. Gleichzeitig sorgen wir dafür, dass unsere neuen Terminals auch langfristig nutzbar sind, dass sie wasserstoff- und ammoniakready sind. Denn die Zukunft gehört den erneuerbaren Energien. Sie sind schon heute die preiswerteste Art, Energie zu produzieren. Über zwei bis sechs Cent Gestehungskosten pro Kilowattstunde reden wir bei der Solarenergie, über vier bis acht Cent bei Windkraft. Das ist günstiger als alle anderen Energieformen. Wenn wir also über bezahlbaren Strom sprechen ‑ und die Stromkosten müssen runter ‑, dann kann es nur um den noch schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien und der Netze gehen. Hierfür hat die Bundesregierung in den vergangenen anderthalb Jahren die Voraussetzungen geschaffen: mehr Flächen, mehr Flexibilität für Länder und Kommunen, weniger Gutachten, weniger Bürokratie. Auch das will ich hier sagen: Nicht Ostdeutschland hat hier Nachholbedarf, auch nicht Norddeutschland. Wenn man sich die Windkraftanlagen in Mecklenburg-Vorpommern an der Ostsee und in den verschiedenen Ländern hier im Osten anschaut, dann weiß man, wie die Gestehungskosten im Norden und Osten Deutschlands sind. Bei der Windenergie liegen der Osten und der Norden weit vor den großen Industrieregionen im Westen und Süden. Wenn es allein um die Produktionskosten des Stroms ginge, dann würde der Strompreis hier deutlich unter dem Preisniveau im Westen und Süden liegen. Deshalb sorgen wir dafür, dass nun endlich auch im Süden und Südwesten mehr Wind- und Solaranlagen entstehen, zum Beispiel mit einem verbindlichen Flächenziel bei der Windkraft. Wir wollen Strom aus erneuerbaren Energien noch einfacher und günstiger vor Ort nutzbar machen, damit diejenigen, die so stark sind wie der Osten, auch von niedrigeren Kosten profitieren. Noch eine Herausforderung packen wir an, meine Damen und Herren. Auch was die Infrastruktur unseres Landes angeht, haben wir in den vergangenen Jahren zum Teil von der Substanz gelebt. Damit Ostdeutschland seine zentrale Lage in Mitteleuropa voll ausspielen kann, braucht es auch künftig eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur. Deshalb treiben wir in den kommenden Jahren wichtige Verkehrskorridore voran wie die Schienenverbindung Berlin-Cottbus-Görlitz, die A 14 zwischen Mitteldeutschland und dem Norden und Wasserstraßen wie die zwischen Berlin und Magdeburg. Hinzu kommen Investitionen in zwei Forschungseinrichtungen von Weltrang. Das Chemresilienz wird im mitteldeutschen Revier angesiedelt. Es soll eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft in der Chemieindustrie unterstützen. In der Lausitz wird das Deutsche Zentrum für Astrophysik entstehen. Die geopolitischen Verwerfungen, Fragen rund um Energie, Infrastruktur und Investitionen, all das hat eine große Bedeutung für Deutschland und den Standort hier im Osten. Wenn man aber Sie fragt, die ostdeutschen Unternehmen, dann hört man, dass noch ein ganz anderes Thema weit oben auf der Liste der größten Herausforderungen steht. Sie wissen natürlich, wovon ich spreche. Ein Meinungsforschungsinstitut hat 1500 ostdeutsche Unternehmerinnen und Unternehmer befragt, und die Sorge Nummer eins noch vor der Digitalisierung, vor der Energiesicherheit und vor den Energiepreisen ist der Mangel an Arbeitskräften. Das sagen volle zwei Drittel aller Befragten. Natürlich liegt auch diesem Problem erst einmal eine fast unglaubliche Erfolgsgeschichte zugrunde, wenn man bedenkt, wie lange Ostdeutschland mit Massenarbeitslosigkeit zu kämpfen hatte und wie viele Jüngere deshalb in den Westen abgewandert sind. Genau das aber verschärft nun das Fachkräfteproblem. Nehmen wir zum Beispiel Sachsen. Jeder und jede Dritte der 1,6 Millionen Beschäftigten dort geht in den nächsten sieben Jahren in Ruhestand. Das sind über 500 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmer, so viele, wie ganz Dresden Einwohner hat. Ich hoffe ‑ das muss ich bei einem Unternehmerforum im Übrigen sagen ‑, Sie tragen das Folgende mit Fassung. Ein ganz entscheidender Standortfaktor im Werben um Fachkräfte sind natürlich gute Löhne. Noch immer bekommen Ostdeutsche im Durchschnitt rund 620 Euro weniger Lohn im Monat als Westdeutsche, in manchen Branchen sogar bis zu 1000 Euro. Mit dem Wirtschaftsboom Ost, den ich beschrieben habe, muss sich das irgendwie ändern. Viele von Ihnen wissen das. In der zitierten Studie nennen 72 Prozent der ostdeutschen Unternehmen höhere Löhne als das Mittel gegen den Fachkräftemangel. Noch etwas gehört hierher: mehr Tarifbindung, starke Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Denn auch damit steigt die Attraktivität eines Standorts. Die Bundesregierung unterstützt Unternehmen bei der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften. Doch zur Wahrheit gehört: Allein mit einheimischen Arbeitskräften werden wir die Lücke nicht ausgleichen, die sich ganz besonders im Osten auftut. – Deshalb schaffen wir das wohl modernste Einwanderungsrecht der Welt. Der Bundestag berät in diesen Tagen abschließend über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz der Bundesregierung. Für Anfang Juli ist die finale Abstimmung im Bundesrat geplant. Danach kann das Gesetz in Kraft treten. Dann können Arbeits- und Fachkräfte deutlich leichter als bisher nach Deutschland kommen, übrigens auch zur Jobsuche. Parallel dazu vereinfachen und beschleunigen wir die Verfahren von der Visaerteilung bis zur Anerkennung von Abschlüssen, damit Sie zügig die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bekommen, die Sie brauchen. Doch Gesetze und Verordnungen sind nur eine Seite der Medaille. Arbeitnehmer und Fachkräfte gerade in Zukunftsbranchen können sich heute aussuchen, wohin sie gehen. Dann geben oft auch die vermeintlich weichen Faktoren den Ausschlag. An der schönen Landschaft, an bezahlbaren Wohnungen, an bezahlbaren oder kostenlosen Schulen und Kitaplätzen wird es hier im Osten nicht scheitern. Doch zu alledem braucht es auch einen Bewusstseinswandel, übrigens im ganzen Land, nämlich die Einsicht, dass ausländische Fachkräfte nicht nur gebraucht werden, sondern wirklich willkommen sind. Als Arbeitgeber können Sie vor Ort zu diesem weltoffenen Deutschland beitragen. Darum bitte ich Sie heute. Wenn wir über Offenheit reden, dann möchte ich zum Schluss ein Thema nicht unerwähnt lassen. Gerade einmal vier von 184 Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern in der Bundesregierung stammen aus dem Osten. Das sind 2,1 Prozent. Nach wie vor sind nur zwei von 247 DAX-Vorständen Ostdeutsche. Da sind wir dann schon im Promillebereich. Das ist nicht gut für unser Land. Deshalb haben wir die Repräsentation von Ostdeutschen in Führungspositionen der Bundesverwaltung Anfang des Jahres erstmals überhaupt zum Thema gemacht. Ich bin froh, dass unser Ostbeauftragter, Staatsminister Carsten Schneider, die von uns beschlossenen Maßnahmen mit Nachdruck und aus dem Kanzleramt heraus vorantreibt. Wir wollen als Bundesregierung hierbei vorangehen und hoffen, dass Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, Justiz und Medien mitgehen. Ich weiß, dass ich Sie dabei auf meiner Seite habe. Das Ostdeutsche Wirtschaftsforum zeichnet sich dadurch aus, Impulse zu geben, die auch weit über Bad Saarow und weit über Ostdeutschland hinaus aufgegriffen werden. Das wünsche ich mir an dieser Stelle und in diesem Sinne Ihnen eine erfolgreiche Konferenz. Schönen Dank für die erneute Einladung!
Rede von Kulturstaatsministerin Roth zur Wiedereröffnung des Hauses der Kulturen der Welt unter dem neuen Intendanten Ndikung
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-roth-zur-wiedereroeffnung-des-hauses-der-kulturen-der-welt-unter-dem-neuen-intendanten-ndikung-2194342
Fri, 02 Jun 2023 16:00:00 +0200
Kulturstaatsministerin
Kultur
– Es gilt das gesprochene Wort. – Bitte begrüßen Sie mit mir den Ehrengast des heutigen Abends, die Mutter von Prof. Dr. Bonaventure Ndikung, Frau Theresia Lum Soh! Sehr geehrte, liebe Frau Lum Soh, erst vor wenigen Tagen haben Sie ihr Visum für Deutschland erhalten, sich ins Flugzeug gesetzt und sind heute Abend hier, um mit uns den Beginn der Intendanz Ihres Sohnes zu feiern. Wir alle sind wirklich sehr geehrt durch Ihre Anwesenheit! Und: Wir sind mit Ihnen vereint in der großen Freude, diesen Tag gemeinsam erleben zu können! Ein Tag, der beeindruckend ist, berührend, bewegend. Liebe Frau Lum Soh, ich danke Ihnen, dass Sie Ihren Sohn als jungen Mann nach Deutschland geschickt haben, um hier sein Studium zu absolvieren, um zu arbeiten, um seinen Weg zu finden. Und wir danken Ihnen für Ihre „blessings“, für Ihren Segen, dass er sich seiner Berufung, der Kunst, widmen konnte. Mir wurde von einer schönen Geschichte berichtet, die Professor Ndikung in der Corona-Zeit in seinem phonic diary, seinem Klang-Tagebuch erzählt: Als er Ihnen, seiner Mutter, nämlich vor knapp zehn Jahren endlich zu sagen wagte – ich zitiere – „I am done with the sciences.“ Und Ihre Antwort war, so sagt es das Tagebuch: „I had expected this earlier. You have done all we expected from you. You have my blessings“. Vielen Dank an Sie, sehr geehrte Frau Lum Soh! Vielen Dank an alle Mütter, und die Väter auch, die ihre Kinder unterstützen, ihren Weg zu finden und ihrer Berufung zu folgen! Liebe Anwesende, der Weg des Schülers aus Kamerun zum Biotechniker in Deutschland, zum Kurator und heute zum Intendanten des Hauses der Kulturen der Welt war schwierig. Es war ein Weg mit einem Auftrag der Familie. In der Hoffnung des Gelingens. Und in der Gefahr der Verletzung. Denn auch das gehört zum heutigen Tag: Dass Professor Ndikung den Rassismus in unserem Land am eigenen Leib erlebt hat. Dass er Gewalt und Ausgrenzung erfahren hat. Sie haben sich 2006 entschieden, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Wir sind Ihnen dankbar dafür. Denn die Demokratie lebt davon, dass immer mehr Menschen an ihr teilhaben. Und wenn Sie mir diesen auf den ersten Blick so gar nicht kulturpolitischen Satz erlauben: Ich möchte, dass Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt bei uns haben, die hier leben, arbeiten und lieben, die Teil unserer Gesellschaft sind, unser Land selbstverständlich auch demokratisch mitgestalten können, weil es auch ihr Land ist. Und dass Menschen nicht gezwungen werden, ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit aufzugeben, um deutsche Staatsbürger:innen werden zu können. Dass sie nicht gezwungen werden, ihre Wurzeln zu kappen, sondern dass sie ihre ganze Identität in Respekt und Anerkennung leben können. Was ich eben für die Demokratie im Allgemeinen sagte, das gilt auch für die Kultur dieses Landes und das gilt für die Kulturpolitik, für die ich Verantwortung trage: Wir wollen, dass immer mehr Menschen an ihr teilhaben, und die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ist auch dafür ein richtiger Schritt. Ich möchte, dass die verschiedenen Talente und Träume, Klänge und Körper, aber auch die Verletzungen und Traumata Platz finden in unserer Kultur. Und ich weiß, dass aus Verletzungen oft nicht nur Trauer, sondern auch Wut erwächst. Ich weiß das für aktuelle Verletzungen, ich weiß das für die Verletzungen der Vergangenheit. Sie sind nicht vergessen. Sie leben fort in uns. Sie prägen als Traumata ganze Gesellschaften. Das gilt für Rassismus wie Antisemitismus, für jede Art von Menschenfeindlichkeit. Das gilt für das einzigartige und unvergleichliche Menschheitsverbrechen der Deutschen, die Shoah. Das gilt für den Imperialismus und Kolonialismus Europas, auch unseren eigenen. Als Sie Deutscher geworden sind, sehr geehrter Herr Ndikung, haben Sie sich im wörtlichen und im übertragenen Sinne eingeschrieben in diese Geschichte. Sie sind Teil einer Täternation geworden. Ebenso wie Sie als Schwarzer Deutscher Opfer des Rassismus in diesem Land waren und Kamerun Teil der Kolonialgeschichte Deutschlands ist. Mit ihrer Berufung zum Intendanten einer Bundeseinrichtung sind Sie einen weiteren Schritt gegangen. Sie sind aus der Unabhängigkeit von Savvy herausgetreten und in die staatlich geförderte Kultur eingetreten. Ich habe großen Respekt vor Ihrer Entscheidung. Ich freue mich darüber, und ich darf das an dieser Stelle auch sagen: ich stehe hier in Kontinuität zu meiner Vorgängerin und ich stehe in der Kontinuität zu einer Koalition aller demokratischen Parteien. Sie sind von Monika Grütters, einer CDU-Staatsministerin in einer Bundesregierung von CDU, CSU und SPD berufen worden. Sie beginnen Ihre Intendanz mit einer grünen Staatsministerin in einer Bundesregierung von SPD, Grünen und FDP, und wenn ich es recht sehe, freut sich auch die Linke mit uns heute. Sei mir herzlich gegrüßt, lieber Klaus Lederer! Lieber Bonaventure, nehmen Sie dies als einen kulturpolitischen Grundkonsens der demokratischen Parteien in unserem Land mit auf den Weg, und nehmen Sie es als eine Ermutigung! Aber: Reden wir nicht drum herum, wir wissen alle, dass dieser Konsens gefährdet ist. Um so mehr möchte ich den heutigen Tag nutzen, um ein paar Prinzipen klarzustellen. Die Kultur unseres Landes lebt von der Kunstfreiheit und davon, dass zu dieser Freiheit auch gehört, dass künstlerische Entscheidungen nicht von außen getroffen werden. Kunst ist politisch, aber es gibt keine politische Entscheidung über die Kunst.Für unsere kulturellen Einrichtungen geht mit dieser Freiheit eine besondere Verantwortung einher. Sie ist sozusagen der Grundkonsens der Förderung. Es ist kein Platz für Antisemitismus, Rassismus und jede Art von Menschenfeindlichkeit. Es ist Platz für Solidarität. Sie haben es mit James Baldwin formuliert, lieber Bonaventure: „Because they come for you in the morning, they come for me in the evening”. Diese Solidarität, die Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit brauchen wir. Und diese hat eine ganz wichtige Voraussetzung: Alle, alle müssen mittun können und teilhaben können. Das bunte wir Alle. Um es noch einmal zu betonen: Wir brauchen die verschiedenen Lebenswirklichkeiten in unseren Einrichtungen, weil diese unser Denken und unsere Institutionen prägen. Weil sie die Entscheidungen in Jurys und Gremien prägen. Die Ästhetiken und Diskurse. Wir brauchen, um es im Feuilleton-Sprech zu sagen, intersektionale Diversität. Nur dann können unsere kulturellen Einrichtungen zu den Praxislaboren eines modernen Deutschlands, eines Einwanderungs- und Erinnerungslandes werden. Kurz: zu einer Kulturnation, die diesen Namen verdient. Und damit ist auch klar: Ich lehne Boykotte gegen Menschen oder Menschengruppen ab und wer dafür werben will, mag das tun, aber nicht bei uns. Oder um es anders zu sagen: Wir fördern keine Veranstaltungen, auf denen für den BDS geworben wird oder Ziele des BDS vertreten werden. Und wenn Sie mir diesen persönlichen Satz erlauben: Das Ausgrenzen gerade von Künstlerinnen und Künstlern durch den BDS, durch Boykott und silent boycott, durch Drohungen und oft genug auch durch Gewalt hat in den letzten Jahren erschreckend zugenommen. Wer Menschen boykottiert, weil sie jüdische Israelis oder weil sie Jüdinnen und Juden sind, der handelt antisemitisch, und das darf nicht hingenommen werden. Und noch ein zweites, und auch hier haben wir schon gemeinsam mit Ihnen die Weichen gestellt: Gerade weil es schwierige, schmerzhafte und gewagte Prozesse sind, wenn Traumata auf Traumata prallen, wenn wir die schwierigen Fragen unserer Gesellschaft erörtern und erleben wollen, brauchen wir gute Prozesse. Sie schützen die Institutionen davor, ratlos vor Konflikten und hilflos vor Anfeindungen zu stehen. Deswegen begrüße ich es ausdrücklich, dass Sie sich, lieber Bonaventure, mit uns auf den Weg gemacht haben, einen code of conduct für ihr Haus zu entwickeln und darüber in den Gremien zu beraten. Meine Damen und Herren, so viel Politik muss sein, wenn es um das Haus geht, das offen steht für die Kulturen der Welt, und deswegen möchte ich noch eine Einladung überbringen: Wir müssen den Ländern des Globalen Südens zuhören. Wir wollen ihre Kunst hier zeigen und ihre Künstlerinnen und Künstler willkommen heißen. Wir müssen herauskommen aus einer Welt, in der sie die Erfahrungen gemacht haben, dass wir es mit unseren eigenen Werten nicht ehrlich meinen und mit zweierlei Maß messen. Wir werden nicht immer zustimmen, aber wir wollen diesen Dialog führen in der gemeinsamen Sorge um die eine Welt. Ihr Haus, Sie selbst, lieber Bonaventure, Ihr wunderbares Team, das sich mit Ihnen gemeinsam auf den Weg gemacht hat, sind unsere Hoffnung, dass dieser Dialog gelingen möge. Ich wünsche dem Haus der Kulturen der Welt, die Kulturen der Welt. Und ich wünsche uns frohe und traurige, graue und bunte, zornige und zärtliche Kunst. Lassen Sie Ihre Herzen tanzen. Und Ihnen allen den Segen, die blessings von Theresia Lum Soh!
In ihrer Rede begrüßte die Kulturstaatsministerin den neuen Intendanten Bonaventure Ndikung. Roth unterstrich die Bedeutung verschiedener Lebenswirklichkeiten in kulturellen Einrichtungen. Nur dann könnten diese „zu den Praxislaboren eines modernen Deutschlands, eines Einwanderungs- und Erinnerungslandes werden.“
Rede von Kulturstaatsminsterin Roth anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Solingen 93“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-solingen-93-2193498
Mon, 29 May 2023 00:00:00 +0200
Kulturstaatsministerin
„Bırakın arkadaş olalım!“– „Lasst uns Freunde sein!“ Ich weiß nicht, welcher Satz mir in meinem langen Politikerinnenleben mehr Respekt, mehr Hochachtung abverlangt hat. Mevlüde Genç hat ihn wenige Tage nach dem Anschlag gesagt, den sie selbst nur knapp überlebte, der zwei ihrer Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte tötete, Gürsün Ince und Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç. Wir geben den Opfern einen Namen. Die feige Tat hat auch ihrem Sohn, Bekir, das Leben genommen, das er als gesunder Mann hätte führen können. Er überlebte den Anschlag am 29. Mai 1993 schwer verletzt. Es gab in der Bundesrepublik vor den Morden in Solingen schreckliche Anschläge, das Oktoberfest-Attentat 1980, 1992 in Mölln oder auch den schrecklichen Brandanschlag auf das Altenheim der Israelitischen Kultusgemeinde mit sieben Toten in München 1970. Jahrelang zog der NSU–Nationalsozialistischer Untergrund mordend und marodierend durch Deutschland, eine Terrorzelle, die über die Jahre mindestens zehn Menschen getötet hat, wobei die Akte zu diesen Morden bis zum Auffliegen der Zelle mit Bezeichnung „Mordserie Bosporus“ geführt wurde; wieder wurden die Opfer, die Angehörigen verletzt und mit einem Generalverdacht belegt. Es folgten die grauenhaften Anschläge von Halle und Hanau. Wo war unsere Trauer, unser Mitgefühl? Wir haben die Mörder nicht aufgehalten. Es ist beschämend, sich das eingestehen zu müssen. Es beschämt mich. Und wenn sich doch etwas verändert hat in dieser Republik, dann durch diesen Satz, den Ihre Mutter, liebe Familie Genc, vor dreißig Jahren sagte: „Bırakın arkadaş olalım!“ – „Lasst uns Freunde sein!“ Dieser Satz zeugt von einer bewundernswerten menschlichen Größe. „Lasst uns Freunde sein!“ ist der Satz eines Menschen, einer Frau, einer Mutter, Großmutter und Tante, der so vielen Politikerinnen und Politikern gut zu Gesicht gestanden hätte. Es ist von einer Größe, die beschämend ist für alle, die vor dreißig Jahren in Spitzenpositionen des Staates waren, die die Bundesregierung geführt haben, aber der Trauerfeier fernblieben, um angeblich keinem „Beileidstourismus“ Vorschub zu leisten. Vor 30 Jahren saß ich hier in Solingen neben dem türkischen Botschafter. Ich kann mich immer noch sehr lebendig an die leer gebliebenen vorderen Plätze bei der Trauerveranstaltung in Solingen erinnern. Ich kann mich an die Worte erinnern, die terroristische Taten versucht haben zu relativieren mit dem Gerede von „Missbrauch des Asylrechts“, von „unkontrolliertem Zustrom“. Der Schmerz an diesem Tag, der Schmerz der Angehörigen, über das Unfassbare, er war überwältigend. Und es war eine Distanz zu spüren zwischen dem deutschen Staat und den Opfern, die ja auch seine Opfer waren. Der Staat verweigerte den Opfern Empathie und die Sicherheit, dazu zu gehören. Das wirkt bis heute nach. Es hat sich viel verändert. Aber: Wir sind heute wieder konfrontiert mit einer offen rassistischen, in Teilen rechtsradikalen Partei im Bundestag, die keine Probleme damit hat, Menschen rassistisch anzugreifen und rassistischen und antisemitischen Terror, Hass und Gewalt zu rechtfertigen. Doch auch der Widerspruch gegen die Demokratiefeinde und Rechtsstaatsverächter, er ist da und er ist stark. Das sieht man auch hier in Solingen an dem großen zivilgesellschaftlichen Engagement. Eine Demokratie, die angegriffen wird, ist deshalb noch nicht mit dem Tod bedroht. Eine Demokratie, die attackiert wird, ist auch wehrhaft. Und das ist unsere Aufgabe: Sie zu verteidigen, sie zu beschützen, sie zu verstärken gegen jede Form von Rassismus und Antisemitismus. Und für eine Gesellschaft arbeiten, die ihre Vielfalt nicht ergeben hinnimmt und sie nicht als Bedrohung wahrnimmt, sondern als Gewinn begreift, die friedlich zusammenleben will. Nur so wird der Wunsch Mevlüde Genç‘ „Lasst uns Freunde sein!“ Realität werden. Vielfalt als Gewinn zu begreifen, ihre kreativen Potenziale anzuerkennen und sie entfalten zu lassen, heißt sich zu öffnen, so wie dieses Museum sich Künstlerinnen und Künstlern öffnet, die verfolgt werden oder sich mit Verfolgung auseinandersetzen. Und, nein: Vielfalt heißt nicht Beliebigkeit. Wer sie will und wer sie begrüßt, will auch die Reibung, will auch die Differenz. Wo es keine Abweichung, keinen Widerspruch und keine Differenz mehr geben darf, stirbt die Kunst. Und mit ihr im schlimmsten Fall der Künstler beziehungsweise die Künstlerin, wie das Beispiel Maksym Jewhenowytsch Lewins zeigt, dessen Fotografien hier im vergangenen Jahr ausgestellt waren. Er dokumentierte den Krieg in der Ukraine seit 2014 und starb im April 2022 – mutmaßlich erschossen von einem russischen Soldaten. Mit der Ausstellung Solingen 93 zeigt das Zentrum für verfolgte Künste zum 30. Jahrestag des Brandanschlags noch einmal, was der Satz Mevlüde Genç‘ bedeutet: Die Porträts der Künstlerin Beata Stankiewicz zeigen die Familie Genç, sie zeigen, dass und wie der Anschlag das Leben dieser Menschen zerstören sollte. Und sie zeigen, wie er die Überlebenden gezeichnet hat. Sie zeigen uns, dass uns die Opfer rassistischer Anschläge brauchen, dass wir in der Verantwortung stehen. Rechtsextremistische und rassistisch motivierte Anschläge, wie dieser sind bittere Realität in Deutschland. Ihre Keimzelle, der Rassismus, ist kein Phänomen der Extreme, das nur von außen auf uns einwirkt. Er zieht sich quer durch unser Land, durch unsere Geschichte, unsere Mitte und unseren Alltag. Dem Angriff auf die Menschlichkeit folgt der Angriff auf den Menschen. Rechtsextremismus, Rassismus, Muslimfeindlichkeit und Antisemitismus sind eine Bedrohung, für unsere Sicherheit, für unsere Demokratie, für unsere Gesellschaft. Wir Demokratinnen und Demokraten können dieser Bedrohung entgegentreten. Wir können die Stimme erheben und die Demokratie verteidigen. Es muss uns bewusst sein, dass das eine Daueraufgabe bleibt. So lange wir in einer Demokratie leben wollen, sind wir es, die für ihre Wehrhaftigkeit verantwortlich sind. Dazu gehört, zu unseren Fehlern und Versäumnissen zu stehen, zu zeigen, wann und wo wir gescheitert sind. Vor dreißig Jahren sind wir hier in Solingen gescheitert. Daran zu erinnern, sind wir den Opfern schuldig. Aber auch uns selbst. Indem wir an die Tat erinnern, erinnern wir uns alle daran, dass es unsere Aufgabe ist, Täterinnen und Tätern entgegenzutreten und sie an ihrem Tun zu hindern. Was hier in Solingen und andernorts in Deutschland geschah, muss in uns im Gedächtnis bleiben, wir müssen uns erinnern. Nicht nur an die Täterinnen und Täter, sondern vor allem an die Opfer, an die Betroffenen, an die Angehörigen. Sie sind es, die uns brauchen. Ihnen müssen wir zur Seite stehen – sehr viel länger als nur drei Jahrzehnte. Sie sollen spüren, dass ihr Schmerz auch unser Schmerz ist. Dass ihre Trauer auch unsere Trauer ist. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen, ihre Verletzungen, Wünsche und Bedürfnisse, ihre Perspektiven gilt es wahrzunehmen, stärker als bisher. Das meinen wir, wenn wir von Erinnerungskultur sprechen. Die Mahnung der Holocaust-Überlebenden und im Juni 2021 verstorbenen Esther Bejarano kann uns dabei als Leitschnur dienen: „Wir alle haben die Pflicht, Verantwortung zu übernehmen, solidarisch mit den Opfern rassistischer Gewalt zu sein und ihnen zur Seite zu stehen, zuzuhören und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie nie wieder alleine sein werden.“ In der Konsequenz bedeutet das für uns: Solingen wird Teil unserer lebendigen und zur Demokratie mahnenden Erinnerungspolitik werden und bleiben.
Am 30. Jahrestag des rassistischen Brandanschlags von Solingen hat Kulturstaatsministerin Roth im Solinger Zentrum für verfolgte Künste eine Ausstellung eröffnet, die sich anhand der Geschichte der Familie Genç mit rassistischer Gewalt und dem Umgang mit ihr in der jüngeren deutschen Geschichte auseinandersetzt. „Solingen wird Teil unserer lebendigen und zur Demokratie mahnenden Erinnerungspolitik werden und bleiben“, betonte die Staatsministerin.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des 25-jährigen EZB-Jubiläums am 24. Mai 2023 in Frankfurt am Main
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-25-jaehrigen-ezb-jubilaeums-am-24-mai-2023-in-frankfurt-am-main-2192894
Wed, 24 May 2023 00:00:00 +0200
Frankfurt am Main
Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Christine, Exzellenzen, sehr geehrte Präsidentinnen und Präsidenten, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Mitarbeitende der EZB, liebe Freundinnen und Freunde, meine Damen und Herren, kurz nach meiner Amtseinführung als Finanzminister habe ich zum ersten Mal die EZB-Türme besucht. Mir war es wichtig, damals gleich zu Beginn meiner Amtszeit hierher nach Frankfurt zu kommen. Weil die EZB die Garantin unserer gemeinsamen Währung ist. Weil Europa mit dem Euro für uns alle im Alltag konkrete Realität geworden ist. Und weil Europas großer Binnenmarkt von einer der größten Währungen der Welt ergänzt wird, die uns auf globaler Ebene zunehmend Stärke verleiht. Und der Euroraum wächst weiter: Ich freue mich, dass Anfang des Jahres Kroatien unserer Währungsunion beigetreten und damit zum 20. Mitglied unserer Euro-Familie geworden ist. Auch andere Länder verfolgen dieses Ziel, und ich bin zuversichtlich, dass in Zukunft noch weitere Länder folgen werden. Letztlich hat sich der Euro als eines der erfolgreichsten Projekte der europäischen Integration erwiesen. Hinter dieser leicht lakonischen Feststellung verbirgt sich eine gewaltige Menge harter Arbeit. Arbeit, die hier bei der EZB geleistet wird, aber auch in Brüssel und in all unseren Mitgliedstaaten. Unsere gemeinsame Währung wurde wiederholt auf die Probe gestellt – manchmal sogar unser entschiedenes Bekenntnis zum Euroraum selbst. Ob Finanzkrise, Staatsschuldenkrise, COVID-19-Pandemie oder die wirtschaftlichen Auswirkungen von Russlands Krieg gegen die Ukraine – für nichts davon gab es vorgefertigte Lösungsansätze. Deshalb ist es umso bemerkenswerter, dass wir heute eines ganz klar festhalten können: Der Euroraum ist in der Lage, seine Währung gegenüber allen Herausforderungen zu verteidigen. Der Euro ist unumkehrbar. Die EZB hat dabei eine einzigartige Rolle gespielt. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie, lieber Jean-Claude Trichet, lieber Mario Draghi, liebe Christine Lagarde, unsere Währung geschützt haben. Unser Dank gilt natürlich auch Wim Duisenberg, der leider viel zu früh von uns gegangen ist. Sie haben in den letzten 25 Jahren unsere Geldpolitik geleitet und geprägt. Und als es darauf ankam, haben Ihre Worte und Taten entscheidende Wirkung entfaltet. Als viele befürchtet oder gar darauf gesetzt haben, dass die Eurozone auseinanderbrechen würde, blieb die EZB ihrem Mandat treu. Und es genügten ein paar Worte von Ihnen, lieber Mario, um die Märkte zu beruhigen: „Whatever it takes.“ Ich glaube, dass diese Worte nicht nur die Märkte beruhigt haben, ich bin auch überzeugt, dass sie in die Geschichtsbücher eingehen werden. Und Sie, liebe Christine, sagten während der COVID-19-Pandemie, dass außergewöhnliche Zeiten außerordentliche Maßnahmen erfordern. Die Grundlage und der Handlungsspielraum hierfür werden klar durch die Zuständigkeit und das Mandat der EZB definiert. In diesen entscheidenden Momenten hat Ihre Führungsstärke dafür gesorgt, dass die Welt Vertrauen in unsere gemeinsame Währung hatte. Die EZB wurde 1998 als eine starke und unabhängige Zentralbank gegründet und mit einem klaren Mandat ausgestattet: die Preisstabilität im Euroraum zu gewährleisten. Und nach den ersten 25 Jahren können wir sagen, dass unsere gemeinsame Währung in der Tat attraktiv, sicher und stabil ist. Auch als es nötig wurde, eine gemeinsame Bankenaufsicht für große Finanzinstitutionen zu schaffen, war die EZB zur Stelle: Bei ihr wurde der neue einheitliche Aufsichtsmechanismus angesiedelt und in Rekordzeit aufgebaut. Wir können mit Sicherheit sagen: Die EZB ist ein Anker der Stabilität in der Eurozone. Oder, wie es in dem Video so schön heißt: Stabilität ist euer Ding. Das gibt unseren Bürgerinnen und Bürgern Sicherheit, auch in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist in erster Linie eine Katastrophe für die tapferen Ukrainerinnen und Ukrainer. Doch er stellt auch unsere Länder auf bisher beispiellose Art und Weise auf die Probe. Eine Probe, das möchte ich hinzufügen, die wir bisher bestanden haben, weil wir geschlossener als je zuvor zusammenstehen. Letztes Jahr waren die Inflationsraten so hoch wie nie seit Einführung des Euro. Die Folgen sind für die Bürgerinnen und Bürger überall in Europa spürbar. Menschen mit den niedrigsten Einkommen und mit wenigen Ersparnissen trifft es am härtesten. Deshalb ist es gut zu wissen, dass, auch während wir hier heute Abend dieses Jubiläum feiern, die EZB unablässig daran arbeitet, die Inflation zu bekämpfen. Ich unterstütze diese Bemühungen voll und ganz – falls ich das mit allem gebührlichen Respekt für die Unabhängigkeit der EZB so sagen darf. Diese Unabhängigkeit ist von entscheidender Bedeutung für eine stabile und glaubwürdige Geldpolitik. Denn letztlich hängt der Wert einer Währung zu einem Großteil von Vertrauen ab. Vertrauen in die Institutionen, die für diese Währung verantwortlich sind. Ohne Vertrauen haben weder Papiergeld noch elektronisches Geld einen echten Wert. Das heißt nicht, dass Stabilität und Vertrauen dem Fortschritt im Wege stünden – ganz im Gegenteil. Die Arbeit an einem digitalen Euro ist ein ehrgeiziges und zukunftsorientiertes Projekt, das die europäische Souveränität stärken wird. Damit sein volles Potenzial zum Tragen kommt, sollten wir dafür sorgen, dass er so breit wie möglich von Privat- und Geschäftskunden genutzt werden kann. Für eine Stärkung der Eurozone sind auch Fortschritte bei wichtigen Gesetzgebungsvorhaben nötig. Als Mitgliedstaat der Europäischen Union müssen wir hierzu unseren Beitrag leisten. Die Vollendung der Kapitalmarktunion ist unabdingbar, um die größte Herausforderung anzugehen, die vor uns liegt: den Übergang unserer Volkswirtschaften und unserer Gesellschaften zur Klimaneutralität. Darüber hinaus, und das habe ich bereits in meiner Zeit als Finanzminister betont, besteht die offensichtliche Notwendigkeit, unsere Arbeit an der Bankenunion fortzusetzen. Dabei streben wir gezielte und wirksame Verbesserungen an, wobei wir auf bewährten Lösungen aufbauen, die in den Mitgliedstaaten bereits Anwendung finden. Und, meine Damen und Herren, wir leisten unseren Beitrag auch, wenn es darum geht, die Arbeit der EZB bei der Umsetzung ihres zentralen Mandats zu unterstützen. Genauso wie es richtig war, dass alle EU-Mitgliedstaaten während der Corona-Pandemie eine expansive Fiskalpolitik betrieben haben – denken wir nur an unsere wegweisende Einigung auf Next Generation EU –, genauso notwendig ist es jetzt, unsere Fiskalpolitik erneut anzupassen und darauf zu achten, den Inflationsdruck zu begrenzen. In diesem Sinne müssen wir mit der EZB bei der Inflationsbekämpfung zusammenarbeiten. Ich möchte nicht zuletzt auch unterstreichen, meine Damen und Herren, dass wir stolz sind, das Land zu sein, in dem die EZB ihren Sitz hat. 5000 Angestellte aus ganz Europa sind für die EZB und die europäische Bankenaufsicht tätig. Der Anteil der Frauen unter ihnen nimmt übrigens stetig zu. Und ich gehe stark davon aus, dass das, liebe Christine, auch mit Ihrer Arbeit und Ihrer Rolle als Wegbereiterin für Gleichberechtigung zu tun hat. Als Sie 2019 Präsidentin wurden, haben Sie damit nicht nur die unsichtbaren Barrieren gesprengt, die den Aufstieg von Frauen oft erschweren. Sie haben auch ganz konkret den Bürgerinnen und Bürgern Frankfurts die Türen der EZB geöffnet – und zwar im Rahmen der diesjährigen Nacht der Museen. Die EZB stärkt auch Frankfurts Rolle als wichtiges Finanzzentrum Europas. Und vielleicht gibt es noch mehr Möglichkeiten, um diese Rolle zu stärken. Nach dem Brexit verzeichnete Frankfurt mit Abstand die höchste Anzahl an Anträgen auf die Erteilung neuer Lizenzen für Banken und andere Finanzdienstleister. Es ist daher nur fair zu sagen, dass Ihre Präsenz, die Präsenz der EZB in Frankfurt, die Stadt prägt, genauso wie der Euro die Europäische Union prägt, nämlich positiv. Und, wie ich schon gesagt habe, wird es vielleicht auch neue Institutionen hier geben. Mit Blick auf die Zukunft hoffe ich, dass die EZB weiterhin ein Anker der Stabilität, ein Leuchtfeuer der Unabhängigkeit und des Vertrauens sowie Wegbereiterin des Fortschritts sein wird, so, wie wir sie kennen. Ich danke Ihnen für Ihre harte Arbeit und Ihr Engagement in den letzten 25 Jahren! Ein Engagement, das Sie, lieber Jean-Claude, damals bei der Entgegennahme des Karlspreises eingefordert haben, als Sie sagten: „Jede Generation muss sich von neuem für Europa engagieren.“ Dem kann ich nur voll und ganz zustimmen. Lassen Sie uns also heute unser Bekenntnis zu Europa erneuern, indem wir uns erneut zum Euro bekennen. Damit Wohlstand, Einheit und Stabilität unserer Europäischen Union gewahrt bleiben. Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum!
(übersetzte Version; gehalten auf englisch)
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Hauptversammlung des Deutschen Städtetages am 24. Mai 2023 in Köln
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-hauptversammlung-des-deutschen-staedtetages-am-24-mai-2023-in-koeln-2192744
Wed, 24 May 2023 00:00:00 +0200
Köln
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Lewe, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Jung, sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Reker, meine Damen und Herren. Wie passend, dass wir uns heute in Köln treffen. Schon aus der Geschichte heraus ist Köln eine starke und selbstbewusste Stadt und dieses Selbstbewusstsein finde ich gut, nicht nur, weil ich ja selbst einmal Bürgermeister einer Freien und Hansestadt war. Wir brauchen selbstbewusste, starke Städte und Kommunen, wenn wir gemeinsam neue Wege wagen, so, wie Sie es auch bei diesem Städtetag sich vornehmen. Das ist dringend nötig, denn vor uns liegen große Aufgaben. Als politisch Verantwortliche haben wir alle dafür zu sorgen, dass unser Land auch weiterhin zurecht kommt mit den Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, auch hier bei uns. Wir sind dabei, unser Land sicher zu verankern in einer geopolitisch veränderten multipolaren Welt, Diversifizierung lautet hier das Schlagwort für die Wirtschaft, aber auch in politischen Beziehungen. Und als wäre all das noch nicht genug, kommt noch eine Generationenaufgabe hinzu, Deutschland vorzubereiten auf den wohl größten Umbruch und Aufbruch seit der ersten industriellen Revolution: Unseren Weg in die klimaneutrale Zukunft. Umso wichtiger ist es, dass wir tatsächlich gemeinsam neue Wege wagen und so möchte ich heute gern einige Gedanken zu Ihrem Motto mit Ihnen teilen: Da ist erstens das Wort ‚gemeinsam’. Gemeinsam haben wir in den vergangenen Monaten viel bewegt. Als Russland im vergangenen Herbst seine Gaslieferung abgestellt hat, da haben wir in nicht einmal acht Monaten neue Flüssiggasterminals installiert und Leitungen gebaut. Betriebe haben ihre Energieversorgung umgestellt. Wir alle haben Energie eingespart. Das alles wäre nicht möglich gewesen ohne blitzschnelle Genehmigungen und Verordnungen der Kommunen, ohne die große Flexibilität und Kreativität ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ohne ein reibungsloses Hand-in-Hand-Arbeiten von Bund, Länder, Städten und Gemeinden – dafür sage ich heute ganz herzlichen Dank. Gemeinsam haben wir auch an den drei Entlastungspaketen gearbeitet, die wir aufgelegt haben, um die Härten der gestiegenen Energiekosten abzufedern. Die kommunalen Versorgungsunternehmen waren uns dabei ein ganz wichtiger Ratgeber, nah an der Praxis. Und so ist es ein gemeinsamer Verdienst, dass diese Entlastungspakete wirken, dass die Preise gesunken sind und heute sogar unter dem Niveau vor dem russischen Angriffskrieg liegen. Und noch etwas haben wir gemeinsam hinbekommen: Über eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer, Frauen, Männer und Kinder sind seit dem 24. Februar 22 vor Russlands Bomben und Raketen, vor Tod, Leid und Zerstörung hierher zu uns geflohen. Sie aufzunehmen war und bleibt ein Gebot der Menschlichkeit. Zugleich liegt darin eine große beeindruckende Kraftanstrengung unseres ganzen Landes. Alle, die daran beteiligt sind, unzählige ehrenamtliche Bürgerinnen und Bürger, die Ukrainerinnen und Ukrainer bei sich aufgenommen haben, Landräte, Bürgermeisterinnen, Kämmerer, Ratsfrauen und Ratsmänner, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihren Stadtverwaltungen, in Schulen und Kitas, im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, in Ministerien, in Bund und Ländern leisten außerordentliches. Sie alle verdienen unsere größte Hochachtung und Unterstützung. Um das ganz klar zu sagen: Der Bund leistet seinen Teil dieser Unterstützung, übrigens auch in vielen Bereich, in dem gemäß unserer föderalen Ordnung die Länder und Kommunen unmittelbar zuständig sind. Das ist Ausdruck föderaler Solidarität. Mit 15,6 Milliarden Euro unterstützt der Bund Länder und Kommunen allein in diesem Jahr bei der Aufnahme, Unterbringung, Versorgung von Flüchtlingen und deren Integration. Das ist erheblich mehr, als der Bund zum Beispiel 2015 und 16 beigetragen hat, als ganz besonders viele von außerhalb Europas nach Deutschland kamen. Allein dadurch, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer praktisch von Kriegsbeginn an Bürgergeld beziehen, werden Länder und Kommunen in diesem Jahr um 5 Milliarden Euro durch den Bund entlastet – ohnehin übernimmt der Bund seit 2020 einen deutlich höheren Anteil an den Unterbringungskosten. Doch wir dürfen unseren Umgang mit Fluchtmigration eben nicht auf finanzielle Fragen reduzieren, denn wer das tut, der spielt denen in die Hände, die mit dem Feuer des Ressentiments zündeln. Es geht darum, Migration zu steuern und zu ordnen. Nur wenn uns das gelingt, entlasten wir unsere Kommunen dauerhaft und nachhaltig. Deshalb habe ich gegenüber dem Ministerpräsidenten und Ministerpräsidenten am 10. Mai so nachdrücklich darauf gedrungen, dass wir endlich vorankommen bei der Digitalisierung der Ausländerbehörden in Ländern und Kommunen und nicht mehr Aktenberge einscannen und von A nach B schicken. Auch dem dient die zusätzliche Milliarde des Bundes, auf die wir uns bei der Ministerpräsidentenkonferenz geeinigt haben. Dafür wird es höchste Zeit. Fast 10 Jahre nach 2015 und angesichts von hunderttausend Asylanträgen allein in den ersten vier Monaten diesen Jahres. Gleiches gilt für die Beschleunigung von Asylverfahren in unseren Behörden und Gerichten. Mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten haben wir auch über Rückführung geredet, denn klar ist, wer hier kein Bleiberecht hat, der muss Deutschland auch wieder verlassen. Auf welche Hürden das in der Praxis stößt, muss ich Ihnen nicht sagen. Doch auch hier kommen wir nur weiter, wenn Bund, Länder und Kommunen Hand-in-Hand arbeiten. Das heißt zum Beispiel, die zuständigen Behörden müssen rund um die Uhr erreichbar sein, etwa wenn die Polizei nachts ausreisepflichtige Straftäter aufgreift. Der Bund jedenfalls tut seinen Teil, um voranzukommen, zum Beispiel indem wir den Ausreisegewahrsam nun noch mal verlängern. Auch auf europäischer Ebene haben wir zuletzt Fortschritte gemacht bei der Reform des gemeinsamen Asylsystems. Dabei geht es um die bessere Kontrolle und Registrierung, auf die wir uns nach schwierigen Verhandlungen im Rat verständigt haben und die nun mit dem Europäischen Parlament und der Kommission verhandelt werden und ich dränge darauf, dass wir diese Reform bis zur Europawahl abschließen. Dazu gehört auch eine bessere physische Sicherung der Außengrenzen; auch darauf haben wir uns als Staats- und Regierungschefs inzwischen verständigt, denn es ist doch ein bisschen scheinheilig einerseits zu beklagen, dass sich viele irreguläre Migranten auf die gefährliche Mittelmeer- oder West-Balkan-Route begeben, dann aber andererseits den Ländern, die ihre Grenzen besser sicher wollen, Unterstützung zu versagen. Auch dabei sollten wir immer realistisch bleiben: Mauern, Zäune und auch kein Asylverfahren an der Außengrenze werden das alleinige Allheilmittel sein, um ein globales Phänomen wie Migration von Flüchtlingen regulär zu gestalten. Das zentrale Element für eine bessere Steuerung von Migration ist ein anderes: Neue Migrationspartnerschaften mit Ländern weltweit und daran arbeiten wir mit Hochdruck. Unser Angebot ist klar und es ist fair. Die Migrationspartnerstaaten verpflichten sich dazu, diejenigen zurückzunehmen, die hier kein Bleiberecht haben. Im Gegenzug bieten wir ihnen an, dass Menschen, die entsprechend qualifiziert sind, hierherkommen können und hier legal arbeiten können, denn wir brauchen mehr Fachkräfte. Wir sind ein wachsendes Land und wollen mehr Innovation, mehr erneuerbare Energien, mehr Infrastruktur, mehr Mobilität, mehr Klimaschutz. Um all diese Ziele zu erreichen, braucht Deutschland bis zum Beginn der 30er Jahre sechs Millionen Frauen und Männer in den Krankenhäusern und Pflegeheimen, in unseren Schulen und Kitas und natürlich auch in unseren Verwaltungen, wo all die Windräder, Energieleitung, Bau- und Modernisierungsvorhaben ja geplant und genehmigt werden sollen und selbstverständlich bei den Handwerkerinnen und Handwerkern in unserem Land und in den Fabriken. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz schaffen wir deshalb gerade eine der fortschrittlichsten Regelungen weltweit, damit talentierte, motivierte und qualifizierte Frauen und Männer sich hier bei uns in Deutschland einbringen. Eins ist doch klar: Die Akzeptanz für die Zuwanderung von Fachkräften, die wir so dringend brauchen, steht und fällt damit, dass es uns gelingt, unsere Regeln effizient durchzusetzen. Auch hier sind wir alle gefordert – gemeinsam – meine Damen und Herren. Nur eins sollten wir eben nicht tun: Mit Ressentiment spielen, denn das zahlt nur denjenigen ein, die Angst schüren und daraus politisches Kapital schlagen. Ich habe nun schon einiges dazu gesagt, welche neuen Wege wir in der Asyl- und in der Migrationspolitik gehen und wie wir das Fachkräfteproblem lösen wollen: Neue Wege wagen, das müssen wir alle aber auch, wenn es um die große Zukunftsaufgabe geht, vor der wir als Land, vor der die ganze Welt steht. Wir wollen, wir müssen klimaneutral werden, um künftigen Generationen einen lebenswerten Planeten zu hinterlassen. Für Deutschland haben wir klare Ziele: Bis 2045 wollen wir klimaneutral werden und zugleich ein führendes Industrieland bleiben. Schon 2030 sollen 80% unseres Stroms aus erneuerbaren Energien kommen. Doch wir alle merken, es reicht nicht, diese Ziele nur zu beschreiben. Deshalb haben wir unsere Expertinnen und Experten durchrechnen lassen, was dafür ganz konkret zu tun ist. Vier bis fünf neue Windräder an Land müssen wir bauen, wohlgemerkt pro Tag. 53 Fußballplätze Photovoltaikanlagen müssen hinzukommen, ebenfalls pro Tag. Dazu Leitungen, Speicheranlagen, Elektrolyseure usw. Das ist machbar, davon bin ich überzeugt. Denken wir daran, wie schnell wir LNG-Terminals ans Netz bekommen haben. Aber so, wie bei den LNG-Terminals braucht es auch dafür einen gemeinsamen Kraftakt auf allen Ebenen unseres Landes. Neue Wege wagen, das heißt, klimafreundliche Mobilität in unseren Städten zu ermöglichen. Als Bundesregierung haben wir gerade einen enormen Ausbau der Ladeinfrastruktur beschlossen, um 2030 wirklich 15 Millionen E-Autos auf unseren Straßen haben zu können. Die Ladesäulen müssen gebaut und genehmigt werden und da sind die Kommunen mit einer großen Aufgabe herausgefordert. Wir beseitigen Engpässe auf unseren Straßen, modernisieren unsere Brücken und schaffen ein leistungsfähiges Schienennetz und das neue Deutschlandticket ist für mich ein Beleg dafür, was wir gemeinsam schaffen können, wenn wir Neues wagen. Rund sieben Millionen Menschen haben inzwischen ein Abo abgeschlossen, darunter zwei Millionen Neukunden. Was für ein Erfolg für unsere Klimaziele und für den öffentlichen Nahverkehr. Neue Wege wagen, das heißt, den Ausbau der erneuerbaren Energien Vorrang einzuräumen, auch in unseren Gesetzen so, wie wir das jetzt getan haben. Dann müssen unsere Behörden aber auch entsprechend handeln und Genehmigungen schneller erteilen. Neue Wege wagen, das heißt, den Kommunen mehr Spielraum zu geben, zum Beispiel beim Ausbau von Windkraftanlagen und bei der Ausweisung neuer Flächen. Das haben wir möglich gemacht. Zugleich stellen wir sicher, dass die Kommunen, dass die Bürgerinnen und Bürger dann auch finanziell stärker profitieren von günstig produzierten Strom aus Wind, Sonne und Biomasse, Erdwärme oder anderen erneuerbaren Quellen. Neue Wege wagen werden wir auch bei der Wärmewende. Länder und Kommunen kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Deshalb stimme ich Ihnen vollkommen zu, Herr Oberbürgermeister Lewe, wir müssen unsere Instrumente miteinander verzahnen. Deshalb arbeitet die Bundesregierung gerade an einem Gesetz zur kommunalen Wärmeversorgung, um dieses wichtige Planungselement bundesweit zu etablieren und einfacher handhabbar zu machen. Deshalb fördern wir bis 2026 effiziente Wärmenetze im ganzen Land mit rund drei Milliarden Euro. Neue Wege wagen, das heißt, mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Der sprunghafte Anstieg bei den Bauzinsen macht das – wie wir alle wissen – nicht leichter. Aber das sollten wir nicht vergessen, in Deutschland wurde Anfang der 70er Jahre schon einmal 800.000 Wohnungen pro Jahr gebaut und damals lagen die Bauzinsen, der Effektivzins rund um 9%. Der Bund tut, was er kann, um die Investitionsbedingungen zu verbessern, durch mehr Mittel für sozialen Wohnungsbau und die Eigentumsförderung, durch höhere Abschreibungsmöglichkeiten, durch die Förderung klimafreundlicher Gebäude. Aber auch das ist klar, Fördergeld vom Bund reicht nicht aus. Wir brauchen private Investoren. Wir brauchen auch hier die Länder und Kommunen, die Bauland ausweisen, kostentreibende Bauvorschriften überprüfen, digitale Bauanträge möglich machen und serielles und modularen Bauen fördern. Neue Wege wagen, das heißt, die Digitalisierung unserer Städte und Gemeinden voranzutreiben. Bis Ende 2025 wollen wir die Hälfte aller Haushalte und Unternehmen an das Glasfasernetz anschließen. Das ist natürlich zunächst einmal Aufgabe der Unternehmen, die Netze betreiben. Aber wo sich der Aufbau unter rein wirtschaftlichen Aspekten nicht lohnt, da helfen wir mit staatlicher Förderung nach. Neue Wege wagen, das heißt nicht zuletzt auch, Bürokratie abzubauen, schneller zu werden, Bürgernähe, serviceorientierter. Der Bund hat deshalb mit der Arbeit an einem Bürokratieentlastungsgesetz begonnen und damit es nicht einfach nur eins wie die vorherigen wird, auch die Expertise des Deutschen Städtetages und andere Verbände eingeholt. Völlig klar ist: Neue Regeln müssen Prozesse einfacher und schneller machen, nicht kompliziert sein. Deutschlandgeschwindigkeit braucht es nicht nur beim Bau und der Genehmigung von Flüssiggasterminals, sondern überall in der Verwaltung, gerade auch in unseren Kommunen. Deshalb beraten Bund und Länder gerade über die Beschleunigung von Planungs-, Genehmigungs- und Umsetzungsverfahren. Ziel ist, sagen wir es mal so, ein ‚Deutschland mach Tempo-Pakt’ zwischen Bund, Ländern und Gemeinden in diesem Jahr. Neue Wege wagen, das können natürlich nur Kommunen, denen die Schulden nicht bis zum Hals stehen. Deshalb gehen wir auch das Problem der kommunalen Altschulden an; sie kennen unsere Bereitschaft, da eine Lösung zu finden. Gerade jetzt reden wir mit allen Seiten, wie wir die nötige Mehrheit für die Änderung des Grundgesetzes erreichen können. Denn wie unser Staat von den Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen wird, das entscheidet sich zu einem erheblichen Teil vor Ort, in unseren 12.000 Städten und Gemeinden, ob es gut begeh- und befahrbare Straßen gibt, Kita-Plätze und bezahlbare Wohnungen im eigenen Viertel, wie schnell man einen Termin bekommt, um den Reisepass noch vor den Sommerferien verlängern zu können, wie lange eine Baugenehmigung dauert, ob abends noch ein Bus oder eine Bahn fährt, wie es in der Schulsporthalle aussieht und im örtlichen Schwimmbad – das sind doch Fragen, die die Bürgerinnen und Bürger zurecht umtreiben und bewegen. Alle diese Fragen haben eines gemeinsam: Sie entscheiden sich in den Gemeinden und Städten unseres Landes. Dass wir gemeinsam überzeugende Antworten darauf liefern können, schnell und pragmatisch, das haben wir in den vergangenen Monaten gemeinsam bewiesen. Deshalb können wir auch voller Zuversicht gemeinsam neue Wege gehen. Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Kongresses des Europäischen Gewerkschaftsbundes am 23. Mai 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-kongresses-des-europaeischen-gewerkschaftsbundes-am-23-mai-2023-2192514
Tue, 23 May 2023 00:00:00 +0200
Berlin
Liebe Esther Lynch, liebe Yasmin Fahimi, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, lieber Herr Wegner, liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute, am 23. Mai, jährt sich hier bei uns in Deutschland der Tag, an dem unser Grundgesetz verkündet wurde ‑ unsere deutsche Verfassung, die Menschenwürde an erster Stelle schützt. Nie wieder ‑ das steht dahinter ‑ soll es bei uns in Deutschland möglich sein, Freiheit, Menschenrechte und Demokratie abzuschaffen! Mit dem Grundgesetz zog die junge Bundesrepublik 1949 die Konsequenz aus der nationalsozialistischen Diktatur ‑ einer Diktatur, die vor 90 Jahren gleich zu Beginn auch die freien Gewerkschaften zerschlagen hatte. Denn die Nationalsozialisten wussten genau: Freie Gewerkschaften sind tragende Säulen einer freien, demokratischen Gesellschaft. Deshalb schützt unsere Verfassung, deshalb schützt auch die Europäische Grundrechtecharta die Sozialpartnerschaft und die Tarifautonomie. Das ist gut und richtig so! Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch ihr feiert einen Geburtstag. Seit 50 Jahren setzt ihr euch für ein sozialeres und für ein gerechteres Europa ein. Ihr habt für die Europäische Grundrechtecharta gekämpft. Ihr habt viele Stunden, Tage, Wochen mit Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern über echte Verbesserungen im Arbeitsalltag von Millionen Bürgerinnen und Bürgern verhandelt. Ihr habt eine Vielzahl an Sozialpartnervereinbarungen abgeschlossen. Ganz aktuell, in dieser Zeit der Digitalisierung, verhandelt ihr über eine Sozialpartnervereinbarung zur mobilen Arbeit. Seit eurer ersten Vereinbarung, die zu einer europäischen Richtlinie wurde, können Eltern europaweit mindestens drei Monate von der Arbeit fernbleiben und sich um ihre kleinen Kinder kümmern. Damit habt ihr euch um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verdient gemacht. Als ihr euch vor 50 Jahren im Maison des huit heures in Brüssel gegründet habt, da wart ihr 17 nationale Gewerkschaften aus 15 europäischen Ländern. Heute seid ihr mehr als fünf Mal so viele Gewerkschaften aus mehr als doppelt so vielen Ländern. Das bedeutet eine ungeheure Vielfalt von nationalen Prägungen, Traditionen und Erfahrungen. Umso beeindruckender ist es, wie es Euch immer wieder gelingt, mit einer Stimme im Interesse der Beschäftigten zu sprechen und gemeinsam für gute Arbeit in Europa zu sorgen. Damit habt ihr nicht nur entscheidend dazu beigetragen, dass Europa zusammenwächst, sondern vor allem auch, dass Europa zusammenhält! Herzlichen Glückwunsch zu 50 Jahren EGB! Heute brauchen wir starke Sozialpartner mehr denn je! Uns allen ist klar: International, europaweit und in jedem einzelnen unserer Länder stehen wir vor enormen Aufgaben. Wir erleben Krisen, die wir uns lange so nicht vorstellen konnten. Aber alle diese Aufgaben, alle diese Krisen werden wir bewältigen ‑ wenn wir zusammenhalten. Europa ist handlungsfähig ‑ wenn wir vereint und solidarisch agieren! Das haben wir in der Covid-19-Pandemie bewiesen: Wir haben schnell und umfassend gehandelt. Wir haben die gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die Bürgerinnen und Bürger gemildert. Wir haben mit dem SURE-Programm bis zu 30 Millionen Bürgerinnen und Bürger vor Arbeitslosigkeit bewahrt. Nebenbei ist das Instrument der Kurzarbeit quasi in ganz Europa zum Erfolgsmodell geworden. Das ist eine wichtige Entwicklung, über die ich mich ganz persönlich freue. Und wir haben mit den Mitteln von Next Generation EU die Konjunktur gemeinsam wieder angekurbelt und unterstützen aus diesen Mitteln auch weiter die Zukunftsfähigkeit der EU. Dann dachten wir alle: Jetzt starten wir richtig durch! Jetzt lösen wir die Staus in den Lieferketten! Jetzt arbeiten wir die vollen Auftragsbücher ab! Jetzt konzentrieren wir alle Kräfte auf den Aufbruch, auf die Transformation unserer Wirtschaft! Aber genau in diesem Moment hat Russland die Ukraine überfallen. Mit seinem furchtbaren Angriffskrieg hat Putin auf einen Schlag den großen Konsens aufgekündigt, den wir in Europa seit Jahrzehnten hatten, der unseren Frieden gesichert hat, dass nie wieder Grenzen mit Gewalt verschoben werden dürfen. Umso mehr unterstützen wir jetzt gemeinsam die Ukraine: humanitär, wirtschaftlich und auch mit Waffen, und vor allem auf Dauer! Bei der Verleihung des Europäischen Karlspreises an Wolodymyr Selensky und das ukrainische Volk haben Ursula von der Leyen und ich ausdrücklich bekräftigt: Die Ukraine gehört zu unserer europäischen Familie, ihre Zukunft liegt in der Europäischen Union, und auf ihrem Weg nach Europa unterstützen wir die Ukraine mit aller Kraft! Dasselbe gilt für die Westbalkanstaaten, für Moldau und perspektivisch auch für Georgien. Dieser Weg folgt einem festgelegten Prozess und bestimmten Regeln, und selbstverständlich müssen die Kandidaten auch die europäischen Sozialstandards übernehmen. Auch für unsere Gesellschaften in Europa brachte Russlands Angriffskrieg neue wirtschaftliche und soziale Herausforderungen, und wiederum haben wir gezeigt, was wir gemeinsam erreichen, wenn wir vereint und solidarisch handeln. Wir haben die Energieversorgung über Ländergrenzen hinweg gesichert, wir haben erfolgreich Arbeitsplätze geschützt und Unternehmen unterstützt. Damit sind in den Krisen der vergangenen Jahre allerdings auch die öffentlichen Schulden gestiegen. Deshalb benötigen wir nun eine Verständigung darüber, wie wir die hohen Schuldenstände wieder abbauen können ‑ ohne die Fehler und Auseinandersetzungen der Vergangenheit zu wiederholen. Die Europäische Kommission hat hierzu Ende April Vorschläge gemacht. Wir brauchen eine realistische und verbindliche Übereinkunft, die die Mitgliedstaaten aber zugleich nicht überfordert. Die Bürgerinnen und Bürger müssen die Gewissheit haben, dass ihr Staat auch in Krisen handlungsfähig ist. Zugleich wollen wir Wachstum und Investitionen möglich machen, damit wir die Transformation unserer Volkswirtschaften meistern. Aber wir stehen in Europa eben auch für fiskalische Stabilität; denn nur so bleiben unsere Haushalte auch in künftigen Krisen handlungsfähig und solidarisch. Die unbegrenzte Steigerung von Schulden wäre da keine gute Antwort. Die Handlungsfähigkeit und die Solidarität, die wir in den aktuellen Krisen in Europa bewiesen haben, müssen wir mit in die Zukunft nehmen; denn unsere Arbeitswelt und unsere Wirtschaft sind im Umbruch. Die Digitalisierung, die Demografie und der Weg in die Klimaneutralität fordern uns alle gemeinsam heraus. Wenn wir Arbeit, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit sichern wollen, dann müssen wir jetzt Tempo machen. Vom neuen Deutschlandtempo habe ich für mein eigenes Land gesprochen ‑ genauso brauchen wir aber auch ein neues Europatempo. Dafür hat die Europäische Kommission den Industrieplan für einen Green Deal vorgelegt. Wir arbeiten an einer europäischen Rohstoffstrategie. Wir sind dabei, unser Beihilferecht flexibler, wettbewerbsfähiger und vor allem schneller zu machen. All das brauchen wir dringend. Denn wenn wir jetzt in Europa die technologischen Innovationen vorantreiben, wenn wir jetzt in den nötigen Aufbruch investieren, wenn wir jetzt mutig auf neue Technologien setzen, dann bleiben wir attraktiv als globale Wirtschaftsregion, dann werden wir Arbeitsplätze mit Zukunft schaffen. Das, Kolleginnen und Kollegen, muss unser Zukunftsplan sein: Dass wir Europa zum Vorreiter machen in dieser neuen industriellen Revolution, die vor uns liegt. Und dass wir so der ganzen Welt ermöglichen, den Wandel hin zur Klimaneutralität zu schaffen ‑ mit unseren Technologien, mit unserem Know-how und mit unseren Maschinen und Produkten. Darum lasst uns Europa zum Vorreiter für saubere Technologien machen! Dabei werden wir unsere sozialen Standards wahren und, wo immer möglich, sogar stärken. Ein Schlüssel dafür, dass wir alle mitnehmen in diesem Wandel, ist die Weiterbildung. Viele Berufsbilder und Wirtschaftsfelder verändern sich. Neue Arbeitsplätze entstehen ‑ in der Chipindustrie, im Handwerk, in Bereichen wie Clean Tech oder Digital Services. Deshalb sollte sich jeder und jede ein ganzes Berufsleben lang für das qualifizieren können, was er oder sie machen möchte. Bei der nötigen Weiterbildung in den Betrieben sind die Gewerkschaften unverzichtbar. Ich bin überzeugt: Wir in Europa können und wir werden eine gute Zukunft haben. Die Transformation, die jetzt vor uns liegt, ist für uns alle eben nicht nur eine Herausforderung, sondern zugleich eine große Chance. Um sie zu nutzen, müssen alle Bürgerinnen und Bürger in Europa die Zuversicht haben können: „Das geht gut aus ‑ für mich selbst, für meine Kinder und für meine Enkel!“. Darum muss jeder und jede Einzelne mit der eigenen Leistung anerkannt werden. Das ist eine Frage des Respekts. Wo es an Respekt fehlt, da leiden auch Zusammenhalt und Zuversicht ‑ und nur mit Zusammenhalt und Zuversicht werden wir die Zukunft gewinnen. Für mich bedeutet das zuerst, dass niemand denken sollte, wegen seines Lebensweges sei er etwas Besseres. Es ist egal, ob jemand IT-Spezialistin ist oder Krankenpfleger, Rechtsanwalt oder Landschaftsgärtnerin. Jede und jeder trägt zum Gelingen des Ganzen bei. Darum sollte auch jede und jeder mit der eigenen Erwerbsarbeit das eigene Leben meistern können. Die Verabschiedung der Mindestlohn-Richtlinie war dafür ein ganz wichtiger Schritt. Aber das reicht noch nicht. Wenn wir über Mindestlöhne sprechen, dann bedeutet das ja eigentlich: Etwas stimmt nicht. Denn geringe Löhne sind die Folge von zu geringer Tarifbindung, und die sinkt in der gesamten Europäischen Union gerade weiter. Darum kommt es darauf an, dass wir die Tarifbindung wieder steigern. Gute Tarifabschlüsse sind Ausdruck des Respekts für die Leistung der Beschäftigten, und darum ist die Steigerung der Tarifbindung so wichtig. In Deutschland haben wir deshalb in unserer Regierungskoalition vereinbart: Auf der föderalen Ebene des Bundes sollen öffentliche Aufträge in Zukunft nur noch an Unternehmen gehen, die sich an die geltenden Tarifverträge halten. Auch Mitbestimmung und Mitverantwortung sind grundlegend für den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt. Darum setzen wir uns für die Weiterentwicklung der demokratischen Mitbestimmung auf EU-Ebene ein. Und wir sind in diesem Sinne auch offen für eine Reform der Richtlinie zu den europäischen Betriebsräten. Heinz Oskar Vetter sagte einmal, dass es auf drei Dinge zugleich ankommt: sich weiterzuentwickeln, sich anzupassen, um das Erreichte zu erhalten, und eine ideengebende Kraft zu sein. In diesem Sinne wünsche ich mir und euch: Bewahrt, was ihr in den vergangenen 50 Jahren für das soziale Europa erreicht habt! Eure Einigkeit macht stark. Und gestaltet mit euren Ideen den Aufbruch mit! Bringt euch weiterhin ein ‑ kritisch, konstruktiv und immer zukunftsorientiert! Denn erfolgreich sein wird dieser Aufbruch mit den Beschäftigten und Gewerkschaften, mit einer Sozialpartnerschaft, die lebt und funktioniert. Dann haben wir allen Grund, mit Zuversicht in die Zukunft zu gehen. Schönen Dank!
in Berlin
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Wirtschaftstags des CDU-Wirtschaftsrats e.V. am 22. Mai in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-wirtschaftstags-des-cdu-wirtschaftsrats-e-v-am-22-mai-in-berlin-2192416
Mon, 22 May 2023 16:30:00 +0200
Berlin
Meine Damen und Herren, lieber Herr Premierminister De Croo, lieber Alexander, sehr geehrte Frau Hamker, sehr geehrter Herr Brudermüller, zunächst sind natürlich hier Glückwünsche angebracht, liebe Frau Hamker, denn Ihr Wirtschaftstag jährt sich nun zum sechzigsten Mal. Natürlich bin ich heute hierhergekommen, um über die Zukunft zu sprechen, wie das meine beiden Vorredner doch sehr beeindruckend getan haben. Doch ein ganz kurzer Blick zurück sei angesichts des Jubiläums auch erlaubt: 1963, vor sechzig Jahren, wurde Ludwig Erhard Bundeskanzler. Sein Buch ‚Wohlstand für alle‘ stand damals in vielen deutschen Wohnzimmerregalen und wurde, glaube ich, auch öfter gelesen. Ludwig Erhard beschreibt darin den Dreiklang, in dem die soziale Marktwirtschaft in Westdeutschland Fuß fassen konnte. Erstens: Wettbewerb ist die Grundlage von Wohlstand. Zweitens: Wohlstandsmehrung erfolgt durch Wachstum und schließlich: Es braucht eine Beteiligung aller am gemeinsamen Erfolg. Bei allen Unterschieden zwischen damals und heute: Dieser Dreiklang gilt auch heute noch, wenn wir die große Aufgabe angehen, klimaneutral zu werden und zugleich erfolgreiches Industrieland zu bleiben. Dafür braucht es mehr Mut, mehr Investitionen und vor allem mehr Tempo. Ob Energiewende, Infrastrukturausbau, Digitalisierung, Modernisierung der Bundeswehr, Fachkräftesicherung oder wirtschaftliche Diversifizierung angesichts der veränderten geopolitischen Lage, es ist zu viel liegengeblieben in unserem Land. Und Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat den Handlungsdruck lediglich verstärkt, er bestand auch vorher schon. Dass wir schnell sein können, das haben wir im letzten Jahr bewiesen und beweisen es noch, indem wir die Energieversorgung unseres Landes gesichert haben. Niemand hätte auch noch im Herbst des letzten Jahres prognostiziert, dass wir sicher durch den Winter kommen, dass wir eine stabile Energieversorgung haben und dass wir es schaffen können, auch die Wirtschaft und die Bürgerinnen und Bürger so zu unterstützen, dass es nicht zu einer weitreichenden, langfristigen ökonomischen Krise gekommen ist. Aus meiner Sicht ist das unverändert eine große Leistung, die unsere Volkswirtschaft, aber auch alle Verantwortlichen dort zustande gebracht haben und ich will ausdrücklich sagen: Nur, weil es gut gegangen ist, dürfen wir uns die Herausforderung, die da bewältigt wurde, nicht zu klein vorstellen. Es ist eine große Leistung unseres Landes, das zusammengehalten hat und dass etwas gezeigt hat, was wir dringend brauchen, nämlich Deutschland-Geschwindigkeit. Meine Vorredner haben schon darüber gesprochen, dass wir diese Deutschland-Geschwindigkeit auch für die Zukunft brauchen angesichts der vielen Herausforderungen, vor denen wir stehen und die ich eben beschrieben habe. Deshalb will ich einmal beginnen mit der auch angesprochenen Frage der geopolitischen Fragmentierung, denn das war auch das Thema beim G7-Gipfel in Hiroshima und meinen Gesprächen in Korea, von denen ich heute Morgen zurückgekommen bin. Für mich ist ganz zentral, dass wir sehr klar gesagt haben: Wirtschaftliche Sicherheit, Diversifizierung von Lieferketten und die globale Energiewende sind unverzichtbare Aufgaben, denen sich die G7-Staaten gemeinsam stellen müssen. Im Hinblick auf die wirtschaftliche Diversifizierung ist auch sehr klar gesagt worden, was das Ziel ist. Nicht, dass wir uns mit den Investitionen aus einzelnen Ländern zurückziehen, nicht, dass wir Lieferketten von einzelnen Ländern komplett wegfahren, außer da, wo wir es jetzt gemacht haben, bei Russland notwendigerweise wegen des Krieges. Aber es geht schon um De-Risking, darum sicherzustellen, dass wir mehrere Ressourcen haben für unsere Lieferketten, dass wir mehrere Länder haben, in die wir exportieren können und dass auch mehr Länder genutzt werden für ganz konkrete Formen der Direktinvestition. Wenn wir das machen, dann können wir weltweit erfolgreich handeln. Aber was wir auch vermeiden müssen, und das ist aus meiner Sicht ganz zentral, ist die Vorstellung, dass man die Welt in der Zukunft so organisieren kann, dass das, was wir an weltwirtschaftlichem Erfolg durch die Globalisierung erlebt haben, was wir an Zusammenarbeit durch die Globalisierung erlebt haben, jetzt dem Protektionismus zum Opfer fällt. De-Risking ist etwas anderes als Decoupling und Globalisierung bleibt auch weiter eine Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg. Deshalb ist es auch richtig, dass die Europäische Union jetzt noch mal neu Tempo aufgenommen hat bei dem Abschluss von Freihandelsverträgen. Wir werden sie brauchen mit den vielen Ländern im Süden Amerikas, mit Indien, Indonesien, Australien, Kenia, um nur einige, die aktuell zur Debatte stehen, zu benennen. Ich spreche mich hier ausdrücklich dafür aus, dass wir das auch hinbekommen, denn nur, wenn wir faire Handelsverträge mit diesen Ländern haben, können wir die wirtschaftlichen Möglichkeiten nutzen, die vor uns liegen und ich bin sehr dafür, dass das, was so lange nicht vorangekommen ist, jetzt endlich schnell gelingt. Hier ist schon gesprochen worden, dass es darum geht, klimaneutral zu wirtschaften. Ich will das sehr klar sagen: Wenn das 2045 gelingen soll, dann ist das eine große, große Herausforderung. Schon 2030 wollen wir 80% unseres Stroms aus erneuerbaren Energien beziehen und dazu müssen wir ein großes Tempo vorlegen, das wir bisher nicht ausreichend entwickelt haben. Es muss etwas passieren, damit das tatsächlich auch gelingt. Ich will das mal an Beispielen festmachen, die das sehr plastisch beschreiben: Das bedeutet, vier bis fünf Windräder an Land pro Tag. Das bedeutet, 45 Fußballfelder PV-Anlagen. Das bedeutet, unglaublich viele Elektrolyseure, viele, viele Kilometer Stromleitungen und natürlich auch Speicherkapazitäten. Ich will sehr klar sagen: Das müssen wir, das werden wir auch hinkriegen mit den vielen gesetzlichen Änderungen, die wir bereits auf den Weg gebracht haben und denen, die wir uns noch vorgenommen haben. Aber das heißt, es braucht ein wirklich neues Tempo. Dass wir uns dabei auf dem richtigen Weg befinden, das kann man daran sehen, dass wir theoretisch im Norden und im Osten Deutschlands sehr billige international wettbewerbsfähige Strompreise hätten, denn dort spielen die erneuerbaren Energien schon eine viel, viel größere Rolle. Wir müssen angesichts der industriellen Schwerpunkte dieses Landes im Süden und Südwesten aber dafür Sorge tragen, dass diese billigen Strompreise, die in einem Teil Deutschlands heute schon möglich wären, für ganz Deutschland verfügbar werden. Darum werden wir mit riesiger Anstrengung die ganzen Planungsverzüge, die es beim Ausbau der Stromleitungen in Deutschland gibt, aufheben. Wir werden das Tempo beschleunigen. Wir werden ein Netz schaffen, das sofort wirksam werden lässt, dass das, was bereits produziert wird, auch genutzt werden kann und wir werden natürlich den Ausbau der erneuerbaren Energien auch im Süden und Westen der Republik vorantreiben. Weil es gesagt wurde: Es ist natürlich auch richtig einmal darauf hinzuweisen, dass natürlich immer, wenn man so viel Strom produziert und ihn so viel aus erneuerbaren Quellen bekommt, es auch tatsächlich gelingt, dass dann 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche Strom zur Verfügung steht. Deshalb werden wir noch dieses Jahr die notwendigen Ausschreibungen voranbringen, die darauf hinführen, dass wir mit Gaskraftwerken, die Wasserstoff-ready sind, in der Lage sind, diese Flaute-Situation jeweils auszugleichen. Das muss auch jetzt auf den Weg gebracht werden, denn in den dreißiger Jahren müssen alle diese vielen Kraftwerke installiert, gebaut sein und ihren Beitrag zur Energiesicherheit in Deutschland gewährleisten. Wir wollen uns nicht abhängig machen von Stromimporten aus anderen Ländern. Wir müssen unseren Strom selber produzieren können und im europäischen Verbund dann nutzbar machen, aber die Produktionskapazität muss groß genug sein, um uns selbst ausreichend Strom zu verschaffen. Wir werden übrigens auch noch andere Entscheidungen treffen, die ganz wichtig sind. Zum Beispiel wird es auch eine Entscheidung geben über den Aufbau eines Wasserstoffnetzes, wie es eben von Herrn Brudermüller angesprochen wurde. Das notwendig ist, damit das tatsächlich gelingt. Dieses Netz wird natürlich erst einmal nicht ausgelastet sein. Trotzdem ist das ein jahrzehntelang notwendiges Konzept, das wir jetzt auf den Weg bringen müssen, damit es losgehen kann mit dem Import und der Produktion von Wasserstoff in Deutschland. Dass wir gute Möglichkeiten haben, hat der Nordsee-Gipfel in Ostende gezeigt, über den hier schon gesprochen wurde. Ich will das deshalb hier nicht länglich ausführen, sondern nur noch mal sagen: Wir haben die Möglichkeiten, dort eine große, große Produktionskapazität im europäischen Verbund zu schaffen, die theoretisch in der Lage wäre, den größten Teil des Strombedarfs, den wir haben, auch tatsächlich abzusichern. Deshalb ist es notwendig, dass wir das jetzt auch mit dem richtigen Tempo machen, damit wir diese Möglichkeiten so schnell wie möglich für uns in Europa und in Deutschland auch einsetzen können. Das geht aber nur, wenn wir, und darüber ist gesprochen worden, auch Tempo machen bei all den Entscheidungen, die getroffen werden. Ich will das an dieser Stelle sagen: Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten liebevoll – die Europäische Union ist auch der gleichen Liebe erlegen und viele andere Länder befürchte ich auch – mit Vorschriften zugemauert, die alle funktioniert haben, wenn es nicht ganz schnell gehen muss. Aber es kann bei dem gegenwärtigen Gesetzesstand gar nicht funktionieren, dass wir unsere Ziele zum Ausbau der erneuerbaren Energien und zur Stromproduktion und Wasserstoffproduktion tatsächlich erreichen. Wir würden es der Rechtslage wegen nicht schaffen. Wir müssen die Genehmigungszeiten verkürzen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass es einfacher wird und wir können auch nicht vorschreiben, dass es überall Gutachten geben muss, wenn es gar nicht genug Gutachter gibt, um das bis zum Jahre 2100 überhaupt einmal hinzukriegen. All diese Dinge müssen geändert werden und werden auch geändert. Strom spielt eine Rolle und Wasserstoff und mehr Strom auch. Das ist hier gesagt worden. Deshalb haben wir uns endlich das Ziel gesetzt, dass wir die Stromproduktion ausweiten, um ein Drittel bis zum Ende des Jahrzehnts, wahrscheinlich auf tausend Terrawatt in den dreißiger Jahren, damit wir ausreichend Stromproduktionskapazitäten für unser Land haben, die aber dann eben subventionsfrei billig sein müssen. Das, da will ich alles unterstreichen, was hier gesagt ist, muss das eigentliche Ziel sein. Die Energiewirtschaft kann kein Dauersubventionsfall für die Bundesrepublik Deutschland werden. Das kann in keinem Land gutgehen und das würde auch bei uns nicht funktionieren. Wir müssen dafür sorgen, dass wir billige Produktionsbedingungen haben für Strom, damit wir tatsächlich dann auch billige Strompreise in Deutschland haben für die Zukunft. Nun will ich ja meinen Vorrednern nicht widersprechen, deshalb sage ich einmal so frei in den Raum: Ein neu gebautes Atomkraftwerk hat Stromposten von über zwanzig Cent, ist in zehn bis 15 Jahren fertig und kostet viele Milliarden. Deshalb glaube ich, fahren wir schon besser, wenn wir dann schon alles fertig haben und für sechs bis sieben Cent Strom aus erneuerbaren Quellen produzieren und das in der ausreichenden Menge. Aber: Wir haben nichts dagegen, wenn andere einen anderen Weg einschlagen, sie müssen dann nur mit den Preisen klarkommen. Was die Frage der Zukunftsfähigkeit unseres Landes betrifft gibt es natürlich nicht nur den klimaneutralen Umbau unserer Industrie, der ja viele, viele Milliarden Investitionen voraussetzt in die Stahlindustrie, in die Chemieindustrie, das ist gesagt worden, sondern es bedeutet auch, dass wir versuchen, dort wieder neu mit dabei zu sein, wo es um unsere Zukunft geht. Deshalb will ich ein Thema ansprechen, das für mich wichtig ist, nämlich: Wir müssen den Fehler wieder ändern, dass wir in Deutschland und Europa zwar immer noch eine ziemlich leistungsfähige Halbleiterindustrie haben, aber nicht in der Größe und der Dimension, wie das nötig wäre, um einen solch großen Kontinent mit Halbleitern zu versorgen. Wir müssen dazu beitragen, dass die jetzt geplanten Investitionen in Halbleiter in Deutschland und Europa tatsächlich stattfinden. Ich finde es sehr berührend zu sehen, wie viele Milliarden Investitionen jetzt schon ausgelöst worden sind in Deutschland und es ist noch bewegender, wenn man weiß, dass noch viele andere weitere Pläne gerade dabei sind, geschmiedet zu werden. Dass wir falsch abgebogen sind beim Ausbau der Halbleiterindustrie in Europa, war ein Fehler. Jetzt müssen wir wieder auf die richtige Straße zurück, denn das ist ein Teil der Zukunftsfähigkeit unseres Kontinents. Wir haben ein Fachkräfteproblem, allerdings die gute Chance, es zu lösen. Deshalb, weil Deutschland ein Land ist, das attraktiv ist für Fachkräfte aus aller Welt und aus Europa. Ich höre da ein Raunen, ich gehe gleich noch darauf ein. Aber die Zahlen sind andersherum als das Geraune, denn wir haben ja unseren wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahre überhaupt nur beibehalten können, weil wir über sechs Millionen Fachkräfte zusätzlich im deutschen Arbeitsmarkt haben, zusätzlich zu all den Prognosen der Statistikerinnen und Statistiker in den 90er und 2000er Jahren. Was die uns vorhergesagt hatten für die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland, ist alles nicht eingetreten. Auch übrigens, was die uns vorhergesagt haben für die Bevölkerungsentwicklung. Tatsächlich sind wir heute 84 Millionen Einwohner mit steigender Tendenz. Tatsächlich haben wir die höchste Zahl von Erwerbstätigen auf dem deutschen Arbeitsmarkt jemals in der Geschichte unseres Landes. Deshalb ist es ganz klar, dass es neben der weiteren Mobilisierung der Beschäftigung von Frauen für den Arbeitsmarkt, der weiteren Schaffung von Arbeitsbedingungen, die so sind, dass 58-jährige und 62-jährige Lust haben, auch noch weiterzuarbeiten, wichtig ist, dass wir dafür sorgen, dass wir auch in Zukunft Fachkräfte aus aller Welt nach Deutschland bekommen können. Damit das tatsächlich gelingt, werden wir mit dem Fachkräfte-Einwanderungsgesetz, über das jetzt der Bundestag berät, auch die Grundlage im Recht schaffen. Danach gehen wir das Geraune an und werden dafür Sorge tragen, dass die ganzen bürokratischen Hemmnisse, die da existieren, alle aufgelöst werden. Heute Morgen hat mir jemand an meine Telefonnummer eine SMS geschickt und gesagt, dass es jetzt notwendig sei, alle Dokumente zu übersetzen, die für die Bescheinigungen wichtig sind für die Zuwanderung, dass das oft nur in Deutschland gehe und deshalb Monate und wirklich viel Geld koste – das ginge so nicht weiter. Recht hat er, habe ich mir gedacht und deshalb gibt es diese und noch ein paar andere Vorschriften, die wir uns bereits jetzt angucken, damit nach dem Gesetz dann tatsächlich die Aufschwungsmöglichkeiten auch genutzt werden können, die wir für uns brauchen. Meine Damen und Herren, wir müssen den Stillstand der vergangenen Jahre und Jahrzehnte überwinden und die Probleme unserer Zeit anpacken. Das müssen wir tun, indem wir von der Globalisierung weiter profitieren, aber uns diversifizieren, sodass wir nicht abhängig sind von einzelnen Ländern und Regionen. Gleichzeitig müssen wir dazu beitragen, dass unser Land digital vorankommt und unser Land die Klimaneutralität erreicht, als industrielles Projekt, als Innovationsprojekt und als ein Projekt, das darauf setzt, dass wir tatsächlich auch mit den industriellen Prozessen dazu kommen, dass alles billiger wird, was da notwendig ist. Ich halte es für möglich, dass wir das schaffen, weil wir es jetzt mit großer, großer Zielstrebigkeit vorantreiben. Aber auch deshalb, weil etwas stattgefunden hat, über das hier auch schon berichtet wurde. Es gibt kaum ein Unternehmen, das nicht bereits alle möglichen Pläne hat, wie es seinen Beitrag zur Klimaneutralität leisten kann. Wenn wir die Wirtschaft das machen lassen, dann wird das dazu beitragen, dass wir eine Phase guten Wachstums in unserem Land haben und Wohlstand für alle.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Eröffnungssitzung des Gipfeltreffens des Europarats am 16. Mai 2023 in Reykjavík
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-eroeffnungssitzung-des-gipfeltreffens-des-europarats-am-16-mai-2023-in-reykjav%C3%ADk-2191184
Tue, 16 May 2023 00:00:00 +0200
Reykjavík
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, als der ehemalige französische Premierminister Édouard Herriot im August 1949 die Beratende Versammlung des Europarats eröffnete, waren die Wunden des Zweiten Weltkriegs noch ganz frisch. Herriot sprach vom „Recht der geballten Faust“, vom „Kult der Gewalt“, der unseren Kontinent ausgehend von Deutschland in Schutt und Asche gelegt hatte. Umso klarer war für Herriot und die anderen Väter und Mütter des Europarats, was sie diesem „Unrecht der geballten Faust“ künftig entgegensetzen wollten: die Stärke des Rechts – über politische und kulturelle Grenzen hinweg -, die Überzeugung, dass Macht an Regeln und Gesetze gebunden sein muss und das Versprechen, dass alle Bürgerinnen und Bürger in ihren Rechten und Pflichten gleich sind. Herriot und seine Generation hatten am eigenen Leib erlebt: Es gibt einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Rechtstaatlichkeit, Demokratie und dem Schutz der Menschenrechte auf der nationalen Ebene und dem friedlichen Miteinander auf der internationalen Ebene. Der Krieg, mit dem Deutschland Europa und die Welt überzog, wurde erst möglich, weil die Nationalsozialisten zuvor Demokratie, Gewaltenteilung und Menschenrechte in Deutschland auslöschen konnten. Wer diesen Zusammenhang einmal erkannt hat, der begreift: Der Europarat ist heute so wichtig wie wohl niemals zuvor. Am 24. Februar vergangenen Jahres hat Russland die Ukraine überfallen, um Territorium zu erobern und Grenzen mit Gewalt zu verschieben. Deshalb war es richtig, ja vollkommen unumgänglich, Russland aus dem Europarat auszuschließen. Auch die Zusammenarbeit des Europarats mit Belarus haben wir aufgrund der Unterstützung des russischen Angriffskriegs durch das Minsker Regime zu Recht suspendiert. Und um auch das klar zu sagen: Dass sich in Russland antidemokratische, autoritäre Entwicklungen durchsetzen konnten, spricht nicht gegen den Europarat, sondern dafür, dass wir unsere gemeinsamen Regeln künftig noch ernster nehmen, dass wir sie als Frühwarnsystem für den Friedenserhalt in Europa verstehen. Konkret folgt daraus zweierlei: Erstens. Jedes unserer Länder muss seinen Pflichten als Mitglied des Europarats nachkommen – ohne Abstriche. Dazu zählt, dass wir alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte konsequent umsetzen. Wir müssen eine vermeintliche Niederlage vor dem Gerichtshof in Straßburg in Wahrheit als Gewinn für Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten begreifen – und zwar überall in Europa, und dank der Vorbildfunktion des Gerichtshofs sogar oft überall auf der Welt. Der Europarat war weltweit oft Pionier, wenn es darum ging, unsere Demokratien, unsere Rechtsstaaten auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Das sollte er bleiben, etwa wenn es um den Schutz von Menschenrechten im Digitalzeitalter oder die Durchsetzung des Rechts auf eine gesunde Umwelt geht. Mein zweiter Punkt betrifft die Lehren, die wir als Europarat aus Russlands Angriff auf Europas Friedensordnung ziehen. Im Zentrum steht dabei, die Ukraine mit aller Kraft auf ihrem demokratischen, europäischen Weg zu unterstützen: bei der Verteidigung gegen die russische Aggression, bei der Sicherstellung rechtsstaatlicher Institutionen, beim Wiederaufbau, zum Beispiel auch über die Entwicklungsbank des Europarats, und durch Kapazitätsaufbau im Justizwesen. Der Europarat ist auch wichtig, um die Kriegsverbrechen der russischen Besatzer zu ahnden und Rechenschaft für die enormen Schäden einzufordern, die Russland der Ukraine Tag für Tag zufügt. Das Schadensregister, das wir hier in Reykjavík gemeinsam auf den Weg bringen wollen, spielt dabei eine zentrale Rolle. Eine Lehre der Zeitenwende ist auch, dass wir den Beitritt der Ukraine, aber natürlich auch der Westbalkanstaaten, Moldaus und perspektivisch Georgiens zur Europäischen Union voranbringen wollen. Auch dabei kommt dem Europarat eine wichtige Rolle zu – nicht zuletzt dank der großen Expertise der Venedig-Kommission. Und schließlich muss der Europarat alles daransetzen, dass Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit irgendwann tatsächlich überall in Europa Fuß fassen. Mit Blick auf Russland und Belarus mag das heute nahezu unvorstellbar klingen. Doch irgendwann wird Russlands Krieg gegen die Ukraine enden. Und eines ist sicher: Er wird nicht mit einem Sieg des Putin’schen Imperialismus enden. Denn wir werden die Ukraine so lange unterstützen, bis ein gerechter Frieden erreicht ist. Bis dahin sollten wir als Europarat Brücken aufrechterhalten zu den Vertretern und Vertreterinnen eines anderen Russlands, eines anderen Belarus, und so die Perspektive einer demokratischen, friedlichen Zukunft beider Länder offenhalten – so unwahrscheinlich sie uns heute auch erscheinen mag. Dies entspricht der Gründungsidee des Europarats, wonach Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Inneren Hand in Hand mit Frieden nach außen gehen. Das entspricht auch unserem Anspruch, Frieden und Freiheit überall auf unserem Kontinent zu sichern – für jede Bürgerin und jeden Bürger. Vielen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Global Solutions Summit am 15. Mai 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-global-solutions-summit-am-15-mai-2023-in-berlin-2191026
Mon, 15 May 2023 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Professor Snower, verehrter Herr Walker, liebe Freunde, meine Damen und Herren, es ist großartig, wieder auf dem Global Solutions Summit zu sein! Es ist großartig, weil sich unsere öffentlichen Debatten allzu oft auf die Probleme und nicht auf die Lösungen konzentrieren. Und noch häufiger nähern wir uns ihnen aus einer stark innenpolitisch geprägten Perspektive. In unserer vernetzten, von wechselseitigen Abhängigkeiten geprägten Welt reicht das schlicht nicht aus. Deswegen sind Gipfel wie dieser so hilfreich. Denn sie widmen sich gleich beidem – den Lösungen und ihrem globalen Wesen. Ganz gleich, woher Sie kommen oder in welchem Bereich Sie arbeiten – sei es Klimaschutz, internationale Ordnungspolitik oder Migration, Armutsbekämpfung oder Menschenrechtsförderung – all diesen akuten Herausforderungen ist eines gemein: Wir werden sie nur erfolgreich bewältigen, wenn wir zu neuen Formen der globalen Zusammenarbeit finden. Die internationale Ordnung, wie wir sie kennen, steht vor gewaltigen Herausforderungen. Russlands brutaler Krieg gegen die Ukraine mag der schändlichste und schamloseste Angriff auf diese Ordnung sein. Aber er ist bei Weitem nicht der einzige. Das Völkerrecht und Urteile internationaler Gerichtshöfe werden ignoriert. Universelle Menschenrechte werden als „regionale Erfindungen“ abgetan. Die Verbreitung von Kernwaffen stellt in Ostasien und im Nahen und Mittleren Osten eine wachsende Bedrohung dar. Ich könnte diese Liste weiterführen. Die Eine-Million-Euro-Frage lautet also: Wie können wir eine internationale Ordnung auf Grundlage der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts im 21. Jahrhundert aufrechterhalten? Nun sind wir aber hier, um über Lösungen zu sprechen. Und für mich liegt der erste Teil der Lösung darin, dass jede funktionierende internationale Ordnung den multipolaren Charakter der Welt widerspiegeln muss. Die uni- oder bipolare Welt von gestern mag – wenigstens für die Mächtigen – leichter zu gestalten gewesen sein. Sie ist aber nicht länger die Welt, in der wir leben. In Ländern Asiens, Afrikas und Amerikas wachsen Bevölkerungen und Volkswirtschaften. Hunderte Millionen von ihnen haben sich weltweit selbst aus der Armut befreit und gehören nunmehr zur Mittelschicht. Sie haben jedes Recht, dasselbe Maß an Wohlstand, Partizipation und weltweitem Einfluss anzustreben, das Bürgerinnen und Bürger in Europa und Nordamerika genießen. Eine globale Ordnung im 21. Jahrhundert muss dies widerspiegeln. Die gute Nachricht ist, dass eine überwältigende Mehrheit der Länder dieser Welt sich über die Grundsätze einig ist, auf denen eine solche Ordnung aufbauen muss. Mit einigen augenfälligen Ausnahmen – darunter Russland – sind wir uns alle einig, was das Verbot der Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen angeht. Wir wollen, dass die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit und die politische Unabhängigkeit anderer Staaten geachtet werden. Diese Sicht teilen auch Länder, die 1945 in San Francisco nicht mit am Tisch saßen, als die VN-Charta verabschiedet wurde. Nur zehn Jahre später haben sich viele dieser afrikanischen und asiatischen Staaten im indonesischen Bandung für Selbstbestimmung, territoriale Unversehrtheit, Souveränität und eine Welt ohne Kolonialismus und Imperialismus ausgesprochen. Nichts anderes wollen wir erreichen, wenn wir die Ukraine gegen Russlands Angriff unterstützen. Warum aber, fragen vielleicht manche von Ihnen, zögern jetzt einige dieser Länder, Russland offener zu kritisieren? Warum haben sich einflussreiche Länder wie Indien, Südafrika oder Vietnam enthalten, als über die einschlägigen VN-Resolutionen abgestimmt wurde, in denen Russland aufgefordert wird, seine illegale Invasion zu beenden? Diese Fragen verdienen es, beantwortet zu werden. Wenn ich mit führenden Politikerinnen und Politikern aus diesen Ländern spreche, so versichern mir viele, dass sie die Grundsätze der internationalen Ordnung durchaus nicht infrage stellen. Was ihnen zu schaffen macht, ist deren ungleiche Anwendung. Sie erwarten Repräsentation auf Augenhöhe. Sie erwarten ein Ende der westlichen Doppelmoral. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich sage nicht, dass all diese Forderungen immer gerechtfertigt sind. Aber wir müssen uns ihnen stellen, wenn wir die Mächte in Asien, Afrika und Amerika dazu ermutigen wollen, gemeinsam mit uns eine stabile Weltordnung aufzubauen und zu verteidigen. Was aber heißt das in der Praxis? Erstens müssen wir den Umfang unseres Engagements im globalen Süden erheblich erweitern. Wenn Länder den Eindruck bekommen, dass wir nur auf sie zugehen, weil wir an ihren Rohstoffen interessiert sind oder ihre Unterstützung bei einer VN-Resolution erwirken wollen, dann sollten wir nicht überrascht sein, wenn ihre Bereitschaft, mit uns zusammenzuarbeiten, in bestem Falle verhalten ist. Unser Schwerpunkt sollte daher eher darauf liegen, was wir ihnen anzubieten haben und wo unsere Interessen sich überschneiden. Ein Beispiel ist die regionale Integration. Keine andere Weltregion weist einen höheren Grad der Integration auf als die Europäische Union – mit ihrem Binnenmarkt, ihrer Freizügigkeit und ihren starken politischen Institutionen. Länder in Afrika, Südostasien, Lateinamerika und der Karibik haben mit der Afrikanischen Union, ASEAN, MERCOSUR, CELAC und anderen Organisationen einen ähnlichen Weg eingeschlagen. Wir Europäer sollten ihnen unsere einzigartigen Erfahrungen und unsere Unterstützung anbieten. Das habe ich bei meinen Begegnungen mit der Afrikanischen Union letzte Woche in Addis Abeba getan. Eine weitere große Chance, eine neue Beziehung zwischen Europa und dem globalen Süden aufzubauen, liegt in der Energiewende. Binnen zwei Jahrzehnten werden wir in einer Welt leben, die ihre Energie aus Wind, Sonne und Wasserstoff bezieht. Für viele Länder in Afrika, Asien und Amerika, die einst Importeure fossiler Energieträger waren, birgt dies enorme Möglichkeiten, ihre eigene CO2-freie industrielle Entwicklung anzukurbeln und in einigen Fällen sogar selbst Energie zu exportieren. Dieser Erfolg liegt in unserem ureigenen Interesse. Denn schließlich ist eine der wichtigsten Lektionen, die uns Russlands Krieg gegen die Ukraine gelehrt hat, dass wir einseitige Abhängigkeiten vermeiden und unsere Energieversorgung diversifizieren müssen. Dafür müssen die Länder des globalen Südens Zugang zu der Technologie und dem Kapital haben, die benötigt werden, um einen klimafreundlichen Energie- und Industriesektor aufzubauen. Einen Zugang, den wir gewähren können. Nicht zuletzt auch darum geht es im internationalen Klimaclub, den wir während unseres G7-Vorsitzes im letzten Jahr gegründet haben. Chile hat sich Deutschland kürzlich als Ko-Vorsitz angeschlossen. Und ich freue mich sehr, dass andere Schwellenländer sich ebenfalls zu einem Beitritt entschlossen haben, unter ihnen Indonesien, Kolumbien, Kenia und Argentinien. Abhängigkeiten bestehen nicht nur im Bereich der Energie. Viele kritische Mineralien sind für den globalen Übergang zu einer klimaneutralen Zukunft von entscheidender Bedeutung. Im Moment beherrschen eine Handvoll Länder den Großteil des Marktes – aus dem einfachen Grund, dass die Rohstoffe dort und nicht in den Herkunftsländern verarbeitet werden. Den Herkunftsländern ist sehr daran gelegen, das zu ändern. Und uns ist sehr daran gelegen, unsere Lieferketten zu diversifizieren. Warum also arbeiten wir nicht gemeinsam daran, mehr Verarbeitungsschritte dort anzusiedeln, wo die Rohstoffe herkommen? Damit würden wir nicht nur für mehr Wohlstand vor Ort sorgen. Wir würden auch sicherstellen, dass unseren Volkwirtschaften künftig mehr als nur ein Anbieter zur Verfügung steht. Wenn das bedeutet, die EU-Handelspolitik und die entsprechenden Vereinbarungen anzupassen, dann sollten wir dem gegenüber aufgeschlossen sein. In der Zukunft könnte das gerechten Handelspartnerschaften zum gegenseitigen Nutzen als Vorbild dienen. Das führt mich zum zweiten Punkt, über den wir sprechen müssen: Repräsentation – oder genauer, mangelnde Repräsentation. Solange die Schwellenländer den Eindruck haben, im internationalen System übersehen zu werden und unterrepräsentiert zu sein, werden sie sich auch nicht uneingeschränkt in dessen Verteidigung einbringen. Hier geht es um Akzeptanz und Zugehörigkeit. Um das zu erreichen, braucht es institutionelle Reformen. Deutschland unterstützt die Forderung Afrikas nach mehr und auch nach ständigen Sitzen im VN-Sicherheitsrat ausdrücklich. Und ich pflichte auch dem Vorsitzenden der Afrikanischen Union bei, dass die AU der G20 als offizielles Mitglied beitreten sollte. Ich hoffe, dass der G20-Gipfel im September in Neu Delhi diesen wichtigen Schritt formell festschreibt. Der Gipfel kann auch eine entscheidende Rolle dabei spielen, unsere internationalen Finanzinstitutionen für das 21. Jahrhundert zu rüsten. Angesichts des Ausmaßes des vor uns liegenden Wandels müssen sie privatwirtschaftliche Investitionen ankurbeln. Insbesondere die Weltbank könnte dabei ein Vorreiter sein – indem sie die globale Transformation hin zur Klimaneutralität vorantreibt und weiterhin die Armut bekämpft. Der Weg dorthin wird auch Thema der Gespräche sein, die wir im Vorfeld des G20-Gipfels in Neu Delhi führen. Aber wir können noch mehr tun. Nicht jeder Schritt hin zu mehr Teilhabe erfordert mühsame institutionelle Reformen. Wie Sie vielleicht wissen, haben wir unsere G7-Präsidentschaft im vergangenen Jahr genutzt, um Staats- und Regierungschefs des globalen Südens in unsere Diskussionen einzubinden: Indonesien als amtierenden Vorsitz der G20, Indien als dessen Nachfolger, Senegal als Vorsitz der AU, Südafrika als Stimme Afrikas in der G20 und Argentinien als Vorsitz der Staaten Lateinamerikas und der Karibik. Die Ergebnisse unseres Treffens spiegeln diese Zugehörigkeit wider. Als Angebot an die Welt im Sinne der nachhaltigen Entwicklung haben wir die Partnerschaft für globale Infrastruktur und Investitionen gegründet. Wir haben das Bündnis für globale Ernährungssicherheit geschaffen, um Menschen vor Hunger und Mangelernährung zu schützen. Gemeinsam mit den „Vulnerable 20“, der Gruppe der Länder, die von den Auswirkungen des Klimawandels am stärksten betroffen sind, haben wir den Globalen Schutzschirm gegen Klimarisiken ins Leben gerufen. Und wir sind neue Partnerschaften mit Indonesien, Südafrika und Vietnam eingegangen, um deren Gesellschaften und Volkswirtschaften bei einer gerechten Energiewende zur Seite zu stehen. Ich freue mich, dass der japanische G7-Vorsitz plant, bei unserem Gipfeltreffen Ende der Woche in Hiroshima auf diesen Errungenschaften aufzubauen. In Hiroshima wird die G7 der Ukraine unsere feste Unterstützung zusichern – solange dies nötig ist; Schritte zur Schaffung sicherer und resilienter Volkswirtschaften auf der Grundlage von Partnerschaften mit dem globalen Süden unternehmen; und auf die Herausforderungen reagieren, vor denen Entwicklungs- und Schwellenländer stehen: von der akuten Bedrohung durch die Klimakrise bis zum dringenden Bedarf an Infrastruktur. Ich selbst werde mich auch persönlich für eine inklusivere und ausgewogenere internationale Ordnung einsetzen, insbesondere, wenn es um unseren Nachbarkontinent Afrika geht. Daher werde ich afrikanische Kolleginnen und Kollegen und andere Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft für den 20. November nach Berlin einladen, um die G20-Initiative „Compact with Africa“ voranzubringen. Ziel der Initiative ist es, in Afrika wirtschaftliches Wachstum zu stimulieren und Anreize für privatwirtschaftliche Investitionen zu schaffen. Das gilt nach wie vor. Das entsprechende Potenzial ist sogar größer geworden – davon konnte ich mich bei meinem Besuch in Ostafrika vergangene Woche selbst überzeugen. Durch Afrikas junge und wachsende Bevölkerung. Und dadurch, dass viele afrikanische Länder die Energiewende als Chance wahrnehmen. Ich komme also zu folgendem Schluss: Ja, es gibt viele Herausforderungen für unsere bestehende internationale Ordnung – womöglich mehr als jemals in den vergangenen acht Jahrzehnten. Gleichzeitig aber war das Potenzial für eine gleichberechtigte globale Zusammenarbeit nie größer. Das ist die Dichotomie unserer Zeit. Wir sollten uns darauf konzentrieren, dieses Potenzial nutzbar zu machen – so wie Sie das mit Ihrer Arbeit tun. In diesem Sinne, vielen Dank, dass Sie Teil der globalen Lösung sind! Und jetzt freue ich mich auf unsere Diskussion.
(übersetzte Version; gehalten auf englisch)
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Verleihung des Karlspreises an den Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selensky, und das ukrainische Volk am 14. Mai 2023 in Aachen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-verleihung-des-karlspreises-an-den-praesidenten-der-ukraine-wolodymyr-selensky-und-das-ukrainische-volk-am-14-mai-2023-in-aachen-2190340
Sun, 14 May 2023 00:00:00 +0200
Aachen
Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger der Ukraine! Sehr geehrter Präsident Selensky, lieber Wolodymyr! Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Keupen! Sehr geehrter Herr Vorsitzender Linden, lieber Jürgen! Sehr geehrte Frau Kommissionspräsidentin, liebe Ursula! Sehr geehrter Herr Premierminister, lieber Mateusz! Meine Damen und Herren! „Prezydent tut. Vsi my tut.” Das waren die Worte, sehr geehrter Herr Präsident, lieber Wolodymyr, die du in einer der ersten Videobotschaften nach Russlands Überfall an das ukrainische Volk gerichtet hast: „Der Präsident ist hier. Wir alle sind hier.“ Am frühen Morgen des 25. Februar 2022 war das. Gemeinsam mit den engsten Mitstreitern standst du mitten im Zentrum von Kiew und fügtest hinzu: „Wir alle verteidigen unsere Unabhängigkeit, und genau so wird es bleiben.“ Wohl selten in der Geschichte hatten so knappe Worte so große Wirkung. Augenblicklich war klar: Das ukrainische Volk wird nicht weichen vor Russlands Gewalt. Das ukrainische Volk wird widerstehen. Und überhaupt nur deshalb können wir heute gemeinsam hier in Aachen sein. Europa hat dem ukrainischen Volk und ganz persönlich dem Präsidenten Wolodymyr Selensky sehr viel zu verdanken. Als die Gründer des Karlspreises 1950 die Idee zu diesem europäischen Preis hatten, da lagen große Teile Deutschlands und Europas noch immer in Trümmern. Das Grauen von zwei Weltkriegen, das Menschheitsverbrechen der Schoah, tiefe Krisen, Not und Hunger – das alles war noch ganz nah. Ein in Frieden und Freiheit vereintes Europa – das war eine ferne Vision. Und doch nahm der Traum der Väter und Mütter des Karlspreises Gestalt an, von Jahr zu Jahr ein bisschen mehr. Die Liste der Preisträgerinnen und Preisträger liest sich wie das Who’s who der europäischen Integration. Sie reicht von Jean Monnet, Konrad Adenauer, Robert Schuman und Simone Veil bis zu Václav Havel und Bronisław Geremek – Männer und Frauen, die mit Mut und Weitsicht vorantrieben, was uns Jüngeren dann immer selbstverständlicher vorkam: den friedlichen Aufbau Europas, der den Wohlstand und das Wohlergehen unserer Völker überhaupt möglich macht. Aber heute tobt wieder ein grausamer Angriffskrieg, Russlands grausamer Angriffskrieg – ein Krieg, der für die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine Schmerz, Not und Opfer bringt, wie wir uns das kaum mehr vorstellen konnten, ein Krieg, der sich gegen alles richtet, wofür Europa heute steht, aber auch ein Krieg, der für die Ukraine, für die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten glasklar aufzeigt: Wir stehen zusammen. Wir gehören zusammen. Und unsere Geschichte wird gemeinsam weitergehen. Erstmals überhaupt wird der Karlspreis in diesem Jahr an einen Präsidenten und an sein Volk verliehen. Das ist, wie ich finde, eine außerordentlich kluge Entscheidung. Denn das ukrainische Volk und du, lieber Wolodymyr, leisten gemeinsam seit dem 24. Februar 2022 Unermessliches. Mit allergrößter Tapferkeit verteidigt ihr euer Land gegen Russlands brutale Aggression. Mit ungeheurer Kraft trotzen alle Tag für Tag den russischen Invasoren. Russlands Angriffskrieg hat die Europäische Union und die Ukraine so eng zusammengebracht wie nie zuvor. Geschlossen und solidarisch stehen wir an der Seite der Ukraine. Deutschland hat mehr als eine Million ukrainische Bürgerinnen und Bürger aufgenommen. Polen hat zeitweilig sogar 1,5 Millionen und Tschechien über 500 000 aufgenommen. Die Zahl der deutsch-ukrainischen Städtepartnerschaften hat sich während des Krieges verdoppelt, auf heute über 140. Europaweit hat der Krieg eine klare Einsicht gefestigt: Die Ukraine ist Teil unserer europäischen Familie. Das haben Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, Italiens damaliger Premierminister Mario Draghi, Rumäniens Präsident Klaus Johannis und ich vor einem Jahr gemeinsam in Kiew betont, und zu dieser Aussage stehen wir alle. Russen und Ukrainer sind eben nicht „ein Volk“, wie es Präsident Putin in seiner imperialistischen und kolonialistischen Verblendung behauptet. Die ukrainische Nation hat ihre eigene lange Geschichte, ihre in sich unglaublich vielfältige eigene Kultur, ihre eigenen Traditionen, ihre eigene Identität. Schon seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion pocht die unabhängige Ukraine auf ihre Freiheit, über den eigenen Weg selbst zu entscheiden. Und die Ukraine hat ihre Entscheidung getroffen – für Europa. Lieber Wolodymyr Selensky, auf dem Weg in die Europäische Union hat die Ukraine unsere volle Unterstützung. Als Europäerinnen und Europäer wissen wir, welche Kraft dem demokratischen Willen des Volkes innewohnt. Ich denke an die Solidarność in Polen, lieber Mateusz Morawiecki. Ich denke an die Öffnung der Berliner Mauer 1989, erzwungen von mutigen Bürgerinnen und Bürgern der DDR, an die Vereinigung Deutschlands und Europas in den Jahren darauf. Und ich denke natürlich an die Orange Revolution in der Ukraine 2004 und an die Winternächte des Euromaidan Ende 2013, Anfang 2014. In dieser „Revolution der Würde“ wurden die blau-gelbe Fahne der Ukraine und das blau-gelbe Sternenbanner der EU zu Symbolen für die Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung der Ukraine. Alle diese Volksbewegungen bringen den starken Willen der Bürgerinnen und Bürger zum Ausdruck, ihre Zukunft selbst zu gestalten. Russlands Angriffskrieg hat nicht nur die Entschlossenheit der Ukraine als politische Nation gestärkt. Er hat die Entscheidung der Ukrainerinnen und Ukrainer, eine europäische demokratische Nation zu sein, unumkehrbar gemacht. Falls Wladimir Putin geglaubt hat, er könnte die ukrainische Nation mit Gewalt von ihrem Weg nach Europa abbringen, dann hat er mit all seinen Panzern, seinen Drohnen und Raketenwerfern nichts als das Gegenteil bewirkt. Die Europäische Union steht für das friedliche Zusammenleben der Völker Europas, für das politische und wirtschaftliche Miteinander ihrer Mitgliedstaaten, für die Schönheit kultureller und linguistischer Vielfalt. Die Europäische Union steht für Freiheit und Demokratie, für den Rechtsstaat und den Schutz der Menschenrechte und ganz besonders für die friedliche Aussöhnung früherer Feinde. Das ist gerade mir als deutschem Bundeskanzler sehr bewusst. Und das macht uns Europäer und Europäerinnen aus. Deshalb haben wir jeden Tag darauf zu achten, dass wir die Werte von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch innerhalb der EU schützen und bewahren. Dieses Streben nach Demokratie, nach Freiheit, nach Rechtsstaatlichkeit und nach Europa teilt auch das ukrainische Volk, lieber Wolodymyr. „Sluha narodu“ – „Diener des Volkes“: Mit diesem Anspruch bist du als Präsident der Ukraine angetreten. – Genau das bist du heute, wenn es darum geht, stellvertretend für das Volk den Karlspreis entgegenzunehmen. Der Freiheitswille und die Widerstandskraft in dunkler Zeit spenden Hoffnung und Inspiration weit über die Ukraine hinaus. An der Spitze des gesamten ukrainischen Volkes verteidigst du die Werte, für die Europa steht. Die Ukraine kann sich dabei auf unsere volle Unterstützung verlassen, humanitär, wirtschaftlich und mit Waffen, aber vor allem: auf Dauer. 1986 war das luxemburgische Volk das erste, das mit dem Karlspreis ausgezeichnet wurde. Der Text auf der Medaille lautete: „Das Volk Luxemburgs, Vorbild und Beharrlichkeit auf dem Weg zur Einheit Europas.“ Dieser Satz gilt heute ganz genauso für das Volk der Ukraine. Deshalb markiert die heutige Verleihung des Karlspreises keinen Endpunkt, sondern einen neuen Auftakt – den Auftakt für unser weiteres Zusammenwachsen in Europa, gemeinsam mit der Ukraine, mit den Staaten des westlichen Balkans, mit Moldau und perspektivisch auch mit Georgien. Angesichts der Zeitenwende, die Russland mit seinem Angriffskrieg verursacht hat, ist unsere Botschaft klar: Europa steht geschlossen und geeint. Der Karlspreis als europäischer Bürgerpreis bedeutet die tiefe Verneigung unserer freiheitlichen Gesellschaften vor der Tapferkeit und Entschlossenheit des ukrainischen Volkes und seines Präsidenten. Ukrayina tut. A Ukrayina – tse Yevropa. – Die Ukraine ist hier. Und die Ukraine ist Europa. Herzlichen Glückwunsch und Slava Ukraini!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Verleihung der German Startup Awards am 11. Mai 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-verleihung-der-german-startup-awards-am-11-mai-2023-in-berlin-2190012
Thu, 11 May 2023 00:00:00 +0200
Berlin
Schönen Dank für die nette Begrüßung! Als ich die Einladung bekam und feststellte, dass ich einen Smoking tragen soll, habe ich gesagt: Das glaube ich jetzt nicht. – Man muss allerdings sagen: Als ich noch Hamburger Bürgermeister war, war ich so zwei- bis dreimal die Woche im Smoking unterwegs – das gehört da irgendwie dazu -, und seitdem ich Bundesminister der Finanzen und jetzt Bundeskanzler geworden war, kein einziges Mal. Aber ich habe mir einen neuen gekauft, falls der alte nicht mehr passt. Der sah auch schon nicht mehr ordentlich aus. Insofern hätte ich in ihm kommen können, aber habe gedacht: Ich habe ja noch etwas anderes zu tun, und vorher sehe ich anders aus, da ziehe ich mich nicht um! Schönen Dank für die Einladung! Irgendwie hatte mein Redenschreiber die Idee, ich sollte hier anfangen – – – Bei Ihnen geht es ja eher unförmlich zu. Das ist jetzt vielleicht kein so ganz passender Beginn. – Also hallo! Die Investorin Margit Wennmachers ist einmal gefragt worden, wie sie entscheidet, welches Start-up sie fördert. Ihre Antwort lautete: „Wir suchen nach dem Geheimnis, einer unoffensichtlichen Idee, die auf den ersten Blick vielleicht etwas komisch aussieht.“ Ich finde, das erklärt ganz gut, was Start-ups auszeichnet. Das Offensichtliche, das Altbewährte, das können – jedenfalls meistens – die anderen machen. Das Herz der Start-up-Szene aber schlägt für das Neue, das unmöglich Scheinende und natürlich auch für das Schnelle. Nicht umsonst haben Sie ja auch Nico Rosberg eingeladen und netterweise zu mir an den Tisch gesetzt. Guten Tag! Ich habe den Wink auch ganz gut verstanden und will den Ball gerne aufnehmen. Ja, auch wir in der Bundesregierung wollen und machen Tempo, und zwar ausdrücklich nicht nur beim Bau von LNG-Terminals oder Windrädern, sondern auch, indem wir gute Investitionsbedingungen schaffen, vor allem, was Halbleiter angeht. Infineon in Dresden, Wolfspeed und ZF sind nur zwei Beispiele aus den vergangenen Monaten. Genauso viel Tempo gibt es auch beim Ausbau unserer digitalen Infrastruktur oder beim Kampf gegen unnötige Vorschriften, überlange Genehmigungsverfahren, unzählige Gutachten. Ich will einmal sagen: Bei manchen Prozessen, bei denen Genehmigungen vorgesehen sind, sind Gutachten vorgeschrieben. Irgendwie stammt das alles aus einer Zeit, als wir für ziemlich viel ziemlich viel Zeit hatten. Wenn man jetzt all das, was wir in den nächsten Jahren so genehmigen müssen, zusammenrechnet und schaut, ob wir überhaupt genug Gutachter für all die Gutachten haben, die da vorgeschrieben sind, dann kommt man zum Ergebnis: Wir werden unsere Ziele nicht erreichen. – Deshalb werden wir das Problem wahrscheinlich nicht mit einer wundersamen Gutachtervermehrung lösen können, sondern müssen wohl tatsächlich ein paar Entscheidungen auf andere Weise treffen. Seien Sie sicher: Genau das haben wir vor. Dann geht es eben auch darum, dass all das, was über die lange Zeit hinweg, als wir Wachstum hatten, das ganz gemütlich voranging, und in der wir uns das leisten konnten, wie die Entscheidung über einen Bauantrag oder die Genehmigung eines neuen Sendemasts dann eben ein paar Jahre gedauert hat. Aber diese Zeiten müssen vorbei sein. Deshalb brauchen wir auch eine wache und agile Start-up-Szene. Schon jetzt haben Ihre und eure Unternehmen unser Land und seine Businesskultur verändert. Das Schnelle ist dabei das eine. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass man von vielen verschiedenen Orten aus arbeiten kann. Ich denke da nur an die vielen Cafés in Berlin, die Anfang der Nullerjahre auf einmal mit Laptops überflutet wurden, auf denen dann Uni-Absolventen aus der ganzen Welt ihre Businesspläne tippten. Dann ist da natürlich die Begeisterung für den Wettbewerb, die Fähigkeit, veraltete Strukturen von Leadership aufzubrechen. Schließlich – das ist wohl das Wichtigste – ist da Innovationskraft. Deshalb passen Start-ups auch ganz hervorragend zu Deutschland. Schließlich sind wir ein Land der Tüftler und Schrauber oder der Tüftlerrinnen und Schrauberinnen, ein Land, das sich über seine vielen mittelständischen Unternehmen definiert, die irgendwo zwischen Alpen und Nordsee sitzen, aber oft Weltmarktführer sind, und ein traditionelles Industrieland, das durch Innovation und kluge Köpfe nun zu einem der ersten klimaneutralen Industrieländer werden soll. Die Start-up-Szene macht uns vor, wie wichtig es ist, „first mover“ zu sein, und auf dem Weg zur Klimaneutralität, den die ganze Welt jetzt eingeschlagen hat, will Deutschland „first mover“ sein. Das ist unser „business model“ für die Zukunft. Wir wollen und wir werden das Land sein, das mit seinem Know-how, seinen traditionellen Stärken – kombiniert mit neuen Ideen und mehr Tempo – genau die Technologien entwickelt, die die Welt in der klimaneutralen Zukunft braucht. Dafür brauchen wir Unternehmen, die scheinbar Unmögliches innerhalb von Monaten in Alltägliches verwandeln, die Start-up-Szene eben. Deshalb unterstützt die Bundesregierung gezielt und schafft weitere Verbesserungen für den Start-up-Standort Deutschland. Das ist meine Botschaft heute Abend an die gesamte Start-up-Branche. Gleich zu Beginn unserer Regierungszeit haben wir die Start-up-Strategie beschlossen. Im Sommer werden wir die bisherigen Ergebnisse auswerten und handeln, wo das nötig ist, und da wird sicher viel zu tun sein. Ein Schwerpunkt sind bessere Finanzierungsbedingungen. Wir haben – das ist ja eben schon angesprochen worden – uns darüber ja schon einmal ganz intensiv unterhalten, als ich noch ein anderes Amt innehatte, wobei ich ganz gerne sagen will, dass mich schon ein wenig bewegt, dass wir doch eine Situation haben, in der wir in Deutschland, wenn man genau hinschaut, nicht so viele unterschiedliche Rahmenbedingungen als in vielen anderen Ländern haben. Trotzdem gibt es da Raum für „improvement“. Aber die Frage ist, warum in einem Land, in dem wirklich ganz schön viel Geld vorhanden ist und sehr viele sehr reiche Leute leben und auch viele, die viel geerbt haben, die Kultur, sich mit Start-ups zu beschäftigen und ihre Finanzierung zu ermöglichen, nicht auf gleiche Weise und aus sich heraus gewachsen ist. Die treibt mich um. Was wir machen können, ist ein Thema, das übrigens nicht nur hier für uns wichtig ist, sondern das ja in ganz Europa gilt – ein bisschen anders als in vielen, vielen anderen Ländern. Nun sagen immer alle, die Verantwortung haben: Wir haben das Gleiche wie in Israel, in Kalifornien usw. Aber am Ende des Tages, wenn man die Tabellen ausgefüllt hat und sieht, dass das meiste auch existiert, fragt man sich: Wo ist jetzt der Punkt, an dem sich das viele Geld dann auch tatsächlich mutig irgendwie mit den Start-ups verbindet und daraus etwas macht? Wir sind daraus zu Schlüssen gekommen, zum Beispiel, dass wir uns jetzt nicht heraushalten können. Das wollen wir auch, damit wir diese notwendigen Verbesserungen erreichen können. Ein bisschen ist das aber immer noch und immer wieder die Idee, dass wir ein Feuer der Hoffnung anzünden, dass jetzt andere noch ein paar Scheite dazulegen und das jetzt weiter funktioniert. Aber solange das in der Fläche und der Breite, in der wir uns das wünschen, aus dem sowieso vorhandenen Kapital heraus nicht funktioniert, werden wir unseren Beitrag leisten und das auch weitermachen. Wir bleiben nicht stehen. Mit dem Zukunftsfonds stellt die Bundesregierung deshalb bis 2030 10 Milliarden Euro zur Verfügung. Unser neuer DeepTech & Climate Fonds hat im Februar und April seine ersten Investments in Hochtechnologie-Unternehmen getätigt. Die European Tech Champions Initiative fördert gezielt Tech-Unternehmen in der späten Wachstumsphase, und auch das bewährte Förder- und Finanzierungsinstrumentarium entwickeln wir stetig weiter. Zum Beispiel hat der neu aufgelegte High-Tech-Gründerfonds IV mit fast 500 Millionen Euro privatem und öffentlichem Kapital und 45 beteiligten Investoren unsere Erwartungen übertroffen. Und – ich weiß, darauf warten einige hier im Saal schon, seit ich die Bühne betreten habe -, ja, das Zukunftsfinanzierungsgesetz kommt, wenn wir auch noch nicht genau wissen, wie. Gerade läuft der letzte Feinschliff am Gesetzentwurf, aber das ist, glaube ich, dann tatsächlich die letzte Hand, die daran angelegt wird. Wir wollen versuchen, das noch bis zum Sommer ins Bundeskabinett zu bringen, damit die Gesetzgebung dann auch entsprechend vorangehen kann. Es geht um deutlich besseren Zugang für Start-ups und Wachstumsunternehmen zum Kapitalmarkt. Dazu werden wir unter anderem die Mindestmarktkapitalisierung für Börsengange absenken und Mehrstimmrechtsaktien einführen. Als ehemaliger Finanzminister muss ich solche präzisen Details ab und zu auch einmal in die Rede einfließen lassen. Es geht aber auch um eine deutliche Verbesserung der Standortbedingungen in dem in Ihrer Branche besonders intensiven internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe. Denn die brauchen wir ja für die unoffensichtlichen Ideen. Wir werden Mitarbeiterkapitalbeteiligungen noch attraktiver gestalten, der steuerfreie Höchstbetrag soll weiter deutlich steigen, und wir knüpfen uns auch die Dry-income-Problematik noch einmal vor, indem wir dort die steuerlichen Rahmenbedingungen weiterentwickeln. Last, but not least: Damit die besten Talente nicht nur hierbleiben, sondern auch hierherkommen, haben wir die größte Reform des Einwanderungsrechts für Fachkräfte in der Geschichte unseres Landes auf den Weg gebracht. Ich habe gesehen, Düzen Tekkal ist hier. Sie hat ja sehr eindrucksvoll über ihren „GermanDream“ und über ein weltoffenes Deutschland geschrieben, in dem auch wirklich willkommen ist, wer hier mit anpackt und sich einbringt. Darum geht es, wenn wir uns ein neues Einwanderungsrecht schaffen, das es mit den fortschrittlichsten der Welt aufnehmen kann und vielleicht sogar am Ende tatsächlich das fortschrittlichste sein wird. Ich will das für mich auch noch einmal beschreiben: Wir leben ja in einer Welt, in der es in vielen anderen Ländern eigentlich in die andere Richtung geht, wo bestimmte Bedingungen für eine Fachkräftezuwanderung erschwert werden. Wir sind als Land schon jetzt mit den Regelungen, die wir heute haben, eigentlich eines der offensten für die Fachkräftezuwanderung. Allerdings sind die Regelungen teilweise so kompliziert und so unbekannt, dass sich das noch nicht voll entfalten konnte. Wenn wir das jetzt noch weiterentwickeln und das, was anderswo gut funktioniert, noch hinzunehmen, dann ist das die Rahmenbedingung dafür, dass wir das Wachstum ermöglichen, das in unserem Land stattfinden kann, weil wir nicht nur das Recht haben werden, das für eine erfolgreiche Fachkräftezuwanderung nötig ist, sondern letztendlich auch das gesellschaftliche Klima, das das dann auch unterstützt und fördert, dass das tatsächlich passiert. Dass Deutschland ein Land ist, dass längst ein Land der Hoffnung geworden ist, ist etwas, das ganz viele noch nicht richtig realisiert haben. Aber manchmal empfiehlt sich ja der Blick in die Statistik. In der Statistik zählt Deutschland sehr, sehr konservativ. Als Bürger mit Zuwanderungshintergrund gilt derjenige, der nach 1950 selbst nach Deutschland gekommen ist oder einen Elternteil hat, der in dieser Zeit gekommen ist. Selbst wenn man so konservativ zählt, ist Deutschland ein Land mit 25 Prozent Bevölkerung mit einem Migrationshintergrund. Das ist der Rahmen, in dem wir das, was wir für unser eigenes geschäftliches Wachstum, unseren Erfolg und unsere Offenheit brauchen, auch voranbringen können, und zwar mit dem neuen Einwanderungsrecht, das wir jetzt machen. Wie dringend notwendig das ist, habe ich in Bangalore erlebt. Viele der IT-Spezialisten, die ich dort im Februar getroffen habe, haben durchaus Interesse, auch hier in Deutschland zu arbeiten. Aber wenn sie von den USA, Kanada oder Australien in wenigen Tagen ein Talentvisum erhalten und in Deutschland erst zig Unterlagen zum Konsulat tragen müssen, deutsche Sprachkenntnisse nachweisen müssen und dann nach Ankunft hier noch wochenlang durch Ämter tingeln müssen, dann ist das nicht attraktiv genug und nicht wettbewerbsfähig. Deshalb ändern wir das jetzt. Hier wie auch ansonsten wollen wir, dass die Power in die Produkte, in die Erfindungen geht, nicht in die Bürokratie. „Made in Germany“ ist weltberühmt. Jetzt gilt es „Make it in Germany“ genauso weltberühmt zu machen, übrigens bewusst mit den beiden Bedeutungen: Mach deinen Weg hier in Deutschland und entwickle dein Produkt hier in Deutschland. Deswegen: Alle sollen hier weiter nach dem Geheimnis suchen, nach der unoffensichtlichen Idee! Deutschland kann dabei noch viel lernen. Deshalb danke ich allen, die hier sind, den Finalistinnen und Finalisten, denen ich alles Gute wünsche, sowieso, und ich bedanke mich für die Einladung! Irgendwann komme ich auch mit einem Smoking.
Rede von Bundeskanzler Scholz im Rahmen der Diskussionsreihe „This is Europe“ im Europäischen Parlament am 9. Mai 2023 in Straßburg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-im-rahmen-der-diskussionsreihe-this-is-europe-im-europaeischen-parlament-am-9-mai-2023-in-strassburg-2189408
Tue, 09 May 2023 00:00:00 +0200
Straßburg
Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, meine Damen und Herren, herzlichen Dank für die Gelegenheit, heute am Europatag hier an diesem besonderen Ort zu Ihnen sprechen zu dürfen! Ihre Einladung ehrt und berührt mich. Sie ehrt mich, weil Sie als frei gewählte Abgeordnete 450 Millionen Europäerinnen und Europäern vertreten und damit die Bürgerinnen und Bürger Europas. Sie berührt mich auch deshalb, weil der 9. Mai die einzig richtige zukunftsweisende Antwort auf den von Deutschland entfesselten Weltkrieg gibt, auf zerstörerischen Nationalismus und imperialistischen Größenwahn. Heute vor 73 Jahren schlug der französische Außenminister Robert Schuman vor, ein neues, ein organisiertes und lebendiges Europa zu schaffen. Am Anfang stand die Vergemeinschaftung von Kohle und Stahl, der Güter also, die jahrzehntelang zur Herstellung von Waffen dienten, von Waffen, mit denen noch unsere Großväter und Urgroßväter aufeinander geschossen haben. Der Traum der Väter und Mütter Europas war es, dieses gegenseitige Morden ein für alle Mal zu beenden. Dieser Traum ist für uns in Erfüllung gegangen. Krieg zwischen unseren Völkern ist unvorstellbar geworden, der Europäischen Union zum Dank und zu unser aller Glück. Doch ein Blick in die direkte Nachbarschaft unserer Union zeigt auf furchtbare Weise: Nicht in allen Ländern Europas ist dieser Traum auch Realität. Unter großen Opfern verteidigen die Menschen in der Ukraine Tag für Tag ihre Freiheit und die Demokratie, ihre Souveränität und ihre Unabhängigkeit gegen eine brutale russische Invasionsarmee. – Wir unterstützen sie dabei. Schon die Gründungsväter und -mütter wiesen dem zusammenwachsenden Europa eine Aufgabe zu, die über seine Befriedung im Innern weit hinausreicht. Für sie war klar: Europa trägt globale Verantwortung, weil das Wohlergehen Europas nicht vom Wohlergehen der restlichen Welt zu trennen ist. – In der Schuman-Erklärung klingt das so: „Diese Produktion“ – gemeint sind Kohle und Stahl – „wird der gesamten Welt ohne Unterschied und Ausnahme zur Verfügung gestellt werden, um zur Hebung des Lebensstandards und zur Förderung der Werke des Friedens beizutragen. Europa wird dann mit vermehrten Mitteln die Verwirklichung einer seiner wesentlichsten Aufgaben verfolgen können: die Entwicklung des afrikanischen Erdteils.“ Dieser Entwicklung des afrikanischen Erdteils stand damals vor allem die von Europa betriebene koloniale Ausbeutung unseres Nachbarkontinents entgegen. Schon deshalb muss die Bewältigung der Folgen des Kolonialismus Wesensmerkmal jeder europäischen Partnerschaft mit den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas sein, einer Partnerschaft, die den eurozentrischen Blick der vergangenen Jahrzehnte hinter sich lässt, einer Partnerschaft, die Augenhöhe nicht nur behauptet, sondern herstellt. Solche Partnerschaften zu errichten, scheint mir heute wichtiger denn je. 450 Millionen und nach einer nächsten Erweiterung vielleicht 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger leben in der Europäischen Union. Das macht gerade einmal fünf Prozent der Weltbevölkerung aus. In Asien, Afrika und im Süden Amerikas wachsen neue wirtschaftliche, demographische und politische Schwergewichte heran. Das ist übrigens ein Erfolg der Arbeitsteilung zwischen Ländern und Kontinenten, die eine Milliarde Menschen aus der Armut geführt hat. Sie werden sich zu Recht nicht mit einer bi- oder tripolaren Weltordnung abfinden. Deshalb bin ich fest davon überzeugt: Die Welt des 21. Jahrhunderts wird multipolar sein; sie ist es schon längst. Doch was heißt das für uns in Europa? „Wird Europa das werden,“ – ich zitiere den französischen Schriftsteller Paul Valéry – „was es in Wirklichkeit ist: ein kleines Vorgebirge des asiatischen Festlands?“ Die Antwort darauf finden wir nicht beim Blick zurück. Wer nostalgisch dem Traum europäischer Weltmacht nachhängt, wer nationale Großmachtfantasien bedient, der steckt in der Vergangenheit. Auch diejenigen, die permanent vor Europas Abstieg warnen, gewinnen nicht die Zukunft, zumal sie eines völlig unterschätzen, nämlich wie wandlungs- und handlungsfähig Europa ist. Das haben wir in den Krisen der vergangenen Jahre und der Gegenwart wieder und wieder bewiesen. Denken wir nur daran, wie wir gemeinsam, solidarisch und vereint mit Partnern weltweit durch den vergangenen Winter gekommen sind. Die drei Lehren daraus sind doch folgende: Erstens: Europas Zukunft liegt in unserer Hand. Zweitens: Je geeinter wir Europa aufstellen, desto leichter ist es, uns eine gute Zukunft zu sichern. Drittens: Nicht weniger, sondern mehr Offenheit und mehr Kooperation sind das Gebot unserer Zeit, um Europa in der Welt von morgen einen guten Platz zu sichern, einen Platz nicht über oder unter anderen Ländern und Regionen, sondern auf Augenhöhe mit anderen, an ihrer Seite. Dafür muss sich die Europäische Union verändern. Wir brauchen eine geopolitische Europäische Union, eine erweiterte und reformierte Europäische Union und nicht zuletzt eine zukunftsoffene Europäische Union. Bei all dem sehe ich im Europäischen Parlament eine treibende Kraft und einen Verbündeten. Nehmen wir die Schaffung eines geopolitischen Europas. Hier, vor dem Europäischen Parlament, hat Willy Brandt bereits vor 50 Jahren dessen existenzielle Notwendigkeit bezeugt. „Die Vereinigung Europas“ – so schrieb er uns damals ins Stammbuch – „ist nicht nur eine Frage der Qualität unserer Existenz. Sie ist eine Frage des Überlebens zwischen den Giganten und in der zerklüfteten Welt der jungen und der alten Nationalismen.“ Das Europäische Parlament hat stets nach dieser Maxime gehandelt, und dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Sie handeln danach, wenn Sie die Stärke des Rechts hochhalten und wenn Sie auch uns alle immer wieder daran erinnern, dass Europa nur dann gehört wird, wenn es mit einer Stimme spricht. Zuletzt hat Russlands brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine uns allen gezeigt, wie unverzichtbar diese Erkenntnis ist. Folgerichtig stand die Europäische Union selten geschlossener zusammen als nach diesem infamen Bruch der europäischen und der internationalen Friedensordnung. Auf diese Erfahrung lässt sich ein geopolitisches Europa gründen. Wie, dazu habe ich bei meinem Besuch an der Karlsuniversität in Prag im vergangenen Sommer einige Vorschläge gemacht. Dazu zählt eine noch viel engere Verzahnung unserer Verteidigungsanstrengungen und der Aufbau einer integrierten europäischen Verteidigungswirtschaft. Die Europäische Friedensfazilität, die gemeinsame Beschaffung von Munition zugunsten der Ukraine, die engere Zusammenarbeit vieler unserer Länder bei der Luftverteidigung, unser Strategischer Kompass, eine enge Zusammenarbeit von Nato und Europäischer Union, all das sind richtige Ansätze, die wir vertiefen und beschleunigen wollen. Schon jetzt müssen wir die Weichen für den Wiederaufbau der Ukraine stellen. Ja, das erfordert politisches und finanzielles Kapital, und zwar auf sehr lange Sicht. Zugleich liegt darin eine große Chance nicht nur für die Ukraine, sondern für Europa insgesamt, weil eine prosperierende, demokratische, europäische Ukraine die deutlichste Absage an Putins imperiale, revisionistische, völkerrechtswidrige Politik auf unserem Kontinent ist. Auch im globalen Wettbewerb mit anderen großen Mächten muss Europa bestehen. Die Vereinigten Staaten bleiben Europas wichtigster Verbündeter. Und dabei gilt: In dem Maße, in dem wir nun mehr in unsere Sicherheit und Verteidigung investieren, in zivile Resilienz, in technologische Souveränität, in zuverlässige Lieferketten, in unsere Unabhängigkeit bei kritischen Rohstoffen, in diesem Maße sind wir unseren transatlantischen Freunden bessere Verbündete. Unsere Beziehung zu China ist mit dem Dreiklang „Partner, Wettbewerber, systemischer Rivale“ zutreffend beschrieben, wobei Rivalität und Wettbewerb seitens Chinas ohne jeden Zweifel zugenommen haben. Dies sieht die EU, und darauf reagiert die Europäische Union. Mit Ursula von der Leyen bin ich mir einig: Kein Decoupling, aber ein kluges Derisking lautet die Devise. Die Länder des globalen Südens sind neue Partner, deren Sorgen und berechtigte Interessen wir ernst nehmen. Deshalb ist es so wichtig, dass Europa sich solidarisch und mit Nachdruck für Nahrungsmittelsicherheit und Armutsbekämpfung einsetzt, dass wir die Versprechen einhalten, die wir beim internationalen Klima- und Umweltschutz gegeben haben. Auch das gehört zu einem geopolitischen Europa: Es ist mehr als vernünftig, dass wir nun zügig neue Freihandelsabkommen schließen – mit dem Mercosur, mit Mexiko, mit Indien, Indonesien, Australien, Kenia und perspektivisch mit vielen anderen Ländern -, faire Abkommen, die die wirtschaftliche Entwicklung unserer Partner befördern, nicht behindern. Fair, das bedeutet zum Beispiel, dass die erste Verarbeitung von Rohstoffen dort vor Ort stattfindet und nicht etwa in China oder anderswo. Wenn wir diesen Gedanken in unseren Handelsbeziehungen verankern, dann leisten wir dadurch übrigens auch einen großen Beitrag zur Diversifizierung unserer Lieferketten. Europa muss sich der Welt zuwenden. Denn wenn wir noch jahrelang ergebnislos über neue Freihandelsabkommen weiterverhandeln, dann diktieren künftig andere die Regeln – mit niedrigeren Umwelt- und Sozialstandards. Eine ganz zentrale Entscheidung über die Gestalt eines geopolitischen Europas haben wir im vergangenen Jahr bereits getroffen, und auch dabei war das Europäische Parlament eine treibende Kraft. Wir haben uns für ein großes Europa entschieden. Wir haben den Bürgerinnen und Bürgern der Westbalkanstaaten, der Ukraine, Moldaus und perspektivisch auch Georgiens gesagt: Ihr gehört zu uns. Wir möchten, dass ihr Teil der Europäischen Union werdet! Dabei geht es nicht um Altruismus. Es geht um unsere Glaubwürdigkeit und um wirtschaftliche Vernunft. Und es geht darum, den Frieden in Europa nach der Zeitenwende, die Russlands Angriffskrieg bedeutet, dauerhaft abzusichern. Ein geopolitisches Europa misst sich auch daran, ob es seine Versprechen gegenüber seiner unmittelbaren Nachbarschaft einhält. Eine ehrliche Erweiterungspolitik setzt ihre Versprechen um – allen voran gegenüber den Staaten des westlichen Balkans, denen wir den Beitritt vor sage und schreibe 20 Jahren in Aussicht gestellt haben. Natürlich müssen der begonnene Normalisierungsprozess zwischen Serbien und Kosovo und die Reformen in den Beitrittsländern fortgesetzt werden. Natürlich muss dem politischen Mut Nordmazedoniens ein zügiger Beitrittsfortschritt folgen. Solche Fortschritte müssen dann aber auch unsererseits honoriert werden, sonst verliert die Erweiterungspolitik ihren Anreiz und die Europäische Union an Einfluss und Strahlkraft. Zur Ehrlichkeit gehört: Eine erweiterte Europäische Union muss eine reformierte EU sein. Wohlgemerkt: Die Erweiterung sollte uns nicht der einzige Anlass für Reformen sein, wohl aber ihr Zielpunkt. Und ich begrüße ganz ausdrücklich, dass das Europäische Parlament an Vorschlägen für institutionelle Reformen arbeitet, auch an solchen, die vor dem Parlament selbst nicht Halt machen. Ich werde weiter im Europäischen Rat dafür werben, dass wir uns mit diesen Ideen befassen. Manches liegt auf der Hand, etwa mehr Ratsentscheidungen mit qualifizierter Mehrheit in der Außenpolitik und bei Steuern. Dafür werde ich weiter Überzeugungsarbeit leisten, und dabei bin ich für die breite Unterstützung aus ihren Reihen sehr dankbar. Den Skeptikern will ich sagen: Nicht die Einstimmigkeit, nicht 100 Prozent Zustimmung zu allen Entscheidungen schafft größtmögliche demokratische Legitimität. Im Gegenteil! Es ist doch gerade das Werben und Ringen um Mehrheiten und Allianzen, das uns als Demokratinnen und Demokraten auszeichnet, die Suche nach Kompromissen, die auch den Interessen der Minderheit gerecht werden. Genau das entspricht unserem Verständnis von liberaler Demokratie. Unerlässlich für die Zukunft scheint mir zudem, dass wir auf die Achtung demokratischer Prinzipien und der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU bestehen, und auch hier weiß ich eine ganz große Mehrheit von Ihnen auf meiner Seite. Warum also nutzen wir die anstehende Diskussion über Reformen der Europäischen Union nicht, um die Europäische Kommission darin zu stärken, immer ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, wenn gegen unsere Grundwerte verstoßen wird: Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte? Meine Damen und Herren, noch ein Element muss hinzukommen – ich habe es gerade schon erwähnt. Wir Europäerinnen und Europäer müssen uns der Zukunft öffnen, ohne Wenn und Aber. Das heißt zunächst einmal, die alten Probleme aus dem Weg zu schaffen, die uns seit Jahren lähmen, die dafür sorgen, dass andere Länder uns allzu leicht spalten und gegeneinander ausspielen können. Ich denke dabei zum Beispiel an unseren Umgang mit der Fluchtmigration. Natürlich muss am Ende eine Lösung stehen, die dem Anspruch europäischer Solidarität gerecht wird. Aber wir dürfen doch nicht abwarten, bis diese Solidarität quasi wie der Heilige Geist über uns kommt. Europa, so hat es Robert Schuman heute vor 73 Jahren formuliert, entsteht durch „konkrete Tatsachen“, durch die „Solidarität der Tat“. Deshalb werbe ich dringend dafür, die Fortschritte, die wir bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems im Rat nach langen und schwierigen Verhandlungen erzielt haben, noch vor der Europawahl unter Dach und Fach zu bringen. Ihre Einigung auf eine Verhandlungsposition für zentrale Teile der Reform letzten Monat war ein sehr wichtiger Schritt auf diesem Weg. Jetzt sollen wir die Arbeit daran mit aller Kraft zum Abschluss zu bringen. Uns eint doch das Ziel, irreguläre Migration besser zu steuern und zu ordnen, ohne unsere Werte zu verraten. Dabei können wir uns eines noch viel stärker zunutze machen als bisher: In vielen Teilen Europas brauchen wir inzwischen dringend Arbeitskräfte, auch aus Drittstaaten. Wenn wir solche regulären Migrationschancen konsequent verknüpfen mit der Forderung, dass Herkunfts- und Transitländer diejenigen auch wieder zurückzunehmen, die kein Bleiberecht hier bei uns haben, dann profitieren davon alle Seiten. Auch Maßnahmen für einen wirksamen Außengrenzschutz gehören hierher – so wie wir sie im Europäischen Rat im Februar vereinbart haben. Dann wächst die Akzeptanz für eine kluge, gesteuerte und kontrollierte Zuwanderung in unseren Ländern, und dann entziehen wir denjenigen die Grundlage, die mit Angst und Ressentiments Politik machen. Uns der Zukunft zu öffnen, das heißt auch, die wohl größte Aufgabe entschlossen anzugehen, die vor uns liegt. Ich spreche vom Aufbruch unserer Länder, unserer Volkswirtschaften und Gesellschaften in eine klimaneutrale Zukunft. Die erste industrielle Revolution nahm hier in Europa ihren Anfang. Muss es nicht unser Anspruch sein, dass auch der nächste große Wandel von Europa entscheidend mitgestaltet wird, zum Nutzen aller? Welche Chance dieser Aufbruch für Europa birgt, muss ich Ihnen nicht erklären. Wichtig ist, dass die Bürgerinnen und Bürger unserer Länder dies auch in ihrem Alltag spüren, etwa, weil der Strom aus erneuerbaren Energien in Zukunft günstiger wird, weil es in ganz Europa genug Ladestationen für E-Autos und -Lkws gibt, weil neue, zukunftsträchtige Arbeitsplätze in der Energiebranche oder in der Chipindustrie entstehen, weil wir hier in Europa die Technologien entwickeln und vermarkten, die die ganze Welt für die Wende hin zur Klimaneutralität braucht. Diesen Wandel ambitioniert zu gestalten und dabei gleichzeitig niemanden zurückzulassen, das ist das große Zukunftsprojekt, hinter dem wir Europäerinnen und Europäer uns jetzt versammeln sollten. Um es mit Oscar Wilde zu sagen: „Die Zukunft gehört denjenigen, die die Möglichkeiten erkennen, bevor sie offensichtlich werden“. Sie gehört eben nicht den Nostalgikern, und erst recht gehört sie nicht den Revisionisten, die von nationalem Ruhm träumen und nach imperialer Macht lechzen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer zahlen mit ihrem Leben für diesen Wahn ihres mächtigen Nachbarstaates. 2200 Kilometer nordöstlich von hier, in Moskau, lässt Putin heute seine Soldaten, Panzer und Raketen aufmarschieren. Lassen wir uns nicht einschüchtern von solchem Machtgehabe! Bleiben wir standhaft in unserer Unterstützung der Ukraine, solange das nötig ist! Schließlich will niemand von uns zurück in die Zeit, als in Europa das Recht des Stärkeren galt, als kleinere Länder sich größeren zu fügen hatten, als Freiheit ein Privileg weniger war und nicht ein Grundrecht aller. Unsere Europäische Union, geeint in ihrer Vielfalt, ist die beste Versicherung, dass diese Vergangenheit nicht zurückkehrt. Und deshalb ist die Botschaft dieses 9. Mai nicht das, was heute aus Moskau tönt, sondern unsere Botschaft und die lautet: Die Vergangenheit wird nicht über die Zukunft triumphieren, und die Zukunft, unsere Zukunft, ist die Europäische Union. Vielen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des 14. Petersberger Klimadialogs am 3. Mai 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-14-petersberger-klimadialogs-am-3-mai-2023-2187832
Wed, 03 May 2023 14:42:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Dr. Al Jaber, sehr geehrte Damen und Herren Ministerinnen und Minister, liebe Annalena Baerbock, meine Damen und Herren! „Wir überschätzen immer den Wandel der nächsten zwei Jahre und unterschätzen den der nächsten zehn Jahre.“ Dieser Satz von Bill Gates ist so bekannt, dass er manchen als Gates’sches Gesetz gilt. Doch das zurückliegende Jahr, so scheint es, hat dieses Gesetz außer Kraft gesetzt. Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen die Ukraine war nicht nur ein infamer Bruch der internationalen Friedensordnung. Er hat ein grundlegendes Umsteuern befördert, was unsere Energieversorgung angeht. Deutschland zum Beispiel hat sich innerhalb weniger Monate komplett unabhängig gemacht von russischer Kohle, russischem Öl und russischem Gas. Wer hätte das vor einem Jahr für möglich gehalten? Auch weltweit steuern zahlreiche Länder um. Eine Ursache dafür sind sicherlich auch die zwischenzeitlichen Allzeithochs bei den Energiepreisen, die wir vergangenes Jahr erlebt haben. Vorübergehend mussten viele Länder deshalb stärker auf Kohle zurückgreifen ‑ auch Deutschland. Um 1,2 Prozent ist der weltweite Verbrauch 2022 gestiegen. Das ist nicht gut; diesen Trend müssen wir schnellstmöglich wieder umkehren. Und zugleich bin ich heute zuversichtlicher denn je, dass die Bewegung hin zu den erneuerbaren Energien anhält und sich immer weiter verstärkt. Denn wie selten zuvor hat das Jahr 2022 unser Bewusstsein dafür gestärkt, wie gefährlich Abhängigkeiten von fossiler Energie sind: umwelt- und klimapolitisch, aber eben auch wirtschafts- und sicherheitspolitisch. Deshalb geht es im Handeln der Bundesregierung, aber auch in meinen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen weltweit nicht mehr um das Ob bei der Erreichung unserer Klimaziele, sondern um das Wie, um das „doing“, um die Umsetzung. Endlich! Denn klarer denn je ist: Es gibt keine günstigere und sicherere Energie als erneuerbare Energie, und zwar auch an Orten auf der Welt, die bislang noch keine verlässliche Energieversorgung haben. Aus diesem Bewusstseinswandel entstehen neue Chancen ‑ neue Märkte, neue Handelsbeziehungen und Geschäftsfelder ‑, zum Beispiel bei der Produktion von grünem Stahl und grünem Wasserstoff oder bei der Fertigung von Batterien und Halbleitern. Das bringt mich zum zweiten Teil des Gates’schen Gesetzes: Ich glaube, nach dem Wandel, den wir in den vergangenen zwölf Monaten vorangebracht haben, unterschätzt niemand mehr, welcher Wandel in den kommenden zehn Jahren möglich ist. Welche Kräfte diese Erkenntnis freisetzt, das kann man rund um den Globus beobachten. Ihr Land, sehr geehrter Herr Dr. Al Jaber, ist auf bestem Weg, von einem der größten Exporteure fossiler Energie zu einem führenden Produzenten erneuerbarer Energie zu werden. Und gerade weil der wirtschaftliche Erfolg der Vereinigten Arabischen Emirate bislang zu einem großen Teil auf fossiler Energie beruhte, ist Ihre entschlossene Hinwendung zu klimaneutraler Wertschöpfung und zu Zukunftstechnologien umso beeindruckender. Morgen reise ich nach Kenia, wo bereits heute über 90 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien erzeugt werden. Ziel sind 100 Prozent bis 2030. Namibia möchte einer der führenden Wasserstoffexporteure werden ‑ übrigens auch mithilfe von Investitionen und Technologie aus Deutschland. Bereits in zwei Jahren soll die Ausfuhr beginnen. Mit Indonesien, Südafrika und Vietnam haben wir unter Deutschlands G7-Vorsitz Partnerschaften zum fairen Übergang zu erneuerbaren Energien geschlossen. Damit beschleunigen wir den dortigen sozial gerechten Kohleausstieg und sorgen für saubere Alternativen. Brasilien deckt bereits heute die Hälfte seines Primärenergiebedarfs und rund 80 Prozent der Stromproduktion aus erneuerbaren Energien. Gemeinsam mit der neuen brasilianischen Regierung und vielen befreundeten Ländern machen wir den Schutz des Amazonas wieder zu einer Priorität ‑ wie überhaupt die Anliegen der Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas und der Karibik zu Recht viel weiter oben auf der internationalen Agenda stehen als noch vor einigen Jahren. Bei einer internationalen Konferenz im Juni in Paris und auch auf dem G20-Gipfel in New Delhi werden wir darüber sprechen, wie die multilateralen Entwicklungsbanken einen noch wirkungsvolleren Beitrag zur Entwicklungs- und Klimafinanzierung leisten können. Ich unterstütze dieses Ziel ganz ausdrücklich. Bei der COP27 in Ägypten ist uns mit dem Schutzschirm gegen Klimarisiken ein Durchbruch gelungen zugunsten der Vulnerable 20, der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder. Auch der in Sharm el-Sheikh beschlossene Fonds für Verluste und Schäden kommt voran. Wichtig ist, dass sein Unterstützerkreis breiter wird und dass auch wohlhabende Schwellenländer einen Beitrag leisten. Wichtig ist mir auch, dass wir die Auswirkungen des Klimawandels auf die Landwirtschaft und die globale Ernährungssicherheit abfedern, vor allem in Afrika. Dafür unterstützen wir zum Beispiel das Welternährungsprogramm in den Sahel-Staaten dabei, Böden wieder für die Landwirtschaft nutzbarer zu machen, Ökosysteme wiederherzustellen und sie gegen den Klimawandel zu stabilisieren. Eine zentrale Frage in diesem Zusammenhang ist, wie wir die Versorgung und die regionale klimafreundliche Produktion von Düngemitteln verbessern können. Das wird auch ein Thema bei meinen Gesprächen mit Präsident Ruto in Kenia. Zuversichtlich macht mich auch eine neue Entschlossenheit unter den Industriestaaten, noch schneller und noch ambitionierter voranzugehen. Beim G7-Gipfel in Elmau haben wir uns erstmals auf die Dekarbonisierung des Energiesektors bis 2035 und die Beendigung der Kohleverstromung geeinigt. Beim anstehenden Gipfel in Hiroshima wollen wir daran anknüpfen. Unsere Klima- und Energieminister haben bereits vorgelegt und den Ausbau von 150 Gigawatt Offshore-Windkraft und einem Terrawatt Photovoltaik bis 2030 zugesagt. Eine gute Nachricht für den Klimaschutz ist auch, dass die Vereinigten Staaten unter Präsident Biden den Übergang zu erneuerbaren Energien und klimafreundlichen Technologien wieder vorantreiben. Dafür steht auch der „Inflation Reduction Act“. Wir Europäer mögen nicht mit jeder Einzelregelung einverstanden sein ‑ das sind wir nicht ‑, denn wir brauchen fairen Wettbewerb zwischen Partnern für den Hochlauf wichtiger Klimatechnologien. Darüber sind wir mit den Amerikanern im Gespräch. Das Ziel der US-Regierung aber, nämlich jetzt die Grundlagen zu schaffen für eine klimaneutrale Industrie, das teilen und unterstützen wir zu 100 Prozent. Als Europäische Union haben wir unser eigenes Ambitionsniveau noch einmal erhöht. Dafür steht die Reform des Emissionshandels, die wir vor wenigen Wochen beschlossen haben. Künftig werden 85 Prozent unserer Emissionen einer CO2-Bepreisung unterliegen, mit klarem Enddatum für den CO2-Ausstoß. Das gilt für die Sektoren Verkehr, Gebäude und Industrie jetzt also gleichermaßen. So sorgen wir mit marktwirtschaftlichen Mitteln dafür, dass wir unsere Klimaziele einhalten und beides hinbekommen: klimaneutral zu werden und ein starker Industriestandort zu bleiben. Diesem Ziel dient auch der Klimaclub, den wir Ende letzten Jahres unter unserer G7-Präsidentschaft gegründet haben. Es geht um pragmatische Lösungen für den Klimaschutz, auch jenseits des wichtigen Energiesektors. Dafür wollen wir möglichst viele ambitionierte Länder an einen Tisch bringen, die gemeinsam die klimafreundliche Entwicklung ihrer Industrie voranbringen. Es wäre doch verrückt, wenn wir die Bewältigung dieser Jahrhundertaufgabe in einem Geist der Introvertiertheit und des Protektionismus angehen würden ‑ und das in einem Zeitalter, in dem die Welt so klein geworden ist, in dem Reisen von Menschen und der Austausch von Gütern so vielfältig und bereichernd sind. Deshalb geht es im Klimaclub um gemeinsame Standards und Regeln, und wir wollen miteinander besprechen, wie wir Länder unterstützen können, denen der Zugang zu den nötigen privaten Investitionen noch fehlt. Ich freue mich, dass diese Idee auf so große Resonanz stößt, gerade auch bei vielen wichtigen Schwellenländern. Seit seiner Gründung im Dezember sind neben Chile als Co-Vorsitz zum Beispiel auch Argentinien, Indonesien und Kolumbien Mitglieder im Klimaclub geworden, und ich möchte Sie alle hier ermutigen, diesem Beispiel zu folgen. Je mehr wir sind, die auf vergleichbare Regeln und Standards setzen, je enger wir zusammenarbeiten beim Markthochlauf neuer Technologien, desto weniger Protektionismus, desto weniger droht uns ein Flickenteppich unterschiedlicher Regelwerke, die Fortschritt und Innovationen behindern. Blicken wir also gemeinsam nach vorn ‑ und nehmen wir dabei die Aufbruchsstimmung des vergangenen Jahres mit. Auf nationaler Ebene heißt das: Wir lassen den Worten Taten folgen. Zu lange haben wir uns damit begnügt, ambitionierte Ziele zu formulieren. Bis 2045 klimaneutral zu werden, bis 2030 80 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien zu beziehen: All das ist richtig und all das gilt. Neu ist aber, dass wir diese Ziele nicht nur beschreiben, sondern den Weg dorthin ebnen ‑ und zwar Tag für Tag, wortwörtlich auf vielen einzelnen Baustellen. Es geht dabei nicht um die eine symbolische Entscheidung, den einen Hebel, den wir umlegen, sondern zum Beispiel darum, Planungs- und Genehmigungsverfahren für die Infrastrukturen der Zukunft ganz erheblich zu beschleunigen. Das haben wir gemacht. Es geht darum, einen Boom privater Investitionen in klimafreundliche Technologien auszulösen ‑ durch attraktive Investitionsbedingungen. Dafür steht zum Beispiel der Green Deal der EU, zusammen mit unseren nationalen Investitions- und Förderinstrumenten. Nicht zuletzt brauchen alle ‑ Politik, Unternehmen, die Bürgerinnen und Bürger ‑ Planungssicherheit und einen verlässlichen Rahmen. Deshalb sage ich allen, was es ganz konkret bedeutet, wenn wir in Deutschland 2030 80 Prozent unseres Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien produzieren wollen: Das bedeutet, täglich vier bis fünf Windkraftwerke an Land zu bauen, und 43 Fußballfelder an Photovoltaikanlagen ‑ wohlgemerkt pro Tag. Das bedeutet, für neue Schienenwege und Energienetze zu sorgen, so wie wir das jetzt beschlossen haben. Und das bedeutet, schrittweise auf eine CO2-neutrale Wärmeversorgung umzustellen. Dafür müssen wir alte Heizungen nach und nach durch klimafreundliche ersetzen ‑ auch diese Wahrheit gehört ausgesprochen. Wir begleiten das mit Förderprogrammen, damit jede Bürgerin und jeder Bürger diesen notwendigen Schritt hin zur Wärmewende ohne Sorge vor der eigenen finanziellen Zukunft gehen kann. Nach vorne schauen und handeln: Dieser Anspruch leitet uns auch in der internationalen Klimapolitik. Wir alle blicken dabei natürlich auf die nächste Klimakonferenz in Dubai, sehr geehrter Herr Dr. Al Jaber. Schließlich ist dort zum ersten Mal die im Pariser Abkommen vorgesehene globale Bestandsaufnahme vorgesehen. Für Deutschland und für ganz Europa ist dieser Mechanismus das Herzstück des Klimaabkommens. Deshalb hat die EU sich in ihrem Klimagesetz bereits darauf verständigt, spätestens sechs Monate nach der Bestandsaufnahme in Dubai eigene Zwischenziele für die Zeit nach 2030 zu beschreiben. Wir hoffen, dass viele Ihrer Länder das ebenfalls tun. Noch etwas möchte ich gern vorschlagen, was wir in Dubai gemeinsam beschließen könnten: ein klares Ziel zum globalen Ausbau der erneuerbaren Energien, zum Beispiel die Verdreifachung des Zubaus bis 2030. So würden wir ein deutliches Signal an die Real- und die Finanzwirtschaft senden, wohin die Reise geht. Denn schließlich ‑ auch darum wird es in Dubai gehen ‑ müssen wir den großen Wandel hin zur Klimaneutralität auch finanzieren, und das geht nur mit öffentlichen und privaten Investitionen. Ich weiß um die großen Unterschiede, die es bei der Finanzierung kapitalintensiver klimafreundlicher Anlagen und Infrastruktur nach wie vor gibt auf der Welt. Klar ist auch: Marktfähige saubere Technologien nützen nichts, wenn die Kapitalkosten zu hoch sind und die Rentabilität daher zu niedrig ist. Doch auch daran können wir etwas ändern. Der Grüne Klimafonds hat schon heute viel Erfahrung mit der Finanzierung klimafreundlicher Geschäftsmodelle. Meine Kollegin, Entwicklungsministerin Svenja Schulze, wird Ihre Länder deshalb im Oktober zur zweiten Wiederauffüllkonferenz nach Bonn einladen. Auch hier lassen wir Worten Taten folgen. Daher kann ich Ihnen heute ankündigen, dass Deutschland plant, die zweite Wiederauffüllung mit zwei Milliarden Euro zu unterstützen. Das ist noch einmal ein Drittel mehr als bei unserer letzten Einzahlung. Und ich appelliere an die vielen traditionellen und auch an mögliche neue Geldgeber: Lassen Sie uns die Erfolgsgeschichte des Fonds weiterschreiben! Er ist heute wichtiger denn je. Und auch das will ich hier noch einmal deutlich bekräftigen: Deutschland steht auch zu seinem Versprechen, die Mittel für die internationale Klimafinanzierung bis 2025 auf sechs Milliarden Euro zu erhöhen. Dabei geht es um unsere Glaubwürdigkeit, und darum, dass jede Tonne CO2, die irgendwo auf der Erde eingespart wird, ein gemeinsamer Erfolg ist. Meine Damen und Herren, das zurückliegende Jahr hat uns gezeigt, wie viel Wandel in ganz kurzer Zeit möglich ist. In Dubai haben wir die Chance, daran anzuknüpfen und so dafür zu sorgen, dass das Gates’sche Gesetz vielleicht umformuliert werden muss. Wir mögen unterschätzt haben, was wir alles in einem Jahr verändern können. Aber umso mehr wissen wir jetzt, wie viel Wandel in den nächsten zehn Jahren möglich ist. Lassen Sie uns diesen Wandel gemeinsam voranbringen! Schönen Dank und noch einmal willkommen in Berlin!
in Berlin
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Spatenstichs zur Infineon Smart Power Fab am 2. Mai 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-spatenstichs-zur-infineon-smart-power-fab-am-2-mai-2023-2187812
Tue, 02 May 2023 14:38:00 +0200
Im Wortlaut
Dresden
Sehr geehrter Herr Hanebeck, sehr geehrte Frau Kommissionspräsidentin, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, meine Damen und Herren, schönen Dank für die Einladung nach Dresden. Ich bin sehr froh, heute bei diesem zukunftsweisenden Projektstart dabei zu sein. Denn es kann gar nicht eindringlich genug bekräftigt werden, warum die Infineon Smart Power Fab und weitere Investitionen in die Halbleiterindustrie so wichtig sind ‑ hier bei uns in Deutschland, hier bei uns in Europa. Halbleiter werden oft als das „Erdöl des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet, der eine Rohstoff sozusagen, von dem fast alles andere abhängt. Warum ist das so? ‑ Weil wir uns als Gesellschaft auf den Weg gemacht haben, von den fossilen Energieträgern des 19. und des 20. Jahrhunderts unabhängig zu werden ‑ vom Öl, von der Kohle und vom Gas. Nur so werden wir die Grundlagen des Lebens auf unserem Planeten erhalten. Darum ist die Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft die zentrale Aufgabe dieses Jahrhunderts. Die Bundesregierung hat sich dafür ehrgeizige Ziele gesetzt: Bis 2030 wollen wir 80 Prozent der dann benötigten Energie aus erneuerbaren Quellen beziehen. Bis 2045 soll Deutschland vollständig klimaneutral sein. Das schaffen wir nur mit Anstrengungen auf allen Gebieten unseres Lebens und Wirtschaftens. Das schaffen wir nur, wenn wir die Windkraft massiv ausbauen. Das schaffen wir nur, wenn wir die Photovoltaik massiv ausbauen. Das schaffen wir nur mit Wärmepumpen und mit Elektromobilität. Alle diese Bereiche haben eines gemeinsam: Sie brauchen Halbleiter, sehr viele Halbleiter, Halbleiter und nochmals Halbleiter! Schon in einem einzigen modernen Elektroauto stecken rund 1500 Chips. Das ist zunächst einmal gut für Infineon, das ist gut für Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aber wichtig ist auch, dass wir gerade hier bei uns in Deutschland und hier bei uns in Europa weiter in unsere Halbleiterkapazitäten investieren. Denn wenn wir so auf Halbleiter angewiesen sind, dann müssen wir aufpassen, dass wir beim Zugang zu diesen Halbleitern nicht allein von anderen Weltregionen abhängig sind. Das ist die strategische Dimension. Dabei setzen wir nicht auf europäische Autarkie, nicht auf den Rückbau globaler Liefer- oder Wertschöpfungsketten, nicht auf die Abkoppelung von Wirtschaftsräumen ‑ „decoupling“ wird das ja genannt. Das wäre ganz sicher der falsche Weg. Eins aber brauchen wir. Das ist kluges, vorausschauendes „de-risking“ ‑ so wie du das vor einigen Wochen unterstrichen hast, liebe Ursula. Das bedeutet, unsere Risiken zu verringern, unsere Bezugsquellen zu diversifizieren, unsere eigenen Kapazitäten hier bei uns in Europa strategisch auszubauen. Deshalb hat die EU-Kommission Deutschlands volle Unterstützung bei dem Ziel, bis 2030 20 Prozent der weltweiten Halbleiterproduktion in Europa zu haben. Wir begrüßen und unterstützen den European Chips Act nicht nur ‑ wir erfüllen ihn auch mit Leben. Dafür steht der heutige Tag. Es ist eine hervorragende Nachricht, dass Infineon mit dem Chips Act im Rücken die nötigen Anreize hat, weiter in Deutschland zu investieren. Denn die hier in Dresden gefertigten Chips sichern Arbeitsplätze, Wohlstand und Zukunft. Sie helfen mit, unsere Industrie widerstandsfähiger zu machen. Sie versorgen unsere Unternehmen ‑ vom Mittelstand bis zum Großkonzern ‑ mit genau den Bauteilen, die sie brauchen, um mit umweltfreundlichen Technologien weltweit erfolgreich zu sein. Noch eine weitere Bedingung ist entscheidend, damit wir die Transformation erfolgreich meistern. Wir müssen schnell sein und noch schneller werden. Wir brauchen weiter Druck auf dem Kessel. Darum geht es, wenn ich vom Deutschlandtempo spreche. Im vergangenen Jahr haben wir bereits die Planungs- und Genehmigungszeiten für Netze und Windräder erheblich reduziert. Offshore-Windparks können jetzt schneller genehmigt, gebaut und angeschlossen werden. An Land gelten für die Windkraft verbindliche Flächenziele. Der Ausbau der Erneuerbaren hat gesetzlichen Vorrang vor anderen Rechtsgütern. Mit den jüngsten Beschlüssen der Bundesregierung nimmt unser Land jetzt noch mehr Fahrt auf. Für Windräder und Photovoltaik wird es zusätzliche Flächen geben. Ich bin, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, der sächsischen Landesregierung sehr dankbar dafür, dass Sie beim Ausbau der Windkraft Bremsklötze gelöst haben. Auch marode Brücken können nun schneller ersetzt und stauanfällige Autobahnen schneller ausgebaut werden. Wir beschleunigen den flächendeckenden Ausbau der Ladeinfrastruktur, damit wir bis 2030 auch wirklich 15 Millionen Elektroautos auf unsere Straßen bringen. Und nochmals: Für all diese Vorhaben brauchen wir Halbleiter. ‑ Darum können auch Projekte wie dieses von Infineon keine Ewigkeiten warten. Auch hier in Dresden muss es im neuen Deutschlandtempo schnell vorangehen – und es geht schnell voran. Die für Infineon notwendigen Anreize im Rahmen des Chips Act haben wir ohne Zeitverlust geschaffen. Lieber Herr Hanebeck, in Ihrer Einladung an die Bundesregierung für den heutigen Tag lobten Sie die ‑ ich zitiere – „beachtliche Demonstration der Geschwindigkeit und Effizienz der deutschen Ministerialverwaltung“. Das ist ein Lob, das ich gern an alle Beteiligten weitergebe. Herzlichen Dank! Denn genau das ist unser Anspruch. Ob Infineon in Dresden, Tesla in Brandenburg oder Wolfspeed/ZF im Saarland, wir brauchen das neue Deutschlandtempo für unseren gemeinsamen Erfolg. Dieses Tempo entwickelt sich zu unserer Stärke. Noch etwas will ich hervorheben: Dass wir den heutigen Spatenstich für ein so zukunftsweisendes Projekt hier in Dresden feiern, ist eine ganz besondere Erfolgsgeschichte. Vor knapp dreißig Jahren, 1994, wurde der damalige Siemens-Standort nicht zufällig hier in Dresden gegründet. Seinerzeit nahm man den Faden wieder auf, der 1990 mit dem Ende des „VEB Kombinat Robotron“ gerissen war. Das Werk wurde zu dem Nukleus, aus dem das innovative und forschungsintensive Cluster Silicon Saxony gewachsen ist und weiter wächst. Es ist auffällig und erfreulich: Gerade in großen traditionellen Industrieregionen in unserem Land entstehen heute wieder moderne und wichtige Schlüsselindustrien, neue Arbeitsplätze und neue Wertschöpfung, neue Perspektiven und neue Zuversicht. Auch im Saarland und in Sachsen-Anhalt sollen schon bald Halbleiter gefertigt werden. Brandenburg baut Elektroautos. Aus Mecklenburg-Vorpommern kommen Geothermie und grüner Wasserstoff. An Standorten im ganzen Land entstehen Batteriefabriken. Auch in der Lausitz, in Kamenz, in Döbeln, in Leipzig gibt es solche Projekte. Sachsen ist das Paradebeispiel für die Reindustrialisierung, die wir jetzt voranbringen. Schon jetzt ist Dresden die Nummer eins in der europäischen Chipproduktion. Jeder dritte in Europa produzierte Chip ist „Made in Saxony“. Es ist gut, dass der heutige Spatenstich hier in Dresden bei Infineon diese Entwicklung fortsetzt. Ich habe aus meinen Gesprächen mit anderen internationalen Investoren übrigens nicht den Eindruck, dass diese Großinvestition die letzte ist, die wir hier in Silicon Saxony erleben werden. Zugleich wird die neue Smart Power Fab von Infineon ein entscheidender nächster Schritt auf dem Weg der Transformation, die wir uns in Deutschland vorgenommen haben. Dieser Aufbruch ist die große Chance für unser Land. Dieser Aufbruch ist der richtige Weg für Deutschland. Allen, die das noch immer nicht recht glauben, sollten wir heute gemeinsam zurufen: Schaut hierher nach Dresden! Hier entsteht Deutschlands Zukunft. Schönen Dank.
in Dresden
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Zukunftsforums Wirtschaft – Arbeit – 2030 am 2. Mai 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-zukunftsforums-wirtschaft-arbeit-2030-am-2-mai-2023-2187824
Tue, 02 May 2023 15:20:00 +0200
Im Wortlaut
Dresden
Einen schönen guten Tag auch von meiner Seite! Ich bin sehr glücklich, dass wir hier miteinander diskutieren können. Und damit es jetzt auch alle mitbekommen: Ja, in der Tat wurde mir alles vorgetragen, und ich habe auch sorgfältig mitgeschrieben. Das ist in der Tat richtig. Wir diskutieren in einer ganz besonderen Situation für unser Land. Einerseits sind wir durch viele Krisen sehr herausgefordert, die über uns gekommen sind und die wir uns alle gerne nicht gewünscht hätten. Da war die COVID-19-Pandemie, die Deutschland, Europa und die ganze Welt erfasst hat und neben den gesundheitlichen Herausforderungen auch große, große ökonomische und soziale Verwerfungen mit sich gebracht hat. Wir haben in Deutschland und in Europa sehr viel öffentliches Geld eingesetzt, um durch diese Zeit zu kommen. Das ist auch gelungen, wenn man sich anschaut, wie sich die Wirtschaft entwickelt hat und Arbeitsplätze stabilisiert worden sind. Aber es war eine sehr große Herausforderung, die man gar nicht überschätzen kann. Gleich nachdem das zu Ende war und alle dachten, „jetzt starten wir durch“, hat Russland die Ukraine überfallen, einen furchtbaren Angriffskrieg begonnen und einen Konsens aufgekündigt, den wir über Jahrzehnte in Europa hatten, dass nämlich mit Gewalt keine Grenzen verschoben werden. Stattdessen versucht Russland, einfach einen Teil des Nachbarlandes irgendwie zu seinem eigenen Besitz zu machen. Das kennen wir, je länger wir zurückschauen, aus der Geschichte. Aber eigentlich dachten wir, dass wir im 21. Jahrhundert in einer Zeit leben, in der das ‑ jedenfalls dort, wo wir sind ‑ nicht mehr passiert und möglichst in der ganzen Welt nicht passiert. Weil das so dramatisch ist, vielleicht doch noch einmal dieser Hinweis: Als das im Sicherheitsrat diskutiert wurde, war der kenianische Botschafter dort und hat gesagt: Wisst ihr eigentlich, wie in Afrika die Grenzen gezogen worden sind? Betrunkene Kolonialherren haben einfach quer durch Landschaften, Völkerschaften und alles Mögliche Grenzen festgelegt. Wenn wir jetzt versuchen würden, diese Grenzen in irgendwelche natürlichen, historischen oder anderen Gegebenheiten zu verwandeln, hätten wir viele Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte Krieg. Darum ist es so wichtig, dass wir alles dafür tun, dass das nicht gelingt, dass man sich einfach etwas raubt. Das kann zu einer gut funktionierenden Friedensordnung nicht dazugehören. Für uns ‑ und darum habe ich das hier und heute angesprochen ‑ bedeutet das natürlich die nächste große ökonomische Herausforderung. Das, was der deutsche Staat gemacht hat, um auch diese Krise zu bewältigen, ist, noch einmal ordentlich Mittel zu mobilisieren. Aber es sind viele, viele hunderte Milliarden Euro, die wir am Ende ausgegeben haben werden, um sicherzustellen, dass wir durch diese Zeit kommen. Alle hatten große Angst, als der Krieg losging, wie es ökonomisch wohl weitergeht. Alle machten sich Sorgen, was passiert, wenn Russland tatsächlich aufhört, Gas zu liefern, was es dann ja auch getan hat. Dann haben wir Sorgen gehört: Schaffen wir das? Kriegen wir es hin, dass wir die Wirtschaft aufrechterhalten können, die Energieversorgung im Winter gewährleisten können? Wird es kalt werden? All das ist nicht passiert, weil wir uns zusammengerissen haben, weil wir zusammengehalten haben, weil wir die Ärmel hochgekrempelt und dafür gesorgt haben, dass in kürzester Zeit alles anders wird, als es vorher war. Wir haben unsere Gasspeicher gefüllt. Wir haben dafür gesorgt, dass Norwegen uns mehr liefert. Wir haben dafür Sorge getragen, dass wir über die westeuropäischen Häfen mehr Gas bekommen und haben an den norddeutschen Küsten neue Terminals errichtet und Pipelines gebaut, damit wir Gas bekommen können und einen Ersatz für die bisherigen Liefermöglichkeiten haben. Dass uns das gelungen ist, ist etwas, worauf dieses Land sehr stolz sein kann. Das hat auch dazu geführt, dass alle etwas respektvoll auf uns gucken. Denn das habe ich schon in manchen Ländern gesehen: Da waren welche, die sehr besorgt waren, weil ihre Wirtschaft sehr davon abhängt, wie das in Deutschland läuft. Aber es waren auch ganz viele dabei, die geguckt haben: Na, jetzt sehen die mal! – Hinterher sind alle ganz froh, dass es anders gekommen ist, aber sie sagen auch: Wer hätte es wohl sonst so hingekriegt, eine solche Herausforderung zu bewältigen? Für uns ist das aber Anlass ‑ und das ist der Grund, warum ich das hier auch sagen will ‑, jetzt nicht stehen zu bleiben und zu sagen: „Wir bringen das jetzt noch zu Ende, und dann ist alles wieder, wie es vorher war.“ Sondern wir müssen dafür Sorge tragen, dass wir nicht wieder neu in große Abhängigkeiten geraten. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass wir den möglichen Aufbruch unserer Volkswirtschaft, die Zukunft, die wir erreichen wollen, auch tatsächlich schaffen, dass wir es hinkriegen, dass das für alle möglich wird, die bei uns leben. Das ist mir aus vielen Gründen wichtig. Einmal ist mir das der Sache wegen wichtig. Wirtschaftlicher Aufschwung ist immer etwas Gutes und bedeutet viele Arbeitsplätze und Unternehmen, die gut funktionieren. Das ist mir wichtig, weil ich glaube, dass wir es damit auch schaffen können, dass der menschengemachte Klimawandel aufgehalten wird und wir vorne dabei sind, wenn es um Digitalisierung geht. Das muss man ja sagen, wenn in Dresden so viele Halbleiter gefertigt werden, wie wir jetzt sehen werden. Aber es geht auch um etwas ganz anderes, nämlich darum, dass wir in Bezug auf das zuversichtlich sind, was vor uns liegt. Gesellschaften, Staaten, die glauben, dass früher alles besser war, dass die Vergangenheit besser war als die Zukunft sein wird, werden irgendwann schlecht gelaunt und bekommen auch keine gute Zukunft mehr. Deshalb brauchen wir die Vorstellung, dass wir etwas erreichen, bewirken können, das zu einer besseren Zukunft für uns, unsere Kinder und Enkel führt und dazu beiträgt, dass wir der Welt, in der wir demnächst leben werden, mutig entgegenblicken können. Dass sich viele nicht nur wegen des Klimawandels, sondern auch wegen der Veränderungen in der Welt Sorgen machen, ist ja nur zu plausibel. Wir werden auf diesem Planeten bald zehn Milliarden Einwohner haben. Das bedeutet nicht nur, dass da jetzt einfach zehn Milliarden leben, sondern viele Milliarden werden einen ähnlichen Wohlstand haben, wie wir ihn heute genießen. Das ist gut, verändert aber natürlich weltwirtschaftliche Gewichte. Deshalb ist die Frage: Was ist unser Ziel? Was wollen wir erreichen? Welche Perspektive haben wir uns als heute viertgrößte Volkswirtschaft der Welt vorgenommen? Dass wir technologisch und wirtschaftlich mit dem, was wir können, weiterhin vorn dabei sind, dass Technologien, die für die Welt wichtig sind, bei uns entwickelt und von uns vertrieben werden und dass sie bei uns eingesetzt werden können, das ist das, was wir zustande bringen müssen. Das ist in einer sich so ändernden Welt erreichbar. Deshalb bin ich froh, dass ich hier mit denen, die das alles machen müssen, diskutieren kann. Denn wenn wir das für Deutschland schaffen und erreichen wollen, dann bedeutet das, dass wir zuallererst dafür sorgen müssen, dass hier und überall in Deutschland ganz viele Windräder gebaut werden, noch mehr als wir schon kennen. Offshore, auf hoher See, wird das sehr, sehr groß, auch im Verbund. Ich war gerade auf einer Veranstaltung, auf der Großbritannien, Norwegen und Dänemark dabei waren, auf der die Niederlande, Belgien, Frankreich und Irland dabei waren, um irgendwie die Nordsee und drum herum zu erschließen, und zwar auch mit einem technischen Verbund. Das gilt auch für das, was wir an Windrädern an Land bauen müssen, fünf bis sechs pro Tag. Wir brauchen, damit das klappt, mit den Zielen, die wir haben, um wirtschaftlich unabhängig zu sein und die Energiewende zu erreichen, auch 40 Fußballfelder Solaranlagen pro Tag. Wir müssen in großer Menge Elektrolyseanlagen und Biomasse produzieren. Wir müssen Tausende Kilometer Stromleitungen bauen, auch regelmäßig in großem Tempo, damit das gelingt, was unsere Volkswirtschaft und die Volkswirtschaften der Welt in Zukunft prägen wird, nämlich ein hohes Maß an Elektrifizierung und andere Gase als das, was wir heute nutzen, Kohle, Öl und Gas, statt Erdgas nämlich Wasserstoff. All diese Technologien sind in Deutschland auf einem hohen Entwicklungsstand vorhanden. In vielen Fällen sind wir technologischer Weltmarktführer. Deshalb haben wir auch die Möglichkeit, darüber, dass wir das bei uns machen, gleichzeitig neue Wirtschaftskraft für unser Land zu generieren. Ist das möglich? ‑ Ich bin ziemlich sicher davon überzeugt. Müssen wir uns dazu ändern? ‑ Ich bin davon noch mehr überzeugt. Denn wir haben uns in den letzten Jahrzehnten liebevoll angewöhnt, darauf zu setzen, dass es gemächlich vorangeht, dass man Stück für Stück vorankommt, dass sich erst einmal nichts groß ändert und dass man für alles Zeit hat. Also haben wir Vorschriften, die dazu führen, dass wir, wenn wir all diese Vorschriften genau beachten, in keinem Fall 2030 80 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien haben werden, und auch noch mehr als heute. Das könnte ich für viele andere Themen fortsetzen. Das würde und wird nicht gelingen, wenn wir das so lassen, wie es jetzt ist. Darum haben wir vor, das Deutschlandtempo, das wir an den Tag gelegt haben, als wir Deutschland in die Lage versetzt haben, dass der jüngste Winter nicht zu einer großen Wirtschaftskrise und einer Heizungskrise wird, auch auf alle anderen Bereiche anzuwenden. Wir werden Vorschriften abschaffen und haben schon viele verändert, die dem Wachstum und den Entwicklungsmöglichkeiten, die wir haben, bisher im Wege gestanden haben. Das will ich Ihnen hier und heute gern sagen: Wir wollen noch viel mehr Vorschriften abschaffen, die da heute im Wege stehen. Die Sache, die mich am meisten beeindruckt ‑ auch das haben wir in unserem Gespräch erörtert ‑, ist folgende: Überall haben wir hineingeschrieben: Da muss ein Gutachten her! ‑ Manchmal steht es gar nicht im Gesetz, aber der zuständige Mitarbeiter im Landratsamt denkt: Ich weiß auch nicht, wie es geht – also erstmal Gutachten! Wenn wir all die Gutachten, die vorgeschrieben sind oder so bestellt werden, zur Voraussetzung für die Genehmigungsentscheidungen machen, die wir brauchen, damit etwas aus diesen Wachstumsmöglichkeiten wird, dann sind wir nicht 2030 fertig und wahrscheinlich noch nicht einmal 2050. Das heißt, dass wir prüfen müssen, an welchen Stellen man etwas ändern und Entscheidungen anders möglich machen kann. Man kann ‑ das will ich dazusagen ‑ vielleicht auch auf etwas setzen, was in unserem Land eine lange, lange Tradition hat, nämlich berufliche Qualifikation. Der Meisterbrief zum Beispiel ist ja mehr als die Bescheinigung, dass man etwas kann. Er ist auch eine öffentliche Garantie, die man ausspricht, dass man gewissermaßen dafür sorgt, dass das alles fachgerecht erfolgt und dass es den gesetzlichen Vorschriften entspricht. Vielleicht können wir bei manchen Dingen, für die heute komplizierte Genehmigungen notwendig sind, sagen: Wenn das von dem oder der, der oder die das macht, garantiert wird, dann muss es auch gehen, und wir können uns darauf verlassen. ‑ Wir werden gar keine Alternativ zu solchen und anderen Entscheidungen haben, weil wir die Dinge sonst nicht in dem notwendigen Tempo hinbekommen. Was bedeutet das für uns noch? ‑ Wenn es uns gelingt, dass es viel Wachstum gibt ‑ davor sollte man sich nicht fürchten; Wachstum ist immer gut ‑, wenn uns das gelingt, dann brauchen wir auch viele Arbeitskräfte. Dafür müssen wir etwas tun, und zwar mit Ausbildung. Die duale Ausbildung, die Lehre, das ist eine ganz große Kompetenz aus Deutschland und immer noch prägend für unsere Wirtschaft. Aber wir müssen auch etwas tun, damit das tatsächlich klappt und wir auch Fachkräfte von anderswo hinzuholen. So, wie uns das in den letzten Jahrzehnten gelungen ist, wird das auch für die Zukunft wichtig sein. Deshalb will ich mit dem, was ich hier eingangs sage, eigentlich schließen, nämlich mit den Worten: Wenn tatkräftige Frauen und Männer anpacken und wir als Staat es gut machen, dann haben wir eine Zeit vor uns, in der wir vielleicht mehr Wachstum haben werden, als wir es in den letzten Jahren gewohnt waren, und in der wir eine gute Zukunft für unser Land erreichen, die dann für viele kommende Generationen eine stabile Basis für das ist, was diese sich dann vornehmen werden. Schönen Dank.
in Dresden
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Grundsteinlegung für die Chemical Innovation Plant der Firma Boehringer Ingelheim am 2. Mai 2023 in Ingelheim am Rhein
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-grundsteinlegung-fuer-die-chemical-innovation-plant-der-firma-boehringer-ingelheim-am-2-mai-2023-in-ingelheim-am-rhein-2187448
Tue, 02 May 2023 12:00:00 +0200
Ingelheim am Rhein
Sehr geehrter Herr von Baumbach, liebe Frau Nikolaus, sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Malu, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, sehr geehrte Frau Landrätin, verehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrter Herr Steutel, meine Damen und Herren, vor allem aber liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Boehringer Ingelheim, es gibt Unternehmen, die sind zum Synonym geworden für die Orte, an denen sie produzieren. Bei VW denkt wohl jeder sofort an Wolfsburg, bei BASF an Ludwigshafen und bei Boehringer natürlich an Ingelheim. So fest etabliert, so erfolgreich ist diese 138-jährige Symbiose zwischen Unternehmen und Ort, dass Boehringer Ingelheim seine Heimatstadt sogar im Firmennamen trägt. Damit bin ich bei dem, was wir heute feiern. Wir feiern Boehringer Ingelheims Bekenntnis zu Deutschland als Pharma- und Chemiestandort mit Tradition und Zukunft. Dafür stehen die Investitionen ‑ im Plural ‑, die Sie hier in Deutschland tätigen. Sie haben die Einweihung des Biological Development Center in Biberach vergangene Woche schon erwähnt. Es steht für Boehringers Exzellenz im Bereich der Biotechnologie. Dazu auch von mir herzlichen Glückwunsch! Heute, nur wenige Tage später, legen wir den Grundstein für die erfolgreiche Zukunft des Pharmastandorts Ingelheim. Sie haben sich bewusst entschieden, hier auch künftig chemische Wirkstoffe für Ihre Pharmazeutika selbst zu entwickeln und herzustellen. Das sichert Ihrem Unternehmen einen Innovationsvorsprung. Das ist gut für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die hier schon in drei Jahren arbeiten werden, und das ist gut für Deutschland. Der Krieg in der Ukraine, die Pandemie, die damit zusammenhängenden Probleme in den weltweiten Lieferketten haben uns doch eines gezeigt: Bei bestimmten kritischen Produkten dürfen wir nicht abhängig sein von nur einem oder zwei Lieferanten. Das gilt natürlich ganz besonders für Produkte wie Ihre, die Krankheiten heilen oder Symptome lindern. Deshalb sendet die Chemical Innovation Plant, die hier in Ingelheim entsteht, so ein wichtiges Signal. Deshalb war es mir auch wichtig, hier zu sein. Ich stimme Ihnen voll und ganz zu, sehr geehrter Herr von Baumbach, wenn Sie ein investitionsfreundliches Umfeld hier in Deutschland einfordern. Malu Dreyer hat schon gesagt, wie viel das Land Rheinland-Pfalz dafür tut: durch Innovationen und Forschung, durch die Vernetzung von Hochschulen und Unternehmen und durch eine kluge Standortpolitik. Dass sich das auszahlt ‑ im wahrsten Sinne des Wortes ‑, das kann man nicht nur „An der Goldgrube“ in Mainz sehen, sondern seit Langem auch hier, bei Boehringer Ingelheim. Auch der Bund trägt seinen Teil zu solchen Erfolgsgeschichten made in Germany bei. Für die chemische Industrie geht es vor allem um Energiesicherheit und eine bezahlbare Energieversorgung. Darüber haben Malu Dreyer und ich erst im Februar mit den hier am Chemiestandort Rheinland-Pfalz ansässigen Unternehmen gesprochen. Auch Sabine Nikolaus von Boehringer war dabei. Die Zusage, die ich hier im Februar gegeben habe, gilt: Ja, wir werden bis 2045 klimaneutral, so wie unsere Nachbarn, so wie zahlreiche andere Länder weltweit, und zugleich bleibt Deutschland ein führendes Industrieland. Da gibt es kein Entweder-oder. Deshalb haben wir in den vergangenen Monaten in Windeseile eine völlig neue Importinfrastruktur für Flüssiggas aufgebaut. Die Energiepreise sind seitdem deutlich gefallen. Deshalb haben wir unnötige Bürokratie abgebaut, neue Flächenziele für erneuerbare Energien festgeschrieben und Genehmigungsverfahren massiv beschleunigt. Deutschland nimmt Fahrt auf, und das kann jeder sehen, der im Land unterwegs ist und sich anschaut, wo gerade überall investiert wird. Ich weiß, Boehringer Ingelheim ist in Sachen Energie schon einige Schritte weiter als manch anderes Unternehmen. Seit Oktober 2021 kommt der Strom an Ihren deutschen Standorten ganz überwiegend aus erneuerbaren Energien, und mit dem neuen Biomasse-Heizkraftwerk, das Anfang 2024 hier ans Netz gehen soll, werden Sie in Ingelheim praktisch zum klimaneutralen Selbstversorger. Das ist beispielhaft. Das gibt Zuversicht, denn es zeigt: Es geht! Klimaneutral zu werden und ein erfolgreiches Industrieland zu bleiben – das ist möglich! Uns eint das Ziel, dass wichtige Medikamente und ihre Vorprodukte auch künftig hier in Deutschland und Europa hergestellt werden. Deshalb haben wir Mitte April ein Gesetz auf den Weg gebracht, das Anreize für die Produktion versorgungskritischer Arzneimittel in Deutschland und Europa bietet. Was aber mindestens genauso wichtig ist: Wir wollen, dass Deutschland und Europa führende Standorte auch für Spitzenforschung und Entwicklung bleiben. Das ist entscheidend für ein Unternehmen wie Ihres, das beeindruckend viele Milliarden Euro pro Jahr in Forschung und Entwicklung investiert, und das ist entscheidend für Arbeitsplätze in unserem Land, für unsere Wettbewerbsfähigkeit und für gute Medizin. Dazu schaffen wir ein attraktives Umfeld in Deutschland. Die Bundesregierung hat bereits eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren auf den Weg gebracht. Darüber hinaus prüfen wir gerade ganz konkret, wie wir die Geschwindigkeit und Kosteneffizienz bei klinischen Studien weiter verbessern können. Der Gesundheitsminister arbeitet zudem an einem Gesetz, das forschenden Unternehmen wie Ihrem die Nutzung von anonymisierten Gesundheitsdaten erleichtert. Schließlich retten Ihre Produkte im besten Fall Menschenleben, und entsprechend schnell müssen Sie bei der Forschung vorankommen, in unser aller Interesse. Ja, wir werden uns selbstverständlich auch die Auswirkungen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes genau anschauen. Die Pharmaindustrie hat hier einen großen Beitrag zur Stabilität der Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen geleistet. Mir ist wichtig, dass die pharmazeutische Industrie auch in Zukunft voller Überzeugung am Standort Deutschland festhält und weiter investiert. Auch die Europäische Kommission sieht die Bedeutung der Pharmaindustrie. Sie hat vor wenigen Tagen ein neues Pharmapaket vorgestellt. Ziel soll sein, den Zugang zu Arzneimitteln innerhalb der EU zu verbessern und Zulassungsverfahren zu vereinfachen. Wir werden in den anstehenden Beratungen darauf achten ‑ das haben wir auch in unseren Gesprächen schon gesagt‑ , dass sich Forschung und Investitionen für Unternehmen wie Ihres auch in Zukunft lohnen. Ja, das heißt auch, geistiges Eigentum zu schützen. Denn nur dann wird auch in Zukunft im Sinne der Patientinnen und Patienten hier in Europa geforscht. Meine Damen und Herren, „Wird das alles gut ausgehen?“, werde ich oft gefragt, wenn ich in diesen Tagen mit Bürgerinnen und Bürgern im Land spreche – mit dem Krieg in der Ukraine, mit der Energiewende, mit all den Veränderungen, die wir erleben. Meine Antwort lautet dann immer: Das kann und das wird gut ausgehen, weil wir ein starkes Land sind, mit Bürgerinnen und Bürgern, die anpacken, und mit innovativen Unternehmen wie Ihrem, weil wir uns klare Ziele gesetzt haben, weil wir Blockaden lösen und jetzt Milliarden in die Zukunft investieren und weil wir an einem Strang ziehen ‑ Unternehmen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Bund, Länder, Städte und Gemeinden. Wenn ich das künftig wieder einmal sage, dann werde ich an Ingelheim denken, daran, dass die Zeichen hier so wie an vielen anderen Orten in Deutschland auf Aufbruch stehen und wie gut das ist für unser Land. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Kundgebung des DGB am 1. Mai 2023 in Koblenz
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-kundgebung-des-dgb-am-1-mai-2023-in-koblenz-2187254
Mon, 01 May 2023 00:00:00 +0200
Koblenz
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist sehr schön, heute bei diesem Wetter hier zu sein! Als ich aus Berlin aufgebrochen bin, sah es noch ganz anders damit aus, wie es hier sein würde. Insofern ist das eine tolle Sache. Aber es ist auch gut für den Ort, an dem die Kundgebung heute stattfindet. Denn so sehr der heute in Touristenprospekten auftaucht, ist er auch ein Ort, der etwas mit dem deutschen Kaiser, dem Militarismus und der Antidemokratie zu tun hat, und es ist das Beste, was man als Gewerkschaften tun kann, genau hierhin zu gehen und zu sagen: Wir kämpfen für die Freiheit, die Demokratie, die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den Frieden! Das wünschen wir uns auch für die Ukrainerinnen und Ukrainer, die von Russlands Imperialismus angegriffen worden sind, von der furchtbaren Vorstellung, dass es tatsächlich im 21. Jahrhundert in Europa noch passieren soll, dass man, einfach um Land zu gewinnen, seinen Nachbarn überfällt. Es war die Grundlage der Friedens- und Sicherheitsarchitektur Europas nach dem Krieg, dass wir uns darauf verständigt haben: Mit Gewalt sollen Grenzen nicht mehr verschoben werden. Wir stehen dafür, dass die Ukraine ihre Freiheit und die Integrität des eigenen Landes verteidigen kann! Ja, wir stehen hier bei schönem Wetter in einer solchen Zeit, in der in Europa ein Krieg stattfindet und in der wir uns noch an all die Herausforderungen erinnern, die gerade zurückliegen. Die COVID-Pandemie ist jetzt vorbei, aber es war eine schwierige Zeit, nicht nur wegen der Gefahren für die Gesundheit so vieler Bürgerinnen und Bürger, sondern weil sie auch große ökonomische Herausforderungen mit sich gebracht hat, weil viele Sorgen hatten, ob sie durch diese Zeit kommen, ob ihre Unternehmen, ihre Arbeitsplätze erhalten bleiben, ob sie alles bezahlen können. Ich bin froh, dass wir als Land gezeigt haben, dass wir solidarisch sind, ungebrochen solidarisch, dass wir mit Milliarden dazu beigetragen haben, dass wir alle gemeinsam durch diese Krise gekommen sind! Wir haben diese Solidarität nicht nur hier in Deutschland gezeigt, sondern in ganz Europa. Wir haben nicht nur auf uns geschaut, sondern mit den anderen zusammengehalten. Auch das ist Solidarität, dass wir nicht nur auf uns schauen, sondern dass wir in Europa gemeinsam handeln. Auch das haben wir gemacht, um durch diese schwierige Krise zu kommen. Aber auch wenn das hinter uns liegt: Wir können auch sagen, dass wir wirtschaftlich in einer ganz besonderen Situation sind, dass wir in einer Situation sind, in der man sehen kann, dass es eine Zukunft gibt, um die wir jetzt kämpfen können. Gerade am 1. Mai, am Tag der Arbeit, kann, darf und muss man sagen: In Deutschland wird es für viele, viele Jahre, vielleicht für mehr als ein Jahrzehnt nicht das Problem geben, dass wir gegen Arbeitslosigkeit kämpfen müssen. Was vor uns liegt, ist, dass wir dafür Sorge tragen müssen, dass die Betriebe genügend Arbeitskräfte finden, qualifizierte Arbeitskräfte und ‑ auch das gehört hier an diesem 1. Mai gesagt ‑ gut bezahlte Arbeitskräfte, die ihre Arbeit auf Tarifverträge gründen können. Manche sprechen schon vom Arbeiterinnen- und Arbeitermangel als dem großen Problem der Zukunft. Für diejenigen, die sich Sorgen machen, will ich sagen: Wir haben Rezepte, was man dagegen tun kann, indem wir dafür sorgen, dass es an den Schulen gut läuft, indem wir vor allem dafür sorgen, dass alle jungen Leute, die eine Ausbildung suchen, auch einen Ausbildungsplatz finden. Wir müssen sicherstellen, dass wieder mehr in Deutschland ausgebildet wird. Dann haben wir auch weniger Probleme bei der Suche nach Fachkräften in Deutschland. Es ist hier schon gesagt worden: Manche Betriebe suchen händeringend Fachkräfte. Aber manche Betriebe bilden auch nicht aus. Deshalb hier und an dieser Stelle der Appell: Es sollen sich alle noch einmal zusammenreißen und alles dafür tun, dass die Zahl der Ausbildungsplätze in Deutschland weiter steigt. Die Berufsausbildung, die Lehre – das ist unverändert die wichtigste Ausbildung in Deutschland, und wir müssen mehr dafür tun, dass mehr junge Leute einen solchen Ausbildungsplatz haben. Wir haben unseren Beitrag mit einer Mindestausbildungsvergütung geleistet. Aber wir werden auch dafür sorgen, dass alles unternommen wird, damit tatsächlich alle jungen Leute einen Ausbildungsplatz finden, und nicht nur die. Ich war vor Kurzem in einem Betrieb, in dem viele gearbeitet haben, viele Männer und ein paar Frauen. Die meisten von denen in der Halle, in der ich war, waren angelernt, hatten einen anderen Beruf ergriffen als den, den sie da bei Continental ausgeübt haben – man kann sich vorstellen, was die da machen. Aber eines will ich ausdrücklich sagen: Dieser Betrieb hat auch dafür gesorgt, dass ausgebildet wird, überall drumherum mit vielen jungen Leuten, aber auch mit manchen, die in dieser Halle berufstätig waren, da waren 62-jährige Auszubildende, die das, was sie jeden Tag machen, dann noch mit einer Qualifikation unterlegen. Ich finde, das ist ein Modell, das in Deutschland Schule machen sollte. Wir müssen allen ihr ganzes Berufsleben lang die Möglichkeit geben, sich immer noch für das, was sie tun wollen, zu qualifizieren. Das ist für mich auch eines, nämlich ein klarer Hinweis darauf, dass das, was wir in unserer Gesellschaft brauchen, zuallererst Respekt vor der Arbeit ist, Respekt vor jeder Arbeit, nicht nur derjenigen, über die jeden Tag im Fernsehen berichtet wird. Denn natürlich brauchen wir viele, die sich als Ingenieurinnen und Ingenieure ausbilden lassen, die alles können, was wir in der IT und was weiß ich wo brauchen. Aber wir brauchen auch diejenigen, die jeden Tag überall sonst die Arbeit machen, mit einer Berufsausbildung, ohne Berufsausbildung, in den Einzelhandelsgeschäften, in den Supermärkten, in den Krankenhäusern, in den Pflegeeinrichtungen, in den Metallbetrieben, auf dem Bau. Überall, wo in Deutschland gearbeitet wird, muss klar sein: Respekt für Arbeit ist das, was für unsere Demokratie und für unser Miteinander unverzichtbar ist! Respekt für Arbeit heißt zuallererst Anerkennung, Augenhöhe, dass niemand denkt, er sei etwas Besseres wegen seines Lebensweges, sondern dass wir wissen, dass wir nur gemeinsam ein Land sind, das die Aufgaben der Zukunft bewältigen kann. Deshalb wünsche ich mir einen Mentalitätswandel, einen Gesinnungswandel in Deutschland, der für jede Arbeit in diesem Land den notwendigen Respekt aufbringt, den wir alle einander zollen. Natürlich heißt das auch, dass es gute Löhne geben muss. Deshalb bin ich froh, dass wir es nach vielen, vielen Auseinandersetzungen in Deutschland als einem der letzten Länder in Europa geschafft haben, einen Mindestlohn durchzusetzen. Ich bin froh, dass ich mein Versprechen einhalten konnte: Im Oktober letzten Jahres ist in Deutschland der Mindestlohn per Gesetz auf zwölf Euro angehoben worden, ein Ausdruck von Respekt und Miteinander in unserer Gesellschaft! Dieser Mindestlohn wird regelmäßig angepasst. Darüber wird in diesem Sommer von der zuständigen Kommission neu entschieden werden. Aber wenn wir über Mindestlöhne reden, dann reden wir darüber, dass etwas nicht in Ordnung ist, dass nicht von selbst jeder genug bezahlt bekommt. Deshalb ist klar: Der Mindestlohn ist die untere Grenze. Aber was wir in Deutschland auch brauchen, sind mehr Tariflöhne, mehr Tarifbindung. Denn das ist die klassische Leistung der Sozialpartnerschaft und der deutschen Gewerkschaften, dass Tariflöhne dafür sorgen, dass niemand alleine über seinen Lohn verhandeln muss. Es waren keine schlechteren Zeiten, als mehr Tarifbindung herrschte. Es war in der Hinsicht besser. Deshalb wünsche ich mir, dass wir wieder eine größere Zahl von Betrieben haben, die Tarifverträge anerkennen, die Tarifverträge abschließen, die das über ihren Arbeitgeberverband tun und nicht irgendwie in einem Arbeitgeberverband sind, um sich von dem die Rechtsgeschäfte erledigen zu lassen, aber keine Tarifverträge abzuschließen. Ich fahre gerne Fahrrad. Deshalb wünsche ich mir auch Tarifverträge in der Fahrradindustrie! Deutschland hat also eine so hohe Beschäftigungsquote wie noch nie. Das nur einmal an all diejenigen, die uns etwas anderes vorhergesagt haben. Wer erinnert sich noch an die ganzen Reden und wissenschaftlichen Gutachten aus den Neunzigerjahren dazu, was alles schiefgehen würde? Es hieß, wir hätten heute weniger Arbeitnehmer, wir würden heute irre hohe Beiträge zur Rentenversicherung zahlen, wir würden überhaupt nicht mehr ein noch aus wissen können. Was passiert ist: Wir haben mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als je in Deutschland auf dem Arbeitsmarkt beschäftigt, die höchste Erwerbsquote, die je in Deutschland geherrscht hat. Deshalb ist klar: Wir können die Stabilität unserer Volkswirtschaft sichern, indem wir dafür sorgen, dass es so bleibt, dass die Beschäftigungszahlen hoch bleiben. Dann bleibt es auch gut mit der Sozialversicherung, und dann bleibt es auch gut mit der Perspektive für unser Land! Darum brauchen wir noch einen Schub, etwa bei der Frauenerwerbstätigkeit. Wir brauchen mehr Chancen, so dass ein Mann oder eine Frau, die mit Mitte 50 ihren Arbeitsplatz verlieren, sicher sagen können: Ich bekomme hinterher noch einen gleich guten angeboten ‑ anders, als das heute alle denken. Natürlich müssen wir dafür sorgen, dass alle ihre Chance nutzen. Über die Berufsausbildung habe ich schon gesprochen. Aber wir werden in Deutschland auch nicht allein auskommen können. Denn das, was uns in den letzten Jahren geholfen hat, die Freizügigkeit in der Europäischen Union, das reicht nicht mehr für unsere große, leistungsfähige Volkswirtschaft. Deshalb ist es richtig, dass wir ein klares Konzept haben. Wir begrenzen die irreguläre Migration. Wir wollen, dass alles nach Regeln vor sich geht. Wir schützen diejenigen, die Schutz brauchen, weil sie vor Verfolgung fliehen. Aber gleichzeitig sorgen wir dafür, dass auf reguläre Weise diejenigen, die wir als Arbeitskräfte hier in Deutschland brauchen, auch eine Chance haben. Das machen wir mit unserem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Das ist eine richtige Aussage für die Zukunft, weil es die Zukunft unserer Volkswirtschaft, die Sicherheit unserer Arbeitsplätze und unserer Renten- und Sozialversicherung garantiert. Alles gut, könnte man also sagen. Aber wenn man sich umschaut, dann weiß man, dass sich viele nicht so sicher sind, ob das gut ausgeht, wie die Perspektive in unserem Land sein wird, was in 10, 20 und 30 Jahren ist. Und darum sage ich: Wir haben die besten Chancen, wenn jeder für sich sagen kann: Das, was ich mache, wird auch noch in 10, 20 und 30 Jahren so ähnlich gebraucht. Leute wie ich werden auch in 10, 20 und 30 Jahren in Deutschland noch gebraucht, weil wir es schaffen, die Herausforderungen zu bewältigen, vor denen wir mit der Digitalisierung in der Arbeitswelt stehen, aber ganz besonders, wenn es darum geht, den menschengemachten Klimawandel aufzuhalten. Und das ist meine feste Überzeugung: Deutschland ist das Land, das mit seinen Ingenieurinnen und Ingenieuren, mit seinen Facharbeiterinnen und Facharbeitern, mit seinen Unternehmen und seiner Wirtschaftskraft die Möglichkeit hat, die Technologien, die Wirtschaftsweisen zu entwickeln, die man braucht, damit wirtschaftlicher Wohlstand und Klimaneutralität gleichzeitig funktionieren. Das ist unsere Aufgabe, wenn wir sagen: 2045 wird die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, Deutschland, klimaneutral wirtschaften und immer noch vorne dabei sein unter den Volkswirtschaften dieser Welt. Wenn ich mit den Betriebsräten in der Chemie- und Stahlindustrie spreche, wenn ich mit denjenigen spreche, die sich mit Zement beschäftigen, wenn ich mit denjenigen diskutiere, die sich mit vielen anderen Fragen elektrifizierter Mobilität auseinandersetzen ‑ ich könnte die Reihe ganz lange fortsetzen ‑, dann erlebe ich ganz viele, die nicht, wie das manche denken, sagen: Es soll alles so bleiben, wie es vor 10, 20 und 30 Jahren war, sondern die zu mir als Kanzler und zu vielen anderen nur eins sagen: Bitte sorgt dafür, dass das, was neu ist, hier in Deutschland stattfindet, dass wir es sind, die herausfinden, wie das geht, dass wir zeigen, dass das funktioniert! Wir wollen unsere Arbeit machen, aber wir wollen technologisch an der Spitze stehen, auch wenn es um Klimaneutralität für Deutschland geht. ‑ Und das geht! Das will ich ausdrücklich sagen. Wir wissen sogar schon, welche Technologien wir brauchen. Und nun sagen ja einige: Warum soll das Deutschland machen? Andere haben ja viel größere Emissionen, weil sie mehr Einwohner haben, und viele andere Gründe kommen dazu. Ich will darauf eine Antwort geben. Es gibt eine Antwort, die so klar ist, dass ich mich wundere, warum sie sich nicht herumgesprochen hat. Die Welt wächst zusammen. Viele haben Wohlstand erreicht, von denen man das vor 30 Jahren nicht gedacht hätte. Milliarden Menschen in vielen Ländern Asiens, Südamerikas und Afrikas kommen in eine Mittelschicht. Wenn das stattfindet und die alles so machen wie wir vor 30, 50 oder 100 Jahren, dann ist eins ganz klar: Das würde unser Planet nicht überleben. Darum ist es unsere Aufgabe, mit dem, was wir können, dafür zu sorgen, dass auch sie die Möglichkeit haben, in guten Häusern zu wohnen, Straßen zu haben, Schienenwege zu verlegen, Krankenhäuser, Schulen und Universitäten zu bauen, einen Wohlstand zu haben, Auto zu fahren, ohne dass dies dazu führt, dass unser Planet kollabiert – weil wir die Technologien entwickeln, mit denen das geht. Darum sind wir auch für die Zuversicht zuständig ‑ hierzulande, aber mit unserem Beispiel auch für viele andere. Lasst uns das anpacken, liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Zuversicht zu haben, das ist, glaube ich, das Wichtigste. Kein Land kann ohne Hoffnung leben, dass es besser wird, kein Kontinent und die Welt auch nicht. Darum ist es so zentral, dass wir über diese Möglichkeiten sprechen, die sich für uns ergeben. Gleichzeitig müssen wir genau verstehen, dass das jetzt eine große Nummer wird. Das ist so ähnlich wie am Ende des 19. Jahrhunderts ‑ das sage ich an dieser Stelle ‑, das ist so ähnlich wie in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als wir ein großes Wirtschaftswunder hatten. Es muss alles neu gemacht werden, und das führt zu riesigen Investitionen. Wenn wir fünf bis sechs Windkraftanlagen am Tag bauen, 40 Solarfelder so groß wie Fußballplätze, wenn wir mehrere Elektrolyseanlagen pro Woche bauen, wenn wir Tausende Kilometer Stromleitungen verlegen, wenn wir dafür sorgen, dass unsere Häuser weniger Energie verbrauchen, wenn wir die Technologien erneuern, mit denen wir heizen ‑ die Tiefengeothermie spielt hier zum Beispiel eine Rolle, bis hin zu dem, was jetzt alles so aufgeregt diskutiert wird ‑, wenn wir darüber diskutieren, wie wir es hinkriegen, dass wir die industriellen Prozesse so verändern, wie ich das eben gesagt habe, dann brauchen wir einen großen ökonomischen Aufschwung, den wir miteinander organisieren. Dann müssen wir dafür sorgen, dass mehr Strom nicht aus fossilen Energien, sondern aus erneuerbaren Quellen und Wasserstoff kommt. Das ist das, was wir für die Zukunft brauchen. Jetzt und in ganz kurzer Zeit wollen und werden wir das hinkriegen. Diese Zuversicht, die müssen wir ausstrahlen als diejenigen, die aus den Gewerkschaften kommen, die sich aus der Arbeiterbewegung heraus verpflichtet fühlen dafür zu sorgen, dass die Welt gebaut und gemacht wird. Wir sind es, die dafür Sorge tragen müssen, dass wir eine gute Zukunft haben! Ich sage an dieser Stelle: Dazu gehört auch, dass wir das Leben bezahlbar machen und bezahlbar halten. Das ist gesagt worden. Wir sind durch das letzte Jahr gekommen trotz des russischen Angriffskrieges, mit milliardenschweren Subventionen, indem wir Preise gesenkt haben, indem wir in kurzer Zeit dafür gesorgt haben, dass unsere Gasversorgung funktionieren kann, indem unglaublich viele angepackt haben, Rohre verlegt und Anlagen gebaut haben, damit das alles klappt. Aber ich sage, es gibt auch einige Branchen, bei denen man im Augenblick nicht sicher ist, wie es weitergeht, wenn man dort tätig ist. Ich will ausdrücklich den Bau nennen. Deshalb mein klares Bekenntnis: All das muss gemacht werden! Das ist doch etwas, wo die Bauwirtschaft und diejenigen, die dort arbeiten, unmittelbar gefragt sind. Aber weil das Leben bezahlbar sein muss, sage ich auch: Wir wollen alles dafür tun, dass in Deutschland genügend Wohnungen gebaut werden. Ja, das ist schwierig, wenn plötzlich in kurzer Zeit die Zinsen steigen, auch wenn das Niveau geringer als über viele Jahrzehnte ist. Ja, es ist schwierig. Wenn überall die Grundstückspreise steigen, weil es nicht genug Bauland gibt, dann muss man daran etwas ändern. Aber wir müssen auch dafür sorgen, dass genügend öffentliche Mittel für den Wohnungsbau zur Verfügung stehen. Ich bin sehr froh darüber, dass wir für den geförderten Wohnungsbau in dieser Regierung festgelegt haben, 14,5 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen. Denn auch in der Vergangenheit ist die Hälfte des Wohnungsbaus in vielen Orten und Städten aus geförderten Wohnungen heraus gewachsen. Selbst solche, von bei denen man das heute nicht mehr weiß, sind irgendwann in den Zwanziger-, Fünfziger- oder Siebzigerjahren als solche gebaut worden. Wir werden, auch wenn es jetzt schwer ist, von dem Ziel, jedes Jahr 400 000 Wohnungen in Deutschland zu bauen, nicht ablassen! Die Herausforderung ist größer geworden, aber deshalb nehmen wir sie erst recht an. Kolleginnen und Kollegen, ich bin fest davon überzeugt, dass unser Land eine gute Zeit vor sich hat. Ich bin genauso fest davon überzeugt: Diese gute Zeit wird es nur geben, wenn wir wissen, dass das nicht ohne diejenigen geht, die jeden Tag arbeiten. Das geht nicht ohne die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, das geht nicht ohne die Gewerkschaften. Deshalb sage ich auch: Wir sind solidarisch! Alles Gute für diesen 1. Mai!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Inbetriebnahme einer Geothermieanlage am 28. April 2023 in Schwerin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-inbetriebnahme-einer-geothermieanlage-am-28-april-2023-in-schwerin-2187318
Fri, 28 Apr 2023 00:00:00 +0200
Schwerin
Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin Schwesig, liebe Manuela, sehr geehrte Frau Botschafterin, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Badenschier, sehr geehrter Herr Dr. Wolf, meine Damen und Herren! Der römische Gott Vulkan hatte wie die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen im Olymp gleich mehrere Funktionen. Er galt als der Gott des Feuers, aber auch als Gott der Erfinder und Handwerker. Dementsprechend wird er in der Dichtung meist so beschrieben, wie man sich einen Schmied eben vorstellt: erfinderisch, handwerklich geschickt und ein bisschen wortkarg. Ich finde, mit diesen Charaktereigenschaften passt Vulkan eigentlich ganz gut in diese Gegend hier im Norden unseres Landes; das darf ich, der selbst Norddeutscher bin, vielleicht sagen. Vulkan passt aber auch deswegen so gut zu unserem heutigen Anlass, weil das, was wir hier vor uns sehen, eine perfekte Kombination aus Erfindung, Wärme und Handwerk ist. Diese Anlage ist nicht die erste Tiefengeothermieanlage; wir haben es schon gehört. Sie ist auch nicht die erste in der Gegend. Aber durch den Einsatz moderner Hochleistungswärmepumpen, durch die Kombination zweier erneuerbarer Technologien, ist sie dennoch einzigartig in Deutschland. Den „Clou von Schwerin“ hat das die „taz“ genannt. Dieser Clou ist der Verdienst von sehr vielen, die an diesem Projekt gearbeitet haben: von Planern, von Behörden, von Unternehmen und ihren Fachkräften und nicht zuletzt von vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadtwerke Schwerin. Vielen Dank dafür! Lieber Herr Dr. Wolf, es zeigt sich wieder einmal: Die Stadtwerke sind unser Trumpf bei der Energiewende. Denn ob und wie Wind, Sonne, Wasserkraft oder eben Geothermie genutzt werden, das entscheidet sich ‑ anders als bei den fossilen Energieträgern ‑ nämlich vor Ort, und dort sind wir mit Hunderten von Stadtwerken im ganzen Land hervorragend aufgestellt. Ihr Netz für Ladesäulen entscheidet darüber, ob sich jemand ein Elektroauto kauft. Ihre Wärmenetze sorgen für eine verlässliche, bezahlbare und in Zukunft immer umweltfreundlichere Versorgung. Sie wissen am besten, wo neue Windkraft- und Solarparks entstehen. Deshalb sorgen wir als Bundesregierung dafür, dass die Städte und Gemeinden künftig leichter als bisher Flächen für Erneuerbare ausweisen können, was Unternehmen hilft, Neuansiedlungen begünstigt und für zukunftssichere Arbeitsplätze sorgt. Auch das Potenzial der Geothermie werden wir konsequent erschließen. Dabei hilft eine im vergangenen Jahr gestartete Initiative des Bundes, mit der Explorationsprojekte gefördert werden, Risiken abgefedert werden und untersucht werden soll, wo sich Geothermie besonders lohnt. Das, übrigens, gilt für viel mehr Räume unseres Landes, als die allermeisten denken, und die Geothermie wird eine viel bedeutendere Rolle spielen, als dies in der öffentlichen Debatte bisher der Fall ist. Dazu anzuregen, das voranzubringen, ist auch ein guter Grund für die heutige Zusammenkunft. Der Ausflug in die Tiefe der Erde ist ein Projekt, das in die Zukunft weist. Anders als Wind oder Sonne steht Geothermie rund um die Uhr zur Verfügung, im Sommer wie im Winter, an 365 Tagen im Jahr. Deshalb machen uns Projekte wie dieses hier nicht nur unabhängiger von den volatilen Gaspreisen, von der geopolitischen Großlage und von Marktschwankungen bei der fossilen Energie, sie können die Grundlast auch an sonnen- und windarmen Tagen sichern und sind so eine perfekte Ergänzung zur Windenergie, bei der Mecklenburg-Vorpommern heute schon ganz vorne mit dabei ist. Manuela Schwesig hat darauf bereits hingewiesen. Wir sind wirklich stolz auf das, was dieses Land geleistet hat. Wenn ganz Deutschland schon so weit wäre, dann hätten wir wirklich billige Strompreise im ganzen Land, und das müssen wir eben erreichen. Dass Mecklenburg-Vorpommern inzwischen ein Energieexportland ist, hat ganz maßgeblich mit der Energiewende zu tun ‑ weg von Kohle und Gas und hin zu den erneuerbaren Energien. Die Folgen dieser Entwicklung reichen weit über den Energiesektor hinaus. Wenn es um große Neuansiedlungen geht ‑ wie etwa bei Tesla in Brandenburg oder beim Wasserstoffhersteller APEX hier in Mecklenburg-Vorpommern ‑, dann lautet die Frage der Investoren heute ganz oft: Gibt es dort eine sichere, bezahlbare Versorgung mit erneuerbarer Energie? – Da haben sich der Norden und Osten Deutschlands inzwischen einen richtigen Standortvorteil erarbeitet. Die Bundesregierung unterstützt das, indem wir unnötige Bürokratie aus dem Weg räumen, Ausschreibungsvolumina hochsetzen und Planungsverfahren deutlich beschleunigen. Nicht nur hier in Schwerin, sondern überall im Land zeigt sich inzwischen: Es geht! Neue Batteriefabriken entstehen, Milliardeninvestitionen fließen in Zukunftstechnologien, neue Netze und Anlagen, Deutschland nimmt Fahrt auf! Auch dazu trägt dieses Projekt hier bei. Acht Jahre haben Sie in die Entwicklung investiert. Sie, lieber Herr Dr. Wolf, haben gesagt, dass Sie dabei so viel gelernt haben, dass Sie bei den nächsten Projekten, die schon in Planung sind, nur noch halb so lang brauchen werden. Auch das ist ein gutes Beispiel für ein neues Deutschlandtempo, für neuen Schwung in unserem Land! Deshalb: Ja, es lohnt es sich, jeden Stein umzudrehen beziehungsweise sich durch ganz viele Erd- und Gesteinsschichten zu bohren, so wie hier in Schwerin, und zwar auch dann, wenn die Bedingungen für Geothermie nicht so offensichtlich sind wie in Ihrer Heimat Island, liebe Frau Botschafterin, wo Vulkane und Geysire die Landschaft prägen. Hier in Schwerin hat man sich nicht mit dem Offensichtlichen zufriedengegeben, sondern wortwörtlich tiefer gebohrt und mit technologischem Geschick, Erfindungsreichtum und Unternehmergeist ideale Bedingungen für die Geothermie hergestellt. Dem Gott Vulkan hätte das vermutlich gefallen. Insofern ist die Botschaft des heutigen Tages: Geht nicht gibt’s nicht! Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Pioniergeist und vielen Dank, dass Sie uns zeigen, was alles geht in unserem Land! Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Eröffnung der Hannover Messe am 16. April 2023 in Hannover
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-eroeffnung-der-hannover-messe-am-16-april-2023-in-hannover-2184590
Sun, 16 Apr 2023 19:07:00 +0200
Hannover
Sehr geehrter Herr Präsident Widodo, verehrter Herr Ministerpräsident, lieber Stephan, meine Damen und Herren! Als ich im November vergangenen Jahres zum G20-Gipfel nach Bali flog, hatte ich ein hochinteressantes Buch im Gepäck. „Revolusi“ lautet der Titel. Der belgische Autor David van Reybrouck beschreibt darin die Bedeutung Indonesiens für die Entstehung unserer modernen Welt. Das Buch beginnt mit einem interessanten Gedankenexperiment. Denken Sie einmal zurück an Ihren Schulatlas oder an die Weltkarte im Geografieunterricht! Indonesien ist das größte Inselreich der Welt, das viertbevölkerungsreichste Land der Erde, in naher Zukunft eine der zehn größten Volkswirtschaften der Welt. In den Schulatlanten, jedenfalls in unseren hier, lag es allerdings immer in der äußersten Ecke, weit rechts unten. Die Welt aber, so schreibt van Reybrouck, kennt natürlich kein Oben und Unten, keine Mitte und keine Ränder. Und so schiebt er Indonesien gedanklich ins Zentrum unserer Europa-zentrierten Karten. Dort würde es einen Raum einnehmen, der, in europäischen Dimensionen gemessen, von Irland bis nach Kasachstan reicht. Und schlagartig wird einem klar: Wir reden hier nicht über irgendeinen vermeintlich fernen Archipel am Rande der Welt. Wir reden über ein Land mitten im Herzen einer der dynamischsten Regionen der Welt, strategisch gelegen im Zentrum des indopazifischen Raums, zwischen China, Indien, Ozeanien und Amerika. Wenn wir vom 21. Jahrhundert zu Recht als „asiatischem Jahrhundert“ sprechen, wenn wir uns Gedanken über Wachstumsmärkte und Diversifizierung machen, wenn wir unsere politischen und wirtschaftlichen Antennen inzwischen viel stärker auf den indopazifischen Raum ausrichten, dann führt an Indonesien kein Weg vorbei. Deshalb sind wir froh und dankbar, sehr geehrter Herr Präsident, dass Indonesiens Weg heute hierher nach Hannover führt. Unsere Länder sind gefestigte Demokratien. Gemeinsam treten wir für eine Welt ein, in der die Stärke des Rechts und nicht das Unrecht des Stärkeren gilt. Wie wichtig das ist, haben wir im vergangenen Jahr erlebt. Sie, Herr Präsident, haben den Vorsitz der G20-Länder geführt. Gleichzeitig saß Deutschland der G7 vor, und es war mir eine Freude, Sie beim G7-Gipfel in Bayern zu begrüßen. Beim G20-Gipfeltreffen auf Bali haben wir nicht nur Russlands völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine, an dessen Folgen die ganze Welt leidet, klar verurteilt. Gemeinsam haben wir auch unmissverständlich festgehalten, dass es unzulässig ist, mit Nuklearwaffen zu drohen oder diese gar einzusetzen. Mein Eindruck ist: Diese Botschaft ist verstanden worden, in Moskau. Das zeigt: Wenn wir zusammenstehen, wenn wir unsere Kräfte zur Verteidigung der Prinzipien der UN-Charta und des Völkerrechts bündeln, dann können wir erfolgreich sein. Deshalb, Herr Präsident, herzlichen Dank für unsere enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit! Diese Kooperation wollen wir weiter vertiefen, politisch, aber ‑ wo sind wir hier? ‑ natürlich auch wirtschaftlich. Einen wichtigen Schritt dabei sind wir unter unserer G7-Präsidentschaft im zurückliegenden Jahr gegangen. Wir haben mit Indonesien eine der weltweit allerersten Partnerschaften beim fairen Übergang zu den erneuerbaren Energien geschlossen. Wegweisend ist Indonesiens Bereitschaft, seinen Stromsektor bis 2050 komplett zu dekarbonisieren. Das ist anspruchsvoll und ambitioniert, wie wir selbst wissen. Im Gegenzug mobilisieren wir als G7 in den kommenden Jahren staatliche und private Investitionen in zweistelliger Milliardenhöhe, um Indonesiens Weg aus der fossilen Energie und den Hochlauf der erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Ich kann Sie alle nur herzlich einladen: Nutzen Sie die Chance, die gerade auch für die innovative, klimafreundliche deutsche Industrie hierin liegt. Damit Ehrgeiz beim Klimaschutz und Pioniergeist beim Umbau unserer Volkswirtschaften belohnt und nicht bestraft werden, haben wir als G7 den internationalen Klima-Club gegründet. Es geht um fairen Wettbewerb, um gemeinsame Regeln und Standards. Ich freue mich außerordentlich, dass Indonesien diesem offenen, kooperativen Klima-Club in wenigen Tagen beitreten wird. Einen weiteren Schub erfährt die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern durch die gemeinsame Erklärung, die Wirtschaftsminister Habeck und sein indonesischer Kollege nun unterzeichnet haben. Der nächste logische Schritt, der darauf aus meiner Sicht folgen sollte, ja folgen muss, ist ein Freihandelsabkommen zwischen Indonesien und der Europäischen Union. So würde auf einen Schlag ein gemeinsamer Wirtschaftsraum mit weit über 700 Millionen Menschen entstehen. Seit 2016 verhandeln Indonesien und die EU-Kommission nun schon miteinander darüber. Ich setze mich dafür ein, dass wir dieses Abkommen jetzt endlich über die Ziellinie bringen. Und nach dem, was Sie gerade hier gesagt haben, verehrter Herr Präsident, bin ich sehr zuversichtlich, dass uns das auch gemeinsam gelingen wird. Was für Indonesien gilt, das gilt übrigens auch für unsere Freihandelsabkommen mit dem MERCOSUR, mit Mexiko, Australien, Kenia und Indien. Auch hier ist in den vergangenen Monaten eine ganz neue Dynamik entstanden. Das war eine Reaktion auf die Pandemie und ihre Folgen; das ist aber auch ein Gebot der geopolitischen Entwicklungen, hier in Europa und in Asien. Weltweit arbeiten Länder daran, riskante Abhängigkeiten abzubauen und ihre Handelsbeziehungen breiter aufstellen. Auch insoweit sind unsere Sichtweisen sehr ähnlich, Herr Präsident. Unser Ansatz lautet: Ein Decoupling von einzelnen Märkten wäre der falsche Weg. Was wir stattdessen brauchen, ist ein kluges, vorausschauendes De-Risking. Das war übrigens Konsens auf der Asien-Pazifik- Konferenz der deutschen Wirtschaft in Singapur, an der ich im November teilnehmen konnte. Und das deckt sich auch mit den Eindrücken aus meinen Gesprächen mit Unternehmerinnen und Unternehmern. In Sachen Diversifizierung ziehen Politik und Wirtschaft in Deutschland nun wirklich an einem Strang. Dabei spielen Rohstoffe eine wichtige Rolle, besonders die, die wir bei der Transformation hin zur Klimaneutralität und für die Digitalisierung so dringend brauchen. Derzeit importieren wir viele davon aus China, und das, obwohl die seltene Erde, das Kupfer oder der Nickel oft gar nicht dort aus der Erde geholt werden, sondern in Ländern wie Indonesien, Chile oder Namibia, in Ländern also, die von ihrem natürlichen Reichtum an Rohstoffen oft viel zu wenig profitieren. Wir wollen das ändern. Wenn es uns gelingt, mehr Verarbeitungsstufen dort anzusiedeln, wo die Rohstoffe im Boden lagern, dann schafft das nicht nur größeren Wohlstand vor Ort, sondern dann sorgen wir zugleich dafür, dass wir künftig mehr als nur einen oder zwei Lieferanten haben. Darum gehört diese Verbindung von mehr lokaler Wertschöpfung mit größerer Diversifizierung aus meiner Sicht in moderne Freihandelsabkommen. Hinzu kommen die Instrumente unserer Außenwirtschaftsförderung, mit denen wir Investitionen im Ausland unterstützen, um die lokale Wertschöpfung gerade auch im Rohstoffbereich zu vertiefen. Aber für eine sichere Rohstoffversorgung reicht das allein nicht aus. Wir wollen deshalb auch die Förderung und Weiterverarbeitung in Europa und, wo es möglich ist, in Deutschland stärken. Parallel gibt es die Global-Gateway-Initiative der Europäischen Union, mit der wir Investitionen in nachhaltige Infrastruktur „hebeln“ können. Auch in Indonesien sind erste Leuchtturmprojekte geplant. Dies zusammengenommen macht das Deutschland, Europa und Indonesien zu idealen Partnern bei der Transformation. Meine Damen und Herren, freier und fairer Handel, resiliente Lieferketten, genügend Rohstoffe ‑ das ist der eine Teil dessen, was wir brauchen, damit die große industrielle Transformation hin zur Klimaneutralität gelingt. Der andere Teil ist, dass wir diese Transformation hier in Deutschland nun wirklich anpacken, dass wir vom Reden ins „Doing“ kommen ‑ walk the talk. In den vergangenen Jahren ist so viel liegen geblieben. Aber, meine Damen und Herren, das holen wir jetzt auf. Ich habe vor einigen Wochen sinngemäß gesagt: Die Transformation bietet eine riesige Chance für unser Land. Sie ist der große Treiber für Beschäftigung und Wachstum. Eine aktuelle Umfrage der KfW zeigt: Mehr als drei Viertel der großen Unternehmen hierzulande sehen das genauso. Allerdings hat dieser Aufschwung, der da möglich wird, drei Voraussetzungen: erstens klare, verlässliche, konkrete Ziele, damit Sie Ihre Investitionen sicher planen können, zweitens „Druck auf dem Kessel“, die besagte Deutschland-Geschwindigkeit, und drittens genügend Fachkräfte, die hier in Deutschland mit anpacken. Alle drei Dinge bringen wir voran. Nehmen wir die Ziele. Wir haben gesagt, bis 2045 wollen wir eines der ersten klimaneutralen Industrieländer sein. Schon 2030 sollen 80 % unseres Stroms aus erneuerbaren Energien kommen, und das bei steigendem Strombedarf. Doch das Formulieren solch ehrgeiziger Ziele allein genügt nicht. Um sie zu erreichen, brauchen wir eine Roadmap mit Zwischenschritten, mit einem Monitoring, mit Verbindlichkeit. Deshalb habe ich unsere Expertinnen und Experten berechnen lassen, was wir ganz konkret für eine sichere, bezahlbare, saubere Energieversorgung tun müssen. Die Antwort lautet: In Deutschland müssen wir jeden Tag vier bis fünf Windräder, mehr als 40 Fußballfelder Photovoltaik-Anlagen, 1600 Wärmepumpen und vier Kilometer Übertragungsnetze bauen. Das wird ein Kraftakt. Das wird uns nur gelingen, wenn wir nicht nur ferne Ziele definieren, sondern allen auch ganz klar sagen: So sieht der Weg aus, und diesen Weg gehen wir gemeinsam. Damit bin ich bei meinem zweiten Punkt: mehr Tempo. Beim Bau der LNG-Terminals an unseren Küsten haben wir gezeigt, wie schnell und unbürokratisch Deutschland sein kann. Das ist ab jetzt der Maßstab, auch beim Bau von Energieanlagen, von Speichern und Übertragungsnetzen, ja auch beim Bau von Schienen, Brücken und Straßen. Schon im ersten Regierungsjahr haben wir die Planungs- und Genehmigungszeiten für Netze und Windräder erheblich reduziert. Offshore-Windparks sollen jetzt schneller genehmigt, gebaut und angeschlossen werden. An Land gelten verbindliche Flächenziele für Windkraft. Der Ausbau der Erneuerbaren hat gesetzlichen Vorrang vor anderen Rechtsgütern. Und mit den jüngsten Beschlüssen des Koalitionsausschusses der Regierung nimmt unser Land noch mehr Fahrt auf. Für Windräder und Photovoltaik wird es zusätzliche Flächen geben. Marode Brücken und stauanfällige Autobahnen können schneller ersetzt oder ausgebaut werden. Wir starten eine Initiative zum flächendeckenden Ausbau der Ladeinfrastruktur, damit wir bis 2030 auch wirklich 15 Millionen Elektroautos auf unsere Straßen bringen. Nicht zuletzt haben wir uns auf den Weg gemacht, einen seit Jahren bestehenden Dauerkonflikt zu beenden, nämlich zwischen dem Ausbau der Erneuerbaren und dem Naturschutz. Dies geschieht etwa mit neuen Regeln zu Ausgleichsflächen und mit flexibleren Möglichkeiten für Ausgleichszahlungen. Ich sage Ihnen ganz offen: Für solche Ergebnisse bleibe ich gern einmal drei Tage am Stück wach. Bleibt noch die dritte große Baustelle: Egal ob Mittelständler, Familienunternehmen, Handwerksbetrieb oder DAX-Konzern ‑ damit aus der Transformation ein großer Aufschwung wird, braucht unser Land Fachkräfte. Deshalb haben wir vor zweieinhalb Wochen im Kabinett die umfassendste Reform zur Fachkräftesicherung auf den Weg gebracht, die es in Deutschland je gab. Die erste Säule besteht darin, unser inländisches Potenzial voll auszuschöpfen. ‑ Ich grüße den Arbeitsminister. ‑ Das heißt, dass wir die Unternehmen dabei unterstützen, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf neue Aufgaben vorzubereiten und weiterzubilden. Das heißt aber zum Beispiel auch, die Kinderbetreuung zu verbessern, damit berufstätige Eltern länger arbeiten können. Schließlich geht es um fast zwei Millionen Jüngere ohne abgeschlossene Berufsausbildung, die wir gezielt auf eine Ausbildung vorbereiten wollen. Selbst dann werden wir aber nur einen Teil unseres Fachkräftebedarfs decken. Deshalb kommt als zweite Säule das Fachkräfteeinwanderungsgesetz hinzu. Es geht um Arbeitskräfte aus aller Welt, die hier, hier bei uns, mit anpacken wollen. Neu dabei ist ein Punktesystem, wie es Einwanderungsländer wie Kanada oder Australien seit Jahren erfolgreich nutzen. Wir erleichtern zudem die Anerkennung ausländischer Abschlüsse und praktischer Berufserfahrung. Und was ganz wichtig ist: Wir sorgen für kürzere Bearbeitungszeiten für Visa. Denn machen wir uns nichts vor: Im Wettbewerb um die besten IT-Spezialistinnen, Installateure, Ärztinnen und Pflegekräfte stehen wir im Wettbewerb mit San Francisco, Singapur, London, Vancouver oder New York. Das heißt, wir brauchen weniger Bürokratie und schnellere Verfahren ‑ das wurde hier ja schon gefordert ‑, damit diejenigen, die hier arbeiten wollen, auch merken, dass sie hier willkommen sind. Meine Damen und Herren, klare Ziele setzen, Tempo machen, für Fachkräfte sorgen ‑ das sind Dinge, für die der Staat hilfreich sein kann und für die er sorgen wird. Meine Zuversicht, dass daraus ein großer Aufschwung für unser Land wird, ziehe ich aber auch aus etwas anderem. Ich könnte jetzt die neuesten Prognosen der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute zitieren, die gerade angehoben wurden. Die Industrieproduktion zeigt ebenfalls deutlich nach oben. Ich könnte auch auf die milliardenschweren Zukunftsinvestitionen verweisen, die in unserem Land längst getätigt werden. Allein RWE will in den kommenden zehn Jahren 15 Milliarden Euro in Wind- und Solarparks, in den Wasserstoff-Hochlauf, in neue Übertragungsnetze und Speicher investieren. ThyssenKrupp in Duisburg spart schon heute bis zu 70 % CO2 bei der Stahlproduktion ein. Milliarden fließen in den Aufbau einer neuen Produktion von Chips und Halbleitern bei Infineon in Dresden, bei Apple in München, bei Wolfspeed und ZF in Ensdorf. Batteriefabriken entstehen an mehreren Standorten im ganzen Land. Die Solarzellen mit dem höchsten Wirkungsgrad kommen seit vergangenem Dezember wieder aus Deutschland, den Investitionen in Forschung und Entwicklung sei Dank. Und Ihre Unternehmen setzen Zeichen bei der KI-Forschung, in der Robotik und in der Mikroelektronik. Ein bisschen von dem, was in Kooperation von Mensch und Roboter möglich ist, haben wir bei der Vorführung gerade gesehen. All das und noch viel mehr wird in den kommenden Tagen hier in Hannover zu sehen sein. All das gibt Gewissheit, dass die Transformation das große Wachstumsprojekt für unser Land wird. Deshalb: Vertrauen Sie darauf! Investieren Sie jetzt in neue Anlagen und Produktionen! Auch hier gilt: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Oder etwas positiver gewendet: Wer früh dran ist, der ist Teil des Aufschwungs. Nun fehlt eigentlich nur noch ein Satz, auf den ich mich schon den ganzen Abend freue: Die Hannover Messe 2023 ist hiermit eröffnet.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Jahresempfangs des Bundes der Vertriebenen am 28. März 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-jahresempfangs-des-bundes-der-vertriebenen-am-28-maerz-2023-in-berlin-2182100
Tue, 28 Mar 2023 18:32:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Dr. Fabritius, verehrte Mitglieder der Landsmannschaften und Landesverbände, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, Exzellenzen, meine Damen und Herren, wir haben in Europa die Hoffnung gehabt, dass die Freiheit und die Demokratie sowie die Unverletzbarkeit der Grenzen dazu beitragen, dass wir ein freies Europa erleben, in dem wir die schlimmen Erfahrungen des letzten Weltkrieges und der Zerstörung, die er mit sich gebracht hat, die unglaublichen Folgen, die er durch den unglaublichen Mord an den europäischen Juden, aber eben auch das Schicksal der Vertreibung mit sich gebracht hat, hinter uns gelassen haben, indem wir dazu beigetragen haben, dass eine friedliche Perspektive möglich wird. Klar, was die europäischen Juden betrifft, wissen wir, dass unsere Verantwortung für dieses Verbrechen immer währt und wir alles dazu beitragen müssen, dass wir dieser Verantwortung auch in Zukunft gerecht werden, indem wir alles dafür tun, dass jüdisches Leben in Deutschland wieder entstehen kann, und alles dazu beitragen, dass wir jedem Antisemitismus entgegentreten. Aber das ist auch die Wahrheit: Mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine sind revanchistische, imperialistische Aktivitäten, ein furchtbarer Krieg, wieder Realität in Europa geworden. Putin will die Identität der Ukraine auslöschen. Er will sie durch die Idee eines großrussischen Reichs ersetzen. Dafür überzieht er die Ukraine mit Leid und Zerstörung und gefährdet auch die Zukunft seines eigenen Landes. Zugleich missachtet Russland die Grundsätze unserer europäischen Nachkriegsordnung, allen voran den Grundsatz, dass Grenzen nicht mehr mit Gewalt verschoben werden dürfen. Es war doch die eigentliche Konsequenz und das eigentliche Ergebnis der Entspannungspolitik der 70er-Jahre, dass wir uns in KSZE und OSZE darauf verständigt haben, dass eine solche gewaltsame Verschiebung von Grenzen nicht mehr stattfindet. Wir haben uns lange genug vor all denjenigen gefürchtet, die in Geschichtsbüchern geblättert haben, nachgeschaut haben, wo Grenzen früher einmal verlaufen sind, um dann daraus kriegerische Ambitionen für sich abzuleiten und furchtbare Zerstörung anzurichten, und wir wissen ganz genau, wohin das führt, wenn gewissermaßen jemand in den Atlanten der Vergangenheit guckt, wo man Grenzen schon einmal gezogen hat. Ich habe gerade ein Gespräch mit dem kenianischen Präsidenten geführt ‑das will ich hier nicht unerwähnt lassen‑, dessen Botschafter im Weltsicherheitsrat etwas sehr Bemerkenswertes gesagt hat: Wisst ihr eigentlich, wie die Grenzen in Afrika entstanden sind? Da haben betrunkene Kolonialherren irgendwelche Grenzen gezogen, durch Landschaften, durch Gebiete, durch Völkerschaften, Königreiche, was auch immer dort jeweils existiert hat, und Menschen in einem Land vereint, die noch nie voneinander gehört hatten, aber auch Menschen auseinandergeteilt, die eng miteinander verbunden waren. Wenn wir in Afrika, hat er damals gesagt, daraus jetzt Konsequenzen ableiten würden und Grenzen wieder neu verschieben würden, wo sollte das enden? Wo soll das enden? Das ist doch die Frage, die wir uns tatsächlich stellen müssen, wenn wir sehen, was jetzt passiert. Es ist erschütternd, mitzuerleben, dass hier in Europa im 21. Jahrhundert wieder ein solcher Krieg stattfindet. Denn Krieg und Vertreibung bleiben Geißeln der Menschheit. Sie haben sie in Ihrem Jahresempfang zu Recht betitelt. Wir alle wollen, dass diese Geißeln verschwinden. Wir wollen, dass dieser Krieg endet, so schnell wie möglich. Dafür reicht es aber nicht, pauschal nach Friedensverhandlungen zu rufen, wie es einige tun. Ja, es muss Friedensgespräche geben; das ist ganz offensichtlich. Aber mit der Waffe an der Schläfe lässt sich nicht verhandeln außer über die eigene Kapitulation. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir sehr klar benennen, was die Voraussetzung für den Frieden ist, nämlich dass Putin erkennt: Er wird seine Ziele nicht erreichen. Sein Imperialismus wird nicht siegen. Deshalb unterstützen wir die Ukraine solange, wie es nötig ist. Deshalb liefern wir Waffen. Deshalb bilden wir ukrainische Soldaten hier in Deutschland aus. Es geht darum, das Recht gegen das Unrecht zu verteidigen, und es geht darum, den Angegriffenen zur Seite zu stehen. Die schrecklichen Fotos und Filmaufnahmen aus Butscha und Mariupol, aus Mykolajiw und Bachmut, haben sich tief in unser Gedächtnis eingebrannt‑ Bilder von ermordeten Zivilisten, von zerbombten Häusern und Städten, von matschigen Schützengräben, vom erbitterten Kampf sich gegenüberstehender Panzer und Artilleriegeschütze. So rollen seit gut einem Jahr auch wieder Züge gen Westen – allerdings nicht, weil sich Grenzen geöffnet haben wie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Es sind Züge, die vor allem Frauen, Kinder und Ältere in Sicherheit bringen vor russischen Bomben, vor Hunger, Not und der Gefahr für Leib und Leben. 14 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer wurden seit Beginn des russischen Angriffskriegs aus ihrer Heimat vertrieben oder mussten fliehen – rund acht Millionen davon in die der Europäischen Union. Jede und jeder Einzelne von ihnen lässt die eigene Heimat zurück, das Haus, die Arbeit oder die Schule, die Freunde, die Familienangehörigen. Über eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer sind auch zu uns nach Deutschland gekommen. Wir heißen sie hier willkommen. Das ist nicht nur unsere völkerrechtliche Pflicht. Das gebietet die Menschlichkeit. Deshalb bin ich unendlich dankbar für die große Hilfsbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, die Mitgefühl zeigen, die mit anpacken und die dafür sorgen, dass die ukrainischen Flüchtlinge hier gut ankommen. Auch Sie, sehr geehrter Herr Dr. Fabritius, und der Bund der Vertriebenen haben sich über alle Maßen engagiert – zum Beispiel durch Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer vor Ort in den Beratungsstellen oder online. Sie haben Hilfe für Flüchtlinge in der Ukraine organisiert ‑ wir haben es eben gerade wieder gesehen. Auch über die Landsmannschaften haben Sie Spenden- und Hilfsaktionen ins Leben gerufen‑ in enger Zusammenarbeit mit den deutschen Minderheiten in der Ukraine, Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien. In der Krise hat sich wieder einmal gezeigt, wie gut und eng die Verbindungen der deutschen Minderheiten in die osteuropäischen Staaten sind ‑ sie sind wahre Brückenbauer. Auch der Bund der Vertriebenen hat dabei tatkräftig geholfen. Dafür sage ich Ihnen von ganzem Herzen: Vielen Dank! Ihr Einsatz ‑ davon bin ich sehr überzeugt ‑ hat auch etwas mit Empathie zu tun, mit der Fähigkeit, sich in die Not anderer hineinzuversetzen. Als in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs und in den Jahren nach 1945 zwölf Millionen Pommern, Schlesier und Ostpreußen aus der Batschka oder vom Schwarzen Meer vertrieben wurden, da war die Not groß. Abschied und Neuanfang schmerzten. Obwohl sie Landsleute waren, galten die Neuankömmlinge vielen im Westen als Fremde. In der DDR waren die Heimatvertriebenen sogar damit konfrontiert, dass ihre Selbstorganisation verboten war. Schon die Erinnerung an die Vertreibung konnte so nur im privaten Umfeld erfolgen. Einige von Ihnen hier im Raum werden sich daran noch erinnern. Einige wissen es aus den Erzählungen der Eltern oder Großeltern. Umso berührender ist es zu erleben, dass das Erbe der Heimatvertriebenen und auch ihre Erfahrung von Flucht und Neuanfang unser Land bis heute prägen. Die Frauen und Männer, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verlassen mussten, ihre Kinder und Enkel haben nicht nur unser Land zupackend mit aufgebaut. Aus der Erfahrung, bei null anfangen zu müssen, haben sie Empathie entwickelt, die auch andere mitnimmt. Die Vertriebenen, aber eben auch ein Verband wie der BdV haben die richtigen Schlüsse aus der Geschichte gezogen, indem sie eben nicht im ständigen Rückblick einer vermeintlich guten alten Zeit nachtrauern, sondern dabei mithelfen, dass unsere Gegenwart und Zukunft geprägt sind von mehr Menschlichkeit, Mitgefühl und Versöhnung. Deshalb ist es gut für unser Land, wenn die Kinder- und Enkelgenerationen am Schicksal der Heimatvertriebenen und Spätaussiedler Anteil nehmen. Viele gehen auf Spurensuche nach den Wurzeln ihrer Familien, entschlüsseln ihre Geschichte und reisen an die Orte ihrer Herkunft. Besuche ehemaliger Heimatvertriebener oder ihrer Angehörigen gehören in Polen oder Tschechien längst zum Alltag und sind dort sehr willkommen. Zum Teil haben sich daraus auch enge Kontakte oder Hilfs- und Unterstützungsprojekte entwickelt. Auch das ist Teil der Aussöhnung in Europa. Dafür stand schon im Jahr 1950 die wegweisende Charta der Heimatvertriebenen, in der es heißt: „Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.“ Und dafür steht Ihre Versöhnungsarbeit in Europa bis heute und in Zukunft. Deshalb möchte ich mich hier ganz ausdrücklich zur Unterstützung des Bundes der Vertriebenen und seiner Versöhnungsarbeit bekennen. Dazu zählt, die Kultur und die Geschichte der Deutschen aus den ehemaligen Siedlungsgebieten im östlichen Europa lebendig zu halten. Heute haben wir Museen, Bibliotheken und wissenschaftliche Einrichtungen, die dieses kulturelle Erbe erforschen und präsentieren – auch dank der engen Zusammenarbeit von Bund und Ländern. Das im Jahr 2021 neu eröffnete Dokumentationszentrum der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung zeigt, welch großes Interesse daran besteht, übrigens auch international. Schließlich haben wir im vergangenen November eine Lücke geschlossen, die von vielen Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern als große Ungerechtigkeit empfunden wurde. Bei Fällen, bei denen die gesetzliche Rente wegen der Fluchtgeschichte sehr gering ist, helfen wir mit einem neuen Fonds. Sie haben darüber schon gesprochen, dass er natürlich ‑ wie alle Fonds ‑ nicht zureichend ist. Wir hoffen auch noch, dass möglichst viele der deutschen Länder sich entscheiden, bei diesem Fonds einzusteigen. Die Möglichkeit besteht ja. Aber es ist ein Zeichen, dass wir genau wissen, wie herausfordernd es ist, wenn man nicht die ganze Zeit hier in der Bundesrepublik gelebt hat und seinen eigenen Beitrag für die spätere Rente leisten konnte. Das soll hier eben auch seinen Niederschlag finden. Die Kriege des 20. Jahrhunderts haben im Leben von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern tiefe Spuren hinterlassen, die auch noch viele Jahrzehnte später zu sehen sind. Da gibt es gar keine Frage. Die aus dem Banat stammende Schriftstellerin Iris Wolff, die als Kind mit ihrer Familie nach Deutschland kam, hat die Folgen in ihrem Leben einmal so beschrieben: „Durch den Verlust meiner ersten Heimat gelingt es mir, überall schnell zuhause zu sein, aber ich fühle mich doch auch auf eine gewisse Weise nicht zugehörig. Das war, besonders als Kind, nicht leicht. Inzwischen kann ich jedoch die Freiheit und die Möglichkeiten sehen, die aus dieser Erfahrung resultieren. Ich hätte nie ein Buch geschrieben, wenn es diese doppelte Verwurzelung nicht gäbe.“ Erste und zweite Heimat, doppelte Verwurzelung ‑ ich denke, viele derjenigen, die heute vor Russlands Krieg fliehen müssen, können nachempfinden, was Iris Wolff da zum Ausdruck bringt. Zugleich werden sie damit zu Kronzeugen dafür, dass Putins Imperialismus ein Irrweg ist, dass seine Vorstellung einer großrussischen Identität und einer möglichst gleichförmigen Gesellschaft nicht ins 21. Jahrhundert gehört. Und daher kann ich sagen: Ja, auch der Ukraine-Krieg wird tiefe Spuren in Europa hinterlassen und uns auf lange Zeit hin beschäftigen und verändern, doch nicht im Sinne Putins, sondern im Sinne eines Europas, das in Freiheit geeint ist, das seine kulturellen Unterschiede als Bereicherung empfindet – ein Europa, das enger zusammensteht als je zuvor. Schönen Dank!
Rede von Kulturstaatsministerin Roth zur Ausstellungseröffnung „Flashes of Memory“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-flashes-of-memory-2173360
Thu, 23 Mar 2023 00:00:00 +0100
Kulturstaatsministerin
Wir sehen, was wir wahrnehmen, immer mit den eigenen Augen, in einem einzigen, unwiederholbaren Moment, in den wir gestellt sind, aus unserer eigenen, durch Erfahrung geprägten Perspektive. Die Fotografie befreit uns aus dieser Lage, sie befreit unseren Blick, sie zeigt uns andere, neue Perspektiven, sie erweitert unser Blickfeld, unseren Horizont. Doch sie kann unseren Blick auch manipulieren. Sie kann ihn absichtsvoll und gezielt auf eine einzige Perspektive verengen. Diese so wichtige Ausstellung zeigt beides, den geweiteten wie den verengten Horizont, Aufklärung und Propaganda. Ich freue mich sehr, sie heute mit eröffnen zu dürfen. Und ich bin den Verantwortlichen der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin und dem Freundeskreis Yad Vashem dankbar dafür, dass Sie es möglich gemacht haben, diese Ausstellung nach Deutschland, nach Berlin, zu uns zu holen. Es ist eine einzigartige Ausstellung. Einzigartig in dem, was sie zeigt, und in dem, was sie auslöst. Ihr Thema ist die Shoa. Was wir sehen, sind tatsächlich Flashes of Memory, aufblitzende Augenblicke in den Fotografien unterschiedlicher Personen, aufgenommen in unterschiedlicher Absicht und wechselnden Situationen. Dabei beginnt die Ausstellung nicht mit dem Ende. Sie führt uns nicht geradewegs in die befreiten Konzentrations- und Vernichtungslager, sondern lenkt unseren Blick auf die Anfänge, auf den alltäglichen, sich stetig radikalisierenden Antisemitismus. Sie zeigt uns ein Verbrechen, das bei hellem Tageslicht, eingefangen von Film- und Fotokameras, inmitten einer Gesellschaft begangen wird, die sich als zivilisiert begreift. Wir sehen Leni Riefenstahl bei der Arbeit an ihrem Olympia-Film. Mit Blick auf die Gegenwart stellt diese Ausstellung für mich deshalb auch die Frage, was Propaganda vermag? Feierte Leni Riefenstahl in ihrem Olympiafilm 1936 nur – wie sie später behaupten wird – die Schönheit selbst, den perfekten Körperbau eines „arischen“ Athleten? Tatsächlich liefert Riefenstahl dem Nationalsozialismus ein ästhetisches Ideal. Und dieses Ideal dient der Vorbereitung eines Verbrechens, denn zeitgleich lässt Julius Streicher Alben mit dem Titel „Jüdische Verbrecher“ anfertigen und überreicht sie dem Führer „im Kampf gegen den Weltfeind Juda“. Es werden Jüdinnen und Juden öffentlich gedemütigt und ausgegrenzt. Es wird die Reinhaltung einer arischen Rasse von allem Jüdischen verlangt. Dieser Popanz eines angeblich artfremden Feindes war allgegenwärtig. Und deshalb schützen weder Dummheit noch Idealismus Leni Riefenstahl selbst oder ihre Filme vor dem Urteil, nationalsozialistischer Propaganda gedient zu haben. Der Ausstellung gelingt es, das deutlich zu machen, indem sie unterschiedliche Perspektiven zeitgleich öffnet. Dieses Kaleidoskop von Fotografien, aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufgenommen, aus der Perspektive deutscher Antisemiten und nationalsozialistischer Propagandistinnen, aber auch aus der Perspektive jüdischer Fotografen wie Mendel Grossman und Zvi Kadushin, die Verfolgung, Ausgrenzung und das Verbrechen der Ghettos dokumentierten, aber auch die Würde des einzelnen Menschen, der verfolgt und ausgegrenzt wurde. Diese Perspektivwechsel, diese Spiegelungen haben einen aufklärerischen Effekt. Und schließlich zeigt „Flashes of Memory“ auch Aufnahmen, die viele von uns kennen: Die Fotografien der alliierten Befreier, die 1945 in den Konzentrations- und Vernichtungslagern entstanden: Es sind Filme und Fotografien, die zu Zeitzeugen wurden. Wer sie gesehen hat, wird sie überall und jederzeit wiederkennen. Sie sind nicht zu vergessen. Viele dienten als Beweismittel in den Prozessen von Nürnberg, Jerusalem und Frankfurt am Main. Diese Bilder erinnern mich an einen Satz des sowjetischen Kameramanns Alexander Woronzow, der am 27. Januar 1945 die Befreiung von Auschwitz in einem Filmdokument festhielt. Als er Jahrzehnte später von dem sprach, was er an diesem Tag durch das Objektiv seiner Kamera gesehen hatte, sagte er: „Über diese Erinnerung hat die Zeit keine Macht.“ Es ist eine Aussage, die Woronzow mit seiner Kamera beglaubigt hat. Seine Bilder sprechen nicht nur für ihn, für sein Erleben und seine Erinnerung, sondern für unzählige Menschen, für Menschen die Unbeschreibliches erlebt haben, aber auch für all diejenigen, die seine Bilder, lange nachdem sie entstanden sind, gesehen und niemals wieder vergessen haben. Wir brauchen diese Bilder. Unsere Erinnerung lebt in ihnen. Doch wir brauchen sie nicht allein, um entschlüsseln zu können, was geschehen ist. Wir brauchen Ausstellungen wie diese, die uns helfen, die Muster der Vergangenheit in der Gegenwart erkennen und lesen zu können. Danke für diese Ausstellung.
Die Sonderausstellung „Flashes of Memory“ widmet sich Fotografien des Holocausts und stellt den Bildern jüdischer Fotografen solche deutscher Antisemiten und NS-Propagandistinnen gegenüber. Sie zeige beides, den geweiteten wie den verengten Horizont, Aufklärung und Propaganda, sagte die Kulturstaatsministerin bei der Eröffnung. „Diese Perspektivwechsel, diese Spiegelungen haben einen aufklärerischen Effekt“, so Claudia Roth.
Rede von Kulturstaatsministerin Claudia Roth beim Runden Tisch Kulturelle Bildung
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-kulturelle-bildung-2172582
Mon, 20 Mar 2023 00:00:00 +0100
Kulturstaatsministerin
Wenn es um Bildung in unserem Land geht, sind die Nachrichten selten vielversprechend. Tatsächlich versprechen sie rein gar nichts, sie reden vielmehr vom Mangel, vom Lehrermangel, von fehlender Infrastruktur, von Rechen-, Lese- und Schreibschwächen! Was ich in diesem Zusammenhang dagegen selten höre, ist der Begriff kulturelle Bildung. Der Bildungsbegriff wird in den einschlägigen Debatten immer eng geführt. Von kultureller Bildung ist selten die Rede. Das ist schade, denn kulturelle Bildung ist nicht nur von herausragender Bedeutung für uns als Gesellschaft, für unsere Zukunft, beide, Kultur und Gesellschaft, gehören zusammen, sie bedingen einander. Kultur, das Wissen um die eigene ebenso wie um andere Kulturen, ist wichtig für die individuelle Persönlichkeitsentfaltung, für Kreativität, für das Selbstverständnis und die Teilhabe an einer Gesellschaft. Sie ist in einer Einwanderungsgesellschaft wie unserer damit auch ein Schlüsselfaktor der Inklusion, der Integration, des Dazugehörens, des Zusammenhalts, einer Teilhabegerechtigkeit. Unsere Einrichtungen können, jede auf ihre Weise, zur Verständigung darüber beitragen, was für ein Land wir sind und was für ein Land wir sein wollen: in der Auseinandersetzung mit unserer Geschichte und in der Vermittlung dessen, was uns ausmacht, in der kulturellen Bildung und in der Förderung einer künstlerischen Avantgarde. Nicht nur die Kunst hat Einfluss darauf, ob und wie sich kulturelle Vielfalt herausbildet und wahrgenommen wird, sondern eben auch die Rahmenbedingungen und wie sie beschaffen sind für die kulturelle Bildung. Sie nehmen Einfluss auf unsere Entwicklung und damit auch darauf, wie unsere Zukunft aussehen kann. Aber diese Erkenntnisse allein werden der kulturellen Bildung kaum mehr Bedeutung verleihen. Natürlich geht es auch darum, dass wir Inspiration bekommen, dass wir mobilisiert und konfrontiert werden, dass wir erleben können. Und was Kultur bedeutet, das erleben wir in den Museen, Theatern, Kinos und Konzertsälen. Wie man Menschen zu ihrem Glück verhilft, indem man sie ins Theater bringt, wusste nur der große Karl Valentin: mit der „Allgemeinen Theaterbesuchspflicht“, kurz ATBPF–Allgemeine Theaterbesuchspflicht. Leere Theater? Woher kommt das? „Nur durch das Ausbleiben des Publikums.“ Und wer ist schuld daran? Selbstverständlich – der Staat, der es versäumt hat, einen Theaterzwang einzuführen. Schließlich würde auch kein Schüler die Schule besuchen, wenn er nicht müsste. Im Ernst: Karl Valentin hat recht, wenn er behauptet: „Der gute Wille und die Pflicht bringen alles zustande.“ Nicht nur in Valentins großartigen „Zwangsvorstellungen“, aus denen ich hier zitiert habe. Allerdings besteht die Pflicht des Staates und seiner Kulturpolitik nicht darin, seine Bürger und Bürgerinnen zum Theaterbesuch zu verdonnern, sondern darin, attraktive Angebote zu machen und die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Menschen können zu Kultur nicht gezwungen werden, sie müssen für Kultur begeistert werden. Sie müssen freiwillig und gerne, ins Theater und in die Museen gehen. Sie müssen diese Orte, als offene Orte verstehen. Nur so können Kunst und Kultur ihre enormen Kräfte entfalten. Denn: Wie kann der Mensch wissen, was er wollen soll, wenn er gar nicht kennt, was er mögen würde, um Karl Valentin nach dem Mund zu reden. Und das ist die Begründung für den Kulturpass, den wir jetzt einführen wollen und der mit Ihrer Hilfe – da bin ich mir sicher – sehr erfolgreich werden wird. Mit ihm werden wir genau versuchen, die Kultur-Infrastruktur verstärkt für junge Menschen zu öffnen. Sie einzuladen, sich auf die Kultur einzulassen. Und: kulturelle Angebote sollen für alle da sein – für Menschen jeden Alters, mit und ohne Einwanderungsgeschichte, mit oder ohne Einschränkungen, in ländlichen Räumen und in Metropolen. Und natürlich muss es um die Menschen gehen, die bisher nur selten oder auch gar keinen Zugang zu Kultur haben, wenn wir „Kultur für alle“, wenn wir Kultur „mit allen“ und „von allen“ ermöglichen wollen. Die Folgen der Corona-Pandemie sind auch hier spürbar. Die Menschen haben sich zurückgezogen. Ziel ist, dass sie wieder raus gehen und am kulturellen Leben teilhaben. Um das zu erreichen, müssen die Einrichtungen noch stärker als bisher die Diversität der heutigen Gesellschaft im Blick haben, müssen sie die Potenziale der diversen Gesellschaft abrufen, kreativ aktivieren. Das gilt für die Gremien- und Personalbesetzung ebenso wie für die Programmgestaltung, die Ansprache des Publikums oder die Zugänglichkeit der Angebote. Wir wollen mehr Teilhabe für jene, die in der Kultur noch unterrepräsentiert sind und zwar auf allen Ebenen der Einrichtungen: Publikum, Personal, Programm und Partner und Partnerinnen. Zugangshindernisse bestehen dabei nicht nur aus sichtbaren, physischen Barrieren. Oft sind es auch immaterielle Schwellen, die Menschen abschrecken, Kulturangebote wahrzunehmen: Ängste, nicht genug zu wissen oder zu verstehen, andere Seh- und Freizeitgewohnheiten, Sorge vor fremden Umgebungen, keine Information über bestehende Angebote. Damit wir möglichst alle Menschen erreichen, müssen wir uns zutrauen, auch neue Wege zu gehen und zeitgemäße, kreative und progressive Angebote zu konzipieren. Wir fangen dabei nicht bei null an, das ist das Gute. Es gibt bereits unglaublich viele Initiativen und Förderprogramme wie „Kulturelle Vermittlung und Integration“, die solche zukunftsweisenden Projekte ermöglichen – beispielsweise die kulturelle Bildung für junge Menschen, die Inklusion von Menschen mit Behinderung, die Integration und die interkulturelle Öffnung. Ich will Sie ermutigen, eigene Ideen zu entwickeln und Anträge bei uns einzureichen. In diesem und nächstem Jahr stehen in dem genannten Förderprogramm noch bis zu 1,8 Mio. Euro bereit. Natürlich gibt es bei Ihnen in den BKM-geförderten Einrichtungen bereits zahlreiche Leuchtturmprojekte kultureller Bildung, aber wir sollten nicht aufhören, innovative Konzepte zu entwickeln. Ich bin sehr gespannt darauf, heute noch viel mehr darüber zu erfahren und sicherlich entstehen hier auch neue Ideen, werden neue Vorhaben initiiert. Darüber würde ich mich sehr freuen! Vielen Dank an Frau Kropff und ihr Team für die Vorbereitung und die Gastfreundschaft. Unser Zusammenkommen soll aber auch dazu dienen, Ihnen die im Koalitionsvertrag angekündigte Studie „Kulturelle Bildung“ vorzustellen. Sie wird in den Jahren 2023 und 2024 von der „Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW–Nordrhein-Westfalen“ unter Leitung von Frau Prof. Dr. Susanne Keuchel durchgeführt. Liebe Frau Prof. Dr. Keuchel, zunächst vielen Dank an Sie, dass Sie die Studie durchführen. Ihr breiter Erfahrungsschatz aus Theorie und Praxis wird dem Vorhaben sicher guttun. Sie werden ja gleich selbst mehr zur Studie berichten, deshalb von mir nur ein paar Gedanken dazu, warum es diese Studie braucht und inwiefern wir alle davon profitieren können. Bei der Studie „Kulturelle Bildung“ geht es darum, das Feld der kulturellen Bildung als eine zentrale Aufgabe der Bundeskultureinrichtungen und der Gedenkstätten neu zu vermessen. Die Studie soll ausgehend vom Status quo eine Antwort auf die Frage geben, was den Erfolg kultureller Bildung ausmacht und wie sie gestärkt werden kann. Auf Grundlage der Ergebnisse sollen Empfehlungen ausgesprochen werden, wie der Bund seine Fördermaßnahmen zukünftig strategisch besser gestalten kann und wie die kulturelle Bildungsarbeit der BKM-geförderten Einrichtungen verbessert werden kann. Kurz: Die Studie soll uns einen Kompass für die künftige Ausrichtung der Bundeskulturpolitik in Sachen kultureller Bildung geben. Dazu braucht es Ihren Beitrag. Ich lade Sie herzlich ein, sich mit Ihren Erfahrungen einzubringen in der Studie „Kulturelle Bildung“. Nutzen Sie bitte alle Möglichkeiten. Sie sind die Expertinnen und Experten Ihrer eigenen Arbeit, Sie sind die Pfadfinder und Pfadfinderinnen immer auf der Suche nach neuen Wegen. Wir sind auf Ihre Expertise angewiesen. Vielen Dank – auch dafür, dass Sie heute in so überwältigender Anzahl gekommen sind!
„Kulturelle Angebote sollen für alle da sein – für Menschen jeden Alters, mit und ohne Einwanderungsgeschichte, mit oder ohne Einschränkungen, in ländlichen Räumen und in Metropolen“, erklärte Kulturstaatsministerin Roth. Um das zu erreichen, müssten die Einrichtungen noch stärker als bisher die Diversität der heutigen Gesellschaft im Blick haben und die Potenziale der diversen Gesellschaft kreativ aktivieren.
Rede von Kulturstaatsministerin Claudia Roth anlässlich des European Month of Photography (EMOP) 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-emop-2170546
Sun, 05 Mar 2023 00:00:00 +0100
Berlin
Kulturstaatsministerin
Ein wichtiger Wegweiser der modernen Fotografie, Andreas Feininger, sagte einmal, „dass idealerweise ein Fotograf dem Betrachter mehr zeigen sollte, als er in Wirklichkeit zu sehen vermag.“ Mit diesem Satz erklärt er, was die Fotografie zur Kunst macht. Gleichzeitig ist das natürlich auch ein Anspruch, ein Ideal, dem man erst einmal gerecht werden muss. Denn die Fotografie ist ja nicht nur ein Medium im Wandel, sie ist ein Medium, vielleicht das Medium des Wandels. Sie unterliegt den Kräften, die sie gleichzeitig beherrschen will: dem Licht, der Zeit, der Bewegung. Kurz: künstlerische Fotografie verlangt Meisterschaft. Und es gibt dafür, auch nach Feininger, herausragende Beispiele. Künstlerinnen und Künstler, Journalistinnen und Journalistinnen und andere haben weltweit Bilder von zeitloser visueller Kraft und Ästhetik erschaffen und so die Fotografie als Kunstform etabliert. Aber nicht nur das, zugleich dokumentiert die Fotographie den Wandel, legt Zeugenschaft ab über gesellschaftliche Verhältnisse und soziale Realität. Fotografie begleitet mich seit vielen Jahren. Ich verdanke ihr große Momente des Sehens, Erkennens und Staunens. Fotografie schafft es eben manchmal besser als Worte, ja, sogar eindrücklicher als das eigene Auge, die Dinge in ihrer eigentlichen Wucht darzustellen, die visuellen Erfahrungen zu komprimieren, zu destillieren. Gerade in den Momenten, in denen einem die Worte fehlen, kann ein Bild unmittelbar emotional vermitteln, worum es geht. Ich verdanke Fotografie den Blick für Details, die erst zusammen ein Bild ergeben. Den Blick für Farben und Schattierungen, den Blick für die Zeitlosigkeit eines fotografischen Moments. Eine Art des Sehens, die Voraussetzung ist für ein Verständnis von Freiheit und Demokratie, von Vielfalt der Kunst überhaupt, für ein Verständnis von Kunst. Deshalb setze ich mich so sehr gerne für die Belange der Fotografie ein. Die Beschlüsse des Deutschen Bundestages zur Einrichtung des Instituts für Fotografie sind nun ein wichtiges Bekenntnis zur großen Bedeutung des Mediums. Das Institut gibt ihr ein institutionell getragenes Fundament, einen festen Standort in Deutschland. Und es sendet klare Botschaften in unser Land: Fotografie ist Kunst! Wie die Kunst im Allgemeinen kann, ja soll auch die Fotografie emotionalisieren, bewegen, kritisch beleuchten. Fotografie ist bleibende Dokumentation dessen, was ist, was geschieht! Fotografie repräsentiert unsere Geschichte und unsere Gegenwart und öffnet Augen in die Zukunft! Fotografie kann Zuflucht bieten, kann ebenso beruhigen wie aufwiegeln. Kann sicher Geglaubtes ins Wanken bringen. Aber natürlich kann Fotografie auch Trauer und Leid vermitteln. Fotografie kann einen förmlich „umhauen“, kann Unbegreifliches begreifbar machen und ist deshalb so viel mehr als bloße Ästhetik; vor allem dort, wo Worte fehlen, wo Vertrauen und Verständnis längst verloren gegangen sind. Und das ist gerade wichtig in Zeiten, die geprägt sind von Krisen, von Konflikten, von Katastrophen. Es sind die Bilder, die sich uns einprägen, die sich uns einbrennen, die wir nie wieder vergessen werden. Die Bilder von Butscha, das Bild des Krieges, des entsetzlichen, grauenhaften Krieges. Wie das Bild des kleinen ertrunkenen Jungen Alan Kurdi. Es war ein Bild, das die Flüchtlingstragödie deutlich macht, deutlicher als alles andere. Das Bild des Eisbergs, friedlich, wunderschön. Das Bild aber auch der Traurigkeit über sein baldiges Verschwinden. Ihre Wertschätzung – und die Wertschätzung aller Beteiligten, der Fotografinnen und Fotografen, der an den technischen Prozessen Beteiligten, der Kuratorinnen und Kuratoren sowie Sammlerinnen und Sammler in Museen, der Restautorinnen und Restauratoren, der Archivarinnen und Archivaren, das ist eine bundespolitische Aufgabe! Und das heißt: Auch eine Aufgabe, die die föderale Kultur unseres Landes respektieren wird. Ich finde es richtig, und da weiß ich mich mit dem Deutschen Bundestag einer Meinung, dass das Bundesinstitut der großen Tradition und Gegenwart der Fotografie in Deutschland Rechnung tragen und sie würdigen soll. Es ist das Institut für Deutschland, das Institut für uns alle. Aber ob es nun am Rhein, an der Isar oder an der Elbe gegründet wird… – Halten wir uns in dieser Frage doch einfach an das, was der Deutsche Bundestag demokratisch entschieden hat und verstehen wir es als Aufforderung: Machen wir etwas daraus! Eine neue Institution in unserer Zeit zu gründen, ist nicht so leicht. Eine neue kulturelle Institution ist eine große Herausforderung für die Politik. Ich weiß und verstehe, dass der Weg, den das Vorhaben in der vergangenen Legislaturperiode genommen hat, weder reibungs- noch schmerzfrei war. Und das wirkt noch nach, offene Wunden sind da. Ja, das weiß ich. Aber ich möchte Sie, ich möchte alle einladen, dieses Institut nun gemeinsam zu einem großen Erfolg zu führen. Das Potenzial ist enorm. Für die Fotografie. Für die Fotografie in Deutschland. Für uns alle. Gerade weil die mit der Entscheidungsfindung verbundene Standort-Debatte das eigentliche Vorhaben in den vergangenen Jahren immer wieder überlagert hat, sollten jetzt die Inhalte im Vordergrund stehen. Mit der Besetzung der Gründungskommission wollen wir mit einer breiten fotografischen Expertise aus den unterschiedlichsten Bereichen erreichen, dass ein solides Fundament für das Bundesinstitut geschaffen wird. Wir stehen zurzeit in engem Austausch mit dem Land Nordrhein-Westfalen, das das Ganze schon weit vorangetrieben hat, um die Zusammensetzung der Kommission sorgfältig abzustimmen. Mir ist wichtig, dass die Gründungskommission die Perspektive der Fotografinnen und Fotografen – und zwar ganz unterschiedlicher Fotografinnen und Fotografen mit unterschiedlichen Hintergründen – angemessen abbildet, aber auch über herausragende Fähigkeiten im Bereich der Foto-Technik, der Forschung und der Vermittlung verfügt. Nur so kann das Gremium seiner Aufgabe gerecht werden, auf der Grundlage der bereits bestehenden Konzepte die inhaltliche und strukturelle Ausrichtung des Bundesinstituts zu schärfen. Mit einigen von Ihnen durfte ich mich dazu schon unterhalten. Weitere Gespräche stehen an. Immer in enger Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern und besonders meiner nordrhein-westfälischen Kollegin Kulturministerin. Deutschland ist ein Land mit einer herausragenden Fototradition. Fotografie aus Deutschland ist wegweisend und populär. Sie hat als Sparte in den vergangenen Jahrzehnten an Popularität noch hinzugewonnen. Weltweit zeigen bekannte Museen und Ausstellungshäuser die Arbeiten deutscher Fotografinnen und Fotografen der Gegenwart und aus den verschiedenen Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts. Aber auch die Fototechnik hat – nicht zuletzt dank der hervorragenden Arbeit spezialisierter Foto-Labore – große Fortschritte erzielt. Auch hier wird das Fotoinstitut im Bereich der Konservierung, Restauration und Reproduktion anknüpfen. Zum Werk gehören seine Entstehungsgeschichte und natürlich seine Wirkung. Darum muss das künftige Institut für Fotografie die Frage beantworten, wie Pflege, Erhalt und Vermittlung der Substanz von Fotografie gewährleistet werden können. Daraus ergeben sich auch die Leitlinien und die Kernaufgaben des Instituts. Sobald die Gründungskommission vollständig ist, wird sie sechs zentrale Aufgaben des Instituts in den Blick nehmen müssen: – Erstens: Eine dieser Aufgaben ist das Sammeln von Vor- und Nachlässen in analoger und digitaler Form. Die Auswahl der Vor- und Nachlässe muss dabei der Vielschichtigkeit des fotografischen Arbeitens gerecht werden und unterschiedliche biografische Kontexte miteinbeziehen. In diesem Archiv soll nicht nur fotografisches Material zusammengetragen werden. Damit es zu einem „Tagebuch seiner Zeit“ werden kann, müssen auch gedruckte und handschriftliche Texte dazu kommen, mit anderen Worten alles, was notwendig ist, damit das Archiv einen wesentlichen Beitrag zum Verstehen der Entstehungsgeschichte leisten kann. – Zweitens: Anspruchsvolle Technologien sind zum Erhalt des fotografischen Kulturguts unerlässlich. Konservierung und Restaurierung des empfindlichen analogen, aber auch des digitalen Materials und der „Zwischenformen“ benötigen das neueste Knowhow, das geteilt und weitervermittelt wird. Hier muss das Institut mit Expertise bestechen und Anlaufstelle für die Vermittlung dieses Wissens in Deutschland werden. Es geht dabei um Konservierung und Restaurierung, aber auch um den Schutz dieses Kulturguts. Weil wir gerade, gar nicht soweit weg von hier, erleben wie in einem Krieg systematisch und gezielt Kultureinrichtungen wie Museen, wie Archive, wie Theater, wie Ausstellungsräume, wie Bibliotheken angegriffen und zerstört werden, um kulturelle Identität zu zerstören. – Drittens: Die im Institut vorhandenen fotografischen und dokumentarischen Bestände sollen als Quellenmaterial der Forschung dienen. So wird auch auf Dauer eine lebendige Auseinandersetzung mit dem ästhetischen und historischen Gehalt der Werke garantiert. – Viertens: Zu den Aufgaben des Instituts zählt auch die breite Vermittlung von Standardwissen über die Fotografie. Welche Form es dafür konkret braucht, darüber wird sicher noch zu reden sein. Aber es bedarf zur Vermittlung auch die öffentliche Präsentation von Fotografien und zu ihre jeweilige Kontextualisierung. Im gesamten Bundesgebiet stehen Museen und Ausstellungshäuser zur Verfügung, die sich um die Präsentation von Fotografie verdient machen. – Fünftens: Die Arbeit des künftigen Instituts ist inspiriert vom Netzwerk-Gedanken. Das bedeutet zum einen, dass die zahlreichen, bereits existierenden Sammlungen in den deutschen Museen fachlich unterstützt werden sollen. Zum anderen bedeutet es die Zusammenarbeit mit anderen nationalen und internationalen Einrichtungen. Denn gegenseitiges Lernen und Beratung im Bedarfsfall sind die Grundlagen der Kooperation. Und die Fotografie ist natürlich grenzüberschreitend. – Sechstens: Das Institut muss nicht nur in die Vergangenheit und/oder von der Gegenwart her, sondern muss auch in die Zukunft gedacht werden. Es müssen natürlich bedeutende historische und aktuelle Konvolute von Fotografinnen und Fotografen gesichert werden. Es muss aber auch gewährleistet werden, dass die künftigen Produktions-, Rezeptions- und Gebrauchsformen der Fotografie mitgedacht werden. Denn, wie eingangs gesagt, die Fotografie ist das Medium des Wandels. Das Institut muss, um ein lebendiger Ort zu sein, dieser Lebendigkeit Rechnung tragen, ihr Heimat geben. An der Erfüllung dieser Aufgaben wird sich das Institut und zunächst auch die Gründungskommission messen lassen müssen. Ich freue mich darauf, dieses strahlende Vorhaben gemeinsam mit Ihnen voranzubringen. Ich sage bewusst noch einmal gemeinsam. Ich weiß, es haben sich über die vergangenen Jahre Fronten herausgebildet und auch verhärtet. Ich weiß, dass bereits die Begriffe belastet sind. Die Begriffe Bundesinstitut und Deutsches Fotoinstitut sind jeweils mit eigener Bedeutung aufgeladen. Nach der Entscheidung des Bundestages, nach dieser demokratischen Entscheidung, können und sollen wir uns endlich nun nach vorne bewegen, jetzt wirklich die inhaltliche Auseinandersetzung, die kreative Fantasie – was kann und was muss dieses Institut leisten – in den Vordergrund stellen. Ich möchte alle, die in diese Debatte viel Arbeit, viele Gedanken und viel Herzblut gesteckt haben, bitten und ermutigen, aufeinander zuzugehen. Dann geben wir der Fotografie den Ort, den sie verdient und den sie braucht. Im Hier und Jetzt ist es aber erst einmal der European Month of Photography, der unsere Foto-Herzen höherschlagen lässt. Vielen Dank an all die Menschen, die dahinterstehen, allen voran an Maren Lübbke-Tidow, der künstlerischen Leiterin, und an Moritz van Dülmen von den Kulturprojekten Berlin. Sie setzen auch in diesem Jahr ein vielstimmiges Gespräch über das Medium und die Wirkmacht der Fotografie in Gang und begeistern ein breites Publikum für Fotografie. Ich wünsche Ihnen anregende Gespräche.
„Deutschland ist ein Land mit einer herausragenden Fototradition“, sagte Claudia Roth im Amtsalon Charlottenburg in Berlin. Sie finde es richtig, dass das Bundesinstitut für Fotografie dieser großen Tradition und Gegenwart Rechnung tragen und sie würdigen soll. In ihrer Rede stellte die Kulturstaatsministerin sechs zentrale Aufgaben vor, die die Gründungskommission nach ihrer Konstituierung in den Blick nehmen müsse.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Tagung des Verbands Kommunaler Unternehmen am 7. März 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-tagung-des-verbands-kommunaler-unternehmen-am-7-maerz-2023-in-berlin-2169886
Tue, 07 Mar 2023 00:00:00 +0100
Berlin
Meine Damen und Herren, „we made it“. Was wurde nicht alles für diesen Winter vorausgesagt: Die Produktion werde stillstehen. Ganze Industriezweige müssten zwangsabgeschaltet werden. Von möglichen Blackouts und kalten Wohnungen war die Rede, von De-Industrialisierung, von einem Abwandern von Zukunftstechnologien und schrumpfenden Beschäftigtenzahlen. Nichts davon ist eingetreten. Stattdessen liegt ein Winter der Solidarität hinter uns –fast jedenfalls, was den Winter betrifft ‑, ein Winter mit Beschäftigungszahlen in Rekordhöhe, ein Winter, in dem wir gezeigt haben, dass ein neues Deutschlandtempo möglich ist. Innerhalb kürzester Zeit haben wir uns von Gas, Öl und Kohle aus Russland unabhängig gemacht. Dabei haben wir unsere Ziele teilweise sogar übertroffen: Bis zu 40 Prozent sollten unsere Gasspeicher im Februar 2023 gefüllt sein, so unsere Vorgabe. Tatsächlich liegt der Stand heute bei knapp, nicht ganz, 70 Prozent, und die Gaspreise fallen wieder. Das alles zeigt: Unsere Maßnahmen haben gewirkt. Die Gas- und Strompreisbremse, unser wirtschaftlicher Abwehrschirm gegen die Folgen des brutalen russischen Angriffskriegs, neue Importkapazitäten, neue Energiepartnerschaften in Europa, aber auch in Asien, Afrika oder Amerika, und nicht zuletzt der umsichtige Umgang der Bürgerinnen und Bürger und unserer Unternehmen mit Energie. Damit sind wir gut durch das vergangene Jahr gekommen und gehen gestärkt in den Frühling. Denn wir haben bewiesen: Wir können über uns hinauswachsen. Was wir da gemeinsam geschafft haben, gibt uns Zuversicht für den nächsten Winter und weit darüber hinaus. Das liegt auch an Ihnen, meine Damen und Herren, am Verband der kommunalen Unternehmen ‑ oder, um das Motto Ihrer Tagung aufzugreifen, an Leuten wie Ihnen, die das Land am Laufen halten. Sie haben durch Ihr schnelles Handeln dafür gesorgt, dass auch Bürgerinnen und Bürger mit wenig Geld von den erhöhten Energiepreisen nicht überfordert waren. Sie haben es möglich gemacht, dass die Produktion in den Werkshallen und die Arbeit in den Gewerben reibungslos weiterlaufen konnten. Sie haben die Fragen der Bürgerinnen und Bürger aufgefangen, und Sie schaffen es, dass die Entlastungen auch wirklich bei jedem Verbraucher, bei jeder Verbraucherin ankommen. Für diesen tatkräftigen Einsatz danke ich Ihnen. Sie haben ‑ das kann man hier sagen – Großartiges geleistet. Geben Sie meinen Dank bitte auch an die Kolleginnen und Kollegen in den Stadtwerken und in den Kundencentern weiter. Meine Damen und Herren, „we made it“, habe ich eingangs gesagt: Daraus folgt aber auch: „We can make it.“ Dazu will ich heute einige Gedanken mit Ihnen teilen. Erstens. Die Zukunft gehört den erneuerbaren Energien ‑aus Kostengründen, aus Umweltgründen, aus Sicherheitsgründen und weil sie auf Dauer die bessere Rendite versprechen. Das habe ich bei meiner Rede auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gesagt ‑ was übrigens bei den dort versammelten Wirtschaftslenkern und Investoren auf offene Ohren traf ‑, und das ist meine erste Botschaft an Sie heute: Wir setzen auf sichere, bezahlbare und nachhaltige Energie. So machen wir unsere Industrie wettbewerbsfähiger und unser Land unabhängiger. Ich bin überzeugt: Die Energiewende kann und wird uns auch gelingen. Deshalb richten wir das, was wir nun für die Sicherheit unserer Energieversorgung aufbauen, von Anfang an auch auf erneuerbare und klimafreundliche Energien aus. So ist unsere neue Importinfrastruktur für Flüssiggas in Zukunft auch für Wasserstoff nutzbar. Deshalb hat der Ausbau von Windkraft, von Solarenergie, von Strom- und Wasserstoffnetzen jetzt gesetzlichen Vorrang. Deshalb haben wir uns darauf festgelegt, zwei Prozent der Landesfläche dem Ausbau der Windenergie auf Land zu widmen ‑ ein Prozess, den wir engmaschig kontrollieren ‑, und deshalb hat die Bundesnetzagentur den klaren Auftrag, den zielgerichteten Ausbau der Stromnetze zu steuern. Wir wissen: Unser Strombedarf wird zunehmen, von heute 600 auf 750 Terawattstunden bis 2030. In diesem Zeitraum wird der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung massiv steigen. 2030 werden es 80 Prozent sein. Auch hier sind wir auf einem guten Weg: Fast die Hälfte der Strommenge, die wir im vergangenen Jahr verbraucht haben, stammte aus Wind und Sonne. Auch da liegen wir über Plan. Zweitens. Wir müssen ganze Wertschöpfungsketten umstellen und sogar neu schaffen. Das bedeutet: Bis 2030 wollen wir in Deutschland zehn Gigawatt Elektrolyseleistung aufbauen. Das sind doppelt so viel wie in der Nationalen Wasserstoffstrategie ursprünglich vorgesehen. Die so gewonnen Kapazitäten nutzen wir für unseren eigenen Bedarf an Wasserstoff, aber auch für den Weltmarkt. Wir fördern die energetische Sanierung und den beschleunigten Einsatz von erneuerbaren Energien in Gebäuden. Ab 2024 werden wir jedes Jahr 500.000 neue Wärmepumpen installieren. Wir werden das neue Deutschlandtempo verstetigen. Was uns bei LNG-Terminals gelungen ist, müssen wir auch bei unseren Anlagen für erneuerbare Energien, bei unseren Netzen und beim Wasserstoff erreichen. Die Chance haben wir: Gerade entstehen unsere ersten Lieferketten für grünen Wasserstoff. Beim Förderprogramm H2Global laufen die ersten Ausschreibungen für den Import von Wasserstoffprodukten. Offshore-Wind von der Nordsee betreibt schon heute erste Elektrolyseanlagen, und im Rahmen von Pilotprojekten werden daraus gewonnene E-Fuels vertankt ‑ teilweise in Ihren Betriebshöfen. Der zügige Markthochlauf von Wasserstoff ist eine zentrale Säule unserer Transformation. Denn Wasserstoff kann und wird Erdgas, Öl und Kohle ersetzen, insbesondere in der Industrie, im Energiesektor, aber auch im Luft-, See- und Schwerlastverkehr. Meine Damen und Herren, mein drittes Anliegen: Energie muss bezahlbar bleiben. Darum arbeitet die Bundesregierung daran, dass wir sowohl auf EU-Ebene als auch in Deutschland einen guten Rahmen schaffen für private Investitionen in erneuerbare Energie und für Energieeffizienz. Darum ermöglichen wir eine marktgetriebene Transformation und fördern „Power Purchase Agreements“ zwischen Abnehmer und Erzeuger erneuerbarer Energien. Darum sorgen wir für mehr Strom- und Gasleitungen ‑ wir sind dabei, eine Wasserstoffleitung von Spanien nach Deutschland zu planen; die Stromtrasse nach Belgien wird gestärkt. Bei meinem Besuch konnte ich mich gerade erst von den Fortschritten in Belgien überzeugen. Bei all dem verlieren wir das Ziel der Dekarbonisierung nicht aus den Augen. Um die Versorgung zu stabilisieren, werden wir neue Gaskraftwerke zubauen, die künftig mit Wasserstoff betrieben werden können, und das wird auch in kurzer, schneller Zeit geschehen, obwohl wir wissen, dass die Technologien dafür gerade erst so entwickelt werden, dass die Marktreifezeit gleich mit dem Bau sehr vieler dieser Kraftwerke entsteht. Aber das haben wir in Deutschland schon einmal geschafft: Wer sich zum Beispiel den Industriepark in Leuna anguckt und sieht, dass der vor etwa 100 Jahren innerhalb von knapp zwei Jahren entstanden ist, und weiß, dass dabei Technologien verwendet wurden, die gerade einmal kurz vorher im Labor ausprobiert wurden, der weiß, dass wir „schnell können“ und auch solche großen Dinge zustande bringen. Wenn wir unsere Lieferketten breiter aufstellen und zuverlässig auf LNG-Importe zurückgreifen können, dann können wir auch die Kohlekraftwerke wieder abschalten, die wir in der Krise kurzfristig hochfahren mussten. Wir haben ein klares Ziel: 2045 wird die Energieversorgung Deutschlands fast ausschließlich aus grüner Elektrizität, Wärme und Wasserstoff stammen. Auch deshalb sage ich Ihnen: Investieren Sie in die grüne Zukunft Ihrer Unternehmen! Wir werden Sie dabei unterstützen. Die Fördermöglichkeiten sowohl in Deutschland als auch auf EU-Ebene waren noch nie so attraktiv. Allein für den Umbau der Wärmenetze stellt die Bundesregierung mehrere Milliarden zur Verfügung. Der große Umbau unserer Industrie, unseres Verkehrs und unserer Geschäfte gelingt natürlich nur, wenn sehr, sehr viele anpacken ‑ wer wüsste das besser als Sie, die oft zu den wichtigen Arbeitgebern in Ihrer Region gehören. Darum lautet mein vierter Punkt: Wir werden für mehr Fachkräfte sorgen. Die Bundesregierung investiert in Ausbildung und Qualifizierung. Wir bauen das Angebot an Kitas und Schulen aus und wir schaffen Anreize für Ältere, sich in den Arbeitsmarkt einzubringen. Doch um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, wird noch mehr nötig sein. Vor Kurzem war ich in Indien, einer dynamischen Hightech-Nation. Vom Austausch mit den vielen Fachkräften aus dem IT- und Softwarebereich, aber auch von den vielen Solarfachkräften, die es dort gibt, können wir in Deutschland entscheidend profitieren. Deshalb werden wir mit einem modernen Zuwanderungsrecht dafür sorgen, dass Talente auch von außerhalb Europas ihr Potenzial hier bei uns entfalten können. Sie sehen: Wir haben viel vor ‑ und wir haben gemeinsam viel vor. Denn bei all dem übernehmen kommunale Unternehmen eine wichtige Rolle. Das ist mein fünfter Punkt heute Morgen: Sie sind unser As im Ärmel. Denn die für die Energiewende zentralen Veränderungen finden vor allem bei Ihnen statt, in Ihren Erzeugungsanlagen und in Ihren Netzen, und Sie sorgen auch für die Akzeptanz der Veränderung bei Ihren Kundinnen und Kunden. Historisch gesehen ist das nur logisch: Energie-, Wasser- und Abfallwirtschaft, wie wir sie heute kennen, ist mit und durch die Industrialisierung entstanden. Von Anfang an verfolgten die verschiedenen Sparten dabei den Gedanken, ressourcen- und umweltschonend zu arbeiten, sei es für besseres Recycling oder den sorgsamen Umgang mit Wasser. Von Anfang an bauen Sie auf Kooperation und Synergien. Es liegt also in Ihrer DNA, auch die nächste industrielle Revolution mit voranzubringen. Dabei haben Sie eine zentrale Stärke, und das ist Ihre dezentrale Struktur. Als Stadtwerke können Sie Ihre Lösungen beispielsweise für sichere, bezahlbare und nachhaltige Energie ganz an Ihren lokalen und regionalen Gegebenheiten ausrichten. Ob Sie auf Biomasse oder Windkraft setzen, auf Geothermie oder Photovoltaik, das entscheiden Sie vor Ort am besten. Das Gleiche gilt für die Kreislaufwirtschaft ebenso wie für die Wasserwirtschaft: Keiner kennt die Gegebenheiten Ihrer Gegend besser und weiß sie besser zu nutzen. Meine Damen und Herren, Sie sind die Praktiker der Energiewende. Sie bringen die Wärme in die Wohnungen, das Licht in die Häuser und auf die Straßen. Durch Ihre Leitungen fließt unser Trinkwasser. Ihre Glasfasern digitalisieren Regionen. Sie entsorgen das Abwasser und den Müll. Ihre Bahnen und Busse fahren die Leute zur Arbeit und in die Freizeit, in Ihre Schwimmbäder. Damit wirkt sich Ihr Handeln unmittelbar auf den ganz konkreten Alltag der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes aus, ebenso wie auf deren Entscheidung für die Technologien der Zukunft. Sie haben es also in der Hand. Schaffen Sie ein dichtes Netz von einfach zugänglichen Ladesäulen, dann werden die Kundinnen und Kunden Elektroautos fahren. Sorgen Sie für intelligente Messsysteme, dann halten die Stromnetze sich stabil und die Tarife bleiben bezahlbar. Bauen Sie Gigabitnetze aus; damit können alle Bürgerinnen und Bürger von der Digitalisierung profitieren. So wird niemand abgehängt, egal, wo er oder sie wohnt. Damit sorgen Sie zugleich für den sozialen Zusammenhalt in unserem Land, und immer wieder sind Sie Pioniere. Das belegen beispielhaft Projekte wie Deutschlands größte Solarthermieanlage in Ludwigsburg, das Smarte Quartier in Jena Lobeda, das energieeffizientes Wohnen und Gesundheitsvorsorge verknüpft, das CO2-freie intelligente Wärmenetz in Bruchsal ebenso wie die Sanierung der Stegerwaldsiedlung in Köln, wo die CO2-Emissionen von 70 Jahre alten Gebäuden um 70 Prozent gesenkt werden können. Überall gilt: Die Innovationskraft, die von Projekten kommunaler Unternehmen ausgeht, überzeugt Bürgerinnen und Bürger ganz direkt vor Ort, und sie inspiriert Unternehmen weit über Ihren Aufgabenkreis hinaus. Die Stadtwerke haben alle Voraussetzungen dafür, Wegbereiter einer guten Zukunft für unser Land zu sein. Und das bringt mich zu meiner sechsten und letzten Botschaft: Wir zählen auf Sie!
Speech by Minister of State for Culture and the Media Claudia Roth at the World Cinema Fund Day
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/roth-world-cinema-fund-day-2167818
Wed, 22 Feb 2023 00:00:00 +0100
Kulturstaatsministerin
We’ve all seen the historic images reaching us from Iran in recent months. They’re longed for images of the women and men of Iran’s love of life and desire for freedom. And dreaded images of the regime’s brutal response. These images and reports are saddening, yet at the same time they are full of hope. Hope of an end to unfreedom and harassment, hope of an end to the disenfranchisement of all citizens – but above all of women – by Iran’s rulers and medieval ideologists who have been in control of the country for more than 40 years. Something has been set in motion. For creative minds, for film-makers in Iran that means that their situation will become even more difficult than it already is. After taking power in 1979, the new rulers literally shut down the country’s entire cultural sector. Many artists and cultural professionals were forced into exile or robbed of their livelihoods. The rulers launched the Cultural Revolution, the goal of which was to reinvent and redefine culture. The condition the new regime imposed on those wishing to resume their cultural activities was the Islamisation of culture by their own definition. For more than 40 years now the regime has been trying to establish a „state culture“ in all areas of life backed by generous state funding. It wants to buy off and force through art in line with its own ideological beliefs. As a result, creative professionals are forced to work under the most difficult of conditions – censorship, intimidation, imprisonment, being banned from their profession. Those who practise their art freely often already have one foot in prison – like the actor Taraneh Alidoosti, or Jafar Panahi and Mohammed Rassulof. There are so many who’ve been role models for several generations and deserve to be mentioned by name. It’s staggering to see what Iranian film-makers create under these conditions, that despite all the restrictions imposed on them they time and again achieve global success, time and again take home lions, palms and bears, and are time and again able to create truly outstanding art. The famous Iranian film-maker Rakhshān Bani‘etemād once said that „art that exists only for itself makes no sense in our culture“. And it’s true, it’s something we’re seeing now more than ever. We can see that art is a catalyst for political debate. If merely filming the actual state of things can put you in prison because it’s too far removed from the regime’s envisioned state of things, then that in effect by definition makes art political. I admire the courage of all those who continue to make art under such conditions – who write poetry and stories, make moving and stirring music, stage underground plays, take photographs and make films. They deserve the greatest of recognition for their art, for their bravery and for their courage to stand up for their convictions. They deserve all our support. Alongside many others who are currently fighting for their rights in Iran they are engaged in a real cultural revolution, a revolution of culture. A culture in which art can once more be art. Unchained and unchecked. And I hope that all of you who are fighting for your rights know that we stand shoulder to shoulder with you. That we are celebrating your courage here at the Berlin International Film Festival. The socio-political power of film is especially in evidence here this year. The Berlinale, always a political festival, shows that cinema is a pre-eminent discursive space. Particularly when it comes to international exchange that is more important than ever. And that not only holds true for the films being screened. Today’s event, the World Cinema Fund Day in cooperation with Berlinale Talents, takes a clear stand on the free development of art and its protagonists the world over. It underscores the World Cinema Fund’s important goal of promoting high-quality film-making in regions with a weak film infrastructure. And then to get that cultural diversity screened in German cinemas. I’m so pleased that Berlinale Talents is part of that. The programme not only makes an important contribution when it comes to intercultural communication and understanding. Its active community – that now numbers 10,000 alumni – is a network that can support film-makers even in times that are socially and politically so very challenging. And so, there are enough synergies to tap into. What’s more, we know that young talents are the future. Six participants from Ukraine and four talents from Iran at this year’s Berlinale Talents – that’s a sign, a wonderful sign, of freedom. It shows that people can be supported and backed even though, at first glance, they appear to be far away and unreachable. And it shows that art and culture can be stronger than crises and wars. Let’s take that encouraging message away today and from the Berlinale – and let’s spread the word. For dancing in the alleys For terror when kissing For my sister, your sister, our sisters For changing rusted minds For the shame of poverty For the regret of living and ordinary life For the dumpster diving children and their wishes For this dictatorial economy For this polluted air For Valiasr and its worn out trees For Pirooz and the possibility of his extinction For the innocent illegal dogs For the unstoppable tears For the scene of repeating this moment For the smiling faces For students and their future For this forced heaven For the imprisoned elite students For the Afghan kids For all these „for“s that are beyond repetition For all of these meaningless slogans For the collapse of fake buildings For the feeling of peace For the sun after these long nights For anxiety and insomnia pills For men, fatherland, prosperity For the girl who wished to be a boy For women, life, freedom For freedom For freedom For freedom Thanks to wonderful Shervin! Thank for your commitment to this cause.
Rede von Kulturstaatsministerin Claudia Roth anlässlich des World Cinema Fund Day
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-world-cinema-fund-day-2167790
Wed, 22 Feb 2023 00:00:00 +0100
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort – Aus dem Iran erreichen uns seit Monaten historische Bilder! Ersehnte Bilder der Lebenslust und des Freiheitswillens der Iranerinnen und Iraner! Und gefürchtete Bilder einer brutalen Antwort des Regimes. Die Bilder, die Meldungen, sie machen traurig und sie geben Hoffnung zugleich. Hoffnung auf ein Ende der Unfreiheit und der Schikanen, Hoffnung auf ein Ende der Entrechtung aller Bürgerinnen und Bürger, aber vor allem der Frauen durch die iranischen Machthaber und mittelalterlichen Ideologen, die das Land seit über vierzig Jahren beherrschen. Es ist etwas in Bewegung geraten! Für die iranischen Kreativen, für die Filmschaffenden, heißt das: Ihre Situation wird noch schwieriger als sie es ohnehin schon ist. Nach dem Machtwechsel von 1979 haben die neuen Machthaber den gesamten Kulturbetrieb des Landes buchstäblich dichtgemacht, viele Künstler:innen–Künstlerinnen und Künstler und Kulturschaffende ins Exil vertrieben oder um ihre Existenz gebracht. Sie haben eine sogenannte Kulturrevolution initiiert, die das Ziel hatte, Kultur neu zu erfinden und zu definieren. Die Bedingung des neuen Regimes für die Wiederaufnahme der Aktivitäten im Kulturleben war die Islamisierung der Kultur nach ihrer Definition. Seit mehr als 40 Jahren versucht das Regime, in allen Lebensbereichen eine großzügig finanzierte Staatskultur durchzusetzen. Will Kunst ganz nach seinen ideologischen Vorstellungen erkaufen und erzwingen. Kulturschaffende arbeiten dadurch unter den schwierigsten Bedingungen. Unter den Bedingungen von Zensur, Einschüchterung, Berufsverboten, Haftstrafen. Wenn sie ihre Kunst frei ausüben, stehen Kulturschaffende oft schon mit einem Bein im Gefängnis – wie zum Beispiel die Schauspielerin Taraneh Alidoosti, oder Jafar Panahi oder Mohammed Rassulof. Es sind sehr viele Namen, die Vorbilder von mehreren Generationen sind und es verdienten, namentlich erwähnt zu werden. Es ist atemberaubend, was die iranischen Filmemacherinnen und Filmemacher unter diesen Bedingungen schaffen, dass sie allen Einschränkungen zum Trotz immer wieder Welterfolge feiern, immer wieder Löwen, Palmen und Bären gewinnen, immer wieder wahrhaft herausragende Kunst erschaffen können. „Eine Kunst, die nur für sich selbst da ist, ergibt in unserer Kultur keinen Sinn“, sagte die berühmte iranische Filmemacherin Rakhshān Bani‘etemād einmal. Und tatsächlich merkt man genau das in diesen Zeiten mehr denn je. Man merkt, dass Kunst als Katalysator für politische Debatten wirkt. Wenn allein das Filmen des Ist-Zustands zu einer Verhaftung führt, weil es zu weit von dem Soll-Zustand des Regimes entfernt ist, dann macht das die Kunst jedenfalls per se politisch. Ich bewundere den Mut der Menschen, die unter diesen Bedingungen Kunst machen – die Gedichte und Geschichten schreiben, berührende und aufrüttelnde Musik machen, Untergrund-Theater veranstalten, Fotografieren, Filme drehen. Sie verdienen die allergrößte Anerkennung für ihre Kunst, für ihren Mut und für ihre Zivilcourage, sie verdienen unser aller Unterstützung. Gemeinsam mit den vielen anderen Menschen, die derzeit im Iran für ihre Rechte kämpfen, arbeiten sie an einer echten Kulturrevolution, an einer Revolution der Kultur. An einer Kultur, in der Kunst wieder Kunst sein darf. Frei und unbehelligt. Und ich hoffe, dass sie, die Kämpferinnen und Kämpfer für ihre Rechte, dass sie mitbekommen, dass wir fest an ihrer Seite stehen. Dass wir ihren Mut hier auf der Berlinale feiern. Diese gesellschaftspolitische Kraft des Films wird hier in diesem Jahr besonders deutlich. Die Berlinale zeigt als politisches Festival, dass das Kino ein herausragender Diskursraum ist. Gerade für den internationalen Austausch ist das wichtiger denn je. Und das gilt nicht nur für die Filme. Die heutige Veranstaltung des World Cinema Fund Day in Kooperation mit Berlinale Talents bezieht klar Stellung für die freie Entfaltung der Kunst und deren Protagonistinnen und Protagonisten weltweit. Sie untermauert das wichtige Ziel des WCF–World Cinema Fund Day, hochwertiges Filmschaffen in Regionen mit einer schwachen Filminfrastruktur zu fördern. Und diese kulturelle Vielfalt dann auch in die deutschen Kinos zu bringen. Ich freue mich, dass die Berlinale Talents mit dabei sind. Das Programm leistet nicht nur einen wichtigen Beitrag zur interkulturellen Kommunikation und Verständigung. Es bietet mit seiner aktiven Community, die mittlerweile auf 10.000 Alumni gewachsen ist, ein Netzwerk, das Filmschaffenden auch in gesellschaftlich und politisch überaus bewegten Zeiten eine Stütze sein kann. Es gibt also genug Synergien, die gehoben werden können. Fest steht: Junge Talente sind die Zukunft. Und wenn sechs Teilnehmende aus der Ukraine und vier Talente aus Iran an der diesjährigen Ausgabe der Berlinale Talents teilnehmen, dann ist das ein Zeichen, ein wunderbares Zeichen der Freiheit. Es zeigt, dass man die Menschen unterstützen und fördern kann, auch wenn sie erst einmal weit entfernt und unerreichbar wirken. Und es zeigt, dass Kunst und Kultur stärker sein können als Krisen und Kriege. Lassen Sie uns diese ermutigende Botschaft von diesem Tag und von dieser Berlinale mitnehmen und weitertragen! Für das Tanzen auf der Straße Für die Angst sich zu küssen Für meine Schwester, deine Schwester und unseren Schwestern Für den Wechsel alter Werte Für die Scham, für die Armut Für die Sehnsucht nach einem normalen Leben Für ein Kind, das im Müll wühlt und seine Träume Für die Kommando-Wirtschaft Für die Luftverschmutzung Für „ValiAsr“ und alle trockenen Bäume Für den Pirouz und sein mögliches Aussterben Für die unschuldigen verbotenen Hunde Für das Weinen ohne Ende Für die Wiederholung solcher Momente und Bilder Für ein lachendes Gesicht Für die Studierenden, für die Zukunft Für das aufgezwungene Paradies Für diejenigen, die im Gefängnis sind Für die afghanischen Kinder Für das wiederholende FÜR Für alle leeren Paroli Für den Schutt der billig gebauten Häuser Für den Seelenfrieden Für die Sonne nach langen Nächten Für Beruhigungspillen und Schlaflosigkeit Für den Mensch, das Heimatland und die Ortschaft Für das Mädchen, das sich wünschte ein Junge zu sein Für die Frau, das Leben, die Freiheit Für Freiheit Für Freiheit Für Freiheit Vielen Dank dem wunderbaren Shervin! Vielen Dank für Ihr Engagement! Speech by Minister of State for Culture and the Media Claudia Roth at the World Cinema Fund Day (English version)
Die Lage der iranischen Filmbranche stand im Fokus des diesjährigen World Cinema Fund Day auf der Berlinale. „Es ist atemberaubend, was die iranischen Filmemacherinnen und Filmemacher unter diesen Bedingungen schaffen“, betonte Kulturstaatsministerin Roth. Sie verdienten unser aller Unterstützung.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Munich Security Conference am 17. Februar 2023 in München
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-munich-security-conference-am-17-februar-2023-in-muenchen-2166452
Fri, 17 Feb 2023 14:18:00 +0100
Im Wortlaut
München
Sehr geehrter Herr Botschafter Heusgen, meine Damen und Herren, ich denke, ich spreche uns allen aus dem Herzen, wenn ich nach dieser Rede von Präsident Selensky zunächst in Richtung Kiew antworte: Lieber Wolodymyr, wir hätten dich heute sehr gern in unserer Mitte gehabt, denn die Ukraine gehört hierher, an unsere Seite, in ein freies, vereintes Europa. Aber wir verstehen, wo dein Platz ist ‑ in diesem Tagen sein muss ‑: in Kiew, im unermüdlichen Einsatz für dein Land. Dafür wünschen wir dir von hier aus München weiter viel Kraft und Zuversicht! (auf Englisch) Ich darf die Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten hier sehr herzlich willkommen heißen. Herzlichen Dank, dass Sie heute bei uns sind – wieder einmal, kann ich hinzufügen! Es ist für uns eine Ehre, dass Sie hier sind, und zwar gemeinsam mit so vielen Kollegen aus dem amerikanischen Senat, dem Repräsentantenhaus und der amerikanischen Regierung. Ihnen allen ein herzliches Willkommen hier in München! (auf Deutsch) Ihnen, lieber Herr Ischinger, war es immer ein Anliegen, dass hier in München nicht nur Reden gehalten werden, sondern dass miteinander geredet wird. Und ich weiß, auch Ihnen, lieber Herr Heusgen, ist das sehr wichtig. Deshalb will ich mich auf einige Thesen beschränken ‑ sozusagen als Kick-off für unsere Diskussion. Erstens: Putins Revisionismus wird nicht siegen. Im Gegenteil: Die Ukraine ist geeinter denn je. Die Europäische Union steht geschlossen zusammen ‑ und hinter einer zukünftigen EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Die NATO wächst um zwei neue Mitglieder. Zugleich haben tausende junge Russen Putins Krieg mit ihrem Leben bezahlen müssen. Viele weitere haben dem Land den Rücken gekehrt. Unter großen Opfern und mit absolut beeindruckender Entschlossenheit verteidigen die Ukrainerinnen und Ukrainer ihre Freiheit. Und wir unterstützen sie dabei ‑ so umfangreich und so lange wie nötig. Allein Deutschlands Hilfe für die Ukraine belief sich im vergangenen Jahr auf über 12 Milliarden Euro. Wir haben mehr als eine Million ukrainische Flüchtlinge aufgenommen ‑ mit vollem Zugang zu unserem Arbeitsmarkt, unseren Schulen, unseren Universitäten. Wir liefern hochmoderne Waffen, Munition und andere militärische Güter ‑ mehr als jedes andere Land in Kontinentaleuropa. Das entspricht nicht nur den ‑ wohlgemerkt: berechtigten ‑ Erwartungen unserer Partner und Verbündeten. Wir übernehmen damit auch die Verantwortung, die ein Land von der Größe, Lage und Wirtschaftskraft Deutschlands in Zeiten wie diesen zu schultern hat. Dabei haben wir mit jahrzehntelangen Grundsätzen bundesrepublikanischer Politik gebrochen ‑ zum Beispiel damit, keine Waffen in ein solches Gebiet zu liefern. Ich verstehe, wenn einige bei uns in Deutschland Sorgen haben und unsere Entscheidungen hinterfragen. Ihnen möchte ich sagen: Nicht unsere Waffenlieferungen sind es, die den Krieg verlängern. Das Gegenteil ist richtig ‑ und das ist meine zweite These ‑: Je früher Präsident Putin einsieht, dass er sein imperialistisches Ziel nicht erreicht, desto größer ist die Chance auf ein baldiges Kriegsende, auf Rückzug russischer Eroberungstruppen. Das ist auch das Ziel der Ukraine ‑ so hat es Präsident Selensky bei unseren Treffen vergangene Woche in Paris und in Brüssel bekräftigt, und eben ja auch noch einmal. Dieses Ziel verfolgen wir in großer europäischer, transatlantischer und internationaler Einigkeit. Dazu zählt übrigens, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Russen in der Ukraine begehen, zu dokumentieren und zu ahnden. Gut, dass die Munich Security Conference dieses Thema aufgreift, denn ohne Gerechtigkeit gibt es keinen dauerhaften Frieden. Zugleich tragen wir Sorge dafür, dass es nicht zu einem Krieg zwischen der NATO und Russland kommt. Daher lautet meine dritte Botschaft: Die Balance zwischen bestmöglicher Unterstützung der Ukraine und der Vermeidung einer ungewollten Eskalation werden wir auch weiterhin halten. Und ich bin froh und dankbar, dass Präsident Biden und viele andere Verbündete das genauso sehen wie ich. Denn der Kurs, den wir gemeinsam eingeschlagen haben, verläuft durch unkartiertes Gelände. Zum ersten Mal in unserer Geschichte führt eine Nuklearmacht hier auf europäischem Boden einen imperialistischen Angriffskrieg. Für das, was in dieser Lage zu tun ist, gibt es keine Blaupause. Ich meine: Wir tun gut daran, alle Konsequenzen unseres Handels sorgfältig abzuwägen und alle wichtigen Schritte eng abzustimmen unter Bündnispartnern. Denn es geht um einen Krieg in unserer Nähe, in Europa ‑ einen gefährlichen Krieg. Und bei allem Handlungsdruck, den es ohne Zweifel gibt: In dieser entscheidenden Frage gilt: Sorgfalt vor Schnellschuss, Zusammenhalt vor Solovorstellung. Und es gilt, unsere Unterstützung von Anfang an so anzulegen, dass wir sie lange durchhalten. Das war bislang unser Maßstab bei der Lieferung neuer Waffensysteme: bei den Haubitzen und Mehrfachraketenwerfern, bei den Flugabwehrwaffen, den Schützenpanzern, Patriot-Batterien und zuletzt auch bei den westlichen Kampfpanzern. Und so halten wir es auch in Zukunft. Dazu gehört, dass alle, die solche Kampfpanzer liefern können, dies nun auch wirklich tun. Dafür werben Verteidigungsminister Pistorius, Außenministerin Baerbock und ich ‑ auch hier in München ‑ intensiv. Was Deutschland beitragen kann, um unseren Partnern diese Entscheidung zu erleichtern, das werden wir tun, etwa indem wir ukrainische Soldaten hier in Deutschland ausbilden oder bei Nachschub und Logistik unterstützen. Übrigens: Für mich ist das ein Beispiel für die Art von Leadership, die jede und jeder von Deutschland erwarten kann und die ich unseren Freunden und Partnern ausdrücklich anbiete. Und damit bin ich bei Botschaft Nummer vier: Deutschland bekennt sich zu seiner Verantwortung für die Sicherheit Europas und des NATO-Bündnisgebietes, ohne Wenn und Aber. Von diesem Podium aus war in den vergangenen Jahren oft davon die Rede, dass Deutschland seiner sicherheitspolitischen Verantwortung gerecht werden muss. Ich teile diesen Anspruch nicht nur, wir lösen ihn ein: mit einer zusätzlichen Brigade zum Schutz Litauens, durch die Unterstützung Polens und der Slowakei bei der Flugabwehr und durch Air Policing, durch den Schutz kritischer Infrastruktur in Nord- und Ostsee und, indem wir die NATO-Speerspitze führen und dafür 17 000 Soldatinnen und Soldaten in Bereitschaft halten. Um das und künftig noch mehr leisten zu können, machen wir Schluss mit der Vernachlässigung der Bundeswehr. Mit dem Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr haben wir das Fundament dafür gelegt. Wir haben dafür unser Grundgesetz geändert, mit Unterstützung auch der größten Oppositionspartei im Land. Diese Mittel erlauben uns einen dauerhaften Spurwechsel beim Aufbau der Fähigkeiten unserer Bundeswehr. Natürlich steigen mit neuen Kampfflugzeugen, Hubschraubern, Schiffen und Panzern auch die Kosten für Munition und Ausstattung, für Unterhalt, Übungen, Ausbildung und Personal. Deshalb will ich hier die Aussage bekräftigen, die ich drei Tage nach Kriegsbeginn im Bundestag gemacht habe: Deutschland wird seine Verteidigungsausgaben dauerhaft auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts anheben. Um diese Mittel sinnvoll und nachhaltig zu investieren, brauchen wir eine leistungs- und wettbewerbsfähige Rüstungsindustrie in Deutschland und in ganz Europa. Deshalb lautet meine fünfte These: In der Rüstungspolitik muss die Europäische Union strategisch an einem Strang ziehen. Gemeinsam mit Frankreich und Spanien entwickeln wir das künftige Future Combat Air System, mit Frankreich zudem das Main Ground Combat System. Auch bei der gemeinsamen Entwicklung europäischer Fähigkeiten kommen wir voran. Dafür steht die von Deutschland initiierte European Sky Shield Initiative zur Stärkung Europas Luftverteidigung im Rahmen der NATO. Das sind Schritte hin zu einem Europa der Verteidigung und Rüstung, wie ich es letztes Jahr an der Prager Karlsuniversität skizziert habe. Das sind zugleich Schritte hin zu einem geopolitisch handlungsfähigeren Europa, zu einem Europa, das auch ein stärkerer transatlantischer Verbündeter ist. Dazu gehört, dass wir mehr tun, um Konflikte in unserer Nachbarschaft zu lösen. Darum geht es bei dem europäischen Vorschlag für einen Grundlagenvertrag zwischen Serbien und Kosovo, den Präsident Macron und ich initiiert haben. Ich hoffe, dass Belgrad und Pristina diese historische Chance wahrnehmen, im Interesse der Stabilität des Westlichen Balkans und ganz Europas. Weitere Schritte müssen für ein geopolitisches Europa hinzukommen. Denn in unserer digitalen, technologisierten, globalisierten Welt lässt sich Sicherheit nicht allein mit militärischer Stärke erreichen. Darum lautet meine sechste These: Für uns Europäerinnen und Europäer und, wie ich meine, letztlich für alle demokratischen, offenen Gesellschaften wie unsere geht es darum, dass wir insgesamt resilienter werden. Das gelingt nicht durch Deglobalisierung, nicht, indem wir der Welt den Rücken zukehren. Dies wäre ein Verrat an unseren eigenen Werten und auch wirtschaftlich ein Kurzschluss. Sondern das gelingt, indem wir einseitige, riskante Abhängigkeiten beenden und unsere politischen und wirtschaftlichen Beziehungen breiter und robuster aufstellen. Wir Deutschen wissen, wovon wir reden. Schließlich haben wir uns in Deutschland in den vergangenen zwölf Monaten von russischer Energie unabhängig gemacht. Das war ein Kraftakt. Auch in anderen Bereichen werden wir solche kritischen Abhängigkeiten reduzieren, etwa was strategisch wichtige Rohstoffe oder Zukunftstechnologien angeht. Auch dieses Ziel gehört für mich übrigens in unsere Nationale Sicherheitsstrategie. Schon jetzt stärken wir eigene Produktionskapazitäten, zum Beispiel bei Halbleitern. Schon jetzt diversifizieren wir unsere Lieferketten und erschließen uns neue Lieferanten und Märkte im asiatisch-pazifischen Raum, in Afrika, in Mittel- und Südamerika. Zugleich geht es immer auch darum, diesen Regionen größere politische Mitsprache zu ermöglichen, ja diese Mitsprache auch einzufordern. Denn es liegt auch in ihrem Interesse, dass grundlegende Prinzipien unserer Friedensordnung und der Charta der Vereinten Nationen nicht unter die Räder kommen. Auch deswegen bin ich übrigens im vergangenen Herbst nach Peking gereist. Bei der Verteidigung bestimmter Grundprinzipien der internationalen Ordnung sind alle gefordert, auch China. Ich bin froh, dass Präsident Xi bei dieser Gelegenheit klargestellt hat, dass er sich klar gegen jede Drohung mit Atomwaffen oder gar deren Einsatz im Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt. Zugleich mache ich mir keine Illusionen darüber, was wir allein durch Dialog bewegen können, auch bei unseren demokratischen Partnern in Asien, Afrika und Lateinamerika. „Europe has to get out of the mindset that Europe’s problems are the world’s problems, but the world’s problems are not Europe’s problems”, so wird der indische Außenminister im diesjährigen Munich Security Report zitiert. An dem Satz ist etwas dran. Zwar wäre es nicht allein Europas Problem, wenn sich das Recht des Stärkeren in den internationalen Beziehungen durchsetzte. Aber um als Europäer oder als Nordamerikanerin in Jakarta, New Delhi, Pretoria, Santiago de Chile, Brasilia oder Singapur glaubwürdig zu sein und etwas zu erreichen, reicht es eben nicht, gemeinsame Werte zu beschwören. Dafür braucht es eine ehrliche Beschäftigung mit den Anliegen dieser Länder als Grundvoraussetzung für gemeinsames Handeln. Deshalb war es mir so wichtig, beim G7-Treffen letzten Juni Vertreter Asiens, Afrikas und Lateinamerikas nicht nur mit am Verhandlungstisch zu haben, sondern auch gemeinsam Lösungen für die Herausforderungen zu erarbeiten, die in diesen Regionen im Fokus stehen: wachsende Armut und Hunger, auch als Konsequenz aus Russlands Krieg, aber eben auch die Folgen von Klimawandel und Coronapandemie. Damit bin ich bei meiner siebten und letzten These: Wenn die multipolare Welt des 21. Jahrhunderts eine Ordnung sein soll, die auf Recht basiert und die Unrecht ahndet, dann brauchen wir neue Formen internationaler Solidarität und Mitsprache. Das hat auch die MSC erkannt, lieber Herr Heusgen, indem sie den Austausch mit allen Ländern sucht, die unser Interesse an einer Welt teilen, in der Macht an Regeln gebunden ist, die nicht revisionistisch ist. Dafür werbe auch ich; daran arbeite auch ich. Ich bin froh, viele von Ihnen dabei an meiner Seite zu wissen, und freue mich jetzt auf unsere Diskussion.
Rede von Kulturstaatsministerin Roth zur Eröffnung der 73. Berlinale
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-berlinale-2023-2166148
Thu, 16 Feb 2023 20:00:00 +0100
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort – Ich danke Ihnen, Herr Präsident, für Ihre Worte. Dürfte ich einen Preis vergeben, er wäre für die Menschen in der Ukraine, für alle, die heute Abend nicht über rote Teppiche laufen, die nicht im Scheinwerferlicht stehen, sondern in Kellern, in Metro-Stationen oder an der Front ausharren, die den russischen Angriffen standhalten müssen und der Angst um ihre Nächsten, um ihre Ehemänner, Ehefrauen, Mütter, Väter, Brüder und Schwestern. Wir sind mit unseren Herzen bei Ihnen. Wir sind mit unseren Herzen bei den Frauen im Iran und Afghanistan. Wir sind bei ihnen und bei den Männern, die sie unterstützen, in ihrem Kampf um Freiheit; bei den Frauen, die ihr Leben zurückwollen, ein freies und selbstbestimmtes Leben, keine von der Sittenpolizei gegängelte Existenz. Unsere Herzen sind bei den Filmschaffenden im Iran, bei Mohammed Rassoulof, bei Jafar Panahi und den vielen vielen anderen. Aber unsere Herzen sind heute auch bei den Opfern des furchtbaren Erdbebens in der Türkei und Syrien, bei den Opfern einer Katastrophe, die keine ist, die wir von einem fernen Ufer aus beobachten. Ihr Schmerz trifft uns hier, Ihre Trauer ist mitten unter uns. Sie trifft uns ins Herz. Ich danke allen, die sich aufgemacht haben zu helfen, da wo jede Hilfe überlebensnotwendig ist. Es ist eine dunkle Zeit, in der wir diese 73. Berlinale eröffnen. Kann man in einer solchen Zeit überhaupt ein Filmfestival, kann man den Film feiern? Darf man es? Bertolt Brecht fragt: „In den finsteren Zeiten Wird da auch gesungen werden?, Und antwortete, ja. Da wird auch gesungen werden. Von den finsteren Zeiten.“ Ich bin mir sicher, wer von finsteren Zeiten singt, singt auch von der Hoffnung für die Menschen in der Türkei und Syrien, der Hoffnung von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern, von Iranerinnen und Iranern, Afghaninnen und Afghanen. Denn die Hoffnung kämpft immer an der Seite der Freiheit – in der Ukraine ebenso wie im Iran und in Afghanistan. Wer in finsteren Zeiten singt, der singt auch vom Licht, von der Hoffnung auf Befreiung. Und wer Filme dreht und zeigt in finsteren Zeiten, der widersteht der Unfreiheit. Diesen Film, der uns über Grenzen hinweg miteinander verbindet, unmittelbarer und direkter als jede andere Kunstform. Wir wollen ihn feiern! Deshalb: Mesdames et Messieurs, Ladies and Gentlemen, Meine Damen und Herren, Liebe Freundinnen und Freunde Dear friends! Chers Amis! Bienvenue à Berlin! Welcome to Berlin! Willkommen in Berlin, willkommen zur 73. Berlinale. Und willkommen zu einem Festival, das immer auch ein politisches Festival war. Dazu haben der Ort der Berlinale ebenso wie ihr Charakter beigetragen: Sie ist ein Publikumsfestival. Sie sorgt dafür, dass Kunst und Politik einander nicht im Weg stehen, sich aber auch nicht aus den Augen verlieren. Die Berlinale hat in dunklen und in hellen Zeiten die künstlerische und die politische Kraft des Films gefeiert. Die Kultur der Demokratie, die Kultur der Vielfalt und Verständigung. Der Film braucht das Licht, wie wir es brauchen. Der Film weitet unseren Blick in die Welt und er lässt sie uns vor der eigenen Haustür erleben. Er kennt mehr Perspektiven auf die Dinge, die uns bewegen, als wir erahnen könnten. Er kennt alle Schattierungen. Er lehrt uns sehen, erfahren und verstehen. Nutzen wir diese zehn Tage genau dafür. Lassen Sie uns Zeichen setzen für den Film und mit dem Film. Lassen Sie uns Licht ins Dunkel bringen und Hoffnung. Genießen wir das Kino, das immer alles von uns will, Tränen und Trauer, Freude und Lebenslust. Genießen wir die Tage dieser 73. Berlinale! Und lassen wir sie strahlen. Erstrahlen!
Die Kulturstaatsministerin dankte in ihrer Eröffnungsrede zunächst dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij, der sich unmittelbar vor ihr per Live-Schalte aus Kiew an das Publikum gewandt hatte. Es sei eine dunkle Zeit, in der das diesjährige Festival starte, sagte Roth und betonte dabei zugleich die zentrale Bedeutung der Filmkunst. „Wer Filme dreht und zeigt in finsteren Zeiten, der widersteht der Unfreiheit“, so Roth.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Betriebsversammlung der Volkswagen AG am 16. Februar 2023 in Wolfsburg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-betriebsversammlung-der-volkswagen-ag-am-16-februar-2023-in-wolfsburg-2166176
Thu, 16 Feb 2023 00:00:00 +0100
Wolfsburg
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Daniela, schönen Dank für die Einladung! Es ist etwas ganz Besonderes, hier zu stehen und zu sehen, wie viele sich in so einer Halle versammeln können. Wir wissen ja: Es ist nur ein kleiner Ausschnitt der gesamten Belegschaft, obwohl so viele hier sind. Deshalb danke für die Einladung! Es ist übrigens deshalb auch ein ganz besonderer Anblick, weil in Deutschland gegenwärtig über etwas ganz anderes diskutiert wird als vor manchen Jahren, – dass es nämlich in der Perspektive der Zukunft irgendwie schwierig sein wird, genügend Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu finden. Insofern, glaube ich, ist das für alle hier vorne auf dem Podium, aber auch für viele andere, ein ganz besonders erfreulicher Anblick. Aber ich kann alle beruhigen: Deutschland wird auch in Zukunft ein Land sein, das davon getragen wird, dass hier gearbeitet wird. Es wird auch in Zukunft ein Industriestandort mit großer globaler Wettbewerbsfähigkeit bleiben. Die Geschichte von Volkswagen ist ein Zeichen dafür, dass das so sein kann. Denn hier haben viele Veränderungen in den letzten Jahrzehnten stattgefunden und viele Produkte sind in Deutschland und Europa entwickelt und in der ganzen Welt verkauft worden. Aber dass immer wieder etwas Neues geschehen ist, dass es neue Innovationen und Verbesserungen gegeben hat und damit verbunden neue Produktionen, ist die eigentliche Story, die zum Erfolg dieses Unternehmens beigetragen hat. Deshalb bin ich sicher: Wir werden diese Story dieses Unternehmens auch weitererzählen können. Deutschland wird ein Land bleiben, in dem die Automobilproduktion eine zentrale Rolle für unsere Wirtschaftstätigkeit spielen wird. Das geht nicht, wie ich eben gesagt habe, ohne all diejenigen, die arbeiten. Das geht aber natürlich auch nicht ohne die Art und Weise, wie wir über die Zukunft in Deutschland verhandeln. Deshalb bin ich ganz besonders stolz, dass dies ein Unternehmen ist, in dem eine Tradition aus Deutschland eine ganz besondere und herausragende Rolle spielt – nämlich die Mitbestimmung. Ich bin sicher: Der wirtschaftliche Erfolg unseres Landes beruht auf Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung. Und Volkswagen spielt dafür eine ganz zentrale Rolle. Das soll auch in Zukunft so bleiben! Mir ist das auch persönlich wichtig – das darf ich hier verraten. Denn bevor ich von Beruf Politiker geworden bin – seit ich das erste Mitglied des Deutschen Bundestages wurde und dann, wie auch heute, die Ehre hatte, viele öffentliche Aufgaben wahrzunehmen –, habe ich auch einen Beruf ausgeübt. Ich war Rechtsanwalt, habe Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Betriebsräte und Gewerkschaften vertreten. Deshalb ist mir das deutsche Arbeitsrecht, die Mitbestimmung und die betriebliche Beteiligung ein ganz persönliches Herzensanliegen. Nur weil ich das nicht mehr jeden Tag mache, ist es nicht so, als ob es für mich nicht eine der ganz wichtigen Sachen für unser Land wäre. Ich werde alles dafür tun, dass die Mitbestimmung unser Land auch in Zukunft mitgestalten wird. Das ist auch deshalb so, weil wir wissen, dass ganz viele Veränderungen stattfinden – Veränderungen, vor denen der eine oder die andere auch Angst hat, weil sie sich an die gute alte Zeit erinnern. Das ist ganz normal. Es gibt keine Veränderung auf der Welt, die nicht auch ein bisschen davon begleitet wird, dass man sich daran erinnert, wie es schon einmal war. Ich finde aber, es gibt nicht nur die gute alte Zeit, sondern es gibt auch die gute neue Zeit – eine Zukunft, um die man kämpfen kann und wo man alles dafür tun kann, dass man Teil dieser Zukunft ist. Deshalb ist das, was hier in dieser Halle, an diesem Produktionsstandort und mit diesem Unternehmen geschieht von allergrößter Bedeutung für die gute neue Zeit, um die wir in Deutschland kämpfen. Gelingt es uns unsere Volkswirtschaft so umzubauen, dass sie großen Wohlstand schafft, dass sie gut bezahlte Arbeitsplätze ermöglicht, dass sie weltweit wettbewerbsfähig bleibt? Gelingt es uns, das so zu machen, dass wir anders als heute klimaneutral wirtschaften können? Das sind die Fragen, die wir beantworten müssen. Ich bin heute sicher – auch nachdem ich in die Produktionshalle geguckt habe: Wir werden das hinbekommen! Auch deshalb, liebe Daniela, weil ihr immer darum kämpft, dass das jetzt auch stattfindet – also zum Beispiel, dass es Batteriefabriken und Produktionsstandorte für Elektromobilität in Deutschland gibt. Es ist wichtig, dass das immer euer Anliegen war und dass ihr euch so darum bemüht. Ich glaube auch, dass wir eine Chance haben, wenn wir schnell sind und wenn wir dem Wandel nicht hinterherlaufen. Dass wir in Deutschland schnell sein können, haben wir im letzten Jahr gezeigt. Denn wenn wir uns kurz zurückerinnern an all das, was uns vorhergesagt wurde für diesen Winter und unsere Volkswirtschaft, dann war es doch so: Es ist kalt. Die Wirtschaft hat eine große Krise. Und einige haben uns sogar Wutherbste und ähnliches vorhergesagt. All das hat nicht stattgefunden, weil wir schnell und zügig reagiert haben auf den furchtbaren Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat – nicht nur, indem wir die Ukraine unterstützen, sondern auch, indem wir alles dafür getan haben, dass die Energieversorgung in Deutschland gesichert bleibt, auch wenn plötzlich kein Gas mehr aus Russland kommt. Wir haben gezeigt: Wir können so etwas in ganz kurzer Zeit. Lieber Stephan, Niedersachsen war dabei , ganz wichtig mit dem ersten eröffneten neuen LNG-Terminal in Wilhelmshaven. Und wir werden dieses Tempo bei der ganzen Transformation, die wir jetzt vor uns haben, beibehalten. Ich werbe dafür, dass wir uns die Aufgabe, die vor uns als Volkswirtschaft liegt, nicht zu klein vorstellen. Denn wir müssen unglaublich viele Dinge zustande bringen. Eben ist es schon gesagt worden: Wir brauchen Strom – und zwar bezahlbaren Strom. Wir brauchen sogar viel mehr als heute – nicht nur wegen der Elektromobilität und weil man die Autos fahren will. Sondern auch, weil die Batterien mit Strom produziert werden und weil viele industrielle Prozesse auf Strom basieren. Deshalb müssen wir unseren Beitrag dazu leisten, dass das auch tatsächlich stattfindet. Ich will einmal ein Beispiel nennen: Wir brauchen in den nächsten Jahren allein, wenn es um Solarenergie geht, Photovoltaikanlagen mit einer Fläche von 43 Fußballfeldern pro Tag, damit wir diese Zielsetzung bis 2030 erreichen. Damit es gelingt, dass wir weniger CO2 verbrauchen, wenn wir heizen, brauchen wir 1.600 Wärmepumpen, die pro Tag verbaut werden. Wir müssen, damit wir die Zukunft gewinnen können, 27 Onshore- und vier Offshore-Windkraftanlagen pro Woche bauen. Das ist eine riesige Anstrengung, die unser Land vor sich hat. Und ich sage ausdrücklich: Wir müssen jetzt damit anfangen. Es ist Schluss damit, dass wir über solche Dinge nur reden und Pläne schmieden. Wir müssen jeden Tag etwas dafür tun, damit diese große industrielle Transformation auch tatsächlich stattfindet. Natürlich heißt das nicht nur, dass tolle neue Autos – wie beispielsweise mit dem ID.Buzz ein Nachfolger für den Bulli – entwickelt werden. Sondern es bedeutet auch, dass wir überall in Deutschland in großem Tempo Schnellladepunkte bauen müssen, damit jeder sicher sein kann undeine Möglichkeit findet, die Elektrizität zu laden, die er tatsächlich braucht. Und ich sage: Das werden wir machen. Auch vor dieser Aufgabe werden wir nicht zurückschrecken. Wir werden das Tempo entfalten, das dazu notwendig ist. Wenn wir die Zukunft als unsere Sache begreifen, wenn wir uns zutrauen, dass wir es hier in Deutschland, in Wolfsburg, bei Volkswagen und vielen anderen Unternehmen schaffen, die technologischen Innovationen durchzusetzen, die wir jetzt brauchen, dann wird es uns auch gelingen, ein wirtschaftsstarkes Land zu bleiben und mit dem, was wir hier produzieren, auf den Weltmärkten wettbewerbsfähig zu sein. Und wir werden es schaffen, dass nicht nur hier in dieser Werkshalle viele sitzen, die in dritter, vierter, fünfter Generation bei Volkswagen arbeiten. Sondern, dass man selber hier arbeiten und sagen kann: Man wird auch noch seine Enkel hier wiederfinden und sie werden stolz sein auf diese Arbeitsplätze, auch wenn die Autos, die dann hier das Werk verlassen, ganz andere sein werden als heute. Dieser Fortschritt gibt uns Kraft. Und das ist es, worum wir ringen müssen. Dass wir als Bürger dieses Landes, dass wir als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dabei keine Angst haben müssen, hat in der Tat etwas mit dem zu tun, was ich eingangs gesagt habe – nämlich, dass wir eine Tradition von Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung haben. Sie macht es möglich, dass man die Zukunft nicht fürchtet, sondern zur eigenen Sache macht. Darum geht es doch, wenn wir solche Fragen diskutieren. Ich jedenfalls will alles dafür tun, dass das unser gemeinsamer Weg ist, und dass wir in zehn, zwanzig Jahren stolz auf das zurückblicken können, was wir jetzt angestoßen haben. Ich glaube, dass wir gerade in der aktuellen Krise wieder an vielen Beispielen gesehen haben, was Zusammenarbeit und Sozialpartnerschaft vermögen. Ich will nur einen Punkt nennen: Dass wir es möglich gemacht haben, dass es angesichts der steigenden Preise Einmalzahlungen gibt, die dazu beitragen, dass die Beschäftigten mit den großen Preissteigerungen besser umgehen können, ist auch ein Ausdruck von Sozialpartnerschaft – nicht nur in einzelnen Unternehmen, sondern auch im globalen Maßstab, im großen Maßstab unseres Landes. So haben wir es in der Konzertierten Aktion miteinander besprochen. Und ich glaube, so werden wir auch die zukünftigen Aufgaben bewältigen. Natürlich gehört, wenn man die Zukunft gewinnt, dazu, dass man die Gegenwart nicht vergisst. Deshalb habe ich alles gehört, was hier zu Euro 7 gesagt worden ist und ich sicherlich auch noch gefragt werden werde. Ich kann aber versichern: Die Bundesregierung wird bei dem Blick in die Zukunft die Gegenwart nicht vergessen und immer für realistische Lösungen sorgen, die bewältigt werden können und die dazu beitragen, dass wir unsere wirtschaftliche Kraft als Grundlage für die Erneuerung auch behalten. Schönen Dank für die Möglichkeit, hier zu sprechen!
Rede von Kulturstaatsministerin Roth anlässlich des Deutschen Produzententags
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-produzententag-2165538
Thu, 16 Feb 2023 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort – Wir alle lieben den Film! Keine Kunst erreicht uns unmittelbarer, keine lässt uns direkter fühlen und erleben – in guten wie in schweren Zeiten. Und nirgendwo sonst lässt sich der Film besser feiern als hier auf der Berlinale – in den Kinos, bei Empfängen, auf Partys. Natürlich, auch deshalb sind wir hier. Doch vor die Liebe hat das Drehbuch die Leiden gestellt. Ohne sie gäbe es keinen Film, keine Filmkunst, so wie es ohne die Leidensfähigkeit der Produzentinnen und Produzenten nie auch nur einen einzigen Meter Film gegeben hätte. Der Film ist ein anspruchsvolles Objekt der Begierde. Er will erzählen, den Nerv der Zeit, den Sound treffen, er will dafür mit der besten Idee, den besten Autorinnen und Autoren, der besten Regie, den talentiertesten Darstellerinnen und Darsteller und der modernsten Technik ausgestattet werden. Und weil diese Ansprüche jedes Budget sprengen, will er gefördert, aber keinesfalls gegängelt werden – um am Ende zu gefallen. Und zwar möglichst vielen. Tut er das, wie der mit neun Oscar- und 14 BAFTA-Nominierungen hochgelobte Film „Im Westen nichts Neues“, sollte das eigentlich Anlass zu ungetrübter Freude geben. Das tut es auch. Doch es konfrontiert uns mit der Frage, warum unser gut ausgestattetes deutsches Fördersystem selten vergleichbare Erfolge erzielt. Denn, wie wir alle wissen: „Im Westen nichts Neues“ ist eine Netflix-Produktion. Das ist unser Thema: Die Branche wandelt sich. Verwertungswege und -möglichkeiten von Filmen haben sich radikal verändert, ebenso die Seh- und Nutzungsgewohnheiten. Lineares Fernsehen verliert an Bedeutung, Mediatheken und Streamingplattformen werden immer wichtiger. Sie haben aus dem Kinofilm als der Form filmischen Erzählens eine von vielen Formen gemacht. Kinofilme müssen ihr Publikum finden und Kinos alle Spielarten des Films anbieten. Uns und vor allem Sie belasten die Auswirkungen einer Pandemie und die Folgen eines brutalen Angriffskriegs mitten in Europa. Kinobesuche sind zurückgegangen, gestiegene Energie-, Produktions- und Logistikkosten stellen der Filmwirtschaft harte Bedingungen. Schon 2019, im letzten Jahr vor Corona, erreichten die jeweiligen Top 30 der uraufgeführten deutschen Spiel- und Dokumentarfilme rund 90 Prozent des Publikums. Die verbleibenden 10 Prozent der Zuschauerinnen und Zuschauer verteilten sich auf weitere rund 120 Spiel- und 70 Dokumentarfilme. Das Verhältnis von filmischen Angebot und Interesse der Zuschauerinnen und Zuschauer ist nicht gut. Das ist – grob skizziert – die Ausgangslage, der sich eine Reform der deutschen Filmförderung stellen muss. Dabei sind die Rahmendaten gar nicht schlecht. Es gibt einen gesellschaftlichen Konsens für die Filmförderung. Zusammen verteilen Bund und Länder fast 600 Millionen Euro an Fördermitteln im Jahr. Einen Teil davon erwirtschaftet die Branche selbst durch ein Abgabesystem. Ein anderer wird aus den öffentlichen Haushalten zur Verfügung gestellt. Doch das gegenwärtige Fördersystem passt nicht mehr, es fügt sich nicht mehr ein, in die veränderten Rahmenbedingungen, es ist mit all seinen Richtlinien und Stellschräubchen zu komplex und damit zu langsam geworden und es trägt mit bei zu dem, was ich oben beschrieben habe: dem Ungleichgewicht zwischen Zuschauerinnen und Zuschauern und Film. Ziel einer Reform der Filmförderung kann deshalb nur sein, sie effizienter, sie schneller und ganzheitlicher zu machen. Sie soll das ganze kreative Potenzial deutscher Filmemacherinnen und Filmemacher heben, sie will künstlerisch und wirtschaftlich erfolgreiche Filme und sie will bessere Ausgangsbedingungen für die jungen Filmemacherinnen und Filmemacher, für Wagnis und Risiko, neue Erzählformen und Perspektivenwechsel. Ziel ist aber auch eine Reform, die der Verantwortung für unsere Gesellschaft gerecht wird. Diversität, Geschlechtergerechtigkeit und Nachhaltigkeit sind keine add ons. Sie sind die Bedingungen für die Möglichkeit von gesellschaftlichem Fortschritt und einer lebenswerten Zukunft! Meine Damen und Herren, wenn ich Ihnen im folgenden Eckpunkte einer Reform vorstellen werde, so kann ich das nur, weil viele von Ihnen daran mitgewirkt haben. In unzähligen vertraulichen Runden, in gemeinsamen Gesprächen mit mir und meinem Haus und unter einander. Dafür danke ich Ihnen an dieser Stelle von ganzem Herzen! Und ich darf zugleich eine Hoffnung äußern: ich würde gerne so weiter machen. Miteinander. Organisationsgrenzen sind Wissensgrenzen. Lassen Sie uns diese gemeinsam überwinden. Für den Film! Erstens wollen wir die Entwicklungsförderung modernisieren. Sie soll dafür sorgen, dass Filme besser entwickelt, produziert und vermarktet werden können und damit auch den „creative drain“ stoppen. Sie soll Innovationsgeist und Risikobereitschaft stärken. Die bisherige Ausgestaltung der Förderung bremst diese Prozesse eher, als dass sie sie befördert. Denn sie belohnt das Fortführen wenig erfolgversprechender Produktionen eher, als dass sie ein Scheitern auch als Chance begreift. Deswegen wollen wir eine zeitgemäße Entwicklungs- und Produktionsförderung für kreativen Content über die unterschiedlichen filmischen Formen hinweg schaffen. Zweitens brauchen Dokumentar-, Kurz-, Nachwuchs- und künstlerische Filme ihre eigene passgenaue Förderung. Diese Filme müssen nicht an der Marktlogik ausgerichtet sein. Sie sollen neue Formen filmischen Erzählens ermöglichen, sie sollen dokumentieren und experimentieren, uns sehen lehren. Aber entdecken und fördern kann man sie nur durch eine eigene, selektive Förderlogik, eigene Jurys und einen eigenständigen Platz in der Förderung. Wir wollen – drittens – eine bessere Anreizförderung für den Film. Warum schaffen wir nicht eine Referenzförderung, die künstlerischen und wirtschaftlichen Erfolg früher belohnt? Warum artikulieren wir sie nicht noch besser mit der Standortförderung? Ich sage: wir sollten beide Modelle weiterentwickeln. Dafür werden wir uns auch das österreichische Modell sehr genau anschauen. Sie alle kennen seine Vorteile gegenüber dem DFFF und dem GMPF–German Motion Picture Fund. Schauen wir uns gemeinsam an, was wir daraus lernen können! Ein anderes Instrument wäre eine Steueranreizförderung für die deutsche und internationale Film- und Serienproduktion. Auch diesen Weg sollten wir gemeinsam evaluieren. Denn Ziel ist es doch, die unabhängigen Produktionsfirmen besser zu unterstützen. Ihre Rechtebasis zu stärken und den Aufbau eines Rechteportfolios – kurz: wir wollen gemeinsam den Filmmarkt gerechter gestalten. Mit einer besseren Förderung geht auch eine höhere Verantwortung einher. Verwerter, insbesondere die internationalen Streaming-Anbieter, sollten einen stärkeren Beitrag leisten zum Gesamterfolg des Fördersystems. Deswegen wollen wir sehr intensiv die Einführung einer Investitionsverpflichtung prüfen, die zum Beispiel Streamingplattformen dazu verpflichtet, einen bestimmten Teil ihres Umsatzes mit audiovisuellen Inhalten in Deutschland wieder hierzulande zu reinvestieren. Viertens: wir wollen die FFA gemeinsam mit der Branche weiterentwickeln zu einer Filmagentur, die alle filmpolitischen Aufgaben der Bundesförderungen übernehmen kann. Dazu gehört auch, dass wir über bessere und mehr Daten über Förderung und Verwertung verfügen. Das Ziel sind zügigere Verfahren und eine bessere Abstimmung zwischen wirtschaftlichen und künstlerischen Aspekten. Dafür soll dann auch die bisherige kulturelle Förderung durch meine Behörde von dieser neuen Filmagentur wahrgenommen werden. Die kulturelle Dimension der Förderung bleibt dabei selbstverständig erhalten. Fünftens wollen wir die Förderinstrumente auf Bundes- und Landesebene stärker miteinander verzahnen. Bund und Länder sollen sich über gemeinsame Grundsätze der Filmförderung verständigen. Wir können hier vorangehen, indem wir eine Mindestförderquote für die Bundesförderung einführen, die Filmprojekten eine erste, relevante Finanzierungsbasis ermöglicht. Aber auch andere Modelle sind denkbar. Hierzu stehe ich im Gespräch mit den Ländern. Ich finde, unser gemeinsames Ziel sollte sein, dass wir die Filmförderstruktur zwischen Bund und Ländern erheblich verschlanken und die Anzahl der beteiligten Förderungen pro Filmprojekt deutlich reduzieren. Ein weiteres Thema zwischen Bund und Ländern muss die Beteiligung des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks an der Filmförderung sein. Der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk hat einen kulturellen Auftrag und er nimmt ihn verantwortungsvoll wahr. Je mehr, desto besser. Er darf aber zum Beispiel durch Auswertungsfenster nicht benachteiligt werden gegenüber der Konkurrenz der Plattformen – und er muss sich der Anforderung stellen, unabhängige Produktionen und deren Rechtebasis zu stärken. Auch die Nachwuchsförderung soll verstärkt werden durch eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern – etwa mit gemeinsamen Debütfilmen, zum Beispiel in Zusammenarbeit mit dem Kuratorium junger deutscher Film. Ziel ist es – sechstens – auch die Sichtbarkeit deutscher Filme zu erhöhen. Hierfür sollte aus unserer Sicht insbesondere die Struktur der Verleihunternehmen in Deutschland gestärkt werden. Der deutsche Kinomarkt wird zunehmend von ausländischen Verleihern dominiert, die häufig durch eine Abhängigkeit von Networks und Streamern geprägt sind. Wir wollen einen robusten Verleihmarkt schaffen, wozu übrigens auch das gemeinsame Nachdenken über Sperrfristen zählt: Eine straffere und einfachere Fristenregelung, die vorrangig das Kinofenster sichert und sich danach noch stärker als bisher für individuelle Abreden und Branchenvereinbarungen öffnet, scheint mir hier der richtige Ansatz. Natürlich ist für den Erfolg des deutschen Films auch eine starke Kinolandschaft – insbesondere auch in der Fläche – wichtig. Nicht nur die Kirche sollte im Dorf bleiben, auch das Kino. Wir wollen die Kinoförderung stärker automatisieren, um den Kinos mehr Planungssicherheit zu verschaffen und die Förderung zu vereinfachen. Siebtens: Die Vergabe öffentlicher Mittel beinhaltet auch, dass sich die Empfänger dieser Mittel ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellen. Diversität, vor und hinter der Kamera, Nachhaltigkeit und Geschlechtergerechtigkeit gehören dazu. Sie sind notwendig. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit würde schon viele Ungerechtigkeiten gerade gegenüber Frauen beseitigen. Aber auch bei Gremien und Förderungen sind Diversität und Geschlechtergerechtigkeit notwendig. Ebenso wie Nachhaltigkeit – und zwar ausdrücklich in allen ihren Dimensionen. Soziale Standards und ökologische Nachhaltigkeit müssen hier Hand in Hand gehen. Hier gibt es bereits sehr erfolgreiche Beispiele, die zeigen, wie es gehen kann, wie etwa die mit dem Arbeitskreis Green Shooting entwickelten Standards. Und schließlich – achtens – und damit komme ich tatsächlich zum Schluss, werden wir mit dem KulturPass für 18-Jährige in diesem Jahr eine indirekte Förderung für den Filmbereich einführen. Die 200 Euro, die alle jungen Menschen erhalten, die in diesem Jahr 18 Jahre alt werden und in Deutschland leben, können für die unterschiedlichsten Kulturangebote eingesetzt werden. Das Beispiel in Frankreich zeigt, dass Kinos davon besonders profitierten. Und ich hoffe, dass wir im Juni damit starten können. Wenn der Kulturpass erfolgreich wird, dann habe ich die Zusage, dass wir ihn auch auf jüngere Jahrgänge erweitern können. Meine Damen und Herren, wenn wir anhand dieser 8 Punkte arbeiten wollen, dann sollten wir uns rasch nach der Berlinale auf einen Fahrplan verständigen. Mein Ziel ist es, Ende diesen Jahres die notwendigen Gesetzesvorhaben auf den Weg zu bringen. Der Bundesfinanzminister, aber auch viele andere Kolleginnen und Kollegen im Kabinett sind mehr als interessiert an unseren Fortschritten. Wir wollen gerne gemeinsam ihren Rat in Anspruch nehmen. Ebenso wie den des Gesetzgebers, meine Damen und Herren Abgeordnete. Deswegen noch einmal: lassen Sie es uns gemeinsam angehen! Doch davor hat ein glücklicher Zufall das Feiern gesetzt: Ich freue mich auf diese Berlinale, die heute beginnt. Sie soll, wie ihre Vorgängerinnen, Funken sprühen – auch über Berlin hinaus. Sie soll Menschen Lust machen, Filmkunst zu erleben und das Kino zu genießen. Ich hoffe, dass wir mit dem, was ich Ihnen hier skizziert habe, den Grundstein für einen anhaltenden Erfolg des deutschen Films legen werden. Auch in diesem Sinn wünsche ich uns allen eine Berlinale, die man nicht so schnell vergisst.
Beim Deutschen Produzententag 2023 stellte die Kulturstaatsministerin Eckpunkte für eine Reform der Filmförderung vor. Ziel sei es, die Filmförderung effizienter, schneller und ganzheitlicher zu machen, das ganze kreative Potenzial deutscher Filmemacherinnen und Filmemacher zu heben und bessere Ausgangsbedingungen für neue Erzählformen und Perspektivenwechsel zu schaffen, so Claudia Roth.
Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz anlässlich der Ankündigung der Kooperation der Unternehmen Wolfspeed und ZF am 1. Februar 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-olaf-scholz-anlaesslich-der-ankuendigung-der-kooperation-der-unternehmen-wolfspeed-und-zf-am-1-februar-2023-2162342
Wed, 01 Feb 2023 16:05:00 +0100
Im Wortlaut
Ensdorf (Saar)
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Dear Mr. Lowe, sehr geehrter Herr Klein, sehr geehrter Herr von Schuckmann, sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Anke, sehr geehrter Herr Bundesminister, lieber Robert, sehr geehrter Herr Minister Barke, verehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages und des Landtages, meine Damen und Herren, vor zwei Wochen war ich beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Dort habe ich den versammelten Spitzenkräften der großen internationalen Unternehmen zugerufen: Wenn Sie nachhaltig und rentabel in die Zukunft investieren wollen, dann kommen Sie zu uns, kommen Sie nach Deutschland und nach Europa! Don’t look any further! Lieber Herr Lowe, lieber Herr Klein, Sie haben sich für Ihre Fertigungsanlage hier in Ensdorf und einen weiteren Standort in Deutschland für Ihr Forschungszentrum für Europa entschieden. Das ist der handfeste Beweis dafür, dass meine These richtig ist. Ihnen rufe ich heute aus voller Überzeugung zu: You have found the place you were looking for! Hier im Saarland finden Sie genau die Bedingungen, die Wolfspeed und ZF brauchen, um gemeinsam die nächste große industrielle Revolution mitzuprägen. Viel spricht dafür, dass Halbleitern aus Siliziumkarbid auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien, in der Telekommunikation und ganz besonders bei der Elektromobilität Zukunft gehört. Mit Chips aus Siliziumkarbid erzielen Elektrofahrzeuge, wie wir schon gehört haben, eine größere Reichweite. Das Laden geht schneller. Die Effizienz steigt. Man kann deshalb ohne Übertreibung sagen: Mit dem Bau dieser Fabrik für Halbleiter aus Siliziumkarbid kehrt die industrielle Revolution nach Ensdorf zurück. Denn ganz vorn dabei, „cutting edge“, war man hier an der Saar in industrieller Hinsicht auch früher schon. Mehr als 200 Jahre lang wurde hier in Ensdorf Steinkohle gefördert, aufbereitet und verbrannt. Die gigantische Berghalde hier im Ort zeugt davon. Diese große Ära der Montanindustrie ist Geschichte. Was für ein tiefer Einschnitt das nicht nur für Ensdorf und nicht nur an der Saar, sondern überall in den klassischen Industrierevieren von Europa war, das muss ich keinem hier erzählen. Manche sprechen nostalgisch von der guten alten Zeit. Völlig unverständlich ist das nicht. Aber, meine Damen und Herren, dass die gute alte Zeit vorbei ist, bedeutet nicht, dass keine gute neue Zeit anbrechen kann. Es ist doch so: Wolfspeed und ZF kommen hierher an die Saar, gerade weil es hier so viel Erfahrung in Sachen Energie, so viel industrielles Knowhow und so viele gut ausgebildete Facharbeiter und Ingenieure gibt. Es ist doch kein Zufall, dass gerade hier nun neue Arbeitsplätze für die Zukunft entstehen, sondern das liegt daran, dass es hier im Saarland Umbrucherfahrung gibt, Offenheit für Neues und die Entschlossenheit, das Neue anzupacken. Deshalb zeigt sich hier in Ensdorf, dass die gute alte Zeit die Grundlage für die gute neue Zeit schafft, die vor uns liegt. Mit der Milliardeninvestition von Wolfspeed und ZF bricht diese Zeit jetzt hier in Ensdorf an, mit neuem Wohlstand und neuen guten Industriearbeitsplätzen sowie mit Technologien, die für Nachhaltigkeit und Dekarbonisierung eine wichtige Rolle spielen werden. Ich will den Bogen aber noch weiter schlagen. Die neue Chipfabrik wird auch einen deutlichen Beitrag dafür leisten, dass unsere europäische Industrie verlässlich mit Halbleitern versorgt wird. Wie wichtig das ist und wie ernst die Lage werden kann, wenn Lieferketten reißen und zum Beispiel die Versorgung mit Halbleitern stockt, haben wir in Deutschland und Europa in den vergangenen Jahren zu spüren bekommen. Gerade die Erfahrungen der Pandemie haben uns gelehrt, dass wir in Deutschland und Europa in technologischer, digitaler und logistischer Hinsicht resilienter werden müssen. Deshalb werden wir Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten systematisch verringern und unsere Handlungsfähigkeit stärken. In Europa setzen wir dabei auf den Markt, auf Wettbewerb und Innovation. Wir setzen aber auch auf gemeinsame europäische Förderinstrumente, zum Beispiel die so genannten Important Projects of Common European Interest. Wir setzen auch auf den European Chips Act, der derzeit noch in Brüssel verhandelt wird, aber schon jetzt erste Wirkung entfaltet. Gerade hier bei uns in Deutschland sind mit Hilfe dieser Instrumente bedeutende Investitionen geplant, zu denen diese Fertigungsanlage hier im Saarland gehört. Dazu gehören aber auch weitere Projekte an anderen Standorten in Deutschland, etwa in Sachsen oder in Sachsen-Anhalt. Die Investition von Wolfspeed und ZF ist damit ganz praktischer Ausdruck unserer zentralen politischen Zielsetzungen. Sie ist zugleich praktischer Ausdruck dessen, wie sinnvoll offene Märkte und gerade auch die transatlantische wirtschaftliche Zusammenarbeit sind. In diesen Tagen ist viel vom amerikanischen Inflation Reduction Act und seinen möglichen Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Europa die Rede. Zunächst einmal ist es doch positiv und hoch willkommen, wenn die USA beim Klimaschutz und bei klimafreundlichen Technologien vorankommen wollen. Zugleich sprechen wir natürlich mit unseren amerikanischen Freunden, damit europäische Unternehmen dadurch nicht benachteiligt werden. Denn nicht Zollschranken oder strenge Ursprungsregeln sorgen für Innovation, sondern offene Märkte und fairer Wettbewerb. Für mich ist die Debatte über den Inflation Reduction Act auch Ansporn für uns Europäer, immer wieder zu überprüfen, wie wir die Bedingungen für Investitionen hier bei uns weiter verbessern können. Dazu gehört, dass wir das europäische Beihilferecht noch agiler und zeitlich befristet auch flexibler machen, damit Investoren frühzeitig wissen, mit welcher Unterstützung sie rechnen können. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat dazu wichtige Vorschläge gemacht, die alle in die richtige Richtung gehen. Lieber Gregg Lowe, in einem Interview hat man Ihnen vor einigen Jahren einmal die Frage gestellt: „What makes you happy?“ ‑ Ihre Antwort lautete: „When a group of individuals come together and accomplish something they first thought was impossible.” Mein Eindruck ist, dass genau das hier gerade passiert. Das ist tatsächlich ein Grund zu großer Freude, nicht nur bei der Ministerpräsidentin. Ein kompliziertes Projekt wie dieses funktioniert ja überhaupt nur dann, wenn viele, viele Beteiligte am selben Strang und auch in dieselbe Richtung ziehen. Die Projektteams der beiden Unternehmen sind heute hier, ebenso Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der beteiligten Behörden von der Stadt über das Land bis zum Bund. Herzlichen Dank für diesen intensiven Einsatz! Den Partnern Wolfspeed und ZF wünsche ich großen Erfolg mit ihrem gemeinsamen Projekt und uns allen viele positive Effekte für das Saarland, für Deutschland, für Europa und für die transatlantische Zusammenarbeit. Glück auf und schönen Dank!
in Ensdorf
Rede von Bundeskanzler Scholz beim Deutsch-Chilenischen Wirtschaftsforum am 30. Januar 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-deutsch-chilenischen-wirtschaftsforum-am-30-januar-2023-2161408
Mon, 30 Jan 2023 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Vitacura (Chile)
Sehr geehrter Herr von Appen, sehr geehrter Herr Ide, sehr geehrter Herr Hasbún, sehr geehrter Herr Schiess, Excelencias, Señoras y Señores, ¡Qué gran manera de empezar este día! Bajo el cielo chileno, famoso por ser tan puro y azulado como hoy. Con los Andes al fondo y la ciudad a nuestros pies. Y sobre todo en la excelente compañía de todas y todos ustedes. ¡Gracias por haberme invitado! ¡Y muchas gracias, señor Schiess, por abrirnos las puertas de Tánica esta mañana! (1) Bitte sehen Sie mir nach, dass ich auf Deutsch fortfahre. Zu meiner Schulzeit hieß die zweite Fremdsprache in der Regel noch Latein. So kann ich nur mit einem gewissen Neid auf die jungen Leute blicken, die heute zu Hunderttausenden an deutschen Schulen Spanisch lernen. Dabei habe ich seit meiner Ankunft gestern in Chile gespürt, dass Sprachkenntnisse zwar hilfreich, aber keineswegs notwendig sind, um einander zu verstehen. Wir sind uns nah, und zwar trotz der großen geographischen Distanz zwischen unseren Ländern. Nähe trotz Ferne, das funktioniert, weil wir auf eine tiefe innere Verbundenheit aufbauen können. Schon früh war Chile Ziel deutscher Auswanderer. Wir haben es schon gehört. Ich habe mir sagen lassen, dass auch einige von Ihnen deutsche Vorfahren haben. Sie haben dieses Land mit aufgebaut, an Universitäten gelehrt, Schulen, Krankenhäuser und soziale Einrichtungen gegründet, auch Unternehmen wie dieses hier. Nicht umsonst ist unsere Außenhandelskammer hier in Chile gemeinsam mit denen in Argentinien, Brasilien und Uruguay die älteste deutsche Außenhandelskammer außerhalb Europas. Mit rund 600 Mitgliedsunternehmen ist sie bis heute die größte bilaterale Kammer weltweit. Das ist ein starkes Zeichen für die Lebendigkeit unserer wirtschaftlichen Verbindungen. Ich bin Ihnen allen sehr dankbar für Ihren Anteil daran. Nach der deutschen Wiedervereinigung und nach dem Ende der Diktatur in Chile ist unsere Freundschaft noch enger geworden, auch dank vieler Chileninnen und Chilenen, die in Deutschland in der Zeit der Militärdiktatur im Exil waren und mit deutschen Stipendien studieren konnten. Heute teilen wir unsere demokratischen Werte und die Überzeugung, dass individuelle Freiheit und soziale Sicherheit Hand in Hand gehen müssen. Darin sind wir uns ähnlicher als die meisten Länder und Regionen der Welt. Noch etwas eint uns. Wir sind progressive Gesellschaften, verbunden mit dem Ziel, unsere Wirtschaft neu auszurichten, aus den fossilen Brennstoffen auszusteigen und klimaneutral zu produzieren. Das ist die große Zukunftsaufgabe, vor der wir, vor der die ganze Menschheit in den kommenden Jahrzehnten steht. Wie drängend die Aufgabe ist, sehen wir an den sich beschleunigenden konkreten Zeichen des Klimawandels. Vor wenigen Tagen hat sich in der Antarktis ein gigantischer Eisberg gelöst. Er ist fast zehnmal so groß wie die Insel Rapa Nui. Chile und Deutschland haben sich für diese Zukunftsaufgabe gleichermaßen ehrgeizige Ziele gesetzt. Beim Kohleausstieg sind wir nah beieinander, was das Ausstiegsdatum betrifft. Bis 2030 wollen wir mindestens 80 Prozent unseres Strombedarfs aus erneuerbaren Energien decken, um dann Mitte der 40er-Jahre vollständig klimaneutral zu wirtschaften. Chiles Klimaschutzgesetz vom Juni 2022 hat diesbezüglich in der Region und auch weltweit Standards gesetzt. Umso wichtiger ist es, dass wir gemeinsam dafür sorgen, dass diejenigen, die mit solch ambitionierten Regeln vorangehen, keine Nachteile davontragen. Das ist die Idee hinter dem Klimaclub, den wir unter deutscher G7-Präsidentschaft im Dezember gegründet haben. Es geht darum, ein „level playing field“, also vergleichbare Standards zwischen unseren Ländern beim Klimaschutz, zu schaffen. Dazu reden wir über gemeinsame Rahmenbedingungen für die Dekarbonisierung der Industrie, über Standards und Zertifizierungen, die Investitionen in grüne Produkte lenken, und bauen internationale Leitmärkte für grüne Technologien auf. Bis zur Klimakonferenz Ende dieses Jahres soll der Klimaclub seine Arbeit aufnehmen. Ich habe mich sehr gefreut, dass Präsident Boric meine Einladung angenommen hat, den Co-Vorsitz für die weiteren Arbeiten beim Klimaclub zu übernehmen. So kommt der Klimaclub und damit die internationale Abstimmung auf dem Weg zur Klimaneutralität voran. Welche gewaltigen Chance neben allen Herausforderungen in der Transformation zu erneuerbaren Energien, zu Windkraft, Solar- und Wasserkraft sowie Biomasse, steckt, muss ich hier in Chile wahrscheinlich niemandem erklären. Ihr Land bietet alles, was es für diese Transformation braucht: verlässliche Sonne in den Wüsten des Nordens, Wasserkraft aus den gewaltigen Bergen, Windkraft in den enormen Weiten des Südens. Man kann dem großen deutschen Filmemacher Werner Herzog nur zustimmen, der vor wenigen Tagen erneut am Congreso Futuro hier in Santiago teilgenommen hat, wenn er seine ganz besondere Liebeserklärung an Chile in die Worte fasst: „a country of many blessings“. Dieses enorme Potenzial gemeinsam noch stärker zu nutzen, ist einer der Gründe, weshalb mich meine erste Lateinamerikareise als Bundeskanzler hierher nach Chile führt. Der zweite Grund ist vielleicht eher biographischer Natur. Für einen Hamburger wie mich liegt Chile besonders nahe. Von den ersten Handelsschiffen über die Tanker der Hamburg-Süd bis hin zum Zusammenschluss von Hapag-Lloyd mit der chilenischen Reederei Compañía Sudamericana de Vapores und dem kürzlich erfolgten Einstieg von Hapag-Lloyd beim chilenischen Hafenbetreiber SAAM; von der ersten deutschen Seemannsmission in Valparaíso bis zur Gründung einer EU-Lateinamerika-Karibik-Stiftung, der EU-LAC-Stiftung in Hamburg während meiner Zeit als Bürgermeister dort, ist Chile in der Vergangenheit und Gegenwart meiner Heimatstadt präsent. Selbst eine UNESCO-Welterbestätte erinnert in Hamburg an diese enge Verbindung, nämlich das prächtige expressionistische Chile-Haus, ein Wahrzeichen Hamburgs und Zeugnis unserer engen Handelsbeziehungen. Zugleich ist dieses Chile-Haus, gebaut in den 20er-Jahren mit den sprudelnden Einnahmen aus dem Salpeter-Boom, auch eine Mahnung – die Mahnung, verantwortlich mit den Reichtümern umzugehen, die hier in Chile über und unter der Erde lagern; eine Mahnung, Handelsbedingungen zu schaffen, die fair sind, die beiden Seiten nützen, die Wertschöpfung ermöglichen, hier in Chile und auf den Exportmärkten; und eine Mahnung, sich nicht allzu abhängig von einem Exportprodukt, von einem Lieferanten oder einem Abnehmer zu machen. „My specialization is diversification“, das haben Sie, sehr geehrter Herr Schiess, in einem Interview an der Harvard Business School einmal gesagt. Das war natürlich auf Ihr Unternehmen bezogen. Diversifizierung ist aber auch das Gebot der Stunde für unsere Volkswirtschaften. Das haben uns die Pandemie, die Lieferkettenprobleme und die Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gelehrt. Sie alle wissen, dass sich Deutschland innerhalb der vergangenen elf Monate komplett unabhängig von russischem Gas, russischem Öl und russischer Kohle gemacht hat. Kurzfristig ersetzen wir das durch höhere Importe aus anderen Ländern und auch durch Flüssiggas über neue Terminals an unseren Küsten. Parallel dazu beschleunigen wir den Ausbau der erneuerbaren Energien, schaffen unter Hochdruck die dafür nötige Infrastruktur und bauen weltweit die ersten Lieferketten für grünen Wasserstoff auf. Klar ist, dass Deutschland auch in der Wasserstoffwelt ein Land bleiben wird, das Energie importiert. Chile hingegen kann zum Exporteur dieser sauberen Energie werden. Die Bedingungen dafür zählen hier zu den besten der Welt. Erst vor wenigen Wochen hat im tiefen Süden Chiles die weltweit erste kommerzielle Anlage zur Herstellung von klimaneutralem Kraftstoff mit einer Anschubfinanzierung der Bundesregierung und mit Siemens Energy und Porsche als starken Partnern aus der Industrie ihren Betrieb aufgenommen. Ich kann Sie nur dazu ermutigen, diesen Weg gemeinsam mit den deutschen Partnern weiterzugehen. Es winkt ein nachhaltiger Boom, der ganz anders als damals beim Salpeter allen Seiten nützt. Unsere politische Unterstützung dafür jedenfalls haben Sie. Das gilt auch für Kooperationen im Rohstoffbereich von Kupfer bis Lithium. Deutschland und Europa haben auch dort größtes Interesse daran, unsere Lieferbeziehungen zu diversifizieren. Ich weiß, dass das vielen so geht. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass es im globalen Wettbewerb des 21. Jahrhunderts eben nicht reicht, Rohstoffe einfach nur abzutransportieren, ohne Rücksicht auf die Umwelt, ohne vernünftige Arbeitsbedingungen, ohne Wertschöpfung vor Ort, wie 1920 den Salpeter. Die chilenische Regierung tut gut daran, auf einen nachhaltigen Bergbau zu setzen – beispielsweise was den CO2-Footprint angeht –, die Wassereffizienz und die Einhaltung der Menschenrechte voranzustellen. Das habe ich gestern auch Präsident Boric gesagt. Mehr noch: Vernünftige Sozial- und Umweltstandards sind eine Chance für das Engagement deutscher und europäischer Unternehmen hier in Chile. In Deutschland haben wir vor nicht allzu langer Zeit ein Gesetz beschlossen, das bestimmte Sorgfaltspflichten für weltweite Lieferketten festschreibt, weil wir der festen Überzeugung sind, dass Partnerschaften nur dann stabil funktionieren, wenn sie nachhaltig sind, wenn Umweltschutzstandards eingehalten werden und wenn es eben Vorteile für alle Seiten gibt. Schon lange beliefern deutsche Unternehmen den chilenischen Bergbau und Rohstoffsektor mit Technologie und Know-how. Unterstützt werden sie dabei seit vielen Jahren von der AHK mit ihrem Kompetenzzentrum „Bergbau und Rohstoffe“. Darauf wollen wir gerne aufbauen. Deshalb freue ich mich sehr, dass es uns hierbei gelungen ist, unsere bilaterale Rohstoffpartnerschaft zu erneuern und auf ein neues Level zu bringen, als Deutsch-Chilenische Partnerschaft für Bergbau, Rohstoffe und Kreislaufwirtschaft mit vertiefter Kooperation und regelmäßigen bilateralen Foren. Auch über bessere Aus- und Fortbildung habe ich mit Präsident Boric gesprochen. Denn darin liegt ja die Voraussetzung dafür, dass Rohstoffe hier in Chile nicht nur abgebaut, sondern auch zum Beispiel verarbeitet werden können. Auch dabei finden Sie in deutschen Unternehmern richtige Partner, weil sie Erfahrung haben mit der dualen Ausbildung, für die Deutschland weltweit bekannt ist. Dafür steht das Berufsbildungszentrum INSALCO hier in Santiago, an dem das Who is Who der deutschen Wirtschaft beteiligt ist. Dafür stehen aber auch Projekte wie in der kleinen Stadt Peumo in der Region O’Higgins, wo die deutsche Firma Aurubis eine chilenische Berufsschule unterstützt und für die Digitalisierung lokaler Grundschulen sorgt, und viele weitere. Solche Investitionen in die Zukunft, eine solche „german social responsibility“, gehört zur DNA unserer Unternehmen. Das freut mich, und es ist sogar ein echter Wettbewerbsvorteil. Und darauf können die Unternehmen wirklich stolz sein! Auch hier wollen wir von Seiten der Politik für Rückenwind sorgen. Der stärkste Rückenwind ist wahrscheinlich das modernisierte Rahmenabkommen zwischen Chile und der EU, das nach fünf Jahren im Dezember endverhandelt werden konnte. Und wir reden hier nicht über irgendein Handelsabkommen, sondern über eines der modernsten der Welt. Nicht nur Zölle und Handelshemmnissen fallen dadurch weg. Dieses Abkommen hat Vorbildcharakter, weil es neue Maßstäbe in Sachen Umwelt- und Sozialstandards setzt, weil es die Resilienz unserer Volkswirtschaften in Europa und in Chile stärkt. Wenn ich von Vorbildcharakter spreche, dann verbinde ich damit natürlich auch die Hoffnung auf neuen Schwung in den Gesprächen mit dem MERCOSUR. Der Regierungswechsel in Brasilien hat die Aussichten auf einen zügigen Abschluss deutlich verbessert. Und so will ich morgen in Brasília gegenüber Präsident Lula da Silva dafür werben, dass wir auch dieses Abkommen jetzt über die Ziellinie bringen. Denn von einem bin ich zutiefst überzeugt: Nicht der Rückzug in nationale Schneckenhäuser, nicht Zollschranken, Deglobalisierung oder De-Coupling sind die richtigen Antworten auf die Herausforderungen, die wir derzeit in der Weltwirtschaft erleben, sondern mehr Austausch von Technologie und Innovation und die kluge Diversifizierung von Lieferketten und Rohstoffpartnerschaften. Dass Chile dabei für uns ein Wunschpartner ist, habe ich hoffentlich deutlich gemacht. Damit aus dem Wunsch Realität wird, dafür haben auch Sie, der chilenische Industrieverband SOFOFA und der BDI, kürzlich eine wichtige Grundlage durch die Gründung eines neuen chilenisch-deutschen Wirtschaftsrats gelegt, der künftig Investitionen in Schlüsselsektoren wie erneuerbare Energien, grünen Wasserstoff, die chemische Industrie, Transport und Logistik fördern soll. Dass diese zukunftsträchtige Vereinbarung ausgerechnet in meiner Heimatstadt Hamburg unterzeichnet wurde, nehme ich als gutes Omen für die Zukunft unserer Beziehungen und als gutes Omen dafür, dass für diese Beziehungen auch weiterhin gilt: Große Ferne, aber noch größere Nähe. Muchas gracias por su atención! Schönen Dank für den herzlichen Empfang! (1) Übersetzung: Was für ein Start in diesen Tag! Unter dem chilenischen Himmel, berühmt dafür, so rein und blau zu sein wie heute. Mit den Anden im Hintergrund und der Stadt zu unseren Füßen. Und vor allem in der ausgezeichneten Gesellschaft von Ihnen allen. Danke für die Einladung! Und vielen Dank, Herr Schiess, dass Sie heute Morgen die Türen von Tánica für uns geöffnet haben!
in Vitacura
Rede von Kulturstaatsministerin Roth in Erinnerung an die queeren NS-Opfer
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-queere-ns-opfer-2160896
Wed, 25 Jan 2023 00:00:00 +0100
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort – „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ – so lautet das Versprechen, das wir uns alle gegeben haben. So beginnt Artikel 1 unseres Grundgesetzes; er ist das grundlegende Versprechen unseres Zusammenlebens. Dieses grundlegende Versprechen ist keine bloße Beschreibung der Wirklichkeit; es beschreibt nicht einfach nur, wie wir leben. Es verpflichtet uns vielmehr dazu, wie wir leben sollen: Wir sollen die Würde eines jeden Menschen achten – gleich ob Mann oder Frau, hetero-, homo-, inter-, trans- oder bisexuell, binär oder nonbinär; unabhängig von der Hautfarbe, Religion oder Herkunft. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Es steht da nicht, die Würde des heterosexuellen Menschen ist unantastbar. Dieses Versprechen verpflichtet uns jeden Tag. Dieses fundamentale Versprechen ist nicht selbstverständlich. Es ist historisch. Es verweist auf die deutsche Geschichte, es fordert uns zum Erinnern auf. Und das tun wir. Vor 90 Jahren, am 6. Mai 1933, erreichte die Verfolgung queerer Menschen durch die Nationalsozialisten einen ersten Höhepunkt. Magnus Hirschfelds Institut für Sexualforschung wurde von ihnen überfallen, wurde geplündert, seine Bibliothek wenige Tage später bei den Bücherverbrennungen vernichtet. Als hätte er vorhergesehen, was kommen würde, hatte Heinrich Heine schon 110 Jahre zuvor geschrieben: „Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.” So war es. In den zwölf Jahren der Nazi-Diktatur wurden auch queere Menschen ausgegrenzt und diskriminiert und gedemütigt. 50.000 Männer wurden von der NS-Justiz verurteilt, 10.000 bis 15.000 in Konzentrationslager gesperrt, mehr als die Hälfte wurde ermordet. Es heißt, nach der Nazi-Diktatur seien die queeren Menschen in Deutschland vergessen worden. Das ist falsch. Vergessen waren lange Zeit die Verbrechen, die an ihnen begangen worden waren, die queeren Menschen selbst aber wurden in den Nachkriegsjahren niemals vergessen – nicht von der Justiz, die sie auch in der Bundesrepublik noch lange Zeit verfolgte, nicht von der Gesellschaft, die ihnen den Zutritt und die Teilhabe verweigerte und sie zur Unsichtbarkeit verurteilte. Auch deshalb hat es so lange, so fürchterlich lange gedauert, bis sich der Deutsche Bundestag endlich entschloss, auch dieser Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken, der Menschen, die wegen ihrer geschlechtlichen Identität oder sexuellen Orientierung verfolgt, eingesperrt und ermordet wurden. Und es war wirklich ein langer Kampf, auch meiner, im Präsidium des Deutschen Bundestags. Umso dankbarer bin, dass wir an diesem Freitag, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, endlich auch dieser Opfergruppe gedenken. Auch die Teilnehmer der Podiumsdiskussion, die vorher stattgefunden hat, haben entscheidend dazu beigetragen und sich für die Anerkennung auch dieser Opfergruppe eingesetzt. Es ist mir eine besondere Ehre, aus diesem Anlass im SchwuZ Berlin, im Kreis queerer Menschen zu sprechen. Der 27. Januar ist ein Gedenktag, ein Festtag ist es nicht. Wir gedenken der queeren Opfer des Nationalsozialismus, aber wir vergessen auch nicht die Homosexuellen, die nach dem Krieg dem Strafgesetzbuch der Bundesrepublik zum Opfer gefallen sind. Denn nach 1945 war es zwar mit den Nazis vorbei, nicht aber mit dem schändlichen § 175 Strafgesetzbuch in der von den Nationalsozialisten verschärften Fassung. Etwa 50 000 homosexuelle Männer wurden bis 1969 wegen ihrer sexuellen Orientierung rechtskräftig verurteilt. Das war mehr als im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zusammen. Zwar wurde der Paragraf in den siebziger Jahren entschärft, aber abgeschafft wurde er erst 1994. Doch jahrelang und oft erfolglos kämpften danach viele der Verurteilten um eine Rehabilitierung und Entschädigung. In der DDR war der § 175 immerhin 26 Jahre zuvor, 1968, im Zuge einer Strafrechtsreform abgeschafft worden. Lesbische Frauen waren, anders als unter nationalsozialistischer Herrschaft, in der Bundesrepublik zwar nicht mit Strafe bedroht, aber bis in die 1980er Jahre konnte ihnen das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen werden, weil Familiengerichte eine Gefährdung des Kindeswohls unterstellten. Es hat dann noch einmal fast ein Vierteljahrhundert gedauert, bis der Bundestag die wegen ihrer sexuellen Orientierung verurteilten Männer rehabilitierte. Der Staat hat immerhin inzwischen einiges getan, um der Diskriminierung queerer Menschen entgegenzutreten. Ein Meilenstein war das Gesetz von 2017, das gleichgeschlechtlichen Paaren die Eheschließung ermöglicht: die Ehe für alle! Die Einsicht, dass queere Menschen Anspruch haben, gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, dass sie nicht Teil von verschiedenen Minderheiten sind, sondern Individuen und jeder von ihnen einzigartig ist – diese Einsicht ist noch längst nicht in allen Teilen der Gesellschaft angekommen. Im Gegenteil. Der Hass, der queeren Menschen immer wieder entgegenschlägt, nimmt zu und schlägt sich auch in der Kriminalstatistik nieder. In den vergangenen Jahren war ein dramatischer Anstieg der Hasskriminalität gegen queere Menschen zu verzeichnen. Im Jahr 2021 wurden allein in Berlin 456 Fälle erfasst, in denen die Opfer beleidigt, bedroht und angegriffen wurden. Das war fast viermal so viel wie im Jahr 2010. Allein das macht klar, warum die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen wachgehalten werden muss. Sie macht bewusst, wohin Ausgrenzung und Diskriminierung führen. Die morgige Gedenkstunde im Bundestag ist nicht nur ein innenpolitisches Signal. Auch global haben wir es mit einem weltweiten Bündnis von Autokratien zu tun, die sich darin einig sind, dass die heterosexuelle Orientierung die einzig „richtige“ ist. Dies gilt für China, Russland, Iran, Saudi-Arabien, Nicaragua und bis vor kurzem auch für Bolsonaros Brasilien, nicht zu vergessen die fundamentalistischen Islamisten und Evangelikalen. Das geht so weit, dass das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill „liberale Werte“ und „schwule Paraden“ als Hauptgrund für Russlands Angriffskrieg anführt. Nicht zuletzt durch die Aktion „OutInChurch“ von katholischen Lesben, Schwulen, bisexuellen, trans und intergeschlechtlichen Menschen, die Offenheit und Akzeptanz fordern, ist wieder klargeworden, dass auch der Vatikan sich bewegen muss. Ende vergangenen Jahres haben wir beschlossen, dass geschlechtsspezifische, gegen die sexuelle Orientierung des Opfers gerichtete Tatmotive künftig strafverschärfend zu berücksichtigen sind. Das ist eine der von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen zum Schutz und für die gleichberechtigte Teilhabe queerer Menschen. Eine andere ist die erstmalige Ernennung eines Queer-Beauftragten, Sven Lehmann, aber auch die Verabschiedung eines nun umzusetzenden Aktionsplans für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt „Queer leben“. Liebe Freund:innen–Freundinnen und Freunde, das fundamentale Versprechen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, das ich eingangs zitiert habe, ist nicht nur eine Erinnerung an Unrecht, das geschehen und vergangen ist. Sie richtet sich auch in die Zukunft. Wir sind heute im SchwuZ zusammengekommen, um daran zu erinnern, dass kein Mensch dem anderen gleicht, und dass eben diese Vielfalt uns zu Gleichen macht. Als Gleiche voreinander und vor dem Gesetz wollen wir leben. Auch in Zukunft. Dazu wollen wir uns bekennen! Die Gleichstellung queerer Menschen in rechtlicher und gesellschaftlicher Hinsicht ist für mich eine Herzensangelegenheit. Sie ist eine staatliche Aufgabe, aber wir brauchen auch den gesellschaftlichen Wandel. Der ist noch längst nicht in ausreichendem Maße vollzogen worden. Unser Ziel ist eine offene Gesellschaft, die die individuellen Lebensentwürfe zulässt und anerkennt. Vor ein paar Jahren habe ich gesagt: „Geduld ist eine Tugend. Ungeduld aber schreibt Geschichte. Lasst uns also ungeduldig sein. Lasst uns weiter streiten. Lasst uns auf die Straße gehen, bunt und queer, vereint und solidarisch.“ Was ich damals gesagt habe, sage ich auch heute. Und ich wüsste dafür keinen besseren Ort als das SchwulenZentrum Berlin. Jetzt bin ich gespannt auf den Film Nelly & Nadine, der den Teddy Award – den Queeren Filmpreis der Berlinale 2022 zugesprochen bekommen hat.
Kurz vor dem Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar gedachte Kulturstaatsministerin Roth bei einer Kulturveranstaltung im Berliner Club SchwuZ der queeren NS-Opfer. „Es heißt, nach der Nazi-Diktatur seien die queeren Menschen in Deutschland vergessen worden. Das ist falsch. Vergessen waren lange Zeit die Verbrechen, die an ihnen begangen worden waren“, so die Staatsministerin.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Festakts zur Gründungsvollversammlung des DIHK am 24. Januar 2023 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-festakts-zur-gruendungsvollversammlung-des-dihk-am-24-januar-2023-in-berlin-2160316
Tue, 24 Jan 2023 17:35:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Dr. Schweitzer, sehr geehrter Herr Adrian, sehr geehrter Herr Dr. Wansleben, lieber Peter Altmaier, meine Damen und Herren, dass wir heute die Gründung der DIHK feiern, ist zumindest für einige noch immer erklärungsbedürftig. Denn natürlich gibt es die DIHK seit irgendwie 160 Jahren. Und natürlich hat die Neugründung als Körperschaft des öffentlichen Rechts vor allem formaljuristische Gründe. Dennoch haben Sie – haben wir – heute allen Grund zum Feiern. Denn unsere Unternehmen, gerade die für Deutschland so wichtigen und charakteristischen Mittelständler, brauchen eine starke einheitliche Stimme und gute Antennen hier in Berlin, in Brüssel und in der Welt. Das ist mit der Neuaufstellung der DIHK gesichert. Schon im Mittelalter taten sich Händler und Handwerker in Zünften und Kammern zusammen. Abkommen zwischen Städten ließen den Handel erblühen. Sie alle kennen natürlich die Hanse. Doch nicht nur darauf ist man in meiner Heimatstadt Hamburg bis heute stolz, sondern auch darauf, dass dort mit der ehemaligen Commerz-Deputation eine der ältesten deutschen Handelskammern entstanden ist. Einige der Beteiligten denken aber noch etwas wehmütig an die Zeit, als sie die Stadt auch regiert haben. – Aber Demokratie gibt es immer überall. Kooperation schafft Wohlstand, das stand über der Wiege dieser ersten deutschen Kammern, und dieses Prinzip gilt bis heute auch für die DIHK. Ludwig Erhard hat sie mal als schachbrettförmige Organisation bezeichnet, denn über die einzelnen Industrie- und Handelskammern sei sie branchenübergreifend und zugleich in der Fläche organisiert. Inzwischen müsste man mindestens von 3-D-Schach sprechen, denn als DIHK vertreten Sie das Interesse der gewerblichen Wirtschaft in Deutschland, in Europa und an 140 Standorten weltweit – und das höchst erfolgreich seit über 160 Jahren und seit 24 Tagen nun in neuer Rechtsform. Herzlichen Glückwunsch dazu! Dass diesem Neubeginn vor allem Kontinuität anhaftet, ist ebenfalls kein Malus. In der Antike sprach man vom puer-senex-Ideal. Die Weisheit des Älteren hat die neu gegründete DIHK schon im Knabenalter. Und auch an der Spitze ist mit Ihnen, sehr geehrter Herr Adrian, sehr geehrte Herr Dr. Wansleben, für Beständigkeit gesorgt. Ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit mit Ihnen und gratuliere herzlich zur Bestätigung in Ihren neuen Ämtern. Auf Ihren Rat und Ihre Unterstützung war Verlass in den vergangenen drei Krisenjahren. Ich denke zum Beispiel an die Regelung zum Kurzarbeitergeld und die Wirtschaftshilfen und Sonderprogramme während der Corona-Pandemie und natürlich jetzt auch an all die vielen Hilfen, die wir für die Wirtschaft und die Bürgerinnen und Bürger organisiert haben, um den Herausforderungen des russischen Angriffskrieges auch für die Wirtschaft unseres Landes zu begegnen. Ich glaube, es sind große Herausforderungen, die der Industriestandort Deutschland zu bewältigen hatte und hat. Wir haben sie gemeinsam bewältigt und werden sie auch weiterhin gemeinsam bewältigen, meine Damen und Herren, ich bin da ganz sicher. All die Hiobsbotschaften von A wie Arbeitsplatzverlust bis Z wie Zusammenbruch der deutschen Industrie sind nicht eingetreten. Die von manchen vorhergesagte schwere Rezession ist ausgeblieben. Im Gegenteil: Die deutsche Wirtschaft ist in den vergangenen Jahren allen widrigen Umständen zum Trotz gewachsen. Energieengpässe haben wir erfolgreich verhindert. Und mittlerweile sinken die Preise für Gas auf den Weltmärkten wieder – auch hier in Europa und in Deutschland. Das kommt alles nicht von ungefähr und hat etwas damit zu tun, dass wir schnelle, zügige Entscheidungen eng abgestimmt mit der Wirtschaft und auch mit Ihnen – in gemeinsamen Gesprächen – vorangetrieben haben. Niemand hätte es für möglich gehalten, dass wir in so kurzer Zeit, wenn plötzlich kein Gas mehr aus Russland kommt, das Problem zu lösen in der Lage und nicht mehr abhängig von Kohle und Öl aus Russland sind – so groß war ja unsere Abhängigkeit. Aber wir haben entschieden. Wir haben dafür gesorgt, dass die Speicher voll sind. Wir haben dafür gesorgt, dass 20 Kohlekraftwerke wieder laufen und Strom erzeugen. Wir haben drei Atomkraftwerke weiter zum Laufen gebracht. Wir haben dafür Sorge getragen, dass wir mehr Gas aus Norwegen bekommen und weiter Gas aus den Niederlanden importieren können, dass unsere westeuropäischen Häfen in der Lage sind, uns mit Gas zu versorgen. Und an der norddeutschen Küste – in Wilhelmshaven, Stade, Brunsbüttel und Lubmin – entstehen und entstanden auch in kürzester Zeit Importmöglichkeiten. Wilhelmshaven – 200 Tage von der Entscheidung bis zur Eröffnung: Das ist das neue Deutschlandtempo und ganz im Sinne Ihrer Rede. Das wollen wir beibehalten. Natürlich gilt das nicht nur für die Fragen, die uns unmittelbar berühren, wenn es darum geht: Wie schaffen wir es, dass wir durch diese ganz konkrete Krise kommen? Und wie schaffen wir es, unsere Energieversorgung ganz plötzlich neu zu organisieren? Sondern das gilt auch im Hinblick auf die Aufgaben, die wir uns für die Zukunft vorgenommen haben. Und da werden wir die Partnerschaft mit Ihnen allen dringend brauchen. Denn das ist ein bisher ungehörtes und nicht gewagtes Projekt. Es ist – das sagt sich so leicht – die größte industrielle Modernisierung Deutschlands wahrscheinlich seit der großen Phase der Industrialisierung und dem Wachsen Deutschlands am Ende des 19. Jahrhunderts. In knapp 22 Jahren wird nicht alles, aber ganz schön viel anders. Wir werden viel mehr Strom produzieren, weil die Wirtschaft elektrifiziert wird. Wir werden von heute 600 Terrawattstunden auf 750 bis zum Ende des Jahrzehnts kommen – also auf die doppelte Menge. Wasserstoff wird in Deutschland produziert und importiert werden. Viele Industrien, viele Unternehmen werden sich auf diese neuen Ausgangsbedingungen umstellen. Und wir müssen dafür sorgen, dass das alles immer in ausreichender Menge und bezahlbar zur Verfügung steht, damit es mit dem wirtschaftlichen Wachstum in Deutschland auch tatsächlich klappt. Aber das ist verbunden mit einem Vertrauen in die Wirtschaft, in den deutschen Mittelstand, in die vielen Unternehmen, in die Fähigkeiten, die unsere Unternehmen haben: dass sie nämlich schon immer in der Lage waren, sich mit Innovation und Forschung auf eine veränderte Lage einzustellen und weltmarktaktiv und wettbewerbsfähig zu bleiben. Es ist verbunden mit dem Vertrauen in unsere Wissenschaft und deren Möglichkeiten und natürlich verbunden mit der Hoffnung, dass Forschung, Innovation und Unternehmertum uns in die Lage versetzen, diesen großen Aufbruch zu schaffen. Ich will aber sagen: Ich bin zuversichtlich, dass uns das gelingt. Dass wir es, wenn wir uns unterhaken, tatsächlich schaffen werden und alle uns das auch zutrauen. Das Vertrauen ist durch die Entscheidung des letzten Jahres und den jetzigen Winter mittlerweile wiederentstanden. Geben wir es doch zu: Im letzten Jahr waren nicht nur einige hierzulande zaghaft, sondern in der Welt haben auch einige gedacht: „Na, das war’s jetzt wohl für längere Zeit. Wie soll denn das gelingen?“ Aber tatsächlich haben wir in dieser kurzen Zeit die Veränderung geschafft. Jetzt sagen Sie alle: „Ja, wenn das einer schafft, dann schon die deutsche Volkwirtschaft.“ Aber daraus sollten wir ein Motiv ableiten, das lautet: Wenn ein Land es schafft, diese große Modernisierung und Transformation hin zu einer CO2-neutralen Zukunft hinzukriegen, dann ist das auch Deutschland. Und wir werden es schaffen in dieser kurzen Zeit und gemeinsam! Ich sage das auch deshalb, weil es ohne Ihre Beratung – der vielen einzelnen Kammern, aber auch der DIHK – nicht gehen wird. Wobei wir uns – wem sage ich das hier; Sie machen das ja eh nicht anders – aber nicht wünschen, dass Sie uns schreiben „Die Welt ist schwer und es muss endlich alles leichter werden.“ Das ist okay, aber wir wünschen uns, dass Sie uns konkret sagen: „Paragraf sowieso, diese Regelung, das muss sich ändern, damit wir das mit den Sachen hinkriegen.“ „Where‘s the beef?“ ist meine Lieblingsfrage auch an vegan lebende Kammerpräsidenten. Und ich möchte deshalb ausdrücklich wissen, wie wir es hinkriegen, diese Dinge auch zu bewältigen. Und was ich Ihnen versichern will: Wir hören hin; wir wollen es ganz genau wissen. Denn wir wissen um die Größe dieser Aufgabe und dass wir das nur mit sehr vielen, sehr konkreten Entscheidungen auch tatsächlich hinbekommen können. Aber ich will Ihnen an dieser Stelle die Zuversicht vermitteln, dass wir uns an die Aufgabe machen, dass wir wissen, wie groß sie ist, und dass Sie deshalb darauf setzen können, dass die Voraussetzungen, die Sie für die vielen unternehmerischen Entscheidungen brauchen, auch tatsächlich gegeben sein werden. Das ist der Grund, warum ich das hier und an vielen Stellen sage. Das ist der Grund, warum ich nach Davos gefahren bin – nicht nur um Fragen zu Panzerlieferungen zu beantworten, sondern auch die Frage: Kann man Deutschland das zutrauen? Und ich hatte aus der Rückmeldung der internationalen Business-Szene den Eindruck: Doch, sie trauen uns das zu. – Lasst es uns gemeinsam schaffen! Eine zweite Frage wird unsere Arbeit in der Zukunft bestimmen, und ich will gerne sagen, dass wir da auch auf die enge Zusammenarbeit mit Ihnen, auch an den vielen Standorten in aller Welt angewiesen sein werden: Das ist die Frage des Fachkräftemangels und wie wir den bewältigen können. Das ist eine große Herausforderung. Wir haben Möglichkeiten hierzulande, zum Beispiel, indem wir viel ausbilden. Das ist unverändert das Wichtigste – ich will das sagen – in Zeiten, in denen viele gern studieren, auch die Töchter und Söhne von Handwerksmeistern. Es ist so, dass die Handwerksausbildung eine große Rolle spielt, dass die berufliche Ausbildung eine große Rolle spielt. Und das duale System spielt eine große Rolle, beruht aber auf einer Voraussetzung, über die nicht wir verfügen können – nämlich immer wieder, jedes Jahr neu auf der Entscheidung von Millionen Unternehmerinnen und Unternehmern, zu sagen: „Ich bilde aus.“ Es pilgern – ja, Sie werden es auch erlebt haben – immer viele nach Deutschland – in meinen vielen Ämtern sind sie auch bei mir angekommen, als ich Arbeitsminister war, als ich Bürgermeister war, als Finanzminister, jetzt als Bundeskanzler – und sagen: „Wir wollen auch so eine duale Ausbildung!“ Da sage ich: Ist okay, aber das könnt ihr nicht machen, indem ihr eure schulischen Berufsausbildungen jetzt nur anders nennt. Das bedeutet, dass auch ihr Millionen Unternehmen überzeugt, dass sie ihren Beitrag zur Berufsausbildung leisten. Deshalb, finde ich, sollten wir, wenn alle uns so sehr dafür bewundern, auch unseren eigenen Beitrag leisten, uns die jungen Leute angucken und sagen: Wir schaffen das gemeinsam und werden diese Ausbildung noch weiter forcieren, damit wir die Nachwuchskräfte für unsere Wirtschaft mobilisieren. Es gibt auch andere Dinge, die wir hierzulande mit Weiterbildung und Qualifizierung bewältigen können – gerade, wo alles jetzt elektrifiziert wird. Das sind große Maßnahmen, die dort stattfinden. Ich habe mit einem Unternehmen gesprochen, das Heizkessel herstellt und jetzt Luft-Wärme-Pumpen. Die haben mir auch ihre Fabrikhalle gezeigt und mir gesagt, wie sich all das ändern wird. Das sind hinterher die gleichen Leute, die dann aber etwas anderes machen werden. Auch das gehört zu den Aufgaben, die wir bewältigen müssen. Und natürlich müssen wir alles dafür tun, dass die Bedingungen für junge Familien, für Familien überhaupt in Deutschland besser werden. Frauen und Männer, die verheiratet sind, zusammenleben und einander lieben und ihre Kinder lieben, wollen als Familie ein gutes Leben führen. Deshalb müssen wir die Bedingungen dafür schaffen, Berufstätigkeit und Familie gut miteinander vereinbaren zu können. Das ist eine gemeinsame Anstrengung, denn gleichzeitig müssen auch die Unternehmen ihren Beitrag dazu leisten. Nichts ist teurer, als wenn man gewissermaßen gegen die Liebe, die die eigenen Beschäftigten haben, anarbeiten muss. Man sollte auf ihrer Seite stehen und ihnen das möglich machen. Und wenn Sie einen Beitrag dazu leisten, für ein familienfreundliches Umfeld zu sorgen, sorgen Sie gleichzeitig für die Zukunft unseres Landes. Schönen Dank dafür! Aber wir werden das hierzulande nicht alleine hinbekommen. Wir brauchen auch Fachkräfte von anderenorts. Die Bedingungen dafür sind sehr gut. Ein bisschen haben wir in den letzten Jahren – sogar Jahrzehnten – ungeplant von Entscheidungen profitiert, die wir alle richtig fanden, deren Auswirkungen aber nicht alle bis zum Ende wirklich mit großer Begeisterung vorhergesehen haben. Denn die Schaffung des Binnenmarktes der Europäischen Union, die Freizügigkeit in der Europäischen Union für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat uns ein Arbeitskräftereservoir von 220 Millionen eröffnet, die in dieser Europäischen Union jeden Tag ohne große Probleme sagen können: „Ich steige in den Zug und arbeite jetzt woanders!“ Das ist ein Teil des Aufschwungs der deutschen Wirtschaft in den letzten Jahren. Und darum haben sich auch alle Statistiker geirrt, als sie uns in den 90er-Jahren und später Vorhersagen über die Zahl der Berufstätigen, die Zahl der Arbeitskräfte, über die Bevölkerungsentwicklung gemacht haben. Entgegen aller Vorhersagen ist die Bevölkerung nicht geschrumpft, sondern gewachsen. Entgegen aller Vorhersagen haben wir die höchste Zahl an Erwerbstätigen, die wir jemals in der Geschichte Deutschlands hatten: 45 Millionen – eine riesige Zahl. Und entgegen mancher Schreckensszenarien, die uns gegenwärtig gezeichnet werden, ist es das Wahrscheinlichste, dass sich das fortsetzen wird. Denn natürlich haben wir fast alles – nicht alles – ausgeschöpft, was uns aus der Europäischen Union möglich ist. Aber wir werden jetzt mit den Gesetzen, die wir machen, dazu beitragen, dass der Fachkräftebedarf der deutschen Wirtschaft gedeckt werden kann, indem wir die modernsten Regeln für Zuwanderung von Fachkräften auf der Welt für uns in Deutschland anstreben. Das ist das, was wir uns vorgenommen haben. Und wir können aufbauen – und das sage ich bewusst immer in Kenntnis aller Probleme – auf einer Tradition und Erfahrung, die uns von vielen anderen Ländern unterscheidet. Deutschland ist nämlich das Land, in dem das schon seit vielen Jahrzehnten immer besser funktioniert. Der Grund ist, dass dies eine Gesellschaft ist, die offen ist für die Möglichkeit, das auch weiter auf diese Art und Weise zu tun. Das werden wir nur mit Ihnen zusammen können, und ich will Ihnen sagen, Sie müssen nicht in Pessimismus verfallen nach dem Motto „Wie sollen wir das alles lösen?“ Wenn wir diese Dinge anpacken, über die ich hier gesprochen habe – Berufsausbildung, bessere Arbeitsbedingungen für junge Familien –, wenn wir dafür Sorge tragen, dass die Fachkräfte, die kommen wollen, eine Perspektive hier in Deutschland haben, und wir das gesetzlich und praktisch gut organisieren, dann wird es klappen. Aber da brauchen wir Sie als Partnerinnen und Partner, die vielen Kammern in Deutschland, die vielen Kammern in aller Welt und natürlich die DIHK. Ich sage ausdrücklich: Dieser Zusammenhalt ist gewünscht. Wir brauchen Sie für unsere gemeinsame Zukunft. In dem Sinne schönen Dank! Schönen Dank für die Tradition, die Sie repräsentieren; auch dafür, dass Sie nicht verzweifelt waren, als plötzlich alles schwierig wurde. Schönen Dank – ich glaube, das kann ich auch im Namen des Kollegen Altmaier sagen – für das Vertrauen, dass wir das schon irgendwie schaukeln werden. Und ich bin froh, dass Sie das Vertrauen in uns und die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gesetzt haben, dass wir eine gesetzliche Grundlage für Ihre Arbeit schaffen werden. Wir haben das gemacht, weil wir wissen, wie wichtig Sie für das Miteinander in Deutschland sind. Diese Bemerkung will ich zum Schluss doch noch machen: Deutschland lebt vom Miteinander – das ist unsere eigentliche Stärke –, von der Kooperation, manche sagen auch vom Korporatismus, von der Sozialpartnerschaft. Unddie traditionsreichen Kammern in Deutschland gehören zu dieser Tradition dazu. Sie haben das Role Model für diese Erfahrung geschaffen. Und deshalb sind wir so froh, dass wir die nächsten 160 Jahre auch noch mit Ihnen zusammenarbeiten dürfen.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des 60. Jahrestages der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages am 22. Januar 2023 in der Sorbonne
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-60-jahrestages-der-unterzeichnung-des-%C3%A9lys%C3%A9e-vertrages-am-22-januar-2023-in-der-sorbonne-2159840
Sun, 22 Jan 2023 00:00:00 +0100
Paris
Sehr geehrte Frau Präsidentin der Assemblée nationale! Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin! Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Emmanuel! Meine Damen und Herren Minister! Verehrte Damen und Herren Abgeordnete! Sehr geehrter Rektor! Meine Damen und Herren! „Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, dass der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird.“ Im Jahr 1950 formulierte Robert Schuman diesen Satz. Er nahm darin das vorweg, was Charles de Gaulle und Konrad Adenauer zwölf Jahre später mit dem Elysée-Vertrag besiegelten: die Überwindung einer über Jahrhunderte währenden Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich, den Beginn einer neuen Epoche der Zusammenarbeit, die über die Jahre zu einer unzertrennlichen Freundschaft heranwuchs, zu geschwisterlicher Zuneigung. Heute sagt sich das so leicht. Doch als der Élysée-Vertrag vor 60 Jahren unterzeichnet wurde, lag der von Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg mit seinen ungeheuerlichen Verheerungen noch keine 20 Jahre zurück. Seine Wunden waren nicht gestillt, geschweige denn verheilt. Wie auch, angesichts der Menschheitsverbrechen? Umso bewegter blicken wir Deutschen auf die menschliche Größe des französischen Volkes, das uns „malgré tout“ – allen berechtigten Zweifeln zum Trotz – die Hand zur Versöhnung gereicht hat. Diese historische Versöhnungsgeste stand am Beginn der europäischen Einigung. Sie steht in ganz besonderer Weise für Frankreichs Rolle als unentbehrliche Nation, als „nation indispensable“, beim Aufbau eines vereinten Europas. Frankreich ist und bleibt das auch heute. Wir Deutschen empfinden dafür tiefe Dankbarkeit. Und daher vor allem anderen: Merci, Monsieur le Président, merci de tout cœur! Merci à vous, nos frères et sœurs français, pour votre amitié! Diese Freundschaft, sie bedeutet uns Deutschen sehr viel. Mehr noch: Aus dem Zugehen Frankreichs auf Deutschland, aus den 60 friedlichen Jahren, die unsere Länder seither erlebt haben, erwächst uns Deutschen eine besondere Verantwortung: die Verantwortung, unsere Gemeinsamkeiten zu stärken und keine Spaltung mehr zuzulassen, die Verantwortung, unser Interesse aneinander wachzuhalten und die Kenntnisse übereinander zu vertiefen: über unsere Kulturen, unsere Literatur, unsere Kunst, unsere Sprachen – so wie Millionen Bürgerinnen und Bürger unserer Länder es tun, die durch Städtepartnerschaften, Jugendaustausch und unzählige menschliche Begegnungen in Freundschaft verbunden sind. Wie eng, das habe ich schon in meiner Zeit als Kulturbevollmächtiger der Länder erlebt, bei vielen Besuchen, übrigens auch hier, an der Sorbonne. Und auch in meiner Heimatstadt Hamburg werde ich daran erinnert, denn das dortige deutsch-französische Gymnasium ist ein Kind aus dieser Zeit. Und nicht zuletzt teilen wir als Deutsche und Franzosen die Verantwortung, unsere Partnerschaft in den Dienst eines friedlichen und vereinten Europas zu stellen. Dabei leitet uns das Vermächtnis derjenigen, die sich über den Gräbern der beiden Weltkriege die Hand gereicht haben: Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, Georges Pompidou und Willy Brandt, Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt, François Mitterrand und Helmut Kohl. Für sie, die den Krieg noch miterlebt haben, lag gerade in diesem Erlebt-Haben der Ansporn, jegliche nationalistische Überhöhung hinter sich zu lassen. Ihr ursprüngliches Friedensprojekt ist heute vollendet – zu unser aller Glück! Denn Krieg zwischen unseren Nationen, Krieg zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist für uns, die in Frieden und Freiheit Geborenen, unvorstellbar geworden. So fremd ist uns diese Vorstellung, dass manch einer schon fürchtet, damit schwinde auch unser Antrieb, Europa weiter voranzubringen. Doch das wäre grundfalsch, es wäre fahrlässig. Die Herausforderungen, vor denen wir Europäerinnen und Europäer stehen, haben sich radikal verändert. Heute geht es nicht mehr darum, einen Krieg im Innern unserer Union zu verhindern und zu vermeiden, sondern darum, unsere europäische Friedensordnung und unsere Werte zu erhalten und zu verteidigen – gegen Fliehkräfte innerhalb unserer Union, vor allem aber gegen Bedrohungen von außen. Das, meine Damen und Herren, ist das europäische Friedensprojekt in der Zeitenwende, die wir erleben. In der deutsch-französischen Freundschaft hat auch dieses neue europäische Friedensprojekt ein sicheres Fundament. Denn unsere Freundschaft steht für ein geeintes Europa und eine Friedensordnung, die auf den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen beruht; für die Achtung der Grundrechte und Freiheiten eines jeden Individuums, festgeschrieben von Ihren Vorgängern, den Abgeordneten der Assemblée nationale, im Revolutionsjahr 1789; für Rousseaus aufklärerischen Gedanken, dass die Souveränität vom Volk ausgeht, und darauf aufbauend für Kants Idee vom Rechtsstaat als Bollwerk gegen alle staatliche Willkür; für den demokratischen Parlamentarismus, der vor 175 Jahren – aus Frankreich kommend – erste, zunächst leider nur allzu zaghafte Wurzeln auch auf deutschem Boden schlug; und nicht zuletzt für die Idee liberaler und solidarischer Gesellschaften, europäischer Gesellschaften eben, die Eigenverantwortung verbinden mit dem Respekt vor jeder Bürgerin und jedem Bürger. Griechen, Spanier und Portugiesen sind über die Jahre zu unserer Gemeinschaft gestoßen, nachdem sie ihre Diktaturen abgeschüttelt hatten, Länder in Nord- und Westeuropa, angezogen von den Errungenschaften des vereinten Europas, und schließlich, nach dem Einreißen des Eisernen Vorhangs, auch die Nationen Mittel- und Osteuropas. Ihr Freiheitswille und ihr Verlangen nach Demokratie hat unsere Union belebt und bereichert. Gemeinsam ist es uns gelungen, das Recht des Stärkeren mit der Stärke des Rechts zurückzudrängen – in der Europäischen Union und auf dem gesamten europäischen Kontinent. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine aber hat diesen kontinentalen Konsens jäh aufgekündigt. Präsident Putin jagt imperialen Zielen nach. Er will Grenzen mit Gewalt verschieben. Die Ukrainerinnen und Ukrainer zahlen dafür einen schrecklichen Preis. Doch Putins Imperialismus wird nicht siegen! Wir sind es, die gemeinsam mit unseren Freunden und Partnern die nächsten Kapitel der europäischen Geschichte schreiben. Und wir lassen nicht zu, dass Europa zurückfällt in eine Zeit, in der Gewalt die Politik ersetzte und unser Kontinent von Hass und nationalen Rivalitäten zerrissen wurde. Dafür stehen nicht zuletzt unsere vor einigen Tagen getroffenen Entscheidungen, der Ukraine Schützenpanzer, Spähpanzer und weitere Flugabwehrbatterien zu liefern, eng abgestimmt untereinander und mit unseren amerikanischen Freunden. Und wir werden die Ukraine weiter unterstützen, so lange und so umfassend wie nötig, gemeinsam als Europäer – zur Verteidigung unseres europäischen Friedensprojekts. Dieser gemeinsame Wille, diese Entschlossenheit ist ein entscheidender Schritt hin zu einem souveränen Europa, so wie du, lieber Emmanuel, es vor gut fünf Jahren an dieser Stelle gefordert und skizziert hast. Dafür bin ich dir sehr dankbar. Heute arbeiten wir Seite an Seite daran, Europas Souveränität zu stärken, indem wir unsere Kräfte dort bündeln, wo die Nationalstaaten allein an Durchsetzungskraft eingebüßt haben: bei der Sicherung unserer Werte in der Welt, beim Schutz unserer Demokratie gegen autoritäre Kräfte, aber auch im Wettbewerb um moderne Technologien, bei der Sicherung von Rohstoffen, bei der Energieversorgung oder in der Raumfahrt. Europäische Souveränität bedeutet gerade nicht, nationale Souveränität aufzugeben oder sie zu ersetzen, sondern, sie zu erhalten und zu stärken in einer sich rasant verändernden Welt. Neue Kraftzentren entstehen. Ganz unterschiedliche Länder und Staatsformen konkurrieren um Macht, Einfluss und Zukunftsperspektiven. Womöglich stehen wir vor einer noch viel größeren Zeitenwende, einer Zeitenwende hin zu einer multipolaren Welt, der wir nicht mit dem Rückzug ins nationale Schneckenhaus begegnen können, in der wir nicht bestehen als ein kleines, verzagtes Europa, das sich nationalen Egoismen hingibt und Gräben aufreißt zwischen Ost und West, Nord und Süd. Valéry Giscard d’Estaing war es, der auf die Frage nach den Grenzen des vereinten Europas einmal sinngemäß gesagt hat: Im Norden und Westen ist der Atlantik eine natürliche Grenze, im Süden das Mittelmeer; im Osten aber sei diese Grenze offen, unbestimmt. Deshalb war es so wichtig, dass wir als Europäische Union im vergangenen Sommer geschlossen gesagt haben: Ja, die Ukraine, Moldau und perspektivisch auch Georgien gehören zu unserer europäischen Familie. Ja, die sechs Westbalkanstaaten gehören dazu – schon lange, wenn wir ehrlich sind. Sie alle haben einen Platz in einer erweiterten Europäischen Union, einer Europäischen Union, die unseren Kontinent zu befrieden vermag und die geopolitisch handlungsfähig ist. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Wie in früheren Erweiterungsrunden auch gilt es, die Handlungsfähigkeit dieser erweiterten Union auch durch institutionelle Reformen abzusichern. Vor allem aber muss eine geopolitische Europäische Union zu einem starken, glaubhaften Akteur auf der Weltbühne heranwachsen – an der Karls-Universität in Prag, dieser mitteleuropäischen Schwester der Sorbonne, habe ich dazu im Sommer einige Vorschläge gemacht -, etwa in der Sicherheitspolitik. Konkret geht es um ein besseres Zusammenspiel unserer Verteidigungsanstrengungen, eine engere Kooperation unserer Rüstungsindustrien und einen koordinierten Aufwuchs europäischer Fähigkeiten. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die kommende Generation europäischer Kampflugzeuge und -panzer gemeinsam entwickeln, in Deutschland und Frankreich, zusammen mit unseren spanischen Freunden. Ebenso bedeutsam ist, dass wir das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell zukunftsfähig machen, und zwar, ohne dabei denjenigen auf den Leim zu gehen, die von De-Globalisierung sprechen oder De-Coupling predigen. Beides sind Rezepte zur Gefährdung unseres Wohlstands, der doch auf Offenheit, freiem Handel, Innovation und fairem Wettbewerb beruht. Und zugleich werden wir nicht länger die Augen davor verschließen, dass wir uns in der Vergangenheit manchmal zu sehr auf einzelne Länder, Lieferanten oder Abnehmer gestützt haben. Das gilt ausdrücklich auch für uns in Deutschland. Die Antwort, die wir als Europäer darauf geben, lautet: Diversifizieren, um so riskante, einseitige Abhängigkeiten zu verringern. Dazu gehört, unsere Rohstoff- und Energieversorgung zu sichern und unsere Handelsbeziehungen global zu stärken – mit Partnern in Nord- und Südamerika, im Indopazifik und in Afrika. Und dazu gehören Investitionen, mit denen wir die Europäische Union zu einem weltweit führenden Standort für Zukunftstechnologien machen und zum ersten klimaneutralen Kontinent der Welt. Auch das, meine Damen und Herren, ist Teil eines souveränen, geopolitischen Europas. Und ich bin froh, lieber Emmanuel, dass wir uns in diesen Zielen einig sind. Denn wie in der Vergangenheit wird es auch in Zukunft auf die Zusammenarbeit unserer beiden Länder ankommen: als Impulsgeber in einem geeinten Europa, als diejenigen, die Differenzen untereinander und zwischen den Ländern Europas überwinden. Und ich habe keinen Zweifel, dass uns das gemeinsam gelingt – auch dank deines unerschütterlichen Bekenntnisses zu Europa, lieber Emmanuel, und dank unserer Freundschaft. Der oft zitierte „deutsch-französische Motor“ läuft nicht nur dann besonders gut, wenn er leise, kaum wahrnehmbar vor sich hinschnurrt, wie das oft der Fall ist; der deutsch-französische Motor ist eine Kompromissmaschine, gut geölt, aber zuweilen eben auch laut und gezeichnet von harter Arbeit. Seinen Antrieb bezieht er nicht aus süßem Schmus und leerer Symbolik, sondern aus unserem festen Willen, Kontroversen und Interessenunterschiede immer wieder in gleichgerichtetes Handeln umzuwandeln, weil wir wissen: Wenn es uns gelingt, Kompromisse zu finden – trotz unserer unterschiedlichen staatlichen und wirtschaftlichen Verfasstheit, trotz der Verschiedenheit unserer politischen Institutionen, trotz ganz unterschiedlicher historischer Erinnerungen, nationalstaatlicher Traditionen und Geografien -, dann entstehen Lösungen, die auch für andere tragfähig sind, und weil wir wissen: Nur mit dem anderen an unserer Seite – als Freund und engstem Partner, als „couple fraternel“ – hat auch unser eigenes Land eine gute Zukunft. In der Pandemie war es eine deutsch-französische Verständigung, die den Grundstein für den europäischen Aufbaufonds gelegt hat. Und auch in der aktuellen Lage stehen wir einander bei: indem Strom aus Deutschland nach Frankreich fließt und umgekehrt Gas aus Frankreich nach Deutschland. So übersetzen wir unsere geschwisterliche Zuneigung in praktische, gelebte Solidarität. Dem dienen die täglichen Abstimmungen zwischen unseren Regierungen; dem dienen die Brüsseler Nachtsitzungen; dem dienen unsere Ministerräte, so wie heute, bei denen es um handfeste Ergebnisse für unsere Bürgerinnen und Bürger geht. Wenn man es recht bedenkt: Gerade in dieser Alltäglichkeit, in dieser uns in Fleisch und Blut übergegangen Selbstverständlichkeit des Deutsch-Französischen liegt doch sein wahrscheinlich außergewöhnlicher, sein einzigartiger Charakter. Nutzen wir unsere unzertrennliche Freundschaft, nutzen wir unsere geschwisterliche Zuneigung, um gemeinsam mit unseren europäischen Partnern die Gegenwart und die Zukunft unseres Kontinents zu gestalten! Es lebe die deutsch-französische Freundschaft – in einem starken, vereinten Europa! Vive l’amitié fraternelle entre nos peuples!
Rede von Bundeskanzler Scholz beim Weltwirtschaftsforum am 18. Januar 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-weltwirtschaftsforum-am-18-januar-2023-2158660
Wed, 18 Jan 2023 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Davos
Sehr geehrter Herr Professor Schwab, lieber Klaus, sehr geehrte Damen und Herren What a difference a year makes! Als ich vor einem Jahr zu Ihnen sprach, da drehten sich unsere Diskussionen um den Weg der Weltwirtschaft aus der Pandemie. Mit einem Boom haben Anfang 2022 viele gerechnet oder zumindest mit kräftigem Rückenwind für die Transformation unserer Volkswirtschaften hin zur Klimaneutralität. Dann kam der 24. Februar. Russland führt seither einen imperialistischen Angriffskrieg, hier bei uns in Europa. Mit furchtbaren Konsequenzen vor allem für die Ukrainerinnen und Ukrainer. Gerade heute starben der ukrainische Innenminister und 15 andere in einem tragischen Helikopter Unfall. Unsere Gedanken sind bei ihren Familien. Aber die Folgen des Kriegs treffen auch uns. Energie kostete zwischenzeitlich so viel wie nie zuvor. Produktionskosten und Verbraucherpreise sind weltweit explodiert. Viele fürchten eine dauerhafte, weltweite Renaissance von Kohle und Öl. Das 1,5 Grad-Ziel wäre dann Makulatur. Unsere Lieferketten müssen mühsam an neue geopolitische Realitäten angepasst werden – Realitäten, die du gestern ein„messy patchwork of powers“ genannt hast, Klaus. Und über alldem hängt das Damoklesschwert einer neuen Fragmentierung der Welt, die Gefahr von De-Globalisierung und De-Coupling. Und doch, meine Damen und Herren, ist all das nur ein Teil der Geschichte des vergangenen Jahres, nur ein Teil der Realität, mit der wir uns hier in Davos beschäftigen. Der andere Teil lautet: Russland ist mit seinen imperialistischen Kriegszielen schon jetzt vollkommen gescheitert. Die Ukraine verteidigt sich mit großem Erfolg und beeindruckendem Mut. Eine breite internationale Allianz – allen voran die G7 – unterstützt sie dabei – finanziell, wirtschaftlich, humanitär und militärisch. Deutschland allein hat im vergangenen Jahr über 12 Milliarden Euro gegeben. Und wir werden die Ukraine weiter unterstützen. Solange wie es nötig ist. Ende Oktober haben wir in Berlin zusammen mit internationalen Expertinnen und Experten einen Marshall-Plan für den langfristigen Wiederaufbau der Ukraine entworfen. Eine Plattform der wichtigsten Geber koordiniert den Prozess und sorgt – in Abstimmung mit der Ukraine – für die Umsetzung. Privates Kapital wird dabei eine zentrale Rolle spielen. Von vielen deutschen Unternehmen weiß ich, dass sie die Chance eines ukrainischen Wirtschaftswunders ergreifen wollen, wenn sich das Land nach Kriegsende aufmacht in die Europäische Union. Doch damit der Krieg endet, muss Russlands Aggression scheitern. Deshalb liefern wir in Abstimmung mit unseren Partnern der Ukraine kontinuierlich Waffen in großem Umfang – darunter Flugabwehrsysteme wie IRIS-T oder Patriot, Artilleriegeschütze und Schützenpanzer. Das ist Teil einer tiefgreifenden Zeitenwende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Und noch etwas gehört zur Geschichte des vergangenen Jahres: Deutschland hat sich innerhalb weniger Monate vollständig unabhängig gemacht von russischem Gas, russischem Öl und russischer Kohle. Wir haben neue Partnerschaften geschlossen – in Asien, Afrika oder Amerika und damit Abhängigkeiten verringert. Und so kann ich sagen: unsere Energieversorgung in diesem Winter ist gesichert – dank gut gefüllter Speicher, dank mehr Energieeffizienz, dank einer bemerkenswerten Solidarität innerhalb Europas und dank der Bereitschaft unserer Unternehmen und von Millionen Bürgerinnen und Bürger, Energie einzusparen. Die Energiepreise sind so zuletzt massiv gesunken. Unsere Entlastungsmaßnahmen für die Bürgerinnen und Bürger und für die Unternehmen wirken. Die Inflation geht langsam zurück – übrigens auch dank den Schritten der Zentralbanken. Die industrielle Produktion in Deutschland ist in den vergangenen Monaten stabil geblieben – trotz aller Widrigkeiten. Die Zahl der Beschäftigten liegt auf Rekordniveau und hat zuletzt weiter zugelegt. Vor allem aber: Die Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft – diese zentrale Zukunftsaufgabe unseres Jahrhunderts – erfährt gerade eine völlig neue Dynamik. Nicht trotz, sondern wegen des russischen Kriegs und des Veränderungsdrucks, der damit für uns Europäerinnen und Europäer einhergeht. Egal ob Wirtschaftslenkerin oder Klimaaktivist, ob Sicherheitspolitiker oder Investorin – inzwischen ist für jede und jeden von uns glasklar erkennbar, dass die Zukunft allein den erneuerbaren Energien gehört. Aus Kostengründen, aus Umweltgründen, aus Sicherheitsgründen und weil sie auf Dauer die bessere Rendite versprechen! Und deshalb: Ja, das zurückliegende Jahr hat Grundlegendes verändert für Deutschland und Europa. Aber auch Deutschland hat sich grundlegend verändert! Wir nehmen die Dekarbonisierung unserer Industrie entschlossen in Angriff. Wir wollen bis 2045 klimaneutral werden – und gleichzeitig ein starkes Industrieland bleiben. Und das vergangene Jahr hat uns – bei allen Schwierigkeiten – gezeigt: Das kann und das wird auch gelingen! In nicht einmal sieben Monaten haben wir in Deutschland eine völlig neue Import-Infrastruktur für Flüssiggas aufgebaut, nutzbar zukünftig auch für Wasserstoff. Erst am Sonnabend habe ich das zweite Flüssiggas-Terminal innerhalb weniger Wochen eingeweiht, in Lubmin, an der Ostsee. Übermorgen legt im Hafen von Brunsbüttel ein Terminal-Schiff an. Und weitere werden folgen. Das ist nicht nur eine gute Nachricht für die Energiesicherheit Deutschlands und unserer europäischen Nachbarn, die wir über diese Terminals mitversorgen. Es zeigt vor allem: Deutschland kann beweglich, kann unbürokratisch, kann schnell sein. Diese neue Deutschland-Geschwindigkeit machen wir zum Maßstab – auch bei der Transformation der Wirtschaft insgesamt. Daran können Ihre Unternehmen uns messen. Der Ausbau von Windkraft, von Solarenergie, von Strom- und Wasserstoffnetzwerken hat jetzt gesetzlichen Vorrang. Allein zwei Prozent unserer Landesfläche werden wir für die Windenergie bereitstellen – und zwar unbürokratisch. Wir haben die Prozesse so verschlankt, dass die Genehmigung für Stromnetze – um nur ein Beispiel zu nennen – jetzt im Schnitt zwei Jahre schneller erfolgen. Und wir werden noch an Tempo zulegen. Auch auf unsere Ausbauziele können Sie sich verlassen. Die Blockaden sind weggefegt. Für 2023 haben wir allein den Umfang der Ausschreibungen für Windparks an Land mehr als verdoppelt. Bis 2030 verdoppelt sich auch der Anteil Erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung – auf 80 Prozent. Zugleich nimmt unser Strombedarf zu: von heute 600 auf 750 Terawattstunden bis zum Ende des Jahrzehnts. Und in den Dreißigerjahren erwarten wir eine nochmalige Verdopplung des Bedarfs. Das ist ein gewaltiger Anstieg. Die Bundesnetzagentur hat deshalb den klaren Auftrag bekommen, unsere Stromnetze jetzt darauf vorzubereiten und auszubauen. Die Fortschritte werden wir regelmäßig überprüfen. Liegen wir unter dem Soll, wird nachgesteuert. Elektrizität allein reicht aber nicht aus für den Industriestandort Deutschland. Ich denke zum Beispiel an die Stahlindustrie. Hier wird Wasserstoff eine entscheidende Rolle spielen. Und das ist längst keine Zukunftsmusik mehr. Thyssenkrupp hat im Herbst den Startschuss gegeben für den Bau einer Direktreduktionsanlage zur Produktion CO2-armen Premiumstahls. Bei einer Produktion von 2,5 Millionen Tonnen spart diese Anlage pro Jahr 3,5 Millionen Tonnen CO2 ein. Hier zeigt sich die Innovationskraft Europas. Europa ist auf Platz eins der Patenanmeldungen für Wasserstoff. Und jede zehnte weltweit stammt aus Deutschland. In Deutschland entstehen gerade die ersten Lieferketten für grünen Wasserstoff. Wir nutzen z. B. Offshore-Wind in der Nordsee für unsere eigene Produktion. Parallel schließen wir weltweit Wasserstoff-Partnerschaften. Solange die Mengen gering und der Preis für Herstellung und Import entsprechend hoch sind, sorgt der Staat für einen lukrativen Preis für die Industrie. Unser Ziel ist nicht weniger als ein Elektrolyse-Boom – und mit den wachsenden Mengen eine wasserstoffgetriebene Industrie, die das Klima schont und die unabhängig ist von den volatilen Preisen für fossile Energie. Denn eines steht außer Frage: Energie muss bezahlbar bleiben – in Deutschland, in Europa und weltweit. In Deutschland haben wir beschlossen, die Strom- und Gaspreise für Bürgerinnen, Bürger und Unternehmen bis 2024 zu deckeln. Rund 2,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nehmen wir dafür jährlich in die Hand, insgesamt bis zu 200 Milliarden Euro. Das ist kraft- und maßvoll zugleich. Das bietet den Unternehmen verlässliche Energiepreise und Planungssicherheit für Investitionen in die Transformation in Deutschland. In der Europäischen Union haben wir uns auf gemeinsame Gasspeicherziele und gemeinsame Gaseinsparziele geeinigt. Wir werden zudem zukünftig häufiger gemeinsam Gas einkaufen und die Einspeicherung besser koordinieren. Und wir nutzen unsere Marktmacht, damit sich die europäischen Preise nicht komplett vom Weltmarkt entkoppeln. Übrigens, wir sind uns auch unserer weltweiten Verantwortung bewusst. Das sage ich ganz ausdrücklich in Richtung unserer Freunde und Partner in Asien, Afrika und in Lateinamerika und der Karibik: Wenn wir Europäer auf dem Weltmarkt Flüssiggas kaufen, dann fehlt dieses in anderen Ländern. Für die rund 120 Milliarden Kubikmeter Gas aus russischen Pipelines, die auf dem Weltmarkt fehlen, werden wir Alternativen brauchen – mehr erneuerbare Energien, natürlich, aber vorübergehend auch zusätzliche Gasvorkommen. Gerade in Schwellenländern droht sonst die Gefahr, dass diese mangels bezahlbaren Gases auf noch klimaschädlichere Kohle umsteigen. Dabei müssen wir neue Lock-ins, neue Pfadabhängigkeiten unbedingt vermeiden. Indem wir bei neuen Projekten von Beginn an Wasserstoff mitdenken und parallel den Ausbau der erneuerbaren Energien forcieren. Kurzfristig gehen damit womöglich etwas höhere Kosten einher. Langfristig aber sparen wir alle, wenn die Folgen des Klimawandels weniger dramatisch ausfallen. Auch in Deutschland verlangt die Umstellung auf eine klimafreundliche Wirtschaft große Anstrengungen. Bis 2030 reden wir über Investitionen von rund 400 Milliarden Euro für den Ausbau Erneuerbarer Energien allein in unserem Land. Investitionen, die übrigens längst stattfinden: Jüngstes Beispiel ist der Milliardenauftrag für Siemens Energy, um einen neuen Offshore-Windpark ans Stromnetz anzuschließen. Und deshalb ist diese Zeitenwende hin zu einer klimafreundlichen Industrie auch nicht das Ende unserer Industrie. Sondern ein neuer Anfang! Immerhin hat das deutsche Wirtschaftsmodell auch vor der Energiekrise, die Russland ausgelöst hat, nicht alleine auf der energieintensiven Massenproduktion von Aluminium, Zement oder Rohstahl beruht. Sondern auch auf forschungs- und technologieintensiven, hochspezialisierten Industrieprodukten, die weltweit gebraucht werden. Übrigens erst recht, wenn die Welt jetzt ihre Industrie auf Klimaneutralität umstellt. Auch schon vor Russlands Angriffskrieg gehörten Deutschlands Energiepreise nicht zu den niedrigsten der Welt. Und dennoch war und ist Deutschland wettbewerbsfähig. Das liegt an tausenden kleineren und mittelständischen Unternehmen im ganzen Land, die hochinnovativ sind und anpassungsfähig – und gerade deshalb oft Weltmarktführer. Das hängt mit hohen staatlichen und privaten Investitionen in Forschung und Entwicklung zusammen, die zum Beispiel dafür gesorgt haben, dass der erste Corona-Test und der erste sichere und wirksame Corona-Impfstoff in Deutschland entwickelt wurden. Erst im Dezember hat ein Team des Helmholtz-Zentrums in Berlin einen neuen Effizienz-Weltrekord bei Solarzellen aufgestellt. Und schon jetzt, wenige Wochen später, bauen unsere Unternehmen Pilotlinien für den Einsatz dieser Tandemzelle auf. Das, meine Damen und Herren, ist und bleibt das deutsche „business model“ – gerade auch auf dem Weg in eine klimaneutrale Zukunft. Wo sonst gibt es ein solch breites Einvernehmen zwischen Unternehmen, Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmern und Politik, dass der Weg in die Klimaneutralität nicht nur ökologisch notwendig ist, sondern unserem Land auch neue Wettbewerbschancen bietet? Bei der Aus- und Weiterbildung von Beschäftigten, zum Beispiel, arbeiten Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften in Deutschland eng zusammen. Und noch in diesem Jahr geben wir unserem Land endlich ein modernes Einwanderungsrecht. Denn um Industrieland zu bleiben, brauchen wir Praktiker mit Erfahrung – qualifizierte Ingenieurinnen, Handwerker, und Maschinenbauer. Wer bei uns mit anpacken will, der ist uns willkommen, so lautet die Botschaft! Wir haben es doch in der Hand, ob die Prognosen eintreten, die uns seit Jahrzehnten eine schrumpfende Bevölkerung voraussagen. Bislang ist es anders gekommen. Deutschland hat heute so viele Einwohner und so viele Erwerbstätige wie nie zuvor. Und genau diese Entwicklung werden wir fortschreiben. Meine Damen und Herren, eine klimaneutrale Zukunft erreichen wir natürlich nicht im Alleingang. Deswegen sind unser Austausch und ein Forum wie Davos auch so wichtig. Was wir in Deutschland tun dient dem Ziel, Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent der Welt zu machen. Auf europäischer Ebene werden wir unsere Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 senken. Das gilt. Wir setzen dabei auf den Markt, auf Wettbewerb und Innovationen. Dafür steht das Emissionshandelssystem der EU. Schon jetzt senken wir so für jeden planbar die zulässigen Emissionsmengen. Und zugleich wirkt dieses System als Innovationsbeschleuniger. Damit aber die Ambitioniertesten nicht bestraft werden, bereiten wir uns auf einen CO2-Grenzausgleich in Europa vor. Zugleich aber bleibt Europa offen für internationalen Handel. Mehr noch: Ich setze mich mit aller Kraft dafür ein, dass den erfolgreich verhandelten Freihandelsabkommen mit Kanada, Korea, Japan, Neuseeland, und Chile bald weitere ambitionierte Freihandelsabkommen folgen werden: mit dem Mercosur, Indien und Indonesien. Auch so schaffen wir ein Level-Playing-Field und verhindern, dass emissionsintensive Industrien in Staaten mit weniger ambitionierten Klimazielen abwandern. Dem dient übrigens auch der internationale Klimaclub, den wir unter deutscher G7-Präsidentschaft beschlossen haben. Mit der Einrichtung eines Sekretariats bei der OECD und der Internationalen Energieagentur ist er ab diesem Jahr offen für neue, ambitionierte Mitglieder. In den USA hat diese Ambition einen Namen: Inflation Reduction Act. Über die kommenden zehn Jahre sind darin rund 370 Milliarden Dollar für Energie und Klimaschutz vorgesehen. Und diese Investitionen begrüße ich ganz ausdrücklich. Auch im deutschen Klima- und Transformationsfonds stehen für die Jahre von 2023 bis 2026 Mittel von fast 180 Milliarden Euro bereit. Regeln zum „local content“ bestimmter Produkte aber dürfen europäische Unternehmen nicht diskriminieren. Protektionismus verhindert Wettbewerb und Innovationen und schadet dem Klimaschutz. Darüber sprechen wir als EU mit unseren amerikanischen Freunden. Und zugleich schauen wir, was wir selbst tun können, um Investitionsbedingungen hier bei uns in Europa noch weiter zu verbessern. Der Chips Act, zum Beispiel, verdanken wir jetzt schon einen Neustart der Chip-Herstellung in Europa. Gerade in Deutschland werden für viele Milliarden mehrere neue Produktionsstandorte geschaffen, die übrigens auf einer existierenden Halbleiterindustrie aufbauen können. Der Chips Act kann auch ein Modell für andere Schlüsseltechnologien sein – besonders im Digital- und Klimabereich. Und die Mittel dafür stehen bereit: Von den über 700 Milliarden Euro des europäischen Aufbaufonds sind erst 20 Prozent ausgezahlt. Seine volle Kraft wird er also noch in den kommenden Jahren entfalten. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, werden wir zudem das europäische Beihilfe-Recht noch agiler und flexibler machen – so wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen es vorgeschlagen und gestern hier noch einmal bekräftigt hat. Damit Investoren von vornherein wissen, mit welcher Unterstützung sie rechnen können – und nicht erst Jahre nach einer Investition. Meine Damen und Herren, das vergangene Jahr hat uns gefordert wie selten zuvor. Und zugleich haben wir Dinge verändert und vorangebracht, wie selten zuvor. Deutschland selbst verändert sich. Und so viel Prognose sei gewagt: Auf dem Jahrestreffen des World Economic Forum 2045 wird mein Nachfolger oder meine Nachfolgerin zu Ihnen sprechen. Sicher. Er oder sie wird Deutschland als einen der ersten klimaneutralen Industriestaaten der Welt präsentieren. Die Energieversorgung Deutschlands und Europas wird dann fast ausschließlich aus grüner Elektrizität, Wärme und Wasserstoff stammen. Auf unseren Straßen und Schienen werden wir uns abgasfrei bewegen. Unsere Gebäude werden energieeffizient sein. Unsere Unternehmen werden klimaneutral produzieren. Und zwar die Technologien, die diese Transformation ermöglicht haben und weiter vorantreiben. Wenn Sie mich also fragen, wie und wo Sie nachhaltig und rentabel in die Zukunft investieren können, dann sage ich Ihnen heute: Don’t look any further! Kommen Sie zu uns, nach Deutschland und nach Europa. Schönen Dank!
in Davos
Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz anlässlich des Empfangs der Sternsinger am 5. Januar 2023
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-olaf-scholz-anlaesslich-des-empfangs-der-sternsinger-am-5-januar-2023-2156616
Thu, 05 Jan 2023 15:29:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Liebe Sternsingerinnen und Sternsinger, danke für das Kommen und danke für eure guten Wünsche für das Bundeskanzleramt und all die Männer und Frauen, die hier arbeiten. Über 300 000 Sternsinger sind unterwegs. Es ist natürlich heute etwas ganz Besonderes, dass wir hier zusammenkommen. Denn ich komme gerade aus Rom zurück, wo wir heute von Papst Benedikt XVI. Abschied genommen haben. Er war eine prägende Figur der katholischen Kirche und ein bedeutender Theologe. Es war sehr berührend, heute zu sehen, wie viel dieser Papst den Gläubigen weltweit bedeutet hat, gerade wenn man auch die große Zahl derjenigen wahrnehmen und sehen konnte, die es bis nach Rom geschafft hatten, um daran teilzunehmen. Papst Benedikt war schon als Kind sehr engagiert in der Kirche, so, wie ihr alle es seid. Die Idee des Sternsingens stammt von Kindern. Im Mittelalter baten als Könige verkleidete Kinder um Spenden, allerdings meistens noch für sich selbst. Ihr Sternsinger heute sammelt Geld für andere Kinder. Ihr macht euch für die Gemeinschaft stark. Das finde ich gut und wichtig. Der Aufruf, Kinder zu stärken und sie zu schützen, könnte nicht aktueller sein. Überall auf der Welt, so, wie ihr es eben auch gesagt habt, erleiden Kinder Gewalt. Kinder sind Krieg und all den Zerstörungen, die damit verbunden sind, ausgesetzt. Jeden Abend sehen wir alle im Fernsehen und verfolgen im Internet die schrecklichen Folgen des Krieges, der jetzt in unserer Nähe, in der Ukraine, stattfindet. Immer wieder sind gerade Kinder die Opfer zum Beispiel von Raketenangriffen. Viele Kinder sind deshalb auf der Flucht, ganz allein. Das alles muss man wissen. Deshalb ist es ganz, ganz wichtig, was ihr tut, und deshalb ist euer Engagement so bedeutend. Natürlich bedrückt es, dass Kinder Gewalt auch an Orten erleben, die ihnen Geborgenheit bieten sollten, manchmal im eigenen Elternhaus oder im Verein ‑ so etwas kommt auch vor ‑ oder in Gemeinden. Deshalb ist es ganz, ganz wichtig, dass das Prinzip von allen sehr stark verstanden wird und alle sagen: Der Schutz von Kindern, das steht vor allem, und darauf kommt es an. ‑ Darauf macht ihr aufmerksam. Das finde ich ganz, ganz wichtig. Ich wünsche euch, dass ihr viele offene Türen und viele Menschen findet, die euch zuhören und die für euren guten Zweck auch spenden. Ich finde auch besonders gut, dass ihr ein Partnerland, um das ihr euch kümmern wollt, gewählt habt, das auch gerade die Welt versammelt hatte. Indonesien war das Land, in dem die 20 wichtigsten Wirtschaftsnationen der Welt in diesem Jahr zusammengekommen sind. Ich war deshalb auch da. Dass ihr dort ganz konkret mit denjenigen, die sich vor Ort einsetzen, zusammenarbeitet, spricht dafür, dass eure Spendensammlung besonders erfolgreich sein sollte. Auch ich will gern eine Spende überreichen.
in Berlin
Rede von Kulturstaatsministerin Roth zur Rückgabe der ersten Benin-Bronzen an Nigeria
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-abuja-2155230
Tue, 20 Dec 2022 00:00:00 +0100
Kulturstaatsministerin
Es ist ein guter Tag, wenn jemand, der lange fehlte, an den Ort zurückkehrt, an den er gehört. Es ist ein Tag der Freude, auch für uns. Wir könnten diese Freude nicht erleben, wäre es kein gemeinsamer Moment, wäre nicht Vertrauen gewachsen zwischen unseren Ländern, der Bundesrepublik Nigeria und der Bundesrepublik Deutschland. Und in diesem Moment, einem historischen Moment, der nicht nur unsere beiden Länder, sondern auch unsere Kontinente miteinander verbindet, beginnt etwas Neues. Eine andere Art von Begegnung, getragen von Respekt füreinander und Interesse aneinander und verbunden mit dem Wunsch, voneinander zu lernen. Wir wollen lernen aus der Auseinandersetzung mit unserer Kolonialgeschichte und wir wollen Verantwortung übernehmen. Doch das wird uns nicht allein gelingen. Wer verstehen will, welche Verantwortung uns aus dieser gemeinsamen Geschichte erwächst, findet sie in keinem Geschichtsbuch, er findet sie nur im Gespräch, im Austausch, in der Verständigung mit unseren afrikanischen Partnern und in der Empathie füreinander. Im Nachempfinden des Schmerzes, der Trauer und der offenen Wunden. Und jeder, der gestern dabei war, konnte das spüren. Nur so wird unsere koloniale Vergangenheit Teil unserer Erinnerungskultur und das Erinnern an vergangenes Unrecht eine Verpflichtung für eine gerechtere Gegenwart. In einem ersten konkreten Schritt ist uns das gemeinsam gelungen, mit der Rückgabe der Benin-Bronzen an die Bundesrepublik Nigeria. Sie soll die Geschichte des Raubes und des Kolonialismus nicht vergessen machen. Sie soll auch unsere Scham nicht verschleiern, die Scham darüber, dass Nigerias Wunsch nach einer Rückgabe jahrzehntelang ignoriert oder zurückgewiesen wurde. Zu lange haben wir die Augen verschlossen vor dem Unrecht, das mit diesen Bronzen verbunden blieb, die so lange in unseren Museen gezeigt wurden oder in Depots lagerten. Mit der Rückgabe der Bronzen wollen wir etwas zeigen. Wir sind davon überzeugt, dass alle Menschen das Recht haben, ihrem Kulturerbe zu begegnen, wo es entstanden ist, in ihrer Heimat, denn ein Erbe wird immer weitergegeben, auch an zukünftige Generationen. Dieses Erbe ist ein Teil Ihrer kulturellen Identität, der Ihnen 125 Jahre verwehrt blieb. Und hier, in Nigeria, können und werden die Erben den Benin-Bronzen begegnen. Ich bin mir sicher, es werden wunderbare Begegnungen sein. Die Voraussetzung für diesen Moment war die Gemeinsame Erklärung vom 1. Juli diesen Jahres. Dafür möchte ich unseren nigerianischen Kooperations- und Verhandlungspartnern herzlich danken. Danken möchte ich auch den fünf deutschen Museen der Benin Dialogue Group, die Rückgabevereinbarungen mit der nigerianischen Seite unterzeichnet haben. Allen voran, Frau Professor Barbara Plankensteiner, bin ich dankbar für Ihre so wichtige Vorarbeit, die seit 2010 geleistet wurde und diesen historischen Moment möglich gemacht hat. Und ich danke allen weiteren beteiligten Museen und deren Trägern, dass Sie sich diesem Prozess angeschlossen haben. Heute werden 20 Benin-Bronzen der deutschen Museen der Benin Dialogue Group zurückgegeben. Sie sind aber nur der Auftakt für die jetzt beginnenden Rückgaben und stehen stellvertretend für alle weiteren beteiligten deutschen Museen. Bald werden mehr dieser wunderbaren Bronzen wieder in ihre Heimat zurückkehren. Sie werden dahin zurückkehren, wohin sie gehören. Und das macht mich wirklich sehr glücklich. Und ich bin glücklich, dass in Abstimmung mit der nigerianischen Seite auch künftig Benin-Bronzen als Leihgaben in deutschen Museen gezeigt werden können. Wir danken der Bundesrepublik Nigeria für dieses Zeichen des Vertrauens. Wir werden uns dessen würdig erweisen. Und gemeinsam mit Ihnen care-taker sein für diese Kulturgüter von universeller Geltung und Bedeutung. Was heute beginnt, ist kein Schlussstrich, es ist ein Beginn. Der Beginn künftiger Kooperationen und eines stärkeren Kulturaustauschs. Es beginnt eine neue, eine gemeinsame Zukunft. Es ist ein Wendepunkt in der internationalen Kulturpolitik. Dazu wollen wir die deutsche und nigerianische Zusammenarbeit bei Museen, Ausstellungen, Gegenwartskunst und Archäologie vertiefen, den Aufbau des cultural districts in Edo State unterstützen und das joint learning stärken, für das exemplarisch das MuseumsLab steht. Wir wollen junge Menschen zusammenbringen, die dieselben Träume und Wünsche teilen, die diese eine Welt miteinander teilen und den Herausforderungen der Zukunft gemeinsam begegnen müssen. Wenn es uns gelingt, diesen Weg weiterzugehen, dann bin ich überzeugt, er wird uns in eine gemeinsame Zukunft führen, eine gemeinsame Zukunft Deutschlands und Nigerias und unserer beiden Kontinente – Europa und Afrika. Der heutige Tag ist ein wirklich guter Tag. Ich werde, wir werden ihn nie vergessen. Und wie Ihr Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka sagte: Wir werden diese Freundschaft sehr, sehr ernst nehmen.
„Zu lange haben wir die Augen verschlossen vor dem Unrecht, das mit diesen Bronzen verbunden blieb“, sagte die Kulturstaatsministerin Roth bei der Übergabe der Bronzen in Abuja. „Wir wollen lernen aus der Auseinandersetzung mit unserer Kolonialgeschichte und wir wollen Verantwortung übernehmen.“
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Chanukka-Feierstunde in der Heinz-Galinski-Schule in Berlin am 19. Dezember 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-chanukka-feierstunde-in-der-heinz-galinski-schule-in-berlin-am-19-dezember-2022-in-berlin-2154580
Mon, 19 Dec 2022 00:00:00 +0100
Berlin
Liebe Kinder, liebe Schülerinnen und Schüler, sehr geehrter Herr Dr. Schuster, sehr geehrter Herr Dr. Joffe, sehr geehrte Frau Dr. Zboralski-Avidan, vielen Dank für den freundlichen Empfang! Ich weiß von den Lehrerinnen und Lehrern, dass Ihr lange geprobt habt ‑ wir haben es eben ja auch gehört ‑, damit alles perfekt klappt, und dass der eine oder die andere von Euch auch ein kleines bisschen aufgeregt vor dem Feiertag war. Aber trotzdem kann man ja klar sagen: Das hat gut geklappt bisher. Ich freue mich deshalb, dass ich das Fest heute gemeinsam mit Euch feiern kann. Das ist mein erstes Chanukka, das ich mit Schülerinnen und Schülern zusammen feiere. Und deshalb ist das heute auch für mich ein ganz, ganz besonderer Tag. Genau wie Ihr kenne ich natürlich die Geschichte von den Makkabäern, dem Tempel in Jerusalem und dem Öl für die Menora, das auf wundersame Weise nicht einen, sondern acht Tage gereicht hat. Ein großes Wunder geschah damals, vor fast 2200 Jahren. So heißt es in dem Lied, das eben gesungen wurde. Daran erinnert auch das typische Spiel mit dem Dreidel, das jetzt in vielen jüdischen Familien gespielt wird. Die Chanukka-Tradition ist aber noch in anderer Hinsicht wunderbar, denn die Kerzen, die dabei entzündet werden ‑ auch davon wurde ja eben gesungen ‑ bringen Licht in die Dunkelheit, genau wie auch die vielen Kerzen an den Adventskränzen und Weihnachtsbäumen, die in diesen Tagen überall in unserem Land leuchten. Gerade jetzt im Winter hat das eine große Bedeutung: Die Tage sind kurz, morgens wird es erst spät hell. Abends geht die Sonne dafür umso früher unter. Aber jetzt wird das wieder anders: Schon bald werden die Tage länger und das Licht kommt zurück. Es gibt noch einen Grund, warum das Lichterfest hier an Eurer Schule so wunderbar ist: Es zeigt, dass wir heute in Deutschland wieder ein blühendes jüdisches Leben feiern. Das ist ein großes Wunder und ein Geschenk, wenn man bedenkt, wie unvorstellbar großes Leid Deutsche über das jüdische Volk gebracht haben. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist mittlerweile die drittgrößte in Europa. In diesem Jahr sind zudem viele jüdische Familien zu uns gekommen, die vor dem schrecklichen Krieg in der Ukraine fliehen und bei uns Schutz suchen mussten. Die jüdische Gemeinschaft hat sie dabei sehr unterstützt, gerade auch hier in Berlin. Dafür möchte ich mich bedanken ‑ vor allem beim Zentralrat der Juden in Deutschland, bei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, bei den jüdischen Sozialverbänden und bei den Vielen, die sich privat und ehrenamtlich engagiert haben. Dazu gehört auch Eure Schule, die hier eine Willkommensklasse für Eure ukrainischen Mitschülerinnen und Mitschüler eingerichtet hat und alles dafür tut, dass sie sich hier auch wirklich willkommen fühlen. Herzlichen Dank dafür an die Schulleitung, an alle Lehrerinnen und Lehrer, an die Eltern und die Verantwortlichen! Und natürlich auch vielen Dank an Euch alle, liebe Schülerinnen und Schüler! Auch Ihr habt Eure Mitschüler aus der Ukraine schnell aufgenommen, spielt gemeinsam auf dem Pausenhof Fußball oder tauscht Karten. So freundet man sich schnell an und so lernt man voneinander. Ich habe mir sagen lassen, diese Schule sei wie eine große Familie. Heute an Chanukka ist das besonders wichtig. Denn dieses Fest feiert man am allerbesten mit der Familie und auch mit Freunden. Und so ist eine weitere Botschaft des heutigen Tages, dass man sehr viel schaffen kann, wenn man es gemeinsam anpackt. Ich freue mich, dass wir gleich die erste Kerze gemeinsam entzünden. Und ich wünsche Euch und Ihnen allen ein schönes Lichterfest. Chanukka sameach!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Eröffnung des LNG-Terminals am 17. Dezember 2022 in Wilhelmshaven
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-eroeffnung-des-lng-terminals-am-17-dezember-2022-in-wilhelmshaven-2154356
Sat, 17 Dec 2022 00:00:00 +0100
Wilhelmshaven
Moin auch von meiner Seite aus! Die vielen Begrüßungen spare ich mir. Alle wurden schon genannt. Insofern freue ich mich, dass alle da sind. Meine Damen und Herren, der 17. Dezember 2022 ist ein wirklich guter Tag für unser Land. Denn mit dem heutigen Tag wird Deutschland und wird auch die Europäische Union ein großes Stück sicherer und unabhängiger. Das ist die erste Botschaft, die heute hier von Wilhelmshaven ausgeht. Russlands Präsident Putin hat geglaubt, er könne uns erpressen, indem er uns die Gaslieferungen abdreht. Aber er hat sich getäuscht. Wir lassen uns nicht erpressen. Die Höegh Esperanza alleine bringt so viel Gas mit, dass 50 000 Haushalte ein Jahr lang mit Gas versorgt werden können. Viele weitere Schiffe können von nun an hier in Wilhelmshaven anlegen und viele weitere hunderttausende Haushalte und Unternehmen mit Gas versorgen. Dabei schauen wir nicht nur auf uns. Wir übernehmen auch Verantwortung für unsere europäischen Nachbarn, die keine Küsten haben, deren Wirtschaft aber auf das Engste mit unserer verbunden ist. Dieses Flüssiggasterminal ist somit auch ein Symbol europäischer Solidarität – Solidarität, von der auch unser Land profitiert, etwa wenn es um die Einsparungen beim Gasverbrauch geht, auf die alle europäischen Staaten sich verpflichtet haben. Wilhelmshaven ist dabei erst der Anfang. Schon in den kommenden Wochen und Monaten folgen weitere Terminals an der deutschen Nord- und Ostseeküste – in Lubmin, in Brunsbüttel und in Stade. Ende nächsten Jahres werden wir so voraussichtlich über eine Importkapazität von über 30 Milliarden Kubikmeter Gas verfügen, allein über die norddeutschen Küsten. Das alles entspricht weit mehr als der Hälfte der gesamten Gasmenge, die im letzten Jahr durch die Pipelines aus Russland nach Deutschland geflossen ist. Hinzu kommen noch Lieferungen von Norwegen, die die Hälfte unserer Gasversorgung gewährleisten und auch ihre Produktionskapazitäten und Lieferungen erhöht haben, den Niederlanden direkt, aber eben auch über die Importinfrastruktur, die in den niederländischen, belgischen und französischen Häfen existiert. In einem bestimmten Zeitraum gibt es auch zusätzliche Lieferungen aus Großbritannien über die Verbindung, die mit den dortigen Häfen existiert. Was uns aber auch noch hilft: Hinzu kommt eine entschlossene Energiewende, mit der wir unsere Energieversorgung auf neue und sichere Füße stellen. Über 40 Gesetze und Verordnungen waren es allein im Energiebereich, mit denen wir den Preisanstieg begrenzt, die Planungen beschleunigt, Ausbauziele erhöht, Netzentgelte gesenkt, die nötige Finanzierung gesichert und neue Mindesteinspeichermengen für unsere Speicher festgelegt haben. Nicht zuletzt deshalb liegen die Reserven in unseren Gasspeichern heute auf dem höchsten Stand seit Jahren. Dass wir heute sagen können, die Energieversorgung unseres Landes ist in diesem Winter wohl gesichert, das ist auch Euer Verdienst, lieber Robert Habeck, lieber Christian Lindner. Wir haben hier als ganze Regierung an einem Strang gezogen, zusammen mit den Ländern und mit den Gemeinden in Deutschland, die hier Verantwortung haben. Schönen Dank für diese Zusammenarbeit! Zugleich war dieses Projekt eines energiesicheren Deutschlands von Beginn an eine außergewöhnliche Teamleistung. Das gilt mit Blick auf Uniper, wo das Management bereits zugesagt hat, das Terminal bis 2024 voll auszulasten und entsprechende Mengen an Flüssiggas auf dem Weltmarkt zu beschaffen. Hier möchte ich auch stellvertretend begrüßen: Herrn Generalkonsul Chue, Frau Botschafterin Al Mahrouqi, Herrn Botschafter Alattar und Herrn Botschafter Abubakar. Künftig wird auch Gas aus Ihren Ländern und zahlreichen anderen Deutschland ein Stück sicherer und unabhängiger machen. Mein weiterer Dank gilt den beteiligten Behörden, von den Ministerien auf Bundes- und Landesebene über die Bundesnetzagentur bis zu den Kommunen. In unzähligen Nacht- und Wochenendschichten haben die Kolleginnen und Kollegen gezeigt, wozu unser Land imstande ist – übrigens nicht trotz, sondern gerade wegen seiner föderalen Struktur und einer Kultur enger Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Mein besonderer Dank gilt dem Land Niedersachsen, den Niedersachsen Ports und ihren vielen Kooperationspartnern wie der Reederei Höegh und Vynova, die den Anleger hier betreiben und damit das Bindeglied zwischen Schiff und Leitung errichtet haben. Und schließlich danke ich der OGE, die für den Anschluss des Flüssiggasterminals an das deutsche und europäische Gasnetz gesorgt hat. 26 Kilometer Leitung in nur fünf Monaten, nicht einmal 200 Tage von der Planung bis zur Inbetriebnahme eines neuen Flüssiggasterminals: Das ist neuer Weltrekord! Aber das ist auch die Deutschland-Geschwindigkeit, die wir jetzt immer an den Tag legen wollen. Und deshalb lautet die zweite ganz wichtige Botschaft dieses Tages: Es geht. Unser Land kann Aufbruch und Tempo. Natürlich war und ist der russische Angriffskrieg auf die Ukraine eine bleibende, tiefe Zäsur – für unsere Sicherheit, für unsere Energieversorgung, für unsere Politik und unsere Wirtschaft. Aber so furchtbar dieser Krieg ist und so schnell beendet er gehört: Er wirkt auch als Katalysator, als Beschleuniger bei all dem, was ohnehin getan werden musste. Wir haben uns vorgenommen, bis 2045 vollständig aus den fossilen Brennstoffen auszusteigen, weil Energie auf Dauer nur durch den Ausbau der erneuerbaren Energien sicher und bezahlbar bleibt. Russlands Krieg und der Einsatz von Energie als Waffe ist da lediglich ein zusätzliches Argument, ein weiterer Ansporn, noch schneller, noch entschlossener, noch nachdrücklicher in den Ausbau erneuerbarer Energien zu investieren. Auch deshalb ist es so wichtig, dass die neue Leitung hierher nach Wilhelmshaven gleich so geplant und gebaut wurde, dass sie für den Transport von Wasserstoff umgerüstet werden kann. Wir denken eben bereits heute an die Zukunft unseres Industriestandorts. Diese Zukunft wird künftig auch hier in Wilhelmshaven gemacht – und in Lubmin, in Stade und Brunsbüttel. Sie wird überall dort gemacht, wo unsere Unternehmen umrüsten auf neue, klimafreundliche Produktionsweisen. Diese Zukunft entsteht mit jedem neuen Windrad, jeder Photovoltaikanlage, jeder Übertragungsleitung, jedem Elektrolyseur, jeder Wärmepumpe, die von unseren Ingenieurinnen, Ingenieuren und Handwerkern überall im Land gebaut und installiert werden. Wenn ich im Ausland unterwegs bin, dann begegnet mir dort oft zweierlei: einerseits Verwunderung und manchmal fast Ungläubigkeit darüber, wie schnell wir in den vergangenen Monaten umgesteuert und unsere Energieversorgung unabhängig von Russland gemacht haben. Und – das sollte man nicht unterschätzen – da waren sich viele ganz sicher, dass es nicht gelingen würde. Umso beeindruckter sind sie, dass es nun so kommt. Und zum anderen die Aussage: „Wer, wenn nicht Ihr sollte das schaffen mit dem Umbau eines Industrielandes hin zur Klimaneutralität? Wer, wenn nicht Ihr, mit Eurem Mittelstand, Eurem Maschinenbau, Eurer starken chemischen und elektronischen Industrie, Euren unzähligen „hidden champions“, verteilt im ganzen Land?“ Darin schwingt viel Zutrauen und auch viel Zuversicht in unser Land mit. Dass diese Zuversicht nicht unbegründet ist, auch das zeigt der heutige 17. Dezember hier in Wilhelmshaven. Und deshalb: Ja, es geht, meine Damen und Herren. Sicherheit, Unabhängigkeit, Schnelligkeit, Aufbruch: Unser Land kriegt das hin, wenn wir auch weiter gemeinsam anpacken, hier in Wilhelmshaven und im ganzen Land. Schönen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Roth anlässlich der Gedenkveranstaltung für die Opfer des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-roth-anlaesslich-der-gedenkveranstaltung-fuer-die-opfer-des-ns-voelkermordes-an-den-sinti-und-roma-2154228
Thu, 15 Dec 2022 11:00:00 +0100
Im Wortlaut
KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen
Kulturstaatsministerin
Kultur
– Es gilt das gesprochene Wort.- Einen langen Schatten nennen Sie, lieber Romani Rose, Auschwitz. Dieser „lange Schatten von Auschwitz“ prägt viele Sinti und Roma Familien bis heute. Sie kennen das Datum, an das wir heute erinnern, den 16. Dezember 1942, der Tag, an dem Heinrich Himmler, Reichsführer und Rassen-Ideologe, den Auschwitzerlass unterschrieb. Eine Unterschrift, die das pedantische Sortieren und Kategorisieren von Menschen und Merkmalen seinem Ziel entgegenführte: dem hunderttausendfachen Mord an Sinti und Roma. Dem Erlass folgten Richtlinien und Ausführungsbestimmungen, dann Listen. Alles sorgfältig vorbereitet, so kleinkrämerisch wie kaltblütig. Eine hocheffiziente Bürokratie wird zur Mordmaschine. Allein hier im KZ Sachsenhausen waren mehr als 1.000 Sinti und Roma inhaftiert. Und wir wissen: Es endete in einem Völkermord an den Sinti und Roma. Er hinterließ eine unermessliche Zahl an Opfern, Ermordeten und traumatisierten Überlebenden. Die ganze Perversion dieser mörderischen Bürokratie, sie wird für uns heute vor allem fassbar in den Berichten der Menschen, die überlebt haben, die mit ihren Erinnerungen leben mussten und über ihre Erfahrungen gesprochen haben − wie Zilli Schmidt, die wir vermissen, wie Mano Höllenreiner, wie Philomena Franz. Zillis ganze Familie wurde nach dem Erlass nach Auschwitz deportiert. Am 2. August 1944 wurden ihre Eltern, ihre Schwester mit Kindern und auch ihre Tochter Gretel in der Gaskammer ermordet. Gretel war vier Jahre alt. Zilli schrieb über diese unvorstellbare Monstrosität des Geschehenen in ihren Erinnerungen: „Damit soll man fertig werden, kann man doch gar nicht. (…). Ich kann sie nicht vergessen. Gretel. Und wenn ich jetzt an sie denke, dann sind da die wenigen Jahre, vor allem die Monate in Auschwitz, die ich mit ihr zusammen war, mit ihr gelebt habe.“ Zilli Schmidt stellt sich die Frage, wie ihre Tochter in der Gaskammer umgekommen ist: „Wie ist sie dahin gekommen? An der Hand meines Vaters? Hatte er sie auf dem Arm? … Ach, ich kann diese Fragen nicht aushalten und nicht loslassen.“ Niemand kann diese Fragen aushalten. Wir alle können es nicht. Es war ein lebenslanger, ein chronischer Schmerz, an dem Zilli Schmidt litt. Wer wollte ihr sagen: Vergiss! Vergiss Deine Tochter, Deine Eltern, die Schwester! Steh auf, geh‘ und lebe Dein Leben? Die das wollen, die Vergessen verlangen, mangelt es nicht nur an Empathie, sie leugnen oder relativieren die nationalsozialistischen Verbrechen. Wer Vergessen fordert, stellt sich an die Seite der Täter. Ich verspreche: Wir werden nicht vergessen. Ich verspreche: wir werden nicht verdrängen und wir nicht leugnen, dass uns die Geschichten von Zilli Schmidt, Mano Höllenreiner, Philomena Franz und allen den anderen Opfern, eine Verantwortung aufgeben, die nicht vergeht. Wir nehmen diese große Verantwortung an. Es muss deutlicher, sichtbarer werden, in welchem Ausmaß Sinti und Roma Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wurden. Viel zu lang wurden sie als Opfergruppe kaum wahrgenommen. Sie müssen endlich einen festen Platz in unserer Erinnerungskultur und -politik haben. Seit 600 Jahren leben Sinti und Roma unter uns, sie gehören zu uns, sind ein Teil unserer vielfältigen Gesellschaft, eines „Wir alle“. Sie bereichern uns und unsere Kultur. Und dennoch gab und gibt es, auch heute noch: Vorurteile, üble Nachrede, Abgrenzung und Ausgrenzung, nichts davon war je wirklich verschwunden. 80 Jahre nach dem Völkermord der Nazis ist der Weg, der nach Auschwitz führte, noch immer begehbar. Seine Wegmarken heißen Rassismus und Antiziganismus. Das ist der lange Schatten, von dem Romani Rose spricht. Und es ist im höchsten Maß alarmierend, wenn Studien uns sagen, dass knapp ein Drittel der Bevölkerung rassistische Vorurteile gegen Sinti und Roma hat. Ja, wir brauchen mehr Miteinander, brauchen mehr kulturelle und politische Bildung, mehr Aufklärung und mehr Begegnungen mit Sinti und Roma. Vor allem anderen geht es um Anerkennung, um Teilhabe und Gleichberechtigung. Und es ist unsere Aufgabe, die Aufgabe von Akteur*innen der Zivilgesellschaft und engagierten Vertreter*innen der Länder und Kommunen alle Voraussetzungen für eine umfassende Gleichberechtigung von Sinti und Roma zu schaffen. Es liegt an uns, die Stimmen der Zeitzeugen, die nach und nach weniger werden, weiterzutragen. Zeitzeugen wie Zilli Schmidt, die bis zu ihrem Tod mit unglaublicher Energie das Gespräch mit jungen Menschen gesucht und sie darin bestärkt hat, sich gegen Hass und Ausgrenzung stark zu machen. In ihren Erinnerungen schrieb Zilli Schmidt: „Ich habe einen Auftrag. Solange ich noch hier bin, erzähle ich meine Geschichte und vergesse es auch nicht. Ich vergesse es nicht und erzähle meine Geschichte, bis ich meine Augen zumache und bin bei meinem Herrn.“ Jetzt ist es an uns, ihre Geschichte weiterzutragen und dafür zu sorgen, dass daraus gelernt wird; dass nicht vergessen wird. Zilli, ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, in diesem, in Deinem Sinne zu wirken.
Am 80. Jahrestag des „Auschwitz-Erlasses“ gedachte Kulturstaatsministerin Roth der von den Nationalsozialisten ermordeten Sinti und Roma. Viel zu lange seien sie als Opfergruppe kaum wahrgenommen worden. „Sie müssen endlich einen festen Platz in unserer Erinnerungskultur und -politik haben“, so Roth.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Festakts „70 Jahre Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft“ am 12. Dezember 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-festakts-70-jahre-ost-ausschuss-der-deutschen-wirtschaft-am-12-dezember-2022-in-berlin-2153334
Mon, 12 Dec 2022 00:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Dr. Engels, meine Damen und Herren! Ost, das ist ein kurzes Wort, aber ein sehr weiter Raum. Als Ihre Gründungsmitglieder 1952 den Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft ins Leben riefen, da meinten sie damit ein Gebiet östlich der Elbe. Das schloss China ein, gelegentlich Vietnam, die Mongolei ebenso wie Jugoslawien. Ost bedeutet aber auch Systeme mit sehr anderen Herangehensweisen als im Westen – Sie haben eben davon gesprochen. Hier Demokratie und Marktwirtschaft, dort Diktatur und Planwirtschaft. Die junge Bundesrepublik musste sich in dieser Zeit des Umbruchs neu positionieren. Dabei wurde der Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft bald zum wichtigsten Partner der Politik. Er beriet, baute Brücken, vermittelte, suchte das Gespräch auch da, wo die Politik zunächst noch schweigen musste – oder wollte. Das war eine herausfordernde Zeit. Aber für herausfordernde Zeiten ist der Ost-Ausschuss eben Experte. Immer wieder mussten Sie sich zu den Umbrüchen der Region neu positionieren – in der Zeit der deutschen Teilung, die auch die Zeit des Kalten Krieges war, in der Wendezeit, als der Eiserne Vorhang fiel, zur Zeit des Kriegs auf dem Balkan. Gegenwärtig erleben wir eine Zeitenwende. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine bedeutet, dass es ein „Weiter so!“ nicht geben kann. Damit muss sich auch und gerade der Ost-Ausschuss von alten Gewohnheiten verabschieden – und das tun Sie. Auch Sie orientieren sich neu. Ihren eigenen Überlegungen kann und will ich dabei nicht vorgreifen. Aber natürlich wünsche ich mir eine deutsche Wirtschaft – oder genauer: eine deutsche Außenwirtschaft -, die auch in dieser grundlegend veränderten Lage dazu beiträgt, unser Land unabhängiger und stärker zu machen. Lassen Sie mich deshalb meine Überlegungen mit Ihnen teilen. Sechs Botschaften will ich formulieren. Die erste Botschaft: Das Gebot der Stunde heißt Diversifizierung. Meine Damen und Herren, manche glauben, der Welt stünden neue Bipolaritäten und ein neuer Kalter Krieg bevor. Ich glaube das nicht. Ich bin überzeugt: Die Welt des 21. Jahrhunderts wird nicht wieder in wenige Machtzentren zerfallen, schon gar nicht in zwei. Wir werden multipolar sein, mit vielen verschiedenen Kraft- und Machtzentren. Für Deutschland bedeutet das, dass wir uns breiter aufstellen müssen, aber auch breiter aufstellen können, denn die Welt ist voller potenzieller neuer Partnerländer. Dazu gehören viele aufstrebende Volkwirtschaften, die manche von uns zu Unrecht immer noch Schwellenländer nennen, die aber längst zu selbstbewussten und ehrgeizigen Akteuren auf der Weltbühne geworden sind. Wir profitieren vom Handel mit ihnen, aber wir konkurrieren auch mit ihnen: um Rohstoffe, um Energie und Technologien. Das erhöht weltweit die Nachfrage und sorgt für steigende Preise. Die Folgen dieser Entwicklung müssen wir und unsere Unternehmen im wahrsten Sinne des Wortes „einpreisen“. Aber indem wir neue Partnerschaften eingehen, werden wir zugleich resilienter. Die Diversifizierung unserer Handelsbeziehungen verschafft uns widerstandsfähigere Lieferketten. So verringern wir zugleich riskante einseitige Abhängigkeiten in Bezug auf bestimmte Rohstoffe oder kritische Technologien. Damit ist Diversifizierung nicht nur eine betriebs- und volkwirtschaftliche Notwendigkeit, sie ist zugleich ein sicherheitspolitisches Gebot. Deshalb wird dieses Thema auch eine wichtige Rolle bei unserer Nationalen Sicherheitsstrategie spielen, an der wir derzeit arbeiten. Meine zweite Botschaft lautet: Klimaneutralität ist unsere große Chance. Wir sind entschlossen, bis 2045 als erstes großes Industrieland klimaneutral zu werden und schon 2030 80 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien zu beziehen. In puncto Mobilität und grüne Technologien, beim Maschinenbau und der Chemie- und Elektroindustrie liegen deutsche Unternehmen weltweit vorn. Damit haben wir allerbeste Chancen, bei uns in Deutschland genau diejenigen Technologien zu entwickeln, die weltweit die Transformation vorantreiben. Die aktuelle politische Lage bestärkt uns darin, noch schneller, noch entschlossener, noch innovativer zu sein beim Ausbau der erneuerbaren Energien. So werden wir unabhängig von fossilen Brennstoffen und einseitigen Abhängigkeiten. Was alles möglich ist, hat dieses Jahr gezeigt. Wer hätte vor zwölf Monaten gedacht, dass uns Russland den Gashahn abdreht und wir dennoch sagen können, wir kommen wohl durch diesen Winter? – Meine Damen und Herren, um diese Transformation mutig und schnell voranzubringen, sind Leute gefragt, die über das Bestehende hinausdenken. Das bringt mich zu meiner dritten Botschaft: Pioniergeist zahlt sich weiterhin aus. Der Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft ist ein Pionier. Er war die erste Regionalinitiative der deutschen Wirtschaft überhaupt. Seit dem Zerfall der Sowjetunion hat die Region, auf die sich der Ost-Ausschuss konzentriert, einen enormen Aufschwung genommen. Heute beträgt der deutsche Osthandel insgesamt rund ein Fünftel des gesamten Außenhandels, mehr als der Handel mit den USA und China zusammen. Wichtigster Partner in Osteuropa ist derzeit mit weitem Abstand Polen, darauf folgt Tschechien. Erhebliche Perspektiven bieten da aber auch die Länder des westlichen Balkans mit ihren insgesamt 18 Millionen Einwohnern. Davon habe ich mich gerade erst letzte Woche beim EU-Westbalkan-Gipfel in Tirana überzeugt. Gerade, was den Umstieg auf erneuerbare Energien angeht, besteht in vielen ihrer Partnerländer großes Potenzial, einige sind ja auch hier versammelt. Deswegen ist ihre Kontaktstelle Green Deal eine besonders gute Idee. Sie kommt unserer eigenen Transformation hin zu erneuerbaren Energien zugute und erschließt zugleich Marktchancen für deutsche Technologien in der Region. Und Sie kooperieren auch bei Entwicklung und Forschung. Zum Nutzen besserer Verständigung betreiben sie Stipendienprogramme für Nachwuchskräfte aus Albanien, Kroatien oder Kosovo in deutschen Unternehmen. Fast 1000 junge Leute werden mit dem Zoran-Djindjic-Stipendienprogramm beim Studium gefördert. Auch bei einem Beitritt neuer Mitglieder zur Europäischen Union haben die Kontakte und Verbindungen des Ost-Ausschusses eine wichtige Rolle gespielt. Darauf hoffe ich auch in Zukunft. Die Ukraine, Moldau und Georgien streben in die EU ebenso wie Serbien, Montenegro, Albanien, Kosovo, Nordmazedonien und Bosnien-Herzegowina. Da sind noch viele Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Aber Europa wird sich verändern, die EU wird sich verändern. Sie wächst, und zwar nach Osten. Eine gute Zeit also für neuen Pioniergeist. Meine Damen und Herren, das Lob auf Pioniergeist, auf den Aufbau und die Pflege von Beziehungen ist fast immer richtig. Aber für jede Partnerschaft gibt es Regeln, und die müssen eingehalten werden, das ist meine vierte Botschaft. Mit seinem brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine will Russland Europa aufs Neue in Einflusssphären spalten. Putins Ziel ist ein neues russisches Imperium. Dafür zerstört er die Brücken, die Infrastruktur, die Energie- und Wasserversorgung der Ukraine. Dafür lässt er Männer und Frauen, Alte und Kinder mit Raketen beschießen. Hier geht es nicht nur um schwersten Völkerrechtsbruch. Hier versucht ein Land, mit Brutalität seine eigenen Regeln durchzusetzen. Schon deswegen darf Russland diesen Krieg nicht gewinnen, und Russland wird den Krieg auch nicht gewinnen. Nun beginnt – so lautet meine fünfte Botschaft – an anderer Stelle ein neues Kapitel. So wie wir gemeinsam mit unseren Partnern und Verbündeten jetzt den Kampf der Ukrainerinnen und Ukrainer um ihre Freiheit massiv unterstützen, werden wir über viele Jahre hinweg auch beim Wiederaufbau an der Seite der Ukraine stehen. Diese Aufgabe wird die gesamte Staatengemeinschaft beschäftigen. Die Ukraine zu einem starken europäischen Land mit ebenso produktiver wie nachhaltiger Industrie und Landwirtschaft aufzubauen, das ist unerlässlich, nicht nur für die Ukrainerinnen und Ukrainer selbst. Das ist auch Voraussetzung für ein starkes Europa, für eine starke Europäische Union, der die Ukraine beitreten wird. Meine Damen und Herren, es ist gut, dass sich der Ost-Ausschuss schon seit dem Beginn von Russlands Krieg für Flüchtende aus der Ukraine engagiert. Sie haben ein Jobportal für Ukrainerinnen und Ukrainer aufgebaut und Hilfslieferungen initiiert. Ihr Service-Desk „Ukraine“ bietet Unternehmen, Initiativen und Verbänden eine wichtige Anlaufstelle für die Koordinierung von Hilfeleistungen. All das beweist: Auch Sie haben ihren Kurs verändert. Denn natürlich war Russland lange Jahre Ihr wichtigstes Partnerland. Dass Sie sich bereits seit Russlands Annexion der Krim im Jahr 2014 der Ukraine zugewandt haben, war ein wichtiges Signal. Und deshalb, glaube ich, ist es sehr, sehr wichtig, dass wir hier an dieser Stelle diese Entscheidung von Ihnen bekommen haben und Ihre entsprechende Unterstützung hier sehen. Meine Damen und Herren, ich glaube, wir alle wissen, dass das herausfordernde Zeiten sind, vor denen wir stehen. Wir werden uns in einer veränderten Welt neu orientieren, aber wir werden es schaffen, dass wirtschaftliche Beziehungen auch in der Zukunft existieren und von uns gepflegt werden können. Und wir werden es auch schaffen, dass eine Welt entsteht, in der wir die jetzigen Herausforderungen, die mit dem russischen Angriffskrieg verbunden sind, hinter uns lassen können. Denn das bleibt ja auch ein Stück der Geschichte ‑ und darüber will ich eben auch noch sprechen ‑, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Russland wird auch nach Ende des Krieges das größte Land auf dem europäischen Kontinent sein. Deshalb ist es ganz zentral, dass wir für diese Zeit auch Vorbereitungen treffen. Klar ist: Gegenwärtig werden die Beziehungen, die wir hatten, zurückgefahren, zurückgefahren und zurückgefahren. Aber ein Russland, das den Krieg beendet, und Bürgerinnen und Bürger in Russland, die eine andere Zukunft für sich erstreben, brauchen auch die Chance, dass es in einer anderen Zeit wieder möglich ist, ökonomische Kooperationen zu beginnen. Nur: Das ist nicht jetzt. Jetzt verschärfen wir die Sanktionen. Und das muss auch jeder wissen: Putin zerstört mit seinem Krieg nicht nur die Infrastruktur, die Städte und Dörfer der Ukraine. Er zerstört nicht nur unglaublich viele Menschenleben. Er hat nicht nur das Leben vieler seiner eigenen Soldaten aufs Spiel gesetzt – denn das gehört ja zur Wahrheit dazu: dass Unzählige gestorben sind für diesen imperialistischen Versuch, sich einen Teil des Territoriums seines Nachbarn anzueignen -, sondern eigentlich zerstört er auch die Zukunft Russlands mit diesem Krieg, und das ist das, was er gegenüber seinem eigenen Land und seinem eigenen Volk rechtfertigen muss, dessen Zukunft er auf diese Weise beeinträchtigt. Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen alles Gute zum Jubiläum. Ich freue mich, dass so viele Partner aus dem ganzen Osten da sind. Und ich bin sicher, dass Sie noch viele weitere Jubiläen zu feiern haben werden und dass wir Sie brauchen. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Taufe von zwei U-Booten von Thyssenkrupp Marine Systems am 13. Dezember 2022 in Kiel
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-taufe-von-zwei-u-booten-von-thyssenkrupp-marine-systems-am-13-dezember-2022-in-kiel-2153440
Tue, 13 Dec 2022 00:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Premierminister Lee, sehr geehrte Frau Lee, sehr geehrter Herr Burkhard, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Günther, sehr geehrte Herren Admiräle, meine Damen und Herren, unter deutschen Seeleuten gibt es das Sprichwort: „Nicht der Wind, sondern die Segel bestimmen den Kurs.“ Das zeigt, dass wir beide unsere Segel in eine ähnliche Richtung ausrichten: Denn nur wenige Woche nach meinem Besuch in Singapur, lieber Herr Premierminister, sind Sie jetzt nach Deutschland gekommen, was ganz klar den Wunsch zeigt, unsere Partnerschaft zu vertiefen. Wieder, wie auch bei meinem Besuch im November und bei unseren Treffen davor, konnte ich mich bei unserem Gespräch davon überzeugen, dass unsere beiden Länder noch viel miteinander vorhaben – und das langfristig, geht es uns doch um bilaterale Beziehungen in allen relevanten Zukunftsfragen, seien es Sicherheitspolitik, Klimaschutz oder Innovation: Uns verbinden wirtschaftliche und geopolitische Interessen. Gemeinsam arbeiten wir an der Transition hin zu erneuerbaren Energien. Auch Ihre Region, der Indo-Pazifik, steht vor enormen Herausforderungen durch den Klimawandel. Unsere Länder teilen die Überzeugung, dass Handel und Wettbewerb Quellen des Wohlstands sind. So habe ich Singapur in der Vergangenheit erlebt, und so erlebe ich Ihre Delegation beim Besuch hier in Kiel: offen für den Austausch und neue Ideen, mit einem großen Interesse an weltweiter Vernetzung genauso wie für die regelbasierte internationale Ordnung. Denn auch das zeigt diese Taufe von zwei U-Booten für die Marine Singapurs ganz bildlich: Singapur ist ein wichtiger strategischer Partner für Deutschlands Sicherheitspolitik. Zusätzlich zu unserer intensiven Rüstungskooperation haben wir im vergangenen Jahr durch die Fahrt der Fregatte Bayern und in diesem Jahr durch die Entsendung von sechs Eurofightern die Bedeutung der Region weiter unterstrichen. Singapur ist dabei zentraler Partner – und bei der Verlegung immer auch unerlässliche logistische Drehscheibe. Meine Damen und Herren, wir befinden uns an er Ostsee. Was für ein Anblick könnte wohl mehr verdeutlichen, wie wichtig die Freiheit der Meere ist. Dass Lieferketten ganz wesentlich auch auf offene Seewege und Handelsrouten angewiesen sind, wissen auch Sie: Mit der Straße von Singapur liegt schließlich einer der bedeutendsten Seewege direkt vor der Haustür. Dass die Freiheit der Seewege aufrechterhalten und internationales Recht eingehalten werden müssen, das muss man Ländern mit bedeutenden Häfen nicht erklären. Diversifizierung der Handelsbeziehungen und der Lieferketten, so lautet das Gebot der Stunde, und nicht De-Globalisierung und De-Coupling. Das sind gefährliche und sehr teure Irrwege. Sicherheit und Stabilität auch im Indo-Pazifik sorgen dafür, dass die internationale Ordnung insgesamt aufrechterhalten werden kann. Sie sind ein Schutz gegen Imperialismus und Kriegstreiberei. Russlands Krieg gegen die Ukraine ist ein Frontalangriff auf diese internationale Ordnung. Lieber Premierminister Lee, Deutschland ist Ihnen sehr dankbar für die klare Unterstützung und die Solidarität Singapurs mit der Ukraine. Gemeinsam mit uns und anderen Partnern verurteilen Sie den russischen Angriffskrieg und weisen falsche russische Narrative zurück. Auch beim G20-Gipfel in Bali haben wir das deutliche Signal gemeinsam gesendet. Singapurs humanitäre Unterstützung für die Ukraine ist bedeutend. Außerdem leistet Singapur einen wichtigen Beitrag durch seine Entscheidung zu Sanktionen. Wir sind froh, in Singapur einen starken Partner bei der Verteidigung der regelbasierten internationalen Ordnung zu haben. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat uns schmerzlich vor Augen geführt, dass die maritime Wirtschaft nicht nur die Grundlage unserer globalen Handelsketten und damit unseres Wohlstands ist. Sie ist auch für unsere Sicherheit und die Verteidigung von großer Bedeutung. Dazu gehört auch die Schiffbauindustrie, was uns dieser Tag nochmal deutlich zeigt. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil der deutschen Industrielandschaft. Als ehemaliger Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg weiß ich das nur zu gut. Wir können stolz darauf sein, dass deutsche Unternehmen wie Thyssenkrupp Marine Systems führend in der Konstruktion von U-Booten sind. Jedes dieser U-Boote, Sie erwähnten es gerade, lieber Herr Burkhard, ist eine Einzelanfertigung mit viel Handarbeit und höchster Präzision. Das ist ein deutliches Signal: Deutschland übernimmt Verantwortung für die Sicherheit unserer Partner, man kann sich auf uns verlassen. Ich freue mich deshalb auch außerordentlich, dass Thyssenkrupp Marine Systems seine Fertigung in Deutschland ausbauen und ab 2024 auch am Standort Wismar in die Produktion einsteigen wird. Dies ist ein gutes Signal für den Schiffbaustandort Deutschland und zeigt, dass wir weiterhin wettbewerbsfähig sind. Es ist auch ein lebendiges Zeichen der Zeitenwende, die wir erleben. Meine Damen und Herren, der Wind ist rau, verschiedene Krisen treffen aufeinander, und die Bevölkerung unserer beiden Länder beschäftigt neben Russlands Krieg auch die hohe Inflation und die hohen Preise für Energie. Aber erinnern wir uns hier in Kiel an eine Weisheit der Seeleute. Nicht der Wind bestimmt und auch nicht die Strömung. Sondern wir. Schönen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Roth zur Eröffnung der Ausstellung „Roads not taken“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-roads-not-taken-2153386
Thu, 08 Dec 2022 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Eine russische Freundin sagte mir einmal, ihr Land habe die unglückselige Eigenschaft, an einer historischen Weggabelung mit großer Sicherheit die falsche Richtung einzuschlagen, den abschüssigen Weg zu wählen, der in die Katastrophe führt. Lange, sehr lange, galt dasselbe für Deutschland. Und leider haben Gesellschaften mit einem Hang zu Katastrophen die Neigung, auch die Nachbarn mit ihrem Unglück zu überziehen, ihren Kontinent oder gleich die ganze Welt. Ob es so oder auch anders hätte kommen können und welcher Weg tatsächlich der bessere gewesen wäre, ist ja nicht nur ein interessantes Gedankenspiel, zu dem uns die Ausstellung einlädt, die wir heute eröffnen. Die Frage, ob es in einer historischen Situation Entscheidungsoptionen gab, und warum diese und nicht etwa eine andere Entscheidung getroffen wurde, ist doch der Beginn jeder Beschäftigung mit Geschichte. Jedenfalls jeder sinnvollen, weil Erkenntnis bringenden Beschäftigung mit Geschichte. Mir ging es wie Ihnen, Herr Professor Gross: unter allen Exponaten hat mich das Schild mit dem Satz „Achtung! Krenz Das ist der himmlische Frieden“ (sic), das von der Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz stammt, auch besonders beeindruckt. Ich erinnere mich, dass in dieser Zeit viele, auch viele Beobachterinnen und Beobachter im Westen, befürchteten, die Sowjetunion könne eingreifen und die friedlichen Proteste gewaltsam beenden. Sie tat es nicht. Es gab keine Wiederholung des Massakers in Budapest 1956, keinen zweiten 17. Juni 1953, keine Neuauflage der Tragödie in Prag 1968. Und keine blutige Niederschlagung des Protests wie nur Monate zuvor auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Der 4. November 1989 war eine Zeitenwende. Und wenn historische Daten miteinander korrespondieren, wie diese Ausstellung es nahelegt, dann nahm die Zeit, die auf die Ereignisse im Herbst 1989 folgte, die zur Wiedervereinigung beider deutscher Staaten und zum Fall des Eisernen Vorhangs in Europa führte, am 24. Februar 2022 eine neue Wendung. Was wir damals, 1989, befürchteten, trat nicht ein. Am 24. Februar diesen Jahres glaubten dagegen die wenigsten von uns, dass die Machtbesessenheit eines Einzelnen und seiner selbstherrlichen Entourage ausreicht, alles, was in diesen drei Jahrzehnten erreicht wurde, wieder aufs Spiel zu setzen. Es kam anders. „Roads not taken“ ist mehr, viel mehr als eine lehrreiche Zeitreise durch die deutsche Geschichte von 1989 zurück ins Jahr 1848. Die Ausstellung zeigt uns Geschichte als Möglichkeit und Erfahrung. Der didaktische Kniff, nicht nur mit der Möglichkeit eines anderen Ausgangs der Geschichte zu spielen, sondern zu zeigen, dass diese Möglichkeit immer Teil der Geschichte ist, macht deutlich: Jedes dieser Ereignisse geht uns an. Sie sind nicht einfach vergangen, sondern Teil unserer historischen Erfahrung. Der israelische Historiker Omer Bartov beschreibt diese historische Erfahrung in seinem wunderbaren Buch über die Geschichte der ostgalizischen Stadt Buczacz als eine „zerbrechliche und doch erstaunlich haltbare Kette von Generationen, Schicksalen und Kämpfen, in der sich die historischen Ereignisse unablässig entfalten“, als ein „Zusammenspiel von Zufall und menschlichen Handlungen“. Die 14 historischen Momente, die in der Ausstellung in Beziehung zueinander gesetzt werden, zeigen genau diese Situationen, in denen sich historische Erfahrung verdichtet, um zum Ereignis zu werden. Was sich aus der Zeitreise von 1989, dem Jahr der geglückten Revolution, zurück ins Jahr der gescheiterten Revolution von 1848 lernen lässt, ist, dass ein Nachdenken über die Vergangenheit einen Erkenntnisgewinn über Gegenwart und Zukunft bedeuten kann. Und damit auch einen Gewinn für die Demokratie, denn die Geschichte zu befragen, heißt urteilen zu lernen. Welche Folgen hätte ein Gelingen der Freiheitsbewegung 1848 für den Verlauf der deutschen und der europäischen Geschichte gehabt? Und welche ein Scheitern der friedlichen Revolution von 1989? Welche Rolle spielte der Zufall bei beiden Ereignissen? Eine große, eine sehr große, würde ich sagen! Gelingen und Scheitern – es ist immer beides möglich. Im Spannungsfeld der beiden Möglichkeiten gewinnt das historische Ereignis an Konturen und der Besucher und die Besucherin der Ausstellung an historischer Urteilskraft. Und dazu gehört auch, den Zufall nicht zu verkennen. 1989 zeigte er sich von seiner schönsten Seite, als Burleske. Der SED-Funktionär Günter Schabowski hatte den Beschluss zur Reiseregelung missverstanden, er verplapperte sich und entließ damit die Bürgerinnen und Bürger der DDR in ihre Freiheit. Johann Jacobys Satz, den der jüdische Arzt und Demokrat am 2. November 1848 Friedrich Wilhelm IV. hinterherrief, als der preußische König die Abgesandten der Nationalversammlung wortlos stehenlassen wollte, hatte sich erfüllt: „Das ist das Unglück der Könige, dass sie die Wahrheit nicht hören wollen!“ Und wer nicht hören will, den bestraft das Leben. Ich bedanke mich von ganzem Herzen für diese wunderbare Ausstellung!
„Roads not taken“ sei viel mehr als eine lehrreiche Zeitreise durch die deutsche Geschichte von 1989 zurück ins Jahr 1848, so Kulturstaatsministerin Roth bei der Eröffnung der Schau im Deutschen Historischen Museum in Berlin. „Die Ausstellung zeigt uns Geschichte als Möglichkeit und Erfahrung.“
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Adventskaffees mit Angehörigen von Polizistinnen und Polizisten sowie Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz am 9. Dezember 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-adventskaffees-mit-angehoerigen-von-polizistinnen-und-polizisten-sowie-soldatinnen-und-soldaten-im-auslandseinsatz-am-9-dezember-2022-in-berlin-2152814
Fri, 09 Dec 2022 00:00:00 +0100
Berlin
Einen schönen guten Tag! Ich freue mich sehr, dass wir alle hier zusammen sein können und dass alle meiner Einladung gefolgt sind, dass wir miteinander ein bisschen Kaffee trinken können und uns unterhalten können. Ich begrüße auch die Verteidigungsministerin unter uns, die hier ist, und die Innenministerin, die auch hier ist, einmal da, einmal da. Ich freue mich, dass die beiden auch gekommen sind und wir hier miteinander sein können. Weihnachten ist eine ganz besondere Zeit. Da ist man gerne mit seinen Allerliebsten zusammen. Es ist eben doch etwas ganz, ganz Bemerkenswertes, dass einige von uns ‑ einige der Väter, Mütter, Freunde, Partner ‑ zu Weihnachten nicht hier sein werden, sondern im Ausland als Polizistinnen und Polizisten und als Soldatinnen und Soldaten tätig sind. Das ist wichtig für uns alle, damit der Frieden gewährleistet werden kann und wir in einer wirklich sehr, sehr schwierigen Welt alles dazu beitragen können, dass der Frieden auch gesichert wird. Ich bin den Frauen und Männern sehr dankbar, die das machen und die natürlich genau in dieser Zeit auch gerne bei ihren Angehörigen und ihren Liebsten wären. Aber dadurch, dass sie das machen und dass sie bereit sind, diesen wirklich schwierigen und wichtigen Einsatz zu tätigen, ist es eben auch möglich, dass wir ein bisschen für den Frieden tun können. Wie wichtig das ist, merkt man ja gerade jetzt, wo wir sehen, was für ein furchtbarer Krieg gerade in unserer Nähe stattfindet, nachdem Russland die Ukraine überfallen hat. Das zeigt, dass das eben nicht nur einfach so ist und etwas ist, das stattfindet, sondern dass da wirklich etwas ganz Wichtiges gemacht wird – überall, wo diese Einsätze stattfinden. Am liebsten hätte man natürlich alle dabei, wenn es darum geht, den Weihnachtsbaum zu kaufen, noch irgendwie in letzter Minute Geschenke herzustellen, irgendwie den Weihnachtsbraten vorzubereiten oder was weiß ich auch immer. Das ist etwas, das einem immer wieder einfällt, wenn man weiß: Jetzt ist man nicht miteinander zusammen. Aber es ist doch wichtig für uns alle, dass das stattfindet, und deshalb bin ich auch allen hier Versammelten und noch vielen mehr, die jetzt heute nicht hier sind, dankbar dafür, dass sie das möglich machen und dass sie denjenigen, die im Auslandseinsatz sind, den Rücken stärken, die Daumen drücken, dass das funktioniert, und auch ein bisschen die Stärke geben, die sie brauchen, damit sie das machen können; denn die fühlen sich ja auch ein bisschen alleine, wenn sie da zu diesen Zeitpunkten sind. Gestern habe ich mit einigen an den verschiedenen Stationen gesprochen, an denen Polizistinnen und Polizisten und Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz tätig sind. Das kann man hier aus einem Raum des Kanzleramtes heraus ganz gut machen. Da kann ich dann wie in so einer Fernsehschalte einmal überall hin und habe mich unterhalten. Das war ganz wichtig. Ich war sehr beeindruckt davon, was dort geleistet wird und dass sich jetzt alle auf die Zeit vorbereiten. Aber ich hatte das Gefühl: Die wären auch alle gerne bei ihren Angehörigen und wissen genau, was sie da machen. Deshalb schönen Dank, schönen Dank fürs Kommen! Noch viel mehr schönen Dank für all das, was geleistet wird – mit den Eltern, mit den Partnern und Partnerinnen, dem Mann, der Frau. Das ist ganz, ganz wichtig und ganz toll, und ich freue mich, dass alle hierhergekommen sind. Alles Gute!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Empfangs der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der 46. Internationalen Berufsweltmeisterschaften WorldSkills 2022 am 8. Dezember 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-empfangs-der-teilnehmerinnen-und-teilnehmer-der-46-internationalen-berufsweltmeisterschaften-worldskills-2022-am-8-dezember-2022-in-berlin-2152436
Thu, 08 Dec 2022 00:00:00 +0100
Berlin
Einen schönen guten Tag noch einmal! Ich freue mich, dass alle hierhergekommen sind. Noch viel mehr freue ich mich über die vielen Leistungen, die vollbracht worden sind. Ich will das hier noch einmal sagen. Es ist als dezentraler Wettbewerb eine ganz besondere „WorldSkills Special Edition“ gewesen, weil es wegen der Corona-Pandemie und der ganz besonderen Strategie Chinas im Zusammenhang mit der Ausrichtung internationaler Ereignisse nicht möglich war, das so wie geplant in Shanghai durchzuführen. Aber viele haben sich dazu bereit erklärt, das überall zu machen. Das ist eine ganz große Leistung. Deshalb noch einmal einen schönen Dank an all diejenigen, die das organisiert und vorbereitet haben, und die – anstatt die Hände in den Schoß zu legen und zu beklagen, wie das alles so weitergeht –, es einfach angepackt und das Problem gelöst haben – was ja ganz gut zum Handwerk passt. Für die deutschen Teilnehmer ist es auch gut ausgegangen. Ich habe jedenfalls zur Kenntnis genommen, dass es dreimal Gold, fünfmal Silber und zweimal Bronze gegeben hat. Das ist also besser ausgegangen als in anderen Wettbewerben, an denen wir gerade teilgenommen haben. Insofern ist das eine besondere Leistung, an der wir alle uns orientieren wollen. Ich will sehr gern sagen, dass ich glaube, dass wir in Deutschland eine ganz besondere Tradition haben, die gar nicht so in aller Welt verbreitet ist. Deshalb ist es vielleicht auch kein Zufall, dass wir so viele Erfolge in den vielen Wettbewerben haben, die stattfinden. Diese besondere Tradition mit der Lehre als Erfahrung stammt zwar aus dem Mittelalter und den dortigen Berufsausbildungen. Aber das war gar nicht so verbreitet, weil es gar nicht so viele Städte und Orte gab und auch nicht so viele, die in diesen Berufen tätig waren. Mit der Industrialisierung wurde jedoch entschieden, dass das Modell der Berufsausbildung – Praxis und Schule zusammen – irgendwie in die neuen Fabriken und die neuen Kontore, die am Ende des 19. Jahrhunderts errichtet wurden, eingeführt wird. Eigentlich ist damit die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands gelegt worden. Denn im internationalen Vergleich ist Deutschland unverändert eines der Länder mit der breitesten beruflichen Qualifizierung und auch mit der Herzensangelegenheit, dass der Beruf etwas ganz Besonderes ist. Das liegt ja nicht ganz zufällig in der Nähe des Wortes „Berufung“. Das ist auch etwas, das sich über die Zeit und die Jahrhunderte überhaupt erst entwickelt hat. Einige haben dazu die Theorie entwickelt, dass das, was wir heute unter Beruf verstehen, als Begriff überhaupt erst durch die Bibelübersetzung von Martin Luther entstanden sei, in der das vorkam. Und dass damit das erste Mal die Idee entstanden sei, dass Arbeit nicht etwas sei, was man als Strafe begreife, sondern etwas, das man gern mache und womit man auch seine gesellschaftliche Pflicht erfülle. Ich glaube, dass diese Tradition die Grundlage für alles bleibt, was wir zu tun haben. Deshalb werbe ich sehr dafür, dass sich möglichst viele junge Frauen und Männer für die Berufsausbildung entscheiden. Das ist ein guter Weg mit guter Perspektive und guten Erfolgen, die man für sein ganzes Leben haben kann. Ich bin deshalb so froh, dass ich heute bei echten Medaillengewinnern sein kann, die zeigen: Das ist der richtige Weg, den man im Leben einschlagen sollte. Herzlichen Glückwunsch an alle, die teilgenommen haben! Danke an alle Betriebe, die mitgeholfen haben! Danke an die Organisatoren! Und selbstverständlich herzlichen Glückwunsch an die Gewinnerinnen und Gewinner!
Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz anlässlich der Vergabe des Marion-Dönhoff-Preises an Irina Scherbakowa am 4. Dezember 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-olaf-scholz-anlaesslich-der-vergabe-des-marion-doenhoff-preises-an-irina-scherbakowa-am-4-dezember-2022-2149766
Sun, 04 Dec 2022 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Hamburg
Sehr geehrte Frau Dr. Scherbakowa, sehr geehrter Herr Naß, sehr geehrter Herr di Lorenzo, sehr geehrter Herr Brühl – auch noch einmal herzlichen Glückwunsch zu dem Preis und noch viel mehr zu Ihrer Arbeit –, sehr geehrte Frau Senatorin, verehrte Mitglieder der Jury, meine Damen und Herren! Wer in diesen dunklen Tagen die Website der russischen Menschenrechtsorganisation MEMORIAL aufruft, der liest dort in großen Buchstaben: „The organisation has been liquidated by a court decision.“ – Die Organisation wurde aufgrund einer Gerichtsentscheidung liquidiert. – Allein dieser eine Satz macht bereits klar, warum die feierliche Preisverleihung, zu der wir hier zusammengekommen sind, eine sehr ernste Angelegenheit ist. Mit seinem brutalen Angriffskrieg hat Putin furchtbares Leid über die Ukraine gebracht. Den tapfer kämpfenden Streitkräften der Ukraine sind die russischen Truppen – auch infolge unserer Unterstützung – militärisch bisher nicht gewachsen. Umso mehr versucht Russland, jetzt doch noch zum Ziel zu kommen, indem es die ukrainische Infrastruktur zerstört, indem es die wehrlose Zivilbevölkerung – Kinder, Frauen, Alte – mit Raketen beschießt. Hier geht es nicht nur um schwersten Völkerrechtsbruch. Hier tut sich auch ein unfassbarer moralischer Abgrund auf. Putin befehligt schlimmste Vergehen an der Ukraine – und hat damit zugleich sein eigenes Land auf eine katastrophal abschüssige Bahn manövriert. Auch darüber müssen wir sprechen, auch darüber will ich sprechen. Aber zunächst ist es mir natürlich eine große Freude und Ehre, dass ich heute diese Laudatio auf Sie, liebe Irina Scherbakowa, halten darf. Der Marion-Dönhoff-Preis wird an Persönlichkeiten vergeben, die sich in besonderer Weise für die Verständigung und Versöhnung zwischen den Völkern einsetzen. Die Reihe früherer Trägerinnen und Träger reicht von Desmond Tutu über Michail Gorbatschow und Bronislaw Geremek bis zu Daniel Barenboim, Hildegard Hamm-Brücher, Navid Kermani und Donald Tusk. Dass nun Sie, liebe Irina Scherbakowa, ab sofort in einer Reihe mit diesen herausragenden Persönlichkeiten der Zeitgeschichte stehen, ist nur folgerichtig. Diese Entscheidung ist ein eindeutiges politisches Signal zur richtigen Zeit. Vor allem aber bedeutet sie eine hochverdiente Auszeichnung für Sie ganz persönlich: Als Germanistin, als Dolmetscherin und Übersetzerin deutscher Literatur haben Sie sich seit Jahrzehnten darum verdient gemacht, das gegenseitige Verständnis von Russen und Deutschen zu stärken. Was für ein Glück übrigens – wir haben es eben im Film schon gesehen –, dass Ihre Eltern im Moskau der fünfziger Jahre die unwahrscheinliche Idee hatten, die eigene Tochter solle als Fremdsprache ausgerechnet Deutsch lernen. In Russland war das zu jener Zeit verständlicherweise immer noch die „Sprache des Feindes“, wie Sie in Ihrer Familiengeschichte „Die Hände meines Vaters“ schreiben. Als Historikerin beschäftigen Sie sich bereits seit Ende der siebziger Jahre mit den Biografien und Schicksalen der Menschen, die in der Sowjetunion Stalins Gefängnisse und Lager überlebten; mit den vergessenen Hinterlassenschaften von Gewaltherrschaft, Gulag und Totalitarismus, mit Trauma, Verdrängung und Angst. „Es ging darum“, so haben Sie geschrieben, „die Tür zu dieser dunklen Vergangenheit zu öffnen.“ Weil Demokratie und offene Gesellschaft ohne die Aufarbeitung historischer Verbrechen und Irrwege niemals gedeihen werden. In Russland nicht, in Deutschland nicht – und auch nirgends sonst. Als Bürgerrechtlerin gehörten Sie genau deshalb in den Jahren der Perestroika zu den Gründerinnen und Gründern der „Internationalen Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte, soziale Fürsorge“ – kurz: MEMORIAL. Wie keine zweite Organisation steht MEMORIAL für den zivilgesellschaftlichen Aufbruch in den letzten Jahren der Sowjetunion. „Zum ersten Mal in der sowjetischen Geschichte“ – so haben Sie es selbst beschrieben – „gab es plötzlich eine von Menschen gegründete reale Organisation, die mehr war als nur eine Attrappe“. Ein anderes, besseres, helleres Russland ist möglich – das war die Botschaft, die von MEMORIAL ausging. Genau das war das Besondere und Kostbare an Memorial – genau das ist noch immer das Besondere und Kostbare an MEMORIAL. Denn MEMORIAL lebt ja weiter. Auf diese Feststellung, liebe Irina Scherbakowa, legen Sie besonders großen Wert. Deshalb bin ich sehr froh, dass gemeinsam mit Ihnen auch die Geschäftsführerin von „MEMORIAL International“ heute bei uns ist. Herzlich willkommen, Elena Zhemkova! Ihre Anwesenheit beweist: MEMORIAL besteht fort – als dezentrales Netzwerk von Aktivistinnen und Aktivisten; als internationale Nichtregierungsorganisation mit 80 angeschlossenen Gruppen und Verbänden in vielen Staaten Europas; als Opposition im Exil gegen Putins Regime – auch hier bei uns in Deutschland. Ihr Kampf für Freiheit und Aufklärung, für Demokratie und Menschenrechte ist also nicht zu Ende. Aber: Wie sieht die Perspektive aus? Wie soll neuer Mut wachsen – gerade jetzt? Woraus können Sie und Ihre Mitstreiter neue Hoffnung schöpfen in dieser schweren Zeit? Die Tür zu einer helleren Zukunft für Russland, die MEMORIAL und auch Sie selbst seit den Jahren der Perestroika öffnen halfen – diese Tür hat Wladimir Putin krachend zugeschlagen. Die alte Geschichtsklitterung, die alten Lügen, die alte Unterdrückung in der Sowjetära hat sein autokratisches Regime ersetzt durch neue nationalistische Geschichtsklitterung, durch neue Lügen und neue Unterdrückung. Russlands Zivilgesellschaft? – Zum Schweigen gebracht und verängstigt. Russlands demokratische Opposition? – Hinter Gittern oder außer Landes. MEMORIAL? – Verboten und enteignet, „liquidiert“ und vertrieben. Das ist – jedenfalls hier und jetzt – die bittere Lage. Und gleichzeitig richtet der wahnwitzige Angriffskrieg, den Putins Russland gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hat, von Woche zu Woche wachsendes Leid und sinnlose Vernichtung an. Putins Regime hat sich hoffnungslos verrannt, seine Regierung steht international so alleine da wie nie. Auf dem G20-Gipfel vor wenigen Wochen in Bali war das für alle Welt zu erleben. Doch Umsteuern, Einlenken oder gar Einsicht sind im Augenblick von Putins Russland nicht zu erwarten. Von „Tragik“ haben Sie, liebe Irina Scherbakowa, deshalb in diesem Zusammenhang gesprochen. Und dennoch: Wie kann in dieser Lage trotz allem ein Weg nach vorn aussehen? Ich will dazu zwei Bemerkungen machen. Die eine betrifft vor allem die Ukraine, die andere vor allem Russland. Erste Bemerkung: Die Ukraine darf und wird diesen Krieg nicht verlieren. Darum werden wir den Kampf der Ukrainer und Ukrainerinnen um ihre Freiheit und ihre europäische Zukunft gemeinsam mit allen unseren Partnern und Verbündeten auch weiterhin massiv unterstützen. Zusammen mit allen großen demokratischen Staaten der Welt arbeiten wir schon jetzt an einem umfassenden Marshall-Plan für den langfristigen Wiederaufbau der Ukraine. Und zugleich eröffnen wir der Ukraine – dieser schon immer europäischen Nation – den Weg in die Europäische Union. Aber damit die Ukraine diesen Weg beschreiten kann, muss sie sich jetzt – in diesen Wochen und Monaten – erfolgreich verteidigen können. Deshalb werden wir gemeinsam mit unseren Verbündeten der Ukraine auch weiterhin diejenigen Waffen liefern, die sie braucht, um Russlands Angriffe wirksam zurückzuschlagen. Und wir werden das genau so lange tun, bis Putin aufhört mit diesem wahnwitzigen Krieg, bis er seine Truppen abzieht. Ich bin sehr froh, liebe Frau Scherbakowa, dass auch Sie als Russin genau diese eindeutige Haltung zugunsten der Ukraine glasklar unterstützen. Darauf hinzuweisen ist mir sehr wichtig; denn es hat ja, als vor zwei Monaten der Friedensnobelpreis anteilig an MEMORIAL verliehen wurde, vereinzelt Kritik an dieser Entscheidung gegeben. Manch einer steht angesichts der russischen Kriegsgräuel inzwischen allen Russinnen und Russen ablehnend gegenüber – auch den oppositionell und demokratisch gesinnten. Ich teile diese Haltung nicht. Vorwürfe sollten nicht die Falschen treffen. Diejenigen Russinnen und Russen, die wie Irina Scherbakowa immer eindeutig für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte eingetreten sind, die dabei großen Mut bewiesen und persönliche Risiken in Kauf genommen haben – sie sind nicht Widersacher der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Putins brutalen Krieg. Im Gegenteil, sie sind Seelenverwandte und Mitstreiter in unserem gemeinsamen Kampf für eine friedliche, freiheitliche und demokratische Zukunft Europas. Und darum auch meine zweite Bemerkung. Sie betrifft, wie gesagt, Russland. Irgendwann – hoffentlich bald – wird dieser russische Angriffskrieg gegen die Ukraine vorbei sein. Wir wissen nicht, wann er zu Ende gehen wird, aber zu Ende gehen wird er. Und eines ist schon jetzt völlig klar: Dieser Krieg wird nicht mit einem Sieg des großrussischen Expansionismus enden. Putins großrussische Mission wird scheitern. Sie ist schon jetzt dramatisch gescheitert. Aber wenn dieser Krieg zu Ende ist, dann wird Russland immer noch da sein. Es wird immer noch das flächenmäßig größte Land der Erde sein, mit 144 Millionen Bürgerinnen und Bürgern – in geografischer Nähe zu uns. Es werden in Russland Fragen aufkommen: Wer wollen wir sein? Wie wollen wir sein? – Und dann wird sehr viel davon abhängen, ob es wieder Kräfte gibt, die mit Nachdruck und aus Erfahrung sagen: Ja, ein anderes, ein besseres und helleres Russland ist möglich – noch immer und jetzt erst recht: ein demokratisches Russland, ein friedliches Russland, ein Russland, das sich an die internationalen Regeln hält, ein Russland, das imperialen Großmachtwahn hinter sich lässt. Es mag sein, dass diese Perspektive gegenwärtig noch unwahrscheinlich erscheint, dass wir auf sie warten müssen – aber ausgeschlossen ist sie ebenfalls nicht. Und darum ist es so wichtig, dass wir in diesen Zeiten diejenigen Russinnen und Russen unterstützen, die für dieses andere, bessere, hellere Russland einstehen. Sie, liebe Frau Scherbakowa, tun das in herausragender Weise. Darum gebührt Ihnen der diesjährige Marion-Dönhoff-Preis. Sie erhalten ihn für Ihre Arbeit und für Ihr Lebenswerk. Welchen Weg Russland einschlagen wird, wird nicht von außen entschieden werden. Aber Sie erhalten diesen Preis auch stellvertretend für all diejenigen Russinnen und Russen, die sich eine andere, bessere, hellere Zukunft Russlands vorstellen können, die darauf hoffen, genau wie wir es tun. Die Zeit dafür wird kommen – daran habe ich nicht den geringsten Zweifel. Schönen Dank!
in Hamburg
Kanzler kompakt: Ein Jahr ist um – was hat die Regierung erreicht?
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-kompakt-regierung-ein-jahr-wortlaut-2148930
Sat, 03 Dec 2022 10:00:00 +0100
Alle Themen
Vor einem Jahr hat die Bundesregierung ihre Arbeit aufgenommen, um etwas zu tun für Respekt und Zusammenhalt. Um dafür zu sorgen, dass Deutschland auch in 10, 20, 30 Jahren noch gute Arbeitsplätze hat, aber ein klimaneutral wirtschaftendes Land sein wird. Geprägt worden ist dieses Jahr natürlich zuallererst von Russlands brutalem Krieg gegen die Ukraine. Jeden Tag sehen wir die Zerstörung. Jeden Tag verfolgen wir, wie viele Menschen Opfer russischer Bomben werden. Und deshalb war es richtig, dass wir die Ukraine unterstützen, finanziell, humanitär und auch mit Waffen. Und deshalb war es notwendig, dass wir alles dafür tun, dass die Bundeswehr gut ausgestattet wird. Mit einem Sonderfonds von 100 Milliarden Euro machen wir das möglich. Die Aufgaben, die sich für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft stellen, die haben wir darüber aber nicht vernachlässigt. Beispielhaft will ich nennen: die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro, Erleichterungen bei den Sozialversicherungsbeiträgen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die wenig verdienen, ein höheres Kindergeld, einen höheren Kinderzuschlag, das neue Wohngeld. Alles nur Beispiele. Genauso wie zum Beispiel die Rentenerhöhung und die höheren Renten für erwerbsgeminderte Rentnerinnen und Rentner. An dieser Aufgabe, den Zusammenhalt zu stärken, haben wir festgehalten. Genauso wie an der Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Deutschland klimaneutral wirtschaften kann. Wir haben Gesetze auf den Weg gebracht, die den Ausbau der erneuerbaren Energien, der Windkraft, der Solarenergie, der Stromnetze massiv voranbringen und uns gleichzeitig um die Folgen von Russlands Krieg bei uns gekümmert, indem wir die Energieversorgungssicherheit gewährleistet haben mit neuen Flüssiggasterminals an norddeutschen Küsten, mit vollen Gasspeichern zum Beispiel. Und indem wir Entlastung auf den Weg gebracht haben für die Bürgerinnen und Bürger, die jetzt vor hohen Rechnungen sitzen und nicht wissen, wie sie die bezahlen sollen. Wir haben Entlastungspakete von zusammen fast 100 Milliarden Euro beschlossen. Und wir haben 200 Milliarden Euro mobilisiert, um in diesem, dem nächsten und dem übernächsten Jahr dafür Sorge zu tragen, dass Strompreise, Gaspreise und Fernwärmepreise nicht durch die Decke gehen. Damit haben wir die Grundlage gelegt, dass unsere Wirtschaft stabil bleibt und dass die Bürgerinnen und Bürger, dass unser Land gemeinsam durch diese Krise kommen kann. Eine gute Grundlage für all das, was wir uns für die nächste Zeit vorgenommen haben.
Rede von Bundeskanzler Scholz zum 15. Deutschen Nachhaltigkeitspreis am 2. Dezember 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zum-15-deutschen-nachhaltigkeitspreis-am-2-dezember-2022-2148954
Fri, 02 Dec 2022 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Düsseldorf
Verehrter Fürst Albert, sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin Bas, sehr geehrter Herr Bundesratspräsident Tschentscher, sehr geehrter Herr Schulze-Hausmann, meine Damen und Herren, drei Sekunden, das ist die Zeitspanne, die wir einigen renommierten Neurowissenschaftlern zufolge als Gegenwart wahrnehmen. 21 ‑ 22 ‑ 23, das definiert demnach unser Hier und Jetzt. Der Rest, so heißt es, sei entweder Vergangenheit oder Zukunft. Deshalb – auch das haben Neurowissenschaftler wie der Nobelpreisträger Daniel Kahneman erforscht – ist es gar nicht so leicht, unser Handeln auf die Zukunft auszurichten, teils wider besseres Wissen. Denn unser Gehirn sei hervorragend darin, sich schnell einen Eindruck von einer Situation zu verschaffen und diesen abzuspeichern, so sagt er. Noch besser sei es allerdings darin, diesen Eindruck langfristig gegen neue Eindrücke zu verteidigen. Und weil das Loslassen von Gewohnheiten so schwerfalle, neige der homo sapiens zumindest aus neurowissenschaftlicher Sicht dazu, notwendige Veränderungen aufzuschieben. Mit Blick auf die kommende Zeit der guten, aber doch meist kurzlebigen Neujahrsvorsätze können wahrscheinlich fast alle hier im Raum nachvollziehen, was ich meine. Aber, meine Damen und Herren, wir wären als Menschheit nicht so weit gekommen, wenn wir uns davon hätten aufhalten lassen, wenn wir nicht in der Lage wären, mit Blick auf die Zukunft zu handeln. All das Wissen, all die Erfahrungen, die wir gesammelt haben, all die Technologien, die wir entwickelt haben, waren ja nie dazu da, um die Vergangenheit zu konservieren, sondern um darauf aufzubauen und Ideen für ein besseres Morgen zu entwickeln. Genau das bedeutet, vereinfacht gesagt, Nachhaltigkeit: heute schon an morgen zu denken, an übermorgen, an nächstes Jahr oder an die Zeit in 10, 20, 30 Jahren. Und heute schon die richtigen Lösungen zu finden, damit die Art, wie wir jetzt leben, nicht zum Nachteil künftiger Generationen wird. Wie vielfältig sich dabei das Engagement für mehr Nachhaltigkeit gestalten kann, das zeigen auch die Finalistinnen und Finalisten, Preisträgerinnen und Preisträger des heutigen Abends und der letzten 15 Jahre. An die allerersten erinnere ich mich noch. Damals war ich schon mal hier – das wurde eben erwähnt –, als Arbeitsminister. Heute gratuliere ich der Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis herzlich zu diesem kleinen Jubiläum und natürlich zu Ihrer großartigen Arbeit in den vergangenen 15 Jahren. Einer allerdings fehlt in der langen Reihe Ihrer Preisträger; das sind Sie selbst. Sie haben das Thema Nachhaltigkeit in seiner ganzen Bandbreite mit großer Fachkenntnis, aber eben auch mit Kreativität und mit einem Hauch Glamour in die breite Öffentlichkeit getragen – dorthin, wohin es gehört. In 15 Jahren haben Sie unzähligen engagierten Persönlichkeiten, Unternehmen und seit einigen Jahren auch Kommunen eine Bühne bereitet; eine Bühne, die Sie, die Finalisten und Preisträger, zu Recht verdienen. Denn Sie alle beweisen: Es geht. Veränderung ist möglich, wenn wir Dinge umdenken und vor allem umsetzen. Dafür sind aus meiner Sicht drei Sachen notwendig, die Sie alle hier auch schon erfolgreich machen. Das Erste ist, dass wir uns klare Ziele und auch Etappenziele setzen. Das machen wir mit der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, die sich an den globalen Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030 orientiert und die wir auch kontinuierlich weiterentwickeln – ganz konkret erst vorgestern im Bundeskabinett. Vor allem haben wir uns vorgenommen, dass Deutschland bis 2045 eines der weltweit ersten klimaneutralen Industrieländer wird und dass wir schon 2030 80 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien produzieren. Vergleichbar ist die Dimension dieser Aufgabe wohl nur mit der ersten industriellen Revolution, die in Deutschland vor über 200 Jahren auch hier an Rhein und Ruhr begann. So wie damals führt der Weg in eine Zukunft ohne fossile Brennstoffe über die Förderung von Innovation und über Investitionen in eine neue Infrastruktur. Genau daran arbeiten wir. Russlands brutaler Angriffskrieg auf die Ukraine, Putins Einsatz von Energie als Waffe, all das bestärkt uns darin, dabei noch schneller, noch entschlossener, noch innovativer vorzugehen, um unabhängig zu werden von fossilen Brennstoffen. Und das geht. Wer hätte noch vor einigen Monaten gedacht, dass Russland seine Gaslieferungen vollständig einstellt und wir trotzdem voller Zuversicht sagen können: Wir kommen wohl durch diesen Winter. Wir haben die nötigen Gesetze auf den Weg gebracht, um Tempo zu machen beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Keine Sorge, ich werde Sie jetzt nicht mit Details und gesetzgeberischen Finessen von Frühling-, Sommer- und Herbstpaketen langweilen. Aber was ich schon sagen möchte, ist: Wir machen das jetzt. Die Genehmigungsverfahren für erneuerbare Energien haben wir vereinfacht und beschleunigt. Gesetzliche Hürden sind abgeräumt, neue, höhere Ausbauziele stehen fest, damit jeder planen kann. Wir stehen zu unseren Klimazielen ohne Wenn und Aber. Deshalb bin ich sehr froh über die Vereinbarung, die wir vor wenigen Wochen mit der hiesigen Landesregierung von Hendrik Wüst und Mona Neubaur getroffen haben. Ja, wir nehmen bis ins Frühjahr 2024 zusätzliche Kohlekraftwerke aus der Reserve ans Netz. Aber zugleich ziehen wir den Kohleausstieg in NRW auf 2030 vor und sparen so hunderte Millionen Tonnen CO2. Diese Vereinbarung wurde nicht nur mit der Regierung getroffen, sondern das notwendige Gesetz hat, liebe Frau Präsidentin, gestern Nacht der Bundestag beschlossen. Das Zweite ist, dass wir Dinge gemeinsam anpacken, dass wir auch hier die Technologien nutzen, die es gibt und die uns helfen, uns besser zu vernetzen. Denn gerade bei einem so umfassenden Thema wie Nachhaltigkeit kommt man am besten voran, wenn ganz unterschiedliche Akteure und Disziplinen an einem Strang ziehen. Diese Erkenntnis trägt der Deutsche Nachhaltigkeitspreis in seiner DNA. Auch das zeigt ein Blick auf die breite Liste der Preisträgerinnen, Preisträger und Nominierten des heutigen Abends. Auch wir als Bundesregierung sorgen für bessere Vernetzung auf ganz unterschiedlichen Ebenen. International haben wir beim G7-Gipfel, dem Gipfel der wirtschaftsstarken Demokratien, im Sommer in Elmau den Grundstein für einen weltweiten offenen Klimaclub gelegt. Auf der kürzlich zu Ende gegangenen Zusammenkunft, der Klimakonferenz in Scharm El-Scheich, sind weitere Unterstützer hinzugekommen. National haben wir im Herbst gemeinsam mit den Ländern ein Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit gestartet, das der Rat für nachhaltige Entwicklung jetzt aufbaut. Damit existiert nun endlich eine Plattform, die alle Nachhaltigkeitsinitiativen in Deutschland bündelt und miteinander verbindet, von einzelnen Bürgerinnen und Bürgern über Vereine, Kommunen, Wohltätigkeitsorganisationen, insgesamt die Politik bis zu Wissenschaft, Sport und Wirtschaft. Wenn Sie so wollen, haben wir uns dabei einfach Sie und Ihre Arbeit hier zum Vorbild genommen. Mein dritter und letzter Punkt, wie wir vom Umdenken auch zum Umsetzen kommen, ist: Wir müssen Nachhaltigkeit anders erzählen. Mich hat es jedenfalls nie überzeugt, Nachhaltigkeit automatisch mit Verzicht gleichzusetzen. – Heute Abend sieht es ja auch nicht danach aus. – Wachstum und Fortschritt sind in uns angelegt, aber nicht als ein Weniger, sondern vor allem als smarter und besser. Genau das bedeutet doch nachhaltiges Handeln. Deshalb ist Nachhaltigkeit auch der Schlüssel für Wachstum und Fortschritt, der Schlüssel für langfristigen Erfolg und für die Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Und noch einen Grund gibt es, warum Verzicht in einer klimaneutralen Welt uns dem Erreichen der Entwicklungsziele nicht wirklich näherbringt: Die Staaten Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und der Karibik werden nicht auf ihr gutes Recht verzichten, Wohlstand zu erreichen, wie er für uns selbstverständlich ist. Ein solches Wachstum aber übersteht unser Planet nur, wenn wir Wachstum und Klimaschutz in Einklang bringen. Und auch das geht. Mehr noch: Mit unserer starken Maschinenbau-, unserer Chemie- und Elektroindustrie und unserem Know-how bei Mobilität und grünen Technologien, mit Ideengebern und Vorreitern wie den Preisträgern und Nominierten des heutigen Abends haben wir beste Chancen, hier in Deutschland die Technologien zu entwickeln und in die Breite zu tragen, die weltweit für die Transformation gebraucht werden. Davon profitieren dann letztlich auch alle. Das ist das Ziel, um das es gehen muss: gemeinsam mehr Nachhaltigkeit zu erreichen, weltweit und zum Nutzen aller. Ich weiß, das ist auch Ihr Ziel, meine Damen und Herren. Das zeichnet Sie aus, egal ob Sie heute mit einem Preis nach Hause gehen oder nicht. Deshalb sage ich an dieser Stelle: Glückwunsch allen Preisträgerinnen und Preisträgern und auch allen Nominierten! Wie und wo immer Sie sich für Nachhaltigkeit einsetzen, – im Hier und Jetzt mit dem festen Blick nach vorn, – Sie erweisen unserem Land, unserem Planeten und uns allen damit einen sehr großen Dienst. Schönen Dank.
in Düsseldorf
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Berlin Security Conference am 30. November 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-berlin-security-conference-am-30-november-2022-2149770
Wed, 30 Nov 2022 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Støre, lieber Jonas, sehr geehrte Frau Dr. Proll, lieber Wolfgang Hellmich, meine Damen und Herren, Russlands Überfall auf die Ukraine Ende Februar hat unser Sicherheitsumfeld dramatisch verändert. Die Fundamente unserer Sicherheit sind weiter solide: die transatlantische Freundschaft und die enge Kooperation in der Europäischen Union. Die europäische Sicherheitsordnung der vergangenen Jahrzehnte aber hat Russland mit seinem völkerrechtswidrigen, imperialen Angriffskrieg zertrümmert. Für uns alle in Europa bedeutet das große Anpassungen – Anpassungen, die nicht auf die klassische Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschränkt bleiben. Zu diesen Anpassungen gehört unsere Entscheidung, erstmals in großem Umfang – und eng abgestimmt mit unseren Verbündeten – Waffen in ein Kriegsgebiet – wie eben jetzt die Ukraine – zu liefern. Ich weiß, lieber Jonas, ihr habt eine ganz ähnliche Wende vollzogen – andere unserer Freunde und Verbündeten ebenso. Das bestärkt uns in unserem Kurs, in einem Kurs, den ich vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges weiterhin uneingeschränkt für richtig halte. Es geht darum, die Ukraine in der Wahrung ihres legitimen Rechts auf Selbstverteidigung zu unterstützen, die europäische Sicherheitsarchitektur zu schützen und Putins Neoimperialismus Einhalt zu gebieten. Und damit haben wir durchaus Erfolg. Russland, davon bin ich überzeugt, kann und wird diesen Krieg auf dem Schlachtfeld nicht mehr gewinnen. Die erbarmungslosen Angriffe auf lebenswichtige Infrastruktur, auf Wasser- und Energieleitungen, auf ukrainische Städte und Dörfer – sie sind eine furchtbare und zugleich verzweifelte Strategie verbrannter Erde, verzweifelt auch deshalb, weil wir Russland damit nicht durchkommen lassen. Unsere Solidarität mit der angegriffenen Ukraine bleibt ungebrochen – und das, obwohl der Krieg auch bei uns erhebliche Auswirkungen hat. Russland muss begreifen: Wir werden die Ukraine weiter unterstützen, for as long as it takes: wirtschaftlich, finanziell, humanitär, durch den Wiederaufbau zerstörter Energieinfrastruktur jetzt aktuell – und auch mit Waffen. Artillerie und Luftverteidigung sind das, was derzeit in den Kämpfen im Osten und Südosten des Landes und zur Verteidigung ukrainischer Städte besonders gebraucht wird. Artillerie und Luftverteidigung liefern wir, und wir schauen kontinuierlich, wo wir noch mehr tun können, aktuell vor allem bei der Luftverteidigung. Parallel dazu bilden wir im Rahmen einer neuen EU-Ausbildungsmission allein in Deutschland eine ukrainische Brigade mit bis zu 5 000 Soldatinnen und Soldaten aus. Und natürlich, lieber Jonas, freuen wir uns auch über die norwegische Unterstützung dieser EU-Mission. Aus der russischen Aggression gegen die Ukraine haben wir Lehren für den Schutz unseres eigenen Landes und unserer Verbündeten gezogen. Bei der Bundeswehrtagung im September habe ich der Führung der Bundeswehr gesagt: Der Kernauftrag unserer Streitkräfte ist die Landes- und Bündnisverteidigung – die Verteidigung der Freiheit in Europa. Alle anderen Aufgaben unserer Streitkräfte leiten sich daraus ab. Alle anderen Aufgaben ordnen sich diesem zentralen Auftrag unter! Und dabei halten wir es mit dem Satz Fridtjof Nansens, den seinerzeit schon Willy Brandt in seiner berühmten Rede bei der Annahme des Friedensnobelpreises in Oslo zitiert hat: „Skynd dere å handle, før det er for sent å angre!“ – Für alle Deutschen und alle Norweger, die mein Norwegisch jetzt nicht auf Anhieb verstanden haben: Dieser Satz lautet: Beeilt euch zu handeln, ehe es zu spät ist zu bereuen. Kein Aggressor darf jemals daran zweifeln, dass wir fest entschlossen sind, jeden Alliierten und jeden Zentimeter des Bündnisgebietes mit allen uns zur Verfügung stehenden Kräften zu verteidigen. Hierfür halten wir in diesem und in den kommenden zwei Jahren bis zu 17 000 Soldaten für die NATO Response Force vor. 2023 übernehmen wir zudem erneut die Führung der schnellen Eingreiftruppe der NATO. Es ist gut, Norwegen und die Niederlande dabei fest an unserer Seite zu wissen. Wir sind mit Kräften des Heeres und der Luftwaffe in der Slowakei präsent. Die Luftwaffe sichert den Luftraum über Estland, und unsere Marine hat ihre Präsenz in der Ostsee erhöht. Und wir haben unseren NATO-Gefechtsverband in Litauen dauerhaft verstärkt. Auf ihrem Gipfel von Madrid hat die NATO sich mit ihrem neuen strategischen Konzept ebenfalls klar zur kollektiven Verteidigung als Kernauftrag bekannt. Diese Beschlüsse setzen wir mit aller Kraft um. Eine Brigade der Bundeswehr teilen wir für die Verteidigung Litauens ein und stärken so auch die Verteidigung des Baltikums insgesamt. Letzten Monat haben erste Kräfte dieser Brigade bereits ihre Verlegung nach Litauen erprobt und dort mit unseren litauischen Verbündeten geübt. Für die NATO-Streitkräftestruktur haben wir der Allianz zudem eine gepanzerte Division sowie umfassende Luft- und Seestreitkräfte zugesagt, die künftig in hoher Einsatzbereitschaft für die Verteidigung des Bündnisgebietes herangezogen werden können. Und wir arbeiten daran, die militärischen Fähigkeiten der Europäischen Union zu verbessern, etwa was ihre militärischen und zivilen Führungsfähigkeiten und -strukturen angeht oder die Entwicklung eigener Fähigkeiten, komplementär zur NATO. Das gilt zum Beispiel für die Luftverteidigung. Vor drei Monaten habe ich in Prag den Aufbau eines europäischen Raketenabwehrschirms vorgeschlagen – als europäischen Beitrag in der NATO und kompatibel mit den Strukturen der Allianz. 14 Partner haben sich dieser Initiative inzwischen angeschlossen, und ich bin froh und dankbar, lieber Jonas, dass auch Norwegen darunter ist. Meine Damen und Herren, auch die verantwortungslose Nuklearrhetorik des russischen Regimes nehmen wir sehr ernst. Wir lassen uns davon aber auch nicht einschüchtern. Stattdessen setzen wir alles daran, dass die rote Linie hält, wonach ein nuklear ausgetragener Krieg niemals Realität werden darf. Darüber war ich mir auch mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping einig, als ich Anfang des Monats in Peking zu Besuch war. Und ich bin erleichtert, dass es uns gelungen ist, diesen fundamentalen Grundsatz auch im Abschlussdokument des G20-Gipfels zu verankern. Solange Staaten wie Russland Nuklearwaffen als Teil ihres Bedrohungspotenzials besitzen, braucht natürlich die NATO ein glaubwürdiges Abschreckungspotenzial. Alles andere hieße, uns erpressbar zu machen. Deswegen haben wir entschieden, in den kommenden Jahren F-35-Kampfjets zu beschaffen, um so auch in Zukunft weiterhin einen deutschen Beitrag zur nuklearen Teilhabe der Allianz zu liefern. Das ist ein Gebot nationaler, europäischer und transatlantischer Sicherheit und ein Beitrag zur Lastenteilung im Bündnis. Um unsere Sicherheit und die unserer Alliierten geht es auch bei der Umsetzung des Sondervermögens für die Bundeswehr von 100 Milliarden Euro. Wir sprechen hier über die größte Investition in unsere Streitkräfte seit ihrem Bestehen. Die ersten Lieferverträge wollen wir noch in diesem Jahr schließen – über den Kauf der schon erwähnten F-35, über die Nachrüstung von Schützenpanzern Puma und die Beschaffung von Überschneefahrzeugen. Wie und wo man die gebrauchen kann, erleben unsere Gebirgsjäger bei ihren regelmäßigen Übungen im norwegischen Winter unter arktischen Bedingungen. Und auch 1 200 deutsche und norwegische Soldatinnen und Soldaten von Heer, Luftwaffe und Marine haben das gerade in Nord-Norwegen erlebt, wo sie gemeinsam taktische Feuerunterstützung trainiert haben, eine Übung, die in dieser Form bislang einzigartig ist zwischen unseren beiden Ländern. Aber das soll nicht so bleiben. Hier wird schon deutlich: Es geht bei der Zeitenwende und ihren Auswirkungen für die Bundeswehr um viel mehr als nur um ziemlich viel Geld. Von der Beschaffung bis zur Ausrüstung, von der Strategie bis in die Einsätze brauchen wir mehr Entscheidungsfreude, mehr Risikobereitschaft und effiziente Strukturen. Und wir brauchen eine europäische Verteidigungsindustrie, die den Ansprüchen moderner Streitkräfte gerecht wird. Dabei kommen wir voran. Mit Frankreich und Spanien haben wir erst vor wenigen Tagen einen Durchbruch beim europäischen Luftkampfsystem FCAS erzielt, einem Projekt, das zentral ist für die Sicherheit und Souveränität Europas. In enger Abstimmung mit der Industrie gehen wir hier noch in diesem Jahr in die nächste Projekthase, in der nun ein Technologiedemonstrator gebaut wird. Jenseits solch ganz konkreter Fortschritte braucht Deutschland auch eine strategische – um nicht zu sagen: mentale – Zeitenwende. Dafür arbeiten wir intensiv an einer Nationalen Sicherheitsstrategie. Diese Sicherheitsstrategie wird einem breiten Spektrum an Bedrohungen und Herausforderungen und einer dauerhaft veränderten globalen Lage Rechnung tragen. Damit das gelingt, werden wir das Handeln aller staatlichen Ebenen enger miteinander verschränken, die Widerstandskräfte von Wirtschaft und Gesellschaft stärken und Instrumente der Krisenbewältigung, -vorsorge und -nachsorge stärker aufeinander abstimmen. Das Leitbild heißt kurz gesagt „integrierte Sicherheit“. Im Kern unserer Sicherheitspolitik steht natürlich der Schutz unseres Landes und des Lebens und der Freiheit der Menschen in Deutschland vor militärischer Aggression. Deshalb werden wir uns in unserer Sicherheitsstrategie zu einer umfassenden Stärkung unserer Verteidigungsfähigkeit und ohne Wenn und Aber zur Beistandspflicht unter Alliierten bekennen. Wir wissen, wer unsere Freunde und Partner in der Welt sind – und Norwegen ist einer der engsten davon, lieber Jonas. Und zugleich werden wir dem zunehmenden Risiko einer neuen Blockbildung in der Welt aktiv entgegenwirken. Die Sicherheit und der Wohlstand unseres Landes beruhen auf einer internationalen Ordnung, die Macht an Recht bindet, so wie es die Charta der Vereinten Nationen mit ihren Prinzipien tut. Um diese Prinzipien aber in einer multipolaren Welt zu erhalten, müssen wir mit all den Ländern zusammenarbeiten, die bereit sind, für diese Ordnung einzutreten und sie weiterzuentwickeln. Wir werden unsere Beziehungen in der Welt daher immer zunächst auf Partnerschaft und Kooperation ausrichten. Wer die regelbasierte internationale Ordnung aber stört oder sie zerstören will – so wie Putins Russland –, der muss mit Deutschlands Widerstand rechnen. Eine weitere zentrale Aufgabe ist eine umfassende Stärkung der Widerstandsfähigkeit im Inneren unseres Landes. Wir müssen uns vor Cyberangriffen genauso schützen wie vor Desinformation und hybrider Einflussnahme auf unsere demokratischen Institutionen und Prozesse. Versuche, unsere offene und vielfältige Gesellschaft und unseren sozialen Zusammenhalt zu untergraben, werden wir entschlossen abwehren. Die Sabotageakte gegen die Nord-Stream-Pipelines und der Angriff auf das Kommunikationsnetzwerk der Deutschen Bahn haben uns gezeigt, wie anfällig auch unsere kritische Infrastruktur ist. Und ich bin sehr dankbar, dass Norwegen und Deutschland – vor allem auch durch unsere Marinen – in dieser Frage sehr eng zusammenarbeiten. Und schließlich – auch das gehört unbedingt hierher – werden wir unsere global vernetzte Volkswirtschaft vor einseitigen Rohstoff-, Technologie- und Energieabhängigkeiten schützen – aber nicht durch ein einseitiges decoupling von einzelnen Staaten oder Regionen, sondern durch eine kluge, entschlossene Diversifizierung unserer Lieferketten. Die Sicherung einer zuverlässigen und bezahlbaren Energie- und Rohstoffversorgung bleibt eine zentrale Zukunftsaufgabe für unser Land. Dabei legen wir den Schwerpunkt auf den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen, denn Klima, Biodiversität und natürliche Ressourcen haben unmittelbare Auswirkungen auf Sicherheit und Stabilität. Und auch hier ist uns Norwegen Vorbild und Partner zugleich. Wir haben gerade intensiv über eine klimaneutrale Energie- und Industriepartnerschaft zwischen unseren beiden Ländern gesprochen. Schon heute ist Norwegen mit über 40 Prozent unserer Erdgasimporte mit Abstand Deutschlands wichtigster Energielieferant. Lieber Jonas, als Russland seine Lieferungen erst gekürzt und dann vollständig abgedreht hat, habt ihr eure Lieferungen an uns um fast zehn Prozent erhöht. Das werden wir bestimmt nicht vergessen. Und wenn ich in diesen Tagen häufiger den Satz sage „Deutschland kommt wohl sicher durch diesen Winter“, dann geht mein Dank auch nordwärts. Doch das Potenzial unserer Partnerschaft geht weit über Gaslieferungen hinaus. Ich denke an eine Zusammenarbeit bei erneuerbaren Energien, bei Wasserstoff, aber auch bei klimafreundlichen Technologien wie der Abscheidung und Speicherung von CO2-Emissionen, wo Norwegen weltweit führend ist. Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Jonas, es gibt eigentlich kaum ein Feld, wo Deutschland und Norwegen nicht zusammenarbeiten, wo wir nicht in die gleiche Richtung blicken und gemeinsam vorangehen. Ich weiß, auch ihr weiter im Norden vollzieht gerade die Konsequenzen der Zeitenwende. Der Beitritt unserer schwedischen und finnischen Freunde zur NATO ist Ausdruck davon, aber genauso das sicherheitspolitische Umsteuern deines Landes. Wir sitzen dabei im selben Boot – ich glaube, das haben wir alle gespürt, als wir bei meinem Besuch in Norwegen im August mit den anderen nordischen Regierungschefinnen und Regierungschefs zusammengetroffen waren und danach bei echt hanseatischem Wetter über den Oslo-Fjord geschippert sind. Doch über die norwegische Sicht auf die Zeitenwende wirst du uns gleich sicher noch mehr berichten – und dem will ich nicht vorgreifen. Nur dies noch: Lieber Jonas, herzlichen Dank für Deinen Besuch hier bei uns! Und: Danke für Norwegens Freundschaft in dieser bewegten Zeit!
in Berlin
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Veranstaltung „Deutschland. Einwanderungsland. Dialog für Teilhabe und Respekt“ am 28. November 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-veranstaltung-deutschland-einwanderungsland-dialog-fuer-teilhabe-und-respekt-am-28-november-2022-in-berlin-2146130
Mon, 28 Nov 2022 00:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin, liebe Aydan, sehr geehrte Frau Ministerin Faeser, liebe Nancy, sehr geehrte Frau Staatsministerin, liebe Reem, meine Damen und Herren, „Deutschland. Einwanderungsland“ – dass wir diese Worte in einem Atemzug sagen, ist keineswegs selbstverständlich. Deutschland, das war über Jahrhunderte nämlich das genaue Gegenteil: ein Auswanderungsland. Davon zeugen zum Beispiel die Auswanderermuseen in Bremerhaven oder in meiner Heimatstadt Hamburg. Millionen sind von dort Richtung Übersee aufgebrochen ‑ mit großen Hoffnungen im Gepäck. Heute ist Deutschland selbst für viele ein Land der Hoffnung geworden. Das ist ein Ausweis der wirtschaftlichen Stärke, der gesellschaftlichen Liberalität und der politischen Stabilität unseres Landes. Zu dieser Stärke haben auch die Millionen Männer, Frauen und Kinder beigetragen, die im Laufe der Jahrzehnte in die Bundesrepublik gekommen sind, die hier arbeiten, deren Kinder hier zur Schule gehen, die hier Steuern zahlen, die unser Land voranbringen. Nehmen Sie nur einmal unser Gesundheitswesen: Mehr als ein Viertel unserer Ärztinnen und Ärzte ist selbst nicht in Deutschland geboren und hat ausländische Wurzeln. In der Pflege gilt das sogar für ein Drittel der Beschäftigten. Wie wertvoll dieser Beitrag ist, das hat uns die Coronapandemie besonders eindrucksvoll vor Augen geführt. Natürlich kann nicht jeder, der das möchte, zu uns kommen. Es gibt Grenzen der Aufnahmefähigkeit eines Landes, deren Überschreitung sowohl zulasten der Akzeptanz von Zuwanderung als auch des Erfolgs von Integration ginge. Die Realität unseres Landes sieht aber doch so aus: Wir haben derzeit über 45 Millionen Erwerbstätige in Deutschland. Das ist die höchste Zahl in der Geschichte unseres Landes. Das sind 45 Millionen, die Steuern zahlen, die dazu beitragen, dass unser Renten- oder unser Gesundheitssystem auch in Zukunft funktioniert. Zu zwei Dritteln geht der jüngste Anstieg der Beschäftigtenzahl auf das Konto von Einwanderern ohne deutschen Pass. Obgleich sich die Beschäftigtenzahl so positiv entwickelt hat, liegt die Zahl offener Stellen derzeit ebenfalls auf einem Höchststand. Deshalb sorgen wir für bessere Aus- und Weiterbildungschancen hier in Deutschland, und zugleich brauchen wir auch Fachkräfte aus dem Ausland. Am Mittwoch werden wir im Kabinett daher Eckpunkte zur Fachkräfteeinwanderung beschließen. Wir werden künftig stärker auf die Qualifikation und die Berufserfahrung der Zuwanderer schauen und weniger auf Formalien. Die Aufnahme einer Berufsausbildung oder eines Studiums in Deutschland werden wir erleichtern. Wer einen Arbeitsvertrag mit einem inländischen Arbeitgeber hat, der kann künftig leichter seine Arbeit aufnehmen und parallel seinen Berufsabschluss anerkennen lassen. Und wir werden ein transparentes, unbürokratisches Punktesystem einführen, wie andere Länder es längst getan haben, damit Personen, die hier arbeiten wollen und die nötigen Qualifikationen mitbringen, sich hier in Deutschland etwas aufbauen können, Karriere machen können. Dass wir Einwanderung und die Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt zusammen denken, hat nicht nur wirtschaftliche Gründe. Ich bin fest davon überzeugt, dass Integration von Erwachsenen am besten über den Arbeitsmarkt funktioniert. Wer Geld verdient und davon leben kann, wer sich eine Wohnung leisten kann, wer durch seine Arbeit Kontakte knüpft, Anerkennung erfährt und unsere Sprache lernt, der findet sich besser und schneller zurecht. Hürden und Verzögerungen auf dem Weg in den Arbeitsmarkt wegzuräumen, ist daher gut für unser Land und gut für diejenigen, die hier leben und arbeiten möchten. Viele tun das seit vielen Jahren, manche seit Jahrzehnten. Neun Millionen Bürgerinnen und Bürger leben und arbeiten in unserem Land, ohne dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen; wobei ich als jemand, der in Hamburg aufgewachsen ist, sage: Das mit den Bürgerschaftsmöglichkeiten ja auch ein ganz besonderes Kapitel. Es war nämlich über Jahrhunderte hinweg für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger keineswegs der Fall, dass sie sich zu den Bürger rechnen konnten. Erst modernerweise haben wir uns so weiterentwickelt, dass das für alle gilt, die dort leben, und selbstverständlich hat das auch etwas mit dem zu tun, was wir jetzt auf gesamtstaatlicher Ebene an Fortschritten zu erreichen suchen. Eine Demokratie aber lebt von der Möglichkeit, mitzubestimmen. So entsteht Legitimität, und so wächst auch die Akzeptanz für staatliche Entscheidungen. „Die Existenz einer Nation ist ein tägliches Plebiszit“, hat der französische Schriftsteller Ernest Renan einst geschrieben. Deshalb muss uns daran gelegen sein, dass Einwohnerschaft und Wahlvolk nicht auseinanderfallen, oder, etwas pragmatischer ausgedrückt: Wer auf Dauer hier lebt und arbeitet, der soll auch wählen und gewählt werden können, der soll Teil unseres Landes sein, mit allen Rechten und Pflichten, die dazugehören, und zwar völlig unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder religiösem Bekenntnis. Zu dem Berührendesten was ich als Politiker bislang erlebt habe, gehören die Einbürgerungsfeiern, die wir zu meiner Zeit als Bürgermeister im Hamburger Rathaus immer wieder organisiert haben. Ich will es ganz klar sagen: Ich habe dort in jedem Jahr vier oder fünf solcher Veranstaltungen durchgeführt, mit immer gleichem Ablauf, und ich war immer an der gleichen Stelle gerührt, an den mehreren gleichen Stellen, um ganz ehrlich zu sein, weil es mir immer wieder passiert ist. Ich musste dann irgendwie ganz systematisch cool gucken, damit es die anderen nicht merkten. Für die allermeisten der Neubürgerinnen und Neubürger war der Schritt, Deutsche oder Deutscher zu werden, die Einbürgerungsurkunde zu bekommen, was jedenfalls symbolisch für einige dort auch vor allen Augen passiert ist, und am Ende der Feier die Nationalhymne zu singen, erst recht ein ganz besonders emotionaler Moment. Viele haben jahrelang auf diesen Moment gewartet. Jeder und jede hatte eine eigene Geschichte zu erzählen. Einige haben mit der eigenen Einbürgerungsentscheidung auch gehadert und sie auch lange vor sich hergeschoben, oft, weil sie ihre frühere Staatsangehörigkeit und damit ein starkes Band zu ihrem Herkunftsland nicht aufgeben wollten, wobei ich auch gelernt habe, was es schon bedeutet hat, einen Brief zu bekommen, in diesem Fall vom Bürgermeister, in dem natürlich datenschutzrechtlich vollständig abgesichert sorgfältig stand: Sie sollten sich überlegen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu wählen. ‑ Ich erinnere mich jedenfalls daran, dass ich mehrfach von einigen angesprochen wurde: Woher hast du meine Adresse? ‑ Keine Sorge, der Datenschutzbeauftragte hat daraufgeschaut, und das alles ist „gemergt“ worden, sodass das alles mit den Unterschriften klappte. Die Adressen habe ich persönlich natürlich nie gesehen. Aber dieser Moment hat bei vielen etwas ausgelöst, weil sie plötzlich das Gefühl hatten, dass sie gemeint sind. Das hat den Unterschied gemacht. Was die Mehrstaatigkeit anbetrifft, habe ich nie verstanden, weshalb wir darauf bestanden haben. Zugehörigkeit und Identität sind nämlich kein Nullsummenspiel. Ich finde, es ist wichtig, dass wir wie mit dem Brief, über den ich eben gesprochen habe, diejenigen, die eine solche Entscheidung treffen, ermuntern und sie dabei unterstützen. Einige, die die Bürgerinnen und Bürger bei der Entscheidung unterstützt haben, sind die Einbürgerungslotsinnen und ‑lotsen, die damals in Hamburg dafür eingesetzt worden sind. Für diese wichtige Arbeit sage ich ihnen sicherlich auch im Namen von uns allen hier herzlichen Dank. Mit der von der Staatsministerin angesprochenen Einbürgerungskampagne des Bundes und der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts werden wir die Arbeit dieser Lotsen durch weniger bürokratischen Hürden für die Einbürgerung, kürzere Fristen und eben durch die Hinnahme der Mehrstaatigkeit erleichtern. Schon heute behalten rund 60 Prozent der Eingebürgerten ihre bisherige Staatsangehörigkeit. Auch das gehört, glaube ich, zu den weitgehend unbekannten Tatsachen unserer heutigen Realität. Aber es ist so. Für die anderen 40 Prozent ist oft schwer verständlich, warum das, was für eine Mehrheit derjenigen, die solche Anträge stellen, längst gilt, für sie im Einzelfall nicht gilt. Natürlich können wir alle die Gesetze aufsagen und erklären, warum es so ist. Aber Gerechtigkeitsvorstellungen entstehen auf diese Art und Weise nicht. Deshalb ist es gut, dass wir, die ganze Regierung, uns vorgenommen haben, das zu ändern, und zwar mit den Vereinbarungen, die wir uns für diese Legislaturperiode aufgeschrieben haben. Die Wege, die Frauen, Männer oder gleich ganze Familien in unser Land führen, sind ganz unterschiedlich. Saša Stanišić hat das in seinem großartigen Buch „Herkunft“ treffend beschrieben: „Jedes Zuhause ist ein zufälliges: Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, (…) Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will.“ Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer hatten in den letzten Monaten keine Wahl. Über eine Million von ihnen sind vor Russlands Bomben und Terror auch hier zu uns nach Deutschland geflüchtet. Wer vor Krieg und Verfolgung flieht, wer um sein Leben fürchten muss, der wird in Deutschland nicht abgewiesen. Er ist uns in unserem Land willkommen, und zwar nicht nur, weil wir die völkerrechtliche Pflicht haben, Asylsuchende bei uns aufzunehmen, sondern weil dieses Land, unser Land, mit seiner Geschichte und seinen Erfahrungen ganz bewusst die Würde jedes Einzelnen und jeder Einzelnen allem anderen voranstellt. Viele der Ukrainerinnen und Ukrainer wollen nichts lieber, als in ihre Heimat zurückzukehren, zu Ehepartnern, Vätern oder Eltern, nach Mariupol oder Cherson, nach Hause. Auch deshalb unterstützen wir die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf im Schulterschluss mit unseren internationalen Partnern, damit die Ukraine eine Zukunft in Frieden und Freiheit hat. Meine Damen und Herren, oft entscheiden Zufälle, wo man landet. Das Leben entscheidet, wie lange man bleibt. Saša Stanišić schreibt, sein Aufenthalt in Deutschland sei zunächst als kurzzeitige Rettung gedacht gewesen. Daraus ist wie bei so vielen anderen ein Bis-auf-Weiteres geworden und vielleicht ein Längst-für-immer. Es wäre ein Glück für unser Land. Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz zum 25. dbb Gewerkschaftstag am 29. November 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zum-25-dbb-gewerkschaftstag-am-29-november-2022-2146324
Tue, 29 Nov 2022 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Vorsitzender, lieber Herr Silberbach, sehr geehrte Delegierte und Mitglieder des dbb, liebe Angehörige des öffentlichen Dienstes, meine Damen und Herren, vor einigen Wochen war ich in Gifhorn zu Besuch, um mich vor Ort mit Bürgerinnen und Bürgern zu unterhalten, quer durch alle Alters- und Berufsgruppen. Eine Fragestellerin war die Personalratsvorsitzende des dortigen Jobcenters. Sie erzählte mir, wie sehr die geplante Reform bei der Vermittlung, Aus- und Weiterbildung die Jobcenter fordert. Und zudem, so hat die Dame mir berichtet, kümmern sich die Kolleginnen und Kollegen dort jeden Tag um Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor dem furchtbaren Krieg in ihrer Heimat zu uns geflohen sind und die nun hier arbeiten möchten. Von einer Zeitenwende habe ich im Februar mit Blick auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und den darin liegenden Bruch der europäischen Friedensordnung gesprochen. Das Beispiel aus Gifhorn zeigt: Diese Zeitenwende ist überall in unserem Land spürbar und sie macht vor unserm Land nirgendwo halt. Sie kommt im Jobcenter in Gifhorn an, genauso wie bei denjenigen, die in den letzten Monaten neue Energieinfrastruktur geplant und genehmigt haben, die die nötigen Gesetze und Verordnungen vorbereiten, die neue Windparks oder Solaranlagen genehmigen, die Flüchtlingsunterkünfte organisieren und Willkommensklassen einrichten, die bei der Bundeswehr neues Material beschaffen oder die in Bund, Ländern und Kommunen die Entlastungspakete umsetzen, die wir in den vergangenen Monaten geschnürt haben. Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen sind die Gestalter der Zeitenwende, meine Damen und Herren. Deswegen möchte ich mich auch vor dem Hintergrund mancher Diskussionen der vergangenen Tage – einige haben Sie eben zitiert – einmal gleich zu Anfang klar äußern: Deutschland braucht einen starken öffentlichen Dienst, gerade jetzt, gerade in diesen Zeiten! Sie und Ihre fünf Millionen Kolleginnen und Kollegen sind auch ein Rückgrat unseres Landes. Krisen, wie wir sie gerade erleben, sind immer auch Zeiten der Verunsicherung. Umso wichtiger ist dann ein Staat, der liefert, der spürbar an der Seite der Bürgerinnen und Bürger steht – zumal die Sorge vieler Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen vor Preissteigerungen, der nächsten Stromrechnung oder explodierenden Nebenkosten ja ganz real sind. Deshalb deckeln wir die Preise für Gas, Strom und Wärme auf ein immerhin verträgliches Maß. Deshalb sorgen wir für massive steuerliche Entlastungen. Deshalb erhöhen wir Kindergeld und Kinderzuschlag. Deshalb haben wir gerade die größte Wohngeldreform in der Geschichte unseres Landes auf den Weg gebracht. Bei all dem geht es darum, dass diejenigen, die jeden Tag hart arbeiten, die anpacken und unser Land voranbringen, aus eigener Kraft und mit eigener Kraft durch diese Krise kommen. Das gilt natürlich auch für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, und besonders für diejenigen in den einstelligen Besoldungs- und Tarifgruppen. Ich sage das auch vor dem Hintergrund der Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur amtsangemessenen Besoldung – eben haben Sie darauf angespielt. Das Bundesinnenministerium ist gerade dabei, die Vorgaben des Gerichts durch eine Änderung des Besoldungsgesetzes umzusetzen. Das dürfte für ein Plus gerade in den unteren Besoldungsgruppen und bei Familien mit vielen Kindern sorgen. Denn auch hier gilt: Leistung und Anstrengung müssen sich lohnen – gerade auch für diejenigen, die wie Sie Ihre Arbeitskraft in den Dienst der Allgemeinheit stellen. Die Zeitenwende, die mit Russlands Krieg gegen die Ukraine und dem Angriff auf die europäische Friedensordnung verbunden ist, hat den Handlungsdruck auf uns alle erhöht. Zugleich hat sie uns in aller Klarheit gezeigt, worin die zentralen Aufgaben unseres Staates liegen. Neben der Wahrung unserer Sicherheit – nach außen wie im Innern – geht es vor allem auch darum, die größte Transformation unseres Landes seit Beginn der Industrialisierung voranzubringen, um unseren Weg raus aus der Abhängigkeit von fossilen Energien. Wir haben uns vorgenommen, bis 2045 eines der ersten klimaneutralen Industrieländer zu werden, weil Energie eben nur so sicher und bezahlbar bleibt. Schon 2030 – das ist in gerade einmal sieben Jahren – wollen wir 80°Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien produzieren. Damit wir diese Ziele erreichen, müssen wir deutlich mehr Tempo machen als bisher. Wir haben in diesem Jahr drei große Gesetzespakete zur Planungsbeschleunigung beschlossen und dadurch zum Beispiel dem Ausbau erneuerbarer Energien Vorrang vor anderen Rechtsgütern gegeben. Das ist eine ganz konkrete Reaktion auf das Anliegen, das Sie eben ja auch formuliert haben: Wir müssen viele Genehmigungen, viele Entscheidungen schneller und zügiger zustande bringen. Das wird auch die Entscheidungsprozesse in den Verwaltungen erleichtern und beschleunigen. Dass und wie es geht, haben wir in den letzten Monaten erlebt. In einer für unser Land fast atemberaubenden Geschwindigkeit entstehen an der Nord- und Ostsee Flüssiggasterminals, mitsamt der nötigen Infrastruktur an Land. Auch Zukunftsprojekte wie die Ansiedlung von Tesla in Brandenburg oder von Intel in Sachsen-Anhalt haben unsere Verwaltungen in Bund, Ländern und Kommunen gemeinsam hervorragend vorangetrieben. Deshalb sage ich heute klipp und klar: Der deutsche öffentliche Dienst muss nicht beweisen, dass er Tempo machen kann. Sie machen Tempo, meine Damen und Herren. Sie wollen unser Land gestalten – das zeigen auch Ihre Leitanträge, die Sie hier beraten, die sich mit e-Government, Aus- und Weiterbildung, einem modernen Beamtentum oder flexiblem Arbeiten beschäftigen. Zugleich ist mir völlig klar: Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen in den Schulen, Ämtern, Gerichten und Krankenhäusern, bei der Polizei, beim Zoll, in der Bundeswehr, in unseren Ministerien und Behörden sind bei der Gestaltung der Veränderungen, die mit der Zeitenwende verbunden sind, auf die richtigen Rahmenbedingungen und auf politische Unterstützung angewiesen. Beides will ich Ihnen gern zusagen – auch deshalb bin ich heute hier. Durch diese schwierige Zeit gehen wir gemeinsam. Das beginnt mit einer Selbstverpflichtung seitens der Politik: Gesetzgebung und Verwaltungshandeln dürfen nicht auseinanderfallen. Deshalb denken wir die praktische Durchführbarkeit und die digitale Umsetzung bei allen Gesetzen und Verordnungen von Beginn an mit. Wir sorgen für schlankere, schnellere Verwaltungsverfahren und Verwaltungsgerichtsverfahren bei großen Infrastrukturvorhaben. Dazu bringen wir noch im Dezember neue Regelungen auf den Weg. Wir hören auf diejenigen, die die Regelungen am Ende umsetzen müssen. Bei den Preisbremsen für Strom, Gas und Wärme haben wir neben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern deshalb ganz bewusst auch Praktiker aus den Kommunen und Stadtwerken zu Rate gezogen. Gemeinsam für Tempo zu sorgen, das ist der modus operandi in dieser Zeitenwende. Zwei Felder liegen mir dabei besonders am Herzen, weil sie entscheidend für einen zukunftsfähigen öffentlichen Dienst und damit zugleich für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes sind. Erstens: Ein starker öffentlicher Dienst muss attraktiv für die besten Köpfe sein. Hier steht die Verwaltung in einem zunehmend harten Wettbewerb mit anderen Arbeitgebern – zumal wir im vergangenen Jahr auch angesichts der großen Aufgaben, die vor unserem Land liegen, für zusätzliche Stellen zum Beispiel bei der Bundespolizei gesorgt haben; Stellen, die nun auch mit guten Leuten besetzt werden müssen. Hinzu kommt, dass die geburtenstarken „Babyboomer“-Jahrgänge zunehmend in den Ruhestand gehen. Nebenbei: Wenn ich uns beide, lieber Herr Silberbach, als „Babyboomer“ bezeichne, habe ich immer ein seltsames Störgefühl. – Im öffentlichen Dienst betrifft das in den kommenden acht bis zehn Jahren rund 40 Prozent der Beschäftigten. Um diese Lücke füllen zu können, muss der öffentliche Dienst Frauen und Männer an sich binden, die unser Land gestalten wollen. Ein wichtiger Faktor dabei ist natürlich eine faire und wettbewerbsfähige Bezahlung. Dazu möchte ich mich heute ausdrücklich bekennen. Die Novelle des Bundesbesoldungsgesetzes habe ich ja schon erwähnt. Aber die Attraktivität eines Arbeitsplatzes geht weit über das Finanzielle hinaus. Wer wüsste das besser als die Männer und Frauen, die sich als Teil des öffentlichen Dienstes per definitionem für die Belange der Allgemeinheit stark machen? Viele sagen: Die Attraktivität des öffentlichen Dienstes gerade in Krisenzeiten ist vor allem das Resultat eines Strebens nach Sicherheit. – Doch das überzeugt mich nicht. Natürlich ist eine sichere Arbeitsstelle ein entscheidendes Merkmal einer Tätigkeit für den Staat. Aber darüber hinaus hat sich auch die Wahrnehmung des öffentlichen Dienstes verändert, nicht zuletzt, weil doch jeder sehen kann, welch große Transformationsaufgaben in den nächsten Jahren vor unserem Staat liegen und vor denjenigen, die wie Sie Staat machen. Wer sich als junge Frau oder junger Mann heute für den Klimaschutz und für erneuerbare Energien engagieren möchte, der muss sich dafür eben nicht auf Landebahnen von Flughäfen festkleben. Er und sie kann von den Bau- oder Umweltämtern der Kommunen angefangen bis hin zu den Bundesministerien die Dinge in unserem Land ganz konkret voranbringen und verbessern. Genau das ist doch die Rolle des öffentlichen Dienstes in unserer Zeit. Auch der öffentliche Dienst selbst ist dabei sich zu verändern, und zwar, wie ich finde, zum Besseren. Mehr Flexibilität etwa in Sachen von Homeoffice ist seit der Pandemie zur neuen Normalität geworden. Das erhöht die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – etwas, das vielen Bewerberinnen und Bewerbern heute nachvollziehbarerweise sehr wichtig ist. Wir haben uns vorgenommen, auch die Möglichkeiten berufsbegleitender Qualifizierungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten im öffentlichen Dienst zu verbessern, um mit Digitalisierung, Technologisierung und Transformation schrittzuhalten. Wir erleichtern Zugänge zu bestimmten Beamtenlaufbahnen und den Aufstieg, indem wir Zugangsvoraussetzungen verändern und weitere zentrale Aufstiegslehrgänge einrichten. Schließlich wächst die Attraktivität des öffentlichen Dienstes auch, wenn die Arbeitsabläufe moderner und digitaler werden. Sie haben es schon erwähnt. Damit bin ich beim zweiten Punkt, der mir besonders wichtig ist: der Digitalisierung unserer Verwaltung. „Alle Verfahren“, so heißt es in Ihrem Leitantrag dazu, „sollen von Anfang bis zum Ende vollständig digital sein. Auf einen digitalen Antrag auf einer Bürgerseite dürfe kein analoger Prozess in der Verwaltung folgen.“ Besser hätte ich es nicht formulieren können. Es sollte nicht sein, dass man leichter per App einen Flug bucht, als eine Wohnsitzummeldung beim Bürgeramt vorzunehmen. Dafür haben die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland überhaupt kein Verständnis mehr. Dazu gehört auch, dass wir bei der Nutzung einer sicheren digitalen Identität vorankommen. Denn darin liegt der Schlüssel für digitale Behördengänge, von der elektronischen Ummeldung bis hin zur Abgabe der Steuererklärung. Bislang war die Reihenfolge in Sachen Digitalisierung meist so: Erst kam das Gesetz, dann die Umsetzung und zu allerletzt hat man sich Gedanken gemacht, ob das auch digital funktioniert. Mit dem Digitalcheck wird das in Zukunft genau andersherum sein. Ziel ist es, Gesetze von Anfang an digitaltauglich auszugestalten. Bei der Kindergrundsicherung werden wir das zum ersten Mal ausprobieren. Ich bin sicher, dass das Schule machen wird. Auch bei der konkreten Umsetzung digitaler Lösungen bieten wir Unterstützung an. Dafür gibt es den DigitalService des Bundes, ein Unternehmen, das nutzerfreundliche Lösungen entwickelt, wie beispielsweise ein Tool zur Berechnung der Grundsteuer, das mittlerweile schon über eine halbe Million Nutzerinnen und Nutzer verwendet haben. Das sind Menschen, die auch so etwas wie die Corona-Warn-App entwickeln können, wenn es das nächste Mal ansteht. Jedenfalls habe ich ziemlich gute Berichte über sie bekommen. Meine Damen und Herren, ich habe eingangs die Personalratsvorsitzende beim Jobcenter in Gifhorn erwähnt, die mir berichtet hatte, wie sie und ihre Kolleginnen und Kollegen – in Anführungsstrichen – ganz normale Arbeit machen, zugleich noch Geflüchtete betreuen und sich zudem auf die neuen Regeln etwa des Bürgergelds vorbereiten. Darin lag wohlgemerkt keine Klage. Es war eher eine Feststellung: „Wir kümmern uns“, eine Feststellung, wie sie auch im Motto Ihres heutigen Gewerkschaftstags steckt: „Staat. Machen wir.“ Staat machen Sie, und das sehr gut. In diesen Zeiten, in denen wir erleben, wie sich viele Dinge schnell ändern – von der Zeitenwende habe ich ja gesprochen –, kommt es auf dieses Engagement für die öffentliche Sache, für die res publica umso mehr an. Dafür danke ich Ihnen und all Ihren Kolleginnen und Kollegen von ganzem Herzen. Ganz besonders Ihnen, lieber Herr Silberbach. Herzlichen Glückwunsch zur Wiederwahl als Vorsitzender des dbb! Ihnen und Ihrem Team wünsche ich weiterhin alles Gute, viel Kraft und eine glückliche Hand. Schönen Dank!
in Berlin
Rede von Kulturstaatsministerin Roth anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 30. Jahrestag der Brandanschläge von Mölln
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/30-jahre-moelln-2146236
Wed, 23 Nov 2022 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Mölln
Kulturstaatsministerin
Aufarbeitung,Gedenken
Bahide Arslan wäre heute 81 Jahre alt. Was würde sie über das Land denken, in das sie vor 55 Jahren kam? Was würde sie sagen, eine starke, selbstbestimmte Frau, hätten Rassisten und rechtsextreme Brandstifter nicht ihr Haus angezündet, wäre sie nicht in den Flammen umgekommen, zusammen mit ihrer vierzehnjährigen Nichte Ayşe und ihrer zehnjährigen Enkelin Yeliz? Heute vor dreißig Jahren. Was dachte Bahide Arslan nach den Ausschreitungen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen? Was hätte sie empfunden, wüsste sie von Solingen und Hanau oder von der tödlichen Bilanz des NSU–Nationalsozialistischer Untergrund? Zehn Morde, 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle in sieben Jahren? Was hielte sie von sogenannten „Döner-Morden“ und einer Sonderermittlungskommission mit dem Namen „Bosporus“? Ich empfinde tiefen Schmerz, wenn ich daran denke, was hier vor dreißig Jahren geschah – aber mehr noch Scham. Scham über die Menschenfeindlichkeit und Scham über die Gleichgültigkeit, mit der darüber hinweggegangen wurde, über den Umgang mit den Opfern und ihren Angehörigen – falsche Beschuldigungen, fehlende Anteilnahme, Verdächtigungen und Verdrängung. Es sind offene Wunden, auch 30 Jahre danach. Der Schmerz der Familie muss auch unser aller Schmerz sein. „Das Erinnern erkämpfen“ – Unter diesem Motto hat sich İbrahim Arslan deshalb vor zehn Jahren auf den Weg gemacht. Ibrahim Arslan, der als kleiner Junge die Flammen überlebte, kämpft seitdem für eine andere Kultur des Gedenkens und Erinnerns in Deutschland. Sie soll die Angehörigen rassistischer Morde und Anschläge einbeziehen und gegen das Vergessen kämpfen. Erst im Frühjahr war ich hier in Mölln, habe die Ausstellung des Vereins „Miteinander leben“ besucht und mit ihm darüber gesprochen. Wir waren uns sehr einig: Das Leid der Opfer und ihrer Hinterbliebenen findet bis heute viel zu wenig öffentliche Beachtung. Deshalb werden wir dafür sorgen, dass das Verbrechen von Mölln Teil unserer gemeinsamen Erinnerungskultur wird. Wir werden die Erinnerung an dieses dunkle Kapitel deutscher Gegenwart wachhalten. Dazu gehören Orte des Gedenkens, dazu gehören aber auch wissenschaftliche Einrichtungen zur Dokumentation und Aufarbeitung des rassistisch motivierten Rechtsterrorismus in unserem Land. Denn Mölln, Hoyerswerda, Rostock, Solingen, der Terror des NSU–Nationalsozialistischer Untergrund, der Anschlag am Münchner Olympia-Einkaufszentrum, die Anschläge von Halle und Hanau – es sind keine Einzelfälle. Das ist eine lange Spur rassistischen, rechtsextremistischen Terrors in Deutschland. Und immer wieder, nach jedem dieser Einzelfälle, sagen wir: So etwas darf nie wieder geschehen. Aber: Es geschieht wieder. Das heißt für uns: Wir müssen mehr dagegen tun. Wir müssen mehr tun gegen Rechtsextremismus, gegen rassistische Ressentiments und gegen Menschenfeindlichkeit. Und: Wir müssen aber auch mehr tun gegen das Verdrängen und Vergessen. Es darf nicht sein, dass sich Opfer und Angehörige das Erinnern und das Nicht-Vergessen erst erkämpfen müssen, wie es Ibrahim Arslan getan hat. Wir sind als demokratische Gesellschaft in der Pflicht: Gegen das Verdrängen und gegen das Vergessen einzutreten. Wir brauchen dabei einen Perspektivenwechsel, hin zu den Opfern und Betroffenen. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen, ihre Verletzungen gilt es wahrzunehmen und stärker als bisher ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Denn ihre Geschichten sind es, die uns alle direkt in die Verantwortung nehmen. Die Verbrechen konnten in unserer demokratischen Gesellschaft, gleichsam unter unseren Augen, geschehen. Wenn wir diese Erinnerungsarbeit gemeinsam und als Gesellschaft mit den Opfern und Angehörigen leisten, dann dient das weit mehr als nur der Trauer und Trauerbewältigung. Es ist eine Mahnung, eine Mahnung zur Solidarität, gegen Menschenfeindlichkeit und für Veränderungen hin zu einer Gesellschaft, in der alle Menschen frei und ohne Angst leben können.
Am 23. November 1992 starben Bahide Arslan, ihre Nichte Ayşe und ihre Enkelin Yeliz bei Brandanschlägen in Mölln. Anlässlich des 30. Jahrestags nahm die Kulturstaatsministerin an einer Gedenkveranstaltung teil. „Wir brauchen einen Perspektivenwechsel, hin zu den Opfern und Betroffenen“, sagte Claudia Roth. „Ihre Erlebnisse und Erfahrungen, ihre Verletzungen gilt es wahrzunehmen und stärker als bisher ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.“
Rede von Kulturstaatsministerin Roth zur Verleihung des Deutschen Buchhandlungspreises 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-bhp-2022-2145926
Sun, 30 Oct 2022 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Kultur
Als er längst ein weltberühmter Schriftsteller war, hat Mark Twain erwähnt, dass er früher auch einmal Buchhändler gewesen sei. Er habe es aber aufgegeben, weil ihn die Kunden beim Lesen störten. Das ist nicht nur eine witzige Bemerkung. Sie macht zugleich die mindestens zwei Voraussetzungen klar, die der Beruf des Buchhändlers verlangt, von denen Mark Twain offenkundig eine fehlte. Unentbehrlich ist natürlich die Liebe zu Büchern, ohne sie kommt keine Buchhändlerin und kein Buchhändler aus. Ebenso wichtig aber ist die Nähe zur Kundschaft, die Empathie für Leserinnen und Leser. Wer eine Buchhandlung betritt, wird nicht immer eine fachkundige, engagierte und freundliche Beratung benötigen, aber er wird sie für den Fall erwarten, dass er sie benötigt. Das erst macht die gute, die unentbehrliche Buchhändlerin und den guten, unentbehrlichen Buchhändler aus. Und deshalb hat Philippe Djian recht, wenn er sagt: „Wenn es mir schlecht geht, gehe ich nicht in die Apotheke, sondern zu meinem Buchhändler.“ Sie, meine Damen und Herren, sind, im besten Sinne, Kontaktberaterinnen und Kontaktberater. Sie vermitteln den Kontakt zwischen Buch und Leserin und Leser. Sie sind aber auch Brückenbauerinnen und Brückenbauer, Wegbereiterinnen und Wegbereiter, öffnen uns den Weg in die Welt des Buches und „von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die Gewaltigste.“ Heinrich Heine hat es so richtig beschrieben. Es ist der Weg in ferne, unbekannte Welten, der Weg zu Träumen und Sehnsüchten, zur Magie der Poesie, in die Lebensgeschichten, die Kämpfe, das Leiden, die Liebe, das Glück von starken Frauen und Männern. Es ist der Weg zum immer wieder verschlungenen skandinavischen Krimi, das sich Fallenlassen in die großen Sagas der Literatur, das Verzweifeln am neuen Sachbuch. Es ist der Weg zum allerersten Kinderbuch – noch heute geschützt im Regal – zum neuesten Comic, zur neuesten Graphic Novel. Und auch bei den schwierigen Wegen helfen Sie uns: „Ein Buch muss eine Axt sein für das gefrorene Meer in uns“. Franz Kafka macht Sie, liebe Buchhändlerinnen und Buchhändler, alle zu Eisbrecherinnen und Eisbrecher in kalten Zeiten. Wenn diese Wege gelingen auf der Suche nach dem richtigen Buch, dann ist es jedes Mal ein wunderbares kleines Ereignis, bereichernd für die Leserinnen und Leser und beglückend für die Vermittlerinnen und Vermittler, Wegbereiterinnen und Wegbereiter. Und das ist Ihnen, liebe Buchhändlerinnen und Buchhändler, im vergangenen Jahr herausragend gelungen. Mit immer auch neuen Formaten haben Sie das Buch in den Mittelpunkt gestellt. Das wollen wir heute mit Ihnen feiern. Und deswegen sind wir hier im Goldenen Saal des Augsburger Rathauses versammelt, einem der Glanzpunkte der Renaissance in Deutschland und dem allerschönsten Ort, den wir Ihnen in Augsburg bieten können. Wir feiern Sie heute aber nicht nur als herausragende Buchhändlerinnen und Buchhändler, sondern als wesentliche und unverzichtbare Pflegerinnen und Pfleger unserer Kultur und ihrer ganzen Vielfalt. Und das ist überlebenswichtig in Zeiten, die gequält sind von Krisen, Konflikten und von Krieg. Denn Kultur ist kein „nice to have“, das wir uns nur in guten Zeiten leisten können. Weil Kultur eine Stimme der Demokratie ist, ihre mächtigste Stimme. Sie gibt Identität, aber sie verlangt keine Unterordnung. Sie will Engagement, Auseinandersetzung, auch Streit. Ohne das gibt es keine Kunst, keine Literatur und auch keine Musik. Die Kultur, das sind wir. Wir, so wie wir leben, lieben, arbeiten, empfinden und uns ausdrücken. Deshalb ist das erste Ziel eines Diktators wie Wladimir Putin, der sich erst sein eigenes Land unterworfen hat und nun die Ukraine unterwerfen will, immer die Kultur. Dieser schreckliche Krieg ist nicht nur ein aggressiver Angriffskrieg gegen Kinder, Frauen und Männer, der Millionen Menschen in die Flucht treibt, es ist nicht nur ein Propagandakrieg, es ist auch ein Krieg gegen die Kultur. Mit ihnen, mit den Ukrainerinnen und Ukrainern, so will es der Kriegsherr im Kreml, soll die Kultur der Ukraine sterben, Opernhäuser, Museen, Archive, Theater, Bibliotheken. Bücher werden verbrannt mit dem Ziel, die kulturelle Identität der Ukraine auszulöschen. Und deshalb ist Kulturpolitik, die die Freiheit schützt, die Freiheit der Meinung und der Kunst, immer auch Sicherheitspolitik. Deswegen sage ich: Wenn wir es ernst meinen mit der Kultur, mit ihrer Freiheit und ihren Werten, die für alle Menschen gelten, und wenn wir diese Freiheit verteidigen wollen, dann unterstützen wir jetzt alle diejenigen, die für diese Werte eintreten. Dann wehren wir uns gegen jede Vereinnahmung und Instrumentalisierung von Kultur, dann widerstehen wir Versuchen von Kulturboykotten und öffnen unser Land für die, die heute auf der Flucht sind vor Kriegstreibern, Autokraten und verbrecherischen Regimen. Und dann stärken, bewahren und beschützen wir bei uns die Kultur als Stimme der Demokratie – so wie Sie es jeden Tag in ihren Buchhandlungen tun. Dafür mein herzlicher Dank! Sie haben anstrengende Jahre hinter sich, nicht zuletzt die Pandemie war für viele Buchhandlungen eine existenzielle Bedrohung – vor allem in den Ländern, wo sie leider geschlossen bleiben mussten. Aber Sie haben sie – mit neuen Vertriebswegen, Social-Media-Aktivitäten und vielfältigen digitalen Veranstaltungen – also mit viel Mut und Phantasie bewältigt. Aber: Es gibt noch keinen Grund zur Entwarnung, neue Probleme sind da. Das gilt insbesondere für die enormen Preissteigerungen bei Rohstoffen und Produktionskosten, die sowohl die Verlage als auch den Buchhandel vor neue Herausforderungen stellen. Diesen Herausforderungen stellen Sie sich als Unternehmerinnen und Unternehmer. Wir unterstützen Sie dabei. Auch und besonders über faire Rahmenbedingungen. Der Buchpreis ist dazu das wichtigste Instrument. Er ist sozusagen das ethische Minimum, indem er mit dafür sorgt, dass Ihre Beratungsleistung, Ihre Bücherbegeisterung und Ihre Kundenorientierung gewürdigt werden. Und verhindert, dass Bücher als simple „Produkte“ zum Beispiel durch den Online-Handel unterboten werden. Dafür werden wir auch in Zukunft sorgen. Wir wollen keinen Preiskampf nach unten, wir sind aber offen für gemeinsame Lösungen und neue Ideen der Branche, wenn diese den Buchhandel noch stärker unterstützen. Ich freue mich nicht nur, Ihre Auszeichnung heute mit Ihnen zusammen in meinem Augsburg feiern zu können. Nicht weniger freut mich selbstverständlich, dass eine der Ausgezeichneten die wunderbare Augsburger Buchhandlung „Am Obstmarkt“ ist, die das Werk des großen Augsburger Dramatikers und Lyrikers Bert Brecht in einem eigenen Raum präsentiert. Auf ihrer Website weist sie auf das jüngste Buch des diesjährigen Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels hin, des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan. Es trägt den Titel „Himmel über Charkiw“ und überbringt Nachrichten aus dem Krieg. Darin heißt es: „Selbstverständlich ist das Menschenleben das Wertvollste. Aber was ist der Sinn des Lebens ohne Museen, Theater, Bibliotheken und Buchhandlungen?“ Die Antwort auf diese Frage geben Sie, meine Damen und Herren, jeden Tag in ihren Buchhandlungen. Dafür gebührt Ihnen nicht nur Dank, sondern von ganzem Herzen auch die heutige Auszeichnung, der Deutsche Buchhandlungspreis. Herzlichen Glückwunsch!
Kulturstaatsministerin Roth würdigte das Engagement der Buchhandlungen in der Pandemie und sicherte Unterstützung auch in der Energiekrise zu – insbesondere durch faire Rahmenbedingungen, wie die Buchpreisbindung. „Wir wollen keinen Preiskampf nach unten, wir sind aber offen für gemeinsame Lösungen und neue Ideen der Branche, wenn diese den Buchhandel noch stärker unterstützen“, so Roth im Goldenen Saal des Augsburger Rathauses.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Verleihung des Deutschen Afrika-Preises am 25. November 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-verleihung-des-deutschen-afrika-preises-am-25-november-2022-in-berlin-2145792
Fri, 25 Nov 2022 00:00:00 +0100
Berlin
Liebe Frau Dr. Eid, Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, verehrte Gäste, vor allem: sehr geehrter Herr Professor de Oliveira und sehr geehrter Herr Dr. Moyo, fast auf den Tag genau ein Jahr ist es her, dass der Weltgesundheitsorganisation aus Südafrika eine neue Variante des Corona-Virus namens Omikron gemeldet wurde. Wir haben das alles eben schon ausführlich gehört. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, weil hier in Deutschland zu dieser Zeit gerade die Verhandlungen über eine neue Regierungskoalition stattfanden. Die noch amtierende und die sich gerade bildende Bundesregierung suchten damals gemeinsam nach einem Weg, unserem Land eine weitere, heftige Pandemiewelle zu ersparen. Eine deutsche Boulevard-Zeitung machte in diesen Tagen mit der Schlagzeile auf: „Die Lockdown-Macher“. Gemeint waren damit nicht primär die Politikerinnen und Politiker, sondern Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich für einen vorsichtigen Umgang mit der neuen Virus-Variante ausgesprochen hatten. Im Geheimen seien Knallhart-Maßnahmen von Experten ausgetüftelt worden, so hieß es reißerisch in der Berichterstattung. Das war natürlich Quatsch. Aber Unterstellungen und Anfeindungen gegen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gab es ziemlich viele. Sie, sehr geehrter Herr Professor de Oliveira, und Sie, sehr geehrter Herr Dr. Moyo, haben das auf erschreckende Weise erfahren. Nach Ihren bahnbrechenden, lebensrettenden Entdeckungen schlugen Ihnen nicht etwa der gebotene Dank und die nötige Hochachtung vor Ihrer wissenschaftlichen Leistung entgegen. Vielmehr wurden Ihnen persönlich die Reisebeschränkungen und Grenzschließungen angelastet, die zahlreiche Staaten nach der Entdeckung neuer Virus-Varianten verhängten – mit gravierenden Folgen für Ihre Länder, deren Tourismus und Wirtschaftskraft. Es war vielleicht das größte Paradox der Pandemie: Einerseits war das öffentliche Interesse an Forschungsergebnissen nie zuvor so groß. Von „Alpha-Variante“ bis „Zoonose“ gehörten ausgewiesene Fachbegriffe plötzlich zum allgemeinen Sprachgebrauch. Andererseits gab es wohl noch nie eine so große Skepsis, ja, eine so vehemente Ablehnung gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen und gegenüber den Männern und Frauen, die sie uns liefern. Dabei verdanken wir ihnen nicht nur das Wissen über das Virus und seine Varianten. Sondern wir verdanken den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auch in Rekordzeit entwickelte Impfstoffe, Tests und Medikamente – und damit überhaupt einen Ausweg aus der Pandemie. Es gehört zu den ganz großen Leistungen, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit nicht von ihrer Arbeit haben abbringen lassen – auch Sie nicht, sehr geehrter Herr Professor de Oliveira, und sehr geehrter Herr Dr. Moyo. Ihrer wissenschaftlichen Exzellenz und Ihrem couragierten Handeln ist es zu verdanken, dass die Beta- und Omikron-Varianten des Corona-Virus frühzeitig entdeckt und gemeldet wurden. So konnte sich die Welt besser vorbereiten. So konnten Menschenleben gerettet werden. Mit Ihnen bekommt der Deutsche Afrika-Preis zwei hochverdiente Träger. Danke für alles, was Sie für unsere Welt in dieser Krise geleistet haben! Meine Damen und Herren, mit dem Deutschen Afrika-Preis zeichnen wir heute nicht nur zwei hervorragende Wissenschaftler aus. Dieser Preis und die Geschichte seiner beiden neuen Träger gibt uns Anlass, unsere Perspektive auf Afrika zu hinterfragen, eine Perspektive, die oft noch von alten, längst überholten Denkmustern geprägt ist. Dazu gehört die Einteilung der Welt in einen reichen, vermeintlich immer fortschrittlicheren Norden, und einen angeblich armen und bedürftigen, stets hinterherhinkenden Süden. Ich denke, auch mit den heutigen Preisträgern wird deutlich: Afrika hinkt nicht hinterher. Es ist kein Zufall, dass mit Ihnen, Herr Professor de Oliveira, und mit Ihnen, Herr Dr. Moyo, ein Bioinformatiker und ein Virologe ausgezeichnet werden. Seit Jahren findet auf diesem Gebiet Spitzenforschung in Afrika statt. Auch das ist ein Beweis für den Fortschritt der Staaten Afrikas. Und es ist auch gut für Europa, wenn Afrika seine Ressourcen entfaltet. Schließlich sind keine zwei anderen Kontinente so eng, so schicksalhaft miteinander verbunden wie Afrika und Europa. Ja, der Kolonialismus hat tiefe Spuren hinterlassen. Davon zeugen die – teils in Unkenntnis, teils in infamer Ignoranz – mit dem Lineal am Reißbrett gezogenen Grenzen afrikanischer Staaten, die Völker und Kulturen zerschneiden. Davon zeugen Ortsnamen und Verkehrssprachen, Städte, Häfen und Verkehrswege, die über Jahrhunderte hinweg letztlich einem Zweck dienten: Afrikas Reichtum möglichst effektiv nach Europa zu schaffen. Der richtige Umgang mit diesem Erbe kann aus meiner Sicht nur darin bestehen, uns viel differenzierter als bisher, mit viel mehr Neugier, Respekt und ehrlichem Interesse mit unserem engsten Nachbarkontinent zu beschäftigen – ein Kontinent, der von Tunis bis zum Kap der Guten Hoffnung, von Dakar bis zum Horn von Afrika ja ein Kaleidoskop völlig unterschiedlicher Völker, Sprachen und Kulturen, Geschichtsverläufe, sozialer und politischer Organisationsformen ist. Man sollte meinen, gerade wir Europäer sollten dafür ein ganz besonderes Verständnis haben – schließlich gleichen sich Afrika und Europa auch in dieser Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit mehr als andere Kontinente. Ich weiß, liebe Uschi Eid, für dieses Verständnis werben Sie und die Deutsche Afrika-Stiftung jeden Tag mit vollem Einsatz und Engagement. Dafür auch an dieser Stelle ein ganz herzliches Dankeschön! Meine Damen und Herren, die Welt des 21. Jahrhunderts wird keine Welt mit nur einem oder zwei starken Machtzentren sein. Sie wird multipolar sein: eine Welt, in der auch Afrika aufgrund seiner Demografie, seiner wachsenden Wirtschaftskraft, seines – durch die Vielzahl der Länder und Staaten – großen Einflusses im multilateralen Gefüge und seiner kulturellen Bedeutung zu einem globalen Gravitationszentrum wird. Auch andere haben diesen Bedeutungszuwachs Afrikas längst erkannt – und nutzen ihn auf ihre Weise, etwa wenn man Investitionen aus China oder militärische Aktivitäten aus Russland betrachtet. Das aber ist natürlich nicht, worum es geht. Deshalb war es mir ein großes Anliegen, früh in meiner Amtszeit – Sie haben freundlicherweise darauf hingewiesen – den Kontakt mit afrikanischen Kolleginnen und Kollegen zu suchen und gleich nach Niger, Senegal und Südafrika zu reisen. Darum habe ich den Vorsitzenden der Afrikanischen Union und den Präsidenten Südafrikas zum G7-Gipfel nach Deutschland eingeladen. Und deshalb habe ich mich während der VN-Generalversammlung und ganz besonders intensiv auch in den vergangenen Wochen – bei der Klimakonferenz in Ägypten und beim G20-Gipfel in Bali – mit meinen afrikanischen Kollegen ausgetauscht. Dass vom G20-Gipfel ein so starkes Signal der Geschlossenheit gegen Russlands Angriff auf die Ukraine ausging, der zugleich ein Angriff auf fundamentale Prinzipien der UN-Charta ist, war auch ein Ergebnis dieser engen Abstimmung zwischen Afrikanern und Europäern. Darin spiegelt sich übrigens eine weitere Gemeinsamkeit zwischen unseren beiden Kontinenten: Wir gehören nicht zu denen, die für sich allein groß und mächtig genug sind, um in einer regellosen Welt zurechtzukommen. Deshalb müssen wir all unsere Energie darauf richten, die Stärke des Rechts gegenüber dem Recht des Stärkeren zu verteidigen und darüber hinaus neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit entwickeln. Wenn ich von einer schicksalhaften Verbindung zwischen Afrika und Europa spreche, dann geht es mir daher nicht nur um unsere Vergangenheit und Gegenwart. Ich denke an eine echte afrikanisch-europäische Zukunftspartnerschaft, deren erste Konturen wir beim Gipfel zwischen Afrikanischer und Europäischer Union im Februar umrissen haben. Auf der Suche nach gleichgerichteten Interessen, die eine solche Partnerschaft ausmachen, wird man schnell fündig. Da ist natürlich das Feld, auf dem sich unsere beiden heutigen Preisträger bewegen: Pandemien wie Covid sind nur ein Beispiel dafür, dass sich all die großen globalen Krisen unserer Zeit nur gemeinsam lösen lassen. Schließlich hat das Virus trotz aller Eindämmungsmaßnahmen vor keiner Landesgrenze Halt gemacht. Im Umgang mit Corona wird auch deutlich, wie sehr wir Europäer von den Erfahrungen Afrikas profitieren können. Kaum eine andere Region der Welt kann auf so viel Erfahrung mit Impfkampagnen zu Infektionskrankheiten zurückblicken wie Afrika. Umgekehrt haben wir gemeinsam mit der Afrikanischen Union, mit der EU und mit dem Unternehmen BioNTech dafür gesorgt, dass zum Beispiel in Südafrika oder Ruanda neue mRNA-Impfstoffe produziert werden können. Zugleich ist Deutschland zweitgrößter Unterstützer der internationalen Impfkampagne, in deren Rahmen inzwischen auch Millionen Menschen in Afrika geimpft werden. Dieser Ansatz – afrikanische und europäische Interessen in gemeinsames Handeln umzumünzen – lässt sich auch auf andere Felder übertragen. Unsere allzu große Abhängigkeit von Energie aus Russland hat uns Deutschen doch gezeigt, wie elementar wichtig vielfältige Liefer- und Handelsbeziehungen sind. Afrika mit seinen großen Rohstoffvorkommen und seinem riesigen Potenzial an erneuerbaren Energien und bei der Erzeugung von grünem Wasserstoff, der Energie der Zukunft, ist unser Wunschpartner, wenn es um Diversifizierung und den Weg in eine klimaneutrale Zukunft geht. Und europäische Unternehmen, die auf Nachhaltigkeit und menschenwürdige Produktionsbedingungen Acht geben, können vor Ort in Afrika für Wertschöpfung und gute Arbeitsplätze sorgen. Afrika ist zudem der jüngste und der am schnellsten wachsende aller Kontinente. Wenn es uns gelingt, Afrikas Jugend gut auszubilden, dann bringt das unglaubliche Entwicklungschancen – zuallererst natürlich in Afrika selbst, aber auch für ein alterndes Europa, das schon heute auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen ist. Sicherheit für unsere beiden Kontinente lässt sich aus meiner Sicht ohnehin nur im afrikanisch-europäischen Schulterschluss schaffen. Zu sehr ist hier unser Schicksal verknüpft, etwa auch, wenn es um Geißeln wie den Terrorismus, Drogenhandel oder organisierte Kriminalität geht. Die nationale Sicherheitsstrategie, an der wir zurzeit arbeiten, wird das widerspiegeln. Und wenn ich von Sicherheit spreche, dann schließt das Nahrungsmittelsicherheit, aber zum Beispiel auch Rohstoffsicherheit ein. Nicht zuletzt arbeiten wir an einer immer tieferen politischen und wirtschaftlichen Integration unserer Kontinente. Dafür stehen die Europäische und die Afrikanische Union. Europa hat allergrößtes Interesse, den Weg hin zu einer transkontinentalen afrikanischen Freihandelszone mit aller Kraft zu unterstützen. Und unsere Unternehmen kann ich nur auffordern, von Anfang an die Chancen zu nutzen, die diese visionäre Entwicklung birgt. Meine Damen und Herren, eine afrikanisch-europäische Zukunftspartnerschaft, die aus gleichgerichteten Interessen gemeinsames Handeln macht, entsteht natürlich nicht allein auf Regierungsebene. So wichtig Absprachen zwischen Staaten sind -persönliche Begegnungen zwischen unseren Gesellschaften – in der Kultur, in der Wissenschaft oder der Wirtschaft – können sie nicht ersetzen. Auch deshalb sind wir heute Abend hier. Auch für solche Begegnungen steht der Deutsche Afrika-Preis. Herr Professor Oliveira und Herr Dr. Moyo, Sie sind uns Inspiration und Ansporn, den Blick zu weiten, alte Denkmuster zurücklassen und neue Partnerschaften zu suchen. Ich gratuliere Ihnen herzlich zum Deutschen Afrika-Preis 2022!
Rede von Staatsministerin Claudia Roth zur Filmvorführung im Rahmen des Internationalen Roma-Filmfestivals AKE DIKHEA
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-claudia-roth-zur-filmvorfuehrung-im-rahmen-des-internationalen-roma-filmfestivals-ake-dikhea-2144186
Mon, 24 Oct 2022 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
– Es gilt das gesprochene Wort.- Als Zilli Schmidt, über deren Tod ich sehr traurig bin, 1950 in meiner Heimatstadt Augsburg einen Antrag auf Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts beim Bayerischen Landesentschädigungsamt stellte, zog das ein jahrelanges Verfahren nach sich. Denn „rassische Gründe“, befand das Bayerische Landeskriminalamt im Sommer 1955, fünf Jahre später (!), hätten bei der Festnahme Zilli Schmidts ja „kaum unterstellt werden können“ (Zitat Ende). Das begangene Unrecht von Zilli Schmidt war vielmehr, dass sie eine Sinteza war. Und „Zigeuner“, wie man sie damals nannte, galten nicht nur als Verbrecher, das Wort war ein Synonym für Verbrecher. Und genau so hatten es die NS-Beamten, die Zilli abgeholt hatten, auch zu Protokoll gegeben: „Straftat: Zigeunerin“ – steht auf der Erkennungskarte der Kriminalpolizeileitstelle. In Schleswig-Holstein wurde der Antiziganismus 1946 verboten. Auf Anweisung der britischen Militärregierung verfügte der Chef der Polizei, Sinti und Roma dürften nicht aufgrund ihrer rassischen Zugehörigkeit durch besondere polizeiliche Kontrollen benachteiligt werden. Aber schon im August 1948 war es damit vorbei. Drei Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, nach dem Ende des Holocaust und des Porajmos – dem Völkermord an fünfhunderttausend Sinti und Roma – erging ein Erlass der schleswig-holsteinischen Landespolizeiverwaltung zur „Bekämpfung des Zigeunerwesens“. Den Polizeibeamten wurde befohlen, „auf die Zigeuner ihr besonderes Augenmerk zu richten und festgestellte strafbare Handlungen unnachsichtig zur Anzeige zu bringen“. Zur Vorbeugung von Straftaten seien „namentlich die größeren Banden unter polizeilicher Kontrolle zu halten“. Damit wurde der Antiziganismus in Schleswig-Holstein auf dem Dienstweg wieder eingeführt. Einige Monate später, im Mai 1949 ist das Grundgesetz mit dem Versprechen in Kraft getreten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ In diesem wunderbaren Satz kommt die Würde des Menschen, kommt der Mensch ohne Adjektiv aus. Es geht also nicht um den deutschen, den männlichen, den weißen, den christlichen oder den heterosexuellen Menschen – es geht um DEN Menschen. Sinti und Roma sind Menschen. Auf den Erlass der Landespolizeiverwaltung und – wie wir vermuten dürfen – auf die Praxis der Polizei hatte das keinen Einfluss. Das Grundgesetz bekämpft den Rassismus, also auch den Antiziganismus, aber besiegt hat es ihn bis heute nicht. Der Antiziganismus, er wächst, er beleidigt, er demütigt, er erniedrigt, er bedroht, er ist tödlich – wie in Hanau. Und hätte es die einzigartige, wunderbare Zilli Schmidt nicht gegeben, wir wüssten heute noch sehr viel weniger über diesen anhaltenden Kampf, über ihre und unsere Geschichte. Und es ist Zilli gewesen, die auch mir so deutlich gemacht hat, dass der Kampf natürlich auch meine Aufgabe ist. Dass ich alles gegen Rassismus und Ausgrenzung tun muss, weil ich in einem Land leben will, wo jeder und jede sich frei und sicher fühlen kann, gleichberechtigt und wo niemand seine Identität verstecken muss. Wir haben heute Vormittag das 10-jährige Bestehen des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas gefeiert. Es ist der zentrale Erinnerungsort für die Sinti und Roma in Deutschland und ganz Europa. Es ist der Erinnerungsort mit berührenden Beispielen, die der wunderbare und unvergessene Dani Karavan uns geschenkt hat. Und es ist das sichtbare Zeichen dafür, dass wir die Verbrechen an den Sinti und Roma nicht vergessen, nicht vergessen dürfen und wir den Opfern ein würdiges Andenken bewahren. Heute ist zu meiner großen Freude Zoni Weisz unter uns, den ich von ganzem Herzen willkommen heiße. Sie haben damals zur Einweihung des Denkmals eine beeindruckende Rede gehalten, das heißt, Sie haben von Ihrer Verfolgung erzählt, von dem Terror, den die Deutschen über die Sinti und Roma brachten und den nur wenige überlebten. Ich danke Ihnen, lieber Zoni Weisz, dass Sie heute wieder unter uns sind, und dafür, dass Sie die Kraft aufbringen, immer wieder sich selbst und uns den Schrecken in Erinnerung zu rufen. Zeitzeugen wie Sie sind unentbehrlich für die Erinnerungskultur, die mir, die uns so wichtig ist. Was wir tun müssen, ist ein Erinnern in die Zukunft. Heute haben drei junge Menschen gesprochen. Sie waren die Brücke in die Zukunft. Das fand ich ganz wichtig. Diese Erinnerungskultur muss sich fortentwickeln, denn die Stimmen der Zeitzeugen werden von Jahr zu Jahr weniger, irgendwann werden sie ganz verstummen. Umso wichtiger ist es, neue und innovative Ansätze des Erinnerns und Aufarbeitens zu entwickeln: Die hier präsentierten animierten Kurzfilme weisen in diese Richtung. Die Filme, die das 5. Internationale Roma Festivals AKE DIKHEA? präsentiert, widmen sich den Biographien verfolgter und ermordeter Sinti und Roma. Die Veranstaltung steht also im Zeichen des Jubiläums des Denkmals sowie des erinnerungskulturellen Umgangs mit der Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma. Zwischen dem Denkmal und den hier präsentierten Filmen besteht eine beklemmende Verbindung. Der am Denkmal hörbare Geigenton des Komponisten Romeo Franz wurde eingespielt mit dem Instrument seines Großonkels Vinko Paul Franz. Er ist im Juli 1943 in Auschwitz ermordet worden. Vinko Franz‘ Biographie ist einer der Filme am heutigen Abend, die das Filmfestival eröffnen. Ich danke allen, dass Sie heute Abend gekommen sind, zum Sehen, zum Hören, zum Fühlen, zum Mutmachen, zum Kraftschöpfen, zum Eintreten für unsere gemeinsame Demokratie und zum Gespräch. Denn ohne Gespräch stirbt die Erinnerung.
Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas unterstrich Kulturstaatsministerin Roth zur Eröffnung des Internationalen Roma-Filmfestivals die Bedeutung der Stimmen von Zeitzeugen für unsere Erinnerungskultur. „Denn ohne Gespräch stirbt die Erinnerung“, erklärte sie.
Rede von Kulturstaatsministerin Roth zum 25-jährigen Bestehen des Mendelssohn-Hauses
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/mendelssohn-leipzig-2143970
Mon, 31 Oct 2022 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Leipzig ist eine Musikhauptstadt. Bach, Mendelssohn, Schumann, Wagner – das Gewandhausorchester – sie und nicht nur sie stehen mit ihren Namen und ihrer Musik für diesen Anspruch. Und doch beginnt meine Geschichte in Berlin. Ich erzähle sie, obwohl sie nur zu Teilen verbürgt ist, weil sie schön ist und liebenswert, und weil sie Felix Mendelssohn Bartholdy feiert, also genau das tut, was wir heute alle tun wollen: Ihn und seine Musik feiern, feiern, was er für uns getan hat und für das Musikleben dieses Landes und dieser Stadt. Die Geschichte, die ich erzählen will, hat sich in Berlin zugetragen, weil dort Mendelssohns Großmutter Fromet lebte, die ihrem 16-jährigen Enkel Felix 1825 eine Abschrift der Matthäus-Passion Johann Sebastian Bachs schenkte. Carl Friedrich Zelter, der Leiter der Berliner Sing-Akademie, so will es die Legende, soll die losen Blätter der Partitur zuvor in einer Berliner Käsehandlung entdeckt haben, wo man sie zum Einpacken der Butter verwendet hatte. Die Musikwissenschaft hat berechtigte Zweifel an dieser Arabeske, aber sie erfüllt doch ihren Zweck. Sie macht die Fallhöhe der Geschichte deutlich, die Bedeutung des Fundes und der Wiederentdeckung Johann Sebastian Bachs, an der Mendelssohn erheblichen Anteil hatte. Bach, den wir heute so selbstverständlich zum deutschen Beitrag am Weltkulturerbe zählen und an den wir uns ohne Mendelssohns Wiederaufführung der Matthäus-Passion vielleicht nicht mehr erinnern würden. Dass Felix Mendelssohn Bartoldy eine unauslöschliche Spur in der deutschen Musikgeschichte hinterlassen hat, ließe sich allein mit dieser Geschichte belegen. Die Leipziger Notenspur, der 5,3 km lange Weg, der heute die Wirkungsstätten Johann Sebastian Bachs mit dem Gewandhaus, dem Standort des alten Leipziger Konservatoriums, dem Schumannhaus und der Wohnung Mendelssohns in der heutigen Goldschmidtstraße 12 verbindet, verzeichnet 23 Stationen. Viele Stationen sind mit Namen verbunden, die Weltrang haben: Bach, Schumann, Wagner, Grieg. Nur Gustav Mahler fehlt. Doch kein Name ist mit so vielen anderen Stationen verbunden wie der Mendelssohns. Sein Name ist auf dieser Spur ein roter Faden. In Leipzig erst kam seine Universalität zum Vorschein, als Musiker, Komponist, Dirigent, als – heute würde man sagen Musikmanager und Musikvermittler. Als 26-Jähriger formte er ab 1835 das Gewandhausorchester als Kapellmeister und machte es zu einem der führenden Orchester der Musikwelt. Bis heute! Und er tat dabei viel für die Entdeckung neuer Werke anderer Komponisten ebenso wie für die Wiederaufführung der Musik vorangegangener Jahrhunderte. Er hat damit auch einen Grundzug für die Gestaltung des bürgerlichen Konzertlebens etabliert, wie er bis heute nachwirkt. Und er hatte die Idee und Chuzpe, dem sächsischen König die Gründung des ersten Konservatoriums in Deutschland abzutrotzen, das künftig auch die Musiker – damals waren es ja nur Männer – für das Gewandhausorchester in höchster Qualität ausbilden sollte. Dieses Prinzip wurde auch von anderen Orchestern in Dresden oder Berlin übernommen und hat zur Pflege und Bewahrung ihres besonderen Klangs beigetragen. Felix Mendelssohn Bartholdy war also ein Mensch mit vielen Begabungen, ein Musiker tiefer humanistischer Bildung, der auf seinen Konzertreisen nach England, Schottland oder Italien gefeiert wurde und dessen Eindrücke von Landschaften und Menschen sich schließlich in seinen Werken widerspiegelten. Wie kann es also sein, dass ein so kreativer Kopf, eine so prägende Persönlichkeit nach ihrem Tod 1847 für fast einhundert Jahre aus dem deutschen Musikleben verschwand? Man kann konstatieren, dass jede Zeit ihren Kunst- und Musikgeschmack entwickelt, sich Neues den Weg bahnt. Viele Komponisten waren vergessen und wurden erst in den letzten Jahrzehnten wiederentdeckt. Im Falle Mendelssohn aber muss man sagen, dass sein Schaffen nicht nur vergessen, sondern regelrecht ausradiert wurde. Carl Dahlhaus schrieb dazu 1972: „Die Musik Felix Mendelssohns ist keines natürlichen Todes gestorben. Sie wurde ermordet.“ Es gibt reichlich Anlass, diesen Mordverdacht ernst zu nehmen. Beleidigungen und Anfeindungen, die sich auf seine jüdische Herkunft bezogen, begleiteten Mendelssohn schon in Kindesjahren. Dass sich seine Familie für einen Übertritt zum Protestantismus entschieden hatte, beeindruckte seine antisemitischen Verfolger wenig. Zeitzeugen berichteten, dass schon seine Bewerbung um die Nachfolger Zelters an der Berliner Singakademie an seiner Herkunft scheiterte. Der mit dem 19. Jahrhundert aufkommende Nationalismus war wohl ein gesamteuropäisches Phänomen. Allerdings eines, dass eine spezifisch deutsche Zuspitzung erfuhr. Eine deutsche Nation oder einen deutschen Staat gab es zu Mendelssohns Zeiten nicht, dafür aber ein mit dem mittelalterlichen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation begründetes nationales Überlegenheitsgefühl, das auch den Begriff der deutschen Kulturnation erfand. Die Musik allgemein, wie die Chormusik im Besonderen, waren dagegen nicht gefeit. Im Gegenteil. Angriffe auf Juden, assimiliert oder nicht, ebenso wie auf zum christlichen Glauben übergetretene Jüdinnen und Juden, gehörten dazu. Und zwar besonders dann, wenn sie, wie Mendelssohn, erfolgreich waren. Viel geschrieben worden ist über das Verhältnis des nur vier Jahre jüngeren Richard Wagners zu Mendelssohn. Über die frühen Jahre dieser Beziehung kann man rätseln. Die Briefe, die Wagner Mendelssohn schrieb, lassen eher Bewunderung und Verehrung vermuten. Und ebenso bewunderte offenbar Felix Mendelssohn Bartholdy Richard Wagner. Wagners C-Dur-Sinfonie, nahm Mendelssohn schon 1836 in ein Abonnementskonzert auf, später auch Teile aus „Rienzi“ und schließlich, 1846, Wagners „Tannhäuser“-Ouvertüre. Allerdings brauchte Wagners Musik Zeit, sich beim Publikum durchzusetzen. Nach einigen Misserfolgen unterstellte Wagner Mendelssohn deshalb, er, Mendelssohn, wäre wegen seines Erfolgs als Opernkomponist eifersüchtig. Wie tief tatsächlich der Neid Wagners auf Mendelssohn saß, kann man seiner Reaktion auf die Aufführung je eines Chorwerkes der beiden aus Anlass der Enthüllung eines Denkmals für den sächsischen König Friedrich August I. 1843 in Dresden entnehmen. Seinem Bruder Albert schrieb Wagner über das Ereignis: „Mein Gesang trug entschieden den Sieg davon, weil er einfach, erhebend und wirkungsvoll war, während der Mendelssohn’sche schwülstig und unwirksam herauskam“. Ihren lang nachwirkenden Höhepunkt fand die Verunglimpfung Mendelssohns durch Richard Wagner drei Jahre nach Mendelssohns Tod, 1847. Zunächst anonym veröffentlichte Wagner die Schrift über das „Judentum in der Musik“ unter dem Pseudonym K. Freigedank in der „Neuen Zeitschrift für Musik“. Für seine Kernthese, Juden seien unfähig zur Produktion von Kunst, insbesondere von Musik, nahm Wagner vor allem Bezug auf Mendelssohn. Ich zitiere: „In dieser Sprache, dieser Kunst kann der Jude nur nachsprechen, nachkünsteln, nicht wirklich redend dichten oder Kunstwerke schaffen“, so Wagner. Mendelssohn, dem er noch eine gewisse musikalische Begabung zugestand, konstatierte er „mangelnde Tiefe“ und „Kopieren“. Auch der verhängnisvolle Begriff der „Glätte“ kommt vor. Die Veröffentlichung des Pamphlets führte 1850 immerhin zu einem Protest von 11 Professoren des Leipziger Konservatoriums gegen den Herausgeber Brendel. Es gab also immer wieder – das ist immerhin ein schwacher Trost – Menschen, die sich den antisemitischen Verunglimpfungen wiedersetzten. 1869 konnte Wagner seinen Namen aber ganz offiziell über die Neuveröffentlichung der Schrift setzen. Richard Wagner war nicht der einzige, der Künstler jüdischer Herkunft herabwürdigte, aber seine Prominenz verhalf seinen Einlassungen zu einer nicht zu unterschätzenden Wirkung. Dass sich Teile der Familie Wagner, allen voran Winifred Wagner und der Bayreuther Kreis, später vor den nationalsozialistischen Karren spannen ließen, tat ein Übriges. Der Virus des Antisemitismus wirkte. Die Vielfalt der Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy verschwand aus den Konzertsälen. Einige Chöre wurden noch gesungen, auch das Violinkonzert in d-Moll gehörte nach wie vor zu den beliebten Stücken. Und schließlich gab es da auch noch die zauberhafte Bühnenmusik zum „Sommernachtstraum“. Mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus aber durften Werke jüdischer Komponisten bald nur noch für jüdische Bürgerinnen und Bürger durch den jüdischen Kulturverein aufgeführt werden. Auch das Verhältnis der Bürger der Stadt Leipzig zu Mendelssohn hatte sich nach dessen Tod abgekühlt. Erst 1892 gelang es, ein Mendelssohn-Denkmal vor dem neuen Gewandhaus errichten zu können. Das NS-Regime ließ das Denkmal dann in einer Nacht- und Nebel-Aktion am 9. November 1936, zwei Jahre vor der Reichspogromnacht, beseitigen. Der Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler, der sich einem Abriss zuvor mehrfach entgegengestellt hatte, trat aus Protest dagegen wenige Tage später von seinem Amt zurück. War mit dem Sturz des NS-Regimes auch das Verdikt gegen Felix Mendelssohn Bartholdy aufgehoben? Leider nein! Wie sollte es, wenn die meisten der lange das Wort führenden deutschen Musikwissenschaftler weiter in Amt und Würden blieben. Es hat mich wirklich erschüttert, dass die Vorbehalte gegen Mendelssohn sich noch lange aus dem Vokabular der NS-Zeit speisten, ja auch das Pamphlet Richard Wagners reproduzierten und ihm etwa „Die Geschichte der deutschen Musik“ noch 1954 attestierte, seine Werke kennzeichneten „Glätte“ und ein „Mangel an geistiger Tiefe“. Mich bewegt diese Geschichte, weil sie ein Modell erkennen lässt. Sie mahnt uns, gegen alle Formen der Herabwürdigung, und Diffamierung von Menschen und ihrer Kunst aus völkischem und antijüdischem Ressentiment vorzugehen. Denn es ist an uns, zu verhindern, dass Antisemitismus seine Wirkung entfalten kann. Als aufgeklärte Demokratin kann ich mich der ideologischen Vereinnahmung von Kunst widersetzen. Ich kann mich über Wagners Pamphlet empören, mich über seine völkischen Sujets und längst verblichene Walküren mit Schild und Rüstung amüsieren und dennoch Wagners Musik hören. Nicht seine Musik ist antisemitisch. Sie ist es so wenig, wie Mendelssohns Musik „glatt“ ist. Mendelssohns Rehabilitierung war dafür allerdings eine Voraussetzung. In Leipzig, Mendelssohns Wirkungsstadt, begann sie erst als Kurt Masur 1970 Gewandhauskapellmeister wurde. Masur, der 1927 geboren wurde, berichtete einmal im Deutschlandfunk, dass ihm seine Klavierlehrerin in Breslau die Noten von Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ mitgebracht und gesagt habe: „so, schau dir das mal an, aber du musst die Fenster zumachen, weil die Musik verboten ist.“ Er erzählte, dass in seinem Umfeld die Musik von Mendelssohn-Bartholdy durchaus bekannt und geschätzt war, und man sich dann eben mit öffentlichen Äußerungen vorsah. Die Wiederentdeckung Mendelssohns – oder besser die Wiedergutmachung an der kulturellen Schande seiner Ächtung und Verunglimpfung, war vor allem diesen Künstlerinnen und Künstlern zu danken und in einer ganz besonderen Weise Kurt Masur. Bereits in den siebziger Jahren veranstaltete die Stadt Leipzig unter Mitwirkung des Gewandhausorchesters Mendelssohn-Festtage aus Anlass des 125. Todestages. Die später regelmäßigen Mendelssohn-Festtage des Orchesters waren über Leipzig hinaus eine Institution. Aber schon vorher, bei den „Gewandhaus-Festtagen“, in Abonnementkonzerten oder bei Gastspielen nahm Kurt Masur neben den Kompositionen von Beethoven und Brahms immer wieder die Werke von Mendelssohn ins Programm. Er wurde damit zu einem der wichtigsten und auch kompetentesten Motoren der Mendelssohn-Renaissance in Deutschland. Ein Ziel war aber noch offen. Der Mann, der es möglich machte, dass die DDR bis 1981 den einzigen Konzertsaalneubau des Landes für das Gewandhausorchester finanzierte, hatte es bis zur Maueröffnung noch nicht geschafft, das ehemalige Wohnhaus des Komponisten, seine letzte und in der Substanz noch einzig erhaltene Wohnung zu sichern und als Ort der Erinnerung, der Forschung und Vermittlung auszubauen. Es war ohnehin ein Wunder, dass dieses Haus, das nur wenige hundert Meter vom Augustusplatz in der heutigen Goldschmidtstraße 12 steht, den Krieg und die abrissfreudige Zeit der DDR überlebt hat. Kurt Masur gründete 1991 die internationale Mendelssohn Stiftung, die es schaffte, die Mittel für den Erwerb zusammenzubringen und das Haus zu erhalten. Das sagt sich so einfach, aber das bedeutet, dass der Dirigent seine Anerkennung, seinen Einfluss und seine ganz persönliche Ansprache weltweit dafür nutzte, die Gelder zusammenzubringen. Der Titel eines „Retters“ gebührt ihm im hohen Maße, doch es waren noch viele andere beteiligt, die hier in Leipzig ein außergewöhnliches Engagement entwickelt haben. 1997 konnte das Museum dann übergeben werden. Heute ist es eines der attraktivsten und modernsten Musiker-Museen Deutschlands und wohl das einzige mit einem so umfangreichen und regelmäßigen Konzertprogramm. Das heutige Jubiläum zum 25-jährigen Bestehen – wenige Tage vor Mendelssohns 175. Todestag – ist deshalb auch ein Anlass, an den unvergessenen Kurt Masur zu denken und ihm, seiner Familie und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern Dank zu sagen. Großer Dank gebührt auch dem Gründungsdirektor Jürgen Ernst, der unermüdlich um Fördermittel kämpfte. Ein Dank aber auch an die Stadt Leipzig, vor allem ihrem so kulturaffinen Bürgermeister Burkhard Jung und seinen Stadträten und Stadträtinnen, die wissen, welchen Stellenwert Felix Mendelssohn Bartholdy in der Musikgeschichte einnimmt und was ihm die Stadt Leipzig verdankt. Und nicht zuletzt möchte ich auch den Gremien der Mendelssohn Stiftung unter ihrer Präsidentin Elena Bashkirova herzlichen Dank sagen, weil Ihre Mitwirkung der Arbeit noch einmal ein ganz besonderes Gewicht gibt. Heute steht – nicht am alten Ort, aber nahe dem Westportal der Thomaskirche und nahe dem vom Komponisten gespendeten Bachdenkmal – eine Kopie des einstigen Mendelssohn-Denkmals. Möge es unseren nachfolgenden Generationen seine Geschichte, unsere Geschichte des Umgangs mit einem ganz großen deutschen Meister erzählen. Dafür ist auch das Mendelssohn-Haus der richtige Ort und ich wünsche dem Haus unter seinem Direktor Patrick Schmeing Glück, Erfolg und einen nie nachlassenden Besucherstrom. Ein Haus, das uns glücklich macht.
Die Geschichte Felix Mendelssohn Bartholdys und seiner Rezeption mahne uns, gegen alle Formen der Herabwürdigung und Diffamierung von Menschen und ihrer Kunst aus völkischem und antijüdischem Ressentiment vorzugehen, sagte Claudia Roth beim Festkonzert anlässlich des Jubiläums in Leipzig. „Denn es ist an uns, zu verhindern, dass Antisemitismus seine Wirkung entfalten kann“, so die Staatsministerin.
Rede von Bundeskanzler Scholz auf der Asien-Pazifik-Konferenz der Deutschen Wirtschaft am 14. November 2022 in Singapur
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-auf-der-asien-pazifik-konferenz-der-deutschen-wirtschaft-am-14-november-2022-in-singapur-2142644
Mon, 14 Nov 2022 00:00:00 +0100
Singapur
Sehr geehrter stellvertretender Premierminister Wong, sehr geehrte Ministerinnen und Minister, lieber Robert Habeck, sehr geehrter Herr Busch, Exzellenzen, sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Asien-Pazifik-Konferenz, meine Damen und Herren, vielen Dank für Ihren herzlichen Empfang und die Gelegenheit, mit Ihnen heute einige Gedanken zu teilen! Ich möchte mit einer kleinen Geschichte beginnen, die meine Heimatstadt Hamburg mit der wunderschönen Stadt Singapur verbindet, in der wir zu Gast sind. Es ist die Geschichte von Theodor August Behn und Valentin Lorenz Meyer. Diese beiden Freunde aus Hamburg kamen 1840 im Freihafen Singapur an – mit dem klaren Ziel, in den florierenden Handel mit sogenannten „tropischen Gütern“ einzusteigen. Sie begannen ihr Unternehmen mit nur drei Segelschiffen. Bald betrieben sie Handel mit Gewürzen, Seide, Baumwolle und Tee über die Ozeane hinweg – zwischen Singapur, Indonesien, China, den Philippinen sowie immer wieder zwischen Deutschland und Singapur. Das Unternehmen Behn Meyer existiert noch heute. Jedoch handelt es nicht mehr mit „tropischen Gütern“, sondern liefert mit seinen mehr als 1.000 Beschäftigten allein in Südostasien und auch einer Reihe von Mitarbeitern in Hamburg High-End-Produkte aus so unterschiedlichen Bereichen wie dem Agrar- und dem Life-Science-Sektor. Sehr geehrte Damen und Herren, aus der Geschichte des Unternehmens Behn Meyer lassen sich einige Lehren ziehen, auch für uns heute: Die erste ist, dass es für jemanden aus Hamburg immer gut ist, hier nach Singapur zu kommen. Sehr geehrter stellvertretender Premierminister Wong, vielen Dank für Ihre wunderbare Gastfreundschaft und für die Ausrichtung der Asien-Pazifik-Konferenz hier in Singapur! Und vielen Dank auch Ihnen, lieber Minister Habeck, lieber Herr Busch, und all denjenigen, die an der Vorbereitung dieser Konferenz beteiligt waren, dass Sie uns zusammengebracht haben! Sie haben den richtigen Ort gewählt. Genau wie meine Heimatstadt Hamburg verdankt Singapur seinen bewundernswerten wirtschaftlichen Erfolg dem Freihandel, seiner weltweiten Vernetzung und seiner Offenheit gegenüber der Welt sowie seiner zentralen Lage in einer der dynamischsten Wirtschaftsregionen auf der Erde. Die zweite Lehre ist folgende: Der Freihandel kann ein Unternehmen mit drei Schiffen in einen globalen Akteur verwandeln. Der Freihandel kann eine kleine Hafenstadt mit 5.000 Einwohnern an der Straße von Malakka zu einer globalen Metropole machen, wie Singapur es heute ist. Und wir finden ähnliche Erfolgsgeschichten in dieser Region – sei es in Bangalore oder Busan, in Hanoi oder Jakarta. Am 5. November 1890 schrieb die Straits Times in ihrer Sonderausgabe „Deutsche in Singapur“: „Es kam alles den Straits zugute. Kauften die Straits Güter aus Deutschland, taten sie es, weil diese speziellen Güter für unseren Handel geeignet waren; verkauften die Straits Güter an Hamburg, so taten sie es, weil Hamburg bereit war, den Marktpreis zu zahlen.“ Der Artikel mag veraltet sein. Das Konzept ist es nicht. Freier und fairer Handel kommt allen beteiligten Parteien zugute. Er ist nach wie vor die Grundlage unseres Wohlstands. Ich weiß, dass ich hier bei Ihnen offene Türen einrenne. Mit der Umfassenden regionalen Wirtschaftspartnerschaft und dem Umfassenden und progressiven Abkommen für die Transpazifische Partnerschaft hat die asiatisch-pazifische Region zwei riesige Freihandelsgebiete geschaffen. In Europa wurde durch diese Abkommen unser Ehrgeiz angespornt, unsere eigene Handelsagenda voranzubringen. Unsere bestehenden Freihandelsabkommen mit Ihrer Region – mit Japan, Korea, Vietnam und Singapur – sind wahre Erfolgsgeschichten. Daher bin ich froh, dass wir im Juli ein politisches Abkommen mit Neuseeland schließen konnten. Wir möchten auch schnell Fortschritte in den laufenden Verhandlungen mit Australien, Indien und Indonesien erzielen und bleiben darüber hinaus für neue Abkommen offen. Unsere beiden Regionen profitieren von größerer regionaler Integration. Beide verfolgen das Ziel strenger Umwelt- und Sozialstandards. Deshalb ist es so wichtig, auf mehr Freihandel zwischen uneren Regionen hinzuarbeiten. Eine Vertiefung der Zusammenarbeit ist von entscheidender Bedeutung, da wir alle spüren, dass der geopolitische Boden unter unseren Füßen ins Wanken geraten ist. Russlands brutaler Krieg gegen die Ukraine mag geografisch weit entfernt sein – doch seine Auswirkungen – Hunger, Energieknappheit, Inflation – sind weltweit spürbar. Dieser Krieg gefährdet unsere Friedensordnung und die Idee einer auf gemeinsamen Regeln beruhenden Welt. Daher ist es so wichtig, dass wir Putin mit seinen imperialistischen Zielen nicht durchkommen lassen. Ich bin dankbar für die klare Verurteilung von Russlands Angriffskrieg durch so viele von Ihnen. Für Ihre Unterstützung des Sanktionsregimes. Und für Ihre Hilfe beim Wiederaufbau der Ukraine. Diese Unterstützung zeigt, dass eine auf Werten und Grundsätzen basierende Partnerschaft keine leere Floskel ist. Und lassen Sie mich hinzufügen, dass eine solche Unterstützung niemals eine Einbahnstraße ist. Was für Europa hinsichtlich der Ukraine gilt, gilt auch für Asien, Afrika oder Lateinamerika. Kein Land ist der „Hinterhof“ eines anderen. Bei meinem ersten offiziellen Besuch in China vor Kurzem habe ich meine unerschütterliche Unterstützung für die regelbasierte internationale Ordnung zum Ausdruck gebracht, so wie sie in der VN-Charta verankert ist. Staatspräsident Xi Jinping und ich waren uns einig, dass die Drohung mit dem Einsatz von Kernwaffen unannehmbar ist – und dass der Einsatz solch fürchterlicher Waffen das Überschreiten einer roten Linie wäre, die die Menschheit zu Recht gezogen hat. Ich rufe Präsident Putin auf, diese Worte ernst zu nehmen. Ich habe auch unsere Besorgnis über die wachsende Unsicherheit im Südchinesischen Meer und in der Straße von Taiwan zum Ausdruck gebracht. Und ich habe Chinas Haltung zu Menschenrechten und der Freiheit des Einzelnen angesprochen. Jeder Mitgliedstaat der VN hat sich dazu bekannt, diese Rechte und Freiheiten zu wahren. Die Ergebnisse des jüngsten Kongresses der Kommunistischen Partei Chinas lassen wenig Zweifel daran, dass das China von heute sich stark vom China von vor fünf oder zehn Jahren unterscheidet. Unsere politische und wirtschaftliche Haltung muss dies widerspiegeln. Natürlich bleibt China ein wichtiger Geschäfts- und Handelspartner. Und ich weiß, dass viele von Ihnen hier im Raum und in der Region diese Ansicht teilen. Aber es gehören immer zwei dazu. Und die asiatisch-pazifische Region umfasst weit mehr als nur China. Die Asien-Pazifik-Konferenz richtet ihren Blick jetzt seit mehr als 30 Jahren auf die gesamte Region. Und genau aus diesem Grund hat sich meine Regierung dazu entschlossen, unsere Unterstützung für diese Konferenz zu verstärken. Das gegenwärtige geopolitische Umfeld und die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie erfordern mehr Resilienz und den Aufbau größerer technologischer Souveränität. Japans Wirtschaftsschutzpolitik ist in dieser Hinsicht ein interessantes Beispiel. Die Verringerung riskanter einseitiger Abhängigkeiten in Bezug auf bestimmte Rohstoffe oder kritische Technologien wird eine wichtige Rolle in der Nationalen Sicherheitsstrategie spielen, an der wir derzeit arbeiten. In diesem Zusammenhang vertreten wir eine ganz klare Position: Der beste Weg, widerstandsfähigere Lieferketten zu erzielen, ist die Diversifizierung unserer Handelsbeziehungen. • Es ist kein Zufall, dass mich meine erste Reise in die Region als Bundeskanzler nach Japan führte. • Im Mai hielten wir Regierungskonsultationen mit Indien ab. • Wir luden Indien, Südafrika, Senegal, Argentinien und Indonesien zu unseren Beratungen beim G7-Gipfel in Deutschland ein – und wir sind auf dem Weg zum G20-Gipfel, der morgen auf Bali beginnt. • Bundespräsident Steinmeier besuchte Südkorea und Japan, während ich nach China reiste. • Eine große deutsche Wirtschaftsdelegation begleitete mich auf meinem gestrigen Besuch in Vietnam und ist auch heute hier in Singapur dabei. • Und nicht zuletzt bin ich am heutigen Tag hier bei Ihnen – als der erste Bundeskanzler, der das Privileg hat, an dieser Konferenz persönlich teilzunehmen. Meine Botschaft lautet: Deutschland ist sehr daran interessiert, seine wirtschaftlichen Verbindungen mit Ihrer Region zu verstärken! Verbindungen, die schon seit den Tagen von Theodor August Behn und Lorenz Meyer beiden Seiten zugutekommen. Diversifizierung bedeutet jedoch nicht Abkopplung. Dieser Unterschied spielt in einer Zeit eine wichtige Rolle, in der Konzepte wie „Nearshoring“, „Deglobalisierung“ und „Selbstversorgung“ auf dem Vormarsch sind. Oft sind diese Ideen nichts anderes als versteckter Protektionismus. Und Protektionismus führt nirgendwohin. Eine Welt mit neuen oder wieder neu errichteten Handelsschranken und desintegrierten Volkswirtschaften wird kein besserer Ort sein. Vor zehn Jahren unternahm mein Vorgänger Helmut Schmidt im Alter von 94 Jahren eine letzte Reise nach Asien, um sich von einem alten Freund, dem ehemaligen singapurischen Premierminister Lee Kuan Yew, zu verabschieden. Sie sprachen über Globalisierung und darüber, was diese für ihre beiden Länder bedeutete. In einer ihrer Unterhaltungen sagte Lee im Wesentlichen zu Schmidt: Die Globalisierung hat meinem Land die gesamte Welt eröffnet. Dies gilt nicht nur für einen Stadtstaat wie Singapur, sondern auch für größere, stärker bevölkerte Länder. Deglobalisierung ist für keinen von uns eine Option! Nehmen Sie die Bekämpfung des Klimawandels, der globalen Gesundheitskrisen und der Ernährungsunsicherheit oder den Wandel hin zu klimaneutralen Volkswirtschaften: Der Schlüssel zu all diesen globalen Herausforderungen liegt in der Innovation. Mehr Handelsschranken würden jedoch zu weniger Wettbewerb und weniger Innovation führen. Letztendlich ist es natürlich an Ihnen, den Unternehmen, über Ihre Produktionsstätten, die Widerstandsfähigkeit Ihrer Lieferketten und mögliche Strategien zur Risikoverringerung zu entscheiden. Und meinem Austausch mit deutschen und internationalen Unternehmerinnen und Unternehmern und den Themen, die Sie hier auf der Asien-Pazifik-Konferenz diskutieren, entnehme ich, dass die Diversifizierung bereits in vollem Gang ist. Daher möchte ich Sie ermutigen, diesen Weg mit Entschlossenheit weiterzuverfolgen. Die Diversifizierung macht Ihre Unternehmen weniger angreifbar – und unsere Volkswirtschaften stabiler und sicherer. Als Regierung möchten wir Sie darin unterstützen, indem wir günstige Rahmenbedingungen schaffen. Dies bedeutet auch, dass wir unser politisches Engagement im indopazifischen Raum verstärken. Dies ist die Idee hinter der deutschen Strategie für den Indo-Pazifik, die wir eng mit unseren europäischen Partnern abstimmen, die unser Bestreben teilen, unsere Präsenz in der Region zu erhöhen und Bedrohungen der regelbasierten internationalen Ordnung und unserer Volkswirtschaften gemeinsam zu bekämpfen. • Deutschland teilt Ihr Interesse an freien Seewegen und der Einhaltung des internationalen Seerechts in der Region und darüber hinaus. Um dies zu unterstreichen, entsandten wir zum ersten Mal in 20 Jahren eine Fregatte in die indopazifische Region. Unsere Luftwaffe nahm diesen Sommer an von Australien durchgeführten Manövern teil und stellte so unsere Interoperabilität mit Partnern in der Region unter Beweis. Ein solches Engagement hat es bislang noch nie gegeben. Und das deutsche Heer wird dies nächsten Sommer fortsetzen. • Wir wissen auch zu schätzen, dass wir bei der internationalen Klimapolitik und bei der Energiewende für die gleichen Ziele eintreten – etwas, das ich selbst auf der COP 27 in Scharm el-Scheich letzte Woche erleben konnte. Und ich würde gerne diese Zusammenarbeit durch einen offenen und kooperativen Klimaclub vertiefen. Zusammen mit unseren G7-Partnern schließen wir außerdem neue Partnerschaften für eine gerechte Energiewende, auch mit Ländern in der asiatisch-pazifischen Region. Und während wir unseren eigenen Weg hin zur Klimaneutralität bis 2045 beschleunigen, stehen wir bereit, unsere Erfahrungen mit Ihnen zu teilen und private Investitionen in klimafreundliche Technologien zu erhöhen. • Und schließlich bemühen wir uns, unsere Zusammenarbeit mit dem ASEAN zu intensivieren, auch im Rahmen der Europäischen Union. Ich bin sicher, dass der EU-ASEAN-Gipfel und der Wirtschaftsgipfel, die für den 14. Dezember in Brüssel geplant sind, uns helfen werden, unsere Zusammenarbeit zu vertiefen. Wir bemühen uns um eine ehrgeizige Agenda für die Zukunft, die Bereiche wie den Klimaschutz, den digitalen Wandel unserer Industrien, „intelligente Städte“ und städtische Mobilität abdeckt. Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben den politischen Willen, Dinge voranzubringen. Wir haben die Unternehmenspioniere, die unsere Partnerschaft voranbringen. Pioniere wie seinerzeit Theodor August Behn und Valentin Lorenz Meyer. Als sie hier nach Singapur kamen, steuerten sie die Geschäfte nicht aus weit entfernten Firmensitzen in London, Hamburg, Paris oder Amsterdam, wie die meisten anderen Unternehmen ihrer Zeit. Vor 182 Jahren beschlossen sie, ihr Unternehmen hier, in Singapur, zu gründen. Behn-Meyer & Co. wurde so das erste deutsche Unternehmen auf dieser Insel. Das erste von heute über 2.100 deutschen Unternehmen hier. Die dritte und letzte Lehre, die ich mit Ihnen teilen möchte, ist folgende: Hier in Singapur kann Gutes entstehen – neue Ideen für Kooperations- und Geschäftsmodelle, die dann auf der ganzen Welt Schule machen. Das ist die Idee hinter der Asien-Pazifik-Konferenz der Deutschen Wirtschaft. Das bringt uns heute hier zusammen. Vielen Dank Ihnen allen für Ihre Beteiligung! Und vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der 27. Konferenz der Vereinten Nationen zum Klimawandel am 7. November 2022 in Sharm-el-Sheikh
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-27-konferenz-der-vereinten-nationen-zum-klimawandel-am-7-november-2022-in-sharm-el-sheikh-2140584
Mon, 07 Nov 2022 00:00:00 +0100
Sharm-el-Sheikh
Exzellenzen, meine Damen und Herren, Russlands brutaler Krieg gegen die Ukraine stellt die europäische und internationale Friedensordnung fundamental in Frage. Seine Folgen spüren wir weltweit: durch rasant steigende Preise für Energie und Nahrungsmittel. Doch noch etwas führt Russlands Krieg uns vor Augen: Der Umstieg auf erneuerbare Energien, das Einsparen fossiler Brennstoffe – darin liegt nicht nur ein Gebot vorausschauender Klima-, Wirtschafts- und Umweltpolitik, sondern auch ein sicherheitspolitischer Imperativ. All das macht die zentrale Aufgabe unserer Zeit noch dringlicher, nämlich die Erderwärmung auf 1,5°Grad zu begrenzen. Jedes zehntel Grad Erderwärmung weniger bedeutet zugleich weniger Dürren und Überschwemmungen, weniger Ressourcenkonflikte, weniger Hunger und Missernten – und damit mehr Sicherheit und Wohlstand für alle. Unser Ziel ist erstens, dass wir uns hier in Sharm-el-Sheikh auf ein robustes Arbeitsprogramm zur Emissionsminderung verständigen – ein Arbeitsprogramm, das konkrete Minderungsschritte enthält und die bislang klaffende Umsetzungslücke schließt. Nur dann schaffen wir es, den globalen Höhepunkt der Treibhausgasemissionen spätestens 2025 hinter uns zu lassen und die Emissionen bis 2030 nahezu zu halbieren. Zweitens: Zu Recht fordern die Staaten mehr internationale Solidarität, die von den Folgen des Klimawandels am härtesten betroffen sind, aber am wenigsten zu seiner Verursachung beigetragen haben. Wir sind bereit, sie noch stärker zu unterstützen. In den letzten drei Jahren hat Deutschland die öffentlichen Gelder für die internationale Klimafinanzierung um mehr als ein Drittel erhöht, auf insgesamt 5,3 Milliarden Euro im Jahr 2021. Erstmals ist davon rund die Hälfte in Maßnahmen geflossen, die Länder bei der Anpassung an veränderte klimatische Bedingungen unterstützen. Auch in Zukunft streben wir ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Finanzierung von Emissionsminderung und Klimaanpassung an. Bis zum Jahr 2025 werden wir unseren Beitrag aus öffentlichen Mitteln für die internationale Klimafinanzierung auf 6 Milliarden Euro jährlich ausbauen und parallel dazu auch weitere private Mittel mobilisieren. Zudem werden wir die vom Klimawandel am schwersten betroffenen Länder gezielt im Umgang mit Verlusten und Schäden unterstützen. Als G7-Präsidentschaft wollen wir gemeinsam mit den Vulnerable 20 einen globalen Schutzschirm gegen Klimarisiken aufspannen. Für diesen Schutzschirm und die Klimarisikofinanzierung stellt Deutschland 170 Millionen Euro zur Verfügung. Wichtig ist, die Klima- und Biodiversitätskrise gemeinsam anzugehen. Deshalb werden wir unseren Beitrag zum Schutz der Biodiversität im Rahmen der internationalen Klimafinanzierung bis 2025 auf 1,5 Milliarden Euro im Jahr erhöhen. Drittens: Wir stehen fest zu unseren nationalen Klimazielen. Bis 2045 will Deutschland als eines der ersten Industrieländer klimaneutral werden. In der Europäischen Union wollen wir das bis 2050 erreichen. Wir werden aus den fossilen Brennstoffen aussteigen, ohne Wenn und Aber. Es darf keine weltweite Renaissance der fossilen Energien geben. Und für Deutschland sage ich: Es wird sie auch nicht geben. Ja, Russlands brutaler Angriffskrieg auf die Ukraine zwingt uns dazu, für kurze Zeit notgedrungen auch wieder Kohlekraftwerke ans Netz zu nehmen. Aber: Wir stehen fest zum Kohleausstieg. Erst vor wenigen Tagen haben wir daher beschlossen, dass ein Teil unserer Kohlekraftwerke noch früher stillgelegt wird als ursprünglich geplant. Für uns ist klarer denn je: Die Zukunft gehört Windkraft, Solarenergie und grünem Wasserstoff. Auf dem Weg dorthin bietet Ihnen Deutschland seine Partnerschaft an – das ist mein vierter und letzter Punkt –, indem wir zum Beispiel die Technologien entwickeln und in die Breite tragen, die es Bürgerinnen und Bürgern dann auch weltweit ermöglichen, in Wohlstand zu leben, ohne dem Klima zu schaden. Dieses Ziel einer weltweiten Zusammenarbeit bei der Transformation unserer Industrien liegt auch der Idee eines offenen und kooperativen Klimaclubs zugrunde. Den Grundstein dafür haben wir im G7-Kreis gelegt. Der Klimaclub aber steht allen offen, die gemeinsam mit uns beim klimaneutralen Umbau unserer Volkswirtschaften und insbesondere unserer Industrien vorankommen wollen. Meine Damen und Herren, nicht weniger, sondern mehr Tempo, mehr Ehrgeiz, mehr Zusammenarbeit beim Umstieg auf erneuerbare Energien lautet das Gebot unserer Zeit. Unseren entschlossenen Bekenntnissen zum Klimaschutz müssen ebenso entschlossene Taten folgen. Daran werden wir gemessen. Darum geht es hier in Sharm-el-Sheikh. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Festaktes zum 70. Jubiläum des Betriebsverfassungsgesetzes am 7. November 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-festaktes-zum-70-jubilaeum-des-betriebsverfassungsgesetzes-am-7-november-2022-in-berlin-2140542
Mon, 07 Nov 2022 00:00:00 +0100
Berlin
Liebe Yasmin Fahimi, liebe Claudia Bogedan, liebe Kolleginnen und Kollegen, werte Gäste, wenn ich das Logo hier sehe, das wir auch noch auf dem Bildschirm haben, muss ich sagen: Sehr gelungen! Wäre das jemandem früher eingefallen, hätte ich das bei meiner Anwaltskanzlei oben auf den Briefkopf gesetzt. Das ist super! 1.773 Gesetze gab es im Februar dieses Jahres in Deutschland – das hat die Bundesregierung als Antwort auf eine Kleine Anfrage mitgeteilt. Nicht alle davon werden eine solche Feier zu ihrem 70. Geburtstag bekommen. Allein das zeigt schon die Bedeutung, die das Betriebsverfassungsgesetz bei uns hat. Damals, vor sieben Jahrzehnten, war die Geburtsstunde des Betriebsverfassungsgesetzes. Und heute sind wir uns einig: Das Gesetz hat den Grundstein dafür gelegt, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine starke Stimme in unseren Unternehmen haben. Es war richtig und notwendig, denn Demokratie, freie Marktwirtschaft und Betriebsverfassung gehören in Deutschland fest zusammen. Das habe ich selbst immer wieder erlebt. In meinem Leben hatte ich an ganz unterschiedlichen Stellen immer wieder mit der betrieblichen Mitbestimmung zu tun. Als ich anfing, mich in den 70-er Jahren politisch zu engagieren, war der Zeitgeist geprägt von Mut, Aufbruch und Zuversicht – Stichwort: „Mehr Demokratie wagen!“, nicht nur in der Politik, auch in der Wirtschaft. Das hieß auch ganz konkret: Mehr Mitbestimmung wagen! Das reformierte Betriebsverfassungsgesetz von 1972 trug dem Rechnung. Es war die demokratische Antwort auf den damals stattfindenden gesellschaftlichen Wandel. Damit wurden die Mitbestimmungsrechte von Betriebsräten gestärkt – durch Freistellungen etwa und verbesserte soziale Absicherung oder auch durch einen besseren Schutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich in tarif-, sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen im Betrieb engagieren wollten. Dafür hatten die Gewerkschaften lange gekämpft. Das Gesetz war ihr Erfolg. Und es war ein Erfolg der damaligen Regierung Willy Brandts. Im Jurastudium habe ich mich dann früh mit kollektivem Arbeitsrecht auseinandergesetzt und habe auch gelernt: Die Wurzeln der Mitbestimmung, auch der betrieblichen Mitbestimmung, reichen bis weit ins 19. Jahrhundert zurück. Damals kam zum ersten Mal in Deutschland der Ruf nach einem Rechtsanspruch auf eine Vertretung der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Fabriken auf. Der industrielle Aufschwung wurde auf dem Rücken der Arbeiterschaft erkauft. Unmenschliche Arbeitsbedingungen und Kinderarbeit gehörten zum Alltag. Jede kleine Wirtschaftskrise konnte zu Arbeitslosigkeit und bitterer Armut führen. Zwischen den ersten Arbeiterausschüssen und Tarifverträgen – etwa im Druckereigewerbe – lag jedoch über ein halbes Jahrhundert, bis dann 1920 mit dem Betriebsrätegesetz erstmals ein Rechtsanspruch auf eine betriebliche Mitbestimmung geschaffen wurde. Es war kein Zufall, dass das in einer Demokratie errungen werden konnte. Und es ist ebenso bezeichnend, dass das Gesetz 1934, ein Jahr nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, wieder abgeschafft wurde. Erst 1946 wurden mit dem Alliierten Kontrollratsgesetz Nr. 22 wieder Betriebsräte und eine Betriebsverfassung eingesetzt. Ja, und dann kam das Betriebsverfassungsgesetz, dessen 70-jähriges Jubiläum wir heute feiern. Der Exkurs in die Geschichte zeigt: Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Demokratie und demokratischer Mitbestimmung. Zu jeder Zeit, in der es Demokratie in Deutschland gab, gab es auch Betriebsräte. Diese Erkenntnis steckt ja auch in dem Motto des heutigen Tages „Demokratie in Arbeit“. Auch heute braucht unser Land eine starke betriebliche Mitbestimmung. Erstens, weil demokratische Rechte Teil unserer modernen Arbeitswelt sind. Was das in der Praxis bedeutet und wie wichtig eine gewählte Arbeitnehmervertretung im Betrieb ist, habe ich als Anwalt für Arbeitsrecht selbst erlebt – vor allem in der Zusammenarbeit mit Betriebsräten in Ostdeutschland in den Nachwendejahren. Mit der Schließung von Betrieben und Fabriken brach für die Beschäftigten oft im wahrsten Sinne des Wortes eine Welt zusammen. Denn ein Arbeitsplatz bedeutet ja nicht nur Beschäftigung, Einkommen und berufliche Anerkennung, sondern auch Gemeinschaft und Zusammenhalt. Von heute auf morgen änderte sich für die Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland fast alles. In dieser Zeit waren die Betriebsräte eine der wenigen Konstanten, die mit aller Kraft kämpften, wenn es um den Abbau von Arbeitsplätzen oder die Abwicklung von Betrieben ging. Vor dieser Leistung hatte ich damals – und habe ich bis heute – großen Respekt. „Demokratie in Arbeit“ ist zweitens ein ständiger Prozess. Die betriebliche Mitbestimmung wurde immer wieder weiterentwickelt und den Anforderungen ihrer Zeit angepasst. Eine dieser Anpassungen war 2001. Ich habe mich zur Einbringung des Gesetzentwurfes selbst im Plenum des Deutschen Bundestages zu Wort gemeldet, und ich erinnere mich gut an die Debatten von damals. Von „Entbürokratisierung“ wurde da im Bundestag gesprochen- Gemeint war die Betriebsverfassung. Und hinter der Forderung nach „Flexibilisierung“ verbarg sich der Versuch, die demokratischen Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einzuschränken. Begründet wurde all das mit der Globalisierung, vor der angeblich nur derjenige bestehen könne, der sich dem damaligen – neoliberalen – Zeitgeist bedingungslos anpasse. Wir haben das damals nicht gemacht. Im Gegenteil: Wir haben die Möglichkeiten, einen Betriebsrat zu wählen, ausgeweitet – unter anderem mit einem einfachen Wahlverfahren für Betriebe mit bis zu 50 Beschäftigten. Dafür hatten wir gemeinsam gekämpft mit den Gewerkschaften, mit euch, liebe Kolleginnen und Kollegen, und es war wichtig. Gerade hier in Deutschland wissen wir, dass weltweite Vernetzung, soziale Marktwirtschaft und Welthandel eine gute Basis sind für einen starken Sozialstaat. Kündigungsschutz, betriebliche Mitbestimmung und Mitsprache auch auf Ebene der Unternehmensführung gehören aus meiner Sicht selbstverständlich dazu. Wir sind nicht allein auf dieser Welt. Wir werden viele Probleme dieser Welt auch nicht allein lösen. Wir brauchen internationale Partnerschaften, Zusammenarbeit und Diversifizierung. Aber wir brauchen zugleich soziale Sicherheit und Stabilität im Innern. Das habe ich als Bundesarbeitsminister während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 erlebt. Damals hat das Kurzarbeitergeld 300 000 Arbeitsplätze gerettet. Und das – darum sage ich das hier –, was als Grundmodell der Kurzarbeit erstmals in einer Konjunkturkrise so relevant wurde, hatte seine ersten Schritte als ein Produkt der Mitbestimmung gemacht. Damals wie heute sehen wir, dass Unternehmen mit Betriebsräten besser durch Krisenzeiten kommen. Erst ein starker Sozialstaat schafft den Zusammenhalt, den es braucht, um Krisen gemeinsam zu bewältigen und Veränderungen erfolgreich in Angriff zu nehmen. Das gilt ganz besonders mit Blick auf die schwierigen Monate, die aufgrund von Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine und all seinen Folgen vor uns liegen. Gerade weil wir in Deutschland Traditionen haben wie die Sozialpartnerschaft, wie die betriebliche Mitbestimmung, werden wir diese Herausforderung gut bewältigen. Digitalisierung und der Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen treiben den Wandel unserer Wirtschafts- und Arbeitswelt in atemberaubender Geschwindigkeit voran. Gute Fachkräfte, ihr Know-how und ihre Kreativität sind dabei unsere wichtigste Ressource. Das war immer so und wird auch in Zukunft so sein. Deshalb sind die betriebliche Ausbildung und ordentliche Weiterbildungsangebote in den Unternehmen das A und O. Und deshalb haben wir im letzten Jahr mit dem Betriebsrätemodernisierungsgesetz auch die Rechtsstellung der Betriebsräte bei der Berufsbildung gestärkt. Wir werden das politisch weiter flankieren, zum Beispiel mit dem Qualifizierungsgeld. Damit wird die Bundesagentur für Arbeit Beschäftigte während ihrer Weiterbildung am Arbeitsplatz unterstützen. Ich bin überzeugt: Die Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft kann nur gelingen, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mitreden können, wenn sie mitbestimmen, wohin die Reise geht. Dafür müssen die Betriebsräte mit am Tisch sitzen. Sie sind die Fachleute und wissen oft am besten, was vor Ort funktioniert und was den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wirklich am Arbeitsplatz hilft. Sie sorgen dafür, dass betriebliche Aus- und Weiterbildung vorankommen, dass neue Techniken eingeführt und moderne Anlagen angeschafft werden. Sie vermitteln zwischen Unternehmensführung und Belegschaft und informieren über Auswirkungen der Transformation. Und sie schauen, dass die Beschäftigten mit den Anforderungen klarkommen und mithalten können. Damit die Betriebsräte das alles leisten können, wollen wir sie und die Betriebsratsarbeit weiter stärken. Deshalb haben wir uns vorgenommen, das Betriebsverfassungsgesetz weiterzuentwickeln. Wir werden ein digitales Zugangsrecht für Gewerkschaften einführen. Betriebsräte sollen selbst entscheiden, ob sie analog oder digital arbeiten. Und wir werden dafür sorgen, dass die Behinderung demokratischer Mitbestimmung künftig auch ohne Strafantrag verfolgt werden kann, Stichwort: Offizialdelikt. Du hast, liebe Yasmin, eine gute Schilderung abgegeben, warum das alles nötig ist. Noch immer wird in manchen Unternehmen und Branchen viel Druck auf Beschäftigte ausgeübt, die eine Belegschaftsvertretung gründen wollen. Das darf nicht sein, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mitbestimmung gehört zur DNA unserer sozialen Marktwirtschaft. Hier darf es keine Einschränkungen geben, auch und erst recht nicht in Zeiten der Krise! Einen dritten Punkt möchte ich noch hinzufügen: „Demokratie in Arbeit“ heißt auch, unsere Demokratie an sich ist in Arbeit. Demokratische Grundwerte müssen immer wieder verteidigt werden – gerade in Krisenzeiten wie diesen. Denn Demokratie bedeutet eben nicht nur Plenarsäle und Abgeordnete, Abstimmungen und 1 773 Gesetze. Demokratie ist ein Gesellschaftsprinzip. Es bedeutet, dass der Einzelne, die Einzelne nicht schutzlos höheren Mächten ausgeliefert ist, sondern dass jede und jeder einen Platz hat und den eigenen Weg mitbestimmen kann. Es bedeutet auch: Niemand wird am Wegesrand vergessen, niemand bleibt zurück. Wir haken uns unter und lösen die Probleme unseres Landes gemeinsam. Dass wir das aktuell tun müssen, liegt vor allem an dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine; ein Krieg, der Tag für Tag weitergeht und viele Menschenleben kostet. Ganze Städte und Landsteile sind verwüstet, Infrastruktur zerstört. Jetzt kommen die kühlen Temperaturen hinzu. Immer noch fliehen Ukrainerinnen und Ukrainer vor dem Krieg und suchen Schutz und Zuflucht bei uns. Mittlerweile ist über eine Million hier registriert. Das stellt die Städte und Gemeinden vor große Herausforderungen. Damit sie die gut bewältigen können, wird der Bund die Länder und Kommunen in diesem und im nächsten Jahr jeweils mit zusätzlichen 1,5 Milliarden Euro unterstützen. So haben wir es gerade gemeinsam mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten beschlossen. Und wir haben beschlossen, die Bürgerinnen und Bürger sowie unsere Unternehmen ganz konkret bei den Energiepreisen zu entlasten. Dafür nehmen wir nochmal 200 Milliarden Euro in die Hand. Vorgesehen sind drei Preisbremsen: erstens beim Gas, indem Privathaushalte sowie kleine und mittlere Unternehmen nicht mehr als 12 Cent pro Kilowattstunde für den Grundbedarf zahlen müssen. Zweitens wird es neben der Gaspreisbremse auch eine Bremse für die Fernwärmepreise geben. Der Preis wird hier für den Grundbedarf auf 9,5 Cent pro Kilowattstunde gedeckelt. Zudem übernimmt der Bund als Soforthilfe einmalig die Abschläge für Heizkosten im Dezember und erstattet sie den Versorgern direkt. Drittens entlasten wir Privathaushalte und kleine und mittlere Unternehmen bei den Strompreisen, die wir auf 40 Cent pro Kilowattstunde für den Grundbedarf deckeln. Das sind etwa 10 Cent mehr pro Kilowattstunde als vor Beginn des Krieges. Preisbremsen für Strom und Gas gelten auch für die Industrie, und im Rahmen des Beihilferegimes der Europäischen Union setzen wir das um. Zum Gesamtpaket gehören auch Härtefallmaßnahmen, beispielsweise für Krankenhäuser, wenn Strompreisbremse und Gaspreisbremse allein nicht reichen. All das tun wir, damit niemand Angst haben muss vor der nächsten Rechnung. Denn eine Gesellschaft, die vor so großen Herausforderungen steht wie unsere, braucht eben den Zusammenhalt. Das ist für mich eine Frage des Respekts. Respekt und Zusammenhalt waren immer die Leitplanken der Mitbestimmung in Deutschland. Das zeigen fast zwei Jahrhunderte Kampf um Mitbestimmungsrechte. Das zeigen auch heute Betriebsrätinnen und Betriebsräte Tag für Tag. Immer wieder habe ich erlebt, wie sie sich klar gegen Extremismus, gegen Diskriminierung und gegen Rassismus gestellt haben. Und das zeigt auch: Die betriebliche Mitbestimmung selbst ist ein Ausdruck gelebter Demokratie. Sie ist vielleicht sogar, so hat es Bundespräsident Steinmeier einmal gesagt, „der wesentliche Teil jener Selbstbestimmung, die unsere liberale Demokratie verspricht.“ Und deshalb ist Mitbestimmung kein Wagnis, wie es noch vor langer Zeit lautete, sondern schlicht ein Akt demokratischer Vernunft. Schönen Dank!
Kanzler kompakt: Was bedeutet die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro?
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-kompakt-mindestlohn-wortlaut-2138776
Sat, 29 Oct 2022 10:00:00 +0200
Arbeit und Soziales,Wirtschaft und Klimaschutz
Der Mindestlohn ist zum 1. Oktober auf 12 Euro pro Stunde angehoben worden. Das ist das Recht all der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bisher viel weniger verdient haben. Und deshalb mein Rat: Schauen Sie am Ende dieses Monats auf die Lohnabrechnung. Gucken Sie, ob das durchgeführt worden ist und Sie Ihr Recht auch tatsächlich bekommen. Dass wir den Mindestlohn anheben mussten per Gesetz, ist natürlich nicht gut, denn eigentlich wäre es ja richtig, wenn die Löhne schon sowieso höher gewesen wären. Aber trotzdem ist es gut, dass wir diese untere Grenze jetzt festgelegt haben. Ich habe festgestellt, dass viele andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer davon auch profitieren, weil jetzt Löhne angehoben worden sind – über den Mindestlohn hinaus. Weil auch Tarifverträge besser ausfallen, wenn sie jetzt neu verhandelt werden. Und es geht mir dabei um eine Sache, die sehr grundsätzlich ist für das Miteinander unserer Gesellschaft und den Zusammenhalt: Ich will, dass Respekt herrscht gegenüber jeder Arbeit und jeder Leistung, die in unserer Gesellschaft erbracht wird und dass einige von uns so wenig verdient haben, obwohl sie sich so sehr angestrengt haben – jeden Tag, jede Woche – das ist nicht in Ordnung gewesen. Gut, dass wir das jetzt ändern.
Closing Remarks of Chancellor Scholz for the International Expert Conference on the Recovery, Reconstruction and Modernisation of Ukraine on 25th October 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/closing-remarks-of-chancellor-scholz-for-the-international-expert-conference-on-the-recovery-reconstruction-and-modernisation-of-ukraine-on-25th-october-2022-in-berlin-2138448
Tue, 25 Oct 2022 15:00:00 +0200
Berlin
keine Themen
Ladies and Gentleman, First, let me thank all participants for joining us here today for this important global dialogue in Berlin. My very special thanks to President Zelenskyy for addressing us this morning, and to Prime Minister Shmyhal and his colleagues who are here with us today, and most importantly the people of Ukraine. This has been an International Expert Conference. President von der Leyen and I sought to bring the best and brightest minds together to discuss with delegations from around the world the recovery and reconstruction of Ukraine. I am happy to see the great interest also from civil society and business as we need all actors for a successful recovery. Participation from all over the world through our livestream shows significant global interest. Today’s discussions showed once again that the size of the reconstruction challenge is impressive. The experts’ contributions proved that the core elements of recovery, reconstruction and modernisation are very closely linked with each other. Therefore, we need the guidance by experts – as seen today – to identify solutions to this complex challenge. This conference has confirmed my optimism: I take from the panel discussions that there are not only challenges ahead, but also clear and coherent recommendations and concrete ways to actively create a better future for – and with – Ukraine. Tonight, we have a better picture on which factors are most important to make the recovery and reconstruction of Ukraine a success – for Ukraine, for Europe and for the international community. The recommendations which the experts have developed over the last weeks, voiced today will play a vital role now, while our Ukrainian colleagues will continue to refine their national recovery plan. The recommendations will now inform ongoing international policy discussions. As international community, we will continue to prepare the architecture for a robust and inclusive governance framework to guide our support. As G7 Presidency, we will continue our work on such a governance framework, in close coordination with the European Union, International Organisations and other partners – in the G7 and beyond – and of course with Ukraine, as we have done throughout our Presidency this year. Lugano has been the starting point for the recovery of Ukraine, we have continued this important work today, and we will continue to keep pushing forward on this. Let me assure you that, also beyond the end of our G7 Presidency, Germany will continue to play a strong role to support Ukraine where we can. And we are happy to confirm our offer to host the follow-up Lugano Conference in 2024. I close this conference by sharing with you my conviction which you have strengthened today: In light of the latest attacks, now more than ever, the recovery of a peaceful and prosperous Ukraine is our joint endeavour. I am convinced that we are stronger together. We continue to stand together in supporting Ukraine. As long as it takes!
Eröffnungsrede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der
„International Expert Conference on the Recovery, Reconstruction and Modernisation Ukraine“ am 25. Oktober 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/eroeffnungsrede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-international-expert-conference-on-the-recovery-reconstruction-and-modernisation-ukraine-am-25-oktober-2022-in-berlin-2138300
Tue, 25 Oct 2022 11:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
keine Themen
Exzellenzen, sehr geehrte Gäste und Delegierte, liebe Freundinnen und Freunde in und aus der Ukraine, meine Damen und Herren, Kommissionspräsidentin von der Leyen und ich heißen Sie herzlich in Berlin willkommen, um unsere ukrainischen Freundinnen und Freunde dabei zu unterstützen, ihre eigene Zukunftsvision zu verwirklichen. Für den Wiederaufbau und die Modernisierung der Ukraine. Für eine friedliche, prosperierende und widerstandsfähige Ukraine, mit der wir eine gemeinsame europäische Zukunft teilen. Während wir uns hier versammeln, nimmt Russlands grausamer Angriffskrieg erneut an Intensität zu. Die jüngsten wahllosen Angriffe, bei denen auch Kamikaze-Drohnen gegen die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur in der Ukraine eingesetzt werden, markieren einen neuen Tiefpunkt in Russlands abscheulichem Versuch, die Ukraine von der Landkarte zu tilgen. Diese barbarische Art der Kriegsführung zeigt nur eins: Putins Russland ist verzweifelt. Die stolze und mutige ukrainische Nation wird sich behaupten! Damit sie sich tatsächlich behauptet, werden wir die Ukraine gemeinsam mit all unseren Freunden und Partnern weiterhin entschlossen unterstützen: politisch, finanziell, in humanitärer Hinsicht – und auch mit Waffen. Und zwar so lange wie nötig! So lange, wie diese Unterstützung gebraucht wird! Insbesondere wird Deutschland der Ukraine weiterhin die Luftabwehrsysteme bereitstellen, die sie so dringend benötigt. Der beste Wiederaufbau ist der, der gar nicht erst stattfinden muss, weil ukrainische Städte und Kraftwerke vor russischen Bomben, Drohnen und Raketen geschützt werden. Wir wissen heute noch nicht, wann dieser Krieg enden wird. Aber enden wird er. Und wenn es so weit ist, werden wir der Ukraine in ihrem Streben nach Sicherheit, Freiheit und Demokratie auch weiterhin zur Seite stehen. Wir wissen, dass die Geschichte jedes Landes einzigartig ist. Doch unsere eigene historische Erfahrung lehrt uns auch, dass Wiederaufbau immer möglich ist – und dass diese Aufgabe nie früh genug in Angriff genommen werden kann. Jetzt ist es Zeit, die klügsten und besten Köpfe zusammenzubringen, damit sie ihr Know-how und ihre Empfehlungen einbringen und der Wiederaufbau der Ukraine beginnen kann. Jetzt ist es Zeit, das kollektive Wissen der Welt zu nutzen, um einen Beitrag zur Zukunft der Ukraine zu leisten. Jetzt ist es Zeit, den institutionellen Rahmen zu entwickeln, mit dem der Wiederaufbau der Ukraine gesteuert und verwirklicht werden kann. Und jetzt ist es Zeit zu erörtern, wie die Zukunft der Ukraine aufgebaut und finanziert werden kann. Deshalb sind wir heute hier zusammengekommen. Um zu besprechen, wie wir die Finanzierung des Wiederaufbaus und der Modernisierung der Ukraine auch langfristig sichern können – für Jahre und Jahrzehnte. Lassen Sie mich also unterstreichen, worum es bei dieser Konferenz nicht geht: Dies ist keine herkömmliche Geberkonferenz. Sondern etwas viel Grundlegenderes. Bei dieser Konferenz geht es um die Entwicklung der Strukturen und Mechanismen, die das ermöglichen und finanzieren helfen, was John Maynard Keynes 1944 als „fortwährenden Wiederaufbau“ bezeichnete. Es geht hier also um nichts Geringeres als einen neuen Marshallplan für das 21. Jahrhundert. Eine Generationenaufgabe, mit der jetzt begonnen werden muss. Der Wiederaufbau und die Modernisierung der Ukraine wird wahrhaftig eine Herausforderung für Generationen sein – und die gebündelte Kraft der gesamten Weltgemeinschaft erfordern. Doch es ist auch eine Chance für kommende Generationen – wenn wir es richtig anpacken. Lassen Sie unser Augenmerk also nicht nur darauf richten, das wiederaufzubauen, was war – so wichtig das gegenwärtig auch sein mag. Sondern lassen Sie uns auch darüber nachdenken, was möglich ist: eine fortschrittlichere, nachhaltigere und widerstandsfähigere Ukraine; eine Ukraine, die ein wichtiger Produzent von grüner Energie sein wird; ein Exporteur von industriellen und landwirtschaftlichen Produkten der Spitzenklasse; ein Digitalstandort mit weltweit führenden IT-Fachleuten; ein EU-Mitglied mit entsprechender Infrastruktur und den entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen. Für mich ist das Bekenntnis der EU zur Ukraine als einem zukünftigen Mitgliedstaat eine der bedeutendsten geopolitischen Entscheidungen unserer Zeit. Unsere globalen Bemühungen, die Ukraine wiederaufzubauen und gleichzeitig den EU-Beitrittsprozess weiterzuverfolgen, wird enorme Synergien zeitigen. Nicht nur die Ukraine, auch Europa insgesamt wird dadurch gestärkt! Zudem müssen wir die unterschiedlichen internationalen Stränge der Unterstützung für die Ukraine bündeln: Während unseres Vorsitzes hat die G7 beispiellose Schritte unternommen, um Russland und denjenigen, die den russischen Angriffskrieg unterstützen, wirtschaftliche Kosten aufzuerlegen. Aufbauend auf den Zusagen, die wir der Ukraine auf dem Gipfel von Elmau im Juni gegeben haben, richtet sich unser Blick nun auf unsere Freundinnen und Freunde in Japan, das als künftiger G7-Vorsitz unsere Unterstützung fortsetzen wird. Die Staats- und Regierungschefinnen und chefs der G20 werden nächsten Monat auf Bali zusammenkommen, und wir ermutigen unsere indonesischen Freundinnen und Freunde, auf diesem Treffen sowohl den Bedürfnissen der Ukraine Rechnung zu tragen als auch der Notwendigkeit, die internationale regelbasierte Ordnung zu verteidigen. Die internationale Gemeinschaft hat im Juli in Lugano eine Zukunftsvision für die Ukraine entwickelt. Ich gratuliere unseren Freundinnen und Freunden aus der Schweiz und Großbritannien zu den erzielten Fortschritten und sehe der Folgeveranstaltung im nächsten Jahr erwartungsvoll entgegen. Und schließlich kommen wir heute hier in Berlin zusammen – als globale Gemeinschaft, die bereit ist, ihr Wissen und die nötigen Fachkenntnisse zu bündeln, um den Neuaufbau der Ukraine zu ermöglichen. In ihrem Kampf um Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität ist die Ukraine nicht allein – und sie wird auch in Zukunft nicht allein sein. Doch an diesem Wendepunkt der ukrainischen Geschichte entscheidend sind ukrainische Eigenverantwortung und Handlungsfähigkeit. Deshalb begrüße ich die heutige Grundsatzrede von Präsident Selensky und die Teilnahme von Ministerpräsident Schmyhal. Wir alle sind gespannt auf die Erkenntnisse, die die teilnehmenden Expertinnen und Experten beisteuern werden. Wir wollen zusammentragen, welche Möglichkeiten es gibt, die Zukunft der Ukraine zu finanzieren – und zwar nicht nur für die nächsten Monate, sondern auf Jahre hinaus. Um diesem gewaltigen Kraftakt gerecht werden zu können, müssen wir noch bessere Mittel und Wege finden, damit öffentliche und private Geldgeber für Investitionen in eine nachhaltige Zukunft der Ukraine zusammengebracht werden. Wir sollten erörtern, wie ein transparenter, leistungsfähiger und alle Akteure einbeziehender ordnungspolitischer Rahmen aussehen könnte, auf den sich alle unsere Partner und die internationalen Organisationen, die heute hier zugegen sind, verständigen können. Und wir werden von den besten Fachleuten Beiträge zu Aspekten wie Dezentralisierung und Regionalentwicklung, Korruptionsbekämpfung, Investitionsförderung und makroprudenzielle Maßnahmen hören. Je besser die Grundstruktur ist, die wir jetzt für den Wiederaufbau der Ukraine schaffen, desto größer wird die internationale Unterstützung für die Ukraine in den kommenden Jahren sein. Indem wir diese hervorragende und vielfältige internationale Gruppe einberufen, bringen wir einmal mehr unsere unerschütterliche Unterstützung für die Ukraine zum Ausdruck – und auch unser uneingeschränktes Vertrauen darauf, dass sich die Werte durchsetzen werden, die wir alle mit der Ukraine teilen. Ich danke Ihnen allen, dass Sie heute hier sind und sich auf unkonventionelle Art über die großen Zusammenhänge nachdenken werden – genau so, wie es die Dimension der bevorstehenden Aufgabe erfordert. Schönen Dank!
Abschlussrede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der
„International Expert Conference on the Recovery, Reconstruction and Modernisation Ukraine“ am 25. Oktober 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/abschlussrede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-international-expert-conference-on-the-recovery-reconstruction-and-modernisation-ukraine-am-25-oktober-2022-in-berlin-2138446
Tue, 25 Oct 2022 18:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
keine Themen
Sehr geehrte Damen und Herren, zunächst möchte ich mich bei allen Teilnehmenden dafür bedanken, dass sie heute auf dieser wichtigen Konferenz mit dabei waren. Mein ganz besonderer Dank gilt Präsident Selensky für seine Ansprache heute Morgen sowie Ministerpräsident Schmyhal und seinen Kolleginnen und Kollegen, die heute hier sind – und vor allem natürlich dem ukrainischen Volk. Dies war eine internationale Fachkonferenz, auf der Kommissionspräsidentin von der Leyen und ich die klügsten und besten Köpfe zusammengebracht haben, um mit Delegationen aus aller Welt über die wirtschaftliche Erholung und den Wiederaufbau der Ukraine zu sprechen. Ich freue mich auch über das große Interesse der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft, da wir für einen erfolgreichen Neuaufbau alle Akteurinnen und Akteure an Bord brauchen. Dass Menschen aus aller Welt den Livestream verfolgt haben, zeugt von erheblichem internationalen Interesse. Die heutigen Gespräche haben noch einmal deutlich gemacht, dass der Wiederaufbau eine immense Herausforderung ist. Wir haben anhand der Beiträge der Expertinnen und Experten gesehen, dass die zentralen Elemente des Neu- und Wiederaufbaus sowie der Modernisierung sehr eng miteinander verknüpft sind. Damit wir Lösungen für diese komplexe Aufgabe finden können, brauchen wir Handlungsanweisungen von Expertinnen und Experten wie die heutigen. Die Konferenz hat mich in meinem Optimismus bestärkt: Die Podiumsdiskussionen haben gezeigt, dass wir nicht nur vor Herausforderungen stehen, sondern dass es auch klare und kohärente Empfehlungen sowie konkrete Wege gibt, wie wir für die – und mit der – Ukraine aktiv eine bessere Zukunft gestalten können. Am heutigen Abend haben wir einen besseren Überblick darüber, welche die wichtigsten Faktoren sind, um den Neu- und Wiederaufbau der Ukraine zu einem Erfolg zu machen – für die Ukraine, für Europa und für die internationale Gemeinschaft. Die Empfehlungen, die die Fachleute in den letzten Wochen entwickelt haben und die heute vorgetragen wurden, werden jetzt eine entscheidende Rolle spielen; gleichzeitig werden unsere ukrainischen Kolleginnen und Kollegen ihren nationalen Wiederaufbauplan weiter ausarbeiten. Die Empfehlungen werden in die laufenden politischen Gespräche auf internationaler Ebene einfließen. Als internationale Gemeinschaft werden wir weiterhin an der Struktur eines stabilen ordnungspolitischen Rahmens arbeiten, der alle Beteiligten einbezieht und an dem sich unsere Unterstützung orientiert. In unserer Rolle als G7-Vorsitz werden wir unsere Arbeit an einem solchen ordnungspolitischen Rahmen fortsetzen, und zwar in enger Abstimmung mit der Europäischen Union, internationalen Organisationen und anderen Partnern – im Kreise der G7 und darüber hinaus – und natürlich mit der Ukraine, wie wir es im Rahmen unseres diesjährigen Vorsitzes bereits getan haben. Lugano war der Ausgangspunkt für den Wiederaufbau der Ukraine. An diese wichtige Arbeit haben wir heute angeknüpft, und wir werden sie weiter vorantreiben. Seien Sie versichert, dass Deutschland auch nach dem Ende seines G7-Vorsitzes die Ukraine dort, wo es möglich ist, mit Nachdruck unterstützen wird. Darüber hinaus bekräftigen wir gern unser Angebot, 2024 die Lugano-Folgekonferenz auszurichten. Zum Abschluss dieser Konferenz möchte ich folgender Überzeugung, in der Sie mich heute bestärkt haben, Ausdruck verleihen: Angesichts der jüngsten Angriffe ist der Wiederaufbau der Ukraine in einem von Frieden und Wohlergehen geprägten Umfeld nun mehr denn je unsere gemeinsame Aufgabe. Ich bin überzeugt, dass wir gemeinsam stärker sind. Bei unserer Unterstützung für die Ukraine stehen wir weiterhin Seite an Seite – so lange wie nötig!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des 5. Deutsch-Ukrainischen Wirtschaftsforums am 24. Oktober 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-5-deutsch-ukrainischen-wirtschaftsforums-am-24-oktober-2022-in-berlin-2137530
Mon, 24 Oct 2022 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Premierminister Schmyhal, sehr geehrter Herr Adrian, sehr geehrter Herr Engel, laskáwo prósymo, ein herzliches Willkommen hier in Berlin, Herr Premierminister, lieber Denys, an Dich und an unsere ukrainischen Gäste! Dass Sie alle hierhergekommen sind, ehrt uns sehr. Auf den Tag genau heute vor acht Monaten überfiel Russland die Ukraine. Dieser 24.Februar 2022 markiert eine furchtbare Zäsur- zuallererst natürlich im Leben der Ukrainerinnen und Ukrainer. Sie kämpfen um ihr Land, um ihre Freiheit und um ihr Leben. Mit welch großem Mut, welcher Entschlossenheit sie das tun, das beeindruckt uns alle, Tag für Tag. Mehr noch: Wir stehen in diesem Kampf, der auch ein Kampf um die Sicherheit und die Friedensordnung Europas ist, fest an der Seite der Ukrainerinnen und Ukrainer. Wir unterstützen ihr Land politisch, finanziell, wirtschaftlich, humanitär – und auch mit Waffen. Auch das gehört hierher, meine Damen und Herren, auf diese Wirtschaftskonferenz. Denn der beste Wiederaufbau ist der, der gar nicht erst stattfinden muss. Die rücksichtslosen Raketenangriffe Russlands auf die Infrastruktur zeigen, dass wir alles unternehmen müssen, um ukrainische Städte und Dörfer, Häfen, Brücken, Straßen und Eisenbahnlinien, Fabriken und Wohnhäuser vor der Zerstörung durch russische Bomben und Raketen zu schützen. Deshalb bin ich froh, dass neben unseren Flugabwehrraketen und Flakpanzern inzwischen auch ein hochmodernes Luftverteidigungssystem aus deutscher Produktion vor Ort in der Ukraine ist. Sie haben darüber berichtet, wie effektiv es wirkt. IRIS-T kann eine ganze Großstadt gegen Raketen und Drohnen verteidigen. Drei weitere davon werden so schnell es geht geliefert. Gemeinsam mit unseren Partnern werden wir die Ukraine unterstützen, solange das nötig ist. Das gilt für die Zeit des Krieges. Das gilt darüber hinaus für den Wiederaufbau. Dabei können Sie sich auf Deutschland, auf die Europäische Union und auf viele Freunde in der Welt verlassen, sehr geehrter Herr Premierminister! Schon jetzt ist klar: Der Wiederaufbau Ihres Landes wird eine Generationenaufgabe. Kein Land, kein Geber, keine internationale Institution kann das alleine stemmen. Umso wichtiger ist, dass wir jetzt gemeinsam die Weichen stellen, damit der Wiederaufbau gelingt. Darum wird es morgen gehen, auf einer internationalen Expertenkonferenz hier in Berlin, zu der Kommissionspräsidentin von der Leyen und ich als G7-Vorsitzender internationale Expertinnen und Experten sowie Vertreterinnen und Vertreter aus Europa, G7, G20, internationalen Organisationen, der Zivilgesellschaft und insbesondere der Ukraine selbst eingeladen haben. Ziel ist es, gemeinsam die internationale Unterstützung zu mobilisieren, die die Ukraine am dringendsten braucht. Je koordinierter und transparenter das geschieht, desto größer wird international die Bereitschaft zu helfen sein, desto mehr private Unternehmen werden in den Wiederaufbau der Ukraine investieren. Am 23.Juni dieses Jahres haben wir im Europäischen Rat eine Entscheidung getroffen, die eine wichtige Weichenstellung ist -für die Ukraine und für die Europäische Union. Wir haben entschieden, der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten zu verleihen. Damit tragen wir dem Rechnung, was spätestens seit den Protesten auf dem Maidan allen klar ist: Die Ukraine ist Teil der europäischen Familie. Ich meine diese Zusage sehr ernst- in all ihrer Konsequenz. Wir wollen, dass die Ukraine Teil der Europäischen Union wird. Diese Entscheidung sendet auch ein Signal an private Investoren: Wer heute in den Wiederaufbau der Ukraine investiert, der investiert in ein künftiges EU-Mitgliedsland, das Teil unserer Rechtsgemeinschaft und unseres Binnenmarkts sein wird. Auch für den Wiederaufbau hat diese Entscheidung Konsequenzen: Wenn wir die Ukraine wiederaufbauen, dann tun wir das mit dem Ziel der Ukraine als EU-Mitglied im Kopf. Das heißt, den Logistik- und Transportsektor sowie die Verkehrsinfrastruktur gleich so aufzubauen, dass die Ukraine vollständig an den EU-Binnenmarkt angebunden wird. Das heißt, Exportwege für ukrainische Produkte offenzuhalten, ukrainische Unternehmen zu stärken und gleichzeitig die begonnene Entwicklung hin zu einer nachhaltig produktiven Industrie und Landwirtschaft voranzutreiben. Das heißt, den ukrainischen Gesundheitssektor zu unterstützen, um Leben zu retten -so wie deutsche Unternehmen es etwa durch Spenden von Medizinprodukten und Arzneimitteln bereits tun- und zugleich das Gesundheitswesen dauerhaft zu stärken. Ich denke da an moderne Ausstattung, Ausbildung und Digitalisierung. Schließlich heißt Wiederaufbau, zerstörte Energiewerke und -netze nicht nur wieder funktionstüchtig zu machen- so prioritär das derzeit ist-, sondern auch deren Effizienz zu erhöhen, um Stromexporte aus der Ukraine in die EU weiter auszubauen und das Energiesystem der Ukraine Schritt für Schritt klimaneutral aufzustellen. Schließlich hat die Ukraine dank Sonne, Wind und vorhandener Netze allerbeste Voraussetzungen, künftig nicht nur Transitland, sondern Exporteur von nachhaltig produzierter Energie zu werden. Dass hierzu schon erste Abkommen zwischen deutschen und ukrainischen Unternehmen in Arbeit sind, zeigt das enorme Potenzial. Ich bin überzeugt: Unser Treffen heute kann der Beginn einer Wirtschafts- und Transformationspartnerschaft zwischen unseren Ländern werden, die tiefer und weiter geht als alles bisher -eine Partnerschaft, die heute schon die großen Chancen in den Blick nimmt, die sich in der Ukraine künftig bieten. Über 2000 deutsche Unternehmen sind in der Ukraine aktiv – viele davon in Zukunftsbranchen wie IT, Digitalisierung oder dem Ausbau erneuerbarer Energien. Einige von ihnen weiten ihr Geschäft sogar während des Krieges aus. Andere Unternehmen warten nur darauf, schnellstmöglich zurückzukehren. Wenn man mit deutschen Wirtschaftsvertretern spricht, die in der Ukraine tätig sind, dann loben alle die guten Bedingungen dort, vor allem die hervorragend ausgebildeten, motivierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Zugleich wünschen sich alle mehr Verlässlichkeit des Rechtsstaats, mehr Transparenz und einen noch entschiedeneren Kampf gegen die Korruption. Ich weiß, sehr geehrter Herr Premierminister, lieber Denys, auch Ihr wisst um die Bedeutung dieser Themen. Natürlich wird Euer Weg in die EU mit vielen Reformen, gerade auch mit Blick auf die Judikative und den Kampf gegen Korruption, verbunden sein, ja, verbunden sein müssen. Diese Hoffnung setzen auch viele Ukrainerinnen und Ukrainer in eine EU-Mitgliedschaft ihres Landes- so hat Präsident Selensky es mir immer wieder berichtet. Denn die Achtung von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit ist der entscheidende Wesenszug der Europäischen Union. Das und die Demokratie sind die Basis für das Vertrauen der Mitgliedstaaten untereinander. Auch für diese Reformen wird die EU, wird Deutschland, ein zuverlässiger Partner für die Ukraine sein. Noch etwas kommt uns zugute, wenn wir heute eine neue ukrainisch-deutsche Wirtschaftspartnerschaft begründen: die persönlichen Verbindungen zwischen Ukrainern und Deutschen. Sie sind die wohl stärkste Brücke zwischen unseren Ländern. Eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer haben seit dem 24. Februar Zuflucht hier bei uns gefunden- zusätzlich zu ihren Landsleuten, die schon vorher hier in Deutschland lebten. Sie alle sind und bleiben uns herzlich willkommen! Es war richtig, den Geflüchteten von Beginn an die Möglichkeit zu geben, hier zu arbeiten. Mein Dank gilt den Unternehmen, die das so schnell möglich gemacht haben. Und mein Dank gilt auch den Lehrerinnen und Lehrern, die die mittlerweile fast 200.000 ukrainischen Kinder an den deutschen Schulen willkommen heißen. Viele der Ukrainerinnen und Ukrainer wünschen sich trotzdem nichts sehnlicher, als möglichst bald in die alte Heimat zurückzukehren. Wer könnte das nicht verstehen? Doch auch dann- davon bin ich überzeugt- bleiben sie auch in Zukunft eine Brücke zwischen unseren Ländern, weil sie Deutschland kennengelernt haben, weil sie vielleicht Deutsch sprechen, weil sie Verbindungen geknüpft haben, die bleiben. Wenn es in diesen schweren Zeiten also eine hoffnungsvolle Botschaft gibt, dann doch diese: Putins Krieg hat uns zusammengeschweißt. Nie zuvor waren die Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine enger. Nie zuvor war die europäische Zukunft der Ukraine klarer. Nie zuvor war auch das Interesse der deutschen und europäischen Wirtschaft größer, sich in der Ukraine zu engagieren. Das zeigt übrigens bereits der Blick in diesen Raum. Vielen Dank, dass Sie hier sind!
Kanzler kompakt: Wie kann der Wiederaufbau der Ukraine gelingen?
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-kompakt-wiederaufbau-ukraine-wortlaut-2137210
Sat, 22 Oct 2022 10:00:00 +0200
Jeden Tag erreichen uns die Bilder von der furchtbaren Zerstörung, die Russlands Krieg gegen die Ukraine in der Ukraine anrichtet. Dörfer werden zerstört, Städte werden zerstört, Straßen, Eisenbahnverbindungen, Stromlinien, Krankenhäuser, Schulen, Bibliotheken, Universitäten. Unglaublich viel von dem, was über Jahrhunderte aufgebaut worden ist, ist jetzt in diesem Krieg schon zerstört. Und wenn wir uns jetzt noch darum bemühen, die Ukraine und die Bürgerinnen und Bürger des Landes dabei zu unterstützen, ihre Unabhängigkeit, die Integrität und Souveränität ihres Landes, ihre Demokratie und Freiheit zu verteidigen, denken wir aber auch schon an die Zukunft: Wie soll das alles wieder aufgebaut werden? Wie schaffen wir das, dass es eine gute Zukunft gibt für diejenigen, die in der Ukraine leben, dass die Wirtschaft wieder wächst und dass alles funktioniert? Der Wiederaufbau wird eine große, große Aufgabe. Und wir werden sehr viel investieren müssen, damit das gut funktioniert. Das kann die Ukraine nicht allein. Das kann auch die Europäische Union nicht allein. Das kann nur die ganze Weltgemeinschaft, die jetzt die Ukraine unterstützt. Und sie muss es für lange Zeit tun. Deshalb ist es wichtig, dass wir jetzt nicht nur ganz konkret feststellen, was alles gemacht werden muss, wo überall investiert werden muss, wie man den Wiederaufbau organisieren kann, sondern dass wir auch darüber nachdenken, wie über viele, viele Jahre, ja, Jahrzehnte ein solcher Wiederaufbau auch finanziert werden kann von der Weltgemeinschaft. Deshalb habe ich zusammen mit der Präsidentin der Kommission der Europäischen Union, Ursula von der Leyen, eingeladen, als Präsident der G7-Staaten zu einer Konferenz, in der wir genau diese Frage und diese Fragen besprechen wollen. Es geht darum, dass wir jetzt ein Zeichen der Hoffnung setzen, mitten in dem Grauen des Krieges, dass es wieder aufwärts geht.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Festveranstaltung der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften am 18. Oktober 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-festveranstaltung-der-deutschen-akademie-der-technikwissenschaften-am-18-oktober-2022-in-berlin-2135808
Tue, 18 Oct 2022 19:15:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Ploss, sehr geehrter Herr Wörner, meine Damen und Herren, kennen Sie das dritte Axiom des englischen Physikers und Science-Fiction-Autors Arthur C. Clarke? Es lautet: „Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.“ Anders ausgedrückt: Technologischer Fortschritt braucht Forscherinnen und Forscher, die über das Vorstellbare hinausgehen. Erst die Freiheit der Idee, nur die wissenschaftliche Neugier sorgt für Innovationen. Damit bin ich bei acatech und der Magie, die Sie hier tagtäglich vollbringen, indem Sie Innovationen von der ersten Idee bis zur Anwendung durchdenken, indem Sie Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft an einen Tisch bringen. Zauberkunst brauchen wir in diesen Krisenzeiten mehr denn je. Russlands Krieg hat alte Gewissheiten zerstört. Eine hochgerüstete Nuklearmacht will mit Gewalt die Grenzen Europas verschieben und spricht einem anderen Land das Existenzrecht ab. Tapfer kämpfen die Ukrainerinnen und Ukrainer um ihre Freiheit, ihr Land und – ja- ihr Leben. Das ist bewundernswert. Wir werden die Ukraine weiter unterstützen, und zwar so lange wie nötig. Aber längst geht es bei Russlands Krieg nicht mehr nur um die physischen Grenzen von Ländern. Es geht auch um metaphysische Grenzen, um unsere Regeln der Zusammenarbeit und des Zusammenhalts, unsere Werte und unseren Wohlstand. Die Zeitenwende betrifft daher jede und jeden von uns. Wir müssen unsere Energieversorgung unabhängig von Russland organisieren können. Deshalb werden wir schon zum Jahreswechsel die ersten Flüssiggasterminals ans Netz nehmen. Wir haben über den Sommer Gas eingespeichert, sodass unsere Speicher jetzt zu 95 % gefüllt sind. Und seit März haben wir inzwischen vier Entlastungspakete im Umfang von – alles zusammengerechnet – 300 Milliarden Euro geschnürt, um die Bürgerinnen und Bürger, um Unternehmen, um Forschungs- und Kultureinrichtungen mit den rasant steigenden Preisen nicht allein zu lassen. Das wird uns helfen, durch diesen Winter zu kommen. Aber mit genauso viel Nachdruck, wie wir ein Sondervermögen für die Bundeswehr geschnürt haben, wie wir Abwehrschirme für die Bürgerinnen und Bürger sowie die Wirtschaft spannen, stellen wir uns den Themen der Zukunft. Denn eines hat Russlands Krieg doch ebenfalls ganz deutlich gezeigt: Jetzt erst recht müssen wir die Transformation unserer Wirtschaft hin zur Klimaneutralität voranbringen und uns unabhängig machen von fossilen Brennstoffen! Jetzt erst recht müssen wir die Bremsklötze beim Ausbau erneuerbarer Energien lösen! Jetzt erst recht brauchen wir Investitionen in Digitalisierung und Europas technologische Souveränität. Mit diesem Fortschrittsversprechen ist die Bundesregierung angetreten – und dieses Versprechen gilt! Es einzulösen ist heute dringender denn je. Denn wir stehen vor dem größten Wandel seit Beginn der Industrialisierung, der Doppeltransformation aus Dekarbonisierung und Digitalisierung. So unterschiedlich diese Herausforderungen auch sein mögen, eines haben sie gemeinsam: Um sie zu bewältigen, brauchen wir die nötigen Technologien. Das macht Ihre Magie hier bei acatech so bedeutend für unser Land! Das macht den engen Austausch zwischen Politik und Technikwissenschaften so wichtig. Fächer wie Medizin oder Philosophie sind bereits seit Jahrhunderten fester Bestandteil von Akademien. Aber trotz ihrer großen Bedeutung blieben die Ingenieurwissenschaften als angewandte Naturwissenschaften dabei in Deutschland lange außen vor; es gab nur vereinzelt Initiativen. Umso intensiver war dann Ihr Auftakt nach der Gründung der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften vor 20 Jahren. Seither haben Sie immer wieder für Fortschritt gesorgt. Sie haben entscheidend dabei mitgeholfen, die universitäre Ausbildung von Ingenieuren den Anforderungen der Zeit anzupassen. Ihre Prognosen zur Entwicklung der Mobilität sind eine wichtige Grundlage unserer Verkehrspolitik – falls Sie es noch nicht gemerkt haben. Früh haben Sie erkannt, wie wichtig das Feld der Medizintechnologie ist, um nur einige Highlights zu nennen. Zusammenarbeit über die Disziplinen hinweg war dabei von Tag 1 an Teil der DNA von acatech ‑ genauso wie die Vermittlung, was Technologie für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes bedeutet. Oder wie Ihr ehemaliger Präsident Joachim Milberg es einmal formuliert hat: „Wir wollen einen Beitrag dafür leisten, dass Technik in unserer Gesellschaft wieder als Bereicherung und nicht länger als Belastung empfunden wird.“ Als Bereicherung und als zwingend notwendige Investition in unsere Zukunft, würde man heute wohl hinzufügen. Denn diese Zukunft hängt davon ab, ob wir unsere Souveränität bei bestimmten Schlüsseltechnologien behaupten können. Ich denke etwa an Halbleiter-, Mikro- und Quantenelektronik, an Kommunikations- und Energietechnologien und natürlich auch an Künstliche Intelligenz. Die Europäische Union hat das verstanden und arbeitet am Ziel technologischer Souveränität – Souveränität wohlgemerkt, nicht Autarkie. Internationale Zusammenarbeit bleibt nach wie vor wichtig. Aber wir werden uns in strategisch wichtigen Bereichen von einseitigen Abhängigkeiten befreien. Erste Erfolge sehen wir bereits, nicht nur, aber auch zum Beispiel an der Investition von Intel in Magdeburg. In den kommenden Jahren werden dort Milliarden in eine Chip-Fabrik gesteckt. Auch mit Unternehmen wie Infineon, Bosch, GlobalFoundries oder NXP arbeiten wir daran, Hochtechnologie hier in Europa herzustellen. Ein weiteres Beispiel, das mir Hoffnung macht, sind die Quantentechnologien. In der Forschung sind wir auf diesem Feld bereits weltweit vorne dabei. Jetzt kommt es darauf an, diese Forschungsergebnisse in die Anwendung zu bringen und den Beginn einer Wertschöpfungskette zu bilden. Auch als Bundesregierung wollen wir den Schritt von Gründern und Startups in die Geschäftswelt erleichtern. Dazu schaffen wir eine Agentur für Transfer und Innovation, die Wissenschaft, Wirtschaft und staatliche Stellen zusammenbringt. Bei all dem zählen wir auf die Expertise von acatech. Ein gutes Beispiel dafür, wie eine von acatech mitinitiierte und entwickelte Idee inzwischen in ganz Europa Schule macht, ist der Mobility Data Space. In meiner Rede zur Zukunft Europas Ende August an der Prager Karls-Universität habe ich auf die Bedeutung dieser Initiative hingewiesen und für einen einheitlichen europäischen Raum für Mobilitätsdaten geworben, um Europa zum Vorreiter für die Mobilität der Zukunft zu machen. Der Mobility Data Space lebt vom Datenaustausch zwischen Automobilindustrie, Mobilitätsdienstleistern und Kommunen. Ich bin Ihnen daher sehr dankbar dafür, dass Sie an der weiteren Skalierung des Mobility Data Space arbeiten, insbesondere auch im Austausch mit unseren europäischen Nachbarn. Der Mobility Data Space ist eines der Leuchtturmprojekte bei GAIA-X. Das große Interesse ‑ national wie in Europa‑ ist Anerkennung für Ihre Arbeit, für ein Stück Magie made by acatech. Ich hoffe, der Datenraum Kultur, den Sie gerade planen, wird ähnlich erfolgreich. Und wie ich höre, denken Sie auch über einen Datenraum Gesundheit nach. Vielen Dank für die viele Pionierarbeit! Sie ist natürlich nur ein Beispiel für die notwendige Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, zwischen Gemeinden, Ländern, dem Bund und Europa. Da ist die Industrie 4.0, deren Erfolg uns hier in Deutschland als eine Art Blaupause dienen kann. Um daran anzuknüpfen, müssen wir die Industrie 4.0 nun mit den neuen Potenzialen von KI und Robotik verknüpfen ‑ nicht nur theoretisch, sondern anwendungsorientiert, so wie es acatech bereits tut, etwa mit der Plattform Lernende Systeme. Das zweite Megathema ist Wasserstoff und vor allem Grüner Wasserstoff. Wasserstofftechnologien bestimmen das Gelingen der Energiewende und damit die gesamte Transformation unserer Wirtschaft hin zur Klimaneutralität. Wir brauchen einen Elektrolyse-Boom in Europa, habe ich in meiner Prager Rede gesagt. Die Mittel, um in die nötige Infrastruktur zu investieren, stehen mit Programmen wie „Next Generation EU“ oder „IPCEI Wasserstoff“ bereit. Der Schlüssel zur großindustriellen Anwendung von Wasserstoff aber sind Forschung und Erfindergeist. Auch hier leistet acatech wichtige Beiträge, etwa mit der Plattform Energiesysteme der Zukunft sowie mit Ihrem Wasserstoff-Kompass. Ich kann Sie nur ermutigen: Arbeiten Sie weiter mit uns auf diesem Zukunftsfeld! In der Bundesregierung stoßen Ihre Vorschläge und Ideen auf offene Ohren – nicht zuletzt, weil unsere digitale, vernetzte, hochtechnologisierte Welt immer komplexer wird. Gute Politik ist daher mehr denn je auf den Rat der Wissenschaft angewiesen. Diesen Rat suchen wir. Eine meiner ersten Entscheidungen als Bundeskanzler war, ein Gremium von Expertinnen und Experten einzuberufen, das uns seither – über unterschiedliche Disziplinen und Denkschulen hinweg – in der Corona-Politik berät. Auch die Allianz für Transformation, die sich heute Vormittag zum zweiten Mal getroffen hat, ist ein zentrales Beratungsgremium an der Schnittstelle zwischen Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Zuletzt haben wir uns zum Beispiel intensiv mit den Vorschlägen der Gaspreiskommission auseinandergesetzt, die wir in den kommenden Wochen umsetzen werden. Und ich bin acatech sehr dankbar, dass Sie sich am Zukunftsrat beteiligen, der uns dabei hilft, Innovationen voranzubringen und technologische Trends früh zu erkennen. Meine Damen und Herren, so entsteht wissenschaftsbasierte Politik. Das bedeutet, dass wir den eingeschlagenen Kurs immer wieder überprüfen und – wo nötig – an neue Erkenntnisse und den technologischen Fortschritt anpassen und natürlich, dass wir der Wissenschaft Raum lassen, ihre Magie zu entfalten, Magie, wie Sie hier bei acatech seit 20 Jahren entsteht. Schönen Dank dafür!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Eröffnungsfeier des Gewerkschaftstags der EVG am 16. Oktober 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-eroeffnungsfeier-des-gewerkschaftstags-der-evg-am-16-oktober-2022-in-berlin-2134636
Sun, 16 Oct 2022 16:30:00 +0200
Berlin
keine Themen
Lieber Klaus-Dieter Hommel, liebe Yasmin Fahimi, liebe Cosima Ingenschay, lieber Martin Burkert und liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man 3. Gewerkschaftstag der EVG liest, stutzt man erstmal nach dem Motto, das kann doch gar nicht sein. Die Eisenbahnergewerkschaft gibt es doch schon seit über 125 Jahren. Aber klar, die EVG selbst gibt es erst seit 2010 und morgen wählt Ihr Euren 4. Vorsitzenden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich habe in den vergangenen Monaten schon bei einigen Gewerkschaftstagen sprechen können, allerdings meist am Ende oder zumindest nach den Vorstandswahlen. Das ist heute anders. Ihr wählt Euren Vorsitzenden erst noch, darum kann ich auch noch keine Glückwünsche überbringen. Aber ohne dass ich hier Werbung machen will, kann ich aus unserer gemeinsamen Zeit im Deutschen Bundestag sagen: Mit Martin Burkert würde einer das Ruder übernehmen, der weiß, wie Gewerkschaftsarbeit geht und dem die EVG am Herzen liegt. Das war bei Dir, lieber Klaus-Dieter, nicht anders. Du bist Eisenbahner durch und durch, von der Pike auf und Gewerkschafter mit Leib und Seele. Du hast den Vorsitz mitten im ersten Corona-Jahr 2020 übernommen – keine leichte Aufgabe, wie wir eben noch mal gesehen und gehört haben. Aber Du hast sie auch angenommen und Dich mit aller Kraft für die Bahn und Deine Leute eingesetzt, für gemeinsame und solidarische Lösungen – und das ist gelungen. Deswegen sage ich heute Danke. Danke für alles, was Du für die EVG und mit der EVG bewegt hast – und das auch ganz sprichwörtlich, denn die EVG und Ihr, liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihr bewegt unser Land. Das sehen wir tagtäglich. Straßen und Schienen werden nicht ohne Grund Verkehrsadern genannt. Über sie haltet Ihr nicht nur den Verkehr am Laufen, sondern das gesamte öffentliche Leben. Ohne die tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen Bürgerinnen und Bürger nicht von A nach B. Ohne Euch werden Güter nicht transportiert und kommt nichts in den Geschäften an. Deshalb gehört der Schienenverkehr auch zur kritischen Infrastruktur, die wir besonders schützen und, wie wir wissen, schützen müssen. Wie wichtig das ist, das haben wir erst vor wenigen Tagen erlebt, als Unbekannte vorsätzlich und auf ganz perfide Art den Bahnverkehr in Norddeutschland für mehrere Stunden lahmgelegt haben. Klar ist, die Hintergründe müssen genau ermittelt und aufgeklärt werden. Wir haben ein sehr enges Sicherheitsnetz bei der Bahn. Die Infrastruktur wird intensiv überwacht, damit schnell reagiert werden kann – das wird auch in Zukunft so bleiben. Aber ich kann mir vorstellen, dass solche Vorfälle nicht einfach an denjenigen vorbeigehen, die überall die Arbeit leisten, nicht an Euch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Für viele ist die Bahn eben nicht nur Arbeitsplatz, sondern auch Stolz und ein Stück Heimat. Was dort geleistet wird, was Ihr dort leistet, haben wir auch eindrücklich während der Corona-Pandemie gesehen. Als nahezu das gesamte öffentliche Leben stillstand in Deutschland, waren Busse, Straßenbahnen und Züge weiterhin unterwegs, weil Mobilität eben nicht wegzudenken ist aus unserem Leben. Das war nicht immer einfach. Auch Ihr habt Euch natürlich Sorgen gemacht, als es noch keine Impfstoffe gab, wenig Schutzmasken, dafür aber viel Verunsicherung über das neue Virus. Und ich weiß, das war und ist nicht immer einfach, Regeln zum Infektionsschutz und zum rücksichtsvollen Umgang miteinander jedem Reisenden verständlich zu machen. Das alles kostet Nerven und geht auch auf Dauer auf die Substanz. Deshalb: Danke für die großartige Arbeit und das Engagement in schwierigen Zeiten! Das gilt auch für die vergangenen Wochen und Monate. Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine mussten Hundertausende Ukrainerinnen und Ukrainer, oft Frauen, Kinder und Ältere praktisch über Nacht ihre Heimat und ihr Leben und ihre Lieben verlassen. Viele kamen nur mit dem, was sie am Leib trugen. Die allermeisten waren mit Zügen und Bussen unterwegs. Umso dankbarer bin ich für die schnelle, unbürokratische und zutiefst menschliche Reaktion der Verkehrsgesellschaften, die gesagt haben, alle, die aus der Ukraine zu uns flüchten, können unsere Busse, unsere Bahnen kostenfrei nutzen. Gerade die EVG hat große Solidarität gezeigt. Per Schienenbrücke habt Ihr im großen Umfang Hilfslieferungen per Güterzug in die Ukraine gebracht. Und natürlich bin ich all denen sehr dankbar, die an den Bahnhöfen zur Stelle waren, die den Geflüchteten das Ankommen erleichtert haben, die ohne viel Aufhebens geholfen und manchmal auch einfach nur getröstet haben. Ich weiß, die Schicksale gehen einem nahe, nicht jeder steckt das einfach weg. Umso größer ist mein Respekt für das, was da geleistet wurde und wohl auch noch in den kommenden Monaten und lange Zeit geleistet werden muss, denn Putin führt weiter Krieg in der Ukraine, inzwischen mit zwangsmobilisierten Soldaten, und noch ist leider kein Ende abzusehen. Gegen uns, gegen unsere Freunde und Partner in Europa setzt Putin auch Energie als Waffe ein. Nicht erst mit der Sabotage der Nordstream-Pipeline war doch klar: Auf absehbare Zeit ist mit Energielieferungen aus Russland nicht mehr zu rechnen. Das hat Konsequenzen, denn wir haben uns über viele Jahre hinweg in eine viel zu einseitige Energieabhängigkeit von Russland begeben. Eine Abhängigkeit, die wir jetzt so schnell wie möglich beenden. Als ich kurz nach meinem Amtsantritt die Verantwortlichen in den Ministerien gefragt habe, was denn unsere Exit-Strategie wäre für den Fall, dass Russland keine Energie mehr liefert, da gab es keine. Die haben wir in den vergangenen Monaten in Windeseile aufgestellt. Wir haben uns vorbereitet, und das zahlt sich jetzt aus. Unsere Gasspeicher sind mittlerweile zu fast 95% gefüllt, dafür haben wir mit klaren gesetzlichen Vorgaben gesorgt. Ende des Jahres gehen die ersten Flüssiggasterminals in Wilhelmshaven und Brunsbüttel ans Netz, weitere werden folgen in Lubmin etwa und in Stade. Damit und mit zusätzlichen Importen über die Terminals in unseren westeuropäischen Nachbarstaaten und aus Norwegen können wir die russischen Gasimporte vollständig ersetzen, und wir haben zusätzlich die Kohlekraftwerke wieder ans Netz genommen. Allein in diesem Tagen kommen insgesamt fünf weitere Braunkohlekraftwerksblöcke im Lausitzer und Rheinischen Revier hinzu. Und ich weiß, das hat auch Konsequenzen für den Bahnverkehr und hat auch geklappt mit den zusätzlich jetzt notwendigen Kohletransporten – auch dafür schönen Dank! Und auch darüber ist sich die Bundesregierung einig, im Winter werden wir auch Atomstrom nutzen. Zugleich sparen Unternehmen die Verwaltung und auch viele Bürgerinnen und Bürger Energie ein, auch das ist ein ganz wichtiger Baustein. Mit all dem werden wir wohl durch diesen Winter kommen, und das ist eine gute Nachricht. Aber die Preise für Strom und Gas und auch für andere Energieträger müssen runter. In der aktuellen Höhe sind sie für viele Bürgerinnen und Bürger und auch für die Unternehmen schlicht nicht tragbar. Darum haben wir beschlossen, die teils exorbitanten Zufallsgewinne von Stromerzeugern abzuschöpfen und damit die Preise der Stromkunden zu senken. Inzwischen haben wir eine solche Strompreisbremse auch in der gesamten Europäischen Union vereinbart. Auch die Gaspreisbremse kommt. Die Expertenkommission hat am Montag Vorschläge vorgelegt, die schon eine sehr gute Grundlage sind, um das zu erreichen, was wir wollen, nämlich die Gaspreise zu senken. Wie alle wissen, haben wir zur Finanzierung einen wirtschaftlichen Abwehrschirm beschlossen, den wir mit bis zu 200 Milliarden Euro ausstatten. Das ist der Doppel-Wumms, von dem ich gesprochen habe. Damit sorgen wir auch dafür, dass unsere Energieimporteure angesichts der hohen Weltmarktpreise nicht zusammenbrechen. Der Staat lässt in dieser Krise niemanden alleine, das habe ich von Anfang an gesagt und dabei bleibt es. Und zugleich müssen wir uns auch als Gesellschaft unterhaken, um durch diese Krise zu kommen. Das ist der Sinn der Konzertierten Aktion, in der wir mit Sozialpartnern, mit der Bundesbank und anderen Expertinnen und Experten beraten, wie wir gemeinsam mit dem Problem steigender Preise umgehen. Ein Ansatz, auf den wir uns verständigt haben, sind zusätzliche steuerfreie Zahlungen der Unternehmen an ihre Beschäftigten von bis zu 3.000 Euro. Na ja, vereinbart werden müssen sie noch von den Tarifpartnern. Das ist das Angebot der Bundesregierung. Meine Bitte: Tragt dazu bei, dass dieses Angebot angenommen wird im Sinne der Beschäftigten! All das ergänzt die drei großen Entlastungspakete von knapp 100 Milliarden Euro, die wir schon seit dem Frühjahr geschnürt haben. Alle kennen die Elemente vom Energiegeld auf dem Gehaltszettel über die Abschaffung der EEG-Umlage auf den Stromrechnungen bis zu steuerlichen Erleichterungen. Ein Element will ich aber herausgreifen, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil es für Euch so besonders wichtig war und hier ja auch schon vielfach Erwähnung gefunden hat, das Neun-Euro-Ticket. Immerhin, erstmals konnte man sämtliche Nahverkehrsverbünde mit nur einem Ticket benutzen und das zu einem sehr günstigen Preis. Die Bürgerinnen und Bürger haben das sehr gut angenommen und das ist ja zunächst mal ein Vertrauensbeweis für den öffentlichen Personennahverkehr und für Eure Arbeit. Und zugleich weiß ich, die vollen Züge, gerade im Sommer bei den heißen Temperaturen, haben nicht nur die Technik gefordert, sondern vor allem Euch liebe Kolleginnen und Kollegen. Es ist aber Außerordentliches geleistet worden und allen gezeigt worden: Ja, wir können stärker auf öffentliche Verkehrsmittel setzen, um die Verkehrswende, um die Energiewende zu schaffen. Deshalb wollen wir dauerhaft ein bundesweites digitales ÖPNV-Abo einführen. Der Bund ist grundsätzlich dazu bereit, zusätzliches Geld dafür einzusetzen. Bundesverkehrsminister Wissing und seine Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern haben sich am Donnerstag auf eine Anschlusslösung zum Preis von voraussichtlich 49 Euro verständigt. Ich weiß, da sind noch viel Arbeit und noch viele Verhandlungen aller Beteiligten nötig, aber trotzdem ist das erstmal eine richtig gute Nachricht. Das nur schwer durchschaubare Tarifdickicht, all die verschiedenen Tarifwaben der Verkehrsverbünde, das ist dann für die Nutzer dieses Tickets jedenfalls zu Ende, und damit gewinnen Bahn und Bus enorm an Attraktivität. Ich habe das auch gemerkt in persönlichen Gesprächen mit vielen Freunden, Bekannten und auch Bürgerinnen und Bürgern, die mich angesprochen haben. Es gibt ja eingefleischte Autofahrerinnen und Autofahrer. Die haben viele Gründe, warum sie nie die Bahn benutzen. Einer ist, dass es ihnen immer so schwerfällt an den Ticketautomaten. Da ist jetzt aber was passiert. Tatsächlich war es einfach und ich hoffe, das führt dazu, dass noch viele, viele weitere Entwicklungen möglich sind, die viele dazu bewegen, dass sie die großartigen Bahnen und Busse in diesem Land nutzen, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. Danke für den Beifall. Ich weiß natürlich auch, dass viele wissen, dass diese Attraktivität auch ihre Kehrseite hat. Darum ist klar, dass wir unsere Investition in die Bahn in den kommenden Jahren weiter deutlich erhöhen müssen. Ohne Verkehrswende wird die Energiewende nicht gelingen und ohne starke Bahn, ohne leistungsfähigem ÖPNV, ohne moderne Schienen- und Leitungsnetze, ohne funktionierende Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge gibt es keine Verkehrswende. Vor allem aber: Keine Verkehrswende ohne Euch! Ihr bewegt Deutschland. Ihr steht für die Zukunft der Mobilität. Unser Ziel ist klar: Wir müssen raus aus den fossilen Brennstoffen, nicht nur, weil wir unsere Energieabhängigkeit von Russland beenden müssen, sondern auch, weil wir als Industrienation bis 2045 klimaneutral werden wollen. Für die Schiene heißt das, wir wollen die Verkehrsleistung im Personenverkehr in Bahnen und Zügen deutlich erhöhen. 25% aller Güter wollen wir bis 2030 per Schiene transportieren. Ich weiß, das beschließen viele in der Politik gern mal so, hier sitzen ziemlich viele die wissen, was das konkret bedeutet, damit das auch tatsächlich gelingt, das ist nämlich eine enorme Steigerung, und da sind wir auf viel Unterstützung angewiesen. Und wir werden das bestehende Netz sanieren und weiter elektrifizieren, und zwar in einem ganz anderen Tempo als in den letzten Jahren. Bisher wurde immer oder zumindest sehr häufig, wenn etwas zu erneuern war, genau das repariert – aber eben auch nur das. Das Ergebnis sind Dauerbaustellen in den Schienenkorridoren. Die Deutsche Bahn hat einen guten Vorschlag gemacht, wie man hochbelastete Korridore gebündelt sanieren kann. Künftig gilt also: Wenn irgendwo gebaut wird, dann wird dort gleich alles auf einmal repariert und modernisiert – ich hoffe jedenfalls, dass das klappt. Wir sorgen auch für mehr Tempo. Mit den Oster- und Sommerpaketen haben wir Planungs- und Genehmigungsverfahren beim Ausbau erneuerbarer Energien und Übertragungsnetze erheblich beschleunigt, die auch für den Verkehrssektor entscheidend sind. Im anstehenden Herbstpaket sollen nun auch die Vorschläge der Beschleunigungskommission Schiene Eingang finden. Zum ersten Mal überhaupt werden wir die Infrastrukturentwicklung auf den Fahrplan abstimmen, auf den so genannten Deutschlandtakt – Netzausbau follows Fahrplan, könnte man sagen. Das soll für weniger Verspätungen sorgen, für bessere Planbarkeit, für Fahrpläne, die einhaltbar und verlässlich sind. Das alles kostet, das ist ziemlich klar. Allein in diesem Jahr investiert der Bund rund 10,4 Milliarden Euro in die Schiene. Und aus dem Entlastungspaket 3 kommen nun noch einmal 500 Millionen Euro für den Bundeshaushalt 2023 hinzu, zuzüglich einer Milliarde Euro für die Folgejahre. Mir ist klar, das bedeutet hier für viele im Zweifel erst einmal noch mehr Arbeit, noch mehr Erklärungsbedarf gegenüber dem Kunden und noch mehr Veränderung. Aber ich weiß auch, als Eisenbahner wollt Ihr eine gute Zukunft für die Bahn. Das ist unser gemeinsames Ziel, und daran werden wir arbeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit das gelingt, muss es attraktiv sein für die Bahn und im Verkehrssektor zu arbeiten. Gute Löhne aber gibt es vor allem mit Tarifbindung. Die Branchentarifverträge sind die große Leistung von Gewerkschaften wie der EVG. Wir werden die Tarifbindung mit einem Bundestariftreuegesetz weiter stärken, auch indem wir die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes in Zukunft an die Einhaltung von repräsentativen Tarifverträgen der jeweiligen Branche binden. Und wir werden die Mitbestimmung stärken. Gerade die Betriebs- und Personalräte wissen am besten, wie es im Betrieb aussieht. Wenn sich viel ändert, müssen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer demokratisch mitbestimmen können. Deshalb werden wir die Betriebsratsarbeit fit machen für die Anforderungen unserer Zeit, auch mit einem Recht für die Gewerkschaften auf digitalen Zugang in die Betriebe, das ihren analogen Rechten entspricht. Ich finde übrigens, das ist nicht nur gut für die Belegschaften, sondern auch für die Unternehmen, denn Unternehmen mit Betriebs- und Personalräten sind nachweislich krisenfester. Attraktive Arbeitsplätze, darum geht es auch beim Wettbewerb um Fachkräfte. Man merkt es auch in der Verkehrsbranche, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den Lokführerinnen und Lokführern sowie beim Servicepersonal. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen nach und nach in Rente, und es wird nicht leichter, sie zu ersetzen. Erst letzten Mittwoch haben wir im Kabinett eine neue Fachkräftestrategie beschlossen. Ziel ist es, sowohl inländische als auch ausländische Potenziale für mehr Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt zu heben. Einige Berufsgruppen werden wir uns darin auch gesondert anschauen. Beispielsweise ist der Beruf der Fahrzeugführung im Eisenbahnverkehr in der Fachkräftestrategie als Engpassberuf aufgeführt. Wir bauen dabei auf die Arbeit im Zukunftsbündnis Schiene auf. Erst im September hat die gesamte Branche mit dem ersten Tag der Schiene ein starkes Signal für die Schiene als attraktiven Arbeitgeber gesandt. Auch bei der Erwerbsquote von Frauen ist noch Luft nach oben. Deshalb ist es richtig, dass Ihr Euch für mehr und bessere Angebote zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf einsetzt. Wir sorgen parallel für Verbesserungen bei der Kinderbetreuung oder bei den Ganztagsangeboten. Das ist übrigens auch wichtig für alle, die im Schichtdienst arbeiten. Viele hier leisten genau solche Arbeit – schönen Dank für diesen ständigen Einsatz! Vor allem aber setzen wir auf Weiterbildung in den Betrieben. Das ist und bleibt das Herzstück der Fachkräftesicherung. Schließlich wird die Digitalisierung auch den Verkehrssektor und die Bahn grundlegend verändern. Vom Einchecken im Zug per App bis hin zur digitalen Kontrolle des Schienennetzes. Niemand soll Angst haben müssen, von solchen Entwicklungen abgehängt zu werden – im Gegenteil: Ich weiß, dass viele Spaß haben an neuen Technologien, die ja auch vieles einfacher und schneller machen. Wichtig sind deshalb ordentliche Weiterbildungsangebote in den Unternehmen, und wir werden das politisch flankieren zum Beispiel mit dem Qualifizierungsgeld. Damit wird die Bundesagentur für Arbeit Beschäftigte während ihrer Weiterbildung am Arbeitsplatz unterstützen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Gesellschaft, die vor so großen Herausforderungen steht wie unsere, die muss zusammenhalten. Die darf niemanden zurücklassen. Das ist für mich eine Frage des Respekts. Wir werden international beneidet um unsere Sozialpartnerschaft – darum, wie wir in Krisenzeiten immer wieder gute Kompromisse gefunden haben für unser Land und seinen Bürgerinnen und Bürger. Deshalb bin ich überzeugt: Wir werden auch diese Krise durchstehen. Ja, wir werden unabhängiger und stärker aus sie hervorgehen, als wir hineingegangen sind, weil wir füreinander einstehen. Zusammenhalten, wenn es eng wird. Genau das hat die Gewerkschaften immer ausgezeichnet. Bei aller Progressivität, bei allem Vorwärts – keiner wird zurückgelassen. Das ist Eure Stärke, und das ist die Stärke unseres Landes. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Eröffnung des World Health Summit 2022 am 16. Oktober 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-eroeffnung-des-world-health-summit-2022-am-16-oktober-2022-in-berlin-2134558
Sun, 16 Oct 2022 18:20:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Generaldirektor Tedros, sehr geehrter Herr Prof. Pries, sehr geehrte Frau Dr. Boehme, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer des World Health Summit, meine Damen und Herren, vor einigen Tagen hat das Nobelkomitee in Stockholm den diesjährigen Träger des Nobelpreises in Medizin verkündet. Viele von Ihnen kennen ihn natürlich: Es ist Professor Svante Pääbo. Ich habe mich über diese Wahl ganz besonders gefreut. Zum einen natürlich ‑ das liegt auf der Hand ‑, weil Professor Pääbo seit den 90‘er Jahren hier in Deutschland lehrt und forscht ‑ zunächst an der Universität München, später am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Das macht uns stolz, das spricht für den Forschungsstandort Deutschland. Zum anderen habe ich mich gefreut, weil wir international ja manchmal etwas dafür belächelt werden, dass hier in Deutschland angeblich viel zuviel Grundlagenforschung stattfindet. Immer wieder höre ich auch von dem Dilemma zwischen Ergebnisdruck und Innovation, vor dem viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gerade in der Grundlagenforschung stehen, von der Schwierigkeit, Drittmittel einzuwerben. Nun aber können sie sich auf den Nobelpreisträger berufen. Noch als Student der Ägyptologie und der Medizin hatte er angefangen, an den Knochen ägyptischer Mumien zu forschen – heimlich und immer in Sorge, sein Doktorvater und die wissenschaftliche Community würden ihn für verrückt halten. Sein erstes Forschungsmaterial bekam er übrigens aus dem Ägyptischen Museum im damaligen Ost-Berlin. 1984 war das. Dem Doktoranden gelang es dann tatsächlich, in den Zellen eines mumifizierten Kindes DNA zu finden. Aber wie es eben manchmal ist: Publiziert wurde dieser wissenschaftliche Durchbruch zunächst in einer eher wenig bekannten Zeitschrift in der damaligen DDR. Bis einige Forscher aus Berkeley darauf aufmerksam wurden. Der Rest ist Wissenschaftsgeschichte. Ein Jahr später war die Publikation „Molecular cloning of Ancient Egyptian mummy DNA“ die Titelstory im Nature Magazine. Internationale Zeitungen berichteten begeistert über die Erkenntnisse. Eine neue medizinische Disziplin war geboren: die Paläogenetik. Inzwischen hat der Nobelpreisträger mit seinen Kolleginnen und Kollegen nicht nur Antworten darauf gefunden, wieviel unseres Erbguts wir bzw. jedenfalls einige von uns als Homo sapiens mit unserem Vorgänger, dem Neandertaler, teilen. Ich sage mal ganz unwissenschaftlich: Es sind zwischen 1 und 2 Prozent. Diese Genvarianten aber beeinflussen bis heute, wie unser Körper auf bestimmte Krankheiten reagiert. So wissen wir dank des Professors Studien zum Beispiel, dass einige von uns – aus dieser Zeit der Zusammenkunft mit dem Neandertaler – auf dem Chromosom 3 eine Variante tragen, die das Risiko stark erhöht, schwer an Covid-19 zu erkranken. Meine Damen und Herren, ich finde, wir können aus dieser Geschichte einiges lernen. Erstens: Grundlagenforschung matters. Dass Professor Christian Drosten, der hier an der Charité Direktor des Instituts für Virologie ist, nur wenige Wochen nach Auftreten des Corona-Virus in Wuhan einen ersten erfolgreichen Virus-Nachweis entwickelt hat, war auch ein Ergebnis jahrelanger Forschung zu Coronaviren – und das zu einer Zeit, als diese Viren den meisten Bürgerinnen und Bürgern unbekannt waren. Und dass Uğur Şahin und Özlem Türeci in ihrer Firma BioNTech innerhalb kürzester Zeit einen erfolgreichen Impfstoff gegen Covid-19 herstellen konnten, hat auch mit jahrelanger Forschung an mRNA-Technologien zu tun. In der Corona-Pandemie wurden dadurch unzählige Menschenleben gerettet. Und ich hoffe, dass dies erst der Anfang ist ‑ denken wir nur an die Potenziale beim Einsatz von mRNA-Technologie in der Krebstherapie. Als Bundesregierung werden wir die freie, von wissenschaftlicher Neugier getriebene Forschung daher weiter mit Nachdruck fördern. Dafür steht bei uns der Pakt für Forschung und Innovation. Dafür steht aber auch unsere Zusage, die Mittel für Forschung und Entwicklung weiter zu erhöhen ‑ auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis zum Jahr 2025. Meine Damen und Herren, das Beispiel von Professor Pääbo zeigt aber noch etwas: Vernetzung matters, Zusammenarbeit matters ‑ und zwar über Ländergrenzen hinweg, zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, auch zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Ohne die aufmerksamen Kollegen aus Berkeley wäre seine bahnbrechende Forschung zur DNA unserer Vorfahren sonst womöglich in irgendeiner Schublade verschwunden. Für Vernetzung und Zusammenarbeit steht auch der World Health Summit. In den nächsten Tagen werden Sie hier intensiv miteinander diskutieren ‑ international, interdisziplinär und auf höchstem wissenschaftlichem Niveau. Welche Bedeutung das hat ‑ die Corona-Pandemie hat uns das vor Augen geführt. Wie andere Epidemien der vergangenen Jahre auch, wurde sie vermutlich durch Erreger verursacht, die von Tieren auf den Menschen übertragen wurden. Wenn wir solche Epidemien also künftig früher erkennen oder – besser noch ‑ vermeiden wollen, dann brauchen wir eine noch viel engere Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachrichtungen, ein noch viel besseres Verständnis der Zusammenhänge zwischen der Gesundheit von Menschen, Tieren und der Umwelt. One Health lautet das Stichwort. Das ist natürlich nur einer von vielen Bereichen, in denen die Komplexität zunimmt in einer Welt, die immer enger vernetzt ist, die immer stärker geprägt ist von wissenschaftlichen Innovationen und technologischem Fortschritt. Umso mehr ist Politik heute auf den Rat der Wissenschaft angewiesen. Gleich zu Beginn meiner Amtszeit als Bundeskanzler habe ich daher einen unabhängigen Rat von Corona-Expertinnen und -Experten berufen. 19 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler begleiten und beraten uns seither im Kampf gegen die Pandemie. Einige davon sind heute auch hier. In bislang zwölf Stellungnahmen haben sie uns wertvolle Hinweise gegeben ‑ in der Gesundheitspolitik, aber zum Beispiel auch zu unserer Kommunikation. So wie die Wissenschaft ihre Erkenntnisse immer wieder erweitert, neue Hypothesen aufstellt und überprüft, so muss auch eine wissenschaftsbasierte Politik immer wieder den von ihr eingeschlagenen Kurs überprüfen und anpassen. Auch im internationalen Vergleich kann man heute feststellen: Diejenigen, die das getan haben, die auf den Rat von Expertinnen und Experten gehört haben, sind besser durch diese Pandemie gekommen als diejenigen, die rigide und ideologisch an einer bestimmten Krisenbekämpfungsstrategie festgehalten haben. Dieser Erfolg sollte uns in einem bestärken: denjenigen klar entgegenzutreten, die wissenschaftlichen Fortschritt bewusst anzweifeln, die gezielt Desinformationen streuen, ja, die zum Teil sogar Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diffamieren und bedrohen. Um es klar zu sagen: Drohungen gegen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können und werden wir nicht akzeptieren. Die Wissenschaftsfreiheit ist ein kostbares Gut, und gemeinsam werden wir es verteidigen! Wichtig dafür ist Transparenz ‑ Transparenz, wie wir sie etwa durch die Veröffentlichung der Ratschläge unserer Corona-Expertinnen und -Experten hergestellt haben. Das stärkt nicht nur das Vertrauen in wissenschaftliche und politische Entscheidungen ‑ so entkräften wir zugleich manche Desinformationskampagne. Und ich bin dankbar für den Beitrag, den der World Health Summit und Sie alle dazu leisten, indem Sie wissenschaftliche Informationen – auch über Fachkreise hinaus – den Bürgerinnen und Bürgern zugänglich machen. Meine Damen und Herren, Vernetzung und Zusammenarbeit matters ‑ das gilt natürlich auch international, ganz besonders auf dem Feld der internationalen Gesundheitspolitik. Als G7-Präsidentschaft haben wir Gesundheit daher zu einem Schwerpunkt unserer Agenda gemacht. Fast 1,2 Milliarden Impfstoffdosen haben die G7-Partner inzwischen abgegeben ‑ mehr als zunächst zugesagt. Der ACT-Accelerator, der Impfstoffe, Therapeutika und Diagnostika weltweit schnell verfügbar macht, wird zu 83 Prozent von den G7 finanziert. Deutschland allein hat 2022 über 1,3 Milliarden Euro dafür zugesagt. Mit bis zu 850 Millionen Euro unterstützen wir Länder in Afrika und im Nahen Osten, damit sie gespendete Impfstoffe auch wirklich verimpft bekommen. Und gemeinsam mit der EU, der Afrikanischen Union und afrikanischen Ländern wie Senegal und Ruanda unterstützen wir den Aufbau einer eigenen Impfstoffproduktion in Afrika ‑ heute mit Blick auf Covid-19, morgen auch gegen andere Krankheiten wie Malaria oder Ebola. Übrigens: Es ist wichtig, dass Sie hier beim World Health Summit neben der Covid-19-Pandemie auch die Bekämpfung genau dieser Krankheiten im Fokus behalten. Millionen Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika sind von Tropenkrankheiten betroffen, die nach wie vor gern übersehen werden. Wir wollen das ändern. Mit 1,3 Milliarden Euro unterstützen wir daher den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria ‑ ein Anstieg um 30 Prozent seit der letzten Wiederauffüllung des Fonds. Und auch Polio gehört endlich ins Medizinhistorische Museum. Deshalb wird Deutschland bei der Konferenz der Globalen Initiative zur Ausrottung von Polio am kommenden Dienstag 35 Millionen Euro für eine Welt ohne Kinderlähmung in diesem Jahr bereitstellen. Meine Damen und Herren, damit bin ich in der Zukunft angekommen. Und diese Zukunft profitiert davon, dass wir die richtigen Schlüsse aus der Vergangenheit ziehen ‑ auch das ist übrigens eine mögliche Lektion aus der Paläogenetik. In diesem Sinne möchte ich einen Appell an uns alle richten: Lassen Sie uns gemeinsam die richtigen Schlüsse aus der Covid-19-Pandemie ziehen! Preparedness matters! Die Weltgemeinschaft muss auf künftige Pandemien besser vorbereitet sein, muss Gefahren schneller erkennen, Informationen enger austauschen, Gegenmaßnahmen gemeinsam entwickeln und den Zugang für alle sicherstellen. Unter unserer G7-Präsidentschaft haben wir uns daher auf einen Pact for Pandemic Readiness geeinigt. Es geht zum Beispiel um eine engere Zusammenarbeit bei der Genomsequenzierung oder um die Überwachung von Abwassersystemen, um Ausbrüche früher zu erkennen. In New York konnte so zum Beispiel im September ein Polio-Ausbruch frühzeitig erkannt und gezielt der Katastrophenfall ausgerufen werden. Im September haben wir einen „Financial Intermediary Fund“ gegründet, der die Vorsorge und Reaktion auf Pandemien auch finanziell absichern soll. Deutschland hat dafür bislang fast 70 Millionen Euro bereitgestellt ‑ als einer von inzwischen bereits 18 Gebern aus allen Teilen der Welt. Und schließlich unterstützen wir die Verhandlungen über einen internationalen Pandemievertrag und die Änderungen der Internationalen Gesundheitsvorschriften, um gemeinsam besser vorbereitet zu sein und in Gesundheitskrisen besser agieren zu können. Meine Damen und Herren, aus der Vergangenheit die richtigen Schlüsse für die Zukunft ziehen ‑ das ist eine Eigenschaft, die der Homo sapiens seinen Vorgängern voraushat. Warum ‑ diese Frage könnte uns Professor Pääbo vermutlich aus paläogenetischer Perspektive sehr schnell beantworten. Beim Blick in diesen Saal lautet meine Antwort: weil wir großartige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Forscher-Gen haben, weil wir uns vernetzen und zusammenarbeiten und weil wir bereit sind, über den Tag hinaus zu denken ‑ unabhängig davon, wieviel Neandertaler-Erbgut wir noch in uns tragen. Herzlich willkommen in Berlin! Ich wünsche Ihnen allen einen erfolg- und erkenntnisreichen World Health Summit 2022!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich 175 Jahre Siemens AG am 12. Oktober 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-175-jahre-siemens-ag-am-12-oktober-2022-in-berlin-2133976
Wed, 12 Oct 2022 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte Frau von Siemens, sehr geehrter Herr Busch, sehr geehrter Herr Snabe, sehr geehrte Frau Regierende Bürgermeisterin, liebe Franziska sehr geehrte Exzellenzen, liebe Siemensianerinnen und Siemensianer – ich find’s groß! -, verehrte Gäste! Am 28. März 1849 wählte die Nationalversammlung in der Paulskirche Friedrich Wilhelm IV. zum „Kaiser der Deutschen“. Die Nachricht aus Frankfurt erreichte den Gewählten im 550 Kilometer entfernten Berlin – innerhalb nur einer Stunde! Per Pferdeboten hätte die Übermittlung anderthalb Tage gedauert. Die demokratische Wahl eines Kaisers war eine politische Sensation, verbunden mit einer technischen – sozusagen zwei Revolutionen in einer. Die technische Seite dieses historischen Moments verdanken wir Werner von Siemens. Im Auftrag der Telegrafenkommission hatte er erst wenige Monate zuvor die seinerzeit längste Telegrafenlinie verlegt, damit man in Berlin möglichst rasch über die Ereignisse in der Paulskirche informiert sei. Am politischen Lauf der Dinge hat diese bahnbrechende Innovation gleichwohl nichts geändert: Wie Sie wissen, nahm Friedrich Wilhelm IV. die Wahl nicht an. Was blieb, war Deutschlands erste Begegnung mit dem Parlamentarismus – und natürlich die revolutionäre Erfindung des Werner von Siemens. Die Momentaufnahme zeigt: Das, was Werner von Siemens und die – wie wir gerade gehört haben – über die ganze Zeit vier Millionen Siemensianerinnen und Siemensianer in den zurückliegenden 175 Jahren geschaffen haben, ist eng mit der Geschichte unseres Landes verbunden; in guten wie in schlechten Zeiten, muss man wohl hinzufügen. Während des Nationalsozialismus beutete auch Siemens Zwangsarbeiter auf grausame Weise aus. Dass Ihr Unternehmen diesen dunklen Teil seiner Geschichte nicht verdrängt und Verantwortung dafür übernommen hat, auch das zeichnet Siemens aus. Sie haben gerade das Sich-Immer-Wieder-Neu-Erfinden beschrieben, lieber Herr Busch, als Siemens Markenkern von Anfang an. Die einzige Kontinuität ist der Wandel – so lassen sich 175 Jahre Siemens, 175 Jahre deutscher Industriegeschichte vielleicht ganz gut auf den Punkt bringen. Zunächst hat Siemens die Welt elektrifiziert. Seine Telegrafenlinien verbanden Städte in Russland, rückten Europa und Amerika näher zueinander. Eine Zeitlang gab es wohl in fast jedem deutschen Haushalt mindestens ein Siemens-Elektrogerät: Bügeleisen, Radios, Fernseher, Computer, Staubsauger, Waschmaschinen, Handys. Sogar bei den Elektroautos war Siemens ganz vorne mit dabei – wohlgemerkt bei den allerersten, schon vor über hundert Jahren. Siemens hat unsere Mobilität immer wieder revolutioniert, seit die erste elektrische Tram durch Berlin ruckelte oder in Budapest die erste U-Bahn Europas unterwegs war. Heute arbeiten Sie an batterie- und wasserstoffbetriebenen Zügen und Schiffen für eine emissionsfreie Zukunft. Sie haben den „Suez-Kanal auf Schienen“ bereits erwähnt, lieber Herr Busch, ein 2000 Kilometer langes, voll elektrifiziertes Bahnnetz für Ägypten, das die wirtschaftliche Entwicklung des Landes beschleunigt, Städte und ihre Bewohnerinnen und Bewohner miteinander verbindet und die CO2-Emissionen gegenüber herkömmlichen Transportmitteln um 70 Prozent sinken lässt. Inzwischen sind Sie dabei, die Welt auch zu kopieren. Dieses beeindruckende Gebäude, in dem wir heute feiern, gehört zur Siemensstadt. Mit deren Aufbau vor 125 Jahren entstand ein städtebauliches Phänomen: eine ideale Verbindung von Arbeitsgebäuden und finanzierbaren, modernen Wohnungen für Arbeiter. Bald schon wird der Name „Siemensstadt“ nicht nur historische Assoziationen hervorrufen: Denn eine neue, reale Siemensstadt bekommt einen digitalen Zwilling, der dabei hilft, Zusammenhänge zu erkennen, Probleme zu identifizieren und Lösungen dafür zu finden, auch mithilfe Künstlicher Intelligenz. Was für Chancen das birgt – etwa für die ressourcenschonende Nutzung von Energie, für die Planung öffentlicher Infrastruktur und Dienstleistungen und letztlich für eine wissensbasierte, vorausschauende Politik -, kann man sich kaum ausmalen. Die Innovations- und Schaffenskraft, die hinter solchen technologischen Meisterleistungen steht, ist ein großes Glück für unser Land. Das gilt gerade in diesen Zeiten. Sie haben Putins brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine angesprochen, lieber Herr Busch. Und ich will an dieser Stelle sagen, wie dankbar ich dafür bin, dass Siemens die von uns und unseren Partnern weltweit verhängten Sanktionen auch durch seinen Rückzug aus dem russischen Markt mitträgt. Auch die von Russland inszenierte Posse um die Siemens-Turbinen macht sehr deutlich: Auf Russland ist als Geschäftspartner und Energielieferant kein Verlass mehr. Umso wichtiger, umso drängender ist es, unsere Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu beenden. Jetzt erst recht!, lautet die Devise. Jetzt erst recht setzen wir alles daran, Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen und zugleich ein führendes Industrieland zu bleiben. Damit uns das gelingt, sind drei Dinge entscheidend. – Erstens: Pioniergeist, wie er bei Siemens seit 1847 zu Hause ist. Warum, das verrät ein Brief Ihres Gründers Werner von Siemens an seine Frau Mathilde. Als er mal wieder in der Welt unterwegs war, um für bessere Kommunikation, schnelleren Transport oder hellere Häuser und Straßen zu sorgen, da schrieb er über das, was ihn antrieb, Folgendes: „In dem ‚Ich will’ liegt eine mächtige Zauberkraft, wenn es ernst damit ist und Tatkraft dahintersteht! Freilich darf man Hindernisse und Umwege nicht scheuen und darf in keinem Augenblick sein Ziel aus dem Auge lassen!“ Diese Sätze Ihres Gründers haben sich in die DNA Ihres Unternehmens eingeschrieben. Dafür stehen zum Beispiel digitale Innovationen wie der Product Carbon Footprint, der Ihren Kunden hilft, die Energiewende in den eigenen Unternehmen zu meistern. Und zugleich sind die Tugenden, die Werner von Siemens beschreibt – Tatkraft und Mut -, auch eine gute Richtschnur bei der anstehenden Transformation unseres Landes. Was zweitens hinzukommen muss, um diese Transformation gut zu bewältigen, sind Schnelligkeit und Tatkraft. Wir waren in den letzten Jahren zu schwerfällig, sei es beim Bau neuer Infrastrukturen, bei der Genehmigung neuer Windkraft- oder Photovoltaikanlagen oder beim Bau von Übertragungsnetzen und Speichern. Das ändern wir gerade. Bis Ende des Jahrzehnts wollen wir in Deutschland rund 800 Terawattstunden Strom produzieren – rund 200 mehr als heute. 80 Prozent davon sollen aus erneuerbaren Energien kommen. Um das zu schaffen, machen wir jetzt Tempo. Als ich im August Siemens Gamesa besuchte, die in Cuxhaven hochmoderne Windkraftturbinen bauen, habe ich versprochen: Noch in diesem Jahr steht der gesetzliche Rahmen für die Transformation hin zu erneuerbaren Energien, und dieses Versprechen gilt! Deshalb haben wir Genehmigungsverfahren vereinfacht und verkürzt, neue Ausbauziele festgeschrieben und dem Ausbau erneuerbarer Energien auch gesetzlich Vorrang vor anderen Belangen eingeräumt. Wir lassen uns von den Bedenkenträgern den Schneid nicht abkaufen! Schließlich geht es um die Zukunft unseres Landes, die eine industrielle Zukunft sein wird – mit guten Arbeitsplätzen und innovativen, wettbewerbsfähigen Unternehmen. Diesem Ziel dient übrigens auch der 200 Milliarden Euro schwere Schutzschirm, den wir aufspannen, um unsere Energieversorgung zu sichern und die Energiepreise für die Bürgerinnen und Bürger und unsere Unternehmen zu deckeln. Wir reden dabei über einen überschaubaren Zeitraum von einem, maximal zwei Jahren. Denn schon in diesem Winter gehen die ersten Flüssiggasterminals ans Netz. Weitere folgen im Laufe des kommenden Jahres. Wir haben neue Liefervereinbarungen geschlossen, zuletzt mit Staaten in der Golfregion. Den Ausbau der erneuerbaren Energien treiben wir mit Hochdruck voran. All das wird für Entspannung beim Energieangebot und bei den Preisen sorgen. Bis es aber soweit ist, wird der Staat die wirtschaftliche Substanz unseres Landes schützen und erhalten. Deutschland ist dazu in der Lage, meine Damen und Herren, weil wir ein starkes Land sind. Manchmal werden wir Deutschen ja etwas belächelt für unsere Konsenskultur, für die komplexen Abstimmungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, für die ausgeprägte Mitbestimmung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in unseren Betrieben. Dabei ist es genau diese Kultur des Zusammenhalts, die unser Land in Krisen wie dieser stark macht, die dafür sorgt, dass wir Schwierigkeiten gemeinsam meistern. Das, meine Damen und Herren, ist auch mein dritter und letzter Punkt: Wenn wir uns diesen Zusammenhalt bewahren, dann werden wir die vor uns liegende Transformation bewältigen. Mehr noch: Dann wird unser Land gestärkt daraus hervorgehen. Siemens hat das für sich auf einen ganz interessanten Slogan gebracht: „Transforming the everyday“ lautet er, und dann folgt, wohlgemerkt auf Deutsch, das Wort „gemeinsam“. That’s the spirit – kann ich da nur hinzufügen. Und dieser Spirit wird bei Siemens gelebt, und zwar schon von Beginn an. Heute vor 150 Jahren, zum 25. Firmenjubiläum, führte Siemens eigene Pensions-, Witwen- und Waisenkassen ein – zu einer Zeit, als eine vernünftige soziale Absicherung noch völlig unbekannt war; ein Pionier auch in Sachen Zusammenhalt eben! Und auch heute versteht sich Siemens als verantwortungsbewusster, moderner Arbeitgeber. Sie bilden aus, Sie investieren in die Weiterbildung Ihrer Kolleginnen und Kollegen – hier in Deutschland und weltweit. In der Corona-Pandemie haben Sie schnell flexible Arbeitsmodelle entwickelt, die Sie nun weiterführen. Das alles macht Siemens attraktiv für qualifizierte und motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und die sind entscheidend für den Erfolg eines jeden Unternehmens. Bleibt mir nur noch, Ihnen von ganzem Herzen zu gratulieren: zu 175 Jahren, in denen Siemens nicht nur Grundsteine für das Industriezeitalter gelegt hat, sondern mit seinen Innovationen auch gleich die zweite industrielle Revolution mit anschiebt. Zu 175 Jahren, in denen Siemens die Welt elektrifiziert, bewegt, verbunden und immer wieder neu erfunden hat. Kurzum: zu 175 Jahren Erfolg made by Siemens, made in Germany! Für Ihren Anteil daran möchte ich Ihnen und all Ihren Kolleginnen und Kollegen ganz herzlich danken. Und was die Zukunft angeht, so halte ich es einfach mit Werner von Siemens: Weiterhin mächtige Zauberkraft – und ebenso viel Tatkraft! Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des 13. Maschinenbau-Gipfels am 11. Oktober 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-13-maschinenbau-gipfels-am-11-oktober-2022-in-berlin-2133530
Tue, 11 Oct 2022 09:25:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Haeusgen, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich kann es ganz kurz machen: Ich bin mit Ihrer Rede zu 99 Prozent einverstanden. Ich will es mir dann aber doch nicht so einfach machen, sondern ein bisschen über das reden, was uns miteinander umtreibt. Das ist natürlich zuallererst der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Und das sind die schweren Folgen, die dieser Krieg für uns alle hat – natürlich zuallererst für die Ukrainerinnen und Ukrainer. Jeden Tag sehen wir die Bilder mit den gewaltigen Zerstörungen, gerade jetzt noch einmal nach den Raketenangriffen. Wir haben dabei festgestellt, dass das in der Tat Konsequenzen nicht nur für die Ukraine hat, sondern für die ganze Welt und auch für Europa und für unser eigenes Land. Die Konsequenzen sind für alle gut erkennbar. Für mich ist sehr, sehr klar, dass Putin seine Handlungsmöglichkeiten auch nutzt. Er hat Hunger als Waffe genutzt und die ukrainischen Häfen blockiert. Es hat lange, lange Bemühungen gekostet, dazu beizutragen, dass das Getreide wieder aus der Ukraine – und übrigens auch aus Russland – in die Welt exportiert werden kann. Bei der Gelegenheit haben wir festgestellt, wie hoch nicht nur die Abhängigkeit von diesen Getreidelieferungen für viele, viele Länder der ganzen Welt ist, sondern auch die Abhängigkeit von Düngemitteln – ein Thema, das wir nicht vergessen dürfen. Das Gleiche gilt, wenn wir über die Frage diskutieren: Was ist mit den Energielieferungen? Denn auch die nutzt der russische Präsident als Waffe. Ich war mir immer sicher, dass er das tun würde. Deshalb habe ich mir – weil der Konflikt ja schon da war, wenn auch nicht so eskaliert, wie wir das seit dem Februar mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine gesehen haben – schon im Dezember die Frage gestellt und sie weitergegeben an alle meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: „Was passiert eigentlich, wenn Russland kein Gas mehr liefert?“ Das war – ich glaube, das kann man hier sagen – zu einer Zeit, als die allermeisten das noch nicht für wahrscheinlich gehalten haben. Aber ich habe es für möglich gehalten. Die bedrückende Antwort von den Verantwortlichen zu der Zeit war: Es gab dafür keine Pläne, keine Vorstellungen, keine Untersuchungen, was das eigentlich bedeutet. Wir haben dann aber unsere Zeit genutzt und sehr rechtzeitig angefangen, darüber nachzudenken, wie wir uns auf diesen Fall vorbereiten können. Als der furchtbare Krieg Russlands gegen die Ukraine dann begann, konnte ich nicht nur ganz danach eine Rede halten, in der es darum ging, wie wir die Bundeswehr mit dem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro besser ausstatten, sondern auch ankündigen, was wir tun werden, damit wir durch diese Zeit kommen. Zu den Maßnahmen gehört zum Beispiel, dass wir uns Infrastrukturen aufbauen, mit denen wir jederzeit in der Lage sind, Gas aus anderen Regionen der Welt zu importieren. Wir haben die Kapazitäten in den westeuropäischen Häfen in den Niederlanden und Belgien genutzt und werben dafür, dass sie ausgeweitet werden. Zum ersten Mal importieren wir auch Gas aus Frankreich. Aber wir bauen auch in kürzester Geschwindigkeit neue Importmöglichkeiten an den norddeutschen Häfen auf: in Wilhelmshaven, in Stade, in Brunsbüttel und an der Ostsee in Lubmin. Diese werden in kürzester Zeit in Betrieb gehen – in Wilhelmshaven und Brunsbüttel zur Jahreswende. Die ersten Lieferungen aus Lubmin werden möglicherweise auch um diese Zeit möglich werden. Wir haben dazu beigetragen, dass die Gasspeicher in Deutschland gefüllt werden. Nur einmal zur Erinnerung: Sie waren ziemlich leer. Auch das hätte ein Zeichen sein können, das den einen oder die andere gewarnt hätte. Sie waren ziemlich leer, weil die russischen Eigentümer sich sehr viel Mühe gegeben haben, zum Beispiel Polen mit Gas zu beliefern – aber nicht aus Russland, sondern aus den deutschen Speichern. Wir haben gleichzeitig dazu beigetragen, dass das jetzt anders ist, und sind bei knapp 95 Prozent – ein Ziel, das wir uns vor einiger Zeit gesetzt hatten. Wir haben entschieden, dass wir die Kohlekraftwerke wieder laufen lassen – auch eine sehr weitreichende Entscheidung, die zu unserer Versorgungssicherheit beigetragen hat. Es wird in kurzer Zeit so sein, dass etwa fünf Kraftwerke neu in Betrieb gehen und wir damit unsere Energiesicherheit erhöhen können. Wir arbeiten daran, dass das noch weitergeht. Das Gleiche gilt für die Frage: „Was machen wir eigentlich in den Unternehmen möglich?“ Sie kennen das Thema. Es heißt fuel switch. Und viele von Ihnen haben davon Gebrauch gemacht und tatsächlich entschieden, noch vorhandene Anlagen, bei denen man Öl nutzen kann, oder Anlagen, bei denen man Kohle nutzen kann, wieder in Betrieb zu nehmen und überhaupt die Energieversorgung umzustellen. Und die Gesetze, die das begleiten, sind so verändert worden, dass Sie auf weniger bürokratische Hürden stoßen. Und nicht zuletzt – auch das gehört dazu – haben wir dafür gesorgt und werden wir dafür sorgen, dass die süddeutschen Atomkraftwerke weiterlaufen können. Alle diese Maßnahmen zusammen haben dazu beigetragen, dass wir nicht „durch“ sind – in dem Sinne, dass wir keine Probleme mehr haben –, aber dass wir doch so weit sind, dass wir hoffen dürfen, sicher durch diesen Winter zu kommen. Das ist eine ganz andere Situation als vor einem Jahr. Und wenn ich Ihre Äußerungen aufgreifen darf: Wir haben es angepackt und sind deshalb so weit gekommen. Klar ist, dass wir dabei nicht stehenbleiben dürfen. Denn das ist ja auch klar: Wenn die etwa 150 Milliarden Kubikmeter Gas, die Russland heute über Pipelines für Europa zur Verfügung stellt bzw. vor einiger Zeit zur Verfügung gestellt hat, nicht mehr zur Verfügung stehen, wird es darauf ankommen, anderswo neue und zusätzliche Kapazitäten zu attrahieren, sie an uns heranzuholen. Das wird nicht gehen ohne neue Quellen, die erschlossen werden, und neue Gasexplorationen, die in der ganzen Welt stattfinden. Wir sind bereit, das mit vielen zu verhandeln. Wir sind auch bereit, neue und auch langfristige Lieferverträge über Gas abzuschließen, damit das klappt. Die ersten sind abgeschlossen – mit den USA, mit Ländern aus der arabischen Halbinsel – und es werden weitere folgen. Wir sind sehr daran interessiert, dass auch Afrika und der Süden Amerikas ihre Möglichkeiten nutzen können, damit alle zusammen einen Beitrag dazu leisten können, dass wir auf den Weltmärkten genügend Gas haben. Damit Angebot und Nachfrage ausgeglichen sind. Und damit die Preise wieder runtergehen. Die Preise sind ja jetzt viel zu hoch für jede wirtschaftliche Produktion. Sie können nicht da bleiben, wo sie sind. Deshalb ist es ganz, ganz wichtig, dass wir uns bei allem, was wir hierzulande machen, darüber klar sind: Die allererste Aufgabe muss es sein, dass wir dafür Sorge tragen, dass die Preise für fossile Rohstoffe, für Gas, für Öl und für Kohle, wieder runtergehen; dass sie nicht bleiben, wo sie sind; und dass sie auf ein erträgliches Maß sinken. Auch das ist eine Politik, die wir in Deutschland und Europa vorantreiben müssen. Für mich bedeutet das aber auch – und das ist sehr wichtig –, dass wir uns klar darüber sind, dass das nicht mit einseitigen Handlungen seitens Deutschlands oder gar der ganzen Europäischen Union gelingen wird. Wir müssen schon ein Miteinander von denjenigen organisieren, die Nachfrager sind. Das gilt für Europa genauso wie zum Beispiel für Japan und Korea. Auch dort sind die Preise an den Märkten viel höher, als sie erträglich sind. Das gilt aber auch für diejenigen, die Gas produzieren – um uns zum Beispiel auf diesen Rohstoff zu konzentrieren. Es ist ganz, ganz wichtig, dass wir dieses Gespräch organisieren. Deshalb habe ich mir auch vorgenommen, in allen internationalen Gesprächen die wechselseitige Verantwortung zum Thema zu machen; sie auch zum Thema zu machen, wenn wir uns heute zum Beispiel im Rahmen der G7 unterhalten; und sie auch in der Europäischen Union zum Thema zu machen. Wir brauchen einen verhandelten Prozess, in dem die Preise wieder auf ein vernünftiges Maß sinken. Das ist die Aufgabe koordinierter Politik in der Welt und – das will ich ausdrücklich sagen – das war einmal die Idee, die zum Beispiel hinter der Gründung damals der G6 und den heutigen G7 gestanden hat. Als das in den 70er-Jahren losging, als das Währungssystem von Bretton-Woods zusammengebrochen war, da haben Staatsmänner zu dieser Zeit, zum Beispiel Helmut Schmidt in Deutschland, Giscard d’Estaing, Pierre Trudeau – der Vater des heutigen Premierministers – und Gerald Ford, darüber gesprochen, wie das eigentlich gehen kann, und sie haben verstanden, dass die Welt in diesen Themen zusammenbleiben muss und dass man miteinander diskutieren muss. Mein Ziel ist, dass wir genau das jetzt wieder erreichen und dafür sorgen, dass die Preise auf ein Niveau kommen, auf dem weltwirtschaftliches Wachstum möglich ist. Aber natürlich müssen wir die Möglichkeiten nutzen, die wir hierzulande haben, wenn es darum geht: Wie können wir eigentlich dazu beitragen, dass die Preise jetzt runtergehen, und zwar ganz unabhängig davon, wie sich die Preisentwicklung auf den Weltmärkten zeigen wird? Deshalb haben wir sehr früh gesagt: Wir wollen eine Strompreisbremse organisieren und das Marktdesign, so wie Sie das genannt haben, für den Strompreis in Deutschland und Europa ändern. Die Vorschläge, die wir in Deutschland entwickelt haben, sind ziemlich genau die gleichen, die auch in Europa diskutiert werden. Und deshalb ist es kein Zufall – wir haben ja vorher miteinander geredet –, aber ist es eben doch richtig, dass das, was in Europa jetzt zur Frage der Begrenzung von Strompreisen beschlossen wird und beschlossen worden ist, übereinstimmt mit dem, was wir machen wollen. Wir wollen diejenigen, die Strom sehr billig produzieren können – übrigens ganz besonders mit erneuerbaren Energien aus Offshore- und Onshore-Windkraft, aus Solarenergie, mit Wasserkraft, mit Kohle, mit Biogas – nicht Sondergewinne erzielen lassen, weil der Preis sich danach richtig, wie teuer es ist, Strom mit Gas zu produzieren. Das ist ja das, was uns heute die Preise auf dem Strommarkt verhagelt. Deshalb ist es richtig, dass wir sagen: Wir werden dort jeweils entsprechende Höchstgrenzen festlegen und das, was darüber geht, abschöpfen und es nutzen, um die Netzentgelte und die Strompreise für Verbraucher und Unternehmen zu senken. Auch das ist eine der Entscheidungen, die wir definitiv getroffen haben und die wir jetzt in höchster Geschwindigkeit umsetzen, damit die Strompreise wieder sinken. Das Gleiche gilt für die Frage von Gas- und Wärmepreisen. Auch das ist ein zentrales Thema. Da haben wir das Problem, das ich eben diskutiert habe, nämlich dass die weltweiten Preise viel, viel zu hoch sind. Wir müssen, damit wir die Phase, bis sie wieder sinken, für unsere Wirtschaft und für die Bürgerinnen und Bürger erträglich gestalten, alles dafür tun, dass sie wieder sinken. Das ist die Idee hinter dem Abwehrschirm von 200 Milliarden Euro. Und das ist die Idee hinter der Gaspreisbremse. Wir haben sehr bewusst entschieden, dass wir jetzt nicht irgendwo an einem grünen Tisch diese Gaspreisbremse konstruieren, indem wir uns überlegen: Wie soll das gemacht werden und wie wäre es am perfektesten? Wir haben vielmehr eine Kommission zusammengesetzt, in der Unternehmensvertreter, die Expertise in diesem Bereich haben, Verbandsvertreter, Gewerkschafter, Verbraucherschützer, Mietervertreter, unglaublich viele Professorinnen und Professoren zusammengekommen sind und diese Frage diskutiert haben. Die haben dann ein bisschen gemerkt, wie das so ist, wenn politische Konsense geschmiedet werden. Es schreibt sich so einfach „keine Nachtsitzung“ – doch, es gibt Nachtsitzungen. Man kommt um sie nicht herum. Die haben also stundenlang diskutiert und einen Vorschlag gemacht, von dem ich schon finde, dass er wirklich eine sehr, sehr gute Grundlage dafür ist, das zu erreichen, was wir wollen: dass die Gaspreise sinken, dass sie bezahlbar bleiben für die Unternehmen, dass sie bezahlbar bleiben für die Bürgerinnen und Bürger, dass niemand Angst haben muss vor seiner Rechnung. Selbstverständlich gehört dazu, dass wir all die Probleme mit in den Blick nehmen und lösen, die jetzt für alle auftauchen – zum Beispiel das, was Sie eben gesagt haben: Was ist mit Unternehmen, die keine neuen Verträge bekommen? Es muss so sein, dass alle sich sicher sein können, dass sie ihre Produktionstätigkeit fortsetzen können – zu Preisen, die nicht auf das Niveau vor dem Krieg Russlands gegen die Ukraine sinken, aber doch so sehr gesenkt sind, dass Produktion möglich ist, dass Beschäftigung möglich ist und dass die Bürgerinnen und Bürger ihre Rechnungen bezahlen können. Klar ist aber auch, dass wir das alles richtigerweise jetzt nur machen, wenn wir gleichzeitig so viel Energie sparen, wie es möglich ist. Und wenn jeder bei jeder Entscheidung vor Ort seine Intelligenz und Kreativität nutzt, das jetzt zu machen. Denn Millionen solcher Einzelentscheidungen führen dazu, dass wir unsere Einsparziele erreichen und den Gaskonsum um 20 Prozent senken. Es ist aber auch wichtig, dass wir das langfristige Ziel nicht aus dem Blick verlieren, dass wir aus der Nutzung fossiler Ressourcen aussteigen wollen, dass wir aus der Abhängigkeit von anderen Ländern aussteigen wollen und dass wir deshalb alles dafür tun, dass wir es schaffen, den Ausbau der erneuerbaren Energien als unverzichtbare Ressource für diese Aufgabe voranzubringen. Das will ich sagen: Manchmal, und Sie, die hier anwesenden Frauen und Männer, verstehen ja alle noch viel mehr davon als ich und viele andere, muss man auch genau rechnen und sich mit den Zahlen beschäftigen, um die es dabei geht. Wenn Deutschland CO2-neutral wirtschaften will, dann wird es um Elektrifizierung gehen. Dann brauchen wir nicht nur Strom, der anders produziert wird, sondern auch viel mehr in diesem Land. Deshalb ist unser Ziel, dass wir die Stromproduktion zum Ende des Jahrzehnts von heute 600 auf 800 Terawattstunden ausweiten, dass 80 Prozent davon aus erneuerbaren Energien stammen und dass sich das in den Dreißigerjahren noch einmal verdoppelt. Wenn man das sagt, dann ist ja auch schon klar, worum es eigentlich geht – nämlich um einen gigantischen Ausbau, der in einem dramatischen Tempo vor sich geht. Auch das kann man dann gerne herunterrechnen, auf Jahre – wie viel muss das pro Jahr sein? –, auf Monate – wie viel muss das pro Monat sei? –, auf Wochen – wie viel muss das pro Woche sein? –, auf Tage. Wer das tut, der setzt sich dann erst einmal hin und sagt: Oha, das ist eine ganze Menge! Darum habe ich mir fest vorgenommen, dass wir in diesem Jahr all die notwendigen Bremsen lockern, die dem Ausbau der erneuerbaren Energien entgegenstehen. Man kann ja viele Diskussionen führen und mit vielem rechnen. Aber wenn ein Land wie Deutschland – übrigens schon unter den letzten Regierungen – entscheidet, aus der Nutzung der Nuklearenergie und aus der Nutzung der Kohleverstromung auszusteigen, und 2045 auch kein Gas außer Wasserstoff mehr nutzen möchte, jedenfalls als Heiz‑, Betriebs- und Treibstoff – als Rohstoff wird es sicherlich noch eine Rolle spielen –, dann ist es so, dass man dann auch irgendwo einsteigen muss. Wenn ich etwas an den Entscheidungen der letzten Jahre zu kritisieren habe, dann ist es nicht nur diese einseitige Abhängigkeit in vielen Bereichen und dass man zu viele Eier in einen Korb gelegt hat, um Ihr Beispiel aufzugreifen. Sondern dann ist es definitiv auch die Tatsache, dass wir ausgestiegen sind, aber nicht eingestiegen sind. Wenn wir diese Entscheidung getroffen haben, und wir haben sie getroffen – sie steht in allen Gesetzen, sie ist der politische Konsens weit über die Regierungsparteien hinaus, sie ist das, was die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger will, und das, was wir machen müssen, um dabei zurechtzukommen –, dann muss die Wette auch aufgehen. Das heißt, wir müssen diesen Ausbau schaffen. Wir können das nicht „vielleicht“ und „eventuell“ und „möglicherweise“ machen. Dann darf man auch nicht hin und her wiegen, sondern dann muss man sich der Größe dieses Projekts völlig klar sein und muss bereit sein, alle Entscheidungen zu treffen, damit es mit diesem Ausbau auch tatsächlich klappt. Das heißt, wir werden einen dramatischen Ausbau unserer Offshore-Windkraftkapazität brauchen. Wir werden einen dramatischen Ausbau unserer Onshore-Windkraftkapazitäten brauchen, überall in Deutschland, in jedem Bundesland. Wir brauchen einen Ausbau der Solarenergie. Und wir brauchen in großem Umfang eine Verbesserung unserer Netzinfrastrukturen. Wir würden ja jetzt schon viel besser dastehen, wenn die von Nord nach Süd geplanten Netze in Deutschland alle schon da wären und nicht erst mit vielen Jahren Verzögerung am Ende dieses Jahrzehnts fertig werden. Deshalb brauchen wir das Tempo. Und das verspreche ich Ihnen: Wir werden das Tempo und die Ambitionen im Blick haben. Und wir werden in diesem Jahr alle Gesetze schaffen, damit Deutschland 2030 und 2040 seine Ziele auch tatsächlich erreicht und Produktion und Maschinenbau und Industrie in Deutschland weiter erfolgreich möglich sind. Das ist übrigens auch ein Grund, den wir im Blick haben müssen, wenn wir über die Zukunft der Welt reden. Es gibt ja hierzulande den einen oder anderen, der sagt: „Warum machen wir das denn? Wenn andere weniger Kohle nutzen würden, dann würde das ja für uns schon viel mehr bringen. Schaut euch einmal die Bilanzen anderer Länder an!“ Selbst wenn es dort manchmal sehr schmutzig zugeht, muss man ehrlicherweise sagen, dass es so ist, dass die Länder in vielen Fällen, gemessen an ihrem Pro-Kopf-Verbrauch von CO2, einen viel niedrigeren als wir haben. Aber das Entscheidende ist: Wir – und das sage ich gerade auf diesem Kongress, auf Ihrer Versammlung, beim deutschen Maschinenbau –, sind doch diejenigen, die die Technologien und die Fähigkeiten entwickeln können, um bezahlbare Produkte zu erzeugen, die in der Welt der Zukunft CO2-neutrale Industrie möglich machen, wirtschaftlichen Wohlstand möglich machen. Wir können sie entwickeln. Wir können sie verkaufen und wollen sie auch in alle Welt verkaufen. Und indem wir das tun, leisten wir unseren zentralen Beitrag zum Klimaschutz in der Welt. Das ist übrigens aus meiner Sicht auch der gute Grund für den Klimaclub, über den Sie gesprochen haben. Denn es kann ja nicht funktionieren, dass jetzt die Politiker in ihren Ländern sagen: „Wir machen jetzt Klimaschutz. Liebe Industrie, habt ihr schon davon gehört? Wir beschützen euch vor dem Wettbewerb der anderen.“ Und das, was wir am Ende haben, ist dann ein riesiger Zollkrieg zwischen lauter Ländern, die so miteinander agieren. Ich halte das für falsch. Ich glaube, es muss ein Miteinander organisiert werden. Und das ist exakt die Idee hinter dem Klimaclub. Ich sage ausdrücklich: Deshalb werden wir auch den Inflation Reduction Act unserer amerikanischen Freunde noch einmal vertieft mit ihnen diskutieren. Es ist auf alle Fälle richtig, dass wir aber auch begreifen, dass das nur miteinander funktioniert und wir das diskutieren. Für mich ist ein Thema, auf das ich zu sprechen komme, das Sie, Herr Haeusgen, auch benannt haben und das mich sehr umtreibt, die Diskussion über De-coupling. Ich bekenne mich zur Globalisierung. Ich glaube, dass sie der Welt – ich sage ausdrücklich: der Welt – großen Wohlstand gebracht hat. Milliarden Menschen in aller Welt sind in ihren Ländern zu einer Mittelschicht aufgestiegen und haben bessere Lebensperspektiven gewonnen, von denen sie niemals zu träumen gewagt haben. Das ist alles in den letzten 30, 40 Jahren passiert. Aber dadurch hat sich die Welt auch verändert. Das merken wir jetzt übrigens auch. Denn das Wunder, das wir in den letzten 30, 40 Jahren auch hierzulande und in Europa und in Nordamerika erlebt haben – Wachstum, hohe Beschäftigung, geringe Inflation –, hat ja etwas mit dem wirtschaftlichen Beitrag vieler Länder des globalen Südens zu tun. Was wir begreifen müssen, ist, dass da eine Veränderung eingetreten ist, die nicht gering ist. Denn der wachsende Wohlstand, die Entwicklung der Infrastrukturen, die Herausbildung von Wissenschaftsstrukturen, von Ausbildungsmöglichkeiten und von Schulen – all das, was passiert, hat dazu beigetragen, dass diese Länder jetzt auch Nachfrage haben, nach Gas zum Beispiel. Dass Gas eine Transformationsmöglichkeit für den Weg in die klimaneutrale Welt ist, haben nicht nur Deutschland und nicht nur die EU beschlossen, sondern auch die USA, auch Indien, auch China und noch viele, viele andere mehr. Konjunkturprogramme nach der Corona-Pandemie haben viele dieser Länder aufgelegt, ganz anders, als das früher der Fall war. Das hat auch zu der gegenwärtigen Situation mit Lieferkettenproblemen, Nachfrageüberhang und Ähnlichem beigetragen. Deshalb, glaube ich, müssen wir ganz klar sein: Die Globalisierung war ein Erfolg. Sie hat Wohlstand für viele ermöglicht. Wir müssen sie verteidigen. De-coupling ist die falsche Antwort. Die richtige Antwort ist die, die Sie hier auch gegeben haben: Diversifizierung. Wir müssen uns nicht von einigen Ländern abkoppeln, müssen Geschäfte mit Einzelnen – ich sage ausdrücklich: auch Geschäfte mit China – weiter machen. Aber wir müssen dafür Sorge tragen, dass wir auch mit der übrigen Welt Handel treiben und das übrige Asien mit in den Blick nehmen, Afrika in den Blick nehmen, den Süden Amerikas in den Blick nehmen. Das ist die Chance, die wir haben. Ja, Freihandelsabkommen gehören dazu. Sie sind ja auch schon im Ratifizierungsprozess. In Deutschland geht es voran. Aber vielleicht ist der eigentlich weniger witzige Hinweis ja, dass wir sehr klar im Blick haben, dass es doch eine etwas komplizierte Idee ist, dass die EU die Kompetenz für die Freihandelsabkommen hat und dann lauter Landesparlamente, Parlamente von Nationalstaaten und manchmal Regionalregierungen zustimmen müssen, damit ein Freihandelsabkommen zustande kommt. Ich bewundere unsere kanadischen Freunde, die sich wegen des CETA-Abkommens nicht nur aufgemacht haben, einen SPD-Parteitag in Deutschland zu besuchen – mit Erfolg. Sondern die sich auch aufgemacht haben, eine belgische Regionalregierung zu besuchen und mit der zu besprechen, ob das denn möglich wäre. Das, glaube ich, ist ein Hinweis darauf, dass wir noch einmal irgendwie darüber nachdenken müssen, wie die Europäische Union ihre Freihandelsverträge machen kann, ohne dass das wirklich zu sehr daran hängt, was jetzt nun alle 27 Mitgliedsländer dazu sagen. Ich weiß, was ich tue, wenn ich das sage. Aber wir müssen über die Frage, ob EU only als Konzept für solche Freihandelsverträge nicht doch besser ist, einmal nachdenken. Der Europäische Gerichtshof hat uns zwei Alternativen für europäische Handelsverträge gegeben, nicht nur die, die jetzt immer verfolgt wird. Ehrlicherweise, wenn man einen Vertrag mit den USA über bestimmte Fragestellungen schließt, sind der Vertragspartner dann die USA und nicht auch noch jeder einzelne Bundesstaat. Das hat natürlich zur Folge, dass, wenn man dann Streitigkeiten mit ihnen hat, man nicht Kalifornien verklagt, sondern die USA. Aber wenn sich die EU so versteht, wie sie sich versteht, sollte sie einmal überlegen, ob das nicht auch für sie ein Konzept ist, mit dem man durch diese Probleme hindurch kommt. Ich will gerne noch etwas zu den technologischen Aufbrüchen sagen, die wir haben müssen. Da will ich Ihnen sagen, voller Bewunderung für den deutschen Maschinenbau, vor seinen Fähigkeiten, seiner langen Tradition, seiner föderalen Struktur und den vielen mittelständischen Unternehmen: Ich glaube, Sie sind auch diejenigen, die all das tun, was wir brauchen, damit wir auch in Zukunft gute Wertschöpfung haben können. Damit wir Fähigkeiten finden und entwickeln, die dazu beitragen, dass die Maschinen, die wir produzieren, auf den modernsten Ständen sind, über die wir heute diskutieren können- ob das nun künstliche Intelligenz ist, all das, was man mit machine learning und dem „Internet der Dinge“ verbindet. Ob es Quantentechnologie, Cybersecurity, Robotik, Mikroelektronik oder Biotechnologie ist. Vieles verknüpft sich mit dem Maschinenbau. Dass wir das können, das überall einzubauen, dass Sie das können, das ist etwas, was Deutschland ausmacht und was in der ganzen Welt bewundert wird. Es ist sich eigentlich jeder einig, wie man Deutschland von außen betrachtet versteht: Das ist das Land, in dem ein Weltmarktführer mit 2000, 3000 Beschäftigten irgendwo in einem Dorf im Schwarzwald oder in einer kleinen Stadt oder einem Ort in Nordrhein-Westfalen oder in Hessen oder sonst wo in Deutschland sitzt. Das ist etwas, das unsere Kultur ausmacht. Deshalb sind Sie nicht nur ein wichtiger Beitrag für die Zukunft unseres Landes, ein wichtiger Industriezweig. Sie sind auch einer, der sehr typisch für unser Land ist und den viele mit Deutschland verbinden. Ich glaube, wir tun gut daran, wenn das auch in Zukunft so bleibt. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Festakts „25 Jahre erfolgreich“ der IGBCE am 23. September 2022 in Hannover
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-festakts-25-jahre-erfolgreich-der-igbce-am-23-september-2022-in-hannover-2129590
Fri, 23 Sep 2022 14:50:00 +0200
Hannover
keine Themen
Lieber Michael Vassiliadis, lieber Hubertus Schmoldt, liebe Yasmin Fahimi, lieber Stephan Weil, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich besonders, dass ich bei eurem Jubiläum dabei sein kann. Denn ich finde schon lange: Die IGBCE ist eine ganz besondere Gewerkschaft in unserem Land. Ihr seid immer noch eine junge Gewerkschaft – aber mit großer Geschichte und viel Tradition. Vor 25 Jahren ging es los mit einer sehr schwierigen Ausgangslage. Ihr habt euch aus dieser Lage aber mit einer schlagkräftigen und effektiven Organisation herausgearbeitet. „Zukunftsgewerkschaft“ – so nennt ihr euch selbst, und so nehme ich euch auch wahr: Ihr guckt nach vorne. Aber zugleich steht die IGBCE seit 25 Jahren vor allem für den schwierigen Brückenbau zwischen Alt und Neu in unserem Land. Damit ist die IGBCE nicht nur eine „Zukunftsgewerkschaft“, damit ist sie auch eine „Transformationsgewerkschaft“. Genau das macht euch so wertvoll für eure Mitglieder, für die Beschäftigten in den Branchen, für unser ganzes Land – gerade in dieser Zeit. Transformation, das heißt ja: von der Zukunft nicht nur reden, sondern den Übergang zum Neuen ganz praktisch meistern. Das ist kompliziert. Aber genau damit kennt ihr euch aus – so gut wie wenige in Deutschland! Denn um Transformation ging es bei euch von Anfang an: Die Gründung der IGBCE vor 25 Jahren war ja vor allem die Folge des Niedergangs der klassischen Montanindustrie. Stahlkrise und Zechensterben hatten auch die einst stolze und mächtige IG Bergbau und Energie geschwächt. Mit der Fusion zur IGBCE habt ihr damals eure Kräfte klug gebündelt. Ihr habt euch damit gerade nicht ans Bestehende geklammert. Ihr habt den Stier bei den Hörnern gepackt. Ihr habt früh schon innovative Tarifverträge abgeschlossen, in denen zum Beispiel auch Qualifizierung und Altersvorsorge geregelt wurden. Ihr betreibt einen eigenen Thinktank, um die Debatten zur Zukunft von Arbeit und Umwelt in unserem Land mitzuprägen. Auch jetzt kriegt ihr den Brückenschlag zwischen Alt und Neu wieder hin. Auch das ist ja nicht einfach. Denn keine andere Industriegewerkschaft in unserem Land ist historisch so eng mit der fossilen Produktionsweise verbunden wie die IGBCE – mit Kohle, mit Öl und mit Gas. Und trotzdem: Als Transformationsgewerkschaft tragt ihr den Übergang ins klimaneutrale Zeitalter aus Überzeugung mit – natürlich immer kritisch, immer mit den Interessen eurer Mitglieder im Blick, aber immer zugleich konstruktiv, fortschrittlich und zukunftsorientiert. So macht sich die IGBCE seit 25 Jahren nicht nur verdient um ihre Mitglieder, sondern um unser Land insgesamt. Das war so in der Ära Schmoldt, und das ist so in der Ära Vassiliadis. Übrigens: Zwei Vorsitzende in 25 Jahren – schon das allein ist ein eindrucksvoller Beweis für Stabilität und Kontinuität. – Lars, das kann ich dir nicht ersparen: Wir hatten in dieser Zeit 16 Vorsitzende. Darum, lieber Michael, liebe Kolleginnen und Kollegen, herzlichen Dank für eure hervorragende Arbeit – und bitte macht weiter so! Deutschland braucht diese Transformationsgewerkschaft, Deutschland braucht die IGBCE. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Monaten erleben wir eine neue Zäsur. Von einer „Zeitenwende“ habe ich gesprochen. Der „größte Stresstest für die Gesellschaft seit Jahrzehnten“ – das hast Du gesagt, lieber Michael. Ich bin zutiefst überzeugt: Gemeinsam werden wir diesen Stresstest bestehen – aber nur, wenn wir uns keine Illusionen machen über die Dimension der Aufgabe. Putins verbrecherischer Angriffskrieg bedroht die Freiheit und das Leben von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern; aber er bedroht auch die gesamte Friedens- und Sicherheitsordnung der vergangenen Jahrzehnte. Er bedroht auch uns. Das können wir nicht hinnehmen – und das werden wir nicht hinnehmen! Darum haben wir gegen Russland beispiellose Sanktionen verhängt – Sanktionen, die wirken. Darum unterstützen wir die Ukraine und werden sie auch weiter unterstützen – finanziell, humanitär und auch mit Waffen; so lange, wie das notwendig ist. Und darum befreien wir uns in hohem Tempo aus der Abhängigkeit von russischer Energie. Das ist auch eine Frage unserer nationalen und europäischen Sicherheit. Die neue Bundesregierung hat sich von Anfang an mit dem Thema Energieversorgung beschäftigt. Schon im Dezember 2021 – drei Monate vor Kriegsbeginn – habe ich meinen Leuten die Frage gestellt: Was passiert eigentlich, wenn wir auf Öl, Kohle und Gas aus Russland verzichten müssen? Da herrschte erst einmal großes Schweigen. Aber dann haben wir sofort alle Hebel in Bewegung gesetzt, und jetzt zahlen sich unsere Anstrengungen aus: Unsere Gasspeicher sind so voll wie noch nie – über 90 Prozent. Ab Januar gehen an unserer Küste die ersten LNG-Terminals in Betrieb. Ich bedanke mich hier ganz besonders bei dem Ministerpräsidenten, der alles dafür getan hat, dass das auch mit einem Tempo geht, das in Deutschland gar nicht so üblich ist – danke dafür! Wir bekommen mehr Gas aus Lieferländern wie den Niederlanden und Norwegen, und wir haben dafür gesorgt, dass wir Gas aus den westeuropäischen Häfen in den Niederlanden, in Belgien und neuerdings auch in Frankreich importieren können – ganz neue Importwege für die Versorgung unseres Landes. Wir haben dafür gesorgt, dass die Kohlekraftwerke wieder laufen und noch weiter weitere in Betrieb gehen werden und keine abgeschaltet werden. Und wir machen auch möglich, dass die zwei süddeutschen Atomkraftwerke im Januar, Februar und März weiterlaufen können, wenn das notwendig ist. Alles das hat dazu beigetragen, dass wir jetzt sagen können: Wir werden durch diesen Winter kommen! Wer hätte das vor wenigen Monaten gedacht? Ganz aktuell haben wir eine Frage miteinander besprochen, die auch ganz beispielhaft dafür ist, dass das hier eine Gewerkschaft ist, die dabei hilft, Probleme zu lösen. Ich war vor wenigen Tagen in Schwedt, als wir die Entscheidung getroffen haben, die deutschen Rosneft-Betriebe unter Treuhand zu stellen. Das hatten wir lange vorbereitet mit den Landesregierungen, aber auch mit der Gewerkschaft und den Verantwortlichen, und haben geschaut: Was muss alles klar sein, damit eine solche Entscheidung vernünftig getroffen werden kann? Als wir das verkündet haben, konnten wir sagen: Ja, wir haben sichergestellt, dass wir wissen, wie es zu einer Ölversorgung von Schwedt und auch von Leuna kommt. Wir haben dafür gesorgt, dass es einen Ausbau der Pipelinekapazitäten nach Rostock gibt, dass aus Polen geliefert werden kann, dass wir gleichzeitig auch Arbeitsplätze und Lohnzahlungen sichern, damit niemand um sein Einkommen fürchten muss und darum, dass er seine Rechnungen nicht mehr bezahlen kann, und dass wir eine Perspektive haben, was sich zukünftig an diesem Standort entwickeln kann, wenn es zum Beispiel um neue Kraftstoffe für Flugzeuge und auch vieles andere geht. Das ist ein gutes Beispiel für Zusammenstehen, für Zusammenhalt und für zukunftsorientierte Lösungen. Danke für diese Zusammenarbeit! Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Wahrheit gehört aber auch: Die steigenden Preise bringen viele Bürgerinnen und Bürger und auch viele Unternehmen in Bedrängnis – manche sogar in Not. Entscheidend ist deshalb mehr denn je, dass wir soziale Gerechtigkeit bei all dem, was jetzt entschieden wird, nie aus dem Blick verlieren. Darum hat die Bundesregierung sehr früh reagiert und zwei Entlastungspakete mit einem Volumen von 30 Milliarden Euro beschlossen. Die Maßnahmen wirken bereits und sie haben die Teuerung spürbar gedämpft. Wir haben jetzt ein weiteres Entlastungspaket von 65 Milliarden Euro auf den Weg gebracht, das jetzt gesetzgeberisch umgesetzt wird. Auch das soll Entlastungen mit sich bringen. Eine dieser Maßnahmen können alle, die sich ihre Lohnabrechnung am Ende dieses Monats tatsächlich einmal angucken, genau sehen, nämlich die Energiepreisprämie, die wir beschlossen haben. Wir haben sie noch einmal ergänzt um Leistungen auch für Rentnerinnen und Rentner. Dazu gehört, dass wir das Kindergeld erhöhen – zwei Schritte in einem, 18 Euro pro Monat: das sind über 400 Euro für eine Familie mit zwei Kindern. Dazu gehört, dass wir dafür sorgen können, dass sich die Teuerung nicht in zusätzlichen Gewinnen für den Staat niederschlägt. Wir bauen die kalte Progression ab und haben dafür gesorgt, dass ab Anfang des nächsten Jahres die Rentenbeiträge vollständig vom steuerpflichtigen Einkommen abgezogen werden. Das ist eine Entlastung um fünf Milliarden Euro in den nächsten zwei Jahren für alle Bürgerinnen und Bürger, die diese Beiträge zahlen müssen. Alles das hilft. Aber wir werden weitere Dinge tun müssen. Das wissen wir ganz genau. Deshalb haben wir uns fest vorgenommen, zusammen mit den Sozialpartnern nach Antworten auf die hohen Preise und die Inflation zu suchen. Das Instrument der Wahl ist eines, das es in der Geschichte Deutschlands schon einmal gegeben hat, nämlich die Konzertierte Aktion, die wir wieder zusammengerufen haben und in der es darum geht, gemeinsam Maßnahmen zu entwickeln. Zu diesen Maßnahmen gehört auch, dass es eine Möglichkeit geben soll, dass Unternehmen ihre Beschäftigten mit einer zusätzlichen Zahlung entlasten können, die, alles zusammen, bis zur Höhe von 3000 Euro steuer- und abgabenfrei ist. Ich finde: Das ist ein gutes Zeichen der Sozialpartnerschaft. Das passt zu unserem Land und seinen Traditionen. Es ist ziemlich beeindruckend, dass die IGBCE auch schon genau weiß, wie sie das umsetzen will. – Ich habe mitgekriegt, dass auch die Arbeitgeberverbände begeistert sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen ich habe schon davon gesprochen, dass die hohen Energiepreise für die Unternehmen eine genauso große Belastung sind wie für die Haushalte. Das wissen hier viele am besten. Wenn wir uns die explodierenden Gaspreise zum Beispiel für die Glas- und Keramik- oder Papierindustrie anschauen, dann wissen wir ganz genau, wovon die Rede ist, und auch, was zu tun ist. Wir haben deshalb schon sehr früh einen umfassenden Schutzschirm aufgespannt, um besonders betroffene Unternehmen und ihre Beschäftigten zu unterstützen. Wir werden ihn jetzt weiterentwickeln und ausbauen. Das ist dringend notwendig. Aber klar ist: Staatliche Maßnahmen allein können die Folgen des russischen Angriffskriegs nicht völlig abfangen. – Aber wir können sehr viel tun. Was wir zuallererst tun müssen und woran wir uns jetzt machen, ist, dass die Preise wieder runter müssen. Die Preise für Strom, die Preise für Heizung, die Preise für Gas müssen sinken. Das ist die erste Aufgabe, die wir jetzt haben. Da ist der Krieg, den Russland in der Ukraine führt, mit all den furchtbaren Konsequenzen. Wir unterstützen die Ukraine. Das wirkt, wie wir sehen. Aber es gibt auch andere Schlachtfelder, zum Beispiel die Frage, wie wir verhindern, dass der Hunger in der Welt größer wird. Wir haben vieles durchgesetzt, das jetzt dazu beiträgt, dass Getreideexporte wieder möglich sind, und machen auch finanzielle Hilfsprogramme verfügbar. Dazu gehört, dass wir dafür sorgen, dass die Energieversorgung in Deutschland funktioniert. Ich wiederhole, was ich eben gesagt habe: Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass wir zu dieser Zeit in einem Moment, in dem Russland die Gaslieferung über die ganzen verschiedenen Pipelines nach Deutschland praktisch eingestellt hat, sagen können: „Wir kommen durch diesen Winter“? – Das ist uns gelungen, und auf diesem Schlachtfeld waren wir gemeinsam erfolgreich. Auch das muss festgehalten werden. Aber das Nächste sind eben die Preise. Deshalb gehört zu den Entscheidungen, die wir jetzt schon politisch getroffen haben und die jetzt gesetzgeberisch umgesetzt werden, dass wir das Design unseres Strommarktes so ändern, dass nicht alle Möglichen große Gewinne machen können, weil die Produktion von Strom mit Gas so teuer geworden ist. Das kann nicht heißen, dass es jetzt riesige Zusatzgewinne zulasten aller derjenigen gibt, die die Stromrechnung bezahlen müssen, Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen, wenn sie Strom mit Wasserkraft, mit Windkraft, mit Solarenergie, mit Biomasse, mit Kohle, mit Atom produzieren. Es reicht schon, wenn alle ganz ordentlich Geld verdienen. Aber diese Zusatzgewinne müssen nicht sein, und wir werden in Deutschland und in Europa durch Maßnahmen dafür sorgen, dass das nicht mehr diese hohen Strompreise zur Folge hat. Dazu gehört auch, dass wir etwas Gleiches machen, wenn es um die Gaspreise geht. Das ist natürlich noch schwieriger. Denn bei der Strompreisbremse, die wir entwickelt haben und jetzt auf den Weg bringen und umsetzen, damit die Strompreise runtergehen, müssen wir etwas am Marktdesign ändern, an der Frage, wie die Preise entstehen. Aber wenn es darum geht, auf der arabischen Halbinsel, in Afrika, in Südamerika, in Nordamerika, in Norwegen, in den Niederlanden und, wo auch immer Gas in großem Umfang produziert wird, Gas einzukaufen, dann sind es viele, viele Beteiligte, die der europäischen und deutschen Gesetzgebung nur begrenzt unterstehen. Trotzdem müssen wir es hinbekommen, dass die Preise erst einmal sinken. Genau das zu tun, haben wir uns vorgenommen, zusammen mit der Kommission in Europa, aber auch mit einer eigenen Expertengruppe, die wir eingerichtet haben und die in ganz kurzer Zeit hochwirksame Vorschläge dazu machen wird. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Frau Professor Grimm, dass Herr Russwurm vom BDI und dass euer Michael Vassiliadis diese Kommission leiten, damit dabei wirklich effiziente Ergebnisse herauskommen. Es sind noch viele Unternehmensvertreter, noch viele Experten dabei. Aber es ist das, was jetzt die zentrale Aufgabe ist, damit die Gaspreise in Deutschland und Europa wieder sinken. Auch das will ich sagen: Natürlich kann man nicht einfach zusehen, wie ganz unabhängig vom Strommarkt einige jetzt große Gewinne machen und wie die Staaten sich verschulden, um die Folgen abzumildern. Deshalb finde ich den Vorschlag der Europäischen Kommission sehr gut, eine zeitlich befristete Sonderabgabe zu etablieren. Ich kann hier und an dieser Stelle sagen: Die Bundesregierung wird diesen Vorschlag der Europäischen Kommission unterstützen. Sie wird zu Zusatzeinnahmen führen, die wir dazu verwenden können, die Preise in Deutschland zu senken, die wir dazu verwenden können, diejenigen in Deutschland zu unterstützen – Bürger, Haushalte und Unternehmen –, die diese Unterstützung brauchen. Natürlich werden wir auch auf all das setzen, was wir aus der Krisenbewältigung schon kennen. Hier muss ich das nicht erläutern, aber ich will es als Stichwort nennen: Kurzarbeit. – Die Förderung der Kurzarbeit hat uns schon durch viele Krisen geholfen. Wir haben dieses Instrument wieder scharfgestellt. Es sind also, wie ich geschildert habe, jetzt kurzfristige Entlastungen notwendig. Aber wir müssen auch langfristig Politik machen, um den Wohlstand in unserem Land, soziale Gerechtigkeit und den Respekt für Arbeit in unserem Land nachhaltig zu festigen. Dafür sind mir vor allem drei Dinge wichtig, über die ich hier noch sprechen will und an denen wir jetzt erst recht mit allergrößtem Hochdruck arbeiten. Erstens. Dringender denn je brauchen wir den Umstieg auf die erneuerbaren Energien. Spätestens mit Russlands Angriffskrieg ist klar: Raus aus der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern müssen wir nicht nur der Klimakrise wegen. Darum ziehen wir beim Umstieg auf erneuerbare Energien das Tempo jetzt an. Schon in der ersten Hälfte dieses Jahres haben wir mit dem EEG die größte Gesetzesnovelle für den Ausbau der erneuerbaren Energien seit Jahrzehnten verabschiedet, und wir beschleunigen die Planungs- und Genehmigungsverfahren. Dieser Umbruch wird die größte industrielle Transformation seit vielen, vielen Jahrzehnten. Das schafft natürlich viele große, neue Herausforderungen für die Wirtschaft und auch für die IGBCE. Das bedeutet aber zugleich enorme Chancen. Deutschland ist ein starkes Land, ein Land mit klugen Köpfen und mit erstklassiger Forschung, mit hervorragenden Ingenieurinnen und Handwerkern, mit fleißigen Arbeiterinnen und Arbeitern. Hier bei uns im Land können und werden wir die Technologien entwickeln, die die ganze Welt für die Energiewende braucht. Wer denn sonst, wenn nicht wir? Die Bundesregierung leistet dazu ihren Beitrag mit Klimaschutzdifferenzverträgen, mit Leuchtturmprojekten, die wir unterstützen und fördern. Manche behaupten ja, Klimaschutz und industrielle Transformation würden als Standortnachteil für Deutschland wirken. Ich sage: Klimaschutz und industrielle Transformation können für unser Land zum entscheidenden Standortvorteil werden! Damit das gelingt, schließen wir uns mit anderen Ländern zusammen, die beim Klimaschutz ebenfalls richtig vorankommen wollen, und darum haben wir beim G7-Gipfel im Juni unter unserer deutschen Präsidentschaft die Gründung eines offenen und kooperativen Klimaclubs vereinbart, und zwar noch in diesem Jahr. Denn das kann ja auch nicht sein: Die einen gehen voran und haben höhere Preise, und die anderen verschmutzen weiter die Welt und machen Wettbewerb. Insofern muss man das miteinander zusammenbringen. Kooperation ist aber auch bei uns in Deutschland der Schlüssel, damit die Transformation vorankommt. Deshalb haben wir auch eine Allianz gegründet, in der Politik, Verbände und Gewerkschaften, Wirtschaft und Gesellschaft zusammen diese Frage diskutieren. Selbstverständlich spielt die IGBCE dabei eine ganz entscheidende Rolle. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine zweite entscheidende Bedingung für den langfristigen Erfolg unseres Landes, und der Film hat es uns schon ein bisschen gesagt: Das wird uns nur gelingen, wenn alle dabei mitkommen können. Das gilt dann auch für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land. Deshalb brauchen wir intensive Investitionen in Weiterbildung und Möglichkeiten, dass das in großem Maßstab in den deutschen Betrieben stattfindet. Wir werden das mit Qualifizierungsgeld und Transferkurzarbeitergeld unterstützen, damit das tatsächlich eine Erfolgsgeschichte wird. Aber wir müssen natürlich auch früher ansetzen; denn wir müssen alles dafür tun, dass die deutsche Wirtschaft und die Kraft, die wir haben, nicht daran scheitern, dass es uns an Arbeitskräften fehlt. Wenn alles nur so weiterläuft wie bisher, dann werden wir 2030 7 Millionen Fachkräfte zu wenig haben, und diesen Ausgleich müssen wir auch hinbekommen. Ich glaube übrigens, dass man klar sagen muss: Diejenigen, die sagen, dass das gar nicht geht, irren sich gewaltig! Sie haben sich nämlich in der Vergangenheit schon einmal verrechnet. Wer sich noch an die Debatten aus den Neunzigerjahren erinnert, der wird herausfinden, dass dabei in großem Umfang vorgerechnet worden ist, wie viele Millionen uns jetzt fehlen würden. Jetzt sind wir aber 6 Millionen mehr! Deshalb wird uns das wieder gelingen, wenn wir wissen, was wir tun müssen: Ausbau von Kinderbetreuung, damit Familien so berufstätig sein können, wie sie das sein wollen. Dazu gehört, dass wir die Berufsausbildung so stark voranbringen, dass alle jungen Leute ihre Talente entfalten können. Ich bin sehr dankbar, dass diese Gewerkschaft so viel dafür tut, dass die Berufsausbildung in Deutschland weiter eine wichtige und zentrale Ausbildung bleibt! Natürlich – das wissen alle, die hier versammelt sind – beruht die Stärke unserer Volkswirtschaft auch darauf, dass wir in den letzten Jahren immer wieder auf Talente aus aller Welt zurückgreifen konnten, die in den Betrieben in unserem Land angefangen haben. Das wird auch für die Zukunft weiter etwas sein, das wichtig ist. Wir werden mit einem ganz modernen Einwanderungsrecht den Beitrag dazu leisten, dass wir auch auf diese Weise unseren Wohlstand sichern können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine dritte Bedingung für unseren Erfolg jetzt und in der Zukunft. Das ist der Zusammenhalt – oder die Solidarität. Nur gemeinsam sind wir stark! Nur gemeinsam bleiben wir stark! Das gilt in Europa und international, für unsere Bündnisse und Partnerschaften. Aber das gilt ganz genauso hier bei uns im Land. In dieser schwierigen Zeit müssen wir begreifen – oder wieder begreifen: Die große Stärke unseres Landes liegt nicht im Gegeneinander, sondern im Miteinander. Sie liegt darin, dass wir uns in Deutschland mit Respekt begegnen – bei aller Vielfalt, bei allen Unterschieden der Interessen. Darum gehören Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung zu den kostbarsten Traditionen Deutschlands überhaupt. Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung sind der organisierte Respekt. Davon brauchen wir in Zukunft mehr und nicht weniger! Darum sind die Gewerkschaften so ungeheuer wichtig für unser Land: Damit wir alle zusammen gut durch diese Krise kommen, und damit wir alle zusammen eine gute Zukunft haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Michael, heute habt ihr erst einmal allen Grund zum Feiern. „25 Jahre erfolgreich“ – das ist Euer Motto für dieses Jubiläum, völlig zu Recht! Ich wünsche mir und vor allem euch, dass ihr das in den nächsten 25 Jahren genauso erfolgreich schafft. Denn es ist ja keine gewagte Voraussage: Als Transformationsgewerkschaft werdet ihr bis 2047 weiter dringend gebraucht, und danach auch noch. Darum bleibt, wie Ihr seid – solidarisch und fortschrittlich! Und blickt weiter nach vorne! Dann ist mir um die Zukunft der IGBCE nicht bange, und dann ‑ mit starken Partnern wie euch – ist mir auch nicht bange um die Zukunft unseres Landes. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Preisverleihung der startsocial Wettbewerbsrunde 2021/22 am 22. September 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-preisverleihung-der-startsocial-wettbewerbsrunde-2021-22-am-22-september-2022-in-berlin-2128828
Thu, 22 Sep 2022 00:00:00 +0200
Berlin
Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch von meiner Seite einen herzlichen Glückwunsch an alle Preisträgerinnen und Preisträger! Ich habe nun noch die Ehre, einen Sonderpreis vergeben zu können. Ich will das auch nicht allzu spannend machen. Ich habe mir für den Sonderpreis ein Projekt ausgesucht, das einen Bereich betrifft, der unglaublich viele bewegt: die Pflege und den drängenden Fachkräftemangel, den wir dort haben. Vor allem aber ist es ein Projekt, das speziell Geflüchtete unterstützt, einen Weg in einen Pflegeberuf zu finden. Für sie ist es im wahrsten Sinne des Wortes ein Sprungbrett in ein erfolgreiches Berufsleben – mit pflegespezifischen Sprachkursen und individueller Begleitung hin zu einer Ausbildung in der Pflege. Ich finde das eine tolle Sache – eine Sache, die die Verantwortlichen mit großer Energie und Leidenschaft voranbringen! Deshalb geht der Sonderpreis in diesem Jahr an die Initiative „Sprungbrett Pflege“ und den Verein für Pflege- und Gesundheitsberufe in Bonn. Vielen Dank für Ihr herausragendes Engagement, und herzlichen Glückwunsch! Den haben alle anderen hier ja auch schon zum Ausdruck gebracht. Sehr geehrter Herr Dr. Düsedau, sehr geehrte Laudatorinnen und Laudatoren, liebe Wettbewerbsteilnehmerinnen, ich glaube, es ist eine gute Sache, dass wir das hier machen können, und ich freue mich auch sehr darüber, dass das hier stattfinden kann. Es ist schon gesagt worden: Ich komme gerade von der Generalversammlung der Vereinten Nationen und habe daran teilgenommen. Dort sind ganz viele Resolutionen verabschiedet worden. Ich erwähne das deshalb, weil die Vereinten Nationen mit einer solchen Resolution Ende der Neunzigerjahre das Jahr 2001 zum Internationalen Jahr der Freiwilligen erklärten. Zufälligerweise – vielleicht auch nicht ganz so zufällig – war das ja auch das Gründungsjahr von startsocial. Dieses Internationale Jahr der Freiwilligen galt damals allen, die sich weltweit freiwillig und ehrenamtlich engagieren. Allein bei uns in Deutschland sind das heute mehr als 30 Millionen Bürgerinnen und Bürger, die vom Kinderchor bis zum Pflegeheim, vom Sportverein bis zur Kommunalpolitik mit anpacken. Das Ehrenamt ist so vielfältig wie unsere Gesellschaft. Sie, liebe Wettbewerbsteilnehmerinnen und -teilnehmer, sind der allerbeste Beweis dafür. Aber – und das ist auch der Grund, warum wir heute hier sind – ehrenamtliches Engagement funktioniert am besten mit vernünftigen Rahmenbedingungen und klaren Organisationsstrukturen. Dazu gehören unterschiedlichste Kenntnisse wie Projektmanagement, Marketing und Finanzierung. Wer könnte das besser vermitteln als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Unternehmen, die genau diese Strukturen und Prozesse in ihren Betrieben tagtäglich anwenden? Sie mit Ehrenamtlichen zusammenzubringen, das ist das Erfolgsrezept von startsocial, und wir haben eben schon gehört, dass das auch immer weiter so funktioniert. Ich finde es jedenfalls beeindruckend, gelernt zu haben, dass mittlerweile 1800 Initiativen und Projekte gefördert und begleitet worden sind. Damit leisten Sie, lieber Herr Dr. Düsedau, und das gesamte Team von startsocial einen wertvollen Beitrag zu einer lebendigen Zivilgesellschaft. Für die wertvolle Arbeit, für den Austausch und insbesondere dafür, dass dieser Wettbewerb heute stattfinden kann, sage ich Danke! Danke auch an alle Jurymitglieder und Coaches, die den Wettbewerb seit Jahren ehrenamtlich tatkräftig unterstützen. Auch da haben wir die Stundenzahl schon gehört: 15 000 Stunden werden da ehrenamtlich geleistet. Ich weiß nicht, mit welcher modernen Arbeitszeiterfassung, die Herr Heil noch gar nicht fortgeschrieben hat, das erfasst worden ist, aber irgendetwas wird es schon sein. Ich danke jedenfalls für diesen Einsatz! Meine Damen und Herren, der Wettbewerbsjahrgang 2021/2022 ist ein besonderer. Er fand weitgehend im virtuellen Raum statt. Das war nicht immer einfach, aber es hat funktioniert, weil es kreative Lösungen gegeben hat, vor allem eben über die digitalen Formate. Sie alle haben sich von den widrigen Umständen nicht entmutigen lassen. Auch das zeichnet unser Ehrenamt aus. Wir sind durch diese Zeit gekommen. Nun kommen andere Zeiten, die andere Probleme mit sich bringen. Aber ich denke, das, worauf wir immer gründen können, ist, dass es immer Menschen gibt, die etwas tun wollen und dafür sorgen, dass das Miteinander funktioniert. Es zeichnet eben auch Sie alle aus, die an dem Wettbewerb teilgenommen haben. Sie sehen eine Herausforderung und resignieren nicht, und es ist Ihnen auch nicht egal, wie sich die Dinge entwickeln, im Gegenteil. Sie suchen nach neuen Wegen und Lösungen. Sie packen an. Dabei findet ganz viel statt, was man mit keinem Geld der Welt bekommen kann. Ihr Engagement ist wesentlich für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Sie alle haben dafür meinen allergrößten Respekt und meine Hochachtung. Deshalb sage ich allen, die hier teilnehmen: Danke für Ihr Engagement und Ihren Dienst für unsere Gesellschaft! Danke! Was das Ehrenamt und Sie alle leisten, das sehen wir doppelt und dreifach in den Zeiten, in denen wir uns jetzt befinden. Von der Coronapandemie war eben schon die Rede. In dieser Zeit sind unglaublich viele ehrenamtliche Initiativen in atemberaubendem Tempo wie Pilze aus dem Boden geschossen. Nachbarschaftsinitiativen wurden gegründet, um Ältere zu versorgen, die sich nicht mehr vor die Haustür getraut haben. Telefonische Beratungsangebote wurden auf- und ausgebaut. Denn die Quarantäne und die räumliche Distanzierung waren für viele eine große seelische Belastung. Das ist unglaublich, und es ist unglaublich viel Gutes entstanden, von dem wir als Gesellschaft nun profitieren. Als Russland Ende Februar über Nacht die Ukraine überfallen hat und Hunderttausende Frauen, Kinder und Ältere zu uns geflüchtet sind, waren wieder unzählige ehrenamtliche Helfer zur Stelle. Sie haben Unterkünfte, Kleidung, Essen und medizinische Versorgung organisiert. Ich habe mir das an vielen Stellen angeschaut und selbst geschaut, wie das funktioniert. Von der Solidarität und Professionalität der vielen haupt- und ehrenamtlichen Unterstützerinnen und Unterstützer kann man wirklich nur beeindruckt sein. Das zeigt mir noch einmal: Unser Land hat die Kraft, in Notlagen über sich hinauszuwachsen. – Ich bin mir ganz sicher: Das werden wir jetzt auch in diesem Herbst und Winter zeigen, in dem es steigende Preise und steigende Energiekosten gibt und in dem sich viele Bürgerinnen und Bürger und nicht so wenige Unternehmen Gedanken machen, wie das weitergehen soll, übrigens auch – das gilt ja für viele von Ihnen – viele Einrichtungen, und nicht wissen, wie denn die Heizrechnungen für all das, was man macht, bezahlt werden können. Mit diesen Themen setzen wir uns jetzt auseinander. Wir versuchen im Rahmen der Möglichkeiten, die wir als Staat haben, das zu lösen, damit die Preise heruntergehen, damit die Versorgung sicher ist und damit wir dort, wo die Preise trotz all diesen Maßnahmen noch zu hoch sind, auch helfen können. Das werden wir miteinander tun. Auch wenn nicht alle Einzelheiten jetzt schon vorhergesagt werden können, können sich alle darauf verlassen, dass wir das Notwendige tun. Wir werden die Entwicklung jedenfalls genau beobachten und niemanden alleinlassen. Ich habe das mit einem Lied, das auf Fußballplätzen gesungen wird, gesagt: You’ll never walk alone. Das ist, denke ich, ein Grundsatz für unser Land, auch ein Grundsatz, der für viele gilt, die hier versammelt sind, und der ausdrückt, was Sie denken, wenn Sie etwas für andere tun, dass wir zusammenstehen und uns unterhaken. Dafür steht das Ehrenamt. Dafür stehen all Ihre Projekte. Egal ob Sie am Ende Preisträgerin und Preisträger geworden sind, sind Sie alle Gewinner, meine Damen und Herren. Aber vor allem sind Sie ein Gewinn für unsere Gesellschaft. Deshalb möchte ich Sie alle ermutigen: Machen Sie unbedingt weiter! Sie werden gebraucht.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der 77. Generaldebatte der Generalversammlung der Vereinten Nationen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-77-generaldebatte-der-generalversammlung-der-vereinten-nationen-2127820
Tue, 20 Sep 2022 00:00:00 +0200
New York
Mr. President, fellow delegates, Ladies and Gentlemen! It is with humility and deep respect that I am addressing you today – both as the newly elected Chancellor of Germany and as a proud delegate to our United Nations. My country and the United Nations are indivisibly linked. Today’s democratic and reunited Germany owes its role on the world stage to you, our international friends and partners. You placed your trust in us to become and to remain a peace-loving member of the international community. We know that we owe our freedom, our stability and our prosperity to an international order with the United Nations at its core. Therefore, my country’s commitment to this organization and its noble goals – peace, development and equal rights and dignity for every human being – will never wane. Ich lege dieses Bekenntnis leider zu einer Zeit ab, in der wir uns von diesen ehrwürdigen Zielen entfernen. Nach Jahrzehnten, in denen wir Mauern und Blöcke überwanden – eine Zeit, in die der Fall des Eisernen Vorhangs und die deutsche Wiedervereinigung fielen ‑, nach der technologischen Revolution des Internets und der Digitalisierung, die uns so eng vernetzt haben wie noch nie, stehen wir heute vor einer neuen Fragmentierung der Welt. Neue Kriege und Konflikte sind entstanden. Globale Großkrisen türmen sich vor uns auf, verbinden und verstärken sich. Manche sehen darin die Vorboten einer Welt ohne Regeln. Zutreffend ist: Die Risiken für unsere globale Ordnung sind real. Dennoch kann ich wenig anfangen mit dem Bild von der regellosen Welt – aus zwei Gründen. Erstens: Unsere Welt hat klare Regeln, Regeln, die wir als Vereinte Nationen gemeinsam geschaffen haben. Diese Charta verspricht uns allen ein friedliches Miteinander. Diese Charta ist unsere kollektive Absage an eine regellose Welt! Unser Problem sind nicht fehlende Regeln, unser Problem ist der mangelnde Wille, sie einzuhalten und durchzusetzen. Das Bild von der Welt ohne Regeln führt aber noch aus einem zweiten Grund in die Irre. Wenn wir unsere Weltordnung nicht gemeinsam verteidigen, weiterentwickeln und stärken, dann droht uns nicht etwa regelloses Chaos, sondern eine Welt, in der die Regeln von denen gemacht werden, die sie uns dank ihrer militärischen, ökonomischen und politischen Macht diktieren können. Die Alternative zur regelbasierten Welt ist nicht die Anarchie, sondern die Herrschaft der Starken über die Schwächeren! Ob aber in dieser Welt das Recht der Macht herrscht oder die Macht des Rechts, kann den allermeisten von uns nicht egal sein. Die Kernfrage, vor der wir als Weltgemeinschaft stehen, lautet: Schauen wir hilflos zu, wie manche uns in eine Weltordnung zurückkatapultieren wollen, in der Krieg ein gängiges Mittel der Politik ist, in der sich unabhängige Nationen ihren stärkeren Nachbarn oder ihren Kolonialherren zu fügen haben, in der Wohlstand und Menschenrechte ein Privileg der „lucky few“ sind? Oder schaffen wir es mit vereinten Kräften, dass die multipolare Welt des 21. Jahrhunderts eine multilaterale Welt bleibt? Meine Antwort, als Deutscher und als Europäer, lautet: Das muss uns gelingen, und das wird uns auch gelingen, wenn wir drei grundlegende Prinzipien beachten. Erstens: Internationale Ordnung entsteht nicht von allein. Ohne unser Zutun bleibt diese Charta nur Papier. Mit dieser Charta ist ein Aufruf an uns alle verbunden, ihre Ziele und Grundsätze durchzusetzen! Deshalb dürfen wir nicht die Hände in den Schoß legen, wenn eine hochgerüstete, nukleare Großmacht – noch dazu ein Gründungsmitglied der Vereinten Nationen und ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates – Grenzen mit Gewalt verschieben will. Russlands Eroberungskrieg gegen die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen. Präsident Putin führt ihn mit einem einzigen Ziel: sich der Ukraine zu bemächtigen. Selbstbestimmung und politische Unabhängigkeit zählen für ihn nicht. Dafür gibt es nur ein Wort. Das ist blanker Imperialismus! Die Rückkehr des Imperialismus ist nicht nur ein Desaster für Europa. Darin liegt ein Desaster auch für unsere globale Friedensordnung, die die Antithese ist zu Imperialismus und Neo-Kolonialismus. Deshalb war es so wichtig, dass 141 Staaten den russischen Eroberungskrieg hier in diesem Saal eindeutig verurteilt haben. Doch das allein reicht nicht aus! Wenn wir wollen, dass dieser Krieg endet, dann kann es uns nicht egal sein, wie er endet. Putin wird seinen Krieg und seine imperialen Ambitionen nur aufgeben, wenn er erkennt: Er kann diesen Krieg nicht gewinnen! Er zerstört dadurch nicht nur die Ukraine, er ruiniert auch sein eigenes Land. Deshalb werden wir keinen russischen Diktatfrieden akzeptieren – und auch keine Schein-Referenden. Deshalb muss die Ukraine Russlands Überfall abwehren können. Wir unterstützen die Ukraine dabei mit aller Kraft: finanziell, wirtschaftlich, humanitär und auch mit Waffen. Gemeinsam mit Partnern weltweit haben wir harte wirtschaftliche Sanktionen gegen die russische Führung und Russlands Wirtschaft verhängt. So lösen wir das Versprechen ein, das jedes unserer Länder mit dem Beitritt zu den Vereinten Nationen gegeben hat, nämlich „unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“. Eines möchte ich hinzufügen: Nicht ein Sack Getreide wurde aufgrund dieser Sanktionen zurückgehalten. Russland allein hat die ukrainischen Getreideschiffe am Auslaufen gehindert, Häfen zerbombt und landwirtschaftliche Betriebe zerstört. „Wer den Krieg ächten will, muss auch den Hunger ächten“. Mein Amtsvorgänger, Friedensnobelpreisträger Willy Brandt, hat diesen Satz gesagt, als er als erster Bundeskanzler im Jahr 1973 hier vor dieser Versammlung sprach. Heute erleben wir: Dieser Satz gilt auch umgekehrt. Wer den Hunger ächten will, der muss Russlands Krieg ächten – diesen Krieg, der auch in Ländern weit weg von Russland für steigende Preise, Energieknappheit und Hungersnot sorgt. Dass es unter Vermittlung von Generalsekretär Guterres und der Türkei gelungen ist, Getreideexporte wieder möglich zu machen, verdient große Anerkennung. Auch Deutschland unterstützt die Ukraine beim Export von Nahrungsmitteln. Wir werden der Ukraine auch beistehen, um die enormen Kosten für den Wiederaufbau des Landes zu stemmen. Bei einer internationalen Expertenkonferenz, die ich mit der Präsidentin der Europäischen Kommission am 25. Oktober in Berlin ausrichte, werden wir gemeinsam mit Unterstützern der Ukraine aus aller Welt überlegen, wie uns diese Generationenaufgabe gelingt. Unsere Botschaft ist: Wir stehen fest an der Seite des Angegriffenen – zum Schutz des Lebens und der Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer und zum Schutz unserer internationalen Ordnung! Meine Damen und Herren, das zweite Prinzip, um diese Ordnung zu erhalten, lautet: Wir alle müssen uns an den Verpflichtungen messen lassen, die wir gemeinsam eingegangen sind. Verantwortung beginnt immer bei einem selbst. Nehmen wir zum Beispiel den Klimawandel, die größte Herausforderung unserer Generation. Hierfür tragen wir, die Industrieländer und großen Treibhausgasemittenten, ganz besondere Verantwortung. Deshalb haben wir beim G7-Gipfel im Juni in Deutschland noch einmal bekräftigt, beim Klimaschutz voranzugehen, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen – nicht trotz des Kriegs und der Energiekrise, sondern gerade weil Klimaneutralität auch größere Energiesicherheit bedeutet. Wir stehen zu unseren Zusagen, Schwellen- und Entwicklungsländer bei der Emissionsminderung und ihrer Anpassung an den Klimawandel zu unterstützen, zum Beispiel durch neue Partnerschaften für eine gerechte Energiewende, und wir werden auch die Länder nicht allein lassen, die am stärksten mit Verlusten und Schäden durch den Klimawandel zu kämpfen haben. Bis zur Klimakonferenz in Ägypten wollen wir deshalb einen globalen Schutzschirm gegen Klimarisiken entwickeln. Wir müssen uns an den Verpflichtungen messen, die wir eingegangen sind. Nirgendwo scheint mir diese Einsicht offensichtlicher als beim Schutz der Menschenrechte, weil sich in ihnen das tiefste Bedürfnis jeder und jedes Einzelnen von uns spiegelt, frei, unversehrt und in Würde zu leben. Das ist der Kern dessen, was uns als Menschen ausmacht und verbindet – egal, wo wir herkommen, egal, woran wir glauben, egal, wen wir lieben. Ich sage das mit der Geschichte meines Landes vor Augen. Deutschland, das durch den Mord an sechs Millionen Juden einen Zivilisationsbruch begangen hat, der keinerlei Vergleich duldet, weiß um die Brüchigkeit unserer Zivilisation. Und zugleich stehen wir in der Pflicht, die Menschenrechte überall und zu jeder Zeit zu achten und zu verteidigen. Mein Land ist zweitgrößter Geber des UN-Systems, zweitgrößter Geber auch für humanitäre Hilfe. In den vergangenen Jahren haben wir Millionen Geflüchtete bei uns aufgenommen – aus dem Nahen Osten, aus Afrika, aus Afghanistan und zuletzt aus der Ukraine. Darauf sind wir stolz. Hinsehen und handeln müssen wir aber auch dort, wo Hunderttausende in Straflagern oder Gefängnissen Leid, Willkür und Folter erdulden müssen – in Nordkorea, Syrien, dem Iran oder Belarus. Hinsehen und handeln müssen wir, wenn die Taliban Frauen und Mädchen in Afghanistan ihrer grundlegendsten Rechte berauben. Und hinsehen und handeln müssen wir, wenn Russland in Mariupol, Butscha oder Irpin Kriegsverbrechen begeht. Die Mörder werden wir zur Rechenschaft ziehen. Den Internationalen Strafgerichtshof und die vom Menschenrechtsrat eingesetzte unabhängige Untersuchungskommission unterstützen wir dabei mit aller Kraft. Unsere gemeinsamen Institutionen zu stützen, daran sollten gerade diejenigen ein Interesse haben, die dank ihrer Stärke und ihres Einflusses besondere Verantwortung für die Ordnung in der Welt tragen. Die frühere Hochkommissarin für Menschenrechte hat uns vor einigen Wochen über die Lage der Uiguren in Xinjiang berichtet. China sollte die Empfehlungen der Hochkommissarin umsetzen. Das wäre ein Zeichen von Souveränität und Stärke und ein Garant für die Veränderung zum Besseren. Meine Damen und Herren, noch ein drittes Prinzip muss hinzukommen, um die internationale Ordnung zu erhalten. Wir müssen unsere Regeln und Institutionen an die Realität des 21. Jahrhunderts anpassen. Viel zu oft spiegeln sie die Welt von vor 30, 50 oder 70 Jahren. Das gilt auch für den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Seit Jahren setzt sich Deutschland für seine Reform und Erweiterung ein, vor allem um Länder des globalen Südens. Auch Deutschland ist bereit, größere Verantwortung zu übernehmen – als ständiges Mitglied und zunächst als nichtständiges Mitglied in den Jahren 2027 und 2028. Ich bitte Sie, unsere Kandidatur zu unterstützen, die Kandidatur eines Landes, das die Prinzipien der Vereinten Nationen achtet, das Zusammenarbeit anbietet und sucht. Für mich ist es völlig selbstverständlich, dass die aufstrebenden, dynamischen Länder und Regionen Asiens, Afrikas und des südlichen Amerikas größere politische Mitsprache auf der Weltbühne bekommen müssen. Das liegt in unser aller Interesse! Denn daraus entsteht gemeinsame Verantwortung, damit wächst die Akzeptanz unserer Entscheidungen. Nicht Nationalismus und Isolation lösen die Herausforderungen unserer Zeit. Mehr Zusammenarbeit, mehr Partnerschaft, mehr Beteiligung lautet die einzig vernünftige Antwort, egal, ob es um den Kampf gegen den Klimawandel oder globale Gesundheitskrisen, um Inflation oder gestörte Handelsketten oder um unseren Umgang mit Flucht und Migration geht. Ich sage das aus tiefster Überzeugung. Denn die Erkenntnis, dass Offenheit und Kooperation Frieden und Wohlstand sichern, diese Erkenntnis hat die vergangenen Jahrzehnte zu den bislang glücklichsten in der Geschichte meines Landes gemacht. Als diesjähriger Präsident der G7 ist es mir daher ein zentrales Anliegen, für eine neue Art der Zusammenarbeit mit den Ländern des globalen Südens einzutreten, eine Zusammenarbeit, die Augenhöhe nicht nur behauptet, sondern herstellt, zumal diese Augenhöhe de facto ja längst besteht, wenn man das wachsende politische, ökonomische und demografische Gewicht Asiens, Afrikas und des südlichen Amerikas beachtet. Von Beginn an haben wir unsere Ziele auf das Engste mit Indonesien als G20-Präsidentschaft abgestimmt. Die Vorsitzländer der Afrikanischen Union und der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten haben wir an unseren Beratungen als G7 beteiligt, ebenso wie Indien und Südafrika. Herausgekommen sind neue Modelle globaler Zusammenarbeit, die eines gemeinsam haben: Sie tragen die Handschrift gemeinsamer Verantwortung und gegenseitiger Solidarität. Mit einem neuen Bündnis für globale Ernährungssicherheit bekämpfen wir die Hungerkrise, und ich lade Sie alle ein, Teil dieses Bündnisses zu werden. Wir haben eine Partnerschaft für globale Infrastruktur und Investitionen ins Leben gerufen, um gemeinsam in den kommenden fünf Jahren 600 Milliarden Dollar für öffentliche und private Infrastrukturinvestitionen weltweit zu mobilisieren. Damit machen wir einen großen Schritt auch zur Umsetzung der Agenda 2030. Und durch einen neu entstehenden Klima-Club gehen wir mit Freunden und Partnern weltweit voran, um das Pariser Klimaabkommen noch schneller und besser umzusetzen. Solche Ansätze sind Pfeiler, die unsere internationale Ordnung stützen, weil sie Ergebnisse liefern, die den Bürgerinnen und Bürgern in all unseren Länder zugutekommen und die sie von den Vereinten Nationen erwarten. „We the Peoples” – „Wir, die Völker” – lauten nicht umsonst die ersten drei Worte unserer Charta. Wohlgemerkt: Sie lauten nicht „Wir, die Mitgliedstaaten“ oder „Wir, die Delegierten“. Unseren Völkern sind wir verpflichtet. Ihnen schulden wir eine Weltordnung, die ihnen ein Leben in Frieden ermöglicht, die ihre Rechte schützt, die ihnen Chancen auf Bildung, Gesundheit und Entwicklung eröffnet. Eine solche Ordnung entsteht nicht von allein. Sie zu verteidigen, weiterzuentwickeln und zu stärken, darin liegt unsere Aufgabe als Vereinte Nationen. Deutschland reicht Ihnen allen dafür die Hand. Vielen Dank!
Kanzler kompakt: Kein Öl aus Russland – was tun wir für sichere Arbeitsplätze in der Raffinerie Schwedt?
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-kompakt-schwedt-wortlaut-2127136
Sat, 17 Sep 2022 10:00:00 +0200
Wirtschaft und Klimaschutz
Der russische Angriffskrieg hat Konsequenzen – nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger in der Ukraine. Auch in Deutschland spüren wir das. Zum Beispiel sind die Gaslieferungen aus Russland plötzlich eingestellt worden. Immerhin: Wir hatten uns lange darauf vorbereitet. Und deshalb können wir jetzt damit umgehen. Das Gleiche machen wir jetzt im Hinblick auf die Öllieferungen aus der Pipeline aus Russland. Das ist wichtig für die Raffineriestandorte in Leuna und Schwedt – vor allem in Schwedt. Und für Schwedt muss viel investiert werden. Wir ertüchtigen die Pipeline aus Rostock, bauen den Hafen dort aus. Mecklenburg-Vorpommern wird davon auch profitieren. Und wir sorgen dafür, dass die Arbeitsplätze gesichert sind, dass die Löhne gesichert werden, auch wenn es Schwierigkeiten gibt. Aber vor allem, dass es eine sichere Ölversorgung gibt, aus Rostock und auch aus Polen. Damit das gelingt, haben wir eine Treuhandverwaltung für Rosneft in Deutschland auf den Weg gebracht. Jetzt können die Zukunftsinvestitionen am Standort stattfinden, aber eben auch im Hinblick auf die Pipeline und die Ölversorgung. Und gleichzeitig ist das eine gute Botschaft in Leuna, in Schwedt, aber auch in Rostock. Wir investieren in die Zukunft und in sichere Arbeitsplätze.
Rede von Kulturstaatsministerin Roth anlässlich der Eröffnung der Ostspange des Humboldt Forums
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-roth-anlaesslich-der-eroeffnung-der-ostspange-des-humboldt-forums-2127080
Fri, 16 Sep 2022 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
− Es gilt das gesprochene Wort − Wer etwas eröffnet, ein neu errichtetes Gebäude, eine neu gegründete Institution, tut das in der Regel mit einem Stoßseufzer: Es ist vollbracht. Das Haus steht, das Dach ist dicht und alles ist an seinem Platz. In unserem Fall ist das ein wenig anders. Wir können sagen, das Haus steht, das Dach ist dicht, aber die Arbeit – im und am Gebäude – sie beginnt jetzt. Nicht, weil bisher nichts getan und geleistet wurde. Es wurde viel getan und Großes geleistet. Doch genau diese Arbeit und alle, die sie getan haben, verlangen danach, sie fortzusetzen. Jetzt wird aus dem Humboldt Forum als Gegenstand von Debatten das Humboldt Forum: ein Ort der Debatten. Das hoffe ich und mit mir alle Verantwortlichen. Jetzt, nach der Eröffnung des Ostflügels, nach dem die Arbeit, die gemeinsam mit unseren internationalen Partner:innen geleistet wurde, auch Ihnen, dem Publikum, als eine Sammlung sichtbar und zugänglich ist, wird aus dem Expertenstreit, der Kontroverse unter Historiker:innen und Kunsthistoriker:innen, Architekturkritiker:innen und Ethnolog:innen, eine öffentliche Debatte – eine weltoffene, grenzüberschreitende Auseinandersetzung mit den Ausstellungsobjekten, mit ihrer Geschichte, mit ihrer Herkunft und Vermittlung und schließlich auch mit der Geschichte des Ortes, an dem wir sie heute sehen. Wir wollen diesen Aufbruch nutzen, um in einem nächsten Schritt auch die internen Organisationsstrukturen dieser Institution weiter zu verbessern und uns im Zuge der Reform der Stiftung Preußischer Kulturbesitz auch das Humboldt Forum als Institution genauer ansehen. Ich glaube, hier kann man zum Wohle aller Beteiligten engere und bessere Formen der Governance finden. Diese Eröffnung ist ein spannender, auch ein spannungsgeladener Moment. Ich bin hierhergekommen als verantwortliche Staatsministerin für Kultur, aber auch als Bürgerin, die überzeugt werden will und die überzeugt werden muss, von der Idee, in einem rekonstruierten Herrschaftsbau des 18. Jahrhunderts eine Kunstsammlung zu präsentieren, die zu Teilen aus kolonialen Kontexten eben dieses Herrscherhauses stammt. Als Kulturstaatsministerin weiß ich aber auch, dass in den vergangenen Jahren viel dafür getan wurde, mich und andere von dieser Idee „in progress“ zu überzeugen, und dieses Haus zu einem Ort der kritischen und vor allem der selbstkritischen Auseinandersetzung mit dem Erbe des Kolonialismus zu machen. Es wurden Antworten gegeben auf Fragen nach der Herkunft der Exponate, nach ihrer Präsentation und nach der Rückgabe an die Nachfahren ihrer rechtmäßigen Besitzer:innen. Aus den Kontroversen um dieses Haus ist manches entstanden. Kunst will genau das. Jede Präsentation von Kunst stellt Fragen. Was gezeigt wird, will nicht nur Staunen und Bewunderung auslösen, es verlangt nach Kritik und Auseinandersetzung. Und auch wie etwas gezeigt wird, ist Gegenstand der Kritik. Reaktionen wie die „Luf-Passion“ von Volker Braun sind Resultate dieser kritischen Auseinandersetzung. Und überaus gelungene dazu. Gefragt sind aber auch unsere Reaktionen, die Reaktion all derer, die in dieses Haus kommen und seine Ausstellungen sehen wollen. Ich weiß, diese Sammlungen haben durchaus nicht alle einen kolonialen Kontext. Aber dass gerade diese Exponate im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, ist nicht etwa ein unglücklicher Umstand. Es ist ein Erbe unserer Vergangenheit. Es ist wichtig und notwendig. Es fordert uns heraus. Was wir künftig in diesem Haus sehen werden, zwingt uns, uns zu diesem Erbe, zu unserer Geschichte zu verhalten. Umso mehr, weil wir nicht nur aufgefordert sind, uns unserer kolonialen Vergangenheit zu stellen, sondern auch ihrer Gegenwart. David van Reybrouk hat uns, den Europäer:innen, beim Internationalen Literaturfestival Berlin eindrucksvoll ins Gewissen geredet. Selbst wenn wir die verhängnisvolle Geschichte des Kolonialismus mustergültig aufgearbeitet hätten, sagt van Reybrouk, hätten wir noch nichts an der dramatischen Art und Weise geändert, mit der wir heute, die Zukunft kolonialisierten, indem wir Ressourcen ausbeuteten, das Klima ruinierten und die Lebensgrundlagen auch und vor allem in den Ländern des globalen Südens zerstörten. Vor wenigen Tagen traf ich beim Treffen der G20-Kulturminister in Indonesien die Kulturministerin Fidschis. Sie berichtete mir mit Tränen in den Augen von der dramatischen Situation der pazifischen Inselstaaten, berichtete vom Verlust von Heimat, wenn Inseln untergehen, vom Verlust von Identität, wenn hunderte Dörfer umgesiedelt werden müssen, wenn Menschen die wie ihre Vorfahren Fischer waren, jetzt Bauern werden müssen. Und dann sagte sie zu mir, retten Sie wenigstens unsere Kinder. Wir haben doch nichts beigetragen zu dieser Überlebenskrise. Ich frage mich: Hätten wir tatsächlich schon vor Jahrzehnten begonnen, uns mit unserer kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen, würden wir uns heute nicht anders verhalten? Wären wir nicht weniger selbstgewiss? Und würden wir nicht weniger selbstverständlich Anspruch auf die Lebensgrundlagen anderer erheben? Ich denke, van Reybrouk hat die Frage, welche Rolle die Vergangenheit bei der Bewältigung der Gegenwart spielt, beantwortet, wenn er sagt, die Menschheit werde den Herausforderungen der Zukunft nur dann begegnen können, wenn die Vergangenheit nicht mehr schmerze. Ob die Erinnerung an die Vergangenheit je wirklich schmerzfrei sein könnte, ist eine andere Debatte. Wichtig ist aber, dass wir lernen, mit diesem Schmerz konstruktiv und in die Zukunft gerichtet umzugehen. Dekolonialisierung bezeichnet eben nicht allein den Ablösungsprozess ehemaliger Kolonien von ihren Kolonialmächten. Die gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen dieses Prozesses wirken nicht nur in den ehemaligen Kolonien selbst. Van Reybrouk versteht Dekolonialisierung als einen Heilungsprozess. Er fordert eine „Entkolonialisierung“ des Geistes. Als globalisierte Gesellschaften, als Menschheit, sind wir alle dazu aufgefordert. Vor einigen Jahrzehnten hätte ich noch anfügen können: oder wir entziehen künftigen Generationen die Lebensgrundlagen. Heute muss ich sagen: oder wir zerstören uns selbst. Volker Braun lässt in seinem Gedichtzyklus „Luf-Passion“ die Bewohner dieser Insel erzählen, was der Beutezug der Kolonialherren ihnen genommen hat. Es ist eine Mahnung auch an uns: Wir liefen den Strand lang, wo sind Unsere Seelen, die uns heilig sind Nämlich auch der Schatten Auf dem Sand ist heilig. Alles was der Mensch Berührt, ist sein Spiegel. „Alles, was der Mensch berührt, ist sein Spiegel.“ Diese Zeile beschreibt alles Große und Schöne des Menschlichen ebenso wie seine Abgründe. Es ist ein Satz, mit dem man durch dieses Haus gehen kann. Ich danke allen, die daran mitgewirkt haben, aus diesem Schloss eine Werkstatt werden zu lassen, eine Universität, ein Museum, ein Veranstaltungs- und Aktionsraum. Sie soll und wird, und sie muss dem demokratischen weltoffenen Austausch und der Begegnung dienen. Ich freue mich, dass u. a. Künstler:innen aus Tansania uns in einer Performance mit tansanischen Masken die eigentliche, spirituelle Rolle dieser Objekte erleben lassen und damit auch, was ihnen verloren gegangen ist. Mein großer Dank geht an alle Anwesenden und nicht Anwesende, die diese Ausstellungen und diesen Tag, diese Eröffnung möglich gemacht haben.
Mit einem Festakt im Schlüterhof wurde der letzte Teilbereich des Humboldt Forums eröffnet. Damit könne die Arbeit jetzt richtig beginnen, sagte Kulturstaatsministerin Roth in Berlin. „Jetzt wird aus dem Humboldt Forum als Gegenstand von Debatten das Humboldt Forum: ein Ort der Debatten.“
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Bundeswehrtagung am 16. September 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-bundeswehrtagung-am-16-september-2022-2127078
Fri, 16 Sep 2022 00:00:00 +0200
Berlin
keine Themen
Sehr geehrte Frau Ministerin, liebe Christine, meine Damen und Herren Staatssekretäre, verehrte Repräsentanten der Militärseelsorge, sehr geehrter Herr Generalinspekteur der Bundeswehr, sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Bundeswehrtagung, „Klartext“ wollen Sie heute von mir hören. Ich könnte es mir jetzt leicht machen und einfach einen Satz aus meiner Rede bei der Münchener Sicherheitskonferenz zitieren, die ich vor dem russischen Angriff auf die Ukraine Mitte Februar gehalten habe. Damals habe ich gesagt: „Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen können, Soldatinnen und Soldaten, die optimal ausgerüstet sind für ihre gefährlichen Aufgaben ‑ das muss ein Land unserer Größe, das besondere Verantwortung trägt in Europa, leisten können. Das schulden wir auch unseren Verbündeten in der NATO.“ – Soweit mein damaliger Satz. Dieser Anspruch gilt ‑ heute erst recht. Es geht um bessere Ausrüstung und Fähigkeiten, um Planbarkeit und Verlässlichkeit, wenn wir miteinander über die Bundeswehr in der Zeitenwende sprechen. Und daher eines gleich vorweg: Eine gut ausgerüstete Bundeswehr, die ihren Auftrag zum Schutz unseres Landes erfüllen kann, ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Dafür stehe ich als Bundeskanzler, und darauf können Sie sich verlassen. Doch mit einer besseren Ausstattung der Bundeswehr allein ist es nicht getan. Eines der hartnäckigsten Missverständnisse meiner Rede zur Zeitenwende ist, dass es dabei allein um mehr Geld ging, um das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Natürlich ist die Einigung auf dieses Sondervermögen - abgesichert durch eine Grundgesetzänderung ‑ ein echter Paradigmenwechsel, weil wir damit das Fundament legen für eine neue Bundeswehr, mit Fähigkeiten auf der Höhe der Zeit. Aber die Chefin des „European Council on Foreign Relations“ hat es vor einigen Tagen auf den Punkt gebracht: „Status quo plus Sondervermögen reicht nicht“. Deshalb ist es wichtig, dass wir heute auch darüber reden, was jenseits dieser Mittel noch hinzukommen muss ‑ seitens der Politik, seitens der Bundeswehr und ‑ das ist mir wichtig ‑ auch seitens unserer Gesellschaft, um unser Land und unser Bündnis sicherer zu machen. Zu einer strategischen Bestandsaufnahme gehört eine ungeschönte Analyse der Ausgangslage. Ich habe Russlands Krieg als Zeitenwende beschrieben, weil er weit über das hinausgeht, was wir an Kriegen und Konflikten seit Ende des Kalten Kriegs in und um Europa erlebt haben. Hier macht eine hochgerüstete Nuklearmacht den Versuch, Grenzen in Europa mit Gewalt neu zu ziehen. Käme Russland damit durch, unser Frieden in Europa wäre auf lange Zeit dahin. Daran kann nur jemand zweifeln, der nicht hört und liest, was Präsident Putin sagt und schreibt. Er will Russland in Europa als imperiale Macht etablieren ‑ und zwar mit den Landkarten des Zarenreichs oder der Sowjetunion im Kopf. Für uns heißt das: Wir müssen uns darauf einstellen, dass Putins Russland sich auf absehbare Zeit in Gegnerschaft zu uns, zur NATO und zur Europäischen Union definiert, die Putin übrigens nie als maßgeblichen politischen Akteur akzeptiert und immer bekämpft hat. Das ist eine ernüchternde Analyse, denkt man an den vor einigen Tagen verstorbenen Michail Gorbatschow und an all die Hoffnungen, die viele von uns mit dem Ende des Kalten Krieges verbanden. Ein früherer deutscher Verteidigungsminister wähnte uns nur noch „von Freunden umzingelt“. Zur Wahrheit gehört: Politik, Wirtschaft und große Teile der Gesellschaft haben ihm diese These nur allzu gern geglaubt und weitreichende Konsequenzen daraus gezogen – falsche Konsequenzen, wie wir heute wissen, besonders wenn wir auf den Zustand der Bundeswehr schauen. Die Klarheit über Russlands Motive ‑ zumindest solange Putin Präsident ist ‑ hat aber noch eine andere Konsequenz: Es gibt keinen Zweifel mehr daran, worauf wir uns einstellen müssen. Von Putins Russland geht ‑ darauf stellen wir uns im Rahmen der NATO ein ‑ derzeit die größte Bedrohung für unser Bündnis aus. Deshalb müssen wir auch sehr genau darauf schauen, über welche Fähigkeiten und Potenziale Russland verfügt. Gefragt ist ein nüchterner Blick auf die Realitäten und Risiken. Lange Zeit hat unser Land ‑ und das schließt die Politik ausdrücklich ein ‑ eine echte Priorisierung der Aufgaben der Bundeswehr vermieden. Brunnen bohren, humanitäre Hilfe absichern, Fluten eindämmen, in Pandemiezeiten beim Impfen helfen ‑ all das kann eine gute Armee wie die Bundeswehr. Unser Land weiß das auch sehr zu schätzen, gerade in jüngster Zeit. Darin besteht aber nicht ihr Kernauftrag. Der Kernauftrag der Bundeswehr ist die Verteidigung der Freiheit in Europa ‑ oder etwas weniger lyrisch ausgedrückt: die Landes- und Bündnisverteidigung. Alles andere leitet sich aus diesem Auftrag ab. Alle anderen Aufgaben haben sich diesem Auftrag unterzuordnen. Das ist mein Anspruch als Bundeskanzler, und daran werde ich mich auch messen lassen. Und weil ich Klartext versprochen habe, füge ich hinzu: Zugleich wünsche ich mir, dass diese Vorgabe auch Ihr Denken und Handeln als militärische Vorgesetzte bestimmt. Bitte denken Sie nicht, dass das mit dem Sondervermögen jetzt nur eine Ausnahme ist und danach alles wieder so wird, wie zuvor. In den vergangenen knapp sieben Monaten seit Russlands Angriff auf die Ukraine ist bereits mehr geschehen als in den Jahren zuvor. Das Sondervermögen ist Realität. Auch meine Aussage, dass wir den Verteidigungshaushalt kontinuierlich auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigern werden, gilt! Damit können Sie planen. Wir haben mit der bisherigen Staatspraxis bei Waffenlieferungen gebrochen und bewiesen: Wir scheuen keine Veränderungen. Dass die Bundeswehr dafür auch auf ihre knappen Bestände zurückgegriffen hat, wo immer das vertretbar war, dafür bin ich auch sehr dankbar. Ich war vor einigen Wochen auf dem Truppenübungsplatz in Putlos. Dort habe ich mir angeschaut, wie die ukrainischen Streitkräfte am Flugabwehrpanzer Gepard ausgebildet werden. Es ist beeindruckend, wie tapfer die Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Land, ihre Freiheit und eben auch unsere europäischen Werte verteidigen. Und wir können stolz sein auf den Beitrag, den wir dazu leisten. Wir haben unsere Rechtsgrundlagen verändert, um Beschaffungen dramatisch zu beschleunigen und Verfahren zu vereinfachen – dafür bin ich der Ministerin sehr dankbar -, denn nur so werden wir die 100 Milliarden Euro schnell und gezielt investieren. Und das erwarten die Bürgerinnen und Bürger ‑ gerade auch angesichts der angespannten Wirtschafts- und Finanzlage ‑ zu Recht von uns. Die Fähigkeitslücken der Bundeswehr sind groß. Aber wir sind dabei, die drängendsten davon sehr schnell zu schließen. Prioritär geht es um Kampfflugzeuge, um schwere Transporthubschrauber, Eurofighter, die Nachfolge für den Schützenpanzer Marder, Korvetten 130 und Fregatten 126. Aber auch den Bestand werden wir schnell und effektiv stärken, um endlich Schluss zu machen mit einer Mangelwirtschaft, die lange als „dynamisches Fähigkeiten-Management“ schöngeredet wurde – jedenfalls wurde mir das berichtet. Munition, Ersatzteile, Instandsetzung ‑ die milliardenschwere Dimension der Herausforderung ist überaus sichtbar. Aber wir sind auf dem richtigen Weg. Schnell umgesteuert haben wir auch in unserem Bündnis. Die NATO hat in den zurückliegenden Monaten bewiesen, dass sie quicklebendig ist. Die enge Abstimmung mit Präsident Biden und seiner Administration war dabei essentiell, und ich bin dafür außerordentlich dankbar. Und ich sage auch dies ganz deutlich: Die NATO bleibt der Garant unserer Sicherheit. In meiner Rede vom 27. Februar im Bundestag habe ich gesagt: Wir werden jeden Quadratmeter des Bündnisgebiets verteidigen. Ich meine das sehr ernst ‑ und das wird auch ernst genommen. Wir haben den SACEUR autorisiert, massiv Truppen anzufordern und zu verlegen. Erstmals überhaupt musste die NATO ihre Verteidigungspläne an der Ostflanke aktivieren. Die Kaltstartfähigkeit wird erhöht. Dazu erhöhen wir die Verlegebereitschaft der NATO Response Force erheblich verkürzt, und wir verkürzen die Zeit beim Einsatz der VJTF, der Einsatzgruppe mit sehr hoher Einsatzbereitschaft, womit wir beweisen, dass der Name Programm ist: schnell, anpassungsfähig, einsatzbereit. Und wir gehen gemeinsam im Bündnis konsequent weiter: Das neue NATO Force Modell stellt uns in der Allianz ab 2025 künftig noch umfangreicher, flexibler und reaktionsfähiger auf. Gerade auch durch den substanziellen deutschen Beitrag von 30. 000 Soldatinnen und Soldaten, 85 Flugzeugen und Schiffen werden die NATO-Reaktionsfähigkeit und Abschreckungswirkung drastisch erhöht. Deutschland hat bei all dem von Beginn an eine wichtige Rolle übernommen ‑ das war mir sehr wichtig. Im Ergebnis stehen Hunderte von deutschen Soldatinnen und Soldaten im Baltikum, in Rumänien, in der Slowakei. Unsere Marine und Luftwaffe patrouillieren verstärkt in der Ostsee und im östlichen Mittelmeer. Das ist mehr als eine Rückversicherung gegenüber unseren östlichen Alliierten. Es geht um unsere Sicherheit, die von der Sicherheit unserer Bündnispartner nicht zu trennen ist. Und zugleich machen wir glaubhaft klar: Deutschland ist bereit, an führender Stelle Verantwortung zu übernehmen für die Sicherheit unseres Kontinents. Als bevölkerungsreichste Nation mit der größten Wirtschaftskraft und Land in der Mitte des Kontinents muss unsere Armee zum Grundpfeiler der konventionellen Verteidigung in Europa werden, zur am besten ausgestatteten Streitkraft in Europa. Das ist das Ziel ‑ und dass unsere europäischen Freunde und Partner dieses Ziel nicht als Bedrohung empfinden, sondern im Gegenteil als Zusicherung und Versprechen, sollte uns Ansporn sein. Die ersten Schritte habe ich gerade skizziert. Weitere stehen an. Im kommenden Jahr wird Deutschland die Führung der VJTF übernehmen. Die Zeiten dafür könnten kaum herausfordernder sein. Ich weiß, welch eine Herkulesaufgabe das für die Bundeswehr und ihre Soldatinnen und Soldaten sein wird ‑ gerade weil wir mit solchen Defiziten bei der Ausrüstung zu kämpfen haben, gerade weil wir derzeit vieles gleichzeitig wieder in Gang bringen. Aber ich weiß auch: Die Frauen und Männer der Bundeswehr, Sie alle, kriegen das hin, mit der Rückendeckung der politisch Verantwortlichen. Das haben Sie übrigens in den sieben Monaten seit Kriegsbeginn bewiesen, in denen Sie und Ihre Kameradinnen und Kameraden überall ‑ ob an der Ostflanke, bei der Ausbildung ukrainischer Soldaten, bei der Erhöhung der Einsatzbereitschaft, bei der Abgabe und der Neubeschaffung von Material, bei der Erarbeitung neuer Regeln und Konzepte – allerhöchste Verantwortung und größte Einsatzbereitschaft gezeigt haben. Und ich möchte Sie bitten: Geben Sie meine Anerkennung und meinen Dank dafür auch an die Truppe weiter! Meine Damen und Herren, Zeitenwende ‑ das heißt Abschied zu nehmen von alten Gewissheiten. Das heißt umzudenken, auch strategisch. Innerhalb der NATO haben wir das beim Gipfel in Madrid und mit dem neuen Strategischen Konzept getan. Unsere Kampfkraft und Einsatzbereitschaft werden deutlich erhöht. Die östliche Flanke wird gestärkt. Deutschlands Bereitschaft, an entscheidender Stelle dazu beizutragen, habe ich eben skizziert. Auch die Europäische Union hat sich mit ihrem Strategischen Kompass klarer und geschlossener aufgestellt. Daraus ergibt sich für mich eine Arbeitsteilung, mit der wir Europas Sicherheit auf Dauer stärken. Die NATO bleibt zuständig für die kollektive Verteidigung des gesamten Bündnisgebietes mit Schwerpunkt Europa. Glaubhafte Abschreckung bleibt dabei das Kernelement. Wir Europäer aber müssen innerhalb der NATO deutlich mehr Verantwortung übernehmen. Dass mit Finnland und Schweden bald zwei europäische Staaten der NATO beitreten, die über moderne und fähige Armeen verfügen, ist also hochwillkommen. Aber Europas künftige Rolle geht darüber hinaus. Einige meiner Ideen für eine europäische Verteidigungskooperation habe ich vor ein paar Wochen an der Karlsuniversität in Prag skizziert. Ein europäisches Hauptquartier gehört dazu, das Einsätze führen kann ‑ sei es eine Evakuierung unserer Staatsangehörigen, wie letztes Jahr in Afghanistan, sei es eine europäische Beratungs- oder Ausbildungsmission wie im Irak, in Mali oder in Niger. Dazu gehört auch die Nutzung der schon bestehenden Möglichkeiten in den EU-Verträgen, Einsätze einer Gruppe von Mitgliedsstaaten anzuvertrauen, einer „Koalition der Entschlossenen“. Das vielleicht drängendste Problem in Europa aber ist die völlig unübersichtliche Zahl an Waffensystemen und Rüstungsgütern und die Konkurrenz unterschiedlicher Rüstungsunternehmen. Nur der koordinierte Aufwuchs europäischer Fähigkeiten führt zu einem handlungsfähigen Europa. Mir ist hier insbesondere der Bereich der Luftverteidigung wichtig ‑ europäisch koordiniert und als Beitrag zur Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO. Die Herausforderungen sind groß und ich bin mir der Zielkonflikte bewusst. Dennoch zeigen uns bestehende Kooperationen, dass gemeinsame europäische Rüstung möglich ist. Es gibt dazu bei neuen komplexen Systemen oft auch kaum andere Möglichkeiten. Als ich in Prag die Organisation zum Management von gemeinsamen Rüstungsvorhaben erwähnt habe, hat sich mancher wohl gedacht: Wovon redet der jetzt eigentlich? Dabei bin ich überzeugt: Diese Organisation hat das Zeug dazu, zum Nukleus einer europäischen Zusammenarbeit in Rüstungsfragen zu werden, wenn ‑ und das ist die Voraussetzung ‑ wir, die Mitgliedsstaaten, es schaffen, unsere nationalen Vorbehalte und Regularien zu überprüfen, was die Nutzung und den Export gemeinsam hergestellter Systeme angeht. Manchen mag das vielleicht überraschen ‑ aber die Bundesregierung ist dazu bereit. Nicht nur in der NATO und der EU haben wir uns strategisch neu aufgestellt. Auch national arbeiten wir daran. Auf der Kabinettsklausur Ende August in Meseberg haben wir intensiv darüber diskutiert. Und klar ist: Unsere Nationale Sicherheitsstrategie wird die Lektionen der Zeitenwende berücksichtigen ‑ Landes- und Bündnisverteidigung first, sozusagen. Klar ist aber auch: Die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts gehen über offene kriegerische Auseinandersetzungen, wie sie gerade in der Ukraine stattfinden, weit hinaus. Wir erleben doch zum Beispiel gerade, wie sehr unsere Anhängigkeit von russischer Energie auch zu einem Sicherheitsproblem geworden ist. Es hat die Bundesregierung viele Anstrengungen und unglaublich weitreichende Entscheidungen gekostet, dass wir jetzt, vor dem Winter sagen können: Wir kommen wohl durch. Wären wir hier ohne Maßnahmen herangegangen, würden wir jetzt ganz andere Probleme diskutieren. Ich könnte weitere Beispiele nennen: Asymmetrische Bedrohungen wie Cyber-Angriffe zählen dazu, die einseitige Abhängigkeit von wichtigen Rohstoffen oder von nur einem Handelspartner, mangelnde eigene Fähigkeiten, wenn es um strategisch wichtige Hochtechnologien oder um Fähigkeiten im Weltraum geht. In diesen Bereichen lassen sich innere und äußere Sicherheit nicht mehr deutlich trennen, sondern müssen zusammen gedacht werden ‑ auch im europäischen Kontext. Und zugleich entsteht Sicherheit auch, indem wir von Krisen und Konflikten bedrohte Länder stabilisieren ‑ mit zivilen Mitteln und wenn nötig auch mit einem militärischen Beitrag. In allen diesen Bereichen kann und muss die Bundeswehr eine Rolle spielen. Zugleich geht dieses Verständnis von Sicherheit weit über das Aufgabenspektrum der Bundeswehr oder sogar die Aufgaben der klassischen Sicherheitsressorts hinaus. Wir müssen Sicherheit im 21. Jahrhundert viel umfassender denken. Deshalb wird die neue Nationale Sicherheitsstrategie einen integrierten Ansatz für unsere Sicherheitspolitik vorgeben und alle Akteure in die Pflicht nehmen ‑ staatliche und private ‑, die dazu beitragen können. Meine Damen und Herren, ein letzter Punkt ist mir wichtig. Kürzlich hat die Süddeutsche Zeitung geschrieben: „Diese Nation ist nicht wehrhaft, schon alleine deswegen nicht, weil sie sich nicht wehrhaft fühlt.“ Wir sind gerade dabei, das Fundament zu legen für eine neue Bundeswehr, und wir alle wissen: Fakten entfalten normative Kraft. Aber wir wissen auch, dass noch etwas Entscheidendes hinzukommen muss: Ein verändertes Denken ‑ und zwar auf allen Ebenen in der Bundeswehr, gepaart mit Zutrauen und Risikobereitschaft. Ohne Sie ist das beste Material nichts! Deshalb möchte ich Sie als militärische und zivile Vorgesetzte bitten: Tragen Sie den Geist des Aufbruchs und der Veränderung auch in die Truppe! Leben Sie ihn vor! In der Zeitenwende zählen pragmatisches Denken und innovative Lösungen. Das setzt die Bereitschaft voraus, Liebgewonnenes aufzugeben, selbstbewusst neue Wege zu gehen und eine Fehlertoleranz vorzuleben, die Entscheidungsfreude belohnt. Nichts ist unverrückbar: Diskutieren Sie ergebnisoffen und mutig ‑ und handeln Sie, wenn Sie Verbesserungsbedarf sehen! Sie haben meine ‑ und ich weiß: auch Christine Lambrechts ‑ politische Rückendeckung für mutige Entscheidungen. Und was für eine demokratische Armee wie die Bundeswehr vielleicht noch wichtiger ist: Sie haben auch den Rückhalt der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Wo immer ich in diesen Tagen unterwegs bin im Land: Kaum jemand kritisiert das Sondervermögen oder die neue Rolle der Bundeswehr bei der Bündnisverteidigung. Was ich wahrnehme, ist ein großes Maß an Rückhalt und Vertrauen in die Männer und Frauen der Bundeswehr und allenfalls die Frage „Warum passiert all das erst jetzt?“. Die Bundeswehr ist wieder dorthin gerückt, wo sie hingehört: in die Mitte unseres Landes. Das ist ein Glück für unser Land und für unsere Sicherheit. Ich hoffe, das war Klartext genug, zumindest für den Anfang. Und falls nicht, freue ich mich auf Ihre Fragen, Ihre Anregungen und auf unsere Diskussion. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Festveranstaltung „70 Jahre Luxemburger Abkommen“ am 15. September 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-festveranstaltung-70-jahre-luxemburger-abkommen-am-15-september-2022-in-berlin-2126608
Thu, 15 Sep 2022 11:20:00 +0200
Berlin
keine Themen
Sehr geehrte Frau Berg, sehr geehrte Frau Ministerin Cohen, sehr geehrter Herr Bundesminister Lindner, lieber Christian, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Claims Conference, sehr geehrte Damen und Herren, wir feiern heute das 70. Jubiläum des Luxemburger Abkommens. Vielen Dank, liebe Frau Berg, dass Sie uns für dieses Jubiläum Ihr Haus geöffnet haben. Dass es im Jahr 1952, gerade einmal sieben Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, zu diesem Vertragsabschluss kam, erscheint auch heute noch als ein Wunder. Moralisch war Deutschland durch das Menschheitsverbrechen der Shoah zu tief gesunken, als dass man auf eine Verständigung mit Israel und der Claims Conference hoffen durfte. Viele Deutsche hatten die Nazi-Herrschaft aktiv unterstützt und bei den Verbrechen mitgewirkt. Andere verschlossen nur allzu bereitwillig die Augen vor den Gräueltaten und dem millionenfachen Mord an den Juden Europas – und hielten sie auch weiterhin verschlossen. Auf der anderen Seite stand Israel, das Land der Überlebenden, in dem jede Familie, jede Frau, jedes Kind und jeder Mann Opfer zu beklagen hatte – Opfer deutscher Gewalt und deutschen Rassenwahns. In den ersten Jahren war in jedem israelischen Pass zu lesen: „Dieser Pass ist gültig für alle Länder – mit Ausnahme von Deutschland“. Verständlicherweise wollte der junge Staat Israel nichts zu tun haben mit dem „Land der Mörder“. So war damals die Ausgangslage für das Luxemburger Abkommen. Dass es dennoch zustande kam, ist insbesondere zwei herausragenden Staatsmännern zu verdanken: David Ben-Gurion, dem ersten israelischen Ministerpräsidenten, und Konrad Adenauer, dem ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. „Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist“ – so soll David Ben-Gurion einmal gesagt haben, erinnert sich sein Enkelsohn Yariv Ben-Elieser. Sein Großvater sei solch ein Realist gewesen, der aber gleichzeitig wusste, „dass man auf Wunder nicht warten darf, sondern dass man ihre Erfüllung nach allen Kräften fördern und fordern muss“. In Konrad Adenauer fand er ein Gegenüber, ausgestattet mit Pragmatismus und dem klaren Bewusstsein für die Tiefe deutscher Schuld, der gleichfalls bereit war, das Undenkbare zu denken: dass eine Annäherung zwischen beiden Ländern möglich sei. Für die Größe, den Mut und die Weitsicht, die beide damals bewiesen, bin ich zutiefst dankbar. Am 10. September 1952 unterzeichneten Israel, die Claims Conference und die Bundesrepublik Deutschland im Luxemburger Rathaus das Abkommen und die Haager Protokolle. Der formelle Akt dauerte gerade einmal 13 Minuten – 13 Minuten, die gewissermaßen zum zweiten Gründungsakt der Bundesrepublik wurden, zum moralischen Fundament unserer freiheitlichen Demokratie. Dabei war allen Beteiligten klar: Dieses Abkommen konnte die schwere Schuld nicht abtragen, die Deutsche auf sich geladen hatten. Das Luxemburger Abkommen war vielmehr der Versuch, moralische Verantwortung zu übernehmen für das Versagen der Moral. Der Versuch, dafür zu sorgen, dass nicht die Unmenschlichkeit das letzte Wort hat, sondern die Menschlichkeit. Und es war der Versuch, dem materiellen Schaden und dem beispiellosen Raub an der jüdischen Gemeinschaft etwas entgegenzusetzen. Mit dem Luxemburger Abkommen wurden das Leid und die Verbrechen am jüdischen Volk erstmals anerkannt. Für die junge Bundesrepublik war es der erste bilaterale Vertrag überhaupt – und zwingende Voraussetzung für die Rückkehr in den Kreis der zivilisierten Staaten. Vor allem aber war es der erste große Meilenstein für die besonderen israelisch-deutschen Beziehungen und der Grundstein, auf dem unsere beiden Länder in sieben Jahrzehnten eine vertrauensvolle Partnerschaft aufbauen konnten. Diesen gemeinsamen Weg haben die Claims Conference und in den Anfangsjahren vor allem Nahum Goldmann entscheidend mitgestaltet. Ihrer Arbeit ist es zu verdanken, dass die Überlebenden der Shoah Hilfe und Unterstützung bekamen, die dringend gebraucht wurde – und die auch heute noch dringend gebraucht wird. Dafür möchte ich mich bei Ihnen im Namen der Bundesregierung und unseres Landes bedanken. Meine Damen und Herren, der Holocaust, die systematische Verfolgung und kaltblütige Ermordung der Jüdinnen und Juden Europas durch Deutsche, ist das schwärzeste Kapitel der Geschichte unseres Landes, ja, der Menschheitsgeschichte. Seine Singularität verbietet jede Relativierung und jeden Vergleich. Wer den Holocaust infrage stellt, wer falsche Vergleiche anstellt, der verharmlost und verfälscht Geschichte, der verhöhnt die Opfer, der schürt Hass und Gewalt. Deswegen werden wir das niemals hinnehmen. Und deswegen stellen wir uns unserer historischen Verantwortung, heute und in der Zukunft. In dieser Hinsicht dürfen wir es uns nicht „bequem“ machen oder „billig“. So hat es Bundespräsident Theodor Heuss bereits vor den Verhandlungen zum Luxemburger Abkommen mehrfach betont, und ich zitiere ihn: „Wir dürfen nicht vergessen: die Nürnberger Gesetze, den Judenstern, die Synagogenbrände, den Abtransport von jüdischen Menschen in die Fremde, in das Unglück, in den Tod. Das sind Tatbestände, die wir nicht vergessen sollen, die wir nicht vergessen dürfen, weil wir es uns nicht bequem machen dürfen.“ „Und wer möchte die Unverfrorenheit besitzen, jüdischen Menschen zu sagen: ‚Vergesst das doch!‘ So billig, das Wort im moralischen wie im materiellen Sinn, wird Hitlers Hinterlassenschaft nicht beglichen.“ Soweit das Zitat. Das Leid von sechs Millionen unschuldig ermordeten Jüdinnen und Juden wird nicht vergessen. Genauso wenig das Leid der Überlebenden, die ihrer Familien und Lieben, ihrer Heimat, ihres Erbes und ihrer Zukunft beraubt wurden und ein Leben lang die traumatischen Erfahrungen in Leib und Seele mit sich tragen mussten. Deswegen ist es der Bundesregierung heute und in Zukunft ein Anliegen, die laufenden Entschädigungsleistungen für die heute hochbetagten Holocaust-Überlebenden sicherzustellen und zu prüfen, was nötig ist, damit sie den Lebensabend in Würde verbringen können. Das gilt auch für die Fürsorgeleistungen, die finanzielle Unterstützung für die Pflege der Überlebenden, denn wir wissen, dass Fürsorgeleistungen der Homecare-Vereinbarung für viele Holocaust-Überlebende lebenssichernd sind. Deshalb bemühen wir uns, dass möglichst viele diese Leistungen erhalten können. Es schmerzt uns, dass viele NS-Opfer heute im Alter unter schwierigen Umständen, ja in Armut leben. Wir werden dies und auch mögliche Spielräume zur Abmilderung der Folgen bei den Verhandlungen weiterhin im Blick haben. Natürlich ist uns auch die Zusammenarbeit in der Zukunft wichtig. Das gilt umso mehr, als dass immer weniger Zeitzeugen ihre Erinnerungen mit uns teilen können. Zugleich steigt der Bedarf an historischer Erinnerung und politischer Bildung in unserer Gesellschaft, in der immer mehr Bürgerinnen und Bürger mit unterschiedlichen kulturellen Wurzeln leben. Daher ist gerade die Holocaust-Erziehung für uns von entscheidender Bedeutung – insbesondere eine, die auch die Stimmen der Opfer und ihrer Vertreter mit einschließt. Die Bundesregierung unterstützt dabei die Claims Conference in ihrem weltweiten Engagement. Meine Damen und Herren, mit dem Luxemburger Abkommen feiern wir heute ein Wunder. Bei allem, was wir auch in diesen Tagen und Wochen in der Welt erleben, allem voran dem grausamen Krieg in der Ukraine, macht das Mut. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Festakts beim GdP-Bundeskongress am 14. September 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-festakts-beim-gdp-bundeskongress-am-14-september-2022-in-berlin-2126218
Wed, 14 Sep 2022 00:00:00 +0200
Berlin
Es sind ja schon alle begrüßt worden, ich mache es deshalb kurz: Sehr geehrter Herr Kopelke, sehr geehrter Herr Malchow, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es schon gehört: Die Wahl des heutigen Tags für den Festakt der GdP soll eher zufällig zustande gekommen sein. Es war aber trotzdem eine ganz spezielle Wahl; denn – das ist das, was wir schon gehört haben – heute vor 72 Jahren wurde die Gewerkschaft der Polizei gegründet. Neu war damals, dass alle Polizeibeschäftigten – also Polizisten, Verwaltungsbeamte, Tarifbeschäftigte und auch Beamte des Zolls – der GdP beitreten konnten. Das war eine weitsichtige Entscheidung. So sind aus anfänglich 42 500 Mitgliedern mittlerweile fast 200 000 geworden, Tendenz steigend. Das zeigt: Die GdP ist attraktiv. Das zeigt aber sicherlich noch etwas: Die GdP hat es vermocht, auf der Höhe der Zeit zu sein – und hat auch noch viele aktuelle Forderungen, wie wir eben gehört haben. Eine bürgernahe, zivile Polizei, das war so etwas wie der Leitstern Ihrer fast zehnjährigen Zeit an der Spitze der GdP, lieber Oliver Malchow. Wenn man sich anschaut, welch großer Respekt, welch hohe Anerkennung die Polizei bei den Bürgerinnen und Bürgern genießt, dann kann man nur sagen: „mission accomplished“. In Umfragen sagen konstant über 80 Prozent der Bevölkerung, dass sie Vertrauen in die Polizei haben. Daraus spricht eine große Anerkennung für Ihre Arbeit, für die Bürgernähe der Polizei – und dafür möchte ich herzlich danken! Am Montag haben Sie, die Delegierten des Bundeskongresses, Ihren neuen Vorstand gewählt, mit vielen neuen und – aus meiner Perspektive darf ich das sagen – vielen jüngeren Gesichtern. Damit, bin ich bei Ihnen, lieber Jochen Kopelke: Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zur Wahl zum Vorsitzenden! Die GdP als größte Polizeigewerkschaft in Deutschland und Europa zu führen, und das in diesen Zeiten, ist Ehre und Herausforderung zugleich. Dafür wünsche ich Ihnen und der gesamten Führungsmannschaft der GdP viel Kraft und eine glückliche Hand, neuen Mut und frische Impulse! In einem Interview haben Sie einmal gesagt „Geschlossenheit macht stark“, aber man müsse dabei auch aufgeschlossen bleiben. Damit bleiben Sie der Tradition treu, die GdP immer wieder auf der Höhe der Zeit zu verorten. Ich glaube, das ist die richtige Herangehensweise, um die GdP auch für die Zukunft aufzustellen: Mit Geschlossenheit, Teamplay und gegenseitiger Unterstützung innerhalb der Organisation, damit die GdP auch weiterhin mit starker Stimme für ihre Mitglieder spricht. Und mit Aufgeschlossenheit und dem Blick nach vorn – gerade bei Themen wie Digitalisierung, moderne Ausstattung und Krisenresilienz der Polizei, die Ihnen besonders am Herzen liegen. Das ist wichtig, denn wir leben in herausfordernden, aufreibenden, aufwühlenden Zeiten, in Zeiten globaler Umbrüche und Krisen – Krisen, die Sie als Polizistinnen und Polizisten auf ganz besondere Weise fordern. Ich denke etwa an die Corona-Pandemie und die Proteste gegen unsere Schutzmaßnahmen, die Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen massiv gefordert haben. Ihre Geduld – ich möchte fast sagen: Ihre heroische Gelassenheit – habe ich in solchen Situationen immer wieder beobachtet und auch bewundert. Dank guter Impfstoffe, antiviraler Medikamente und einer verbesserten Datengrundlage mit Blick auf das Pandemiegeschehen können wir etwas gelassener in diesen Herbst und Winter gehen. Zugleich kann ich Ihnen heute leider nicht versprechen, dass Ihre Arbeit in den nächsten Jahren weniger fordernd wird. Da ist der Klimawandel, der Überschwemmungen wie vergangenes Jahr in Nordrhein-Westphalen und Rheinland-Pfalz oder Waldbrände, wie wir sie diesen Sommer erlebt haben, wahrscheinlicher macht. Darauf stellen wir uns ein – zum einen, was die Vorbereitung auf solche Katastrophen angeht; zum anderen aber auch durch eine bessere Ausstattung unserer Polizei. Erst vor kurzem haben wir daher eines der größten Beschaffungsprojekte auf den Weg gebracht, das die Bundespolizei je umsetzen konnte. Wir beschaffen bis zu 44 neue Transporthubschrauber. Damit kann die Bundespolizei in Einsätzen künftig noch schneller, noch mobiler agieren, und vor allem technisch auf der Höhe der Zeit. Uns alle besorgt und bestürzt nicht zuletzt der brutale Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt. Tausende unschuldige Ukrainerinnen und Ukrainer haben ihn bereits mit dem Leben bezahlt, noch viele mehr haben ihr Hab und Gut, ihre Heimat oder ihre Liebsten verloren. Das sollten wir uns immer vor Augen halten, wenn wir über die Folgen des Krieges sprechen, die auch unser Land treffen. Ich kann verstehen, dass viele Bürgerinnen und Bürger sich große Sorgen machen, wenn sie auf die stark gestiegenen Preise für Strom, Gas oder Lebensmittel blicken. Deshalb entlasten wir die Bürgerinnen und Bürger und unsere Unternehmen ganz massiv – alle Entlastungsbeschlüsse zusammen haben einen Umfang von 95 Milliarden Euro. „You’ll never walk alone“ habe ich gesagt – niemand muss allein durch diese Krise kommen –, und dazu stehe ich auch. Wenn wir zusammenstehen, kommen wir auch durch diese Krise. Das ist meine Botschaft auch an diejenigen, die unzufrieden sind und diese Unzufriedenheit öffentlich äußern. Friedlich seine Meinung zu äußern – das ist eines der wichtigsten Rechte in unserer Demokratie. Aber immer häufiger erleben wir, dass Kundgebungen von Extremisten gekapert werden; dass verfassungsfeindliche Parolen gebrüllt werden; dass friedlicher Protest in Gewalt umschlägt, so wie bei mancher Querdenker-Demo und manchem Protest gegen Corona-Schutzmaßnahmen. Dieser Missbrauch des Versammlungsrechts kann von uns nicht hingenommen werden. Unsere Demokratie ist wehrhaft. Daran sollte niemand zweifeln. Denn ohne innere Sicherheit kann es keine freie und offene Gesellschaft geben. Wenn wir wollen, dass die Bürgerinnen und Bürgerinnen bei uns im Land Recht und Gesetz akzeptieren, dann müssen Recht und Gesetz auch durchgesetzt werden. Ich bin der GdP zutiefst dankbar dafür, dass auch sie immer klar und in aller Deutlichkeit Stellung bezogen hat gegen alle Formen von Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Danke dafür! Und noch etwas nehmen wir nicht hin, meine Damen und Herren: Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten. Sie sind es, die unsere Freiheit und unsere Sicherheit verteidigen. Dafür schulden wir Ihnen Respekt und Rückendeckung. 89 000 Polizistinnen und Polizisten wurden allein im vergangenen Jahr in der Polizeilichen Kriminalstatistik als Opfer registriert. Das ist eine nicht hinnehmbare und eine völlig inakzeptable Zahl. Unsere Gedanken sind deshalb heute ganz besonders bei der 24 Jahre alten Polizeianwärterin und ihrem 29 Jahre jungen Kollegen aus Kusel in Rheinland-Pfalz, die am 31. Januar dieses Jahres bei einer Routine-Verkehrskontrolle kaltblütig ermordet wurden. Wir trauern mit den Freunden und Angehörigen der beiden, aber auch mit ihren Kolleginnen und Kollegen vor Ort. Wer Polizistinnen und Polizisten angreift – ob mit Worten oder gar mit physischer Gewalt, ob auf der Straße oder im Internet – der muss hart bestraft werden. Jede Straftat gegen eine Polizistin oder einen Polizisten muss ermittelt, konsequent zur Anzeige gebracht und strafrechtlich nachdrücklich geahndet werden. Ich bin froh – darum haben wir auch gekämpft, lieber Oliver Malchow –, dass es gesetzgeberische Fortschritte gegeben hat, die die strafrechtlichen Handlungsmöglichkeiten des Staates ausgeweitet haben. Das war richtig, und das bleibt richtig! Ich habe am Anfang die Umfragen schon erwähnt, die den großen Respekt zeigen, den die Arbeit der Polizei bei der weit überwiegenden Zahl der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes genießt. Dieser Respekt – das ist mir wichtig – muss sich auch in besseren Arbeitsbedingungen für unsere Polizistinnen und Polizisten niederschlagen. Wenn ich mit Ihren Kolleginnen und Kollegen spreche, dann spüre ich oft Zufriedenheit und Stolz auf einen Beruf, der für Sicherheit und Zusammenhalt sorgt, der gebraucht und der geschätzt wird. Und zugleich kenne ich die vielen Berichte über Endlos-Arbeitstage, Überstundenberge, unbesetzte Stellen und Schichtarbeit als Dauerzustand. Otto Schily hat mal gesagt: „Über Sicherheit redet man nicht, Sicherheit macht man.“ So ist es wohl. Einen starken Staat, in dem alle Bürgerinnen und Bürger sicher und in Freiheit leben können, kann es nur mit einer starken und durchsetzungsfähigen Polizei geben. Denn es sind unsere Polizistinnen und Polizisten, die unsere freiheitliche demokratische Grundordnung gegen ihre Feinde verteidigen und dafür sorgen, dass sich die Menschen auf der Straße sicher fühlen. Deshalb sage ich: Eine leistungsstarke Polizei braucht in allererster Linie genügend gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In den letzten Jahren haben wir beim Bund rund 14 000 und bei den Polizeien der Länder fast 19 000 neue Stellen geschaffen. Damit haben wir unsere Ziele aus dem „Pakt für den Rechtsstaat“ sogar noch übertroffen. Aber dabei bleiben wir nicht stehen. Im Haushalt und in der Finanzplanung für die kommenden Jahre haben wir weitere Mittel für den Personalaufwuchs bereitgestellt, und das ist auch richtig so. Klar ist natürlich: Neue Stellen sind noch keine neuen Polizistinnen und Polizisten, und bei den vielen unbesetzten Stellen in unserem Land muss auch die Polizei Personal erstmal finden, ausbilden und natürlich bei der Stange halten. Deshalb sorgen wir erstens für attraktivere Arbeitsbedingungen, sowohl, was die persönliche Ausstattung, als auch, was die Ausgestaltung des Arbeitsplatzes mit modernster Technik und Fahrzeugen betrifft. Da werden wir sicherlich noch viel zu reden haben! Dazu gehören auch vernünftige Rahmenbedingungen – rechtlich genauso wie auch beim Personal und bei den technischen Voraussetzungen –, damit effektive Ermittlungsarbeit auch im Internet möglich ist. Im Jahr 2022 muss es egal sein, ob ein Verbrechen im Cyberraum oder auf unseren Straßen, Plätzen oder Bahnhöfen begangen wird. Das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Auch dort gelten Regeln, und sie müssen konsequent durchgesetzt werden. Deshalb investieren wir weiter in die digitalen Fähigkeiten der Polizei. Auch das Bundespolizeigesetz werden wir an die Anforderungen des Digitalzeitalters anpassen, schließlich eröffnet die Digitalisierung auch riesige Chancen für eine effizientere Polizeiarbeit. Zweitens. Die Arbeit der Polizei ist keine Arbeit wie jede andere. Sie ist nervenaufreibend, oft – das dürfen wir nie vergessen – auch mit persönlichen Risiken verbunden. Das muss daher auch mit einer anständigen Entlohnung verbunden sein. Ein Baustein dabei ist die Ruhegehaltsfähigkeit der Polizeizulage. Deshalb steht in dem Vertrag, der zur Bildung der von mir geführten Regierung beigetragen hat – man nennt das Koalitionsvertrag –, diese wieder einzuführen. Die zuständigen Ressorts sind dazu in Gesprächen, wie alle mitbekommen haben, aber wir werden das schon machen. Auch bessere Aufstiegsperspektiven für besonders qualifizierte Kolleginnen und Kollegen gehören hierher, Stichwort: größere Durchlässigkeit der Laufbahnen. Drittens brauchten wir Regelungen für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, insbesondere bei Schichtarbeit, Nacht-, Wochenend- und Feiertagsdienst, damit aus Belastung keine Überlastung wird. Arbeit darf nicht krank machen. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber leider nicht immer die Realität im polizeilichen Alltag. Deshalb will ich die GdP ermutigen, an diesem Thema weiter dranzubleiben und zusammen mit uns für Verbesserungen zu sorgen. Meine Damen und Herren, die Zeiten, in denen wir leben, mögen aufreibend sein und fordernd. Das lässt einen manchmal vielleicht vergessen, welch ein Glück es ist, in einem der sichersten Länder der Welt zu leben. Die Zahl der Straftaten in der Polizeilichen Kriminalstatistik ist seit Jahren rückläufig. Im vergangenen Jahr ist sie auf den niedrigsten Wert seit Beginn ihrer Erfassung in der heutigen Form gesunken. Das, meine Damen und Herren, ist Ihr Verdienst! Das ist ein Ausweis der großartigen Arbeit, die Sie als GdP und die Ihre Kolleginnen und Kollegen im ganzen Land Tag für Tag leisten. Für unsere Sicherheit nehmen Sie viel in Kauf. Dafür haben Sie unser aller volle Unterstützung verdient. Meine volle Unterstützung haben Sie! Vielen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz beim G7-Ministertreffen zur nachhaltigen Stadtentwicklung am 13. September 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-g7-ministertreffen-zur-nachhaltigen-stadtentwicklung-am-13-september-2022-2125502
Tue, 13 Sep 2022 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Potsdam
Verehrte Herr Minister für Stadtentwicklung, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Klara Geywitz, ich bin sehr froh, dass ich heute hier sein kann. Das ist natürlich ein besonderer Ort, auch deshalb, weil ich in dieser Stadt wohne und das der Wahlkreis ist, den ich im Deutschen Bundestag vertrete. Daher ist das für mich etwas ganz Besonderes, dass diese Veranstaltung hier stattfindet. Wir befinden uns hier in einer dynamischen Stadt mit viel Entwicklung, die in den letzten Jahren stattgefunden hat. Ich glaube, ein bisschen haben Sie das schon gesehen und bewundern können. Sie hat eine ganz eigene Tradition, die ein bisschen anders ist als die, die ich schon einmal hatte, als ich Bürgermeister in Hamburg war. Das ist eine sehr republikanische Stadt. Hier war der preußische König. Trotzdem: Nun ist hier demokratisches Regieren angesagt. Ich würde natürlich gern dabei bleiben, wenn Sie weiter diskutieren. Stadtentwicklung ist etwas, was mich seit vielen Jahren beschäftigt und bewegt. Frau Geywitz hat es eben schon gesagt. In meiner Zeit als Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg war das eine der ganz großen Fragen: Wie entwickeln sich die Städte? Und was können wir eigentlich dafür tun, dass sie für alle ein guter Ort sind und sich alle zum Beispiel auch das Wohnen in diesen Städten leisten können? Das Motto, unter das wir in Deutschland das Jahr unserer G7-Präsidentschaft gestellt haben, lautet ja: „Fortschritt für eine gerechte Welt“. Aus meiner Sicht ist deshalb vollkommen klar: Wenn wir dem Anspruch gemeinsam gerecht werden wollen, dann gehören die Städte ganz oben auf unsere Agenda, und zwar nicht nur, weil mittlerweile mehr als die Hälfte aller Menschen auf der Welt in Städten lebt, sondern auch, weil Städte schon immer die Orte waren, in denen diejenigen zusammenkamen, die etwas Neues schaffen wollten. In Städten wurden die großen Erfindungen gemacht. Das gilt von der athenischen Demokratie angefangen bis hin zu den modernsten Technologien. Darum ist es ganz falsch – zumindest ein wenig irreführend –, wenn heute im Zusammenhang mit Städten regelmäßig über Probleme gesprochen wird, ob Wohnungsnot, verstopfte Straßen, Umweltbelastung oder soziale Konflikte. Natürlich, das gibt es alles. Für alle diese Herausforderungen brauchen wir Ideen, Konzepte und auch Lösungen. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt: Diese Ideen, Konzepte und Lösungen erwachsen gerade aus den Städten selbst. Wo viele Bürgerinnen und Bürger zusammenleben, da entstehen nicht nur Probleme, sondern erst recht auch Lösungen. Gerade Städte sind insoweit immer wieder Laboratorien für das Neue. Hier schaffen Kultur und Wissenschaft neue Erkenntnisse. Hier entstehen aus Mut und Intelligenz neue Unternehmen und neue Jobs. Hier wollen viele Bürgerinnen und Bürger leben, weil sie gerade hier viel Lebenssinn und gute Lebensperspektiven finden. Darum haben Städte weltweit Zukunft, und zwar auch große und sehr große Städte. Ja, sie können so wachsen, dass Wohlstand und Lebensqualität, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft davon profitieren. Das ist möglich. Die Bedingungen dafür zu schaffen, dass das gelingt, das ist die Aufgabe guter Politik für die Stadt, also guter und nachhaltiger Stadtentwicklungspolitik. Entscheidend dabei ist eine gute funktionierende Infrastruktur. Entscheidend sind hervorragende Schulen und Hochschulen. Entscheidend sind erstklassige Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder. Entscheidend sind ein funktionierender öffentlicher Nahverkehr, attraktive öffentliche Räume und gute Radwege – und natürlich ausreichend Wohnraum, bezahlbar und in angemessener Qualität. Darum geht es. Aber das alles zugleich hinzubekommen, das ist natürlich nicht ganz so einfach. Darum ist es so wichtig, dass diejenigen zusammenkommen, zusammenarbeiten, sich austauschen und voneinander lernen, die für gute Stadtentwicklung überall auf der Welt Verantwortung tragen. Genau deshalb haben wir als Staats- und Regierungschefs der G7 bei unserem Gipfeltreffen in Elmau angeregt, dass Sie, die Ministerinnen und Minister der G7 für Stadtentwicklung, sich treffen sollten, um „ein gemeinsames Verständnis guter Stadtentwicklungspolitik zu entwickeln“. So hat es da geheißen. Wie ich jetzt gehört habe, wollen Sie diese Treffen ja nicht nur jetzt haben, sondern auch fortsetzen, was ich für eine gute Entwicklung halte. Es ist also nun so weit, und darum freut es mich, wie gesagt, dass Sie das nicht nur einmal machen wollen. Da ist noch etwas, über das ich mich besonders freue, nämlich dass Herr Oleksiy Chernyshov, der Minister für Kommunen und Territorialentwicklung der Ukraine, später noch zu dieser Konferenz digital hinzustoßen wird. Russlands furchtbarer Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ein dramatischer Zivilisationsbruch. Wie schlimm das Leid und die Zerstörung sind, hat mir Herr Chernyshov bei meinem Besuch in Kiew im Juni persönlich gezeigt. Die entsetzlichen Bilder dort werde ich immer mit mir herumtragen. Tief beeindruckt haben mich aber auch die Kraft und der Willen der Ukrainerinnen und Ukrainer, sich ihre Zukunft nicht nehmen zu lassen. Darum unterstützen wir sie mit unseren Partnern über die G7 hinaus ganz konkret und jeden Tag. Darum arbeiten wir bereits jetzt gemeinsam mit ihnen daran, wie die zerstörten Städte und Gemeinden wiederaufgebaut werden können, nachhaltig und klimagerecht. Im Rahmen unserer G7-Präsidentschaft wird Deutschland gemeinsam mit der Europäischen Kommission am 25. Oktober zu einer Wiederaufbau-Konferenz der Ukraine nach Berlin einladen. Da beschäftigen wir uns noch nicht so viel mit dem, was konkret alles zu machen ist. Das ist ja auch diskutiert worden, zum Beispiel in Lugano. Da wollen wir nicht nur die Frage diskutieren, wer was macht, sondern wir wollen auch die finanzielle Architektur entwickeln und verstehen, die notwendig ist, um einen solchen Wiederaufbau über viele Jahrzehnte mit großer finanzieller Kraft weltweit unterstützt zustande zu bekommen. Das ist nicht ganz einfach. Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen anregende Debatten. Ich bitte Sie unbedingt: Setzen Sie sich ganz ehrgeizige Ziele, und treffen Sie mutige Vereinbarungen für eine nachhaltige Stadtentwicklung! Ich danke Ihnen, dass ich hier dabei sein kann.
in Potsdam
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Deutschen Arbeitgebertages 2022 am 13. September 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-deutschen-arbeitgebertages-2022-am-13-september-2022-2125490
Tue, 13 Sep 2022 09:48:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Dulger, ich würde sagen: You made my day! – Dass Ihre Rede mit einem Zitat von Willy Brandt endete, das wirklich zu den größten gehört, die er je produziert hat, ist wirklich etwas ganz Bemerkenswertes. Ich glaube, jeder, der in der Politik ist, aber auch jeder, der irgendwie Verantwortung in der Politik hat, könnte sich viel von dieser Formulierung abschneiden, kann viel davon lernen und davon viel für seine eigene Praxis ableiten. Es ist in der Tat so: Jede Zeit braucht ihre eigenen Antworten, und wir müssen dafür Sorge tragen, dass wir die richtigen geben – jetzt, hier, wo wir hier stehen, und in der Situation, in der wir heute sind! Sie haben es auch schon gesagt: Wir sind an einem besonderen Ort, einem – ich glaube, dass man das in der Tat sagen kann – von weltgeschichtlicher Bedeutung. Sie haben auf das verwiesen, was dieser Flughafen Tempelhof in den Jahren 1948 und 1949 während der Blockade Westberlins durch die Sowjetunion bedeutet hat. Fast ein Jahr lang versorgten damals amerikanische und britische „Rosinenbomber“ die Berlinerinnen und Berliner aus der Luft, mit Starts und Landungen im Minutentakt. Nur die einzigartige gemeinsame Anstrengung der Luftbrücke bewahrte West-Berlin vor der sowjetischen Annexion. Nicht zuletzt aus dieser gemeinsamen Erfahrung erwuchs der Zusammenhalt der westlichen Demokratien in den folgenden Jahrzehnten. Und kein ein anderer Ort steht so symbolhaft für die Solidarität der Alliierten und für den Durchhaltewillen der Berlinerinnen und Berliner wie eben dieser Flughafen Tempelhof. Darum bin ich froh, dass wir heute hier sind. Denn Solidarität und Durchhaltewillen sind zwei Tugenden, auf die es angesichts der Zusammenballung von globalen Großkrisen, die Sie, lieber Herr Dulger, soeben skizziert haben, heute wieder ankommt. Es sind zugleich zwei Begriffe, die aus diesen Krisen hinausweisen. Mit dem 24. Februar dieses Jahres, mit Putins Überfall auf die Ukraine, mit den Massakern von Butcha, Irpin oder Mariupol, haben sich Abgründe wieder aufgetan in Europa – Abgründe, wie wir sie nicht mehr für möglich hielten. Mit seinem brutalen Angriffskrieg bedroht Wladimir Putin die Freiheit und das Leben von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern. Zugleich droht Putins Imperialismus Europas Friedensordnung – ja, die gesamte regelbasierte Weltordnung der vergangenen Jahrzehnte – zu zerstören. Deshalb stehen wir solidarisch an der Seite der tapfer kämpfenden Ukrainerinnen und Ukrainer. Die große internationale Solidarität der Berliner Luftbrücke muss dabei unser Vorbild bleiben. Oberbürgermeister von Berlin war damals Ernst Reuter. In seiner berühmten Rede rief er den „Völkern der Welt“ zu: „Erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt!“ Heute gilt dasselbe. Die Ukraine preiszugeben, brächte keinen Frieden, ganz im Gegenteil. Wer – ich habe es oft getan – mit Putin spricht, weiß von seinen großrussischen Träumen. Er schreibt darüber Artikel und hält darüber Reden. Deshalb ist es so wie damals: Die freiheitliche Welt hat West-Berlin nicht preisgegeben, weil sie sich damit selbst preisgegeben hätte, und so können und dürfen wir die Ukraine heute nicht preisgeben. Deshalb haben wir gegen Putins Russland beispiellose Sanktionen verhängt – Sanktionen, die wirken! Ich danke Ihnen ausdrücklich dafür, dass Sie deutlich gemacht haben, dass die deutsche Wirtschaft diese Sanktionen aus Überzeugung mitträgt. Denn das ist klar: Auch wenn wir genau überlegt haben, welche Sanktionen wir verhängen, auch wenn wir solche nicht verhängt haben, die uns mehr schaden, als sie Russland treffen, gibt es keine solchen Entscheidungen, die nicht auch Konsequenzen bei uns haben. Natürlich wussten wir und wissen wir, dass unsere Solidarität mit der Ukraine auch Konsequenzen haben wird, zum Beispiel, dass, obwohl es keine Sanktionen beim Gas und seinem Import gibt, es trotzdem dazu kommen kann, dass diese Lieferungen nicht mehr erfolgen, wie wir das gerade überwiegend erleben. Deshalb will ich ausdrücklich noch einmal unterstreichen: Ich danke der deutschen Wirtschaft für die Solidarität und für die Haltung, mit der es möglich ist, dass wir gemeinsam in dieser Situation zusammenstehen. Schönen Dank dafür! Damit komme ich zu den Themen, die uns alle umtreiben. Wir haben uns von vornherein mit der Frage beschäftigt, wie wir die Versorgungssicherheit für Deutschland gewährleisten können. Sehr früh, Anfang des Jahres, haben wir uns mit der Frage befasst: Was passiert, wenn die Energielieferungen nicht mehr so zur Verfügung stehen, wie wir das in den letzten Jahren und Jahrzehnten gewohnt waren, vor allem, wenn es um Kohle, Öl und Gas geht? Wir haben Sorge dafür getragen, dass wir uns von Kohlelieferungen unabhängig machen. Das geschieht gerade. Das war auch nicht schwer, weil Kohle mit dem Schiff kommt. Wir haben Sorge dafür getragen, dass wir uns von Ölimporten unabhängig machen, und das war auch nicht schwer, denn Öl kommt auch weitgehend mit dem Schiff. Dort, wo es zur Versorgung ostdeutscher Raffinerien per Pipeline kommt, sorgen wir dafür, dass wir auch dort Wege finden, dass diese Raffinerien ihren Betrieb fortsetzen können, wenn es dort zu Engpässen kommen sollte. Wir haben uns gleichzeitig darüber Gedanken gemacht, wie wir sicherstellen, dass wir unabhängig von Gasimporten aus Russland werden. Die haben in einem viel zu großen Ausmaß die Versorgungslage in Deutschland in den letzten Jahren und Jahrzehnten bestimmt. Deshalb war es notwendig, dass wir in allergrößtem Tempo dafür Sorge tragen, dass wir uns davon unabhängig machen. Wir haben geschaut, woher unser Gas noch kommt – es kommt auch aus Norwegen, aus den Niederlanden –, und haben alle gebeten, ihre Lieferkapazitäten auszuweiten. Wir haben mit den westeuropäischen Häfen gesprochen und darüber diskutiert, wie sie es möglich machen können, dass mehr Flüssiggas über ihre Häfen importiert werden kann und über ihre Pipelineverbindungen nach Deutschland gebracht werden kann. Das geschieht – mit den Niederlanden, mit Belgien und jetzt auch mit Frankreich. Wir haben uns auch Gedanken darüber gemacht, wie wir sicherstellen können, dass an den norddeutschen Küsten Flüssiggas per Schiff angelandet und dann in das deutsche Pipelinenetz gespeist werden kann. Das geschieht jetzt mit allergrößtem Tempo. Wir können heute sagen: Im Januar des kommenden Jahres werden die ersten dieser neuen Terminals ihre Tätigkeit aufnehmen, werden Pipelineverbindungen aufgebaut und ausgebaut sein. Und am Ende des nächsten Jahres werden wir wohl Importmöglichkeiten in Wilhelmshaven, in Stade, in Brunsbüttel und in Lubmin haben, an mindestens vier Orten. Wir werden dann in der Lage sein, all das Gas, das wir brauchen, zu importieren, unabhängig von Russland. Wer hätte gedacht, dass dieses Land das innerhalb so kurzer Zeit schafft? Ich bin darauf sehr stolz! Wir haben auch Sorge dafür getragen, dass Gas wieder eingespeichert wird – per Gesetz. Das war in den letzten Jahren nicht der Fall. In dieser Lage, in der wir heute sind, dass der Gasimport aus Russland nicht stattfindet, wären wir vor dramatische Konsequenzen gestellt, hätten wir nicht dafür gesorgt, dass diese Speicher mittlerweile zu mehr als 85 Prozent gefüllt sind. Wir haben dafür gesorgt, dass Kohlekraftwerke wieder in Betrieb gehen und dass keine vom Netz gehen. Auch das ist etwas, das dafür sorgt, dass wir weniger Gas verbrauchen, um Strom zu produzieren – eine notwendige und richtige Entscheidung. Herr Dulger, wir werden auch dafür Sorge tragen, dass es möglich ist, dass die süddeutschen Atomkraftwerke im Januar, Februar und März noch laufen können, damit es in keinem Fall zu einem Engpass im deutschen Stromnetz kommt! Das ist unsere Vorbereitung dafür, dass wir nicht in eine Lage kommen, in der wir Probleme haben, weil wir nicht genug Gas haben. Wir können nach all diesen Vorbereitungen jetzt und in dieser Situation sagen: Wir werden wohl durch diesen Winter kommen. Wer hätte das vor einiger Zeit gedacht? Unsere gemeinsamen Anstrengungen haben sich ausgezahlt. Wir werden wohl durch diesen Winter kommen, und das ist eine gute Botschaft in dieser Zeit! Aber natürlich – darüber sprechen Sie sehr klar und ich auch – ist es so, dass wir noch das Problem der gestiegenen Preise haben, und das ist kein kleines: der hohen Preise für Energie, die wir nach Deutschland importieren. Deshalb ist es so zentral, dass wir diese Frage auch aufgreifen. Wir machen das mit Entlastungspaketen, die jetzt beschlossen sind, alles in allem 95 Milliarden Euro – das ist eine riesige Dimension –, um für eine Entlastung bei den Bürgerinnen und Bürgern, bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, aber eben auch bei der deutschen Wirtschaft zu sorgen. Wir arbeiten jetzt, Herr Dulger, mit Hochdruck daran, dass wir die bestehenden Fördermöglichkeiten ausweiten, damit die Bäckereien, von denen Sie gesprochen haben, ihren Betrieb fortsetzen können. Denn es ist eine Gemeinschaftsanstrengung, diese Zeit zu überstehen, und wir werden das auch gemeinsam tun! Aber wir haben natürlich die Probleme mit den Preisen zu lösen, und zwar am besten, indem sie nicht in der Weise durchschlagen, wie das jetzt der Fall ist. Deshalb haben wir Entscheidungen über eine Veränderung des Strommarktes getroffen. Denn es ist nicht einzusehen, dass in dieser Zeit all diejenigen, die Strom mit Windkraft, mit Solarenergie, mit Wasserkraft, mit Kohle, mit Kernenergie produzieren, Sondergewinne, Extragewinne machen, weil sich der Preis nach dem Strom bemisst, der mit Gas produziert wird. Diese Veränderung machen wir im Einklang mit der Europäischen Union, die so ziemlich genau den gleichen Vorschlag entwickelt hat, wie wir ihn vor wenigen Tagen veröffentlicht haben. Wir werden das jetzt mit großem Tempo durchsetzen, damit wir bei den Strompreisen die Verbraucherinnen und Verbraucher, aber auch die Unternehmen entlasten können. Sie können sicher sein: Das geschieht mit dem notwendigen Tempo, damit wir das in diesem Winter in den Griff bekommen! Wir werden auch dafür Sorge tragen, dass wir das auch für den Wärme- und Gasmarkt schaffen. Das ist natürlich eine andere Herausforderung, eine sehr große Herausforderung. Denn beim Strommarkt müssen wir ja nur das Marktdesign ändern, damit der wieder als Markt funktioniert und nicht in dieser Weise hohe Kosten produziert, die durch die Produktion nicht gerechtfertigt sind. Aber beim Gas geht es ja um Lieferungen zum Beispiel aus dem befreundeten Norwegen, aus den USA und aus vielen anderen Ländern der Welt, für die sie Preise aufrufen. Es wird deshalb unsere Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass diese Preise wieder sinken. Wir haben Möglichkeiten, und manche davon haben wir auch schon aktiv eingesetzt, indem wir zum Beispiel gesagt haben: Die Speicher sind voll. Und selbstverständlich werden wir im Winter aus diesen Gasspeichern auch wieder Gas zur Verfügung stellen, damit wir eine gute Versorgung gewährleisten können, aber auch, damit die Preise nicht durch die Decke schießen. Wir werden weitere Maßnahmen ergreifen, damit wir diese Preise an der Quelle wieder herunterbekommen und sie wettbewerbsfähig und bezahlbar für die deutsche Wirtschaft bleiben. Meine Damen und Herren, das bedeutet aber auch, dass wir dafür jetzt alle Experten aus der Wirtschaft, aus der Industrie, aus den Gewerkschaften und aus der Wissenschaft zusammenholen müssen, damit wir einen Weg finden, wie uns das auch konkret und praktisch gelingt. Das tun wir. Wir haben beschlossen, dass es für Gas und Wärme eine Kommission unter Beteiligung von vielen geben wird, die hier Fachwissen haben und die wirtschaftlich aktiv sind, damit wir eine Entscheidung, die innerhalb ganz kurzer Zeit getroffen werden kann, dafür vorbereiten, wie wir auch die Preise im Wärme- und Gasmarkt wieder herunterbekommen, damit die Wirtschaft wettbewerbsfähig wird. Das machen wir mit Ihnen zusammen, und das wird, glaube ich, die nächste große Aufgabe sein. Wenn wir uns also mit dieser Herausforderung beschäftigen, dann dürfen wir natürlich nicht vergessen, dass es in der Tat auch darauf ankommt, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften zusammen die große Tradition der Sozialpartnerschaft nutzen, um in einer solchen Zeit auf die Herausforderungen reagieren zu können, die jetzt für uns alle sichtbar sind. Deshalb bin ich sehr froh darüber, dass wir die Konzertierte Aktion haben, die in dieser Woche wieder tagen wird, dass Unternehmensverbände, Arbeitgeber, Gewerkschaften, die Bundesbank und die Bundesregierung zusammenkommen und dass wir darüber beraten, was gemeinsam zu tun ist. Eine Aufgabe dieser Konzertierten Aktion ist aber auch, dafür zu sorgen, dass das Unterhaken in den Betrieben und den Unternehmen sowie bei den Sozialpartnern gelingt. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir die Möglichkeit schaffen können, es zu unterstützen, wenn Unternehmen ihren Beschäftigten besondere Zahlungen leisten wollen. Wir werden diese bis zu 3000 Euro steuer- und abgabenfrei stellen. Das ist eine Unterstützung für die Unternehmen, die für ihre Beschäftigten in dieser Zeit ganz praktisch etwas tun wollen. Ich komme zurück zu den Herausforderungen für unser Land, und Sie haben sie benannt. Wir sind in einer großen Transformation. Gerade wenn wir wissen, wie die Energiepreise durch die Decke gehen, und wenn wir sehen, wie abhängig wir von Importen sind, ist es jetzt notwendig, dass wir diese Veränderung und diesen Umbau mit größtem Tempo auch tatsächlich zustande bringen. Deshalb ist es wichtig, dass wir unser Land klimaneutral umbauen, dass wir sicherstellen, dass das Ziel erreicht wird, dass wir 2045 eine klimaneutrale Wirtschaft haben. Und deshalb ist es wichtig, dass wir den Ausbau der erneuerbaren Energien mit dem Tempo vorantreiben, das notwendig ist, damit die Wirtschaft mit bezahlbarer und dann sauberer Energie versorgt wird und unser Land wettbewerbsfähig bleibt. Wir hören also nicht auf mit diesen Veränderungsaufgaben. Wir stoppen nicht, was da notwendig ist, sondern wir legen jetzt noch mehr Tempo zu und sorgen dafür, dass der Ausbau jetzt mit großer Beschleunigung stattfindet. Mit den Gesetzen, die wir dieses Jahr auf den Weg gebracht haben, und mit den Gesetzen, die wir im Laufe dieses Jahres noch beschließen werden, schaffen wir die Voraussetzungen dafür, dass der Ausbau der Windkraft, der Solarenergie, der Biomasse und unserer Stromnetze in einem solchen Tempo vorangetrieben wird, dass wir unsere Ziele für unsere Volkswirtschaft erreichen. Wir müssen mehr Strom produzieren als heute, nicht 600, sondern 800 Terawattstunden. Wir müssen das im kommenden Jahrzehnt dann noch einmal verdoppeln. Und wir müssen es schaffen, dass dieser Strom aus erneuerbaren Quellen stammt. Deshalb müssen wir kürzere Planungsfristen und schnellere Genehmigungen haben. Wir brauchen einen schnelleren Ausbau, und alle Gesetze, die dazu erforderlich sind, werden wir in diesem Jahr beschließen, damit die Wirtschaft darauf setzen kann, dass es tatsächlich dazu kommt. Billige, bezahlbare Energie und Strom aus erneuerbaren Quellen – das werden wir miteinander hinbekommen! Das gilt übrigens auch für die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass dies ein Land ist, das statt der Gase, die heute als Betriebs-, Heiz- und Kraftstoffe verwendet werden, Wasserstoff als das Gas der Zukunft einsetzen kann. Auch da verspreche ich Ihnen, dass wir einen großen Boom bei der Elektrolyse für die Produktion hierzulande auslösen werden, dass wir das aber auch so organisieren werden, dass solche Entscheidungen in aller Welt getroffen werden, damit wir Wasserstoff so, wie wir es heute mit Gas und Öl tun, nach Deutschland importieren können. All das wird jetzt vorbereitet, damit die deutsche Wirtschaft darauf setzen kann, dass sie das auch vorfindet, wenn sie ihre Unternehmen darauf einstellt. Meine Damen und Herren, Sie haben von diesen Herausforderungen und davon gesprochen, wie wir die Veränderungen, die da vor uns stehen, bewältigen können. Sie haben auch davon gesprochen, dass ein Problem, das auf uns zukommen kann, die Deglobalisierung sein könnte. Ich will Ihnen ausdrücklich sagen: Das sollte nicht der Fall sein. Aus meiner Sicht ist die Idee von der Deglobalisierung eine, die an den Grundlagen der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft herumgräbt und die dafür sorgt, dass nicht das, was der Mittelstand und die Unternehmen dieses Landes leisten können, auch tatsächlich geleistet wird. Deshalb wende ich mich gegen all diejenigen, die jetzt die Idee der Deglobalisierung nach vorne stellen. Wir werden das nicht tun. Was wir brauchen, ist Diversifizierung bei Importen und bei Exporten. Das geht ja auch, denn die Welt wird ja multipolar sein. Sie wird viele neue Länder kennen, die einflussreich sind, im Süden Amerikas, in Afrika und ganz besonders in Asien und dort nicht nur in China. Aber wenn wir diesen Blick in die Welt wagen und mit diesen Ländern zusammenarbeiten, dann schaffen wir auch die Grundlage dafür, dass wir weiterhin eine global zusammenarbeitende Weltwirtschaft haben und dass deutsche Unternehmen mit ihren Fähigkeiten und Kompetenzen davon profitieren können. Seien Sie sicher: Das ist die Strategie der Bundesregierung. Wir sind nicht dafür, dass wir uns auf uns selbst beschränken, sondern wir wollen, dass die Welt ihre Potenziale gemeinsam nutzt. Was uns selbst betrifft, gehört zu den Potenzialen, die wir nutzen müssen, selbstverständlich, dass wir genügend Fachkräfte haben, genügend Arbeitskräfte, die in Deutschland tätig sind. Da ist Zuversicht sehr angesagt, aus vielen Gründen, zunächst einmal mit dem Blick in die Vergangenheit. Denn es ist ja anders gekommen, als uns die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vorhergesagt haben. Es hieß, heute würden wir weniger Arbeitskräfte haben als 1990 und in den 2000er-Jahren. Es ist von einer Reduzierung der Zahl der Erwerbstätigen gesprochen worden. Sie ist fest prognostiziert worden. Tatsächlich aber sind es Millionen mehr, die heute in Deutschland erwerbstätig sind. Deutschland hat die höchste Zahl an Erwerbstätigen seit Ewigkeiten. Es ist sehr, sehr wichtig zu wissen, dass die Grundlage unseres heutigen Wohlstands und unseres gegenwärtigen ökonomischen Erfolgs ist, dass es eben anders gekommen ist, dass die Zahl der Erwerbstätigen zugenommen hat. Das muss die Grundlage für das sein, was wir uns für die Zukunft vornehmen. Deshalb arbeiten wir auf allen Feldern daran, dass uns das weiterhin und wieder gelingt, indem wir die Beschäftigungsmöglichkeiten für Familien verbessern, mit mehr Kinderbetreuung und mehr Ganztagsangeboten an den Schulen dafür sorgen, dass alle Frauen und Männer, die arbeiten wollen und Kinder haben, das auch tatsächlich tun können, und indem wir dafür Sorge tragen, dass die Berufsausbildung den Stellenwert genießt, den sie tatsächlich in unserer Volkswirtschaft hat. Ich wiederhole, was ich an vielen Stellen gesagt habe und was mir wichtig ist: Die Berufsausbildung ist die wichtigste Ausbildung in Deutschland. Sie funktioniert, weil sich Millionen Unternehmen dafür entscheiden, junge Leute auszubilden. Und sie funktioniert, weil wir dafür werben, dass viele diesen Weg für sich und ihr berufliches Leben einschlagen. Aber das ist auch klar: Wir werden wie in den letzten Jahren ohne die Zuwanderung von Fachkräften nicht auskommen. Deutschland hat sehr davon profitiert, dass es Freizügigkeit in der Europäischen Union gibt. Millionen sind aus den Ländern EU-Europas gekommen, werden das auch weiterhin tun und können das auch weiterhin tun. Wir haben auch davon profitiert, dass viele aus anderen Länder jenseits der Europäischen Union gekommen sind. Wir werden mit den in diesem Jahr geplanten Modernisierungen des Einwanderungsrechts in Deutschland dafür Sorge tragen, dass Fachkräfte, dass Männer und Frauen, die die Fähigkeiten besitzen, die wir für unsere Betriebe, für unser Unternehmen und für die Zukunft unserer Volkswirtschaft brauchen, Wege finden, nach Deutschland zu kommen. Das ist das eine große Projekt dieser Fortschrittskoalition, dass wir Deutschland zu einem Land machen, das offen ist und seinen Wohlstand auch auf diese Weise für die Zukunft sichert. Die Zahlen sind ja so, dass das, wenn man in die Vergangenheit blickt, keine Herausforderung ist, die unser Land nicht bewältigen kann. Wir haben ein sehr gutes Bildungssystem. Für diejenigen, die hier aufwachsen und deren Eltern anderswo geboren worden sind, ist das eine gute Voraussetzung. Wir haben die Berufsausbildung. Wir haben Unternehmen, die offen sind. Wenn wir das gut und klug organisieren, dann wird es auch diesmal gelingen, dass der Wohlstand unseres Landes davon profitiert und dass wir unsere Zukunft fest im Blick behalten können. Meine Damen und Herren, in der Tat stehen wir vor großen Herausforderungen. Einige davon haben Herr Dulger und ich jetzt angesprochen, und ich finde, wir sind zu den gleichen Analysen gekommen, welche Probleme wir lösen müssen. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür, dass Sie die Kooperation, die in der Tat in den letzten Jahren gut funktioniert hat, auch für die Zukunft angeboten haben. Das ist wichtig. Aber es ist auch so, dass wir jetzt ganz besonders dieses Unterhaken und dieses Miteinander und die Zuversicht, dass uns das gelingt, brauchen. Vor fast einem dreiviertel Jahrhundert gelang ja hier an diesem Ort das beispiellose Experiment der vollständigen Versorgung einer Millionenstadt aus der Luft. Die Berliner Luftbrücke war eine technische und logistische Meisterleistung. Aber niemand konnte im Voraus sicher sein, dass die Operation gut ausgehen würde. Viele glaubten nicht daran. Sogar Ernst Reuter bezweifelte das zunächst. Trotzdem machten sich alle daran: alliierte Offiziere, deutsche Politiker, Wirtschaft und Verwaltung, Piloten, Mechaniker, Fluglotsen, Lageristen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Unternehmer. Zigtausende waren es, die ihren Beitrag leisteten. Gemeinsam brachten sie die Luftbrücke in Gang, gemeinsam optimierten sie Verfahren und Abläufe, und gemeinsam steigerten sie Transportleistungen von Monat zu Monat, bis die Operation schließlich so perfekt eingespielt lief, dass die Sowjetunion ihre Blockade abbrach. Die Berliner Luftbrücke beweist, dass unmöglich Erscheinendes gelingen kann, wenn wir uns mutig große Ziele setzen und gemeinsam an die Arbeit gehen. Das macht mich zuversichtlich angesichts der großen Aufgaben, die vor uns liegen. Darum lassen Sie uns dasselbe tun wie einst die Männer und Frauen der Luftbrücke hier am Flughafen Tempelhof: Lassen sie uns zusammen anpacken. Das will ich gerne mit Ihnen tun. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Baden-Badener Unternehmer Gespräche am 10. September 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-baden-badener-unternehmer-gespraeche-am-10-september-2022-2125462
Sat, 10 Sep 2022 13:17:00 +0200
Im Wortlaut
Baden-Baden
keine Themen
Schönen Dank für die Einladung, schönen Dank für die Gelegenheit, wieder einmal hier zu sprechen. Es war für mich beeindruckend, zu sehen, wie lang die Tradition hier schon anhält. 1958, als Sie am zehnten Gespräch teilgenommen haben, war das mein Geburtsjahr. Insofern kann ich dazu nur sagen: Das ist schon eine ganz lange Geschichte, die hier stattgefunden hat. Ich habe heute gelernt, dass man sich in den Saal, in dem gesprochen wird, erst vorarbeiten muss. Das finde ich auch bemerkenswert. Ich grüße alle in den oberen Sälen. Man kann über das, was vor uns liegt, nicht sprechen, ohne über die große, bedrohliche Herausforderung zu reden, mit der wir alle jetzt konfrontiert sind: dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und den ganzen Konsequenzen, die das hat. Ich will die sicherheitspolitischen Konsequenzen hier nicht allzu ausführlich besprechen. Das habe ich bei anderen Gelegenheiten getan, auf die Sie verwiesen haben. Aber ich will schon sagen: Das ist eine Zeitwende, weil eine der ganz entscheidenden Verständigungen der letzten Jahrzehnte über die Sicherheits- und Friedensordnung in Europa aufgekündigt worden ist, nämlich dass man nicht mit Gewalt Grenzen verschiebt. Das ist aber genau das, was Putin vorhat: Er will sein Nachbarland ganz oder teilweise erobern. Wer ihm bei seinen Reden zuhört und liest, was er schon lange geschrieben hat, der weiß, dass er eigentlich findet, dass Belarus und die Ukraine mehr oder weniger komplett zu Russland gehören sollten. Und sein Krieg zeigt, dass er das sehr ernst meint. Insofern ist klar, dass wir alles tun, was wir unternehmen können, um die Ukraine bei ihrem Kampf um Integrität und Souveränität zu unterstützen. Wir haben das in großem Umfang gemacht, in Abkehr von vielen Traditionen der Sicherheitspolitik Deutschlands in den letzten Jahrzehnten. Wir unterstützen die Ukraine mit Waffen – also nicht nur finanziell und humanitär – und tun das in einem ganz großen Umfang. Wir haben dafür Sorge getragen, dass wir selber im Rahmen der NATO einen größeren Beitrag dazu leisten können, dass unsere Sicherheit gewährleistet ist. Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro, das wir auf den Weg bringen, ist ja nur das Instrument, das Vehikel, mit dem wir dann insgesamt einbiegen auf einen Pfad, auf dem wir mehr Geld für Sicherheit und Verteidigung aufwenden. Das Ziel ist dann eben nicht mehr, fähig zu sein, irgendwo in der Welt bei kleineren oder größeren Out-of-area-Einsätzen im Rahmen eines Auftrags der Vereinten Nationen zu bestehen, sondern da geht es um Landes- und Bündnisverteidigung. Das hat ganz andere Konsequenzen für das, was wir können müssen. Das werden wir. Heute will ich aber über die ökonomischen Herausforderungen sprechen, die damit verbunden sind und was wir deswegen tun müssen und tun. Ich will es ganz bewusst machen, weil auch der russische Präsident, über den ich eben gesprochen habe, darüber redet, auf sogenannten internationalen Wirtschaftskonferenzen in Sankt Petersburg und Wladiwostok, wo nicht so viele Internationale dabei sind. Aber natürlich sollten wir alle weltweit zuhören bei dem, was er da sagt. Sein Szenario ist gut beschrieben. Er stellt sich vor, das geht jetzt so aus: explodierende Staatsschuldenkrise in unseren Ländern, dem globalen Westen, wie er uns zusammen immer nennt, eine steigende Inflation, wachsende Arbeitslosigkeit, viele Betriebe, die ihre Tätigkeit einstellen müssen, große Unzufriedenheiten und Unruhen in unseren Ländern. Ich glaube, dass wir nicht falsch liegen, wenn wir sagen, er hofft auch darauf. Noch mehr: Wir dürfen uns auch keine Illusionen machen. Was er dazu beitragen kann, dass das so kommt, hat er getan, und das wird er tun. Aber er hat sich verrechnet. Für mich als neu gewählter Kanzler dieser Republik war beim Blick auf die Gefahr, die da auf uns zukommen kann, klar, dass wir uns darauf vorbereiten müssen, dass all die Dinge passieren, die möglich sind. Mit dem Kriegsausbruch ist noch klarer geworden, dass wir das tun müssen. Deshalb haben wir schon Anfang des Jahres Entscheidungen getroffen, von denen wir heute als Land sehr umfassend profitieren. Wir haben zum Beispiel gesagt, wir müssen technisch in der Lage sein, all das, was wir an fossilen Ressourcen in diesen Jahren noch brauchen, auch tatsächlich nach Deutschland zu bekommen – und manchmal darüber hinaus, in unsere Nachbarländer –, auch wenn es keine Versorgung aus Russland gibt. Deshalb haben wir geklärt: Wie geht das mit der Kohle? Das ist nicht so schwer; es wird verschifft. Die Kohle kommt jetzt nur woanders her. Wir haben geklärt: Wie geht das mit dem Öl? Das ist auch nicht so schwer; das wird verschifft. Wir haben eine Pipeline, die zwei Raffinerien im Osten Deutschlands erreicht. Wir arbeiten hart daran, dass wir deren Betrieb sichern können, auch die Beschäftigung und die Perspektiven dort. Wir haben die Frage gestellt: Was ist, wenn das Gas aus Russland nicht mehr fließt? Wir hatten ja in den letzten Jahren eine Diskussion über die Frage, ob es drei oder vier Pipelines sein sollen. Aber auch drei sind, wenn sie nicht benutzt werden, leer. Deshalb ist es ganz entscheidend, dass wir das nachholen, was unser Land, wie ich finde, fehlerhafterweise in den letzten Jahren nicht gemacht hat, nämlich sicherzustellen, dass man von einem Tag auf den anderen den Lieferanten wechseln kann. Viele von Ihnen als Unternehmerinnen und Unternehmer werden die Frage für sich im Betrieb auch oft erörtern: Was passiert eigentlich, wenn da oder dort etwas schiefgeht, weil ein Unfall geschieht oder weil man sich zerstreitet, was auch immer passieren kann? Wir als Land haben das nicht in ausreichendem Maße gemacht. Aber deshalb war mir sehr klar, dass wir jetzt mit dem größten Tempo, zu dem unsere Nation fähig ist, an den norddeutschen Küsten dafür sorgen müssen, dass Flüssiggasterminals gebaut werden; dass unsere großen Handelsunternehmen darüber Gas nach Deutschland transportieren; dass wir Pipelines bauen. Es wird jetzt auch in diesem Tempo geschehen. Die ersten werden im Januar des nächsten Jahres aufmachen, und es werden weitere folgen – in Wilhelmshaven, in Stade, in Brunsbüttel, in Lubmin an der Ostsee – und dann in das Pipelinenetz einspeisen, das wir in Deutschland haben. Wir haben mit unseren Freunden im Westen Europas gesprochen, den Niederländern, den Belgiern, den Franzosen, dass über ihre westeuropäischen Häfen Gas nach Deutschland kommen kann. Auch Frankreich liefert jetzt zum ersten Mal Gas nach Deutschland. Das ist – das muss gesagt werden ‑ ein Bruch mit Traditionen, aber etwas, was uns in dieser Situation sehr hilft. Wir haben entschieden, Gas einzuspeichern. In merkwürdiger Unbesorgtheit hat niemand etwas getan, als festgestellt wurde, dass die Speicher leerer und leerer werden, dass aus deutschen Speichern nach Polen Gas geliefert wird und nicht über die Pipeline, die nach Polen führt. Wir haben ein Gesetz gemacht, und jetzt sind wir bei weit über 85 Prozent und werden unsere ehrgeizigen Ziele erreichen. Andere haben das auch gemacht. Das ist eine früh getroffene Entscheidung, die jetzt wirksam ist. Denn wir mussten, als noch niemand wirklich besorgt war, im Sommer in großen Mengen Gas kaufen, um es da einzuspeisen, und das haben wir gemacht. Wir haben gesagt, wir lassen die Kohlekraftwerke wieder laufen. Keines soll vom Netz gehen. Alle, die vom Netz sind, sollen wieder angeschaltet werden, um Strom zu produzieren, damit wir ihn einspeisen können. Wir haben jetzt Gesetze gemacht, die es Ihnen ermöglichen, auf andere Energieträger auszuweichen. Manchmal steht ja der alte Ölkessel oder das, was Sie da benutzt haben, noch im Betrieb. Es ging darum, das schnell zu machen – Stichwort „fuel switch“ –, mit erleichterten Regelungen, was die Geschwindigkeit und die Genehmigungsprozesse betrifft, ohne dass die Standards dabei abgesenkt werden. Wir haben auch entschieden, dass es möglich sein soll, dass wir, wenn es erforderlich ist, im Januar, Februar, März, April auch die Atomkraftwerke, die im Süden Deutschlands sind, weiterlaufen lassen. Das sind alles Vorbereitungen für diese Situation. Ich finde, wir können schon sagen: Die Lage, in der wir uns befinden, ist jetzt schon ziemlich schwierig, aber wir haben uns in so kurzer Zeit so intensiv darauf vorbereitet, dass wir sagen können, wir kommen wohl durch. Das hätte ohne all diese Maßnahmen niemand jetzt zu diesem Zeitpunkt sagen können. Klar ist, dass damit noch nicht alle Probleme gelöst sind, zum Beispiel – Sie haben es angesprochen – die großen Probleme, die sich mit den Preisen ergeben, für die Bürgerinnen und Bürger genauso wie für die Unternehmen. Denn viele Geschäftsprozesse sind auf ganz andere Preise ausgerichtet. Sie sind kalkuliert, und es wird nicht möglich sein, dies dann einfach auf seine Kunden überzuwälzen und die gleichen Mengen zu verkaufen. Insofern sind wir da in einer schwierigen Situation. Deshalb ist das Nächste, was wir tun, dass wir dafür sorgen, dass wir die Frage beantworten: Wie kommen wir zu Bedingungen, die Wirtschaft und Produktion und das Leben weiter möglich machen im Hinblick auf die Preisentwicklung? Erste klare Entscheidung: Wir werden versuchen, die Dysfunktionalitäten des Strommarktes zu bekämpfen. Das haben wir mit den Entscheidungen vom letzten Wochenende gemacht, die ziemlich übereinstimmen mit dem, was sich die Kommission in Europa ausgedacht hat. Und wir werden sicherstellen, dass nicht Sondergewinne gemacht werden können, wenn der eigentliche Preis von der Stromproduktion durch Gas bestimmt wird. Die werden wir abschöpfen und nutzen, um die Strompreise generell, die Netzentgelte und deren Anstieg abzufedern, aber auch, um sicherzustellen, dass es eine Strompreisbremse für die Haushalte gibt. Daran arbeiten wir jetzt intensiv. Wenn ich die europäischen Beratungen sehe: Das wird uns auch gelingen. Dann kommen natürlich die Wärmepreise, insbesondere die Gaspreise, ins Spiel. Da ist die eine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir eine gute Versorgung haben, indem wir die Infrastrukturen bauen, damit das überhaupt passieren kann. Aber die andere ist, dafür zu sorgen, dass die Preise sich wieder in Größenordnungen bewegen, die dann auch bezahlt werden können. Das ist das, was wir jetzt in Deutschland, in Europa tun und mit vielen anderen diskutieren. Aber jedem und jeder, die sich in dieser Sache auskennen, ist auch klar: Das ist jetzt nicht so einfach, wie das beim Strommarkt der Fall ist. Denn wir kaufen das Gas ja nicht in großen Mengen irgendwo in Deutschland, sondern wir kaufen es in Norwegen, in den Niederlanden – die sind noch nah –, in den USA, überall in der Welt. Das haben Sie verfolgt. Das wissen Sie genau. Denen können wir ja nicht einen Brief schreiben: „Ihr Preis ist der folgende.“ Das übersteigt unsere Gesetzgebungskompetenzen und den Ausbreitungsgrad unserer Jurisdiktion, um es mal so zu sagen. In dieser Hinsicht geht es jetzt darum, dass uns das gelingt. Das wird aber eine große Anstrengung erfordern, damit wir das machen. Auch das bedeutet, dass wir mit allen fachlich zusammenarbeiten, die in der Wirtschaft viel von diesen Fragen verstehen. Das tun wir, das ist vorbereitet und wird auch weiter diskutiert. Und dass wir gleichzeitig bereit sind, alles dafür zu tun, dass wir auch wirtschaftlich und finanziell durchkommen. Deshalb kann ich Ihnen hier an dieser Stelle erneut versichern, was ich nun schon seit einiger Zeit sage: Wir werden das hinbekommen. Man darf unser Land einfach nicht unterschätzen. Wenn wir zusammenhalten, wenn wir bereit sind, diese neue, ganz konkrete Herausforderung zu bestehen, dann wird und kann uns das auch gelingen. Wir werden genau diese Aufgabe anpacken. Niemand, kein Unternehmen, aber auch die Bürgerinnen und Bürger nicht, wird alleingelassen. Wir machen das zusammen. Für mich ist das jetzt die nächste Aufgabe, und – ich will das ausdrücklich sagen – das gehört zu den Sachen, die für diesen Winter und den nächsten erforderlich sind. Aber wir müssen uns eine Welt vorstellen, in der es sehr lange so sein wird, dass die Energielieferungen aus Russland für das Angebot auf den Weltmärkten und für die Preisbildung auf den Weltmärkten keine Rolle mehr spielen. Da kann man nicht irgendwie populistisch darum herumreden, sondern dann muss man einfach diese konkrete Aufgabe anpacken. Wir werden uns nicht drücken, sondern alles tun, was erforderlich ist. Ich habe es bewusst an den Anfang gestellt, über diese Krise zu reden, weil sie einfach jetzt so elementar ist. Aber sie ist ein Anlass, über verschiedene Fragen miteinander zu diskutieren, die für die Rolle unseres Landes und für unsere Zukunft von allergrößter Bedeutung sind. Sie erledigen nicht all die anderen Herausforderungen, die die Fortschrittskoalition in Deutschland sich vorgenommen hat. Das eine Thema, das ich hier gern ansprechen möchte – das hängt zusammen mit dem, was wir eben erörtert haben –, ist aus meiner Sicht die ganz entscheidende Frage: Wie stehen wir zur Globalisierung und zur weiteren Entwicklung der Welt? Ich will mit einem klaren Bekenntnis beginnen: Ich halte nichts von Deglobalisierung. Ich halte nichts davon, dass wir das, was den Wohlstand und den Fortschritt der letzten Jahrzehnte in der ganzen Welt möglich gemacht hat, aufgeben und uns plötzlich wieder alleine auf uns selbst konzentrieren. Hier ist ein guter Ort, um das zu sagen: Es ist der deutsche Mittelstand, der mit am meisten von der Globalisierung profitiert hat. Kleine Unternehmen mit 500, 1.000, 2.000, 3.000, manchmal auch noch ein paar mehr Beschäftigten, die aber mit einem oder zwei Produkten oder Dienstleistungen auf dem ganzen Weltmarkt der Wettbewerber von zwei, drei anderen sind – das sind diejenigen, die die Stärke unserer Volkswirtschaft ausmachen. Wenn die Rahmenbedingungen, wenn die Scales, wenn die Größenordnungen, in denen das entwickelt werden kann, sich plötzlich auf Europa oder Deutschland oder auf Europa und die USA beziehen, dann ist das definitiv zu klein für den Fortschritt, der da möglich gewesen ist. Deshalb, finde ich, müssen wir auch einmal sagen: Die Globalisierung hat viel Wohlstand gebracht. Sie hat Milliarden Menschen in der ganzen Welt in eine Art Situation von Mittelschicht gebracht. Der Hunger ist zurückgegangen, die Bildung ist besser geworden. Viele Versorgungsfragen sind besser gelöst, als sie jahrzehntelang gelöst waren. Was ganz viele völlig übersehen haben: Es ist in den letzten 30, 40 Jahren genau andersherum gegangen, als in den 200, 250 Jahren Industriegeschichte davor. Erinnern wir uns noch: Der britische Industrialismus hat mit der gewalttätigen Zerstörung indischer Webmaschinen begonnen. Jetzt kommen die Textilien wieder aus Asien, und zwar mit Maschinen, die oft auch hier in Deutschland gebaut werden. Aber ich will ausdrücklich sagen: Das ist doch der veränderte Vorgang. Da ist Arbeit entstanden. Da sind Städte neu entstanden. Da sind Infrastrukturen entstanden. Da ist Wohlstand. Deshalb ist zum Beispiel auch für mich immer klar gewesen, dass diese ganz besondere Phase der Globalisierung, in der wir uns in den letzten Jahren befunden haben, allmählich zu Ende geht. Das Phänomen, das die Ökonomen – ich sehe da einen – nicht alle verwundert, aber das sie diskutiert haben, kann leicht aufgelöst und erklärt werden. Wie konnte es sein, dass wir Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und geringe Inflation haben? Weil eben diese Teile der Welt auf unsere Märkte bezogen etwas mitproduziert haben, in den Lieferketten Rohstoffe geliefert haben, Arbeitsprozesse begleitet haben und es dadurch bei uns sehr billig werden konnte. Was aber wohl der eine oder die andere übersehen hat, ist: Indem das geschieht, entstehen dort ja auch neue Nachfragemärkte. Dort werden plötzlich in der Covid-19-Pandemie von Regierungen auch Konjunkturprogramme gemacht, die die Nachfragesituation in der Welt beeinflussen. Alle wollen den Klimawandel bekämpfen – dazu komme ich noch –, und viele haben entschieden: Die Zwischentechnologie dazu ist Gas. Ich meine, das hat Folgen für die weltweite Nachfrage. Deshalb kommt jetzt durch die aktuelle Krise vielleicht etwas schneller, was im Laufe des jetzigen Jahrzehnts wahrscheinlich sowieso geschehen wäre, nämlich dass die Besonderheiten dieser Phase der Globalisierung zu Ende gehen, die letztendlich nur davon gelebt haben, dass es einen Weltmarkt gab, der nur einen Teil der Weltbevölkerung umfasst hat, und die anderen für ihn dazuproduziert haben. Jetzt wird es so sein, dass der Weltmarkt viel größer ist, nämlich wirklich die Welt umspannt, mit eigenen Nachfrage- und Investitionsstrategien vieler Länder auf der Welt. So weit aus der wirtschaftlichen Perspektive. Aber auch aus der ökonomisch-politischen Perspektive ändert sich etwas. Deshalb will ich sagen: Ich bin nicht nur entschieden gegen die Idee der Deglobalisierung und das Verteufeln der Globalisierung als Wohlstandsmaschine, sondern ich bin auch entschieden dagegen, dass wir uns die Welt so denken, wie man sie sich, rückwärts betrachtet, immer vorstellt, dass es auf eine neue, bipolare Welt hinausläuft. In der Nachkriegsordnung war der Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion und ist jetzt vielleicht zwischen den USA und China. Und Russland meldet sich mächtig zu Wort: „Ich bin auch noch da.“ Deshlab wird das, was vor uns liegt, vielmehr eine multipolare Welt sein. In Asien gibt es viele stark werdende und schon jetzt starke Nationen. Die werden es sich nicht gefallen lassen, dass sie in einen solchen Konflikt eingeordnet werden. Südkorea, Japan, Vietnam, Indonesien, Malaysia, Thailand, Indien, um nur einige zu nennen, werden nicht akzeptieren, dass sie irgendwie das Randgeschehen ausmachen. Deshalb wird die Welt viel multipolarer werden. Da kann man nicht nur nach Asien gucken, was man aber unbedingt machen muss, wenn man China-Strategien diskutiert. Sondern das ist auch der Fall, wenn wir nach Afrika oder in den Süden Amerikas gucken. Meine feste Überzeugung ist: Da werden auch noch viele einflussreiche Nationen auf der Welt sein. Alles das wird schon um die Mitte dieses Jahrhunderts stattfinden, also in wenigen Jahrzehnten. Die Frage, was wir in dieser Welt wollen und was wir da als Zielperspektive verfolgen, muss jetzt beantwortet werden. Meine eine Antwort lautet also: keine Deglobalisierung. Die andere lautet: Wir sind sehr froh über diese Perspektive der Multipolarität. Aber – das ist die Lehre, die uns Putin gerade erteilt – es ist ja nicht notwendigerweise eine gute Ordnung, wenn Macht und Gewalt gewissermaßen das Untereinander der Staaten bestimmen. Deshalb muss für uns klar sein: Wir wollen, dass diese Welt nicht nur multipolar ist, mit vielen einflussreichen Ländern. Sondern wir wollen unbedingt erreichen, dass es eine Welt ist, die zusammenarbeitet, das, was man multilateral nennt. Das sollte unser Auftrag in Deutschland und in Europa sein. Deshalb auch diese Aussage: Die Europäische Union ist für uns die Hoffnung, dass die Welt, die da entsteht und die eine ganz andere sein wird als die, die wir in den letzten 200, 250 Jahren gekannt haben, eine ist, in der wir mitzureden haben, in der wir unseren Wohlstand sichern und sichern können, dass wir zwar nicht mehr so große Anteile am Weltsozialprodukt haben, wie wir es über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte hatten, aber sicherstellen können, dass wir die modernsten Technologien, die fortschrittlichsten Technologien und den gleichen Wohlstand wie diejenigen, die vorne dabei sind, auch für Europa und für uns sichern. Wir sind mit 80 Millionen Deutschen nicht in der Lage, das Weltgeschehen von dann 10 Milliarden Einwohnern um 2050 zu beeinflussen. Deshalb kann uns das nur mit der Europäischen Union gelingen. Diese Europäische Union ist entstanden als eine Gemeinschaft, die die Völker, die Kriege miteinander geführt haben, zusammenführen sollte. Aber sie muss jetzt eine neue Rolle kriegen, nachdem das jahrzehntelang sehr erfolgreich gelungen ist und neue dazugekommen sind – die Griechen, die Spanier, die Portugiesen, die ihre Diktaturen abgeschüttelt haben, die Länder in Mittel- und Osteuropa, die die kommunistischen Diktaturen abgeschüttelt haben und ihre Freiheit im Westen wiedergefunden haben, und all diejenigen auf dem westlichen Balkan, die noch dazukommen wollen und die wir eingeladen haben, die Ukraine, Moldau und Georgien in längerer Perspektive. Sie müssen alle diese Tatsache im Blick haben, dass wir nur gemeinschaftlich auf der Welt Einfluss haben können. Das ist dann die Perspektive einer geopolitischen Union, wie ich das genannt habe, in der wir zusammenarbeiten. Für uns Deutsche hat das eine Konsequenz. Denn eigentlich haben sich ja in den letzten Jahrhunderten viele davor gefürchtet, dass dieses eine Land mit der größten Bevölkerung und der immer schon ziemlich großen Wirtschaftskraft zusammenfindet und in einer Art staatlichen Einheit seine ganze Macht ausspielt. Als es dann 1871 passiert war, haben wir gezeigt, dass diese Sorge auch berechtigt war, mit zwei Weltkriegen, die von Deutschland ausgegangen sind. Dass wir wieder zusammenkommen durften, dass wir unsere Einheit jetzt wiederhaben als demokratisches Land mitten in Europa, das verdanken wir diesem Europa, aber auch dem Vertrauen, das viele in uns haben und der Art und Weise, wie sie auf uns setzen. Aber es bleibt dabei: Wir sind das große Land mitten in der Europäischen Union mit der größten Wirtschaftskraft und der größten Bevölkerung. Deshalb müssen wir die Nation sein, die die europäischste ist, die sich fest vornimmt, dass die Zukunft Europas, der Fortschritt in Europa unsere eigene nationale Sache ist, und dass wir uns dafür einsetzen. Ich sage: Das ist das, was ich für mich als Kanzler unbedingt als Auftrag begreife. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Union so reformiert wird, dass sie als souveräner Player in der Welt eine Rolle spielt. Weil alles mit allem zusammenhängt, noch diesen Satz zur Globalisierung, zur veränderten Welt, zur Rolle Europas und zu dem Krieg, den Putin gegen die Ukraine begonnen hat: Es gilt für uns alle und nicht nur im Hinblick auf Gas, Öl und Kohle, dass wir unsere Lieferbeziehungen diversifizieren müssen. Es gilt für uns alle, dass wir unsere Exportmärkte diversifizieren müssen, damit Schwierigkeiten an dem einen Ende der Welt nicht zu unseren Schwierigkeiten werden. Natürlich: Wenn etwas, was gut läuft, dann plötzlich nicht gut läuft, wird das immer Probleme machen. Aber wenn man abhängig davon ist, weil man gar nicht aushalten kann, dass es zehn, 15 Jahre schwierig wird, dann ist das ein Problem. Deshalb wünsche ich mir, dass wir den Blick in das andere Asien, nach Afrika und in den Süden Amerikas viel stärker für Investitionen, für Importe und Exporte entwickeln. Das gilt nicht nur, aber natürlich auch für Rohstofflieferungen. Für uns hat das aber eine Konsequenz: dass wir die Betulichkeit, die Bequemlichkeit ablegen, mit der wir manchmal die Prozesse begleitet haben, wenn es zum Beispiel um Lithium-Abbau irgendwo in der Welt geht, um nur dieses Beispiel zu nennen. Man muss es dann auch hinkriegen, das mit zu wollen, und darf das nicht Regimen überlassen, die nicht so viele Probleme mit ihrer Bevölkerung haben. Deshalb gehört dazu, dass wir auch ein positives Bekenntnis zu solchen Investitionen in diese Rohstoffproduktion, in die Rohstofferzeugung ablegen, damit wir die Diversifizierung hinkriegen. Da wird viel deutsches Kapital, öffentliches und viel, viel mehr privates, erforderlich sein, um das möglich zu machen. Aber auch das sollte eine Lehre aus der veränderten Zeit sein. Das dritte Thema, das ich gern ansprechen möchte und für unsere Diskussion hier entwickeln will, ist: Weil die Probleme so sind und weil die Dinge sich so entwickelt haben, hören wir aber nicht auf, das zu tun, was wir für unsere Zukunft dringend tun müssen. Dazu gehört für mich, dass wir weiter das Ziel verfolgen, ein wirtschaftsstarkes Land zu werden, das 2045 klimaneutral wirtschaftet. Das ist die große ökonomische Transformation unseres Landes, die Digitalisierung und die ökologische Transformation, im Übrigen in einer sehr fortschrittlichen Antwort: Es ist eben nicht so, wie uns der eine junge Mann gesagt hat, dass Verzicht die Lösung für die Herausforderungen ist, die wir jetzt haben, sondern es ist Wachstum und Fortschritt, technologischer Fortschritt, und zwar einer, bei dem wir in Deutschland eine ganz zentrale Rolle spielen. Wir sind nämlich das Land, das die Ingenieurinnen und Ingenieure, die Unternehmerinnen und Unternehmer und die finanzielle Kraft hat, solche Technologien so zu entwickeln, dass sie global wettbewerbsfähig sind, sodass andere sie auch nutzen wollen. Wir werden die Bürgerinnen und Bürger Asiens, Afrikas und im Süden Amerikas nicht dazu überreden, dass sie nicht genauso viele Autos haben wollen wie wir, dass sie nicht genauso schön leben können wollen wie wir. Sie wollen das alles auch haben und werden es früher oder später kriegen. Wir werden sie nicht zum Verzicht bewegen. Was wir können, ist, zu sagen: Wir haben Technologien, die so sind, dass die Welt diesen Wohlstand aushält, ohne dass das Klima und die Biodiversität darunter leiden. Genau das ist ein ganz wichtiger Auftrag an uns alle, denn wir in Deutschland können genau das bewerkstelligen. Deshalb gehören diese Dinge dazu. Während wir uns also unabhängig machen, machen wir jetzt auch viele Gesetze fertig – einige sind sogar schon beschlossen, in diesem einen Jahr –, die zur Beschleunigung des Umbaus unserer Energieversorgung auf erneuerbare Energien, zur Beschleunigung des Netzausbaus, zur Beschleunigung des Einstiegs in eine Wasserstoffwirtschaft beitragen. Denn es sind milliardenschwere privatwirtschaftliche Investitionen, die dafür erforderlich sind, die in den Betrieben und den Unternehmen insgesamt erforderlich sind, die nur funktionieren, wenn jemand, der jetzt seinen Produktionsprozess für Stahl verändert und von der Hochofenroute weggeht, wenn jemand, der seine Chemiefabrik ändert und von der Nutzung fossiler Ressourcen weggeht und zur Elektrifizierung und zur Nutzung von Wasserstoff für viele Prozesse geht, auch sicher sein kann: Das wird er alles in rauer Menge und zu bezahlbaren Preisen haben. Genau diese Aufgabe haben wir uns gestellt, und das ist das, was wir unbedingt mit Ihnen zusammen erreichen wollen, damit Fortschritt in Deutschland möglich ist, damit wir an der Spitze bleiben, was unseren Wohlstand betrifft, und damit wir einen Beitrag dazu leisten können, dass die Welt klimaneutral wirtschaftet, aber den großen Wohlstand, den wir allen Bürgern dieser Welt wünschen, auch tatsächlich ertragen kann. In diesem Sinne freue ich mich auf die Diskussion, auch auf die Diskussion der Thesen, die uns die jungen Leute am Anfang gesagt haben. Eigentlich fand ich es sehr berührend, was wir da gehört haben. Denn die wichtigste Botschaft, die dabei rüberkam, war doch: Man kann die Hoffnung haben. Wir müssen nicht griesgrämig durch die Welt laufen. Wir wissen sogar, wie es besser werden wird. Dann sollten wir es auch tun. Schönen Dank.
Kanzler kompakt: Wie kommt unser Land durch die Krise?
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-kompakt-ernste-zeit-wortlaut-2124848
Sat, 10 Sep 2022 10:00:00 +0200
Alle Themen
Wir leben in einer ernsten Zeit. Nicht nur die Ukrainerinnen und Ukrainer spüren das jeden Tag, sondern auch wir in Europa und viele in der Welt. Wir haben uns aber vorbereitet. Vorbereitet zum Beispiel darauf, dass Russland seine Gaslieferungen weitgehend einstellt wegen des Krieges gegen die Ukraine. Wir haben Terminals an den norddeutschen Küsten auf den Weg gebracht, um Flüssiggas zu importieren. Wir haben Gas gespeichert. Wir nutzen wieder die Produktionsfähigkeiten von Kohlekraftwerken. Wir werden Anfang des nächsten Jahres die Möglichkeit haben, die verbliebenen süddeutschen Atomkraftwerke zu nutzen, wenn das notwendig ist. Und wir lassen niemanden allein. Wir haben ein umfassendes Hilfspaket geschnürt, damit diejenigen unterstützt werden, die nicht finanziell einfach solche Herausforderungen bewältigen können. Und wir werden weiter daran arbeiten, dass niemand allein auf sich gestellt bleibt. Wir werden uns als Land unterhaken, weil wir ein solidarisches Land sind. Wir kommen da durch.
Rede von Kulturstaatsministerin Roth anlässlich des 83. Jahrestags des deutschen Überfalls auf Polen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-ueberfall-polen-2123752
Thu, 01 Sep 2022 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
− Es gilt das gesprochene Wort − „Hitze und jeden Tag noch mehr Hitze von der glühenden Sonne. Heute Nachmittag hatten wir 38 Grad. Es ist zu heiß, um irgendetwas zu unternehmen“, schreibt die zehnjährige Nusia im August 1939 in ihr Tagebuch. Sie verbringt den Sommer bei ihren Großeltern in Borowa Gora bei Warschau. Jahrzehnte später wird sie sagen: „Wir taten all die wundervollen Dinge, die Kinder in diesem Alter tun.“ Doch der Sommer 1939 sei „ein Sommer voller Angst“ gewesen. Es ist Nusias letzter Kindheitssommer. Wie viele Kindheiten sind in diesen Augusttagen 1939 in Polen, in Europa unwiderruflich zu Ende gegangenen? Es ist bedrückend, an den 1. September 1939 zu denken. Das Unbehagen gehört zu diesem Datum, solange ich denken kann. Und soweit ich zurückdenken kann, war es nie größer als in diesem Jahr. All die Jahre, die wir an den Kriegsbeginn 1939 erinnert haben, taten wir es in dem Bewusstsein, an etwas Furchtbares zu rühren. Aber wir taten es auch in dem Selbstverständnis, dass sich ein Krieg wie dieser niemals mehr wiederholen sollte. Der Schrecken, den Deutschland in den Jahren von 1939 bis 1945 über Polen und ganz Europa gebracht hat, das Elend des Krieges und der Besatzung, die Infamie des Holocausts – all das war so grausam und zerstörerisch, dass eine Wiederholung unvorstellbar schien. Wer würde sich, ohne Not, in die Gefahr begeben einen vergleichbar zerstörerischen Konflikt heraufzubeschwören? Doch vielleicht sind wir – und ich meine damit Deutschland und das westliche Europa, die sich nach dem Krieg zu einer wirtschaftlichen und politischen Gemeinschaft zusammengeschlossen haben – vielleicht ist dieses Europa einer Selbsttäuschung erlegen. Denn immer häufiger habe ich den Eindruck, dass dieser letzte Krieg gerade dort, wo er am schlimmsten gewütet hat, so tiefe Spuren hinterlassen hat, dass er nie wirklich zu Ende gegangen ist. Und vielleicht hat gerade die deutsche Nachkriegsgesellschaft, die Schuld und Scham schnell verdrängen und vergessen wollte, diesen fortdauernden Schmerz von sich ferngehalten. In einem Interview sagte die ukrainische Schriftstellerin Katja Petrowskaja vor etwas mehr als einem Jahr über ihre Kindheit und Jugend im sowjetischen Kiew: „Wir waren vom Krieg durchtränkt. (…) Unser Krieg war überhaupt nicht zu Ende, weil er so viel Tod und Zerstörung erzeugt hatte, dass die Folgen, das Empfinden sich bis in meine Kindheit erstreckten.“ Der Krieg war die „Primärfarbe aller Erfahrungen“. Sie erzählt auch von der Scham, die ihr Vater, ein sowjetischer Jude, Polen gegenüber empfunden habe, als habe er „persönlich den Hitler-Stalin-Pakt geschlossen“, als wäre er selbst 1939 mit der Roten Armee in Ostpolen einmarschiert. Prag 1968 sei für ihre Eltern eine Fortsetzung dieser Tragödie gewesen. Teilen der sowjetischen Intelligenz sei durchaus bewusst gewesen, welche Bedeutung die polnische Formel „Wasza wolnosc jest nasza wolnosc, a nasza wolnosc jest wasza“1 für sie hatte. („Eure Freiheit ist unsere Freiheit und unsere Freiheit ist eure“) Unlängst ist ein Buch zweier Osteuropa-Historikerinnen, Franziska Davies und Katja Makhotina, erschienen. Es trägt den Titel „Offene Wunden Europas“ und beschreibt eine Reise zu den Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs: Die Erzählung folgt der Spur der Verwüstung, die Deutsche durch Osteuropa zogen: von Warschau, Belzec, Majdanek, Lwiw, Wilnius, Minsk, Malyj Trostenez, Kiew, Babyn Jar, Chatyn, Pirciupis, Korjukiwka in der Ukraine bis in belagerte Leningrad und auf das Schlachtfeld Stalingrads. Wie hängt das, was derzeit geschieht, mit dieser Geschichte zusammen, fragen die beiden Autorinnen in ihrem Vorwort. Was hat die gewaltvolle Geschichte des 20.Jahrhunderts mit dem Europa unserer Tage zu tun? Ihre Antwort ist deutlich: Der Krieg gegen die Ukraine wird nicht nur mit Panzern und Haubitzen geführt. Der russische Angriff erfolgte mit dem stärksten Kaliber der geschichtspolitischen Waffenschmiede Wladimir Putins: dem antifaschistischen Erbe der Sowjetunion. Der Krieg gegen den Nachbarn diene der Denazifizierung des Landes, behauptet Putin, und verhindere einen Genozid an den Ostukrainern. Wir wissen: Das ist eine Lüge und eine Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus. Wenn heute weite Teile der deutschen Politik konstatieren müssen, sie hätten sich in dem russischen Präsidenten getäuscht, dann macht das deutlich, dass es uns an Wissen fehlte, und dass dieser Mangel an Wissen, einen Mangel Aufmerksamkeit und Sensibilität gegenüber den Befindlichkeiten unserer osteuropäischen Nachbarn nach sich zog. Polen hat Deutschland das mit Recht vorgehalten. Wir schulden Polen viel. Wir schulden Ihrem Land die aufrichtige Anerkennung des erlittenen Leids unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Und wir schulden Ihrem Land Dank für die Haltung, die es in der Lage des aktuellen Krieges einnimmt. Wir stehen in der Verantwortung, Polen bei der Aufnahme so vieler ukrainischer Kriegsflüchtlinge unsere Hilfe und Unterstützung anzubieten. Deutschland schuldet Polen aber vor allem, dass wir die Lektionen der Vergangenheit, die der eigenen und die der gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichte, nicht länger verdrängen, sondern zurückholen in das Bewusstsein unserer Gesellschaft. Dazu soll das geplante Dokumentationszentrum Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa dienen. Dafür brauchen wir aber auch einen Ort, an dem wir der polnischen Opfer dieses Verbrechens gedenken können und an dem wir mehr über die mehr als tausendjährige einzigartige Verflechtungsgeschichte unserer beiden Länder lernen und erfahren können. Mein Haus hat die Verantwortung für diese Projekte übernommen und ich will und werde mich für ihre Realisierung einsetzen. „Der Sommer 1939 war der letzte Sommer in Freiheit“, sagt Nusia, die sich 1944 als Fünfzehnjährige dem Warschauer Aufstand anschloss. Mehr als 150.000 Frauen und Männer starben in diesem 63 Tage währenden Kampf um die Stadt. Was von Warschau übriggeblieben war, zerstörten die nationalsozialistischen Besatzer durch gezielte Sprengungen – eines von unzähligen Kriegsverbrechen, die Deutsche in Polen begangen haben. Die letzte Radiobotschaft der Aufständischen lautete: „Eine so mutige Nation ist unsterblich.“ 1„Eure Freiheit ist unsere Freiheit und unsere Freiheit ist eure“ ist eine Parole des polnischen Befreiungskampfes von 1848.
Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen. Bei einer Gedenkveranstaltung zu dessen 83. Jahrestag erinnerte Kulturstaatsministerin Roth an das millionenfache Leid, das Deutschland von 1939 bis 1945 über Polen und ganz Europa gebracht hat. „Die Lektionen der Vergangenheit, die der eigenen und die der gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichte“, sollen nicht länger verdrängt, sondern zurückgeholt werden „in das Bewusstsein unserer Gesellschaft“, so Roth in Berlin.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Besuchs des ABB-Ausbildungszentrums am 6. September 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-besuchs-des-abb-ausbildungszentrums-am-6-september-2022-2123504
Tue, 06 Sep 2022 13:38:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Voser, sehr geehrter Herr Ochsner, sehr geehrte Herr Atiya, sehr geehrte Herren Botschafter, liebe Auszubildende! Für Sie insgesamt beginnt heute ein neuer Lebensabschnitt. Sie starten in Ihre berufliche Zukunft. Ich will Ihnen gleich vorweg sagen: Dass Sie heute hier sind und Ihre Ausbildung anfangen, damit haben Sie alles richtig gemacht! Denn die duale Berufsausbildung ist und bleibt die wichtigste Ausbildung in Deutschland. Eine abgeschlossene Berufsausbildung ist die Grundlage für ein sicheres Einkommen und für viele der anderen Ziele, die Sie vielleicht schon haben – sich etwas aufbauen zu können, eine Familie zu gründen und vieles mehr. Seit ich Politik mache, beschäftigt mich die Frage, wie wir es schaffen, dass sich wieder mehr junge Leute für eine Berufsausbildung entscheiden, und wie wir dafür sorgen, dass sie einen Ausbildungsplatz finden, der zu ihnen passt und der ihnen Spaß macht. Darüber haben wir auch letzte Woche auf der Klausur mit allen Ministerinnen und Ministern beraten. Meine Erfahrung ist, dass man viel stärker über die vielen Berufsmöglichkeiten und Karrierechancen informieren muss und dass man damit frühzeitig anfangen muss – in der achten, neunten und zehnten Klasse der Schulen, vielleicht auch einmal über ein Praktikum in einem Betrieb. Deshalb habe ich mich in unterschiedlichen Funktionen immer dafür eingesetzt, dass wir mehr Jugendberufsagenturen haben und dort junge Leute bei ihrer Berufswahl unterstützen. Denn die Welt hat sich weitergedreht. Es ist heute nicht mehr so wie vor 30, 40 Jahren, als viele geschaut haben, was Eltern, Onkel oder Tanten beruflich machen, und dann in diese Fußstapfen getreten sind. Heute wollen auch nur noch die wenigsten mit 17 Jahren entscheiden, welchen Beruf sie für den Rest des Lebens ausüben möchten. Die Berufswege sind heute viel offener als früher. Wer später im Leben noch einmal etwas Neues ausprobieren möchte und sich zum Beispiel für eine zusätzliche oder andere Berufsausbildung entscheidet, für den muss das mit staatlicher und betrieblicher Unterstützung möglich sein. Das war mir immer ein großes Anliegen. Genauso gibt es die Möglichkeit, für die ich mich immer stark eingesetzt habe, dass man auch mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung später noch studieren kann, übrigens auch ohne Abitur. In vielen Ländern in Deutschland geht das schon. Natürlich gibt es auch diejenigen, die sich gar nicht nach der achten, neunten oder zehnten Klasse, sondern nach dem Abitur für eine Berufsausbildung entscheiden, weil sie etwas Praktisches machen wollen, und die machen nichts falsch. Aber nicht nur bei den Berufswegen hat sich vieles getan, auch bei den Berufen selbst. Ich habe einmal ein „Lexikon der untergegangenen Berufe“ in die Hände bekommen. Da gab es Berufe wie Ahlenschmiede, die Ahle hergestellt haben, also natürlich nicht die Fische, sondern so ein nadelartiges Werkzeug. Oder Zentgrafen, die im Auftrag ihrer Herren, meist eben Grafen, Steuern eingetrieben haben. Heute macht das der Arbeitgeber automatisch mit dem Finanzamt. So, wie manche Berufe aussterben, kommen auch neue Zukunftsberufe hinzu – von der Elektronikerin für Automatisierungstechnik bis hin zum Zerspanungsmechaniker. Aber wem sage ich das: Die allermeisten von Ihnen haben sich ja für genau so einen Zukunftsberuf und vor allem auch für eine Ausbildung im ABB-Ausbildungszentrum entschieden. Denn hier hat man diese Zukunft fest im Blick. Deshalb ist man hier bei ABB weltweit führend, zum Beispiel bei der installierten Basis von Schnellladesäulen, die wir für die Elektromobilität und für die Transformation hin zu einer digitalen und klimaneutralen Wirtschaft so dringend brauchen. Mit dem Neubau der „Lernfabrik 4.0“, den wir gleich eröffnen, schlägt ABB heute ein neues Kapitel in der Aus- und Weiterbildung seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in modernsten Fertigungstechniken auf. Hier gibt es die State-of-the-Art-Ausbildung in digitalen Berufsfeldern wie Robotik, Fachinformatik für digitale Vernetzung oder Systemintegration. Zugleich schreibt ABB so eine Art von Geschichte erfolgreicher Verbundausbildung fort, die vor über 60 Jahren begonnen hat. Schließlich ist das ABB-Ausbildungszentrum hier in Pankow mit heute, wie wir schon gehört haben, insgesamt 800 Auszubildenden aus 150 Partnerunternehmen in 18 Ausbildungsberufen eines der größten industriellen Ausbildungszentren in Deutschland und ein echtes Aushängeschild unserer weltweit angesehenen und bewunderten dualen Ausbildung. All das zeigt: Sie, liebe Auszubildende, haben sich genau den richtigen Ort für Ihre Ausbildung ausgesucht! Die wichtigste Zukunftsinvestition, die ABB und seine Partnerbetriebe unternehmen, ist aber die Investition in Sie, in Ihre Qualifikationen. Denn Fachkräfte, das erleben wir heute überall, sind das A und O für wirtschaftlichen Erfolg, erst recht in einem rohstoffarmen Land wie Deutschland, das von Ideen und Innovationen abhängt. Deshalb möchte ich auch ABB und den Partnerunternehmen sagen: Glückwunsch zu diesem Ausbildungslehrgang! Sie werden im Übrigen noch viele suchen müssen; es gibt ja doch einen Mangel. Insofern sollten Sie alle gut behandeln. Hier ist Ihr Fachkräftenachwuchs, die Zukunft Ihres Unternehmens! Als Unternehmerinnen und Unternehmer, Ausbilderinnen und Ausbilder wissen Sie selbst am besten, wie wichtig gut ausgebildete Fachkräfte und vielleicht auch spätere Führungskräfte sind ‑ ein Beispiel hat eben hier gesprochen ‑ und wie wichtig dafür das Miteinander im Betrieb ist. Früher ‑ ganz früher ‑ hieß es ja immer: „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“. – Auch das hat sich heute und zum Glück schon sehr, sehr lange geändert. Denn Lehrjahre sind vielmehr eine Zeit, in der beide Seiten Verantwortung übernehmen: Ausbildungsstätte und Betrieb genauso wie die Auszubildenden selbst. Gemeinsam wird das was mit dem beruflichen Erfolg, und für genau diesen Erfolg wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen alles Gute! Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Empfangs der Preisträgerinnen und Preisträger des 57. Bundeswettbewerbs von „Jugend forscht“ am 6. September 2022
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Tue, 06 Sep 2022 11:36:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
keine Themen
Liebe Preisträgerinnen und Preisträger, liebe Bettina Stark-Watzinger, sehr geehrter Herr Dr. Baszio, liebe Freunde und Förderer von „Jugend forscht“, herzlich willkommen im Kanzleramt! Seit über 40 Jahren ist es Tradition, dass der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin alle Preisträgerinnen und Platzierten von „Jugend forscht“ ins Kanzleramt einlädt, seit Helmut Schmidt das 1981 eingeführt hat. Und doch ist dieser Termin heute eine doppelte Premiere – zum einen natürlich für mich als immer noch einigermaßen neuen Bundeskanzler. Und zum anderen, weil dieser Termin in den vergangenen zwei Jahren der Coronapandemie zum Opfer gefallen ist. Umso schöner ist es, dass wir uns heute live und in Farbe hier treffen. An dieser Stelle schon einmal ein großes Dankeschön allen, die „Jugend forscht“ seit Jahren begleiten und auch in der Pandemie treu unterstützt haben – den Ehrenamtlichen, den Wettbewerbsleiterinnen und Wettbewerbsleitern, den Jurymitglieder und natürlich den Projektbetreuerinnen und ‑betreuern! Ohne Ihren Einsatz wäre dieser Wettbewerb nicht möglich. Dafür herzlichen Dank! Ein herzliches Dankeschön natürlich auch denjenigen, um die es bei „Jugend forscht“ geht! Das sind Sie, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, und zwar diejenigen, die gewonnen haben, genauso wie diejenigen, die den Wettbewerb durch ihre Ideen und ihr Engagement bereichert haben. 8 500 junge Forscherinnen und Forscher haben in diesem Jahr ihre Projekte eingereicht. Auch wenn wir noch nicht ganz bei der Hälfte sind, sind über 40 Prozent davon Forscherinnen. Das freut mich ganz besonders, und ich würde mir wünschen, dass wir in den nächsten Jahren die 50 Prozent erreichen, bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern genauso wie bei den Preisträgerinnen und Preisträgern. Meine Damen und Herren, „Jugend forscht“ hat nicht nur eine Tradition hier im Haus, sondern auch eine lange wissenschaftliche Tradition. Der Grund dafür, warum der Wettbewerb 1965 ins Leben gerufen wurde, war ein hochpolitischer. Auslöser war der sogenannte Sputnikschock. Der Sowjetunion war es damals gelungen, einen Satelliten namens Sputnik in die Erdumlaufbahn zu schießen, um damit dem Westen beim Wettlauf um den Weltraum plötzlich einen Schritt voraus zu sein. Im Zuge dessen traf man in Deutschland die Entscheidung, Bildung und Forschung stärker zu unterstützten, vor allem den wissenschaftlichen Nachwuchs. So entstand „Jugend forscht“ als breites Bündnis aus Schule, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Medien, um die Forscherinnen und Forscher von morgen zu finden. Ich erwähne das, weil wir auch in diesem Jahr einen großen Schock erlebt haben. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt nicht nur die Friedensordnung in Europa infrage. Er hat weltweite Folgen für die Energieversorgung, die Nahrungsmittelsicherheit und die Verfügbarkeit von Rohstoffen. Zugleich stehen wir vor der größten Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft seit Beginn der Industrialisierung, weil wir in Deutschland bis 2045 klimaneutral werden wollen, ja, müssen, um Ihnen und den nachfolgenden Generationen gute Lebenschancen zu erhalten. Damit das gelingt, brauchen wir kreative Ideen und neue technische Innovationen, Erfindergeist und Kreativität. Selten zuvor waren diese Eigenschaften so wichtig, erst recht für ein Land wie unseres ohne viele Rohstoffe, das abhängig von Ideen und Innovationen ist. Wer hat diese mehr als junge Leute wie Sie, liebe Preisträgerinnen und Preisträger? Schließlich ist die Jugend nachweislich die Phase der größten Schöpfungskraft. Albert Einstein beispielsweise hat die Relativitätstheorie bis Mitte 20 entwickelt und nicht, als er schon graue Haare hatte. Nicht umsonst werden auch einige große Preise, wie die Fields-Medaille für Mathematik, nur an Forscherinnen und Forscher unter 40 Jahren vergeben. Sie, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, sind mit „Jugend forscht“ also schon auf einem guten Weg. Damit dieser Weg so erfolgreich weitergeht und Sie vielleicht sogar beruflich in die Wissenschaft und Forschung führt, braucht es gute Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen von Weltrang. Deswegen hat die Bundesregierung die Förderung von Bildung, Wissenschaft und Forschung zu einem ihrer Schwerpunkte gemacht. Deutschland zählt weltweit zur Spitzengruppe der Länder, die die meisten Finanzmittel für Forschung und Entwicklung aufwenden, seit einigen Jahren über drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Jetzt wollen wir noch einmal etwas oben darauflegen und 3,5 Prozent bis 2025 erreichen. Gute Aussichten also für angehende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler! Deshalb möchte ich Sie ermutigen: Tragen Sie Ihre Begeisterung und das Interesse an Forschung und Wissenschaft weiter! Dabei ist es übrigens zweitrangig, ob Sie diese Begeisterung an eine Universität oder Forschungseinrichtung oder über eine Berufsausbildung direkt in die Praxis führt. Heute Nachmittag bin ich zum Beispiel zu Besuch in einem großen industriellen Ausbildungszentrum in Berlin-Pankow, wo der neue Ausbildungsjahrgang startet. Dort wird in Robotik, Informationstechnik oder im Maschinen- und Anlagenbau weltweit führend ausgebildet. Den angehenden Auszubildenden werde ich das genauso sagen: Für die anstehende Transformation hin zu einer klimaneutralen und digitalen Wirtschaft und Gesellschaft brauchen wir beides. Wir brauchen diejenigen, die sich schlaue Dinge überlegen und diejenigen, die das am Ende umsetzen und bauen. Beides muss Hand in Hand gehen und ist gleichermaßen wichtig. Beides verdient gleichermaßen Respekt. Meine Damen und Herren, Respekt verdient auch der Sonderpreis für die originellste Arbeit, den ich heute vergeben darf. Diesen Preis erhält in diesem Jahr Cornelius-Ägidian Quint von der Herman-Tast-Schule in Husum für seine Arbeit mit dem Titel „Schnelle Samen für neue Moore“. Intakte Moore speichern bekanntlich große Mengen des Treibhausgases Kohlendioxid. Herr Quint hat die Möglichkeit erforscht, wie sich Moose auf trockengelegten Moorflächen schneller wiederansiedeln lassen. Für mich klingt das nach einer bahnbrechenden Idee, nach einer Art Kreislaufwirtschaft für Moore. Ich bin gespannt darauf, gleich noch mehr dazu zu hören. Herzlichen Glückwunsch zu diesem Sonderpreis und natürlich auch herzlichen Glückwunsch allen übrigen Preisträgerinnen und Preisträgern! Einen schönen Tag!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich 25 Jahre Freundeskreis Yad Vashem in Deutschland am 4. September 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-25-jahre-freundeskreis-yad-vashem-in-deutschland-am-4-september-2022-2082564
Sun, 04 Sep 2022 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte Frau Ben-Ami, sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin, sehr geehrter Herr Botschafter Prosor, sehr geehrter Herr Dr. Schuster, sehr geehrter Herr Dr. Joffe, sehr geehrter Herr Rabbiner Dr. Ehrenberg, sehr geehrte Frau Ur, sehr geehrter Herr Diekmann, sehr geehrte Mitglieder des deutschen Freundeskreises Yad Vashem, sehr geehrte Damen und Herren, am 4. September 1931 brachte Hildegard Fuss in Berlin ihr erstes Kind zur Welt; es war ein Mädchen. Hildegard und ihr Mann Abraham zogen in eine Wohnung in der Fehrbelliner Straße; ein zweites Kind wurde geboren. Die Zukunft lag vor ihnen. Bis 1933 die Nationalsozialisten die Macht übernahmen und damit begannen, ihre mörderische Absicht in die Tat umzusetzen: Alles jüdische Leben sollte ausgelöscht werden. Am 13. September 1939, wenige Tage nach dem achten Geburtstag seiner Tochter, wurde Abraham verhaftet und nach Sachsenhausen deportiert. Hildegard war wieder schwanger. Sie ließ die Kinder beim Großvater und floh aus Nazi-Deutschland nach Schweden. Doch der Plan, die Familie zu sich zu holen, sobald sie in Sicherheit wäre, scheiterte. Am 19. Oktober 1942 deportierte die Gestapo die Tochter von Abraham und Hildegard nach Riga. Unmittelbar nach ihrer Ankunft wurde sie ermordet. Sie war elf Jahre alt. Ihr Name war Ruth. Yad Vashem wurde geschaffen, um an jede Einzelne und jeden Einzelnen zu erinnern, den die Nationalsozialisten umgebracht haben. 4,7 Millionen Namen sind bislang aufgeschrieben worden und füllen ganze Regalwände der Ausstellung. Kein Name soll vergessen werden, auch die Dimension des millionenfachen Massenmordes nicht. Als ich im März die Gedenkstätte besuchte, war ich tief berührt; das furchtbare Verbrechen, das Deutsche an sechs Millionen europäischen Juden begangen haben, wird spürbar. Die Namen der Ermordeten werden in die Gegenwart gerettet. Die Nationalsozialisten und ihre Helfer haben tiefe Wunden geschlagen, die bis heute in den Familien der Überlebenden und der Toten schmerzen. Auch in unserem Land, unserer Kultur, unserer Gesellschaft klafft eine tiefe Lücke. Umso glücklicher dürfen wir uns schätzen über Orte wie diese Synagoge im Herzen Berlins, über jüdische Kultur in Deutschland. Umso größer ist unsere Pflicht, jüdisches Leben zu fördern und zu schützen. Wer die Zeitzeugen hört, der kann das Leid, das sie durchgemacht haben, nur erahnen. Umso dankbarer bin ich Ihnen, liebe Frau Ben-Ami, dass Sie uns heute teilhaben lassen an Ihren bedrückenden und auch beeindruckenden Geschichten und dass Sie uns von den Kindern erzählen. Es muss viel Kraft kosten, immer wieder von dem unvorstellbaren Verbrechen Zeugnis abzulegen. Ihre Berichte nehmen uns in die Pflicht. Der deutsche Freundeskreis der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem ist wichtig, damit wir dieser Verpflichtung gerecht werden. Sie widmen sich der Aufgabe, Verlust und Leid sichtbar zu machen, Erinnerung in die Gegenwart zu bringen, damit unser „Nie wieder!“ auch in Zukunft Bestand hat. Immer weniger Überlebende können unmittelbar zu uns sprechen, und so bekommen Objekte und Bilder eine wichtigere Rolle. Vielen von Ihnen wird das eindrucksvolle Projekt „Licht zeigen“ zum diesjährigen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar präsent sein. Wir haben eben schon davon gehört, dass zu Chanukka 1931 Rahel Posner, die Frau des letzten Rabbiners in Kiel vor der Shoah, den Chanukka-Leuchter ihrer Familie fotografiert hat und ihn bewusst ins Fenster gestellt hat. 70 000 Kopien dieses Bildes wurden im Januar dieses Jahres von Tausenden von Menschen in der ganzen Stadt ausgehängt. Eine ganze Region bekannte sich symbolisch zum Licht und wendete sich gegen das Dunkel von Ausmerzung, Gewalt und Vergessen. Solche Momente sind wichtig, gerade auch für die jüngere Generation. Die Bundesregierung hat sich daher verpflichtet, das Programm „Jugend erinnert“ zu verstetigen und zu modernisieren. Eine Linie richtet sich gezielt an NS-Gedenkstätten und -Dokumentationszentren in Deutschland, die wir dabei unterstützen, innovative Bildungsformate mit und für junge Menschen zu entwickeln und weiter auszubauen. Ein Projekt etwa beschäftigt sich mit der Wirkung von Hasssprache in Geschichte und Gegenwart. In einer anderen Initiative werden Bildungsformate für angehende Justiz‑, Notar- und Rechtsanwaltsfachangestellte angeboten. Wir wollen natürlich auch den internationalen Austausch unter Jugendlichen stärker fördern. Das Deutsch-Israelische Jugendwerk, das wir auf den Weg bringen wollen, wäre ein ganz großer Schritt. All dies ist wichtiger denn je in Zeiten, in denen Antisemitismus und Rassismus zunehmen. Die Zahlen zeigen auf erschreckende Weise, wie dringend der Handlungsbedarf ist. Im vergangenen Jahr ist die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland auf 3027 gestiegen, eine Steigerung von nahezu 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Dagegen kommen wir nur an, wenn eine handlungsbereite Politik und eine engagierte Zivilgesellschaft zusammenwirken. Deshalb bin ich dem Freundeskreis dankbar für seine wichtige Arbeit, die in die Gesellschaft ausstrahlt. Für die Bundesregierung kann ich sagen: Der Kampf gegen Antisemitismus, der Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus hat für uns allerhöchste Priorität. Mit dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“ haben wir ein bundesweit arbeitendes Kompetenznetzwerk gegen Antisemitismus aufgebaut und finanzieren zahlreiche Projekte zur Prävention von Antisemitismus, aber auch Beratungsstellen für Betroffene in den Landes-Demokratiezentren in allen Bundesländern. Antisemitismus ‑ und dazu zählt die Relativierung des Holocausts ‑ werden wir in Deutschland nicht dulden. Das werde ich auch in meinem Gespräch mit Präsident Herzog und Ministerpräsident Lapid noch einmal bekräftigen. Der Holocaust, die Tötung von sechs Millionen Menschen, ist singulär. Wer den Holocaust infrage stellt, wer falsche Vergleiche anstellt, der verharmlost und verfälscht Geschichte, der schürt Hass und Gewalt, der verhöhnt die Opfer. Das haben wir der Führung der Palästinenser nach Mahmud Abbas‘ empörender Entgleisung hier auf deutschem Boden unmissverständlich klargemacht. Wir führen den Kampf gegen Holocaustrelativierung auch auf internationaler Ebene mit höchster Priorität. Zusammen mit Israel haben wir erst im Januar eine Resolution gegen das Leugnen und Trivialisieren des Holocausts in die UN-Generalversammlung eingebracht. Auch während der deutschen Präsidentschaft der International Holocaust Remembrance Alliance in den Jahren 2020 und 2021 war dies eines unserer zentralen Themen. Meine Damen und Herren, noch einen weiteren Namen möchte ich heute Abend nennen, den Namen eines Mannes, der wie Sie, Frau Ben-Ami, nicht müde wurde, Zeugnis abzulegen von dem, was er als Zwangsarbeiter und Häftling in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten erlebt hatte. Es war der Ukrainer Boris Romantschenko. Am 18. März ist er in Charkiw gestorben. Er wurde Opfer russischer Bomben. Romantschenko steht für zahlreiche Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in der Ukraine, die ihre jungen Lebensjahre in ständiger Furcht vor Terror und Tod durch die nationalsozialistischen Besatzer und ihre Schergen verbrachten und die sich heute, fast ein Menschenleben später, vor Krieg, Bomben und Besatzung fürchten müssen. Der Gedanke ist schwer zu ertragen. Umso wichtiger ist mir, dass Holocaust-Überlebende aus der Ukraine hier in Deutschland Aufnahme finden und Schutz erhalten ‑ ausgerechnet in Deutschland, muss man wohl hinzufügen. 94 Überlebende konnten wir bislang hierherholen, in Sicherheit, nach Deutschland. Das sagen zu dürfen, erfüllt mich mit großer Demut, weil darin mitschwingt, wie verändert diese Männer und Frauen unser Land sehen. Das Fundament einer solchen Veränderung ist aber eben, das unfassbare Verbrechen des Holocausts niemals zu vergessen. Darum geht es, wenn wir die Namen von Boris Romantschenko, von Rahel Posner, von Hildegard, Abraham und Ruth Fuss nennen und an ihre Leben erinnern. Dafür steht Yad Vashem. Dafür steht der deutsche Freundeskreis Yad Vashem, und dafür bin ich Ihnen zutiefst dankbar.
Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz beim Festakt zum Generationenprojekt Emscherumbau am 1. September 2022
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Thu, 01 Sep 2022 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Castrop-Rauxel
Sehr geehrter Professor Paetzel, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Frau Ministerin, sehr geehrter Herr Minister, sehr geehrter Herr Bürgermeister, verehrte Abgeordnete, liebe Kolleginnen und Kollegen, Meine Damen und Herren! Am Anfang war pure Ungläubigkeit. Es gibt einen Dokumentarfilm über den Emscherumbau, in dem eine Straßenszene aus dem Jahr 1991 zu sehen ist. Gezeigt wird eine Frau, die zu Fuß eine Emscherbrücke überquert. Aus dem Off wird sie von einem Journalisten gefragt: „Können Sie sich vorstellen, dass hier in der Emscher in ein paar Jahren mal wieder Fische schwimmen?“ – Schlagartig ändert sich der Gesichtsausdruck der Frau: Irritation! Völliges Befremden! Was für eine abwegige Frage! Schließlich erwidert sie fast empört: „In dem Dreckwasser? Doch keine Fische!“ Die kleine Szene ist deshalb so aufschlussreich, weil sie uns innerhalb weniger Sekunden klarmacht, wie visionär dieses Generationenprojekt Emscher-Umbau war, dessen glückliches Gelingen wir heute feiern. Als es vor 30 Jahren mit diesem Vorhaben losging, da konnte sich fast niemand auch nur vorstellen, dass die Emscher jemals wieder anders sein könnte – anders als das, was sie für die Bürgerinnen und Bürger dieser Region seit Menschengedenken gewesen ist: ein betonierter Abwasserkanal, eine offene Kloake, die übelriechende Karikatur eines Flusses. Ganz früher war die Emscher tatsächlich einmal ein verträumtes Flüsschen gewesen, ein mäanderndes Gewässer mit klarem Wasser, mit großer Artenvielfalt in einer dünn besiedelten Auenlandschaft. Aber dann, im 19. Jahrhundert, war die Industrialisierung angebrochen, und aus dieser ländlichen Region hier an Emscher und Ruhr entwickelte sich in rasendem Tempo der größte industrielle Ballungsraum der Welt. Kohlezechen und Stahlwerke, Fabriken und Brauereien, Millionen von Menschen – alle produzierten immer mehr Abwässer und Abfälle, die irgendwie entsorgt werden mussten. An eine unterirdische Kanalisation so wie anderswo war hier im Ruhrgebiet nicht zu denken; das konnte wegen der ständigen Bergsenkungen in der Kohleregion nicht funktionieren. Und so wurde die Emscher vor einem guten Jahrhundert ganz offiziell zu dem umgewidmet, was sie fortan für Generationen von Bürgerinnen und Bürgern war: der zentrale Abwassersammelkanal des Ruhrgebiets. „Köttelbecke“ hieß der Fluss nun im Volksmund, oder einfach nur die „Schwatte“ – die „Schwatte“ mit dem „Dreckwasser“. Meine Damen und Herren, heute stehen wir am Wasserkreuz Castrop-Rauxel an der hier bereits vollständig renaturierten Emscher und erleben, was noch vor drei Jahrzehnten völlig unmöglich schien – nicht nur für die Frau auf der Brücke. Heute fließt das Wasser der Emscher wieder glasklar und sauber. Heute geht von der Emscher kein fauliger Geruch mehr aus. Heute bedeutet es auch keinen sozialen Makel mehr, wenn jemand in einem Haus am Ufer der Emscher lebt – ganz im Gegenteil. Das alles ist das Ergebnis des erfolgreichen Emscherumbaus. Dabei ist dieser Umbau nicht nur das weltweit größte Renaturierungsprojekt mitten in Deutschlands größtem Ballungsraum, sondern er ist auch eines der größten und innovativsten Infrastrukturvorhaben in Europa überhaupt. Denn alles, was wir hier oberirdisch sehen und erleben – der naturnah gestaltete Flusslauf und das klare Wasser – hat technische Voraussetzungen, die im Zuge des Emscherumbaus in den vergangenen 30 Jahren geschaffen wurden und die jetzt unsichtbar unter der Erde liegen. Parallel zur Emscher sammelt heute der über 50 Kilometer lange neue Emscherkanal in bis zu 40 Metern Tiefe das Abwasser der gesamten Region. Insgesamt wurden mehr als 430 Kilometer neue unterirdische Kanäle gebaut – eine Strecke so lang wie die von hier bis Paris. Vier moderne neue Großkläranlagen reinigen das Abwasser, drei riesige neue Pumpwerke sorgen für das richtige unterirdische Gefälle. Das alles zusammen ist ein großartiger Beleg für innovative deutsche Ingenieurskunst und gute Arbeit, für die enge Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis. Das alles zusammen verdeutlicht zugleich die riesigen Dimensionen des Emscherumbaus. Insgesamt 5,5 Milliarden Euro wurden für dieses Generationenprojekt aufgewendet, eine großartige Innovation in bessere Lebensqualität hier im Ruhrgebiet. Zum Erfolg gehört dabei übrigens auch, dass die Emschergenossenschaft dieses gesamte riesige Infrastrukturvorhaben pünktlich und im Rahmen der veranschlagten Kosten zu einem guten Ende geführt hat. Wir sehen daran: It can be done. Auch in dieser Hinsicht ist der Emscher-Umbau also ein echtes Vorbild. Meine Damen und Herren, ich will den Rahmen aber noch etwas weiter aufspannen. Vor drei Jahrzehnten konnte sich so gut wie niemand vorstellen, dass aus der Emscher je wieder ein sauberer Fluss werden würde. Nochmals drei Jahrzehnte früher, im Jahr 1961, hatte Willy Brandt gefordert: „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden.“ Auch das konnte sich seinerzeit niemand vorstellen; auch das wurde zunächst als naives Wunschdenken abgetan. „Kübel voller Hohn“ seien wegen dieses Satzes über ihm ausgekippt worden, schrieb Brandt. Heute wissen wir: Willy Brandt hat mit diesem Satz vor sechs Jahrzehnten in visionärer Weise das umweltpolitische Umdenken in Deutschland angestoßen. Inzwischen ist der Himmel über der Ruhr tatsächlich längst wieder blau, heute ganz besonders, und in der Emscher schwimmen tatsächlich wieder Fische. Das zeigt, dass am Ende nicht die Kleingläubigen, die Mutlosen und Resignierten Recht behalten, sondern diejenigen, die gute Ideen haben und sich große Ziele setzen, die sich etwas vornehmen und an die Arbeit gehen, auch wenn das Ziel manchmal zuerst unerreichbar scheint und der Weg dorthin endlos. Das ist für mich die wichtigste Lehre überhaupt, die wir in Deutschland insgesamt aus dem Erfolg des Emscherumbaus ziehen können, aber auch ziehen müssen: Es kommt darauf an, dass wir uns mutig große Ziele setzen. Denn heute steht unser Land insgesamt vor enormen Aufgaben, und viele fragen sich etwas bang: Bekommen wir das denn hin? Da sind die steigenden Preise und die Energieknappheit; da ist die Klimakrise mit all ihren Auswirkungen, auch denen, die wir gerade erst in diesem trockenen Sommer in unseren Flüssen erlebt haben. Ich weiß, dass sich manche gerade nicht so recht vorstellen können, wie das am Ende alles gut ausgehen kann. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt: Das kann gut ausgehen, und das wird auch gut ausgehen. Das wird gut ausgehen, weil wir die Transformation unseres Landes hinaus aus den fossilen Brennstoffen jetzt beherzt anpacken. Wir packen sie an, indem wir in Zukunftstechnologien wie Wasserstoff investieren. Wir packen sie an, indem wir neue internationale Energiepartnerschaften aufbauen. Wir packen sie an, indem wir beim Ausbau erneuerbarer Energie und bei der digitalen Infrastruktur Bremsklötze herausnehmen und Verfahren beschleunigen. Das ist unser Weg. Denn wir haben uns dazu verpflichtet, dass Deutschland bis 2045 klimaneutral sein und zugleich hochmodernes Industrieland bleiben soll. Auch das ist ein Generationenprojekt, und auch dafür brauchen wir einen langen Atem – genau so, wie Sie alle ihn hier beim Emscherumbau bewiesen haben. Dafür brauchen wir Zusammenhalt, wenn es schwierig wird, und müssen dabei diejenigen unterhaken, die aus eigener Kraft nicht so schnell mitkommen. Das tun wir, etwa indem wir den Schulterschluss mit Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmern und der Wirtschaft und auch zwischen Wissenschaft und Politik suchen. Denn den großen Umbau, der jetzt vor uns liegt, werden wir nur gemeinsam hinbekommen. Darum werden wir diesen Weg gemeinsam gehen. Genau darauf kommt es an. Meine Damen und Herren, auch Sie haben es unterwegs mit manchen Zweiflern zu tun gehabt, die sich den Erfolg, den wir heute feiern, ganz einfach nicht vorstellen konnten. Sie haben trotzdem weitergemacht, und heute sind wir alle gemeinsam hier. Darum gilt mein großer Respekt allen, die über drei Jahrzehnte hinweg ihre Kraft und ihr Herzblut in dieses große Gemeinschaftswerk des Emscher-Umbaus gesteckt haben. Wir haben ja gesehen, dass manche jetzt schon pensioniert oder verrentet sind. Das zeigt, wie lang und andauernd das Projekt war. Aber Sie haben uns allen gezeigt, dass es geht. Ihre Arbeit ist ein fantastisches Beispiel gelingender Transformation und ein leuchtendes Vorbild für unser Land. Vielen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz an der Karls-Universität am 29. August 2022 in Prag
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-an-der-karls-universitaet-am-29-august-2022-in-prag-2079534
Mon, 29 Aug 2022 00:00:00 +0200
Prag
Sehr geehrte Frau Rektorin Professor Králíčková, verehrte Damen und Herren Prorektoren und Mitglieder der Fakultäten, sehr geehrter Herr Minister Bek, Exzellenzen, liebe Studentinnen und Studenten, meine Damen und Herren! Herzlichen Dank für die freundliche Einladung! Es ist mir eine große Ehre, an diesem historischen Ort ‑ quasi unter den Augen des Gründers dieser altehrwürdigen Institution ‑ zu Ihnen über die Zukunft sprechen zu können, über unsere Zukunft, die sich für mich mit einem Wort verbindet: Europa. Es gibt wohl keinen geeigneteren Ort dafür als die Stadt Prag, als diese Universität mit ihrem fast 700-jährigen Erbe. „Ad fontes“, zu den Quellen, so lautete der Ruf der großen Humanisten der europäischen Renaissance. Wer sich zu den Quellen Europas aufmacht, dessen Weg führt unweigerlich hierher, in diese Stadt, deren Erbe und Gestalt so europäisch sind wie die kaum einer anderen Stadt unseres Kontinents. Jedem amerikanischen oder chinesischen Touristen, der über die Karlsbrücke hinauf zum Hradschin läuft, ist das sofort klar. Deshalb sind sie ja hier, weil sie in dieser Stadt, zwischen ihren mittelalterlichen Burgen und Brücken, katholischen, protestantischen und jüdischen Gebetshäusern und Friedhöfen, gotischen Kathedralen und Art-Nouveau-Palais, Glashochhäusern und Fachwerkgässchen und im Sprachgewirr der Altstadt das finden, was Europa für sie so ausmacht: allergrößte Vielfalt auf engstem Raum. Wenn Prag also Europa im Kleinen ist, dann ist die Karlsuniversität so etwas wie die Chronistin unserer an Licht und Schatten so reichen europäischen Geschichte. Ob ihr Gründer, Kaiser Karl IV., sich selbst als Europäer verstand, vermag ich nicht zu sagen. Seine Biografie legt das nahe: geboren mit dem alten böhmischen Vornamen „Václav“, ausgebildet in Bologna und Paris, Sohn eines Herrschers aus dem Hause Luxemburg und einer Habsburgerin, deutscher Kaiser, König von Böhmen und von Italien. Dass an „seiner“ Universität ganz selbstverständlich Böhmen, Polen, Bayern und Sachsen neben Studenten aus Frankreich, Italien und England ihr Studium generale absolvierten, erscheint da nur folgerichtig. Aber weil diese Universität in Europa liegt, hat sie auch die Tiefpunkte europäischer Geschichte durchlitten: religiösen Eifer, die Teilung entlang sprachlicher und kultureller Grenzen, die ideologische Gleichschaltung während der Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Deutsche schrieben das dunkelste Kapitel: die Schließung der Universität durch die nationalsozialistischen Besatzer, die Erschießung protestierender Studierender, die Verschleppung und Ermordung Tausender Universitätsangehöriger in deutschen Konzentrationslagern. Diese Verbrechen schmerzen und beschämen uns Deutsche bis heute. Das auszusprechen, auch deshalb bin ich hier, zumal wir oft vergessen, dass Unfreiheit, Leid und Diktatur für viele Bürgerinnen und Bürger Mitteleuropas mit der deutschen Besatzung und den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs nicht endeten. Einer der zahlreichen großen Geister, die diese Universität hervorgebracht hat, hat uns daran bereits zu Zeiten des Kalten Kriegs erinnert. 1983 beschreibt Milan Kundera die „Tragödie Mitteleuropas“, nämlich wie Polen, Tschechen, Slowaken, Balten, Ungarn, Rumänen, Bulgaren und Jugoslawen nach dem Zweiten Weltkrieg „erwachten (…) und feststellten, dass sie sich im Osten befanden“, dass sie „von der Karte des Westens verschwunden“ waren. Auch mit diesem Erbe setzen wir uns auseinander ‑ gerade auch diejenigen von uns, die sich auf der westlichen Seite des Eisernen Vorhangs befanden, nicht nur, weil dieses Erbe ein Teil der europäischen Geschichte und damit unserer gemeinsamen Geschichte als Europäerinnen und Europäer ist, sondern auch, weil die Erfahrung der Bürgerinnen und Bürger Mittel- und Osteuropas ‑ das Gefühl, hinter einem Eisernen Vorhang vergessen und aufgegeben worden zu sein ‑ bis heute nachwirkt, übrigens auch in den Debatten über unsere Zukunft, über Europa. In diesen Tagen stellt sich erneut die Frage, wo künftig die Trennlinie verläuft zwischen diesem freien Europa und einer neoimperialen Autokratie. Von einer Zeitenwende habe ich nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar gesprochen. Putins Russland will mit Gewalt neue Grenzen ziehen ‑ etwas, das wir in Europa nie wieder erleben wollten. Der brutale Überfall auf die Ukraine ist somit auch ein Angriff auf die europäische Sicherheitsordnung. Dem stellen wir uns mit aller Entschlossenheit entgegen. Dafür brauchen wir eigene Stärke ‑ als Einzelstaaten, im Verbund mit unseren transatlantischen Partnern, aber eben auch als Europäische Union. Geboren wurde dieses vereinte Europa als ein nach innen gerichtetes Friedensprojekt. Nie wieder Krieg zwischen seinen Mitgliedstaaten, so lautete das Ziel. Heute ist es an uns, dieses Friedensversprechen weiterzuentwickeln, indem wir die Europäische Union in die Lage versetzen, ihre Sicherheit, ihre Unabhängigkeit und ihre Stabilität auch gegenüber Herausforderungen von außen zu sichern. Das ist die neue Friedensaufgabe Europas, meine Damen und Herren. Das ist es, was wohl die meisten Bürgerinnen und Bürger von Europa erwarten, und zwar im Westen wie im Osten unseres Kontinents. Es ist daher eine glückliche Fügung, dass in diesen Zeiten mit der Tschechischen Republik ein Land die EU-Ratspräsidentschaft innehat, das die Bedeutung dieser Aufgabe schon lange erkannt hat und Europa in die richtige Richtung leitet. Tschechien hat dafür die volle Unterstützung Deutschlands, und ich freue mich auf die gemeinsame Arbeit mit Ministerpräsident Fiala, um die richtigen europäischen Antworten auf die Zeitenwende zu geben. Die erste davon lautet: Wir nehmen Russlands Angriff auf den Frieden in Europa nicht hin. Wir sehen nicht einfach zu, wie Frauen, Männer und Kinder umgebracht, wie freie Länder von der Landkarte getilgt werden und hinter Mauern oder eisernen Vorhängen verschwinden. Wir wollen nicht zurück ins 19. oder 20. Jahrhundert, mit seinen Eroberungskriegen und seinen totalitären Exzessen. Unser Europa ist in Frieden und Freiheit geeint, offen für alle europäischen Nationen, die unsere Werte teilen. Vor allem aber ist es die gelebte Absage an Imperialismus und Autokratie. Die Europäische Union funktioniert nicht durch Über- und Unterordnung, sondern durch die Anerkennung von Verschiedenheit, durch Augenhöhe zwischen ihren Mitgliedern, durch Pluralität und den Ausgleich unterschiedlicher Interessen. Putin ist genau dieses vereinte Europa ein Dorn im Auge, weil es nicht in seine Weltsicht passt, in der sich kleinere Länder einer Handvoll europäischer Großmächte zu fügen haben. Umso wichtiger ist, dass wir unsere Idee von Europa gemeinsam verteidigen. Daher unterstützen wir die angegriffene Ukraine: wirtschaftlich, finanziell, politisch, humanitär und auch militärisch. Hier hat Deutschland in den letzten Monaten grundlegend umgesteuert. Wir werden diese Unterstützung aufrechterhalten, verlässlich und so lange wie nötig. Das gilt für den Wiederaufbau des zerstörten Landes, der eine Kraftanstrengung für Generationen wird. Das erfordert internationale Abstimmung und eine kluge, belastbare Strategie. Darum wird es bei einer Expertenkonferenz gehen, zu der Kommissionspräsidentin von der Leyen und ich die Ukraine und ihre Partner aus aller Welt am 25. Oktober nach Berlin einladen. In den nächsten Wochen und Monaten erhält die Ukraine von uns zudem neue, hochmoderne Waffen, Luftverteidigungs- und Radarsysteme etwa oder Aufklärungsdrohnen. Allein unser letztes Paket an Waffenlieferungen hat einen Wert von mehr als 600 Millionen Euro. Unser Ziel sind moderne ukrainische Streitkräfte, die ihr Land dauerhaft verteidigen können. Dafür dürfen wir alle aber nicht nur das an Kiew liefern, worauf wir selbst gerade verzichten können. Auch hier brauchen wir mehr Planung und Koordination. Gemeinsam mit den Niederlanden haben wir deshalb eine Initiative gestartet, die auf eine dauerhafte und verlässliche Arbeitsteilung zwischen allen Partnern der Ukraine abzielt. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass Deutschland besondere Verantwortung beim Aufbau der ukrainischen Artillerie und Luftverteidigung übernimmt. Auf solch ein System der koordinierten Unterstützung sollten wir uns schnell verständigen und damit unser Bekenntnis zu einer freien, unabhängigen Ukraine auf Dauer untermauern, so, wie wir es beim Europäischen Rat im Juni getan haben, als wir geschlossen „Ja“ gesagt haben. Ja, die Ukraine, die Republik Moldau, perspektivisch auch Georgien und natürlich die sechs Staaten des westlichen Balkans gehören zu uns, zum freien, demokratischen Teil Europas. Ihr EU-Beitritt liegt in unserem Interesse. Ich könnte das demografisch oder wirtschaftlich begründen oder, ganz im Sinne Milan Kunderas, kulturell, ethisch und moralisch. Alle diese Gründe tragen. Was aber heute klarer denn je hinzutritt, ist die geopolitische Dimension dieser Entscheidung. Realpolitik im 21. Jahrhundert heißt nicht, Werte hintanzustellen und Partner zu opfern zugunsten fauler Kompromisse. Realpolitik muss heißen, Freunde und Wertepartner einzubinden, sie zu unterstützen, um im globalen Wettbewerb durch Zusammenarbeit stärker zu sein. So verstehe ich übrigens auch Emmanuel Macrons Vorschlag einer europäischen politischen Gemeinschaft. Natürlich haben wir den Europarat, die OSZE, die OECD, die Östliche Partnerschaft, den Europäischen Wirtschaftsraum und die NATO. All das sind wichtige Foren, in denen wir Europäer auch über die Grenzen der EU hinaus eng zusammenarbeiten. Was aber fehlt, ist ein regelmäßiger Austausch auf politischer Ebene, ein Forum, in dem wir Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der EU und unsere europäischen Partner ein- oder zweimal jährlich die zentralen Themen besprechen, die unseren Kontinent als Ganzes betreffen: Sicherheit, Energie, Klima oder Konnektivität. Solch ein Zusammenschluss ‑ das ist mir ganz wichtig ‑ ist keine Alternative zur anstehenden EU-Erweiterung; denn wir stehen bei unseren Beitrittskandidaten im Wort ‑ bei den Ländern des Westlichen Balkans sogar schon seit fast 20 Jahren ‑, und diesen Worten müssen jetzt endlich Taten folgen. Zu Recht haben viele in den vergangenen Jahren nach einer stärkeren, souveräneren, geopolitischen Europäischen Union gerufen, nach einer Union, die ihren Platz in der Geschichte und Geografie des Kontinents kennt und stark und geschlossen in der Welt handelt. Die historischen Entscheidungen der vergangenen Monate haben uns diesem Ziel nähergebracht. Mit bisher nie da gewesener Entschlossenheit und Geschwindigkeit haben wir einschneidende Sanktionen gegen Putins Russland verhängt. Ohne die früher üblichen Kontroversen haben wir Millionen Frauen, Männer und Kinder aus der Ukraine aufgenommen, die bei uns Schutz suchen. Gerade die Tschechische Republik und andere Staaten Mitteleuropas haben ihr weites Herz und große Solidarität bewiesen. Dafür gebührt Ihnen mein allergrößter Respekt. Auch an anderer Stelle haben wir das Wort Solidarität neu mit Leben gefüllt. Wir arbeiten enger zusammen bei der Energieversorgung. Erst vor wenigen Wochen haben wir europäische Einsparziele beim Gasverbrauch beschlossen. Beides ist mit Blick auf den kommenden Winter essenziell, und gerade Deutschland ist für diese Solidarität sehr dankbar. Sie alle wissen, mit welcher Entschlossenheit Deutschland dabei ist, seine Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zu verringern. Wir bauen alternative Kapazitäten zur Einfuhr von Flüssiggas oder Erdöl auf, und wir tun dies solidarisch, indem wir auch den Bedarf von Binnenländern wie der Tschechischen Republik mit bedenken. Das habe ich Ministerpräsident Fiala bei seinem Besuch im Mai in Berlin zugesagt, und diese Solidarität werden wir sicher auch bei unserem Treffen heute noch einmal bekräftigen. Denn der Druck zur Veränderung auf uns Europäerinnen und Europäer wird wachsen, auch unabhängig von Russlands Krieg und seinen Folgen. In einer Welt mit acht ‑ künftig wohl mit zehn ‑ Milliarden Menschen ist jeder einzelne unserer europäischen Nationalstaaten für sich genommen viel zu klein, um allein seine Interessen und Werte durchzusetzen. Umso wichtiger ist es für uns, eine geschlossen handelnde Europäische Union zu schaffen. Umso wichtiger sind starke Partner, allen voran die Vereinigten Staaten. Dass heute mit Präsident Biden ein überzeugter Transatlantiker im Weißen Haus sitzt, ist ein Glück für uns alle. Welch unverzichtbaren Wert die transatlantische Partnerschaft hat, das haben wir in den vergangenen Monaten erlebt. Die NATO steht heute geschlossener denn je da, politische Entscheidungen treffen wir im transatlantischen Schulterschluss. Doch bei allem, was gerade Präsident Biden für unsere Partnerschaft getan hat, wissen wir zugleich, dass sich der Blick Washingtons stärker auch auf den Wettbewerb mit China und auf den asiatisch-pazifischen Raum richtet. Das wird für künftige amerikanische Regierungen ebenso gelten, vielleicht sogar noch mehr. In einer multipolaren Welt, und das ist die Welt des 21. Jahrhunderts, reicht es daher nicht, nur bestehende Partnerschaften zu pflegen, so wertvoll sie sind. Wir werden in neue Partnerschaften investieren ‑ in Asien, Afrika und Lateinamerika. Politische und wirtschaftliche Diversifizierung, das ist übrigens auch ein Teil der Antwort auf die Frage, wie wir mit der Weltmacht China umgehen und den Dreiklang vom „Partner, Wettbewerber und Rivalen“ einlösen. Der andere Teil dieser Antwort lautet: Wir müssen das Gewicht des geeinten Europas noch viel stärker zur Geltung bringen. Zusammen haben wir allerbeste Chancen, das 21. Jahrhundert in unserem, im europäischen Sinn mitzuprägen und zu gestalten ‑ als Europäische Union aus 27, 30 oder 36 Staaten mit dann mehr als 500 Millionen freien und gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern, mit dem größten Binnenmarkt der Welt, mit führenden Forschungseinrichtungen, Innovationen und innovativen Unternehmen, mit stabilen Demokratien, mit einer sozialen Versorgung und einer öffentlichen Infrastruktur, die auf der Welt ihresgleichen suchen. Das ist der Anspruch, den ich mit einem geopolitischen Europa verbinde. Die Erfahrung der vergangenen Monate zeigt doch: Blockaden lassen sich überwinden. Europäische Regeln lassen sich ändern ‑ wenn nötig, auch im Eiltempo. Selbst die europäischen Verträge sind nicht in Stein gemeißelt. Wenn wir gemeinsam zu dem Schluss kommen, dass die Verträge angepasst werden müssen, damit Europa vorankommt, dann sollten wir das tun. Abstrakte Diskussionen darüber führen uns aber nicht weiter. Wichtig ist vielmehr, dass wir uns angucken, was geändert werden muss, und dann konkret entscheiden, wie wir das angehen. „Form follows function“: Dieser Anspruch moderner Architektur gehört als Grundsatz dringend auch in die europäische Politik. Dass Deutschland dazu Vorschläge liefern und sich dafür auch selbst bewegen muss, liegt für mich auf der Hand. Auch deshalb bin ich also hier, in der Hauptstadt der EU-Ratspräsidentschaft, um Ihnen und unseren Freunden in Europa einige meiner Ideen zur Zukunft unserer Union vorzustellen. Ideen sind das, wohlgemerkt, Angebote, Denkanstöße ‑ keine fertigen deutschen Lösungen. Deutschlands Verantwortung für Europa liegt für mich darin, dass wir zusammen mit unseren Nachbarn Lösungen erarbeiten und dann gemeinsam entscheiden. Ich will keine EU der exklusiven Clubs oder Direktorien, sondern eine EU gleichberechtigter Mitglieder. Ich füge ganz ausdrücklich hinzu: Dass die EU weiter in Richtung Osten wächst, ist für uns alle ein Gewinn. Deutschland als Land in der Mitte des Kontinents wird alles dafür tun, Ost und West, Nord und Süd in Europa zusammenzuführen. In diesem Sinne bitte ich Sie auch die folgenden vier Überlegungen zu verstehen. Erstens: Ich setze mich ein für die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten des Westbalkans, um die Ukraine, um Moldau und perspektivisch auch um Georgien. Eine Europäische Union mit 30 oder 36 Staaten aber wird anders aussehen als unsere heutige Union. Das liegt auf der Hand. Europas Mitte bewegt sich ostwärts, könnte man angelehnt an den Historiker Karl Schlögel sagen. In dieser erweiterten Union werden die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zunehmen, was die politischen Interessen, die Wirtschaftskraft oder die Sozialsysteme angeht. Die Ukraine ist nicht Luxemburg, und Portugal blickt anders auf die Herausforderungen der Welt als Nordmazedonien. Zuallererst sind die Kandidatenländer gefordert, die Kriterien für den Beitritt zu erfüllen. Dabei werden wir sie bestmöglich unterstützen. Doch auch die EU selbst müssen wir fit machen für diese große Erweiterung. Das wird Zeit brauchen, und deshalb müssen wir jetzt damit anfangen. Auch bei bisherigen Erweiterungsrunden sind Reformen in den Beitrittsländern übrigens Hand in Hand gegangen mit institutionellen Reformen innerhalb der Europäischen Union. So wird es auch dieses Mal sein. Wir können dieser Debatte nicht aus dem Weg gehen ‑ jedenfalls dann nicht, wenn wir es ernst meinen mit der Beitrittsperspektive. Und wir müssen unsere Beitrittsversprechen ernst meinen. Denn nur so erreichen wir Stabilität auf unserem Kontinent. Also lassen Sie uns über Reformen reden. Im Rat der EU, auf der Ebene der Ministerinnen und Minister, ist schnelles und pragmatisches Handeln gefragt. Das muss auch in Zukunft gesichert sein. Dort, wo heute Einstimmigkeit erforderlich ist, wächst aber mit jedem weiteren Mitgliedstaat auch das Risiko, dass ein einzelnes Land mit seinem Veto alle anderen am Vorankommen hindert. Wer anderes glaubt, der verleugnet die europäische Realität. Ich habe deshalb vorgeschlagen, in der gemeinsamen Außenpolitik, aber auch in anderen Bereichen wie der Steuerpolitik, schrittweise zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen ‑ wohl wissend, dass dies auch Auswirkungen für Deutschland hätte. Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Ein Festhalten am Prinzip der Einstimmigkeit funktioniert nur, solange der Handlungsdruck gering ist. Spätestens angesichts der Zeitenwende aber ist das nicht mehr der Fall. Die Alternative zu Mehrheitsentscheidungen wäre im Übrigen nicht das Festhalten am Status quo, sondern ein Vorangehen in immer unterschiedlicheren Gruppen, ein Dschungel verschiedener Regeln und schwer handhabbarer Opt-ins und Opt-outs. Das wäre keine differenzierte Integration, sondern es wäre ein unübersichtlicher Wildwuchs und eine Einladung an alle, die gegen ein geeintes geopolitisches Europa wetten und uns gegeneinander ausspielen wollen. Das möchte ich nicht! Mein Werben für Mehrheitsentscheidungen ist gelegentlich kritisiert worden, und ich kann die Sorgen gerade der kleineren Mitgliedstaaten gut nachvollziehen. Auch in Zukunft muss jedes Land mit seinen Anliegen Gehör finden ‑ alles andere wäre ein Verrat an der europäischen Idee. Und weil ich diese Sorgen sehr ernst nehme, sage ich: Lassen Sie uns gemeinsam nach Kompromissen suchen! Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, zunächst in den Bereichen mit Mehrheitsentscheidungen zu beginnen, in denen es ganz besonders darauf ankommt, dass wir mit einer Stimme sprechen ‑ in der Sanktionspolitik zum Beispiel, oder in Fragen der Menschenrechte. Außerdem werbe ich für den Mut zur konstruktiven Enthaltung. Hier sehe ich uns Deutsche und alle anderen in der Pflicht, die von Mehrheitsentscheidungen überzeugt sind. Wenn möglichst viele dieser Idee folgen, kommen wir einem weltpolitikfähigen, geopolitischen Europa deutlich näher. Auch das Europäische Parlament wird an Reformen nicht vorbeikommen. In den Verträgen ist aus gutem Grund eine Höchstzahl von 751 Abgeordneten vorgesehen. Diese Zahl aber werden wir überschreiten, wenn neue Länder beitreten ‑ zumindest dann, wenn wir das Parlament einfach um die Sitze erweitern, die den neuen Mitgliedsländern nach den bisherigen Regeln zustünden. Wenn wir das Europäische Parlament nicht aufblähen wollen, dann brauchen wir also eine neue Balance, was seine Zusammensetzung angeht, und zwar unter Beachtung auch des demokratischen Prinzips, wonach jede Wählerstimme in etwa das gleiche Gewicht haben sollte. Um die richtige Balance zwischen Repräsentanz und Funktionsfähigkeit geht es schließlich auch bei der Europäischen Kommission. Eine Kommission mit 30 oder 36 Kommissaren stößt an die Grenzen ihrer Arbeitsfähigkeit. Wenn wir zudem daran festhalten, dass jede Kommissarin und jeder Kommissar einen eigenen Politikbereich verantwortet, dann führt das ‑ um an einen weiteren großen Sohn dieser Stadt zu erinnern ‑ zu kafkaesken Verhältnissen. Ich weiß zugleich, wie viel Wert alle Mitgliedstaaten darauf legen, mit „ihrem“ Kommissar oder „ihrer“ Kommissarin in Brüssel vertreten zu sein. Das ist auch wichtig, denn es zeigt: In Brüssel sitzen alle mit am Tisch. Alle entscheiden gemeinsam. Deshalb will ich an dem Grundsatz „Eine Kommissarin oder ein Kommissar pro Land“ nicht rütteln. Aber was spricht dagegen, dass zwei Kommissionsmitglieder gemeinsam für eine Generaldirektion zuständig sind? Das funktioniert nicht nur in Entscheidungsgremien von Unternehmen weltweit Tag für Tag. Auch in den Regierungen einiger Mitgliedstaaten gibt es solche Lösungen, sowohl in der Vertretung nach außen als auch bei der internen Zuständigkeitsverteilung. Suchen wir also nach solchen Kompromissen ‑ für ein funktionierendes Europa! Der zweite Gedanke, den ich mit Ihnen teilen möchte, hängt mit einem Begriff zusammen, über den wir in den vergangenen Jahren oft diskutiert haben: europäische Souveränität. Mir geht es dabei nicht um Semantik. Im Kern bedeutet europäische Souveränität doch, dass wir auf allen Feldern eigenständiger werden, dass wir mehr Verantwortung übernehmen für unsere eigene Sicherheit, dass wir noch enger zusammenarbeiten und zusammenstehen, um unsere Werte und Interessen weltweit durchzusetzen. Nicht nur Russlands Angriff auf die europäische Friedensordnung zwingt uns dazu. Ich habe die Abhängigkeiten schon erwähnt, in die wir uns begeben haben. Die russischen Energieimporte sind ein besonders augenfälliges Beispiel dafür, aber keineswegs das einzige. Nehmen wir etwa die Engpässe bei der Lieferung von Halbleitern: Solch einseitige Abhängigkeiten müssen wir schnellstmöglich beenden! Europa verdankt seinen Wohlstand dem Handel. Dieses Feld dürfen wir nicht anderen überlassen. Deshalb brauchen wir auch weitere, nachhaltige Freihandelsabkommen und eine ambitionierte Handelsagenda. Wenn wir über die Versorgung mit Rohstoffen oder seltenen Erden reden, dann denken wir vor allem an die Herkunftsländer weit weg von Europa. Eines wird dabei aber oft übersehen: Ein Großteil des Lithiums, Kobalts, Magnesiums oder Nickels, auf das unsere Betriebe so dringend angewiesen sind, ist längst hier bei uns in Europa. In jedem Handy, in jeder Autobatterie stecken wertvolle Rohstoffe. Wenn wir also über wirtschaftliche Souveränität reden, dann sollten wir auch darüber reden, dieses Potenzial noch viel stärker zu nutzen. Die Technologien dafür sind heute schon da. Was wir brauchen, sind gemeinsame Standards für den Einstieg in eine echte europäische Kreislaufwirtschaft ‑ ich nenne es: ein strategisches Update unseres Binnenmarkts. Wirtschaftliche Unabhängigkeit heißt nicht Autarkie. Das kann nicht das Ziel Europas sein, das immer von offenen Märkten und Handel profitiert hat und weiterhin profitiert. Aber auch wir brauchen einen „game plan“, so etwas wie eine Strategie „Made in Europe 2030“. Für mich heißt das: Dort, wo Europa verglichen mit dem Silicon Valley, Shenzhen, Singapur oder Tokio zurückliegt, wollen wir uns an die Spitze zurückkämpfen. Bei den für unsere Industrie so wichtigen Chips und Halbleitern sind wir dank einer echten europäischen Kraftanstrengung schon vorangekommen. Erst vor Kurzem hat zum Beispiel Intel Milliardeninvestitionen in Frankreich, Polen, Deutschland, Irland, Italien und Spanien angekündigt ‑ ein Riesenschritt hin zu einer neuen Generation von „Microchips Made in Europe“. Und das ist erst der Anfang: Mit Unternehmen wie Infineon, Bosch, NXP oder GlobalFoundries arbeiten wir an Projekten, die Europa technologisch an die Weltspitze führen. Denn unser Anspruch wird sich nicht darauf beschränken, in Europa nur Dinge herzustellen, die auch anderswo produziert werden können. Ich möchte ein Europa, das Vorreiter ist bei wichtigen Schlüsseltechnologien. Nehmen wir die Mobilität der Zukunft. Daten werden dabei die entscheidende Rolle spielen ‑ für das autonome Fahren, bei der Vernetzung unterschiedlicher Transportmittel oder bei der intelligenten Steuerung von Verkehrsströmen. Deshalb brauchen wir so schnell wie möglich einen einheitlichen, grenzüberschreitenden europäischen Raum für Mobilitätsdaten. Mit dem Mobility Data Space haben wir in Deutschland einen Anfang gemacht. Verknüpfen wir ihn mit ganz Europa! Er ist offen für alle, die etwas bewegen wollen. So können wir weltweit zum Vorreiter werden. Wenn wir über Digitalisierung sprechen, müssen wir groß denken ‑ und auch den Weltraum einbeziehen, denn Souveränität hängt im Digitalzeitalter von Fähigkeiten im Weltraum ab. Ein unabhängiger Zugang zum All, moderne Satelliten und Megakonstellationen ‑: das ist nicht nur für unsere Sicherheit entscheidend, sondern auch für den Umweltschutz, die Landwirtschaft und nicht zuletzt für die Digitalisierung, Stichwort: europaweites Breitband-Internet. Kommerzielle Akteure und Startups spielen dabei eine immer größere Rolle ‑ das erleben wir in den USA. Für eine starke, wettbewerbsfähige europäische Raumfahrt müssen auch wir deshalb neben den etablierten Playern auch solche innovativen Unternehmen fördern. Denn nur so haben wir eine Chance, dass das nächste Unternehmen wie SpaceX aus Europa kommt. Nicht zuletzt birgt auch unser großes Ziel, als Europäische Union bis 2050 klimaneutral zu werden, eine riesige Chance: nämlich auf diesem für die Zukunft der Menschheit entscheidenden Feld „first mover“ zu sein. Und zwar indem wir hier, bei uns in Europa, die Technologien entwickeln und zur Marktreife führen, die weltweit gebraucht und eingesetzt werden. Ich denke im Bereich Strom an den Aufbau der Netz- und Speicherinfrastruktur für einen echten Energiebinnenmarkt, der Europa mit Wasserkraft aus dem Norden, Wind von den Küsten und Sonnenenergie aus dem Süden versorgt ‑ verlässlich, im Sommer wie im Winter. Ich denke an ein europäisches Wasserstoff-Netz, das Erzeuger und Verbraucher verbindet und einen europäischen Elektrolyse-Boom auslöst. Denn nur mit Wasserstoff wird die Industrie klimaneutral. Ich denke an ein möglichst engmaschiges Netz an Elektro-Ladesäulen in jedem unserer Länder ‑ für Elektroautos, aber auch für LKWs. Und ich denke an Investitionen in neue klimaneutrale Kraftstoffe für den Flugverkehr und in die dafür nötige Infrastruktur, zum Beispiel an den Flughäfen ‑ damit das Ziel klimaneutraler Luftfahrt kein Traum bleibt, sondern Wirklichkeit wird, und zwar ausgehend von Europa. Diese ökologische und digitale Transformation unserer Wirtschaft wird erhebliche private Investitionen erfordern. Die Basis dafür sind ein starker und liquider EU-Kapitalmarkt und ein stabiles Finanzsystem. Die Kapitalmarkt- und die Bankenunion sind deshalb zentral für unseren zukünftigen Wohlstand. Meine Damen und Herren, das alles sind Schritte hin zu europäischer Souveränität. Lassen Sie mich noch einen weiteren Punkt herausgreifen, weil er beim Thema Souveränität und mit Blick auf den Krieg im Osten Europas eine entscheidende Rolle spielt: Wir brauchen in Europa ein besseres Zusammenspiel unserer Verteidigungsanstrengungen. Verglichen mit den USA gibt es in der EU ein Vielfaches an unterschiedlichen Waffensystemen. Das ist ineffizient, denn so müssen unsere Soldatinnen und Soldaten an vielen verschiedenen Systemen trainieren, und auch die Wartung und Instandsetzung ist teurer und aufwändiger. Auf das zurückliegende unkoordinierte Schrumpfen europäischer Armeen und Verteidigungsbudgets sollte jetzt ein koordinierter Aufwuchs europäischer Fähigkeiten erfolgen. Neben gemeinsamer Herstellung und Beschaffung ist dafür nötig, dass unsere Unternehmen bei Rüstungsprojekten noch viel enger zusammenarbeiten. Das macht eine noch viel engere Abstimmung auf europäischer Ebene unumgänglich. Deshalb ist es höchste Zeit, dass sich nicht nur die Landwirtschafts- und Umweltministerinnen und -minister eigenständig in Brüssel treffen. In diesen Zeiten brauchen wir einen eigenständigen Rat der Verteidigungsministerinnen und Verteidigungsminister. Um die Zusammenarbeit unserer Streitkräfte ganz praktisch zu verbessern, haben wir einige Instrumente bereits an der Hand. Neben der Europäischen Verteidigungsagentur und dem Verteidigungsfonds denke ich vor allem an eine Kooperation, wie sie in der Organisation zum Management von gemeinsamen Rüstungsvorhaben schon praktiziert wird. So wie wir mit den freien Grenzen im Schengenraum seinerzeit mit sieben Staaten angefangen haben, so kann diese Organisation zum Nukleus werden für ein Europa der gemeinsamen Verteidigung und Rüstung. Dafür werden wir alle unsere nationalen Vorbehalte und Regularien überprüfen müssen, etwa was die Nutzung und den Export gemeinsam hergestellter Systeme angeht. Aber das muss möglich sein ‑ im Interesse unserer Sicherheit und unserer Souveränität, die eben auch von europäischen Rüstungsfähigkeiten abhängt. Die NATO bleibt der Garant unserer Sicherheit. Richtig ist aber eben auch: Jede Verbesserung, jede Vereinheitlichung europäischer Verteidigungsstrukturen im EU-Rahmen stärkt die NATO. Wir sollten Lehren ziehen aus den Geschehnissen in Afghanistan im vorigen Sommer. Künftig muss die EU in der Lage sein, schnell und effektiv zu reagieren. Gemeinsam mit anderen EU-Partnern wird Deutschland deshalb dafür sorgen, dass die geplante schnelle Eingreiftruppe der EU 2025 einsatzfähig ist, und dann auch deren Kern stellen. Dafür braucht es eine klare Führungsstruktur. Wir müssen daher die ständige EU-Kommandozentrale und mittelfristig ein echtes EU-Hauptquartier mit allem ausstatten, was dafür finanziell, personell und technisch gebraucht wird. Deutschland wird sich dieser Verantwortung stellen, wenn wir im Jahr 2025 die schnelle Eingreiftruppe führen. Schließlich müssen wir unsere politischen Entscheidungsprozesse gerade in Krisenzeiten beweglicher machen. Für mich heißt das, die dafür vorhandenen Spielräume in den EU-Verträgen voll auszuschöpfen. Ja, das bedeutet ausdrücklich auch, noch viel stärker die Möglichkeit zu nutzen, Einsätze einer Gruppe von Mitgliedstaaten anzuvertrauen, die dazu bereit ist, sozusagen einer Koalition der Entschlossenen. Das ist EU-Arbeitsteilung im besten Sinne. Schon beschlossen ist, dass Deutschland Litauen mit einer schnell einsatzbereiten Brigade und die NATO mit weiteren Kräften in hoher Einsatzbereitschaft unterstützen wird. Die Slowakei unterstützen wir unter anderem bei der Luftverteidigung. Die Tschechische Republik und andere Länder kompensieren wir für die Abgabe sowjetischer Panzer an die Ukraine mit Panzern deutscher Bauart. Zugleich haben wir vereinbart, dass unserer Streitkräfte noch viel enger kooperieren. Auch die 100 Milliarden Euro, mit denen wir in Deutschland in den kommenden Jahren die Bundeswehr modernisieren, stärken die europäische und transatlantische Sicherheit. Erheblichen Nachholbedarf haben wir in Europa bei der Verteidigung gegen Bedrohungen aus der Luft und aus dem Weltraum. Daher werden wir in Deutschland in den kommenden Jahren ganz erheblich in unsere Luftverteidigung investieren. Alle diese Fähigkeiten werden im NATO-Rahmen einsetzbar sein. Zugleich wird Deutschland diese zukünftige Luftverteidigung von Beginn an so ausgestalten, dass sich auch unsere europäischen Nachbarn daran beteiligen können, wenn es gewünscht wird, etwa Polen, Balten, Niederländer, Tschechen, Slowaken oder unsere skandinavischen Partner. Ein gemeinsam aufgebautes Luftverteidigungssystem in Europa wäre nicht nur kostengünstiger und effizienter, als wenn jeder von uns seine eigene teure und hochkomplexe Luftverteidigung aufbaut; es wäre ein Sicherheitsgewinn für ganz Europa und ein hervorragendes Beispiel dafür, was wir meinen, wenn wir von der Stärkung der europäischen Säule der NATO sprechen. Auch der dritte große Handlungsauftrag, den ich für Europa sehe, folgt aus der Zeitenwende, und er und geht zugleich weit darüber hinaus. Putins Russland definiert sich auf absehbare Zeit in Gegnerschaft zur Europäischen Union. Jede Uneinigkeit zwischen uns, jede Schwäche wird Putin ausnutzen. Andere Autokraten ahmen das nach. Denken Sie nur daran, wie der belarussische Diktator Lukaschenko im vergangenen Jahr versucht hat, uns mit dem Leid Tausender Geflüchteter und Migranten aus dem Nahen Osten politisch unter Druck zu setzen. Auch China und andere nutzen die offenen Flanken, die wir Europäer bieten, wenn wir uneinig sind. Was daraus für Europa folgt, lässt sich vielleicht so zusammenfassen: Wir müssen die Reihen schließen, alte Konflikte überwinden und neue Lösungen finden. ‑ Das klingt nach einer Selbstverständlichkeit, doch dahinter verbirgt sich viel Arbeit. Nehmen wir nur die zwei Felder, die in den vergangenen Jahren wohl die größten Spannungen zwischen den Mitgliedsstaaten hervorgerufen haben, die Migrations- und die Finanzpolitik. Dass wir in der Migrationspolitik vorankommen können, haben wir nach dem russischen Angriff auf die Ukraine bewiesen. Erstmals hat die EU die Richtlinie über temporären Schutz aktiviert. Hinter diesem sperrigen Begriff verbirgt sich für Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainer ein Stück Normalität fern der Heimat, eine schnelle, sichere Aufenthaltserlaubnis, die Möglichkeit zu arbeiten, die Schule oder eine Universität wie diese hier zu besuchen. Auch künftig werden Menschen nach Europa kommen, sei es, um Schutz vor Krieg und Verfolgung zu suchen, sei es auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben. Europa bleibt für Millionen auf der ganzen Welt ein Sehnsuchtsort. Das ist einerseits ein großartiger Beweis für die Attraktivität unseres Kontinents, andererseits ist es zugleich eine Realität, mit der wir Europäerinnen und Europäer umgehen müssen. Das bedeutet, Migration vorausschauend zu gestalten, statt immer nur ad hoc auf Krisen zu reagieren. Das bedeutet auch, irreguläre Migration zu verringern und zugleich legale Migration zu ermöglichen, denn wir brauchen Zuwanderung. Wir erleben derzeit doch an unseren Flughäfen, in unseren Krankenhäusern und in vielen Betrieben, dass uns an allen Ecken und Enden qualifizierte Arbeitskräfte fehlen. Einige Punkte scheinen mir zentral. Erstens. Wir brauchen mehr verbindliche Partnerschaften mit Herkunfts- und Transitstaaten, und zwar auf Augenhöhe. Wenn wir Arbeitskräften mehr legale Wege nach Europa bieten, muss im Gegenzug die Bereitschaft in den Herkunftsstaaten steigen, eigenen Staatsangehöriger ohne Aufenthaltsrecht die Rückkehr zu ermöglichen. Zweitens. Zu einer funktionierenden Migrationspolitik gehört ein Außengrenzschutz, der wirksam ist und unseren rechtstaatlichen Standards gerecht wird. Der Schengen-Raum, das grenzenlose Reisen, Leben und Arbeiten, steht und fällt mit diesem Schutz. Schengen ist eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union, und wir sollten sie schützen und ausbauen. Dazu gehört es auch, bestehende Lücken zu schließen. Kroatien, Rumänien und Bulgarien erfüllen alle technischen Anforderungen für die Vollmitgliedschaft. Ich werde mich dafür einsetzen, dass sie Vollmitglieder werden. Drittens. Europa braucht ein Asylsystem, das solidarisch und krisenfest ist. Es ist unsere Pflicht, Menschen, die schutzbedürftig sind, ein sicheres Zuhause zu bieten. Unter französischer Ratspräsidentschaft haben wir uns in den letzten Monaten auf einen schrittweisen Ansatz geeinigt. Jetzt sollte sich auch das Europäische Parlament darauf einlassen. Die tschechische Ratspräsidentschaft kann bei den Verhandlungen mit dem Parlament auf unsere volle Unterstützung zählen. Schließlich sollten wir denjenigen, die sich als Schutzberechtigte legal in der EU aufhalten, früher als bisher die Möglichkeit geben, eine Arbeit in einem anderen Mitgliedstaat aufzunehmen, um ihre Fähigkeiten dort einzubringen, wo sie gebraucht werden. Weil wir nicht naiv sind, müssen wir zugleich Missbrauch verhindern, etwa dann, wenn gar kein Wille zum Arbeiten besteht. Wenn wir das hinbekommen, dann führt Freizügigkeit auch nicht zur Überlastung der Sozialsysteme. Dann sichern wir auf Dauer die Akzeptanz dieser großen europäischen Freiheit. Meine Damen und Herren, das Feld, das uns Europäer neben dem der Migration in den vergangenen Jahren am meisten entzweite, war das der Fiskalpolitik. Das in der Coronakrise beschlossene historische Aufbauprogramm markiert jedoch einen Wendepunkt. Erstmals haben wir zusammen eine europäische Antwort gegeben und die nationalen Investitions- und Reformprogramme mit Mitteln der EU unterstützt. Wir haben uns darauf geeinigt, gemeinsam zu investieren, um unsere Volkswirtschaften zu stärken. Das hilft uns übrigens auch in der gegenwärtigen Krise. Ideologie ist Pragmatismus gewichen. Davon sollten wir uns leiten lassen, wenn es um die Frage geht, wie wir unsere gemeinsamen Regeln auch über die Coronakrise hinaus weiterentwickeln. Klar ist: Ein gemeinsamer Währungsraum braucht gemeinsame Regeln, die eingehalten und überprüft werden können. Das schafft Vertrauen und ermöglicht Solidarität in der Not. Nun haben die Krisen der vergangenen Jahre die Schuldenstände in allen Mitgliedstaaten steigen lassen. Deshalb brauchen wir eine Verständigung darüber, wie wir diese hohen Schuldenstände abbauen. Diese Übereinkunft muss verbindlich sein, Wachstum ermöglichen und politisch vermittelbar sein. Zugleich muss sie allen EU-Staaten ermöglichen, die Transformation unserer Volkswirtschaften durch Investitionen zu meistern. Anfang des Monats haben wir als deutsche Regierung unsere Vorstellungen zur Weiterentwicklung der europäischen Schuldenregeln vorgelegt. Sie folgen dieser Logik. Wir möchten darüber offen mit allen unseren europäischen Partnern sprechen, unvoreingenommen, ohne Belehrungen, ohne Schuldzuweisungen. Wir wollen gemeinsam diskutieren, wie ein nachhaltiges Regelwerk nach der Zeitenwende aussehen kann. Es geht dabei um etwas ganz Fundamentales. Es geht darum, den Bürgerinnen und Bürgern die Gewissheit zu geben, dass unsere Währung sicher und irreversibel ist, dass sie sich auf ihren Staat und auf die Europäische Union auch in Krisenzeiten verlassen können. Eines der besten Beispiele, wie uns das in den vergangenen Jahren gelungen ist, ist das europäische SURE-Programm. Während der Coronakrise haben wir es eingeführt, um Kurzarbeit abzusichern. Über 30 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben EU-weit davon profitiert, immerhin jede siebte Arbeitnehmerin, jeder siebte Arbeitnehmer, die sonst womöglich auf der Straße gestanden hätten. Nebenbei ist es uns durch diesen Anreiz auf europäischer Ebene gelungen, quasi flächendeckend in Europa das Erfolgsmodell der Kurzarbeit einzuführen. Ein robusterer Arbeitsmarkt und gesündere Unternehmen in ganz Europa sind das Ergebnis. So stelle ich mir pragmatische Lösungen in Europa vor, auch in der Zukunft. Zeitenwende, das muss für die europäische Politik heißen, Brücken zu bauen statt Gräben aufzureißen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten eine EU, die liefert. Das Ergebnis der Zukunftskonferenz zeigt das ganz klar. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von der EU ganz handfeste Dinge, zum Beispiel mehr Tempo beim Klimaschutz, gesunde Lebensmittel, nachhaltige Lieferketten oder eben den besseren Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Kurzum: Sie erwarten die „Solidarität der Tat“, von der schon in der Schuman-Erklärung aus dem Jahr 1950 die Rede war. Es ist an uns, diese Solidarität der Tat immer wieder neu zu begründen und an die Herausforderungen der jeweiligen Zeit anzupassen. In den Gründungsjahrzehnten des vereinten Europas hieß das vor allem, durch immer engere wirtschaftliche Verschränkung Krieg zwischen den Mitgliedern unmöglich zu machen. Dass dies gelungen ist, bleibt das historische Verdienst unserer Union. Inzwischen ist aus dem Friedensprojekt aber auch ein europaweites Freiheits- und Gerechtigkeitsprojekt geworden. Das wiederum verdanken wir vor allem den Ländern, die erst später zu unserer Gemeinschaft hinzugestoßen sind, den Spaniern, Griechen und Portugiesen, die sich nach Jahrzehnten der Diktatur einem Europa der Freiheit und Demokratie zuwandten, und dann den Bürgerinnen und Bürgern Mittel- und Osteuropas, die mit ihrem Kampf für Freiheit, Menschenrechte und Gerechtigkeit den Kalten Krieg überwunden haben. Darunter waren auch viele mutige Studentinnen und Studenten dieser Universität, die an einem dunklen Novemberabend im Jahre 1989 so laut nach Freiheit riefen, dass daraus eine Revolution wurde. Diese Samtene Revolution war ein Glücksfall für Europa. Frieden und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Menschenwürde, diese Werte der Europäischen Union sind unser gemeinsam erworbenes Erbe. Gerade jetzt angesichts der erneuten Bedrohung von Freiheit, Pluralismus und Demokratie, die wir im Osten unseres Kontinents erleben, spüren wir diese Verbindung doch ganz besonders stark. „Staaten erhalten sich durch die Ideale, aus denen sie entstanden sind.“ Einer der berühmtesten Professoren dieser Universität hat diesen Satz gesagt, Tomáš Masaryk, der spätere Präsident der Tschechoslowakei. Dieser Satz gilt für Staaten; er gilt aber auch für die Wertegemeinschaft EU. Weil Werte konstitutiv für deren Fortbestand sind, betrifft es auch uns alle, wenn diese Werte verletzt werden, außerhalb Europas und noch mehr in unserem Innern. Das ist der vierte Gedanke, den ich heute mit Ihnen teilen möchte. Deshalb macht es uns Sorgen, wenn mitten in Europa von illiberaler Demokratie geredet wird, als wäre das nicht ein Widerspruch in sich. Deshalb können wir es nicht hinnehmen, wenn rechtsstaatliche Prinzipien verletzt und demokratische Kontrolle zurückgebaut wird. Um auch das ganz klar zu sagen: Für Rassismus und Antisemitismus darf es in Europa keine Toleranz geben. Deshalb unterstützen wir die Kommission in ihrem Einsatz für die Rechtsstaatlichkeit. Auch das Europäische Parlament verfolgt das Thema mit großer Aufmerksamkeit. Dafür bin ich sehr dankbar. Wir sollten nicht davor zurückscheuen, alle vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen, um Defizite abzustellen. Umfragen zeigen, dass sich überall, übrigens auch in Ungarn und Polen, eine große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sogar ein stärkeres Engagement der EU für Freiheit und Demokratie in ihren Ländern wünscht. Zu diesen Möglichkeiten gehört das Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Artikel 7. Auch hier müssen wir von den Blockademöglichkeiten wegkommen. Sinnvoll scheint mir auch, Zahlungen konsequent an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards zu knüpfen, wie wir das mit dem Finanzrahmen 2021 bis 2027 und dem Wiederaufbaufonds in der Coronakrise getan haben ‑ und wir sollten der Kommission einen neuen Weg eröffnen, Vertragsverletzungsverfahren auch dann einzuleiten, wenn gegen das verstoßen wird, was uns im Kern zusammenhält, gegen unsere Grundwerte, die wir alle im EU-Vertrag festgeschrieben haben: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Zugleich wünsche ich mir, dass wir um Rechtsstaatlichkeit nicht vor Gericht streiten müssen, weil wir neben allen Verfahren und Sanktionen vor allem brauchen, dass ein offener Dialog auf politischer Ebene über Defizite geführt wird, die es ja in allen Ländern gibt. Der Rechtsstaatlichkeitsbericht der Kommission mit seinen länderspezifischen Empfehlungen schafft dafür eine gute Grundlage. Die Umsetzung dieser Empfehlungen werden wir politisch eng begleiten und unsere eigenen Hausaufgaben machen. Denn die Rechtsstaatlichkeit ist ein Grundwert, der unsere Union einen sollte. Gerade in diesen Zeiten, da die Autokratie unsere Demokratien herausfordert, ist das wichtiger denn je. Meine Damen und Herren, ich habe bereits die mutigen Studentinnen und Studenten dieser Universität erwähnt, die am Abend des 17. November 1989 die Samtene Revolution in Gang setzten. Auf dem Universitätscampus an der Albertovstraße, dort wo ihr Protest begann, erinnert heute eine kleine, bronzene Plakette daran. Zwei Sätze stehen darauf, und ich hoffe, dass ich sie einigermaßen richtig ausspreche: Kdy ‑ když ne teď? Kdo ‑ když ne my? ‑ Auf Deutsch: Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir? ‑ Hier, von Prag aus, will ich diese beiden Sätze heute allen Europäerinnen und Europäern zurufen, denen, die bereits in unserer Union leben, und denjenigen, die hoffentlich bald zu uns stoßen. Ich will sie den politisch Verantwortlichen zurufen, meinen Kolleginnen und Kollegen, mit denen wir tagtäglich in Brüssel, Straßburg oder in unseren Hauptstädten um Lösungen ringen. Es geht um unsere Zukunft, die Europa heißt. Dieses Europa ist heute gefordert wie nie. Wann, wenn nicht jetzt, da Russland die Grenze zwischen Freiheit und Autokratie zu verschieben sucht, legen wir die Grundsteine für eine erweiterte Union der Freiheit, der Sicherheit und der Demokratie? Wann, wenn nicht jetzt, schaffen wir ein souveränes Europa, das sich in einer multipolaren Welt behaupten kann? Wann, wenn nicht jetzt, überwinden wir die Differenzen, die uns seit Jahren lähmen und spalten? Wer, wenn nicht wir, könnte Europas Werte schützen und verteidigen, im Innern wie nach außen? Europa ist unsere Zukunft, und diese Zukunft liegt in unseren Händen. Vielen Dank.
Intervention von Bundeskanzler Scholz beim virtuellen Gipfeltreffen der Krim-Plattform am 23. August 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/intervention-von-bundeskanzler-scholz-beim-virtuellen-gipfeltreffen-der-krim-plattform-am-23-august-2022-2077844
Tue, 23 Aug 2022 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
keine Themen
President Zelensky, Justin, dear colleagues and friends of Ukraine, Thank you very much for the invitation to this year’s Crimea Platform Summit.Eight years after Russia’s illegal annexation of Crimea and six months after the beginning of Russia’s latest blatant war of aggression, it is more than timely to come together with partners in this important forum. Today – on the day we commemorate the victims of Stalinism and fascism – we once again make clear that the international community will never accept Russia’s illegal, imperialist annexation of Ukrainian territory. Russian unprovoked and unjustified war of aggression against Ukraine has been met with a courageous defence by the Ukrainian people. To them I pay my utmost respect. Their resolve and bravery are admired all over the world. They reject a world where might makes right, where great powers can just swallow up smaller states if they like. This summit demonstrates that today Ukraine’s partners are more united than ever. I can assure you, today as in Elmau when I met with my fellow leaders of the G7: Germany stands firmly by the side of Ukraine – for as long as Ukraine needs our support. We will uphold our unprecedented sanctions together with partners. We will support Ukraine financially. We will continue to supply weapons. We have put on track a new package including highly modern air defence systems, rocket launchers, tonnes of ammunition, anti-drone devices and armoured recovery vehicles. Our hospitals will continue to treat wounded Ukrainians. Our borders, our schools and our labour market will remain open to all who must flee Russia’s terror. What is equally important: Together with our partners and allies, we have intensified our outreach to third countries to further strengthen the international support of Ukraine. Under the German G7 Presidency, Argentina, Senegal, South Africa, India and Indonesia were invited to the Elmau Summit as partner countries and were closely involved in our discussions on the repercussions of the Russian war of aggression. Be it via G7, the EU, the UN or the Crimea Platform – we will continue our international outreach and underline the global dimension of this conflict. We condemn Russia’s attempts to forcefully integrate parts of Ukrainian territory. Our message is clear: Any sham referenda or other attempts to alter the status of parts of Ukrainian territory will never be recognised. And such steps preclude any negotiation approaches. It is Russia, with its war of aggression, that is responsible for worsening food security, with grave implications for people worldwide. As a reaction to this crisis, at this year’s Summit in Elmau, the G7 provided an additional 4.5 billion USD in support for global food security. We welcome the recent UN agreement on grain exports via maritime safe corridors. As EU, we have facilitated grain exports via land and rivers – thus exporting over 8 million tonnes of UKR grain between April and early August through our solidarity lanes. We also see that storage capacities in Ukraine are still under pressure. To address this, Canada, Germany and Japan are financing, with over 60 million US dollars, a new programme of the Food and Agriculture Organization. This programme will – in coordination with the Ukrainian government – support small and medium sized farms with temporary and fixed storage solutions for grain and oil seeds. In addition, the international community also has to engage actively in the long-term reconstruction of Ukraine. Bearing in mind the size of the challenge, we need to accelerate the work that we started in Lugano. In support of this process – in my capacity as President of the G7 and together with the European Commission – I will host an international high-level expert conference for reconstruction in Berlin in October. We want to bring in international expertise as early as possible and take forward the proposals that are already on the table. Ladies and gentlemen, I am certain: Ukraine will overcome the dark shadow of war. Because it is strong, brave and united in its fight for independence and sovereignty. And because it has friends in Europe and all over the world. I wish my Ukrainian colleagues and friends a safe celebration of their national independence day tomorrow!
Rede von Bundeskanzler Scholz zur „German-Canadian Business Conference“ am 23. August 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zur-german-canadian-business-conference-am-23-august-2022-2077914
Tue, 23 Aug 2022 09:00:00 -0500
Im Wortlaut
Toronto
keine Themen
Prime-Minister, dear Justin, Honorable ministers, Ms. Denz, Mr. Beatty, Excellencies, Ladies and Gentlemen, What a skyline! Looking out on this city, who would not think: What a dynamic, energetic North American metropolis. And, of course, that is exactly what Toronto is. But there is something else. Something that we as Europeans and maybe particularly we Germans feel, when we step off a plane here in Canada. I got the feeling at the restaurant in the center of Montreal where Justin and I had dinner yesterday. And I get the same feeling, here, in the streets of Toronto – and that is not just due to the impressive number of German cars. As different as Canadian and German landscapes and cities may look from above – on the ground we both feel at home at each other’s homes – more than in most other parts of the world. Maybe kinship is the best term to describe our connection. The diversity of this multi-lingual, multi-cultural country speaks to us Europeans. Our two countries share a culture of consensus that makes our societies resilient. You have your strong provinces and territories, we have our federal states. For Canadians and Germans alike getting things done means: building bridges, respecting differences, reaching across the aisle. We believe in free and fair trade. In competitive and social economies. In democracies that are not defined by a majority ruling over a minority, but by the virtue of treating each and every citizen with equal respect. And we stand up for a world based on rules, where right makes might – and not the other way around. In essence, I feel that Germany and Canada are united in being progressive countries. That realization, of course, is not entirely new to me. Especially not when it comes to Justin Trudeau. As mayor of Hamburg, I invited you, Justin, to be our guest of honor at Hamburg’s traditional Saint Matthew’s Meal. That was in 2016, right after finishing the negotiations on CETA, which sets a global gold standard for modern trade agreements. And I am glad that ratification is under way in the German parliament. I also experienced the kinship of our progressive countries as minister of finance. Canada was our closest ally in reaching an agreement on the global minimum tax in the G7 and G20. I announced the breakthrough shoulder to shoulder with Chrystia Freeland – at the Canadian Embassy in Washington. Under the German presidency, the G7 agreed to work towards the establishment of a “climate club” by the end of this year. The objective is to accelerate the decarbonization of our industries, but without contributing to carbon leakage or triggering international trade conflicts. Thank you, Justin, for your support on this matter. I am grateful that you were an early advocate for the idea. There is a stereotype in international politics that Germans and Canadians can finish each other’s sentences. Well, we can. And – given the urgency of the current situation – we also must. What we are experiencing right now is a perfect storm: A multitude of overlapping and mutually reinforcing global crises and fundamental geopolitical shifts. You all know what I am talking about: Russia’s war of aggression against Ukraine, the ensuing energy crisis, global food shortages, inflation. All of this comes at a time when the world is still grappling with the COVID pandemic, when we see autocracies rising and the climate crisis taking its toll on people all around the world, including in our own countries. Yet, this is not the time for somber analyses. Deputy-Chancellor Robert Habeck and I, together with our delegation, have come to Canada to join hands with you. And that’s precisely what we are doing. As members of the G7, we are imposing unprecedented sanctions against the Russian aggressors. We are united in supporting Ukraine, also because defending Ukraine means defending the rules-based international order that our two countries rely on. Justin and I just reaffirmed this at the Crimea platform here in Toronto this morning. As Germany is moving away from Russian energy at warp speed, Canada is our partner of choice. For now, this means increasing our LNG imports. We hope that Canadian LNG will play a major role in this. But the task at hand is much bigger than simply diversifying our energy supply. For us, what lies ahead is nothing less than the biggest transformation of our economy, infrastructure and mobility since the beginning of the industrial revolution. Germany has decided to become climate neutral by 2045. And at the same time, we are determined to remain a world leading industrialized country. So, we have set ourselves clear and firm goals: producing 80 percent of our electricity from renewables by 2030 is one of these. Over the last months, we have been cutting red tape to speed up administrative processes. Billions of euros are being invested in reliable grids, new infrastructure, and climate-friendly technologies. The external shocks we are witnessing only strengthen our resolve to seek new partners and to deepen old friendships. Like ours, between Canada and Germany. You can take my word for it. Or you can simply take a look around this room. The who-is-who of the German economy has joined Robert and me to this trip. They are just as keen to forge new partnerships with Canadian companies as we are to provide the necessary political backing. And here comes the good news: The outlook for this new “can do”-partnership between our countries couldn’t be more ideal. In the global puzzle that is our multipolar world, Canada and Germany are two perfectly matching pieces. Before the trip someone told me: “Canada has everything Russia has also got. But the much better investment climate. And is a democracy.” You were the guy. Well, I couldn’t agree more. Canada is a reliable companion. Canada shares our values. You are our friend and ally. Your country has almost boundless potential to become a superpower in sustainable energy and sustainable resource production. And Germany for its part stands ready to become one of your closest partners. Not just as a consumer of Canadian energy and raw materials or as an exporter of high-end industrial goods. But as someone with the know-how and the willingness to invest in durable, future oriented and sustainable value chains and in the real integration of our economies. Canada’s pioneer in hydrogen and energy technology, Alexander Thomas Stuart, built his first electrolyser in 1905. Around the same time, a German, Fritz Haber, invented the synthetic production of ammonia. Today, our two countries can once again write technological and scientific history, not least when it comes to the future uses of hydrogen or power-to-ammonia. So, I am looking forward to experiencing the strong winds of Stephenville this afternoon with their huge potential for green hydrogen production The Canadian-German synthesis is taking place not only with respect to electrical power. But brain power, too. Yesterday, we met with Yoshua Bengio in Montreal, one of the grandmasters of artificial intelligence and deep learning. He and his team are working with German neuroscientists at Jülich Research Center to create the first map of the human brain. Their joint work could help us understand how the human brain works – and in doing so revolutionize medical science. Examples like these abound – as do new business opportunities between our countries. I am delighted to hear that Canada accepts the invitation to be the partner country of the world’s biggest industrial trade fair, the Hannover Messe, in 2025. Already on this trip we will see the signing of a new memorandum of understanding of critical minerals between the Canadian government, Volkswagen and Mercedes Benz. So, the opportunities are there. The political will is there. The right partners are there – many of them even in this room. And I can confidently add: The necessary capital is also there. That’s at least the impression I got from yesterday’s meeting with representatives of the Canadian pension funds. They are specifically looking for investments into environmentally and socially sustainable projects. And that is also the message I am hearing from German business leaders at home and on this trip. So, let us seize this unique opportunity to reinvent the partnership between our two countries, expand it, and adapt it to what I’ve called a „Zeitenwende“ – the change of times that we are witnessing. In Europe, close to Russia‘s war, we feel a new sense of urgency and purpose. And I know that Justin and many of you here in Canada share that sentiment. Yes, Canadians and Europeans are separated by an ocean. But in today’s globalized, fast-paced, digital world, geographical distance matters less than ever before in human history. What matters though are shared values, common goals and the will to move forward. And we have all of that – and more. Since June of this year, Europe and Canada basically even share a joint land border. On Hans Island, somewhere between Canada’s north-east coast and Greenland. For decades it was disputed between Canada and Denmark – until an agreement was reached to simply divide the island peacefully. I want to thank the Canadian German Chamber of Industry and Commerce for the kind invitation. And thank you all for joining us this morning!
Intervention von Bundeskanzler Scholz beim virtuellen Gipfeltreffen der Krim-Plattform am 23. August 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/intervention-von-bundeskanzler-scholz-beim-virtuellen-gipfeltreffen-der-krim-plattform-am-23-august-2022-2078180
Tue, 23 Aug 2022 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
keine Themen
Präsident Selensky, lieber Justin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde der Ukraine, vielen Dank für die Einladung zum diesjährigen Gipfel der Krim-Plattform. Acht Jahre nach der illegalen Annexion der Krim durch Russland und sechs Monate nach Beginn des jüngsten eklatanten russischen Angriffskriegs ist es höchste Zeit, im Rahmen dieses wichtigen Forums unter Partnern zusammenzukommen. Heute, an dem Tag, an dem wir der Opfer von Stalinismus und Faschismus gedenken, machen wir erneut deutlich, dass die internationale Staatengemeinschaft die illegale, imperialistische Annexion ukrainischen Hoheitsgebiets durch Russland niemals akzeptieren wird. Auf den unprovozierten und ungerechtfertigten Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die ukrainische Bevölkerung mit mutiger Verteidigung reagiert. Ich zolle ihr meinen höchsten Respekt. Die ganze Welt bewundert ihre Entschlossenheit und ihre Tapferkeit. Die Ukrainerinnen und Ukrainer lehnen eine Welt ab, in der das Recht des Stärkeren gilt, in der Großmächte sich nach Belieben kleinere Staaten einfach einverleiben können. Dieser Gipfel zeigt, dass die Partner der Ukraine heute geschlossener sind denn je. Heute, wie schon beim Treffen mit den anderen Staats- und Regierungschefs der G7 in Elmau, kann ich Ihnen versichern: Deutschland steht fest an der Seite der Ukraine – so lange, wie die Ukraine unsere Unterstützung benötigt. Wir werden unsere beispiellosen Sanktionen gemeinsam mit unseren Partnern aufrechterhalten. Wir werden die Ukraine finanziell unterstützen. Wir werden weiterhin Waffen liefern. Wir haben ein neues Paket auf den Weg gebracht, das unter anderem hochmoderne Luftabwehrsysteme, Raketenwerfer, Tonnen von Munition, Anti-Drohnen-Geräte und bewaffnete Bergepanzer umfasst. Unsere Krankenhäuser werden weiterhin verwundete Ukrainerinnen und Ukrainer behandeln. Unsere Grenzen, unsere Schulen und unser Arbeitsmarkt werden für all jene, die vor dem russischen Terror fliehen müssen, offen bleiben. Ebenso wichtig ist: Gemeinsam mit unseren Partnern und Verbündeten haben wir unsere Kontaktpflege mit Drittstaaten intensiviert, um die internationale Unterstützung der Ukraine weiter zu stärken. Unter der deutschen G7-Präsidentschaft waren Argentinien, Senegal, Südafrika, Indien und Indonesien als Partnerländer zum Gipfel in Elmau eingeladen und eng in unsere Beratungen über die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs eingebunden. Ob im Rahmen der G7, der EU, der Vereinten Nationen oder der Krim-Plattform: Wir werden unsere Kontaktpflege auf internationaler Ebene fortführen und auch in Zukunft die globale Dimension dieses Konflikts unterstreichen. Wir verurteilen Russlands Versuche der gewaltsamen Eingliederung von Teilen des ukrainischen Hoheitsgebiets. Unsere Botschaft ist klar: Schein-Referenden oder andere Versuche, den Status von Teilen des ukrainischen Hoheitsgebiets zu verändern, werden niemals anerkannt werden. Und durch derartige Schritte werden jegliche Verhandlungsansätze ausgeschlossen. Es ist Russland mit seinem Angriffskrieg, das für die sich verschlechternde Ernährungssicherheit verantwortlich ist – mit schwerwiegenden Folgen für Menschen überall auf der Welt. Als Reaktion auf diese Krise hat die G7 auf dem diesjährigen Gipfel in Elmau zusätzliche 4,5 Milliarden US-Dollar zur Unterstützung der weltweiten Ernährungssicherheit zur Verfügung gestellt. Wir begrüßen das vor Kurzem geschlossene VN-Übereinkommen zu Getreideexporten über sichere Meereskorridore. Als EU haben wir Getreideexporte auf dem Landweg und über Flüsse ermöglicht, wodurch zwischen April und Anfang August über 8 Millionen Tonnen ukrainisches Getreide über unsere Solidaritätsrouten ausgeführt werden konnten. Wir sehen auch, dass die Lagerkapazitäten in der Ukraine noch immer hohem Druck ausgesetzt sind. Um dem entgegenzuwirken, finanzieren Deutschland, Japan und Kanada mit über 60 Millionen US-Dollar ein neues Programm der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen. Mit diesem Programm werden – in Abstimmung mit der ukrainischen Regierung – kleine und mittlere Landwirtschaftsbetriebe mit temporären oder dauerhaften Lagerlösungen für Getreide und Ölsaaten unterstützt. Darüber hinaus muss sich die internationale Gemeinschaft auch aktiv am langfristigen Wiederaufbau der Ukraine beteiligen. Angesichts der Größe dieses Unterfangens müssen wir unsere in Lugano begonnene Arbeit schneller vorantreiben. Zur Unterstützung dieses Prozesses werde ich in meiner Funktion als G7-Vorsitzender gemeinsam mit der Europäischen Kommission im Oktober in Berlin eine hochrangige internationale Konferenz von Sachverständigen für den Wiederaufbau ausrichten. Wir wollen so früh wie möglich internationale Fachkompetenz einbringen und die Vorschläge, die bereits auf dem Tisch liegen, voranbringen. Meine Damen und Herren, ich bin sicher: Die Ukraine wird aus dem dunklen Schatten des Krieges heraustreten. Weil sie stark, mutig und vereint in ihrem Kampf für Unabhängigkeit und Souveränität ist. Und weil sie Freunde in Europa und überall auf der Welt hat. Ich wünsche meinen ukrainischen Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden, dass sie den morgigen Unabhängigkeitstag der Ukraine in Sicherheit begehen können.
Grußwort von Bundeskanzler Scholz am 22. August 2022 in Stephenville
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/grusswort-von-bundeskanzler-scholz-am-22-august-2022-in-stephenville-2078580
Mon, 22 Aug 2022 00:00:00 +0200
Stephenville
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Prime-Minister, dear Justin [Trudeau], Honorable Ministers and Premiers, Excellencies, Ladies and Gentlemen, Thank you very much for this warm – and windy – welcome here! Before my trip to Stephenville, I have learned that you have a world-class wind corridor here. You can imagine that as someone who has been living in Hamburg and close to the North Sea for many years, I appreciate coasts with strong winds. Regarding renewable energy, the German coast, however, cannot keep up with the conditions you have here. Hydrogen will play a major role in our future energy supply. Especially in sectors that are difficult to decarbonize otherwise such as industry, shipping, aviation or heavy traffic. According to our national hydrogen strategy published in June 2020, Germany expects a need of 90-110 Terawatt-hours hydrogen in 2030. We plan to build substantial electrolysis capacity in Germany. Still, we will have to cover the majority of our hydrogen demand by imports. And we have to keep in mind: The prognosis I have just mentioned is based on figures prior to the Russian war of aggression. As a consequence, our need might be even higher under the new circumstances. We believe that Atlantic Canada presents a huge opportunity for us, but also for Canada to contribute to a green energy transition. Canada is a close and like-minded partner in the energy transition. We have to talk about short-term constraints and LNG – but in the long run the real potential lies in green hydrogen from the wind-rich, thinly populated Atlantic provinces. Best proof for this potential are the companies represented here with their projects I could just learn about. Since the beginning of our bilateral energy partnership hydrogen has been a focus area within this constructive cooperation. I look forward to the signing of the Joint Declaration of Intent on a Canadian-German Hydrogen Alliance later today, which will intensify our cooperation on this important technology and shift it to a more strategic level. The time to act is now. Not only in order to reach our ambitious climate targets and secure our energy supply but also in view of international competition. Canadian and German companies are well positioned in the hydrogen technology market but producers from other countries – especially China, the US – are gaining more and more market shares by scaling up their production capacities. Therefore, we need to take action in order to maintain and further expand our frontrunner position. To this end, all stakeholders must work together and contribute to our common success: The governments have to create the necessary framework for future investments. Companies will only invest in climate protection if they can plan ahead and if they have a „level playing field“. Companies should work together in order to bundle and complement their strengths. Research institutions should cooperate to address the need for research and development more quickly. It is challenging. But I am positive that together we are able to reach our goals. And I can see that it is already happening: German companies are planning projects together with Canadian companies here in Canada, Canadian companies are implementing energy projects in Germany: I am pleased that Uniper as well as E.ON concluded offtake agreements of green ammonia with EverWind Fuels. FSG and Oceanex will sign an agreement on carbon-neutral shipbuilding. This is the path we need to pursue! In German, there is a saying originating from the Spanish novel “Don Quijote” we use for a hopeless campaign against an unchangeable condition: to fight against windmills. Here in Stephenville we certainly do not fight against windmills. We fight for wind turbines, we fight for a clean energy supply, we fight for a substantial contribution to limit climate change. And I look forward to working together with you on making this real. Thank you.
Kanzler kompakt: Die Lage im Herbst und Winter wird schwierig – wie haben wir uns darauf vorbereitet?
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-kompakt-vorbereitung-herbst-winter-wortlaut-2071810
Sat, 13 Aug 2022 10:00:00 +0200
Berlin
Wirtschaft und Klimaschutz,Auswärtiges,Inneres und für Heimat
Es ist Sommer. Eine gute Zeit, um sich zu erholen. Viele haben ihren Urlaub schon hinter sich. Manchen steht er noch bevor. Wir wissen aber auch, dass dieses Jahr mit großen Herausforderungen verbunden ist. Herausforderungen, die durch den Krieg kommen, den Russland gegen die Ukraine angezettelt hat. Herausforderungen, die für die Energiesicherheit unseres Landes existieren. Und natürlich Herausforderungen, die etwas zu tun haben mit den steigenden Preisen. Darauf haben wir uns vorbereitet, damit wir als Land gemeinsam durch diese Zeit gehen können, damit wir zusammenstehen. Wir haben zum Beispiel Vorschriften erlassen, die sicherstellen, dass neue Terminals gebaut werden an den norddeutschen Küsten für Flüssiggas, dass wir Gas speichern, dass wir Kraftwerke wieder zum Laufen bringen, die mit Kohle betrieben werden. Wir prüfen sogar, ob es Sinn macht, die drei auslaufenden Atomkraftwerke noch ein wenig länger zu nutzen. Und gleichzeitig sorgen wir aber auch dafür, dass wir es allen möglich machen, durch diese schwierige Zeit zu kommen. Denn viele haben sehr wenig Geld. Viele verdienen ganz normal, aber müssen trotzdem sehr genau rechnen, ob das alles klappt für die Familie und den eigenen Haushalt. Und deshalb haben wir sehr bewusst schon zwei große Entlastungspakete auf den Weg gebracht mit 30 Milliarden. Manche der Unterstützungsleistungen sind noch gar nicht angekommen. Im September zum Beispiel wird es die Energiepreisprämie geben. Aber wir werden da nicht stehen bleiben, sondern es wird weitere Entlastungen geben. Entlastungen, die gerade denen helfen, die rechnen müssen, die keine Rücklagen haben und die trotzdem eine gute Zeit in der Zukunft brauchen, wenn es für uns alle zusammen etwas schwieriger wird. Wenn wir zusammenhalten, dann werden wir das schaffen. You’ll never walk alone.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des 50-jährigen Jubiläums von SAP am 29. Juli 2022 in Mannheim
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-50-jaehrigen-jubilaeums-von-sap-am-29-juli-2022-in-mannheim-2067860
Fri, 29 Jul 2022 00:00:00 +0200
Mannheim
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann, lieber Winfried, THE LÄND, sehr geehrter Herr Professor Plattner, sehr geehrter Herr Hopp, sehr geehrte Familie Tschira, sehr geehrter Herr Klein, verehrter Herr Schick, verehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, verehrte Gäste, SAP ist Teil meines Alltags. Diese Aussage ist natürlich kein Alleinstellungsmerkmal. Weltweit laufen Betriebe mit SAP-Anwendungen, Millionen Nutzerinnen und Nutzer greifen darauf zurück. Für mich aber gilt diese Aussage auf eine ganz besonders schöne Weise. Schließlich komme ich auf dem Weg von meiner Potsdamer Wohnung ins Kanzleramt tagtäglich am Museum Barberini vorbei, manchmal auch am Hasso-Plattner-Institut oder am SAP Innovation Center. Mehr SAP geht eigentlich nur in Walldorf und natürlich hier in Mannheim. Wenige Kilometer nordöstlich, genauer gesagt: in Weinheim, hat alles angefangen. 50 Jahre ist das her, ein halbes Jahrhundert. Das sagt sich so leicht, aber in dieser Zeit hat sich nirgendwo so atemberaubend viel verändert wie in der IT-Branche. Zugleich hat keine Technologie die Welt so tiefgreifend und so rasant verändert wie die IT. Aufbruch, Veränderung ‑ das passt auch zum Gründungsjahr 1972. Zwischen den Blöcken des Kalten Krieges begann es zu tauen. Nixon reiste nach China, die USA und die Sowjetunion schlossen den ersten Vertrag zur Eindämmung des nuklearen Wettrüstens ‑ daran sollte man sich gerade in diesen Tagen noch mal erinnern ‑, Bobby Fischer gewann das Match des Jahrhunderts gegen Boris Spasski und Willy Brandt zum zweiten Mal die Bundestagswahl. Die Apollo-Missionen flogen zum Mond, Elton John’s „Rocket Man“ stürmte die Charts, und die erste Folge von „Raumschiff Enterprise“ wurde im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlt. Manche erinnern sich auch, wie weit das zurückliegt. Die Computer wurden kleiner, die Speichermöglichkeiten größer und die Prozessoren schneller. Mit dem ARPANET gab es den ersten Vorläufer des heutigen Internets. Es waren die Gründerjahre unseres modernen digitalen Zeitalters. Fortschrittseuphorie, Technikbegeisterung und Innovationen lagen in der Luft. So war das auch am 1. April 1972. Damals, noch Jahre vor Microsoft, Apple und Oracle, gründeten Dietmar Hopp, Hasso Plattner, Claus Wellenreuther, Klaus Tschira und Hans-Werner Hector die Firma Systemanalyse Programmentwicklung, kurz: SAP. 50 Jahre ‑ zu diesem stolzen Jubiläum gratuliere ich Ihnen, den Gründern, dem Vorstand und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von ganzem Herzen. Was hier aufgebaut wurde, ist einmalig in Deutschland, meine Damen und Herren. Dabei war die Idee, mit der SAP an den Start ging, aus heutiger Sicht total logisch: Dateneingabe digital per Tastatur und Bildschirm statt analog und mit Lochkarte, dazu eine Standardsoftware, mit der Unternehmen alle betrieblichen Abläufe verarbeiten konnten, von der Lohnabrechnung bis zur Beschaffung, vom Vertrieb bis zur Rechnungsprüfung, und das Ganze noch in Echtzeit. Daher auch das Kürzel R für „real time“ in den ersten SAP-Programmen. Es hätte aber genauso gut auch für R wie „revolutionär“ stehen können, denn SAP wurde damit zum Pionier moderner betrieblicher Abläufe. Heute ist es das erfolgreichste deutsche Softwareunternehmen und das Aushängeschild der deutschen Digitalwirtschaft. „The best run SAP“ ‑ das ist Ihr Anspruch und Fakt zugleich. Denn man kann mit Fug und Recht sagen: Die Weltwirtschaft läuft auf SAP-Software. Im „run“ liegt neben der Standardisierung auch das zweite Erfolgsgeheimnis. Denn in den Anfangsjahren war das Geschäft im wahrsten Sinne des Wortes mit Rennerei verbunden: zu den Rechenzentren der Kunden, um dort die ersten Programme an den Start zu bringen. Ein paar malerische Schilderungen dieser Begebenheiten haben wir eben gehört. Kundennähe, Wissen über die einzelnen Branchen plus die richtige Balance zwischen individuellen Ansprüchen und standardisierten Anwendungen: Bis heute ist das die Grundlage des Erfolgs von SAP. Darauf bauen alle weiteren Entwicklungsschritte auf, die ganze Epochen des Digitalzeitalters prägen, von der kleinen Serversoftware über die mySAP.com-Strategie bis hin zu Cloud. Hinter all diesen Schritten steckten harte Arbeit, Kreativität und die Offenheit, kontinuierlich neue Technologien anzunehmen und weiterzuentwickeln. Immer wurde und wird verbessert, angepasst und gewerkelt, immer nah am Kunden, immer mit dem Anspruch, beste und passgenaue Lösungen zu finden. Das sind die Tugenden, die es braucht, um in dieser Branche Erfolg zu haben. Das sind echte SAP-Tugenden, meine Damen und Herren; auch das will ich hier bekunden. Das sind Tugenden, die unser Land braucht, denn wir erleben tektonische Verschiebungen im Zeitraffer. Da ist die Zeitenwende ‑ Ministerpräsident Kretschmann hat sie angesprochen ‑, die Russlands Krieg gegen die Ukraine bedeutet, weil er die Grundsätze der europäischen Friedensordnung erschüttert hat, mit weitreichenden Konsequenzen für unsere Sicherheit, unsere Energieversorgung, für die Weltwirtschaft und für unsere Partnerschaften und Allianzen weltweit, und weil wir auch neue Erkenntnisse daraus ziehen müssen, was unsere Abhängigkeiten von Lieferketten betrifft, und natürlich auch im Hinblick auf die Frage, was wir selber können müssen, um in der Welt bestehen zu können. Da sind zweieinhalb Jahre Coronapandemie, die tiefe Spuren hinterlassen haben, gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich, und da ist der größte Umbau unserer Volkswirtschaft seit Beginn der Industrialisierung, die ökologische und digitale Doppeltransformation, die wir nun mit noch mehr Entschlossenheit voranbringen. Denn die Transformation hin zu einer digitalen und klimaneutralen Wirtschaft ist Herausforderung und Lösung für die gegenwärtigen Probleme zugleich, weil sie Innovationen beschleunigt und weil sie neues Denken zwingend erfordert. Aber wem sage ich das hier, bei SAP! Sie haben sich bereits für das Jahr 2023 vorgenommen, im eigenen Geschäftsbetrieb klimaneutral zu werden, entlang der Wertschöpfungskette bis 2030. Als Land, als Staat wollen wir Klimaneutralität bis 2045 erreichen, und wir kommen voran, schneller, als viele erwartet haben. Hier wirken die Krisen, die wir gegenwärtig erleben, als Katalysator. Wir reduzieren unsere Energieabhängigkeit von Russland. Ich will sagen: Für Unternehmen wie für Staaten ist wichtig, dass sie in der Zukunft immer bedenken, dass keine einseitigen Abhängigkeiten entstehen und man in der Lage ist, im Hinblick auf seine Kunden, seine Lieferketten und seine technologischen Kompetenzen mit mehreren kooperieren zu können. Wir werden das beachten. Wir differenzieren unsere Lieferquellen. Wir schaffen neue Infrastruktur in unglaublicher Geschwindigkeit und bauen Pipelines und Terminals, damit wir die Lieferanten diversifizieren können. Wir investieren massiv in den Ausbau der erneuerbaren Energien, um Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Klimaneutralität auf Dauer zu gewährleisten. Die Energiewende ist die eine Seite der Transformation, die Digitalisierung die andere. In der Coronapandemie haben wir erlebt, welches Potenzial in digitalen Lösungen steckt. Auch hier war SAP ein Taktgeber, Stichwort: Corona-Warn-App. Trotz mancher Kritik ist sie wahrscheinlich das bislang wichtigste IT-Projekt bei der Pandemiebekämpfung. Schließlich hat es buchstäblich Leben gerettet. Nicht zuletzt ist die App ein herausragendes Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen Privatwirtschaft und öffentlicher Hand. Darauf können und werden wir aufbauen, wenn wir unser Land modernisieren und digitalisieren. Eine zentrale Rolle wird dabei der Zukunftsrat spielen, und ich bin froh, dass SAP dort mit all seiner Expertise prominent vertreten ist. Herzlichen Dank dafür! Gemeinsam werden wir uns regelmäßig austauschen, wie wir die Potenziale aus Forschung und Innovation für den Standort Deutschland nutzen können, sei es bei Zukunftstechnologien wie künstlicher Intelligenz, Quantentechnologien und Blockchain oder der Zukunftsbranche Mikroelektronik mit der Ansiedlung von Unternehmen wie zum Beispiel Intel in Magdeburg, sei es bei der Erschließung von europäischen Datenräumen in gemeinsamen europäischen Vorhaben wie Gaia-X und Catena-X, in die SAP ganz zentral eingebunden ist, Stichwort: souveräne Cloud, sei es bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung oder bei der Unterstützung und Förderung von Start-ups. Erst diese Woche haben wir im Kabinett die neue Start-up-Strategie der Bundesregierung verabschiedet. Wer, wenn nicht SAP ist das beste Beispiel und geradezu eine Blaupause dafür, wie aus einer Idee ein Weltkonzern entstehen kann! Wir wollen noch mehr davon. Und noch etwas können wir von SAP lernen: All diese Umbrüche und Innovationen, ja Fortschritt selbst gelingen nicht ohne diejenigen, die die Ideen entwickeln und umsetzen. Auf Ihrer Homepage heißt es zu Recht: „Kein Grad an Automatisierung, künstlicher Intelligenz oder maschinellem Lernen wird je die Genialität des menschlichen Gehirns ersetzen.“ So und nur so ist auch der Begriff der Industrie 4.0 zu verstehen, den Sie, Herr Professor Kagermann, vor einigen Jahren geprägt haben und der sich seitdem weltweit durchgesetzt hat. Es geht eben nicht darum, dass Maschinen Menschen ersetzen, sondern dass Maschinen unser Leben, unser Arbeiten erleichtern und verbessern. Es geht nicht ohne die klugen, innovativen Köpfe, die diese Maschinen entwickeln, herstellen und bedienen. Wir haben uns deshalb vorgenommen, diejenigen besser zu fördern und zu unterstützen, die sich zum Beispiel in ihrem Beruf weiterentwickeln wollen. Wir senken auch die Hürden für Fachkräfte aus dem Ausland, die unser Land so dringend braucht. Denn das erleben wir doch gerade, wenn wir auf die aktuellen Engpässe in der deutschen Wirtschaft blicken: Es sind eben nicht allein die gestörten Lieferketten oder die hohen Rohstoffpreise, die dafür sorgen, dass volle Auftragsbücher derzeit nicht schnell genug abgearbeitet werden können, sondern es sind auch fehlende Arbeitskräfte. Da ist es nicht nur anständig, sondern klug und weitsichtig, wenn ein Unternehmen die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fördert und an sich bindet, wie SAP es tut. Vom Werkspraktikanten zum CEO: Das geht bei SAP ‑ auch das wurde uns eben schon geschildert ‑, und das macht das Unternehmen besonders gut. Ich bin sicher, nicht nur Herr Klein wird mir da recht geben. Fast noch wichtiger ist es, Nachwuchs direkt selbst auszubilden und für die Branche zu begeistern, so wie das in den hauseigenen Forschungs- und Innovationszentren geschieht. Das Hasso-Plattner-Institut und das SAP Innovation Center in Potsdam sind da die allerbesten Beispiele. Beim HPI wurde übrigens die HPI Schul-Cloud entwickelt, die heute an vielen Schulen genutzt wird. Auch die Bundesregierung leistet hier ihren Beitrag zur Digitalisierung der Bildung, nicht zuletzt durch den Digitalpakt, der ein echter Grundpfeiler für digitale Bildung an unseren Schulen ist. Weil Ministerpräsident Winfried Kretschmann zuhört, füge ich hier hinzu: Natürlich tun wir das Hand in Hand mit den Ländern. Einen letzten Gedanken möchte ich noch hinzufügen, weil er mir sehr viel bedeutet: Gesellschaftliches Engagement, unternehmerische Verantwortung, die weit über den eigenen Betrieb hinausreicht und die Zukunft unseres Landes insgesamt im Blick hat, auch das zeichnet SAP und seine Gründer aus. SAP ist seiner Heimat immer treu geblieben: Walldorf, Mannheim, Baden-Württemberg, dem Standort Deutschland. Was hier zurückgegeben wurde, kann man im Einzelnen kaum aufzählen, vom Heimat-Fußballverein bis zum Museum Barberini und der Stärkung der MINT-Fächer. Sozialeinrichtungen, Kunst, Kultur, Sport und Wissenschaft ‑ überall engagiert sich SAP und engagieren sich seine Gründer für unser Land, für ein gutes Zusammenleben. Dafür möchte ich Ihnen herzlich danken, und auch deshalb bin ich heute sehr gern hierhergekommen. SAP ist ein Unternehmen, das begeistert, nicht nur mit Blick auf die vergangenen 50 Jahre, sondern vor allem auch mit Blick in die Zukunft. Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz bei dem 13. Petersberger Klimadialog
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-dem-13-petersberger-klimadialog-2063220
Mon, 18 Jul 2022 12:12:00 +0200
Berlin
Exzellenz, sehr geehrter Herr Präsident Al-Sisi, sehr geehrter Herr Hart, sehr geehrte Damen und Herren Ministerinnen und Minister, liebe Annalena Baerbock, meine Damen und Herren, es gibt einen Gedanken, der weltweit seit Jahrtausenden eine Triebfeder für Fortschritt ist. Er lautet: „Kommenden Generationen ein gutes Leben zu ermöglichen“. Dieser Gedanke ist zentral, wenn wir über das Klima unseres Planeten sprechen ‑ und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen, weil er uns mit dem konfrontiert, was wir eigentlich alle längst wissen: Wenn wir nicht viel schneller, entschlossener und geeinter handeln beim Klimaschutz, dann wird dieses Versprechen an künftige Generationen nicht zu halten sein. Die jüngste Hitzewelle in Indien und Pakistan, die Fluten Anfang des Jahres in Brasilien oder im vergangenen Jahr im Ahrtal und in Nordrhein-Westfalen, an die wir letzte Woche erinnert haben ‑ sie sprechen eine eindeutige Sprache: Wir müssen die Erderwärmung auf 1,5 Grad begrenzen. Der Gedanke an künftige Generationen weist aber zugleich auch den Weg nach vorne. So wie die Hoffnung auf Wohlstand, auf ein besseres Leben seit Jahrtausenden für Fortschritt sorgt, so kann sie auch den Klimaschutz entscheidend voranbringen ‑ wenn, ja wenn es uns gelingt, das Ziel der Klimaneutralität mit diesem Wohlstandsversprechen zu verbinden! Das, meine Damen und Herren, muss unser Weg sein. Zwei Milliarden Menschen mehr als noch heute werden in 30 Jahren voraussichtlich auf der Erde leben, vor allem in Afrika, in Asien und in Lateinamerika. Glauben wir wirklich, dass wir sie vor die Wahl stellen können: entweder Klimaschutz oder Wohlstand? Für sie alle muss es eine Perspektive auf Wohlstand und auf einen intakten Planeten geben. Genauso wenig können wir von den Bürgerinnen und Bürger unserer Länder verlangen, weniger mobil zu sein. Wie soll das gehen in einer globalisierten und vernetzten Welt? Klimaschutz wird nur dann erfolgreich sein, wenn er von einer breiten Mehrheit unserer Gesellschaften getragen wird. Das gilt für all unsere Länder. Anders ausgedrückt: Klimaschutz gelingt, wenn er unser Leben spürbar besser macht ‑ durch eine moderne, bezahlbare Energieversorgung etwa, durch Windräder und Solaranlagen anstelle von rauchenden Schloten, durch Mobilität ohne Abgase. Ein Beispiel, wie das gehen kann, kommt aus Ägypten. Dort baut Ihre Regierung, Herr Präsident, gerade ein hochleistungsfähiges Eisenbahnnetz, das Menschen verbindet und zugleich das Klima schützt. Damit ist die Herausforderung beschrieben, die vor uns liegt: natürlich Klimaschutz voranzutreiben und zugleich Wohlstand zu sichern und neuen zu schaffen. In Deutschland haben wir schon zu Beginn dieser Legislaturperiode gesagt: Dieses Jahrzehnt wird das Jahrzehnt der Transformation; das Jahrzehnt, in dem wir das Fundament errichten für eine CO2-neutrale Wirtschaft. In weniger als 25 Jahren ‑ bis 2045 ‑ wollen wir eines der ersten klimaneutralen Industrieländer werden. Putins brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine, sein Einsatz von Energie als Waffe, die rasant steigenden Energiepreise: All das bestärkt uns nur in diesem Ziel. Wir müssen raus aus Kohle, Öl und Gas ‑ fast hätte ich gesagt: mit Vollgas. Also, unsere Devise lautet: Jetzt erst recht! Denn was uns nicht passieren darf, das ist, jetzt in eine globale Renaissance der fossilen Energie und insbesondere der Kohle hineinzuschlittern. Niemand kann zufrieden sein damit, dass auch bei uns der Anteil der Kohleverstromung gerade wieder steigt, als Reaktion auf drohende Engpässe bei der Gasversorgung. Umso wichtiger ist es, dass wir eines ganz klar festhalten: Das ist eine zeitlich eng befristete Notmaßnahme, die nicht zu Lasten unserer Klimaziele geht. Dasselbe gilt für Investitionen in die Gasinfrastruktur. Ja, wir brauchen vorübergehend neue LNG-Kapazitäten, damit hier und in vielen anderen Ländern weltweit nicht die Lichter ausgehen bei den Menschen zu Hause und in den Betrieben ‑ in Betrieben, übrigens, die oft genau die Technologien erzeugen, die wir auf dem Weg zur Klimaneutralität brauchen. Aber klar ist eben auch: Alles, was wir heute zur Sicherung der Gasversorgung tun, das muss in Einklang stehen mit unserem Ziel, in Zukunft in Deutschland und weltweit CO2-neutral zu werden. Konkret heißt das: Wir schaffen keine neuen dauerhaften Abhängigkeiten von fossilen Energiequellen ‑ bei uns nicht und auch nicht in den Produktionsländern. Wenn wir heute neue Energiepartnerschaften schließen, dann mit der klaren Perspektive für die Energiewende und einem Umstieg auf grünen Wasserstoff. Und nicht zuletzt versehen wir die Nutzung fossiler Energie mit einem Enddatum. Beim G7-Gipfel in Elmau haben wir beschlossen, den Energiesektor in unseren Ländern bis 2035 so weit wie möglich zu dekarbonisieren. Für Deutschland bedeutet das: 80 Prozent unseres Stromverbrauchs werden wir schon im Jahr 2030 aus erneuerbaren Energien beziehen. 50 Prozent der Wärme werden wir bis dahin klimaneutral erzeugen. Das sind die Wegmarken, die wir uns gesetzt haben. Die Weichen dorthin haben wir in den letzten Wochen und Monaten gestellt. Wir haben neue Ausbauziele festgeschrieben, zum Beispiel, dass zwei Prozent unserer Landfläche künftig für Windkraft genutzt wird. Genehmigungsverfahren werden ganz erheblich beschleunigt. Vor allem aber haben wir eines gesetzlich festgelegt: Der Ausbau erneuerbarer Energien liegt von nun an ‑ nicht nur politisch, sondern auch von Rechts wegen ‑ im überragenden öffentlichen Interesse ‑ im Interesse des Klimaschutzes, im Interesse einer bezahlbaren Energieversorgung und im Interesse der Sicherheit und Energieunabhängigkeit unseres Landes. Wir sehen all das als unseren Beitrag zu einer globalen Kraftanstrengung von Industrieländern, Entwicklungs- und Schwellenländern gemeinsam. Und auch unser Treffen unterstreicht das. Wir machen dem Namen dieses Raums heute alle Ehre: Das hier ist dank Ihrer Teilnahme ein echter „Weltsaal“! Damit das 1,5-Grad Ziel nicht aus dem Blick gerät, müssen wir unsere Co2-Emissionen global noch in diesem Jahrzehnt nahezu halbieren. Auch das gelingt uns nur, wenn wir Klimaschutz und Wohlstand zusammendenken. Wir brauchen weltweit Autos, die mit erneuerbarem Strom fahren, und Flugzeuge, die klimaneutrale Kraftstoffe im Tank haben; Co2-neutralen Stahl und klimaneutralen Zement, um unsere Brücken und Häuser zu bauen; grünen Wasserstoff, der unsere Industrien antreibt; hochleistungsfähige Windräder und Solaranlagen. Auch die Güterströme zwischen unseren Ländern müssen klimafreundlich werden. Kurzum: Wir müssen den Umbau zur Klimaneutralität als ein weltumspannendes Modernisierungsprogramm angehen, bei dem Staaten, Unternehmen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Bürgerinnen und Bürger eng zusammenarbeiten. Bei unserem G7-Gipfel in Elmau haben wir deshalb eine Partnerschaft für globale Infrastruktur und Investitionen ins Leben gerufen. Gemeinsam mit der Wirtschaft wollen wir im Laufe der nächsten fünf Jahre 600 Milliarden Dollar in moderne Infrastruktur investieren, in Digitalisierung, Gesundheit, Bildung und saubere Energie. Das wird auch den Klimaschutz erheblich voranbringen. Ein Schwerpunkt unseres deutschen Engagements wird auf den „Just Energy Transition Partnerships“ liegen. Zusammen mit Entwicklungsbanken und Unternehmen bieten wir den Partnerländern Unterstützung bei der Dekarbonisierung ihres Energiesektors an. Es ist kein Zufall, dass das erste Partnerland mit Südafrika ein Land in Afrika ist. Mit weiteren Ländern sind wir im Gespräch, um weitere Partnerschaften zu vereinbaren. Und wir wollen mehr tun, um die Energiewende gerade auch auf unserem Nachbarkontinent voranzubringen. Die UN-Klimakonferenz in Ihrem Land, Präsident Al-Sisi, ist die Gelegenheit dazu. Partnerschaften wie die „Just Energy Transition Partnerships“ leisten einen ganz konkreten Beitrag, um den UN-geführten Klimaprozess und seine Ziele voranzubringen. Dieser Prozess bleibt zentral. Doch wenn wir die Pariser Klimaziele umsetzen wollen ‑ und das muss unser Ziel sein ‑, dann brauchen wir in Ergänzung zu den Klimakonferenzen auch neue Formen der Kooperation. Das ist die Idee eines offenen und kooperativen Klimaclubs. Auf dem G7-Gipfel haben wir Schritte zur Gründung des Klimaclubs noch in diesem Jahr vereinbart. Drei Ziele verspreche ich mir von einem solchen Zusammenschluss der Ambitionierten. Erstens: Wir machen gemeinsam Tempo beim klimaneutralen Umbau unserer Industrien. Hier sind wir noch nicht weit genug gekommen, weil alle fürchten, dass die eigenen Unternehmen zu den Nachbarn mit den laxeren Regeln abwandern. Aus diesem Dilemma kommen wir nur gemeinsam heraus, indem wir die internationale Kooperation in der Klimapolitik vertiefen, internationale Leitmärkte für klimafreundliche Technologien schaffen und das Vertrauen in die internationale klimapolitische Koordinierung stärken. So verhindern wir übrigens auch einen weltweiten Flickenteppich aus Zöllen und Einfuhrabgaben, einen Dschungel unterschiedlicher Standards und Messmethoden, strenger und weniger strenger Regeln. Zweitens: Der Klimaclub schafft neue Märkte für klimafreundliche Produkte ‑ zum Beispiel für grünen Stahl oder grünen Wasserstoff. Wenn wir ähnliche Bedingungen schaffen, ein „level playing field“, dann fördert das Investitionen in neue Technologien. Einen solch verlässlichen, internationalen Rahmen zu setzen ‑ das ist eine zentrale Aufgabe der Politik mit Blick auf den Klimaschutz. Drittens: Wir bringen Nord und Süd, Industriestaaten, Schwellen- und sich entwickelnde Länder zusammen. Der Klimaclub steht allen offen! Damit tatsächlich möglichst viele an Bord kommen, wollen wir diejenigen unterstützen, die ‑ Stand heute ‑ sonst nicht so schnell klimaneutral werden können. Oft hakt es paradoxerweise gerade dort, wo Solar- und Windenergie sich dank guter geografischer Gegebenheiten eigentlich schon heute ganz ohne staatliche Förderung rentieren würden. Was aber fehlt, ist die Finanzierung. Finanzierungsmöglichkeiten müssen wir gerade für besonders verwundbare Länder und Bevölkerungsgruppen ermöglichen. Wir werden daher gemeinsam mit Entwicklungsbanken und dem Finanzsektor neue Investitionen auf den Weg bringen. Als G7 stehen wir zu dem Ziel der Industrieländer, die Mobilisierung von 100 Milliarden Dollar für die Klimafinanzierung so schnell wie möglich und durchgehend bis 2025 hinzubekommen. Deutschland will bis spätestens 2025 das Ziel erreichen, mit mindestens sechs Milliarden Euro jährlich hierzu beizutragen. Auch das gemeinsame Versprechen der Industrieländer will ich bekräftigen, unseren Beitrag zur Anpassungsfinanzierung bis 2025 zu verdoppeln. Sehr geehrter Herr Präsident Al-Sisi, gemeinsam mit Ihnen wollen wir auch praktikable Lösungen im Umgang mit klimawandelbedingten Verlusten und Schäden finden. Das wird ein großes Thema der anstehenden Klimakonferenz. Als G7 haben wir unterstrichen, dass wir betroffene Bürgerinnen und Bürger, aber auch betroffene Staaten nicht alleine lassen werden. Bis zur Klimakonferenz wollen wir daher einen globalen Schutzschirm gegen Klimarisiken entwickeln. Optimistisch stimmt mich, dass viele technologische Lösungen inzwischen auf dem Tisch liegen. Jetzt müssen wir es hinkriegen, dass diese auch weltweit zum Einsatz kommen. Denn dann, meine Damen und Herren, schaffen wir ganz automatisch auch das, was ich eingangs beschrieben habe: Klimaschutz und Wohlstand miteinander zu verbinden. Dann halten wir auch das große Versprechen, das seit jeher für menschlichen Fortschritt sorgt: Kommenden Generationen ein gutes Leben zu ermöglichen, und zwar in einer lebenswerten Welt. Schönen Dank!
in Berlin
Kanzler kompakt: Kohle, Erdgas, Öl – vergessen wir gerade die Klimakrise?
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-kompakt-klima-wortlaut-2062824
Sat, 16 Jul 2022 10:00:00 +0200
Berlin
Wirtschaft und Klimaschutz
Nein, natürlich nicht. Deutschland ist eines der erfolgreichsten Industrieländer und das bedeutet heutzutage, dass wir auch sehr viele CO2-Emissionen haben. Deshalb müssen wir uns besonders anstrengen und wir strengen uns an! Unser Ziel ist, dass wir eines der ersten Länder sein werden, das CO2-neutral ist und gleichzeitig global wettbewerbsfähig und erfolgreich als Wirtschaftsnation, als Industrieland. Wir werden jetzt dafür sorgen, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien endlich vorankommt. Die Windkraft auf hoher See, an Land, die Solarenergie, die Biomasse. Alles das brauchen wir, um Strom zu produzieren und um Wasserstoff herstellen zu können, damit wir eine industrielle Zukunft haben, ohne CO2-Emissionen. 2045 wollen wir das schon erreichen. Jetzt haben wir die ersten Gesetze auf den Weg gebracht, damit diese Ausbauziele erreicht werden können und damit es schnell geht. Und jetzt werden wir noch weitere Gesetze in diesem Jahr hinterherschicken, damit das mit dem Tempo klappt. Dass wir jetzt vorübergehend wegen des brutalen Angriffs Russlands auf die Ukraine manche Kraftwerke nutzen müssen, die wir schon außer Betrieb genommen haben, das ist bitter. Aber es ist nur für sehr kurze Zeit. Denn wir legen jetzt erst recht los und wollen jetzt erst recht alles tun, um die Klimakrise zu bekämpfen.
Kanzler kompakt: Wie sichern wir unsere Energieversorgung?
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-kompakt-energieversorgung-wortlaut-2060762
Sat, 09 Jul 2022 10:00:00 +0200
Berlin
Auswärtiges,Wirtschaft und Klimaschutz
In diesen Tagen beschäftigt uns die Sicherheit unserer Energieversorgung. Sie wird es noch die nächsten Wochen, Monate und auch Jahre. Wir haben jetzt viele Entscheidungen getroffen, die dazu beitragen sollen, dass wir uns vorbereiten auf Mangellagen, etwa wenn es um Gas geht. Wir bauen Pipelines, Flüssiggasterminals. Wir sorgen dafür, dass eingespeichert wird in unsere Gasspeicher. Und wir sorgen dafür, dass jetzt Kohlekraftwerke genutzt werden, damit wir Gas sparen. Aber auf lange Sicht wird es auch darum gehen, dass wir uns unabhängig machen von fossilen Importen. Und deshalb ist es wichtig, dass wir die Erneuerbaren Energien ausbauen. Das machen wir mit vielen Gesetzen, die gerade in dieser Woche beschlossen worden sind. Es gibt ein Tempo, wie es bisher noch nicht in Deutschland gesehen worden ist, und das ist notwendig. Und wir werden es mit diesem Tempo es auch schaffen, ein klimaneutrales, wirtschaftlich starkes Industrieland zu sein. Sicherheit ist auch wichtig, wenn es um den Geldbeutel geht. Wenn wir darüber nachdenken, kann ich die Lebensmittelrechnungen noch bezahlen oder die nächste Heizrechnung. Und deshalb haben wir eine Entlastungpaket auf den Weg gebracht, das alles zusammen 30 Milliarden Euro umfasst. Darunter sind viele Maßnahmen, zum Beispiel, dass wir für Wohngeldempfänger einen Heizkostenzuschuss zahlen, dass arme Familien jetzt jeden Monat 20 Euro mehr bekommen für ihre Kinder und dass es für alle Kinder 100 Euro gibt, dass wir eine Energiegeld zahlen, dass wir dafür sorgen, dass Grundsicherungsempfänger besser ausgestattet werden. Und sogar die Stromrechnung wird entlastet, weil die EEG-Umlage – über 20 Milliarden Euro – jetzt nicht mehr den Strompreis belastet. Das soll Sicherheit schaffen, wenn es um das tägliche Leben geht.
Rede von Bundeskanzler Scholz zum Start der „Mission SalzGiga“ und der Grundsteinlegung der Volkswagen-Zellfabrik am 7. Juli 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zum-start-der-mission-salzgiga-und-der-grundsteinlegung-der-volkswagen-zellfabrik-am-7-juli-2022-2060334
Thu, 07 Jul 2022 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Salzgitter
keine Themen
Sehr geehrter Herr Diess, sehr geehrter Herr Schmall, sehr geehrter Herr Blohme, sehr geehrte Frau Cavallo, sehr geehrter Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Erster Bürgermeister, sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, meine Damen und Herren und auch liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr, sehr froh, heute hier in Salzgitter zu sein. Das gibt mir die Gelegenheit, über ein Auto zu sprechen, das wir ganz kurz sehen konnten und das ich aus meinem Autoquartett wiedererkannt habe: den VW K 70. Wie einige andere bin ich alt genug, mich an ihn zu erinnern – sogar daran, dass er auf der Straße gefahren ist. Die frühen 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts waren in der Bundesrepublik eine Zeit des Aufbruchs: politisch, kulturell, in Wirtschaft und Gesellschaft, in Architektur und Design. Fortschritt und Erneuerung, Modernität und Zukunftsoptimismus – das war das Lebensgefühl dieser Jahre. Erlebbar und nachvollziehbar wird dieses neue Lebensgefühl des Aufbruchs noch heute – in ganz bestimmten Orten, in Objekten und Symbolen. Denken Sie etwa an das wunderbare Münchener Olympiagelände, entworfen von Architekten Günter Behnisch. Mit seiner Leichtigkeit und Transparenz, mit seiner Offenheit und seinen klaren Linien strahlt das Olympiastadion von 1972 den neuen Spirit dieser Jahre besonders eindrücklich aus. Womit wir wieder beim VW K 70 wären – für den gilt nämlich genau dasselbe. Auch wenn er sich, glaube ich, nicht ganz so gut verkauft hat: So sachlich, so schlank und so schnörkellos, wie der K 70 ab 1970 daherkam, verkörperte er schon allein in ästhetischer Hinsicht einen Neuanfang. Aber erst recht in technischer Hinsicht bedeutete er eine Revolution. Bis dahin hatte Volkswagen Autos mit luftgekühlten Heckmotoren gebaut. Jetzt war der K 70 der erste VW mit Front-Reihenmotor und Wasserkühlung – ein Konzept, das richtungweisend war. Sämtliche späteren VW-Erfolgsmodelle, die sich viel verkauft haben – Golf und Passat vorneweg –, wären nicht möglich gewesen ohne den K 70 als Wegbereiter. Sie alle wissen es: Hergestellt wurde der bahnbrechende Wagen hier in diesem Werk in Salzgitter; eigens dafür wurde es errichtet. Damit steht gerade dieses VW-Werk für den mutigen Neubeginn – den Neubeginn mit zunächst offenem Ausgang, der sich dann aber als wegweisend und erfolgreich erweisen sollte. Das ist Ihre Geschichte hier in Salzgitter, das ist ein gutes Omen für die Zukunft. Denn ganz ähnlich ist die Lage jetzt ja wieder. Gemeinsam legen wir heute den Grundstein dafür, dass die Zukunft der Mobilität erneut maßgeblich in Salzgitter gemacht wird. Allen ist inzwischen klar, dass diese Zukunft nachhaltig und klimaschonend sein muss. Darum hat sich Deutschland verpflichtet, bis 2045 klimaneutral zu sein; übrigens nicht allein, denn das würde den Klimawandel ja nicht aufhalten, sondern eng abgestimmt mit unseren Partnern in Europa und weltweit. In kaum einer anderen Industrie fällt die Transformation, die Veränderung, die dafür notwendig ist, so grundlegend aus wie im Automobilbau. Hier in Salzgitter wird das ganz besonders deutlich; denn dieses Werk stellt bis heute Verbrennungsmotoren her. Etwa die Hälfte aller VW-Motoren stammt von hier. Weit mehr als 60 Millionen Motoren aus Salzgitter seit 1970 – was für eine stolze industrielle Leistung! Aber wir wissen: Das Verbrennen fossiler Treibstoffe geht dem Ende zu. Alle großen Automobilunternehmen haben sich für den Weg in die Elektromobilität entschieden – auch Volkswagen. Wie einschneidend die Folgen dieser Entscheidung sein können, das zeigt sich hier in Salzgitter. Hier hängen zunächst einmal 7000 Arbeitsplätze von einer Technologie ab, die um ihre Zukunft gewissermaßen ringen muss. Volkswagen hat das erkannt und deshalb entschieden, gerade hier in Salzgitter den Weg vom Motorenwerk zur Zentrale aller Batterieaktivitäten des Konzerns einzuschlagen. Das bedeutet nicht weniger als eine radikale Wende um 180 Grad, und ich weiß: Diese Wende stellt hohe Anforderungen an jeden und jede. Manche blicken mit Sorgen auf das schiere Ausmaß der Aufgabe, die da jetzt vor ihnen liegt: Kann das alles gut ausgehen – für mich, für meine Familie, für meine Region? Darum will ich sagen: Ja, das kann gut ausgehen, und das wird auch gut ausgehen – unter einer Voraussetzung, nämlich unter der Voraussetzung, dass wir nicht bloß dem Vergangenen nachhängen, sondern den Stier bei den Hörnern packen und die Herausforderung des Neuen offensiv annehmen. So haben Sie es bei Volkswagen schon immer gemacht. Sonst hätte VW seinerzeit am luftgekühlten Heckmotor für alle Autos festgehalten, sonst hätte es den wegweisenden K 70 nicht gegeben, sonst wäre dieses Werk hier in Salzgitter nicht entstanden. Es ist noch gar nicht so lange her, da waren viele hier in Deutschland der Meinung: Batteriezellen, das sind doch beliebige Zulieferteile, die können wir ganz nach Bedarf jederzeit aus Asien bestellen. – Heute wissen wir es viel besser. Spätestens die Coronapandemie und Russlands brutaler Angriff auf die Ukraine machen klar, dass die Abhängigkeit von weltweiten Lieferketten auf manchen strategischen Feldern ein großes Risiko bedeutet, ein zu großes Risiko. Für Batteriezellen gilt das ganz sicher. Deshalb kommt Ihnen allen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des VW-Werks hier in Salzgitter eine besonders bedeutsame Aufgabe zu. Denn es ist eben kein guter Zustand, wenn uns schon ein quer im Suezkanal festliegendes Containerschiff auf unserem Weg in Richtung der Elektromobilität und der Klimaneutralität ins Straucheln bringen kann. Wir wollen, dass auf Deutschlands Straßen bis zum Jahr 2030 15 Millionen Elektrofahrzeuge fahren. Wir wollen, dass Wertschöpfung und Arbeitsplätze hier bei uns in Deutschland und Europa bleiben. Wir wollen die Klimatransformation hinbekommen und zugleich Industrieland bleiben. Darum ist klar, dass wir eine eigene Batteriezellenproduktion brauchen, hier bei uns in Europa, hier bei uns in Deutschland und hier bei Ihnen in Salzgitter. Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Volkswagen und Salzgitter, das gehört ganz eng zusammen. Viele arbeiten bereits ihr ganzes Berufsleben für dieses Unternehmen, oft in der zweiten und dritten Generation, gemeinsam mit Brüdern oder Schwestern, mit Schwagern oder Cousinen. Manche haben Eltern, Onkel und Tanten, die selbst noch an dem ersten Auto hier, dem K 70, gebaut haben. Volkswagen prägt die ganze Region rund um Wolfsburg und Salzgitter, Hannover und Braunschweig seit Jahrzehnten, und Sie alle prägen Volkswagen. Sie alle geben Ihrem Unternehmen täglich, was Volkswagen braucht, um sich der Transformation mit Stärke zu stellen und letztlich noch stärker aus ihr hervorzugehen. Jeder und jede Einzelne von Ihnen trägt dazu bei, dass die Industrie auch in diesem großen Umbruch das Rückgrat unserer Wirtschaft bleibt. Transformation, das ist ein abstraktes Wort, auch wenn es von Managern und Politikern oft verwendet wird. Und die Politik kann für das, was damit verbunden ist, die richtigen Weichen stellen – ja. Aber Sie sind es, die mit Ihrer Arbeit den Wandel hin zur klimaneutralen Industrie und zur klimaneutralen Gesellschaft überhaupt erst möglich machen. Dafür gebührt Ihnen großer Respekt, großer Dank und alle notwendige Unterstützung. Jetzt steht Salzgitter vor seinem nächsten großen Aufbruch. Jetzt werden Sie hier ein neues Kapitel des Fortschritts schreiben. Darauf können Sie stolz sein, sehr stolz. Dafür wünsche ich Volkswagen, dem Standort Salzgitter und Ihnen allen zusammen alles Gute. Schönen Dank.
Rede von Bundeskanlzer Scholz bei dem Sommerfest des Bundesverbands Erneuerbare Energie e.V.
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanlzer-scholz-bei-dem-sommerfest-des-bundesverbands-erneuerbare-energie-e-v–2060092
Wed, 06 Jul 2022 18:23:00 +0200
Berlin
keine Themen
Liebe Simone Peter, meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schön, dass wir an diesem Sommerabend hier zusammenkommen. Ich sage das sehr bewusst, obwohl das nicht die Zeit für ausgelassene Sommerfeste ist. Einige hundert Kilometer östlich von hier herrscht Krieg. Das können wir nicht vergessen ‑ auch nicht in diesen Minuten. Und das kann ich auch nicht vergessen. Dieser Krieg bestimmt die politische Agenda. Und nicht nur das. Auch für Ihre Branche hat er die Vorzeichen radikal verändert. Deshalb ist es gut, sich zu treffen, zusammenzukommen und sich auch auszutauschen. Das hat hier in Berlin übrigens weit über die heutige Berliner Republik hinaus eine lange Tradition. Schon im vorletzten Jahrhundert traf man sich, um über Kunst, Literatur und die neuesten Forschungsergebnisse zu diskutieren. Einige dieser Gesprächsrunden gibt es heute noch, beispielsweise die Physikalische Gesellschaft zu Berlin, gegründet 1845. Genau dort hielt im Juli vor 175 Jahren Hermann von Helmholtz seinen wegweisenden Vortrag über die Erhaltung der Kraft. Darin formulierte er den sogenannten Energieerhaltungssatz, eines der fundamentalen Prinzipien der Physik. Sie alle kennen das: „Energie kann weder erzeugt noch vernichtet werden. Sie kann nur von einer Form in andere Formen umgewandelt werden.“ Salopp gesagt: Von nichts kommt nichts. Es geht aber auch nichts verloren. Die Idee war damals ein ziemlicher Knaller, zumindest unter den jüngeren Wissenschaftlern. Sie gilt bis heute. Von nichts kommt nichts heißt gerade in diesen Zeiten, dass wir mit ganz neuer Dringlichkeit Lösungen finden müssen, woher die Energie kommt, die wir brauchen. Das gilt genauso für die Frage, was mit den Umwandlungsprodukten passiert; gerade mit denen, die unser Klima und unsere Umwelt schädigen. Deshalb führt unser Weg irgendwie auch zurück in die Zukunft. Die allerersten Energiequellen der Menschheit waren Sonne, Wasser und Wind. Kohle, Erdöl, Erdgas als fossile Energien kamen erst sehr viel später hinzu, dafür umso intensiver. Die Verbrennung fossiler Energieressourcen wurde zu unserer wichtigsten Energiequelle. Mittlerweile wissen wir, dass diese Ressourcen endlich sind. Vor allem haben Sie aber in 250 Jahren seit Beginn der industriellen Revolution unser Klima und unsere Umwelt massiv geschädigt. Deshalb müssen wir zurück zu Sonne, Wind und Wasser. Die Bundesregierung hat sich dabei ehrgeizige Ziele gesetzt. Wir wollen bis 2045 als erstes großes Industrieland klimaneutral werden. Wir wollen 80 Prozent des Bruttostromverbrauchs bis 2030 aus erneuerbaren Energien beziehen. Wir wollen 50 Prozent Wärme bis 2030 klimaneutral erzeugen. Das war von Anfang an der Plan. Und das bleibt weiterhin der Plan. Nun müssen wir ihn unter den geänderten Vorzeichen seit dem 24. Februar noch schneller, noch entschlossener und noch mutiger umsetzen. Und das werden wir auch tun. Ich habe mit Blick auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine von einer Zeitenwende gesprochen. Inzwischen spüren wir, dass ein so fundamentaler Angriff auf die europäische und internationale Friedensordnung nicht spurlos an unserem Land vorbeigeht. Nirgendwo wird das so deutlich wie im Energiebereich. Der Krieg in der Ukraine hat uns allen in seiner Brutalität gezeigt, dass Energiepolitik nicht nur eine Frage des Preises ist. Energiepolitik ist auch Sicherheitspolitik. Deutschland hat sich zu lange und zu einseitig auf Energielieferungen aus Russland verlassen. Heute müssen wir feststellen, dass Russland Energie als Waffe einsetzt. Niemand glaubt doch, dass Russland seine Gaslieferungen allein aus technischen Gründen reduziert. Deshalb geht es jetzt darum, so schnell wie möglich die Abhängigkeit von russischen Energieimporten zu reduzieren, ohne unsere Versorgungssicherheit aufs Spiel zu setzen. Bei Kohle ist der Lieferstopp ab Herbst beschlossen. Bis Ende des Jahres wollen wir aus russischem Öl aussteigen. Bei Gas schaffen wir mit Hochdruck Alternativen. Wir haben bereits frühzeitig damit begonnen, für den „worst case“ zu planen: Wir befüllen die Gasspeicher. Wir investieren in neue Infrastruktur wie LNG-Terminals, die künftig dann auch für grünen Wasserstoff bereitstehen sollen. Ja, für unsere Abhängigkeit von russischen Energieimporten zahlen wir aktuell einen sehr, sehr hohen Preis. Das spüren unsere Bürgerinnen und Bürger genauso wie unsere Unternehmen. Deshalb haben wir weit über 30 Milliarden Euro in die Hand genommen, um die Preissteigerungen abzumildern, zum Beispiel mit dem 9-Euro-Ticket ‑ das will ich einmal herausgreifen und das andere lasse ich weg.Aber zum Beispiel auch mit dem Wegfall der EEG-Umlage auf den Strompreis seit dem 1. Juli. Das sind pro Jahr immerhin 20 Milliarden Euro, die auf dem Strompreis lasten. Es wird eine große, große Aufgabe, dass wir das möglich machen, und dass wir die Haushaltsbelastungen, die da kommen, refinanzieren. Wir machen das jetzt über unseren Fonds und dann über steigende Einnahmen aus der CO2-Bepreisung, wie jeder weiß. Aber es ist ein Weg, den wir eingeschlagen haben und der jetzt richtig ist. Und natürlich helfen wir ‑ auch das muss in einem Kreis wie hier gesagt werden ‑ auch den Unternehmen, die in Schwierigkeiten geraten, mit Bürgschaften und Krediten der KfW. Mit all diesen Maßnahmen ‑ und auch vielen, die ich jetzt nicht genannt habe ‑ können wir einen großen Teil der gestiegenen Preise in diesem Jahr, soweit man das jetzt kalkulieren kann, auffangen. Aber viele Experten gehen davon aus, dass vermutlich im kommenden Jahr die Belastungen durch höhere Preise noch einmal zunehmen werden, und das kann sich ja auch in diesem Jahr noch einmal steigern. Deshalb habe ich vorgestern Gewerkschaften, Wirtschaft und Politik zu einer Auftaktsitzung einer „Konzertierten Aktion“ ins Bundeskanzleramt geladen. In den kommenden Monaten werden wir weiter konkret darüber sprechen, was jede Seite in ihrem Verantwortungsbereich dafür tun kann, dass wir gut durch diese Zeit kommen. Und wie wir gemeinsam Lösungen finden, um die Bürgerinnen und Bürger zu entlasten ‑ insbesondere bei den Energiekosten. Denn wenn beispielsweise die Heizrechnung plötzlich um ein paar hundert Euro steigt, dann ist das etwas, das sich viele nicht einfach leisten können und das sie auch nicht bewältigen können. Die Rücklagen sind nicht groß genug dafür. Klar ist allerdings auch: Wenn Energie dauerhaft bezahlbar bleiben soll, wenn wir Versorgungssicherheit und Klimaschutz unter einen Hut kriegen wollen, dann geht das nur mit den erneuerbaren Energien. Deshalb müssen wir jetzt den Turbogang beim Ausbau der erneuerbaren Energien einlegen. Bei Ihnen renne ich da sicherlich offene Türen ein. Aber inzwischen hat sich das ja auch anderswo herumgesprochen: Jedes Windrad, jede Fotovoltaikanlage, jede Biomasseanlage ist ein Schritt auf dem Weg dahin, dass unsere Energieversorgung unabhängiger und nachhaltiger wird, dass sie sicher ist und bezahlbar bleibt. Und auch hier gilt: Von nichts kommt nichts. Deshalb hat die Bundesregierung in den vergangenen Woche die größte Gesetzesnovelle im Energiebereich in der Geschichte dieses Landes auf den Weg gebracht. Mit dem Frühjahrs- und Sommerpaket haben wir die gesetzlichen Grundlagen dafür geschaffen, dass der Ausbau der Photovoltaik und von Wind-an-Land und Wind-auf-See verbessert und massiv beschleunigt wird. Wir haben ehrgeizige Ziele. Wir wissen, wir brauchen nicht nur den heutigen Strom aus erneuerbaren Quellen. Sondern wir brauchen mehr Strom bis zum Ende des Jahrzehnts und noch einmal die doppelte Menge bis zum übernächsten. Denn es geht ja nicht nur darum, das, was wir heute mit Strom machen, durch eine andere Produktionsquelle zu ersetzen. Sondern wir müssen tief eingreifen in die heutige Art und Weise des Produzierens. Es geht um industrielle Prozesse, bei denen Strom und mit erneuerbaren Quellen erzeugter Wasserstoff eine ganz zentrale Rolle spielen. Deshalb brauchen wir eine massive Steigerung, einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien in diesem Land. Noch ein Argument für diejenigen, die vielleicht nicht hier versammelt sind, aber auch irgendwie zuhören: Deutschland hat eine Wette abgeschlossen ‑ eine Wette, die übrigens schon in der letzten Legislaturperiode eingegangen wurde und mit dem Kohleausstieg und dem schon zweimal beschlossenen und sich nun endgültig realisierenden Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie verbunden ist. Wir haben die Wette abgeschlossen, dass wir etwas anderes an diese Stelle setzen. Und ich verstehe nicht, dass, nachdem dieses Land ‑ übrigens mit unterschiedlichen politischen Mehrheiten ‑ diese Ausstiege beschlossen hat, so viele ‑ selbst wenn sie Zweifel haben, ob das wohl richtig war ‑ nirgendwo einsteigen wollen. Das geht wirklich nicht auf, und deshalb müssen wir das jetzt zustande bringen. Dafür brauchen wir natürlich Flächen und vor allem Akzeptanz vor Ort. Und wir müssen die Planungs- und Genehmigungsverfahren erheblich beschleunigen. Das tun wir mit den jetzigen Gesetzesvorhaben. Und im Herbst kommt noch einmal ein Paket an Gesetzen, mit dem wir das unbedingt voranbringen wollen. Schon jetzt haben wir gesetzlich festgeschrieben, bzw. diese Woche werden wir wohl gesetzlich festschreiben ‑ der Bundestag beschließt das hoffentlich diese Woche ‑, dass der Ausbau erneuerbarer Energien im überragenden öffentlichen Interesse liegt. Das wird die Planungsverfahren beschleunigen. Ganz klar ist, dass wir uns von den Bedenkenträgern und den Verteidigern des Status quo nicht aufhalten lassen dürfen. Wir haben schlichtweg auch keine Zeit mehr, um Dinge aufzuschieben nach dem Motto: Morgen, morgen, nur nicht heute. Dafür steht viel zu viel auf dem Spiel. Eines möchte ich noch hinzufügen. Wir tun das alles nicht im Alleingang, sondern eng koordiniert mit unseren Partnern in Europa und weltweit. Wir haben uns in der EU darauf verständigt, dass wir die Energiepolitik resilienter machen müssen, und dass wir uns noch besser koordinieren. Wir sind auf einem guten Weg. Viele Gesetzesvorhaben Europas sind jetzt auf den Weg gebracht. Auch darüber hat es Verständigung gegeben. Jetzt gibt es auch noch neue Initiativen der Kommission, mit denen wir die Planungsverfahren noch einmal beschleunigen. „Go-to“ heißt das. Mal sehen, ob das auch klappt. Aber ich bin ganz zuversichtlich. Natürlich geht es auch darum, dass wir eine effiziente Nutzung von Energie und den Ausbau alternativer Produktionskapazitäten überall voranbringen. Wir wollen die Energiewende zu einem globalen Projekt machen. Deshalb haben wir zum Beispiel vor, mit vielen Ländern des globalen Südens „energy transition partnerships“ zu vereinbaren. Eine haben wir schon vereinbart, und zwar mit Südafrika. Aber wir wollen viele, viele andere Länder mit einbeziehen. Indien, Indonesien, Vietnam und Senegal sind Partner, die bereitstehen und mit denen wir das intensiv vorbereiten. Auch auf dem G7-Gipfel in Elmau hier in Deutschland haben wir uns darauf verständigt, dass wir mit der Dekarbonisierung schneller vorankommen müssen. Wir haben uns vor allem auf einen Klimaclub geeinigt, den wir voranbringen wollen. Einen Club, in dem es vor allem darum geht, dass unterschiedliche Wege immer zu dem gleichen Ziel führen, nämlich um die Mitte dieses Jahrhunderts klimaneutral zu wirtschaften. Das ist das, was wir machen müssen. Die Industrieländer müssen vorangehen. Denn das ist doch entscheidend. Wir können jetzt die CO2-Emissionen einiger Länder des globalen Südens hochrechnen. Wenn sie groß sind und Milliarden Einwohner haben, sind das ziemlich viele. Aber wenn wir sie pro Kopf umrechnen, ist der Vergleich nicht günstig für uns. Das weiß fast jeder und jede. Aber es muss für uns klar sein, dass es deshalb unsere Aufgabe ist, zu zeigen, dass es Alternativen gibt. Wir werden nicht zu diesen Ländern hingehen und sagen: Wir hatten jetzt zweihundert Jahre eine super Party mit der Industrialisierung. Wir haben ziemlich viele fossile Ressourcen verbraucht. Ihr wisst schon, dass das kein so guter Gedanke ist. Ihr macht das nicht! Sondern sie werden nur dann sagen: „Wir machen das nicht“, wenn hier entwickelte, vorangebrachte, in der Praxis bewährte billige Alternativen zur Verfügung stehen. Diese Aufgabe ist mit den erneuerbaren Energien verbunden. Wenn wir vorangehen, dann gehen wir auch woanders voran, weil wir es zeigen müssen. Ach ja! Ich wollte hier noch das Big Business ansprechen. Ich meine die hier Anwesenden. Aber die Wahrheit ist ‑ insofern möchte ich auch noch auf die freundliche Ansprache reagieren ‑ die Perspektive ist: Die erneuerbaren Energien sind die Art und Weise, wie wir unsere Energie erzeugen. Deshalb wird man sich schon an den Gedanken gewöhnen müssen, dass das – wenn man allein auf dem Platz ist – kein Geschäftsmodell ist, das wir subventionieren. Sondern das ist ein Geschäftsmodell, das sich spätestens dann selbst tragen muss. Ehrlicherweise muss ich im Hinblick auf meinen dann regierenden Nachfolger oder meine dann regierende Nachfolgerin sagen: Wir wollen auch Steuern haben. Wenn man schon das Geschäftsmodell der Zukunft vertritt, dann muss man sich von dem Gedanken lösen, dass man auch im Jahre 2050 noch irgendeine Subvention bekäme. Das Gegenteil wird richtig sein. Trotzdem soll es billig und gut für die Umwelt sein. Das ist die Aufgabe, die Sie alle haben. Mir liegt das ganze Vorhaben hier sehr am Herzen, weil es uns dem Ziel näherbringt, dass wir als Land in weniger als 25 Jahren erreichen, klimaneutral zu werden und zugleich Industrieland zu bleiben – und zwar auf eine Art und Weise, die unser Leben besser und unsere Wirtschaft leistungsfähiger macht, die Arbeitsplätze schafft und Zukunft sichert. Das wird ein unglaublicher Kraftakt. Aber zum Glück wissen wir ja auch dank Hermann von Helmholtz, dass die Energie, die wir dort hineinstecken, nicht verloren geht. Dieser Weg wird sich lohnen. Deshalb: Packen wir’s an! Schönen Dank!
in Berlin
Rede von Kulturstaatsministerin Roth anlässlich der Unterzeichnung der Erklärung über die Rückgabe von Benin-Bronzen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-roth-anlaesslich-der-unterzeichnung-der-erklaerung-ueber-die-rueckgabe-von-benin-bronzen-2059506
Fri, 01 Jul 2022 16:30:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort – Last year, Chimamanda Ngozi Adichie gave a powerful speech at the opening of the Humboldt-Forum. Calling for the return of colonial artefacts, she said: “We can’t change our past, but we can change our blindness towards the past.” Ladies and gentlemen, Germany is about to change its blindness towards the colonial past. We, as the Federal Government and as a country, intend to address the legacy of our colonial past. Precisely here in Berlin, the site of the so-called Congo Conference, where the European countries staked their colonial claims in Africa. As the Federal Government and as a country, we acknowledge the horrific outrages committed under colonial rule. We acknowledge the murders and plundering, we acknowledge the racism and slavery, we acknowledge the injustice and trauma that have left scars that are still visible today. Ladies and gentlemen, We can change our blindness towards the past. So this day should not only open our eyes. It should also shine a light to illuminate our shared future. For decades, the bronzes have served as emblems of the African struggle to reclaim art expropriated under colonial rule. Today, we finally hear the call. We express our gratitude to all those who have relentlessly raised their voices. Governments, academics and civil society. To stand for all of them, I would like to honour one man in particular whose work inspired me a lot: with his exhibition “Treasures of Ancient Nigeria”, Dr Ekpo Eyo showed all of us the way forward. Today we are finally moving forward together. We are moving forward into a future where Nigeria and the Edo people own the Benin Bronzes. A future where today’s generation and all future generations in Nigeria will grow up with the pride and beauty emanating from these items. A future where justice may heal the wounds of the past. A future where Germans and Nigerians, Europeans and Africans come together to face the challenges of our time. That is what our joint policy declaration today is about: laying the cultural foundation for a new era of cooperation. And the foundation of all cooperation is culture. Culture allows us to address the legacy of the past in order to make a shared future possible. It allows us to see what we have in common instead of what divides us, and it opens our eyes to the beauty of our differences. And so I hope that today will find its way into the hearts of our people and our countries as a day of hope, of shared humanity, of friendship.
„We are moving forward into a future where Nigeria and the Edo people own the Benin Bronzes“, sagte Kulturstaatsministerin Roth bei dem Festakt anlässlich der Gemeinsamen Politischen Erklärung, die die Rückführung der Benin-Bronzen nach Nigeria ermöglicht. Roth unterzeichnete die Erklärung zusammen mit Außenministerin Baerbock, dem nigerianischen Kulturminister Lai Mohammed und dem Staatsminister für Auswärtige Angelegenheiten Zubairu Dada.
Kanzler kompakt: Brüssel, Elmau, Madrid – und nächste Woche Berlin. Was bringen Gipfel-Treffen?
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-kompakt-gipfel-wortlaut-2056054
Sat, 02 Jul 2022 10:00:00 +0200
Berlin
Auswärtiges,Wirtschaft und Klimaschutz
Wenn wir uns unterhaken und zusammenhalten, sind wir stark. Das ist die Botschaft, die ausgegangen ist vom Europäischen Rat in Brüssel, als wir den Staaten des westlichen Balkans neuen Schub gegeben haben für ihren Beitrittsprozess zur Europäischen Union und auch die Ukraine und Moldau eingeladen haben. Das gleiche war die Botschaft in Elmau in Deutschland, als die großen, wirtschaftlich starken Demokratien sich versammelt haben und miteinander über die Herausforderungen gesprochen haben, vor denen wir stehen. Auch wegen des Krieges, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat, aber auch, wie wir mit zum Beispiel Energie-, Sicherheitsfragen und Klimawandel umgehen und dem Hunger in der Welt. Und das war auch die Botschaft beim NATO-Gipfel, als wir Finnland und Schweden eingeladen haben, Mitglied zu werden. Wenn wir uns unterhaken und zusammenhalten, sind wir stark. Das gilt auch für unser Land. Das große Problem, das viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland gegenwärtig umtreibt, völlig zurecht, sind die steigenden Preise, ist die Inflation, dass alles teurer wird. Und auch da müssen wir gemeinsam handeln. Deshalb habe ich, wie das schon einmal in so einer schwierigen Zeit in den 60er und 70er Jahren war, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Bundesbank, Wissenschaftler eingeladen, mit uns darüber zu sprechen, was wir machen. Denn auch für unser Land gilt: Wir müssen uns unterhaken und zusammenhalten.
Kanzler kompakt: Gas und Öl sind teuer und knapp – Was bedeutet das für uns?
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-kompakt-gas-und-oel-sind-teuer-und-knapp-was-bedeutet-das-fuer-uns–2059338
Sat, 25 Jun 2022 10:00:00 +0200
Berlin
Russlands brutaler Krieg gegen die Ukraine hat auch Auswirkungen bei uns. Viele Dinge, die wir einkaufen, sind teurer geworden. Lebensmittel, aber eben ganz besonders die Preise für Energie. Das merken wir an der Tankstelle, das merken wir, wenn wir die Heizrechnung bezahlen müssen. Heizöl, Gas alles viel teurer als noch vor einem Jahr. Deshalb müssen wir uns darauf vorbereiten. Das haben wir auch gemacht, indem wir Gesetze auf den Weg gebracht haben, die dafür sorgen, dass in den Gasspeichern in Deutschland jetzt schon rechtzeitig mehr Gas eingespeichert wird. Und wir sorgen dafür, dass wir auf andere Weise Energie nach Deutschland importieren können, als eben über Russland. Auch das ist wichtig. Und wir müssen uns mit anderen darüber absprechen, was zu tun ist. Denn das werden wir nur gemeinsam bewältigen können, was an Herausforderungen mit dieser neuen Situation sich für uns alle ergibt. Politisch wollen wir das alles international besprechen. In Elmau mit anderen Staats- und Regierungschefs wirtschaftsstarker Demokratien. Sieben kommen da zusammen, die G7. Dieser Gesprächsclub hat mal angefangen als G6 mit sechs Staaten, als Helmut Schmidt alle zusammengerufen hat, um darüber zu reden, wie wir mit der damaligen Ölkrise umgehen. Jetzt ist es wichtig, dass wir die heutige Situation besprechen und gleichzeitig dafür Sorge tragen, dass wir den menschengemachten Klimawandel aufhalten. Denn das müssen wir ja auch tun, indem wir langfristig wegkommen von der Nutzung fossiler Energien. Und deshalb wird zum Beispiel eine Aufgabe sein, einen Klimaclub zustande zu bringen, in dem die Staaten zusammenarbeiten, die das erreichen wollen. Elmau liegt in den Bergen, Berge versetzen werden wir dort sicher nicht. Aber wir können wichtige Entscheidungen treffen und Dinge vorbereiten, die für uns alle nützlich sind. Wenn wir geschlossen handeln und entschlossen sind. Darum geht es.
Rede von Bundeskanlzer Scholz bei der Eröffnung der ILA 2022 am 22. Juni 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanlzer-scholz-bei-der-eroeffnung-der-ila-2022-am-22-juni-2022-2055004
Wed, 22 Jun 2022 12:51:00 +0200
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Schöllhorn, sehr geehrte Frau Regierende Bürgermeisterin Giffey, liebe Franziska, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Woidke, lieber Dietmar, meine sehr geehrten Damen und Herren, fast unbemerkt hebt das Flugzeug ab. Der hybride Elektromotor, der die Turbine betreibt, summt so leise, dass man den Flugwind zu hören glaubt. Doch der Flieger ist so aerodynamisch geformt, dass er kaum ein Geräusch produziert. Unter uns liegt der Flughafen. Die vollelektrischen Transport- und Ladefahrzeuge summen umher. Auf dem Dach befinden sich Solarzellen, die dank modernster Satellitentechnologie hocheffizient arbeiten. Diese Satelliten wurden übrigens mit neuartigen Raketen ins All gebracht, angetrieben von grünen Kraftstoffen. Jetzt entspannt zurücklehnen und ganz so wie früher ein Buch lesen! Neu ist nur, dass dieses Buch heute Morgen per Lieferdrohne nach Hause gebracht wurde, natürlich emissionsfrei. So oder ähnlich könnte die Luft- und Raumfahrt der Zukunft aussehen, klimaneutral, geräuscharm und vor allem hochinnovativ. Wenn man sich hier auf der ILA umschaut, dann merkt man, dass das, was ich gerade beschrieben habe, keine Science-Fiction, keine ferne Zukunftsmusik ist. An den Technologien dafür wird längst erfolgreich geforscht und gearbeitet. „Pioneering aerospace“ ‑ das Motto der diesjährigen ILA erinnert daher nicht nur an die Ursprünge dieser ältesten Luftfahrtschau und an den historischen Pioniergeist der Luftfahrt. „Pioneering aerospace“ drückt vor allem den Anspruch einer Branche aus, die wie kaum eine andere für Innovation und Fortschritt steht, zu Zeiten von Fesselballon und Zeppelin genauso wie heute. Das macht Mut, dass uns die große Transformation gelingt, die jetzt vor uns liegt. Im Kern geht es um die Frage, wie wir unser Wirtschaftsmodell, das fast 200 Jahre lang auf dem Verbrennen von Kohle, Öl und Erdgas beruhte, so umbauen, dass wir die Zukunft unseres Planeten sichern. Die Zeit dafür ist denkbar kurz. Bis 2045 will Deutschland CO2-neutral sein und zugleich ein führendes Industrieland bleiben. Da ist es gut, dass Ihre Branche selbst alles daransetzt, Europas Luftfahrtsektor bis 2050 CO2-neutral zu machen. Praktisch heißt das zweierlei. Zum einen muss die Herstellung von Spitzentechnologie für Flugzeuge, Helikopter, oder Drohnen künftig klimaneutral erfolgen. Und zum anderen braucht es neue, rentable Technologien und Ideen für die CO2-freie Mobilität der Zukunft. Einige davon werde ich auf meinem Rundgang gleich im Anschluss sicherlich zu sehen bekommen. Bodenmanagement, Flugrouten, Werkstoffe, Antriebstechnologien, all das muss neu gestaltet werden. Welche Veränderungen das für Wertschöpfungsketten und auch für die Beschäftigten in der Luft- und Raumfahrt mit sich bringt, kann man sich ausmalen. Ein solch fundamentaler Umbau gelingt nur im Schulterschluss zwischen allen Verantwortlichen, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik. Diesen Schulterschluss herzustellen, das ist die Idee hinter der „Allianz für Transformation“, die letzte Woche erstmals im Bundeskanzleramt getagt hat. Sie soll die Modernisierung unseres Landes in den nächsten Jahren begleiten und vorantreiben und alle Beteiligten auf diesem Weg mitnehmen. Meine Damen und Herren, der furchtbare Krieg in der Ukraine erhöht noch einmal den Handlungsdruck. Von einer „Zeitenwende“ habe ich nach Kriegsausbruch im Bundestag gesprochen. Denn die russische Aggression stellt alle Grundsätze der europäischen Friedensordnung der letzten Jahrzehnte infrage. Als unmittelbare Antwort darauf habe ich Ende Februar ein „Sondervermögen für die Bundeswehr“ in Höhe von 100 Milliarden Euro angekündigt. Keine vier Monate später hat der Bundestag nun die dafür nötige Änderung des Grundgesetzes beschlossen. Die Bundeswehr wird damit absehbar zur größten konventionellen Armee unter den europäischen NATO-Verbündeten. Es geht um die Sicherheit unseres Landes, die Sicherheit unserer Bündnispartner und um eine leistungsfähige und fortschrittliche Bundeswehr. Dafür brauchen wir auch den Beitrag der Industrie hier in Deutschland und Europa und gerade in der Luft- und Raumfahrt. Sie muss uns dabei zuverlässig, leistungsstark und innovativ unterstützen. Deshalb habe ich schon Ende Februar im Bundestag gesagt, dass es bei dem Sondervermögen auch darum geht, dass wir technologisch auf der Höhe der Zeit bleiben. Das bedeutet zum Beispiel, die nächste Generation von Kampfflugzeugen gemeinsam mit Partnern wie Frankreich und Spanien zu entwickeln – hier in Europa. Wenn wir über europäische Souveränität reden, über eine starke europäische Säule in der NATO, dann gehört auch das dazu, meine Damen und Herren. Russlands Krieg erhöht den Handlungsdruck aber noch auf ganz andere Weise. Ich denke an die steigenden Rohstoff- und Energiepreise. Der Umstieg auf erneuerbare Energien und alternative Antriebstechnologien ist längst nicht mehr nur klimapolitisch geboten, er ist auch ein wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Imperativ. Die Bundesregierung sorgt gerade mit Hochdruck für neue Lieferquellen und für die nötige Infrastruktur, also schwimmende LNG-Terminals, Hafenanlagen, Pipelines und Speicher. Vor allem aber räumen wir gesetzliche Hürden aus dem Weg, die den Ausbau erneuerbarer Energien und Zwischenlösungen wie LNG-Gas bisher ausgebremst haben. Denn wir wissen, dass der Zugang zu sauberer und bezahlbarer Energie für viele Branchen, nicht zuletzt für Ihre, eine zentrale und entscheidende Standort- und Zukunftsfrage ist. Für noch etwas werden wir sorgen, und zwar für Planungssicherheit. Schließlich wird in Industrien wie der Luft- und Raumfahrt nicht nur aufs nächste Quartal geschaut, sondern für Jahrzehnte geplant und investiert. Erst gestern haben wir einen neuen „Aktionsplan zum klimaneutralen Fliegen“ vorgestellt. Darin wird der Weg beschrieben, den wir in Deutschland gemeinsam mit der Industrie und mit der Luftfahrt gehen wollen, um Vorreiter beim CO2-neutralen Fliegen zu werden. Auch auf europäischer Ebene arbeiten wir an verlässlichen Rahmenbedingungen für die Transformation, nicht zuletzt im Rahmen des Klimaschutzpakets der Kommission „Fit for 55“. Es ist ein wichtiges Signal, dass die Europäische Kommission die Partnerschaft der ILA 2022 übernommen hat. Denn es zeigt, dass wir Hand in Hand arbeiten. Dafür herzlichen Dank! Mit den europäischen Partnern reden wir auch über die Weiterentwicklung des Emissionshandels, über Beimischquoten für nachhaltige Flugkraftstoffe oder eine Kerosinbesteuerung. Zugleich behalten wir bei allem, was wir tun, die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Luftverkehrswirtschaft im Blick. Denn niemandem ist damit gedient, wenn Industrien oder Zulieferer dorthin abwandern, wo die Regeln laxer sind. Klimaneutral und wettbewerbsfähig, das ist unser Ziel. Darin liegt immer weniger ein Gegensatz. Auch das machen die steigenden Energiepreise gerade sehr deutlich. Letztlich heißt der Schlüssel: Innovation. Wir müssen zum Beispiel mehr „sustainable aviation fuels“ zu geringen Preisen auf den Markt bekommen. Über sie ist schon gesprochen worden. Mit unserer „Power-to-Liquid-Roadmap“ haben wir gemeinsam mit der Industrie aufgezeigt, dass der rasche Hochlauf alternativer Kraftstoffe hier in Deutschland gelingen kann. Dafür fördern Bund und Länder Forschung und Entwicklung. Gar nicht weit von hier, in Cottbus, entsteht gerade eine Anlage zur Erzeugung von klimaneutralem Kerosin, übrigens gefördert im Rahmen des Kohleausstiegs. Das zeigt doch: Was gut fürs Klima ist, kann zugleich ein Gewinn für den Industriestandort Deutschland und vor allem auch für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land sein. Perspektivisch geht es auch darum, wasserstoffbasierte und elektrische Antriebstechnologien zur industriellen Reife zu treiben. Schon heute zeigt die ILA hierzu einige hochinteressante Entwicklungen und Prototypen. Auch das werden wir als Bundesregierung flankieren, zum Beispiel im Rahmen unserer Nationalen Wasserstoffstrategie und mit neuen Wasserstoffpartnerschaften weltweit. Was im engen Zusammenspiel zwischen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft möglich ist, das haben wir in den vergangenen zweieinhalb Jahren erlebt. Es waren schwere Jahre, ganz besonders für die Luftfahrtbranche. Auch Flughäfen wie dieser hier können ein Lied davon singen. Der Einbruch der Passagierzahlen infolge der Pandemie, stornierte Bestellungen von Flugzeugen, gestrichene Flugverbindungen – all das hat tiefe, tiefe Spuren hinterlassen. Es war richtig, dass die Bundesregierung den Airlines und der Branche in dieser Zeit massiv unter die Arme beziehungsweise unter die Flügel gegriffen hat. Denn inzwischen ist die Branche wieder im Steigflug. Viele Staatshilfen wurden bereits zurückgezahlt. Die Passagiere kehren zurück. Auch das Cargogeschäft boomt. Nicht zuletzt konnten viele tausende gute Arbeitsplätze erhalten werden. Das ist es, was zählt! Es gibt also durchaus Grund, optimistisch in die Zukunft zu blicken, meine Damen und Herren. Wie das Fliegen in Zukunft aussehen könnte, habe ich Ihnen eingangs schon geschildert. Wer wissen will, wie die Zukunft des Fliegens ganz konkret aussehen wird, der ist hier auf der ILA goldrichtig. Herzlichen Dank der Messegesellschaft, dem Hauptstadtflughafen und den Ländern Berlin und Brandenburg, die diese einzigartige Symbiose namens ILA möglich machen – heute und in Zukunft! Vielen Dank auch den vielen Gästen und Flugbegeisterten, von denen diese Messe lebt! Ein ganz besonderer Dank den Ausstellern und Unternehmen, die hier in den kommenden Tagen ihre Innovationen präsentieren! Sie sind die wahren „pioneers of aerospace“. Sie machen uns Lust auf die Zukunft des Fliegens, klimaneutral, geräuscharm und hochinnovativ. Ihnen allen ein herzliches Willkommen! Nach vier Jahren ohne ILA tut es gut zu sagen: Die ILA 2022 ist eröffnet.
in Berlin
Rede von Bundeskanzler Scholz zum Tag der Industrie am 21. Juni 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zum-tag-der-industrie-am-21-juni-2022-2054572
Tue, 21 Jun 2022 11:34:00 +0200
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Russwurm, meine Damen und Herren, herzlichen Dank für die erneute Einladung zum Tag der Industrie! Die eine oder der andere von Ihnen erinnert sich ja womöglich noch: Ich war auch im vorigen Jahr hier bei Ihnen. Der Termin war mir seinerzeit sehr wichtig, weil ich ein besonders dringliches Anliegen hatte. Vor einem Jahr habe ich an dieser Stelle gesagt: „Unser Land steht vor einer historischen Veränderung. Wir brauchen in Deutschland eine Politik des Machens, eine Kultur der pragmatischen Entscheidung und der Durchsetzung.“ Heute stehe ich wieder hier vor Ihnen und meine Sätze aus dem vorigen Jahr haben nichts, aber auch gar nichts, von ihrer Bedeutung verloren. Ganz im Gegenteil: Seit dem 24. Februar dieses Jahres gelten sie sogar noch mehr und noch dringlicher. Russlands unerbittlicher Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ein fundamentaler Schlag gegen die europäische Friedensordnung und ein eklatanter Bruch des internationalen Völkerrechts. Das bedeutet einen epochalen Umbruch in Europa und der Welt, eine Zeitenwende für uns alle! Besonders groß ist die Besorgnis in den unmittelbaren Anrainerstaaten Russlands, auch bei unseren baltischen Partnern. Deshalb hatte ich mich sehr darauf gefreut, als Ehrengast heute mit Ihnen die litauische Premierministerin Ingrida Šimonytė begrüßen zu können. Leider kann sie heute nicht hier sein. Von hier aus und sicherlich auch in Ihrer aller Namen: Alles Gute und gute Besserung, liebe Ingrida! Es ist erst zwei Wochen her, dass ich mich mit Frau Šimonytė und den Premierministern von Estland und Lettland in Vilnius getroffen habe. In diesen Zeiten ist es mir wichtig, dass eines ganz klar wird: Deutschland steht eng an der Seite Litauens und aller unserer östlichen Alliierten. Dabei belassen wir es nicht bei Worten. Unmittelbar nach Kriegsbeginn haben wir nicht nur die Präsenz der Bundeswehr in Litauen verstärkt, sondern auch die Einsätze unserer Marine und Luftwaffe im Ostseeraum. Und ich habe unseren Freunden in Litauen zugesagt: Deutschland wird eine robuste Bundeswehrbrigade führen, die auch vor Ort in Litauen präsent ist und im Krisenfall unverzüglich mit Kräften aus Deutschland verstärkt wird. Das ist gelebte Solidarität unter Freunden und Verbündeten. In diesem Geist werden wir in den nächsten Tagen zu den Gipfeltreffen der Europäischen Union, der G7 und der NATO reisen. Jetzt ist die Zeit, in der sich weltweit alle unterhaken müssen, die Demokratie und Freiheit, Menschenrechte und liberale Gesellschaft verteidigen! Deshalb unterstützt die Bundesregierung auch mit allem Nachdruck die NATO-Beitrittsanträge von Schweden und Finnland. Der Beitritt dieser beiden engen Freunde und EU-Partner zur NATO liegt auch in unserem Interesse: Er stärkt die NATO. Er stärkt den europäischen Pfeiler in der NATO. Und er stärkt die Sicherheit und Stabilität im euroatlantischen Raum. Für die baltischen Staaten in unmittelbarer Nachbarschaft zu Schweden und Finnland gilt das besonders. Meine Damen und Herren, klar ist: Europa und die westlichen Demokratien insgesamt nehmen den gewaltsamen Angriff auf die Ukraine nicht hin. Die Ukraine muss sich gegen diesen Überfall zur Wehr setzen können. Deshalb leisten wir der Ukraine sehr umfangreiche finanzielle und humanitäre Unterstützung. Deshalb liefern wir der Ukraine Waffen ‑ viele davon übrigens auch dank der engen Zusammenarbeit mit deutschen Rüstungsfirmen. Und deshalb arbeiten wir gegen Russland mit beispiellos harten Sanktionen ‑ Sanktionen, die wirken. Ja: Diese Sanktionen schmerzen auch uns selbst. Sie schmerzen unsere Unternehmen. Aber sie sind richtig: Freiheit hat ihren Preis. Demokratie hat ihren Preis. Solidarität mit Freunden und Partnern hat ihren Preis. Und diesen Preis sind wir bereit zu zahlen. Darum danke ich dem BDI, der deutschen Industrie und der deutschen Wirtschaft insgesamt dafür, dass Sie diesen Kurs von Anfang an unterstützt haben. Schönen Dank dafür! Wie Sie wissen, war ich in der vergangenen Woche gemeinsam mit Präsident Macron, Premierminister Draghi und Präsident Johannis in Kiew zu Gast. Dort habe ich mir im Vorort Irpin einen eigenen Eindruck von der sinnlosen Zerstörung und Vernichtung verschafft, mit der das russische Militär die Ukraine überzieht. Die Bilder des Grauens, die ich dort gesehen habe, werde ich nicht vergessen. Zwei Dinge sind für mich seit dieser Reise klarer denn je: Erstens: Die Ukraine gehört zu uns ‑ sie gehört zur europäischen Familie. Ein Meilenstein auf diesem voraussetzungsvollen europäischen Weg ist der Status eines Beitrittskandidaten. Darüber beraten die Mitgliedsstaaten der EU in den nächsten Tagen. Deutschland ist für eine positive Entscheidung zugunsten der Ukraine. Ich werde mich beim Europäischen Rat für eine einheitliche Haltung stark machen. Ganz klar ist zweitens: Wir werden die Ukraine weiter unterstützen, auch weiter mit Waffen, und zwar so lange, wie die Ukraine unsere Unterstützung benötigt. Meine Damen und Herren, vor einem Jahr habe ich hier ein Bekenntnis zum Industriestandort Deutschland abgelegt. Dieses Bekenntnis möchte ich heute ausdrücklich bekräftigen. Vor uns liegt eine große Transformation. Es bleibt dabei: Ich will, dass die deutsche Industrie aus diesem Wandel nicht geschwächt hervorgeht, sondern gestärkt. Ich will, dass es in Deutschland zukünftig nicht weniger industrielle Arbeitsplätze gibt, sondern mehr. Deutschland soll im 21. Jahrhundert klimaneutral werden und dabei zugleich ein international wettbewerbsfähiges Industrieland bleiben. Das ist das Ziel, und dieses Ziel rechtfertigt die allergrößten Anstrengungen. Nicht nur die Folgen des russischen Angriffskrieges bringen die deutsche Industrie gegenwärtig in schwieriges Fahrwasser. Die internationalen Lieferketten sind oft noch durch die Pandemie gestört. Steigende Preise für Rohstoffe, Waren und Vorprodukte machen den meisten Industrieunternehmen in Deutschland zu schaffen. Besonders heftig ist die Industrie von den stark gestiegenen Preisen für Energie betroffen. Im Mai lagen sie fast 40 Prozent über dem Vorkrisenniveau. Aber auch die Verbraucher in Deutschland spüren die starken Preissteigerungen. Wichtig ist, dass die externen Schocks zu keiner dauerhaften Inflationsspirale führen. Genau daran muss uns jetzt gelegen sein, und zwar allen Verantwortlichen gemeinsam. Deshalb habe ich Gewerkschaften, Wirtschaft und Politik zur Konzertierten Aktion ins Bundeskanzleramt eingeladen. Der Auftakt findet am 4. Juli statt. „Konzertierte Aktion“, der Begriff steht für die Einsicht, dass sich schwierige Probleme im Miteinander besser lösen lassen als im Gegeneinander. Das ist ein gutes Markenzeichen unseres Landes. Als „gesellschaftlichen Tisch der Vernunft“ bezeichnete einst Karl Schiller die erste Konzertierte Aktion. An genau diesen „gesellschaftlichen Tisch der Vernunft“ werden wir uns deshalb jetzt auch wieder setzen. Aus demselben Grund habe ich übrigens auch eine Allianz für Transformation etabliert. Das wird ein zentraler Ort des Austauschs, der Ideen und der Positionen, an dem sich die Bundesregierung mit Wirtschaft, Gewerkschaften und Verbänden zu allen wichtigen Fragen der Transformation berät. Weil wir uns fortlaufend darüber verständigen müssen, wie wir in den Stromschnellen der Transformation den richtigen Kurs finden, um unsere Wettbewerbsfähigkeit und unseren Wohlstand neu zu fundieren. Die Auftaktveranstaltung der Allianz war am 14. Juni. Die Diskussion zur Energiewende dort habe ich als sehr, sehr ermutigend empfunden. Alle Teilnehmer haben sich dazu bekannt, dass wir einen gesellschaftlichen Konsens brauchen, damit die Energiewende gelingt. Es versteht sich von selbst, dass es sowohl bei der Konzertierten Aktion als auch bei der Allianz für Transformation auch auf den Beitrag der deutschen Industrie ankommt. Als ich im vergangenen Jahr hier bei Ihnen war, habe ich darauf gedrängt, dass wir in Deutschland auf allen Ebenen schneller und mutiger werden müssen, dass wir Klartext reden müssen und dass wir nicht länger warten dürfen. Vor allem aber habe ich Ihnen für den Fall meiner Kanzlerschaft vier ganz konkrete Zusagen gegeben. Heute bin ich hier, um Ihnen zu sagen: Diese vier konkreten Zusagen gelten. Die erste lautete: Wir werden die erneuerbaren Energien entschlossen ausbauen. Genau das tun wir seit unserem Amtsantritt vor sechs Monaten. Mit dem sogenannten Osterpaket hat die Bundesregierung die größte energiepolitische Gesetzesnovelle seit Jahrzehnten vorgelegt. Das Osterpaket hat wichtige Grundlagen für den beschleunigten Ausbau der Photovoltaik und auch für die Windkraft auf See und an Land geschaffen. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz haben wir reformiert und zentrale Weichen gestellt, um die Energiewende viel konsequenter voranzutreiben als bisher. Erst vorige Woche haben wir im Kabinett die Weichen dafür gestellt, in Zukunft zwei Prozent unserer Landfläche für Windkraft zu nutzen. Als Grundsatz gilt: Die Nutzung erneuerbarer Energien liegt jetzt im überragenden öffentlichen Interesse, und sie dient der öffentlichen Sicherheit. Das Ziel dabei ist klar. Schon 2030 sollen 80 Prozent unseres Strombedarfs und 50 Prozent der Wärme aus erneuerbaren Quellen gedeckt sein. Damit wird unser Land Schritt für Schritt von fossilen Energieträgern und schwankenden Energiepreisen unabhängig. Für Deutschland insgesamt bedeutet das mehr Energiesicherheit und mehr Energiesouveränität. Für Deutschlands Industrie bedeutet es größere Planungssicherheit und zumindest perspektivisch günstigere Energiepreise. Meine zweite konkrete Ansage vor einem Jahr: Wir schaffen die EEG-Umlage ab. Auch das haben wir getan. Das Ende der EEG-Umlage war eine der ersten Maßnahmen der von mir geführten Bundesregierung überhaupt. Zum 1. Juli wird sie abgeschafft. – Ja, das waren 25 Milliarden. Noch ist es nicht in Kraft. Sie sollten sich also noch ein bisschen freuen. Hohe Strompreise sind nicht nur ein Bremsklotz für den Ausstieg aus fossilen Energiequellen. Sie sind nicht nur ein großes sozialpolitisches Problem. Sondern hohe Strompreise belasten auch unsere Unternehmen im internationalen Wettbewerb. Alle Hebel in Bewegung zu setzen, um die Strompreise zu senken, das ist deshalb das Gebot der Stunde. Schon heute ist der erneuerbare Strom der günstigste Strom. Je besser wir unter Ihrem Motto „Scaling the new“ vorankommen, desto günstiger werden die Erneuerbaren in Zukunft. Das ist der richtige Weg, und diesen Weg müssen wir weiter gemeinsam gehen. Meine dritte Zusage hieß: beschleunigte Planungs- und Genehmigungsverfahren! Auch diese Zusage halten wir ein. Das Ziel ist glasklar: Wir müssen die Dauer der Planungs- und Genehmigungsverfahren in unserem Land mindestens halbieren. Klar, da kommen dann viele, die erklären einem ganz detailliert, warum das nicht geht. Andere haben das allergrößte Interesse daran, dass alles so bleibt, wie es ist ‑ all die vielen Lobbyisten, die Bedenkenträger, die Vertreter des Status quo. Und alle haben sie ihre Gründe. Nur eines gerät dabei aus dem Blick, das Wichtigste überhaupt: die Zukunft unseres Landes. Deshalb werden wir uns den Schneid nicht abkaufen lassen! Wir haben schlicht keine Zeit mehr, um Dinge auf die lange Bank zu schieben. Darum ist 2022 das Jahr der Entscheidungen. Die Bundesregierung wird schon in den kommenden Monaten ‑ bis Jahresende ‑ die Beschlüsse fassen, die wir brauchen, um die Zeit für Planungs- und Genehmigungsverfahren drastisch zu verkürzen. Eine vierte Zusage habe ich Ihnen vor einem Jahr gegeben: Wir etablieren einen internationalen Klimaclub. Auch diese Zusage gilt. Auch dieses Vorhaben verfolgt die Bundesregierung mit großem Nachdruck. Schon in wenigen Tagen, werde ich als Gastgeber beim G7-Gipfel in Elmau den Startschuss für einen offenen und kooperativen internationalen Klimaclub geben. Ich will hier auch noch einmal sagen, warum uns das so wichtig ist, auch mir persönlich: Erstens. Wenn wir international keinen gemeinsamen Rahmen für den Klimaschutz schaffen, dann droht uns ein weltweiter Flickenteppich aus Zöllen und Einfuhrabgaben, aus strengen und weniger strengen Regeln. Das wollen wir nicht. Deshalb schaffen wir für alle Mitglieder des Klima-Clubs ein „level playing field“ mit vergleichbaren Standards. Zweitens. Es reicht eben nicht, wenn nur wir und ein paar andere beim Klimaschutz ambitioniert vorangehen. Das allein würde die Klimakrise ja nicht beenden. Wir müssen auch dafür sorgen, dass Unternehmen oder ganze Branchen nicht in Länder mit laxerem Klimaschutz ausweichen, Stichwort „carbon leakage“. Dem Klimaschutz und unserer Wirtschaft ist letztlich nur dann gedient, wenn weltweit immer mehr Staaten konkrete Vorteile darin sehen, wenn auch sie selbst den Weg Richtung Klimaneutralität einschlagen. Ohne die wichtigen aufstrebenden Mächte in Asien, Afrika und Lateinamerika kommen wir also nicht voran. Auch deshalb habe ich Vertreter dieser Weltregionen ‑ meine Kollegen aus Indien, Indonesien, Südafrika, Senegal und Argentinien ‑ zum G7-Gipfel Ende der Woche in Elmau eingeladen. Diese Staaten und Regionen werden wirtschaftlich und demografisch immer wichtiger und fordern darum auch immer mehr politische Mitsprache ein. Ohne sie werden wir in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts kein einziges globales Problem mehr erfolgreich lösen. Deshalb wollen wir auch sie und viele andere aufstrebende Staaten vom Sinn und Nutzen eines Klimaclubs überzeugen. Der BDI und die anderen beteiligten Verbände unterstützen diese Idee und haben das gestern bei der Übergabe des Business-7-Kommuniqués zum Ausdruck gebracht. Dafür herzlichen Dank! Sie sehen: Wir haben die Ärmel aufgekrempelt. Unsere Zusagen halten wir ein. Und Deutschland nimmt wieder Fahrt auf. Aber wir fangen gerade erst an, es geht gerade erst los. Vor uns liegen große Umbrüche, wie wir sie so geballt zu unseren eigenen Lebzeiten noch nicht erlebt haben. Klima, Energiewende, Digitalisierung, die Pandemie, jetzt Putins mörderischer Krieg mit all seinen Folgen für Welthandel, Welternährung und globale Stabilität ‑ die Zeitenwende hat viele Facetten. Wir bewegen uns in unkartiertem Gelände. Aber wir haben einen klaren Kompass. Vor allem aber: Wir sind nicht allein unterwegs. International stehen wir enger denn je zusammen mit unseren Partnern und Freunden in der EU, in der NATO und der G7. National ziehen wir an einem Strang, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, und zwar ‑ bei allen Interessenunterschieden ‑ am Ende in dieselbe Richtung. Das ist gut so. Schönen Dank!
in Berlin
Rede von Bundeskanzler Scholz zur Jubiläumsveranstaltung zum 10-jährigen Bestehen des Stipendien – und Mentoringprogramms „GEH DEINEN WEG“ der Deutschlandstiftung Integration am 20. Juni 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zur-jubilaeumsveranstaltung-zum-10-jaehrigen-bestehen-des-stipendien-und-mentoringprogramms-geh-deinen-weg-der-deutschlandstiftung-integration-am-20-juni-2022-2054484
Mon, 20 Jun 2022 00:00:00 +0200
Berlin
keine Themen
Einen schönen guten Tag, ich freue mich über die Einladung! Sehr geehrter Herr Bundespräsident Wulff, sehr geehrter Herr Gauly, liebe Stipendiatinnen und Stipendiaten, liebe Mentorinnen und Mentoren, meine Damen und Herren, in dem Video eben haben wir ganz unterschiedliche junge Frauen und Männer gesehen. Zwei Dinge haben sie aber gemeinsam: Sie gehen ihren Weg mit Mut, Beharrlichkeit und Optimismus – „GEH DEINEN WEG“ heißt es hier ja auch. Und zweitens: Sie alle blicken auf eine familiäre Einwanderungsgeschichte zurück. Ich glaube, dass das etwas ist, das unser Land auszeichnet und auch ausmacht. Ganz anders als viele Deutschland wahrnehmen – hierzulande, aber auch in der Welt -, ist unser Land, ist Deutschland ein Land, das sehr viele Einwanderinnen und Einwanderer hat und das eine gute Integrationsbiografie hat, etwas, was über lange, lange Zeit gelungen ist. Und wenn man uns heute mit vielen anderen Staaten in der Welt vergleicht, dann ist das etwas, was tatsächlich besonders ist. Wenn ich als Kanzler unterwegs bin, mich mit vielen unterhalte und ihnen erzählen kann, wie viele hierzulande leben, deren Eltern oder die selbst anderswo in der Welt geboren worden sind, dann wundern die sich, weil das anderswo keineswegs ein Stück Selbstverständlichkeit ist – aber hier bei uns. Und in dem Sinne bin ich sehr dankbar für die Arbeit, die hier geleistet wird, aber noch viel mehr all denjenigen, die hier als Stipendiatinnen und Stipendiaten von dem Programm profitieren, denn sie zeigen: Deutschland ist ein Hoffnungsland – und das ist gut so. Natürlich ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das auch so bleibt, und deshalb müssen wir uns immer wieder mit den großen Herausforderungen beschäftigen, die auch mit der Zuwanderung, mit der Einwanderung vieler Menschen verbunden sind, aber auch mit der Tatsache, dass das ja auch so bleiben wird und eine Aufgabe für die Zukunft ist. Es geht also um Integration, und eine der größten Integrationsaufgaben will ich auch gleich zu Anfang ansprechen: Wir müssen dafür Sorge tragen, dass der Weg nicht zu steinig wird, dass er nicht bedroht wird von Rassismus, von Vorurteilen, von vielen, vielen Schwierigkeiten, die immer wieder neu aufgetürmt werden. Ich bin beeindruckt, wie viele hier sind, die allen Schwierigkeiten entgegengetreten sind und sie überwunden haben, weil sie die Kraft und Energie dazu haben. Aber ich freue mich, wenn es dann künftig heißt: So viele Schwierigkeiten macht es nun auch nicht mehr; wir haben es geschafft: Wir sind in der Lage, auch Rassismus und Vorurteile in Deutschland weiter zurückzudrängen. Und Deutschland ist darauf angewiesen. Das, was uns in den letzten Jahren gelungen ist – wirtschaftlich, auf dem Arbeitsmarkt -, wäre nicht gelungen, wären nicht noch viele neu dazugekommen und hätten sich eingereiht in die Anforderungen, die in unserem Land existieren. Manche der Prognosen, mit denen sich Männer wie der frühere Bundespräsident und auch ich in anderen Ämtern beschäftigt haben, manche der Thesen früherer Zeiten sind einfach widerlegt worden durch die Wirklichkeit und die Abläufe, die sich seither hierzulande zugetragen haben. In den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde über die Schwierigkeiten diskutiert, die wir für unsere Sozialversicherung, für unseren Arbeitsmarkt haben würden, weil uns – jetzt, in dem Augenblick, in dem wir hier versammelt sind – etwa 6 Millionen Arbeitskräfte fehlen würden. Die Wahrheit ist: Die sind da. Die sind aber nicht einfach irgendwie entstanden, sondern sie sind eben Frauen und Männer wie Sie, die hierzulande einen Platz gefunden haben, die selbst eingewandert sind, deren Eltern eingewandert sind. Und deshalb ist es so, dass die wirtschaftliche Kraft, die Blüte, die unser Land hat, ohne die Einwanderung so vieler Menschen nach Deutschland niemals gelungen wäre. Das dürfen wir nicht vergessen. Und wir diskutieren es auch schon wieder, fragen uns also: Wie geht es weiter mit all den Aufgaben, die für die Zukunft zu lösen sind? Es ist unvorstellbar, dass wir die Art und Weise, wie wir heute leben, dass wir unseren Wohlstand aufrechterhalten können, ohne dass uns das, was bisher auch schon gelungen ist, auch für die Zukunft gelingt. Und deshalb ist es so wichtig, dass wir die Fähigkeiten und Möglichkeiten unserer Gesellschaft weiterentwickeln, die dazu erforderlich sind. Wir brauchen ein Land, wir wollen ein Land sein, das weltoffen ist, ein Land, das für viele ein Hoffnungsland ist. Und wir wollen dafür Sorge tragen, dass die Diversität unserer Gesellschaft etwas ist, was uns stark macht, und das ist auch etwas, zu dem Sie jeden Tag mit dem, was Sie tun, beitragen. Schönen Dank dafür! Wir selber wollen auch unseren Beitrag leisten, indem wir die Gesetze verändern, indem wir die Rahmenbedingungen verbessern, die wir in Deutschland zur Verfügung stellen können. Und gerade – ganz aktuell – kümmern über uns wieder darum, Herausforderungen zu bewältigen, die auf uns zukommen. Es sind mittlerweile 800 000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland registriert. Viele werden bleiben, viele werden auch wieder gehen, wenn dieser schreckliche, brutale Krieg, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat, endlich zu Ende ist und das Land seine Zukunft wieder gestalten kann – unabhängig, souverän ‑ und die eigene Demokratie selbst entwickeln kann. Aber es ist eben doch so: 800 000 sind hier registriert worden. Und das Besondere ist: Man hat den Eindruck, das klappt einfach! Das klappt nicht nur, weil überall in den Gemeinden, in den Städten und in den Ländern viel dafür getan wird, sondern auch deshalb, weil es offene Türen gibt, weil Deutschland ein Land ist, in dem viele hilfsbereit dazu beitragen, dass diejenigen, die jetzt hier Schutz suchen, ihn auch finden. Ich finde, das ist ein gutes Zeichen für unser Land. Wir haben deshalb auch gelernt, übrigens auch aus manchen Schwierigkeiten, mit denen andere noch zu kämpfen hatten – wahrscheinlich auch die eine oder der andere hier im Raum -, indem wir jetzt zum Beispiel eine europäische Richtlinie genutzt haben, die temporären Schutz sicherstellen kann – viel einfacher und unbürokratischer, als das sonst der Fall ist -, beim Zugang zu Kitas und Schulen, bei Sprach- und Integrationskursen und bei der Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsabschlüssen. Das ist ja etwas Besonderes; Deutschland ist stolz auf seine Beruflichkeit. Dass der Beruf etwas ist, was man hat und das einen auch ausmacht, unterscheidet uns sehr wohl von Traditionen in anderen Ländern. Nun ist der Beruf aber in Regel auch etwas, was man bescheinigt bekommt. Ob das nun die Tätigkeit als Maler oder als Ingenieurin ist: Irgendwo muss ein Dokument her, damit man beweisen kann, dass man all diese Fähigkeiten tatsächlich besitzt, die man alltäglich vorzeigen kann. Das war früher sehr schwer. Gegenwärtig ist es nur noch schwer. Das ist ein Fortschritt, wie man erkennt, wenn man weiß, wie es war, als es sehr schwer war. Trotzdem ist es so, dass wir jetzt alles dazu beitragen müssen, dass die Dinge weiter erleichtert werden, und wir nutzen die neue Herausforderung, die mit der Ankunft von so vielen Flüchtlingen aus der Ukraine verbunden ist, dafür alle gesetzlichen Regelungen und alle praktischen Verfahren noch einmal danach durchzukämmen, ob sie einfacher und unbürokratischer werden können. Und auch das ist etwas, wo wir aus der Vergangenheit gelernt haben und es für die Zukunft besser machen wollen. Und natürlich brauchen wir auch Fortschritte, wenn es darum geht, in Europa gemeinsame Politiken zu entwickeln, wenn es um Asyl- und Flüchtlingspolitik geht, aber auch, wenn es darum geht, wie wir Wege für diejenigen, die hierzulande leben und die als Flüchtlinge gekommen sind, finden und eine gute Perspektive entwickeln können. Eines der ersten Vorhaben der Regierung wird jetzt also sein, ein Chancen-Aufenthaltsrecht zu entwickeln, das dazu beiträgt, dass diejenigen, die schon lange hier sind, die gut integriert sind und die eine Perspektive suchen, sie auch tatsächlich bekommen. Da wird es dann so sein, dass man eine Zeitlang die Chance hat, das, was man alles gewissermaßen in sich hat, auch als Beitrag in der Gesellschaft zu realisieren. Und wir wollen das Gesetzespaket, mit dem das alles verbunden ist, jetzt schnell beschließen. Es geht darum, unsichere Perspektiven zu sicheren Perspektiven zu machen. Es wird schnell kommen, und das ist ein guter Fortschritt für unser Land. Natürlich ist damit auch verbunden, dass diejenigen, die Gefährder sind, die Straftaten verübt haben, nicht hierbleiben können. Es wird sogar leichter sein, damit umzugehen. Aber das ist im Sinne der Integration nur sinnvoll und richtig, und wir werden das auch so fortsetzen, denn unsere Perspektive kann man ziemlich klar beschreiben: Wir wollen irreguläre Migration reduzieren und reguläre Migration erleichtern. Und ein solcher Übergang, wie er mit diesem Chancen-Aufenthaltsrecht verbunden ist, ist ein ganz wichtiger Meilenstein dafür. Und im Übrigen wollen wir etwas vollenden, was schon mehrfach angefangen wurde, nämlich das Staatsangehörigkeitsrecht in Deutschland zu modernisieren. Der Bundespräsident hat mich eben schon als Bürgermeister adressiert, und ich will gern sagen, dass mir das eine ganz, ganz wichtige Ansprache gewesen ist, denn es gehört unverändert zu den berührendsten, den wichtigsten Erlebnissen und Erfahrungen, die ich als Hamburger Bügermeister gemacht habe, als ich ungefähr vier- bis fünfmal im Jahr unglaublich viele in den größten Saal des Hamburger Rathauses eingeladen hatte – der an Prunk eigentlich nichts auslässt -, die eingebürgert worden sind. Es waren so wie hier bei dieser Stiftung wahrscheinlich weit über hundert verschiedene Herkunftsnationen, aus denen die Frauen und Männer, die Kinder und die Älteren stammen, die dort eingebürgert wurden. Und es war jedesmal ganz bewegend, wenn dann ein Kinderchor Hamburger Lieder sang, wenn dann am Ende der Veranstaltung die Hymne der Stadt Hamburg, aber auch die Nationalhymne erklang und wenn zwischendurch erzählt wurde, was für Erfahrungen viele in Hamburg mit ihrer konkreten Integrationsgeschichte gemacht haben. Für mich war das immer ganz herausfordernd, dass ich bei dieser Gelegenheit die Dokumente, die Urkunden – nicht an alle Anwesenden, das wäre zu viel gewesen – an etwa zwanzig Ausgewählte direkt übergeben konnte. Ich muss zugeben: Das war für mich jedesmal ein Moment, wo ich die Contenance ein bisschen „zusammenhalten“ musste, weil es mich so berührt hat, weil man sieht, was da in diesem Moment alles zusammenkommt und was es bedeutete, dass ich allen in Hamburg, die die Voraussetzungen dafür erfüllten, irgendwann einmal einen Brief geschrieben und gefragt habe: Wollen Sie nicht Staatsbürger werden? – Es ist eine großartige Kampagne gewesen, ein großartiges Erlebnis, und ich möchte deshalb, dass wir unser Staatsangehörigkeitsrecht in Deutschland auf den modernsten Stand in der Welt bringen. Und neben der Aufgabe, dass alles einfacher wird, geht es eben auch darum, dass wir insbesondere die eine Hürde jetzt endgültig überwinden, nämlich das Verbot der Mehrstaatigkeit. Was nicht alle wissen: 50 Prozent der Einbürgerungen finden mit Hinnahme der Mehrstaatigkeit statt, und es ist schwer zu erklären, warum es bei den anderen dann nicht so ist. Eines, glaube ich, haben wir ja aus den letzten Jahren gut lernen können: Viele wissen, dass sie vielleicht nie wieder in das Land ihrer Herkunft zurückgehen werden. Und viele wissen, dass die Heimat, um die es ihnen jetzt geht, die ist, in der sie jetzt leben, nämlich Deutschland. Aber es ist eben doch etwas Schwieriges, sich zu entscheiden, zu sagen: Ich kappe jetzt die letzte Verbindung auf diese Art und Weise. – Und die Wahrheit ist: Wo man sich zu Hause fühlt, das entscheidet das Leben. Das ist eine Loyalität, die aus einem selbst erwachsen muss, und deshalb, glaube ich, ist es richtig, wenn wir unser Staatsangehörigkeitsrecht mit dieser Perspektive modernisieren. Ich will noch einmal zu dem zurückkommen, was ich am Anfang gesagt habe: Rassismus ist leider auch eine Realität in unserem Land, eine Realität, die wir überwinden müssen. Es gehört dazu, dass man auch das immer noch einmal sagt. Wir erinnern uns an die Anschläge in Halle, München und Hanau und an viele andere. Aber wir zählen 20 000 rechtsmotivierte, rassistische Straftaten in Deutschland. Ich finde, das ist eine viel zu hohe Zahl, und deshalb müssen wir alles dafür tun, das zu verändern. Und wir werden etwas dafür tun! Wir werden gegen Rassismus kämpfen – mit einem nationalen Aktionsplan, mit einem Demokratiefördergesetz. Es soll dazu beitragen, dass diese schlimme Erscheinung unseres Miteinanders verschwindet, indem wir gemeinsam dagegen vorgehen. Wir leben in einer globalen Gesellschaft, die immer mehr zusammenwächst, und deshalb ist es gut, dass Deutschland ein Land ist, das Verbindungen in alle Welt hat, denn das gehört auch zu den Herausforderungen für die Zukunft: dass wir uns mit der übrigen Welt auskennen und viele uns kennen. Ich jedenfalls bin sehr glücklich darüber, dass Deutschland heute ein Land ist, das viele als offenes Land gerne betrachten und in dem so viele gerne für sich und ihre Kinder eine Zukunft suchen. Aber es geht nie ohne diejenigen, die ihr eigenes Leben gestalten, die ihren Weg gehen – so wie Sie es machen, und dafür bin ich Ihnen auch dankbar, denn indem Sie Ihren Weg gehen, gehen Sie auch unseren Weg. – Schönen Dank.
in Berlin
Kanzler kompakt: In der Ukraine ist Krieg. Und was macht Europa?
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-kompakt-in-der-ukraine-ist-krieg-und-was-macht-europa–2054204
Sat, 18 Jun 2022 10:00:00 +0200
Berlin
keine Themen
Es ist Krieg in Europa. Russland hat die Ukraine überfallen. Viele Menschen sind schon gestorben, viele Häuser, viele Städte und Dörfer sind zerstört. Ich habe mich jetzt in Polen zusammen mit dem italienischen Ministerpräsidenten Draghi und dem französischen Präsidenten Macron in einen Zug gesetzt und bin nach Kiew gefahren. Wir haben uns in der Nähe von Kiew die Zerstörung in Irpin angeschaut. Furchtbar. Und wir haben klargemacht, dass Europa weiter solidarisch bleiben wird mit der Ukraine. Wir werden weiter finanzielle Mittel zur Verfügung stellen. Wir werden beim Wiederaufbau helfen. Wir werden weiter Waffen liefern, die dringend notwendig sind für die Verteidigung der Unabhängigkeit der Ukraine. Und wir haben Wirtschaftssanktionen und Handelsbeschränkungen gegen Russland festgesetzt, damit Russland seine Invasion beendet und die Truppen wieder zurückzieht. Jetzt geht es darum, dass wir die Solidarität auch mit einer Perspektive verbinden, mit einer Aussicht. Denn viele kämpfen in der Ukraine für Freiheit und Demokratie, sie wollen wissen, dass das nach Europa führt. Wir haben gesagt: Ein Beitrittskandidatenstatus ist notwendig für die Ukraine. Darüber werden wir nun in Brüssel sprechen. Am Donnerstag schon. Und versuchen, 27 Mal ein „Ja“ zu bekommen, zu einem konkreten Beschluss, einem gemeinsamen Beschluss der Europäischen Union, die diese Perspektive auch eröffnet.
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Sommertagung „Die Zukunft unserer Demokratie“ des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing am 17. Juni 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-sommertagung-die-zukunft-unserer-demokratie-des-politischen-clubs-der-evangelischen-akademie-tutzing-am-17-juni-2022-2054234
Fri, 17 Jun 2022 19:40:00 +0200
Tutzing
keine Themen
Sehr geehrter Herr Direktor Hahn, sehr geehrter Herr Professor Heuss, lieber Herr Wolfgang Thierse, liebe Gesine Schwan, meine Damen und Herren, manche von Ihnen werden sich vielleicht erinnern, ich jedenfalls weiß es noch gut: Am Silvesterabend 1986 sollte im Ersten Programm nach der „Tagesschau“ wie üblich die Neujahrsansprache des Bundeskanzlers übertragen werden. Tatsächlich ausgestrahlt wurde dann aber Helmut Kohls Ansprache aus dem Jahr zuvor. Im Sender hatte man – unter wohl nie ganz geklärten Umständen – die Bänder vertauscht. Der Bundeskanzler sei sehr empört gewesen, wurde anschließend berichtet. Die Empörung kann ich natürlich gut verstehen. Die Pointe ist aber, dass in Wirklichkeit gar kein großer Schaden entstanden war. Unter den Zuschauerinnen und Zuschauern vor dem Fernseher hatten nur die wenigsten den Fehler überhaupt bemerkt. Denn in der Rede fehlten konkrete Bezüge zum abgelaufenen Jahr. Ich bin mir sicher: Würde dasselbe Missgeschick am Silvesterabend des Jahres 2022 noch einmal passieren, dann würde diesmal ausnahmslos allen auffallen: Da stimmt etwas nicht. Aber so ist es eben: In manchen Jahren geschieht nur wenig Grundlegendes, und dann, in anderen Jahren, überschlagen sich die Ereignisse und Entwicklungen plötzlich geradezu. Das sucht man sich nicht aus, und das strebt man auch nicht an. Aber wenn so eine Lage eintritt, dann muss man die Herausforderung annehmen. Bundeskanzler Kohl erlebte so eine dramatische Beschleunigung der Geschichte wenig später ja selbst – 1989, als die friedlichen Revolutionäre der DDR die Mauer zum Einsturz brachten und die Ära des Kalten Krieges endete. Dieses Jahr, 2022, ist noch nicht einmal zur Hälfte um. Viel kann, viel wird in den nächsten Monaten noch passieren. Aber so viel ist jetzt schon sicher: Auch 2022 werden wir im Rückblick einmal zu den besonders unverwechselbaren und folgenreichen Jahren zählen. Das Jahr 2022 werden wir in Erinnerung behalten als das Jahr, in dem Russland unter Führung von Präsident Putin die Ukraine überfiel; das Jahr, in dem eine europäische Großmacht erstmals seit vielen Jahrzehnten einen imperialen Angriffskrieg vom Zaun brach; das Jahr, in dem Präsident Putin gewaltsam die europäische und internationale Friedens- und Sicherheitsordnung der Jahrzehnte seit dem Kalten Krieg aufkündigte, das Jahr, in dem der Krieg und die vorausgegangene Coronapandemie weltweit die Preise für Energie, für Rohstoffe und Nahrungsmittel dramatisch in die Höhe schießen ließen – mit all den verheerenden Folgen für die Welternährung, für die Weltwirtschaft und für die Stabilität ganzer Länder und Regionen, die sich heute schon abzeichnen. Es ist deshalb offensichtlich: Mit seinem barbarischen Angriffskrieg gegen die friedliche Ukraine hat Wladimir Putin eine Zeitenwende heraufbeschworen. Ich habe das schon wenige Tage nach dem Kriegsausbruch im Deutschen Bundestag so gesagt. Und ich habe hinzugefügt: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Wie Sie wissen, war ich gerade in Kiew. Wer die Zerstörungen sieht, die dieser Krieg mit sich gebracht hat, wer das mit eigenen Augen sieht, dem wird noch einmal auf ganz eigene Weise klar, was für eine Zäsur dieser Krieg ist. Gemeinsam mit all unseren Partnern in der EU, in der NATO und in der G7 hat die Bundesregierung auf die neue Lage schnell und entschlossen reagiert: mit harten und wirksamen Sanktionen gegen Russland, mit umfassender wirtschaftlicher und finanzieller Unterstützung für die Ukraine, mit der Aufnahme von Millionen von Geflüchteten in der gesamten EU und über 800 000 hier bei uns in Deutschland und auch, indem wir – im Schulterschluss mit unseren Partnern – der Ukraine diejenigen Waffen liefern, die sie braucht, damit sie sich gegen Russlands Invasion verteidigen kann. Alle diese Maßnahmen tragen dazu bei, dass Putin nicht durchkommt mit seiner imperialistischen Aggression. Aber es geht um viel mehr: Es geht um die Frage, ob die europäische und internationale Friedensordnung auf Dauer zerbricht und ob es uns gelingt, eine neue Ordnung zu schaffen. Bei dieser globalen Zeitenwende stehen wir noch ganz am Anfang. Wir bewegen uns sozusagen in unkartiertem Gelände. Genau deshalb aber ist es umso wichtiger, dass wir jetzt den Blick nach vorne richten, dass wir verstehen, wie die Welt sich gerade ändert, welche Kräfte da am Werk sind, wo die Bruchlinien verlaufen, auf welche Akteure es jetzt und in Zukunft ankommt, welche neuen Krisen und Konflikte heraufziehen. Nur dann können wir bewahren, was uns wichtig ist. Nur dann können wir selbst wirksam Einfluss darauf nehmen, in welche Richtung sich die Dinge zukünftig entwickeln werden. Meine Damen und Herren, wenn die Welt sich ändert, dann steht gerade für Deutschland besonders viel auf dem Spiel. Denn unbestreitbar ist: Hinter uns Deutschen liegen, aufs Ganze gesehen, gute Jahrzehnte: Jahrzehnte des Friedens in demokratischer Freiheit, Jahrzehnte wachsenden Wohlstands, Jahrzehnte der inneren und äußeren Sicherheit. Meinem Buch aus dem Jahr 2017 habe ich seinerzeit den Titel „Hoffnungsland“ gegeben – nicht von ungefähr. Denn für viele Menschen auf der Welt – und für manche von uns selbst überraschend – ist Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Sehnsuchtsort geworden, zu einem Ort, von dem sie sich ein besseres Leben versprechen. Und ich will auch sagen: Nirgendwo steht geschrieben, dass nicht auch neue gute Jahrzehnte vor uns liegen können, auch wenn es uns allen gerade schwerfällt, uns das vorzustellen. Aber diese guten Jahrzehnte kommen nicht von selbst. Die Voraussetzungen dafür müssen wir uns neu erarbeiten. Das wird anstrengend. Die Anstrengung fängt damit an, dass wir das Ausmaß und die Tiefe der Umbrüche begreifen, mit denen wir es zu tun haben. Darum ist diese Tagung so wichtig. Über die Zukunft unserer Demokratie müssen wir gerade jetzt in dieser Zeitenwende gründlich diskutieren. Dazu gehört natürlich unbedingt, dass wir uns intensiv mit all den Fragen auseinandersetzen, die das innere Funktionieren und damit auch die Legitimität – die Strahlkraft – unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung betreffen. Zunächst können wir anhand der jüngsten Wahlergebnisse eine erfreuliche Entwicklung feststellen: Der so oft als unumkehrbar vorausgesagte Niedergang der Volksparteien und, parallel dazu, der Siegeszug der Radikalen sind hierzulande erst einmal gestoppt, auch wenn die Parteienlandschaft heute anders aussieht als vor Jahrzehnten. Aber wir dürfen diese Entwicklung nicht für unumkehrbar halten. Was also kann und muss passieren, damit das Ansehen unserer politischen Institutionen dauerhaft gestärkt wird? Was können wir tun, damit die Wahlbeteiligung wieder steigt, besonders bei Landtags- und Kommunalwahlen? Und wie kann es klappen, die zum Glück existierende politische Leidenschaft junger Bürgerinnen und Bürger, die etwa in Protestbewegungen wie „Fridays for Future“ zum Ausdruck kommt, in nachhaltig wirksames politisches Engagement zu überführen? Wie kriegen wir es hin, die demokratischen Parteien so zu vitalisieren, dass sie wieder stärker zum Transmissionsriemen werden zwischen gesellschaftlichen Interessenlagen und staatlicher Politik? Wie kriegen wir es hin, dass unabhängig von Einkommen, von sozialer, regionaler oder ethnischer Herkunft alle Bürgerinnen und Bürger in unserem Land voller Überzeugung sagen: „In der Politik gibt es Leute, die sich mit den Themen beschäftigen, die mir wichtig sind“? Was muss passieren, damit autoritäre und antidemokratische Tendenzen in unserer Gesellschaft dauerhaft weniger Widerhall finden? Wie schützen wir unsere freiheitliche Demokratie vor dem Einfluss von Verschwörungsmythen und systematisch verbreiteter Desinformation? Auch im Kreis der G7-Staaten werden wir Ende des Monats genau darüber intensiv diskutieren. All das sind Fragen auf die wir, Politik und Gesellschaft, Antworten geben müssen – das erst recht angesichts der immensen Transformationsaufgaben, die in den kommenden Jahren und Jahrzehnten auf uns zukommen. Hinter uns liegen 250 Jahre, in denen unser Wohlstand darauf gründete, dass wir Kohle, Öl und Gas verbrannt haben. Jetzt liegen vor uns etwa 23 Jahre, in denen wir aus den fossilen Brennstoffen aussteigen müssen – und aussteigen werden. Denn darauf haben wir uns verpflichtet: Bis 2045 muss Deutschland klimaneutral sein. Die menschengemachte Erderwärmung muss gestoppt werden; sonst wird dieser Planet in Katastrophen versinken. Das wird die größte Transformation unserer Industrie und Ökonomie seit mindestens 100 Jahren. Hinzu kommen die Herausforderungen der Digitalisierung und des demografischen Wandels. Russlands Überfall auf die Ukraine macht keine einzige dieser Herausforderungen weniger dringlich – im Gegenteil. Meine Damen und Herren, große Veränderungen bedeuten immer auch große Ziel- und Interessenkonflikte. Das kann gar nicht anders sein in einer offenen, pluralistischen und demokratischen Gesellschaft. Wolfgang Thierse hat das gerade geschildert. Lösen werden wir diese Konflikte nur mit sehr viel Pragmatismus, mit der Bereitschaft zu Kooperation und Kompromiss auf allen Ebenen von Gesellschaft und Staat. Genau deshalb habe ich übrigens Anfang dieses Monats eine neue „Konzertierte Aktion“ ins Leben gerufen, um mit Gewerkschaften und Arbeitgebern gemeinsam zu besprechen: Wie gehen wir mit den steigenden Preisen um? Wie können wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlasten, ohne die Inflation anzuheizen? Aus demselben Grund habe ich am vergangenen Dienstag erstmals die neue „Allianz für Transformation“ ins Kanzleramt eingeladen. Diese Allianz wird den Umbau unseres Landes und unserer Industrie auf dem Weg zur Klimaneutralität eng begleiten und dabei helfen, Interessengegensätze auszugleichen. Im Programm dieser Tagung habe ich gesehen: Um genau solche Interessengegensätze werden sich Ihre Debatten an diesem Wochenende drehen. „Demokratie oder Klimaschutz?“ – mit einem Fragezeichen: Das ist der Titel einer Ihrer Diskussionsrunden. „Mehr Bürgerbeteiligung!?“ – gefolgt von einem Ausrufezeichen und einem Fragezeichen: So ist eine weitere Session überschrieben. Das ist geschickt zugespitzt. Hier werden schon im Titel die schwierigen Widersprüche und Zielkonflikte herausgearbeitet, mit denen wir es zu tun haben und die wir auflösen müssen. Darum glaube ich, dass Ihre Leitfragen dieser Tagung an den Kern der Aufgaben rühren, die vor uns liegen und für die wir kluge Lösungen finden müssen. Auf die Antworten, die Sie gemeinsam in den nächsten beiden Tagen hier im Politischen Club entwickeln werden, bin ich deshalb sehr gespannt. Wolfgang Thierse und Gesine Schwan, ich wäre sehr froh, wenn ihr mir von euren Ergebnissen berichten würdet. Ich will den Fokus aber noch etwas weiten – nicht im Widerspruch zum bisher Gesagten, auch nicht im Widerspruch zu den zentralen Themen dieser Tagung, aber vielleicht doch als notwendige Ergänzung. Ich glaube nämlich, dass wir den Bezugsrahmen unserer Überlegungen weiter aufspannen müssen. Meine These lautet: Die Zukunft unserer Demokratie entscheidet sich nicht bei uns allein. Vielmehr wird „unsere“ Demokratie – verstanden als „unsere“ Demokratie hier in Deutschland und Europa – nur in dem Maße glücken und gedeihen, wie die Demokratie auch weltweit glückt und gedeiht. Unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts gilt das mehr als jemals zuvor, denn mehr als jemals zuvor steht die Welt vor wahrhaft globalen und gemeinsamen Herausforderungen. „Unsere“ Demokratie – das sind in diesem Sinn die Demokratien weltweit. Ob es darum geht, die Klimakrise zu bewältigen, ob es darum geht, die Globalisierung klug, solidarisch und nachhaltig zu gestalten, ob es darum geht, Covid-19 zu besiegen und neue Pandemien zu verhindern: Bei keiner einzigen globalen Herausforderung reicht es aus, wenn nur wir in Deutschland, Europa oder im klassischen Westen uns zu diesen Zielen bekennen. Wenn es uns wirklich ernst ist mit diesen Zielen, dann brauchen wir gleich oder ähnlich gesinnte Partner. Dann brauchen wir neue Partner. Dann brauchen wir auch mehr Partner. Denn mit unseren klassischen Partnern im so genannten Westen allein bringen wir demografisch und ökonomisch schon heute nicht mehr genug Gewicht auf die Waage. Das gilt auch für den Verbund der klassischen demokratischen Industriestaaten der G7, also Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und die USA. Heute repräsentieren die G7 zusammen zwar noch 45 Prozent der globalen Wirtschaftskraft, aber gerade einmal 10 Prozent der Weltbevölkerung. Der Anteil dieser Staaten an der Weltbevölkerung schwindet, aber auch das relative wirtschaftliche Gewicht des Westens nimmt ab. Schon 2050 werden sich unter den sieben größten Volkswirtschaften der Welt voraussichtlich fünf Länder befinden, die wir heute noch als „Schwellenländer“ bezeichnen: China natürlich, aber wahrscheinlich auch Indien oder Indonesien, Brasilien oder Mexiko. Viele andere Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika gewinnen ökonomisch und demografisch immer mehr an Gewicht. Überall auf der Welt haben sich Gesellschaften auf den Weg gemacht. Überall auf der Welt ergreifen viele Millionen, ja Milliarden von Menschen entschlossen die neuen Chancen und die neuen Möglichkeiten, die ihnen die Globalisierung bringt. Und selbstverständlich fordern die aufstrebenden Staaten deshalb auch größeren politischen Einfluss ein. Was da entsteht, ist eine wahrhaft multipolare Welt. Auch diese Entwicklung bedeutet eine globale Zeitenwende – keine schockartig losgetretene Zeitenwende wie Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, sondern eine langfristige Umwälzung der globalen Verhältnisse, die deshalb umso tiefgreifender wirkt. Manchen Bürgerinnen und Bürgern in den klassischen westlichen Demokratien macht dieser Prozess Angst. Sie fühlen sich bedroht, sie fühlen den Macht- und Kontrollverlust. Mein Eindruck ist: Die Attraktivität rechtspopulistischer und rassistischer Theoreme, bis hin zur Verschwörungserzählung vom angeblich „Großen Austausch“, ist auch vor dem Hintergrund dieser ganz grundlegenden globalen Verschiebungen zu erklären. Viele spüren, dass sich vieles grundlegend verändert. Das verursacht Unbehagen, eben auch Angst, zuweilen sogar Wut. Darum will ich hier sehr deutlich sagen: Der Aufstieg der Länder des globalen Südens bedeutet keine Bedrohung. Er bedeutet jedenfalls dann keine Bedrohung, wenn wir es hinbekommen, dass die multipolare Welt auch eine multilaterale Welt sein wird; eine Welt, in der Regeln gelten, die allen ersichtlich sind und an die sich alle halten; eine Welt, in der ganz unterschiedliche Machtzentren im wohlverstandenen Eigeninteresse verlässlich und regelbasiert kooperieren, um gemeinsame Herausforderungen zu bewältigen. Das klingt nach einer fernen Vision, aber das ist keineswegs so abwegig, wie es sich vielleicht anhört. Der Grund dafür hat einen Namen: Demokratie. Denn das ist die große Gemeinsamkeit, die uns mit gar nicht wenigen aufstrebenden Ländern des globalen Südens verbindet: Wir sind Demokratien. Wohlgemerkt: Die meisten Demokratien auf der Welt funktionieren anders als bei uns, und in vielen anderen demokratischen Gesellschaften würde man über unsere Wahlrechts- und Bürgerbeteiligungsdebatten vielleicht nur etwas müde lächeln – was sie nicht falsch macht. Aber dort hat man oft ganz andere Sorgen, und zwar größere. Wahr ist: Jede Demokratie ist ein Unikat. Oder um es in den Worten von Kofi Annan zu sagen: „There are as many different forms of democracy as there are democratic nations in the world.” Nicht jede dieser Demokratien funktioniert immer völlig reibungslos, unsere eigene im Übrigen ja auch nicht. Wahr ist jedenfalls: In manchen Staaten mit demokratischen Traditionen sind in jüngerer Zeit ungute Verschiebungen in Richtung Autoritarismus zu verzeichnen, auch hier bei uns in Europa. „Democratic backsliding“ wird das genannt. Solche Entwicklungen sind besorgniserregend; unumkehrbar sind sie aber nicht. Sogar die Autokraten oder Diktatoren dieser Welt behaupten ja gern, die wahren Vollstrecker des Volkswillens zu sein, und zwar fast überall. Es ist eine verblüffende Zahl, aber überhaupt nur sieben Staaten auf der Welt nehmen nicht für sich in Anspruch, Demokratien zu sein. Das sind Saudi-Arabien, Oman, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Brunei, Afghanistan – und der Vatikan. Alle anderen Regierenden dieser Welt, die nicht demokratisch regieren, auch in vermeintlichen Volksrepubliken, berufen sich zur Legitimation der eigenen Herrschaft auf ihr Volk – und erinnern damit unfreiwillig jedes Mal an das Prinzip demokratischer Volksherrschaft. Das ist nicht trivial. Denn damit bleibt Demokratie, wie pervertiert auch immer die Praxis in den Ländern ist, die Grundlage jeder Legitimation. Genau das eröffnet Spielräume für demokratische Dissidenz und Opposition, die auf die klaffende Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit verweist. „Wir sind das Volk“: Das riefen im Herbst 1989 millionenfach die demokratischen Revolutionäre in der DDR, und genau daran zerbrach am Ende die eben nur behauptete demokratische Herrschaft der SED. Daran zerbrach am Ende die Herrschaft jener Staatspartei, die ja schon das Aufbegehren der Ostdeutschen am 17. Juni 1953, heute vor 69 Jahren, überhaupt nur mit brutaler Gewalt hatte niederschlagen können. Wolfgang Thierse hat uns eben noch mal davon berichtet. Das ist also eine gute Nachricht: Wo immer sich Herrscher auf den Volkswillen berufen, da bleibt mehr Demokratie, bessere Demokratie, wirkliche Demokratie, gegen sie erkämpft, eine Möglichkeit am Horizont. Das macht Mut. Mut macht ebenfalls, dass alle wirklich demokratischen Staaten dieser Welt eine ganz zentrale Eigenschaft gemeinsam haben. Demokratien sind nämlich diejenigen Staaten, in denen es sich die Regierenden nicht leisten können, regelmäßig und systematisch über die Wünsche und Interessen breiter Mehrheiten ihrer Bürgerinnen und Bürger hinwegzusehen. Abraham Lincolns berühmtes Demokratie-Axiom gilt unvermindert: „You can fool all the people some of the time and some people all the time. But you can never fool all people all the time.” Wenn Regierende in Demokratien dies dennoch versuchen, dann zeigen ihnen die Wählerinnen und Wähler irgendwann die Rote Karte. Genau hier liegt der entscheidende Vorteil demokratisch verfasster Gesellschaften im Vergleich zu autoritären Regimen. Darauf hat der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Branko Milanovic überzeugend hingewiesen, und deshalb möchte ich ihn auch zitieren: „Da (die Demokratie) eine unablässige Konsultation der Bevölkerung erforderlich macht, stellt sie auch ein sehr wirksames Korrektiv für wirtschaftliche und soziale Entwicklungen dar, die sich nachteilig auf das Wohlergehen des Volkes auswirken. (…) Wer glaubt, die Demokratie habe keinen Nutzen als Mechanismus zur Abwendung schädlicher Entwicklungen, muss der Überzeugung sein, dass die Bevölkerungsmehrheit über eine lange Zeit hinweg beharrlich falsche (oder irrationale) Entscheidungen fällen wird. Das scheint unwahrscheinlich.“ Dagegen neigen, wie Milanovic ebenfalls feststellt, autoritäre Regime „eher dazu, schlechte politische Maßnahmen hervorzubringen und schlechte soziale Ergebnisse zu erzielen, die nicht korrigiert werden können, weil die Herrschenden keinen Anreiz zu einer Kurskorrektur haben.” Das Zitat ist hier zu Ende, aber man muss ja sagen: Das beste Beispiel dafür, wie richtig diese These ist, liefert gerade Präsident Putin mit seinem auch für Russland selbst so ruinösen Krieg gegen die Ukraine. Meine Damen und Herren, die großen globalen Herausforderungen unseres Jahrhunderts sind offensichtlich und existenziell. Sie betreffen das Leben, das Wohlergehen und die Zukunft der Bürgerinnen und Bürger aller Länder dieser Welt ganz direkt. Und sie verlangen nach Antworten – Antworten, die Diktatoren und Autokraten nicht geben werden und nicht geben können. Nur die Demokratien, nur die Demokratinnen und Demokraten dieser Welt werden dazu fähig sein. Deshalb bin ich zutiefst überzeugt: Der Demokratie gehört die Zukunft. Den Demokratien dieser Welt gehört die Zukunft. Den Demokratinnen und Demokraten dieser Welt gehört die Zukunft. Aber: Auch eine demokratische Zukunft kommt nicht von allein. Wir müssen für sie werben. Wir müssen praktisch und mit neuen Partnern für sie arbeiten. Ja, wir müssen dafür kämpfen, dass sie Wirklichkeit wird. Genau das tue ich mit großer Leidenschaft. Schon am Sonntag kommender Woche werde ich dazu wieder hier in dieser Gegend sein. Nur 50 Kilometer südlich von hier, in Elmau, findet dann unter deutscher Präsidentschaft der Gipfel der G7-Staaten statt. Dabei wird es um all die großen globalen Fragen gehen, die ich bereits angesprochen habe, von Russlands Krieg über den Klimaschutz bis zum Kampf gegen den Hunger. Es werden nicht nur die Regierungschefs der G7-Staaten selbst sein, die dort miteinander verhandeln. Vielmehr war es mir als Gastgeber besonders wichtig, dass diesmal auch Kolleginnen und Kollegen einiger der bedeutendsten aufstrebenden Demokratien des globalen Südens dabei sein werden. Nach Elmau kommen werden deshalb die Regierungschefs von Indien und Indonesien als aktuelle und künftige Präsidentschaft der G20, dazu Südafrika und Senegal als Vorsitz der Afrikanischen Union und Argentinien als Präsidentschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten. Sie vertreten Länder und Regionen, deren Mitarbeit die Welt braucht, um die globalen Probleme unseres Jahrhunderts zu lösen. Mit ihnen, mit den Vertretern und mit den Gesellschaften vieler weiterer Länder des globalen Südens müssen wir in Zukunft viel intensiver zusammenarbeiten als bisher. Die Zukunft der Demokratie hängt davon ab, die Zukunft „unserer“ Demokratie. Vielen Dank.
in Tutzing
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Plenartagung der Arbeitsgruppe zur Geldwäschebekämpfung am 14. Juni 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-plenartagung-der-arbeitsgruppe-zur-geldwaeschebekaempfung-am-14-juni-2022-2052520
Tue, 14 Jun 2022 14:30:00 +0200
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Präsident Pleyer, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, herzlich willkommen in Berlin! Es ist wunderbar, Sie in solch außerordentlich herausfordernden Zeiten hier zu sehen. Die weltweite COVID-19-Pandemie ist nicht vorbei. Und doch wurde sie von einer noch größeren Herausforderung überschattet. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt eine Zeitenwende für uns alle dar. Denn er bedroht die globale Ordnung an sich. Aus diesem Grund haben die G7, die EU und die NATO mit einer derartigen Einigkeit und Entschlossenheit reagiert. Ich weiß, dass auch die FATF ihre große Sorge hinsichtlich des Krieges gegen die Ukraine zum Ausdruck gebracht hat. Ich danke Ihnen für diese klare Stellungnahme! Eine solche Einigkeit ist wichtig! Denn sie stärkt das, wozu sich alle Mitglieder bei der Gründung der FATF vor 33 Jahren in Paris verpflichtet haben: internationale Zusammenarbeit, Dialog und gegenseitiger Respekt zwischen den Staaten. Als ein globaler Wächter in Bezug auf Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung ist die FATF nach wie vor von größter Bedeutung. Doch wir müssen mit neuen Technologien Schritt halten und unsere internationalen Normen kontinuierlich anpassen. Und vor allen Dingen müssen wir diese Normen umsetzen. Das beginnt zu Hause, auf nationaler Ebene! Wie Sie wissen, hat die Bundesregierung ihren Kampf gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung in den letzten Jahren intensiviert. Wir haben Gesetzeslücken geschlossen, die Geldwäsche ermöglicht hatten – beispielsweise im Immobiliensektor. Wir haben die Berichtspflicht für alle freien Berufe wie Notare, Anwälte und Steuerberater erweitert – auch für Bargeschäfte – und die Geheimhaltungspflichten dieser Berufe verringert. So müssen Notare beispielsweise gründlich prüfen, wer bei Immobilientransaktionen die Begünstigten sind. Verläuft diese Prüfung ergebnislos, kann die Transaktion nicht notariell beurkundet werden. Wir haben außerdem unser nationales Transparenzregister für Daten zu wirtschaftlich Berechtigten verbessert. Bisher mussten aufwendig Daten aus verschiedenen Verzeichnissen zusammengetragen werden, um wirtschaftlich Berechtigte zu bestimmen. Nun werden umfangreiche Informationen in einem einzigen Verzeichnis gespeichert, welches digital zugänglich ist. Dadurch wird es einfacher, Strohmänner und Briefkastenfirmen zu identifizieren. Und es wirkt sich übrigens auch positiv auf die Durchsetzung von Sanktionen aus. Wir haben unsere Institutionen fortlaufend verbessert. Unser Ziel ist eine bessere Überwachung der Regeln zur Bekämpfung der Geldwäsche. Zu diesem Zweck haben wir unser Strafgesetzbuch erheblich erweitert. Und wir haben die Financial Intelligence Unit (FIU) als unsere nationale Zentralstelle für die Sammlung und Auswertung von Meldungen über verdächtige Finanztransaktionen gestärkt. Heute kann ich sagen, dass der Informationspool der FIU funktioniert. Letztes Jahr wurden rund 300.000 Meldungen bearbeitet, von denen fast 45.000 zur Strafverfolgung an die Justizbehörden übermittelt wurden. Darüber hinaus haben wir der FIU Befugnis für den automatisierten Abruf von steuerlichen Grunddaten gewährt. Und wir haben den Datenaustausch zwischen der FIU und ihren Partnerstellen im Ausland erleichtert. Heute zählt die FIU mehr als 600 Beschäftigte – das sind sechs Mal mehr als noch vor fünf Jahren. Und wir werden dafür sorgen, dass sich diese Entwicklung in den nächsten Jahren fortsetzt, meine Damen und Herren. Die Aggression Russlands gegen die Ukraine hat offengelegt, dass es dringend notwendig ist, Sanktionen wirksamer zu gestalten – insbesondere gegen russische Oligarchen und ihre versteckten Vermögenswerte. In den vergangenen Wochen haben wir daher mit einem ersten Gesetz zur effektiveren Durchsetzung von Sanktionen reagiert. Dieses erleichtert die Ermittlung und Sicherstellung von Vermögensgegenständen sowie die Übermittlung von Daten zwischen allen beteiligten Behörden erheblich. Das Zweite Sanktionsdurchsetzungsgesetz wird in Kürze verabschiedet und befasst sich mit komplexeren rechtlichen Fragen. Unter anderem werden wir ein nationales Register für sanktionierte Vermögenswerte und für Vermögen unklarer Herkunft einrichten. Außerdem werden wir eine besondere Hinweisgeberstelle schaffen. Mir ist vollkommen bewusst, dass noch mehr getan werden muss. Wir sehen der gegenseitigen Evaluierung der FATF für Deutschland und der Überprüfung durch den Europarat erwartungsvoll entgegen. All diese Empfehlungen werden wir sorgfältig auswerten und ihnen entsprechend handeln. Unsere für dieses Jahr geplante Nationale Risikoanalyse wird in diesem Prozess eine wichtige Rolle spielen. Und ich bin Christian Lindner, meinem Nachfolger als Bundesfinanzminister, dankbar für seine erheblichen Anstrengungen hierbei. Unser Ziel ist es, kraftvolle, moderne und effiziente Rechtsvorschriften und Institutionen zu schaffen. Aber natürlich sind Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung oft länderübergreifende Phänomene. Und deshalb kann der Kampf gegen diese Verbrechen nur gewonnen werden, wenn wir zusammenarbeiten – innerhalb Europas und weltweit. Das bringt mich zu meinem zweiten Punkt. Wir streben an, die noch bestehenden Steuerschlupflöcher innerhalb der Europäischen Union zu schließen. Während der deutschen Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union haben sich die ECOFIN-Minister darauf verständigt, unsere Regeln weiter zu vereinheitlichen, und die Einrichtung einer europäischen Behörde zur Bekämpfung von Geldwäsche mit direkter Überwachungsbefugnis gefordert. Letztes Jahr hat die Europäische Kommission ein Paket von Gesetzesvorschlägen zur Bekämpfung der Geldwäsche vorgelegt. Einer der zentralen Vorschläge ist die Einrichtung einer neuen europäischen Behörde für Geldwäschebekämpfung. Diese Einrichtung würde die direkte Aufsicht über die Finanzinstitutionen der EU ausüben, die am stärksten risikobehaftet sind – und zwar wirksamer und einheitlicher in allen europäischen Ländern gleichermaßen. Und es wäre eine große Ehre für Deutschland, wenn diese neue europäische Behörde für Geldwäschebekämpfung ihren Sitz in Frankfurt bekäme. Doch wir blicken auch über die Grenzen Europas hinaus. Es mag vielerorts vermehrt Tendenzen zu Alleingängen geben – doch diese stellen keine wirklichen Lösungen dar. Finanzströme sind zunehmend globalisiert und immer stärker miteinander verwoben. Dasselbe muss auch für unsere Maßnahmen gelten! Und das tut es auch – dank Ihrer herausragenden Arbeit! Sie entwickeln Möglichkeiten, um neue digitale Technologien im Kampf gegen Geldwäsche zu nutzen. Dieser Kampf macht nicht an Staatsgrenzen Halt. Sie gehen drängende Themen wie Geldwäsche im Zusammenhang mit Umweltkriminalität oder der Finanzierung von Rechtsextremismus an. Und ich möchte Sie ermutigen, auch Ihre Arbeit im Hinblick auf globale Transparenznormen fortzusetzen und zu intensivieren. Weltweite Transparenzregister zu wirtschaftlich Berechtigten oder ähnliche Mechanismen würden einen Quantensprung für unseren Kampf gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung bedeuten. Die G7, deren Präsidentschaft Deutschland in diesem Jahr innehat, setzt sich daher für die Umsetzung und Stärkung solcher Register ein. Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir eine letzte Anmerkung: Sie alle sind vertraut mit Sisyphus aus der griechischen Mythologie, der immer wieder versucht, einen Felsblock einen Berg hinaufzuwälzen. Ich kann mir vorstellen, dass Ihre Arbeit Ihnen manchmal so ähnlich erscheinen mag, da auch Kriminelle immer wieder neue Wege erkunden und finden, um ihre illegalen Aktivitäten auszuüben. Die Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen, werden in einer zunehmend globalisierten und digitalisierten Welt nicht leichter werden. Die Spitze des Berges wird immer höher und höher werden. Doch dasselbe gilt für unsere gemeinsamen Ziele. Ihre Arbeit ist ein Beleg dafür. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, Präsident Marcus Peyer für alles, was er in dieser ersten zweijährigen Präsidentschaft der FATF geleistet hat, zu danken. Bitte behalten Sie diese gute Arbeit und Ihre positive Perspektive bei! Ich hoffe, dass Sie hier in Berlin anregende Diskussionen führen werden. Und ich wünsche unseren Freundinnen und Freunden aus Singapur alles Gute für ihre Präsidentschaft!
in Berlin Übersetzung der auf Englisch gehaltenen Rede
Rede von Bundeskanzler Scholz bei dem Ostdeutschen Wirtschaftsforum am 12. Juni 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-dem-ostdeutschen-wirtschaftsforum-am-12-juni-2022-2051512
Sun, 12 Jun 2022 18:06:00 +0200
Im Wortlaut
Bad Saarow
keine Themen
Sehr geehrter Herr Nehring, sehr geehrte Frau Weiland, verehrte Damen und Herren, lange bevor Bad Saarow zur Oase für die solvente preußische Elite aus der Hauptstadt wurde, wanderte Theodor Fontane Ende des 19. Jahrhunderts durch die Region. In den höchsten Tönen lobte er die malerische Gegend um das Märkische Meer – so nannte er den Scharmützelsee. Sein Kutscher Moll hingegen sah mürrischer in die Landschaft: „Ist das eine Gegend! In Saarow ist nichts. Das kenne ich. Und hier in Pieskow ist gar nichts.“ Ich persönlich bin eher bei Fontane. Und auch der Kutscher Moll würde sich wohl ziemlich wundern, wenn er heute hierher, nach Bad Saarow käme. Denn hier ist inzwischen so einiges – nicht zuletzt das Ostdeutsche Wirtschaftsforum, eine echte Erfolgsgeschichte, eng verknüpft mit Bad Saarow. Und diese Erfolgsgeschichte schreiben Sie kontinuierlich weiter. Frank Nehring, Ute Weiland, meine Hochachtung vor dem, was Sie und all Ihre Mitstreiter aufgebaut haben! Ich bin gespannt auf die neue Partnerschaft mit „Deutschland – Land der Ideen“, das wird dem Ostdeutschen Wirtschaftsforum noch einmal einen kräftigen Schub geben. Von daher ist meine erste Botschaft: Machen Sie weiter so! Es braucht ein Wirtschaftsforum für Ostdeutschland, für diese sehr besondere Region mit ihrer besonderen Geschichte, ihren spezifischen Herausforderungen und vor allem anderen: mit ihren riesigen Chancen. Meine zweite Botschaft lautet: Think big! Dieses Motto Ihrer morgigen Panel-Diskussion ist genau der richtige Ansatz. Mutige Ziele setzen, anpacken und loslegen – das ist, was wir brauchen, gerade in diesen Zeiten. Die Corona-Pandemie ist nicht vorbei, auch wenn die aktuellen Inzidenzwerte und der anstehende Sommer uns das in Deutschland fast schon vergessen lassen. Ergänzen will ich: Ich sehe Sie gern hier alle so dicht gedrängt – mein Gesundheitsminister übrigens auch. Die letzten zweieinhalb Jahre haben Spuren hinterlassen: gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich, das wird uns auch noch eine ganze Weile nachhängen. Seit dem 24. Februar kommt nun noch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hinzu. Nach den zwei Weltkriegen des letzten Jahrhunderts gründet unsere gesamte europäische und internationale Friedensordnung auf dem Prinzip „Die Stärke des Rechts steht über dem Recht des Stärkeren“. Mit seinem Überfall auf die Ukraine hat Putin dieses Prinzip fundamental infrage gestellt, darin liegt die Zeitenwende. Putin will die Grenzen in Europa mit Gewalt verschieben, er will zurück in eine Zeit, als große Mächte die Welt unter sich aufteilten. Das ist Imperialismus. Ich weiß, in Ostdeutschland blicken viele Bürgerinnen und Bürger entsetzt und fassungslos auf diesen Krieg. Die Älteren hier haben noch Erinnerungen an den Krieg in unserem eigenen Land und daran, welche Spuren er hinterlassen hat. Viele erinnern sich auch an die Zeit vor 1989: Man hat einmal 40 Jahre friedlich zusammengelebt. Es gibt persönliche Erfahrungen, enge wirtschaftliche Verbindungen und auch Freundschaften nach Russland, aber auch in die Ukraine. Und gerade hier in Ostdeutschland weiß man zudem um den Wert von Freiheit und Demokratie – gerade hier, wo ein Volk vor über 30 Jahren einen Staat in die Knie zwang, der seinen Bürgerinnen und Bürgern Freiheit und Demokratie verweigerte. Deshalb dürfen gerade wir diesen gewaltsamen Angriff auf ein demokratisches Land in Europa nicht taten- und nicht widerspruchslos hinnehmen. Deshalb darf Russland diesen Krieg nicht gewinnen. Deshalb haben wir in der Europäischen Union gemeinsam mit unseren internationalen Partnern weitreichende Sanktionen gegen Russland verhängt. Und ich bin dankbar, dass diese hier im Osten solidarisch mitgetragen werden, obwohl sie gerade der ostdeutschen Wirtschaft viel abverlangen. Aber wir wissen eben auch: Freiheit und Sicherheit haben einen Preis. Deshalb unterstützen wir die Ukraine gemeinsam mit der Europäischen Union und unseren internationalen Partnern und Verbündeten mit Waffenlieferungen, mit humanitärer und medizinischer Hilfe sowie finanziell, indem wir dafür sorgen, dass die Ukraine zahlungsfähig bleibt in dieser dramatischen Lage. Und: Wir haben bislang fast 800 000 Geflüchtete bei uns willkommen geheißen, vor allem Frauen, Kinder und Ältere, auch Kranke und Pflegebedürftige. Überall ist die Solidarität mit den Geflüchteten überwältigend, ganz besonders hier in Ostdeutschland. Da werden Unterkünfte organisiert, da wird medizinische Versorgung, werden Kita- und Schulplätze bereitgestellt und Spenden gesammelt, viele Unternehmen, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter engagieren sich – mich berührt das sehr. Denn es zeigt, wie viel Gutes in unserem Land steckt. Dafür auch an dieser Stelle ein ganz herzliches Dankeschön! Bereits jetzt wissen wir: Der Krieg in der Ukraine verändert nicht nur die Sicherheitslage in Europa, er verändert auch die Wirtschaftslage. Nirgends wird das so deutlich wie im Energiebereich. Klar ist: Wir haben uns zu lange und zu einseitig auf Energielieferungen aus Russland verlassen, aus einem Land, das unseren Nachbarländern gerade nach und nach die Energielieferung abdreht. Die alte Gleichung, dass Russland auch in Krisen ein verlässlicher Wirtschaftspartner ist, gilt nicht mehr, der Krieg hat sie hinweggefegt. Deshalb ist unser Ziel ganz klar: Wir müssen unabhängig werden von russischen Energieimporten, und zwar so schnell wie möglich, aber auch so sicher wie nötig. Wir haben von Beginn an gesagt: Wir tun nichts, was uns mehr schadet als Putin. Und dabei haben wir immer auch Ostdeutschland im Blick, das aufgrund seiner Geschichte und Geographie natürlich andere Voraussetzungen hat in Sachen Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit von Energie. Gerade das Ölembargo, das wir vorletzte Woche beim EU-Gipfel beschlossen haben, ist ein drastischer Schritt; er wird Russland hart treffen. Das kann Putin nicht über Nacht und vor allem nicht ohne erhebliche Einbußen ersetzen. Natürlich hat das Embargo auch Folgen bei uns in Deutschland. Ich denke an Leuna und hier in Brandenburg an die Raffinerie in Schwedt, die bisher an der Druschba-Pipeline hängt. Für Leuna zeichnet sich bereits eine alternative Belieferung über den Hafen Danzig ab. Für Schwedt ist die Sache komplizierter, aber auch das arbeitet eine Arbeitsgruppe des Bundeswirtschaftsministeriums zusammen mit anderen Ministerien und dem Land ganz konkret – mit einer Lösung – ab. Und ich bin zuversichtlich, dass wir auch hier schnell vorankommen und eine gute Lösung finden werden. Zu einem darf das Ölembargo jedenfalls nicht führen: zu massiven regionalen Preisunterschieden an der Zapfsäule. Das ist für mich eine Frage der Solidarität. Die Kosten des Krieges tragen wir alle gemeinsam. Natürlich kann die Bundesregierung nicht alle Folgen beseitigen, die Putins Krieg auch für uns mit sich bringt. Weltweit steigen schließlich die Preise und weltweit sind Rohstoffe knapp. Aber wir können die Folgen abmildern, gerade für die, die am meisten darunter leiden. Dafür stehen die beiden Entlastungspakete mit einem Volumen von weit über 30 Milliarden Euro, die wir aufgelegt haben. Die Abschaffung der EEG-Umlage bedeutet für Bürgerinnen und Bürger 6,6 Milliarden Euro weniger auf der Stromrechnung – in diesem Jahr, und dauerhaft ist es noch viel mehr. Ab September bekommt jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer 300 Euro ausgezahlt, Selbstständigen wird die Steuervorauszahlung um diesen Betrag gekürzt. Das 9-Euro-Ticket ist ein großer Erfolg, und zwar nicht nur in Millionenstädten. Gut, wenn dadurch der eine oder die andere auch künftig öfter in Bus und Bahn sitzt. Und gerade energieintensive Unternehmen und solche, die im Russlandgeschäft tätig sind, können auf Bürgschaften, Zuschüsse und Kredite der KfW zurückgreifen. Eines ist aber völlig klar: Steuer- und kreditfinanzierte Subventionen und Hilfspakete sind natürlich keine Dauerlösung, zumal sie manches Problem nur in die Zukunft verschieben. Wenn wir aber Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Klimaschutz dauerhaft unter einen Hut bekommen wollen, dann lautet die einzig richtige Antwort: Endlich Vollgas geben bei den erneuerbaren Energien – wie sinnfällig das Bild auch immer ist. Deshalb habe ich gesagt: 2022 wird das Jahr der Entscheidungen. Kurzfristig werden wir womöglich noch stärker auf die Kohle zurückgreifen müssen, auch wenn der Kohleausstieg an sich nicht infrage steht. Hier hat die Bundesregierung mit den 40 Milliarden Euro für die Strukturentwicklung ein klares Bekenntnis zur Zukunft der Lausitz und des mitteldeutschen Reviers nach dem Ausstieg aus der Braunkohle abgelegt. Gas bleibt weiterhin die entscheidende Brückentechnologie – wenn auch in der aktuellen Situation unter anderen Vorzeichen. Deshalb haben wir Flüssiggasterminals möglich gemacht und die dazu nötigen Schiffe erworben. Die notwendige Hafeninfrastruktur und die Anbindungsleitungen werden in den kommenden Monaten gebaut, dank vereinfachter Verfahren viel schneller, als so etwas sonst in Deutschland passiert. Und mit dem so genannten Osterpaket hat die Bundesregierung bereits wichtige Grundlagen geschaffen für die Photovoltaik, auch für die Windkraft zu See und an Land. Jetzt müssen wir bei den Planungs- und Genehmigungsprozessen viel schneller werden. Wir müssen die Dauer von Verwaltungsverfahren mindestens halbieren. Sind Sie einverstanden? – Und das will ich auch klar sagen: Wir werden uns dabei nicht den Schneid abkaufen lassen, nicht von den Lobbyisten, nicht von den Bedenkenträgern und auch nicht von den Verteidigern des Status quo. Wir haben schlicht keine Zeit mehr, um Dinge auf die lange Bank schieben zu können. Gerade für den Wirtschaftsstandort Ostdeutschland ergeben sich daraus riesige Chancen. Meine Damen und Herren, der Osten Deutschlands ist inzwischen in vielerlei Hinsicht eine der attraktivsten Wirtschaftsregionen Europas geworden, und das hat sich mittlerweile auch international herumgesprochen. Ich weiß, das ist eine starke Aussage, gerade wenn man bedenkt, welche Entwicklung Ostdeutschland in den letzten Jahrzehnten durchgemacht hat. Den Umbruch und die dramatische Deindustrialisierung der Nachwendezeit haben Millionen Ostdeutsche vor allem als Zusammenbruch erlebt, oft auch ganz persönlich. Aber diese Zeit liegt hinter uns. Heute ist Ostdeutschland eine Region im Vorwärtsgang. Inzwischen gibt es hier nicht mehr nur einzelne wirtschaftliche Leuchttürme mit regionaler und bundesweiter Strahlkraft. Ostdeutsche Standorte spielen in der Weltliga mit. Das zeigen Investitionsentscheidungen wie der neue Intel-Standort in Magdeburg, den der Bund massiv fördern wird. Das Batteriewerk von CATL in Arnstadt, die europaweit führende Mikroelektronik mit Infineon, AMD und Bosch in Sachsen, die BASF-Kathodenfabrik in Schwarzheide oder die Gigafactory von Tesla in Grünheide – alle diese Investitionen haben überaus positive Effekte für Ostdeutschland insgesamt. Es entstehen ja nicht nur neue, hochwertige und gutbezahlte Arbeitsplätze. Gestärkt werden auch lokale Handwerker, mittelständische Zulieferer, einheimische Dienstleister. Steuereinnahmen steigen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ziehen zu statt fort. Neue Kooperationen mit Universitäten und Forschungseinrichtungen entstehen; letztere sind im Osten im Vergleich zum Westen immer noch zu dünn gesät. Deshalb hat sich die Bundesregierung darauf verständigt, den Ausbau und die Neuansiedlung außeruniversitärer Einrichtungen künftig prioritär in Ostdeutschland zu unterstützen. Ähnliches gilt für die Förderung von Start-ups. Gerade in den großen Städten im Osten gibt es eine wachsende Start-up-Szene, auch weil der Bund Modellvorhaben gezielt unterstützt. Dabei sind in den vergangenen Jahren viele fantastische Ideen in die Tat umgesetzt worden, das zeigt sich auch an den Gewinnern des VORSPRUNG. Junge Unternehmerinnen und Unternehmer, die etwas gewagt haben und in kürzester Zeit Marktführer wurden, Traditionsunternehmen, die sich zu Hidden Champions auf dem Weltmarkt entwickelt haben – Sie geben ihnen eine Bühne, das finde ich großartig. Staatsminister Schneider hat den VORSPRUNG zwar schon vor einigen Wochen im Kanzleramt verliehen. Dennoch an dieser Stelle auch von mir: Herzlichen Glückwunsch allen Preisträgerinnen und Preisträgern! Man kann ja auch zweimal gelobt werden. Das sind alles sehr erfreuliche Entwicklungen. Einige meinen sogar schon, Ostdeutschland stehe an der Schwelle einer neuen Reindustrialisierung. Zumindest die Chance dazu besteht, wenn wir das Richtige tun, und auch hier gilt: Think big! Erstens: Wer neue Industrien ansiedeln will, der braucht zunächst einmal große ebenerdige Flächen. Tesla beispielsweise benötigt 300 Hektar, Intel in Magdeburg sogar 450, das sind 620 Fußballfelder. Solche Flächen im Herzen Europas sind eine Rarität und heiß begehrt, in Ostdeutschland gibt es sie. Dazu braucht es eine gute Infrastruktur, vor allem schnelles Internet und ein flächendeckendes Netz, gerade in ländlichen Räumen. Deshalb treibt der Bund den Bau von Glasfasernetzen konsequent voran und wird das auch weiterhin und verstärkt tun. Zweitens: Große Investitionsentscheidungen werden für mehrere Jahrzehnte geplant und getroffen. Die Rahmenbedingungen dafür sind klar: Deutschland wird 2045 CO2-neutral sein und will zugleich Industrieland bleiben. Damit wird die Verfügbarkeit von erneuerbaren Energien zum entscheidenden Standortvorteil für die Industrie. Und Ostdeutschland hat die Flächen und die meteorologischen Bedingungen, die es für den massiven Ausbau der Erneuerbaren braucht. Aber dafür braucht es auch Akzeptanz für den Ausbau vor Ort. Mit der Haltung „Hauptsache nicht in meinem Vorgarten“ kommen wir nicht voran. Als Unternehmerinnen und Unternehmer wissen Sie das sehr genau. Deshalb bitte ich Sie ausdrücklich um Ihre Mithilfe. Werben Sie, wo Sie gehen und stehen, für den Ausbau der erneuerbaren Energien, auch im Interesse Ihrer Unternehmen und des Standorts Ostdeutschland! Der dritte Faktor, über den wir größer denken müssen, gerade hier in Ostdeutschland, sind gut ausgebildete Fachkräfte. Ja, wir haben gut ausgebildete Fachkräfte in Ostdeutschland. Aber wir haben zu wenige davon. Und das Problem wird sich verschärfen, wenn wir nicht gegensteuern. Der demografische Knick der neunziger Jahre, als viele gut ausgebildete Bürgerinnen und Bürger in den Westen zogen und deutlich weniger Kinder geboren wurden, bleibt eine Hypothek. Sie fehlen dem Osten heute und bei Weitem nicht nur auf dem Arbeitsmarkt. Dazu gehen überall in Deutschland gerade die geburtenstarken Babyboomer in Rente. Die Folgen merken wir überall – in Ostdeutschland aber besonders. Hier fehlen in manchen technischen Berufen wie Mechatroniker, Systemelektroniker, Softwareentwickler oder IT-Berater bereits jetzt schon passende Bewerberinnen und Bewerber für mehr als jede zweite Stelle. Und laut einer aktuellen Studie sagen über 70 % der befragten Unternehmerinnen und Unternehmer, die größte Herausforderung in Ostdeutschland sei, Fachkräfte zu werben und zu halten. Die Prognosen für die Zukunft sind nicht erleichternder. Bis 2040 wird Ostdeutschland aller Voraussicht nach etwa 10 % seiner Erwerbspersonen verlieren, der Westen etwas mehr als 5 %. Ich bin aber etwas optimistischer als diese Vorhersagen, denn die gab es auch in der Vergangenheit – und sie sind nicht immer eingetroffen. Und wir haben uns auch viel vorgenommen, um die Fachkräftebasis in Deutschland zu sichern und das Erwerbspersonenpotenzial möglichst stabil zu halten. Aber aus eigener Kraft wird Ostdeutschland die Fachkräftelücke nicht füllen können – und Deutschland insgesamt auch nicht. Wir brauchen internationale Fachkräfte, das wissen Sie hier im Raum selbst am besten. Und wenn wir das hinkriegen wollen, dann geht es nicht allein um sanierte Städte und günstige Wohnbedingungen, gute Kitas und Schulen, eine saubere Umwelt und fantastische Naherholungsgebiete. All das hat der Osten – wem sage ich das hier, in Fontanes Mark Brandenburg? Sondern es geht auch um Neugier, um Weltoffenheit, um das Gefühl, willkommen zu sein und dazuzugehören. Da wird von Ostdeutschland manchmal ein Bild gezeichnet, das so nicht die Realität widerspiegelt, und das ärgert mich. Und auch diejenigen, die gegen Ausländer Stimmung machen oder mit dumpfen Ressentiments auf Stimmenfang gehen, erweisen Ostdeutschland einen Bärendienst. Aber ich glaube, es liegt in unser aller Verantwortung, das zu ändern. Und ich weiß, dass auch viele von Ihnen für ein Ostdeutschland werben, das weltoffen ist und sich selbstbewusst eines klar macht: Ostdeutsche wissen, was Veränderung bedeutet und wie sie geht. Schließlich waren Sie es, die mit ihrem Mut dieses Land und diesen Kontinent 1989 für immer verändert haben. Und deshalb: Think big! Blicken wir über den Tellerrand hinaus! Weltkonzerne interessieren sich heute für Ostdeutschland, sie investieren hier in die Zukunft. Aber wir müssen uns auch aktiv um sie bemühen. Deshalb ist es gut, dass sich das Ostdeutsche Wirtschaftsforum ganz bewusst internationaler aufstellt. Das ist der richtige Weg für Deutschland und ganz besonders für Ostdeutschland. Schönen Dank.
in Bad Saarow
Roth: „Kultur ist die Stimme der Demokratie“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kupoge-kongress-2050400
Thu, 09 Jun 2022 00:00:00 +0200
11. Kulturpolitischer Bundeskongress
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort – Vorgestern noch war ich in Odessa, in einer Stadt im Kriegszustand. Eine Reise, die mich tief bewegt hat, tief berührt hat und sehr aufgewühlt hat. Zurück in Berlin, bin ich immer noch nicht ganz wieder hier. Krieg, Bedrohung, Alarm in der Nacht – das sind existenzielle Erfahrungen. Sie wirken nach, sie relativieren vieles und sie überlagern vieles. Man erlebt, dass Angst und Wut, Ohnmacht und Auflehnung, Enthusiasmus und Verzweiflung ganz nahe Verwandte sind. Für eine Kulturstaatsministerin auf Besuch aus Berlin wird in einer belagerten Stadt vieles sichtbar. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinn: Man muss in Odessa niemanden nach dem wunderschönen Opernhaus fragen. Jedes Kulturdenkmal in der Stadt ist markiert, hinter Sandsäcken, hinter Panzersperren verschwunden – eine Geste der Verzweiflung. Sichtbar und erfahrbar wird so der Wert all dessen, der unglaubliche Wert eines Opernhauses, einer Philharmonie, eines Filmstudios, einer Bibliothek, eines Kinos oder Theaters. Das Ringen der Menschen darum, diese Orte zu erhalten, diese Orte nicht zu verlieren, sie lebendig zu halten. Eine Bibliothek, deren Leiterin mir mit Tränen in den Augen erklärte, wie sie versuchen, ihren Bestand von fünf Millionen Büchern zu erhalten. Der unbedingte Wille, sich diesem Aggressor entgegenzustellen, einem Aggressor, der ein souveränes Land angreift, der Frauen, Männer und Kinder ermordet, der lügt und der einen Krieg gegen die Kultur führt, einen Krieg, der die Kultur und damit auch die kulturelle Identität der Ukraine zerstören will. Und dass dies ein systematischer Krieg ist, das zeigen die Zahlen, die mir mein ukrainischer Kollege in diesen Tagen gezeigt hat. Eine Liste mit 375 Kultureinrichtungen, die angegriffen worden sind. Theater, Museen, Kirchen. Sie zu verlieren in einem Krieg und an einen Gegner, der bereit ist, alles zu zerstören, was sich der Dominanz Russlands nicht fügen will. Das ist die große Sorge dort. Dass russische Raketen Opernhäuser, Bibliotheken und Theater treffen, die ebenso russisch wie ukrainisch sind, macht die Absurdität dieses Krieges vielleicht nirgendwo offensichtlicher als dort. Odessa war immer auch eine russische Stadt, die vielleicht russischste Stadt in der Ukraine. Heute ist die Stadt für Russland verloren, verloren, noch bevor ein russischer Soldat einen Fuß über die Stadtgrenze gesetzt hat. Wer vor dem Krieg pro-russisch war, ist es nun ganz sicher nicht mehr. Wird es nie mehr sein. Und die Kultur Odessas? Ist sie nun ukrainisch oder russisch? Oder war sie immer beides? Ist sie geblieben, was sie war, oder entsteht hier eine neue kulturelle Identität? Als Kulturpolitikerin kann man hier einiges lernen. Zwei Tage Odessa, das waren zwei Tage an der Frontlinie zwischen Demokratie und Autokratie und eine Lektion darin, dass Kunst und Kultur kein Luxusgut nur für gute Zeiten sind. Sie sind ein Lebenselexier, die Stimme der Demokratie! eine Lektion darin, dass Kultur, dass Kunst, Literatur, Malerei und Musik Freiheit brauchen, die Freiheit, sich nicht zwischen Nationalitäten entscheiden zu müssen. und eine Lektion darin, dass einer gewachsenen multikulturellen Gesellschaft eine vorgeblich überlegene „Nationalkultur“ aufzwingen zu wollen, nicht nur eine gefährliche, sondern eine selbstmörderische Idee ist. Wenn ich hier, auf dem Kulturpolitischen Bundeskongress in Berlin, über Odessa spreche, dann deshalb, weil die Gefährdung all dessen, was uns hier beschäftigt – Gesellschaften, die in einer krisenhaften Situation nach einem demokratischen Miteinander suchen, dort, in Odessa, wie in Charkiw, wie in Lwiw, wie in Mariupol und in Kiew – in Butscha – blutige und grausame Realität geworden ist. Aber es gibt daneben noch etwas anderes, das am Beispiel Odessas deutlich wird. Die Überlegenheit einer noch so unvollkommenen Demokratie gegenüber der Autokratie. Denn die Gefahr, in der die Stadt lebt, die Androhung von Freiheitsentzug, stößt auf einen unbändigen Widerstand, der erkennen lässt, dass dort niemand bereit ist, die einmal erlebte und gelebte Freiheit des Wortes, der Presse, der Kunst und Kultur wieder preiszugeben. Eine einmal gewonnene und erprobte Freiheit, das gilt in Odessa wie überall, ist nur mit restriktiver Gewalt wieder einzuschränken oder, schlimmer noch, mit brutaler Waffengewalt zu unterbinden. Das kann, wer will, in einer Stadt wie Odessa lernen. In einer Hafenstadt zumal, einer offenen, zum Meer hin offenen Stadt, die, wie alle diese Städte ein Einfallstor ist, ein Einfallstor für Neues, für Fremdes, für Einflüsse aller Art, literarische, musikalische, künstlerische Einflüsse – ein großer Marktplatz der Kulturen. Gehandelt wurde und wird nie nur mit Waren, gehandelt wird auch mit Formen, mit Farben und Stilen. Was gefällt, wird geteilt. Diese Offenheit für Einflüsse, für Formen und Stile, ist es, die ich unter einen erweiterten Kulturbegriff fassen möchte. Er lässt Konkurrenzen zu, auch Reibung, wendet sich aber gegen jeden künstlichen Reinheitsbegriff von Hochkultur oder von Nationalkultur. In einer globalisierten Welt, in der wie leben, sind solche Abstraktionen doch auch wirklich realitätsfern. Ich glaube nicht, dass man Generationen, die in dieser globalisierten Welt aufgewachsen sind, die ganz unterschiedliche Wurzeln haben, erklären muss, warum ein erweiterter Kulturbegriff neben der Klassischen Musik, der Oper oder der Chormusik auch die Popmusik umfasst, warum er neben der klassischen Literatur natürlich auch den poetry slam meint. Erklärungsbedürftig wäre ein Kulturbegriff, der völlig unberührt von der Gegenwart bliebe, von ihrer Gegenwart, der Gegenwart dieser Generationen. Und es braucht die Heimaten der Kultur, die Heimaten, wo man hingehört und wo man gebraucht wird. Vielfalt ist die Bedingung von Kultur, eine kreative und produktive Vielfalt, aus der Neues hervorgeht. Und produktiv heißt nicht in jedem Fall, dass kulturelle Eigenarten im dialektischen Sinn ineinander aufgehen sollen. Sie sollen nicht abgeschliffen oder eingeebnet werden. Ihr Nebeneinander ist produktiv, es erzeugt Reibung. Sie kann konfliktreich sein, aber eben auch bereichernd. Für diese Vielfalt in Freiheit zu sorgen, ist Aufgabe einer demokratischen Kulturpolitik. Deutschland ist ein Einwanderungsland, ist eine multikulturelle demokratische Gesellschaft, die eine gleichberechtigte Teilhabe kultureller Minderheiten, eine Sicherstellung ihrer Rechte und die Verhinderung von Machtmissbrauch durch politische Eliten gewähren will und gewähren muss. Eine demokratische Kulturpolitik muss dafür sorgen, dass sie es auch kann. Akzeptanz, mehr noch als Toleranz, und Verständigung brauchen Voraussetzungen. Sie sind aber auch selbst Voraussetzung für Multikulturalität, für Vielfalt und Diversität. Genau das sind Stärken einer Gesellschaft. Sie stärken, was man heute Resilienz nennt, die Fähigkeit, sich auch in Krisen zu verständigen, sie zu bestehen und zu überwinden. Man kann Einfluss nehmen auf diese Faktoren, indem man sie fördert, unterstützt oder sie doch wenigstens nicht behindert. Verordnen kann man sie nicht. Doch was bedeutet das in der Praxis? Zu den Aufgaben einer Kulturstaatsministerin gehört es, kulturelle Einrichtungen und Projekte von nationaler und gesamtstaatlicher Bedeutung zu fördern. So steht es in meiner Arbeitsplatzbeschreibung. Doch welche Einrichtungen und Projekte sind von nationaler, gesamtstaatlicher Bedeutung? In der Bundesrepublik Deutschland muss man dazu noch fragen, auf welche Einrichtungen und Projekte einzelner Bundesländer diese Attribute zutreffen. Institutionen, Stiftungen, Archive, Bibliotheken, Kulturdenkmale: Ja. Aber daneben ist noch etwas anderes, von außerordentlicher, nationaler und gesamtstaatlicher Bedeutung: Alles nämlich, was das kulturelle Zusammenwirken und das gesellschaftliche Zusammenleben mit all seinen Reibungen und Widersprüchen fördert. Freiheit, Öffentlichkeit, Teilhabe und Existenzsicherung. Weil aber beide – Kultur und Gesellschaft – zusammengehören und sich auch nicht auseinanderrechnen lassen, wird es auch immer wieder Interessenskonflikte geben. Was hat mehr Gewicht, was hat mehr Bedeutung? Was wollen, was sollen, was können wir fördern? Freie Theaterprojekte oder Nationaltheater? Museen? Oder – in Krisenzeiten zumal – doch besser Schulen und Kindertagesstätten. Ein schlimmer Konflikt. Und ein gefährlicher Konflikt. Und was heißt in „Krisenzeiten“? Die Pandemie hat gezeigt: Interessenskonflikte, wie die genannten, können für die Kultur im Allgemeinen und für die Kulturschaffenden im Besonderen existenzgefährdend sein. Sie hat außerdem gezeigt, und das ist mir wichtig und wurde mir in den vergangenen Tagen noch einmal deutlich: Kultur ist keine verzichtbare Beigabe, sondern sie ist von existenzieller Bedeutung, weil die Kultur die Stimme unserer Demokratie ist. Demokratische Gesellschaften brauchen Kultureinrichtungen, Theater, Kinos, Konzertsäle und Museen. Und sie brauchen sie nicht nur in „groß und national“, sondern auch in „klein und regional“, sie brauchen sie vielfältig, sie brauchen sie divers und sie brauchen sie nachhaltig. Das sind Aufgaben, die Bund und Länder nur gemeinsam bewältigen werden. Deshalb will die Regierungskoalition Kultur als Staatsziel im Grundgesetz verankern. Wir wollen damit deutlich machen, was Verantwortung bedeutet. Deshalb will ich, wollen wir ein gleichberechtigtes, produktives Zusammenwirken von Bund und Ländern. Ich bin an der Grenze zwischen Bayern und Baden-Württemberg aufgewachsen, ich habe den Föderalismus in meiner DNA. Der Maßstab für eine demokratische Kulturpolitik muss dabei die Freiheit von Kunst und Kultur bleiben. Darauf müssen wir uns auch hier einrichten: Kunst muss mir nicht gefallen, sie muss nicht politisch sein, sie kann aber politisch sein. Aber die Freiheit von Kunst und Kultur zu achten und zu verteidigen, das ist unsere historische Verantwortung. Vielfalt zu fördern heißt für eine demokratische Kulturpolitik nicht, Kunst und Literatur der Beliebigkeit zu überlassen, sondern ihr mit den Mitteln öffentlicher Förderung Ausdrucksmöglichkeiten zu öffnen und Räume zu schaffen, in denen künstlerische und kulturelle Vielfalt, in denen Diversität und Nachhaltigkeit gelingen und wirken können. In einem Artikel einer großen deutschen Zeitung stand nach dem Theatertreffen in Berlin: Diversität? Nachhaltigkeit? Wo bleibt denn da die Kunst? Ich erlaube mir zu sagen: Sie gehören zusammen. Sie endlich zusammenzuführen, das ist doch die große Aufgabe, vor der wir stehen. Und dann werden wir auch eine Ästhetik der Nachhaltigkeit erleben. Aber das besprechen wir das nächste Mal.
In ihrer Eröffnungsrede unterstrich Kulturstaatsministerin Roth die elementare Bedeutung von Kunst und Kultur für unsere demokratische Gesellschaft. Diese brauche nicht nur große und nationale, sondern auch kleine und regionale Kultureinrichtungen – und sie brauche sie „vielfältig, divers und nachhaltig“, so Roth.
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der re:publica 2022 am 9. Juni 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-re-publica-2022-am-9-juni-2022-2050524
Thu, 09 Jun 2022 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
keine Themen
Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer, meine Damen und Herren! Ich möchte meine Rede mit einem Geständnis beginnen. Ich war zwar schon früher zu Gast auf der re:publica, zuletzt 2019 als Bundesminister der Finanzen, aber noch nie bin ich bis ganz zum Schluss geblieben. Mein Fehler! Sonst hätte ich wohl auch auf Anhieb entschlüsselt, was es mit dem diesjährigen Motto auf sich hat. Stattdessen habe ich erst bei der Vorbereitung auf meinen heutigen Besuch erfahren, dass jede re:publica mit dem rituellen Singen von Queens „Bohemian Rhapsody“ endet und dass „Any Way the Wind Blows“ damit sozusagen „the famous last words“ der letzten re:publica vor der Pandemie gewesen sind. Daran anknüpfen zu wollen ‑ so verstehe ich die Wahl des Mottos ‑ ist mutig, und zwar deshalb, weil uns als Gesellschaft der Wind in diesen vergangenen zweieinhalb Jahren doch ziemlich brutal ins Gesicht geweht und einiges mit sich gerissen hat. Da war natürlich die Pandemie mit all ihren sozialen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen und Brüchen. Ihre Folgen werden uns noch lange beschäftigen. Die geopolitischen Gewichte haben sich noch rasanter verschoben als ohnehin schon. Die Welt des 21. Jahrhunderts wird nicht multipolar; sie ist es längst. Und schließlich: Seit dem 24. Februar dieses Jahres tobt ein grausamer Krieg im Osten Europas, der uns alle erschreckt und beschäftigt. Ich habe das eine Zeitenwende genannt, weil ein einziges Land, Russland, mit der Macht seines Militärapparates und ohne jeden Anlass internationales Recht auf brutalste Weise bricht, um knapp 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges Grenzen in Europa zu verschieben, um ein anderes Land zu unterwerfen und sich zumindest Teile davon einzuverleiben. Das ist blanker Imperialismus, und den können und werden wir nicht akzeptieren, niemals. Daher unsere Sanktionen gegen Russland; daher die große und fortgesetzte Unterstützung der Ukraine, wirtschaftlich, finanziell, humanitär und auch militärisch; daher die Aufnahme Millionen Geflüchteter in der EU. Auch in Deutschland haben unglaublich viele Bürgerinnen und Bürger ihre Herzen und die Türen ihrer Wohnungen geöffnet. Daher auch die Entscheidung, dass Deutschland erstmals in großem Umfang Waffen und Militärgüter in ein Kriegsgebiet schickt. Wir tun all das auf das Engste abgestimmt mit unseren Freunden und Partnern in der Europäischen Union, in der NATO und in der G7, der Gruppe der wirtschaftsstarken Demokratien, in der Deutschland gerade den Vorsitz führt. Diese Einigkeit ist ganz wichtig. Putin hat nicht mit ihr gerechnet. Unsere Einigkeit zeigt: Wenn es ernst wird, dann leiten uns dieselben Werte und Überzeugungen, dann ist auf gewachsene Partnerschaften Verlass. Aber diese Geschlossenheit sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Krieg in der Ukraine für viele Länder und Weltregionen in Asien, in Afrika, in Südamerika weit weg ist. Ganz nah hingegen sind dort die Folgen des russischen Angriffskriegs, die Sorge vor Hungersnöten, vor Rohstoffknappheit, vor Energiemangel, vor unterbrochenen Lieferketten und vor einem Abgehängt- und Vergessenwerden vom Rest der Welt. Darin liegt ein großes Problem. Denn es droht eine neue Teilung der Welt. Jeder gegen jeden und jeder für sich, statt globaler Verantwortung und internationaler Solidarität. Ich war daher in den vergangenen Wochen viel unterwegs. Ich habe in Afrika und in Asien Gespräche geführt; wir habe Regierungsverhandlungen mit Japan und Indien organisiert, und ich habe meine Kollegen aus Indonesien, Indien, Senegal, Südafrika und Argentinien zum G7-Gipfel Ende des Monats hierher nach Deutschland eingeladen. Mein Ziel ist, zu zeigen, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist. Eure Sorgen zählen genauso wie unsere. Nicht zuletzt lohnt es sich, zusammen an einer Weltordnung zu arbeiten, die der multipolaren Realität des 21. Jahrhunderts gerecht wird. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Deglobalisierung, die manche derzeit propagieren, ein gefährlicher Irrweg ist. Niemand kann sich vom Rest der Welt abkoppeln. Das gilt für die analoge Welt, wo Klimawandel, Gesundheitskrisen, Armutsbekämpfung, Handel und Wissenstransfers internationale Zusammenarbeit zwingend erforderlich machen. Aber das gilt genauso, vielleicht noch stärker, für den digitalen Raum. Das Internet lebt davon ‑ und da erzähle ich gerade Ihnen hier natürlich nichts Neues ‑, dass Daten frei in jede Ecke der Welt fließen können, dass Informationen von überall her zugänglich sind. Das hat das Internet auch groß gemacht. Aber: Wissen ist Macht. Und von dieser Macht des Wissens fühlen sich nicht wenige bedroht. Deshalb erleben wir, wie staatliche Akteure dem freien Internet Grenzen setzen. Wir erleben Zensur und Überwachung in China. Und wir erleben den Versuch der völligen Abschottung des russischen Informationsraums durch Putins Staatsmacht, leider oft mit Erfolg. Kurz gesagt: Aus dem Internet ist in Teilen leider bereits ein „Splinternet“ geworden. Hinzu kommt: Immer häufiger werden digitale Technologien als geopolitisches Machtinstrument missbraucht, teils auch gezielt für Desinformationskampagnen. Cyberangriffe, ausgeführt durch Staaten und kriminelle Organisationen, kommen hinzu. Darauf werden wir uns besser einstellen. Auch das ist im Übrigen eine konkrete Konsequenz der Zeitenwende. Meine Damen und Herren, die Herausforderung für uns alle scheint klar: Es gilt, das Internet als den progressiven, demokratisierenden Raum für weltweite Vernetzung und Wissensaustausch zu erhalten und zu stärken. Das bedeutet „Zeitenwende“ digitalpolitisch. Und wie fast immer ist die Eine-Million-Euro-Frage: Wie kriegen wir das hin? Zwei Gedanken möchte ich dazu beisteuern. Ich hoffe, dass wir darüber im Anschluss noch ins Gespräch kommen. Erstens. Wir müssen unsere eigene digitale Souveränität stärken, aber ohne globale Wertschöpfungsketten zu kappen und selbst in Protektionismus zu verfallen. Das heißt, klar zu differenzieren: Welche Technologien können wir gefahrlos auf dem Weltmarkt kaufen und mit aller Welt teilen, und welche Technologien sind strategisch so wichtig, dass wir sie selbst vorhalten und beherrschen müssen? Ich denke etwa an Chips und Halbleiter, deren Mangel derzeit die Industrie in Deutschland und weltweit ausbremst. Daher ist es eine wirklich gute Nachricht, wenn Unternehmen wie Intel sich entscheiden, Chips künftig hier in Deutschland zu produzieren. Und wir sind aktiv dabei, weitere Investitionen in die Halbleiterindustrie zu ermöglichen. Das ist übrigens auch ein Erfolg veränderter politischer Rahmenbedingungen für solche Ansiedlungen hier in Deutschland und ein Ergebnis der EU-Digitalpolitik. Ich sehe das als Ansporn. Die Bundesregierung wird in den kommenden Jahren massiv in die Digitalisierung investieren: in die Infrastruktur, etwa durch den flächendeckenden Ausbau von Glasfaser- und Mobilfunknetzen. Hier muss Deutschland dringend aufholen. Und ich bin sicher: Darüber haben Sie in den letzten Tagen schon viel gesprochen. Wir wollen in Deutschland zu einem anderen Umgang mit Daten kommen, hin zu einer verantwortungsvollen Datenökonomie, in der mehr Daten genutzt und geteilt werden, und zwar zum Wohl unserer Gesellschaft und der Wirtschaft. Wir werden Gründungen und Startups gezielter fördern: auf Basis einer übergreifenden Start-up-Strategie, die gerade erarbeitet wird, und auch mit Hilfe einer neuen Agentur für Transfer und Innovation, die Hochschulen, die Wirtschaft und staatliche Stellen zusammenbringt. Und schließlich brauchen wir endlich eine digitale Verwaltung, und zwar auf allen staatlichen Ebenen. Man sieht die Not und hört sie! Was für einen Unterschied hätte es zum Beispiel gemacht, wenn wir in den vergangenen zweieinhalb Jahren der Pandemie bessere anonymisierte Gesundheitsdaten zur Verfügung gehabt hätten? Daran arbeiten wir jetzt mit Hochdruck. Auch die Dauer von Verwaltungsverfahren in Deutschland wollen wir verkürzen, mindestens um die Hälfte. Bis Jahresende soll der gesetzliche Rahmen dafür stehen. Bei allen Herausforderungen dieser Zeit und bei allen Defiziten, die in der Pandemie gerade auch bei der Digitalisierung deutlich geworden sind: Es waren digitale Lösungen, die vielen Unternehmen und auch der Verwaltung ermöglicht haben, weiterzuarbeiten und voranzukommen. Es hat sich gezeigt: Je digitaler die Unternehmen, desto besser kamen sie durch die Krise. Diese positive Erfahrung schafft Akzeptanz. Das ist eine gute Basis, um technologisch vorn zu bleiben in einer Welt, in der aus günstigen Produktionsstandorten rund um die Welt längst ernstzunehmende Wettbewerber geworden sind, und ein guter Ausgangspunkt für die grüne und digitale Doppeltransformation, die vor uns liegt. Digitale und technologische Souveränität schafft erst die Voraussetzung dafür, weiter auf den „Brussels Effect“ setzen zu können ‑ und das wollen wir auch. Damit bin ich bei meinem zweiten Gedanken. Im Kern geht es um die Frage: Wie können wir unsere Werte von Freiheit, Demokratie, Mitbestimmung und Gleichberechtigung verankern und fortentwickeln in der digitalen Welt? Wie bleiben wir „rule maker“, statt „rule taker“ zu werden? Die Antwort darauf beginnt mit einer Feststellung: Ja, die Digitalisierung hat ganz fundamentale Auswirkungen auf unsere Gesellschaften. Davor dürfen wir nicht die Augen verschließen. Nach der Datenschutzgrundverordnung geht die EU daher nun auch bei der Regulierung großer Plattformen weiter voran ‑ Stichwort: Digital Services Act. Ich weiß, über die Ausgestaltung und das nötige Maß an Regulierung gehen die Meinungen weit auseinander ‑ auch hier auf der re:publica ‑, und ich fände es interessant, wenn wir auch darüber nachher miteinander ins Gespräch kämen. Doch zuvor möchte ich kurz meine Haltung erläutern. Zum einen: Geltendes Recht muss durchgesetzt werden ‑ auch online. Dafür müssen staatliche Stellen gut ausgebildet und ausgerüstet sein, nicht zuletzt die Polizei. Ich sage das auch mit Blick auf eine ganz aktuelle Debatte, die wir darüber in Deutschland derzeit führen. Aber auch große Unternehmen wie Twitter, Meta und Telegram stehen in der Verantwortung. Es ist gut, dass wir uns im Grundsatz einig sind: Für strafbare Beleidigungen, Aufrufe zu Hass oder gar Mord, für rassistische, antisemitische oder antimuslimische Hetze darf im Internet kein Platz sein. Schwieriger ist es mit all dem, was sich im Graubereich unterhalb der Strafbarkeitsschwelle abspielt. Tag für Tag erleben wir, wie Grenzen des Sagbaren bewusst verschoben werden. Wie eine immer größere Lücke klafft zwischen dem, was man sich von Angesicht zu Angesicht sagen würde, und dem, was man sich auf Twitter, Facebook oder sonst wo um die Ohren haut. Hier kann und darf der Staat nicht Moderator, Schiedsrichter oder Wahrheitsministerium spielen. Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Doch allein der Hinweis auf die Meinungsfreiheit hilft nicht weiter. Es braucht Plattformen und Unternehmen, die ihre große gesellschaftliche Verantwortung erkennen und wahrnehmen, so wie wir es von Unternehmen in der analogen Welt kennen und erwarten. Darüber hinaus braucht es ein gestärktes Bewusstsein bei jeder und jedem Einzelnen von uns über angemessenes Verhalten im Netz. Das beginnt damit, Kindern und Jugendlichen ganz selbstverständlich Medienkompetenz beizubringen, auch in unseren Schulen. Und nicht zuletzt braucht es eine wache, aufgeklärte Zivilgesellschaft ‑ eine Zivilgesellschaft, die erkennt: Demokratie braucht Diskurs und Kontroverse, aber eben auch ethische Leitplanken. Kurzum: Wir brauchen den Weltgeist der re:publica, und zwar gerade dann, wenn der Wind uns hart ins Gesicht bläst. Insofern: Schön, dass die re:publica nach drei Jahren endlich wieder live zurück ist, und ganz herzlichen Dank für die Einladung!
in Berlin
Rede von Kulturstaatsministerin Roth im Rahmen der Haushaltsdebatte
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-roth-im-rahmen-der-haushaltsdebatte-2045830
Wed, 01 Jun 2022 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
− Es gilt das gesprochene Wort − „Krieg ist ein Zustand, bei welchem die niedrigsten und lasterhaftesten Menschen Macht und Ruhm erlangen.“ Das sagte Lew Tolstoi. In diesen düsteren Zeiten leben wir. Und so ringen wir um die richtigen Antworten – unsere Koalition, das Parlament, genauso wie die Menschen in unserem Land. Wir alle ringen um richtige Antworten. Denn genau das zeichnet doch eine demokratische Politik aus. Wir stellen uns den Aufgaben. Offen, mit unseren Zweifeln und mit den notwendigen Diskussionen. Denn es gibt sie nicht, die einfachen Antworten. In diesen düsteren Zeiten haben wir dem Absolutheitsanspruch des Krieges etwas entgegenzusetzen: Die demokratische Meinungsbildung und unser Unterscheidungsvermögen. Das ist auch eine Aufgabe der Kultur- und der Medienpolitik. Ich werde mich in zwei Wochen mit den Medienminister:innen der G7 treffen und wir wollen uns zu drei ganz zentralen Punkten verständigen: Was können wir tun, um für das Gesellschaftsmodell der Demokratie zu werben. Was können wir tun, um Propaganda und Desinformation entgegenzutreten. Und was können wir tun, um diejenigen zu schützen, die dem demokratischen Streit und der freien Meinungsbildung verpflichtet sind und genau deswegen aus ihren Herkunftsländern und heute besonders aus Russland fliehen müssen. Journalist:innen sind Fachkräfte der Demokratie. Deswegen haben wir gemeinsam mit dem AA ein Programm zu ihrem Schutz aufgesetzt. Deswegen kämpfen wir mit dem BMI, dem AA und anderen Ressorts gegen Desinformation. Was wir nicht brauchen, sind Kulturboykotte und die Kulturalisierung von Konflikten. Dies ist Putins Krieg und nicht Puschkins Krieg! Die Freiheit von Kunst und Kultur zu verteidigen, das ist grundlegende Aufgabe von Kulturpolitik! Und das sage ich auch und gerade mit Blick auf aktuelle Debatten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich vier Beispiele benennen, wie wir den kulturellen Zusammenhalt in unserem Land stärken. Erstens: wir kümmern uns um die Künstler:innen und die kulturelle Infrastruktur. Erst vorgestern habe ich mich gemeinsam mit Hubertus Heil und Vertreter:innen der Kultur intensiv ausgetauscht. Es geht jetzt in einem konkreten Arbeitsprozess darum, ihre soziale Lage zu verbessern: Von der Künstlersozialkasse, über Formen der selbständigen Beschäftigung, von Mindesthonoraren, den gender pay gap, bis zur Altersvorsorge. Ganz wichtig ist, dass das Zukunftsprogramm NEUSTART KULTUR bis Mitte nächsten Jahres fortgesetzt werden kann. Wichtig und notwendig mit Blick auf die weiter anhaltenden Risiken und Folgen der Corona-Krise, mit denen die Kulturszene ja nach wie vor zu kämpfen hat. Zweitens: Wir wollen eine breite, in die Zukunft gerichtete Erinnerungspolitik, die erinnert an die Verbrechen des Nationalsozialismus, die erinnert und an das SED-Unrecht, die erinnert an den Kolonialismus und mit der Rückgabe von Benin Bronzen richtige Zeichen setzen wird, eine Erinnerungspolitik aber auch in und für die Einwanderungsgesellschaft. Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus zeigen ihre hässliche Fratze – von Mölln bis Solingen, von Halle bis Hanau. Eine lebendige Erinnerungspolitik muss und wird darauf Antworten geben müssen. Und diese Erinnerungspolitik wird europäisch sein. Deswegen habe ich meine erste Auslandsreise nach Frankreich unternommen. Und sie muss ein deutliches Zeichen gegen den Antisemitismus und für unsere Freundschaft mit Israel setzen. Deswegen war ich auf meiner zweiten Auslandsreise in der vergangenen Woche in Israel und habe mit dem dortigen Kulturminister eine verstärkte Zusammenarbeit verabredet. Drittens: Wir wollen die Vielfalt von Kunst, Kultur und Medien in unserem Land fördern. Es geht um den Erhalt der Kinos, vor allem im ländlichen Raum, um einen Preis für Plattenläden, um Bibliotheken und Museen als „dritte Orte“, um wichtige Institutionen der musikalischen Bildung. Es geht um den Filmfestivalverbund Queerscope, um den Bundesmusikverband für Chor und Orchester, um das Bundesjugendballett…. es geht um so vieles mehr. Nicht zuletzt geht es darum, die vielen kulturellen Einrichtungen und Bauten in Ihren Wahlkreisen zu erhalten, zu sanieren und instand zu halten. Viertens: das alles wird nur gelingen, wenn wir Nachhaltigkeit als Voraussetzung von Freiheit verstehen. Ohne Nachhaltigkeit werden zukünftige Generationen keine Freiheiten mehr haben. Das ist unsere Verantwortung. Auch in der Kultur- und Medienpolitik und mit dem Vorhaben der Green Culture können wir einen entscheidenden Beitrag gegen die dramatische Klimakrise leisten. Wir wollen Kunst und Kultur mit allen und für alle ermöglichen, indem wir ihre Vielfalt und Freiheit sichern und verteidigen. All dies ist möglich Dank Ihrer Unterstützung, liebe Kolleg:innen. Zum einen durch die Fachpolitiker:innen – ich nenne hier stellvertretend für alle die Vorsitzende des Kulturausschusses, Katrin Budde – und zum anderen, heute ganz besonders, die Haushaltspolitiker. Namentlich Otto Fricke, Denis Rohde und Andreas Audretsch! Aber eben auch Kerstin Radomski und Gesine Lötzsch. Ja, wir leben in düsteren Zeiten. Wir müssen uns darauf einstellen, müssen Lösungen erarbeiten und müssen handeln. Lassen Sie uns Kunst, Kultur und Medien in Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit erblühen. Vielen Dank!
Bei der zweiten Beratung zum Entwurf des Haushaltsgesetzes 2022 im Deutschen Bundestag stellte Kulturstaatsministerin Roth programmatische Schwerpunkte vor, mit denen sie den kulturellen Zusammenhalt in Deutschland stärken möchte. Sie machte außerdem deutlich, dass es eine grundlegende Aufgabe der Kulturpolitik sei, die Freiheit von Kunst und Kultur zu verteidigen.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des BDEW-Kongresses am 1. Juni in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-bdew-kongresses-am-1-juni-in-berlin-2045894
Wed, 01 Jun 2022 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte Frau Dr. Wolff sehr geehrte Frau Andreae, sehr geehrte Damen und Herren, „Reden heißt treffen“ haben Sie in Ihrer Einladung zu diesem Kongress gesagt. Ich freue mich, dass Kongresse wie dieser wieder möglich sind! Vor einem Jahr ging das noch nicht. Damals haben Annalena Baerbock, Christian Lindner und ich Ihnen beim BDEW-Talk zur Energiepolitik online und ohne Publikum Rede und Antwort gestanden. Seitdem ist viel passiert: Annalena Baerbock, Christian Lindner und ich sehen uns jetzt öfter. Vor allem aber hat sich die Welt in diesem vergangenen Jahr deutlich verändert. Wir erleben tektonische Verschiebungen im Zeitraffer. Zweieinhalb Jahre Pandemie haben tiefe Spuren hinterlassen – gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich. Sie werden uns noch lange beschäftigen. Erstmals seit den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts erleben wir ein Weniger an internationaler Verflechtung, ein Weniger an grenzüberschreitendem Austausch. Von De-Globalisierung ist die Rede. Als seien diese Herausforderungen nicht genug, hat Russland im Februar einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen. Von einer Zeitenwende habe ich gesprochen. Putin will die Grenzen in Europa mit Gewalt verschieben. Er will zurück in eine Zeit, als große Mächte die Welt unter sich aufteilten. Das berührt uns unmittelbar. Denn damit steht unsere gesamte europäische und internationale Friedensordnung auf dem Spiel, die auf einem fundamentalen Prinzip gründet: auf der Stärke des Rechts gegenüber dem Recht des Stärkeren. Deshalb darf Russland nicht gewinnen, und deshalb unterstützen wir die Ukraine – gemeinsam mit der EU und unseren internationalen Partnern und Verbündeten. Wir liefern Waffen. Wir leisten humanitäre Hilfe, vor allem auch medizinische Hilfe. Wir sorgen dafür, dass die Ukraine zahlungsfähig bleibt in dieser dramatischen Lage, zusammen mit den anderen G7-Ländern, und wir kümmern uns um diejenigen, die zu uns fliehen ‑ darunter viele Frauen, Kinder und Ältere, auch Kranke und Pflegebedürftige ‑, damit sie bei uns gut ankommen und eine Perspektive erhalten. Und wir haben weitreichende Sanktionen verhängt, die Russlands Wirtschaft hart treffen, gerade auch im Energiebereich. Klar ist: Dieser sinnlose Krieg in der Ukraine verändert die Sicherheitslage in Europa grundlegend. Er wird auch unser Land und unsere Volkswirtschaft verändern. Aber wem sage ich das hier im Raum? Sie alle wissen das sehr genau. Wir haben uns zu lange und zu einseitig auf Energielieferungen aus Russland verlassen. Der Krieg zeigt auf brutale Weise: Energiepolitik ist eben nicht nur eine Frage des Preises. Energiepolitik ist Sicherheitspolitik! Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich als Hamburger Bürgermeister vor einigen Jahren für ein Flüssiggas-Terminal in Norddeutschland geworben habe. Damals hieß es von vielen: Das bringt nichts, wirtschaftlich unrentabel. – Das mag gestimmt haben, wenn man Rentabilität nur in Euro und Cent bemisst. Heute ist der Maßstab ein grundlegend anderer. Unser Ziel ist ganz klar: Wir müssen unabhängig werden von russischen Energieimporten – so schnell wie möglich, aber auch so sicher wie nötig. Wir müssen in der Lage sein, die Sanktionen, die wir verhängt haben und auch weiter verhängen, über einen längeren Zeitraum durchzuhalten. Es nützt niemandem, nicht der Ukraine und auch nicht uns selbst, wenn wir damit unseren Verbündeten und uns selbst mehr schaden als dem Aggressor. Deshalb geht es jetzt darum, die Abhängigkeit von russischen Energieimporten schnellstmöglich zu reduzieren und zu beenden, ohne dass wir dabei unsere Versorgungssicherheit aufs Spiel setzen. Bei Kohle ist der Lieferstopp ab Herbst bereits beschlossene Sache. Bei Öl und Gas arbeiten wir gemeinsam mit der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten daran, zügig unsere Abhängigkeit von Russland zu reduzieren und Alternativen aufzubauen, all dies auch mit Hilfe und dem Einsatz Ihrer Unternehmen. Und deshalb an dieser Stelle: Vielen Dank dafür! Meine Damen und Herren, im Kern ist diese energiepolitische Zeitenwende eine Beschleunigung. Die Energiewende zu vollenden, unseren Industriesektor zu stärken und ihn zu dekarbonisieren, Mobilität zu verbessern und dabei klimaneutral zu machen, das waren von Beginn an Prioritäten der Bundesregierung. Wir wollen 2045 als erstes großes Industrieland klimaneutral werden, und zwar auf eine Art und Weise, die unser Leben besser und unsere Wirtschaft leistungsfähiger macht. Wir wollen 80 Prozent des Bruttostromverbrauchs bis 2030 aus erneuerbaren Energien beziehen. Und wir wollen 50 Prozent Wärme bis 2030 klimaneutral erzeugen. „Jetzt erst recht“ lautet die Devise nach Russlands Angriff auf die Ukraine. Dazu müssen wir drei Dinge angehen: Erstens: Versorgungssicherheit ist das oberste Gebot. Wir brauchen eine dauerhaft verlässliche Energieversorgung. Für uns als Industrieland ist das ohne Alternative. Erdgas bleibt die zentrale Brücke in die klimaneutrale Zukunft, auch wenn wir kurzfristig womöglich auf Kohle zurückgreifen müssen. Deshalb geht es jetzt darum, die Voraussetzungen zu schaffen, damit wir Alternativen zu russischen Importen zu bezahlbaren Preisen aufbauen. Dabei haben wir deutliche Fortschritte gemacht: Schwimmende Flüssiggasterminals werden kurzfristig zur Verfügung stehen. Mit dem LNG-Beschleunigungsgesetz aktivieren wir die Errichtung der notwendigen Hafeninfrastrukturen und Anbindungsleitungen. Parallel wird an stationären LNG-Terminals, gearbeitet, um unsere Gasimporte zu diversifizieren. Und bei allem achten wir darauf, dass die neuen Terminals und Leitungen auch in Zukunft genutzt werden können, nämlich für Wasserstoff. Aber natürlich muss das LNG-Gas irgendwo herkommen, wenn Europa die riesige Menge von mehr als 150 Milliarden Kubikmetern Pipelinegas ersetzen will, das bisher jährlich aus Russland kommt. Das geht entweder über einen massiven Verdrängungswettbewerb auf dem Weltmarkt. Im Ergebnis hieße das: weiter massiv steigende Preise und ganze Länder und Weltregionen, die sich Energie nicht mehr leisten könnten ‑ mit absehbar gravierenden Folgen. Oder aber wir bauen neue Lieferketten und Energiepartnerschaften auf, die perspektivisch auch für grünen Wasserstoff genutzt werden können. Letzteres ist aus meiner Sicht der richtige Weg. Deshalb sind der Bundeswirtschaftsminister und ich mit zahlreichen Partnern weltweit im Gespräch. Erst letzte Woche habe ich zum Beispiel mit Partnern in Afrika Gespräche darüber geführt, wie wir dort den Aufbau einer Flüssiggas- und perspektivisch einer Wasserstoffinfrastruktur unterstützen können ‑ etwa über die Europäische Investitionsbank oder Fördermittel der KfW. Zusätzlich haben wir Möglichkeiten geschaffen, um im Falle einer Krisenlage schneller und umfassender auf Versorgungsengpässe reagieren zu können ‑ in der berechtigten Hoffnung, dass wir sie nicht nutzen müssen. Auch auf europäischer Ebene wurden notwendige Weichen gestellt: Die EU-Kommission hat Mitte Mai ein umfangreiches Paket von Initiativen und Vorschlägen vorgelegt, die uns unabhängiger von russischen Importen machen sollen. Unsere Stärke als Europäische Union ist der Binnenmarkt und ist die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Das zeigt die aktuelle Situation sehr deutlich. Das haben wir auch gestern und vorgestern beim Europäischen Rat nochmals unterstrichen. Die Transformation unserer Energieversorgung ist kein nationales Projekt, sondern erfolgt eingebettet in eine europäische Energiewende. Zweitens: Wir müssen den Ausbau der erneuerbaren Energien massiv beschleunigen. Es liegt in unserem überragenden öffentlichen Interesse, dass wir in den kommenden Jahren den Turbo bei der Energiewende einlegen. Jedes Windrad, das in Deutschland gebaut wird, jede Photovoltaik-Anlage leistet einen Beitrag, damit unsere Energieversorgung unabhängiger und nachhaltiger wird, sicher ist und bezahlbar bleibt. Dabei ist unser Ziel, die vielen Bremsklötze beim Ausbau der erneuerbaren Energien, die sich Stück für Stück angesammelt haben, zu lösen. Mit dem Osterpaket haben wir dafür bereits wichtige Grundlagen geschaffen. Wir werden der Photovoltaik Schub geben, sodass bis 2030 über 200 Gigawatt Leistung installiert sein werden. Wir wollen endlich die Handbremse beim Ausbau der Windkraft an Land lösen. Bis 2030 wollen wir 115 Gigawatt installierte Leistung erreichen. Und bei Wind auf See wollen wir bis 2030 eine Erzeugungsleistung von 30 Gigawatt erreichen ‑ mehr als dreimal so viel wie heute. Das alles ist auch nötig, wenn man beispielsweise bedenkt, dass allein ein Chemiestandort wie Ludwigshafen acht bis neun durchschnittliche Offshore-Windparks benötigt, um künftig mit Strom betrieben werden zu können. Deshalb habe ich erst Mitte Mai gemeinsam mit Ursula von der Leyen und meinen Kolleginnen und Kollegen aus den Niederlanden, Dänemark und Belgien in Esbjerg eine Initiative gestartet. Gemeinsam wollen wir aus dem Nordseewind so etwas wie ein riesiges Windkraftwerk machen. Ich finde, das ist wichtig und dringend nötig. Allerdings wird uns der Ausbau der erneuerbaren Energie nur gelingen, wenn wir bei Planungs- und Genehmigungsprozessen deutlich besser werden. Langwierige Verfahren können wir uns schlicht nicht mehr leisten. Die aktuellen Vorschriften und Abläufe passen nicht zu der Aufgabe, die vor uns liegt: Wir brauchen klare Regelungen, beispielsweise beim Artenschutz, und Fortschritte bei der Akzeptanz vor Ort. Wir brauchen besser ausgestattete Behörden und Gerichte. Wir müssen 2 Prozent der Landesflächen für die Windenergie an Land reservieren. Und der Ausbau der Windkraft muss eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen werden. Hinzu kommt ‑ davon wurde eben schon gesprochen ‑: Wir brauchen ein Stromnetz, das für die Bedürfnisse der klimaneutralen Zeit fit gemacht wird. Denn moderne, leistungsfähige und digitalisierte Übertragungs- und Verteilnetze sind das Rückgrat unserer Energieversorgung. Zudem setzen wir jetzt den Rahmen, um den Markthochlauf für Wasserstoff zu forcieren. Dazu entwickeln wir die nationale Wasserstoffstrategie weiter; denn bis 2030 soll es in Deutschland 10 Gigawatt Elektrolyseleistung für die Erzeugung von grünem Wasserstoff geben. Wir werden außerdem Energiepartnerschaften ausbauen und mit Blick auf langfristig verlässliche Lieferländer priorisieren. Vor allem aber werden wir Märkte für Wasserstoff und grüne Produkte entwickeln, und dazu gehört auch ein vernünftiger regulatorischer Rahmen. Dafür werden wir sorgen, und zwar ‑ auch mit Blick auf manche Überlegung auf europäischer und nationaler Ebene ‑ möglichst unbürokratisch. Dazu werden wir, wo nötig, Wasserstofftechnologien finanziell unterstützen. Aber wir setzen vor allem auf einen marktgetriebenen Ausbau und wollen Anreize für private Investitionen schaffen. Wer also gute, zukunftssichere Investments sucht, auch für die Mittel aus den großen Konjunkturprogrammen der Corona-Pandemie: Hier sind die Möglichkeiten, meine Damen und Herren! Drittens: Das Ganze muss bezahlbar bleiben. Die Energiepreise sind in Deutschland bereits seit einiger Zeit hoch, insbesondere der Strompreis. Der russische Angriffskrieg, die weltweiten Konjunkturprogramme und die gestiegene Nachfrage in den Volkswirtschaften des globalen Südens treiben die Preise zusätzlich in die Höhe. Für viele Bürgerinnen und Bürger ist das schon jetzt schwierig. Sie merken das Tag für Tag: an der Zapfsäule, beim Einkaufen, an gestiegenen Kosten für Strom und Gas. Wir müssen verhindern, dass das Heizen der Wohnung und das Anstellen der Waschmaschine zum Luxus werden. Bezahlbare Energie ist und bleibt der Antrieb einer modernen Gesellschaft. Das gilt auch für die Wirtschaft. Gerade energieintensive Unternehmen sind teils schon gezwungen, die Produktion zurückzufahren oder einzustellen, weil die Kosten explodieren. Ich weiß, auch bei den großen Energiekonzernen, den Stadtwerken und den kleineren Versorgern ist die Lage angespannt. Höhere Beschaffungskosten haben nicht nur Auswirkungen auf die Wirtschaftlichkeit von Produktion und Lieferketten. Sie beeinflussen auch ihren Kapitalbedarf und die Liquidität. Der Staat kann die externen Schocks nicht einfach beseitigen, die zum Preisanstieg führen. Aber er kann die Unternehmen unterstützen, und das tun wir. Wir haben deshalb bereits zwei Entlastungspakete im Umfang von weit über 30 Milliarden Euro aufgelegt, die in den kommenden Wochen und Monaten greifen. Sie alle kennen die Elemente: die Abschaffung der EEG-Umlage schon zum 1. Juli; Zuschüsse und steuerliche Entlastungen vor allem für Gering- und Normalverdiener, auch an der Zapfsäule; Anreize zum Umstieg auf den ÖPNV; und ein Schutzschirm, um Unternehmen bei Bedarf mit Bürgschaften oder KfW-Krediten unter die Arme zu greifen. Meine Damen und Herren, wir werden ganz unabhängig von all den Dingen, die wir jetzt schon gemacht haben, diese Entwicklung weiter im Blick haben müssen. Deshalb bin ich auch fest davon überzeugt, dass wir nicht Halt machen dürfen, sondern dass wir weiter zusammenarbeiten müssen. Ich habe deshalb heute im Deutschen Bundestag gesagt: Ich werde etwas wiederbeleben, das es in den endenden 60er- und beginnenden 70er-Jahren schon einmal gegeben hat. Und das auch bei der Entwicklung der Energiepreise eine Rolle gespielt hat und wichtig war – nämlich die konzertierte Aktion, in der Arbeitgeber, Gewerkschaften, der Staat und viele andere Verantwortliche miteinander darüber reden: Wie kriegen wir es als Gesellschaft gemeinsam hin, diese Herausforderung zu bewältigen? Und das werden wir jetzt schnell machen. Meine Damen und Herren, es gibt Jahre, in denen passiert erstaunlich wenig. Und dann gibt es welche, in denen verändert sich die Welt grundlegend. Meine Prognose ist: 2022 wird so ein Jahr. Das sucht man sich nicht aus. Aber es ist dann Aufgabe für alle, die in der Verantwortung stehen, das zu tun, was notwendig ist. Für uns bedeutet das: unseren Beitrag leisten, damit der Krieg beendet wird und die Ukrainerinnen und Ukrainer in Frieden leben können; unabhängig von Russland zu werden, ohne dass es hier zu drastischen ökonomischen und sozialen Verwerfungen kommt; und die Transformation zur Klimaneutralität noch schneller, noch entschlossener, noch geeinter anzugehen, damit Deutschland und Europa gestärkt aus ihr hervorgehen und wir künftigen Generationen einen lebenswerten Planeten erhalten. Das geht nur als „Wir“. Das geht nur gemeinsam, mit Ihnen in der Energiewirtschaft. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Medienpolitischen Stunde des 46. Kongresses Deutscher Lokalzeitungen am 1. Juni 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-medienpolitischen-stunde-des-46-kongresses-deutscher-lokalzeitungen-am-1-juni-2022-in-berlin-2045882
Wed, 01 Jun 2022 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte Damen und Herren! Unter dem Titel „Putin Show“ hat kürzlich das britische Nachrichtenmagazin „The Economist“ einen besonders spannenden interaktiven Beitrag veröffentlicht, allerdings auch einen sehr bedrückenden. Dort wird konkret anschaulich gemacht, wie der ganz normale Medientag eines beliebigen russischen Bürgers derzeit aussieht, von der Lektüre der Morgenzeitung über Social-Media-Kanäle und Radioprogramme im weiteren Tagesverlauf bis hin zu den abendlichen Talkshows im Fernsehen. Von früh bis spät wird dabei auf sämtlichen medialen Ausspielwegen eine komplette Parallelwelt präsentiert, in sich geschlossen und luftdicht gegen Wirklichkeit abgeschottet. In dieser Parallelwelt dreht sich rund um die Uhr ausschließlich alles um angebliche ukrainische Nazis, um vermeintliche Schandtaten des Westens und um den mutmaßlich heldenhaften Widerstand Russlands gegen die Mächte des Bösen. Diese Deutung ist in ihrer Wirkung überwältigend. Ja, sie ist total. Denn die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Russland informiert sich ausschließlich mittels der staatsnahen Kanäle. Diese Mehrheit in Russland hat zensurbedingt überhaupt keine Möglichkeit mehr, eine Version der Wirklichkeit zu erfahren, die auch nur in Nuancen von der offiziellen Linie des Kremls unter Putin abweicht. Natürlich handelt es sich bei dieser Dauerschleife auf allen Kanälen um pure Desinformation. Wir wissen das. Auch manche Russinnen und Russen durchschauen das. Aber für die breite Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Russland gibt es eben nur diese eine Version des Zeitgeschehens. Sie kennen keine andere, und weil aus Gewohnheit leicht Gewissheit wird, wollen sie oft auch gar keine andere Wirklichkeit mehr hören und sehen. So bitter es ist: Desinformation wirkt. Wo die Desinformation total ist, wo also gar keine abweichende Information mehr wahrgenommen wird und wahrgenommen werden kann, da wird Unerhörtes sagbar, und da werden irgendwann auch entsetzliche Verbrechen möglich. Das beweist Russlands grausamer Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine. Meine Damen und Herren, als Sprachrohr der lokalen Zeitungs- und Medienhäuser in Deutschland setzt sich Ihr Verband nun schon seit 55 Jahren für die Anliegen Ihrer Branche ein. Diese Anliegen sind für unsere freiheitliche Demokratie wichtiger denn je. Genau das wollte ich bereits mit meinem einleitenden Blick auf Russland verdeutlichen, und umso dankbarer bin ich für die Gelegenheit, heute mit Ihnen zu sprechen. Ich will es ausdrücklich bekräftigen: Die freie und unabhängige Presse ist schlechthin systemrelevant für eine funktionierende Demokratie. Sie steht deshalb unter dem besonderen Schutz unserer Verfassung. Zugleich wirken eine freie Presse und freier Journalismus genau denjenigen demokratie- und freiheitsfeindlichen Entwicklungen entgegen, die in Russland auf so erschreckende Weise eingetreten sind. Deshalb geraten Journalistinnen und Journalisten immer wieder ins Visier der Feinde von Freiheit oder Demokratie, übrigens auch bei uns. Denken Sie an die Angriffe auf Journalisten bei Querdenkerdemos oder die Diffamierung freier Berichterstattung als Lügenpresse. Das ist inakzeptabel, und das wird unser Staat nicht hinnehmen. Tatsächlich ist die freie Presse ein entscheidender Grund für die Kraft und die Attraktivität unseres Gesellschaftsmodells, heute mehr denn je. Darum ist es gut, dass es Sie gibt. Haben Sie ganz herzlichen Dank für Ihre Arbeit! Meine Damen und Herren, ein besonders wichtiger Bestandteil der Medienvielfalt ist der Lokaljournalismus. Lokale Nachrichten konsumieren die Deutschen meist per Radio oder lesen sie in Tageszeitungen. Gerade den Lokalmedien gelingt es, auch Bürgerinnen und Bürger zu erreichen und zu Engagement für das Gemeinwesen zu motivieren, die sich sonst eher herausgehalten hätten. Das ist auch ein Lebenselixier für unsere Demokratie. Ich weiß allerdings auch, dass Ihre gelebte Wirklichkeit, die ganz alltägliche gelebte Wirklichkeit der Lokalpresse, diesem demokratiepolitischen Idealbild nicht immer entspricht. Geschäftsfelder wandern ins Internet ab. Zudem gibt es die gesunde Konkurrenz zwischen Öffentlich-Rechtlichen und Ihren Zeitungen. Mit der Konjunktur der sozialen Medien verschwimmen oft die Grenzen zwischen Berichterstattung, Anzeigengeschäft, Influencern und Fake News. Was die Refinanzierung ihrer Presseerzeugnisse angeht, steht die Zeitungsbranche vor wachsenden Herausforderungen. Die Energie-, Personal- und Rohstoffpreise steigen. Gerade Papier ist rasant teurer geworden. Die hohen Kosten zwingen Redaktionen dazu, sich eher auf überregionale Inhalte auszurichten, die sie vielen weiteren Zeitungen anbieten können. Damit werden die Spielräume für die rein lokale Berichterstattung vor Ort enger. Meine Damen und Herren, diese Entwicklungen verfolgen wir genau. Wir wissen um den Wert Ihrer Arbeit für unser Gemeinwesen. Deshalb werden wir uns dafür einsetzen, den Lokaljournalismus und besonders die Lokalzeitungen zu schützen und die Rahmenbedingungen Ihrer Arbeit zu verbessern. Wir wollen, dass die flächendeckende Versorgung mit regelmäßig erscheinender Presse gewährleistet bleibt; darauf hat sich die Bundesregierung verständigt. Aktuell prüft das Bundeswirtschaftsministerium, welche Fördermöglichkeiten dazu geeignet sind. Der Lokaljournalismus wird im kommenden Jahr auch das zentrale Thema des nächsten Medien- und Kommunikationsberichts der Bundesregierung werden. Bereits Anfang 2022 hat Staatsministerin Roth als Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien daher eine Studie über die Situation der deutschen Lokalpresse in Auftrag gegeben. Diese Studie soll dann umfassend über die Lage Aufschluss geben, die Sie natürlich eh kennen. Ein wichtiger Aspekt dabei wird die Frage sein, wie sehr die beschriebenen Entwicklungen die Presse- und Meinungsvielfalt gefährden und ob sich daraus ein staatlicher Förderbedarf rechtfertigen lässt. Zudem will die Bundesregierung eine gesetzliche Grundlage für den Auskunftsanspruch der Presse gegenüber Bundesbehörden vorschlagen und damit die Presse stärken. Auch darauf haben wir uns verständigt. Ich freue mich auf die Anfragen. Das bereits eingeführte Leistungsschutzrecht für Presseverleger soll helfen, journalistische Qualität und die Vielfalt von freien, unabhängigen Medien zu erhalten. Den Schutz von Journalistinnen und Journalisten werden wir verbessern, indem wir europaweit Maßnahmen gegen die Einschränkung von Freiheitsrechten durch missbräuchliche SLAPP-Klagen unterstützen. Und last not least, hat die Bundesregierung ein neues Förderprogramm aufgesetzt, das die Bedingungen journalistischer Arbeit stärken und zum Schutz des unabhängigen Journalismus beitragen soll. Damit sollen zum Beispiel Vorhaben mit Strahlkraft und Vorbildcharakter gefördert werden, die den Wert des Qualitätsjournalismus für die Demokratie vermitteln. Sie sehen also: Die Bundesregierung hat sich einiges vorgenommen, um den freien, unabhängigen Journalismus in unserem Land zu stärken. Aber einig sind wir uns sicherlich auch in der Einsicht, dass die Bundesregierung – oder „die Politik“ schlechthin – nicht im Stande ist, die großen strukturellen Veränderungen zu kompensieren, von denen Ihre unternehmerische Branche betroffen ist. Die großen Umwälzungen der Digitalisierung, der demografische Umbruch oder veränderte Lesegewohnheiten Ihrer Kundinnen und Kunden – das alles sind Umstände, an die sich verlegerisch tätige Unternehmen zuallererst mit geeigneten unternehmerischen Entscheidungen anpassen müssen. Ich bin davon überzeugt, bei allen Entwicklungen der Globalisierung und der Digitalisierung und vielleicht angesichts dieser Entwicklungen erst recht: Es besteht bei den Bürgerinnen und Bürgern eine Sehnsucht nach Heimat, eine Sehnsucht nach Orientierung, nach Sinn und Zusammenhalt vor Ort. Das heißt, den Rohstoff für das Geschäftsmodell der Lokal- und Regionalzeitung gibt es im 21. Jahrhundert auch weiterhin. Die Herausforderung liegt darin, den digitalen Wandel der lokalen Tageszeitungen so zu organisieren, dass am Ende schwarze Zahlen herauskommen, dass also auch in Zukunft mit journalistischen Inhalten Geld verdient wird. Ich bin sicher: Dabei bietet die digitale Transformation selbst durchaus Chancen. Sie alle wissen heute zum Beispiel viel genauer als in der analogen Ära, wer Ihre Leserinnen und Leser sind, welche Texte sie lesen und welche Inhalte sie interessieren. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass Lokalzeitungen auch in der digitalen Zukunft erfolgreich sein können, wenn es ihnen gelingt, für ihre Leser die richtige Auswahl an interessanten Informationen zu treffen. Meine Damen und Herren, Pressefreiheit und Pressevielfalt unter sich verändernden Bedingungen zu erhalten – in diesem Ziel sind wir uns einig. Von der ganz praktischen Seite der digitalen Transformation lokaler Medien verstehen Sie natürlich selbst viel mehr als ich. Deshalb ist es mir wichtig, mit Ihnen im Gespräch zu bleiben, und deshalb freue ich mich auf unser heutiges Gespräch. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Eröffnung der Hannover Messe am 29. Mai 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-eroeffnung-der-hannover-messe-am-29-mai-2022-2044554
Sun, 29 May 2022 00:00:00 +0200
Hannover
Sehr geehrter Herr Premierminister Costa, lieber António! Sehr geehrte Damen und Herren Ministerinnen und Minister aus Portugal und Deutschland! Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Weil, lieber Stephan! Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Onay! Sehr geehrter Herr Haeusgen! Sehr geehrter Herr Köckler! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Nicht nur die Säulen des Herkules hat es hinter sich gelassen und einen wütigen Ozean bezähmt, sondern die bislang unterbundene Einheit der bewohnbaren Welt wiederhergestellt. Was für neue Möglichkeiten und wirtschaftliche Vorteile, welche Erhöhung des Wissens, welche Bestätigungen der alten Wissenschaft, die bisher als unglaubhaft verworfen wurden, dürfen wir noch erwarten! … Portugal ist heute der Hüter, der Wächter einer zweiten Welt.“ Meine Damen und Herren, so klang Zeitenwende Ende des 15. Jahrhunderts. Das Zitat stammt von einem Florentiner Humanisten, der voller Bewunderung auf ein Land blickt, dessen Seefahrer gerade innerhalb weniger Jahre das Kap der Guten Hoffnung umrundet, den Seeweg von Europa nach Indien entdeckt und schließlich erstmals die ganze Welt umsegelt hatten. Portugals Entdeckungen, so schreibt viereinhalb Jahrhunderte später Stefan Zweig in seinem Buch über Magellan, markierten den Beginn der Neuzeit, den Moment, als die Welt zur Kugel, zum Globus wurde. Insofern ist es nicht erstaunlich, lieber António, dass dein Land Gastland der Hannover Messe geworden ist. Weltoffenheit und Handel trägt Portugal schließlich genauso in seiner DNA wie Entdeckungen und Erfindungen, und die Hannover Messe ist die Messe der Entdecker und Erfinder. Daher tritt das Motto, das ihr für euren Gastlandauftritt gewählt habt, lieber António, den Nagel auf den Kopf: „Portugal makes sense“ – und zwar nicht nur historisch betrachtet. In den vergangenen Jahren hat Portugal eine beeindruckende wirtschaftliche Erfolgsgeschichte geschrieben. Was für Comeback nach den schweren Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise! Das Land hat riesige Fortschritte bei Technologie, Digitalisierung und Energiewende gemacht. Lissabon ist inzwischen eines der Epizentren der europäischen Start-up-Szene und beliebt bei digitalen Nomaden weltweit. Smartphone und Surfbrett – die Kombination funktioniert. Und mehr noch: Gerade deine Regierung, lieber António, hat massiv in die Innovationskraft Portugals investiert. Spitzenforschung wie das Fraunhofer-Institut wurde so erfolgreich nach Portugal geholt. Zahlreiche neue Unternehmenskooperationen sind in den vergangenen Jahren entstanden. Wir haben es schon gehört: Rund 600 deutsche Unternehmen sind bereits in Portugal tätig, und zwar nicht nur große Weltkonzerne wie Volkswagen, Bosch, Siemens oder Conti, sondern auch viele kleinere und mittelständische Betriebe, da bei euch ein gutes Klima herrscht, und zwar für Investitionen genauso wie zum Urlaubmachen. In diesem Sinne: Bem-vindo! Herzlich willkommen, lieber António, dir und deiner ganzen Delegation! Messen wie diese leben von der persönlichen Begegnung. Deshalb freut es mich ganz besonders, dass wir uns nach der pandemiebedingten Absage der Hannover Messe 2020 und der digitalen Ausgabe im vergangenen Jahr heute endlich wieder live und in Farbe treffen, zumal diese Hannover Messe ja eine ganz besondere ist: 75 Jahre ist es her, dass sie zum ersten Mal ihre Türen für Besucherinnen und Besucher aus aller Welt öffnete. Seit diesen Anfängen als Exportmesse im noch kriegszerstörten Hannover, die ihre Gäste damals mit Fischbrötchen lockte, hat sie einen beeindruckenden Weg zurückgelegt. Innerhalb weniger Jahre wurde die Messe zum Symbol für den wieder florierenden Welthandel, dem die Exportnation (Deutschland) viel ihres Wirtschaftswunders zu verdanken hat. Damals wurde der Grundstein für etwas Großes gelegt. Die Messe, die Stadt Hannover und das Land Niedersachsen können stolz darauf sein, was aus der Hannover Messe geworden ist, nämlich die bedeutendste Industriemesse der Welt. Herzlichen Glückwunsch dazu an Sie alle und vor allem an Sie, lieber Herr Köckler, und all Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter! So wie vor 75 Jahren steht die Hannover Messe auch heute für Aufbruch und Neuanfang. Das ist auch nötig. Denn vor uns liegt nicht weniger als die größte Transformation unserer Wirtschaft seit Beginn der Industrialisierung, und dies in einer Zeit, in der die internationale Lage so herausfordernd ist wie nie zuvor in den letzten Jahrzehnten. Russlands Angriff auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende, und zwar nicht nur weil dieser grausame Krieg in unserer direkten Nachbarschaft stattfindet, sondern weil Präsident Putin zurückwill in eine Zeit, als der Stärkere diktierte, was Recht ist und wo Grenzen verlaufen, als große Länder Einflusssphären für sich reklamierten und kleinere sich in ihr Schicksal zu fügen hatten. Putins Imperialismus bricht mit allen Grundsätzen, die uns in Europa Jahrzehnte des Friedens gesichert haben. Deshalb haben wir in der Europäischen Union, in der NATO und gemeinsam mit den anderen wirtschaftsstarken Demokratien, der G7, so geschlossen und so entschlossen auf Russlands Angriffskrieg reagiert. Wir liefern Waffen, erstmals überhaupt in ein solches Kriegsgebiet. Wir haben Millionen Frauen, Männer und Kinder in der Europäischen Union aufgenommen, die vor der Gewalt in der Ukraine fliehen mussten. Gerade Portugal mit seiner großen ukrainischstämmigen Gemeinde hat dabei eine vorbildliche Rolle gespielt. Das ist ein großes Verdienst, lieber António, und ein Zeichen auch deiner europäischen Führungsstärke und Weitsicht. Herzlichen Dank dafür! Nicht zuletzt haben wir Sanktionen verhängt, gut vorbereitet und eng abgestimmt. Sie treffen Russlands Führung und Russlands Wirtschaft hart, jeden Tag ein Stück mehr. Zugleich achten wir darauf, dass sie uns und unsere Partner in Europa nicht härter treffen als Putins Russland. Es ist gut, dass dieser Kurs vonseiten der Wirtschaft mitgetragen wird. Ich weiß: Für viele Ihrer Unternehmen ist das mit wirtschaftlichen Einbußen verbunden. Wir versuchen, die größeren Belastungen abzufedern, mit Krediten, Zuschüssen und gezielten Entlastungspakten etwa für energieintensive Unternehmen. Und trotzdem, es bleiben Kosten. Aber ich sage auch: Diese Kosten sind viel geringer als der Preis, den wir alle miteinander zahlen würden, wenn Putin durchkäme mit seiner Aggression. Deshalb vielen Dank für Ihre Unterstützung! Sie ist nötig, und sie trägt dazu bei, diesen Krieg möglichst schnell zu beenden. Das bleibt unser oberstes Ziel. Wir alle hatten gehofft, dass 2022 zum Boomjahr wird nach dem vermeintlichen Ende der Pandemie. Stattdessen reden wir über Probleme in den Lieferketten, steigende Energie- und Rohstoffpreise, pandemiebedingte Lockdowns in China und die schweren Folgen des Krieges für die globale Ernährungssicherheit. Eines ist dabei für mich ganz klar: Die Pandemie und der Krieg in der Ukraine nehmen der industriellen Transformation nichts von ihrer Dringlichkeit. Im Gegenteil: Unabhängig zu werden von fossiler Energie, das ist nicht nur klimapolitisch vernünftig, das ist angesichts steigender Preise für Gas, Kohle und Öl auch wirtschaftlich vernünftig, und – das erleben wir jetzt mit aller Härte – Energieunabhängigkeit ist auch ein Gebot unserer nationalen Sicherheit. Wir erreichen das nur miteinander. „Transforming industry together“, der Slogan der diesjährigen Hannover Messe, ist daher gut gewählt. Bei „together“ denke ich zuallererst an das Miteinander von Politik und Wirtschaft. Für die Transformation braucht es Innovationskraft. Genau das ist das Markenzeichen der deutschen Industrie. Nicht von ungefähr sind viele ihrer Unternehmen gerade im Maschinen- und Anlagenbau und die Elektroindustrie Weltmarktführer in hochspezialisierten Technologiemärkten. Klar ist aber auch: Für Innovationen und Investitionen in Zukunftstechnologie braucht es Anreize und verlässliche Rahmenbedingungen. Dafür werden wir sorgen. Deshalb haben wir die steuerliche Forschungsförderung bereits deutlich ausgebaut. Und mit Instrumenten wie Klimaschutzdifferenzverträgen hebt die Bundesregierung Investitionen in klimafreundliche Technologien, wo nötig, über die Rentabilitätsschwelle. Das hilft dem Klimaschutz und den Unternehmen. Ich weiß, viele Ihrer Betriebe arbeiten bereits mit großem Nachdruck an der Klimaneutralität. Viele stehen dabei gleich vor einer doppelten Herausforderung. Erstens müssen energieintensive Produktionsprozesse auf nichtfossile Energiequellen umgestellt werden. Zweitens muss die dafür benötigte Energie in passender Form und in ausreichender Menge zu einem wettbewerbsfähigen Preis zur Verfügung stehen. Daran arbeiten wir. Schwimmende Flüssiggasterminals, Hafen‑ und Pipelineinfrastruktur, neue Lieferquellen – all das wird jetzt in kürzester Zeit erschlossen, viel schneller und viel entschlossener, als mancher das vielleicht erwartet. Bei allen Herausforderungen: Darin liegt auch eine große Chance, gerade für die deutsche Industrie, weil ihre Unternehmen hier in Deutschland in den kommenden Jahren die klimafreundlichen Technologien entwickeln und erproben können, die schließlich überall auf der Welt gebraucht werden für die Transformation. Schon heute sind die Stromgestehungskosten für erneuerbaren Energien am günstigsten. Das heißt, die Energiewende wird zum Standortvorteil. Deutschland hat alle Voraussetzungen, um eines der ersten wirklich klimaneutralen Industrieländer zu werden. Damit das gelingt, investieren wir in den kommenden Jahren Milliarden in Energieeffizienz und in den Ausbau erneuerbarer Energien. Unser Ziel ist klar: 80 Prozent unseres Strombedarfs sollen 2030 aus erneuerbaren Quellen gedeckt werden. Dafür wird auch dieser Staat sich verändern. Wir werden die Zeiten für Verwaltungs‑, Planungs‑ und Genehmigungsprozesse beschleunigen, mindestens halbieren, eher noch weiter verkürzen. Alles dafür Notwendige stoßen wir noch in diesem Jahr an. Schon mit dem sogenannten Osterpaket haben wir die Bedingungen für den Ausbau von Fotovoltaik und Windenergie deutlich verbessert. Weitere Gesetzespakete folgen im Sommer und im Herbst. Der Vorrang für erneuerbare Energien wird gesetzlich verankert. Schon zum 1. Juli schaffen wir die EEG-Umlage ab. Wir reden hier über milliardenschwere Entlastungen für Bürgerinnen und Bürger und für Unternehmen. Und wir lassen auch diejenigen nicht im Stich, die ganz besonderes an den hohen Energiekosten leiden: Bürgerinnen und Bürger mit kleinen und mittleren Einkommen, Berufspendler und die Bezieher von Sozialleistungen. Auch das bedeutet „Transforming industry together“. Meine Damen und Herren, gemeinsam mit Ihren Unternehmen werden wir dafür sorgen, dass gute Arbeitsplätze hier bei uns erhalten bleiben. Qualifizierung und Weiterbildung lauten die Stichworte. Und auch hier wird die Bundesregierung die Anstrengungen der Sozialpartner flankieren, unter anderem durch ein Qualifizierungsgeld für Beschäftigte während der Weiterbildung. Ja, wir müssen die Kräfte bündeln. Das ist die Idee hinter der Allianz für Transformation, zu der ich Entscheidungsträger aus der Politik, Unternehmens‑ und Arbeitnehmervertreter in das Kanzleramt einlade. Sie soll den anstehenden Umbau in den nächsten Jahren vorskizzieren und eng begleiten, und sie wird für den gesellschaftlichen Rückhalt sorgen, den wir für eine solch große Veränderung brauchen. „Transforming industry together“ hat für mich aber noch eine weitere Dimension: Wir brauchen mehr internationale Zusammenarbeit. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg erleben wir in den letzten Jahren, empirisch messbar, einen Rückgang internationaler Vernetzung. Nicht wenige erklären das sogar für wünschenswert. „Slowbalisation“ oder gar „Deglobalisierung“ lautet die Parole. Ich halte das für einen gefährlichen Irrweg, und zwar nicht nur weil Deutschland und Europa ganz besonders von offenen Märkten und freiem Handel profitieren, sondern weil die internationale Arbeitsteilung und globaler Wissenstransfer weltweit für wachsenden Wohlstand gesorgt haben. Der Anteil von Menschen in extremer Armut ist in den letzten 40 Jahren von 40 auf unter 10 % gefallen. Bis zum Beginn der Pandemie sind Jahr für Jahr rund 50 Millionen Bürgerinnen und Bürger Teil einer globalen Mittelklasse geworden. Das sollten wir nicht vergessen, wenn vorschnell von „Decoupling“ oder „Deglobalisierung“ gesprochen wird. Und noch etwas kommt hinzu: Keine der großen Herausforderungen, vor denen wir international stehen, lässt sich im nationalen Alleingang bewältigen. Nirgendwo wird das so deutlich wie beim Klimaschutz und der notwendigen Dekarbonisierung der Industrie. Wir brauchen dafür nicht nur vergleichbare Anstrengungen, sondern gemeinsame Standards für klimaneutrales und klimafreundliches Wirtschaften. Niemandem ist schließlich geholfen, wenn die Produktion von Stahl- oder Chemieprodukten in Länder mit geringeren Klimaschutzanstrengungen abwandert, weder der Wirtschaft noch dem Klimaschutz. Und natürlich müssen wir die aufstrebenden Schwellen- und Entwicklungsländer mitnehmen, deren demografische und wirtschaftliche Dynamik sie zu neuen Machtzentren macht. Das ist die multipolare Realität des 21. Jahrhunderts. Als G7-Präsidentschaft wollen wir daher einen Internationalen Klima-Club ins Leben rufen. Er steht allen Ländern offen, die sich auf bestimmte Mindeststandards beim Klimaschutz festlegen. Gemeinsam können wir schneller vorangehen. So entsteht das berühmte „level playing field“. Zugleich geht es darum, Kooperation zu stärken, zum Beispiel im Bereich „grüner Wasserstoff“. Auch Portugal ist da ein interessanter Partner. Über dieses Potenzial werden Premierminister Costa und ich sicher heute und morgen auch noch ausführlich sprechen. Wenn es also eine Antwort gibt, meine Damen und Herren, auf die großen Herausforderungen unserer Zeit, dann lautet sie tatsächlich: „together“ – gemeinsam. Gemeinsam verteidigen wird die internationale Ordnung gegen Putins Angriff, indem wir zusammenstehen mit unseren Freunden und Partnern, so wie unsere beiden Länder das tun, lieber António. Gemeinsam begegnen wir der Klimakrise, indem wir auf Innovationen setzen und auf neue Partnerschaften. Und gemeinsam schaffen wir die wirtschaftliche Transformation, dank einer Industrie, die kreativ und voller Erfindungsgeist ist, und mit einem Staat, der sich modernisiert und in die Zukunft investiert. Das ist die Botschaft, die von dieser 75. Hannover Messe ausgeht, von der Messe der Entdecker und Erfinder. Ich freue mich auf viele Gespräche mit Ihnen, auf die neuen Produkte und Innovationen und auf unseren gemeinsamen Rundgang morgen Vormittag, lieber António. Let’s transform industry together! Die Hannover Messe 2022 ist eröffnet.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des 102. Deutschen Katholikentags am 27. Mai 2022 in Stuttgart
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-102-deutschen-katholikentags-am-27-mai-2022-in-stuttgart-2044278
Fri, 27 May 2022 00:00:00 +0200
Stuttgart
Sehr geehrte Frau Dr. Stetter-Karp, sehr geehrte Frau Bossong, sehr geehrter Herr Bischof Fürst, sehr geehrter Herr Bischof Bätzing, verehrter Herr Oberbürgermeister Nopper und vor allem liebe Besucherinnen und Besucher des Katholikentages, unsere heutige Diskussion trägt den Titel „Zeitenwende und Zusammenhalt ‑ Gesellschaft und Politik in unsicheren Zeiten“. Mit der Zeitenwende möchte ich beginnen. Das ist ein großes Wort. Dennoch halte ich den Begriff für passend. Der Krieg in der Ukraine geht uns nicht nur sehr nahe, weil er sich geographisch vor unserer Haustür abspielt, sondern auch, weil wir mit den Ukrainerinnen und Ukrainern fühlen, mit jenen, die vor Ort um ihr Leben und um das Leben ihrer Liebsten bangen, und auch mit jenen, die hier bei uns Zuflucht gefunden haben. Und er geht uns nahe, weil wir spüren, dieser Krieg richtet sich nicht allein gegen die Ukraine, sondern gegen Werte und Überzeugungen, die uns als Gesellschaft verbinden, die ausmachen, wer wir sind: Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde. Putins Krieg richtet sich gegen eine Friedensordnung, die aus dem Bekenntnis „Nie wieder!“ nach zwei verheerenden Weltkriegen entstanden ist. Er will zurück zum Recht des Stärkeren, zurück in eine Welt, in der der Mächtige dem Schwächeren seinen Willen diktiert. Vergessen wir nicht: Dieser Krieg hat Auswirkungen auf die ganze Welt. Ich war in dieser Woche in Afrika, habe drei Staaten besucht und mit den dortigen Regierungschefs und Präsidenten gesprochen. Dort machen sich viele Sorgen, wegen des Krieges, weil sie alle mit den Ukrainerinnen und Ukrainern mitfühlen, aber eben auch, weil die Folgen dieses Krieges überall auf der Welt zu spüren sein werden, etwa wenn es um Ernährungssicherheit, wenn es um die Preise für lebensnotwendige Energieversorgung geht. Das ist in vielen dieser Länder, wie viele aus ihrem aktiven Engagement gerade hier wissen, sowieso keineswegs gesichert, und unter den aktuellen Umständen wird das alles natürlich noch viel schwieriger. Deshalb ist für mich ganz klar: Putin darf mit seinem zynischen, menschenverachtenden Krieg nicht durchkommen. Daher auch die harten Sanktionen gegen Russland, daher die Unterstützung der Ukraine, humanitär, wirtschaftlich und mit vielen Finanzmitteln, und daher auch die Lieferung von Waffen in ein solches Kriegsgebiet. Das ist etwas, was wir als Bundesrepublik noch nie getan haben. Ich weiß, das wirft schwierige Fragen auf, politisch, ethisch, auch ganz persönlich, Fragen, die Sie hier beim Katholikentag und auch in Ihren Familien, Freundeskreisen und Gemeinden sicherlich intensiv diskutieren. Im Kern geht es ja um die Frage: Darf Gewalt mit Gewalt bekämpft werden? Oder, wie manche formulieren: Lässt sich Frieden nur ohne Waffen schaffen? Es ist klar, dass solche Fragen diskutiert werden dürfen und müssen. Man muss den unterschiedlichen Ansichten mit Respekt begegnen, so sehr uns der Krieg und seine schrecklichen Folgen auch aufwühlen. Aber ich sage auch: Meine Haltung dazu ist klar. Wir haben uns entschieden, dem Opfer dieses Angriffskrieges beizuspringen, damit Unrecht nicht über Recht triumphiert, damit sich rohe Gewalt nicht als Mittel der Politik durchsetzt. Frieden entsteht nicht durch gewaltsame Unterwerfung; Gerechtigkeit ist die Voraussetzung für den Frieden. So ähnlich hat es Bischof Franz-Josef Overbeck kürzlich ausgedrückt, als er bedingungsloser Gewaltlosigkeit für sich eine Absage erteilt und stattdessen die Überwindung der Gewalt durch das Recht gefordert hat. Letztlich ist dies auch ein Gebot der Solidarität mit den Schwächeren. Oder um mit dem Motto des Katholikentags zu sprechen: Es geht darum, Leben zu teilen. Das ist es, was die Kirchen und die vielen ehrenamtlich Engagierten in Gemeinden, katholischen Verbänden und Organisationen in unserem Land tun. Dafür bin ich außerordentlich dankbar. Wir haben das in der Pandemie erfahren, als wir Anteilnahme und Rücksichtnahme auf ganz neue Weise erlebt haben. Gerade viele kirchliche Einrichtungen und die Gemeinden haben in der Pflege, in der Nachbarschaftshilfe oder einfach, indem sie da waren und Einsamkeit gemildert haben, Großartiges geleistet. Nun, in Zeiten des Krieges in der Ukraine, sind sie alle wieder da. Kirchliche Gebäude werden zu Wohnraum für Geflüchtete, Spendenaktionen für die Ukraine werden gestartet, Freiwillige helfen geflüchteten Menschen, im Alltag anzukommen. Das gibt Zuversicht, den Betroffenen, aber auch mir als in der Politik Handelndem, Zuversicht, dass wir als Land und als Gesellschaft gut durch diese Zeitenwende kommen, und Zuversicht auch, dass dieser Krieg nicht über unsere Solidarität und unseren Zusammenhalt siegt. Vielen Dank dafür.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Jahrestreffens des World Economic Forum am 26. Mai 2022 in Davos
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-jahrestreffens-des-world-economic-forum-am-26-mai-2022-in-davos-2044026
Thu, 26 May 2022 11:13:00 +0200
Davos
Sehr geehrter Herr Professor Schwab, meine Damen und Herren, wenn einer, der wie ich in Hamburg aufgewachsen ist, hierher nach Davos kommt, dann stellen sich ganz unweigerlich Gedanken ein an Thomas Mann und seinen großen Roman vom „Zauberberg“. So ging es mir zumindest auf dem Weg hierher, zumal der Davos-Besuch des Hamburgers Hans Castorp im Roman mit dem endet, was Thomas Mann den „Donnerschlag“ nennt, nämlich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Juli 1914. Meine Damen und Herren, auch wir haben einen Donnerschlag erlebt – am 24. Februar 2022. Russlands Überfall auf die Ukraine markiert nicht den Ausbruch irgendeines Konflikts irgendwo in Europa. Hier nimmt eine nuklear hochgerüstete Großmacht für sich in Anspruch, Grenzen neu zu ziehen. Putin will zurück zu einer Weltordnung, in der der Stärkere diktiert, was Recht ist, in der Freiheit, Souveränität und Selbstbestimmung eben nicht allen zustehen. Das ist Imperialismus! Das ist der Versuch, uns zurückzubomben in eine Zeit, als Krieg ein gängiges Mittel der Politik war, als unserem Kontinent und der Welt eine stabile Friedensordnung fehlte. Darum habe ich drei Tage nach dem russischen Angriff im Bundestag von einer Zeitenwende gesprochen. Das deckt sich übrigens mit der Analyse des World Economic Forum und mit dem Leitbild, unter das Sie unser heutiges Treffen gestellt haben, lieber Herr Professor Schwab: Ja, die Welt erlebt einen „turning point“, einen Umbruch. Zur Disposition steht nicht allein die Staatlichkeit der Ukraine. Zur Disposition steht ein System internationaler Zusammenarbeit, das aus dem „Nie wieder!“ zweier verheerender Weltkriege entstanden ist, eine Ordnung, die Macht an Recht bindet, die Gewalt als Mittel der Politik ächtet und die uns in den vergangenen Jahrzehnten Freiheit, Sicherheit und Wohlstand garantiert hat. Deshalb ist unser Ziel ganz klar: Putin darf seinen Krieg nicht gewinnen. Und ich bin überzeugt: Er wird ihn nicht gewinnen! Schon jetzt hat er all seine strategischen Ziele verfehlt. Eine Einnahme der gesamten Ukraine durch Russland scheint heute weiter entfernt als noch zu Beginn des Krieges, auch dank des beeindruckenden Abwehrkampfs der ukrainischen Armee und Bevölkerung. Mehr denn je betont die Ukraine ihre europäische Zukunft – ähnlich wie Georgien, Moldau. Übrigens: Auch die EU-Integration der Staaten des westlichen Balkans treiben wir aktiv voran. Die Versprechungen, die da gemacht worden sind, müssen jetzt schnell eingehalten werden. Die Brutalität des russischen Kriegs hat die Ukrainerinnen und Ukrainer als Nation enger zusammengeschweißt als jemals zuvor. Mit Schweden und Finnland wollen sich zwei enge Freunde und Partner dem nordatlantischen Bündnis anschließen. Sie sind herzlich willkommen! Und schließlich hat Putin die Geschlossenheit und Stärke unterschätzt, mit der die G7, die NATO und die EU auf seine Aggression reagiert haben. Gemeinsam haben wir so harte und weitreichende Sanktionen verhängt wie niemals zuvor gegen ein Land von der Größe Russlands. Schon jetzt sind die Kosten für Putins Machtapparat gewaltig, und sie steigen jeden Tag. Erstmals überhaupt liefert Deutschland Waffen in ein solches Kriegsgebiet, darunter auch schweres Gerät. Eines scheint mir klar zu sein: Ernsthaft über Frieden verhandeln wird Putin jedoch nur, wenn er merkt, dass er die Verteidigung der Ukraine nicht brechen kann. Darum unterstützen wir die Ukraine. Diese Unterstützung ist eng abgestimmt mit unseren Partnern und Allliierten. Und auch darin sind wir uns einig: Wir tun nichts, was die NATO zur Kriegspartei werden lässt. Denn das würde die direkte Konfrontation zwischen Nuklearmächten bedeuten. Vielmehr geht es darum, Putin klarzumachen: Es wird keinen Diktatfrieden geben. Das wird die Ukraine nicht akzeptieren – und wir auch nicht. Und schließlich, meine Damen und Herren, haben wir eine Kehrtwende auch in der deutschen Verteidigungspolitik vollzogen. Wir haben entschieden, unsere Bundeswehr so auszustatten, dass sie unser Land und unser Bündnis auch in der von Russland verursachten neuen Realität zu jedem Zeitpunkt verteidigen kann. Dafür sind wir sogar dabei, unsere Verfassung zu ändern. Und wir wollen in den nächsten Jahren 100 Milliarden Euro für die notwendige Modernisierung unserer Streitkräfte bereitstellen. Es geht um die Sicherheit unseres Landes, und es geht um die unmissverständliche Botschaft an unsere Bündnispartner: Auf Deutschland ist Verlass! Und noch etwas ist ganz klar: Wir machen Deutschland und Europa unabhängig von Energieimporten aus Russland. Mit Blick auf Kohle ist das im Herbst bereits beschlossene Sache. Den Ausstieg aus russischem Öl wollen wir bis Jahresende erreichen. Auch beim Gas arbeiten wir mit Hochdruck an der Unabhängigkeit von Russland. Wir greifen zum Beispiel auf schwimmende Flüssiggasterminals und auf neue Bezugsquellen zurück. Und wir sind dabei, den Ausbau der notwendigen Infrastruktur ‑ Terminals, Häfen, Pipelines ‑ in nie gekannter Geschwindigkeit voranzutreiben. Trotzdem wird dieser Umbau Auswirkungen auf Europas Volkswirtschaften haben. Das spüren wir alle, nicht zuletzt an den steigenden Energiepreisen. Natürlich liegt darin eine ganz besondere Herausforderung für ein Land wie Deutschland, das Industrieland ist und bleiben wird. Deshalb lassen wir unsere Unternehmen nicht allein. Wir haben einen Schutzschirm aufgespannt, mit dem wir Kredite absichern und, wo nötig, auch beim Eigenkapital unterstützen. In den kommenden Jahren werden wir Milliarden in die Transformation unserer Wirtschaft investieren. Die Zeit für Planungsprozesse wollen wir verkürzen, mindestens halbieren. Und wir rufen in den nächsten Wochen eine „Allianz für Transformation“ ins Leben, in der wir gemeinsam mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern den Umbau unserer Volkswirtschaft begleiten. So schaffen wir für alle Seiten Planungssicherheit. Schließlich hat unser Ziel, bis 2045 CO2-neutral zu werden, durch Putins Krieg noch an Bedeutung gewonnen. „Jetzt erst recht!“ lautet also deshalb die Devise. In Deutschland arbeiten wir mit Hochdruck an einem Klimaschutz-Sofortprogramm. Erste Schritte sind bereits beschlossen. Bis 2030 wollen wir das Tempo bei der Emissionsminderung nahezu verdreifachen und unsere Stromversorgung zu 80 Prozent aus erneuerbaren Energien decken. Zugleich treiben wir die Verkehrs- und Wärmewende voran und arbeiten am Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft. Ziel ist es eben, Industrieland zu bleiben und gleichzeitig klimaneutral zu werden. Das macht die Zwanzigerjahre zu Jahren der Veränderung, der Erneuerung und des Umbaus. Diesen Weg gehen wir nicht alleine. Mit ihrem „Fit for 55“-Paket sorgt die EU dafür, dass auch in Europa die Weichen auf Klimaneutralität 2050 gestellt werden. Am Beispiel der Energie- und Klimapolitik wird auch deutlich: Putins Krieg mag den Handlungsdruck auf uns erhöhen. Alleiniger Auslöser dieser Zeitenwende aber ist er keineswegs. „History at a turning point“ – das Leitbild unseres Treffens weist weit über diesen Bruch der internationalen Friedensordnung hinaus. Neben Russlands Krieg sehe ich eine weitere globale Entwicklung, die ebenfalls eine Zeitenwende bedeutet. Wir erleben, was es heißt, in einer multipolaren Welt zu leben. Die Bipolarität des Kalten Kriegs ist genauso Geschichte wie die relativ kurze Phase, in der die Vereinigten Staaten die einzig verbliebene Weltmacht waren, auch wenn die USA natürlich der bestimmende Machtfaktor in der Welt bleiben werden. Ich glaube übrigens auch nicht an die Erzählung einer neuen Bipolarität zwischen den USA und China. Natürlich ist China ein globaler Akteur – wieder, sollte man hinzufügen, denn historisch gesehen war das ja über weite Strecken der Weltgeschichte immer der Fall. Aber genauso wenig wie daraus die Notwendigkeit folgt, China zu isolieren, lässt sich daraus der Anspruch chinesischer Hegemonie in Asien und darüber hinaus ableiten. Genauso wenig können wir wegsehen, wenn Menschenrechte verletzt werden, wie wir das gerade in Xinjiang sehen. Zumal wir in Asien, Afrika und Lateinamerika neue, aufstrebende Mächte erleben. Sie alle nutzen die Chancen, die ihnen die Globalisierung bietet. Noch vor Beginn der Pandemie hatte die Beratungsfirma PricewaterhouseCoopers eine Studie zur Welt im Jahr 2050 veröffentlicht. Ihr zufolge werden unter den größten Volkswirtschaften dann Länder sein, die wir heute noch als Schwellenländer bezeichnen: neben China auch Indien und auch Indonesien, Brasilien und Mexiko. Nach der Pandemie dürfte diese Analyse kaum anders aussehen. Ein weiterer Faktor bleibt natürlich Russland, das seine Bedeutung durch militärische Macht zu sichern versucht – mit furchtbaren Konsequenzen, wie wir gerade erleben. Und da ist die Europäische Union, die sich endlich aufmacht, ihren geoökonomischen auch in geopolitischen Einfluss umzumünzen. Das ist es, was wir mit „europäischer Souveränität“ meinen. In dieser multipolaren Welt fordern ganz unterschiedliche Länder und Regionen gemäß ihrem wachsenden ökonomischen und demografischen Gewicht größere politische Mitsprache ein. Um es klar zu sagen: Darin liegt keine Bedrohung. Wo sich Einfluss und Gestaltungsmacht verschieben, hat das jedoch auch zwangsläufig Folgen für die politische Ordnung. Die Kernfrage lautet: Wie gelingt es uns, dass die multipolare Welt auch eine multilaterale Welt sein wird? Oder anders ausgedrückt: Wie schaffen wir eine Ordnung, in der ganz unterschiedliche Machtzentren im Interesse aller verlässlich zusammenwirken? Diese Aufgabe ist keineswegs trivial, zumal es dafür kein historisches Vorbild gibt. Und doch bin ich überzeugt: Das kann gelingen, wenn wir neue Wege und Felder der Zusammenarbeit erschließen, zumal die Alternative ‑ jeder für sich und zugleich jeder gegen jeden ‑ selbst für die größten Mächte mit hohen Risiken und Kosten verbunden ist. Auch deshalb war es so entscheidend, Russlands eklatantem Völkerrechtsbruch hart und unmissverständlich entgegenzutreten, weil diese Reaktion auch allen anderen deutlich macht: Eine multipolare Welt ist keine regellose Welt! Dieses Prinzip aufrechtzuerhalten, liegt im Interesse aller. Daher war es so wichtig, dass im März 141 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen Russlands Angriff klar verurteilt haben. Aber wir wissen: Für viele Länder Asiens, Afrikas oder Lateinamerikas ist der Krieg in der Ukraine geografisch weit weg. Ganz nah hingegen sind seine globalen Folgen in Form drohender Hunger-, Rohstoff- und Inflationskrisen. Wenn wir wollen, dass diese Länder auch in Zukunft Freiheit und Recht gemeinsam mit uns verteidigen, dann müssen wir uns auch ihren Sorgen gegenüber solidarisch zeigen. In einer multipolaren Welt wird eine solche internationale Ordnung nicht ohne internationale Solidarität zu haben sein. Deshalb investieren wir in neue Partnerschaften. Deshalb stellen wir bestehende Partnerschaften breiter auf, Stichwort politische Diversifizierung. Dabei setzen wir auf ein Merkmal, das uns mit vielen Ländern des globalen Südens verbindet: Wir sind Demokratien. Zu lange haben wir Demokratie praktisch gleichgesetzt mit dem Westen im klassischen Sinne. Dabei war es gerade dieser Westen, der dem Süden auf ganz undemokratische Weise seine Rechte und seine Freiheit bis weit ins letzte Jahrhundert hinein vorenthalten hat, Stichwort Kolonialismus. Dies anzuerkennen ist nicht nur ein Gebot der Ehrlichkeit, sondern Voraussetzung für eine engere Zusammenarbeit mit den Demokratien der Welt, die wir brauchen und auf die wir hinarbeiten. Anfang der Woche bin ich aus Südafrika, Senegal und Niger zurückgekommen. Ganz bewusst habe ich dort für enge Zusammenarbeit mit unserer G7-Präsidentschaft geworben – bei Themen wie der Energiewende, beim Klimaschutz, bei der Pandemiebekämpfung, in Migrationsfragen und nicht zuletzt bei der Frage, wie wir in dieser Zeit internationale Kooperation erhalten und stärken können. Ganz bewusst habe ich die Kollegen aus Südafrika und dem Senegal neben den Regierungschefs von Indien, Indonesien und auch Argentinien als Vorsitz der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten zum G7-Gipfel Ende Juni nach Elmau eingeladen. Sie vertreten Länder und Regionen, deren Mitarbeit die Welt braucht, um bei globalen Herausforderungen in Zukunft voranzukommen. Ganz bewusst haben wir in Deutschland eine Indopazifik-Strategie beschlossen, um die Zusammenarbeit mit den Ländern dieser Zukunftsregion zu vertiefen. Ganz bewusst haben wir im April erstmals Regierungskonsultationen zwischen Deutschland und Japan vereinbart. Als dritt- und viertgrößte Volkswirtschaften der Welt wollen wir gemeinsam Lösungen für nachhaltiges Wachstum entwickeln, die auch für andere funktionieren. Und ganz bewusst habe ich meinen indischen Kollegen, Premierminister Modi, und seine Regierung Anfang dieses Monats zu Regierungskonsultationen nach Berlin eingeladen. Ergebnis dieses Treffens ist, dass unsere Länder künftig bei Themen wie Klimaschutz, Energie, Migration und Mobilität noch enger zusammenarbeiten. Es geht um Fortschritt in Zukunftsfragen, und zugleich geht es immer auch darum, zu zeigen: Internationale Kooperation liefert Antworten. Der Multilateralismus funktioniert! Das ist übrigens die Voraussetzung dafür, die Deglobalisierung zu stoppen, die wir erleben. Natürlich müssen wir manch strategische Abhängigkeit reduzieren. Die Pandemie hat uns das nicht nur bei Medikamenten oder Schutzausrüstung vor Augen geführt. Auch unsere Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland fällt in diese Kategorie. Deshalb wird sie beendet. Oder denken Sie etwa an den gegenwärtigen Mangel an Halbleitern. Insofern ist es eine wirklich gute Nachricht, dass Intel künftig Chips in Deutschland produzieren wird, übrigens eine der größten Industrieansiedlungen in der Geschichte unseres Landes. Mehr wirtschaftliche Resilienz lautet das Gebot der Stunde in dieser multipolaren, krisenanfälligen Welt. Auch hier muss die Antwort Diversifizierung lauten, und zwar für Politik und Wirtschaft gleichermaßen. Zugleich müssen wir achtgeben, dass aus notwendiger Diversifizierung kein Vorwand für Abschottung, Zollschranken und Protektionismus wird. Um es ganz klar zu sagen: Die Deglobalisierung ist ein Holzweg! Sie wird nicht funktionieren. Denn entgegen all dem, was Populisten vollmundig versprechen, wird der Preis von Zöllen und Handelsschranken von Unternehmen bezahlt, von Arbeitnehmerinnen Arbeitnehmern, von Verbrauchern in unseren Ländern, von denjenigen also, die ohnehin schon unter steigenden Preisen leiden. Und noch etwas dürfen wir nicht vergessen, wenn leichtfertig von Deglobalisierung oder gar „decoupling“ die Rede ist: Der Anteil der Menschen in extremer Armut ist in den vergangenen 40 Jahren von über 40 Prozent auf unter 10 Prozent gesunken. Die Kindersterblichkeit ging in derselben Zeitspanne von zehn auf unter vier Prozent zurück. Global gesehen ist die Lebenserwartung um ganze zwölf Jahre gestiegen, von 61 auf 73 Jahre. Diese Erfolge sind nicht nur das Ergebnis nationaler Politik. Sie sind vor allem das Resultat internationaler Arbeitsteilung, das Ergebnis von Wissensaustausch und weltweiter wirtschaftlicher Vernetzung, die Milliarden Menschen den Weg aus der Armut geebnet hat. Ich will damit nicht sagen, dass die Globalisierung in den letzten 20, 30 Jahren nur Gewinner hervorgebracht hat. Das gilt gerade auch mit Blick auf die industrialisierten Länder. Weltweite Konkurrenz, die Verlagerung von Produktionsstandorten, die Krisen am Finanzmarkt, die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt ‑ all das verunsichert viele unserer Bürgerinnen und Bürger. All das verstärkt eben die Rufe nach Renationalisierung. Politik und Wirtschaft müssen diese Sorgen ernstnehmen. Unsere Antwort darauf kann kein simples „Weiter so!“ sein, zumal die besondere Phase der Globalisierung, die wir in den letzten 30 Jahren in Nordamerika und Europa erlebt haben ‑ mit verlässlichem Wachstum, hoher Wertschöpfung und niedriger Inflation ‑ unweigerlich zu Ende geht, und zwar schon deshalb, weil aus den günstigen Produzenten in den Ländern des Globalen Südens Schritt für Schritt leistungsfähige Volkswirtschaften mit eigener Nachfrage geworden sind, die denselben Wohlstand beanspruchen und um dieselben Güter konkurrieren wie wir. Was wir daher brauchen, ist eine nachhaltige, resiliente Globalisierung, die Rücksicht auf natürliche Ressourcen und vor allem auf künftige Generationen nimmt. Wir brauchen eine solidarische Globalisierung, die allen Bürgerinnen und Bürgern zugutekommt, in allen Teilen der Welt. Und wir brauchen eine kluge Globalisierung und mit modernen Regeln und neuen Arten der Zusammenarbeit. Ich will an drei Beispielen deutlich machen, was ich damit meine. Nehmen Sie den Klimawandel. Wir alle wissen: Wenn wir die Pariser Klimaziele verfehlen, steuert die Welt auf eine Katastrophe zu. Zugleich höre ich von Vertreterinnen und Vertretern von Entwicklungs- und Schwellenländern immer wieder den Einwand: „Auf absehbare Zeit brauchen wir die fossilen Energieträger noch, um unsere Entwicklungschancen zu nutzen, so wie ihr es über 150 Jahre hinweg getan habt.“ Von unseren Unternehmen in den industrialisierten Ländern hören wir wiederum: „Wenn ihr die Klima-Regeln weiter verschärft, dann werden wir womöglich ganze Industriezweige dorthin abwandern sehen, wo die Vorschriften laxer sind.“ Carbon leakage lautet das Schlagwort. Diese Widersprüche müssen wir auflösen, und zwar durch Zusammenarbeit. Wir haben uns vorgenommen, die G7 zum Kern eines internationalen Klimaclubs zu machen, der die Pariser Klimaziele beschleunigt umsetzt. Dieser Club steht allen Staaten offen, wenn sie sich auf bestimmte Mindeststandards verpflichten. So schaffen wir ein „level playing field“ und verhindern, dass unterschiedliche Regeln den Wettbewerb verzerren. Zugleich werden wir als Klimaclub klimafreundliche Technologien miteinander weiterentwickeln und noch enger zusammenarbeiten, etwa im Bereich des Wasserstoffs. Auch das Thema internationale Klimafinanzierung wollen wir als G7 weiter voranbringen. Neben Südafrika wollen wir weiteren Schwellen- und Entwicklungsländern sogenannte Just Energy Transition Partnerships anbieten, die sie beim gerechten Übergang in eine klimaneutrale Zukunft unterstützen. So holen wir Partner an Bord, die wir für die Klimawende dringend brauchen. Mein zweites Beispiel betrifft die Agenda 2030 der Vereinten Nationen. Die Pandemie und Russlands Krieg drohen, Entwicklungsfortschritte der vergangenen Jahrzehnte zurückzudrehen. Besonders dramatisch ist das beim Kampf gegen Hunger und Armut. Wenn wir hier nicht schnell und entschieden gegensteuern, droht uns die weltweit größte Hungersnot seit Jahrzehnten. Als G7-Präsidentschaft haben wir daher zusammen mit der Weltbank ein Bündnis für globale Ernährungssicherheit ins Leben gerufen. Deutschland hat dafür schon gleich zu Beginn knapp eine halbe Milliarde Euro bereitgestellt. Zusätzlich investieren wir mehr als eine Milliarde Euro pro Jahr in ländliche Entwicklung und Infrastruktur und in Ernährungssicherung. Wir werben intensiv um Unterstützung, und zwar nicht nur bei anderen Regierungen und internationalen Organisationen, sondern auch in der Wissenschaft, der Zivilgesellschaft, bei Stiftungen und nicht zuletzt bei Wirtschaftsführerinnen und Wirtschaftsführern wie Ihnen. Das globale Bündnis für globale Ernährungssicherung ist offen für alle! Und noch etwas ist wichtig in dieser Lage: Als G7 bekennen wir uns zu offenen Agrarmärkten. Das sage ich, wohl wissend, dass dabei noch viel Arbeit vor uns liegt, auch in Europa. Exportrestriktionen sind jedenfalls keine Lösung. Sie untergraben die globale Ernährungssicherheit, ja, sie gefährden Menschenleben. Das dritte Feld, auf dem wir für eine bessere internationale Zusammenarbeit sorgen wollen, betrifft unseren künftigen Umgang mit Gesundheitskrisen. Wir alle hatten gehofft, dass 2022 das Jahr wird, in dem die Weltwirtschaft nach der COVID-19-Pandemie wieder voll durchstarten kann. Stattdessen sehen wir Lockdowns in China, neue Virusvarianten und nach wie vor hohe Infektionszahlen. Die Pandemie ist noch nicht vorbei, so sehr wir uns auch das Gegenteil wünschen. Sie wird auch kein Ende finden, wenn wir den Kreislauf aus immer neuen Mutationen, die immer neue Infektionswellen auslösen, nicht endlich durchbrechen. Deshalb werden wir als G7 den von der Weltgesundheitsorganisation koordinierten ACT-Accelerator, der für eine weltweite Versorgung mit Impfstoffen sorgt, weiter massiv unterstützen. Deutschland geht hier mit 1,3 Milliarden Euro allein in diesem Jahr voran. Ich bitte Sie alle: Unterstützen auch Sie und Ihre Unternehmen uns auf diesem Weg! Ein Beispiel dafür, was im Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft gelingen kann, ist der Aufbau einer globalen Impfstoffproduktion. Vor einigen Wochen habe ich gemeinsam mit der EU, der Afrikanischen Union, den Präsidenten verschiedener afrikanischer Länder und der deutschen Firma BioNTech den Startschuss für ein Projekt zur Schaffung modularer Produktionsstätten in Südafrika, Ruanda, Ghana und Senegal gegeben. Es geht um den Kampf gegen COVID-19, aber perspektivisch auch gegen Krankheiten wie Malaria oder Ebola. Letzte Woche haben sich die Gesundheitsminister der G7 auf einen „Pact for Pandemic Readiness“ verständigt. Dabei geht es um einen besseren Datenaustausch, um die Vernetzung internationaler Gesundheitsexpertinnen und -experten und um die Mobilisierung schneller Einsatzteams, die im Ernstfall einen Ausbruch bekämpfen sollen. Wir werden die Weltgesundheitsorganisation dauerhaft stärken. Ein erster Durchbruch ist uns Ende April gelungen: Wir haben uns international darauf verständigt, die Finanzkraft der Weltgesundheitsorganisation endlich auf eine breitere und verlässlichere Grundlage zu stellen. Davos war bei diesen Themen schon oft Impulsgeber. Nicht zuletzt wurde hier im Jahr 2000 die globale Impfstoffallianz GAVI gegründet. In der Pandemie war sie Gold wert. Deshalb, meine Damen und Herren, möchte ich zum Schluss an diesen guten Geist von Davos erinnern und appellieren. Ja, wir erleben eine Zeitenwende. „History is at a turning point“. Aber wir sind dem Lauf der Geschichte nicht machtlos ausgeliefert. Wenn einige uns zurück in die Vergangenheit von Nationalismus, Imperialismus und Krieg führen wollen, dann lautet unsere Antwort: Nicht mit uns! Wir stehen für die Zukunft! Und wenn wir merken, dass unsere Welt multipolarer wird, dann muss uns das anspornen: zu noch mehr Multilateralismus, zu noch mehr internationaler Zusammenarbeit. Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Women 7 Summit am 25. Mai 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-women-7-summit-am-25-mai-2022-in-berlin-2043866
Wed, 25 May 2022 13:48:00 +0200
Berlin
keine Themen
Sehr geehrte Frau Dr. von Miquel, sehr geehrte Frau Prof. Allmendinger, sehr geehrte Damen und Herren, vielen Dank für Ihre Empfehlungen! Wir werden uns diese in Vorbereitung auf den G7-Gipfel in Elmau jetzt ganz genau anschauen. Unter den G7-Engagementgruppen sind die W7 etwas Besonderes. Denn Sie vertreten die Interessen der Hälfte der Bevölkerung. Sie sind die Stimme der frauen- und gleichstellungspolitischen Zivilgesellschaft. Und Sie machen sich stark für die LGBTIQ-Community. Noch etwas ist besonders an W7: Sie schauen nicht nur auf die Anliegen von Frauen und Mädchen in den G7-Staaten. Sie verstehen sich als Sprachrohr von knapp 4 Milliarden Mädchen und Frauen weltweit. Das deckt sich mit dem Anspruch der deutschen G7-Präsidentschaft, den Blick auch über die G7 hinaus zu weiten. Darum habe ich auch die Staatschefs von Indien, Indonesien, Senegal, Südafrika und Argentinien zum Gipfel in Elmau eingeladen. Sie als W7 haben das noch weitaus umfassender gemacht und Vertreterinnen und Vertreter aus insgesamt 26 Ländern beteiligt, darunter viele Länder des globalen Südens. Das ist auch notwendig, weil Menschenrechte universell und unteilbar sind. Wenn Frauenrechte an einem Ort der Welt verletzt werden, dann geht uns das alle an. Umgekehrt gilt: Von Fortschritten an einem Ort kann die ganze Welt profitieren. Ich denke etwa an den beispielhaften Kampf von Frauenrechtlerinnen in Lateinamerika gegen häusliche Gewalt. Insofern ist es gut, dass die Frauenrechtsbewegung seit jeher für Zusammenarbeit und internationale Solidarität steht. Vielen Dank dafür! In Ihren Empfehlungen weisen Sie zurecht darauf hin: Die großen Herausforderungen unserer Zeit und unsere Antworten darauf sind nicht geschlechtsneutral. Das waren sie im Übrigen noch nie. Im Gegenteil: Was oft als „geschlechtsneutral“ beschrieben wird, meint in Wahrheit nichts anderes als „männlich normiert“. Das fängt bei der Menschheitsgeschichte an, die lange Zeit hauptsächlich von Männern erforscht und aufgeschrieben wurde. Es geht weiter über Medikamente, die vor allem anhand männlicher Normwerte getestet und zugelassen werden. Bauvorschriften, die sich vorrangig an männlichen Bedürfnissen orientieren, und die Sicherheit von Autos, die an Crashtestdummies mit männlicher Statur getestet werden. Es hat weitreichende Konsequenzen, etwa in der Arbeitswelt, wenn beispielsweise Männer für gleiche Jobs oft besser bezahlt werden als ihre Kolleginnen. Das sind nur wenige Beispiele. Es gibt unzählige weitere aus Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft oder der digitalen Welt der Algorithmen. Informationen und Daten zu Frauen und weiblichen Bedürfnissen werden weniger erhoben, ausgewertet und entsprechend berücksichtigt. Die Autorin Caroline Criado Perez hat dazu die These aufgestellt, Frauen seien in unserer Welt praktisch unsichtbar. Das ist eine ernüchternde und auch erschreckende Feststellung im 21. Jahrhundert. Die Perspektive von Frauen gehört gleichberechtigt in allen Lebensbereichen berücksichtigt. Deshalb unterstütze ich die Forderungen nach mehr Beteiligung, die sich durch das gesamte W7-Communiqué ziehen, aus vollem Herzen. Ich bin mir bewusst, dass auch die Politik da noch viel Nachholbedarf hat. Dass wir in Deutschland erstmals überhaupt ein paritätisch besetztes Bundeskabinett haben, sollte im Jahr 2022 eigentlich gar keine Nachricht mehr wert sein, sondern Alltag und Normalität. 50 Prozent der Menschheit muss 50 Prozent der Macht bedeuten und eine starke Beteiligung von Frauen auf allen Entscheidungsebenen, gerade in Spitzenpositionen. Gerade die G7 müssen sich auch an diesem Ziel messen lassen. Schließlich verstehen wir uns als demokratische Wertegemeinschaft. Der Gleichheitsgrundsatz ist eine, wenn nicht die zentrale Säule jeder Demokratie. Insofern muss Geschlechtergerechtigkeit auch das Ziel einer jeden Demokratin und eines jedes Demokraten sein. Da hängen wir deutlich hinterher, in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern. Deshalb war ich seit jeher ein Befürworter der Frauenquote. In Deutschland haben wir das unter anderem mit dem Gesetz zur Förderung von Frauen in Führungspositionen festgeschrieben und vor einem Jahr noch einmal deutlich ausgeweitet. So wollen wir bis 2025 Parität bei Führungspositionen des öffentlichen Dienstes erreichen. Wir werden uns genau anschauen, ob wir damit unserem großen Ziel näherkommen, die Gleichstellung von Frauen und Männern in diesem Jahrzehnt zu erreichen. Defizite zu erkennen, dabei wird uns künftig auch ein Instrument helfen, das wir als G7 neu einführen. Es geht um einen Monitoring-Mechanismus, mit dem wir unsere eigenen Fortschritte in Sachen Gleichstellung als G7 konsequent überwachen ‑ übrigens eine Empfehlung des Gender Equality Advisory Council aus dem vergangenen Jahr, die auch Sie in Ihren Empfehlungen betonen. Wie viel Arbeit noch vor uns liegt, das haben uns die zwei langen Jahre der COVID-Pandemie gezeigt. Sie hat Frauen ungleich härter getroffen als Männer. Umfragen machen deutlich: Frauen haben den Löwenanteil bei der Betreuung von Kindern während der Schließzeiten von Kitas und Schulen übernommen. Und der ohnehin vorhandene „Gender Care Gap“ hat sich durch die Krise verstärkt. Wir wollen hier als deutsche Bundesregierung daher gezielter agieren, zum Beispiel durch Lohnersatz bei pflegebedingten Auszeiten. Es geht darum, unbezahlte Pflege besser anzuerkennen und wirklich wertzuschätzen. Wir werden die Arbeitsbedingungen für bezahlte Pflegearbeit verbessern, die besonders oft von Frauen geleistet wird. Das ist eine Frage des Respekts. Natürlich endet diese Aufgabe nicht in den wohlhabenden G7-Ländern. In vielen Entwicklungsländen leisten gerade Mädchen und Frauen überdurchschnittlich viel unbezahlte Arbeit im Haushalt, in der Pflege und in der Kinderbetreuung. Das geht zu Lasten der wirtschaftlichen Ermächtigung von Frauen. Daher hat das Thema auch auf der Agenda der G7-Entwicklungsministerinnen und ‑ minister in der vergangenen Woche eine zentrale Rolle gespielt. Gemeinsam wollen wir die Pflegewirtschaft in Partnerländern stärken, unter anderem durch die „Global Alliance for Care“. Die Pandemie hat zudem frauenfeindliche Tendenzen verstärkt, in all unseren Ländern. So traurig das klingt: Für Frauen ist der gefährlichste Raum oft das eigene Zuhause. Für mich heißt das: Der Staat muss Betroffene besser schützen. Ihre Rechte gehören in den Mittelpunkt. In Deutschland werden wir das Hilfesystem aus Beratungsstellen, Frauenhäusern und anderen Schutzeinrichtungen ausbauen. Eigentlich aber müssen wir noch viel früher ansetzen, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern. Ich denke etwa daran, was wir im Internet und in den sozialen Medien tagtäglich erleben. Immer wieder werden Frauen dort zur Zielscheibe sexualisierter Formen von Hass und Hetze. Deshalb wollen wir dafür sorgen, dass die Istanbul-Konvention auch im digitalen Raum umgesetzt wird. Eine Stelle, die das koordinieren und umsetzen soll, soll noch Ende des Jahres ihre Arbeit aufnehmen. Und wir wollen einen bundeseinheitlichen Rechtsrahmen zum Schutz vor Gewalt für jede Frau und ihre Kinder schaffen. Wenn wir in diesen Tagen über Gewalt gegen Frauen sprechen, dann sind unsere Gedanken natürlich bei den Frauen und Mädchen der Ukraine. Wieder einmal müssen wir erleben: Frauen sind in Krieg und Konflikten besonders stark betroffen. Ich denke an diejenigen, die Opfer sexualisierter Gewalt werden, so wie in Butscha und anderen Orten, an denen russische Truppen gewütet haben. Ich denke an diejenigen, deren Partner an der Front oder gefallen sind. Ich denke an die Millionen von Frauen, die oft mit ihren Kindern oder den Eltern zu uns in die EU geflohen sind und die hier praktisch bei null anfangen. Für mich ist völlig selbstverständlich, dass wir alles tun, um ihnen hier ein gutes Ankommen und gute Perspektiven zu bieten. Zugleich dürfen Kriegsverbrechen insbesondere gegen Frauen nicht unbestraft bleiben. Als G7-Staaten unterstützen wir die juristische Aufarbeitung solcher Verbrechen und prüfen, wie die Rechenschaftspflicht für Menschenrechtsverletzungen einschließlich sexueller und geschlechtsbasierter Gewalt verbessert werden kann. Darum setzen wir uns weiter konsequent für die Umsetzung der Agenda „Frauen, Frieden und Sicherheit“ ein. Denn wir wissen doch längst: Für nachhaltige und inklusive Friedensprozesse braucht es Frauen. Es gibt noch viele weitere Themen, die Sie als W7 mit auf die G7-Agenda gehoben haben und über die es sich zu reden lohnt, etwa der Klimawandel. Gerade die Klimabewegung war und ist stark von Frauen geprägt. Darüber kommen wir vielleicht auch noch ins Gespräch. Einen Gedanken aber möchte ich zum Schluss noch loswerden, weil er mir ganz besonders wichtig ist: Die Frauenrechtlerin Marie-Elisabeth Lüders hat einmal sinngemäß über den Stand der Gleichberechtigung gesagt: Wenn man nicht weiterkämpft, dann wird man das, was man bereits erreicht hat, vielleicht auch wieder verlieren. In den USA müssen Frauen fürchten, dass der Supreme Court eine fast 50 Jahre alte Grundsatzentscheidung zum Abtreibungsrecht neu aufrollt und möglicherweise revidieren wird. Deshalb war es mir wichtig, dass wir in Deutschland vor zwei Wochen endlich § 219a des Strafgesetzbuches gestrichen haben ‑ gerade jetzt! Das war der Paragraph, der Ärztinnen und Ärzten verbot, über Abtreibungen zu informieren. Aber die Diskussion um § 219a zeigt: Fortschritt kommt nicht von selbst, und Rechte sind nie in Stein gemeißelt. Sie müssen immer wieder verteidigt werden, auch in freien und demokratischen Gesellschaften. Dafür reicht es nicht, „nur“ Rückschritte aufzuhalten. Dafür braucht es Kräfte, die für Fortschritt sorgen ‑ progressive Kräfte, wie sie die W7 bündelt. Dafür und für Ihr großes Engagement und Ihre Arbeit: Herzlichen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich 70-jährigen Bestehens der Außenhandelskammer Südliches Afrika am 24. Mai 2022 in Johannesburg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-70-jaehrigen-bestehens-der-aussenhandelskammer-suedliches-afrika-am-24-mai-2022-in-johannesburg-2043874
Tue, 24 May 2022 17:32:00 +0200
Johannesburg
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Sehr geehrter Herr Papperitz, sehr geehrter Herr Adrian, Exzellenzen, meine Damen und Herren, ich bedanke mich bei Ihnen, dass ich hier sprechen kann! Das ist für mich eine große Ehre und natürlich etwas ganz Besonderes, hier in Südafrika. Kein Land unseres afrikanischen Nachbarkontingents liegt geografisch so weit entfernt von Deutschland wie Südafrika, obwohl wir die gleiche Zeitzone haben, was ja immerhin etwas Besonderes ist. Gleichzeitig ist es aber auch so, dass wir mit keinem anderen afrikanischen Land so eng verbunden sind, wie das mit Südafrika der Fall ist. Schon deshalb war es selbstverständlich, dass mich meine erste Afrikareise als Bundeskanzler eben hierher geführt hat. Ich freue mich über den herzlichen Empfang, den wir hier erhalten haben, über die Gastfreundschaft und natürlich die vielen Gespräche, die wir miteinander führen konnten. Die Beziehungen zwischen unseren Ländern erstrecken sich auf alle nur denkbaren Lebens- und Wirtschaftsbereiche. Es gibt sie also politisch, kulturell, wissenschaftlich, sportlich, touristisch und eben ganz einfach auch zwischenmenschlich. Ein Schlüsselfaktor aber ist ganz sicher die langjährige deutsch-südafrikanische Verbindung auf dem Gebiet der Wirtschaft. Deshalb ist es sehr schön, dass ich heute das 70-jährige Jubiläum der Kammer hier an dieser Stelle mit Ihnen gemeinsam begleiten kann, die sich ja nicht nur auf Südafrika erstreckt; das muss ausdrücklich erwähnt werden. In diesen 70 Jahren ist viel passiert, auch an wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Aber ein Blick auf die Karte, die wir dort sehen, erinnert uns daran, dass hier auch noch eine ganze Reihe von Freiheitskämpfen und Versuchen, sich vom Kolonialismus zu befreien, stattgefunden haben. Viele Länder haben es erst in dieser Zeit geschafft, sich selbst zu regieren und unabhängig zu werden. Auch die Geschichte der Apartheid hier in Südafrika fällt in eben diese Zeit. Das dürfen wir nicht vergessen. Ich hatte heute die Gelegenheit, mir das Gefängnis anzuschauen, in dem Nelson Mandela, aber auch viele andere wie Mahatma Gandhi eingesperrt worden waren. Man sieht dort, was das bedeutet hat und mit welcher Härte hier auch Unterdrückung organisiert worden ist. Das gilt für viele der anderen Länder des Einzugsbereichs der Außenhandelskammer ebenso. Umso besser ist es, dass wir uns heute freuen können, hier mit Südafrika als einem Land verbunden zu sein, das mit uns gemeinsame Werte teilt, zum Beispiel die Werte der Demokratie, und das ist in diesen Tagen und zu dieser Zeit ganz besonders wichtig. Es ist ein furchtbarer Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat, ein Angriffskrieg, der jetzt schon viele Tausend Tote kostet – unter der Zivilbevölkerung, aber eben auch tote Soldaten auf beiden Seiten. Auch die russischen Verluste sind enorm. Das ist etwas, das alles von der politischen Führung Russlands verursacht worden ist, die einen ungerechtfertigten Angriffskrieg begonnen hat, einen Krieg – auch das muss hier gesagt werden –, dessen einziger Zweck die Erweiterung des eigenen Territoriums ist. Das ist das, was man sich unter Imperialismus vorstellt, auf diese Art und Weise zu agieren, und das darf auch nicht vergessen werden, wenn wir jeden Tag darüber diskutieren, wie wir weiter vorgehen müssen und was wir tun müssen. Es ist ein Angriffskrieg, dessen Zweck die Erweiterung des russischen Reichs ist. Solche Formen von Auseinandersetzung wollten wir hinter uns lassen. Es gehört zu den grundlegenden Vereinbarungen über die Friedensordnung in Europa, aber auch in der Welt, dass wir die Grenzen unangetastet lassen und dass niemand mehr den Versuch unternimmt, sie mit Gewalt zu verschieben. Der kenianische Präsident hat im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, wie ich finde, eine ganz beeindruckende Rede gehalten, in der er darauf hingewiesen hat, wie die Grenzen Afrikas – ein paar davon sehen wir hinter uns – geschnitten worden sind. Er hat gesagt: Manche davon sind einfach von betrunkenen Kolonialherren quer durch die Gegend gezeichnet worden. Wenn man das heute in Erinnerung ruft, dann muss einem völlig klar sein, dass es Wahnsinn wäre, wenn jetzt die Staaten Afrikas beginnen würden, wie der russische Präsident in Geschichtsbüchern zu blättern und sich darüber zu informieren, wo man Grenzen mit Rückgriff auf die Geschichte denn auch anders ziehen könnte. Es ist wichtig, dass wir uns klarmachen, dass das nicht möglich ist, und dass wir wieder zu diesem Prinzip zurückkehren, dass Grenzen mit Gewalt in der Welt, in der wir heute leben, nicht mehr verschoben werden sollen. Das ist essenziell. Alle wissen es: Deutschland, die europäischen Staaten und viele Länder der Weltgemeinschaft unterstützen die Ukraine mit finanziellen Mitteln, mit humanitärer Hilfe und auch mit der Lieferung von Waffen zur Verteidigung, um die Ukraine in die Lage zu versetzen, die eigene Integrität und Souveränität zu verteidigen. Wir haben auch Beschlüsse gefasst, die Sanktionen gegen Russland beinhalten – Sanktionen, die Russland treffen, und zwar sehr, sehr hart, aber die selbstverständlich auch Auswirkungen auf uns haben, die wir sie verhängen. Auch das darf nicht vergessen werden: Der russische Krieg gegen die Ukraine hat Konsequenzen für die ganze Welt. Steigende Preise sind überall zu verzeichnen. Sorgen, dass es nicht genügend Gas, Öl und Kohle zu kaufen gibt, gibt es in vielen Ländern. Und natürlich gilt das noch viel mehr für Lebensmittel und Düngemittel, die viele dringend benötigen. Gerade in Afrika machen sich viele Staaten darüber Sorgen. Es ist deshalb umso wichtiger, dass wir mit dem, was wir tun, genau das Ziel verfolgen, dass der Krieg zu Ende geht, dass Russland seine Truppen wieder zurückzieht und dass es eine faire Vereinbarung zwischen der Ukraine und Russland gibt, die kein Diktatfrieden ist. All das ist das, worum es jetzt geht. Und das ist etwas, das wir auch an dieser Stelle heute und hier sagen müssen, denn auch dieses Land ist von dem Krieg getroffen, den Russland in Europa führt. Nur noch einmal ein paar Zahlen zur Ergänzung: Russland und die Ukraine liefern zusammen etwa 20 Prozent der weltweiten Maisexporte und 30 Prozent der weltweiten Weizenexporte. Es ist deshalb offensichtlich, dass es ganz besonders die Ärmsten der Welt trifft, wenn es dort jetzt zu Mangel kommt und nicht ausreichend mit diesen Gütern gehandelt werden kann. Was ist unsere Antwort neben dem, was wir unmittelbar tun, um der Ukraine zu helfen und Russland zu bedeuten, den Krieg zu beenden und einen Weg aus dieser Situation heraus zu suchen? Es geht auch darum, dass wir uns dafür einsetzen, dass die Welt zusammenarbeitet und kooperiert. Anders wird es uns nicht gelingen, eine gute Entwicklung möglich zu machen. Man merkt jetzt ja auch, wenn ich das bemerken darf, an den Auswirkungen der Sanktionen auf Russland, was passiert, wenn ein Land der Welt von den modernsten Technologien abgeschnitten ist, wenn es nicht mehr am Fortschritt der ganzen Welt partizipieren kann, weil es ihn nicht ins eigene Land einführen und nutzen kann. Das führt dazu, dass wirtschaftliches Wachstum sofort gefährdet ist. Deshalb muss der Krieg zu Ende kommen, aber auch die Kooperation das prägende Bild für die Welt sein, in der wir bald leben werden. Das ist eine Welt – auch das will ich hier an dieser Stelle sagen –, die nicht allein aus der Perspektive der klassischen westlichen Länder betrachtet werden kann, also zum Beispiel Westeuropas, Nordamerikas oder der Länder, die in der G7 zusammenkommen – Deutschland hat in diesem Jahr die G7-Präsidentschaft inne. Sondern es sind auch viele, viele andere Länder auf der Welt Demokratien, die Partner sind, mit denen wir gemeinsam agieren wollen, zum Beispiel Südafrika. Deshalb ist es eine ganz bewusste Entscheidung, die ich getroffen habe, zu dem Treffen der G7-Staaten dieses Jahr im Sommer in Elmau auch Südafrika und den Senegal einzuladen und Indonesien und Indien und Argentinien jeweils als Repräsentanten ihrer Kontinente, aber auch als Repräsentanten von Demokratien des globalen Südens, um eines deutlich zu machen: Wir wollen, dass die Welt zusammenarbeitet. Allein darin kann eine gute Perspektive liegen. Es ist deshalb eine bewusste Entscheidung, die wir mit diesen Einladungen getroffen haben. Viele, viele Fragen, die wir miteinander bewegen müssen, sind zu diskutieren. Eine davon ist die Klimakrise. Denn das ist offensichtlich: Der Wohlstand in der Welt muss wachsen. Wir brauchen Wachstum. Wer sich einmal das Bruttosozialprodukt großer Länder anschaut und es gleichzeitig auf das Pro-Kopf-Einkommen herunterrechnet, wird sich gut vorstellen können, was für Wachstumspotenziale in der ganzen Welt noch vorhanden sind. Die Länder Asiens, Afrikas oder im Süden Amerikas, die bisher nicht den gleichen Wohlstand erreicht haben, wie wir ihn etwa in Deutschland oder in anderen europäischen Ländern haben, werden sich von niemandem in der Welt sagen lassen, dass sie auf diesen Wohlstand verzichten sollten, weil das schlecht für die Umwelt oder das Klima sei. Aber das heißt nicht, dass wir jetzt fatalistisch auf dem Zug bleiben müssen, auf dem wir die letzten 200, 250 Jahre industriell unterwegs gewesen sind – auf der Dampflok, um im Bild zu bleiben –, sondern das bedeutet, dass wir es auf andere Weise möglich machen müssen, dass dieses Wohlstandswachstum auch tatsächlich stattfindet: auf eine Weise, die nicht schädlich für das Klima ist und die es dann eben doch möglich macht, dass gleicher Wohlstand im Laufe dieses Jahrhunderts für alle Völker der Welt erreicht werden kann. Genau das muss unsere Zielsetzung sein, wenn wir über das diskutieren, was wir zur Bekämpfung des Klimawandels tun. Es ist nämlich ein großes industrielles Projekt. Ich habe es eben schon gesagt: 200, 250 Jahre Industriegeschichte beruhen auf der Nutzung fossiler Ressourcen, auf Kohle, Gas und Öl. Wenn wir um die Mitte des Jahrhunderts CO2-neutral wirtschaften wollen, heißt das übersetzt, dass es ohne diese Ressourcen als Betriebsstoffe, als Heizstoffe und als Kraftstoffe wird gehen müssen. Das bedeutet, dass wir unsere Art und Weise, zu produzieren ändern müssen. Das Schöne ist: Wir wissen, wie es geht. Dabei spielen teilweise Technologien eine Rolle, die – das habe ich heute bei Sasol noch einmal schön vorgeführt bekommen – seit Ewigkeiten entwickelt sind, seit vielen, vielen Jahrzehnten, seit hundert Jahren bekannt sind, oft in Deutschland entwickelt wurden, aber jetzt eben in großen Scales in der ganzen Welt genutzt werden können. Und darum geht es, dass wir genau das machen, dass wir industrielle Prozesse und Verfahren auf den Weg bringen, die geeignet sind, ein Wachstum in der Welt möglich zu machen, das nicht klimaschädlich ist. Das tun wir in Deutschland; das tun wir aber auch in enger Kooperation mit Ländern wie Südafrika. Es geht um den Ausbau der erneuerbaren Energien, für Deutschland um Windkraft auf hoher See und an Land, um die Solarenergie und ihre Nutzungsmöglichkeiten. Das zusammenzubinden ist der eine Teil. Der andere Teil ist: Es geht auch darum, dass wir ein Gas der Zukunft, das wir an Stelle der bisherigen nutzen werden, nur in einem großen globalen weltumspannenden Wirtschaftskooperationszusammenhang überhaupt verfügbar machen können. Es geht hier um Wasserstoff. Dieser wird ja in großer Menge benötigt. Auch wenn uns die erneuerbare Energien Technologien weisen, die auch schon seit hundert Jahren bekannt sind, wie man es mit der Hydrolyse fertigbringen kann, Wasserstoff zu produzieren, ist es doch so, dass das wohl nicht alleine in den Ländern geschehen wird, die den größten Bedarf haben. Sondern dabei sind große weltumspannende Kooperationen möglich und nötig, wie sie heute mit der Öl- und der Gasindustrie stattfinden. Ich wünsche mir sehr, dass wir genau das machen, zum Beispiel auch zusammen mit Südafrika, das ein Land ist, das in dieser Frage große Potenziale ermöglicht. Wir werden diese Zusammenarbeit voranbringen. Genau darüber haben wir uns heute vielfach unterhalten. Für mich ist ein Beispiel dafür das, was wir Just Energy Transition Partnership nennen, also eine Zusammenarbeit mehrerer Staaten – in diesem konkreten Fall unter anderem Südafrikas mit Deutschland, Großbritannien, Frankreich, den USA und der EU –, um sicherzustellen, dass wir diesen Veränderungsprozess auch finanziell begleiten können, damit in diesen Ländern der Fortschritt möglich ist und wir gleichermaßen von den notwendigen Veränderungen profitieren. Dass wir bei modernsten Technologien und Fortschritt zusammenarbeiten müssen, gilt nicht nur für die industriellen Verfahren der Zukunft, für die Frage, wie wir Mobilität organisieren, für die Frage, wie wir Energieerzeugung organisieren, wie Wasserstoff genutzt wird. Sondern das gilt selbstverständlich auch für die Fragen des medizinischen Fortschritts. Die Coronapandemie, die die ganze Welt in den letzten zwei Jahren durchgeschüttelt hat, ist ein sichtbares Zeichen dafür, dass es auch völlig verfehlt wäre, nur für sich und für sein eigenes Land zu handeln. Diese Pandemie hat die Menschen schnell erreicht, obwohl sie irgendwo in China ausgebrochen ist, und hat Millionen Menschen das Leben gekostet. Sie hat unglaublich viele krank gemacht. Deshalb können wir uns auch nur gemeinsam schützen. Darüber haben wir uns ausgetauscht. Aber es geht eben auch um die Herstellung von Impfstoffen. Wir sind sehr glücklich und sehr stolz darauf, dass in Deutschland einer der ganz modernen Impfstoffe von der Firma BioNTech entwickelt worden ist, der geeignet ist, die Menschen auf diesem Planeten gegen die Covidpandemie und ihre gesundheitlichen Auswirkungen zu sichern und zu unterstützen. Ich bin sehr froh darüber, dass wir auch hier zusammen mit Südafrika und jetzt auch zusammen mit diesem Unternehmen Impfstoffproduktionen hier vor Ort aufbauen können. Das ist dann nur die logische Fortsetzung all der Dinge, die wir unternommen haben, als wir den ACT-Accelerator finanziell auf den Weg gebracht und mit Impfdosen unterstützt haben und als wir dafür gesorgt haben, dass wir auch mithelfen, dass diese Impfstoffe überall an die Bürgerinnen und Bürgern unseres Planeten geraten. Denn manche Länder können ihn zwar im Hafen empfangen, aber haben keine Ketten aufgebaut, die es möglich machen, dass bis in den letzten Winkel des eigenen Landes überhaupt die technologischen Rahmenbedingungen bereitstehen, um einen solchen hochwertigen Impfstoff zu verimpfen. Wir sind also gewillt, diese Zusammenarbeit fortzusetzen. Deshalb würde ich gerne zum Schluss noch auf eines hinweisen, was mir ganz, ganz wichtig ist: In diesen Zeiten wird ja alles Mögliche geredet, und jeder hat eine Meinung. Es sind aufgewühlte Zeiten. Wie soll es anders sein? Aber zu den Äußerungen, die dabei auch immer einmal wieder fallen, gehört die Idee, dass die Welt auseinanderwachsen müsste, dass Deglobalisierung jetzt das Stichwort der Stunde sei. Ich will auch hier und heute die Gelegenheit nutzen, zu sagen: Das sehe ich komplett anders. Ich bin fest davon überzeugt, dass uns die Globalisierung in der ganzen Welt und auch auf der ganzen Welt großen Wohlstand verschafft hat. Dass Milliarden Menschen es geschafft haben, der Armut zu entfliehen, dass Milliarden Menschen in ihren Ländern in die Mittelschicht aufgestiegen sind, ist ein Ergebnis des wirtschaftlichen Wachstums, das die Globalisierung der letzten Jahrzehnte ermöglicht hat. Deshalb geht es jetzt nicht um Deglobalisierung, sondern es geht um ganz, ganz andere Dinge, die aus unserer Sicht wichtig sind, zum Beispiel, dass wir Lieferketten diversifizieren, damit man nicht von einem abhängig ist. Zum Beispiel aber auch, dass wir dafür sorgen, dass überall eigenständige Entwicklungen stattfinden können, dass wir uns wechselseitig stärker machen und davon profitieren können. Es geht also auch um Solidarität in diesen Fragestellungen. Und dann – davon bin ich fest überzeugt – wird es uns auch gelingen, eine Globalisierung zu haben, die weiterhin Fortschritt ermöglicht, die es ermöglicht, die Armut hinter uns zu lassen, und die es ermöglicht, dass wir den menschengemachten Klimawandel bekämpfen können. Ein paar Worte zu Ihrem Jubiläum: Ich freue mich, dass Sie mich dazu eingeladen haben und ich deshalb hier reden konnte. Ich freue mich aber auch, dass das ein Zeichen dafür ist, dass ebenso langjährige ökonomische Kooperationen Sinn machen. Dann ist es auch richtig, das Jubiläum zu feiern. Alles Gute!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Youth7 Summit am 20. Mai 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-youth7-summit-am-20-mai-2022-in-berlin-2042202
Fri, 20 May 2022 00:00:00 +0200
Berlin
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Einen schönen guten Tag von meiner Seite! Ich freue mich, dass Sie alle so lange so intensiv gearbeitet haben. Das ist ein ganz wichtiger Beitrag zu den Debatten, die wir im Rahmen der G7 leisten werden! Dabei kommen die wirtschaftsstarken Demokratien dieser Welt aus einer ganz anderen Tradition zusammen. Sie kommen nicht alleine zusammen, sondern sie diskutieren mit vielen Teilen der Zivilgesellschaft – zum Beispiel hier, mit all den jungen Leuten, die sich bereitgefunden haben, die Fragen, die uns bewegen sollen, mitzudiskutieren, eigene Vorschläge zu machen und dafür zu sorgen, dass es eine breite Verknüpfung der Debatten der G7 mit den Debatten gibt, die auch überall in der Welt stattfinden müssen. Wer sich an die Anfänge des G7-Treffens erinnert ‑ als G6-Treffen noch ganz, ganz klein und auf einem französischen Schloss ‑, der wird wissen: Das war kein großer Auflauf. Da sind wirklich noch Staats und Regierungschefs mit Pullover zusammengekommen und habe einmal am Kamin miteinander diskutiert; nicht ganz, aber ungefähr. Mittlerweile ist das ganz anders geworden. Es kommen unglaublich viele zusammen, neuerdings eben auch Beiträge wie die, die Sie hier erarbeitet haben und die ganz wichtig sind. Wenn wir die Veränderung der Gesellschaft betrachten, dann wissen wir: Es wird eine Welt voller junger Leute. In Westeuropa, in Nordamerika und manch anderen Ländern kann man das nicht so ganz genau wahrnehmen. Aber wer einmal nach Asien, nach Indien oder auf den afrikanischen Kontinent schaut, der wird feststellen: Dort sind unglaublich viele junge Leute, die gerade groß werden. Es sind unglaubliche Milliarden, die die Zukunft der Welt mit beeinflussen werden. Umso mehr ist es wichtig, dass wir uns bei den Debatten der G7 nicht auf uns selbst beschränken. Ich bin also sehr dankbar, dass zu diesen Gesprächen hier Vertreter aus mehreren weiteren Ländern eingeladen worden sind, die an der Debatte teilnehmen und die auch diese Weltregionen repräsentieren. Wir haben das nachgemacht, indem wir für die G7-Treffen in Elmau neben den internationalen Organisationen auch viele Vertreter anderer Nationen eingeladen haben; zum Beispiel Indonesien und Indien, Südafrika und Senegal. Wir werden das auch noch weiter vorbereiten, denn die Welt wird ja doch von vielen begleitet. Was uns gegenwärtig am meisten umtreibt, haben wir eben schon gehört. Das ist der furchtbare Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Das sind die gewaltigen Zerstörungen, die in diesem Land, das unschuldig überfallen worden ist, angerichtet werden. Da werden Orte, Dörfer, kleine Städte, große Städte zerstört. Es werden Straßen, Brücken, Eisenbahnlinien und Krankenhäuser vernichtet. Viele Dinge, die über viele Jahrzehnte, manchmal Jahrhunderte hinweg gewachsen und entstanden sind, sind auf einmal zerstört und werden auf lange Zeit auch nicht einfach wieder herzurichten sein. Wer in Deutschland an den letzten Krieg denkt ‑ 77 Jahre liegt er zurück ‑, der wird jetzt immer noch daran erinnert, dass manchmal irgendwo von einem Bombenfund die Rede ist. Das heißt, 77 Jahre nach dem Krieg hat er auch dieses Land, das so gesittet und ordentlich aussieht, immer noch irgendwie im Griff und spielt eine Rolle im Alltagsleben. Das wird auch für die Ukraine so sein. Deshalb muss unsere gemeinsame klare Aussage sein: Dieser Krieg muss sofort aufhören. Es muss einen Waffenstillstand geben. Russland muss seine Truppen zurückziehen und es möglich machen, dass nicht nur diese Zerstörungen aufhören, sondern natürlich auch das Morden von vielen, vielen Bürgerinnen und Bürgern der Ukraine und auch von vielen toten Soldaten, die bisher schon zu verzeichnen sind. Es muss ein Ende finden mit diesem Krieg! Wie schon gesagt, wird das natürlich eine große Rolle bei den Diskussionen spielen, die wir führen. Das ist eine Frage, die uns bewegt, wenn wir dort zusammenkommen. Deshalb ist es wichtig zu wissen, dass das auch hier alle umtreibt. Wir werden die internationale Solidarität mit der Ukraine weiter organisieren: finanzielle Hilfen, humanitäre Hilfen, aber selbstverständlich auch das, was notwendig ist, solange der Krieg dauert, nämlich dass es die Möglichkeit gibt, dass sich die Ukraine auch verteidigen kann. Das werden wir fortsetzen. Beeindruckend finde ich im Übrigen die Hilfsbereitschaft in vielen Ländern der Welt, was die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine betrifft. Es sind Millionen, die das Land verlassen haben. Millionen, die Zuflucht gefunden haben, ganz besonders in Europa. In den Ländern im Osten Europas leistet Polen einen sehr großen Beitrag. Aber auch in Deutschland haben wir mittlerweile mehr als 700 000 Vertriebene aus der Ukraine registriert. Das sind viele Kinder, viele Jugendliche. Das sind oft ihre Mütter. Das sind Ältere und Pflegebedürftige. Es ist eine ganz besondere Fluchtsituation, die wir hier in unserem Land verzeichnen. Was mich beeindruckt hat, ist die große Solidarität, die riesige Hilfsbereitschaft von vielen aus der Zivilgesellschaft, zu helfen. Was mich ehrlicherweise auch beeindruckt hat, ist, wie sehr sich die Ukraine bereits digitalisiert hat, sodass viele Schülerinnen und Schüler ihren Unterricht digital fortsetzen können. Das würde man in Deutschland an der einen oder anderen Ecke auch gerne so haben. Insofern ist das also auch ein Beitrag, der für uns eine Inspiration sein kann. Aber wir werden alles tun, was wir tun können, um denjenigen Schutz zu bieten, die hier Schutz suchen; um den jungen Leuten die Möglichkeit zu geben, dass sie in der Kita, in der Schule, an den Universitäten oder in Rahmen der beruflichen Tätigkeiten, die sie hatten, ihre Ausbildung fortsetzen können. Das ist uns wichtig. Ansonsten gibt es viele Fragen, die uns hier miteinander bewegen. Die mentale Gesundheit ist genannt worden. Ein wichtiger Beitrag und in der Tat ein ganz bemerkenswertes Engagement. Es geht um die Fragen der Beschäftigung von jungen Leuten. In der Tat muss ein zentrales Thema auf der ganzen Welt sein: Wie kann man ausreichend gute Bildung und berufliche Qualifikation haben, um eine Beschäftigungsperspektive zu finden? Aber wie können wir auch sicherstellen, dass diejenigen, die Beschäftigung haben, fair und ordentlich behandelt werden? Deshalb müssen Fragen von Arbeitsrecht, Fragen von sozialen Rechten junger Leute und von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern insgesamt eine zentrale Rolle spielen. Für uns ist das auch ein zentrales und wichtiges Thema. Ich begrüße also die vielen Vorschläge, die hier in Bezug auf diese Frage gemacht worden sind. Das gilt auch für das eine große Menschheitsthema, das uns jetzt nicht mehr loslassen wird, nämlich die Beantwortung der Frage, wie wir den menschengemachten Klimawandel aufhalten können. Das muss ja bis zur Mitte dieses Jahrhunderts gelingen. Es erfordert größte Anstrengungen, hinsichtlich derer ganz besonders die Staaten, die sich als G7 treffen ‑ noch manche andere, aber diese ganz besonders ‑, herausgefordert sind. Denn die Bürgerinnen und Bürger in vielen Ländern Asiens, in Afrika, im Süden Amerikas werden ja nicht akzeptieren, dass sie nicht den gleichen Wohlstand erreichen können, wie der, der hierzulande und in den anderen G7-Ländern erreicht ist. Sie wollen von den Möglichkeiten profitieren, die der technische Fortschritt in der Welt in den letzten 200, 250 Jahren mit sich gebracht hat. Aber es muss unsere gemeinsame Aufgabe sein, dass das gelingt, ohne dass wir das Klima so sehr schädigen, dass der Planet nicht mehr lebenswert ist. Um das zu erreichen, um das möglich zu machen, brauchen wir größte Anstrengungen, gerade von den Ländern, die wirtschaftlich schon sehr weit fortgeschritten sind. Wir können nämlich die Technologien und die Möglichkeiten entwickeln, die gebraucht werden, damit das in der ganzen Welt ein guter Weg werden wird. Technologien, die genauso billig sein können, wie die Nutzung fossiler Ressourcen Die aber gleichzeitig dazu beitragen, dass wir das Klima besser schützen, als das heute der Fall ist. Deshalb gibt es auch einen Vorschlag, wie diese Kooperation organisiert werden kann, nämlich den hier schon angesprochenen Klimaclub. Das soll ein offener Klimaclub sein, kein abgeschlossener. Er soll nicht nur für die Länder des Nordens, sondern auch für die des globalen Südens zugänglich sein. Alle sollen kooperieren. Aber wenn wir diesen Weg gehen, das Klima zu schützen, dann müssen wir auch verhindern, dass jeder seine eigene Wirtschaft erst einmal vor Kooperation mit der übrigen Welt schützt, weil nun alles teurer wird. Sondern wir müssen dafür sorgen, dass das in einem Gleichschritt geschieht, dass man miteinander und zusammen arbeitet. Das ist im Wesentlichen die Idee hinter dem Klimaclub, der dafür sorgen soll, dass eine Zusammenarbeit und nicht eine Arbeit gegeneinander den Weg für die Zukunft bestimmt. In diesem Sinne schönen Dank für die vielen Beiträge. Schönen Dank für die Arbeit, für das Interesse und das Engagement. Das ist die Grundlage dafür, dass wir auf unserer Welt einen guten Fortschritt erreichen. Gerade in diesen Zeiten muss man das sagen. Ich setze auf Sie.
Rede von Kulturstaatsministerin Claudia Roth anlässlich des Jubiläumsempfangs der Kulturstiftung des Bundes
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bkm-20-jahre-ksb-2041618
Wed, 18 May 2022 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
− Es gilt das gesprochene Wort − „Es würden sich viele Träume erfüllen“, das sagte Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1973 „wenn eines Tages öffentliche und private Anstrengungen zur Förderung der Künste in eine deutsche Nationalstiftung münden könnten“. Man munkelt, dass Günter Grass der Treiber hinter dieser Idee war. Der mächtigste Politiker und einer der einflussreichsten Autoren dieser Zeit machten also gemeinsame Sache. Und doch hat es dann noch ein „paar“ lange Jahre gedauert, bis die Stiftung Wirklichkeit werden konnte. Heute, nach zwanzig Jahren des Bestehens, können wir sagen: Die Kulturstiftung des Bundes hat ihren Platz als eine der größten von öffentlicher Hand geförderten Kulturstiftungen Europas gefunden. Und sie hat dabei sicher viele Träume erfüllt. Natürlich ist es nicht allererste und vorderste Aufgabe der Stiftung, Träume zu erfüllen. Sie soll Kunst und Kultur fördern. Doch das hat sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten auf eine so wunderbare Weise getan, die eben auch den einen oder anderen Traum wahr werden ließ. Rund 4.000 Projekte der Gegenwartskultur haben davon profitiert. Und natürlich haben nicht nur die 4.000 Projekte davon profitiert, sondern unsere Gesellschaft – in der Stadt und auf dem Land. Der Anspruch bleibt dabei, Innovationen voranzubringen. Er gibt der programmatischen Arbeit die Richtung vor – unabhängig davon, ob es um Globalisierung, Diversität oder Nachhaltigkeit geht. Und das ist kein Widerspruch zu Kunst und Kultur, sondern das hat ganz viel mit Kunst und Kultur zu tun. Der kulturpolitische Erfolg der Kulturstiftung des Bundes war alles andere als selbstverständlich. Es hat nach Willy Brandts Regierungserklärung nicht umsonst fast drei Jahrzehnte gedauert, bis sie überhaupt gegründet werden konnte. Immer wieder wurde ihre Berechtigung infrage gestellt. Denn auch nach ihrer Gründung blieb ihre programmatische Ausrichtung Anlass für sehr spannende kulturpolitische Debatten. Heute kann man sagen: Das Diskutieren und das Ausloten hat sich gelohnt. Die Kulturstiftung des Bundes hat gezeigt, wie kooperativer Kulturföderalismus funktionieren kann. Und einige, die das bezeugen können, sitzen ja strahlend in der ersten Reihe. Die Stiftung hat sich so in der Kulturszene, der auf allen Ebenen der Politik und der Zivilgesellschaft ein großes und sehr breites Vertrauen erarbeitet. Das ist gelungen, weil man sich Zeit genommen hat, einander zugehört hat und sich auf die Einzigartigkeit jeder Herausforderung eingelassen hat. So ist eine Stiftung entstanden, die Gestaltungsspielräume offenhält, die drängende Themen gemeinsam mit der Kulturszene identifiziert, und die über die Grenzen einzelner Sparten und Wissensdisziplinen hinweg zukunftsweisende Förderansätze entwickelt. Und genau das, das über Grenzen denken, auch über nationale Grenzen hinweg zu wirken, das ist doch von ganz besonderer Bedeutung in einer Zeit in der wir wirklich konfrontiert sind mit vielen Krisen, die sich wie tektonische Platten übereinander stapeln. Sei es die Coronapandemie, sei es die Klimakrise, sei es der grauenhafte Krieg in der Ukraine – genau in dieser Zeit zeigt sich: Die Stiftung ist Anstifterin, Pfadfinderin und Wegbereitern mit kreativer und innovativer Kraft. Und mit der Fähigkeit, über alle Grenzen zu denken und zu arbeiten. Die Programme und Projekte der Stiftung hatten und haben immer wieder auch einen Pionier-Charakter; neu, überraschend, irritierend manchmal, aber auf keinen Fall dem Mainstream hinterher hechelnd. Zum Beispiel das Programm „Tanzland“, dem es darum geht, die Vielfalt des zeitgenössischen Tanzes auch jenseits der etablierten Tanzzentren zu zeigen: mit Gastspielen von Tanzensembles außerhalb der Metropolen. So wird der Tanz auch dort sichtbar und spürbar, wo er es vorher überhaupt nicht war. Zweitens: Das bundesweite Pilotprojekt „Klimabilanzen in Kulturinstitutionen“ hat 19 Kultureinrichtungen aus verschiedenen Sparten dabei unterstützt, eine Klimabilanz zu erstellen und den eigenen CO2-Fußabdruck zu ermitteln. Damit werden die Folgen des eigenen Handelns sichtbar. Das ist der erste Schritt zu mehr Nachhaltigkeit im Kulturbereich. Und wie wichtig das ist, das zeigen die in den letzten Tagen öffentlich gewordenen Zahlen über die Erderwärmung mit der wir konfrontiert sind. Die Projekte helfen dabei, das Bewusstsein dafür weiter zu schärfen. Sie ermuntern uns dazu, darüber nachzudenken, welchen Beitrag wir leisten können. Es geht dabei nicht darum, eine grüne Enzyklika zu verbreiten und ins Werk zu setzen, es geht um Zukunftsfähigkeit und damit um das Überleben von Kulturinstitutionen. Programme wie das der Kulturstiftung des Bundes sind dabei sehr hilfreich. Ein drittes tolles Beispiel ist das Programm „TURN – Fonds für künstlerische Kooperationen zwischen Deutschland und afrikanischen Ländern“. Es hat seit 2012 hervorragende Projekte hervorgebracht, die sich mit der Aufarbeitung kolonialer Herrschaft und ihrer Folgen im 21. Jahrhundert befassen. Voraussetzung für die notwendige Dekolonialisierung unseres Denkens und mancherorts auch noch unseres Handelns. Aber eben auch für den Neubeginn eines Verhältnisses zwischen Deutschland, Europa und Afrika auf Augenhöhe. Es sind das Themen, die die kulturpolitische Agenda der Gegenwart mitbestimmen. Wir mussten sie nicht erst auf die Tagesordnung setzen. Die Programme zeigen, dass die Stiftung auf der Höhe der Zeit ist. Nein, sie zeigen immer wieder, dass die Stiftung ihrer Zeit weit voraus ist. Und sie machen deutlich, dass Kultur- und Demokratiepolitik untrennbar zusammengehören, dass sie sich gegenseitig verstärken. Einen riesengroßen Anteil an diesen zukunftsfesten Ausrichtung der Kulturstiftung des Bundes hat Hortensia Völckers. Sie hat die Stiftung von Beginn an mit großem Geschick, mit Charme und kluger Weitsicht, vor allem aber mit Mut, geleitet. Einander zuzuhören und miteinander zu lernen – das war und ist ihr Erfolgsrezept. Es war und ist entscheidend, nicht nur für den Aufbau des Teams der Kulturstiftung des Bundes, sondern auch für die Ausrichtung der Förderprogramme. Im Dienstvertrag steht, trocken formuliert, der Anspruch: „Frau Völckers hat ihre ganze Arbeitskraft für die Kulturstiftung des Bundes einzusetzen.“ Das hat sie ja nun wirklich gemacht. Liebe Frau Völckers, Sie haben nicht nur Ihre Aufgaben mit ganzer Kraft, ja mit Wucht, mit Einbringung Ihrer Persönlichkeit und Ihrer Leidenschaft für die Kultur gemeistert; Sie haben mit Ihrem Wirken und Ihrem Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen das Selbstverständnis der Kulturstiftung des Bundes geprägt. So soll es weitergehen. Als vorausschauende Mittlerin wird die Kulturstiftung des Bundes auch weiterhin Entwicklungen, Veränderungen und Kontroversen in Kunst und Kultur aufnehmen und sie in ihren Programmen und Projekten entfalten. Sie wird auch in Zukunft künstlerisch unabhängig sein und autonom agieren. Denn ist genau diese Freiheit, aus der die besten Ideen und Ergebnisse entstehen. Das haben die vergangenen zwanzig Jahre bewiesen. In den kommenden zwanzig Jahren werden wir noch mehr davon brauchen. Ich setze deshalb auf die Kulturstiftung des Bundes und freue mich auf viele weitere Innovationen, auf viele Inspirationen auch so manche Provokation. Und ganz sicher wird sie weiterhin den einen oder anderen Traum erfüllen.
In den 20 Jahren ihres Bestehens habe die Kulturstiftung des Bundes gezeigt, wie kooperativer Kulturföderalismus funktionieren könne, sagte die Kulturstaatsministerin beim Jubiläumsempfang in Berlin. Davon haben „nicht nur 4.000 Projekte der Gegenwartskultur profitiert, sondern unsere Gesellschaft – in der Stadt und auf dem Land“, so Roth.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Besuchs bei der Bayer AG am 13. Mai 2022 in Leverkusen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-besuchs-bei-der-bayer-ag-am-13-mai-2022-in-leverkusen-2039784
Fri, 13 May 2022 00:00:00 +0200
Leverkusen
Schönen Dank für die Einladung und die Gelegenheit, hier zu sprechen. Ich rätsle noch ein bisschen, wie ich die Verknüpfung hinbekomme. Was ist die direkteste Verbindung zwischen Bundespräsident Lübke und Bundeskanzler Scholz? Zwei Fußballvereine. Wie auch immer. Sehr geehrter Herr Baumann! Sehr geehrte Frau Hausfeld! Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Richrath! Lieber Karl Lauterbach! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der anorganischen Chemie, mit der die Bayer AG groß geworden ist, ist man heftige Reaktionen unter höchstem Energieeinsatz gewöhnt. Für die internationale Politik gilt das spätestens seit dem 24. Februar. Das ist der Tag, an dem Russland die Ukraine angegriffen hat. Sie alle wissen, ich habe im Deutschen Bundestag von einer Zeitenwende gesprochen. Eine Zeitenwende markiert dieser Krieg, weil er die gesamte internationale Friedensordnung bedroht. Eine Zeitenwende markiert dieser Krieg aber auch, weil er uns zwingt, globale Herausforderungen, die schon vorher bestanden, noch entschlossener anzugehen. Um bei den chemischen Begrifflichkeiten zu bleiben: Spätestens die jetzt eingetretene neue Lage muss der Katalysator sein, der unsere industrielle und ökologische Transformation umso kräftiger vorantreibt – jetzt erst recht. Das gilt etwa im Hinblick auf unsere Abhängigkeit von Gas, Öl und Kohle aus Russland. Deshalb arbeitet die Bundesregierung mit noch mehr Hochdruck daran, unsere Abhängigkeit von fossiler Energie zu verringern und unsere Energieversorgung umzustellen. Wir haben uns schwimmende Flüssiggasterminals gesichert und neue Lieferquellen erschlossen. Und wir bauen die notwendige Infrastruktur, und zwar deutlich schneller, als solche Großprojekte bisher in Deutschland verwirklicht wurden. Denn wir wissen, worum es geht: Es geht um die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes. Und um es klar zu sagen: Wir wollen, dass dieses Land auch in 10, 20 und 50 Jahren noch einen hochinnovatives und wettbewerbsfähiges Land ist – ein Industrieland. Dazu gehört, beim Ausbau erneuerbarer Energien noch schneller voranzukommen. Die Bayer AG verfolgt das Ziel, ihre Emissionen bereits bis 2030 um 42 Prozent zu reduzieren und bis 2050 klimaneutral zu sein. Wie unbedingt richtig dieser Kurs ist, das zeigt doch der russische Krieg gegen die Ukraine noch einmal in ganz neuem Licht. Auch unsere Versorgung mit strategisch wichtigen Importen müssen wir gründlich neu bewerten. Schon in den vergangenen Jahren der Pandemie mit ihren wachsenden Lieferkettenproblemen haben wir das gelernt, und sie haben uns etwas gezeigt: Wir brauchen mehr Diversifizierung und größere Resilienz. Für hochwertige und innovative Arzneimittel gilt das ganz, ganz besonders. Vor diesem Hintergrund ist es der richtige Schritt zur richtigen Zeit, dass hier am Bayer-Standort Leverkusen jetzt eine der weltweit modernsten Produktionsanlagen für Arzneimittel entsteht. Diese neue Anlage wird Maßstäbe in Sachen Qualität, Liefersicherheit und Energieeffizienz setzen. Ich habe das eben bei unseren Gesprächen lernen können und auch verstanden. Außerdem habe ich gehört, das ist das Ergebnis einer ganz aktiven Sozialpartnerschaft, die die Grundlagen für diese Entscheidung sehr früh vorbereitet hat. Die Anlage wird als lernende Fabrik alle Chancen der Digitalisierung nutzen. Auch das habe ich gelernt. Besonders beeindruckt mich übrigens, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Planungsprozess der Anlage ganz direkt beteiligt sind. Denn ich bin zutiefst davon überzeugt, diese Art der Mitarbeiterbeteiligung und Mitbestimmung mündiger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehört zu den ganz großen Stärken unseres globalen deutschen Wirtschaftsmodells. Meine Damen und Herren, mit dieser Investition beweisen Sie großes Vertrauen in den Standort Leverkusen und in die Region als Zentrum der Chemie- und Pharmaindustrie. Das ist auch gut für unser ganzes Land. Denn Investitions- und Innovationsprojekte wie dieses schaffen nicht nur sichere Arbeitsplätze vor Ort. Sie strahlen auch wirtschaftliche Leistungs- und Zukunftsfähigkeit aus. Sie ziehen weitere Investitionen, Entwicklungskapazitäten und Fachkräfte an. Projekte wie dieses sind schlechthin entscheidend dafür, dass Deutschland auch im 21. Jahrhundert wirtschaftlich und technologisch zu den globalen Spitzenreitern gehört. Dabei ist mir bewusst: Gerade die chemische und pharmazeutische Industrie ist im Rahmen der ökologischen Transformation besonders herausgefordert. Zum einen finden dort oftmals die energieintensiven Produktionsprozesse statt. Zum anderen bilden viele ihrer Produkte die Grundlage für das Gelingen der ökologischen und der digitalen Transformation. Oder um es noch klarer zu sagen: Nur wenn uns die Transformation in der chemischen und pharmazeutischen Industrie gelingt, wird uns auch die Transformation, die Weiterentwicklung unserer gesamten Wirtschaft gelingen. Deshalb wird die Bundesregierung heute und in Zukunft alles tun, um diesen Entwicklungsgang zu ermöglichen. Wir bauen Bürokratie ab, um gezielt die Herstellung von Arzneimitteln in Deutschland und in der EU zu stärken. Darüber haben wir auch vertieft gesprochen. Da geht noch was. Wir wollen die Dauer von Planungs- und Genehmigungsverfahren halbieren, damit staatliche und private Investitionen schneller, effizienter und zielsicherer ankommen. Wir machen das gerade vor – und ich hoffe, wir lernen daraus für die Zukunft. Mit dem sogenannten Osterpaket hat die Bundesregierung bereits die Basis für einen beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien gelegt. Das „Sommerpaket“ wird die Impulse für die Bereitstellung von Flächen für die nötigen Anlagen und für die Planungs- und Genehmigungsverfahren setzen. Und schließlich lassen wir die Unternehmen mit den steigenden Energiekosten nicht allein. Über Kredite und Zuschüsse unterstützen wir insbesondere energieintensive Branchen, damit sie die notwenden Investitionen auf dem Weg zur Klimaneutralität tätigen und zugleich ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit behaupten können. Meine Damen und Herren, nicht nur heute, aber an einem Tag wie diesem ganz besonders bin ich mir sicher: Gemeinsam werden wir die Transformation der chemischen und pharmazeutischen Industrie und damit die ökologische und digitale Transformation der deutschen Wirtschaft insgesamt hinbekommen. Dafür steht diese Anlage. Deshalb ist heute ein guter Tag: für die Bayer AG mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, für den Standort Leverkusen und die Region, für das Land Nordrhein-Westfalen und auch für Deutschland insgesamt. Vielen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Spatenstichs zum Bau des „Neuen Werks Cottbus“ der Deutschen Bahn AG am 10. Mai 2022 in Cottbus
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-spatenstichs-zum-bau-des-neuen-werks-cottbus-der-deutschen-bahn-ag-am-10-mai-2022-in-cottbus-2038238
Tue, 10 May 2022 00:00:00 +0200
Cottbus
Sehr geehrter Herr Lutz, sehr geehrte Frau Gerd Tom Markotten, sehr geehrter Herr Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland, Carsten Schneider, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Woidke, sehr geehrte Frau Bürgermeisterin, sehr geehrte Damen und Herren, wir treffen uns heute hier in bewegten und bewegenden Zeiten. Russlands verbrecherischer Angriffskrieg gegen die Ukraine markiert eine Zeitenwende. Es ist die größte Katastrophe unserer Zeit. Gemeinsam mit unseren Freunden und Partnern haben wir darauf reagiert ‑ in großer Geschlossenheit. Wir haben harte Sanktionen gegen die russische Führung und Wirtschaft verhängt. Wir haben hunderttausende Geflüchtete aufgenommen und wir liefern erstmals Waffen in ein solches Kriegsgebiet. All das geht weiter – international abgestimmt, entschlossen und wohl überlegt. Zugleich machen wir weiter Tempo bei der Erneuerung, Modernisierung und Transformation hier bei uns in Deutschland. Das ist kein Widerspruch, ganz im Gegenteil. Diese Erneuerung brauchen wir jetzt erst recht. Darum tut es gut, heute hier an einem Ereignis beteiligt zu sein, das in dieser Hinsicht zu 100 Prozent positiv ist. Genau das nämlich gilt für unseren heutigen Spatenstich für das „Neue Werk Cottbus“ der Deutschen Bahn. Meine Damen und Herren, was hier heute offiziell losgeht, das ist aus so vielen unterschiedlichen Gründen eine gute Sache, dass ich sie unmöglich alle aufzählen kann. Sechs ganz konkrete gute Nachrichten will ich Ihnen aber doch nennen: Erstens ist der Bau des „Neuen Werks Cottbus“ eine gute Nachricht für die Stadt Cottbus und für die gesamte Lausitz, für die Bürgerinnen und Bürger hier in dieser Region. Die Lausitz ist eine der wichtigsten und traditionsreichsten Industrieregionen Deutschlands überhaupt. Sie hat in den vergangenen Jahrzehnten einen dramatischen Umbruch erlebt, den viele hier vor allem als Abbruch erlebt haben. Viele stellen sich besorgt die Frage: Kommt da noch was – nach der Kohle? Die Antwort lautet: Ja, da kommt noch was! Da kommt zum Beispiel die Bahn – mit 1200 neuen qualifizierten Industriearbeitsplätzen hier in Cottbus, mit 100 Ausbildungsplätzen, mit gut bezahlten Jobs auch für hochqualifizierte Industriemechaniker, Elektronikerinnen oder Mechatroniker und Kolleginnen und Kollegen aus vielen anderen Gewerken, auch der Kohlewirtschaft. Ja, das Kohlezeitalter geht allmählich zu Ende, und zwar nicht nur hier in Deutschland, sondern europa- und weltweit. Aber die Lausitz bleibt auch im 21. Jahrhundert eine Industrieregion. Das ist die erste gute Nachricht. Die zweite ist: Das neue Werk Cottbus sendet auch ein Aufbruchssignal für ganz Ostdeutschland. Dieses Projekt hier entsteht parallel zu anderen großen industriellen Projekten: Intel investiert in Sachsen-Anhalt viele Milliarden; im thüringischen Arnstadt entsteht ein neues Batteriewerk; die große Tesla-Fabrik, gar nicht so weit von hier in Grünheide, habe ich erst vor wenigen Wochen mit eröffnet. Solche Leuchttürme strahlen aus, und da wird ein Muster erkennbar: In Ostdeutschland werden zunehmend hochmoderne Bausteine für Deutschlands industrielle Zukunft zusammengefügt. Ein Vorsprung Ost auf zentralen Zukunftsfeldern, das erschien lange Zeit als Wunschtraum. Jetzt zeigt sich: Dieser Wunschtraum wird Wirklichkeit. Gemeinsam arbeiten wir daran. Drittens. Wenn Ostdeutschland weiter aufholt, dann ist das eine gute Nachricht für Deutschland insgesamt. Innovations- und Investitionsprojekte wie dieses hier schaffen ja nicht nur gut bezahlte Arbeitsplätze vor Ort – aus ihnen wachsen ganze Cluster und Netzwerke. Sie erhöhen die Wirtschaftskraft, die Zukunftsfähigkeit und die Dynamik unserer gesamten Gesellschaft weit über die jeweilige Region hinaus. Das ist entscheidend, um auch in Zukunft ein wettbewerbsfähiges Industrieland zu bleiben, und genau das ist unser Ziel. Damit bin ich bei der vierten guten Nachricht, lieber Herr Lutz: Die Verkehrswende gelingt nur mit einer modernen, leistungsfähigen Bahn. Hier in Cottbus wird sie fit gemacht und neu aufs Gleis gesetzt. Die Deutsche Bahn selbst will schon 2040 klimaneutral sein – in Deutschland insgesamt peilen wir das für Jahr 2045 an. Damit sind die Bahn und das „Neue Werk Cottbus“ Schrittmacher auf unserem Weg der Klimatransformation und der Verkehrswende. Dass es dabei nicht allein um Umwelt- und Wirtschaftspolitik geht, zeigt uns allen der Krieg in der Ukraine. Die Transformation ist mehr denn je auch ein Gebot der Sicherheit unseres Landes. Fünfte gute Nachricht: Es geht schnell voran hier in Cottbus. Heute feiern wir den Spatenstich – schon 2024 wird das „Neue Werk Cottbus“ in Betrieb gehen. Das ist hier schon mehrfach gesagt worden, weil alle so stolz darauf sind – und das zu Recht. Das ist vorbildlich; denn wir müssen insgesamt schneller werden in Deutschland mit unseren Planungs- und Genehmigungsverfahren, damit wir unsere Klimaziele erreichen und damit in unserem Land viele gute neue Arbeitsplätze entstehen. Zukunftsprojekte auf den Gebieten Energie, Infrastruktur, Bau und Umweltrecht werden wir künftig in der Hälfte der Zeit planen und genehmigen. Noch in diesem Jahr wird die Bundesregierung alle Entscheidungen treffen, die dafür notwendig sind. Meine Damen und Herren, schließlich die sechste gute Nachricht: Hier in Cottbus haben alle gemeinsam angepackt: Das Land Brandenburg, die Stadt Cottbus, die Deutsche Bahn natürlich, die LEAG, ganz viele Bürgerinnen und Bürger. Auch die Bundesregierung hat ihren Teil beigetragen und wird das weiter tun. Damit senden wir ein ganz wichtiges Signal für alle wichtigen Zukunftsprojekte überall in Deutschland: Erfolgreich sind wir immer dann, wenn wir eng zusammenarbeiten und zusammenhalten, so wie hier in der Lausitz, so wie hier in Cottbus. In diesem Sinne: Glückauf und schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des DGB-Bundeskongresses am 9. Mai 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-dgb-bundeskongresses-am-9-mai-2022-in-berlin-2037954
Mon, 09 May 2022 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Liebe Yasmin Fahimi, lieber Reiner Hoffmann, liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal, liebe Yasmin, gratuliere ich dir ganz herzlich zu deiner Wahl zur neuen DGB-Bundesvorsitzenden! Einen der größten Gewerkschaftsbünde der Welt zu führen ‑ und das in diesen Zeiten ‑ ist Ehre und Herausforderung zugleich. Du bist, da bin ich sicher, auf diese Herausforderung bestens vorbereitet. Man könnte auch sagen: Für dich wird das ein Heimspiel. Denn mit dir hat der DGB eine ausgewiesene Arbeitsmarkt- und Ausbildungsexpertin an der Spitze, vor allem aber eine Gewerkschafterin mit Herzblut. In deiner letzten Rede als Abgeordnete im Deutschen Bundestag hast Du Ernest Hemingway zitiert. Nach dem Geheimnis seines Erfolges gefragt, hat dieser einmal gesagt: „Nie entmutigt sein.“ Nun, Mut und Tatkraft bringst du mit, und deshalb bin ich sicher: Der DGB wird erfolgreich sein mit Dir als seiner Vorsitzenden. Du wirst dieses Jahrzehnt der Transformation tatkräftig mitgestalten. Dafür wünsche ich dir und der gesamten Führungsspitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes viel Kraft und eine glückliche Hand! Und ja, auch wenn das mittlerweile keine Neuigkeit mehr sein sollte, sondern eine Selbstverständlichkeit: Wir haben 2022, und es wurde Zeit, dass mit dir eine Frau an der Spitze des DGB steht! Herzlichen Glückwunsch! Ich freue mich auf eine gute, vertrauensvolle Zusammenarbeit, genauso, wie ich sie in den vergangenen Jahren mit Reiner Hoffmann erlebt habe. Lieber Reiner, du hast die Gewerkschaften frühzeitig auf den schon viel diskutierten Transformationspfad gesetzt. Deshalb tragen die großen wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Projekte der vergangenen Jahre auch deine Handschrift. Gerade, wenn der Handlungsdruck hoch war ‑ Finanzmarktkrise, Konjunkturpakete, Flüchtlingskrise, Coronahilfen, Entlastungspakete ‑ all das hast du im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dieses Landes mitgestaltet, gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen. Die Gewerkschaften stehen heute geschlossener da denn je. Das ist auch ganz entscheidend dein Verdienst. Du hast gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen Reformen angepackt, die für mehr Nachwuchs sorgen, für attraktive Gewerkschaften, für starke Betriebs- und Personalräte auch in der Zukunft. Ich spreche sicherlich im Namen von uns allen hier, wenn ich sage: Danke! Danke für Deine Arbeit an der Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes! Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor etwas mehr als zwei Wochen gab es eine Umfrage, die in vielen Zeitungen aufgegriffen wurde und die mich nachdenklich gestimmt hat. In einer Online-Befragung wurde Bürgerinnen und Bürger in Deutschland gefragt, ob sie lieber in der Zukunft oder in der Vergangenheit leben würden. Die Mehrheit bevorzugte die Vergangenheit, und zwar nicht nur bei den Älteren, sondern auch in der Generation zwischen 18 und 34 Jahren. Einer der Hauptgründe für dieses Ergebnis war laut Umfrage das Gefühl, früher habe es mehr Gemeinschaft und Zusammenhalt gegeben, auch mehr Sicherheit. Was schafft Gemeinschaft, Zusammenhalt und Sicherheit in einer immer diverseren, individualisierteren, schnelllebigeren Zeit? Auf die Frage müssen wir eine Antwort geben. Und wenn ich „wir“ sage, dann meine ich die Politik, aber auch die Gewerkschaften, weil es die Gewerkschaften sind, die seit jeher für Zusammenhalt und Gemeinschaft stehen, und weil Sicherheit viel zu tun hat mit guten und sicheren Arbeitsplätzen. Wenn wir also heute darüber reden, wie wir Zukunft gestalten, dann reden wir auch darüber, Sicherheit zu garantieren. Yasmin hat darauf auch hingewiesen. Das schließt die Sicherheit nach außen wie im Inneren unseres Landes ein. Denn gerade in diesen Tagen wird deutlich: Das eine kann es ohne das andere nicht geben. Gestern, am 8. Mai, jährte sich in Europa das Ende eines der verheerendsten Kriege der Menschheitsgeschichte. „Nie wieder!“ ist die Lehre, die wir aus dieser Katastrophe ziehen. Nie wieder Gewaltherrschaft, Völkermord und Krieg! In der aktuellen Lage kann das nur bedeuten, dass wir solidarisch zu den Ukrainerinnen und Ukrainern stehen, deren Land von Putin überfallen wurde. Er ist es, der damit den Frieden in Europa aufs Spiel gesetzt hat. Damit darf er nicht durchkommen! Deshalb helfen wir der Ukraine. Schon vor Beginn des Krieges hat Deutschland die Ukraine finanziell stärker unterstützt als jedes andere Land in Europa. Auch in der gegenwärtigen Lage leisten wir in großem Umfang finanzielle und humanitäre Hilfe. Ich weiß, auch der Deutsche Gewerkschaftsbund und seine Mitgliedsgewerkschaften sind hier stark engagiert, auch im direkten Austausch mit den ukrainischen Gewerkschaften. Über den Verein „Gewerkschaften helfen“ werden Spenden organisiert und Unterkünfte bereitgestellt, und bei der Arbeitsmarktintegration tragen Betriebs- und Personalräte dazu bei, dass Geflüchtete, die arbeiten möchten, hier auch ordentliche Jobs bekommen. Die internationale Solidarität der Gewerkschaften hat schon immer funktioniert. Dafür vielen Dank! Gemeinsam mit unseren Partnern und Verbündeten haben wir historisch beispiellose Sanktionen gegen Russland verhängt. Wir arbeiten daran, die Einfuhren von russischem Öl und Gas so schnell wie möglich auf null zu fahren. Dabei kommen wir gut voran, schneller, als mancher vielleicht erwartet. Und, ja, Deutschland liefert der Ukraine auch in großem Umfang Waffen, so wie all unsere Freunde und Partner in Europa und in Nordamerika auch. Das ist hier im Land nicht unumstritten. Wie sollte es auch anders sein, wenn man bedenkt, dass wir jahrzehntelang keine Waffen in Konfliktgebiete geliefert haben? Aber Putin lässt uns keine andere Wahl. „Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne Frieden nichts.“ Jede und jeder hier im Saal kennt den Satz von Willy Brandt. Er hat aber auch gesagt: „Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit.“ Und genau wie Willy Brandt damals wissen wir auch heute: Frieden und Freiheit müssen verteidigt werden. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Und genau darum geht es heute in der Ukraine. Gerade am heutigen Europatag möchte ich betonen: Der Frieden in Europa ruht auf einem entscheidenden Grundsatz – Grenzen werden nicht gewaltsam verschoben. Alles andere hieße, Pandoras Büchse zu öffnen. Ein Blick auf alte Landkarten genügt, um das zu verstehen. Putin hat diesen Grundsatz für sein revanchistisches Projekt eines russischen Imperiums über Bord geworfen. Das hinzunehmen, hieße nicht nur, die Opfer im Stich zu lassen. Es hieße, den Aggressor in seinem verbrecherischen Tun noch zu bestärken, mit allen Konsequenzen, die das für den Frieden und die Freiheit hat – in der Ukraine, in Europa und auch hier bei uns. Deshalb gilt: Putins Krieg muss gestoppt werden. Nur dann ist Frieden möglich. Eines aber ist auch ganz klar: Wir werden einen kühlen Kopf bewahren, bei allem, was wir tun. Für mich heißt das: Erstens. Die NATO wird nicht Kriegspartei! Denn dann drohte ein dritter Weltkrieg mit einem nuklear hoch gerüsteten Russland. Zweitens. Es gibt keine deutschen Alleingänge! Alles, was wir tun, tun wir eng abgestimmt mit unseren Partnern. Drittens. Bei allem, was wir tun, dürfen wir uns nicht mehr schaden als Russland. Ich muss hier niemandem sagen, was etwa ein sofortiger Stopp von Gas für die Chemie‑, Stahl‑ oder Metallindustrie bedeuten würde. Niemandem ist damit geholfen, wenn hier die Lichter ausgehen, uns nicht und der Ukraine auch nicht. Viertens. Wir werden stärker in unsere Sicherheit und unsere Verteidigungsfähigkeit investieren, damit Putin es nicht wagt, uns oder unsere Bündnispartner anzugreifen. Ich sage das ganz klar: Damit ist die Entscheidung verbunden, dass wir mehr aufwenden. Auch die Debatte über das Sondervermögen spielt hier eine Rolle ‑ aber diese Debatte muss richtig eingeordnet werden. Indem wir das Sondervermögen etablieren, ist auch klar: Wir werden die Projekte, die wir uns für die Transformation, für die Neuausrüstung unserer Wirtschaft, aber auch für den sozialen Zusammenhalt in Deutschland fest vorgenommen haben, nicht einstellen. Sie werden jetzt erst recht nötig sein! Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden Sicherheit nicht gegen den sozialen Frieden in diesem Land ausspielen. Und ich bin froh, dass Euer Leitantrag auch genau in diese Richtung weist; denn Voraussetzung für Solidarität nach außen ist Zusammenhalt im Innern. Deshalb haben wir entschlossen gehandelt, um die unmittelbaren Auswirkungen des Kriegs auf unser Land bestmöglich auffangen. Zwei Entlastungspakete im Umfang von weit über 30 Milliarden Euro haben wir in den letzten Wochen geschnürt, und wir haben darauf geachtet, dass diejenigen besonders entlastet werden, die ohnehin schon auf jeden Euro achten müssen: mit dem ÖPNV-Ticket für 9 Euro; mit der Abschaffung der EEG-Umlage ab Juli; mit Entlastungen beim Tanken; mit Leistungen und Zuschüssen für Familien, Wohngeldempfänger, Studierende und Sozialleistungsempfänger; und nicht zuletzt auch mit einer Energiepreispauschale und Steuererleichterungen, von denen Gering- und Normalverdiener in Relation zum Einkommen besonders profitieren. Und noch etwas ist mir wichtig: Wir werden keines unserer Vorhaben liegen lassen. Ich bin fest davon überzeugt: Eine Gesellschaft, die vor so großen Herausforderungen steht wie unsere, kann das nur schaffen, wenn sie zusammenhält, wenn niemand zurückgelassen wird. Das ist für mich auch Frage des Respekts. Dazu gehört die Sicherheit am Ende eines Arbeitslebens, dass es stabile Renten gibt, dass wir ein stabiles Rentenniveau haben. Dafür sorgen wir. Manche schaffen es nicht bis dahin, gerade in körperlich oder psychisch anstrengenden Berufen. Deshalb werden wir jetzt die Erwerbsminderungsrenten anheben. Familien, bei denen wenig Geld zu Hause ist, werden wir besser unterstützen ‑ mit der Kindergrundsicherung und mit einem Sofortzuschlag ab Sommer dieses Jahres. Wir helfen denjenigen, die sich teure Wohnungen nicht leisten können, indem wir das Wohngeld verbessert haben und einen Ausgleich zahlen für höhere Heizkosten. Und wir werden endlich wieder so viele Wohnungen in diesem Land bauen, dass es bezahlbare Wohnungen für alle Bürgerinnen und Bürger gibt. Zum Respekt gehören auch anständige Löhne: Wir haben sehr zügig das Gesetz zur Anhebung des Mindestlohns auf den Weg gebracht. Über sechs Millionen Bürgerinnen und Bürger werden dadurch am Monatsende mehr in der Tasche haben. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch euer Verdienst; es ist eure Leistung, dass wir das jetzt möglich machen können. Wir haben lange dafür gekämpft, und ich bin stolz, dass es uns jetzt gelungen ist, so weit zu kommen. Aber ich sage auch: Eigentlich dürfte es gar nicht erst so weit kommen, wie es gekommen ist. Jede und jeder muss von seiner und ihrer Arbeit leben können. Gute Löhne etwa gibt es vor allem mit einer Tarifbindung. Die Branchentarifverträge sind die große Leistung der Gewerkschaften, und wir werden das weiter unterstützen. Wir werden die Tarifbindung mit einem Bundestariftreuegesetz weiter stärken, indem wir die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes in Zukunft an die Einhaltung von repräsentativen Tarifverträgen der jeweiligen Branche binden. Und natürlich ist es so, dass gerade die Betriebs- und Personalräte am besten wissen, wie es bei ihnen im Unternehmen aussieht. Ein früherer DGB-Vorsitzender hat einmal treffend gesagt: „Wahre Demokratie beschränkt sich nicht auf den politischen Sektor.“ Gerade wenn sich viel ändert, müssen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer demokratisch mitbestimmen. Das ist nicht nur gut für die Belegschaft, sondern auch für die Unternehmen, wie wir in der Pandemie gesehen haben. Denn Unternehmen mit Betriebs- und Personalräten sind nachweislich besser durch die Krise gekommen. Deshalb werden wir ‑ 50 Jahre nach Inkrafttreten des neu gefassten Betriebsverfassungsgesetzes ‑ die Mitbestimmung stärken. Wir werden die Betriebsratsarbeit fit machen für die Anforderungen unserer Zeit ‑ mit einem Recht für die Gewerkschaften auf digitalen Zugang in die Betriebe, das ihren analogen Rechten entspricht. Und wir werden auch härter gegen diejenigen vorgehen, die demokratische Mitbestimmung verhindern, indem wir solche Machenschaften künftig als Offizialdelikt einstufen, das die Justiz verfolgen muss. Aktuell laufen noch die Betriebsratswahlen. Ich habe gehört, dass die Wahlbeteiligung außerordentlich hoch sein soll. Das zeigt die Wertschätzung für die Mitbestimmung auch in der Breite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und damit sorgt die betriebliche Mitbestimmung eben auch für Zusammenhalt in unserem Land. Ihr habt in den vergangenen Jahren aktiv gegengehalten gegen Hass und Ausgrenzung, gegen rechte Stammtischparolen und Rassismus in unserem Land. Das war richtig. Auch die aktuellen Betriebsratswahlen lassen schon erahnen: Wo betriebliche Realität herrscht, wo man sich kennt und gemeinsam arbeitet, wird demokratisch gewählt. Respekt und Zusammenhalt ‑ das sind die zentralen Eckpfeiler, wenn wir uns gemeinsam daran machen, Zukunft zu gestalten. Dekarbonisierung, Digitalisierung, demographischer Wandel: Die Treiber der wirtschaftlichen Transformation werden durch den Ukraine-Krieg noch verschärft. Wie schaffen wir künftig gute Arbeitsplätze, ohne das Klima zu schädigen? Wie schaffen wir die Transformation in der Stahl- und Chemieindustrie, im Maschinenbau, auf dem Bau, wenn wir gleichzeitig CO2-neutral werden wollen? Ich weiß, diese Fragen treiben viele von Euch um. Deshalb werden wir sie auch gemeinsam angehen. In den kommenden Wochen werden wir erstmals eine neu geschaffene Allianz für Transformation im Kanzleramt zusammenbringen. Es geht darum, gemeinsam mit Unternehmen, Gewerkschaften und Verbänden die Schritte zu planen, die es für den größten Umbau unserer Wirtschaft seit Beginn der Industrialisierung braucht. Unser Ziel ist, gestärkt aus diesem Wandel hervorgehen. Wir wollen, dass Deutschland Industrie- und Hochtechnologieland bleibt, dass hier durch die Transformation gut bezahlte, zukunftssichere Arbeitsplätze geschaffen werden. Das machen wir, indem wir die Fachkräftestrategie und die Nationale Weiterbildungsstrategie weiterentwickeln und indem wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Qualifizierung und Weiterbildung fit machen für die Arbeit von morgen. Denn dort liegt der Schlüssel für die gesamte gerechte Transformation. Dafür werden wir investieren, unter anderem mit einem Qualifizierungsgeld für Beschäftigte während einer Weiterbildung. Und wir werden das Transferkurzarbeitergeld ausbauen, um Arbeitslosigkeit auch in den Fällen zu verhindern, in denen eine Weiterbildung im Betrieb nicht möglich ist. Vor allem brauchen wir Fachkräftenachwuchs. Wir können es uns nicht leisten, dass Jahr für Jahr tausende junge Erwachsene ohne Abschluss die Schule verlassen. Und es soll auch niemand ohne Berufsausbildung bleiben. Hier setzen wir mit der Ausbildungsgarantie an, die allen Jugendlichen den Zugang zu einer vollqualifizierenden Berufsausbildung ermöglicht. Denn gerade die duale Ausbildung ist ein Erfolgsmodell, um das Deutschland international beneidet wird. Eine abgeschlossene Berufsausbildung ist mehr als der Schlüssel für ein erfolgreiches Arbeitsleben. Eine gute Ausbildung schafft Perspektive und Zuversicht ‑ damit die Jüngeren nicht lieber in der Vergangenheit leben, als in der Zukunft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden als Land zeigen, dass Transformation gelingt ‑ weil es dafür die Unterstützung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gibt und weil wir entschlossen sind, alle mitzunehmen auf diesem Weg. Darauf zu achten, das wird nicht allein Eure Aufgabe sein, liebe Kolleginnen und Kollegen, sondern auch die Aufgabe der Bundesregierung. Zukunft gestalten wir gemeinsam! Darauf baue ich und darauf freue ich mich ‑ mit dir, Yasmin, als neuer Vorsitzender und mit dem neuen Bundesvorstand!
Rede von Bundeskanzler Scholz zum Großen Übersee-Tages und 100. Jubiläums des Übersee-Clubs e.V. Hamburg am 6. Mai 2022 in Hamburg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zum-grossen-uebersee-tages-und-100-jubilaeums-des-uebersee-clubs-e-v-hamburg-am-6-mai-2022-in-hamburg-2037536
Fri, 06 May 2022 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Hamburg
keine Themen
Sehr geehrter Herr Bürgermeister! Sehr geehrter Herr Behrendt! Exzellenzen! Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages! Sehr geehrte Frau Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft! Sehr geehrte Abgeordnete des Bundestages und der Hamburgischen Bürgerschaft! Sehr geehrter Ehrenbürger der Freien und Hansestadt Hamburg, Professor Michael Otto! Sehr geehrter Herr Präses der Handelskammer! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist eine große Ehre für mich, heute aus Anlass des 100. Jubiläums des Übersee-Clubs Hamburg zu Ihnen zu sprechen. Der Übersee-Club ist eine einzigartige Tradition in Hamburg, eine einzigartige Institution mit großer Reputation. Ihr Club hat sich, stillgelegt nur in der Zeit des NS-Regimes, seit 1922 über die Jahrzehnte hinweg immer wieder um den Fortschritt und Wohlstand Hamburgs verdient gemacht, sozusagen als Tauschbörse der Ideen und Konzepte oder, um es in der klassischen Formulierung Ihres Gründervaters Max Warburg zu sagen: Der Übersee-Club ist ein Sprechsaal, ein Sprechsaal für den rigorosen Wettbewerb der Argumente, der Positionen und Interessen, so wie ihn jedes freie, offene und demokratische Gemeinwesen braucht, wenn es dauerhaft erfolgreich sein will. Das macht den Übersee-Club zwar sicherlich nicht zum einzigen, aber doch zu einem sehr bedeutenden Faktor für den besonderen Erfolg dieser Stadt. Als Hamburger darf ich sagen: unserer Stadt. Für Ihr verdienstvolles Werken und Wirken in den vergangenen 100 Jahren danke ich dem Übersee-Club und seinen vielen Mitgliedern von Herzen. Ohne den Übersee-Club wäre Hamburg heute ganz gewiss eine andere Stadt. Meine Damen und Herren, als Erster Bürgermeister hatte ich bereits zweimal die Gelegenheit, bei Ihnen zu sprechen. Meine erste Rede vor dem Übersee-Club habe ich im Jahr 2013 gehalten. Mein allererster Satz lautete damals: „Unsere besten Jahre liegen vor uns.“ Bezogen habe ich das seinerzeit auf Hamburg, auf die Perspektiven dieser Stadt, auch wenn meine grundsätzliche Zuversicht über Hamburg hinauswies. Diese Stadt hat in den vergangenen Jahrzehnten aus eigener Kraft viel richtig gemacht. Aber als weltoffene, weltweit eingebundene Handelsstadt bleibt Hamburg doch zugleich immer auf ein günstiges internationales Umfeld angewiesen. So gesehen wirkt mein damaliger Satz aus heutiger Sicht wie aus der Zeit gefallen. Allzu viel hat sich seitdem ereignet, was in eine völlig andere Richtung zu deuten scheint, und zwar in keine gute. Die Welt ist in Unordnung geraten. Über diese Entwicklungen will ich heute sprechen. Aber vor allem will ich darüber sprechen, welche Wege wir einschlagen werden, um den Lauf der Dinge wieder zum Besseren zu ändern, um trotz allem Fortschritt und neue Ordnung zu schaffen, jetzt erst recht. Meine Damen und Herren, mehr als alles andere sind es die bitteren Ereignisse seit dem 24. Februar, die die globalen Perspektiven drastisch verdüstert haben. Unter Führung von Präsident Putin hat Russland die Ukraine überfallen, einen souveränen, friedlichen und demokratischen Staat in Europa, einen Staat, der nichts und niemanden bedroht hat, einen Staat, dessen Bürgerinnen und Bürger vollauf damit beschäftigt waren, ihre Städte, Regionen, Institutionen und Unternehmen aufzubauen. Russlands grausamer Angriffs- und Vernichtungskrieg mitten in Europa markiert einen radikalen Bruch mit der europäischen Friedensordnung nach dem Ende des Kalten Krieges. Weil das so ist, markiert dieser Krieg eine Zeitenwende. Das habe ich schon unmittelbar nach Ausbruch des Krieges so im Deutschen Bundestag gesagt. Mit jedem Tag, mit jeder Woche wird seither deutlicher: Putin und sein Regime vollziehen auch in zivilisatorischer Hinsicht einen Bruch, einen mutwilligen Ausstieg aus der Weltgemeinschaft, wie ihn nur wenige im 21. Jahrhundert für möglich hielten. Ein einfaches Zurück zum Status quo ante kann und wird es nach diesem Fanal nicht geben. Die Welt nach diesem Angriffs- und Vernichtungskrieg wird nicht mehr dieselbe sein wie davor. Sie ist es schon jetzt nicht mehr. Meine Damen und Herren, sehr viele kluge Köpfe haben in den Jahren nach 1989 geglaubt, dass eine immer engere wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Verflechtung große Kriege wie diesen unmöglich machen würde. Annäherung durch Verflechtung, Wandel durch Handel, Modernisierungspartnerschaft, so und ähnlich lauteten Leitmotive und Konzepte aus dieser Denktradition. Es ist eine gute und ehrenwerte Denktradition, und sie reicht weit zurück. Als der Übersee-Club vor 100 Jahren gegründet wurde, waren die Folgen des Friedensvertrages von Versailles das zentrale Thema der deutschen und europäischen Politik. In seiner Rede zur Gründung des Übersee-Clubs, setzte sich Max Warburg im Juni 1922 auch mit den ökonomisch und gesellschaftlich bedrohlichen Folgen der harten Reparationsregeln des Versailler Vertrags auseinander. Wichtigster internationaler Kritiker der Versailler Reparationsansprüche war damals der große britische Ökonom John Maynard Keynes, wenige Monate später, im Oktober 1922, der erste auswärtige Redner im Übersee-Club überhaupt. Aber nicht auf Keynes bezog sich Max Warburg in seiner programmatischen Gründungsrede, sondern auf einen in dieser Frage Gleichgesinnten, den britischen Staatsmann und vormaligen Finanzminister Reginald McKenna. Warburg zitierte ihn mit den folgenden Sätzen: „Wir sollten endlich einsehen, dass die modernen Produktions- und Verkehrsverhältnisse so enge Handelsbeziehungen zwischen allen Ländern herbeigeführt haben, dass jedes einzelne ein untrennbarer Teil der gesamten Weltwirtschaft geworden ist. Kein Land und noch weniger eine Gruppe von Ländern kann zerstört werden, verarmen und arbeitsunfähig werden, ohne die Maschinen der Weltwirtschaft in ihrem Gang zu stören. Wenn Russland keinen Tee mehr in Indien oder China kauft, verkleinert sich unser Baumwollwarenmarkt im Osten, die Vereinigten Staaten verkaufen uns weniger Rohbaumwolle zum Schaden unserer Schifffahrt und unseres Bank- und Versicherungswesens.“ Meine Damen und Herren, das sind Sätze von bemerkenswerter und von beklemmender Aktualität. Rational betrachtet macht die enge Verflechtung der Volkswirtschaften kriegerische Konflikte längst so kostspielig, dass kein Akteur auf die Idee kommen dürfte, zu diesem Mittel zu greifen. In den vergangenen Jahrzehnten der Globalisierung hat sich diese grundlegende Einsicht auch international immer weiter ausgebreitet. Aber jede rationale Kosten-Nutzen-Logik läuft auf Grund, wo irrationale Akteure aus ideologischer Verblendung die Idee der Kooperation in den Wind schlagen. Wir müssen konstatieren: Genau das ist jetzt eingetreten. Putins Hass auf die freiheitliche Ukraine ist größer als sein Interesse an der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung seines eigenen Landes. Seine imperialistische und revanchistische Ideologie von russischer Macht und russischer Größe bedeutet ihm mehr als das Wohlergehen des eigenen Volkes. Damit richtet sich Putins brutale Aggression nicht nur gegen die Ukraine, wo die russische Armee unvorstellbares Leid und Zerstörung anrichtet. Sie richtet sich auch gegen jegliche ökonomische Vernunft; sie richtet sich gegen die Idee der friedlichen Kooperation zum allseitigen Vorteil, und sie richtet sich gegen das wohlverstandene Interesse des russischen Volkes. Damit hat Präsident Putin eine radikal neue Wirklichkeit geschaffen, in Europa und weltweit. In dieser neuen Wirklichkeit müssen wir handlungsfähig sein. In dieser neuen Wirklichkeit müssen wir uns künftig behaupten. Wie uns das gelingen kann und dass uns das gelingen kann, auch das ist heute mein Thema. Meine Damen und Herren, klar ist zunächst: Russland darf seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht gewinnen. Hier geht es um die Souveränität der Ukraine, um die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger der Ukraine, aber hier geht es zugleich um die Zukunft jeder regelbasierten Weltordnung schlechthin. Dieser Krieg ist ein Angriff auf unsere Friedensordnung und deren Fundament, die Charta der Vereinten Nationen und die universellen Menschenrechte. Machen wir uns das bewusst: Es ist eine Großmacht ‑ mit Sitz im UN-Sicherheitsrat noch dazu ‑, die diesen verbrecherischen Krieg vorantreibt. Kommt Putin damit durch, dann droht internationale Regellosigkeit. Schon allein deshalb darf Russland nicht die Oberhand behalten. Darum reagieren wir gemeinsam mit unseren Verbündeten und Partnern so entschlossen und so geschlossen auf die neue Lage. Wir leisten der Ukraine jegliche Unterstützung, die wir geben und zugleich verantworten können. Wir liefern der Ukraine in großem Umfang die Waffen, die sie benötigt, um sich wirksam zu verteidigen. Vor dem Hintergrund unserer deutschen Geschichte ist das einerseits alles andere als selbstverständlich, andererseits aber auch folgerichtig. Denn so ‑ und ich bin überzeugt: nur so ‑ erfüllen wir den deutschen Nachkriegskonsens des „Nie wieder!“ heute glaubwürdig mit Leben. Zugleich bauen wir die militärische Unterstützung für unsere Verbündeten in Mittel- und Osteuropa aus. Damit helfen wir der Ukraine direkt mit ihren Waffen sowjetischer Bauart, die für die ukrainische Armee schnell und effektiv einsetzbar sind. Im Kreis der Staaten der Europäischen Union, der NATO und der G7 stimmen wir uns fast täglich ab. Gemeinsam haben wir harte Sanktionen verhängt, gemeinsam präzisieren und verschärfen wir diese Sanktionen Schritt für Schritt weiter. Schon jetzt ist Russlands Wirtschaft schwer angeschlagen. Und immer spürbarer ‑ mit dem Ausbleiben von Ersatzteilen, Halbleitern und anderen High-Tech-Komponenten ‑ wird auch Russlands Fähigkeit zu wirksamer Kriegsführung Schaden nehmen. Zugleich stellen wir sicher, dass die Ukraine umfassende finanzielle und humanitäre Unterstützung erhält. Im Rahmen der G7 tragen wir gemeinsam mit den internationalen Finanzorganisationen maßgeblich dazu bei, 50 Milliarden Dollar zu mobilisieren. Meine Damen und Herren, unter dem Strich: Putin darf diesen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht gewinnen, und er wird diesen Krieg auch nicht gewinnen. Dafür kämpfen die Ukrainer und Ukrainerinnen mit bewunderungswürdiger Tapferkeit und Geschlossenheit ‑ seit mittlerweile über 70 Tagen ‑, und dabei können sie sich auf unsere solidarische Unterstützung verlassen. Dazu gehört übrigens auch die „strategische Partnerschaft“ zwischen Hamburg und Kiew, die Peter Tschentscher und sein Amtskollege Vitali Klitschko erst vor wenigen Tagen vereinbart haben. Dieser „Pakt für Solidarität und Zukunft“ ist eine hervorragende Sache. Er sorgt für akute Hilfe in der Not und schafft eine Perspektive für den Wiederaufbau der Infrastruktur und der Wirtschaft, und er macht deutlich: Gemeinsam mit allen unseren Freunden und Verbündeten stellen wir uns revanchistischen, imperialen und expansiven Ideologien entschlossen entgegen ‑ heute, morgen und in der Zukunft. Indem wir der Ukraine helfen, ihre Demokratie und ihre Freiheit zu verteidigen, verteidigen wir zugleich unsere Demokratie und unsere Freiheit. Meine Damen und Herren, die grundsätzlichen Konsequenzen, die sich aus Russlands Angriffskrieg für die deutsche Verteidigungs- und Sicherheitspolitik ergeben, habe ich bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn im Deutschen Bundestag dargelegt. Ich will an dieser Stelle nur zwei Dinge noch einmal sehr deutlich bekräftigen: Wir arbeiten mit dem allerhöchsten Nachdruck daran, dass Deutschland so schnell wie irgend möglich wieder eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr hat, die uns zuverlässig schützt und unseren Bündnispflichten entspricht. Ebenso arbeiten wir mit allerhöchstem Nachdruck daran, Deutschlands Abhängigkeit von russischer fossiler Energie so schnell wie irgend möglich zu beenden. Das sind zwei strategische Schlüsselaufgaben, und bei beiden kommen wir mit großen Schritten voran. Meine Damen und Herren, was Sie alle heute aber vielleicht noch mehr beschäftigt, das sind die längerfristigen ökonomischen Konsequenzen der Zeitenwende, die wir gerade erleben. Schon jetzt ist klar: Zu den globalen Auswirkungen dieses Krieges gehören massiv steigende Preise für Energie und Nahrungsmittel. Versorgungsengpässe zeichnen sich ab ‑ mit allen wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Verwerfungen, die sich daraus ergeben können. Zugleich sinkt schon seit 2008 ‑ empirisch messbar und erstmals seit den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ‑ das Ausmaß der wirtschaftlichen Offenheit und der internationalen Vernetzung. Finanz- und Schuldenkrisen, Inflation, jetzt Russlands Krieg: Die Entwicklungen der jüngsten Zeit zeigen uns eindringlich: Freier Handel, fairer Wettbewerb und offene Märkte sind keine Selbstverständlichkeiten. Gerade die Pandemie hat uns die Verletzlichkeit unserer Lieferketten drastisch vor Augen geführt. Schon machen in dieser Lage neue Schlagwörter die Runde. Von „Nearshoring“ ist die Rede, von „Slowbalization“ oder von Deglobalisierung. Meine Damen und Herren, strategische Abhängigkeiten zu reduzieren ‑ das ist das eine. Mehr wirtschaftliche Resilienz brauchen wir nach den Erfahrungen der jüngsten Zeit unbedingt. Wir müssen in der Lage sein, Krisen aus eigener Kraft zu meistern. Darum streben wir auch stärkere Diversifizierung an ‑ bei unserer Energieversorgung und anderen strategisch wichtigen Importen und Investitionen. Aber andererseits müssen wir aufpassen, dass der Ruf nach Deglobalisierung nicht zum „decoupling“ führt, zur Abkoppelung, zur Forderung „My Country First“, zu neuer Abschottung, zu neuen Zollschranken und neuem Protektionismus. Hier in Hamburg, erst recht vor dem Übersee-Club, muss ich niemanden von den prinzipiellen Vorzügen der Globalisierung überzeugen. Hamburgs Interessen als Handels- und Hansestadt liegen seit Jahrhunderten im freien internationalen Handel, in der Freizügigkeit von Arbeit und Kapital. Das ist unsere besondere Hamburger DNA. Aber es geht ja nicht nur um Hamburg. In den vergangenen 40 Jahren ist weltweit der Anteil der Menschen in extremer Armut von über 40 Prozent auf unter 10 Prozent gesunken. Im gleichen Zeitraum ging die Kindersterblichkeit von 10 Prozent auf unter 4 Prozent zurück, und die Lebenserwartung ist, global gesehen, um volle 12 Jahre angestiegen: von 61 auf 73 Jahre. Besonders erfreulich ist, dass sich diese Trends für die Entwicklungsländer noch viel markanter zeigen als im globalen Durchschnitt. Milliarden von Menschen weltweit verdanken ihren Aufstieg aus der Armut der globalen Arbeitsteilung. Aber auch Deutschland insgesamt profitiert von der Globalisierung. Handel schafft Arbeitsplätze ‑ und zwar auch Arbeitsplätze hier bei uns. Allein ein Viertel aller Erwerbstätigen in unserem Land ist im Exportsektor beschäftigt. Deshalb sage ich mit aller Klarheit: Die Deglobalisierung funktioniert nicht. Sie ist keine gute Idee. Sie ist, wo sie sich messbar vollzieht, auch keine gute Entwicklung. Auch darauf wies Max Warburg schon in seinem Redetext vor 100 Jahren hin, in dem es hieß: „Der Versuch zur Selbstbescheidung als geschlossener Handelsstaat wäre für uns Deutsche ein Selbstmordversuch, für kein Land der Welt ein Glück.“ Daran hat sich nichts geändert. Darum haben wir allen Grund, uns dem Trend der Deglobalisierung entgegenzustemmen, gemeinsam und mit aller Kraft. Aber, meine Damen und Herren, das heißt keineswegs, dass wir das Unbehagen an bestimmten Auswüchsen der Globalisierung ignorieren könnten oder sollten. Wir müssen dieses Unbehagen wahrnehmen, und wir müssen es auch sehr ernst nehmen. Denn wenn wir das nicht tun, dann könnten sich am Ende diejenigen durchsetzen, die das Kind mit dem Bade ausschütten wollen. Globalisierung versus Deglobalisierung ‑ das ist die falsche Entgegensetzung. Was wir tatsächlich brauchen, ist eine kluge Globalisierung mit starken Regeln und starken Institutionen. Was wir brauchen, ist eine nachhaltige Globalisierung, die Rücksicht nimmt auf die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen und auf künftige Generationen. Was wir brauchen, ist solidarische Globalisierung, die messbar und subjektiv erlebbar allen Bürgerinnen und Bürgern überall zugutekommt. Meine Damen und Herren, kluge, nachhaltige und solidarische Globalisierung – so ein Leitbild kann Orientierung und Richtung geben. Was es wert ist, das erweist sich in der Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit zu verbessern gelingt nur durch internationale Zusammenarbeit. Als G7-Präsidentschaft stehen wir dabei dieses Jahr ganz besonders in der Verantwortung. Auch hier hat der russische Angriffskrieg unmittelbare Folgen für unsere Agenda und unsere Ziele. Die Verknappung von Lebensmitteln und Energie, die Engpässe in den Lieferketten, die drastischen Preissteigerungen – hier rund um den Hamburger Hafen können Sie das alles ja hautnah und in Echtzeit mitverfolgen. Die gesamte globale Ernährungssicherheit ist durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine massiv bedroht. Das erzeugt neue Spannungen, neue Krisen in der internationalen Gemeinschaft. Bei den Abstimmungen in der UN-Generalversammlung im März haben sich jeweils 141 und 140 Staaten auf die Seite des Rechts, der Freiheit und des Friedens gestellt. Das war eine eindrucksvolle Manifestation des Zusammenhalts gegen Gewalt und Rechtsbruch. Aber dieser internationale Zusammenhalt ist fragil. Darum werden wir uns mit all unserer Kraft dafür einsetzen, dass die globale Allianz, die fest hinter der regelbasierten internationalen Ordnung steht, jetzt keine Risse bekommt. Eine absolut zentrale Aufgabe unserer G7-Präsidentschaft ist deshalb das, was neudeutsch „Outreach“ genannt wird: Wir gehen aktiv auf unsere internationalen Partner zu, wo immer wir nur können. Darum lade ich zum G7-Gipfel Ende Juni in Elmau nicht nur Vertreterinnen und Vertreter von internationalen Organisationen ein, sondern auch Staats- und Regierungschefs aus anderen Weltregionen ‑ aus Indonesien, Indien, Senegal und Südafrika ‑, um mit ihnen über die großen Zukunftsfragen zu sprechen. Es muss völlig klar sein: Die G7 ist kein exklusiver Klub der reichen westlichen Industrienationen. In der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts versteht sich die G7 entweder als Kern einer starken globalen Allianz für Demokratie und Multilateralismus ‑ oder sie wird nicht mehr viel erreichen. Mehr denn je ist es jetzt wichtig, dass wir zeigen: Wir nehmen unsere Verantwortung für die großen globalen Herausforderungen wahr. Und genau darum stärken wir Partnerschaften weltweit. Auch hier lautet das Stichwort: Diversifizierung. Das gilt für die Pandemie; das gilt für die Klimakrise und die nachhaltige Transformation der Industrie, und das gilt jetzt eben auch im Hinblick auf die weltweiten Auswirkungen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Meine Damen und Herren, der Kampf gegen die globale Klimakrise ist übrigens ein weiteres Beispiel dafür, dass Deglobalisierung tatsächlich das Letzte ist, was der Welt in dieser Zeit weiterhelfen würde. Denn es reicht ja nicht, wenn die großen Industriestaaten finden, jetzt sei es aber mal höchste Zeit, Klimaneutralität anzustreben und Emissionen einzuschränken. Das allein würde nur zu Carbon Leakage führen, dazu, dass besonders heftig CO2-emittierende Unternehmen in Länder mit laxer Klimapolitik abwandern. Also brauchen wir internationale Partner weit über die G7 hinaus, die sich wie wir einer ehrgeizigen Klimapolitik verschreiben. Ein zentrales Ziel unserer deutschen G7-Präsidentschaft ist es deshalb, deutliche Fortschritte hin zu einem internationalen Klimaklub zu machen, der allen Staaten offensteht, die sich auf bestimmte Mindeststandards verpflichtet. Möglichst alle sollen mitmachen, weil wir ohne die Zusammenarbeit zwischen Emittenten, Schwellen- und Entwicklungsländern beim Klimaschutz nicht weiterkommen. Zugleich verpflichten sich diejenigen, die mitmachen, auf die Einhaltung bestimmter Mindeststandards. So beenden wir den Wettbewerb um die laxesten Regeln und schaffen stattdessen faire, klimafreundliche Wettbewerbsbedingungen. Dafür brauchen wir mehr Kooperation, mehr Allianzen, mehr globale Zusammenarbeit und nicht weniger. Das gilt erst recht, wenn wir den Wiederaufstieg Asiens und das Entstehen einer multipolaren Welt in Rechnung stellen. Beides erleben wir ja derzeit. Die bipolare Welt des Kalten Kriegs ist endgültig Geschichte und wird auch nicht von einer neuen Bipolarität zwischen den USA und China abgelöst. Dafür gibt es im 21. Jahrhundert zu viele Akteure, die Mitsprache einfordern und Einfluss nehmen. Indien und Japan, Südkorea, Indonesien und Vietnam zählen zum Beispiel dazu, aber auch bevölkerungsreiche Länder in Afrika und in Südamerika. Überall auf der Welt haben sich Gesellschaften auf den Weg gemacht. Überall auf der Welt ergreifen viele Millionen Menschen entschlossen die Chancen und die neuen Möglichkeiten, die ihnen die Globalisierung bringt. Um es sehr deutlich zu sagen: Sie schlagen ihre eigenen Wege ein. Sie warten nicht auf uns. Ihre stärkere Einbeziehung, ihre größere Mitsprache im Rahmen der internationalen Ordnung ‑ das liegt deshalb in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse. Nur so werden wir diese Länder davon überzeugen, dass es sich lohnt, die multipolare Welt des 21. Jahrhunderts weiterhin multilateral zu organisieren. Zugleich werden wir unsere Interessen als Europäer in dieser multipolaren Welt mit größerem Nachdruck verteidigen müssen. Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist ein souveränes Europa. Ein Europa, das gemeinsam mit den Vereinigten Staaten und anderen Demokratien dafür sorgt, dass Demokratie in der multipolaren Welt eine Perspektive hat. Meine Damen und Herren, diese Perspektive ist realistisch. Weltweit haben sich im vorigen Jahr 137 Staaten auf eine globale effektive Mindestbesteuerung geeinigt. Das ist ein eindrucksvoller Erfolg des Multilateralismus. Es zeigt den Mehrwert von multilateralen Formaten wie den G20, so herausfordernd die Zusammenarbeit mit manchen Partnern dort schon immer war und jetzt noch mehr ist. Was wir bei der Mindeststeuer erreicht haben, das ist ein wichtiges Zeichen, ein Zeichen der Entschlossenheit und der Handlungsfähigkeit der internationalen Gemeinschaft. Dieses Zeichen kann ein Vorbild sein auf anderen wichtigen Feldern: für einen fairen, freien und regelbasierten Handel, für Menschenrechte, für die internationale Zusammenarbeit im Gesundheitssektor, für einen wirksamen globalen Klima- und Umweltschutz. Genau darin liegt die zentrale Botschaft, die ich Ihnen allen ‑ und dem Übersee-Club auf dem Weg in sein zweites Jahrhundert ‑ mitgeben möchte: Die Zeiten mögen schwierig sein, die Interessen zuwiderlaufend, die Konflikte enorm – und trotzdem bleibt Fortschritt für eine bessere, freiere und gerechtere Welt möglich. Wir dürfen nur niemals aufhören, für diesen Fortschritt zu kämpfen. Und wir müssen jede sich ergebende Gelegenheit zum Fortschritt ergreifen, auch da, wo er noch so unmöglich erscheint. Ja, Russlands Aggression gegen die Ukraine ist die größte Katastrophe unserer Zeit. Aber zugleich hat dieser Krieg eine völlig neue Entschlossenheit und Einigkeit der westlichen Demokratien hervorgebracht. Wer hätte das noch vor wenigen Monaten für möglich gehalten? Diese Entschlossenheit werden wir bewahren. Auf dieser Einigkeit werden wir aufbauen. Dann wird vieles möglich, was bis vor Kurzem noch unmöglich erschien. Und dann liegen unsere besten Jahre immer noch vor uns. Schönen Dank!
Rede von Bundeskanzler Scholz beim Civil 7 Summit 2022 am 5. Mai 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-civil-7-summit-2022-am-5-mai-2022-2030906
Thu, 05 May 2022 00:00:00 +0200
keine Themen
Sehr geehrter Herr Mogge, sehr geehrte Frau Strasser, sehr geehrte Frau Reyes, sehr geehrter Herr Alemayehu, sehr geehrte Damen und Herren, das ist heute der Auftakt und eine Premiere. Denn es ist das erste von sieben Treffen mit den unterschiedlichen Engagementgruppen, mit denen wir den Gipfel der G7-Staats- und Regierungschefs in Elmau Ende Juni vorbereiten. Eines möchte ich noch vorweg stellen: Die deutsche G7-Präsidentschaft bleibt den globalen Herausforderungen verpflichtet, die der krieg in der Ukraine noch verschärft hat. „Fortschritt für eine gerechte Welt“ – das ist unser Anspruch. Erreichen werden wir dieses Ziel nur gemeinsam. Darum sind auch zum G7-Gipfel in Elmau neben Vertreterinnen und Vertretern von internationalen Organisationen, eine Reihe von weiteren Staats- und Regierungschefs eingeladen. Und darum haben wir uns auch ganz bewusst für diesen „Outreach“ zu Ihnen, unseren Partnern der Zivilgesellschaft, als eine zentrale Säule unserer Präsidentschaft entschieden. Wir wollen deutlich machen: Die G7 sind weit mehr als ein Zusammenschluss westlicher Industrienationen. Sie ist eine starke globale Allianz, die von freiheitlich demokratischen Werten und Zielen getragen wird. Mit Blick auf die großen globalen Herausforderungen tun wir alles dafür, dass diese Allianz keine Risse bekommt. Deshalb bin ich froh, dass der erste G7-Outreach-Gipfel mit Ihnen, den Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaften, stattfindet. Denn – und das ist mein erster Punkt: Demokratie braucht eine lebendige Zivilgesellschaft. Es braucht Sie! Gerade in diesen Zeiten. Seit mehr als zwei Monaten tobt in der Ukraine ein furchtbarer Krieg. Kein Tag vergeht, an dem uns nicht neue, schreckliche Bilder und Meldungen aus Mariupol, Butscha und anderen Orten in der Ukraine erreichen. Das ist unerträglich. Und deshalb stehen die G7 heute so geschlossen wie selten zuvor. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat zu einer beispiellos engen Abstimmung geführt. Weil wir spüren, was uns über Grenzen hinweg verbindet – Freiheit, Recht und Demokratie. Diese Werte müssen verteidigt und durchgesetzt werden gegen Unterdrückung, Unrecht und Diktatur. Das gilt für Regierungen. Das gilt für die Bürgerinnen und Bürger unserer Länder. Und es gilt für die Organisationen der Zivilgesellschaft, die Sie vertreten. Ihre Expertise, Ihr Rat und Ihre Erfahrung sind heute mehr gefragt denn je. Gerade auch weil wir beobachten, wie weltweit Handlungsspielräume für zivilgesellschaftliches Engagement eingeschränkt werden – nicht nur in Russland, sondern auch andernorts in der Welt. Von „shrinking spaces“ ist die Rede – besonders in autoritär-regierten Staaten. Dagegen wollen wir auch in der deutschen G7-Präsidentschaft ein deutlich sichtbares Zeichen setzen. Deshalb stärken wir Schutzprogramme für Menschenrechtsverteidiger, Wissenschaftlerinnen, Journalisten und Künstlerinnen. Und deshalb stärken wir auch Rechenschafts-Mechanismen und die internationale Strafgerichtsbarkeit – nicht zuletzt in der Ukraine. Zweitens: Zivilgesellschaftliches Engagement kann Grenzen überwinden – zwischen Einzelnen, zwischen gesellschaftlichen Gruppen und über Landesgrenzen hinweg. Allein bei uns in Deutschland engagieren sich rund 30 Millionen Bürgerinnen und Bürger auf vielfältige Art und Weise, vielen von ihnen ehrenamtlich. Es sind Männer, Frauen, Jung und Alt – Bürgerinnen und Bürger mit ganz unterschiedlichem Hintergrund. Sie bringen sich ein. Packen an, wo es nötig ist. Dieses Engagement verbindet. Es verbindet Menschen und Organisationen über grenzen hinweg. Wir sehen das aktuell an der Solidarität mit den Geflüchteten aus der Ukraine. Ich habe mir das selbst in Berlin-Tegel angeschaut: Viele Bürgerinnen und Bürger helfen in Initiativen und Ankunftszentren. Ich bin unglaublich beeindruckt von der Solidarität und Professionalität der hunderttausenden haupt- und ehrenamtlichen Unterstützerinnen und Unterstützer, die in diesen Wochen über sich hinauswachsen. Aber vor allem auch von den Organisationen, die dieses Engagement bündeln, koordinieren und in vernünftige Bahnen lenken. Es sind oft international vernetzte Organisationen wie Ihre, mit Expertinnen und Experten und langjähriger Erfahrung vor Ort: Sie ermöglichen grenzüberschreitende Hilfe und Unterstützung in den Krisengebieten – besonders humanitäre Hilfe und medizinische Versorgung, teils unter extrem widrigen Umständen. Sie dokumentieren Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen. Und oft sind sie auch diejenigen, die zuverlässig über die Zustände vor Ort informieren können. Beispielsweise zeigen die Bilder aus Butscha oder Mariupol, wie wichtig die Arbeit von Fotografen und Reportern für die Berichterstattung ist – gerade, wenn Informationen ungefiltert und ohne Einordnung über die sozialen Medien verbreitet werden. Dieser Einsatz im Namen der Pressefreiheit und in der Abwehr von Desinformation erfordert Mut und große interkulturelle Kompetenz. Das ist auch dringend nötig! Für die G7 heißt das auch, dass wir uns in Bezug auf Desinformationskampagnen noch intensiver austauschen und unsere Reaktionen koordinieren. Mein dritter Punkt ist: Die großen globalen Herausforderungen müssen zivilgesellschaftlich begleitet werden. Dazu gehören die anhaltende COVID 19-Pandemie, der menschengemachte Klimawandel, Ernährungs- und Energiesicherheit sowie die wirtschaftliche Transformation. Sie erfordern kreative Antworten und neue Impulse. Ich bin überzeugt: Wer Wandel voranbringen will, der sollte mit denen zusammenarbeiten, die für Wandel stehen. Oft sind das genau die Akteurinnen und Akteure der Zivilgesellschaften. Ihnen und ihren Organisationen kommt hierbei eine Schlüsselrolle zu. Einerseits Sie sind Kommunikatoren in die Zivilgesellschaften hinein, die für Akzeptanz und Engagement sorgen. Andererseits sind Sie wichtige Seismographen, die Alarm schlagen – etwa angesichts der bedrohlichen Nahrungsmittelknappheit in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Und Sie bündeln Interessen und können diese wirkungsstark vertreten. Dabei geht es um mehr als um Mitsprache und Beteiligung. Es geht um eine aktive Rolle der Politikgestaltung. Ich möchte dazu zwei Beispiele nennen: Erstens die internationalen Klimapolitik: hier streben wir einen Paradigmenwechsel an. Die Aufgabe, die vor uns liegt, ist gewaltig, wenn wir die Erderwärmung auf 1,5-Grad begrenzen wollen – und das müssen wir. Da führt kein Weg dran vorbei. Konkret bedeutet das: Bis 2030 müssen wir die globalen CO2-Emissionen um 48 Prozent gegenüber 2010 reduzieren. Dafür haben wir noch weniger als acht Jahre Zeit. Und bis zur Jahrhundertmitte müssen wir global „Netto Null“ erreichen, das heißt Treibhausgas-Neutralität. Mit einer internationalen Klimapolitik des kleinsten gemeinsamen Nenners gelingt das sicher nicht. Statt auf die Langsamsten zu warten, werden wir deshalb zusammen mit den Ambitioniertesten vorangehen. Das ist die Idee eines offenen, kooperativen Klima-Clubs, den wir auf dem G7-Gipfel im Juni in Elmau voranbringen wollen. Gemeinsam mit anderen engagierten Ländern wollen wir die Geschwindigkeit der Dekarbonisierung unserer Industrie vorantreiben und Mindeststandards für den Klimaschutz identifizieren. So entsteht ein internationaler Markt mit vergleichbaren Wettbewerbsbedingungen, der Staaten für klimafreundliches Wirtschaften belohnt und vor Wettbewerbsnachteilen schützt. All diese Veränderungen werden Auswirkungen auf jede und jeden Einzelnen haben. Dafür braucht es die Unterstützung und den Rat und von Ihnen, unseren Partnern in der Zivilgesellschaft. Das betrifft auch das Thema globale Gesundheit: Die COVID-19 Pandemie hat uns deutlich vor Augen geführt: Entweder wir bekämpfen das Virus überall – oder nirgends. Wir wollen deshalb in unserer G7-Präsidentschaft die globale Impfstoffgerechtigkeit voran. Dazu hat die Weltgemeinschaft den ACT-Accelerator ins Leben gerufen – eine Initiative, die Impfstoffe, Medikamente und Tests weltweit verfügbar macht. Deutschland hat dafür und für flankierende Maßnahmen 1,5 Milliarden US-Dollar als seinen Beitrag in diesem Jahr zugesagt. Mit Blick auf künftige Krisen brauchen wir zusätzlich eine starke internationale Gesundheitsinfrastruktur. Deshalb stärken wir die WHO als zentrale Internationale Gesundheitsorganisation. Erst letzte Woche hat sich die Arbeitsgruppe für die nachhaltige Finanzierung der WHO auf das klare Ziel geeinigt, die Pflichtbeiträge auf 50 Prozent des Grundbudgets zu erhöhen. Das klingt technisch, bedeutet aber, dass wir die WHO so aufstellen, dass sie ihren Job gut machen kann. Und wir werden die globale Impfstoffproduktion voranbringen. Dazu haben wir zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus vier afrikanischen Ländern, der Europäischen und der Afrikanischen Union sowie BioNTech ein erstes Projekt auf den Weg gebracht, mit dem wir die Produktion von mRNA-Impfstoffen in Afrika anschieben. Denn nur nachhaltiger Fortschritt kann auch echter Fortschritt hin zu einer gerechteren Welt sein. Und ich weiß, dass ist auch Ihr Anliegen. Ich danke Ihnen allen, für Ihr Engagement in diesem „Outreach“-Prozess. Vor allem danke ich VENRO und dem Forum für Umwelt und Entwicklung dafür, dass Sie diesen C7-Prozess koordiniert und Themen der internationalen Zivilgesellschaft aufgenommen haben. Wichtig war, dass Sie auch zivilgesellschaftliche Perspektiven aus Nicht-G7-Ländern mit eingebunden haben, die von globalen Krisen wie der Pandemie oder dem Klimawandel besonders betroffen sind. In diesem Geist gehen wir an die Vorbereitung des Gipfels in Elmau knapp zwei Monaten. Unser Ziel ist, dass von diesem Treffen ein starkes Zeichen der G7 ausgeht – für Fortschritt, für Wohlstand, für Frieden und Sicherheit. Jetzt bin ich gespannt, auf Ihre Empfehlungen und Hinweise. Ich versichere Ihnen, dass wir diese in unsere Arbeit einbinden werden, die für mich eine gemeinsame Aufgabe ist. Schönen Dank!
(Übersetzung der auf Englisch gehaltenen Rede)
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der DGB-Kundgebung zum Tag der Arbeit am 1. Mai 2022 in Düsseldorf
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-dgb-kundgebung-zum-tag-der-arbeit-am-1-mai-2022-in-duesseldorf-2029434
Sun, 01 May 2022 12:30:00 +0200
Düsseldorf
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bedanke mich für die Einladung. Ich bedanke mich für die Gelegenheit, hier zu sprechen, für die Möglichkeit, das zu sagen, was zu sagen ist an diesem Tag der Arbeit ‑ einem Tag der Arbeit und der Solidarität. Seitdem es diesen Tag der Arbeit gibt, seitdem der 1. Mai eine Zusammenkunft der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung ist, ist es auch ein Tag der internationalen Solidarität. Denn wir wissen: Nur wenn wir in der Welt zusammenhalten, nur wenn wir gemeinsam für Demokratie und die Freiheit und den Frieden kämpfen, nur dann werden wir in dieser Welt erfolgreich und gut zusammenleben können. Darum ist es heute und auch hier ganz klar: Wir, die Menschen, die sich für die Rechte der Arbeitnehmerinnen und der Arbeitnehmer und für die Demokratie einsetzen, sind solidarisch mit den Bürgerinnen und den Bürgern der Ukraine, die ihr eigenes Land verteidigen. Sie sind angegriffen von einem großen Nachbarn. Es ist ein Land, das das andere überfällt. Russland hat in der Ukraine nichts zu suchen. Ich fordere den russischen Präsidenten auf: Lassen Sie die Waffen schweigen. Ziehen Sie Ihre Truppen zurück. Respektieren Sie die Souveränität und die Unabhängigkeit der Ukraine. Wir wissen auch, dass es in dieser Situation immer darauf ankommt, dass wir alles dafür tun, dass die Prinzipien des Friedens und des Rechts, für die wir uns in Europa so sehr eingesetzt haben, auch weiter gelten. Es kann nicht angehen, dass da einige daherkommen, sich die Geschichtsbücher angucken und schauen, wo früher Grenzen waren, und dann mit militärischer Gewalt versuchen, Grenzen zu verschieben. Das ist Imperialismus. Das wollen wir in Europa nicht haben. Aus diesem Grunde ist es auch ganz klar: Wir werden die Ukraine weiter unterstützen, mit Geld, mit humanitärer Hilfe. Aber ‑ auch das muss gesagt werden ‑ wir werden sie auch unterstützen, damit sie sich verteidigen kann, mit Waffenlieferungen, wie viele andere Länder in Europa das auch machen. Das ist jetzt notwendig. Auch das will ich sagen: Ich respektiere jeden Pazifismus. Ich respektiere jede Haltung. Aber es muss einem Bürger der Ukraine zynisch vorkommen, wenn ihm gesagt wird, er solle sich gegen die putinsche Aggression ohne Waffen verteidigen. Das ist aus der Zeit gefallen. Deshalb werden wir zusammen mit unseren Verbündeten diesen Weg auch weitergehen. Wir werden der Ukraine helfen, um dafür zu sorgen, dass es wieder so geht, wie es gehen muss: dass man einander achtet, dass die Grenzen nicht verletzt werden, dass jedes Land seine eigene Entwicklung bestimmen kann. Ich sage ganz klar: Wir werden nicht zulassen, dass hier mit Gewalt Grenzen verschoben werden und ein Territorium erobert wird. Meine Überzeugung ist, dass es deshalb auch kein Zufall ist, dass die Generalversammlung der Vereinten Nationen sehr klar gesagt hat, was wir auch sagen und was die meisten auf diesem Platz auch denken, fühlen und fordern – nämlich, dass der Krieg sofort beendet werden muss. Die Weltgemeinschaft ist sich in dieser Frage einig. Weil es um internationale Solidarität geht, muss auch gesagt werden: Dieser Krieg wird Folgen haben, Folgen auf der ganzen Welt. Jetzt schon müssen wir uns Sorgen machen, dass es welche gibt, die hungern werden. Dass es Länder gibt, die sich kein Getreide für ihre Bevölkerung mehr leisten können, und dass diese ganze Kriegssituation auch noch zu einer weltweiten Hungerkrise führt. Darum sage ich als Gewerkschafter und als Bürger dieses Landes und auch als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland: Wir werden diese armen Länder nicht alleine lassen. Wir werden sie unterstützen. Das sind unsere Aufgaben, die wir jetzt hier haben. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass es für eine solche Haltung in Deutschland und auf diesem Platz eine so breite Unterstützung gibt, trotz einiger, die laut dazwischenrufen. Aber gleichzeitig gibt es eine Sache, die für mich von allergrößter Bedeutung ist, wenn wir auch auf diesen Krieg schauen: Wenn wir zusammenhalten wollen, wenn wir solidarisch sein wollen, dann geht das nur, wenn wir das als Gesellschaft insgesamt zustande bekommen. Wenn wir jetzt mehr Geld für Sicherheit und Verteidigung ausgeben, weil wir das angesichts dieser Aggression tun müssen, dann gilt aber auch das Folgende: Wir werden keines unserer Vorhaben beenden, die wir für eine gerechtere und solidarische Gesellschaft in diesem Land auf den Weg bringen wollen. Erst in dieser Woche haben wir das Gesetz beraten, mit dem eines der wichtigsten Vorhaben für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft vorangebracht wird. Wir werden den Mindestlohn, den wir erkämpft haben, auf 12 Euro anheben. Es werden über sechs Millionen Bürgerinnen und Bürger mehr Geld verdienen, weil sie das mit dem politischen Mandat dieser Regierung verbunden haben. Wir werden es umsetzen und dafür sorgen, dass dieser Mindestlohn sich regelmäßig weiterentwickelt, denn er ist die Basis für das, was notwendig ist. Jeder muss von dem, was er verdient, mit seiner schweren Arbeit, auch leben können. Auch wenn ich froh und stolz darauf bin, dass wir diesen Mindestlohn so durchsetzen, sage ich auch: Eigentlich müsste es gute Löhne in diesem Land durch Tarifverträge geben. Das ist die Leistung der Gewerkschaften. Diese ist auch notwendig. Denn es ist ja nicht gut, dass es in diesem Land so weit gekommen ist, dass wir den Mindestlohn brauchen. Das ist die schlechte Entwicklung, die wir jetzt korrigieren. Aber wir werden weiter den Weg gehen, dass es eine gute Zukunft gibt, mit guten Löhnen, guten Tarifverträgen und ‑ auch das gehört dazu ‑ der Klarheit am Ende des Arbeitslebens, dass es stabile Renten gibt, dass wir ein stabiles Rentenniveau in diesem Land haben. Auch das werden wir machen. Denn das ist meine feste Überzeugung: Eine Gesellschaft, die vor großen Herausforderungen steht, kann das nur schaffen, wenn sie zusammenhält und wenn für jeden Einzelnen und jede Einzelne in dieser Gesellschaft gilt, dass sie wert sind, dass sie und ihre Arbeit und ihre Leistung anerkannt werden. Das ist Respekt, und um den geht es in unserer Gesellschaft und in unserem Zusammenleben. Das gilt für die Arbeit, das gilt für die Zeit nach der Arbeit, wenn man seine Rente bekommt. Wir wissen: Manche schaffen es nicht dahin. Deshalb werden wir jetzt dafür sorgen, dass die Erwerbsminderungsrenten angehoben werden, denn viele haben es gar nicht bis zur Rente geschafft. Auch das ist eine der Errungenschaften, für die wir jetzt kämpfen. Wir werden dafür sorgen, dass Familien besser zurechtkommen, wenn es wenig Geld zu Hause gibt, mit der Kindergrundsicherung und jetzt einem Sofortzuschlag, der dafür sorgt, dass diejenigen, die wenig haben, mit ihren Familien besser zurechtkommen können. Auch das ist notwendig. Wir werden denjenigen helfen, die wenig verdienen und sich die teuren Wohnungen nicht mehr leisten können, indem wir das Wohngeld verbessert haben und die Kosten, die jetzt mit dem Heizen verbunden sind, auffangen. Aber wir werden das auch tun, indem wir dafür sorgen, dass in diesem Land endlich wieder so viele Wohnungen gebaut werden, dass es bezahlbare Wohnungen für alle Bürgerinnen und Bürger gibt. Alles das gehört zu Respekt und Zusammenhalt dazu, und alles das ist etwas, worauf diese Gesellschaft aufbauen kann, wenn sie sich an die große Aufgabe macht: Wie werden wir es schaffen, dass wir ein gutes Land sind, mit guten Arbeitsplätzen auch in zehn, 20 und 30 Jahren, aber ohne das Klima zu schädigen? Wir wollen einen großen Kultur- und Industriewandel in Deutschland zustande bringen, mit Stahlindustrie, mit Chemieindustrie, mit Maschinenbau, mit Arbeitsplätzen überall, die gut sind. Und trotzdem wollen wir CO2-neutral wirtschaften. Das ist unsere Aufgabe, auf die wir uns jetzt vorbereiten. Weil wir uns weder vor Schreihälsen fürchten noch vor der Größe der Aufgabe, ist für uns eines ganz klar: Wir werden das so machen, dass wir es für alle schaffen: indem wir die Energieerzeugung ausbauen und indem wir dafür Sorge tragen, dass dies das Land ist, das zeigt, dass das geht. Gleichzeitig ‑ das ist wichtig in diesem Konflikt, der mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine in Europa gerade stattfindet ‑ machen wir uns unabhängig von fossilen Importen. Wir nützen der Umwelt, aber wir schaffen auch neue Arbeitsplätze. Und wir sorgen dafür, dass wir nicht mehr erpressbar sind mit Importen aus anderen Ländern. Ein guter Weg ‑ das ist meine feste Überzeugung. Eines hat sich geändert: Wenn ich mit Arbeitern in der Stahlindustrie spreche, mit denen im Automobilbau, mit denen in der Chemie, mit denjenigen, die aktiv sind, wenn es ums Häuserbauen und den Zement und all das geht. Heute sagen sie: Mach das! Wir wollen dabei sein, wenn die neue Zeit beginnt. Wir wollen nur eine Sache klarhaben: Für uns als diejenigen, die jeden Tag arbeiten, geht das auch gut aus. Genau das ist meine Überzeugung. In diesem Sinne: Schönen Dank dafür, dass ich hier sprechen konnte. Schönen Dank dafür, dass so viele mitgeholfen haben, dass ich gut zu verstehen bin. Und schönen Dank dafür, dass diejenigen, die der Meinung sind, dass der Zusammenhalt in dieser Gesellschaft nicht ihre Aufgabe ist, eine Minderheit sind. Wir wollen ein gerechtes Land und ein Land mit guten Arbeitsplätzen, und wir wollen Frieden in Europa. Das ist unsere Aufgabe, und dafür werden wir gemeinsam weiter streiten. Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz zu der Teilnahme am deutsch-japanischen Wirtschaftsdialog am 28. April 2022 in Tokio
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-zu-der-teilnahme-am-deutsch-japanischen-wirtschaftsdialog-am-28-april-2022-in-tokio-2028764
Thu, 28 Apr 2022 10:03:00 +0200
Tokio
keine Themen
Sehr geehrte Damen und Herren … (auf Japanisch, ohne Dolmetschung) Es ist kein Zufall, dass mich meine erste Reise als Bundeskanzler in diese Weltregion heute hierher nach Tokio führt, so wie es kein Zufall war, dass mein erstes Antrittstelefonat in Richtung des Indopazifiks meinem Kollegen Fumio Kishida galt. Unsere beiden Länder verbindet eine tiefe Freundschaft. Das spüren wir an dem herzlichen Empfang, den Sie uns heute hier bereiten. Vielen Dank dafür! Diese Freundschaft haben wir auch in den vergangenen Tagen und Wochen überaus intensiv gespürt. Von Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine an hat sich Japan als G7-Partner klar und entschieden an die Seite der Ukraine, Europas und auch der USA gestellt, obwohl die Ukraine von Tokio aus gesehen natürlich viel weiter entfernt ist als von Berlin. Es war daher weit mehr als eine politische Geste, dass Premierminister Kishida im März sehr kurzfristig meiner Einladung zu einem Krisengipfel der G7 in Brüssel gefolgt ist, weil dadurch deutlich wurde: Die wirtschaftsstarken Demokratien der Welt stehen zusammen. Wir alle erkennen: Dieser Krieg richtet sich nicht allein gegen die Ukraine, wo Putins Armee unvorstellbares Leid und Zerstörung anrichtet. Dieser Krieg hat globale Auswirkungen. Steigende Preise für Energie und Nahrungsmittel gehören dazu. Enorme Versorgungsengpässe mit all ihren wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Verwerfungen zeichnen sich ab. Vor allem aber ist dieser Krieg ein Angriff auf die Völkergemeinschaft als Ganzes, auf unsere Friedensordnung sowie deren Fundament, die Charta der Vereinten Nationen und die universellen Menschenrechte. Ganz bewusst habe ich daher vor einigen Wochen im Bundestag von der Zeitenwende gesprochen, die Russlands Krieg gegen die Ukraine bedeutet. Auf die grundlegend neue Lage haben wir mit Entschlossenheit und Geschlossenheit reagiert. In großem Umfang liefern wir Waffen in ein Kriegsgebiet. Das ist für Deutschland alles andere als selbstverständlich. Wir weiten die militärische Unterstützung für unsere Verbündeten in Mittel- und Osteuropa aus. So können sie der Ukraine mit Waffen helfen, die dort schnell und sofort einsetzbar sind. Im Kreis der G7 stimmen wir uns nahezu täglich ab. Gemeinsam haben wir weitreichende Sanktionen verhängt. Sie treffen Russland hart. Wir leisten der Ukraine auch erhebliche finanzielle und humanitäre Unterstützung. Als G7 tragen wir gemeinsam mit den internationalen Finanzorganisationen maßgeblich dazu bei, 50 Milliarden Dollar zu mobilisieren. Putin hat mit dieser Geschlossenheit nicht gerechnet. Sie ist wichtig. Denn sie zeigt, dass unser Eintreten für Freiheit, Offenheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nicht geographisch beschränkt ist. Unsere Freundschaft trägt gerade in schwierigen Zeiten, weil sie auf gemeinsamen Werten beruht. Ich bin heute hierhergekommen, um mich für diese überaus starke Solidarität zu bedanken. … (auf Japanisch, ohne Dolmetschung) Meine Damen und Herren, eine Zeitenwende erleben wir auch in ökonomischer Hinsicht. Erstmals seit den 30er- und 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts geht das Ausmaß der wirtschaftlichen Offenheit und internationalen Vernetzung empirisch messbar zurück. Die Entwicklungen der jüngsten Zeit, Schuldenkrisen, nationale Abschottung, Inflation, Krieg, zeigen uns, dass freier Handel, fairer Wettbewerb und offene Märkte keine Selbstverständlichkeiten sind. Gerade die Pandemie hat uns die Verletzlichkeit unserer Lieferketten vor Augen geführt. Neue Schlagwörter machen in dieser Situation die Runde. Von „nearshoring“, „slowbalization“ oder Deglobalisierung ist oft die Rede. Meine Damen und Herren, wir müssen aufpassen, dass daraus kein „decoupling“ wird, kein „my country first“ und kein Vorwand für Protektionismus. Schließlich verdanken Milliarden von Bürgerinnen und Bürgern weltweit ihren Aufstieg aus der Armut der globalen Arbeitsteilung. Auch bei uns, in unseren beiden Ländern, würden Zölle und Abschottung gerade diejenigen am härtesten treffen, die ohnehin auf jeden Yen und jeden Euro schauen müssen. Deshalb sage ich ganz klar: Die Deglobalisierung funktioniert nicht. Sie ist keine Option, erst recht nicht für offene, freie Handelsnationen wie Deutschland und Japan. Stattdessen brauchen wir eine andere Globalisierung, eine klügere Globalisierung mit starken Regeln und Institutionen, die unsere Zusammenarbeit lenken und Transparenz schaffen, eine nachhaltige Globalisierung, die Rücksicht auf die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen und die Bedürfnisse künftiger Generationen nimmt, und eine solidarische Globalisierung, von der alle Bürgerinnen und Bürger auf unserem Planeten profitieren können. Ich glaube, darum geht es auch Premierminister Kishida, wenn er von einem neuen Kapitalismus spricht. Vier Dinge sind dafür aus meiner Sicht ganz entscheidend. Bei allen vier kommt Japan und Deutschland eine gemeinsame Führungsrolle zu. Erstens. Neben dem Preis und der Qualität werden in der Wirtschaft gemeinsame Werte eine immer wichtigere Rolle spielen. Bei aller Offenheit unserer Volkswirtschaften müssen wir uns fragen, welche Abhängigkeiten wir uns künftig leisten können und wollen, etwa bei strategisch wichtigen Technologien oder Rohstoffen. Hier in Japan wird das Thema „wirtschaftliche Sicherheit“ stark diskutiert. In Deutschland sprechen wir intensiv über Diversifizierung und ökonomische Resilienz. Die Herausforderungen, vor denen unsere beiden Länder stehen, sind jedenfalls sehr ähnlich. Als Wertepartner werden wir sie gemeinsam angehen. Nicht von ungefähr hat die Bundesregierung mit ihren Indopazifik-Leitlinien neue Partner und Projekte definiert und sich zu einem stärkeren Engagement in dieser Region verpflichtet. Dieses Engagement ist offen und inklusiv. Wir setzen darauf, verschiedene Partner einzubinden ‑ auf Augenhöhe und zu fairen Bedingungen. Ich sage aber auch ganz offen: Einen besonderen Schwerpunkt legen wir dabei auf Länder, mit denen uns gemeinsame Werte und Interessen verbinden. Neben Japan sind das etwa auch Australien, Neuseeland, Korea, Indien, Indonesien, um nur einige zu nennen. Zweitens. Wir brauchen freien Handel. Aber genauso muss Handel fair und regelbasiert sein. Ich weiß, viele von Ihnen teilen diese Überzeugung. Dafür steht seit nunmehr 60 Jahren die AHK Japan als wichtiges Bindeglied zwischen unseren Unternehmen. Sie füllt die Wirtschaftspartnerschaft zwischen unseren beiden Ländern mit Leben. Dafür steht auch das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Japan, das Maßstäbe setzt gegen Protektionismus, aber zugleich eben auch für hohe Sozial- und Umweltstandards. Das ist die richtige Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit ‑ nicht der ungesteuerte Markt und auch nicht der kurzsichtige Appell für Abschottung und Deglobalisierung. Drittens. In einer digitalisierten Welt bedeutet Technologie auch Einfluss und Macht. Nur mit einer digitalisierten Wirtschaft bleiben unsere Länder zukunftsfähig. Japan stellt sich dafür richtig auf. Auch in Deutschland werben wir für die digitale Transformation mit Hochdruck und werden sie vorantreiben. Das gilt für die Industrie 4.0, für Cybersicherheit, für die dringend nötige Digitalisierung der Verwaltung und für den Aufbau einer digitalen Infrastruktur von Weltklasse. Das Potenzial für deutsch-japanische Kooperation ist auf allen diesen Feldern riesig. Ein Beispiel ist der Ausbau der 5G-Netze. Es ist ein japanisches Unternehmen, das jetzt als Vorreiter beim Ausbau offener Funkzugangsnetze, auch Open RAN genannt, aktiv sein will und mit einem deutschen Netzbetreiber eng zusammenarbeitet. Bei alledem geht es übrigens neben technischem Know-how immer auch um geteilte Werte ‑ um einen Umgang mit Daten, der demokratischen Prinzipien folgt. Mein vierter Punkt betrifft ‑ last but not least ‑ die Nachhaltigkeit all dessen, was wir tun, die Frage nämlich, wie wir unseren Planeten an künftige Generationen übergeben. Viel zu lange sind Fragen des Klima- und Ressourcenschutzes vor allem als Kostenfaktor behandelt worden. Das wollen wir ändern. Es geht darum, Klimaschutz als Chance für unsere Wirtschaftsbeziehungen zu begreifen. Bereits heute sind Deutschland und Japan in vielen Bereichen Technologieführer, wenn es um die Energiewende geht. Im Rahmen unserer Energiepartnerschaft werden wir diese Zusammenarbeit weiter vertiefen. Eine ganz entscheidende Rolle spielt dabei Wasserstoff, auch für die industrielle Nutzung. Morgen werde ich deshalb die Chiyoda Corporation besuchen, um mir dort anzuschauen, wie in Brunei produzierter Wasserstoff nach Japan transportiert und hier weiterverarbeitet wird. Beim Aufbau globaler Wasserstoff-Lieferketten kann diese Technik ein Vorbild sein. Eine zentrale Aufgabe der Politik sehe ich darin, die notwendigen Rahmenbedingungen für solche Zukunftsinvestitionen zu schaffen und für Planbarkeit zu sorgen. Um Klimaschutz zu einem Wettbewerbsvorteil zu machen, sind international faire Wettbewerbsbedingungen erforderlich ‑ das viel zitierte „level playing field“. Ambitionierte Staaten ‑ so wie Japan und Deutschland ‑ brauchen die Gewissheit, dass ihr Mut, beim Klimaschutz voranzugehen, nicht zur Abwanderung von Industriezweigen führt. Ein zentrales Ziel unserer deutschen G7-Präsidentschaft ist deshalb, deutliche Fortschritte hin zu einem internationalen Klimaklub zu machen, der allen Staaten offensteht, die sich auf bestimmte Mindeststandards verpflichten. Es geht darum, gemeinsam unsere Anstrengungen zur Dekarbonisierung unserer Industrie zu steigern und Carbon Leakage sowie internationale Handelskonflikte zu verhindern. Über die Eckpunkte dieses Konzepts werde ich heute auch mit Premierminister Kishida sprechen. Sie sehen, meine Damen und Herren, die Liste der Themen ist lang, bei denen wir gemeinsam von noch mehr deutsch-japanischer Kooperation profitieren. Deshalb freue ich mich ganz außerordentlich, Premierminister Kishida schon in wenigen Wochen beim G7-Gipfel in Elmau wiederzusehen. Die geografische Distanz zwischen Japan und Deutschland mag groß sein. Auch dabei spielt übrigens die Geopolitik eine Rolle ‑ schließlich mussten wir auf dem Weg hierher den russischen Luftraum meiden. Dennoch haben unsere Länder selten zuvor so eng beieinandergestanden wie gerade jetzt. Weil wir wissen: Vor uns liegen ganz ähnliche Herausforderungen. Wir werden sie gemeinsam meistern, weil wir dieselben Werte teilen. In diesem Bewusstsein mache ich mich morgen dann auf den Rückweg nach Berlin. Schon damit hat sich jeder Kilometer dieser langen Reise gelohnt ‑ einer Reise zu weit entfernten und doch so nahen Freunden. Vielen Dank!
Rede von Kulturstaatsministerin Roth zur Eröffnung der Ausstellung ‚Unser Mut‘
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-roth-zur-eroeffnung-der-ausstellung-unser-mut–2022458
Wed, 30 Mar 2022 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
− Es gilt das gesprochene Wort − Vier Konzentrationslager hatte Boris Romantschenko überlebt, als er 1945 von der britischen Armee in Bergen-Belsen befreit wurde. Er war 19 Jahre alt und wog noch 34 Kilogramm, als sein Martyrium endete. Als 16-Jährigen hatte man den Sohn einer Bauernfamilie aus Sumi, im Nordosten der Ukraine, zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt, erst nach Peenemünde, dann nach Buchenwald und Mittelbau-Dora, schließlich nach Bergen-Belsen. Er kehrte in seine Heimat zurück, studierte an der Bergbauakademie in Charkiw und arbeitete als Ingenieur. Dort ist er vor wenigen Tagen, 96 Jahre alt, in seiner Wohnung verbrannt, getötet von einer Bombe, die sein Haus getroffen hatte. Die Angriffe der russischen Armee auf die ukrainische Universitätsstadt Charkiw dienen nach der Logik ihrer Führung der Entnazifizierung der Ukraine. Es gibt keine Worte des Trostes. Es bleibt nur Trauer und Zorn. Trauer um Boris Romantschenko. Und Zorn über die Perfidie, mit der die Mörder ihr Tun rechtfertigen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich danke Ihnen für die Einladung und für Gelegenheit, heute hier sprechen zu können. Ich muss gestehen, es fällt mir nicht leicht, vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine, die Bilder der Verzweifelten, der Ausgebombten vor Augen. Ausgebombt, geflüchtet, vertrieben – wir erinnern uns an diese Worte. Vor weniger als zehn Jahren sind wir erinnert worden an die Schrecken von Flucht und Vertreibung, als nach dem Beginn des Syrienkriegs, Hunderttausende nach Europa flohen. Nun ist der Krieg, sind Flucht und Vertreibung nach Europa zurückgekehrt. Und wir müssen die Bedeutung dieser Worte noch einmal neu lernen. Die ersten Bilder überfüllter Bahnsteige in den ukrainischen Städten haben mich sprachlos gemacht: Frauen, die sich von ihren Männern verabschieden müssen, Väter, die sich von ihren weinenden Kindern verabschieden, die fassungslosen Gesichter der älteren Menschen, ihre hastig zusammengeraffte Habe, Haustiere, die man nicht zurücklassen wollte. Bilder eines Krieges. Ich höre von vielen Menschen, in denen Schrecken, Angst und Trauer wieder aufsteigen. Wer heute 80 Jahre und älter ist, hat erlebt, was wir Jüngeren nun täglich in den Abendnachrichten sehen: Bombenangriffe, den Abschied vom Vater, den Verlust von Angehörigen, Flucht und Vertreibung. Die Erinnerung daran ist schmerzhaft. Doch sie ist wichtig. Wir sind hier in einem Dokumentationszentrum, einer Bildungseinrichtung, einem Ort für Ausstellungen und Veranstaltungen, das in seinem Zeitzeugenarchiv eben diese Bilder bewahrt. Es sind Zeugnisse einer Epoche deutscher, europäischer und internationaler Geschichte, ein Archiv für das Wissen um die Angst, den Schmerz und, ja, auch die Schuld. All das hielten wir für vergangen, für erforscht und aufgearbeitet, eingegangen in die Geschichtsbücher. Doch es reicht ein Einzelner – immer noch – der das europäische Geschichtsbuch aufschlägt und sagt: Ich bin nicht einverstanden mit eurer Geschichte. Ich kenne eure Geschichte nicht. Meine Damen und Herren, wir wollen eine Ausstellung eröffnen, die an die Folgen von Ausgrenzung und Vertreibung erinnert, an die Folgen der Shoa, die Folgen des letzten großen Krieges in Europa, an Millionen getöteter und entwurzelter, vertriebener europäischer Jüdinnen und Juden. Es dauerte, bis die deutsche Nachkriegsgesellschaft dem Entsetzen über das Ausmaß dieses Verbrechens Raum gab. Denn es war eben gerade mehr als ein Kriegsverbrechen: Der nationalsozialistische Staat hatte den Krieg genutzt, um seine materiellen und ideellen Ressourcen für ein Mordkommando abzustellen. Vor allem das begründet die Einmaligkeit des Holocausts. Für die Überlebenden in den Displaced Persons Camps bedeutet das nach 1945 nicht nur weiter im Land der Täter zu leben, sondern umgeben von Tätern. Es war ein sehr weiter Weg aus diesen DP–Displaced Persons-Camps in ein Deutschland, in dem Jüdinnen und Juden wieder leben wollten. Von Ihnen, den displaced persons, erzählt diese Ausstellung, von ihrem Mut, von ihren Bemühungen, an eine Vorkriegskultur anzuknüpfen, die es nicht mehr gab, vom Neuanfang in Israel und vom Überleben im Deutschland der Nachkriegszeit. Versöhnung ist ein sehr persönliches Unterfangen. Man kann ihr den Weg bereiten, ja. Aber sie ist ein Werk von Generationen. Deutschland kann dankbar sein für dieses große Geschenk. Meine Generation war, je länger dieser Krieg zurücklag, nur um so überzeugter, dass „nie wieder Krieg“ eine europäische Gewissheit geworden war! Als uns diese Gewissheit abhandenkam, blieb die Überzeugung: Einen solchen Krieg, einen großen, einen europäischen, einen Weltkrieg darf es nie mehr geben! Wir dachten, wir hätten ihn vertrieben aus Europa. Nun müssen wir lernen, mit seiner Gegenwart zu leben, ohne uns von der eigenen Angst besiegen zu lassen, ohne uns der eigenen Ohnmacht zu ergeben, Mut zu haben. Und wir müssen lernen, die Zeichen der Zeit besser zu deuten als wir das bisher getan haben. Diese Ausstellung kann uns dabei helfen, die Erinnerung kann uns dabei helfen, Ihre Erinnerungen, liebe Frau Szepesi, lieber Herr Ben! Ich danke Ihnen von Herzen dafür, dass Sie diese Erinnerungen, dass Sie Ihre Erinnerungen mit uns teilen.
In seiner Sonderausstellung widmet sich das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung der Situation von Jüdinnen und Juden in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Ausstellung erinnere an „die Folgen von Ausgrenzung und Vertreibung, an die Folgen der Shoa, die Folgen des letzten großen Krieges in Europa“, sagte Kulturstaatsministerin Roth bei der Eröffnung.
Schlusswort von Kulturstaatsministerin Roth bei der Veranstaltung Kultur im Kanzleramt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/schlusswort-von-kulturstaatsministerin-roth-bei-der-veranstaltung-kultur-im-kanzleramt-2021506
Mon, 28 Mar 2022 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
− Es gilt das gesprochene Wort − Ich bedanke mich von ganzem Herzen, dass Sie heute zu uns gekommen sind, und dass Sie in Zeiten voller Trauer, voller Angst und Schmerzen, in dieser Zeit voller Fragen, diese Stunden mit uns verbringen – sehr intensive Momente mit uns verbringen. Wie recht hat Oliver Guez! Ich glaube, wir spüren, wie wichtig diese Grand Tour durch Europa ist, diese Tours d’Horizon durch unsere Geschichte, durch unsere Kultur, durch unsere Kulturen. Sie zeigt, dass wir zusammengehören, gerade in diesen Tagen des Schmerzes, der Trauer und der Angst; sie zeigt, dass wir die Geschichte und Kultur Europas teilen. Mehr noch: Diese Tour d‘Europe macht uns diese Zusammengehörigkeit bewusst, sie erklärt uns, was es heißt, eine gemeinsame Geschichte und Kultur zu haben. Man kann die Geschichte der europäischen Idee tatsächlich als Grand Tours erzählen, wie es Eva Menasse in ihrem wunderbaren Essay getan hat, und den Bogen spannen vom chinesischen Nachbau des oberösterreichischen Fleckens Hallstatt bis in den ursprünglichen Ort im Salzkammergut, um am Ende die Frage zu stellen, was an dieser Idee nun Fiktion geblieben ist und was – möglicherweise – Realität geworden ist. Oder man erzählt sie im Kleinen, als Geschichte einer Stadt, wie Michal Hvorecký es getan hat mit seiner Stadt. Was wir aus all diesen großen und kleinen Geschichten lesen, ist am Ende Familiengeschichte, die Geschichte der europäischen Familie. Wir alle sind ihre Protagonisten und Protagonistinnen, Großväter und -mütter, Mütter und Väter, Kinder und Enkel, Glieder einer Kette von Generationen und Schicksalen, von Liebe und Hass, Krieg und Frieden. Und alles, woran wir uns erinnern, was wir von unseren Müttern und Großmüttern gehört und unseren Kindern erzählt haben, verdankt sich diesem historischen Zusammenspiel willkürlicher Zufälle und menschlichem Handeln. Es ist unsere Geschichte. Und was aus ihr erwächst, ist Literatur, ist Musik, ist Kunst. Ein Buch mag einen französischen, italienischen oder deutschen, einen österreichischen oder polnischen Autor oder Autorin haben, es ist immer auch europäischen Ursprungs. Das ist kein europäisches Prinzip. Auf diese Weise sind wir überall auf der Welt zu Menschen geworden. Es ist ein universelles Prinzip: das der Kultur. Es erklärt auch unsere Reaktion auf den Krieg in der Ukraine. Er löst überall auf der Welt Entsetzen aus. Aber warum betrifft er uns auf eine so besondere Weise? Warum ist es schier unerträglich, nur zuzusehen, nicht eingreifen, nicht mehr eingreifen, nicht mehr verteidigen zu können? Weil dieser Krieg uns begreifen lässt: Die Aggression gilt auch uns. Wir sind es auch, die angegriffen werden, es ist unsere Kultur, unsere Art zu leben, unsere Art zu denken, unsere Art zu lieben, unser demokratisches Zusammenleben. Und wer die europäische Geschichte kennt, wird auch die Abgründe wiedererkennen, in die wir blicken, die furchtbaren und furchterregenden Irrtümer, die wir überwunden glaubten. Wir erkennen in den Ukrainerinnen und Ukrainern, wir erkennen in den aufbegehrenden Belarusen und Belarusinnen, wir erkennen in den Russinnen und Russen, die auf offener Straße zusammengeprügelt werden, unsere europäischen Schwestern und Brüder. Und alles, was wir jetzt noch tun können, damit sie diesem Angriff standhalten, ihn überleben und leben können, leben, wie sie es wollen, das müssen wir tun. Ich danke Oliver Guez, Eva Menasse, Michal Hvorecký, Agata Tuszyńska, Daniel Kehlmann, Marianna Sadovska und allen Beteiligten für diesen berührenden Abend!
Die zweite Ausgabe der Reihe ‚Kultur im Kanzleramt‘ widmete sich „Literarischen Stimmen eines starken Europas“. Ausgangspunkt war dabei der Sammelband „Le Grand Tour“ von Olivier Guez. Dieser zeige, „dass wir zusammengehören, dass wir die Geschichte und Kultur Europas teilen“, sagte Kulturstaatsministerin Roth in ihren abschließenden Worten.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Veranstaltung „Literarische Stimmen eines starken Europas“ im Rahmen der Veranstaltungsreihe Kultur am 28. März 2022 im Kanzleramt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-veranstaltung-literarische-stimmen-eines-starken-europas-im-rahmen-der-veranstaltungsreihe-kultur-am-28-maerz-2022-im-kanzleramt-2021274
Mon, 28 Mar 2022 00:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte Frau Botschafterin Descôtes, lieber Herr Guez, liebe Gäste, bei der Vorbereitung auf diese Veranstaltung musste ich an Bert Brecht denken. Er hat ein Gedicht geschrieben, das, wie ich finde, in diesen Zeiten ziemlich passend ist: „Was sind das für Zeiten, wo Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist. Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ Der heutige Abend war dazu gedacht, durch Ihre Erzählungen Europa zur Sprache zu bringen, Europa als kulturellen Raum, als Raum verschiedener Erzählungen, aus denen dann neue gemeinsame Erzählungen entstehen. Aber können wir über das schweigen, was in der Ukraine gerade passiert? Das Leid der Menschen geht uns allen sehr, sehr nah. Das hat nicht nur damit zu tun, dass etwas, das wir oft fern geglaubt haben, nämlich ein Krieg, plötzlich geografisch so nah ist, sondern natürlich auch mit der inneren Verbundenheit. Da ist in der Tat ein Krieg in Europa, ein Krieg zwischen dem flächenmäßig größten Land in Europa, Russland, und dem zweitgrößten Land, der Ukraine. Es ist ein Krieg, in dem Russland die Ukraine angreift. Sie ist ein Land in unserer Nachbarschaft. Der Angriff gilt der Demokratie, der Freiheit, der Selbstbestimmung, all dem, was für uns Europa unmittelbar ausmacht. Sie, Herr Guez, sprechen im Vorwort Ihres Buches von verborgenen Gemeinsamkeiten. Der Krieg ‑ das kann man sagen ‑ hat sie jetzt offengelegt. Denn wir sind uns über diese Frage doch sehr, sehr einig. Es geht um Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung der Völker. Für mich folgen daraus ein paar Dinge. Zunächst einmal: Wir dürfen die Demokratie, die Freiheit und unsere europäischen Werte nicht für selbstverständlich nehmen. Wir müssen verstehen, dass wir sie immer wieder neu verteidigen müssen und dass sie niemals sicher sind. Das gilt nicht nur für die Vergangenheit; das wird auch in der Zukunft für uns immer etwas sein, dessen wir uns ganz sicher sein müssen. Wir müssen aus den Gemeinsamkeiten dann natürlich auch Verbindungen machen und Europa als etwas verstehen, das gemeinsame Traditionen hat, die zusammenführen sollen und nicht auseinander. Es gehört, finde ich, zu den dramatischen Ereignissen dieser Tage, dass das Blättern in Geschichtsbüchern Anlass für Kriege gibt, dass der Hinweis auf historische Grenzen, auf historische Räume plötzlich die Ursache dafür bietet, dass ein Staat den anderen überfällt. Wer sich genug mit der Geschichte beschäftigt hat, der weiß ganz genau, dass es dann vielerlei Anlass für viele Kriege gäbe. Deshalb war es eine der ganz großen Errungenschaften der Nachkriegszeit und insbesondere eine der Errungenschaften, die wir seit den 90er-Jahren gemeinsam geschaffen haben, uns darauf zu verständigen, dass Grenzen nicht mehr gewaltsam verschoben und dass Staaten nicht mehr mit dem Hinweis auf Geschichtsbücher bekriegt werden. Das ist es aber, was uns gerade passiert. Wenn wir dagegen vorgehen wollen, dann müssen wir unsere Möglichkeiten miteinander entfalten. Das, was die Politik, die Staatengemeinschaft, der Verbund, den wir haben, entfalten kann, tun wir mit Sanktionen, mit Hilfe und mit Unterstützung der Ukraine und natürlich immer wieder mit dem Verlangen nach einem Ende des Krieges und dem Verlangen, dass wir einen Abzug der Truppen bewirken können. Aber wir brauchen nicht nur das Handeln der Staaten, sondern wir brauchen auch die Zivilgesellschaft; wir brauchen die Kunst, die Medien und die Kultur, die in dem, was sie tun, aus den Verschiedenheiten Gemeinsamkeit schaffen. Das ist vielleicht auch der ganz große Unterschied zu dem Russland Putins. Ich sage das bewusst in Bezug auf den Präsidenten und ihn als Person. Er glaubt nicht an die Möglichkeit des Pluralismus. Er glaubt nicht daran, dass man in der Verschiedenheit Gemeinsamkeit hervorbringen kann, sondern er glaubt daran, dass man alles einheitlich durchgestalten muss und dass Autorität über allem stehen muss. Das ist ein Fehler, und es ist ein schrecklicher Fehler, der jetzt einen Krieg mitproduziert hat, der ein Verbrechen nicht nur an den Ukrainerinnen und Ukrainern ist, sondern auch am russischen Volk. Das Buchprojekt, das wir hier haben, ist etwas ganz Großartiges in dieser Zeit. Es sammelt Erfahrungen und Erinnerungen aus allen 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Das ist etwas ganz Besonderes, weil es das Projekt der Europäischen Union würdigt. Immer schwingt mit ‑ das muss und soll uns in diesen Tagen auch ganz klar sein ‑, dass die Europäische Union nicht ganz Europa ist, sondern dass der europäische Kontinent noch weiter reicht und dass wir kulturelle Traditionen haben, die über das, was in der Union zusammenwächst, hinausreichen. Gleichwohl ist das ein großartiges Projekt. Ich bin sehr dankbar dafür, dass es gelungen ist, das in dem Buch zusammenzuführen, und dass wir heute ein wenig daran partizipieren können, indem wir mit Ihnen diskutieren und das hören, was Sie sagen werden. Als ich in Moskau war, habe ich nicht nur mit dem Präsidenten gesprochen, sondern auch mit einem russischen Dissidenten. Er hat mir die Worte gesagt: Demokratie wächst aus den Menschen heraus. Das ist meine feste innere Überzeugung. Meine Überzeugung ist auch, dass Kunst und Kultur Freiheitsräume schaffen, Freiheitsräume, die wir dringend brauchen. Deshalb brauchen wir auch die Künstlerinnen, die Schriftsteller und die Journalisten. Und die, die in der Ukraine und in Russland jetzt bedroht sind, brauchen unsere Solidarität. Wir haben deshalb ein Schutzprogramm aufgelegt, um Medienschaffende aus der Ukraine zu unterstützen. Es gibt auch Stipendien und Residenzen für Künstler aus der Ukraine und bewusst auch aus Russland, als sichtbaren Ausdruck verborgener Gemeinsamkeit und eines Gemeinsamen, das wir in Europa haben. Schönen Dank und einen schönen guten Abend!
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Global Solutions Summit 2022 am 28. März 2022 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-global-solutions-summit-2022-am-28-maerz-2022-in-berlin-2021184
Mon, 28 Mar 2022 00:00:00 +0200
Berlin
Lieber Dennis Snower, sehr geehrte Damen und Herren, am 24. Februar hat Präsident Putin einen grausamen Angriffskrieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen – einen Angriffskrieg, der die europäische und weltweite Friedensordnung in Gefahr bringt. Im Bundestag habe ich von einer Zeitenwende gesprochen. Das war zunächst einmal ein Handlungsaufruf an uns selbst, an Deutschland; ein Aufruf, mehr zu investieren in unsere Sicherheit, in die Sicherheit Europas und des transatlantischen Bündnisses; aber auch ein Aufruf, strategische Abhängigkeiten abzubauen – vor allem im Energiebereich. Aber auch global erleben wir eine Zeitenwende. Russland bemüht sich nicht einmal, seinem Überfall auf die Ukraine auch nur den Anschein völkerrechtlicher Legitimität zu geben – ganz zu schweigen vom humanitären Völkerrecht, das Russland mit jeder gezielten Bombardierung von Wohnhäusern, Schulen und Kliniken bricht. Für das, worüber wir heute reden – „global governance“ und „global solutions“ –, bedeutet das zweierlei. Erstens: größtmögliche Geschlossenheit der internationalen Gemeinschaft. Das ist unser wichtigstes Gut – unser wichtigstes Gut, um die Grundsätze internationaler Ordnung zu verteidigen und den Frieden in Europa wiederherzustellen. Zweitens brauchen wir sehr schnell eine Verständigung darüber, wie wir trotz dieser Zeitenwende die Arbeit an den Zukunftsfragen der Menschheit global und multilateral weiter voranbringen. Es ist gut, dass wir heute Gelegenheit haben, über beides zu diskutieren. In punkto Geschlossenheit haben wir in den vergangenen Wochen Maßstäbe gesetzt. Erst am vergangenen Donnerstag hat es in Brüssel – zum ersten Mal überhaupt an ein und demselben Tag – Gipfeltreffen der NATO, der G7 und der Europäischen Union gegeben. Diese Treffen zeigen: Eine breite globale Allianz für Frieden und Recht steht heute enger zusammen denn je. Der historische Tag mit den Gipfeln von NATO, G7 und Europäischem Rat hat eines noch einmal ganz deutlich gemacht, was im multilateralen Tagesgeschäft oft übersehen wird: Unsere Bündnisse und Allianzen sind mehr als bloße Zweckgemeinschaften. Unsere Einigkeit ist nicht allein dem kollektiven Entsetzen über Russlands Völkerrechtsbruch geschuldet. Sie ist vor allem auch das Ergebnis wochen- und monatelanger intensiver Abstimmungsprozesse, die wir gemeinsam mit unseren Partnern geführt haben. Darum ist es kein Zufall, dass die Sanktionen Russland so hart und so zielgenau treffen. Klar ist: Wir haben noch weitere Möglichkeiten in der Hinterhand, die wir, wenn nötig, gezielt einsetzen werden. Bis nach dem Angriff die ersten Sanktionen verhängt wurden, hat es – anders als früher – nicht Wochen oder Monate gedauert, sondern Stunden. Inzwischen ist Russland im internationalen Wirtschafts- und Finanzsystem weitgehend isoliert. Und wir erhöhen den Druck weiter. Unter unserer G7-Präsidentschaft hat die Gruppe der wirtschaftsstarken Demokratien auf ihrem Gipfel vorige Woche weitere ganz konkrete Beschlüsse gefasst: Gemeinsam erhöhen wir nochmals die Hilfen für die Ukraine. Gemeinsam verstärken wir auch die Unterstützung für die Nachbarstaaten der Ukraine. Gemeinsam verpflichten wir uns zur Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine. Gemeinsam arbeiten wir daran, die Energieabhängigkeit von Russland zu verringern. Und gemeinsam entwickeln wir Lösungen für den Fall von Versorgungsengpässen mit Energie sowie für die weltweite Ernährungssicherheit. Deutschland stockt seine humanitäre Unterstützung für die Ukraine und ihre Nachbarstaaten auf 370 Millionen Euro auf, und wir werden zusätzliche 430 Millionen Euro für den weltweiten Kampf gegen Hunger bereitstellen. Ein großer Teil davon kommt dem Welternährungsprogramm zugute, das von den aktuellen Preissteigerungen besonders betroffen ist. Gerade in dieser schwierigen Zeit zeigt sich: In der G7 stehen Partner zusammen, die von gemeinsamen Werten, Interessen und Verpflichtungen geleitet werden. Das macht uns stark. Das bringt mich zur zweiten Frage: Wie können wir diese Geschlossenheit, die wir gerade erleben, nutzbar machen für die Lösung globaler Probleme? Als Wertegemeinschaft der wirtschaftsstarken Demokratien kommt der G7 auch dabei ganz besondere Bedeutung zu. „Fortschritt für eine gerechte Welt“ – unter dieser Überschrift haben wir unsere G7-Präsidentschaft begonnen. Denn so dramatisch und tragisch der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist: Er darf nicht dazu führen, dass wir als G7 unsere Verantwortung für globale Herausforderungen wie die Klimakrise oder die Pandemie vernachlässigen. Im Gegenteil: Viele der Ziele, die wir uns zu Jahresbeginn vorgenommen haben, werden angesichts der veränderten Weltlage sogar noch drängender. Schon jetzt ist außerdem klar: Angesichts von Millionen von Flüchtlingen in und aus der Ukraine rücken nun auch humanitäre Fragen in den Fokus unserer Präsidentschaft. Das spiegeln unsere Beschlüsse der letzten Woche wider. Hinzu kommt: Die Corona-Pandemie ist ja nicht vorbei. Darum wollen wir in unserer G7-Präsidentschaft das Thema Impfstoffgerechtigkeit voranbringen. Das Ziel der WHO, 70 Prozent aller Menschen weltweit zu impfen, dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren – so ehrgeizig es klingt. Denn die Pandemie ist auch bei uns erst vorüber, wenn wir sie weltweit im Griff haben. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Weltgemeinschaft den ACT-Accelerator ins Leben gerufen – eine Initiative, die Impfstoffe, Medikamente und Tests weltweit verfügbar macht. Für dieses und weitere Programme wird Deutschland in diesem Jahr 1,5 Milliarden Dollar an zusätzlichen Mitteln bereitstellen. Damit setzen wir während unserer G7-Präsidentschaft ein Zeichen der Verantwortung und Solidarität. Um diese Pandemie zu bewältigen und für weitere Gesundheitskrisen vorzusorgen, setzen wir zudem auf eine Stärkung der Weltgesundheitsorganisation und ihre auskömmliche Finanzierung. Wir brauchen eine starke internationale Gesundheitsinfrastruktur – gerade mit Blick auf künftige Krisen. Deshalb werden wir auch die globale Impfstoffproduktion voranbringen. Erst vor wenigen Wochen haben wir zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus vier afrikanischen Ländern, der Europäischen und der Afrikanischen Union sowie BioNTech ein erstes Projekt auf den Weg gebracht, mit dem wir die Produktion von mRNA-Impfstoffen in Afrika anschieben. Und gerade jetzt setzen wir uns für Frieden und Sicherheit, für offene und resiliente Gesellschaften sowie den Schutz und die Stärkung der Menschenrechte ein. Das sind natürlich dauerhafte Aufgaben. Aber wir sehen, dass wir angesichts des Krieges Menschenrechtsverteidiger, Journalistinnen, Forscherinnen und Künstler aus der Ukraine verstärkt unterstützen und schützen müssen, und auch das werden wir tun. Die Verteidigung von freiheitlicher Demokratie, von gesellschaftlicher Teilhabe und Pressefreiheit, die Abwehr von Desinformation und Cyberangriffen, das alles setzt eigene Stärke voraus. In der G7 heißt das etwa, dass wir uns in Bezug auf Desinformationskampagnen noch intensiver austauschen und unsere Reaktionen koordinieren. Gedanken müssen wir uns aber auch darüber machen, wie wir unsere Zusammenarbeit international organisieren. Die Vereinten Nationen, die G20, die WTO, sie bleiben essenziell für globalen Austausch, Legitimität und die Suche nach Kompromissen. Aber machen wir uns nichts vor: Mit einem Russland auf Kriegskurs, aber auch mit anderen autoritären Staaten wird das in den nächsten Jahren nicht leichter. Umso wichtiger sind neue Impulse, ambitionierte Ziele und kreative Ideen von außen. Wer Wandel voranbringen will, der sollte mit denen zusammenarbeiten, die für Wandel stehen. Oft sind das die Akteurinnen und Akteure der Zivilgesellschaften. Deshalb haben wir unsere Präsidentschaft so offen und so inklusiv angelegt wie möglich. Wir setzen auf den intensiven Dialog mit Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden, mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, mit Jugendlichen, Frauen, NGOs und Thinktanks. Ich weiß, auch vielen von Ihnen ist das ein wichtiges Anliegen, und ich freue mich, lieber Dennis Snower, dass die Global Solutions Initiative und das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik mit „Think7“ dazu einen großen Beitrag leisten. Es geht mir aber um mehr als um Mitsprache und Beteiligung. Einen Paradigmenwechsel streben wir insbesondere auf einem Feld an, auf dem zu lange zu wenig vorangekommen ist. Ich spreche von der internationalen Klimapolitik. Die Aufgabe, die vor uns liegt, ist gewaltig, wenn wir das 1,5-Grad-Ziel erreichen wollen – und das müssen wir. Konkret bedeutet das: Bis 2030 müssen wir die globalen CO2-Emissionen um 45 Prozent gegenüber 2010 reduzieren, und bis zur Jahrhundertmitte müssen wir global „Netto Null“ erreichen, das heißt CO2-Neutralität. Mit einer internationalen Klimapolitik des kleinsten gemeinsamen Nenners gelingt das sicher nicht. Statt auf die Langsamsten zu warten, werden wir deshalb zusammen mit den Ambitioniertesten vorangehen. Das ist die Idee eines offenen, kooperativen Klima-Clubs, den wir auf dem G7-Gipfel im Juni in Elmau voranbringen wollen. Gemeinsam mit anderen engagierten Ländern wollen wir Mindeststandards für den Klimaschutz identifizieren. So entsteht ein internationaler Markt mit vergleichbaren Wettbewerbsbedingungen, der Staaten für klimafreundliches Wirtschaften belohnt und vor Wettbewerbsnachteilen schützt. Das ist das Konzept – aber wie wird es Wirklichkeit? Drei Dinge sind wichtig: Erstens müssen sich die Staaten zu ehrgeizigen Standards für den Klimaschutz bekennen. Natürlich werden nicht alle von heute auf morgen einen CO2-Preis einführen. Trotzdem können viele Maßnahmen ergriffen werden, um auf dem Weg zur Treibhausgasneutralität voranzukommen, etwa der schnelle Ausbau von erneuerbaren Energien oder der Abbau von Subventionen für fossile Energien. Zweitens ist es wichtig, die grüne Transformation der Industrie voranzutreiben. Wir brauchen einen gemeinsamen Ansatz für die Dekarbonisierung der Industrie, um die Abwanderung von Unternehmen in Länder mit laxer Klimapolitik zu verhindern. Der Klima-Club soll daher zu einem Katalysator werden, um gemeinsam saubere, junge Technologien voranzubringen, etwa grünen Wasserstoff. Drittens brauchen wir internationale Partner weit über die G7 hinaus, die sich ebenfalls einer ehrgeizigen Klimapolitik verschreiben. Dieser letzte Punkt, der offene und kooperative Charakter des Klima-Clubs, ist entscheidend; denn ohne eine Zusammenarbeit zwischen großen Emittenten, Schwellen- und Entwicklungsländern kommen wir nicht weiter. Als derzeitiger G7-Vorsitzender werbe ich deshalb dafür, dass beispielsweise auch unsere afrikanischen und indopazifischen Partner im Klima-Club mitwirken. Damit das für sie interessant ist, werden wir natürlich auch über Klimafinanzierung und Technologietransfers reden. Damit ersetzen wir nicht die bestehenden Prozesse im internationalen Klimaschutz – wir ergänzen und beflügeln sie. Dass so ein Ansatz gelingen kann, haben wir in der Debatte um die globale Mindeststeuer erlebt. Auch dort mussten einige gemeinsam vorangehen und dann nach und nach die anderen an Bord bringen. Meine Damen und Herren, in diesem Geist gehen wir auch an die Vorbereitung des Gipfels in Elmau. Genau drei Monate sind es noch bis dahin. Mein Ziel ist, dass von diesem Gipfel ein starkes Zeichen der G7 ausgeht – für Fortschritt, für Wohlstand, für Frieden und Sicherheit. Jetzt freue ich mich auf den Austausch mit Ihnen. Schönen Dank!
Rede von Kulturstaatsministerin Roth zur Haushaltsdebatte im Bundestag am 23. März
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-roth-zur-haushaltsdebatte-im-bundestag-am-23-maerz-2019810
Wed, 23 Mar 2022 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
− Es gilt das gesprochene Wort − Krieg herrscht in Europa. Menschen werden getötet, werden verletzt, Menschen müssen fliehen, Familien werden zerrissen, Existenzen zerstört. Dahinter tritt alles zurück, wirkt alles andere klein und unbedeutend. Doch gerade jetzt, in dieser Situation, müssen wir uns auf das besinnen, was wir mit unseren Mitteln tun können, um zu helfen, wo wir helfen können. Und gerade jetzt geht es darum, unser demokratisches Modell, unsere so wertvolle Kultur der Demokratie zu stärken und zu verteidigen. Und deswegen ist Kulturpolitik auch Sicherheitspolitik. Dieser Krieg zerstört nicht nur das Leben von Millionen Menschen, er zerstört auch ukrainische Kulturgüter. Er macht ukrainische Künstlerinnen und Künstler und Journalisten und Journalistinnen, die sich mit großem Einsatz für eine demokratische Entwicklung in der Ukraine stark gemacht haben, zu Verfolgten und zu Vertriebenen. Bedroht sind aber auch viele russische Künstlerinnen, Journalisten und Wissenschaftlerinnen, die für die letzten Freiräume gekämpft haben und nun auf der Flucht vor dem Putin-Regime sind. Deswegen sage ich: Wenn wir es ernst meinen mit den Werten, die für alle Menschen gelten, wenn wir die Freiheit der Meinungen, der Kunst, der Kultur verteidigen wollen, dann unterstützen wir jetzt alle diejenigen, die für diese Werte eintreten. Dann wehren wir uns gegen eine nationalistische Instrumentalisierung von Kultur, dann widerstehen wir Versuchen von Kulturboykotten und öffnen unser Land für die, die heute auf der Flucht vor Kriegstreibern, vor Autokraten und verbrecherischen Regimen sind! Liebe Kolleginnen und Kollegen, das werden wir nur gemeinsam schaffen, ressortübergreifend, in Zusammenarbeit mit Bund und Ländern, zwischen Innen und Außen und nicht zuletzt zwischen Regierung und Parlament. Kultur- und Medienpolitik sollten wir heute mehr denn je gemeinsam angehen. Und ich darf mich an dieser Stelle ganz besonders bei Annalena Baerbock, aber auch allen Landesministerinnen und -ministern und Kultureinrichtungen für diese Zusammenarbeit bedanken. Wir haben, in einem ersten Schritt, in meinem Haus eine Schnittstelle eingerichtet, eine „Task force“, die Innen und Außen, Zivilgesellschaft und Länder verbindet. Gemeinsam organisieren wir Hilfe und Aufnahmeprogramme für KünstlerInnen und JournalistInnen, wir unterstützen aufnahmebereite Kultureinrichtungen und koordinieren Ad hoc-Maßnahmen zur Rettung von Kulturgütern. Ein Thema liegt mir dabei besonders am Herzen und deswegen haben wir als Bundesregierung es auch auf die Agenda der G7 gesetzt: Wir müssen das demokratische Gesellschaftsmodell verteidigen und stärken und das heißt, uns um die Meinungsfreiheit und die Meinungsvielfalt kümmern, um unabhängige Medien, die seriös und die verlässlich informieren. Bei uns, aber auch in Europa und im globalen Rahmen und heute ganz besonders mit Blick auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt, der Schöpflin- und der Augstein-Stiftung, mit Reporter ohne Grenzen und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen wollen wir Arbeits- und Aufnahmemöglichkeiten für bedrohte Journalistinnen und Journalisten schaffen. Liebe Demokratinnen und Demokraten, ich bin überzeugt: Kultur lebt im öffentlichen Raum und der öffentliche Raum lebt von ihr. Kultur ist ein Lebenselixier für unsere Demokratie. Und deswegen ist Kulturpolitik auch Gesellschaftspolitik. Und die müssen wir gerade nach der Pandemie stärken. Wir müssen gerade jetzt dafür sorgen, dass sie ihre Kräfte entfalten kann. Und was für Kräfte sie entfalten kann und wie stark ihre Stimme ist, das haben wir doch erst letzten Sonntag gesehen – beim Sound of Peace, hier in Berlin am Brandenburger Tor. Doch diese Kraft, sie funktioniert nicht, indem wir nur Fördermittel ausreichen und einzelne, herausgehobene Institutionen bedenken. Wir wollen die Kultur als einen offenen Raum begreifen, in dem wir Ideen, Projekte, Visionen fördern und unterstützen und in dem wir es ermöglichen, dass Menschen angstfrei ihre Stimme erheben können. Diese Freiheit von Kunst und Kultur, ihre Widerständigkeit und Verschiedenheit, genau das brauchen wir wie die Luft zum Atmen. Deshalb habe ich gesagt, dass ich die Kulturstaatsministerin der Demokratie sein will. Weil ich für die Kulturpolitik einer offenen Gesellschaft stehe, sage ich: Eine offene Gesellschaft unterschiedlichster, auch widerstreitender Ideen und Ausdrucksformen gedeiht nur, wenn sie Gegensätze aushalten, Leidenschaften ertragen und Freiheit gewähren kann. Dafür brauchen wir Mittel und deshalb bin ich froh, dass das Bundeskabinett den zweiten Regierungsentwurf für den Haushalt 2022 beschlossen und den Etat für Kultur und Medien auf insgesamt 2,14 Milliarden Euro erhöht hat, das ist eine Steigerung von zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. Und ich bin zufrieden, dass wir mit diesem Haushaltsentwurf Impulse setzen können, die wirklich in unserem Sinne wirken werden und dafür möchte ich auch hier für diesen Entwurf werben. Diese Mittel sind gut angelegt. Für die Kreativität unserer Gesellschaft, indem wir gemeinsam mit Robert Habecks Ministerium das Thema Kreativwirtschaft stärken und ressortübergreifend gemeinsam fördern wollen. Für die Vielfalt und Demokratie in unserer Gesellschaft, indem wir zusätzliche Mittel gegen Rechtsextremismus und Rassismus bereitstellen, indem wir uns der Aufarbeitung des Kolonialismus energisch widmen und neue Mittel vor allem für die gemeinsame kulturelle Zukunft mit Afrika und den Ländern des Globalen Südens zur Verfügung stellen wollen. Und vor allem: indem wir Nachhaltigkeit und Klimapolitik zu einem zentralen Thema machen. Mit dem Sektorvorhaben Green Shooting für die Filmwirtschaft haben wir begonnen. Und wir werden jetzt in einer eigenen Arbeitseinheit „Kultur und Nachhaltigkeit“ über alle Sektoren hinaus verstärken und am Aufbau des Green Culture Desk arbeiten, den wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Freiheit, Vielfalt und Nachhaltigkeit, das sind die Themen, die uns den Weg nach vorn in die Zukunft weisen sollen. Wir werden sie gemeinsam anpacken und die Kulturpolitik für eine Koalition des Aufbruchs gestalten. All das will ich in einem „Plenum der Kultur“ in enger Zusammenarbeit, in Abstimmung mit allen erreichen, die in der Kultur und für die Kultur wirken: Künstlerinnen und Künstler, Kultureinrichtungen, Bund, Länder, Kommunen und Zivilgesellschaft. Ich will gemeinsam mit Ihnen die Kräfte von Kunst und Kultur weiter entfesseln. Und ich freue mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich Sie in großer Mehrheit an meiner Seite weiß.
Kulturpolitik sei auch Sicherheitspolitik und Gesellschaftspolitik, erklärte Kulturstaatsministerin Roth bei der Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag. Gerade jetzt gehe es darum, unser demokratisches Modell, unsere so wertvolle Kultur der Demokratie zu stärken und zu verteidigen, sagte sie mit Blick auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Rede von Bundeskanzler Scholz in der Generaldebatte zum Haushalt am 23. März 2022 im Deutschen Bundestag
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-in-der-generaldebatte-zum-haushalt-am-23-maerz-2022-im-deutschen-bundestag-2019688
Wed, 23 Mar 2022 00:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit großer Tapferkeit und Durchhaltevermögen kämpfen die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine für ihre Heimat. Putins Offensive steckt fest, trotz aller Zerstörung, die sie Tag für Tag anrichtet. Und wir sowie unsere Freunde und Partner halten zusammen. Ich habe noch die Worte im Ohr, die Präsident Selenskyj letzte Woche hier gesprochen hat: „Es ist schwer für uns, ohne die Hilfe der Welt zu bestehen.“ Deshalb sage ich heute ganz klar: Präsident Selenskyj, die Ukraine kann sich auf unsere Hilfe verlassen. Seit Kriegsbeginn liefert Deutschland Panzer- und Luftabwehrwaffen, Ausrüstung und Munition an die Ukraine. Die Europäische Union stellt zusätzlich 1 Milliarde Euro an Militärhilfe bereit. Gemeinsam mit unseren internationalen Partnern haben wir Sanktionen verhängt, die ihresgleichen suchen. Über Monate hinweg haben wir sie bis ins kleinste Detail vorbereitet, damit sie die Richtigen treffen, damit sie wirken. Weltweit haben wir für Unterstützung geworben. Mein ganz besonderer Dank gilt dafür der Außenministerin Annalena Baerbock. Und wir sehen: Die Sanktionen wirken. Russlands Wirtschaft wankt, die Börse ist weitgehend geschlossen, die Währung ist abgestürzt, es fehlen Devisen, ausländische Unternehmen verlassen zu Hunderten das Land. Doch das ist erst der Anfang. Viele der härtesten Folgen werden sich erst in den kommenden Wochen zeigen. Und: Wir schärfen die Sanktionen ständig nach. Natürlich höre ich die Stimmen derjenigen, die eine Flugverbotszone oder NATO-Friedenstruppen in der Ukraine fordern. So schwer es fällt: Wir werden dem nicht nachgeben. In fast 80 Jahren Nachkriegsgeschichte haben wir das Unvorstellbare erfolgreich vermieden: eine direkte militärische Konfrontation zwischen unserem westlichen Verteidigungsbündnis, der NATO, und Russland. Dabei muss es bleiben. Viele Bürgerinnen und Bürger machen sich große Sorgen, weil sie verstehen, dass sich genau dies hinter Begriffen wie „Flugverbotszone“ und „Friedenstruppen“ verbirgt. Tag für Tag erreichen mich Hunderte besorgter Briefe und E-Mails. Überall, wo man derzeit mit Bürgerinnen und Bürgern spricht, begegnet einem früher oder später die Frage: Wird es Krieg geben, auch hier bei uns? Auf diese Frage kann es nur eine Antwort geben: Die NATO wird nicht Kriegspartei. Da sind wir uns mit unseren europäischen Verbündeten und den Vereinigten Staaten einig. Das ist ein Gebot der Vernunft. Alles andere wäre unverantwortlich. Meine Damen und Herren, über Jahrzehnte hinweg ist unsere Abhängigkeit von Öl, Kohle und Gas aus Russland gewachsen. Ja, wir werden diese Abhängigkeit beenden, so schnell, wie das nur irgendwie geht. Das aber von einem Tag auf den anderen zu tun, hieße, unser Land und ganz Europa in eine Rezession zu stürzen. Hunderttausende Arbeitsplätze wären in Gefahr. Ganze Industriezweige stünden auf der Kippe. Zur Wahrheit gehört auch: Schon die jetzt beschlossenen Sanktionen treffen viele Bürgerinnen und Bürger hart, und zwar bei Weitem nicht nur an der Zapfsäule. Sanktionen dürfen die europäischen Staaten nicht härter treffen als die russische Führung; das ist unser Prinzip. Niemandem ist damit gedient, wenn wir sehenden Auges unsere wirtschaftliche Substanz aufs Spiel setzen. Das sehen im Übrigen auch unsere Freunde und Partner so, mit denen wir diesen gemeinsamen Kurs von Beginn an so abgesteckt haben. Meine Damen und Herren, die Bilder, die uns Tag für Tag aus der Ukraine erreichen, sind kaum auszuhalten. Bilder von zerstörten Wohnungen, zerbombten Krankenhäusern und belagerten Städten, von toten Soldaten und immer mehr getöteten und verletzten Zivilisten, von Frauen und Kindern, die mit dem wenigen, was sie einpacken konnten, vor Putins Bomben, Panzern und Raketen fliehen. Zugleich haben sie bei uns im Land und überall in Europa eine überwältigende Welle des Mitgefühls und der Solidarität ausgelöst. Hilfsorganisationen berichten, dass die Spendenbereitschaft in Deutschland noch nie so hoch war. Zehntausende haben den Fliehenden nicht nur ihre Herzen geöffnet, sondern auch ihre Häuser und Wohnungen. Vor allem Länder wie Polen, Tschechien, die Slowakei, Moldau, Rumänien oder Ungarn leisten Außerordentliches. Das ist ein Lichtblick in diesen dunklen Tagen. Und für diese Hilfsbereitschaft, für diese Offenherzigkeit sage ich den Bürgerinnen und Bürgern hier bei uns und in ganz Europa von ganzem Herzen Danke. Rechtlich schafft die EU-Richtlinie, die allen Geflüchteten aus der Ukraine vorübergehenden Schutz gewährt, Klarheit. Das ist gut so. Praktisch aber stehen wir vor einer gewaltigen Aufgabe. Ich bin dankbar, dass Innenministerin Nancy Faeser sie entschlossen anpackt. Herzlichen Dank dafür! Es ist die Pflicht und Schuldigkeit aller – Bund, Länder und Gemeinden -, im Sinne der Sache zusammenzuarbeiten, anstatt erst einmal lange über Verantwortlichkeiten zu debattieren. Deshalb bin ich froh, dass wir uns bei der Ministerpräsidentenkonferenz letzte Woche geeinigt haben, die offenen Fragen gemeinsam bis zum 7. April zu klären. Und ich bin froh, dass alle Staats- und Regierungschefs der EU vor zwei Wochen in Versailles die Bereitschaft ihrer Länder bekräftigt haben, Flüchtlinge aufzunehmen und ihre Nachbarn zu entlasten. Daran müssen wir uns jetzt alle halten. Noch ist völlig unklar, wie viele Frauen, Männer und Kinder aus der Ukraine bei uns Zuflucht suchen werden. Wir wissen nur, es werden viele sein. Noch lässt sich nicht abschätzen, wie groß der Bedarf an humanitärer Hilfe und Unterstützung beim Wiederaufbau in der Ukraine sein wird oder welche Verwerfungen der Krieg weltweit verursacht. Schon jetzt warnen die Vereinten Nationen vor Hunger und Instabilität aufgrund steigender Lebensmittelpreise. Klar ist nur, die Flüchtlinge sind hier bei uns willkommen. Deutschland wird helfen, hier bei uns, in Europa und in der Welt. Die Bundesregierung ist dazu bereit, zusätzliche Maßnahmen zu ergreifen. Ich bin Finanzminister Christian Lindner sehr dankbar, dass er in den kommenden Wochen einen Ergänzungshaushalt ausarbeiten wird, um unser Land durch diese schwere Zeit zu bringen. Noch etwas ist mir wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir werden nichts unversucht lassen, bis wieder Frieden herrscht auf unserem Kontinent. Mit Präsident Selenskyj habe ich mich immer wieder über die Lage und die nächsten Schritte ausgetauscht. Und auch mit Präsident Putin habe ich in den vergangenen Tagen oft, lange und intensiv gesprochen. Putin muss die Wahrheit hören über den Krieg in der Ukraine, und diese Wahrheit lautet: Der Krieg zerstört die Ukraine; aber mit dem Krieg zerstört Putin auch Russlands Zukunft. Die Waffen müssen schweigen, und zwar sofort! Ob die laufenden Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zum Erfolg führen, vermag heute niemand zu sagen. Noch steht der Beweis aus, dass es Putin dabei nicht nur um einen Diktatfrieden geht. Eins aber steht vollkommen außer Frage: Über die Ukraine verhandeln die Ukrainerinnen und Ukrainer, ihr Präsident und seine Verhandlungsdelegation und niemand sonst! Alles aber, was wir zur Unterstützung der Ukraine bei der Suche nach einer politischen Lösung beitragen können, werden wir tun. Dass wir Europäer dabei eine zentrale Rolle übernehmen, halte ich für ganz entscheidend, und zwar nicht nur, weil sich der Krieg in der Ukraine geografisch vor unserer Haustür abspielt. Es geht um europäische Werte: um Demokratie und Freiheit und die Stärke des Rechts. Diese Werte zu erhalten und zu verteidigen, darin liegt die zentrale Aufgabe unseres Staates. Auch hier wirkt der Krieg im Osten Europas wie ein Brennglas, weil er uns zu vermeintlich neuen, in Wahrheit aber längst überfälligen Schwerpunktsetzungen bringt. Ich spreche von der Entscheidung, deutlich mehr in unsere eigene Sicherheit und Verteidigung zu investieren. Sicherheit heißt, uns europäisch und transatlantisch so aufzustellen, dass wir uns gegen alle Angriffe verteidigen können. Das bedeutet europäische Souveränität, gerade in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, im Einklang mit der NATO. Deutschland wird dazu beitragen. Darin liegt eine nationale Kraftanstrengung für alle demokratischen Kräfte. Wir wollen daher ganz bewusst ein Sondervermögen „Bundeswehr“ errichten und in unserer Verfassung verankern. Die Ausplanung ist schon fortgeschritten; und dafür bin ich Verteidigungsministerin Christine Lambrecht sehr dankbar. Danken möchte ich auch allen, die bereit sind, diesen Weg mitzugehen, ganz ausdrücklich auch Ihrer Fraktion, lieber Herr Merz. Über die Ausgestaltung werden wir weiter miteinander reden im Sinne der Sache, im Sinne der Sicherheit unseres Landes und der Bürgerinnen und Bürger. Es ist völlig in Ordnung, dass Sie hier und an anderer Stelle dazu Ihre Vorstellungen formulieren; es soll eine gemeinsame Sache werden, die wir für unser Land tun. Vier Ziele werden wir mit dem Sondervermögen erreichen. Erstens. Alle Investitionen kommen, abgesichert im Grundgesetz, einem klaren Zweck zugute: unserer Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit. Zweitens. Wir schaffen langfristige Planungssicherheit und Verlässlichkeit, die gerade für die anstehenden Großvorhaben notwendig sind. Drittens. Wir behalten die Tragfähigkeit unserer Finanzen im Blick, einschließlich der Schuldenregel des Grundgesetzes und der Maastricht-Kriterien. Und das Wichtigste: Viertens. Die längst überfälligen Investitionen in Verteidigung und Sicherheit gehen nicht zulasten der dringend nötigen Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft oder zulasten guter, zukunftsfähiger Arbeitsplätze, bezahlbarer Energie, fairer Renten und eines leistungsfähigen Gesundheitssystems. Denn machen wir uns nichts vor: Der Klimawandel schreitet immer weiter voran. Die Coronapandemie ist noch nicht vorbei, und die Digitalisierung hat sich in den vergangenen zwei Jahren noch einmal rasant beschleunigt mit Auswirkungen auf unseren Staat, unsere Unternehmen und jede und jeden von uns. Ja, wir brauchen einen Staat, der für Stabilität und Sicherheit sorgt – gerade jetzt. Aber zugleich brauchen wir einen Staat, der in die Zukunft investiert, der an der Seite der Bürgerinnen und Bürger steht. Das eine zu tun, ohne das andere zu lassen, das ist unser Anspruch. Wir können beides, weil Deutschland gut dasteht, auch im internationalen Vergleich. Und wir leisten beides, weil wir einen klaren Plan für dieses Land und für seine Zukunft haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der enormen Herausforderungen, die vor uns liegen, will ich gar nicht auf alle Politikfelder eingehen, in denen wir die Weichen auf Aufbruch stellen. Drei große Themen aber will ich herausgreifen, weil sie die Bürgerinnen und Bürger ganz besonders beschäftigen. Erstens: die Energie- und Klimapolitik. Ich habe den Zielkonflikt schon beschrieben, vor dem wir hier stehen. Wir müssen einerseits dringend unabhängig werden von russischem Öl und Gas, ja, von fossilen Energieträgern insgesamt. Und andererseits brauchen wir verlässliche und bezahlbare Energie. Kurzfristig heißt das: Wir sichern uns zusätzliche Kapazitäten für Kohle, Gas und Öl. Dafür bin ich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sehr dankbar. Wir diversifizieren unsere Lieferquellen, und zwar schon in den kommenden Monaten. Dabei setzen wir auf die vorhandenen Flüssiggasterminals an der westeuropäischen Küste, und wir werden sehr viel schneller als bisher eigene LNG-Terminals bauen. Und schließlich arbeiten wir an einem Gesetz, das die großen Energiekonzerne verpflichtet, ihre Speicher mit bestimmten Mindestmengen zu füllen. Parallel dazu entlasten wir die Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen. Ein erstes Paket im Umfang von über 15 Milliarden Euro werden wir in den kommenden Tagen noch einmal deutlich aufstocken. Der Heizkostenzuschuss wird verdoppelt, und auch bei den gestiegenen Kosten für Mobilität werden wir die Bürgerinnen und Bürger zusätzlich entlasten. Auch beim Europäischen Rat morgen und übermorgen wird es um eine besser integrierte europäische Energiepolitik gehen, um ein gemeinsames Vorgehen gegen Versorgungsengpässe. Und auch über die hohen Preise und spekulativen Exzesse werden wir sprechen. Ich sage aber auch ganz offen: Ein Aushebeln von Marktmechanismen oder Dauersubventionen – gerade von fossiler Energie – wird es nicht geben. Fiskalisch wäre so etwas nicht durchzuhalten, und ökologisch würden völlig falsche Anreize gesetzt. Über die kommenden Monate hinausgedacht, gibt es daher nur eine nachhaltige Antwort auf Energieabhängigkeit und hohe Energiepreise: erneuerbare Energien und Energieeffizienz. Unser Ziel – Klimaneutralität in Deutschland bis 2045 – ist heute wichtiger denn je. Ich hoffe, dass wir nun wirklich alle an einem Strang ziehen, wenn es darum geht, Genehmigungsverfahren für neue Windparks und Photovoltaikanlagen, Energietrassen und Speicher deutlich zu beschleunigen und Energie effizienter zu nutzen. Nicht „Jetzt mal langsam!“, sondern „Jetzt erst recht!“ – so lautet die Devise. Bewegung wollen wir auch in die internationale Klimapolitik bringen. Unser Ziel als Vorsitz der wirtschaftsstarken Demokratien der Welt, der G 7, ist ein offener, kooperativer Klimaklub. Es geht darum, mit den Ambitionierten gemeinsame Standards für klimafreundliches Wirtschaften zu etablieren, anstatt auf die Langsamsten zu warten. So entsteht ein Markt, der Klimaschutz belohnt, anstatt ihn zum Standortnachteil zu machen. Der zweite Aspekt, den ich ansprechen möchte, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist unser Weg aus der Coronapandemie. Seit Deutschland vor ziemlich genau zwei Jahren zum ersten Mal in den Lockdown gegangen ist, hat kein anderes Thema die Bürgerinnen und Bürger so sehr beschäftigt und belastet. Fast 130 000 Menschen sind seither an Corona verstorben. Viele weitere kämpfen mit den Folgen der Infektion: gesundheitlich, wirtschaftlich und sozial. Trotz alledem sind wir insgesamt besser durch diese Krise gekommen als viele andere Länder. Das ist kein Zufall. Wir verdanken das den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes: den Pflegekräften in den Kliniken und Pflegeeinrichtungen, den Ärztinnen und Rettungssanitätern, die seit nun 24 Monaten an vorderster Front gegen das Virus kämpfen – bis zur Erschöpfung und darüber hinaus, den Schülerinnen und Schülern, den Lehrerinnen, Erziehern und Eltern, die nervenzehrende Monate hinter sich haben zwischen Unterrichtsausfall, Homeschooling, Homeoffice und Schule unter Pandemiebedingungen, und natürlich auch den Millionen Bürgerinnen und Bürgern, die sich an die Coronaregeln gehalten haben, die sich haben impfen lassen, die auf vieles verzichtet haben, was unser Leben schön und lebenswert macht. Ich finde, es ist höchste Zeit, ihnen allen dafür noch einmal zu sagen: Danke! Doch damit ist es nicht getan. Wir werden den Weg aus der Krise solidarisch zu Ende gehen. Deshalb haben wir den Zugang zur Grundsicherung erleichtert, die Wirtschaftshilfen und die Sonderregelungen beim Kurzarbeitergeld verlängert. So ist der deutsche Arbeitsmarkt stabil durch die Pandemie gekommen. Die Wirtschaft kommt langsam wieder in Schwung und kann die vollen Auftragsbücher abarbeiten, auch weil Fachkräfte eben nicht entlassen wurden. Das ist gut – auch mit Blick auf die Belastungen, die der Krieg in der Ukraine für die Wirtschaft mit sich bringt und bringen wird. In fast allen Staaten um uns herum sind die Coronabeschränkungen inzwischen gelockert oder nahezu komplett aufgehoben worden. Auch der Bundestag hat das Infektionsschutzgesetz letzte Woche angepasst. Es ermöglicht weitere Lockerungen. Die Länder erhalten aber zugleich die Möglichkeit, Einschränkungen in Kraft zu setzen, wenn die Lage das erfordert. Als Bundesregierung bleiben wir umsichtig, denn nichts wäre schlimmer, als die mühsam erreichten Erfolge aufs Spiel zu setzen. Für mich heißt das vor allem: Wir werden alles dafür tun, dass eine neue Infektionswelle unser Land im Herbst nicht wieder zum Stillstand bringt – dann vielleicht mit einer Virusvariante, die viel gefährlicher ist als Omikron. Um ein solches Déjà-vu zu vermeiden, brauchen wir die Impfnachweispflicht. Ich bitte Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie uns diesen Schritt in den nächsten Wochen gemeinsam gehen! Er führt uns aus der Pandemie. Wir alle sind Teil einer Gesellschaft, und in einer Gesellschaft erfordert Freiheit für alle auch Solidarität von allen. Dieser Gedanke, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht weit über die Pandemie hinaus. Vor uns liegen enorme Aufgaben: die wirtschaftliche Transformation voranbringen, die Klimakrise in den Griff bekommen, demografischen Wandel gestalten, Frieden in Europa sichern. All das wird uns nur gelingen, wenn wir als Gesellschaft solidarisch zusammenhalten. Gesellschaftlichen Zusammenammenhalt zu stärken, das ist das dritte große Handlungsfeld der Bundesregierung. Die Bürgerinnen und Bürger müssen spüren: Jeder und jede Einzelne zählt. Mein Beitrag, meine Anstrengung wird wertgeschätzt. Zentraler Ausdruck dafür sind faire, anständige Löhne. Darum hat die Bundesregierung auch als eines ihrer ersten Vorhaben die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro auf den Weg gebracht; am 1. Oktober tritt sie in Kraft. Wenn wir über faire Löhne, auskömmliche Renten, bezahlbare Mieten oder eine gute Absicherung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit reden, dann reden wir nicht über staatliche Geschenke, sondern über den Kitt, der unser Land zusammenhält. Um die enormen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen, brauchen wir diesen Zusammenhalt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen Gedanken will ich noch hinzufügen. Alle Herausforderungen, die vor uns liegen, bewältigen wir umso besser, wenn wir sie gemeinsam mit unseren Freunden und Partnern in Europa und der Welt angehen. In diesem Geist kommen morgen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, der NATO und auf meine Einladung hin auch der G 7 zu einem außergewöhnlichen Gipfeltreffen in Brüssel zusammen. Auf den Tag genau 65 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge werden wir der Welt zeigen: Wir stehen zusammen. Wir stimmen uns eng ab und entscheiden auch über die nächsten Schritte gemeinsam. Selten waren die Geschlossenheit der Europäischen Union, der Schulterschluss innerhalb der NATO und die Einigkeit der G 7 so groß wie heute. Und ich bin Präsident Biden sehr dankbar, dass er dies mit seiner Reise nach Brüssel unterstreicht. Diese Geschlossenheit bleibt unser größtes Pfund im Einsatz für Frieden, Freiheit und Demokratie. Unsere Bündnisse und Allianzen werden diese Bewährungsprobe bestehen. Mehr noch: Sie werden gestärkt aus ihr hervorgehen. Geschlossen wie nie werden wir in den kommenden Monaten die Verteidigungsfähigkeit der NATO stärken, und geschlossen wie nie werden wir im Europäischen Rat morgen und übermorgen eine neue europäische Sicherheitsstrategie annehmen, den strategischen Kompass. Damit gehen wir einen weiteren Schritt in Richtung europäischer Souveränität. Wir erleben gerade, welche Dynamik die Zeitenwende auch auf europäischer Ebene mit sich bringt. Das werden wir nutzen. Wer Sicherheit in Europa will, der kommt gar nicht umhin, die Krisenresilienz der EU deutlich zu stärken, in der Wirtschafts- sowie in der Energiepolitik, aber auch bei neuen Technologien oder im Cyberraum. Und wer mit strategischem Blick auf die Landkarte Europas schaut, der muss doch alles daransetzen, dass wir die Länder des westlichen Balkans unterstützen, damit sie möglichst bald der Europäischen Union beitreten können. Dass wir angesichts der Tragweite solcher Entscheidungen auch unsere Entscheidungsmechanismen innerhalb der EU anpassen müssen, liegt auf der Hand. Auch da möchte ich Bewegung hineinbringen. Meine Damen und Herren, große Krisen sind immer auch ein Anstoß zu Aufbruch und Veränderung. Gerade erleben wir das, trotz oder vielleicht gerade wegen des Schreckens, den der Krieg in der Ukraine auslöst. Politische Weichen werden neu gestellt in Deutschland und Europa. Der Rückhalt in der Bevölkerung dafür ist groß, weil die Bürgerinnen und Bürger spüren: Ohne Frieden ist alles nichts. Freiheit und Demokratie sind plötzlich keine abstrakten Begriffe mehr, sondern etwas, das es zu verteidigen lohnt. Und überall in unserem Land wird Solidarität sichtbar. Millionen Menschen spenden, sie gehen zu Friedenskundgebungen, sie helfen den Geflüchteten aus der Ukraine. Mir macht das Mut, weil es zeigt, dass wir in der Krise über uns hinauswachsen, weil es zeigt, wie viel Gutes in unserem Land steckt, und weil es zeigt, was wir gemeinsam bewegen können. Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Eröffnung der Tesla-Gigafactory am 22. März 2022 in Grünheide (Mark)
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-eroeffnung-der-tesla-gigafactory-am-22-maerz-2022-in-gruenheide-mark–2018766
Tue, 22 Mar 2022 00:00:00 +0100
Grünheide (Mark)
Einen schönen guten Tag! Ich freue mich, dass wir heute zur Eröffnung der Produktion hier an dieser Stelle zusammenstehen können. Das ist gleichzeitig ein Zeichen für viele, viele Dinge, die in Deutschland in Bewegung sind. Das erste Zeichen ist: Der Osten Deutschlands ist industriell vorne mit dabei. Die erste Fabrik, die in Deutschland errichtet wurde und die nur Elektrofahrzeuge gebaut hat, ist im Osten Deutschlands gebaut worden. Jetzt entsteht an dieser Stelle im Osten Deutschlands, in Brandenburg, eine Fabrik mit einem international tätigen Unternehmen im Rücken, das ausschließlich Elektrofahrzeuge produziert. Das ist ein gutes Zeichen dafür, dass die deutsche Einheit in dieser Weise richtig funktioniert. Die Bundesrepublik Deutschland ist zugleich ein starker Industriestandort. Wir sind ja ein Land mit einer langen Tradition, was Industrie betrifft. Es ist eine Industrie, von der viele über viele Jahre hinweg immer wieder gesagt haben, dass sie sei ein Thema der Geschichte, dass alles den Dienstleistungen gehöre. Aber die Wahrheit war das zu keiner Zeit. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir ein solches Industrieland geblieben sind und bleiben wollen, aber auch, dass es viele große Unternehmen aus aller Welt gibt, die neu in diesem traditionsreichen und alten Industrieland investieren. Vor wenigen Tagen haben wir die Entscheidung über die Ansiedlung einer Halbleiterfabrik durch Intel gehört, eine milliardenschwere Investition. Wir hören von Entscheidungen über Batterieproduktion in Deutschland, an vielen Stellen, und es gibt eben auch diese Entscheidung, eine nagelneue Automobilfabrik in diesem Land zu errichten – eine richtige Entscheidung und ein Zeichen auch für den Fortschritt und die Zukunft der Industrie. Im Übrigen setzen wir auf Elektromobilität. Das ist, wenn man an das Land denkt, in dem die Automobilität mit entstanden ist und das die ersten Fabriken errichtet hat, die Autos erzeugen, ein ganz wichtiges Zeichen – nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze Welt. Dass dies jetzt überall und auch an dieser Stelle passiert, ist ein gutes Zeichen. Aber es ist ein Zeichen dafür, dass wir auf den Fortschritt setzen müssen, der mit neuen Technologien einhergeht, weil das uns neue Arbeitsplätze schafft. Die Dinge, die wir heute schon können, werden uns in zehn, 20 oder 50 Jahren keinen Wohlstand schaffen, sondern nur Dinge, die wir jetzt neu anfangen. Genau das ist das, was hier geschieht. Die Elektromobilität wird die Mobilität der Zukunft prägen, und das ist heute hier klar. Deutschland kann schnell sein. Ich danke der Leadership des brandenburgischen Ministerpräsidenten und seiner Minister, die zusammen mit dem Landrat hier vor Ort dafür gesorgt haben, dass all diese Dinge schnell geschehen. Das ist für uns nicht nur etwas, das wir zur Kenntnis nehmen, sondern etwas, dass wir als Ansporn für alles nehmen wollen, was jetzt passiert. Ich sehe den Bundesminister für Wirtschaft, und ich will ausdrücklich sagen: Wir werden in diesem Jahr alle gesetzlichen Weichen stellen, damit die Energietransformation, der Ausbau der modernen Technologien, so schnell vorankommen kann, wie es sein muss, wenn man in 20 oder 25 Jahren klimaneutral wirtschaften wird. Wir werden es jetzt tun! Zuletzt will ich noch ein Wort zur Globalisierung sagen; denn darüber wird ja in diesen Tagen auch viel diskutiert, über Deglobalisierung und über die Abkopplung von Wirtschaftsräumen. Aus meiner Sicht würde das die Welt und uns alle um großen Wohlstand bringen. Richtig ist es vielmehr so, wie es ja schon immer war, nämlich dass zum Beispiel Ford, ein globales Unternehmen aus den USA, 1925 eine Autofabrik in Deutschland errichtet hat; dass deutsche Unternehmen in den USA, in China und an vielen anderen Orten der Welt investieren; und dass Tesla als amerikanisches Unternehmen jetzt auch in Deutschland investiert. Wir brauchen globalen Wettbewerb und keine Deglobalisierung. Das geht schief. In diesem Sinne wünsche ich all denjenigen Erfolg, die hier arbeiten, den Männern und Frauen, die hier jeden Tag reingehen und dafür sorgen, dass es die Autos gibt, die da wieder herauskommen. Das ist schwere Arbeit ‑ dafür muss man viel können ‑, und es ist Arbeit, auf der unsere Gesellschaft aufbaut. Das sind nicht nur die Leute, die man überall im Fernsehen sieht. Es sind die Leute in diesen Fabriken, die unseren Wohlstand schaffen, und das sollen sie in Zukunft tun. Wir freuen uns, und wir stehen hinter euch. Alles Gute!
Rede beim Jahresempfang der Klassik Stiftung Weimar
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/jahresempfang-ksw-2018426
Sat, 19 Mar 2022 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
− Es gilt das gesprochene Wort − Ich danke Ihnen für diese Einladung, hier zu Ihnen zu sprechen. Es ehrt mich und ich freue mich sehr darüber. Doch man kann in diesen Tagen keine Rede ohne Vorrede beginnen, ohne auszusprechen, was uns alle bewegt, über den Krieg in der Ukraine. Man schwankt zwischen dem Drang, die jüngsten, die letzten Nachrichten gehört oder gesehen zu haben, dem Bedürfnis zu helfen, irgendetwas zu tun, und dem Entsetzen über das, was wir sehen: entgrenzte Gewalt, Schmerz, Trauer. Die schrecklichen Bilder der Verzweifelten werden von Tag zu Tag unerträglicher. Doch das Gefühl tiefer Hilflosigkeit vor einem Putin-Regime, das lügt, das Länder überfällt, Frauen, Männer und Kinder tötet, vor dieser eklatanten Verletzung des Rechts, der Menschenwürde und der Vernunft muss nicht nur unser Mitgefühl und unsere Solidarität mit den Opfern stärken, es muss auch unseren Verstand schärfen. Wir dürfen uns der eigenen Ohnmacht nicht ergeben. Wir müssen alles, was in unserer Macht steht und was unsere Vernunft uns gebietet tun, um den Ukrainerinnen und Ukrainern zu helfen, das Morden und das Zerstören zu beenden. Und wir müssen uns aufrichtig fragen, was wir tun können. Das Mindeste aber ist, zu verlangen, dass dieses Verbrechen ein Verbrechen genannt wird, mit allen Konsequenzen, die das auch für uns haben kann und haben wird. Ohne das ausgesprochen zu haben, kann ich meine Rede nicht beginnen. Wie aufrichtig wären meine Worte ohne diese Vorrede? Wie könnte ich mich auf Stéphane Hessel, auf Jean Améry, auf Imre Kertesz und Jorge Semprun berufen, ohne das gesagt zu haben? Meine Damen und Herren, ist Weimar ein Kommunikationsort für alle Fragen, wie Stéphane Hessel gesagt hat? Ich möchte gern glauben, dass das so ist. Denn wenn Weimar ein solcher Ort ist, dann wäre nicht nur viel erreicht, auch die Frage, was die Kulturpolitik dieser Regierung denn bewirken will, wäre fast schon beantwortet: Kultur als einen Raum zu begreifen, in dem wir in unserem Land, aber auch über Grenzen hinweg, sprechen über die Fragen, die Widersprüche und Herausforderungen der Gegenwart wie der Vergangenheit. Wenn Stéphane Hessel, ein Überlebender des KZ–Konzentrationslagers Buchenwald, zu der Annahme kommen konnte, Weimar sei ein solcher Ort der Kommunikation, dann hat das sicher viel damit zu tun, dass hier vor allem zwei Institutionen miteinander sprechen: die Klassik Stiftung Weimar und die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Dass diese Verständigung, diese Kooperation möglich wurde, ist ein ungeheurer Gewinn, nicht nur für Weimar, für uns alle. Es ist das Bekenntnis zueinander, das ein starkes Signal ist gegen Demokratiefeinde, Rechtsstaatsverächter und Geschichtsrevisionisten. Denn Weimar mag exemplarisch stehen für die historische Verschränkung von Kultur und Barbarei. Aber sie hat sich keineswegs nur hier ereignet. Und auch die Frage nach dem Verhältnis von kultureller und politischer Barbarei in der Moderne stellt sich nicht nur in Weimar. Jeder, der heute von und über Kultur spricht, wird sich diese Frage stellen müssen. Der Kulturbegriff, den die ehemalige DDR ebenso wie die Bundesrepublik der Nachkriegszeit pflegten, erklärte Kultur und Barbarei zu Antipoden, die keine Berührungspunkte kennen, ja, die einander abstießen. Es war auch der Versuch, Weimar und das Ideal der deutschen Klassik vor jeder Anfechtung zu bewahren, Weimar losgelöst von Buchenwald weiterbestehen zu lassen. Gelungen ist dieser Versuch glücklicherweise nicht. Denn diese nachträglich vorgenommene Scheidung von Kultur und Barbarei stand der Erfahrung der Häftlinge in Buchenwald, der Erfahrung von Jean Améry, Imre Kertesz und Jorge Semprun, nicht nur entgegen. Sie holte die Überlebenden nicht etwa in die Mitte der Gesellschaft, sondern machte sie im Gegenteil zu Außenseitern. Die Weigerung, vielleicht auch die Unfähigkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft, Kultur und Barbarei zusammen zu denken, schloss einen Jean Améry aus der Gesellschaft aus. Man hatte keine Verwendung für seine Erfahrungen und Erkenntnisse. Eine Verständigung über den Abgrund des Zivilisationsbruchs hinweg war weder im Westen noch im Osten Deutschlands möglich, weil sie, die Häftlinge in Buchenwald, eben gerade diese Verschränkung von Kultur und Barbarei erlebt und erlitten hatten. Die Kultur hatte sich, wie Volkhard Knigge sagt, als hintergehbar erwiesen. Was Kertesz, Améry und Semprun erfahren mussten, war politische und kulturelle Barbarei in der Kultur und nicht abgetrennt von ihr. Es gab kein Nebeneinander von Buchenwald oben und der Stadt Goethes und Schillers unten. Es war ein Miteinander. Ein Bild, dass für dieses Binom, Weimar und Buchenwald, steht, ist mir nach einem meiner letzten Besuche in der Ausstellung der Gedenkstätte in Erinnerung geblieben: ein paar zusammengeschobene antike Möbel und Bücherkisten, eine Vitrine, ein Schreibtisch, ein Sekretär. Wer davor stehen bleibt und fragt, erfährt, es sind Nachbauten von Möbeln Friedrich Schillers, angefertigt in der Häftlingstischlerei des Konzentrationslagers. Sie alle wissen das. Für mich war es eine Entdeckung, dass wer nach Weimar fährt, den Schreibtisch Schillers zweimal sehen kann. Das Original im Schillermuseum und seinen Nachbau in Buchenwald. Inzwischen weiß ich: Es ist der Tisch, an dem Schillers „Wilhelm Tell“ entstand. Und weil der damalige Kustos des Schillerhauses diesen Schreibtisch selbst als ein Kulturgut erkannte, entschied er 1942, ihn nachbauen zu lassen. Der Kustos hieß Eduard Scheidemantel, war Literaturhistoriker und Oberregierungsrat. Er fürchtete um das Erbe, das ihm anvertraut war, um das Erbe eines Nationaldichters, um seine Möbel. Sie hätten bei Luftangriffen auf Weimar Schaden nehmen können. Was uns der Nachbau des Schreibtisches von Friedrich Schiller und die Sorge um das Erbe des Nationaldichters lehrt, ist, dass die Kultur gegen ihre Vereinnahmung nicht gefeit ist. Versuche nationaler oder ideologischer Vereinnahmung von Kultur gibt es in der Gegenwart und es wird sie auch in Zukunft geben. Wir erleben gerade ein autokratisches Regime in Russland, dass sich zur Diktatur wandelt, wir erleben, dass Künstler verfolgt werden, weil sie sich nicht auf eine nationale Idee verpflichten lassen wollen und wir erleben andere, die sich derselben Idee, demselben verbrecherischen Regime andienen. Dass wir uns für die überfallenen, von einer kriegerischen Übermacht vertriebenen Ukrainerinnen und Ukrainer, für verfolgte Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine, aus Belarus und Russland einsetzen werden, will ich hier noch einmal versichern. Was ich aber in Deutschland nicht erleben will, ist, dass Schriftsteller und Schriftstellerinnen nicht mehr verlegt oder Komponistinnen und Komponisten vom Spielplan genommen werden, weil es russische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, weil es russische Komponistinnen und Komponisten sind. Es kommt auf uns an! Wer für die Kultur spricht, wird sich gegen jede Form ihrer nationalen oder ideologischen Vereinnahmung zur Wehr setzen. Erst wenn wir verstehen, dass sich Kulturnationalismus und -Ideologie am Ende gegen die Kultur und gegen uns selbst wenden, verstehen wir auch, dass wir dem KZ–Konzentrationslager Buchenwald nicht das Weimar Schillers und Goethes entgegenhalten können. Es hieße das Weimar zu vergessen, dass eine gedeihliche und einträgliche Nachbarschaft mit Buchenwald einging. Es hieße auch, die damalige Kulturelite Weimars zu exkulpieren, die am Mythos der Stadt mitstrickte, sich als Gralshüter der Klassischen Stätten verstand, und die an dem Plan, ein KZ–Konzentrationslager auf dem Ettersberg zu errichten, schließlich nur den Namen zu beanstanden hatte, wie der Historiker Jens Schley sie zitiert: „weil Ettersberg mit dem Leben des Dichters Goethe in Zusammenhang steht“. Der Mythos Weimar, die Überhöhung und Idealisierung der deutschen Klassik, der „Naturschutzpark der Geistigkeit“, wie Egon Erwin Kisch Weimar 1926 nannte, diente immer auch der Abwehr des Neuem. Wer die deutsche Klassik als ein nie mehr erreichtes, nicht mehr zu hinterfragendes Ideal rühmte, wusste, warum er das tat. Er brachte sie gegen den Aufbruch in die Moderne, gegen Harry Graf Kessler, gegen Henry van der Velde und gegen das Bauhaus in Stellung. In diesem „Naturschutzpark“ war das Betreten der Grünflächen bei Strafe verboten. Thomas Mann dagegen, der das Widersprüchliche in Goethes Wesen und Schaffen betonte, wusste ebenfalls, was er tat. Er ging mit Goethe quer durchs Gelände. Er lobte ihn als „großen Menschen mit seinem großen, weit klafternden Widerspruch“. Er sah in ihm den Geheimrat, der im Dienst seiner feudalen Herrschaft stand, ihr aber nicht zu Diensten war; der, als er aufgefordert wird, seine Feder in den Dienst der guten, also der konservativen Sache zu stellen, erklärt, er halte es „für unmöglich, Fürsten und Schriftsteller zu gemeinsamem Wirken zu vereinen“. Und wenn Sie mich fragen, was denn nun gemeint ist mit Green Culture, ob Vielfalt denn nicht tatsächlich nur Beliebigkeit meint, und was gewonnen ist, wenn man dem Diversen neben dem Eindeutigen Raum schaffen will, dann will ich mich eben auf diese Widersprüchlichkeit berufen. Die Vielfachheit der Goetheschen Natur, sagt Thomas Mann in seiner Rede über den Repräsentanten des bürgerlichen Zeitalters, habe es den verschiedensten Gesinnungen leichtgemacht, sich auf ihn zu berufen; aber dies eine sei nicht möglich: ihn anzurufen im Interesse irgendwelcher geistigen Reaktion. So würde auch ich meinen Klassiker lesen wollen: der Vielfalt, dem Widersprüchlichen, dem Neuen Raum zu lassen. Wenn Weimar ein Kommunikationsort für alle Fragen bleiben soll, dann ist die Vorstellung, das kulturelle Erbe in Kunstharz zu gießen, um es konservieren zu wollen, obsolet. Wer es bewahren will, muss es hinterfragen, ja auch infrage stellen dürfen. Nur so kann es in der Gegenwart lebendig und für die Zukunft produktiv bleiben. Heute stehen die Weimarer Klassik und die Klassische Moderne gleichberechtigt nebeneinander. Das ist der Anspruch der Stiftung und ihrer Präsidentin, Ulrike Lorenz. Dafür bin ich dankbar – sehr dankbar. Und wenn sich die Stiftung als Impulsgeberin und Partnerin für nationale wie internationale Forschungs- und Bildungsprojekte versteht, dann bin ich sicher, wird es neben der Weimarer und der Modernen Klassik auch noch Platz für die Gegenwart geben. Ich meine damit, dass wir auch allem, was noch unbekannt ist, was nicht dem Kanon entspricht und was zum Widerspruch reizt, Raum geben sollten. Ich glaube, wir können darauf vertrauen, dass alles was gut ist und produktiv und seiner Zeit voraus, sich durchsetzt, – und, ob wir es wollen oder nicht, in Weimar am Ende zum Klassiker wird. Doch wer dem Neuen den Weg bereiten will, muss sich auch der Vergangenheit stellen. Das ist in Weimar, wie andernorts in Deutschland, oft nur gegen Widerstände, aber am Ende doch gelungen. Ein wunderbares Beispiel dafür ist die Zeitschneise, der 1,3 Kilometer lange Weg, der heute die Gedenkstätte Buchenwald mit dem Schloss Ettersburg verbindet. Die Idee hatten Bernd Kauffmann und Volkhard Knigge. Für „vollends geisteskrank“ sei er erklärt worden, als er die gemeinsame Idee vorstellte, soll Bernd Kauffmann dem kürzlich verstorbenen Peter Merseburger gesagt haben. Und doch hat sie sich durchgesetzt. Ich bin froh, dass es gelungen ist. Denn nur wer bereit ist, diesen Weg zu gehen, den Weg zwischen dem Konzentrationslager und Goethes Iphigenie, kann ermessen, was Weimar heute, für uns und für die deutsche Kulturgeschichte bedeutet.
Man müsse Kultur als einen Raum begreifen, in dem man über Widersprüche und Herausforderungen der Gegenwart wie der Vergangenheit spreche, betonte Kulturstaatsministerin Roth in ihrer Rede bei der Klassik Stiftung Weimar. Deren Stiftungsrat wird sie künftig als stellvertretende Vorsitzende angehören.
Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Veranstaltung zum 100. Geburtstag von Egon Bahr des
Willy-Brandt-Kreises und der Friedrich-Ebert-Stiftung am 17. März 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-bei-der-veranstaltung-zum-100-geburtstag-von-egon-bahr-des-willy-brandt-kreises-und-der-friedrich-ebert-stiftung-am-17-maerz-2022-2017808
Thu, 17 Mar 2022 19:12:00 +0100
Berlin
keine Themen
Liebe Adelheid Bahr, sehr geehrter Herr Bundespräsident Fischer, sehr geehrter Herr Bundespräsident Köhler, liebe Heidemarie Wieczorek-Zeul, liebe Barbara Hendricks, meine sehr geehrten Damen und Herren, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Friedensordnung in Europa ins Wanken gebracht. Ganz bewusst habe ich im Bundestag von einer „Zeitenwende“ gesprochen. Egon Bahr hat solche Zeitenwenden gleich mehrfach erlebt: den Faschismus und die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, die Teilung Deutschlands und Europas, und schließlich den Fall des Eisernen Vorhangs. Ich habe mich daher in den letzten Wochen öfter gefragt: Was würde er heute sagen, in dieser Zeitenwende? Egon Bahr war der Meinung, Veränderungen beginnen im Kopf. Statt sich am Status quo abzuarbeiten, sprach er schon 1965 – gerade einmal vier Jahre nach dem Mauerbau – über Bedingungen für die Wiedervereinigung. Immer mit dem Ziel vor Augen, das auch ihn zeitlebens antrieb: Den Frieden und die Freiheit in Europa zu sichern. Denn darum geht es – vor allem anderen, auch heute. Drei Gedanken möchte ich dazu beisteuern: Der erste Gedanke ist: Ostpolitik war nie ein deutscher Sonderweg. Und darf es niemals sein. Willy Brandt und Egon Bahr wussten genau, wo sie stehen. Ihre historische Öffnung gegenüber dem Osten unseres Kontinents war fest im Westen verwurzelt. Ohne Kennedys Friedensrede, ohne die zunächst stillschweigende, später wohlwollende Unterstützung der USA, und ohne eine europäische Einbettung wäre eine solche Politik unmöglich gewesen. Willy Brandt hat das in der historischen Debatte über die Ostverträge – fast auf den Tag genau vor 50 Jahren – auf den Punkt gebracht: „Eine patriotische Politik in Deutschland kann heute nur eine europäische Politik sein.“ Und auch für uns gilt: Unsere Politik gegenüber Russland kann nur eine gemeinsame europäische Politik sein! Brandt und Bahr mussten damals zuerst mit Moskau sprechen, um Entspannung im Verhältnis zu Warschau, Prag oder Ost-Berlin zu erreichen. Heute aber sind wir in einer anderen Lage. Wenn wir mit Warschau, Prag oder Bukarest sprechen, dann haben wir es mit unabhängigen, souveränen Staaten zu tun, mit Freunden und Partnern in der Europäischen Union und der NATO. Das ist die Realität, die wir unserer Politik zugrunde legen. Und auch der russische Präsident muss diese Realität anerkennen. Deshalb habe ich den EU-Botschaftern in Moskau nach meinem Gespräch vor einigen Wochen im Kreml gesagt: Unsere größte Stärke in dieser Krise ist unsere Geschlossenheit. Und diese Geschlossenheit haben wir in den vergangenen Wochen unter Beweis gestellt. Für Deutschland bedeutet das, unsere Politik europäisch abzustimmen und einzubetten – und so europäischen Konsens zu ermöglichen. Mit diesem Ziel vor Augen gehen wir auch in den Europäischen Rat Ende nächster Woche, wo wir Weichen stellen wollen in Richtung europäischer Souveränität. Alles aber, was als deutscher Sonderweg wahrgenommen wird – gerade im Verhältnis zu Russland – schadet uns, schadet unserer Sicherheit und schadet Europa. Mein zweiter Punkt, betrifft die Frage, wie wir unsere europäische Friedensordnung wahren. Egon Bahr fand diese Friedensordnung nicht vor. Er musste auf sie hinwirken. So erklärt sich die nur scheinbar paradoxe Formel in Egon Bahrs Tutzinger Rede von der „Überwindung des Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll“. Sein langfristiges Ziel bestand darin, den gerade aus deutscher Sicht unbefriedigenden Status quo der Teilung unseres Landes zu überwinden. Heute jedoch liegen die Verhältnisse grundlegend anders: Wir haben das allergrößte Interesse daran, die seit Helsinki bestehende Sicherheitsordnung in Europa dauerhaft zu bewahren. Russland hingegen ist mit dem Krieg gegen die Ukraine dabei, diesen Status quo zu zertrümmern. Putin geht es darum, die Uhren zurückdrehen in eine Zeit, in der die Großmächte die Landkarte unter sich aufteilten. In der sie die Länder Mittel- und Osteuropas als bloße Puffer- oder Einflusszonen behandelten. Doch die Zeit läuft nicht rückwärts. Das gilt es, der russischen Führung klar zu machen. Und zwar, indem wir unsere regelbasierte Ordnung entschlossen verteidigen gegen Angriffe, wie wir sie derzeit erleben. Alles andere hieße, die Büchse der Pandora zu öffnen, die jede gewaltsame Grenzverschiebung gerade in Europa zwangsläufig mit sich bringt. Ein Blick auf historische Landkarten genügt, um die Gefahr zu erkennen. Deshalb haben wir Moskau von Beginn der Krise an klar gesagt: Die Säulen der europäischen Friedensordnung, die Unverletzlichkeit von Grenzen stehen nicht zur Disposition! Daran schließt sich mein dritter Gedanke an – zu der von Egon Bahr geprägten Formel: Frieden in Europa ist nur mit und nicht gegen Russland möglich. Diese Aussage bleibt richtig. Aber zugleich müssen wir erkennen: Die aktuelle Politik der russischen Führung ist eine reale Bedrohung für die Sicherheit in Europa. Das ist der bedauerliche Ausgangspunkt einer Russlandpolitik, die – ganz im Sinne Egon Bahrs – mit dem nüchternen Betrachten der Realität beginnen muss. Aber die dort nicht stehenbleibt! Wer Frieden will, der muss bereit sein zu verhandeln. Auch wir halten Gesprächskanäle offen und nutzen jede Möglichkeit einer Vermittlung. Deshalb sprechen der französische Präsident und ich mit Präsident Putin. Deshalb stimmen wir uns eng auch mit anderen Partnern ab, die Einfluss haben: natürlich mit den Vereinigten Staaten, aber auch mit China, der Türkei oder Israel. Ob diese Gespräche zu einem Erfolg oder gar zu einer politischen Lösung beitragen, vermag im Moment niemand zu prognostizieren. Aber das hält uns nicht ab! Klar ist: Frieden gibt es nur über einen Waffenstillstand und Verhandlungen. Und dabei sind wir nicht naiv. Dialog ist kein Selbstzweck. Dialog – gerade mit Russland – setzt eigene Stärke voraus. Das wussten auch Willy Brandt und Egon Bahr. Übrigens: Der prozentual höchste Anstieg der Verteidigungsausgaben in der Bundesrepublik fiel in ihre Regierungszeit. Dialogbereitschaft muss Hand in Hand gehen mit der Bereitschaft, unsere Werte und Prinzipien entschlossen gegen Angriffe zu verteidigen. Wenn Demokratie, Freiheit und Menschenrechte angegriffen werden – so wie heute in der Ukraine – dann müssen auf Worte Taten folgen. Deshalb werden wir unsere politische und wirtschaftliche Unterstützung für die Ukraine fortsetzen und verstärken. Und deshalb haben wir entschieden, der Ukraine Waffen zur Selbstverteidigung zu liefern. Diese Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen. Aber sie war notwendig und richtig. Und genauso notwendig und richtig sind die harten Sanktionen, die wir in den vergangenen Tagen und Wochen zusammen mit unseren Freunden und Partnern beschlossen haben. Schließlich geht es in der Ukraine auch um unsere Werte und unsere Friedensordnung! Meine Damen und Herren, einen Fehler werden wir jedoch unter allen Umständen vermeiden: Putin gleichzusetzen mit Russland. Nicht das russische Volk hat die fatale Entscheidung des Überfalls auf die Ukraine getroffen. Dieser Krieg ist Putins Krieg. Die Ukraine will Frieden. Wir wollen Frieden mit Russland und dem russischen Volk. Diese Differenzierung ist wichtig. Sie ist wichtig, um die Aussöhnung zwischen Deutschen und Russen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aufs Spiel setzen. Sie ist wichtig, um keine Gräben aufzureißen zwischen uns und den vielen ukrainisch- und russischstämmigen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in unserem Land. Und sie ist wichtig, um den mutigen russischen Männern und Frauen, die unter hohen persönlichen Risiken gegen Putins Angriffskrieg auf die Straße gehen, eines zu zeigen: Ihr steht nicht allein! Wir stehen an Eurer Seite. Es ist dieses Russland, das Hoffnung macht auf bessere Zeiten – auch im Verhältnis zwischen Deutschland und Russland. Bei meinem Besuch in Moskau vor wenigen Wochen habe ich mit Vertretern der russischen Zivilgesellschaft gesprochen, die unter enormem Druck steht. Einer von ihnen hat zu mir gesagt: „Wissen Sie, Demokratie wächst aus uns Menschen.“ Die mutigen Frauen und Männer auf den Straßen in Petersburg, Moskau oder Nowosibirsk geben ihm Recht. Sie zeigen, dass es ein anderes Russland als Putins Russland gibt. Dieses andere Russland ist das Fundament für die deutsch-russischen Beziehungen der Zukunft. Ich weiß, dass dies vielen von Ihnen ein Herzensanliegen ist. Und ich möchte all denjenigen danken, die den Kontakt zur russischen Zivilbevölkerung in Vereinen und Verbänden pflegen und stärken. Ihre Arbeit ist heute wohl wichtiger denn je! *** Meine Damen und Herren, ich weiß, Egon Bahr hätte heute voller Leidenschaft mit uns diskutiert über die Grenzen und Möglichkeiten einer Ostpolitik auf der Höhe der Zeit. Ich erinnere mich noch an unsere gemeinsame Zeit in Hamburg – Egon war dort Leiter des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik. Er hat nie ein Blatt vor den Mund genommen. Jede Zeit kennt eben nicht nur ihre Herausforderungen. Sie gibt auch ihre eigenen Antworten. Für Egon Bahr war dabei immer klar: „Sofern die Antwort nicht fatalistisch lautet, dass wir eben nichts tun können, muss geprüft werden, was wir tun können.“ Das war sein Anspruch. Und das ist auch unser Anspruch heute. Vielen Dank!
Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-am-27-februar-2022-2008356
Sun, 27 Feb 2022 00:00:00 +0100
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen – aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage. Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen. Die schrecklichen Bilder aus Kiew, Charkiw, Odessa und Mariupol zeigen die ganze Skrupellosigkeit Putins. Die himmelschreiende Ungerechtigkeit, der Schmerz der Ukrainerinnen und Ukrainer, sie gehen uns allen sehr nahe. Ich weiß genau, welche Fragen sich die Bürgerinnen und Bürger in diesen Tagen abends am Küchentisch stellen, welche Sorgen sie umtreiben angesichts der furchtbaren Nachrichten aus dem Krieg. Viele von uns haben noch die Erzählungen unserer Eltern oder Großeltern im Ohr vom Krieg, und für die Jüngeren ist es kaum fassbar: Krieg in Europa. Viele von ihnen verleihen ihrem Entsetzen Ausdruck – überall im Land, auch hier in Berlin. Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus. Ja, wir wollen und wir werden unsere Freiheit, unsere Demokratie und unseren Wohlstand sichern. Ich bin Ihnen, Frau Präsidentin, sehr dankbar, dass ich die Vorstellungen der Bundesregierung dazu heute in dieser Sondersitzung mit Ihnen teilen kann. Auch den Vorsitzenden aller demokratischen Fraktionen dieses Hauses danke ich dafür, dass sie diese Sitzung unterstützt haben. Meine Damen und Herren, mit dem Überfall auf die Ukraine will Putin nicht nur ein unabhängiges Land von der Weltkarte tilgen. Er zertrümmert die europäische Sicherheitsordnung, wie sie seit der Schlussakte von Helsinki fast ein halbes Jahrhundert Bestand hatte. Er stellt sich auch ins Abseits der gesamten internationalen Staatengemeinschaft. Weltweit haben unsere Botschaften in den vergangenen Tagen gemeinsam mit Frankreich dafür geworben, die russische Aggression im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als das zu benennen, was sie ist: ein infamer Völkerrechtsbruch. Wenn man sich das Ergebnis der Sicherheitsratssitzung in New York anschaut, durchaus mit Erfolg. Die Beratungen haben gezeigt: Wir stehen keineswegs allein in unserem Einsatz für den Frieden. Wir werden ihn fortsetzen mit aller Kraft. Für das, was sie dort zustande gebracht hat, bin ich Außenministerin Baerbock sehr dankbar. Nur mit der Notbremse seines Vetos konnte Moskau – immerhin ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates – die eigene Verurteilung verhindern. Was für eine Schande! Präsident Putin redet dabei stets von unteilbarer Sicherheit. Tatsächlich aber will er gerade den Kontinent mit Waffengewalt in altbekannte Einflusssphären teilen. Das hat Folgen für die Sicherheit in Europa. Ja, dauerhaft ist Sicherheit in Europa nicht gegen Russland möglich. Auf absehbare Zeit aber gefährdet Putin diese Sicherheit. Das muss klar ausgesprochen werden. Wir nehmen die Herausforderung an, vor die die Zeit uns gestellt hat – nüchtern und entschlossen. Fünf Handlungsaufträge liegen nun vor uns. Erstens. Wir müssen die Ukraine in dieser verzweifelten Lage unterstützen. Das haben wir auch in den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren in großem Umfang getan. Aber mit dem Überfall auf die Ukraine sind wir in einer neuen Zeit. In Kiew, Charkiw, Odessa und Mariupol verteidigen die Menschen nicht nur ihre Heimat. Sie kämpfen für Freiheit und ihre Demokratie, für Werte, die wir mit ihnen teilen. Als Demokratinnen und Demokraten, als Europäerinnen und Europäer stehen wir an ihrer Seite, auf der richtigen Seite der Geschichte. Am Donnerstag hat Präsident Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine eine neue Realität geschaffen. Diese neue Realität erfordert eine klare Antwort. Wir haben sie gegeben: Wie Sie wissen, haben wir gestern entschieden, dass Deutschland der Ukraine Waffen zur Verteidigung des Landes liefern wird. Auf Putins Aggression konnte es keine andere Antwort geben. Meine Damen und Herren, unser zweiter Handlungsauftrag ist, Putin von seinem Kriegskurs abzubringen. Der Krieg ist eine Katastrophe für die Ukraine. Aber der Krieg wird sich auch als Katastrophe für Russland erweisen. Gemeinsam mit den EU-Staats- und -Regierungschefs haben wir ein Sanktionspaket von bisher unbekanntem Ausmaß verabschiedet. Wir schneiden russische Banken und Staatsunternehmen von der Finanzierung ab. Wir verhindern den Export von Zukunftstechnologien nach Russland. Wir nehmen die Oligarchen und ihre Geldanlagen in der EU ins Visier. Hinzu kommen die Strafmaßnahmen gegen Putin und Personen in seinem direkten Umfeld sowie Einschränkungen bei der Visavergabe für russische Offizielle. Und wir schließen wichtige russische Banken vom Bankenkommunikationsnetz SWIFT aus. Darauf haben wir uns gestern mit den Staats- und Regierungschefs der wirtschaftlich stärksten Demokratien und der EU verständigt. Machen wir uns nichts vor: Putin wird seinen Kurs nicht über Nacht ändern. Doch schon sehr bald wird die russische Führung spüren, welch hohen Preis sie bezahlt. Allein in der letzten Woche haben russische Börsenwerte um über 30 Prozent nachgegeben. Das zeigt: Unsere Sanktionen wirken. Und wir behalten uns weitere Sanktionen vor, ohne irgendwelche Denkverbote. Unsere Richtschnur bleibt die Frage: Was trifft die Verantwortlichen am härtesten? Die, um die es geht, und nicht das russische Volk! Denn Putin, nicht das russische Volk, hat sich für den Krieg entschieden. Deshalb gehört es deutlich ausgesprochen: Dieser Krieg ist Putins Krieg. Die Differenzierung ist mir wichtig; denn die Aussöhnung zwischen Deutschen und Russen nach dem Zweiten Weltkrieg ist und bleibt ein wichtiges Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte. Und ich weiß, wie schwierig die derzeitige Situation gerade für die vielen Bürgerinnen und Bürger unseres Landes zu ertragen ist, die in der Ukraine oder in Russland geboren sind. Darum werden wir nicht zulassen, dass dieser Konflikt zwischen Putin und der freien Welt zum Aufreißen alter Wunden und zu neuen Verwerfungen führt. Noch etwas sollten wir nicht vergessen: In vielen russischen Städten haben Bürgerinnen und Bürger in den vergangenen Tagen gegen Putins Krieg protestiert, haben Verhaftung und Bestrafung in Kauf genommen. Das erfordert großen Mut und große Tapferkeit. Deutschland steht heute an der Seite der Ukrainerinnen und der Ukrainer. Unsere Gedanken und unser Mitgefühl gelten heute den Opfern des russischen Angriffskriegs. Genauso stehen wir an der Seite all jener in Russland, die Putins Machtapparat mutig die Stirn bieten und seinen Krieg gegen die Ukraine ablehnen. Wir wissen: Sie sind viele. Ihnen allen sage ich: Geben Sie nicht auf! Ich bin ganz sicher: Freiheit, Toleranz und Menschenrechte werden sich auch in Russland durchsetzen. Meine Damen und Herren, die dritte große Herausforderung liegt darin, zu verhindern, dass Putins Krieg auf andere Länder in Europa übergreift. Das bedeutet: Ohne Wenn und Aber stehen wir zu unser Beistandspflicht in der NATO. Das habe ich auch unseren Alliierten in Mittel- und Osteuropa gesagt, die sich um ihre Sicherheit sorgen. Präsident Putin sollte unsere Entschlossenheit nicht unterschätzen, gemeinsam mit unseren Alliierten jeden Quadratmeter des Bündnisgebietes zu verteidigen. Wir meinen das sehr ernst. Mit der Aufnahme eines Landes in die NATO ist unser Wille als Bündnispartner verbunden, dieses Land zu verteidigen, und zwar so wie uns selbst. Die Bundeswehr hat ihre Unterstützung für die östlichen Bündnispartner bereits ausgeweitet und wird das weiter tun. Für dieses wichtige Signal danke ich der Bundesverteidigungsministerin. In Litauen, wo wir den Einsatzverband der NATO führen, haben wir unsere Truppe aufgestockt. Unseren Einsatz beim Air Policing in Rumänien haben wir verlängert und ausgeweitet. Wir wollen uns am Aufbau einer neuen NATO-Einheit in der Slowakei beteiligen. Unsere Marine hilft mit zusätzlichen Schiffen bei der Sicherung von Nord- und Ostsee und im Mittelmeer. Und wir sind bereit, uns mit Luftabwehrraketen auch an der Verteidigung des Luftraumes unserer Alliierten in Osteuropa zu beteiligen. Unsere Soldatinnen und Soldaten haben in den vergangenen Tagen oft nur wenig Zeit gehabt, sich auf diese Einsätze vorzubereiten. Ich sage ihnen, sicher auch in Ihrem Namen: Danke! Danke für ihren wichtigen Dienst gerade in diesen Tagen. Meine Damen und Herren, angesichts der Zeitenwende, die Putins Aggression bedeutet, lautet unser Maßstab: Was für die Sicherung des Friedens in Europa gebraucht wird, das wird getan. Deutschland wird dazu seinen solidarischen Beitrag leisten. Das heute klar und unmissverständlich festzuhalten, reicht aber nicht aus; denn dafür braucht die Bundeswehr neue, starke Fähigkeiten. Und das ist mein viertes Anliegen, meine Damen und Herren. Wer Putins historisierende Abhandlungen liest, wer seine öffentliche Kriegserklärung an die Ukraine im Fernsehen gesehen hat oder wer wie ich kürzlich persönlich mit ihm stundenlang gesprochen hat, der kann keinen Zweifel mehr haben: Putin will ein russisches Imperium errichten. Er will die Verhältnisse in Europa nach seinen Vorstellungen grundlegend neu ordnen, und dabei schreckt er nicht zurück vor militärischer Gewalt. Das sehen wir heute in der Ukraine. Wir müssen uns daher fragen: Welche Fähigkeiten besitzt Putins Russland, und welche Fähigkeiten brauchen wir, um dieser Bedrohung zu begegnen, heute und in der Zukunft? Klar ist: Wir müssen deutlich mehr in die Sicherheit unseres Landes investieren, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen. Das ist eine große nationale Kraftanstrengung. Das Ziel ist eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt. Ich habe bei der Münchner Sicherheitskonferenz vor einer Woche gesagt: Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind. Darum geht es, und das ist ja wohl erreichbar für ein Land unserer Größe und unserer Bedeutung in Europa. Aber machen wir uns nichts vor: Bessere Ausrüstung, modernes Einsatzgerät, mehr Personal – das kostet viel Geld.Wir werden dafür ein Sondervermögen Bundeswehr einrichten, und ich bin Bundesfinanzminister Lindner sehr dankbar für seine Unterstützung dabei. Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten. Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen. Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren. Meine Damen und Herren, ich richte mich hier an alle Fraktionen des Deutschen Bundestages: Lassen Sie uns das Sondervermögen im Grundgesetz absichern. Eines will ich hinzufügen: Wir streben dieses Ziel nicht nur an, weil wir bei unseren Freunden und Alliierten im Wort stehen, unsere Verteidigungsausgaben bis 2024 auf 2 Prozent unserer Wirtschaftsleistung zu steigern. Wir tun dies auch für uns, für unsere eigene Sicherheit, wohl wissend, dass sich nicht alle Bedrohungen der Zukunft mit den Mitteln der Bundeswehr einhegen lassen. Deshalb brauchen wir eine starke Entwicklungszusammenarbeit. Deshalb werden wir unsere Resilienz stärken, technisch und gesellschaftlich, zum Beispiel gegen Cyberangriffe und Desinformationskampagnen, gegen Angriffe auf unsere kritische Infrastruktur und Kommunikationswege. Und wir werden technologisch auf der Höhe der Zeit bleiben. Darum ist es mir zum Beispiel so wichtig, dass wir die nächste Generation von Kampfflugzeugen und Panzern gemeinsam mit europäischen Partnern und insbesondere Frankreich hier in Europa bauen. Diese Projekte haben oberste Priorität für uns. Bis die neuen Flugzeuge einsatzbereit sind, werden wir den Eurofighter gemeinsam weiterentwickeln.Gut ist auch, dass die Verträge zur Eurodrohne in dieser Woche endlich unterzeichnet werden konnten. Auch die Anschaffung der bewaffneten Heron-Drohne aus Israel treiben wir voran. Für die nukleare Teilhabe werden wir rechtzeitig einen modernen Ersatz für die veralteten Tornado-Jets beschaffen. Der Eurofighter soll zu Electronic Warfare befähigt werden. Das Kampfflugzeug F‑35 kommt als Trägerflugzeug in Betracht.Und schließlich, meine Damen und Herren, werden wir mehr tun, um eine sichere Energieversorgung unseres Landes zu gewährleisten. Eine wichtige Maßnahme dazu hat die Bundesregierung bereits auf den Weg gebracht. Und wir werden umsteuern – umsteuern, um unsere Importabhängigkeit von einzelnen Energielieferanten zu überwinden. Die Ereignisse der letzten Tage und Wochen haben uns doch gezeigt: Eine verantwortungsvolle, vorausschauende Energiepolitik ist nicht nur entscheidend für unsere Wirtschaft und unser Klima, sondern entscheidend auch für unsere Sicherheit. Deshalb gilt: Je schneller wir den Ausbau erneuerbarer Energien vorantreiben, desto besser. Und wir sind auf dem richtigen Weg. Wir wollen als Industrieland bis 2045 CO2-neutral werden. Mit diesem Ziel vor Augen werden wir wichtige Entscheidungen treffen müssen, etwa eine Kohle- und Gasreserve aufzubauen. Wir haben beschlossen, die Speichermenge an Erdgas über sogenannte Long Term Options um 2 Milliarden Kubikmeter zu erhöhen. Zudem werden wir rückgekoppelt mit der EU zusätzliches Erdgas auf den Weltmärkten erwerben. Schließlich haben wir die Entscheidung getroffen, zwei Flüssiggasterminals, LNG-Terminals, in Brunsbüttel und Wilhelmshaven schnell zu bauen. Bundeswirtschaftsminister Habeck möchte ich für seinen Einsatz dabei ganz ausdrücklich danken. Das, was nun kurzfristig notwendig ist, lässt sich mit dem verbinden, was langfristig ohnehin gebraucht wird für den Erfolg der Transformation. Ein LNG-Terminal, in dem wir heute Gas ankommen lassen, kann morgen auch Grünen Wasserstoff aufnehmen. Und natürlich behalten wir bei all dem die hohen Energiepreise im Blick. Putins Krieg hat sie zuletzt noch weiter steigen lassen. Deshalb haben wir in dieser Woche ein Entlastungspaket vereinbart: mit der Abschaffung der EEG-Umlage noch in diesem Jahr, einer Erhöhung der Pendlerpauschale, einem Heizkostenzuschuss für Geringverdiener, Zuschüssen für Familien und steuerlichen Entlastungen. Die Bundesregierung wird das schnell auf den Weg bringen.Unsere Botschaft ist klar: Wir lassen die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen in dieser Lage nicht allein. Meine Damen und Herren, die Zeitenwende trifft nicht nur unser Land; sie trifft ganz Europa. Und auch darin stecken Herausforderung und Chance zugleich. Die Herausforderung besteht darin, die Souveränität der Europäischen Union nachhaltig und dauerhaft zu stärken. Die Chance liegt darin, dass wir die Geschlossenheit wahren, die wir in den letzten Tagen unter Beweis gestellt haben, Stichwort „Sanktionspaket“. Für Deutschland und für alle anderen Mitgliedsländer der EU heißt das, nicht bloß zu fragen, was man für das eigene Land in Brüssel herausholen kann, sondern zu fragen: Was ist die beste Entscheidung für die Union? Europa ist unser Handlungsrahmen. Nur wenn wir das begreifen, werden wir vor den Herausforderungen unserer Zeit bestehen. Damit bin ich beim fünften und letzten Punkt. Putins Krieg bedeutet eine Zäsur, auch für unsere Außenpolitik. So viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein, dieser Anspruch bleibt. Nicht naiv zu sein, das bedeutet aber auch, kein Reden um des Redens willen. Für echten Dialog braucht es die Bereitschaft dazu auf beiden Seiten. Daran mangelt es aufseiten Putins ganz offensichtlich, und das nicht erst in den letzten Tagen und Wochen. Was heißt das für die Zukunft? Wir werden uns Gesprächen mit Russland nicht verweigern. Auch in dieser extremen Lage ist es die Aufgabe der Diplomatie, Gesprächskanäle offenzuhalten. Alles andere halte ich für unverantwortlich. Meine Damen und Herren, wir wissen, wofür wir einstehen, auch angesichts unserer eigenen Geschichte. Wir stehen ein für den Frieden in Europa. Wir werden uns nie abfinden mit Gewalt als Mittel der Politik. Wir werden uns immer starkmachen für die friedliche Lösung von Konflikten. Und wir werden nicht ruhen, bis der Frieden in Europa gesichert ist. Dabei stehen wir nicht allein, sondern zusammen mit unseren Freunden und Partnern in Europa und weltweit. Unsere größte Stärke sind unsere Bündnisse und Allianzen. Ihnen verdanken wir das große Glück, das unser Land seit über 30 Jahren genießt: in einem vereinten Land zu leben, in Wohlstand und Frieden mit unseren Nachbarn. Wenn wir wollen, dass diese letzten 30 Jahre keine historische Ausnahme bleiben, dann müssen wir alles tun für den Zusammenhalt der Europäischen Union, für die Stärke der NATO, für noch engere Beziehungen zu unseren Freunden, Partnern und Gleichgesinnten weltweit. Ich bin voller Zuversicht, dass uns das gelingt. Denn selten waren wir und unsere Partner so entschlossen und so geschlossen. Uns eint in diesen Tagen: Wir wissen um die Stärke freier Demokratien. Wir wissen: Was von einem breiten gesellschaftlichen und politischen Konsens getragen wird, das hat Bestand, auch in dieser Zeitenwende und darüber hinaus. Deshalb danke ich Ihnen und allen Fraktionen dieses Hauses, die den russischen Überfall auf die Ukraine entschieden als das verurteilt haben, was er ist: ein durch nichts zu rechtfertigender Angriff auf ein unabhängiges Land, auf die Friedensordnung in Europa und in der Welt. Der heutige Entschließungsantrag bringt das klar zum Ausdruck. Ich danke allen, die in diesen Tagen Zeichen setzen gegen Putins Krieg und die sich hier in Berlin und anderswo zu friedlichen Kundgebungen versammeln. Und ich danke allen, die in diesen Zeiten mit uns einstehen für ein freies und offenes, gerechtes und friedliches Europa. Wir werden es verteidigen. Policy statement by Olaf Scholz, Chancellor of the Federal Republic of Germany and Member of the German Bundestag, 27 February 2022 in Berlin Заявление Ферального канцлера Федеративной Республики Германия Депутата Германского Бундестага Олафа Шольца, Берлин, 27 февраля 2022
Телевизионное обращение
Федерального канцлера
Олафа Шольца, депутата Германского Бундестага
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/statement-scholz-russisch-2008096
Thu, 24 Feb 2022 16:00:00 +0100
Дорогие сограждане! Сегодня – страшный день для Украины. И мрачный день для Европы. Мы все беспокоимся о мире. Я могу себе вполне представить, какие вопросы Вы сегодня задаете. У меня те же ощущения как и у Вас. Положение очень серьезное. То, что мы видим – начало войны, какой в Европе уже более 75 лет не было. Президент России Путин принял решение о военной атаке на Украину. Это являет собой нападение на независимую, суверенную страну. Никто и ничто не может его оправдать. Это попытка насильственного смещения границ, возможно даже попытка стереть целую страну с карты мира. Президент Путин совершенно намерено нарушает основополагающие принципы Устава ООН и европейского мирного порядка. Он угрожает жизни многочисленных граждан Украины – братского народа России. Все это происходит не вдали от нас, но здесь, в Европе. На расстоянии двухчасового полета семьи сейчас сидят в бомбоубежищах. Женщины, мужчины и дети боятся за свою жизнь. Украинцы вооружаются для защиты своей родины от вторгшейся армии. В эти тяжелые часы наши мысли посвящены мужественным гражданам Украины. Во время телефонного разговора с президентом Зеленским сегодня утром я сказал ему: мы полностью солидарны с Украиной и ее свободно избранным правительством. Это нарушение суверенитета Украины мы не примем. Нападением на Украину Путин намерен обратить время вспять. Но оно не идет в обратном направлении. Во времена XVIII века, когда великие державы принимали решения поверх голов малых государств, уже не вернуться. Не вернуться и во времена холодной войны, когда сверхдержавы разделяли мир на сферы влияния. Как и не вернуться во времена до 1989 г. Тогда граждане Центральной и Восточной Европы добились демократии. В том числе и в нашей стране. А также в Украине. Поэтому мы вновь и вновь предостерегали президента Путина от войны против Украины. Около недели тому назад я лично говорил с ним в Кремле на протяжении нескольких часов и ясно сказал ему: эта война была бы тяжкой ошибкой. Что он таким образом нанес бы серьезный ущерб в том числе и российскому народу и будущему собственной страны. Президент Путин отмел в сторону наши предостережения и наши усилия найти дипломатический выход. Он один, а не русский народ, принял решение об этой войне. Он один несет ответственность. Это война – война Путина. И все же я призываю президента Путина сегодня самым убедительным образом: Незамедлительно прекратите боевые действия! Выведете российские войска из Украины! Отмените признание Донецкой и Луганской областей, противоречащие международному праву! Мы в международном сообществе до последнего делали ставку на диалог и старались вести его с Москвой. Мы надеялись, но мы не были наивны. Параллельно мы приготовились к наступившему случаю. Вместе с нашими союзниками и партнерами в Европейском Союзе, НАТО и G7 мы договорились о пакете экономических санкций. Наша цель – довести до российского руководства: за данную агрессию она заплатит высокую цену. Уже после признания Россией Донецкой и Луганской областей мы приняли первые санкции. Мы также приостановили сертификацию газопровода «Северный поток 2». В свете сегодняшнего военного нападения на Украину мы применим дальнейшие далеко идущие санкции. Они жестко ударят по российской экономике. В то же время мы должны предотвратить распространение конфликта на другие страны Европы. Я един с американским президентом и нашими европейскими друзьями во стремлении предотвратить это всеми доступными средствами. Путину не стоит недооценивать решительность НАТО по защите всех его членов. Это особенно относиться к нашим партнерам по НАТО в странах Балтии, в Польше, Румынии, Болгарии и Словакии. Безусловно. Германия и ее союзники знают, как себя защитить. Дорогие сограждане, мы решительны и будем действовать сплоченно. В этом заключается наша сила свободных демократий. Путин не победит. Граждане Украины хотят демократии и свободы. Будущее Европы станет будущем в мире и свободе. Мы об этом позаботимся – совместно с нашими друзьями и партнерами.
по случаю российского нападения на Украину Берлин, 24 февраля 2022 г.
Телевізійна промова
Федерального канцлера Німеччини
Олафа Шольца, депутата Німецького Бундестагу
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/statement-scholz-ukrainisch-2008092
Thu, 24 Feb 2022 16:00:00 +0100
Дорогі співгромадянки й співгромадяни! Сьогодні – жахливий день для України. І похмурий день для Європи. Ми всі турбуємося про мир. Я можу собі добре уявити, які запитання ви задаєте собі сьогодні ввечері. В мене це не інакше ніж у вас. Ситуація дуже серйозна. Наразі ми бачимо початок такої війни, якої ми у Європі не знали понад 75 років. Президент Росії Путін прийняв рішення напасти військами на Україну. Це – напад на незалежну, суверенну країну. Ніхто і ніщо не може його обґрунтувати. Це спроба насильницького пересування кордонів у Європі й, можливо, спроба стерти з карти світу цілу країну. Президент Путін цілком навмисно порушує найголовніші принципи Хартії Об’єднаних націй й мирного порядку Європи. Він загрожує життю незліченних громадянок й громадян України – братського народу Росії. Це все відбувається не далеко від нас, а тут, у Європі. Всього в двох годинах польоту від Берліна сьогодні родини сидять в бомбосховищах. Жінки, чоловіки та діти бояться за своє життя. Українці озброюються, щоб захистити батьківщину від армії загарбників. Наші думки в ці тяжкі години з громадянками й громадянами України. Під час телефонної розмови сьогодні вранці я сказав Президентові України Зеленському: український народ і його вільно обраний уряд мають нашу повну солідарність. Ми не стерпимо порушення суверенітету України. Нападом на Україну президент Путін хоче повернути час назад. Але не має повернення у часи 19 століття, коли великі держави приймали рішення без відома менших держав.Не має повернення у часи Холодної війни, коли супердержави розподіляли світ між собою на сфери впливу. І не має повернення у часи до 1989 року. В той час громадянки й громадяни Центральної й Східної Європи вибороли собі свободу й демократію. І в нашій країні. І в Україні. І тому ми знову й знову застерігали президента Путіна від війни проти України. Більше тижня тому я особисто декілька годин дискутував з ним в Кремлі, щоб чітко сказати, що війна – це важка помилка. Вона може завдати великої шкоди російському народу й майбутньому його власної країни. Президент Путін пустив на вітер всі ці застереження та намагання знайти вихід дипломатичними шляхами. Тільки він, а не російський народ, вирішив розв’язати цю війну. Тільки він один несе повну відповідальність за це. Ця війна – це війна Путіна. Я вкотре з усіх сил закликаю президента Путіна: Негайно припиніть військові дії! Виведіть російські війська з України! Відкличте визнання Донецької та Луганської областей, що суперечить міжнародному праву! До останнього ми в міжнародній спільноті робили ставку на діалог і шукали шляхів для перемовин з Москвою. Ми мали надію, але ми не були наївними. Тому паралельно ми готувалися до серйозного розвитку подій. Ми зі нашими союзниками й партнерами в Європейському Союзі, в НАТО й Групі Семи узгодили цілий пакет економічних санкцій. Наша ціль – чітко показати російському керівництву, що за цю агресію воно заплатить велику ціну. Перші санкції ми впровадили вже після визнання Росією Донецької ї та Луганської областей. І ми зупинили сертифікацію газопроводу Північного потоку 2. На тлі сьогоднішнього нападу на Україну ми запроваджуємо подальші глибокі санкції. Вони сильно вдарять по російській економці. Водночас нам потрібно зробити все, щоб цей конфлікт не поширився на інші території Європи. Я разом з американським Президентом і нашими європейськими друзями одностайні в тому, що ми будемо запобігати цьому всіма наявними у нас засобами. Путін не має недооцінювати рішучість НАТО захищати всіх її членів. Це однозначно стосується наших партнерів по НАТО в країнах Балтики, в Польщі, Румунії, Болгарії та Словаччині. Без «якщо» та «але». Німеччина та її союзники знають, як себе захистити. Дорогі співгромадянки і співгромадяни, ми є рішучими та діємо згуртовано. В цьому полягає наша сила вільних демократій. Путін не переможе. Громадянки і громадяни України прагнуть до демократії та свободи. А майбутнє Європи стане майбутнім у мирі та свободі. І ми будемо це забезпечувати, разом із нашими друзями й партнерами.
з приводу нападу Росії на Україну Берлін, 24 лютого 2022 р.
Fernsehansprache von Bundeskanzler Scholz anlässlich des russischen Überfalls auf die Ukraine
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/fernsehansprache-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-russischen-ueberfalls-auf-die-ukraine-2007824
Thu, 24 Feb 2022 00:00:00 +0100
Berlin
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Heute ist ein furchtbarer Tag für die Ukraine. Und ein düsterer Tag für Europa. Wir alle sorgen uns um den Frieden. Ich kann mir gut vorstellen, welche Fragen Sie sich heute Abend stellen. Mir geht es da nicht anders als Ihnen. Die Lage ist sehr ernst. Gerade erleben wir den Beginn eines Krieges, wie wir ihn in Europa seit fast 80 Jahren nicht erlebt haben. Russlands Präsident Putin hat die Entscheidung getroffen, die Ukraine militärisch anzugreifen. Das ist ein Überfall auf ein unabhängiges, souveränes Land. Er ist durch nichts und durch niemanden zu rechtfertigen. Es ist der Versuch, Grenzen innerhalb Europas gewaltsam zu verschieben, ja vielleicht, ein ganzes Land von der Weltkarte zu tilgen. Voller Absicht bricht Präsident Putin mit den Grund-Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen und mit der europäischen Friedensordnung. Er gefährdet das Leben unzähliger Bürgerinnen und Bürger der Ukraine – dem Brudervolk Russlands. All das geschieht nicht weit weg von uns, sondern hier, in Europa. Gerade zwei Flugstunden von Berlin entfernt sitzen im Moment Familien in Luftschutzkellern. Frauen, Männer und Kinder bangen um ihre Leben. Ukrainerinnen und Ukrainer, bewaffnen sich, um ihre Heimat gegen eine Invasionsarmee zu verteidigen. In diesen schweren Stunden sind unsere Gedanken bei den tapferen Bürgerinnen und Bürgern der Ukraine. Ich habe Präsident Selenskyj heute Morgen in einem Telefonat gesagt: Das ukrainische Volk und seine frei gewählte Regierung haben unsere volle Solidarität. Diese Verletzung der Souveränität der Ukraine durch Russland werden wir nicht hinnehmen. Mit dem Angriff auf die Ukraine will Präsident Putin die Zeit zurückdrehen. Aber es gibt kein Zurück in die Zeit des 19. Jahrhunderts, als Großmächte über die Köpfe kleinerer Staaten hinweg entschieden. Es gibt kein Zurück in die Zeit des Kalten Krieges, als Supermächte die Welt unter sich aufteilten in Einflusszonen Und es gibt auch kein Zurück in die Zeit vor 1989. Damals erkämpften die Bürgerinnen und Bürger in Mittel- und Osteuropa sich ihre Freiheit und Demokratie. Auch in unserem Land. Und in der Ukraine. Deshalb haben wir Präsident Putin wieder und wieder vor einem Krieg gegen die Ukraine gewarnt. Noch vor gut einer Woche habe ich persönlich mehrere Stunden mit ihm im Kreml diskutiert und ihm klar gesagt: Dieser Krieg wäre ein schwerer Fehler. Er würde damit auch dem russischen Volk und der Zukunft seines eigenen Landes schweren Schaden zufügen. Präsident Putin hat all die Warnungen und Bemühungen um einen diplomatischen Ausweg in den Wind geschlagen. Er allein, nicht das russische Volk, hat sich für diesen Krieg entschieden. Er allein trägt dafür die volle Verantwortung. Dieser Krieg ist Putins Krieg. Abermals appelliere ich mit allem Nachdruck an Präsident Putin: Stellen Sie die Kampfhandlungen unverzüglich ein! Ziehen Sie die russischen Truppen aus der Ukraine zurück! Widerrufen Sie die völkerrechtswidrige Anerkennung der Gebiete Donezk und Luhansk! Bis zuletzt haben wir in der internationalen Gemeinschaft auf Dialog gesetzt und das Gespräch mit Moskau gesucht. Wir hatten Hoffnungen, aber wir waren nicht naiv. Deshalb haben wir uns parallel auf den Ernstfall vorbereitet. Mit unseren Verbündeten und Partnern in der Europäischen Union, in der NATO und in der G7 haben wir uns auf ein ganzes Paket von Wirtschafts-Sanktionen verständigt. Unser Ziel: der russischen Führung klar zu machen – für diese Aggression wird sie einen hohen Preis zahlen. Bereits nach der Anerkennung der Gebiete Donezk und Luhansk durch Russland haben wir erste Sanktionen erlassen. Und wir haben die Zertifizierung der Gas-Pipeline Nord Stream 2 ausgesetzt. Angesichts des heutigen Überfalls auf die Ukraine verhängen wir weitere tiefgreifende Sanktionen. Sie werden die russische Wirtschaft hart treffen. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass dieser Konflikt nicht auf weitere Länder Europas übergreift. Ich bin mir mit dem amerikanischen Präsidenten und unseren europäischen Freunden einig, das mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern. Putin sollte die Entschlossenheit der NATO nicht unterschätzen, alle ihre Mitglieder zu verteidigen. Das gilt ausdrücklich für unsere NATO-Partner im Baltikum, in Polen, in Rumänien, in Bulgarien und in der Slowakei. Ohne Wenn und Aber. Deutschland und seine Verbündeten wissen sich zu schützen. Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir sind entschlossen und handeln geschlossen. Darin liegt unsere Stärke als freie Demokratien. Putin wird nicht gewinnen. Die Bürgerinnen und Bürger in der Ukraine wollen Demokratie und Freiheit. Und Europas Zukunft wird eine Zukunft in Frieden und Freiheit sein. Dafür werden wir sorgen – gemeinsam mit unseren Freunden und Partnern.
Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz am 19. Februar 2022
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-olaf-scholz-anlaesslich-der-muenchner-sicherheitskonferenz-am-19-februar-2022-2006684
Sat, 19 Feb 2022 10:30:00 +0100
Auswärtiges,Verteidigung
Sehr geehrte Damen und Herren Staats- und Regierungschefs, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste aus dem In- und Ausland, sehr geehrter Herr Botschafter Ischinger, sehr geehrter Herr Botschafter Heusgen, meine Damen und Herren, bevor ich einige Überlegungen mit Ihnen teile über den Zustand der Welt und darüber, wie wir mit dem geopolitischen Gezeitenwechsel umgehen, den die MSC dieses Jahr auf die Agenda gesetzt hat, möchte ich zunächst auf einen anderen Gezeitenwechsel eingehen nicht da draußen in der Welt, sondern hier, im Bayerischen Hof. 14 Jahre lang waren Sie, lieber Wolfgang Ischinger, nicht nur Gastgeber und Hausherr der Münchner Sicherkonferenz, sondern ihr Spiritus Rector, Ideengeber, Vordenker und Antreiber. Unsere Konferenz heute und morgen wird nun Ihre letzte in dieser Funktion sein. Und deshalb möchte ich Ihnen danken für das, was Sie in den letzten Jahren für die internationalen Beziehungen und ganz besonders für die transatlantische Freundschaft getan haben. Vielen Dank, lieber Herr Botschafter! Verbinden möchte ich dies mit einem herzlichen Willkommen an Ihren Nachfolger. Wenn es jemanden gibt, der solch große Fußstapfen auszufüllen vermag, dann sind Sie es, lieber Christoph Heusgen, mit Ihrer umfassenden internationalen Erfahrung. Ich freue mich, dass wir auch in Ihrer neuen Funktion einen engen Draht zueinander haben werden. Alles Gute dafür! Meine Damen und Herren, die Münchner Sicherheitskonferenz hat ein ganz besonderes Gespür fürs Timing, das ist bekannt. Dennoch wäre ich froh, wenn wir uns in etwas weniger aufgewühlten Zeiten treffen könnten. In Europa droht wieder ein Krieg. Und das Risiko ist alles andere als gebannt. Dahinter fallen in der öffentlichen Debatte selbst globale Herausforderungen wie die Pandemie und der Kampf gegen den Klimawandel zurück. Dabei bedürfen sie dringend einer Antwort. In diesem Sinne, lieber Herr Ischinger, habe ich gestern auch Ihre Aufforderung an die demokratischen Gesellschaften verstanden, aus hausgemachter Ohnmacht aufzuwachen Stichwort: „unlearning helplessness“. Gerade auch angesichts der kritischen Sicherheitslage will ich eines vorab klarstellen: Natürlich gibt es den Chor all derer, die wahlweise den Abgesang anstimmen auf die liberalen Demokratien, auf „den Westen“ oder auf die von ihm geprägte internationale Ordnung. Und ich will gar nicht leugnen, dass die freien, demokratischen Gesellschaften Konkurrenz haben. Aber wir können selbstbewusst sagen, dass dieses Modell sich gegenüber Konkurrenz behauptet hat. Die Gründe dafür haben sich heute nicht geändert. Demokratien sind langfristig anpassungs- und widerstandsfähiger, weil Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt, freie Wahlen, die Anerkennung von politischer Opposition, der Schutz von Minderheiten für gesellschaftlichen Ausgleich sorgen. Funktionierende Rechtsstaaten schaffen Vertrauen und Stabilität, und Länder sind stärker, wenn sie die Würde des Menschen achten, anstatt sie mit Füßen zu treten. Dies selbstbewusst festzuhalten, darin steckt nichts Spalterisches weil ein Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und Würde gerade kein exklusiv „westlicher“ Anspruch ist, sondern ein zutiefst menschlicher, universeller. Dieser Gedanke universeller Werte liegt auch der internationalen Ordnung zugrunde, wie sie aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Sie hat für Ausgleich und wachsenden Wohlstand gesorgt, und zwar nicht nur in Nordamerika und Europa, sondern gerade auch in den Teilen der Welt, die angesichts ihrer zunehmenden ökonomischen und politischen Bedeutung nun stärker mitreden und gestalten wollen – und im Übrigen auch mitgestalten müssen. Der Mitgestaltungsanspruch ist zu begrüßen. Er ist ein Erfolg, weil starke, selbstbestimmte Partner keine Schwächung bedeuten, sondern die Möglichkeit, Probleme zu lösen, die auch die Größten und Stärksten nicht allein bewältigen können. Allerdings setzt diese internationale Ordnung den Willen zur Kooperation zwingend voraus, auch gegenüber schwierigen Gesprächspartnern mit klaren Überzeugungen, Pragmatismus, gesundem Selbstvertrauen und, ja, durchaus eigener Stärke. Getragen wird sie von einem zentralen Versprechen: Dass sich alle, auch die Starken, an die Spielregeln halten. Damit bin ich bei dem, was wir in den letzten Monaten im Osten unseres Kontinents erleben. Um es klar zu sagen: Der Aufmarsch von weit über 100 000 russischen Soldaten rings um die Ukraine ist durch nichts gerechtfertigt. Russland hat die Frage einer möglichen NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zum Casus Belli erhoben. Das ist paradox, denn hierzu steht gar keine Entscheidung an. Wir Europäer und die transatlantische Gemeinschaft haben Russland davor gewarnt: Eine militärische Aggression gegen die Ukraine wäre ein schwerer Fehler. Wir wollen, dass es nicht dazu kommt! Russland hat nun seine Antwort auf die Vorschläge der USA öffentlich gemacht, und ich sage: Ja, wir sind bereit zu verhandeln. Selbstverständlich werden wir dabei klar unterscheiden zwischen unhaltbaren Forderungen einerseits und legitimen Sicherheitsinteressen andererseits. Diese Differenzierung müssen wir uns zutrauen, bei allem, was da auf dem Spiel steht. Die in der OSZE verbrieften Grundprinzipien stehen für uns dabei nicht zur Disposition. Russland hat ihnen zugestimmt, und zu ihnen gehört auch das Recht auf freie Bündniswahl. Gleichzeitig gibt es Sicherheitsfragen, die für beide Seiten wichtig sind – allen voran Transparenz bei Waffensystemen und Übungen, Mechanismen zur Risikovermeidung oder neue Ansätze zur Rüstungskontrolle. Bei meinem Treffen mit Präsident Putin am Dienstag habe ich deutlich gemacht: Jede weitere Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine wird hohe Kosten haben für Russland – politisch, ökonomisch und geostrategisch. Zugleich habe ich betont, dass Diplomatie an uns nicht scheitern wird. So viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein – das ist der Anspruch. Dafür nutzen wir alle Gesprächskanäle: den NATO-Russland-Rat, der sich nach Jahren endlich wieder getroffen hat; die OSZE, in der mit allen Europäern, Russen und Amerikanern über Konfliktvermeidung gesprochen werden kann der polnische Vorsitz hat dazu Vorschläge vorgelegt. Es gibt den bilateralen Kanal zwischen Russland und den USA. Außerdem nutzen wir das Normandie-Format. Es bleibt für die Lösung des Konflikts entscheidend. Bei meinen Besuchen in Kiew und Moskau habe ich darauf gedrungen, die Vereinbarungen von Minsk umzusetzen. Ich bin vor allem Präsident Selensky sehr dankbar für die Zusage, nun die nötigen Gesetze voranzubringen und in der Trilateralen Kontaktgruppe zu diskutieren. Natürlich mache ich mir keine Illusionen: Schnelle Erfolge sind nicht zu erwarten. Aber wir werden die Krisendynamik nur durchbrechen, wenn wir verhandeln. Es geht schließlich um nichts Geringeres als den Frieden in Europa. Meine Damen und Herren, mit alldem muss auch eine Neuverortung Europas und der transatlantischen Allianz in einer veränderten Welt einhergehen. Den Strategieprozessen innerhalb der Europäischen Union und der NATO kommt daher eine ganz besondere Bedeutung zu. Vier grundsätzlichere Überlegungen möchte ich dazu gerne beisteuern. Erstens. Wir werden unser Verständnis von Sicherheit breiter fassen. Die MSC war da immer Vorreiterin, lieber Herr Ischinger, indem sie sich inzwischen ganz selbstverständlich auch mit den Risiken beschäftigt, die vom Klimawandel, globalen Gesundheitskrisen oder dem Missbrauch des Cyberspace oder neuer Technologien ausgehen. Dieses breite Verständnis setzt aber zwingend voraus, dass sich die EU und die NATO gegenseitig ergänzen, verstärken und auf neue Risiken einstellen. Schließlich bleibt ein Cyber-Angriff ein Cyber-Angriff egal ob er aus Sankt Petersburg, Teheran oder Pjöngjang gesteuert wird. Ich denke, wir sind uns einig: Solch neue Bedrohungen in den Blick zu nehmen, ist allerdings etwas anderes, als der Anspruch einer global operierenden NATO. Gerade die Entwicklungen der vergangenen Monate zeigen uns doch, wie unverändert nötig die Konzentration auf das Thema „Bündnisverteidigung“ im nordatlantischen Raum ist. Die Fähigkeiten, die dafür erforderlich sind, müssen wir aufbringen. Und ja, das gilt auch für Deutschland. Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen können, Soldatinnen und Soldaten, die optimal ausgerüstet sind für ihre gefährlichen Aufgaben das muss ein Land unserer Größe, das ganz besondere Verantwortung trägt in Europa, sich leisten können. Das schulden wir auch unseren Verbündeten in der NATO. Ihnen sage ich: Deutschland steht zur Garantie des Artikels 5 – ohne Wenn und Aber. Wir üben auch praktische Solidarität – aktuell etwa durch eine größere Präsenz der Bundeswehr im Baltikum und beim Air Policing der NATO im Südosten der Allianz. Das bringt mich zu dem zweiten Punkt: Die Neuverortung unserer Bündnisse und Allianzen geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern in Wechselwirkung zu anderen Akteuren und deren Ambitionen. Ausgangspunkt dafür ist eine nüchterne Analyse der Welt um uns herum. Derzeit leben fast acht Milliarden Menschen auf unserem Planeten, Tendenz steigend. Nur ein Bruchteil – knapp 450 beziehungsweise 330 Millionen – lebt in der Europäischen Union oder den USA. Ähnliche Verschiebungen gibt es, wenn man sich unsere Anteile an der Weltwirtschaft über die vergangenen Jahrzehnte anschaut. Die Tortenstücke schrumpfen. Für mich bedeutet das: Die Welt des 21. Jahrhunderts wird weder uni- noch bipolar sein. Sie wird unterschiedliche Machtzentren haben. Diese Entwicklung ist per se nichts Schlimmes, weil der Wohlstand zunimmt oder – um im Bild zu bleiben – weil die Torte insgesamt größer wird. Dass heute über eine Milliarde Menschen weniger als vor 30 Jahren in extremer Armut leben, ist ein Erfolg der gesamten internationalen Gemeinschaft, für den wir gerade jetzt, in der Pandemie, hart arbeiten müssen. Vom Entstehen der Mittelklasse in Ländern wie China, Indonesien oder Indien profitieren auch Beschäftigte bei uns. Gerade in Asien reden wir ohnehin nicht über einen „Aufstieg“, sondern allenfalls über einen „Wiederaufstieg“. Großmacht zu sein – das ist aus der Perspektive von Peking oder Delhi keine historische Ausnahme, sondern die Rückkehr zum Status quo ante. Daran ist nichts falsch. Im Gegenteil. Problematisch wird es, wo der Bedeutungszuwachs in die Forderung nach Gefolgschaft und Einflusszonen umgemünzt wird, wenn universelle Regeln, die man gestern mitgetragen hat, heute zur Seite gewischt werden. Kein Land sollte der Hinterhof eines anderen Landes sein. So differenziert der Machtanspruch gerade Chinas zu sehen ist, so differenziert wird auch unsere Haltung dazu sein, indem wir Kooperation suchen, wo es im beiderseitigen Interesse liegt – beim Kampf gegen Klimawandel und Armut oder, so anspruchsvoll das auch wird, bei der Rüstungskontrolle – , indem wir unsere eigenen Fähigkeiten stärken und indem wir dort klar gegenhalten, wo der Erhalt der multilateralen Ordnung bedroht ist oder Menschenrechte mit Füßen getreten werden. In allen drei Bereichen aber gilt: Je enger sich Europa und Nordamerika abstimmen, umso erfolgreicher werden wir sein. Damit bin ich bei meiner dritten Bemerkung. Wir brauchen Klarheit über das Ambitionsniveau der Europäischen Union in Fragen der eigenen Sicherheit und darüber hinaus – Stichwort: europäische Souveränität. Ich habe gerade die geopolitischen Machtverschiebungen beschrieben, mit denen wir es zu tun haben. Mit Blick auf die USA ist klar: Sie werden Gravitationszentrum bleiben, auch in einer multipolaren Welt. Daran besteht kein Zweifel. Meine Gespräche in Washington letzte Woche haben mich darin bestärkt. Für Europa aber sieht die Sache anders aus. Wir Europäer werden unsere Handlungsfähigkeit, unsere Entscheidungsautonomie nur bewahren, wenn wir unseren Willen und unsere Fähigkeiten in der Europäischen Union bündeln. Und übrigens: Wenn ich von der Europäischen Union spreche, dann denke ich die Länder des Westlichen Balkans mit. Es reicht nicht, die Erweiterungsperspektive für diese Region als strategisches Ziel zu benennen. Wir müssen sie aktiv vorantreiben. Ich freue mich, dass viele Kollegen aus der Region hier sind, denn diese Aufgabe ist eine gemeinsame. Die Europäische Union ist unser Handlungsrahmen, unsere Chance. „Macht unter Mächten“ zu bleiben, darum geht es, wenn wir von „europäischer Souveränität“ reden. Drei Dinge braucht es auf dem Weg dorthin: Erstens den Willen, als „Macht unter Mächten“ zu handeln, zweitens gemeinsame strategische Ziele und drittens die Fähigkeiten, diese Ziele zu erreichen. An allem arbeiten wir. Damit ist auch das Ambitionsniveau abgesteckt, das der neue „Strategische Kompass“ der EU erreichen muss. Dazu zählt europäisches Engagement zur Terrorismusbekämpfung, das von ziviler Stabilisierung bis hin zu militärischer Ausbildung über Ausrüstung reicht. Dazu zählen neue Impulse für effektivere Rüstungskontrolle, die hier in Europa Transparenz und Vertrauen schaffen. Gespräche mit Russland, sollten sie denn zustande kommen, können ein Anfang sein. Schließlich zählt dazu auch eine aktive europäische Diplomatie, wie wir sie zum Beispiel gegenüber dem Iran praktizieren. Apropos Iran. Wir sind in den Verhandlungen in Wien in den letzten zehn Monaten weit gekommen. Alle Elemente für einen Abschluss der Verhandlungen liegen auf dem Tisch. Wenn der Iran weiter allerdings Brennmaterial anreichert und gleichzeitig das IAEO-Monitoring aussetzt, dann ist das nicht akzeptabel. Eine iranische atomare Bewaffnung ist für uns nicht hinnehmbar, auch weil die Sicherheit Israels nicht verhandelbar ist. Deshalb haben wir wiederholt darauf hingewiesen, dass nun bald der Punkt erreicht sein wird, an dem wir entscheiden müssen, ob eine Rückkehr zum JCPOA angemessen ist. Wir haben jetzt die Chance, zu einer Vereinbarung zu kommen, die ermöglicht, dass Sanktionen aufgehoben werden können. Zugleich gilt: wenn uns das nicht sehr rasch gelingt, drohen die Verhandlungen zu scheitern. Die iranische Führung hat jetzt eine Wahl. Jetzt ist der Moment der Wahrheit. Ich finde, dass die von der EU geführten Atomverhandlungen ein gutes Beispiel dafür sind, was Europa im Zusammenspiel mit seinen Partnern leisten kann. Damit bin ich bei meinem vierten und letzten Punkt, der zugleich eine Bitte und ein Wunsch ist: Let us stick together! Lassen Sie uns zusammenbleiben, als Freunde und Alliierte. Zusammenbleiben – für unsere Freunde und Partner bedeutet das auch, die Europäische Union als Einheit zu akzeptieren, sie anzuerkennen als internationalen Akteur und ihre weitere Integration zu unterstützen. Wir haben schon genug damit zu tun, dass unsere Gegner versuchen, uns zu spalten. Deshalb bin ich Ihnen, liebe Kamala Harris, den vielen Freundinnen und Freunden aus dem amerikanischen Kongress und der amerikanischen Regierung sehr dankbar dafür, dass sie Tag für Tag das Versprechen einlösen, das Präsident Biden letztes Jahr hier in München gegeben hat: „(to) support the goal of a Europe whole and free and at peace“. Diese geeinte, freie, friedliche – und ich füge hinzu: souveräne – Europäische Union ist gegen niemanden gerichtet. Erst recht ist sie kein Risiko für die transatlantische Zusammenarbeit. Im Gegenteil! Letztlich wird nur ein handlungsfähiges Europa ein attraktiver Partner für die Vereinigten Staaten bleiben: als eine starke europäische Säule im transatlantischen Bündnis, als eine unüberhörbare Stimme für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit und als Amerikas engster Freund und Partner. Jetzt, meine Damen und Herren, freue ich mich auf Ihre Fragen und auf unsere Diskussion. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Rede von Kulturstaatsministerin Claudia Roth zur Eröffnung der 72. Berlinale
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-claudia-roth-zur-eroeffnung-der-72-berlinale-2004404
Thu, 10 Feb 2022 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
− Es gilt das gesprochene Wort − Ich bin froh, bin erleichtert, bin dankbarer vielleicht, als es je eine Kulturstaatsministerin an einem Abend im Februar sein durfte, bin glücklich, dass diese Berlinale als Berlinale stattfinden kann, als das internationale Filmfestival, das sie immer war. Jede Berlinale wird ein Ereignis erst durch Sie, durch die Menschen, die sie erleben wollen, durch das Publikum. Und jede Berlinale ist etwas Besonderes erst durch ihre Regisseurinnen und Regisseure, Schauspielerinnen und Schauspieler, Drehbuchautorinnen und Drehbuchautoren und Produzentinnen und Produzenten. Sie alle tragen dieses Festival, zusammen mit so vielen, die nicht im Scheinwerferlicht stehen. Ja, es ist ein Festival unter Pandemiebedingungen. Mit Einschränkungen, die man kritisieren kann, mit Unzulänglichkeiten, die man bemängeln mag, mit Lücken, die man bedauern muss. Aber das wirklich, wirklich Wichtige ist doch: Die Berlinale, sie findet statt! Liebe Mariette Rissenbeek, lieber Carlo Chatrian, liebes Berlinale-Team, liebe Franziska Giffey, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gesundheitsämter in Berlin – Euch und Ihnen mein Dank von ganzem Herzen! Heute sage ich: Wir setzen ein Zeichen. Ein Zeichen für das Kino, ein Zeichen für die Kinokultur, ein Zeichen für alle, die das Kino und die Kultur lieben! Der Film schafft unschätzbar wichtige Perspektiven auf unsere Vergangenheit, auf unsere Gegenwart, auf unsere Zukunft. Und so, so setzen wir ein Zeichen auch für die Demokratie. Ohne die Kultur, ohne Theater, ohne Konzerte, ohne das Kino, ohne den Film, bleibt alles stumm; fehlt der Kunst, fehlt der Gesellschaft, fehlt der Demokratie die Stimme. Filme erleben – das können wir nur im Kino. Die große Leinwand ist es, auf der ein Film zum Ereignis wird.Das Kino ist der Ort, ein Raum, in dem wir Filme nicht nur sehen, sondern auch ihre Wirkung auf uns und andere erleben. Ein öffentlicher Raum, in dem wir mit anderen oder auch für uns allein sind, aber immer teilhaben an etwas, das nur in der Gemeinschaft mit anderen entsteht. Diesen Raum, diese Gemeinschaft, unsere Gesellschaft zu bewahren, darum muss es uns gehen. Deshalb sind wir hier. Ohne das verlieren wir nicht nur einander, wir verlieren uns selbst. Und so ist diese Berlinale ein Zeichen der Ermutigung, ein Zeichen der Hoffnung, ein starkes Signal weit über die Grenzen Berlins hinaus. Wir lassen uns von Corona nicht unterkriegen, wir brauchen das Kino, brauchen den Film. Genau deshalb möchte ich, möchten wir gemeinsam mit Ihnen eine Filmförderung schaffen, die unser Land in der internationalen Zusammenarbeit mithalten lässt und unsere vielfältige Kinokultur stärkt. Und auch das ist ein wichtiges Signal, die Berlinale bleibt sich treu, wird ihrem Ruf gerecht, ist politisch. Weil sie Themen anpackt, die uns alle angehen und bewegen. Bewegen müssen: Geschlechtergerechtigkeit, Equal Pay, Diversity vor und hinter der Kamera! Nicht zuletzt Green Shooting, eine breit getragene Initiative gegen die Klimakrise. Und die Berlinale vergisst nicht, denn der Film kennt keine Grenzen! Er baut Brücken, wo andere Mauern errichten. Er verbindet uns zu einem Wir alle, wo andere mit Krieg drohen! Er öffnet uns den Blick in die Welt. In die eine so zerrüttete, so verletzte Welt! Liebe Filmfreundinnen und Filmfreunde, freuen wir uns auf große Filme, großer Regisseurinnen und Regisseure, heute Abend François Ozon. Freuen wir uns auf aufregende Newcomer, über eine großartig besetzte Jury, ein leidenschaftliches Festivalpublikum. Und lassen Sie mich besondere Ehrengäste begrüßen, Pflegerinnen und Pfleger, Ärzte und Ärztinnen: Khalili Sumaia, Teresa Ritter, Djawid Hashemi, Viktoria Schenkel, Claudia Hülso, Enrico Schlunk, Nadine Hobuß, Sebastian Rieks, Lena Oevermann, Christian Seelemeyer und Heyo K. Kroemer! Sie stehen stellvertretend für so viele, die in den vergangenen harten Jahren alles, alles getan haben, um Leben zu bewahren. Mit Ihnen gemeinsam wollen wir jetzt die Magie eines der schönsten Filmfestivals der Welt genießen! Möge die Berlinale beginnen. Commençons! Let‘s start the Berlinale 2022!
Zwar sei die diesjährige Berlinale ein Festival mit Einschränkungen, das wirklich Wichtige jedoch sei, dass sie stattfinde. Damit setze sie ein Zeichen. „Wir lassen uns von Corona nicht unterkriegen, wir brauchen das Kino, brauchen den Film“, so Roth im Berlinale-Palast am Potsdamer Platz.
Rede von Kulturstaatsministerin Roth anlässlich des Konzerts „Jugend gestaltet Freundschaft – La jeunesse forge l‘amitié“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/jugend-gestaltet-freundschaft-1999546
Mon, 17 Jan 2022 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort – Herzlich willkommen! Herzlich willkommen zu einem wunderbaren Abend der Musik, des Tanzes, der Freundschaft und vor allem: der Jugend Europas! Zu einem Abend der kulturellen Hoffnung in Zeiten der Pandemie. Zu einem Abend der deutsch-französischen Hoffnung mit dem Bundesjugendballet, dem Orchestre Francais des Jeunes und dem Bundesjugendorchester! Zu einem Abend der europäischen Hoffnung mit der französischen Präsidentschaft und dem britischen Dirigenten, ein ganz besonderes Willkommen an Alexander Shelley! Europa – das bedeutet für viele, für zu viele und zu oft besinnliche Reden, unlösbare Probleme, unverständliche Vorschläge und eine unbefriedigende Wirklichkeit. Das machen wir heute anders. Das machen SIE heute anders. Und deswegen sagen wir heute: Europa! Ein Europa, das jung ist, das klingt, das Freude macht – und das Freunde und Freundinnen macht! Ein Europa der Olympe de Gouge, der starken Frauen, der Frauenrechtlerinnen! Ein Europa der Josephine Baker, der Vielfalt und und des Selbstbewusstseins der Künstlerinnen! Ein Europa der Joana Bertholo, der Ecología, wie ihr jüngstes Buch heißt, ein Europa der Nachhaltigkeit und der Freude! Und auch ein Europa der Eva Menasse, die in „Dunkelblum“ uns noch einmal die traumatischen Folgen von Grenzziehungen erklärt, kurz: Ein Europa, das aufbricht in die Wirklichkeit, das ja sagt zur Vielfalt und Verschiedenheit, das weiß um seine Zerbrechlichkeit wie um seine Kraft und das sich einig weiß in dem einen und entscheidenden: wir wollen gemeinsam ein Zeichen der Hoffnung setzen. Wir, das ist der Kontinent, der über hunderte von Jahren durch europäische Bürgerkriege und Kriege, durch die Kolonisierung und Ausbeutung Ungerechtigkeit verursacht und erfahren hat. Europa! Das ist der Kontinent, der uns Deutsche trotz des grauenhaften Zivilisationsbruchs des Holocaust nicht verstoßen, sondern wiederaufgenommen hat. Und als aller erstes verdanken wir das Frankreich. Das wollen und das werden wir nie vergessen! Europa, das ist aber auch der Kontinent, der Hoffnung gegeben hat und gibt. Durch das Versprechen der französischen Revolution und der europäischen Aufklärung. Die Überwindung der Unmündigkeit und die Freiheit, die Gleichheit und Brüderlichkeit und die Schwesterlichkeit auch! Dem wollen, nein, dem MÜSSEN wir gerecht werden. Ich sage es noch einmal: ohne Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit / Geschwisterlichkeit gibt es kein Europa. Und es ist ein besonderes Glück, dass Frankreich in diesen Tagen die Präsidentschaft der EU übernommen hat. Mit einem jungen europäischen Präsidenten, mit einer engagierten feministischen Kulturministerin, die ich gleich als erstes in Paris besucht habe, und vor allem: mit so engagierten, kritischen, streitbaren – mit so wunderbaren Künstlerinnen und Künstlern. In dieser Hoffnung, nein in diesem Versprechen wollen wir den heutigen Abend beginnen: Dort wo Musik klingt, wo junge Menschen sich zu Hause fühlen, wo sie lieben, tanzen, nachdenken, diskutieren suchen, dort ist unser Europa und dort ist das Europa, das wir für unsere Freundinnen und Freunde draußen in der Welt sein wollen. Sie sollen Hoffnung schöpfen, wenn sie an Europa denken. Zuversicht, wenn sie vom Umbau der Industriegesellschaft zu einer nachhaltigen Gesellschaft bei uns hören. Zutrauen, wenn wir unsere Verschiedenheit durch die vielfältige Fraternité anerkennen. Diese europäische Wirklichkeit wollen wir und dafür wollen wir uns gemeinsam anstrengen. Ich freue mich darauf und lade Sie alle ein, brechen wir auf in diese Wirklichkeit, machen wir nicht etwas, nein, machen wir Europa daraus! Vielen Dank!
Zum Auftakt des Europäischen Jahres der Jugend 2022 fand in der Berliner Philharmonie ein Konzertabend mit dem Bundesjugendballett, dem Orchestre Français des Jeunes und dem Bundesjugendorchester statt. In ihrem Grußwort feierte Kulturstaatsministerin Roth die europäische Idee. Europa sei nicht nur der Kontinent, der jahrhundertelang durch Kriege und Ausbeutung Ungerechtigkeit verursacht habe, sondern auch der Kontinent, der „Hoffnung gegeben hat und gibt“.
Rede von Kulturstaatsministerin Roth bei der Tagung zum 80. Jahrestag der Wannsee-Konferenz
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/roth-80-jahre-wannseekonferenz-1999146
Wed, 19 Jan 2022 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
− Es gilt das gesprochene Wort − „Aus der Erfahrung unseres Lebens sagen wir: Nie mehr schweigen, wegsehen, wie und wo auch immer Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit hervortreten! Erinnern heißt handeln!“ Das sagte die im vergangenen Sommer verstorbene Holocaust-Überlebende, die wunderbare Esther Bejarano. Ich – wir – wollen, wir werden handeln, im Sinne von Esther Bejarano, im Sinne der Überlebenden, von denen heute leider nur noch sehr wenige unter uns weilen, im Sinne unserer Verantwortung, die weder vergeht noch verjährt. Wir wollen uns erinnern in die Zukunft! Und das heißt, wir werden handeln! Denn Erinnern beschränkt sich nicht auf ein Zurückschauen; Erinnern heißt handeln, heißt unsere Gegenwart, unsere Zukunft gestalten. Erinnern heißt, gerade in Zeiten, in denen das Selbstverständliche nicht mehr selbstverständlich ist, in Zeiten des Geschichtsrevisionismus, in Zeiten, in denen die Hasser und Hetzer unsere demokratischen Institutionen verhöhnen, in denen sie einen Schlussstrich ziehen wollen, wo es keinen geben kann –gerade in diesen Zeiten, ist Erinnern ein elementarer Beitrag für unsere lebendige Demokratie, für unsere vielfältige Gesellschaft. Doch was bedeutet „Erinnern“? Erinnern an die Millionen Opfer − an Jüdinnen und Juden, an Sinti*zze und Rom*nja, an Menschen mit Behinderung, an Homosexuelle, an engagierte Gläubige, an die sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher, an die aufrechten und standhaften Demokrat*innen, und auch an die Kommunist*innen − schlicht an all jene, die nicht in das menschenverachtende Bild der Nazis passten. Erinnern an die unvorstellbaren, unfassbaren Gräueltaten, die selbst vor den Schwächsten, alten Menschen, Kranken und Kindern, nicht Halt machten. Erinnern daran, dass hier am Wannsee die Verbrecher zusammensaßen und in perfider Art den Massenmord planten und ein monströses System schufen, das den Opfern schon weit vor ihrer Ermordung alle Würde, alles Menschsein nahm. Erinnern daran, dass der Vernichtung von Millionen von Menschen, Ausgrenzung, Entrechtung, erzwungene Auswanderung, Entzug von Heimat, physische Verfolgung und Enteignung, Qualen und unendliches Leid vorausgegangen waren. Erinnern an den Zivilisationsbruch. Zum Erinnern gehört aber auch, die Auseinandersetzung mit den Tätern, mit denen, die die Vernichtung hier am Wannsee planten. Für diese Auseinandersetzung braucht es Orte wie diesen, Orte wie die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Dieser Ort ist eine der zentralen Einrichtungen, die sich dezidiert mit den NS-Tätern beschäftigt. Das dort erhaltene Protokoll des Treffens vom 20. Januar 1942 dokumentiert die Beteiligung des nationalsozialistischen Staatsapparates, von Beamten und Politikern, am Völkermord. Und ja, sie hatten Hundertausende begeisterte und fanatische Helfer*innen, die mittaten, oder wegschauten und ihren Beitrag später leugneten oder verschwiegen. Das Haus der Wannsee-Konferenz ist der so notwendige, der kritische, der brutale, der ehrliche Blick auf die bürokratische, akribische Vorbereitung des deutschen Zivilisationsbruchs – geplant und verübt vom Schreibtisch aus, als nüchtern sachliche, zynische Verwaltungsvorgänge, die ihre mörderische Wucht, ihre mörderische Gewalt, später an anderen Orten entfalteten, an Orten in ganz Europa, Orte wie Sachsenhausen, Buchenwald, Treblinka, Sobibor. Orte, für die Auschwitz symbolhaft steht. Das Wissen über dieses in der Geschichte einzigartige Verbrechen macht fassungslos – die Erinnerung daran darf niemals verblassen. Diesen Auftrag haben wir als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, diesen Auftrag hat vor allem aber auch die Politik. Ich stehe hier als Staatsministerin für Kultur und Medien und kann Ihnen versichern, dass ich, dass wir uns dieses Auftrags, dieser Verantwortung bewusst sind und handeln. Denn: Erinnern heißt handeln, handeln, auch wenn Menschen wie Ester Bejarano und andere nicht mehr da sind, die persönlich von den Gräueltaten, dem NS-Terror, der Hölle auf Erden berichten können. Ohne die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen braucht es neue, kreative und lebendige Formen und Formate des Erinnerns, braucht es die Gedenkstätten, die Museen und Erinnerungsorte, die ihre Geschichten erzählen. So haben wir uns vorgenommen, zu handeln: Erstens: Wir werden die Gedenkstättenkonzeption des Bundes weiterentwickeln und dabei die pädagogische Arbeit stärken. Zudem werden wir die Forschung in den Gedenkstätten fördern. Es ist uns auch ein wichtiges Anliegen, diejenigen Opfergruppen, die bisher weniger beachtet wurden, in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. Ich denke da beispielsweise an die Opfer der sogenannten „Euthanasiemorde“, der Zwangssterilisationen, aber auch die sogenannten „Asozialen“. Zweitens: Erinnerungskulturelle Arbeit für und mit jungen Menschen ist der Schlüssel dafür, dass Erinnerung nicht verblasst. Das Bundesprogramm „Jugend erinnert“ werden wir deshalb nicht nur verstetigen, sondern auch modernisieren. Drittens: Unsere Gedenkstätten sind Teil der kulturellen Landkarte Deutschlands, sie zu pflegen und zu gestalten, ist Arbeit an unserem kulturellen Gedächtnis, ist Arbeit an unserer Kultur insgesamt. Die Gedenkstätten sind bedeutende Orte des Lernens und der Erinnerung – sind vielfältig und vielschichtig und auch ein Ergebnis von starkem bürgerschaftlichen Engagement – seit Jahrzehnten. Ehrenamtliches Engagement, das häufig in kleinen Initiativen lokal geleistet wird und unverzichtbar ist. Lokale Initiativen werden wir daher verstärkt fördern. Viertens: Erinnern kennt keine Grenzen, muss europäisch und international gedacht werden. Der Vernichtungskrieg und die deutsche Besatzungsherrschaft prägen Europa bis heute. Bis heute haben wir blinde Flecken in unserem kollektiven Gedächtnis und auch diese müssen wir endlich aufarbeiten. Wir haben gegenüber unseren europäischen Nachbarn eine ganz besondere Verantwortung und wir selbst haben einen großen Nachholbedarf. Das haben mir zahlreiche Besuche und Begegnungen in den letzten Jahren, wie in Tympaki auf Kreta und in Kragujevac Serbien, sehr deutlich gemacht. Deshalb ist für mich klar: Wir werden die gemeinsame Aufarbeitung voranbringen, denn sie hört nie auf. Wir werden die Erinnerung an die Verbrechen in Europa wachhalten, sie sichtbarer machen, sie weiter im kollektiven Gedächtnis verankern, auch und gerade hierzulande. Die Bundesregierung unterstützt in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Errichtung des Dokumentationszentrums „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ und eines Erinnerungs- und Begegnungsortes im Gedenken an die Opfer der Besatzung Polens. Ein Ort, der geschaffen wird für: Erinnerung, Begegnung, Reflexion und Gedenken. Das Dokumentationszentrum wiederrum eröffnet die große Chance, die Geschichte Europas unter deutscher Besatzung in konsequent gesamteuropäischer Perspektive zu dokumentieren und zu vermitteln. Beide Einrichtungen sind wichtige Schritte bei der weiteren Aufarbeitung der NS-Terrorherrschaft – gemeinsam mit unseren europäischen und internationalen Partnerinnen und Partnern. Und fünftens: Nur wer das Wissen und Bewusstsein über unsere Vergangenheit besitzt, kann entschieden gegen Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus, gegen Diskriminierung und Ausgrenzung in unserer Gesellschaft eintreten, erkennt die Zeichen, erhebt die Stimme, kann handeln. Liebe Deborah Hartmann, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ich möchte Ihnen von ganzem Herzen danken, für Ihre so wertvolle, so wichtige, so engagierte Arbeit. Sie machen das Haus der Wannsee-Konferenz zu einem wichtigen und unabdingbaren Erinnerungs- und Zukunftsort und diese Bedeutung wird auch in der diesjährigen Holocaust-Gedenkstunde im Deutschen Bundestag – während der Sitzung am 27. Januar – nochmals unterstrichen. Ihre Arbeit zeigt, wie Bildungsarbeit am authentischen Ort einen unverzichtbaren Beitrag leistet und uns allen, auch im Sinne von Esther Bejarano, einen Auftrag gibt – denn „Erinnern heißt handeln“. Ich danke Ihnen allen und wünsche Ihnen eine Tagung, die zum Nachdenken anregt, neue Erkenntnisse bietet und die blinden Flecken unserer Erinnerung kleiner werden lässt – die vielfältigen Themen und internationalen Perspektiven der Beiträge und Teilnehmerinnen und Teilnehmer versprechen es − auf neue Anregungen für eine gelebte Erinnerungskultur.
Zur Eröffnung der Tagung „20. Januar 1942. Was bleibt? Die Besprechung am Wannsee in Geschichte und Gegenwart“ der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz erinnert Kulturstaatsministerin Roth an den vor 80 Jahren geplanten Holocaust und die damit einhergehende Verantwortung der Bundesregierung. Sie sprach außerdem über ihre Vorhaben in der Erinnerungspolitik. „Denn Erinnern beschränkt sich nicht auf ein Zurückschauen; Erinnern heißt handeln, heißt unsere Gegenwart, unsere Zukunft gestalten“, so die Staatsministerin.
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der State of the World Sessions des Weltwirtschaftsforums Davos „Working Together, Restoring Trust“ am 19. Januar 2022 (virtuell)
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-state-of-the-world-sessions-des-weltwirtschaftsforums-davos-working-together-restoring-trust-am-19-januar-2022-virtuell–1999048
Wed, 19 Jan 2022 00:00:00 +0100
Sehr geehrter Herr Professor Schwab, [lieber Klaus], meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin mir sicher, dass sich die meisten von uns einen anderen Start in dieses Jahr gewünscht hätten. Seit nunmehr zwei Jahren leben wir mit Corona – und kämpfen immer noch mit der Pandemie. Dass wir uns heute nur virtuell treffen können, unterstreicht das. Daher kann ich Corona in meiner Rede natürlich nicht unerwähnt lassen. Aber ich will etwas versuchen, für das wir Deutschen nicht gerade bekannt sind, nämlich optimistisch zu sein. Und in Kombination mit der unvermeidlichen Dosis deutscher Vorsicht hoffe ich, Ihnen eine realistische Einschätzung sowohl der Möglichkeiten als auch der Herausforderungen geben zu können, mit denen wir es derzeit zu tun haben. Und hoffentlich auch ein paar Ideen, wie wir mit ihnen umgehen können. „Working together, restoring trust“ – unter dieses Motto hast du das diesjährige Jahrestreffen gestellt, lieber Klaus. Und es ist auch ein guter Ausgangspunkt für unseren heutigen Austausch. Ich möchte gerne mit dem Punkt „working together“ beginnen – Zusammenarbeit. Die letzten Wochen, also meine ersten Wochen im neuen Amt, haben uns mit großer Dringlichkeit daran erinnert, welch zentrale Bedeutung internationale Zusammenarbeit, politischer Austausch und Dialog haben. [Sicherheit in Europa und Dialog mit Russland] Denken Sie nur an die intensiven Gespräche, die wir seit Anfang Januar mit Russland führen. Noch lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, ob sie einen Beitrag zur Deeskalation der Lage leisten können, die Russland durch die Konzentration von 100.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine geschaffen hat. Aber nach Jahren wachsender Spannungen ist Schweigen keine vernünftige Option. Deshalb sprechen wir in unterschiedlichen Formaten mit Moskau – über unser Bekenntnis zur territorialen Unversehrtheit der Ukraine und über ein Grundprinzip unserer gemeinsamen europäischen Friedensordnung: dass Grenzen nicht gewaltsam verschoben werden dürfen. Dass die Stärke des Rechts gilt und nicht das Recht des Stärkeren. Die russische Seite weiß um unsere Entschlossenheit. Ich hoffe, ihr ist auch bewusst, dass der Nutzen von Kooperation deutlich höher ist als der Preis weiterer Konfrontation. Das ist die Grundlage, auf der wir uns engagieren. Weil wir fest daran glauben, dass globale öffentliche Güter nur durch internationale Zusammenarbeit bewahrt werden können. Und Frieden ist das wichtigste dieser Güter. [Weg aus der Pandemie] Dicht gefolgt von der globalen Gesundheit. Zu den ermutigendsten Aussagen, die mir im Laufe der Pandemie zu Ohren gekommen sind, zählt ein Zitat des israelischen Historikers und Schriftstellers Yuval Harari: „Wir Menschen haben gegenüber den Viren den großen Vorteil, dass wir in einer Art und Weise zusammenarbeiten können, wie sie es nicht können.“ Und das tun wir auch! Europäische Ärzte profitieren von den Erkenntnissen ihrer Kolleginnen und Kollegen in den USA, Israel oder Afrika. Forscherinnen und Forscher aus aller Welt teilen ihre Arbeit zu neuen Virusvarianten und Behandlungsmöglichkeiten – und das häufig in Echtzeit. Und ein deutsches Forscherpaar hat auf Grundlage der neuen mRNA-Technologie einen Impfstoff entwickelt, mit dessen Hilfe Millionen Menschenleben in allen Ländern der Welt gerettet werden konnten. Diese Beispiele zeigen die Kraft der Zusammenarbeit. Und sie unterstreichen wie wichtig Austausch – so wie der unsrige heute – ist. Es war in Davos, wo führende Politiker im Jahr 2000 die globale Impfallianz ins Leben gerufen. Heute, 21 Jahre später, sind Impfstoffe unser bei weitem wirksamstes Mittel zur Überwindung der Pandemie. Ohne eine wahrhaft globale Immunisierungskampagne werden uns bald die Buchstaben des griechischen Alphabets ausgehen, um neue Virusvarianten zu benennen. Aber die gute Nachricht ist: dank weitsichtiger Zusammenarbeit verfügen wir über die Instrumente, um diesen Kreislauf zu durchbrechen. Und Deutschland, bereits heute zweitgrößter Geber der globalen Impfkampagne, wird weiterhin seinen Beitrag leisten. Durch unsere Unterstützung für COVAX wollen wir bis Mitte des Jahres 70 % der Weltbevölkerung erreichen. Und im Rahmen unseres derzeitigen G7‑Vorsitzes werden wir einen Schwerpunkt auf die Verbesserung der internationalen Gesundheitsinfrastruktur legen, auch in Ländern des globalen Südens. Wir brauchen dabei jedoch Partner, vor allem aus dem Privatsektor. Lassen Sie uns also im Geiste von Davos zusammenarbeiten, um die globale Impfkampagne vollständig zu finanzieren. Das wäre auch der Booster, den unsere Volkswirtschaften benötigen. [Europa als Vorreiter der Transformation] Unser Treffen findet statt in einer Zeit, in der diese Volkswirtschaften vor dem größten Umbruch seit der industriellen Revolution stehen. 250 Jahre lang gründete unser Wohlstand auf fossilen Brennstoffen: Kohle, Öl und Gas. Die Auswirkungen des vom Menschen verursachten Klimawandels sind für alle spürbar, an jedem Ort der Welt. Deshalb hat Europa entschieden, bis 2050 der erste CO2‑neutrale Kontinent zu werden. Deutschland will dieses Ziel bereits 2045 erreichen. Es bleiben uns also weniger als 25 Jahre, um „Netto‑Null“ zu erreichen. Eine gewaltige Aufgabe. Aber eine Aufgabe, die wir bewältigen können und werden. Wir werden diejenigen widerlegen, die unseren Kontinent derzeit als Spielball in einem großen geo-ökonomischen Match zwischen China und den Vereinigten Staaten sehen. Europa bietet die Offenheit, die liberalen Gesellschaften, die Innovation begünstigen. Wir sind auf dem Weg zu größerer technologischer Unabhängigkeit – zu Recht eine der obersten Prioritäten der Europäischen Kommission. Und angesichts des globalen Trends hin zu mehr nachhaltigem Wachstum wird Europa der Vorteil des „first movers“, eine Vorreiterrolle zukommen. Aber natürlich wird Europa die Klimakrise nicht im Alleingang abwenden. Hier gilt erneut das Leitmotiv „working together“. [G7-Präsidentschaft und Klima-Club] Wir werden unseren G7-Vorsitz daher nutzen, um die G7 zum Kern eines Internationalen Klima-Clubs zu machen. Wir wollen nicht weniger als einen Paradigmenwechsel in der internationalen Klimapolitik: Indem wir nicht länger auf die Langsamsten und Unambitioniertesten warten, sondern mit gutem Beispiel vorangehen. Und wir werden aus dem Kostenfaktor Klimaengagement einen Wettbewerbsvorteil machen – indem wir uns auf gemeinsame Mindeststandards einigen. Ehrgeizig, mutig und kooperativ – diese Kriterien werden den Klima‑Club ausmachen. Ehrgeizig, weil sich seine Mitglieder dazu verpflichten, das 1,5‑Grad‑Ziel einzuhalten und bis spätestens 2050 klimaneutral zu werden. Mutig, weil wir jetzt handeln, um diese Ziele zu erreichen, zum Beispiel durch eine CO2‑Bepreisung und die Verhinderung von Carbon Leakage. Und kooperativ, weil wir für alle Länder offenbleiben und die Regeln der WTO achten. Wir wollen kein exklusiver Club sein. Indem wir Themen wie Technologietransfer und Klimafinanzierung angehen, hoffen wir, auch Entwicklungs- und Schwellenländer an Bord zu holen. Lassen Sie mich am Beispiel grüner Wasserstoff erläutern, wie das funktionieren könnte. Wir wollen im Rahmen des Klima‑Clubs ein gemeinsames Verständnis erarbeiten, was wir unter grünem Wasserstoff verstehen. Und wir werden unsere Investitionen in grünen Wasserstoff international koordinieren – um so eine zuverlässige globale Versorgung aufzubauen. Die gegenseitigen Vorteile liegen auf der Hand – für ein Land wie Deutschland mit starker industrieller Basis und einem hohen Energieverbrauch, aber auch für diejenigen, die die Hauptproduzenten von grünem Wasserstoff werden würden – nämlich Schwellen- und Entwicklungsländer. [Deutschlands Transformation] Meine Damen und Herren, Deutschland möchte in diesem globalen Wandel eine entscheidende Rolle spielen. Wir setzen uns dafür ein, dass die 2020er Jahre zu einem Neuanfang werden – zu einem Jahrzehnt des Wandels und des Fortschritts für unser Land. Bis zum Jahr 2030 soll unsere Energie zu 80 Prozent aus erneuerbaren Quellen stammen – das Doppelte des heutigen Wertes. Dafür werden wir massiv in unsere Infrastruktur investieren – von den Stromnetzen bis zu Wasserstoff‑Pipelines. Wir werden Planungsprozesse beschleunigen und Anreize für Privatinvestitionen in Zukunftstechnologien und Digitalisierung schaffen. Und wir werden unsere Einwanderungsgesetze modernisieren, um die Fachkräfte, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Ingenieurinnen und Ingenieure anzuwerben, die unser Arbeitsmarkt braucht. [Vertrauen erhalten – Zusammenhalt wahren] Und doch ist dieser Wandel, den wir gestalten wollen, kein Selbstzweck. Fortschritt ist kein Selbstzweck. Rückblickend müssen wir manchmal sogar feststellen, dass das, was wir gestern noch für Fortschritt gehalten haben, zu den Problemen von heute und morgen werden kann. Denken Sie nur an die Umweltkrise. Letztendlich ist sie das Produkt früherer Vorstellungen von Fortschritt. Das, was wir brauchen, ist besserer Fortschritt. Ein Fortschritt, der sich nicht nur an seinen kurzfristigen Ergebnissen misst, sondern auch langfristige Konsequenzen und Nebenwirkungen in die Rechnung einbezieht. Ein Fortschritt, der den Sorgen all unserer Bürgerinnen und Bürger Rechnung trägt. Weil wir wissen, dass Wandel in einer Demokratie nur funktioniert, wenn er durch die Menschen und für die Menschen herbeigeführt wird. Und genau hier kommt der zweite Teil des heutigen Mottos zum Tragen: „restoring trust“ – Vertrauen wiederherstellen. Das schiere Ausmaß und die Gleichzeitigkeit von Globalisierung, Digitalisierung und der Anpassung an den Klimawandel bereiten vielen Bürgerinnen und Bürgern Sorgen: Werden ihre gut bezahlten Arbeitsplätze verlagert? Steigen die Energiepreise und die Mieten in Großstädten weiter so rasant? Bleiben die Renten sicher und die Gesundheitssysteme zuverlässig? Wenn wir solche Fragen unbeantwortet lassen, bröckelt das Vertrauen. Das Vertrauen in unsere demokratischen Systeme und ihr Versprechen von Chancengleichheit. Und auch das Vertrauen in unsere soziale Marktwirtschaft und ihr Versprechen von Gerechtigkeit. Ja, Vertrauen kann bröckeln. Es kann aber auch zurückgewonnen werden. Eine weltweite Umfrage hat kürzlich gezeigt, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaft und in wissenschaftliche Einrichtungen während der Pandemie gewachsen ist. Und fast neun von zehn Deutschen – eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr – gaben letzte Woche in einer Meinungsumfrage an, Vertrauen in das Gesundheitspersonal zu haben. Doch wo stehen wir, Regierungen und Unternehmen, in dieser Situation? Erstens, in einer technologisch geprägten Zeit müssen Wissenschaft, Rationalität und Vernunft die Grundlage unserer Politik und unserer Entscheidungen bilden. Deshalb hat meine Regierung einen unabhängigen Expertenrat aus Fachleuten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eingerichtet, um uns während der Pandemie zu beraten. Wenn deren Glaubwürdigkeit von einer kleinen, aber lauten und radikalen Minderheit angegriffen wird, dann ist es unsere Pflicht, sie zu verteidigen. Zweitens: Bürgerinnen und Bürger verlangen Erklärungen für die Veränderungen, die unsere Entscheidungen in ihrem Leben bewirken. Wenn wir als Führungskräfte aus Politik und Wirtschaft unsere Entscheidungen nicht gut erklären, werden die Menschen woanders nach Erklärungen suchen. „Politik ist Wille“, hat einst der große schwedische Ministerpräsident Olof Palme gesagt. „Wille und Kommunikation“, muss man in der heutigen digitalen Welt hinzufügen. Und schlussendlich dürfen wir nicht zulassen, dass technologische Innovation und Wachstum vom sozialen Fortschritt entkoppelt werden. Im Gegenteil: Nur eine Gesellschaft, die von gegenseitigem Respekt geprägt ist, wird geeint bleiben angesichts des epochalen Wandels, der uns bevorsteht. Soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit stehen diesem Wandel nicht im Weg. Sie sind überhaupt erst die Voraussetzungen, um erfolgreichen Wandel zu ermöglichen. Ich weiß, dass viele von Ihnen diese Einschätzung teilen. Und darin liegt für mich ein weiterer Grund für Optimismus. [Schluss] Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich hoffe, dass wir uns diese Einigkeit bewahren und auf ihr aufbauen können. Manche werden uns weismachen wollen, dass Dialog und Kompromiss Zeichen von Schwäche sind. Manche werden versuchen, den Kampf gegen den Klimawandel gegen Wohlstand auszuspielen. Manche werden sagen, sozialer Fortschritt drücke das Wirtschaftswachstum. Und manche werden versuchen, uns zu spalten – in Weltbürgerinnen und Durchschnittsbürger, in „Anywheres“ und “Somewheres“, in Reiche und Arme. Die Wahrheit aber ist: Der Fortschritt, den wir wollen – der bessere Fortschritt – ist nur möglich, wenn wir diese Spaltungen überwinden. „Working together“ ist der Weg, „restoring trust“ das Ziel. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Übersetzung der auf Englisch gehaltenen Rede)
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich des Requiems für Jutta Lampe
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-gruetters-jutta-lampe-1834198
Tue, 22 Dec 2020 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Nach Berlin! Nach Berlin! Ihretwegen wollte ich Mitte der 80er Jahre, damals Studentin im beschaulichen Bonn, unbedingt nach Berlin. In Peter Steins Schaubühne zog es mich, ins Mekka der Theaterliebhaber, um sie zu sehen: Jutta Lampe, die damals als Mascha in Tschechows „Drei Schwestern“ einmal mehr das Publikum begeisterte. Ich pilgerte also von Bonn nach Berlin. Genauer gesagt: Ich trampte. Der Abend, als ich Jutta Lampe dann endlich das erste Mal auf der Bühne erlebte – in der Rolle der Titania in Botho Strauß‘ „Der Park“ – dieser Abend ist mir bis heute in Erinnerung. Das Schaubühne-Ensemble hat mir, der damals Anfang-Zwanzigjährigen, offenbart, welche Magie Theater entfalten kann. Hier waren auf und hinter der Bühne die ganz Großen der deutschen Theaterwelt am Werk, und in diesem grandiosen Ensemble war Jutta Lampe eine der Größten. Größe hatte sie als zarte Virtuosin der leisen Töne und der feinen Nuancen. Nie spielte sie sich in den Vordergrund. Mit ihrer Aura strahlte und leuchtete sie, die so fragil und weltentrückt wirkte, in jedem Bühnenuniversum, ohne sich dafür in Szene setzen zu müssen. „Ich hatte schon früh das Bedürfnis, mich mit den unterschiedlichsten Figuren anzufüllen, sie in mir zu beheimaten“, sagte sie einmal in einem Interview (und ich zitiere weiter:). „Indem ich ihnen Leben gab, gab ich es mir auch.“ Diese unbedingte Hingabe an die Figuren, diese vorbehaltlose Offenheit für das ganze Spektrum menschlicher Gefühle und Empfindungen, dieser Lebenshunger in der Aneignung fremder Geschichten und Schicksale: All das machte ihre Schauspielkunst zu einer Offenbarung. Jutta Lampe konnte in ihrem mädchenhaft sanften Gesicht aufscheinen lassen, was ihre Figuren im tiefsten Inneren bewegte. Sie konnte mit ihrer melodischen Stimme zum Klingen bringen, was hinter den Worten verborgen liegt. In einer beiläufigen Geste oder Gebärde konnte sie Grauen ebenso wie Glückseligkeit Gestalt annehmen lassen und allein mit einem flüchtigen Blick oder einem dahingehauchten Seufzer alle emotionalen Register ziehen: von Angst und Abscheu bis Zorn und Zärtlichkeit. Damit wird sie uns allen, die wir sie auf der Bühne lachen, lieben, leiden, ja: leben sahen, unvergesslich bleiben. „Indem ich ihnen Leben gab, gab ich es mir auch“: Dieser Satz lässt erahnen, wie schwer es ihr gefallen sein mag, nach ihrer letzten Premiere 2009 Abschied vom Theater zu nehmen. Es hat etwas Tragisches, dass ausgerechnet sie, die spielend die Wege fremder Schicksale auszuleuchten vermochte, in den letzten Jahren ihres Lebens keinen Zugang mehr zu ihrer eigenen Geschichte hatte. Was ihr im Nebel des Vergessens blieb, war ihr feiner Sinn für das Unaussprechliche und Unsichtbare. Hier in der Kirche St. Ludwig, meiner Berliner Heimatgemeinde, habe ich sie in den vergangenen Jahren oft gesehen, ganz Ohr für die Botschaft des Evangeliums und vertieft ins Gebet, zuletzt begleitet von Menschen, die sie liebevoll gepflegt haben. Wozu spielt man Theater, wurde sie einmal kurz nach ihrem Abschied von der Schaubühne gefragt. Sie antwortete mit der Beschreibung einer Szene aus dem ersten Akt der „Drei Schwestern“: wie bei einer Geburtstagsfeier die Gäste essen, tanzen und reden und irgendwann einer einen Brummkreisel zum Singen bringt; wie sich dann plötzlich alle versammeln, wie alle still werden und lauschen, ihren Kindheitserinnerungen nachspüren und dasselbe fühlen. In diesem Augenblick, so Jutta Lampe, spüre man die Magie des Theaters, ich zitiere: „dass alle sich darin vereinen, wie eine Gemeinde. (…) Einen verzauberten Moment lang spüren alle, was Theater ist: (…) gemeinsame Beschwörung, gemeinsame Erfahrung, gemeinsames Erleben.“ Jutta Lampe hat uns mit ihrer überwältigenden Schauspielkunst immer wieder solche verzauberten Brummkreisel-Momente geschenkt: das Glück, Emotionen miteinander zu teilen und im gemeinsamen Fühlen verbunden zu sein – jenes Glück, das wir in diesen Wochen des Lockdowns schmerzlich vermissen. Umso dankbarer bin ich, sie auf der Bühne erlebt zu haben und dann und wann diesen Erinnerungen nachspüren zu können. Darin wird sie bleiben, was sie war, zutreffend beschrieben in einem der vielen hymnischen Nachrufe: eine „königliche Zauberin (…) vieler Unvergesslichkeiten (…), eine wahrhaft große Schauspielerin.“
In Peter Steins Schaubühnen-Ensemble „waren (…) die ganz Großen der deutschen Theaterwelt am Werk, und in diesem grandiosen Ensemble war Jutta Lampe eine der Größten“. In ihrer Rede beim Requiem für Jutta Lampe am 22. Dezember 2020 in Berlin würdigte Kulturstaatsministerin Grütters die wenige Tage zuvor verstorbene Schauspielerin.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Startschuss für das „AI Breakthrough Hub“ am 17. Dezember 2020 (Videokonferenz)
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-startschuss-fuer-das-ai-breakthrough-hub-am-17-dezember-2020-videokonferenz–1829778
Thu, 17 Dec 2020 00:00:00 +0100
keine Themen
Sehr geehrter Herr Professor Bethge, Herr Professor Black, Herr Professor Schölkopf, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann, sehr geehrte Frau Vizepräsidentin der Europäischen Kommission Vestager, liebe Ministerinnen Karliczek und Bauer, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freue mich, dass wir heute gemeinsam den Startschuss für ein leistungsfähiges KI-Ökosystem made in Germany geben können. Zuletzt war ich vor etwa drei Monaten virtuell im Cyber Valley zu Besuch. Dabei ist mir deutlich geworden: Hier soll und hier wird die nächste Dekade der Künstlichen Intelligenz eingeleitet werden, und zwar in dem Sinne, dass KI aus der Forschung in die Anwendung getragen wird, um auch wirklich das volle Potenzial ausschöpfen zu können. Hier geht es um etwas, das man Neudeutsch einen „game changer“ nennt; es wird also wirklich etwas verändert. Dass aus diesen Ansätzen nun ein Konzept für einen sogenannten „AI Breakthrough Hub“, für ein KI-Ökosystem von internationaler Strahlkraft geworden ist, freut mich natürlich sehr. Mutig nach vorne zu gehen, bedeutet im Grunde, in die Zukunft unseres Landes zu investieren und die entscheidenden Schritte zu tun, um eben nicht in Abhängigkeiten zu geraten, wie der Ministerpräsident es eben dargestellt hat. Dabei ist entscheidender denn je, dass wir in Deutschland und auch in Europa unsere Kräfte bündeln, um Innovation und Fortschritt möglich zu machen. Ich habe mit dem französischen Präsidenten Macron daher verabredet, dass wir in deutsch-französischer Kooperation sehr viel machen wollen und dann gegebenenfalls auch noch ein europäisches Projekt von strategischer Bedeutung entwickeln könnten. Meine Damen und Herren, Europa braucht international sichtbare KI-Leuchttürme. Das Ökosystem rund um das Cyber Valley kann beispielhaft hierfür stehen. Da sind die exzellente Forschungs- und Transferstruktur, ein starkes Start-up-Ökosystem und ein signifikantes Engagement der Wirtschaft sozusagen die Herzstücke eines solchen Projekts. KI-Spitzenkräfte begeistert man durch Sichtbarkeit und ein unverwechselbares Profil in der KI-Forschung, durch modernste Ausstattung und durch hervorragende Entwicklungsmöglichkeiten im individuellen Arbeitsumfeld. Wir haben damals bei meinem Besuch darüber gesprochen, wie schwierig es ist, gute Leute für Europa und Deutschland zu gewinnen. Sie haben das ja im Cyber Valley nun wirklich verinnerlicht und nehmen deshalb die Aufgabe, neue Anreize für die weltweit klügsten Köpfe und neue Perspektiven für Professoren von morgen zu schaffen, sehr, sehr ernst. Dabei ist es wichtig, nicht nur auf aktuelle Stärken in der Forschung zu setzen, sondern eben auch auf die sogenannten „emerging fields“, also auf das, was heute noch nicht Mainstream ist, zu schauen und sich zu überlegen: Wo ergeben sich Forschungs- und Entwicklungspotenziale? Dabei muss man den Bereichen, in denen wir heute vielleicht nicht Vorreiter sind, die aber ganz wesentlich zur Erhaltung oder zur Gewinnung unserer technologischen Souveränität beitragen können, besondere Beachtung schenken. Wir sollten deshalb auch eng ‑ und das tun Sie ja ‑ im europäischen Kontext zusammenarbeiten, um solche Bereiche zu definieren und zu stärken. Die Europäische Kommission arbeitet ja auch in diese Richtung. Meine Damen und Herren, beispielhaft im Cyber Valley ist nicht nur der enge Schulterschluss von Wissenschaft und Wirtschaft, sondern ‑ es wurde eben schon von Ministerpräsident Kretschmann gesagt ‑ auch das private Engagement. Bund, Land und private Investoren wie die Hector Stiftung arbeiten hier zusammen. Was mir besonders wichtig ist: Bund und Länder fördern die KI-Kompetenzzentren nun dauerhaft; das haben wir gemeinsam beschlossen. Darüber hinaus wird die Bundesregierung die KI-Forschung und den Transfer zur Anwendung weiter intensiv unterstützen. Wir werden uns auch bemühen, dieses Projekt möglichst schnell zu unterstützen und nicht so lange zu warten, bis alle anderen potenziellen Empfänger dann auch so weit sind. Kürzlich haben wir die Fortschreibung der KI-Strategie in der Bundesregierung beschlossen. Im Rahmen unseres Zukunftspakets haben wir auch zusätzliche zwei Milliarden Euro für die KI zugesagt. Beides zusammen soll als Katalysator wirken für modernste Recheninfrastrukturen ‑ darüber haben wir bei meinem Besuch gesprochen ‑, attraktive Bedingungen für Spitzentalente und zukunftsgerichtete KI-Ökosysteme. Kluge Köpfe und Exzellenz in Wissenschaft und Forschung sind unentbehrlich, um eine innovative KI-Anwendung nach europäischen Maßstäben möglich zu machen. Genauso wichtig sind leistungsstarke Unternehmen, die diese Innovationen dann auch umsetzen. Entscheidend dafür ‑ das ist unsere Überzeugung ‑ ist auch eine offene Gesellschaft ‑ eine Gesellschaft, die neue Technologien bedacht, aber ohne Scheu nutzt, um bisher Verborgenes in den Blick zu nehmen und neue Wege zu gehen. Deshalb wollen wir gemeinsam daran arbeiten, unsere europäischen Vorstellungen vom KI-Zeitalter ‑ auch die ethischen ‑ in die Tat umzusetzen. Ich wünsche Ihnen im Cyber Valley von Herzen viel Kraft und viel Erfolg beim Aufbau der neuen Strukturen. Ich bin überzeugt, Sie werden dem Namen „AI Breakthrough Hub“ alle Ehre machen ‑ das ist mein Eindruck von dem, was ich von Ihnen weiß. Herzlichen Dank!
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich der Fertigstellung und Eröffnung des Humboldt Forums
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-der-fertigstellung-und-eroeffnung-des-humboldt-forums-1829224
Wed, 16 Dec 2020 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Kultur
– Es gilt das gesprochene Wort – „Der Augenblick, da man zum ersten Mal von Europa scheidet, hat etwas Ergreifendes“, notierte Alexander von Humboldt am 5. Juni 1799 in sein Reisetagebuch, als er zu seiner lang ersehnten und über Jahre vorbereiteten Südamerikareise aufbrach. „Etwas Ergreifendes“ hätte auch der Augenblick haben können, auf den wir so lange gewartet und hingearbeitet haben: der Augenblick, in dem das Humboldt Forum zum ersten Mal seine Pforten öffnet – in dem Museumsbesucherinnen und -besucher hier „von Europa scheiden“ und sich auf Weltreise begeben können. Mir war wichtig, dass wir der Bevölkerung so bald wie möglich zeigen können, was die Weltreisenden im Geiste hier erwartet – und sei es (die Pandemie lässt uns keine andere Wahl) vorerst auch nur im virtuellen Raum. Doch das Schloss für die Welt und die am Bau Beteiligten hätten zweifellos eine feierliche Eröffnung mit viel Publikum und festlichem Programm verdient. Denn so wie Alexander von Humboldts Expeditionen, so erforderte auch der Weg vom Beschluss des Deutschen Bundestages für den Wiederaufbau des Berliner Schlosses 2002 bis zur Fertigstellung 2020 einen langen Atem, unermüdlichen Einsatz, visionäre Kraft und auch ein Quäntchen Kühnheit. Dafür danke ich insbesondere dem Architekten Franco Stella und seinem Team, der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss und ihrer Schlossbauhütte und dem Förderverein Berliner Schloss, der mit seiner erfolgreichen Spendenkampagne maßgeblich dazu beigetragen hat, dass dieser Bau kein Luftschloss blieb. „Danke“ sage ich aber auch allen Bauarbeiterinnen und Bauarbeitern, die auf Deutschlands größter Kulturbaustelle unermüdlich im Einsatz waren, und dem Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung sowie dem Land Berlin, das für die Außenanlagen zuständig ist. Nicht zuletzt danke ich den großzügigen Spenderinnen und Spendern, die die Rekonstruktion der historischen Fassaden und der baulichen Optionen, der Innenportale und der Kuppel, möglich gemacht haben – wahre Meisterwerke der Handwerk- und Bildhauerkunst! Hinter den barocken Fassaden wartet ein modernes Haus für Kultur, Wissenschaft und Bildung, warten 42.000 Quadratmeter darauf, im Geiste der Humboldt-Brüder sukzessive mit Leben gefüllt zu werden: im Geiste der Aufklärung, der Weltoffenheit und der Toleranz. Wilhelm von Humboldt kam in der Auseinandersetzung mit fremden Sprachen zu der Überzeugung, dass es auch andere hochentwickelte, an Tradition und Bedeutung mit unserem Kulturraum vergleichbare Kulturräume gibt – damals ein revolutionärer Gedanke in den Ländern des heutigen Europas, in denen man sich selbst für den Nabel der Welt hielt. Alexander von Humboldt brach zu Orten auf, an denen kein Europäer vor ihm war, und revolutionierte das menschliche Weltverständnis nicht nur mit seinen Entdeckungen, sondern auch mit seinen wissenschaftlichen Prinzipien und Praktiken. Beide sind für die Annäherung an das Fremde Vorbilder und Vordenker: mit ihrer Lust, die Welt an-zuschauen, über die Grenzen der eigenen Weltanschauung hinweg; mit ihrer Neugier, dem Fremden zu begegnen statt es abzuwehren und abzuwerten. Dieses Vermächtnis ist aktuell wie eh und je, auch angesichts rassistischer und nationalistischer Ab- und Ausgrenzung, und es ist zukunftsweisend für die Annäherung der Völker und das Ideal eines gleichberechtigten Dialogs der Kulturen. Dafür schafft das Humboldt Forum Raum im Herzen der deutschen Hauptstadt, und ich denke, es sagt eine Menge über das Selbstverständnis Deutschlands im 21. Jahrhundert, dass wir hier nicht uns selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern den Kulturen Afrikas, Amerikas, Asien, Ozeaniens und ihren unterschiedlichen Weltanschauungen eine Bühne bieten, und zwar im engen Austausch mit Vertreterinnen und Vertretern der Herkunftsgesellschaften. Für den Umgang mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten – für die Darstellung der Herkunftsgeschichten, für den Zugang zu den Objekten und für das Miteinander in der Aufarbeitung der Sammlungen – sollte das Humboldt Forum in Deutschland Maßstab und Vorbild sein. Den künftigen Betrachtern dieser unterschiedlichen Kulturen und Weltanschauungen im Humboldt Forum geht es vielleicht wie jenem berühmten Forschungsreisenden, der Europa knapp vier Jahrzehnte vor Alexander von Humboldts Südamerikareise hinter sich ließ und sechs Jahre lang die Länder des arabischen und vorderasiatischen Raums erkundete – wie dem Mathematiker und Kartografen Carsten Niebuhr. „Wir glotzen alle in denselben Himmel und sehen verschiedene Bilder. (…) Wir glotzen nach oben und erfinden große Gestalten und hängen sie in den Himmel. (…) Und dann gibt es Streit. Es ist zum Erbarmen!“ Dieser Seufzer der Erkenntnis wurde Carsten Niebuhr von der Schriftstellerin Christine Wunnicke in den Mund gelegt. In ihrem wunderbaren (2020 für den Deutschen Buchpreis nominierten) Roman „Die Dame mit der bemalten Hand“ erzählt sie, wie auf der Insel Elephanta vor Bombay Welten aufeinanderprallen – in Gestalt des deutschen Mathematikers Carsten Niebuhr und des persischen Astronomen Musa al-Lahuri, die beide zufällig dort gestrandet sind und sich bis zu ihrer Rettung über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg irgendwie verständigen müssen. „Wir glotzen alle in denselben Himmel und sehen verschiedene Bilder“: Wenn am Ende eines Besuchs im Humboldt Forum die Erkenntnis steht, dass uns Menschen überall auf der Welt trotz aller Differenzen mehr verbindet als uns trennt – dass wir alle in denselben Himmel schauen, auch wenn wir verschiedene Sternbilder sehen –, dann ist für Demokratie und Verständigung in Deutschland und in der Welt viel gewonnen. In diesem Sinne wünsche ich dem Humboldt Forum, dass es mit seinen Ausstellungen und Veranstaltungen dazu beiträgt, in der Vielfalt der Bilder auch den Himmel sichtbar zu machen. Ich freue mich auf einen Ort inspirierender Kulturerlebnisse, kontroverser Debatten und interkultureller Verständigung, wenn dieses Haus in den kommenden Monaten nach und nach zum Leben erwacht!
„Ich freue mich auf einen Ort inspirierender Kulturerlebnisse, kontroverser Debatten und interkultureller Verständigung, wenn dieses Haus in den kommenden Monaten nach und nach zum Leben erwacht“, so die Kulturstaatsministerin in ihrer Eröffnungsrede.
Impulsvortrag von Kulturstaatsministerin Grütters beim Digital-Gipfel zum Thema Nachhaltigkeit und Digitalisierung
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/impulsvortrag-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-digital-gipfel-zum-thema-nachhaltigkeit-und-digitalisierung-1826470
Mon, 30 Nov 2020 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Alan Kay, ein Pionier der Informatik und überdies auch ein professioneller Jazz-Gitarrist, Komponist und Theatermann, sagte einmal: „Die beste Möglichkeit, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie zu erfinden“. Wenn wir die UN-Nachhaltigkeitsziele erreichen wollen, dann brauchen wir selbstredend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie unternehmerische Pioniere, die die Zukunft prognostizieren und sie mit innovativen Erfindungen gestalten. Ich bin aber auch überzeugt, dass sich eine sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltige Welt nicht allein auf der Grundlage rationaler Erkenntnisse, rechtlicher Rahmensetzungen und technischer Innovationen realisieren lässt. Es sind nicht Vernunftsappelle und Kassandrarufe, die Gewohnheiten verändern. Nein, meine Damen und Herren, es sind vor allem starke Vorstellungen und Visionen – es sind Erzählungen von einem gelingenden Zusammenleben, die den Wunsch nach Veränderung nähren. Es sind inspirierende Imaginationen einer anderen Zukunft, die den für eine nachhaltige Welt erforderlichen Kulturwandel ermöglichen. Deshalb brauchen wir neben den Digitalpionieren auch Künstlerinnen und Künstler, die die Zukunft vorhersagen, indem sie sie erfinden. Kunst erweitert Perspektiven. Sie setzt sich vielfach mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des Klimawandels, der Diversität, der Integration und anderen Themen der Nachhaltigkeit auseinander. Sie stellt alte Denkmuster zur Diskussion und erprobt neue Antworten. Welch kreatives Potential Künstlerinnen und Künstler auch in Krisenzeiten entfalten können, hat nicht zuletzt die Corona-Krise gezeigt. Innerhalb kürzester Zeit entstanden etliche neue digitale Aufführungs- und Vermittlungsformate, die Menschen weltweit miteinander vernetzten und in Austausch brachten. Digitale Kulturangebote ermöglichen Verständigung zwischen Menschen und Ländern, zwischen Wertesystemen und Weltanschauungen. Sie erschließen auch jenen Menschen Räume der Mitwirkung, des Austauschs und der Kommunikation, die sonst nur wenig oder gar nicht am kulturellen Leben und Diskurs teilnehmen können. Die BKM unterstützt daher die Entwicklung unterschiedlichster digitaler Formate. Denn ich bin sicher: Es ist gerade auch dieser Gemeinschaft stiftende, internationale und breite Austausch, der zur Realisierung der UN-Nachhaltigkeitsziele beiträgt. Nachhaltigkeit lebt vom Engagement jedes einzelnen Mitglieds unserer Weltgemeinschaft. Deshalb sind gemeinsame zivilgesellschaftliche Aushandlungsprozesse und ein global vernetztes Denken für ein verantwortungsvolleres Handeln essenziell. Zu diesen Aushandlungsprozessen tragen auch wesentlich die Medien bei. Wir brauchen ihre sorgsame und kritische Berichterstattung, um uns im gesellschaftlichen Diskurs zu orientieren und um eigene Positionen auszuloten. Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Austausch und Konsensfindung werden aber durch Desinformationen im Netz gefährdet. Unabhängiger Journalismus und Medienpluralismus stärken gesellschaftliche Resilienzen gegen diese Gefahren. Es reicht allerdings nicht, die thematische Auseinandersetzung mit Themen der Nachhaltigkeit und den Wertediskurs zu stärken. Gerade Kulturinstitutionen und Medienunternehmen, die diese Themen gesellschaftskritisch verhandeln, müssen die UN-Nachhaltigkeitsziele auch selbst umsetzen, um glaubwürdig zu bleiben. Deshalb engagieren wir uns mit Nachdruck – wie wir auch gerade in unserem Nachhaltigkeitsbericht dargelegt haben – für mehr Chancengleichheit und Diversität in den Kultur- und Medieninstitutionen, und wir setzen mit Förderinstrumenten Anreize für ressourcen- und klimaschonendes Wirtschaften. Beispielsweise unterstützen wir das Aktionsnetzwerk „Nachhaltigkeit in Kultur und Medien“. Ziel der Bündnispartner ist eine klimaneutrale Kultur im Sinne der Agenda 2030. Dafür berät das Netzwerk Kultur- und Medienbetriebe, entwickelt Pilotprojekte und erprobt auch digitale Lösungen, wie etwa einen CO²-Rechner. Er soll künftig Kultureinrichtungen dabei helfen, Klimabilanzen zu erstellen und den eigenen Treibhausgasausstoß zu verringern. Und er kann auch dem Filmbereich zugutekommen. Denn wir wollen zeitnah ein freiwilliges Zertifikat für besonders ökologische Film- und Serienproduktionen einführen und in Ergänzung hierzu verbindliche Nachhaltigkeitskriterien festlegen, die wir dann den Filmförderregularien der BKM zugrunde legen. Dabei helfen uns übrigens auch die umfangreichen Vorarbeiten des Arbeitskreises Green Shooting. Kultur und Medien, insbesondere auch die Film- und Fernsehbranche, sind bereits vielfach selbst Treiber, wenn es um digitale Innovationen für eine nachhaltige Zukunft geht. So haben sämtliche öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten inzwischen Konzepte für ressourcenschonende Produktionsabläufe entwickelt, die sie mit Hilfe digitaler Anwendungen umsetzen. Und auch die Unterzeichnung der von mir initiierten „Gemeinsamen Erklärung für eine nachhaltige Film- und Serienproduktion“ war ein beherztes Bekenntnis der Film- und Fernsehbranche, den eigenen CO²-Fußabdruck – auch mit Hilfe der Digitalisierung – verkleinern zu wollen. Es gibt noch viel zu tun, und dabei ist jeder Einzelne gefragt. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass sich gerade dort ein Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit einleiten lässt, wo Visionen einer besseren Zukunft Verstand und Herz erreichen – insbesondere dann, wenn technisches Know-how und Kreativität zusammenkommen. Folgen Sie Alan Kays Motto, der als Künstler und Informatiker wusste, wie es geht: Sagen Sie die Zukunft vorher, indem Sie sie erfinden. Ich wünsche Ihnen eine anregende Diskussion.
Kultur und Medien sind bereits vielfach Treiber, wenn es um digitale Innovationen für eine nachhaltige Zukunft geht, betonte die Kulturstaatsministerin in ihrem digitalen Vortrag, denn „es sind inspirierende Imaginationen einer anderen Zukunft, die den für eine nachhaltige Welt erforderlichen Kulturwandel ermöglichen“.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich der Verleihung des Deutschen Buchhandlungspreises
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-der-verleihung-des-deutschen-buchhandlungspreises-1824936
Sun, 29 Nov 2020 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Knapp neun Monate ist es her, seit die Bewerbungsphase für den Deutschen Buchhandlungspreis 2020 begonnen hat: Keine lange Zeit, doch es fühlt sich an, als lebten wir heute in einem anderen Zeitalter. Dass der Mundnasenschutz mal zur Standardausrüstung nicht nur im Krankenhaus, sondern auch in Buchhandlungen gehört und verdiente Buchhändlerinnen und Buchhändler ihre Auszeichnung nur im Livestream verfolgen können, hätten sich bis vor kurzem vermutlich allenfalls Autorinnen und Autoren dystopischer Romane ausdenken können. Kein Händeschütteln für die Preisträger, kein Gruppenfoto, kein Anstoßen und keine persönlichen Gespräche von Angesicht zu Angesicht hinterher – das ist sehr schade. Doch mir war wichtig, dass diese Preisverleihung überhaupt stattfindet, und sei es auch nur im kleinen Rahmen und im virtuellen Raum. Denn gerade in diesem Coronajahr 2020, in dem Lesestoff vielleicht noch mehr als sonst Seelennahrung war und ist, hat sich gezeigt, wie wichtig inhabergeführte Buchhandlungen als geistige Tankstellen, als Fenster in andere Welten sind. Auch wenn die Zeit der geschlossenen Grenzen zum Glück vorbei ist, sind die Möglichkeiten des Entkommens aus der Enge der eigenen Lebenswelt ja im Moment sehr begrenzt: Nicht nur, weil aus beliebten Reisezielen Risikogebiete wurden, sondern auch, weil mit Theatern, Kinos, Konzerthäusern und anderen Kulturorten ausgerechnet die Sehnsuchts- und Zufluchtsorte des Alltagslebens besonders hart getroffen sind: Orte, die das zutiefst menschliche Bedürfnis nach Austausch und Gemeinschaft stillen – und den Wunsch, die Grenzen der eigenen, kleinen Welt zu überwinden. In den vergangenen Monaten dürfte vielen schmerzlich bewusst geworden sein, wie sehr sie uns fehlen. Uneinnehmbare Bastion ist und bleibt dagegen das Buch – ein Kulturerlebnis, das garantiert keinen Reisebeschränkungen und Abstandsregeln unterliegt. Glücklich, wer in den unendlichen Weiten der Literatur zu reisen weiß; glücklich, wer lesend mit fremden Menschen sehen, denken und fühlen kann! Sie, verehrte Buchhändlerinnen und Buchhändler, sind die Vermittler dieses Glücks. Auf der Suche nach dem richtigen Buch bieten Sie Ihren Kundinnen und Kunden Wissen und Orientierung. Genau dafür lieben Sie Ihre Kunden, deshalb kommen Sie in Ihre Läden: Weil sie hier Rat und Inspiration für geistige Fernreisen finden, weil Sie ihnen beim Aufbruch in geistiges Neuland Rat und Unterstützung bieten – im Berliner Kiez genauso wie in der schwäbischen Kleinstadt. Damit fördern Sie nicht zuletzt auch die Lesekultur und tragen maßgeblich zum Erhalt der literarischen, der verlegerischen, der kulturellen Vielfalt in Deutschland bei. Diese Leistung verdient nicht nur einen Preis, sondern auch eine Preisverleihung, Corona hin oder her. Deshalb freue ich mich, dass Sie alle dabei sind – sei es live hier in der Staatsbibliothek, sei es via Livestream im virtuellen Raum! Ich danke unseren Partnern, dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels und der Kurt-Wolff-Stiftung, vor allem aber allen Mitgliedern der Jury, die mit viel Sachverstand und großem Engagement deutschlandweit preiswürdige Buchhandlungen ausgewählt haben. Ein herzliches Dankeschön auch Ihnen, liebe Frau Dr. Schneider-Kempf, dass Sie unserer kleinen Feier hier in der Staatsbibliothek einen würdigen Rahmen bieten. 118 Buchhandlungen zeichnen wir in diesem Jahr aus – und alle werden im kommenden Jahr zur Verleihung des Buchhandlungspreises 2021 eingeladen, damit wir dann hoffentlich nicht nur virtuell in großer Runde miteinander feiern können. Dass in diesem Jahr nicht so recht Feierstimmung aufkommen mag, liegt nicht nur an Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln. Es hat auch damit zu tun, dass die aktuelle Krise auch an den Buchhandlungen nicht spurlos vorbeigeht. Viele haben wegen ihrer Schließung im März und April erhebliche Umsatzeinbußen zu beklagen. Deshalb habe ich im Konjunkturprogramm NEUSTART KULTUR der Bundesregierung, das dem Erhalt der kulturellen Infrastruktur dient, 10 Millionen Euro speziell für Buchhandlungen vorgesehen. Denn wir brauchen Sie als Fürsprecher auch unbekannter Autorinnen und Autoren, als Botschafter unabhängiger Verlage und als Förderer der Lesekultur und des Kulturgutes Buch. „Wenn es mir schlecht geht, gehe ich nicht in die Apotheke, sondern zu meinem Buchhändler“, hat der französische Schriftsteller Philipp Djian einmal in einem Interview gesagt. Insbesondere im Coronajahr 2020 ist er damit sicher nicht der Einzige. Für Ihre engagierte Arbeit, die Buchhandlungen in diesem Sinne zu geistigen Naherholungsgebieten macht, danke ich Ihnen herzlich, liebe Buchhändlerinnen und Buchhändler. Für die guten Zeiten, die in nicht allzu ferner Zukunft sicher wiederkommen werden, wünsche ich Ihnen, dass der ausgeprägte Lesehunger dieses Jahres Ihnen dann doch viele neue Kundinnen und Kunden beschert – so wie hoffentlich auch die Auszeichnung mit dem Deutschen Buchhandlungspreis und die damit verbundene, öffentliche Aufmerksamkeit. Herzlichen Glückwunsch allen Preisträgerinnen und Preisträgern! Bleiben Sie gesund – und zuversichtlich!
„Glücklich, wer in den unendlichen Weiten der Literatur zu reisen weiß“, sagte die Kulturstaatsministerin in ihrer Rede und lobte dann die Rolle der Buchhändlerinnen und Buchhändler als Vermittler dieses Glücks.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur virtuellen Conférence des Organes Spécialisés dans les Affaires Communautaires am 30. November 2020
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-virtuellen-conf%C3%A9rence-des-organes-sp%C3%A9cialis%C3%A9s-dans-les-affaires-communautaires-am-30-november-2020-1823540
Mon, 30 Nov 2020 00:00:00 +0100
Berlin
keine Themen
Lieber Gunther Krichbaum, lieber Guido Wolf und liebe Kolleginnen und Kollegen in den europäischen Hauptstädten, ich freue mich sehr, heute hier mit dabei zu sein. Ich bedanke mich ganz besonders beim Deutschen Bundestag und beim Europaausschuss für die Organisation dieser Veranstaltung, die wir uns wie auch unsere gesamte EU-Ratspräsidentschaft natürlich anders vorgestellt hatten. Die Präsidentschaft ist von der Pandemie geprägt; das ist einfach so. Man muss die Dinge nehmen, wie sie sind. Wir hatten uns schon seit langem das Motto gegeben: „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ ‑ Das passt sehr gut zu dieser Pandemie. Ich will damit beginnen, zu sagen, dass wir über die Monate besser gelernt haben, gemeinsame Wege aus der Krise zu finden. Die Kommission hat eine Vielzahl an Initiativen insbesondere auch zur Impfstoffbeschaffung unternommen. Auch die Gesundheitsagentur ECDC wird inzwischen sehr viel besser mit Daten und Fakten beliefert. Man hat eine einheitlichere Berichterstattung. Wir haben aber noch viel zu tun. In der Pandemie hat sich der Wunsch der Europäischen Kommission gezeigt, trotz nicht primärer Zuständigkeit doch eine koordinierende Funktion zu erfüllen und schrittweise auch so etwas wie eine Gesundheitsunion aufzubauen. Wir haben im Europäischen Rat damit begonnen, uns in Videokonferenzen in kürzeren Abständen über die jeweilige pandemische Lage auszutauschen. Die Gesundheitsminister haben das von Anfang an sehr, sehr intensiv getan, aber wir tun es jetzt auch auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs, weil es ansonsten einfach ein bisschen verquer wäre, wenn man sich 80 Prozent des Tages mit der Pandemie beschäftigt, aber im Europäischen Rat kaum darüber sprechen würde. Ich muss auch sagen, dass dieser Austausch immer sehr lehrreich ist. Wir haben gesehen, dass diese Pandemie mit fürchterlichen Verwerfungen auch in unserer Wirtschaft einhergeht. Sie war am Anfang auch eine Störung für den Binnenmarkt, weil man von einem Tag auf den anderen Grenzkontrollen eingeführt hat. Lange Schlangen von Lkw waren die Folge. Daraus haben wir gelernt; und das haben wir jetzt in der zweiten Welle, wie man sieht, verhindert. Aber wir werden noch jahrelang ‑ so würde ich voraussagen ‑ an den ökonomischen Folgen dieser Krise zu arbeiten haben. Natürlich sind gerade auch die Länder, die über viele Jahre Reformprogramme durchgeführt haben ‑ ich nenne als Beispiel Portugal ‑ und die gerade auf dem Niveau angekommen waren, dass die Neuverschuldung bei null lag und dass man wieder zuversichtlich nach vorn schauen konnte, schwer getroffen von diesem wirtschaftlichen Einbruch. Wir müssen schauen, dass wir aus der Krise herauskommen. Sicherlich sind alle ökonomisch betroffen, aber doch so, dass die Konvergenz, die Kohäsion innerhalb der Europäischen Union nicht völlig auseinandergerät. Was wir mit der Pandemie erleben, ist meiner Meinung nach ein Jahrhundertereignis. Deshalb muss man neue Mittel und Wege finden, um darauf zu reagieren. Das haben wir getan, indem wir neben den Arbeiten am Mehrjährigen Finanzrahmen auch den Recovery Fund „Next Generation EU“ konstruiert haben und dieses Aufbauinstrument jetzt mit Leben erfüllen wollen. Der Europäische Rat hat sich im Juni geeinigt, das Europäische Parlament hat Diskussionen darüber geführt, aber wir stehen heute an einem Punkt, an dem wir leider noch nicht abstimmen können, weil Ungarn und Polen noch Vorbehalte gegen den sogenannten Konditionalitätsmechanismus haben, bei dem es auch um die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien im Zusammenhang mit den finanziellen Ausgaben der Europäischen Union geht. Ich hoffe, dass wir hierfür noch eine Lösung finden. Wir bemühen uns zumindest darum. Das wäre ein ganz wichtiges Signal. Aber ich kann noch nicht sozusagen die Erledigung der Aufgabe melden, obwohl ich es gern täte. So ist es mit vielen Projekten in unserer Präsidentschaft. Wir werden bis zum letzten Tag arbeiten müssen. Es kann heute nur eine Zwischenbilanz sein. Denn wir haben am 10. und 11. Dezember noch einmal einen sehr wichtigen Rat. Auf diesem Rat werden hoffentlich noch einmal gute Entscheidungen getroffen. Gunther Krichbaum hat das Thema EU – Großbritannien erwähnt. Seitens der Kommission wird insbesondere von Michel Barnier, dem ich für seine Arbeit ganz herzlich danken möchte, verhandelt. Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sich hier zunehmend mit eingeschaltet. Wir hoffen, dass es sozusagen noch ein gutes Ende nimmt mit diesen Verhandlungen. Natürlich werden einige Mitgliedstaaten jetzt langsam unruhig, denn es bleibt nicht mehr sehr viel Zeit. Diese Verhandlungen sind auch hart. In ihnen spielen die Themen Governance und „level playing field“ eine große Rolle. Vielleicht für viele am greifbarsten sind ganz konkrete Fragen: aus britischer Sicht etwa der Zugang zum europäischen Energiemarkt, aus unserer Sicht der Zugang zu den britischen Fischereigründen. Das sind Dinge, die im Vordergrund sehr oft diskutiert werden. Ich wünsche Michel Barnier und gegebenenfalls auch Ursula von der Leyen viel Kraft und viel Geschick für die letzten Verhandlungsschritte. Wir brauchen aber kein Abkommen um jeden Preis; das haben wir deutlich gemacht. Wir wollen ein Abkommen, aber wir werden auch sonst Maßnahmen ergreifen, die notwendig sind. Auf jeden Fall liegt ein Abkommen im Interesse aller. Ein großes Thema auf dem Rat am 10. und 11. Dezember wird das Thema Klimaschutz sein. Die Kommission ist ja mit ihren Vorschlägen zum Green Deal, mit dem ersten Paket, sozusagen schon an die Öffentlichkeit getreten. Als Ziel ist genannt die Klimaneutralität bis 2050 und als ein ambitioniertes Zwischenziel eine Emissionsreduktion von mindestens 55 Prozent bis 2030. Deutschland unterstützt das Ziel von 55 Prozent Reduktion. Wir haben darüber zum ersten Mal im Oktober beraten, aber die eigentliche Beratung wird im Dezember stattfinden. Es wird noch ziemlich schwierig sein, hierüber ein Einvernehmen herzustellen. Deutschland wird sich aber seiner Verantwortung stellen und die Kommission sowie den Ratspräsidenten Charles Michel sehr dabei unterstützen, zu erreichen, dass wir an dem auf den Rat folgenden Tag, nämlich am Samstag, dem 12. Dezember, bei einer Sonder-UN-Konferenz in der Lage sind, ein ambitionierteres Ziel der EU zu melden. Sie haben sicherlich alle verfolgt, dass sich auch China zu ambitionierten Zielen verpflichtet hat: 2060 CO2-Neutralität; und der Peak vor dem Jahr 2030. Das sind Rahmendaten, die sicherlich sehr ermutigend sind und sicherlich nicht nur von uns, sondern auch von China eine große Kraftanstrengung verlangen. Wir werden im ersten Halbjahr des Jahres 2021 ‑ etwa Mitte des Jahres 2021 ‑ eine Vielzahl an Rechtsakten der Kommission vorgelegt bekommen und darüber sicherlich auch sehr hitzige Beratungen haben. Wir müssen aber natürlich erst wissen, was sie jeweils für die einzelnen Sektoren bedeuten. Deutschland möchte gern auch sehr stark auf das Preissignal setzen. Wir hätten es gerne, wenn der Emissionshandel auch in den Bereichen Wohnungswirtschaft und Verkehr stattfinden würde. Heute haben wir einen Zertifikatehandel ja nur im Bereich der Industrie. Wir arbeiten im Übrigen sowohl bei diesem Thema als auch beim Thema Digitalisierung innerhalb der Trio-Präsidentschaft mit Portugal und Slowenien sehr eng zusammen. Bei der Digitalisierung wird das auch wichtig sein, denn viele Rechtsakte kommen erst jetzt zum Ende unserer Präsidentschaft. Wir haben aber auch jetzt schon eine ganze Reihe von Maßnahmen voranbringen können. Anderes kommt aber noch. Hierbei ist für mich zum Beispiel das Thema digitale Identität für die Schaffung eines europäischen Binnendigitalmarktes von allergrößter Bedeutung. Auch mit der Vorbereitung der Zukunftskonferenz wollen wir vorankommen und diese auch möglichst noch starten; ich hoffe, das gelingt uns noch. Hier sollte aus meiner Sicht nicht die Frage „Vertragsänderung ‑ ja oder nein?“ im Vordergrund stehen, sondern man sollte fragen: Was erwarten die Bürgerinnen und Bürger von uns? Wenn das zur Folge hat, dass es auch Vertragsänderungen geben muss, dann sollte man sich vor ihnen aber auch nicht verschließen. Die Kommission hat zum Thema Migration ein umfassendes Vorschlagspaket auf den Weg gebracht. Hier ist unser Innenminister am Werke. Es herrscht, würde ich sagen, ein konstruktives Klima, aber Fortschritte sind sehr, sehr schwer zu erreichen. Das wird sicherlich auch keinen verwundern. Ich glaube trotzdem, dass das Paket der Kommission die richtigen Fragen und Aufgaben adressiert: was sowohl den Außengrenzschutz und die Kooperation mit Herkunftsländern anbelangt, aber auch die Fairness beim Umgang mit ankommenden Migranten und Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union. Wir haben auch eine Vielzahl an außenpolitischen Themen, die auf dem Dezember-Rat noch einmal eine zentrale Rolle spielen werden. Dazu zählen unter anderem die EU-Türkei-Beziehungen. Dazu hatten wir schon im Herbst eine erste Diskussion; und diese Diskussion werden wir am 10. und 11. Dezember fortsetzen. Leider sind die Fortschritte hier nicht so berichtenswert, wie ich mir das gewünscht hätte. Wir haben sehr viel Kraft auf die EU-Türkei-Beziehungen gelenkt. Es gibt aber eine Vielzahl an Hemmnissen und immer wiederkehrende Schwierigkeiten. Insofern müssen wir jetzt einmal abwarten, wie die Diskussion im Dezember läuft. Diese ist aber bis jetzt nicht so weit vorangegangen, wie ich es mir erhofft hätte. Was die Beziehungen zu Belarus anbelangt – durch die demokratische Bewegung in Belarus ist doch eine völlig neue Situation entstanden. Wegen der Verquickung der Sanktionsforderungen gab es lange Zeit keine einheitliche Reaktion der EU mit Sanktionen auf die Regierung Lukaschenkos, aber wir haben jetzt doch eine einheitliche Vorgehensweise der ganzen Europäischen Union. Dafür bin ich sehr dankbar. Genauso bin ich im Zusammenhang mit der Nowitschok-Vergiftung von Herrn Nawalny sehr dankbar für die einheitliche Reaktion der Europäischen Union. Das hat sehr gut geklappt. Wir werden natürlich auch noch an der Frage unserer zukünftigen Zusammenarbeit mit der nächsten amerikanischen Administration, mit dem President-elect und zukünftigen Präsidenten Biden, arbeiten. Wir haben uns noch einmal sehr um den westlichen Balkan gekümmert. Hier gibt es Spannungen vieler Art, aber es gibt auch Fortschritte. Der Berliner Prozess hat sich als eine gute Initiative erwiesen, die Ergebnisse zeitigt. Wir haben aber Mühe, die Beitrittskonferenz für Nordmazedonien noch stattfinden zu lassen. Albanien hat sehr große Fortschritte gemacht, aber insbesondere bei Mazedonien ist es fraglich, ob wir das noch rechtzeitig schaffen, denn es gibt hier Diskussionsbedarf zwischen Bulgarien und Nordmazedonien, wie man ja weiß. Es wird außerdem noch einen reduzierten Afrika-Gipfel am Vorabend des Europäischen Rates, also am 9. Dezember, geben. Naturgemäß können aufgrund der Pandemie Vertreter vieler afrikanischer Länder nicht nach Brüssel kommen. Wir haben deshalb Regionalorganisationen und das Büro der Afrikanischen Union ausgewählt, um mit ausgewählten Teilnehmern des Europäischen Rates zu diskutieren. Unter portugiesischer Präsidentschaft wird im nächsten Halbjahr hoffentlich ein physisches Treffen zwischen der Afrikanischen Union und dem Europäischen Rat stattfinden können. Last but not least: EU – China. Wir hatten uns vorgenommen, beim Investitionsschutzabkommen voranzukommen, das schon seit 2012 verhandelt wird. Wir hatten eine Videokonferenz mit Präsident Xi, Charles Michel, Ursula von der Leyen und mir. Es wird auch Anfang Dezember noch einmal eine Verhandlungsanstrengung geben – und gegebenenfalls vielleicht eine zweite Videokonferenz. Wie weit wir da kommen, kann ich heute noch nicht sagen; auch da müssen wir noch hart arbeiten. Das sind die wesentlichen Themen, mit denen wir uns jetzt beschäftigen. Es gibt sicherlich auch noch manches andere mehr. Der Bundesfinanzminister sitzt heute zum Beispiel an einer ESM-Reform, die ja auch noch nicht abgeschlossen ist. Auch andere Ressorts haben natürlich ihre Schwerpunkte gesetzt, so zum Beispiel die Landwirtschaftsminister die neue Agrarpolitik. Jeder Minister ist mit Eifer dabei. Vieles, was wir uns vorgenommen hatten, konnte nicht stattfinden, aber wir profitieren von den Segnungen der Digitalisierung und neuen technischen Möglichkeiten. Herzlichen Dank.
Rede von Staatsministerin Grütters anlässlich der 2. und 3. Lesung eines Gesetzes zur Änderung des Bundesarchivgesetzes, des Stasi-Unterlagen-Gesetzes und zur Einrichtung einer oder eines SED-Opferbeauftragten
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-gruetters-anlaesslich-der-2-und-3-lesung-eines-gesetzes-zur-aenderung-des-bundesarchivgesetzes-des-stasi-unterlagen-gesetzes-und-zur-einrichtung-einer-oder-eines-sed-opferbeauftragten-1821496
Thu, 19 Nov 2020 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Kultur
Am 15. Januar 1990 stürmten Bürgerinnen und Bürger die Zentrale der Staatssicherheit der ehemaligen DDR–Deutsche Demokratische Republik in der Berliner Normannenstraße und bewahrten damit unzählige Stasi-Akten vor der Vernichtung. Zwei Jahre später öffnete der „Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheits-dienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ – kurz: BStU – seine Pforten. Weltweit zum ersten Mal hatten Menschen damit die Möglichkeit, nach dem Sturz einer Diktatur nachzuvollziehen, welche Informationen die Geheimpolizei über sie gesammelt hatte und wer die Spitzel waren. Die rechtsstaatliche Grundlage dafür hatte der Deutsche Bundestag Ende 1991 mit der Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes geschaffen. Wenn wir heute, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, die Eingliederung der Stasi-Akten in die Verantwortung des Bundesarchivs und die Einsetzung einer oder eines SED–Sozialistische Einheitspartei Deutschlands-Opferbeauftragten beim Deutschen Bundestag beschließen, ist dies keinesfalls der Schlusspunkt, sondern im Gegenteil: die Fortsetzung der Aufarbeitung unter gesamtdeutschen Vorzeichen – eine „späte deutsch-deutsche Vereinigung“, wie es vor ein paar Tagen in einer Sonntagszeitung treffend formuliert war. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat der BStU–Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheits-dienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik im Umgang mit den Schicksalen der Stasi-Opfer und den gesammelten Informationen stets ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein bewiesen. Dafür danke ich insbesondere den Bundesbeauftragten Joachim Gauck, Marianne Birthler und Roland Jahn. Mit dem vorliegenden Gesetz wollen wir die Stasi-Unterlagen dauerhaft und für künftige Generationen bewahren: als Teil unseres gesamtstaatlichen Gedächtnisses unter dem Dach des Bundesarchivs und im Kontext weiterer Archivbestände, die einen Bezug zur ehemaligen DDR–Deutsche Demokratische Republik und zur Zeit der deutschen Teilung haben. Wir führen die Kompetenzen und Erfahrungen des Bundesarchivs und des Stasi-Unterlagen-Archivs zusammen, deren Beschäftigte künftig in einer Behörde tätig sein werden. Die Zugänglichkeit der Stasi-Akten an den jetzigen Standorten und die besonderen gesetzlichen Regelungen zur Akteneinsicht bleiben unverändert weiter bestehen. Dabei muss im Übrigen niemand befürchten, höhere Gebühren bezahlen zu müssen. Zugleich verbessert sich der Zugang zu den Akten, die künftig deutschlandweit auch an sämtlichen Standorten des Bundesarchivs und digital eingesehen werden können. Die im Gesetz vorgesehene Ombudsperson für die Opfer der SED–Sozialistische Einheitspartei Deutschlands-Diktatur beim Deutschen Bundestag wird sich für die Belange dieser Menschen einsetzen. Nicht minder wichtig als die vorgesehenen Neuregelungen ist der breite politische und gesellschaftliche Konsens, der diese Neuregelungen trägt. Sie sind das Ergebnis eines langen Prozesses politischer und gesellschaftlicher Verständigung mit kontroversen, durchaus auch emotional geführten Debatten. Konflikte zuzulassen und auszutragen, ist Teil der Aufarbeitung leidvoller Diktaturerfahrungen in einer Demokratie. Das ist mühsam, das kann gerade für die Betroffenen auch schmerzhaft sein. Umso mehr freue ich mich über das breite Bündnis für die Zukunft der Aufarbeitung der SED–Sozialistische Einheitspartei Deutschlands-Diktatur, das heute hinter diesem Gesetz steht. Es ist auf der Grundlage eines gemeinsamen Konzepts des BStU–Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheits-dienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik und des Bundesarchivs entstanden, das der Bundestag 2019 mit den Stimmen von Union, SPD, FDP und Grünen gebilligt hat. Es wurde aus der Mitte des Bundestages eingebracht. Es wurde unter anderem mit den Opferverbänden beraten und wird von ihnen unterstützt. Und heute können wir es hoffentlich mit breiter Mehrheit verabschieden, meine Damen und Herren. Die Stasi-Unterlagen bleiben unverzichtbar für die umfassende Aufarbeitung des SED–Sozialistische Einheitspartei Deutschlands-Unrechts. Sie können uns helfen, das Bewusstsein für den Wert eines demokratischen Rechtsstaats auch in künftigen Generationen lebendig zu halten. Denn sie dokumentieren, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben. Menschen, die man bis in die intimsten Bereiche ihres Lebens hinein bespitzelte, wurden zermürbt durch Schikanen im Alltag, durch willkürliche Inhaftierungen, durch Verunsicherung und Isolation. Sie wurden gedemütigt, entwürdigt, misshandelt oder kamen gar zu Tode. Lebenswege wurden verhindert, Familien zerstört. Die Denunzianten waren Bekannte, Nachbarn, manchmal engste Freunde. Mit diesem engmaschigen Netz der Beobachtung, unter dem Misstrauen und Angst gediehen, unterhöhlte der Staatssicherheitsdienst das Beziehungsgefüge einer ganzen Gesellschaft. Die Stasi-Akten offenbaren aber auch den unbeugsamen Widerstandsgeist der Gegnerinnen und Gegner des SED–Sozialistische Einheitspartei Deutschlands-Regimes und die Zivilcourage vieler Menschen in der DDR–Deutsche Demokratische Republik, die den Machthabern im Streben nach Freiheit und Demokratie die Stirn boten. Der Schriftsteller Reiner Kunze hat die knapp 3.500 Seiten seiner Stasi-Akte zu einer Dokumentation mit dem Titel „Deckname Lyrik“ verarbeitet und in seinem „Vers zur Jahrtausendwende“ die Haltung formuliert, mit der er selbst dem SED–Sozialistische Einheitspartei Deutschlands-Regime bis zu seiner Ausbürgerung standhielt: „Wir haben immer eine wahl, / und sei’s, uns denen nicht zu beugen, / die sie uns nahmen.“ Im Gegensatz zu einer Diktatur ist Demokratie korrektur- und lernfähig und eröffnet Handlungs- und Mitgestaltungsspielräume. Meine Hoffnung ist, dass die Auseinandersetzung mit den Stasi-Unterlagen den Blick eben dafür schärft und auf diese Weise die gesellschaftlichen Widerstandskräfte gegen totalitäre Ideologien und gegen populistische Demokratieverächter stärkt. In diesem Sinne bitte ich Sie um Ihre Unterstützung für die Eingliederung des Stasi-Unterlagen-Archivs in die Verantwortung des Bundesarchivs.
„Die Stasi-Unterlagen bleiben unverzichtbar für die umfassende Aufarbeitung des SED–Sozialistische Einheitspartei Deutschlands-Unrechts“, so die Stsstaministerin für Kultur und Medien. „Nicht minder wichtig als die vorgesehenen Neuregelungen ist der breite politische und gesellschaftliche Konsens, der diese Neuregelungen trägt“ unterstrich sie in ihrer Rede vor dem Deutschen Bundestag.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Veranstaltung „Shared Heritage – gemeinsames Erbe in den Literaturen Europas?“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-veranstaltung-shared-heritage-gemeinsames-erbe-in-den-literaturen-europas–1821492
Thu, 19 Nov 2020 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
EU2020 Kultur,Kultur,EU2020 Medien
Im Coronajahr 2020 denkt man mit Wehmut an kulturelle Höhepunkte vergangener Jahre zurück: zum Beispiel an die Leipziger Buchmesse 2019, bei der die Literatur des östlichen Europas mit dem Gastland Tschechien einen glanzvollen Auftritt in Deutschland hatte. Im Gedächtnis geblieben ist mir dieser Auftritt vor allem deshalb, weil sich viele der teils noch relativ jungen tschechischen Autorinnen und Autoren mit ihren Büchern in die von Krieg und Diktatur, von Gewalt und Unterdrückung geprägte, jüngere Vergangenheit Europas wagten. Ich war überrascht von dieser neuen Autorengeneration, die sich intensiv mit den Schlachtfeldern, Friedhöfen und Ruinen der Vergangenheit beschäftigt wie etwa Jaroslav Rudiš in seinem Roman „Winterbergs letzte Reise, oder Traumata infolge von Krieg, Flucht und Vertreibung thematisiert, wie Kateřina Tučková in „Gerta. Das deutsche Mädchen“. Die Erinnerungen der Eltern und Großeltern sind für die jüngere Generation offenbar sehr präsent – trotz der zeitlichen Distanz. Sie sind dabei aber nicht in derselben Weise emotional belastend – wegen der zeitlichen Distanz. Jüngere Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Mittel- und Osteuropa bringen deshalb heute ohne Scheu zur Sprache, was lange tabu war und hinter Mauern des Schweigens verborgen blieb. Die polnische Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk bezeichnet einen Ort wie ihre Heimat Niederschlesien gar als schriftstellerischen Glücksfall, ich zitiere: Es ist ein großes Geschenk, ein Land zum Leben zu erhalten, das in der Sprache und Kultur, der ich angehöre, nicht erschöpfend erzählt wurde. Man muss alles von Neuem beginnen.Die Feder spitzen, damit sie imstande ist, (…) alle leeren Stellen in Raum und Erinnerung auszufüllen. Diese Worte treffen sicherlich auch auf andere Orte des östlichen Europas zu: auf Böhmen, Galizien, Siebenbürgen, auf das Baltikum und auf all die anderen, von der Vielfalt der Ethnien, Sprachen und Kulturen geprägten Regionen, die im 20. Jahrhundert zu Schauplätzen unermesslichen Leids und Unrechts wurden. Dank zahlreicher Autorinnen und Autoren, die die „Feder spitzen“ und „alle leeren Stellen in Raum und Erinnerung“ ausfüllen, werden bisher unerzählte Geschichten zum gemeinsamen Erbe, das Menschen miteinander teilen können. So bereitet die Literatur den Boden für Verständnis, für Verständigung und ja: vielleicht auch für Vergebung. Das tut ganz Europa gut – gerade in einer Zeit, in der nationalistische Strömungen vielerorts politisch im Aufwind sind. Deshalb freue ich mich sehr, dass das BKGE–Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa dem gemeinsamen Erbe in den Literaturen Europas eine eigene Veranstaltungsreihe widmet – und dass diese Reihe als Teil des Kulturprogramms der deutschen EU-Ratspräsidentschaft aus dem Bundeskulturetat finanziert werden kann. Ich danke Ihnen, lieber Herr Prof. Weber, ich danke dem engagierten Team des BKGE–Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa und insbesondere auch den zahlreichen Kooperationspartnern für diesen bereichernden Blick ostwärts. Sie schärfen damit das Bewusstsein nicht nur für den kulturellen Reichtum des östlichen Europas, sondern auch für die verbindende Kraft der Literatur, die zur europäischen Einheit in Vielfalt eine ganze Menge beiträgt. Der Fortbestand der Europäischen Union hängt ja nicht in erster Linie und schon gar nicht ausschließlich von der Höhe der Agrarsubventionen oder der Ausstattung des Corona-Hilfsfonds ab. Wichtig ist auch, dass wir, die wir in der EU leben, uns als Europäerinnen und Europäer miteinander verbunden fühlen, dass wir willens und in der Lage sind, einander zuzuhören und zu respektieren – trotz verschiedener Erfahrungen, trotz unterschiedlicher Perspektiven auf Vergangenheit und Gegenwart. Diese vielfältigen Erfahrungen und Perspektiven zu Wort kommen zu lassen, kann den europäischen Zusammenhalt in Vielfalt stärken, weil darin bei allen Unterschieden das gemeinsame Erbe sichtbar wird. Im Sinne des Historikers Karl Schlögel könnte auf diese Weise – jenseits des nationalen Erinnerns – eine „dezidiert europäische Gedächtniskultur“ entstehen; damit meint er (ich zitiere aus einem seiner Vorträge): Kein (…) homogenes Narrativ aus einem Guss, kein kurzer Lehrgang in europäischer Geschichte, sondern die Entstehung eines geschützten Raumes für den Strom der Erzählungen […]. Für viele ist das zu wenig. In meinen Augen ist es das Schwierigste überhaupt. Denn es bedeutete die Verteidigung eines geschützten Raumes, einer Sphäre von Öffentlichkeit, die den Pressionen von außen (…) standhält (…) und die Zumutungen aushält, die in den Erzählungen präzedenzlosen Unglücks im Europa des 20. Jahrhunderts enthalten sind. Der fiktionale Raum der Literatur bietet eine solchen „geschützten Raum für den Strom der Erzählungen“, für einen vielstimmigen Chor der Erinnerungen. So entsteht Empathie – mögen unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen einander in der Realität auch unversöhnlich, als wechselseitige Zumutung, gegenüberstehen. Und im besten Fall wird in diesem geschützten Raum der Literatur auch Verbindendes sichtbar, wo in der Politik und im Alltag (noch) das Trennende die Wahrnehmung beherrscht. Dann kann mit Hilfe der Literaturen Europas ein tragfähiges Fundament für Austausch und Verständigung wachsen. Dazu soll auch die Förderung des kulturellen Erbes beitragen, das uns Deutsche mit unseren östlichen Nachbarn verbindet. Auf Grundlage von Paragraph 96 des Bundesvertriebenengesetzes unterstützt die Bundesregierung deshalb aus dem Bundeskulturetat Museen und Forschungsinstitute – darunter das BKGE–Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa –, außerdem Archive, Bibliotheken und Juniorprofessuren und finanziert eine Vielzahl von Projekten mit Partnern aus dem östlichen Europa. Dies halte ich für umso wichtiger in einer Zeit, in der eine rein nationalistische Sicht auf die eigene Geschichte den Nährboden für Populismus, für Ab- und Ausgrenzung schafft. Deshalb haben wir die Förderkonzeption 2016 mit dem Ziel verstärkter europäischer Integration weiterentwickelt und die Mittel dafür immer wieder deutlich erhöht. Jeder Ort (…), schreibt Olga Tokarczuk im bereits zitierten Essay über ihre niederschlesische Heimat, jeder Ort schien mir mehrstöckig zu sein, voller mehr oder weniger selbstverständlicher Bedeutungen. Die Intensität dieses ,Flüsterns‘ und die Menge an Informationen, Vorahnungen und Vermutungen verflochten sich zu Fäden verschiedener Geschichten, die danach verlangten, aufgeschrieben zu werden. Was für ein Glück, dass es Menschen gibt, die sich schreibend dieser „mehrstöckigen“ Orte in Europa annehmen, wo sich Erlebnisse und Erfahrungen überlagern, und sie damit für uns alle zugänglich machen – ob in Niederschlesien, in Nordböhmen oder in Galizien, ob in Kärnten, Südtirol oder im Elsass! Ich bin sicher, hier gibt es noch viel zu entdecken. In diesem Sinne wünsche ich der Veranstaltungsreihe – wenn pandemiebedingt schon nicht live, so doch zumindest digital – viele interessierte Besucherinnen und Besucher, die sich für das gemeinsame Erbe in den Literaturen Europas begeistern lassen.
Sie freue sich sehr, betonte Kulturstaatsministerin Grütters in ihrer Rede, „dass das Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) dem gemeinsamen Erbe in den Literaturen Europas eine eigene Veranstaltungsreihe widmet – und dass diese Reihe als Teil des Kulturprogramms der deutschen EU-Ratspräsidentschaft aus dem Bundeskulturetat finanziert werden kann.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der BDA-Mitgliederversammlung
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-anlaesslich-der-bda-mitgliederversammlung-1820468
Thu, 26 Nov 2020 00:00:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Dulger, sehr geehrter Herr Kramer, meine Damen und Herren, ich möchte mich für die Einladung bedanken, auch wenn der Arbeitgebertag in der klassischen Form aus pandemischen Gründen in diesem Jahr ausfallen muss. Dass wir uns aber wenigstens in dieser Form zusammenfinden können, ist doch auch sehr schön. Es gibt auch einen Anlass, aus dem ich gerne dabei bin. Sie, lieber Herr Kramer, haben sich entschieden, das Amt des Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände nach sieben Jahren heute an Ihren Nachfolger Rainer Dulger zu übergeben, also Monate vor dem eigentlichen Ende Ihrer Amtsperiode im nächsten Herbst. Sie haben sich dazu entschieden, weil Sie möchten, dass Ihr Nachfolger nicht erst in sein Amt kommt, wenn im nächsten Jahr ein neuer Deutscher Bundestag gewählt und eine neue Bundesregierung gebildet wird, sondern mit ausreichend zeitlichem Vorlauf. Deshalb, lieber Herr Kramer, möchte ich die Gelegenheit nutzen, um Ihnen von Herzen für Ihr Engagement zu danken. Sie sind ein Mann der klaren Worte, der sich zugleich auf Zwischentöne versteht. Damit waren Sie ein überaus geschätzter Gesprächspartner ‑ nicht nur für mich und die Bundesregierung, sondern auch für die Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitnehmerseite. Einem norddeutschen Sprichwort zufolge kommt der Wind immer von vorn. Als Bremerhavener kennen Sie Gegenwind und wissen damit umzugehen ‑ selbstverständlich auch mit dem Gegenwind vonseiten der Gewerkschaften. Das liegt in der Natur der Sache, wenn man Arbeitgeberpräsident ist. Das verlangt immer wieder Standfestigkeit, aber im Sinne des Gemeinwohls auch Kompromissfähigkeit. Und beides haben Sie immer wieder gezeigt. Das gelingt ihnen deshalb so gut, weil Sie auf Argumente und auf Ausgleich setzen. Das hat sich bewährt – zum Beispiel bei der Mindestvergütung für Auszubildende, die Sie mit den Gewerkschaften ausgehandelt und bei Ihren Mitgliedern durchgesetzt haben. Denn Sie waren überzeugt, dass diese Kompromisslösung trotz aller Vorbehalte letztlich die duale Ausbildung stärkt. Ich denke genauso. Mindestens genauso rau war der Gegenwind beim Thema Tarifeinheit. Die BDA und andere hatten jahrelang gefordert, Tarifkollisionen innerhalb eines Betriebs gesetzlich aufzulösen. Die Aufgabe war nicht einfach, weil ja auch hohe verfassungsrechtliche Hürden zu überwinden waren. Aber letztlich konnten wir mit dem Tarifeinheitsgesetz 2015 ein tragfähiges Ergebnis erzielen ‑ und zwar gerade auch dank der Beharrlichkeit und Unterstützung von Ihnen, lieber Herr Kramer. Manchem Gegenwind ‑ im wahrsten Sinn des Wortes ‑ haben Sie aber nicht nur als Arbeitgeberpräsident getrotzt, sondern auch als Seenotretter. Immer wieder sind Sie, wie ich weiß, auch selbst als Mannschaftsmitglied auf einem Rettungsschiff im Einsatz, zeitweise auch im Mittelmeer bei der Rettung von Flüchtlingen. Das ist sicher ein wesentlicher Grund dafür, dass Sie die menschliche Tragödie gerade auch der Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer nicht kalt lässt, im Gegenteil. Als im Jahr 2015 viele Menschen Zuflucht in Europa und besonders in Deutschland suchten, haben Sie entscheidend mit dazu beigetragen, dass viele Unternehmen geflüchteten Menschen Perspektiven bieten konnten und sie umgekehrt auch für sich wertvolle Mitarbeiter gewonnen haben. Dieses Engagement endete nicht etwa 2015, sondern es trägt bis heute. Dafür ‑ das will ich ausdrücklich sagen ‑ bin ich sehr, sehr dankbar; natürlich auch dafür, dass dies die Unterstützung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände fand und findet. Meine Damen und Herren, auch jetzt befinden wir uns wieder in einer Bewährungsprobe, die es zu bestehen gilt. Die Coronavirus-Pandemie mit ihren vielfältigen medizinischen, wirtschaftlichen, sozialen und ethischen Folgen trifft uns alle ‑ im Berufs- genauso wie im Privatleben, in Deutschland, Europa und auch weltweit. Das Wichtigste derzeit ist, die Ausbreitung des Virus einzudämmen und die Zahl der Neuansteckungen deutlich zu senken. Damit können wir auch dafür sorgen, dass unser Gesundheitssystem nicht überfordert wird und die intensivmedizinischen Kapazitäten ausreichen. Dazu waren und sind tiefgreifende Maßnahmen unumgänglich. Würden wir warten, bis die Intensivstationen voll belegt sind, dann wäre es definitiv zu spät. Deshalb werden wir auch auf absehbare Zeit noch mit Einschränkungen leben müssen, wie wir sie gestern auch wieder im Kreis der Regierungschefinnen und -chefs des Bundes und der Länder für die nächste Zeit beschlossen haben. Das ist ja auch der Grund dafür, dass ich heute etwas später gekommen bin, weil ich noch im Deutschen Bundestag war. Ich will ausdrücklich hervorheben, dass es ermutigend ist, dass es in den letzten Wochen gelungen ist, die zuvor dramatisch exponentielle Infektionsdynamik zu stoppen, und dass wir zu einer Seitwärtsbewegung gekommen sind. Aber das reicht eben nicht aus. Wir können von einer Trendumkehr leider noch nicht sprechen. Die müssen wir aber erreichen, wenn wir wieder eine Rückverfolgbarkeit der Infektionsketten erreichen wollen. Und das ist im Übrigen auch im wirtschaftlichen Interesse. Es gibt Studien, die sehr schön belegen, dass Kontrolle über das Infektionsgeschehen auch der beste Pfad der Wirtschaft durch eine solche Krise ist. Es geht eben nicht nur um Gesundheit oder Wirtschaft, Gesundheit oder Soziales, Gesundheit oder Bildung. Das ist manchmal in der öffentlichen Diskussion ein Missverständnis. Es geht jeweils um beides. Denn was dem Ziel dient, eine Überlastung unseres Gesundheitssystems zu vermeiden, das dient am Ende auch der Wirtschaft, der Kultur oder der Bildung in unserer Gesellschaft. Für uns ist das Offenhalten von Schulen und Kitas ‑ so irgend möglich ‑ auch weiter ein Schwerpunkt. Ich denke, das ist auch für die Wirtschaft und die gesamte Gesellschaft von besonderer Bedeutung. Aber deshalb müssen wir an anderer Stelle Einschnitte machen; denn es geht immer um die Summe der Kontakte. Deshalb bin ich allen sehr dankbar, die ‑ wo immer möglich ‑ bereit sind, ihren Arbeitsplatz nach Hause zu verlegen. Ich danke den Arbeitgebern, die sich hierbei flexibel zeigen und auch die nötige Infrastruktur zur Verfügung stellen. Ich weiß natürlich auch, dass unsere Wirtschaft gleichwohl schwer unter den Folgen der Pandemie leidet; Herr Dulger hat das eben auch gesagt. Das gilt auch für viele Unternehmen, die eigentlich gesund sind und jetzt in diesem Krisenjahr völlig unverschuldet schwer geprüft werden. Das heißt, solche Unternehmen brauchen Unterstützung. Wir bieten diese Unterstützung an: mit umfassenden und bei Bedarf angepassten Hilfsmaßnahmen. Im Zusammenhang mit solchen Hilfsprogrammen spürt man, wie kompliziert und vielfältig die Welt ist und wie wenig es sozusagen ausreicht, nur eine Lösung zu haben. Mit den Novemberhilfen unterstützen wir Unternehmen, Freiberufler und Selbständige über die schwierigen Wintermonate hinweg. Wir leisten Zuschüsse von bis zu 75 Prozent des durchschnittlichen Wochenumsatzes im November des Vorjahres 2019. Für Soloselbständige und neu gegründete Unternehmen gelten flexible Sonderregelungen. Außerdem arbeiten wir mit den Ländern an einer Verlängerung der Überbrückungshilfen. So wichtig die akute Krisenbewältigung ist, so wichtig ist natürlich auch ein Blick darüber hinaus auf die nächsten Jahre. Sie, Herr Dulger, haben das ja auch schon angeschnitten. Denn es ist natürlich vollkommen klar, dass wir unsere Wirtschaft und unser Gemeinwesen nicht dauerhaft allein über günstige Kredite und Zuschüsse am Laufen halten können. Wenn wir unseren Wohlstand und unser Sozialsystem auf hohem Niveau halten wollen, dann brauchen wir wettbewerbsfähige Unternehmen. Das berührt auch die Frage, ob es ein Recht auf Homeoffice braucht, oder das Vorhaben, ein Lieferkettengesetz auf den Weg zu bringen. Ich sage ganz ausdrücklich: hierzu müssen weitere Gespräche geführt werden, damit es gelingt, Lösungen zu finden, die der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft nicht schaden. Außerdem müssen wir immer auch die Kostenseite der Unternehmen beachten. So ist natürlich ‑ Sie haben es auch angesprochen ‑ die Stabilisierung der Sozialabgaben seit jeher ein wichtiges Anliegen der BDA. Ich würde sagen: das ist es auch zu Recht. Es ist auch ein Anliegen, das ich stets geteilt und unterstützt habe. Deshalb freue ich mich, dass es seit Ihrem Amtsantritt vor sieben Jahren, Herr Kramer, durchgängig gelungen ist, die Beitragssätze zur Sozialversicherung unter 40 Prozent zu halten. Das war nicht immer so. Das ist ein wichtiger Erfolg, der angesichts der demografischen Entwicklung unseres Landes alles andere als selbstverständlich war und ist und natürlich nur durch eine sehr hohe Zahl an Menschen, die in Arbeit waren, möglich war. Es ist notwendig, die soziale Sicherung weiter auf die Veränderungen unserer Altersstruktur einzustellen und dabei immer auch die gesellschaftliche Bedeutung dieses Themas zu beachten. Das gilt natürlich ganz besonders mit Blick auf die Rentenversicherung. Zum einen dürfen Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Beitragszahler nicht überlastet werden. Zum anderen müssen die Rentnerinnen und Rentner für ihre Lebensleistung auch mit einer angemessenen Alterssicherung rechnen können. Darüber, wie das im Zuge des demografischen Wandels gelingen kann, werden noch intensive Diskussionen geführt werden. Die Ergebnisse, die dabei bisher erzielt worden sind oder noch erzielt werden, berühren zweifellos auch die Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Man darf das nicht falsch einschätzen: Die Sensibilität ‑ wie geht es mir im Alter, wenn ich vielleicht auf Unterstützung und Hilfe angewiesen bin ‑ ist da sehr, sehr hoch. Zu den Säulen der Sozialen Marktwirtschaft zählt natürlich auch die Tarifautonomie. Es hat sich über Jahrzehnte hinweg bewährt, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber über die Gestaltung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen verhandeln. Es hat sich bewährt, weil die Tarifpartner die Befindlichkeiten der Branchen viel besser als die Politik kennen. Damit können sie eben auch viel besser einschätzen, wie die Balance zwischen angemessener Entlohnung und dem Erfordernis, Beschäftigung nicht zu gefährden, gewahrt wird. Dieser Aufgabe haben Sie, Herr Kramer, sich mit ganzer Leidenschaft gewidmet. Sie haben dabei neben spezifischen Arbeitgeberinteressen immer wieder auch die Entwicklung unseres Landes insgesamt in den Blick genommen. Es ist genau diese Haltung, die ich zum Anlass nehmen möchte, Ihnen noch einmal von Herzen für die offene, natürlich auch kritische, aber immer auch konstruktive Zusammenarbeit zu danken. An der Spitze der Arbeitgeberverbände waren gewiss auch Ihre Erfahrungen als Familienunternehmer und Nordmetall-Präsident wichtig und hilfreich. Und Ihnen als Nachfolger, lieber Herr Dulger, werden ganz sicher auch Ihre Erfahrungen als Familienunternehmer und Gesamtmetall-Präsident für Ihr neues Amt zugutekommen. Das klingt nach Kontinuität; und das ist gerade jetzt, in dieser schwierigen Zeit, gewiss kein schlechtes Vorzeichen. Deshalb wünsche ich Ihnen für Ihre neuen Aufgaben als Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Erfolg und alles erdenklich Gute. Auf unsere Zusammenarbeit freue ich mich. Damit bedanke ich mich auch für die Möglichkeit, hier das Wort zu ergreifen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim SZ-Wirtschaftsgipfel
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-sz-wirtschaftsgipfel-1811976
Tue, 17 Nov 2020 00:00:00 +0100
Berlin
keine Themen
Guten Morgen, sehr geehrter Herr Krach und sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich, dass Sie mich eingeladen haben. Ich wäre natürlich gern persönlich zu Ihnen gekommen, aber die Pandemie lässt es geraten erscheinen, online dabei zu sein. Das klappt ja, wie ich sehe, auch ganz gut. „2021: Der Weg aus der Krise“ – das ist das Motto Ihres Wirtschaftsgipfels, aus dem vor allem die Zuversicht spricht, dass es im kommenden Jahr gelingen kann, diesen Weg zu finden und die tiefgreifenden gesundheitlich-medizinischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen zu überwinden. Im Augenblick jedoch – das müssen wir alle sehen – ist die Lage unverändert ernst. Ich würde sogar sagen: sie ist weiter sehr ernst. Die Pandemie trifft uns Menschen weltweit, im Augenblick auf der nördlichen Halbkugel mehr als auf der südlichen. Gleichwohl sind wir heute erheblich weiter als zu Beginn der Pandemie vor acht oder neun Monaten. Wir lernen in und mit der Pandemie, vorneweg unsere herausragenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, auch wir als Gesellschaft insgesamt und, wie ich denke, jeder und jede Einzelne. Das gilt zuerst einmal für den medizinisch-gesundheitlichen Bereich. Die Überlastung unseres Gesundheitssystems zu verhindern, war und ist der Ausgangspunkt all unserer Überlegungen. Denn davon hängt alles Weitere ab – ethisch, medizinisch, wirtschaftlich und sozial. Deshalb stehen an diesem Ausgangspunkt die präzise Beobachtung der täglichen Neuinfektionszahlen und, damit untrennbar verbunden, die Kontaktverfolgung zur Unterbrechung von Infektionsketten. Das ist das A und O der Pandemiebekämpfung, vorausgesetzt, wir verstehen sie als Vorbeugung vor dem Schlimmsten, also der Überlastung unseres Gesundheitssystems, solange es keinen Impfstoff und kein heilendes Medikament gibt. Genau als solche müssen wir sie nach meiner Überzeugung verstehen. Denn noch einmal: davon, ob wir eine Überlastung des Gesundheitswesens vermeiden können, hängt ab, wie schwerwiegend die medizinischen Folgen – nicht allein für Covid-19-Patienten, sondern für alle –, wie schwer die wirtschaftlichen Folgen, wie schwer die sozialen Folgen der Pandemie und auch wie schwerwiegend die Folgen für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft sind, die ja zu 30 bis 40 Prozent aus sogenannten Risikogruppen besteht, wozu auch die Älteren gehören. Wir sind eine Gesellschaft, deren Durchschnittsalter, gemessen zum Beispiel an afrikanischen Gesellschaften, vergleichsweise hoch ist. Deshalb sind die Risikogruppen wirklich nicht allein in Alten- und Pflegeheimen zu suchen, sondern sie umfassen auch viele, viele Menschen, die behindert sind, die Vorerkrankungen hatten und die eben älter als 60 Jahre sind. Meine Damen und Herren, wir können das alles eigentlich auch in einem ganz einfachen Satz zusammenfassen: Wenn wir warten würden, bis die Intensivbetten voll belegt sind, wäre es zu spät – nicht nur ethisch, sondern auch wirtschaftlich und sozial. Trotzdem – das weiß ich sehr wohl – sind und bleiben die Maßnahmen zur Einschränkung aller Kontakte unverändert eine Zumutung, eine demokratische Zumutung. Sie gehören zu den schwersten Entscheidungen in meiner Amtszeit; das muss ich ganz offen sagen. Es fällt Bund und Ländern überaus schwer, immer wieder solche Maßnahmen zu beschließen. Das gilt auch für die aktuellen Einschränkungen und das, was wir miteinander nächste Woche für die noch kommende Zeit verabreden werden. Dennoch sind diese Restriktionen unvermeidlich, damit wir den rasant exponentiellen Anstieg der Neuinfektionen zuerst, wie wir es jetzt tun, verlangsamen, dann stoppen und dann – davon sehen wir vielleicht erste zarte Pflänzchen – auch umkehren können und so dann wieder auf einen Inzidenzwert von etwa 50 kommen, damit wir die Kontaktnachverfolgung wieder möglich machen. Das dient allen. Ich will das gerade vor diesem Wirtschaftsforum noch einmal sagen. Wissenschaftler haben immer wieder festgestellt, dass eine gute Beherrschung der Pandemie das Beste für die Wirtschaft ist. Deshalb ist es auch wirtschaftlich vernünftig. Denn Pandemiebekämpfung heißt eben nicht: Gesundheit oder Wirtschaft, Gesundheit oder Kultur, Gesundheit oder Bildung – das ist, wie ich ganz offen sagen will, ein häufiges Missverständnis –, sondern Gesundheit und Wirtschaft, Gesundheit und Kultur, Gesundheit und Bildung. Wie ich eben schon sagte, steigen die Zahlen derzeit nicht mehr exponentiell. Aber sie sind noch viel zu hoch. Deshalb müssen wir Kontakte reduzieren, Kontakte reduzieren und noch einmal Kontakte reduzieren. Wichtig ist zusätzlich, dass Deutschland eine hohe Testkapazität hat. Wir testen viel und gezielt. Ich denke, dass wir eine gute Teststrategie entwickelt haben. Mit den Antigen-Schnelltests haben wir neue Möglichkeiten, vulnerable Gruppen präventiv zu testen und besser zu schützen – unter anderem Patienten und Bewohner von Pflegeeinrichtungen sowie das Personal von Pflegeheimen und Krankenhäusern und in der nächsten Zeit auch weit darüber hinaus. Die Antigen-Schnelltests werden uns sehr helfen. Die seit Oktober mit zunehmendem Tempo gestiegenen Fallzahlen haben viele Gesundheitsämter an oder über ihre Belastungsgrenzen gebracht. Es ist deshalb wichtig, dass die Bundeswehr bei der Kontaktnachverfolgung unterstützt. Auch aus Bundesbehörden wollen viele mithelfen. Ich will hier auch nochmals für die Corona-Warn-App werben. Sie wird stetig verbessert und immer mehr genutzt. Aber wir könnten noch mehr Mitmacher brauchen. Deshalb will ich das hier an dieser Stelle noch einmal sagen. Klar ist aber auch, dass unser Leben und Arbeiten, solange es noch keine geeigneten Impfstoffe und Medikamente gibt, weiterhin von den Regeln der Pandemiebekämpfung bestimmt werden, die wir ja alle kennen: Mund-Nasen-Bedeckung, Mindestabstand, Hygiene, Lüften und Corona-Warn-App. Zugleich sind wir natürlich froh und dankbar, dass die Impfstoffentwicklung ganz offensichtlich Fortschritte macht. Und wir freuen uns, dass wir auch in Deutschland Biotechnologie-Firmen haben, die ganz vorne mit dabei sind, wie die ermutigenden Nachrichten der letzten Tage zeigen. Das ist so etwas wie ein Silberstreif am Horizont. Bis zur Zulassung eines Impfstoffs wird es aber noch eine Weile dauern – und auch, bis wir dann wirklich die Möglichkeit haben, dass große Gruppen der Gesellschaft geimpft werden können. Wir haben Zulassungen immer an hohe Qualitätskriterien geknüpft; und das werden wir auch so beibehalten. Ich will an dieser Stelle auch noch einmal sagen, dass es freiwillig sein wird, sich impfen zu lassen. Es wird also keine Verpflichtung geben; das ist für uns in diesem Fall ganz selbstverständlich. Unverändert gilt also: wir müssen die Zahl der Neuinfektionen senken und dann auf niedrigem Niveau halten. Wenn das gelingt – das haben wir ja auch im dritten Quartal dieses Jahres gesehen –, dann wird auch die wirtschaftliche Erholung deutlich an Fahrt gewinnen. Wir waren eigentlich schon auf einem sehr guten Weg. Damit möchte ich zu meinem zweiten Themenschwerpunkt kommen, der natürlich mit Ihrer Tagung eng zusammenhängt, nämlich der Wirtschaft. Ich glaube, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie im Frühjahr ohne jeden Zweifel wichtig waren, aber für unsere Wirtschaft natürlich ein herber Schlag. Angesichts der schweren Rezession haben wir ein milliardenschweres Konjunktur- und Investitionspaket dagegengesetzt. Tatsächlich ging es in der zweiten Jahreshälfte ja auch wieder aufwärts. Aber insgesamt betrachtet rechnen wir in der Bundesregierung für 2020 mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um etwa 5,5 Prozent. Der Sachverständigenrat ist mit seiner Prognose von minus 5,1 Prozent ein wenig optimistischer, aber die Größenordnung ist ja die gleiche. Für 2021 erwarten wir einen kräftigen Wachstumsschub – vorausgesetzt, wir bekommen die Pandemie in den Griff; zumindest sind dann die Impfstoffe in Reichweite. Gleichwohl müssen sich derzeit manche Branchen durch eine besonders harte Durststrecke durchkämpfen. Das gilt etwa für die Gastronomie, das gilt für das gesamte Messewesen, das Eventmanagement und alles, was damit zusammenhängt. Hier waren im zweiten Quartal mit Abstand die höchsten Umsatzeinbußen zu verkraften. Im Vergleich zum Vorjahr sank die Wertschöpfung um über 60 Prozent. Man sieht also: sektoral gibt es durchaus dramatische Auswirkungen für die Betroffenen. Künstler und Kulturschaffende leiden ebenfalls schwer unter der Krise. Auch im verarbeitenden Gewerbe brach die Produktion ein, vor allem wegen der pandemiebedingten Unterbrechung internationaler Lieferketten und der gesunkenen Auslandsnachfrage. Wir unterstützen Unternehmen aller Größenordnungen – das wissen Sie – und aus allen Branchen, um ihre Existenz und damit auch Arbeitsplätze zu sichern. So bieten wir zum einen Zuschüsse, damit Unternehmen ihre fortlaufenden Fixkosten decken können, und helfen zum anderen mit dem KfW-Sonderprogramm und dem KfW-Schnellkredit, Liquiditätsengpässe zu überbrücken. Die hohe Förderzahl bei kleinen und mittleren Unternehmen zeigt, dass die Hilfen in unserer vielfältigen Wirtschaft ankommen. Ähnliches gilt für die großen Unternehmen, für die wir den Wirtschaftsstabilisierungsfonds aufgelegt haben. Auch indirekte Hilfen kommen der Wirtschaft und der Nachfrageförderung zugute – nicht zuletzt die Mehrwertsteuersenkung, befristet bis zum Ende dieses Jahres. Außerdem schauen wir immer wieder, ob und wie die einzelnen Maßnahmen wirken. Falls erforderlich, justieren wir nach. Ich will noch einmal darauf verweisen, dass wir von deutscher Seite aus nahezu die Hälfte aller Beihilfeanträge in Brüssel gestellt haben. All das zeigt auch, dass wir ein starkes Land sind und dass unsere Finanzpolitik der vergangenen Jahre uns in die Lage versetzt hat, nun auch wirklich gut und valide zu helfen. Wir setzen in den kommenden Wintermonaten wieder alles daran, Unternehmen unter die Arme zu greifen, die eigentlich gesund sind, aber unter den Folgen der Pandemie schwer leiden. Wir nehmen dafür eine außerordentliche Neuverschuldung in Kauf, aber wir glauben, dass dies in dieser außergewöhnlichen Situation auch gerechtfertigt ist. Wir denken aber auch über die Zeit der Pandemie hinaus. Aus gutem Grund ist die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert. Wir wissen, dass es die solide Haushaltspolitik der letzten Jahre war, die uns jetzt in der Krise die so wichtigen Handlungsspielräume eröffnet, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie aufzufangen, gerade auch mit Blick auf den Arbeitsmarkt. Natürlich spielen dabei auch andere Faktoren eine Rolle, nicht zuletzt die verbesserten Möglichkeiten der Kurzarbeit. Das ist ein sehr erfolgreiches Instrument gerade auch in dieser Krise; wir haben es ja auch bei der internationalen Finanzkrise schon gehabt. Im Mai waren fast sechs Millionen Arbeitnehmer in Kurzarbeit und im August immer noch zweieinhalb Millionen. Die Zahl steigt derzeit wieder an. An dieser Entwicklung lässt sich deutlich ablesen, wie wichtig Kurzarbeit ist, um Brücken zur Beschäftigungssicherung zu bauen und Fachkräfte nicht zu verlieren. Wir wissen aber auch, dass diejenigen, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben, die um ihr Geschäft bangen oder die Homeoffice und Kinderbetreuung unter einen Hut bringen müssen, in der Pandemie besonders hart geprüft werden. Coronabedingte Auswirkungen auf unseren Arbeitsalltag wie auch auf unsere Gesellschaft insgesamt sind natürlich unübersehbar. Das ist mein dritter Punkt. Dass die Pandemie insbesondere der Digitalisierung einen Schub verleiht, wird unser Leben und Arbeiten nachhaltig verändern. Ich sage ganz offen: hier kann es gar nicht schnell genug gehen. Viele Menschen waren und sind weiterhin bereit, ihren Arbeitsplatz nach Hause zu verlagern. Sie tragen damit zur Eindämmung des Virus bei. Die Unternehmen und auch die öffentliche Verwaltung haben versucht, die nötige technische Infrastruktur schnellstmöglich bereitzustellen. Flexibler, zeit- und ortsunabhängiger zu arbeiten – dieser Wandel war schon vor der Pandemie erkennbar, hat sich jetzt aber deutlich beschleunigt. Damit stellt sich auch verstärkt die Frage nach einer möglichen oder zweckmäßigen Neugestaltung der Arbeitsbedingungen. Die Bundesregierung hat sich bereits zu Anfang der Legislaturperiode als Ziel gesetzt, mobiles Arbeiten zu fördern und zu erleichtern. Dafür können Betriebsvereinbarungen gute Lösungen bieten. Doch bei allen Vorzügen, die digitale Formate im Alltag haben können – die persönliche Begegnung können sie natürlich nicht ersetzen. Das gilt für Beschäftigte; das gilt in besonderem Maße auch für Kinder und Jugendliche. Dass sie im Frühjahr wochenlang auf das Zusammensein mit Gleichaltrigen in der Schule und Kita verzichten mussten, war schmerzhaft – und auch für die Eltern oft belastend. Deshalb sind wir – Bund und Länder – entschlossen, eine erneute flächendeckende Schließung von Schulen und Kitas, so es irgend möglich ist, zu vermeiden. Aber wir müssen natürlich die Voraussetzungen weiter dafür verbessern, dass Kinder und Jugendliche am Unterricht auf Distanz teilnehmen können. Das ist auch eine Frage der Chancengerechtigkeit. Kinder und Jugendliche – gerade auch diejenigen mit Förderbedarf – dürfen nicht zu Verlierern der Pandemie werden, sonst hätte das gravierende Auswirkungen auf ihre späteren beruflichen Perspektiven. Daher ist es eben so wichtig, für eine moderne digitale Infrastruktur an den Schulen zu sorgen und digitale Lern- und Lehrformate zu entwickeln. Wir sehen uns hierbei als Bundesregierung in der Mitverantwortung und unterstützen die Länder im Rahmen des Digitalpakts Schule, den wir aufgestockt haben und der insgesamt sechs Milliarden Euro umfasst. Wir unterstützen mit 500 Millionen Euro die Beschaffung digitaler Endgeräte für Schüler. Mit ebenfalls 500 Millionen Euro beteiligen wir uns an der Qualifizierung und Finanzierung von IT-Administratoren. Diese Vereinbarungen sind bereits in Kraft und werden nun an den Schulen umgesetzt. Darüber hinaus haben wir beschlossen, auch die Lehrer mit digitalen Endgeräten auszustatten und stellen dafür weitere 500 Millionen Euro zur Verfügung. Das läuft gerade an. Unser Engagement beschränkt sich natürlich nicht allein auf das Bildungssystem, sondern umfasst auch die Digitalisierung der Wirtschaft. Weil viele technologische Innovationen ein modernes Mobilfunknetz voraussetzen, wollen wir möglichst die letzten Lücken bei der LTE-Versorgung schließen und den 5G-Ausbau voranbringen. Meine Damen und Herren, unabhängig von allen Maßnahmen, die wir hierzulande ergreifen, um die Folgen der Pandemie für die Wirtschaft und die Gesellschaft abzufedern, wissen wir, dass die Coronapandemie eine globale Herausforderung ist, deren Bewältigung internationale Zusammenarbeit erfordert. Deshalb steht die gemeinsame Bewältigung der Pandemie auch im Zentrum der jetzigen deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Die Europäische Union zeigt sich in dieser Krise gegenüber Mitgliedstaaten und Branchen solidarisch. Das gilt besonders für diejenigen, die besonders hart betroffen sind. Deshalb haben wir uns auf einen Aufbaufonds zur Krisenbekämpfung und auf den EU-Finanzrahmen bis 2027 geeinigt. Damit nehmen wir mittel- und langfristige Herausforderungen in den Blick: die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union, die Digitalisierung und den Klimaschutz. Gerade auch in so schwierigen Zeiten wie diesen sollten wir darauf hinwirken, Handelsbarrieren abzubauen. Ich weiß aber, dass die Versuchung groß ist, die Freiheit des Welthandels einseitig einzuschränken, um so den Wettbewerbsdruck auf die heimische Wirtschaft zu mindern. Ich bin aber überzeugt davon: das hätte Gegenreaktionen anderer Länder zur Folge; und das wiederum bedeutete die Gefahr, in eine Abwärtsspirale hineinzugeraten, wo wir dann keinen Weg mehr heraus aus Protektionismus und Wachstumseinbußen finden. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, wie wichtig es ist, das regelbasierte WTO-Handelssystem zu modernisieren. Ich will noch darauf hinweisen – wir alle haben davon gehört –, dass im asiatischen Raum ein neues Freihandelsabkommen geschlossen wurde, das uns zeigt, dass andere Regionen nicht müßig sind, und das sicherlich den Wettbewerbsdruck auf uns noch erhöhen wird. Meine Damen und Herren, auch 2021 wird – das kann man schon voraussagen – ein anspruchsvolles Jahr. Der Weg aus der Krise ist mühselig. Aber es liegt zu einem großen Teil an uns allen, wie wir auf diesem Weg vorankommen und wie gut es uns gelingt, die Coronaviruspandemie einzudämmen und damit auch die Folgen für unser Leben, Arbeiten und Wirtschaften zu mildern. „2021: Der Weg aus der Krise“ – dieser Weg, um noch einmal Ihr Motto aufzugreifen, kann gelingen; und zwar mit Rücksicht, mit Ausdauer, mit Vernunft und mit Zuversicht. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich nun auf die anschließende Diskussion. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Treffen der G20-Kulturminister in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-treffen-der-g20-kulturminister-in-berlin-1808422
Wed, 04 Nov 2020 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur,EU2020 Medien
Kultur ist überlebensnotwendig für menschliche Gemeinschaften: Das führt uns nicht erst die gegenwärtige Bedrohung des kulturellen Lebens durch die Corona-Pandemie vor Augen. Auch der Verlust kultureller Schätze schärfte in den vergangenen Jahren immer wieder das Bewusstsein für die existentielle Bedeutung von Kunst und Kultur. Die ganze Welt nimmt Anteil, wenn in Timbuktu jahrhundertealte muslimische Mausoleen zerstört werden, wenn in Paris die Kathedrale Notre-Dame in Flammen aufgeht oder in Venedig Hochwasser die malerische Altstadt flutet. Denn kulturelles Erbe spiegelt Geschichte und Identität, es stiftet Zusammenhalt und ermöglicht Verständigung. Nur wer seine eigenen kulturellen Wurzeln kennt und achtet, kann auch Andersartiges verstehen und wertschätzen – eine Voraussetzung für Frieden in der Welt. Die Verantwortung für das kulturelle Erbe endet deshalb nicht an Landesgrenzen. Wir – die G20-Staaten – sollten jeder in seinem Einflussbereich, aber auch gemeinsam alles nur Mögliche dafür tun, die Zeugnisse menschlicher Schöpfungskraft zu schützen: vor dem schlichten Zerfall, vor mutwilliger Zerstörung, vor Plünderungen und Raubgrabungen und vor dem daraus resultierenden, illegalen Handel. Ich bin deshalb sehr dankbar, dass wir im Rahmen eines G20-Treffens erstmals Gelegenheit zum Austausch über diese Themen haben. Deutschland hat den Rechtsrahmen für seinen Kulturgutschutz 2016 angepasst. Die EU hat im vergangenen Jahr allgemeine Regeln für die Einfuhr von Kulturgut beschlossen. Die meisten von uns sind einander über verschiedene internationale Abkommen im Einsatz für den Schutz des kulturellen Erbes verbunden. Lassen Sie uns dafür auch im Kreis der G20-Staaten enger zusammenarbeiten! Interkultureller Austausch und Völkerverständigung: Darum geht es auch beim wichtigsten Kulturprojekt Deutschlands. Im Herzen der Hauptstadt Berlin öffnet im Dezember das Humboldt Forum seine Pforten – ein Museum der Weltkulturen, in dem Kulturschätze vieler G20-Staaten vertreten sind. Drei Jahrzehnte nach Ende des Kalten Krieges soll hier das Selbstverständnis eines weltoffenen Deutschlands Ausdruck finden: das Bekenntnis zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit, die Neugier auf die Welt, der Wille zu Verständnis und Verständigung im Umgang mit anderen Kulturen. Die Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz bieten einmalige Einblicke in das weltumspannende kulturelle Erbe der Menschheit. Damit soll erfahrbar werden, wofür der Name „Humboldt“ steht: für die Tradition der Aufklärung, für die Idee der selbstbewussten Annäherung der Völker, für das Ideal eines friedlichen Dialogs. In diesem Sinne entsteht ein Ort für breite öffentliche Debatten, ein Ort der Verständigung mit internationaler Strahlkraft, ein Ort, an dem unterschiedliche Positionen und Perspektiven zu Wort kommen. Für unterschiedliche Positionen und Perspektiven sollte nicht nur in der Kultur Raum sein. Auch freie Medien fördern Verständnis und Verständigung. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Medienvielfalt sind Stützen der Demokratie und die wirksamsten Waffen im Kampf gegen Desinformation. Das gilt nicht nur, aber ganz besonders in Krisenzeiten. Die Corona-Pandemie führt uns gerade sehr deutlich vor Augen, welch verheerende Folgen Falschinformationen oder Ignoranz haben können und wie wichtig die Arbeit unabhängiger Journalistinnen und Journalisten ist. Wichtig bleibt darüber hinaus auch und gerade bei der Bewältigung der Pandemie die partnerschaftliche Zusammenarbeit im Kreise der führenden Industrie- und Schwellenländer. Es stimmt mich zuversichtlich, dass im Rahmen dieses G20-Treffens erstmals auch die Kulturministerinnen und Kulturminister zusammenkommen. Denn gerade dann, wenn die Kunst der Diplomatie in Krisen und Konflikten an ihre Grenzen stößt, kann die Diplomatie der Kunst und Kultur dazu beitragen, miteinander im Gespräch zu bleiben. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam die Kulturbeziehungen zwischen unseren Ländern stärken. Vielen Dank!
„Kulturelles Erbe spiegelt Geschichte und Identität, es stiftet Zusammenhalt und ermöglicht Verständigung“, so Kulturstaatsministerin Grütters beim ersten Treffen der G20-Kulturminister in Berlin. In Bezug auf Konflikte oder Krisen, wie etwa die aktuelle Corona-Pandemie, betonte sie: „Wenn die Kunst der Diplomatie […] an ihre Grenzen stößt, kann die Diplomatie der Kunst und Kultur dazu beitragen, miteinander im Gespräch zu bleiben“.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung des Sudetendeutschen Museums in München
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-des-sudetendeutschen-museums-in-muenchen-1808316
Mon, 12 Oct 2020 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
München
Kulturstaatsministerin
Kultur
In diesen Zeiten, in denen man selbst ein Museum nur mit Mundnasenschutz betreten kann, ist es ganz bestimmt von Vorteil, Besucherinnen und Besucher mit ungewöhnlichen Exponaten dennoch in Ausstellungen zu locken – hier im neuen Sudetendeutschen Museum zum Beispiel mit einer Dusche, unter die man (wie ich in der Zeitung gelesen habe) gleich am Eingang der neuen Dauerausstellung gelotst wird. … Es handelt sich dabei nicht etwa um eine neue (bayerische) Hygienemaßnahme. Nein, die so genannte Tondusche überströmt die Besucherinnen und Besucher nicht mit Wasser, sondern mit Worten, mit Lauten, mit Polnisch, Tschechisch, Jiddisch und sudetendeutschen Dialekten. Ein schönes Willkommen! Dass der zentrale Präsentationsort für die Kultur und Geschichte der Sudetendeutschen – Ihr imposanter Bau, lieber Herr Probst – heute endlich seine Pforten öffnen kann, freut mich sehr. Nicht nur, weil Wurzeln und Traditionen etwas sind, worauf jede Gemeinschaft stolz sein kann. Nicht nur, weil es an der Zeit war, dass auch die Sudentendeutschen ein eigenes Museum bekommen. Es freut mich vor allem deshalb, weil die deutsche Siedlungs- und Kulturgeschichte im östlichen Europa Teil des geschichtlichen Erbes aller Deutschen ist und sie bis heute unsere Gesellschaft und Identität prägt. In den nachkommenden Generationen allerdings gerät dieses Erbe in Vergessenheit. Wer ist Sudentendeutscher? Wo ist das Sudetenland? Diese Fragen, mit denen die Besucherinnen in der Ausstellung konfrontiert werden, können manche Schülerinnen und Schüler leider erst nach ihrem Rundgang beantworten. Dann aber immerhin… ! Dabei hat vermutlich jeder schon einmal Bekanntschaft mit einer berühmten Persönlichkeit aus dem Sudetenland gemacht. Sudetendeutsche Künstlerinnen und Künstler haben in vielerlei Hinsicht Geschichte geschrieben: In der Musik Gustav Mahler, in der Literatur Rainer Maria Rilke oder Marie von Ebner-Eschenbach, in der Kunst zum Beispiel Alfred Kubin. Und im Film wurde Oskar Schindler verewigt, der 1.200 Juden vor dem nationalsozialistischen Terrorregime rettete. Ein herzliches Dankeschön der Sudetendeutschen Stiftung und der Landsmannschaft – insbesondere Ihnen, lieber Herr Dr. Kotzian, und Ihnen, lieber Herr Posselt, dass Sie mit dem neuen Museum Bewusstsein und Begeisterung für dieses reiche Erbe schaffen! Zu diesem Erbe gehört aber nicht nur das Vermächtnis großer Dichter und Denker (und Dichterinnen und Denkerinnen!). Zum sudetendeutschen Erbe gehören auch Traditionen, Bräuche und Erfahrungen, die Sudetendeutsche teilen. Deshalb freut es mich, dass die Ausstellung auch persönlichen Erinnerungsstücken Raum gibt, die Mitglieder der sudetendeutschen Landsmannschaft gespendet haben. Das ist ein enormer Gewinn. Zum einen, weil persönliche Berichte, Fotos, Briefe und Dokumente, Kleidungs- oder Schmuckstücke oft deshalb so stark im Gedächtnis bleiben, weil sie Geschichte lebendig und im wahrsten Sinne des Wortes „begreifbar“ machen. Zum anderen, weil die Ausstellung so zu einem echten Gemeinschaftsprojekt wurde, das Identität und Zusammenhalt stiftet. Die Geschichte der Deutschen in Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien zeigt exemplarisch, meine Damen und Herren, welchen Reichtum an Sprachen und Dialekten, an Traditionen und künstlerischen Ausdrucksweisen das Zusammenleben verschiedener Völker und Kulturen hervorbringt. Sie zeigt aber auch, welch großes Leid, welche individuellen Schicksalsschläge mit Abschottung, Nationalismus und Flucht einhergehen und wie schnell Menschen unverschuldet alles verlieren können: Familie und Freunde, Haus, Hof und Heimat. Dass Erfahrungen der Vergangenheit nicht verloren gehen, dass Erinnerungen von Generation zu Generation weitergegeben werden, hilft uns, die Gegenwart besser zu verstehen. Dabei kommt es darauf an, neue, zeitgemäße Formen des Erinnerns zu finden, weil die Zahl der Zeitzeugen, die über ihre Heimat, über Diktatur, Flucht und Vertreibung erzählen können, Jahr für Jahr abnimmt. Deshalb hat der Bund, hat mein Haus einen substantiellen Beitrag zur Errichtung des Sudetendeutschen Museums geleistet, und ich bin dem Freistaat Bayern dankbar, dass er sich federführend und großzügig für das Museum engagiert hat. Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln, so wie es der Paragraph 96 des Bundesvertriebenengesetzes vorgibt – das war und ist fester Bestandteil der Politik der Bundesregierung, und das liegt mir auch persönlich sehr am Herzen. Mit der 2016 verabschiedeten Neukonzeption der Kulturförderung nach Paragraph 96 tragen wir insbesondere dazu bei, europäische Kooperationen zu stärken und gerade jüngeren Menschen das kulturelle Erbe der Deutschen im östlichen Europa, darunter auch der Sudetendeutschen, zu vermitteln, damit sie dies auch als Auftrag verstehen, europäische Brücken zu bauen. Viele der vom Bund und den Ländern gemeinsam geförderten Museen haben sich in diesem Sinne inzwischen zu wichtigen Zentren entwickelt, die im Verbund mit Partnereinrichtungen den Dialog mit unseren europäischen Nachbarn stärken. Ich bin sicher: auch mit dem Sudetendeutschen Museum und gemeinsam mit der Sudetendeutschen Landsmannschaft entsteht hier ein lebendiges Forum des Austauschs, das die deutsch-tschechische Freundschaft intensiviert. Es freut mich, dass der von meinem Haus geförderte und hier ansässige, von mir geförderte Adalbert Stifter Verein mit seiner Leiterin Frau Dr. Zuzana Jürgens sowie der hier tätige Kulturreferent für die Böhmischen Länder, Herr Dr. Wolfgang Schwarz, aufgeschlossen und bereit sind für eine vielgestaltige Zusammenarbeit mit dem Sudetendeutschen Museum. Das wird den Diskurs über die Geschichte und Gegenwart einmal mehr befruchten. Adalbert Stifter, der böhmische Schriftsteller und Namensgeber des Vereins – und übrigens auch dieses Saals, schrieb einmal: „Jeder Mensch sollte die Geschichte vergangener Zeiten lesen und lernen, dass er sie als eine Warnungstafel für seine Zukunft vor seine Augen hielte. Und es werden die Zeiten kommen, dass die Völker nicht mehr alleine sind, dass sie sind wie Mensch und Mensch, wie Nachbar und Nachbar, wie Freund und Freund.“ Stifters Vision eines freundschaftlichen, friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Völker ist heute aktueller denn je – nicht zuletzt für ein geeintes Europa. Deshalb brauchen wir Orte wie das Sudetendeutsche Museum: Orte, die Menschen mit unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Perspektiven miteinander ins Gespräch bringen. Das leistet diese Ausstellung, und deshalb verdient sie jede öffentliche Aufmerksamkeit und Resonanz. Für die Zukunft wünsche ich dem Sudetendeutschen Museum zahlreiche, auch junge Besucherinnen und Besucher, die sich dazu inspirieren lassen, den Traditionen und Brauchtümern wie dem Neuen und Unbekannten, offen zu begegnen.
Anlässlich der Eröffnung des Sudentendeutschen Museums freut sich Kulturstaatsministerin Grütters auf „ein lebendiges Forum des Austauschs, das die deutsch-tschechische Freundschaft intensiviert“. Sie ist sich sicher, dass mit einem zentralen Präsentationsort die Kultur und Geschichte der Sudetendeutschen – vor allem in den nachfolgenden Generationen – nicht in Vergessenheit geraten.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung Ausstellung „Der kalte Blick. Letzte Bilder jüdischer Familien aus dem Ghetto von Tarnów 1942“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-ausstellung-der-kalte-blick-letzte-bilder-juedischer-familien-aus-dem-ghetto-von-tarn%C3%B3w-1942–1806328
Tue, 20 Oct 2020 11:00:00 +0200
Im Wortlaut
Topographie des Terrors, Berlin
Kultur
Als die Wissenschaftler am Institut für Deutsche Ostarbeit in Kooperation mit dem Anthropologischen Institut der Universität Wien im Herbst 1941 ihr Projekt „Erforschung typischer Ostjuden“ vorantrieben, waren sie in Eile. „Wir wissen nicht, welche Maßnahmen über die Aussiedlung der jüdischen Bevölkerung für die nächsten Monate geplant sind. Unter Umständen könnte uns durch zu langes Warten wertvolles Material entgehen.“ Das schrieb im Oktober 1941 der Wissenschaftler Anton Plügel an seine Kollegin Dora Maria Kahlich. Sie rechneten mit der baldigen Deportation der Menschen, die sie als bloße „Forschungsobjekte“ betrachteten. Deren Schicksal kümmerte sie nicht. Der womögliche Verlust des in ihren Augen „wertvollen“ Materials hingegen umso mehr. „Der Kalte Blick“ heißt deshalb die Ausstellung, die die Stiftung Topographie des Terrors gemeinsam mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und dem Naturhistorischen Museum Wien konzipiert hat. Sie gewährt Einblicke in eine bisher weitgehend unbekannte Fotodokumentation, die im Naturhistorischen Museum in Wien aufbewahrt wurde. Der Bestand umfasst die Portraitaufnahmen 106 jüdischer Familien – insgesamt 565 Männer, Frauen und Kinder –, die im März 1942 in der unter deutscher Besatzungsherrschaft stehenden, südpolnischen Stadt Tarnów zum Zweck rassenbiologischer Untersuchungen fotografiert wurden. Die Fotos entstanden unter Zwang und im Zeichen des Todes. So offenbart die Ausstellung auf erschütternde Weise die Effizienz, mit der die Nationalsozialisten ihre antisemitische Ideologie umsetzten. Dazu trugen nicht nur Verwaltungsbeamtinnen und Verwaltungsbeamte, Juristinnen und Juristen, Ärztinnen und Ärzte, Unternehmerinnen und Unternehmer und ja: auch Künstlerinnen und Künstler bei. Es waren, wie in der Ausstellung deutlich wird, auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die mit der angeblich wissenschaftlichen „Sachlichkeit“ einer Untersuchung – mit einem grausam kalten Blick auf ihre Mitmenschen – ihren Beitrag zur Legitimierung des Völkermords leisteten. Es ist eben wichtig, und ich danke dafür allen Beteiligten, vor allem Ihnen, liebe Frau Dr. Berner und Ihrem kuratorischen Team, dass Sie mit dieser Ausstellung an das unermessliche Leid erinnern, das die Menschen in Polen während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg erfahren mussten. Auf diese Weise kann den Portraits der 106 jüdischen Familien aus Tarnów zuteil werden, was jeder Mensch verdient: ein warmer, wertschätzender ja, hoffentlich immer wieder auch ein liebevoller Blick. Ausstellungen wie diese haben – wie Gedenkstätten und Dokumentationsorte ganz allgemein – die Kraft, Menschen zum Hinschauen und Zuhören zu bewegen und im Angesicht erdrückender Schuld und präzedenzlosen Leids ihre Urteilskraft zu schärfen. Sie leisten damit einen wesentlichen Beitrag dazu, dass Keime menschenverachtender, totalitärer Ideologien keinen Nährboden mehr finden. Deshalb bin ich froh, dass die Ausstellung mit Mitteln aus dem Bundeskulturetat unterstützt werden konnte. Für die Bundesregierung hat die Förderung von NS-Gedenkstätten und Lernorten hohe Priorität: Allein im Jahr 2020 stehen mehr als 26 Millionen Euro für die institutionelle Förderung und die Projektförderung zur Verfügung. Damit wollen wir den Blick schärfen für Entwicklungen, die einst zu Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung, zu Krieg und Vernichtung, zu Gewalt und Unterdrückung geführt haben. Denn auch nach einem Dreiviertel-Jahrhundert hat die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus nicht an Bedeutung verloren – man denke nur an den versuchten feigen Mordanschlag auf Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Halle vor ziemlich genau einem Jahr. Es ist bitter, ja es ist unerträglich, dass es mehr als 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz jährlich 1.800 antisemitische Straftaten gibt; dass Juden sich mehr nicht trauen, überall und jederzeit eine Kippa zu tragen; dass jüdische Kindergärten, Schulen und Synagogen von Polizei und Mauern bewacht werden müssen. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Zu einer lebendigen Erinnerungskultur gehört es, aufzustehen gegen Antisemitismus und Fremdenhass, wo immer wir sie erleben. Erinnern heißt, sich niemals zurück zu ziehen auf die ebenso bequeme wie verantwortungslose Haltung, dass es auf die eigene Stimme, auf das eigene Handeln, auf den eigenen Blick nicht ankommt! Die Ausstellung zeigt, was „ein kalter Blick“ bewirken kann. Ich wünsche ihr zahlreiche interessierte Besucherinnen und Besucher.
Kulturstaatsministerin Grütters unterstrich in ihrer Rede die Bedeutung von Ausstellungen wie „Der kalte Blick“. Wie Gedenkstätten und Dokumentationsorte ganz allgemein hätten auch sie die Kraft, „Menschen zum Hinschauen und Zuhören zu bewegen und im Angesicht erdrückender Schuld und präzedenzlosen Leids ihre Urteilskraft zu schärfen.“
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich der Konferenz „Zukunft gemeinsam entwickeln –Digitale Erweiterung musealer Erlebnisse und Prozesse“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-der-konferenz-zukunft-gemeinsam-entwickeln-digitale-erweiterung-musealer-erlebnisse-und-prozesse–1805690
Tue, 27 Oct 2020 10:30:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Digitalisierung,Kultur
Der Zukunftsforscher Matthias Horx sagte neulich in einem Interview der FAZ–Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Das Virus zwingt uns dazu, zu entscheiden, wie wir in Zukunft leben wollen“. Er fordert dazu auf, Positives aus der Krise zu ziehen und „von den Lösungen her“ zu denken. Wenn Künstlerinnen, wenn Kuratoren, Schauspieler oder Tänzerinnen um ihre Existenz bangen, wenn Kulturinstitutionen vorübergehend schließen müssen und in eine ungewisse Zukunft schauen, wenn Medien über immer weiter steigende Fallzahlen berichten – dann fällt es sicherlich schwer, der Krise auch nur irgendetwas Positives abzutrotzen. Dass uns aber in einer zunehmend technisierten Welt gerade ein Mikroorganismus, ein Virus, zum Nachdenken darüber zwingt, was für uns im Leben unverzichtbar ist – das sehe ich als eine echte Chance für Kultur und Gesellschaft. Dazu gehört sicher auch die Frage, wie wir die Digitalisierung sinnvoll gestalten und nutzbar machen wollen. Kreative zeigen uns hier einmal mehr den Weg. Wie nie zuvor nutzen Künstlerinnen und Künstler seit Beginn der Pandemie das Internet als kulturellen Veranstaltungsort und versuchen, mit ihren Auftritten im Netz von den „Lösungen her zu denken“. Und es ist schön zu sehen, wie schnell und erfindungsreich auch Museen mit digitalen Formaten ein neues Publikum erreichen. Die Corona-Krise hat der Digitalisierung einen echten Schub gegeben. Die Kontaktbeschränkungen und der Shutdown haben aber auch unter dem viel beschworenen Brennglas gezeigt, wie sehr wir auf physische Nähe, auf direkten Austausch und auf gemeinsame Erlebnisse angewiesen sind. Das Bildschirmerlebnis kann das Gemeinschaftserlebnis jedenfalls nicht ersetzen. Aber die digitalen Medien können – und das durchaus mit großem Gewinn – kulturelle Erlebnisse verbreiten, vermitteln und vertiefen; sie können Menschen miteinander in Kontakt bringen und dazu beitragen, dass wir voneinander lernen und Wissen teilen. Auf eben diese Stärken der Digitalisierung hat das Pilotprojekt museum4punkt0 von Anfang an gesetzt: mit einer modellhaften Arbeitsstruktur und einer fruchtbaren Verbundarbeit, mit Wissenstransfer und Vernetzung. Ich bin begeistert, wie viele herausragende Prototypen so entstanden sind, die andere Museen in Deutschland nachnutzen könnten. Herzlichen Dank dafür allen Beteiligten, ganz besonders Ihnen, liebe Frau Professor Hagedorn-Saupe von der SPK. Sie steuern das Gesamtprojekt mit großem Engagement und machen damit diese fruchtbare Kooperation erst möglich. Dass Augmented Reality, Virtual Reality, 3D-Modellierung und intelligente Führungssysteme die Objekte in einem Museum ganz neu zum Sprechen bringen, dass sie den Museumsraum öffnen und das analoge Kunsterlebnis noch vertiefen können – davon waren wir bereits überzeugt, als wir das Pilotprojekt vor drei Jahren ins Leben riefen. Wie „real“ es sich aber tatsächlich anfühlt, den Lebewesen auf dem Waldboden quasi „auf Augenhöhe“ zu begegnen und virtuell auf dem Mond zu landen, oder welche kunstgeschichtlichen Dimensionen des Bildes „Der Kaufmann von Gisze“ von Hans Holbein dem Jüngeren mit Hilfe einer Tablet-Anwendung sichtbar werden, das, liebe Projektteilnehmerinnen und Projektteilnehmer, habe ich erst bei der Vorstellung Ihrer ersten Ergebnisse „leibhaftig“ 2018 erfasst. Entsprechend gespannt bin ich auf die Filme, die Sie gleich präsentieren. Ich bin überzeugt: Ihre Ideen werden die Museumslandschaft nicht nur in der Krise, aber ganz besonders jetzt bereichern. Deshalb freue ich mich auch, dass wir im Rahmen des Programms „Neustart Kultur“ das Projekt um ein Jahr bis Ende 2021 verlängern und mit weiteren 10 Millionen Euro unterstützen können. Die Verlängerung konnten wir vor allem auch deshalb ermöglichen, weil das Projekt für die Digitalisierungsstrategie des Bundes von großer Bedeutung ist. Damit konnte ich sogar den Freak Helge Braun beeindrucken. Damit unterschiedlichste Anwendungen für die jeweiligen Besuchergruppen und Museen entstehen, waren von Anbeginn große und kleine Museen der Kultur- und Migrationsgeschichte, der Naturkunde, des Brauchtums, des immateriellen Kulturerbes sowie der Technologiegeschichte im Verbund vertreten. Mit der Erhöhung des Etats von 15 auf 25 Millionen Euro können wir nun zehn weitere bislang lediglich assoziierte Partner in den Verbund aufnehmen. Sie haben uns bereits mit innovativen Projektideen überzeugt. Ich bin gespannt, wie Sie das Ideenlabor und das Spektrum an Prototypen erweitern. Wir dürfen es nicht allein den Tech-Giganten und deren ökonomischen Interessen überlassen, wie wir die Technologie zukünftig nutzen, welches Wissen wir uns digital erschließen und wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen. Die digitale Entwicklung ist im Kulturbereich genauso notwendig wie in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, aber wir brauchen eigene Wege und verbindliche Werte, und die können nur gemeinsam im Verbund mit verschiedenen Akteuren erarbeitet werden. Die Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Mercedes Bunz schrieb in ihrem Buch „Die stille Revolution“: „Die Digitalisierung bietet uns heute die Möglichkeit eine andere Zukunft zu gestalten. Und aus ihr wird, was wir aus ihr machen.“ In diesem Sinne wünsche ich Ihnen weiterhin einen lebendigen Austausch und starke Ideen, um die gesellschaftlichen Debatten über neue Technologien mitzuprägen – und vor allem auch, um die Museen zukunftsfest zu machen.
Im Rahmen des Verbundprojekts museum4punk0 entwickeln die beteiligten Häuser Digitalisierungsstrategien für Museen. “ Ich bin begeistert, wie viele herausragende Prototypen so entstanden sind, die andere Museen in Deutschland nachnutzen könnten“, erklärte Kulturstaatsministerin Grütters in ihrer Rede.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Verleihung des Deutschen Sozialpreises 2020 durch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege am 26. Oktober 2020
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-verleihung-des-deutschen-sozialpreises-2020-durch-die-bundesarbeitsgemeinschaft-der-freien-wohlfahrtspflege-am-26-oktober-2020-1804634
Mon, 26 Oct 2020 00:00:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Lilie, sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Preisträgerinnen und Preisträger, meine Damen und Herren, die Verleihung des Deutschen Sozialpreises ist längst eine Tradition. Und das aus gutem Grund. Sie rückt Journalismus mit Herz ins Rampenlicht – Journalismus, der soziale Lebenswirklichkeiten in den Blick nimmt, über die sonst allzu leicht hinweggesehen wird. Seit 1971 wird der Preis vergeben. Doch 2020 unterscheidet einiges von den Vorjahren. Die Coronavirus-Pandemie durchdringt unser Privatleben und das öffentliche Leben; sie wirkt sich eben auch auf Traditionen und Veranstaltungen wie diese Preisverleihung aus und auf manch anderes, das uns bisher selbstverständlich war. Die Pandemie mit ihren vielfältigen Folgen trifft uns alle – einige aber besonders hart; vor allem jene, die ohnehin nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens stehen – die im Alltag Aufmerksamkeit und Unterstützung brauchen, die sie nun aber coronabedingt noch schwerer als sonst bekommen können. Und so gewinnt die soziale Frage an Schärfe. Die Pandemie erweist sich als Bewährungsprobe für unsere Gesellschaft und ihren Zusammenhalt. Angesichts dessen ist selbst der 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung anders gelaufen als geplant. Wir konnten dieses Jubiläum nicht so begehen, wie wir es gern getan hätten. Auch vor diesem Hintergrund danke ich Ihnen sehr, dass Sie dieses Jahr den Sonderpreis „30 Jahre Deutsche Einheit“ ausgelobt haben. Dieser Sonderpreis schärft unseren Blick auf die Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte. Ich habe den Eindruck, mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen vor 30 Jahren ist das Bewusstsein gewachsen, dass – jenseits der großen Linien der Geschichte der Einheit – die einzelnen Geschichten der Ostdeutschen zu wenig Gehör gefunden haben; dass wir in Ost und West einander besser zuhören und unterschiedliche Erfahrungen besser wertschätzen müssen. Die friedliche Revolution hat das Leben der meisten Ostdeutschen völlig verändert. Das staatliche System, in dem DDR-Bürgerinnen und -Bürger aufgewachsen waren und ihren Weg zu gehen versuchten, war gescheitert. Gott sei Dank, kann ich nur sagen. Aber für uns damals war gleichsam von heute auf morgen die Welt eine völlig andere, in der wir uns erst einmal zurechtfinden mussten. Mit den neu gewonnenen Freiheiten ergaben sich auch bislang ungeahnte Chancen. Doch für viele Menschen war der jähe Bruch problematisch. Sie fühlten sich in der neuen Arbeitswelt nicht mehr gebraucht. Diese zwiespältige Erfahrung eines umfassenden und tiefgreifenden Umbruchs gehört zu unserer gesamtdeutschen Geschichte. Die verschiedenen Lebenswege prägen unser kollektives Gedächtnis. Und die Erfahrung, sich unter schwierigen und gänzlich neuen Bedingungen zurechtfinden zu müssen, ist nun gerade in diesem Ausnahmejahr der Corona-Pandemie von Bedeutung. In den letzten 30 Jahren haben wir – bei allen Schwierigkeiten – zweifellos viel erreicht. Deutschland ist zusammengewachsen. Heute stellt sich die Frage gleichwertiger Lebensverhältnisse weniger im Ost-West-Vergleich als vielmehr zwischen verschiedenen Regionen in ganz Deutschland. Natürlich wird das Leben zwischen und innerhalb von Bundesländern wie auch in Stadt und Land immer auch Unterschiede aufweisen. Gleichwohl sollten die Menschen vor Ort – wo auch immer – möglichst gute Chancen haben, ihr Leben zu gestalten. Und diese Chancen – davon bin ich fest überzeugt – sind heute wesentlich besser als vor 30 Jahren. Und deshalb können wir dankbar und durchaus stolz feststellen, dass die Deutsche Einheit im Großen und Ganzen gelungen ist – auch wenn sich der Weg langwieriger erwies, als anfangs gedacht. Die Wiedervereinigung umfasste weit mehr als politische und rechtliche Fragen. Es galt nicht nur, Verträge abzuschließen, ein demokratisches System aufzubauen und die Wirtschaft umzubauen. Einen deutlichen Umbruch erfuhr auch der soziale Sektor, der vor 30 Jahren gänzlich anders aussah. Es gab zwar kirchliche Einrichtungen, von Krankenhäusern über Kindergärten bis hin zur Alten- und Behindertenhilfe. – Ich selbst habe das in Templin auf dem Waldhof miterlebt, in dem Menschen mit geistiger Behinderung gelebt und gearbeitet haben. – Aber von einer freien Wohlfahrtspflege konnte unter DDR-Bedingungen keine Rede sein. Trotz oder gerade wegen aller Unterschiede beider Staats- und Gesellschaftssysteme ist es bemerkenswert, dass gerade auch im sozialen Bereich einiges die DDR überdauerte. Denken wir beispielsweise an die umfassende Kinderbetreuung in der Kita, die Frauen eine Berufstätigkeit ermöglichte. Mit Blick auf die Zahl der Plätze haben die ostdeutschen Länder den westdeutschen immer noch etwas voraus. Oder denken wir an die Ganztagsbetreuung in der Schule, über die wir 30 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch diskutieren. Im Bereich der medizinischen Versorgung erinnern die heutigen Versorgungszentren an die Organisationsform der Polikliniken in der DDR. Auch unter den Sozialverbänden findet sich heute ein typisch ostdeutscher: die Volkssolidarität. In der DDR war der Verband allen ein Begriff. Er hat sich nach der Wiedervereinigung dem Paritätischen Wohlfahrtsverband angeschlossen und ist heute überaus aktiv im Sinne eines guten Miteinanders und Füreinanders. Vor wenigen Tagen hat die Volkssolidarität ihr 75. Gründungsjubiläum gefeiert. Nochmals herzlichen Glückwunsch an dieser Stelle! Mir ist es wichtig, deutlich zu machen, dass die Bundesregierung starke Partner braucht, um gesellschaftliche Probleme zu lösen. Das gilt besonders für die Hilfe von Menschen in schwierigen Situationen. Die Wohlfahrtsverbände leisten hierbei nicht nur hervorragende, sondern auch unverzichtbare Arbeit. Dahinter stehen viele Tausende Haupt- und Ehrenamtliche. Und sie alle verdienen Dank und Anerkennung. Die Wohlfahrtsverbände betreiben mehr als die Hälfte aller Seniorenwohnheime und stellen etwa ein Drittel aller Krankenhausbetten. Sie betreiben Tausende Kindergärten, Pflegedienste, Einrichtungen der Behindertenhilfe und andere soziale Einrichtungen. Und sie alle standen coronabedingt plötzlich vor besonderen Herausforderungen. Denken wir zum Beispiel an die leider notwendig gewordenen Schutzmaßnahmen in Seniorenwohnheimen. In anderen Bereichen konnte die Wohlfahrtspflege ihre Leistungen nicht mehr in gewohntem Umfang anbieten. Einrichtungen wurden zeitweise geschlossen, planbare Operationen verschoben. Die Intensivmedizin hat an Bedeutung gewonnen. Kindergärten gelten heute als systemrelevant. Welche dieser Einrichtungen auch immer – sie alle haben mit einer sich ständig ändernden Lage zu kämpfen, die in der bevorstehenden kalten Jahreszeit tendenziell ernster wird. Es war richtig und wichtig, dass sich die Wohlfahrtsverbände frühzeitig an die Politik gewandt haben, sodass wir gemeinsam Lösungen entwickeln konnten. Auch Helfer leiden unter der Krise und können selbst Hilfe gut gebrauchen. Für die gemeinnützigen Träger war und ist es besonders wichtig, dass die Finanzierung gesichert ist, um den Betrieb ihrer Einrichtungen auch unter Pandemie-Bedingungen aufrechterhalten zu können. In kurzer Zeit haben wir deswegen mit dem Sozialdienstleister-Einsatzgesetz ein System der Absicherung geschaffen. Hinzu kam das Krankenhaus-Entlastungsgesetz, mit dem wir pandemiebedingte wirtschaftliche Folgen für Krankenhäuser, Vorsorge-, Rehabilitations- und Pflegeeinrichtungen abfedern. Mit diesen und anderen Maßnahmen konnten wir die Existenzen vieler Einrichtungen sichern. Das Leistungsspektrum für Menschen mit Behinderungen blieb erhalten. Und wenn doch eine Zwangspause unvermeidlich war, konnten danach viele soziale Dienstleister ihre Arbeit wieder aufnehmen. Im September haben wir beschlossen, die finanzielle Absicherung bis zum Jahresende zu verlängern. Das war wichtig, weil das aktuelle Infektionsgeschehen wieder mehr Anlass zur Sorge gibt. Die sozialen Dienstleister sind aber auch und gerade in dieser schwierigen Zeit unentbehrlich. Deshalb gibt es noch weitere Hilfsangebote: So können auch gemeinnützige Unternehmen von der Überbrückungshilfe profitieren. Dieses Programm haben wir jüngst ausgeweitet und ebenfalls bis Ende des Jahres verlängert. Daneben gibt es das KfW-Sonderkreditprogramm für gemeinnützige Organisationen und ein Rettungsprogramm für gemeinnützige Übernachtungseinrichtungen. Hinzu kommen Angebote und Programme der Länder. Sie sehen also: es liegt uns sehr viel daran, gemeinnützige Organisationen in der Pandemie abzusichern, damit sie nicht zuletzt wiederum anderen durch diese schwierige Zeit helfen können. Wir wissen: ein gut funktionierender Sozialstaat braucht eine lebendige Verbändelandschaft. Er braucht Verbände, die vor Ort aktiv sind und die Menschen erreichen. Und er braucht Verbände als aufmerksame, kritische Mahner und Ansprechpartner für die Politik. Es gibt also mehr als genügend Gründe dafür, dass der Bund die Förderung der Wohlfahrtsverbände verlässlich fortschreibt. Im Übrigen auch, weil sie mehr sind als Dienstleister, Sprachrohr und Anwalt im Sozial- und Gesundheitsbereich. Die Wohlfahrtsverbände sind auch eine tragende Säule des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Denn mit ihren Einrichtungen und Angeboten unterstützen sie Menschen nicht nur unmittelbar, sie geben ihnen auch Halt und prägen die Identität örtlicher Gemeinschaften. Es sind gerade starke, selbstbewusste Gemeinschaften, die Extremismus, Hass und Ausgrenzung die Stirn bieten. Wir können noch so viele Verbote erlassen; wir können noch so viele Sicherheitsgesetze verschärfen und die Strafverfolgung noch so sehr verbessern – wir brauchen dennoch Vereine und Verbände, die Menschen zusammenbringen – die dadurch Verständigung und Verständnis fördern und Vorurteile abbauen; kurz: die die Gesellschaft zusammenhalten. Ob Jugend-Rotkreuz oder Caritas-Kleiderkammer, ob Nachbarschaftstreff der Diakonie oder Seniorennachmittag der AWO, ob Ferienfreizeit der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden oder Bildungsangebote unter dem Dach des Paritätischen – so vielfältig Freie Wohlfahrtspflege aussieht, so wertvoll ist sie für unser Gemeinwesen. Ich danke allen von Herzen, die sich für andere Menschen engagieren – die Menschlichkeit und Gemeinschaft leben und stärken! Gewiss, auch ihr Vorbild und ein starker Zusammenhalt können Menschenfeindlichkeit nicht völlig verhindern. Aber sie geben uns Rückhalt und Zivilcourage, um gegen Extremismus, Rassismus und Antisemitismus aufzustehen. Und hierbei ist auch ein starker Staat gefragt, der klare Zeichen setzt. Die Ermordung des ehemaligen Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und die Anschläge in Halle und Hanau machten uns fassungslos, aber nicht tatenlos. Wir können und wir müssen mit allen gebotenen und uns zur Verfügung stehenden Mitteln Extremismus und Hasskriminalität bekämpfen. Bei allen Gesetzen, die wir hierfür in jüngster Zeit verabschiedet haben – wir müssen wachsam bleiben. Deswegen haben wir einen Kabinettausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus eingesetzt. Seit seiner Arbeitsaufnahme im Mai wurden unter anderem Anhörungen mit der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft und den Ländern vorgenommen. Die Ergebnisse werden in einen Maßnahmenkatalog einfließen, den wir derzeit erarbeiten. Extremismus in all seinen widerlichen Facetten widerspricht dem menschlichen Recht, ein Leben in Würde zu führen. Und damit sind die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege natürliche Verbündete im Kampf gegen Extremismus. Und für dieses Engagement danke ich Ihnen an dieser Stelle ausdrücklich! Immer da, wo Menschen angegriffen, ausgegrenzt, diskriminiert, benachteiligt werden, braucht es andere Menschen, die aufmerksam sind – die den Blick nicht abwenden, sondern genau hinsehen. Deswegen sind die Arbeiten, die der Sozialpreis ehrt, so wichtig. Diese Arbeiten zeichnen sich nicht nur durch besondere journalistische Qualität und thematische Tiefe aus. Sie gehen auch unter die Haut. Die Geschichten bedrücken und berühren; sie rütteln auf, sie schockieren vielleicht, stiften aber auch Hoffnung. Es ist wichtig und ich bin froh und dankbar dafür, dass es Journalistinnen und Journalisten gibt, die es verstehen und sich nicht scheuen, Aufmerksamkeit dahin zu lenken, wo andere wegsehen. Dazu gehören auch die heutigen Preisträger, denen ich ganz herzlich gratuliere. Sehr geehrter Herr Lilie, Ihnen und der gesamten Familie der Freien Wohlfahrtspflege danke ich noch einmal sehr für Ihre Arbeit – gerade auch in dieser schwierigen Zeit der Pandemie! Ich wünsche Ihnen allen, dass Sie gesund bleiben und auch die Monate, die vor uns liegen gut bewältigen! Vielen Dank und alles Gute!
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters auf der Veranstaltung „Allianz der Akademien. Eine Konferenz Europäischer Kulturinstitutionen“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-auf-der-veranstaltung-allianz-der-akademien-eine-konferenz-europaeischer-kulturinstitutionen–1800406
Fri, 09 Oct 2020 19:30:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur,EU2020 Medien,EU2020 Kultur
„“Imagine‘ war (…) das, woran John glaubte – dass wir alle ein Land, eine Welt, ein Volk sind.“ John Lennon, dem diese Worte Yoko Onos galten, wäre heute 80 Jahre alt geworden. Mit „Imagine“, einem der wirkmächtigsten Popsongs aller Zeiten, hat er dem Traum von einer besseren Welt ein musikalisches Denkmal gesetzt: dem Glauben, „dass wir alle ein Land, eine Welt, ein Volk sind“ – und dass sich die Welt mit dieser Überzeugung verändern lässt. Dass zumindest Europa sich mit dieser Überzeugung verändern lässt, lehrt uns die europäische Geschichte. In Deutschland haben wir gerade das 30. Jubiläum der deutschen Wiedervereinigung gefeiert und an die Menschen erinnert, deren Träume und Hoffnungen, deren Fantasie und Vorstellungskraft in Deutschland und in Staaten des ehemaligen Ostblocks Mauern und Grenzzäune zum Einsturz brachten und dem Zusammenwachsen Europas den Weg ebneten. Sie besaßen neben Kühnheit und Kampfgeist vor allem eines: eine Vorstellung von einer besseren Welt, von einem besseren Leben in Freiheit und Einheit. Diese Vorstellungskraft brauchen wir heute vielleicht mehr denn je, um über den nationalen Horizont hinaus zu denken und die europäische Einheit in Vielfalt zu stärken. Deshalb, liebe Frau Prof. Meerapfel, freue ich mich sehr über die Initiative der Akademie der Künste, aus Anlass der deutschen EU–Europäische Union-Ratspräsidentschaft über einen Schulterschluss zwischen den europäischen Kunstakademien und Kulturinstitutionen, über eine „Allianz der Akademien“ nachzudenken, deren Ziel ein vielfältiges, weltoffenes, demokratisches Europa ist. Ihnen allen, meine Damen und Herren, die Sie im Rahmen der Konferenz über dieses Europa der Kulturen mitdiskutieren werden, danke ich herzlich für Ihr Engagement. Es freut mich sehr, dass es gelungen ist (ob hier vor Ort oder digital), Vertreterinnen und Vertreter aus allen EU-Mitgliedsstaaten zusammenzubringen. Mit ihrer gesamteuropäischen Ausrichtung, ihrem integrativen Ansatz und ihrem politischen Anliegen nimmt die heutige Konferenz im Rahmen des Programms der BKM zur deutschen EU–Europäische Union-Ratspräsidentschaft eine besondere Stellung ein. Die enormen Herausforderungen, vor denen Europa aktuell steht, lassen sich mit den Mitteln der Politik und der Wirtschaft, mit Macht und Geld allein nicht lösen. Erschüttert vom „Brexit“ Großbritanniens und vom Erstarken nationalistischer Strömungen, bedroht durch die Erosion demokratischer Grundwerte wie der Presse- und Kunstfreiheit in manchen europäischen Ländern, zermürbt vom zähen Ringen um gemeinsame Lösungen etwa für eine europäische Asylpolitik und konfrontiert mit den zerstörerischen Folgen der Corona-Pandemie braucht die Europäische Union mehr als vielleicht je zuvor in ihrer Geschichte jene Kräfte, die über alle Grenzen und Gräben hinweg Verstehen und Verständigung ermöglichen: die Kräfte der Kunst und Kultur. Denn um Verstehen und Verständigung ist es in Europa gerade nicht zum Besten bestellt. In einem Gastbeitrag für eine deutsche Wochenzeitung schrieb der bulgarische Intellektuelle Ivan Krastev vor einiger Zeit, die Situation in Europa erinnere ihn an einen Roman, in dem ein in vielen Sprachen redegewandter Linguist versehentlich das falsche Flugzeug besteigt und in einer fremden Stadt landet, in der er niemanden versteht und keine der Sprachen, die er beherrscht, ihm weiterhilft. „Ich fürchte“, so Krastev, „dass das heutige Europa ebenjener Stadt ähnlicher wird (…).“ Was kann die Kunst dazu beitragen, Verstehen und Verständigung zu ermöglichen? Ich glaube, eine ganze Menge. Ob Poesie, ob Malerei, ob Film oder Musik, Theater oder Tanz: Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren. Kunst kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Kunst kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Kunst kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht. Kunst schafft Raum für Debatten und ist Quelle von Inspiration und Irritation, Reflexion und Innovation. Aus diesen Gründen begrüße ich die Idee einer „Allianz der Akademien“, in der Hoffnung, dass die beteiligten Kultureinrichtungen gemeinsam – ggf. auch im losen Verbund – auf europäischer Ebene stärker sichtbar und hörbar werden und dass so die Bedeutung der Kultur für Zusammenhalt in Vielfalt stärker ins öffentliche Bewusstsein rückt. Und nebenbei bemerkt: Aus eben diesen Gründen verdienen Künstlerinnen und Künstler, Kultureinrichtungen und die kulturelle Infrastruktur in den europäischen Ländern besondere Unterstützung – erst recht jetzt, da infolge der Covid-19-Pandemie in Gefahr ist, was über Jahre gehegt und gepflegt wurde. Deshalb setze ich mich, unterstützt von meinen europäischen Amtskolleginnen und -kollegen, im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Moment mit Nachdruck dafür ein, dass die Corona-Aufbauhilfen der EU auch Künstlerinnen und Künstlern, Kreativen und Kultureinrichtungen zugutekommen. Auch über Erfahrungen mit Unterstützungsmaßnahmen auf nationaler Ebene bin ich mit meinen Amtskolleginnen und -kollegen im Austausch. In Deutschland laufen seit Juli nach und nach die Förderungen aus dem Rettungs- und Zukunftspaket NEUSTART KULTUR an, mit dem wir den Kulturbetrieb unseres Landes nach der pandemiebedingten Auszeit wiederbeleben und dauerhaft erhalten wollen. Für diesen „Neustart“ stehen aus dem Bundeskulturetat für dieses und das nächste Jahr insgesamt rund eine Milliarde Euro mehr für den Kulturbereich zur Verfügung. Das Programm stößt auf enorme Resonanz. Es ist bewusst vor allen Dingen auf die Sicherung der Infrastruktur ausgerichtet. Denn sie ist der Schlüssel, um Arbeitsmöglichkeiten und damit Einkommen für Künstlerinnen und Künstler wie auch für alle anderen im Kulturbereich Tätigen zu garantieren. Die so genannte Kulturmilliarde kann ihre Not nur lindern, aber natürlich nicht alle Probleme lösen. Umso wichtiger ist es, sehr differenziert darüber nachzudenken, wie man mit pragmatischen Konzepten das Bühnengeschehen weitestmöglich wieder zum Laufen bekommen kann. Das ist das Mindeste, was wir den Künstlerinnen und Künstler schuldig sind! Kultur ist keine Delikatesse für Feinschmecker, sondern Brot für alle. Die Wiederbelebung des kulturellen Lebens in Deutschland und Europa verdient deshalb dieselben Anstrengungen, die auch anderen Branchen zuteilwerden! Pauschal sehr restriktiv vorzugehen, wird weder dem Kulturbetrieb in seiner Vielfalt noch den existentiellen Nöten der Kultureinrichtungen und der Künstlerinnen und Künstler gerecht – und übrigens auch nicht ihrer zentralen Bedeutung für eine starke und lebendige Demokratie! Als treibende Kräfte gesellschaftlicher Selbstreflexion und Verständigung sind Künstlerinnen und Künstler für eine Demokratie ebenso überlebensnotwendig wie für jeden einzelnen als Inspiration für Träume und für die Suche nach Antworten auf existentielle Fragen des Menschseins. Mögliches sichtbar zu machen und Wirklichkeit veränderbar zu zeigen, gehört dabei zu den künstlerischen Kernkompetenzen. Kunstwerke und Kulturorte schaffen Raum für Utopien. Künstlerinnen und Künstler sind die Botschafter des Möglichen in der Wirklichkeit – auch in der europäischen Wirklichkeit. „Dass wir alle ein Land, eine Welt, ein Volk sind“, davon träumte nicht nur John Lennon. „Alle Menschen werden Brüder“, heißt es bei Ludwig van Beethoven, im berühmten Schlusschor der 9. Symphonie, die zur Europa-Hymne wurde. Und seit jeher waren es vor allem Künstlerinnen und Künstler, deren Horizont weit über die Grenzen ihres Heimatlandes hinausreichte – und das schon zu einer Zeit, als der europäische Gedanke, wie wir ihn heute kennen und leben, noch nicht einmal als Utopie am politischen Horizont erkennbar war. Am preußischen Hof Friedrichs des Großen beispielsweise gaben sich europäische Geistesgrößen die Klinke in die Hand. Voltaire etwa war dort längere Zeit Gast. Goethe hat sich als berühmtester Italienreisender der Geschichte im europäischen Gedächtnis verewigt. Der Norweger Edvard Grieg studierte in Leipzig und blieb der Stadt, in der er später Freundschaft mit Johannes Brahms und Peter Tschaikowsky schloss, ein Leben lang verbunden. Für Heinrich Heine war Paris das „Foyer des europäischen Geistes“. Rainer Maria Rilke, in Prag geboren, hat zum Teil auf Französisch und sogar auf Russisch geschrieben, und Stephan Zweig nannte Europa „meine geistige Heimat“ Kurz und gut: Über den nationalen Tellerrand hinaus zu schauen und sich international auszutauschen, das war und ist gerade für Künstlerinnen und Künstler wertvolle Inspiration. Nicht zuletzt ihrer Neugier und Weltoffenheit verdanken wir den kulturellen Reichtum, auf den wir in Europa so stolz sind. Und ich bin sicher: Ihre Neugier und Ihre Weltoffenheit werden Europa auch in Zukunft inspirieren. Ihre Träume von einer besseren Welt werden auch in Zukunft Mut und Aufbruchsstimmung wecken. Ihre Werke werden Menschen weiterhin über Grenzen hinweg miteinander in Fühlung bringen – selbst in Zeiten, in denen Solidarität bedeutet, Abstand zu halten. Kunstfreiheit und kulturelle Vielfalt sind deshalb das Beste, was ein geeintes Europa nationalistischen Strömungen und populistischen Rufen nach Abschottung und Ausgrenzung entgegensetzen kann. In diesem Sinne, meine Damen und Herren, wünsche ich Ihrer Konferenz, die dem freien Wort und dem freien Geist huldigt, einen guten und konstruktiven Verlauf.
Kulturstaatsministerin Monika Grütters begrüßte in ihrer Rede die Idee einer „Allianz der Akademien“ – „in der Hoffnung, dass die beteiligten Kultureinrichtungen gemeinsam […] auf europäischer Ebene stärker sichtbar und hörbar werden und dass so die Bedeutung der Kultur für Zusammenhalt in Vielfalt stärker ins öffentliche Bewusstsein rückt.“
Rede der Kulturstaatsministerin zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 2020
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-zur-eroeffnung-der-frankfurter-buchmesse-2020-1799028
Tue, 13 Oct 2020 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Kultur
Eine Buchmesse im Risikogebiet, ohne Messestände und Gastlandauftritt, ohne Empfänge und Gedränge, die wenigen Besucherinnen und Besucher mit Mundschutz und auf Abstand, so wie hier, in den dünn besetzten Reihen der Festhalle Frankfurt: Bis vor kurzem noch hätte man ein solches Szenario wohl am ehesten in einem Roman Margaret Atwoods, der Meisterin der Dystopie, verortet. Als literarischer Weltstar aus dem Gastland Kanada wird sie hier in Frankfurt, wo sie vor drei Jahren mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, immerhin digital dabei sein. Sie und Ihr Team, lieber Herr Boos, haben aus der Not eine Tugend gemacht und innovative Konzepte entwickelt, die es Verlagen erlauben, sich mit ihrem Programm und ihren Autorinnen und Autoren auf virtuellen Bühnen im Netz zu präsentieren. Für das Engagement, für die Beharrlichkeit und die Nervenstärke, die es braucht, um eine pandemiebedingte Sonderausgabe der Buchmesse zu einem virtuellen Fest der Vielfalt zu machen und damit Signale der Hoffnung und des Aufbruchs in die literarische Welt zu senden, danke ich Ihnen herzlich. Es freut mich sehr, dass wir Sie dabei mit Fördermitteln aus dem Bundeskulturetat unterstützen konnten. „Singular Plurality“ – Einzigartige Vielfalt: Mit diesem Motto ist nicht nur beschrieben, wofür das multikulturelle und mehrsprachige Gastland Kanada weltweit bewundert wird. Einzigartige Vielfalt: Dafür steht auch die Literatur, die so facettenreich und vielschichtig wie keine andere Kunstform die Vielfalt des Menschlichen ergründet. Sie ist damit eine Quelle für Verständnis und Mitgefühl und als solche bitter notwendig in einer Welt, in der Unterschiede, Ambivalenzen, Mehrdeutigkeiten – kurz: die gesellschaftliche Realität des Pluralismus – vielerorts auf Abwehr stoßen; in einer Welt, in der die Sehnsucht nach Eindeutigkeit Ideologen und Autokraten Zulauf beschert. „Einem Großteil der aktuellen politischen Debatten liegt ein Denken zugrunde, das Menschen in bestimmte Kategorien einordnet. Als wüsste man über das Leben eines Menschen Bescheid, wenn man es von außen betrachtet.“ So hat es Margaret Atwood in einem geistreichen Gespräch formuliert, das 2019 mit dem Titel „Aus dem Wald hinausfinden“ als Buch erschienen ist. Menschen mit Einwanderungsgeschichte oder dunkler Hautfarbe können davon ein trauriges Lied singen, aber auch Angehörige bestimmter Berufsgruppen kennen die verurteilende Einordnung in Kategorien, man denke nur an die diffamierende Parole ALL COPS ARE BASTARDS. „Die Weigerung“ – ich zitiere Margaret Atwood weiter – „die Weigerung, das Individuum anzusehen, ist eigentlich die Weigerung, an das Individuum zu glauben. Man kann aber nicht Schriftsteller sein, ohne zu glauben, dass es Individuen gibt.“ Ja, Schriftstellerinnen und Schriftsteller halten den Glauben an das Individuum hoch. Sie zeigen den einzelnen Menschen mit seiner einzigartigen Geschichte. Sie machen verständlich, warum Menschen tun, was sie tun: warum sie denken, fühlen, lieben, glauben und handeln, wie sie es tun. Sie ermöglichen eine Annäherung an das Fremde, an das Unverständliche – im eigenen Leben und im Leben anderer. Lesen bewahrt deshalb vor der Enge des Denkens und Wahrnehmens und davor, die eigene Weltsicht für das Maß aller Dinge zu halten. Lesen schützt vor Dogmatismus und Fanatismus und damit vor jenen demokratiezersetzenden Giften, die der Spaltung und Zersplitterung pluralistischer Gesellschaften Vorschub leisten. Nicht zuletzt aus diesem Grund bin ich froh, dass wir im Rahmen des Corona-Konjunkturprogramms NEUSTART KULTUR erhebliche Fördermittel auch für Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzer, Verlage und Veranstalter zur Verfügung stellen konnten. Für die gute Zusammenarbeit danke ich dem Börsenverein, aber auch dem Deutschen Literaturfonds und dem Deutschen Übersetzerfonds sehr herzlich. Immer wieder allerdings gerät auch die Literatur, gerät auch die Kunst zwischen die Fronten, wo einzelne gesellschaftliche Gruppen mit kompromissloser Selbstgerechtigkeit um Deutungshoheit ringen und ihr Terrain für sakrosankt erklären. Mich beunruhigt das. Denn die Freiheit des Wortes, die Freiheit der Kunst gerät in Gefahr, wenn aus politischen oder moralischen Gründen die Ächtung einzelner Künstlerinnen und Künstler und ihrer Werke gefordert wird, wenn Bücher gereinigt werden sollen von Begriffen, die – aus heutiger Sicht! – angeblich diskriminierend sind, wenn einzelne sich zu Richtern darüber aufschwingen, wer über welche Themen schreiben darf und wer nicht oder wenn Kunstwerke unter Verweis auf ihr Kränkungspotential aus dem öffentlichen Raum verbannt werden. Es gehört zum Wesen eines Kunstwerks, dass es verschiedene Interpretationen zulässt – und die Mehrdeutigkeit poetischer Sprache ist genau das, was ein Gedicht von einer amtlichen Verlautbarung unterscheidet. Dafür muss Raum sein in einer demokratischen Gesellschaft. Eine Kunst, die sich festlegen ließe auf die Grenzen des politisch Wünschenswerten, eine Kunst, die das überall lauernde Risiko verletzter Gefühle scheute, die den Absolutheitsanspruch weltanschaulich begründeter Wahrheiten respektierte, die gar einer bestimmten Moral oder Weltanschauung diente – eine solchermaßen begrenzte oder domestizierte Kunst würde sich nicht nur ihrer Möglichkeiten, sondern auch ihres Wertes berauben. Was es heißt, als Künstlerin, als Künstler mundtot gemacht zu werden, hat kürzlich (in der FAZ–Frankfurter Allgemeine Zeitung) anlässlich des 30. Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung die Schriftstellerin Ines Geipel beschrieben, die das „Archiv der unterdrückten Literatur in der DDR“ mit aufgebaut hat. „Es gab“, schreibt sie über DDR-Autorinnen und-Autoren, „kein Dazwischen, nur die Dauerangst, mit seinen Worten entdeckt zu werden. Eine Angst, die auf die Angst der Mächtigen traf, einen Text nicht dingfest machen zu können, nicht früh genug zugegriffen zu haben, das delinquierte Wort nicht erledigt zu haben.“ Dass in diesem Jahr zwei ostdeutsche Autorinnen mit den beiden wichtigsten Preise für deutschsprachige Literatur ausgezeichnet werden – Elke Erb mit dem Büchner-Preis und Helga Schubert mit dem Bachmann-Preis – ist sicherlich eine späte Genugtuung für alle, die einst unter der „Dauerangst“ gelitten haben, mit ihren Worten „entdeckt zu werden“. Doch aus diesen Erfahrungen Lehren zu ziehen, ist Aufgabe aller Demokratinnen und Demokraten: Wo Texte „dingfest“ gemacht werden statt sie mit Argumenten zu kritisieren, wo das delinquierte Wort „erledigt“ wird statt ihm Widerworte entgegen zu setzen, verdienen Autorinnen und Autoren Rückendeckung – ganz nach dem Voltaire zugeschriebenen Bekenntnis: „Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.“ Vielfalt ist mehr als der schmale Bereich der Abweichung in einem selbst definierten Radius um den eigenen Standpunkt. Vielfalt wertzuschätzen heißt, im Rahmen geltender Gesetze die Spannungen auszuhalten zwischen der Freiheit des Wortes, der Freiheit der Kunst einerseits und den damit möglicherweise verbundenen, persönlichen Kränkungen andererseits – im Bewusstsein, dass Kränkungen und Missverständnisse, Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten der Preis für die Freiheit der Kunst und die Freiheit des Wortes (und damit auch für eine demokratische Debattenkultur) sind. Wie bereichernd und inspirierend es sein kann, der Vielfalt Raum zu geben, zeigt einmal mehr auch in diesem Jahr die Frankfurter Buchmesse. Bücher eröffnen Welten – und das Reisen in den unendlichen Weiten der Literatur unterliegt garantiert keinen Reisebeschränkungen und Quarantäneregelungen. Ich wünsche der digitalen Ausgabe viel Erfolg und Resonanz und freue mich schon jetzt darauf, die literarische Vielfalt des Bücherherbstes im nächsten Jahr wieder mit allem zu erleben, was dazu gehört: mit Messeständen und Gastland-Pavillon, mit Empfängen und Gedränge, mit Lesungen und Diskussionen live vor großem Publikum! In diesem Sinne: Bleiben Sie gesund – und zuversichtlich!
Ein Signal der Hoffnung für die literarische Welt sei diese pandemiebedinge Sonderausgabe der Buchmesse, erklärte Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der Eröffnung.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft vor dem Europäischen Ausschuss der Regionen am 13. Oktober 2020
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-deutschen-eu-ratspraesidentschaft-vor-dem-europaeischen-ausschuss-der-regionen-am-13-oktober-2020-1798314
Tue, 13 Oct 2020 14:52:00 +0200
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Präsident, Herr Apostolos Tzitzikostas, sehr geehrte Mitglieder des Europäischen Ausschusses der Regionen, meine Damen und Herren, ich grüße Sie herzlich in Brüssel und in den Regionen und Städten. Deutschland hat in diesem Halbjahr den EU-Ratsvorsitz inne. Wir können sagen, dass das eine Ratspräsidentschaft ist, die in einer Ausnahmesituation stattfindet. Die Covid-19-Pandemie fordert uns auf allen Ebenen ‑ in Europa, in den EU-Mitgliedstaaten, in den Regionen und in den Kommunen. Ich will es ganz offen sagen: Ich beobachte mit großer Sorge die erneut ansteigenden Infektionszahlen in eigentlich fast allen Teilen Europas. Viele Menschen haben ihr Leben verloren. Ich muss deshalb sagen: Die Lage ist unverändert ernst. Wir dürfen jetzt nicht das verspielen, was wir in den letzten Monaten durch Einschränkungen erreicht haben. Uns allen sind diese Einschränkungen nicht leichtgefallen. Deshalb ist es umso wichtiger, dafür Sorge zu tragen, dass nicht ein weiterer Lockdown vonnöten sein wird und dass nicht wieder Überforderungen unseres Gesundheitssystems eintreten. Wir müssen zeigen, dass wir unsere Lektion gelernt haben. Und wir müssen die Menschen in Europa bitten, vorsichtig zu sein, die Regeln einzuhalten, Abstand zu halten, Mund-Nasen-Schutz zu tragen und das zu tun, was wir tun können, um das Virus einzudämmen und trotzdem unsere wirtschaftliche Tätigkeit aufrechtzuerhalten. Sie als Mandatsträger wissen um die Herausforderungen vor Ort ‑ in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in Schulen und Kindergärten, in Unternehmen oder auch im öffentlichen Raum. Viele von Ihnen wissen auch um die Bewährungsprobe, die Maßnahmen des Infektionsschutzes für ein Europa ohne Grenzen bedeuten können – für Menschen, die zur Arbeit ins Nachbarland pendeln, für die grenzüberschreitende Kooperation von Behörden und für die Beziehungen unserer Gesellschaften. Meine Damen und Herren, Ihre Perspektiven auf Europa, Ihre Erfahrungen und Ihr Engagement sind das, was Europa braucht, um diese schwierige Zeit solidarisch durchzustehen und vor Ort Verantwortung zu übernehmen. Ohne Sie können wir als Staats- und Regierungschefs wenig bewegen ‑ genauso wenig wie ohne die Bürgerinnen und Bürger Europas. Deshalb möchte ich allen meinen Dank sagen, die in den Kommunen und Regionen Verantwortung wahrnehmen. Die Krisenbewältigung ist eine Herkulesaufgabe, die natürlich umso besser gelingt, wenn wir in Europa an einem Strang ziehen. Daher war es überaus wichtig, ein umfassendes Paket zu schnüren, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie einzudämmen. Dazu dienen sowohl europäische Kredit- und Förderprogramme als auch die Beschlüsse des Europäischen Rates zum Mehrjährigen Finanzrahmen und zum Aufbauinstrument mit einem Gesamtvolumen von 1,8 Billionen Euro. Wir sind der Überzeugung ‑ und ich bin das auch ganz persönlich ‑, dass in einer solch außerordentlichen Situation auch außerordentliche Maßnahmen notwendig sind. Nun gilt es aber auch, das Paket auf den Weg zu bringen, damit die Mittel ab Anfang 2021 auch wirklich eingesetzt werden können. Dazu arbeiten wir mit Hochdruck an einer Einigung mit dem Europäischen Parlament. Außerdem brauchen wir die Ratifizierung des sogenannten Eigenmittelbeschlusses in jedem Mitgliedstaat, das heißt, für die Mittel aus dem Recovery Fund. Hierfür bitte ich auch Sie um Ihre Unterstützung vor Ort. Es geht dabei nicht allein um kurzfristige Krisenbewältigung, sondern auch um Zukunftsvorsorge ‑ darum, dass Europa sich neue wirtschaftliche Chancen erschließt und damit auch weniger krisenanfällig wird und mehr Arbeitsplätze hat. Dafür müssen wir auch bei großen Aufgaben wie Klimaschutz und digitalem Wandel vorankommen. Beide Themen sind Schwerpunkte der deutschen Ratspräsidentschaft. Die Wettbewerbsfähigkeit Europas wird in zunehmendem Maß davon abhängen, inwieweit es uns gelingt, digital souveräner zu werden und unseren Binnenmarkt auch in dieser Hinsicht zu stärken. Der gemeinsame Binnenmarkt ist die wesentliche Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg Europas und jedes einzelnen Mitgliedstaates. Aber wie schon der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors zu bedenken gab: „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt.“ Deshalb muss bei allen Diskussionen über die Digitalisierung und Weiterentwicklung des Binnenmarkts immer der Mensch im Mittelpunkt stehen. Genau das macht unser europäisches Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell aus. Wir denken Wirtschaft und Soziales zusammen. Aber unsere Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, teilen natürlich nicht alle auf der Welt. Und daher sollten wir Europäer gerade auch bei der Digitalisierung selbstbewusst unseren eigenen Weg gehen. Ähnliches gilt beim Klimaschutz. Ich habe es im Juli vor dem Europäischen Parlament gesagt; und ich sage es heute hier wieder: Ich bin davon überzeugt, dass eine globale Lösung des Klimawandels vor allem dann gelingt, wenn Europa eine Vorreiterrolle übernimmt. Beim Europäischen Rat in zwei Tagen werden wir uns mit den europäischen Klimaschutzzielen befassen. Für die deutsche Bundesregierung kann ich sagen: wir unterstützen den Vorschlag der Kommission, die Emissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Darüber hinaus bemühen wir uns um eine Einigung im Rat auf ein Europäisches Klimagesetz – und das möglichst noch in diesem Jahr. Auch in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik wollen wir während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft weiterkommen. Nicht nur, aber gerade auch mit Blick auf Moria ist es offensichtlich, dass wir Europäer unserem humanitären Anspruch besser gerecht werden müssen. Eine gemeinsame Migrationspolitik ist deshalb von entscheidender Bedeutung. Dass wir aber bis heute keinen gemeinsamen Weg gefunden haben, ist eine schwere Bürde für Europa. Daher halte ich den Kommissionsvorschlag für einen neuen Pakt zu Asyl und Migration wirklich für diskussionswürdig. Angesichts verschiedener Interessen ist Kompromissfähigkeit gefragt. Jeder Mitgliedstaat wird seinen Beitrag für eine faire Lösung leisten müssen. In diese Zeit fällt auch die entscheidende Weichenstellung für unser zukünftiges Verhältnis zum Vereinigten Königreich. Vielfältige Beziehungen, nicht zuletzt auch zahlreiche Städtepartnerschaften, zeigen: ein Abkommen liegt im Interesse aller. Die EU ist geeint im Bestreben, dies in der Kürze der Zeit noch zu erreichen. Aber wir müssen uns leider auch auf den Fall vorbereiten, dass kein Abkommen zustande kommt. Meine Damen und Herren, so unterschiedlich diese und andere Herausforderungen auch sind, haben sie doch eines gemeinsam: Um sie zu bewältigen, brauchen wir ein starkes Europa ‑ ein Europa mit Institutionen, die gut zusammenarbeiten, und ein Europa mit Mitgliedstaaten, deren Stärke gerade auch aus dezentralen Strukturen erwächst, die den verschiedenen Gegebenheiten in den Regionen, Städten und Kommunen Rechnung tragen. Gelebte Subsidiarität und europäische Errungenschaften wie die Freizügigkeiten und Freiheiten des Binnenmarkts und Schengenraums kommen uns auch bei der Pandemiebewältigung zugute. Denken wir zum Beispiel an die Aufnahme von Patienten aus anderen EU-Staaten oder an die Versorgung mit kritischen Gütern wie Schutzausrüstung oder Medikamenten. Allerdings haben wir auch erlebt, dass die europäische Zusammenarbeit sozusagen nicht grenzenlos belastbar ist. Das sage ich durchaus selbstkritisch. Vor allem zu Beginn der Pandemie haben wir uns, in der Rückschau, zu sehr auf deren Bekämpfung in unseren eigenen Staaten konzentriert. Aber auch diese Erfahrung lehrt einmal mehr: wir brauchen einander. Wir brauchen eine enge europäische Zusammenarbeit, um große Herausforderungen zu meistern. Das gelingt nur gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern und nicht über ihre Köpfe hinweg. Die Konferenz zur Zukunft Europas wird eine hervorragende Gelegenheit bieten, uns darüber auszutauschen, wie wir Europa gemeinsam gestalten wollen. Wir möchten ‑ sofern es die Pandemielage erlaubt ‑ die Konferenz noch während der deutschen Ratspräsidentschaft starten und damit unserem Motto besonderes Gewicht verleihen: „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich freue mich jetzt auf Ihre Beiträge.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Jahreskonferenz des Europäischen Netzwerks für nachhaltige Entwicklung (ESDN)
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-jahreskonferenz-des-europaeischen-netzwerks-fuer-nachhaltige-entwicklung-esdn–1798182
Tue, 13 Oct 2020 10:03:00 +0200
Berlin
Liebe Annika Lindblom, sehr geehrte Damen und Herren, wir stehen derzeit national wie international vor besonderen Herausforderungen. Im Mittelpunkt steht nun insbesondere die gemeinsame Bewältigung der Coronavirus-Pandemie und ihrer vielfältigen Folgen. In Europa hat Covid-19 schon mehr als 200.000 Menschen das Leben gekostet. Die Wirtschaft befindet sich in einer absolut schwierigen Situation. Zahlreiche Arbeitsplätze sind verloren gegangen. Und die Pandemie wird unser Leben und Arbeiten auf unbestimmte Zeit weiter prägen. Wir sehen das besonders in diesen Tagen wieder in fast allen Ländern Europas. Wir dürfen und werden aber auch andere wichtige Themen nicht aus dem Blick verlieren. In diesem Sinne sind und bleiben Nachhaltigkeit im Allgemeinen sowie der Klima- und der Umweltschutz im Besonderen die größten Aufgaben unserer Zeit. Im September des letzten Jahres haben sich die Staats- und Regierungschefs in New York zum Nachhaltigkeitsgipfel getroffen. Die Zwischenbilanz, die wir nach vier Jahren Agenda 2030 gezogen hatten, musste kritisch ausfallen. An diesem zwar nicht durchgehend, aber weitgehend negativen Befund hat sich bis heute leider nichts geändert. Vielmehr ist mit Blick etwa auf Klimaschutz, Biodiversität oder soziale Ungleichheiten die Situation seit Verabschiedung der Agenda 2030 sogar noch ernster geworden. Um ihre Umsetzung zu beschleunigen, haben die Vereinten Nationen eine Dekade des Handelns ausgerufen. Ich unterstütze das sehr. Durch die Coronavirus-Pandemie hat sich der Handlungsdruck verstärkt – sei es bei der Armutsbekämpfung und Ernährungssicherung, sei es bei Bildung oder natürlich auch bei Gesundheit. Bei all diesen Fragen Fortschritte zu erzielen, kann nur als großes Gemeinschaftswerk gelingen. Deshalb danke ich dem Europäischen Nachhaltigkeitsnetzwerk und dem Bundesumweltministerium dafür, dass sie diese Konferenz abhalten. Und ich danke allen, die dabei mitmachen. Wie kommen wir in Europa auf dem Weg zu einem klimaneutralen und nachhaltigen Kontinent voran? – Der Green Deal gibt eine Antwort darauf. Er weist uns den Weg zu Klimaneutralität und mehr Nachhaltigkeit, und zwar – das ist für mich ganz wichtig – ohne unsere Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit zu schmälern. Im Gegenteil, der europäische Green Deal vereint ökologische Notwendigkeit und ökonomische Leistungsfähigkeit. Ohnehin ist der Schutz natürlicher Lebensgrundlagen wesentliche Voraussetzung für wirtschaftliche Erfolge. Das ist zwar logisch, muss aber noch viel stärker in unser Bewusstsein dringen und dann auch in unserem Alltag wirklich Anwendung finden. In diesem Sinne kommt uns Europäern auch eine Vorreiterrolle zu. Wir müssen den Praxisbeweis erbringen, dass sich Wirtschaftswachstum von Emissionen und Ressourcenverbrauch entkoppeln lässt. Wir müssen aus Fehlern der Vergangenheit lernen. Das heißt, dass europäische Industrieländer auch beim Innovations- und Technologietransfer gefragt sind. Sie müssen dabei in Vorleistung treten. Das ist eine Form der Entwicklungszusammenarbeit, die der Verantwortung gegenüber weniger industrialisierten Ländern entspricht. Denn gerade diese Länder leiden unter dem Klimawandel, den vor allem die Industriestaaten buchstäblich angeheizt haben. Natürlich tragen nicht allein wir Europäer die Verantwortung für Klimaschutz. Aber wie wir mit unserer Verantwortung umgehen, wird von vielen Seiten der Welt genau beobachtet. Es hängt also maßgeblich auch von unserem Beispiel ab, ob andere Länder dabei mitziehen, Lösungen für klimaneutrales Wachstum voranzubringen. Diese Herausforderung ist in Zeiten der Pandemie ja nicht unbedingt leichter geworden. Wir haben erheblich damit zu kämpfen, das Virus einzudämmen und die wirtschaftlichen und sozialen Folgen zu bewältigen. Aber – wir wissen das – in jeder Krise liegt auch eine Chance; und so auch in dieser Krise. Denn sie kann gerade auch unter dem Aspekt allgemeiner Krisenresilienz, also Widerstandsfähigkeit, unseren Blick für die Notwendigkeit von mehr Nachhaltigkeit schärfen. Dabei geht es nicht allein darum, das Vorkrisenniveau möglichst schnell wieder zu erreichen, sondern auch darum, nachhaltiger und damit stärker aus dieser Krise hervorzugehen und so eben auch besser auf künftige Krisen vorbereitet zu sein. Kurzfristige Krisenbewältigung und langfristige Zukunftsinvestitionen – das müssen wir zusammendenken, das müssen wir zusammenzubringen. Daher sind zum Beispiel auch digitale Souveränität, Europas Wettbewerbsfähigkeit und eine klimafreundliche Innovationspolitik Schwerpunkte der aktuellen deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Deutschland unterstützt den Vorschlag der Kommission, die Treibhausgase bis zum Ende des Jahrzehnts um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Das ist sehr ehrgeizig. Aber mit dem Green Deal haben wir gleichsam einen Wegweiser hin zu einer kohlenstoffarmen und gerade deshalb wettbewerbsfähigen Wirtschaft. Vor uns liegt der Weg einer wirklich umfassenden Transformation, die Klimaschutz, Kreislaufwirtschaft, Biodiversität, nachhaltige Landwirtschaft, nachhaltige Mobilität und andere Fragen gleichermaßen betrifft. Das darf man nicht unterschätzen. Ein solch umfassender Wandel bedeutet tiefgreifende strukturelle Anpassungen in den Volkswirtschaften. Bei allen neuen Chancen, die damit verbunden sind – der Wandel kann auch schmerzlich sein, wenn etwa zum Beispiel Arbeitsplätze in bestimmten Branchen wegfallen. Ich glaube, ich weiß, wovon ich spreche. In Deutschland bieten sich zwar zum Beispiel durch den starken Ausbau erneuerbarer Energien neue Arbeitsperspektiven in diesem Bereich, doch wir wollen auch den Kohleausstieg bis spätestens 2038 erreichen. Es bedeutet einen großen Kraftakt, Alternativen zu schaffen, wenn Arbeitsplätze oder Einkommensquellen wegfallen. Dabei dürfen wir die betroffenen Regionen und die Menschen dort nicht allein lassen; und das tun wir auch nicht. Ob in Deutschland oder anderswo – die wirtschaftlichen und sozialen Härten eines klimafreundlichen Strukturwandels abzumildern, ist eine Herausforderung, der wir gerecht werden müssen. Ansonsten sind Fortschritte im Sinne von mehr Nachhaltigkeit gefährdet, die es eben nur mit einer breiten gesellschaftlichen Unterstützung geben kann. Ich halte es im Zusammenhang mit nachhaltiger Entwicklung für eine wesentliche, vielleicht sogar für die zentrale Frage: Wie können wir Zielkonflikte auflösen oder abfedern bzw. Transformationsprozesse so gestalten, dass möglichst niemand zurückbleibt? „To leave no one behind“ – dazu haben wir uns ja mit der Agenda 2030 verpflichtet. An dieses Leitprinzip knüpft auch der europäische Green Deal an. Er formuliert den Anspruch, den Übergang für alle gerecht und inklusiv zu gestalten. Das ist entscheidend für den Erfolg von Nachhaltigkeit „made in Europe“. Das ist entscheidend für unseren Zusammenhalt in unseren Gesellschaften und auch zwischen einzelnen Staaten. So wichtig der Green Deal ist – wir brauchen auch einen Rahmen, der uns erlaubt, die Agenda 2030 in ihrer gesamten Themenbreite europäisch anzugehen. Daher freut es mich, dass die Europäische Kommission ein Konzept zur umfassenden Umsetzung der Agenda 2030 angekündigt hat. Ich bin sehr gespannt auf die Vorschläge gerade auch bei den Themen, die nicht direkt den Green Deal betreffen. Das Konzept sollte dann mit regelmäßigen Fortschrittsberichten der Kommission verbunden werden. Damit könnten wir besser feststellen, in welchen Nachhaltigkeitsbereichen wir zusätzliche Maßnahmen brauchen. Ich kann auch nur begrüßen, dass die Strategische Vorausschau künftig stärker in der EU-Politik berücksichtigt werden soll. Dies ist ein weiterer Ansatzpunkt, um die Zukunftsfähigkeit der EU zu stärken. Denn es sind ja nie Krisen auszuschließen, die uns eben auch auf dem Weg in Richtung der Nachhaltigkeitsziele weit zurückwerfen können, wenn wir nicht ausreichend vorbereitet sind. Nachhaltigkeit muss auf allen Ebenen vorangebracht werden. In Deutschland orientieren wir uns dabei an einer Nachhaltigkeitsstrategie, die wir bereits vor 18 Jahren ins Leben gerufen und seitdem kontinuierlich weiterentwickelt haben. Seit 2016 setzt die Strategie den Rahmen für die Umsetzung der Agenda 2030 in Deutschland. Für jedes Nachhaltigkeitsziel legen wir fest, was genau wir bis wann erreichen wollen. Wir überprüfen regelmäßig, wie weit wir jeweils gekommen sind, um bei Bedarf rechtzeitig nachsteuern zu können. Zur Weiterentwicklung unserer Strategie setzen wir auf eine breite Teilnahme aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Erst kürzlich habe ich die deutsche Öffentlichkeit eingeladen, zum neuen Strategieentwurf Stellung zu nehmen. Es gibt so viele gute Ideen, die es wert sind, berücksichtigt zu werden. Das sehen wir auch bezüglich der Europäischen Nachhaltigkeitswoche, die das Europäische Netzwerk für nachhaltige Entwicklung jährlich durchführt. Dass in diesem Jahr trotz der Coronavirus-Pandemie fast 4.000 Aktivitäten in 25 Ländern stattgefunden haben, zeigt: Nachhaltigkeit ist kein Schönwetterthema, sondern ein Herzensanliegen vieler Menschen. Das empfinde ich als sehr ermutigend. Denn Nachhaltigkeit lässt sich nicht einfach verordnen oder per Gesetz vorschreiben. Vielmehr ist jeder und jede Einzelne von uns gefragt, das Leitbild der Nachhaltigkeit zu verinnerlichen. Nachhaltigkeit muss also zu einer Selbstverständlichkeit im täglichen Leben werden, sodass wir uns auch ehrlich fragen: Konsumieren wir nachhaltig? Produzieren wir nachhaltig? Bauen wir nachhaltig? Ist unsere Mobilität nachhaltig? Das Europäische Nachhaltigkeitsnetzwerk trägt viel dazu bei, den Gedanken der Nachhaltigkeit im öffentlichen Bewusstsein zu verankern und gute Ideen für nachhaltiges Handeln, auch Regierungshandeln, zu verbreiten. In der Tat kann nachhaltige Entwicklung nur als gemeinsames Projekt gelingen. Und dafür tragen wir heute Verantwortung. Wie die Welt in Zukunft aussehen wird und wie das Urteil künftiger Generationen ausfallen wird, haben wir heute in der Hand. Deshalb dürfen wir nicht aufhören, uns gegenseitig immer wieder zu ermuntern, zu informieren, zu inspirieren und auch zu kritisieren, wenn es darum geht, eine möglichst nachhaltige Lebens- und Arbeitsweise zu verfolgen. Mit dem europäischen Green Deal haben wir eine wichtige Grundlage, um das Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit in Europa voranzubringen. Auf dem weiteren Weg werden wir immer wieder Zielkonflikte lösen müssen. Wir werden immer wieder praktikable und weithin akzeptable Lösungen finden müssen. Genau das macht das Europäische Netzwerk für nachhaltige Entwicklung so wertvoll. Sie alle, die Sie hier Ihr Wissen und Ihre Erfahrung einbringen, helfen mit, das Leitbild der Nachhaltigkeit in Europa mit Leben zu erfüllen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen weiter eine erfolgreiche Konferenz und danke Ihnen sehr für Ihr Engagement.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der Vollversammlung des Zentralverbands des Deutschen Handwerks am 8. Oktober 2020
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-anlaesslich-der-vollversammlung-des-zentralverbands-des-deutschen-handwerks-am-8-oktober-2020-1797314
Thu, 08 Oct 2020 15:00:00 +0200
Berlin
keine Themen
Lieber Herr Wollseifer, sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich, heute per Video zu und mit Ihnen zu sprechen, darf aber sagen – Sie glauben es mir sicherlich auch –, ich wäre lieber persönlich vor Ort. Aber die Coronavirus-Pandemie hinterlässt in unser aller Leben und Arbeiten deutliche und damit auch sichtbare Spuren. Bei allen Schwierigkeiten war und ist aber auch zu sehen, wie wandlungs- und anpassungsfähig unser Land ist. Deutschland hält sich bei der Pandemie-Bewältigung wacker – bisher jedenfalls noch –, gerade auch im europäischen und internationalen Vergleich. Das verdanken wir der Umsicht und Rücksicht der allermeisten Menschen hierzulande, die die notwendigen Infektionsschutzmaßnahmen ernst nehmen und sich an die Regeln halten. Die Zahl der Neuinfektionen steigt aber wieder – in einigen Städten sehr stark, unter anderem in Berlin, in anderen weniger. Covid-19 bleibt also eine Herausforderung für uns alle – für die Gesellschaft, für Bund, Länder und Kommunen und nicht zuletzt für die Wirtschaft. Es liegt an uns allen, dass das Infektionsgeschehen möglichst eingedämmt wird. Ich möchte nicht, dass sich eine Situation wie im Frühjahr wiederholt. Der Lockdown war für uns alle ein folgenschwerer Einschnitt. Viele Unternehmen haben noch heute mit den Folgen zu kämpfen. Das ist auch kein Wunder, denn es war eine historisch schwere Rezession, in die die deutsche Wirtschaft im ersten Halbjahr gefallen ist. Aber nachdem wir die Maßnahmen zum Infektionsschutz sukzessive lockern konnten, hat sich auch das Geschäftsklima wieder sichtlich verbessert. Insofern sind wir auch mit Blick auf die Beschäftigung glimpflich durch diese schwierigen Monate gekommen. Für eine Entwarnung ist es aber leider noch zu früh. Der Arbeitsmarkt steht nach wie vor unter Druck – Sie wissen das besser als ich. Das zeigt sich zum Beispiel auch daran, dass etwa 35 Prozent aller Betriebe in Deutschland seit März Kurzarbeit angemeldet haben. Für die Bundesagentur für Arbeit bedeutet das milliardenschwere Lasten. Um sie und letztlich auch die Beitragszahler nicht zu überfordern, haben wir beschlossen, von der Rückforderung von Bundesdarlehen an die Bundesarbeitsagentur abzusehen. Das ist natürlich nur einer von sehr vielen Ansatzpunkten, um eine Krise solchen Ausmaßes zu bewältigen. Dazu gehört auch, den Unternehmen selbst unter die Arme zu greifen, die eigentlich gesund sind, aber infolge der notwendig gewordenen Maßnahmen zum Infektionsschutz um ihre Existenz fürchten. Wir nehmen Unternehmen aller Größenordnungen und Branchen in den Blick. Von Startups über Soloselbständige und Freiberufler sowie kleine und mittlere Betriebe bis hin zu Großunternehmen – für alle gibt es passende Angebote. Über das Bundesprogramm Soforthilfe und das Anschlussprogramm Überbrückungshilfe konnten bzw. können Unternehmen Zuschüsse erhalten, die sie nicht zurückzahlen müssen. Mit dem KfW-Sonderprogramm 2020 und dem KfW-Schnellkredit wurden günstige Kredite ermöglicht. Für große Unternehmen haben wir den Wirtschaftsstabilisierungsfonds aufgelegt und für Startups ein eigenes Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht. Hinzu kommen steuerliche Hilfen, auch in Form einer Mehrwertsteuersenkung. Wir haben das Kurzarbeitergeld ausgeweitet. Nicht zuletzt haben wir die Insolvenzantragspflicht bis Jahresende ausgesetzt. Natürlich müssen wir bei all diesen Maßnahmen stets auf ihre Wirksamkeit achten und darauf, ob es unerwünschte Mitnahmeeffekte gibt. Wo nötig, bessern wir nach, wie etwa kürzlich mit der Ausweitung und Verlängerung der Überbrückungshilfe bis Ende des Jahres. Ein besonderes Anliegen ist es, kleinen und mittleren Betrieben bei der Ausbildung zu helfen. Denn durch die Pandemie konnten Jugendliche und Betriebe in den letzten Monaten, wenn überhaupt, nur schwer zusammenfinden. Aber das deutliche Aufholen bei den Vertragsabschlüssen in jüngster Zeit ist ermutigend. Wir müssen alles daransetzen, die Chancen der jungen Generation beim Einstieg in Ausbildung und Beruf auch in dieser schwierigen Zeit zu sichern. Junge Menschen dürfen nicht zu Verlierern der Pandemie werden. Deshalb haben wir das Bundesprogramm „Ausbildungsplätze sichern“ aufgelegt, mit dem wir 500 Millionen Euro für dieses und nächstes Jahr bereitstellen. So können zum Beispiel Betriebe, die ihr Ausbildungsniveau stabil halten oder sogar ausbauen, eine Ausbildungsprämie erhalten. Und Unternehmen, die Auszubildende aus insolventen Betrieben übernehmen, können mit einer Übernahmeprämie rechnen. In dieser außergewöhnlichen Zeit ist auch außergewöhnliche Flexibilität bei den Abschluss- und Gesellenprüfungen gefragt. Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken, die Sie in diesem Jahr doch einen termingerechten Abschluss der Prüfungen ermöglicht haben. Ich darf sagen: Die Pandemie wird uns leider noch eine Weile begleiten. Sie wird auch im neuen Ausbildungsjahr besonderen Einsatz erfordern. Da ist es gut zu wissen, mit dem Handwerk einen starken Partner zur Seite zu haben, wenn es darum geht, heute unsere Fachkräfte für morgen zu sichern – für die Betriebe selbst und für den gesamten Standort Deutschland. Heute schon an morgen zu denken, ist gerade jetzt, in dieser Krisenzeit, sehr wichtig, da weltweit die Weichen neu gestellt werden. Wir in Deutschland haben den Anspruch, die Folgen der Pandemie nicht nur möglichst schnell zu bewältigen. Wir wollen uns über Investitionen auch langfristig neue Chancen sichern. Deshalb hat die Bundesregierung neben einem Konjunkturpaket auch ein Zukunftsprogramm auf den Weg gebracht, dessen Name – eben Zukunft – auch Programm ist. Für 2021 planen wir Bundesinvestitionen in Höhe von 55 Milliarden Euro. Von 2022 bis 2024 sind jedes Jahr 48 Milliarden Euro vorgesehen. Das liegt deutlich über dem Vorkrisenniveau. Wir investieren in unser Bildungssystem, in Forschung und neue Technologien. Wir unterstützen etwa die Dekarbonisierung der Wirtschaft und auch deren Digitalisierung. Das schließt den verstärkten Ausbau der digitalen Infrastruktur mit ein. Das war natürlich schon vor Corona ein Themenschwerpunkt, doch die Pandemie hat die Beschleunigung der Digitalisierung noch dringender gemacht. Das sehen wir etwa in den Schulen, im Homeoffice und in den Betrieben. Auch die Digitalisierung der Verwaltung kommt voran. So haben wir zum Beispiel für die Überbrückungshilfen eine bundeseinheitliche Online-Plattform aufgebaut, über die die Anträge digital abgewickelt werden können. Nun weiß ich, dass das technisch noch nicht ganz ausgereift ist. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir die noch bestehenden Schwierigkeiten in den Griff bekommen werden. Mit neuen Erfahrungen lernen wir ja auch immer Neues hinzu. Jedenfalls ist es bemerkenswert, dass innerhalb weniger Wochen ein großes Digitalisierungsprojekt auf die Beine gestellt wurde. Das kann sonst schon mal Jahre dauern. Wir haben also gesehen: es geht sehr schnell, wenn es sein muss. Diesen Schwung werden wir nutzen. Wir wollen bis Ende 2022 alle priorisierten Dienstleistungen der Verwaltung online verfügbar machen. Ob in der Verwaltung oder der Wirtschaft – mit mehr digitalen Nutzungsmöglichkeiten steigen natürlich auch die Leistungsanforderungen an die Infrastruktur. Wir wollen daher unser Förderprogramm für Glasfasernetze ausweiten, damit noch mehr Kommunen davon profitieren. Die beihilferechtliche Genehmigung der Europäischen Kommission erwarten wir noch in diesem Jahr. Im Mobilfunk ist die LTE-Versorgung schon recht gut, aber noch nicht ganz zu hundert Prozent. Deshalb wollen wir mit einem Förderprogramm noch bis zu 5.000 Standorte erschließen, die sogenannten weißen Flecken, was sonst ohne staatliche Unterstützung nicht möglich wäre. Hierüber sprechen wir auch gerade mit der Europäischen Kommission. Eine Mobilfunkversorgung, die Voraussetzung für viele neue technologische Anwendungen ist, sollte nicht nur lückenlos, sondern auch auf modernstem Stand sein. Deshalb drücken wir bei 5G noch mehr aufs Tempo. Der 5G-Ausbau soll mit fünf Milliarden Euro weiter beschleunigt werden. Ja, Investitionen kosten Geld. Krisenbewältigung und Zukunftsinvestitionen schlagen im Bundeshaushalt zu Buche. Wir nehmen eine Neuverschuldung in Kauf, die außerordentlich hoch, aber in dieser außerordentlichen Situation auch gerechtfertigt ist. Ich betone das Wort „außerordentlich“. Denn auch kommende Generationen sollen, wie Herr Wollseifer es eben gesagt hat, ebenso wie wir genügend Investitions- und Handlungsspielräume haben, um sich Chancen auf eine hohe Lebensqualität zu sichern. Deshalb ist es wichtig, dass der Bund ab 2022, wenn immer möglich, wieder zur Einhaltung der grundgesetzlichen Schuldenregel zurückkehrt. Das wird sehr strikte Disziplin und eine kluge Prioritätensetzung erfordern. Das sagt sich jetzt leicht, doch solide Staatsfinanzen sind gleichermaßen eine Frage der Generationengerechtigkeit wie auch der volkswirtschaftlichen Vernunft. Und bei dieser Frage müssen wir neben der Ausgabenseite natürlich auch auf die Einnahmenseite des Haushalts blicken. Lieber Herr Wollseifer, Sie haben zum Beispiel vorgeschlagen, digitale Dienstleistungen stärker zu besteuern. Das ist auch nachvollziehbar. Wer in Deutschland Milliardenumsätze macht, sollte auch hierzulande Steuern zahlen. Große Digitalkonzerne dürfen keine ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteile genießen. Aber wir wissen auch, wie kompliziert die Diskussion über eine angemessene Besteuerung der global aktiven Digitalwirtschaft ist. Nichtsdestoweniger werde ich mich auch weiterhin für ein möglichst weltweit abgestimmtes Besteuerungskonzept einsetzen; Finanzminister Olaf Scholz tut dies auch. Denn hier haben wir es nun einmal mit einer internationalen Frage zu tun. Und diese lässt sich auch nur international beantworten. Das braucht eben seine Zeit. Das Stichwort Zeit führt mich zum Stichwort Zeitaufwand und damit zum Dauerthema Bürokratie – ein Thema, das gerade auch viele Handwerksbetriebe umtreibt. Abbau und Vermeidung unnötiger Bürokratie sind und bleiben ein wichtiges Ziel der Bundesregierung. Vor einem Jahr haben wir das Bürokratieentlastungsgesetz III auf den Weg gebracht. Damit wurde unter anderem die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eingeführt und die elektronische Archivierung von Steuerdaten erleichtert. Insgesamt steht unter dem Strich eine jährliche Entlastung der Wirtschaft um über eine Milliarde Euro. Derzeit arbeiten wir an einem vierten Bürokratieentlastungsgesetz, das noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden soll. Ich bedanke mich schon heute dafür, dass sich natürlich auch der ZDH mit seinen Vorschlägen einbringen wird. Bereits 2015 haben wir das sogenannte „One in, one out“-Prinzip eingeführt. Dass sich das bezahlt gemacht hat, wurde auch in Brüssel aufmerksam registriert. Ich begrüße es sehr, dass die EU-Kommissionspräsidentin das Prinzip „One in, one out“ auch auf EU-Ebene einführen will. Damit würde also auch jeder Regelungsvorschlag der Europäischen Kommission, der zu neuen Belastungen führt, entsprechende Entlastungen an anderer Stelle vorsehen. Wie Sie wissen, hat Deutschland derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne. Im Mittelpunkt steht natürlich die gemeinsame Bewältigung der Coronavirus-Pandemie und ihrer wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Wir streben insbesondere eine bessere Koordinierung der Pandemiebekämpfung der EU-Mitgliedstaaten an. Dies betrifft unter anderem Einreisen aus Risikogebieten. Das Thema Covid-19 dominiert zwar die Schlagzeilen, aber damit sind andere große Herausforderungen mitnichten aus der Welt. Ob Digitalisierung und Wettbewerbsfähigkeit, ob Migration oder Klimaschutz – das alles sind Fragen, die uns in Europa gemeinsam betreffen. Bei all dem drängen wir auf Fortschritte. Das reicht natürlich weit über unsere Ratspräsidentschaft hinaus. Das ist zum Beispiel mit Blick auf das Ziel der Klimaneutralität 2050 offensichtlich. Um dieses langfristige Ziel zu erreichen, braucht es die Bereitschaft und Fähigkeit, unser Leben und Arbeiten noch nachhaltiger zu gestalten. Unser aller Bereitschaft zu Veränderungen wird ja auch durch die Covid-19-Pandemie auf die Probe gestellt – wenn auch auf andere Weise. Die derzeit leider wieder ansteigenden Infektionszahlen zeigen bzw. mahnen uns, nach wie vor aufmerksam und vielleicht noch aufmerksamer zu sein, um uns, aber auch andere zu schützen. Jeder und jede von uns ist und bleibt aufgefordert, in den Herbst- und Wintermonaten nun erst recht die sogenannte AHA-Regel zu beherzigen: Abstand halten, Hygieneregeln beachten und Alltagsmaske tragen. Zu „AHA“ gesellen sich noch zwei weitere Buchstaben: Zum einen „L“ für Lüften, um die Ansteckungsgefahr zu verringern, wenn wir uns in der kalten Jahreszeit wieder vermehrt in geschlossenen Räumen aufhalten, und zum anderen der Buchstabe „C“, der für Corona-Warn-App steht. Auch diese App ist natürlich kein Allheilmittel. Aber sie ist eine wichtige Hilfe, um Infektionsketten nachzuverfolgen und zu unterbrechen. Dabei sind wir einen großen Schritt weitergekommen: Wir haben jetzt ein europäisches System im Probetrieb. Davon erhoffen wir uns, dass die App bald eine noch breitere Wirkung entfalten kann. Kurzum: es kommt also auf uns alle an, das Infektionsgeschehen soweit wie möglich im Griff zu haben und zu halten. Das ist, rein wirtschaftlich betrachtet, derzeit wohl auch das wichtigste Konjunkturprogramm. Daher danke ich allen für die Bereitschaft, die Schutzmaßnahmen mitzutragen. Nur so sind wir stärker als das Virus. So machen wir auch wirtschaftlich mehr und mehr Boden gut. So gelingt auch am besten, was ein Slogan der ZDH-Imagekampagne verspricht: „Wir lassen uns von Corona nicht ins Handwerk pfuschen.“ Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Jetzt freue ich mich auf Ihre Fragen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der Übergabe des Nationalen Integrationspreises am 5. Oktober 2020
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-anlaesslich-der-uebergabe-des-nationalen-integrationspreises-am-5-oktober-2020-1796026
Mon, 05 Oct 2020 15:00:00 +0200
Berlin
keine Themen
Meine Damen und Herren, per Livestream ist jemand mit dabei, der eigentlich heute hier sein wollte, nämlich Sami Khedira. Er sitzt mit Juventus Turin in Quarantäne. Ihn werden Sie heute noch an verschiedener Stelle hören. Aber wir grüßen ihn erst einmal ganz herzlich von hier aus. Ich begrüße natürlich Sie alle, die Sie heute hergekommen sind. Es wären heute gerne noch ein paar mehr Menschen mit dabei gewesen, aber wir mussten die Teilnehmerzahl ein bisschen reduzieren. Deshalb hoffe ich, dass wir unsere Preisverleihungen eines Tages auch wieder in größerer Runde machen können. Aber Sie, liebe Nominierte, sind natürlich ganz besonders herzlich willkommen. Es wird nachher noch einen kurzen Film geben, der noch einmal zeigt, was geleistet wurde. Es geht ja in diesem Jahr um Initiativen für Mädchen und Frauen. Das sind ganz besondere Initiativen. „Es gibt keinen Erfolg ohne Frauen.“ – Dieser Satz stammt nicht etwa von mir, sondern von Kurt Tucholsky; und ich kann ihm nur zustimmen. Der Satz gilt auch im Zusammenhang mit Fragen der Integration. Wenn sich Frauen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland zu Hause fühlen, wenn sie unsere grundlegenden Werte teilen, dann haben es auch ihre Kinder oft leichter, hier heimisch zu sein, Anschluss zu finden und sich gut zu entwickeln. In der Integrationsarbeit, so können wir sagen, stellen Frauen die Mehrheit. Sie engagieren sich vor allem ehrenamtlich für Integration, wie ja auch die nominierten Projekte hier zeigen, aber glücklicherweise auch hauptamtlich und politisch. So waren und sind bislang sechs von sieben Integrationsbeauftragten des Bundes Frauen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um unsere Staatsministerin extra ganz herzlich zu begrüßen und ihr vor allen Dingen für ihr Engagement zu danken. Sie hat nicht nur all dies hier vorbereitet, sondern arbeitet ganztägig und darüber hinaus für den Gedanken der Integration und für den Gedanken des Miteinanders. In ihren jeweiligen Berufsbereichen leisten viele Frauen auch wertvolle Integrationsarbeit – etwa in Kitas, Schulen und Begegnungsstätten. Wenn man nur daran denkt, was es für Kinder bedeutet, wem sie dort gegenüberstehen, wen sie treffen, wer auf sie einwirkt oder nicht auf sie einwirkt, dann weiß man auch, dass davon neben dem Elternhaus viel für das gesamte Leben abhängt, so dass man das gar nicht hoch genug schätzen kann; und das gilt natürlich auch gerade in diesen Zeiten von Corona. Von Lehrerinnen, Erzieherinnen und Sozialpädagoginnen wird vieles zusätzlich zur normalen Arbeit geleistet. Wir wissen, dass das in Zukunft von der Gesellschaft noch besser auch materiell gewürdigt werden muss. Wir haben viel im Pflegebereich getan, wir haben einiges für Erzieherinnen getan, aber das wird sich noch fortsetzen müssen. Nun sind Integration und auch Gleichberechtigung aber nicht ohne Männer zu machen. Ich finde, die Männer stehen in der ganzen Gleichberechtigungsdebatte sowieso zu viel im Schatten. Ich kann Ihnen aber berichten, dass ich einen belgischen Kollegen habe, den neuen Premierminister von Belgien, der ein Buch darüber geschrieben hat, wie der Feminismus zur Befreiung der Männer beiträgt. Das ist ein Blickwinkel – ich habe mich mit ihm kurz darüber unterhalten – der, glaube ich, sehr wichtig ist. Jedenfalls können wir sagen: Integration wird nur gelingen, wenn Frauen und Männer letztlich gemeinsam dabei sind. Herr Weise hat ja in langjähriger Arbeit – ich erwähne ihn stellvertretend für viele andere; ich will die Arbeit anderer jetzt nicht unter den Teppich kehren – auch viel dafür geleistet. Zum Schluss will ich einfach allen, gleich welchen Geschlechts, sagen: Ich danke allen, die sich für Zusammenhalt einsetzen. Wir wissen ja, wie umkämpft der Gedanke der Integration ist, weil die Frage „Wie lange muss ich mich integrieren, bis ich einmal dazugehöre?“ eine ist, die wir jetzt, Gott sei Dank, auch öfters miteinander besprechen. Der Gedanke des Zusammenhalts aller, die bei uns leben, ist eben einer, der ganz wichtig ist. Wir wissen, dass wir leider in keiner idealen Welt leben und dass Rechtsextremismus, Rassismus, Hetze und Angriffe leider heute zum Alltag gehören. Viele von Ihnen haben das bei ihrer Integrationsarbeit sicherlich auch erlebt. Wir haben aus dem letzten Integrationsgipfel oder aus dem letzten Zusammentreffen im Zusammenhang mit Integrationsfragen die Schlussfolgerung gezogen, dass wir einen besonderen Kabinettausschuss für den Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus brauchen. Wir haben bereits in einer Anhörung mit Vertretern der Gesellschaft darüber gesprochen, worum es wirklich geht. Dabei gibt es natürlich Bereiche, in denen die Justiz handeln muss; das ist vollkommen klar. Aber es gibt eben auch sehr viele Bereiche, in denen wir präventiv arbeiten müssen, in denen wir Einstellungen ändern müssen. Genau darum wird es auch in unserer nächsten Sitzung, die noch im Oktober stattfinden wird, gehen. Ich möchte Ihnen auch danken, weil ich vermute, dass viele von Ihnen eine Geschichte darüber erzählen können, was Ihnen im Leben schon zugestoßen ist, weil Sie sich entweder für Integration eingesetzt haben oder selbst eine Migrationsgeschichte haben. Wir wissen auch, wenn wir etwa an Frau Reker denken, was viele Kommunalpolitiker leider zu erdulden und zu erleiden haben und wie schwer es heute oft ist, sich gegen Kräfte zur Wehr zu setzen, wenn da hart, menschenverachtend und brutal argumentiert wird und Menschen in Angst und Schrecken versetzt werden sollen. Dem müssen wir uns entgegenstellen. Nun stellt uns Corona vor ganz besondere Aufgaben. Viele, für die der Spracherwerb zum Beispiel mit Kita und Schule verbunden ist, litten darunter, dass sie monatelang zu Hause bleiben mussten. Wir haben ja festgestellt, dass der Digitalunterricht noch nicht so funktioniert, wie wir uns das aber für die Zukunft vorstellen würden. Wir konnten vielleicht nicht voraussehen, vor welche Herausforderung wir mit solch einer Pandemie gestellt werden, aber es ist schon so, dass wir vieles verbessern müssen. Es wurde uns aber gerade auch in dieser Zeit bewusst, wie wichtig der Präsenzunterricht und die Präsenz in Kitas sind. Ich habe mit vielen Kultusministern darüber gesprochen. Wir können noch so tolle digitale Bildung anbieten, aber einen Teil der Schülerinnen und Schüler erreichen wir nur, wenn sie auch wirklich präsent sind. Das heißt also, auch in dieser Hinsicht gibt es besondere Belastungen für die Menschen, die eine Einwanderungsgeschichte haben. Ich wäre jetzt normalerweise darauf gespannt, was die Jury alles herausgefunden hat. Das werde ich mir vielleicht auch, wenn ich weggegangen sein werde, noch ein bisschen im Livestream anschauen. Aber ich bin natürlich besonders traurig, dass ich den Integrationspreis der Bundeskanzlerin heute nicht selbst verleihen kann, sondern nur sagen kann, wie Sie ja schon wissen, dass er an Frau Bjeen Alhassan geht. Wo ist Sie eigentlich? – Ah, hallo. – Ihr Projekt wird nachher sehr gewürdigt werden, aber jetzt geht es erst einmal um das Projekt „Lernen mit Bijin“. Ich habe Annette Widmann-Mauz gebeten, die Preisverleihung in meinem Auftrag zu übernehmen. Aber Sie sollten wissen, dass ich Ihnen ganz herzlich gratuliere und es sehr schön finde, dass ich Sie auszeichnen darf. Ich wünsche Ihnen jetzt noch eine schöne Preisverleihung und übergebe das Wort wieder zurück an Frau Zervakis. Nehmen Sie meinen leeren Platz ein, so dass es aussieht, als ob ich da noch sitzen würde. Ganz herzlichen Dank und alles Gute.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der Ersten Lesung des Bundeshaushalts 2021
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-der-ersten-lesung-des-bundeshaushalts-2021-1794884
Wed, 30 Sep 2020 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Kultur
Herr Präsident / Frau Präsidentin, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor nicht allzu langer Zeit wären solche Zahlen ein Grund zum Feiern gewesen: Insgesamt mehr als 1,94 Milliarden Euro sieht der Regierungsentwurf für den Haushalt 2021 für Kultur und Medien vor – 6,6 Prozent mehr als der Regierungsentwurf des Vorjahres und gut 60 Prozent mehr als der Kulturetat bei meinem Amtsantritt. Im Juli haben wir außerdem mit NEUSTART KULTUR das größte Konjunkturprogramm für die Kultur in der Geschichte der Bundesrepublik verabschiedet: eine Milliarde Euro zusätzlich für die Kultur. Es freut mich sehr, dass es gelungen ist, ein eigenes Rettungs- und Zukunftsprogramm für die Kultur durchzusetzen, obwohl Kultur in Deutschland bekanntlich in erster Linie in der Verantwortung und Zuständigkeit der Länder liegt. Die Anstrengungen des Bundes seien außergewöhnlich, kommentierte kürzlich eine Kulturjournalistin, und ich zitiere weiter: „In keinem Land weltweit wird die Kultur in Corona-Zeiten so üppig unterstützt.“ Nach Feiern ist mir trotzdem nicht zumute. Zu groß ist pandemiebedingt die Not vieler Künstlerinnen und Künstler, zu gewaltig sind die Herausforderungen für die Kultureinrichtungen und für die Unternehmen der Kulturwirtschaft. Ich kann deren Verzweiflung und Existenzangst nachempfinden. Und glauben Sie mir: Wir – und damit meine ich vor allem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BKM, die dafür seit Monaten im Dauereinsatz sind – wir tun alles, was in unserer Möglichkeit steht, um die Not zu lindern. NEUSTART KULTUR ist bereits im Juli angelaufen und stößt auf enorme Resonanz. Das Programm ist bewusst vor allen Dingen auf die Sicherung der Infrastruktur ausgerichtet. Denn sie ist der Schlüssel, um Arbeitsmöglichkeiten und damit Einkommen für Künstlerinnen und Künstler wie auch für alle anderen im Kulturbereich Tätigen zu garantieren. Darüber hinaus appelliere ich an die zuständigen Länderministerinnen und -minister, sehr differenziert nach Anlass und Raumsituation darüber nachzudenken, wie man mit pragmatischen Konzepten das Bühnengeschehen weitestmöglich wieder zum Laufen bekommen kann. Das ist das Mindeste, was wir den Künstlerinnen und Künstler schuldig sind! Kultur ist keine Delikatesse für Feinschmecker, sondern Brot für alle. Die Wiederbelebung des kulturellen Lebens verdient deshalb dieselben Anstrengungen, die auch anderen Branchen zuteilwerden! Pauschal sehr restriktiv vorzugehen, wird weder dem Kulturbetrieb in seiner Vielfalt noch den existentiellen Nöten der Kultureinrichtungen und der Künstlerinnen und Künstler gerecht – und übrigens auch nicht ihrer zentralen Bedeutung für eine starke und lebendige Demokratie! Für eine starke und lebendige Demokratie: In diesem Sinne sieht der Regierungsentwurf 2021 Mehrausgaben insbesondere für Aufarbeitung und Geschichtsvermittlung, für politische Bildung und kulturelle Teilhabe vor. Die Deutsche Welle als Botschafterin demokratischer Werte im Ausland soll 2021 zusätzlich 22,5 Millionen Euro erhalten, insgesamt 387,5 Millionen Euro. Mit 3 Millionen Euro wollen wir Maßnahmen zur Stärkung von Orten der Demokratiegeschichte fördern – und damit die Wertschätzung für demokratische Errungenschaften. Mit einer halben Million Euro wollen wir die Aufarbeitung des Kolonialismus vorantreiben – ein erster Schritt, um dieses wichtige Thema, für das es erstmals einen eigenen Haushaltstitel gibt, stärker sichtbar zu machen. Dazu wird auch das Humboldt Forum beitragen, das im Dezember seine Pforten öffnet. Auch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz stärken wir mit zusätzlichen Mitteln – und zwar mehr denn je: mit insgesamt 14,5 Millionen Euro zusätzlich im Vergleich zum Vorjahr, vorgesehen unter anderem – sofern das Land Berlin mitzieht – für einen eintrittsfreien Sonntag im Monat, der über das Stammpublikum hinaus Neugierige anlocken soll. Nicht minder wichtig für kulturelle Teilhabe ist die Bundeskulturförderung im ländlichen Raum. Dazu zählt das „Zukunftsprogramm Kino“ mit 15 Millionen Euro wie im Vorjahr. Insgesamt mehr als 20 Millionen Euro stellen wir im Rahmen der Neuausrichtung der ehemaligen Braunkohleregionen für die Verstärkung der bestehenden Kulturförderung bereit. Außerdem legen wir ein Förderprogramm Industriekultur auf. Denn gerade dort, wo Menschen sich vielfach abgehängt und vom Strukturwandel überfordert fühlen, brauchen wir Orte des Austauschs und Raum für Debatten. Kunst, Kultur und die Medien sind unverzichtbar für Verständigung. Sie sind damit auch essentiell für die europäische Einheit in Vielfalt. Deshalb setze ich mich im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft mit Nachdruck dafür ein, dass die Corona-Aufbauhilfen der EU auch Künstlerinnen und Künstlern, Kreativen und Kultureinrichtungen zugutekommen. Sie sind es, die Menschen in Fühlung miteinander bringen und Verbundenheit über alle Grenzen hinweg stiften – selbst in Zeiten, in denen wir Abstand halten müssen. „Alle Menschen werden Brüder‘ – das ist keine romantische Verklärung, sondern ein andauernder Arbeitsauftrag an uns alle“: So hat der Pianist Igor Levit Europas Hymne, den Schlusschor der 9. Symphonie Ludwig van Beethovens, einmal kommentiert. Nehmen wir diesen Arbeitsauftrag ernst! Stärken wir die Kräfte, die Gräben und Grenzen überwinden helfen! In diesem Sinne bitte ich Sie darum, den Haushaltsentwurf für das Jahr 2021 zu unterstützen und in den parlamentarischen Beratungen konstruktiv zu begleiten.
„Mit diesem starken Haushaltsansatz“, so die Staatsministerin im Vorfeld, „untermauern wir einmal mehr unsere gemeinsame Überzeugung: Gerade in Zeiten der Krise ist Kultur das Fundament für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt.“
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der Eröffnung des Usedomer Musikfestivals
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-der-eroeffnung-des-usedomer-musikfestivals-1790382
Sat, 19 Sep 2020 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Kultur
Als „Sehnsuchtsmusik“ hat der norwegische Singer-Songwriter Erlend Øye Musik aus seiner Heimatstadt Bergen einmal bezeichnet. Er meinte, darin die Sehnsucht nach Sonne anklingen zu hören. Denn dort, hoch im Norden, kann es bekanntlich vorkommen, dass über Wochen so gut wie nie die Sonne scheint… Dass Musik – wie auch die anderen Künste – in entbehrungsreichen Zeiten Sehnsüchte stillen kann, haben wir alle in den vergangenen Monaten erlebt. Viele Künstlerinnen und Künstler und zahlreiche Kultureinrichtungen haben uns die häusliche Isolation im Lockdown erträglicher gemacht. Wohl nie zuvor bot das Internet Kulturgenuss in dieser Bandbreite und Qualität – vom Livestreamkonzert über Lesungen aus dem heimischen Wohnzimmer bis hin zum virtuellen Theaterabend. Über das analoge Stammpublikum hinaus dürfte dabei auch so mancher Online-Zufallsbesucher auf den Geschmack gekommen sein. Musik erwies sich dabei für viele Menschen einmal mehr als unverzichtbare Seelennahrung. Dabei haben viele aber auch erlebt, dass Kultur als Bildschirmerlebnis das Gemeinschaftserlebnis nicht ersetzen kann. Denn mag die heimische Couch auch noch so bequem sein: Beglückender ist es, Emotionen mit anderen zu teilen. Dass gemeinsamer Kulturgenuss auch unter den geltenden Beschränkungen möglich ist, zeigt das Usedomer Musikfestival und sendet damit ein wichtiges Signal der Hoffnung insbesondere an Künstlerinnen und Künstler, die auf Auftritte live und vor Publikum angewiesen sind. Als eines der ersten Festivals in Deutschland startet es wieder mit einem vollen Programm. Viele Konzerte sind längst ausverkauft – dank zahlreicher treuer Freunde und Fans, die sich von der einzigartigen Verbindung von Kultur und Natur zwischen Ostsee und Bodden in den Bann ziehen lassen. Ebenso anziehend ist die beinahe familiäre Atmosphäre: Es ist schön zu erleben, wie das Festival getragen wird von einem engagierten Kreis lokaler Unternehmer und vieler ehrenamtlicher Kräfte, die Kaffee und Kuchen vor den malerischen Veranstaltungsorten zum Verkauf anbieten, Programmhefte verkaufen oder die von weiter her kommenden Musikfreunde auf der Insel transportieren. Diese Verbundenheit der Menschen vor Ort mit ihrem Festival ist etwas ganz Besonderes – ein Ausdruck der Wertschätzung für Künstlerinnen und Künstler und die Botschaft ans Publikum: Ihr seid uns hier willkommen, Ihr seid uns wichtig. Maßgeblich verantwortlich für den Erfolg des Festivals sind natürlich auch Sie und Ihr Team, lieber Herr Hummel, die Sie das Programm des Festivals nun schon seit dessen Entstehung im Jahr 1994 gestalten. Damit zählen Sie wohl zu den am längsten im Amt stehenden Intendanten in Deutschland – was ja auch ein wunderbarer Beleg des Erfolgs Ihrer Arbeit ist. Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie mit großem Einsatz das diesjährige Festival möglich gemacht haben – und für die Beharrlichkeit und Nervenstärke, die es dafür in Zeiten von Corona braucht! Dass das Usedomer Musikfestival live stattfinden kann, ist ein Hoffnungsschimmer nicht nur für alle Musikliebhaber mit Entzugserscheinungen, sondern auch und vor allem für die vielen Künstlerinnen und Künstler, deren Existenzgrundlage Auftritte vor Publikum sind. Für die Wiederaufnahme des kulturellen Lebens insgesamt habe ich das Programm NEUSTART KULTUR auf den Weg gebracht. Insgesamt eine Milliarde Euro zusätzlich stehen in meinem Haushalt bereit, um die kulturelle Infrastruktur unseres Landes nach der pandemiebedingten Auszeit wieder zu beleben – und das bedeutet: Betriebsstätten, Arbeitsmöglichkeit und Einkommen für Künstlerinnen und Künstler wie auch für vieler andere im Kulturbereich Tätige zu sichern. Das größte Konjunkturprogramm für die Kultur in der Geschichte der Bundesrepublik offenbart den hohen Stellenwert, den die Bundesregierung der Kultur beimisst. Es soll Not lindern, kann aber natürlich nicht alle Probleme lösen. Umso wichtiger ist es, sehr differenziert darüber nachzudenken, wie man mit pragmatischen Konzepten das kulturelle Leben und insbesondere das Bühnengeschehen wieder ins Laufen bekommen kann. Das ist das Mindeste, was wir den Künstlerinnen und Künstler schuldig sind! Dazu muss man sich die Mühe individueller Einzelfallbetrachtungen machen: Jede Veranstaltung, jeder Raum muss speziell auf seine Möglichkeiten geprüft werden, Infektionsschutz und Kulturgenuss miteinander zu vereinbaren. Pauschal sehr restriktiv vorzugehen und sich vor dieser aufwändigen Arbeit zu drücken, wird weder dem Kulturbetrieb in seiner Vielfalt noch den existentiellen Nöten der Kultureinrichtungen und der Künstlerinnen und Künstler gerecht. Die Wiederbelebung des kulturellen Lebens verdient dieselben Anstrengungen, die auch anderen Branchen zuteilwerden! Denn Kunst ist keine Delikatesse für Feinschmecker, sondern Brot für alle. Das weiß jeder, der schon einmal „Sehnsuchtsmusik“ gehört hat – um den eingangs erwähnten Begriff noch einmal aufzugreifen. „10 Länder, 1 Meer – 27 Jahre, 1 Festival“ lautet das diesjährige Festivalmotto und kündet damit auch von der Grenzen-überwindenden, verbindenden Kraft der Musik, die bei diesem Festival seit jeher kultiviert und zelebriert wird. Von Beginn an war es dem kulturellen Reichtum der Ostsee-Anrainer gewidmet. Dabei entstanden enge Kulturbeziehungen insbesondere zum polnischen Teil der Insel, wo auch Veranstaltungen stattfinden – ein Zeichen guter Nachbarschaft und enger Zusammenarbeit, die auch für die wirtschaftliche Entwicklung der Region wichtig ist. Zur Kulturfreundschaft mit anderen Ländern trägt auch die Entscheidung des Festivalteams bei, jeweils ein Gastland in den Mittelpunkt des Programms zu stellen. In diesem Jahr ist es Norwegen. Norwegische Musikerinnen und Musiker haben einen exzellenten Ruf und sind nicht nur im Bereich Jazz auf den Bühnen weltweit gern gesehen und gefeiert. Einen exzellenten, ja legendären Ruf hat auch der norwegische Saxophonist Jan Garbarek, der eigentlich das heutige Eröffnungskonzert geben sollte – hätte es nicht kurzfristige Probleme bei der Einreise seiner Musiker gegeben. Das ist sehr schade, aber gehört leider zur momentanen Lebensrealität vieler international tätiger Künstlerinnen und Künstler. Ich freue mich sehr, dass wir dafür das Baltic Sea Philharmonic unter der Leitung des estnischen Dirigenten Kristjan Järvi erleben dürfen, und wir dabei immerhin in den Genuss einzelner Kompositionen Jan Garbareks kommen. Das weltweit renommierte Orchester, das mit dem Usedomer Musikfestival eng verbunden ist – denn es wurde von Ihnen, lieber Herr Hummel, im Jahr 2008 gegründet – vereint Musikerinnen und Musiker aus Dänemark, Estland, Finnland, Deutschland, Lettland, Litauen, Norwegen, Polen, Russland und Schweden. So steht auch dieser Abend ganz im Zeichen der verbindenden Kraft der Musik – und ganz im Zeichen der „Sehnsuchtsmusik“ dieses Corona-Jahres: der Livemusik. Freuen wir uns also auf ein Konzert, wie wir es lange vermisst haben! Ich wünsche Ihnen allen einen genussvollen Abend und ein beglückendes Festival!
Monika Grütters unterstrich in ihrer Eröffnungsrede die besondere Bedeutung des Festivals „ganz im Zeichen der verbindenden Kraft der Musik – und ganz im Zeichen der „Sehnsuchtsmusik“ dieses Corona-Jahres: der Livemusik.“
Rede von Staatsministerin Monika Grütters beim Arbeitstreffen der EU-Kulturministerinnen und –Kulturminister
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-monika-gruetters-beim-arbeitstreffen-der-eu-kulturministerinnen-und-kulturminister-1789994
Mon, 14 Sep 2020 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
EU2020 Medien,EU2020 Kultur,Kultur
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Herren! Es hätte ein Tag im Lichte des reichen europäischen Kulturerbes werden sollen. Stattdessen ist unser heutiges Treffen überschattet von den Auswirkungen der COVID 19-Pandemie: Aus einer großen Kulturkonferenz wurde ein Arbeitstreffen im kleinen EU-Kulturministerkreis – mit einer politischen Agenda, die (genauso wie die gewöhnungsbedürftige Sitzordnung hier im Saal) einmal mehr vom Corona-Krisenmanagement geprägt ist. Trotzdem – oder vielmehr: gerade deshalb – bin ich froh und dankbar, Sie alle heute persönlich hier im Kanzleramt begrüßen zu dürfen. Das ist in diesen Zeiten einerseits wahrlich keine Selbstverständlichkeit – und andererseits doch so dringend notwendig, allein schon als Signal der Solidarität: Künstlerinnen und Künstler, Kultureinrichtungen und Unternehmen der Kulturwirtschaft sind ja nicht nur diejenigen, die durch das notwendige Herunterfahren des öffentlichen Lebens besonders hart betroffen sind. Sie sind auch diejenigen, die besonders langfristig betroffen sind. Der Kultur- und Kreativsektor braucht deshalb unsere konzertierte Unterstützung – und nicht zuletzt darum geht es bei unserem heutigen Arbeitstreffen. In diesem Sinne: Herzlich willkommen in Berlin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass es sich auch im Kontext der Corona-Pandemie über das europäische Kulturerbe nachzudenken lohnt, zeigt ein kurzer Blick auf die Geschichte der Seuchenbekämpfung. Unsere kulturelle und städtebauliche Moderne sei wesentlich auch im Kampf gegen Epidemien entstanden, hieß es kürzlich im Feuilleton einer großen deutschen Wochenzeitung. Ob Cholera, Gelbfieber, Typhus oder Pest: Jede dieser Epidemien veränderte die Organisationsformen des Zusammenlebens und hinterließ Spuren auch im Erscheinungsbild der Städte. Die Erkenntnis beispielsweise, dass Cholera durch verunreinigtes Trinkwasser verbreitet wird, führte zum Verschwinden gemeinschaftlich geteilter Brunnen aus den Städten. Nicht nur Lehren aus dem Umgang mit Epidemien fanden städtebaulichen und kulturellen Niederschlag, sondern auch andere leidvolle Lernerfahrungen – insbesondere aus Kriegen und Konflikten, die über Jahrhunderte auf europäischem Boden ausgetragen wurden. Das bezeugen bis heute zahlreiche Meisterwerke der Kunst und Architektur, die zum europäischen Kulturerbe zählen. Sie tragen die Narben leidvoller Konflikte wie auch die Spuren bereichernden Austauschs zwischen Nationen und Kulturräumen, und sie vermitteln damit eindringlich, dass die Bürgerinnen und Bürger Europas einander über nationale Grenzen hinweg verbunden sind, ja dass die EU viel mehr ist als eine Freihandelszone. Gerade in Zeiten, in denen Krisen und Konflikte Europas Einheit bedrohen, kann die Vergegenwärtigung des gemeinsamen kulturellen Erbes Zusammenhalt stiften. Dafür stehen zahlreiche Beispiele bilateraler und multilaterale Zusammenarbeit im Kulturbereich. Dafür stehen die vielen erfolgreichen, zivilgesellschaftlichen Projekte des europäischen Kulturerbejahres 2018. Dafür steht das gemeinsame Konzert anlässlich des Übergangs der Ratspräsidentschaft von Kroatien auf Deutschland Anfang Juli – ein klangvolles Zeugnis der verbindenden Kraft unseres musikalischen Kulturerbes. Dafür steht aber auch die internationale Anteilnahme nach dem Brand der Kathedrale Notre-Dame, nach dem Hochwasser in Venedig, nach dem Erdbeben und dem Teileinsturz der Kathedrale in Zagreb, um drei prominente Beispiele der jüngeren Vergangenheit zu nennen. Notre-Dame ist nicht nur für Franzosen, der Markusplatz nicht nur für Italiener, die Altstadt Zagrebs nicht nur für Kroaten von hoher emotionaler Bedeutung. Es sind gemeinsame Bezugspunkte aller Europäer. Die Verantwortung dafür endet eben deshalb nicht an den jeweiligen Landesgrenzen. Angesichts der offensichtlich verbindenden Kraft kultureller Schätze geht deren Schutz uns alle an. Das kulturelle Erbe Europas stiftet Identität über Grenzen hinweg und verdient deshalb Solidarität über Grenzen hinweg. Die kroatische Ratspräsidentschaft hat mit ihren Ratsschlussfolgerungen zum Risikomanagement im Bereich des Kulturerbes einen wichtigen Schritt dafür getan. Nicht nur der Schutz des gemeinsamen kulturellen Erbes trägt dazu bei, die europäische Einheit in Vielfalt zu sichern und zu stärken. Für Verständigung – die Voraussetzung eines friedlichen Miteinanders in der Vielfalt unterschiedlicher Interessen, Lebensweisen, Traditionen und Weltanschauungen in einem geeinten Europa – spielen Kunst und Kultur eine wichtige Rolle. Kunst ist unverzichtbar in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen. Sie ist Quelle von Inspiration und Irritation, Reflexion und Innovation. Sie schafft Raum für Debatten. Darüber hinaus trägt der Kultur- und Kreativsektor an die vier Prozent zur Wirtschaftsleistung der Europäischen Union bei. Künstlerinnen und Künstler, Kultureinrichtungen und die kulturelle Infrastruktur in den europäischen Ländern verdienen aus diesen Gründen besondere Unterstützung – erst recht jetzt, da infolge der Covid-19-Pandemie in Gefahr ist, was über Jahre gehegt und gepflegt wurde. Die gemeinsame Erklärung der Kultur- und Medienminister Anfang Mai hat den Weg zu gemeinsamen europäischen Maßnahmen geebnet. Von unserer heutigen Zusammenkunft erhoffe ich mir einen gemeinsamen Impuls für einen kraftvollen Neustart des kulturellen Lebens in Europa. In Deutschland laufen gerade die Förderungen aus dem Rettungs- und Zukunftspaket NEUSTART KULTUR an, mit dem wir den Kulturbetrieb unseres Landes nach der pandemiebedingten Auszeit wiederbeleben und dauerhaft erhalten wollen. Für diesen „Neustart“ stehen aus dem Bundeskulturetat für dieses und das nächste Jahr insgesamt rund eine Milliarde Euro mehr für den Kulturbereich zur Verfügung – neben vielen hundert Millionen Euro aus den Bundesländern. Das Programm ist bewusst vor allen Dingen auf die Infrastruktur ausgerichtet, denn die Erhaltung der kulturellen Infrastruktur ist der Schlüssel, um Betriebsstätten, Arbeitsmöglichkeiten und damit Einkommen für Künstlerinnen und Künstler wie auch alle anderen im Kulturbereich Tätigen zu garantieren. In unserem Austausch gleich kann ich gerne die Details erläutern und bin gespannt, was Sie, liebe Amtskolleginnen und Amtskollegen, aus Ihren Ländern von den Corona-Krisenhilfen für den Kultur- und Kreativsektor berichten. Lassen Sie uns heute darüber nachdenken, wie wir unsere Kräfte auf europäischer Ebene noch besser als bisher bündeln und die existentiellen Nöte von Künstlerinnen, Künstlern und Kulturverantwortlichen lindern können – auch im Interesse Europas! Denn europäischer Zusammenhalt in Vielfalt braucht nicht nur die Kunst der Diplomatie, sondern auch die Diplomatie der Kunst. Ob Poesie, ob Malerei, ob Film oder Musik, Theater oder Tanz: Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren. Kunst kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Kunst kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Kunst kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht. Einheit in Vielfalt durch Verständigung: Das schafft Kultur, und das ist nicht das Ergebnis unseres wirtschaftlichen Wohlstandes; es ist vielmehr dessen Voraussetzung. „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“, lautet das Motto der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Dafür braucht Europa die verbindende Kraft der Kultur. Und dafür braucht die Kultur unsere Unterstützung. Ich bin froh, dass sich die Staats- und Regierungschefs – nach mehrtägigen Verhandlungen – bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt der deutschen Ratspräsidentschaft am 21. Juli auf einen Vorschlag zum Mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union verständigt haben. Bezieht man das Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“ mit ein, so handelt es sich um die historische Summe von 1,8 Billionen Euro. Mit dem Vorschlag ist eine wichtige Hürde für einen zügigen Abschluss des Gesamtpakets genommen. Dies ist auch für uns in der Kulturpolitik von Bedeutung. Denn wir können nun das Förderprogramm „Kreatives Europa“ zügig zu Ende verhandeln. Doch so wichtig es ist, schnell wieder in die Programmarbeit von „Kreatives Europa“ einzusteigen und hier ein Zeichen der Kontinuität zu setzen, so wenig eignet sich das Programm für den Wiederaufbau des hart getroffenen kulturellen und kreativen Sektors in Europa. Die Corona-Aufbauhilfen der EU müssen deshalb auch Künstlerinnen und Künstler, Kreative und Kultureinrichtungen zugutekommen! EU-Förderprogramme müssen generell stärker kulturpolitisch akzentuiert werden! Das sind zentrale kulturpolitische Anliegen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, über die wir sicherlich gleich noch ausführlicher diskutieren werden, und dabei hoffe ich auf Ihre Unterstützung, verehrte Amtskolleginnen und Amtskollegen! In der Kultur schlägt das Herz Europas. Wenn es uns gelingt, die Kräfte der Kunst und des gemeinsamen Kulturerbes im europäischen Schulterschluss neu zu mobilisieren, kann die Corona-Krise das Vertrauen in die Europäische Union und damit auch den europäischen Zusammenhalt stärken. Das erfordert nicht zuletzt die Bereitschaft der Europäer, im Umgang mit dieser Krise voneinander zu lernen. Dazu dient der heutige Austausch vor der Fahrt ins Humboldt Forum – im Moment noch eine der größten Kulturbaustellen Europas. Es soll schon bald als Museum der Weltkulturen und internationaler Diskursort seine Pforten öffnen. Zugegeben: Sie sind nicht die ersten ausländischen Gäste, die eine exklusive Vorschau bekommen. Der französischen Präsident Emmanuel Macron zum Beispiel war vor Ihnen auf der Baustelle, in Begleitung von Bundeskanzlerin Angela Merkel; auch damals, 2018, ging es um Europa. Sie sind aber vermutlich die einzigen Gäste, für die das Humboldt Forum so kurz vor der Fertigstellung seine Pforten öffnet. Ich weiß, dass dort gerade unter Hochdruck gearbeitet wird und im Endspurt zur Eröffnung jede Minute kostbar ist. Umso mehr freue ich mich, dass dieser Rundgang möglich ist. Das Humboldt Forum ist „Basislager für eine Weltreise“, so hat es Gründungsintendant Neil MacGregor einmal formuliert. Die außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die hier präsentiert werden, bieten in Verbindung mit der benachbarten Museumsinsel und deren Kulturschätzen aus Europa und dem Nahen Osten nicht nur einmalige Einblicke in das kulturelle Erbe der Menschheit. Sie offenbaren darüber hinaus, dass es ein „Wir“ auch jenseits kultureller und nationaler Grenzen gibt. So wird im Humboldt Forum sichtbar, was auch die Bedeutung der Kultur für Europa ausmacht: Kultur ist kein Luxus für gute Zeiten, keine bloße Liebhaberei für Schöngeister und Besserverdiener, sondern integrative Kraft in zunehmend pluralistischen – und zunehmend polarisierten – Gesellschaften. Kultur ist Modus gesellschaftlicher Selbstverständigung gerade dort, wo unterschiedliche Lebensvorstellungen und Weltanschauungen sich vermeintlich unversöhnlich gegenüberstehen. In diesem Sinne soll hier ein Ort der Verständigung mit internationaler Strahlkraft entstehen: ein lebendiger Ort möglichst breiter öffentlicher Debatten, ein Museum, das die Vielfalt der Gesellschaft nicht nur abbildet, sondern auch mitformt. Diesem Ruf macht das Humboldt Forum schon vor seiner Eröffnung alle Ehre, indem es notwendige Debatten anstößt und vorantreibt – zum Beispiel über die Frage des Umgangs mit Kunstschätzen aus außereuropäischen Kulturen. Die Kolonialzeit war lange ein blinder Fleck in unserer Erinnerungskultur, und viel zu lang war das in dieser Zeit geschehene Unrecht vergessen und verdrängt. Es endlich ans Licht zu holen, ist Voraussetzung für Versöhnung und Verständigung mit den Menschen in den ehemaligen Kolonien. Das Humboldt Forum steht dabei exemplarisch für den glaubwürdigen und sensiblen Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Was also erwartet Besucherinnen und Besucher künftig im Humboldt Forum? Hoffentlich die Erkenntnis, dass uns Menschen überall auf der Welt trotz aller Differenzen und Konflikte mehr verbindet als uns trennt! Damit wäre für Demokratie und Verständigung in Europa und in der Welt schon viel gewonnen. Ich bin gespannt auf Ihre Eindrücke, meine Damen und Herren. Wenn wir den Tag nachher mitten im Weltkulturerbe Museumsinsel ausklingen lassen, haben wir noch einmal Gelegenheit, darüber zu diskutieren.
„Der Kultur- und Kreativsektor braucht unsere konzertierte Unterstützung“ betonte Kulturstaatsministerin Grütters in ihrer Begrüßungsrede vor den europäischen Kulturministerinnen und Kultursministern zum Auftakt des Arbeitstreffens im Bundeskanzleramt.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der 20. Filmkunstmesse Leipzig
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-20-filmkunstmesse-leipzig-1790028
Wed, 16 Sep 2020 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Leipzig
Kulturstaatsministerin
Kultur
Gerade mal ein gutes halbes Jahr ist seit der Berlinale vergangen – und doch fühlt es sich an, als lebten wir in einem anderen Zeitalter. Die 70. Jubiläumsausgabe der Berlinale war das letzte Filmfestival, das vor dem Lockdown gerade noch so wie geplant stattfinden konnte – mit viel Glück ohne Corona-Infektionen. Hunderte Menschen Sessel an Sessel, vereint in der wundervollen Weltentrücktheit eines dunklen Kinosaals: Das wäre wenig später undenkbar gewesen. Und das ist es in dieser Form leider bis heute. Umso mehr freue ich mich, dass die 20. Jubiläumsausgabe der Filmkunstmesse Leipzig, unterstützt mit Mitteln aus meinem Kulturetat, live und mit Publikum stattfinden kann – als erste öffentliche Veranstaltung für die deutsche Kino- und Verleihbranche nach dem Lockdown. Im Corona-Jahr 2020 ist diese Woche im Zeichen der Filmkunst weit mehr als ein Fest für Cineasten und eine Feier der bundesweit bedeutendsten Messe für die Filmkunstkinos und –verleiher. Es ist ein Signal des Aufbruchs und der Hoffnung, dass es nach einem niederschmetternden Halbjahr nun allmählich wieder aufwärts geht. Dass der Bund hier in Leipzig aus meinem Etat (mit bis zu 10,5 Millionen Euro) den Bau eines künftigen Filmkunsthauses fördert, dürfen Sie getrost als ein weiteres Zeichen der Zuversicht und auch der Wertschätzung für die lebendige, regionale Kinokultur interpretieren, meine Damen und Herren. Die Begeisterung, die während eines Filmfestivals in der Luft liegt, die Neugier auf das Festivalprogramm und die Leidenschaft, mit der über Filme diskutiert wird, all das zeigt, dass das Kino als Gemeinschaftserlebnis Qualitäten hat, die man sich selbst mit dem neuesten 65-Zoll Bildschirm nicht nach Hause auf die Couch holen kann. Kino lässt uns zusammenrücken – wenn aktuell schon nicht physisch wegen Corona, so doch zumindest im Bewusstsein, im gemeinsamen Mitfühlen. Man teilt ein emotionales Erlebnis – auch später noch, wenn der Filmstoff Gesprächsstoff wird. Gerade in ländlichen Regionen mit wenig kulturellen Angeboten ist es das Kino, das Menschen aus ihren digitalen Filterblasen und Echokammern holt. Umso trauriger ist aktuell der Blick in dünn besetzte Kinosäle. Mir ist schmerzlich bewusst, dass die Kinobranche durch die Corona-Pandemie besonders hart getroffen wurde: zunächst durch die Schließung und jetzt durch die Abstandsregeln und Auflagen, die zu erheblichen Verlusten an den Kinokassen führen. Die wirtschaftliche Belastung ist nach wie vor enorm. Deshalb ist es wichtig, sehr differenziert darüber nachzudenken, wie man mit pragmatischen Konzepten das kulturelle Leben wieder ins Laufen bekommen kann. Das ist das Mindeste, was wir Künstlerinnen, Künstlern und der Kulturbranche insgesamt schuldig sind, und es ist notwendig, um zu retten, was wir über viele Jahre gehegt und gepflegt haben: die Vielfalt unserer Kulturlandschaft, die kulturelle Grundversorgung auch in ländlichen Regionen, zu der gerade die Kinos beitragen. Für die konkreten Bestimmungen, welche öffentlichen Räume unter welchen Bedingungen öffnen, tragen die Länder die Verantwortung. Das führt im Moment dazu, dass Deutschland neu ins Kino kommenden Filmen statt den roten Teppich einen Flickenteppich regional unterschiedlicher Auflagen ausrollt. Das muss sich ändern, damit deutschlandweite Filmstarts sich auch für die Verleiher lohnen und die Branche mittelfristig wieder auf die Beine kommt. Dafür werde ich mich bei den Gesprächen der Bundesregierung mit den Ländern weiterhin einsetzen. Um die Not kurzfristig zu lindern, haben wir eine ganze Reihe von Hilfsmaßnahmen für die Kinobranche beschlossen, die ich Ihnen zur Einstimmung auf die Diskussion über den „Neustart der Filmindustrie“ kurz vorstellen möchte: Zunächst einmal profitieren die Kinos wie alle kleinen und mittelständischen Unternehmen von den allgemeinen Wirtschaftshilfen der Bundesregierung: den Sofort- und Überbrückungshilfen des Bundeswirtschaftsministeriums, den Steuererleichterungen, den Liquiditätshilfen über die KfW– Kreditanstalt für Wiederaufbau, der Besserstellung im Insolvenzrecht und der Erleichterung der Kurzarbeit. Insbesondere mit Blick auf die Situation der Arthouse-Kinos habe ich im Mai einen einmaligen Sonderpreis in Höhe von fünf Millionen Euro an die Preisträger des BKM–Die Beauftrage der Bundesregierung für Kultur und Medien-Kinoprogrammpreises der letzten drei Jahre vergeben. Darüber hinaus sind auch im Rahmen des Konjunkturprogramm NEUSTART KULTUR – der so genannten Kulturmilliarde – Mittel in beträchtlicher Höhe für die Kinos eingeplant. Allein 165 Millionen Euro davon gehen als zusätzliche Hilfen an die Filmbranche – und davon wiederum bis zu 75 Millionen Euro in den Erhalt der Kinoinfrastruktur in Deutschland. Mit 5 Millionen Euro habe ich die Mittel für das Zukunftsprogramm Kino I auf 22 Millionen Euro für dieses Jahr aufgestockt. Außerdem haben wir die Förderbedingungen für dieses Programm deutlich erleichtert, um neben Modernisierungen auch pandemiebedingte Schutzmaßnahmen zu ermöglichen. Angesichts der großen Nachfrage planen wir für nächstes Jahr eine Fortsetzung dieses Investitionsprogramms. Im Zukunftsprogramm Kino II berücksichtigen wir mit 40 Millionen Euro Investitionszuschüssen auch die Kinos, die bisher noch keine Bundesförderung für pandemiebedingte Schutzmaßnahmen erhalten konnten. Zuschüsse gibt es beispielsweise für Online-Ticketing-Systeme, für die Modernisierung von Belüftungssystemen, für eine andere Besucherführung oder für die Sanierung von Sanitäranlagen. Mit weiteren 30 Millionen Euro wollen wir die Kinos in der Phase der Wiedereröffnung mit Zuschüssen zu laufenden Betriebskosten unterstützen – sozusagen ein Zukunftsprogramm Kino III. Dieses Programm soll im Oktober starten. Es sieht eine Förderung pro Kinostandort vor, nicht nach Unternehmen, und die Förderung soll möglichst komplementär zu den Hilfen des Bundeswirtschaftsministers und einzelner Länder greifen. Ich weiß, dass das für viele von Ihnen zwei besonderes wichtige Aspekte sind … … genauso wie die Stärkung der Verleihförderung: Mir ist bewusst, dass den Kinos derzeit noch die Filme fehlen, um wieder durchstarten zu können, und dass die Verleiher vielfach auch die hohen Vorkosten für einen Kinostart unter den aktuellen Unsicherheiten scheuen. Dies führt zu erschwerten Bedingungen bei der Verwertung von Kinofilmen und erhöht das finanzielle Risiko des Verleihs. Im Rahmen von NEUSTART KULTUR ist deshalb ein umfangreiches Maßnahmenpaket für den Verleih und Weltvertrieb von Kinofilmen in Deutschland vorgesehen. Dafür werde ich bis Ende 2021 insgesamt bis zu 15 Millionen Euro bereitstellen. Daraus wird die kulturelle Verleihförderung mit 4 Millionen Euro verstärkt. Die Anpassung der Kriterien für die kulturelle Verleihförderung, die dank des Aufwuchses möglich ist, greift diverse Punkte auf, die von den Verleiherverbänden schon seit Jahren gefordert werden, insbesondere eine substantielle Anhebung der Höchstfördersumme von 50.000 Euro auf 150.000 Euro. Diese Änderungen kommen gerade den kulturell anspruchsvollen deutschen Filmen, den Festivalerfolgen und Kritikerlieblingen, zu Gute, die im Kino leider allzu oft kaum sichtbar sind. 10 Millionen Euro werden im Rahmen der Auftragsverwaltung durch die FFA–Filmförderungsanstaltfür die Stärkung der wirtschaftlich orientierten Verleihförderung in Deutschland ausgereicht. Eine weitere Million kommt dem Vertrieb deutscher Filme im Ausland zugute. Damit weiterhin eine Filmförderung auf hohem Niveau möglich ist, habe ich außerdem die FFA–Filmförderungsanstalt – deren Einnahmen aus der Filmabgabe durch Kinoschließungen stark zurückgegangen sind – mit 19 Millionen Euro aus meinem Etat unterstützt. Eine starke FFA–Filmförderungsanstalt kommt der gesamten Branche zugute. Neben Kinos, Verleih und FFA–Filmförderungsanstalt wollen wir auch die Kinofilmproduktion beim Neustart unterstützen. Zwar kann inzwischen unter Einhaltung von Hygienekonzepten wieder gedreht werden. Allerdings bleibt das Risiko von Covid19-Infektionen am Set bestehen. Es droht die Unterbrechung oder schlimmstenfalls der Abbruch des Projekts. Klassische Ausfallversicherungen decken pandemiebedingte Schäden bisher nicht ab. Hier setzt der Ausfallfonds mit einem Volumen von 50 Millionen Euro an, der in der vergangenen Woche gestartet ist: Er ersetzt Schäden bei angemeldeten bundesgeförderten Produktionen infolge von Covid19-bedingten Produktionsstörungen. Einige Länder haben erfreulicherweise zugesagt, sich ebenfalls zu beteiligen. Mit dieser neuen Sicherheit können die Filmproduktionen ihre Arbeit wiederaufnehmen. Auch das stärkt die gesamte Branche. Wichtig ist, dass auch Länder und Sender nun ihrer Verantwortung gerecht werden und einen Ausfallfonds zugunsten von Fernsehproduktionen aufsetzen. Denn auch hier besteht ein entsprechender Bedarf, um die Vielfalt im Fernsehbereich und der dortigen Produktionslandschaft zu sichern. Soweit unsere Anstrengungen für den nationalen Neustart der Film- und Kinobranche. Mit Blick auf den internationalen Schwerpunkt dieses Panels will ich zum Schluss noch kurz auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft eingehen, die (nicht nur, aber auch) kulturpolitisch ganz im Zeichen des Corona-Krisenmanagements steht. Denn in der Kultur schlägt das Herz Europas, und gerade Filme fördern Verständnis und Verständigung: Voraussetzungen für ein friedliches Miteinander unterschiedlicher Interessen, Lebensweisen und Weltanschauungen, für Einheit in Vielfalt in Europa. Deshalb habe ich mich gemeinsam mit meinen französischen und italienischen Kollegen dafür stark gemacht, dass die Kultur und damit auch der Film und die Kinos vom Aufbauprogramm „Next Generation EU“ partizipieren können. Außerdem verhandeln die EU-Kommission, das Europäische Parlament und der Rat der EU gerade die Neuauflage des EU-Förderprogramms Kreatives Europa für die Jahre 2021 bis 2027, dessen Unterprogramm MEDIA längst eine wichtige Säule für filmische Projekte ist. Das Programm eröffnet viele Möglichkeiten, den europäischen Film zu stärken. Im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft treiben wir die Verhandlungen voran, um zügig Berechenbarkeit und Kontinuität für kreativen Projekte zu sichern. Über all diese Fördermaßnahmen auf nationaler und auf europäischer Ebene hinaus braucht die Branche aber natürlich vor allem eines: ein Publikum, das Filme auch in Zukunft als „großes Kino“ auf der Leinwand schätzt. Filmfestivals kultivieren und zelebrieren diese Wertschätzung, diese Liebe zum Kulturort Kino, und deshalb freut es mich ganz besonders, dass die Filmkunstmesse Leipzig auch und erst recht in diesem Jahr des „social distancing“ dazu einlädt, die verbindende, Grenzen überwindende Kraft der Filmkunst zu feiern, und Sie, die Verleiher und Kinobetreiber, hoffentlich ermutigt, in der Krise den Spielraum zu nutzen, den politische Fördermaßnahmen eröffnen. Darin will ich Sie mit einem Klassiker der Weltliteratur bestärken, der 1992 verfilmt wurde und in Deutschland während des Lockdowns vorübergehend ausverkauft war. Ich zitiere einen Dialog aus Albert Camus‘ „Die Pest“: Tarrou meinte (…), es sei doch besser, sich auf die baldige Öffnung der Tore und die Rückkehr zu einem normalen Leben einzustellen. ,Zugegeben‘, sagte Cottard, ,zugegeben, aber was heißt Rückkehr zu einem normalen Leben?‘ ,Neue Filme im Kino‘, antwortete Tarrou lächelnd. Neue Filme im Kino: Darauf lässt die Filmkunstmesse Leipzig hoffen, und in diesem Sinne wünsche ich der 20. Jubiläumsausgabe, dass sie Aufbruchsstimmung weckt und wieder Lust auf Kino macht. Herzlichen Glückwunsch Ihnen, lieber Herr Dr. Bräuer, und dem gesamten Festivalteam zu 20 erfolgreichen Jahren im Zeichen und im Dienste der Kinofilmkultur!
Im Corona-Jahr 2020 ist die Filmkunstmesse „weit mehr als ein Fest für Cineasten und eine Feier der bundesweit bedeutendsten Messe für die Filmkunstkinos und –verleiher. Es ist ein Signal des Aufbruchs und der Hoffnung“, so die Kulturstaatsministerin in ihrer Eröffnungsrede anlässlich der Jubiläumsausgabe.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Aby Warburgs Bilderatlas MNEMOSYNE“ im Haus der Kulturen der Welt in Berlin.
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-der-eroeffnung-der-ausstellung-aby-warburgs-bilderatlas-mnemosyne-im-haus-der-kulturen-der-welt-in-berlin–1787216
Thu, 03 Sep 2020 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Kultur
Aby Warburg formulierte einmal die Maxime „der liebe Gott steckt im Detail“. Wie recht er hat, erleben wir gerade alle, wenn es darum geht, Kultur in Zeiten der Corona-Pandemie unter Abstandsregeln und mit ausgefeilten Hygienekonzepten wieder neu zu ermöglichen. Dass die Ausstellung – zwar knapp fünf Monate später und mit deutlich weniger Gästen als geplant, immerhin live und mit Vernissage-Atmosphäre – heute ihre Pforten öffnen kann, freut mich vor diesem Hintergrund sehr. Gerade schwierige Zeiten wie diese erfordern, dass wir die gewohnten Pfade des Denkens und Handelns verlassen, dass wir nach neuen Ideen und Ansätzen suchen. Ein Lehrmeister dieser Kunst war Aby Warburg. Seine Bilderkästen visualisieren auf faszinierende Weise, wie neue Zu- und Anordnungen alte Gedanken aufbrechen, wie ungewöhnliche Kategorisierungen unglaubliche Verbindungen und Zusammenhänge hervorbringen. Mit seiner Methode, Bilder zu sammeln, zu gruppieren und zu kategorisieren, mit seinem Anspruch, Mythos, Ritual, Religion, Kunst, Ethos und Wissenschaft in Beziehung zueinander zu setzen, schuf Aby Warburg eine Art Mind-Map der Kulturgeschichte – und eine Inspirationsquelle für unser aller Phantasie. Welcher Ort wäre also geeigneter, um die Forschung Aby Warburgs zu präsentieren, als das HKW–Haus der Kulturen der Welt, das mit seinem Selbstverständnis als „Denkfabrik“ in vielerlei Hinsicht dem Ansatz dieses unkonventionellen Denkers folgt und mit ungewöhnlichen Konzepten immer wieder für Perspektivwechsel sorgt? Mit Ihrer Kompetenz, Wissenschaft, Kultur und Kunst miteinander zu verknüpfen, setzen auch Sie Maßstäbe und Trends, lieber Herr Professor Scherer, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des HKW–Haus der Kulturen der Welt. Ob mit dem „Anthropozän“-Projekt, der Ausstellung „Bauhaus Imaginista“ oder Ihrer „New Alphabet School“: in unterschiedlichen Formaten brechen Sie mit Sehgewohnheiten und hinterfragen gängige Einordnungen. Wie Warburg machen Sie übergreifende zeitliche und kulturelle Zusammenhänge sichtbar, beleuchten verbindende Muster und Strukturen und setzen damit markante Akzente für ein offenes Denken und gegen „grenzpolizeiliche Befangenheit“, um es mit Warburgs Worten zu sagen. Dass es Ihnen, lieber Herr Dr. Ohrt und lieber Herr Professor Heil, in Zusammenarbeit mit dem Londoner Warburg Institut nun gelungen ist, erstmals das gesamte unvollendete Hauptwerk Aby Warburgs mit dem originalen Bildmaterial hier in Berlin, im Haus der Kulturen der Welt, zu präsentieren, ist eine echte Sensation und begeistert nicht nur mich sehr. Denn Aby Warburg wirkt nicht nur wie ein Spiritus Rector dieses Hauses. Gerade jetzt ist er auch ein Botschafter des offenen, unvoreingenommenen Denkens, ein Botschafter für Diskurs und Verständigung. Denn er erforschte, was wir durch weltweite Vernetzung und Migration heute mehr denn je erleben: Dass Motive, Emotionen, Affekte und Gebärden uns über Zeiten und geographische Grenzen hinweg verbinden – dass sich Kunst, dass sich Kulturen in Wanderungsbewegungen, in stetigem Rückgriff auf das kollektive Bildergedächtnis und im lebendigen Austausch mit anderen Kulturen gegenseitig befruchten und entwickeln. Die Gemäldegalerie zeigt derzeit in schöner Ergänzung zu dieser Ausstellung Originale des Bilderatlas „Mnemosyne“. Auf einer Tafel bringt sie Aby Warburgs Botschaft mit folgenden Worten auf den Punkt: „Kultur ist eben nicht entweder „high“ oder „low“, sie ist nicht nördlich oder südlich, nicht westlich oder östlich – Kultur ist ein unteilbares Ganzes.“ Warburg stellt mit seinen Forschungen etablierte Denkschemata in Frage und weitet den Blick für das Verbindende der unterschiedlichen Kulturen und Epochen – eben für das „unteilbare Ganze“. Dessen Anerkennung und Wertschätzung zu verteidigen – insbesondere gegen jene, die in Abgrenzung zum Eigenen Vorurteile und Hass gegen das Andere, das vermeintlich Fremde schüren – bleibt Voraussetzung für Verständigung, für interkulturellen Dialog, und damit Aufgabe für die Zukunft. So kann man dem HKW–Haus der Kulturen der Welt nur wünschen, dass die Göttin Mnemosyne, die Göttin des Gedächtnisses und Namensgeberin des Warburgschen Bilderatlas, viele Besucherinnen und Besucher anzieht und dafür sorgt, dass ihnen Warburgs kulturgeschichtliche Mind-Map lange im Gedächtnis bleibt. In diesem Sinne: viel Erfolg für die Ausstellung und Ihnen allen viel Freude, Begeisterung und viele Entdeckungen bei Ihrem Rundgang.
Die Anerkennung und Wertschätzung für das Verbindende der unterschiedlichen Kulturen und Epochen zu verteidigen bleibt Voraussetzung für Verständigung, für interkulturellen Dialog und damit Aufgabe für die Zukunft, so die Kulturstaatsministerin in ihrer Rede zur Ausstellungseröffnung.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Eröffnung des 20. internationalen literaturfestivals berlin (ilb)
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-eroeffnung-des-20-internationalen-literaturfestivals-berlin-ilb–1787056
Wed, 09 Sep 2020 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Kultur
Ob im Lockdown mehr Weltliteratur als sonst geschrieben wurde, wird sich erst bei künftigen Ausgaben des internationalen literaturfestivals berlin zweifelsfrei feststellen lassen. Zu vermuten ist auf jeden Fall, dass im Lockdown mehr Weltliteratur als sonst gelesen wurde. In Berlin, wo die Buchläden durchgehend geöffnet bleiben durften, berichteten manche Buchhändler von einer Nachfrage wie sonst nur zur Vorweihnachtszeit, ja von regelrechten Hamsterkäufen. Und wer in Tolstois „Krieg und Frieden“, in Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ oder in Musils „Mann ohne Eigenschaften“ über die ersten 500 Seiten nie hinauskam, dürfte sich in den Wochen des Lockdowns gefragt haben: Wann, wenn nicht jetzt? Wann, wenn nicht jetzt: Mit dieser Haltung sind zum Glück auch Festivalleiter Ulrich Schreiber und sein Team ans Werk gegangen und haben sich (und uns!) zum 20. Jubiläum des ilb–internationalen literaturfestivals berlin ein erlesenes, beeindruckend weltläufiges Festivalprogramm gegönnt, dem man die pandemiebedingten Einschränkungen kaum ansieht (- …was man von den ausgedünnten Reihen hier im Kammermusiksaal der Philharmonie leider nicht behaupten kann …). Rund 150 Autorinnen und Autoren aus 50 Ländern sind vertreten, noch unbekannte Schriftstellerinnen und Schriftsteller genauso wie Literatinnen und Literaten von Weltrang, etwa die Literaturnobelpreisträger Olga Tokarczuk und Mario Vargas Llosa. In Lesungen und Workshops geht es um Themen, die aktuell die Welt bewegen – und zur Sache geht es erfreulich häufig live und mit Publikum. Nach Monaten kultureller Askese, in denen man Künstlerinnen und Künstler allenfalls auf dem Bildschirm zu sehen und zu hören bekam, tut es gut, durch so ein Festivalprogramm zu blättern! Für Ihr Engagement, für die Beharrlichkeit und Nervenstärke, die es dafür in Zeiten von Corona braucht, danke ich Ihnen herzlich, lieber Herr Schreiber, und natürlich auch Ihrem gesamten Team! Ich freue mich, dass wir Sie mit Fördermitteln aus meinem Kulturetat unterstützen können – ganz besonders in diesem schwierigen Jahr, in dem Lesestoff vielleicht noch mehr als sonst Seelennahrung war und ist. Denn auch wenn die Zeit der geschlossenen Grenzen und der strikten Kontaktbeschränkungen zum Glück vorbei ist, sind die Möglichkeiten des Entkommens aus der Enge der eigenen Lebenswelt nach wie vor begrenzt: nicht nur, weil aus beliebten Reisezielen Risikogebiete wurden, sondern auch, weil mit Theatern, Kinos, Konzerthäusern und anderen Kulturorten ausgerechnet die Sehnsuchts- und Zufluchtsorte des Alltagslebens besonders hart getroffen sind: Orte, die das zutiefst menschliche Bedürfnis nach Austausch und Gemeinschaft stillen – und den Wunsch, die Grenzen der eigenen, kleinen Welt zu überwinden. In den vergangenen Monaten dürfte vielen schmerzlich bewusst geworden sein, wie sehr sie uns fehlen. Uneinnehmbare Bastion ist und bleibt dagegen das Buch – ein Kulturerlebnis, das garantiert keinen Reisebeschränkungen und Abstandsregeln unterliegt. Glücklich, wer in den unendlichen Weiten der Literatur zu reisen weiß; glücklich, wer lesend mit fremden Menschen sehen, denken und fühlen kann: sei es mit einer Fotografin, die den Spanischen Bürgerkrieg dokumentiert – wie in Helena Janeczeks Roman „Das Mädchen mit der Leica“; sei es mit einem Islamisten, der sich, eingeschlossen ins Museum, mit Erotik und Nacktheit auseinandersetzen muss – wie in Kamel Daouds literarischem Essay „Meine Nacht im Picasso-Museum“; sei es mit einer Mittzwanzigerin, der ein Tinder-Chat mit einem Fernsehpromi aus ihrer Lebenskrise hilft – wie in Moa Romanovas Graphic Novel „Identikid“; sei es mit einem Jungen, der nach Wegen sucht, mit seinem autistischen Bruder zu leben – wie in Katya Balens Kinderbuch „Mein Bruder und ich und das ganze Universum“; sei es mit zwei jungen Männern, die ihre Heimat Albanien in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft verlassen – wie in Pajtim Statovcis Roman „Grenzgänge“. Das, meine Damen und Herren, sind nur einige wenige Beispiele aus dem Jubiläumsprogramm des ilb–internationalen literaturfestivals berlin, die dazu einladen, gerade in diesem Jahr des „social distancing“ die verbindende, Grenzen überwindende Kraft der Literatur zu feiern. Dass dieses Festival zu einem großen Teil analog stattfinden kann, ist ein Hoffnungsschimmer für jeden Kulturliebhaber mit Entzugserscheinungen, aber auch und vor allem für die vielen Künstlerinnen und Künstler, die auf Live-Auftritte vor Publikum angewiesen sind. Das Konjunkturpaket NEUSTART KULTUR der Bundesregierung – die so genannte Kulturmilliarde zur Wiederbelebung der kulturellen Infrastruktur – kann ihre Not nur lindern, aber natürlich nicht alle Probleme lösen. Umso wichtiger ist es, sehr differenziert darüber nachzudenken, wie man mit pragmatischen Konzepten das Bühnengeschehen wieder ins Laufen bekommen kann. Das ist das Mindeste, was wir den Künstlerinnen und Künstler schuldig sind! Dazu muss man sich die Mühe individueller Einzelfallbetrachtungen machen: Jede Veranstaltung, jeder Raum muss speziell auf seine Möglichkeiten geprüft werden, Infektionsschutz und Kulturgenuss miteinander zu vereinbaren. Pauschal sehr restriktiv vorzugehen und sich vor dieser aufwändigen Arbeit zu drücken, wird weder dem Kulturbetrieb in seiner Vielfalt noch den existentiellen Nöten der Kultureinrichtungen und der Künstlerinnen und Künstler gerecht. Die Wiederbelebung des kulturellen Lebens verdient dieselben Anstrengungen, die auch anderen Branchen zuteilwerden! Denn Kunst ist keine Delikatesse für Feinschmecker, sondern Brot für alle. Künstlerinnen und Künstler sind die Botschafter des Möglichen in der Wirklichkeit. Als treibende Kräfte gesellschaftlicher Selbstreflexion sind sie für eine Demokratie ebenso überlebensnotwendig wie für jeden einzelnen als Inspiration für Träume und für die Suche nach Antworten auf existentielle Fragen des Menschseins. Mögliches sichtbar zu machen und Wirklichkeit veränderbar zu zeigen, gehört zu den Kernkompetenzen nicht zuletzt von Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Im Bann eines Buchs erfahren wir, dass alles anders sein könnte als wir es wahrnehmen. Und manchmal spüren wir mitfühlend und mitfiebernd die Sehnsucht nach einer besseren Welt, nach einem anderen Leben. „Die Fiktion“, so hat es Mario Vargas Llosa 2010 in seiner Nobelvorlesung formuliert, „ist mehr als Unterhaltung, mehr als eine geistige Übung, die Sensibilität und kritischen Geist schärft. Sie ist eine unerlässliche Notwendigkeit für das Fortbestehen der Zivilisation, für ihre Erneuerung, zur Bewahrung der besten Seiten des Menschlichen.“ Dafür braucht die Literatur nicht nur Leserinnen und Leser, die bereit sind, aus ihrer Lebenswirklichkeit herauszutreten und sich einzulassen auf die Weltferne des Fiktionalen; dafür braucht sie auch Raum – und Räume – in unserer Gesellschaft. In diesem Sinne rollt das internationale literaturfestival berlin der Welt der Literatur und der Literatur der Welt in Berlin seit zwei Jahrzehnten den roten Teppich aus. Dafür bin ich dankbar! Ich gratuliere herzlich zum 20. Jubiläum und wünsche allen Literaturliebhabern in den nächsten zehn Tagen viel Freude beim Lauschen, beim Schmökern und beim literarischen Reisen durch die Welt!
„Das Jubiläumsprogramm des ilb–internationalen literaturfestivals berlin lädt dazu ein, die verbindende, Grenzen überwindende Kraft der Literatur zu feiern“, freute sich Monika Grütters anlässlich der Eröffnung des Festivals. „Dass das Festival zu einem großen Teil analog stattfindet, ist ein Hoffnungsschimmer für jeden Kulturliebhaber mit Entzugserscheinungen, aber auch und vor allem für die vielen Künstlerinnen und Künstler, die auf Live-Auftritte vor Publikum angewiesen sind“, betonte sie in ihrer Rede.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich des Festakts zum 70. Jubiläum des Zentralrats der Juden in Deutschland am 15. September 2020
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-anlaesslich-des-festakts-zum-70-jubilaeum-des-zentralrats-der-juden-in-deutschland-am-15-september-2020-1786986
Tue, 15 Sep 2020 11:45:00 +0200
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Präsident Schuster, sehr geehrter Herr Joffe, sehr geehrte Herren Präsidenten des Deutschen Bundestags und Bundesrats, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, sehr geehrter Herr Bundespräsident Köhler, sehr geehrter Herr Bundeskanzler Schröder, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett und dem Bundestag, Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herren, Charlotte Knobloch schrieb vor wenigen Wochen in einem Namensartikel: „Als am 19. Juli 1950 Vertreter des jüdischen Lebens aus ganz Deutschland zusammenkamen, um gemeinsam einen neuen ‚Zentralrat’ zu gründen, da schien es unvorstellbar, dass es noch 70 Jahre später einmal Gratulationen zum Jubiläum geben würde.“ Doch genau dazu sind wir heute hier zusammengekommen. 70 Jahre Zentralrat der Juden in Deutschland ‑ zu diesem Jubiläum gratuliere ich deshalb, auch im Namen der Bundesregierung, von ganzem Herzen. Mit diesem stolzen Jubiläum konnte im Gründungsjahr 1950 tatsächlich niemand rechnen. Denn viele derer, die den von Deutschland begangenen Zivilisationsbruch der Shoa mit knapper Not überlebt hatten, konnten sich keine Zukunft in Deutschland vorstellen ‑ in dem Land, das mit dem Zivilisationsbruch der Shoa unendliches Leid über sie und ihre Lieben gebracht hatte. Der Zentralrat sollte ihnen daher bei der Auswanderung aus Deutschland helfen und war als Provisorium gedacht. Umso glücklicher dürfen wir uns schätzen, dass es anders kam und aus dem anfänglichen Provisorium seit nunmehr sieben Jahrzehnten eine fest verankerte Institution und bedeutende Stimme in unserem Land geworden ist. Vertreten haben diese bedeutende Stimme seit 1950 insgesamt acht Vorsitzende bzw. Präsidenten: Heinz Galinski, Herbert Lewin, Werner Nachmann, Ignatz Bubis, Paul Spiegel, Charlotte Knobloch, Dieter Graumann; und seit 2014 führen Sie, lieber Herr Präsident Schuster, den Zentralrat der Juden im siebten Jahrzehnt seines Bestehens. Aber noch einmal ‑ es kann gar nicht oft genug gesagt werden ‑: 70 Jahre Zentralrat der Juden in Deutschland waren alles andere als selbstverständlich. Vor 70 Jahren erschien es völlig abwegig, darauf zu hoffen, dass Juden in Deutschland einen Neuanfang wagen und hier wieder ein Zuhause finden könnten. Möglich wurde das ausschließlich mit dem von Ihnen, sehr geehrter Herr Präsident Schuster, angesprochenen „riesigen Vertrauensvorschuss“. Ich bewundere die Kraft, die jüdische Menschen in Deutschland nach dem Ende der Shoa für genau diesen „riesigen Vertrauensvorschuss“ aufbrachten, mit dem sie Deutschland die Chance gaben, ein Zuhause für sie zu werden. Es hätte wahrlich auch anders kommen können. Dieser Ort hier, an dem wir heute sind, zeugt von dem unwiederbringlichen Verlust durch den Zivilisationsbruch der Shoa ‑ für das Judentum, für unser Land und für Europa. Wo heute nur einige Säulen an den Toraschrein erinnern, stand einst das größte jüdische Gotteshaus Deutschlands. Die Synagoge Oranienburger Straße war nicht nur ein religiöser, sondern auch ein kultureller und geistiger Mittelpunkt Berlins. Albert Einstein etwa trat hier in einem Konzert 1930 als Violinist auf. Doch zugleich zeugt dieser Ort davon, wie im Bewusstsein der immerwährenden Verantwortung Deutschlands für das im Nationalsozialismus begangene Menschheitsverbrechen eine gute Zukunft gestaltet werden kann. So konnte auch jüdisches Leben in Deutschland wieder wachsen und blühen; und so konnte auch die Jüdische Gemeinde Berlin mit dem Centrum Judaicum hier im Herzen der Bundeshauptstadt wieder ein Mittelpunkt jüdischen Lebens werden. Heute ist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland die drittgrößte in Europa. Rabbiner ‑ und inzwischen auch Rabbinerinnen ‑ werden hierzulande ausgebildet und ordiniert. Neue Synagogen, jüdische Kindergärten und Schulen sind entstanden. Weitere folgen. Es wird in der Bundeswehr auch eine jüdische Militärseelsorge geben. Angesichts all dessen kann ich Präsident Schuster nur zustimmen, dass die jüdische Gemeinschaft stolz darauf sein kann, was sie im Vertrauen auf sich selbst und im Vertrauen in unser Land aufgebaut und geleistet hat ‑ sowohl in den ersten 40 Jahren des Bestehens des Zentralrats in der alten Bundesrepublik Deutschland als auch in den darauf folgenden 30 Jahren nach dem Ende des Kalten Kriegs und der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990. Auch diese welthistorische Umwälzung vor 30 Jahren wurde ‑ nach einer friedlichen Revolution in der DDR und dem Fall der Berliner Mauer ‑ am Ende nur möglich, weil unserem Land einmal mehr das zugesprochen wurde, was Sie, Herr Präsident Schuster, schon für die Gründung des Zentralrats der Juden als maßgebend herausgestellt haben: Vertrauen. Geschenkt wurde es uns Deutschen von unseren Nachbarn und Partnern in Europa und Amerika, schließlich verankert im 2+4-Vertrag. Mit dem Ende des Kalten Kriegs veränderte sich auch für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland viel. Mit den Jüdinnen und Juden, die aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen, wuchsen die jüdischen Gemeinden hierzulande stark an. So kam die Integration der Zuwanderer als neue und große Aufgabe zu den bisherigen Aufgaben für den Zentralrat hinzu. Diese Integration der Zuwanderer können wir ‑ bei allen Schwierigkeiten, die es natürlich auch gab ‑ heute doch als gelungen erachten. Das ist nur ein Grund von vielen, warum der Zentralrat seit seiner Gründung ein wichtiger Partner jeder Bundesregierung ist. In besonderer Weise zeigt sich dies im Staatsvertrag von 2003, der unser gemeinsames Verständnis dokumentiert, dass jüdisches Leben ein konstitutiver Teil Deutschlands ist. Das geht weit über die Pflege jüdischen Lebens und Kulturguts hinaus und ist für unser aller Zusammenleben in unserem Land von unschätzbarer Bedeutung. Heinz Galinski war überzeugt: „Demokratie kann man keiner Gesellschaft aufzwingen, sie ist auch kein Geschenk, das man ein für allemal in Besitz nehmen kann. Sie muss täglich neu erkämpft und verteidigt werden.“ Genau das tut auch der Zentralrat – zum Beispiel, indem er Juden, Christen, Muslime und Atheisten zusammenbringt und so den Zusammenhalt unserer freien, pluralen, demokratischen Gesellschaft stärkt. Jüdische Bürgerinnen und Bürger haben unserer Gesellschaft über Jahrhunderte hinweg vieles gegeben und sie mitgeprägt. 2021 feiern wir 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Ich freue mich sehr auf dieses Jubiläum und hoffe, dass viele Menschen in unserem Land mit Freude an diesem Festjahr teilhaben werden. Ja, meine Damen und Herren, wir dürfen uns über ein blühendes jüdisches Leben freuen. Doch das ist nur ein Teil der heutigen Lebenswirklichkeit. Dass sich viele Jüdinnen und Juden in unserem Land nicht sicher und nicht respektiert fühlen, das ist der andere Teil der heutigen Lebenswirklichkeit – und er macht mir große Sorgen. Es ist eine Schande und beschämt mich zutiefst, wie sich Rassismus und Antisemitismus in unserem Land in diesen Zeiten äußern. Es stimmt: Rassismus und Antisemitismus waren nie verschwunden. Doch seit geraumer Zeit treten sie sichtbarer und enthemmter auf. Beleidigungen, Drohungen oder Verschwörungstheorien richten sich offen gegen jüdische Bürgerinnen und Bürger. In den sozialen Medien triefen viele Äußerungen geradezu vor Hass und Hetze. Dazu dürfen wir niemals schweigen. Wir wissen, wie schnell Worte zu Taten werden können, wie allein der Anschlag auf die Synagoge in Halle an Jom Kippur im letzten Jahr in besonders schrecklicher Weise gezeigt hat. Antisemitismus ist ein Angriff auf Menschen, ein Angriff auf die Menschlichkeit, auf das Menschsein an sich, richtet er sich doch gegen die Würde des einzelnen Menschen. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit muss entschieden bekämpft werden. Erziehung, Bildung und Wissensvermittlung, die Bereitschaft und Fähigkeit zum Dialog zu fördern ‑ das ist und bleibt die wichtigste Vorbeugung dagegen; es ist und bleibt die wichtigste Vorbeugung gegen Vorurteile, Rassismus und Antisemitismus. Doch wo Bildung und Aufklärung nicht ausreichen, da ist der Rechtsstaat mit der ganzen Konsequenz unseres Strafrechts gefordert. Auch das muss ganz klar sein. Es ist deshalb wichtig, dass wir unmittelbar nach dem Anschlag von Halle neue und umfassende Maßnahmen zur Bekämpfung von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus eingeleitet haben. Es ist wichtig, dass wir jüdische Gemeinden dabei unterstützen, die Sicherheit ihrer Einrichtungen zu verbessern. Es ist wichtig, dass Betreiber sozialer Netzwerke dem Bundeskriminalamt rechtswidrige Inhalte melden müssen. Natürlich setzen wir auch weiter und verstärkt auf Prävention. Das ist auch einer der vielen Schwerpunkte der Arbeit des Beauftragten für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, und auch des im März eingesetzten Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus. Meine Damen und Herren, bei alldem wünsche ich mir, dass wir uns für das nächste Jahrzehnt eine Hoffnung von Paul Spiegel zu eigen machen, die er 2005 in seiner Rede zur Erinnerung an die Pogromnacht im November 1938 mit den folgenden Worten zum Ausdruck brachte: „ […] dass sich die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft immer wieder dankbar bewusst macht, wie viel Glück den Deutschen in den vergangenen 60 Jahren zuteilwurde. Diese Dankbarkeit ist die beste Grundlage für die Bereitschaft, die Erinnerung an das Unfassbare wachzuhalten; aber auch für ein von Toleranz und Weltoffenheit geprägtes gesellschaftliches Miteinander.“ Dieser Satz ist von zeitloser Gültigkeit und Bedeutung ‑ nicht nur als politische Daueraufgabe, sondern als gesellschaftliche Querschnittsaufgabe. Dabei ist der Zentralrat der Juden in Deutschland kritischer Wächter und Mahner, kompetenter Anwalt jüdischer Anliegen und verlässlicher Partner in Politik und Gesellschaft. Ich möchte es in einem Satz zusammenfassen: Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat sich in den sieben Jahrzehnten seines Bestehens um unser Land verdient gemacht ‑ für die jüdischen Gemeinden und für ein gutes Miteinander aller Menschen in Deutschland. Dafür danke ich Ihnen von Herzen. Zugleich verbinde ich meinen Dank mit dem Wunsch einer weiterhin vertrauensvollen Zusammenarbeit. Herzlichen Glückwunsch zu 70 Jahren Zentralrat der Juden in Deutschland, alles erdenklich Gute für das nächste Jahrzehnt und herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der Eröffnung des Musikfestes Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-der-eroeffnung-des-musikfestes-berlin-1780454
Tue, 25 Aug 2020 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Kultur
Zugegeben, es fällt mir schwer, mich an diesen Anblick zu gewöhnen: Dünn besetzte Reihen passen weder zu meinem liebsten Konzertsaal, noch zu zwei Weltstars, die nicht nur in Deutschland die größten Konzerthäuser füllen, zu Ludwig van Beethoven und Igor Levit. Aber ich bin dankbar und freue mich sehr, dass dieses Konzert, dass das Musikfest Berlin überhaupt stattfinden kann (wenn auch mit geändertem Programm) und Musikgenuss sich nicht länger auf Hauskonzerte beschränken muss. Für viele (auch für mich) wird der Begriff des „Hauskonzerts“ weit über das Jahr 2020 hinaus mit einem ganz bestimmten Bild verbunden bleiben: mit dem Bild eines Flügels in einem Berliner Altbau und einem barfüßigen Igor Levit. Von März bis Mai täglich um 19 Uhr waren Hunderttausende über ihre Bildschirme zu Gast bei ihm zuhause. Leger gekleidet, mal barfuß, mal in Socken, empfing er Musikhungrige online zu einem halbstündigen Klavierkonzert. Wie Igor Levit haben viele Künstlerinnen und Künstler und auch zahlreiche Kultureinrichtungen die häusliche Isolation im Lockdown erträglicher gemacht. Wohl nie zuvor bot das Internet Kulturgenuss in dieser Bandbreite und Qualität – vom Livestreamkonzert über Lesungen aus dem heimischen Wohnzimmer bis hin zum virtuellen Theaterabend. Über das analoge Stammpublikum hinaus dürfte dabei auch so mancher Online-Zufallsbesucher auf den Geschmack gekommen sein. Kunst jedenfalls erwies sich für viele Menschen einmal mehr als unverzichtbare Seelennahrung. Diese Wertschätzung wird sich, davon bin ich überzeugt, nach der Coronakrise für Künstlerinnen und Künstler auszahlen. Der Hunger nach Kultur im öffentlichen Raum wird größer sein als je zuvor. Denn viele haben erlebt, dass Kultur als Bildschirmerlebnis das Gemeinschaftserlebnis nicht ersetzen kann. Die Resonanz ist eben doch eine andere im öffentlichen Raum. Als Zuhörer und Zuschauer lauscht man konzentrierter, und mag die heimische Couch auch noch so bequem sein: Beglückender ist es, Emotionen mit anderen zu teilen. Nicht nur deshalb sind Ideen und Konzepte gefragt, die die Wiederaufnahme des Kulturbetriebs unter Beachtung des Infektionsschutzes ermöglichen. Dass gemeinsamer Kulturgenuss auch unter den geltenden Beschränkungen möglich ist, zeigt das Musikfest Berlin und sendet damit ein wichtiges Signal der Hoffnung. Durch die Zusammenarbeit der „Berliner Festspiele on demand“ mit der „Digital Concert Hall“ der Berliner Philharmoniker ist es sogar möglich, 15 Veranstaltungen dieses Festivals zeitversetzt für jeweils 72 Stunden im Internet bereitzustellen. So wird aus der Not eine Tugend! Die digitale Ergänzung ist nicht nur eine zusätzliche Bühne für die Gegenwartsmusik. Sie ist auch ein Gruß an die internationale Musikwelt, mit dem wir zeigen, dass in Berlin das Musikleben wieder neu beginnt. Für den Neubeginn nicht nur des Musiklebens, sondern des kulturellen Lebens insgesamt habe ich das Programm NEUSTART auf den Weg gebracht. Insgesamt eine Milliarde Euro zusätzlich stehen in meinem Haushalt bereit, um die kulturelle Infrastruktur unseres Landes nach der pandemiebedingten Auszeit wieder zu beleben – und das bedeutet: Betriebsstätten, Arbeitsmöglichkeit und Einkommen für Künstlerinnen und Künstler wie auch für vieler andere im Kulturbereich Tätige zu sichern. Das größte Konjunkturprogramm für die Kultur in der Geschichte der Bundesrepublik offenbart den hohen Stellenwert, den die Bundesregierung der Kultur beimisst. Wir wollen unser Möglichstes dafür tun, die zerstörerischen Wirkungen der Coronakrise zu lindern und schöpferische Kräfte zu mobilisieren – in der Überzeugung, dass Kunst überlebensnotwendig ist für unsere Demokratie und dass wir der Kunst wie auch der Kultur- und Kreativwirtschaft jene Inspiration und jene Irritationen verdanken, aus denen Innovationen entstehen. Dafür gibt es im Deutschen einen klangvollen Begriff: „Zukunftsmusik“ nennen wir, was gegenwärtig nicht verwirklicht werden kann, was aber zumindest als Möglichkeit verheißungsvoll anklingt. Konzertsäle, Opern, Musikclubs, Theater und andere Kulturorte holen uns heraus aus dem Alltag, hinein in eine Welt der Möglichkeiten. Kunstwerke und Kulturorte schaffen Raum für Utopien – allein schon dadurch, dass sie Menschen über alle Grenzen hinweg verbinden. Wer könnte dies eindrucksvoller bezeugen als Ludwig van Beethoven! „,Alle Menschen werden Brüder‘ – das ist keine romantische Verklärung, sondern ein andauernder Arbeitsauftrag an uns alle“: So hat es Igor Levit einmal formuliert. Ja, mit seiner Weltverbesserungsleidenschaft und seinem Humanisierungs-anspruch liegt Beethoven uns bis heute in den Ohren – im wahrsten Sinne des Wortes. Im aktuellen Jubiläumsjahr zur Ehrung seines 250. Geburtstages, dessen Programm die Bundesregierung aus meinem Kulturetat maßgeblich finanziert, mussten leider viele hochkarätige Veranstaltungen und großartige Projekte coronabedingt ausfallen. Deshalb haben wir gemeinsam mit unseren Partnern entschieden, das Jubiläum einfach zu verlängern und all jenen, die sich mit Beethovens Werk auseinandergesetzt haben, die Möglichkeit zu geben, ihren künstlerischen Beitrag zum Jubiläumsjahr doch noch auf die Bühne zu bringen. Darunter ist beispielsweise die Neukomposition von Heiner Goebbels, die im Rahmen dieses Musikfestes zur Uraufführung kommen sollte. Das heutige Konzert mit Igor Levit, ebenfalls ein Jubiläumsprojekt, kann zum Glück wie geplant stattfinden. Und ich bin sicher: Auch wenn Igor Levit die Abstandsregeln einhält, wird er uns unmittelbar und tief berühren mit seiner – und mit Beethovens – Kunst. Freuen wir uns also auf ein Konzert in der Philharmonie, wie wir es lange vermisst haben! Ich wünsche Ihnen allen einen genussvollen Abend!
Das Musikfest Berlin zeige, dass gemeinsamer Kulturgenuss auch unter den geltenden Beschränkungen möglich sei, und sende damit ein wichtiges Signal der Hoffnung, unterstrich die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien in ihrer Eröffnungsrede.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der Verleihung des Deutsch-Italienischen Übersetzerpreises
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-der-verleihung-des-deutsch-italienischen-uebersetzerpreises-1780032
Tue, 23 Jun 2020 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Europa,Kultur
Der italienische Künstler Hannes Eggert – sein Name verrät die Herkunft aus Südtirol – ist bekannt für seine Installationen, die das Publikum miteinbeziehen. Zu Beginn der Corona-Pandemie brachte ihn die viele Zeit, die er sich plötzlich in seiner Küche aufhielt, auf die Idee zu seiner „Kitchen Performance“. Während der 6-minütigen Audio-Performance gibt eine Stimme ihren Zuhörerinnen und Zuhörern Anweisungen: Man soll sich einen Kaffee machen; während dieser kocht, soll man allerhand Küchengegenstände und Lebensmittel auf einen Tisch legen und anschließend an andere Orte umräumen – den Flaschenöffner etwa dorthin, wo das Geschirrhandtuch war, das Küchenmesser dorthin, wo der Reis stand und so weiter. Am Ende, wenn alles umgeräumt ist, darf der Kaffee genossen werden und die Stimme stellt fest: „and everything has its order again.“ Die Audio-Performance ist eine Einladung, in den eigenen vier Wänden selbst zur Performancekünstlerin, zum Performancekünstler zu werden. So verarbeitet Hannes Egger den Ausnahmezustand, die weltweit herrschende „Unordnung“ mit den Mitteln der Kunst. Trotz dieser Unordnung, trotz des nach wie vor bestehenden Ausnahmezustandes findet heute – mit einigen Einschränkungen – die Verleihung des Deutsch-Italienischen Übersetzerpreises statt. Das freut mich sehr. Denn der Preis, den wir in diesem Jahr zum zwölften Mal vergeben, würdigt Übersetzungen – würdigt Ihre Arbeit, verehrte Preisträgerinnen – als eigenständige künstlerische Leistung, und das hochverdient! Anders als in der eben erwähnten Audio-Performance, in der Zuhörerinnen und Zuhörer selbst zu Künstlerinnen und Künstlern werden können, allein indem sie Anweisungen befolgen, geben die gedruckten Worte, die Sie bei Ihrer Arbeit vor sich haben, ja keine klaren, eindeutigen Anweisungen. Ein Werk aus einer Sprache in eine andere zu übersetzen, heißt, mit Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit umgehen zu müssen und dabei sowohl dem Inhalt treu zu bleiben, aber gleichzeitig auch seinem ästhetischen Anspruch gerecht zu werden. Dafür braucht es mehr als das souveräne Beherrschen der Grammatik und einen großen Wortschatz. Dafür braucht es literarisches Talent, sprachliches Feingefühl und schöpferische Kraft, dafür braucht es Empathie und Fantasie – und dazu viel Hintergrundwissen über beide Sprachwelten. Sie haben in all diesen Disziplinen herausragende Meisterschaft bewiesen, liebe Frau von Koskull, liebe Frau Hausmann, liebe Frau Köhler. Für Ihre künstlerischen Leistungen verleihen wir Ihnen deshalb den deutsch-italienischen Übersetzerpreis ( – der in diesem Jahr eigentlich Übersetzerinnenpreis heißen müsste!). Den Jury-Mitgliedern, die für die Auswahl der Besten unter rund 70 Bewerbern viel Zeit und Energie investiert haben, danke ich für ihr großes und kenntnisreiches Engagement. Herzlichen Dank auch Ihnen, verehrter Herr Botschafter, dass Sie den deutsch-italienischen Kulturvermittlern in der italienischen Botschaft heute einmal mehr eine Bühne bieten. Auch Bücher, auch literarische Werke sind Botschafter, die – übersetzt in die Sprache anderer Länder – Verständnis und Verständigung fördern und auf diese Weise Verbindungen stärken. Wie bitter nötig das ist, erleben wir gerade angesichts der Corona-Pandemie, die auch zur Belastungsprobe für Europa wurde. Viele Menschen in Deutschland – auch mich – hat es tief erschüttert, wie verheerend Italien von der Pandemie getroffen wurde. Und doch dominierten zunächst Angst und Verunsicherung, bevor Solidarität Niederschlag in konkreten Hilfsmaßnahmen fand. Ich hoffe, verehrter Herr Minister Franceschini, dass die Kulturfreundschaft zwischen unseren Ländern sich in dieser Zeit als stabiles Fundament guter deutsch-italienischer Beziehungen erweist. In keinem anderen Land der Welt unterhält Deutschland mehr Kultureinrichtungen – man könnte fast von einer „institutionalisierten Italiensehnsucht“ sprechen. Auch der deutsch-italienische Übersetzerpreis stärkt die Verbundenheit zwischen Deutschland und Italien. Selbst wenn, so wie in den vergangenen Wochen, nationale Grenzen geschlossen sind, können wir literarisch sehr wohl in andere Länder reisen – auch dank der begnadeten Vermittlerinnen und Vermittler, die sprachliche Grenzen überwinden. „Everything has its order again“: Davon kann im Moment dennoch keine Rede sein – um den Schlusssatz aus der Performance von Hannes Eggert noch einmal aufzugreifen. Es ist noch ein langer Weg aus der Krise, die auch für die Literatur folgenschwer ist: Viele Lesungen und literarische Veranstaltungen werden nach wie vor abgesagt, viele Autorinnen und Autoren stehen vor existenziellen Problemen. Doch so mancher Buchhändler berichtet auch, dass jetzt mehr Menschen mehr Bücher kaufen, denn lesen zumindest kann man auch für sich allein. Und ganz gewiss gehört die Literatur zu jenen Künsten, die über Trost und Ablenkung hinaus auch neue Perspektiven auf die Wirklichkeit versprechen. Ich hoffe sehr, dass Sie als Übersetzerinnen weiterhin mit Freude und Erfolg dazu beitragen, liebe Frau Hausmann, liebe Frau Köhler, liebe Frau von Koskull. Herzlichen Glückwunsch zum deutsch-italienischen Übersetzerpreis!
Anlässlich der diesjährigen Preisverleihung betonte die Staatsministerin die Bedeutung des Preises für die Verbundenheit beider Länder. Denn „selbst wenn nationale Grenzen geschlossen sind, können wir literarisch sehr wohl in andere Länder reisen – auch dank der begnadeten Vermittlerinnen und Vermittler, die sprachliche Grenzen überwinden“.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Eröffnung der neuen Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-eroeffnung-der-neuen-dauerausstellung-des-juedischen-museums-berlin-1779992
Tue, 18 Aug 2020 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
„Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“: Diese sehenswerte Ausstellung im Deutschen Historischen Museum war für mich die erste, die ich nach dem pandemiebedingten Lockdown im Mai besucht habe, aber sie ist mir nicht nur deshalb in besonderer Erinnerung geblieben. Ich erinnere mich an viele bewegende Original-Dokumente, darunter eine redaktionelle Vorbemerkung zu Hannah Arendts Essay „Organisierte Schuld“, erschienen kurz nach Kriegsende in der Zeitschrift „Die Wandlung“. In dieser Vorbemerkung wird Hannah Arendt mit einer Erklärung zitiert, warum sie nicht einfach nach Deutschland zurückkommen könne. „Mir scheint“, schrieb sie, „keiner von uns kann zurückkommen (…), nur weil man nun wieder bereit scheint, Juden als Deutsche oder sonst was anzuerkennen; sondern nur, wenn wir als Juden willkommen sind.“ Dass jüdische Menschen sich in Deutschland als Juden willkommen fühlen, ist traurigerweise bis heute keine Selbstverständlichkeit – ja, angesichts antisemitischer Hetzparolen und Übergriffe scheint es manchmal gar illusorisch. Und doch tragen viele Kultureinrichtungen dazu bei, jüdischen Menschen diese Wertschätzung zu vermitteln: das Gefühl, als Juden willkommen zu sein – nicht zuletzt das Jüdische Museum Berlin, das von 1.700 Jahren deutsch-jüdischer Geschichte und von der Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland erzählt. Es schärft das Bewusstsein für den Reichtum jüdischer Kultur und Tradition. Es offenbart, was Deutschland jüdischen Dichtern und Denkern, Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen und Unternehmern verdankt. Und es dokumentiert die erschütternde Allgegenwart antisemitischer Ausgrenzung und Gewalt über die Jahrhunderte bis heute. Ich bin froh und dankbar, dass wir heute Abend trotz der im Moment schwierigen Bedingungen die neue Dauerausstellung eröffnen können, die wir mit zusätzlichen Sondermitteln aus meinem Kulturetat in Höhe von rund 19 Millionen Euro unterstützt haben: als Signal des Aufbruchs für das Jüdische Museum nach einer schwierigen Zeit und auch als Ausdruck der Wertschätzung jüdischen Lebens in Deutschland. Dem Ausstellungsteam ist es gelungen, auf sehr eindringliche Weise von der deutsch-jüdischen Vergangenheit und Gegenwart zu erzählen. Im historischen Rundgang offenbart sich das kulturelle Vermächtnis des Judentums ebenso wie die traurige Tradition des Antisemitismus und der Zivilisationsbruch des Holocaust. Kunst- und Medieninstallationen machen jüdisches Leben und Wirken sinnlich und emotional erfahrbar. Ich bin sicher, Sie werden begeistert sein, meine Damen und Herren, wenn Sie sich nachher bei einem ersten Rundgang selbst ein Bild machen. Mich hat ganz besonders die Videoinstallation „Mesubin“ – auf deutsch: „Die Versammelten“ – am Schluss beeindruckt, eine vielstimmige Collage zur Frage, was Jüdischsein heute bedeutet, und damit eine ebenso eindrucksvolle wie berührende Illustration der Vielfalt, die antisemitische Ressentiments als lebensfern und weltfremd entlarvt. Wegen der notwendigen Infektionsschutzmaßnahmen werden diese Ausstellung im Moment noch nicht so viele Besucherinnen und Besucher sehen können, wie sie es zweifellos verdient hätte. Doch es ist schon ein Erfolg, dass wir sie jetzt zeigen können. Für die zusätzlichen finanziellen Belastungen, die das Museum wegen der Pandemie stemmen muss, gibt es Unterstützungsmöglichkeiten aus den Corona-Hilfsprogrammen meines Hauses. Und so hoffe ich, dass wir in nicht allzu ferner Zukunft auch das wunderbare Kindermuseum ANOHA eröffnen können, das baulich fertig ist, aber pandemiebedingt noch im Dornröschenschlaf liegt. Die unglaublich liebevoll und phantasievoll gestalteten Tiere, die da in der Arche Noah versammelt sind, werden nicht nur Kinder begeistern, da bin ich sicher. Auch in der neuen Dauerausstellung des JMB–Jüdischen Museums Berlin wurden viel Kreativität und Sorgfalt darauf verwendet, jüngere Menschen anzusprechen. Die Ausstellung ermöglicht Interaktion nicht nur; sie verführt geradezu, selbst aktiv zu werden und die Geschichte und Gegenwart des Judentums zu entdecken. Damit kann das Jüdische Museum Berlin seine Stärken als außerschulischer Lernort optimal entfalten. Entsprechend sind auch die Ticketpreise geplant: Der Eintritt in die Dauerausstellung wird für alle Besucherinnen und Besucher unter 18 Jahren frei sein. Das ist wichtig, denn gerade sie müssen wir erreichen, wenn wir dafür Sorge tragen wollen, dass die Saat antisemitischer Hetze in Deutschland nie wieder auf fruchtbaren Boden fällt – wenn wir dafür Sorge tragen wollen, dass jüdische Menschen sich als Jüdinnen und Juden in Deutschland willkommen fühlen. Ganz besonders herzlich willkommen heißen darf ich heute Sie als neue Direktorin des JMB, liebe Frau Berg, nachdem dazu bisher coronabedingt keine offizielle Gelegenheit war. „Jüdin zu sein, ist keine Qualifikation“, haben Sie in einem Interview zu Ihrer Berufung gesagt, und natürlich ist es Ihre ausgewiesene Expertise, die den Stiftungsrat dazu bewogen hat, die Geschicke des JMB–Jüdischen Museums Berlin in Ihre Hände zu legen. Doch es freut mich sehr, dass wir mit Ihnen nicht nur eine hervorragend qualifizierte Kuratorin und Kulturhistorikerin für den vielleicht anspruchsvollsten Posten in der deutschen Museumslandschaft gewinnen konnten, sondern auch eine Frau, die ihre persönlichen Erfahrungen als Jüdin mit in die Erzählung der Geschichte und Gegenwart des Judentums einbringen kann. Ich danke Ihnen und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für das Engagement und die Beharrlichkeit, mit der Sie in den vergangenen Monaten trotz aller pandemiebedingten Widrigkeiten alles dafür getan haben, um das Jüdische Museum mit der neuen Dauerausstellung als Ort des Dialogs zu stärken. Ein herzliches Dankeschön verdienen in diesem Zusammenhang auch Michael Blumenthal, der noch in seiner Amtszeit als Direktor den Anstoß dafür gegeben und sich auch später stets für die Ausstellung engagiert hat, Peter Schäfer, der die Ausstellung in seiner Amtszeit maßgeblich mit vorbereitet und sein schier unerschöpfliches Wissen als Judaist eingebracht hat, Cilly Kugelmann, die als Programmdirektorin und Chefkuratorin von der Konzeption bis zur Fertigstellung prägende und treibende Kraft war, und das Ausstellungsteam, das viel Sachverstand, Sensibilität und Engagement in dieses Projekt gesteckt hat. Es ist ihr gemeinsamer Verdienst, dass das Jüdische Museum mehr ist als ein Kulturtempel für Bildungsbürger oder ein dem Alltag entrückter Elfenbeinturm der Wissenschaft – dass das Jüdische Museum ein Haus ist, das zum Nachdenken und zum Gespräch einlädt, das Verstehen und Verständigung ermöglicht. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie wichtig dieses Haus ist, musste man in den vergangenen Wochen nur die Zeitungen aufschlagen. Innenpolitisch sorgte der Prozess gegen den Attentäter von Halle für Schlagzeilen – der Beginn der juristischen Aufarbeitung eines der schwersten antisemitischen Anschläge der deutschen Nachkriegsgeschichte. Außenpolitisch war die Sorge angesichts der israelischen Annexionspläne im Westjordanland und einer erneut drohenden Eskalation des Nahostkonflikts ein beherrschendes Thema in den Medien. Und in den Feuilletons hört und liest man seit geraumer Zeit immer wieder neue Beiträge zu einer hitzig geführten Debatte über Israelkritik und Antisemitismus, die sich vor Monaten am Werk des südafrikanischen Philosophen Achille Mbembe entzündet hat. Das sind Beispiele, die zeigen, wie wichtig eine fundierte und differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte und Gegenwart des Judentums gerade hierzulande ist. Die Balance zu finden zwischen dem Anspruch, einerseits ein politisches Haus, ein Ort der Diskussions- und auch der Streitkultur zu sein, und sich andererseits gegen jede Form der politischen Vereinnahmung abzugrenzen, bleibt enorm schwierig – zumal in einer Zeit, in der die Schärfe der politischen Auseinandersetzungen und die Polarisierung im öffentlichen Diskurs zunehmen. Gleichzeitig stehen wir in Deutschland angesichts einer zunehmenden Zahl antisemitischer Übergriffe vor der Herausforderung, das Gift des Antisemitismus mit wirksameren Gegenmitteln zu bekämpfen. Im neuen Kabinettsauschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus bündeln wir dafür in der Bundesregierung ressortübergreifend unsere Maßnahmen. Für alle gesellschaftlichen Bereiche soll es neue Ideen geben. Auch in der Arbeit meines Hauses werde ich diese politische Zielsetzung stärken und habe eigens dafür eine neue Stelle im Leitungsstab geschaffen. Bei dieser Gelegenheit will ich noch kurz eine weitere wichtige Neubesetzung erwähnen, die seit heute Nachmittag feststeht. Es freut mich, dass es uns gelungen ist, für die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz – eine weitere wichtige Institution zur Vermittlung jüdischer Geschichte – eine international renommierte Expertin österreich-israelischer Herkunft als neue Direktorin zu gewinnen. Frau Deborah Hartmann leitet seit 2015 die deutschsprachige Bildungsabteilung von Yad Vashem in Jerusalem. Sie bringt neben einem innovativen Vermittlungsansatz auch langjährige Erfahrungen und Kontakte zu vielen Akteuren und Bildungseinrichtungen in Deutschland mit und wird ganz gewiss nicht zuletzt im Diskurs über den gesellschaftlichen Umgang mit Antisemitismus neue Akzente setzen. Ich bin zuversichtlich, meine Damen und Herren, dass auch die neue Dauerausstellung des JMB–Jüdischen Museums Berlin den Raum für differenzierte Debatten erweitert, die unsere Gesellschaft so dringend braucht. Und ich hoffe sehr, dass es darüber hinaus eines deutlich vermittelt: Jüdische Menschen werden in Deutschland als Jüdinnen und Juden mehr als nur respektiert. Sie sind als Jüdinnen und Juden willkommen und geschätzt; sie sind mit ihrem Glauben und ihrer Kultur Teil dieser, unserer Gesellschaft. Dafür wünsche ich Ihnen, liebe Frau Berg, und Ihrem Team viel Erfolg, gute Ideen und eine glückliche Hand – und dem Jüdischen Museum Berlin zahlreiche Besucherinnen und Besucher.
Die neue Dauerausstellung, betonte die Kulturstaatsministerin, stehe als Ausdruck der Wertschätzung jüdischen Lebens in Deutschland und als Signal des Aufbruchs für das Jüdische Museum nach einer schwierigen Zeit.
Rede von Staatsministerin Monika Grütters zum Auftakt der digitalen Konferenzserie zur EU-Medienpolitik
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-monika-gruetters-zum-auftakt-der-digitalen-konferenzserie-zur-eu-medienpolitik-1767524
Tue, 07 Jul 2020 16:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Kultur,Digitalisierung,Europa,EU2020 Medien
Sie „schuf eine neue und wundervolle Welt und zur gleichen Zeit eine neue Hölle. (…) Sie gab der Wahrheit Flügel und der Unwahrheit ein doppeltes Flügelpaar. (…) Sie wurde Begründer und Beschützer menschlicher Freiheit, und doch ermöglichte sie Despotismus, wo er zuvor nicht möglich war.“ Nein, die Rede ist nicht von der Digitalisierung. Die Rede ist hier von der Erfindung des Buchdrucks. Es war der Schriftsteller Mark Twain, der Fluch und Segen dieser Innovation so eindringlich beschrieb. Heute wie damals gilt: Die Medienrevolution hat zwei Gesichter. Jene vor gut 500 Jahren hat demokratischen Errungenschaften den Weg geebnet. Jene des 21. Jahrhunderts hat der Demokratie neuen Schwung gegeben. Doch gleichzeitig stehen wir vor der Herausforderung, demokratische Werte verteidigen zu müssen. Wie sichern wir mediale Vielfalt und Qualitätsjournalismus? Wie schützen wir die Meinungsfreiheit? Wie gehen wir gegen Hassrede, Cybermobbing und Desinformation vor? Wie können wir die Betreiber digitaler Plattformen, die neue Spielfelder mit veränderten Spielregeln eröffnen, dafür stärker mit in die Verantwortung nehmen? Um diese und andere Fragen wird es im Rahmen der Konferenzserie zur EU-Medienpolitik gehen. Die deutsche Ratspräsidentschaft will damit Impulse für eine zukunftsweisende medienpolitische Agenda auf europäischer Ebene geben. Denn offensichtlich fordert die Digitalisierung nicht nur etablierte Geschäftsmodelle heraus, sondern auch unsere Demokratie. Deren Kern ist der vermittelnde Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen und Weltanschauungen. Digitale Plattformen, wo immer mehr Menschen sich heute bevorzugt informieren und austauschen, können zweifellos gut recherchierte Inhalte verbreiten und Verständigung fördern. Sie können aber auch Polarisierung und Desinformation begünstigen. Hier müssen wir gegensteuern. Dazu sollen auf Ebene der Mitgliedsstaaten und auf europäischer Ebene Vorschläge erarbeitet werden. Sie sollen in Ratsschlussfolgerungen einfließen, die professionellen Journalismus und vielfältige, qualitativ hochwertige Inhalte fördern und besser zugänglich und auffindbar machen. Ich hoffe, dass es uns gelingt, gemeinsam mit den Mitgliedstaaten Grundlagen für eine künftige Medienordnung auf europäischer Ebene zu entwickeln. Denn Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Medienvielfalt sind die wirksamsten Waffen im Kampf gegen Desinformation und Despotismus – und damit Stützen der Demokratie. Das gilt nicht nur, aber ganz besonders in Krisenzeiten. Die Corona-Pandemie führt uns gerade sehr deutlich vor Augen, welch verheerende Folgen Falschinformationen oder Ignoranz haben können. Einmal mehr sehen wir aber auch, wie wichtig es für eine demokratische Debattenkultur ist, unterschiedliche Positionen und Perspektiven zu Wort kommen zu lassen. Ich bin allen Journalistinnen, Journalisten und Medienverantwortlichen dankbar, die europaweit unter erschwerten Bedingungen gerade einen hervorragenden Job machen und alles dafür tun, ihrer Verantwortung gerecht zu werden! Wenn es gelingt, auch digitale Plattformen noch mehr als bisher für eine demokratische Debattenkultur, als Forum des Austauschs und der Verständigung zu nutzen, bieten gerade sie für die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit und für das weitere Zusammenwachsen Europas enormes Potential. Die Digitalisierung verleiht der Wahrheit Flügel – und der Unwahrheit gleich ein doppeltes Flügelpaar. Sie schenkt uns mehr Freiheit, und doch ermöglicht sie auch Despotismus in zuvor unvorstellbarem Ausmaß. Vielfalt und Verantwortung der Medien in der digitalen Gesellschaft – sie lassen Kräfte gedeihen, die der Wahrheit, der Verständigung und damit auch der Demokratie zugute kommen. In diesem Sinne freue ich mich auf inspirierende und fruchtbare medienpolitische Diskussionen im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft.
Zum Auftakt der digitalen Medienkonferenzserie „Vielfalt und Verantwortung. Medien in der digitalen Gesellschaft“ im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft betonte Kultur- und Medienstaatsministerin Grütters den Wert von Pressefreiheit und Medienvielfalt als Stützen der Demokratie, gerade in Krisenzeiten.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 vor dem Europäischen Parlament am 8. Juli 2020 in Brüssel
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-deutschen-eu-ratspraesidentschaft-2020-vor-dem-europaeischen-parlament-am-8-juli-2020-in-bruessel-1767368
Wed, 08 Jul 2020 14:10:00 +0200
Brüssel
keine Themen
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Frau Kommissionspräsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament, meine Damen und Herren, es ist mir eine Freude, zu Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vor dem Plenum des Europäischen Parlaments zu sprechen. Wie die meisten von Ihnen habe auch ich die direkten Begegnungen mit Menschen, die Gespräche von Angesicht zu Angesicht, vermisst. Für mich ist dies nun die erste Auslandsreise nach Ausbruch der Pandemie; und sie führt mich bewusst und mit ganzer Überzeugung zu Ihnen, ins Herz der europäischen Demokratie. In diesen Zeiten, in denen die Europäische Union diese Krise gestärkt bestehen will, braucht es das Europäische Parlament. Die Aufgaben vor uns sind gewaltig; und sie verlangen gewaltige Anstrengungen. Sie brauchen eine parlamentarische Auseinandersetzung, sie brauchen politische Vermittlung, sie brauchen kulturelle Übersetzungen in die verschiedenen Länder und Regionen. Und dafür braucht es Sie. Daher ist es mir eine besondere Ehre, Ihnen heute die Schwerpunkte der deutschen Ratspräsidentschaft vorzustellen. Mir sind fünf Themen in dieser Zeit besonders wichtig: unsere Grundrechte, der Zusammenhalt, der Klimaschutz, die Digitalisierung und Europas Verantwortung in der Welt. Diese fünf Themen sind wichtig, weil wir Europa nachhaltig wandeln müssen, wenn wir Europa schützen und bewahren wollen. Nur dann wird Europa auch in einer sich rasant verändernden globalen Ordnung souverän und verantwortungsvoll seine eigene Rolle einnehmen können. Uns allen ist bewusst, dass mein heutiger Besuch vor dem Hintergrund der größten Bewährungsprobe in der Geschichte der Europäischen Union stattfindet. Die weltweite Coronavirus-Pandemie hat auch in Europa Menschen hart und unerbittlich getroffen. Wir haben über hunderttausend Tote allein in Europa zu beklagen. Viele Bürgerinnen und Bürger konnten von ihren geliebten Menschen aufgrund der strengen Quarantäneregeln nicht einmal Abschied in der letzten Stunde nehmen. Das darf nicht vergessen werden bei allem Einsatz für den Neuanfang, bei allem Engagement für die ökonomische Erholung: die Trauer um die Toten, der Schmerz über die unmöglichen Abschiede. Das wird uns noch lange begleiten. Unsere Wirtschaft wurde und wird europaweit schwer erschüttert. Millionen Beschäftigte haben ihren Arbeitsplatz verloren. Zusätzlich zu den Sorgen um ihre Gesundheit und die Gesundheit ihrer Familien ist bei vielen Bürgerinnen und Bürgern so auch noch die Angst um ihre wirtschaftliche Existenz dazugekommen. Sie alle brauchen jetzt unsere gemeinsame Unterstützung. Um die Infektionsketten zu durchbrechen, mussten vorübergehend die elementarsten Grundrechte eingeschränkt werden. Das war ein sehr hoher Preis, denn für diese Grundrechte haben Generationen in Europa hart gerungen. Menschen- und Bürgerrechte sind das wertvollste Gut, das wir in Europa haben. Sie dürfen nur aus sehr gewichtigen Gründen und nur sehr kurzfristig eingeschränkt werden. Eine Pandemie darf nie Vorwand sein, um demokratische Prinzipien auszuhebeln. Jedes Land Europas erinnert sich anders an die eigenen historischen Umbrüche, an die unterschiedlichen Kämpfe für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Und zugleich eint uns genau diese Errungenschaft der Grundrechte in Europa. Für mich, die ich 35 Jahre meines Lebens in einem System der Unfreiheit gelebt habe, war die Einschränkung dieser Rechte in der Pandemie eine Entscheidung, die mir unendlich schwergefallen ist. In dieser historischen Phase übernimmt nun Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Diese Aufgabe erfüllt mich mit Respekt, aber auch mit großer Leidenschaft. Denn ich glaube an Europa. Ich bin überzeugt von Europa – nicht nur als Erbe der Vergangenheit, sondern als Hoffnung und Vision für die Zukunft. Europa ist nicht nur etwas, das uns übergeben wurde, etwas Schicksalhaftes, das uns verpflichtet, sondern Europa ist etwas Lebendiges, das wir gestalten und verändern können. Europa nimmt uns keine Handlungsmöglichkeiten, sondern in einer globalisierten Welt gibt Europa uns erst welche. Nicht ohne, sondern nur mit Europa können wir unsere Überzeugungen und Freiheiten erhalten. Dafür brauchen wir eben mehr denn je die Orientierung an den Grundrechten, zugleich mehr denn je die wechselseitige Unterstützung und den gemeinschaftlichen Zusammenhalt. Europa wird nur dann Europa bleiben, wenn es auf dieser Grundlage innovative Antworten auf die Herausforderungen des Klimawandels und der Digitalisierung gibt und sich seiner Verantwortung in der Welt stellt. Das sind die großen Aufgaben, aber ich bin zuversichtlich. Denken Sie an das, was Europa schon an Prüfungen und Konflikten bestanden hat. Denken Sie etwa an die gescheiterte Verfassung für Europa vor 15 Jahren oder an die Wirtschafts- und Finanzkrisen, über die wir hart gestritten haben. Oder denken Sie an die Flüchtlingsbewegungen vor fünf Jahren. Das war nie leicht. Das hat immer auch zu Verletzungen geführt. Aber auch die bittersten Krisen haben geholfen, die Nöte und Bedürfnisse des jeweils anderen besser zu verstehen. Wir haben miteinander gelernt. Europa hat all diese Krisen überstanden, weil am Ende allen bewusst war, was unverzichtbar ist: die Grundrechte und der Zusammenhalt. Die Menschen- und die Bürgerrechte, die Unantastbarkeit der menschlichen Würde, die Freiheit zur individuellen persönlichen, politischen und gesellschaftlichen Entfaltung, der Schutz vor Diskriminierung und Missachtung, nicht zuletzt die Gleichberechtigung – die nicht nur behauptete, sondern realisierte Gleichberechtigung –: sie bilden das ethisch-politische Fundament, auf dem Europa ruht. Das sind die Rechte, die für alle gelten. Sie gelten nicht für die einen mehr und die anderen weniger. Sie gelten nicht für die einen immer und für die anderen nur manchmal. Sie gelten. Das ist das Versprechen Europas, das wir garantieren müssen: dass die Bürgerinnen und Bürger wirklich frei darin sein dürfen, ihren religiösen Glauben, ihre kulturellen oder politischen Überzeugungen zu leben, dass sie ihren jeweiligen Vorstellungen vom Glück oder dem guten Leben anhängen dürfen. Die Demokratie, auch die europäische Demokratie, lebt von der öffentlichen, kritischen Debatte. Eine Demokratie, in der oppositionelle Stimmen unerwünscht sind, eine Demokratie, in der soziale oder kulturelle und religiöse Vielfalt unerwünscht ist, ist keine. Die Pandemie hat uns allen nur zu deutlich vor Augen geführt, wie kostbar die Grundrechte sind, wie elementar die Freiheiten sind, die sie garantieren. Über den Schutz dieser Grundrechte wachen in der Europäischen Union starke Institutionen: die Europäische Kommission, der Europäische Gerichtshof und das Europäische Parlament. Die Grundrechte sind das erste, was mir in dieser Ratspräsidentschaft am Herzen liegt. Gestützt und ergänzt werden muss das durch das zweite Prinzip, das Europa ausmacht: unseren Zusammenhalt. Denn Europa wird nur gestärkt aus dieser Krise hervorgehen, wenn wir bereit sind – bei allen Differenzen –, gemeinsame Lösungen zu finden, und wenn wir bereit sind, die Welt auch mit den Augen des anderen zu betrachten und Verständnis für die andere Perspektive zu zeigen. Europa wird nach der Krise stärker werden als zuvor, wenn wir den Gemeinsinn stärken. Allein kommt niemand durch diese Krise. Wir alle sind verwundbar. Europäische Solidarität ist nicht einfach nur eine humane Geste, sondern eine nachhaltige Investition. Europäischer Zusammenhalt ist nicht nur etwas, das politisch geboten ist, sondern etwas, das sich lohnen wird. Das ist auch das Leitmotiv unserer Ratspräsidentschaft: „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ Dieser Aufgabe werde ich mich gemeinsam mit der Bundesregierung mit aller Leidenschaft widmen. Aber dafür brauche ich Sie. Um diesen Gemeinsinn in der EU zu schützen, braucht es das Parlament. Denn Sie sind die Vermittler des gegenseitigen Verständnisses, das wir brauchen, um Kompromisse zu erreichen. Sie vertreten fast 450 Millionen Bürgerinnen und Bürger in 27 Staaten. Sie sind die Übersetzer der europäischen Prinzipien. Sie erläutern den Menschen Europa und vermitteln so zwischen Brüssel, Straßburg und Ihren Heimatregionen. Sie kommunizieren nicht nur in 24 Sprachen, sondern Sie leben mit dieser Vielfalt der Perspektiven und Erfahrungen. Wer, wenn nicht Sie, könnte den Menschen in Europa die Haltung anderer Mitgliedstaaten erklären? Deswegen bitte ich Sie als Mittler und Vermittler des Zusammenhalts um Ihre Unterstützung in dieser schwierigen Zeit. Helfen Sie uns, das wechselseitige Verständnis füreinander zu vertiefen. Helfen Sie uns, Europas Zusammenhalt zu stärken. Die höchste Priorität der deutschen Ratspräsidentschaft ist es, dass Europa geeint und gestärkt aus der Krise kommt. Aber wir wollen Europa nicht nur kurzfristig stabilisieren – das wäre zu wenig. Wir wollen auch ein Europa, das Hoffnung macht. Wir wollen ein Europa, das sich selbstbewusst und mutig den Aufgaben der Gegenwart stellt. Wir wollen ein Europa, das zukunftsfähig ist, das innovativ und nachhaltig seinen Platz in der Welt behauptet. Wir wollen einen Aufbruch für Europa. Dieser Überzeugung folgt auch die deutsch-französische Initiative von Mitte Mai. Gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron habe ich einen europäischen Aufbaufonds in Höhe von 500 Milliarden Euro vorgeschlagen. Ich freue mich, dass die Europäische Kommission viele Aspekte dieser deutsch-französischen Initiative in ihrem Vorschlag zum Mehrjährigen Finanzrahmen und zum Aufbauprogramm berücksichtigt. Auf dieser Grundlage wird derzeit im Europäischen Rat unter Leitung von Charles Michel diskutiert. Unser gemeinsames Ziel ist es, möglichst rasch eine Einigung zu finden. Denn die Tiefe des wirtschaftlichen Einbruchs mahnt uns zur Eile. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Darunter würden nur die Schwächsten leiden. Ich hoffe sehr, dass wir noch in diesem Sommer zu einer Übereinkunft gelangen können. Das wird noch viel Kompromissbereitschaft von allen Seiten erfordern – auch von Ihnen. Die Lage ist außergewöhnlich, ja, einmalig in der Geschichte der Europäischen Union. Deswegen ist Deutschland auch für die außergewöhnliche und einmalige Kraftanstrengung in einer Größenordnung von 500 Milliarden Euro eingetreten. Jetzt wird es darauf ankommen, dass wir uns auch europäisch einig werden. Ich bin davon überzeugt, dass die soziale Dimension ebenso entscheidend ist wie die wirtschaftliche. Ein sozial und wirtschaftlich gerechtes Europa ist für den demokratischen Zusammenhalt entscheidend. Es ist das beste Rezept gegen all jene, die unsere Demokratien schwächen und unsere Gemeinsamkeiten infrage stellen wollen. Auch aus diesem Grund werden wir in unserer Ratspräsidentschaft unser Augenmerk ganz besonders auch auf junge Menschen und Kinder richten. Sie sind Europas Zukunft und von der Krise besonders stark betroffen. Daher wollen wir unter anderem mit einer europäischen Jugendarbeitsagenda ihre Entwicklung fördern und sie mit einer gestärkten Jugendgarantie auf den Weg in ihr Berufsleben aktiv unterstützen. Wir dürfen nicht naiv sein. In vielen Mitgliedstaaten warten die Europagegner nur darauf, die Krise für ihre Zwecke zu missbrauchen. All jenen müssen wir jetzt zeigen, wo der Mehrwert der Zusammenarbeit in der Europäischen Union liegt. Wir müssen zeigen, dass die Rückkehr zum Nationalismus nicht mehr, sondern weniger Kontrolle bedeutet und dass uns nur gemeinsames Handeln als Europa schützt und stärkt. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass die besonders von der Krise betroffenen Regionen und vor allem die Menschen, die dort leben, auf unsere Solidarität zählen können. Es liegt in unserem ureigenen Interesse. Aber gleichzeitig heißt das im Ergebnis immer auch, dass die Kraftanstrengung, die jetzt zum Wohle aller notwendig ist, nicht einseitig die wirtschaftlich starken Mitgliedstaaten über Gebühr belasten darf, sondern dass jeder von uns gefordert ist, sich in die Lage des anderen zu versetzen. Also bedenken Sie auch, was die einzelnen Mitgliedstaaten leisten können und was nicht – wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch. Bei all dem bitte ich Sie als europäische Abgeordnete heute um Ihre Unterstützung. Ich bin davon überzeugt, dass jeder in dieser Krise zur außergewöhnlichen Solidarität bereit ist. Deutschland ist es. Die Bewältigung der Pandemie und ihrer Folgen wird unsere Ratspräsidentschaft prägen. Zugleich müssen wir immer auch die weiterhin bestehenden anderen großen Herausforderungen unserer Zeit im Blick haben. Das sind die Themen drei, vier und fünf, auf die es für Europa ankommen wird. Zunächst: der Klimawandel. Vor etwa einem halben Jahr hat die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in diesem Haus ihr Klimaschutzprogramm vorgestellt. Sie hat eindringliche Worte an Sie gerichtet und betont, dass Europa jetzt handeln müsse, wenn unser Planet lebensfähig bleiben wolle. Auch ich bin davon überzeugt, dass eine globale Lösung des Klimawandels nur dann möglich ist, wenn Europa eine Vorreiterrolle beim Klimaschutz einnimmt. Die Strategie für einen grünen Deal der Europäischen Kommission ist daher für uns eine wichtige Leitlinie. Mit ihrer engen Begleitung im Verlauf unserer Ratspräsidentschaft wollen wir den Wandel hin zu einer kohlenstoffneutralen Wirtschaft und Gesellschaft und zu einer grünen Wirtschaft mit starken und innovativen Unternehmen schaffen – einer Wirtschaft, die die natürlichen Lebensgrundlagen und die Wettbewerbsfähigkeit Europas für die kommenden Generationen schützt und stärkt. Dabei ist mir wichtig, dass wir Europas Klimaneutralität bis 2050 rechtlich festschreiben. Deswegen begrüße ich die Überlegungen der Europäischen Kommission, als Zwischenschritt die Emissionen bis zum Jahr 2030 auf 50 bis 55 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. In dieser Perspektive werden wir auch die Arbeiten am Europäischen Klimaschutzgesetz begleiten. Die weitere große Herausforderung und der vierte Punkt, der uns während unserer Präsidentschaft besonders wichtig ist, ist der digitale Wandel. Wie auch der Klimaschutz erfordert er, dass wir unsere Art zu leben und zu wirtschaften nachhaltig ändern. Das löst bei vielen Menschen Angst aus – Angst vor dem Verlust von Vertrautem und Angst vor dem Tempo der Veränderung. Und das ist auch verständlich. Aber lassen Sie mich sehr deutlich sagen: Das Engagement für die Digitalisierung wie für den Klimaschutz bedeutet nicht, dass wir alles Etablierte aufgeben und damit die Arbeitsplätze von Millionen Europäerinnen und Europäern aufs Spiel setzen. Im Gegenteil, es geht um einen notwendigen Wandel unserer Gesellschaft, der langfristig mehr Schutz und mehr Nachhaltigkeit bieten wird. Denn gerade auch in den vergangenen Wochen und Monaten ist uns Europas digitale Abhängigkeit von Drittstaaten erneut deutlich geworden. Dies haben viele von uns im Verlauf ihrer täglichen digitalen Kommunikation zweifellos festgestellt – sei es bei der Technologie oder bei den Dienstleistungen. Es ist wichtig, dass Europa digital souverän wird. Gerade in den Schlüsselbereichen wie der künstlichen Intelligenz und dem Quantencomputing, aber auch beim Aufbau einer vertrauenswürdigen und sicheren digitalen Infrastruktur wollen wir vorankommen. Entscheidend ist auch der effektive Schutz unserer Demokratien vor Cyberbedrohungen und Desinformationskampagnen. Denn eine Demokratie braucht eine Öffentlichkeit, in der Wissen und Informationen geteilt werden können und in der sich Bürgerinnen und Bürger austauschen und darüber verständigen können, wie sie leben wollen. Wir erleben es gerade: Mit Lüge und Desinformation lässt sich die Pandemie nicht bekämpfen, ebenso wenig wie mit Hass und Hetze. Dem Fakten leugnenden Populismus werden seine Grenzen aufgezeigt. In einer Demokratie braucht es Wahrheit und Transparenz. Das zeichnet Europa aus; und dafür wird sich Deutschland in seiner Ratspräsidentschaft stark machen. Der fünfte Punkt ist Europas Verantwortung in einer globalisierten Welt. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass Europa an seinen Außengrenzen neben Großbritannien und dem westlichen Balkan unter anderem von Russland, Belarus, der Ukraine, der Türkei, Syrien, dem Libanon, Jordanien, Israel, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko umgeben ist. Gleichzeitig leben wir in einer Zeit globaler Umbrüche, in der sich die Kraftfelder verschieben und Europa – bei aller Einbindung vieler Mitgliedstaaten in das transatlantische Bündnis – mehr auf sich selbst gestellt ist. Wir können und müssen selbst entscheiden, wer Europa in dieser sich rasant verändernden Weltordnung sein will. Es kommt mehr denn je darauf an, ob wir es ernst meinen mit Europa und ob wir ein Europa wollen, das seine Freiheit und seine Identität auch in Zeiten der Globalisierung bewahrt. In dieser Lage ergibt sich die Notwendigkeit einer starken europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Ein wichtiger Partner dabei ist und bleibt das Vereinigte Königreich. Die Gestaltung unseres künftigen Verhältnisses wird uns im kommenden Halbjahr stark beschäftigen. Die Fortschritte in den Verhandlungen sind bisher – um es zurückhaltend zu sagen – übersichtlich. Wir haben mit Großbritannien vereinbart, die Verhandlungen zu beschleunigen, um noch im Herbst ein Abkommen zu schließen, das dann bis Ende des Jahres ratifiziert werden müsste. Ich werde mich weiterhin für eine gute Lösung stark machen. Aber wir sollten auch für den Fall vorsorgen, dass ein Abkommen doch nicht zustande kommt. Während unserer Präsidentschaft sollten wir alles daransetzen, auch auf drei weiteren außenpolitischen Feldern Fortschritte zu erzielen; und zwar erstens bei der Beitrittskonferenz zumindest mit Nordmazedonien, gegebenenfalls auch Albanien – einem wichtigen Schritt auf dem Weg, den Staaten des westlichen Balkans eine Beitrittsperspektive zu geben –, und zweitens in unseren Beziehungen mit unserem Nachbarkontinent Afrika und der Afrikanischen Union, die wir bei einem EU-Afrika-Gipfel zukunftsgerichtet vertiefen wollen. Hierzu gehören auch weiterhin Fragen unserer Migrationszusammenarbeit. So viele Menschen wie noch nie zuvor sind auf der Flucht. Deshalb stehen wir in besonderer Verantwortung, bei einem für Europa so zentralen Thema wie der Asyl- und Migrationspolitik weiterzukommen. Diese Frage erfordert viel politische Sensibilität, aber wir dürfen nicht wegschauen, sondern müssen uns gemeinsam dieser humanitären und politischen Aufgabe stellen. Drittens und nicht zuletzt werden uns unsere strategischen Beziehungen mit China beschäftigen, die durch enge handelspolitische Verbindungen, aber gleichermaßen auch sehr unterschiedliche gesellschaftspolitische Vorstellungen, vorneweg bei der Wahrung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, geprägt sind. Auch wenn der EU-China-Gipfel im September leider nicht stattfinden kann, wollen wir den offenen Dialog mit China fortsetzen. Während der deutschen Ratspräsidentschaft wollen wir außerdem unsere Überlegungen darüber fortführen, ob wir in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik am Einstimmigkeitsprinzip festhalten wollen oder nicht und welche Lehren Europa aus der Coronaviruskrise ziehen soll, zum Beispiel mit Blick darauf, wie Europas Souveränität im Gesundheitssektor gestärkt werden könnte. Diese Debatte sollten wir auch im Rahmen einer Konferenz zur Zukunft Europas führen, die von der Europäischen Kommission im vergangenen Jahr vorgeschlagen wurde und zu der Sie mit Ihren Entschließungen viele Ideen entwickelt haben. Ich plädiere für eine Konferenz, die sich auf wenige Themen konzentriert, mit konkreten Ergebnissen aufwartet und Bürgerinnen und Bürger aus und in verschiedenen Mitgliedstaaten zu Diskussionen zusammenführt. Hierzu habe ich heute auch schon mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments David Sassoli gesprochen. Herr Präsident, Frau Kommissionspräsidentin, meine Damen und Herren, wollen wir Europa? Dann braucht es das, wovon ich heute gesprochen habe. Dann braucht es die Grundrechte und den Zusammenhalt. Dann braucht es Antworten auf den Klimawandel und die Digitalisierung. Dann braucht es Europas Verantwortung in der Welt. Dann müssen wir Europa grüner, digitaler und damit innovativer und wettbewerbsfähiger gestalten. Denn Europa soll international für eine Ordnung des Rechts und für Innovation und Nachhaltigkeit stehen. Das ist die Vision für Europa. Lassen Sie mich mit einem persönlichen Gedanken schließen. Ich bin Musikliebhaberin. So ist es mir eine große Freude, dass in unserer Ratspräsidentschaft ein ganz besonderer Jahrestag liegt. Im Dezember 2020 wäre der Komponist der Europahymne, Ludwig van Beethoven, 250 Jahre alt geworden. Mich erfüllt diese 9. Sinfonie immer noch und immer wieder neu. Bei jedem Hören entdecke ich in der Musik etwas anderes, das mich trifft und beeindruckt, so wie Europa auch. Es lässt sich immer wieder neu entdecken. Und es beeindruckt mich immer noch. So lassen Sie mich heute mit dem Wunsch enden, dass die Botschaft dieser Musik, die Idee der Brüderlichkeit und Eintracht, uns in Europa leiten möge. Welche Botschaft könnte passender sein als die, dass dieses Europa zu Großem fähig ist, wenn wir einander beistehen und zusammenhalten?! Herzlichen Dank!
Videogrußwort von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich des ILO Global Leaders Day am 8. Juli 2020
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/videogrusswort-von-bundeskanzlerin-merkel-anlaesslich-des-ilo-global-leaders-day-am-8-juli-2020-1767230
Wed, 08 Jul 2020 13:20:00 +0200
keine Themen
Sehr geehrter Herr Generaldirektor, sehr geehrte Damen und Herren, im letzten Jahr feierte die Internationale Arbeitsorganisation ihr 100. Gründungsjubiläum. In all den Jahren ihres Bestehens hat die ILO viel erreicht. Gleichwohl gibt es in der internationalen Arbeitswelt nach wie vor viel zu tun. Das gilt jetzt – inmitten der Coronavirus-Pandemie – mehr denn je. In ihrer Folge fallen Arbeitsplätze und Einkommen weg und drohen Armut und Kinderarbeit wieder zuzunehmen. Nicht zuletzt fragen sich viele Arbeitnehmer angesichts der Pandemie, wie sie ihrem Beruf nachgehen können, ohne die eigene Gesundheit oder die Gesundheit anderer Menschen zu gefährden. Um bei dieser Frage Unternehmen und Beschäftigten Orientierungshilfen zu geben, haben wir in Deutschland einen Arbeitsschutzstandard entwickelt, der konkret auf die neuen Arbeitsumstände ausgerichtet ist. Dabei war es uns wichtig, die Sozialpartner einzubeziehen. Wie die ILO setzen auch wir hierzulande auf das Prinzip der Sozial¬partnerschaft. Die lösungsorientierte Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern hat bei uns seit vielen Jahren Tradition. Und ich baue darauf, dass sich die Sozialpartnerschaft auch in der jetzigen Krise bewährt. So wichtig nationale Vorgehensweisen auch sind, so unerlässlich bleibt es zugleich, Schutz und Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern als Themen von weltweiter Relevanz zu behandeln. Deshalb kann ich nur begrüßen, dass die ILO auch Leitlinien zum Arbeitsschutz während der Pandemie erarbeitet hat. Denn es gilt zu verhindern, dass aus der Corona-Krise eine soziale Krise wird. Das kann uns nur als breites Gemeinschaftswerk gelingen. Und so führt uns die Pandemie einmal mehr – wenn auch besonders schmerzlich – vor Augen, wie sehr es auf internationale Zusammenarbeit und gemeinsame Regelungen ankommt, die für alle Nutzen stiften. Daher brauchen wir internationale Organisationen wie die ILO als Impulsgeber, um zum Beispiel Standards zu formulieren und Best-Practice-Beispiele aufzuzeigen. Wir brauchen internationale Organisationen, die darauf drängen, gemeinsame Herausforderungen auch wirklich gemeinsam anzugehen. Ob es um kurzfristige Aufgaben geht oder um die Jahrhundertinitiative zur Zukunft der Arbeit – in Deutschland wissen wir um die Verdienste der ILO, die sie sich in ihrem Einsatz für eine menschliche Gestaltung der Arbeitswelt erworben hat. Deshalb hat die Internationale Arbeitsorganisation auch weiterhin unsere Unterstützung. Vielen Dank!
Videogrußwort von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich des AJC Virtual Global Forum am 14. Juni 2020
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/videogrusswort-von-bundeskanzlerin-angela-merkel-anlaesslich-des-ajc-virtual-global-forum-am-14-juni-2020-1760502
Sun, 14 Jun 2020 00:00:00 +0200
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Harris, sehr geehrte Delegierte und Freunde des AJC, meine Damen und Herren, herzlich begrüße ich Sie zum virtuellen Global Forum des AJC! Es hat mich tief berührt, dass das AJC sein Global Forum 2020 eigentlich in Berlin durchführen wollte. Ausgerechnet in Berlin! Und ausgerechnet im 75. Jahr nach Ende des Zivilisationsbruchs der Shoa! Was für eine großherzige Geste des Vertrauens und der gewachsenen Verbundenheit! Es war auch das AJC, das als erste jüdische Organisation nach dem größten Menschheitsverbrechen die Zusammenarbeit mit der damals noch jungen Bundesrepublik gesucht hat. Wenn ich daran denke, fühle ich tiefe Dankbarkeit und Demut. Aus der Bereitschaft zum Dialog und zur Versöhnung ist über die Jahre längst eine enge Partnerschaft erwachsen. Wir wissen um unsere Verantwortung, der vielen Millionen jüdischer Kinder, Frauen und Männer zu gedenken, die während der Shoa von Deutschen entrechtet, verfolgt und ermordet wurden. Und wir wissen um unsere Verantwortung, gegen Antisemitismus in all seinen Ausprägungen entschlossen vorzugehen. Das verstehe ich als Teil unserer Staatsräson. Unser Staatswesen und unser friedliches Zusammenleben bauen auf grundlegenden Werten auf. Und mit diesen Werten sind Antisemitismus und Rassismus, Hass und Hetze – ob in sozialen Medien oder auf offener Straße – unvereinbar. Solchen Auswüchsen müssen wir – Regierung und Gesellschaft – mit aller Macht und Kraft entgegenwirken. Leider erleben wir immer wieder bittere Rückschläge. Besonders das Attentat auf die Synagoge in Halle hat uns tief erschüttert. Solche widerwärtigen Angriffe zielen auf das Herz unserer Demokratie. Unsere Gesellschaft lebt von kultureller und religiöser Vielfalt und Toleranz. Jüdinnen und Juden sollen sich in Deutschland frei und sicher fühlen; sie sollen ihren Glauben und ihre Kultur offen leben können. Das gehört zum Selbstverständnis unserer gesamten Gesellschaft als Verantwortungsgemeinschaft. Zu unserer Verantwortung zählt auch, für die Sicherheit Israels einzutreten. Diese ist nicht verhandelbar. Und auch das möchte ich anmerken: dauerhafter Frieden in Nahost lässt sich nur durch Verständigung zwischen den Völkern und eine verhandelte Zwei-Staatenlösung erreichen. Davon bin und bleibe ich überzeugt. Im Wissen um unsere Verantwortung können und wollen wir nicht neutral bleiben. Und gerade auch im Bewusstsein unserer Verantwortung vor der Geschichte dürfen wir nicht nachlassen, uns für Sicherheit, für gelebte Demokratie und Menschenrechte einzusetzen – bei uns in Deutschland wie auch in der Welt. Und dabei ist es gut zu wissen, auf Partner zählen zu dürfen – starke Partner, wie wir sie auch und besonders im AJC finden. Ich bin Ihnen von Herzen dankbar für Ihr unermüdliches und vielfältiges Wirken für Frieden und interreligiöse Verständigung! Ich wünschte, ich könnte Sie persönlich in Berlin begrüßen. Das ist leider nicht möglich. Umso herzlicher grüße ich Sie nun auf diesem Weg und wünsche Ihnen ein gelungenes virtuelles Global Forum! Alles Gute für Sie und viel Erfolg für Ihre weitere Arbeit! Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters im Bundesrat zum Programm NEUSTART KULTUR
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-im-bundesrat-zum-programm-neustart-kultur-1759298
Fri, 05 Jun 2020 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur,Coronavirus
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Zukunftsmusik“ nennen wir im Deutschen, was gegenwärtig nicht verwirklicht werden kann, aber zumindest als Möglichkeit verheißungsvoll klingt. Man braucht derzeit ja wahrlich ein feines Gehör, um im Lärm der Gegenwart solche Zukunftsmusik noch zu vernehmen. Corona beherrscht den Alltag, und das heißt: Ungewissheit, wie sich die Situation entwickelt, nährt Zukunftsängste. Selbst dort, wo sonst mit Leidenschaft Kunst gelebt und Zukunftsmusik gespielt wird, gibt im Moment der Infektionsschutz den Ton an. Konzertsäle, Opern, Musikclubs, Theater, Kinos und andere Kulturorte sind im Stillstand. Was das für Künstlerinnen und Künstler, für Kultureinrichtungen und Unternehmen der Kulturbranche bedeutet, wissen wir alle, weiß ich nicht zuletzt aus den unzähligen Telefonaten und Briefen, in denen Betroffene mir – und natürlich auch vielen von Ihnen – ihre Sorgen und Nöte schildern. Wir kennen die Verzweiflung. Wir haben auch Verständnis für die Existenzängste. Und wir alle leiden, denke ich, ein Stück weit selbst – als Menschen, als begeisterte Kulturliebhaber und als Politiker. Ich bin in tiefer Sorge um die kulturelle Vielfalt, die in Deutschland über Jahrzehnte gewachsen ist. Übrigens nicht zuletzt dank einer staatlichen Kulturförderung, die wirklich weltweit ihresgleichen sucht. Diese Sorge kommt ja auch in Ihrem vorliegenden Entschließungsantrag zum Ausdruck. Deshalb waren wir uns alle von Anfang an einig in unseren Bemühungen, die im Kultur- und Medienbereich von den Schließungen Betroffenen so schnell, so gut und so umfassend wie möglich zu unterstützen. Die vielfältigen Hilfsmaßnahmen des Bundes und der Länder zeugen davon in eindrucksvoller Weise. Sie haben sich in vielen Bereichen – ich denke zum Beispiel an die Soforthilfen, die sowohl vom Bund als auch von den Ländern kamen – gut er-gänzt und bewährt. Trotz allem werden uns die Folgen der pandemiebedingten Schließungen wohl noch lange Zeit begleiten. Deshalb bittet der Bundesrat die Bundesregierung ja, weitere, auch langfristig wirkende Hilfen für Kultureinrichtungen und Kulturschaffende zur Verfügung zu stellen, um die für die Kultur hoheitlich zuständigen Länder darin wirksam zu unterstützen. Sie können sich vorstellen, dass ich mich sehr gefreut habe, dass auch der Koalitionsausschuss des Bundes sich der Tragweite der Kultur sehr bewusst ist und in seinem Beschluss von vorgestern die Kultur mit einem eigenen Hilfspaket in einem Volumen von – ich darf das schon mal sagen – sage und schreibe einer ganzen Milliarde bei BKM bedacht hat. Das ist immerhin die Hälfte meines sonstigen Jahresetats, der noch draufkommt, um die pandemiebedingten Folgen für die Kultur zu mildern. Worum geht es dabei? Das Programm – wir nennen es „NEUSTART KULTUR“ – zielt, wie der Name schon sagt, auf einen Wiederbeginn des kulturellen Lebens in Deutschland, also auf die Zukunft. Es soll vier Schwerpunkte haben: Erstens pandemiebedingte Investitionen in Kultureinrichtungen, zum Beispiel zur Umsetzung von Hygienekonzepten, die jetzt ja überall nötig sind. Das überfordert, was die Baumaßnahmen angeht, die eine oder andere kleine Einrichtung. Deshalb wollen wir hier helfen. Zweitens finanzielle Unterstützung und echte Nothilfen für vor allem privatwirtschaftlich finanzierte kleinere und mittlere Kultureinrichtungen und -projekte. Ich denke an Festivals, an Privattheater, an Musikclubs, an Kinos, die Sie ja alle in Ihren Regionen vorfinden. Drittens aktive Kulturproduktion – es ist uns wichtig, dass die Künstler wieder ans Arbeiten kommen – und die Förderung alternativer Vermittlungsformen. Dabei haben wir vor allen Dingen an digitale Angebote gedacht und Vermittlungsformen, die sich während der Krise schon vielfach bewährt haben; wir haben das allenthalben im Netz erlebt. Viertens geht es um den Ausgleich von Einnahmeausfällen und Mehrausgaben bei von meinem Haus bereits geförderten Einrichtungen und natürlich bei den von den Ländern und dem Bund gemeinsam geförderten Häusern nach dem entsprechenden Verteilungsschlüssel. In „NEUSTART KULTUR“ enthalten sind auch Bundeshilfen für den privaten Rundfunk – das Land Rheinland-Pfalz und Frau Dreyer haben einmal mehr auch in den Koalitionsberatungen darauf hingewiesen –, weil dessen Finanzierung über das Werbegeschäft praktisch gänzlich zum Erliegen gekommen ist. Angesichts des Informationsbedarfs der Öffentlichkeit gerade in Krisenzeiten wollen und müssen wir, glaube ich, hier akut helfen, selbstverständlich unter Wahrung der Länderzuständigkeit und Einbeziehung der Landesmedienanstalten. Außerdem kommen viele andere Beschlüsse des Koalitionsausschusses der Kultur zugute, zum Beispiel die Überbrückungshilfen, die im Wirtschaftsministerium für kleine und mittelständische Unternehmen vorgesehen sind. Zudem erscheint mir die vereinbarte Stärkung der Kommunen besonders wichtig. Sie tragen immerhin – das übersehen viele – fast die Hälfte der öffentlichen Kulturausgaben und werden hier noch einmal spürbar entlastet. Mit „NEUSTART KULTUR“ wollen wir deutlich machen: Wir blicken nach vorne. Es werden nicht rückwärtsgewandt Einnahmeausfälle kompensiert, sondern wir blicken nach vorne. Wir stärken die vielseitige und sehr lebendige – noch ist sie das – Kulturlandschaft in Deutschland. Wir sichern vor allem die Infrastruktur und schaffen damit gleichzeitig wieder Beschäftigungs- und Erwerbsperspektiven für alle im Kulturbereich Tätigen. Denn alle unsere Bemühungen um einzelne Kulturschaffende gerade durch die Soforthilfen und – ich muss daran erinnern – durch das großzügige und sehr gute Sozialschutzpaket sowie durch die Stipendien- und Förderprogramme vieler Länder gingen ja ins Leere, wenn den Künstlern am Ende der Krise keine Infrastruktur, das heißt keine Arbeitsplätze und Betriebsstätten mehr zur Verfügung stünden. Deshalb haben wir unser Programm vor allen Dingen auf die Infrastruktur ausgerichtet. Das Programm ist aus meiner Sicht ein wichtiger, wie ich finde auch kraftvoller Schritt zur Bewahrung unserer vielfältigen Kulturlandschaft. Klar ist aber, dass wir damit die Krise noch immer nicht überwunden haben. Klar ist auch, dass wir die vielen und vielgestaltigen Hilfsmaßnahmen der Länder, bei denen die Kulturhoheit ja liegt, weder ersetzen können noch wollen. Aber wir ergänzen uns. Wir haben mal zusammengerechnet, was alle Länder bewirken. Das ist sicher in ähnlicher Höhe zu beziffern. Es darf uns alle aber auch zuversichtlich stimmen, dass die Corona-Krise nicht nur zerstörerische, sondern auch schöpferische Kräfte mobilisiert hat. Das haben wir alle nicht zuletzt im Internet in den letzten Wochen erlebt. Politisch jedenfalls tun wir – Länder und Bund gemeinsam – unser Allermöglichstes in der Überzeugung, dass wir der Kunst wie auch der Kultur- und Kreativwirtschaft jene Inspiration, zuweilen auch die nötige Irritation verdanken, aus denen Innovationen entstehen, und in der Überzeugung, dass gerade in der Kultur die Zukunftsmusik spielt. Es bleibt am Ende meine Bitte, dass wir weiterhin an einem Strang ziehen. Ich möchte deshalb die Gelegenheit, hier zu reden, dazu nutzen, Ihnen, den Vertreterinnen und Vertretern der Länder, für Ihre vielfältigen Maßnahmen bei Ihnen vor Ort, aber natürlich auch für die immer wirklich ehrlich gute Zusammenarbeit im Sinne eines echten kooperativen Kulturföderalismus zu danken. Ich finde, in der Kultur kommt das sehr deutlich zum Tragen. – Vielen Dank.
„Das Programm zielt auf einen Wiederbeginn des kulturellen Lebens in Deutschland, also auf die Zukunft“, sagte Kulturstaatsministerin Grütters in ihrer Rede vor dem Deutschen Bundesrat.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der Wiederauffüllungskonferenz der Impfallianz GAVI am 4. Juni 2020 (Videokonferenz)
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-anlaesslich-der-wiederauffuellungskonferenz-der-impfallianz-gavi-am-4-juni-2020-videokonferenz–1757954
Thu, 04 Jun 2020 15:40:00 +0200
keine Themen
Sehr geehrter Herr Generalsekretär, lieber António Guterres, lieber Boris Johnson, Herr Berkley, Exzellenzen, meine Damen und Herren, ich möchte mich bei allen Beteiligten an dieser wirklich wichtigen Konferenz bedanken. Gemeinsam wollen und können wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass auch in den nächsten Jahren über 300 Millionen Kinder geimpft werden können, um sie vor lebensbedrohlichen Krankheiten zu schützen. Wir wollen und wir können so für über 300 Millionen junge Menschen die Chance auf eine gesunde Entwicklung erhöhen. 300 Millionen – das ist ja nicht nur einfach eine Zahl. Hinter dieser Zahl stehen individuelle Schicksale. Das dürfen wir bei aller Diskussion um Finanzen nicht vergessen. Durch COVID-19 ist die Arbeit von GAVI noch wichtiger geworden. Ein Virus, das sich weltweit ausbreitet, kann auch nur in gemeinsamer globaler Anstrengung wirksam bekämpft werden. Dazu gehört, Forschungsallianzen aufzubauen. Wir müssen Verfahren vereinfachen, um schneller Ergebnisse zu erzielen. Nicht zuletzt gilt es, Gesundheitsakteure wie GAVI zu stärken. Denn sobald ein geeigneter Impfstoff gefunden ist, müssen wir imstande sein, unverzüglich eine globale Impfkampagne zu starten. Dabei zählt jeder Tag. Impfschutz ist Lebensschutz. Dieser darf nicht davon abhängen, in welchem Land man lebt. Einsatzbereite Impfstoffe müssen in aller Welt bezahlbar, verfügbar und frei zugänglich sein. Das ist eine riesige Aufgabe. Dieser Aufgabe widmet sich GAVI seit nunmehr 20 Jahren – und das mit großem Erfolg. Bislang wurden insgesamt über 760 Millionen Kinder gegen gefährliche Krankheiten geimpft. So konnte zum Beispiel Polio nahezu ausgerottet werden. Es freut mich, dass Deutschland als einer der größten Unterstützer von GAVI seinen Beitrag dazu leisten konnte. Aber wir sehen, dass COVID-19 nun weitere Fortschritte gefährdet. Das Virus birgt nicht nur für sich allein betrachtet erhebliche Gesundheitsrisiken. Die Pandemie beeinträchtigt auch verschiedenste andere Gesundheitsmaßnahmen – zum Beispiel Immunisierungsprogramme gegen Masern und TBC. Die Ausbreitung anderer Infektionskrankheiten droht also wieder zuzunehmen. Schätzungen der WHO zufolge könnten hiervon bis zu 80 Millionen Kinder betroffen sein. Das heißt: Wir dürfen die Standard-Impfprogramme nicht vernachlässigen. GAVI muss auch bisherigen Aufgaben weiter erfolgreich nachgehen können. Deshalb wird Deutschland die Impfallianz auch in den nächsten fünf Jahren mit 600 Millionen Euro unterstützen. Hinzu kommen 100 Millionen Euro, die Deutschland im Rahmen der COVID-19-Geberkonferenz der EU zugesagt hat. Gemeinsam können wir es schaffen, Infektionskrankheiten ihren Schrecken zu nehmen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Und mit GAVI haben wir gleichsam einen hilfreichen Wegweiser. Daher wünsche ich der Impfallianz und letztlich uns allen eine erfolgreiche Konferenz. Von Herzen danke ich allen, die daran mitwirken.
Statement von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich des Spatenstichs für den Bau des Freiheits- und Einheitsdenkmals
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/statement-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-des-spatenstichs-fuer-den-bau-des-freiheits-und-einheitsdenkmals-1757178
Thu, 28 May 2020 11:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
81 Prozent der Altersgruppe 40plus in Deutschland können sich einer Allensbach-Umfrage zufolge erinnern, wo sie waren und was sie gerade gemacht haben, als sie vom Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 erfahren haben. Diese Zahl finde ich bemerkenswert. So viel Ehre persönlicher Erinnerung wird nicht jedem bedeutsamen Datum zuteil. Offensichtlich ist der 9. November 1989 nicht nur in die Geschichtsbücher eingegangen. Er hat sich auch tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben: als Tag der Freude und des Glücks, mit den Fernsehbildern jubelnder Menschen, die sich am Brandenburger Tor drängen und die Berliner Mauer bevölkern. Im Gedächtnis bleiben soll aber auch und vor allem, was diesen Tag, was diese Sternstunde unserer Demokratiegeschichte überhaupt erst möglich gemacht hat: der Mut der DDR-Bürgerinnen und Bürger, die 1989 entschlossen aufstanden mit dem Anspruch, ihre eigene Zukunft in die Hand zu nehmen und die ihres Landes mitzubestimmen. Mit dem Freiheits- und Einheitsdenkmal erinnern wir an die Zivilcourage von Menschen, die ihre Stimme für demokratische Freiheitsrechte erhoben. Die Einheit Deutschlands und ein geeintes Europa wären ohne „Bürger in Bewegung“ geblieben, was sie lange waren: utopisch anmutende Hoffnungen für eine ferne Zukunft. Die Erinnerung an die Friedliche Revolution verdient deshalb einen prominenten Platz im Herzen der deutschen Hauptstadt. Ich freue mich, dass wir heute – endlich! – den ersten Spatenstich für das Freiheits- und Einheitsdenkmal setzen: nach Jahren des Stillstands, in denen man gelegentlich den Eindruck gewinnen konnte, noch schwieriger als eine demokratische Revolution anzustoßen sei es, ihr ein Denkmal zu setzen. 22 Jahre sind vergangen, seit sich dafür erstmals eine bürgerschaftliche Initiative engagierte. 13 Jahre sind vergangen, seit der erste Bundestagsbeschluss dafür gefasst wurde. 9 Jahre sind vergangen, seit über die künstlerische Form und Gestaltung des Denkmals in einem Wettbewerb entschieden wurde. Es waren Jahre kontroverser Debatten und komplizierter Abstimmungen unter anderem über Fragen des Denkmalschutzes, des Naturschutzes und der Budgetplanung. Zuletzt waren es zwei Wasserfledermäuse, die die „Bürger in Bewegung“ zum Stillstand brachten. Umso dankbarer bin ich allen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, die über so viele Jahre für dieses Denkmal geworben, gestritten und gekämpft haben: Für die erste Denkmalinitiative – den Grundstein gewissermaßen – danke ich dem ehemaligen Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizìère, sowie Günter Nooke, Florian Mausbach und Jürgen Engert. Für das notwendige Budget und so manches, nicht minder nötige leidenschaftliche Plädoyer danke ich vielen Abgeordneten des Deutschen Bundestages – allen voran den ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse und Norbert Lammert sowie dem amtierenden Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble. Mein herzlicher Dank für das unermüdliche Bemühen, das Projekt allen Widrigkeiten zum Trotz voranzubringen, gilt außerdem dem Verein „Deutsche Gesellschaft“, dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, dem Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, den Berliner Senatsverwaltungen für Stadtentwicklung und Wohnen, für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz sowie für Kultur und Europa und der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Last but not least danke ich den Ideengebern, den geistigen Schöpfern (und Schöpferinnen) des Denkmals: der Arbeitsgemeinschaft Milla & Partner / Sasha Waltz, stellvertretend Johannes Milla und Sebastian Letz. Nach so langen Jahren hätte der heutige Baustart zweifellos mehr Gäste und auch einen festlicheren Rahmen verdient. Corona hat uns da einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber immerhin: Der Spatenstich kann unter Wahrung geltender Abstandsregeln und Infektionsschutzvorschriften stattfinden – was der Friedlichen Revolution wohl nicht vergönnt gewesen wäre. „Bürger in Bewegung“: Das waren viele, und sie standen eng zusammen für Freiheit, Bürgerrechte und Demokratie. Ich freue mich, dass in nicht allzu ferner Zukunft ein Freiheits- und Einheitsdenkmal daran erinnern wird, was sich auf diese Weise bewegen lässt – dass Demokratie kein Geschenk ist, sondern eine Errungenschaft, kein ständiger Besitz, sondern stetes Bemühen. Ab jetzt wird dafür endlich gebaut: Ich bitte um Unterstützung der ehemaligen Bundestagspräsidenten Thierse und Lammert und der Herren Milla und Letz beim ersten Spatenstich – und wünsche allen am Bau Beteiligten viel Erfolg und eine glückliche Hand!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen der Veranstaltung „Außen- und Sicherheitspolitik in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft“ der Konrad-Adenauer-Stiftung am 27. Mai 2020
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-der-veranstaltung-aussen-und-sicherheitspolitik-in-der-deutschen-eu-ratspraesidentschaft-der-konrad-adenauer-stiftung-am-27-mai-2020-1755884
Thu, 28 May 2020 19:32:00 +0200
Berlin
Alle Themen
Sehr geehrte Frau Botschafterin, liebe Frau Descôtes, sehr geehrter Herr Vorsitzender, lieber Norbert Lammert, lieber Johann Wadephul, sehr geehrter Herr Huotari, meine Damen und Herren, die Sie vereinzelt in der Konrad-Adenauer-Stiftung sitzen, aber uns auch per Livestream folgen, als die Konrad-Adenauer-Stiftung die heute stattfindende Veranstaltung plante, war die Welt noch eine andere. Ein neues Jahrzehnt brach gerade erst an; und mit einer solchen Wegmarke verbindet sich auch immer die Hoffnung auf mehr Frieden, Stabilität und Wohlstand in der Welt. Noch vor wenigen Wochen befanden sich die Mitgliedstaaten der Eurozone auf einem soliden wirtschaftlichen Wachstumskurs. Deutschland steuerte auf das sechste Jahr mit einem ausgeglichenen Bundeshaushalt zu. Mit großer Selbstverständlichkeit reisten die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union zwischen den Binnengrenzen des Schengenraums, geschäftlich oder privat, ohne Grenzkontrollen, ohne Mundschutz. Noch vor wenigen Wochen schien unvorstellbar, dass nur wenig später freiheitliche Demokratien umfangreiche Maßnahmen wie Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen erlassen müssen, die auch hierzulande den härtesten Einschnitt in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland darstellen. Diese Entscheidungen gehörten zu den schwersten meiner ganzen Amtszeit als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Denn dieses Virus ist und bleibt eine demokratische Zumutung. Die Coronavirus-Pandemie hat unsere Welt auf den Kopf gestellt – und so auch die Planungen für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, die wir am 1. Juli turnusgemäß für ein halbes Jahr übernehmen werden. Die Krisenbewältigung ist in den Mittelpunkt gerückt. Zugleich aber wollen wir in diesem Rahmen auch die bisher geplanten Schwerpunkte und Zukunftsthemen weiterverfolgen, also insbesondere dazu, wie unsere Wirtschaft klimaneutral wiedererstarken kann, wie wir die Digitalisierung voranbringen und die Rolle Europas als Stabilitätsanker in der Welt stärken. Die Coronavirus-Pandemie zeigt, wie grundlegende, tiefgreifende Verschiebungen uns in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum zu Entscheidungen mit sehr langfristigen Folgen herausfordern. Ich danke der Konrad-Adenauer-Stiftung für die Einladung zu dieser Veranstaltung, die die Gelegenheit bietet, diese wahrlich transformativen Entwicklungen gerade auch für den Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik einzuordnen. Diese Einordnung, der Sie sich mit der heutigen Veranstaltung widmen, ist auch deshalb so wichtig, weil wir ja in widerstrebenden Anforderungen politisch denken und handeln müssen. So wird auf der einen Seite von uns allen erwartet, dass wir zwischen Verwandten und Freunden, Bekannten und Kollegen, also mit allen Menschen, mit denen wir nicht unter einem Dach leben, Kontakt- und Mindestabstandsvorgaben einhalten und damit Fürsorge durch Distanz ermöglichen. Auf der anderen Seite kommt es in dieser Krise ganz entscheidend darauf an, dass die europäische Familie noch näher zusammenrückt. Denn das Virus kennt keine Grenzen; und so darf auch unsere Antwort als Europäische Union nicht an nationalstaatlichen Grenzen haltmachen. Wir müssen einander helfen, wo immer dies möglich ist. Denn wir wissen, dass es auch Deutschland auf Dauer nur dann gut geht, wenn es auch Europa gut geht. Umgekehrt ist es auch für Europa gut, wenn Deutschland wirtschaftlich und politisch stark ist. Trotz aller Unsicherheiten, mit denen wir uns konfrontiert sehen, ist eines für mich bereits jetzt klar: Europa kann aus der Krise stärker hervorgehen, als es in sie hineingegangen ist. Damit wir diesem Anspruch gerecht werden können, gibt es für mich ein Leitmotiv, und zwar: europäischer Zusammenhalt und europäische Solidarität – gerade auch in dieser Pandemie. Es ist dieses Leitmotiv der gemeinschaftlichen und zukunftsgerichteten Krisenbewältigung, das die deutsche EU-Ratspräsidentschaft prägen wird. Zu Beginn der Pandemie musste Solidarität ganz schnell und praktisch gelebt werden, als es zum Beispiel darum ging, medizinische Ausrüstung für besonders betroffene europäische Partner zu liefern, schwerkranke Patienten aus diesen Ländern aufzunehmen und zusammen mit vielen deutschen Staatsbürgern auch Staatsbürger anderer europäischer Staaten in einer beispiellosen Rückholaktion aus dem Ausland nach Hause zu holen. Für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung, die auch Konvergenz und Zusammenhalt sichert, ist aber natürlich weit mehr erforderlich. Wir brauchen eine außergewöhnliche Kraftanstrengung als Antwort auf diese außergewöhnliche Herausforderung. Diesem Ziel dienen auch die Vorschläge, die der französische Präsident Emmanuel Macron und ich vor einigen Tagen vorgestellt haben. Heute hat die EU-Kommission ihren Vorschlag hinzugefügt. Ich freue mich schon auf die weiteren Beratungen im Kreis der EU-Staats- und Regierungschefs, in denen Deutschland und Frankreich gemeinsam und zielorientiert agieren werden. Meine Damen und Herren, ich wünsche mir aber noch mehr. Ich wünsche mir, dass die Europäische Union gerade in Krisenzeiten auch global Solidarität zeigt und vermehrt Verantwortung übernimmt. Die Pandemie wird vielerorts zu einer Verschärfung bestehender Konflikte und Probleme führen und ist damit auch eine Belastungsprobe für die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Umso mehr müssen wir die Werte, für die wir innerhalb der Europäischen Union stehen – Solidarität, Demokratie, Freiheit und Schutz der Würde jedes Menschen – auch in der Welt vertreten. Dies gilt auch für die Zusammenarbeit mit unseren Partnern in der Welt, die möglicherweise noch stärker von den Auswirkungen der Corona-Pandemie betroffen sein werden als wir. Während unserer Ratspräsidentschaft wird der Blick also einerseits nach innen gerichtet sein, wobei uns knappe Kassen und der Wiederaufbau unserer Volkswirtschaften vor schwierige Abwägungen stellen. Andererseits sollten wir jedoch stets beachten, wie wichtig gerade auch in der jetzigen Situation unser weltweites Engagement ist. Europa hat sich in den letzten Jahren den Ruf eines verlässlichen Partners erworben – sei es als vertrauenswürdiger Gesprächspartner in internationalen Foren oder zum Beispiel im Iran-Dossier, bei zivilen Missionen in der Ukraine oder bei Trainingsmissionen in Mali. Darauf müssen wir aufbauen. Gerade in einer destabilisierten Welt ist es in unserem europäischen Interesse, als Stabilitätsanker dienen zu können. Die Europäische Union als Projekt zwischen einzelnen Staaten ist inhärent ein Unterstützer eines regelbasierten multilateralen Miteinanders. Dies gilt in der Krise mehr denn je. Dass wir als Europäische Union eine globale Kraftanstrengung anführen können, zeigte jüngst eine von der Europäischen Kommission initiierte Geberkonferenz. Acht Milliarden US-Dollar wurden für die Entwicklung, die Herstellung und die Verteilung von Impfstoffen, Therapeutika und Diagnostika eingeworben. Deutschland und Frankreich haben sich hieran in herausragender Weise beteiligt. Ich sehe unsere deutsche Ratspräsidentschaft als Chance, Europa als solidarische, handlungsfähige und gestaltende Kraft weiterzuentwickeln, die Verantwortung für Frieden und Sicherheit in der Welt übernimmt. Vor diesem Hintergrund wird zum Beispiel auch das europäische Verhältnis zu China ein außenpolitischer Schwerpunkt unserer EU-Ratspräsidentschaft sein. Die Europäische Union hat ein großes strategisches Interesse daran, die Zusammenarbeit mit China, einem der wesentlichen Akteure dieses Jahrhunderts, aktiv zu gestalten. In meinen Gesprächen erlebe ich immer wieder, dass Chinesen verwundert sind, wenn sie davon hören, dass viel vom Aufstieg ihres Landes gesprochen wird. Denn in ihrer Selbstwahrnehmung kehrt diese 5.000 Jahre alte Zivilisation lediglich zu jenem zentralen Platz auf der Weltbühne zurück, den es Jahrhunderte innehatte. Bei der zukünftigen Gestaltung unserer Beziehungen wird es deshalb nicht allein um den Ausbau von Handelsvolumina oder protokollarische Beziehungspflege gehen, sondern darum, dass wir Europäer erkennen müssen, mit welcher Entschlossenheit China einen führenden Platz in den existierenden Strukturen der internationalen Architektur beansprucht. Wir sollten das aber nicht nur erkennen, sondern diese Herausforderung selbstbewusst annehmen. Während unserer Ratspräsidentschaft steht deshalb eine Reihe von Themen für unser Verhältnis zu China auf der Tagesordnung. Wir wollen den Abschluss des Investitionsabkommens erreichen, das schon viele Jahre verhandelt wird. Das ist, zugegeben, ein sehr ambitioniertes Vorhaben. Wir wollen Fortschritte bei den Themen Klima- und Umweltschutz erreichen. Wir wollen die globale Gesundheit voranbringen und uns etwa dazu austauschen, wie wir bei Transparenzmaßstäben in globalen Pandemien besser werden können. Darüber hinaus wollen wir uns zu unserem jeweiligen Verhältnis zu Afrika austauschen und erarbeiten, wie wir unser Engagement besser koordinieren und dabei die richtigen Standards setzen, die eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen. All diese Themen der EU-China-Beziehungen sind für sich genommen schon anspruchsvoll genug. Zusätzlich werden sie das natürlich dadurch, dass China nicht irgendein Partner und Wettbewerber ist, sondern ein Land, mit dem es tiefgreifende Unterschiede in Fragen der Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Demokratie und der Menschenrechte gibt; denken wir allein an die Lage in Hongkong mit Blick auf das Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“. Diese Tatsache, dass uns sehr Grundsätzliches trennt, sollte jedoch kein Argument gegen Austausch, Dialog und Zusammenarbeit sein – ganz besonders nicht in einer Zeit, in der wir eine an Schärfe zunehmende Auseinandersetzung zwischen den USA und China erleben. Vielmehr sind offener, kritisch-konstruktiver Dialog wichtiger denn je, um unsere europäischen Werte und Interessen zu behaupten. Meine Damen und Herren, ein weiterer Schwerpunkt unserer Außenpolitik in diesem Jahr ist Afrika. Für Oktober ist ein Gipfel der EU mit der Afrikanischen Union geplant. Er dient dem Ziel einer vertieften partnerschaftlichen Zusammenarbeit. Dabei wird natürlich auch – aber nicht nur – das gemeinsame Vorgehen gegen das Coronavirus eine Rolle spielen müssen. Bereits jetzt ist aber absehbar, dass viele Länder Afrikas massiv unter den sozioökonomischen Folgen der Pandemie leiden werden. Wir müssen also gemeinsam eine Antwort auf die Frage finden, wie diese Folgen abgemildert werden können. Gleichzeitig können wir aber auch viel von afrikanischen Ländern lernen, die eigene Erfahrungen im Umgang mit Pandemien besitzen. Auch die Themen Klima, Migration, nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und natürlich Frieden und Sicherheit – um nur einige Beispiele zu nennen – werden Eingang in unsere Gespräche mit Afrika finden. Dies alles sind Bereiche, in denen Deutschland und Europa in den letzten Jahren ihr politisches Engagement deutlich verstärkt haben. Betrachten wir beispielsweise den Bürgerkrieg in Libyen. Die Berliner Libyen-Konferenz im Januar hat einen Beitrag dafür geleistet, die Friedensbemühungen der Vereinten Nationen zu unterstützen. Die Entwicklungen in Libyen in den letzten Wochen unterstreichen, dass es eine Chance, das Land zu stabilisieren, nur dann gibt, wenn die Parteien dem von den Vereinten Nationen ausgehandelten Entwurf für einen Waffenstillstand zustimmen und zum Verhandlungstisch zurückkehren. Auch über Libyen hinaus wird es darauf ankommen, im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union dafür Sorge zu tragen, dass die europäischen Operationen und Missionen soweit wie möglich weitergeführt werden. Dies wird nur in enger Abstimmung mit Partnern wie den Vereinten Nationen zu erreichen sein. Meine Damen und Herren, die skizzierten Herausforderungen kann Europa nicht allein auf der Weltbühne bestehen. Europa braucht Partner und Verbündete, um mit gemeinsamen Kräften den zentralen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen und an ihnen zu wachsen. Der wichtigste Partner Europas sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Dabei ist mir natürlich bewusst, dass die Zusammenarbeit mit Amerika derzeit schwieriger ist, als wir uns dies wünschen würden. Dies gilt für die Klima- ebenso wie für die Handelspolitik und aktuell auch für die Frage der Bedeutung internationaler Organisationen bei der Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie. Dennoch bin ich zutiefst davon überzeugt, dass die transatlantischen Beziehungen, die Zusammenarbeit und das Bündnis mit den USA und in der NATO ein zentraler, tragender Pfeiler unserer Außen- und Sicherheitspolitik sind und bleiben. Diesen Pfeiler nicht nur zu erhalten, sondern ihn zu stärken, ist in unserem ureigenen nationalen und europäischen Interesse. Denn für die globale Ordnung, für Frieden und Stabilität, für die Bewältigung der großen Fragen unserer Zeit sind wir aufeinander angewiesen. Nur so können wir unseren Anliegen in der Welt mit Nachdruck Geltung verschaffen. Wir sollten nie vergessen, dass Europa nicht neutral ist. Europa ist Teil des politischen Westens. Wenn Europa sich und seine Werte in der Welt behaupten will – und das wollen wir; das müssen wir –, gelingt uns das nur, wenn wir sowohl stärker als früher unser Schicksal in die eigene Hand nehmen als auch als verlässlicher Partner der westlichen Werte- und Interessengemeinschaft agieren. Beides gehört für mich zusammen. Beides sind die zwei Seiten einer Medaille. Das prägt natürlich auch unser Verhältnis zu Russland. Es gibt zahlreiche wichtige Gründe, gute Beziehungen mit Russland anzustreben. Dazu zählen die geografische Nähe und gemeinsame Geschichte, globale Herausforderungen und wechselseitige Wirtschaftsbeziehungen. Das größte Land der Erde hat seinerseits natürlich auch zahlreiche gute Gründe für konstruktive Beziehungen zur Europäischen Union und zu Deutschland. Daher setze ich mich seit Beginn meiner Kanzlerschaft für einen kritisch-konstruktiven Dialog und ein friedliches Miteinander ein. Grundlage dafür kann nur das Verständnis davon sein, dass in den internationalen Beziehungen nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts gelten. Zu diesem Selbstverständnis unserer auswärtigen Beziehungen gehört beispielsweise ein Bekenntnis zur Schlussakte von Helsinki und zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Diesen Kanon an Werten und Regeln hat Russland wiederholt verletzt. Russland hat in seiner unmittelbaren Nachbarschaft einen Gürtel ungelöster Konflikte geschaffen und die ukrainische Halbinsel Krim völkerrechtswidrig annektiert. Es unterstützt Marionettenregime in Teilen der Ostukraine und greift westliche Demokratien mit hybriden Mitteln an, darunter auch Deutschland. Zweifelsfrei wird auch Russland uns während der EU-Ratspräsidentschaft weiterhin beschäftigten. Wo fundamentale Regeln des Völkerrechts missachtet werden, werden wir dies benennen. Falls Fortschritte im Minsk-Prozess ausbleiben, müssen wir die bestehenden Sanktionen aufrechterhalten. Andererseits gibt uns die Ratspräsidentschaft die Gelegenheit, neue Impulse in den Beziehungen zu setzen. Denken wir allein an die Themenfelder Libyen, Syrien, Klimaschutz, globale Gesundheit. So verschaffen wir sowohl mit unseren Prinzipien als auch mit unserem Engagement unseren Werten Ausdruck. Meine Damen und Herren, ein Virus mit einem Durchmesser von 140 Nanometern hat eine globale Wirkungsmacht entfaltet. Die Folgen der Pandemie werden auch unsere gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik auf unbestimmte Zeit maßgeblich prägen. Wir wollen während unserer Ratspräsidentschaft dazu beitragen, dass Europa nach innen gestärkt wird, damit wir auch nach außen in der Welt als solidarischer Stabilitätsanker auftreten können. Gemeinsam wollen wir Europa zu neuer Stärke führen. Konrad Adenauer hat mit seinem berühmten Satz Recht behalten, den ich zum Schluss zitieren möchte: „Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle.“ In diesem Sinne wünsche ich uns allen viel Kraft bei den vor uns liegenden Aufgaben, danke der Konrad-Adenauer-Stiftung nochmals für die Einladung und wünsche Ihnen jetzt noch eine gute Diskussion.
Videobotschaft von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der World Health Assembly 2020 am 18. Mai 2020
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/videobotschaft-von-bundeskanzlerin-angela-merkel-anlaesslich-der-world-health-assembly-2020-am-18-mai-2020-1753676
Mon, 18 May 2020 13:00:00 +0200
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Generaldirektor Tedros, Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herren, wir erleben eine globale Krise. Fast fünf Millionen Menschen weltweit, die sich – Stand heute – mit dem Coronavirus infiziert haben und – ebenfalls Stand heute – rund 300.000 Todesfälle weltweit, außerdem geschlossene Grenzen und herbe Einschnitte im Wirtschafts- und Alltagsleben zeigen, dass kaum ein Land von der Pandemie und ihren Folgen verschont bleibt. Diese Krise kann kein Land allein lösen, wir müssen gemeinsam handeln. Daher danke ich Ihnen allen, die Sie an der Weltgesundheitsversammlung teilnehmen, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Dabei kann uns helfen, dass die Ebola-Epidemie in Westafrika im Jahre 2014 zu notwendigen Reformen der WHO geführt hat. Auch die G7- und die G20-Staaten haben das Thema Gesundheit zu einer Priorität gemacht. Und auf der UN-Generalver-sammlung im letzten Jahr haben wir den „Globalen Aktionsplan für ein gesundes Leben und das Wohlergehen aller Menschen“ verabschiedet. Gleichwohl zeigt die Coronavirus-Pandemie noch einmal besonders nachdrücklich, dass wir weltweit noch mehr tun müssen – für bessere Frühwarn-Mechanismen und Präventions-Maßnahmen, für mehr Forschungs-Kooperation, für stärkere Gesundheitssysteme. Die Weltgesundheitsorganisation ist die legitimierte globale Institution, bei der die Fäden zusammenlaufen. Weil das so ist, müssen wir immer wieder prüfen, wie wir die Abläufe in der WHO weiter verbessern können. Dazu gehört auch, für ein nachhaltiges Finanzierungssystem zu sorgen. Am dringendsten aber ist jetzt natürlich, die Coronavirus-Pandemie einzudämmen: Hierfür bedarf es weltweit geeigneter Diagnostika und Therapeutika. Außerdem gilt es, einen Impfstoff zu entwickeln, der natürlich für alle zugänglich und bezahlbar sein muss. Nicht zuletzt müssen wir die vielfältigen wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie gemeinsam abfedern. Wie wir mit der Herausforderung umgehen, wird unsere nationalen Gesellschaften wie auch die internationale Gemeinschaft prägen. Ich bin überzeugt, dass wir die Coronavirus- Pandemie überwinden werden. Je mehr wir global gemeinsam daran arbeiten, umso schneller und besser wird uns das gelingen. Ich ermuntere alle, sich daran zu beteiligen! Und ich danke allen, die zum globalen Gemeinwohl beitragen!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen der COVID-19-Geberkonferenz am 4. Mai 2020 in Berlin (Videokonferenz)
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-der-covid-19-geberkonferenz-am-4-mai-2020-in-berlin-videokonferenz–1750234
Mon, 04 May 2020 15:20:00 +0200
Berlin
keine Themen
Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Ursula, liebe Kollegen und Freunde, ich bin sehr froh, heute für Deutschland bei dieser Konferenz dabei zu sein, denn sie zeigt ein Signal der Hoffnung in so schwierigen Stunden für viele Länder. Die Pandemie ist eine globale Herausforderung. Und deshalb können wir sie auch nur global besiegen. Alle, die heute mitwirken, verpflichten sich dem Ziel, gemeinsam an einem Impfstoff zu arbeiten sowie Medikamente und diagnostische Mittel bereitzustellen. Deutschland ist sehr gerne und aus Überzeugung dabei. Die G20 insgesamt hat die Verpflichtung abgegeben, sich zu engagieren. Sie verkörpert immerhin 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Welt. Ich bin der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sehr, sehr dankbar dafür, dass sie die Initiative ergriffen hat, um Akteure aus dem politischen, dem privaten und dem Stiftungsbereich zusammenzubringen. Ich bedanke mich bei der WHO und bei den Vereinten Nationen dafür, dass sie diese Veranstaltung unterstützen. Wir sind bereit, auch neue Wege zu gehen. Wir müssen flächendeckende Tests für möglichst viele Menschen auf der Welt bereitstellen. Wir brauchen Partnerschaften insbesondere mit unseren afrikanischen Freunden und mit vielen anderen Ländern. Wir müssen neue Wege gehen, wenn es darum geht, einerseits einen Impfstoff zu entwickeln, andererseits aber auch schon die Produktion dieses Impfstoffs vorzubereiten. Wir tun dies alles mit einem gemeinsamen Ziel: möglichst vielen Menschen angesichts einer solchen Pandemie Gesundheit zu ermöglichen. Deutschland fühlt sich diesem Ziel verpflichtet. Wir werden uns mit 525 Millionen Euro direkt an diesem Pledging beteiligen; und wir werden unsere Verpflichtungen für die globale Gesundheit insgesamt mit etwa 1,3 Milliarden Euro weiterführen. Dies tun wir, wenn es etwa um Gavi und um den Ausbau und die Stärkung von Gesundheitssystemen vor allem in vielen Ländern des Südens geht. Wir werden auch unsere humanitäre Hilfe erhöhen, da wir wissen, dass diese Pandemie dramatische Auswirkungen hat. Wir sehen zum Beispiel auch, dass in Afrika die Malariaerkrankungen zunehmen. Die Schäden, die durch die Pandemie auch mitausgelöst werden, sind also viel vielfältiger als nur diese Pandemie selbst. Ich halte diese heutige Konferenz in einer Zeit, in der wir nicht immer multilateral so zusammenarbeiten, wie ich mir das wünsche, für ein ganz wichtiges Signal. Es ist eine Stunde der Hoffnung. Ich danke allen, die dabei sind. Deutschland wird sich tatkräftig einbringen und die Entwicklung weiterverfolgen. Wir wissen, dass dies nicht die letzte Konferenz dieser Art war und dass noch mehr Anstrengungen nötig sein werden. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des XI. Petersberger Klimadialogs am 28. April 2020 (Videokonferenz)
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-des-xi-petersberger-klimadialogs-am-28-april-2020-videokonferenz–1748018
Tue, 28 Apr 2020 15:25:00 +0200
Berlin
Alle Themen
Sehr geehrter Herr Generalsekretär, lieber António Guterres, Exzellenzen, meine Damen und Herren, liebe Svenja Schulze, ich möchte Sie alle ganz herzlich begrüßen und freue mich, in diesem Jahr wieder beim Petersberger Klimadialog mit dabei zu sein. 2020 sollte eigentlich das Jahr der Biodiversität und des Klimaschutzes werden. Nun sehen und erleben wir aber jeden Tag, wie sehr und wie tiefgreifend die Coronavirus-Pandemie unser Zusammenleben und Zusammenarbeiten verändert. Dennoch – das ist meine Überzeugung – dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, dass die anderen großen Menschheitsaufgaben uns weiterhin herausfordern. Deshalb muss 2020 trotz allem auch das Jahr der Biodiversität und des Klimaschutzes werden. Damit das gelingt, ist es so überaus wichtig, den Petersberger Klimadialog gerade auch jetzt weiterzuführen. Ich danke allen Beteiligten – insbesondere aus dem Vereinigten Königreich – dafür, dass wir diesen Klimadialog auch unter diesen besonderen Umständen durchführen können. Die nächste UN-Klimakonferenz – die COP 26 – wird ja unter britischer Präsidentschaft stattfinden. Die Coronavirus-Pandemie führt uns einmal mehr – wenn auch besonders schmerzlich – vor Augen, wie sehr es auf internationale Zusammenarbeit ankommt. In unserer eng vernetzten Welt hängt nationales Wohl eben immer auch vom globalen Wohl ab. Ob Coronavirus-Krise, Wirtschafts-, Finanz- oder Klimakrise – für alle großen Herausforderungen gilt: Je mehr wir gemeinsam handeln, umso besser können wir menschliches Leid und wirtschaftliche Verwerfungen vermeiden bzw. eindämmen. Meine Damen und Herren, wir sehen, dass in allerjüngster Zeit die klimaschädlichen Emissionen gesunken sind. Aber das darf uns natürlich nicht täuschen, denn das ist im Wesentlichen durch das Herunterfahren, durch den Shutdown unseres öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens bedingt. Deshalb ist es weiterhin unsere Aufgabe und haben wir weiterhin die Verantwortung, mit aller Ernsthaftigkeit und Leidenschaft das Klimaabkommen von Paris umzusetzen. Wir bleiben aufgefordert, die nationalen Beiträge bis 2030 zu verbessern, weltweit Langfriststrategien bis 2050 zu entwickeln und für eine entsprechende Klimafinanzierung zu sorgen. Die Europäische Kommission hat uns mit dem „Green Deal“ den Weg aufgezeigt: Europa soll bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent werden. Wir wissen, dass das ein langer Weg ist. Deshalb begrüße ich den Vorschlag des Zwischenziels, in der Europäischen Union bis 2030 die Emissionen auf 50 bis 55 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Dazu brauchen wir ein umfassendes Maßnahmenpaket. Dazu zählen Investitionen in klimafreundlichere Infrastrukturen und auch eine angemessene CO2-Bepreisung. Ich begrüße die geplante Ausweitung des EU-Emissionshandels auf weitere Sektoren. In Deutschland haben wir bereits im vergangenen Jahr beschlossen, die CO2-Bepreisung auch in den Bereichen Verkehr und Wärme einzuführen. Damit steigern wir die Anreize für Unternehmen wie auch für Privathaushalte, Investitionen vorzunehmen, um künftig CO2-Emissionen und damit auch CO2-Kosten einzusparen. Deutschland wird bis 2038 aus der Kohleverstromung aussteigen. Das bedeutet für bestimmte Regionen in der Bundesrepublik einen wirklich tiefgreifenden Strukturwandel. Wir werden dort besonders stark investieren, um Klimaschutz mit neuen wirtschaftlichen Perspektiven und damit auch Arbeitsplätzen für die Menschen zu verbinden. Wir werden den Ausbau der erneuerbaren Energien weiter vorantreiben. Bis 2030 soll der Anteil der erneuerbaren Energien 65 Prozent betragen. Wir wollen nicht nur an uns denken, sondern auch die internationale Zusammenarbeit voranbringen. Wir stellen in diesem Jahr vier Milliarden Euro für die internationale Klimafinanzierung zur Verfügung. Damit können wir sagen, dass wir unseren Einsatz seit 2014 verdoppelt haben. Wir haben unseren Beitrag für den „Grünen Klimafonds“ bereits auf 1,5 Milliarden Euro erhöht. Und auch nach 2020 wird Deutschland seinen Beitrag zur internationalen Klimafinanzierung gemäß Pariser Abkommen leisten. Lassen Sie es mich noch einmal sagen: Es wird eine schwierige Verteilungsdiskussion mit Blick auf unsere jeweiligen öffentlichen Haushalte geben, wenn wir uns die wirtschaftlichen Schäden, die die Coronavirus-Pandemie mit sich gebracht hat, anschauen. Umso wichtiger wird es sein, wenn wir Konjunkturprogramme auflegen, immer auch den Klimaschutz ganz fest im Blick zu haben und deutlich zu machen, dass wir nicht etwa am Klimaschutz sparen, sondern dass wir in zukunftsfähige Technologien investieren – dass wir nicht nur national an uns denken, sondern dass wir auch unsere internationalen Verpflichtungen weiter stark nach vorne bringen, weil das essenziell dafür ist, dass es einen globalen Erfolg im Klimaschutz gibt. Um dem gemeinsamen Abkommen von Paris gerecht zu werden, muss natürlich jeder in der Weltgemeinschaft seinen Beitrag leisten. Wir müssen weg von fossilen Brennstoffen und hin zu erneuerbaren Energien und größerer Einsparung von Energie kommen. Wir glauben und ich glaube, dass dabei marktwirtschaftliche Anreize eine hohe Bedeutung haben und dass wir eine CO2-Bepreisung brauchen. Es wäre sehr zu wünschen, dass möglichst viele Länder dieser Erde darauf setzen. Denn die CO2-Bepreisung ist der effizienteste Weg, um Emissionen zu reduzieren. Und eine breite Beteiligung beugt natürlich Wettbewerbsverzerrungen vor, die es geben könnte, wenn das nur Einzelne machen. Insgesamt ist es wichtig, wenn Investoren sehen können, dass es sich lohnt, in moderne Technologien zu investieren. Das gilt nicht zuletzt auch mit Blick auf erneuerbare Energien. Die Energiequellen Wind und Sonne stehen überall zur Verfügung. Aber es ist oft so, dass deren Nutzung an den Kapitalkosten scheitert. Deshalb brauchen wir einen Finanzmarkt, der günstiges Kapital für klimafreundliche Investitionen bereitstellt. Auch hierbei sollten möglichst viele Akteure zusammenarbeiten – Staaten, Entwicklungsbanken, aber auch die private Finanzwirtschaft. Ökonomie und Ökologie müssen zusammen gedacht werden. Und das müssen wir natürlich auch mit Blick auf die Biodiversität tun. Wir wissen, dass die natürlichen Lebensräume zusammenschrumpfen. Das hat gravierende Auswirkungen auf die Artenvielfalt. Und das ist wiederum auch für uns Menschen eine Bedrohung. Ich will ein Beispiel nennen: Wissenschaftlern zufolge sind in den letzten Jahrzehnten 60 Prozent aller Infektionskrankheiten von Tieren auf Menschen übertragen worden. Das ist insbesondere auf die verstärkte Nutzung bislang ungestörter Lebensräume und der damit verbundenen Nähe zu wilden Tieren zurückzuführen. Es führt also kein Weg daran vorbei, dass wir beim internationalen Schutz der Biodiversität und der Wälder vorankommen müssen. Bis zur 15. UN-Konferenz zur Umsetzung der Biodiversitätskonvention im nächsten Jahr brauchen wir einen neuen Rahmen für den Schutz der Artenvielfalt. Meine Damen und Herren, die 17 Ziele der Agenda 2030 – darunter ja auch Gesundheit und Klimaschutz – machen deutlich, dass es nachhaltige Entwicklung nicht zulasten einzelner Ziele geben kann, sondern dass wir immer alle Ziele insgesamt im Blick haben müssen. Wie alle Ziele der Agenda 2030 können wir auch die Herausforderung des Klimaschutzes letztlich nur dann erfolgreich bewältigen, wenn wir sowohl national konsequent handeln als auch international gemeinsam handeln. Ich bitte Sie alle um Ihre Unterstützung dafür und hoffe, dass von dieser Konferenz ein Signal dafür ausgeht, dass Klimaschutz und Biodiversität gerade auch in Zeiten einer solchen weltweiten pandemischen Krise von allergrößter Bedeutung sind. Ich danke allen, die mitmachen. Schön, dass ich dabei sein durfte. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen der deutsch-griechischen Wirtschaftskonferenz am 9. März 2020 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-der-deutsch-griechischen-wirtschaftskonferenz-am-9-maerz-2020-in-berlin-1729382
Mon, 09 Mar 2020 14:27:00 +0100
Berlin
Wirtschaft und Energie
Sehr geehrter Herr Schweitzer, meine Damen und Herren, ganz besonders begrüße ich Sie, Herr Ministerpräsident, lieber Kyriakos Mitsotakis, hier heute in Berlin. Das ist ein großes Ereignis. Ich freue mich, dass Sie hier sind und dass du hier bist. Wir haben letztes Jahr über die Möglichkeit einer deutsch-griechischen Konferenz gesprochen und waren uns sofort einig, dass wir diese Idee unterstützen. Nun ist sie Realität geworden. Wir sind davon überzeugt, dass die Wirtschaftsbeziehungen unserer beiden Länder gar nicht so gut sein können, dass wir sie nicht noch weiter ausbauen könnten. Die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Griechenland erstreckt sich natürlich weit über die wirtschaftlichen Fragen hinaus und ist auch für Europa in vielerlei Hinsicht von großer Wichtigkeit. Das möchte ich besonders in diesen Tagen noch einmal betonen. Wenn man sich die Landkarte anschaut, dann sieht man, dass die geografische Lage Griechenland vor besondere Herausforderungen stellt. Griechenland liegt an der EU-Außengrenze. Der Krieg in Syrien, die Spannungen im Libanon, die Fragen in Libyen, die ungelösten Fragen der Seegrenzen und der Ressourcennutzung im östlichen Mittelmeer – all das betrifft Griechenland wie kein anderes Land der Europäischen Union. Besonders sieht sich Griechenland in diesen Tagen, wie auch schon in den vergangenen Jahren – oft wird das nicht ganz beachtet –, mit Flucht und Migration vieler verzweifelter und perspektivloser Menschen konfrontiert. Mit der Ersthilfe für Asylsuchende und dem Schutz der europäischen Außengrenze nimmt das Land eine große Verantwortung für ganz Europa wahr. Dafür – das will ich hier noch einmal ausdrücklich unterstreichen – verdient es unsere volle Solidarität und unsere volle Unterstützung. Das haben in der vergangenen Woche die EU-Innenminister klar zum Ausdruck gebracht; auch die Außenminister. Und wir haben das gestern auch im Koalitionsausschuss der deutschen Regierung noch einmal betont. Natürlich ist es unsere Aufgabe, Zuflucht suchenden Menschen in ihrer Heimat oder, wo das wegen Krieg und Verfolgung nicht möglich ist, möglichst nahe ihrer Heimat Sicherheit und eine Perspektive für Bildung, Ausbildung und Arbeit zu geben. Denn wir sollten auch nie vergessen, dass natürlich niemand seine Heimat leichtfertig verlässt. Das gilt im Übrigen auch für die Menschen, die allein aus wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit nach Europa wollen, hier aber keinerlei Bleibeperspektive haben. Wenn wir uns all das vor Augen führen, dann verstehen wir, dass mit dem EU-Außengrenzschutz und Frontex die illegale Migration bekämpft werden muss, um auch ganz konkret Leben zu retten, das Schleuser immer wieder skrupellos aufs Spiel setzen. Dann verstehen wir, dass illegale Migration darüber hinaus auch durch legale Migrationsmöglichkeiten ersetzt werden muss, wie es ja auch schon im EU-Türkei-Abkommen vorgesehen ist, und dass wir – das ist am allerwichtigsten wie auch am schwierigsten – die Ursachen von Flucht bekämpfen müssen, damit Menschen in ihrer Heimat wieder eine Perspektive haben. Genau das ist die Philosophie, die das EU-Türkei-Abkommen trägt, für das ich mich seit 2015 eingesetzt habe und auch in Zukunft weiter einsetzen werde. Das ist auch die Philosophie der Migrationszusammenarbeit zum Beispiel mit den afrikanischen Staaten, die mir natürlich ebenso wichtig ist. Wir können sagen: 2020 ist nicht 2015. Doch niemand sollte deshalb so naiv sein, zu glauben, die Themen Flucht und Migration könnten gleichsam per Knopfdruck ein für alle Mal, wie es oft heißt, gelöst werden. Das ist angesichts so vieler Kriege und Konflikte falsch und irreführend, zumal in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung. Aber sehr wohl – das können die Bürgerinnen und Bürger auch von uns als Politikern erwarten – können wir es schaffen, Flucht und Migration zu ordnen, zu steuern und zu reduzieren. Das ist das Ziel der vielen Gespräche, die ich und viele andere seit 2015 und auch aktuell in diesen Tagen wieder führen, nicht zuletzt auch mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan. Denn bei allem Verständnis für die große Last, die die Türkei mit der Aufnahme von über 3,5 Millionen syrischer Flüchtlinge und noch sehr viel mehr anderen Flüchtlingen trägt, kann sie kein Verständnis dafür erwarten, wenn sie eigene Probleme auf dem Rücken von Flüchtlingen zu lösen versucht, die dann an der türkisch-griechischen Grenze in einer Sackgasse stranden. Dieses Vorgehen ist inakzeptabel. Ich setze mich deshalb mit ganzer Kraft dafür ein, dass das EU-Türkei-Abkommen in eine neue Stufe überführt werden kann. Dazu wird es heute Abend ein Treffen der Kommissionspräsidentin und des Präsidenten des Rates mit Präsident Erdoğan geben. Ein großer Unterschied zu 2015 ist übrigens, dass sich jetzt die europäischen Institutionen, besonders mit Ursula von der Leyen und Charles Michel, ganz anders in die Fragen einbringen, die uns gemeinsam bewegen. Das hat auch der Besuch von Ursula von der Leyen und Charles Michel gezeigt. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass das Gespräch heute Abend stattfindet. Es ist auch in vielerlei Hinsicht durch viele Telefonate gut vorbereitet. Wir kennen im Übrigen die Belastung Griechenlands, die nicht erst in den letzten Tagen begonnen hat – denken wir etwa an die Inseln –, und fühlen uns deshalb auch in Deutschland mit dafür verantwortlich, dass neben dem Schutz der Außengrenze Kindern, die krank, besonders verwundbar, unbegleitet und in einer schwierigen Situation sind, Hilfe gegeben werden muss. Das kann Griechenland nicht allein bewältigen. Deshalb wird sich Deutschland an einer „Koalition der Willigen“ mit einem angemessenen Anteil beteiligen. Meine Damen und Herren, bei dieser Konferenz heute stehen ganz besonders die bilateralen deutsch-griechischen Wirtschaftsbeziehungen im Mittelpunkt. Ich möchte dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag sowie der Deutsch-Griechischen Industrie und Handelskammer für die Ausrichtung dieser Konferenz herzlich danken und auch die vielen griechischen Gäste herzlich begrüßen. Seit vielen Jahrzehnten ist unsere Auslandshandelskammer in Athen und Thessaloniki ein wichtiger Ansprechpartner für alle Unternehmen, die die Wirtschaftspartnerschaft unserer beiden Länder mit Leben erfüllen oder sich neu einbringen wollen. 2019 wurden immerhin Waren im Wert von rund sechs Milliarden Euro aus Deutschland nach Griechenland exportiert. Dem gegenüber stehen Importe aus Griechenland im Wert von über zwei Milliarden Euro. Da gibt es noch Luft, was eine Steigerung angeht. Darüber hinaus gehört Griechenland – Kyriakos Mitsotakis hat es gesagt – zu den beliebtesten Reisezielen deutscher Urlauber. Aber immerhin: Umgekehrt steht Deutschland auf der Zielliste griechischer Reisender nach dem Nachbarn Bulgarien bereits an zweiter Stelle. Mit Blick auf Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand braucht es neben dem Tourismus aber natürlich auch Erfolge in anderen Branchen. Griechenland hat mit der Staatsschuldenkrise sehr, sehr schwierige Jahre hinter sich. Aber gerade auch die neue Regierung hat mutig Reformen für ein wachstumsfreundliches Umfeld angestoßen. Es braucht natürlich Zeit, bis die Reformen in vollem Umfang wirken. Aber die Anstrengungen lohnen sich. Laut Prognose der Europäischen Kommission könnte das Wirtschaftswachstum in Griechenland 2020 bei 2,4 Prozent liegen – und damit deutlich über dem Durchschnitt des Euroraums. Erfreulicherweise macht sich endlich das bessere Wirtschaftsklima auch auf dem Arbeitsmarkt positiv bemerkbar. Der Trend stimmt also. Wir wissen ja, was es bedeutet, wenn viele Menschen arbeitslos sind. Von besonderer Bedeutung sind Bildung und Ausbildung. Ich finde es deshalb sehr wichtig, dass auch die AHK Griechenland einen Schwerpunkt auf die Berufsbildung vor Ort legt. Das ist zum einen ein wichtiger Beitrag dazu, griechischen Jugendlichen eine Perspektive zu bieten, und zum anderen ein wichtiger Beitrag für die Unternehmen, die ja auch in Griechenland und nicht nur in Deutschland auf qualifizierte Fachkräfte angewiesen sind. Fachliches Know-how ist und bleibt wesentliche Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung. Wir wissen ja, dass wir uns weltweit in einem ständigen Wettbewerb um die besten Ideen und Innovationen bewegen. Die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, ist gerade auch angesichts vieler Unsicherheiten in der Weltwirtschaft von allergrößter Bedeutung. Es gibt eine Reihe schwelender Handelsstreitigkeiten. Es gibt den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Wir haben zudem seit Anfang des Jahres die Folgen des Coranavirus zu bewältigen; vorneweg die medizinischen, aber auch – das wird jeden Tag sichtbarer – die ökonomischen. Ich weiß und verstehe, dass Sie sich alle hier im Raum, die Sie Unternehmen führen oder in Unternehmen beschäftigt sind, hierüber Gedanken und Sorgen machen. Deshalb möchte ich auch zu diesem Thema ein paar grundsätzliche Bemerkungen machen. Wir alle erleben, wie sich das Virus von China aus über die Welt ausbreitet. Das Virus ist inzwischen auch in unserem Land; und es wird sich auch hier weiter ausbreiten. Das heißt aber in keiner Weise, dass alles, was wir in allen Ländern dieser Erde, auch in Deutschland, zur Unterbrechung der Infektionsketten mit Quarantänemaßnahmen bislang gemacht haben, in irgendeiner Weise vergebens gewesen wäre oder dass es sogar egal wäre, was wir unternehmen, weil das Virus ja sowieso nicht mehr gestoppt werden kann. Es war und ist überhaupt nicht vergebens; und es war und ist überhaupt nicht egal, was wir tun. Warum nicht? Seit Jahresbeginn haben wir es mit einem neuartigen Virus zu tun, das sehr ansteckend ist und gegen das es keinen Impfstoff und auch noch kein Medikament gibt. In einer solchen Lage – das erklären uns die Fachleute des Robert-Koch-Instituts und viele andere Wissenschaftler wieder und wieder – ist das wirksamste Mittel gegen das Virus der Faktor Zeit, gerade auch um die Überlastung von Ärzten und Krankenhäusern zu vermeiden, die entstünde, wenn innerhalb kürzester Zeit sehr viele Menschen gleichzeitig wegen Corona zu behandeln wären. Mit anderen Worten: Das wirksamste Mittel gegen das Virus ist, seine Ausbreitung zu verlangsamen, sie also über einen längeren Zeitraum zu strecken. Denn – auch das müssen wir neben Corona beachten – immer müssen auch Menschen mit anderen Erkrankungen die medizinische Behandlung bekommen können, die sie brauchen. Wir erarbeiten uns also wertvolle Zeit. Zeit, in der die Wissenschaft für Medikamente und einen Impfstoff forschen kann. Zeit, in der Staat und Politik dazu beitragen können, den in den nächsten Monaten – vielleicht auch erst im Herbst und nächsten Winter – benötigten zusätzlichen Bedarf an Schutzausrüstung für medizinisches und pflegerisches Personal und für die intensivmedizinische Bettenausstattung in den Krankenhäusern aufzustocken. Zeit, in der auch jeder Einzelne von uns lernen und noch besser verstehen kann, dass es – wie wir es heute gemacht haben – genauso schön sein kann, Menschen zur Begrüßung zuzulächeln, und dass sowieso auf ein rücksichtsvolles Verhalten gegenüber unseren Mitmenschen mit etwas Abstand, ganz besonders beim Husten und Niesen, zu achten ist. Fazit: Nichts von dem, was mit Quarantäne- und Hygienemaßnahmen zur Unterbrechung der Infektionsketten gemacht wurde und gemacht wird, war und ist vergebens oder sinnlos. Ganz im Gegenteil, alles davon ist notwendig – und zwar im wahrsten Wortsinne notwendig, denn damit tragen wir alle dazu bei, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und über einen längeren Zeitraum zu strecken. Das ist das so überaus wichtige Ziel all unserer Bemühungen. Dabei behalten wir auch die deutsche und europäische Wirtschaft im Blick. Es gibt Einbußen in der Wirtschaftstätigkeit. Deshalb haben wir gestern Verordnungsermächtigungen bis zum Ende 2021 beschlossen, die dazu dienen, durch Absenkung der Hürden den Bezug des Kurzarbeitergeldes zu erleichtern. Wir werden nur ein Quorum von bis zu zehn Prozent verlangen, damit man Kurzarbeitergeld in Anspruch nehmen kann. Es wird nicht mehr unbedingt auf negative Arbeitszeitsalden bestanden, sondern wir können darauf etwas oder ganz verzichten. Das Kurzarbeitergeld soll auch für Leiharbeiter gezahlt werden. Zudem werden wir die Sozialversicherungsbeiträge durch die Bundesagentur für Arbeit übernehmen. Das ist etwas, das wir bereits während der Finanzkrise gemacht haben und damals sehr erfolgreich war, weil es den Unternehmen ein höheres Maß an Liquidität verlieh. Wir werden dieses Gesetz zusammen mit einem Gesetz zur strukturellen Frage des Kurzarbeitergeldes, wie wir sie ja auch noch in der Automobilindustrie und im Maschinenbau angesichts der durch die Digitalisierung notwendig gewordenen Umstellung haben, am Mittwoch im Kabinett behandeln. Unser Ziel ist es, am 3. April den Bundesrat zu erreichen, sodass das Ganze sehr schnell wirken kann. Darüber hinaus werden der Bundesfinanz- und der Bundeswirtschaftsminister noch in dieser Woche Maßnahmen zur Verbesserung der Liquiditätssituation von Unternehmen vorstellen, sodass wir für die Situation, die auf uns und viele von Ihnen zukommt und teils schon eingetreten ist, auch gut gerüstet sind. Wir werden 2020 und in den Folgejahren unsere Investitionen weiter steigern. Das ist etwas, womit Deutschland auch einen Beitrag leisten möchte, damit wir in Europa eine gute wirtschaftliche Entwicklung haben. Natürlich werden wir auch beim Europäischen Rat am 26. März über Wirtschaftsfragen sprechen. Wir unterstützen die Politik der Europäischen Union, alles zu tun, damit auch die vernetzte Weltwirtschaft weiter gut funktionieren kann, zum Beispiel durch bilaterale oder regionale Handelsabkommen. Wir investieren in die Wettbewerbsfähigkeit, indem wir vor allem in Innovationen investieren. Wir haben uns vor zehn Jahren das Ziel gesetzt, dass wir unsere Forschungs- und Entwicklungstätigkeit in Deutschland mit drei Prozent des Bruttoinlandprodukts finanzieren – Wirtschaft und Staat zusammen. Das haben wir erreicht. Jetzt heißt das nächste Ziel: 3,5 Prozent bis 2025. Wir müssen uns natürlich in allen Branchen innovationsfreudig zeigen. Das ist auch ein deutsch-griechisches Thema, zum Beispiel im Bereich des Tourismus und der Landwirtschaft. Die Art der wirtschaftlichen Tätigkeit wird sich verändern. Je schneller wir die Transformation schaffen, umso besser. Wir müssen natürlich bei Künstlicher Intelligenz, Blockchain, Biotechnologien und Quantentechnologien vorn mit dabei sein. Mit den europäischen Forschungsprogrammen und dem Europäischen Innovationsrat verfolgen wir besonders gute Ansätze. Gerade auch mit dem griechischen Ministerpräsidenten teilen wir viele Gemeinsamkeiten, was den Anspruch für die Zukunft unserer Länder anbelangt. Wir wollen digitale Souveränität erreichen. Ich sehe mit Freude, dass die Europäische Kommission in dieser Woche noch eine Industriestrategie vorstellen wird. Mit dieser Industriestrategie wird man sich auch noch stärker überlegen: Wie stellen wir uns auf die Wettbewerbssituation ein? Wie bekommen wir globale Champions auch in Europa? Das finde ich sehr wichtig. Was die Möglichkeiten der Digitalisierung anbelangt, können wir in Europa viel voneinander lernen. So machen etwa griechische Städte vor, was Smart Cities auszeichnet. Zum Beispiel sind in Trikala nicht nur autonom fahrende Busse unterwegs. Dort sind auch alle städtischen Dienstleistungen miteinander vernetzt. So kann ein Verwaltungsmitarbeiter etwa den Status von Ampeln, Wasserleitungen, freien Parkplätzen und sogar die Standorte jedes einzelnen Müllwagens überprüfen. Und die Bürgerinnen und Bürger haben die Möglichkeit, ihre Dienstleistungsanfragen online oder per App zu stellen. Ich glaube, Berlin kann noch etwas davon lernen. An den neuen Möglichkeiten, die die Digitalisierung bietet, sehen wir, dass die technologischen Neuerungen auch für die Transformation hin zur Treibhausgasneutralität eine wichtige Rolle spielen, die wir in Europa bereits 2050 erreichen wollen. Denken wir nur an digital gesteuerte und effizientere Produktionsprozesse. Natürlich kommt es auch auf den Umbau des Energiesektors an. Der griechische Premierminister hat darüber auch gesprochen. Es freut mich, dass im Rahmen der heutigen Konferenz zwei Unternehmen ein Memorandum of Understanding unterzeichnet haben. Es soll eine gemeinsame Realisierung von Solarparks in Griechenland geben. Ich gratuliere. Neben dem Energiebereich ist uns auch an einer engen Zusammenarbeit in anderen Sektoren gelegen. Das zeigte sich nicht zuletzt beim Deutsch-Griechischen Innovationsforum, das im November in Athen stattgefunden hat. Wir freuen uns natürlich, dass wir bei der berühmten Thessaloniki International Fair im September dieses Jahres – wenn sie ansteht, kann kein griechischer Premierminister etwas anderes machen, als Thessaloniki zu besuchen – Partnerland sein werden. Danke dafür. Wir werden bestehende Kontakte festigen, neue Kontakte knüpfen und weitere Projekte angehen. Es gibt also viele Bereiche und viele Gelegenheiten, um die deutsch-griechische Partnerschaft noch weiter zu vertiefen – sei es in der Wirtschaft oder in der Wissenschaft, in der Kultur oder auch in der Politik. Ich möchte ausdrücklich die Kommunalpolitik einschließen. Denn in unseren Städten und Gemeinden, also im direkten Lebensumfeld, stehen viele Menschen vor vergleichbaren Herausforderungen. Es bietet sich also an, voneinander zu lernen und Erfahrungen auszutauschen. Deshalb haben wir 2010 die Deutsch-Griechische Versammlung ins Leben gerufen. Und die jetzige Regierung hat das auch noch einmal bekräftigt. Aus einem konstruktiven Gedankenaustausch ein gewinnbringendes Miteinander zu machen – dem dient auch die heutige Konferenz. An den hochrangig besetzten Expertenpanels zeigt sich, wie groß das Interesse an einer noch engeren Zusammenarbeit ist. Neue Investitionen, weitere Handelsbeziehungen, gute menschliche Beziehungen – das wünsche ich dieser Konferenz und allen, die an den deutsch-griechischen Beziehungen beteiligt sind. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und dass wir hier dabei sein konnten.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung des 11. Integrationsgipfels am 2. März 2020 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-eroeffnung-des-11-integrationsgipfels-am-2-maerz-2020-in-berlin-1726948
Mon, 02 Mar 2020 12:35:00 +0100
Berlin
keine Themen
Lieber Bundesinnenminister Horst Seehofer, liebe Annette Widmann-Mauz, die Du die ganze organisatorische Arbeit mit Deinem Stab gemacht hast, lieber Kanzleramtsminister Helge Braun und Sie alle, die Sie heute an diesem Integrationsgipfel teilnehmen, ich begrüße Sie ganz herzlich. Es ist der 11. Integrationsgipfel. Ich möchte dieses Mal ganz besonders Herrn Minister Mendicino begrüßen. A warm welcome to you. You arrived from Canada. Sie sind als Minister für Einwanderung, Flüchtlinge und Staatsbürgerschaft der erste ausländische Gast bei einem solchen Integrationsgipfel. Das deutet schon darauf hin, dass wir heute ein ganz besonderes Hauptthema haben. Deshalb begrüße ich auch Sozial- und Arbeitsminister Heil und ebenso Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Nach unserer heutigen Sitzordnung sitzen Vertreter der Migrationsverbände zwischen den Ministern. Deshalb muss sich mein Auge an diese neue Konstellation erst gewöhnen. Obwohl wir ein Hauptthema haben, stehen wir alle natürlich unter dem Eindruck des Anschlags von Hanau am 19. Februar. Ich möchte deshalb zu Beginn der Veranstaltung auch an die Menschen erinnern, die Opfer rechtsextremer, rassistischer und islamfeindlicher Gewalt oder islamfeindlichen Hasses wurden. Ich darf allen sagen, dass wir mit den Familien und Angehörigen trauern und dass wir natürlich sehr bedrückt sind, dass es bisher nicht gelungen ist, solche Taten zu stoppen, sondern dass es eine ganze Reihe von Dingen gab, die uns sehr, sehr umtreiben. In einem Vorgespräch mit Migrantenverbänden – Annette Widmann-Mauz hatte eingeladen; Horst Seehofer war auch dabei – haben wir heute gesagt, dass wir noch mehr tun müssen, weil wir mit den Ergebnissen, die wir haben, natürlich überhaupt nicht zufrieden sein können. Jeder Mensch, der in diesem Lande lebt, muss sich sicher fühlen können und muss in seiner Würde akzeptiert werden. Das gibt uns auch das Grundgesetz auf. Sicherheit ist die Voraussetzung dafür, dass man in seiner Würde überhaupt akzeptiert wird. Wir haben leider gelernt, dass Worte auch zu Taten werden können und daraus schreckliche Gewalt erwachsen kann. Das heißt, wir müssen weit vor der Anwendung von Gewalt aufmerksam sein – es geht um unsere Diskussionskultur, um die Wortwahl, um das gesellschaftliche Klima. Heute sitzen hier Vertreter aus verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen, die ich alle begrüße – von Wohlfahrtsverbänden bis zu Wirtschaftsverbänden –, und die uns dabei helfen können. Politik hat eine zentrale Verantwortung, aber die Gesellschaft ist viel, viel umfassender. Letztlich geht es um unser Selbstverständnis. Gestern ist das Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Deutschland in Kraft getreten. Wir haben uns lange mit der Frage der Einwanderung beschäftigt und gesagt: Ja, wir haben in verschiedener Form Einwanderung, aber wir wollen jetzt auch ganz bewusst auf Menschen setzen, deren fachliche Kompetenz wir brauchen. Das haben Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik gemeinsam gesagt; und das unterscheidet unsere heutige Betrachtungsweise doch sehr von der Betrachtungsweise in der Zeit zu Anfang der 60er Jahre, als, wie sie genannt wurden, Gastarbeiter zu uns kamen. Schon in diesem Wort hat sich ausgedrückt, dass wir dachten: Na ja, sie kommen; und dann gehen sie auch wieder. Wir haben positive Entwicklungen erkannt, aber auch die Aufgaben, die für die zweite, dritte und vierte Generation erwachsen sind. Wir wissen, dass Integration keine Sache nur einer Generation ist. Aber wir wissen inzwischen auch, dass es nicht nur um Integration geht, sondern dass es auch darum geht, miteinander zu leben. Es gibt nicht immer das „Wir“ und das „Ihr“, wie es Annette Widmann-Mauz heute gesagt hat, sondern wir sind eine Gesellschaft. Das ist der zentrale Satz. Deshalb wollen wir heute nicht nur darüber sprechen, was wir im Bereich der Vorintegration tun können, sondern wir wollen auch ein bisschen von Ihren Erfahrungen profitieren, Herr Mendicino. Deshalb danke ich für die Idee, Herrn Mendicino hierher einzuladen. Ich freue mich auf die Diskussion und darauf, miteinander verschiedene Fragen durchzugehen, zum Beispiel: Was ist wichtig für jemanden, der in unsere Gesellschaft kommt; was sollte er wissen, bevor er überhaupt ankommt? Das wird eine spannende Diskussion, die wir allerdings ein bisschen dadurch verändern, dass wir uns zu Beginn hier in diesem Kreis von drei Vertretern der Migrantenverbände zum gesellschaftlichen Klima berichten lassen, was wir in der Vorveranstaltung mit den Migrantenverbänden besprochen haben, sodass wir eine Brücke schlagen. Dann kommen wir zu unserem zentralen Punkt. So weit von meiner Seite die Einführung.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters zum 40-jährigen Jubiläum der AG DOK–Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zum-40-jaehrigen-jubilaeum-der-ag-dok-arbeitsgemeinschaft-dokumentarfilm-1728100
Thu, 27 Feb 2020 10:30:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Ab 40, die Älteren unter uns wissen es, ab 40 merkt man, dass man älter wird, die einen mehr, die anderen weniger: Man kann sich in den besten Jahren wähnen – oder in der Midlifecrisis stecken. Man kann mit dem Pfund der Lebenserfahrung wuchern – oder die ersten Sorgenfalten zählen. Man kann die Ärmel hochkrempeln und nochmal was Neues anpacken – oder angesichts verpasster Chancen Torschlusspanik schieben. Man kann es so sehen wie der Regisseur der Komödie „Immer Ärger mit 40“, die 2013 im Kino lief: Einigermaßen gut aussehen, meinte er, das ginge bis 40. Der Rest des Lebens bestehe eigentlich nur darin, den Verfall aufzuhalten. Man kann es aber auch so sehen wie die AG DOK–Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm: „Das Jubiläum ist uns Ansporn zu neuem Aufbruch. (…) 40 ist das neue 20. Es gibt viel zu tun!“ Fest steht: Sollte sich jemals ein Dokumentarfilm dem Lebensgefühl der 40jährigen, der nicht mehr Jungen und noch nicht Alten widmen, die AG DOK–Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm wäre das beste Beispiel einer vor Energie, Zuversicht, Selbstbewusstsein und Tatendrang strotzenden 40-jährigen. Das mag niemanden verwundern – angesichts ihrer beeindruckenden Entwicklung von den Anfängen als bescheidene Arbeitsgemeinschaft im Dienste eines stiefmütterlich behandelten Filmgenres zum größten Berufsverband der Filmbranche. Das mag niemanden verwundern angesichts ihrer hervorragenden Reputation als hoch geschätzte – von manchen durchaus auch gefürchtete – Lobby des Dokumentarfilms, dem sie in den vergangenen Jahrzehnten einen festen Platz in der Filmförderung wie auch auf Festivals und Preisverleihungen verschafft hat. Doch die Kämpfe, die dafür zu führen waren, haben bisweilen enorme Kraft gekostet, und manche Kämpfe – zum Beispiel jener um angemessene Vergütung – sind noch lange nicht ausgefochten. Da könnte es mit 40 durchaus auch zu ersten Verschleißerscheinungen kommen … . Davon ist bei der AG DOK–Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm nichts zu spüren, ganz im Gegenteil: Mit viel Elan und Enthusiasmus bleibt sie für ihre rund 900 Mitglieder dran an ihren Themen, und das hat sicherlich damit zu tun, dass dabei nicht nur berechtigte wirtschaftliche Interessen im Spiel sind, sondern auch eine ganze Menge Idealismus: die Überzeugung nämlich, dass gute Dokumentarfilme mit ihrem Beitrag zu einem tieferen Weltverständnis Lebenselixier für unsere Demokratie sind. Dieses Credo ist die Energiequelle eines Verbands, der mit 40 voll in Saft und Kraft steht. Und Sie, lieber Thomas Frickel, haben dieses Credo als Vorsitzender und Geschäftsführer der AG DOK–Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm buchstäblich verkörpert. Knapp 35 Jahre lang waren Sie die laut vernehmbare, ja unüberhörbare Stimme der Dokumentarfilmkunst. Mit Ihrem unermüdlichen, mit Ihrem ebenso leidenschaftlichen wie sachkundigen Engagement haben Sie es geschafft, die AG DOK–Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm in film- und medienpolitischen Diskussionen zu einer nicht im Mindestens grauen, aber umso wirkmächtigeren Eminenz des Dokumentarfilmschaffens zu machen. Wer einmal mit Ihnen zu tun hatte, weiß, dass Sie nicht lockerlassen, wenn es darum geht, dem Dokumentarfilm zu besseren Rahmenbedingungen zu verhelfen, sei es im Filmförderungsgesetz, sei es in der Zusammenarbeit mit den Verwertungsgesellschaften oder den Sendern. So hieß es vor einigen Jahren mal anerkennend in einem Zeitungsporträt über Sie, ich zitiere: „Thomas Frickel hat es mit hartnäckigen und subversiven Wortmeldungen geschafft, die größte Nervensäge im öffentlich-rechtlichen System zu werden.“ Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen: Ihr Einsatz für eine lebendige Dokumentarfilmkultur und für die Belange ihrer Schöpferinnen und Schöpfer hatte durchaus Nervensägen-Qualität – und das dürfen Sie getrost als Kompliment verstehen. Denn erstens braucht es eine gewisse Penetranz, um politisch etwas zu bewegen – und zweitens habe ich mich als Liebhaberin des Dokumentarfilms gerne von Ihnen überzeugen lassen. Mit Ihrem Anliegen, dem Dokumentarfilm mehr Wahrnehmung und Wertschätzung zu verschaffen, haben Sie bei mir immer offene Türen eingerannt. Das erkennen Sie allein schon daran, meine Damen und Herren, dass der Dokumentarfilm in der Filmpolitik und der Filmförderung der BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien eine wichtige Rolle spielt – beispielsweise in der kulturellen Filmförderung, die ich deutlich aufgestockt habe, um gerade auch im Dokumentarfilmbereich für mehr Unabhängigkeit zu sorgen. Hier haben wir die Fördermöglichkeiten für die einzelnen Filmproduktionen deutlich erhöht, das Höchstbudget der antragsberechtigten Filme angehoben, den zulässigen Anteil der BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien-Fördersumme deutlich erhöht und neben einer Stoffentwicklungsförderung eigenständige Jurys für den Dokumentarfilm eingeführt. Wie wir die Entwicklung von Filmen – auch Dokumentarfilmen – mit besonderer kultureller Relevanz noch besser unterstützen können, prüfen wir gerade im Rahmen der aktuell laufenden Überarbeitung der Richtlinie zur kulturellen Filmförderung. Auch bei der aktuellen Novellierung des FFG–Filmförderungsgesetz haben wir den Dokumentarfilm auf dem Schirm, zum Beispiel, indem wir noch einmal die Stoff- und Projektentwicklung, aber auch Verleih und Vermarktung stärken. Der Dokumentarfilm profitiert auch von der wirtschaftlichen Filmförderung des DFFF I–Deutscher Filmförderfonds 1. Darüber hinaus wollen wir hochbudgetierte High-End-Dokumentarserien künftig auch im Rahmen des German Motion Picture Fund (GMPF) fördern. Und last but not least freue ich mich, dass es im Rahmen der Reform des EU-Urheberrechts gelungen ist, große Plattformen stärker in die Pflicht zu nehmen. Dafür habe ich mich im Sinne der Urheber mit Nachdruck eingesetzt. Bei alldem waren Sie für mich und für mein Haus immer ein inspirierender Gesprächspartner, lieber Herr Frickel! Ich danke Ihnen herzlich für Ihr beherztes Engagement, mit dem Sie sich den Ruf „als größte Nervensäge im öffentlich-rechtlichen System“ wahrlich hart erarbeitet haben. Dass Sie sich in Ihrem Ruhestand tatsächlich zur Ruhe setzen wollen, traue ich Ihnen, offen gesagt, nicht wirklich zu. Ich hoffe und ich bin ziemlich sicher, wir werden weiterhin von Ihnen hören! Für die Umsetzung der Filmideen, die Sie (wie ich aus sicheren Quellen erfahren habe) im Kopf haben, wünsche ich Ihnen jedenfalls viel Freude und Erfolg. Und ich bin – mit Blick auf Ihre bisherigen eindrucksvollen Produktionen (zum Beispiel auf das durch aus meinem Etat geförderte und 2017 mit dem Hessischen Filmpreis ausgezeichnete Projekt „Wunder der Wirklichkeit“) – sehr gespannt darauf. Dem neuen Vorstand gratuliere ich herzlich zur Wahl. Auch wenn die AG DOK–Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm mit 40 schon auf eine beeindruckende Karriere zurückblicken kann, bleibt für die Zukunft noch einiges zu tun, insbesondere was die Vergütung und die Sendeplätze für dokumentarische Formate betrifft. Kürzlich zum Beispiel habe ich spät nach Mitternacht noch den Fernseher eingeschaltet und bin im ZDF hängen geblieben: bei einer glänzend recherchierten, sehr differenzierten Dokumentation über geraubte Kunst, die sich auf wohltuende Weise abhob von der oft recht schablonenhaften medialen Darstellung. Warum läuft so ein Beitrag, von dem die öffentliche Debatte über ein so komplexes Thema nur profitieren kann, um 0.35 Uhr? Das macht mich ehrlich ratlos! Aber auch mir bleibt hier nur, immer wieder an die Programmverantwortlichen zu appellieren, hochwertigen Dokumentationen und Dokumentarfilmen mehr Raum zu besseren Sendezeiten zu geben, und daran zu erinnern, dass die Sender genau damit das Qualitätsversprechen einlösen würden, das an das Privileg der Gebührenfinanzierung geknüpft ist. Der renommierte Fernsehkritiker Torsten Körner hat es vor Jahren mal auf den Punkt gebracht, ich zitiere: „Dieses forschende, lebensnachfühlende Erzählen könnte die Königsdisziplin der Öffentlich-Rechtlichen sein, könnte in Zeiten der krawallorientierten Ausplünderung des Wirklichen ein Antidot gegen den aufgeputschten, derangierten Blick sein, könnte ein sensibilisierendes Eintauchen in reale Lebenswelten darstellen statt ein Abtauchen in synthetische Abstumpfungswelten…“. Ja, das wäre wirklich wünschenswert! Aber dafür ist wohl noch einiges an Überzeugungsarbeit zu leisten. Dafür wünsche ich der AG DOK–Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm und ihrer neuen Führung viel Erfolg. Auf meine Unterstützung können Sie dabei weiterhin zählen. Denn auch ich werde mich nicht damit abfinden, dass die Antworten auf die Fragen einer immer komplexer werdenden Welt, dem Social Media-Stakkato entsprechend, immer kürzer ausfallen. Demokratie setzt mündige Bürgerinnen und Bürger voraus, die sich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit auseinandersetzen und Zusammenhänge verstehen. Dazu braucht es Wahrnehmung mit Tiefenschärfe, die sich in einem Dokumentarfilm anders entfalten kann als in einem kurzen Einspieler in den Nachrichten. Nicht zuletzt brauchen wir Dokumentarfilme und Dokumentationen auch, um populistischen Vereinfachern, Zerrbildzeichnern und Schwarz-weiß-Malern einen differenzierten Blick auf die Wirklichkeit entgegen zu setzen. Als IHRE Anwältin, meine Damen und Herren, ist die AG DOK–Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm auch Anwältin der Wahrheit. Dafür stehen 40 Jahre erfolgreiche Verbandsarbeit. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch zum 40. Jubiläum und bitte: heiter weiter! Gerne auch als größte Nervensäge im öffentlich-rechtlichen System!
„Mit Ihrem Anliegen, dem Dokumentarfilm mehr Wahrnehmung und Wertschätzung zu verschaffen, haben Sie bei mir immer offene Türen eingerannt“, erklärte die Kulturstaatsministerin beim Empfang zum 40-jährigen Bestehen der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm in Berlin. Insbesondere was die Vergütung und die Sendeplätze für dokumentarische Formate betrifft, bleibe für die Zukunft noch einiges zu tun, so Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Deutschen Produzententag zur 70. Berlinale
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-deutschen-produzententag-zur-70-berlinale-1725016
Tue, 25 Feb 2020 11:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Vor zwei Jahren, 2018, war er noch auf der Berlinale. Im vergangenen Juli ist er gestorben, mit 100 Jahren, unser Freund und Kollege Artur „Atze“ Brauner. Er war, hat Nico Hofmann gesagt, „der leibhaftige Vertreter Hollywoods auf deutschem Boden. Er hat die kulturelle Landschaft hierzulande geprägt und unzählige Regie-, Schauspiel- und Drehbuchkarrieren in diesem Land begründet.“ „Mich gibt’s nur einmal“, hat Brauner seine Autobiographie überschrieben, und damit hatte er recht. Doch was Nico Hofmann über den vielleicht letzten deutschen Filmtycoon sagte, gilt auch für Sie: Als Produzentinnen und Produzenten prägen Sie unsere kulturelle Landschaft. Sie übernehmen Verantwortung, Sie gehen ins Risiko, Sie arbeiten hart dafür, dass nicht nur in Regie, Schauspiel und Drehbuch alle tun können, was sie tun wollen: Arbeiten. Glänzen. Ihre Ideen verwirklichen. Und natürlich auch Geld verdienen. Und Sie sorgen dafür, dass wir alle, die wir Filme lieben, uns immer wieder entführen, verzaubern, anregen lassen. Dafür danke ich Ihnen. Und dabei will ich Sie auch in Zukunft unterstützen. Der Blick zurück zeigt: 2019 war immerhin ein besseres Kinojahr als 2018: knapp 14 Prozent mehr Umsatz, 12,5 Prozent mehr Besucher. Man sieht: Noch lieben die Deutschen das Kino. Das bleibt wohl auch so – solange es gute, erfolgreiche Filme gibt. Doch der deutsche Anteil sollte nicht bei eher mageren 21,5 Prozent liegen. Seit Jahren erhöhe ich kontinuierlich die Fördermittel für die Filmförderung. In den Top 50 der Kinocharts 2019 sind acht deutsche Filme, darunter fünf Besuchermillionäre. Drei davon sind 2018 angelaufen. Neu waren nur die Kinohits „Das perfekte Geheimnis“ und „Leberkäsjunkie“. Muss ich erwähnen, dass alle diese Besuchermillionäre vom DFFF–Deutscher Filmförderfonds gefördert wurden? Wie sinnvoll Förderung sein kann, zeigen Juwelen wie Nora Fingscheidts „Systemsprenger“, der im vergangenen Jahr auf der Berlinale gefeiert und ausgezeichnet wurde: ein kleines Budget, aber stolze 590.000 Besucher. Möglich wurde dies auch durch den DFFF–Deutscher Filmförderfonds und die BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien-Filmförderung. „Systemsprenger“ macht vor, was zu wenigen deutschen Filmen gelingt: Er nimmt Kritiker, Juroren und das Publikum gleichermaßen mit. Dabei laufen herausragende deutsche Filme und Serien auf Festivals. Die Branche wird national und international geschätzt und gelobt. Der in deutscher Koproduktion gedrehte Film „The Cave“ war für den Dokumentarfilm-Oscar nominiert. In Locarno erhielt Komplizen Film den Premio Raimondo Rezzonico als Bester Independent Produzent – das haben Maren Ade, Janine Jackowski und Jonas Dornbach wirklich verdient. BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und DFFF–Deutscher Filmförderfonds haben auch Dresens „Gundermann“ unterstützt: In sechs Kategorien wurde er beim Deutschen Filmpreis 2019 ausgezeichnet; etliche weitere nominierte und prämierte Filme wurden von BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und DFFF–Deutscher Filmförderfonds gefördert – ebenso wie zwei deutsche Produktionen aus dem Wettbewerb dieser Berlinale: Burhan Qurbanis „Berlin Alexanderplatz“, und „Undine“ von Christian Petzold. Renommee genießen auch die vom German Motion Picture Fund (GMPF) geförderten Serien: So erhielten Achim von Borries, Henk Handloegten und Tom Tykwer für „Babylon Berlin“ den Europäischen Filmpreis für die „Beste europäische Serie“. „Bad Banks“ bekam den Grimme-Preis, und die Bauhaus-Serie „Die neue Zeit“ wurde auf dem Canneseries Festival für die beste Musik prämiert. Sie alle haben also Grund, stolz zu sein. Auch „wir von der Politik“ freuen uns über solche Erfolge. Mein Haus steckt mehr Geld als je zuvor in die Filmförderung. Jährlich über 200 Millionen Euros geben wir den Kinos, dem Filmerbe und der Kinofilm- und Serienförderung, davon fließen rund 160 Millionen Euro in die Produktionsförderung. Auch für die Serien-Förderung gilt: Wir lasten unsere Produktionsinfrastruktur aus, wir stützen den Standort Deutschland, wir schaffen innovative Formate, wir verhindern, dass Produktionen ins Ausland abwandern. Und von den Hebeleffekten profitieren wir alle. Deshalb freue ich mich, dass ich für 2020 die Gesamtsumme der Förderungen nochmal auf rund 210 Millionen Euro erhöhen konnte und einmal mehr sagen kann: So viel öffentliches Geld gab es noch nie für den bundesdeutschen Film! Der DFFF–Deutscher Filmförderfonds und der GMPF–German Motion Picture Fund waren schon 2019 gefragt wie nie: Die 140 Millionen Euro für die wirtschaftliche Filmförderung aus meinem Haushalt wurden fast vollständig ausgeschöpft. Mit einem beinahe verdoppelten Budget des GMPF–German Motion Picture Fund konnten wir 17 Serienprojekte mit rund 28 Millionen Euro fördern. Und: Die 121 von DFFF–Deutscher Filmförderfonds und GMPF–German Motion Picture Fund geförderten Filmprojekte machen Filmschaffende aus Deutschland auch international sichtbar. Am Standort Deutschland bewirkten die beiden Förderinstrumente 2019 etwa 715 Millionen Euro an Folgeinvestitionen, rund das Fünffache der staatlichen Zuschüsse. Auch der DFFF–Deutscher Filmförderfonds II etabliert sich als Unterstützung internationaler Großproduktionen. Über ihn förderten wir 2019 sieben Projekte mit rund 56 Millionen Euro. Davon profitierten erstmals auch VFX–Visual Effects-Unternehmen: Rund 2,3 Millionen Euro flossen hier in drei Projekte. Auch so hält man Fachkräfte in Deutschland. Der Filmstandort Deutschland ist damit international konkurrenzfähig – auf Spitzenniveau. Unsere Förderung ist also grundsätzlich auf dem richtigen Kurs. Aber der Erfolg ist kein Ruhekissen, die Arbeit geht weiter. Sowohl die DFFF–Deutscher Filmförderfonds- als auch die GMPF–German Motion Picture Fund-Richtlinie werden wir im Laufe dieses Jahres novellieren. Wir stimmen die Förderinstrumente noch besser aufeinander ab und öffnen den GMPF–German Motion Picture Fund auch für dokumentarische Serien. Eine weitere Novelle steht uns ins Haus. Für die Novelle des FFG–Filmförderungsgesetz sprechen wir mit Vertreterinnen und Vertretern der Branche. Wir holen Stellungnahmen, und Empfehlungen ein, die uns dabei helfen, die Stellschrauben zu identifizieren. Hilfreich sind dabei auch die Ergebnisse der drei filmpolitischen Runden, zu denen ich nach den ernüchternden Kinozahlen von 2018 eingeladen hatte. Mein Haus wird nach der Berlinale einen Diskussionsentwurf für ein neues FFG–Filmförderungsgesetz vorlegen. Darin verfolgen wir das Ziel, mehr Anreize für die Herstellung anspruchsvoller und wirtschaftlich ertragreicher Filme zu setzen. Dazu möchten wir insbesondere die Bereiche Entwicklung und Vermarktung stärken. Unser Diskussionsentwurf wird auch den Bereich der Stoff- und Projektentwicklung in den Fokus nehmen. Ohne ein gutes Buch hat kein Film Erfolg. Autorinnen und Autoren, Produzentinnen und Produzenten benötigen mehr Luft für Kreativität. Meine Damen und Herren, Sie müssen es sich auch leisten können, ein Projekt abzubrechen, das sich in der Entwicklung als nicht erfolgversprechend erweist. Diesen Freiraum soll Ihnen die neue Projektentwicklungsförderung geben. Genauso wichtig ist es, die Erlöse eines Films fair zu verteilen. Erfolg ist Team-Sache, alle Partner sollen daran teilhaben. Nichts spornt mehr an als eine solche Beteiligung am Erlös. Ich unterstütze daher Ihre Forderung nach einer besseren, aber ausgewogenen Erlösbeteiligung. Vergleichbares Risiko bei der Finanzierung muss sich auch vergleichbar lohnen. Das ist Partnerschaft. Nur sichtbare Filme können erfolgreich sein. Deshalb beabsichtigen wir insbesondere auch Verleih- und Vermarktung zu stärken. Doch das allein reicht nicht. Auch die Verleiher sind gefragt, den deutschen Film nach vorne zu bringen: Es braucht innovative Marketingkonzepte, auskömmliche Budgets, eine zielgruppenspezifische Ansprache des Publikums – und den Mut, auch Filme, die mit kleinen Budgets produziert wurden, groß herauszubringen. Und noch etwas: Nicht nur im Kino muss der deutsche Film besser positioniert werden. Im deutschen Fernsehen laufen Kinofilme meist zu Randzeiten. Das trifft lange Dokumentarfilme besonders. Wer Filme versteckt, sorgt dafür, dass sie keiner sieht. Deshalb appelliere ich immer wieder an die Verantwortlichen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen: Sorgen Sie für Vielfalt, senden Sie deutsche Kinofilme auch mal zur Prime-Time! Im Rahmen der Novelle werden wir die dynamische Veränderung des audiovisuellen Marktes bestmöglich mitdenken. Um dem geänderten Nutzungsverhalten gerecht zu werden, sollen insbesondere die Sperrfristenregelungen flexibilisiert werden. Mehr Film für ein größeres Publikum! Gleichzeitig bekennen wir uns klar zum Kino als Kulturort und halten an dem exklusiven Auswertungsort Kino fest. Flexibler müssen aber die Gremien flexibler arbeiten können. Wir möchten deshalb das starre Rotationsprinzip lockern und mehr Kontinuität ermöglichen. Und nicht zuletzt wollen wir künftig den Verwaltungsrat und das Präsidium geschlechtergerechter besetzen. Die Branche begleitet den Novellierungsprozess intensiv; das ist gut, und das ist fruchtbar. Doch die Gespräche haben auch etwas Irritierendes. Lassen Sie es mich offen sagen: Wir auf der politischen Seite werden mit allerlei Forderungen konfrontiert. Das ist normal. Doch ich kann nicht verstehen, wie wenige Akteure bereit sind, sich selbst mal zu bewegen. Jeder will mehr Geld, jeder will ein größeres Stück vom Kuchen, am besten noch mit viel Sahne. Aber wenn der Kuchen nicht noch weiter wächst oder sogar kleiner wird, kann ich nur die Verteilung ändern. Das heißt: Was ich A gebe, muss ich B verweigern. Die FFA–Filmförderungsanstalt prognostiziert für die nächsten Jahre ein sinkendes Abgabevolumen. Gleichzeitig fordert die Branche in fast allen Bereichen mehr Geld. Auch einige Einzahler. Derzeit diskutieren wir mit den Einzahlern darüber, wie ein auskömmliches Abgabeaufkommen der FFA–Filmförderungsanstalt gesichert werden kann. Noch haben wir kein Ergebnis erzielt. Nur ich habe die Fördertöpfe für den deutschen Film Jahr um Jahr gefüllt. Jetzt, angesichts mutmaßlich sinkender Abgabezahlungen, muss die Branche zu ihrer Verantwortung stehen und eine hinlängliche Finanzierung der Filmförderung nach dem FFG–Filmförderungsgesetz sichern. Die Einzahler sind also gefragt. Das ist auch eine Frage der Solidarität. Denn darin sind wir uns doch einig: Nur eine starke, systemrelevante FFA–Filmförderungsanstalt kann unserer Filmwirtschaft nutzen. Der von der FFG–Filmförderungsgesetz-Novelle angestoßene Modernisierungsprozess muss die gesamte Branche erreichen. Nur gemeinsam bringen wir den deutschen Kinofilm voran. Um in der audiovisuellen Transformation zu bestehen, muss die Branche mutiger und flexibler auftreten. Und sie sollte sich stärker dem deutschen Kinofilm verpflichten, damit 2019 hoffentlich die letzte dürftige Bilanz gewesen ist. Also, schauen wir nach vorne. In den kommenden Monaten werden uns nicht nur neue Förderregelungen beschäftigen. Politik und Gesellschaft verändern sich rasant. Da ist zum einen der Brexit. De jure sind die Briten ausgetreten; was das de facto bedeutet, weiß zur Zeit niemand. Ein „No Deal“-Brexit würde dem Filmproduktionsstandort Deutschland schaden. Ich gehe davon aus, dass die EU bei den Verhandlungen mit Großbritannien weiter ein sogenanntes Level Playing Field fordern wird. Davon würde auch die Filmbranche profitieren. Wir brauchen gleiche Wettbewerbsbedingungen auf beiden Seiten des Kanals. Sonst bleibt der Binnenmarkt für Großbritannien geschlossen. Auch in Europa werde ich mich jedenfalls dafür einsetzen, unsere guten Rahmenbedingungen für nationale und internationale Filmschaffende auch nach dem Übergangszeitraum zu erhalten. Und noch ein weiteres politisches Thema verlangt Veränderungen: der Klima- und Umweltschutz. Auch die Filmwirtschaft trägt ökologische Verantwortung, bei jeder Produktion. Die gesamte Branche muss ihre Umweltbilanz verbessern. Das will ich mit konkreten Anreizen unterstützen. Und dazu sind wir ja gestern alle zusammen angetreten. Schon früh hat mein Haus Impulse für ressourcenschonendes Produzieren gesetzt. DFFF–Deutscher Filmförderfonds, GMPF–German Motion Picture Fund sowie die Förderungen nach dem FFG–Filmförderungsgesetz erkennen die Kosten für ökologische Berater an und bezuschussen sie anteilig. Gleiches gilt für die durch die kulturelle Filmförderung der BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien unterstützten Vorhaben. Das FFG–Filmförderungsgesetz verpflichtet die Filmförderungsanstalt, ökologische Belange zu berücksichtigen. Auch der Deutsche Filmpreis setzt, wie die Berlinale, auf ein nachhaltiges Veranstaltungsmanagement. Auch gibt es bereits zahlreiche Initiativen der Branche für mehr Nachhaltigkeit, die ich sehr begrüße. Doch es gibt noch viel zu tun. Mit namhaften Vertreterinnen und Vertreter der Branche – auch der Produzentenallianz – haben wir gestern im Bundeskanzleramt eine gemeinsame Erklärung zur Nachhaltigkeit in der Film- und Serienproduktion unterzeichnet. Wir alle, mein Haus, die Sender, VoD–Video on Demand-Plattformen, Verbände der Filmbranche, die FFA–Filmförderungsanstalt und die Länderförderer treten für nachhaltiges Produzieren ein. Gemeinsam wollen wir die ökologische Bilanz der deutschen Filmindustrie dauerhaft verbessern. Eine nachhaltigkeitsorientierte Film- und Serienproduktion ermöglicht auch neues Wachstum, sichere Arbeitsplätze und langfristigen Erfolg. Es gibt genügend filmwirtschaftliche und technologische Expertise, und es gibt ein starkes Filmfördersystem, um den Standort Deutschland zu einem Vorbild nachhaltiger Produktion auszubauen. Mein Haus entwickelt zur Zeit ein Zertifikat für nachhaltige Film-, Serien- und TV-Produktionen. Dazu starten wir ein wissenschaftlich begleitetes Pilotprojekt, aufbauend auf guten Vorarbeiten des Arbeitskreises „Green Shooting“, bei dessen Mitgliedern ich mich herzlich bedanke. Perspektivisch wollen wir öffentliche Fördermittel an zwingende ökologische Kriterien knüpfen. Denn wer in hohem Maße vom Bund gefördert wird, muss aus unserer Sicht Vorreiter sein, wenn es darum geht, einen Beitrag für ein so wichtiges gesellschaftliches und globales Anliegen wie den Klimaschutz zu leisten. Außerdem kommt der Filmbranche mit ihrer großen Strahlkraft und Reichweichte hier eine besonders große Vorbildfunktion zu. Ein weiteres Thema, das für mich ganz oben auf der filmpolitischen Agenda steht, ist die Stärkung des Kulturorts Kino auch außerhalb der Ballungsgebiete, wie im Koalitionsvertrag vereinbart. Wir wollen dem anspruchsvollen – insbesondere auch deutschen und europäischen – Kinofilm in der Fläche dauerhaft ein Publikum erschließen und damit auch die kulturelle Grundversorgung in ländlichen Regionen sowie kleineren und mittleren Städten erhalten. 2019 konnten wir 5,5 Millionen Euro für ein Soforthilfeprogramm zur Verfügung stellen. Das Programm unterstützte ortsfeste Kinos in Gemeinden mit bis zu 25.000 Einwohnern – akute Nothilfe, bei der wir auf eine Kofinanzierung durch die Länder verzichtet haben. Insgesamt wurden rund 5,2 Millionen Euro für 271 Kinos bewilligt. Anfang März starten wir nun das „Zukunftsprogramm Kino“. Damit wollen wir Kinos mit einer besonderen kulturellen oder strukturellen Funktion zukunftsfähig machen: Es geht um Erhalt und Modernisierung der Gebäude, um Ausstattung, Technik und Digitalinfrastruktur sowie um Fragen der ökologischen Entwicklung und der Barrierefreiheit. In diesem Jahr stellen wir dafür allein seitens der Bundesregierung bis zu 17 Millionen Euro bereit. Die Länder müssen kofinanzieren, damit unsere Initiative flächendeckend wirksam wird. Wir reden also insgesamt von bis zu 34 Millionen Euro. Ich glaube und hoffe, dass unser Zukunftsprogramm Kino ein drohendes (und unumkehrbares) Kinosterben verhindern kann – und damit auch eine Schädigung unserer Filmwirtschaft. Wir brauchen das Kino, wir brauchen aber eben auch die Kinos – nicht nur für die Menschen auf dem Land und in kleineren Städten. Nur Kinovielfalt garantiert Programmvielfalt. Für diese Vielfalt stehen auch Sie, meine Damen und Herren, Ihre Arbeit für den deutschen Film ist auch ein Dienst an der Kultur. Dafür bin ich Ihnen von Herzen dankbar. Deshalb will ich noch erwähnen, dass ich in der Frage der Besteuerung bei Koproduktionen an Ihrer Seite stehe. Die aktuelle Steuerpraxis sehe ich mit Sorge. Ich habe mich deshalb an Bundesfinanzminister Scholz gewandt, um hier in einen konstruktiven Dialog einzutreten. Wir alle müssen an einem Strang ziehen: Bund, Länder, Filmwirtschaft! Die Zeit der Tycoons mag vorüber sein, meine Damen und Herren. Dennoch möchte ich mit einem Wort Atze Brauners schließen. Man muss „richtig lieben, um Filme zu produzieren“, sagte er: „Das muss von innen kommen.“ Dann nämlich, meinte Brauner, dann „sind diese Filme richtig. Dann stimmen die [sic!], weil sie unverfälscht sind.“ In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, die Sie Filme produzieren, weiterhin viel Enthusiasmus und Erfolg – und uns allen eine großartige, von der Liebe zum Film geprägte Berlinale. Vielen Dank.
„Nur gemeinsam bringen wir den deutschen Kinofilm voran“, erklärte Kulturstaatsministerin Monika Grütters in ihrer Rede beim Deutschen Produzententag. 2020 gebe es so viel öffentliches Geld wie noch nie für den bundesdeutschen Film. Der Prodkutionstandort Deutschland sei damit international auf Spitzenniveau konkurrenzfähig. Jetzt seid die Filmbranche gefragt, sich stärker dem deutschen Kinofilm zu verpflichten.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Mitgliederversammlung der Deutschen Filmakademie (DFA)
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-mitgliederversammlung-der-deutschen-filmakademie-dfa–1729514
Sun, 23 Feb 2020 16:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Ob Berlinale, ob Filmpreisverleihung, ob Branchentreffs wie das Sommerfest der Produzentenallianz: Wenn Sie alle, die Sie am Gesamtkunstwerk „Film“ beteiligt sind, gleichzeitig an einem Ort versammelt sind, dann ist ein roter Teppich in der Regel nicht weit, und Blitzlichtgewitter gehören genauso zur Kulisse wie extravagante Kleider. Da ist es geradezu erfrischend, dass wir uns heute ausnahmsweise mal ganz unglamourös in Alltagskleidung in einem schlichten Tagungsraum begegnen… in einem Raum, dem man ansieht, dass Kunst nicht nur schön ist, sondern auch viel Arbeit macht. Ich bin jedenfalls genauso gerne TOP 4 Ihrer Mitgliederversammlung wie ich eine Rolle auf der Bühne der Filmpreis-Gala übernehme. Deshalb freue ich mich über die Einladung zu einem kurzen Grußwort in diesem Jahr, in dem sowohl die Berlinale als auch der Deutsche Filmpreis 70. Geburtstag feiern. Die Gelegenheit für ein paar Worte abseits vom Preis- und Premierenrummel nutze ich gerne, um Sie in Ihrem film- und gesellschaftspolitischen Engagement zu bestärken, das sich die Deutsche Filmakademie auf die Fahnen (und in die Satzung) geschrieben hat. Damit meine ich nicht nur das Engagement für wichtige, politische Anliegen, die wir teilen: beispielsweise für Gleichberechtigung und bessere Chancen von Frauen in der Filmbranche, oder für den Umwelt- und Klimaschutz. Es freut mich sehr, die Deutsche Filmakademie an meiner Seite zu wissen, wo immer es darum geht, mit konkreten Maßnahmen Verantwortung zu übernehmen – zum Beispiel, als es um die Einrichtung der Vertrauensstelle Themis als Konsequenz aus der #MeToo-Debatte ging, für die ich aus meinem Kulturetat die Anschubfinanzierung zur Verfügung gestellt hatte, oder auch bei der Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung für mehr Nachhaltigkeit in der Film- und Serienproduktion. Dafür danke ich Ihnen! Gesellschaftspolitisch relevant ist aber auch und vor allem, was Sie alle, meine Damen und Herren, beruflich tun, ob am Filmset oder am Bildschirm, ob vor oder hinter der Kamera. Denn ich glaube, dass Ihre Arbeit, dass die Filmkunst – quasi als unbeabsichtigte Nebenwirkung – ganz entscheidend dazu beitragen kann, gesellschaftlichen Entwicklungen entgegen zu wirken, die mittlerweile eine große Mehrheit der Menschen in Deutschland (auch mich!) mit Besorgnis erfüllen: Mehr als 80 Prozent haben Angst vor einem Auseinanderdriften, vor einer Spaltung der Gesellschaft, so ein Ergebnis des ARD-Deutschlandtrends: kein Wunder angesichts des Erstarkens von Extremismus, Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus; kein Wunder, angesichts der nicht nur im Netz zu beobachtenden Verrohung des öffentlichen Diskurses; kein Wunder angesichts der zunehmenden Gewaltbereitschaft, die – mutmaßlich rassistisch motiviert – gerade in Hanau wieder zu einem erschütternden Gewaltexzess führte; kein Wunder angesichts der schwindenden Bereitschaft, den Anderen ganz einfach in seinem Anderssein zu ertragen – und sei es schlicht als Gegenüber in einer sachlichen Auseinandersetzung. Das sind Entwicklungen, die den Kern unserer Demokratie bedrohen: den konstruktiven Streit, das Ringen um Kompromisse. Kunst – besonders die Filmkunst, die ja (mehr noch als Literatur oder Theater) die breite Bevölkerung erreicht – kann Kräfte gegen diese Entwicklungen entfalten. Denn sie lässt gedeihen, was unserer Gesellschaft offenbar gerade abhanden zu kommen droht: Verstehen, Verständnis, Verständigung über die Grenzen zwischen unterschiedlichen Lebenswelten hinweg. Für mich ist dies das Faszinierendste am Kino, am Film überhaupt: dass er Besitz ergreift von unserem Denken und Fühlen, dass er uns dazu verführt, die Welt-Anschauung anderer Menschen zu teilen und mit ihnen zu fühlen. Als im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit dem 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution immer wieder auch über das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen diskutiert wurde, musste ich beispielsweise oft an „Gundermann“ von Andreas Dresen denken, den großen Gewinner beim Filmpreis 2019. Obwohl ich viel Zeitung lese und politisch gut informiert bin, hat dieser Film, hat Gundermann mit seiner höchst ambivalenten Lebensgeschichte mir auf eine ganz neue Weise die Augen geöffnet für die Lebenswirklichkeit in der DDR, für unvermeidbare Konflikte, für die Brüche in den Biographien ehemaliger DDR-Bürgerinnen und Bürger – für Aspekte also, die ich als gebürtige Münsteranerin nicht in dieser Differenziertheit wahrnehmen konnte. Dass solche Geschichten erzählt und gezeigt, gehört und gesehen werden, ermöglicht empathisches Verstehen, wie es im Austausch von Argumenten so nicht möglich ist. Ich könnte das an vielen weiteren, deutschen Filmen erläutern, die mich vor nicht allzu langer Zeit sehr bewegt haben: Nora Fingscheidts „Systemsprenger“ beispielsweise oder Christian Petzolds „Transit“, um nur zwei aus vielen zu nennen. Das sind Glanzstücke der Filmkunst, die den Blick über das eigene Leben hinaus öffnen und die den Film für mich zum Hoffnungsträger machen angesichts verhärteter Fronten, angesichts der Mauern an Ressentiments, die öffentliche Debatten durchziehen. Solche Filme lassen hoffen, dass Verstehen und damit auch Verständigung über Grenzen und Gräben möglich sind. Solche Filme fallen aber natürlich nicht vom Himmel – auch wenn manche von Ihnen vermutlich schon mal auf göttliche Fügung gehofft haben, um eine verwegene Idee zu realisieren oder ein gewagtes Vorhaben zu finanzieren. Solche Ideen, solche Vorhaben gedeihen dort, wo es Raum für Experimente gibt. Diesen Raum zu schaffen, ist ein Ziel der kulturellen und der wirtschaftlichen Filmförderung meines Hauses, und diesen Raum soll das neue Filmförderungsgesetz noch einmal erweitern. Die Vorauswahl für den Deutschen Filmpreis 2020 zeigt, dass Sie diesen Raum zu nutzen wissen, meine Damen und Herren: Sie beeindruckt durch eine Vielfalt der Formen, Themen und Genres, vom Publikumsliebling, bis zu den deutschen Wettbewerbsbeiträgen der Berlinale 2019 und 2020. Offenbar bewähren sich auch die Abstimmungsmodalitäten für die Vorauswahl. Allen Mitgliedern der diesjährigen, aber auch der vergangenen Vorauswahlkommissionen ein herzliches Dankeschön für die Zeit und die Energie, die Sie in die Filmsichtung, in die Diskussionen und Auswahl investieren. Auch das ist film- und gesellschaftspolitisches Engagement, und ich freue mich, dass LOLA@Berlinale als Ergebnis dieses Engagements eine Auswahl präsentiert, die sich wahrlich sehen lassen kann. Dafür danke ich der Deutschen Filmakademie, dafür danke ich Dir, lieber Uli! Heute Abend werde ich mir übrigens Undine anschauen, und am Mittwoch Berlin Alexanderplatz. Ich freue mich und bin gespannt auf die deutschen Wettbewerbsbeiträge! Die Begeisterung, die während der Berlinale förmlich in der Luft liegt, die Schlangen an den Ticketschaltern und die Leidenschaft, mit der über Filme diskutiert wird, all das zeigt im Übrigen auch, dass das Kino als Gemeinschaftserlebnis Qualitäten hat, die man sich selbst mit dem neuesten 65-Zoll Bildschirm nicht nach Hause auf die Couch holen kann. Kino lässt uns zusammenrücken: physisch in den Reihen eines dunklen Saals, aber auch im Bewusstsein, im gemeinsamen Mitfühlen. Man teilt ein emotionales Erlebnis – auch später noch, wenn der Filmstoff Gesprächsstoff wird. Gerade in ländlichen Regionen mit wenig kulturellen Angeboten ist es das Kino, das Menschen aus ihren digitalen Filterblasen und Echokammern holt. Ich denke da an all die Odeons, Parklichtspiele und Tivolis, an die Schauburgen, Filmpaläste und Lichtburgen, ich denke an die Astras und Roxys. Ob in Achern, Buckow, Helmstedt oder Plön: Sie sorgen mit dafür, dass es nicht dunkel wird, abends, wenn das Licht ausgeht. Deshalb hat die Große Koalition sich den Erhalt des Kinos als Kulturort auf die Fahnen bzw. in den Koalitionsvertrag geschrieben: Nach einem kurzfristig wirksamen Sofortprogramm 2019 startet in wenigen Tagen (ausgestattet mit bis zu 34 Millionen Euro, 17 davon vom Bund, kofinanziert durch die Länder) das Zukunftsprogramm Kino, auf dass Ihre Filme möglichst breite Resonanz finden, meine Damen und Herren. Alles in allem hoffe ich, dass Sie deutlich optimistischer auf Ihre Arbeit für das Kino schauen als einst Erich Kästner, der bei der Verleihung des ersten Deutschen Filmpreises als „Bester Drehbuchautor“ gewürdigt wurde. Jahre zuvor, 1929 nämlich, hatte er im Rahmen einer Umfrage unter jungen Autoren folgende Sätze zu Protokoll gegeben, ich zitiere: „Solange Filme wie Briketts oder Konfektionsanzüge hergestellt werden, solange erreichen gute Manuskripte, begabte Regisseure und verantwortungsbewußte Darsteller nichts weiter, als daß sie in die Maschinerie geraten oder aufs laufende Band.“ Wenn wir es hinbekommen, dass Filme anders als Briketts oder Konfektionsanzüge hergestellt und betrachtet werden, wenn Künstlerinnen und Künstler sich entfalten können statt „in die Maschinerie (…) oder aufs laufende Band“ zu geraten, wenn der deutsche Film dank seiner künstlerischen Vielfalt und dank Ihrer Arbeit, meine Damen und Herren, Wertschätzung als Kulturgut erfährt, dann sind die rund 160 Millionen Euro, die in meinem Kulturetat insgesamt für die Produktionsförderung zur Verfügung stehen, sehr gut angelegtes Geld! Für „großes Kino“ und für eine herausragende Rolle des deutschen Films werde ich mich jedenfalls weiterhin stark machen. Dafür wünsche ich Ihnen allen, dafür wünsche ich der Deutschen Filmakademie weiterhin viel Erfolg, und freue mich auf Kostproben dieses Erfolgs in den verbleibenden Berlinale-Tagen. In diesem Sinne: auf ein Wiedersehen am roten Teppich und im Blitzlichtgewitter!
In ihrer Rede sagte Staatsministerin Grütters: „Kino lässt uns zusammenrücken: physisch in den Reihen eines dunklen Saals, aber auch im Bewusstsein, im gemeinsamen Mitfühlen. Man teilt ein emotionales Erlebnis – auch später noch, wenn der Filmstoff Gesprächsstoff wird. Gerade in ländlichen Regionen mit wenig kulturellen Angeboten ist es das Kino, das Menschen aus ihren digitalen Filterblasen und Echokammern holt.“
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der Verleihung des Deutschen Drehbuchpreises
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-der-verleihung-des-deutschen-drehbuchpreises-1729376
Fri, 21 Feb 2020 19:20:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Stellen Sie sich vor, Sie wären eine Filmproduzentin oder ein Filmproduzent und in den Startlöchern zu einem neuen Film – doch der Autor des zu verfilmenden Drehbuchs hält sie hin. Ja, Sie sind seinetwegen gezwungen, die Dreharbeiten aufzuschieben – wieder und wieder. Was nach einer eher unrealistischen Geschichte klingt, ist aber wahr: So ging es dem Filmproduzenten Lazar Wechsler, als er in den 1950er Jahren die Dreharbeiten zum Film „Es geschah am hellichten Tag“ aufnehmen wollte. Das Drehbuch zum Film (der nebenbei bemerkt am 4. Juli 1958 im Rahmen der 8. Berlinale uraufgeführt wurde) stammte von Friedrich Dürrenmatt, der seine Geschichte kurz vor Drehbeginn immer wieder umarbeitete – so wie er es vom Schreiben seiner Novellen oder Dramen gewohnt war – und damit seinen Produzenten schier in die Verzweiflung trieb. Als Dramatiker und Schriftsteller erlangte Dürrenmatt Weltruhm, doch mit dem Drehbuchschreiben tat er sich eher schwer. „Gar nicht zuhause“ fühle er sich in Drehbüchern, verriet er einmal einer Journalistin, denn beim Schreiben ginge es ihm darum, das, was in ihm kreativ ist, anderen mitzuteilen. Um das in ein Drehbuch zu fassen, müsste er „unendlich viel hineinschreiben“ – da schreibe er doch lieber eine Novelle. Wie schön also, dass Sie, liebe Drehbuchautorinnen und Drehbuchautoren, sich in Drehbüchern nicht nur zuhause fühlen, sondern Ihnen dabei auch die Kunst gelingt, Ihren ganzen Reichtum an Kreativität mit handwerklichem Können in spannungsvolle und bewegende Drehbücher zu verwandeln! Mit Ihrer Fantasie und Ihrem Ideenreichtum schaffen Sie das Fundament filmischen Erzählens. Ob Schauspieler oder Produzentinnen, Regisseure oder Redakteurinnen: sie alle wären ohne Ihre Fantasie aufgeschmissen. Aber Fantasie alleine macht natürlich auch noch kein gutes Drehbuch. Ein anspruchsvolles Drehbuch zu schreiben ist eine große künstlerische Leistung, die zugleich handwerklich gekonnt sein muss. Ein anspruchsvolles Drehbuch muss nicht nur eine gute Geschichte beinhalten – es muss auch passende Bilder für die Geschichte finden. Und all das film- und serientauglich – also: möglichst pointiert und prägnant. In einem Internetportal für Berufsreporte aller möglicher Branchen habe ich über den Beruf des Drehbuchautors gelesen – ich zitiere: „Drehbuchautoren müssen nicht nur das professionelle Träumen beherrschen. (…) Drehbuchautoren bedürfen gleich wichtig einer stringenten Rationalität. Denn wie bei der Errichtung eines Hauses steht bei genauem Hinsehen auch hinter jedem guten Drehbuch ein Bauplan. Dessen Ziel darin besteht, den Zuschauer in den Bann der Geschichte zu ziehen. Was nur gelingt, wenn die Ideen so miteinander verknüpft sind, dass sie zu einem rauschenden Strom werden, stark genug, jeden mitzureißen, der sich an seine Ufer wagt. So ähneln Drehbuchautoren Architekten.“ Sie, liebe Drehbuchautorinnen und Drehbuchautoren, sind also filmische Architekten, präzise denkende Strategen und zugleich Ideen-spinnende Träumer – das darf man wohl getrost als bewundernswerten Spagat bezeichnen! Darüber hinaus bedarf es dann auch noch einer Menge Disziplin und Selbstbewusstsein, um sich im harten Filmgeschäft durchzusetzen. Denn nebenbei bemerkt: So viel kreative Unzuverlässigkeit gegenüber einem Filmproduzenten konnte sich wohl nur ein literarisches Schwergewicht von Weltrang wie Friedrich Dürrenmatt erlauben… Wir, das darf ich Ihnen versichern, wissen um den großen Anspruch und die große Kunst Ihres Berufs, liebe Drehbuchautorinnen und Drehbuchautoren, und deshalb können Sie sich auf uns verlassen! Dafür steht nicht zuletzt der heutige Abend: Mit dem Deutschen Drehbuchpreis vergibt die Bundesregierung nicht nur die wichtigste nationale Auszeichnung für Drehbuchautorinnen und -autoren, sondern auch die am höchsten dotierte. Damit wollen wir Sie für die Entwicklung besonderer, künstlerisch herausragender Stoffe für die große Kinoleinwand angemessen würdigen. Und gehen damit offensichtlich den richtigen Weg: Denn von unseren Nominierten, Preisträgerinnen und Preisträgern der vergangenen Jahre gibt es Erfreuliches zu berichten: So konnte zum Beispiel der Autor Visar Morina, der 2018 für sein Buch „Exil“ mit dem Deutschen Drehbuchpreis ausgezeichnet wurde, beim diesjährigen Sundance Film Festival seine Premiere feiern. „Exil“ wird auch im Rahmen der Berlinale 2020 in der Sektion Panorama zu sehen sein. Oder Julian Radlmaier: er hat im vergangenen Jahr die goldene Lola für sein Drehbuch „Blutsauger“ erhalten und konnte die Dreharbeiten zum Film inzwischen beenden. Diese erfreuliche Bilanz unserer Arbeit könnten wir nicht ziehen, gäbe es nicht eine fachkundige Jury, die mit dem richtigen Riecher die vielversprechendsten Talente auswählt: Ich danke ganz herzlich Jens Becker, Florian Eichinger, Eva Maria Fahmüller, Sven Poser und Heide Schwochow, die als Jury in den vergangenen Jahren immer wieder ein ausgezeichnetes Gespür für mitreißende Kinostoffe bewiesen haben. Über den Drehbuchpreis hinaus können Autorinnen und Autoren auch von der Drehbuchförderung meines Hauses profitieren: Bis zu 30.000 Euro stehen hier für die Entwicklung eines Drehbuchs zur Verfügung. Allein im vergangenen Jahr konnten insgesamt 20 Autorinnen und Autoren mit ihren Drehbuchprojekten gefördert werden. Und damit diese nicht für die Schublade schreiben, lassen wir sie auch im weiteren Verlauf nicht allein! Ja, Autorinnen und Autoren, die eine Drehbuchförderung des BKM zuerkannt bekommen, werden vom Drama Department bis zur Produktionsreife ihrer Projekte betreut. Unsere BKM-Produktionsförderung hilft anschließend dabei, die Stoffe auch umzusetzen. Die Richtlinie der kulturellen Filmförderung der BKM befindet sich, wie einige von Ihnen wohl wissen, derzeit in Überarbeitung. Mir ist sehr daran gelegen, dass wir die Ergebnisse meiner drei filmpolitischen Diskussionsrunden aus dem vergangenen Jahr in die Neugestaltung der kulturellen Filmförderung einfließen lassen, um mit aktuellen Entwicklungen der Branche Fuß zu halten. Dabei geht es mir vor allem darum, wie wir die Entwicklung von Filmen mit besonderer künstlerischer und kultureller Relevanz noch besser unterstützen können. Und auch in den zahlreichen Gesprächen, die mein Haus mit der Filmbranche im Kontext der Novellierung des FFG geführt hat, waren wir uns einig, dass die Projekt- und Stoffentwicklung gestärkt werden muss. Deshalb wird der Diskussionsentwurf für ein neues FFG, den mein Haus im Anschluss an die Berlinale vorlegen wird, sogar einen Schwerpunkt auf die Entwicklungsförderung legen. Ob unsere Fördermöglichleiten Friedrich Dürrenmatt geholfen hätten, eine Leidenschaft für das Verfassen von Drehbüchern zu entwickeln sei dahingestellt. Dazu jedenfalls, was Fantasie zu schaffen vermag, musste man dem gefeierten Literaten natürlich nichts erzählen. So hat er einmal gesagt: „Kunst ist Welteroberung, weil Darstellen ein Erobern ist und nicht ein Abbilden, ein Überwinden von Distanzen durch die Phantasie.“ In diesem Sinne: erobern Sie mit Ihren Drehbüchern die Welt, liebe Autorinnen und Autoren! Viel Erfolg, liebe Nominierte! Auf einen schönen Abend!
In ihrer Rede würdigte Staatsministerin Grütters Drehbuchautorinnen und Drehbuchautoren als filmische Architekten und präzise denkende Strategen. „Mit dem Deutschen Drehbuchpreis vergibt die Bundesregierung nicht nur die wichtigste nationale Auszeichnung für Drehbuchautorinnen und -autoren, sondern auch die am höchsten dotierte“, so Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Eröffnung der 70. Internationalen Filmfestspiele Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-eroeffnung-der-70-internationalen-filmfestspiele-berlin-1724276
Thu, 20 Feb 2020 20:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Unsere Gedanken sind heute, einen Tag nach dem erschütternden, offenbar rassistisch motivierten Gewaltexzess in Hanau, bei den ermordeten Menschen und ihren Familien. Und doch hat die Berlinale es ehrlich verdient, dass wir ihr 70. Jubiläum gebührend begehen. Stellen wir uns also einfach einmal vor, die Berlinale selbst wäre eine Filmdiva. Wie würde sie ihren 70. Geburtstag feiern? Wäre ihr überhaupt nach einer glanzvollen Gala zumute, nachdem kürzlich bekannt wurde, dass ihr langjähriger Weggefährte – ihr Gründungsdirektor Alfred Bauer – womöglich tief in die totalitäre Kulturpolitik der Nationalsozialisten verstrickt war? Wäre die Berlinale eine Filmdiva, sie könnte über diese Nachricht nicht einfach hinweg lächeln – sie, die ihr ganzes Leben lang für Freiheit, für künstlerische Vielfalt, für Weltoffenheit eingetreten ist! Genau deshalb, meine Damen und Herren, verdient die Berlinale hier und heute, zu Ihrem 70. Geburtstag, einen glanzvollen Auftritt. Deutschland, das sich Demokratie und moralische Integrität nach 1945 mühsam wieder erarbeiten musste, hat die Freiheit der Kunst aus gutem Grund in einen noblen Verfassungsrang erhoben – aus der Überzeugung heraus, dass Künstlerinnen und Künstler die Demokratie vor gefährlicher Lethargie bewahren: mit ihrer Fähigkeit zu berühren und zu irritieren; mit ihrer Fähigkeit, Verborgenes sichtbar zu machen. Die Berlinale war es, die diesen Kräften freier Filmkunst von Anfang an ein riesiges Publikum bescherte. Was der Theaterkritiker Alfred Polgar in den 1930er Jahren über die Berliner Filmdiva Marlene Dietrich schrieb, gilt auch für die Berlinale: „Sie erregte das Entzücken der Vielen, die sich den sinnlichen Wundern des Films ohne geistigen Vorbehalt ergeben, und das Entzücken der Wenigen, die auch ins Kino ihren künstlerischen Anspruch mitbringen.“ So ist es bis heute: Die Berlinale kriegt sie alle! Auf den Trümmern einer menschenverachtenden Diktatur gegründet, im Schatten der Berliner Mauer gewachsen und nach Ende des Kalten Krieges im Triumph der Freiheit über Unfreiheit gereift: So strahlt sie als „Schaufenster der freien Welt“ bis heute in die Welt hinaus – und in Berlin auch in jeden Kiez hinein: mit bewegenden Bildern und berührenden Geschichten. 340 Filme aus 71 Produktionsländern stehen in diesem Jubiläumsjahr auf dem Programm: Viele davon lassen unsere Gegenwart anders aussehen, als wir sie zu kennen glauben. Uns Fremdes vertraut machen, uns Mit-Fühlen lassen mit Menschen, mit denen uns nichts zu verbinden scheint, Verständnis wecken über alle Grenzen und Gräben hinweg: Das kann großes Kino, und dafür steht die Berlinale. Das „Schaufenster der freien Welt“ aus der Zeit des Kalten Krieges ist damit auch ein „Schaufenster der einen Welt“: Wir sehen darin, dass uns über alle Grenzen hinweg mehr verbindet als uns trennt. Wir nehmen Anteil an den Schicksalen hinter Krisen und Konflikten, die täglich als Schlagzeilen an uns vorbei rauschen. Feiern wir die Berlinale deshalb zum 70. Jubiläum auch als vielstimmige Demonstration gegen Abschottung und Ausgrenzung – gerade auch angesichts dieses entsetzlichen, offenbar fremdenfeindlich motivierten Verbrechens. Dass die Berlinale ihren Werten auch mit 70 und darüber hinaus treu bleiben kann, dafür hat die neue Leitung mit viel Gespür und Enthusiasmus gesorgt. So dürfen wir uns auf ein künstlerisch vielseitiges Programm freuen, das dem Ruf der Berlinale als dezidiert politisches Filmfestival alle Ehre macht. Dafür danke ich Ihnen, liebe Mariette Rissenbeek, lieber Carlo Chatrian! Ausdrücklich danken will ich Ihnen auch dafür, dass Sie die notwendigen Konsequenzen aus den neuen Erkenntnissen über Alfred Bauer gezogen und die gründliche Aufarbeitung seiner NS-Vergangenheit auf den Weg gebracht haben. Wie wichtig Aufklärung ist und wie beklemmend aktuell die Lehren aus der Vergangenheit sind, das – meine Damen und Herren – liegt angesichts rechtsextremistischen Terrors in Deutschland auf der Hand. Nie wieder sollten Menschen wegen ihrer Religion, ihrer Herkunft oder ihrer Hautfarbe in Deutschland um ihr Leben fürchten müssen! Die Wirklichkeit sieht anders aus: nicht zuletzt, weil neue politische Kräfte nationalsozialistische Verbrechen relativieren und mit Hetzparolen Ressentiments schüren. Niemals darf es eine wie auch immer geartete, politische Zusammenarbeit mit diesen rassistischen und völkischen Kräften geben! Das war im Übrigen auch die Haltung jener Berliner Filmdiva, die Deutschland nach der Machtergreifung Hitlers verließ und später die Einbürgerung in den USA beantragte: „Es ist kein leichter Entschluss“, sagte Marlene Dietrich einmal, „seine Nationalität zu wechseln, selbst dann nicht, wenn man die Ansichten und Methoden, die das Geburtsland plötzlich gutheißt, verachtet.“ Marlene Dietrich fasste diesen Entschluss trotzdem. Sie widerstand den Avancen der Nazis. Man versprach ihr hohe Gagen und eine glänzende Karriere, wenn sie nur noch deutsche Filme drehte. Sie ließ sich auf keine Zusammenarbeit ein. Im Krieg sang sie für die GIs und musste sich später in ihrem Geburtsland dafür bespucken lassen. Heute bewundern wir sie für ihre konsequente Abgrenzung gegen totalitäres Denken. Das ist eine Geschichte, die auch Filmstoff wurde. Und vielleicht braucht es manchmal Geschichten wie diese, um eine klare Haltung zu finden und das Richtige zu tun. Kunst jedenfalls – gerade die Filmkunst, die sinnlichste aller Künste! – wirkt auch dort, wo Argumente kein Gehör finden. Ihre Freiheit zu schützen, heißt die Demokratie zu schützen. In diesem Sinne: Auf die Berlinale! Auf eine erfolgreiche 70. Jubiläumsausgabe!“
Bis heute strahle die Berlinale als ‚Schaufenster der freien Welt‘ in die Welt hinaus, erklärte die Kulturstaatsministerin zu Beginn der Eröffnungsgala im Berlinale-Palast am Potsdamer Platz. „Uns Fremdes vertraut machen, uns Mit-Fühlen lassen mit Menschen, mit denen uns nichts zu verbinden scheint, Verständnis wecken über alle Grenzen und Gräben hinweg: Das kann großes Kino, und dafür steht die Berlinale“, so Grütters weiter.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Übergabe des Gutachtens 2020 der Expertenkommission Forschung und Innovation am 19. Februar 2020 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-uebergabe-des-gutachtens-2020-der-expertenkommission-forschung-und-innovation-am-19-februar-2020-in-berlin-1723136
Wed, 19 Feb 2020 11:10:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Professor Cantner, sehr geehrte Mitglieder der Expertenkommission Forschung und Innovation, sehr geehrte Frau Bundesministerin, liebe Anja Karliczek, meine Damen und Herren, ich heiße Sie ganz herzlich willkommen. Es ist das 13. Mal, dass die Gutachtenübergabe erfolgt – diesmal in neuer personeller Besetzung. Sie scheinen ja in der Tat gut zusammengearbeitet zu haben, ansonsten wäre dieses Werk ja nicht entstanden. Wir nehmen diese Empfehlungen sehr gerne als Leitfaden für unsere Innovationspolitik in der Bundesregierung zur Kenntnis. Wir setzen nicht alles eins zu eins um, aber wir haben schon manchen Impuls aufgegriffen und manches dann auch einer Umsetzung zugeführt, wie zum Beispiel die steuerliche Forschungsförderung. Wir haben 2018 mehr als 3,1 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts in Deutschland für Forschung und Entwicklung ausgegeben. Der Bund trägt daran seinen Anteil. Wir haben von 2009 bis 2018 die Investitionen um circa 44 Prozent von 12 Milliarden Euro auf 17,3 Milliarden Euro gesteigert. Ich glaube, man kann sagen, dass sich das Innovationsklima verbessert hat und dass durch die Wissenschaftspakte auch Planungssicherheit dazugekommen ist. Es ist eine sehr wichtige Botschaft, dass in den kommenden zehn Jahren, also bis 2030, in all den Bereichen über 160 Milliarden Euro ausgegeben werden, sodass Forscher auch planen können; denn es ist ja auch wichtig zu wissen, worauf man sich einlässt. Die Exzellenzstrategie gehört dazu. Wir werden eine Nationale Wasserstoff-Strategie erarbeiten. Zur Daten-Strategie sind wir in der Konsultation; sie soll noch vor der Sommerpause verabschiedet werden. Wir beschäftigen uns mit Blockchain als neuem Anwendungsfeld. Außerdem arbeiten wir an der Umsetzung der Strategie Künstliche Intelligenz. Allerdings muss man sehen, dass die von Ihnen genannten dynamischen Entwicklungen in all diesen Bereichen natürlich nicht nur bei uns stattfinden, sondern auch woanders, und dass der Wettbewerb hart ist. Inzwischen haben viele das Gefühl, dass wir in Zeiten nicht nur evolutionärer Veränderungen, sondern auch qualitativer Veränderungen leben. Deshalb war die Gründung der zwei Agenturen zur Förderung von Sprunginnovationen – einmal im zivilen und einmal im militärischen Bereich – von entscheidender Bedeutung. Wir haben dafür gesorgt, dass auch eine entsprechende europäische Agentur entsteht. Ich stimme Ihnen zu: Diese Agenturen können nur dann arbeiten, wenn sie außerhalb der politischen Einflussnahme tätig sind. Das ist auch unser Ansatz. Das ist in Deutschland rein rechtsförmlich gar nicht so leicht zu realisieren. Auch der Bundesrechnungshof muss erst davon überzeugt werden, dass die Förderung von Sprunginnovationen manchmal zu ganz großen Dingen führen kann, auch wenn viele Dinge dabei sind, die sich nicht so gut entwickeln. Auch da muss die Bewertung dann natürlich eine andere sein. Wir werden im zweiten Halbjahr dieses Jahres die EU-Ratspräsidentschaft innehaben. Wir werden dann einen Fokus auf die wichtige Frage legen, wie sich Europa mit seinen Vorzügen als Innovationsstandort etablieren kann. Wir haben den European Research Council und werden auch einen European Innovation Council haben. Es wird sehr wichtig sein, dass auch dieser gut ausgestattet wird und nach Exzellenzkriterien und nicht sozusagen nach Anteilen der Mitgliedstaaten funktioniert. Ich finde es sehr gut, dass Sie sich im 30. Jahr der Deutschen Einheit mit dem Thema Forschungsstandort neue Bundesländer befasst haben. Es gibt regionale Unterschiede, aber einiges ist geschafft. Auf der anderen Seite sieht man trotzdem immer noch, dass wir qualitativ sehr unterschiedliche Entwicklungen haben. Auch die Cybersicherheit und die Zusammenarbeit mit China sind für uns von großer Bedeutung. Das Thema Cybersicherheit ist deshalb wichtig, weil wir unseren Innovationsstandort schützen müssen. Ich glaube, dass sich viele in der Öffentlichkeit gar keine Gedanken machen, wie viele Cyberangriffe pro Tag ablaufen. Das Thema der Zusammenarbeit mit China ist deshalb wichtig, weil China unser größter Handelspartner ist. China entwickelt sich als Innovationsstandort sehr dynamisch. Auch deshalb ist ein „level playing field“ bzw. Reziprozität – wie auch immer man das nennt – etwas sehr Wichtiges. Bei der Frage der Firmenübernahmen sind wir schon sehr viel aufmerksamer geworden und haben auch die Schwellen schon gesenkt. Das Thema wird uns auch in den nächsten Jahren noch begleiten. Wir möchten Offenheit mit Fairness verbinden – das sollte das Gebot der Stunde sein – und einen fairen Wettbewerb um die innovativsten Dinge zulassen, aber eben in einem Umfeld, das vergleichbar ist. Alles in allem also danke schön. Machen Sie weiter so. Wir werden das Gutachten sehr ernst nehmen. Sie haben mit der Forschungsministerin ja schon umfassend darüber gesprochen. Und ich werde mir das gute Stück auch noch einmal intensiv anschauen.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Eröffnung des Hölderlin-Jahres
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-eroeffnung-des-hoelderlin-jahres-1724714
Sat, 15 Feb 2020 12:00:00 +0100
Im Wortlaut
Tübingen
Kulturstaatsministerin
Kultur
„Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr das Wesen dieser Gedichte mir einwirkt und unsäglich kenntlich vor mir steht. Wie die unbeschreiblichen Züge ein menschliches Gesicht bilden, so ergibt jedes dieser Gedichte, aus untrüglichen Teilen und Verhältnissen, das reine Antlitz, die Stirn, den Mund, seines inneren Zustandes.“ Kein Geringerer als Rainer Maria Rilke war es, der sich einst derart enthusiastisch über Hölderlins Verse äußerte. Wie auch Stefan George, Georg Trakl, Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Nelly Sachs, Durs Grünbein und viele andere Dichterinnen und Dichter fühlte er sich von Hölderlins Poesie tief berührt und inspiriert. „Wie sehr das Wesen dieser Gedichte (…) einwirkt“, veranschaulicht auch die neue Dauerausstellung im frisch renovierten Hölderlinturm. Hölderlin hat ja nicht ganz zu Unrecht den Ruf, hermetisch und schwer zugänglich zu sein: ein anspruchsvoller Genuss für wahre Kenner. Umso mehr freut es mich, dass Hölderlins unerhörte Sprachexperimente hier – ich habe es selbst gerade beim Rundgang erlebt – multimedial und mit allen Sinnen erfahrbar sind. Das macht neugierig auf sein Werk – und nachvollziehbar, warum Künstlerinnen und Künstler aller Disziplinen so fasziniert waren und sind von diesem sprachgewaltigen Poeten, dessen Werk sich bis heute der Einordnung widersetzt. Seine eigensinnige Dichtkunst gab nicht nur unterschiedlichen Deutungen Raum, sondern auch der politischen Vereinnahmung. Hölderlin eigne sich „besser für weltanschauliches Gegrapsche als die meisten anderen Dichte!“, heißt es in einer gerade erschienenen Biographie von Karl-Heinz Ott, den ich an dieser Stelle als einen der Mitwirkenden am Hölderlin-Jubiläumsjahres ebenfalls herzlich begrüßen darf. Vielen galt Hölderlin als nationaler Dichter, als Inbegriff deutscher Dichtkunst. Doch seine Sehnsucht, sein Blick ging hinaus in die Welt. Er, der Deutschland kaum verlassen hat und die zweite Hälfte des Lebens in einem Tübinger Turm (im sprichwörtlichen Elfenbeinturm!) verbrachte, er war dichtend ein Kosmopolit: unterwegs vor allem in Griechenland, aber auch in Asien, ja auf der ganzen Welt. Sein Werk sei, so hat es der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer formuliert, „Schlüssel zu einer Weltlektüre“. Weltlektüre: Mit diesem Begriff ist nicht nur Hölderlins schöpferische Kraft treffend beschrieben: seine Fähigkeit, dichtend vom Neckar an den Nil zu gelangen, dichtend in ferne wie auch vergangenen Welten einzutauchen. „Weltlektüre“ ist mittlerweile auch sein Werk. Das legen die Übersetzungen in über 80 Sprachen nahe – Übersetzungen nicht nur in weit verbreitete Sprachen, sondern beispielsweise auch ins Bretonische, Georgische oder Makedonische. So verbindet die Begeisterung für Hölderlin mittlerweile Menschen auf der ganzen Welt; so entzieht sein Werk sich heute der deutschtümelnden Vereinnahmung. Denn Übersetzen ist ja immer auch Aneignung – die Einbürgerung des Unbekannten, des Neuen, des Fremden. Man denke nur an all die hölderlinschen Wortkreationen wie „traurigfroh“, „Freudenwolk“ oder „einigentgegengesetzt“! Die Musikalität im Pathos seiner Verse und den Vielklang der Deutungsmöglichkeiten in einer anderen Sprache zu intonieren, nötigt den Übersetzer, Verbindendes zwischen den Sprachen zu finden, wo es keine wörtlichen Entsprechungen gibt. Der Schöpfungsakt des Übersetzens erfordert deshalb Kenntnisse des geistigen und sprachlichen Kosmos beider Sprachen. So wird ein Werk „Weltlektüre“, so erweitert die literarische Einbürgerung des Fremden den „Wort-Schatz“ einer Sprache. Hölderlin selbst war im Übrigen – das ist vielleicht weniger bekannt – auch selbst ein begnadeter Übersetzer griechischer Trägodien. So darf man den schwäbischen Dichter mit Fug und Recht als wirkmächtigen Kulturbotschafter und als eindrucksvollen Kronzeugen für die wechselseitige Inspiration unterschiedlicher Kulturen verstehen. Dass sein Werk „Weltlektüre“ geworden ist, dass seine Gedichte heute rund um die Welt gelesen und geschätzt werden – in Lateinamerika, in Japan und China genauso wie in Europa -, schützt ihn heute vielleicht auch vor jenem kleingeistigen „weltanschaulichen Gegrapsche“, das er sich lange gefallen lassen musste. Gerade in diesen Zeiten, in denen in vielen Ländern – auch in Deutschland – neue politische Kräfte einer Re-Nationalisierung der Kultur das Wort reden, ist solche „Weltlektüre“ ein Mittel gegen geistige und künstlerische Abschottung. Denn sie macht Menschen neugierig auf das Andere, noch Fremde, auf kulturellen Austausch. Poesie öffnet Welten: Hölderlins Poesie ist dafür ein wunderbares Beispiel. Welch vielfältige und weitreichende Impulse von Hölderlin ausgehen, zeigt auch das Jubiläumsjahr „Hölderlin 2020“ mit seinen 600 Veranstaltungen in Baden-Württemberg und ganz Deutschland. Herzlichen Dank allen Beteiligten, die sich eine Menge haben einfallen lassen, um möglichst viele Menschen erstmals oder erneut für den weltweit geschätzten Dichter zu begeistern. Vor allem danke ich auch Ihnen, lieber Herr Dr. Schmidt und liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Literaturarchivs Marbach, dass Sie die Veranstaltungen koordiniert, in Zusammenarbeit mit der Stadt und der Hölderlin-Gesellschaft die Ausstellung im Hölderlinturm neu konzipiert und das inspirierende Programmbuch auf den Weg gebracht haben, in dem auch zeitgenössische Denkerinnen und Denker zu Wort kommen und ihre persönliche Begegnung mit Hölderlin schildern. Um möglichst vielen Menschen solche persönlichen Begegnungen mit Hölderlin zu ermöglichen, engagiert sich natürlich auch der Bund im Rahmen des Hölderlinjahres. Von Mitteln aus meinem Kulturetat profitieren neben den großen Institutionen, die – wie das Literaturarchiv in Marbach – das literarische Erbe bewahren, auch Projekte kleinerer Einrichtungen: Eine dreitägige Veranstaltung des „Hauses für Poesie“ in Berlin beispielsweise wird sich im März der internationalen Rezeption Hölderlins widmen. Fördermittel des Bundes fließen auch in die Sanierung seines Geburtshauses in Lauffen. Allen, die darüber hinaus Schauplätze seines Lebens und Wirkens entdecken möchten, sei die ebenfalls aus meinem Etat geförderte Wanderausstellung der Fotografin Barbara Klemm ans Herz gelegt, die neue Perspektiven und Blickwinkel auf den schwäbischen Dichter zeigt. Liebe Frau Klemm, auch Sie begrüße ich herzlich. Ich freue mich, dass ich eben im Hölderlin-Turm bereits einige Ihrer Fotografien bewundern konnte! Was aber, meine Damen und Herren, ist es nun eigentlich, was weltweit so viele Menschen an Hölderlins Werk fasziniert – und das in der heutigen Zeit, 250 Jahre nach seiner Geburt? Wie wir heute, so lebte auch Hölderlin in einer Umbruchszeit, die Wahrheiten und Gewissheiten erschütterte, die Gefühle der Fremdheit und der Unbehaustheit erzeugte. Hölderlin setzte diesen Gefühlen eine Sehnsucht entgegen: die Sehnsucht, „[e]ins zu sein mit Allem, was lebt“, wie es in seinem Roman „Hyperion“ heißt. In der Antike, in der Liebe, in der Natur findet er (ich zitiere aus der kürzlich erschienen Hölderlin-Biographie Rüdiger Safranskis) etwas „Größeres, Tieferes, als was man in sich selbst findet. Die Labyrinthe des Bewusstseins genügen nicht, es kommt auf das Sein an. Hölderlin ist auf der Suche nach einer anderen Erfahrung des – Seins.“ Es ist dieser Blick über Vordergründiges hinaus, der Menschen bis heute – und vielleicht gerade heute! – wieder berührt. Seine spirituelle Suche nach etwas Größerem, Tieferem, über die eigene Existenz Hinausgehendem macht ihn zu einem Künstler, der den Blick weitet und die Sinne schärft für Erfahrungen, die in unserem beschleunigten Alltag, im materialistischen Konsumdenken, im Rausch scheinbar unbegrenzter technischer Möglichkeiten oft keinen Raum mehr finden. Mit seinem ganzheitlichen Verständnis von Mensch und Natur, mit seiner Deutung des Lebens in einem größeren Zusammenhang, trifft er offenbar gerade in unserer technisierten, rational geordneten Welt einen Nerv der Zeit. Und vielleicht ist gerade die Sehnsucht nach etwas Größerem und Tieferem, nach Sinn stiftenden Werten und Kräften, eine Erfahrung, die Menschen über alle Unterschiede und Grenzen hinweg rund um die Welt verbindet und von der die weltweite Begeisterung für Hölderlin Zeugnis ablegt. „Was bleibet aber, stiften die Dichter“: Mit diesem Satz endet Hölderlins Gedicht „Andenken“. Wenn dies als eine Quintessenz auch am Ende des Hölderlinjahres 2020 stünde, wäre dies ein schöner Erfolg des facettenreichen Jubiläumsprogramms „Hölderlin 2020“. In diesem Sinne hoffe ich, dass es Menschen aus dem In- und Ausland dazu anregt, sich auf Hölderlins Poesie einzulassen und damit über die Grenzen der eigenen Welt hinauszuschauen – nicht nur, aber ganz besonders in diesem Jahr, in dem wir seinen 250. Geburtstag feiern!
2020 jährt sich der Geburtstag Friedrich Hölderlins zum 250. Mal. Dies sei eine gute Gelegenheit, sich auf die Poesie dieses Dichters einzulassen und damit über die Grenzen der eigenen Welt hinauszuschauen, erklärte Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Eröffnung des Jubiläumsjahres.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Übergabe der 2-Euro-Gedenkmünze „Brandenburg“ am 14. Februar 2020 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-uebergabe-der-2-euro-gedenkmuenze-brandenburg-am-14-februar-2020-in-berlin-1722152
Fri, 14 Feb 2020 00:00:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident, lieber Herr Woidke, sehr geehrte Frau Parlamentarische Staatssekretärin, liebe Frau Hagedorn, sehr geehrter Herr Truxa, meine Damen und Herren, in der zweiten Jahreshälfte wird Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft innehaben. Bei allem, was wir uns dafür vornehmen, wissen wir: Europa gewinnt seine Identität und Stärke vor allem aus der Vielfalt seiner Regionen. Mit den 2-Euro-Gedenkmünzen wollen wir die besondere Bedeutung der Bundesländer für die Bundesrepublik Deutschland und Europa würdigen. Dabei erfolgt die Ausgabe der Münzen seit 2006 in der Reihenfolge der Präsidentschaft im Bundesrat. Deshalb ist in diesem Jahr Brandenburg an der Reihe. Die Gedenkmünzen zeigen beeindruckende und historisch bedeutsame Bauwerke. Sowohl Herr Woidke als auch ich hätten weitere historisch bedeutsame Bauwerke in Brandenburg gefunden, aber es nimmt nicht wunder, dass die Wahl dann doch auf das Schloss Sanssouci gefallen ist. Das Schloss Sanssouci zählt bereits seit fast 30 Jahren zum UNESCO-Welterbe – also etwa so lange, wie wir die Deutsche Einheit haben. Sanssouci, das heißt übersetzt ja nichts anderes als „ohne Sorge“ – und damit war auch für den Namen des Schlosses gesorgt. Das einzigartige Ensemble aus Prachtbauten und Parkanlage ist sehenswert. Wahrscheinlich war auch jeder von Ihnen hier schon einmal dort. Wenn nicht, dann müssen Sie das unbedingt nachholen. Millionen von Besuchern waren schon dort. So findet Sanssouci nun auch eine Würdigung mit der neuen Gedenkmünze. Der Entwurf der Bildseite stammt passenderweise aus einer Brandenburger Werkstatt – genauer gesagt: von Herrn Jordi Truxa aus Neuenhagen. Er ist hier kein unbekannter Gast, denn er hat auch die Bildseite der Gedenkmünze Sachsen 2016 mit dem Dresdner Zwinger gestaltet. Herr Truxa, also herzlichen Dank zum zweiten Mal. Nun möchte ich das Wort an die sehr viel sachkundigere Parlamentarische Staatssekretärin übergeben. Frau Hagedorn, Sie haben das Wort.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters beim 6. Zukunftsforum „Globalisierung gerecht gestalten“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-beim-6-zukunftsforum-globalisierung-gerecht-gestalten–1722070
Wed, 12 Feb 2020 18:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
„Globalisierung gerecht gestalten“: Dieser Anspruch ist zweifellos jede politische Anstrengung wert, und es liegt nahe, dabei in erster Linie an Außenpolitik, Entwicklungspolitik, Wirtschaftspolitik oder auch Klima- und Umweltpolitik zu denken. Doch gerade Kunst und Kultur können Kräfte entfalten, die jene der Politik bisweilen übersteigen. So hat eine der stimmgewaltigsten Kämpferinnen für eine gerechtere Welt, die als „Mama Afrika“ verehrte, über Jahrzehnte im Exil lebende, südafrikanische Sängerin Miriam Makeba über die Kraft ihrer Musik einmal gesagt: „I am a singer, not a politician, but since I was exiled from my home, every song I sing becomes a political statement that echoes the hopes and aspirations from my people.“ Miriam Makeba, 2008 verstorben, gab den Menschen des afrikanischen Kontinents, ihren Hoffnungen und Sehnsüchten wie auch ihrem Leid infolge von Ungerechtigkeit, Unrecht und Unterdrückung, über viele Jahre im wahrsten Sinne des Wortes eine Stimme – und lag der Weltgemeinschaft damit im besten Sinne in den Ohren. Heute zeigen beispielsweise junge Rapper aus Ostafrika, was Musik bewegen kann – gerade dort, wo häufig ethnische Konflikte den Alltag bestimmen. Der populäre kenianische Rapper Monaja spricht von einer „Kraft, die die Kluft zwischen den Generationen, den Geschlechtern, Klassen und Ethnien überwinden kann“. Solche Erfahrungen stehen für das gesellschaftspolitische Potential der Kunst: für ihre Fähigkeit, Grenzen und Gräben zu überwinden; für ihre Fähigkeit, jenseits der oft bedrückenden gesellschaftlichen Wirklichkeit das Mögliche sichtbar zu machen und damit auch Hoffnungsträgerin zu sein. „Afrikas Kreativität – Afrikas Reichtum“ ist deshalb – um das heutige Veranstaltungsmotto aufzugreifen – nicht nur vielversprechend für den „Zukunftsmarkt Kultur“, sondern für eine gute Zukunft dieses riesigen Kontinents insgesamt. In diesem Sinne kann auch Kulturpolitik dazu beitragen, Globalisierung gerecht zu gestalten. Investitionen in Kunst und Kultur, gute Rahmenbedingungen für Kreative, kultureller Austausch und nicht zuletzt auch die Aufarbeitung des Kolonialismus und seiner Folgen: Das sind Themen, die mit auf die Agenda für die Zusammenarbeit mit Afrika gehören, und so freue ich mich, lieber Herr Kollege Müller, dass Sie die Kulturpolitik in die Entwicklungspolitik einbeziehen und im Rahmen Ihres Zukunftsforums zum Austausch darüber einladen. Die Potentiale der afrikanische Kultur- und Kreativwirtschaft zu heben, lohnt sich natürlich allein schon deshalb, weil es sich tatsächlich, wie es im Motto der heutigen Veranstaltung steht, um einen riesigen Zukunftsmarkt handelt. Um beim Beispiel „Musik“ zu bleiben: Bisher entfallen nur zwei Prozent des weltweiten Umsatzes der Musikindustrie auf Afrika, obwohl die Zielgruppe riesig ist: 60 Prozent der 1,3 Milliarden Afrikanerinnen und Afrikaner sind jünger als 30 Jahre. Für die beeindruckende Lebendigkeit der Kreativszene vielerorts stehen beispielsweise Nollywood in Nigeria – nach Bollywood in Indien zweitgrößter Filmproduktionsstandort weltweit – oder die Gameswirtschaft in Äthiopien. Und auch junge afrikanische Modedesignerinnen und –designer machen international von sich reden. Dennoch denken viele von uns beim Stichwort „Afrika“ zuallererst an Hunger, an Krankheiten, Kriege und Korruption, nicht aber an innovatives Unternehmertum. Ich bin hier – das gebe ich selbstkritisch zu – keine Ausnahme, was sicherlich auch mit persönlichen Erfahrungen zu tun hat: Einer meiner Brüder war siebeneinhalb Jahre als Entwicklungshelfer im Südsudan, wo ich ihn zweimal besucht habe. Beide Male waren wir auch in der kenianischen Hauptstadt Nairobi im Slum. Das werde ich nie vergessen. Solche Eindrücke prägen sich fürs ganze Leben ein. Solche Eindrücke sind es auch, die Afrika mediale Aufmerksamkeit bescheren. Sie zeichnen das Bild eines rückständigen Kontinents, der vor allem Entwicklungshilfe braucht – obwohl Afrika ja so viel mehr Facetten hat. Mindestens ebenso wichtig wie Unterstützung notleidender Menschen ist es jedenfalls, die Avantgarde des gesellschaftlichen Fortschritts vor Ort zu fördern. Neugier und Kühnheit, Fantasie und Experimentierfreude sind Voraussetzungen für Innovationen – und eben dies sind Eigenschaften, die insbesondere Künstlerinnen, Künstler und Kreative auszeichnen. Sie sind Vordenker und Pioniere, die mit ihren Ideen und Visionen Veränderungen bewirken – und seien es auch nur jene unsichtbaren Veränderungen im Denken, im Wahrnehmen, im Empfinden, im (Selbst)Bewusstsein, die (um zu meinem eingangs erwähnten Beispiel zurück zu kommen) ein erfolgreicher Rapper in den Köpfen junger Leute auslöst. Solche kleinen Veränderungen sind es, die jeder großen gesellschaftlichen Veränderung vorausgehen! In diesem Sinne tragen Kunst und Kultur immer den Keim des Revolutionären in sich – ein enormes Potential, bei dessen Erschließung Afrika Unterstützung auf Augenhöhe verdient: sei es durch Investitionen, sei es durch Vermittlung von Know-how, was die Rahmenbedingungen für kreatives Schaffen betrifft (Stichwort Urheberrecht; Stichwort Filmförderung – um nur zwei Beispiele zu nennen), sei es durch künstlerische Zusammenarbeit und kulturellen Austausch. Für letztes will ich beispielhaft drei Projekte nennen, die aus meinem Etat gefördert bzw. finanziert werden: Mit dem seit 2012 laufenden Programm „TURN“ fördert die Kulturstiftung des Bundes künstlerische Kooperationen zwischen Deutschland und afrikanischen Ländern: Deutsche Kultureinrichtungen aller Sparten sind eingeladen, neue Formen der künstlerischen Zusammenarbeit mit afrikanischen Partnern zu erproben. Zu den Projekten, mit denen der (aus meinem Etat finanzierte) deutsche Auslandsrundfunk Deutsche Welle in Afrika aktiv ist, zählt „The 77 percent“, das Dialogformat für Afrikas Jugend im Netz, im Radio und im Fernsehen. Seinen Namen verdankt es dem Umstand, dass 77 Prozent der Bevölkerung Sub-Sahara-Afrikas (etwa 770 Millionen Menschen) jünger als 35 Jahre sind. „The 77 percent“ gibt ihnen eine Stimme und bietet ein Forum für einen Dialog, wie ihn bisher noch kein anderes internationales Medium ermöglicht. Eine wichtige Rolle für die Förderung des künstlerischen Austauschs zwischen Europa und Afrika spielen auch internationale Festivals und Branchentreffen, die aus meinem Etat gefördert werden: im Bereich Rock- und Popmusik etwa das Reeperbahnfestival in Hamburg, bei dem auch 2019 wieder zahlreiche Künstlerinnen und Künstler aus Afrika vertreten waren. Im Theaterbereich ist es insbesondere das ebenfalls vom Bund geförderte Festival Theater der Welt, das auch Künstlerinnen und Künstlern etwa aus Ägypten, Nigeria, Burkina Faso, Senegal, Tschad, Kenia, Ghana oder Südafrika eine Bühne bietet. Auch private Initiativen und bürgerschaftliches Engagement dürfen in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. Vorbildlich ist Ihr Verein „One Fine Day“, lieber Tom Tykwer, mit dem Sie seit elf Jahren in Kenia aktiv sind und dort Kreativförderung betreiben – über Ihre filmkünstlerische Zusammenarbeit mit jungen Regisseuren hinaus, die Geschichten aus Afrika auf die Leinwand bringen und ihnen international Gehör verschaffen. Das ist großartig, und ich bin gespannt, nachher mehr darüber zu erfahren. Solche Beispiele künstlerischen Zusammenarbeit, meine Damen und Herren, weisen Wege zum „Ausgang aus der langen Nacht“. Das ist der Titel eines Essays, den der Kameruner Philosoph Achille Mbembe als – ich zitiere – „Versuch über ein entkolonisiertes Afrika“ veröffentlicht hat: eine Abrechnung mit den gegenwärtig herrschenden politischen Eliten wie auch mit den ehemaligen Kolonialmächten, aber auch eine Perspektive für die Zukunft. In den Städten Afrikas, die Schmelztiegel der Kulturen, Religionen, Sprachen und Ethnien geworden sind, sieht Achille Mbembe die Avantgarde einer neuen, transnationalen Kultur: Experimentierfelder für innovatives Denken und Handeln und für jene postkoloniale Eigenständigkeit, zu der er Afrikanerinnen und Afrikaner aufruft. Solche Experimentierfelder für innovatives Denken und Handeln jenseits der über viele Jahrzehnte eingeübten Wahrnehmungsmuster brauchen wir überall für politische und gesellschaftliche Veränderungen. Gerade die Kultur birgt die große Chance, solche Denkräume zu schaffen und notwendige Debatten anzustoßen; gerade die Kunst lenkt den Blick über das gegenwärtig Wirkliche hinaus auf das künftig Mögliche – nicht zuletzt auf die gerechte Gestaltung der Globalisierung, die im Mittelpunkt dieses BMZ-Zukunftsforums steht. Deshalb widmet Deutschland den zentralen Platz im Herzen der Hauptstadt Berlins der Weltkultur: Das Humboldt Forum – Deutschlands gegenwärtig wichtigstes Kulturprojekt – steht für die revolutionäre Kraft der Kultur wie auch für das Selbstverständnis eines weltoffenen Deutschlands. Die außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die wir dort präsentieren wollen, bieten in Verbindung mit der benachbarten Museumsinsel und deren Kulturschätzen aus Europa und dem Nahen Osten einmalige Einblicke in das kulturelle Erbe der Menschheit. Sie offenbaren, dass es ein „Wir“ auch jenseits kultureller und nationaler Grenzen gibt. Zukunftsweisend ist das Humboldt Forum vor allem als Ort der Verständigung: Wir wollen die Sammlungen in ihrer Bedeutung für das 21. Jahrhundert zum Sprechen bringen. Ein internationales Expertenteam berät bei der Präsentation der außereuropäischen Objekte; die einzelnen Ausstellungsmodule werden zum Teil in Teams mit Kollegen aus den Herkunftsgesellschaften vorbereitet. Mit Blick auf Afrika steht dafür beispielhaft das Ausstellungsprojekt „Tansania“, das Vertreterinnen und Vertreter des National Museums of Tanzania, des Ethnologischen Museums Berlin und der Stiftung Humboldt Forum erarbeiten: Das Zusammenwirken vieler unterschiedlicher Perspektiven macht Wahrnehmungen sichtbar, die in der bisher recht einseitigen, vermeintlich objektiven Geschichtsschreibung keinen Platz hatten. Mit solchen Projekten kann und soll im Humboldt Forum ein lebendiger Ort möglichst breiter öffentlicher Debatten entstehen: ein Museum, das die Gesellschaft nicht nur abbildet, sondern auch mitformt; ein Museum, das gegenseitiges Verständnis und Verständigung zwischen unterschiedlichen Kulturen fördert und dazu beiträgt, jene Partnerschaften auf Augenhöhe zu fördern, die treibende Kräfte für die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Entwicklung in Afrika sein können. Und nebenbei bemerkt: In diesen Zeiten, in denen Populisten vielerorts die Rückkehr zum Nationalstaat alter Prägung beschwören und Mauern zur Abschottung errichten wollen, ist es wichtiger denn je, der Verständigung über Grenzen hinweg eine Bühne zu bieten und in der Auseinandersetzung mit unseren eigenen Wurzeln und Werten auch die Neugier auf das Andere, vermeintlich Fremde zu fördern. Heute, im 21. Jahrhundert, gehört es zum Selbstverständnis Deutschlands, treibende Kraft interkultureller Verständigung zu sein. Voraussetzung dafür ist nicht zuletzt auch die Auseinandersetzung mit der historischen Wahrheit, die Aufarbeitung von Leid und Schuld. Die Bundesregierung hat sich deshalb mit dem Koalitionsvertrag sehr klar zur Aufarbeitung unserer kolonialen Vergangenheit bekannt. Dabei hilft uns möglicherweise, dass wir in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten lernen mussten, Verantwortung für historisches Leid und Unrecht zu tragen. So haben wir auch gelernt, dass Aufklärung und Aufarbeitung nur im Dialog, im vielstimmigen Austausch möglich sind und deshalb Zeit brauchen. Aufbauend auf diesem Erfahrungsschatz wollen wir im Dialog mit den Herkunftsstaaten und Herkunftsgesellschaften konstruktive Wege suchen. In diesem Sinne hat das Humboldt Forum seinem Ruf als Katalysator öffentlicher Meinungsbildung schon vor seiner Eröffnung alle Ehre gemacht und eine überfällige Debatte über ein Thema ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt, das Deutschlands und Europas Verhältnis zu Afrika entscheidend prägt – nämlich über den Umgang mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten. Dass alle Museen ihre Bestände erforschen, ist ein notwendiger Schritt, um mit den kulturellen Zeugnissen ihrer Sammlungen und dem Kulturgut aus kolonialen Kontexten verantwortungsvoll, sensibel und im Dialog mit den Herkunftsgesellschaften umzugehen. Das sind Herausforderungen, die nicht allein das Humboldt Forum betreffen, für die das Humboldt Forum in Deutschland aber Maßstab und Vorbild sein sollte. Deshalb befürworte ich es sehr, dass die Stiftung Humboldt Forum zusammen mit der SPK plant, alle Objekte, die im Humboldt Forum gezeigt werden sollen, bis Ende 2020 in digitaler Form öffentlich zugänglich machen wollen. Für den Umgang mit Kulturgut aus kolonialen Kontexten sind aber nicht nur Vorbilder, sondern auch Leitlinien nötig. Es ist wichtig, dass wir uns darauf verständigen, wie wir gemeinsam Verantwortung übernehmen, Teilhabe ermöglichen und Zusammenarbeit auf Augenhöhe erreichen wollen. Deshalb hat der Deutsche Museumsbund – die bundesweite Interessenvertretung der deutschen Museen – mit Unterstützung aus meinem Kulturetat einen „Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ erarbeitet. Er soll Museen helfen, dem anspruchsvollen und vielschichtigen Thema gerecht zu werden und, angepasst an die Umstände des Einzelfalls, zu Lösungen für den Umgang mit den betreffenden Objekten beitragen – und damit zum Fortschritt in der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte. Weil dieses Thema mit enormen politischen und auch moralischen Herausforderungen verbunden ist, habe ich 2019 in meinem Kulturressort ein eigenes Referat zur Aufarbeitung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten eingerichtet. Das hat national wie international Vorbildcharakter. Es zeigt auch, welchen Stellenwert der Kolonialzeit inzwischen in der Kulturpolitik des Bundes hat. Arbeit für dieses neue Referat gibt es jedenfalls genug: Vor knapp einem Jahr habe ich zusammen mit der Staatsministerin für internationale Kulturpolitik im Auswärtigen Amt, den Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder und den kommunalen Spitzenverbänden „Erste Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ beschlossen. Darin haben wir klare Handlungsfelder benannt, auf denen wir unter Beteiligung der Herkunftsstaaten und Herkunftsgesellschaften gemeinsam aktiv werden wollen. Noch im ersten Halbjahr 2020 soll die „Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland“ ihre Arbeit aufnehmen. Damit ist ein erster Schritt zu Umsetzung getan. Darüber hinaus habe ich Mittel bereitgestellt, damit das aus meinem Etat finanzierte Deutsche Zentrum Kulturgutverluste einen neuen Fachbereich zu Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten aufbauen kann. Dass wir den Worten auch Taten folgen lassen, zeigt beispielsweise die bevorstehende Übergabe der Wappensäule von Cape Cross an Namibia. Sie wurde 1486 von den Portugiesen als Herrschaftszeichen an der namibischen Küste errichtet und während der deutschen Kolonialzeit nach Deutschland gebracht. Das sind nur einige Beispiele für Maßnahmen aus meinem kulturpolitischen Verantwortungsbereich, die zur Aufarbeitung der Kolonialgeschichte beitragen soll. Der senegalesische Schriftsteller und Ökonom Felwine Sarr, Mitverfasser des Berichts über die Restitution afrikanischer Kulturgüter an den französischen Präsidenten, hat die Haltung Deutschlands bei der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte im vergangenen Jahr in einem Interview entsprechend gewürdigt: „Die deutsche Haltung ist eine der fortschrittlichsten in Europa“. Die Kolonialzeit, meine Damen und Herren, war viel zu lang ein blinder Fleck in unserer Erinnerungskultur, und viel zu lang war das in dieser Zeit geschehene Unrecht vergessen und verdrängt. Es endlich ans Licht zu holen, ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber den ehemaligen Kolonien. Darüber hinaus ist es Voraussetzung für Versöhnung und Verständigung mit den Menschen in Afrika und für ein partnerschaftliches Miteinander zwischen Afrika und Europa, zu dem auch die Kulturpolitik beitragen kann und sollte – im Sinne jenes „Ausgangs aus der langen Nacht“, den der Philosoph Achille Mbembe in seinem gleichnamigen Essay skizziert hat. Von einem Projekt, das in diesem Sinne Hoffnung macht, war kürzlich in vielen Zeitungen zu lesen. „Ein Humboldt-Forum für Afrika“: So war ein Artikel über den „Palais de Lomé“ überschrieben, ein vielversprechendes Kunst- und Kulturzentrum in Lomé in der ehemaligen deutschen Kolonie Togo, das im November feierlich eröffnet wurde. International Aufsehen erregt hat es nicht nur als erstes lokal finanziertes Gegenwartsmuseum in Afrika, sondern auch und vor allem deshalb, weil dafür der ehemalige deutsche Gouverneurspalast renoviert und umgebaut wurde, die einstige Machtzentrale des deutschen Kolonialreichs, in der nun die ganze Bandbreite afrikanischer Kunst und Kreativität ausgestellt wird. „Das Gebäude ist ein Symbol, und indem man es mit Kunst füllt, transformiert man es. Jetzt ist es ein afrikanisches Symbol.“ So hat Sonia Lawson, die Direktorin, die Umwidmung eines Symbols der Unterdrückung in ein Symbol eines selbstbewussten Afrikas beschrieben. Das ist wahrlich eine zukunftsweisende Symbolik! Darin zeigt sich einmal mehr die Bedeutung der Kultur, der Kunst und der Kreativität für den gesellschaftlichen Wandel auch in Afrika. Und ganz bestimmt werden solche Symbole noch mehr Künstlerinnen, Künstler und Kreative aus Afrika inspirieren und ermutigen, die eigenen Stärken – Afrikas Vielfalt, Afrikas Reichtum – für eine bessere Zukunft zu nutzen. Das jedenfalls wünsche ich Ihnen allen, verehrte Damen und Herren, die Sie hier und heute die afrikanische Kultur- und Kreativwirtschaft repräsentieren: Sie stehen mit Ihren Ideen und Innovationen für ein selbstbewusstes und selbstbestimmtes Afrika, von dem auch Deutschland im kulturellen Austausch lernen kann. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen weiterhin Mut, Zuversicht und viel Erfolg!
In ihrer Rede zum Thema „Afrikas Kreativität – Afrikas Reichtum: Zukunftsmarkt Kultur“ wies Kulturstaatsministerin Grütters auf das gesellschaftspolitische Potential der Kunst hin. „In diesem Sinne kann auch Kulturpolitik dazu beitragen, Globalisierung gerecht zu gestalten“, so Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Eröffnung der Ausstellung „Sight Seeing. Die Welt als Attraktion“ in der Kunsthalle Emden
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-eroeffnung-der-ausstellung-sight-seeing-die-welt-als-attraktion-in-der-kunsthalle-emden-1720966
Sat, 08 Feb 2020 16:30:00 +0100
Im Wortlaut
Emden
Kulturstaatsministerin
Kultur
Der französische Autor Pierre Cabanne beschrieb einmal in einer „Geschichte großer Sammler“ welche Leidenschaft diese bei ihrem kostspieligen Hobby trieb. Manche riskierten den Bankrott für ihre Liebe zur Kunst, andere hungerten oder bettelten. Was sie alle verband, war eine Passion, von der heute viele Museen weltweit profitieren. Eine solche Passion darf man wohl auch Henri Nannen nachsagen. „Nicht Willkür“, sondern „Lustkür“ habe zeitlebens die Auswahl seiner Ankäufe bestimmt, soll er gegenüber Journalisten einmal gesagt haben. Diese „Lustkür“ Henri Nannens ist zweifellos ein Grund dafür, dass es Kunstliebhaberinnen und -liebhaber in den hohen Norden nach Emden zieht – so wie mich heute zur Eröffnung der Ausstellung „Sight Seeing. Die Welt als Attraktion“. Die beeindruckende Sammlung mit inzwischen mehr als 1500 Kunstwerken und auch die vielen Sonderausstellungen haben die Kunsthalle zu einer Institution mit Strahlkraft weit über Deutschlands Norden hinaus werden lassen – zu einer Sehenswürdigkeit, die mit der Kraft der Bilder auch ohne touristische Erinnerungsfotos im Gedächtnis bleibt. Wer die Kunsthalle Emden besucht, betreibt im wörtlichen Sinne „Sight“ -Seeing, insofern er hier durch Kunst eine neue „Sicht“ auf die Welt gewinnt. Das ist ganz wesentlich Ihr Verdienst, liebe Frau Nannen. Mit Ihrem selbstlosen Engagement und mit Ihren immer neuen Ideen haben Sie am Puls der Zeit als langjährige Geschäftsführerin und Aufsichtsratsvorsitzende das Haus zukunftsfest gemacht. Bundespräsident Richard von Weizsäcker würdigte bereits 1986 das Museum bei seiner Eröffnung als ein „Haus mit menschlicher Dimension“. Henri Nannens Wunsch, mit allen Menschen seine Begeisterung für die Kunst teilen zu können, sein Wille, den Emdenern seine damals 650 Bilder umfassende Sammlung samt Schauhaus zu schenken, verlieh dem Museum von Anfang an eine sehr persönliche Aura. Henri Nannen präsentierte Gemälde seiner Sammlung als „Bilder, die ich liebe“. Und es ist diese persönliche Aura, diese Liebe zur Kunst, die Sie, verehrte Frau Nannen, mit Ihrer leidenschaftlichen Arbeit als „Markenkern“ des Hauses bewahrt und zum Leuchten gebracht haben. Doch, meine Damen und Herren, wir wissen alle: allein durch die Liebe zur Kunst findet ein überwiegend privat finanziertes Museum noch lange keinen prominenten Platz in der Museumslandschaft. Es bedarf auch einer Vision, es bedarf großer Expertise, es bedarf enormen Mutes, neue Wege zu gehen, um ein Haus wie dieses weiterzuentwickeln − um es zu dem zu machen, was es heute ist: ein kleiner, ein sehr eigener „Sight Seeing-Magnet“ für Kunstliebhaber. Visionen, Expertise und Mut, das alles haben Sie, liebe Frau Nannen, bei der Entwicklung des künstlerischen Profils und dessen Vermittlung immer bewiesen. Darüber hinaus sind Sie aber auch eine begnadete und einnehmende Netzwerkerin. Mäzene und Politiker, bei denen Sie erfolgreich Gelder eingeworben haben, sollen Sie „einen sympathischen Quälgeist“ mit großer Verführungskraft, genannt haben. Ein schönes Kompliment, für eine Liebhaberin der Kunst, finde ich. Dass man Ihrer Verführungskraft tatsächlich schlecht widerstehen kann, bestätigen nicht zuletzt die rund 22 Millionen Euro, die Sie für die Kunsthalle im Laufe der Jahre gesammelt haben. Ohne Ihre Fundraisingaktivitäten hätte die Sammlung, die mit der Schenkung Otto van de Loos nochmals stark wuchs, nicht in ihrem vollen Umfang gezeigt werden können. Der dafür nötige Erweiterungsneubau wäre ohne Ihr Engagement jedenfalls nicht realisierbar gewesen. Der Bund hat 1998 für den Erweiterungsneubau 3,9 Millionen DM beigesteuert. Nun ist eine Modernisierung, eine Sanierung und Erneuerung der Kunsthalle fällig. Und ich freue mich sehr, dass der Bund die Maßnahmen mit 15 Millionen Euro unterstützen will. Damit würdigen wir finanziell die Lebensleistung Henri und Eske Nannens und wollen deren Fortwirken sichern. Das Engagement des Ehepaar Nannen zeichnete sich von Anbeginn durch zeitgemäße Ansätze und innovative Ideen aus; manche dieser Ideen waren ihrer Zeit sogar voraus, so beispielsweise die Einrichtung eines Museumsshops als das in Deutschland so wahrlich noch nicht üblich war, insbesondere aber auch die berühmte Malschule, mit der Eske Nannen die nachwachsende Generation für die Kunst begeisterte und sie bis heute in ihrer Persönlichkeit stärkt. Die Kunsthalle Emden war beispielsweise auch das erste Museum in Europa, das Audioführungen für Kinder anbot. Doch nicht nur in der Vermittlungsarbeit kann Emden für andere Museen Vorbild und Impulsgeber sein: Dass die Kunsthalle jetzt mit den Bundesgeldern mehr Klimafreundlichkeit, Nachhaltigkeit, Barrierefreiheit und eine moderne digitale Infrastruktur umsetzen möchte, passt zum innovativen Ehrgeiz dieses Museums. Und: es passt aber auch zu den Zielen der BKM, die Kulturinstitutionen dazu ermutigt, sich gerade in diesen Bereichen zu verbessern. Daher freut es mich sehr, dass die Kunsthalle auch hier Vorbild und am Puls der Zeit sein will. Dass der Bundestag die 15 Millionen Euro bewilligt hat, ist auch der tatkräftigen Unterstützung insbesondere zweier Abgeordneter zu verdanken: Ihnen, lieber Herr Saathoff, als Vertreter des Wahlkreises, und Dir, liebe Gitta Connemann, als „Nachbarin“ hier und als Stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion u.a. für den Bereich Kunst, Kultur und Medien. Sie beide sind hier in Niedersachsen engagiert vor Ort präsent und vermitteln zwischen Bürgerinnen und Bürgern und dem politischen Berlin, das von der Perspektive der ländlichen Räume (einem Anliegen, das wir in dieser Legislaturperiode in den Vordergrund all unserer Bemühungen gestellt haben), das von Ihren Ansichten und Argumenten immer wieder profitiert. Deine wertvolle Arbeit, liebe Gitta, habe ich kurz nach meiner eigenen Wahl in den Deutschen Bundestag 2005 kennen und schätzen gelernt. Regelmäßig sind wir uns in der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ begegnet, deren Vorsitzende Du warst. Die zusätzliche Arbeit in solchen Kommissionen ist durchaus fordernd – zumal, wenn man den Vorsitz so „engagiert“ führt wie Du, aber sie war lohnend und wegweisend. Viele Erkenntnisse, die wir dort gewonnen haben, meine Damen und Herren, prägen unsere Kulturpolitik bis heute – nicht zuletzt unser aller Einsatz dafür, die weltweit einzigartige Dichte und Qualität unserer Kulturangebote landauf, landab zu verteidigen. Diese verdanken wir auch Mäzenen und Sammlern wie Henri und Eske Nannen, die sie mit ihrem bürgerschaftlichen Engagement bereichern und beleben. Ohne sie wäre unsere Kulturlandschaft ärmer. Henri Nannen soll ja seine Leidenschaft für das Bildersammeln schon in der frühen Jugend entwickelt haben, als er mit seiner Freundin Cilly begeistert Zigarettenbildchen tauschte, die damals vielen Zigarettenpackungen beilagen. Zu dieser Sammelwut kamen – das passiert leider nicht bei jedem begeisterten Sammler dieser Republik – bald eine große kunstgeschichtliche Expertise, die Begeisterung insbesondere für den Expressionismus, vor allem aber auch eine Großzügigkeit, der wir „einen lebendigen Ort der Begegnung zwischen Menschen und Bildern“ verdanken – so wie es die Stifter selbst wünschten. Ich wünsche dem Haus, dass es weiterhin viele Besucher anzieht und Ihnen, meine Damen und Herren, dass es mit seiner Sight Seeing-Ausstellung einen neuen Blick auf alte und neue Attraktionen der Welt gewährt. Viel Freude beim Gang durch die Ausstellung!
In ihrer Rede würdigte Staatsministerin Grütters das Engagement des Ehepaars Nannen und deren innovative Ideen. „Die Kunsthalle Emden war beispielsweise auch das erste Museum in Europa, das Audioführungen für Kinder anbot“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich des
8. Deutsch-Angolanischen Wirtschaftsforums am 7. Februar 2020 in Luanda
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-angela-merkel-anlaesslich-des-8-deutsch-angolanischen-wirtschaftsforums-am-7-februar-2020-in-luanda-1720156
Fri, 07 Feb 2020 16:00:00 +0100
Luanda
keine Themen
Sehr geehrter Staatspräsident, lieber Herr Lourenço, sehr geehrte Minister, Exzellenzen, meine Damen und Herren, herzlichen Dank für den freundlichen Empfang und diese doch opulente Menge von Menschen, die hier versammelt sind! Ich freue mich sehr, nach neun Jahren wieder in Luanda zu sein und diesmal gemeinsam mit Ihnen, Herr Staatspräsident, beim Deutsch-Angolanischen Wirtschaftsforum dabei zu sein. Uns liegt sehr viel daran, die Wirtschaftsbeziehungen unserer beiden Länder weiter zu vertiefen. Das zeigt sich auch an der anwesenden Wirtschaftsdelegation, die mit mir mitgekommen ist und die ja auch gleich im Anschluss einige Verträge unterzeichnen wird. Dass dieses Wirtschaftsforum bereits zum achten Mal stattfindet, zeigt ja auch, dass wir zu einer Kontinuität gekommen sind. Aber man muss ganz einfach sagen: Die Beziehungen sind noch ausbaufähig. Ich glaube und hoffe, dass der heutige Tag auch noch einmal einen qualitativen Sprung in der Abwicklung unserer Kooperation mit sich bringt. Ich glaube, dass sich angolanische und deutsche Unternehmen sehr gut ergänzen können. Das gilt für den Energiesektor. Sie haben darauf hingewiesen, in welch klarer Abhängigkeit vom Erdöl sich Angola befindet. Deshalb kann ich nur unterstützen, dass man diese Abhängigkeit reduziert und die gesamte Wertschöpfung diversifiziert. Deutschland ist im Bereich der Wasserkraft ‑ auch im Rahmen der Wirtschaftsdelegation, die heute hier ist ‑ sehr gut vertreten. Aber wir sind auch bereit, beim technologischen Aufbau erneuerbarer Energien anderer Art zu helfen, wenn es zum Beispiel um Wind- oder Sonnenenergie geht. Ich möchte auch sagen, dass es viele weitere Wirtschaftsbeziehungen sehr gut zu entwickeln gilt, zum Beispiel im Transportwesen sowie hinsichtlich Finanzdienstleistungen und Digitalisierung. Angola ist eines der wenigen Länder in Subsahara-Afrika mit einem mittleren Pro-Kopf-Einkommen. Das verdanken Sie natürlich Ihren reichen Bodenschätzen, insbesondere dem Öl. Aber Sie sind auch ein Land, das mit mutigen Reformen begonnen hat; wir haben das sehr gut verfolgt. Ich glaube, Reformen bieten dann auch eine sehr, sehr gute Grundlage für Wirtschaftsunternehmen, Vertrauen entstehen zu lassen, um in Ihrem Land zu investieren. Ich will nur die Einführung einer Umsatzsteuer nennen. Das ist natürlich ein wichtiges Merkmal. Ich habe auch verstanden, dass es nicht schlecht wäre, wir würden mit dem Doppelbesteuerungsabkommen ein bisschen vorankommen; das würde sicherlich auch manches erleichtern. Ich werde noch einmal mit unserem Finanzminister reden. Sie restrukturieren Unternehmen, privatisieren teilweise die Staatsunternehmen und entwickeln Ideen, wie man vielleicht auch den Wechselkurs liberalisieren könnte. Das wären natürlich auch noch einmal wichtige Zeichen. Ich finde die Dezentralisierung des Landes und die Schaffung von Selbstverwaltung für die Kommunen sehr mutig. Natürlich sind wir auch gerne dabei, wenn es um den Ausbau der Infrastruktur geht. Deutschland hat also ein breites Portfolio anzubieten, und wir sind sehr gerne dabei, wenn wir hier auch verlässliche Rahmenbedingungen vorfinden. Dass Sie den Kampf gegen die Korruption sozusagen eröffnet haben und dass Sie diesen Kampf entschieden führen, ist ein mutiger Schritt, aber, glaube ich, auch ein notwendiger Schritt. Wir müssen auch schauen, dass wir gerade in unserer binationalen Wirtschaftskommission noch einmal über tarifäre und nicht-tarifäre Handelshemmnisse sprechen; denn die können die Beziehungen natürlich auch oft erschweren. Ich habe heute mit dem Präsidenten über die Frage des „Compact with Africa“ gesprochen. Präsident Lourenço ist sehr gerne bereit dazu, dass Angola das 13. Mitglied dieses „Compact with Africa“ wird. Auch das wird die Investitionsbedingungen noch einmal verbessern und sicherlich auch Unterstützung für die Reformen bieten. Von entscheidender Bedeutung ist natürlich das Thema der Bildung und Ausbildung. Angola ist ein junges Land. Die jungen Menschen haben große Erwartungen. Deshalb darf ich Ihnen sagen, dass Ausbildung immer ein Markenzeichen deutscher Unternehmen ist. Wo immer sich deutsche Unternehmen im Ausland ansiedeln, bauen sie Ausbildungsstätten und bilden hervorragend aus, und das ist auch immer zum Nutzen der jeweiligen Jugend in dem Land, in dem deutsche Unternehmen tätig sind. Heute wird das ganz besonders mit dem Gründungsabkommen für eine Ausbildungsakademie unterstrichen. Dieses Abkommen wird gleich unterzeichnet werden. Ich glaube, das ist ein wichtiger Schritt. Alles in allem bin ich also heute sehr gerne hier. Die Afrikanische Union als solche hat sich ja sehr viel vorgenommen. Sie hat im Sommer eine Freihandelszone der Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union für den gesamten afrikanischen Kontinent beschlossen. Wir als Mitglied der Europäischen Union wissen, dass es natürlich ein langer Weg ist, das dann auch wirklich bis zum Ende durchzubuchstabieren. Da, wo es keine Zölle gibt, gibt es dann doch viele kleine nicht-tarifäre Handelshemmnisse, denen man immer wieder hinterherjagen muss. Aber wir sind gerne bereit, Ihnen auf diesem Weg zu einer Freihandelszone auch zu helfen. Wir werden im Herbst einen EU-Afrika-Gipfel abhalten, also einen Gipfel mit der Afrikanischen Union. Unter der Präsidentschaft Deutschlands wird das im zweiten Halbjahr stattfinden. Ich glaube, wir sollten daran arbeiten, und dann werden wir dort auch gute Beispiele aus den deutsch-angolanischen Beziehungen vortragen können. Das freut mich. Deshalb danke ich den Organisatoren dieser Veranstaltung. Ihnen allen möglichst gute, möglichst praktische Gespräche! Ich darf Ihnen berichten, dass wir sehr gute Gespräche geführt haben und dass dieser Tag heute die deutsch-angolanischen Beziehungen sicherlich noch einmal gefestigt und gestärkt hat. Herzlichen Dank!
Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel
anlässlich der Unterzeichnung des DAAD-Regierungsstipendienprogramms und des Luftverkehrsabkommens am 7. Februar 2020 in Luanda
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-angela-merkel-anlaesslich-der-unterzeichnung-des-daad-regierungsstipendienprogramms-und-des-luftverkehrsabkommens-am-7-februar-2020-in-luanda-1720154
Fri, 07 Feb 2020 13:45:00 +0100
Luanda
keine Themen
Sehr geehrter Herr Präsident Lourenço, meine Damen und Herren, ich freue mich, dass ich heute ‑ neun Jahre nach meinem letzten Besuch ‑ wieder einmal in Angola bin, allerdings unter anderen Vorzeichen. Sie, Herr Präsident, waren im letzten Jahr in Berlin. Man kann sagen, dass Sie eine mutige Reformagenda auf den Weg gebracht haben, die Angola verändern und zu einem attraktiven Partner in unserer bilateralen Zusammenarbeit machen wird. Sie haben schon einiges auf den Weg gebracht. Wir haben uns ja eben auch schon darüber ausgetauscht, dass das Land in seinen Strukturen durch eine Dezentralisierungsreform verändert werden wird, die die lokale Selbstverwaltung auch in der gesamten Breite des Landes vergrößern wird, auch die Verantwortung der Entscheidungsträger für die Entwicklung des Landes. Ich freue mich natürlich sehr, dass wir heute als Regierung einen Beitrag dazu leisten können, indem wir Stipendienprogramme unterzeichnen. Wir haben auch über die Frage gesprochen, wie wir gegebenenfalls unsere juristische Zusammenarbeit verbessern können, und haben Juristen eingeladen, nach Deutschland zu kommen, um sich unsere Systeme anzuschauen. Wir werden ein Luftverkehrsabkommen abschließen, das den Ausbau des Luftverkehrs beinhaltet und das mit Sicherheit zu einer Belebung des Austausches zwischen unseren Ländern beitragen wird. Sie haben die Wirtschaftsabkommen schon erwähnt, die heute unterzeichnet werden können. Das sind zum Teil sehr wichtige strukturpolitische Projekte, die sicherlich in diesem großen Land die Dinge voranbringen können. Wir wollen natürlich auch in den Fragen der Bildung sehr eng mit Ihnen zusammenarbeiten. Denn wir sind uns einig, dass die Bildung ein wesentlicher Baustein für eine gute Zukunft eines Landes ist. Angola ist auf der einen Seite ein rohstoffreiches Land. Aber es muss seine Fähigkeiten und Fertigkeiten diversifizieren, um der Jugend eine wirkliche Chance zu geben. Angola ist ein sehr junges Land. Deutschland möchte gern dabei sein. So werden wir heute zum Beispiel ein Memorandum of Understanding zur Gründung einer Ausbildungsakademie im Bereich Energie und Digitalisierung unterzeichnen. Es wird auch eine Reihe von Kooperationsabkommen geben. Insgesamt darf ich also sagen, Herr Präsident Lourenço: Deutschland möchte einen Beitrag dazu leisten, dass die Entwicklung Angolas, so wie Sie sie sich vorgenommen haben, gut voranschreitet. Sie haben eine bewegte Geschichte und im Grunde erst seit 16 bis 18 Jahren eine friedliche Entwicklung eingeschlagen. Sie haben sehr vieles nachzuholen. Dabei möchte Deutschland ein ehrlicher, guter Partner sein. Ich denke, dass mein Aufenthalt heute hier dazu beiträgt, dass wir weitere Kapitel in unserer Kooperation aufschlagen können. Wir haben zumindest seit Ihrem Besuch im letzten Jahr schon einiges auf den Weg gebracht. Gerade im Januar hat die binationale Kommission wieder getagt, die auch sehr konkret die Projekte durchgeht. Deshalb hoffe ich, dass die jetzt folgenden Unterzeichnungen schon einen deutlichen Effekt für die Menschen haben werden, die davon betroffen sind und davon profitieren können. Herzlichen Dank für Ihre Gastfreundschaft!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Besuch des BMW Plant Rosslyn am 6. Februar 2020 in Südafrika
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-besuch-des-bmw-plant-rosslyn-am-6-februar-2020-in-suedafrika-1719788
Thu, 06 Feb 2020 00:00:00 +0100
Pretoria
keine Themen
Sehr geehrter Herr Staatspräsident Ramaphosa, Minister, Herr Nedeljković, Frau Rametsi, meine Damen und Herren, ich bin sehr froh, heute hier dabei zu sein. Wir haben viel über dieses Werk hier gehört und sind beeindruckt von der Vielzahl an Robotern, aber noch mehr von der Vielzahl an Führungskräften, die es hier gibt. Es gibt 2.900 Mitarbeiter und eine Produktion von 75.000 BMW-Fahrzeugen pro Jahr. Dies ist das erste ausländische Werk von BMW. Wirklich eine Erfolgsgeschichte. Heute stehen die Autos im Zentrum, die dafür gedacht sind, sie für ein wunderbares Projekt zum Kampf gegen Gewalt an Frauen einzusetzen. Wir haben es gehört: Der Präsident hat dieses Thema ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt. Ich begrüße es, dass ein Department of Women, Youth and Persons with Disabilities eingerichtet wurde und dass der Organisation SABCOHA – South African Business Coalition on Health and AIDS – fünf neue Autos zur Verfügung gestellt werden. Damit kann besser gearbeitet werden, damit kann man Menschen besser erreichen, nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land. Das ist eine ganz tolle Sache. Wir müssen ehrlich sein: Es gibt viel Gewalt auf der Welt, aber es gibt eben vor allen Dingen auch Gewalt gegen Frauen, geschlechtsspezifische Gewalt. Davor darf man nicht die Augen verschließen. Deshalb wünsche ich allen, die in dieser Arbeit tätig sind und gegen diese Gewalt ankämpfen, alles Gute. All the best for those who are doing the work as NGOs. It’s a good idea to give these cars to persons who need them and who help other people. Thank you.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Klassik Stiftung Weimar
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-klassik-stiftung-weimar-1719614
Wed, 05 Feb 2020 18:15:00 +0100
Im Wortlaut
Weimar
Kulturstaatsministerin
Kultur
„Bei uns in Weimar gibt es dergleichen wie weite Wege nicht; unsere Größe beruht im Geistigen“, heißt es bei Thomas Mann, in seinem Goethe-Roman „Lotte in Weimar“. Doch Weimars Geistesgrößen, deutsche Dichter und Denker, gibt es heutzutage (dem Devotionalienhandel sei Dank) auch im handlichen Format: zum Beispiel als Salz- und Pfefferstreuer, das Set „Schiller und Goethe – zerstreut“ ab 9,95 Euro, mit Gebrauchsanweisung: „Salzen Sie mit Schiller und pfeffern Sie mit Goethe!“ Auch eine Prise Humor kann gerade bei heiklen Themen nicht schaden. Deshalb erlaube ich mir den Verweis, dass diese Vermarktung Schillers und Goethes nicht jedem schmecken wird. Literaturliebhaber stellen sich ohnehin eher die gesammelten Werke der Dichterfürsten ins Regal als deren Miniaturen auf den Tisch. Frauenbewegte pochen sicherlich auf die Quote und würzen deshalb vermutlich lieber mit Droste-Hülshoff als Salzstreuerin (oder Salzstreuende?). Verfechter kultureller Vielfalt wiederum finden das kulinarisch wie künstlerisch sicherlich zu deutschtümelnd; statt mit Goethe zu pfeffern, kreuzkümmeln sie dann vielleicht mit dem persischen Poeten Hafis, der Goethe zu seiner Gedichtsammlung „West-östlicher Divan“ inspirierte. Ja, es ist schwierig geworden, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen – und so gäbe es gewiss einiges einzuwenden gegen die Vermarktung Goethes und Schillers als Salz- und Pfefferstreuer. Aber im Ernst: Bei Tischgesprächen, aber auch im öffentlichen Diskurs würde es zweifellos eine zivilisierende Wirkung entfalten, wenn mehr mit Dichtern (und Dichterinnen!) gesalzen und gepfeffert würde, wenn also geistreich abgewogen statt mit dumpfen Parolen vergiftet würde, worüber geredet, diskutiert und gestritten wird. Deutschland rühmt sich seiner Dichter und Denker; doch seine Debattenkultur ist gegenwärtig kein Ruhmesblatt. „Sprachgewalt“ tritt häufiger in Form verbaler Attacken, in Form sprachlicher Gewalt in Erscheinungen als im eigentlichen Wortsinn: als literarische oder rhetorische Meisterschaft. Gleichzeitig fehlt in beinahe keiner öffentlichen Kontroverse das moralisierende Machtwort, das andere Sichtweisen als illegitim stigmatisiert: als diskriminierend, rassistisch, islamophob, frauen- oder fremdenfeindlich oder in anderer Weise reaktionär: sei es des Themas oder auch der Wortwahl wegen, oder weil Humor und Ironie im Spiel sind, wo manche keinen Spaß verstehen (… weshalb ich selbst übrigens lange überlegt habe, ob ich mir ironisierende Anspielungen wie die „Salzstreuerin“ oder das „Kreuzkümmeln“ in meiner Rede nicht besser verkneifen sollte … . Ich habe es nicht getan, weil Humor und Ironie vor Fanatismus schützen. Und wer mich kennt, weiß, dass Gleichberechtigung und kulturelle Vielfalt mir ebenso am Herzen liegen wie eine lebendige Debattenkultur.) In kontroversen Debatten geben sprachliche Verrohung einerseits und moralisierende Stigmatisierung durch eine falsch verstandene Political Correctness andererseits den Ton an. Nicht Verständigung ist dabei das Ziel, sondern das Verstummen Andersdenkender. Das ist brandgefährlich. Denn Demokratie ist ebenso auf Verständigung angewiesen wie sie der Freiheit des Wortes verpflichtet ist. Eine Gesellschaft, die das zivilisierte Streiten verlernt, verliert ihre Fähigkeit, Konflikte auszutragen und Kompromisse zu erzielen, und damit ihre demokratische Kernkompetenz. Deshalb soll es heute um die ambivalente Macht der Worte gehen: um Magie und Demagogie; um Sprachgewalt und sprachliche Gewalt; um die Frage, wieviel Freiheit des Wortes Demokratie braucht und wieviel Freiheit des Wortes Demokratie verträgt; um die Frage, welche Grenzen und welche Freiräume es braucht, damit jene Fähigkeit zur Verständigung gewahrt bleibt, die der Demokratie das Überleben sichert. Wie dicht beieinander Magie und Demagogie liegen und welch fruchtbare wie auch verheerende Wirkung die Macht der Worte entfalten kann, lässt sich wohl nirgendwo sonst in Deutschland auf so engem Raum nachvollziehen wie in Weimar. Weimar ist die Stadt, in der mit Martin Luther einer der sprachmächtigsten Wortschöpfer gepredigt hat, in der Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller das Deutsche als Literatursprache geprägt und ihre identitätsstiftende Kraft begründet haben. Weimar ist aber auch die Stadt, in der die Nationalsozialisten mit dem monströsen Gauforum Raum für ihre völkische Propaganda schufen. Weimar ist die Stadt, die als Wirkungsstätte sprachmächtiger Geistesgrößen und als Zentrum des intellektuellen Austauschs dem Geist der Aufklärung und der Humanität zur Blüte verhalf, die Stadt, die als Gründungsort des Bauhauses der visionären Kraft der Kunst und ihrem Potential „zur ästhetischen Erziehung des Menschen“ (Friedrich Schiller) Auftrieb gab. Weimar ist aber auch eine Stadt, die zu einer Brutstätte der Barbarei und zu einem Vollzugsort des Völkermords wurde: eine Stadt, deren geistiges Klima schon früh deutsch-völkisch geprägt war. Kurz: Weimar ist die Stadt, die mit dem Vermächtnis insbesondere der „Weimarer Klassik“ Denkmal geworden ist für menschliche Größe – und mit dem ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald Mahnmal barbarischer Grausamkeit. Jean Améry, einer von weit über 100 Schriftstellern, die in Buchenwald und seinen Außenlagern inhaftiert waren, hat ein Wort geprägt für das, was seine Peiniger ihm unwiederbringlich genommen haben: Er nannte es das „Weltvertrauen“, jenes Vertrauen, ich zitiere, „dass der andere (…) meinen physischen und damit auch meinen metaphysischen Bestand respektiert“, jenes grundlegende Vertrauen also, vom anderen als Mitmensch gesehen zu werden. Weimar steht für dieses Weltvertrauen ebenso wie für seine Zerstörung: weil die humanisierenden Traditionen Deutschlands hier ebenso allgegenwärtig sind wie der Bruch der Deutschen mit eben diesen Traditionen. Eine Brille, durch die wir im Anderen den Mitmenschen sehen, ist die Sprache; zumindest sollte sie es sein. Deshalb schockiert, empört und beschämt es mich wie viele andere auch, wenn Hass, Hohn und Häme, wenn Verunglimpfungen und Beleidigungen, wenn Schmähungen und Herabwürdigungen, wenn Grobheiten bis hin zu Gewalt- und Morddrohungen jeden Versuch der Verständigung zunichte machen. Längst treffen solche Auswüchse sprachlicher Verrohung nicht mehr allein Prominente, die im öffentlichen Rampenlicht stehen wie die Bundestagsabgeordnete Renate Künast, die mit ihrer Klage gegen Hassposts auf Facebook in zweiter Instanz kürzlich zumindest einen kleinen Teilerfolg erzielt hat, oder den politisch engagierten Pianisten Igor Levit, der eine Morddrohung zum Anlass nahm, umso leidenschaftlicher zum Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung aufzurufen. Auch Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker, auch Menschen, die sich ehrenamtlich für Demokratie und ein friedliches Zusammenleben in Vielfalt einsetzen, werden zur Zielscheibe vor allem rechtsextremistischer Hetze, werden massiv bedrängt und bedroht. Wer könnte es Betroffenen verdenken, dass sie sich aus Angst um Leib und Leben, aus Sorge um das Wohl ihrer Familien aus dem öffentlichen Leben zurückziehen? Darunter leidet die Bereitschaft, sich politisch zu engagieren; schon das zehrt an den Kräften, die unsere Demokratie stützen. Schlimm genug! Unerträglich aber ist, dass mittlerweile aus Worten Taten werden: Taten wie der Anschlag auf die jüdische Synagoge in Halle, Taten wie die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke – um nur zwei Beispiele aus dem vergangenen Jahr zu nennen. Worte fanatischen Hasses waren es, die den Tätern Munition geliefert haben – in einem Land, das solchem Hass nie wieder Raum zu geben versprach. Nie wieder sollten Jüdinnen und Juden in Deutschland um ihr Leben fürchten müssen. Nie wieder sollte, wer politisch Haltung zeigt, um sein Leben fürchten müssen! Nie wieder sollte Hetze gegen Minderheiten auf das Schweigen der Mehrheit treffen! Die Wirklichkeit sieht anders aus: nicht zuletzt, weil neue politische Kräfte in unserem Land nationalsozialistische Verbrechen relativieren, nationalsozialistisches Vokabular reanimieren und systematisch eine Radikalisierung des öffentlichen Sprechens betreiben, die darauf angelegt ist, Ängste zu schüren, Ressentiments zu bedienen, den kritischen Geist zu narkotisieren und Empathie auszuschalten. Es ist eine Sprache, wie wir sie in Deutschland schon einmal hatten: die Sprache des Dritten Reiches, der Victor Klemperer, Zeitzeuge und Philologe jüdischer Herkunft, seine 1947 veröffentlichte Analyse „LTI. Notizbuch eines Philologen“ gewidmet hat. Hier wird fündig, wer eine Antwort darauf sucht, wie die große Mehrheit der Deutschen moralische Errungenschaften und humanisierende Traditionen ihres Landes preisgeben und zu Mitwissern, Mitläufern und Mittätern, zu Handlangern und Vollstreckern einer menschenverachtenden Ideologie werden konnte. Nicht zuletzt, weil seine Sprachanalyse so beklemmend aktuell anmutet, verdient es Klemperer, im Zusammenhang mit der toxischen Macht demagogischer Worte ausführlich zu Wort zu kommen. Eindringlich beschreibt er die Macht jener Sprache, die die Nationalsozialisten als stärkstes Propagandamittel zu nutzen wussten. „[D]er Nazissmus“, schreibt er, „glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang, und die mechanisch und unbewusst übernommen wurden. […] Sprache […] denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse.“ Die Sprache des Dritten Reiches sei, ich zitiere weiter, „ganz darauf ausgerichtet, den Einzelnen […] zum gedankenlosen und willenlosen Stück einer in bestimmter Richtung getriebenen und gehetzten Herde, ihn zum Atom eines rollenden Steinblocks zu machen.“ Klemperer illustriert die Anfänge dieser „Sprache des Massenfanatismus“ anhand zahlreicher Beispiele, so zum Beispiel anhand der inflationären Zunahme des Wörtchens „Volk“ im öffentlichen Sprachgebrauch: „,Volk‘, so notiert er im April 1933 in sein Tagebuch, „,Volk‘ wird jetzt beim Reden und Schreiben so oft verwandt wie Salz beim Essen, an alles gibt man eine Prise Volk: Volksfest, Volksgenosse, Volksgemeinschaft, volksnah, volksfremd, volksentstammt … .“ Es ist kein Zufall, dass uns das heute so bekannt vorkommt. Jene Partei, die sich schamlos der Sprache des Dritten Reiches bedient, sitzt mittlerweile in allen Landesparlamenten und im Deutschen Bundestag und führt hier allein durch ihre vor Jahren noch undenkbar scheinende Präsenz vor, wie trügerisch die Hoffnung war, die Keime menschenverachtender, totalitärer Ideologie fänden in Deutschland nie wieder einen Nährboden. Mit Begriffen wie „Lügenpresse“ und „Altparteien“ – einst von den Nationalsozialisten verwendet, um politische Gegner zu diffamieren und Einschränkungen demokratischer Grundrechte zu rechtfertigen – wird Stimmung gegen die Demokratie gemacht. Mit Worten wie „versifft“ oder „entsorgen“, die an Ekel und Krankheit, an Schmutz und Abfall denken lassen, werden Menschen oder Menschengruppen im wahrsten Sinne des Wortes in den Dreck gezogen. So zielen Rechtspopulisten auch rhetorisch auf die von Björn Höcke geforderte „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“: in der Wiederbelebung des völkischen Denkens, in der Wiederbelebung einer Sprache, die in schrittweiser Radikalisierung schließlich menschenverachtende Formulierungen wie „Endlösung der Judenfrage“ hervorgebracht hat. Jedem muss klar sein: Wenn Rechtspopulisten vom „Volk“ sprechen, ist nicht das Staatsvolk, sind nicht Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit gemeint, unabhängig von der Herkunft ihrer Vorfahren, von ihrer eigenen Biographie, Hautfarbe und Religion. Wenn Rechtspopulisten vom „Volk“ sprechen, sind viele deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ausgeschlossen. Biologische Abstammung entscheidet, wer zum „Volk“ der Rechtspopulisten gehört. Im Namen dieser biologisch begründeten „Volksgemeinschaft“ wird gegen „Volksverräter“ und gegen eine von diesen angeblich betriebene „Umvolkung“ gehetzt – um weitere, dem Nazi-Jargon entliehene, rechtspopulistische Kampfbegriffe zu zitieren. Im Kern dient die Sprache der Rechtspopulisten der Abgrenzung eines „Wir“ von „Denen“ und damit der Ausgrenzung Andersdenkender, Andersglaubender, Anderslebender. Gefährlich für die Demokratie sind ihre Worte, weil sie wirken „wie winzige Arsendosen“, um noch einmal Victor Klemperer zu zitieren: „sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ Diese Giftwirkung zeigt sich heute nicht nur in den Kommentarspalten im Internet. Sie zeigt sich überall dort, wo die Fähigkeit verloren geht, den anderen – unabhängig von seiner Herkunft und seinen Überzeugungen, über alle Unterschiede hinweg – als Mitmenschen anzuerkennen. Sie zeigt sich überall dort, wo mit dem gegenseitigen Respekt die Gesprächsgrundlage verloren geht. Dass es bisher nicht gelungen ist, gegen die Giftwirkung rechtsextremer und rechtspopulistischer Sprache eine Art diskursive Immunabwehr zu mobilisieren, ist einem gesellschaftlichen Klima geschuldet, das die demokratischen Selbstheilungskräfte – den zivilisierten Streit – verkümmern lässt und es den Feinden der Demokratie gleichzeitig erlaubt, sich mit einem (zum Akt des Widerstands aufgeplusterten) „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ als letzte Hüter der Meinungsfreiheit, als unerschrockene Kämpfer gegen „Gesinnungsterror“ und „Meinungsdiktatur“ aufzuspielen, ja sich gar in die Tradition des Widerstands gegen das SED-Regime in der ehemaligen DDR zu stellen oder zu behaupten (ich zitiere): „Sophie Scholl würde AfD wählen.“ Solche Vereinnahmungsversuche sind nicht nur abstoßend zynisch und geschmacklos. Das Lamento über angebliche Zensur und Diktatur klingt geradezu grotesk aus dem Mund derjenigen, die das demokratische Grundrecht der freien Meinungsäußerung mit Hass und Hetze bis zum Äußersten strapazieren. Dass sie mit solchen offensichtlichen Falschbehauptungen eine von Manchen gefühlte Wahrheit artikulieren, haben jene zu verantworten, die mit moralisierender Stigmatisierung aus falsch verstandener Political Correctness mundtot zu machen versuchen, was nicht mit der eigenen Weltanschauung harmoniert. Ein Beispiel: Man kann der CDU Stimme und Zustimmung verweigern; man kann gegen die Politik der CDU demonstrieren, und jeder kann dazu im Internet posten, twittern, bloggen oder auch ganze Pamphlete veröffentlichen. Der Veröffentlichung und Verbreitung des geschriebenen Wortes sind heutzutage wahrlich keine Grenzen gesetzt. Doch wenn eine selbst ernannte „Basisdemokratische Linke“ den ehemaligen Bundesminister Thomas de Maizière daran hindert, aus seinem Buch „Regieren: Innenansichten der Politik“ zu lesen, wie im Oktober 2019 beim Göttinger Literaturherbst geschehen, hat das mit Demokratie nichts mehr zu tun. Solche Interventionen offenbaren – häufig ausgerechnet an Universitäten! – eine Selbstgerechtigkeit und Arroganz, die destruktiv ist, weil sie die kritische Auseinandersetzung verhindert. Ein weiteres Beispiel: Man kann die Thesen eines Thilo Sarrazin für geistige Brandstiftung halten (das ist im Übrigen auch meine Meinung!), oder den ehemaligen AfD-Politiker Bernd Lucke als Steigbügelhalter einer mittlerweile in weiten Teilen rechtsextremen Partei kritisieren (auch diese Meinung teile ich!): Solche Kritik allerdings sollte in einer Demokratie in Worten vorgetragen werden. Linke Aktivisten, die Debatten durch Interventionen verhindern oder schlicht lautstark überschreien, schaufeln der Demokratie das Grab. Wenn das gesprochene Wort nur noch mit Polizeischutz Gehör finden kann (wie 2019 eine Makroökonomievorlesung Bernd Luckes an der Universität Hamburg), läuft etwas ganz gewaltig schief in diesem Land! „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“: Schönen Gruß von Rosa Luxemburg! Und selbstverständlich – ein drittes Beispiel – kann man auch literarische Werke kritisieren und kontrovers über die Wortwahl von Dichterinnen und Dichtern diskutieren: Doch die Sprache reinigen zu wollen von Begriffen, die – aus heutiger Sicht! – angeblich diskriminierend oder zu wenig genderbewusst sind oder anderweitig Kränkungspotential bergen, legt die Axt an jene Freiheiten, die für eine lebendige Debattenkultur unverzichtbar sind. Dafür steht die Berliner Alice-Salomon-Hochschule, die das über Jahre ihre Fassade schmückende Gedicht „avenidas“ des Schweizer Lyrikers Eugen Gomringer übermalen bzw. überschreiben ließ, weil die Gedichtzeilen „Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer“ nach Auffassung einiger Studierender „unangenehm an sexuelle Belästigung“ erinnerten. Man stelle sich vor, nicht der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) der Hochschule, sondern die Katholische Bischofskonferenz hätte die Übermalung des Gedichts gefordert – wegen „Gefährdung der katholischen Sexualmoral“ zum Beispiel. Dagegen hätten dieselben Studierenden ganz sicher wütend protestiert – und das völlig zu Recht. Ebenso wenig wie religiöse Vorbehalte einzelner Gruppen können weltanschauliche Vorbehalte oder das subjektiv empfundene Kränkungspotential in einer Demokratie Maßstab des öffentlich Sagbaren sein. Was es für eine Demokratie bedeutet, wenn Wortbeiträge, um im öffentlichen Diskurs als legitim zu gelten und Gehör beanspruchen zu dürfen, ausgeklügelte Sprachvorschriften erfüllen müssen, was es bedeutet, wenn über gewisse Themen nicht oder nur nach bestimmten Konventionen diskutiert werden kann, lässt sich mittlerweile am kläglichen Zustand unserer Streit- und Debattenkultur besichtigen. „Wo […] die Mitte der Gesellschaft nurmehr der Ort ist, an dem man von beiden Seiten Prügel bekommt, braucht man sich über Hass und Verlust von Umgangsformen nicht zu wundern“, so hat es der Schriftsteller Matthias Politycki, ein bekennender alt-grüner Linker, kürzlich in einer Rede formuliert. Die Lautstärke der Extreme links und rechts im Meinungsspektrum schwillt an; die ausgedünnte, gemäßigte Mitte verstummt, intellektuell wie gelähmt und sprachlich eingehegt. Die selbstgerechte Intoleranz der vorgeblich Toleranten, die geradezu obsessive Beschäftigung mit dem Kränkungspotential von Worten, die reflexhafte Neigung, Andersdenkende an den Pranger zu stellen und sie ohne nähere Auseinandersetzung mit ihrer Position des Sexismus, des Rassismus oder anderer Formen der Diskriminierung zu bezichtigen, hat die Demokratie nicht stärker gemacht, im Gegenteil. Menschen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht wortgewandt genug fühlen, um sich unfallfrei auf sprachpolitisch vermintem Gelände zu bewegen, bleiben öffentlich lieber stumm als ihre Meinung zu äußern. So mancher Politiker, so manche Politikerin prüft mittlerweile jedes Wort auf Skandalisierbarkeit und redet statt Klartext lieber im Bürokratensprech öffentlicher Verlautbarungen, um sich nur ja nicht angreifbar zu machen. Ja, das Bemühen um Political Correctness nimmt inzwischen bisweilen hysterische Züge an. Mit den teils diffamierenden Bezichtigungen, die auf jeden echten oder vermeintlichen sprachlichen Missgriff folgen, züchtet unsere Gesellschaft, so hat es der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen auf den Punkt gebracht, (ich zitiere) „den Typus des kleinmütigen, sich hinter Phrasen verschanzenden Angstpolitikers, den sie dann verachtet. Selbst unter jenen, die professionell mit Sprache zu tun haben und sich differenziert zu artikulieren wissen, geht die Angst um, mit einer vom Konformen abweichenden Sicht auf die Dinge falsch verstanden zu werden. Ängstlichkeit greift um sich, wo beherzte Rhetorik mit klaren Worte gefragt wäre – zum Beispiel dort, wo es um jene diffusen Ängste vor gesellschaftlicher Vielfalt geht, die Rechtspopulisten erfolgreich für ihre politischen Ziele ausschlachten. „Die Engführung des gesellschaftlichen und politischen Mainstreams hat das rechte Ufer gemacht“, schrieb der Schriftsteller Bernhard Schlink vor einigen Monaten in einem Gastbeitrag für die FAZ, und ich zitiere weiter: „Der Mainstream reagiert darauf. Die Themen, die er nicht diskutiert hat und die von den Rechten usurpiert wurden, sind nun rechte Themen, und als rechte Themen kann der Mainstream sie erst recht nicht mehr diskutieren. Werden sie im Mainstream gelegentlich doch angesprochen, dann nur mit Vorsicht und Vorbehalt […]. Die Erwartung der Verurteilung lässt nicht erst das Interesse, sondern schon die bloße Nähe scheuen.“ Fanatismus herrscht nicht nur dort, wo Sprache verroht. Fanatismus herrscht auch dort, wo man den Sichtweisen, den Ängsten und Sorgen anderer die Legitimation abspricht. Am Fanatismus von rechts und links krankt unsere Debattenkultur. Unter dem Regiment des Fanatismus ist über die Jahre ein gesellschaftliches Klima entstanden, das mit Theodor Fontanes Wortschöpfung „Ängstlichkeitsprovinz“ treffend beschrieben ist: Man hat sich selbstgefällig in seinen Gewissheiten eingerichtet. Man kleidet sich rhetorisch konventionell, den in der eigenen Filterblase herrschenden Erwartungen entsprechend. Man will – was könnten die Leute denken! – keinesfalls durch Abweichungen auffallen. Man schirmt sich hinter hohen Hecken ab von denen, die anders leben, denken und reden. Man bewirtschaftet den eigenen Vorgarten und wacht pedantisch darüber, dass der wuchernde Strauch des Nachbarn nicht den eigenen gepflegten Rasen beschmutzt, während jenseits der Vorgartenidylle mit einer Agenda und Sprache der Ausgrenzung zum „Volksfest“ eingeladen wird. Jene Linke, die Diskriminierung und Ausgrenzung mit Gendersternchen in Substantiven und mit Sprachschöpfungen wie „PoC“ (People of Color) aus der Welt schaffen wollte und andere wegen vermeintlich verdächtiger Worten wie „Heimat“ oder „Patriotismus“ der falschen Gesinnung bezichtigte, hat nicht die Diskriminierer und Ausgrenzer, sondern die gemäßigte, demokratische Mitte zum Schweigen gebracht und damit dazu beigetragen, die demokratische Immunabwehr gegen totalitäre Anwandlungen von rechts auszuschalten! Was für ein krachendes Eigentor! Natürlich hat die Freiheit des Wortes in einer Demokratie Grenzen. Eine Demokratie braucht einen „moralischen Cordon sanitaire“, so hat es der Dichter Durs Grünbein formuliert, ich zitiere weiter: „[e]ine Schutzzone […], jenseits derer die Seuchen beginnen, die Propaganda von Hass und Gewalt.“ Doch diese Schutzzone, diese Grenzen sollten nicht weltanschaulich begründet und sprachpädagogisch vorgegeben werden; sie ergeben sich aus unserem Grundgesetz, aus den darin verankerten Grundrechten aller Menschen, und wo notwendig, muss der Gesetzgeber nachjustieren, so wie kürzlich etwa mit dem von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmenpaket gegen Hasskriminalität im Netz. Den „moralischen Cordon sanitaire“ zu verteidigen und sensibel zu reagieren auf Schlagworte, Phrasen und Parolen, die das Gift menschenverachtender Ideologie verbreiten, ist natürlich auch unser aller Verantwortung – allerdings unter dem Motto „mehr Feingefühl, weniger Political Correctness“. Denn unsere Sprache befreien zu wollen von Begriffen wie „Heimat“, „Patriotismus“ oder „Volk“, ermöglicht deren rechtspopulistische Vereinnahmung. Als Demokraten sollten wir solche Begriffe im Geiste unserer demokratischen Verfassung mit Bedeutung füllen und darüber hinaus der Freiheit des Wortes jenseits des demokratischen „Cordon sanitaire“ größtmöglichen Raum geben. Denn nur in einem Klima geistiger Freiheit und Offenheit gedeihen die Selbstheilungskräfte der Demokratie gegen das Gift rechtspopulistischer Sprache und Erzählungen: Widerworte, Zweifel und der zivilisierte Streit. Dagegen nehmen Versuche, das Sagbare einzuhegen in Grenzen, die sich aus einer persönlichen Weltanschauung ergeben, dem Wort auch einen Teil seiner heilsamen Macht. Deshalb sollten wir im Rahmen geltender Gesetze die Spannungen aushalten zwischen der Freiheit des Wortes, der Freiheit der Meinung einerseits und den damit möglicherweise verbundenen, persönlichen Kränkungen andererseits – im Bewusstsein, dass Kränkungen ebenso wie Unklarheiten, Missverständnisse und das Umgehen mit sprachlichen Unzulänglichkeiten der Preis für die Freiheit des Wortes sind. Für den Kampf gegen rechtspopulistische Demokratieverächter bietet sich als Alternative zur paternalistischen Political Correctness das Konzept der „zivilisierten Verachtung“ an, das der 2019 verstorbene Psychologe und Publizist Carlo Strenger, einer der profiliertesten linksliberalen Denker in Israel, Demokraten in seinem gleichnamigen Buch ans Herz legte. Er warnte darin vor den totalitären Gefährdungen der Freiheit und plädierte für mehr Selbstbewusstsein in der Verteidigung unserer Werte der Aufklärung und der Demokratie. Dafür empfahl er eine Haltung, die es erlaubt, zwischen Ablehnung einer Position und Diskreditierung der Person, die sie äußert, zu trennen – die es also ermöglicht, Positionen zu verachten, aber den Gesprächspartner dabei als Mensch zu respektieren und zu achten. „Zivilisierte Verachtung“, so Carlo Strenger, „ ist die Fähigkeit, zu verachten, ohne zu hassen oder zu dehumanisieren (…), die Fähigkeit, Zivilisationsnormen auch gegenüber jenen aufrechtzuerhalten, deren Glaubens- und Wertesysteme man nicht akzeptiert.“ Dies knüpft er an zwei Bedingungen: Zivilisierte Verachtung muss erstens auf verantwortungsvoller Meinungsbildung, auf der Auseinandersetzung mit relevanten Fakten und Argumenten beruhen. Zweitens muss der Respekt vor der Würde und den grundlegenden Rechten des Gegenübers gewahrt bleiben. Die Fähigkeit, Positionen auf zivilisierte Weise zu kritisieren oder auch zu verurteilen, ist ein unverzichtbarer Bestandteil jedes Streitgesprächs und damit Voraussetzung für die Verständigungsfähigkeit einer Gesellschaft. Welch verheerende Schäden es dagegen anrichten kann, wenn Fanatiker den Ton angeben und Demokraten verstummen, haben uns (um wieder zum Ausgangspunkt meiner Rede, zu Weimar zurückzukommen) die sprichwörtlich gewordenen „Weimarer Verhältnisse“ vor Augen geführt. Als Gründungsort der ihren Namen tragenden Republik ist Weimar Synonym für das Scheitern der ersten deutschen Demokratie. „Weimarer Verhältnisse“ zu verhindern, war deshalb das Ziel der Mütter und Väter unseres Grundgesetzes. Sie wollten Lehren aus den Schwächen der ersten demokratischen Verfassung ziehen, mit deren Ausarbeitung die Abgeordneten der Deutschen Nationalversammlung beinahe auf den Tag genau vor 101 Jahren, am 6. Februar 1919, begannen. Die zweite deutsche Demokratie sollte eine wehrhafte Demokratie sein, nachdem die erste deutsche Demokratie an totalitären Entwicklungen zugrunde gegangen war. Eine wehrhafte Demokratie braucht auch wehrhafte Demokraten. Und wehrhafte Demokraten brauchen eine wehrhafte Sprache: eine Sprache, die Klartext ermöglicht, die zu Widerworten ermutigt, die Zweifel und Kritik kultiviert und das mit intellektueller Schärfe und respektvollem Feingefühl geführte Streitgespräch belebt. „Streitgespräch“ und „Feingefühl“ sind übrigens ebenfalls Worte, die ein deutscher Dichter und Denker geprägt hat: Johann Heinrich Campe, einige Jahre lang Hauslehrer Alexander und Wilhelm von Humboldts in Berlin, widmete sich mit Hingabe der Eindeutschung von Fremdwörtern. Rund 300 seiner Wortschöpfungen fanden Eingang in den öffentlichen Sprachgebrauch, darunter das „Streitgespräch“ für „Debatte“ und das „Feingefühl“ für „Takt“. (Nicht durchsetzen konnte sich der wortmächtige Campe, nebenbei bemerkt, mit „Zwangsgläubiger“ für Katholik und „Freigläubiger“ für Protestant …). Campes Bemühen um Wortneuschöpfungen verdient in diesem Zusammenhang deshalb Erwähnung, weil es den Idealen der Aufklärung verpflichtet war: Er wollte auch Ungebildeten – dem akademischen Sprachniveau nicht gewachsene Menschen, die allein schon deshalb vom politischen Geschehen ausgeschlossen waren – Möglichkeiten eröffnen, ihre Anliegen zu artikulieren: „Politische Teilhabe“ würde man sein Ziel heute nennen. So wie Martin Luther einst auch von den einfachen Leuten verstanden werden wollte und dem Volk „aufs Maul“ schaute, so wollte Campe den weniger Gebildeten helfen, die Macht der Worte zu nutzen, um sich verständlich zu machen. Seine Bemühungen dienten deshalb der Erweiterung, nicht der Begrenzung des Vokabulars. Damit steht Campe exemplarisch für die Bereicherung demokratischer Debattenkultur durch Dichter und Denker – und natürlich auch durch Dichterinnen und Denkerinnen! Wenn Sprachlosigkeit mit Ohnmacht und Sprache mit Ermächtigung zu tun hat, dann zählen sie zu den „Ermächtigern“ wehrhafter Demokraten, dann können ihre (sprach)schöpferischen Fähigkeiten die Widerstandskräfte gegen totalitäre, fundamentalistische Ideologien stärken, dann können sie Menschen aus der „Ängstlichkeitsprovinz“ holen und vor der Enge des Denkens und Wahrnehmens bewahren: mit klaren Worten, die es erlauben, den eigenen Standpunkt zu artikulieren, ohne sich vergifteter Worte zu bedienen; mit Sprachspielereien, die Altbekanntes in neuem Licht erscheinen lassen; mit Feinsinnigkeit, die der emotionalen Abstumpfung entgegenwirkt; mit poetischer Sprengkraft, die herkömmliche Denk-Routinen und Welt-Anschauungen aufbricht; mit Geschichten, die den Bereich des Vorstellbaren vergrößern, Gebiete jenseits unseres Erfahrungshorizonts erschließen und eben dadurch unser Feingefühl, unsere Empathie stärken. Sich regelmäßig einen guten Roman zu gönnen, halte ich deshalb für lehrreicher als jede Form der sprachpädagogischen Unterweisung. Lesen erweitert den Wortschatz und das Denken. Und es schützt, nebenbei bemerkt, auch davor, die eigene Weltsicht für das Maß aller Dinge zu halten. In diesem Sinne will ich zum Schluss noch einen letzten Dichter und Denker zu Wort kommen lassen: den französischen Dramatiker Eugène Ionesco, Meister des Absurden Theaters: „Ich werde mich verteidigen. Ich bin der letzte Mensch. Ich werde es bleiben bis zum Ende! Ich kapituliere nicht!“ Mit diesen Worten seines Protagonisten endet das Theaterstück „Die Nashörner“. Ionesco hat darin seine Erfahrungen in den 1930er Jahren verarbeitet, als seine Freunde sich nach und nach von der Sprache des Faschismus infizieren ließen. Das Stück illustriert auf groteske Weise, wie einer Gesellschaft die Fähigkeit zur Verständigung abhandenkommt: Die Bürgerinnen und Bürger einer Provinzstadt verwandeln sich nach und nach in wutschnaubende, alles zertrampelnde Nashörner. Ihre Präsenz wird zunächst geleugnet, später relativiert und verharmlost und schließlich – je mehr Menschen zu Nashörnern mutieren – gerechtfertigt und legitimiert, bis nur noch einer sagt: „Ich werde mich verteidigen. Ich bin der letzte Mensch. Ich werde es bleiben bis zum Ende! Ich kapituliere nicht!“ So dramatisch muss man die aktuelle Lage nicht sehen. Doch das Wutschnauben ist lauter und bedrohlicher geworden in den vergangenen Jahren, und manchmal scheint es, als hätten wir uns schon an das Herumtrampeln auf den Grundwerten eines menschlichen Zusammenlebens gewöhnt. Deshalb sollte dies unsere Haltung sein: Nicht kapitulieren! Mensch bleiben! Den Menschen auch im Andersdenkenden sehen! Die Menschlichkeit verteidigen! Wir haben dazu die Macht der Worte. Nutzen wir sie zum zivilisierten Streit!
In ihrer Rede bei einer Veranstaltung der Klassik Stiftung Weimar zum Thema „Die Macht der Worte: Wieviel Freiheit braucht die Demokratie und wieviel Freiheit verträgt die Demokratie?“ sagte Grütters: „Eine Gesellschaft, die das zivilisierte Streiten verlernt, verliert ihre Fähigkeit, Konflikte auszutragen und Kompromisse zu erzielen, und damit ihre demokratische Kernkompetenz“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum 70. Jahrestag der Gründung des Sozialverbands VdK Deutschland e.V. am 29. Januar 2020 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-70-jahrestag-der-gruendung-des-sozialverbands-vdk-deutschland-e-v-am-29-januar-2020-in-berlin-1716878
Wed, 29 Jan 2020 18:13:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrte Frau Bentele, sehr geehrte Frau Mascher, sehr geehrter Kollege, lieber Hubertus Heil, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus den Ministerien, aus dem Parlament und aus den Verbänden, der größte Sozialverband unseres Landes wird heute 70 Jahre alt. Dazu gratuliere ich dem VdK ganz herzlich, auch im Namen der ganzen Bundesregierung. Ich glaube, die Erfolgsgeschichte des VdK ist auch ein Grund zum Feiern. Der Anlass für die Gründung – Frau Bentele hat es uns soeben noch einmal in Erinnerung gerufen – war allerdings ein sehr trauriger. Die Gründungsmitglieder des VdK standen noch unter dem Eindruck der von Deutschland begangenen Schrecken des Holocaust und des von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkriegs. Uns ist heute in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestags mit den Ansprachen des Bundespräsidenten und des israelischen Präsidenten noch einmal vor Augen geführt worden, welches Unheil, das man nur schwer in Worte fassen kann, Deutschland über die Welt, aber eben auch über das eigene Land gebracht hatte. Dem setzte der VdK das Menschenbild entgegen, dass die Würde jedes einzelnen Menschen unantastbar ist. Aus ersten Selbsthilfegruppen und Landesverbänden entstand 1950 schließlich der „Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands“, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, den so vielen Menschen beizustehen, die durch den Krieg an Leib und Seele verletzt waren. Natürlich veränderte sich mit dem Wiederaufbau und mit dem glücklicherweise auch stattfindenden wirtschaftlichen Aufschwung die Gesellschaft. Dann war es eben eine Frage der Zeit, bis zu entscheiden war, ob der VdK ausschließlich ein Verband für Kriegsopfer bleiben wollte oder ob es weitere Aufgaben für ihn geben würde. Die Antwort kennen wir: Der VdK stellte sich neu auf. Er weitete seine Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse anderer Gruppen aus, die nicht mehr unmittelbar mit Kriegsfolgen zu kämpfen hatten, also zum Beispiel auf Menschen mit Behinderungen oder Rentnerinnen und Rentner. Damit stellte sich natürlich auch die Aufgabe, neue Gruppen zu integrieren, bisherige Mitglieder, also Kriegsopfer, nicht zu vernachlässigen, aber auch die Neuen willkommen zu heißen. Ich glaube, ein Mann steht ganz besonders für diesen Ausgleich und diese Weiterentwicklung: Walter Hirrlinger – Ihr Ehrenpräsident, der leider im Jahr 2018 verstorben ist. Aber dass seine Witwe da ist, ist wunderbar. – Frau Hirrlinger, ein ganz herzliches Willkommen. – Er war selbst Kriegsversehrter, Vater einer behinderten Tochter und schließlich auch – wie er einmal genannt wurde – „Chef-Lobbyist der Rentner“. Kurz: Walter Hirrlinger verkörperte alles, wofür der VdK steht. Ich habe ihn als junge Politikerin, als ich Frauen- und Jugendministerin war, kennengelernt – knorrig, muss man sagen, und geradlinig, aber ein wirklich liebevoller Mensch, der auch immer gut diskutieren konnte und der ein Stück weit, wenn ich das als jemand, der aus der ehemaligen DDR gekommen ist, sagen darf, die alten Bundesländer im besten Sinne des Wortes verkörpert hat. Seit jeher fühlt sich der VdK einem Prinzip verpflichtet – das kommt ja auch in dem Satz „Wir sind die soziale Bewegung“ zum Ausdruck –: der sozialen Gerechtigkeit. Da sind Sie nun nicht die einzigen. Sie haben ja auch die Vertreter anderer Verbände begrüßt. Frau Bentele hat hier einen starken Anspruch in den Raum gestellt, aber ein bisschen Wettbewerb unter den verschiedenen Sozialverbänden kann ja auch nicht schaden. Aber die zwei Millionen Mitglieder und dann noch die Werbetrommel, die heute gerührt wurde – das zusammen ist natürlich schon ein Faktor. Ob Rentner oder Menschen mit Behinderungen, Kriegsbetroffene, Pflegebedürftige, Patienten und Unfallverletzte, Opfer von Gewalt, Angehörige und Hinterbliebene oder Hilfsbedürftige – sie alle finden im VdK Unterstützung und Gehör. Das Gesicht des modernen VdK sind Sie, Frau Bentele. Sie tragen dafür Sorge, dass der Verband allen offensteht, die mit Benachteiligungen konfrontiert sind. Ich glaube, dahinter steht auch eine ziemlich große organisatorische Meisterleistung. Denn Landesverbände, Kreis- und Ortsverbände und Selbsthilfegruppen immer zusammenzuhalten, ist schon eine riesige Arbeit. Mehr als 60.000 Menschen sind ehrenamtlich im VdK tätig. Sie alle verdienen Dank und Anerkennung, gerade auch am 70. Geburtstag. Sie sind ein Segen für unser Gemeinwohl. Danke schön dafür. Nun will der VdK aber nicht nur Segen sein, sondern er scheut sich auch nicht, unbequem zu sein – das hat man schon an der Vorfreude von Frau Bentele auf die Demonstration Ende März gemerkt –; und das ist ja auch richtig so. Sie müssen sich Gehör verschaffen. Sie müssen sich einbringen. Natürlich streiten wir auch über dieses und jenes. Aber es ist unbestreitbar, dass sich der VdK bei vielen großen und kleinen Schritten, die unser Sozialstaat in den vergangenen sieben Jahrzehnten gemacht hat, als wichtiger Schrittmacher erwiesen hat. Sie haben ja auch Beispiele genannt: Bundesversorgungsgesetz, dynamische Rente, Pflegeversicherungsgesetz, Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention 2009. Das sind wichtige Meilensteine. Aber ich denke, angesichts der Tatsache, dass wir in einer alternden Gesellschaft leben, was ja einerseits schön ist, weil die Menschen älter werden und auch länger selbstbestimmt älter werden können, was uns aber andererseits auch vor Aufgaben stellt, weil die Anzahl der Jüngeren eben nicht zunimmt, sondern abnimmt, angesichts dieser Tatsache bleiben die Aufgaben sehr aktuell und wir bleiben natürlich gefordert. Gerade auch in diesen Tagen ist Hubertus Heil nicht unterbeschäftigt. Das ist er ohnehin nie. Aber das Thema Grundrente biegt gerade in die Schlusskurve ein. Sie brauchen sich, denke ich, keine Sorgen zu machen. Es gibt noch Diskussionsbedarf, aber dass es die Grundrente geben wird, ist unbestritten. Wir sind über den Berg; das darf ich sagen. Wir haben es uns nicht leicht gemacht. Es ist jetzt der dritte Anlauf. Ich weiß es noch genau: Als Ursula von der Leyen mir dieses Thema das erste Mal sozusagen unter die Nase rieb, war ich erst einmal einigermaßen ratlos, wie ich damit umgehen sollte, weil es sozusagen eine systemische Neuheit bedeutete, mit der man sich intensiv auseinandersetzen musste. Aber ich würde sagen: Beim dritten Anlauf muss man dann auch mal zu Ergebnissen kommen. Wir haben uns in den Grundsätzen auf ein Modell geeinigt. Wir haben uns auch auf eine Finanzierung geeinigt. Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir zwar Einkommen prüfen wollen, aber in dem Sinne, dass es eine Rente ist und eben keine Sozialleistung, wie wir sie von der Grundsicherung her kennen. Das alles hat uns ziemlich viel Denken und guten Willen auf allen Seiten abverlangt. Jetzt schaffen wir die letzten Meter auch noch. Aber natürlich ist damit das Thema einer verlässlichen Altersvorsorge leider noch nicht zu Ende, sondern es gibt viele andere Aufgaben. Aber ich denke, wir haben in dieser Koalition mit der Verbesserung der Erwerbsminderungsrente einen ganz wichtigen Punkt gemacht. Denn, ehrlich gesagt, wenn man sich das alles einmal anschaut, dann sieht man, dass diejenigen, die Erwerbsminderungen haben, zum Teil in einer sehr, sehr schwierigen Situation sind. Wir haben auch die Mütterrente verbessert. Darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen. Aber die Mütter freuen sich; und der VdK ist, denke ich, auch nicht dagegen. Wir haben auch festgelegt, dass wir das Rentenniveau erst einmal bis 2025 konstant halten. Den Rest haben wir der Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ übertragen. Ich verrate, denke ich, nicht zu viel, wenn ich sage: die Kommission wird uns Ergebnisse präsentieren, mit denen die Arbeit der Regierung nicht aufhören wird. Wir müssen uns natürlich vor Augen führen, dass heute auf 100 Erwerbstätige 36 Personen kommen, die über 65 Jahre alt sind, und dass es im Jahr 2045 statt 36 Personen wahrscheinlich 53 Personen sein werden. Hinzu kommt, dass sich die Arbeitswelt durch den digitalen Fortschritt geradezu dramatisch verändert. Das heißt auch, dass das ortsbezogene, sozialversicherungspflichtige und in einer betrieblichen Umgebung stattfindende Erwerbsverhältnis in einer digitalen Welt vielleicht gar nicht mehr so dominant sein wird. Wie sich das auf die sozialen Sicherungssysteme auswirkt, müssen wir erforschen. Aber es bleibt dabei: Menschen müssen im Alter eine verlässliche Rente haben. Das ist unbestritten. Nun ist das Thema Rente nicht das einzige, das für Sie wesentlich sind. Im Bereich der Gesundheit, aber auch der Pflege, also im gesamten Pflegekräftebereich haben wir nach dem Pflegestärkungsgesetz, das wir in der vergangenen Legislaturperiode verabschiedet hatten, weitere große Schritte unternommen. Gerade heute konnten die Minister Spahn und Heil verkünden, dass es im pflegerischen Bereich endlich Mindestlöhne geben wird – die sich im Übrigen je nach Ausbildung der pflegerischen Fachkräfte unterscheiden –, die deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn liegen. Auch das ist eine Anerkennung für diese wirklich schwierige Tätigkeit. Wir haben mit dem neuen Budget in der Pflege die Möglichkeiten erweitert. Wir haben bessere Facharztzugänge. Wir beschäftigen uns viel mit der ärztlichen Versorgung auf dem Lande, im Übrigen auch mit der Frage der Pflegeeinrichtungen und der ambulanten Pflege auf dem Lande. Wir alle erleben, dass sich die Vorstellungen von Arbeit, von der Verlässlichkeit der Arbeitszeiten in der Gesellschaft ändern. Es gibt einen großen Kampf um Fachkräfte. Daher müssen die Berufsbereiche attraktiv sein. Ehrlich gesagt: wenn man sich vorstellt, dass Pflegekräfte zu jeder Tageszeit in ländlichen Regionen, die vielleicht noch nicht so gut mit Mobilfunk versorgt sind, durch die Wälder und Felder fahren – na ja, ich will nur sagen: das kann man nicht einfach mit der Bitte um Leidenschaft einfordern, sondern dafür müssen vernünftige Rahmenbedingungen geschaffen werden. Ich glaube, wir haben hier auch einiges vorangebracht. Die Bundesregierung ist ja – ich sage es einmal so – nicht super verwöhnt mit positiven Schlagzeilen. Deshalb müssen wir uns manchmal selber loben. Für mich ist die Konzertierte Aktion Pflege ein sehr gutes Beispiel dafür, dass in der Bundesregierung parteiübergreifend sehr, sehr intensiv gearbeitet wird, um die Pflegeberufe attraktiv zu gestalten und die verschiedenen Leistungen voranzubringen. Ein Riesenthema ist für die Menschen mit Behinderungen die gesamte Frage der Teilhabe. Auch hier haben wir in den letzten Jahren einiges erreicht. Aber ich muss sagen: Wenn man sich die Ideale der UN-Behindertenrechtskonvention vor Augen führt und sieht, wie wir Schritt für Schritt in Sachen Inklusion in Deutschland vorankommen, dann weiß man auch, dass hier noch ein Riesenthema zu bewältigen ist. Ich glaube aber, wir haben mit dem Bundesteilhabegesetz Ende 2016 einen wichtigen Schritt gemacht. Wir haben die Eingliederungshilfe schrittweise zu einem modernen Teilhaberecht weiterentwickelt. Ich kenne die kritischen Bemerkungen, die wir auch immer wieder hören. Ich glaube aber, dass der Systemwechsel doch jetzt vollzogen wird. Jetzt haben wir gerade wieder eine Stufe erreicht, bei der viele neue Anträge gestellt werden müssen. Deshalb bin ich hier ganz vorsichtig, denn wenn neue Anträge gestellt werden, muss man vieles wieder einmalig neu machen. Das ist gerade für Menschen, die nicht jeden Tag damit zu tun haben, eine schwierige Sache. Es ist aber ein einmaliger Umstellungsaufwand, von dem ich glaube, dass er sich lohnt. Die Materie dieses Gesetzes ist unglaublich kompliziert. Wir müssen natürlich auch immer schauen, wie sich das, was wir uns gut ausgedacht haben, dann auch wirklich auf die Praxis auswirkt. Deshalb wird natürlich auch der Einschätzung der Gesetzesfolgen eine große Bedeutung zukommen. Ich möchte abschließend noch etwas erwähnen – und in diesem Zusammenhang danke ich Hubertus Heil –, und das ist die Reform des Sozialen Entschädigungsrechts. Das ist sehr, sehr wichtig gewesen. Es ist jetzt festgelegt, dass Opfern von Gewalt künftig Fall-Manager zur Seite stehen werden. Wer sich zum Beispiel einmal mit Angehörigen des Terroranschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz getroffen hat, der weiß, was Menschen neben den Traumata, die sie erfahren haben, auch an bürokratischem Aufwand durchmachen. Wir brauchen – und das werden wir auch haben – einen einfacheren Zugang zu Trauma-Ambulanzen. Entschädigungen werden erhöht und grundsätzlich gewährt, ohne Einkommen und Vermögen anzurechnen. Ich finde, das ist ebenso richtig wie wichtig. Es ist genauso wichtig, dass wir jetzt bis zu einem Einkommen von 100.000 Euro die Familienangehörigen nicht mehr heranziehen, wenn es um Pflegeleistungen geht. Auch das ist etwas, das, wie ich glaube, viele beruhigen kann. Ich kann nur sagen: Ihr Aufgabenspektrum ist breit. Deshalb begegnen wir uns bei den verschiedensten Gesetzgebungsvorhaben immer wieder. Ich freue mich sehr, dass es möglich war – ich habe Herrn Hirrlinger erwähnt –, dass nach doch etwas weniger als sechs Jahrzehnten immerhin eine erste Präsidentin des VdK gewählt wurde. Wenn ich heute den Rest des Präsidiums sehe, muss ich sagen: Nichts gegen Männer – jeder von ihnen arbeitet sicherlich herausragend –; aber wir haben uns vorgenommen, bis Ende dieses Jahrzehnts in allen Bereichen Parität zu erreichen. Da gibt es auch hier noch – ich sage es einmal so – Möglichkeiten. Mit Frau Mascher wurde nicht nur die erste Präsidentin des VdK gewählt, sondern es hat auch ein Generationenwechsel stattgefunden. Sie haben es sehr professionell geschafft, auch die mediale Aufmerksamkeit sehr viel stärker auf die verschiedenen Themen zu lenken. Nicht immer ist es einfach, mit Frau Mascher zu diskutieren. Aber wir sind doch ganz gut miteinander ausgekommen. Deshalb finde ich es ganz wichtig und toll, dass Sie die Ehrenmedaille bekommen werden, wozu ich Ihnen ganz herzlich gratulieren möchte. Ich glaube, Frau Bentele hat uns heute – und Ihnen wahrscheinlich schon viel eher – gezeigt, dass der Elan von Frau Mascher sehr gut auch auf sie als Präsidentin übergegangen ist. Ich habe auch den Eindruck, dass Sie ganz gut kooperieren. Das macht die Sache noch schwieriger für alle, die nicht Ihrer Meinung sind. Nichtsdestotrotz auch Ihnen, Frau Bentele, herzlichen Dank und alles Gute im nächsten Jahrzehnt des VdK. Danke dafür, dass ich heute dabei sein durfte.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Festveranstaltung „30 Jahre Friedliche Revolution und Neugründung des Freistaates Sachsen – 90 Jahre Kurt Biedenkopf“ am 28. Januar 2020 in Dresden
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-festveranstaltung-30-jahre-friedliche-revolution-und-neugruendung-des-freistaates-sachsen-90-jahre-kurt-biedenkopf-am-28-januar-2020-in-dresden-1716536
Tue, 28 Jan 2020 11:51:00 +0100
Dresden
keine Themen
Lieber Kurt Biedenkopf, liebe Ingrid Biedenkopf, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Michael Kretschmer, und deine Kollegen, sehr geehrte Bundespräsidenten Köhler und Wulff, lieber Norbert Lammert, sehr geehrte aktive und ehemalige Ministerpräsidenten, Minister und Abgeordnete, liebe Gäste – ich könnte hier viele aufzählen –, ich freue mich, heute hier zu sein und mit Ihnen zu feiern. Dazu gibt das Jubiläumsjahr 2020 Anlass genug: 30 Jahre Deutsche Einheit, 30 Jahre Freistaat Sachsen. Und weil aller guten Dinge bekanntlich drei sind, gesellt sich zum Jubiläumsreigen noch der 90. Geburtstag von Kurt Biedenkopf. Auch von meiner Seite: Lieber Kurt, ich gratuliere dir von Herzen zu deinem runden Geburtstag und wünsche dir für das neue Lebensjahr vor allem Gesundheit und Gottes Segen. Alles Gute. Schön, dass wir heute zusammen sind. Am Anfang des neuen Lebensjahrzehnts möchte ich dir zu deinem Lebenswerk gratulieren. In der Vielzahl und Breite der Ämter und Funktionen in der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Politik bis hin zum Amt des Ministerpräsidenten ist dein Wirken einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik. Du hast dich seit jeher offen für Neues gezeigt und Veränderungen eher gesucht als gescheut – auch auf die Gefahr hin, dabei immer wieder anzuecken. Da könnte ich nun vom Hörensagen aus der Zeit, die mehr als 30 Jahre zurückliegt, manches erzählen. Ich glaube, du hast über alles auch immer gut Buch geführt. Aber ich will mich hier mehr auf das konzentrieren, was ich selbst gesehen habe. Ich möchte ein Zitat von dir einbringen. Du hast einmal gesagt: „Wenn man nicht querdenkt, dann kann einem auch nichts Neues einfallen.“ Insofern warst du sozusagen Querdenker von Kind auf und aus Leidenschaft. Was ich immer als sehr faszinierend empfunden habe, weil das in der Politik auch nicht überall verbreitet ist: Du hast dir permanent neue Fragen gestellt, bist dabei auch nicht stehen geblieben, sondern hast nach Antworten gesucht oder bist neugierig gewesen, Menschen zu finden, die Antworten geben konnten. Ich zähle jetzt nicht all deine Lebensstationen auf, sonst würden wir den 91. Geburtstag erreichen. Deshalb möchte ich auf die jüngsten 30 Jahre eingehen. Norbert Lammert hat ja schon in die Zeit davor einen kleinen Einblick gegeben. Warum wir heute zum Beispiel nicht dort sind, wo du geboren worden bist, in Ludwigshafen, sondern hier in Dresden feiern, erschließt sich aufgrund der Tatsache, dass der Freistaat Sachsen 30 Jahre alt wird. Du hast viele Jahre an Rhein und Ruhr verbracht; und dann hat es dich an die Elbe gezogen. Du warst zwölf Jahre in diesem Freistaat Ministerpräsident. Selbst jetzt noch, 18 Jahre später, bringen dich wohl die meisten Menschen, wenn sie von dir hören, mit Sachsen in Verbindung; und das muss man erst einmal schaffen. Nach der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung war der Freistaat ja neu entstanden und musste als neues Bundesland erst einmal seine neue Rolle in der Bundesrepublik finden. In dieser Situation musste sich ja ein Quer-, Vor- und Neu-Denker wie Kurt Biedenkopf geradezu eingeladen fühlen, mitzumachen. Warum Sachsen? Es war und ist ja nicht das einzige neue Bundesland. Es gibt familiäre Verbindungen, denn dein Vater stammte aus Chemnitz. Auch dir selbst lag Sachsen schon früh recht nahe, weil du in Schkopau und Merseburg im heutigen Nachbarbundesland Sachsen-Anhalt zur Schule gegangen bist. Kurz nach dem Fall der Mauer folgtest du einer Einladung an die Universität Leipzig, dort eine Vorlesung zu halten. Leider war mein Studium zu diesem Zeitpunkt schon beendet. In Leipzig lerntest du auch Kurt Masur kennen. Er war es auch, der die Idee einer Gastprofessur hatte. So kam es, dass du 1990 – noch vor der Deutschen Einheit – als erster westdeutscher Professor in Ostdeutschland Vorlesungen gehalten hast. Damals war das noch etwas. Hinterher hat man fast zu viele Westdeutsche gehabt; darüber möchte ich jetzt nicht reden, aber es klang ja hier auch schon an. Sofern sie exzellent waren, war es ja gut. Aber manche aus den alten Bundesländern haben auch versucht, die, die sie nicht so leiden konnten, sozusagen uns unterzujubeln. Das war dann nicht so toll. Ich nenne aber keinen Namen. Du selbst hast von einer großen Lehrzeit für dich gesprochen. Denn es ging dir damals in Leipzig nicht darum, den Studenten ein ihnen damals noch fremdes marktwirtschaftliches Gedankengut einfach so vorzutragen. Was dich vielmehr ausgezeichnet hat, war, dass du dich vorher selbst in die praktische Lebenserfahrung einer Zentralen Planwirtschaft hineingedacht hast, um dann die Herausforderungen der wirtschaftlichen Transformation umso verständlicher vermitteln zu können. Das klingt logisch, war aber keineswegs selbstverständlich. Denn wir DDR-Bürger haben damals durchaus die Erfahrung gemacht, dass das Interesse von Westdeutschen am Leben und Arbeiten in der ehemaligen DDR nicht immer ausgeprägt war. Ganz anders Kurt Biedenkopf. Als Spitzenkandidat der CDU zur Landtagswahl im Oktober 1990 machte er klar: „Ich bin jetzt Sachse, und ich habe auch die Absicht, genau das zu leben.“ Diese Haltung zeugte von Selbstbewusstsein. Mit dieser Haltung hast du auch viele angesteckt, die dieses Selbstbewusstsein dann auch gefunden haben. Und tatsächlich war Selbstbewusstsein angesichts der gewaltigen Aufgaben, vor denen Sachsen wie auch die anderen neuen Länder vor 30 Jahren standen, dringend erforderlich: eine nicht wettbewerbsfähige Wirtschaft, veraltete Infrastrukturen, teils marode Innenstädte und katastrophale Umweltbedingungen. Nicht nur die Wirtschaft war auf Vordermann zu bringen, auch die Verwaltung musste vollkommen neu aufgebaut werden. Damit tat sich für Kurt Biedenkopf ein interessantes Betätigungsfeld auf. Er verbreitete Aufbruchstimmung und ebnete Sachsens Erfolgen den Weg. – Du hast damals ja auch fast in einer Kommune gelebt, um viel zu lernen. Man erinnert sich; manche in diesem Raum waren sicherlich dabei. – Natürlich geschah dies zusammen mit vielen Weggefährten und Mitstreitern aus Sachsen und aus den alten Ländern. Das war ein Gemeinschaftswerk, für das wir alle miteinander dankbar sein können – gerade auch mit Blick auf die Ausgangssituation vor 30 Jahren. Kurt Biedenkopf legte großen Wert auf eine solide Haushaltspolitik, lange bevor die Schuldenregel in das Grundgesetz aufgenommen wurde. Konsolidieren und Investieren – das war für ihn kein Widerspruch. Sparen dient ja keinem Selbstzweck, sondern dem Zweck, Freiraum für Zukunftsinvestitionen zu schaffen. Vor allem aber haben für Kurt Biedenkopf die Begriffe Freiheit und Ordnung einen besonderen Stellenwert. Er sah auch darin keinen Gegensatz, sondern ein Paar, das zusammengehört. Es zeichnet Kurt Biedenkopf auch aus – ich habe davon persönlich sehr profitiert –, dass er das, was er tat, auch immer einordnen und erklären konnte und uns damit sozusagen systematisch den Weg aufgezeigt hat, im praktischen täglichen Tun die Grundzüge einer freiheitlichen Ordnung zu verstehen. Er war und ist der Meinung, dass Freiheit einen ordnungspolitischen Rahmen braucht, damit die Wirkmacht bzw. die Marktmacht sich letztlich nicht nur auf wenige Akteure konzentriert, sondern allen zugutekommt. Kurt Biedenkopf machte nie ein Hehl daraus, dass Reformen nicht nur notwendig sind, sondern durchaus auch schmerzhaft sein können. Er suchte deshalb stets das Gespräch, erklärte, versuchte, die Menschen auf Veränderungen vorzubereiten – wir haben das am Anfang wunderbar gehört –, zu vermitteln und immer wieder deutlich zu machen: Veränderungen können und werden Chancen mit sich bringen. Die Entwicklung gab ihm Recht. Und so hatte er nicht nur um Vertrauen geworben, sondern auch sehr viel Vertrauen gewonnen. Auch seine Rekord-Wahlergebnisse brachten das zum Ausdruck. Kurt Biedenkopf ging bzw. geht immer so an die Dinge heran, um auch Mut und Zuversicht im Freistaat zu stärken. Er bestärkte die Menschen darin, stolz auf Sachsen zu sein. Wenn man nicht aus Sachsen kam, war man manchmal schon ganz bedrückt, weil man nicht ganz so stolz sein konnte. Aber gut, die Sachsen und die Mecklenburger – das ist sowieso ein langes Kapitel. In der Zeit der friedlichen Revolution stand auf den Zügen „Schlaft ruhig weiter“. Wir holen trotzdem auf. Hätte es den Begriff Landesvater nicht schon längst gegeben, dann hätte man ihn damals erfinden müssen. Man kann das alles aber auch weniger pathetisch ausdrücken. Zum Beispiel wuchs das sächsische Bruttoinlandsprodukt während der Regierungszeit von Kurt Biedenkopf von 36 Milliarden auf über 80 Milliarden Euro an. Sachsen gewann mehrere Großinvestoren und damit auch tausende neue Arbeitsplätze. Sachsen ist heute zum Beispiel ein moderner Automobilstandort. Das alles zu erreichen, war alles andere als einfach. Aber wenn es um die Interessen Sachsens ging, legte sich Kurt Biedenkopf auch mit der Europäischen Kommission an, um über Beihilfen zu streiten; das war immer sehr ermunternd. Er legte sich überhaupt mit jedem an, um für Sachsen zu streiten. So setzte er mit seinen drei Regierungen viele Hebel in Bewegung und stellte die Weichen dafür, dass aus Sachsen werden konnte, was es heute ist: eine erfolgreiche Wirtschaftsregion. Die Großräume Leipzig und Dresden haben heute die stärkste Wirtschaftskraft in Ostdeutschland. Sie brauchen den Vergleich mit vielen Regionen in westdeutschen Ländern nicht zu scheuen. Der Halbleiterstandort Dresden gehört zur europäischen Spitze. Wie attraktiv dieser Standort ist, zeigt sich auch daran, dass hier ein Unternehmen, nämlich Bosch, eine Milliarde Euro in eine neue Halbleiterfabrik investiert. Sachsen ist bekannt für seine Innovationskraft. „Silicon Saxony“ ist weit über die Landesgrenzen hinaus ein Begriff. Forschung und Entwicklung – das war immer dein Ansatz – haben hier auf dem Weg von der Industrie- zur Wissensgesellschaft eine gute Heimat gefunden. Du hast immer, lieber Kurt, Wert auf eine vielfältige Forschungslandschaft gelegt. Denn du bist eben immer ein Wanderer zwischen den Welten von Politik und Wissenschaft gewesen. Du wusstest selbst am besten, wie wichtig ein konstruktives Miteinander dieser beiden Welten ist. Das ist auch in der Bildungspolitik zu sehen. Über die guten Ergebnisse der Pisa-Studien haben wir uns schon informieren lassen. Meine Damen und Herren, als sich zwei neue Bundesländer – nicht nur Sachsen, sondern auch Thüringen – für das Abitur nach zwölf Schuljahren entschieden hatten, hat die Kultusministerkonferenz dies den beiden Ländern dankenswerterweise erlaubt. Ich empfinde es allerdings noch heute als eine ziemliche Zumutung für die beiden Länder, dass man dies mit der Festlegung verbunden hat, die Zahl der Unterrichtsstunden müsse in diesen zwölf Jahren genau die gleiche sein wie in 13 Jahren im Westen. Erst als man in den alten Bundesländern auf die Idee kam, vielleicht auch zu einem Abitur nach zwölf Jahren überzugehen, hat man sich überlegt, dass damit die Kinder dann eigentlich viel zu viel in die Schule gehen müssten. Man hat sich überhaupt so viel überlegt, dass man heute alles rückgängig gemacht hat. Sachsen ist aber weiter beim Abitur nach zwölf Jahren geblieben. – Gut, ich möchte nicht weiter ins Detail gehen. Welche beeindruckende Entwicklung Sachsen genommen hat, zeigt sich – nicht nur für Betrachter von außen – kaum besser als im Wohn- und Lebensumfeld. Mit viel Herzblut und Traditionsliebe haben die Menschen hier in Sachsen unzählige Bauwerke saniert oder wiederaufgebaut. Der Ort, an dem wir heute sind, spricht für sich: die Frauenkirche. Eine Bürgerinitiative um den Trompeter Ludwig Güttler hatte sich mit ihrem sogenannten „Ruf aus Dresden“ an die Öffentlichkeit gewandt. Dieser Ruf wurde gehört, insbesondere auch von Kurt und Ingrid Biedenkopf, aber, Gott sei Dank, auch von vielen anderen Menschen. Viele Menschen aus dem In- und Ausland haben zu diesem großartigen Wiederaufbauprojekt im Herzen Dresdens beigetragen. Die Frauenkirche erstand nicht nur in neuem Glanz, sondern wurde auch zu einer Bürgerkirche im besten Sinn des Wortes, zu einer Friedens- und Versöhnungskirche. Dreimal darf man raten, wer heute zu den Ehrenkuratoren der Stiftung Frauenkirche zählt: natürlich Kurt Biedenkopf; und ebenso seine Frau Ingrid. Der Freistaat Sachsen entwickelte sich natürlich auch mit Kurt Biedenkopfs Nachfolgern weiter. Das ist glücklicherweise so. Georg Milbradt und Stanislaw Tillich haben sich um Sachsen verdient gemacht; und Michael Kretschmer tut es glücklicherweise noch immer. Natürlich gab es in den letzten 30 Jahren nicht nur Erfolge. Und natürlich kann sich auch der heutige Ministerpräsident Michael Kretschmer nicht über einen Mangel an Aufgaben beklagen. Ob in Sachsen oder anderen ostdeutschen Ländern – manche Dinge hatten wir uns einfacher und schneller vorgestellt. Es gibt Menschen, denen es nach 30 Jahren Deutscher Einheit eher schwerfällt, eine so positive Bilanz zu ziehen, wie ich es eben getan habe – die in ihrem Leben vor 30 Jahren auch eine sehr herbe Zäsur erfahren haben, die sich gern mehr eingebracht hätten und die sich in manchen Erwartungen enttäuscht sahen. Aber gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir einander gut zuhören und bereit sind zu akzeptieren, dass es ganz verschiedene Lebenserfahrungen gibt – je nachdem, ob man in Düsseldorf oder Dresden, im Erzgebirge oder im Schwarzwald aufgewachsen ist. Und manchmal gibt es ja auch unterschiedliche Erfahrungen am selben Ort. Deutschland ist ein vielfältiges Land. Diese Vielfalt hat Kurt Biedenkopf immer als Stärke empfunden. Er hat immer wieder versucht – und er tut es bis heute –, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen, um sich auszutauschen, zu argumentieren, damit sozusagen die Schotten nicht dichtgemacht werden, noch bevor man miteinander gesprochen hat. Die starken ostdeutschen Wirtschaftsregionen haben zu den etwas schwächeren in den alten Bundesländern aufgeschlossen. Aber nach wie vor haben wir noch strukturelle Unterschiede. Darüber dürfen wir nicht hinwegsehen. Der Solidarpakt II war damals das finanzielle Gerüst. Nach dem Auslaufen dieses Solidarpakts haben wir uns entschieden, für gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland Sorge zu tragen. Denn wir haben auch schwierige Verhältnisse in Regionen der alten Bundesländer. Ich will jetzt keinen Vortrag über den Ausstieg aus der Kohleverstromung halten. Aber darüber, dass das eine der großen strukturellen Aufgaben im Hinblick auf den Klimaschutz ist, haben wir in letzter Zeit mit Michael Kretschmer des Öfteren diskutiert. Wir haben uns entschieden, wiederum Geld zur Verfügung zu stellen, um eine Strukturanpassung möglich zu machen. Wir wissen: Wandel kostet Kraft und Mut; er verlangt Improvisation und Kreativität; und er erfordert die Bereitschaft und Fähigkeit, Neues zu lernen. Damit sind wir wieder bei unserem Jubilar. Denn wir können von ihm vieles lernen – vor allem sich immer wieder auf Neues einzustellen, nicht zu verzagen, sich zu freuen, wenn eine neue Frage auf den Tisch kommt. Denn Kurt Biedenkopf ist fest davon überzeugt, dass es auf jede Frage eine vernünftige Antwort geben kann. Lieber Kurt Biedenkopf, was wurde über dich als Wissenschaftler, Wirtschaftler und Politiker nicht alles gesagt: „ein brillanter Ideenproduzent und scharfsinniger Analytiker“, „ein Staatsmann, für den das Wohl der deutschen Nation immer wichtiger war als die Beschlusslage der eigenen Partei“ – stimmt; nicht immer Freude verbreitend –, „Architekt des modernen Sachsen“; und schließlich wurdest du sogar zum „König von Sachsen“ erhoben. Da steht aber, so würde ich sagen, dein Verständnis der freiheitlich-demokratischen Grundordnung doch im Widerspruch zu dieser letzten Aussage. Nichtsdestoweniger zeigen all diese Zitate, dass du dich in einer Weise, wie es selten vorkommt, um den Freistaat verdient gemacht hast, dass du vielen Menschen geholfen hast, immer wieder neu zu denken. Deshalb sage ich danke. Ich wünsche dir, deiner Frau und deiner ganzen Familie alles, alles Gute für die Zukunft. Auch dem zweiten Jubilar, etwas jünger an Jahren als du, dem Freistaat Sachsen, darf ich natürlich alles Gute wünschen. Geht euren eigenen Weg weiter, ohne zu vergessen, dass ihr Teil eines Ganzen, der Bundesrepublik Deutschland, seid, und lasst uns gut zusammenarbeiten. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Gedenkkonzert zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz am 27. Januar 2020 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-gedenkkonzert-zum-75-jahrestag-der-befreiung-des-kz-auschwitz-am-27-januar-2020-in-berlin-1716934
Mon, 27 Jan 2020 19:02:00 +0100
Polnische Übersetzung – Tłumaczenie
Berlin
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Przemówienie Kanclerz Federalnej dr. Angeli Merkel podczas koncertu upamiętniającego 75. rocznicę wyzwolenia KL Auschwitz w dniu 27 stycznia 2020 roku w Berlinie Szanowny Panie Premierze, Szanowny Panie Profesorze Barenboim, Czcigodna Pani Friedländer, Szanowna Pani Minister Grütters, Ekscelencje, Szanowne Koleżanki i Szanowni Koledzy z Niemieckiego Bundestagu, Szanowni Państwo, 75 lat temu, w dniu 16 kwietnia 1945 roku, dokładnie dzień po wyzwoleniu obozu koncentracyjnego Bergen-Belsen przez wojska brytyjskie, 19-letnia wówczas Anita Lasker udzieliła BBC wywiadu. Przeżyła ona wraz ze swoją siostrą Renate obóz Bergen-Belsen, a wcześniej także piekło Auschwitz. W wywiadzie odniosła się ona do tego mówiąc: „Więźniowie w Auschwitz, ci nieliczni, którzy zostali przy życiu, wszyscy boją się, że świat nie uwierzy, co tam się wydarzyło. […] Ja grałam w kapeli obozowej. Do najstraszliwszych rzeczy grało się muzykę.” Szanowni Państwo, jakże mogła grać muzyka w tym miejscu kaźni? To dogłębnie wstrząsający dysonans i ambiwalencja. 73 lata później, w dniu 31 stycznia 2018 roku, 92-letnia Anita Lasker-Wallfisch, tę ambiwalencję opisała w swoim przemówieniu na forum Niemieckiego Bundestagu następującymi słowami: „Dla wielu muzyka w tym piekle była bezwzględną obrazą, dla niektórych bodajże była możliwością, aby na chwilę przenieść się w inny świat”. Te słowa dają świadectwo grozy dokonanego przez Niemcy załamania w dziejach cywilizacji, jakim była Shoah. Dla Anity Lasker-Wallfisch muzyka i gra na wiolonczeli w kapeli obozowej w Birkenau była historią przeżycia. Także historia Margot Friedländer jest historią przeżycia. Czcigodna Pani Friedländer, niezmiernie się cieszę, że jest Pani dziś wieczorem wśród nas. Jestem do głębi poruszona. Jednak niewyobrażalna liczba ludzkich losów skończyła się śmiercią, systematycznym zamordowaniem. Dzisiaj oddajemy hołd ich pamięci: Czcimy pamięć sześciu milionów zamordowanych Żydów. Czcimy pamięć Sinti i Romów, osób niepełnosprawnych, więźniów politycznych, osób homoseksualnych i robotników przymusowych. Czcimy pamięć polskich ofiar niemieckiej okupacji. Drogi Panie Premierze Morawiecki, dziękuję Panu za to, że w grudniu wspólnie byliśmy w miejscu pamięci na terenie byłego niemieckiego obozu koncentracyjnego i zagłady Auschwitz i że dziś wieczorem jest Pan tu obecny. Czcimy pamięć wszystkich ofiar Shoah, która przekreśliła wszelkie wartości cywilizacji ludzkiej. Pamiętamy także o wszystkich tych, którzy ocaleli. Byli oni ciężko naznaczeni wskutek doznanych cierpień. Droga Pani Friedländer, Pani w swoich wspomnieniach napisała: „Musieli dopiero nauczyć się od nowa, że są ludźmi. Ludźmi, którzy mają imię”. Musimy pielęgnować i zachować żywą pamięć. Musimy w sposób zdecydowany przeciwstawiać się nietolerancji i nienawiści, zwalczać rasizm, antysemityzm i wrogość wobec określonych grup ludzi. Jesteśmy odpowiedzialni za to, aby wszyscy ludzie mogli czuć się u nas w Niemczech i w Europie bezpiecznie i jak u siebie w domu. Musimy na to uwrażliwić szczególnie młodych ludzi. Dlatego dobrze jest, że dochód z tego koncertu przekazany zostanie Fundacji Auschwitz-Birkenau na projekty z udziałem młodzieży. Szanowni Państwo, Adam Kopyciński – był on dyrygentem chóru męskiego w Auschwitz, ocalał z gehenny, a po wojnie występował w renomowanych polskich filharmoniach i operach ‑ podkreślił znaczenie muzyki w taki oto sposób: „Muzyka wzmacniała poczucie własnej wartości, które w obozie zostało tak brutalnie podeptane”. Dziękuję bardzo serdecznie Panu, Szanowny Panie Profesorze Barenboim, jak również członkom chóru i orkiestry za to, że tym koncertem możemy oddać hołd pamięci ofiar Shoah. Dziękuję bardzo. – – –
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Gedenkkonzert zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz am 27. Januar 2020 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-gedenkkonzert-zum-75-jahrestag-der-befreiung-des-kz-auschwitz-am-27-januar-2020-in-berlin-1716408
Mon, 27 Jan 2020 19:02:00 +0100
Berlin
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Gedenken
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Morawiecki, sehr geehrter Herr Professor Barenboim, sehr geehrte Frau Friedländer, sehr geehrte Staatsministerin Monika Grütters, Exzellenzen, Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren, vor 75 Jahren, am 16. April 1945, genau einen Tag nachdem britische Truppen das Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit hatten, gab die damals 19-jährige Anita Lasker der BBC ein Interview. Sie hatte zusammen mit ihrer Schwester Renate Bergen-Belsen überlebt – und zuvor auch die Hölle von Auschwitz. Darüber sagte sie in dem Interview: „Die Auschwitzer Häftlinge, die wenigen, die geblieben sind, fürchten alle, dass die Welt nicht glauben wird, was dort geschehen ist. […] Ich selbst befand mich in der Musikkapelle. Zu den furchtbarsten Dingen wurde Musik gemacht.“ Wie, meine Damen und Herren, konnte es an einem solchen Ort des Grauens Musik geben? Eine zutiefst verstörende Ambivalenz. 73 Jahre später, am 31. Januar 2018, fand Anita Lasker-Wallfisch, inzwischen 92 Jahre alt, für diese Ambivalenz in ihrer Rede vor dem Deutschen Bundestag folgende Worte: „Für viele war Musik in dieser Hölle eine absolute Beleidigung, für manche vielleicht eine Möglichkeit, sich für Momente in eine andere Welt zu träumen.“ Diese Worte geben Zeugnis von dem Grauen des von Deutschland begangenen Zivilisationsbruchs der Shoa. Für Anita Lasker-Wallfisch waren die Musik und ihr Cello-Spiel in der Lagerkapelle Birkenau eine Geschichte des Überlebens. Auch die Geschichte Margot Friedländers ist eine Geschichte des Überlebens. Liebe Frau Friedländer, ich freue mich außerordentlich, dass Sie heute Abend hier sind. Das berührt mich sehr. Doch unfassbar viele Lebensgeschichten endeten mit dem Tod, der systematischen Ermordung. Heute gedenken wir ihrer. Wir gedenken der ermordeten sechs Millionen Juden. Wir gedenken der Sinti und Roma, der Menschen mit Behinderungen, der politischen Gefangenen, der Homosexuellen, der Zwangsarbeiter. Wir gedenken der polnischen Opfer der deutschen Besatzung. Ich danke Ihnen, lieber Herr Ministerpräsident Morawiecki, dass wir im Dezember gemeinsam die Gedenkstätte des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz besuchen konnten und dass Sie heute Abend hierhergekommen sind. Wir gedenken aller Opfer der Shoa, die mit sämtlichen Werten der Zivilisation gebrochen hatte. Wir denken auch an alle, die überlebt hatten. Sie waren von den erlittenen Qualen schwer gezeichnet. Sie, liebe Frau Friedländer, haben dazu in Ihren Erinnerungen geschrieben: „Sie mussten erst wieder lernen, dass sie Menschen waren. Menschen, die einen Namen hatten.“ Wir müssen die Erinnerung pflegen und wachhalten. Wir müssen uns entschieden gegen Intoleranz und Hass, gegen Rassismus und Antisemitismus, gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wenden. Wir tragen Verantwortung dafür, dass sich alle Menschen bei uns in Deutschland und Europa sicher und zu Hause fühlen können. Wir müssen dafür ganz besonders die jungen Menschen sensibilisieren. Deshalb ist es gut, dass der Erlös dieses Konzerts der Stiftung Auschwitz-Birkenau für Jugendprojekte zugutekommt. Meine Damen und Herren, Adam Kopyciński – er war Dirigent eines Männerorchesters in Auschwitz, überlebte das Grauen und war nach dem Krieg an namhaften polnischen Opernhäusern tätig – hob die Bedeutung der Musik so hervor: Die Musik „förderte die Selbstachtung des Menschen, die in der Zeit des Lagerlebens so grausam mit Füßen getreten wurde.“ Ich danke Ihnen, lieber Herr Barenboim, wie auch dem Chor und dem Orchester sehr herzlich dafür, dass wir der Opfer der Shoa mit diesem Konzert gedenken können. Danke schön.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Einweihung des Campus der Türkisch-Deutschen Universität am 24. Januar 2020 in Istanbul
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-einweihung-des-campus-der-tuerkisch-deutschen-universitaet-am-24-januar-2020-in-istanbul-1715732
Fri, 24 Jan 2020 11:11:00 +0100
Istanbul
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Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrter Herr Rektor Akkanat, sehr geehrter Herr Präsident des Hochschulrates, sehr geehrte Frau Professor Süssmuth, liebe Rita, meine Damen und Herren, es freut mich sehr, heute gemeinsam mit Ihnen allen den neuen Campus der Türkisch-Deutschen Universität zu eröffnen. Der preußische Staatsmann und Gelehrte Wilhelm von Humboldt zeigte sich überzeugt: „Nichts auf Erden ist so wichtig, als die höchste Kraft und die vielseitigste Bildung der Individuen, und deshalb ist der wahren Moral erstes Gesetz: Bilde Dich selbst!“ Wer sich bilden will, dem bieten sich hier auf diesem modernen Campus hervorragende Möglichkeiten. Diese binationale Hochschule ist ein Ort umfassender Bildung. Wer hier studiert, erwirbt viel mehr als reine Fachkenntnisse. Hier begegnet man Menschen aus verschiedenen Kultur- und Sprachräumen. Hier kann man miteinander und voneinander lernen. Diese Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen und offen füreinander zu sein, ist wesentliche Voraussetzung dafür, Verständnis und Vertrauen zu gewinnen. Das ist unabdingbar für ein gutes Miteinander – dafür, gemeinsam neue Ideen zu entwickeln und neue Wege des Fortschritts zu erkunden. Eine solche Offenheit bringt also nicht nur den Einzelnen voran, sondern auch unsere Gesellschaften. Und so lernen und lehren die Studierenden und Lehrkräfte auch hier an der Türkisch-Deutschen Universität nicht nur für sich selbst, sondern sie bereichern auch die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern. Sie schaffen Vertrauen und beleben den Dialog in und zwischen unseren Zivilgesellschaften – einen Dialog, der auch für die Politik und die Regierungszusammenarbeit von großer Bedeutung ist. Dialog wird seit jeher gerade auch in der Wissenschaft gepflegt. Das gilt auch für die deutsch-türkischen Wissenschaftsbeziehungen, die wahrlich nicht erst mit der Türkisch-Deutschen Universität geknüpft wurden, sondern eine sehr lange Geschichte haben. Diese Geschichte handelt nicht zuletzt von der überaus großzügigen Hilfe der Türkei für deutsche Wissenschaftler und Intellektuelle, die während des Nationalsozialismus aus Deutschland fliehen mussten. Vor über 80 Jahren fanden deutsche Wissenschaftler und Künstler in der Türkei eine sichere Zuflucht und Wirkungsstätte. Zu den Exilanten gehörten unter anderem der Kommunalwissenschaftler und spätere Regierende Bürgermeister von Berlin Ernst Reuter, der Pathologe Philipp Schwartz, der die sogenannte „Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaftler im Ausland“ gründete, oder der Architekt Bruno Taut, der Dekan an der Akademie der Künste hier in Istanbul wurde. Er entwarf zahlreiche Pläne für Lehrgebäude in der Türkei – unter anderem für die Universität Ankara. Auch heute noch gehen türkische Studierende in Bauwerken ein und aus, die Bruno Taut in den 30er Jahren entworfen hatte. Ihm wurde auch die Ehre zuteil, das Katafalk für Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zu gestalten. Auch viele andere verfolgte deutsche Wissenschaftler konnten ihre Arbeit hier in der Türkei fortsetzen. Sie dankten es dem Land, indem sie sich auch um das türkische Bildungssystem verdient machten. Die Türkei war aber nicht nur früher Zufluchtsort für verfolgte Menschen. Sie bietet auch heute Millionen syrischer Flüchtlinge Schutz und sichere Bleibe. Das ist eine Leistung, die gar nicht hoch genug geschätzt werden kann und Dank und Anerkennung verdient. Für Flüchtlinge ist Bildung besonders kostbar, denn Bildung gibt Hoffnung auf eine bessere Zukunft – entweder für die Zeit nach der Rückkehr in die Heimat, in der sie am Wiederaufbau mitwirken können, oder aber über eine gute Integration in die Aufnahmegesellschaft. Auch hierbei leistet die Türkei sehr viel, auch mit deutscher und europäischer Unterstützung. So unterstützt Deutschland Flüchtlinge an Universitäten in der Türkei über mehrere Programme – zum Beispiel mit HOPES, dem Syrien-Programm an der Türkisch-Deutschen Universität oder der Deutschen Akademischen Flüchtlings-Initiative Albert Einstein. Diese Angebote stehen beispielhaft dafür, dass Wissenschaft und Bildung wie jede Form menschlicher Entfaltung und produktiver Neugier von Menschlichkeit und Freiheit getragen und gefördert werden. Oder um es mit Worten Albert Einsteins auszudrücken: „Neugier ist ein verletzliches Pflänzchen, das nicht nur Anregung, sondern vor allem Freiheit braucht.“ Im Grunde kann man es auf eine einfache Formel bringen: Je größer die wissenschaftliche Freiheit ist, umso größer ist auch der wissenschaftliche Ertrag. Die Wissenschaft muss die Freiheit haben, in neue Richtungen zu denken. Sie braucht kritischen Diskurs und geistige Offenheit, wenn sie Fortschritt vorantreiben soll. Wie schwierig wissenschaftliches Arbeiten in stark eingeschränkten Freiheiten sein kann, habe ich selbst als Physikerin in der DDR erlebt. Als dann vor 30 Jahren die Berliner Mauer fiel, habe ich wie viele andere erfahren, dass mit neu gewonnenen Freiheiten auf einmal vieles möglich wurde, wovon wir vorher allenfalls geträumt hatten. Das Leben wurde damit für den Einzelnen nicht unbedingt einfacher, aber es bot einfach mehr Möglichkeiten, die eigenen Fähigkeiten weiterzuentwickeln und sich beruflich wie gesellschaftlich zu entfalten. Auch hier an diesem Ort konnte Realität werden, was am Anfang auch eher wie ein kühner Traum anmutete. Rita Süssmuth hat davon erzählt. Es hat vieler Anläufe bedurft. Ich habe zwischendurch manchmal gedacht: Das wird nie etwas. Aber die Türkisch-Deutsche Universität hat dann doch Form und Gestalt angenommen. 2013 konnte der erste Lehrbetrieb aufgenommen werden. Und heute weihen wir einen wirklich beeindruckenden Campus mit seinen neuen Hörsaal-, Labor-, Bibliotheks- und Fakultätsgebäuden ein. Mittelfristig sollen sich hier 5.000 Studierende auf ihre Zukunft vorbereiten können. Deshalb möchte ich sagen: Die Türkisch-Deutsche Universität ist ein großartiges Beispiel der partnerschaftlichen deutsch-türkischen Zusammenarbeit. Dieser Campus steht für Weltoffenheit und Zukunftsoffenheit der Studierenden. Er steht für das Engagement der Lehrkräfte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Er steht für die vielfältige Partnerschaft deutscher und türkischer Mitwirkender. Und er steht für eine Universitätsleitung, die darauf bedacht ist, die Stärken sowohl der deutschen als auch der türkischen Hochschultraditionen zusammenzuführen. Deshalb möchte ich natürlich ganz besonders dem Rektor, Herrn Professor Halil Akkanat, danken, den Mitgliedern des deutschen Konsortiums und seiner Leitung, der Präsidentin, Frau Professor Rita Süssmuth, der Vizepräsidentin Dorothea Rüland sowie Herrn Professor Philipp Kunig und Herrn Professor Izzet Furgac. Die Türkisch-Deutsche Universität ist ein Juwel in den Beziehungen unserer beiden Länder und ein Glück für unsere beiden Gesellschaften. Denn diese Universität ist nicht nur selbst das Ergebnis einer engen Kooperation, sondern sie wird die deutsch-türkische Partnerschaft auch weiter stärken und es vielen Frauen und Männern nach ihrem Studienabschluss ermöglichen, ihren Weg zu gehen und Verantwortung in Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung zu übernehmen. Hierfür wünsche ich allen Lehrenden und Studierenden viel Erfolg. Ich freue mich sehr, dass ich an diesem Tag hier mit dabei sein kann. Herzlichen Dank.
Speech by Federal Chancellor Merkel at the 2020 Annual Meeting of the World Economic Forum on 23 January 2020 in Davos
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/speech-by-federal-chancellor-merkel-at-the-2020-annual-meeting-of-the-world-economic-forum-on-23-january-2020-in-davos-1716640
Thu, 23 Jan 2020 14:18:00 +0100
Davos
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Ladies and gentlemen, and, above all, Prof. Schwab, You’ve just mentioned that this is my 12th appearance at this Forum. You have, for the 50th time, the pleasure of being at this event – and not just for one day –, to prepare it and bring people together. I’d like to congratulate you most sincerely on this achievement. What has been created here in the Swiss mountains is something unique. This Forum has set itself the ambitious goal of improving the state of the world and has brought together representatives from politics, business and society time and again to this end – not only in Davos, but also in many other places around the world. I believe that we can claim, if we cast our minds back over the past five decades, that the world has indeed become a better place. Fifty years ago, we were still in the midst of the Cold War. Germany was divided. I couldn’t imagine back then that I would one day be standing here. It’s now been 30 years since the Cold War came to an end. A multipolar world has emerged from a bipolar world that, as we were unable to tell 30 years ago, also has a large number of problems. Per capita income has more than doubled since 1970. The number of people suffering extreme poverty has gone down, even though the world’s population has increased dramatically. We have made tremendous progress in the fight against disease – polio, for example. None of this would ever have been possible with countries just going it alone, but for me this is the result of people, companies and, above all, countries working together. So this is important, despite the fact that new problems arise year after year, of course. If you take a look at the World Economic Forum’s Global Risks Report, you can see very clearly, because this is always highlighted in colour, how the nature of these problems has evolved. Environmental problems have essentially moved to the forefront of these issues over the last ten years. The issue of sustainability and a cohesive world are of paramount importance. Your motto this year, “Stakeholders for a Cohesive and Sustainable World”, is therefore a motto that is certainly worth discussing. We talk a lot about the fact that the international community achieves little together. Nevertheless, it managed a few years ago to develop and adopt the Sustainable Development Goals for the year 2030. More than 180 countries accomplished this. This means that we have a very clear roadmap for this new decade as, at the end of the day, we want to achieve these SDGs. However, it was clear at the UN summit last September, which took stock of this for the first time, that we have so very much on our plate here and that we will not be able to genuinely achieve all of the Sustainable Development Goals if we continue at the current pace. That is why I would also like to express my gratitude – Prof. Schwab mentioned this to me just now – for the fact that an agreement has been reached with the UN to set up a platform on the issue of oceans. This is the right way forward, because we need to link up global efforts so that we also have an idea of how fast we are progressing. UN Secretary-General António Guterres is therefore right to say that ours is a “decade of action”. We must act, and we must do so, for example, in the area of biodiversity – the vast majority of countries are working on this – and, above all – and this is also playing a huge role at this year’s World Economic Forum – in the area of climate protection. The issue of achieving the goals of the Paris Climate Agreement could be about no less than the survival of our continent. That’s why there is a need for action, because we know that we will not achieve the Paris goals – above all the objective of ensuring that global warming does not exceed 1.5 degrees – with the present commitments. I will therefore focus on what this means in the first part of my speech. This means that the world must act together – this is, after all, an international agreement. Not everyone is still on board, unfortunately, but many are part of this effort. And this also means that each country must do its own part. If we look at Germany, the country that I’m representing here, then, after 30 years of German unity, we can say that we find ourselves in a situation in which we’re doing comparatively well. We have never had so few unemployed people. We’re spending a great deal of money on research and development. We have increased our investments. But all this doesn’t reflect what we need to achieve over the next 30 years. After all, the task of keeping global warming to less than 1.5 degrees compared with the pre industrial era means, for example, no more and no less for us in Europe than that we must be climate-neutral by 2050. The vast majority of the countries of the European Union have committed themselves to the objective of climate neutrality. The Commission President was here yesterday and presented the Green Deal to you. Europe intends to be the first continent to be CO2 free, i.e. emissions-free. But, ladies and gentlemen, these are, of course, transformations of gigantic, historic proportions. This transformation essentially means turning our backs on our entire way of doing business and our way of life, to which we have become accustomed in the industrial age, over the next 30 years – we have already taken the first steps – and transitioning to completely new forms of value creation, which, of course, also include industrial production and which have been informed above all by the digital transformation. We must also get on top of a second giant transformation. And we hope that the transformation to a CO2 free economy will intensify thanks to the digital transformation and that the digital transformation can facilitate this development. I would like to spend a moment telling you about what we’re doing in Germany and what impact this is having on societies. This goal of climate neutrality is easier said than done. It’s relatively easy to commit to this when you live in cities. It’s a little easier there than if you live in the country and perhaps run a farm or have to walk long distances to work or have a wind turbine on your doorstep. Firstly, in recent years we took the decision to phase out nuclear power by 2022, albeit for other reasons of sustainability, namely because we believe that waste management for nuclear power isn’t sustainable and that the risks are too great. Secondly, we have decided to phase out coal-fired power generation by 2038 at the latest – if possible by 2035. Coal still accounts for a very high proportion of Germany’s electricity generation – around 30 percent. The phase out is therefore a huge step, especially for the people who mine lignite and who find themselves, in structural terms, in a completely new situation. However, this is only the smaller part of the story. If we contemplate transforming the energy supply, i.e. first of all the power supply, to make it CO2 emissions-free, then that’s one task. But if we look at Germany’s primary energy consumption, we see that electricity accounts for 22 percent while 78 percent of our energy consumption is accounted for by heating, mobility and industrial production. Let’s continue to consider the issue of electricity for a moment. We have set ourselves the target here of generating 65 percent, or around two thirds, with renewable energies by 2030. That’s quite a lot for a country where the sun doesn’t shine all that often and where the wind blows quite irregularly. This involves setting up a completely new power line network as the sources of energy production are, of course, mostly located far from where the energy is consumed. We have also set ourselves the goal of reducing CO2 emissions by a total of 55 percent by 2030 and then reaching 95 percent – which is commonly referred to as climate neutrality – by 2050. The transition to renewable energy sources is a mammoth feat in and of itself. It’s unlikely that it will be possible to achieve a 100 percent share of renewable energies in electricity generation – we have now reached 42 percent by using resources in our own country – because our energy capacity, i.e. the efficiency with which we can generate electricity from the wind and sun, isn’t very high. There are regions in the world where this works much better. There’s still the issue of 78 percent for industrial production, mobility and housing, however. The concept of “green hydrogen” will play a huge role here, although we approach everything with an open mind when it comes to technology. This will also give rise to completely new connectivities in the world as “green hydrogen” can be produced much more efficiently in many other places outside Europe. But we will also do this in Europe. This means that – and that’s why I’m delighted that many industrial enterprises have told us that they want to become climate neutral – that we must reorganise our processes entirely, such as in steel production, mechanical engineering and other areas. I had a very interesting discussion just now about the possibilities offered by biotechnology. It goes without saying that this will also play a huge role in the transformation of all of our supply chains. This means that we will experience dramatic changes without having to do without the products that we are used to today. But we’ll have to change the way we look at all of this. The conditions for this transformation must be put in place at the level of government, and companies must also be prepared to strike out on the path of innovation. Allow me now to talk to you about Germany. We’re actually a relatively peaceful country. But there have already been considerable social conflicts between those who feel that it’s absolutely vital to set out on this path and those who do not. I want to reiterate that 2050 is 30 years away. I have clear memories of German reunification, which took place 30 years ago. You can achieve a great deal in 30 years. But I also know how short 30 years are if you want to bring about a digital transformation and a transformation of supply chains based on entirely different sources of energy. Time is therefore of the essence. That is why we, the older generation, must also make sure – I’m 65 years old – that we embrace young people’s impatience in a positive and constructive way and understand that they have a different horizon that extends far beyond 2050. This, of course, raises the question as to how we preserve biodiversity and achieve climate compatibility in this world. This is why we’re called upon to act. The aim now is to overcome new social conflicts. After all, there is, also in Germany, a large group of people who don’t consider the whole issue to be all that urgent. This group isn’t yet convinced that this is the most important thing at stake. How can we get such people on side? Democracies have the task of involving individuals and sparking their enthusiasm. To my mind, the greatest social tension is between cities and the country, because rural areas bear a much greater burden when faced with changes and urban areas are able to harness change for their own benefit much faster as the infrastructure in cities is superior. For example, it’s much easier to do without individual mobility in a city than in the country. How do you conciliate those who simply don’t want to believe in climate change and who act as if it were a question of faith? To my mind, however, this is a classic instance of clear evidence in the light of scientific data. But since we’re living at a time when facts are competing with emotions, you can always try to create a post factual world through emotions, which is then just as important. This therefore means for us that we have to reconcile emotions with facts. That’s perhaps the biggest task facing society. In order to address this, it is necessary, as a minimum, to talk to each other. The irreconcilability and walls of silence that sometimes exist between those who deny climate change and those who see it and are committed to ensuring that we tackle it must be overcome. Many people are talking to each other on this issue who otherwise rarely speak to each other, but not enough people are talking to each other. If we enter a world in which the wall of silence is perhaps sometimes even greater than it was during the Cold War, when there were fairly orderly mechanisms of exchange, then we have a problem. This is why I’m in favour, even if this isn’t easy, of engaging in dialogue – also between groups with the most controversial of opinions – because, if we don’t, we will only become prisoners of our own prejudices and inhabit our own personal bubble. This has become much easier in the digital age than it was in previous ages. This could prove to be our undoing and must be overcome. I firmly believe that the price for not taking action would be far greater than for taking action. We want to promote innovation and research and believe that industrialised countries have an obligation here. For example, the G20 countries produce 80 percent of CO2 emissions. That means that, in view of the CO2 budget that we have already used up, we have a duty to tread innovative paths in the field of technology. I was most delighted and, to be honest, surprised to note that Germany took first place in the 2020 Bloomberg Innovation Index. We’re not the kind of people who spend all day banging on about what works well here, because we’re mostly focused on what isn’t going so well. Cultures can be different in this respect. But when it comes to the Bloomberg ranking, then we can allow ourselves to mention this. Interestingly, this excellent result has a great deal to do with the fact that our automobile industry, which is, after all, a core sector of the German economy, is undergoing a phase of transformation with very high investments in research and development. It remains to be seen whether we’re moving fast enough. The risks are clearly pointed up in this study. We’re focusing as far as possible on market economy mechanisms, and also on regulatory law where this is required. The biggest and most difficult area of transformation is, as things currently stand, mobility. The transition to CO2 free mobility is a huge challenge. We all know that producing batteries and electric cars doesn’t reduce CO2 emissions by itself if not all of the battery’s components are produced such that they are CO2 neutral. That means that we still have a vast amount of work to do in this area. We want to go down the path of innovation in such a way that we ourselves make innovations available. There is, for example, a surcharge on the price of electricity. We have the highest electricity prices in Europe because we’re promoting renewable energies and reflecting these costs in the price of electricity. Each year, Germany’s citizens spend 30 billion euros on subsidies for this electricity because it isn’t yet competitive. However, this has resulted in the fact that we, in the area of technologies at any rate, have come very close to competitiveness in the wind and solar energy sector and are now able to sell and implement these technologies in developing countries because they don’t have to shoulder innovation and development costs. This is enabling countries that are poorer but which have a much lower footprint with regard to CO2 emissions to enter this new era more swiftly. Germany is now spending twice as much money as in 2014 – four billion euros per year – on investments in international climate protection. So, ladies and gentlemen, we may ask ourselves: how are things developing outside of Europe? In Europe, there is always more or less a foundation for prosperity. Yet – and this is something I have often talked about in Germany – it will be difficult to ensure that everyone is taken on board and that we do not leave any large, reluctant groups behind. But if we compare this with many other regions around the world, then we know how much more difficult it is to achieve progress in those places – because, at the same time, they are struggling with war and peace, as well as difficult economic conditions; and because, in places like Africa and also Asia, they must already grapple with the effects of climate change before they can begin to be sufficiently technologically equipped and use the right methods. All around the world, people appear to be realising that the digital transformation and challenges in connection with our use of the earth’s resources are bringing dramatic change – whether we admit it or not. However, in recent years, this has also led to more and more countries looking inward. Also, tensions between the world’s regions have not exactly decreased. That is what makes a multipolar environment so challenging – precisely because there is tension between the poles and these are constantly changing in strength. If we look at China’s GDP thirty years ago, it was much lower than Germany’s. China overtook us in 2007 – and today China’s economy is much stronger than ours. Of course, the ebb and flow of power causes uncertainty. And this, in turn, creates even more tension. We must bear this in mind and address the issues that arise. Today – in fact, almost as I speak to you now – Holocaust commemoration events are being held in Israel, in Yad Vashem. Germany’s Federal President is there, and he will once again point to the responsibility that we bear for what we brought upon the world. He will also promise that we will do everything in our power to ensure that something like this never occurs again. Today, we can look back on 75 years of peaceful coexistence in Europe. But that is not the case for everyone. The new year was only a few days old when we were all surprised by mounting tensions in Iran and Iraq. We were concerned, and we asked ourselves: what is this leading to, and how can we de escalate? Germany is one of the countries that says: if we have imperfect agreements – and the nuclear agreement with Iran is certainly an imperfect agreement – then let’s not throw away something that’s not perfect before we have something that’s better. That is why we are campaigning to maintain the nuclear agreement. However, we did now trigger the dispute resolution mechanism – because of course we don’t want Iran to get the impression that it is no longer bound by anything. That would send the wrong message. We have seen that we cannot simply disconnect from what’s going on in the world. In 2015, Germany and many other European countries took in a large number of refugees. I have said many times over – including, I believe, right here – that if you ask where mistakes were made, then the mistake in terms of security was not to take in those people who were standing on our doorstep. No, the mistake was to not have paid attention from the very beginning, to have not created conditions that enable people to stay in their home country. In a country like Syria, with just over 20 million inhabitants, half of which have fled their homes – either as internally displaced persons or by going abroad – and when you see that Turkey is hosting some four million Syrian refugees, that Lebanon has become destabilised, to a significant extent also because of the refugees it has taken in, and how Jordan is suffering under the burden it is bearing, then the only conclusion you can draw is that we must, time and again, do everything we can to set peace processes in motion, no matter how difficult this may be. We need to make sure that what we are witnessing in Syria does not repeat itself in Libya. Last weekend, we attempted – and it’s nothing more than that – to find a solution for Libya, before the conflict there becomes a proxy war similar to the one people in Syria are burdened with. With regard to Libya, we are witnessing how the adjacent countries in the Sahel region, which are among the poorest in the world – the people of Mali and Niger, at least most of them, cannot dream of ever travelling to Davos – are now being plagued by terrorism, because Libya is an unstable state and many weapons are pouring in from there. We all must make a joint effort – and Germany is both trying to do its part and must do more – to prevent these countries from becoming completely destabilised. All development efforts and aid run the risk of becoming ineffective if a country like Niger must already now spend 30 percent of its overall income on its own security – in Germany, our discussion is centred on spending a mere two percent on defence – 30 percent of an already very small budget are being spent for this purpose; and even that’s not enough. The terrorists are still better equipped. So of course my hope for these countries, when they ask for help, is that we will fight terrorism there the same way we do on our doorstep – namely, with a broad coalition that also gets support from the United Nations, with a robust mandate. After all, they are willing to fight for their countries. Yet so far, we haven’t managed to also get them the backing of the United Nations. If we look at the significance that Syria took on for us in Europe, that means we need to make an even greater preventive effort and be a force for good – so that we can either prevent migration flows or succeed in promoting orderly migration. This is why I am pleased to announce today that we will continue to participate in international aid efforts – including the Gavi vaccine alliance. Between now and 2025, we will again make available 600 million euros towards fighting diseases, improving medical systems and thereby also promoting stability. At the same time, however, we must of course guarantee security. Because, without security, there can be no development. And without development, there can certainly be no security. Ladies and gentlemen, Germany is part of the European Union; and, as Mr Schwab has pointed out, we will hold the Presidency of the Council of the European Union during the second half of this year. The European Union will undergo substantial change on 31 January. Until now, countries always joined the organisation. Luckily, there are still a few that wish to join. But now one country will be leaving us: the United Kingdom. This means profound change, but we will come to terms with it. It was the will of the British people. We will continue to do everything we can to maintain good, intensive, friendly and good neighbourly relations with the United Kingdom. Europe – and this is in line with Ursula von der Leyen and her new Commission’s goal of being a geopolitical Commission – must certainly speak with a loud, clear voice. I think the declared aim of becoming the first CO2 neutral continent is also a good message for the world. It is equally important to do more in the sphere of development policy and to contribute more to peaceful solutions in this world. During its Presidency, Germany wants to contribute two things in particular that I want to mention here today. First, there will be a summit with African countries, which we will hold in Brussels and at which we will above all address Africa’s agenda. I am very pleased that we will not only be doing things for Africa, but increasingly doing things with Africa. Africa has set itself a development agenda. Last summer, Africa established a free trade zone. What is more, the African Union has held a summit in Niamey, the capital of Niger – which is the poorest country in the world. A decision was taken to jointly establish a single market. This will certainly take some time to accomplish, but it is a brave decision. We should support the Africans in what they envision for their continent, and help them turn this into reality. What we should not do is keep offering up ideas on what their development should look like. We should finally understand that being partners on an equal footing with Africa is not only charitable, but can also be mutually enriching. In Germany, the average age is roughly 45 years – whereas in Niger and Mali it is 15 to 16 years. What does it mean when such a large part of the population is focused on the future? In Germany, we’ve gotten used to the idea that general progress can be slow, and that there is still enough time. In other countries, people are under quite a lot more time pressure. That’s why I say that Europeans only stand to benefit if they focus a little more on Africa and learn from the creativity, motivation and lust for life that people there have, under considerably more difficult circumstances. Second, we will do something that certainly won’t be easy: So far, the European Union has not had a uniform policy on China. For years, everyone saw China as an interesting trading partner. At some point, Central and Eastern European countries formed a group and concluded that, if France, Germany and other big countries are constantly meeting with China and striking big deals, then why don’t we, too, join forces and have regular meetings with China? For the very first time, we want to have an EU China Summit that includes all 27 member states and that will be held in September in Leipzig, Germany. At this event, we want to focus on three main issues. Since 2013, we have been working on an EU China investment agreement. I can only hope that we will succeed in concluding it in 2020. But it’s not certain that we will manage to do that. It will require flexibility on all sides. We will talk about how we can jointly tackle climate change. This is a tremendous opportunity for us, because China, too, is introducing an emissions trading system – that is, market-based mechanisms. If we could interlink the European emissions trading system with that of China, we would have covered a very large part of the world, and this could serve as an example. We also want to examine relations with third countries. Here, the focus is once again on Africa, because China is very active in Africa. We want to step up our engagement, and we hope that we can maybe find common benchmarks that will help the respective countries develop their own economies. We will, of course, also address a number of European issues. We have a Digital Agenda. Just now, during my meeting on the nexus between biotechnology and the digital revolution, I heard again what I’ve heard so many times before: Europe is good, especially on how it handles data – but Europe is far too slow. We must overcome this sluggishness – because if we don’t, we will not become a geopolitical player; we know this is true. However, with 27 member states, that’s not so easy, because each country has a parliament that instructs its Government to pursue certain objectives in Brussels. But we have no reasonable alternative. And that is why we want to help move things forward. As Europeans – and Germany is certainly one of the lead countries on this – we will also work to promote multilateralism and to strengthen multilateral organisations. Of course, everyone is free to conclude trade agreements with anyone they wish; the European Union does just that. Hopefully, we will manage to reach a trade agreement with the United States. But on the whole, I think the most efficient way to create global prosperity is to have well-functioning multilateral organisations. These include, for example, the World Trade Organization. It must be reformed – and on this I agree with the American President – but it must also again become a functioning organisation. The fact that we currently have no workable dispute settlement procedure is basically a sign that the organisation is not functioning well. I will therefore close by repeating the motto under which you are gathering here and now: “Stakeholders for a Cohesive and Sustainable World.” That’s all of us. It includes states and politicians. We should take this task seriously. I think we have opportunities. However, if we feel like we’re faced with too many problems, we must not turn increasingly inward. That would be the completely wrong lesson to draw 75 years after the end of the Second World War. Now I know that simply repeating the same messages over and over again will not make them more convincing. But in my view, this is a good cause to fight for, even though it may be difficult at times. I know that many among you are fighting to achieve the same goal. Thank you very much for the opportunity to speak to you.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 50. Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums am 23. Januar 2020 in Davos
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-50-jahrestreffen-des-weltwirtschaftsforums-am-23-januar-2020-in-davos-1715534
Thu, 23 Jan 2020 14:18:00 +0100
Davos
keine Themen
Meine Damen und Herren, vor allem aber sehr geehrter Herr Prof. Schwab, Sie haben gesagt, dass ich das zwölfte Mal hier bin. Sie haben das 50. Mal das Vergnügen, bei diesem Ereignis zu sein – und dann auch nicht nur für einen Tag –, es vorzubereiten und Menschen zusammenzubringen. Dazu möchte ich Ihnen von ganzem Herzen gratulieren. Das ist etwas Einzigartiges, das hier in den Schweizer Bergen geschaffen wurde. Das Forum hat sich ja selbst das ehrgeizige Ziel gesetzt, den Zustand der Welt zu verbessern, und hat dazu immer wieder Vertreter von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zusammengebracht – nicht nur in Davos, sondern auch an vielen anderen Stellen der Welt. Ich glaube, man kann feststellen, wenn wir unseren Blick einmal fünf Jahrzehnte zurückschweifen lassen, dass die Welt in der Tat auch besser geworden ist. Wir waren vor 50 Jahren mitten im Kalten Krieg. Deutschland war geteilt. Für mich war es nicht absehbar, dass ich einmal hier stehen würde. Inzwischen liegt dieser Kalte Krieg schon 30 Jahre zurück. Aus einer bipolaren Welt hat sich eine multipolare Welt entwickelt, die, wie wir vor 30 Jahren noch nicht absehen konnten, aber auch eine Vielzahl von Problemen hat. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich seit 1970 mehr als verdoppelt. Die Zahl der Menschen, die unter extremer Armut leiden, ist gesunken, obwohl die Weltbevölkerung dramatisch gewachsen ist. Bei der Bekämpfung von Krankheiten – zum Beispiel von Polio – haben wir wirklich gute Fortschritte gemacht. All das wäre durch nationale Alleingänge niemals möglich gewesen, sondern für mich ist es das Ergebnis dessen, dass Menschen, Unternehmen und vor allen Dingen auch Staaten zusammengearbeitet haben. Das ist deshalb wichtig, wenngleich sich natürlich Jahr für Jahr neue Probleme stellen. Wer sich einmal den „Global Risk Report“ des Weltwirtschaftsforums anschaut, der kann sehr schön sehen, weil das ja auch immer farblich unterlegt ist, wie sich die Art der Probleme verändert hat. Ganz nach vorne gerückt sind in den letzten zehn Jahren im Grunde Umweltprobleme. Das Thema Nachhaltigkeit und Kohärenz der Welt sind von größter Bedeutung. Deshalb ist auch Ihr Motto in diesem Jahr „Stakeholders for a Cohesive and Sustainable World“ sicherlich ein Motto, über das es sich zu diskutieren lohnt. Wir reden ja viel darüber, dass der Weltgemeinschaft wenig zusammen gelingt. Aber immerhin ist es ihr gelungen, vor einigen Jahren die „Sustainable Development Goals“ für das Jahr 2030 zu entwickeln und sich darauf zu einigen. Mehr als 180 Länder haben das geschafft. Damit haben wir im Grunde für dieses neue Jahrzehnt auch eine völlig klare Roadmap, weil wir diese SDGs ja erreichen wollen. Allerdings war im vergangenen September auf dem UN-Gipfel, der eine erste Bilanz gezogen hat, klar, dass wir alle Hände voll zu tun haben und es mit dem bisherigen Tempo nicht schaffen werden, alle „Sustainable Development Goals“ wirklich zu erreichen. Deshalb möchte ich mich auch dafür bedanken – Herr Schwab hat mir gerade davon erzählt –, dass eine Vereinbarung mit den Vereinten Nationen darüber getroffen wurde, eine Plattform zum Thema Ozeane einzurichten. Das ist der richtige Weg, weil wir die weltweiten Anstrengungen miteinander verlinken müssen, damit wir auch einen Überblick darüber gewinnen, wie schnell wir vorankommen. Deshalb hat António Guterres als UN-Generalsekretär recht, wenn er sagt: Wir haben jetzt eine „Decade of Action“. Wir müssen handeln; und das zum Beispiel im Bereich der Artenvielfalt – die allermeisten Länder beschäftigen sich damit –, und vor allen Dingen – das spielt ja beim Weltwirtschaftsforum in diesem Jahr auch eine Riesenrolle – im Bereich des Klimaschutzes. Die Frage der Erreichung der Ziele des Pariser Abkommens könnte eine Frage des Überlebens auch unseres Kontinents sein. Deshalb gibt es Handlungsdruck, weil wir ja wissen, dass wir die Ziele von Paris – vor allen Dingen das Ziel, dafür zu sorgen, dass die Erderwärmung 1,5 Grad nicht überschreitet – mit den jetzigen Verpflichtungen nicht erreichen werden. Deshalb will ich mich in meinem ersten Teil auch darauf konzentrieren, was das bedeutet. Das bedeutet nämlich, dass die Welt gemeinsam handeln muss. – Das ist ein internationales Abkommen. Leider sind nicht mehr alle dabei, aber viele. – Und das bedeutet auch, dass jedes Land seinen Beitrag dazu leisten muss. Wenn wir auf Deutschland blicken, das Land, das ich hier vertrete, dann können wir nach 30 Jahren Deutscher Einheit sagen: Wir sind in einer Situation, in der es uns vergleichsweise gut geht. Wir hatten noch nie so wenige Arbeitslose. Wir geben viel Geld für Forschung und Entwicklung aus. Wir haben unsere Investitionen gesteigert. Aber das alles spiegelt ja nicht das wider, was uns in den nächsten 30 Jahren gelingen muss. Denn der Auftrag, bei einer Erderwärmung von weniger als 1,5 Grad gegenüber der Zeit vor der Industrialisierung zu bleiben, bedeutet ja zum Beispiel für uns in Europa nicht mehr und nicht weniger, als dass wir bis 2050 klimaneutral sein müssen. Klimaneutralität – die allermeisten Länder der Europäischen Union haben sich dazu verpflichtet. Die Kommissionspräsidentin war gestern hier und hat Ihnen den „Green Deal“ vorgestellt. Europa will der erste Kontinent sein, der CO2-frei, also emissionsfrei, lebt. Aber, meine Damen und Herren, das sind natürlich Transformationen von gigantischem, historischem Ausmaß. Diese Transformation bedeutet im Grunde, die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, in den nächsten 30 Jahren zu verlassen – die ersten Schritte sind wir schon gegangen – und zu völlig neuen Wertschöpfungsformen zu kommen, die natürlich auch wieder eine industrielle Produktion enthalten und die vor allem durch die Digitalisierung verändert worden sind. Wir haben ja eine zweite Riesentransformation zu bewältigen. Und wir hoffen, dass sich die Transformation zur CO2-Emissionsfreiheit mit der Digitalisierung verstärken wird und die Digitalisierung das erleichtern kann. Ich möchte Ihnen einen kleinen Augenblick lang davon erzählen, was wir in Deutschland tun und was das auch mit Gesellschaften macht. Dieses Ziel der Klimaneutralität ist leicht aufgeschrieben. Dem verpflichtet man sich relativ leicht, wenn man in Städten lebt. Dort geht das etwas einfacher, als wenn man auf dem Land lebt und vielleicht Landwirtschaft betreibt oder lange Wege zur Arbeit zurückzulegen hat oder eine Windkraftanlage vor der Haustür hat. Wir haben in den letzten Jahren erstens die Entscheidung getroffen, bis 2022 aus der Kernenergie auszusteigen, wenn auch aus anderen Gründen der Nachhaltigkeit, nämlich weil wir glauben, dass das Abfallmanagement für die Kernenergie nicht nachhaltig ist und auch die Risiken zu groß sind. Zweitens haben wir uns entschieden, bis spätestens 2038 – wenn möglich bis 2035 – aus der Kohleenergieerzeugung auszusteigen. Deutschland hat heute noch einen sehr hohen Kohleanteil – etwa 30 Prozent – an der Stromgewinnung. Der Ausstieg ist daher ein gewaltiger Schritt, insbesondere für die Menschen, die Braunkohle abbauen und die strukturell in eine völlig neue Lage kommen. Das ist aber nur der kleinere Teil. Wenn wir uns überlegen, dass wir die Energieversorgung, also erst einmal die Stromversorgung, auf CO2-Emissionsfreiheit umstellen, dann ist das eine Aufgabe. Aber wenn wir uns den Primärenergieverbrauch Deutschlands anschauen, dann sehen wir, dass der Strom 22 Prozent ausmacht und 78 Prozent unseres Energieverbrauchs in das Heizen, in die Mobilität oder in die industrielle Produktion gehen. Jetzt bleiben wir einmal einen Augenblick beim Strom. Da haben wir uns vorgenommen, bis 2030 65 Prozent, also rund zwei Drittel, mit erneuerbaren Energien zu erzeugen. Das ist für ein Land, in dem die Sonne nicht so häufig scheint und der Wind auch recht unregelmäßig weht, recht viel. Das bedeutet, völlig neue Leitungsstrukturen aufzubauen, weil die Energieerzeugungsquellen natürlich zumeist woanders liegen und nicht am Ort des Energieverbrauchs. Außerdem haben wir uns vorgenommen, die CO2-Emissionen bis 2030 um insgesamt 55 Prozent zu senken, um dann 2050 bei 95 Prozent – was man gemeinhin als Klimaneutralität bezeichnet – anzukommen. Die Umstellung der Stromerzeugung ist schon ein Riesenkraftakt. Wahrscheinlich wird man es auch gar nicht schaffen, bei der Stromerzeugung auf einen Anteil von 100 Prozent erneuerbarer Energien zu kommen – wir liegen jetzt bei 42 Prozent durch Ressourcen im eigenen Land –, weil bei uns die Energiekapazität, also die Effizienz, mit der man Strom aus Wind und Sonne erzeugen kann, nicht sehr hoch ist. Es gibt Regionen in der Welt, in denen das viel besser geht. Aber es bleiben immer noch 78 Prozent für industrielle Produktion, Mobilität und Wohnen. Dabei wird das Thema „grüner Wasserstoff“ eine Riesenrolle spielen, obwohl wir technologieoffen an alles herangehen. Das wird auch völlig neue Verwebungen auf der Welt mit sich bringen, weil man „grünen Wasserstoff“ an vielen anderen Stellen außerhalb Europas sehr viel besser erzeugen kann. Aber auch in Europa werden wir das tun. Das bedeutet dann – deshalb bin ich sehr froh, dass man hier von vielen Industrieunternehmen hört, dass sie in die Klimaneutralität einsteigen wollen –, dass wir die Prozesse etwa in der Stahlproduktion, im Maschinenbau oder anderem vollkommen umstellen müssen. Ich hatte vorhin ein sehr interessantes Gespräch über die Möglichkeiten der Biotechnologie. Diese wird natürlich auch eine Riesenrolle bei der Transformation all unserer Wertschöpfungsketten spielen. Das heißt also, wir werden dramatische Veränderungen erleben, ohne dass wir die Produkte, an die wir heute gewöhnt sind, aus der Hand geben müssen. Aber all das muss neu gedacht werden. Dafür müssen die staatlichen Rahmenvoraussetzungen geschaffen werden. Und auch die Wirtschaftsunternehmen müssen dazu bereit sein, sich auf einen innovativen Pfad zu begeben. Jetzt darf ich Ihnen von Deutschland erzählen. Wir sind ja eigentlich ein relativ friedliches Land. Aber es gibt schon erhebliche gesellschaftliche Konflikte zwischen denen, die finden, dass es oberste Dringlichkeit hat, sich auf diesen Weg zu machen, und denen, die das nicht finden. Ich sage noch einmal: Bis 2050 sind es 30 Jahre. Ich kann mich gut an die deutsche Wiedervereinigung erinnern, die vor 30 Jahren stattfand. Man kann in 30 Jahren viel schaffen. Aber ich weiß auch, wie knapp 30 Jahre sind, wenn man eine digitale Transformation und eine Wertschöpfungstransformation im Sinne völlig anderer energetischer Grundlagen schaffen will. Deshalb drängt die Zeit. Deshalb müssen wir, die Älteren, auch aufpassen – ich bin 65 Jahre alt –, dass wir die Ungeduld der Jugend positiv und konstruktiv aufnehmen und verstehen, dass sie einen anderen Lebenshorizont haben, der weit über 2050 hinaus reicht. Damit stellt sich natürlich die Frage, was man dann an Artenvielfalt und an Klimaverträglichkeit auf dieser Welt noch haben wird. Deshalb sind wir zum Handeln aufgefordert. Jetzt geht es darum, neue gesellschaftliche Konflikte zu überwinden. Denn es gibt auch in Deutschland eine große Gruppe von Menschen, die das Ganze nicht für so dringlich hält. Die ist noch nicht davon überzeugt, dass das das Allerwichtigste ist. Wie nehmen wir die mit? Demokratien haben die Aufgabe, den einzelnen Menschen mitzunehmen und ihn für etwas zu begeistern. Dabei besteht für mich das größte gesellschaftliche Spannungsfeld zwischen Stadt und Land, weil der ländliche Raum sehr viel mehr dazu beiträgt, die Veränderungen sozusagen zu ertragen, und der städtische Raum sehr viel schneller die Veränderungen für sich nutzen kann, weil die Infrastrukturen in den Städten besser sind. Man kann zum Beispiel auf individuelle Mobilität in einer Stadt sehr viel einfacher als auf dem Land verzichten. Wie versöhnt man diejenigen, die an den Klimawandel einfach nicht glauben wollen und die so tun, als wäre das eine Glaubensfrage? Für mich aber ist das eine klassische Frage einer angesichts wissenschaftlicher Daten völlig klaren Evidenz. Aber da wir in einer Zeit leben, in der Fakten mit Emotionen konkurrieren, kann man immer versuchen, durch Emotionen eine Antifaktizität zu schaffen, die dann genauso wichtig ist. Das heißt also, wir müssen die Emotionen mit den Fakten versöhnen. Das ist vielleicht die größte gesellschaftliche Aufgabe. Um diese anzugehen, setzt zumindest voraus, dass man miteinander spricht. Die Unversöhnlichkeit und die Sprachlosigkeit, die zum Teil zwischen denen herrschen, die den Klimawandel leugnen, und denen, die ihn sehen und dafür kämpfen, dass wir ihn bewältigen, müssen überwunden werden. Hier sprechen viele Menschen miteinander, die sonst selten miteinander sprechen, aber es sprechen nicht ausreichend viele Menschen miteinander. Wenn wir in eine Welt hineingehen, in der die Sprachlosigkeit vielleicht manchmal noch größer als im Kalten Krieg ist, als es ziemlich geordnete Austauschmechanismen gab, dann haben wir ein Problem. Deshalb plädiere ich dafür, dass man, wenn es auch noch so schwerfällt, sich austauscht – auch zwischen Gruppen mit den kontroversesten Meinungen –, weil man ansonsten nur in seinen Vorurteilen und seinen Blasen lebt. Das macht sich im digitalen Zeitalter ja noch viel besser als in früheren Zeitaltern. Das könnte zum Verhängnis werden; und das muss überwunden werden. Ich bin überzeugt, dass der Preis des Nichthandelns sehr viel höher als der des Handelns wäre. Wir setzen auf Innovation, auf Forschung. Wir glauben, dass die Industrieländer dabei eine Bringschuld haben. Die G20-Mitgliedstaaten zum Beispiel erzeugen 80 Prozent der CO2-Emissionen. Das heißt, wir haben angesichts des Budgets an CO2, das wir schon aufgebraucht haben, eine technologische Verpflichtung dazu, auch innovative Wege zu gehen. Nun habe ich mich gefreut, dass der „Bloomberg Innovation Index“ Deutschland zu meiner Überraschung, wie ich ganz offen sage, 2020 auf Platz eins gesetzt hat. Wir sind nicht so von der Sorte, dass wir den ganzen Tag darüber sprechen, was bei uns super läuft, denn meistens halten wir uns mit dem auf, was nicht so gut läuft. Da sind die Kulturen unterschiedlich. Aber wenn es um Bloomberg geht, dann können wir das ja ruhig einmal zitieren. Die gute Platzierung ist interessanterweise wesentlich darauf zurückführen, dass sich unsere Automobilindustrie, die ja ein Kernbereich der deutschen Wirtschaft ist, in einer Transformationsphase mit sehr hohen Investitionen in Forschung und Entwicklung befindet. Ob wir schnell genug sind, wird sich zeigen. Die Risiken werden in dieser Studie auch gleich aufgezeigt. Wir setzen so weit wie möglich auf marktwirtschaftliche Mechanismen, aber natürlich auch auf Ordnungsrecht, wenn notwendig. Unser größter und schwierigster Bereich der Transformation ist, wie es im Augenblick aussieht, die Mobilität. Der Umstieg auf eine CO2-freie Mobilität ist eine Riesenherausforderung. Wir wissen ja alle: Allein durch die Herstellung einer Batterie und eines E-Autos sinken die CO2-Emissionen noch nicht, wenn man nicht alle Komponenten für eine Batterie so herstellt, dass sie CO2-frei sind. Das heißt, es gibt hier noch riesige Aufwendungen. Wir wollen den Weg der Transformation so gehen, dass wir auch selbst Innovationen bereitstellen. Es gibt zum Beispiel einen Aufschlag auf den Strompreis. Wir haben mit den höchsten Strompreis in Europa, weil wir die erneuerbaren Energien fördern und das auf den Strompreis umlegen. Pro Jahr geben die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands 30 Milliarden Euro dafür aus, diesen Strom zu subventionieren, weil er noch nicht marktfähig ist. Das hat aber dazu geführt, dass wir zumindest bei den Technologien in Sachen Wind- und Sonnenenergie ganz nahe an die Marktfähigkeit herangekommen sind und diese Technologien nunmehr auch in Entwicklungsländern verkaufen und anwenden können, weil sie nicht die Erfindungs- und Entwicklungskosten tragen müssen. Damit wird Ländern, die ärmer sind, die aber auch einen viel geringeren Fußabdruck in Bezug auf CO2-Emissionen hinterlassen haben, ermöglicht, schneller in die neue Zeit hineinzukommen. Deutschland gibt gegenüber 2014 nun doppelt so viel Geld aus – vier Milliarden Euro pro Jahr –, um in den internationalen Klimaschutz zu investieren. Meine Damen und Herren, damit sind wir auch schon bei der Frage: Wie entwickelt sich das nun außerhalb Europas? In Europa gibt es mehr oder weniger Wohlstandsvoraussetzungen. Es wird schwierig werden – ich habe darüber in Deutschland viel gesprochen –, die Menschen mitzunehmen und sozusagen keine retardierenden großen Gruppen zurückzulassen. Aber wenn wir uns manch andere Regionen der Welt anschauen, dann wissen wir, um wie viel schwieriger es ist, dort die Dinge voranzubringen, weil das dann auch oft etwas mit Krieg und Frieden und mit einer schwierigen wirtschaftlichen Situation zu tun hat und weil dort, wenn man sich Afrika oder auch Asien anschaut, zum großen Teil auch schon die Folgen von Klimawandel zu überwinden sind, bevor man überhaupt technologisch in die Lage versetzt wird, die richtigen Methoden anzuwenden. Vielleicht ist es ja so, dass überall auf der Welt alle spüren, dass sich durch die Digitalisierung und die Herausforderungen der Nutzung unserer Ressourcen auf der Erde etwas dramatisch verändert – ob man es nun anerkennt oder nicht. Das hat in den letzten Jahren doch dazu geführt, dass sich mehr und mehr Länder mehr auf sich selbst konzentrieren und dass die Spannungen zwischen den verschiedenen Regionen der Welt ja nicht unbedingt kleiner geworden sind. Deshalb ist Multipolarität natürlich eine schwierige Aufgabe, eben weil sich die Pole in einem Spannungsverhältnis befinden und weil sich die Stärken der Pole ja auch permanent ändern. Wenn wir uns einmal anschauen, wie das Bruttoinlandsprodukt von China vor 30 Jahren aussah, so war es deutlich geringer als das von Deutschland. 2007 hat China uns überholt; und heute ist China massiv stärker. Dieses Wachsen und Abnehmen der verschiedenen Pole verursachen natürlich Unsicherheit. Und daraus entstehen wieder Spannungen. Diese müssen wir mit bedenken und mit denen müssen wir uns herumschlagen. Heute, fast genau zu dieser Stunde, finden in Israel in Yad Vashem die Feiern zum Gedenken an den Holocaust statt. Der deutsche Bundespräsident ist dort und wird für Deutschland noch einmal auf unsere Schuld, die wir über die Welt gebracht haben, hinweisen. Er wird aber auch versprechen, dass wir alles tun wollen, dass sich so etwas nicht wiederholt. Wir blicken jetzt auf 75 Jahre friedliches Zusammenleben in Europa zurück. Aber nicht bei allen ist das so. Wir alle sind ja in den ersten Tagen dieses Jahres aufgeschreckt, als wir plötzlich die Spannungen im Iran und Irak gesehen haben. Wir haben uns Sorgen gemacht und gefragt: Wo wird das enden; wie kann man deeskalieren? Deutschland gehört zu den Ländern, die sagen: Wenn wir unvollkommene Abkommen haben – das Nuklearabkommen mit dem Iran ist sicherlich ein unvollkommenes Abkommen –, dann lasst uns trotzdem das Unvollkommene nicht wegwerfen, bevor wir nicht etwas Besseres haben. Deshalb setzen wir uns dafür ein, das Nuklearabkommen zu erhalten. Aber wir haben jetzt auch den Streitschlichtungsmechanismus ausgelöst, weil der Iran natürlich nicht den Eindruck haben darf, dass er sich an nichts mehr halten muss. Das wäre die falsche Botschaft. Wir haben erlebt, dass wir uns nicht von den Ereignissen der Welt abkoppeln können. Deutschland hat 2015 zusammen mit vielen anderen europäischen Ländern sehr viele Flüchtlinge aufgenommen. Ich habe immer wieder gesagt – ich glaube, auch an diesem Ort –: Wenn man nach dem Fehler fragt, dann war der Fehler mit Sicherheit nicht, Menschen aufzunehmen, die vor unseren Türen standen, sondern der Fehler war, im Vorhinein nicht darauf geachtet zu haben, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass Menschen in ihrer Heimat bleiben konnten. Wenn ein Land wie Syrien mit knapp über 20 Millionen Einwohnern eine Bevölkerung hat, die zur Hälfte geflüchtet ist – entweder als Binnenflüchtlinge oder ins Ausland –, wenn man sieht, dass die Türkei an die vier Millionen Flüchtlinge aus Syrien beherbergt, dass der Libanon ganz wesentlich auch durch die Flüchtlinge instabil geworden ist und wie Jordanien darunter leidet, dann kann man nur sagen: Wir müssen immer wieder alles tun, um Friedensprozesse in Gang zu setzen, selbst wenn dies noch so schwierig ist. Wir müssen schauen, dass sich das, was wir in Syrien sehen, in Libyen nicht wiederholt. Wir haben am letzten Wochenende einen Versuch gemacht – mehr ist es ja nicht –, für Libyen eine Lösung zu finden, bevor es einen ähnlichen Stellvertreterkrieg gibt, wie er auf den Schultern der syrischen Menschen lastet. Wir sehen in Bezug auf Libyen, dass die Länder in der angrenzenden Sahelzone, die zu den ärmsten Ländern dieser Welt zählen – in Mali und Niger leben Menschen, die, jedenfalls die allermeisten, gar nicht davon träumen können, jemals nach Davos zu kommen –, jetzt vom Terrorismus überrollt sind, weil Libyen ein instabiler Staat ist und viele Waffen von dort herkommen. Wir alle miteinander müssen schauen – Deutschland versucht, seinen Beitrag zu leisten; und er wird noch größer werden müssen –, dass diese Länder nicht völlig destabilisiert werden. Alle Entwicklungsanstrengungen und Entwicklungshilfen laufen Gefahr, nicht mehr wirken zu können, wenn ein Land wie Niger schon 30 Prozent seines gesamten Einkommens für seine Sicherheit ausgeben muss. – Wir in Deutschland reden gerade einmal von über zwei Prozent für die Verteidigungsausgaben. – 30 Prozent des Haushalts, der ohnehin sehr gering ist, werden ausgegeben; und es reicht immer noch nicht. Die Terroristen sind immer noch besser ausgerüstet. Deshalb wünsche ich mir natürlich, dass diese Länder, wenn sie darum bitten, dass wir die Terrorismusbekämpfung genauso anlegen, wie wir es vor unserer Haustür gemacht haben, nämlich mit einer groß angelegten Koalition, dann auch von den Vereinten Nationen unterstützt werden und sie ein robustes Mandat bekommen. Sie sind ja bereit, für ihre Länder zu kämpfen. Aber wir haben bis jetzt noch nicht geschafft, ihnen auch die Unterstützung der Vereinten Nationen zukommen zu lassen. Wenn wir uns anschauen, was Syrien für uns in Europa bedeutet hat, dann bedeutet das, dass wir uns noch viel mehr präventiv einsetzen müssen, um Gutes zu tun, um Flucht- und Migrationsbewegungen zu verhindern oder eine geordnete Migration hinzubekommen. Deshalb darf ich heute hier ankündigen, dass wir uns an internationalen Hilfsaktionen weiterhin beteiligen werden – auch an der Impfallianz Gavi. In der Zeit bis 2025 werden wir wieder 600 Millionen Euro zur Verfügung stellen, um Krankheiten zu bekämpfen, um medizinische Systeme zu verbessern und damit auch Stabilität zu fördern. Gleichzeitig müssen wir natürlich auch Sicherheit garantieren. Denn ohne Sicherheit gibt es keine Entwicklung – und ohne Entwicklung gibt es mit Sicherheit auch keine Sicherheit. Meine Damen und Herren, Deutschland ist Teil der Europäischen Union; wir werden – Herr Schwab hat darauf hingewiesen – im zweiten Halbjahr die EU-Ratspräsidentschaft innehaben. Die Europäische Union wird sich am 31. Januar substanziell verändern. Bis jetzt hat es immer Länder gegeben, die ihr beigetreten sind. Es gibt glücklicherweise auch noch ein paar Länder, die ihr beitreten wollen. Aber ein Land verlässt uns; und das ist Großbritannien. Das ist schwerwiegend, aber wir finden uns natürlich damit ab. Es ist der Wille der britischen Bevölkerung gewesen. Wir werden auch alles dafür tun, gute, intensive, freundschaftliche und nachbarschaftliche Beziehungen mit Großbritannien zu erhalten. Europa muss – das entspricht auch dem Anspruch, den Ursula von der Leyen und die neue Kommission formuliert haben, eine geopolitische Kommission zu werden – sicherlich seine Stimme klarer erheben. Ich finde, die Aussage, der erste CO2-emissionsfreie Kontinent zu werden, ist auch eine gute Aussage für die Welt. Es ist genauso wichtig, mehr im Entwicklungsbereich zu tun und mehr zu den Friedenslösungen dieser Welt beizutragen. Deutschland will während seiner Präsidentschaft seinen Beitrag dazu vor allem durch zwei Dinge leisten, die ich hier nennen möchte. Das ist einmal ein Gipfel mit den afrikanischen Staaten, den wir in Brüssel abhalten werden und auf dem wir vor allen Dingen auf Afrikas Agenda eingehen werden. Ich bin sehr froh, dass wir nicht mehr nur etwas für Afrika tun, sondern dass wir zunehmend etwas mit Afrika tun. Afrika hat sich eine Entwicklungsagenda gegeben. Afrika hat im vergangenen Sommer eine Freihandelszone gegründet. Im Übrigen hat der Kongress der Afrikanischen Union in Niamey, der Hauptstadt von Niger, stattgefunden, das das ärmste Land der Welt ist. Man hat sich entschieden, einen gemeinsamen Binnenmarkt zu entwickeln. Das wird sicherlich noch eine Weile dauern, aber das ist eine mutige Entscheidung. Wir sollten auf die Vorstellungen der Afrikaner eingehen, die sie für ihren Kontinent haben, und ihnen dabei helfen. Aber wir sollten nicht immer wieder unsere Vorstellungen von ihrer Entwicklung einbringen. Wir sollten endlich verstehen, dass das Miteinander mit Afrika nicht nur eine karitative Herangehensweise ist, sondern dass das etwas sein kann, das uns gegenseitig bereichert. In Deutschland beträgt das Durchschnittsalter der Bevölkerung rund 45 Jahre, in Niger und Mali beträgt das Durchschnittsalter 15 bis 16 Jahre. Was bedeutet das, wenn es so einen großen Teil von Menschen gibt, die auf die Zukunft konzentriert sind? Wir in Deutschland haben uns daran gewöhnt, dass alles langsam gehen kann und immer noch ausreichend Zeit ist. In anderen Ländern bekommt man ein bisschen mehr Druck. Deshalb sage ich: Die Europäer können nur gewinnen, wenn sie sich etwas mehr mit Afrika und mit der Kreativität, der Motivation und der Freude am Leben dort unter viel schwierigeren Bedingungen befassen. Wir werden als Zweites etwas machen, das sicherlich keine ganz einfache Sache ist. – Die Europäische Union verfolgt bislang keine einheitliche China-Politik. Jeder hat China über die Jahre als einen interessanten Handelspartner angesehen. Mittel- und osteuropäische Staaten haben sich irgendwann zusammengeschlossen und haben gesagt: Frankreich, Deutschland, die Großen treffen sich permanent mit China und machen ihre großen Geschäfte; jetzt wollen wir uns auch einmal zusammenschließen und uns auch permanent mit China treffen. – Wir wollen zum allerersten Mal einen EU-China-Gipfel mit allen 27 Mitgliedstaaten abhalten, der im September in Leipzig in Deutschland stattfinden wird. Dort wollen wir uns mit drei Themen beschäftigen. Wir arbeiten seit 2013 an einem Investitionsschutzabkommen. Ich kann nur hoffen, dass es uns gelingt, 2020 damit fertig zu werden. Es ist aber nicht sicher, ob wir das schaffen. Das setzt natürlich Flexibilität auf beiden Seiten voraus. Wir werden darüber sprechen, wie wir den Klimaschutz gemeinsam angehen können. Das ist eine Riesenchance für uns, weil China auch ein Emissionshandelssystem einführt, also marktwirtschaftliche Mechanismen. Wenn wir das europäische Emissionshandelssystem mit dem chinesischen verknüpfen könnten, hätten wir ein Riesenstück der Welt abgedeckt und könnten damit auch Vorbild sein. Wir wollen uns auch mit Drittstaatenbeziehungen beschäftigen. Dabei geht es auch zum Beispiel wieder um Afrika, weil China in Afrika sehr aktiv ist. Wir wollen aktiver sein und hoffen, dass wir dort vielleicht auch gemeinsame Maßstäbe finden, mit denen wir dann den betreffenden Ländern helfen, sich selbst zu entwickeln. Wir werden uns natürlich auch mit vielen innereuropäischen Fragen befassen. Wir haben eine Digitalagenda. Ich habe gerade bei meiner Diskussion über die Biotechnologie im Zusammenhang mit der Digitalisierung wieder das gehört, was wir immer zu hören bekommen: Europa ist gut, was gerade auch den Umgang mit Daten anbelangt; aber Europa ist viel zu langsam. Diese Langsamkeit müssen wir überwinden, denn sonst werden wir kein geopolitischer Faktor werden; das wissen wir. Aber das ist mit 27 Mitgliedstaaten nicht ganz einfach, wenn es in jedem Land ein Parlament gibt, das ihm Aufgaben mit auf die Reise nach Brüssel gibt. Aber wir haben im Grunde keine Alternative; und deshalb wollen wir uns dabei einbringen. Wir werden uns als Europäer – Deutschland ist ganz vorne mit dabei – natürlich für Multilateralismus und für multilaterale Organisationen einsetzen. Jeder kann zwar mit jedem Handelsabkommen abschließen; und das tut die Europäische Union auch. Hoffentlich gelingt uns das auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Aber insgesamt sehe ich die effizienteste Art und Weise, Wohlstand für die Welt zu erzeugen, immer noch in funktionierenden multilateralen Organisationen. Dazu gehört zum Beispiel die Welthandelsorganisation. Diese muss reformiert werden – da stimme ich dem amerikanischen Präsidenten zu –, aber sie muss wieder funktionsfähig gemacht werden. Dass wir im Augenblick keine tagenden Schiedsgerichte haben, ist im Grunde ein Ausdruck des Nichtfunktionierens. Deshalb schließe ich mit dem Motto, das Sie hier in diesen Tagen bewegt: „Stakeholders for a Cohesive and Sustainable World.“ Das sind wir alle. Das sind auch Staaten, das ist die Politik. Wir versuchen, diesen Auftrag ernst zu nehmen. Ich glaube, wir haben Chancen. Aber wir dürfen uns vor lauter Problemen nicht immer weiter jeweils auf uns selbst zurückziehen. Das wäre 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die völlig falsche Lehre. Nun weiß ich, dass allein das Wiederholen der immer gleichen Botschaften noch keine Überzeugungskraft verleiht. Aber es ist aus meiner Sicht eine lohnende Sache, sich dafür einzusetzen, auch wenn es manchmal schwierig ist. Ich weiß, dass unter Ihnen viele sind, die für das gleiche Ziel arbeiten. Herzlichen Dank, dass ich Ihnen meine Gedanken darlegen durfte.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Verleihung des Henry A. Kissinger Preises am 21. Januar 2020 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-verleihung-des-henry-a-kissinger-preises-am-21-januar-2020-in-berlin-1714694
Tue, 21 Jan 2020 19:32:00 +0100
Berlin
keine Themen
Lieber Henry Kissinger, lieber John Kerry, lieber Gerhard Casper, meine Damen und Herren, es ist natürlich eine große Ehre, aus den Händen der American Academy diesen Preis zu bekommen, der ja erst einmal Ausdruck der außenpolitischen Kraft seines Namensgebers, Henry Kissinger, ist. Wenn man sich einmal überlegt, seit wie vielen Jahrzehnten er Außenpolitik entweder aktiv oder durch unglaublich prägnante Einschätzungen prägt, dann wird deutlich, dass es eine wirklich große Ehre für mich und ein sehr bewegendes Ereignis ist, diesen Preis in seiner Anwesenheit zu bekommen. Es ist eine Tatsache, dass das, was man in den Vereinigten Staaten von Amerika „bipartisan“ nennt – dass Gespräche unter Menschen möglich sind, die früher vielleicht gegeneinander demonstriert, dann aber erkannt haben, dass es sehr viel Gemeinsames gibt –, auch etwas ist, das die American Academy auszeichnet. Vielleicht ist ja eines der Dinge, die wir heute am allermeisten brauchen, der Erhalt der Gesprächsfähigkeit. Jemand hat heute aus Davos geschrieben, dass dort die einen sind, die an den Klimawandel glauben, und die anderen, die nicht daran glauben. Aber das Allerschlimmste ist, dass alle über ihre jeweiligen Meinungen reden, aber überhaupt nicht mehr miteinander reden. Früher hatten wir eine Welt des Kalten Krieges, in der wenig, aber immerhin noch miteinander geredet wurde. Heute mache ich mir manchmal Sorgen darüber, dass bei sehr viel mehr Freiheit auf der Welt die Fähigkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen, nicht gewachsen ist. Deshalb bin ich eben so dankbar dafür, dass John Kerry hier die Laudatio gehalten hat. Wir haben gemeinsame politische Abschnitte miteinander durchschritten und in einem guten Miteinander auch manches geschafft. Bei manchem gibt es wieder Rückfälle; das ist das Leben. Ich habe schon in der DDR von Lenin gelernt: Zwei Schritte vorwärts, einen zurück – wenn es gut läuft; es kann auch mal umgekehrt sein. Aber wir alle betten uns in den Lauf der Geschichte ein. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich Henry Kissinger das erste Mal begegnet bin. Aber Folgendes, finde ich, ist so typisch für ihn: Er war – und ist es bis heute – einfach immer neugierig. Wir sind in Deutschland in einem ganz spannenden Jahr. Wir bewegen uns nämlich zwischen dem 30. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November des vorigen Jahres und dem 30. Jahrestag der Wiederherstellung der Deutschen Einheit am 3. Oktober dieses Jahres. Und plötzlich kommen ganz viele Dinge wieder hoch – bei Menschen, die diese Einigungsphase durchlebt haben, insbesondere in den neuen Bundesländern, in der ehemaligen DDR. Und wir fangen wieder an zu fragen: Haben wir genug miteinander gesprochen, haben wir uns genug ausgetauscht, verstehen wir genug von dem jeweiligen Leben? Und ich sage: Ich hätte es gut gefunden, wenn sich mehr so verhalten hätten wie Henry Kissinger zu Beginn meiner politischen Arbeit als Frauen- und Jugendministerin in der ersten gemeinsamen Regierung unter Helmut Kohl im wiedervereinigten Deutschland, wenn sich also mehr dafür interessiert hätten, wie ich mich denn so fühle in dieser gesamtdeutschen Regierung – sie war ziemlich westdeutsch geprägt; das darf man sagen. Und es gibt Leute in Deutschland, die sagen, ich hätte die Transformation immer noch nicht geschafft. Aber die allermeisten meinen, glaube ich, dass ich auch als Ostdeutsche eine gute Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland sein darf, auch wenn man politisch unterschiedlicher Meinung ist. Nun haben sich die Dinge in den letzten 30 Jahren sehr gewandelt. Damals gab es ja ein gemeinsames transatlantisches Verständnis, dass die Deutsche Einheit nur deshalb stattfinden konnte – und ich bin zutiefst überzeugt davon, dass Freiheit und Demokratie in ganz Europa nur deshalb siegen konnten –, weil es viele standhafte Menschen gab, die gesagt hatten: Wir werden nicht um des lieben Friedens willen irgendein Appeasement machen, sondern werden für Freiheit, Demokratie und Frieden eintreten. Dazu zählten Konrad Adenauer als erster Bundeskanzler, Helmut Kohl, der noch kurz vor dem Fall der Mauer Erich Honecker empfangen hat, und vor allem auch die Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, insbesondere George Bush senior. – Ich habe mich natürlich auch über das Grußwort von George Bush junior heute gefreut. – Wir waren nicht immer einer Meinung. Als es zum Beispiel um Fragen zur NATO, Ukraine und zu Georgien ging, hatten wir harte Kämpfe. Nichtsdestotrotz haben wir auch da sehr eng zusammengearbeitet. Damals schien es, als sei die Welt auf dem Pfad zu mehr Freiheit, zu mehr Demokratie, zu mehr Menschenrechten. Davon waren wir alle erfüllt; und das hat auch die transatlantische Partnerschaft in den ersten Jahren nach dem Kalten Krieg sehr belebt. Dann aber kamen große Herausforderungen, weil sich die Welt als Ganzes doch nicht so verhalten hat, wie man es sich vielleicht erhofft hatte und wie es manche in Büchern schon als Ende der Geschichte voreilig beschrieben hatten. Mit Blick auf den westlichen Balkan musste sich Deutschland entscheiden, in mehr Verantwortung zu gehen. Das haben wir damals in der Opposition gefordert, dem war dann auch die rot-grüne Regierung unter Bundeskanzler Schröder gefolgt. Später kam es zum Irak-Konflikt, der Europa und die NATO gespalten hat. Und wenn man ehrlich ist, dann stellt man fest, dass Deutschland seitdem sehr viel mehr Verantwortung übernommen hat. Wir haben gemeinsam in der transatlantischen Partnerschaft auch festgestellt, dass bei weitem nicht alle auf der Welt unsere Werte teilen, sondern es sehr, sehr viele gibt, die ganz andere Vorstellungen haben. Dass das die Gefahr in sich birgt, dass sich jeder wieder zurückzieht und sagt „Jetzt muss ich mich erst mal um mich selber kümmern, weil sich die Welt nicht so gut und so leicht verbessern lässt, wie wir uns das gedacht haben“, darf uns jetzt nicht verschrecken. Aber ich glaube schon, dass wir 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufpassen müssen, dass wir vieles von dem, das mühselig aufgebaut wurde, aber sich vielleicht nicht so schnell zum Ideal entwickelt hat, wie wir dachten – nämlich all die multilateralen Institutionen –, nicht zerschlagen, sondern hüten und pflegen, weil uns bis jetzt noch nichts Besseres eingefallen ist. Natürlich ist es für Menschen, die aus der Zeit des Kalten Krieges kommen, auch eine unglaubliche Herausforderung, dass plötzlich eine politische Ordnung, die dem kommunistischen System sehr viel näher steht als einem demokratischen System – und ich meine, Henry Kissinger war der Erste, der ein großes Buch über China geschrieben hat –, dass ein solches Land plötzlich ökonomisch so erfolgreich ist. Im Kalten Krieg war klar: Wer diktatorisch oder kommunistisch, sozialistisch – wie auch immer man es nennen will – regiert wird, wird über kurz oder lang ökonomisch nicht erfolgreich sein. Mit China haben wir im Augenblick eine andere Herausforderung. China baut auf einer langen Tradition auf und sagt: Wir waren in den letzten 2.000 Jahren 200 Jahre weg und nicht führend; jetzt kommen wir wieder dahin zurück, was wir früher immer waren. Und das verschreckt jetzt sehr viele. Und natürlich müssen wir auf Fairness aufbauen. Natürlich müssen wir Multilateralismus so gestalten, dass die Regeln für alle gelten; klar. Aber ich plädiere dafür, dass wir nicht in eine neue Bipolarität verfallen, sondern versuchen, mit dem, was wir an Ergebnissen, an Erfahrungen im Multilateralismus haben, auch ein Land wie China einzubeziehen und zumindest gleichwertig zu behandeln. Henry Kissinger hat etwas gesagt, das mich auch sehr umtreibt. Wenn es die transatlantische Partnerschaft nicht gäbe, wenn es die gemeinsamen Werte, die wir heute in der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika teilen – auch wenn das manchmal auf den ersten Blick vielleicht kribbliger aussieht, als es ist –, nicht gäbe, würde sich die Frage stellen: Werden wir dann ein Teil Eurasiens? Nachdem der Papst einmal gesagt hat, Europa sei sozusagen die Halbinsel vor Asien, habe ich mir die Landkarte neu angeguckt. Wir müssen uns als Europäer genau überlegen, wie wir uns in einer multilateralen Welt positionieren wollen. Unser Interesse an guten transatlantischen Beziehungen ist meiner Meinung nach größer als vielleicht im Augenblick das Interesse der Vereinigten Staaten von Amerika, da sie neben der atlantischen auch eine pazifische Küste haben und damit die große Herausforderung, China sozusagen vor der Haustür zu haben. Das bedeutet natürlich, dass wir definieren müssen, wie wir und dass wir die transatlantischen Beziehungen pflegen wollen. Ich darf für mich sagen, dass ich das möchte; und ich sage das auch für die ganze Bundesregierung. Eine letzte Bemerkung: Wenn wir uns in dieser multilateralen Welt verstehen wollen, dann müssen wir uns auch unsere jeweiligen territorialen, geografischen Herausforderungen anschauen. Ich sage manchmal scherzhaft: Die Vereinigten Staaten von Amerika haben es im Grunde leicht; sie haben im Norden eine Grenze zu Kanada – zu einem demokratischen Land –, sie haben links und rechts zwei riesige Ozeane und nur eine Südgrenze, an der zum Beispiel auch das Flüchtlingsproblem eine Riesenrolle spielt. Es ist auch interessant, uns darüber zu unterhalten: Wie können wir das am besten in den Griff bekommen? Dass ich kein Freund von Mauern bin, versteht sich auch vor dem Hintergrund meiner Biografie von selbst. Ich glaube, wir müssen immer auch eine Balance des Zusammenlebens und eine Entwicklungschance auch für unsere Nachbarn finden. Wenn Sie sich vor Augen führen, was wir Europäer vor der Haustür haben, dann sieht die Sache ziemlich herausfordernd aus. Da haben wir Russland, dahinter kommt gleich China; China und Russland rücken zusammen. Wir haben als Außengrenze der Europäischen Union eine Mittelmeergrenze zu Afrika. Und wenn ich auch die NATO-Grenze erwähne: Die Türkei grenzt an den Irak sowie an Syrien. Wir grenzen also an Regionen mit dramatischen Konflikten. Das beunruhigt uns natürlich. Wir müssen uns überlegen, wie wir mit diesen Herausforderungen klarkommen. Und dabei, wie ich nach wie vor glaube, kann ein gutes transatlantisches Verhältnis nur in unserem ureigenen Interesse sein. Deshalb werde ich mich, wo auch immer, noch eine Weile als Bundeskanzlerin auch weiter für gute, intensive, wertegebundene transatlantische Beziehungen einsetzen. Und diese Auszeichnung heute ermutigt mich in dieser Arbeit. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung der Ausstellung „Survivors“ am 21. Januar 2020 in Essen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-eroeffnung-der-ausstellung-survivors-am-21-januar-2020-in-essen-1714506
Tue, 21 Jan 2020 14:38:00 +0100
Essen
keine Themen
Sehr geehrter, lieber Herr Fürst, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Armin Laschet, Herr Oberbürgermeister, Herr Schoeller, Herr Diekmann, alle Gäste schließe ich in meinen Gruß ein! Als Erstes möchte ich Sie bitten, Herrn Shalev, der heute sicherlich gern hier bei uns gewesen wäre und der uns so bewegende Worte hat zukommen lassen, meine und unsere herzlichen Genesungswünsche auszurichten. Ihnen, lieber Herr Fürst, danke ich natürlich für Ihre Worte, aber ebenso für diese auch symbolhafte Reise – der Parlamentarische Staatssekretär aus dem Verteidigungsministerium Peter Tauber ist ebenfalls hier – mit einem Flugzeug der Luftwaffe mit Ihnen und Ihrer Familie. Es bedeutet uns unendlich viel, dass Sie diese Reise auf sich genommen haben. Danke schön dafür. Sie haben den Holocaust nur knapp überlebt. Als das Konzentrationslager Buchenwald im April 1945 endlich befreit wurde, waren Sie, wie Sie selbst geschrieben hatten, „fast schon auf der anderen Seite“. Hinter Ihnen lagen qualvolle Zeiten in vier Konzentrationslagern. Sie waren noch ein Kind, gerade einmal zwölf Jahre alt. Ich empfinde tiefe Scham angesichts des Leids, das Ihnen und so vielen anderen Menschen durch den von Deutschland begangenen Holocaust zugefügt wurde. Sechs Millionen Juden – Frauen, Männer, Kinder – wurden gedemütigt, ausgegrenzt, systematisch verfolgt und ermordet. Die Shoa brach mit der Zivilisation, sie brach mit sämtlichen menschlichen Werten. Wir, die wir später geboren wurden, stehen vor diesen Verbrechen und sind fassungslos. Warum konnten Menschen anderen Menschen solche Gräuel antun? Wie konnte es dazu kommen, dass Menschen anderen Menschen wegen ihrer Religion, ihrer Herkunft, ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit das Recht auf Leben abgesprochen haben? Im Dezember letzten Jahres habe ich die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau besucht. Auch die dort verübten Verbrechen lassen einen eigentlich nur verstummen. Niemand kann das Leid wirklich ermessen außer den Menschen, die in diese Hölle gestoßen wurden. Und Sie, lieber Herr Fürst, gehören dazu. Wenn wir Zeitzeugen hören, wenn wir ihre Erinnerungen lesen, dann bekommen wir zumindest eine Ahnung dessen, was sie durchgestanden haben, wie grausam all die vielen Lebenswege durchkreuzt wurden, und damit einen Eindruck davon, was die Shoa bedeutete. Nur dann, wenn wir uns auch wirklich der leidvollen Schicksale bewusst sind, können wir, glaube ich, der Opfer würdevoll gedenken – der Menschen, deren Leben ausgelöscht wurde, der Menschen, die zwar überlebt haben, aber ihrer Familien, ihrer Freunde, ihrer Heimat, ihrer Jugend, ihrer Träume beraubt wurden, der Menschen, die das Grauen und den Verlust für den Rest ihres Lebens mit sich tragen und weitertragen, die von Angst und Alpträumen nicht mehr losgelassen wurden und werden. All dieser Menschen gedenken wir um ihrer selbst willen und um aus ihren Lebensgeschichten Lehren für uns alle zu ziehen. 75 Jahre nach dem Ende des Zivilisationsbruchs der Shoa begegnen wir mit dieser Ausstellung 75 Überlebenden mit ihren individuellen Schicksalen. Die hier ausgestellten Porträts – ich habe mir einige schon gestern in der Presse angeschaut – haben eine Intensität, die sehr nahegeht. Wir werden das auch nachher noch erleben. Die Porträtierten schauen uns direkt in die Augen. Sie sprechen durch ihre Blicke direkt zu uns. Wie ist das Weiterleben mit Wunden, die immer bleiben, überhaupt möglich? Wie schaffen es Überlebende, Zeugnis von dem abzulegen, was ihnen widerfahren ist? Wieviel Kraft mag es kosten, sich dem Erlebten immer und immer wieder zu stellen? Und wieviel Kraft mag es erst kosten, die Größe zu besitzen, Vergebung und Versöhnung möglich zu machen? Lieber Herr Fürst, Sie haben einmal berichtet, dass Sie sehr lange gebraucht hätten, um über das Erlebte zu sprechen. Nun halten Sie Vorträge in vielen Ländern. Sie haben Ihre Erinnerungen aufgeschrieben und veröffentlicht. Sie sind Vorsitzender des Beirats KZ Buchenwald der betreffenden Gedenkstättenstiftung. Sie haben von einer – ich zitiere – „heiligen Pflicht“ gesprochen, die Erinnerung an die Shoa zu bewahren. Ich bin Ihnen wie auch jedem und jeder Einzelnen der Porträtierten und allen Überlebenden, die die Kraft aufbringen, die Erinnerung weiterzutragen, unendlich dankbar. Der Holocaustüberlebende Elie Wiesel war überzeugt – ich zitiere ihn –: „Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst zum Zeugen werden.“ Ja, jeder Vortrag, den wir hören, jede Erinnerung, die wir lesen, jedes Foto, das wir sehen, jede Gedenkstätte, die wir besuchen, macht uns unsere Verantwortung bewusst, die Erinnerung an das von Deutschland begangene Menschheitsverbrechen der Shoa wachzuhalten. Das schulden wir jedem einzelnen Opfer. Das schulden wir uns allen. Und wir schulden das auch zukünftigen Generationen. So ist auch jedes Porträt hier eine Mahnung an uns, für Menschlichkeit einzutreten – eine Mahnung, im Alltag eben nicht zu schweigen und wegzuschauen, wenn jemand angegriffen, gedemütigt und in seiner Würde verletzt wird. Die Menschenwürde zu achten und zu schützen – das ist die vornehmste Pflicht des Staates und unser aller Verantwortung. Wir haben leider Gründe, uns diese Verantwortung heute wieder deutlich ins Gedächtnis zu rufen; und zwar wahrlich nicht erst seit dem Anschlag in Halle. Wir erleben Rassismus und Antisemitismus, Hass und Gewalt in unserem Land. Rassismus und Antisemitismus sind nicht nur ein widerwärtiger Angriff auf einzelne Bürger, sondern eben auch ein Angriff auf die grundlegenden Werte, die unsere Gesellschaft tragen und die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Die Bundesregierung weiß um ihre Pflicht, unsere freiheitliche Demokratie gegen Rassismus, Antisemitismus, Rechtsextremismus und alle anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu verteidigen. Wir haben deshalb im Oktober letzten Jahres wieder eine Vielzahl von Maßnahmen verabschiedet, um besser sicherzustellen, dass Rechtsextremismus und Hasskriminalität keine Chance haben. Vor allem aber bin ich den vielen Menschen in unserem Land dankbar, die sich im Alltag mit vielen kleinen und großen Gesten und Taten um ein friedliches und respektvolles Miteinander verdient machen. In dieser Ausstellung ist unter anderem ein Porträt von Eliezer Lev-Zion zu sehen, der 1927 in Berlin geboren wurde. Zu seinem Foto schreibt er: „Ich möchte, dass sich die nächste Generation daran erinnert, was wir ertragen haben. Ich war ein jüdisches Kind, das in eine schöne Welt der Kultur und der Kunst hinein geboren wurde; eines von vielen solcher Kinder, die in blühende jüdische Gemeinden in Europa geboren wurden. Diese Gemeinden wurden völlig zerstört und sechs Millionen Juden wurden verfolgt und ermordet. Wir dürfen nie vergessen!“ Nichts kann die Ermordeten zurückbringen. Doch wir erleben, dass in Deutschland neues jüdisches Leben aufgeblüht ist. Das grenzt an ein Wunder, für das ich zutiefst dankbar bin. Es zeugt von einem großen und alles andere als selbstverständlichen Vertrauen, wenn jüdische Familien in Deutschland ihre Zukunft sehen und aufbauen. Dieses Vertrauen müssen wir pflegen. – Ich weiß, dass es für jüdische Familien in den letzten Jahren schwieriger geworden ist, dieses Vertrauen aufzubringen. Gleiches gilt für unsere Beziehungen zu Israel. Deutschland und Israel arbeiten auf verschiedensten Feldern eng zusammen – nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Unsere beiden Länder einen freundschaftliche Bande zwischen vielen Israelis und vielen Deutschen. Ausdruck dessen ist auch diese Ausstellung, die in Zusammenarbeit von Yad Vashem und der Stiftung für Kunst und Kultur entstanden ist. Der Fotograf Martin Schoeller hat 75 Überlebende des Holocaust in Israel besucht und mit ihren Porträts ein wirklich beeindruckendes Gesamtwerk geschaffen. Wer sich das Making-of davon anschaut, der sieht auch, dass es durchaus ein sehr intensives Vorhaben war – mit jeder Persönlichkeit in ganz einzigartiger Weise. So setzt diese Ausstellung ein ganz besonderes Zeichen so kurz vor dem 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, dem 27. Januar, an dem in jedem Jahr weltweit der Opfer der Shoa gedacht wird. Aber auch über Gedenktage hinaus bleiben unsere Gedanken bei den Opfern und Überlebenden mit ihrer Last des Erlebten. Wir können und müssen die Erinnerung wachhalten. Denn Erinnerung macht uns auch die Verantwortung bewusst, die uns allen zukommt und der sich niemand entziehen kann: die Verantwortung, eine menschliche Zukunft zu gestalten. Deshalb hoffe und wünsche ich, dass sich viele Besucherinnen und Besucher – der Ministerpräsident hat es gesagt: gerade auch junge Menschen – von dieser Ausstellung ansprechen und dazu bewegen lassen, im täglichen Leben etwas für das zu tun, was unsere Gesellschaft auszeichnen soll, nämlich dass sie eine menschliche ist. Herzlichen Dank dafür, dass ich dabei sein darf.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Ehrenamtsempfangs am 20. Januar 2020 in Deggendorf
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-ehrenamtsempfangs-am-20-januar-2020-in-deggendorf-1714280
Mon, 20 Jan 2020 19:28:00 +0100
Deggendorf
keine Themen
Sehr geehrter Ministerpräsident, lieber Markus Söder, sehr geehrte Vertreter aus meinem Kabinett, ich grüße Andi Scheuer, ich grüße die Parlamentarischen Staatssekretäre, Herrn Pronold und Frau Hagl-Kehl, natürlich auch den Bundestagsabgeordneten Thomas Erndl, ich freue mich, dass Europa hier heute mit Manfred Weber vertreten ist, von der Staatsregierung ist nicht nur der Ministerpräsident, sondern auch der Kultusminister hier – und das einmal nicht in Bayreuth, sondern in Deggendorf; aber ich habe gelernt, er kommt von hier –, dann möchte ich natürlich ganz herzlich denjenigen begrüßen, der mein Angebot angenommen hat, heute hierherzukommen, nämlich Landrat Christian Bernreiter, außerdem den Oberbürgermeister Moser und vor allem Sie, die Sie heute alle hierhergekommen sind! Das ist echt beeindruckend, dass so eine große Zahl an Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, heute hier ist. Einige von ihnen machen auch noch Musik. Ich wurde gerade vom Oberbürgermeister daran erinnert, dass sie 2006 schon einmal in Berlin waren und nicht etwa einen Kanzlermarsch, sondern einen Kanzlerinnenmarsch gespielt haben. Sie mussten ihn auch noch selber komponieren, weil es dafür in Deutschland noch keine Vorbilder gab. Das finde ich wirklich toll. Danke natürlich auch denen, die uns soeben mit klassischer Musik erfreut haben. Auch das ist etwas, das viel mit Ehrenamt zu tun hat. Christian Bernreiter hat es erzählt: Wir sind uns durch die Tatsache nähergekommen, dass sehr viele Flüchtlinge in Deutschland angekommen sind. Sie haben ja einen Landrat, der die Dinge ausspricht und anpackt. Er ist ja gleichzeitig noch Präsident des Bayerischen Landkreistages. Ich habe also in vielen Begegnungen gerade auch in der Zeit, als sehr viele Menschen zu uns kamen, Christian Bernreiter etwas näher kennengelernt und ihn vor allen Dingen – ich darf das sagen – auch schätzen gelernt. Wir haben in enger Zusammenarbeit mit den kommunalen Spitzenverbänden in einer wirklich bewegenden Zeit versucht, die Dinge einigermaßen zu ordnen. Wenn wir heute auf die Zahlen schauen, dann kann man sagen: Wir haben Humanität, Ordnung und Steuerung doch in sehr viel besserem Maße zusammengebracht. Mich hat damals an Christian Bernreiter etwas beeindruckt. Er hat mir nämlich erzählt, dass das, was wir 2015 wahrgenommen haben, sich über eine lange Zeit aufgebaut hat. Wenn Sie mich heute fragen „Was haben wir nicht richtig gemacht, was haben wir falsch eingeschätzt?“, dann sage ich Ihnen ganz offen – und das betrifft auch mich –: Wir hätten einfach sehr viel stärker nach Syrien schauen müssen. Wir hätten uns ansehen müssen, was da los war, dass bereits viele Menschen geflohen waren und Millionen von ihnen in der Türkei waren. Das ist auch ein Grund, warum ich mir gesagt habe: Wenn wir hier bei uns geordnet leben wollen, wenn wir unserer Verantwortung gerecht werden wollen – trotzdem müssen wir natürlich illegale Migration stoppen oder zumindest reduzieren –, dann müssen wir uns eben auch um andere Teile der Welt kümmern, damit Menschen in ihrer Heimat bleiben können. Auch das ist Humanität: Menschen woanders zu helfen, damit sie ihre Heimat nicht verlassen müssen. Denn ich sage Ihnen: Fast niemand verlässt seine Heimat wirklich gern. Deshalb sind Entwicklungshilfe und -arbeit für andere Regionen wichtig. Es ist richtig – Markus Söder hat es gesagt –, dass die internationale Szene kompliziert ist. Gerade deshalb tun wir gut daran, einfach alles zu tun, damit in unserem Land Zusammenhalt herrscht. Denn in vielen Ländern gibt es nicht so einen Zusammenhalt, wie wir ihn gewohnt sind und wie wir ihn, Gott sei Dank, erleben. Wenn wir uns in diesem Jahr gute Neujahrswünsche gesagt haben, dann war Gesundheit dabei – das wünsche ich Ihnen natürlich auch –, die Freude an dem, was Sie tun und ganz besonders auch ein friedliches Zusammenleben. Das aber ist gar nicht so selbstverständlich, wie man oft denkt. Deshalb habe ich zum Beispiel gestern gemeinsam mit dem Bundesaußenminister eine Libyen-Konferenz durchgeführt. Das ist ein erster Schritt zu einem langen Friedensprozess. Da wird nicht sofort alles klappen. Hoffentlich geht es ein kleines bisschen voran. Aber eines ist auch richtig – wir lernen und sehen das an allen Ecken und Enden der Welt –: Es gibt niemals die alleinige militärische Lösung. Manchmal ist Militär notwendig, aber zum Schluss muss immer ein politischer Weg gefunden werden. Das ist das, was mich leitet und was uns in der Bundesregierung leitet. Bevor wir gleich zum Thema Ehrenamt kommen und in ganz besonderer Weise nachher in der Diskussion – Sie haben sich ja bestimmt viele Fragen überlegt –, möchte ich noch eines zu denen sagen, bei denen Markus Söder und andere heute schon waren, nämlich zu den Landwirten und auch zu der Demonstration „Fridays for Future“. Ich habe Landwirte und die verschiedenen Verbände zu einer großen Runde ins Bundeskanzleramt eingeladen. Ich werde Anfang Februar ein Gespräch mit der Ernährungswirtschaft haben. Denn, wie ich meine, es ist vor allem eines wichtig: Die Bauern brauchen für ihre Produkte faire Preise. Da mangelt es schon an vielen Stellen. Da müssen wir miteinander auch klare Worte reden. Sie brauchen eben auch Berechenbarkeit in dem, was sie tun. Ich komme aus einer anderen Himmelsrichtung in Deutschland, aus dem Norden. Bei uns gibt es noch mehr Felder und noch mehr Wälder, obwohl es hier ja auch schon nicht so schlecht ist mit dem Bayerischen Wald und allem, was dazu gehört. Die Frage „Wie geht es für uns weiter?“ ist für viele Bauern, ob im Haupterwerb oder Nebenerwerb, natürlich eine sehr drängende Frage. Das verstehe ich auch. Wir müssen einerseits die europäischen Rahmenbedingungen einhalten. Ich könnte jetzt Manfred Weber ansehen und eine Weile über die Düngeverordnung sprechen. Aber das tun wir an anderer Stelle. Dazu gehört natürlich auch, wie wir Natur, biologische Vielfalt und landwirtschaftliche Produktion miteinander in Einklang bringen. Aber eines möchte ich Ihnen auch sagen, auch wenn das hier sicherlich der falsche Ort ist, an dem ich das sage, weil Sie alle das wissen – wir müssen das vor allen Dingen immer wieder in den großen Städten sagen –: Wenn wir regionale Produkte kaufen wollen, wenn wir regionale Produkte essen wollen, dann müssen wir denen, die diese regionalen Produkte produzieren, Achtung und Ehre entgegenbringen und ihre Arbeit schätzen. Alles andere geht daneben, meine Damen und Herren. Ich weiß nicht, wie das hier ist; aber in meinem Wahlkreis mit der Insel Rügen und mit Stralsund dort oben in Vorpommern sagen mir die Bauern: Wir müssen uns schon fast dafür entschuldigen, wenn wir den Bau eines neuen Kuhstalls beantragen oder eine Genehmigung für einen Schweinestall haben wollen. Meine Damen und Herren, das geht nun wirklich nicht. Man kann nicht essen wollen, aber gleichzeitig nichts für die Tiere haben wollen; und dann sagt man noch, es solle aber regional sein. Wir haben schon sehr viele Vorschriften und hohe Standards. Wir müssen vielleicht noch mehr tun. Wir müssen die Klimafragen, die Fragen zu Insektenvielfalt und Artenvielfalt mitberücksichtigen. Unsere Bauern halten sich an Regeln. Sie haben die gute fachliche Praxis oder sie haben ökologischen Landbau. Sie dürfen nicht unter Generalverdacht gestellt werden. Ansonsten wird das ganz schlecht für die ländlichen Regionen sein und damit auch für den Zusammenhalt in unserem Land. In diesem Sinne werden wir in der Bundesregierung weiter dafür kämpfen, gute Lösungen zu finden, auch wenn das manchmal sehr schwierig ist. Ansonsten möchte ich Ihnen einfach zurufen: Danke dafür, dass so viele – auch hier in dieser Region – ehrenamtlich tätig sind. Ich habe mir Deggendorf deshalb für einen Besuch gewünscht. Als ich damals wegen des Hochwassers hier in der Region war, standen natürlich andere Probleme im Vordergrund. Aber all das, was wir in der Welt machen können, all das, wie Deutschland wahrgenommen wird, hat natürlich ganz wesentlich damit zu tun, wie das Zusammenleben und der Zusammenhalt in unserem Land stattfinden. Viele in der Welt, die Deutschland etwas kennen, wissen: Wir sind ein vielfältiges Land. Diese Vielfalt wird im Wesentlichen auch vom Ehrenamt getragen. Ob das die Trachtenvereine sind – gerade erst letzte Woche waren hundert aus Bayern bei mir im Kanzleramt –, ob das die Sportvereine sind, ob das die vielen sozialen Vereine sind – sie alle tun etwas dafür, dass Menschen für Menschen da sind. Wir als Politiker müssen den Rahmen schaffen; das ist richtig, das ist notwendig. Wir werden auch gleich darüber sprechen. Aber Sie setzen Ihre Zeit ein; und Zeit ist vielleicht das knappste Gut im 21. Jahrhundert. Wir haben zwar immer mehr technische Hilfsmittel. Wir können uns viel schneller verständigen. Aber irgendwie wird die Zeit scheinbar immer knapper. Sich stundenweise Zeit zu nehmen, etwas für andere zu tun, zu helfen – und das auch regelmäßig –, das ist schon etwas ganz Besonderes. Ich darf sagen, dass es vielleicht auch etwas Besonders für jeden ist, der das tut, der sich dazu entschieden hat. Denn manchmal bekommt man durch das ehrenamtliche Engagement auch etwas im Leben zurück. Das heißt, auf der einen Seite helfen wir Menschen, aber auf der anderen Seite können wir dabei auch Freude erfahren. Wir können Dinge erfahren, die wir sonst vielleicht in unserem Leben überhaupt nicht erfahren hätten. Ich glaube, wir können stolz darauf sein, dass wir nicht nur ein Volk sind, das sozusagen vor dem Fernseher sitzt und die Fußballspieler oder Sportler kritisiert und sagt „Das könnten die aber besser; und sieh mal, wie der herumläuft usw.“, sondern das auch die eigenen Beine in die Hand nimmt, Sport treibt, jungen Menschen etwas beibringt und damit einen Beitrag zu einem lebendigen Land leistet. Ich möchte, dass wir ein lebendiges Land bleiben. Dazu müssen wir die Voraussetzungen schaffen. In Bayern ist natürlich alles immer ein bisschen besser; das weiß ich schon. Es ist ja auch gut, dass man Benchmarks setzt. Aber gerade weil es bei Ihnen so schön ist und Sie so viele Erfahrungen haben, freue ich mich, jetzt mit Ihnen ins Gespräch einzutreten. Denn wir haben schon vom Bundesrat einen Antrag mit der Anfrage, wann nun endlich das Ehrenamtsgesetz der Bundesregierung kommt, in dem wir steuerliche Fragen klären wollen, Pauschalen, Übungsleiterpauschalen und anderes. Deshalb ist das hier jetzt für mich sozusagen noch eine Lernstunde, um zu hören, wo Ihnen der Schuh drückt, damit wir dann auch parlamentarisch und in der Bundesregierung das Richtige tun können. Denn wir wollen in dieser Legislaturperiode die Rahmenbedingungen für das Ehrenamt noch einmal verbessern. Herzlichen Dank dafür, dass ich da sein darf. Ich freue mich nun auf die Diskussion.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters beim Bundeskongress UTOPIA.JETZT des Bundesverbands Freie darstellende Künste
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-beim-bundeskongress-utopia-jetzt-des-bundesverbands-freie-darstellende-kuenste-1714134
Thu, 16 Jan 2020 20:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
UTOPIA.JETZT also: Unter diesem Motto will es der Bundesverband Freie darstellende Künste (BFDK) zum 30. Jubiläum offensichtlich krachen lassen. Jedenfalls tritt man dem Verband gewiss nicht zu nahe, wenn man ihm mit Blick auf dieses Motto ein lustvolles Verhältnis zur Kontroverse unterstellt. Denn eins ist klar: Wer „Utopia jetzt!“ fordert, verlässt die Weltferne des Fiktionalen und betritt die politische Bühne und damit den harten Boden der Realität. Hier stößt Utopie auf Sachzwang. Hier trifft Weltverbesserungsanspruch auf Wirklichkeit. Hier konkurrieren unterschiedliche Visionen, Ideale, Weltanschauungen und ja: auch Interessen. All das ist der Harmonie nicht gerade zuträglich – inspiriert aber zweifellos zu Diskussionen über Möglichkeiten, die Welt zu verändern, und zum Nachdenken über das Verhältnis der Kunst zur Politik, des gesellschaftlich Wünschenswerten zum politisch Machbaren, der Utopie zur Demokratie. Mit seinem vielversprechenden Tagungsprogramm schafft der BFDK darüber hinaus einmal mehr Aufmerksamkeit für die politische und gesellschaftliche Wirkmacht der freien darstellenden Künste und für die dafür notwendigen Voraussetzungen. Auch das ist Engagement für eine bessere Welt – nämlich für eine lebendige Demokratie! Nicht zuletzt deshalb habe ich die freundliche Einladung gerne angenommen, zu diesem „Utopischen Eröffnungsakt“ mein kulturpolitisches UTOPIA unter besonderer Berücksichtigung der freien darstellenden Künste beizusteuern. Um deren Bedeutung für eine demokratische Gesellschaft zu unterstreichen, könnte man, beginnend mit Aristoteles und Bertolt Brecht ein ganzes ABC einschlägiger Kronzeugen Revue passieren lassen, die das Theater als Ort der Läuterung, als Schule der Empathie, als Instrument der Aufklärung, als Seismograph für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen beschrieben haben. Ich will nur einen dieser prominenten Kronzeugen ins Rampenlicht holen: einen, der miterlebt hat, wie eine Utopie – die hehren Ideale nämlich, die die Französische Revolution entfacht hatten – in Willkür und Tyrannei zu Grabe getragen wurden und der daraus seine Lehren gezogen hat: für sich persönlich und für die ästhetische Erziehung des Menschen durch das Theater. Friedrich Schiller – zunächst ein radikaler Stürmer und Dränger und ästhetischen Provokateur, dessen Drama Die Räuber als Revolte gegen das feudale System eine ganze Generation mit dem Virus der Freiheitssehnsucht infizierte – Friedrich Schiller entwickelte sich vom Rebell zum staatsbürgerlich denkenden, lebensklugen Visionär, dessen Idealismus nicht dem „Großen“, sondern dem „Menschlichen“ galt, um den berühmten Satz Max Piccolominis aus der Wallenstein-Trilogie aufzugreifen: „Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe!“ Das Große – Friedrich Schiller hat es als Bürger erlebt – trägt häufig den Keim des Totalitären in sich. Anders ausgedrückt: Utopie ohne Demokratie birgt die Gefahr, das Menschliche – insbesondere die Freiheit Andersdenkender – im Namen einer höheren Idee zu missachten. Demokratie ohne Utopien wiederum – ohne Idealismus und Fantasie, ohne Perspektiven auf eine menschlichere Gesellschaft – droht an Selbstzufriedenheit und Resignation, an Bequemlichkeit und Lethargie zu ersticken. „Eine Demokratie ohne ein paar hundert Widersprechkünstler ist undenkbar“. So hat es Jean Paul vor 200 Jahren (1817) in seinen „Politischen Fastenpredigten“ formuliert. Utopien lenken den Blick auf das Mögliche; sie stören die Routinen des Wirklichen. Sie erschweren es, sich in einer Welt einzurichten, in der nicht alle Menschen menschenwürdig behandelt werden. Gerade Deutschland, das sich Menschlichkeit und moralische Integrität nach 1945 mühsam wieder erarbeiten musste, sollte seine „Widersprechkünstler“ deshalb schätzen und hat die Freiheit der Kunst ja auch aus gutem Grund in einen noblen Verfassungsrang (Artikel 5 des Grundgesetzes) erhoben. Das Menschliche geschehe: Dazu braucht es ein demokratisches Korrektiv. Dieses Potential entfaltet die Kunst allein in Freiheit: wenn sie weder dienen noch gefallen muss – wenn sie sich weder der Logik des Marktes beugen, noch in den Dienst eines politischen Anliegens, einer Weltanschauung oder Ideologie stellen muss. Wo Künstlerinnen und Künstler irritieren, provozieren und den Widerspruch kultivieren dürfen, beleben Utopien die Demokratie. Deshalb bin ich dankbar, dass Kulturschaffende, darunter auch viele aus dem Theaterbereich, sich im Verein DIE VIELEN zusammengeschlossen haben, um die Kunstfreiheit – wo immer notwendig– zu verteidigen. Doch die Freiheit der Kunst, kritisch und unbequem sein zu dürfen, erfordert auch die Bereitschaft einer Gesellschaft, die damit bisweilen verbundenen Zumutungen auszuhalten. Diese Bereitschaft schwindet im Moment leider – und zwar nicht nur in Ländern, in denen missliebige Künstlerinnen und Künstler verfolgt, unterdrückt oder hinter Gitter gebracht werden. Auch hierzulande werden Künstlerinnen und Künstler in Verlautbarungen einschlägiger Parteien aufgefordert, „einen positiven Bezug zur eigenen Heimat zu fördern“ oder „zur Identifikation mit unserem Land an(zu)regen“. Auch hierzulande gab es vor nicht allzu langer Zeit parteipolitisch motivierte Forderungen, die Mittel dreier Berliner Theater erheblich zu kürzen. Kritisch mit Blick auf die Freiheit der Kunst sehe ich aber auch Forderungen, Kunstwerke zugunsten vermeintlicher politischer Korrektheit von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Natürlich kann und soll – ja muss! – über Kunst auch gestritten werden. Doch eine Kunst, die sich festlegen ließe auf die Grenzen des politisch Wünschenswerten, eine Kunst, die den Absolutheitsanspruch einer Ideologie oder Weltanschauung respektierte, die gar einer bestimmten Moral oder Politik diente – eine solchermaßen begrenzte oder domestizierte Kunst würde sich nicht nur ihrer Möglichkeiten, sondern auch ihres Wertes berauben. Respekt und Rückhalt braucht und verdient aber nicht nur die Kunstfreiheit, sondern auch die Demokratie. Bei aller Begeisterung für Utopien: Wo politische Kompromisse als Niederlagen, wo das Bemühen um Verständigung als „Fehlen von Visionen“ schlechtgeredet wird (ein Vorwurf, der uns Politikern auf Schritt und Tritt begegnet), nimmt die Demokratie Schaden. Künstlerinnen und Künstler, die ihre vielfach berechtigte Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen mit antidemokratischen Ressentiments unterlegen, spielen unbeabsichtigt möglicherweise gar populistischen Demokratieverächtern in die Hände. Anders als die Kunst muss Politik, um das Mögliche anzustreben, vom Wirklichen ausgehen. Zusammenhalt in Vielfalt erfordert es, im Pluralismus der Werte und Weltanschauungen, der Lebens- und Gesellschaftsentwürfe, der Visionen und Utopien nach einem „übergreifenden Konsens“ zu suchen – um den einschlägigen Begriff des großen Philosophen des politischen Liberalismus, John Rawls, zu gebrauchen. Die vermeintliche Schwäche demokratischer Politik – ihre Distanz zu Utopien – macht deshalb bei Licht betrachtet ihre Stärke aus: weil sie so Kompromisse ermöglicht, weil sie uns damit vor Willkür im Namen großer Ideen schützt, weil sie damit unser aller Freiheit sichert. Deshalb sollten wir einerseits die Freiheit und den Enthusiasmus der Kunst, andererseits aber auch – um unser aller Freiheit willen! – die Nüchternheit und Utopieferne demokratischer Politik verteidigen. Eine humane Gesellschaft lebt von Utopie und Demokratie: vom Utopischen, weil darin das Mögliche sichtbar wird; von der Demokratie, weil Kompromissbereitschaft und Verständigung Freiheit und Frieden in Vielfalt garantieren. In diesem Sinne hat der BFDK sich in den vergangenen 30 Jahren engagiert: als starke Stimme der freien darstellenden Künste auf der politischen Bühne und als beherzter Streiter für bessere Rahmenbedingungen. Davon haben nicht nur Künstlerinnen und Künstler profitiert; es ist ein Gewinn für unsere Gesellschaft insgesamt. Denn gerade die freien darstellenden Künste haben durch die flexible und unabhängige Arbeitsweise besondere Wirkmacht: Sie erreichen Menschen, die nicht in die etablierten Theater kommen – sei es, weil die Wege zu weit, sei es, weil Hemmschwellen welcher Art auch immer zu groß sind. Deshalb freue ich mich, das sechs der insgesamt elf Preise, die im vergangenen Jahr beim Theaterpreis des Bundes verliehen wurden, an Freie Theater und Produktionshäuser gingen, und dass in meinem Etat künftig erhebliche Mittel (nämlich knapp 16 Millionen Euro verteilt über 5 Jahre) zur Verfügung stehen, die mittelbar den freien darstellenden Künsten zu Gute kommen. Sie dienen dem Aufbau einer tragfähigen bundesweiten Infrastruktur, bestehend aus überregionalen Netzwerken, Bündnissen und Zusammenschlüssen, an denen alle partizipieren können: kleine und mittlere Produktionshäuser ebenso wie kleinere Festivals und natürlich freie Theater und Theatergruppen selbst. Nicht zuletzt dank erheblicher finanzieller Unterstützung des Bundes – unter anderem wird der Fonds Darstellende Künste seit 2016 mit Mitteln aus meinem Etat gefördert – haben sich die freien darstellenden Künste mehr Sichtbarkeit und Gehör verschaffen können. Dazu einen kleinen Beitrag leisten zu können, macht mich stolz. Denn Sie alle, die Sie hier sitzen, stehen für Experimentierfreude und schöpferische Kraft, für Fantasie und Utopien – und damit auch für eine vitale Demokratie. Bleibt die Frage nach meinem (kulturpolitischen) UTOPIA, auf die der BFDK sich zum 30. Geburtstag eine Antwort gewünscht hat. Lassen Sie es mich mit einem kleinen Exkurs auf das Vermächtnis eines großen Visionärs erklären, dessen 250. Geburtstag wir 2020 gleich mit einem ganzen Jubiläumsjahr feiern (eine Ehre, die dem BFDK noch nicht vergönnt ist …). Als sich 2017 in Hamburg die Staats- und Regierungschefs des G20-Gipfels nach getaner Arbeit in der Elbphilharmonie zum Kunstgenuss versammelten, stand unter anderem Beethovens Neunte auf dem Programm – was den Intendanten des Hamburger Thalia Theaters, Joachim Lux, aus nachvollziehbaren Gründen empörte. Ein „obszöner, ja pornografischer Missbrauch von Kunst“ sei das – angesichts „zahlreicher Staatschefs, die politisch offensiv das Gegenteil der auf der Bühne erklingenden ,Europa-Hymne‘ vertreten.“ Ja, der Gegensatz zwischen „Alle Menschen werden Brüder“ und „America First“ ist nicht zu leugnen. Doch sollte Beethoven mit seinem utopischen Humanisierungsanspruch musikalisch nicht gerade auch jenen im wahrsten Sinne des Wortes in den Ohren liegen, die sich im Politischen als taub für Argumente und Appelle erweisen? Ja, ist nicht eben dies das politische Potential der Kunst: Scheinbar lebensferne, weltfremde Utopien und Ideale ins Hier und Heute zu bringen, ihnen Gehör und Resonanz zu verschaffen – ganz nach dem Motto: UTOPIA.JETZT? Sind es nicht die von der Kunst angestoßenen, kleinen Revolutionen im Denken, im Wahrnehmen, im Empfinden, im Bewusstsein, die jeder großen gesellschaftlichen Veränderung vorausgehen? Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der Utopie und Demokratie wo immer möglich aufeinandertreffen, in der Kunst die Selbstreflexion und die Streitkultur befeuert und damit der Erstarrung in verhärteten Fronten entgegenwirkt. In diesem Sinne, meine Damen und Herren: Lassen Sie es krachen – nicht nur, aber ganz besonders heute zum Jubiläum des Bundesverbands Freie darstellende Künste! Herzlichen Glückwunsch zum 30jährigen Bestehen!
In ihrer Rede würdigte die Staatsministerin das Engagement des Bundesverbands Freie darstellende Künste in den vergangenen 30 Jahren „als starke Stimme der freien darstellenden Künste auf der politischen Bühne und als beherzter Streiter für bessere Rahmenbedingungen“.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich des 20. Jubiläums der Kurt Wolff Stiftung
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-des-20-jubilaeums-der-kurt-wolff-stiftung-1713422
Wed, 15 Jan 2020 19:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Vor knapp 100 Jahre, 1923, schrieb der Verleger Kurt Wolff an seinen Autor Franz Kafka (ich zitiere): „Wir bemerken auch, dass wir ganz unbekümmert um Erfolg oder Misserfolg Ihrer Bücher in allen Katalogen und Verzeichnissen, in allen Ankündigungen sowohl für die Buchhandlungen wie für das Publikum, anzeigen und überzeugt sind, daß eine spätere Zeit die außerordentliche Qualität dieser Prosastücke richtig zu würdigen wissen wird.“ Die Zeit sollte ihm recht geben und Kafkas Prosastücke in den literarischen Kanon einordnen. Nicht recht behalten sollte Kurt Wolff aber mit dem Ausspruch „Wer fragt noch übermorgen danach, wer der Verleger von Kafka oder Trakl war“. Gegen seine eigene Prognose hat er sich einen Namen gemacht – als einer der bedeutendsten Verleger des 20. Jahrhunderts. Seiner Begeisterungsfähigkeit, seiner Energie, seinem beherzten Eintreten für Neues, für Vordenkerisches, für Unbequemes verdanken wir viele Klassiker der Weltliteratur. Es wundert also nicht, dass sich die Gründer der Kurt Wolff Stiftung auf genau diesen Namensgeber besannen, als sie am 17. Oktober 2000 eine Stiftung aus der Taufe hoben, die innovative, unabhängige Verlage unterstützen und ihnen ein Netzwerk bieten sollte. Seit mittlerweile 20 Jahren setzt sich die Kurt Wolff Stiftung erfolgreich für eine reiche Buchkultur ein: indem sie die Fäden eines weitverzweigten Kontaktnetzwerkes aus Verlagen, Buchhandlungen, Bibliotheken, Autorinnen, Autoren und Presse zusammenhält; indem sie den 133 Mitgliedern des Freundeskreises auch international mehr Aufmerksamkeit verschafft; indem sie wichtige Debatten und Diskussionen initiiert; indem sie das Licht der Öffentlichkeit auf wertvolle literarische Edelsteine lenkt und sie zum Leuchten bringt. Mit der Vergabe des Kurt-Wolff-Preises und des Förderpreises würdigt die Stiftung das Lebenswerk bzw. das vorbildhafte Programm unabhängiger Verlage. Ich freue mich deshalb, dass mein Haus nun den Förderpreis von 5.000 Euro auf 15.000 Euro erhöhen kann und der Kurt-Wolff-Preis zukünftig – statt wie bisher mit 26.000 – nun mit 35.000 Euro dotiert wird. Für die Sichtbarkeit literarischer Kleinode, meine Damen und Herren, sorgt die Stiftung auch mit dem Katalog „Es geht um das Buch“. Jenseits allen Wettbewerbs- und Konkurrenzdenkens beschreibt und illustriert er jährlich den beeindruckenden Reichtum der Verlags- und Literaturszene in einem Heft. Die bisher 14 publizierten Ausgaben sind mittlerweile eine wunderbare „Enzyklopädie“ kleinerer und mittlerer Verlage in Deutschland. Mit ihrer besonderen, hochwertigen Gestaltung sind sie regelrechte Sammelstücke der Buchkunst: Künstlerische Inspirationsquellen, die bei Buchliebhabern (ich spreche aus Erfahrung) einen kleinen Bücherkaufrausch auslösen können. Vor allem aber dokumentieren sie auf beeindruckende Weise die verlegerische und literarische Vielfalt in Deutschland. Diese Vielfalt sichtbar zu machen, gehört zu den großen Verdiensten der Kurt Wolff Stiftung, und ich danke dem Vorstand, dem Kuratorium und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern herzlich, dass sie damit auch zum Erhalt unserer reichen Buchkultur beitragen: Indem Sie lesenswerten Büchern auch abseits der Bestsellerlisten Aufmerksamkeit verschaffen, lenken Sie den Blick auf außergewöhnliche Geschichten, auf bisher ungehörte Stimmen und auf neue Perspektiven. Die Schöpferinnen und Schöpfer solcher bisweilen auch weniger „geländegängigeren“, ja zuweilen auch sperrigen Werke brauchen Verlegerinnen und Verleger, die – wie einst Kurt Wolff – überzeugt sind, „dass eine spätere Zeit die außerordentliche Qualität (…) richtig zu würdigen wissen wird.“ Eben dieses Potential zu erkennen und zu heben, ist Ihr Verdienst, liebe Verlegerinnen und Verleger, liebe Freunde der Kurt Wolff Stiftung. Sie sind es, die neue Autorinnen und Autoren entdecken und künstlerischen Entwicklungen den Weg bereiten. Sie sind es, die sich mit hohem unternehmerischem Risiko für Werke und für Talente engagieren, von deren Gewicht und Bedeutung Sie überzeugt sind. Schon zu Kurt Wolffs Zeiten war dies ein Wagnis. Aber als sich Manfred Metzner und mein Vorgänger, Dr. Michael Naumann, beim Rowohlt Verlag Ende der 90er Jahren trafen und erste Ideen für eine Stiftung zur Förderung unabhängiger Verlage austauschten, reagierten sie auf eine damals neue Entwicklung, deren Folgen wir heute drastisch spüren: Im Zuge der an Fahrt aufnehmenden Digitalisierung begannen sich die Kauf- und Lesegewohnheiten zu verändern. Kleine Verlage wurden aufgekauft bzw. mussten schließen. Buchhandlungen verschwanden in vielen Innenstädten aus der Fußgängerzone – zugunsten von Handyshops und Bäckerei-Ketten. Der raue Wind des Wettbewerbs ist für kleine und unabhängige Verlage schärfer geworden. Und er hält an − das zeigen auch die jüngsten Entwicklungen. Die Rückzahlungen an die VG Wort, die Insolvenz der KNV, die zahlreichen Auslistungen bei Libri – all das sind Stichworte, die für eine Verschiebung der Marktmachtverhältnisse in der Buchbranche stehen. Für kleine Verlage ist diese Entwicklung existenzbedrohend – und damit drohen auch Verluste an verlegerischer Vielfalt, Verluste an Perspektiven und Stimmen im öffentlichen Diskurs, Verluste also für Debattenkultur und Demokratie. Deshalb ist es mir ein Herzensanliegen, kleine und unabhängige Verlage zu unterstützen. Zum einen durch gute Rahmenbedingungen, wie das klare Bekenntnis zur Buchpreisbindung und eine zügige Umsetzung der Urheberrechtsrichtlinie in nationales Recht. Zum anderen durch die Unterstützung der Kurt Wolff Stiftung. Und nicht zuletzt durch kluge Förderinstrumente, wie den Deutschen Buchhandlungspreis und den Deutschen Verlagspreis, bei deren Entwicklung uns die Stiftung mit Rat und Tat und hervorragender Expertise zur Seite steht. Mit deutlich aufgestocktem Preisgeld übrigens (von 1,5 auf zwei Millionen) geht der Verlagspreis seit diesem Montag in die zweite Runde. Zudem sind auch die Teilnahmebedingungen so überarbeitet worden, dass sich nun noch mehr Verlage für den Preis bewerben können. Kluge Unterstützung setzt voraus, dass man planvoll agiert und eine Landkarte in Händen hält und auf die Marktstrukturen reagiert. Ich plane deshalb auch, eine umfassende Marktstudie in Auftrag zu geben, die die Landschaft der kleinen und unabhängigen Verlage vermisst. Ein solcher Plan kann uns aufzeigen, wo wir zukünftig noch mehr Unterstützung leisten müssen – damit die verlegerische und literarische Vielfalt in Deutschland erhalten bleibt! Franz Kafka schrieb einmal: „man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?“ Natürlich, meine Damen und Herren, sei jedem auch Lesestoff vergönnt, der den Leser umgarnt, bestätigt und ihm schmeichelt. Gewiss ist aber, dass gerade die Bücher, die uns mit einem „Faustschlag auf den Schädel“ wecken – die beißen und stechen, die irritieren und provozieren – dringend gebraucht werden. Denn gerade sie verhindern, dass Bequemlichkeit und Fantasielosigkeit unsere Demokratie einschläfern. Und gewiss ist auch, dass wir unsere vielfältige Buchkultur nicht retten, indem wir in den Chor derer einstimmen, die den guten alten analogen Zeiten hinterhertrauern. Lassen Sie uns stattdessen die Lust auf Lesen, die Begeisterung für Literatur und die Neugierde auf Bücher wecken! Genau das ist der Kurt Wolff Stiftung als Forum für unabhängige Verlage in den vergangenen 20 Jahren hervorragend gelungen. Ich danke allen Beteiligten herzlich für ihr großes Engagement, insbesondere dem Vorstand, liebe Frau Jürgs, lieber Herr Greinus und lieber Herr Sundermeier, und dem Kuratorium, und wünsche Ihnen allen weiterhin viel Erfolg, vor allem aber den Mut und die Weitsicht Kurt Wolffs. Sein Vermächtnis ist bei Ihnen in besten Händen. Herzlichen Glückwunsch zum 20. Geburtstag.
In ihrer Rede würdigte die Staatsministerin die Verdienste der Kurt Wolff Stiftung und sagte: „Seit mittlerweile 20 Jahren setzt sich die Kurt Wolff Stiftung erfolgreich für eine reiche Buchkultur ein: indem sie die Fäden eines weitverzweigten Kontaktnetzwerkes aus Verlagen, Buchhandlungen, Bibliotheken, Autorinnen, Autoren und Presse zusammenhält; indem sie den 133 Mitgliedern des Freundeskreises auch international mehr Aufmerksamkeit verschafft; indem sie wichtige Debatten und Diskussionen initiiert; indem sie das Licht der Öffentlichkeit auf wertvolle literarische Edelsteine lenkt und sie zum Leuchten bringt“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Neujahrsempfang von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig am 13. Januar 2020 in Stralsund
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-neujahrsempfang-von-ministerpraesidentin-manuela-schwesig-am-13-januar-2020-in-stralsund-1712216
Mon, 13 Jan 2020 13:03:00 +0100
Stralsund
keine Themen
Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Frau Schwesig, meine Damen und Herren, ich kann natürlich nicht alle einzeln begrüßen – die Landesregierung, Frau Landtagspräsidentin, alle Abgeordnete hier, vom Bund über das Land bis in die Kommunen –, aber ich begrüße natürlich ganz herzlich Herrn Oberbürgermeister Badrow und damit auch alle, die in der Kommunalpolitik Verantwortung tragen. Liebe Gäste, ich habe ja verfolgt, wie sich auch Bürgerinnen und Bürger darum bewerben konnten, heute hier dabei zu sein. Es ist wunderbar, dass Sie hier sind. Als ich gehört habe, dass Sie mit dem Empfang der Landesregierung nach Stralsund kommen, habe ich in meinen Terminplan geschaut und doch glatt eine Lücke gefunden. Zum Jahresbeginn gibt es so etwas. Jedenfalls habe ich mir gedacht, dass ich sehr gerne dabei sein möchte, um Ihnen allen auch meinerseits ein gesundes, ein kreatives, erfolgreiches Jahr zu wünschen – und uns allen vor allen Dingen auch ein friedliches Jahr. Denn wenn man die ersten Tage dieses Jahres verfolgt hat, muss man leider sagen, dass in weiten Teilen der Welt ein friedliches Zusammenleben nicht das ist, was man dort erleben kann. Millionen, ja, Milliarden von Menschen müssen sich Sorgen machen. Wir in Deutschland und Europa hingegen leben schon seit über 70 Jahren – 75 Jahre in diesem Jahr – in Frieden. Frieden muss sicherlich auch im nächsten Jahrzehnt immer wieder erkämpft werden; dafür muss immer wieder gearbeitet werden. Und das tun wir ja auf den verschiedensten Ebenen. Als Bundestagsabgeordnete dieses wunderschönen Wahlkreises, der sozusagen nicht nur den Landkreis von Landrat Kerth umspannt, sondern heute auch Teile des Nachbarlandkreises Greifswald, bin ich natürlich sehr stolz darauf, den Wahlkreis schon seit 30 Jahren – fast so lange, wie Mecklenburg-Vorpommern alt ist – zu vertreten und in diesem Wahlkreis mit der Stralsunder Altstadt auch eine UNESCO-Welterbestätte zu haben. Dieses Theater hier ist in der Tat auch ein Symbol für das, was hier stattfindet. Ich weiß noch – als ich 2012 mit den Mitgliedern des Ostseerates, mit den Ministerpräsidenten, hier war und wir sowohl ein Konzert im Theater besucht haben als auch die älteste Kneipe Europas oder Deutschlands und dann das Ozeaneum –, dass die Ministerpräsidenten der umliegenden Länder einfach nur schwer beeindruckt waren von dem, was hier geschaffen wurde. Frau Schwesig hat es auch gesagt: Dieses Theater steht für den Willen, nicht nur auf Straßen und Plätzen Leben zu haben, sondern auch ein reiches Kulturleben. Die Bürgerinnen und Bürger Stralsunds, aber auch die Landesregierung haben sich hierfür ja immer wieder eingesetzt. Und ich finde, es ist ein tolles Haus, in dem wir heute feiern können. Wenn wir diese 30 Jahre Deutsche Einheit feierlich begehen – wir befinden uns jetzt ja zwischen den Jubiläen 30 Jahre Mauerfall und 30 Jahre Deutsche Einheit –, dann wandern unsere Blicke natürlich zurück – Frau Schwesig hat das dargestellt. Wenn wir älter sind – deutlich älter als 30 Jahre –, wissen wir und erinnern wir uns, dass es in der DDR ja doch ein gespaltenes Leben gab. Einerseits gab es ein privates Leben. Viele Westdeutsche können nur schwer verstehen, dass man da auch gelacht hat, sich gefreut hat, sich verliebt hat, dass man … – (Heiterkeit und Beifall) – Ja, es gibt viele, die das staatliche System und die Tatsache, dass auch darin privates Leben möglich war, schwer zusammenbekommen. – Aber jeder konnte andererseits auch sehr schnell spüren, dass private Freiheit Grenzen hat und dass der Staat doch massiv in die Freiheit eingegriffen hat. Hier an der Ostsee ist auch daran zu erinnern, dass 189 Menschen bei dem Versuch, über die Ostsee diesem System zu entfliehen, ihr Leben verloren haben. Wir sollten und dürfen nicht vergessen, wie viele Menschen auch psychisch gebrochen wurden, wie viele bespitzelt wurden, verhört wurden, in Jugendwerkhöfen untergebracht waren. Auch das traurige Kapitel der Zwangsadoptionen und andere Dinge müssen immer wieder in den Blick genommen werden, da sie Lebensmöglichkeiten zerstört haben. Ich glaube, dass es, wenn wir auf das neue Jahrzehnt schauen – immerhin sind wir in der Bundesrepublik Deutschland jetzt schon länger vereint, als wir durch die Mauer getrennt waren –, wichtig ist, unsere eigene Vergangenheit, unsere Lebenserfahrung mit einzubringen in die Debatte um Deutschlands Zukunft. Nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern müssen wir über die Zukunft diskutieren und fragen, wohin wir wollen, sondern wir alle in Deutschland erleben ja, dass die Welt nicht schläft. Wenn ich mir die rasanten Entwicklungen in China anschaue, wenn ich sehe, was für Pläne Indien hat, wenn man sich ganz Asien anschaut oder auch die Sehnsüchte der Afrikanerinnen und Afrikaner, dann sage ich: Wir müssen weiter arbeiten, wir müssen weiter neugierig sein und uns um die Zukunft kümmern. Dass das gelingen kann, dafür ist auch die Stralsunder Werft ein großartiges Beispiel; trotz aller Schwierigkeiten für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder, wie man damals gesagt hat, Arbeiter auf der Werft. – Ich war Physiker; und als ich in die Bundesrepublik Deutschland eintrat, nach Bonn kam und sagte „Ich bin Physiker“, wurde nachgefragt: Was sind Sie; Sie sind doch Physikerin? Mir ging das aber schwer über die Lippen, heute geht es schon besser. – Also, weit über 8.000 Menschen waren früher auf der Volkswerft Stralsund beschäftigt. Heute sind wir froh, dass es wieder über 1.000 sein werden oder können und dass es wieder Aufträge gibt. Aber das Auf und Ab steht eigentlich auch stellvertretend für die nervliche Belastung, die so viele durchlebt haben. 30 Jahre lang immer wieder wahnsinniger Stress – ob es um Eigentumsfragen ging, ob es um Zukunftshoffnungen ging. Das macht vielleicht manchmal auch die Art der Diskussionen aus, die wir heute führen. Aber wir haben ja auch vieles erreicht und geschafft. Wer heute hierherfährt, sieht das. A20, Stralsundumgehung, zweite Rügenanbindung, B96n – allein in dieser Region kann man so vieles aufzählen, das gelungen ist. Und daran, dass das Ozeaneum kurz nach seinem Bau gleich Museum des Jahres in Europa wurde, kann man sehen, dass wir hier wirklich nicht hinter irgendwelchen Wäldern wohnen, sondern mitten im Zentrum Europas. Meine Damen und Herren, in der Frage gleichwertiger Lebensverhältnisse gab es drei Jahrzehnte lang sehr viele Diskussionen um Ost und West. Wir spüren aber, dass es immer mehr darum gehen wird, ob wir gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland haben. Und für mich ist die eklatanteste Herausforderung diejenige, die die Unterschiede zwischen Ballungsgebieten und ländlichen Räumen betrifft. Daran werden wir sehr viel arbeiten müssen. Der Bund nimmt sich dieser Aufgabe ja auch an. Ich glaube aber, wir können Gleichwertigkeit sozusagen allein durch politische Maßnahmen nicht erreichen. Aber natürlich müssen wir etwas tun. Wir werden zum Beispiel die regionale Wirtschaftsförderung umstellen und auch die demografische Situation mit einbeziehen und fragen: Wer hat größere und wer hat geringere demografische Probleme? Es geht gerade auch angesichts der Herausforderungen von Digitalisierung und Klimaschutz im Grunde um die Frage, ob wir uns zwischen Stadt und Land noch verstehen. In den Städten ist es natürlich sehr einfach, für die Windenergie zu sein. Auf dem Land kann einen das schon persönlich betreffen, wenn man so eine „sehr geliebte“ Windkraftanlage in der Nähe des eigenen Hauses oder der eigenen Wohnung hat. Deshalb unterstütze ich sehr, was die Ministerpräsidentin gesagt hat, nämlich dass wir auch daran arbeiten, dass Menschen, die diese Art von Herausforderung annehmen, die eben die Erzeugung von erneuerbaren Energien in ihrer Umgebung fördern, auch an den Gewinnen beteiligt werden. Das war früher geradezu selbstverständlich: Wer ein Atomkraftwerk in seiner Kommune bzw. in der Nähe hatte, dem ging es gut. – Ich wollte keine neuen Atomkraftwerke ankündigen, keine Sorge. Wir sind froh, dass wir das eine, das wir in der Region hatten, abgebaut haben. Darum geht es nicht, sondern es geht darum, dass wir die Menschen, die am Infrastrukturaufbau beteiligt oder davon betroffen sind – ob sie eine große Stromleitung vor das Haus gesetzt bekommen oder ob sie eine Windkraftanlage in der Nähe haben –, in gewisser Weise dafür entschädigen oder belohnen, dass sie diese Last für die Bevölkerung ganz Deutschlands auf sich nehmen. Mich haben neulich im Berliner Naturkundemuseum junge Schüler, die wirklich auch gute und zukunftsweisende Gedanken zum Klimaschutz hatten, gefragt – ich habe das Landrat Kerth schon am Freitag erzählt –, mit wem auf der Welt sie denn eine Partnerschaft eingehen könnten. Dazu habe ich gesagt: Ich könnte euch eine Schulklasse in meinem Wahlkreis empfehlen; ihr braucht nicht unbedingt nach Afrika oder nach Asien zu fahren. Unterhaltet euch miteinander einfach einmal darüber, was die Herausforderungen in einem wunderbaren Gebiet wie Rügen oder Vorpommern sind, was eure Vorstellungen vom Leben sind und wie ihr euch miteinander austauschen könnt; denn ihr wollt ja zum Beispiel regionale Produkte essen, aber wenn es um die Genehmigung von Schweine- und Kuhställen geht, dann rümpft ihr schon die Nase, bevor ihr überhaupt welche gesehen habt. Diese und viele andere Dinge müssen wir in Zukunft zusammenbringen; davon bin ich zutiefst überzeugt. Darüber gilt es noch viele Diskussionen zu führen. Ich möchte hier heute selbstverständlich nur ein kurzes Grußwort halten und deshalb als letzten Gedanken auch das ansprechen, was Frau Schwesig zum Schluss gesagt hat. Jeder Mensch hat ein einziges Leben; und in den Jahren 1989/90 sind viele, viele Menschen geradezu über sich hinausgewachsen. Wir waren eigentlich stumm, wir hatten in der ehemaligen DDR eigentlich gar keine gesellschaftliche Diskussion bis 1989. Und plötzlich kam es aus den Menschen heraus – sie waren mutig, sie hatten sich zu Wort gemeldet, es gab prägnanteste Plakate und Losungen. Manchmal frage ich mich: Wo ist das geblieben, was könnten oder sollten wir heute tun? Ich glaube, wir sollten an vielen Stellen unsere Sprache wiederfinden, aber in einer positiven und kreativen Art und immer mit Respekt davor, dass sich auch andere viele Gedanken machen und dass es unterschiedliche Meinungen gibt. Ich komme ja aus einer Partei, die das „C“ im Namen hat. Deshalb sage ich einmal: Der Herrgott hat jeden Menschen anders geschaffen. Die, die nicht an Gott glauben, sagen das vielleicht mit anderen Worten, aber wir alle sind unterschiedlich; und eigentlich ist es schön, dass wir alle unterschiedlich sind. Aber die Unterschiedlichkeit macht natürlich auch die Schwierigkeit unseres Lebens aus. Wir stehen morgens ja nicht alle auf – das passiert ja nicht einmal in der Familie – und sagen: Jetzt haben wir den gleichen Plan für den Tag. So haben wir auch nicht alle die gleichen Pläne für unser Land. Aber jeder von uns hat eine gute Idee. Es kommt darauf an, darauf zu hören und sich nicht in Ecken zu verkriechen, in denen man möglichst Gleichgesinnte findet, die aber nie eine andere Meinung zulassen, und in denen man gar nicht den Ideenreichtum der Menschen in unserem Land mitbekommt; denn das wäre schade. Deshalb ist mein Wunsch – neben Gesundheit, neben Kreativität, neben einem friedlichen Jahr 2020 –, dass wir 2020 zu einem Jahr des Zuhörens, des Hinhörens, des Sich-überraschen-lassens machen. Denn es ist so, dass auch andere etwas Schönes können, etwas Gutes denken, eine gute Idee haben. In diesem Sinne freue ich mich, heute dabei zu sein, danke Ihnen und wünsche Ihnen allen alles Gute!
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters beim Neujahrsempfang der Stadt Münster
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-beim-neujahrsempfang-der-stadt-muenster-1712894
Sun, 12 Jan 2020 11:15:00 +0100
Im Wortlaut
Münster
Kulturstaatsministerin
Kultur
Der vorweihnachtliche Stress ist überstanden, die Weihnachtsgans verdaut, der Neujahrskater verflogen, und gut erholt nach ein paar freien Tagen ist man geneigt, Karl Valentin zuzustimmen, der einmal gesagt hat: „Wenn die stille Zeit vorbei ist, dann wird es auch wieder ruhiger.“ Ruhig genug jedenfalls, um zahlreiche, vielbeschäftigte Menschen zu einem festlichen Empfang im Münsteraner Rathaus zu versammeln; ruhig genug auch noch, um dafür eigens aus Berlin anzureisen. Ich freue mich sehr, heute mit dabei zu sein, und das nicht nur, weil ich in meiner Heimatstadt ein politisches „Heimspiel“ habe – weil in Münster meine Wurzeln liegen, zu denen die katholische Prägung ebenso gehört wie meine familiären Bindungen und all die Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend. Ich freue mich auch und vor allem deshalb, weil die Stadt Münster nicht zuletzt kulturpolitisch eine wahre Vorzeige-Stadt ist: eine Stadt, die ihr kulturelles Erbe auf vorbildliche Weise bewahrt und pflegt; eine Stadt, in der die kulturelle Vielfalt gedeiht; eine Stadt, in der man den Wert der Kultur – ihre Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft – zu schätzen weiß; eine Stadt, die eben deshalb in besonderem Maße von der Kulturförderung des Bundes profitiert. Viele von Ihnen, meine Damen und Herren, tragen dazu bei, dass Münster auch dank des vielfältigen kulturellen Angebots „unter Deutschlands Schönen eine der schönsten ist“ (um einen alten Slogan aus dem Stadtmarketing mal wieder aufzugreifen), und so nehme ich diesen Neujahrsempfang gerne zum Anlass, auf das gemeinsame Engagement für die Kultur und die Kulturförderung einzugehen und zu unterstreichen, wie wichtig dieses Engagement für kulturelle Vielfalt nicht zuletzt auch im Kampf gegen populistische Einfalt ist. Wichtig ist dieses Engagement zunächst einmal für die Stadtgesellschaft: Kulturorte wie Kinos, Museen, Theater, Bibliotheken, aber auch Kulturfestivals bringen Bürgerinnen und Bürger ins Gespräch und machen Städte attraktiv nicht nur für Touristen, sondern auch für junge, gut ausgebildete Menschen, die sich von einem vielfältigen Kulturangebot hohe Lebensqualität versprechen. Angesichts des demographischen Wandels ist das für Städte und Gemeinden von geradezu existentieller Bedeutung. Eine lebendige Kultur- und Kreativszene und junge, gut ausgebildete Arbeitskräfte wiederum locken Unternehmen an, die den Stadtkämmerern sprudelnde Steuereinnahmen bescheren. Vor diesem Hintergrund ist klar: Kulturförderung ist keine Subvention, sondern eine Investition in die Zukunft. Deshalb kann ich jeder Stadt, jeder Kommune nur raten, was wir auf Bundesebene beherzigen: Spart nicht an der Kultur! Hier den Rotstift anzusetzen, kostet mittel- und langfristig viel mehr, als es kurzfristig an Einsparungen bringt. Insgesamt sind es jährlich mehr als 10 Milliarden Euro, die der deutsche Staat (Bund, Länder und Kommunen) für die Kultur zur Verfügung stellt. Der Bund konzentriert sich gemäß der Kulturhoheit der Länder mit einem Anteil von knapp 15 Prozent auf Aufgaben von überregionaler, gesamtstaatlicher Bedeutung. Er sorgt für die Pflege des kulturellen Erbes und bereitet den Boden für die Avantgarde, er sorgt für geeignete Rahmenbedingungen für Künstler und Kreative, verantwortet die kulturelle Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt Berlin, steht Ländern und Kommunen als Partner zur Seite und fördert Projekte, Kultureinrichtungen und Gedenkstätten von nationaler Bedeutung. Ich habe in den vergangenen Jahren immer wieder dafür gekämpft, dass der Bund noch mehr Geld für die Kultur bereit stellt – und ich konnte in allen Haushaltsverhandlungen meiner bisherigen Amtszeit auch erreichen, dass der Bundeskulturhaushalt deutlich aufgestockt wird: auf mittlerweile knapp zwei Milliarden Euro. Das ist ein eindrucksvoller Beleg für die politische Wertschätzung der Kultur und für das kulturpolitische Engagement der Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel. Angesichts einer staatlichen Kulturförderung durch Bund, Länder und Kommunen, die weltweit ihresgleichen sucht, ist Deutschland nach wie vor das Land mit der höchsten Theaterdichte der Welt, und das gilt ebenso für die Museen, Orchester, Literaturhäuser, Archive und Bibliotheken. Fast die Hälfte aller Opernhäuser weltweit steht auf deutschem Boden, und jedes zweite Profiorchester spielt auf deutschem Boden. Die 6.800 Museen in Deutschland haben mit 114,4 Millionen Besuchern beinahe neunmal so viel Publikum wie die Fußballbundesliga (rund 13,5 Mio.). Allein die Stadt Münster kann sich – je nach Zählweise – mit rund 30 Museen sowie zahlreichen Theatern und Kinosälen schmücken, dazu noch mit einer weltweit renommierten Großausstellung zeitgenössischer Kunst, der alle zehn Jahre stattfindenden, mit Bundesmitteln geförderten Schau „Skulptur Projekte Münster“. Und ich bin sicher: Auch der geplante Musik-Campus wird Münsters Kulturleben enorm bereichern. Es freut mich sehr, dass die Stadt und unterschiedliche Partner aus der Region, darunter sogar das Land Nordrhein-Westfalen, sich in diesem Sinne zusammengetan haben – ein leuchtendes Beispiel dafür, dass auch die Kommunen sich ihrer kulturpolitischen Verantwortung bewusst sind! Der Journalist Ralph Bollmann hat sich übrigens vor einigen Jahren mal die Mühe gemacht, sämtliche Städte mit Opernhäusern zu bereisen, und kam in seinem wunderbaren Buch „Walküre in Detmold“ zu dem Schluss, ich zitiere: „Das Besondere an Deutschland ist nicht, dass es mehrere bedeutende Zentren hat. Ungewöhnlich ist, wie viel Wichtiges sich an ganz unwichtigen Orten abspielt.“ Oder, wie ich persönlich es formulieren würde: wie viel Weltläufigkeit und kulturellen Reichtum es in ganz Deutschland, auch fernab der Metropolen, zu entdecken gibt. Das ist auch das Verdienst all jener unter Ihnen, meine Damen und Herren, die in Museen, Theatern und anderen Kultureinrichtungen oder auch – als bedeutende kulturpolitische Akteure nicht zu vergessen! – in den christlichen Kirchen hervorragende Arbeit für den Erhalt des kulturellen Erbes und für die Förderung der kulturellen Vielfalt leisten. Und es ist nicht zuletzt auch das Verdienst privaten und bürgerschaftlichen Engagements. Sammler und Stiftungen machen durch ihr Geld oder ihre Leihgaben Kunst und Kultur in einem Umfang zugänglich wie das allein durch staatliche Mittel niemals möglich wäre. Unzählige Museen in ganz Deutschland sind (mit)getragen vom Bürgersinn kunstbegeisterter Mäzene, denen die Förderung der künstlerischen Avantgarde ebenso ein Herzensanliegen ist wie der Erhalt des kulturellen Erbes. Auch in Münster zeigt sich in verschiedenen Museumsfördervereinen die Verbundenheit der Bürgerinnen und Bürger mit Kunst und Kultur. Ihre Mitglieder machen mit ihrer Unterstützung Sonderausstellungen möglich, erschließen mit Beiträgen zur kulturellen Bildung und Vermittlung neue Zielgruppen für die Museen und unterstützen diese nicht zuletzt beim Ankauf zur Ergänzung und Erweiterung der Sammlungen. Bürgersinn zeigen Kunstliebhaber auch in traditionsreichen Kunstvereinen, wie es sie ebenfalls hier in Münster gibt. Sie eröffnen Resonanzräume, in denen die Kraft der Kunst sich entfalten kann. Auf solche Resonanzräume, auf Orte der Präsentation, auf Instanzen der Vermittlung und auf kunstbegeisterte Begleiter, die für Aufmerksamkeit sorgen, waren selbst Künstlerinnen und Künstler, die heute zum Kanon der Moderne gehören, einst als unbekannte Zeitgenossen angewiesen. So mancher Kunstverein hat deshalb Spuren in der Kunstgeschichte hinterlassen: als Bühne der zeitgenössischen Kunst und als Wegbereiter der Avantgarde. Münster jedenfalls kann sich glücklich schätzen, dass Kunst und Kultur breite Unterstützung engagierter Münsteraner Bürgerinnen und Bürger erfahren: Das tut nicht nur der Strahlkraft der Stadt gut, sondern auch dem Zusammenhalt der Stadtgesellschaft. Deshalb ist es, glaube ich, kein Zufall, dass Münster es bisher so erfolgreich geschafft hat, Populisten Paroli zu bieten; es ist kein Zufall, dass die AfD hier bei der letzten Bundestagswahl 2017 unter fünf Prozent blieb – das schlechteste Ergebnis deutschlandweit. Denn Kultur stiftet Identität und schafft Raum für Verständigung: Kultur und Kultureinrichtungen – Film, Literatur, Museen, Theater usw. – können auf Ressentiments gebaute Weltbilder ins Wanken bringen. Sie können Einfluss darauf nehmen, wie kulturelle Identität und kulturelle Vielfalt in Deutschland wahrgenommen werden. Sie können Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht. Sie können Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Sie können unseren Wurzeln und Werten jenseits argumentativer Auseinandersetzung Sichtbarkeit und Gehör verschaffen. Und wer das Eigene kennt und wertschätzt, kann auch dem Fremden Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen. Identitätsstiftend ist insbesondere die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe, für dessen Bewahrung der Bund eine Menge Geld in die Hand nimmt. Auch Münster profitiert – auch dank des unermüdlichen Engagements meiner Bundestagskollegin Sybille Benning – von den Denkmalschutz-Sonderprogrammen meines Hauses. Zu den Empfängern von Bundesmitteln zählten in den vergangenen Jahren die Liebfrauen-Überwasserkirche, die ehemalige Dominikanerkirche, das Torhaus am Neutor und Schloss Münster, das 2020 im Rahmen einer Einzelinvestitionsmaßnahme noch einmal mit 500.000 Euro rechnen darf. Dass es sich auch lohnen kann, das kulturelle Erbe neu zu interpretieren, zeigt – nebenbei bemerkt – die katholische Kirche St. Lamberti: Die erste Türmerin in der Geschichte, die hier vom Glockenturm das Horn bläst, hat sowohl dieser 600 Jahre alten Tradition wie auch der Stadt Münster deutschlandweit Aufmerksamkeit beschert. Beispielhaft für die identitätsstiftende Wirkung des kulturellen Erbes auch für Europa steht natürlich insbesondere das Rathaus Münster: Hier haben erbitterte Feinde sich einst die Hand gereicht, um das Ende des 30-jährigen Krieges zu besiegeln; hier wurde die Grundlage für Frieden, religiöse Toleranz und Zusammenhalt in Vielfalt in Europa geschaffen. Daran hat eindrucksvoll eine von meinem Haus geförderte Ausstellung („Frieden. Von der Antike bis heute“) im LWL-Museum Münster erinnert, die ich im vergangenen Jahr zusammen mit Dir, lieber Markus Lewe, eröffnen durfte und an der sich viele engagierte Kooperationspartner beteiligt haben. Für mich war diese Ausstellung ein Höhepunkt des (ebenfalls aus meinem Kulturetat geförderten) Europäischen Kulturerbejahres in Deutschland. Nicht minder beeindruckend als das kulturelle Erbe ist auch die kulturelle Vielfalt Münsters, und deshalb freue ich mich ganz besonders, lieber Markus, dass Du meine Anregung aufgegriffen hast, zum diesjährigen Neujahrsempfang neben Repräsentantinnen und Repräsentanten herausragender Münsteraner Kultureinrichtungen auch all jene einzuladen, die in denen vergangenen Jahren für ihr Engagement für die kulturelle Vielfalt mit Kulturpreisen des Bundes, meines Hauses ausgezeichnet wurden – ausgewählt von unabhängigen Jurys wohlgemerkt! (Ich sage das, um Spekulationen über einen „Grütters-Bonus“ für Münsteraner im Keim zu ersticken; die vielen Preise für Münster sind ehrlich verdient!) Unter den Preisträgern des 2019 erstmals vergebenen Deutschen Verlagspreises beispielsweise waren gleich drei Verlage aus Münster. Der Deutsche Buchhandlungspreis ging seit der erstmaligen Verleihung 2016 viermal nach Münster. Mit dem ebenfalls von mir ins Leben gerufenen Theaterpreis des Bundes wurden seit 2015 insgesamt drei Theater im Umland von Münster ausgezeichnet. Bei unserem Kinoprogrammpreis gehören aus Münster das renommierte Programmkino Cinema & Kurbelkiste und auch das Schloßtheater alle Jahre wieder zu den Preisträgern. Und auch beim APPLAUS für Musikclubs, dem einstigen Spielstättenprogrammpreis, ist Münster stark vertreten: Ausgezeichnet wurden die Pension Schmidt und das Cultur- und Begegnungscentrum cuba; sie überzeugten die Jurys mit ihrem anspruchsvollen und vielfältigen Livemusikprogramm. Diese Bundeskulturpreise für Theater, Kinos, Musikclubs, Verlage, Buchhandlungen sollen dazu beitragen, das großartige Netz „geistiger Tankstellen“ aufrecht zu erhalten und kulturell herausragenden Kulturorten mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu verschaffen. Der Bund hat ja aus verfassungsrechtlichen Gründen – Stichwort „Kulturföderalismus“ – leider keine Möglichkeit, Einrichtungen wie etwa einzelne Theater institutionell zu fördern. Er kann und er darf die Leistungen der Kommunen und der Länder nicht ersetzen oder gar ausbleibende Mittel kompensieren. Umso wichtiger ist es mir, solche Kulturpreise auszuloben: als Unterstützung und Ermutigung für die zahlreichen Klein-Kultur-Einrichtungen, in denen wahre Liebhaber am Werk sind und mit viel Herzblut und persönlichem Einsatz dafür sorgen, dass es in ganz Deutschland ein vielfältiges Kulturangebot auf hohem professionellen Niveau für alle Bürgerinnen und Bürger gibt. Ein solches Kulturangebot gehört im Übrigen aus meiner Sicht auch zu den wirkungsvollsten Maßnahmen gegen die vielerorts zu beobachtende Spaltung unserer Gesellschaft, vor der – das ergab kürzlich der ARD-Deutschlandtrend – mehr als 80 Prozent der Menschen in Deutschland Angst haben. Die aktuellen Herausforderungen, die diese Angst nähren, sind allein mit den Mitteln der Sozial- oder auch der Innenpolitik nicht zu bewältigen: das Erstarken von Extremismus, Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus; die diffamierende Abwertung anderer Sicht- und Lebensweisen; die Verrohung des öffentlichen Diskurses; die schwindende Bereitschaft, den Anderen in seinem Anderssein zu ertragen – und sei es schlicht als Gegenüber in einer sachlichen Auseinandersetzung. Das sind besorgniserregende Entwicklungen, die den Kern unserer Demokratie bedrohen: den konstruktiven Streit, das Ringen um Kompromisse. Kunst und Kultur können Kräfte gegen diese Entwicklungen entfalten. Sie lassen gedeihen, was unserer Gesellschaft abhanden zu kommen droht: Verstehen, Verständnis, Verständigung über die Grenzen zwischen unterschiedlichen Lebenswelten hinweg. All das braucht und verdient weiterhin unser gemeinsames Engagement, meine Damen und Herren: das Miteinander von politischem und bürgerschaftlichem, von öffentlichem und privatem Engagement. Für Ihr Engagement danke ich Ihnen und wünsche Ihnen dabei auch im neuen Jahr ein gutes und erfolgreiches Miteinander. „Der eigentliche Kern der Freundschaft: ein Glaube, ein Hoffen, ein gemeinsames Werk“: Das hat eine der berühmtesten Töchter Münsters, Annette von Droste-Hülshoff, einmal gesagt, deren Geburtsort Burg Hülshoff sich gerade – auch mit Unterstützung meines Hauses –zu einem Literatur- und Kulturzentrum entwickelt. Ein Glaube, ein Hoffen, ein gemeinsames Werk: Kunst und Kultur zu fördern, ist dafür gewiss bestens geeignet und schafft so auch Verbundenheit, Zusammenhalt, vielleicht gar Freundschaft! In diesem Sinne: auf eine blühende Kulturlandschaft und auf all jene, die ihr Gedeihen fördern!
In ihrer Rede würdigte Staatsministerin Grütters das Engagement der Stadt Münster für die Kultur. Münster ist eine Vorzeige-Stadt, „eine Stadt, die ihr kulturelles Erbe auf vorbildliche Weise bewahrt und pflegt; eine Stadt, in der die kulturelle Vielfalt gedeiht; eine Stadt, in der man den Wert der Kultur – ihre Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft – zu schätzen weiß; eine Stadt, die eben deshalb in besonderem Maße von der Kulturförderung des Bundes profitiert“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Empfang der Sternsinger am 7. Januar 2020 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-empfang-der-sternsinger-am-7-januar-2020-in-berlin-1710474
Tue, 07 Jan 2020 11:00:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Pfarrer Bingener, sehr geehrte Frau Maier, vor allem aber ihr, liebe Sternsingerinnen und Sternsinger, ich möchte euch noch einmal alle gemeinsam ganz herzlich im Bundeskanzleramt willkommen heißen und sagen, dass es schön ist, dass ihr hier seid, jedes Jahr wieder aufs Neue. Es ist deshalb schön, dass ihr hier seid, weil ihr ja Gottes Segen bringt und weil ihr, was nicht ganz gewöhnlich ist, dieses Kanzleramt mit euren Liedern und Königskostümen so bunt und fröhlich macht und damit auch Optimismus und Fröhlichkeit für das neue Jahr ausstrahlt. Wenn ihr überall in Deutschland von Haus zu Haus zieht, dann pflegt ihr einen wunderbaren Brauch. Aber es geht eben nicht nur um den Brauch als solchen, sondern ihr bewegt damit noch sehr viel mehr. Ihr engagiert euch politisch, ihr macht auf ganz wichtige Themen aufmerksam. Ihr als Kinder helft anderen Kindern auf der Welt. Dass dieses Jahr im Mittelpunkt eurer Aktion das Thema Friede steht, hat sich ja schon in eurem Puzzle der Stätten auf der Welt gezeigt, an denen eben kein Friede herrscht. Auch zu Jahresbeginn mussten wir erkennen, dass wir uns weiter Sorgen um Frieden machen müssen. Ich kann euch sagen, dass mein Jahr wirklich damit begonnen hat, für Frieden zu arbeiten. Das wird sicherlich das ganze Jahr über dauern. Das kann eine Regierung allein mit Sicherheit auch überhaupt nicht schaffen. Man braucht auf allen Seiten den Willen zum Frieden. Daher ist es sehr, sehr gut zu wissen, dass sich nicht nur Politikerinnen und Politiker, sondern dass auch ihr euch für Frieden einsetzt – und zwar als Kinder, die ihr wie wir alle in einem Land lebt, in dem wir das große Glück haben, schon seit 75 Jahren in Frieden leben zu können. Aber viele Menschen auf der Welt haben dieses Glück nicht. Euer Puzzle zeigt, in wie vielen Teilen der Welt Gewalt herrscht. Und das ist ja längst noch nicht alles. Wir müssen leider feststellen, dass 2017 fast jedes fünfte Kind auf der Welt in einem Kriegs- oder Konfliktgebiet lebte. Wenn ihr euch einmal durchzählt und euch vorstellt, jeder Fünfte lebte nicht in einem friedlichen Umfeld, dann könnt ihr euch bildlich vorstellen, wie viele Kinder das auf der Welt sind. Aber gut ist, dass wir uns mit diesem Zustand nicht abfinden wollen. Deshalb bin ich sehr, sehr froh darüber, dass ihr euch des Themas Frieden angenommen habt, dass ihr das Lied „Frieden für die Kinder, Frieden für die Welt“ singt und das den Menschen nahebringt. Dieses Lied und eure Arbeit als Sternsinger ist vielleicht so etwas wie ein kleines Licht, das Hoffnung in die Welt bringt. Dies zahlt sich für andere Kinder auch ganz handfest aus, wenn Kinder dank eurer Hilfe plötzlich gesundes Essen oder eine medizinische Versorgung bekommen, was natürlich sehr wichtig für ihr zukünftiges Leben ist. Ihr bringt, wenn ihr durch die Städte und Dörfer zieht, eine Botschaft zu den Menschen, die besagt: Jeder kann etwas tun. Wir brauchen Nächstenliebe, damit die Welt friedlicher wird und damit die Welt zusammenhält. Unser Wort „Friede“ kennt diesen Gedanken. Es leitet sich aus dem Althochdeutschen „fridu“ ab, das auch „Freundschaft“ bedeutet. Das heißt, auf den Nächsten zuzugehen, mit dem Nächsten auch Freundschaft zu schließen, keine Vorurteile zu haben, das ist die Grundlage von Frieden. Für Freundschaft und Frieden braucht man Vertrauen. Vertrauen muss wachsen. Es kann entstehen, wenn Menschen aufeinander zugehen, sich etwas trauen und zutrauen und dann eben auch einander vertrauen. Darum geht es auch bei eurem Bildungsprojekt im Libanon, für das ihr in diesem Jahr Geld sammelt. Der Libanon ist ja ein sehr kleines Land. Ich habe es schon besucht. Dieses Land hat sehr viele Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Das ist für dieses Land auch deshalb so schwierig, weil dort Menschen vieler verschiedener Religionen zusammenleben, darunter Christen und Muslime, Schiiten wie auch Sunniten. Ein solches Zusammenleben muss gut ausbalanciert sein. Durch die Flüchtlinge hat sich die Balance im Land verändert, was zu einer sehr schwierigen Situation geführt hat. Im Augenblick ist es so, dass jeder vierte Einwohner des Libanon ein geflohener Syrer ist. Wir haben hierzulande ja auch Flüchtlinge aufgenommen; und auch bei uns ist die Diskussion darüber sehr schwierig. Wir haben etwas mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen und sind selber 80 Millionen. Aber wenn man wie im Libanon 25 Prozent hat, die Flüchtlinge sind, dann können wir uns ja vorstellen, dass das eine riesige Herausforderung ist. Als ihr euch auf eure Aktion vorbereitet habt, habt ihr Bilder von verschiedenen Situationen im Libanon gesehen, vielleicht auch von den Straßenprotesten gegen die Regierung. Auch die wirtschaftliche Lage ist dort sehr schwierig. Daher ist dieses Projekt, das Bildungszentrum der Caritas, das sich für Verständigung zwischen Kulturen und zwischen den verschiedenen Religionen einsetzt, eben so wichtig. Deshalb freue ich mich – ich möchte dann ja auch noch etwas dazutun –, dass ich mit euch zusammen Kinder in Beirut unterstützen kann und dass etwa hundert Kinder bei den Hausaufgaben, bei der Nachhilfe, in der Schule besser zurechtkommen werden – und das werden ja auch zu einem großen Teil Menschen aus Syrien sein. Ihr helft Kindern aus dem Libanon, aus Syrien und anderen Ländern, sich kennenzulernen. Gemeinsam lernen und lachen – das ist etwas, das Vertrauen schafft und zu dem man auch sagen kann: Wir verstehen uns besser, wir kennen einander. Deshalb darf ich sagen: Wir freuen uns, weil das eine Ergänzung vieler unserer Projekte ist. Ich sage „unsere“ Projekte, weil sie letztlich auch Projekte der Menschen in Deutschland sind, da wir ja Steuergelder ausgeben. Es ist aber gut, dass ihr noch etwas dazutut. Wir arbeiten für Frieden an vielen Plätzen. Zum Beispiel haben wir in der Ukraine kurz vor Weihnachten ein Treffen mit dem russischen Präsidenten und dem ukrainischen Präsidenten abgehalten. Es gab zu Weihnachten einen Gefangenenaustausch; das war eine gute Botschaft. Es gibt im Augenblick einen Waffenstillstand, der zwar nicht ganz hält, aber der ein bisschen hält ‑ wenigstens über die Tage des orthodoxen Weihnachtsfestes, das ja später gefeiert wird. So könnte ich von vielen anderen Aktionen berichten, in denen wir uns für Frieden einsetzen. Wir arbeiten im Augenblick auch sehr stark daran, dass in Libyen endlich ein Waffenstillstand entsteht. Wir sind auch mit vielen afrikanischen Ländern in Kontakt. Ihr habt Mali als Beispiel dabeigehabt, aber wir wissen, dass etwa auch in Burkina Faso viele Kinder nicht in die Schule gehen können, weil sie Angst vor Terroristen haben. So gibt es sehr viele solcher Plätze. Liebe Sternsinger, „Segen bringen, Segen sein“ – das gehört ja auch zu eurem Motto; hier steht es ganz groß. Das versuchen wir in unserer täglichen Arbeit, das versucht ihr durch euer Tun – und ihr seid damit Vorbilder. Ich hoffe, dass die Menschen, die ihr trefft, freundlich zu euch waren bzw. auch noch sind. Dass ihr in den letzten Jahren Rekordspenden eingesammelt habt – über 50 Millionen Euro –, ist ja wirklich Wahnsinn. Deshalb drücke ich natürlich die Daumen, dass das dieses Jahr auch so ist. Denn wenn man die Lebenssituation in vielen Ländern mit der bei uns vergleicht, muss man wirklich sagen: Wir sind ein reiches Land. Deshalb ist es gut, dass wir auch an andere denken und ihr an andere denkt. Deshalb alles Gute für eure Aktion. Ich wünsche euch und euren Familien ein frohes und gesegnetes, ein glückliches Jahr. Bleibt weiter dran an eurem Engagement. Jetzt würde ich auch gerne meinen kleinen Obolus dazu leisten.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich des Festakts zum Auftakt des Beethoven-Jubiläums 2020
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-des-festakts-zum-auftakt-des-beethoven-jubilaeums-2020-1707842
Mon, 16 Dec 2019 20:00:00 +0100
Im Wortlaut
Bonn
Kulturstaatsministerin
Kultur
Wer wäre Ludwig van Beethoven heute, im 21. Jahrhundert, als unser Zeitgenosse? Wären seine unerhört modernen Werke Stoff für die Feuilletons? Würde er mit seinen Hits auch ganz oben in den Charts landen? Wären seine Konzerte so schnell ausverkauft wie die Kartenkontingente für diesen Festakt abgerufen waren: nämlich in rekordverdächtigen drei Minuten? Würde er auf dem roten Teppich von jubelnden Fans, von kreischenden Groupies empfangen, die um ein Selfie mit ihm betteln? Wie viele Follower hätte er auf Twitter und Instagram? Würde er seine Popularität nutzen, um politisch Position zu beziehen? Vor allem aber: Was hätte er uns heute zu sagen? Fest steht: Beethoven war schon zu Lebzeiten eine Legende: ein Künstler, der mit seiner Radikalität, gegen Takt und Konvention komponierend, Grenzen sprengte und der damit ein breites Publikum begeisterte. Bis heute berührt, bewegt, begeistert und verbindet seine Musik Menschen über alle Grenzen hinweg. So fällt es nicht schwer, ihn als weltweit verehrten Mega-Star gedanklich in die heutige Zeit zu holen. Hochaktuell, ja zukunftsweisend ist und bleibt die Auseinandersetzung mit seinem weltbewegenden Vermächtnis, weil es zum Klingen bringt, was Menschlichkeit, was Menschsein ausmacht. Seine Befreiungsoper Fidelio beispielsweise, von der wir eben die Ouvertüre zur Wiener Uraufführung der zweiten Fassung von 1806 gehört haben, erzählt von der Sehnsucht nach Freiheit und von der Kraft der Liebe, aber auch von Beethovens Begeisterung für die Französische Revolution und ihre Ideale. Einer der begeisterten Zuhörer der Fidelio-Premiere war übrigens Franz Schubert; er soll als 17-jähriger einige seiner Schulbücher verkauft haben, um sich eine Eintrittskarte leisten zu können. Die Begeisterung, die Beethovens Musik schon zu Lebzeiten hervorrief, ist bis heute ungebrochen. Ihre Resonanz spiegelt dabei immer auch die Umstände der jeweiligen Zeit: die Lebenswirklichkeit der Menschen, die sie spielen, interpretieren und hören. Beethovens Resonanz in unserer Gegenwart nachzuspüren: Darum soll es im bevorstehenden Beethoven-Jubiläumsjahr gehen. Sie alle, meine Damen und Herren, und alle, die sich von seiner Musik berühren und bewegen lassen, sind eingeladen, Beethoven und seine Wirkmacht zeitgemäß neu zu entdecken. Mit einem vielfältigen Programm eröffnet das Jubiläumsjahr unterschiedliche Wege der Annäherung – auch für jene, die nicht zum Stammpublikum der Opern- und Konzerthäuser gehören; auch für jene, die beim Wort „Megastar“ eher an Beyoncé als an Beethoven denken. Es ist eine Einladung zum Zuhören, was Beethoven uns heute zu sagen hat – eine Einladung zum Zuhören landauf landab, auch abseits der großen Städte, auch außerhalb der Tempel der Hochkultur: der Konzertsäle, Opernhäuser und Museen. Keine exklusive Einladung für eine kleine Elite also, sondern eine Einladung an alle! Dafür engagiert sich der Bund mit beachtlichen 27 Millionen aus meinem Kulturetat. Ein schönes Beispiel – um nur eines von rund 1.000 inspirierenden Kulturereignissen des Jubiläumsjahres zu nennen – ist der „Musikfrachter“: ein Konzertkahn, der im Frühjahr 2020 von Bonn nach Wien, Beethovens Wahlheimat, tuckert und auf dem Weg dorthin in zwölf Städten als Bühne für Konzerte und Veranstaltungen dient. Bei dieser Gelegenheit heiße ich besonders herzlich unsere Gäste aus Österreich willkommen, und ebenso alle Gäste aus dem Ausland: Vielen Dank, dass Sie diesem großen Künstler und seinem wahrhaft weltbewegenden, völkerverbindenden Vermächtnis die Ehre erweisen! Mit der Einladung zum Zuhören, meine Damen und Herren, soll sich dieses Jubiläumsjahr im Übrigen auch abheben von früheren Beethoven-Jubiläen und -Ehrungen, die statt mit Fragen mit fertigen Thesen aufwarteten und Beethovens Vermächtnis gezielt für politische Zwecke instrumentalisierten: für den deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert; für Durchhalteparolen zu Kriegszeiten; für die Überhöhung der deutschen Kultur und des deutschen Geistes nicht zuletzt in der Zeit des Nationalsozialismus; oder auch für die Fortsetzung des Kalten Krieges in Ost- und Westdeutschland mit den Mitteln der Kulturpolitik. Diese politischen Indienstnahmen für Nationalismus und Ausgrenzung waren Beethoven in keiner Weise würdig – einem Komponisten, der sein Schaffen der Menschheit und der Menschlichkeit widmete und der in Worten wie in Noten den Zeitpunkt herbeisehnte, „wo es nur Menschen geben wird“, wie er einem Freund einmal schrieb – eine Zeit also, in der, was uns als Menschen verbindet, mehr wiegt als alles, was uns trennt: seien es soziale Herkunft, Kultur, Religion, Hautfarbe oder Geschlecht. Von dieser Sehnsucht ist Beethovens Leben und Schaffen durchdrungen, und nicht zuletzt damit entzieht es sich der Aneignung und Einhegung. Es weist über alle Grenzen hinaus; es gehört der Menschheit. Beethoven ist damit nicht nur ein würdiger Pate der Europäischen Einheit; Beethoven ist ein wahrer Weltbürger. Angesichts des Erstarkens eines längst überwunden geglaubten Nationalismus, angesichts populistischer Rufe nach Abschottung und Ausgrenzung können wir aus der visionären Kraft seiner Musik Mut und Zuversicht schöpfen. „Musik (…) macht das Herz weich; (…) ganz still und ohne Gewalt macht die Musik die Türen der Seele auf.“ So hat die deutsche Widerstandskämpferin Sophie Scholl die besondere Kraft der Musik einmal beschrieben. Musik ist eine Sprache, die keiner Übersetzung bedarf, die aber, um ihre Kraft entfalten zu können, vielleicht mehr als jede andere Sprache des genauen Hinhörens bedarf: des Lauschens auf unterschiedliche Stimmen, auf Takt und Tonart, auf laut und leise. „Hören lernen“ ist deshalb der Kern musikalischer Bildung … und auch die Voraussetzung für Verständigung: in Deutschland, in Europa, in der Welt. Wenn es gelingt, das Jubiläumsjahr in diesem Sinne mit Hör-Erlebnissen zu füllen, dann stehen uns nicht nur klangvolle, sondern auch wirkungsvolle Monate bevor. Die Musikerinnen und Musiker des Bonner Beethoven-Orchesters werden uns mit einem Pasticcio, mit einer Klangcollage aus Anspielungen auf und aus Beethovens Vermächtnis, gleich Gelegenheit geben, genau hinzuhören …. Herzlichen Dank allen Mitwirkenden! Dass Generalmusikdirektor Dirk Kaftan dirigiert (und nicht Beethoven selbst), sollten wir übrigens besonders zu schätzen wissen, meine Damen und Herren, denn, so berichtete ein Zeitgenosse Beethovens: „Im Dirigieren durfte unser Meister keineswegs als Musterbild aufgestellt werden, und das Orchester musste wohl acht haben, um sich nicht von seinem Mentor irre leiten zu lassen.“ Beethoven habe die Neigung, sich bei einem Diminuendo immer kleiner zu machen und beim Pianissimo regelrecht unter das Pult zu schlüpfen, während er bei einem Forte – ich zitiere weiter – „mit den Armen wellenförmig rudernd, zu den Wolken hinaufschweben zu wollen“ schien. Beides soll der Präzision eher abträglich gewesen zu sein, ebenso seine Gewohnheit, alle Aufmerksamkeit den feinen Nuancen des musikalischen Ausdrucks, des Musikempfindens zu widmen, technisch verunglückte Stellen aber mit einem „das nächste Mal wird’s schon gehen“ zu quittieren. Mag er auch als Dirigent nicht immer brilliert haben – als Komponist ist er unsterblich. Lauschen wir also, was Beethoven uns heute zu sagen hat. Ehren und verehren wir ihn nicht nur – hören wir ihm zu! Nehmen wir wahr, was „unerhört“ ist an seinen Werken. Holen wir ihn vom Denkmalsockel herunter, hinein in unser Leben und unser Zusammenleben! Als Virtuose auf der Klaviatur der Empfindungen, als ein von Leidenschaft Getriebener, aber auch vom Leiden an seiner zunehmenden Taubheit Gezeichneter, als Schöpfer im besten Sinne erschütternder Werke hat er uns viel zu erzählen über die conditio humana: über die Sehnsucht nach Freiheit und das Verzweifeln an Grenzen; über den Drang, die Gesellschaft zu verändern und den Kampf mit sich selbst; über das Träumen von einer besseren Welt und die Schwierigkeit, den eigenen Idealen auch unter widrigen Umständen treu zu bleiben. Mit seiner Weltverbesserungsleidenschaft und seinem Humanisierungsanspruch, mit seinem Traum, dass es „nur Menschen geben wird“, liegt uns Beethoven im wahrsten Sinne des Wortes – und im besten Sinne! – bis heute in den Ohren. Hören wir auf ihn – auf dass seine Musik keine Zukunftsmusik bleibt, sondern in die Zukunft weist!
In ihrer Rede würdigte die Staatsministerin Beethovens weltbewegendes Vermächtnis und wies auf das vielfältige Programm hin, mit dem das Jubiläumsjahr unterschiedliche Wege der Annäherung eröffnet. „Beethoven war schon zu Lebzeiten eine Legende: ein Künstler, der mit seiner Radikalität, gegen Takt und Konvention komponierend, Grenzen sprengte und der damit ein breites Publikum begeisterte. Bis heute berührt, bewegt, begeistert und verbindet seine Musik Menschen über alle Grenzen hinweg“, so Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der Eröffnungsveranstaltung „Das neue Beethoven-Haus“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-der-eroeffnungsveranstaltung-das-neue-beethoven-haus–1708786
Mon, 16 Dec 2019 16:00:00 +0100
Im Wortlaut
Bonn
Kulturstaatsministerin
Kultur
„Beethoven bei uns“: So heißt die wunderbare Reihe von Hauskonzerten zum Auftakt des Jubiläumsjahres, die Beethovens Präsenz zuhause, im Leben und Alltag musikliebender Menschen unterstreicht. „Wir bei Beethoven“: So könnte man umgekehrt die Erfahrung beschreiben, die das neu gestaltete Beethoven-Haus ermöglicht: Es wartet gleichermaßen mit der Aura des Authentischen wie auch mit Einblicken in das Leben und den Alltag Ludwig van Beethovens auf und erlaubt es uns, diesem Ausnahmekünstler in seinem Geburtshaus noch näher zu kommen als bisher. Man muss nicht selbst Bauherr oder Architektin sein, um zu erahnen, wieviel Aufwand, welch enorme Herausforderungen damit verbunden sind, ein so altes, denkmalgeschütztes Haus vom Keller bis zum Dachgeschoss zu renovieren. Die verwinkelten Räume mit ihren knarzenden Dielenböden, die besonderen Lichtverhältnisse, die denen der damaligen Zeit ähneln, und die gut durchdachte Präsentation der Exponate lassen erahnen, dass hier architektonisch wie auch konzeptionell wahre Meisterinnen und Meister am Werk waren. Man sieht und spürt in jedem Winkel (- das war mein Eindruck beim ersten Rundgang vorhin -), wieviel Energie und Enthusiasmus, wieviel Liebe zum Detail in die architektonische und inhaltliche Neugestaltung geflossen sind. Dafür danke ich Ihnen, lieber Herr Boecker, liebe Frau Dr. Kämpken, liebe Frau Holzer, und dem gesamten Team! Ihre großartige Arbeit macht einen Besuch in diesem Haus zu einem wahren „Wir bei Beethoven“-Erlebnis. Seine Lebensumstände, sein Alltag, seine Gewohnheiten, seine familiären und freundschaftlichen Beziehungen, seine beruflichen Netzwerke, sein Selbstverständnis als Künstler, seine Haltung und Überzeugungen und auch sein bisweilen schwieriger Charakter mit Ambivalenzen und Widersprüchen: All das ist in diesen Räumen gegenwärtig. Nicht ein Denkmal, sondern einen Menschen sehen wir hier; das macht dieses Museumserlebnis gleichermaßen lehrreich wie auch emotional berührend. Auf der Höhe der multimedialen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters und angepasst an die Seh- und Erlebnisgewohnheiten des 21. Jahrhunderts ist es ein „Beethoven-Haus für alle“ geworden: ein Ort, der die Annäherung an einen der bedeutendsten Künstler und Kulturbotschafter unseres Landes von unterschiedlichen Standpunkten aus ermöglicht, unabhängig von Alter, Herkunft und Vorbildung. Wie schön und wie passend deshalb, dass wir die Eröffnung des neu gestalteten Hauses am heutigen Tage feiern können: pünktlich zum offiziellen Auftakt des Jubiläumsjahres, das mit mehr als 1.000 inspirierenden Kulturereignissen deutschlandweit dazu einlädt, Beethovens Vermächtnis, seine politisch-gesellschaftliche und musikalische Wirkmacht wieder und neu zu entdecken. Wieder und neu zu entdecken gibt es zweifellos eine ganze Menge, auch wenn Beethoven zu den weltweit meist gespielten und gehörten Komponisten gehört. Doch jenseits der „Evergreens“ verspricht sein mehr als 400 Werke umfassendes Œuvre auch neue Hörerlebnisse auf bisher wenig erschlossenem Terrain. Und es geht in diesem Jubiläumsjahr ja auch darum, der klassischen Musik bisher eher abgeneigte Menschen für den Mega-Star dieses Genres zu begeistern – Menschen, die beim Wort „Mega-Star“ eher an Beyoncé als an Beethoven denken. Näher kennen lernen können wir Beethoven nicht zuletzt auch als Rebell und Revolutionär, als glühenden Verfechter der Ideale der Französischen Revolution, der politisch und vor allem künstlerisch leidenschaftlich Position bezog. Das Beethoven-Haus macht sein Vermächtnis, sein Schaffen und Wirken anschaulich; deshalb fördert der Bund das Haus institutionell mit jährlich 755.000 Euro aus meinem Kulturetat – gemeinsam mit dem Land Nordrhein-Westfalen und der Stadt Bonn. Daneben unterstützen wir regelmäßig so wunderbare Projekte wie den von Kurt Masur erdachten „Beethoven Meisterkurs“, der junge Nachwuchstalente unter Anleitung etablierter Künstlerinnen und Künstler die Verbindung zwischen musikalischer Ausführungspraxis und philologischen Zeugnissen erfahren lässt. Und natürlich haben wir uns auch an der Neugestaltung des Museums beteiligt: mit mehr als 1,7 Millionen Euro, in enger und guter Zusammenarbeit mit dem Land Nordrhein-Westfalen und mit dem Landschaftsverband Rheinland. Vielen Dank dafür, liebe Isabel Pfeiffer-Poensgen, liebe Frau Karabaic, lieber Herr Sridharan! Mein herzlicher Dank gilt aber auch und vor allem den zahlreichen großzügigen privaten Spenderinnen und Spendern, den Leihgeberinnen und Leihgebern sowie den engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die das Beethoven-Haus über so viele Jahre erhalten und zu einem Mekka für Musikliebhaber gemacht haben. Der Verein, der es einst kaufte und vor dem Abriss bewahrte, wurde vor genau 130 Jahren von zwölf Bonner Bürgern gegründet – ein kleines Jubiläum, das nicht im Schatten des großen Beethovenjubiläums verschwinden soll und zu dem ich Ihnen, lieber Herr Kranz, und allen Mitgliedern von Herzen gratuliere! Mit Ihrem vorbildlichen Engagement haben Sie der Erinnerung an Beethoven ein Zuhause gegeben. Beethoven selbst war in diesem seinen Geburtshaus nur in den ersten drei Jahren seines Lebens zuhause, doch wir dürfen vermuten, dass ein Ort, an dem mit seiner Musik auch seine aufklärerischen Ideale, seine Weltverbesserungsleidenschaft und sein „Humanisierungsanspruch“ fortwirken, ganz in seinem Sinne gewesen wäre… Einem Freund aus Bonner Zeiten – Heinrich von Struve, der sich als Diplomat in Russland aufhielt – jedenfalls schrieb er am 17. September 1795 (ich zitiere aus einem Brief, der, 2018 mit BKM-Mitteln erworben, seit kurzem zur Sammlung des Beethoven-Hauses gehört): „du bist also jezt in dem Kalten Lande, wo die Menscheit noch so sehr unter ihrer Würde behandelt wird (…). wann wird auch der Zeitpunkt kommen wo es nur Menschen geben wird, wir werden wohl diesen Glücklichen Zeitpunkt nur an einigen Orten heran nahen sehen, aber allgemein – das werden wir nicht sehen, da werden wohl noch JahrHunderte vorübergehen.“ Gut zwei Jahrhunderte sind mittlerweile vorübergegangen, und große Errungenschaften wie unser Grundgesetz oder die europäische Einheit in Vielfalt haben den glücklichen Zeitpunkt, „wo es nur Menschen geben wird“, an vielen Orten näher rücken lassen. Doch wo Verachtung und Ausgrenzung den Ton angeben, wird auch heute noch „die Menschheit (…) unter ihrer Würde behandelt“. So liegt uns Beethoven mit seinem Traum, dass es „nur Menschen geben wird“, im wahrsten Sinne des Wortes – und im besten Sinne! – bis heute in den Ohren. So bleibt seine Vorstellung, dass das, was uns als Menschen verbindet, mehr wiegt als soziale Herkunft, Kultur, Religion, Hautfarbe oder Geschlecht, ein Weltverbesserungsauftrag für die Zukunft. Musik, die Menschen über alle Grenzen hinweg berührt, bewegt, begeistert und verbindet, ist dafür Hoffnungsträgerin und Wegbereiterin – nicht allein, aber ganz besonders Beethovens Musik! Diese Erkenntnis wünsche ich allen Besucherinnen und Besuchern des Beethoven-Hauses. Möge es mit großem Publikumserfolg dazu beitragen, die revolutionäre Kraft seines Vermächtnisses hörbar und sichtbar zu machen, auch über das Jubiläumsjahr hinaus!
In ihrer Rede würdigte die Staatsministerin die architektonische und inhaltliche Neugestaltung des „Beethoven-Hauses“ und dankte den Verantwortlichen. Es sei „ein „Beethoven-Haus für alle“ geworden: ein Ort, der die Annäherung an einen der bedeutendsten Künstler und Kulturbotschafter unseres Landes von unterschiedlichen Standpunkten aus ermöglicht, unabhängig von Alter, Herkunft und Vorbildung“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Empfang am 11. Dezember 2019 für Angehörige von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sowie von Polizeibeamten im Auslandseinsatz
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-empfang-am-11-dezember-2019-fuer-angehoerige-von-soldatinnen-und-soldaten-der-bundeswehr-sowie-von-polizeibeamten-im-auslandseinsatz-1705936
Wed, 11 Dec 2019 10:59:00 +0100
Berlin
Aufgaben_der_Kanzlerin
Liebe Gäste, sehr geehrte Damen und Herren, vor allem: liebe Kinder, Ihr habt Euch ja mit den beiden Ministern Annegret Kramp-Karrenbauer, der Verteidigungsministerin, und Horst Seehofer schon ein bisschen angefreundet. Der Generalinspekteur ist heute nicht da, aber der Stellvertreter ist da. Ich wollte schon sagen: Herr Zorn sieht anders aus. Aber es ist ja auch Admiral Rühle, der als stellvertretender Generalinspekteur heute dabei ist. Dieses Treffen hier ist eine gute Tradition, wie ich finde. Darauf freue ich mich immer sehr. Wir laden Angehörige von Soldatinnen und Soldaten und Polizistinnen und Polizisten ins Kanzleramt ein, weil wir wissen, dass Eure Eltern oder Ihre Partner oder Ehefrauen an ziemlich vielen Stellen auf der Welt im Einsatz sind. Wenn man sich die Landkarte zu den Einsätzen anschaut, dann sieht man, dass wir im Augenblick an vielen Stellen unterwegs sind. Das heißt, in den Familien, die sonst eng zusammenhalten, fehlt einer oder eine. Nicht nur die, die ihren Dienst leisten, sind betroffen, sondern eben auch die Familien. Wir wollen würdigen, dass die Familien ein Rückhalt sind für diejenigen, die weg sind. Und wir wollen noch einmal daran erinnern – auch die Öffentlichkeit –, dass dieser Dienst etwas ist, das für uns alle im Land wichtig ist, nämlich dafür, dass unsere Sicherheit garantiert werden kann. Annegret Kramp-Karrenbauer war gerade auf langer Reise und weiß wie auch Horst Seehofer: Alle Soldatinnen und Soldaten wie auch die Polizistinnen und Polizisten sind dort unglaublich geachtet, wo auch immer sie ihren Einsatz durchführen. Sie tragen auch sehr viel dazu bei, dass nicht nur unsere Sicherheit besser gesichert ist, sondern dass auch in diesen Ländern etwas passiert, das für uns selbstverständlich ist. Das ist auch etwas, auf das Sie stolz sein können. Wir sind sehr dankbar für diesen Dienst. Wir wissen, dass, wenn dieser Dienst nicht eine breite Anerkennung in der Gesellschaft findet, auch weniger Menschen bereit sein werden, das zu tun. Deshalb wollen wir den Menschen, die heute nicht hier versammelt sind, einfach zurufen: Seien auch Sie auf diejenigen stolz, die für eine Weile jeden Abend auf ihre Angehörigen zu Hause verzichten und ihren Dienst außerhalb des Landes tun. Und deshalb ist auch die Initiative, wieder mehr Gelöbnisse außerhalb der Kasernen und militärischen Liegenschaften durchzuführen, eine wichtige Initiative. – Wenn Sie einmal nach dort drüben schauen: Dort fand das letzte Gelöbnis anlässlich des Geburtstags der Bundeswehr statt. – Dann bekommen das viel mehr Menschen mit; und dann weiß man auch, was andere für eine Arbeit leisten. Wertschätzung ist also das, was wir Ihnen heute vermitteln wollen. Aber wir wollen natürlich auch hören, was Sie bewegt, was Sie gerne von uns wissen möchten und was wir vielleicht auch besser machen können. Ich darf Ihnen sagen, dass ich heute Nachmittag noch eine Videoschalte in die Einsatzgebiete haben werde. Beim letzten Mal war es so, dass ich dann auch mit Soldaten gesprochen habe, deren Familien ich am Vormittag getroffen hatte. Ich weiß nicht, ob das heute wieder möglich sein wird. Sehen wir einmal, ob sich einer meldet. Jedenfalls sage ich: danke, dass Sie hier sind. Jetzt gehen wir in den sogenannten Bankettsaal. Dort werden nicht so viele Bankette gefeiert, wie der Saalname vermuten lässt, aber es gibt dort viele Besprechungen, auch die heutige. Danke für die weite Anfahrt. Manche sind ja ganz schön weit gefahren.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum zehnjährigen Bestehen der Stiftung Auschwitz-Birkenau am 6. Dezember 2019 in Auschwitz
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-zehnjaehrigen-bestehen-der-stiftung-auschwitz-birkenau-am-6-dezember-2019-in-auschwitz-1704518
Fri, 06 Dec 2019 13:06:00 +0100
Auschwitz
keine Themen
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Direktor, Exzellenzen, vor allem: sehr geehrte Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, sehr geehrte Damen und Herren, heute hier zu stehen und als deutsche Bundeskanzlerin zu Ihnen zu sprechen, fällt mir alles andere als leicht. Ich empfinde tiefe Scham angesichts der barbarischen Verbrechen, die hier von Deutschen verübt wurden ‑ Verbrechen, die die Grenzen alles Fassbaren überschreiten. Vor Entsetzen über das, was Frauen, Männern und Kindern an diesem Ort angetan wurde, muss man eigentlich verstummen. Denn welche Worte könnten der Trauer gerecht werden ‑ der Trauer um all die vielen Menschen, die hier gedemütigt, gequält und ermordet wurden? Und dennoch: So schwer es an diesem Ort, der wie kein anderer für das größte Menschheitsverbrechen steht, auch fällt: Schweigen darf nicht unsere einzige Antwort sein. Dieser Ort verpflichtet uns, die Erinnerung wachzuhalten. Wir müssen uns an die Verbrechen erinnern, die hier begangen wurden, und sie klar benennen. Auschwitz ‑ dieser Name steht für den millionenfachen Mord an den Jüdinnen und Juden Europas, für den Zivilisationsbruch der Shoa, dem sämtliche menschlichen Werte zum Opfer fielen. Auschwitz steht auch für den Völkermord an den Sinti und Roma Europas, für das Leid und die Ermordung von politischen Gefangenen und Vertretern der Intelligenz in Polen, von Widerstandskämpfern, von Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion und anderen Ländern, von Homosexuellen, von Menschen mit Behinderungen sowie unzähligen anderen Menschen aus ganz Europa. Das Leiden der Menschen in Auschwitz, ihr Tod in den Gaskammern, Hunger, Kälte, Seuchen, qualvolle pseudomedizinische Versuche, Zwangsarbeit bis zur völligen Erschöpfung ‑ was hier geschah, lässt sich mit Menschenverstand nicht erfassen. Allein im Lagerkomplex Auschwitz wurden mindestens 1,1 Millionen Menschen, die meisten von ihnen Juden, planvoll und mit kalter Systematik ermordet. Jeder dieser Menschen hatte einen Namen, eine unveräußerliche Würde, eine Herkunft, eine Geschichte. Schon die Deportation hierher, eingepfercht in Viehwaggons, die Prozedur bei der Ankunft und die sogenannte Selektion an der Rampe zielten darauf, diese Menschen zu entmenschlichen, sie ihrer Würde und Individualität zu berauben. Offiziell trägt dieser Ort als Teil des UNESCO-Welterbes heute den Namen „Auschwitz-Birkenau ‑ deutsches nationalsozialistisches Konzentrations- und Vernichtungslager (1940–1945)“. Dieser Name als voller Name ist wichtig. Oświęcim liegt in Polen, aber im Oktober 1939 wurde Auschwitz als Teil des Deutschen Reichs annektiert. Auschwitz war ein deutsches, von Deutschen betriebenes Vernichtungslager. Es ist mir wichtig, diese Tatsache zu betonen. Es ist wichtig, die Täter deutlich zu benennen. Das sind wir Deutschen den Opfern schuldig und uns selbst. An die Verbrechen zu erinnern, die Täter zu nennen und den Opfern ein würdiges Gedenken zu bewahren ‑ das ist eine Verantwortung, die nicht endet. Sie ist nicht verhandelbar; und sie gehört untrennbar zu unserem Land. Uns dieser Verantwortung bewusst zu sein, ist fester Teil unserer nationalen Identität, unseres Selbstverständnisses als aufgeklärte und freiheitliche Gesellschaft, als Demokratie und Rechtsstaat. Heute haben wir in Deutschland wieder ein blühendes jüdisches Leben. Mit Israel verbinden uns vielfältige und freundschaftliche Beziehungen. Das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Das ist ein großes Geschenk. Es gleicht gar einem Wunder. Aber es kann Geschehenes nicht ungeschehen machen. Es kann die ermordeten Jüdinnen und Juden nicht zurückbringen. In unserer Gesellschaft wird immer eine Lücke klaffen. Vor 70 Jahren trat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Darin flossen die Lehren aus den Schrecken der Vergangenheit ein. Aber wir wissen auch: Die unantastbare Würde des Menschen, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ‑ so kostbar diese Werte auch sind, so verletzlich sind sie auch. Deshalb müssen wir diese grundlegenden Werte immer wieder aufs Neue festigen und verbessern, schützen und verteidigen ‑ im täglichen Zusammenleben ebenso wie im staatlichen Wirken und politischen Diskurs. In diesen Tagen ist das keine Rhetorik. In diesen Tagen ist es nötig, das deutlich zu sagen. Denn wir erleben einen besorgniserregenden Rassismus, eine zunehmende Intoleranz, eine Welle von Hassdelikten. Wir erleben einen Angriff auf die Grundwerte der liberalen Demokratie und einen gefährlichen Geschichtsrevisionismus im Dienste einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Besonders richten wir unser Augenmerk auf den Antisemitismus, der jüdisches Leben in Deutschland, in Europa und darüber hinaus bedroht. Umso klarer und deutlicher müssen wir bekunden: Wir dulden keinen Antisemitismus. Alle Menschen müssen sich bei uns in Deutschland, in Europa, sicher und zu Hause fühlen. Gerade Auschwitz mahnt und verpflichtet jeden Einzelnen von uns, täglich wachsam zu sein, Menschlichkeit zu bewahren und die Würde unseres Nächsten zu schützen. Denn es ist so, wie es Primo Levi, der vor 100 Jahren in Turin geboren wurde und der Auschwitz als Zwangsarbeiter in Monowitz überlebte, später schrieb: „Es ist geschehen. Folglich kann es wieder geschehen.“ Daher dürfen wir unsere Augen und Ohren nicht verschließen, wenn Menschen angepöbelt, erniedrigt oder ausgegrenzt werden. Wir müssen denen widersprechen, die gegen Menschen anderen Glaubens oder anderer Herkunft Vorurteile und Hass schüren. Wir alle tragen Verantwortung. Und zu dieser Verantwortung gehört auch das Gedenken. Wir dürfen niemals vergessen. Einen Schlussstrich kann es nicht geben ‑ und auch keine Relativierung. Oder um es mit Worten des Auschwitz-Überlebenden und ehemaligen Präsidenten des Internationalen Auschwitz Komitees Noach Flug auszudrücken: „Die Erinnerung […] ist wie das Wasser. Sie ist lebensnotwendig und sie sucht sich ihre eigenen Wege in neue Räume und zu anderen Menschen. […] Sie hat kein Verfallsdatum und sie ist nicht per Beschluss für bearbeitet oder für beendet zu erklären.“ Dass sich diese lebensnotwendige Erinnerung Wege sucht, wie Noach Flug sagte, und auch findet, das haben wir in besonderer Weise vielen Zeitzeugen zu verdanken. Es freut mich deshalb sehr, hier einige von ihnen begrüßen zu dürfen. Sie haben in den vergangenen Jahren wieder und wieder und auch für uns heute aus ihrer Leidenszeit berichtet. Wer kann sich vorstellen, wie viel Kraft es kostet, sich diese schmerzhaften Erfahrungen immer wieder vor Augen zu führen oder gar wieder an diesen Ort zurückzukehren? Sie teilen ihre Geschichte, damit jüngere Menschen daraus lernen. Sie bringen den Mut und die Kraft zur Versöhnung auf. Sie zeigen wahrhaft menschliche Größe. Ich bin sehr dankbar, dass wir von ihnen hören und lernen dürfen. Es ist bald 75 Jahre her, dass Auschwitz befreit wurde. Immer weniger Menschen können ihre Geschichte aus dieser Zeit erzählen. Dies veranlasste den Schriftsteller Navid Kermani, sehr zutreffend festzuhalten: „[…] Damit sich überhaupt eine Erinnerung ins Herz brennt, auf die sich die Mahnmale, Stolpersteine, Gedenkrituale beziehen, wird es für künftige Generationen noch wichtiger sein, mit eigenen Augen die Orte zu sehen, an denen Deutschland die Würde des Menschen zermalmte, jene Länder zu bereisen, die es in Blut ertränkte.“ An vielen Orten hatten die Täter versucht, ihre Spuren zu verwischen ‑ sei es in Vernichtungslagern wie Bełżec, Sobibór und Treblinka, sei es an Orten wie Malyj Trostenez, Babyn Jar oder an den Tausenden anderen Orten in Europa, an denen Juden, Sinti und Roma, viele andere Menschen und sogar ganze Dorfgemeinschaften ermordet wurden. Hier in Auschwitz hingegen haben es die SS und ihre Schergen nicht geschafft, ihre Spuren zu verwischen. Dieser Ort legt Zeugnis ab. Und dieses Zeugnis gilt es zu erhalten. Wer nach Auschwitz kommt und die Wachtürme und den Stacheldraht, die Baracken und die Gefängniszellen, die Reste der Gaskammern und Krematorien sieht, den wird die Erinnerung nicht mehr loslassen. Sie wird sich, wie Kermani schreibt, „ins Herz brennen“. Vor zehn Jahren hatte der frühere polnische Außenminister Władysław Bartoszewski, der selbst politischer Häftling in Auschwitz war, die Gründung der Stiftung Auschwitz-Birkenau angestoßen. Lieber Herr Cywínski, Ihnen und allen, die sich in der Stiftung den Erhalt dieser Gedenkstätte als Mahnmal und Dokumentationszentrum zur Aufgabe gemacht haben, danke ich von Herzen. Ich danke auch allen Beteiligten an den Restaurierungs- und Konservierungsprojekten. Mit großem Engagement wurde und wird dafür gesorgt, dass dieser Ort weiter Zeugnis ablegt. Ziegelsteinbaracken wurden dauerhaft gesichert, Ausgrabungen durchgeführt, Stützmauern errichtet, Schutzzelte aufgebaut, die geraubten Kleider und Habseligkeiten der Opfer restauriert und konserviert. Die Konservierungspläne erfordern für die nächsten 25 Jahre eine deutlich höhere Summe für das Stiftungskapital. Deutschland wird sich wesentlich an diesen Mitteln beteiligen. Das haben wir gestern gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer beschlossen. Dank der Stiftung sowie der vielen internationalen Fremdenführer ist diese Gedenkstätte ein Ort des Lernens, des Innehaltens und des Bewusstwerdens ‑ ein Ort, der die Botschaft des „Nie wieder“ so eindrucksvoll ausspricht. Dafür bin ich sehr dankbar. Doch nichts kann die Menschen, die hier ermordet wurden, zurückbringen. Nichts kann diese präzedenzlosen Verbrechen ungeschehen machen. Diese Verbrechen sind und bleiben Teil der deutschen Geschichte. Diese Geschichte muss erzählt werden, immer und immer wieder, damit wir aufmerksam bleiben, damit sich solche Verbrechen auch nicht in Ansätzen wiederholen können, damit wir gegen Rassismus und Antisemitismus in all ihren widerwärtigen Erscheinungen entschlossen vorgehen. Diese Geschichte muss erzählt werden, damit wir heute und morgen die Würde eines jeden Menschen bewahren ‑ und damit wir den Opfern ein ehrendes Andenken bewahren. Wir erinnern an die Menschen, die aus den verschiedenen Ländern ganz Europas nach Auschwitz deportiert wurden. Wir erinnern an diesem Ort insbesondere an die vielen polnischen Opfer ‑ auch politische Gefangene ‑, für die das KZ Auschwitz zunächst errichtet worden war. Wir erinnern an die sechs Millionen ermordeten Juden und hier vor allem an die etwa eine Million Juden, die in Auschwitz-Birkenau ermordet wurden. Wir erinnern an die Sinti und Roma, die deportiert, gequält und ermordet wurden. Wir erinnern an die Opfer des Massenmords durch Erschießungen. Wir erinnern an jene, die in Ghettos deportiert wurden, sich in Todesangst versteckt hielten, und an die, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Wir erinnern an alle, die alles verloren hatten: ihre Familien und Freunde, ihre Heimat und ihr Zuhause, ihre Hoffnungen und Pläne, ihr Vertrauen und ihre Lebensfreude ‑ und ihre Würde. Wir erinnern an diejenigen, die auch nach dem Krieg noch jahrelang umherirrten ‑ an die, die in Lagern für „displaced persons“ ausharren mussten. Wer überlebt hatte, war von den widerfahrenen Schrecken schwer gezeichnet. Margot Friedländer schrieb in ihren Erinnerungen über sie: „Sie mussten erst wieder lernen, dass sie Menschen waren. Menschen, die einen Namen hatten.“ Viele fragten sich, warum gerade sie überlebt hatten. Warum nicht die kleine Schwester? Warum nicht der beste Freund? Warum nicht die eigene Mutter oder der Ehemann? Viele fanden lange nicht oder auch nie heraus, wie und wo ihre nächsten Angehörigen ermordet worden waren. Diese Wunden heilen nie. Umso mehr danke ich jedem, der es schafft, darüber zu sprechen, um Schmerz und Erinnerung zu teilen und um Versöhnung zu stiften. Ich verneige mich tief vor jedem dieser Menschen. Ich verneige mich vor den Opfern der Shoa. Ich verneige mich vor ihren Familien. Vielen Dank, dass ich heute hier dabei sein darf.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband an Gianfranco Kardinal Ravasi
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-der-verleihung-des-grossen-verdienstkreuzes-mit-stern-und-schulterband-an-gianfranco-kardinal-ravasi-1705218
Fri, 06 Dec 2019 13:00:00 +0100
Im Wortlaut
Rom
Kulturstaatsministerin
Kultur
„Die Wahrheit ist eben kein Kristall, den man in die Tasche stecken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt”, sagte einmal Robert Musil. Sie, verehrter Herr Kardinal, haben diesen Satz einmal in einem Interview wiedergegeben und hinzugefügt, es sei besser, die Wahrheit zu suchen, als sie zu haben. Auf der Suche nach Wahrheit, mit Neugierde und Offenheit haben Sie zu einer neuen Begegnung von Kunst und Kirche beigetragen. Mit Ihrem Forschergeist, mit Ihrem Gestaltungswillen haben Sie den Dialog zwischen Philosophen, Theologen und Wissenschaftlern befördert und gleichermaßen um eine zeitgemäße Vermittlung christlicher Glaubensinhalte wie auch um Antworten auf Fragen nach den sinnstiftenden Kräften und Werten der Gegenwart gerungen. In diesem Sinne haben Sie beispielsweise den „Vorhof der Völker“ fortgeführt, den Papst Benedikt XVI. initiiert hat, und in den großen europäischen Metropolen das Gespräch gesucht: mit Fragenden und Zweiflern, mit Gläubigen, aber auch mit Atheisten und Agnostikern – mit allen Menschen, die sich für existentielle Fragen des Menschseins interessieren. Wege der Annäherung zu eröffnen und im wechselseitigen Verstehen das Verständnis füreinander und die Verständigung miteinander zu fördern, dafür stehen Sie – mit Herz und Verstand, mit Empathie und scharfem Intellekt. Dafür steht insbesondere Ihr Engagement für Kunst und Kultur. In einem unserer Gespräche bedauerten Sie einmal, dass das „Jüngste Gericht“ von Michelangelo zum Pflichtprogramm der Romtouristen verkomme, die Mahnung „er wird uns richten“ dabei aber verhalle. Wer die Bibel nicht mehr kennt, kann in der Tat – wie Sie einmal sagten – auch die Kunstwerke nicht mehr verstehen, die in unseren Museen hängen. Und gerade weil diese als Zeugnis der Vergangenheit Aufschluss über unsere Gegenwart geben, weil sie uns lehren, wo wir herkommen, wer wir sind und wo wir hingehen, ist Ihre Vermittlungsarbeit so wichtig. Bemerkenswert ist sie auch deshalb, weil Kunst und Kirche über viele Jahrhunderte in einem Spannungsverhältnis standen. Lange hat die katholische Kirche die Künste zu „Dienstmägden der Theologie“ degradiert, um eine Formulierung Dantes zu verwenden – zu Dienstmägden, von denen man einen Beitrag zur Verbreitung der kirchlichen Lehre und Moral erwartete. Erst auf der Grundlage des Zweiten Vatikanischen Konzils hat sie ein Kunstverständnis entwickelt, das einen Austausch auf Augenhöhe ermöglichte. Die Kunst, die in Europa aus dem Dienst an der Religion entstanden ist und immer auch in den Dienst der Verkündigung genommen wurde, hat sich im 19. Jahrhundert sowohl von den Auftraggebern der Kirche als auch von den Glaubensinhalten christlicher Überlieferung emanzipiert. Der Autonomieanspruch der Kunst, nichts als sie selbst zu sein, war dabei immer wieder der Grund vieler Konflikte, und noch heute fällt es der Kirche oft schwer, neue ungewohnte Formen künstlerischen Ausdruckes zu akzeptieren. Eben dies kann man von Ihnen nicht behaupten, verehrter Herr Kardinal. Ganz im Gegenteil: Sie haben dazu beigetragen, Kultur und Kirche, Kunst und Glauben füreinander zu öffnen und fruchtbar zu machen. Dazu haben Sie Kontakt mit zeitgenössischer Kunst und Musik gesucht und sich mit Künstlerinnen und Künstlern über Themen des Glaubens und der Liturgie auseinandergesetzt. Und Sie haben die klassische und moderne Kunst in die Priesterseminare integriert, um bei den Geistlichen ein Verständnis für (ich zitiere) „die neue Grammatik der künstlerischen Kommunikation zu öffnen“. Dabei hatten Sie stets das Verbindende zwischen Kultur und Theologie im Blick: die Suche nach Wahrheit, das Ringen um Antworten auf letzte Fragen, die Erweiterung geistiger Horizonte, die Deutungen des Lebens in einem größeren Zusammenhang. Auf diese Weise haben Sie ein Bewusstsein dafür geweckt, dass die Öffnung für die künstlerische Avantgarde von größtem Wert für Glaube und Kirche sein kann – und zwar nicht nur dort, wo Kunst fasziniert und verzaubert, sondern auch dort, wo sie irritiert, provoziert und verstört. Dass Sie ein rein weibliches Beratungsgremium eingerichtet haben, ist ein weiteres Indiz für Ihre Aufgeschlossenheit und Ihren Reformwillen. Besonders freut mich, dass Sie der deutschen Kultur – als Kenner und Liebhaber insbesondere der deutschen Literatur – bei Ihrer Vermittlungsarbeit ein besonderes Augenmerk schenken und bei Studierenden aus aller Welt, die an den päpstlichen Universitäten ausgebildet werden, das Interesse an der Kulturnation Deutschland wecken. Bereits nach Ihrer Ernennung zum Präsidenten des Rates für Kultur haben Sie den Dialog über Kultur zwischen dem Vatikan und Deutschland belebt, beispielsweise in dem Sie eine Begegnung mit allen in Rom und Italien tätigen deutschen Kulturmittlern initiierten. Nicht zuletzt Annette Schavan, die damals Deutsche Botschafterin beim Vatikan war, zeigte sich immer wieder tief beeindruckt von Ihrer Arbeit und Ihrem Engagement. Sie hat Sie auch für das große Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen, und ich danke Ihnen ganz herzlich, sehr geehrter Herr Dr. Koch, dass Sie die Verleihung unterstützt und ermöglicht haben und ich heute den Orden überreichen darf. Denn, verehrter Herr Kardinal, auch ich habe von Ihrer Dialogbereitschaft, von Ihrer Aufgeschlossenheit, von Ihren Ideen, von Ihrer Bereitschaft der kulturpolitischen Zusammenarbeit profitiert. Die Gespräche, die ich mit Ihnen 2015, 2016 und zuletzt im Sommer dieses Jahres führen durfte, habe ich als sehr inspirierend und bereichernd für meine Arbeit als Kulturpolitikerin empfunden. So habe ich als Ergebnis unseres ersten Gespräches im Mai 2015 beispielsweise ein neues Referat ins Leben gerufen, das die Verbindung zu den Religionsgemeinschaften pflegt und der Bedeutung der Kirche als Anker der Kultur und des kulturellen Erbes Rechnung trägt. In unserem letzten Gespräch im Sommer haben mich vor allem Ihre Visionen eines Dialogs der Kulturen begeistert, der über Ökumene und Interreligiosität hinausreicht. Und immer wieder bin ich beeindruckt von Ihren vielfältigen Initiativen und Projekten, von denen Sie mir in unseren Gesprächen berichten: Seit 2013 präsentieren Sie zum Beispiel auf der Biennale von Venedig einen eigenen Pavillon des Vatikans. In diesem Jahr konnten dank Ihres Engagements zum ersten Mal zehn hochkarätige internationale Architekten jeweils eine Kapelle auf der Insel San Giogio in der Lagune als Beitrag des Vatikans zur Architekturbiennale errichten. Die Kapellen laden zu einer säkularen Wallfahrt ein, zu einem Dialog mit der Vielfalt der Kulturen in einer zeitgenössischen künstlerischen Sprache. Um eine zeitgenössische Sprache – um eine Sprache, die auch junge Menschen erreicht – haben auch Sie selbst sich immer bemüht. Mit 77 Jahren zu twittern und zu bloggen, ist wahrlich keine Selbstverständlichkeit! So kommen Sie ins Gespräch mit der Jugend, für deren Trends und Kultur Sie sich interessieren. Dass Sie sich als Amy Winhouse-Fan geoutet haben, weil Sie in den Liedern der britischen Soulsängerin „eine tiefe Suche nach Sinn“ erkennen, zeigt einmal mehr, mit welcher Offenheit und Vorurteilslosigkeit Sie sich der zeitgenössischen Kunst öffnen. Damit, verehrter Herr Kardinal, war es Ihnen möglich, sich für eine Kultur der Verständigung einzusetzen: für eine Kunst, die sich auf der Suche nach Wahrheit und Transzendenz zum ästhetisch Schönen bekennt, für eine Kunst, die uns hilft, das Eigene zu verstehen und offen zu sein für das Andere, noch Fremde – für eine Kunst, die Brücken schlägt und zum Austausch einlädt. Augustinus sagt: „Keiner von uns sage, er habe die Wahrheit schon gefunden. Lass sie uns vielmehr so suchen, als ob sie uns beiden unbekannt ist“. Ihre Suche nach Wahrheit (im augustinischen Sinne) ermöglicht die respektvolle Begegnung zwischen Kulturen, und zwar nicht im „Duell“, sondern im „Duett“, wie Sie es einmal formulierten – in einem Duett, in dem sich gleichberechtigte starke Partner begegnen, eben, weil sie ihre Wurzeln kennen und deshalb dem Fremden selbstbewusst und offen begegnen können. Dafür danke ich Ihnen im Namen der Bundesrepublik Deutschland und gratuliere Ihnen zum großen Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband.
In ihrer Rede würdigte die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien Kardinal Ravasi als Mittler zwischen Kirche und Kunst. „Sie haben dazu beigetragen, Kultur und Kirche, Kunst und Glauben füreinander zu öffnen und fruchtbar zu machen“, so Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich des Spatenstichs für das Museum der Kunst des 20. Jahrhunderts
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-des-spatenstichs-fuer-das-museum-der-kunst-des-20-jahrhunderts-1704512
Tue, 03 Dec 2019 11:30:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
In einem profanen Zelt auf einer zugigen Brachfläche mag eine Referenz an liturgische Freudengesänge etwas unpassend erscheinen, aber hier und heute ist mir dennoch danach zumute …: HALLELUJA! Ich bin glücklich, ich bin dankbar, dass dem Bau eines Museums für die Kunst des 20. Jahrhunderts nun wohl wirklich nichts mehr im Wege steht. Und ich bin auch sehr erleichtert! Denn wir diskutieren seit Jahrzehnten über die städtebauliche Situation am Kulturforum und seit sieben Jahren über dieses Museum, so dass dem Vorhaben gar schon der Ruf einer Sisyphos-Aufgabe anhaftete: Auf der Zielgeraden dieses langen, dieses steilen und steinigen Wegs kehrt zu machen, hätte jedenfalls bedeutet, wieder von vorne anfangen zu müssen – mit sehr wenig Aussicht, dem Ziel in absehbarer Zeit noch einmal so nahe zu kommen. Deutschland aber braucht das Museum des 20. Jahrhunderts! Deutschland braucht dieses Haus, um einem Jahrhundert Raum zu geben, das wie kein anderes unser heutiges demokratisches Selbstverständnis hierzulande prägt. Und Deutschland braucht dieses Haus in Berlin, weil die Hauptstadt wie keine andere Stadt dieses wechselvolle Jahrhundert mit all seinen tiefgreifenden Umbrüchen, mit seinen Abgründen und seinen Sternstunden, repräsentiert. Berlin war Nabel der europäischen Kunstwelt: Wirkungsstätte legendärer (vor allem jüdischer) Kunsthändler, „the place to be“ für die künstlerische Avantgarde – bis Joseph Goebbels in seinen berüchtigten Hetzreden hier den Ausschluss der Juden aus dem deutschen Kulturleben propagierte. Berlin war die Stadt, in der die Nationalsozialisten den systematischen Völkermord an den europäischen Juden planten und von der aus sie Tod und Terror über Europa brachten. Nach dem Zweiten Weltkrieg, der mit der Schlacht um Berlin zu Ende ging, war die Stadt Schauplatz der jahrzehntelangen Spaltung der Welt in Freiheit und Unfreiheit – und schließlich ihrer glücklichen Überwindung vor 30 Jahren. Seitdem lässt sich in Berlin wie nirgendwo sonst in Deutschland das Wiederaufblühen künstlerischer Vielfalt in Freiheit erleben – die Renaissance jenes Kunstenthusiasmus, der Berlin einst zur Metropole der Gegenwartskunst gemacht hat: zu einem Schmelztiegel der Ideen, zum Labor für Experimente, zum Resonanzraum für Debatten. Mit dem Museum des 20. Jahrhunderts bekommt Deutschland einen Ort, der diese prägenden Erfahrungen im Spiegel der Kunst des vergangenen Jahrhunderts sichtbar macht: in jenen rund 4.000 Werken aus dem Bestand der Nationalgalerie, die bisher mangels Ausstellungsflächen meist in den Depots lagerten und die bis heute nie im großen Zusammenhang, nur vereinzelt in wechselnden Ausstellungen, gezeigt werden konnten. Auf rund 9.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche geben wir den spektakulären Kunstbeständen der Nationalgalerie zum 20. Jahrhundert von Brücke bis Beuys endlich den Raum, der ihrer Bedeutung angemessen ist. Darüber hinaus können wir die Konvolute mit einem Gesamtwert in Milliardenhöhe, die uns die Sammler Erich Marx, Ulla und Heiner Pietzsch sowie Egidio Marzona großzügig überlassen haben, adäquat und in Ergänzung der Museumssammlung der Öffentlichkeit präsentieren. Ihr nobles, an eben diese Bedingung geknüpftes Schenkungsangebot war nicht nur ein weiteres, überzeugendes Argument für den Neubau, sondern auch Motivation und Ansporn, nach jahrelangem Ringen endlich die Mittel dafür bereit zu stellen. Liebe Ulla Pietzsch, lieber Heiner Pietzsch, lieber Egidio Marzona: Ich freue mich sehr, Sie heute hier begrüßen zu dürfen und danke Ihnen für Ihr Engagement und für die Überlassung Ihrer Sammlungen! Dieser Dank gilt auch Erich Marx, vertreten durch seinen Sohn Axel Marx – und nicht zuletzt Gerhard Richter, der dem Museum des 20. Jahrhunderts ebenfalls mehrere Werke überlassen will: als Ausdruck seiner Wertschätzung für die Nationalgalerie. Der zukunftsweisende Entwurf der Architekten Herzog & de Meuron, der das Museum mit seinen Öffnungen und Durchwegungen als Ort des gesellschaftlichen Diskurses modern interpretiert und der die bisher eher isoliert wirkenden, ikonischen Bauten des 20. Jahrhunderts von Mies van der Rohe, Stüler und Scharoun in Beziehung zueinander setzt – dieser zukunftsweisende Entwurf wird der Bedeutung des Museums wie auch dem prominenten Bauplatz im Herzen der Hauptstadt gleichermaßen gerecht. Berlin habe die Chance, mit dem neuen Museum an seine reiche Geschichte als Kunstmetropole anzuknüpfen, schrieb Glenn Lowry, Direktor des Museums of Modern Art in New York, kürzlich in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel. Ich zitiere weiter: „So kann Berlin die Energie wiedererlangen, die es damals zur Hauptstadt der modernen Kunst machte. So kann sich Berlin wieder als eine treibende Kraft im Studium des 20. Jahrhunderts positionieren. Und so kann Berlin das internationale und das deutsche Publikum, das diese moderne Kunst liebt, wieder erreichen.“ Ja, meine Damen und Herren, auf dieses Bauvorhaben schaut die ganze Welt. Was für eine Riesenchance – nicht nur für die Kunstmetropole Berlin, sondern auch für die Kulturnation Deutschland! Das lassen wir uns etwas kosten. Doch daraus folgt kein „Koste es, was es wolle“! Die 364 Millionen Euro, die sich im Rahmen der uns seit wenigen Wochen vorliegenden, belastbaren Kostenberechnungen ergeben haben, sind für mich eine echte Schmerzgrenze. Durch ein enges Monitoring sorgen wir dafür, dass diese Grenze nicht überschritten wird: Wir haben uns daher verpflichtet, dem Deutschen Bundestag alle sechs Monate über die Kostenentwicklung zu berichten. Ich danke allen Beteiligten, insbesondere den Abgeordneten des Haushaltsausschusses wie auch Bundesfinanzminister Olaf Scholz, für die Unterstützung und die konstruktive Zusammenarbeit. Und ich hoffe, dass die strikte Budgetkontrolle auch ein vertrauensbildendes Signal ist, so dass wir uns ab dem heutigen ersten Spatenstich statt auf die Risiken auf die enormen Chancen des Neubaus konzentrieren können, der 2026 fertig sein soll. Kontroverse Debatten sind dafür sicherlich nicht das schlechteste Vorzeichen. Schauen Sie sich die Neue Nationalgalerie an – vor Jahrzehnten hat man sie als „Tankstelle“ verspottet; lassen Sie Ihren Blick weiter schweifen zur Philharmonie: „Zirkus Karajani“ wurde sie genannt. Einst geschmäht, heute gefeiert als Architekturikonen und Aushängeschilder der Kulturnation: Das haben wir oft genug erlebt, so auch beim Wiederaufbau des vor zehn Jahren wieder eröffneten Neuen Museums. In England bedaure man ihn deshalb, erzählte der verantwortliche Architekt David Chipperfield einmal in einem Interview, ich zitiere: „In England sagen Freunde und Kollegen oft zu mir, es muss ja schrecklich sein, in Deutschland zu arbeiten, ständig gibt es Diskussionen, jeder kritisiert deine Entwürfe. Aber ich finde es wunderbar. Als Architekten erwarten wir, dass die Menschen sich für Architektur interessieren – wenn sie es tun, dürfen wir uns nicht beklagen.“ Deutschland habe infolge seiner Vergangenheit eine besondere Fähigkeit der Reflexion und der kritischen Auseinandersetzung entwickelt, über die andere Länder – so Chipperfield – nicht in dieser Weise verfügten. Ja, meine Damen und Herren, auch eine lebendige Streit- und Debattenkultur ist eine demokratische Errungenschaft – und wie die Freiheit der Kunst eine jener Errungenschaften, die wir nicht zuletzt den Lehren aus den Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts verdanken. In diesem Sinne wünsche ich dem Museum des 20. Jahrhunderts, dass es diese Erfahrungen spiegeln und die daraus erwachsenen Errungenschaften kultivieren möge: als Haus, das offen ist für alle – als Ort der Konfrontation und der Verständigung.
In ihrer Rede dankte die Kulturstaatsministerin allen Beteiligten, insbesondere den Sammlern und den Abgeordneten des Haushaltsausschusses für ihr Engagement. „Deutschland braucht dieses Haus in Berlin, weil die Hauptstadt wie keine andere Stadt dieses wechselvolle Jahrhundert mit all seinen tiefgreifenden Umbrüchen, mit seinen Abgründen und seinen Sternstunden, repräsentiert“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen der Vorstellung der Jugendstrategie der Bundesregierung am 3. Dezember 2019 in Berlin
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Tue, 03 Dec 2019 11:02:00 +0100
Berlin
keine Themen
Auch ich möchte mich bedanken – zuerst einmal bei Ihnen und Euch allen, die Sie an der Jugendstrategie mitgearbeitet haben oder auch bereit waren, heute mit uns zu diskutieren. Ein Dank geht an die Bundesministerin, denn es war ihre Idee, dass wir uns jetzt, nachdem alle Ressorts mitgearbeitet haben und zum ersten Mal eine solche Jugendstrategie verabschiedet wurde, hier im Kanzleramt treffen und diskutieren. Ich habe gesagt, als ich heute in den Saal – das ist unser Internationaler Konferenzsaal – kam: So jung war hier der Altersdurchschnitt noch nie. Das sollte vielleicht auch öfters so sein. Denn ein Gegenstand der Diskussion war auch die Frage der Jugendlichen: Werden wir ausreichend gehört? Ich glaube, der heutige Tag war wirklich eine Ermutigung, besser hinzuhören, um sich gegenseitig besser zu verstehen. Außerdem – das fand ich auch gut – hatten etliche die Frage aufgeworfen: Wie erreichen wir alle Jugendlichen? Manche sind zwar sehr engagiert, andere aber haben von der Jugendstrategie noch nie gehört. Deshalb hatte ich den Vorschlag gemacht, dass wir uns durchaus noch einmal wiedersehen können, aber auch, dass jeder noch einmal in eine Gruppe geht – in die Jugendfeuerwehr oder in eine Schule –, die von der Jugendstrategie vielleicht noch nichts gehört hat und in der es vielleicht nicht schon jeden Tag eine Sitzung eines Jugendparlaments gibt. Es gibt noch etliches zu tun; und wir wollen ja alle mitnehmen. Deshalb begrüße ich sehr, dass Ministerin Giffey eben auch gesagt hat: Das ist der Startschuss zu einem breiten Diskussionsprozess. Es wird also noch einmal eine Jugendkonferenz geben; und wir überlegen uns, wie wir auf die Dinge zurückkommen können, über die wir schon gesprochen haben. Wir müssen da dranbleiben. Was mich sehr beeindruckt hat, ist, dass sehr viele auch vom Freiwilligen Jahr, vom Bundesfreiwilligendienst und davon gesprochen haben, was man da noch verbessern kann, um etwas für die Gesellschaft zu tun. Deshalb sage ich: Boxt Euch durch und lasst Euch nicht unterkriegen. Wir sind bereit zum Dialog.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Empfang der Teilnehmer der 45. Internationalen Berufsweltmeisterschaften WorldSkills 2019 am 2. Dezember 2019 im Bundeskanzleramt
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Mon, 02 Dec 2019 16:03:00 +0100
Berlin
Alle Themen
Sehr geehrte Frau Zeus, liebes WorldSkills-Team, meine Damen und Herren, ich möchte Sie ganz herzlich hier im Bundeskanzleramt willkommen heißen. Sie kommen zur Weihnachtszeit; und deshalb steht hier auch ein Weihnachtsbaum. Ich möchte Ihnen ganz herzlich zu den tollen Leistungen gratulieren, die Sie bei den Berufsweltmeisterschaften in Russland vollbracht haben. Jeder war erfolgreich. Aber besonders möchte ich den beiden Goldmedaillengewinnern Janis Gentner als Fliesenleger und Alexander Bruns als Zimmerer gratulieren. Vielleicht können Sie einmal die Hand hochheben. Wo ist der Zweite? – Er hat sich mit seiner Medaille dahinten versteckt. Hinzu kommen drei Gewinner von Bronze-Medaillen, die ich, glaube ich, schon in der ersten Reihe gesehen habe. Insgesamt haben zwei Drittel der 39 Mitglieder des deutschen Teams Titel, Medaillen oder Exzellenz-Auszeichnungen errungen. Da kann ich nur sagen: Toll, super – herzlichen Glückwunsch. Natürlich können nicht alle gewinnen. Aber es haben durchaus alle etwas erreicht, weil sie bei so einer Meisterschaft dabei waren. Denn um dorthin zu kommen, muss man schon sehr, sehr gut sein, also überdurchschnittlich gut. Deshalb kann man sagen: Alle von Ihnen haben Ausdauer, Sportgeist, Geschick und Talent bewiesen. Sie sind gute Botschafter des Handwerks und der Ausbildung in Deutschland. Wir sind – ich habe das auch in meinem Podcast gesagt – einfach sehr stolz darauf, dass wir Ihnen eine gute Ausbildung ermöglichen konnten. Natürlich kommt Ihr Elan dazu und das, was Sie daraus machen. Wir wollen ja auch, dass in Zukunft „Made in Germany“ etwas ist, das eine große Stahlkraft hat und das in der Welt geschätzt wird. Das geht natürlich nur mit Fachkräften, die sehr gut ausgebildet sind. Solche Fachkräfte braucht unser Land. Denn das ist ja auch bei den WorldSkills-Meisterschaften zu sehen: Andere auf der Welt schlafen nicht, sondern sie arbeiten auch hart. Insbesondere im oberen Segment sind der Wettbewerb und die Konkurrenz groß. Manche von Ihnen arbeiten in traditionellen Handwerksberufen, manche in relativ jungen Hightech-Berufen. Vielleicht arbeiten Sie an einer klimaschonenden Energieversorgung oder am Internet der Zukunft oder sie sind Maurer oder Möbelschreiner, Mechatronikerin oder Softwareentwicklerin. In welcher Sparte auch immer – Ihr Können ist gefragt. Das merken Sie, denke ich, auch auf dem Arbeitsmarkt. Ich hoffe, dass es so bleibt. Sie können sich dann auch davon überzeugen, dass Sie eine kluge Berufswahl getroffen haben. Wir wollen die Berufsausbildung bei uns noch mehr stärken. Wir haben beschlossen, den Meisterbrief in zwölf Gewerken wiedereinzuführen. Wir haben das Berufsbildungsgesetz novelliert. Es gibt eine Mindestausbildungsvergütung. Ich glaube, die meisten von Ihnen erhalten weit mehr als die Mindestausbildungsvergütung. Aber sie ist auch wichtig. Wir wollen auch die Abschlussbezeichnungen noch einmal verändern. Ich war auch zunächst etwas verwundert über „Master“, „Bachelor“ und so etwas. Aber wir haben festgestellt, dass das für die Vergleichbarkeit in anderen Ländern, wenn Sie in Europa unterwegs sind, doch wichtig ist. Die Antwort auf die Frage, wie gut Sie qualifiziert sind, hängt doch auch davon ab, dass man sich verständlich macht. Denn unsere duale Berufsausbildung ist in vielen Bereichen nicht so bekannt. Ich möchte natürlich nicht nur Ihre Leistung loben, sondern auch die der Ausbilder und Betreuer. Denn auch dahinter stecken viel Arbeit und Begleitung. Es ist schön, dass es so etwas gibt und dass sich viele dafür bereithalten. Ich möchte auch dafür werben, dass Sie Botschafter der beruflichen Ausbildung sind. Denn wir erleben ja, dass doch immer mehr junge Leute sagen: Wir wollen studieren. – Ich habe nichts gegen das Studieren. Aber wenn wir wirklich zwei gleiche Säulen haben wollen, dann muss klar werden, dass man auch mit einer Berufsausbildung nicht ein für alle Mal sagt: Ich kann nicht auch einen akademischen Grad draufsetzen. Denn dafür gibt es heute ja viele, viele Möglichkeiten. Aber wer gern in seinem Beruf arbeitet, der ist uns hochwillkommen. Es muss auf der Welt ja auch Menschen geben, die einen praktischen Zugang zum Leben haben. Wenn alle nur noch über Papieren sitzen und nachdenken, dann wird das für unsere Welt vielleicht auch nicht ausreichend sein. Ich bin jetzt natürlich neugierig darauf, was Sie mir zeigen wollen. Spricht zufällig jemand von Ihnen Russisch? – Schön. Haben Sie es in der Schule gelernt oder kommen Sie oder Ihre Eltern von dort? – Sie kommen von dort. Добро пожаловать. Dann bin ich jetzt ganz gespannt und sage noch einmal: Es ist toll, dass Sie hier sind. Herzlichen Glückwunsch jedem einzelnen – unabhängig davon, was er gewonnen oder nicht gewonnen hat.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der DIHK-Vollversammlung am 27. November 2019 in Berlin
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Wed, 27 Nov 2019 19:08:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Schweitzer, meine Damen und Herren, sehr geehrte Kammerpräsidenten, Sie haben mich am Vorabend Ihrer Vollversammlung hierher an einen Ort entführt, der Oldtimer zeigt. Ihre Diskussionen aber weisen sicherlich mehr in die Zukunft. Trotzdem ist die Umgebung mit solchen Liebhaberfahrzeugen sicherlich etwas, das für die Zukunft inspiriert. Der Welthandel ist das, was ja auch unsere Automobilindustrie sehr interessiert, genauso wie alle anderen Wirtschaftsbereiche. Sie wissen: Die Bundesregierung und ich ganz persönlich treten für einen freien und fairen Handel ein. Wir glauben, dass Handel auf gemeinsamen Regeln basieren sollte und dass durch einen solchen Handel Win-win-Situationen entstehen. Wenn wir uns an die große Finanzkrise 2007, 2008 und 2009 erinnern, dann wissen wir, dass es im Grunde nur gelungen ist, so schnell aus dieser Krise wieder herauszukommen, weil wir als G20-Staaten, als die führenden Wirtschaftsstaaten der Welt, es geschafft haben, gemeinsam zu agieren. Deshalb bedrückt es mich schon sehr, muss ich sagen – das Ganze liegt ja zehn Jahre zurück –, dass wir diese Lehre nicht weiter beherzigen und Protektionismus auf dem Vormarsch ist. Ich darf Ihnen sagen, dass Deutschland glücklicherweise zusammen mit anderen gegen ein solches Vorgehen angehen und immer wieder dafür kämpfen wird, dass wir einen freien, regelbasierten Handel haben, dass wir auf die WTO setzen und diese WTO reformieren wollen. Auch wenn wir Rückschläge erleiden, sollten wir diese Prinzipien nicht aufgeben und nicht vergessen. Sie sind für uns gut gewesen; und sie werden helfen, Win-win-Situationen für die ganze Welt zu erreichen. Wir sehen ja – das als Randbemerkung –, dass multilaterales Vorgehen leider nicht nur im Bereich des Handels unter Druck geraten ist, sondern auch in vielen anderen Bereichen. Wir erleben das bei der Klimafrage; wir erleben das bei den Abstimmungen in den Vereinten Nationen. Trotzdem werden wir uns dem entgegenstellen. Die Europäische Union ihrerseits wird weiter auf Handelsverträge, auf bilaterale und regionale Handelsabkommen setzen. Wir wissen, dass es, bevor diese Handelsabkommen abgeschlossen werden, manchmal Befürchtungen in unserer Wirtschaft gibt, ob unsere Interessen auch ausreichend vertreten sind. Die Handelsverhandlungen finden ja sozusagen mit dem Mandat der Europäischen Kommission statt, für die die europäischen Mitgliedstaaten immer auch zuliefern. Ich glaube, dass wir doch gesehen haben, dass die abgeschlossenen Abkommen – ob mit Südkorea, Japan, Singapur oder auch Mercosur, wobei sich dort die Dinge im Augenblick schlecht oder schwierig gestalten –, uns letztlich genutzt haben; und zwar jeweils beiden Seiten. Das ist selbst bei der Automobilindustrie, die ich gerade schon angesprochen habe, der Fall, deren Vertreter gerade in Bezug auf das Abkommen mit Südkorea sehr kritisch eingestellt waren, aber im Nachhinein gesehen haben, dass es uns letztlich beflügelt hat. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle ein ganz herzliches Dankeschön sagen, denn Ihre Auslandshandelskammern sind ja im Grunde Botschafter Deutschlands, was vor allem den Mittelstand anbelangt. Sie leisten eine unglaublich wertvolle Arbeit, um unsere Ideen und Vorgehensweisen zu vermitteln. Wir werden mit der neuen Europäischen Kommission, die heute glücklicherweise gewählt wurde und am 1. Dezember ihr Amt antreten kann, darüber sprechen, dass wir auch ein Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika brauchen. Es gestaltet sich leider nicht ganz so einfach, wie wir uns das vorstellen. Das Mandat ist im Augenblick noch recht begrenzt. Aber wir haben es durchsetzen können. Ich glaube, wir tun gut daran, immer wieder dafür zu werben, dass wir diesen Weg gehen. Meine Damen und Herren, wenn man sich anschaut, was für Marktoffenheit und wirtschaftliche Freiheit gut ist, dann weiß man, dass dies auch die politische Freiheit ist. Wenn wir uns den Index des Freedom House, einer Nichtregierungsorganisation, anschauen, die den Demokratiegrad der Länder misst, dann kann man sagen, dass in den letzten 30 Jahren der Anteil an frei eingestuften Ländern immerhin um neun Prozentpunkte gestiegen ist und auf der anderen Seite der Anteil der unfreien Länder um zwölf Prozentpunkte gefallen ist. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass sich ein anderes Bild ergibt, wenn man nur die letzten zehn Jahre betrachtet, in denen der Anteil der freien Länder dann doch gesunken und der Anteil der nicht freien Länder gestiegen ist. Ein Blick auf Europa zeigt, dass rund 85 Prozent der Europäerinnen und Europäer in Ländern leben, die nach dieser Maßgabe vom Freedom House als frei eingestuft werden. Wir können sagen, dass wir insgesamt in einem großen Wettbewerb stehen, der auch etwas mit Freiheit oder gesellschaftlichen Systemen zu tun hat. Da gibt es einerseits die USA, auch ein Hort der wirtschaftlichen Freiheit, und auf der anderen Seite ein System in China – gesellschaftlich vollkommen anders organisiert, mit einem ausgeprägten staatlichen, zum Teil auch repressiven Charakter. Wir müssen sagen, dass wir 30 Jahre nach dem Mauerfall, nach fast 30 Jahren der Deutschen Einheit und europäischen Einigung jetzt in einem Wettbewerb mit China stehen. Das ist nicht nur ein wirtschaftlicher Wettbewerb, sondern das ist auch ein Wettbewerb zwischen Systemen. Wenn wir uns den rasanten Aufstieg von China anschauen, dann wissen wir, dass zum Beispiel 2005, als ich Bundeskanzlerin wurde, das Bruttoinlandsprodukt von China geringer als das von Deutschland war. Heute ist es mehr als dreimal so hoch als das von Deutschland. Das heißt, wir haben ein wirtschaftliches Wachstum gehabt, aber längst nicht so stark, so dynamisch, wie das in China der Fall war. Natürlich ist es so, dass dort sehr viel mehr Menschen leben und noch immer ein großer Abstand beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf besteht. Aber trotzdem befinden wir uns in einem gewissen Wettbewerb. Wir sind jetzt gefragt, wie wir in diesem Wettbewerb bestehen. Auch Deutschland muss seine Hausaufgaben machen. Herr Schweitzer, Sie weisen zum Beispiel auf den Punkt Unternehmensteuerreform hin. Wir haben es bei unserem Koalitionspartner bis jetzt noch nicht geschafft, hierfür die Türen wirklich sperrangelweit aufzumachen. Wir sehen eine Chance bei einer besseren Gleichbehandlung von Körperschaften und Personengesellschaften in Verbindung mit dem Außensteuerrecht. Aber für eine wirklich große Unternehmensteuerreform sehe ich im Augenblick noch keine Gelegenheit. Wir auf Unionsseite – auch der Fraktionsvorsitzende hat es heute in der Debatte klargemacht; ich habe es klargemacht – werden uns aber dafür einsetzen. Denn wir sehen, dass auch Frankreich seine Unternehmensteuern senkt, dass die Niederlande ihre Unternehmensteuern senken und dass wir jetzt, nachdem wir 2008 die letzte Unternehmensteuerreform hatten, die uns gut positioniert hat, doch zu denen gehören, die die weltweit höchsten Unternehmensteuern zahlen. Das ist in Kombination mit den Sozialversicherungsbeiträgen sicherlich etwas, das den Standort nicht stärkt, sondern das auf mittlere Frist ein Nachteil werden könnte. Also müssen wir darauf reagieren. Wir wissen, dass wir hierzulande eine ganze Reihe von Hausaufgaben zu machen haben. Da ich hier beim DIHK bin – Herr Schweitzer war schon bei uns in Meseberg zu Gast, wo wir auch über Fragen der Digitalisierung gesprochen haben –, will ich Sie bitten, dass Sie gerade auch auf diesen Punkt achten. Ich glaube nicht, dass das eigentliche Problem bei der Industrie 4.0 liegt. Ich glaube, dass Sie in Ihren Fertigungsprozessen in den letzten Jahren die Digitalisierung schon sehr weit vorangebracht haben. Meine Sorgen gelten vielmehr der Frage: Was machen wir mit den vielen Daten, die im Internet der Dinge anfallen? Verwerten wir diese Daten in ausreichender Art und Weise? Wenn ich mir anschaue, wie zum Beispiel in China die Plattformen gerade auch im Konsumentenbereich prosperieren und wie die Menschen sehr viel offener für diese neue Art sind, ihr Leben zu organisieren, so sind wir in Deutschland doch sehr viel zurückhaltender. Das gilt auch für das Management der Industriedaten. Deshalb unterstütze ich nicht nur das, was Peter Altmaier mit seiner Industrie- und Mittelstandsstrategie zu den Unternehmensteuern gesagt hat, sondern ich unterstütze auch sehr seinen Vorschlag, wie wir dazu kommen können, dass gerade auch mittelständische Unternehmen nach gemeinsamen Standards ihre Daten speichern – nicht alle in einer Cloud, aber in vernetzten Clouds; und das vielleicht europaweit. Denn wir brauchen Datensouveränität; und dafür müssen wir Maßstäbe setzen. Aber wir brauchen auch Ihre Bereitschaft, die Bereitschaft der Unternehmen in Deutschland, sich auf diesen Weg zu begeben und zu sagen: Ja, wir wollen unsere Daten nicht nur für unsere bekannten Prozesse nutzen, sondern wir wollen auch offen dafür sein, dass wir sie für neue Produkte verwerten. Viele von Ihnen geben die Daten an Amazon oder an andere Plattformen weiter, die Ihnen attraktive Angebote mit Algorithmen, der künstlichen Intelligenz oder Vorschläge für neue Produkte machen. Aber letztendlich liegt der interessante Teil der Wertschöpfung – oder zumindest ein interessanter Teil der Wertschöpfung der neuen Produkte – in anderen Händen. Wir sollten aber versuchen, daraus auch in Europa Produkte zu machen. Es gibt gerade auch dank des Wirtschaftsministeriums eine ganze Reihe an Beratungsinstitutionen. Ich kann nur sagen: Nehmen Sie deren Angebote wahr; bringen Sie das sozusagen Ihren Mittelständlern nahe. Denn in der Zeit voller Auftragsbücher war das vielleicht noch kein Thema, das im Vordergrund stand, weil man erst einmal seine großen Aufträge abarbeiten musste. Aber wir wissen ja: Wir kommen jetzt durch protektionistische Stimmungen an das Ende eines Konjunkturzyklus und sind vielleicht auch durch hausgemachte Dinge in eine Flaute geraten. Gerade in dieser Zeit ist es wichtig, den technologischen Wandel hinzubekommen. Deshalb ist es mir ein sehr großes Anliegen, dass wir nicht eines Tages aufwachen und uns darüber ärgern, dass wir da etwas verschlafen haben. Das gilt auch für uns in der staatlichen Verwaltung. Wir werden ein Onlinezugangsgesetz umsetzen und haben das Ziel, bis Ende 2022 sicherzustellen, dass die Bürgerinnen und Bürger alle ihre Vorgänge, die den Staat betreffen – Beantragung von Elterngeld, Kindergeld, Geburtsurkunden, Kfz-Zulassungen – digital vornehmen können; und zwar unabhängig davon, ob es um eine Leistung auf Bundesebene, Länderebene oder kommunaler Ebene geht. Das ist eine große Aufgabe. Diese Aufgabe wird von uns vor allen Dingen verlangen – darüber haben wir auch während unserer letzten Klausur gesprochen –, dass wir definieren, wie der einheitliche Zugang des Bürgers zu seinen Daten aussieht. Es gibt eine europäische Richtlinie, die uns Spielräume gibt. Wir können zum Beispiel – wir haben uns noch nicht festgelegt – den Personalausweis plus PIN heranziehen für die eindeutige Identifizierung jedes Bürgers. Dann kann der Bürger entscheiden, auf welche Daten er zugreifen will und welche Daten er freischaltet, und muss dann nicht mehr für jeden neuen Antrag permanent alle Daten neu eingeben. Das wäre natürlich eine Revolution. Aber für diese Revolution müssen wir werben. Gerade in Deutschland ist das schwierig, weil wir ja im Grunde eine gut funktionierende Verwaltung haben, die dazu führt, dass man einigermaßen zufrieden ist. Es gibt also keinen ganz großen Druck. Man ist nicht richtig zufrieden, aber man ist einigermaßen zufrieden. Der Innovationsdruck, das alles ganz anders zu machen und sich umzustellen, ist also zum Teil viel geringer als in weniger entwickelten Ländern, in denen man zum ersten Mal einen Weg zu einer guten Verwaltung geht. Aber wir gehen das bei uns jetzt an. Wir beim Bund haben zum Beispiel die Justizbehörden unterstützt, um die Digitalisierung voranzutreiben. Wir müssen alle unsere Register, vom Ausländerzentralregister bis zum Melderegister und allen anderen Registern, digitalisieren, damit wir die Daten verfügbar haben. Ich kann die Unternehmen, die zu Ihnen gehören, nur ermuntern, das auch voranzutreiben. Denn eines Tages werden Sie überhaupt nur noch dann kommunikationsfähig sein, wenn Sie die Digitalisierung vorangebracht haben. Wir setzen auf sichere, souveräne europäische Dateninfrastrukturen und werden intensiv zusammenarbeiten. Die Sicherheitsstandards sind natürlich von entscheidender Bedeutung für die Glaubwürdigkeit. Deshalb ist das auch ein Thema zum Beispiel im Zusammenhang mit den 5G-Frequenzen. Wir haben im Augenblick eine sehr intensive Diskussion – Sie verfolgen das – über die Sicherheitsstandards, die wir beim Aufbau des 5G-Mobilfunknetzes anwenden müssen. Dabei stellt sich uns die Frage: Wollen wir bestimmte Anbieter von vornherein ausschließen oder trauen wir uns zu, allgemeine Sicherheitsstandards so zu definieren und deren Einhaltung zu überprüfen, dass wir im Falle eines nicht vorhandenen Vertrauens sagen können, dass wir den betreffenden Anbieter nicht haben wollen? Meine Damen und Herren, ich neige dazu, uns zuzutrauen, dass wir hohe Sicherheitsstandards definieren – sie werden höher sein als bei 4G, 3G, 2G –, aber nicht von vornherein Anbieter ausschließen, weil es uns nicht gut bekommen würde, wenn wir uns als Antwort auf den Wettbewerb in ganzen Bereichen abschotten würden. Wir haben immer auf einen freien und offenen Wettbewerb und auf einen faktenbasierten Wettbewerb gesetzt und nicht auf einen Wettbewerb, der durch unterschiedliche politische Systeme qualifiziert ist. Das ist jedenfalls mein Angang. Und ich setze auf sehr hohe Sicherheitsstandards. Herr Schweitzer hat auch eine andere Frage angesprochen. Sie hat etwas mit der Wirtschaft und der Frage des Klimaschutzes zu tun. Es geht um unsere Strompreise. Ich weiß, dass Sie gerade auch im Zusammenhang mit dem Kohleausstieg erwarten, dass die Strompreise in den nächsten Jahren sinken. Wir haben unser Klimaschutzpaket so angelegt, dass die Bepreisung des CO2, die ja sehr gering beginnt, aber dann langsam Fahrt aufnimmt, zu einem Teil auch dafür verwendet wird, die Energieumlage, also die Umlage für erneuerbare Energien, schrittweise zu senken. Ihnen in der Wirtschaft ging es um die Netzentgelte. Das verstehe ich auch, weil die Netzentgelte von allen bezahlt werden, die EEG-Umlage von den energieintensiven Unternehmen nicht. Dennoch setzen auch wir auf ein Sinken des Strompreises, obwohl das eine ambitionierte Aufgabe ist, wie ich ganz offen sagen will. Unser Ziel ist es, die EEG-Umlage auf null zu bringen, natürlich über einen längeren Prozess hinweg, und damit die Lasten, die aus dem Umstieg auf erneuerbare Energien entstehen, den Menschen wieder abzunehmen. Insgesamt ist, denke ich, die deutsche Wirtschaft offen gegenüber der Frage, wie wir mit dem Klimaschutz umgehen. Und dafür bin ich recht dankbar. Alle Daten, die wir erhalten, zeigen und deuten darauf hin, dass wir an dieser Stelle wirklich handeln müssen. Ich habe es heute im Deutschen Bundestag wieder gesagt: Deutschland hat ein Prozent der Einwohner der Welt und verursacht aber über zwei Prozent der CO2-Emissionen. Das ist für ein hochentwickeltes Industrieland nicht akzeptabel. Damit erreichen wir auch die Vorgaben des Pariser Abkommens nicht. Die Evidenzen dafür, dass der Klimawandel eine Tatsache ist, sind ja übergroß. Die Bundesumweltministerin hat dazu kürzlich einen Monitoringbericht vorgestellt. Klimaschutz bedeutet natürlich auch eine Transformation unserer Energiewirtschaft. Mit diesem Thema müssen wir uns in den nächsten Jahren intensiv beschäftigen. Wir haben ein zunehmendes Auseinanderklaffen der Befindlichkeiten in Stadt und Land. Die einen müssen sozusagen die Windkraftanlagen und die Solarpanels bauen, die anderen wollen erneuerbare Energien haben und sagen: Es interessiert mich nicht, woher sie kommen. – Das geht so natürlich nicht. Denn wenn man eine 220 Meter hohe Windkraftanlage mit einer schönen Befeuerung für die Flugzeuge neben seinem Haus stehen hat und dafür noch nicht einmal irgendwelche Entgelte bekommt – wir haben wenigstens eine Grundsteuer für Windkraftanlagen eingeführt, von der die Kommunen profitieren können –, dann stellt sich die Frage der Windenergie noch ein kleines bisschen anders dar. Insofern trägt die Diskussion über Abstandsregelungen vielleicht dazu bei, dass die Akzeptanz von Windkraftanlagen steigt. Wir müssen sehen, dass wir in diesem Jahr eigentlich über zwei Gigawatt dazubauen müssten, aber leider nur 0,2 Gigawatt schaffen werden, selbst wenn es gut kommt, weil Genehmigungsverfahren so lange dauern, weil die Proteste so lange dauern, weil immer wieder Einspruch erhoben wird. Das bringt uns natürlich nicht voran. Dafür müssen wir eine Lösung finden. Abstandsregelungen sind ein Beitrag dazu, ebenso auch schnellere Genehmigungsverfahren und schnellere juristische Verfahren. Meine Damen und Herren, die Transformation in Richtung einer klimafreundlichen Wirtschaft und der Klimaneutralität im Jahr 2050 wird uns allen natürlich viel abverlangen. Wir dürfen uns dabei keinen Illusionen hingeben. Wir brauchen zum Beispiel eine wasserstoffbasierte Stahlherstellung, sehr viel mehr Wärmedämmung in Wohn- und Betriebsgebäuden und eine Transformation der Automobilindustrie. Es reicht nicht, wenn Tesla bei uns ein Werk baut. Das ist schön, aber ich gehe lieber – oder mindestens so gern; ich will keine Diskriminierung betreiben – zur Einweihung des ersten VW-Werks für Elektrofahrzeuge, als nur ausländische Produzenten hierfür zu haben. Wenn China bei uns Batteriezellen herstellt, dann deutet das nur darauf hin, dass wir das im Augenblick in Europa noch nicht können. Deshalb unterstütze ich wiederum Peter Altmaier, der sagt: Wir müssen dafür Konsortien finden. Wir müssen mit europäischem Geld unterstützen, die technologischen Fähigkeiten dort zu erlangen, wo wir sie heute noch nicht haben. Denn ansonsten geraten wir in eine langfristige Abhängigkeit, die ich ungern haben möchte, meine Damen und Herren. So sind wir also in einer Phase – das ist uns sehr bewusst –, in der wir auf Forschung und Innovation setzen müssen, in der wir Unternehmen in eine Lage versetzen müssen, in der sie – das haben Sie ja gesagt – auch die Freiheit haben zu investieren. Deshalb müssen wir auch die Lohnnebenkosten bzw. Lohnzusatzkosten bei unter 40 Prozent halten. Ein Vorschlag, den wir noch nicht realisiert haben, den ich aber jedenfalls so gut finde, dass ich ihn in zukünftige Programme gern wiederaufnehmen würde, ist, dass man im Zusammenhang mit der Digitalisierung gerade auch für Ersatzinvestitionen besondere Abschreibungsregelungen hat – ich glaube, das haben auch Sie einmal vorgeschlagen –, damit man sozusagen die Umwälzung der Technologien im Unternehmen schneller bewältigen kann. Als letzten Punkt will ich noch ein weiteres Thema ansprechen, nämlich das Thema Fachkräfte. Obwohl noch immer viele Menschen in Deutschland keine Arbeit haben, fehlen uns an vielen Ecken Fachkräfte – gerade auch für den digitalen Wandel. Deshalb haben wir das Fachkräfteeinwanderungsgesetz verabschiedet, das am 1. März des kommenden Jahres in Kraft treten wird. Ich möchte mich beim DIHK bedanken; und zwar dafür, dass Sie es mit Ihren Auslandshandelskammern übernommen haben, mit den diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik zusammenzuarbeiten und einen Teil der Visagenehmigung vorzunehmen. Den hoheitlichen Teil müssen natürlich wir machen. Aber es wird sehr darauf ankommen, dass wir hierbei Hand in Hand arbeiten. Denn wir müssen erreichen, dass wir wirklich die Fachkräfte bekommen, die wir in Deutschland brauchen, und nicht Fachkräfte, die gleich wieder ihre Arbeit verlieren oder nach Hause zurückgehen. Ich denke, es ist in unser aller Interesse, dass wir bei den Deutschkursen, bei der Frage der Sprachfähigkeit, bei den Ausbildungsstandards und den Abschlussstandards, die wir brauchen, und eben auch bei der Visabeschaffung eng zusammenarbeiten. Ich werde dazu im Dezember noch eine Konferenz abhalten. Ich denke, wir alle sollten gemeinsam daran arbeiten, dass wir dieses Fachkräfteeinwanderungsgesetz, nachdem wir, glaube ich, 20 Jahre darüber diskutiert haben, nun auch wirklich zu einem Erfolg machen. Ich weiß, dass wir bereits die EU Blue Card nach europäischem Recht haben, mit der wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ab einer bestimmten Gehaltshöhe beschäftigt sind, bei uns aufnehmen können. Aber oft geht es auch um einfachere Tätigkeiten. Und dafür ist das Fachkräfteeinwanderungsgesetz wirklich die richtige Antwort. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Arbeit. Auch wenn Sie vielleicht manchmal zweifeln, weil wir so viel über Grundrente und andere Dinge sprechen, sind wir uns dessen bewusst, dass das, was wir verteilen können, immer davon kommt, was erst einmal erwirtschaftet wird. Wir sind uns auch dessen bewusst, dass gerade in unsicheren Zeiten, in denen sich die Konjunktur eintrübt, viele Unternehmerinnen und Unternehmer sich auch am Wochenende zu Hause fragen: Wie setze ich meine Planung auf? Worauf kann ich hoffen? Wie kann ich in Zeiten schnellen technologischen Wandels richtig entscheiden? Was tue ich mit meinen Beschäftigten? – Die allermeisten von Ihnen gehen mit den Beschäftigten nicht leichtfertig um, sondern überlegen sich sehr genau, wie sie gute Fachkräfte halten können. Sie müssen Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zum Teil sagen: Ihr müsst jetzt wieder lernen, ihr müsst euch umschulen und wieder neu anfangen. – Auch das ist keine einfache Arbeit. Deshalb möchte ich Ihnen einfach danke sagen. Ohne Sie können wir keine Politik machen und nichts verteilen. Deshalb sind wir auf Sie angewiesen und wollen mit Ihnen gut zusammenarbeiten. Deshalb wünsche ich Ihnen auch einen wunderschönen Abend und morgen eine gute Vollversammlung. Wo immer möglich versuchen wir, Ihre Wünsche zu erfüllen. Das gelingt nicht immer. Es wäre auch langweilig. Aber ich glaube, gerade auch in diesen Zeiten, in denen es so viel internationalen Protektionismus gibt, Sie aber Ihre Außenkontakte pflegen wollen, sollten wir fest zusammenstehen – jeder in seinem Verantwortungsbereich. Deshalb: danke für die Einladung.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich der 7. Verleihung des APPLAUS
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-der-7-verleihung-des-applaus-1702440
Wed, 27 Nov 2019 19:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Feiern – Don’t forget to go home“: So heißt ein Dokumentarfilm der Regisseurin Maja Classen aus dem Jahr 2006. Der Film, in dem DJs, Barkeeper, Türsteher und Partygäste zu Wort kommen, erlaubt einen tiefen Einblick in die Berliner Clubkultur, die ja auf der ganzen Welt, wie der Filmtitel andeutet, ebenso berühmt wie berüchtigt ist. Nicht ganz so wild wie in so manchem Berliner Club, aber hoffentlich nicht minder euphorisch wird auch heute Abend gefeiert – jedenfalls haben viele von Ihnen einen sehr guten Grund dazu: Herzlich willkommen zur 7. Verleihung des APPLAUS! In diesem Jahr feiert der Preis eine doppelte Premiere: Zum einen ist es ist das erste Mal, dass wir ihn in der Hauptstadt verleihen. Zum anderen – so viel darf ich gleich zu Beginn verraten – werden wir zum ersten Mal Preise an Clubs und Konzertveranstalterinnen und -veranstalter aus allen 16 Bundesländern vergeben! Ganz offensichtlich kommen musikalische Feinschmecker landauf landab auf ihre Kosten, und auch das freut mich sehr. Damit das so bleibt, werden wir die Fördertöpfe noch weiter füllen. Ich kann Ihnen heute mitteilen, dass wir unser erfolgreiches Engagement im Rock-, Pop- und Jazzbereich im nächsten Jahr mit einem Rekord-Etat von über 16 Millionen Euro fortsetzen werden. Die Mittel dafür hat der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages vor zwei Wochen bereitgestellt. Damit dürfte auch das erhöhte Budget von zwei Millionen Euro für den APPLAUS gesichert sein – ebenso wie die Fortführung der erfolgreichen Clubförderprogramme der Initiative Musik. Außerdem können wir die Künstlerförderung der Initiative Musik endlich auf einem vernünftig hohen Niveau halten. Das sind nicht nur viele schöne Gründe, heute ausgelassen zu feiern. Das ist auch ein klares Bekenntnis der Bundesregierung zur Musikförderung und ein Ausdruck der Wertschätzung für Spielstätten, die mit Experimentierfreude und Mut zum Risiko unermüdlich für ein vielfältiges und kulturell herausragendes Livemusikprogramm sorgen. Und so ist der APPLAUS weit mehr als der höchstdotierte Clubpreis in Deutschland: Er hat auch dazu beigetragen, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für die Belange der deutschen Spielstätten deutlich gestiegen ist. Und das ist auch gut so: Denn Ihre Spielstätten, verehrte Preisträgerinnen und Preisträger, sind gewissermaßen die „Feinkostläden“ für musikalische Gourmets. Vor allem aber sind es gesellschaftlich bedeutende Kulturorte – Orte des gemeinsamen kulturellen Erlebens. In den Clubs, die wir heute auszeichnen, kommen Menschen zusammen für ein gemeinsames, für ein echtes Musikerlebnis – live und in Farbe und mit der Aussicht, musikalisches Neuland zu entdecken. Ihr Angebot, verehrte Preisträgerinnen und Preisträger, begeistert ganz offensichtlich; es reißt Menschen im wahrsten Sinne des Wortes vom heimischen Hocker. Das ist wahrlich keine Selbstverständlichkeit im digitalen Zeitalter, in denen die Algorithmen der Streamingdienste jederzeit und überall abrufbare Playlists nach den Präferenzen des Konsumenten erstellen. Nicht zuletzt sind Musikclubs, die ja vielfach noch unbekannten Künstlerinnen und Künstlern eine Bühne bieten, auch Orte der Freiheit und Neugier: Sie stehen für elementare demokratische Grundwerte: für künstlerische Freiheit und für die Freiheit, sich persönlich zu entfalten. Sie kultivieren die Lust am Experimentieren, an wechselseitiger Inspiration und an der (nicht nur musikalischen) Horizonterweiterung. Das tut unserem Land gut in Zeiten, in denen neue politische Kräfte Enge, Abschottung und Ausgrenzung propagieren! Nicht zuletzt deshalb ist es mir wichtig, die Vielfalt der Clubs und Spielstätten in Deutschland zu erhalten. Ich weiß natürlich um die vielschichtigen Probleme, mit denen viele Betreiberinnen und Betreiber zu kämpfen haben und die die Clubs vielerorts aus den Innenstädten zu verdrängen drohen. Es gibt Entwicklungen, denen die Politik nicht tatenlos zusehen darf. Morgen beginnt hier in Berlin die Konferenz „Stadt Nach Acht“, die sich genau dieser Entwicklungen annehmen wird. Ich danke der Clubcommission Berlin für diese wichtige Veranstaltung und hoffe, dass daraus gute Ideen für den Erhalt der vielfältigen Clubkultur entstehen. Bei der Suche nach Lösungen für einen Ausgleich aller Interessen sind natürlich auch und vor allem die Länder und Kommunen gefragt. Berlin, lieber Klaus Lederer, hat mit seinem Schallschutzfonds, einem Förderprogramm des Berliner Senats für den Einbau von Schallschutzmaßnahmen, einen bei aller Kritik doch wichtigen ersten Schritt getan. Dafür und auch für die finanzielle Unterstützung der heutigen Preisverleihung danke ich Dir! Auch auf Bundesebene unterstützen wir flankierend Investitionsmaßnahmen von Spielstätten, und zwar im Rahmen des „TeSa-Programms“ – der Name hat nichts mit dem Klebeband zu tun! – der Initiative Musik. Ihnen, dem Team der Initiative Musik, danke ich von Herzen für all Ihren Einsatz, nicht zuletzt für den diesjährigen APPLAUS. Ein herzliches Dankeschön für ihr großes Engagement auch der APPLAUS-Jury und ihrem Vorsitzenden – Dir, lieber Dieter Gorny! Für die Zukunft, verehrte Preisträgerinnen und Preisträger, wünsche ich Ihnen, was der Schriftsteller Rainald Goetz, der den Text zum eingangs erwähnten Dokumentarfilm „Feiern – Don’t forget to go home“ geschrieben hat, einmal über die Loveparade gesagt hat, ich zitiere: „Das sind für mich glückliche Momente für (…) die Demokratie. So ist insgesamt durch Dance geschehen, wovon Kunst, seit es sie gibt, träumt: Mitzuwirken daran, daß es eine neue Welt gibt, die – und sei es nur ein Mikrobißchen – besser ist, als die, die war.“ Möge der APPLAUS Sie darin bestärken, der musikalischen Vielfalt eine Bühne zu bieten und im Sinne Rainald Goetz‘ an einer neuen Welt mitzuwirken – ob mit elektronischer Musik, Rock, Pop, Hip Hop oder Jazz! Herzlichen Glückwunsch allen Preisträgerinnen und Preisträgern!
In Ihrer Rede würdigte Monika Grütters die Preisträgerinnen und Preisträger und betonte wie wichtig ihr ist, die Vielfalt der Clubs und Spielstätten in Deutschland zu erhalten. „In den Clubs, die wir heute auszeichnen, kommen Menschen zusammen für ein gemeinsames, für ein echtes Musikerlebnis – live und in Farbe und mit der Aussicht, musikalisches Neuland zu entdecken“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Deutschen Bundestag
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-deutschen-bundestag-1699682
Wed, 27 Nov 2019 09:00:00 +0100
Berlin
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die NATO wird in diesem Jahr 70 Jahre alt. Aus diesem Anlass werden sich in der nächsten Woche, am 3. und 4. Dezember, die Staats- und Regierungschefs in London treffen. Ich glaube, das ist ein guter Anlass, einmal Rückblick zu halten. Ich glaube, wir sind uns fast alle einig, dass in den ersten 40 Jahren ihrer Existenz die NATO im Kalten Krieg ein Bollwerk für Freiheit und Frieden war und dafür gesorgt hat, dass es zu keinem Krieg in Europa kam. In diesem Zusammenhang sind wir ganz besonders unseren amerikanischen Freunden zum Dank verpflichtet. Aber seit dem Ende des Kalten Krieges sind bereits 30 Jahre vergangen. Nach 1990 hat die NATO eine interessante Aufgabenzuteilung bekommen, eine interessante Zeit erlebt. Vielleicht sollte man darauf angesichts dieser 70 Jahre einmal kurz Rückblick halten: Ende der 90er-Jahre kam die Frage der Erweiterung auf die Tagesordnung. Im Zusammenhang mit der ersten Erweiterungsrunde um drei Länder ist damals auch die NATO-Russland-Grundakte abgeschlossen worden. Ich weiß nicht, wer sich noch daran erinnert: Es war eine durchaus kontroverse Diskussion, ob die NATO erweitert werden sollte. Sie ist dann 1999, 2004, 2009 und 2017 noch einmal deutlich erweitert worden. Man hat 1997 im Vorfeld dieser Erweiterung die NATO-Russland-Grundakte abgeschlossen, die in Paris unterzeichnet wurde, die die Truppenaufstockungen in den neuen Mitgliedstaaten, also in den östlichen Staaten, limitiert hat, die verboten hat, dort Atomwaffen zu stationieren, und die die Anerkennung der damaligen Grenzen, die territoriale Souveränität, akzeptiert hat. Im Grunde war damit die Hoffnung verbunden, auch ein gedeihlicheres Miteinander mit Russland zu haben, als es dann tatsächlich der Fall war. Ende der 90er-Jahre folgte dann das Eingreifen der NATO im Jugoslawien-Konflikt. Dies war aus meiner Sicht ein Beitrag dazu, dass es zu friedlichen Verhandlungen kommen konnte und der Ahtisaari-Plan damals genehmigt wurde. Die NATO hat sich bis heute als Ordnungsmacht auf dem westlichen Balkan etabliert. Zu Beginn des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, am 11. September 2001, kam es zum ersten großen terroristischen Anschlag, dem Angriff auf das World Trade Center. Der Begriff „asymmetrische Kriegsführung“ war damit in aller Munde. Damals ist zum ersten und einzigen Mal der Artikel 5 von den Vereinigten Staaten von Amerika innerhalb der NATO erfragt worden, die Beistandsverpflichtung. Der Beistand wurde auch gewährt von den Mitgliedstaaten der NATO. Wir haben das aus Überzeugung getan. Seit dieser Zeit gibt es den Einsatz in Afghanistan, an dem sich Deutschland bis heute beteiligt. Ich weiß, was für schwierige Auseinandersetzungen das damals waren. Deshalb möchte ich einfach ein großes Dankeschön an unsere Soldatinnen und Soldaten sagen, die seit dieser Zeit dort Dienst tun – Peter Struck hat immer gesagt, unsere Sicherheit wird am Hindukusch verteidigt – und die das bis heute leisten. Es kam dann zu keiner NATO-Mission beim zweiten Irakkrieg, als Europa gespalten war und wir zu keiner gemeinsamen Haltung kamen. Das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist im Grunde geprägt durch zwei Entwicklungen: einmal den Arabischen Frühling und die Reaktionen darauf. Wir erinnern uns: 2011 – da waren wir nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat – gab es den NATO-Einsatz zur Flugraumüberwachung in Libyen. Deutschland hat sich damals enthalten. Das Mandat wurde überdehnt. Es war eines der letzten Mandate im Sicherheitsrat, die es gab. Russland hat sich seitdem selten wieder beteiligt, und der Sicherheitsrat ist seitdem ziemlich handlungsunfähig geworden. Wir haben damals gesehen, dass dieses Mandat überdehnt wurde, dass Gaddafi sozusagen verjagt wurde und dass in Libyen Instabilität ausbrach. Auch heute ist noch keine politische Lösung in Sicht. Wir haben dann den Bürgerkrieg in Syrien gesehen. Dort hat die NATO nichts unternommen. Dieser Bürgerkrieg ist langsam, aber sicher zu einem Stellvertreterkrieg geworden. Wir müssen heute konstatieren, dass es die grausamste und die schlimmste humanitäre Situation ist, die wir seit dem Völkermord in Ruanda hatten: 500 000 Tote, 12 Millionen Vertriebene, die Hälfte davon Binnenvertriebene, die anderen sind Flüchtlinge außerhalb Syriens. Auch hier wartet eine politische Lösung auf ihre Realisierung. Gleichzeitig hatten wir 2014 dann die Annexion der Krim durch Russland, den Einmarsch in der Ostukraine. – Es ist gut, dass Sie alles wissen. Aber warten Sie es einfach ab. Damals hat sich die NATO dazu verpflichtet, sich als Erstes wieder auf die Bündnisverteidigung zu konzentrieren, weil die Angriffe bis an ihre Grenzen kamen. Die NATO-Versammlung in Wales war ein Wendepunkt in dieser Frage. Damals haben wir uns verpflichtet, unsere Verteidigungsausgaben in Richtung 2 Prozent zu entwickeln, was wir seitdem auch tun. Der Haushalt für das nächste Jahr besagt 1,42 Prozent NATO-Quote. In Wales waren wir bei 1,18 Prozent. Wir werden das schrittweise weitermachen: 1,5 Prozent bis 2024. Die Verteidigungsministerin hat jetzt einen Plan aufgesetzt, wie wir durch Verbesserung unserer Bündnisfähigkeit, durch Aufwuchs unserer Fähigkeiten bis zum Anfang der 30er-Jahre die 2 Prozent erreichen werden. Darauf kann man sich verlassen, meine Damen und Herren. Wenn man sich das alles anschaut, dann ist, glaube ich, Zeit für die Analyse: Was ist gelungen, und was ist nicht so gut gelungen? Und was bedeutet das für die NATO und die Zukunft? Da will ich als Erstes sagen: Gelungen ist die Bündnisverteidigung für die osteuropäischen Länder. Wir sind Führungsnation in Litauen. Wir machen bei der Flugüberwachung mit, wenn ich das für den deutschen Beitrag sagen darf. Wir sehen jeden Tag, welche hybride Bedrohung auch von Russland kommt, der die Soldatinnen und Soldaten dort ausgesetzt sind. Meine Damen und Herren, wir haben als Pluspunkt auch das Bündnis, das den Artikel 5 realisiert und den Vereinigten Staaten von Amerika geholfen hat in Afghanistan. Und wir können sagen, dass wir den westlichen Balkan stabilisiert haben, was auch für unsere eigene Sicherheit von allergrößter Bedeutung ist. Aber wir müssen genauso feststellen: Politische Lösungen in Libyen fehlen, genauso in Syrien. Die Türkei hat sich entfremdet als Mitgliedstaat innerhalb der NATO. Es gibt vor der Haustür Europas eine Vielzahl von terroristischen Bedrohungen. Die Vereinigten Staaten gehen nicht mehr automatisch in die Verantwortung, wenn es in unserer Umgebung brennt. Und es ist eine völlig andere multipolare Ordnung entstanden, bei der China eine herausragende Rolle einnimmt und auch die Konzentration der Vereinigten Staaten von Amerika viel stärker in Anspruch nimmt. Deshalb, meine Damen und Herren, ist es wichtig, was das für uns und für unsere Haltung zur NATO bedeutet. Da sage ich als Erstes: Stärker als im Kalten Krieg ist der Erhalt der NATO heute in unserem ureigenen Interesse – mindestens so stark wie im Kalten Krieg. Denn – das hat gestern auch der Außenminister gesagt – Europa kann sich zurzeit alleine nicht verteidigen. Wir sind auf dieses transatlantische Bündnis angewiesen, und deshalb ist es auch richtig, wenn wir für dieses Bündnis arbeiten und mehr Verantwortung übernehmen. Meine Damen und Herren, wir müssen klären, wofür die NATO verantwortlich sein möchte. Ist sie nur für die Bündnisverteidigung verantwortlich, oder ist sie auch für die Sicherheit in unserer Umgebung verantwortlich? Ich glaube, es war richtig, einen europäischen Arm der Verteidigungspolitik, der mit der NATO zusammenarbeitet, zu gründen: die PESCO, die strukturierte Zusammenarbeit innerhalb Europas mit dem Ziel, gemeinsame Einsätze unabhängig von der NATO durchführen zu können, aber niemals, um gegen die NATO oder anstelle der NATO zu arbeiten, sondern um im Zweifelsfall im Bündnis einen weiteren europäischen Pfeiler zu etablieren. Es geht auch um gemeinsame Rüstungsprojekte. Diese Rüstungsprojekte müssen wir gemeinsam mit Frankreich ganz wesentlich voranbringen. Ich bedanke mich bei der Bundesverteidigungsministerin an dieser Stelle, dass wir hier Tempo vorlegen. Ich bitte den Deutschen Bundestag, hier zu helfen, sowohl bei dem gemeinsamen Flugzeugprojekt als auch bei dem gemeinsamen Panzerprojekt. Wir müssen uns also in der Zukunft in verschiedenen Formaten engagieren: in der NATO, manchmal auch nur von der europäischen Seite, aber möglichst immer mit UN-Unterstützung. Die Schwierigkeit besteht darin, dass es nicht so einfach ist, UN-Missionen neu zu etablieren; denn die Vereinigten Staaten sind sehr zurückhaltend geworden gerade in einem Bereich, der für uns von großem Interesse ist: der Sahelzone. Hier gelingt es im Augenblick nicht, robuste UN-Mandate für die Einsätze zu bekommen. Daran muss weiter gearbeitet werden. Für uns ist wichtig – das ist von ganz besonderer Bedeutung –, dass wir immer einen gemeinsamen Ansatz sehen, der sich nicht aufs Militärische konzentriert, der sagt: Das Militärische ist dabei, aber das Eigentliche sind die politischen Lösungen, das Eigentliche ist die Entwicklungszusammenarbeit, die wirtschaftliche Kraft, die wir Regionen geben. – Deshalb nennen wir das den vernetzten Ansatz, mit dem wir in Afghanistan begonnen haben, zu arbeiten. Es ist gut, dass Frankreich erstmals seit 2009 wieder komplett in der NATO verankert ist. Das ist unter Präsident Sarkozy passiert. Das ist vorher lange nicht der Fall gewesen. So kann die NATO heute politischer arbeiten. Und politische Lösungen gehören dazu; militärische Lösungen alleine werden nie reichen. Es stellt sich natürlich auch die Frage, wie wir mit dem schwierigen Partner Türkei umgehen. Wollen wir ihn in der NATO halten oder nicht? Arbeiten wir darauf hin? Das heißt natürlich nicht, dass man sich nicht gegenseitig die Meinung sagt, dass man Unterschiede nicht anspricht. Aber ich sage: Die Türkei sollte NATO-Mitglied bleiben. Dafür müssen wir uns einsetzen; denn es ist von geostrategischer Bedeutung für das Bündnis, dass die Türkei mit dabei ist. Nun ist es sehr leicht, gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika kritisch zu sein, die vielleicht an vielen Stellen nicht mehr die Verantwortung übernehmen wollen, die sie früher übernommen haben. Aber das zeigt zuerst auf uns zurück, auf Europa. Die erste Aufgabe, damit die NATO funktionieren kann, ist, dass die Europäische Union sich einig ist; denn die meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind auch NATO-Mitglieder. Für Deutschland und seine Außenpolitik heißt das in ganz besonderer Weise, dass wir uns für diese Einigkeit einsetzen müssen, und zwar zunächst mit Blick auf die Stabilisierung des westlichen Balkans. Ich bin dafür, dass wir noch einmal darüber nachdenken, ob wir über neue Beitrittsverfahren in der Europäischen Union diskutieren; ich sage ganz ehrlich: Das hätten wir vielleicht auch schon vor einem Jahr machen können. Vor allem bin ich der Meinung, dass wir den Ländern des westlichen Balkans sagen müssen: Ihr habt eine verlässliche europäische Perspektive. – Deshalb sage ich mit Blick auf Nordmazedonien und Albanien, dass wir versprochene Beitrittsverhandlungen anfangen – ich sage nicht: abschließen – müssen. Sonst verlieren wir diese Länder, und das ist zu unserem Nachteil. Außerdem ist es richtig, dass Europa – Großbritannien, Frankreich und Deutschland – eine intensive und aktive Rolle beim Iranabkommen, dem JCPoA, spielt, damit es nicht zu einer nuklearen Bewaffnung des Iran kommt. Ich will in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Aktivitäten von Frankreich loben, aber klar ist: Alle drei Staaten ziehen hier an einem Strang und versuchen, dieses Abkommen als einen Hebel zu nehmen, um weitere Eskalationen zu verhindern. Wir appellieren aber auch an den Iran, zu sehen, dass dieses Abkommen auch für den Iran einen Wert an sich hat. Wir werden in zwei politischen Prozessen eine aktivere Rolle einnehmen und unseren Beitrag leisten. Der Außenminister tut das im Zusammenhang mit Syrien. Wir haben uns sehr dafür eingesetzt, dass bei den Vereinten Nationen jetzt endlich ein Verfassungskonvent gebildet werden konnte. Das geht nicht ohne Gespräche mit Russland, und das geht nicht ohne Gespräche mit der Türkei. Deshalb gab es auch Treffen von Präsident Erdogan, von Präsident Macron und mir und von Putin und Erdogan. Es ist wichtig, dass wir den UN-Gesandten Pedersen an dieser Stelle unterstützen. Und zweitens führen wir – denn wir haben aufgrund der Tatsache, dass wir uns damals im Sicherheitsrat enthalten haben, eine hohe Reputation bei den afrikanischen Ländern – jetzt in Berlin Gespräche auf hoher Beamtenebene von Auswärtigem Amt und Bundeskanzleramt mit dem UN-Vermittler Salamé und den wichtigsten Akteuren, um zu verhindern – und das ist schwer genug –, dass in Libyen ein Stellvertreterkrieg geführt wird in der Dimension, wie wir es in Syrien gesehen haben, und um zu verhindern – deshalb ist eine Lösung für Libyen so notwendig –, dass der gesamte südlich von Libyen liegende Sahelbereich in terroristische Instabilität abgleitet. Das ist eines der größten Probleme, denen wir im Augenblick begegnen; und dass das etwas mit unserer Sicherheit zu tun hat, das kann sich jeder leicht vorstellen. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass sich Deutschland und Frankreich beim G-7-Treffen in Biarritz entschieden haben, neben der Unterstützung für die G-5-Saheltruppe eine Initiative für die Sicherheit in der Sahelzone zu starten. Wir werden weiter daran arbeiten – das möchte ich jedenfalls –, dass wir ein robustes UN- Mandat bekommen. Das führt uns zu einem weiteren Punkt. Wir werden in Zukunft nicht alle Einsätze selbst bestreiten können. Mehr tun kann auch heißen, anderen bei der Ausbildung, bei der Befähigung und Ertüchtigung zu helfen. Das machen wir schon in Mali, aber es muss noch breiter geschehen. Wir müssen uns einem Thema stellen, dem wir auf Dauer nicht werden ausweichen können: Wenn wir in anderen Regionen der Welt ausbilden und ertüchtigen, dann stellt sich auch die Frage, wer die Ausrüstung liefert. Sie konnten neulich beim Treffen der Afrikanischen Union mit dem russischen Präsidenten in Sotschi sehen, dass das Ganze begleitet war von einer großen Show von militärischen Gegenständen. Die afrikanischen Länder konnten sich aussuchen, was sie brauchen, zum Teil zu verbilligten Preisen. Ich frage uns: Ist es in unserem Interesse, wenn klar ist, dass Afrika nur von Russland, China und Saudi-Arabien ausgerüstet wird? Ich glaube, das kann nicht richtig sein. Wenn wir für die Sicherheit und den Frieden in Afrika andere ertüchtigen, dann können wir uns bei der Ausrüstung nicht völlig verweigern. Das ist jedenfalls meine Überzeugung. Deshalb bin ich ein bisschen unruhig, wenn wir unsere Maßnahmen immer weiter einschränken. Wir sind nicht glaubwürdig, wenn wir Menschen, die in terroristische Kämpfe ziehen müssen, ausbilden, um ihnen anschließend zu sagen: Na ja, aber woher ihr eure Ausrüstung herkriegt, das müsst ihr euch überlegen. Meine Damen und Herren, ja, wir müssen auch unsere europäische Haltung zu China klären. Das ist ein großer Diskussionsgegenstand. Der an Jahren alte, aber im Geist junge Christian Schwarz-Schilling hat auf dem CDU-Parteitag weise Worte gesagt. Er hat gesagt: Wer glaubt, national allein einen Kurs finden zu können im Umgang mit China, und nicht versucht, eine gemeinsame europäische Haltung zu entwickeln, der wird zerrieben werden und der wird scheitern. Wenn ich Ihnen das ganz offen sagen darf: Eine der größten Gefahren – ich will es so nennen; zumindest Sorgen –, ist, dass jeder Mitgliedstaat in Europa seine eigene Chinapolitik macht und dass wir zum Schluss ganz unterschiedliche Signale senden. Das wäre nicht für China verheerend, aber es wäre für uns in Europa verheerend. Es ist unbestritten, dass wir hohe Sicherheitsstandards beim Ausbau von 5G brauchen. Aber das müssen wir, nachdem wir sie für uns definieren, dann auch mit den anderen europäischen Partnern besprechen. So, wie wir eine Medikamentenzulassungsagentur in Europa haben, so müssen wir wahrscheinlich auch eine Zulassungsagentur, eine Zertifizierungsagentur haben, die sich mit der Zertifizierung von 5G-Teilen beschäftigt und mit nationalen Institutionen wie dem BSI zusammenarbeitet. Denn wenn in einem digitalen europäischen Binnenmarkt jeder seins macht und jeder anders handelt, dann werden wir nicht weit kommen. Das heißt: Telekommunikationsgesetz ändern, IT-Sicherheitsgesetz ändern und natürlich im Parlament darüber sprechen, wie wir höchste Sicherheitsstandards anlegen. Wir müssen aber auch nach Europa schauen und möglichst mit Frankreich erst einmal gemeinsame Lösungen finden, aus denen wir dann insgesamt europäische Lösungen entwickeln können. Natürlich müssen wir kritisieren, wenn wir jetzt die Berichte von den Uiguren hören. Ich stimme dem Bundesaußenminister vollkommen zu, dass die UN-Menschenrechtsbeauftragte dort Zugang haben muss. Ich glaube, dass die Europäische Union gestern das Richtige dazu gesagt hat. Ich glaube, dass es ein gutes Zeichen war, dass die Wahlen in Hongkong so friedlich abgelaufen sind und die Menschen trotzdem ihre Meinung gesagt haben. Das ist „ein Land, zwei Systeme“. Und das sind zwei Systeme. Und China ist ein anderes gesellschaftliches System, ein völlig anderes. Es gibt einen Systemwettbewerb. Aber ich weiß nicht, ob die Antwort auf den Systemwettbewerb – so was kennen wir ja auch aus dem Kalten Krieg – Abschottung heißen kann, vielmehr muss die Antwort auf den Systemwettbewerb sein, dass wir selbstbewusst davon ausgehen, dass wir unsere Maßstäbe setzen können, ohne die totale Abschottung zu proklamieren. Das ist jedenfalls mein Ansatz, meine Damen und Herren. All das wird Europa natürlich nur können, wenn es wirtschaftlich stark ist. Die wirtschaftliche Stärke Europas hängt ganz wesentlich mit der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands zusammen. Damit sind wir bei dem, was in dieser Woche hier im Wesentlichen debattiert wird. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in den letzten 20 Monaten als Bundesregierung vieles auf den Weg gebracht. Wir haben das in der Halbzeitbilanz niedergelegt. Ich glaube, wir haben vor allen Dingen wirklich wichtige Dinge getan, um gerade in einer Zeit des konjunkturellen Abschwungs, verursacht durch weltweite Entwicklungen, durch zyklische Entwicklungen, etwas dagegenzusetzen, und zwar mit einem robusten Binnenkonsum. Ich will das hier nicht alles wiederholen: Kindergeld, Kinderfreibeträge, Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung, Abbau des Solis, Verbesserungen in der Krankenversicherung und in der Pflegeversicherung, Mindestlohnerhöhung, Rentenplus, Mütterrente. Wir haben uns jetzt über die Eckpunkte der Grundrente – etwas ganz Wichtiges – geeinigt und werden sie gesetzlich umsetzen. Wir haben eine Mindestausbildungsvergütung beschlossen. Wir haben dafür gesorgt – das ist, finde ich, eine ganz wichtige Sache –, dass für die Ausbildung in Berufen, in denen Menschen, vor allen Dingen Frauen, mit Menschen arbeiten, endlich kein Schulgeld mehr gezahlt werden muss, sondern es eine Ausbildungsvergütung gibt. Es ist eigentlich ein Anachronismus, dass das in 70 Jahren Bundesrepublik nicht geschafft wurde; das hätte man auch schon vor der deutschen Einheit schaffen können. Und wir haben auf eine der wesentlichen Fragen der deutschen Wirtschaft eine Antwort gegeben: mit einem Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Wir werden die Funktionalität dieses Fachkräfteeinwanderungsgesetzes im Dezember auf einem Gipfel im Kanzleramt diskutieren, damit wir hiermit auf eine der großen Herausforderungen der deutschen Wirtschaft eine richtige Antwort geben. Wir haben die innere Sicherheit massiv verbessert. Wir haben die Migration gesteuert und geordnet. Wir haben vieles für die Integration getan. Meine Damen und Herren, wir stehen relativ robust da. Der Haushalt ist auf Rekordniveau. Wir werden im nächsten Jahr das Maastricht-Kriterium einer Schuldenquote von 60 Prozent unterschreiten. Ich will an dieser Stelle noch mal sagen, dass es mich wundert, dass in diesem Hause immer so abfällig über einen ausgeglichenen Haushalt gesprochen wird. – Es gibt Menschen, die sprechen in diesem Hause abfällig davon. Ich muss wirklich sagen: Wenn man in Zeiten so niedriger Zinsen – Olaf Scholz hat das gestern dargestellt – glaubt, man müsste auch noch Schulden machen, was will man dann eigentlich in Zeiten machen, in denen die Zinsen wieder normal sind und steigen? Wie viel Schulden will man dann machen? Das kann ja nun ernsthafterweise nicht sein. Wir haben einen Haushalt mit einem Investitionshoch. Wir hatten noch nie so hohe Investitionen im Haushalt. Wir haben durch das Klimapaket noch mal viele Investitionen draufgelegt. Man kann doch nicht Investitionen erst dann gut finden, wenn sie Schulden verursachen. Ein ordentlicher Haushalt heißt doch: Investitionen in einem ausgeglichenen Haushalt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, alles andere ist doch absurd. Wir haben allerdings – da sind wir in der Koalition vielleicht ein bisschen unterschiedlicher Meinung – zumindest mittelfristig die Aufgabe, die Bedingungen für die deutsche Wirtschaft an den internationalen Rahmen anzupassen. Das bedeutet zum einen – da kriegen wir ja vielleicht noch was hin –, dass wir für Personengesellschaften und Körperschaften ähnliche steuerliche Verhältnisse haben. Aber wir werden ab dem Jahr 2020 das Land mit den höchsten Unternehmenssteuern in Europa sein. Frankreich wird seine Unternehmenssteuern – die liegen heute im Schnitt noch über unseren – sukzessive auf 25 Prozent senken, die Amerikaner haben an dieser Stelle massiv gesenkt, Portugal liegt diesbezüglich in unserer Nähe, die Niederlande werden auch eine Unternehmenssteuerreform machen. Das heißt, mittelfristig müssen wir uns das, glaube ich, anschauen, wenngleich wir auch andere Themen haben, die für die deutsche Wirtschaft mindestens von ebenso großer Wichtigkeit sind. Deshalb möchte ich mich heute auf zwei Dinge konzentrieren, von denen ich glaube, dass sie darüber entscheiden, ob die deutsche Wirtschaft und damit die Arbeitsplätze und der Wohlstand bei uns erhalten bleiben können, also auf zwei Dinge, die von entscheidender Wichtigkeit sind. Zum einen geht es um die Frage: Wie begegnen wir dem Klimawandel? Welche Antworten finden wir darauf? Und wie schaffen wir die Transformation unserer Wirtschaft? Hierzu hat die Bundesregierung ein ambitioniertes Paket vorgelegt. Es wird darüber diskutiert, ob die Einstiegspreise zu hoch oder zu niedrig sind, es wird darüber diskutiert, ob die Pendlerpauschale überkompensiert oder nicht, aber im Grunde gibt es in weiten Teilen dieses Hauses keinen Zweifel dran, dass der Maßnahmenrahmen richtig gewählt ist. Darüber werden wir jetzt auch im Bundesrat sprechen. Ich kann uns allen nur raten, dass wir vernünftige Lösungen dafür finden; denn die Zeit drängt. Wir werden ab Anfang der 20er-Jahre klare Budgets an CO2-Emissionen haben, die wir einhalten müssen. Wenn wir die überschreiten, müssen wir massive Strafzahlungen leisten oder wir müssen Geld für Zertifikate zahlen. Das heißt, wir sind dazu verpflichtet, Jahr für Jahr und nicht irgendwann unsere Ziele einzuhalten. Deshalb müssen wir schnell mit der Transformation beginnen. Ich glaube, wir haben richtige Dinge auf den Weg gebracht. Deshalb hoffe ich, dass wir im Bundesrat bis zum Jahresende die entsprechenden Lösungen finden. Wir als Koalition sind jedenfalls dazu bereit. Wir haben einen weiteren massiven Schritt unternommen: Wir haben auf Basis der Ergebnisse einer Kommission beschlossen, wann wir spätestens aus der Kohleverstromung aussteigen, wann wir die Kohle nicht mehr als Energiequelle haben werden. Das schafft Berechenbarkeit. Dazu gibt es die entsprechenden Gesetze. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, den meisten in diesem Hause ist, glaube ich, Folgendes klar: Deutschland stellt 1 Prozent der Weltbevölkerung und verursacht 2 Prozent der CO2-Emissionen, und es verfügt über die besten Technologien. Wer, wenn nicht wir, soll denn zeigen, dass es geht, dass man dem Klimawandel etwas entgegensetzen kann? – Das ist doch die Aufgabe. Natürlich werden uns auf diesem Weg immer wieder Schwierigkeiten begegnen. Wie könnte das anders sein? Wir werden aus der Kernenergie aussteigen, wir steigen aus der Kohleverstromung aus, und wir müssen Gas als Brückentechnologie etablieren. Deshalb finde ich es eher schwierig, dass die Europäische Investitionsbank jetzt entschieden hat, Gastechnologien als Brückentechnologie überhaupt nicht mehr zu finanzieren. Das ist, glaube ich, nicht richtig. Wir werden aber natürlich auch weiter Schwierigkeiten bei der Gestaltung des Ausbaus des Bereichs der erneuerbaren Energien haben. Da wird es um den Zusammenhalt unseres Landes gehen. Es wird nicht reichen, wenn die Menschen in der Stadt den Menschen auf dem Land erklären, wie das mit dem Windkraftausbau laufen kann. Wir sehen ja, dass wir Spaltungen haben. Wir haben es gestern ja auch bei der Demonstration der Landwirte gesehen. Im Augenblick besteht die Gefahr – diese Gefahr besteht nicht nur in Deutschland; das ist überhaupt kein spezifisch deutsches Problem, sondern überall gibt es die Gefahr –, dass die Lebenswelten von Menschen, die in der Stadt leben, und von Menschen, die auf dem Lande leben, unterschiedlich sind, dass diese Menschen völlig unterschiedliche Probleme haben. Wenn wir als Politik nicht denen in der Stadt helfen, die keine bezahlbare Wohnung bekommen, und nicht denen auf dem Lande helfen, die wissen wollen, was sie vom Ausbau der Windenergie haben außer einem 220 Meter großen Windrad neben sich, dann werden wir das nicht schaffen. Aber wir können das schaffen, wenn wir den Zusammenhalt dieses Landes voranbringen. Deshalb werde ich mich nächsten Montag mit Vertretern der Verbände der Bauern treffen. Ich werde ihnen natürlich sagen, dass sie auf die Herausforderungen der neuen Zeit Antworten finden müssen. Wir haben über Jahre die Düngeverordnung nicht eingehalten, da kann ich jetzt nicht sagen: Ach, Leute, es gibt noch drei Jahre dazu. – Das wird nicht klappen. Aber was wir den Menschen, die morgens aufstehen und abends spät ins Bett gehen, die im Sommer dann noch arbeiten, wenn wir alle bei einem kühlen Bier sitzen, sagen können, ist, dass wir ihre Arbeit achten, dass unsere Aussage: „Wir wollen regionale Produkte essen“, nicht Schall und Rauch ist, sondern ernst gemeint, dass wir heimische Lebensmittel wollen und eine starke Landwirtschaft. Das können und müssen wir unseren Bauern sagen. Genauso müssen wir über den Ausbau der Windenergie sprechen. Wir haben den Solardeckel jetzt aufgehoben. Wir haben den Ausbau auf See erhöht. Aber wir werden auch Windenergieausbau am Lande brauchen. Jetzt findet hierzu eine Diskussion statt, als lägen Welten zwischen uns. Sie wissen doch, dass in den allermeisten Bundesländern eine Abstandsregel von 1 000 Metern gilt. Vielleicht bräuchten wir gar keine Bundesregelung, wenn alle Länder, zum Beispiel Brandenburg, schon so schlau gewesen wären, bevor sie eine Koalition mit den Grünen gemacht hätten, und nicht erst nachdem in den Koalitionsverhandlungen auch die 1 000 Meter verhandelt wurden. Jetzt reden wir nur noch über einen einzigen Bereich, und das sind die Splitterbereiche, bei denen man fragen kann, ob sie bei 7 Häusern oder bei 30 Häusern beginnen. Das ist der Unterschied zwischen der Ansicht der Bundesumweltministerin und des Bundeswirtschaftsministers. Nachdem wir es geschafft haben, uns bei der Grundrente zu einigen, sage ich Ihnen voraus: Wir werden auch da eine Einigung finden. Die 1 000 Meter sind in den allermeisten Bundesländern Deutschlands die Norm. Wir haben ein weiteres großes Thema. Das ist die Transformation in der Automobilindustrie. Diese Transformation – wir haben es gestern gehört: Stellenabbau bei Audi – in der Automobilindustrie ist notwendig; denn die Mobilität wird sich wandeln. Schon Kaiser Wilhelm hat gedacht, dass das Pferd wieder zurückkommt, als er das erste Auto gesehen hat. Er hat sich geirrt. Auch Sie werden sich irren. Es wird eine völlig neue Mobilität geben mit autonomem Fahren, alternativen Antrieben und anderen Eigentumsverhältnissen, als wir es heute kennen. Es wird Jahre dauern, aber es wird gut sein, wenn die Politik hilft. Wir als Bundesregierung führen einen strukturierten Dialog mit der Automobilindustrie. Wir werden die Ladeinfrastruktur ausbauen. Wir werden durch Kaufprämien die Einführung der neuen Antriebstechnologien unterstützen. Wir setzen nicht auf nur eine Technologie, aber nehmen es ernst, wenn uns die Automobilindustrie für den Pkw-Bereich – nicht für den Lkw-Bereich, nicht für den Zugbereich – sagt, dass auf absehbare Zeit Elektromobilität jetzt erst einmal die Technologie der Wahl ist. Wir werden die Menschen dazu bringen, Autos mit alternativen Antrieben zu kaufen, wenn die entsprechende Ladeinfrastruktur vorhanden ist. Deshalb ist es richtig, dass Bund, Länder und Kommunen hier zusammenarbeiten und Vertrauen für die Menschen schaffen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die zweite große Aufgabe ist, wie wir die Transformation im Zuge der Digitalisierung schaffen. Hierzu hatte die Bundesregierung eine Klausurtagung, bei der wir wichtige Entscheidungen getroffen haben. Einmal geht es natürlich um den Ausbau der Infrastruktur. Wir haben eine Mobilfunkstrategie entwickelt, in der zum Beispiel steht, wie wir den Mobilfunk ausrollen, und zwar flächendeckend. Denn wir wissen, dass weiße Flecken für die Menschen nicht akzeptabel sind, gerade in den ländlichen Räumen. Wir haben eine klare Strategie für den Ausbau von 5G. Die Auflagen bei der Versteigerung der Frequenzen sind sehr hart. Ich danke da auch den Kollegen aus dem Bundestag, die uns als Regierung da sehr an die Kandare genommen haben. Wir werden natürlich auch den Glasfaserausbau voranbringen. Aber viel, viel wichtiger ist, dass wir verstehen, dass der neue Rohstoff die Daten sind. Die Bundesregierung hat jetzt auf der Grundlage der Datenethikkommission Eckpunkte für eine Datenstrategie festgelegt, die wir im Frühjahr verabschieden werden. Ich habe den Eindruck, dass uns die Bedeutung schon klar ist, den großen Unternehmen auch, dass aber im deutschen Mittelstand die Bedeutung dessen, was durch das Wesen der Daten als neuer Rohstoff entstanden ist, noch nicht ausreichend gesehen wird. Deshalb unterstütze ich das, was Peter Altmaier vorgeschlagen hat, nämlich als Politik – das ist ja schon etwas seltsam – mit daran zu arbeiten, dass wir eine Plattform entwickeln, auf der Daten verarbeitet werden können, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern möglichst zusammen mit Frankreich und europaweit. Es muss verstanden werden, dass es nicht nur darum geht, dass ich meine Daten kenne. Deutschland hat Industrie 4.0 mit als erstes Land nach vorne gebracht. Die Digitalisierung der eigenen Produktion ist der erste Schritt. Der zweite Schritt ist die Vernetzung aller Menschen und vor allen Dingen auch Gegenstände auf der Welt. Dies bietet völlig neue Möglichkeiten, Erkenntnisse zu gewinnen. Das muss im Gesundheitsbereich passieren. Das muss beim Umweltschutz passieren. Das muss aber auch für neue Wirtschaftsmodelle passieren. Je schneller wir das akzeptieren, umso besser ist es. Das bedeutet aber als Erstes einmal, dass ich alles digitalisiert vorhanden habe und dass ich weiß, was ich habe. Wir sind dafür – ich schaue gerade Nadine Schön an –, dass wir das möglichst im Open-Data-Bereich als Open Source machen, damit es durchschaubar ist. Aber damit man daraus neue Produkte machen kann, brauchen wir noch einen Kulturwandel in Deutschland. Man muss verstehen, dass das dringlich ist. Ich habe den Eindruck, dass wir da viel, viel zu langsam sind. Wir als Abgeordnete sollten sozusagen die Botschafter sein, die sagen: Verschlaft diese Zeit nicht, sonst werden Wertschöpfungsmodelle an uns vorbeigehen und wir werden zur verlängerten Werkbank. – Das ist meine ganz große Sorge. Aber, ich glaube, als Bundesregierung sind wir jetzt auf dem richtigen Weg. Wir müssen führend in KI sein, in der künstlichen Intelligenz, in den Algorithmen, die mit diesen Daten arbeiten. Wir haben glücklicherweise sechs entsprechende Forschungszentren. Sie werden unterstützt. Da müssen Bund und Länder gut zusammenarbeiten. Ich unterstütze sehr die zusätzliche Strategie von Bayern, die mit der Bundesstrategie bestens zusammenpasst. Ich weiß, dass auch in anderen Bundesländern viel passiert. Das ist gut. Hiervon und vom Klimawandel wird weit mehr als von anderen Dingen abhängen, ob wir in 10 oder 20 Jahren noch ein führender Industriestandort sind oder nicht. Die Weichen dafür werden heute gestellt. Wirtschaft, soziale Marktwirtschaft, unser Gesellschaftsmodell – das in die neue Zeit zu tragen, verstehen wir als Aufgabe der Bundesregierung. Aber wir sehen, dass die vielen Veränderungen, die dramatischen Veränderungen auf der Welt auch zu großen Friktionen in unserer Gesellschaft führen. So gut wie das Internet ist und so gut wie die digitalen Möglichkeiten sind, so viele Gefahren bergen sie natürlich auch; das war bei jeder neuen Technologie so. Deshalb ist es gut, dass im Augenblick in Berlin das große internationale Internet Governance Forum der UN tagt, das sich mit solchen Fragen beschäftigt. Wir müssen konstatieren: Obwohl es uns wirtschaftlich sehr gut geht, obwohl es Lohnsteigerungen für viele Menschen gibt, obwohl wir mehr Beschäftigte haben, sozialversicherungspflichtig und Erwerbstätige insgesamt, als wir jemals hatten, gibt es in unserer Gesellschaft Friktionen, die uns unruhig stimmen müssen. Der Mord an Walter Lübcke, die Vorgänge in Halle, sie alle rütteln uns auf. Man fragt sich: Was ist in unserer Gesellschaft los? Und das nach 70 Jahren Grundgesetz. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das bedeutet Meinungsfreiheit. Meinungsfreiheit in unserem Land ist gegeben. All denjenigen, die dauernd behaupten, sie dürften nicht mehr ihre Meinung sagen, muss ich sagen: Wer seine Meinung sagt, auch prononciert, der muss damit leben, dass es Widerspruch gibt. Es gibt keine Meinungsfreiheit zum Nulltarif. Es stimmen nicht immer alle zu. Aber die Meinungsfreiheit kennt Grenzen. Sie beginnen da, wo gehetzt wird, wo Hass verbreitet wird. Sie beginnen da, wo die Würde anderer Menschen verletzt wird. Dagegen werden und müssen wir uns in diesem Hause stellen. Das werden wir auch hinbekommen. Denn sonst ist diese Gesellschaft nicht mehr das, was sie einmal war. So sage ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Sie haben hoffentlich gemerkt, wir haben viel zu tun. Wir haben sehr viel angefangen, aber vieles muss noch weitergemacht werden. Deshalb finde ich, wir sollten die Legislaturperiode lang weiterarbeiten. Das ist meine persönliche Meinung. Ich bin dabei. Schön, wenn Sie es auch sind. Herzlichen Dank.
in Berlin vor dem Deutschen Bundestag (Protokoll des Deutschen Bundestages)
Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Eröffnung des 14. Internet Governance Forums 26. November 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-angela-merkel-zur-eroeffnung-des-14-internet-governance-forums-26-november-2019-in-berlin-1698264
Tue, 26 Nov 2019 00:00:00 +0100
keine Themen
Sehr geehrter Generalsekretär Guterres, lieber António, sehr geehrte Ministerinnen und Minister, Exzellenzen, Abgeordnete aus aller Welt, liebe Gäste, meine Damen und Herren, herzlich willkommen in Berlin. Es ist mir und der gesamten Bundesregierung eine Freude, dass Sie hierhergekommen sind und Ihre Ideen für die Zukunft des Internets mitgebracht haben. Dafür danke ich Ihnen sehr. Es ist so, wie der Generealsekretär der Vereinten Nationen es eben gesagt hat: Er war Elektroingenieur und ich war Physikerin, bevor wir auf Abwege geraten sind; das ist richtig. Aber vielleicht ist ja für die technischen Entwicklungen unserer Zeit die Tatsache, dass es ein paar Politiker gibt, die auch etwas von Technik verstehen – auch wenn in meinem Falle nur noch rudimentär; bei António ist es sicherlich anders –, doch etwas Gutes, um die Welt miteinander gut zu verstehen. Das Internet Governance Forum der Vereinten Nationen findet bereits zum 14. Mal statt, aber zum ersten Mal in Deutschland. Besonders als Gastgeber dieses Forums, aber auch über diese Woche hinaus wollen wir unseren Beitrag dazu leisten, den globalen Austausch über Werte und Regeln im Internet zu beleben und mitzugestalten. Es wird ja immer wichtiger, dass wir die Diskussion darüber, wie wir das Internet der Zukunft gestalten und nutzen wollen, gemeinsam führen. Gemeinsam heißt: Politik und Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft. Gemeinsam heißt auch: mit allen Ländern zusammen. Das ist der Grundsatz des Multilateralismus. Darauf bauen die Vereinten Nationen auf. Und darauf muss sich auch die Gestaltung neuer technischer Entwicklungen gründen. Genau das macht das IGF so wertvoll. Hier kommen Akteure der Internet Governance aus aller Welt zusammen, um Erfahrungen und Ideen auszutauschen. Im Grunde genommen verschmelzen hier die analoge und die digitale Welt. „One World. One Net. One Vision.“ – Das diesjährige Leitmotiv bringt auf den Punkt, worum es geht: nämlich darum, ein gemeinsames Verständnis zu fördern, wie die Zukunft des Internets aussehen soll. Welche Werte, Prinzipien und Regeln wollen wir aus unserer analogen Welt in die digitale Welt übertragen? Mit welchen Verfahren funktioniert das? Der Wert, der dem Siegeszug des Internet in besonderer Weise zugrunde liegt, ist die Freiheit. Wir wissen: Freiheit ist nie selbstverständlich, Freiheit müssen wir immer wieder neu erringen und verteidigen. Immer wieder müssen wir gemeinsam klären, wo und wie Freiheit geschützt werden muss, was Freiheit konkret beinhaltet und auch wo die Grenzen sind – also: was erlaubt ist und was nicht, wenn grundlegende Rechte anderer, zum Beispiel der Kinder, zu wahren sind oder wenn grundlegende Rechte anderer verletzt werden. Dann sind die Grenzen der Freiheit erreicht. Wir Deutschen haben gerade in diesem Monat – wir haben es auch im Eingangsfilm gesehen – viel darüber nachgedacht und gesprochen, was Freiheit für unser Land bedeutet. Vor 30 Jahren, im November 1989, fiel die Berliner Mauer. Der starke Freiheitswille der Menschen in der DDR und unserer Nachbarn in Polen, der Tschechoslowakei, in Ungarn und den drei baltischen Staaten ließ sich durch staatliche Repressionen nicht mehr unterdrücken. Was die Teilung Deutschlands und Europas für die Menschen bedeutete, können Sie hier in Berlin besonders gut nachvollziehen. Ein ehemaliger Grenzübergang zwischen dem damaligen Ost- und West-Berlin ist nur wenige hundert Meter von hier entfernt. Im Eingang zu diesem Veranstaltungsort stehen sogar noch einzelne Mauerteile – tonnenschwer. Aber Freiheit wog und wiegt noch viel schwerer. Ich darf Ihnen sagen, dass ich nur wenige hundert Meter von hier, im Ostteil Berlins, meine wissenschaftlichen Arbeiten geleistet habe. Die Sonnenallee habe ich von dieser Seite aus nie gesehen, aber unweit von hier war mein Arbeitsplatz. Die Mauer und der Eiserne Vorhang wurden vor 30 Jahren niedergerissen. Das Streben der Menschen nach Freiheit und Selbstbestimmung hatte gesiegt. Unser Land und auch unser europäischer Kontinent konnten endlich wieder zusammenwachsen. Reisefreiheit, Presse- und Meinungsfreiheit, Berufsfreiheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit – all diese und andere Grundrechte konnten in Europa nun wieder Geltung erlangen. Freiheit und Hoffnung auf gemeinsamen Fortschritt – das war auch die Vision der Erfinder des Internets vor 50 Jahren und des World Wide Webs vor 30 Jahren. – Einige von den Erfindern sind ja auch heute hier dabei. – Das Internet wurde technisch so entwickelt, dass es territoriale Grenzen überschreiten kann, dass es in allen Ecken der Welt genutzt werden kann und dass es alle Menschen verbinden kann. Mittlerweile gibt es vier Milliarden Internetnutzer. – António Guterres hat darauf hingewiesen, wie viel schneller dieser Prozess sich entwickelt hat als die Durchdringungsgeschwindigkeit des Buchdrucks. – Bis 2030, also in etwas mehr als zehn Jahren, werden es voraussichtlich sieben Milliarden Menschen sein. Wir alle profitieren von dieser weltweiten Verbundenheit, der globalen Konnektivität. Menschen aus den verschiedensten Ländern und Kulturkreisen begegnen sich über vermeintliche analoge Schranken hinweg – Schranken, die durch Politik, Religion oder gesellschaftlichen Status bestimmt werden. Die Wahrheit ist ja: das Internet hat unseren Alltag – jedenfalls derer, die das Internet nutzen – längst in allen Bereichen erfasst. Immer weniger Menschen können sich vorstellen, ihre Kommunikation, ihre Arbeit, ihre Einkäufe noch ausschließlich analog durchzuführen. So selbstverständlich wir das Internet rund um die Uhr nutzen, so selbstverständlich verstehen wir das Internet als weltumspannendes Netz, mit dem räumliche Entfernungen kaum noch eine Rolle spielen. Daten- und Informationsflüsse verbinden Städte, Länder und Kontinente. Interessant ist, dass in technischer Hinsicht räumliche Entfernungen, die zum Beispiel durch ein weltweites Netz von Unterseekabeln überbrückt werden müssen, doch noch eine Rolle spielen. Ein Großteil der Datenverbindungen zwischen Nord- und Südamerika fließt über den Anlandepunkt im brasilianischen Fortaleza. Der Datenverkehr zwischen Europa und Asien verläuft durch Unterseekabel im Suezkanal. In Singapur kommt ein ganzes Cluster an Kabeln an, die den asiatisch-pazifischen Raum verbinden. Ein anderes Beispiel sind die Internetknotenpunkte, in denen sich Internetanbieter mit dem globalen Netzwerk verbinden und so einen Zugang zum Internet ermöglichen. Drei der größten Internetknotenpunkte liegen in Europa: in Frankfurt, in Amsterdam und in London. Sie werden uns selbst dann verbinden, wenn das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union ausgetreten ist. Diese gemeinsame Internetinfrastruktur ist ein Herzstück der globalen Wirtschaft geworden. Sie ist von zentraler Bedeutung für nachhaltige Entwicklung und Innovation weltweit. Milliarden Menschen können ihre Ansichten und Vorstellungen im Internet kundtun. Sie können sich austauschen, Informationen und Erfahrungen teilen. Es finden demokratische Diskurse und politische Meinungsbildung statt – im Guten wie aber auch im nicht so Guten, da manch einer – auch das wurde vom Generalsekretär gesagt – sich nur noch in seiner eigenen Meinungsblase aufhält und sich überhaupt nicht mehr mit Andersgesinnten austauscht. Das ist eine der Herausforderungen, vor die uns das Internet stellt. Es gibt aber noch andere Gründe, aus denen manchem auf der Welt ein Internet der Freiheit und der Offenheit sowie die vielen dezentralen Strukturen des Internets ein Dorn im Auge sind. Nichtdemokratische Staaten und ihre Staatsführungen greifen in die Freiheiten ein, die das Internet schafft. Sie versuchen eigene oder nationale Interessen durchzusetzen und hierfür ihre Netze vom globalen Internet abzuschotten. Auch einige private Unternehmen investieren in eigene, abgeschottete Infrastrukturen. Damit besteht die Gefahr, dass globale Unternehmen Parallelwelten aufbauen – mit jeweils eigenen Regeln und Standards, die sie dann über internationale Gremien auch den anderen aufzwingen wollen. Das ist ein ganz schwieriges Thema. Ich verstehe dieses Forum so, dass es sich genau damit auseinandersetzen will. Denn wir müssen sozusagen klären, was wir damit meinen, auf der einen Seite unsere digitale Souveränität behalten zu wollen und uns auf der anderen Seite nicht abschotten, sondern multilateral agieren zu wollen. Natürlich ist digitale Souveränität von großer Bedeutung. Aber es kann sein, dass wir auf der Welt inzwischen Unterschiedliches verstehen, auch wenn wir den gleichen Begriff benutzen. Nach meinem Verständnis bedeutet digitale Souveränität nicht Protektionismus oder Vorgabe von staatlichen Stellen, was an Informationen verbreitet werden kann – also Zensur –, sondern beschreibt vielmehr die Fähigkeit, sowohl als Individuum, als einzelne Person, als auch als Gesellschaft die digitale Transformation selbstbestimmt gestalten zu können. Das heißt, auch in der digitalen Welt gilt: Technische Innovationen haben dem Menschen zu dienen – und nicht umgekehrt. Wir als diejenigen, die in Deutschland durch das System der Sozialen Marktwirtschaft erfolgreich geworden sind, wissen, dass technische Innovationen, dass Unternehmen sich nicht einfach frei entwickeln können, sondern dass sie immer auch Leitplanken brauchen. Das war bei der industriellen Revolution so und das wird auch im Zeitalter des Internets so sein müssen. Das heißt, wir brauchen Souveränität über das, was geschieht. Deshalb ist es gerade auch Ausdruck der Souveränität, für ein gemeinsames, freies, offenes und sicheres globales Internet einzutreten, wenn wir davon überzeugt sind, dass Abschottung kein Ausdruck von Souveränität ist, sondern dass wir ein gemeinsames Werteverständnis zugrunde legen müssen. Denn was wären sonst die Folgen, wenn wir auf Abschottung setzen würden? Die Folgen eines zunehmend zersplitterten Internets sind aus meiner Sicht nie gut. Sie können vielfältig sein, aber sie sind nie gut. Die globale Infrastruktur könnte instabil und anfällig für Attacken werden. Es gäbe mehr Überwachung. Staatliches Filtern und Zensur von Informationen würden zunehmen. Vielleicht würde sogar das Internet- und Mobilfunknetz abgeschaltet, um die Kommunikation der Bevölkerung zu verhindern. Das heißt also: der Angriff auf die Internetkonnektivität, die der Grundpfeiler des freien, offenen Internets ist, ist zu einem gefährlichen Instrument der Politik geworden. Viele wissen aus eigenem Erleben, wie das ist. Solche Angriffe können den Menschen die Grundrechte auf Information und Kommunikation vorenthalten. Das führt die grundlegende Idee des Internets, die Idee seiner Erfinder, ad absurdum. Deshalb muss es uns allen ein Anliegen sein, den Kern des Internets als globales öffentliches Gut zu schützen. Und das geht nur, wenn wir über die Governance-Strukturen dieses globalen Netzes neu nachdenken, das uns alle verbindet. Wie aber können wir nun den Bestrebungen einzelner Staaten entgegenwirken, sich vom freien Internet abzuspalten oder das Netz allein zu gestalten? Ich glaube, das können wir, indem wir verstehen, dass so, wie sich die Stärke von Netzwerken nach der Anzahl der Nutzer bemisst, es auch vieler bedarf, um ein grenzüberschreitendes, dezentrales Internet zu erhalten – mit anderen Worten: indem wir verstehen, dass wir multilateral handeln müssen. Nur so kann es gelingen, grenzüberschreitend ein gemeinsames Verständnis dafür zu entwickeln, was den Wert eines freien Internets ausmacht. Deshalb begrüße ich sehr die Ankündigung des UN-Generalsekretärs, einen Envoy für diese Gespräche zu benennen, der sein persönliches Vertrauen hat. Wir haben während der deutschen G20-Präsidentschaft 2017 einen sogenannten Digitalstrang in der Gruppe der G20 etabliert. Wir wissen, dass die G20-Staaten natürlich nicht die ganze Welt repräsentieren. Aber es wäre schon viel erreicht, wenn in diesem Kreis über diese wichtige Frage ein Einvernehmen erzielt werden könnte. Deshalb bin ich froh, dass wir wichtige Zusagen der G20-Mitgliedstaaten erreicht haben – unter anderem zur globalen Anbindung an das Internet und zu internationalen Standards. Warum ist uns das gelungen? Das ist vor allem deshalb gelungen, weil wir auch die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft mit eingebunden haben. Staaten allein können das nicht schaffen. Deshalb ist es für mich auch so wichtig, dass im G20-Prozess immer auch die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft vertreten sind, ganz besonders – António Guterres hat darauf hingewiesen – auch die Frauen, die bei der neuen Wertschöpfung, die uns das Internet ermöglicht, weltweit abgehängt zu werden drohen. Das Internet kann und darf also nicht allein von Staaten und Regierungen gestaltet werden. Denn die Grundsatzfragen rund um das Internet betreffen letztlich jeden Einzelnen von uns. Deshalb brauchen wir einen umfassenden Dialog und den Multi-Stakeholder-Ansatz, wie es so schön heißt – also genau den Ansatz des IGF. Deshalb bin ich Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie hier zusammengekommen sind, um Ihre Sicht der Dinge darzulegen. Natürlich ist das ein neuer Ansatz. Die klassischen multilateralen Strukturen auf der Welt kennen nur die Zusammenarbeit der Regierungen. Aber ich glaube, das allein reicht heute nicht mehr aus. Deshalb müssen wir um diesen breiten Ansatz immer wieder werben. Wenn wir das Internet global nutzen können oder wollen, dann müssen wir auch global denken. Das Internet geht alle etwas an – auch die, die noch keinen Zugang haben. Deshalb müssen wir den Internetzugang und die gleichberechtigte Teilhabe an der Digitalisierung stärken. Sie werden ja in den nächsten Tagen auch intensiv über diese Frage der Inklusion diskutieren. Ich war sehr froh, dass wir auf einer Klausurtagung unserer Bundesregierung vor wenigen Tagen gelernt haben, dass man in Afrika einen umfassenden digitalen Markt schaffen will, dass es einen Beauftragten für Digitalisierung gibt, dass man innerhalb der Afrikanischen Union nicht nur einen Freihandel im klassischen Sinne durchführen will, sondern dass man sich eben auch dem digitalen Ausbau inklusive eines gemeinsamen Zugangs zum Internet widmen will. Lieber António Guterres, Sie haben mit internationalen Experten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft einen Bericht zur digitalen Kooperation erarbeitet. Dank Ihrer Vorschläge für neue Wege zur globalen Gestaltung des Internets nimmt eine wichtige Debatte nun Fahrt auf. Wenn wir über Internet Governance sprechen, müssen wir uns als Erstes über die Werte verständigen. Wir müssen uns darüber verständigen, wie wir Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im digitalen Zeitalter schützen, wie wir gleichberechtigte Teilhabe und Sicherheit im Netz sowie das Vertrauen in das Netz stärken. Natürlich müssen wir dabei neue Wege gehen. Denn normalerweise sind wir es gewohnt, alles, was wir in internationalen Verträgen vereinbaren, dann auch in nationale Gesetze zu gießen. Aber diesmal braucht man mehr. Man braucht die Partizipation der Wirtschaft, man braucht die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger – und diese kann man natürlich nicht allein mit Gesetzen sichern. Die Herausforderung ist groß. Die digitale Transformation stellt unsere Gesellschaften vor grundlegende Fragen. Bei Weitem nicht alles, was online machbar und was technisch möglich ist, ist auch ethisch wünschenswert. Das kennen wir im Übrigen auch schon aus der Welt vor der Digitalisierung. Gerade auch mit Blick auf die künstliche Intelligenz werden wir über diese Fragen noch intensiv diskutieren. Wir müssen also nicht nur über das sprechen, was wir wollen, sondern wir müssen auch über das sprechen, was wir nicht wollen. Wenn ich mir das herausnehmen darf: Über die Frage, was wir mit neuen technischen Möglichkeiten nicht wollen, wird an manchen Stellen innerhalb der Community weniger gerne diskutiert als über die Frage, was möglich ist. Dabei geht es aber nicht um Einschnitte des Internets, sondern wieder um die Frage, dass die Technik dem Menschen zu dienen hat. Das alles funktioniert nur in großer Gemeinsamkeit. Regierungen, internationale Organisationen und Formate sowie die Zivilgesellschaft müssen gleichermaßen mit in die Überlegungen einbezogen werden. Wenn man ehrlich ist und wenn ich mir auch nur mein Land anschaue, dann haben wir hier noch keinen Konsens aller Seiten erreicht. Wir haben das in der Diskussion im Zusammenhang mit dem Urheberrecht auch in der Europäischen Union gemerkt; auch im Zusammenhang mit der Datenschutz-Grundverordnung. Es gibt also sehr viele Dinge, die noch sehr kontrovers diskutiert werden. Deshalb müssen wir bereit sein, neue Teilhabemöglichkeiten zu organisieren, bei denen jede Stimme gehört wird und auch gleich viel zählt. Das heißt, wir brauchen eine echte Kooperation. Das bedeutet: wir brauchen auch Diskursfähigkeit. Deshalb ist das Verschanzen in Blasen des Internets, in denen jeweils die gleiche Meinung herrscht, mit Sicherheit nicht die Lösung, um die Probleme zu lösen. Das Internet Governance Forum hier in Berlin schlägt deshalb neue Wege ein. Ich halte es für ein wichtiges Signal, dass auf Initiative von unserem Minister Peter Altmaier Parlamentarier aus aller Welt hierher nach Berlin gekommen sind. Das ist auch in demokratischer Hinsicht ein großer Gewinn. Darüber hinaus ist für uns als deutsche Bundesregierung die digitale Transformation niemals national, sondern immer auch europäisch zu denken. Denn Europa kann mit seinen Vorstellungen einen wichtigen Beitrag zur gemeinsamen globalen Vision für die Zukunft des Internets liefern. Insgesamt aber ist die Neuordnung der Internet Governance natürlich eine globale Kraftanstrengung. Sie verlangt den Schulterschluss von Staaten und Interessengruppen. Deutschland ist bereit, unter dem Dach der Vereinten Nationen die Neuausrichtung der globalen Internetpolitik mitzugestalten. Wir sind überzeugt, dass die Vereinten Nationen und das IGF eine Schlüsselrolle spielen, wenn es darum geht, einen globalen Konsens für ein offenes, freies und dezentrales Internet zu ermöglichen. Meine Damen und Herren, deshalb wünsche ich Ihnen viel Erfolg für dieses Internet Governance Forum in Berlin. Lassen Sie sich auch ein bisschen von diesem Ort inspirieren, an dem vor 30 Jahren mit dem Mauerfall eine neue Zeitrechnung begann. Wir in der ehemaligen DDR hatten nicht gedacht, dass diese Mauer noch zu unseren Lebzeiten fallen würde. Aber es ist geschehen – mit dem Mut vieler Menschen und durch günstige Gesamtumstände. Deshalb weiß man nie, ob der Mut eines Einzelnen bzw. vieler Einzelner plötzlich auch Wege, die heute kaum gangbar zu sein scheinen, nicht doch möglich werden lässt. Diskutieren Sie deshalb frei von der Leber weg in Workshops, Panels und Sitzungen. Ich wünsche Ihnen eine Woche interessanter Begegnungen mit Menschen, die Sie sonst vielleicht nur aus dem Internet kennen. Es braucht auch nicht nur digital zu sein, ein Bier oder ein Glas Wein in einer der schönen Berliner Restaurationen trinken zu gehen. Enjoy Berlin. Thank you very much. All the best.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der Gedenkveranstaltung für György Konrád
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-der-gedenkveranstaltung-fuer-gyoergy-konr%C3%A1d-1698246
Mon, 25 Nov 2019 20:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Als ich das erste Mal György Konráds autobiografisches Buch in den Händen hielt, in dem er u.a. von seiner Flucht als Junge vor den Nazis nach Budapest und der Heimkehr in den Jahren 1944/45 erzählte, war ich zutiefst berührt. Ein Überlebender des Holocaust, der seine Kindheitserinnerungen an diese Zeit mit dem Wort „Glück“ betitelt: wieviel Kraft, wieviel Zuversicht, wieviel Versöhnungsbereitschaft, wieviel Liebe zum Leben offenbart allein dieser Titel … – „Glück“! György Konrád kommentierte ihn einmal folgendermaßen: „Es kann paradoxal sein, sogar zynisch, denn es ist keine glückliche Geschichte, aber im Leben zu bleiben ist doch Glück, andere hatten kein Glück.“ Mit dem Wissen um dieses Glück lebte György Konrád sein Leben unerschrocken, zuversichtlich und stets seinen eigenen moralischen Werten folgend. Mit seiner Zugewandtheit und seiner Wärme, mit seinem heiteren und ausgleichenden Wesen hat er vielen Menschen in der persönlichen Begegnung Glück geschenkt. Auch mir. Er war für mich ein Freund, ich durfte ihn Jury nennen. Als ich die Stiftung Brandenburger Tor geleitet habe, war er für mich eines unserer wertvollsten Kuratoriumsmitglieder. Aus dieser unserer Begegnung erwuchs bald eine tiefe freundschaftliche zwischenmenschliche Verbindung. Ich vermisse seine Stimme nicht nur im intellektuellen Diskurs, er fehlt mir auch ganz persönlich. Jury war eine menschliche und intellektuelle Größe – und doch wollte er nicht, dass man zu ihm emporschaut. Bewundert habe ich ihn trotzdem. György Konrád suchte im gemeinsamen Gespräch stets das Verbindende und die Begegnung auf Augenhöhe. Seine Erfahrungen als Jude und Überlebender des Holocaust konnte er im offenen, respektvollen und stets auch neugierigen Gespräch zur gemeinsamen Aufgabe umdeuten – zu unser aller Pflicht, aus den Lehren der Vergangenheit die richtigen Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. György Konrád ist der Inbegriff des kritischen europäischen Intellektuellen – einer der wenigen, der es verstand, aus den Wunden und Verwerfungen des 20. Jahrhunderts die Kraft und Zuversicht zu gewinnen, sich literarisch, politisch und nicht zuletzt auch ganz persönlich für eine bessere Welt, für das Glück Anderer einzusetzen: für Gerechtigkeit, aber auch für Aussöhnung und Integration, für die Überwindung von Mauern, Grenzen und Vorurteilen. Seine Kunst wie auch seine Biographie verliehen ihm die Autorität einer moralischen Instanz. Er war ein Vordenker und Mahner. Als Überlebender des Holocaust und dann auch als Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft in Ungarn äußerte er seine Kritik an den unhaltbaren politischen Verhältnissen mit aller Deutlichkeit, mit sprachlicher und argumentativer Prägnanz, aber eben auch mit einer menschlichen Note, mit einem sehr persönlichen Appell. Das machte ihn für viele, die in der DDR, in Polen, Tschechien und Ungarn einen Regimewechsel herbeisehnten, so glaubwürdig und überzeugend. Seine Bücher und Gedanken nährten die Hoffnung Vieler auf Freiheit und auf ein geeintes Europa – auf ein Mitteleuropa, wie Jury es entwarf. Mitteleuropäer zu sein, das war für ihn keine Staatsangehörigkeit, sondern eine Weltanschauung. An seiner Vision eines vereinten Europa hielt er bis zuletzt fest, und auch deshalb war seine Stimme so wichtig: als kraftvoller und überzeugender Einspruch gegen Nationalismus und Abschottungstendenzen, für Verständigung und Toleranz. Sein Engagement speiste sich nicht zuletzt aus der tiefen Überzeugung, dass es vor allem die Kultur und die Künstler sind, die Europa zusammenhalten, die es stützen und stärken. In der Kultur sah Konrád das Verbindende, das Gemeinsame der Nationen, denn die Künste haben sich im stetigen Austausch immer weiterentwickelt und eben nicht wie die Politik (ich zitiere aus seiner Dankesrede zum Karlspreis) „in Sektionen und Gruppen“ aufgespalten. Kulturelle Selbstvergewisserung und Weltoffenheit gehörten für György Konrád zusammen – da waren wir uns einig. Sie bildeten für ihn das Fundament eines gemeinsamen Europas, dessen Potential und Aufgabe er gerade in der Anerkennung der Verschiedenheit bei gleichzeitiger Rückbesinnung auf die gemeinsamen kulturellen Wurzeln sah. In seiner Dankesrede zum Karlspreis 2001 plädierte er auch dafür, Grenzen und Nationalstaaten nicht vorschnell für überholt zu erklären, da sie keineswegs im Widerspruch zu einer europäischen Einheit in Vielfalt stehen. „Die europäische Gesellschaft“ so sagte er dort „ist im Entstehen und mit ihr das Konzept der mehrgeschossigen Nation, was bedeutet, dass wer Europäer ist, deshalb nicht weniger Portugiese, Deutscher oder Ungar ist. Unser Feind ist nicht der andere, sondern die Begrenztheit des eigenen Verstandes.“ Konrads Gedanken zu Europa haben das Ringen um ein europäisches Selbstverständnis nicht nur inspiriert und bestärkt. Seine Warnung von damals könnte auch heute aktueller nicht sein. (Ich zitiere): „Wenn kühnes Denken in provinzieller Verdrossenheit versinkt, wenn die wechselnden geistigen Moden die Argumente für eine europäische Integration verschlissen haben, betreten die Wortführer einer nationalen Separation die Bühne, und der alte Wahnsinn greift von neuem um sich.“ Györgys Persönlichkeit und Denken zeichnete aus, dass er eben jene (gerade zitierte) „Begrenztheit des Verstandes“ nicht dulden mochte, dass er dialektisch – und das heißt auch: ideologiekritisch – dachte, dass er Positionen immer wieder überprüfte und auch selbstkritisch revidierte, dass er sich und seinen Leserinnen und Lesern stets neue Horizonte öffnete. Auf die politischen Herausforderungen der Gegenwart antwortete er mit einem Plädoyer für eine – wie er es nannte – „Antipolitik“ als Kontrolle und Beschränkung der politischen Macht: mit einem Plädoyer für die subversive und visionäre Kraft der Künstler und Intellektuellen. So schrieb er einmal: „Für einen Schriftsteller gibt es nur eine einzige Verpflichtung, nämlich um nichts auf der Welt wem auch immer ideologische Dienste zu leisten. Zu engagieren haben wir uns nur für die Artikulation unserer eigenen verborgenen Wahrheit“. Für diese Wahrheit musste György Konrád in Zeiten der staatlichen Zensur und polizeilichen Überwachung mit Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und zeitweise Reise- und Berufsverbot bezahlen. Aber es ist gerade dieses Engagement für „die eigene verborgene Wahrheit“, die ihn bis heute zu einem Vorbild für Intellektuelle, für Künstlerinnen und Künstler macht und die auch Politikerinnen und Politiker daran erinnert, wie wichtig die Freiheit der Kunst ist. Denn wo Künstlerinnen und Künstler nicht gefällig sein müssen, wo sie irritieren und provozieren, den Widerspruch und den Zweifel kultivieren dürfen, beleben sie den demokratischen Diskurs und sind so imstande, unsere Gesellschaft vor gefährlicher Lethargie und unsere Demokratie vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu bewahren. Deutschland hat die Freiheit der Kunst deshalb vor 70 Jahren aus gutem Grund in den Verfassungsrang erhoben – als Lehre aus den bitteren Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur. György Konrád hat mit der subversiven wie auch mit der inspirierenden Kraft seiner Worte Geschichte geschrieben und unsere Gegenwart geprägt. Er hat uns nicht nur mit großartiger Literatur beschenkt, er hat als engagierter Citoyen und einflussreicher Intellektueller auch zum Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer beigetragen. Umso bitterer ist es, dass er zuletzt erneut unter der politischen Situation in seinem Heimatland gelitten hat, nicht zuletzt am wiederaufkeimenden Antisemitismus. Es freut mich umso mehr, dass sein literarischer Nachlass im Archiv der Akademie der Künste nun dauerhaft verwahrt und erschlossen werden kann – in jener Institution also, die er nach der Wiedervereinigung durch schwierige Zeiten geführt hat und die als Einrichtung von internationalem Rang und großer Integrität vom Herzen Berlins aus in unser Land hinein und weit darüber hinaus wirken kann. Vor allem freue ich mich auch, dass mein Haus sich am Erwerb des Nachlasses beteiligen konnte. Die Arbeit dieses großen Künstlers und Intellektuellen wird damit auch den nachfolgenden Generationen zugänglich sein und kann eine Quelle historischer Bildung wie auch literarischer und politischer Inspiration bleiben. Liebe Judith, liebe Angehörige und Freunde Györgys: Ich stehe mit meiner Trauer an Deiner, an Ihrer, an Eurer Seite. Jury war mir ein enger Freund. Er fehlt mir sehr. Die europäische Literatur hat eine ihrer bedeutendsten Stimmen verloren – und Europa einen wirkmächtigen Brückenbauer. Doch ich bin sicher: Seine Gedanken, seine Ideen, die Kraft seiner Worte und sein Traum von europäischer Einheit in Vielfalt werden weiterleben. Der Essayist Karl-Markus Gauss meinte einmal, György Konrád wäre geeignet für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Europa. Dieses Amt war ihm nicht vergönnt; doch sollte es die „Vereinigten Staaten von Europa“ irgendwann geben, wird er zu ihren Wegbereitern zählen. So oder so wird er in unseren Erinnerungen weiterleben. Um den Titel seiner Autobiografie noch einmal aufzugreifen: Es war ein Glück, ihn in unserem Leben gehabt zu haben.
In ihrer Rede würdigte die Kulturstaatsministerin György Konrád als Inbegriff des kritischen europäischen Intellektuellen. „Seine Gedanken, seine Ideen, die Kraft seiner Worte und sein Traum von europäischer Einheit in Vielfalt werden weiterleben“, so Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich der Ausstellungseröffnung „Wilhelm und Alexander von Humboldt“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-der-ausstellungseroeffnung-wilhelm-und-alexander-von-humboldt–1698934
Wed, 20 Nov 2019 18:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Drei zarte Bleistiftzeichnungen, die hier in der Ausstellung hängen, zeigen, wie Wilhelm von Humboldt durch das Baskenland reiste. Sie sind mir beim Blättern durch den Ausstellungskatalog aufgefallen, weil sie davon erzählen, wie Wilhelm – von dessen Reisen es deutlich weniger Zeugnisse gibt als von denen seines Bruders – mit seiner schwangeren Frau Caroline und drei Kindern per Sänfte und Pferd unterwegs war. Auf einem Bild ist zu sehen, wie die beiden auf einem Felsen liegen und in die Landschaft schauen − vielleicht auf die Dörfer, auf Menschen, deren Kulturpraktiken er erforschte und denen er, wie allem Fremden, aufgeschlossen und mit großer Neugierde begegnete. Sie, liebe Benedicte Savoy und lieber Herr Blankenstein, haben diese wunderbaren Zeichnungen aus dem Baskischen Museum in Bayonne mitgebracht und erlauben damit einen noch ungewohnten Blick auf Wilhelm von Humboldt. Er galt, das geht aus den Katalogtexten hervor, auch deshalb als der Sesshaftere der beiden Brüder, eben weil von seinen Reisen kaum visuelles Anschauungsmaterial vorhanden war, während Alexander von Humboldt Eindrücke und Erlebnisse auf seiner Amerikareise geradezu minutiös dokumentierte und der Nachwelt hinterließ. Nach meinem kurzen Rundgang eben kann ich sagen: Sie dürfen gespannt sein, meine Damen und Herren, die beiden Brüder in dieser Ausstellung neu und noch besser kennen zu lernen – zumal Sie liebe Benedicte Savoy, Ihrem Stilprinzip der Provokation bei gründlicher Recherche auch diesmal treu bleiben. So haben Sie und Herr Blankenstein sich nicht mit hergebrachten Perspektiven auf und Erzählungen über das Leben der Brüder Humboldt zufriedengegeben. Ihr stets scharfer und kritischer Blick verspricht eine sehenswerte, erkenntnisreiche Ausstellung, die einen differenzierten Blick auf das Humboldt‘sche Vermächtnis erlaubt. Erkenntnisreich ist die Auseinandersetzung mit dem Wirken der beiden Brüder heute allemal – und zwar in einer Weise, wie die beiden es sich damals vermutlich selbst nicht hätten vorstellen können … Es ist ihre Neugier, ihr empathisches Sich-Einlassen auf andere Lebenswelten und Weltsichten, das ihr Wirken auch heute wieder – oder immer noch – modern, ja zukunftsweisend, erscheinen lässt. Alexander von Humboldt war teils mit schwer beladenen Maultieren, teils in ausgehöhlten Baumstämmen unterwegs, als er einst durch Südamerika reiste, um Pyramiden und Vulkane zu vermessen, den südamerikanischen Urwald zu erforschen und den Amazonas samt seiner Nebenflüsse zu erkunden. Abenteuerlich waren nicht nur seine Fortbewegungsmittel. Denn statt robuster Bergschuhe, atmungsaktiver Funktionsunterwäsche und wetterfester Jacken – eine Ausrüstung, die heutzutage zur Ausstattung jedes Wochenendspaziergängers gehört -, trug er angeblich selbst beim Erklimmen der höchsten Gipfel schwarzen Frack mit weißer Halsbinde, Hut und dünne Rokoko-Stiefel. Wie groß muss der Drang gewesen sein, die Welt im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen, um ohne Schutz vor den Naturgewalten die Strapazen einer solchen Expedition auf sich zu nehmen! Als Forschungsreisender mit dem Drang, die Welt in ihrer Gesamtheit zu ergründen, machte – wenn auch im übertragenen Sinne – ebenso Wilhelm von sich reden: Sein Interesse galt unter anderem den Eingeborenensprachen Amerikas, Asiens und Polynesiens. An seinem Schreibtisch im Tegeler Schloss arbeitete er bis zu seinem Tod an einer Studie über die antike, eng mit dem indischen Sanskrit verwandte Kawi-Sprache von Java. Über fremde Sprachen entdeckte er ferne Welten und kam zu der Überzeugung, dass es jenseits des europäischen Horizonts auch andere hochentwickelte Kultur-Universen gibt – ein geradezu revolutionärer Gedanke in den Ländern des heutigen Europas, in denen man den eigenen Kulturraum oft genug für den Nabel der Welt hielt. Wie sein Bruder Alexander mit seinen Kosmos-Vorlesungen, zu denen jedermann kostenfrei Zutritt hatte, erwies auch Wilhelm sich als Wegbereiter des mündigen, selbstständig denkenden Bürgers: Ihm verdanken wir einen allumfassenden Bildungsbegriff: die Überzeugung, dass Bildung individuelle Entfaltung auf allen Ebenen und damit weit mehr meint als die Aneignung von Wissen – eine Überzeugung, die bis heute den Anspruch der kulturellen Bildung begründet, Kultur für alle zugänglich zu machen, eine Vision auch, die in einem Land, in dem Teilhabe- und Bildungschancen immer noch von der sozialen Herkunft abhängig sind, nichts an Aktualität verloren hat. Die Objekte der Ausstellung, die Benedicte Savoy und David Blankenstein zusammengetragen haben, machen die Geschichte der Humboldt-Brüder, ihre Lebensumstände und ihr Wirken in einer Zeit des Umbruchs anschaulich. Sie erlauben uns gleichsam, aus den Augen der Humboldts auf das Fremde und das Eigene, auf das Regionale und Globale zu schauen und festzustellen, wieviel wir von diesen beiden weltläufigen und weltoffenen Männern im Umgang mit dem Fremden lernen können. Fremdheit ist in unserer globalisierten Welt eine der großen Herausforderungen – nicht nur in multikulturellen Städten wie Berlin, sondern überall dort, wo im wahrsten Sinne des Wortes Welten aufeinanderprallen. Die Brüder Humboldt sind für die Annäherung an das Fremde Vorbilder und Vordenker. Natürlich war sie beide dabei ihrer eigenen Welt nicht entrückt, was sich allein schon am – aus heutiger Sicht – stellenweise durchaus kritikwürdigen Sprachgebrauch Alexander von Humboldts ablesen lässt. Doch, und das ist und bleibt das Vermächtnis der Humboldt-Brüder: Ihre Weltanschauung war kein geschlossenes Weltbild, sondern eine Haltung zur Welt: Lust und Neugier, die Welt anzuschauen und dabei zu lernen – sich Fremdes anzueignen statt Eigenes hermetisch abzugrenzen. Dieses Vermächtnis ist aktuell wie eh und je, leider auch angesichts rassistischer und nationalistischer Ab- und Ausgrenzung, und es ist zukunftsweisend für die gleichermaßen selbstbewusste wie weltoffene Annäherung der Völker und das Ideal eines gleichberechtigten Dialogs unterschiedlicher Weltkulturen. Deshalb stehen Alexander und Wilhelm von Humboldt Pate für das Humboldt Forum, das den Kulturen der Welt eine Bühne bietet und zur Annäherung an das das Unvertraute einlädt. Unter seinem Dach wollen wir – den Prinzipien Alexander von Humboldts folgend – unterschiedliche Sparten in Forschung und Wissenschaft mit Kunst und Kultur in interdisziplinärer Zusammenarbeit vereinen, getragen von einer partnerschaftlichen Kooperation nationaler wie internationale Institutionen, mit Angeboten für ein gemischtes Publikum aus aller Welt – und aus allen Welten, die hier in Berlin aufeinandertreffen. Auch im Sinne des universalen Bildungsbegriffs Wilhelm von Humboldts habe ich mich vehement für freien Eintritt in die Dauerausstellung eingesetzt. Die Exponate aus den außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die hier von den großen, alle Kulturen prägenden Themen der Menschheitsgeschichte erzählen sollen, offenbaren in Verbindung mit der benachbarten Museumsinsel und deren Kulturschätzen aus Europa und dem Nahen Osten, dass es ein „Wir“ auch jenseits kultureller und nationaler Grenzen gibt. Entstehen soll ein lebendiger Ort möglichst breiter öffentlicher Debatten: ein Museum, das die Gesellschaft nicht nur abbildet, sondern auch mitformt. Es ist sicherlich nicht das schlechteste Vorzeichen, dass es diesen Anspruch schon vor seiner Eröffnung eingelöst und eine Debatte zum Umgang mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten angestoßen hat: Verdrängtes und vergessenes Unrecht ans Licht zu holen, ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber den ehemaligen Kolonien – und Voraussetzung für Versöhnung und Verständigung mit den dort lebenden Menschen, ganz im Geiste Alexander von Humboldts, der sich auf seiner Südamerikareise zu einem scharfen Kritiker des Kolonialismus und der Sklaverei entwickelte. Es freut mich sehr, dass das DHM mit der ersten großen Ausstellung, die Wilhelm von Humboldt und Alexander von Humboldt nebeneinander und gegenüberstellt, Pionierarbeit leistet und damit sicherlich wunderbar auf einen Besuch im Humboldt Forum einstimmt. Ich danke Ihnen, lieber Herr Professor Gross, ich danke dem Kuratorenteam – Frau Professorin Savoy und Herrn Blankenstein und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – herzlich für ihr großes Engagement, das für das öffentliche Bewusstsein um die Verdienste Wilhelm und Alexander von Humboldts nicht nur im Humboldt-Jahr von herausragender Bedeutung ist. „Angst vor dem Fremden ist eine menschheitsgeschichtliche Grundausrichtung. Die Anerkennung und Wertschätzung des Fremden ist erst eine spätere zivilisatorische Errungenschaft,“ schreibt der Ethnologe Hans-Jürgen Heinrichs in seinem lebens- und welterfahrungsreichen Buch über „Fremdheit“, die „große Aufgabe unserer Gegenwart“. Alexander und Wilhelm von Humboldt haben dieser zivilisatorischen Errungenschaft mit ihrer unbändigen Neugier auf das Fremde den Weg geebnet. Die Anerkennung und Wertschätzung des Fremden als zivilisatorische Errungenschaft zu verteidigen – insbesondere gegen jene, die Vorurteile und Hass gegen das Fremde, gegen Andersdenkende, Anderslebende, Andersglaubende schüren – bleibt Voraussetzung für Verständigung und damit Aufgabe für die Zukunft. So brauchen wir die Neugierde und Welt-Offenheit der Humboldt Brüder auch heute, um nicht in Selbstbezüglichkeit und Vorurteilen zu verharren, sondern im Austausch Chancen des Lernens und der wechselseitigen Bereicherung zu erkennen. „Ausweitung der Denkzone“, so ist ein Kapitel der Ausstellung, passend dazu, überschrieben. Genau die wünsche ich uns allen, sehr geehrte Damen und Herren, beim Rundgang durch die Ausstellung: Lassen wir uns mit Humboldtscher Neugierde auf die Welt und die Weltsicht der beiden Brüder ein!
In ihrer Rede sagte die Kulturstaatsministerin, dass die Besucher eine erkenntnisreiche Ausstellung erwartet, die einen differenzierten Blick auf das Humboldt‘sche Vermächtnis erlaubt. „Verdrängtes und vergessenes Unrecht ans Licht zu holen, ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber den ehemaligen Kolonien – und Voraussetzung für Versöhnung und Verständigung mit den dort lebenden Menschen“, so Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Verleihung des Otto-Brenner-Preises für kritischen Journalismus
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-verleihung-des-otto-brenner-preises-fuer-kritischen-journalismus-1694856
Tue, 19 Nov 2019 17:15:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Gründliche Recherche statt bestellter Wahrheiten! – Im Sinne dieses Mottos (der heutigen Preisverleihung) darf man wohl den Stoßseufzer eines chinesischen Bürgers verstehen, der seinem Frust im Netz mit einer kräftigen Prise Ironie Ausdruck verlieh. Ich zitiere: „Ach, wenn doch die Zensoren von Filmen, Zeitungen und Büchern für die Lebensmittelsicherheit zuständig würden und die Verantwortlichen für die Lebensmittelsicherheit für die Zensur von Filmen, Zeitungen und Büchern. Dann hätten wir sowohl Lebensmittelsicherheit als auch Meinungsfreiheit.“ Um auf „bestellte Wahrheiten“ zu stoßen, muss man leider nicht bis ins autoritär regierte China schauen, wo die strengen Auflagen der Medienzensur offenbar in scharfem Kontrast zu den recht laxen Regelungen des Lebensmittelrechts stehen. „Bestellte Wahrheiten“ gibt es auch in Demokratien; sie heißen hier „gute PR“. Doch – zum Glück! – bekommt man hier dann doch eher selten, was man bestellt… . Diese Lektion jedenfalls lernt man als Politiker, als Politikerin spätestens dann, wenn man von Ihnen, verehrte Journalistinnen und Journalisten, bei einer Pressekonferenz mal so richtig „gegrillt“ wurde: mit kritischen Nachfragen, mit schonungslosem Abklopfen von Begriffen und Botschaften und natürlich in der Konfrontation mit den Ergebnissen gründlicher Recherche. Den Mächtigen auf den Zahn zu fühlen, Sachverhalte kritisch zu hinterfragen, der Wahrheit auf den Grund zu gehen und die Dinge nicht nur aus einer Perspektive zu betrachten, sondern unterschiedliche Sichtweisen einzubeziehen: All das zeichnet jenen kritischen Journalismus aus, dem der Otto-Brenner-Preis gewidmet ist – jenen Journalismus, der mit Recht für sich in Anspruch nimmt, Wächter der Demokratie zu sein. Ob es dabei um die Aufdeckung massenhaften Steuerbetrugs geht, um Aufklärung über rechtsextreme Machenschaften oder ganz allgemein um ein tieferes Verständnis gesellschaftlicher Entwicklungen: Leuchtende Beispiele verantwortungsvoller „Wächterarbeit“ sichtbar zu machen, stärkt das Vertrauen in die Presse, in die Medien – und das ist bitter nötig in Zeiten, in denen neue politische Kräfte in unserem Land mit diffamierenden Parolen (Stichwort „Lügenpresse“, Stichwort „Staatsfunk“) danach trachten, eben dieses Vertrauen zu erschüttern. Deshalb bin ich froh und dankbar, dass die Otto-Brenner-Stiftung mit ihrem Preis die Wertschätzung für kritischen Journalismus fördert. Ich danke Ihnen, lieber Herr Hofmann, lieber Jupp Legrand, und allen Beteiligten für ihr Engagement und freue mich, als Festrednerin zur Würdigung der Wächter unserer Demokratie beizutragen – getreu dem Motto des heutigen Abends natürlich nicht mit „bestellten Wahrheiten“, sondern mit kritischem Blick und dem Anspruch, dort tiefer zu bohren, wo Wahrheit unbequem wird … . Unbequem wird es jenseits „bestellter Wahrheiten“ ja öfter, und deshalb würde ich mein Verhältnis zu Ihrer Arbeit, verehrte Journalistinnen und Journalisten, frei nach Voltaire, dem Vordenker der Aufklärung, wie folgt auf den Punkt bringen: Mag ich auch verdammen, was Sie schreiben; ich werde als Politikerin alles in meiner Macht Stehende dafür tun, dass Sie es schreiben dürfen. Denn die Freiheit der Presse ist – wie die Freiheit der Kunst – ein Gradmesser für die Verfassung, für den Zustand einer Demokratie. Jede autoritäre Herrschaft beginnt damit, dass Intellektuelle, Kreative und Künstler buchstäblich mundtot gemacht werden. Der Parlamentarische Rat hat die Freiheit der Presse und der Kunst deshalb vor 70 Jahren aus gutem Grund in den Verfassungsrang erhoben – und in einen noblen Rang noch dazu; immerhin handelt es sich um Artikel 5 unseres Grundgesetzes. Doch bei aller Wertschätzung für die Pressefreiheit und für journalistische Glanzstücke wie die der heutigen Preisträgerinnen und Preisträger: Bei weitem nicht alles, was man in den Medien täglich zu lesen, zu hören, zu sehen bekommt, verdiente einen Platz auf der „Longlist“ für den Otto-Brenner-Preis. Ja, manche Entwicklungen – da will ich auch als Festrednerin weder weichzeichnen noch schönfärben – bergen die Gefahr, die notwendige Wertschätzung und Akzeptanz, die demokratischen Prinzipien erst Stabilität verleihen, erodieren zu lassen und spielen so den Verächtern der Pressefreiheit in die Hände. Lassen Sie mich dies an zwei Beispielen illustrieren. Zu den unangenehmen Wahrheiten, mit denen Politikerinnen und Politiker, Journalistinnen und Journalisten sich selbstkritisch auseinandersetzen müssen, gehört erstens die Tatsache, dass es offenbar eine wachsende Zahl von Menschen gibt, die ihre Lebenswirklichkeit in den politischen Debatten und der medialen Berichterstattung nicht angemessen repräsentiert sehen. Beklagt werden die vermeintliche Einhegung öffentlicher Debatten auf das scharf bewachte Gebiet des politisch Korrekten und der angebliche Konformismus medialer Berichterstattung. Manch einer vermisst gründliche Recherche, wenn die Berichterstattung allzu eindeutig in eine Richtung geht und Gegenargumente schlicht nicht mehr vorkommen. Zwar bescheinigen einschlägige Untersuchungen insbesondere den Tageszeitungen und den öffentlich-rechtlichen Medien nach wie vor hohe Glaubwürdigkeit. Es braucht aber kein Investigativ-Team, um festzustellen, dass es – bedingt insbesondere durch die digitale Konkurrenz und die allgegenwärtige, ungefilterte Kommentierung in Echtzeit – Entwicklungen gibt, die dem kritischen Journalismus zusetzen. Neugier, Sorgfalt, Unvoreingenommenheit, die Trennung von Bericht und Meinung, Ausgewogenheit und Differenziertheit – solche journalistischen Kardinaltugenden bleiben auf der Strecke, wenn traditionelle Medien sich am rasanten Takt der Liveticker ausrichten, sich also dem Wettbewerb in Kategorien stellen, in denen sie nur verlieren können. Herbert Riehl-Heyse, dessen großer Name für journalistische Unabhängigkeit steht, hatte recht, als er einst davor warnte, auf Kosten journalistischer Qualität Punkte im Wettbewerb machen zu wollen, ich zitiere: „Auf kurze Sicht kann man sehr gut verdienen mit Produkten, deren Verbraucher keine Nebensätze schätzen und denen überhaupt immer weniger gedankliche Anstrengung zugemutet wird. Auf lange Sicht könnte es sein, dass man sich so ein Publikum und die nächste Generation eines Publikums erzieht, das nicht mehr weiß, was eine anspruchsvolle Tageszeitung sein könnte.“ Ja, Journalismus, der sich vom hohen Anspruch verabschiedet, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, macht sich selbst überflüssig. Hier geht es nicht allein um die betriebswirtschaftliche Frage, wie Qualität sich finanzieren lässt, sondern auch um journalistisches Ethos, zumal das eine ja mit dem anderen zusammenhängt: Glanzstücke des Qualitätsjournalismus wie Ihre, verehrte Preisträgerinnen und Preisträger, erhalten und fördern auch die Bereitschaft, für gründliche Recherche zu bezahlen. Dass es umgekehrt für die ganze Branche reputations- und geschäftsschädigend ist, wenn das journalistische Ethos auf eklatante Weise mit Füßen getreten wird, zeigte zuletzt der Skandal infolge der Fälschungen des SPIEGEL-Redakteurs Claas Relotius: So macht man sich als Journalist zum Steigbügelhalter populistischer Demokratieverächter. Das ist wirklich bitter. Doch für den ein oder anderen im Mediengeschäft war es vielleicht auch ein Weckruf. Denn – und damit bin ich bei meinem zweiten Beispiel – Glaubwürdigkeit und Vertrauen leiden nicht erst, wenn glänzend geschriebene und mit Journalistenpreisen hochdekorierte Reportagen sich als Fiktion erweisen. Glaubwürdigkeit und Vertrauen leiden auch, wenn im Wettbewerb um Aufmerksamkeit skandalisiert statt differenziert wird und Themen nach Popularität statt nach Relevanz ausgewählt werden. Der Medien-wissenschaftler Bernhard Pörksen warnt deshalb zu Recht vor dem Verlust der Verständigungsfähigkeit in der – ich zitiere – „Empörungsdemokratie des digitalen Zeitalters“. Aus persönlicher Erfahrung kann ich nur ergänzen: Als Politikerin gewöhnt man sich irgendwann daran, Wellen öffentlicher Erregung einfach über sich ergehen zu lassen – insbesondere dann, wenn die Berichterstattung allzu schematisch immer in dieselbe Richtung geht. Deshalb gehören floskelhafte Sätze wie „Das zuständige Ministerium war nicht zu einer Stellungnahme bereit“ mittlerweile leider vielfach zum Refrain investigativer Beiträge – was den Verdacht nahelegt, dass es etwas zu verbergen gibt, wo man schlicht und einfach befürchtet, dass an einer alternativen Sicht der Dinge beim Redaktionsteam gar kein Interesse besteht, ja dass gar keine Zeit ist, schwierige politische Entscheidungen zu erklären. So nähren Politik und Medien zuweilen unbeabsichtigt und unfreiwillig eben jene Demokratieverdrossenheit, die wir als überzeugte Demokraten wortreich beklagen und aus der Populisten erfolgreich Profit schlagen. Glaubwürdigkeit und Vertrauen aber sind für Journalistinnen und Journalisten unverzichtbar, um Populisten Paroli bieten zu können. Was also tun gegen politische Kräfte, die sich die Presse als Verlautbarungsorgan für ihre bestellten Wahrheiten wünschen? Den kritischen Journalismus zu stärken, ist zum einen eine medienpolitische Aufgabe. Es braucht faire Rahmen- und Wettbewerbsbedingungen, um Qualitätsjournalismus erhalten und finanzieren zu können. Die Verabschiedung der EU-Urheberrechtsrichtlinie ist dafür ein Meilenstein, insbesondere das Leistungsschutzrecht für Presseverleger und die Verlegerbeteiligung bei Verwertungsgesellschaften. Für beides habe ich mit Nachdruck geworben, und ebenso nachdrücklich werbe ich jetzt für eine zügige Umsetzung: Denn hier geht es um journalistische Qualität und mediale Vielfalt, und damit um den Kern unseres demokratischen Selbstverständnisses! Mit Freude kann ich heute auch vermelden, dass es in meinem Kultur- und Medienetat 2020 erstmals einen Haushaltstitel „Medienkompetenz und Journalismusförderung“ gibt, ausgestattet mit einer Millionen Euro; ein Konzept wird gerade ausgearbeitet. Darüber hinaus setzt sich die Bundesregierung auch für einen möglichst großen Schutz für Journalistinnen und Journalisten und ihre Quellen ein, etwa für die Whistleblower-Richtlinie, die die EU-Mitgliedstaaten Anfang Oktober beschlossen haben und die Deutschland nun zügig in nationales Recht umsetzen muss. Hinweisgeber sind damit künftig besser vor Repressalien geschützt. Darüber hinaus fördert mein Haus das European Centre for Press and Media Freedom, damit verfolgte Journalistinnen und Journalisten die Möglichkeit haben, im deutschen Exil zu leben und zu arbeiten. Genauso wie die Politik steht aber auch jeder einzelne Journalist, jede einzelne Journalistin in der Verantwortung. Wertschätzung für kritischen Journalismus, monetär wie ideell, gibt es nur auf der Basis von Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Wie dieses journalistische Grundkapital sich mehren lässt, haben vor ein paar Jahren schon Reporter der New York Times vorgemacht, die ein „Netzwerk für lösungsorientierten Journalismus“ gegründet haben, weil sie den Eindruck hatten, dass zu viel über Probleme und zu wenig über Lösungen berichtet werde. Die Mitglieder des Netzwerks haben es sich deshalb zur Mission gemacht, Missstände nicht nur anzuprangern, sondern auch zu fragen „Wer macht es besser?“. Ihr Ziel: Druck auf die Verantwortlichen aufzubauen mit dem Nachweis, dass es Menschen, Städte oder Länder gibt, die ein Problem bewältigt haben, vor dem andere versagen. So bleibt – bei aller berechtigten Kritik – auch das Vertrauen, dass eine bessere Welt machbar ist. Und so lässt sich verhindern, dass Kritik an gesellschaftlichen Missständen Ohnmachtsgefühle und Hoffnungslosigkeit nährt – und dass aus Ohnmachtsgefühlen und Hoffnungslosigkeit Wasser auf den Mühlen populistischer Hetzer wird. Im Kampf gegen Demokratieverächter gewinnt – davon bin ich überzeugt – neben „lösungsorientiertem“ Journalismus auch der lokale Journalismus an Bedeutung. Nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten stellte man ja in so mancher Redaktion selbstkritisch fest, dass man mit dem Rückzug aus den Regionen, mit dem Verzicht auf eigene Lokalreporter, mit der Konzentration auf die Metropolen und auf die Themen, die in urbanen Milieus diskutiert werden, auch das Gespür für die Sorgen und Nöte verloren hatte, die die Mehrheit der Bevölkerung bewegen. Diese Mehrheit lebt nicht in Großstädten – auch in Deutschland nicht. Für diese Mehrheit sind Lokalzeitungen ein Stück Heimat, weil sie nah dran sind an den Themen, die Menschen in ihrem Alltag bewegen, und an den Auswirkungen, die Entscheidungen in Berlin oder in Brüssel auf das tägliche Leben haben, und weil sie dafür sorgen, dass diese Themen im öffentlichen Diskurs eine Rolle spielen und damit politisch relevant werden. „Lokaler“ und „lösungsorientierter“ werden: Das sind (im Sinne einer lösungsorientierten Festtagsrhetorik …) zwei mögliche Antworten auf die Frage, wie sich gründliche Recherche auch in Zukunft gegen „bestellte Wahrheiten“ behaupten kann. Diese Frage brennt uns vermutlich allen unter den Nägeln – ob Medienmacher, Medienförderer oder Medienpolitiker. Denn 70 Jahre nach der Verabschiedung unseres Grundgesetzes konfrontiert uns nicht nur die Digitalisierung mit der unbequemen Wahrheit, dass demokratische Errungenschaften wie die Pressefreiheit immer wieder neu errungen werden müssen, um Bestand zu haben. Mit dieser Wahrheit konfrontieren uns auch die Einschränkungen der Pressefreiheit in europäischen Ländern und die Gewalt mancherorts gegen Journalistinnen und Journalisten. Und mit dieser Wahrheit konfrontiert uns hierzulande nicht zuletzt das Erstarken einer Partei, deren Mitglieder keine Gelegenheit auslassen, Journalistinnen und Journalisten öffentlichkeitswirksam in Verruf zu bringen und ein Klima des Misstrauens zu schüren. Angesichts dieser Wahrheiten braucht unsere Demokratie ihre Wächter dringender denn je: Journalistinnen und Journalisten, die das journalistische Berufsethos auch unter schwierigen Bedingungen hochhalten und sich dabei weder einschüchtern noch korrumpieren lassen; Journalistinnen und Journalisten wie Sie, die Sie heute mit dem Otto-Brenner-Preis ausgezeichnet werden. Bleiben Sie Ihrem Anspruch treu, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Schauen Sie dabei, wenn möglich, nicht nur denen auf die Finger, die Probleme vertuschen oder bei ihrer Lösung versagen, sondern auch denen, die sie anpacken und es besser machen. Sorgen Sie weiterhin dafür, dass Lügner, Schönfärber, Vereinfacher und Zerrbildzeichner mit gründlicher Recherche rechnen müssen und hinter „bestellten Wahrheiten“ Missstände und Fehlentwicklungen aufgedeckt werden. Darauf lassen Sie uns nachher anstoßen – Politik und Presse ausnahmsweise in trauter Eintracht. Die gönnen wir uns heute, und dabei hilft die Haltung, die einer der Väter unseres Grundgesetzes, Theodor Heuss, nach getaner Pflicht an den Tag legte. Als sein Persönlicher Referent einmal versuchte, ihn nach einem offiziellen Termin zum Aufbrechen zu bewegen, soll er, einem Gläschen Wein nie abgeneigt, geantwortet haben: „Der Bundespräsident geht jetzt, aber der Heuss bleibt hocke.“ Ich freue mich jedenfalls, nachher mit Ihnen zu feiern: auf eine gute, demokratische Zukunft für unser Land und auf Ihren Beitrag dazu! Herzlichen Glückwunsch allen Preisträgerinnen und Preisträgern!
In Ihrer Rede würdigte Grütters die Preisträgerinnen und Preisträger und hob die Bedeutung des kritischen Journalismus als Wächter der Demokratie hervor. „Die Freiheit der Presse ist – wie die Freiheit der Kunst – ein Gradmesser für die Verfassung, für den Zustand einer Demokratie“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Treffen mit den Staats- und Regierungschefs der „Compact with Africa“ -Länder am 19. November 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-treffen-mit-den-staats-und-regierungschefs-der-compact-with-africa-laender-am-19-november-2019-in-berlin-1694214
Tue, 19 Nov 2019 16:10:00 +0100
Berlin
keine Themen
Meine Damen und Herren, ich möchte die Delegationsleiter, vor allem die Präsidenten, die Premierminister, die Minister sowie die Vertreter der internationalen Organisationen ganz herzlich begrüßen. Wir haben heute die „Compact with Africa“-Länder hier, wir haben den Vorsitzenden der Kommission der Afrikanischen Union, Herrn Faki, hier, wir haben die Weltbank, den IWF und die Afrikanische Entwicklungsbank unter uns. Ganz besonders begrüße ich den Vorsitzenden der Afrikanischen Union in diesem Jahr, Herrn Präsidenten Al-Sisi. Wir haben heute früh schon darauf hingewiesen, dass Sie am heutigen Tag Geburtstag haben. Insofern freut es uns natürlich besonders, dass Sie den Tag mit uns verbringen. Wir haben – aus europäischer Perspektive – noch meinen Kollegen Giuseppe Conte aus Italien eingeladen. Italien wird nämlich der nächste europäische Gastgeber für die G20-Konferenz sein – erst kommt noch Saudi-Arabien, aber danach Italien. Da „Compact with Africa“ eine G20-Initiative ist, freuen wir uns sehr, dass Italien mit uns zusammenarbeitet. Wir haben außerdem Erna Solberg, die Ministerpräsidentin von Norwegen, eingeladen – zum einen, weil wir sehr viele afrikanische Projekte mit Norwegen durchführen, zum anderen aber auch, weil Norwegen der „Special Guest“ bei unserer G20-Präsidentschaft 2017 war. Deshalb auch, liebe Erna, herzlichen Dank, dass du gekommen bist. Wir haben heute des Weiteren Mitglieder der Bundesregierung dabei, und zwar den Entwicklungsminister Gerd Müller, den Wirtschaftsminister Peter Altmaier, die Umweltministerin Svenja Schulze und – wegen Verhinderung des Finanzministers – einen Staatssekretär aus dem Finanzministerium, nämlich Herrn Schmidt. Insofern sind wir hier eine wichtige Runde, die sich mit den Themen des „Compact with Africa“ beschäftigen kann. Wir hatten gedacht, dass wir über diese Afrika-Initiative, die wir während unserer G20-Präsidentschaft auf den Weg gebracht haben – ausgehend vom Finanzministerium, aber eben auch unterstützt von mir als Bundeskanzlerin und vom Kanzleramt –, noch eine Weile das Patronat halten, obwohl wir ja längst nicht mehr die G20-Präsidentschaft innehaben. Wir freuen uns sehr, dass auch die internationalen Finanzinstitutionen diese Initiative weiter voranbringen. Wir hatten heute früh schon eine Wirtschaftskonferenz. Unser Ziel ist, jeweils dafür Sorge zu tragen, dass wir nicht nur reden, sondern auch wirtschaftliche Projekte auf den Weg bringen. Es zeigt sich, dass es sehr, sehr gute Projekte gibt. Es zeigt sich aber auch, dass die deutsche Wirtschaft – und ich glaube, das gilt für die europäische Wirtschaft insgesamt – immer noch ermutigt werden muss, in Afrika zu investieren. Wir haben eine große Vielfalt an afrikanischen Ländern. Vielen sind die Gegebenheiten vor Ort noch nicht ausreichend vertraut. Es ist wichtig, dass auf der einen Seite die „Compact-with-Africa“-Länder ihre Rahmenbedingungen verbessern und auf der anderen Seite wir die Rahmenbedingungen für die Kreditfähigkeit und Kreditwürdigkeit ebenfalls verbessern. Ich bedanke mich natürlich auch bei der Afrikanischen Entwicklungsbank dafür, dass sie auch in diesen Fragen intensiv mit der Weltbank und dem IWF zusammenarbeitet. Unsere heutige Nachmittagssitzung dient dazu, über die politischen Rahmenbedingungen und die Gegebenheiten des Compacts zu diskutieren. Heute früh stand das Gespräch mit der Wirtschaft im Vordergrund. Jetzt ist es das Gespräch unter uns. Es geht darum, ehrliche Analysen zu bekommen: Welche Fortschritte haben wir gemacht, welche Handicaps haben wir noch, welche Barrieren gibt es noch? – Ich freue mich darüber, dass Sie alle dazu bereit sind, uns Ihre Meinung zu sagen. Denn es soll ja ein lernender Prozess sein. Wir brauchen hier keine Fensterreden zu halten, sondern es geht darum, dass wir wirklich etwas auf die Reihe bringen. Aufgrund meiner Besuche in Afrika ist mir sehr bewusst, welch fordernde Jugend Sie haben, die von Ihnen erwartet, dass Sie handeln und dass Ergebnisse sichtbar werden. Deshalb glaube ich, dass unser Treffen hier einerseits ein Zeichen gelebten Multilateralismus ist und andererseits eben auch etwas sein soll, das Früchte trägt und Ergebnisse mit sich bringt. Wir haben die Gepflogenheit, diese Runde, in der wir miteinander reden, im Livestream zu übertragen, sodass alle teilhaben und sich anschauen können, was wir hier bereden. Wir denken, dass das gut ist, um dadurch auch mehr Verständnis für die Gegebenheiten zu bekommen. Beim Abendessen haben wir dann noch Gelegenheit, die Probleme, die Sie neben den Problemen der wirtschaftlichen Entwicklung haben, wie Sicherheitsfragen oder Fragen der Zusammenarbeit in Afrika insgesamt, noch stärker in den Vordergrund zu stellen. Ich möchte Präsident Al-Sisi und den Präsidenten der Afrikanischen Union stellvertretend für alle Mitglieder der Afrikanischen Union dazu beglückwünschen, dass Afrika mutige Schritte gegangen ist – das hat ja schon im Vorjahr begonnen, als Präsident Kagame die Präsidentschaft innehatte – und zum Beispiel beim Treffen der Afrikanischen Union, als Sie in Niamey zu Gast waren, die Freihandelszone geschaffen hat. Damit sind Sie einen Riesenschritt gegangen. Wir haben uns gestern in unserer Kabinettsklausur – ich habe das auch heute früh schon gesagt – über die „SMART Africa“-Initiative informiert, mit der Sie die Digitalisierung vorantreiben, den digitalen Binnenmarkt. Daran arbeiten wir in Europa auch noch und können also direkt voneinander lernen, wie wir diese Entwicklung voranbringen. Noch einmal ein herzliches Willkommen Ihnen allen. Ich wünsche uns produktive Stunden.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Konferenz „Compact with Africa“ am 19. November 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-konferenz-compact-with-africa-am-19-november-2019-in-berlin-1694200
Tue, 19 Nov 2019 10:39:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrte Präsidenten, Premierminister und Minister, Exzellenzen, sehr geehrter Herr Professor Große, sehr geehrter Herr Professor Liebing, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett und dem Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren, lassen Sie mich damit beginnen, dass ich einen besonderen Gruß an den Präsidenten Ägyptens, an Herrn Al-Sisi, senden darf, der nicht nur Vorsitzender der Afrikanischen Union in diesem Jahr ist, sondern heute seinen 65. Geburtstag in Deutschland feiert. Herzlichen Glückwunsch, Herr Präsident, und Ihnen alles, alles Gute. Ich freue mich, heute gemeinsam mit Ihnen – vor allem mit den zahlreichen Gästen aus den „Compact-with-Africa“-Staaten – diese Konferenz zu eröffnen und begrüße ganz besonders auch die Staats- und Regierungschefs hier in Berlin. Ich bedanke mich auch ganz herzlich bei den Veranstaltern, dem Afrika-Verein und der Subsahara-Afrika Initiative der Deutschen Wirtschaft. Wir sind heute hier im Haus der Deutschen Wirtschaft zu Hause. Hier sind die Verbände der deutschen Wirtschaft unter einem Dach vereint. Man kann sagen: wir sind heute im Herzen der deutschen Wirtschaftsorganisationen zu Hause. Ob es um Frieden, um Klimaschutz, um wirtschaftliche Entwicklung, Migration und andere große Fragen unserer Zeit geht, sind wir uns alle einig, dass Afrika mit seinen mehr als 50 Staaten und einer wachsenden Bevölkerung – insbesondere einer jungen Bevölkerung – bei der Lösung globaler Fragen eine wichtige Rolle zukommt. Wir sehen, dass Afrikaner und Europäer vor vielen gemeinsamen Herausforderungen stehen. Deshalb haben wir unsere Zusammenarbeit in den letzten Jahren deutlich intensiviert, weil wir fest daran glauben, dass das nicht nur im afrikanischen Interesse ist, sondern auch im Interesse der größten Volkswirtschaft Europas, im deutschen Interesse. Ich habe schon einige afrikanische Staaten besuchen können, leider längst noch nicht alle, noch nicht einmal die Hälfte. Aber ich freue mich, dass afrikanische Staats- und Regierungschefs sehr häufig auch bei uns zu Gast sind. Ich weiß, man muss ja auch zu Hause seine Arbeit machen. Deshalb danke dafür, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Wir sind uns einig, dass wir neben der Entwicklungshilfe natürlich vor allen Dingen den Übergang in einen sich selbst tragenden Aufschwung schaffen müssen. Das war auch der Grund, warum wir während unserer G20-Präsidentschaft 2017 die Initiative „Compact with Africa“ ins Leben gerufen haben. Die Zielsetzung ist, besonders private Investitionen in den teilnehmenden Ländern zu steigern. Wir wissen, dass sich die afrikanischen Länder in den letzten Jahren selbst eine sehr anspruchsvolle Agenda gesetzt haben. Der letzte große Höhepunkt, würde ich sagen, war das Treffen der Afrikanischen Union in Niamey in Niger, wo der abschließende Beschluss für eine afrikanische Freihandelszone gefasst wurde. Ich glaube, dass dieser Beschluss neben den regionalen Organisationen, die ja auf dem afrikanischen Kontinent schon sehr stark ausgeprägt sind, ein wegweisender war. Ich möchte Sie dazu beglückwünschen. Wir haben mit dem europäischen Binnenmarkt eine kleine Vorstellung davon, wie schwer es ist, so etwas dann auch zum Leben zu erwecken. Da gibt es Zollhemmnisse, aber gibt es vor allen Dingen zahlreiche nichttarifäre Handelshemmnisse, mit denen man kämpfen muss. Wir als Europäer müssen sagen: auch nach vielen Jahren der Europäischen Union haben wir noch keinen perfekten Binnenmarkt. Gerade auch im Hinblick auf die Digitalisierung stellen sich die Fragen des Binnenmarkts wieder neu. Wir haben uns gestern als Regierungskoalition mit digitalen Fragen für Deutschland beschäftigt. Bei uns war auch der Vertreter von „SMART Africa“, den die Afrikanische Union eingesetzt hat, um die Digitalisierung voranzutreiben, und hat uns über Ihre Bemühungen berichtet. Das war durchaus sehr ermutigend. Maßstab für Initiativen ist insbesondere auch Ihre Agenda 2063, die Sie sich für den 100. Jahrestag nach der Befreiung vom Kolonialismus vorgenommen haben. Wir haben gestern mit Herrn Koné von „SMART Africa“ im Übrigen auch darüber gesprochen, was digitale Souveränität bedeutet. Denn man kann auch in den Zeiten der Digitalisierung wieder in massive Abhängigkeiten von anderen geraten. Das „neue Öl“, wie es gestern genannt wurde, nämlich die Daten, gehört dann vielleicht plötzlich nicht mehr uns. Das ist übrigens ein Problem, das es in Europa genauso wie in Afrika gibt. Hier lohnt sich für uns eine Zusammenarbeit also auf jeden Fall. Nun haben wir also den „Compact with Africa“. Zwölf Länder nehmen daran teil. Die Idee war, ist und bleibt eine G20-Initiative. Das ist also keine deutsche Initiative, die nur von Deutschland getragen wird, sondern sie wird von allen G20-Ländern getragen. Aber weil sie in unserer Präsidentschaft entstanden ist, sind wir so etwas wie ein Patron oder eine Patronin für diese Initiative. Aber sie wird inzwischen vor allen Dingen auch von der Weltbank und vom Internationalen Währungsfonds getragen. Wir werden heute Nachmittag ja auch die entsprechenden Gäste haben. Auf der einen Seite bedeutet diese Initiative: in den afrikanischen Ländern selbst wird einiges unternommen, um die Transparenz des Finanzsystems zu verbessern, um das Steuersystem zu verbessern, um das Schuldenmanagement zu verbessern. Im Großen und Ganzen wird also vieles für bessere Governance, wie man heute sagt, für bessere Regierungsführung getan. Wir glauben, und davon bin ich zutiefst überzeugt, dass mehr Transparenz auch mehr Investoren in die Länder bringen kann, weil es für deutsche, gerade auch mittelständische Unternehmen oder Investoren aus anderen G20-Ländern sehr wichtig ist, dass Vertrauen herrscht, dass Transparenz herrscht, dass man weiß, welche Bedingungen dort herrschen, wo man investiert. Auf der anderen Seite wollen wir Anreize dafür setzen, dass, wenn diese Länder, die am „Compact with Africa“ teilnehmen, Erfolge erzielen, dann auch unseren Unternehmen verbesserte Investitionsbedingungen einräumen. Dafür haben wir einen Investitionsfonds aufgelegt. Ich will noch einmal in Erinnerung rufen – dieses Design haben wir im Grunde letztes Jahr gemacht –, auf welchen Säulen dieser Fonds ruht. Die erste Säule ist „AfricaConnect“. Damit sollen mittelständische Unternehmen aus Deutschland und Europa bei der Finanzierung von Investitionen in Compact-Ländern unterstützt werden. Wir haben das im Juni gestartet; und wir haben bereits über 220 Anfragen. Demnächst werden die ersten Zusagen erfolgen. Einige dieser Investitionsprojekte werden auch hier heute vorgestellt. Die zweite Säule ist das „Wirtschaftsnetzwerk Afrika“. Es dient deutschen Unternehmen mit individueller Beratung zu Fördermöglichkeiten sowie zu wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen in afrikanischen Ländern. Die dritte Säule ist der Entwicklungsinvestitionsfonds „AfricaGrow“. Damit werden wir über bewährte afrikanische Fonds Risikokapital für afrikanische Start-ups bereitstellen – auch ein ganz wichtiger Punkt. Ich habe erst kürzlich mit der diesjährigen Trägerin des Deutschen Afrika-Preises, Juliana Rotich, über die Schwierigkeiten gesprochen, lokal Kredite zu bekommen. „AfricaGrow“ bietet nun für afrikanische Start-ups eine Möglichkeit, besser an finanzielle Mittel zu kommen. Hinzu kommt, dass wir die Konditionen für Exportgarantien und Investitionsgarantien attraktiver gestaltet haben. Seit 2018 sind allein Exporte in Compact-Länder in Höhe von 330 Millionen Euro durch Bundesgarantien abgesichert worden. Es liegen Anträge in Höhe von einer Milliarde Euro vor. Wir steigern uns also; wir kommen ja von einem relativ geringen Niveau, wenn man uns einmal mit China und anderen Ländern vergleicht. Wir wissen auch, dass der Außenhandel oft die Vorstufe für ein Engagement vor Ort ist, zum Beispiel in Form von Investitionen. Deshalb sind diese Zahlen durchaus vielversprechend. Im Übrigen haben wir uns einmal angeschaut: Wie hat sich der „Ease of Doing Business Index“ der Weltbank, der für viele Investoren von Bedeutung ist, in den letzten Jahren bei den Compact-Ländern entwickelt? Wir können sagen, dass sich der Index gerade auch bei den Compact-Ländern sehr stark verbessert hat. Dazu darf ich alle beglückwünschen. Wir können jetzt also eine Vielzahl praktischer Beispiele vorweisen; und wenn Sie noch etwas mehr wissen wollen, können Sie sich nachher im Atrium noch darüber informieren. Die Entscheidung, in Afrika zu investieren, bleibt natürlich eine privatwirtschaftliche Entscheidung. Diese Entscheidung können wir keinem Unternehmer und keiner Unternehmerin abnehmen. Wir können aber helfen, wir können Vertrauen schaffen und wir können über die Compact-Staaten sagen, dass wir da durchaus transparentere Bedingungen haben, als wir sie vorher hatten. Wir haben sozusagen als einen weiteren Schritt – das wird im Bundesentwicklungsministerium von Gerd Müller und seiner Crew gemacht – bilaterale Reformpartnerschaften mit einigen der Compact-Länder geschlossen. Das ist bereits mit Ghana, Tunesien und Côte d’Ivoire und jetzt auch mit Senegal und Äthiopien der Fall. Wir können auch sagen, dass eine solche Reformpartnerschaft jedem offensteht. Da reden wir über die Bedingungen; und der Minister ist ja auch mit vielen Vertretern der anderen Compact-Länder im Gespräch. Es ist also einiges in Bewegung gekommen, aber ich will auch kein zu positives Bild malen, denn wir haben ja weiterhin Probleme zu lösen. Dazu gehört die große Frage der Sicherheit, insbesondere in der Sahelregion. Hier haben wir andere Instrumentarien, um zu versuchen, Sicherheit und Entwicklung in Einklang zu bringen. Die terroristischen Herausforderungen sind gravierend. Wir haben außerdem das Thema Bevölkerungswachstum. Afrika hat eine junge Bevölkerung, die aber auch unglaublich drängend ist. Es ist im Grunde das glatte Gegenteil von dem, was wir in Deutschland erleben. Wir sprechen sehr viel darüber, wie viele Rentenempfänger wir in Zukunft haben werden. In Afrika spricht man mehr über junge Menschen. Deshalb freue ich mich, dass es eine länderübergreifende Sonderinitiative „Ausbildung und Beschäftigung“ gibt, mit der 100.000 Arbeitsplätze und 30.000 Ausbildungsplätze vor Ort geschaffen werden sollen. Ich will auch auf den Beschluss der Bundesregierung hinweisen, ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Gang zu bringen. Ab dem 1. März 2020 werden wir zum ersten Mal in Deutschland geregelt haben, wie die Einwanderung von Fachkräften stattfinden kann. Unsere Auslandshandelskammern – das ist von Herrn Große schon angesprochen worden – werden Ansprechpartner sein. Wir werden mit der deutschen Wirtschaft noch im Dezember ein großes Forum veranstalten, um zu überlegen, in welchen Ländern wir ganz besonders um qualifiziertes Personal werben wollen und wie wir das insgesamt tun wollen. Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass der Schwerpunkt des heutigen Vormittags nicht in meiner Rede besteht, sondern darin, dass wir konkrete Projekte für die einzelnen Compact-Länder vorgestellt bekommen. Das heißt natürlich, dass wir auch mehr über Ihre Länder, die Sie heute hier zu Gast sind, erfahren. Deshalb möchte ich ein afrikanisches Sprichwort zitieren: „Wenn du wissen willst, wie die Geschäfte auf dem Markt laufen, musst du dort hingehen“. – So ist das. Der Markt wird zwar ein bisschen hierher zu uns nach Berlin geschafft, aber wenn man es wirklich wissen will, muss man dort hingehen. In diesem Sinne: Herzlichen Dank – vor allem unseren Gästen, die eine weite Reise unternommen haben – und uns allen eine erfolgreiche Konferenz.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der Verleihung des Preises für Verständigung und Toleranz
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-der-verleihung-des-preises-fuer-verstaendigung-und-toleranz-1694734
Sat, 16 Nov 2019 20:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
„Kommt ein Pferd in die Bar“: So heißt ein zutiefst bewegender Roman des großen israelischen Schriftstellers David Grossmann, der hier vor einem Jahr den Preis für Toleranz und Verständigung erhalten hat. Grossmann erzählt von der Abschiedsvorstellung des Stand-up Comedian Dovele Grinstein, die zur dramatischen Stunde der Wahrheit gerät, zu einem „Blick in die Hölle von jemand anderem“, wie es im Buch heißt. Die Hölle des Komikers Dovele Grinstein, das sind die leidvollen Erfahrungen zwischen den verhärteten Fronten einer von Krieg, Terror und Gewalt gezeichneten Gesellschaft; vor allem aber sind es die Traumata seiner Kindheit als Sohn zweier Holocaustüberlebender, der einst alles tat, um seine Mutter zum Lachen zu bringen. So wird ein kleiner Saal in der israelischen Küstenstadt Netanja zum Schauplatz der großen Konflikte Israels, zum Schauplatz des Ringens um ein wahrhaftiges Bild von der eigenen Geschichte, zum Schauplatz der menschlichen Sehnsucht, sich selbst zu verstehen und verstanden zu werden, zum Schauplatz des Bemühens um Verstehen und Verständigung. Ein solcher Schauplatz ist auch das Jüdische Museum Berlin (JMB) – und für Verstehen und Verständigung stehen hier und heute zwei herausragende Persönlichkeiten, die für ihr Engagement ausgezeichnet werden: eine starke politische Stimme im Kampf gegen Rechtspopulismus und Antisemitismus der eine; eine prägende, künstlerische Stimme in der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nationalsozialisten der andere. Beide haben sich um das Wiederaufblühen jüdischen Lebens und jüdischer Kultur in Deutschland in besonderer Weise verdient gemacht. Dass ein amtierender Bundesaußenminister und ein international gefeierter Künstler als Preisträger nebeneinander stehen, unterstreicht auch, dass gesellschaftliche Verständigung über Gräben und Grenzen hinweg das eine wie das andere braucht: politisches Handeln wie auch die Kräfte der Kunst – nicht zuletzt gerade deren Fähigkeit, Schweigen zu brechen und Verdrängtes, Verborgenes sichtbar zu machen. Ich danke Ihnen für Ihr Engagement, lieber Heiko Maas, lieber Anselm Kiefer, und gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer Auszeichnung. Gräben und Grenzen überwinden, Verstehen und Verständigung ermöglichen: Diesen Anspruch hat sich das Jüdische Museum Berlin auf die Fahnen geschrieben – ein Haus, das weltweit sicherlich noch mehr Aufmerksamkeit als andere Jüdische Museen erfährt, weil es in Berlin steht: in der Stadt, in der die Nationalsozialisten den systematischen Völkermord an den europäischen Juden planten und jene barbarische Tötungsmaschinerie in Gang setzten, der sechs Millionen Jüdinnen und Juden zum Opfer fielen. Umso wichtiger ist deshalb gerade in diesem Haus neben wissenschaftlicher Expertise ein hohes Maß an Sensibilität in der Vermittlung zweier Jahrtausende deutsch-jüdischer Geschichte und in der Auseinandersetzung mit politischen Konflikten der Gegenwart. Wie schwer eine sensible Kommunikation zuweilen ist, haben wir alle in letzter Zeit erlebt. Das Rücktrittsangebot von Professor Schäfer in einer schwierigen Situation habe ich deshalb angenommen – mit tiefem Respekt vor seiner verdienstvollen Arbeit, mit großer Dankbarkeit für die positiven Weichenstellungen unter seiner Leitung, insbesondere für die neue Dauerausstellung und das Kindermuseum ANOHA – und auch im Bewusstsein um die hohen Anforderungen an die Leitung dieses Hauses. Was hier gezeigt und vermittelt wird, ist im wahrsten Sinne des Wortes weltbewegend. Und wir alle, die wir diesem Museum als Förderer und Partner verbunden sind, wünschen uns ja auch, dass es mehr sein möge als ein lebensferner Kulturtempel oder ein dem Alltag entrückter Elfenbeinturm der Wissenschaft – dass es der Vielfalt und Vielstimmigkeit des Judentums und den Perspektiven auf das Judentum nicht nur in Deutschland eine Bühne bietet, dass es kontroverse Debatten nicht nur abbildet, sondern auch mitformt, indem es Verstehen und Verständigung ermöglicht. Nicht zuletzt deshalb aber dürfen an seiner Unabhängigkeit keinerlei Zweifel aufkommen. Die Balance zu finden zwischen dem Anspruch, einerseits ein politisches Haus, ein Ort der Diskussions- und auch der Streitkultur zu sein, und sich andererseits gegen jede Form der politischen Vereinnahmung abzugrenzen, ist gewiss nicht einfacher geworden in einer Zeit eskalierender Gewalt im Nahen Osten, in einer Zeit, in der die Schärfe der politischen Auseinandersetzungen und die Polarisierung im öffentlichen Diskurs zunehmen. So darf und wird die Arbeit des JMB sicher auch in Zukunft für kontroverse Debatten sorgen. Doch wer versucht, inhaltlich Einfluss auf das Museum zu nehmen, bringt es gerade dadurch in Misskredit. Seine inhaltliche Autonomie ist Voraussetzung für seine politische Wirkmacht, für seinen Beitrag zu einer Kultur der Verständigung. Als Vorsitzende des Stiftungsrates will ich deshalb weiterhin alles tun, um das Museum gleichermaßen vor politischer Vereinnahmung und vor politischen Unterstellungen zu schützen, gleich von woher sie kommen. Nicht zuletzt für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des JMB waren die Konflikte der vergangenen Monate Kräfte zehrend in vielerlei Hinsicht. Herzlichen Dank, lieber Herr Michaelis, dass Sie Ruhe ins Haus gebracht und dafür gesorgt haben, dass die Arbeit weitergehen kann. Herzlichen Dank auch Dir, lieber Christoph Stölzl, dass Du das Haus durch den Sturm der Kritik navigiert hast. Deine kulturpolitische Expertise, Dein reicher Erfahrungsschatz im Kulturbetrieb, Dein Kommunikationstalent und auch Deine persönliche Integrität haben entscheidend dazu beigetragen, verlorenes Vertrauen wieder zu gewinnen. Nach der Sitzung der Findungskommission bin ich zuversichtlich, dass der Stiftungsrat bald einen neuen Direktor bzw. eine neue Direktorin bestellen kann, der oder die die Stärken dieses Hauses als Erinnerungsort, als Kulturvermittler und auch als Katalysator öffentlicher Meinungsbildung wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Dass das JMB all das sein kann, ist nicht zuletzt auch Dein Verdienst, lieber Michael Blumenthal! Du hast dem Museum, Du hast uns, Du hast Berlin die reichen Früchte Deiner Lebens- und Berufserfahrung zugutekommen lassen: Deine Führungsqualitäten, Deine Tatkraft, Deinen Optimismus, Deine exzellenten Kontakte und Deine Fähigkeit, weit über die Gegenwart hinaus zu denken. Dankbarkeit für Dein Engagement und für Deinen Weitblick empfinde ich aber nicht nur von Amts wegen, als Kulturpolitikerin. Es berührt mich immer wieder, dass Du am Ende eines erfüllten Berufslebens in das Land zurückgekehrt bist, aus dem Du 1939 als Kind jüdischer Eltern mit Deiner Familie fliehen musstest. Dass Du in Berlin wieder heimisch geworden bist, empfinde ich als das kostbarste Geschenk Deines 20jährigen Wirkens in unserem Land, von dem Du einmal gesagt hast, dass es heute zum Glück „ein ganz anderes Land“ ist als das Land Deiner Kindheit. „Wir haben unsere Geschichte. Die in der Tat fürchterlich ist“, hat David Grossman über Dovele Grinstein, den vom Leben im Schutz der Komiker-Maske gezeichneten Protagonisten seines eingangs zitierten Romans, einmal gesagt, und ich zitiere weiter: „Sie (diese Geschichte) ist tragisch und ungeheuerlich. Aber vielleicht gibt es ja einen Zeitpunkt, an dem du auf deine Geschichte schauen kannst und nicht mehr das Opfer dieser Geschichte bist. Du kannst dich noch immer identifizieren mit dem Schmerz, dem Leid, der ganzen Tragik – aber du solltest dich nicht davon lähmen lassen.“ Genau das, meine Damen und Herren, wünsche ich auch dem Jüdischen Museum Berlin: dass es sich nicht lähmen, nicht gefangen nehmen lässt von – auch – historisch bedingten Verstrickungen und Konflikten; dass es ein Ort des Dialogs und der Vielstimmigkeit bleibt, ein Spiegel der Vielfalt des Judentums, in dem möglichst viele Jüdinnen und Juden sich wieder erkennen und der Besucherinnen und Besuchern aus aller Welt den Reichtum jüdischer Kultur wie auch die traurige Tradition des Antisemitismus und seine barbarischen Auswüchse, den Zivilisationsbruch des Holocaust, vor Augen führt. Das ist heute wichtiger denn je angesichts politischer Kräfte, die nationalsozialistische Verbrechen relativieren und nationalsozialistisches Vokabular reanimieren, angesichts antisemitischer Ressentiments, die immer ungenierter öffentlich kundgetan werden. Dieser Saat darf unsere Gesellschaft keinen Nährboden bieten! Es ist unerträglich, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder um ihr Leben fürchten müssen, wie kürzlich in Halle. Deshalb hoffe ich inständig, dass die Kraft der Erinnerung die gesellschaftlichen Kräfte für ein „Wehret den Anfängen!“ mobilisieren hilft. Sie, liebe Freunde und Förderer des Jüdischen Museums, sind in diesem Sinne Hoffnungsträger, denn Sie tragen mit Ihrer Unterstützung zur Stärkung dieser Kräfte bei. Dafür danke ich Ihnen von Herzen. Bleiben Sie damit – wie die Preisträger des heutigen Abends – Botschafter und Wegbereiter der Toleranz und Verständigung in unserer Gesellschaft!
Der Preis für Verständigung und Toleranz 2019 wurde am 16. November im Jüdischen Museum Berlin an Außenminister Heiko Maas und den Künstler Anselm Kiefer verliehen. In ihrer Rede sagte Kulturstaatsministerin Grütters: „Es ist unerträglich, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder um ihr Leben fürchten müssen, wie kürzlich in Halle. Deshalb hoffe ich inständig, dass die Kraft der Erinnerung die gesellschaftlichen Kräfte für ein „Wehret den Anfängen!“ mobilisieren hilft“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Auftaktveranstaltung der SDG-Kampagne des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung am 14. November 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-auftaktveranstaltung-der-sdg-kampagne-des-bundesministeriums-fuer-wirtschaftliche-zusammenarbeit-und-entwicklung-am-14-november-2019-in-berlin-1691878
Thu, 14 Nov 2019 18:17:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter, lieber Herr Bundesminister Müller, sehr geehrte Staatssekretäre, Kolleginnen und Kollegen aus dem Parlament, Exzellenzen, sehr geehrte Botschafter der Nachhaltigkeitsziele, meine Damen und Herren, ich möchte mich ganz herzlich bei Minister Müller für die Einladung bedanken. Ich glaube, der Rahmen ist mit dem Futurium richtig gesetzt, denn es geht ja um unsere gemeinsame Zukunft. Dies ist, wie ich finde, sowieso ein ganz wunderbares Gebäude, das ganz wunderbare Erkenntnismöglichkeiten bietet. Ich freue mich, dass Sie alle hier sind. Wir brauchen – wie auch Gerd Müller eben gesagt hat – für eine lebenswerte und menschenwürdige Zukunft einen tiefgreifenden Wandel in der Gegenwart. Wir brauchen diesen Wandel in allen Bereichen – wie wir leben, wie wir arbeiten, wie wir wirtschaften. Das ist natürlich ein sehr hoher Anspruch. Aber ich glaube, die gute Nachricht ist, dass auch das Bewusstsein dafür in unserer Gesellschaft noch nie so hoch wie heute war. Es war allerdings auch noch nie so dringlich, dass wir uns verändern. Der frühere amerikanische Präsident Barack Obama hat dies 2014 auf den Punkt gebracht, als er sagte: „Wir sind die erste Generation, die die Folgen des Klimawandels spürt. Und wir sind die letzte, die etwas dagegen tun kann.“ Den Klimawandel zu bremsen und seine Folgen einzudämmen – das ist eine Existenzfrage. Wir erleben es ja auch bei uns in Deutschland: Die Schadwetterereignisse, wie man so schön sagt, die Extremwetterereignisse, haben sich in den letzten Jahrzehnten vervielfacht. Doch die Frage des Klimaschutzes ist natürlich nicht die einzige. Denn gemessen am Maßstab der gesamten Nachhaltigkeit ist Klimaschutz nur ein Schritt, wenn auch ein ganz entscheidender. Immer mehr Menschen denken darüber nach, wie sie nachhaltiger einkaufen, wohnen, bauen oder verreisen können. Und immer mehr Menschen belassen es auch nicht beim Nachdenken, sondern überlegen, wie sie Nachhaltigkeit kreativ mit Leben erfüllen können. Die letzte Europäische Nachhaltigkeitswoche hat in diesem Jahr gezeigt, dass das auch von immer mehr Menschen wahrgenommen wird. Es gab 6.700 Veranstaltungen in ganz Europa. Es haben etwa neun Millionen Menschen daran teilgenommen; und damit dreimal so viele wie im Jahr davor, im Jahr 2018. Auch in der Wirtschaft – das weiß ich aus vielen Gesprächen – erlebt der Nachhaltigkeitsgedanke einen Aufschwung. Es gibt viele Unternehmen, die bei der Zulieferung, beim Materialverbrauch, bei der Produktion oder auch in den Kantinen neue Wege gehen. Ich habe gerade neulich die Preisträger des Nachhaltigkeitspreises empfangen. Es war sehr interessant, einmal zu hören, wie sich auch große Unternehmen, zum Beispiel Telekom oder Rewe, ganz gezielt engagieren und das inzwischen auch als einen Vorteil für ihre Kunden oder bei der Bewertung durch ihre Kunden ansehen. Das heißt, Nachhaltigkeit wird in den Unternehmen nicht mehr nur irgendwie punktuell berücksichtigt, sondern wird als Querschnittsthema in den Strategien verankert und ist ein Erfolgsfaktor, wie ich eben schon sagte. Solche Fortschritte in Wirtschaft und Gesellschaft sind natürlich ermutigend, denn sie zeigen: Jeder und jede kann etwas zu mehr Nachhaltigkeit beitragen. Nachhaltigkeit ist ein Maßstab für unser Handeln, den wir immer wieder neu anlegen müssen. Nun muss man aber doch sagen, dass das Thema Klimaschutz vielen greifbarer erscheint als wenn wir über Nachhaltigkeit, über Kreislaufwirtschaft oder über das Denken in Kreisläufen reden. Natürlich ist auch die Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen etwas, das sich nicht sofort auf den Punkt bringen lässt. Aber immerhin sind die 17 Nachhaltigkeitsziele – ja auch so visualisiert, wie Sie das alle kennen – sozusagen Begriffe und Ziele, die wir erfassen können und die, wie Gerd Müller eben auch sagte, ein Weltzukunftsvertrag geworden sind. In einer Zeit, in der der Multilateralismus unter Druck ist, in einer Zeit, in der es viele Alleingänge der Länder gibt, ist es schon erfreulich und spannend, dass es gelungen ist, diese SDG-Ziele, wie sie ja heißen, diese Nachhaltigkeitsziele und mit ihnen einen Zukunftsvertrag zu verabschieden. Die internationale Staatengemeinschaft hat sich verpflichtet, Armut und Hunger zu beenden, sich für Bildung für alle, Geschlechtergerechtigkeit, sauberes Wasser und saubere Energie einzusetzen, den Klimawandel zu bekämpfen und die globale Gesundheit zu stärken. Das sind nur einige Punkte. Das Spannende ist: Anders als bei Vorgängerplänen ist es diesmal so, dass jedes Land der Welt einbezogen ist. Wir müssen unsere Nachhaltigkeitspläne ebenso machen, wie die ärmsten Länder der Welt ihre machen müssen. Das kommt dem Gedanken der einen Welt sehr nahe. Mit der Agenda 2030 übernehmen eben alle Staaten der Welt – Industrie-, Entwicklungs-, Schwellenländer – gemeinsam Verantwortung für unseren Planeten. Es ist sehr wichtig, Klarheit und Einigkeit darüber zu haben, wohin wir wollen. Da reicht das abstrakte Ziel natürlich nicht, sondern wir brauchen immer wieder Etappen auf dem Weg zur Erreichung der Ziele. Wir müssen prüfen, wie weit wir gekommen sind und ob der Kurs oder das Tempo angepasst werden müssen. Im Zweifelsfall gilt: Ja, wir sind im Durchschnitt viel zu langsam. Im September ging es beim Sustainable-Development-Goals-Gipfel in New York genau darum. Dort haben sich die Staats- und Regierungschefs zum ersten Mal seit der Verabschiedung der Agenda 2030 getroffen. Die Zwischenbilanz, die wir gezogen haben, war kritisch. Wenn wir in dem Tempo weitermachen, in dem wir im Augenblick arbeiten, werden wir die Ziele nicht erreichen. Wir wissen ja – es ist jetzt das Jahr 2019 –, dass wir noch gut zehn Jahre Zeit haben; und da sind gewaltige Schritte zurückzulegen. Wir waren uns also einig, dass wir mehr tun müssen und schneller werden müssen. Deshalb hat UN-Generalsekretär António Guterres das kommende Jahrzehnt von 2020 bis 2030 auch die „decade of action“ genannt, also das Jahrzehnt des Handelns. Mittlerweile sind vier Jahre seit der Verabschiedung der Agenda 2030 vergangen; und es hat sich durchaus einiges bewegt. Wir müssen uns auch selbst ermutigen, sonst wird man ja depressiv; und das ist auch nicht gut, um etwas zu schaffen. Ich konnte zum Beispiel bei meinem jüngsten Besuch in Indien erleben, dass das Land die Energiewende vorantreibt; und das immerhin so, dass inzwischen eine Menge von erneuerbaren Energien in einer Größenordnung von 74 Gigawatt zur Verfügung steht. Dies soll in den nächsten drei Jahren verdoppelt werden. So sieht man, dass sich die Dinge beschleunigen. Gerd Müller weiß: Wir haben Indien in den letzten Jahren mit vielen Milliarden Euro – acht Milliarden Euro insgesamt – unterstützt, um diesen Weg zu mehr erneuerbaren Energien zu gehen. Auch ein Blick auf die weltweite Gesundheit zeigt, dass Erfolge möglich sind. Es gab 1988 noch 350.000 Fälle von Polio. Und in diesem Jahr, wie ich eben gelesen habe, gab es 33 Fälle. Das Ziel ist also fast geschafft. Es gibt auch Fortschritte im Bildungsbereich. Inzwischen gehen weltweit 91 Prozent aller Kinder zumindest einige Jahre in die Schule. Im Jahr 2000 waren es den UNESCO-Berichten zufolge nur 76 Prozent der Jungen und nur 70 Prozent der Mädchen. Man sieht also: Wir kommen voran. Doch oft sind die letzten Meter die schwierigsten, aber es lohnt sich, den Weg zu gehen. Allerdings gibt es insgesamt zu wenige Fortschritte. Deshalb will ich auch schlechte, negative Zahlen nennen: 736 Millionen Menschen leben noch immer in absoluter Armut. Das heißt, sie haben weniger als 1,90 Dollar pro Tag. Jeder zweite der Betroffenen lebt in Subsahara-Afrika. Die Zahl der Menschen, die Hunger leiden, ist leider im dritten Jahr in Folge wieder gestiegen, und zwar auf 822 Millionen Menschen. Zum Vergleich: In den derzeit noch 28 Ländern der Europäischen Union leben 512 Millionen Menschen. 822 Millionen Menschen leben in Verhältnissen, in denen sie wirklich hungern. Eine Million Tier- und Pflanzenarten – das ist ebenfalls bedrückend – sind in den nächsten Jahrzehnten vom Aussterben bedroht. Die Treibhausgasemissionen steigen weiter an. Mit den heute bestehenden Klimazielen der Welt würde sich die Erde um drei Grad erwärmen. Das heißt, wir sind mit unseren Zielsetzungen insgesamt noch längst nicht da, wo wir hin müssen. Wir verbrauchen als Menschheit immer noch 30 Prozent mehr Ressourcen, als unser Planet regenerieren kann. Man muss mit Blick auf die Industrieländer leider sagen, dass 20 Prozent der Menschen 80 Prozent der Ressourcen verbrauchen. Wir gehören also zu denen, zu den 20 Prozent, die 80 Prozent der Ressourcen verbrauchen. Die Industrieländer haben im Kampf gegen den Klimawandel und für den Erhalt natürlicher Lebensgrundlagen genau aus diesem Grund eine so bedeutende Verantwortung. Ich habe heute wieder eine Diskussion mit einer Gruppe gehabt, in der gesagt wurde: „Na ja, warum geben Sie denn nicht das ganze Geld, das Sie in Deutschland für den Klimaschutz einsetzen, dem Gerd Müller? Der könnte doch mit dem gleichen Geldeinsatz eine viel größere CO2-Reduktion schaffen.“ Darauf habe ich gesagt, dass ich ihm immer gerne im Ressortkreis etwas gebe, damit er gute Arbeit machen kann. Aber das geht am Problem vorbei. Denn wenn wir, die wir heute 80 Prozent der Ressourcen zur Verfügung haben, mit diesen Ressourcen nicht die Innovationsleistung in Bezug darauf erbringen, dass mehr Menschen auf der Welt in mehr Wohlstand leben können, dann werden es auch die ärmeren Länder mit Sicherheit nicht schaffen. Das heißt nicht, sich sozusagen vom Acker zu machen und nichts zu tun, sondern das heißt, woanders etwas stattfinden zu lassen, woanders etwas zu tun. Und hier müssen wir mit großer Anstrengung zeigen und vormachen, dass wir in Wohlstand leben können und gleichzeitig den Nachhaltigkeitszielen entsprechen. Das muss unser Beitrag sein. Deshalb unterstütze ich auch Ursula von der Leyen, die sagt: Europa muss der erste klimaneutrale Kontinent auf der Welt werden. Das ist eine Mission, die wir haben und mit der wir unseren Beitrag leisten können, um die Nachhaltigkeitsziele wenigstens in diesem Bereich zu erfüllen. Meine Damen und Herren, wir sehen ja gerade im Klimabereich verschiedene Anzeichen, die uns sorgenvoll stimmen müssen. Die Getreideernte im Agrarjahr 2018/2019 lag weltweit aufgrund anhaltender Dürre schon 30 Millionen Tonnen unter unserem Bedarf. Deshalb müssen wir natürlich die besonders betroffenen Staaten auf der Welt unterstützen und gleichzeitig unseren Klimaverpflichtungen nachkommen. Damit haben wir ja auch hier zu Hause noch sehr viel zu tun. Aber für den internationalen Klimaschutz werden wir 2020 insgesamt vier Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Wir engagieren uns beim Waldschutz. In den vergangenen Jahren haben wir im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit geholfen, mehr als 160 Millionen Hektar Wald weltweit unter Schutz zu stellen. Das ist immerhin das Sechzigfache aller deutschen Naturschutzgebiete. Wir handeln also zu Hause; und wir tun auch in der Entwicklungshilfe etwas. Zum Beispiel wurde das derzeit modernste Solarkraftwerk der Welt unter anderem mit Förderung und Technologie aus Deutschland in Marokko gebaut. Es liefert grünen Strom für immerhin 1,3 Millionen Menschen. Wir haben uns auch sehr systematisch im Bereich der Gesundheitssysteme in Entwicklungsländern engagiert. Wir bekämpfen über den Globalen Fonds und die Impfallianz Gavi Krankheiten wie HIV, AIDS oder Tuberkulose und Malaria. Mir ist auch der Globale Aktionsplan zum Agenda-Ziel „Gesundheit und Wohlergehen“ wirklich sehr, sehr wichtig, weil – da knüpfen wir an etwas an, das so oft fehlläuft – es ja nicht reicht, ein Ziel zu setzen und Geld zu geben, sondern man muss es ja auch noch schaffen, dass die Dinge Hand in Hand gehen, dass sie koordiniert sind, dass sie effizient sind. Es gibt eine Vielzahl an Organisationen, Initiativen, NGOs und Geldgebern. Man muss sich einmal so ein Entwicklungsland mit nicht unbedingt der allerstärksten Governance vorstellen, das nun in 17 Bereichen von vielen, vielen Menschen und Initiativen und Organisationen Möglichkeiten erhält, in Richtung der Umsetzung dieser Ziele zu arbeiten. Aber das muss ja auch bewältigt werden. Es müssen Doppelarbeit und vieles andere mehr vermieden werden. Da, finde ich, liegt die Aufgabe erst einmal bei uns, aus dem Kompetenzwirrwarr etwas zu machen, was dann ein Angebot ist, das die Länder auch wirklich nutzen können. Natürlich gibt es viele Eitelkeiten. Da gibt es Länder, die sagen: Wir sind entwicklungshilfemäßig auf dieses und jenes spezialisiert. Es gibt UN-Organisationen, die ein bisschen hiervon und ein bisschen davon machen. Und wenn etwas nicht funktioniert hat, dann wird eine neue Initiative gegründet. Hinzu kommen noch die privaten Geber. Uns geht es jetzt eigentlich darum, mit dem Globalen Aktionsplan jedem zuzuweisen, an welchen Stellen auf das Gesamtziel hinzuarbeiten ist. Es geht uns darum, dass Doppelarbeit vermieden wird, dass miteinander gesprochen wird, dass den Ländern, die am meisten darauf angewiesen sind, effizient geholfen wird. Wir haben während der deutschen G20-Präsidentschaft das Thema Gesundheit auf die G20-Agenda gesetzt und haben auch andere dazu ermutigt, dieses Thema weiterzuverfolgen. Ich glaube, wir können heute sagen, dass wir eine gestärkte Weltgesundheitsorganisation haben, die ja der Treiber der Entwicklung sein muss, und dass auch die Kompetenz des Chefs oder der Chefin der Weltgesundheitsorganisation besser geworden ist, wenn es darum geht, auf die regionalen Organisationen einwirken zu können. Ich glaube, wir sollten auf diesem Gebiet weitermachen. Ich weiß, dass Herr Ganten hier unter uns ist, der sich auch ganz wesentlich engagiert. Das Entwicklungsministerium tut das auch. Jens Spahn tut das als Gesundheitsminister genauso, wie es Hermann Gröhe getan hat. Wir vom Kanzleramt tun es. Wir haben uns mit Norwegen und mit Ghana Verbündete gesucht, die auch immer wieder auf der UN-Ebene gemeinsam auftreten. So können wir uns gerade auch mit Blick auf das Gesundheitsziel in besonderer Weise engagieren. Wir versuchen auch unsere Zusammenarbeit mit Afrika etwas strukturierter zu organisieren. Dazu haben wir während unserer G20-Präsidentschaft die Initiative „Compact with Africa“ gegründet – „with“ Africa, also „mit“ Afrika; und nicht „in“ Afrika oder „für“ Afrika. In der nächsten Woche werden wieder Vertreter der inzwischen mehr als zehn Compact-Länder hier in Deutschland zu Gast sein, obwohl wir nicht die G20-Präsidentschaft innehaben. Aber wir versuchen, gerade auch mit internationalen Organisationen – mit dem IWF, mit der Weltbank – eng zusammenzuarbeiten. Worum geht es bei dieser Initiative? Es geht darum, private Investitionen zu fördern und Ländern, die eine gute Regierungsführung haben oder ihre Regierungsführung verbessern, bessere Konditionen zu bieten, damit sich ausländische Investoren für Investitionen in diesen Ländern interessieren. Das heißt also, es gibt einen klaren Aufgabenkatalog, was transparentes Schuldenmanagement, ordentliche Finanzen, vernünftige Arbeit im gesamten Geldbereich, im Bankenbereich, anbelangt. Und im Gegenzug versuchen wir, dafür zu sorgen, dass Investitionen nach Afrika fließen. Das sollen auch nachhaltige Investitionen sein. Entwicklungshilfe ist das eine, aber wir müssen – das wird die Arbeit der nächsten Jahre aus meiner Sicht ganz wesentlich bestimmen müssen – über eine Brücke von der klassischen früheren Entwicklungshilfe hin zu mehr privatwirtschaftlichem Engagement einen Weg finden. Ich nenne als Beispiel die Initiative des „Grünen Knopfs“, die auf eine Stärkung der Produktion vor Ort im Textilbereich abzielt. Wenn man sich überlegt, was die GIZ zu einem großen Teil macht, dann ist es, an der erwähnten Brücke zu arbeiten, um zu nachhaltigen Wertschöpfungsketten in den betreffenden Ländern zu gelangen. Aber Sie alle wissen das natürlich, weil Sie hier ja mehr oder weniger vom Fach sind. Das heißt, wir müssen den Weg von der Entwicklungshilfe zu wirtschaftlicher Produktion auch wirklich gehen. Da bitte ich wiederum alle darum, dass wir nicht aufeinander neidisch sind, dass wir uns nicht gegeneinander ausspielen. Jeder weiß, dass es der Entwicklungshilfe im klassischen Sinne bedarf und dass sie unabdingbar ist. Allen Organisationen, die in diesem Bereich arbeiten – Brot für die Welt, MISEREOR und vielen anderen mehr –, danke ich herzlich. Aber auf der anderen Seite ist es auch so, dass Trainingsprogramme zum Beispiel für Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten wollen, natürlich nicht abgebrochen werden dürfen, wenn wir unser Wissen weitergegeben haben, das aber nicht unbedingt an die Gegebenheiten vor Ort angepasst ist. Es kann ja nicht sein, dass sie, wenn sie nach Hause gehen und ihre klassische Landwirtschaft sehen, dann nicht wissen, was sie da mit dem neu Gelernten schaffen sollen. Das heißt, das Angepasste, das dann auch Weiterführbare, ist sehr wichtig. Man kann auch nicht jedem afrikanischen Jugendlichen sagen: Gründe dir einmal dein eigenes Start-up; du wirst schon irgendwie durchkommen. – Das geht mit Sicherheit auch nicht. Nun wissen wir, dass Geld allein nicht reicht. Wirtschaftliche Entwicklung steht und fällt mit Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten. Deshalb wollen wir mit der „Sonderinitiative Ausbildung und Beschäftigung“ dafür sorgen, dass wir zusätzlich 100.000 Arbeitsplätze und 30.000 Ausbildungsplätze bekommen. Wir arbeiten also weiter an der angesprochenen Brücke. Ein ganz wesentlicher Faktor sind in diesem Prozess natürlich die Frauen. Frauen müssen in allen Bereichen Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen bekommen. Oft gehen sie mit gesellschaftlichen oder materiellen Ressourcen sogar sorgsamer um, weil der Gedanke an die Kinder, an die Familie, im Vordergrund steht. Meine Damen und Herren, Helen Clark, die ehemalige neuseeländische Ministerpräsidentin, hatte 2018 mit einer Expertengruppe den Peer Review zur Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie erarbeitet. Darin heißt es – das hat sie ermutigend geschrieben –: „Wenn Deutschland es nicht schafft, wer dann?“ Diese rhetorische Frage drückt zweifellos eine besondere Erwartung an Deutschland aus, eine treibende Kraft bei der Umsetzung der Agenda 2030 zu sein. Viele Länder schauen auch auf uns. Wir tragen Verantwortung, weil wir auf der einen Seite Industrienation sind – und damit auch Verursacher von vielen Schwierigkeiten, die wir heute haben, zum Beispiel beim Klimawandel, aber auch beim Artensterben – und weil wir auf der anderen Seite über Mittel und Möglichkeiten verfügen, zu zeigen, dass Klimaschutz und Wirtschaftswachstum, Artenschutz und Wirtschaftswachstum zusammengehen können. Wir wissen, dass wir es in einigen Bereichen geschafft haben, Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum zu entkoppeln – leider nicht in allen Bereichen. Einer unserer schwierigsten Indikatoren ist zum Beispiel der Landverbrauch. Da haben wir noch keine Entkopplung vom Wirtschaftswachstum, während wir das beim Energieverbrauch schon geschafft haben. Deshalb müssen wir solche Fragen in der Nachhaltigkeitsstrategie miteinander bearbeiten. Als Bundesregierung müssen wir Nachhaltigkeit in allen Politikbereichen verankern. Unsere Nachhaltigkeitsstrategie wurde im November letzten Jahres aktualisiert. Der nächste Schritt wird Ende 2020 erfolgen. Wir können das nur, weil wir eng mit der Zivilgesellschaft, mit den Wirtschaftsverbänden sowie mit den Ländern und Kommunen zusammenarbeiten. Deutschland als föderales Gebilde muss auf allen Ebenen gleichermaßen agieren. Deshalb sind Dialogkonferenzen von großer Bedeutung. Ich kann nur begrüßen, dass auch die künftige Kommissionspräsidentin nicht nur im Bereich Klimaschutz, sondern auch im Bereich Nachhaltigkeit einen Schwerpunkt setzen will. Wir werden während unserer deutschen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 genau diesen Themen besonders viel Platz einräumen. Meine Damen und Herren, die Wahrheit ist, dass jeder und jede Einfluss auf das hat, was zum Schluss eine nachhaltige Welt ermöglicht. Oft denken Menschen, dass ihr kleiner Beitrag nicht ausreicht oder vielleicht nicht wichtig sei. Wir wissen aber auch, dass die individuelle Kraft, die individuelle Kaufentscheidung, die individuelle Lebensentscheidung in der Summe viel ausmachen kann. Deshalb ist es so wichtig, dass Menschen ermutigt werden. Deshalb freue ich mich, dass heute mit Toni Garrn, Sara Nuru, Britta Steffen und Felix Finkbeiner vier Botschafter unter uns sind, die für die Nachhaltigkeitsziele werben, die motivieren, die durch den eigenen Beitrag zeigen: Es geht. Deshalb möchte ich Ihnen ganz, ganz herzlich für Ihre Arbeit danken. Ich glaube, Sie treffen auch auf viele Bürgerinnen und Bürger, die selber schon motiviert sind. Es gibt so viele Initiativen und Organisationen, die Vorbilder sind. Dieses Engagement konstruktiv sichtbar zu machen, ist ein weiterer notwendiger Schritt. Manchmal ist es ja ein bisschen zum Verzweifeln: Die negative Botschaft dringt sofort durch, die positive braucht etwas länger. Deshalb sollten wir uns in unserer Gesamtdiskussion auch gegenseitig ermuntern. Wir alle haben auch nur ein Leben; und wir können uns natürlich jeden Tag sagen, wie schrecklich dieses und jenes ist, aber wir können auch jeden Tag sagen: Das ist noch nicht okay, aber wir arbeiten daran, dass es morgen besser wird. Manchmal habe ich die Sorge, dass wir uns durch zu viel negative Wahrnehmung in dem, was wir eigentlich erreichen könnten, blockieren könnten. Deshalb ermutige ich zu einem positiven Ansatz, mit dem wir nichts schönreden, aber an die Kraft des Einzelnen glauben. Da wir uns vor wenigen Tagen an den Mauerfall vor 30 Jahren erinnert haben, will ich noch sagen: Damals hatte auch keiner so richtig daran geglaubt, dass das einmal passieren kann. Ich war mir jedenfalls nicht sicher – um das einmal vorsichtig zu sagen –, vielmehr lief meine Planung eher darauf hinaus, dass ich mir mit 60 in der alten Bundesrepublik einen Reisepass hole und dann um die Welt reise. Doch der Mut vieler Einzelner, die Tatsache, dass Einzelne ein Anliegen und plötzlich ihre Stimme gefunden hatten, hatte aber etwas schier Unmögliches möglich gemacht. Mit diesem Vertrauen, dass Veränderung möglich ist, sollten wir an die Dinge herangehen. Herzlichen Dank, dass ich heute an diesem wichtigen Abend dabei sein durfte.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters beim Forum Kultur- und Kreativwirtschaft
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-beim-forum-kultur-und-kreativwirtschaft-1691320
Wed, 13 Nov 2019 11:45:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Manchmal verrät schon die Sprache, dass der Raum für Kreativität, für revolutionäre Ideen, für bahnbrechende Veränderungen überschaubar ist. Ein schönes Beispiel ist das Wort „Innovationsmanagement“, das mir gelegentlich in der Zeitung oder in der Veranstaltungswerbung begegnet. Wikipedia definiert „Innovationsmanagement“ als – ich zitiere – die systematische Planung, Steuerung und Kontrolle von Innovationen in Organisationen“, und das Gabler Wirtschaftslexikon subsumiert darunter „Innovationspolitik“, „Innovationsplanung und –kontrolle“, „Innovationsführung“, „Innovationsorganisation“ und „Innovationsführungskräfteentwicklung“. Puh …! Planung, Steuerung, Kontrolle, Führung, Organisation, Entwicklung … das riecht für mich eher nach Verwaltung als nach Revolution. Nun sagt man Ministerien zwar eine Kernkompetenz in Sachen Verwaltung nach, meine Damen und Herren, aber deren Ausübung beschränkt sich in der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft auf die Organisation und Finanzierung der Unterstützungsangebote für Unternehmerinnen und Unternehmen. Mit „ministeriellem Innovationsmanagement“ werden wir Sie gewiss nicht behelligen. Vielmehr wollen wir – mein Haus in Kooperation mit dem Bundeswirtschaftsministerium – im Rahmen der Initiative einen Nährboden für Innovationen schaffen: einen Boden, in dem Ihre Ideen, so verwegen sie auch sein mögen, wurzeln, wachsen und gedeihen können. Wir unterstützen Sie dabei, mit Ihren Ideen ökonomisch erfolgreich zu sein: durch Beratungsangebote etwa im Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft, dessen Träger, das u-Institut, tolle Arbeit leistet; durch Möglichkeiten der Netzwerkpflege wie bei der heutigen Veranstaltung; und nicht zuletzt mit Starthilfe in der wichtigsten Währung des Informationszeitalters – nämlich mit öffentlicher Aufmerksamkeit für 32 Kultur- und Kreativpiloten im Rahmen des gleichnamigen Wettbewerbs. Von ihren im besten Sinne gewagten Ideen habe ich mir gestern bei einem Empfang im Bundeskanzleramt ein Bild machen können – Ideen, bei denen man sofort erkennt, dass sie nicht das Ergebnis von Innovationsmanagement, von „systematischer Planung, Steuerung und Kontrolle“ sind, sondern von Neugier, Kühnheit und Fantasie, von der Lust, der Macht der Gewohnheit Aufbruchsstimmung und Experimentierfreude entgegen zu setzen, ganz nach dem Motto: „Arbeite nur, wenn Du das Gefühl hast, es löst eine Revolution aus.“ Dieser schöne Satz von Joseph Beuys mag gesamtgesellschaftlich eher ungesund anmuten. Irgendjemand muss sich ja doch auch um Verwaltung kümmern; und selbst Revolutionäre schätzen Tradition und Verlässlichkeit, wenn es um ihre Frühstücksbrötchen oder, sagen wir, den Fahrplan der Deutschen Bahn geht. Doch er bringt auf den Punkt, warum Kreative, warum Künstlerinnen und Künstler für eine Gesellschaft nicht weniger wichtig sind als Bahn und Bäcker; warum eine Gesellschaft die Kultur- und Kreativwirtschaft ebenso braucht wie die Nahrungsmittel- und die Mobilitätsbranche. Denn es sind die Visionäre und Provokateure, die Querdenker und Gegen-den-Strom-Schwimmer, die das Neue in die Welt bringen. Das muss nicht immer gleich die Weltrevolution sein. Die kleinen Revolutionen im Denken, im Wahrnehmen, im Empfinden, im Bewusstsein sind es, die jeder kleinen und großen gesellschaftlichen Veränderung vorausgehen. In diesem Sinne tragen Kunst und Kultur den Keim des Revolutionären in sich; in diesem Sinne inspirieren und verführen Unternehmerinnen und Unternehmer der Kultur- und Kreativwirtschaftsbranche auch andere Unternehmen, unbekanntes Terrain zu erschließen; und bisweilen nötigen sie jene, die es sich in der eigenen Gewinn- und Komfortzone allzu gemütlich eingerichtet haben, zu neuen Ufern aufzubrechen. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass Fleischproduzenten mal mit fleischloser Wurst um die Gunst von Vegetariern und Veganern buhlen würden – oder dass Autokonzerne, die eigentlich möglichst viele Autos verkaufen wollen, plötzlich den Carsharing-Markt erobern? Carsharing und fleischlose Wurst: Das sind Einfälle, die man vor nicht allzu langer Zeit noch als Spinnereien abgetan hätte… so wie heute vielleicht die Idee, essbare Löffel aus Hirse oder Gerste anzubieten oder einen Online-Shop für Kinderspielsachen aufzubauen, die nicht den gängigen Familien- und Geschlechterrollenklischees entsprechen, um nur zwei Beispiele zu nennen, die mir gestern beim Empfang der Kultur- und Kreativpiloten im Kanzleramt gefallen haben. Spätestens wenn große Unternehmen aus ökonomischen Gründen nachahmen, was die kleinen mit Neugier und einem guten Schuss Idealismus vorgemacht haben, ist klar: Hier schreibt eine Idee Erfolgsgeschichte. Ein Land, das seinen Wohlstand der Technologieführerschaft in vielen Bereichen verdankt, ein Land, das im globalen Wettbewerb den Anschluss nicht verlieren will, ein Land, das dabei auch Verantwortung übernehmen will für eine bessere Welt – Stichwort: Umwelt- und Klimaschutz! -, ein solches Land braucht diese Erfolgsgeschichten. Und dafür braucht es Vordenker und Revolutionäre, braucht es die Kernkompetenzen der Kultur- und Kreativwirtschaft. Deshalb freue ich mich über die beeindruckenden Zahlen im Monitoring-Bericht zur Kultur- und Kreativwirtschaft 2019; deshalb freue ich mich zu sehen, wie diese Branche prosperiert (… und das ganz ohne Innovationsmanagement!). Damit das so bleibt, müssen wir vor allem Freiräume sichern: finanziellen Freiraum, um abseits des Mainstreams unterwegs zu sein und das Risiko des Scheiterns eingehen zu können, aber auch geistige Freiheit: Experimentierfelder fernab von Planung, Steuerung und Kontrolle und ein gesellschaftliches Klima der Offenheit für Neues, eine Willkommenskultur für Innovationen gewissermaßen. Das ist auch und insbesondere eine Frage der rechtlichen Rahmenbedingungen: Kreative brauchen und verdienen zum einen die verlässliche Rückendeckung der Solidargemeinschaft, eine soziale Absicherung, wie wir sie in Deutschland mit der Künstlersozialversicherung etabliert haben. Auch sie muss mit gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt halten: Deshalb prüft die Bundesregierung gerade, inwieweit digitale Plattformen einbezogen werden können, die künstlerische und publizistische Leistung kommerziell verwerten. Zum anderen – ich betone es gebetsmühlenhaft seit Jahren, weil es im digitalen Zeitalter leider vielfach kein Bewusstsein für den Wert geistiger Leistung mehr gibt – zum anderen müssen Kreative von ihrer Leistung leben können; und damit meine ich nicht nur: knapp überleben! Die in diesem Jahr endlich verabschiedete europäischen Urheberrechtsreform darf man mit Fug und Recht als Kern einer an diesem Grundsatz orientierten Wirtschaftsordnung für die Kultur- und Kreativwirtschaft im digitalen Zeitalter bezeichnen. Sie regelt (auch wenn die öffentliche Debatte sich vor allem darauf konzentrierte) nicht nur die urheberrechtliche Verantwortung digitaler Plattformen, sondern enthält – neben zahlreichen anderen Verbesserungen im Sinne kultureller und medialer Vielfalt – auch zahlreiche Neuerungen im Urhebervertragsrecht, die die Position der Kreativen gegenüber den Verwertern stärken und für die auch ich mich stark gemacht habe: zum Beispiel den Grundsatz der angemessenen Vergütung, orientiert an der deutschen Regelung, und das Recht Kreativer, regelmäßig über Erlöse aus ihren Werken informiert zu werden. Vor allem aber ist es ein großer Fortschritt, dass es in einer globalisierten Welt, in der grenzüberschreitende Zusammenarbeit längst gang und gäbe ist, nun endlich europaweit einheitliche urhebervertragliche Regelungen gibt. Last but not least will ich noch erwähnen, dass in meinem Kulturetat auch Fördermittel bereitstehen, die guten Ideen national und international zum Durchbruch verhelfen sollen. So fördern wir beispielsweise das mehrsprachige Portal „touring artists“, das der Qualifizierung international tätiger Kreativer dient. Sie erhalten hier Informationen zu steuerlichen, sozialrechtlichen, versicherungsrechtlichen und administrativen Fragen. Ein weiteres Beispiel ist das Projekt „Kreativ-Transfer“, das es kleinen Unternehmen und Solo-Selbstständigen aus den Teilbranchen Darstellende Künste, Kunstmarkt und Games ermöglicht, Kontakte ins Ausland zu knüpfen und neue Märkte zu erschließen. Finanzielle Unterstützung, soziale Absicherung und eine faire Beteiligung Kreativer an den Erträgen schöpferischer Leistung auch in der digitalen Welt: All das ist unverzichtbar, wenn aus originellen Ideen erfolgreiche Geschäftsmodelle werden und revolutionäre Veränderungen der ganzen Gesellschaft zugutekommen sollen. All das reicht aber nicht aus. Alles Geld der Welt nützt nichts, wenn Experimentierfreude in einem Klima der Angst verkümmert, wenn Mut und Neugier zwischen verhärteten Fronten und Mauern aus Vorurteilen zerrieben werden, wenn jede Fantasie erstickt in der geistigen Enge, die durch Ausgrenzung des (vermeintlich) Fremden entsteht. Innovationen zu fördern heißt deshalb auch: politischen Kräften, die aus Hass, Hetze und Fremdenfeindlichkeit für sich Profit zu ziehen versuchen, beherzt entgegen zu treten – sei es in der Politik oder in den sozialen Medien, sei es auf öffentlichen Plätzen oder im privaten Kreis. Sie, liebe Unternehmerinnen und Unternehmer der Kultur- und Kreativwirtschaft, kann ich darüber hinaus nur darin bestärken, neugierig zu bleiben und sich nicht entmutigen zu lassen von Kleingeistern und Bedenkenträgern. Fantasie und Vorstellungskraft können immer wieder im wahrsten Sinne des Wortes Mauern zum Einsturz bringen. Wer wüsste das besser als wir Deutschen, die wir vor ein paar Tagen den 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution gefeiert haben – den Triumph von Menschen, die neben Kühnheit und Kampfgeist vor allem eines besaßen: eine Vorstellung von einem besseren Leben, von einer besseren Welt. In diesem Sinne: Kultivieren Sie weiterhin Fantasie und Vorstellungskraft, bewahren Sie sich – frei nach Joseph Beuys – die Überzeugung, dass Ihre Arbeit eine Revolution auslöst und schreiben Sie damit Erfolgsgeschichten!
In ihrer Rede würdigte die Staatsministerin die Unternehmerinnen und Unternehmer der Kultur- und Kreativwirtschaftsbranche unbekanntes Terrain zu erschließen. „Die kleinen Revolutionen im Denken, im Wahrnehmen, im Empfinden, im Bewusstsein sind es, die jeder kleinen und großen gesellschaftlichen Veränderung vorausgehen“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Teilnahme am Deutschen Arbeitgebertag 2019 am 12. November 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-teilnahme-am-deutschen-arbeitgebertag-2019-am-12-november-2019-in-berlin-1691076
Tue, 12 Nov 2019 00:00:00 +0100
keine Themen
Sehr geehrter, lieber Herr Kramer, sehr geehrte Präsidenten der Wirtschaftsverbände, Herr Hoffmann, Herr Hundt, sehr geehrte Gäste und Mitglieder der BDA, guten Morgen erst einmal und herzlichen Dank für die Einladung. Ich bin die Erste in einem langen Reigen politischer Repräsentanten heute und möchte zuallererst Herrn Kramer zu seiner Wiederwahl gratulieren. Herzlichen Glückwunsch. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit, weil Sie wirklich leben, was hier auch auf der Wand steht: „Brücken bauen.“ – Dafür ein ganz herzliches Dankeschön, denn ich kann mir vorstellen: Auch bei Ihnen ist sozusagen der Druck – angesichts der zum Teil immer weiter eskalierenden Sprache –, mal ein bisschen auf den Putz zu hauen, nicht verschwindend klein, sondern man wird Ihnen manchmal auch sagen: Nun hau doch mal richtig rein. Dass Sie trotzdem immer wieder in der gebotenen sachlichen Art herangehen – und wir trotzdem zuhören –, Herr Kramer, ist Ihre Stärke und zeichnet Sie aus. Meine Damen und Herren, wenn wir hier in der Sonnenallee sind, in diesem nicht nur gemütlichen, aber offensichtlich ganz praktischen Gebäude, lieber Steffen Kampeter, dann erinnert uns das daran, dass wir vor drei Tagen den 30. Jahrestag des Mauerfalls gefeiert haben. Ich persönlich habe unweit von hier, in Adlershof, mein forscherisches Leben als Physikerin verbracht, bin damals von der Friedrichstraße – sozusagen immer an der Mauer entlang – bis Adlershof gefahren. Dass wir heute ein wiedervereinigtes Land sind, ist ein großes Glück. Und dass die Soziale Marktwirtschaft dazu beigetragen hat, dass die Deutsche Einheit in weiten Teilen gelungen ist, zeigt, was für eine klasse Marke das ist. Allen, die dazu beigetragen haben, möchte ich noch einmal ein herzliches Dankeschön sagen. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der neuen Länder hat sich zwischen 1991 und 2018 mehr als verdoppelt. Die Arbeitslosigkeit beträgt heute nur noch ein Drittel des Wertes von 2005. Wir haben in Thüringen, Sachsen und Brandenburg geringere Arbeitslosenraten als in Nordrhein-Westfalen. Wir haben als großes Thema – selbst in meinem Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern – den Fachkräftemangel, aber nicht mehr so sehr das Thema Arbeitslosigkeit. Wir hatten Zeiten, da waren wir über 20 Prozent gewohnt. Heute ist das schon wesentlich besser. Thüringen hat die höchste Industriedichte mit Unternehmen von zwanzig und mehr Beschäftigten. Es ist also vieles entstanden. Wir alle wissen aber: es bleibt auch vieles zu tun, denn das Ablegen einer Diktatur und der Aufbruch in die Freiheit sind etwas, das auch Biografien durcheinanderbringt. Deshalb müssen wir in Ost und West vor allen Dingen weiter im Gespräch miteinander bleiben. Und allen, die das tun, ein herzliches Dankeschön dafür. In der Zeit, in der sich die Deutsche Einheit vollzogen hat und die europäische Einigung vorangegangen ist, ist aber auch vieles andere auf der Welt passiert. Das Jahr 1989 hat nicht nur bei uns in Europa die Welt verändert. 1989 machte das chinesische Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zum amerikanischen 8,8 Prozent aus, heute sind es 66 Prozent. Sie sehen also, wie sich die Kräfteverhältnisse auf der Welt verändert haben und dass wir auch in einen Wettbewerb der Systeme gekommen sind. Wir dachten 1989, das sei der endgültige Siegeszug der Freiheit, der sich einfach so fortentwickeln würde. Aber wenn man ehrlich ist, stellt man heute fest, dass sehr unterschiedliche politische Systeme wie das chinesische, das amerikanische und das europäische miteinander im Wettbewerb stehen. Und das heißt natürlich, dass auch wir herausgefordert sind. Diese Herausforderung richtet sich an Deutschland, sie richtet sich an ganz Europa. Sie haben eben – und das hat mir sehr gut gefallen – auch auf diese Veränderungen hingewiesen, auf die multipolare Ordnung und auf die Tatsache, dass es keine Rechtsansprüche auf Wohlstand gibt. Das ist im Übrigen auch eine Lehre der Deutschen Einheit. Das haben wir, die wir in der ehemaligen DDR gelebt haben, hautnah erfahren, denn es war ja nicht die böse Treuhandanstalt, sondern der ökonomische Bankrott, der schon von Herrn Schürer vom Politbüro konstatiert worden war, der uns in diese schwierigen Anfangsphasen gebracht hat. Sie haben also darauf hingewiesen, dass auch in diesen Zeiten einer multipolaren Ordnung, eines neuen Kampfs und Wettbewerbs der Systeme der gesellschaftliche Zusammenhalt die Voraussetzung für die Lösung grundsätzlicher Fragen ist. Im Grunde wird durch die Erfordernisse der Wettbewerbsfähigkeit und des gesellschaftlichen Zusammenhalts die gesamte politische Debatte getrieben; und auch durch zwei große Herausforderungen: auf der einen Seite die Digitalisierung, die unsere Art zu arbeiten völlig verändert – Sie wissen das aus Ihrer Praxis –, und auf der anderen Seite die große Menschheitsherausforderung des Klimawandels. Lassen Sie mich an dieser Stelle, weil das ja sonst nicht die Urkompetenz der BDA ist, nur ein Wort sagen: Sie sagen, man darf Klimaschutzmaßnahmen nicht übers Knie brechen. Das ist sicherlich richtig. Aber auf der anderen Seite sagen uns Hunderte, wenn nicht Tausende von Wissenschaftlern: Ihr habt nur ein bestimmtes Budget an CO2-Emissionen, die ihr emittieren könnt; ansonsten werdet ihr eine Erderwärmung haben, die deutlich über 2 Grad Celsius liegt. Was das dann an Schäden und Auswirkungen für unsere Wirtschaftsweise bedeutet, ist schwer vorauszusagen. Auf jeden Fall gehen wir dann mit großer Wahrscheinlichkeit in eine Zukunft, angesichts derer wir nicht sagen können: Ach ja, wir wollten es nicht übers Knie brechen; und es sollte ein bisschen länger dauern. – Und das ist unser Problem an dieser Stelle. Deshalb ist der Kohleausstieg richtig. Ich möchte mich auch dafür bedanken, dass Sie da – den Dank richte ich auch an Herrn Hoffmann vom DGB – wirklich auch beruhigend mitgewirkt haben. Das war ja keine simple Veranstaltung. Aber die Feststellung lautet: Wir sind ein Prozent der Weltbevölkerung, erzeugen aber zwei Prozent der CO2-Emissionen. Davon müssen wir runterkommen. Und die Frage stellt sich: Wie schnell muss ein hochentwickeltes Land wie Deutschland eigentlich beispielgebend sein? Ich unterstütze Ursula von der Leyen, wenn sie sagt: Der europäische Kontinent sollte der erste sein, der klimaneutral wird und der technologisch und innovationsmäßig vormacht, wie man die zukünftige Art des Wirtschaftens erreichen kann. Und das treibt uns ein bisschen an mit Blick auf die Zeitachse. Das müssen Sie auch sehen. Wir leben also in einer multipolaren Welt. Und auf dieser Welt scheinen wir uns – ich bin darüber sehr besorgt, will ich ganz offen sagen – immer mehr in protektionistische Spannungen zu begeben, anstatt kooperativ zusammenzuarbeiten. Als wir die große Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 hatten, ist die G20 auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs als ein Forum entstanden, um zu sagen: Wir müssen als große Industrieländer zusammenarbeiten; dann können wir diese Krise bewältigen. Diese Lehre war aber nicht nachhaltig, sondern wir sind im Augenblick eigentlich auf dem Rückzug. Die Frage ist: Wie bringen wir uns dagegen ein? Denn wir sind unmittelbar betroffen. Wir haben eine Schwächephase der Konjunktur. Das mag mit Zyklen zusammenhängen, das mag auch mit den Herausforderungen zusammenhängen, vor denen wir in Deutschland stehen – dazu komme ich noch –, aber es hängt auch damit zusammen, dass in der Welt große Unsicherheiten bestehen. Das betrifft das Handelsverhältnis zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und China und auch den Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union, wobei ich Ihre Meinung teile, dass wir den Vertrag auf beiden Seiten noch nicht rechtskräftig ausgestaltet haben. Aber ich räume diesem Vertrag eine sehr große Chance ein, dass er auch auf der britischen Seite Zustimmung finden wird. Das wäre für uns alle gut. Warum ist das jetzt mit Großbritannien gelungen? Es ist deshalb gelungen, weil klarer wurde, was Großbritannien will. Das ist einerseits eine schmerzhafte Mitteilung: keine Zollunion, ein Leben als Drittstaat, im Grunde als Wettbewerber vor unserer Haustür. Dessen müssen wir auch gewahr sein; das wird uns noch einmal unter Druck setzen. Aber auf der anderen Seite stehen eben rechtskräftige Übergangsbestimmungen und die Aushandlung eines Freihandelsabkommens. Das ist die Aufgabe, vor der wir dann stehen. Wir müssen jetzt also stark bleiben. Wir haben eine lange Wachstumsphase hinter uns. Das Armutsrisiko hat abgenommen, und zwar vor allem dadurch, dass die Zahl der Arbeitskräfte angestiegen ist. Ich will auch ganz deutlich sagen, weil immer wieder der Eindruck erweckt wird, trotz der hohen Beschäftigungsrate sei das Armutsrisiko so groß wie früher: Das ist nicht der Fall. Aber es kommt jetzt darauf an, diesen hohen Grad an Beschäftigung zu erhalten. Daher ist es auch richtig, dass wir, wie Sie gesagt haben, nicht nur die schwarze Null erreichen, also ohne neue Schulden auskommen, sondern auch insgesamt die Maastricht-Kriterien wieder erfüllen. Das ist im Hinblick auf unsere demografische Entwicklung eine gute Nachricht für die Zukunft. Und ja, dabei hat uns auch die Nullzinspolitik geholfen; das muss man sagen. Aber ich denke, die Geldpolitik wird in ihren Möglichkeiten nicht beliebig dehnbar sein. Die neue EZB-Präsidentin wird uns dazu ja bald etwas sagen. Das bedrängt dann allerdings den politischen Bereich, auch wieder etwas für Wettbewerbsfähigkeit und Investitionen zu tun. Die Bundesregierung will an der soliden Haushaltspolitik festhalten. Und ich denke, die augenblickliche Phase der Wirtschaft spricht auch eher dafür, die Wachstumskräfte zu stärken als jetzt hektische Maßnahmen zu ergreifen. – Das ist auch eine Übereinstimmung zwischen uns beiden. Wir müssen die Marke „Made in Germany“ weiter pflegen. Dabei kommt natürlich auch die Digitalisierung ins Spiel. Hierzu will ich – weil das auch eher ein Thema für den BDI ist – nur eines sagen: Wir alle haben stark an der digitalen Transformation zu arbeiten und daran sehr zu knabbern. Die Bundesregierung tut hier sehr viel, wenn auch aus Ihrer Perspektive zum Teil zu langsam. Aber die Unternehmen sind auch gefordert. Meine Sorge ist, dass die vielen Jahre sehr gut gefüllter Auftragsbücher ein bisschen den Blick dafür verstellt haben könnten, dass ein riesiger technologischer Wandel im Gange ist, und dieses Manko, wenn die Konjunktur abflaut, dann auch sichtbar wird. Deshalb bitte ich um Unterstützung, wenn zum Beispiel der Wirtschaftsminister so etwas wie die Einrichtung einer europäischen Plattform des Datenmanagements vorschlägt, denn wir müssen uns eine gewisse Souveränität in Europa erhalten. Heute haben so viele Unternehmen ihre Daten einfach irgendwohin ausgelagert – an amerikanische Konzerne. Ich will das nicht per se für schlecht halten. Ich will nur sagen: Die Wertschöpfungsprodukte, die mithilfe der künstlichen Intelligenz entstehen, werden uns in Abhängigkeiten bringen, wobei ich nicht sicher bin, ob das gut ist. Deshalb müssen wir uns klar machen: Welche strategischen Fähigkeiten wollen wir behalten? Wenn der Wirtschaftsminister heute kommt, sagen Sie ihm also nicht, dass das sowieso alles teuer wird. Das wird teuer, was einem auch klar wird, wenn man liest, dass 50 Milliarden Dollar in wenigen Konzernen in Amerika in einem Jahr investiert werden, um einfach die Taxonomie der Daten besser zu gestalten und die KI-Algorithmen besser zu entwickeln. Da fragt man sich natürlich: Woher soll diese Investitionskraft kommen, um da mitzuhalten? Die kann sicherlich nicht allein vom Staat kommen. Aber ich glaube, wir haben europäisch immer noch eine Chance, wenn wir mit Frankreich und anderen auch hierbei zusammenarbeiten. Nun aber zurück zu Ihrem Brotgeschäft sozusagen: Die Sozialabgaben wollen und werden wir unter 40 Prozent halten. Wir haben uns im Zusammenhang mit der Grundrente, auf die ich gleich eingehen werde, darauf verständigt, den Arbeitslosenversicherungsbeitragssatz um 0,1 Prozentpunkte auf dann 2,4 Prozent bis 2022 zu senken. Wir haben damit ein kleines bisschen mehr Sicherheitsmarge. Es ist natürlich klar, dass der demografische Wandel die sozialen Sicherungssysteme unter Druck setzt. Deshalb ist eine hohe Beschäftigtenzahl für uns von existenzieller Bedeutung. Wir werden nach jetzigen Prognosen zum Beispiel den Rentenversicherungsbeitragssatz von 20 Prozent bis zum Jahr 2025 nicht überschreiten. Das sind fünf Jahre länger, als frühere Prognosen ausgewiesen haben. Nun zum Thema Grundrente, weil da die Diskussion ein bisschen entglitten ist. Daran hat aber auch die Politik selbst Schuld. Die CDU hat sich unter der früheren Arbeitsministerin Ursula von der Leyen zum ersten Mal dafür eingesetzt, eine Lebensleistungsrente, eine Art Grundrente, einzuführen. Das fanden nicht alle in der Partei gut, es stand aber in unserem Regierungsprogramm. Die erste Legislaturperiode verstrich. Wir haben das Thema dann unter anderem Namen in der zweiten Legislaturperiode, also in der Großen Koalition von 2013 bis 2017, wieder aufgenommen. Und nun sind wir in der dritten Legislaturperiode; und man kann – auch seitens der CDU – wirklich nicht sagen, dass wir keine Grundrente wollten. Nun haben wir das immer „Rente“ genannt und gleichzeitig so getan, als könnten wir es auf die Grundsicherung, die eine Bedürftigkeitsprüfung in umfassendem Sinne mit sich bringt, draufsatteln. Als wir uns dann das ganze Konstrukt überlegt haben, wurde klar: Das würde bedeuten, dass, wenn wir das mit einer Bedürftigkeitsprüfung und zum Beispiel einem zehnprozentigen Aufschlag, wie es im Koalitionsvertrag steht, machen würden, für die gleichen Rentenentgeltpunkte, die jemand gesammelt hat, der eine zum Beispiel in der Uckermark oder in meinem Wahlkreis in Vorpommern ungefähr 200 bis 300 oder sogar 400 Euro weniger Grundrente haben würde, als einer in München, weil dieser durch das unterschiedliche Wohngeld um Hunderte Euro mehr hat. Das hat sich weder als praktikabel noch in der Argumentation als besonders gerecht herausgestellt. Ich habe einen Wahlkreis, in dem die Grundrente dann sehr gering ausfallen würde. Und sie wäre im Verständnis der Leute auch keine Rente, wenn man zum Grundsicherungsamt gehen und dort eine umfassende Bedürftigkeitsprüfung absolvieren müsste. Dann gab es den Vorschlag von Hubertus Heil: Wir machen gar keine Prüfung mehr. – Das geht natürlich überhaupt nicht; das haben jetzt auch alle eingesehen. Wir haben im Sozialrecht eine zweite Art von Bedarfsprüfung. Die wird bei der Witwenrente oder der Hinterbliebenenversorgung und zum Beispiel beim BAföG angewandt. Dabei werden nur die Einkommen überprüft. Und genau dies werden wir machen. Das ermöglicht, in einem automatischen Abgleich zwischen Finanzamt und Rentenversicherung die Leute nicht einer umfassenden Prüfung zu unterziehen. Aber selbst das Ausfüllen von 16 Seiten für die Hinterbliebenenversorgung ist ja ein akzeptiertes Modell. Wir wollen es besser machen, unbürokratischer machen, aber es ist im Grunde der gleiche Mechanismus, den wir jetzt anwenden. Jetzt sage ich Ihnen mit Blick auf den Zusammenhalt der Gesellschaft etwas, wenn es darum geht, wie man Menschen behandelt, die 35 Jahre gearbeitet haben. Die Tatsache, dass wir heute so viele Arbeitskräfte und eine so hohe Beschäftigungsrate haben, hat auch damit zu tun, dass wir jahrelang einen Niedriglohnbereich hatten. Das hat auch damit zu tun, dass das Wirtschaftswachstum nach 2009 jahrelang viel höher ausfiel als die Lohnsteigerungen. Und das alles ist natürlich in die Rentenbiografien eingeflossen. Auch davor gab es einen Niedriglohnbereich; ich stehe dazu. Aber wenn dann das Ergebnis ist, dass Menschen, die 35 Jahre lang gearbeitet haben, genauso dastehen wie der, der keine Stunde lang gearbeitet hat, dann haben Sie ein Gerechtigkeitsproblem; und darauf müssen wir eine Antwort geben. Diese Antwort haben wir jetzt zu geben versucht; und das ist für den Zusammenhalt eine wichtige Sache. So viel dazu; hier hat also keiner den anderen erpresst. Das ist eine sehr wichtige Frage in der Koalition geworden; ja, das ist richtig. Auch für mich ist es eine Glaubwürdigkeitsfrage geworden, da eine Antwort darauf in einer vierten Legislaturperiode mit mir nicht mehr erfolgen kann, weil ich nicht mehr antrete. Aber wenn wir in einer vierten Legislaturperiode vor die Menschen ziehen und sagen würden „Passt mal auf, aber nächstes Mal kommt bestimmt die Grundrente“, würden wir uns irgendwann lächerlich machen. Nun zu der kleinen Gruppe von Dingen, die wir gut gemacht haben. Dazu gehört, dass wir routinemäßig die kalte Progression ausgleichen. Als wir das noch nicht taten, sprach man darüber. Jetzt spricht man darüber nicht mehr. Das ist ja auch der Gegenstand von Politik: dass wir möglichst wenig übriglassen sollen, worüber man sprechen muss. Des Weiteren senken wir den Solidaritätszuschlag. Sie wissen, dass ich da ein etwas schlechtes Gewissen habe; ich hätte gern einen Freibetrag gehabt und keine Freigrenze. Das ist ein Koalitionskompromiss. Wir haben die Gleitzone jetzt etwas erweitert, sodass 96,5 Prozent der Steuerzahler in irgendeiner Weise entlastet werden. Aber viele, die hier sitzen, werden gerade zu den 3,5 Prozent gehören, die eben nicht entlastet werden; ja, das ist leider so. Das schmerzt mich in gewisser Weise, deshalb hätte ich lieber den Freibetrag gehabt. Aber das ist ein Kompromiss; und zu dem stehe ich als gute Bundeskanzlerin. Ich freue mich über Peter Altmaier, der eine Unternehmensteuerreform vorgeschlagen hat. Darüber könnten Sie heute vielleicht noch einmal mit dem Finanzminister sprechen. Vielleicht könnte man wenigstens einige Elemente noch einmal ins Auge fassen, weil ich durchaus glaube, dass sich durch das, was auch in Amerika mit einer Unternehmensteuerreform passiert ist, die Wettbewerbsbedingungen verändert haben, wie auch durch das, was in Frankreich gemacht wurde. Das heißt, hier haben wir durchaus Handlungsbedarf. Es ist nur eben so: Ihnen hilft es ja nichts, wenn Sie wissen, dass ich mir das auch wünsche. Es ist schon so, wie Helmut Kohl immer gesagt hat: Entscheidend ist, was hinten rauskommt. Und insofern müssen wir eben liefern. Was die Bürokratieentlastung angeht, haben wir jetzt ein drittes Bürokratieentlastungsgesetz auf den Weg gebracht. Damit wird unter anderem die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ermöglicht. Auch die elektronische Archivierung von Steuerdaten wird erleichtert. Und wir stehen weiter zum „One in, one out“-Prinzip, das wir übrigens übererfüllt haben. Wenn also eine bürokratische Maßnahme zusätzlich eingeführt wird, muss an anderer Stelle bürokratischer Aufwand im selben Umfang abgeschafft werden. Das haben wir also übererfüllt. Allerdings werden die europäischen Regelungen nicht berücksichtigt. Deshalb ist es eine gute Nachricht – und da werden wir auch in unserer Ratspräsidentschaft mit der Kommissionspräsidentin zusammenarbeiten –, dass Ursula von der Leyen in ihrem Programm angekündigt hat, die gleiche Methode – „one in, one out“ – in der Europäischen Union anzuwenden. Das wird unsere Gesetzgebung verbessern. Meine Damen und Herren, außerdem haben wir die Entsenderichtlinie novelliert. Da verstehe ich, dass Sie sich über den bürokratischen Aufwand sehr aufregen. Wir sind auf allen Kanälen dabei; auch Hubertus Heil. Ich habe kürzlich auch mit dem französischen Präsidenten zum Beispiel über die A1-Bescheinigung gesprochen, die ja wirklich anachronistisch ist, wenn man von einem funktionierenden Binnenmarkt sprechen will. An diesem Thema sind wir also dran; und ich hoffe, dass ich Ihnen in absehbarer Zeit einen Erfolg melden kann. Es ist nur so, dass das immer mit so vielen Nebenbedingungen verknüpft wird. Das Konstrukt als solches ist also schon als unsachgemäß erkannt worden, aber man versucht, da immer noch ein paar andere Sachen zu regeln. Bei der Anrechnung „Wann ist wer für die Arbeitslosenversicherung und die Sozialversicherungsbeiträge insgesamt verantwortlich?“ muss man schon aufpassen, wie das zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten läuft. Und deshalb sind wir da noch nicht auf einen Punkt gekommen. Die Rechtsprechung des EuGH, die uns wieder in die Richtung der Stechuhr führt, ist auch dramatisch. Deshalb werden wir gucken, welche Spielräume wir da haben – die sind nicht groß – oder was man gegebenenfalls noch ändern muss. Und wenn ich Herrn Hoffmann ansehe, sage ich: Wenn wir einmal die Möglichkeit hätten, die Arbeitszeitrichtlinie von Europa 1:1 umzusetzen, wäre das ein Glückstag für mich. Aber wir versuchen es vielleicht erst einmal mit diesen Experimentierräumen, die wir uns vorgenommen haben, die sehr wichtig sind. Wir haben die steuerliche Forschungsförderung eingeführt; eine Sache, die immer gewollt war. – Zwei Menschen, die hier Beifall spenden. Schauen Sie, das geht doch nicht. – Wissen Sie, es hieß immer: Es soll ein Mittelstandsinstrument werden. Deshalb haben wir es auch auf einer bestimmten Höhe gekappt; und nun ist es ein Mittelstandsinstrument geworden. Es gibt auch keine Doppelförderung. Wenn es eine Förderung vom Ministerium gibt, gibt es nur noch die steuerliche Forschungsförderung. Aber egal, wir wollten sie ja haben. Jetzt habe ich heute einen Artikel gelesen: Ja, aber man weiß noch nicht genau, ob es nun wirklich die Mittelständler oder nur die ganz Kleinen betrifft; und die ganz Kleinen hätten aber keine Forschungsabteilung und könnten die Förderung nicht beantragen; und dann ginge dieses nicht und jenes nicht. – Dazu sage ich einfach: Liebe Leute, wir sind Bedenkenträger, aber Sie sind es manchmal auch. Ich meine, man muss es doch jetzt einmal versuchen. Dann gucken wir uns nach drei, vier Jahren an, wie das funktioniert, ob alles Schlimme auftritt, was jetzt befürchtet wird. Dann werden wir es notfalls revidieren. Wir müssen uns sowieso angewöhnen, nicht zu glauben, die Gesetze immer für eine Ewigkeit zu machen, sondern gerade auch in Zeiten solch großer Transformationen wie diesen einfach nach drei, vier Jahren zu gucken: Bewährt es sich, bewährt es sich nicht? Und dann macht man es gegebenenfalls neu. Ich glaube, das ist die beste Vorgehensweise. Wir haben ein Hoch an Investitionen. Wir werden im Übrigen im Zusammenhang mit dem Klimaschutzpaket, das wir verabschiedet haben, auch noch einmal deutlich mehr Investitionen für die nächsten Jahre bekommen. Aber Sie haben vollkommen recht: Die Bürokratie, die Planungsverfahren hemmen uns. Wir haben seitens des Bundes bereits drei Planungsbeschleunigungsgesetze auf den Weg gebracht, zwei allerdings erst letzte Woche im Kabinett. Wir gehen wie folgt vor: Bei großen Vorhaben erarbeiten wir für jedes von ihnen – wir wollen zum Beispiel die Schifffahrt auf der Weser ausbauen – ein Einzelgesetz. Und mit diesem Einzelgesetz versuchen wir die Maßnahmen so festzulegen, dass daraus eine Beschleunigung der Vorgänge entsteht. Das ist der eine Punkt. Ein anderer Punkt ist: Die Verkehrsprojekteplanung zum Beispiel wird ja in den Ländern vorgenommen. Das heißt, wir brauchen zwischen den Bundesländern auch mehr Best-Practice-Vergleiche. Wir wissen zum Beispiel, dass die Genehmigung für die Errichtung einer Windkraftanlage in einigen Bundesländern doppelt so schnell vonstattengeht wie in anderen Bundesländern. Die Länder sollten sich miteinander anschauen, wo ihre Landesplanungsrechte unterschiedlich sind und welche besser und welche schlechter funktionieren. Was den Komplex der Gerichtsverfahren anbelangt, könnte man – das können wir seitens des Bundes machen – eine Ebene herausnehmen, sodass alles sofort zum Bundesverwaltungsgericht geht. Das Bundesverwaltungsgericht sagt natürlich: Wenn wir dann genauso viele Verfahren haben wie die unteren Verwaltungsgerichte, dann sind die Wartezeiten entsprechend länger. Also müssen wir das auf wichtige Projekte beschränken. Aber wir haben noch Spielraum – und daran arbeiten wir jetzt –, die Gerichtsverfahren schneller zu gestalten. Wir haben zum Beispiel den „Pakt für den Rechtsstaat“ geschlossen, um etwa auch die Digitalisierung an den Gerichten zu unterstützen, damit manche Dinge schneller gehen. Das führt mich zu dem Punkt: Wie viel der Transformation einer Gesellschaft – Digitalisierung, Klimaschutz, völlig neue Mobilitätskonzepte, Digitalisierung der Schulen – ist eigentlich Bundesaufgabe und wie viel davon ist die Aufgabe der Länder und Kommunen? Es wird in der öffentlichen Diskussion oft gesagt: Na ja, dies klappt nicht und jenes klappt nicht; das ist irgendwie eine Bundesaufgabe. – Unser Grundgesetz ist aber ganz anders aufgebaut. Der Bund ist eigentlich nur für Dinge zuständig, die enumerativ im Grundgesetz aufgeführt sind. Für alle anderen Dinge sind die Länder und Kommunen zuständig. Das ist die föderale Ordnung. Wir ändern jetzt dauernd das Grundgesetz, weil wir immer neue Verantwortlichkeiten übernehmen: für den sozialen Wohnungsbau, für die Ausrüstung der Schulen mit Computern, für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz und, und, und – weil immer gesagt wird: der Bund muss doch mal was tun, wenn sich die Welt ändert. Der Bund kann aber nicht alles tun, zumal unsere Mehrwertsteuereinnahmen zum ersten Mal – ich weiß nicht, ob jetzt oder in zwei Jahren – geringer sein werden als die der Länder und Kommunen. Deshalb haben wir noch ganz andere strukturelle Probleme – die auch mit Pensionslasten und vielem anderen zu tun haben –, die uns in den nächsten Jahren beschäftigen werden. Ich will Verantwortung nicht wegschieben, ich will nur sagen: Es muss auch Gemeinschaftswerke geben. Deshalb sind wir zum Beispiel in einen strategischen Auto-Dialog auch mit den Ländern eingetreten. Aber dass der Bund per se jede Ladestation in Deutschland bauen sollte und weder die Wirtschaft – die, glaube ich, früher auch irgendwie für die Tankstellen aufgekommen ist – noch die Kommunen und Länder damit etwas zu tun hätten, das kann nicht sein. Das muss ich hier, um mich meiner Haut zu wehren, auch noch einmal sagen. Ich glaube, Sie sind einigermaßen zufrieden mit dem Qualifizierungschancengesetz, das neue Möglichkeiten zur Weiterbildung bietet. Und wir müssen auch über die Frage reden, wie wir mit strukturwandelbetroffenen Bereichen umgehen. Darüber haben wir neulich beim strategischen Auto-Dialog gesprochen und haben uns gefragt: Was haben wir noch an Kurzarbeitsmöglichkeiten? Darüber müssen wir miteinander reden. Ich habe den Eindruck, einige Branchen sind schon sehr vom Strukturwandel und der schwachen Konjunktur betroffen. Wir sind uns einig, dass das Fachkräfteeinwanderungsgesetz eine gute Sache ist. Aber das muss jetzt natürlich auch funktionieren. Deshalb veranstalten wir im Dezember einen Fachkräfteeinwanderungsgipfel, an dem Arbeitgeber, Gewerkschaften und verschiedene Ressorts beteiligt werden. Die Nachricht ist: Wir werden eine gute Zusammenarbeit zwischen den Auslandshandelskammern und dem Auswärtigen Amt bei der Frage der Visaerteilungen haben. Das Auswärtige Amt wird eine Unterbehörde gründen, was für das Auswärtige Amt eine komplette Innovation ist – noch nie hat es im Auswärtigen Amt eine nachgeordnete Behörde gegeben –, die sich dann mit Visaverfahren beschäftigen wird. Die berufsfachliche Eignung müssen die IHKs oder AHKs feststellen, die Visaerteilungen kommen von uns. Und dann können wir, glaube ich, wenn wir auch einige Schwerpunktländer für ein paar Schwerpunktberufe aussuchen, relativ schnell zusammenkommen. Mein letzter Punkt, der uns gemeinsam umtreibt, ist die Frage: Wie können die Arbeitgeberverbände gut mit den Gewerkschaften arbeiten und wie kann die Tarifbindung erhalten bleiben? Ich meine, die Kurve nimmt keinen guten Verlauf; das muss man sehen: Im Osten ist die Tarifbindung deutlich unter 50 Prozent, im Westen ist sie knapp über 50 Prozent, aber permanent fallend. Und man muss sich natürlich fragen: Wie kommt so ein Land dann vielleicht in zehn Jahren zurecht, wenn es im Zuge einer großen Digitaltransformation viel mehr Start-ups und Digitalunternehmen geben wird, die bei ihrer Gründung noch gar nicht an einen Betriebsrat denken? Wo wollen wir hin? Da kann ich Sie nur ermutigen: Führen Sie die Diskussion miteinander, denn sonst kommen wir irgendwann wieder in eine Situation, wie sie vor Einführung des Mindestlohns herrschte, in der staatsinterventionistische Eingriffe, wie Sie das nennen würden, oder ein notwendiges Handeln des Staates zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, wie Herr Hoffmann das nennen würde, zum Einsatz kommen. Auf jeden Fall – rum wie num – bleibt es ein Gesetz. Und ich finde: die große Stabilität der Bundesrepublik Deutschland, in die ich ja vor 30 Jahren als aktives Mitglied eingetreten bin, beruht darauf, dass die Politik nicht alles bestimmt. Sie hat ihre Aufgaben zu erledigen. Wir nehmen in der Politik Kritik ernst. Aber diese Stabilität rührt daher, dass es eben auch außerhalb der Politik Menschen gibt, die ebenfalls Verantwortung übernehmen. Wir haben in der großen Eurokrise gesehen, wie unterschiedlich das Gewerkschaftsverständnis in Europa ist und wie unterschiedlich das Betriebsverständnis der Unternehmer ist. Da, wo Gewerkschaften und Unternehmen gemeinsam nach Lösungen suchen – so hart es auch sein mag –, ist der Zusammenhalt per se besser geregelt. Deshalb wünsche ich Ihnen Erfolg bei Ihren Beratungen, denn da, wo Sie mit einem gemeinsamen Vorschlag zu uns kommen, ist das Gesetz in der Großen Koalition ruckzuck geschrieben. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Würdigung des Trägers des Nationalen Integrationspreises am 11. November 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-wuerdigung-des-traegers-des-nationalen-integrationspreises-am-11-november-2019-in-berlin-1690922
Mon, 11 Nov 2019 14:47:00 +0100
Berlin
Integrationsbeauftragte
Lieber Herr Kiefer, ich gratuliere Ihnen und allen, die an dem Projekt mitgearbeitet haben, ganz herzlich zum Nationalen Integrationspreis. „IQ – Apotheker für die Zukunft“ – so heißt das wunderbare Projekt. Es zeigt, wie Integration gelingen kann. Es zeigt vor allen Dingen auch, wie wertvoll es ist, wenn Geflüchtete ihr Wissen und ihr Können bei uns auch wirklich anwenden können. Denn da ist ja viel vorhanden. Aber das muss natürlich erst ein bisschen an die deutschen Gewohnheiten adaptiert werden. Aus diesen Möglichkeiten ergibt sich dann ein Mitgestalten. Wie wir gesehen haben, ermöglichen Sie es Menschen, in ihrem erlernten Beruf als Apothekerinnen und Apotheker hier in Deutschland Fuß zu fassen. Ich habe mir sagen lassen: Sie tun das mit einer sehr hohen Erfolgsquote. Denn alle, die an diesem Projekt teilgenommen haben, arbeiten mittlerweile in öffentlichen Apotheken oder in Krankenhaus-Apotheken. Das ist ein toller Erfolg. Jeder von uns weiß ja, welche Bedeutung die Apotheke vor Ort hat. Viele der von Ihnen unterstützten Apotheker arbeiten auf dem Land in relativ strukturschwachen Regionen. Das kann auch dazu beitragen, dass die Apotheke vor Ort nicht schließen muss. Das ist für viele Menschen sehr wichtig. Ich glaube, wir haben hier auch ein Projekt, das sich multiplizieren lässt. Ich kenne auch noch Regionen außerhalb von Rheinland-Pfalz, die strukturschwach und ländlich sind. Das heißt, es sprechen viele gute Gründe dafür, dass die Jury hier – ich sage meinen Glückwünsch dazu – eine überzeugende Wahl getroffen hat.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung des Nationalen Integrationspreises am 11. November 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verleihung-des-nationalen-integrationspreises-am-11-november-2019-in-berlin-1690916
Mon, 11 Nov 2019 14:16:00 +0100
Berlin
Integrationsbeauftragte
Sehr geehrte Frau Staatsministerin, liebe Annette Widmann-Mauz, sehr geehrte Mitglieder der Jury, sehr geehrte Gäste und Projektteilnehmer, meine Damen und Herren, ich möchte Sie alle ganz herzlich im Bundeskanzleramt willkommen heißen. Wir verleihen heute schon zum dritten Mal den Nationalen Integrationspreis. Wir ehren mit diesem Preis Menschen, die sich in herausragender Weise für die Integration in Deutschland engagieren. Wir wissen ja, dass die Integration jedes einzelnen Menschen ein sehr komplexer Prozess ist, der in verschiedenen Phasen erfolgt. Deshalb nimmt die Jury auch immer eine bestimmte Phase der Integration in den Blick. 2017 ging es um das Ankommen. Damals haben wir Andreas Hollstein ausgezeichnet. Als Bürgermeister hat er Vorkehrungen dafür getroffen, dass in der Stadt Altena viele Menschen schnell eine Bleibe und vielfältige Unterstützung finden konnten. 2018 stand die religions- und herkunftsübergreifende Vermittlung von Werten wie Toleranz und Gleichberechtigung im Mittelpunkt. Dafür wurde das Projekt „Brückenbau – Vielfalt begegnen!“ ausgezeichnet. In diesem Jahr – 2019 – nehmen wir mit dem Preis eine weitere Integrationsphase in den Blick. Es geht um das Mitgestalten. Es ist ja auch unser Ziel, dass Frauen und Männer, die zu uns gekommen sind und länger, vielleicht sogar für immer bei uns bleiben, ihre Fähigkeiten in unsere Gesellschaft einbringen und unser Zusammenleben mitgestalten können. Kurz: Sie sollen sich hier in unserem Land eine echte Perspektive aufbauen können. Wir gehen dabei von einer Integration aus, die wir als ein Geben und Nehmen verstehen – für diejenigen, die hier Fuß fassen wollen, genauso wie für unsere Gesellschaft, die durch neue Erfahrungen, durch neue Traditionen und durch neue Herangehensweisen auch reicher wird. Deshalb ist Integration für beide Seiten ein Gewinn, wenn es gut läuft. Aber vor dem stehen meistens auch Herausforderungen; und es geht nicht immer alles so, wie man sich das idealerweise vorstellt. Ich finde, die Jury hat zehn wunderbare Projekte nominiert. – Ich sehe hier schon viele Menschen mit Zetteln in der Hand; und wir werden gleich etwas darüber hören. – Dazu gehören beispielsweise eine Start-up-Unternehmerin, die einst selbst nach Deutschland geflüchtet und heute Arbeitgeberin für Migrantinnen und geflüchtete Frauen ist, oder auch Apothekerinnen und Apotheker in Rheinland-Pfalz, die ausländische Kolleginnen und Kollegen bei der Approbation als Apotheker in Deutschland begleiten, sowie ein Landrat, der dafür gesorgt hat, dass alle Behördenprozesse des Ausländer- und Asylrechts sowie die Integrationsmaßnahmen zum Deutschlernen oder für die Arbeitsmarktintegration im wahrsten Sinne des Wortes unter einem Dach stattfinden. Ich stelle es mir ziemlich schwer vor, wenn man in Deutschland ankommt und alles erst einmal darauf absuchen muss, wo man welche Stelle findet, welche Öffnungszeiten es gibt und wann jemand noch Zeit hat. Insofern bin ich gespannt, mehr darüber zu hören. Ich will jetzt auch nicht schon alles verraten, sondern will nur sagen, dass dies drei von zehn Beispielen sind, die wir gleich näher kennenlernen werden – dass dies drei Geschichten sind, die davon erzählen, wie Integration gelingen kann, wenn man offen füreinander ist und sich aufeinander einlässt. Ich möchte heute aber auch nicht die andere Seite ausblenden, die einen Schatten auf unser Zusammenleben wirft. Es gibt viele antisemitische und rassistische Taten und Vorfälle in unserem Land, die auch Unruhe unter denen, die zu uns kommen, auslösen. Insofern müssen wir eine Gesellschaft sein – da gehe ich thematisch noch einmal ein Jahr zurück –, in der die Wertevermittlung für alle gilt – für die, die hier schon immer gelebt haben, genauso wie für die, die zu uns kommen. Denn unsere Gesellschaft beruht darauf, dass die Würde des Menschen nur gewahrt werden kann, wenn wir unsere Grundwerte auch wirklich einhalten. Ansonsten werden wir kein glückliches Land sein können. Wenn wir nur allein an den Angriff in Halle denken, dann kann man nur sagen: Das ist eine Schande für unser Land. Niemand soll sich bei uns wegen seiner Herkunft oder seiner Religion gedemütigt oder ausgegrenzt, bedroht oder verfolgt fühlen. Dazu mahnt auch der 9. November. Wir haben uns ja vorgestern, am 9. November, noch einmal der doppelten Geschichte des 9. Novembers besonnen. Er ist ein Schicksalstag der deutschen Geschichte. Einerseits gibt es die große Freude über den Mauerfall vor 30 Jahren – einen Glücksmoment. Wer ihn erleben konnte, der wird sich immer merken, wo man damals gerade war und wie es war. Aber der 9. November markiert auch einen Tiefpunkt unserer Geschichte: die Reichspogromnacht 1938 – im Übrigen 20 Jahre nach Ausrufung der Weimarer Republik. Danach folgte der Zivilisationsbruch der Shoa. Es ist wichtig, dass wir die Würde jedes einzelnen Menschen so verteidigen, auch weil das die Lehre aus dieser Zeit ist. Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir in ganz Deutschland auf Millionen von Bürgerinnen und Bürgern zählen können, die sich überall im Lande für ein gutes Zusammenleben einsetzen. Viele von ihnen helfen Einwanderern und Geflüchteten, in ihrer Nachbarschaft, in Vereinen, im Arbeitsleben oder in der Schule Fuß zu fassen. Deshalb möchte ich Ihnen, die Sie heute hier sind, stellvertretend für viele andere, auch einfach ein Dankeschön sagen. Ich weiß, dass solches Engagement nicht jeden Tag einfach ist, dass es Fortschritte und Rückschläge gibt und dass Sie sicherlich von vielen Menschen gefragt werden: Was macht Ihr denn da? Warum verbringt Ihr denn Eure Freizeit mit so etwas? – Ich sage einfach: Danke. Das macht unsere Gesellschaft stark. Die, die hier nominiert wurden, sind sozusagen eine Auswahl aus vielen, die sich engagieren. Ich weiß nicht – aber die Jury wird es uns ja sagen –, ob es immer so ganz einfach ist, herauszufinden, was nun besonders gut ist. Jedenfalls richte ich einen herzlichen Dank an Herrn Weise, an Frau Roth, an Frau Foroutan, an Herrn Khedira und an Herrn Mansour. Sie bringen sich ein, Sie machen sich die Mühe. Das ist schön. Zum Schluss müssen Sie sich sogar entscheiden. Es ist auch schön, dass Sie das für uns tun. Ich sage einfach: Wir sind froh, dass Sie diese Arbeit auf sich genommen haben. Wir sind dankbar dafür, dass es so viele Projekte gibt. Ich sage noch einmal: herzlich willkommen. Und jetzt bin ich gespannt darauf, was wir hier noch erfahren werden. Ich werde dann später noch einmal kommen, um ein Projekt besonders auszuzeichnen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der 7. Urheberrechtskonferenz
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-7-urheberrechtskonferenz-1691130
Mon, 11 Nov 2019 11:30:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Digitalisierung,Kultur
Was nicht auf dem Programm steht, sagt manchmal genauso viel über die Qualität einer Tagung wie das Programm selbst. Zumindest gilt das für die heutige Urheberrechtskonferenz: Differenzierte und kenntnisreiche Debatten versprechen nicht nur die Themen und Namen im Programm, sondern auch das Fehlen eines Begriffs, der die öffentlichen Debatten über die EU-Urheberrechtsreform monatelang bestimmte: Der „Uploadfilter“ war der sprichwörtliche Teufel, den Kritiker der Richtlinie an die Wand malten – und neben dem all die lang ersehnten Verbesserungen verblassten. Umso erfreulicher, dass der Schwerpunkt heute auf den Chancen und auf der Umsetzung der über mehrere Jahre verhandelten und nun endlich beschlossenen Reform liegt. Ich danke Ihnen, lieber Herr Prof. Pfennig, dass Sie sich in diesem Sinne intensiv in die Diskussionen über die Richtlinie eingebracht haben – nicht zuletzt, indem Sie differenzierten Debatten insbesondere im Rahmen von Urheberrechtskonferenzen regelmäßig Raum gegeben haben. Herzlichen Dank dafür auch dem Team der Initiative Urheberrecht und allen Kooperationspartnern! Das engagierte Werben mit der Kraft guter Argumente hat sich zum Glück gelohnt. Herr Dr. Pfennig hat die Bedeutung der Richtlinie für die Urheber und Künstler ja eben schon in den Mittelpunkt seiner Eröffnungsrede gestellt, und man muss kein Volljurist, keine Volljuristin sein, um der Reform einen prominenten Platz auch in der juristischen Fachliteratur zu prognostizieren. Dafür sorgt allein schon die Komplexität dieses Gesetzeswerks, vor allem aber der Umstand, dass man es mit Fug und Recht als wegweisend für die Wirtschaftsordnung der Kultur- und Kreativwirtschaft im digitalen Zeitalter bezeichnen darf. Einen prominenten Platz verdient die neue EU-Urheberrechtsrichtlinie aber auch in den Geschichtsbüchern – als Meilenstein europäischer Demokratiegeschichte. Denn hier wurde nicht nur der Ausgleich unterschiedlicher wirtschaftlicher Interessen, sondern auch die Frage verhandelt, ob demokratische Errungenschaften wie die Pressefreiheit im digitalen Zeitalter Bestand haben – oder anders formuliert: ob Regeln, die in Deutschland aus gutem Grund Verfassungsrang genießen, der Macht und den Geschäftsmodellen digitaler Plattformen Grenzen setzen. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass genau das dringend notwendig ist, dann wäre das beste Beispiel der Verlauf der Debatte zu diesem Thema auf eben diesen digitalen Plattformen: das Nebeneinander von Wahrheiten, Halbwahrheiten und Falschbehauptungen, von Information und Manipulation. Fest steht, dass die Verlagerung der öffentlichen Meinungsbildung ins Internet und die algorithmische Sortierung des Informationsangebots auf digitalen Plattformen dem sachlichen Austausch von Argumenten, dem konstruktiven Ringen um Kompromisse, dem Bemühen um Verständigung nicht nur guttun, sondern bisweilen auch schaden: zum Beispiel dort, wo der Schutz der Anonymität genutzt wird, den gesellschaftlichen Konsens eines fairen und menschlichen Miteinanders zu verlassen. Der vermittelnde Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen und Positionen ist Kern der Demokratie. Debatten im Netz fördern oft aber eher Polarisierung als Verständigung. Nicht zuletzt deshalb war es wichtig, mit der Reform des Urheberrechts dafür zu sorgen, dass digitale Technologie unserer Demokratie dienen kann. Das eröffnet neue Chancen für Kultureinrichtungen, aber auch für all jene, die sich im digitalen Zeitalter nicht nur als User und Konsumenten, sondern nach wie vor auch als Bürger eines demokratischen Rechtsstaats verstehen – für all jene, die wertschätzen, was Künstler und Kreative, Kultureinrichtungen und unabhängige Medien zum Fortbestand der Demokratie beitragen. Digitale Technologie im Dienst der Demokratie: Das ermöglicht zum Beispiel ein eigenes Leistungsschutzrecht, das Presseverleger bei der Durchsetzung ihrer Rechte unterstützt und so dabei hilft, journalistische Qualität zu finanzieren und die Vielfalt freier, unabhängiger Medien zu erhalten. Für mich steht außer Frage, dass Plattformen mit hoher Marktmacht Verantwortung tragen für die Auffindbarkeit von Inhalten, die nach journalistischen Qualitätsstandards erstellt wurden. Wer öffentliche Kommunikationsräume von enormer Größe betreibt, kann sich nicht hinter einer ausschließlichen Logik des Marktes verstecken. Es muss der Staat sein, der weiterhin die wesentlichen Regeln bestimmt und auch durchsetzt, um die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft zu sichern. Das Leistungsschutzrecht ist ein gutes Beispiel hierfür. Denn eine freie Presse ist die wirksamste Waffe im Kampf gegen Desinformation und Manipulation: Hüterin einer offenen Gesellschaft, Wächterin einer lebendigen Demokratie. Die Bundesregierung hat deshalb auf europäischer Ebene erfolgreich und im parteiübergreifenden Konsens für das Leistungsschutzrecht für Presseverleger und die Verlegerbeteiligung bei Verwertungsgesellschaften gekämpft. Die Umsetzung ist jetzt dringlich, vor allem bei der Verlegerbeteiligung, zumal schon viel Schaden entstanden ist. Es ist wichtig, dass die Verlage wieder einen echten Beteiligungsanspruch erhalten. Denn nur so kann die seit Jahrzehnten bewährte Praxis der engen Zusammenarbeit zwischen Autorinnen und Autoren und Verlagen in gemeinsamen Verwertungsgesellschaften innerhalb eines klaren Rechtsrahmens fortgesetzt werden. Das ist nicht zuletzt für kleinere Verlage unabdingbar, die aufgrund der Rechtsprechung noch immer mit massiven finanziellen Problemen zu kämpfen haben. Deshalb können wir damit nicht warten, bis auch der letzte Artikel der Richtlinie soweit diskutiert ist, dass er umgesetzt werden kann. Das habe ich kürzlich in einer Rede im Deutschen Bundestag wie auch in einem Brief an meine federführend zuständige Kabinettskollegin, Justizministerin Lambrecht, einmal mehr deutlich gemacht. Wir müssen Leistungsschutzrecht und Verlegerbeteiligung jetzt zügig umsetzen: am besten indem wir beide vorziehen. Hier geht es um journalistische Qualität und mediale Vielfalt, und damit um den Kern unseres demokratischen Selbstverständnisses! Digitale Technologien im Dienst der Demokratie: Dafür sorgen auch Regelungen, die neue Chancen für Kultureinrichtungen bieten. Die Richtlinie eröffnet Möglichkeiten, mehr von unserem kulturellen Erbe sichtbar zu machen – umfassender und deutlicher als dies bisher möglich war. Lassen Sie mich dies am Beispiel der Regelungen zu vergriffenen Werken (Artikel 8 bis 11 der Richtlinie) erläutern. Sie wird es vielen Gedächtniseinrichtungen erleichtern, ihre Bestände digital zugänglich zu machen, zum Nutzen aller. Das scheiterte bisher meist daran, dass Einrichtungen die Rechte für jedes vergriffene Werk in ihrer Sammlung einzeln klären musste – undenkbar angesichts der Vielzahl ihrer Schätze und der Knappheit der personellen und finanziellen Ressourcen. Eine solche Einzelfallprüfung ist künftig nicht mehr erforderlich. Verwertungsgesellschaften sollen Kulturerbeeinrichtungen (dieser Begriff ist in der Richtlinie übrigens sehr weit gefasst, dazu zählen sogar die Archive der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten) künftig auch für die Nutzung vergriffener Werke Lizenzen erteilen können, unabhängig davon ob alle Rechteinhaber dafür ein Mandat erteilt haben – was bei vergriffenen Werken gerechtfertigt scheint, weil hier vermutet werden kann, dass kein Interesse mehr an einer wirtschaftlichen Verwertung besteht. Zum Schutz der Urheber sind jedoch eine Widerspruchsmöglichkeit und auch die Vergütung der bis dahin erfolgten Nutzung vorgesehen. Die Vorteile dieser Neuregelung liegen auf der Hand: Ursprünglich öffentlich zugängliches Kulturerbe drohte, dauerhaft in Vergessenheit zu geraten. Künftig können Werke und Zeitzeugnisse, die bisher digital nur unter erheblichen Schwierigkeiten und hohem Aufwand an die Öffentlichkeit vermittelt werden können, auch online sichtbar sein. So können die Einrichtungen die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen, um ihrem Vermittlungsauftrag umfassender als bisher gerecht zu werden, jedenfalls dann, wenn sie gut mit den Verwertungsgesellschaften zusammenarbeiten. Davon ist auszugehen, denn die Kulturerbeeinrichtungen selbst waren ja gemeinsam mit den Verwertungsgesellschaften über Jahre Treiber dieser rechts- und kulturpolitischen Entwicklung. Manchen geht das sicherlich noch nicht weit genug. Sie dürfen aber nicht vergessen, dass wir aus gutem Grund bei der Abwägung nicht nur den Zugang zu Kultur, sondern weiterhin das Urheberrecht als wirtschaftliche Grundlage für die Kreativen hinreichend würdigen und schützen müssen. Doch auch wenn die Rechteklärung künftig mit weniger Aufwand verbunden ist, wird die Erweiterung des digitalen Zugangs zu unseren Kulturschätzen selbstverständlich nicht kostenlos zu haben sein. Im Rahmen einer Digitalisierungsoffensive unterstützen wir deshalb Kultureinrichtungen unterschiedlicher Sparten, die digitale Transformation produktiv zu gestalten. Ein schönes Beispiel ist das Projekt „museum4punkt0“: Hier erproben Museen und Kultureinrichtungen verschiedener Größe und Ausrichtung unter Federführung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz digitale Strategien für das Museum der Zukunft: Mit Apps und digitalen Erzählformaten, mit Cyberbrillen und Virtual Reality Labs locken sie mehr junge Leute in die Museen und begeistern auch Menschen für Kunst und Kultur, die man bisher noch viel zu selten in Museen trifft. Ein anderes Beispiel ist das von der Kulturstiftung des Bundes initiierte und ebenfalls mit Bundesmitteln geförderte „Programm Digital“, das Kultureinrichtungen motiviert und unterstützt, sich den digitalen Möglichkeiten und Herausforderungen zu stellen. Die Digitalisierung von Kulturgütern eröffnet auch ganz neue Möglichkeiten, ländliche Regionen an die kulturelle Grundversorgung anzuschließen. Dafür steht zum Beispiel die Deutsche Digitale Bibliothek (DDB) – die zentrale Plattform, auf der Bestände und Sammlungen zahlreicher Einrichtungen kostenfrei digital zugänglich sind. Wir reden hier von mehr als 32 Millionen Objekten, darunter zum Beispiel alte Filme in voller Länge, Einspielungen klassischer Musikstücke oder auch digitalisierte Bücher. Die Bestände wachsen permanent, ebenso wie die Zahl der kooperierenden Einrichtungen. Solche Beispiele zeigen, dass die Digitalisierung eine Demokratisierung der Kultur ermöglicht, die selbst den Idealisten unter den Kulturvermittlern lange als utopisch galt: Alle können teilhaben an Kunst und Kultur. Wo Menschen nicht zu unseren Kulturschätzen kommen, weil die Wege in die Kulturtempel zu weit oder Hemmschwellen welcher Art auch immer zu groß sind, kommen die Kulturschätze digitalisiert zu den Menschen – und wecken sicherlich vielfach auch das Interesse am authentischen Ort und am Original, am Besuch eines Museums, einer Oper oder einer Gedenkstätte. Ja, auch auf diese Weise können digitale Technologien, kann das Internet der Demokratie dienen… . Insgesamt, denke ich, ist das gesetzgeberische Update des Urheberrechts auf europäischer Ebene geglückt – wenn sich auch manche Regelung in der Praxis noch bewähren, wenn auch manche Regelung vielleicht auch präzisiert werden muss. Mit der Richtlinie lösen wir nicht zuletzt den politischen Anspruch ein, die Regeln im digitalen Raum demokratisch zu bestimmen statt die politische Macht im Netz den Digitalkonzernen zu überlassen – ein Anspruch, der mittlerweile übrigens auch auf Seiten der Plattformbetreiber nicht mehr automatisch Abwehrreflexe auslöst. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg hat sich dazu vor einem halben Jahr ausführlich in einem Interview geäußert: „Ich bin zu der Überzeugung gelangt“, sagte er, „dass wir zu viel Macht darüber erlangt haben zu entscheiden, was Redefreiheit im Internet ist. Politiker und Wissenschaftler rund um den Globus haben mir das gesagt, und ich stimme mit ihnen überein, dass wir einen demokratischeren Prozess brauchen, um über entsprechende Normen übereinzukommen. Offen gesagt: Das wäre wirklich hilfreich für alle.“ Es freut mich, dass Mark Zuckerberg damit meine – und nicht nur meine – Auffassung teilt. Die Verabschiedung der Urheberrechtsrichtlinie jedenfalls zeigt, dass wir es nicht den IT-Konzernen überlassen, Rahmen und Regeln des demokratischen Diskurses zu setzen, sondern Rechte schützen und Pflichten durchsetzen, die für den Fortbestand einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung unverzichtbar sind. In diesem Sinne halte ich die Reform für einen Meilenstein europäischer Demokratiegeschichte – und den Zeitpunkt ihrer Verabschiedung im 30. Jubiläumsjahr der Friedlichen Revolution, nebenbei bemerkt, für einen ebenso schönen wie passenden Zufall. Genau hier, vor den Türen der heutigen Akademie der Künste, bevölkerten vor ziemlich genau 30 Jahren, am 9. November 1989, Tausende Menschen jubelnd und feiernd die Mauer am Brandenburger Tor, und noch viel mehr haben hier vorgestern den Fall der Mauer in Deutschland und des Eisernen Vorhangs in Europa gefeiert – als Errungenschaft von Menschen, die mutig ihre Stimme erhoben für demokratische Freiheitsrechte. Ja, wir haben in Deutschland und in ganz Europa vor 30 Jahren so glücklich wie kaum je zuvor erfahren, dass Demokratie kein Geschenk ist, sondern eine Errungenschaft – kein Besitz, sondern stetes Bemühen. Das gilt auch angesichts sich ändernder gesellschaftlicher Bedingungen, angesichts der Digitalisierung: Demokratische Grundprinzipien wie Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit brauchen weiterhin stetes Ringen und Bemühen – nicht zuletzt bei der nun anstehenden Umsetzung der EU-Urheberrechtsrichtlinie. Ich hoffe einmal mehr auf argumentativen Rückenwind im Rahmen der Urheberrechtskonferenz und wünschen Ihnen allen erkenntnisreiche Diskussionen!
In ihrer Rede betonte Staatsministerin Grütters die EU-Urheberrechtsrichtlinie als „wegweisend für die Wirtschaftsordnung der Kultur- und Kreativwirtschaft im digitalen Zeitalter“. Außerdem mahnte Grütters Leistungsschutzrecht und Verlegerbeteiligung zügig umzusetzen.“Hier geht es um journalistische Qualität und mediale Vielfalt, und damit um den Kern unseres demokratischen Selbstverständnisses“, so Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Festakt zum 30jährigen Jubiläum der Friedlichen Revolution in der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-festakt-zum-30jaehrigen-jubilaeum-der-friedlichen-revolution-in-der-gedenkstaette-deutsche-teilung-marienborn-1690914
Sat, 09 Nov 2019 14:30:00 +0100
Im Wortlaut
Marienborn
Kulturstaatsministerin
Kultur,Gedenken
Kürzlich fand ich im Stapel meiner Post einen schmalen Gedichtband mit dem Titel „Marienborn“, darin kurze Gedichte, überschrieben mit „Quer durchs Land“ oder „Transit“ oder „Hüben und Drüben“ – Eindrücke aus dem innerdeutschen Grenzgebiet, die mich überrascht haben: Es sind zarte, teils überraschend heitere Bilder aus der DDR, wie sie in Deutschland bis 1989 wohl nur Westdeutschen vergönnt waren. Der Autor, Georg Oswald Cott aus Niedersachsen, 88 Jahre alt, hatte mir das Büchlein zugeschickt, versehen mit dem Hinweis, es handle sich bei dieser Sammlung um eine – ich zitiere – „poetische Geschichtsschreibung, die entstand bei meinen Reisen in die DDR.“ „Hüben und drüben“: Dieser scharfe Kontrast, der Deutschland in den Jahren der Teilung prägte, wurde mir beim Blättern in diesem Gedichtband einmal mehr bewusst. Hier die Perspektive des Reisenden, der Grenzen passieren kann und dem die Welt hinter dem Horizont offensteht. Dort die Perspektive der Eingesperrten, wie wir sie an authentischen Gedenkorten wie Marienborn noch erahnen können: Zäune und Wachtürme, Schussapparate, Minen und Soldaten mit schussbereiten Waffen markierten im innerdeutschen Grenzgebiet für die meisten Bürgerinnen und Bürger der DDR das Ende ihrer Welt. Hier endete der Traum von der Freiheit – und manche, die sich diesen Traum nicht nehmen ließen, die sich nicht einschüchtern und abschrecken ließen, bezahlten dafür hier sogar mit dem Leben. „Hüben und Drüben“: Wer heute durch Deutschland fährt, findet kaum noch sichtbare Spuren dieses Kontrasts. Die Narben entlang der einstigen innerdeutschen Grenze, Folge der jahrzehntelange Spaltung Deutschlands und Europas, sind verblasst. Dank enormer Aufbauleistungen der vergangenen drei Jahrzehnte erstrahlen lange marode, malerische Städte mit ihrem reichen Kulturerbe in neuem Glanz. Es sind insbesondere die Zeitzeugnisse des menschenverachtenden DDR-Grenzregimes, die uns das Wunder der Friedlichen Revolution vor 30 Jahren vor Augen führen: Was für ein Glück, was für ein Geschenk – vor allem aber: Was für ein Triumph der Demokratiebewegung über den totalitären Machtanspruch der SED-Diktatur! Was für ein Triumph der Freiheit über Unfreiheit und Unterdrückung! Was für ein Triumph des Rechtsstaats über das kommunistische Unrechtsregime! Was für ein Triumph jener Werte, für die Menschen hier an der innerdeutschen Grenze ihr Leben riskierten und vielfach verloren – jener Werte, für die Hunderttausende DDR-Bürgerinnen und Bürger im Herbst 1989 mutig und selbstbewusst ihre Stimme erhoben, für die Oppositionellen und Bürgerrechtler, Friedensbewegte und Umweltschützer über viele Jahre gekämpft haben und zermürbende Repressionen in Kauf nehmen mussten! Dass sich nach dem Freudenrausch, der die Ereignisse des 9. November 1989 begleitete, über die Jahre Ernüchterung eingestellt hat, ist aus heutiger Sicht kaum überraschend: Die Anstrengungen der Wiedervereinigung brachten Deutschland nicht nur politisch und ökonomisch an die Grenze des Leistbaren. Sie verlangten Veränderungsbereitschaft weit über das in einem durchschnittlichen Menschenleben übliche Maß hinaus und konfrontierten manche Bürgerinnen und Bürgern Ostdeutschlands auch mit den Grenzen des persönlich Verkraftbaren. Doch Demokratie ist korrektur- und lernfähig, sie eröffnet Handlungs- und Mitgestaltungsspielraum, und das berechtigt immer zur Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Bitter sind deshalb die Wahlerfolge populistischer Demokratieverächter, die keine Scheu haben, sich Leitsätze der Friedlichen Revolution von 1989 anzueignen, um Stimmung zu machen gegen demokratische Institutionen und Grundprinzipien, um Mauern der Ab- und Ausgrenzung zu errichten und die Gesellschaft zu spalten in verhärtete Fronten, in „Hüben und Drüben“. So ist die Vergegenwärtigung des Leids und des Unrechts, das mit der Errichtung von Mauern, mit totalitärer Ab- und Ausgrenzung einhergeht, heute wichtiger denn je. Das sind wir auch den Opfern staatlicher Unterdrückung und Gewalt schuldig, nicht zuletzt jenen, die an der innerdeutschen Grenze für Freiheit und Selbstentfaltung ihr Leben ließen. Der Bund fördert deshalb gemeinsam mit dem Land Sachsen-Anhalt die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn, und es freut mich sehr, dass wir heute einen Teil der neuen Dauerausstellung und des innovativen Besucherleit- und Informationssystems eröffnen können (- beides ebenfalls von Bund und Land gemeinsam gefördert). Mit Geld allein ist es aber nicht getan. Es ist vor allem die engagierte Arbeit in den Gedenkstätten, die aus der Vergegenwärtigung des Vergangenen Lektionen für die Zukunft macht. Dafür danke ich Ihnen, liebe Frau Dr. Baumgartl, und Ihrem Team von Herzen. Gerade die Konfrontation mit den erschütternden persönlichen Geschichten hinter der leidvollen deutsch-deutschen Teilungsgeschichte ist sowohl für ein würdiges Gedenken als auch für die Sensibilisierung für den Wert demokratischer Freiheitsrechte unverzichtbar: Denn mehr als ein Überblick im Geschichtsbuch geht die Konfrontation mit Einzelschicksalen und Zeitzeugnissen unter die Haut. Zur notwendigen Aufarbeitung der SED-Diktatur gehört aber natürlich auch die umfassende Erforschung der DDR-Geschichte und des SED-Unrechts. Im Bemühen, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, darf kein Raum sein für Geschichtsklitterung und Legendenbildung, für unzulässige Vereinfachungen oder politische Deutungsmonopole. Deshalb fördert mein Haus die wissenschaftlich fundierte Aufarbeitung der SED-Diktatur – beispielsweise durch die Stasiunterlagenbehörde, die Stiftung Aufarbeitung, die Stiftung Berliner Mauer und in weiteren Gedenkstätten und Museen. Das teils erschreckende Unwissen über die SED-Diktatur, das Umfragen immer wieder offenbaren, unterstreicht die Bedeutung dieser Arbeit; darum habe ich die einzelnen Fördersummen seit meinem Amtsantritt teilweise massiv erhöht. Ich bin überzeugt: Das gemeinsame Bemühen um Aufarbeitung stärkt die gesellschaftlichen Widerstandskräfte gegen totalitäre Ideologien. Nicht minder wichtig aber ist das Bewusstsein, welche Veränderungskräfte die Hoffnung auf ein besseres Leben und der Glaube an eine bessere Welt entfalten können. Die Erinnerung an die Friedliche Revolution vor 30 Jahren und an die Menschen, deren Mut, Zuversicht und Weitsicht diesem Triumph den Weg bereitet haben, hilft, Handlungsspielräume zu erkennen und lähmende Lethargie zu überwinden. So trägt auch die Würdigung der wohl glücklichsten Stunden in der jüngeren deutschen Geschichte zur Wertschätzung und damit zur Wehrhaftigkeit unserer Demokratie bei: als gleichermaßen mahnende und motivierende Erinnerung, dass Demokratie kein Geschenk ist, sondern eine Errungenschaft – auch heute, im wiedervereinten Deutschland. Seinen Bürgerinnen und Bürgern – uns allen! – wünsche ich für die Zukunft, was (- wir haben es gerade gehört -) die Musikerinnen und Musiker des Jugendjazz-orchesters Sachsen-Anhalt meisterhaft beherrschen: das einander Zuhören und sich Einfühlen, das Lauschen auf andere Stimmen, auf Takt und Tonart, auf laut und leise. So gelingt Verständigung, so verbinden sich „Hüben und Drüben“. In diesem Sinne: Auf ein Deutschland ohne Mauern, Gräben und Grenzen!
In ihrer Rede im Rahmen der Eröffnung eines Teils der neuen Dauerausstellung und des innovativen Besucherleit- und Informationssystems würdigte Kulturstaatsministerin Grütters die Arbeit in den Gedenkstätten. „Gerade die Konfrontation mit den erschütternden persönlichen Geschichten hinter der leidvollen deutsch-deutschen Teilungsgeschichte ist sowohl für ein würdiges Gedenken als auch für die Sensibilisierung für den Wert demokratischer Freiheitsrechte unverzichtbar: Denn mehr als ein Überblick im Geschichtsbuch geht die Konfrontation mit Einzelschicksalen und Zeitzeugnissen unter die Haut“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Andacht zum 30. Jahrestag des Mauerfalls in der „Kapelle der Versöhnung“ am 9. November 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-andacht-zum-30-jahrestag-des-mauerfalls-in-der-kapelle-der-versoehnung-am-9-november-2019-in-berlin-1690432
Sat, 09 Nov 2019 11:40:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Präsident des Bundestags, sehr geehrter Herr Präsident des Bundesrats, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, sehr geehrte Exzellenzen, sehr geehrter Bischof Dröge, sehr geehrter Herr Pfarrer Jeutner, meine Damen und Herren, ich möchte den Jugendlichen aus den Visegrád-Staaten für ihre Worte hier in dieser Kapelle, an deren Stelle früher die Versöhnungskirche stand, ganz herzlich danken. Die Worte regen uns zum Nachdenken an. Sie regen zum Nachdenken über das an, was hier geschah, aber vor allem auch darüber – das kam in allen Worten zum Ausdruck –, was es für die Zukunft bedeutet und was wir in der Zukunft beherzigen müssen. Seit dem Mauerbau 1961 lag die Versöhnungskirche im Todesstreifen der Berliner Mauer, unerreichbar für alle Berliner in Ost und West. 1985 wurde sie gesprengt. Das war nichts anderes als ein Akt der Menschenverachtung. Denn die Kirche stand einem freien Schussfeld im Weg. Die eigenen Bürgerinnen und Bürger sollten ins Visier genommen werden, die lediglich eines suchten: die Freiheit. In der Sprengung der Versöhnungskirche zeigte sich gleichsam die Unversöhnlichkeit der Diktatur der DDR mit dem Grundbedürfnis des einzelnen Menschen, Freiheits- und Menschenrechte für sich in Anspruch zu nehmen. Zu viele Menschen wurden Opfer der SED-Diktatur. Wir werden sie nicht vergessen. Ich erinnere an die Menschen, die an dieser Mauer getötet wurden, weil sie die Freiheit suchten. Ich erinnere auch an die 75.000 Menschen, die wegen Republikflucht inhaftiert waren. Ich erinnere an die Menschen, die Repressionen erlitten, weil Angehörige von ihnen geflohen waren. Ich erinnere an die Menschen, die überwacht und denunziert wurden. Ich erinnere an die Menschen, die unterdrückt wurden und ihre Träume und Hoffnungen begraben mussten, weil sie sich staatlicher Willkür nicht beugen wollten. Der 9. November, meine Damen und Herren, ist ein Schicksalstag der deutschen Geschichte. Am heutigen Tag gedenken wir auch der Opfer der Novemberpogrome im Jahr 1938. Wir erinnern an die Verbrechen, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 an den jüdischen Menschen in Deutschland begangen wurden. Was darauf folgte, war das Menschheitsverbrechen des Zivilisationsbruchs der Shoa. Der 9. November, in dem sich in besonderer Weise sowohl die fürchterlichen als auch die glücklichen Momente unserer Geschichte widerspiegeln, ermahnt uns, dass wir Hass, Rassismus und Antisemitismus entschlossen entgegentreten müssen. Er mahnt uns, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um Freiheit und Demokratie, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen. Am 9. November 1989, heute vor 30 Jahren, ist die Berliner Mauer gefallen. Noch kurz zuvor hatte das kaum jemand für möglich gehalten. Am Beginn des Schicksalsjahres 1989 war es noch eine kleine Minderheit, die für Bürgerrechte, Freiheit und Demokratie einstand und dafür Benachteiligungen, Verfolgung und Inhaftierung in Kauf nahm. Diese Minderheit konnte jedoch bald viele Tausende und Hunderttausende ermutigen, die dann im Herbst 1989 ihren Protest auf die Straße trugen. Andere wiederum kehrten über Ungarn, Prag oder Warschau der DDR den Rücken. Sie alle haben zum Fall der Berliner Mauer beigetragen und damit den Weg zur Einheit unseres Landes geebnet. Sie alle verdienen dafür unseren Dank. Die friedliche Revolution in der DDR hatte mutige Vorbilder. In Polen erreichte die Solidarność erste demokratische Erfolge. In der Tschechoslowakei machte die Charta 77 Mut. In den drei baltischen Staaten machte sich die längste Menschenkette der Geschichte für Unabhängigkeit stark. Und Ungarn machte den Eisernen Vorhang durchlässig. Der Ruf nach Freiheit schuf schließlich neue Demokratien in Mittel- und Osteuropa. Deutschland und Europa konnten endlich zusammenwachsen. Doch die Werte, auf die sich Europa gründet – Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, die Wahrung der Menschenrechte –, sind alles andere als selbstverständlich. Sie müssen immer wieder neu gelebt und verteidigt werden. Auch in Zukunft muss Europa für Demokratie und Freiheit, für Menschenrechte und Toleranz einstehen. Das ist in Zeiten tiefgreifender technologischer und globaler Veränderungen aktueller denn je. Der Beitrag des Einzelnen mag dabei manchmal klein erscheinen. Aber davon dürfen wir uns nicht entmutigen lassen. Stattdessen können wir an die Worte von Václav Havel denken, wonach die Freiheit wie das Meer sei. Ich zitiere ihn: „Die einzelnen Wogen vermögen nicht viel. Aber die Kraft der Brandung ist unwiderstehlich.“ Die Berliner Mauer, meine Damen und Herren, ist Geschichte. Das lehrt uns: Keine Mauer, die Menschen ausgrenzt und Freiheiten begrenzt, ist so hoch oder so breit, dass sie nicht doch durchbrochen werden kann. Ich möchte zum Ende ein kurzes Gedicht von Reiner Kunze zitieren, der über die Mauer geschrieben hat: Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht, wie hoch sie ist in uns. Wir hatten uns gewöhnt an ihren Horizont und an die Windstille. In ihrem Schatten warfen alle keinen Schatten. Nun stehen wir entblößt jeder Entschuldigung. Das gilt für uns alle, in Ost und West. Wir stehen entblößt jeder Entschuldigung und sind aufgefordert, das Unsere für Freiheit und Demokratie zu tun. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur „10. Europa-Rede“ der Konrad-Adenauer-Stiftung am 8. November 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-10-europa-rede-der-konrad-adenauer-stiftung-am-8-november-2019-in-berlin-1690526
Fri, 08 Nov 2019 19:10:00 +0100
Berlin
keine Themen
Lieber Norbert Lammert, liebe Ursula von der Leyen, Kommissionspräsidentin elect – gewählt, wie eben schon gesagt wurde –, lieber Hans-Gert Pöttering, lieber Wolfgang Schüssel, liebe Abgeordnete, liebe Gäste, ich freue mich, am Vorabend des 9. November hier zu sein. Morgen ist es 30 Jahre her, dass sich die Mauer öffnete. Interessant ist, dass ich mich noch erinnern kann, dass ich einen Tag vor diesem Ereignis, also heute vor 30 Jahren, nicht damit gerechnet hatte, dass das passiert. Ich glaube, ich war nicht die Einzige. Dennoch oder gerade deshalb war es ein Glücksmoment, den wir erleben konnten und mit dem sich sehr vieles veränderte. Deshalb ist es schön, dass die Konrad-Adenauer-Stiftung vor zehn Jahren die Tradition ins Leben gerufen hat, Europa und den Fall der Mauer mit der „Europa-Rede“ zu würdigen. Europa konnte von der deutschen Einigung und dem, was vorher vonstattenging – mit der polnischen Solidarność, der Menschenkette in den baltischen Staaten, den Unterzeichnern der Charta 77 und den Reformern in Ungarn – nicht nur profitieren, Europa konnte endlich wieder zusammenwachsen. Europa als Friedensgemeinschaft – dieses europäische Projekt hat ja nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen. Die Römischen Verträge waren einer auf rein nationale Interessen beschränkten Politik nachgefolgt. Das Konzept von Zusammenarbeit und Integration wurde das herrschende Konzept, verbunden – wie Norbert Lammert eben sagte – damit, nationale Souveränität an eine neue Entität abzugeben. Manche Diskussion, die wir heute wieder führen über das Ob und Wie, erinnert uns daran, dass es ja alles andere als selbstverständlich ist, dass Menschen Macht an eine andere Institution abgeben. Und deshalb ist es ja auch so wichtig, dass diese Institution Vertrauen genießt. Der Grundgedanke war, einen Rahmen festzulegen, um Interessen zu bündeln, Interessengegensätze der Mitgliedstaaten in geordneten Verfahren zu lösen und damit eine jahrhundertelange Phase immer wiederkehrender Krisen abzulösen. Es ist ein Wunder, aber auch ein Ausdruck der Kraft der Vordenker der europäischen Einigung, dass dieses Konzept aufging. Der europäische Einigungsprozess hat das Zusammenleben in Frieden und Freiheit, in Wohlstand und sozialer Sicherheit gefördert. Er hat es nach meiner festen Überzeugung möglich gemacht. Aber ich glaube, wir müssen uns auch dessen bewusst sein: So etwas gelingt, muss aber immer wieder neu erarbeitet werden. Es darf nicht zu einer Routine werden, sonst werden es zukünftige Generationen plötzlich nicht mehr verstehen. Und ich stimme Norbert Lammert zu: Ohne konsequente europäische Einigung wäre die Wiedervereinigung Deutschlands nicht möglich gewesen. Helmut Kohl hat mit Recht immer wieder – alle, die ihn kannten und erlebt haben, wissen das; und ich habe mein politisches Rüstzeug, zumindest sehr viel davon, von ihm bekommen – von den zwei Seiten ein und derselben Medaille gesprochen. Wiedervereinigung und europäische Einigung sind untrennbar miteinander verbunden. Sich das wieder bewusst zu machen, ist wichtig, auch weil aus meiner Sicht auch heute gilt: Deutschland wird es nur gut gehen, wenn es Europa gut geht. Nun, liebe Ursula, wirst du nach über 50 Jahren, in denen kein deutscher Kommissionspräsident da war, auch noch als erste Frau diese Kommission leiten. Dein Vorgänger, Jean-Claude Juncker, meinte letzte Woche in seiner unnachahmlichen Art, dass es nun an dir liege – ich zitiere –, „den Laden zusammenzuhalten“. Du übernimmst dieses Amt in wahrlich unruhigen Zeiten. Denn die 30 Jahre nach dem Mauerfall sind wieder ein Geschichtsabschnitt, in dem sich Dinge grundlegend verändern konnten. Eigentlich erleben wir jeden Tag, dass die globale Ordnung doch eine andere wird. Wir sehen die Konturen sehr viel stärker. Wir haben auf der einen Seite evident große Herausforderungen – Klimawandel, asymmetrische Konflikte, die Frage von Flucht und Vertreibung –, die globales Handeln geradezu herausfordern, es nach meiner festen Überzeugung unabdingbar machen. Im Übrigen macht das auch eine vernünftige weltwirtschaftliche Ordnung in Zeiten der Digitalisierung erforderlich. Auf der anderen Seite ist die Welt in ziemlicher Unordnung. Die Ordnungsmuster des Kalten Krieges scheinen im Vergleich dazu geradezu überschaubar zu sein. Die Multipolarität mit den sich verändernden Kräfteverhältnissen von heute hat Europa noch nicht abschließend seinen Platz in der Geschichte zugewiesen. Dass wir an vorderster Front wären, kann man nicht sagen. Das heißt, wir sind heute im globalen Konzert nicht allzu gut hörbar. Deshalb bin ich so froh – wenn ich das sagen darf – und unterstütze das aus vollem Herzen, dass du die neue Kommission als eine geopolitische Kommission skizziert hast und in diesem Rahmen dein Programm gestaltest. Wir werden als deutsche Bundesregierung im zweiten Halbjahr des nächsten Jahres während unserer Ratspräsidentschaft auch versuchen, diese Ambitionen zu unterstützen. Dazu gehört, dass wir das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und China zu einem Schwerpunkt machen und zum ersten Mal einen Vollgipfel abhalten werden, also alle Mitgliedstaaten und die europäischen Institutionen plus die chinesische Führung, den chinesischen Präsidenten, bei uns in Deutschland, in Leipzig, zu Gast haben werden, um dann zu versuchen, eine gemeinsame Antwort auf die Herausforderungen in den Beziehungen zu China zu finden, die wir heute als Mitgliedstaaten – das darf ich als Mitglied des Europäischen Rates sagen – noch nicht in hinreichender Form haben. Wir haben auch die notwendigen Antworten zu finden – das wirst du gleich ausführlicher sagen – auf die Fragen der Digitalisierung, der künstlichen Intelligenz. Auch das große Thema Datensouveränität wird eine Rolle spielen. Was bedeutet es, die Würde des Menschen – um auch das deutsche Grundgesetz anzusprechen – in Zeiten der Digitalisierung zu wahren und trotzdem die technologischen Fortschritte mitzubestimmen? Wir haben die riesige globale Herausforderung des Klimawandels. Europas Positionierung hierzu hast du vorgenommen. Du hast gesagt, wir müssen vorne mit dabei sein. Das wollen wir unterstützen. Und wir haben die große Herausforderung von Migration und Flucht. Unsere Werte stehen auf dem Prüfstand. Ist all das, was wir in Sonntagsreden sagen, wirklich wahr? Wie können wir darauf reagieren? Wie können wir anderen helfen, damit nicht nur wir Wohlstand haben, sondern auch andere? Alle diese Fragen stellen sich in einer Zeit, in der ich den Eindruck habe, dass die Frage „Wie viel Kompromissbereitschaft können wir an den Tag legen?“ eine der wesentlichen Fragen geworden ist. Wie viel Spielraum bekommen wir zum Beispiel als Regierungschefs von zu Hause mit, wenn wir zu einem Europäischen Rat fahren? Oft haben wir schon Parlamentsbeschlüsse im Gepäck. Wenn aber alle 27 – heute noch 28 – Mitgliedstaaten einander widersprechen, dann brauchen wir mit den Beratungen gar nicht erst zu beginnen. Also stellt sich die Frage: Wie kann ich die Kompromissbereitschaft – schlauere Menschen als ich sprechen von Ambiguitätstoleranz – stärken? Nur in einem Raum, der noch nicht überreguliert ist, lässt sich ein Kompromiss finden. Wenn alles festgelegt ist, kannst du auch keine Kompromisse eingehen. Das ist vielleicht das, was mir am meisten Sorge macht: dass das Vertrauen in Europa oder schwindendes Vertrauen in Europa sich an einigen Stellen darin ausdrückt, dass die Spielräume, die wir haben, um für Europa etwas zu tun, kleiner werden. Das ist eine nationale Aufgabe; und diese nationale Aufgabe gelingt umso besser – und deshalb freue ich mich jetzt auf deine Rede –, je mehr Vertrauen wir in die Institutionen haben können, an die wir ja auch Souveränität abgeben. Als ich mir angeschaut habe, wie du diese Kommission zusammengestellt hast, habe ich festgestellt, dass das zwar ein bisschen rumpelig vonstattenging, wie überall im normalen Leben, aber auch, dass es, wie ich glaube, eine gute Kommission wird, die in den Inhalten neu gruppiert ist. Ich wünsche dir von Herzen viel Erfolg und versuche, ein bisschen Kompromissbereitschaft mitzubringen, wenn wir uns beim Europäischen Rat treffen. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters im Tränenpalast anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-im-traenenpalast-anlaesslich-des-30-jahrestages-des-mauerfalls-1690022
Thu, 07 Nov 2019 19:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Wenn Sie an den 9. November 1989, an den Fall der Berliner Mauer zurückdenken: Können Sie sich daran erinnern, wo Sie davon erfahren haben bzw. was Sie gerade gemacht haben? – Vermutlich können die meisten von Ihnen dazu ziemlich exakt Auskunft geben, so wie ganze 81 Prozent der Altersgruppe 40plus in Deutschland, wie die Meinungsforscher von Allensbach kürzlich herausgefunden haben. So viele Menschen, die sich ohne langes Nachdenken an Details eines 30 Jahre zurückliegenden Tags in ihrem Leben erinnern können – das ist durchaus bemerkenswert. Damit ist offensichtlich, dass der 9. November 1989 nicht nur in die Geschichtsbücher eingegangen ist, sondern sich auch tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben hat – als Tag der Freude und des Glücks, mit den Fernsehbildern jubelnder und feiernder Menschen, die sich am Brandenburger Tor drängen und die Berliner Mauer bevölkern. Bei aller Feierlaune: Wir Deutschen sind zu Recht vorsichtig, wenn es darum geht, stolz und selbstbewusst zurückzuschauen auf die eigene Vergangenheit. Allein schon der Umstand, dass die Sternstunde des Mauerfalls ausgerechnet auf einen 9. November datiert – auf einen Tag also, der auch dem Gedenken an die Finsternis der Reichspogromnacht 1938 gewidmet ist und bleiben muss, allein dieser Umstand stimmt nachdenklich. Doch auch der 9. November 1989 braucht und verdient einen Platz im kollektiven Gedächtnis: Denn nicht nur die Aufarbeitung von Leid und Unrecht, sondern auch die Würdigung der wohl glücklichsten Stunden in der jüngeren deutschen Geschichte trägt zur Wertschätzung und damit zur Wehrhaftigkeit unserer Demokratie bei: als gleichermaßen mahnende und motivierende Erinnerung, dass Demokratie kein Geschenk ist, sondern eine Errungenschaft. Errungen wurde das Ende der kommunistischen Diktatur von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern, die entschlossen aufstanden mit dem Anspruch, ihre eigene Zukunft in die Hand zu nehmen und die ihres Landes mitzubestimmen, von Menschen, die mutig ihre Stimme erhoben für demokratische Freiheitsrechte – sei es als Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, sei es als Friedensbewegte oder Umweltschützer, sei es als Demonstranten im Sommer und Herbst 1989. Das Wunder einer friedlichen Revolution wiederum verdanken wir politischer Weitsicht: den Reformen Michael Gorbatschows in der damaligen Sowjetunion, Glasnost und Perestroika, der Öffnung des bis dato undurchdringlichen Eisernen Vorhangs in Ungarn im Sommer 1989 und nicht zuletzt der ebenso kühnen wie klugen Diplomatie des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, der – im Gegensatz zu vielen anderen politischen Protagonisten dieser Zeit – unerschütterlich am Ziel festhielt, ein Ende der deutschen Teilung herbei zu führen, und der die historische Chance dann auch zu nutzen wusste. Zu den Wegbereitern der Friedlichen Revolution zählen auch die Demokratie- und Freiheitsbewegungen in Mittel- und Osteuropa, insbesondere in Polen, und die westlichen Schutzmächte Frankreich, Großbritannien und vor allem auch die USA, die West-Berlin im Kalten Krieg als Insel der Freiheit verteidigten. Aus den USA darf ich deshalb die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des diesjährigen RIAS-Alumni-Programms herzlich willkommen heißen: Schön, dass Sie heute gemeinsam mit uns an die weltbewegenden Ereignisse vor 30 Jahren zurückdenken! Der Opfer der SED-Diktatur zu gedenken und an den Mut der DDR-Bürgerinnen und -Bürger zu erinnern, die dem SED-Regime die Stirn boten, bleibt auch über den 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution hinaus wichtig – zur Aufarbeitung erschütternden Unrechts, als Anerkennung beeindruckender Lebensleistungen und nicht zuletzt auch, um Menschen, die den Schrecken eines totalitären Unrechtsregimes nie selbst erleben mussten, den Wert demokratischer Freiheiten zu vermitteln. Dafür wendet allein der Bund weit über 100 Millionen Euro jährlich auf, und ich habe die Fördersummen für einzelne Einrichtungen seit meinem Amtsantritt teils deutlich erhöht. Denn Erinnerungsorte, Gedenkstätten und Institutionen gesellschaftlicher Aufarbeitung helfen zu verstehen, was eine Diktatur ausmacht. Sie schärfen damit auch das Bewusstsein für den Wert der Freiheit und der Demokratie in Deutschland und in einem geeinten Europa. Dieses Bewusstsein ist heute wichtiger denn je – man denke an das erschreckende Unwissen nicht nur der jungen Generation über die SED-Diktatur, das Umfragen immer wieder offenbaren; man denke auch an die weit verbreitete Unzufriedenheit mit dem Status quo. Dass sich nach dem Freudenrausch, der die Ereignisse des 9. November 1989 begleitete, über die Jahre Ernüchterung eingestellt hat, ist aus heutiger Sicht kaum überraschend: Die Anstrengungen im Zuge der Wiedervereinigung brachten Deutschland nicht nur politisch und ökonomisch an die Grenze des Leistbaren. Sie verlangten Veränderungsbereitschaft weit über das in einem durchschnittlichen Menschenleben übliche Maß hinaus und konfrontierten manche Bürgerinnen und Bürger Ostdeutschlands auch mit den Grenzen des persönlich Verkraftbaren. Doch Demokratie ist korrektur- und lernfähig, sie eröffnet Handlungs- und Mitgestaltungsspielraum, und das berechtigt immer zur Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Bitter sind deshalb die Wahlerfolge populistischer Demokratieverächter, die keine Scheu haben, sich Leitsätze der Friedlichen Revolution von 1989 anzueignen, um Stimmung zu machen gegen demokratische Institutionen und Grundprinzipien, um Mauern der Ab- und Ausgrenzung zu errichten und die Gesellschaft zu spalten in verhärtete Fronten. Leider vielerorts mit Erfolg: Obwohl die Narben, die die jahrzehntelange Spaltung Deutschlands und Europas in Freiheit und Unfreiheit hinterlassen hat, im Stadtbild Berlins und entlang der einstigen innerdeutschen Grenze längst verblasst sind, fürchten heute mehr als 80 Prozent der Menschen laut Deutschlandtrend der ARD eine Spaltung der Gesellschaft – kein Wunder angesichts sprachlicher Verrohung, angesichts hasserfüllter Hetze und Gewalt, angesichts allgegenwärtiger Ab- und Ausgrenzung im öffentlichen Diskurs. Was für eine bittere Ironie der Geschichte, dass sich dabei ausgerechnet Rechtspopulisten aus dem Westen Deutschlands erfolgreich als einzige Stimme der Ostdeutschen inszenieren! So ist die Erinnerung an die Friedliche Revolution vor 30 Jahren heute auch ein Appell, der Saat der Demokratieverachtung in populistischen Tiraden gegen Andersdenkende und Andersglaubende, gegen demokratische Institutionen wie eine freie Presse, gegen demokratische Parteien und eine unabhängige Justiz keinen Boden zu bereiten. Ich hoffe dabei auf den Stolz und das Selbstbewusstsein jener Menschen, die in Ost und West in vielfältiger Weise für ein geeintes, demokratisches Deutschland und Europa gekämpft haben – für jene demokratischen Freiheitsrechte, deren Demontage neue politische Kräfte in unserem Land heute vorantreiben. Ich hoffe auch auf die Kraft und die Handlungsbereitschaft all jener Menschen, die nach der politischen und gesellschaftlichen Revolution auf bewundernswerte Weise ihre eigene, biographische Revolution gestemmt haben – die sich gleichsam neu erfinden mussten, nachdem ihnen mit dem angestammten Platz in einer sozialistischen Gesellschaft auch die Routinen des Alltags, das soziale Gefüge, die Anerkennung beruflicher Qualifikationen, der bis dato sichere Arbeitsplatz, aber auch viele zuvor geltenden Werte und Gewissheiten, kurz: Heimat und Identität verloren gegangen waren. Als Bürgerinnen und Bürger der DDR vor 30 Jahren Weltgeschichte schrieben, führte dies auch zu Brüchen in unzähligen Lebensgeschichten – Brüche, die wir im Westen Deutschlands lange nicht wahrgenommen haben. Dass auch diese Geschichten erzählt werden und Gehör finden, ist wichtig für Verständnis und Verständigung über trennende Gräben hinweg. Dabei hoffe ich nicht zuletzt auf die Kräfte der Kunst und Kultur. Filme wie beispielsweise „Gundermann“ von Andreas Dresen, Romane wie Uwe Tellkamps „Der Turm“ oder Eugen Ruges Familienepos „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ (beide auch verfilmt und auf deutschen Theaterbühnen inszeniert) ermöglichen den Perspektivenwechsel, das Erleben aus anderen Lebensgeschichten heraus und damit empathisches Verstehen, wie es im Austausch von Argumenten so nicht immer möglich ist – und zwar selbst dort, wo Fronten verhärtet sind und Mauern an Vorurteilen und Ressentiments Verständigung verhindern. Nein, nicht jeder Traum des Jahres 1989 hat sich erfüllt, und manche Hoffnung wurde vielleicht auch bitter enttäuscht. Darüber müssen wir reden, daraus müssen wir lernen. Dabei hilft hoffentlich die Erinnerung an den 9. November 1989 – die Erkenntnis, dass Träume und Hoffnungen, dass Fantasie und Vorstellungskraft im wahrsten Sinne des Wortes Mauern zum Einsturz bringen können. Denn die Menschen, die den Triumph der Freiheit über Unfreiheit und Unterdrückung errungen haben, besaßen neben Kühnheit und Kampfgeist vor allem eines: eine Vorstellung von einem besseren Leben, von einer besseren Welt. Diese Vorstellungskraft brauchen wir heute für das weitere Zusammenwachsen Deutschlands und Europas, und die Wegbereiterinnen und Wegbereiter der Friedlichen Revolution sind dafür Vorbilder. In diesem Sinne: Auf 30 Jahre Friedliche Revolution, auf ein Deutschland ohne Mauern, Gräben und Grenzen! Ich freue mich auf eine inspirierende Diskussion!
In ihrer Rede beim historisch-politischen Abend im Tränenpalast anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls würdigte Grütters die Menschen, die mutig ihre Stimme erhoben für demokratische Freiheitsrechte und mahnte den Opfern der SED-Diktatur zu gedenken und an den Mut der DDR-Bürgerinnen und -Bürger zu erinnern, die dem SED-Regime die Stirn boten. „Erinnerungsorte, Gedenkstätten und Institutionen gesellschaftlicher Aufarbeitung helfen zu verstehen, was eine Diktatur ausmacht“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Besuch des VW-Fahrzeugwerks Zwickau am 4. November 2019
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-besuch-des-vw-fahrzeugwerks-zwickau-am-4-november-2019-1688336
Mon, 04 Nov 2019 11:47:00 +0100
Zwickau
Alle Themen
Sehr geehrter Herr Diess, sehr geehrter Herr Hahn, sehr geehrter Herr Rothe, sehr geehrter Herr Ulbrich, sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Michael Kretschmer – Stanislaw Tillich und Kurt Biedenkopf sind auch hier; das ist sehr schön und zeigt Kontinuität –, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und aus dem Landtag, sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich, hier heute dabei zu sein, wenn die Geschichte des Automobilstandorts Zwickau fortgeschrieben wird. Es ist ja verschiedentlich darauf hingewiesen worden, wie lang sie schon ist – von der Geburtsstunde der Marke Audi über die Produktion des Trabant bis hin zur heutigen Volkswagen-Produktion. Meine eigene Trabant-Bestellung – das habe ich Herrn Diess gerade gesagt – hat sich zu Zeiten der DDR nicht mehr realisiert, aber das hing eben auch mit der geringen Zahl von gefertigten Trabanten zusammen. Wir können heute froh sagen, dass Zwickau ein Eckpfeiler der deutschen Automobiltradition ist, aber eben auch ein Eckpfeiler der Zukunft der deutschen Automobilindustrie sein wird. Die Mobilitätswende verlangt auch strukturell sehr viel ab. Deshalb möchte ich mich ganz besonders an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von VW Sachsen wenden. Sie haben in den vergangenen Monaten Herausragendes geleistet. Sie mussten umdenken, sich umstellen, neu lernen – also lebenslanges Lernen ganz praktisch gemacht, um hier den Wandel in die Zukunft zu bewerkstelligen. Dafür, dass Sie das so gut hinbekommen haben, ein ganz großes Dankeschön. Es ist in der Tat ein fundamentaler Wandel: Klimaschutz, technologische Entwicklungen, Digitalisierung und Vernetzung bedeuten einen Paradigmenwechsel in der motorisierten Mobilität, wie wir ihn seit Beginn der Geschichte des Automobils nicht erlebt haben. Dieser Paradigmenwechsel erfolgt weltweit – nicht nur hier in Sachsen, sondern in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt. Er erfolgt auch auf den Märkten in den USA und in China. Deshalb will ich gleich voranstellen: Diesen Wandel werden wir dann am besten bewerkstelligen können, wenn wir einen freien, regelbasierten weltweiten Handel haben und wenn nicht Protektionismus auf der Tagesordnung steht. Gerade in Zeiten solcher strukturellen Umbrüche ist das von großer Bedeutung. Die Bundesregierung wird für freien und regelbasierten Handel kämpfen, wo immer wir das können. Herr Diess hat es gesagt: Die bisherige Mobilität stößt viel zu viel CO2 aus. Ich finde die Zahl sehr interessant, dass die Emissionen aller von Volkswagen gefertigten Autos ein Prozent der CO2-Emissionen weltweit ausmachen. Deshalb ist es gut, dass Volkswagen ganz an der Spitze derer steht, die den Trend umkehren und in die E-Mobilität und alternative Antriebstechnologien investieren. Für uns in der Politik bedeutet das, dass wir die Rahmenbedingungen neu setzen müssen. Wir müssen – ganz im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft – die Leitplanken so bauen, dass sich dann auch neue technologische Entwicklungen durchsetzen können. Es ist dargelegt worden, warum das für absehbare Zeit die Elektromobilität ist – ohne andere Antriebstechnologien zu vernachlässigen. Ich will hinzufügen: Elektromobilität bedeutet natürlich nur dann eine Trendwende, wenn wir auch schrittweise zu Strom aus erneuerbaren Energien umsteigen. Wir wissen, dass wir uns dabei beeilen müssen, denn unser Ziel heißt: bis 2030 65 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien. Wenn ich sehe, wer jetzt alles den Fußabdruck „null Gramm CO2“ haben will, dann müssen wir uns wirklich ranhalten. Gleichzeitig haben wir große Akzeptanzprobleme, zum Beispiel beim Ausbau der Windenergie. Das zusammenzubringen, ist also noch eine ziemlich große Herkulesaufgabe. Wir brauchen Autos, die nicht nur umweltfreundlich sind, sondern die auch sicher sind, die Komfort und Leistung bieten. Deshalb ist es wichtig, dass der Hochlauf der Elektromobilität hin zur Massenproduktion wirklich stattfindet. Wir müssen im Grunde an zwei wichtigen Schrauben drehen, um die Bedingungen dafür zu schaffen: die eine ist der Ausbau der Ladeinfrastruktur und die zweite sind Anreize zum Kauf von Elektroautos. An beiden Schrauben ist die Politik mit beteiligt. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier in Zwickau ist beim Kauf eines Elektroautos eine fehlende Ladeinfrastruktur kein Hindernis mehr, denn hier gibt es eine Vielzahl an Parkplätzen mit Ladesäulen. Wir haben uns in den Eckpunkten für unser Klimaschutzpaket 2030 festgelegt bzw. wir rechnen damit, dass es sieben bis zehn Millionen Elektroautos und eine Million öffentliche Ladepunkte bis zum Jahr 2030 geben soll. Die Zahl der Elektroautos muss auch so hoch sein – das muss man auch sagen –, damit die Automobilindustrie überhaupt die Flottenziele, die als europäische Norm vorgegeben sind, einhalten kann. Deshalb muss die Attraktivität, ein solches Auto zu erwerben, natürlich gegeben sein. Das heißt, wir müssen die Ladesäulendichte, die VW in seinen Produktionsstätten heute schon hat, auf das ganze Land übertragen. Wir werden dazu als Bund erhebliche Anstrengungen übernehmen. 3,5 Milliarden Euro werden wir in den nächsten Jahren in den Ausbau der öffentlichen Ladeinfrastruktur investieren. Das ist eine Rekordsumme. Wir haben aber festgehalten, dass wir diese Förderung bis 2025 begrenzen, um wirklich auch Druck zu machen, dass die Ladeinfrastruktur gebaut wird. Wir gehen davon aus, dass ab 2025 der Aufbau und der Betrieb der Ladeinfrastruktur kein Zuschussgeschäft mehr sein werden. Wir wissen heute: Wir müssen erst einmal sehr schnell etwa 50.000 öffentliche Ladepunkte schaffen, damit eine gewisse Verlässlichkeit eintritt. Wir glauben, dass wir das politisch flankieren müssen, dass dabei aber genauso auch die Automobil- und die Energieindustrie gefordert sind. Wir werden eine Nationale Leitstelle Elektromobilität einrichten, um die Aufgabe, den übergreifenden Aufbau der Ladeinfrastruktur zu koordinieren, dann auch vernünftig durchführen zu können. Wir brauchen natürlich auch das Wissen der Länder und das Know-how der Kommunen, um die Infrastruktur so aufzubauen, dass sie da ist, wo auch Menschen hinkommen. Wir werden – so ist meine Vermutung – auch noch einmal eine erhebliche technologische Weiterentwicklung der Ladestationen selbst haben. Eine der großen Aufgaben wird sein, ein Bezahlsystem zu entwickeln, mit dem sich der Bürger sozusagen an jeder Landesgrenze nicht fühlt wie zu Zeiten, als das Deutsche Reich noch nicht gegründet war und man unentwegt unterschiedliche Geschäftsmodelle hatte. Wir müssen schneller werden. Die Genehmigungsverfahren für Ladestationen dürfen nicht ein oder zwei Jahre lang dauern. Wir müssen Prozesse synchronisieren. Bund, Länder, Kommunen und Automobilindustrie müssen an einem Strang ziehen – und das in eine Richtung. Wir sind dabei natürlich auch auf die Informationen der Automobilindustrie angewiesen: Welche Infrastruktur wird benötigt, wie groß sind die Batterien der neuen Fahrzeuge, welche Ladeleistung wird benötigt? Der Hochlauf der Ladeinfrastruktur muss ja synchron und passgenau zu dem der Produktion erfolgen. Wir müssen auch bedenken, dass zwischen 60 und 85 Prozent der Ladevorgänge im nichtöffentlichen Bereich stattfinden. Deshalb brauchen wir auch hier eine entsprechende Anschubfinanzierung. Ich denke, heute Abend, wenn wir uns zum strategischen Dialog treffen, werden wir auch einige Schritte weiterkommen. Die zweite Schraube ist die Förderung der Elektromobilität. Es muss Kaufanreize für Elektrofahrzeuge geben. Die Kaufprämie, der sogenannte Umweltbonus, bei dem der Bund und die Hersteller beim Kauf eines Elektroautos zu gleichen Teilen Geld dazugeben, hat sich schon einmal bewährt. Wir werden den Umweltbonus daher ab 2021 für Autos mit Elektro-, Hybrid- und Brennstoffzellenantrieb verlängern und dann auch für kleinere Fahrzeuge – wie zum Beispiel den ID.3 – mit einem Preis von unter 40.000 Euro anheben. Das ist Teil unseres Klimapakets. Uns ist es wichtig, dass sich sehr bald möglichst viele Menschen, für die ein Auto unverzichtbar und auch Teil ihrer Lebensfreiheit ist, ein Elektroauto leisten können und das Elektroauto somit, so wie früher zunächst der Käfer und dann der Golf, im wahrsten Sinne des Wortes zum Volkswagen wird. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist auf dem Weg in eine neue automobile Zukunft bereit, große Anstrengungen zu unternehmen. Wir glauben, dass das gemeinsame Agieren aller Beteiligten uns zum Erfolg führen kann. Deshalb gibt es eben auch die Konzertierte Aktion Mobilität – die Akteure treffen sich heute Abend wieder –, mit der wir an die Ergebnisse der Nationalen Plattform Elektromobilität anknüpfen. Das heißt, das ist unser Werkzeug, damit wir die von mir beschriebenen Schrauben auch wirklich richtig drehen können. Ich bin sehr froh, hier heute mit dabei zu sein. Ich freue mich auch ganz persönlich als jemand, der aus der ehemaligen DDR kommt, dass Zwickau das Flaggschiff des Wandels in der Mobilität ist. Ich darf sagen – auch wenn ich eher in Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern beheimatet bin –: Den Sachsen traue ich das zu. Sie werden das mit viel Fantasie, mit viel Kreativität, mit viel Elan machen und Volkswagen nicht enttäuschen und damit auch Deutschland nicht enttäuschen. Herzlichen Dank, dass ich dabei sein darf.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur 63. Deutsch-Indischen Handelskammer am 02. November 2019
in Neu-Delhi
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-63-deutsch-indischen-handelskammer-am-02-november-2019-in-neu-delhi-1687998
Sat, 02 Nov 2019 09:01:00 -0500
keine Themen
Sehr geehrter Herr Mathur, sehr geehrter Herr Graf, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett, liebe Vertreter der Wirtschaftsdelegation, angeführt von Herrn Kaeser, Herr Botschafter, meine Damen und Herren, ich freue mich, nun schon zum zweiten Mal – aber dieses Mal hier in Neu-Delhi – bei Ihnen, bei der nunmehr 63. Jahresversammlung der Deutsch-Indischen Handelskammer dabei zu sein und sie mit Ihnen zu eröffnen. Die Deutsch-Indische Handelskammer ist nicht nur seit langem aktiv. Sie ist auch die weltweit größte deutsche Auslandshandelskammer. Das will wirklich etwas heißen, denn auf der Welt gibt es immerhin über 140 Auslandshandelskammern, die in 92 Staaten arbeiten. Schon daran lässt sich ablesen, dass Indien und Deutschland füreinander gute und verlässliche Wirtschaftspartner sind. Rund 1.800 deutschen Unternehmen sind in Indien tätig. Man darf nie vergessen – das sage ich den Gästen, die aus Deutschland hier sind –: Indien ist ein Kontinent mit großer Vielfalt und regionaler Ausbreitung. Deshalb wundert es nicht, dass auch viele unterschiedliche deutsche Firmen hier sind. Hunderttausende Arbeitsplätze werden durch deutsche Unternehmen in Indien gesichert. Als Bundeskanzlerin bin ich 2007 erstmals nach Indien gereist. Ich konnte damals unter anderem mit dabei sein, als wir den sogenannten Science Express auf seine Fahrt durch Indien geschickt haben, um vor allem jungen Menschen die Welt der Wissenschaft näher zu bringen. An diesem Science Express waren neben wissenschaftlichen Einrichtungen auch viele Unternehmen beteiligt. Ich erwähne das, weil ich in diesem Projekt ein wunderbares Beispiel mit Symbolcharakter für die Vielfalt der deutsch-indischen Beziehungen sehe – Beziehungen, die wir seit vielen Jahren pflegen und die wir mit den ersten Regierungskonsultationen 2011 auf eine neue Stufe gehoben haben. Gestern haben wir die fünften deutsch-indischen Regierungskonsultationen durchgeführt. Meine Delegation und ich wurden von Premierminister Modi und seiner Regierung sehr herzlich empfangen. Regierungskonsultationen haben den Vorteil, dass sie die gesamte Bandbreite der Kooperationen abbilden. Diese Bandbreite reicht von Fragen der nachhaltigen Entwicklung über Themen unserer Wirtschaftsbeziehungen, der Innovation und der Digitalisierung bis hin natürlich auch zu außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen. Wir haben vereinbart, beim Klimaschutz und bei innovativen Technologien für mehr Nachhaltigkeit noch stärker als ohnehin schon zusammenzuarbeiten. Wir haben beschlossen, die sogenannte „Deutsch-Indische Partnerschaft für grüne urbane Mobilität“ einzugehen. Dafür werden wir in den nächsten fünf Jahren eine Milliarde Euro zur Verfügung stellen. Unter anderem wollen wir im Bundesstaat Tamil Nadu 500 Elektro-Busse neu einsetzen sowie 2.000 alte Diesel-Busse durch energieeffizientere Modelle austauschen. Wer sich gestern die Luftqualität in Delhi angeschaut hat, hat bestimmt ein paar gute Argumente dafür, dass noch mehr Elektro-Busse gebraucht werden. Wir wollen auch bei der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz enger zusammenarbeiten. Hier haben wir uns zwei Bereiche herausgesucht, die von großer Bedeutung sein können, wenn sich daraus etwas ergibt. Das sind zum einen der Gesundheitsbereich und zum anderen der Landwirtschaftsbereich. Die Bundeslandwirtschaftsministerin ist hier. Sie alle wissen, welche große Bedeutung die Landwirtschaft für Indien hat. 50 Prozent der Menschen sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Die Erträge sind längst noch nicht so, wie sie sein könnten. Die Verluste nach der Ernte sind groß. Die gesamten logistischen Zusammenhänge müssten verbessert werden. Auch für Kooperationen unter den vielen kleinen Landwirten kann man im ländlichen Raum noch sehr viel machen. Man muss ja Folgendes sehen: Wenn in den ländlichen Gebieten nichts passiert, strömen die Menschen in die urbanen Gebiete, die dann völlig überbeansprucht werden. Das heißt, jede Entwicklung des ländlichen Raums ist auch eine gute Nachricht hinsichtlich einer nachhaltigen Entwicklung der urbanen Räume. Deshalb halte ich das für sehr wichtig. Die Digitalisierung der Agrarbranche trägt dazu bei, nicht nur Erträge zu steigern, sondern auch Dünger, Pflanzenschutzmittel und Saatgut optimaler einzusetzen, was dann auch den Boden und das Grundwasser schont. Das Wasserthema ist ja hier in Indien in mehrfacher Hinsicht ein Thema. Dass auch im Gesundheitsbereich der digitale Fortschritt viele Möglichkeiten bietet, zum Beispiel, indem man über die Auswertung großer Datenmengen auch Rückschlüsse für Therapien ziehen kann, ist ja klar. Ich bin deshalb auf die Arbeitsergebnisse der neu vereinbarten „Digital Expert Group“ sehr gespannt – einer Initiative deutscher und indischer Unternehmen und Forschungseinrichtungen, die für die deutsche und indische Regierung Vorschläge für gemeinsame Projekte und politische Maßnahmen entwickeln soll. Vielleicht können Sie sich auch als Auslandshandelskammer noch einmal detailliert mit unseren verschiedenen Projekten befassen und schauen, wo für wen etwas dabei ist und wo vielleicht über das eigene Engagement hinaus noch etwas gemacht werden kann. Meine Damen und Herren, deutsche und indische Unternehmen arbeiten aus vielen Gründen zusammen; deutsche Unternehmen sind aus vielen Gründen hier in Indien präsent. Das Land überzeugte in den letzten 20 Jahren mit einer Wachstumsrate von sieben Prozent. Indiens Markt ist nicht nur enorm groß, sondern entwickelt sich auch sehr dynamisch. Deshalb sind Sie interessiert; und aus diesem Grund begleitet mich auf dieser Reise auch eine Wirtschaftsdelegation, die mit Ausnahme von Herrn Kaeser, der mit Siemens ein großes Unternehmen verkörpert, viele Mittelständler repräsentiert, die ihren Weg durch das indische Bürokratielabyrinth natürlich auch lernen müssen. Deshalb haben wir gestern beim Roundtable mit Ministerpräsident Modi auch sehr offen über die jeweiligen Hemmnisse gesprochen, die unsere Unternehmen in Indien vorfinden, die aber auch die indischen Unternehmen in Europa vorfinden. Denn auch dort gibt es sehr viel Bürokratie. Wir werden noch einmal mit der Europäischen Kommission sprechen, ob nicht bestimmte Dinge vereinfacht werden können. Wir sehen gute Möglichkeiten für deutsches Engagement bei der weiteren Modernisierung der indischen Infrastruktur – insbesondere bei den geplanten indischen Hochgeschwindigkeitszugverbindungen. Wir wollen auch unseren Beitrag bei der Gestaltung der Urbanisierung leisten, für Smart Cities und erneuerbare Energien. Indien hat bei erneuerbaren Energien eine Kapazität von rund 75 Gigawatt. Aber das ist für ein so großes Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir haben das auch schon mit 83 Millionen Einwohnern in Deutschland. Aber es ist gut, dass weitere 100 Gigawatt in den nächsten Jahren dazukommen sollen. Ein Riesenthema – so wird es mir immer wieder dargestellt – ist das Wasser- und Abfallmanagement. Hier hat Deutschland sehr gute Technologien anzubieten. Wir müssen allerdings auch sagen – das sagen uns alle Unternehmen –: B2B, von Unternehmen zu Unternehmen, funktioniert das zwar schon recht gut. Aber wenn es um das Abfallmanagement in den Städten geht, wenn also die Kunden die Einwohner sind, dann ergibt sich doch eine ganze Reihe an Schwierigkeiten, weil die Bepreisung von bestimmten Leistungen der Daseinsvorsorge keine ganz einfache Sache ist, wenn man Stadtteile mit sehr unterschiedlichen Lebens-, Niveau- und Einkommensverhältnissen hat. In den besser begüterten Stadtteilen könnte man sicher Preise verlangen, die den Leistungen entsprechen. In anderen Bereichen ist das sehr viel schwieriger. Wir haben in Chile gesehen, wie die Erhöhung der Fahrpreise um vier Cent für U-Bahnen sehr schnell große soziale Verwerfungen mit sich bringen können. Das ist sicherlich nicht ganz einfach. Aber auf Dauer müssen Umweltleistungen, Abfall, Strom und anderes natürlich bepreist werden, denn sonst wird das nicht richtig in Gang kommen. Nun wissen wir, dass gute Absichten allein nicht ausreichen. Deshalb haben wir ein Instrument installiert, nämlich das sogenannte Fast-Track-Verfahren. Das heißt, wenn bestimmte Investitionen stocken, kann über die Botschaft bzw. den Botschafter Lindner ein Weg zum Amt des Ministerpräsidenten gefunden werden, wo diese Fälle besprochen werden und geschaut wird, wo es hakt. Die deutsche Wirtschaft hat den Wunsch geäußert, so etwas am besten in jedem Bundesstaat Indiens zu haben, weil viele Entscheidungen auf der bundesstaatlichen Ebene fallen. Da wollen wir dranbleiben. Wir müssen außerdem eine Neuregelung zum Schutz deutscher Investitionen finden. Die alte Regelung ist 2016 ausgelaufen. Wir brauchen noch dringlicher – darüber habe ich auch gestern mit dem Ministerpräsidenten ausführlich gesprochen – einen neuen Anlauf bei den Verhandlungen mit der Europäischen Union über ein europäisch-indisches Freihandelsabkommen. Wir waren diesbezüglich schon einmal ziemlich dicht dran, aber dann haben sich doch einige strittige Fragen ergeben, die vor allem den Zugang zum öffentlichen Beschaffungswesen und die Landwirtschaft betreffen. Wir haben uns aber vorgenommen, mit der neuen Europäischen Kommission einen neuen Anlauf zu machen, zumal der Handelskommissar in der neuen Kommission bisher für Landwirtschaft in der alten Kommission zuständig war und sich in diesem Bereich sehr gut auskennt. Wir, Indien und Deutschland, wollen uns insgesamt für das multilaterale Handelssystem einsetzen. Der deutsche Außenminister Heiko Maas hat am Rande der UN-Generalversammlung mit seinem französischen Kollegen eine Versammlung mit Ländern abgehalten, die sich zur multilateralen Herangehensweise bekennen. Erfreulicherweise hat auch Indien dabei mitgemacht. Wir wollen Multilateralismus stärken. So haben das Premierminister Modi und ich gestern besprochen. Indien gewinnt als wirtschaftsstarke und bevölkerungsreiche Nation in der internationalen Zusammenarbeit weiter an Gewicht. Das bedeutet natürlich auch eine gewachsene Verantwortung des Landes in internationalen Fragen. Wir sind schon in einigen maritimen UN-Missionen gemeinsam engagiert. Wir haben ein gemeinsames Interesse an der Entwicklung Afghanistans. Es geht natürlich auch immer um ein faires Verhältnis der Staaten zueinander. Das ist natürlich nur möglich, wenn es Verständnis füreinander gibt, wenn es die Bereitschaft gibt, einen fairen Interessenausgleich zu suchen und im Dialog Lösungen zu suchen. Das steht für eine Haltung, die Indien weltweit mit der großen Persönlichkeit von Mahatma Gandhi verkörpert, dessen 150. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern. Es war deshalb für mich gestern ein ganz besonderer Moment, gemeinsam mit dem Premierminister das letzte Wohnhaus Gandhis, Gandhi Smriti, zu besuchen. Für diese Gelegenheit danke ich von Herzen. Wir begehen in diesem Jahr ja verschiedene Jubiläen. Vor 30 Jahren fiel die Berliner Mauer. Vor 70 Jahren wurde die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Zwei Jahre zuvor – im Jahr 1947 – hatte Indien seine Unabhängigkeit erreicht. Und zwei Jahre danach – im Jahr 1951 – haben Deutschland und Indien diplomatische Beziehungen aufgenommen. Das waren wichtige Schritte. Auch die Auslandshandelskammern haben seitdem großartige Arbeit geleistet. Ich will Ihnen hier allen, insbesondere dem Vorstand, noch einmal sagen, dass wir das schätzen. Sie sind neben dem politischen Botschafter weitere wichtige Botschafter in Indien, in diesem großen Land. Ich darf Ihnen verraten, dass auf Sie vielleicht noch mehr Arbeit zukommt. Denn wir haben kürzlich ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz verabschiedet. Ich denke, gerade die Tatsache, dass inzwischen schon fast 20.000 indische Studenten in Deutschland studieren, ist eine gute Nachricht. Immer mehr Universitäten bieten englische Curricula an. Das heißt, die Sprachbarriere ist nicht mehr so gravierend, wie das früher einmal der Fall war. Wir freuen uns trotzdem über jeden, der Deutsch lernt. Das Goethe-Institut leistet in diese Richtung ja auch viel Arbeit. Man muss nicht mehr unbedingt fließend Deutsch sprechen, um in Deutschland eine Ausbildung zu machen. Als Erstes geht es um Fachkräftewissen; und dann werden die Deutschkenntnisse schon noch wichtiger und besser werden. Unser Vorschlag ist, dass die Auslandshandelskammern Anlaufpunkte für Menschen sind, die Fachkräfte in Deutschland sein wollen, sozusagen Angebote vermitteln und dann in enger Kooperation mit den Botschaften die Visa-Anträge ausfüllen. Wir wissen ja alle, dass manch einer klagt, wie lange die Visa-Bearbeitung dauert. Wir wollen, damit dieses Fachkräfteeinwanderungsgesetz funktioniert, einen Mechanismus aufsetzen, der ab März des nächsten Jahres von Anfang an funktioniert. Das werden wir Ende des Jahres mit der deutschen Wirtschaft besprechen. Ich könnte mir denken, dass es auch auf indischer Seite durchaus ein gewisses Interesse gibt, Fachkräfte nach Deutschland zu schicken. Indien wird 2022 75 Jahre Unabhängigkeit feiern und genau in diesem Jahr die G20-Präsidentschaft übernehmen. Deutschland wird dann die G7-Präsidenschaft innehaben. Wir werden uns schon einmal überlegen, was wir an deutsch-indischen Höhepunkten in diesem Jahr miteinander vereinbaren können. Ich möchte jedenfalls damit schließen, zu sagen, dass ich glaube, dass unsere Zusammenarbeit noch deutlich mehr Potenzial hat. Indien wird 2030 mehr Einwohner haben als China. Indien wird nach der zweiten Wahl von Herrn Modi seine internationale Rolle stärken. Indien hat eine junge Bevölkerung, die in Wohlstand leben möchte, die aber auch Leistung erbringen möchte. Insofern gebührt Ihnen Dank dafür, dass Sie hier Arbeitsplätze schaffen, dass Sie hier Erfahrungen weitergeben, dass Sie hoffentlich auch hier in Indien Geld verdienen. Das wollen wir natürlich auch. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass diese Beziehungen noch kräftiger, noch lebendiger und noch intensiver werden. Auf der politischen Seite ist der Wille jedenfalls vorhanden. Das haben wir mit diesen deutsch-indischen Regierungskonsultationen unterstrichen. Herzlichen Dank dafür, dass ich heute bei der Eröffnung dabei sein durfte.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Digital-Gipfel am 29. Oktober 2019 in Dortmund
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-digital-gipfel-am-29-oktober-2019-in-dortmund-1686444
Tue, 29 Oct 2019 16:08:00 +0100
Dortmund
keine Themen
Sehr geehrter Herr Berg, sehr geehrter Herr Ministerpräsident – er ist wohl nicht mehr da, aber er war es –, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett, sehr geehrte Frau Vizepräsidentin-elect, liebe Kommissarin Vestager, meine Damen und Herren, ich grüße Sie ganz herzlich, beim Digitalgipfel diesmal in Dortmund, und möchte auch noch einmal ganz herzliche Grüße von Peter Altmaier ausrichten. Ich hatte Kontakt mit ihm. Er muss sich ein bisschen pflegen, aber es geht ihm so weit gut. Wir sind optimistisch, dass er bald wieder komplett an Deck sein wird. Wir sind hier in Dortmund in einer Region, die Wandel kennt. Der Ministerpräsident hat hier heute auch schon zu Ihnen darüber gesprochen. Einst waren hier Hunderttausende von Kohlekumpeln, jetzt sind es Hunderttausende von Studentinnen und Studenten. So weiß man in dieser Region und in dieser Stadt, was Wandel bedeutet. Und deshalb ist Dortmund ein guter Standort für unseren diesjährigen Digital-Gipfel. Herr Berg hat eben von Jubiläen gesprochen: 70 Jahre Bundesrepublik Deutschland, 30 Jahre Mauerfall. Ich habe heute zur Kenntnis genommen, dass wir heute – jedenfalls nach einer bestimmten Definition des Internets – 50 Jahre Internet feiern. Man sieht also, dass das, womit wir uns hier beschäftigen, nicht ganz so neu ist, wie man manchmal denkt, aber dass sich in der Entwicklung immer wieder ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Damit hat sich ja auch der diesjährige Digital-Gipfel wieder beschäftigt. Es ist ja Usus, dass wir uns in den Plattformen, wie es heißt – die aber nicht die Plattformen sind, um die es hier heute geht, sondern das sind sozusagen Arbeitscluster –, mit der gesamten Bandbreite an verschiedenen Themen beschäftigen. Es ist gut, dass diese Plattformen das ganze Jahr über arbeiten und die Dinge in den verschiedenen Bereichen – von der Infrastruktur über die Digitalisierung der Wirtschaft bis zu den lernenden Systemen der Arbeitswelt und auch den ethischen Fragen und den Verbraucherschutzfragen – immer und kontinuierlich voranbringen. Der Präsident des BDI hat neulich gesagt: Na ja, die Arbeit zwischen den Gipfeln ist gut, aber die Gipfel sind eigentlich nur Show. – Ich weiß nicht, ob ich mir das zu Herzen nehmen und sagen soll: Die Arbeit des BDI ist gut, aber zum Jahrestag komme ich nicht mehr. Auf jeden Fall glaube ich, dass solche Gipfel doch immer wieder die Möglichkeit geben, auf Ergebnisse hinzuarbeiten und dann Bestandsaufnahmen zu machen, Diskussionen zu beleben und sich auszutauschen, um dann wieder in die Arbeit in den Sektoren einzusteigen. Für uns in Europa ist es sehr wichtig – dafür steht Pars pro Toto die Datenschutz-Grundverordnung –, dass wir unsere eigenen Herangehensweisen hinsichtlich der Fragen der Digitalisierung entwickeln. In Deutschland würden wir sagen: Wir haben die Soziale Marktwirtschaft, die mit ihren Prinzipien und Werten erhalten bleiben und zugleich in die digitale Welt transformiert werden muss. Deshalb spielt das Wort Datensouveränität eine so wichtige Rolle für uns. Der Umgang mit Daten, die Selbstbestimmtheit der Bürgerinnen und Bürger und das Wissen der Bürgerinnen und Bürger sowie der Unternehmen um die Fragen „Wo sind meine Daten?“, „Wer arbeitet mit meinen Daten?“ und „Habe ich dazu das Einverständnis erklärt?“ – das sollte ein Grundthema sein. Deshalb können wir im Hinblick auf die Digitalisierung unbesorgt sein und sagen, dass all das, was wir an Wertevorstellungen haben, und all das, was wir uns mit unseren Zivilrechtsbüchern, mit unserem Wettbewerbsrecht und mit vielem anderen erarbeitet haben, zum Teil über Jahrzehnte hinweg, auch in der digitalen Welt seine Wirkung, seine Rechtfertigung haben muss. Das digitale Leben ist sozusagen kein außerrechtliches Leben, sondern unsere Grundprinzipien müssen weiter gelten und in die digitale Welt übertragen werden, wenn es zum Beispiel darum geht, wie wir ethische Leitlinien für die künstliche Intelligenz in der Arbeitswelt entwickeln. Das ist dann noch einmal eine neue Aufgabe. Aber es kann nicht sein, dass das, was wir nach der Industrialisierung überwunden haben, nämlich dass der Arbeitnehmer keine Rechte hat, nun plötzlich mit der neuen technologischen Stufe wieder von vorne beginnt. Wir müssen vielmehr die Werteprinzipien aus der alten Stufe – das, was Humanität ausmacht und die Würde des Menschen betrifft – übertragen. Dennoch dürfen wir nicht dem Trugschluss verfallen, dass das Arbeiten und das Leben in der digitalen Welt nur so funktionieren wie in der analogen Welt. In der analogen Welt haben wir Sachgegenstände; und wenn wir die einmal einem zur Nutzung übergeben, dann sind sie sozusagen in gewisser Weise verbraucht. In der digitalen Welt haben wir Daten, die wir vielfach anwenden und immer wieder teilen können, ohne dass die Daten als solche verschwinden. Sie sind vielmehr vielfach verwendbar, woraus in Netzwerken auch völlig neue Qualitäten von Erkenntnissen entstehen. Diese Möglichkeiten müssen wir nutzen. Deshalb wendet sich die Frage des Umgangs mit Daten natürlich genauso an die Bürgerinnen und Bürger wie an die Unternehmen; sie betrifft die Beziehungen der Unternehmen untereinander, die Beziehungen zwischen dem Wirtschaftsbereich und dem öffentlichen Bereich und eben auch die Beziehungen der Unternehmen zu ihren Kunden. All das wird sich verändern; und darüber müssen wir reden. Damit man nun auf diesem Gebiet überhaupt satisfaktionsfähig ist, wie ich einmal sagen würde, braucht man natürlich eine vernünftige Dateninfrastruktur. Da haben wir in Deutschland einiges erreicht, aber längst nicht genug. Wir werden den Ansprüchen an ein hochentwickeltes Industrieland, was sowohl den Festnetzausbau als auch den Mobilfunknetzausbau anbelangt, noch nicht in allen Bereichen gerecht. Deshalb werden wir morgen Eckpunkte für eine Mobilfunkstrategie im Kabinett verabschieden und sozusagen hurtig versuchen, die weißen Flecken möglichst so weit einzugrenzen, dass es wirklich nur noch kleinste weiße Flecken gibt, wobei es nicht so ganz einfach ist, ein Land von der Größe Deutschlands zu 100 Prozent mit einer Hochqualitätsdateninfrastruktur zu versehen. Aber das ist unser Ziel. Wir wissen, dass wir hier im föderalen System sehr eng zusammenarbeiten müssen. Das stellt uns – sowohl den Bund als auch die Länder und Kommunen – vor manche Hürde. Wir müssen vor allen Dingen Beschleunigungswege finden. Herr Berg hat es eben angesprochen: Es gibt Einzelbeispiele mit einer Genehmigungsdauer von 900 Tagen für einen Funkmast. Das kann nicht der Standard sein, sondern das muss schneller gehen. Wir wollen im öffentlichen Bereich auch bereit sein, unsere Flächen zur Verfügung zu stellen – das wollen wir auch von den Ländern und Kommunen erbitten –, damit wir auf diesen Gebieten dann schneller die digitale Infrastruktur ausbauen können. Natürlich ist es unser Ziel, die 5G-Versorgung möglichst weit auszurollen. Im Gegensatz zum Vorjahr haben wir jetzt die Versteigerung der Frequenzen. Ich darf denjenigen der hier Anwesenden, die aus dem Wirtschaftsbereich sind, die frohe Kunde vermelden, dass wohl in wenigen Tagen die Bundesnetzagentur veröffentlichen wird, wie der Frequenzbereich, der für die Nutzung durch Unternehmen, Landwirtschaftsbetriebe, kleine und große Unternehmen reserviert wurde, sozusagen zur Verfügung gestellt werden kann. Ich darf Ihnen auch verraten: Die Kosten sind mittelstandsfreundlich, wie mir heute gesagt wurde. Das heißt also, es wird sich dann für deutsche Unternehmen rentieren, sehr schnell Zugriff auf 5G zu haben. Es stellt sich natürlich auch die Frage des Datenmanagements. Herr Berg hat eben gesagt: Deutschland kann nicht alles. Ich denke, wir sollten im gesamten Bereich der Digitalisierung soweit wie möglich europäisch denken. Europa muss im Grundsatz alles können. Ich glaube nicht, dass Europa ganze Bereiche definieren sollte, zu denen wir sagen: Da kommen wir jetzt nicht mit. Aber wir können im Augenblick nicht alles. Das, was mich am meisten besorgt, ist, dass gerade die Verwaltung von Daten – auch von Wirtschaftsdaten, aber auch von Konsumentendaten – in ganz wesentlichen Bereichen zum Beispiel bei amerikanischen Unternehmen liegt. Ich habe nichts gegen fairen und freien Wettbewerb, aber wir geraten damit in unseren Wertschöpfungsketten in Abhängigkeiten, die wir vielleicht auf Dauer nicht für richtig halten. Da es sein kann, dass derjenige, der einmal über die Daten als solche verfügt – zum Beispiel in den B2B-Relationen –, aber auch derjenige, der über die B2C-Daten, also über die Konsumentendaten verfügt, letztlich auch derjenige ist, der sozusagen am fettesten Brocken der Wertschöpfungskette sitzt, kann es passieren, dass wir auf diese Art und Weise zu einer verlängerten Werkbank werden oder in Abhängigkeiten geraten, in die ich nicht unbedingt geraten möchte. Deshalb empfinde ich es als einen sehr großen Fortschritt – auch wenn es noch eine Menge Fragen gibt –, dass sich der Bundeswirtschaftsminister zusammen mit der Bundesforschungsministerin auf den Weg gemacht hat und mit dem Projekt GAIA-X gesagt hat: Lasst uns eine europasouveräne Datenspeicherstruktur entwickeln. Das heißt nicht, dass alle Daten an einer Stelle zusammenlaufen, sondern das heißt, dass es Interoperabilität zwischen den verschiedenen Datenspeicheroptionen, zwischen den verschiedenen Clouds gibt. Ich kann alle nur ermuntern, sich dafür zu interessieren und bereitzuerklären. Wenn ich dann höre „Ja, ja, wir sind sowieso so weit im Rückstand“, dann sage ich: Wir sind im Rückstand und es müssen erhebliche finanzielle Ressourcen eingesetzt werden, um die Speicherung und dann auch die Verarbeitung – die Speicherung ist ja nur der Ausgangspunkt –, also auch das Management mit diesen Daten, das Entwickeln von KI-Algorithmen und die Verknüpfung zu neuen Wertschöpfungsmöglichkeiten zu leisten. Das müssen wir nach meiner festen Überzeugung – bzw. wir müssen zumindest diesen Anspruch haben – in Europa können. Ich sage Ihnen aber auch ganz offen: Wir haben uns als Regierung sehr viele Gedanken darüber gemacht, aber wir können dieses Projekt nur mit den Interessenten aus der Wirtschaft wirklich vorantreiben. Wenn es keine Nutzer gibt, dann kann auch der Staat an den Angeboten nicht so arbeiten, dass sie dann wirklich verfügbar sind. Wir können durch Open-Data-Management auch unsere Daten verfügbar machen; dann zeigen wir, dass wir Vertrauen in so etwas haben. Ansonsten muss das aber privatwirtschaftlich vorangetrieben werden; das ist vollkommen klar. Wir wollen das zusammen mit Frankreich und auch mit anderen europäischen Ländern tun. Unabhängig vom sonstigen Wettbewerbsrecht haben wir in Europa glücklicherweise andere Möglichkeiten der Förderung – auch beihilferechtlich –, wenn es um strategisch wichtige Projekte geht. Diese Möglichkeiten nutzen wir ja zum Beispiel schon bei der Chipfertigung und den Batteriezellen. Man könnte sich das auch für sogenannte Hyperscaler, wie sie so schön heißen, vorstellen, wenn wir sozusagen einmal ein anlaufendes Modell haben. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch einen Punkt sagen: Wir sind selbstkritisch zu uns als Staat, aber wir haben auch Besorgnisse bezüglich der Wirtschaft. Herr Berg hat es eben selbst gesagt: Durch die sehr hohe Auslastungszeit unserer Unternehmen – gerade der kleinen und mittelständischen Unternehmen – ist die Phase, in der die Digitalisierung und auch die künstliche Intelligenz noch einmal einen richtigen Quantensprung gemacht haben, ein bisschen an uns vorübergegangen; manche hatten gar keine Zeit, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Wir müssen jetzt einen intelligenten Weg finden, wie wir zum Beispiel die Arbeit von Bitkom mit der Arbeit des BDI, der BDA, des DIHK und ZDH vernetzen. Wir müssen die Kenntnisse der Fraunhofer-Gesellschaft nutzen und mit kleinen und mittelständischen Unternehmen darüber sprechen, was da auf sie zukommt und was die Wertschöpfungsmodelle der Zukunft sind. Wir müssen wirklich darum bitten, dass es eine Offenheit dafür gibt. Es kann schon sein, dass ein Mittelständler glaubt, er kenne seine Daten; das ist schön. Er weiß aber nicht, was er in der Kombination mit den Daten seiner Nachbarn – anonymisiert natürlich – noch alles zusammen mit seinen Nachbarn an neuen Wertschöpfungsketten aufbauen könnte. Wenn wir uns sozusagen dieses Element der Wertschöpfung aus der Hand nehmen lassen, dann wird es für den Industriestandort Deutschland ein böses Erwachen geben. Wir haben eine ganze Reihe von Sektoren, in denen wir stark sind. Das ist zum Beispiel die Automobilindustrie. Ich bin der Meinung, dass wir, wenn wir diese Branche modern halten wollen, eben nicht sagen können: Na ja, das mit dem autonomen Fahren überlassen wir einmal den Amerikanern oder den Chinesen. Wir müssen vielmehr sowohl in der Batteriezellproduktion als auch im Bereich des autonomen Fahrens den Anspruch haben, das selber zu können. Wir haben den Maschinenbau, wir haben die chemische Industrie – und wir können nicht ganze Sektoren der klassischen Industrie ausnehmen und sagen: Da kommen wir jetzt leider nicht hinterher. Es muss durchaus unser Anspruch sein, auch mit dabei zu sein. Was ist jetzt der Punkt, den wir vonseiten des Staates leisten müssen? Wir können Ihnen Unterstützung geben. Wir arbeiten im Augenblick noch einmal sehr intensiv an der Frage: Wie können wir die Start-up-Finanzierung weiter verbessern? Aber auch hier bleibt die Frage: Wie können wir eigentlich mehr Menschen, die über materielle Ressourcen verfügen, dazu ermuntern, in diesen Bereich zu investieren? Wir überlegen, wie wir Risikosharing betreiben können, weil es in der Tat etwas unsicherer ist, wenn ein Lebensversicherer seine Anlagen in Start-ups macht, als wenn er das in anderen Bereichen tut. Aber da, wo Risiko ist, ist auch eine Chance. Insofern müssen wir dabei agiler werden. Wir haben die Aufgabe, junge Menschen mit der Digitalisierung vertraut zu machen. Deshalb gibt es den DigitalPakt Schule. Deshalb beschäftigen wir uns gemeinsam mit den Ländern auch mit der Frage, wie wir Lehrerweiterbildung gestalten und digitale Lerninhalte erstellen. Dabei sind wir deutlich vorangekommen. Wir haben die Aufgabe, den Beschäftigen zu helfen. Ich möchte mich bei den Gewerkschaften bedanken, die sich mit der Frage der Digitalisierung der Arbeitswelt intensiv beschäftigen. Dass wir im vergangenen Jahr eine Nationale Weiterbildungsstrategie entwickelt haben, ist ein großer Schritt nach vorn. Ich weiß, dass noch weitere Wünsche im Raum stehen. Wir haben auch einen strategischen Dialog mit der Automobilindustrie aufgesetzt. Am Montag werden wir dazu wieder tagen. Dabei wird es natürlich auch um die Frage gehen, wie wir als Staat die Transformation zum Beispiel der Antriebstechnologien so mitgestalten und mitbegleiten können, dass Fachkräfte erhalten bleiben und das Fachkräftepotenzial nicht verlorengeht. Das erfordert eine sehr enge Kooperation von denen, die sich in der Industrieproduktion auskennen, und eine Verzahnung mit staatlichen Instrumenten. Mit der Nationalen Weiterbildungsstrategie haben wir auch sogenannte Experimentierräume vorgesehen, in denen wir bestimmte Fallkonstellationen untersuchen und präventiv zu verstehen versuchen, welche Herausforderungen für die Beschäftigung auf uns zukommen. Wir haben sehr große Fortschritte im Bereich des Gesundheitswesens – das ist hier schon angeklungen –: die elektronische Patientenakte bis 2021, das E-Rezept ab 2020, der Aufbau von Telemedizin. Hier kommt der Punkt des Vertrauens und Nichtvertrauens der Bürgerinnen und Bürger in digitale Lösungen besonders zum Tragen. Was wir in Deutschland noch viel stärker zeigen müssen – ich finde, das können Estland und andere Länder zeigen, die in der digitalen Nutzung durch die Bürger schon sehr viel weiter sind –, ist, dass Sie eine viel bessere Möglichkeit haben, zu verfolgen, wer jemals in der digitalen Welt mit Ihren Daten umgegangen ist, weil sich die Spuren nicht verwischen, als wenn Sie sozusagen Ihre Krankenakte irgendwo im Krankenhaus liegen haben und gar nicht wissen, wer da, wenn Sie nicht danebenstehen – und das tun Sie ja selten –, Zugriff darauf hat. Das heißt, es gibt mehr Sicherheit, wenn man es richtig macht. Das müssen wir den Menschen in Deutschland, denke ich, immer wieder sagen. Wir haben riesige Möglichkeiten im Bereich des Städtemanagements. Wir haben uns gerade das Thema Smart Cities angeschaut. Dabei gibt es in Deutschland natürlich die Herausforderung, dass es bei uns nicht auf einen Flickenteppich mit lauter Insellösungen hinausläuft, sondern dass wir versuchen, dieses Konzept mit kompatiblen Standards zu verfolgen. Damit komme ich zu unserer Hauptaufgabe als Regierung. Wir haben uns mit dem sogenannten Onlinezugangsgesetz vorgenommen, 575 staatliche Verwaltungsdienstleistungen zu digitalisieren; 115 der Funktionen liegen beim Bund. Wir sind hierbei vorangeschritten, wenngleich manche Umsetzung auch eher länger als kürzer dauert. Das Ziel ist, dass man unter dem Gesichtspunkt der Datensparsamkeit, wenn der Bürger dem Staat einmal ein Datum zur Verfügung gestellt hat, immer wieder darauf zurückgreifen und diese 575 Funktionen sehr schnell und sehr einfach abrufen kann. Das ist nur zu schaffen, wenn wir wirklich die Mitwirkung aller Länder und aller Kommunen haben. Die Länder als die Verantwortlichen für die 11.000 Kommunen in Deutschland müssen hierbei mitziehen. Ansonsten werden wir es in der Zeit, in der wir uns das vorgenommen haben, nicht schaffen. Vieles ist mental bedingt. Deutschland ist ein Land mit einer vergleichsweise gut funktionierenden Verwaltung und mit einem vergleichsweise hohen Lebensstandard. Das heißt, das Potenzial, dass man unbedingt die nächste technologische Stufe erklimmen will, ist nicht so ausgeprägt wie in Ländern, die sehr viel ärmer sind, eine schlecht funktionierende Verwaltung haben und vielleicht noch sehr viel Korruption haben. Sie sagen: Mit der Digitalisierung bekomme ich mehr Transparenz. Es gibt Länder, in denen Digitalisierung ein Synonym für Transparenz ist – im guten wie im schlechten Sinne. Auf der einen Seite hat der Staat sehr viel Zugriff. Aber auf der anderen Seite sind Abläufe, die früher mit der Übergabe eines Briefumschlags mit etwas Geld darin geregelt wurden, heute so nicht mehr möglich. Deshalb ist Digitalisierung auch ein Treiber zu mehr Transparenz für die Gesellschaften. Alle Möglichkeiten der Digitalisierung unbedingt haben und nutzen zu wollen, ist bei uns aber nicht zu 100 Prozent in der Bevölkerung ausgeprägt. Ich fand sehr interessant, was Herr Berg gesagt hat und möchte das ausdrücklich unterstreichen: Wenn Menschen und Unternehmen nicht neugierig auf neue Möglichkeiten sind – das brauche ich in diesem Raum nicht zu erzählen, aber Sie sind ja weder die gesamte Wirtschaftswelt noch die gesamte Bürgerschaft Deutschlands –, dann werden wir auch mit noch so vielen Strategien nicht durchdringen oder wir werden sogar Aversionen bekommen, sodass sich Menschen verweigern. Deshalb finde ich die Idee des Digitaltags sehr gut und finde es auch toll, dass dabei so viele Verbände, Vereinigungen und die Kirchen mitarbeiten. Das ist sehr wichtig. Meine Damen und Herren, wir sind mitten in der Arbeit; die Bundesregierung ist sozusagen Handelnde und gleichzeitig – das gebe ich ganz offen zu – auch Lernende. Wir haben ein Digitalkabinett und wir haben einen Digitalrat. Die Form des Arbeitens muss sich ja nicht nur für Politikerinnen und Politiker ändern, sondern auch für die Beamten und Beschäftigten. Permanentes, lebenslanges Lernen muss aber auch eingeübt werden. Deshalb ist es besser, die Kinder lernen das schon in der Schule und kommen dann auch schon einigermaßen gebildet in die Welt. Wir sind also in dieser Transformation nicht nur gefangen, sondern wir sind mittendrin in der Gestaltung. Das erfordert schon einen großen Kraftakt, den wir aber leisten wollen, weil darin auch so viele Chancen liegen. Deshalb finde ich es gut, dass wir hier immer ein bisschen Antrieb von all denen bekommen, die an diesem Digital-Gipfel mitwirken. Den brauchen wir als Politikerinnen und Politiker auch. Deshalb wird auch nächstes Jahr die Arbeit nicht beendet sein. Das heißt, wir brauchen wieder einen solchen Gipfel. Dann soll er – das darf ich hier ja verraten – in Jena stattfinden. (Beifall) – Es gibt eine gewisse Anhängerschaft Jenas; ich sehe das schon. Wir laden Sie also jetzt schon ganz herzlich dazu ein. Danke, dass Sie hier waren. Bringen Sie sich weiter in das große Kapitel der Digitalisierung ein, das über unseren Wohlstand von morgen entscheiden wird. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Digital-Gipfel der Bundesregierung
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-digital-gipfel-der-bundesregierung-1687142
Tue, 29 Oct 2019 13:30:00 +0100
Im Wortlaut
Dortmund
Kulturstaatsministerin
Kultur
Es schmeichelt mir ja sehr, dass man mir zutraut, die Wechselwirkungen zwischen digitalen Plattformen und Demokratie in einem Zeitfenster von exakt zehn Minuten abzuhandeln. Mit Erleichterung nehme ich aber zur Kenntnis, dass ich dieses weite Feld nicht allein beackern muss. Die beiden Podien für die Diskussionen sind mit namhaften Expertinnen und Experten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien besetzt, so dass ich mich auf einige grundsätzliche Überlegungen zur Mitverantwortung digitaler Plattformen für eine demokratische Debattenkultur beschränken kann. Fakt ist, dass immer mehr Menschen Wissen und Informationen, insbesondere auch Nachrichten, heute aus dem Netz beziehen. Eine wesentliche Rolle spielen dabei Plattformen und soziale Netzwerke. Was man dort zu sehen bekommt, ist in der Regel die Auswahl eines Algorithmus, programmiert mit dem Ziel, möglichst viel „Traffic“ zu generieren. Dass dadurch Filterblasen entstehen können, in denen auch Manipulation, Hetze und Verschwörungstheorien gedeihen, ist bekannt – ebenso die Tatsache, dass eine Lüge, frei nach Mark Twain gesprochen, auf diese Weise schon dreimal um die Welt ist, bevor die Wahrheit sich die Schuhe anzieht. Weniger bekannt sind die Auswirkungen auf die klassischen Medien. Für die FAZ – um ein konkretes Beispiel zu nennen – hat der Facebook-Algorithmus zur Folge, dass nur 15 Prozent der Inhalte, die die Redaktion auf Facebook veröffentlicht, Nutzern auch angezeigt werden. 85 Prozent tauchen im Newsfeed nicht auf – selbst dann nicht, wenn ein Nutzer grundsätzliches Interesse an der FAZ bekundet hat. Welchen Einfluss hat das auf die Meinungsbildung? Und was bedeutet es für eine Demokratie, wenn Journalistinnen und Journalisten im Hinterkopf haben, dass ihre Texte möglichst hohe Klickzahlen generieren müssen? Das sind Fragen, die sich in diesem Zusammenhang natürlich aufdrängen. Zur Verbesserung der demokratischen Debattenkultur trägt die Allgegenwart der Algorithmen jedenfalls bisher eher nicht bei. Nur 17 Prozent – das ergab kürzlich eine Allensbach-Umfrage – sehen das Internet als Forum des freien politischen Meinungsaustauschs. Das dürfte angesichts der Radikalisierung der Sprache, der Verrohung des öffentlichen Diskurses, der Abwertung anderer Sichtweisen und der überproportionalen Hör- und Sichtbarkeit extremistischer Positionen im Netz niemanden überraschen. Offensichtlich fordern die Verlagerung der öffentlichen Meinungsbildung ins Internet und die algorithmische Sortierung des Informationsangebots auf digitalen Plattformen nicht nur etablierte Geschäftsmodelle heraus, sondern auch die Demokratie. Deren Kern ist der vermittelnde Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen und Weltanschauungen. Debatten im Netz fördern aber eher Polarisierung als Verständigung. Dass darüber in den Feuilletons wie auch im Netz leidenschaftlich diskutiert wird, darf zumindest als Indiz dafür gelten, dass der bisweilen für nicht überlebensfähig erklärte öffentliche Diskurs nach wie vor stattfindet – wenn auch mit neuen Machtstrukturen und veränderter Dynamik, da ohne Zugangsbeschränkungen und jenseits der bisher gültigen Regeln. Darin liegen nicht nur Risiken, sondern auch Chancen für die Demokratie; daraus erwachsen nicht nur Gefahren, sondern auch neue Energien für den öffentlichen Diskurs. Jedenfalls verändert sich damit unsere Demokratie. Dafür tragen die Betreiber digitaler Plattformen, die neue Spielfelder mit veränderten Spielregeln eröffnen, eine Mitverantwortung, und selbstverständlich muss auch die Politik hier gestaltend eingreifen – eine Auffassung, die mittlerweile auch auf Seiten der Plattformbetreiber nicht mehr automatisch Abwehrreflexe auslöst. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg hat sich dazu vor einem halben Jahr ausführlich in einem Interview geäußert: „Ich bin zu der Überzeugung gelangt“, sagte er, „dass wir zu viel Macht darüber erlangt haben zu entscheiden, was Redefreiheit im Internet ist. Politiker und Wissenschaftler rund um den Globus haben mir das gesagt, und ich stimme mit ihnen überein, dass wir einen demokratischeren Prozess brauchen, um über entsprechende Normen übereinzukommen. Offen gesagt: Das wäre wirklich hilfreich für alle.“ Es freut mich, dass Mark Zuckerberg damit meine – und nicht nur meine – Auffassung teilt. Wir sollten es nicht den IT-Konzernen überlassen, Rahmen und Regeln des demokratischen Diskurses zu setzen. Unsere Aufgabe ist, mit entsprechenden Regeln dafür sorgen, dass digitale Technologie unserer Demokratie dienen kann. Lassen Sie mich dies an drei Beispielen erläutern. Erstens: Demokratie braucht auch im digitalen Zeitalter die Vielfalt freier, unabhängiger Medien. Das heißt: Journalistische Qualität muss finanzierbar bleiben. Dabei hilft ein eigenes Leistungsschutzrecht, das Presseverleger bei der Durchsetzung ihrer Rechte unterstützt. Sie können ihre Inhalte auf der Grundlage des Exklusivrechts lizenzieren und unberechtigte Nutzungen ihrer Inhalte verhindern. Deshalb habe ich mich vehement dafür eingesetzt, dass in der Richtlinie zum Urheberrecht im Digitalen Binnenmarkt ein Leistungsschutzrecht für Presseverleger nach deutschem Vorbild verankert wird. Zweitens: Demokratie braucht fairen Wettbewerb. Datenmonopole sind Deutungsmonopole, und Deutungsmonopole werden leicht zu Meinungsmonopolen. Insofern sehe ich die dominante Stellung von Google äußerst kritisch. Damit wird die Auffindbarkeit von Inhalten bei Google zum Kriterium für publizistischen und wirtschaftlichen Erfolg. Für mich steht außer Frage, dass Plattformbetreiber mit derartiger Marktmacht in besonderer Weise auch für die Auffindbarkeit journalistischer – also sorgfältig recherchierter, verlässlicher Informationen – verantwortlich sind. Deshalb befürworte ich aus der Branche heraus entwickelte Qualitätssiegel, die das Einhalten journalistischer Standards bewerten. Fairer Wettbewerb heißt aber auch, dass grundlegende Bestimmungen auf alle audiovisuellen Mediendienste ausgedehnt werden. Deshalb habe ich mich auf europäischer Ebene dafür eingesetzt, im Rahmen der neuen AVMD-Richtlinie auch Videoplattformen für einen stärkeren Jugend- und Verbraucherschutz – zum Beispiel für den Schutz vor Gewalt verherrlichenden Inhalten – in die Pflicht zu nehmen. Drittens: Demokratie braucht kulturelle Vielfalt. Unverzichtbar dafür ist ein modernes Urheberrecht, das sicherstellt, dass man auch in Zukunft von geistiger und kreativer Arbeit leben kann. Meiner Ansicht nach war es dringend notwendig, im Zuge der EU-Urheberrechtsreform für eine bessere Vergütung von Kreativen zu sorgen, die jahrelang mitansehen mussten, wie insbesondere digitale Plattformen von der Nutzung ihrer Werke kommerziell profitierten, während sie selbst vielfach leer ausgingen. Hinter dem Anspruch, digitale Plattformen für mediale und kulturelle Vielfalt in die Pflicht zu nehmen, steht die Überzeugung, dass eine kritische, informierte Öffentlichkeit und ein lebendiger Diskurs die stärksten Garanten sind für eine starke Demokratie – und dass es auf diese Weise auch gelingen kann, digitale Plattformen für eine demokratische Debattenkultur, als Forum des Austauschs und der Verständigung zu nutzen. Gerade damit bieten digitale Plattformen für die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit und für das weitere Zusammenwachsen Europas enormes Potential. Deshalb unterstütze ich den Aufbau einer digitalen Plattform für junge Europäerinnen und Europäer – so wie es auch als Vorhaben im Aachener Vertrag für die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration formuliert wurde. Für die Diskussion über die Chancen neuer Medien lohnt sich aber nicht nur ein Blick in die Zukunft, sondern auch ein Blick in die Vergangenheit, auf eine Medienrevolution, deren Wucht mit jener der Digitalisierung durchaus vergleichbar ist – auf die Erfindung des Buchdrucks. Wussten Sie, meine Damen und Herren, dass es überwiegend deutsche Zuwanderer waren, die sich mit Druckereien in Venedig ansiedelten und die damals reichste Handelsmetropole der Welt damit zum „Silicon Valley“ der Renaissance machten? Diese Informationen verdanke ich einer Google-Recherche zu den Suchbegriffen „Digitalisierung, Buchdruck, Medienrevolution“, die mich zu einem erhellenden Artikel geführt hat. Darin heißt es über das – ich zitiere – „wilde Milieu der Drucker“: „Wie heute bei Debatten um die Macht im Internet, so gab es auch im Venedig nach 1480 Chaosclubs neben Diskurspolizisten. Die Argumente waren dieselben wie heute: Sollte man die Druckerei mit ihren unkontrollierten Massentexten nicht verbieten? Führt es zur Revolution, wenn jeder Habenichts aufrührerische Bücher kaufen kann?“ Ja, zweifellos führt das zur Revolution – das wissen wir heute. Aber diese Revolution hat die Welt zum Positiven verändert, allen Kassandrarufen zum Trotz. Das darf uns, denke ich, zuversichtlich stimmen, dass im „wilden Milieu der digitalen Plattformen“ – so wie einst im „wilden Milieu der Drucker“ – auch Energien und Kräfte gedeihen, die der Demokratie zugutekommen. Ich freue mich auf eine inspirierende Diskussion darüber: analog, live und in Farbe heute beim Digitalgipfel und mit Fortsetzung hoffentlich auch im Netz.
In ihrer Rede zum Thema „Verantwortung und Potentiale digitaler Plattformen für Meinungsbildung, Vielfalt und Demokratie“ sagte Staatsministerin Prof. Monika Grütters: „Wir sollten es nicht den IT-Konzernen überlassen, Rahmen und Regeln des demokratischen Diskurses zu setzen“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung des Theodor-Herzl-Preises am 28. Oktober 2019 in München
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verleihung-des-theodor-herzl-preises-am-28-oktober-2019-in-muenchen-1686238
Mon, 28 Oct 2019 20:01:00 +0100
keine Themen
Sehr geehrter Herr Schuster, sehr geehrte Frau Knobloch, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Markus Söder, sehr geehrte Mitglieder des bayerischen Kabinetts, Frau Landtagspräsidentin, Hoheit, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herren, für die Auszeichnung mit dem Theodor-Herzl-Preis danke ich dem World Jewish Congress von ganzem Herzen. Ich empfinde sie als eine große Ehre. Besonders danken darf ich Ihnen, lieber Herr Botschafter Lauder, für die Worte, die Sie eben gefunden haben – Worte der Warmherzigkeit und Wertschätzung, aber auch Worte der Besorgnis und Mahnung. Als Theodor Herzl Ende des 19. Jahrhunderts sein Buch „Der Judenstaat“ schrieb, träumte er von einer sicheren Heimat für die Juden dieser Welt angesichts eines weit verbreiteten Antisemitismus. Doch trotz aller Diskriminierung und Verfolgung konnte Herzl damals auch in seinen schlimmsten Albträumen nicht ahnen, was gut drei Jahrzehnte später geschehen sollte: der von Deutschland im Nationalsozialismus begangene Zivilisationsbruch der Shoa. Dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder – wie es der Auschwitz-Überlebende und langjährige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Heinz Galinski einst nannte – dieses „Verbrechen an der Menschheit“ bedeutete einen Bruch mit sämtlichen zivilisatorischen Grundsätzen. Es erfüllt mich deshalb mit Demut, dass ich heute als deutsche Bundeskanzlerin – also gleichsam stellvertretend für unser Land – den Theodor-Herzl-Preis entgegennehmen darf. Ich verstehe die Preisverleihung daher auch als Zeichen des Vertrauens, das jüdische Gemeinden weltweit und der World Jewish Congress in Deutschland setzen. Für dieses Vertrauen kann ich gar nicht dankbar genug sein. Es ist und bleibt nicht selbstverständlich und es berührt mich unverändert sehr, wenn Menschen wie zum Beispiel Margot Friedländer, die die Shoa erlebt und überlebt haben, sich nach Jahrzehnten im hohen Alter entschließen, aus dem Exil im Ausland wieder in ihre Heimatstadt Berlin zu ziehen. Knapp 75 Jahre nach dem Ende des Holocaust zählen die jüdischen Gemeinden in Deutschland wieder 100.000 Mitglieder. Die Israelitische Kultusgemeinde in München, in der wir heute zu Gast sind, ist eine der größten jüdischen Gemeinden in Deutschland. Liebe Frau Knobloch, ganz herzlichen Dank dafür, dass Sie heute Gastgeberin sind und dass Sie das so wunderbar für uns vorbereitet haben. Sagen Sie auch allen Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Dank. Es ist eine ganz wunderbare Atmosphäre hier. In Ihrem Zentrum kann man erleben, wie vielfältig und lebendig jüdisches Leben in unserem Land ist. Ich konnte mich selbst schon davon überzeugen. Es werden Rabbinerinnen und Rabbiner in Deutschland ordiniert, jüdische Kindergärten und Bildungseinrichtungen gegründet, Synagogen wieder aufgebaut. Jüdisches Leben, seine Kultur und Geschichte sind Teil der Identität Deutschlands. Jüdisches Leben und jüdische Kultur müssen unterstützt werden. Deshalb hat die Bundesregierung gerade die Mittel für Bauvorhaben erhöht. Ich denke nur an die Beteiligung des Bundes am Neubau einer Synagoge in Dessau. Jüdisches Leben in Deutschland muss sowohl gefördert als auch geschützt werden. Leider gehört es zur traurigen Wahrheit, betonen zu müssen, wie wichtig gerade auch der Schutz jüdischen Lebens ist. Das wissen wir nicht erst seit dem Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober – an Jom Kippur –, der unsere gesamte Gesellschaft ins Herz getroffen hat. Dieses abscheuliche Verbrechen beschämt uns zutiefst. Dass jüdische Menschen in Deutschland auch im Jahr 2019 Bedrohungen ausgesetzt sind, zeigt, dass wir niemals nachlassen dürfen, die Grundwerte unserer Gesellschaft zu verteidigen und ihnen im alltäglichen Leben Geltung zu verschaffen. Es ist jetzt gut fünf Jahre her, dass wir uns aufgrund vorangegangener antisemitischer Vorfälle im September 2014 am Brandenburger Tor zu einer großen Kundgebung zusammengefunden haben. „Steh auf! Nie wieder Judenhass!“ – So lautete damals das Motto. Ich wünschte sehr, ich könnte heute sagen, dass dieser Aufruf nachhaltig Früchte getragen hätte. Doch das kann ich leider nicht. Der Antisemitismus treibt in Deutschland weiter sein Unwesen. Gerade auch jüngste Entwicklungen – und zwar nicht nur der Angriff in Halle – müssen uns alle mit großer Sorge erfüllen. So nehmen einer Umfrage der Europäischen Grundrechteagentur zufolge 89 Prozent der von ihr befragten Jüdinnen und Juden in Deutschland eine Zunahme des Antisemitismus wahr. Die Zahl antisemitischer Straftaten allein im vergangenen Jahr ist um fast 20 Prozent gestiegen. Antisemitische Äußerungen treten immer offener und ungehemmter zutage – gerade auch im Internet. Diese Entwicklungen sind zutiefst beunruhigend. Sie treffen die jüdischen Menschen in unserem Land, aber beileibe nicht allein. Denn sie richten sich gegen uns alle gemeinsam, gegen jüdische und nicht-jüdische Menschen, gegen alles, was unser Land trägt und zusammenhält, unsere Werte und Freiheiten. Sie treffen den Kern unseres Zusammenlebens, weil sie Ausdruck einer zutiefst demokratiefeindlichen Haltung sind. Wer die in Artikel 1 unseres Grundgesetzes festgeschriebene Würde des Menschen antastet, der tastet unser aller friedliches und gedeihliches Zusammenleben an. Die Würde des einzelnen Menschen ist unantastbar – dieser Schwur zu Beginn unseres Grundgesetzes ist Verpflichtung. Er gilt für jeden Menschen in unserem Land, unabhängig von Religion, Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung. Umso schwerer wiegt, wenn wir erleben müssen, dass das Schutzversprechen unseres Staates gegenüber den Juden in Deutschland nicht immer voll erfüllt worden ist – und stattdessen zum Beispiel nur die starke Holztür einer Synagoge vor einem Massaker an den im Gotteshaus versammelten Gläubigen bewahrt. Wir dürfen uns niemals damit abfinden, dass in Deutschland Menschen aufgrund ihrer Religion Angst haben müssen. Wir müssen vielmehr alles in unserer Macht Stehende tun, dass Juden in Deutschland frei und sicher leben können. Antisemitismus und Rassismus zeigen sich übrigens nicht erst in Gewalttaten, sondern viel früher, subtiler. Und aufwachen dürfen wir nicht erst, wenn aus Worten Taten geworden sind. Wir müssen vorher ansetzen. In wenigen Tagen, meine Damen und Herren, erinnern wir wieder an den 9. November, einen so schicksalhaften Tag in der deutschen Geschichte. Zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht durfte ich im letzten Jahr bei der zentralen Gedenkveranstaltung in der Synagoge in der Rykestraße in Berlin reden. Ich möchte daraus einen Gedanken wiederholen, der mir wichtig war und ist. Er befasste sich damit, dass wir Menschen dazu neigen, an wichtigen Gedenktagen wie dem 9. November die Erinnerung ausschließlich auf diese Tage zu konzentrieren, und leicht übersehen, dass sie in der Regel nicht für sich stehen, sondern Teil eines Prozesses sind. Auch der 9. November 1938 stand nicht für sich. Wir alle wissen, was danach geschah. Doch ihm ging auch etwas voraus. Hass auf die Juden gab es in Europa seit dem Mittelalter, zunächst vornehmlich religiös begründet. Im 19. Jahrhundert, in dem mit der industriellen Revolution die sozialen Fragen drängend wurden und die säkularen Nationalstaaten an Bedeutung gewannen, entstand der, wie es hieß, rassistisch motivierte Antisemitismus. Das alles führte in die Katastrophe, bis hin zum Zivilisationsbruch der Shoa. Ich bin überzeugt, dass wir die richtigen Lehren aus den Schrecken der Vergangenheit für uns heute und in Zukunft nur dann ziehen können, wenn wir die Novemberpogrome 1938 als Teil eines Prozesses verstehen, dem mit der Shoa ein schreckliches Danach folgte, dem aber eben auch ein Davor vorausging. Dieses Davor wurde begleitet von dem Wegschauen, dem Schweigen, der Gleichgültigkeit und dem Mitlaufen einer großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Heute, meine Damen und Herren, leben wir einmal mehr in Zeiten tiefgreifender technologischer und globaler Veränderungen. In solchen Zeiten ist die Gefahr immer besonders groß, dass diejenigen Zulauf bekommen, die mit einfachen Antworten auf die Schwierigkeiten und Folgen der Umbrüche reagieren – Antworten, die zu häufig auch mit einer Verrohung der Sprache auf den Straßen wie auch im Netz einhergehen. Das ist der Anfang, dem wir ganz entschieden entgegentreten müssen. Und wir – das heißt vorneweg unser Staat. Das sage ich ausdrücklich als Bundeskanzlerin. Politik und Staat müssen ihre Bürgerinnen und Bürger schützen mit allen Mitteln, die einem Rechtsstaat zur Verfügung stehen. Unser Rechtsstaat darf nicht hinnehmen, dass Menschen angepöbelt, bedroht, angegriffen werden, wenn sie sich als Juden zu erkennen geben. Er darf nicht hinnehmen, wenn eine jüdische Mutter und ihre Kinder mit Steinen beworfen werden. Er darf nicht hinnehmen, wenn das Sicherheitspersonal der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin attackiert wird. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Bundesregierung übermorgen ihr Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität beschließen wird. Wir werden eine Meldepflicht für Provider einführen. Die Diensteanbieter sollen dazu verpflichtet werden, den Sicherheitsbehörden Hasskriminalität im Internet zu melden. Beim Bundeskriminalamt werden wir hierfür eine neue Zentralstelle einrichten. Auch härtere Strafen gegen Hetze und aggressive Beleidigung sind geplant. Besonders wichtig ist, dass der Austausch der Sicherheitsbehörden im Kampf gegen Rechtsextremismus gestärkt werden soll, ebenso die Präventionsarbeit im Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Wir werden die Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker, also diejenigen, die sich vor Ort, in den Städten und Gemeinden, engagieren, besser schützen. Dazu werden wir das Strafrecht entsprechend anpassen. Wir setzen mit diesem Maßnahmenpaket alles daran, dass aus Worten keine Taten werden. Gutes und bereits bestehende Maßnahmen bauen wir aus. Und dort, wo wir Lücken haben, bauen wir Neues auf. Mit Beginn dieser Legislaturperiode, im Mai 2018, wurde zudem das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus geschaffen. Er koordiniert die verschiedenen Maßnahmen zur Bekämpfung des Antisemitismus und hat damit auch seinen Anteil an den Arbeiten für das Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität. Bei allem leitet uns die Arbeitsdefinition Antisemitismus der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken. Diese Arbeitsdefinition wurde unter deutscher Mitwirkung verabschiedet. Die Bundesregierung hat sich ihr 2017 angeschlossen. Nur am Rande: Es ist zwar richtig, dass die meisten Handlungsfelder zur Bekämpfung des Antisemitismus in die Zuständigkeit der Bundesländer fallen. Doch richtig ist auch, dass wir alle gemeinsam entschlossen sind, uns beim Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus nicht von Zuständigkeitsdiskussionen zwischen Bund und Ländern behindern zu lassen. Deshalb gibt es eine gemeinsame Bund-Länder-Kommission gegen Antisemitismus, mit der wir alle Kräfte bündeln, um gegen rechtsextremistisch und islamistisch motivierten Antisemitismus vorzugehen – und ebenso gegen den Antisemitismus, der sich gegen die Sicherheit und Existenz des Staates Israel richtet. Dazu ist auch der europäische und internationale Austausch unverzichtbar. Deshalb finden zum Beispiel regelmäßige Konsultationen mit Frankreich und Israel zum Thema Antisemitismusbekämpfung statt. Deshalb wollen wir während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr des nächsten Jahres die europäische Zusammenarbeit gerade auch in diesem Bereich stärken. Dies ist auch mit Blick auf die Sorgen der jüdischen Gemeinschaft wichtig, die den islamistisch motivierten Antisemitismus durch Zuwanderung und Flucht muslimischer Menschen zu uns betreffen. Es ist gut, dass wir gerade auch hierbei starke und engagierte Partner der Zivilgesellschaft an unserer Seite haben. Ich denke zum Beispiel an Organisationen, die den jüdisch-muslimischen Dialog fördern, an die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, die Bildungsprojekte erarbeitet und umsetzt, und auch an die Gedenkstätten, die spezielle Angebote zu den Themen Flucht und Migration entwickelt haben. Auf internationaler Ebene ist es der World Jewish Congress, der ein weithin gehörter Partner im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus ist. Ich bin dem Word Jewish Congress überaus dankbar für seinen Einsatz für die Belange jüdischer Menschen weltweit. Meine Damen und Herren, Theodor Herzls Traum von einem jüdischen Staat Israel hat sich mit seiner Gründung 1948 erfüllt. Dass 1965 – 20 Jahre nach dem Menschheitsverbrechen der Shoa – der Staat Israel diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland aufgenommen hat, gleicht einem Wunder. In jedem Fall war es ein unglaublicher Vertrauensvorschuss, der unserem Land entgegengebracht wurde. Letztes Jahr feierten wir gemeinsam den 70. Jahrestag der Staatsgründung Israels. Damals wie heute wiederhole ich, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson ist und bleibt. Deutschland und Israel verbinden zahlreiche wirtschaftliche, wissenschaftliche und persönliche Beziehungen. Wir freuen uns über einen regen Schüler- und Jugendaustausch. Wir haben viele Städtepartnerschaften und Freundschaftsorganisationen. Die Regierungen beider Länder haben regelmäßige Regierungskonsultationen. Das umfasst auch, dass sich die Bundesregierung trotz aller Rückschläge weiterhin für eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzt – mit Israel als jüdischem, demokratischem Staat in guter Nachbarschaft mit einem lebensfähigen palästinensischen Staat. Meine Damen und Herren, nach vorne zu blicken, an eine Vision zu glauben, sie Realität werden zu lassen und auf eine gute Zukunft hinzuarbeiten, mit fester Überzeugung, mit Mut und mit Kreativität – das zeichnete Theodor Herzl aus. Und so sehe ich diesen Preis, den Sie mir heute verliehen haben und der mit seinem Namen verbunden ist, als Verpflichtung an, mich niemals mit Erreichtem zufriedenzugeben, sondern mich gemeinsam mit unseren Partnern für eine gute Zukunft einzusetzen. Die Anerkennung, die der World Jewish Congress durch die Verleihung des Theodor-Herzl-Preises ausspricht, möchte ich an alle Menschen in Deutschland weitergeben, die sich für Austausch und Verständigung und gegen Antisemitismus und Ausgrenzung engagieren. Ich möchte sie alle ermutigen, weiterhin mit Tatkraft für die Vielfalt und die Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschland einzutreten. Und dazu will auch ich weiter meinen Beitrag leisten. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verabschiedung des Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, am 28. Oktober 2019 in Frankfurt am Main
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verabschiedung-des-praesidenten-der-europaeischen-zentralbank-mario-draghi-am-28-oktober-2019-in-frankfurt-am-main-1686166
Mon, 28 Oct 2019 15:10:00 +0100
keine Themen
Sehr geehrte Herren Präsidenten, lieber Emmanuel Macron und sehr geehrter, lieber Sergio Mattarella, sehr geehrte Frau Präsidentin der Kommission – „elect“, wie man so schön sagt –, liebe Ursula von der Leyen, lieber Ministerpräsident des Bundeslandes Hessen, Exzellenzen, liebe Christine Lagarde und natürlich lieber Mario Draghi – ich darf vielleicht auch sagen: liebe Familie Draghi –, die Verbindungen zwischen Ihrer Heimatstadt Rom und Frankfurt sind unübersehbar. Der Limes verläuft nur wenige Kilometer von hier entfernt. Die Spuren römischen Lebens finden sich hier allerorts. Selbst das Rathaus, der Frankfurter Römer, und der Römerberg inmitten der Altstadt zeugen von der kultur- und geistesgeschichtlichen Nähe zur Ewigen Stadt. Im Grunde also, lieber Mario Draghi, bewegen auch Sie sich in der guten Tradition, als Römer hier Spuren zu hinterlassen. In der Tat haben Sie das in den acht Jahren als Präsident der Europäischen Zentralbank nicht nur hier, sondern europaweit getan. Die EZB ist durch stürmische Zeiten geführt worden, in denen sich auch, aber nicht nur die Schwachstellen der europäischen Währungsunion offenbarten. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir vor acht Jahren – jetzt wechsle ich zum „du“, weil ich Mario Draghi so oft gesehen habe – kurz vor deinem Amtsantritt in Frankfurt zusammentrafen. Gleich im Anschluss an die Feierlichkeiten war die erste gemeinsame Krisensitzung anberaumt. Viele weitere sollten folgen. Das waren keine einfachen Tage. Auf den Märkten wurde über ein Auseinanderbrechen des Euroraums spekuliert. Davon sind wir heute, acht Jahre später, weit entfernt. Das Vertrauen der Marktakteure in den Euro und den Euroraum ist zurückgekehrt. Unser Währungsraum ist zwar nicht ohne Probleme, aber doch weitaus stärker als zu Beginn der europäischen Staatsschuldenkrise. Die Europäische Zentralbank hat unter deiner Führung einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet – als Stimme für den Euro im internationalen Konzert, als Antreiber für Weiterentwicklungen und als Vertreter unabhängiger Notenbanken. Das bemisst sich nicht allein in Daten und Zahlen, sondern zeigt sich auch in hohen Zustimmungswerten der Bürgerinnen und Bürger zum Euro in den Mitgliedstaaten der Eurozone. Die EZB hat während deiner Präsidentschaft also einen entscheidenden Beitrag zur Stabilität dieses Euroraums geleistet. Geschafft hat sie das, erstens, als unabhängige Institution. Es ist diese Unabhängigkeit einer Zentralbank, die gerade auch in Deutschland mit der Bundesbank eine lange und vor allem bewährte Tradition hat. Wir haben manchmal erlebt, dass Unabhängigkeit auch ein Schutz ist, wenn man nicht mit allem und jedem einverstanden ist. Unabhängigkeit schützt in jede Richtung. Unabhängigkeit ist – so unsere Überzeugung – die wesentliche Voraussetzung für die Zentralbank, ihr vorrangiges Ziel zu erfüllen, nämlich die Gewährleistung der Preisstabilität. Als Garant für Preisstabilität genießt sie die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger. Diese Unabhängigkeit zu verteidigen – das galt und gilt es gerade auch in wirtschaftlich angespannten Zeiten. Lieber Mario Draghi, du hast nicht den leisesten Zweifel an der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank aufkommen lassen, wenn du zum Beispiel gesagt hast – ich zitiere dich: „Wir werden von niemandem gedrängt. Wir sind unabhängig. Wir bilden uns unsere eigene Meinung. Das ist es.“ – Zitatende. Zweitens: Die EZB hat während deiner Präsidentschaft die Weiterentwicklung der Währungsunion maßgeblich vorangetrieben ‑ einmal, indem du und deine Kolleginnen und Kollegen international für den Euro eingetreten seid. Ich erinnere an den Juli 2012: „Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro“ – vielleicht einer der berühmtesten Sätze aus deiner Amtszeit, die haften bleiben werden. Wie in Deutschland üblich, hat sich das Bundesverfassungsgericht auch mit diesem Satz auseinandergesetzt und sich unter gewissen Bedingungen deiner Einschätzung und den daraus folgenden Taten angeschlossen. Die europäische Staatsschuldenkrise hat uns vor völlig neue Herausforderungen gestellt, die eben auch neue Antworten verlangten. Die Bankenunion war eine solche Antwort. Nie wieder sollten einzelne Banken ganze Mitgliedstaaten in Mitleidenschaft ziehen. Dank der Europäischen Zentralbank konnten wir die ersten Schritte zum Aufbau der Bankenunion sehr schnell umsetzen. Wir haben damals entschieden, die gemeinsame Aufsicht für Großbanken bei der Europäischen Zentralbank anzusiedeln. Das zeigt das Vertrauen, das wir auch als Staats- und Regierungschefs in die Handlungsfähigkeit der Europäischen Zentralbank als Gemeinschaftsinstitution haben. Wir werden weitere Schritte im Rahmen der Bankenunion folgen lassen müssen; und wir brauchen auch die Kapitalmarktunion in Europa – Dinge, die du immer wieder angemahnt hast. Die Europäische Zentralbank hat aber auch und zu Recht auf die Grenzen ihres Mandats hingewiesen. Denn Geldpolitik vermag viel, aber nicht alles. Die Europäische Zentralbank kann den Regierungen nicht die Hausaufgaben abnehmen, die diese selbst zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit ihrer Länder machen müssen. Deshalb hat Mario Draghi in vielen Sitzungen des Europäischen Rates wieder und wieder angemahnt, dass die Mitgliedstaaten ihrer Verantwortung gerecht werden müssen. Das gilt gerade auch in wirtschaftlich guten Zeiten, die für Strukturreformen zu nutzen sind, damit die Finanz- und Wirtschaftspolitik sich nicht allein in Krisenreaktionspolitik erschöpft, sondern vorausschauend die Grundlagen für künftiges Wachstum stärkt. Drittens: Übergeordnetes Ziel der EZB war und ist ein stabiler Euro. Dank der Bankenunion, des Euro-Rettungsschirms ESM und der Stärkung des Stabilitätspakts steht der Euro heute auf einem weitaus festeren Fundament als vor acht Jahren. Wir dürfen uns aber nicht in Sicherheit wiegen, wir müssen weiterarbeiten. Daher gehen wir einen weiteren Schritt mit dem neuen EU-Haushaltsinstrument für Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz und mit der Stärkung des ESM. Gerade auch Konvergenz ist von entscheidender Bedeutung für die Eurozone, denn wir müssen feststellen, dass sie in den letzten Jahren nicht ausreichend stattgefunden hat. Für die Schaffung des neuen Haushaltsinstruments haben wir auf der Grundlage von deutsch-französischen Vorschlägen im letzten Jahr zentrale Eckpunkte beschlossen. Wir werden die Rechtstexte dann hoffentlich auch bis Dezember verabschieden. Wenn wir eine mittelfristige finanzielle Vorausschau haben – sehr geehrte Frau Präsidentin-elect, daran müssen die Mitgliedstaaten noch arbeiten –, dann wird uns auch dieses neue Haushaltsinstrument zur Verfügung stehen. Meine Damen und Herren, all das tun wir in der Überzeugung, dass der Euro weit mehr ist als eine Währung, die nur die mit ihr verbundenen Geldfunktionen erfüllt. Der Euro ist – vielleicht noch vor dem Schengener Abkommen, in jedem Fall aber neben Schengen – das zentrale Symbol der Unumkehrbarkeit des europäischen Einigungsgedankens. Deshalb sind Deutschland und die Stadt Frankfurt stolz darauf, Heimat der Europäischen Zentralbank zu sein. Das Aufwärtsstreben Frankfurts als eines der größten Finanzzentren Europas – nicht ganz ohne Wettbewerber – wird nirgends anschaulicher als mit diesem beeindruckenden Hauptgebäude, in dem wir heute zu Gast sind. Weithin sichtbar und zugleich in die Frankfurter Skyline eingefügt zeigt dieses Haus, dass die Europäische Zentralbank Teil dieser Stadt ist. Erstmals seit Bestehen der EZB wird hier demnächst eine Präsidentin einziehen. Liebe Christine Lagarde, ich freue mich sehr, dass mit dir eine so herausragende Persönlichkeit den Staffelstab von Mario Draghi übernimmt. Auf dich als EZB-Präsidentin warten spannende und vor allem verantwortungsreiche Aufgaben. Ich wünsche dir von Herzen eine glückliche Hand und viel Erfolg. Dir, lieber Mario Draghi, erleichtert es vielleicht den Abschied, dass du die Führung der Europäischen Zentralbank bei deiner Nachfolgerin auch weiterhin in wirklich guten Händen weißt. Für deinen leidenschaftlichen Einsatz als Präsident der Europäischen Zentralbank danke ich dir von Herzen. Du hast die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank bewahrt und gelebt und die Währungsunion gestärkt. Du hast den Euro durch unruhige See navigiert, Kontroversen bist du nicht aus dem Weg gegangen. Und wir können heute auf eine erfolgreiche Währung blicken. Damit hast du dich um Europa, um den Euroraum und um die Stabilität seiner Währung verdient gemacht. Das sind wahrlich tiefe Spuren, die du hinterlassen hast. Herzlichen Dank und alles erdenklich Gute für die Zukunft
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung des Deutschen Afrika-Preises an Juliana Rotich am 23. Oktober 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verleihung-des-deutschen-afrika-preises-an-juliana-rotich-am-23-oktober-2019-in-berlin-1684808
Wed, 23 Oct 2019 19:08:00 +0200
Berlin
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Exzellenzen, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, sehr geehrte Frau Eid, Herr Vrolijk, sehr geehrter Herr Stäcker, sehr geehrte Damen und Herren und vor allem Sie, liebe Juliana Rotich, während der deutschen G20-Präsidentschaft 2017 nahm ich unter anderem an einer Podiumsdiskussion, dem Women20-Dialogforum, in Berlin teil. Wir diskutierten darüber, wie Frauen in gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Führungspositionen besser gefördert werden können. Mit dabei war auch eine erfolgreiche junge Unternehmerin, Juliana Rotich. Ich erinnere mich noch gut, wie sehr sie das Publikum mit ihrer Haltung und ihren Ideen begeistert hat. Liebe Frau Rotich, Sie haben herausragendes gesellschaftspolitisches Gespür und unternehmerisches Können gezeigt, gerade mit Blick auf den digitalen Fortschritt in Afrika. Das führte auch dazu – ich kann der Jury dafür nur einen Glückwunsch aussprechen –, dass Sie heute die Auszeichnung mit dem Deutschen Afrika-Preis erhalten. Ich möchte persönlich ganz herzlich dazu gratulieren. Herzlichen Glückwunsch. Wie beginnt Innovation? Innovation beginnt immer mit dem Mut, Dinge in Frage zu stellen und sich mit dem Gegebenen nicht abzufinden. Den Mut, Risiken einzugehen und Neues zu wagen, bringen in Afrika viele Menschen auf. Am Horn von Afrika etwa bewies der äthiopische Premierminister Abiy Ahmed viel Mut und Kraft, das wirtschaftliche und politische System des Landes offener zu gestalten. Hierfür und für seine Friedensbemühungen mit Eritrea erhält er in diesem Jahr den Friedensnobelpreis. Auch für die Menschen im Sudan gibt es nach Jahrzehnten der Diktatur nun Hoffnung auf ein friedliches und demokratisches Zusammenleben, auch wenn die Herausforderungen unverkennbar noch sehr, sehr hoch sind. Zu begrüßen sind auch die Fortschritte zur Gründung einer afrikanischen Freihandelszone. Das Inkrafttreten des Rahmenabkommens Ende Mai war ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg dahin. Dass Niger zum ersten Mal eine Konferenz der Afrikanischen Union ausrichten konnte, war auch ein großer Meilenstein für das Land. Ich hoffe, dass das Ziel dieser Freihandelszone erreicht wird und dann der innerafrikanische Handel deutlich an Fahrt zulegen kann. Diese und viele andere Aufbrüche zeugen nicht nur von Mut, sondern sie machen auch Mut. Diese Verantwortung und Vorbildfunktion haben auch Sie übernommen, liebe Frau Rotich. Sie kämpfen für mehr politische Teilhabe und Transparenz; und zwar mit Hilfe neuer Technologien. Mit der Open-Source-Plattform Ushahidi und dem Technologieunternehmen BRCK, die Sie mitgegründet und mitentwickelt haben, haben Sie gezeigt, wie innovative IT-Produkte den Alltag vieler, vieler Menschen verbessern können. Ushahidi wurde in über 30 Sprachen übersetzt und findet Anwendung in vielen Ländern, um in aktuelle Geschehnisse mehr Licht und Transparenz zu bringen – sei es zum Zweck der Krisenreaktion oder der Wahlbeobachtung. So wird zivilgesellschaftliches Engagement ganz konkret gestärkt. Das Multiverbindungsgerät von BRCK hat rund um den Globus Verbreitung gefunden. Es ermöglicht selbst in Krisensituationen eine ungehinderte Kommunikation. Kurzum, es ist auch Ihr Verdienst, liebe Frau Rotich, dass „IT made in Africa“ weltweit nachgefragt wird. Afrika ist ein schnell wachsender Markt für Informations- und Kommunikationstechnologien. Ob im Gesundheitssystem, im Bildungssystem, im Finanzsektor oder in anderen Dienstleistungen – nahezu überall macht sich der digitale Fortschritt bemerkbar. Dies vollzieht sich oft in gewaltigen Entwicklungssprüngen – das heißt, dass ohne Zwischenschritte über inzwischen veraltete Technologien gleich die neuesten Technologien übernommen werden. Ich will uns das auch hier in Deutschland sagen, da wir nicht eines Tages aufwachen und feststellen sollten, dass wir, weil wir noch immer so verliebt in unsere klassischen Akten sind, nicht mitbekommen haben, wie schnell sich die Welt anderswo dreht. So ist in Frau Rotichs Heimat, in Kenia, beispielsweise das Bezahlen per Handy schon weiter verbreitet als bei uns hier in Deutschland. Dort kann man auch ohne Bankkonto bargeldlos Geld empfangen und versenden und so Rechnungen begleichen oder andere Geschäfte tätigen. Ohne diese Möglichkeiten könnten viele Kleinstunternehmen in Afrika gar nicht entstehen und auch nicht bestehen. Start-ups bringen frischen Wind in die Wirtschaft Afrikas mit neuen Ideen und der Nutzung von Schlüsseltechnologien wie Blockchain oder 3D-Druck. Nairobi gilt seit Jahren als Silicon Savannah. Viele Coworking Spaces sind förmlich wie Pilze aus dem Boden geschossen. Natürlich sind noch nicht überall in Afrika solche Entwicklungen zu sehen. Aber die Potenziale dafür gibt es an vielen Orten; und diese gilt es zu nutzen. Dem dient auch die „Strategische Partnerschaft Digitales Afrika“, die die Bundesregierung ins Leben gerufen hat. Diese Partnerschaft hilft, Akteure der europäischen Wirtschaft und der Entwicklungszusammenarbeit mit Partnern vor Ort zusammenzubringen, um Geschäftsideen zu entwickeln und zu verwirklichen. Erwähnen möchte ich auch die Initiative „Make-IT in Africa“. Damit hat die Bundesregierung seit 2017 bereits mehr als 190 digitale Unternehmen in 23 afrikanischen Ländern bei der Gründung und beim Aufbau von Geschäftsbeziehungen unterstützt. Im Rahmen dieser Initiative stärken wir auch lokale Ökosysteme für Technologie-Startups. Sie, liebe Frau Rotich, wissen als Mitgründerin des iHub in Nairobi, wie wichtig starke Netzwerke und unterstützende Institutionen sind. Als ich voriges Jahr in Ghana war, habe ich mit mehreren jungen Unternehmerinnen und Unternehmern gesprochen. Ihnen ist mit ganz erstaunlichen Ideen ein erfolgreicher Markteintritt gelungen; und zwar in ganz verschiedenen Bereichen: bei erneuerbaren Energien, im Bereich der Ernährung, bei Agrartechnologien, bei Gesundheit, Bildung und natürlich auch im Softwarebereich. Die jungen Marktakteure haben mir aber auch von dem Problem berichtet, Investoren zu finden. Genau hier setzt unser „Compact with Africa“ an. Schon zwölf afrikanische Staaten machen bei unserer Initiative mit. Wir wollen die Bedingungen für nachhaltige Privatinvestitionen und Beschäftigung verbessern. Ich freue mich, die Staats- und Regierungschefs der Compact-with-Africa-Länder im November wieder zu einer Konferenz in Berlin begrüßen zu dürfen. Zur Unterstützung der Compact-Initiative haben wir übrigens einen neuen Fonds gegründet, über den zusätzlich Risikokapital für bereits bestehende afrikanische Fonds zur Verfügung gestellt wird. Die Zielgruppe sind afrikanische Start-ups und Kleinstunternehmen. Die Umsetzung guter Ideen in Markterfolge sollte nicht an fehlendem Kapital scheitern. Gerade Frauen haben gute Ideen, mit denen sie Entwicklung und Wandel vorantreiben können. Daher sind es auch viele von Frauen gegründete Unternehmen in Afrika, die wir von Deutschland aus unterstützen. Wir unterstützen Unternehmerinnen aber nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch über multilaterale Initiativen, insbesondere im Rahmen der G7 und G20. So haben wir zum Beispiel beim G20-Gipfel in Hamburg 2017 die „Women Entrepreneurs Finance Initiative“ aus der Taufe gehoben. Ein Ideengeber dafür war übrigens das eingangs erwähnte Women20-Dialogforum. Als weitere Initiative haben wir in Hamburg #eSkills4Girls gestartet. Dabei geht es darum, dass Mädchen und Frauen in Entwicklungs- und Schwellenländern digitale Chancen in gleicher Weise nutzen können wie Jungen und Männer. Nicht zuletzt haben wir beim diesjährigen G7-Gipfel in Biarritz in Frankreich die Förderung weiblichen Unternehmertums explizit zu einer Priorität erklärt. Diese Erklärung haben wir auf deutscher Seite mit der Zusage unterstrichen, 30 Millionen Euro für das betreffende Förderprogramm der Afrikanischen Entwicklungsbank zur Verfügung zu stellen. Wir sehen, dass wir auf politischer Seite Anreize setzen und die Rahmenbedingungen für unternehmerisches Engagement verbessern können. Wir versuchen damit auch, mehr und mehr Teilnehmer der deutschen Wirtschaft dazu, so will ich einmal sagen, zu überreden – man braucht manchmal Überredungskünste –, sich in Afrika zu engagieren. Denn immer noch herrschen bestimmte Rollenbilder vor. Zu Beginn wurde hier eine Weltkarte gezeigt, die die Welt aus der Perspektive der Deutschen zeigt. Leider ist es noch so, dass viele bei Afrika an Probleme und nicht an Chancen denken. Ich kann uns nur ermutigen: Verpassen wir den Zug der Zeit nicht, sondern sehen wir die Chancen in Afrika. Wir müssen vieles tun. Aber Inspiration und Motivation bieten vor allem Vorbilder wie Sie, liebe Frau Rotich. Ihr Erfolg macht auch vielen anderen Frauen Mut. Sie zeigen, was und wie viel man mit guten Ideen und mit Entschlossenheit bewegen kann – wirtschaftlich, gesellschaftlich und über die eigenen Landesgrenzen hinaus. Wir brauchen Menschen wie Sie, die Mut für Neues haben und damit auch andere anstecken. Deshalb möchte ich sagen: Es ist eine ausgezeichnete Wahl, die die Jury getroffen hat, Juliana Rotich mit dem Deutschen Afrika-Preis auszuzeichnen. Ich bin sicher, dass Sie den Preis nicht nur als Anerkennung Ihrer Verdienste verstehen, sondern auch als Ansporn. Ich bin schon gespannt auf die nächsten Ideen. In jedem Fall wünsche ich Ihnen weiterhin viel Erfolg. Nochmals herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Auszeichnung und alles Gute.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Jahrestagung des Markenverbandes am 23. Oktober 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-jahrestagung-des-markenverbandes-am-23-oktober-2019-in-berlin-1685018
Wed, 23 Oct 2019 17:45:00 +0200
Berlin
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Lieber Herr Falke, meine Damen und Herren, früher bin ich hier immer ins Kino gegangen, jetzt sind Sie hier – das zeigt schon, wie sich die Marken verändern. „Ein hohes Kleinod ist der gute Name.“ – Sie wissen sicherlich, dass das aus „Maria Stuart“ von Schiller ist. Der gute Name – und nichts anderes ist die Marke – ist aus vielen guten Gründen wertvoll. Wir haben beim Hereingehen gerade darüber gesprochen, dass die Marke „Made in Germany“ ein bisschen um ihre Reputation kämpfen muss. Dafür sind nicht diejenigen verantwortlich, die hier sitzen und Einzelmarken vertreten, aber es gibt Beispiele, wenn auch nur ganz wenige, die zeigen, dass auch Vertrauen eingebüßt wurde. Niemand weiß besser als Sie, wie sehr Vertrauen und Marke zusammenhängen – Vertrauen, das oft über Jahrzehnte aufgebaut wurde und im Grunde immer wieder mit guter Qualität verdient wird. Das Qualitätsversprechen, das Sie mit Ihren Marken den Kunden geben, ist für Sie natürlich auch eine Verpflichtung, denn es muss dauernd bestätigt und verteidigt werden. Sie wissen ja selbst am besten, dass eine Marke den Ansprüchen der Nachfrager über die Zeit nur dann genügen kann, wenn sie auch deren Interessen, Bedürfnissen und Gewohnheiten entspricht, die Sie also ständig im Blick behalten müssen. Die Frage, wie sich Produkte und Angebote am besten vermarkten lassen, muss sich jeder stellen, der sich auf dem Markt behaupten will. Deshalb sind Sie auch diejenigen, die sagen: Wir wollen vor allen Dingen einen fairen Wettbewerb haben. Nun leben wir in einer Zeit, in der sich Gewohnheiten sehr schnell verändern – dramatisch verändern. Da stellt sich natürlich die Frage: Wie muss ich meine Marke entwickeln, sodass sie in den Augen des Kunden immer noch eine ansprechende Marke bleibt, auch wenn sie nicht mehr die Marke ist, die der Kunde irgendwann einmal kennengelernt hat? Das stelle ich mir sehr spannend, sehr aufregend, aber im Augenblick auch sehr schwierig vor, weil die Veränderung des Verbraucherverhaltens so groß ist, dass nicht so ganz einfach zu projizieren ist, was in fünf Jahren oder in zehn Jahren passiert und wie sich dann die Gewohnheiten darstellen werden. Deshalb kann ich mir schon vorstellen, dass Sie auch in einem sehr starken Spannungsfeld leben. Sie haben ja eben zur Methodik, mit der Sie vorgehen, einiges gesagt. Vielleicht hilft Ihnen die Künstliche Intelligenz. Seien Sie also auch offen gegenüber neuen Algorithmen und Fähigkeiten. Ich war aber beim Thema fairer Wettbewerb. Wettbewerb schafft Vielfalt. Wie vielfältig unsere Wirtschaft ist, können wir an den vielen namhaften Mitgliedern des Markenverbands sehen. Sie vereinen verschiedene Branchen unter einem Dach, Sie vertreten die Anliegen von Unternehmen verschiedenster Größenordnungen – von Mittelständlern genauso wie von großen Konzernen –; und das schon seit 1903. Unsere gemeinsamen Begegnungen beruhen ja auf Ihrer 100-Jahr-Feier. Seitdem habe ich nicht immer abgesagt, weil noch andere Referenten zu Ihnen gekommen sind. Insofern bin ich beständig – ich verhalte mich also markenähnlich. (Heiterkeit) Ihre Jahrestagung unter dem Motto „Marke 2030 – Neues Denken!“ wird sicherlich Aufschluss darüber geben, wo Sie Ihre eigenen Herausforderungen sehen. – Herr Falke hat es eben auch schon angedeutet. – Dieses Motto ist ein Appell, aber auch ein Statement, das von Ihrem Selbstverständnis kündet. Einerseits verbindet man mit Marken eine Tradition – und das nicht nur, wenn sie von Familienunternehmen geführt werden. Andererseits denken Sie aber auch an die Zukunft. Digitalisierung, Globalisierung und Klimawandel sind Veränderungen, die neue Herangehensweisen erfordern. Deshalb stellen sich natürlich auch mit Blick auf die politischen Rahmenbedingungen völlig neue Fragen. Hinzu kommt, dass wir im Augenblick in einer Zeit leben, in der sich die Weltkonjunktur eher verschlechtert als verbessert. Wir haben es mit internationalen Risiken zu tun, die von Unsicherheiten genährt werden – zum Beispiel durch Handelskonflikte, aber auch durch den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union – wobei ich hoffe, dass wir uns jetzt doch dem letzten Teil dieses Prozesses nähern. Wir haben die ganze Zeit versucht, als 27 Mitgliedstaaten Geschlossenheit zu wahren und damit einfach auch ein gutes Bild abzugeben und den Austrittsprozess zu vereinfachen, der im Grunde – das muss man ja sagen – vor allen Dingen deshalb so kompliziert ist, weil es nicht nur um den Austritt eines Mitgliedstaates aus der Europäischen Union geht, sondern weil wir auch ein irisches Problem haben. Dieses Problem ist mit dem Good Friday Agreement verbunden, das besagt: Zwischen der Republik Irland und Nordirland darf es keine Grenzkontrollen geben. Wenn es aber keine Grenzkontrollen geben darf, dann kann man auch das Ende des Binnenmarkts schlecht bestimmen. Denn wenn man die Integrität des Binnenmarkts sichern will und wenn jemand aus dem Binnenmarkt austreten will, dann muss man ja, wenn man nicht nach der Unbestimmtheitsrelation in der Quantenphysik arbeiten will, den betreffenden Raum geografisch lokalisieren. Und das bringt besondere Schwierigkeiten mit sich. Für Deutschland ist die Frage des Exports natürlich von allergrößter Bedeutung. Deshalb betreffen Friktionen und Unsicherheiten im internationalen Handel uns auch besonders. Wir brauchen deshalb kein System von angedrohten Zöllen, sondern wir brauchen ein regelbasiertes Handelssystem. Wir setzen uns dafür ein, dass die Welthandelsorganisation gestärkt wird, dass das multilaterale Regelwerk gestärkt wird und dass wir im Zweifelsfalle auch bilaterale Handelsabkommen abschließen, die einen fairen Handel möglich machen. Wir brauchen multilaterale Regelwerke, um Mindeststandards festzulegen – zum Beispiel beim Schutz des geistigen Eigentums. Deshalb ist das „Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums“ so wichtig, denn es hilft, die Rechte von Urhebern, Erfindern und Markeninhabern auch im Ausland durchzusetzen und den Handel mit gefälschten Waren zu bekämpfen. Und darauf sind Sie angewiesen. Deshalb haben auch alle von der Europäischen Union verhandelten Freihandelsabkommen regelmäßig Regelungen zum Schutz des geistigen Eigentums. Und deshalb setzen wir uns auch seit langem für Rechtsstaatsdialoge mit Staaten ein, aus denen gefälschte Produkte stammen können, damit wir in diesen Herkunftsländern auch ein entsprechendes Bewusstsein für dieses Problem schaffen. Das heißt, wir gehen auf allen Ebenen – multilateral wie bilateral – gegen Marken- und Produktpiraterie vor. Das ist für Sie als Unternehmen wichtig; und das ist auch für die Verbraucher und deren Vertrauen in die Produkte, die sie kaufen, wichtig. Meine Damen und Herren, in Ihrem Motto heißt es ja „Marke 2030“; und nicht etwa „Marke 2020“. Wenn Sie also so weit in die Zukunft denken, dann spielt das Thema Nachhaltigkeit für Sie sicherlich eine große Rolle. 2030 ist ja auch das Zieljahr der Nachhaltigkeitsagenda, mit der sich die Vereinten Nationen für alle Länder der Welt 17 Nachhaltigkeitsziele vorgenommen haben, zu denen auch der Klimaschutz gehört. Wir wissen diesbezüglich in Deutschland um unsere Verantwortung. Wir haben uns vorgenommen, bis zum Jahr 2030 gemessen an dem Wert, den wir 1990 hatten, 55 Prozent unserer Kohlendioxidemissionen einzusparen. Wir wissen also, dass wir uns um den Klimaschutz kümmern müssen. Unsere Emissionen machen zwar nur zwei Prozent der weltweiten Emissionen aus; und man könnte ja fragen: warum strengen nun gerade wir uns so an? Wir haben aber auch nur ein Prozent der Weltbevölkerung. Das heißt, wenn alle sich so verhalten würden wie wir, dann würde die Welt doppelt so viel CO2 emittieren. Deshalb sind wir an dieser Stelle verpflichtet, mit unseren technologischen Fähigkeiten auch wirklich voranzugehen und Möglichkeiten des Klimaschutzes anzubieten, die dann auch von ärmeren Ländern auf der Welt genutzt werden können. Es geht dabei nicht nur um die Vermeidung wirtschaftlicher Schäden durch den Klimawandel, auch wenn allein das die Anstrengung schon wert wäre, denn wir sehen ja, wie sich Extremwetterereignisse häufen. Es geht aber auch um neue Marktchancen. Ich möchte Sie ermuntern, diese auch zu nutzen und durch neue Effizienztechnologien im Produktionsprozess Ressourcen zu sparen. Ich glaube, wer da Vorreiter ist, kann auch dadurch seine Kunden der Zukunft erreichen. Wir haben innerhalb der Bundesregierung darüber nachgedacht, wie wir auf die Herausforderungen des Klimawandels reagieren, und wollen neben vielen Einzelmaßnahmen auch das Element der Bepreisung einführen. Wir müssen Menschen die Chance geben, ihr Konsumverhalten zu verändern, ohne sie finanziell zu überfordern. Denn nicht jeder kann sich zum Beispiel sofort ein Elektroauto oder ein Auto mit alternativen Antrieben leisten. Wir wollen deshalb auch Förderungen mit Forderungen verbinden. Und wir werden dem CO2 einen Preis geben, um zu geringeren CO2-Emissionen zu gelangen. Wir setzen also marktwirtschaftliche Anreize. Und wir setzen auf Innovation. Es hat sich ja schon vor zehn Jahren, in Zeiten der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise, aus der wir relativ rasch und recht gut herausgekommen sind, herausgestellt, dass sich dieses Setzen auf Innovationsfähigkeit und auf Unterstützung einer nachhaltigen Entwicklung bewährt hat. Wenn wir jetzt wieder eine Abschwächung der Weltwirtschaft sehen, dann müssen wir genau überlegen, wie wir darauf reagieren. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen: als Erstes machen wir neue Schulden. Wir haben im Augenblick einen Investitionshöchststand. Unser Problem ist eher, dass Investitionsgelder zu langsam abfließen, dass unsere Planungsprozesse zu lange dauern, dass die Planungskapazität zu gering ist, dass die Bauindustrie total ausgelastet ist und wir im Zweifelsfalle alles mit höheren Preisen bezahlen, wenn wir da überreizen. Das heißt, konjunkturelle Strohfeuer sind jetzt nicht die richtige Antwort. Wir müssen vielmehr versuchen, auf Innovation, auf Forschung, auf Entwicklung zu setzen und bestehende Haushaltsspielräume wachstumsstärkend einzusetzen. Dass das in der Koalition immer wieder einmal ein Kampf ist – sollen wir weitere soziale Leistungen schaffen, sollen wir mehr auf Innovation und neue Technologien setzen? –, können Sie sich sicherlich vorstellen. Wir versuchen jedenfalls an einigen Stellen, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu verbessern – so zum Beispiel über unser drittes Bürokratieentlastungsgesetz mit einer jährlichen Entlastungswirkung von über einer Milliarde Euro. Wir haben auch ein Gesetz auf den Weg gebracht, das den Schutz gegen missbräuchliche Abmahnungen verbessert. Ich glaube, das hilft Ihnen. Abmahnungen sind ein bewährtes Mittel gegen unlauteren Wettbewerb. Und dabei soll es auch bleiben. Missbrauch muss aber wirklich verhindert werden. Ich weiß, dass manche bei Ihnen mit einem Teil dieses Gesetzespakets nicht glücklich sind – insbesondere nicht damit, dass der sogenannte fliegende Gerichtsstand eingeschränkt wird. Kläger können dann den Gerichtsstand nicht mehr frei wählen. Umgekehrt müssen aber Abgemahnte nicht befürchten, vor allen möglichen Gerichten verklagt zu werden. Auch die Bundesländer unterstützen dies. Nun gibt es die Befürchtung, dass der Zugang zu spezialisierten Gerichten versperrt werden könnte. Genau deshalb ermächtigen wir aber die Länder, spezielle Gerichte für Wettbewerbsstreitigkeiten zu bestimmen. Ein Dauerthema sind natürlich Werbeverbote. Oft geht es darum, einen Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen zu finden. Das muss nicht zwangsläufig in Werbeverboten münden. Ein gutes Beispiel kann die Ende letzten Jahres von der Bundesregierung beschlossene Strategie für weniger Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten werden. Bei diesem Thema tragen beide Seiten Verantwortung: Anbieter und Verbraucher. Ich möchte nur bitten, dass Sie – Sie befassen sich ja auch mit der Wahrnehmung der Bevölkerung und Ihrer Kunden – sehr sensibel reagieren. Wenn wir immer wieder erleben, dass Verpflichtungen eingegangen werden, die erhofften Wirkungen dann aber doch nicht eintreten, dann haben wir ein Problem und dann wird irgendwann der Ruf nach Ordnungsrecht immer größer. Etwas, das ich im Umgang mit der Wirtschaft beobachte und das für diejenigen, die hier anwesend sind, eben auch beschwerlich ist, ist, dass wenige schwarze Schafe in jeder Branche viel Schaden anrichten können, der zum Schluss mit ordnungsrechtlichen Regelungen für alle endet. Deshalb ist es so wichtig, dass Sie als Verbände auch versuchen, darauf hinzuwirken, dass die wenigen schwarzen Schafe nicht mehr schwarz sein werden. Das hilft natürlich am besten, wenn es darum geht, das Vertrauen in die Wirtschaft zu festigen. Wir haben uns – das wissen Sie ja auch – jahrelang mit der Automobilindustrie herumgeschlagen, in der viel Vertrauen verspielt wurde. Wenn angesichts dieser Erfahrung Politiker sagen „Ich glaube, dass alle Selbstverpflichtungen eingehalten werden“, werden sie von den Menschen, zu denen sie sprechen, oft ziemlich angegangen. Um noch einmal auf die Fette, Salze und Zucker zu kommen: Wir arbeiten mit der Lebensmittelwirtschaft daran, die Grundlagen für eine gesunde Ernährung zu verbessern und gesunde Ernährung einfacher zu machen. Dabei werden wir auch aufnehmen, welche Fortschritte wir machen. Natürlich spielen für den Vertrieb und die Nachfrage von Produkten auch die Rahmenbedingungen, die auf europäischer Ebene gesetzt werden, eine Rolle. Herr Falke hat davon schon gesprochen. Viele von Ihnen verfolgen im Moment sicherlich den „New Deal for Consumers“. – „New Deal“ ist derzeit sowieso ein Modewort. – Darin hat ein Thema Eingang gefunden, das die Öffentlichkeit und auch Sie, den Markenverband, sehr umgetrieben hat: das Thema „dual quality“, insbesondere „dual food quality“. Der Richtlinienentwurf sieht es als irreführend an, wenn in EU-Staaten eine Ware als identisch vermarktet wird, sich in Zusammensetzung und Eigenschaft aber von Land zu Land erheblich unterscheidet. Ich weiß, dass viele von Ihnen diese Regelung nicht gutheißen. Denn Produktdifferenzierungen zwischen verschiedenen Staaten entsprechen ja häufig regionalen Unterschieden bei Verbraucherwünschen. Der Richtlinienentwurf betont aber, dass sich die Ware „erheblich“ unterscheiden muss; ich glaube, das birgt einigen Spielraum. Nun sagen Sie natürlich, das sei ein unbestimmter Rechtsbegriff, weshalb der Gang von einem Gericht zum nächsten schon vorprogrammiert sein könnte, um die Frage zu klären, was eine „erhebliche“ Unterscheidung ist. Spielraum besteht auch insofern, als legitime Gründe für Unterschiede geltend gemacht werden können – wenn zum Beispiel lokal produziert wird, was ja wiederum im Interesse der Regionen ist, und hierfür jeweils vor Ort nur unterschiedliche Rohstoffe verfügbar sind. Wir werden weiterhin sehr aufmerksam verfolgen, wie sich die Dinge entwickeln. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Als ich zum ersten Mal davon gehört hatte, dass, sagen wir einmal, die Mon-Chéri-Kirsche an verschiedenen Orten Europas anders zusammengesetzt ist, bin auch ich erschrocken und habe gesagt: Es kann doch nicht sein, dass meine Mon-Chéri-Kirsche anders schmeckt, wenn ich sie in Bratislava kaufe. Nun kann es aber sein, dass die Verbrauchsgewohnheiten dort anders aussehen und man zum Beispiel die Bitterschokolade in Bratislava anders einschätzt. Ich weiß das aber gar nicht, ich habe die Mon-Chéri-Kirschen noch nicht europaweit probiert. (Heiterkeit) Auf jeden Fall kann man die Sache so oder so darstellen. Wenn Osteuropäer zu mir kommen und sagen „Wir bekommen immer die schlechteren Waren“, dann ist das eine Rezeption, die nicht dem Grundgedanken entspricht, dass es unterschiedliche lokale Gewohnheiten und unterschiedliche lokale Produkte gibt. Deshalb ist meine Bitte an Sie: Das darf aus meiner Sicht nicht passieren. Sie wissen, wie schnell es passiert – auch bei uns in den neuen und den alten Bundesländern –, dass sich die Betroffenen fragen, ob man jetzt irgendwie abgehängt ist und schlechtere Qualität als andere bekommt. Das ist also auch ein sehr sensibles Thema; und ich glaube, am besten argumentiert man dann mit regionalen Produkten, auf die man ja auch vor Ort in gewisser Weise stolz sein kann. Ich würde aber sagen: Wir werden versuchen, den Begriff „erheblich“ so auszufüllen, dass die regionalen Unterschiede Europas kleiner sind als die Erheblichkeit. Ein besonderes Anliegen der Modernisierungsrichtlinie ist es, mehr Transparenz bei Online-Plattformen zu schaffen. Dazu enthält die Richtlinie auch Regelungen zum Schutz vor gefälschten Bewertungen. Dies schützt nicht nur den Verbraucher, sondern auch die Marken, deren Qualität für sich spricht und die im Gegensatz zu anderen falsche Angaben erst gar nicht nötig haben. Wir stehen im Umgang mit Plattformen natürlich vor einem völlig neuen Regelungsbereich. Ich glaube, es stellt sich immer mehr heraus, dass Plattformen, die keinerlei Verpflichtungen und Notwendigkeiten haben, sich nicht als komplett betrachten können. Jeder, der eine Zeitung herausgibt, jeder, der überhaupt irgendein Blättchen Gedrucktes herausgibt, muss sagen, wer für den Inhalt dieses Produkts verantwortlich zeichnet. Diese Verantwortung kann in der digitalen Welt nicht einfach verschwinden. Ich habe mit der estnischen Präsidentin, die sich wirklich sehr intensiv im digitalen Gedankenraum bewegt, neulich eine längere Diskussion geführt. Die gute Nachricht war, dass sie verlangt hat, dass alles, was wir aus der analogen Welt an Rechtssicherheit kennen, auch in der digitalen Welt eingeführt werden muss. Sie haben das Thema Datenschutz erwähnt und von einem übertriebenen Datenschutz gesprochen. Die Präsidentin hat mir ganz kühl gesagt: Wissen Sie, warum Sie in Deutschland solche Schwierigkeiten mit dem Datenschutz haben? Sie haben solche Schwierigkeiten mit der Datenschutz-Grundverordnung, weil Sie kaum etwas digitalisiert haben. Die Datenschutz-Grundverordnung ist aber etwas für die digitale Welt. In Estland sind die Angelegenheiten jeder Feuerwehr, jedes Fußballvereins usw. digitalisiert. Jedes Register ist digitalisiert. Alles, worauf sie zurückgreifen müssen, ist digitalisiert. Wenn das so ist, können Sie mit wenigen Klicks alle Angaben zusammensammeln, die Sie angeben müssen. Wenn Sie aber alles noch irgendwo in einem Buch liebevoll aufgeschrieben haben, das der Großvater des heutigen Vereinsführers angelegt hat, dann müssen Sie alles tage- und nächtelang mühselig heraussuchen. Interessant ist, dass die Esten erforschen, wo wir in Deutschland in Fragen der Digitalisierung stehen, damit sie uns Geschäftsmodelle anbieten können, um uns auf die Sprünge zu helfen. Das ist ein sehr interessanter Vorgang. Ich glaube, dass beispielweise der estnische Botschafter, der auch sehr lange in der Verwaltung in Sachen Digitalisierung gearbeitet hat, hierbei ein sehr, sehr guter Gesprächspartner ist. Ich sage das zur Unterstützung auch Ihrer Digitalisierungsanstrengungen. Das könnte vielleicht einmal eine interessante Gesprächsrunde werden. Wir müssen in Europa die Digitalisierung vorantreiben. Wir müssen lernen, uns in die digitale Welt hineinzudenken. Dabei darf man weder überreagieren noch unterreagieren. Ich freue mich, dass Ursula von der Leyen als künftige Kommissionspräsidentin dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat. Es ist auch richtig, dass wir die inzwischen schon 20 Jahre alte E-Commerce-Richtlinie auf einen neuen Stand bringen. Es soll ein neues Regelwerk zu digitalen Diensten geschrieben werden. Wir müssen hierbei auch prüfen, ob die Hostprovider-Haftung weiterentwickelt werden muss. Wir diskutieren zum Beispiel darüber, wie wir Anreize für Online-Plattformen setzen, damit diese mehr Verantwortung für das Verhalten ihrer Nutzer übernehmen. Dabei halten wir an der bewährten abgestuften Haftungsprivilegierung fest. Online-Plattformen sollten für ein rechtswidriges Verhalten ihrer Nutzer auch weiterhin nur dann verantwortlich sein, wenn sie hiervon Kenntnis erlangen und nicht unverzüglich tätig werden – also nicht generell, sondern nur, wenn sie davon Kenntnis erlangen. Aber Online-Plattformen verändern natürlich die Wettbewerbsstrukturen. Hier braucht es neues Denken, um Marktmacht zu bestimmen und einzudämmen. Das Wettbewerbsrecht muss meiner Meinung nach nicht nur in der analogen, sondern auch in der digitalen Welt angewandt werden. Auch hierzu arbeiten wir sehr intensiv an neuen Leitlinien. Im Übrigen will ich sagen – ich weiß nicht, wie Sie es hier im Verband handhaben –: Mir macht das gesamte Datenmanagement der deutschen Wirtschaft doch erhebliche Sorgen, weil wir im gesamten Cloud-Bereich, im gesamten Datenspeicherbereich eine Tendenz erleben, nach der viele Unternehmen ihre Daten bei amerikanischen Firmen speichern, weil diese grandiose Mengen in eine Art der Speicherung der Daten investieren, um sie dann für Algorithmen der Künstlichen Intelligenz verfügbar zu machen. Wenn Sie verschiedenen Anbietern Ihre Daten geben, werden Sie sozusagen mit schönen Ordnungsalgorithmen angefüttert, die Ihnen vielleicht auch neue Produktwege aufzeigen. Meine feste Überzeugung ist: Wenn Sie da einmal sitzen, wird man Ihnen für weitere Produktanwendungen – das liegt in der Natur der Sache – immer mehr Geld abknüpfen. Am Anfang müssen Sie wenig bezahlen, aber eines Tages werden Sie nicht mehr Herr über Ihre Kunden sein. Das ist ein Prozess, der uns zur verlängerten Werkbank machen könnte. Deshalb überlegen wir jetzt – das macht vor allem der Wirtschaftsminister –, wie wir europaweit einen sogenannten Hyperscaler aufbauen können; und zwar nicht, indem wir eine Zentrale aufbauen, sondern indem wir Standards festlegen, nach denen die einzelnen Dateninhaber ihre Daten zusammen speichern und diese nach bestimmten Algorithmen verarbeitet werden können, wenn sie das wollen – aber unter den Bedingungen des Datenschutzes der Europäischen Union und nicht unter den Bedingungen des Datenschutzes von anderen –, um dann natürlich auch eigene Leistungen der Künstlichen Intelligenz entwickeln zu können. Wir, insbesondere der Wirtschaftsminister, stehen hier zu weiteren Gesprächen bereit. Ich habe den Eindruck, dass gerade in den letzten zehn Jahren, in denen wir eine sehr gute Konjunktur hatten und die Auftragsbücher voll waren, der Innovationsdruck nicht allzu groß war. Aber in diesen zehn Jahren ist auf der Welt sehr, sehr viel passiert. Wir sind als Bundesregierung offen, aber wir können ja nicht an Sie die Frage herantragen: Wollen wir uns nicht einmal gemeinsam mit dem Datenmanagement beschäftigen? Eigentlich bin ich es gewöhnt, dass die Wirtschaft kommt und sagt: So, wir brauchen hier und da und dort Unterstützung. Aber bitte versäumen Sie dies nicht mit Blick auf die Pflege der Businessbeziehungen, die von existenzieller Bedeutung ist. Wer den Zugang zum Kunden hat, ist unter den Anbietern der König. Das war schon immer so; und das wird auch in der digitalen Welt so sein. Die Frage ist nur, ob Sie es dann noch sein werden. Das ist ein ganz wichtiges Thema. Eine Bemerkung zum Wettbewerbsrecht im Zusammenhang mit Plattformen und Netzwerken: Mit der 10. GWB-Novelle wollen wir einen großen Schritt weitergehen. Das betrifft insbesondere die Weiterentwicklung der Missbrauchsaufsicht, denn bei bestimmten digitalen Geschäftsmodellen – so unsere Überzeugung – kann schon unterhalb der Marktbeherrschung wettbewerbsschädliche Marktmacht entstehen. Hier wollen wir gegensteuern. Das Wettbewerbsrecht muss auf nationaler wie europäischer Ebene Grenzen setzen, damit die Märkte offen bleiben. Wir wissen aus der Gründungszeit der Sozialen Marktwirtschaft, dass das kein Widerspruch zur Marktwirtschaft ist, sondern dass das eine Garantie ist, dass sich auch neue Anbieter durchsetzen können. Die Kämpfe, die Ludwig Erhard damals gekämpft hat, müssen heute im Grunde in der digitalen Welt wieder von neuem gekämpft werden. Dazu brauchen wir auch klare ordnungspolitische Leitgedanken. Denn wir sind davon überzeugt: Nur ein funktionsfähiger, fairer Wettbewerb setzt die Kräfte frei, die wir brauchen, um immer wieder Innovationen zu schaffen und neue Lösungen zu entwickeln. Deshalb ist der Wettbewerb ein zentrales Element unserer Sozialen Marktwirtschaft. Daher wollen wir das, was uns stark gemacht hat, bewahren. Auch in Zukunft müssen viele mittelständische Anbieter eine Existenzchance haben. Die Soziale Marktwirtschaft bietet hervorragende Möglichkeiten, auch neue Marken zu etablieren. Die Soziale Marktwirtschaft selbst ist ja auch eine Marke, die für eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte spricht. Wir begehen in diesem Jahr viele 70. Jubiläen. Sie als Verband sind älter; und das ist gut. Aber wir blicken auf 70 Jahre zurück. Der Deutsche Gewerkschaftsbund, der Bund der Steuerzahler und andere – sie alle werden 70 Jahre alt. Man sieht also, dass unmittelbar nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland die Vielfalt dessen entstanden ist, was uns auch stark gemacht hat. Ich möchte gerne, dass das Markenzeichen „Made in Germany“ stark bleibt. Das hängt in der Summe ja auch von all Ihren Angeboten ab. Deshalb danke, dass Sie für Ihre Marken arbeiten. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Abenteuerreise durch eine neue Welt. Denn man muss einfach sagen: Die digitale Welt wird nahezu alles umstürzen – viele Konsumgewohnheiten, viele Produktnachfragen. Trotzdem gibt es sicherlich auch ein paar Konstanten – Gewohnheiten, die Menschen haben. Aber die Menschen der Zukunft werden auch neue Gewohnheiten entwickeln. Und wir leben eher in disruptiven als in evolutionären Zeiten. Insofern wünsche ich Ihnen eine glückliche Hand. Lassen Sie sich nicht auseinanderdividieren. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir gerade in der Interaktion von Politik und Wirtschaft Verbände brauchen. Keiner wird allein stärker sein, als wenn er in einem Verband versucht, sich mit anderen zusammenzuraufen. Wenn wir in der Politik aber einmal mit allen Akteuren einzeln zu tun haben, werden wir völlig konfus. Deshalb ist Ihre Aufgabe, das Gemeinsame aus Ihren Gesamtinteressen, die ja auch unterschiedlich sind, herauszufiltern und uns zu konsultieren, von entscheidender Bedeutung. Deshalb komme ich immer wieder gerne zu Ihnen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit und den Herausforderungen, vor denen Sie stehen. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen der Halbzeitbilanz der aktuellen Amtsperiode des Nationalen Normenkontrollrates (NKR) am 22. Oktober 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-der-halbzeitbilanz-der-aktuellen-amtsperiode-des-nationalen-normenkontrollrates-nkr-am-22-oktober-2019-in-berlin-1684180
Tue, 22 Oct 2019 11:21:00 +0200
Berlin
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Sehr geehrter Herr Ludewig, liebe Mitglieder des Nationalen Normenkontrollrates, sehr geehrter Herr Staatsminister, lieber Hendrik Hoppenstedt, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren, die Sie alle heute hierhergekommen sind – ich sehe Vertreter der Wirtschaft und will Herrn Wollseifer stellvertretend für alle nennen –, die Frage, wie viel Staat wir brauchen, wie viele Regelungen wir brauchen, um unser Zusammenleben vernünftig, gedeihlich und sicher zu regeln, treibt Regierungen seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland – das sind jetzt 70 Jahre – um. Denn ohne Regelungen ist kein Staat zu machen. Rechtssicherheit ist wichtig. Aber wann genau wird Regulierung zu unnötiger Überregulierung? Wo verläuft die Grenze im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit? Wo rechtfertigt der Aufwand das Mehr an Sicherheit? Oder wie viel Freiheit muss ich lassen, auch wenn damit ein erhöhtes Risiko verbunden ist? Solche Fragen treiben uns alle um. Sehr oft ist, wenn etwas passiert, die Antwort: Die betreffende Regelung war nicht ausreichend. Also gibt es die Tendenz, immer mehr etwas vermeintlich sicherzustellen, um dann festzustellen, dass das Leben wieder neue Kapriolen schlägt und ganz neue Fallkonstellationen auftreten. So kann man sich nach 70 Jahren Bundesrepublik auch völlig zuregeln und damit Freiräume einengen. Dann gibt es auch berechtigte Opposition dagegen. Mit diesen Fragen befasst sich der Normenkontrollrat täglich. Das sind natürlich auch Fragen, die uns in der Öffentlichkeit immer wieder beschäftigen. Ob bei Klimaschutz, bei Verbraucherschutz oder bei Arbeitnehmerrechten – wenn wir Gesetze erarbeiten, gilt es also sicherzustellen, nicht nur den Zielen gerecht zu werden, die wir mit diesen Gesetzen verfolgen, sondern auch den Aufwand möglichst gering zu halten und den gesunden Menschenverstand nicht abhandenkommen zu lassen. Dabei kommen zum Beispiel auch Digitallabore ins Spiel, weil die Distanz zwischen dem Nutzer bzw. dem Betroffenen des Gesetzes und dem Macher des Gesetzes oft so groß ist, dass man sich nur sehr schwer in die jeweils andere Perspektive hineinversetzen kann. Nun gibt es ja nicht nur Bundesrecht. Es gibt EU-Recht, kommunales Recht, Länderrecht, es gibt Berufsgenossenschaften, Selbstverwaltungsträger, die im Übrigen manchmal auch Gegenstand von Beschwernissen sind, wenn es um Aufwand und Datenerfassung geht. Viele Unternehmen und Bürger fühlen sich durch all das belastet. Warum ist es so schwierig, Bürokratie abzubauen? Es findet sich wohl kaum eine Regelung, die nicht zumindest einen Nutznießer kennt. Wir müssen nämlich sehen, dass Regelungen manchmal auch kleine Formen von Protektionismus sind. Die sogenannten nicht-tarifären Hemmnisse gibt es nicht nur im internationalen Handel. Als Umweltministerin habe ich viele Erfahrungen gemacht, wie etwa die Betonindustrie von dickeren Gullydeckeln oder die Stahlindustrie von mehr Sprossen im Gully profitieren kann, nachdem irgendwann einmal einer hineingefallen ist. Man kann sich gar nicht ausdenken, was alles passieren kann. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten auf der einen Seite, dass der Staat seinen Verpflichtungen nachkommt und eben auch kontrolliert und reguliert. Aber Sinn und Zweck mancher Vorschriften erschließen sich oft nicht jedem. Formulare sind eben oftmals etwas widerspenstig zu dem, was der Mensch mit gesundem Menschenverstand verbindet. All dies hat seinen Preis – seinen Preis in Zeitaufwand und in Kosten. Deshalb gehen wir seit 2006 diese Sache systematisch an. Wir haben Informationspflichten für die Wirtschaft – also die Zahl der Anträge, Nachweise, Statistiken und dergleichen – deutlich reduziert und auch nicht wieder aufgebaut. Wir haben etwa beim BAföG und bei der Pflegedokumentation Wege gefunden, um Verfahren zu vereinfachen. Wir haben uns vor allen Dingen angewöhnt, bei allen Regierungsentwürfen neue bürokratische Belastungen sowie Entlastungen darzustellen, um dann auch Bilanz ziehen zu können. Damit ist mehr Transparenz geschaffen. Damit das objektiv erfolgt, haben wir 2006 den Normenkontrollrat geschaffen. Wir haben verstanden, dass es eine Daueraufgabe geworden ist und dass sich auch das Spektrum Ihrer Arbeiten immer weiter verbreitert hat. Ich denke, man kann sagen, dass sich das beständige Bemühen lohnt. Die jährlich wiederkehrenden Belastungen für Bürgerinnen und Bürger sind 2018 insgesamt um rund 700.000 Stunden und um 24,5 Millionen Euro gesunken. Hierbei trägt, so können wir sagen, auch die Digitalisierung Früchte – zum Beispiel die Internetplattform zum Elterngeld. Für die Wirtschaft haben wir 2018 eine Reduzierung der jährlichen Belastung um 405 Millionen Euro erreicht. Nun hat man, wenn man die Ausführungen von Herrn Ludewig in einer bekannten deutschen Zeitung und unsere Rechnungen verfolgt, manchmal den Eindruck, wir müssten unsere Statistiken noch besser abgleichen. Denn auch hierbei gibt es verschiedenste Rechenmethoden. Aber insgesamt kann man, denke ich, sagen, dass es nur einige wenige Querschläger bei der Bezifferung des Abbaus der Bürokratiekosten gab. Das war in der Legislaturperiode 2013 bis 2017. Ich will den Mindestlohn hervorheben. Alle sagen mir, dass die Berechnungen richtig sind; und dennoch sind sie bei gesundem Menschenverstand nicht so ganz verständlich. Wenn die Tatsache, dass drei Milliarden Euro mehr an Lohn gezahlt werden, damit verbunden ist, dass Mehrkosten für den Erfüllungsaufwand anfallen, dann stimmt das aus der Sicht der Unternehmen natürlich. Aber in der Wahrnehmung der Bürger und auch in der Wahrnehmung der Unternehmen ist das etwas anderes, als wenn sozusagen drei Milliarden Euro anzusetzen wären, weil neue Formulare ausgefüllt werden müssten. Insofern ist die Methodik an dieser Stelle vielleicht noch einmal überdenkenswert. Aber vielleicht kommt es ja auch nicht wieder zu solch einem Gesetzgebungsvorhaben wie dem zum Mindestlohn. Wenn man sich den Zeitraum ab 2011 anschaut, dann fällt die Bilanz deshalb nicht so toll aus. Wenn man sich den Zeitraum ab 2015 anschaut, dann wird sie besser. Zwischen 2011 und 2014 waren es im Grunde zwei Vorgänge – einer davon ist eben der Mindestlohn –, die uns zurückgeworfen haben. Ansonsten ist alles gut in Fluss. „One in, one out“ – das war die große Neuerung, die wir 2015 eingeführt haben. Ich weiß noch genau, wie wir damals über die Methodik diskutiert haben. Das hat schon seine Folgen gezeigt. Denn alle Ressorts sind jetzt angehalten, Regelungen ständig daraufhin zu überprüfen, ob sie noch aktuell und noch notwendig sind und welche Wechselbeziehungen es gibt. Deshalb kann man eben auch ab und zu etwas auslaufen lassen. Seit Einführung dieser Bürokratiebremse gab es Entlastungen in Höhe von insgesamt 4,2 Milliarden Euro. Ihnen stehen Belastungen in Höhe von rund 1,3 Milliarden Euro gegenüber. Damit haben wir sogar „One in, three out“ erreicht, wenn man es denn auf Englisch abbilden will. Dennoch bleibt der Makel, dass „One in, one out“ nicht an allen Stellen angewendet wird. Es wird nämlich nicht der Aufwand eingerechnet, der für die Wirtschaft einmalig durch die Umstellung auf neue Regelungen entsteht – etwa neue Software, Schulungskosten, Umrüstung technischer Anlagen, zum Beispiel Abgasfilter, usw. Deshalb sage ich, dass die Forderung des Normenkontrollrates, dass wir auch diesen Umstellungsaufwand mit einbeziehen, berechtigt und nachvollziehbar ist. Ich denke, wir werden in der Bundesregierung weiter darüber diskutieren, dass das der Transparenz halber auch wirklich so geschehen sollte. Immerhin belief sich in den ersten beiden Jahren der jetzigen Legislaturperiode der Umstellungsaufwand auf lediglich 900 Millionen Euro. Das ist viel Geld, aber immerhin weniger als ein Fünftel des Wertes der vergangenen Legislaturperiode. Man kann sich also auch dafür anstrengen, dass der Umstellungsaufwand nicht so kostspielig wird. Es ist natürlich kritikwürdig, dass die Umsetzung von EU-Recht bei „One in, one out“ nicht einbezogen ist. Ich möchte zwar darauf hinweisen, dass wir „One in, one out“ bislang deutlich übererfüllen würden, wenn wir auch den Aufwand der Umsetzung der EU-Richtlinien mitberücksichtigen würden. Aber in einigen Ressorts gab es die Sorge, dass sie mehr als andere Ressorts von EU-Regeln betroffen seien und deshalb weniger Möglichkeiten hätten, einzuschreiten. Man kann sich, was Regelungen angeht, zwischen den Ministerien zwar austauschen, aber dabei ist man auf die Gabe der anderen angewiesen. Insofern achten die Ressorts natürlich darauf, dass sie ihre Pflichten selbst erfüllen. Deshalb ist die Botschaft von Ursula von der Leyen, der zukünftigen Kommissionspräsidentin, wirklich gut. Sie sagt, dass sie das Prinzip „One in, one out“ auch in der EU anwenden will. Das wäre ein Riesenfortschritt und käme uns sehr entgegen. Die Juncker-Kommission hat ja bereits etwas getan, was bis dahin in der EU-Praxis gar nicht üblich war. Sie hat nämlich schon einmal 80 Richtlinien gar nicht erst weiterverfolgt, sondern beiseitegelegt und damit die Philosophie, dass mit jeder neuen Richtlinie die Integration Europas besser werden würde, ein wenig ad acta gelegt. Nicht die Zahl der Regelungen in Europa entscheidet über das Können und die Fähigkeiten Europas, sondern es geht doch eher darum, ob es eben gelebte Praxis in vernünftiger Weise sein kann. Daher ist es wirklich sehr, sehr wichtig, dass die neue Kommissionspräsidentin das jetzt fortsetzt und sagt: Wir wenden das Prinzip „One in, one out“‘ an. Nun geht es in der Tat, wie Herr Ludewig schon angedeutet hat, auch immer wieder darum, wie wir Gesetze und Regulierungen verständlich machen können. Da liegt es eben auf der Hand, auch diejenigen, die davon betroffen sind, mit einzubeziehen. Deshalb ist ein sehr wichtiger Punkt die Lebenslagenbefragung des Statistischen Bundesamtes gewesen. 2017 wurden fast 10.000 Einzelinterviews geführt, um die jeweiligen Erfahrungen mit Recht und Verordnungen einzuholen. Es wird also nicht nur einmal eine kleine Stichprobe gemacht, sondern das ist schon ein sehr umfassender Prozess. Dann sieht man auch sehr genau, womit Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen unzufrieden sind. In zehn Themenworkshops im Kanzleramt haben wir mit Betroffenen sowie mit Fachleuten nach neuen Lösungen gesucht – etwa bei den Themen Umsatzsteuer, Gewerbesteuer, Ehrenamt und Arbeitslosengeldbezug. Das Ergebnis dieser Diskussionen waren ziemlich viele praktikable Vorschläge, die 2018 in einem Arbeitsprogramm zusammengefasst wurden, das wir jetzt umsetzen. Die umfassendsten Neuerungen – diese sind in Ihren jüngsten Statistiken noch nicht enthalten, weil das Gesetz ja noch auf dem Weg ist – sind nun in einem dritten Bürokratieentlastungsgesetz per Kabinettsbeschluss auf den Weg gebracht worden. Allein mit diesem Gesetz wollen wir die Wirtschaft um weitere rund 1,1 Milliarden Euro pro Jahr entlasten; und damit mehr, als mit den beiden Vorgängergesetzen zusammen. – Ich möchte Hendrik Hoppenstedt an dieser Stelle ganz herzlich danken. Er hat den Finger immer wieder in die Wunde gelegt und gesagt: Kommt mir nicht wieder mit 200-Millionen-Gesetzen an, sondern das muss jetzt wirklich etwas sein, das auch sichtbar ist. – Wir werden unter anderem ein elektronisches Verfahren für Krankschreibungen einführen. Das Einreichen des gelben Zettels beim Arbeitgeber wird sich damit erledigen. Wir werden auch Steuerpflichtige bei der Archivierung von Steuerdaten entlasten – und natürlich noch einige andere Dinge tun. Die Ministerien bereiten derzeit weitere Maßnahmen vor. Dabei geht es zum Beispiel darum, die Beantragung familienpolitischer Leistungen zu erleichtern oder das komplizierte System der Einfuhrumsatzsteuer zu vereinfachen. Das wäre im Übrigen aus vielerlei Gründen – auch solchen der Wettbewerbsfähigkeit – sehr wichtig, wie ich etwa beim Besuch des Hamburger Hafens lernen konnte. Allerdings muss man sagen, dass wir da als Bund gar nicht autark agieren können, sondern dass wir dann auch immer an die Ländersteuerverwaltungen geknüpft sind. Das sind hehre Institutionen, aber ehe sich alle Bundesländer auf das gleiche Verfahren und die Umstellung der Software geeinigt haben, kann es auch eine Weile dauern. Zu den Themen, die das Bundeskanzleramt innerhalb der Bundesregierung koordiniert, zählt neben dem Bürokratieabbau auch die Digitalisierung. Hier will ich deutlich machen, dass das, was Herr Ludewig gesagt hat, wirklich essenziell ist: Wir müssen die Perspektive der Nutzer viel mehr in den Blick nehmen. Nicht nur durch die Art, wie wir Gesetze fassen, können wir die Perspektive der Nutzer mit einbeziehen. Über die Digitalisierung haben wir auch die Möglichkeit, die Erreichbarkeit der Verwaltung besser zu gestalten, so dass jeder die Dienstleistungen mit der Verwaltung dann abwickeln kann, wenn er Zeit hat; und das nicht nur zu den Öffnungszeiten der Verwaltung. Das ist für die Bürger natürlich ein Riesenfortschritt. Wir werden bis 2022 in dem hier schon genannten OZG, dem Onlinezugangsgesetz, 575 Verwaltungsdienstleistungen von Bund und Ländern digital anbieten – Elterngeld, Kindergeld, Wohngeld; wie viele Tische und Stühle darf man auf dem Bürgersteig vor dem Café aufstellen? Letzteres ist zwar keine Bundesaufgabe, aber eben auf der kommunalen Ebene durchaus sehr wichtig; und das soll sich dann mit möglichst wenigen Klicks klären lassen. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch etwas ansprechen, was mich sehr beschäftigt; nämlich die Frage: Welchen „sense of urgency“, welche Dringlichkeit, verspüren eigentlich die Verwaltungen und die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands, wenn es darum geht, auf die digitale Art, unser Leben zu gestalten, umzusteigen? Lassen Sie es mich so sagen: Dieser „sense of urgency“ ist im europäischen Vergleich nicht besonders hyperausgeprägt. Im letzten Jahr haben wir Dänemark im Zusammenhang mit der Diskussion über das Onlinezugangsgesetz als Beispielland zu einer Konferenz eingeladen. Ich muss Ihnen sagen: Mein Gespräch mit dem damaligen dänischen Ministerpräsidenten war einfach nur ernüchternd. In Dänemark hat man längst keinen Briefverkehr mehr, es gibt keine Postkästen. Man hat sich eine Weile lang einmal im Jahr noch die PIN zugeschickt, aber das war auch der einzige Brief, der jemanden erreicht hat. Das kann man sich bei uns hierzulande noch kaum vorstellen. Das ist aber in unmittelbarer Nachbarschaft bereits Realität; und jetzt rede ich noch gar nicht von Estland. Ich habe im Gespräch mit der estnischen Präsidentin, die die Digitalisierung vehement nach vorne treibt, über die Datenschutz-Grundverordnung gelernt, dass die Erfüllung dieser Verordnung, was für uns so ein Drama ist, in Estland überhaupt kein Drama ist. Warum ist das so? Weil dort alles digitalisiert ist. Dort hat jeder Verein alles in einer bestimmten Art registriert. Alle Handelsregister, alle Personenregister, alle Kraftfahrzeugregister – alle sind nach der gleichen Methodik digitalisiert. Daher ist es bei all den Angaben, die aufgrund der Datenschutz-Grundverordnung geliefert werden müssen, nicht mehr so, dass irgendein Verein mühselig irgendwelche Zettel ausfüllen muss, sondern man kann auf die nötigen Informationen einfach zugreifen; und mit einem Klick ist die Sache erledigt. Sie sagte auch, sie wisse genau, warum das in Deutschland so ist. In Dänemark beschäftigen sie sich nämlich intensiv mit Deutschland und gucken, was bei uns anders ist als bei ihnen. So suchen sie dann wieder Modelle, wie sie bei uns andocken können und uns Dienstleistungen präsentieren können; das ist für sie also auch ein Geschäftsmodell. Deshalb müssen sie verstehen, was wir alles aus ihrer Sicht ein bisschen komisch und veraltet machen, damit sie wissen, wie sie uns dann beraten können. Finnland geht jetzt gemeinsam einen Weg mit Estland. Und sie schaffen sich auch europäische Verbündete. Portugal wäre als ein weiteres Land zu nennen. Wir sind also umrundet von Ländern, die sehr viel „drive“ in der Sache haben. Deshalb müssen auch wir uns wirklich voranbewegen. Wir haben deshalb kürzlich im Digitalkabinett verabredet, die Modernisierung der deutschen Registerlandschaft zu beschleunigen. Dabei geht es nicht nur um das Ausländerzentralregister, sondern auch um andere. Wir wollen uns auch mehr auf die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger zubewegen, was wir über die Digitallabore auch machen können. Wir brauchen auch Praxistests. Genau daran arbeiten wir seit 2015 unter der Überschrift „wirksam regieren“. So wurden in Zusammenarbeit mit Bürgerinnen und Bürgern zum Beispiel die Verständlichkeit von Formularen und der Kleinanlegerschutz im Vermögensanlegergesetz durch klarere Informationen verbessert. Wir müssen auch immer wieder bereit sein, bestehende Regelungen neu zu justieren, wenn wir erkennen, dass der Vollzug zu viele Schwierigkeiten mit sich bringt. Damit kommen wir nun auch zu dem Punkt „ex ante“ und „ex post“. Wir werden in den nächsten Jahren über 300 Gesetze in ihrer Wirkung evaluieren. Wir müssen, wenn Sie uns einen Erfüllungsaufwand ex ante voraussagen, den Ehrgeiz haben, Ihnen zu beweisen, dass der Aufwand ex post viel kleiner ist. Das wäre ja schon einmal ein richtiger Ansporn, um zu sagen: Da müssen wir doch vorangehen. Ich habe mich eben beim Zuhören gefragt: Wir haben doch, als der Normenkontrollrat zu arbeiten begann, alle bestehenden Gesetze schon einmal auf ihren Erfüllungsaufwand hin bewertet? (Zuruf Ludewig) Ach, das war zu wenig; der schmale Bereich. (Zuruf Ludewig: Das war die Bestandsmessung.) Aber die Bestandsmessung war schmaler, als Sie heute die Messungen machen? (Zuruf Ludewig) Verstehe. Und es ging damals nur um Informations- und Berichtspflichten, nicht? Damit hat sich damals, wenn ich mich richtig erinnere, das Statistische Bundesamt befasst; und das könnte jetzt ja auch wieder eine Rolle in der Methodik spielen. Staatsminister Hoppenstedt hat mir aber zugeflüstert, dass man jetzt dabei sei, eine Methodik zu entwickeln. Ich würde diese Methodik aber auch wieder auf möglichst neutrale Füße stellen. Der Verursacher eines Gesetzes sollte mit seiner Bewertung nicht zu viel zu tun haben, würde ich jetzt einfach einmal sagen. Das sollte er schon allein deshalb nicht, weil er ja von Haus aus als befangen eingeschätzt wird, worunter die Glaubwürdigkeit der Zahlenangaben leiden würde. Ich glaube aber, ich habe hier etwas gesagt, was im Staatssekretärsausschuss noch nicht „common ground“ ist. Aber vielleicht kann es das ja dadurch, dass ich es jetzt gesagt habe, noch werden. Damit bin ich dann auch schon bei der Rubrik „Dank“ angelangt. Wenn man einmal sieht, wo wir 2006 begonnen haben – nämlich nur bei den Berichtspflichten – und wo wir inzwischen hingekommen sind – nämlich bei der Prüfung des Erfüllungsaufwands; und damit sehr viel näher am Menschen –, dann zeigt sich die Strecke, die wir zurückgelegt haben. Nur wenn wir dort ansetzen, wo sich Menschen wirklich betroffen fühlen, wird sich eben auch der Eindruck einstellen, dass irgendetwas vereinfacht worden ist. Zusätzlich zu dem, was wir machen, setze ich noch sehr viel Hoffnung in die Digitalisierung. Ich nehme auch zur Kenntnis, dass Sie in letzter Zeit ein bisschen unruhig waren, weil die Zeiten, die wir Ihnen zur Bewertung der Auswirkungen eines Gesetzes eingeräumt haben, sehr kurz waren. Das hing ein bisschen mit der Eile zusammen, unter der wir im Augenblick arbeiten. Ich glaube, das wird sich auch wieder normalisieren. Also: Danke für Ihre Geduld mit uns, danke für Ihre Bereitschaft, sich auch immer wieder auf neue Pfade zu begeben, und für die Zeit, die Sie für diese Arbeit im Normenkontrollrat aufwenden. Das hat insgesamt zu einer sehr viel transparenteren Rechtsetzung geführt. In einer Zeit, in der Gefühle und Fakten immer in einem gewissen Wettstreit miteinander sind, würde ich sagen: Wenigstens auf der Faktenbasis haben wir Einiges vorzuweisen. Das muss sich dann allerdings auch noch in der Gefühlswelt widerspiegeln. Und deshalb müssen wir noch weiter hart arbeiten. Herzlichen Dank und alles Gute.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Festakt zum 70. Jahrestag der Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes am 21. Oktober 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-festakt-zum-70-jahrestag-der-gruendung-des-deutschen-gewerkschaftsbundes-am-21-oktober-2019-in-berlin-1683846
Mon, 21 Oct 2019 15:18:00 +0200
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Hoffmann, sehr geehrte Frau Hannack, sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Festgäste, zu allererst herzlichen Glückwunsch, auch im Namen der hier anwesenden Kolleginnen und Kollegen aus der Bundesregierung, zum 70. Geburtstag – und alles Gute! Was auch immer das bedeutet, ich komme noch darauf zurück. Natürlich, so möchte ich fast sagen, begeht der DGB sein Jubiläum an einem Ort, an dem einst hunderte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tätig waren und Ende des 19. Jahrhunderts für das Unternehmen Carl Bolles Milchprodukte hergestellt haben. Die Milchflaschen in den Kronleuchtern nebenan und, so meine ich, vereinzelt auch hier erinnern daran. Besondere Anlässe wurden auch damals schon hier in der Werkskapelle gefeiert. Sie haben heute ebenso einen guten Grund zum Feiern. Denn der Deutsche Gewerkschaftsbund gehört gleichsam zur Erstausstattung der Bundesrepublik, deren Grundgesetz in diesem Jahr ebenfalls 70 Jahre alt wurde. Das Wesen gewerkschaftlichen Wirkens war und ist – und zwar nicht erst in den letzten 70 Jahren seit Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes – immer geleitet vom Streben nach Solidarität und Toleranz, von Demokratie und Freiheit, von Gleichheit und Gerechtigkeit. Der frühere DGB-Vorsitzende Heinz Vetter war der Überzeugung: „Wer seinen Ort in der Geschichte nicht bestimmen kann, versteht auch die Gegenwart nicht und muss bei der Aufgabe versagen, die Zukunft zu meistern.“ Sie, meine Damen und Herren, sind sich der Geschichte des DGB wie auch seiner Vorgeschichte sehr bewusst und haben Ihren Weg immer in diesem Bewusstsein gewählt. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Sie bzw. Ihre Vorgänger entschlossen, sich in einer Einheitsgewerkschaft zu organisieren, weil sie fortan zusammenhalten und gemeinsam für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer etwas erreichen wollten – unabhängig von verschiedensten Berufsgruppen, Branchen, Qualifikationen und ihrer Herkunft. Sie hatten erkannt, dass Gemeinsamkeit stark macht und Solidarität alle weiterbringt. Einheit – das war bereits zur Kaiserzeit, zu Zeiten der Berliner Bolle-Meierei, und später in der Weimarer Republik ein erklärtes Ziel der Freien Gewerkschaften. Davon zeugt vor allem die Gründung der Generalkommission der Gewerkschaften und des nachfolgenden Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Der Erste Weltkrieg war kaum vorüber, als mit dem Stinnes-Legien-Abkommen das Fundament der Sozialpartnerschaft in Deutschland gelegt wurde. Erstmals wurden die Gewerkschaften als gleichberechtigte Verhandlungspartner anerkannt. Auch die Weimarer Verfassung erkannte die Gewerkschaften an und sah Koalitionsfreiheit vor. Aber die Gewerkschaften, das heißt, die Freien Gewerkschaften, die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, die christlichen Gewerkschaften und die kommunistische Revolutionäre Gewerkschaftsorganisation, sie zogen eben leider nicht an einem Strang und schon gar nicht in dieselbe Richtung. Vielmehr waren sie politisch und konfessionell zersplittert. Das Ergebnis war eine Konkurrenz, die sie mehr schwächte als belebte. Weitaus bitterer war natürlich die Zäsur, die die Gewerkschaften während der Zeit des Nationalsozialismus zu erleiden hatten. Sie wurden zerschlagen oder aufgelöst. Viele Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter wurden verfolgt, misshandelt, in Konzentrationslager deportiert und umgebracht – unter ihnen auch Wilhelm Leuschner. Noch am Tag vor seiner Hinrichtung mahnte er, die Lehren aus der Zersplitterung und Zerschlagung der Gewerkschaften zu ziehen, und forderte: „Schafft die Einheit!“ Diese mahnenden Worte sind – ich sage: glücklicherweise! – nicht ungehört verhallt. Nach dem Ende der Schrecken des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs entschieden sich die Gründer des DGB gegen Richtungsgewerkschaften und schlossen sich im Oktober 1949 in München zur Einheitsgewerkschaft zusammen. Statt sich das Leben gegenseitig unnötig schwer zu machen, konnten von nun an die einzelnen Mitgliedsgewerkschaften auf den Deutschen Gewerkschaftsbund bauen, der ihre gemeinsamen Interessen vertrat und zugleich in dieser Einheit eine große Vielfalt möglich machte. Damit begann unter dem Strich – wenn man in die Tiefe schaut, dann sieht man, dass es ja nicht immer einfach ist, die verschiedenen Einzelgewerkschaften zusammenzuhalten; ich begrüße natürlich alle Vorsitzenden und ehemaligen Vorsitzenden – eine Erfolgsgeschichte, die bis heute währt. Darauf können Sie sich immer berufen, Herr Hoffmann, falls es einmal Schwierigkeiten geben sollte. Natürlich, meine Damen und Herren, haben sich seit 1949 unser Land, unsere Gesellschaft und unsere Art zu arbeiten stark gewandelt. So galt es in den ersten Jahren nach dem Krieg erst einmal, neue Strukturen aufzubauen und existentielle Probleme zu lösen. Die Gewerkschaften halfen mit, die Bevölkerung mit Lebensmitteln und Kleidung zu versorgen. Sie packten mit an, um Unternehmen wieder in Gang zu setzen. Und sie leisteten auch in den Folgejahren vieles. Ganz besonders möchte ich hervorheben, dass, als die Zeit der sogenannten Gastarbeiter kam, gerade auch die Gewerkschaften ganz wesentlich zur Integration dieser Menschen beigetragen haben. Die Gesellschaft insgesamt hat sich damals mit der Frage der Integration viel, viel weniger beschäftigt als heute. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 bedeutete erneut einen, wenn auch völlig anders gearteten großen Umbruch. Es zeigte sich, wie wenig wettbewerbsfähig viele Betriebe der DDR nach jahrzehntelanger Zentraler Planwirtschaft waren. Das bedeutete für viele Menschen den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Sie erlebten einen fundamentalen Bruch in ihrem Leben. Gleichsam von heute auf morgen mussten sie einen Platz in einer völlig anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung finden. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat diesen tiefgreifenden Strukturwandel ganz wesentlich mitgestaltet. – Ich erinnere mich sehr gut an die Situation in meinem Wahlkreis, wo Sie plötzlich auch viele Mitglieder hatten, die arbeitslos waren. – Das Spektrum der Aufgaben war also weiter gewachsen. Gemeinsam mit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände haben Sie bekräftigt, dass wirtschaftliche und soziale Fortschritte nur in einer marktwirtschaftlichen Ordnung zu erreichen sind. – Auch das war nicht immer ganz einfach; und das ist es im Übrigen bis heute nicht, wenn ich manche Diskussion verfolge. – Dafür legten Sie Vorschläge für mehr Beschäftigung in den neuen Bundesländern vor. Sie integrierten die Beschäftigten aus den neuen Ländern unter dem Dach des DGB. Meine Damen und Herren, die Interessen der unterschiedlichen Branchen zu bündeln und mit einer Stimme zu sprechen – das erfordert Verhandlungsgeschick ebenso wie den Willen zum Kompromiss. Das gelingt nur mit Solidarität und mit der Unabhängigkeit, die den Deutschen Gewerkschaftsbund auszeichnen. Sie sind unabhängig von Regierungen, Parteien, Religionsgemeinschaften, Verwaltungen und Arbeitgebern. Ich will nicht verhehlen: Als CDU-Mitglied bin ich ein bisschen neidisch, dass es ja vielleicht doch noch eine Partei gibt, zu der Sie bessere Beziehungen haben. Aber im Großen und Ganzen werden Sie dem Anspruch der Einheitsgewerkschaft sehr gut gerecht. Sie sind unabhängig, aber Sie sind eben nicht neutral. Das können Sie auch gar nicht sein, wenn Sie sich mit Problemen und Entwicklungen kritisch auseinandersetzen und Ihre Positionen vertreten. Genau das tun Sie; und zwar aus gutem Grund. Denn wir haben in Deutschland gute Erfahrungen damit gemacht, dass diejenigen, die nach Lösungen suchen, die die betrieblichen und branchenspezifischen Realitäten am besten kennen, auch ein Wort mitzusprechen haben. Das sind eben die Sozialpartner. Deshalb haben wir die Tarifautonomie. Deshalb haben wir die Mitbestimmung. – Das geht einem alles so leicht über die Lippen. Aber gerade wenn es um die Mitbestimmung geht – Kurt Biedenkopf ist heute hier anwesend –, dann wissen wir, welche Kämpfe sich auch darum gerankt haben. – Deshalb regeln diejenigen, die die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite vertreten, die Arbeitsbedingungen in den Branchen und Betrieben. Trotzdem gibt es manchmal Fehlentwicklungen, auf die die Politik reagieren muss. Das war insbesondere vor rund zehn Jahren der Fall. Als der DGB 60 Jahre alt wurde, fand die Geburtstagsfeier in einer Zeit statt, in der aus einer internationalen Finanzkrise eine große Wirtschaftskrise geworden war. Damals haben wir uns im Bundeskanzleramt getroffen – Bundesregierung, Sozialpartner und Wissenschaftler. Wir haben gemeinsam nach Lösungen gesucht – und sie mit einer guten Portion Pragmatismus auch gefunden. Gemeinsam haben wir Maßnahmenpakete geschnürt und auf den Weg gebracht. Ich möchte mich heute noch einmal ganz herzlich für das Mitwirken des Deutschen Gewerkschaftsbundes bedanken! So konnten wir, obwohl wir 2009 den tiefsten Wirtschaftseinbruch in der deutschen Nachkriegsgeschichte hatten, die Krise schneller und besser als viele andere Staaten hinter uns lassen. Damals haben wir einmal mehr unter Beweis gestellt, dass das Wort Sozialpartnerschaft hierzulande keine Phrase ist, sondern dass wir sie miteinander leben. Ich erinnere mich an viele Gespräche in ebenfalls krisengeplagten europäischen Partnerländern, an denen auch der Deutsche Gewerkschaftsbund teilgenommen hat. Daran hat sich gezeigt, dass Sozialpartnerschaft auch etwas ist, das Mühe macht und Verantwortung mit sich bringt. Man könnte als Gewerkschaft auch die These vertreten: Man ist sozusagen gegen alles und fühlt sich nicht verpflichtet, immer einen konstruktiven Vorschlag zu machen. Die Sozialpartnerschaft in Deutschland aber zwingt den Deutschen Gewerkschaftsbund und die Einzelgewerkschaften geradezu, immer wieder Verantwortung zu übernehmen und mit konstruktiven Lösungsvorschlägen aufzutreten. Ich glaube, Sie haben damit in Ihrer europäischen Arbeit auch aufgezeigt, wie wichtig es ist, sich in einer noch verantwortlicheren Weise als Gewerkschaft zu organisieren. Dass sich unsere Soziale Marktwirtschaft über die Jahrzehnte hinweg bewährt hat, hat in der Tat sehr viel mit gelebter Sozialpartnerschaft zu tun. Es zeugt also von großer Weitsicht, dass die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes das Recht schützten, Vereinigungen zu bilden, um über Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bestimmen. Gerade weil unser Land mit dem Sachverstand der Tarifpartner gut gefahren ist, müssen uns heute die vielen weißen Flecken in der Tariflandschaft zu denken geben. Mit weißen Flecken ist das noch etwas euphemistisch beschrieben. Es sind manchmal schon ganz schön große Bereiche. Mangelnde Tarifbindung hat natürlich auch Einfluss auf die Lohnfindung. Über viele Jahre hinweg war auch ich der Ansicht – Sie mussten das ertragen; manche sind hier, die sich das immer wieder anhören mussten –, dass die Gewerkschaften zur Wahrung der Tarifautonomie den Mindestlohn allein mit Arbeitgebern in tarifvertraglichen Auseinandersetzungen festlegen sollten. Weil aber solche Festlegungen nicht mehr selbstverständlich waren, haben wir uns schließlich doch für gesetzliche Lohnuntergrenzen entschieden. Dann haben wir entschieden, dass eine Kommission aus Vertreterinnen und Vertretern der Beschäftigten und Arbeitgeber über die Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns befinden soll. In dieser Zusammensetzung spiegelt sich die gemeinsame Überzeugung wider, dass die Tarifpartner angemessenere Lösungen finden können, als das dem Gesetzgeber möglich ist. Sie haben sich dafür entschieden, die Sache nicht zu kompliziert zu machen, sondern sozusagen einen gewissen Automatismus anzuwenden. Das bietet Verlässlichkeit. Und uns war es wichtig, dass wir die Aufgabe in die Hände der Tarifpartner geben. Unabhängig davon ist es wünschenswert und erstrebenswert, in Deutschland wieder eine höhere Tarifbindung zu gewinnen. Wir reden sehr oft, auch bei den Dialogen in Meseberg, darüber, mit welchen Anreizen wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und vor allen Dingen auch Unternehmen dazu bringen können, die Möglichkeiten der Tarifbindung zu nutzen und als einen Vorteil zu erkennen. Es geht um gute Arbeitsbedingungen. Es geht auch um Flexibilität für Unternehmen. Es geht über die Betriebe und Branchen hinaus um den sozialen Frieden und damit eben auch um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Das – das wissen wir; und das spüren wir jeden Tag – ist in Zeiten wie diesen aktueller und wichtiger denn je. Denn Umbrüche beschäftigen uns nicht nur als historische Ereignisse. Auch heute erleben wir – tagtäglich will ich sagen – eine Zeit voller Umbrüche. Die Arbeitswelt verändert sich rasant – infolge globaler Entwicklungen, durch den Klimawandel und nicht zuletzt durch die Digitalisierung, die aus meiner Sicht eine epochale Umwälzung ist. Neue Möglichkeiten der Arbeitsorganisation entstehen, neue Strukturen und auch neue Berufe. Doch wie genau sieht Arbeit 4.0 aus? Stirbt das klassische Beschäftigungsverhältnis aus? Arbeiten die meisten vielleicht schon bald als sogenannte Freelancer? Wie weit wird die Flexibilität reichen? Was wird aus der betrieblichen Sozialpartnerschaft? Wie sehen gute Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutz in der digitalen Welt aus? Brauchen wir eigentlich nicht so etwas wie eine IG Digital? Wir als Bundesregierung beschäftigen uns ziemlich viel mit diesen Fragen. Der Bundesarbeitsminister ist auch hier; er macht dazu viele Vorschläge, die ja mit Ihnen auch besprochen werden. Trotzdem wird uns dieses Thema noch sehr lange begleiten. Es mangelt nicht an Fragen, über die wir regelmäßig diskutieren. Wir brauchen aber eben auch Antworten; und zwar recht rasch. Ich bin überzeugt, dass auch der Wandel zur Arbeit 4.0 nur in großer Gemeinsamkeit erfolgreich gestaltet werden kann. Das gilt für die bundespolitische Ebene genauso wie für die Sozialpartner und die betriebliche Ebene. Ich habe jüngst eine ausführliche Diskussion mit der estnischen Präsidentin geführt. Für mich war sehr beruhigend, dass sie auf der einen Seite die digitale Welt sehr tief und gut durchdacht hat – von den Arbeitsbedingungen über die Sozialbedingungen bis zu den Unternehmensbedingungen –, aber auf der anderen Seite wesentlichen Wert darauf legt, dass das, was wir in der sogenannten analogen Welt gelernt haben, was Beziehungen zwischen Menschen, Unternehmen und gesellschaftliche Zusammenhänge anbelangt, in die digitale Welt übertragen werden muss und dass die digitale Welt kein Raum sein kann, in dem Rechte, Pflichten und die Grundannahmen unserer Gesellschaft nicht mehr gelten. Es ist äußerst wichtig, dass wir uns das immer wieder vor Augen führen. Meine Damen und Herren, wir wissen seit langem, dass sich die Beschäftigten mit den Zielen eines Betriebes viel stärker identifizieren, wenn sie in die Planungen und Entscheidungen ihrer Arbeitgeber einbezogen sind. Identifikation und Motivation dienen sowohl den Beschäftigten als auch den Betrieben. Sie sind also gleichsam Erfolgsfaktoren für alle. Genau das ist ja auch die Grundlage der Idee der Mitbestimmung. 1951 wurde in der alten Bundesrepublik die paritätische Mitbestimmung in den Aufsichtsräten von Montanunternehmen verabschiedet. Ein Jahr später, 1952, wurde das Betriebsverfassungsgesetz beschlossen. Die Unternehmensmitbestimmung hat sich bewährt. Sie ist Ausdruck gelebter Sozialer Marktwirtschaft. Wie bei der Tarifbindung ist auch der Beitrag der betrieblichen Mitbestimmung zum sozialen Frieden kaum zu überschätzen. Genau das muss auch in Zeiten des digitalen Wandels gelten. Deshalb haben wir uns als Bundesregierung zum Beispiel auf eine Stärkung des Initiativrechts von Betriebsräten beim Thema Weiterbildung verständigt. Wir achten darauf, dass Mitbestimmungsrechte gewahrt bleiben und auch in europäischer Hinsicht abgesichert sind. So darf etwa die Verlagerung eines Firmensitzes deutsche Mitbestimmungsrechte nicht untergraben. Hierfür ist die Richtlinie zu grenzüberschreitenden Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen von Kapitalgesellschaften eine Verbesserung. Wir müssen aber alle gemeinsam mit Argusaugen darauf achten, dass über die europäische Ebene nicht bestimmte Dinge kommen, die das Wesen der Sozialpartnerschaft wieder infrage stellen. Meine Damen und Herren, was macht nun gute Arbeitsbedingungen aus? Antworten darauf finden sich in arbeits- und tarifvertraglichen oder gesetzlichen Regelungen – aber nicht nur. Gute Bedingungen drücken sich auch in der Wertschätzung aus, die Beschäftigte erfahren – von ihrem Arbeitgeber, im Kollegenkreis wie auch im gesellschaftlichen Umfeld. Gerade für junge Leute – und Sie setzen sich so sehr für Auszubildende ein – ist es besonders wichtig, wie sie in eine Gesellschaft hineinwachsen. Es war deshalb sehr wichtig und richtig, dass Sie auf Ihrem letzten Bundeskongress auch über Gewalt gegen Beschäftigte im öffentlichen Dienst diskutiert haben. Es sollte uns aber auch betroffen machen, dass solche Diskussionen überhaupt geführt werden müssen. Rettungssanitäterinnen und -sanitäter, Polizeikräfte, Beschäftigte im Ordnungsamt und Jobcenter, Zugbegleiterinnen und Zugbegleiter und andere machen immer wieder die schlimme Erfahrung, dass sie in ihrem Dienst nicht nur behindert, sondern auch beschimpft, bedroht oder gar angegriffen werden. Wir dürfen nicht darüber hinwegsehen, wenn diesen Menschen Hass und Gewalt entgegenschlagen. Wir müssen zusammenhalten und diejenigen unterstützen, die sich für unseren Zusammenhalt einsetzen. Sie verdienen Schutz und sie verdienen unseren Respekt. Ob gewerkschaftlicher Zusammenhalt oder gesellschaftlicher Zusammenhalt – ohne gegenseitigen Respekt funktioniert Zusammenhalt nicht. Es ist traurig, dass wir so etwas in diesen Tagen und Wochen wieder betonen müssen. Aber wir erleben eben allzu oft, dass populistische Parolen und extremistische Ideologien verfangen und Hemmschwellen sukzessive gesenkt werden. Wir sehen es an hasserfüllten Kommentaren, die im Internet kursieren. Wir sehen, dass Mitbürgerinnen und Mitbürger zum Ziel rechtsextremistischer Gewalt werden. Hass und Gewalt, Antisemitismus und Rassismus äußern sich in vielen Facetten. Aber jedes Mal sind sie eine Verletzung des Artikels 1 unseres Grundgesetzes, eine Verletzung der Würde des Menschen. Sie verstoßen gegen unsere Werte und Gesetze. Und unsere Werte und Gesetze müssen und werden wir entschieden verteidigen. Dabei ist es gut zu wissen, mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund einen starken Verfechter von Solidarität, Toleranz und Zusammenhalt in unserem Land zu haben. – Ich habe das kürzlich wieder auf dem IG-Metall-Kongress erleben können. – Dies war auch in den vergangenen sieben Jahrzehnten so. Ich konnte das auch ganz besonders an der Unterstützung in der Zeit, in der so viele Flüchtlinge zu uns kamen, erleben. Und ich bin mir bei Ihnen sicher, dass dies in den nächsten Jahrzehnten auch so bleiben wird. Deshalb, liebe Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbundes: Bewahren Sie auch in Zukunft Ihre Werte und Prinzipien! Bewahren Sie auch in Zukunft die Einheit und die Solidarität im DGB! Gestalten Sie Deutschland erfolgreich mit – in Zeiten wie diesen, in denen es darum geht, gute Bedingungen auch für die Arbeit 4.0 zu schaffen! Und helfen Sie mit, das, was die Gründungsväter und -mütter des Grundgesetzes uns auf den Weg gegeben haben, weiter zu erhalten! In diesem Sinne: Auf eine weiterhin konstruktiv-kritische Zusammenarbeit! Ich wünsche Ihnen viel Kraft und viel Stärke für die anstehenden Aufgaben! Sie werden nicht weniger, nur anders. Herzlichen Dank!
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich der Preisverleihung „Deutscher Verlagspreis“ 2019
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-der-preisverleihung-deutscher-verlagspreis-2019-1683670
Fri, 18 Oct 2019 18:30:00 +0200
Im Wortlaut
Frankfurt am Main
Kulturstaatsministerin
Kultur
Es gibt wohl nur wenige ebenso geeignete Orte wie die Frankfurter Buchmesse, um den Deutschen Verlagspreis aus der Taufe zu heben. Nicht nur, weil Frankfurt die Wiege des Verlagswesens ist und die Buchmesse alljährlich Intellektuelle aus der ganzen Welt anzieht. Frankfurt ist immerhin auch die Stadt, in der zum ersten Mal ein deutsches Parlament freiheitliche Grundrechte formulierte: „Das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern“, wie es in der Paulskirchen-Verfassung festgehalten wurde, fand fast wörtlich Eingang in das Grundgesetz. Es bildet heute die Grundlage publizistischer Vielfalt und einer lebendigen demokratischen Debattenkultur. Zu dieser tragen Sie, liebe Verlegerinnen und Verleger, ganz maßgeblich bei: als Wegbereiter für Querdenker und Freigeister, mit einer Fülle an literarischen Formen und einem Reichtum an Themen und Perspektiven. Ohne das Engagement gerade auch der kleineren und mittleren unabhängigen Verlage wäre die Buchkultur in Deutschland um vieles ärmer – und damit auch das Spektrum an Meinungen und Perspektiven im öffentlichen Diskurs. Sie, liebe Verlegerinnen und Verleger, bringen neue literarische und visuelle Ausdrucksformen zur Entfaltung und stellen Weichen für künstlerische Entwicklungen. Sie verschaffen spannenden Denkerinnen und Denkern Gehör und setzen damit wichtige Impulse in der gesellschaftspolitischen Debatte. Den Leserinnen und Lesern erschließen Sie unser vielfältiges literarisches Erbe und sorgen mit Übersetzungen für interkulturelle Verständigung. Vor allem aber entdecken Sie immer wieder neue begabte, vielversprechende Autorinnen und Autoren und unterstützen sie auf ihrem künstlerischen Weg. Goethe wetterte einst über seinen Verleger, Johann Friedrich Cotta: „Die Buchhändler“ – damit meinte er die Verleger – „sind alle des Teufels, für sie muss es eine eigene Hölle geben.“ Der erzürnte Ausspruch war wohl dem Umstand geschuldet, dass Goethe für ein Werk nur 6000 anstatt der ursprünglich vereinbarten 8000 Taler bekommen sollte. Der Zorn illustriert aber auch, in welcher auch emotional engen Beziehung Verlegerinnern und Verleger zu ihren Autorinnen und Autoren stehen und wie viel Fingerspitzengefühl die Herausgabe eines neuen Buches erfordert. Steckt doch in jedem Manuskript, in jeder Buch-Idee ein künstlerischer Anspruch, der mit Marktentwicklungen und Leserinteressen in Einklang gebracht werden muss. Sie, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, kennen die Welt der schönen Künste, der Literatur, der Wissenschaft und der Poesie genauso gut, wie die der Bilanzbücher und Wirtschaftszahlen. Und es zeichnet Ihr verlegerisches Profil aus, dass Sie mit Risikofreude und Kreativität zwischen diesen Welten vermitteln – dass es Ihnen gelingt, in einem hart umkämpften Markt an Ihren Idealen und Herzensprojekten festzuhalten. Dafür haben Sie, Goethe möge mir verzeihen, durchaus einen Platz im Himmel und ganz sicher nicht in der Hölle verdient! Mit dem Deutschen Verlagspreis wollen wir Ihre Arbeit, Ihre Verdienste um Buchkultur und Meinungsvielfalt öffentlich würdigen. Die ausgezeichneten Verlage sind die Gärtner einer geradezu paradiesischen und weltweit einzigartigen Literaturlandschaft, auf die wir stolz sein können; und es ist mir ein Herzensanliegen, Ihre wertvolle Arbeit und Ihr gesellschaftliches Engagement sichtbar zu machen. Deshalb hoffe ich, dass die Gütesiegel und die Preise im Wert von insgesamt mehr als einer Million Euro sich für Sie auch in Form öffentlicher Aufmerksamkeit, der wichtigsten Währung des digitalen Zeitalters, auszahlen. Mein herzlicher Dank gilt der prominent besetzten Jury, die 312 eingegangene Bewerbungen gesichtet hat, damit jene 67 unabhängige Verlage ausgezeichnet werden können, die sich mit ihrem verlegerischen Profil und ihrem kulturellen Engagement hervorgetan haben und die Auszeichnung wahrlich verdienen. Ihr Engagement und Ihre Expertise, liebe Jury, adeln diesen Preis. Dass bei einer solchen ersten Ausschreibung und Preisvergabe noch nicht alles glatt läuft, kommt vor. So ist das häufig bei Premieren. Da kann man nachjustieren, und das werden wir, wo es nötig ist, auch tun. Ich bin dankbar für Hinweise und Anregungen, freue mich aber vor allem, dass es gelungen ist, diesen wichtigen Preis auf die Beine zu stellen. Ja, meine Damen und Herren, es wurde Zeit für einen Deutschen Verlagspreis, – wie übrigens auch für den Deutschen Buchhandlungspreis, den ich bereits 2015 ins Leben gerufen habe – weil Verlage und Buchhandlungen im digitalen Zeitalter und angesichts erstarkender antidemokratischer Tendenzen einem mittlerweile deutlich schärferen Gegenwind ausgesetzt sind – und weil wir alle ihr großartiges Angebot brauchen, um dem erstarkenden Populismus ein kritisches Korrektiv entgegensetzen zu können. Ich bin überzeugt: kulturelle Vielfalt ist stärker als populistische Einfalt. In einer Zeit der Daumen-rauf-oder-runter-Bewertungslogik und der kurzen Aufmerksamkeitsspannen haben es Bücher mit komplexen Inhalten zunehmend schwer. Diskurs und Verständigung sind aber auf Differenzierungen und Zwischentöne angewiesen. Die Demokratie lebt vom wachen Geist, vom Ringen um Positionen, von der Sprachmächtigkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger. Sie braucht Querdenker und Freigeister. Sie braucht Publizistinnen und Publizisten, die Zusammenhänge und Erkenntnisse in mehr als den 280 Zeichen eines Tweets beschreiben. Sie braucht Leserinnen und Leser, die mit Entdeckerfreude ihre „mentale Komfortzone“ verlassen, um sich auf fremde Gedanken und Gefühle einzulassen. Deshalb ist es mir so wichtig, dass Sie, liebe Verlegerinnen und Verleger, mit Ihrem Gespür für Lesenswertes und als Bindeglied zwischen Autor und Buchhandlung das geistige Leben in Deutschland mitgestalten. Ihr Engagement, mit dem Sie anspruchsvolle Projekte auch gegen Markttrends durchzusetzen vermögen, ist eine Investition in die Zukunft unseres Landes, es ist unverzichtbar für den Erhalt der geistigen Vielfalt und kultivierten Streitkultur. Der neue Verlagspreis ist deshalb nicht nur eine Liebeserklärung an unabhängige Verlegerinnen und Verleger, sondern ich möchte ihn auch als Rückendeckung für die kleinen Verlage in Zeiten für sie vielfach bedrohlicher Konzentrationsentwicklungen auf dem Buchmarkt verstanden wissen. Wir wenden uns damit auch gegen die Degradierung des Kulturguts Buch zur bloßen Handelsware, gegen die Bewirtschaftung einer geistigen Monokultur, in der nur überlebt, was hohe Verkaufszahlen garantiert. Denn die Freiheit des Wortes, wie sie in der Paulskirche 1848 formuliert wurde, ist kein Besitz, sondern Aufgabe und Verpflichtung: Sie braucht dauerhaft das Engagement überzeugter Demokratinnen und Demokraten. Sie braucht weiterhin verlegerischen Mut, Weltverständnis und die Liebe zur Kultur − für die Kraft des besseren Arguments, für publizistische und literarische Vielfalt und für eine Lesekultur, die diesen Namen auch verdient. Deshalb, liebe Verlegerinnen und Verleger, wünsche ich mir, dass Sie auch weiterhin mit Freude und Leidenschaft Ihre Unabhängigkeit mit unternehmerischem Sachverstand und verlegerischem Herzblut verteidigen: vor ökonomischen Abhängigkeiten, vor falschen Kompromissen aus vermeintlichen Sachzwängen heraus und nicht zuletzt vor der Versuchung, sich allzu bereitwillig dem Diktat der Verkaufszahlen zu unterwerfen. Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges hat einmal gesagt: „Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt.“ Seien Sie weiterhin erfolgreiche Gärtnerinnen und Gärtner in diesem Paradies − Gärtnerinnen und Gärtner einer prosperierenden Buchkultur! Das wünsche ich Ihnen, das wünsche ich uns allen und unserem Land. Herzlichen Glückwunsch allen Preisträgern zur Auszeichnung mit dem Deutschen Verlagspreis!
In ihrer Rede würdigte Grütters die Verlegerinnen und Verleger „als Wegbereiter für Querdenker und Freigeister, mit einer Fülle an literarischen Formen und einem Reichtum an Themen und Perspektiven“.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters im Deutschen Bundestag
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-im-deutschen-bundestag-1683652
Thu, 17 Oct 2019 13:45:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Geschichte wiederholt sich nicht, aber wir können aus ihr lernen.“ Mit diesem Satz beginnt das Büchlein „Über Tyrannei“ des amerikanischen Historikers Timothy Snyder. Aus den Erfahrungen der europäischen Geschichte destilliert er „20 Lektionen für den Widerstand“ gegen Demagogen und Autokraten – für Bürgerinnen und Bürger, die das weltweite Erstarken populistischer Demokratieverächter mit Sorge beobachten. „Die Geschichte“, heißt es darin, „ermöglicht es uns, Muster zu erkennen und Urteile zu fällen. (…) Geschichte erlaubt uns, verantwortlich zu sein (…).“ Zweifellos sind es vor allem die bitteren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die für ein verantwortungsbewusstes „Wehret den Anfängen!“ gleichermaßen Motivation und Argumente liefern. Doch was uns erlaubt, Handlungsspielräume zu erkennen und Gefühle der Ohnmacht zu überwinden, ist die Erinnerung an demokratische Sternstunden und Hoffnungsträger: an Momente, in denen demokratische Werte den Sieg davongetragen haben, und an Menschen, deren Mut, Zuversicht und Weitsicht diesen Siegen den Weg bereitet haben. In diesem Sinne begrüße ich den Antrag der Koalitionsfraktionen, Orte der Freiheit und Demokratie stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Diese Orte brauchen und verdienen mehr Raum in unserem Selbstverständnis: als gleichermaßen mahnende und motivierende Erinnerung, dass Demokratie kein Geschenk ist, sondern eine Errungenschaft, kein ständiger Besitz, sondern stetes Bemühen. In diesem Sinne fördert der Bund Museen und Gedenkstätten, die Zeugnis ablegen vom Ringen um Freiheit und Demokratie, so wie beispielsweise die Stiftung Hambacher Schloss, das Deutsche Historische Museum oder auch die Politikergedenkstiftungen des Bundes. Darüber hinaus wird die Bundesregierung eine Förderkonzeption für die Orte der Freiheit und Demokratie in Deutschland vorlegen. Mein Haus erarbeitet derzeit Vorschläge sowohl für eine mögliche institutionelle Förderung als auch für die Projektförderung, und ich bin sehr dankbar für das breite zivilgesellschaftliche Engagement in diesem Bereich, etwa im Rahmen der AG „Orte der Demokratiegeschichte“. Dem berechtigten Anliegen, die lange Geschichte des Ringens um Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, wäre allerdings gewiss nicht gedient, wenn der Eindruck entstünde, dass damit das Gewicht des Gedenkens an den Holocaust und an die Opfer totalitärer Diktaturen relativiert werden könnte. An der Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes halten wir deshalb unverändert fest, um den Blick zu schärfen für Entwicklungen, die einst zu Krieg und Vernichtung, zu Gewalt und Unterdrückung geführt haben. Nicht zuletzt der entsetzliche, antisemitisch motivierte Terroranschlag in Halle zeigt, wie bitter notwendig dies ist und bleibt. Deutschland, meine Damen und Herren, verdankt seine heutige Identität und sein mittlerweile wieder hohes Ansehen in der Welt zweifellos auch seiner schonungslosen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Zu Recht sind wir vorsichtig, wenn es darum geht, stolz und selbstbewusst zurückzuschauen auf die eigene Geschichte. Doch es stärkt die Kräfte der Zivilgesellschaft und damit auch die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie, wenn wir die Chance haben, nicht nur am Ringen mit der Vergangenheit zu reifen, sondern auch im Bewusstsein der eigenen Freiheitstraditionen zu wachsen. Arbeiten wir also gemeinsam daran, dass auch die Sternstunden deutscher Demokratiegeschichte ihren angemessenen Platz in unserem Selbstverständnis finden!
Rede von Prof. Monika Grütters, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, anlässlich der Einbringung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD „Orte der Freiheit und Demokratie: 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung – Demokratischer Aufbruch und Scheitern der ersten deutschen parlamentarischen Republik“
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Fontane-Lyrikabend „Ängstlichkeitsprovinz“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-fontane-lyrikabend-aengstlichkeitsprovinz–1682860
Wed, 16 Oct 2019 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Herzlich willkommen zum vierten Lyrikabend im Bundeskanzleramt! Wer bisher – wie ich – der Ansicht war, es bräuchte diese schöne Tradition, um Dichterinnen und Dichter im politischen Berlin zu Wort kommen zu lassen, wurde kürzlich eines Besseren belehrt: Auf ZEIT ONLINE hat man sämtliche Bundestagsreden der vergangenen 70 Jahre digital durchsuchbar gemacht … – und bei dieser Gelegenheit festgestellt, dass Schriftsteller immer wieder gerne zitiert werden. Es wird vermutlich niemanden von Ihnen überraschen, dass der gute alte Goethe mit bisher 584 Erwähnungen am häufigsten dafür herhalten musste, den bisweilen ziemlich trockenen Parlamentsreden lyrische Würze zu verleihen. Und wenn Sie die wortmächtigen Repräsentanten der einstigen Pariser Boheme zu schätzen wissen, wird es Sie bestimmt auch nicht wundern, dass Baudelaire, dem Exzess bekanntlich nicht abgeneigt, seine rhetorischen Auftritte vor allem in Drogen-Debatten hat. Theodor Fontane allerdings, der Protagonist des heutigen Abends und immerhin der meistgelesene deutsche Autor des 19. Jahrhunderts, rangiert als literarischer Kronzeuge in Plenardebatten leider unter ferner liefen – trotz seines 200. Geburtstags in diesem Jahr. Damit geht es ihm zwar immer noch besser als Jean-Paul Sartre, der sich vermutlich im Grab umdrehen würde, wenn er wüsste, dass Sartre im Deutschen Bundestag vor allem als Kürzel für den Titel einer Studie zu Risiken des Straßenverkehrs Erwähnung fand … . Aber allein schon wegen seiner vielsagenden Wortneuschöpfungen hätte Fontane als politischer Stichwortgeber zweifellos eine prominentere Rolle im politischen Zitate-Schatz verdient. Mit Fontanes Wortschatz ließe sich jedenfalls konstatieren – ich bediene mich mal aus seinem Vokabular -, dass so manche politische Rede sich auf „Offiziositätsphrasen“ und „Allerweltsstandpunkte“ beschränkt und deshalb in erster Linie als „Trommelfellaffektion“ wahrgenommen wird. Mit Fontane ließe sich empfehlen, „Harmlosigkeitsallür“ und „Professorentochterdünkel“ beiseite zu schieben und über die eigenen „Vortrefflichkeitsschablonen“ hinauszudenken – schließlich erzeugen rhetorische „Schmetterlingschlachten“ in „Weltabgeschiedenheit“ nur „Mattigkeitsausdruck“ und „Verdrießlichkeitsfalten“ und erregen allenfalls „Ministerialaufmerksamkeit“, statt die „Weltverbesserungsleidenschaft“ zu befeuern und „Avantgardendivisionen“ gegen populistische „Volksbeglückungsprogramme“ zu mobilisieren. Ja, meine Damen und Herren, mit Fontane sprechen heißt Klartext reden. Darauf eine „Repräsentationsweinflasche“ (- die öffnen wir dann nachher, und nicht nur eine …)! Soweit eine kleine Kostprobe aus Fontanes Feinschmecker-Wortschatz. Dass wir uns daraus als Motto des heutigen Abends ausgerechnet die „Ängstlichkeitsprovinz“ ausgesucht haben, sollten Sie nicht voreilig als politische Statusmeldung aus dem Bundeskanzleramt missverstehen, sondern ganz im Gegenteil: als Bekenntnis zur subversiven Kraft der Poesie, als Widerstandsbekundung gegen die Herrschaft der „Ängstlichkeitsprovinz“, gegen die ängstliche Einhegung des Möglichen auf das Bewährte und Überschaubare. Dass wir der Sprachkunst im Kanzleramt, in der Schalt- und Machtzentrale der Bundesregierung Raum geben, ist ja – bei aller Liebe zur Lyrik – nicht nur Liebhaberei, sondern auch Ausdruck einer Haltung: der kulturpolitischen Überzeugung nämlich, dass Dichterinnen und Dichter uns vor der Enge des Denkens und Wahrnehmens, vor der Abschottung in der eigenen, inneren „Ängstlichkeitsprovinz“ bewahren: mit originellen Sprachspielereien, die vermeintlich Altbekanntes in neuem Licht erscheinen lassen; mit mal betörender, mal verstörender Feinsinnigkeit, die der emotionalen Abstumpfung entgegenwirkt; mit poetischer Sprengkraft, die Denk-Routinen und Welt-Anschauungen aufbricht. Raus aus der „Ängstlichkeitsprovinz“: So könnte man im Übrigen auch Fontanes Weg vom studierten Apotheker zum ehrgeizigen Dichter beschreiben: von der Sicherheit eines soliden Brotberufs zum Wagnis der Künstlerexistenz, von der beschaulichen märkischen Heimat in die vibrierenden Städte Leipzig, Dresden und Berlin, wo er im literarischen Sonntags-Verein „Der Tunnel“, einer Gruppe junger Möchtegernpoeten, seine ersten öffentlichen Lesungen absolvierte. In seinen eigenen Worten: „Natürlich Dichter. Blutjunge Ware: Studenten, Leutnants, Refrendare. Rang gab’s nicht, den verlieh das ,Gedicht‘.“ Fontane freilich hat sich seinen herausragenden Rang im kulturellen Gedächtnis nicht in diesem Männerzirkel, sondern viel später als Romancier mit starken Frauenfiguren erarbeitet. Seine Romane kennen die meisten; sie sind Schullektüre. Doch die wenigsten kennen seine Balladen und Gedichte. Umso reizvoller ist es, die Bühne heute einmal ganz seinem dichterischen Werk zu überlassen, zumal er selbst die Auffassung äußerte, dass von seinen Gedichten mehr bleiben werde als von seiner Prosa. Ein Irrtum, wie wir mittlerweile wissen – aber einer, den wir angesichts seiner etwas in Vergessenheit geratenen Wort-Schätze nicht einfach so stehen lassen können. Fontane war ein Worte-auf-die Goldwaage-Leger: ein Meister der Stilkunst, der mit dem scharfen Schwert der Sprache auf Erkenntnis zielte und mit geistreicher Nüchternheit statt mit berauschendem Pathos überzeugte. „Er war einer der gewiegtesten Techniker, die die deutsche Literatur je gehabt hat, ohne dass man Versen und Sätzen ansieht, wie sie gebosselt sind“, urteilte Kurt Tucholsky über ihn. Fontane selbst hat sein obsessives Ringen um die treffendsten Worte mit seinem unnachahmlich trockenen Witz so formuliert: Dreihundertmal hab’ ich gedacht: Heute hast du’s gut gemacht, Dreihundertmal durchfuhr mich das Hoffen: Heute hast du ins Schwarze getroffen, Und dreihundertmal vernahm ich den Schrei Des Scheibenwärters: ‚Es ging vorbei.‘ Schmerzlich war mir’s dreihundertmal – Heute ist es mir egal. Ich freue mich sehr, dass wir Fontanes Wortwitz, sein sprachliches Rhythmusgefühl und seine unprätentiöse, stilistische Virtuosität beim diesjährigen Lyrikabend zum Klingen bringen – einmal mehr mit Unterstützung des Deutschen Theaters: Herzlichen Dank den Schauspielern Maren Eggert und Alexander Khuon, die – sprachgewandt und bühnenerprobt – den Lyriker Fontane für uns aus dem Schatten des Romanciers Fontane holen werden; herzlichen Dank auch Ihnen, liebe Anika Steinhoff, die Sie dafür mit Ihrer Kompetenz als Dramaturgin ein lyrisches „Best-of-Fontane“ zusammengestellt haben. Wenn Sie damit heute Abend auf den Geschmack kommen, meine Damen und Herren, kann ich Ihnen den Besuch der aus Bundesmitteln geförderten Leitausstellung zum Fontane-Jahr in Neuruppin, der Geburtsstadt des Dichters, ans Herz legen. Die Leiterin des Museums, Frau Peers-Oeljeschläger, und die Kuratorin der Ausstellung und Leiterin des Schiller-Nationalmuseums, Frau Prof. Gfrereis, sind heute unter uns. Auch das freut mich sehr! Herzlich willkommen! Best-of-Fontane: Das gibt es auch kulinarisch, wie ich kürzlich festgestellt habe. Im Jubiläumsjahr können Sie sich auf den Spuren Fontanes durch Brandenburg schlemmen – und ihm essend vermutlich sogar näher kommen als wandernd oder radelnd, denn der große Meister der Sprachkunst war auch ein großer Freund der märkischen Kochkunst – und ein erklärter Feind der Askese. „Ich bin nicht für halbe Portionen“: Mit dieser Haltung begegnete er Schwarzwild, Gans und Hecht, Teltower Rübchen, Pumpernickel und Ribbeck’schen Birnen. „Ich habe…“, schrieb er einmal, „… eine hohe Vorstellung von der Heiligkeit der Mahlzeiten. Gleich nach dem schlafenden Menschen kommt der essende Mensch.“ Zumindest Letzteres will ich heute Abend ausdrücklich ausschließen: Bei unseren Lyrikabenden kommt der essende Mensch nicht nach dem schlafenden, sondern nach dem lesenden und lauschenden Menschen. Aber natürlich haben wir mit Blick auf die „Heiligkeit der Mahlzeiten“ keine Kosten und Mühen gescheut, Fontane auch kulinarisch gerecht zu werden: Sie sind herzlich eingeladen, diesen Streifzug durch sein dichterisches Werk bei einem Glas Wein und kleinen kulinarischen Köstlichkeiten ausklingen zu lassen. Machen wir uns also auf den Weg, Fontanes lyrisches Werk zu erkunden: Bühne frei für Maren Eggert, Alexander Khuon und Anika Steinhoff vom Deutschen Theater.
Fontanes Geburtstag jährt sich 2019 zum 200. Mal. Ein guter Anlass den Dichter auch im Rahmen eines Lyrik-Abends zu feiern. Denn Fontanes dichterisches Werk ist weit weniger bekannt als seine Prosa, wie Kulturstaatsministerin Grütters in ihrer Rede erklärte.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutschen Maschinenbaugipfel des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e.V. am 15. Oktober 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-deutschen-maschinenbaugipfel-des-verbandes-deutscher-maschinen-und-anlagenbau-e-v-am-15-oktober-2019-in-berlin-1681952
Tue, 15 Oct 2019 10:14:00 +0200
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Welcker, meine Damen und Herren, liebe Mitglieder des VDMA, es ist mir eine Freude, bei Ihnen zu sein. Ich war das letzte Mal 2008 bei einem VDMA-Maschinenbau-Gipfel. Das ist erkennbar schon eine ganze Weile her. Dennoch haben wir jährlichen Kontakt über die Hannover Messe, die ja gemeinsam mit BDI und ZVEI in rotierender Federführung veranstaltet wird. Ich glaube, die Hannover Messe ist nach wie vor ein beeindruckendes Aushängeschild unserer industriellen Leistungsfähigkeit. Industrie 4.0 ist zum Schlagwort geworden. Dass das Thema Innovation für Sie ein zentrales ist, ist klar. Das zeigt sich auch an Ihrem Motto „Zukunft produzieren“. Sie sind sozusagen diejenigen, die die Transformation für das produzierende Gewerbe in Zeiten der Digitalisierung voranbringen. Sie sind Vorreiter und Aushängeschild. Ich glaube, wir haben in den letzten Jahren eine sehr gute Kooperation entwickelt. 2013 wurde auf der Hannover Messe die Plattform Industrie 4.0 gegründet. Sie ist inzwischen auch so etwas wie ein internationales Markenzeichen. Sie wurde 2015 erweitert. Wir können sagen, dass wir hier eine Vielzahl an Kooperationen haben – mit China, Japan, den USA – und damit auch vieles in Gang gesetzt haben. Ihre Branche ist stark von mittelständischen Unternehmen geprägt. Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, dass 99 Prozent aller Unternehmen mittelständisch sind, 80 Prozent aller Auszubildenden in mittelständischen Unternehmen ihre Ausbildung bekommen, dass der Mittelstand 60 Prozent der Arbeitsplätze und 54 Prozent der Wirtschaftsleistung unseres Landes ausmacht. Deshalb ist es auch gut und richtig, dass der Bundeswirtschaftsminister nicht nur eine Industriestrategie vorgelegt hat, sondern auch eine Mittelstandsstrategie, über die bei Ihnen sicherlich intensiv debattiert wird. Und dass sie den Titel „Wertschätzung, Stärkung, Entlastung“ trägt, passt, glaube ich, gut mit dem zusammen, was Sie mit Recht von uns erwarten. Ich will etwas aufnehmen, das soeben von Ihnen, Herr Welcker, gesagt wurde, nämlich das Thema Bürokratie. Wir haben kürzlich ein drittes Bürokratieentlastungsgesetz mit Entlastungen von einer Milliarde Euro bei Berichtspflichten, die Sie haben, auf den Weg gebracht. Aber es kommen auf der anderen Seite immer wieder Dinge hinzu. Die sogenannte A1-Bescheinigung, von der Sie gesprochen haben, war Gegenstand meiner Unterredungen mit dem französischen Präsidenten vor wenigen Tagen. Wir werden das Thema morgen beim Deutsch-Französischen Ministerrat nochmals aufnehmen, denn hier ist etwas passiert, das – ich bin einmal ganz vorsichtig – nahe an einer gewissen Form von Protektionismus in einem eigentlich freien Binnenmarkt liegt. Wir haben eine Entsenderichtlinie; und in diesem Fall ist nicht die EU schuld, dass die Entsenderichtlinie erfordert, was jetzt passiert ist, sondern es ist auf Druck bestimmter Mitgliedstaaten entstanden, dass diese Bescheinigungen im Vorhinein abgeliefert werden müssen. Und da Sie, wie Sie richtig sagen, bei Ihren Auftragsdurchführungen flexibel sein müssen, ist das ein ungeheurer Aufwand. Man könnte diese Bescheinigungen genauso im Nachhinein ausfüllen und dann abrechnen. Insofern geht es um ein Umsetzungsproblem. Und ich werde nicht nachlassen, zu versuchen, dieses Bürokratiemonster zu verkleinern, weil das im Augenblick im Umgang mit einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union wirklich ein Unding ist und Sie ohne jeden erkennbaren Sinn nur Zeit und Kraft kostet. Meine Damen und Herren, ihr diesjähriger Verbandstag findet in einer Zeit statt, in der die konjunkturelle Entwicklung gerade auch in Ihrer Branche besorgniserregend ist. Sie ist ja auch so etwas wie ein Frühindikator für bestimmte Dinge, die im Entstehen begriffen sind. Wir haben sicherlich gewisse typische zyklische Erscheinungen nach einer nun schon langen Wachstumsphase, aber auf der anderen Seite wird das Ganze durch internationale Handelskonflikte noch weiter getrieben. Ich bedanke mich für die Unterstützung des VDMA für das Eintreten für eine multilaterale Welt. Wir sehen erhebliche Schwierigkeiten und Risse in einer eigentlich selbstverständlichen, zumindest für uns inzwischen selbstverständlich gewordenen Weltsicht, nämlich dass es Win-win-Situationen gibt, wenn Länder auf der Welt partnerschaftlich, fair, barrierefrei zusammenarbeiten. Diese Muster werden infrage gestellt, inklusive aller multilateralen Institutionen. Für mich deutet sich damit ein Paradigmenwechsel bei einer Ordnung an, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist – im Übrigen geboren aus den Erfahrungen von unendlichem Leid, das von Deutschland über die Welt gebracht wurde. Bei aller Kritik an der nicht perfekten Funktionsweise multilateraler Organisationen ist es doch sehr bedenklich, dass es schnell möglich sein kann, solche Institutionen zu zerschlagen, sie arbeitsunfähig zu machen, so wie das jetzt der Welthandelsorganisation droht, weil die Schiedsgerichte nicht mehr tagen können, ohne aber zu wissen, was man an deren Stelle setzt. Ich bin zutiefst überzeugt: Wenn jeder nur noch an sich denkt, wird diese Welt schwächer werden, dann wird sie ärmer werden. Dagegen werde ich mich weiter stemmen. Aber es bedarf unser aller Kraftanstrengung, weil das scheinbar Selbstverständliche nicht mehr selbstverständlich ist. So können wir natürlich nur hoffen, dass bestimmte Handelsstreitigkeiten, die bei Ihnen ja auch unmittelbar auf die Auftragseingänge durchschlagen, beseitigt werden. Mit einer Exportquote von 80 Prozent ist die Mehrzahl der Arbeitsplätze in Ihrer Branche vom Außenhandel abhängig. Der USA-China-Handelsstreit wirft seine Schatten auf Ihre wirtschaftliche Lage. Es stehen auch Streitigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika im Raum. Wir haben die Unsicherheit des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union und damit aus dem europäischen Binnenmarkt. Was jetzt klar zu sein scheint, ist, dass Großbritannien auch aus der Zollunion austreten will. Das macht die Gespräche mit Großbritannien auch so kompliziert, weil wir dann eine Binnenmarktgrenze haben werden, die dann auch auf der irischen Insel – zwischen der Republik Irland und Nordirland – ihre Auswirkungen hat, aber durch das historische Good Friday Agreement Grenzkontrollen auf der irischen Insel nicht stattfinden sollen; so die Abmachung zwischen Großbritannien und Irland. Das ist so etwas wie die Quadratur des Kreises, was da gerade zu verhandeln versucht wird. Das ist sehr, sehr kompliziert. Wir werden bis zur letzten Minute daran arbeiten, dass ein geregelter Austritt Großbritanniens erfolgt. Aber eines ist jetzt schon klar – wir sind auch auf den anderen Fall vorbereitet –: Großbritannien wird sich zu einem weiteren Wettbewerber vor den Haustüren Europas entwickeln. Und damit wird die Europäische Union noch sehr viel stärker gefordert sein, wettbewerbsfähig zu sein und auch geopolitische Verantwortung zu übernehmen. In dieser konjunkturellen Situation, in der wir uns befinden, haben wir die Aufgabe, zu versuchen, die Grundlagen von Wachstum und Wohlstand zu stärken. Für uns gehört dazu auch eine solide Haushaltspolitik. Wir haben im Augenblick ein Investitionshoch. Wir hatten schon lange nicht mehr so viele Investitionsmittel in unserem Bundeshaushalt. Und wir glauben, dass ein ausgeglichener Haushalt angesichts unserer demografischen Lage auch eine wichtige Weichenstellung für die Zukunft ist. Deshalb bekennen wir uns zu einem ausgeglichenen Haushalt. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht investieren, dass wir nicht Vorsorge für die Zukunft treffen. Hier will ich insbesondere darauf hinweisen, dass wir seit 2017 zum ersten Mal das Drei-Prozent-Ziel für Ausgaben in Forschung und Entwicklung erreicht haben – drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung. Wir haben nun eine steuerliche Forschungsförderung auf den Weg gebracht und haben auch mit der Hightech-Strategie 2025 und der Umsetzungsstrategie Digitalisierung die richtigen Weichen gestellt, um Ihre Anstrengungen zu flankieren und den digitalen Wandel, den technologischen Wandel gut zu begleiten. Wir haben eine Agentur für Sprunginnovationen in Leipzig gegründet, um – ähnlich wie die Vereinigten Staaten mit ihrer DARPA-Institution – schneller reagieren zu können. Wir haben eine Strategie zur Umsetzung der Künstlichen Intelligenz. So haben wir in den letzten anderthalb Jahren eine Vielzahl von Weichen in Richtung Zukunft gestellt und arbeiten in vielen Bereichen eng zusammen. An dieser Stelle will ich allerdings sagen: Ihre Unternehmen sind voll im digitalen Wandel begriffen und sind auch vom Wandel in anderen Branchen, zum Beispiel der Automobilindustrie, in hohem Maße abhängig. Aber an einer Stelle, denke ich, müssen wir noch intensiver zusammenarbeiten. Die Digitalisierung der Produktionsprozesse, die in Ihren Unternehmen stattfindet, hat natürlich auch erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Daher haben wir, was das lebenslange Lernen anbelangt, gemeinsam mit der Wirtschaft unsere Qualifizierungsstrategie entwickelt. Was mir aber große Sorgen macht, ist die Frage der Datenautonomie, der Datensouveränität europäischer Unternehmen. Das ist auch ein Thema, über das wir mit dem französischen Präsidenten und auch im Europäischen Rat intensiv diskutieren. Datenmanagement findet heute in hohem Maße gemeinsam mit amerikanischen Firmen statt. Ich bin der Meinung, wir brauchen in Europa eine eigene Cloud-Bewirtschaftung, eine eigene Hyperscale, wie man sagt, also eine Plattform, auf der wir Daten nicht nur lagern können, sondern auch verarbeiten können, damit aus Daten, über Künstliche Intelligenz, wieder neue Produkte entstehen. Ich bitte Sie, darüber in Ihrer Branche wirklich intensiv zu diskutieren, weil wir – jedes einzelne Unternehmen – in Abhängigkeiten geraten können, die wir vielleicht heute noch nicht in ihrer gesamten Konsequenz voraussehen. Deshalb sind wir bereit, auch im Rahmen einer europäischen Kooperation für neue Technologien, so wie wir es auch bei der Chipherstellung machen, gemeinsam Lösungen zu entwickeln, die europäischen Unternehmen Datensouveränität ermöglicht und erlaubt. Da müssten wir noch enger zusammenarbeiten. Ich glaube auch, dass die neue Kommissionspräsidentin und die neue Kommission, die dann hoffentlich bald ihre Arbeit aufnehmen kann, die Weichen richtig gestellt und mit der Konzentration auf Digitalisierung, auf geopolitische Herausforderungen für Europa und auf den Klimawandel die richtigen Schwerpunkte gesetzt haben. Herr Welcker, Sie sind auch intensiv darauf eingegangen, dass der Klimawandel ähnlich wie die Digitalisierung tiefgreifende Auswirkungen auf Ihre Branche, aber auch auf unsere gesamte Art zu leben hat und wir uns in einem tiefgehenden Transformationsprozess befinden. Deshalb lassen Sie mich einiges zu dem sagen, was Sie zum Klimapaket der Bundesregierung gesagt haben. Es ist ja so, dass die Industrie gemeinsam mit der Energiewirtschaft bereits einem Bepreisungssystem von CO2 unterliegt. Das heißt also, die Frage der Vermeidungskosten von CO2 in Zementwerken ist über das europäische Zertifikatehandelssystem bereits vollständig abgebildet. Dort beträgt der Zertifikatepreis jetzt um die 25 oder 26 Euro pro Tonne, vielleicht mit leicht steigender Tendenz; und das entfaltet bereits Lenkungswirkung. Da hören wir im Augenblick wenige Klagen. Ich sage einmal: In dem Moment, in dem die Preise im Zertifikatehandel Europas in Richtung 40 Euro pro Tonne steigen würden, kämen wir dann in die Situation, über die Frage diskutieren zu müssen, ob für diejenigen, die im internationalen Wettbewerb stehen, die Kosten nicht zu hoch sind. Aber das ist im Augenblick noch nicht der Fall. Also, die gesamte Industrie und die gesamte Energiewirtschaft unterliegen dem Zertifikatehandel. Und wir sehen zum Beispiel bei den Braunkohlekraftwerken schon, dass durch die steigenden Kosten die Exportrate an braunkohlebasiertem Strom zum Beispiel nach Polen gesunken ist. Das heißt, das hat einen direkten Klimaeffekt im Gebäude- und Energiebereich. Was wir jetzt mit dem Klimapaket der Bundesregierung machen, betrifft vor allem die Bereiche Verkehr und Gebäude, Abfallwirtschaft und kleine Unternehmen, im Wesentlichen das Handwerk. Hier fangen wir mit einer CO2-Bepreisung an, wobei man ja ehrlich sagen muss, dass wir nicht damit beginnen, da wir ja schon, historisch gewachsen, Preise auf fossile Energieträger haben. Beim Heizöl sind die Preise relativ gering, bei Benzin und Diesel – wenn Sie nur von den heutigen Steuern ausgehen – liegen sie bei über 150 Euro pro Tonne. Die werden aber als solche nicht empfunden, sondern empfunden wird das, was teurer wird. Das heißt, da kommen jetzt zehn Euro pro Tonne drauf. Dazu sagen Sie: Das ist zu wenig. – Das mag sein, aber es ist der Einstieg in ein dauerhaft ansteigendes Bepreisungssystem, das am Anfang immer noch von Mindest- und Höchstpreisen flankiert wird, aber zum Ende des Jahrzehnts mit frei floatenden Preisen stattfinden wird. Die Vermeidungskosten im Gebäude- und Verkehrsbereich sind sehr viel höher, als wir sie im Industriebereich haben. Deshalb könnte man sagen: Jetzt lege ich die beiden Systeme sofort zusammen. – Das haben wir in der Europäischen Union deshalb nicht gemacht, weil wir glauben, dass erstens die Industrie ganz wesentlich im internationalen Wettbewerb steht und wir zweitens auch im Verkehrsbereich und im Gebäudebereich Druck brauchen, damit dort Veränderungen stattfinden, weil sich die Mobilität dramatisch ändern wird und die Isolierung von Häusern und die bessere Energieeffizienz von Häusern auch ein Thema ist, das angegangen werden muss. Legten wir die beiden Punkte zusammen, würden bei Ihnen im Energie-und Industriebereich die Preise leicht steigen, sagen wir von 26 auf vielleicht 31 Euro pro Tonne, und wir würden für einen langen Zeitraum null Lenkungswirkung im Verkehrsbereich und im Gebäudebereich haben. Dann würde erst ganz zum Schluss, wenn wir in der Mitte des Jahrhunderts CO2-Neutralität erreicht haben wollen, Druck auf diese Bereiche entstehen. Das, glauben wir, ist nicht gut, sondern wir brauchen schon jetzt die Entwicklung alternativer Antriebstechnologien und müssen die erneuerbaren Energien ausbauen; und das im Übrigen auch parallel. Das Elektroauto ist noch nicht besonders CO2-freundlich, solange der Strom nicht aus erneuerbaren Energien stammt. 2030 aber werden wir zwei Drittel unserer Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien haben; so ist unser Plan. Um 2030 herum können wir die beiden Zertifikatesysteme zusammenlegen, weil wir glauben, dass wir dann den Transformationsprozess im Gebäude- und Energiebereich nach vorne gebracht haben. Nun zu der aus Ihrer Sicht so starren Sektorbezogenheit, die wir vereinbart haben: Ja – aber. Ja, weil wir Folgendes erlebt haben: Der Verkehrsbereich hat seit 1990 keine einzige Tonne Einsparung an CO2-Emissionen erbracht. Es wurden zwar effizientere Autos entwickelt – wobei man angesichts der SUV-Mode auch fragen kann, ob sich diese Entwicklung fortsetzt –, aber das Verkehrsaufkommen hat sich weiter erhöht. Und damit sind die CO2-Emissionen im Verkehrsbereich konstant geblieben. Die müssen runter. Im Gebäudebereich haben wir leichte Fortschritte, aber immer noch einen sehr, sehr schlechten Altbau-Gebäudebestand. Deshalb haben wir Sektorziele festgelegt. Aber durch die Einführung des Bepreisungssystems sind diese Sektorziele in gewisser Weise obsolet. Das heißt, je stärker die Preissignale wirken, umso weniger Bedeutung werden die Sektorziele haben. Um aber zu schauen, wie welche Maßnahmen wirken, haben wir vereinbart: Wenn das Gesamtziel der Emissionssenkung nicht erreicht wird, können wir zwischen den Sektoren austauschen. Das heißt, wenn sich ein Sektor besser entwickelt, weil die Vermeidungskosten hier geringer sind, kann der andere Sektor dadurch entlastet werden. So etwas wird das Klimakabinett beschließen. Und mit dem wachsenden Anstieg des Preises wird das Sektorziel an Bedeutung verlieren. Trotzdem müssen wir Rechenschaft ablegen: Was haben wir in welchem Bereich geschafft? Es wird nicht ausreichen, wenn wir dann auf der einen Seite nur alle Ölheizungen ausgetauscht, aber auf der anderen Seite, zum Beispiel im Verkehrsbereich, überhaupt nichts erreicht haben. Das heißt, die Sektorziele sind zwar festgeschrieben, sind aber auch nicht europäisch bindend; und sie werden mit zunehmender Kraft des Preissignals an Bedeutung verlieren. Wir haben entsprechend den europäischen Gegebenheiten – und das ist für Deutschland auch gut so – nicht die Möglichkeit, zwischen dem Zertifikatehandel des Industriebereichs und den dort zu erreichenden Reduktionszielen und im Gebäude- und Verkehrsbereich sozusagen hin- und herzutauschen, sondern der Druck liegt jetzt mit unseren Klimaschutzprogrammen im Wesentlichen auf dem Gebäude- und auf dem Verkehrsbereich plus Landwirtschaft plus Abfallwirtschaft. Jetzt kann man viel Kritisches sagen, aber was wir geschafft haben, ist Folgendes: Uns wird für jedes Jahr von 2020 bis 2030 ein Budget für CO2-Emissionen im Verkehrs- und Gebäudebereich zur Verfügung stehen. Wenn wir dieses Budget überschreiten, also unsere CO2-Minderungsziele nicht einhalten, dann müssen wir auf dem europäischen Markt zusätzliche Zertifikate kaufen und dafür teures Geld ausgeben. Es besteht also ein großer Druck, national die vorgegebenen europäischen Ziele zu erreichen. Deshalb, glaube ich, ist unser Programm etwas intelligenter, als Sie es dargestellt haben. Aber richtig ist – und das haben wir auch immer wieder mit den Ministerien besprochen –, dass es schon Sinn macht, sich einmal die Vermeidungskosten anzuschauen und zu sagen: Jetzt lasst uns mal die low hanging fruits als Erstes pflücken und nicht das Teuerste zuallererst machen. Diesen Punkt sehen wir sehr wohl. Meine Damen und Herren, der Klimawandel ist eine riesige Herausforderung; und er wird im industriellen Bereich auch dazu führen, dass sich vollkommen neue Technologien durchsetzen. Insofern werden wir bis zum Jahresende neben dem weiteren Ausbau der Elektromobilität auch eine Wasserstoffstrategie entwickeln. Wasserstoff wird vielleicht einer der interessantesten Energieträger – auch mit Blick auf die Speicherung von erneuerbaren Energien. Industrielle Wertschöpfungsprozesse werden sich vollkommen verändern. Wenn wir nur einmal daran denken, dass wir eines Tages eine klimaneutrale Stahlproduktion brauchen, so stehen wirklich noch interessante Innovationen ins Haus. Und ich will Ihnen allen ausdrücklich Dank sagen, die Sie tolle Systeme entwickeln, die energieeffizienter arbeiten und gerade auch im Hinblick auf den Klimaschutz innovativer sind. Wir haben ein Investitionsprogramm Energieeffizienz und Prozesswärme. Wir haben des Weiteren – und da gebe ich Ihnen recht, wir brauchen möglichst schnell möglichst viel erneuerbare Energie – den Förderdeckel bei Solaranlagen angehoben. Wir haben außerdem den Deckel für den Ausbau von Offshore-Windenergie angehoben und werden damit erneuerbare Energien schneller ausbauen können. Wir werden dafür gescholten, dass wir bei der Windkraft die Abstandsregeln neu festgesetzt haben. Aber, meine Damen und Herren, da will ich nur Folgendes sagen: Wenn wir wegen der mangelnden Akzeptanz in weiten Teilen Deutschlands – gerade da, wo der Wind sehr gut weht und die Windenergie sehr effizient ist – keinerlei Neubau von Windanlagen mehr haben und die Genehmigungsverfahren zum Teil schon fünf Jahre dauern, dann muss der Staat auch handeln. Ich habe neulich mit Schülern im Naturkundemuseum in Berlin diskutiert. Die haben gefragt: Mit wem auf der Welt können wir eine Partnerschaft zugunsten des Klimaschutzes eingehen? – Da habe ich gesagt: Nehmt mal die jungen Leute aus meinem Wahlkreis. – In meinem Wahlkreis an der Ostsee werden Windkraftanlagen gebaut. Und wenn man dann sein Haus in einem Dorf hat, wo repowered, also die Windkraftanlage ausgetauscht und aus einer 80-Meter-Anlage eine 220 Meter hohe Anlage wird, dann ist es um die Akzeptanz erneuerbarer Energien vor der eigenen Haustür ein bisschen schlechter bestellt als in Berlin, wo ich den Strom aus der Steckdose nehme und sage, der möchte bitte aus erneuerbaren Energien kommen. Wenn wir keine Akzeptanz haben, wird der Ausbau erneuerbarer Energien sehr schwierig sein. Deshalb überlegen wir jetzt auch, wie die Kommunen mit Windkraftstandorten besser an den Erträgen aus der Windenergie beteiligt werden können, damit sie sehen, dass sich außer Lärm und ein paar blinkenden Lichtern oben auf den Windanlagen auch ein paar Vorteile für sie ergeben. Meine Damen und Herren, ich möchte danke dafür sagen, dass Sie diese Herausforderung des Klimawandels so positiv annehmen. Ich möchte danke dafür sagen, dass Sie mit Blick auf die Digitalisierung einen großen Transformationsprozess durchlaufen. Ich will Ihnen versprechen, dass wir Sie auf diesem Weg begleiten, insbesondere auch beim Umgang mit Daten. Ich will Ihnen zusagen, dass wir versuchen, weder in Europa noch in Deutschland zu viele bürokratische Dinge zu erzeugen. Allerdings müssen wir – und daran arbeitet die Bundesregierung auch – schauen, dass wir die Digitalisierung sehr viel schneller in unser Leben aufnehmen. Ich hatte neulich eine Diskussionsrunde mit der estnischen Präsidentin. Wenn man in Deutschland über die Datenschutz-Grundverordnung spricht, dann gibt es allgemeines Klagen und die allgemeine Bemerkung, dass das ein bürokratisches Monster sei. Die estnische Präsidentin hat mich auf Folgendes hingewiesen: Wenn alle unsere Daten digitalisiert würden – zum Beispiel alle Register, die wir haben, Handelsregister und andere –, wenn alle Nichtregierungsorganisationen und alle Vereine ihre Daten bereits digitalisiert hätten, dann verursachte die Umsetzung der Datenschutz-Grundverordnung ein Bruchteil der Anstrengungen, die wir mit unseren analogen und händischen Verfahren in Deutschland immer noch produzieren. Das heißt, eine Verordnung, die in Estland überhaupt keine Diskussion verursacht, sondern als wegbereitend für die Datensouveränität der Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen gewertet wird, wird in Deutschland bei der Umsetzung zu einem bürokratischen Monster, weil wir in der Digitalisierung auch der öffentlichen An- und Ausgaben so weit zurück sind. Deshalb ist ein zentrales Vorhaben der Bundesregierung, mit dem ich dann auch schließen möchte, dass wir ein Online-Zugangsgesetz machen, das heißt, dass wir jedem Bürger bis 2022 den Zugang zu allen staatlichen Leistungen eröffnen wollen. Das sind über 500 Funktionen, die dem Bürger im Verhältnis zum Staat zugänglich gemacht werden, davon über 100 auf der Bundesebene. Und wenn wir diesen Zugang dann mit einer einheitlichen Identifizierung der Bürgerinnen und Bürger ermöglichen, sind wir ein ganzes Stück weiter. Dann haben wir auch eine gemeinsame Plattform, von der aus auch die Wirtschaft ihre Kundenbeziehungen sehr viel besser digitalisieren kann, als es heute der Fall ist. Dazu gehört eine aktive Regierung, aber dazu gehören natürlich auch der Wunsch und der Drang einer Bevölkerung, sich der Digitalisierung weiter zu öffnen. Und wenn ich heute Morgen wieder lese, Deutsche haben Bedenken beim Handy-Bezahlsystem, dann, meine ich, sind wir sozusagen ein bisschen in der Situation, dass wir Opfer unserer noch einigermaßen gut funktionierenden Verwaltung werden, weil die Menschen keinen Transferdruck spüren. Sie spüren ihn in Ihren Unternehmen schon, aber im täglichen Leben ist dieser Druck nicht so groß. Deshalb brauchen wir neben allen technischen Digitalisierungsschritten vor allen Dingen auch ein Bewusstsein dafür, wie wichtig Digitalisierung ist und wie sie unser gesamtes Leben verändern wird. Ich sage danke. Ich verspreche Ihnen, dass wir uns mit Blick auf die Handelsfriktionen darum bemühen werden, möglichst gute Exportbedingungen für Ihre Branche zu schaffen. Denn die starke Exportabhängigkeit führt natürlich dazu, dass Sie weltweite Spannungen sehr viel schneller spüren als manch andere Branche. Deshalb war es mir ein besonderes Anliegen, auch in diesem Jahr bei Ihnen zu sein. Ich weiß, die Situation ist ernster, als sie viele Jahre war. Wir versuchen, mit Ihnen gemeinsam die Probleme zu lösen, und ich hoffe, es gelingt uns zumindest teilweise. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 24. Ordentlichen Gewerkschaftstag der Industriegewerkschaft Metall am
10. Oktober 2019 in Nürnberg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-24-ordentlichen-gewerkschaftstag-der-industriegewerkschaft-metall-am-10-oktober-2019-in-nuernberg-1680558
Thu, 10 Oct 2019 13:41:00 +0200
Nürnberg
keine Themen
Sehr geehrter Herr Hofmann, sehr geehrte Delegierte und Gäste, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Maly, meine Damen und Herren, lassen Sie mich aus aktuellem Anlass eine Vorbemerkung machen. Ich bin wie Millionen Menschen in Deutschland schockiert und bedrückt von dem Verbrechen, das gestern in Halle verübt worden ist. Zwei Menschen sind ermordet worden – unbegreiflich, an einem friedlichen Mittag, in der Nähe einer Synagoge, in der jüdische Mitbürger eines ihrer höchsten Feste, Jom Kippur, feierten. Ich trauere mit den Familien und Freunden der Ermordeten in diesen Stunden, die so schmerzlich sind. Ich denke an die Verletzten. Wir wissen: Die Menschen in der Synagoge sind nur sehr knapp einem schrecklichen Angriff entgangen. Es hätte noch sehr viel mehr Opfer geben können. Ich habe es gestern in Berlin an der Neuen Synagoge gesagt; und ich wiederhole es hier: Wir sind froh über jede Synagoge, über jede jüdische Gemeinde und über alles jüdische Leben in unserem Land. Das heißt zuallererst, dass die Repräsentanten des Rechtsstaates – und als ein solcher stehe ich ja vor Ihnen – alle Mittel des Rechtsstaates nutzen müssen, um gegen Hass, Gewalt und Menschenfeindlichkeit vorzugehen. Da gibt es keinerlei Toleranz. Außerdem heißt das, dass wir den Anfängen wehren müssen. Das bedeutet, dass wir schon bei der Sprache aufpassen müssen. Denn sehr oft kann es passieren, dass aus Worten Taten werden. Auch das muss unterbunden werden. Wir müssen also parallel in Prävention und politische Bildung investieren. Wir müssen einen respektvollen und bei allen Meinungsunterschieden offenen Diskurs pflegen, der auf den Werten unseres Grundgesetzes fußt. Hass, Rassismus und Antisemitismus dürfen keinen Platz in unserem Land haben. Neben der Konsequenz unseres Rechtsstaats kann diesem Ziel nichts besser dienen als ein vielfältiges zivilgesellschaftliches Engagement. Denn gegen Vorurteile und Hass aufzustehen, für Respekt und Toleranz einzustehen und in Vereinen, Freiwilligendiensten und anderen Initiativen mitzuwirken, das macht uns als Gesellschaft stark. An dieser Stelle möchte Ihnen allen danken, die Sie die IG Metall repräsentieren. Denn Sie zeigen in diesem Bereich außergewöhnlichen Einsatz. Ich denke dabei zum Beispiel an Ihre Initiativen „Respekt! Kein Platz für Rassismus“ und „100 Prozent Menschenwürde – zusammen gegen Rassismus“. In diesen Initiativen kommt im Übrigen auch zum Ausdruck, dass sich Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft – ob Digitalisierung, Klimawandel oder demografischer Wandel – nur im gegenseitigen Respekt voreinander gestalten lassen. Dafür steht das Motto Ihres Gewerkschaftstages „Miteinander für morgen – solidarisch und gerecht“. Deshalb möchte ich Ihnen an dieser Stelle einfach danke für die vielen Gespräche sagen – Herr Hofmann hat sie angesprochen – und natürlich endlich das tun, was ich schon am Eingang gemacht habe, nämlich ganz herzlich gratulieren: Ihnen, Herr Hofmann, zu Ihrer erneuten Wahl zum Ersten Vorsitzenden der IG Metall, und auch Ihnen, Frau Benner, zur Wiederwahl sowie den anderen gewählten Vorstandsmitgliedern. Ich freue mich auf eine weitere kritisch-konstruktive Zusammenarbeit. Die IG Metall ist mit nunmehr 70 Jahren genauso alt wie die Bundesrepublik Deutschland und wie unser Grundgesetz. Damit gehört Ihre Gewerkschaft zum festen Inventar unseres Landes. Auch zu Ihrem Jubiläum beglückwünsche ich Sie natürlich ganz herzlich. Jubilare wissen, dass oft erst der Blick zurück das Bewusstsein dafür stärkt, was alles tatsächlich erreicht werden kann. Deshalb möchte ich mit Ihnen einmal etwas weiter als 70 Jahre zurückschauen, nämlich auf das Jahr 1835. Denn damals fuhr zwischen Nürnberg und Fürth die erste mit Lokomotiven betriebene Eisenbahn Deutschlands. Es standen Tausende Schaulustige da, mit Staunen und manche auch mit Schrecken. Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten, doch sie läutete ein neues Zeitalter ein. Mit der Eisenbahn ergaben sich ungeahnte neue Möglichkeiten über den Verkehr hinaus auch für den Handel und die Industrie. Ein völlig neues Tempo zog in alle Produktions- und Lebensbereiche ein. Dieser Wandel behagte bei Weitem nicht allen. Ein Pfarrer aus der Region verurteilte die Eisenbahn gar als „Teufelsding“. Aber wohlgemerkt: vor der ersten Fahrt. Es ist nicht überliefert, wie er danach gesprochen hat. Ich erzähle das, weil wir uns heute in einer ähnlichen Situation befinden: mitten in einem Transformationsprozess. Ich will ausdrücklich hervorheben und auch danke dafür sagen, dass die IG Metall – ich will dabei niemanden aus den anderen Gewerkschaften in irgendeiner Weise in den Schatten stellen – sehr früh damit begonnen hat, sich mit den Facetten der Transformation zu beschäftigen. Die Digitalisierung wird unsere Welt vollkommen verändern. Sie tut es schon. Sie erleben das in den Unternehmen. Sie erleben das auch zu Hause mit Ihren Kindern oder bei Ihrer eigenen Nutzung der sozialen Medien. Aber viele sehen eben auch heute nicht nur die Chancen, sondern haben auch Sorgen; und das ist ja auch verständlich. Sie fragen sich, wie sich ihr Arbeitsplatz verändern wird, ob es den Arbeitsplatz später überhaupt noch geben wird und ob man bei diesem Wandel mitkommt. Sie als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter werden in den Betrieben jeden Tag mit diesen Fragen konfrontiert. Ob unter Sozialpartnern, in der Politik oder insgesamt in der Gesellschaft – wir brauchen die Diskussion darüber, wie wir die Arbeitswelt 4.0 so gestalten können, dass wir alle oder zumindest möglichst viele Menschen mitnehmen können. Diese Frage stellt sich nun in einer wirtschaftlichen Lage, die zwar weiterhin ordentlich ist. Aber gerade in den Unternehmen, in denen Sie tätig sind, sieht man, dass jetzt, nach zehn Jahren des wirtschaftlichen Wachstums, doch Wolken am Konjunkturhimmel erkennbar sind. Wir hatten zehn gute Jahre mit guten Auswirkungen auf die Reallöhne, mit stabilen sozialen Sicherungssystemen und – darüber sind wir in der Tat auch froh – einem ausgeglichenen Staatshaushalt. Wir haben einen Arbeitsmarkt, in dem Millionen mehr Menschen in Arbeit und im Übrigen auch in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse hineingekommen sind. Es ist auch eine gute Entwicklung der letzten Jahre, dass mehr Frauen erwerbstätig sind. Allein in den letzten zehn Jahren ist die Quote von 64 Prozent auf 72 Prozent gestiegen. Das wäre ohne politische Flankierung nicht möglich gewesen – Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz, Elterngeld, flexiblere Elternzeit. (vereinzelter Beifall) – Das sind wohl die wenigen Frauen, die hier anwesend sind. – (Heiterkeit und Beifall) Ich will ausdrücklich sagen: Nachdem wir im Zusammenhang mit der Deutschen Einheit den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz und dann den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz bekommen haben, fehlt jetzt noch ein Baustein für eine vernünftige Vereinbarkeit von Beruf und Familie; und das ist der Rechtsanspruch auf die Betreuung im Grundschulalter. Er ist Teil unserer Programmatik für diese Legislaturperiode. Das alles hat dabei geholfen, dass sich mehr Frauen eine Erwerbstätigkeit zutrauen, aber auch dabei – dafür war das Elterngeld natürlich ganz wichtig –, dass mehr Männer mehr Familienpflichten übernommen haben. Beides geht aus meiner Sicht Hand in Hand. Wir haben massiv in Bildung und Forschung investiert. Damit haben wir den Drei-Prozent-Anteil am Bruttoinlandsprodukt erreicht. Wir werden auch noch die steuerliche Forschungsförderung einführen. Wir haben uns also eine gute Ausgangslage geschaffen. Aber was wir nicht machen können, ist, uns einen Rechtsanspruch auf künftige Beschäftigungssicherheit zu schaffen. Unsere Beschäftigungschancen hängen ganz klar davon ab, wie die Transformation in die digitale Gesellschaft, die Nutzung der künstlichen Intelligenz und vieles andere mehr gelingen. Ich habe von den Wolken am Konjunkturhimmel gesprochen. Damit meine ich vor allem die internationale Situation. Wir konnten aus der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise überhaupt nur deshalb herauskommen, weil wir multilateral gehandelt haben, weil wir damals das G20-Format auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs geschaffen haben, weil sich die Vereinigten Staaten von Amerika, Deutschland, China und die anderen G20-Mitgliedstaaten an Konjunkturprogrammen beteiligt haben. So konnten wir diese Krise überwinden – damals in Deutschland im Übrigen auch mit dem Kurzarbeitergeld, das geholfen hat, Beschäftigung zu sichern. Wir erinnern uns daran, Herr Hofmann, dass das so war, und haben das nicht vergessen. Heute sehen wir verstärkt protektionistische Tendenzen und Handelskonflikte zum Beispiel zwischen den Vereinigten Staaten und China, worunter auch wir leiden. Es gibt auch die Unsicherheit bei der Frage, die wir wenige Tage vor dem geplanten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union nach wie vor haben, nämlich ob wir einen geregelten Austritt hinbekommen oder nicht. Alle 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die in ihr verbleiben, werden bis zum letzten Tag daran arbeiten, dass wir einen geregelten Austritt hinbekommen. Aber wir haben es nicht allein in unserer Hand. Wir müssen mit den veränderten Rahmenbedingungen umgehen und gleichzeitig den Wandel gestalten. Hierbei versucht die Bundesregierung, die richtigen Weichen zu stellen, im Übrigen in vielen Gesprächen gemeinsam mit Ihnen. Das betrifft angesichts technologischer Veränderungen auch das Thema des lebenslangen Lernens. Deshalb haben wir gemeinsam die Nationale Weiterbildungsstrategie entwickelt. Natürlich ist Weiterbildung vor allen Dingen Aufgabe der Unternehmen und Sozialpartner. Aber der Staat muss und wird hierbei seinen Beitrag leisten. Einige Dinge haben wir auch schon festgeschrieben. Wir haben die Förderung der Weiterbildung mit dem sogenannten Qualifizierungschancengesetz erheblich verbessert und ausgeweitet. Die Bundesagentur für Arbeit unterstützt Beschäftigte und Unternehmen mit einer teilweisen Übernahme von Weiterbildungs- und Lohnkosten. Wie es immer so ist, wenn ich hier bei Ihnen bin: Das reicht Ihnen natürlich noch nicht. Aber ich glaube doch, es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Sie haben weitere Vorschläge gemacht, zum Beispiel für ein Transformationskurzarbeitergeld und auch für das Kurzarbeitergeld in Zeiten konjunktureller Schwierigkeiten. Ich kann Ihnen zusagen, ohne jetzt konkrete Zusagen zu machen, über die Sie sich noch mehr freuen würden, dass wir angesichts der jetzigen Entwicklung miteinander im Gespräch darüber bleiben, was wann notwendig ist und wo wir agieren müssen, damit wir unser Pfund, unsere Stärke, nämlich die qualifizierten Beschäftigten in unseren Betrieben, nicht aufs Spiel setzen. Das kann ich Ihnen versprechen. Sie alle hier in diesem Saal wissen, dass die IG Metall nicht nur aus Mitgliedern besteht, die in der Automobilindustrie tätig sind, aber Sie wissen auch, dass dies ein wichtiger Teil unserer industriellen Wertschöpfung ist. Diese Branche verändert sich grundlegend. Es gibt im Grunde genommen drei große Veränderungen. Sie betreffen die Antriebstechnologien, die Möglichkeiten der Digitalisierung, was das autonome Fahren anbelangt, und das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger bezüglich des Besitzens oder Benutzens eines Autos. Diese drei Trends müssen gleichermaßen berücksichtigt werden. Sie bedeuten disruptive Veränderungen in der Produktion. Die Automobilbranche ist zum Teil auch unter Druck und hat Vertrauen verloren. Das ist natürlich eine ganz schwierige Ausgangssituation, wenn man gerade in einem Wandlungsprozess ist. Ich will ausdrücklich sagen, dass Sie an diesem Vertrauensverlust keine Schuld tragen. Sie müssen aber mit den Konsequenzen eines solchen Vertrauensverlustes leben. Wir werden deshalb auch auf politischer Seite versuchen, gemeinsam mit Ihnen in die Zukunft zu schauen. Das sage ich ausdrücklich. Deshalb haben wir die Nationale Plattform Zukunft der Mobilität gegründet. Herr Hofmann hat den Vorsitz einer der insgesamt sechs Arbeitsgruppen. Wir haben auch einen strategischen Dialog auf der Führungsebene eingeleitet, so will ich einmal sagen, in dem wir alle anstehenden Fragen nicht nur miteinander besprechen, sondern auch einer Lösung zuführen wollen. Der erste Punkt ist die Frage: Wie schaffen wir den Umstieg auf die Elektromobilität sowohl mit Hybridfahrzeugen als auch mit rein elektrischen Fahrzeugen? Wer auf der IAA war, der sieht, dass dabei erhebliche Entwicklungsfortschritte zu verzeichnen sind und dass jetzt neben kleineren Autos auch Mittelklassewagen langsam auf den Markt kommen. Aber wir müssen natürlich auch die gesamte Umstellung der Produktion im Auge behalten. Wir brauchen mehr erneuerbare Energien. Auch das ist wichtig. Denn es nützt nichts, ein Elektroauto zu fahren, wenn der Strom dafür aus einem Kohlekraftwerk kommt. Dann ist die Ökobilanz auch noch nicht gut. Ich sage nachher noch etwas zu den erneuerbaren Energien. Ich möchte auch auf zwei andere Branchen eingehen, die sich ebenfalls in Transformationsprozessen befinden: Das sind die chemische Industrie und die Stahlindustrie. Ich habe verfolgt, dass Sie hier sehr umfassende Diskussionen auch über die technologischen Herausforderungen geführt haben. In der Tat, wenn wir die Stahlproduktion in Europa und Deutschland halten wollen, dann muss sie kohlenstofffrei erfolgen. Das bedeutet, dass wir in erheblichem Umfang Wasserstoff aus erneuerbaren Energien brauchen. Und das ist mit großen Investitionen verbunden. Das wird die Wirtschaft nicht alleine schaffen. Daher werden wir gemeinsam mit der Wirtschaft nach technologischen Lösungen suchen müssen. Das gilt ähnlich für die chemische Industrie. Auch hier müssen wir uns überlegen, wie wir den Wandel hin zu einer völlig veränderten Energieproduktion hinbekommen. Wir haben einige Erfolge erzielt. Wir haben uns in Deutschland auf den Ausstieg aus der Braunkohle und aus der Kohle insgesamt bis zum Jahr 2038 geeinigt. Angesichts der Tatsache, dass wir unter den Ländern eines der ganz wenigen sind, das praktisch parallel aus der Kernenergie und aus der Kohle aussteigt – 2022 aus der Kernenergie und spätestens 2038 aus der Kohleproduktion –, haben wir natürlich einen erheblichen Transformationsprozess zu bewältigen. Deshalb ist es gut, dass wir jetzt einen Anteil der erneuerbaren Energien von um die 40 Prozent haben und dass wir bis 2030 einen Anteil der erneuerbaren Energien von 65 Prozent erreichen wollen. Aber wir brauchen dazu auch geeignete Rahmenbedingungen. Und das betrifft vor allen Dingen den Leitungsbau. Ich bitte Sie alle, auch dort, wo Sie vielleicht versucht sind, in Bürgerinitiativen gegen den Bau neuer Leitungen aufzutreten, dass man berücksichtigen muss: Wir werden die Transformation nicht schaffen, wenn wir nicht auch unser gesamtes elektrisches Leitungssystem in gewissem Umfang neu ausjustieren. Das ist einfach Teil der Aufgabe, vor der wir stehen. Wir haben die große Herausforderung, die Akzeptanz insbesondere für die Windenergie zu stärken. Ich habe einen Küstenwahlkreis. Dort ist schon die Akzeptanz für die Offshore-Energie nicht unendlich, so will ich es einmal sagen. Zumindest alles, was noch von Land aus sichtbar ist, ist sehr schnell in der Kritik. Aber es ist vor allem der Ausbau von Windenergie an Land, der für uns im Augenblick ein sehr großes Problem darstellt. Zum Teil wird gesagt: Mit euren neuen Beschlüssen im Zusammenhang mit dem Klimapaket, mit denen ihr die Abstandsregelung in den Dörfern verändert und die Abstände vergrößert habt, werdet Ihr dem Ausbau noch mehr schaden. – Ich sage Ihnen ganz offen: Das glaube ich nicht. Denn wenn wir keine Akzeptanz haben, dann haben wir für jedes Windrad ein fünfjähriges Genehmigungsverfahren und dann haben wir so viel Protest, dass wir überhaupt nicht mehr weiterkommen. Ganz ehrlich gesagt, es kann doch nicht sein, dass die Menschen, die in großen Städten leben, zwar den Erneuerbare-Energien-Strom haben wollen, aber nicht fragen, wo er produziert wird. Mich haben neulich junge Leute aus Berlin gefragt, mit wem auf der Welt sie eine Partnerschaft übernehmen sollen. Darauf habe ich geantwortet: Übernehmt sie mit den Menschen aus meinem Wahlkreis und unterhaltet euch darüber, ob ihr, wenn neben eurem Dorf eine Windenergieanlage ausgetauscht wird, die bisher 80 Meter hoch war und in Zukunft 220 Meter hoch sein wird, noch so begeistert von der Windenergie wärt. Ihr müsst es sein; wir wollen es alle sein. Aber es muss auch zu zumutbaren Bedingungen passieren. Das ist ganz, ganz wichtig. Akzeptanz ist immer wichtig in einer Gesellschaft, die sich transformiert. Meine Damen und Herren, wir stehen vor der Herausforderung des Klimawandels. Die Bundesregierung hat ein Konzept zum Klimaschutz verabschiedet, das breit kritisiert wurde und sicherlich auch noch Gegenstand großer Debatten im Deutschen Bundestag und im Bundesrat sein wird. Aber wir haben mit diesem Konzept zwei Dinge völlig verändert, die wir bisher nicht in der Hand hatten und die uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten dahin führen werden, dass wir das Ziel, 2050 klimaneutral zu sein, erreichen können. Das eine ist die Tatsache, dass wir gestern mit der Verabschiedung des Klimagesetzes einen vernünftigen Mechanismus eingeführt haben. Wir führen Jahr für Jahr ein Monitoring durch und haben für den Fall, dass wir unsere Etappenziele nicht erreichen, einen Mechanismus entwickelt, um schnell nachsteuern zu können. Das bringt Transparenz, aber das bringt eben auch Handlungsdruck; und der ist notwendig. Zum anderen führen wir zum ersten Mal ein Bepreisungssystem ein, das eindeutig auf CO2 ausgerichtet ist. Das Bepreisungssystem wird mit ansteigenden CO2-Preisen für Kraftstoffe und für Heizöl deutlich machen, dass die Innovation immer da liegen muss, wo CO2 vermieden wird. Nun sind wir kritisiert worden, dass wir zu klein einsteigen. Okay, mit dieser Kritik müssen wir leben. Wir haben lange darüber nachgedacht. Sicherlich haben zehn Euro je Tonne CO2 noch nicht den Effekt, sofort das Verhalten zu ändern. Aber wenn wir langsam vorgehen, wenn wir auch immer im Auge haben, dass wir Menschen Zeit geben müssen, bis sie sich ein neues Auto, eine neue Heizung anschaffen oder ihr Haus wärmedämmen können, dann, glaube ich, werden wir in den 20er Jahren schnell den Effekt erreichen, dass Menschen ihr Verhalten verändern und bei jeder Anschaffung auch die Frage stellen: Was bedeutet das für mein klimafreundliches Verhalten? Wenn wir uns darüber einig sind, dass Klimaschutz wirklich eine Menschheitsaufgabe ist, dann ist es auch wichtig, dass wir so handeln und dass unser Ziel, bis 2030 55 Prozent der klimaschädlichen Gase einzusparen, auch wirklich erreicht werden kann. Aber die Notwendigkeit, Menschen dabei mitzunehmen, und die Frage, wie wir diese Änderungen organisieren, das ist ja auch etwas, was Ihnen jeden Tag vor Augen ist. Und die Frage ist: Reicht die Zeit? Wie ist der Handlungsdruck? Er ist groß beim Klimawandel. Er ist auch groß bei den Fragen der Digitalisierung. Aber wir haben mit unseren Beschlüssen erst einmal einen Stein ins Wasser geworfen; und ich glaube, es ist ein ziemlich umfassender Stein. Wir werden Bahnfahren billiger und Fliegen teurer machen und die an CO2 ausgerichtete Kfz-Steuer noch einmal verändern. Es wird Veränderungen in vielen Bereichen geben. Wir werden vor allen Dingen staatliche Anreize setzen – Anreize zur Gebäudesanierung, Zuschüsse in Höhe von 40 Prozent für den Austausch von Heizungen. Ich hoffe, dass viele Bürgerinnen und Bürger davon auch wirklich Gebrauch machen. Das wiederum, Herr Hofmann, ist ein Investitionsprogramm mit 54 Milliarden Euro allein in den Jahren bis 2023 und natürlich mit weitaus mehr im Verlauf des nächsten Jahrzehnts. Jetzt sage ich Ihnen einmal ganz ehrlich: Was ist im Augenblick unser Problem? Wir haben die höchsten Investitionsmittel im Bundeshaushalt. Unser Problem ist nicht, dass wir nicht genügend Mittel für Investitionen haben, sondern unser Problem ist, dass unsere Planungs- und Genehmigungsverfahren elendig – so sage ich einfach einmal – langsam sind. Sie sind auch deshalb langsam, weil wir ein Rechtsstaat sind. Das muss sein. Bürgerinnen und Bürger müssen Einspruchsmöglichkeiten haben. Aber sie sind auch deshalb langsam, weil im öffentlichen Bereich in den vergangenen Jahren zum Teil Planungskapazitäten abgebaut wurden. Das gilt für den Bund, das gilt aber auch für Länder und Kommunen. Sie sind langsam, weil wir vielleicht manchmal auch die Dringlichkeit nicht mehr richtig spüren. Wenn man sieht, dass der Gotthard-Basistunnel fertig und der Brenner-Basistunnel auf gutem Wege ist und nur die Zufahrten aus Deutschland immer Jahre bis Jahrzehnte im Rückstand sind, dann kann man sich auch nicht einfach mit dem europäischen Recht herausreden, sondern dann müssen wir in Deutschland die Dringlichkeit besser spüren und insgesamt schneller werden. Deshalb werden wir für ausgewiesene Projekte auch Einzelgesetze machen. Deshalb haben wir uns jetzt noch einmal vorgenommen, insbesondere bei der Elektrifizierung der Eisenbahn schneller zu werden. Insofern ist das Thema Geschwindigkeit für uns ein ganz bestimmender Schritt. Nun sagen Sie: Okay, das habt ihr für die Bürgerinnen und Bürger in den Bereichen Mobilität und Gebäude gemacht, aber wir brauchen im Industriebereich – ich habe über Wasserstoff und anderes gesprochen – mehr staatliche Mittel. Wir werden uns natürlich immer fragen, was wir investieren müssen. Dafür allein haushaltliche Themen zugrunde zu legen und zu sagen, die schwarze Null ist unser Fetisch – darum geht es nicht. Ich sage Ihnen aber auch – darüber haben wir ja auch schon öfters gesprochen –: Deutschland gehört zu den wenigen Ländern, die eine demografische Entwicklung haben, mit der wir immer weniger junge Menschen haben werden. Sie sehen jetzt schon, was für ein Thema der Fachkräftemangel für den Industriestandort Deutschland ist. Wir müssen deshalb auch schauen, dass wir den nachkommenden Generationen nicht inakzeptabel viele Schulden überlassen. Wir können stolz darauf sein, dass unsere Gesamtverschuldung jetzt wieder unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt. Das gibt uns die Möglichkeit, zu sagen: Wenn einmal Not am Mann ist, wenn wir in eine schwierige Situation kommen, dann haben wir sozusagen ein paar Reserven, auf die wir konsequenterweise aber erst dann zurückgreifen. Und das können wir, weil wir jetzt gut dastehen, unsere sozialen Sicherungssysteme sicher sind und glücklicherweise große Rücklagen in der Arbeitslosenversicherung haben. All das brauchen wir, weil wir nicht nur an uns denken dürfen, sondern weil wir auch an unsere Kinder und Enkel denken müssen. Aber, meine Damen und Herren, ich höre durchaus, welche Forderungen von Ihnen wir noch nicht erfüllt haben. Ich glaube im Übrigen, wir sollten sehr vorsichtig sein, nicht eine Krise sozusagen mental schon herbeizuführen, die wir noch nicht sehen. Sie sehen auf der einen Seite die Daten von geringeren Auftragseingängen. Auf der anderen Seite sagen uns Wirtschaftsforscher aber, dass wir trotzdem keine schwere konjunkturelle Delle bekommen. Ob die Prognosen stimmen oder nicht, das müssen wir jeweils abgleichen. Aber wir werden mit Ihnen im Gespräch darüber bleiben, was die angemessenen Maßnahmen sind. Jetzt müssen wir auch gerade all das, was wir im Bereich Bildung, Ausbildung, Fortbildung, Weiterbildung eingeführt haben, erst einmal weiter betreiben. Ich möchte zum Abschluss noch auf zwei Dinge hinweisen. Das eine ist, dass wir mit dem Brexit ein Thema vor uns haben, das ein hohes Maß an Unsicherheit mit sich bringt. Wir haben auf europäischer und auf nationaler Ebene umfangreiche gesetzliche Maßnahmen getroffen – zum Aufenthaltsrecht, zu Sozialversicherungen, zum Luft- und Straßenverkehr. So soll es nicht dazu kommen, dass Versicherte in den Sozialversicherungen aufgrund des Austritts ihren Versicherungsstatus verlieren oder unfreiwillig einer Doppelversicherung unterliegen. Auch Renten werden in vollem Umfang gezahlt, wenn die begünstigten Personen ihren Wohnort in Großbritannien haben. Wir wollen die negativen Auswirkungen, auch wenn es zu einem ungeregelten Austritt kommt, in beiden Ländern minimieren. Die Einreise ins Vereinigte Königreich soll weiterhin visumsfrei möglich sein, genauso wie für Britinnen und Briten die Einreise in die EU. Die Geschlossenheit der EU-27, meine Damen und Herren, ist nicht nur im Zusammenhang mit dem Brexit wichtig, sondern auch in vielen, vielen anderen Fragen. Sie sehen, in welcher internationalen Situation wir uns im Augenblick befinden. Ich denke etwa an die Situation in Syrien, in Libyen und anderswo. An dieser Stelle möchte ich Ihnen noch einmal ganz herzlich danken. Als ich vor vier Jahren hier bei Ihnen war, hatten wir eine ganz prekäre Situation in Deutschland. Wir waren gefordert. Die Oberbürgermeister – Herr Maly ist hier – haben getan, was sie konnten; die Landräte ebenso. Aber es gab natürlich auch viele Sorgen. In dieser schwierigen Situation, als es um Menschen ging, die ihre Heimat verlassen mussten, als wir bestimmte Abkommen wie zum Beispiel das EU-Türkei-Abkommen noch nicht hatten, da hat die IG Metall ganz eindeutig an unserer Seite gestanden und die Bundesregierung unterstützt. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Das war damals sehr wichtig. Deshalb sage ich Ihnen an einem anderen Punkt auch Unterstützung zu. Das ist natürlich kein Blankoscheck, weil Ihre Forderungen ja immer ganz schön hart sind. Aber es ist mir ein großes Anliegen, in dem Transformationsprozess, in dem sich unser Land und in dem Sie sich in den Betrieben befinden, alles zu tun, um den Zusammenhalt in unserem Land zu stärken. Wir wissen ja, in welche Stresssituation dieser Zusammenhalt schnell geraten kann. Für ein Kernstück des Zusammenhalts halte ich mit Blick auf die Gewerkschaften und die Sozialpartner die Tarifbindung. Die Entwicklung der Tarifbindung macht mir durchaus Sorgen. Denn wir haben in den neuen Ländern eine viel zu geringe Tarifbindung. Und wir haben die Tendenz, gerade auch im Zusammenhang mit neuen Beschäftigungsformen im Zeitalter der Digitalisierung, dass die Tarifbindung auch in den alten Ländern abnimmt. Wir haben sehr oft darüber diskutiert, wie wir die Tarifbindung stärken können und wie wir auch in Sachen Flexibilität oder Erprobungsmöglichkeiten von neuen Formen des Arbeitens diejenigen besserstellen und sozusagen belohnen können, die sich weiter zur Tarifbindung bekennen. Die Frage der Tarifbindung liegt ja nicht allein in der Hand der Gewerkschaften, sondern sie liegt vor allen Dingen auch bei denen, die Unternehmen führen. Dort werde ich mit gleicher Zunge und in gleicher Art und Weise sprechen. Für das Miteinander in unserem Land ist das Miteinander von Politik und Sozialpartnern von entscheidender Bedeutung. Die Politik kann vieles nicht allein lösen. Wir haben durch den Mindestlohn schon Antworten gefunden, die ich, wenn die Tarifbindung stärker gewesen wäre, lieber zwischen den Sozialpartnern gefunden hätte. Die Politik wird immer wieder einstehen, wenn es darum geht, dass Leitplanken gebaut werden, damit faire, vernünftige und gute Beschäftigung möglich ist. Aber alles, was innerhalb der Tarifpartnerschaft gelöst werden kann, kann dort besser, zielgenauer und an die Situation angepasster gelöst werden. Deshalb ist für mich – im Zusammenhang mit Gewerkschaften und gerade auch mit der IG Metall – das Thema Tarifbindung ein zentrales Thema. Ich möchte, dass die Tarifpartnerschaft auch dann, wenn wir 80 und 90 Jahre Grundgesetz feiern, ein wesentlicher Markstein der Sozialen Marktwirtschaft ist. Dafür lassen Sie uns bitte gemeinsam arbeiten. In diesem Sinne: Auf gute Zusammenarbeit.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich des Jahresempfangs 2019 des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-des-jahresempfangs-2019-des-museums-fuer-russlanddeutsche-kulturgeschichte-1681228
Wed, 09 Oct 2019 18:45:00 +0200
Im Wortlaut
Detmold
Kulturstaatsministerin
Kultur
„Heimat kann überall sein. Wir entscheiden mit unserem Herzen, wo diese ist.“ hat die russlanddeutsche Schriftstellerin Katharina Martin-Virolainen einmal geschrieben. Wer einmal die Gastfreundschaft einer aus Russland kommenden, deutschen Familie erleben durfte, mit Borschtsch und Pelmeni bekocht wurde, Krepli und Rievelkuchen probieren durfte, begreift, welchen – auch kulinarischen – Reichtum das Leben in zwei Kulturen hervorbringt und dass man die alte Heimat durchaus auch in die neue Heimat mitbringen und integrieren kann. Gerade in meinem Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf erlebe ich es immer wieder: Die russlanddeutsche Kultur ist in der Küche, in der Musik, aber auch in der Sprache, in den vielen Dialekten und Wortkreationen aus Russisch und Deutsch enorm erfinderisch und lebendig. Das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte schenkt der Tradition und Kultur der Deutschen aus Russland die verdiente Aufmerksamkeit. Es freut mich sehr, dass Sie, liebe Frau Dr. Neufeld und lieber Herr Ens, dieses Haus gemeinsam mit den beteiligten Partnern zu einer professionellen Einrichtung mit großer Strahlkraft entwickelt haben. Es freut mich nicht nur deshalb, weil Wurzeln und Traditionen etwas sind, worauf jede Gemeinschaft stolz sein kann, sondern, weil die hier erzählte Geschichte immer noch zu wenige Menschen kennen, obwohl sie auch ein Teil unserer deutschen Geschichte ist. Die ausgestellten Kunstwerke, die umfangreiche Bibliothek, aber auch etliche persönliche Gegenstände und Texttafeln der Dauerausstellung vermitteln Erfahrungen der Auswanderung, Ansiedlung, Diktatur, Deportation und Rückkunft eindrücklich und berührend. Sie erzählen von Hoffnung und Trauer, Erfolg und Schmerz. Sie wecken ein Bewusstsein für die Wurzeln und Prägungen der Deutschen aus Russland. Sie vermitteln aber auch allgemeine Erfahrungen der Migration und Integration und schaffen damit Verständnis und Zusammenhalt in einer multiethnischen Gesellschaft – seit Beginn der Bundesförderung im Jahr 2016 beispielsweise mit der bemerkenswerten Sonderausstellung über die doppelte Diktaturerfahrung der Schwarzmeerdeutschen mit dem Titel „Volksgenosse oder Feind des Volkes?“, mit reger Vernetzung auf allen Ebenen: von Bildungspartnerschaften mit Schulen und Hochschulen bis hin zu Kooperationen beispielsweise mit Yad Vashem, mit Diskussionsveranstaltungen und Begegnungsforen, mit zukunftsweisender Museumspädagogik und der Mitarbeit an einem neuen E-Book, das Schülern multimedial die russlanddeutsche Kultur nahebringt. Vor allem aber auch mit dem geplanten Pilotprojekt „Bi-Kultur-digital am Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte“, einem experimentellen digitalen Museumskonzept, das ganz neue Erlebnisformate auslotet. In einem virtuellen „Escape Room“ können Besucherinnen und Besucher beispielsweise durch 3D-Modelle Zeitzeugen erleben und tief in die Geschichte eintauchen. Neue, zeitgemäße Formen des Erinnerns zu finden, ist nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil die Zahl der Zeitzeugen, die von Diktatur, Flucht und Vertreibung erzählen können, Jahr für Jahr abnimmt. Wenn der Erinnerungstransfer von Generation zu Generation nicht gelingt, gehen Erfahrungen der Vergangenheit verloren – dabei sind sie gerade in unserer heutigen Situation für das Selbst- und Fremdverständnis essentiell. Digitale Technologien können zwar nicht die Erzählungen der Familienangehörigen ersetzen, aber sie können einen emotionalen Zugang zu individuellen Geschichtserfahrungen ermöglichen – auch und gerade bei jungen Menschen, die andere Sehgewohnheiten mitbringen. Deshalb freue ich mich, dass wir Mittel für das „Bi-Projekt am Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte“ bereitstellen können. Erfreulich ist auch vor allem, dass ich mit Bundesmitteln ein Kulturreferat für die Deutschen aus Russland einrichten konnte: Das verstärkt das Museumsteam und wertet das Museum auch als bundesweites Kompetenzzentrum für die Belange der Russlanddeutschen auf. Ich freue mich, lieber Herr Warkentin, dass Ihr Vertrag nun auch entfristet wurde! Um die sehr erfolgreiche Tätigkeit des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte zu würdigen und es auch dauerhaft als bundesweites Kompetenzzentrum für die Belange der Russlanddeutschen zu etablieren, wollen wir die Förderung des Museums über das Jahr 2020 hinaus fortsetzen – gemeinsam mit dem Land Nordrhein-Westfalen, der Stadt Detmold, dem Christlichen Schulverein Lippe und weiteren Partnern. Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln, so wie es der Paragraph 96 des Bundesvertriebenengesetzes vorgibt – das war und ist fester Bestandteil der Politik der Bundesregierung, und das liegt mir auch persönlich sehr am Herzen. Wir konnten die dafür vorgesehenen Mittel immer wieder deutlich erhöhen. Mit der 2016 verabschiedeten Neukonzeption der Kulturförderung nach Paragraph 96 tragen wir unter anderem dazu bei, europäische Kooperationen zu stärken und gerade jüngeren Menschen das kulturelle Erbe unter anderem auch der Russlanddeutschen zu vermitteln. Dieses Erbe, meine Damen und Herren, wird nicht zuletzt auch in der russischen Sprache wunderbar sichtbar − kennt sie doch offenbar 450 deutsche Worte, darunter so schöne wie Buterbrod, Wunderkind, Parikmacher oder Poschtamt. Solche Worte sind klangvolle Zeugnisse der Verständigung und des Brückenbaus zwischen zwei Sprachen und Kulturen. Deutsche, die aus Russland kommen sind meist in beiden Sprachen und Kulturen zu Hause. Ihre Erfahrungen können uns im deutsch-russischen Dialog helfen. Sie können auch dazu beitragen, die Krisen und Konflikte besser zu verstehen, in deren Angesicht Europa sich heute neu bewähren muss – geht es doch um Themen, die Deutschland und Europa heute mehr denn je beschäftigen: um Fragen des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen und Religionen, um Fragen der wechselseitigen Wahrnehmung und Anerkennung, um Fragen des Fremdseins und des Ankommens. Ich wünsche mir, dass unsere Haltung dabei im besten Sinne europäisch bleibt – offen, tolerant und mutig in dem Bemühen, Grenzen zu überwinden. Das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte Detmold leistet dazu einen wichtigen Beitrag: Ich danke dem Museumsteam, dem Museumsverein, dem Christlichen Schulverein Lippe und allen beteiligten Partnern, die Brücken in eine friedliche, gemeinschaftliche Zukunft bauen, und wünsche diesem Haus viele interessierte Besucherinnen und Besucher.
In ihrer Rede dankte die Kulturstaatsministerin den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie allen beteiligten Partnern für die Verdienste des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte. „Sie vermitteln allgemeine Erfahrungen der Migration und Integration und schaffen damit Verständnis und Zusammenhalt in einer multiethnischen Gesellschaft“, so Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum 20jährigen Jubiläum des Programms „Writers in Exile“ des PEN-Zentrums Deutschland
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-20jaehrigen-jubilaeum-des-programms-writers-in-exile-des-pen-zentrums-deutschland-1680316
Tue, 08 Oct 2019 16:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Es gibt im multikulturellen Berlin – in einer Stadt, die sich zum zentralen Zufluchtsort für Exilkünstlerinnen und Exilkünstler entwickelt hat – sicherlich passendere Kulissen als diesen „nüchternen“ Bankettsaal, um das Programm „Writers in Exile“ zu würdigen: Kulturorte zum Beispiel, an denen die wechselseitige Inspiration einheimischer und im Exil lebender Künstlerinnen und Künstler sichtbar wird. Und doch gehört dieser Empfang zum 20jährigen Bestehen hierher, mitten ins Regierungs- und Parlamentsviertel, in den Amtssitz der Bundeskanzlerin: nicht nur, weil das Programm mit Unterstützung der Bundesregierung etabliert wurde und mit Mitteln aus dem Bundeskulturetat gefördert wird; sondern vor allem, weil Deutschland eine große Verantwortung dafür trägt, die Freiheit des Wortes zu schützen und verfolgten Dichtern und Denkern, Dichterinnen und Denkerinnen Zuflucht zu gewähren. Wir stellen uns dieser Verantwortung, um – wie Du, lieber Michael Naumann, es damals als Kulturstaatsminister und Mit-Initiator ausgedrückt hast – „einen Teil jener ,Dankschuld‘ abzutragen, die sich aus der Tatsache herleitet, dass während der Nazi-Diktatur so viele deutsche Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler in anderen Ländern Aufnahme fanden.“ Ein ehemaliger PEN–Poets, Essayists, Novelists-Präsident, der deutsch-iranische Schriftsteller SAID, hat die Erfahrung des Exils und den langen, steinigen Weg vom Heimatverlust bis zur „Heimstätte“ einer fremden Sprache vor einiger Zeit in einer Rede beschrieben als – ich zitiere – Harren „in einem Zwischenland – zwischen zwei Flüssen: Hier das Persische, dort das Deutsche; jeder stillt einen anderen Durst. In einem Fluss schwimmt er mit, im anderen ringt (…) [er] um jedes Wort, um nicht zu ertrinken.“ In einem „Zwischenland zwischen zwei Flüssen“ zu leben, in einer notdürftigen Behausung statt in einem echten Zuhause: Diese Erfahrung teilen all jene Künstlerinnen und Künstler, die vor politischer Verfolgung, vor Gewalt und Unterdrückung aus ihrer Heimat fliehen mussten. Das Programm „Writers in Exile“ bietet ihnen in diesem „Zwischenland“ zumindest ein Dach über dem Kopf: finanzielle Hilfe und künstlerische Freiheit, Orientierungshilfe in der Fremde und Unterstützung im Alltag, Kontakte zu anderen Autorinnen und Autoren und – ja: – auch menschliche Nähe, die das Leid des Entwurzeltseins hoffentlich ein wenig erträglicher macht. Seit 20 Jahren kümmert sich das PEN–Poets, Essayists, Novelists-Zentrum Deutschland in dieser umfassenden Weise, mit Förderung und Fürsorge, um Exil-Schriftstellerinnen und -Schriftsteller. Das verlangt hohen persönlichen Einsatz und ist damit auch ein beeindruckendes Beispiel bürgerschaftlichen Engagements zahlreicher Künstlerinnen und Künstler, die damit ihre Berufskolleginnen und -kollegen unterstützen. All jenen, die an der 20jährigen Erfolgsgeschichte von „Writers in Exile“ mitgeschrieben haben, danke ich für ihren beherzten, oft aufreibenden Einsatz – den beteiligten Mitgliedern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, insbesondere jenen des Darmstädter Writers-in-Exile-Büro beim PEN–Poets, Essayists, Novelists Deutschland, dem Präsidium und nicht zuletzt natürlich den Initiatoren, die das Programm vor 20 Jahren ins Leben gerufen haben. Ich kann Ihnen versichern, meine Damen und Herren, dass die Finanzierung des Programms aus meinem Kulturetat weiterhin gesichert bleibt. Darüber hinaus fördert mein Haus – und darin bestärkt uns nicht zuletzt der Erfolg des PEN–Poets, Essayists, Novelists-Programms – neuerdings auch das European Centre for Press and Media Freedom, damit auch verfolgte Journalistinnen und Journalisten die Möglichkeit haben, im deutschen Exil zu leben und zu arbeiten. Zu wünschen wäre freilich bei aller Wertschätzung solcher Programme, dass ein weltweiter Siegeszug demokratischer Grundrechte und Freiheiten sie in absehbarer Zeit überflüssig macht. Im Moment erleben wir eher das Gegenteil: Angriffe auf demokratische Freiheiten sind selbst in Demokratien an der Tagesordnung, sogar in Mitgliedsländern der Europäischen Union (- man denke nur an die ermordeten Journalisten Daphne Caruana Galizia (Malta) und Ján Kuciak (Slowakei). Man denke daran, wie schwer es unabhängige Journalistinnen und Journalisten in Ungarn haben, man denke an die Einschränkung der Medienfreiheit in Polen durch das neue Mediengesetz). Selbst hierzulande häufen sich Versuche einzelner gesellschaftlicher Gruppierungen, Künstlerinnen und Künstler einzuschüchtern und unabhängige Journalistinnen und Journalisten zu diffamieren. Gründe genug, daran zu erinnern, dass demokratische Freiheiten kein Besitz sind, sondern Errungenschaften, die dauerhaft das Engagement überzeugter Demokraten brauchen! Auch deshalb ist es mir ein Anliegen, die Arbeits- und Lebensbedingungen im Exilland Deutschland stärker ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken – zumal Berlin sich in den vergangenen Jahren zur Exilhauptstadt für arabische Intellektuelle, zu einem neuen „kulturellen Damaskus“ entwickelt hat. Das geht aus einer Studie des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück mit dem Titel „Exil in der Bundesrepublik Deutschland“ hervor, die ich im vergangenen Jahr mit Blick auf den Zuzug Hunderttausender geflüchteter Menschen 2015 und 2016 angeregt habe. Darunter waren ja auch zahlreiche Künstlerinnen und Künstler. Die Studie, die heute online veröffentlicht wird, zeigt die hohe Wertschätzung für die künstlerische Freiheit in Deutschland, offenbart neben einer beachtlichen Zahl vorhandener Förderangebote aber auch die Probleme, mit denen Künstlerinnen und Künstler im deutschen Exil zu kämpfen haben. So fehlt es beispielsweise vielerorts an Zukunftsperspektiven, weil es anderslautenden Bekenntnissen zum Trotz um die Aufgeschlossenheit für Vielfalt – neudeutsch: „Diversität“ – im Alltag des deutschen Kunst- und Kulturbetriebs noch nicht zum Besten bestellt ist. Schwarz auf weiß dokumentiert zu sehen, wo die gesellschaftliche Wirklichkeit den hehren Ansprüchen hinter hinkt, hilft allen Beteiligten bei notwendigen Veränderungen. Deshalb freut es mich sehr, dass die Autoren der Studie heute hier sind: Herzlich willkommen, Frau Lemmer und Herr Professor Oltmer! Vielen Dank für Ihre akribische Vermessung des Exillands Deutschland, von der ich mir wertvolle Anregungen für die Weiterentwicklung einer der Freiheit der Kunst verpflichteten Kulturpolitik erhoffe. Was die Öffnung für mehr Vielfalt betrifft, hat die Bundesregierung bereits umfassende Maßnahmen ergriffen. Zum Beispiel haben wir im Rahmen des „Nationalen Aktionsplans Integration“ einen breit angelegten Dialog mit den bundesgeförderten Kultureinrichtungen begonnen. Außerdem haben wir das BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien-Förderprogramm „Vermittlung und Integration“ seit 2018 stärker auf Maßnahmen für mehr Vielfalt ausgerichtet. Ich hoffe, liebe Stipendiatinnen und Stipendiaten, dass Sie Ihr Exil in Deutschland (jenes „Zwischenland zwischen zwei Flüssen“, um die eingangs zitierten Worte SAIDs noch einmal aufzugreifen) nicht nur als Verlust der eigenen Wurzeln, sondern auch als Quelle der Inspiration erleben – ja vielleicht gar als Quelle der Hoffnung, was die Möglichkeit politischer Veränderungen in Ihren Heimatländern betrifft. Die Erinnerung an die deutsche Geschichte jedenfalls hält nicht nur bittere Lektionen aus der doppelten Diktaturerfahrung des 20. Jahrhunderts bereit, sondern auch ermutigende Einblicke in demokratische Sternstunden: zum Beispiel, wenn sich in wenigen Wochen, am 9. November, der Fall der Berliner Mauer zum 30. Mal jährt. Die Friedliche Revolution steht nicht zuletzt dafür, dass Mut und Vorstellungskraft – im wahrsten Sinne des Wortes – Mauern zum Einsturz bringen können. Denn die Menschen, die 1989 für demokratische Rechte auf die Straße gegangen sind, die Menschen, die der Diktatur vielfach schon viele Jahre lang die Stirn geboten und den Triumph der Freiheit über Unfreiheit und Unterdrückung errungen haben, diese Menschen besaßen neben Kühnheit und Kampfgeist vor allem eines: eine Vorstellung von einer besseren Welt. Diese Vorstellungskraft brauchen auch Ihre Heimatländer, verehrte Künstlerinnen und Künstler: Ihre Vorstellungskraft, Ihre Fantasie. Gerade die Kunst trägt ja immer den Keim des Revolutionären in sich. Dass aus diesen Keimen etwas wachsen darf, dass es einen fruchtbaren Nährboden dafür gibt und ein wachstumsförderndes Klima – das macht eine vitale Demokratie aus. Dazu soll das „Writers in Exile“-Programm auch in Zukunft beitragen: indem es Ihnen ermöglicht, in Freiheit zu arbeiten und mit Ihrer Stimme Gehör zu finden: in der Welt wie auch in Ihrer Heimat. Darauf will ich heute, zum 20. Jubiläum des „Writers in Exile“-Programms, mit Ihnen zusammen das Glas erheben, und freue mich, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Besuch der Herrenknecht AG am 7. Oktober 2019 in Schwanau
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-besuch-der-herrenknecht-ag-am-7-oktober-2019-in-schwanau-1679312
Mon, 07 Oct 2019 15:08:00 +0200
Schwanau
keine Themen
Sehr geehrter Herr Herrenknecht, sehr geehrte Familie Herrenknecht ‑ in allen Generationen hier anwesend ‑, sehr geehrter Herr Minister und Gast aus Ägypten, sehr geehrter Herr Landrat, sehr geehrte Bürgermeister und Oberbürgermeister ‑ ich habe heute am Beispiel von Sinsheim und anderen schon gelernt, ab wann man Oberbürgermeister ist und wann nicht ‑, meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, hier heute – sozusagen am Heimatstandort der Firma Herrenknecht – zu sein; denn wir haben, wie Herr Herrenknecht es gesagt hat, schon viele Reisen miteinander gemacht. Er hat mich als Bundeskanzlerin begleitet. Wenn man dann wie jüngst in Wuhan am Jangtse-Fluss steht und Herr Herrenknecht sagt: „Na ja, dreimal untertunnelt!“ ‑ ich weiß nicht, es waren vielleicht sogar viermal ‑ und man diesen breiten Strom sieht, dann bekommt man natürlich Hochachtung für die Technologie, die hier in der Firma vorhanden ist, und für das, was aus dem sehr spröden Material Stahl gemacht werden kann. Herr Herrenknecht hat die Projekte schon aufgezählt. Es sind wirklich Projekte, die in die Geschichte eingehen. Darauf, dass aus einer Familie, in der der Vater Handwerker war, so ein Weltprojekt entsteht, kann man, denke ich, stolz sein. Dass, Herr Betriebsratsvorsitzender, über 2000 Menschen allein hier in der Region Arbeit haben, Qualifizierungsmöglichkeiten haben, und dass Sie fast schon nach jungen Leuten suchen müssen, die sich im gewerblichen Bereich ausbilden lassen wollen, weil das Angebot schon knapp wird, zeigt ja auch, dass die Firma und die Lebensqualität hier in der Region eng miteinander verknüpft sind. Insofern sind Sie das klassische Beispiel für das, was man die „hidden champions“ nennt, die aber nun gar keine hidden champions mehr sind ‑ „well-known hidden champions“ könnte man sagen ‑, sondern eben die Familienunternehmen in Deutschland ausmachen. Ich habe eben gefragt: Gibt es auch Deutschland noch ein paar Projekte? Dann wurde auf Stuttgart 21 und auf die U-Bahn in Berlin-Mitte verwiesen, die eines Tages vielleicht auch fertig wird. Herr Herrenknecht hat seine Arbeit mit seinen Maschinen dort schon geleistet, hat er mir gesagt. In diesem Zusammenhang sind wir auch auf ein weiteres Thema gekommen, das wichtig ist, und das ist die Tatsache, dass wir in unseren Planungen eher schneller werden müssen. Wir haben es beim Gotthardtunnel gesehen: Die Zubringerstrecken durch Deutschland sind weit im Rückstand. Ich habe mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder gesprochen. Auch die Zubringerstrecken für den Brenner-Basistunnel, die durch Deutschland führen, sind weit im Rückstand. Wir müssen deshalb schauen ‑ das ist eine klassische Aufgabe der Politik ‑, dass wir das schneller hinbekommen. Wir können uns auch nicht einfach hinter europäischen Regeln verstecken. Denn anderswo geht es schneller. Wir sehen natürlich, dass in anderen Teilen der Welt, zum Beispiel auch in Ägypten, die Projekte sehr schnell realisiert werden. Das ist wichtig. Denn in diesen Ländern, zum Beispiel in Ägypten, aber auch in anderen Ländern, ist einfach eine Jugend da, die unbedingt Chancen haben möchte, die lernen möchte, die sich ausbilden lassen möchte und die Arbeitsplätze braucht. Deshalb ‑ darüber haben Herr Herrenknecht und ich oft gesprochen ‑ müssen wir eben immer vorn mit dabei sein, wenn es um Technologieentwicklungen und wenn es um Innovationen geht. Auf dem Rundgang konnte ich mir auch anschauen, dass Sie jetzt auch in neue Felder neben der klassischen Tunnelbohrmaschine einsteigen. Abwasser ist ein interessantes Projekt, aber vor allen Dingen auch die großen Stromleitungen, die Sie bis zu fast 1000 Meter Länge unter der Erde verlegen können. Das ist eine ganz neue Entwicklung, die sich in relativ kurzer Zeit vollzogen hat. Wenn man bedenkt, wie schwierig es ist, Akzeptanz für die Verlegung neuer Stromstrecken zu bekommen ‑ jeder möchte erneuerbare Energien haben, aber keiner möchte eine Leitung vor der Haustür haben ‑, dann kann man daran auch sehen, wie Sie auch sehr schnell auf die neue Nachfrage reagiert haben. Sie haben vielleicht sowieso einen Vorteil: Aufgrund der Tatsache, dass Sie unter der Erde arbeiten, sind Sie eigentlich erst einmal schon ein Guter; denn mit Blick auf verkehrslärmgeplagte Anwohner, auf Verkehrsteilnehmer und auch auf die Frage, wie man Staus vermeiden kann, sind Tunnel eigentlich immer eine ganz gute Infrastrukturmöglichkeit. Wir wissen, dass Sie in diesem Bereich weltweit sehr viele Projekte realisieren, obwohl Sie auch nicht ohne Wettbewerber sind. Das heißt, auch hier muss immer wieder neu entwickelt werden. Tunnelprojekte haben auch noch andere kleine Vorteile gegenüber anderen Projekten. Sie bieten mehrfach Gelegenheit, Baufortschritte gebührend zu feiern: beim Spatenstich, beim Tunneldurchschlag und dann bei der Eröffnung. Ich habe gehört, dass Ihre Kunden durchschnittlich vier Durchbrüche pro Woche feiern. Insofern ist hier also viel los ‑ sagen wir es einmal so. Wir haben uns hier also einen Überblick verschaffen können. Ganz toll sind natürlich Ihre knapp 200 Auszubildenden, die auch die Zukunft dieses Unternehmens verkörpern. Nun sind Sie ein Aushängeschild dessen, was Deutschlands Stärke ausmacht ‑ ein starker Mittelstand. Aber Sie sind auch auf Rahmenbedingungen politischer Art angewiesen, die Ihnen das Arbeiten ermöglichen. Da ist das Thema Forschung und Innovation, wie ich schon sagte, ganz wichtig. Deutschland steht bei Patentanmeldungen weltweit auf Platz zwei. Aber wir sehen, dass jetzt zum Beispiel auch aus China viele Patente kommen. Erst haben wir über den Schutz von „intellectual property“ gesprochen. Jetzt gibt es aber auch sehr viele Patentanmeldungen von dort. Wir haben versucht ‑ ich habe das seit meiner ersten Amtszeit, seit 2005, eigentlich sehr beständig getan ‑, die Rahmenbedingungen für Forschung und Entwicklung vernünftig zu gestalten. Wir haben uns das 3-Prozent-Ziel zu Herzen genommen, das sich die Europäische Union schon 2000 vorgenommen hat, also 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben. Aber man muss sagen, dass wir eines der wenigen Länder in Europa sind, die das tun. Wir bewegen uns jetzt in die Richtung von 3,5 Prozent. Denn wir wissen, Südkorea, Israel und andere ‑ Japan, die Vereinigten Staaten von Amerika und China schon gar nicht ‑ schlafen nicht, um immer wieder vorn dabei zu sein. Ein Thema, das für uns in Deutschland von großer Wichtigkeit ist, sind die Universitäten. Wir haben eine gute universitäre Situation. Es ist auch gut, mittelständische Firmen zu haben, die die Universitäten unterstützen. Wir haben eine langfristige Planbarkeit in unseren außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Bis 2030 haben wir jedes Jahr eine Steigerung der finanziellen Zuweisung um 3 Prozent zugesagt, was natürlich eine große Sicherheit für Professoren an den Universitäten oder an den Forschungseinrichtungen mit sich bringt. Man kann hierherkommen und hat dauerhaft gute Forschungsbedingungen. Aber wir haben dann noch das ganze Thema der Umsetzung von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen in die Praxis. Hier sind die bipolaren oder binären Ausbildungswege sehr interessant, also praktisch hier zu arbeiten und gleichzeitig zu studieren und damit sozusagen das Knowhow und die Kenntnisse sofort wieder in die Entwicklung hineinzubringen. Nicht von ungefähr ist die Region hier um Karlsruhe herum und ganz Baden-Württemberg von größter Bedeutung für den Maschinenbau. Wir haben inzwischen eher einen Mangel ‑ ich habe es schon am Beispiel der Auszubildenden gesagt ‑ an Fachkräften. Deshalb ist das politische Projekt des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes ein sehr wichtiges. Wir sind jetzt mit der Umsetzung beschäftigt. Denn was nützt es, wenn anschließend die infrage kommenden Personen rund um den Globus kein Visum bekommen und diese Dinge zu lange dauern? Wir haben als Bundesrepublik Deutschland einen tendenziellen Nachteil, weil nicht die ganze Welt Deutsch spricht, sondern ein paar mehr Menschen auf der Welt Englisch sprechen. Das heißt also, dass gerade Sprachenfragen eine noch größere Rolle spielen. Wir haben aber inzwischen eine hohe Zahl ausländischer Studentinnen und Studenten bei uns, was eine sehr erfreuliche Sache ist. Wir wollen jetzt auch im mittelständischen Bereich die steuerliche Forschungsförderung voranbringen, auch noch einmal ein Umsetzungsinstrument, um schneller von der Grundlagenforschung in die angewandte Forschung zu kommen. Aber insgesamt stellen wir fest ‑ Sie merken das natürlich auch ‑, dass die Weltwirtschaft im Augenblick in einer nicht ganz einfachen Lage ist. Gerade eine Nation wie Deutschland, die so stark auf Exporte orientiert ist, spürt das unmittelbar. Das hat einmal mit den normalen Konjunkturzyklen zu tun. Wir haben jetzt eine sehr lange Wachstumsphase hinter uns. Deshalb ist es hier ganz wichtig, dass wir schnell wieder mit neuen Produkten und mit neuen Ideen auf den Weltmarkt gehen. Ich habe es hier ja auch gesehen: Das Thema Digitalisierung hängt nicht als Oberüberschrift hinter jedem Produkt. Aber faktisch ist es so: Die Steuerung, die Handhabung der Maschinen ist von der Digitalisierung schon sehr klar gezeichnet. Zweitens ist die deutsche Wirtschaft immer sehr sensibel, wenn es anderswo Handelsstreitigkeiten gibt. Wir sehen leider, dass die protektionistischen Maßnahmen zugenommen haben. Wir alle wünschen uns, dass es bald einen Abschluss in dem großen Handelsthema der Vereinigten Staaten von Amerika und Chinas gibt. Für Sie als eine Firma, die in beiden Weltmärkten tätig ist, ist das schon eine Herausforderung. Wir treten politisch ‑ ich glaube, das tun wir gemeinsam ‑ für einen multilateralen Ansatz und für einen fairen Wettbewerb ein. Sie haben vollkommen Recht: Dumpingpreise, Subventionen, Nichtachtung des Schutzes des geistigen Eigentums ‑ das alles sind Dinge, die den Wettbewerb unfair machen. Wir sind für einen offenen Wettbewerb, in dem das beste Produkt eine gute Chance hat. Dazu gehören zunehmend auch ökologische Fragen. Dazu gehören auch soziale Fragen. Weder auf Dumpinglöhne noch auf Dumpingpreise soll der Wettbewerb ausgerichtet sein. Das zeigt sich auch in den moderneren Handelsabkommen, die man abschließt. Aber wir sehen, wenn es zu einer neuen Bipolarität zwischen den Vereinigten Staaten und China käme und sich jeder Anbieter auf der Welt entscheiden müsste, mit wem er noch Handel treiben will, wenn also dieser offene, vernetzte Handel nicht mehr funktionieren würde, dann würde das niemandem auf der Welt guttun und gerade auch Entwicklungsländern, die einen dynamischen Aufstieg brauchen, sehr viele Knüppel zwischen die Beine werfen. Insofern werden wir uns weiterhin ganz energisch für Multilateralismus und fairen Welthandel einsetzen. Dazu gehört natürlich auch die Frage der Modernisierung der Welthandelsorganisation. Es ist bedauerlich, dass uns jetzt von der Welthandelsorganisation im Zusammenhang mit Airbus bestimmte Strafen verordnet wurden, aber insgesamt wollen wir die Stärkung dieser Organisation. Meine Damen und Herren, das bedeutet dann auch, dass wir in Deutschland und Europa schauen müssen, dass wir wettbewerbsfähig bleiben. Gute Löhne sind wichtig, aber Forschung, Innovation, Schnelligkeit, Planungsbeschleunigung ‑ ich habe davon gesprochen ‑ braucht man heute auf der Welt eben auch, um mithalten zu können. Insofern sind auch der Zusammenhalt Europas – gerade hier, wo die deutsch-französische Grenze so nah ist – und die Nutzung unseres großen Marktes von großer Wichtigkeit. Sie haben darüber gesprochen, dass über uns auch noch die Unsicherheit des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union liegt. Wir schreiben schon den Monat Oktober und sind in den Verhandlungen immer noch nicht so weit, wie wir es eigentlich sein müssten. Wir hoffen wirklich auf gute Vorschläge aus Großbritannien. Denn wir müssen praktisch die Quadratur des Kreises schaffen. Ein Land tritt aus. Der Binnenmarkt muss natürlich eine Grenze haben. Wenn Großbritannien nicht mehr zum europäischen Binnenmarkt gehören will, dann muss klar sein, wo er endet und wo der Drittstaat beginnt. Gleichzeitig gibt es einen Teil Großbritanniens, nämlich Nordirland, der an die Republik Irland grenzt und der sich im Good Friday Agreement dazu verpflichtet hat, dass es keine Grenzkontrollen gibt. Also: Wie kontrolliert man einen Binnenmarkt, wenn es keine Kontrollen geben darf? Das ist die Aufgabe, und sie erfordert zugegebenermaßen sehr viel Kreativität. Denn weder wollen wir, dass wieder gewaltsame Auseinandersetzungen auf der irischen Insel ausbrechen, noch wollen wir einen ungeregelten Austritt Großbritanniens. Denn dieser würde sehr viele Unsicherheiten mit sich bringen und gleichzeitig auch erfordern, dass man die Grenze des Binnenmarktes kontrolliert. Insofern hätte man damit nichts gewonnen. Ich hoffe, dass wir alle uns zusammenreißen und noch eine gute Lösung finden. Ich werde jedenfalls bis zum letzten Tag dafür arbeiten. Meine Damen und Herren, zum Schluss sage ich danke: danke all denen, die bei Herrenknecht direkt oder indirekt arbeiten, tätig sind, mit dem Unternehmen mitfiebern und Qualitätsprodukte herstellen. Grüßen Sie bitte Ihre über 2200 Beschäftigen hier an diesem Ort und weltweit noch sehr viele mehr, Herr Betriebsratsvorsitzender, und sagen Sie jedem ‑ das sage ich aus voller Überzeugung ‑: „Wir alle müssen heute lebenslang lernen. Aber lebenslang zu lernen bereichert uns auch und bringt uns voran.“ Sicherlich gibt es manchmal auch Ängste, aber ich denke, die Motivation hier im Unternehmen ist gut. Ich sage auch danke denen, die immer die Aufträge heranschleppen müssen. Natürlich ist das in einer sich verändernden Welt gar nicht so einfach. Wenn die kleinen Wölkchen am Konjunkturhimmel auftauchen, dann bedeutet das natürlich für eine solche Unternehmung sicherlich auch immer einmal wieder eine schlaflose Nacht oder zumindest eine Stunde angestrengten Nachdenkens. Aber, Herr Herrenknecht und die nächste Generation, Sie haben schon manches bewerkstelligt. Deshalb bin ich optimistisch, dass Sie auch die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gut gestalten können. Wenn man noch einmal überdenkt, was Sie mir von Ihrem Vater und von Ihrer Mutter, die nie ein Flugzeug betreten hat, erzählt haben, dann wird einem deutlich, dass es schon gigantisch ist, was sich innerhalb einer Generation verändert hat. Das hat damit zu tun, dass es immer wieder Menschen gibt, die daran glauben, dass man die Welt verändern kann, dass es Menschen gibt, die unheimlich viele technologische Ideen haben, die tüfteln, es umsetzen und dann erkennen, dass es wirklich vorangeht. Egal welcher Konstellation, welchem Erdboden Sie begegnen, immer ist das rechte Schneidewerkzeug zu finden. Es geht unaufhörlich voran, manchmal nur 15 Meter am Tag, manchmal auch 25 Meter ‑ immerhin! Danke für das, was Sie alle gemeinsam hier leisten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter genauso wie die, die für die Führung des Unternehmens verantwortlich sind. Den Bürgermeistern und Landräten kann ich nur sagen: Ich komme aus Vorpommern. Bei uns ist die Industriedichte erheblich geringer. Sie kommen manchmal gern zum Urlaub zu uns, wenn Sie einmal gar keine Facharbeiter finden. Aber bei uns sind sie inzwischen auch knapp, Herr Herrenknecht. Im Norden sind auch gute Menschen, die gern arbeiten. Aber es ist schon toll, was hier geschaffen wird. Davon profitieren auch die Gemeinden. Seien Sie sich dessen bewusst, dass es nicht überall so gut ist wie in der Umgebung von Herrn Herrenknecht. Herzlichen Dank und alles Gute dem Unternehmen!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung der Klima-Arena der Klimastiftung für Bürger
am 07. Oktober 2019 in Sinsheim
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-eroeffnung-der-klima-arena-der-klimastiftung-fuer-buerger-am-07-oktober-2019-in-sinsheim-1679286
Mon, 07 Oct 2019 11:29:00 +0200
Sinsheim
keine Themen
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Herr Kretschmann, sehr geehrter Herr Hopp, sehr geehrter Herr Ehrhard, sehr geehrter Herr Landesinnenminister, lieber Thomas Strobl, sehr geehrter Herr Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, lieber Stephan Harbarth, Herr Oberbürgermeister, Herr Landrat, liebe Abgeordnetenkollegen und werte Gäste, ich bin heute sehr gerne hierhergekommen. Wir haben vor geraumer Zeit, Herr Hopp, darüber gesprochen, dass Sie diese Klima Arena schaffen und dass hier ein greifbares Projekt entsteht. Ich habe mich dann gerne entschieden, hier dabei zu sein – nicht wissend, dass das Thema Klimaschutz in der Zeit, in der diese Arena eröffnet wird, eine außerordentlich hohe Priorität hat und auch viele Kontroversen auslöst. Es freut mich natürlich, dass Sie diese Klima Arena so nah bei Ihrem Stadion haben entstehen lassen, sodass sich die Besucherzahl vielleicht proportional zu den Gästen bei den Fußballspielen entwickeln wird. Auf jeden Fall werden viele Menschen zu diesem Erlebnisort kommen, die vielleicht sonst gar nicht darauf kämen, sich einmal mit den Fragen des Klimaschutzes so intensiv zu beschäftigen. Herr Kretschmann hat es gesagt: In diesem Jahr haben wir von der Wissenschaft noch einmal aufrüttelnde Nachrichten bekommen, dass der Klimawandel schneller stattzufinden scheint, als wir das vielleicht noch vor ein paar Jahren gedacht haben. Umso wichtiger ist es natürlich, dass die Politik die Rahmenbedingungen setzt, in denen klimafreundliches Leben und klimafreundliches Wirtschaften überhaupt möglich sind. Wir sind insgesamt verpflichtet – schon allein aufgrund der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, die bis 2030 gelten –, unser gesamtes Leben auf Nachhaltigkeit auszurichten; das heißt, nicht nur im Bereich des Klimaschutzes, sondern überall sehr viel stärker in Kreisläufen zu denken, um auch den Kindern und Enkeln ein lebenswertes Dasein auf unserem Planeten zu ermöglichen. Deshalb hat sich die Bundesregierung in New York verpflichtet, entsprechend den Erwartungen des Pariser Klimaabkommens, dass wir im Jahre 2050 für Deutschland gemeinsam mit vielen anderen europäischen Ländern und insgesamt über 60 Ländern Klimaneutralität erreichen. Das ist ein sehr ambitioniertes Ziel, weil wir an vielen Stellen – wenn wir uns allein unseren Gebäudebestand anschauen – sehen, was wir da noch arbeiten müssen. Aber es ist ein richtiges Ziel. Jetzt geht es darum, schrittweise dieses Ziel zu erreichen. Wir haben festgestellt, dass wir 2010 das Klimaziel, das wir uns für Deutschland selbst gesteckt haben, erreicht haben, nämlich 20 Prozent Reduktion der klimaschädlichen Gase. Wir haben uns als Bundesregierung dann vorgenommen, 2020 40 Prozent zu erreichen. Wir müssen sagen, dass wir dies wahrscheinlich nicht schaffen. Deshalb haben wir uns jetzt mit dem Ziel für 2030 beschäftigt. Wir haben uns vorgenommen, 55 Prozent der klimaschädlichen Gase nicht mehr auszustoßen und dabei auch einen Anteil an erneuerbaren Energien von etwa zwei Dritteln bei der Energieerzeugung zu erreichen. Wir haben nach europäischem Recht sehr enge Vorgaben, sozusagen Jahresscheibenvorgaben, wie wir das erreichen müssen. Wir können also nicht sagen, wir warten bis 2028, sondern wir haben für jedes Jahr ab 2021 ein Budget, das wir nicht überschreiten dürfen. Insofern ist bei unserem Klimaschutzplan die Frage des Monitorings eine ganz entscheidende Frage. Es gibt im Augenblick in der Diskussion eine sehr große Nervosität. Deshalb will ich ganz klar sagen: Dieses Monitoring, diese Überwachung, wird glasklar im Klimaschutzgesetz verankert sein. Ansonsten werde ich nicht zulassen, dass wir es verabschieden. Das soll eigentlich schon am Mittwoch passieren; wir arbeiten daran. Ich werde jedenfalls dafür Sorge tragen, dass es ein verlässliches, überprüfbares und transparentes Monitoring gibt. Wir haben in den letzten Wochen eine unglaublich kontroverse Diskussion zu den Maßnahmen, die wir vorschlagen, erlebt. Dazu möchte ich zwei Dinge sagen. Das eine ist, dass es manchmal Menschen zu geben scheint, die wissen, was in unseren Entwürfen steht, noch bevor man sie veröffentlicht hat. Ich glaube, das ist nicht die beste Grundlage für eine sinnvolle Diskussion. Außerdem gibt es – Herr Kretschmann hat das eben vorsichtig und liebevoll formuliert – Menschen, die glauben, dass die Vorschläge noch nicht ambitioniert genug sind. Wir werden uns ja auch im Bundesrat, in der zweiten Kammer, wieder begegnen. Wir setzen darauf, dass die Menschen wissen, was an Verhaltensänderung in den nächsten Jahren stattfinden muss. In diesem Zusammenhang ist die CO2-Bepreisung das zentrale Element. Nun gibt es die Meinung: da muss man sehr stark einsteigen. Das haben uns auch Wissenschaftler empfohlen. Wir glauben, dass man etwas langsamer einsteigen sollte, um möglichst viele Menschen mitzunehmen, aber gegebenenfalls dann nachsteuern muss, wenn wir unsere Jahresscheibenvorgaben nicht erreichen. Wir haben dieses Programm der Bepreisung – das ist ein marktwirtschaftliches Element – deshalb eingeführt, weil wir, wie auch von Herrn Kretschmann gesagt wurde, auf die Soziale Marktwirtschaft setzen. Wir glauben, dass sie eine ökologische Komponente braucht und dass die Innovationskraft unserer Unternehmen, unserer Start-ups und der Menschen am besten freigesetzt werden kann, wenn wir für CO2 und andere klimaschädliche Gase Preissignale setzen und jeder weiß: wenn ich CO2 emittiere, dann wird es für mich teurer; wenn ich das nicht tue, kann ich Geld sparen. Ich glaube, das ist ein im Grundsatz richtiger Anreiz. Wir glauben aber nicht, dass das alleine von Anfang an reicht. Deshalb haben wir eine Vielzahl an Maßnahmen eingeführt, die zu einem veränderten Verhalten führen werden, zum Beispiel im Wohnbereich. Denn wir haben zwar sehr ambitionierte Neubauauflagen für Wohngebäude, aber wir müssen im Altbestand noch vieles ändern. Das betrifft die Gebäudeisolierung ebenso wie die Heizung. Wir haben noch etwa 16 Millionen Ölheizungen in Deutschland. Nicht jeder kann sofort seine Heizung austauschen, aber mit einem Anreiz von 40 Prozent Zuschuss für den Austausch einer Ölheizung setzen wir ein deutliches Signal. Ab 2026 wollen wir nicht mehr zulassen, dass neue Ölheizungen eingebaut werden, es sei denn, man lebt in einer Ecke Deutschlands, in der es überhaupt keine andere Möglichkeit gibt. Aber da müssen wir auch die richtigen Rahmenbedingungen setzen. Der zweite große Bereich ist der Verkehrsbereich. Der gesamte Industriebereich unterliegt ja heute schon einem europäischen Zertifikatehandel; um diesen Bereich haben wir uns jetzt gar nicht so bemühen müssen, weil da die Regulierungen bis 2030 klar sind. Aber der Verkehrsbereich ist sozusagen unser Sorgenkind. Warum? Weil wir trotz aller verbesserten Effizienzmaßnahmen der Automobilindustrie seit 1990 in Deutschland keinerlei Reduktion des CO2-Ausstoßes haben, weil jedes Mal, wenn die Technologie besser wurde, das Verkehrsaufkommen gestiegen ist. Deshalb müssen wir an dieser Stelle sehr viel härtere und größere Veränderungen vornehmen, als wir das in den letzten 20 Jahren getan haben. Da kommt uns nun auch die Innovationsfähigkeit zu Hilfe, denn nie waren wir so nah an der Masseneinführung von alternativer Mobilität. Die Elektromobilität wird in den nächsten Jahren ihren Durchbruch haben. Dafür müssen wir die richtigen Rahmenbedingungen setzen. Wir wollen technologieoffen vorgehen, weil wir noch nicht genau wissen, wie sich die Wasserstofffrage entwickelt und welche Technologie zum Schluss wirklich besser ist. Wir müssen natürlich den Anteil der erneuerbaren Energien erhöhen, denn Elektromobilität mit Strom aus Kohlekraftwerken ist noch nicht automatisch umweltfreundlicher. Aber wir brauchen eine parallele Entwicklung beider Technologien. Auch hierbei setzen wir eine Vielzahl von Anreizen. Das heißt, wir werden in den nächsten Monaten mehrere Gesetze verabschieden – zur energetischen Gebäudesanierung, zur Senkung der Mehrwertsteuer für Eisenbahntickets, zur Erhöhung der Flugabgaben, gerade auch für Kurzstreckenflüge, und anderes mehr. Wir werden mit den Ländervertretern darüber diskutieren müssen und versuchen, das sehr schnell ins Gesetzblatt zu bekommen. Da verrate ich kein Geheimnis, wenn ich sage: Es wird noch sehr intensive Diskussionen geben. Wichtig ist aber, dass wir überhaupt vorankommen; und zwar schnell vorankommen, damit wir eine Chance haben, nicht nur 2021/22 unsere Vorgaben zu erreichen, sondern eben auch verlässlich bis zum Jahr 2030. Dann müssen wir im Verlauf der 20er Jahre die weiteren Schritte planen, wie wir 2040, 2050 unsere Ziele setzen wollen. Die Diskussion in der Bevölkerung ist zum Teil sehr polarisiert. Warum müssen wir uns eigentlich so anstrengen, wenn wir doch nur ein Prozent der Weltbevölkerung sind? Dazu ist zunächst zu sagen, dass wir mit einem Prozent der Weltbevölkerung für zwei Prozent der Emissionen weltweit verantwortlich sind. Das heißt, wenn alle sich so verhalten würden wie wir, wäre der CO2-Ausstoß weltweit doppelt so hoch. Deshalb haben wir eine Verpflichtung, unser Verhalten zu ändern. Zweitens sind wir diejenigen, die zum Klimawandel erheblich beigetragen haben. Es wurde hier ja auf die Zeitachse 1800, 1900, 1960 und heute verwiesen. Das heißt, wir müssen mit unseren Innovationsmöglichkeiten, mit unseren Technologien den Maßstab setzen, damit andere auf der Welt, die noch nicht die Entwicklungschancen hatten wie wir, dann auch die Möglichkeit haben, Wohlstand und nachhaltiges Leben in Übereinstimmung zu bringen. Drittens haben wir auch die finanziellen Möglichkeiten, um solche Technologien neu einzuführen. Deutschland leistet hierbei seinen Beitrag. Wir geben zum Beispiel jedes Jahr 27 Milliarden Euro für die Unterstützung erneuerbarer Energien aus. Das ist etwas, das die deutschen Bürgerinnen und Bürger in Form der EEG-Umlage für die Entwicklung erneuerbarer Energien mitbezahlen. Wir sehen jetzt, dass wir unglaublich schnell vorangekommen sind, dass wir sowohl bei Solar- als auch bei Windstrom die Möglichkeit haben, schon fast ohne Subventionierung Strom zu produzieren. Aber diese Entwicklungskosten sind wir aus unserer Geschichte heraus der Welt sozusagen auch schuldig, weil wir damit klimafreundliche Technologien zur Marktreife bringen und damit ein Stück weit das kompensieren, was wir durch unsere Industrialisierung schon an Klimaschädigung verursacht haben. Nun ist es erfreulich, dass es immer mehr Menschen und auch Unternehmen gibt, die darüber nachdenken, wie sie ihren Beitrag leisten können. Um das gut zu machen, ist es natürlich wichtig, auch Erfahrungen zu sammeln, Eindrücke zu bekommen, sich zum Beispiel den ökologischen Fußabdruck je nach der Art des Einkaufens anzuschauen und dafür ein Gefühl zu entwickeln. Deshalb sind diese Klima Arena und die Arbeit der Stiftung von so großer Bedeutung. Junge Menschen sind ungeduldig geworden; ich will sagen: mit Recht. Vielleicht gibt es auch viele junge Menschen, die ihre Eltern davon überzeugen, im Zusammenhang mit einem Fußballspiel oder unabhängig davon diese Erlebniswelt einmal zu besichtigen. Meine Mitarbeiter, die mir vorausgereist sind, haben mir erzählt, dass es hier Dinge zum Anfassen gibt, die also haptisch sind, die man sich leichter merken kann als irgendwelche Zahlen. Deshalb hoffe und denke ich, dass Sie hiermit etwas ganz Wichtiges gemacht haben, nämlich Erkenntnis erlebbar zu machen, um sie dann vielleicht ins eigene Leben einfließen zu lassen. Das ist etwas, das wir brauchen. Der Staat, die Politik muss den Rahmen setzen; das ist unbestritten. Aber wir können natürlich viel schneller und besser vorankommen, wenn auch viele Menschen mitmachen. Dieses Mitmachen zu verstärken, das ist das Projekt, dem Sie sich hier verschrieben haben. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön. Herr Hopp sagte mir gerade, dass er gerne die Blaupause für viele Klima Arenen in ganz Deutschland liefert. Dann hoffen wir mal, dass es noch genauso viele Interessierte gibt, die sagen: Auch ich möchte mich in dieser Art und Weise engagieren. Nochmals herzlichen Dank dafür, dass ich heute hier dabei sein kann. Ich wünsche der Arena ungefähr so viele Besucher, wie Sie gestern beim Fußball gezeigt haben. Dann wird dieses Projekt sicherlich Schule machen. Dann werden solche Projekte auch an anderen Stellen in Deutschland entstehen. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich des Festakts zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2019 in Kiel
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-anlaesslich-des-festakts-zum-tag-der-deutschen-einheit-am-3-oktober-2019-in-kiel-1678326
Thu, 03 Oct 2019 12:30:00 +0200
Kiel
Aufgaben_der_Kanzlerin
Deutsche Einheit
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Herren Präsidenten des Bundestags, des Bundesrats und des Bundesverfassungsgerichts, sehr geehrte Damen und Herren Ministerpräsidenten, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett und aus den Parlamenten, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, liebe Bürgerinnen und Bürger! Thomas Mann, der aus Lübeck stammende Schriftsteller, bescheinigte den Deutschen im Mai 1945, wenige Wochen nach dem Ende des Zivilisationsbruchs der Shoa und des Zweiten Weltkriegs, in seiner berühmten Rede „Deutschland und die Deutschen“ ein „befremdetes Maß von Unfreiheit, Unmündigkeit [und] dumpfer Untertänigkeit“. Er erklärte dies damit, dass Deutschland „nie eine Revolution gehabt“ habe. Leider, meine Damen und Herren, konnte Thomas Mann nicht erleben, dass gut 44 Jahre nach seinen deprimierenden Gedanken tatsächlich eine gelungene deutsche Revolution stattfinden sollte – eine friedliche deutsche Revolution noch dazu, eine Revolution im Geiste der Freiheit. Drei Jahrzehnte nach dieser Revolution erinnern wir heute an den 3. Oktober des Jahres 1990. Dieser erste Tag der Deutschen Einheit unseres in Frieden und Freiheit wiedervereinten Landes markierte den Abschluss einer Entwicklung, die mit der Bürgerrechtsbewegung in Polen und anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks ihren Anfang genommen und mit dem neuen Wind, der aus Moskau wehte, Fahrt aufgenommen hatte. Die friedliche Revolution kam zustande, weil sich im Herbst 1989 Menschen in allen Regionen der DDR erhoben, ihre Angst überwanden und gleichsam die Spielregeln des Untertanen- und Unrechtsstaates außer Kraft setzten. Genau deshalb möchte ich in dieser Stunde zunächst ganz besonders an die Opfer der SED-Diktatur denken, an die, die ihr Leben bei Fluchtversuchen verloren hatten, wie auch an die, die benachteiligt, verfolgt, inhaftiert worden waren. Sie sollten wir nie vergessen, auch an einem Tag der Freude wie heute nicht. Im Herbst vor 30 Jahren nun versammelten sich Tausende Menschen zu Friedensgebeten in Kirchen und erhoben Forderungen nach Gewaltenteilung, Pressefreiheit und demokratischen Wahlen. Andere gaben ihre bisherige Existenz auf und riskierten die Flucht über Ungarn und die Tschechoslowakei. Hunderttausende wagten sich auf die Straße, demonstrierten friedlich für Freiheit und Demokratie – und brachten die Mauer zu Fall. Die Revolution konnte erfolgreich sein, weil mutige Bürgerinnen und Bürger auch die SED-Strukturen vor Ort entmachteten; Bürgerinnen und Bürger, die die lokalen Repräsentanten der DDR in großen und kleinen Städten in einen Dialog zwangen, dem diese nichts entgegensetzen konnten. Der friedliche Umsturz in der DDR konnte gelingen, weil sich viele Frauen und Männer, Junge und Alte, Arbeiter und Intellektuelle die Mündigkeit, die Thomas Mann so vermisst hatte, nicht mehr länger vorenthalten lassen wollten. Zugleich, meine Damen und Herren, markierte der 3. Oktober 1990 einen Beginn: den Beginn der großen Kraftanstrengung, die neu gegründeten Bundesländer in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht mit der bisherigen Bundesrepublik zu vereinen. In den 29 Jahren, die seither vergangen sind, wurde unglaublich viel erreicht. In West und Ost sind die Menschen mit ihrem Leben insgesamt zufriedener als zu jedem anderen Zeitpunkt nach der Vereinigung. Aber wir wissen auch, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Denn zur Bilanz nach 29 Jahren deutscher Wiedervereinigung gehört auch, dass sich die Mehrheit der Ostdeutschen in der Bundesrepublik als Bürger zweiter Klasse fühlt, wie repräsentative Umfragen zeigen. Danach halten weniger als 40 Prozent der Ostdeutschen die Wiedervereinigung für gelungen, bei Menschen unter 40 sind es sogar nur rund 20 Prozent. Weniger als die Hälfte ist mit der Demokratie in Deutschland zufrieden. Das bedeutet: Neben dem, was gelungen ist, müssen wir alle – in Politik und Gesellschaft – lernen zu verstehen, dass und warum die deutsche Einheit für viele Menschen in den ostdeutschen Ländern nicht nur eine positive Erfahrung ist. Wir alle – in Politik und Gesellschaft – müssen lernen zu verstehen, dass nicht schon allein mit einer verbesserten wirtschaftlichen Lage auch die Identifikation mit unserer Demokratie einhergeht. Wir müssen lernen zu verstehen, was es für den einzelnen Menschen bedeutete, als auf die Last der Teilung die Wucht der Einigung folgte. Schon einmal, meine Damen und Herren, haben wir hier in Kiel den Tag der Deutschen Einheit gefeiert, im Jahr 2006. Damals habe ich in meiner Rede davon erzählt, wie ich den Tag der Deutschen Einheit 1990 erlebt habe. Ich möchte darauf heute noch einmal kurz zurückkommen. Das Wetter in Berlin an jenem Tag vor 29 Jahren war herrlich. Ich machte mich auf zur Feier in der Philharmonie. Alle waren in Festtagsstimmung. Auf einmal mischte sich bei mir Freude mit Sorge, mit so etwas wie Beklemmung. Denn gerade hatte ich entdeckt, dass man über Nacht die DDR-Volkspolizisten in Westberliner Uniformen gekleidet hatte. Die Gesichter aber verrieten noch genau, jedenfalls für mich, woher sie kamen. Alle NVA-Offiziere, alle Volkspolizisten über Nacht in anderen Kleidern – aber über Nacht auch in einem anderen Denken und Fühlen? Für mich begann die deutsche Einheit also mit einem Kulturschock. An vieles, an fast alles hatten wir gedacht. Aber hatten wir auch ausreichend bedacht, dass der einzelne Mensch – und beileibe nicht nur Offiziere und Volkspolizisten, sondern wir alle, die wir in der DDR gelebt hatten – sein Denken, Fühlen und Erfahren nicht einfach an der Garderobe abgeben kann? Und dass er das vielleicht auch gar nicht will? Für mich und viele andere waren der Fall der Berliner Mauer 1989 und die deutsche Einheit 1990 Momente des Glücks, der Zuversicht, der Offenheit im umfassenden Sinne. Anderen machte die neue Offenheit auch Angst. Ich hatte den Eindruck, dass die DDR für sie so etwas wie ein Gerüst gewesen war, natürlich eng, aber eines, das doch irgendwie Halt zu geben schien. Der plötzliche Verlust dieses Gerüsts wurde als Einschnitt erlebt, der eher mit Skepsis verbunden war. Viele wurden arbeitslos und konnten sich dadurch mit ihren Fähigkeiten nicht so einbringen, wie sie es gerne wollten. Für wieder andere, die sich vor allem auf das Wagnis der Offenheit freuten, war dies mit der Notwendigkeit verbunden, ihre Heimatregion verlassen und in die westdeutschen Länder gehen zu müssen. Es machten sich viele aus den alten Bundesländern auf, um uns in den neuen Ländern zu unterstützen auch für sie ein durchaus mutiges Unterfangen. Für die Mehrheit der Menschen in den alten Bundesländern aber waren all die Umwälzungen etwas, das sie das lag ja in der Natur der Sache eher aus der Rolle eines Zuschauers betrachteten und nicht als jemand, der von den Ereignissen in seinem Leben elementar betroffen werden konnte auch wenn sie mit uns, wie in meiner Familie zum Beispiel, in all den Jahren der DDR Kontakt gehalten und uns konkret mit Paketen und Besuchen unterstützt hatten. Wo nun stehen wir heute, bald 30 Jahre später? Die staatliche deutsche Einheit sie ist vollendet. Die Einheit der Deutschen, ihr Einigsein – das war am 3. Oktober 1990 noch nicht vollendet, und das ist es bis heute nicht. Die deutsche Einheit ist also kein Zustand, einmal vollendet und abgeschlossen, sondern ein fortwährender Prozess, ein ständiger Auftrag; ein Prozess, der alle Deutschen betrifft, egal in welchem Bundesland sie leben. Bei der Einheit der Deutschen, dem Einigsein, geht es nicht darum, gleichsam Teile eines Objektes ein für alle Mal zusammenzufügen. Im Gegenteil. Wir sollten froh sein, dass das auch gar nicht funktioniert, weil es ja darum gehen muss, das Verbindende von 83 Millionen Subjekten, also individuellen Schicksalen, zu schaffen, zu erhalten und immer wieder stark zu machen. Der heutige Feiertag der Deutschen Einheit lädt also einerseits dazu ein zurückzublicken und neben dem Mut der DDR-Bürger auch die Staatskunst und die Weitsicht von Staatsmännern wie Willy Brandt, Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher voller Dankbarkeit zu würdigen. Andererseits lädt der Tag heute dazu ein, uns darüber zu verständigen, wie wir mit unseren jeweiligen Erfahrungen gemeinsam unsere Zukunft gestalten wollen. Es geht um den Zusammenhalt aller in unserem Land lebenden Menschen. Die friedliche Revolution in der DDR, meine Damen und Herren, fand statt, weil die Bürgerinnen und Bürger sich in ihrem Staat wenn wir es ganz schlicht sagen nicht zu Hause fühlten und dies 1989 nun endlich auch zum Ausdruck bringen konnten. Dieser Staat der Unfreiheit hatte seinen Bürgerinnen und Bürgern vier Jahrzehnte lang die Möglichkeit genommen, über wichtige Fragen ihres Lebens selbst entscheiden zu können und ja, auch das entscheiden zu müssen. Damit hatte er seinen Bürgerinnen und Bürgern, auch mir, auch die Möglichkeit genommen, an die eigenen persönlichen Grenzen gehen zu können, also erfahren zu können, was die oder der Einzelne tatsächlich konnte, wie weit die eigenen Fähigkeiten reichten, wo es wirklich der Staat war, der unseren individuellen Stärken die Grenzen setzte, und wo es in Wahrheit eigenes Unvermögen war. In gewisser Weise war es deshalb sogar manchmal bequem gewesen, auf den Staat verweisen zu können, wenn etwas misslungen war, statt über eigene Fehler nachzudenken. Der Staat als fast perfekte Entschuldigung für eigene Unzulänglichkeiten. So zu denken, war schon zu DDR-Zeiten eine Falle, in die man tappen konnte – auch ich habe mich dabei erwischt. Umso wichtiger ist es, präzise darüber nachzudenken, wie das Verhältnis von Bürger und Staat heute das heißt, unter den Bedingungen von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit aussieht. Denn ich beobachte, dass auch heute manche und zwar in ganz Deutschland die Ursache für Schwierigkeiten und Widrigkeiten vor allem und zuerst beim Staat und den sogenannten Eliten suchen. In ihrer Betrachtung steht der Staat dabei mehr oder weniger synonym für eine abgehobene Obrigkeit, verbunden mit sogenannten Eliten in der Politik, den Medien, der Wirtschaft, der Wissenschaft, denen man sowieso nichts glauben könne und die dem Einzelnen irgendwie nur im Wege seien. Setzte sich ein solches Denken durch, führte das ins Elend. Denn unser freiheitlich-demokratisch verfasster Staat das sind wir ja alle. Individuelle Freiheit ist niemals ohne individuelle Verantwortung zu haben. Freiheit ist immer Freiheit in Verantwortung. Freiheit ist Verantwortung des Einzelnen für eigene Entscheidungen, Verantwortung für die kleinen und großen Weichenstellungen des Lebens, Verantwortung dafür, die eigenen Grenzen zu suchen und damit auch dann zurechtzukommen, wenn etwas nicht so wie erhofft gelingt, ohne die Enttäuschung sofort dafür woanders abzuladen beim Staat, bei den sogenannten Eliten. Für die Bürgerinnen und Bürger aus der DDR galt 1990: Wir wollten die Freiheit und bekamen damit auch die Verantwortung. Wir konnten 1990 allenfalls in Ansätzen ahnen, dass Verantwortung zu übernehmen in gewisser Weise die Mühe der Freiheit ist. Die Mühe der Freiheit ist gleichsam die Kehrseite der Mündigkeit, über die wir zu Beginn nachgedacht haben. Sie ist der Kern der Demokratie. Und das gilt für uns alle, die wir in diesem Land leben. Natürlich ist vorneweg die Politik gefordert, Freiheit in Verantwortung für den Einzelnen lebbar zu machen. Dabei geht es um ganz konkrete, um praktische Politik im Alltag. Unser wiedervereintes Land ist heute in einer ganz anderen Situation als 1990. In vielen Feldern haben sich Ost und West angenähert. Ungleiche Lebensverhältnisse gibt es dennoch unverändert, besonders zwischen neuen und alten Ländern, aber auch zwischen Nord und Süd und innerhalb von Regionen, zwischen Stadt und Land. Während immer mehr Menschen in die Großstädte ziehen, haben ländliche Gebiete mit Überalterung und demografischem Wandel zu kämpfen. Während in den Ballungsräumen Wohnraum knapp und teuer ist und der Verkehr zunimmt, verschwindet Leben aus abgelegeneren Städten und Dörfern. Läden stehen leer. Es gibt kein schnelles Internet. Es wird schwieriger, einen Facharzt zu finden. Die Menschen machen sich deswegen Sorgen; sie fühlen sich abgehängt. Es ist Aufgabe der Politik, ihrer Vertreter und Repräsentanten, den Bürgerinnen und Bürgern freiheitliches Leben zu ermöglichen. Dazu werden regionale Vielfalt und bundesstaatliche Solidarität zusammengedacht: vom Küstenschutz über den Strukturwandel in den Steinkohle- und Braunkohleregionen bis zum Bund-Länder-Finanzausgleich. Bundesstaatliche Solidarität heißt, für gleichwertige Lebensverhältnisse auf faire Teilhabemöglichkeiten und gute Entwicklungschancen vor Ort zu achten: bei Maßnahmen ausreichender Gesundheitsversorgung, bei Neuansiedlungen von Behörden, beim flächendeckenden Ausbau von Breitband. Wenn es der Politik gelingt, unterschiedliche Lebensentwürfe zu ermöglichen, können sich die Menschen mit ihrer Heimatregion identifizieren, sich für sie verantwortlich fühlen und damit auch bereit sein, sich zu engagieren. Über Engagement entsteht Gemeinsinn. Wer sich selbst als wirksam erlebt im Kleinen, gewinnt Selbstvertrauen und zugleich Vertrauen in die Demokratie und ihre Handlungsfähigkeit. Aber umgekehrt gilt eben auch, dass die Demokratie ohne das Engagement der Demokraten, ohne die Bereitschaft der oder des Einzelnen, Verantwortung zu übernehmen, zum Scheitern verurteilt wäre. Und niemals darf konkretes politisches Handeln sei die Enttäuschung darüber auch noch so groß als Legitimation dafür akzeptiert werden, andere wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung auszugrenzen, zu bedrohen oder anzugreifen. Für eine lebendige Demokratie notwendig und zwar im Wortsinne Not-wendig ist Offenheit. Wenn wir jedoch die großen Fragen der Zeit am liebsten nur in einer Blase oder Echokammer diskutieren, in der wir uns ausschließlich selbst bestätigen, wenn außerdem sogenannte gefühlte Wahrheiten die Oberhand gegenüber den tatsächlichen Fakten bekommen, dann wird das zum Schaden für uns alle sein. Dann könnten wir keine tragfähigen Lösungen für die großen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte finden. In einer Welt, in der die Digitalisierung alle Lebensbereiche erfasst, in der Kriege und Terrorismus zu Flucht und Vertreibung führen und der Klimawandel die natürlichen Lebensgrundlagen bedroht. In einer Welt, in der kein Land allein die Herausforderungen der Zukunft bewältigen kann, in der wir mehr denn je multilateral statt unilateral denken und handeln müssen, global statt national, weltoffen statt isolationistisch, gemeinsam statt allein. Über die großen Herausforderungen unserer Zeit muss offen, lebendig und kontrovers diskutiert werden. Freilich, bei dieser Diskussion müssen die Spielregeln eingehalten werden. Sie sind in unserem Grundgesetz festgeschrieben. Es ist seit 70 Jahren die Grundlage unseres Zusammenhalts, dessen Geltungsbereich die DDR am 3. Oktober 1990 beigetreten ist. Die Werte des Grundgesetzes müssen jede Debatte in unserem Land bestimmen. Konkret heißt das: Ja zu freier Diskussion, ja zu harten Forderungen an die Politik und – im Geiste der Sozialen Marktwirtschaft – auch an Wirtschaft und Gewerkschaften. Nein zu Intoleranz, Nein zu Ausgrenzung, Nein zu Hass und Antisemitismus. Nein zum Leben auf Kosten der Schwachen und Minderheiten. Als Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie haben wir alle eine Verpflichtung, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Weltoffenheit immer wieder aufs Neue zu behaupten und zu sichern. Zu unserer Verpflichtung gehört, dass niemand, der öffentlich Verantwortung übernimmt auch nicht Politiker und Ehrenamtliche , um Leib und Leben fürchten muss. Wir müssen verstehen: Persönliche Freiheitsrechte, der Rechtsstaat und die Soziale Marktwirtschaft sie sind in unserem Staat des Grundgesetzes untrennbar miteinander verbunden. Wer ein Element davon infrage stellt, stellt das Ganze infrage. Wer den Staat gegen die persönliche Freiheit in Stellung bringt, handelt den Grundprinzipien der Demokratie zuwider. Wir können die Zukunft nur gut gestalten, wenn wir uns auch über unsere Ängste und Sorgen nur mit Respekt voreinander austauschen; wenn wir vor Augen haben, was jeder von uns mit seinen Erfahrungen beitragen kann; wenn wir um Lösungen konstruktiv ringen. Und das heißt, wenn wir bereit sind, uns auf Kompromisse einzulassen. Denn es ist falsch, im Kompromiss nur etwas Faules zu sehen, ihn gar als Verrat am eigentlich Richtigen zu schmähen. Im Kompromiss vergewissern wir uns, was wir gemeinsam haben und worauf wir aufbauen können. Ohne Kompromiss gibt es keine Gemeinsamkeit. Und genau darum geht es heute: um Gemeinsamkeit, um Einigkeit und Recht und Freiheit in unserem Land. Wenn wir uns dessen bewusst sind, können wir beides zusammenbringen: die Revolution von 1989 als historischen Glücksmoment unserer Nation auf der einen Seite, die Anerkennung unterschiedlicher Lebenserfahrungen – auch mit all dem Verlust von Lebensgewissheiten in der Zeit danach – auf der anderen Seite. Beides muss Platz haben im Gedächtnis unserer Nation, wahrgenommen werden und Anerkennung finden. Ich möchte zum Schluss noch einmal Thomas Mann zitieren. Er hat auch gesagt: „Phantasie haben heißt nicht, sich etwas auszudenken, es heißt, sich aus den Dingen etwas zu machen.“ Für mich bedeutet das: Nehmen wir einander wahr! Hören wir einander zu! Lernen wir aus unseren unterschiedlichen Erfahrungen! Bauen wir auf ihnen auf! Gestalten wir auf ihnen im besten Sinne phantasievoll unsere gemeinsame Zukunft! Lassen Sie uns deshalb heute den Tag der Deutschen Einheit mit einem bunten Fest feiern! Erfreuen wir uns an der Vielfalt unseres Landes! Herzlichen Dank!
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich der Verleihung des Deutschen Buchhandlungspreises 2019
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-der-verleihung-des-deutschen-buchhandlungspreises-2019-1679896
Wed, 02 Oct 2019 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Rostock
Kulturstaatsministerin
Kultur
Sie sind es, für die wir heute den roten Teppich ausgerollt haben. Sie sind es, die heute im Rampenlicht stehen. Doch mit Blick auf den morgigen Tag der Deutschen Einheit und so nahe an der Rostocker Marienkirche, im Herbst 1989 Treffpunkt für Oppositionelle, will ich zunächst einen ganz speziellen Buchliebhaber gewissermaßen mit auf die Bühne holen: einen Buchliebhaber, dessen Leseleidenschaft möglicherweise half, der Friedlichen Revolution den Boden zu bereiten – den heimlichen Leser, die heimliche Leserin nämlich: Menschen, die sich lesend der Unterdrückung des freien Meinungsaustauschs widersetzten. In der DDR hat es offenbar zahlreiche solche heimlichen Leserinnen und Leser gegeben. Der lange in Ost-Berlin beheimatete Schriftsteller Jurek Becker schrieb einmal über sie: „In einer Umgebung, in der es keine auch nur annähernd freien Medien gab, (…) in der jede von der Parteilinie abweichende Ansicht kleinlich behindert wurde, in einer solchen Umgebung blieben Bücher der letzte öffentliche Ort, an dem noch Meinungsverschiedenheit ausgetragen wurden. Das machte die Leute begierig auf Bücher, genauer – auf die Bücher der Abweichler.“ In einer Demokratie ist das aktuelle Buchsortiment zum Glück nicht der einzige oder gar „der letzte öffentliche Ort“ gesellschaftlicher Debatten- und Streitkultur. Und doch bleibt das Buch ein unverzichtbares Medium kontroverser Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Ob Sachbuch, ob Belletristik, ob Poesie: Bücher laden dazu ein, Dinge anders zu sehen. Wer liest, öffnet die eigene Welt-Anschauung für Abweichendes: für fremde Empfindungen, andere Erfahrungen, neue Erkenntnisse. Sie, verehrte Buchhändlerinnen und Buchhändler, spielen dabei eine ganz entscheidende Rolle: Während die Algorithmen der Online-Händler Abweichendes eher ausblenden und Ähnliches empfehlen (ich sage nur: „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch…“), lotsen Sie Leserinnen und Leser über das von Bestseller-Listen abgesteckte Leseterrain hinaus auf geistiges Neuland – sei es im persönlichen Beratungsgespräch, sei es durch Veranstaltungen, etwa durch Lesungen auch unbekannter Autorinnen und Autoren, sei es durch die liebevoll kuratierten Präsentationsflächen in Ihren Läden. Dort türmen sich eben nicht nur und nicht in erster Linie die Bestseller; dort findet sich auch so manches publizistische Kleinod, das in der Flut der zuletzt rund 71.000 Neuerscheinungen pro Jahr unterginge, wenn Sie, liebe Buchhändlerinnen und Buchhändler, dem Diktat der Verkaufszahlen, der finanziellen Erträge nicht Ihr Gespür für Lesenswertes, für geistige Erträge entgegensetzten. Auf diese Weise tragen Sie dazu bei, dass literarische und publizistische Vielfalt und mit ihr Meinungsvielfalt und Demokratie gedeihen können – in geistigen Schatzkammern, die für die kulturelle Grundversorgung auch außerhalb der Großstädte von immenser Bedeutung sind. Weil es angesichts veränderter Lese- und Konsumgewohnheiten im digitalen Zeitalter weder einfach noch selbstverständlich ist, solche Orte am Leben zu erhalten, weil das Mut, Kreativität und hohes persönliches Engagement erfordert, habe ich – mittlerweile zum fünften Mal – den Deutschen Buchhandlungspreis ausgelobt. Denn so wie Sie, liebe Buchhändlerinnen und Buchhändler, will auch ich nicht tatenlos zusehen, wie mit den inhabergeführten Buchhandlungen Keimzellen der Debattenkultur aus dem öffentlichen Leben verschwinden. Konstruktiver Streit und demokratische Verständigung brauchen Weitblick und Wissen, das sich in einem Buch anders entfalten kann als in einem Tweet, einem Post oder auch einem Zeitungsartikel. Demokratie braucht Querdenker und Freigeister, deren Werke wir in Ihren Regalen finden – und in den Programmen unabhängiger Verlage. Deshalb habe ich, das nur nebenbei, nach dem Vorbild des sehr erfolgreichen Deutschen Buchhandlungspreises auch einen Deutschen Verlagspreise ausgelobt, der den Mut zum verlegerischen Risiko würdigt und den ich in zwei Wochen erstmals verleihen werde. Sie, liebe Buchhändlerinnen und Buchhändler, will ich mit allem, was in meiner Möglichkeit steht, weiterhin dabei unterstützen, in der Konkurrenz mit Online-Anbietern Ihre Stärken auszuspielen und sich mit innovativen Geschäftsmodellen gegen den scharfen Wind des Wettbewerbs zu wappnen. In diesem Sinne hoffe ich, dass die Gütesiegel und Preise im Wert von insgesamt 850.000 Euro, mit denen wir in diesem Jahr insgesamt 118 Buchhandlungen auszeichnen, sich für Sie auch in der wichtigsten Währung des digitalen Zeitalters auszahlen: in öffentlicher Aufmerksamkeit, die vielleicht auch ins Internet abgewanderten Leserinnen und Leser wieder neugierig auf analoge Buch-Begegnungen macht. Als Ausdruck der Wertschätzung dürfen Sie jedenfalls die Arbeit der Jury verstehen: Jede einzelne Bewerbung sorgfältig zu prüfen, erfordert neben Zeit und Mühe auch Expertise und Enthusiasmus. Herzlichen Dank, liebe Frau Kegel, herzlichen Dank allen Jury-Mitgliedern für die engagierte Arbeit! Besonders freut mich, dass mehr als die Hälfte der 118 Buchhandlungen, die wir heute auszeichnen, den Preis zum ersten Mal bekommt: Das zeigt: Die Lesekultur lebt, meine Damen und Herren. Bücher schmuggeln und sie heimlich lesen wie einst in der DDR – das muss im wiedervereinten Deutschland jedenfalls zum Glück niemand mehr. Mit dem 30jährigen Jubiläum des Mauerfalls feiern wir in wenigen Wochen einen der glücklichsten Momente deutscher und auch europäischer Geschichte: den Triumph der Demokratie über die Diktatur, den Triumph der Freiheit über Unfreiheit und Unterdrückung – den Triumph jener Werte, für die vor 30 Jahren Hundertausende in Berlin, Leipzig und anderen Städten der DDR – auch hier in Rostock – mutig ihre Stimme erhoben. Und doch haben mehr als 80 Prozent der Menschen in Deutschland laut aktuellem Deutschlandtrend Angst vor einer Spaltung der Gesellschaft. Und doch entstehen im Ab- und Ausgrenzen des Eigenen gegen das (noch oder vermeintlich) Fremde neue Mauern – sichtbar im Erstarken von Extremismus, Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus; in der Abwertung anderer Sicht- und Lebensweisen als der eigenen; in der schwindenden Bereitschaft, den Anderen in seinem Anderssein zu ertragen – und sei es schlicht als Gegenüber in einer sachlichen Auseinandersetzung. In einer solchen Umgebung kann man die Vielfalt in Ihren Buchhandlungen, meine Damen und Herren, auch als Plädoyer für Gedankenfreiheit und Gesprächsoffenheit, für Streitkultur und Verständigungsbereitschaft lesen. Bleiben Sie in diesem Sinne Verteidigerinnen und Verteidiger unserer Demokratie! Herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung mit dem Deutschen Buchhandlungspreis.
In Ihrer Rede würdigte die Kulturstaatsministerin die Buchhändlerinnen und Buchhändler als Lotsen für Leserinnen und Leser über das von Bestseller-Listen abgesteckte Leseterrain hinaus auf geistiges Neuland. „Auf diese Weise tragen Sie dazu bei, dass literarische und publizistische Vielfalt und mit ihr Meinungsvielfalt und Demokratie gedeihen können“, so Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich der Verleihung des Dietrich-Oppenberg-Medienpreises 2019
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-der-verleihung-des-dietrich-oppenberg-medienpreises-2019-1679422
Mon, 30 Sep 2019 16:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Es ist noch keine 250 Jahre her, dass kirchliche und staatliche Autoritäten, Pädagogen und sogar Aufklärer eindringlich vor einer „Lesesucht“ warnten. Die „Romanleserey“ führe, so wurde behauptet, zu allen möglichen seelischen und körperlichen Beschwerden − beispielsweise zu Schlaffheit und Verstopfung, Beeinträchtigung der Geschlechtsteile, Unterdrückung des Gewissens, Lebensüberdruss und ja, sogar zum frühen Tod. Frauen galten als besonders gefährdet: Offenbar hatten die Männer Sorge, ihre Gattinnen könnten über der Romanlektüre ihre häuslichen Pflichten vernachlässigen oder gar auf den Gedanken kommen, ein anderes Leben führen oder die Welt verändern zu wollen. Zu Recht – wie wir mittlerweile wissen. Heute nährt die damals gefürchtete subversive Kraft des Lesens unsere Debattenkultur und damit unsere Demokratie. Wer liest, lernt andere Perspektiven und Haltungen kennen. Wer liest, denkt nach, hinterfragt, vergleicht, wägt ab, urteilt und zieht Schlüsse. Wer liest, lernt die Kraft der Worte zu nutzen, zu kontern und zu argumentieren. Lesen ist ein Weg zur Selbstbestimmung und Veränderung. Ja, eine vitale Demokratie ohne Leserinnen und Leser ist kaum vorstellbar… Deshalb freue ich mich, dass die Stiftung Lesen und die Stiftung Presse-Haus NRZ mit dem Dietrich-Oppenberg-Medienpreis journalistische Beiträge auszeichnet, die das Bewusstsein für die Bedeutung des Lesens schärfen. Vorbildlich ist allein schon die Arbeit der Jurymitglieder, die für die Auslese der besten Beiträge sicherlich viel zu lesen hatten. Nun, wer liest, wird schlau − das erfährt man beim Lesen der nominierten Beiträge übrigens nicht nur theoretisch und (wie beispielsweise in Bettina Gartners Artikel „11 Gründe, warum Lesen klug macht“) faktenreich begründet; man kann es auch unmittelbar selbst erleben: Die Beiträge entfalten den Kosmos des Lesens mit all seinen Facetten und Ausprägungen, mit all seinen Entwicklungen und Konsequenzen im digitalen Zeitalter. Und auch wenn es das gedruckte Buch im Wettlauf mit der digitalen Konkurrenz nicht leicht hat, so bestätigt doch auch mancher Beitrag, was Paul Ingendaay in seinem FAZ-Artikel „Ungefesselte Phantasie“ als Selbstverständnis der Leser formuliert hat, nämlich, dass „das Lesen unendlich und unzerstörbar ist“. Vor allem aber zeigen sie – und das freut mich ganz besonders −, dass es immer noch Menschen mit einer ausgeprägten Lesesucht gibt: Liebe nominierte Journalistinnen und Journalisten, Sie haben die Vorzüge und Facetten des Lesens mit so viel Überzeugungskraft, Fachkenntnis und sprachlicher Präzision beschrieben, dass man fast vermuten möchte, Sie gehören allesamt zu den „Buchmenschen“, die „im stehen, sitzen, liegen lesen, ihre Brut vernachlässigen, ihre Haltestelle verpassen, die innerlich überbevölkert sind“. Mit diesen ironischen − vermutlich durchaus auch selbstironischen – Worten hat Roger Willemsen leidenschaftliche Viel-Leser beschrieben – und nebenbei selbst den Beleg dafür geliefert, dass diese vielleicht etwas schrulligen Eigenschaften der „Buchmenschen“ keineswegs eine große journalistische Karriere behindern, sondern dass Leseleidenschaft geradezu Voraussetzung für Qualitätsjournalismus ist. Das gilt sowohl für das journalistische Angebot – für diejenigen, die recherchieren und schreiben -, als auch für die Nachfrage nach Qualitätsjournalismus. Wer Bücher liebt, wird auch eine anspruchsvolle Zeitung, wird Analysen und Kommentare, Reportagen, und Hintergrundberichte eher zu schätzen wissen (und dafür zu zahlen bereit sein), als jene, die unter „Lektüre“ das Scrollen durch Tweets und Posts verstehen. Die Lesekultur zu fördern, ist deshalb auch eine Investition in die Zukunft journalistischer Qualität und Vielfalt – und damit in das zuverlässigste Bollwerk gegen Populismus, Vorurteile und Manipulation. Deshalb habe ich mir neben der Gestaltung fairer Rahmen- und Wettbewerbsbedingungen für Publizistinnen und Publizisten (Stichwort Urheberrecht, um nur ein Beispiel zu nennen) auch die Stärkung der Medienkompetenz zur Aufgabe gemacht. In diesem Sinne unterstützen wir beispielsweise die Stiftung Lesen bei der Weiterentwicklung der Leseförderung und der Vermittlung von Medienkompetenz. Passend zum Anlass, meine Damen und Herren, passend zur Thematik Lesen und der subversiven Kraft des geschriebenen Wortes will ich neben journalistischen Kronzeugen auch noch einen literarischen Kronzeugen heranziehen. In Ray Bradburys dystopischem Roman „Fahrenheit 451“ gelten Bücher als Gefahr für systemkonformes Denken und werden als Zeugnisse individuellen Denkens verbrannt. Dort heißt es (ich zitiere): „Sehen Sie nun, warum Bücher gehasst und gefürchtet werden? Sie zeigen das Gesicht des Lebens mit all seinen Poren. Der Spießbürger will aber nur wächserne Mondgesichter ohne Poren, ohne Haare, ohne Ausdruck.“ Mehr noch als für den Spießbürger gilt das für den Autokraten und Demokratieverächter. Dass Journalistinnen und Journalisten, Schriftstellerinnen und Schriftsteller – jene also, die „das Gesicht des Lebens mit all seinen Poren“ zeigen, vielerorts in ihrer Arbeit behindert, verfolgt, verhaftet, gar ermordet werden, ist das Eingeständnis, dass die Kraft der Worte stärker sein kann als autoritäre Macht. Verfolgten Journalistinnen und Journalisten, Schriftstellerinnen und Schriftstellern bieten wir in Deutschland Schutz und Zuflucht: Ich bin froh, dass wir mit Mitteln aus meinem Kulturetat entsprechende Programme des PEN und seit kurzem des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit in Leipzig (ECPMF) ermöglichen können. Die Freiheit des Wortes ist kein Besitz, sondern eine Verpflichtung: Sie braucht dauerhaft das Engagement überzeugter Demokratinnen und Demokraten – nicht zuletzt für eine unabhängige Presse, für publizistische und literarische Vielfalt und für eine Lesekultur, die diese Bezeichnung verdient. Ich danke Ihnen, liebe nominierte Journalistinnen und Journalisten, dass Sie mit Ihren journalistischen Mitteln Begeisterung für das Lesen wecken und die Kraft des Wortes anschaulich machen. „Man muss keine Bücher verbrennen, um eine Kultur zu zerstören“, sagte Ray Bradbury, „es reicht die Leute dazu zu bringen, sie nicht mehr zu lesen.“ Kräfte, die daran mitwirken, gibt es genug. Umso wichtiger ist es, dagegen zu halten: Tun Sie das weiterhin, nicht zuletzt im Sinne unserer demokratischen Streitkultur. Herzlichen Glückwunsch zur Nominierung – und den Preisträgerinnen und Preisträgern zur Auszeichnung mit dem Dietrich-Oppenberg-Medienpreis.
In ihrer Rede dankte die Kulturstaatsministerin den nominierten Journalistinnen und Journalisten, dass sie mit Ihren journalistischen Mitteln Begeisterung für das Lesen wecken und die Kraft des Wortes anschaulich machen. „Die Lesekultur zu fördern, ist deshalb auch eine Investition in die Zukunft journalistischer Qualität und Vielfalt – und damit in das zuverlässigste Bollwerk gegen Populismus, Vorurteile und Manipulation“, so Monika Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Festakt der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag zum Tag der deutschen Einheit 2019 am 27. September 2019 in Erfurt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-festakt-der-cdu-fraktion-im-thueringer-landtag-zum-tag-der-deutschen-einheit-2019-am-27-september-2019-in-erfurt-1676554
Fri, 27 Sep 2019 18:36:00 +0200
Erfurt
keine Themen
Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin, liebe Frau Dietzel, sehr geehrter Mike Mohring, sehr geehrte Abgeordnete des Thüringer Landtages, liebe Christine Lieberknecht und lieber Bernhard Vogel als frühere Ministerpräsidenten, lieber Christian Hirte – Beauftragter für die neuen Bundesländer und Kollege aus dem Deutschen Bundestag –, liebe Lilly Krahner, sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich sehr, heute hier bei Ihnen im Thüringer Landtag zu sein. Wir erinnern heute an den 3. Oktober 1990 als den Tag der Deutschen Einheit, also an den Moment, an dem die Deutschen „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet“ haben. So formuliert es die Präambel unseres Grundgesetzes und zählt die 16 Bundesländer Deutschlands auf, darunter natürlich auch den Freistaat Thüringen. In freier Selbstbestimmung ist den Deutschen der Weg zur Einheit gelungen. Jahrzehnte lang war daran nicht zu denken. Es gab keine Selbstbestimmung, nicht nach innen und nicht nach außen. Wenn wir daran erinnern, vergessen wir zugleich niemals, was zuvor geschehen war. Denn in der Zeit des Nationalsozialismus war mit dem von Deutschland begangenen Zivilisationsbruch der Shoa und dem von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg unendliches Leid über Europa und die Welt gebracht worden. Diese Schrecken endeten am 8. Mai 1945. Für die Deutschen, die in den damals von den drei Westalliierten besetzten Zonen lebten, sollten Freiheit und Demokratie folgen, nicht jedoch für die Deutschen in der damaligen sowjetischen Besatzungszone, also auch nicht für die Thüringerinnen und Thüringer. Im Juli 1945 wurde Thüringen Teil der sowjetischen Besatzungszone und danach der DDR, ab 1952 mit den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl. Die deutsche Teilung sollte für 40 Jahre ein scheinbar unabänderliches Faktum werden. Gerade in Thüringen schlug sie schwere Wunden. Jahrhundertelang im Zentrum des deutschen Reichs und seiner Vorläufer, lag es plötzlich am Rand. Ab 1952 wurde die innerdeutsche Grenze von der DDR-Regierung immer hermetischer abgeriegelt und damit auch die Grenze von Thüringen zu den westlichen Bundesländern, die mit einer Länge von 750 km mehr als die Hälfte der gesamten innerdeutschen Grenze ausmachte. Ich denke, das wissen sehr viele Menschen in Deutschland heute nicht. Diese Grenze trennte Familien, Nachbarn und Freunde. Menschen, die in der Nähe der Grenze lebten, wurden zwangsumgesiedelt. Ganze Dörfer wurden abgerissen. Wer die Grenze überwinden wollte, musste damit rechnen, erschossen zu werden. Für das Thüringer Gebiet wurden über hundert Todesopfer gezählt. Besonders deutlich wurde die Brutalität der Teilung im Dorf Mödlareuth, das seit Jahrhunderten aus einem bayerischen und einem thüringischen Teil bestanden hatte. Die im Laufe der Zeit zu einer Mauer ausgebauten Grenzanlagen führten mitten durch den Ort und trennten eine gewachsene Gemeinschaft. Klein-Berlin – so wurde der Ort genannt. Daneben stand die Gefahr einer militärischen Konfrontation der Supermächte. Über 51.000 sowjetische Soldaten in beinahe 150 Standorten waren in Thüringen stationiert. Die Folgen eines Krieges wären gerade für diesen Teil Deutschlands verheerend gewesen. Auch nach innen verhinderte die DDR-Regierung demokratische Selbstbestimmung. Verfolgung von Regimekritikern, Enteignung von Unternehmern, Zwangskollektivierungen der Bauern – viele Menschen haben das erlebt. Zeigte sich Widerstand, wurde er im Keim erstickt. Auch in Thüringen gab es am 17. Juni 1953 Proteste gegen die SED-Staatsführung, und zwar nicht nur in den Städten, auch in Betrieben, auf Dörfern, in Versammlungen, Kneipen, Schulen und Bahnhöfen. Der Aufstand wurde nach kurzer Zeit niedergeschlagen, aber als Trauma wirkte er fort. Er wirkte fort bis in den Herbst 1989, als mutige Bürgerinnen und Bürger wieder auf die Straße gingen und die DDR ins Wanken brachten – nicht nur in Leipzig und Berlin, sondern auch in vielen Städten und Dörfern Thüringens. Die friedliche Revolution kam zustande, weil sich Menschen in allen Regionen der DDR erhoben und ihre Angst überwanden. Es begann sichtbar mit den Kommunalwahlen im Mai 1989. Über den Sommer und dann ab Mitte September fanden sich in den ersten Orten Menschen zusammen, um in Friedensgebeten auch über Reformen in der DDR zu diskutieren, Forderungen nach Gewaltenteilung, Pressefreiheit und demokratischen Wahlen zu stellen. Die Kirchen boten damals einen wichtigen Schutzraum – mit der starken evangelischen Verwurzelung des Landes wie gleichermaßen auch der katholischen Prägung in Regionen des Eichsfeldes und südlich von Eisenach. Wir müssen uns erinnern: Schon diese Veranstaltungen in geschützten Räumen waren eine Provokation für das DDR-Regime; und sie erforderten großen Mut. Angesteckt von den Ereignissen in anderen Teilen der DDR begannen auch in Thüringen ab Mitte Oktober zunächst Hunderte, dann Tausende auf der Straße zu demonstrieren. Sonneberg, Gera, Heiligenstadt, Eisenach, Nordhausen, Sömmerda, Rudolstadt – all diese Gemeinden und viele mehr waren Orte der friedlichen Revolution. Als am Abend des 9. November 1989 in Berlin die Mauer fiel, öffneten sich in derselben Nacht auch die Grenzübergänge nach Hessen und Bayern. Buchstäblich über Nacht verlor der Eiserne Vorhang seine Undurchdringlichkeit. Die Revolution konnte erfolgreich sein, weil sukzessive auch die Strukturen der SED und der Staatssicherheit vor Ort entmachtet wurden. Ich möchte an die Besetzung der Stasizentrale hier in Erfurt durch engagierte Bürgerinnen und Bürger am 4. Dezember 1989 erinnern. Dicker Rauch quoll aus dem Schornstein, so berichteten Zeitzeugen später. Die Bürgerinnen und Bürger vermuteten zu Recht, dass die Mitarbeiter der Staatssicherheit damit begonnen hatten, Akten zu vernichten. Beherzt gelang es einigen Mutigen, das Gebäude zu besetzen und die Vernichtung der Akten der Staatssicherheit zu stoppen. Ähnliches geschah in Suhl am Tag darauf. Das hatte Signalwirkung für andere Bezirksstädte der DDR. Der Staatssicherheit wurde der Schrecken genommen. Mit der friedlichen Revolution öffnete sich das Tor zur Freiheit und zur Selbstbestimmung. Darauf konnten visionäre und tatkräftige Politiker wie Helmut Kohl aufbauen und mit Beharrlichkeit und Verhandlungsgeschick die Deutsche Einheit herbeiführen. Aber sie konnten auf dem aufbauen, was hier passierte. Vergegenwärtigt man sich heute die Ereignisse von damals, so fällt eines auf: Zu den Forderungen, Wünschen und Zielen der Wende in dieser Region gehörte neben Freiheit und Demokratie sehr oft auch der Wunsch nach einer Wiedergründung des Landes Thüringen. Denn trotz der Auflösung Thüringens im Jahre 1952 war das Landesbewusstsein bei vielen Menschen nicht untergegangen. Die Gleichheitsideologie und der starke DDR-Zentralismus konnten das nicht aus der Welt schaffen. Wie konnte das sein? – Wer sich nur ein wenig mit dem Land und seinen Menschen beschäftigt, erkennt, dass es hier immer schon eine starke lokale und regionale Identität gab. Gewiss bestand Thüringen über die letzten Jahrhunderte nicht als staatliche Einheit, sondern vielmehr als sprichwörtlicher Flickenteppich aus verschiedenen kleinen Fürsten- und Herzogtümern und preußischen Gebieten. Diesen starken lokalen Bezug hat sich Thüringen bis heute bewahrt. Deswegen kann es nicht überraschen – und das ist das Werk der CDU –, dass zum Beispiel eine Kreisgebietsreform nicht gegen den Willen der Bevölkerung von oben durchgesetzt werden kann und sich örtlicher Bürgersinn immer wieder als stärker erweist. Darauf können die Thüringer stolz sein. Mit dem Beharren darauf, dass Strukturen lokal verankert sein müssen, hat die CDU die Identität Thüringens gestärkt. Auf diesen Wurzeln können die jüngeren Leute, wie uns von Lilly Krahner heute gesagt wurde, aufbauen und jetzt ihre Stimme erheben. Thüringen hat neben allem, was es regional hat und worauf man stolz sein kann, auch ganz Deutschland verbindende Traditionen gegeben, vor allem in Sprache und Kultur. Maßgebliche Impulse gingen von hier aus. Martin Luther hat in Erfurt studiert. Seine Bibelübersetzung auf der Wartburg war ein Meilenstein der Reformation. Johann Sebastian Bach war gleich an mehreren Thüringer Orten aktiv und begründete hier sein musikalisches Werk von universeller Geltung. Und wer könnte über Thüringen reden, ohne Goethe zu erwähnen? Ohne ihn, ohne Schiller, Herder, Wieland wäre Deutschland als Kulturnation kaum denkbar. Leitwerke der deutschen Literatur sind in wenigen Jahrzehnten ausgerechnet in Weimar, der kleinen Residenzstadt an der Ilm entstanden. Von Goethe ist überliefert, dass es ihn amüsiert hat, wenn auswärtige Gäste von der geringen Größe Weimars überrascht waren. Unter der engagierten Regentschaft der kunstsinnigen Herzogin Anna Amalia hatte sich das Städtchen mit damals wohl 6.000 Einwohnern in ein Zentrum des Geisteslebens und der Kultur entwickelt. Ich finde, das passt gut zu Thüringen insgesamt. Andere Länder mögen größer sein, aber in Lebendigkeit, Engagement und Innovation stehen die Menschen hier anderen in nichts nach. In kultureller Hinsicht ist Thüringen also so etwas wie eine Großmacht und wirtschaftlich ein frühes Zentrum vor allem mittelständischer Industrieproduktion, aber auch von Unternehmen wie den Carl-Zeiss-Werken in Jena. Es ist kein Wunder, dass die Thüringerinnen und Thüringer in allen Zeiten daraus eine eigene Identität entwickeln und bewahren konnten. Nur die politische Einheit blieb ihnen lange verwehrt. Zwar hatte es bereits nach 1920 ein aus den früheren Fürsten- und Herzogtümern zusammengeschlossenes Land Thüringen gegeben – ich nehme an, dass Sie im nächsten Jahr daran erinnern werden –, aber nicht zuletzt die preußische Stadt Erfurt durfte nicht dazu gehören. Das war erst 1990 möglich. Nun konnten die Thüringerinnen und Thüringer ihr Selbstbestimmungsrecht wirklich ausüben und sich in einem freien Land zusammenschließen. Die Einheit Deutschlands war auch die Geburtsstunde des neuen Freistaates Thüringen. Im Übrigen ist es eines der vielen Verdienste der CDU in diesem Land, auch bei dieser Frage vorneweg gegangen zu sein. Denn bereits am 20. Januar 1990 trafen sich in Weimar Delegierte aus den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl zum ersten Landesparteitag und beschlossen die Wiedergründung des CDU-Landesverbandes Thüringen. Bei der Wahl zur freien Volkskammer, der Kommunalwahl und der ersten freien Landtagswahl am 14. Oktober 1990 gelang es der CDU, mit Abstand stärkste Kraft zu werden. Damals lagen unglaubliche Herausforderungen vor der neuen Landesregierung. Die schier unglaubliche Aufbauleistung kann sich sehen lassen. Obwohl viele hier in diesem Raum dabei waren, kann man sich manchmal gar nicht mehr so richtig vorstellen, vor welchen fast unüberwindbaren Bergen man gestanden hat. Aber der Wille kann Berge versetzen, wie wir wissen. Das hat man damals getan – in der Politik, in der Verwaltung. Menschen haben ihren Arbeitsplatz verlassen und sind Bürgermeister oder Landräte geworden und haben sich in die Politik eingebracht. Niemand wusste, wie es weitergeht und wie es ausgehen würde. In den Unternehmen, den Kirchen, den Gewerkschaften, der Wissenschaft und in vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen wurde angepackt und ein neuer Weg eingeschlagen. Natürlich möchte ich neben all denen aus Thüringen, die angepackt haben, einen ganz besonders erwähnen, nämlich Bernhard Vogel. Nach einer langen politischen Laufbahn in Rheinland-Pfalz ließ er sich 1992 in die Pflicht nehmen und wurde Ministerpräsident von Thüringen. Dieses Amt übte er bis 2003 aus. Es gibt so viele Berichte über gelungenes und weniger gelungenes westdeutsches Engagement in den damaligen neuen Ländern. Bernhard Vogel ist auf jeden Fall ein Beispiel für besonders gelungenes Engagement. Zu Recht hat die CDU-Fraktion im Landtag ihren Sitzungssaal nach diesem Ausnahmepolitiker benannt. Der Schwerpunkt in Bernhard Vogels Amtszeit war die Bewältigung der Folgen der deutschen Teilung, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich Bernhard Vogel zum ersten Mal begegnete. Er konnte unglaublich gut zuhören. Er trat trotz seiner großen politischen Erfahrung nicht als einer auf, der alles wusste, sondern als einer, der vieles wusste, aber auch neugierig auf das war, was er nicht wissen konnte. Das war zu dieser Zeit auch wirklich wichtig, damit Thüringen ein starkes neues Bundesland werden konnte. Wir können sehen, was erreicht wurde: unglaublich viel in den letzten 30 Jahren. Wir sollten uns trotz allen Problemen den Stolz nicht nehmen lassen. Wer nicht an sich selbst glaubt, wer denkt, dass man nur noch über die Fehler diskutieren müsse, der wird die Zukunft nicht meistern können. Deshalb müssen wir gerade auch mit Blick auf die, die es gar nicht mehr erlebt haben, weil sie jünger sind, sagen: Dass die historischen Stadtkerne saniert sind, ist nicht selbstverständlich; dass die wunderschöne Natur und Umwelt nicht mehr verschmutzt ist, dass die kulturelle Vielfalt wieder sichtbar wird, dass jedes Jahr mehr und mehr Besucherinnen und Besucher nach Thüringen kommen, all das ist nicht selbstverständlich. Dass Thüringer Schülerinnen und Schüler – da bin ich als Mecklenburg-Vorpommerin ein bisschen neidisch – immer zu den bestgebildeten gehören, weil sie hier ordentlichen Schulunterricht haben und die Schulen ordentlich funktionieren, darauf können Sie stolz sein. Und das sollten Sie sich auch weiterhin erhalten. Sie werden zwar auch Schulen kennen, die nicht ordentlich funktionieren, aber im gesamtdeutschen Vergleich schneiden Sie immer sehr gut ab. Natürlich gibt es auch Schattenseiten. Diese Schattenseiten sehen wir auch in strukturellen Unterschieden. Christian Hirte weiß, wovon er spricht, wenn er sagt, dass wir bis heute in den neuen Bundesländern nur 75 Prozent der Wirtschaftskraft der alten Bundesländer haben. Wenn man sich die Erbschaftsmöglichkeiten von Baden-Württembergern auf der einen und von Thüringern und Sachsen auf der anderen Seite anschaut, dann stellt man fest, dass es dabei immer noch einen großen Unterschied gibt. Wenn man sich überlegt, welche demografischen Probleme wir haben, wenn wir uns erinnern, wie viele Menschen in den 90er Jahren die neuen Bundesländer verlassen haben, um ihr Glück in Bayern, Baden-Württemberg und anderswo zu suchen, dann müssen wir heute den Bayern sagen: Seid stolz darauf, dass ihr so viele Thüringer, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und andere habt; denn ohne sie würdet ihr gar nicht so gut dastehen. Aber wir freuen uns natürlich auch über jeden, der zurückkommt. Natürlich gibt es Brüche in den Biografien. Ich und jeder hier in diesem Raum, wir kennen so viele Menschen, die in den 90er Jahren gern sehr viel mehr mit angepackt hätten, die aber einfach wegen der Misswirtschaft der ehemaligen DDR ihren Arbeitsplatz verloren haben und sich nicht so einbringen konnten, wie sie es wollten. Für mich das lebendigste Beispiel ist, dass zwölf Prozent der Menschen in der DDR in der Landwirtschaft gearbeitet haben. Mit dem Tag der Wirtschafts- und Währungsunion waren es noch ein bis drei Prozent, die in diesem Bereich arbeiten konnten. Denen konnte man nicht sagen: Werdet doch mal schnell Ingenieur oder tut mal dieses oder jenes. Da sind einfach auch Träume zerplatzt. Das darf man nicht vergessen. Aber, meine Damen und Herren, bei allen Unterschieden zwischen den neuen und den alten Bundesländern, über die wir sprechen müssen und für die sich die Menschen aus den alten Bundesländern interessieren müssen, geht es heute doch im Kern, zum Beispiel in unserer Arbeit als Politiker, darum, gemeinsam die Zukunft Deutschlands zu gestalten; auch die Zukunft der Kinder, die soeben gesungen haben. Wenn wir ihnen erzählen, dass wir zwar vieles geschafft haben, dass es in den 90er Jahren ganz großartig war, aber dass wir irgendwann zwischen 2015 und 2020 die Puste verloren haben und nicht mehr den Mut hatten, weiterzumachen, nicht mehr daran geglaubt haben, dass all das, was gelungen war, fortgeführt werden könnte, dann würden wir uns an dieser Generation versündigen. Wir haben eine Pflicht, für die Kinder und Enkel zu arbeiten und auf dem aufzubauen, was gelungen ist. Wir können heute konstatieren, dass es natürlich auch in den alten Bundesländern Regionen gibt, in denen die Entwicklung nicht so einfach ist, wie die Menschen dort es sich erträumen. Gerade auch deshalb liegt die Chance aus meiner Sicht darin, die gemeinsame Zukunft Deutschlands gemeinsam zu bauen. Jeder bringt seine Erfahrungen und seine Biografie mit ein. Deshalb ist ein zentrales Projekt der Bundesregierung das Thema der gleichwertigen Lebensverhältnisse in allen Teilen Deutschlands. Das gilt für Ost und West, das gilt aber auch für Nord und Süd, das gilt für ländliche Räume und Ballungsgebiete. Wir haben dazu Handlungsempfehlungen beschlossen, die wir gezielt umsetzen werden. Dabei ist ein wichtiger und für mich gerade auch mit Blick auf die neuen Länder sehr entscheidender Punkt, dass wir die Wirtschaftsförderung in Zukunft so ausrichten werden, dass sie auch die demografischen Komponenten mit einbezieht. Das heißt, dass es dort, wo die Bevölkerung im Durchschnitt älter ist, mehr wirtschaftliche Förderung und mehr Angebote für junge Leute gibt. Solche Regionen gibt es sehr häufig in den neuen Bundesländern, aber es gibt sie auch in den alten Bundesländern. Mit unseren Förderprogrammen gelingt vieles, was gerade die mittelständische Wirtschaft fördert – zum Beispiel das Fraunhofer-Institut für Angewandte Optik und Feinmechanik in Jena, das ein Transferzentrum mit Modellcharakter für universell einsetzbare quantenoptische Technologien besitzt und damit maßstabgebend für ganz Deutschland ist. Wir haben Probleme bei der Gesundheitsversorgung. Da müssen wir neue Wege gehen. Ich denke, wenn es um neue Wege geht, dann können sich gerade auch die Menschen aus den neuen Bundesländern einbringen. Ich kann das, was Sie, Frau Krahner, gesagt haben, nur unterstützen. Erheben Sie Ihre Stimme! Sagen Sie, was hier gut geht! Seien Sie auch laut! Vielleicht ist ein Überbleibsel der ehemaligen DDR, dass wir gelernt haben, zwischen den Zeilen zu lesen, dass wir aber nicht gelernt haben, uns klar und deutlich und verständlich auszudrücken, wenn es darum geht, auch einmal eine Position zu besetzen. Aber das kann man ja lernen; und das haben wir zum Teil auch schon gelernt. Ein Punkt, der mir in unseren Handlungsempfehlungen für gleichwertige Lebensverhältnisse sehr, sehr wichtig ist, ist die Stärkung des Ehrenamts. Ich denke, hierbei ist gerade auch die Christlich-Demokratische Union sehr stark, wenn es nämlich darum geht, Verantwortung vor Ort zu übernehmen. Meine Damen und Herren, das dürfen wir eben auch nicht außer Acht lassen, darüber müssen wir auch mit den Menschen reden: Wer in Freiheit leben will, der lebt eine Freiheit in Verantwortung. In Freiheit zu leben, heißt nicht, frei von Verantwortung zu sein, sondern Freiheit bedeutet immer, Verantwortung übernehmen zu wollen. Ich glaube, dass es dem Menschen immanent ist, dass er Verantwortung übernehmen will. Deshalb dürfen wir nie eine Situation akzeptieren, in der alle nur noch auf den Staat warten. Denn dann wird das individuelle Leben nicht frei sein. Deshalb gehört zu einem gelungenen demokratischen Rechtsstaat auch der Wille der Bürgerinnen und Bürger, eine bestimmte Haltung zu diesem Rechtsstaat einzunehmen, gegen die vorzugehen, die die Regeln dieses Rechtsstaates, vor allem die Würde anderer, verletzen, und deutlich zu machen, dass das Eintreten für Rechtsstaatlichkeit ein Wesenskern des Lebens in der Demokratie ist. Wir sehen heute, dass gerade dort, wo sich Menschen engagieren, wo sie vor Ort eintreten und auftreten, lebendigere Demokratie gestaltet werden kann als dort, wo im Grunde niemand aufsteht und niemand sich engagiert. Wir als Staat können das fördern, aber wir können es nie verlangen, sondern wir leben von dem Willen der Menschen, sich in ihr Gemeinwesen einzubringen. Meine Damen und Herren, deshalb sind der 3. Oktober 1990 und das Gelingen der friedlichen Revolution für uns natürlich auch eine Mahnung, sich für ein gelungenes Leben in der Zukunft einzubringen. Eben haben die Kinder, gesungen: Viele kleine Leute, viele kleine Schritte; und das kann das Gesicht der Welt verändern. – Genau so ist es. Nach den riesigen Anstrengungen, die wir unternommen haben – vielleicht gibt es manchmal auch eine kurze Erschöpfungsphase –, sollten wir uns nicht davon verdrießen lassen, dass manches im sogenannten staatlichen Bereich auch heute nicht zu hundert Prozent funktioniert. Das ist so. Das ist die Aufforderung an uns Politiker, dass wir besser werden müssen. Auch das ist so. Aber niemand kann sich zum Schluss darauf berufen, dass der Staat hier und dort nicht perfekt funktioniert hat und dass deshalb das eigene Leben nicht gelungen ist und nicht gelebt werden kann und das der Kinder und Enkel auch nicht. Das ist mein Wunsch an alle, die den 3. Oktober dieses Jahres feiern: Seien wir weiter mutig! Seien wir weiter tatkräftig! Benennen wir Missstände! Aber glauben wir daran, dass Deutschland eine gute Zukunft hat und damit auch der Freistaat Thüringen! Natürlich soll hier jeder Thüringer sein – ein bisschen auch Deutscher und auch Europäer; denn Europa bringt uns Frieden. Ohne ein starkes Thüringen kann Europa nicht gelingen. In diesem Sinne sage ich: Danke dafür, dass ich heute hier sein konnte!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur DFB-Grundsteinlegung in Frankfurt am Main am 26. September 2019
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-dfb-grundsteinlegung-in-frankfurt-am-main-am-26-september-2019-1675962
Thu, 26 Sep 2019 15:00:00 +0200
Frankfurt/Main
keine Themen
Sehr geehrte Herren Präsidenten Koch und Rauball, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Herr Feldmann, liebe Trainer, liebe Manager, liebe fußballbegeisterte Gäste, ich bin heute sehr gerne hierhergekommen. Was die Dauer meiner Amtszeit anbelangt, so ist der Unterschied zu Jogi Löw überschaubar. Ich bin aber länger im Amt; das stimmt. Mal sehen, wie es später wird. Heute findet aber erst einmal die Grundsteinlegung statt. Damit – das weiß ich aus vielen Gesprächen – wird ein lang gehegter Traum nun sichtbar Form und Gestalt annehmen. Man sieht ja schon einiges. Die modernen Methoden der Animation zeigen uns schon im Vorfeld, was für ein tolles Gebäude entsteht. Es ist ein Gebäude, das dem DFB gut ansteht und das, glaube ich, auch die verschiedenen Komponenten des deutschen Fußballs – vom Amateur- bis zum Profifußball – gut unter ein Dach bringt. Ich denke, nach manchen Diskussionen ist es ein gutes Omen, dass es eine gemeinsame Entwicklung geben wird, denn der Fußball lebt sowohl von den Amateuren als auch von den Profis. Ganz oben wollen wir die großen Leistungen sehen; na klar. Aber die Basisarbeit muss eben auch sein und ist glücklicherweise in Deutschland so wunderbar ausgeprägt. Dieses 150-Millionen-Euro-Projekt ist eine ganz besondere Wertschätzung für den Fußballsport in unserem Land. Dass dazu keine Zuschüsse der öffentlichen Hand gebraucht werden, zeigt die Prosperität des Fußballs. Natürlich ist ein bisschen Neid dabei. Ich komme von der Ostsee, Herr Feldmann. Der DFB würde natürlich nicht daran denken, dort seine Zentrale zu bauen. „Man muss och jönne könne“, wie man im Rheinland sagt. Insofern haben Sie es gut in Hessen und Frankfurt, dass Sie hier so ein schönes Projekt haben. Das Projekt stand manchmal auf der Kippe. Es ist aber schön, dass die Frankfurter Bevölkerung dahintersteht. Ich habe manches Gespräch zum Beispiel mit Oliver Bierhoff geführt, als es den Volksentscheid gab und man sich nicht ganz von der Galopprennbahn trennen wollte oder ihr noch ein bisschen nachgetrauert hat. Aber ich hoffe, dass der DFB nun ein gutes Zugpferd für Frankfurt, für Hessen und für ganz Deutschland wird. Der DFB hatte ja nicht immer seinen Sitz hier in Frankfurt. Er wurde 1900 in Leipzig gegründet. Dann machte er Station in Dortmund, Kiel und Berlin. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er kurzzeitig in Stuttgart zu Hause, bis allerdings schon 1951 der Umzug nach Frankfurt erfolgte. Acht Mitarbeiter hatte der Verband damals. Aber der DFB wuchs an und mit seinen Aufgaben. Das Dach spannt er heute über 25.000 Vereine, 150.000 Mannschaften und mehr als sieben Millionen Mitgliedern. Es ist der größte Einzel-Sportverband der Welt. Da ich bei Ihrem Bundestag nicht dabei sein werde, will ich einfach all denen danke sagen, die in all den Funktionen für den deutschen Fußball arbeiten. Weil es so eine breite gesellschaftliche Verankerung gibt, ist es vielleicht nicht ganz einfach, dafür ein einzelnes Zentrum zu schaffen. Aber wir müssen auch mit der Zeit gehen. England und Spanien haben bereits nationale Fußballzentren geschaffen. Deshalb ist es, glaube ich, eine wirklich gute und in die Zukunft weisende Idee, das auch in Deutschland mit seiner speziellen Struktur zu machen. Dass dieser Gebäudekomplex die verschiedenen Funktionen so wunderbar vereint, deutet darauf hin, dass es auch gelingen kann, dem Ganzen eine gute gemeinsame Fußballseele zu geben. Manch älterer Fußballer konnte vielleicht nur davon träumen, was nun die Jüngeren in der Realität erleben können, wenn sie hier ihre Ausbildung oder die Trainerausbildung absolvieren. Ich habe neulich gehört und gelernt, dass wir bei den Frauen schauen müssen, dass bei ihnen die Breite der Trainerausbildung zunimmt. Es gibt also viel zu tun. Fußball steht im öffentlichen Rampenlicht. In unseren medialen Zeiten haben die Fußballer es gut, wenn sie gewinnen, und richtig schlecht, wenn sie verlieren. Das Verständnis dafür, dass ein ordentliches Medienzentrum vielleicht auch ein bisschen kalmieren kann – was auch nervlich eine sportliche Herausforderung ist –, dass man sich in einem Wettbewerb befindet, bei dem Deutschland nicht immer gewinnen kann, wird sicherlich auch mit einer sehr professionellen Medienarbeit geweckt werden können. Wer hat davon gesprochen, dass 2034 die Weltmeisterschaft wieder gewonnen werden soll? – Na ja, Herr Koch; ich glaube, Sie würden den Sieg auch früher nehmen. Ich glaube, 2034 ist ein Jahr, in dem junge Menschen, die erst kürzlich geboren sind, für Deutschland auflaufen werden. Wir wissen es noch nicht. Sie sollen aber die beste Ausbildung bekommen. Hier zeigt sich schon Vorfreude auf den neuen Bau. Wenn man sieht, wie Sie von hier aus die Skyline von Frankfurt betrachten können, wie hier gearbeitet wird, dann ist das schon eine beeindruckende Sache. Ich bin ganz davon überzeugt, dass der Bau besser vorangeht als der des Berliner Flughafens. Insofern kann ich, aus Berlin kommend, Ihnen und auch den Bauarbeitern nur wünschen, dass alles gut läuft. Wir werden ja gleich noch symbolisch die Grundsteinlegung vornehmen. Da ich morgen nicht dabei bin, möchte ich Ihnen, lieber Herr Rauball, und genauso Herrn Koch ganz herzlich für die vielen Jahre der Arbeit und für die vielen Begegnungen danken, die wir hatten. Morgen findet hier eine Art kleine Revolution im deutschen Fußball statt. Dazu passt es auch, dass das neue Gebäude in Augenschein genommen wird. Danke dafür, dass ich dabei sein darf. Dem deutschen Fußball auf allen Ebenen alles Gute und viel Freude an Ihrem neuen Zuhause!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Kongress „Klimaschutz, Technik, Innovation“ der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-kongress-klimaschutz-technik-innovation-der-cdu-csu-bundestagsfraktion-1675370
Wed, 25 Sep 2019 16:03:00 +0200
Berlin
keine Themen
Liebe Anja Weisgerber, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, vor allem auch die Verantwortlichen für den Bereich Klima, Umwelt – hier ist ja alles versammelt, was in der Fraktion Rang und Namen hat –, und auch ein herzliches Willkommen an Sie, die zahlreichen Gäste! „Klimaschutz, Technik, Innovation – das ist ein Kongress, der sehr, sehr gut in die Zeit passt. Es ist auch erfreulich, dass er im Umfeld unserer Entscheidungen, die wir im Zusammenhang mit Klimaschutz gefällt haben, stattfindet. Wir sind uns einig, dass Klimaschutz eine Menschheitsherausforderung ist. Heute ist der neue IPCC-Bericht vorgestellt worden, der wirklich allen Grund gibt zu sagen: Wir müssen entschlossen handeln. Das ist vor allen Dingen deshalb so wichtig, weil es um Zukunft – um unsere Kinder, um unsere Enkel – geht, weil es um ein grundsätzliches Umdenken einer ganzen Gesellschaft geht. Letztendlich geht es darum, nachhaltig zu wirtschaften und sich die Folgen des eigenen Wirtschaftens vor Augen zu führen. Wir sind der Meinung, dass wir angesichts technologischer Möglichkeiten und Innovationen alle Chancen dazu haben, Wohlstand und Klimafreundlichkeit gut miteinander zu vereinen. Wir brauchen also Verhaltensänderungen in allen Bereichen: beim Konsumieren, beim Produzieren, bei der Mobilität und der Ernährung genauso wie beim Städtebau. Die jüngsten Demonstrationen, die wir ja weltweit gesehen haben, zeigen auch, dass es zumindest sehr bedeutsame Ansätze für einen Bewusstseinswandel gibt und gerade auch junge Leute Druck machen. Eine Mehrheit in Deutschland findet, dass Klimaschutz Vorrang vor Wirtschaftswachstum haben sollte. Ich kann diesen Gedanken zwar verstehen, glaube aber, dass er zu kurz gegriffen ist. Denn wir sollten – und ich glaube, wir können das auch – deutlich machen, dass beides geht: dass also Treibhausgasneutralität kein Wachstumshindernis ist, sondern im Gegenteil große Chancen für Innovationen, Beschäftigung und Wohlstand mit sich bringt. Das bedeutet aber, dass wir nicht nur sagen, wirtschaftliche Schäden infolge eines ungebremsten Klimawandels sollen vermieden werden – das ist natürlich auch jede Anstrengung wert –, sondern es geht auch um völlig neue Marktpotenziale zum Beispiel bei erneuerbaren Energien, bei Umwelt- und Effizienztechnologien. Fortschritte beim Klimaschutz also nicht trotz, sondern mithilfe technologischer Erneuerungen – darauf kommt es an. Und das ist auch das richtige Zeichen, das ja genau mit diesem Kongress gesetzt wird, inklusive der Stände, an denen auch praktische Beispiele gezeigt werden. Nachhaltigkeit heißt also, Ökonomie und Ökologie miteinander in Einklang zu bringen. Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir einräumen: Wir haben Zeit verloren. Der Rohstoffverbrauch und die Treibhausgasemissionen weltweit sind in den letzten Jahren weiter angestiegen. Die Folgen des vom Menschen mit verursachten Klimawandels sehen wir alle und sehen sie auch in Deutschland. Ein Waldspaziergang in diesen Jahren zeigt, wie Trockenheit und Stürme zunehmend auch unsere heimischen Wälder belasten. Man kann zwar sagen, das seien jetzt mal ein, zwei Jahre; das sei statistisch irrelevant. Wenn man das aber über einen Zeitraum von 50 Jahren betrachtet, stellt man fest, dass es bei Extremwetterereignissen eine Zunahme um das Dreifache, auch in Deutschland, gibt; und das ist kein Zufall. Wir wissen, dass andere Staaten noch sehr viel schlimmer betroffen sind. Es gibt zum Beispiel Dürren in Sambia, die zu Ernteausfällen, Armut und Hunger führen. Die kleinen Inselstaaten haben mit dem Anstieg des Meeresspiegels zu kämpfen. Deshalb war es bei den Vereinten Nationen auch spürbar, dass inzwischen von vielen Mitgliedstaaten mehr Ehrgeiz und verstärkter Klimaschutz verlangt wird. Insbesondere wird immer wieder deutlich gemacht, dass die Industrieländer in einer besonderen Verantwortung stehen; und zwar deshalb, weil sie unstrittig diejenigen sind, die über die ganze Zeit der Industrialisierung CO2 emittiert haben, jedoch die Entwicklungsländer in höherem Maße heute die Folgen zu tragen haben als die Industrieländer. Natürlich schauen die Entwicklungsländer nun aus zweifacher Perspektive auf die Industrieländer. Auf der einen Seite fragen sie: „Was tut ihr, damit ihr eure technologischen und innovativen Vorsprünge einsetzt, um neue klimafreundlichere Technologien zu entwickeln?“ Auf der anderen Seite: „Was bedeutet das auch für unsere Entwicklung?“ Denn sie wollen natürlich auch eine Entwicklung haben. Sie kennen bisher aber nur den Entwicklungspfad, den wir gegangen sind, und sagen natürlich: „Das kann ja nun nicht wahr sein, dass, kaum habt ihr etwas erkannt, unsere Entwicklung abgeschnitten wird.“ Deshalb ist es ganz wichtig, dass Industriestaaten eine Vorreiterfunktion haben – einmal, weil wir viel stärkere Verursacher sind, andererseits aber auch, weil wir einen Entwicklungspfad aufzeigen können, den die Entwicklungsländer gleich gehen und für sich Wohlstand mit einer nachhaltigeren Entwicklung gewinnen können. Deshalb ist Technologietransfer von ganz besonderer Bedeutung. Wir haben es oft diskutiert: Deutschland hat ein Prozent der Weltbevölkerung. Da sagen viele: Was können wir dann überhaupt zum ganzen Thema Klimaverträglichkeit und Begrenzung der Erderwärmung beitragen? Aber wir verursachen mit unserem einen Prozent an der Weltbevölkerung eben zwei Prozent der Treibhausgasemissionen. Wenn alle ein solches Verhältnis von Einwohnerzahl zu Treibhausgasemissionen hätten, kämen wir weltweit zu einer Verdopplung der Emissionen; und damit dürfte unser Budget sehr schnell aufgebraucht sein. Deshalb ist es eben wichtig, dass wir im technologischen Bereich Vorschläge unterbreiten und Innovationen voranbringen. Wir haben über viele Jahre schon einiges getan – es wird heute ja manchmal so diskutiert, als fingen wir gerade erst an. Ich will nur darauf hinweisen: Ich war 1994 bis 1998 Umweltministerin. Wir haben damals das Kyoto-Protokoll verabschiedet. Deutschland und auch die Europäische Union haben sich damals die ersten verpflichtenden Ziele gegeben. Wir haben unsere Ziele 2010 – nämlich 20 Prozent Reduktion bezüglich des Niveaus von 1990 – auch erreicht. Und wir haben damals als eines der ersten Länder einen sehr ambitionierten Weg beim Ausbau erneuerbarer Energien gewählt. Nach anfangs sehr hohen Kosten, die in der Tat angefallen sind, sind wir inzwischen bei einem Ausschreibungsmodus für die erneuerbaren Energien. Viele der erneuerbaren Energien sind an vielen Standorten bereits sehr marktkompatibel, brauchen also keine Subventionen mehr. Diesen Weg müssen wir weiter gehen. Wir dürfen auch nicht denken, dass wir überall führend seien. Wir haben erlebt, dass zum Beispiel, als wir die Solarenergie stark ausgebaut hatten, China schnell mit eigenen Solarpanelen nachgezogen ist. Auch bei der Windenergie sind wir längst nicht mehr der einzige Anbieter. Einen erheblichen Ausbau an erneuerbaren Energien gibt es in China und Indien. Wir sehen, dass China in der Elektromobilität an vielen Stellen führend ist. Südafrika und Marokko haben bei der Dekarbonisierung der Wirtschaft schon erhebliche Beiträge geleistet. Die USA sind bedauerlicherweise aus dem Pariser Abkommen ausgeschieden, aber viele Bundesstaaten verpflichten sich trotzdem zu einer sehr ambitionierten Klimapolitik. Kalifornien zum Beispiel hat ein umfassendes Emissionshandelssystem und auch anspruchsvolle Emissionsstandards für Fahrzeuge. Auch in Europa gibt es eine Vielzahl an Beispielen, die zeigen, dass wir bei weitem nicht allein sind. Frankreich nimmt eine steuerliche Förderung von Energieeffizienzmaßnahmen bis zu 30 Prozent der Kosten vor. Schweden hat schon 1991 eine CO2-Steuer eingeführt; dort ist man jetzt schon bei einer Bepreisung von 115 Euro pro Tonne. Acht europäische Staaten haben schon das Ende des Verkaufs von neuen Pkws mit Verbrennungsmotoren angekündigt. Es gehen also viele ihre Wege. Deshalb müssen auch wir unsere Wege schaffen. Und darüber wollen wir auch im Parlament debattieren – morgen ist es soweit. Wir gehören zu den Staaten der Europäischen Union, die sich vorgenommen haben, bis 2050 klimaneutral zu sein. Es sind jetzt 66 Staaten auf der Welt, die sich dazu verpflichtet haben. Und – das ist auf der UN-Generalversammlung deutlich geworden – wir sehen auch, dass dies eine der Verpflichtungen ist, die aus dem Pariser Klimaschutzabkommen erwachsen. Wir haben uns auf europäischer Ebene ja geeinigt, die Bereiche Energie und Industrie mit einem europäischen Emissionshandelssystem zu bearbeiten; das heißt, sicherzustellen, dass die jährlichen Budgets eingehalten werden. Wir haben uns zusätzlich nationale Ziele gegeben, weil wir ein nationales Gesamtemissionsziel von 55 Prozent Reduktion bis 2030 gegenüber 1990 haben. Wir haben ein europäisches System, in dem ab 2021 von der EU jedes Jahr für jedes Land ein Budget für die Bereiche vorgelegt wird, die nicht vom Emissionshandel erfasst sind. Das sind im Wesentlichen Gebäude und Verkehr. Landwirtschaft und Abfallwirtschaft schlagen nicht ganz so zu Buche. Diesen Minderungspfad müssen wir einhalten. Ansonsten müssen wir mit viel Geld Emissionszertifikate woanders kaufen. Ob uns die jemand verkauft, steht in den Sternen. Das heißt, es ist schon wichtig, dass wir auf diesem Pfad der Reduktion bleiben. Das Wichtige an dem Maßnahmenpaket, das wir nun geschnürt haben, ist, dass wir gesetzlich festschreiben wollen, wie hoch unsere jährlichen Budgets sind. Damit installieren wir auch einen permanenten Überprüfungsmechanismus, um, falls wir in einem Jahr eine Zielverfehlung haben, die Zielerreichung mit zusätzlichen Maßnahmen im nächsten Jahr sicherzustellen. Das wird sicherlich eine zum Teil auch sehr anspruchsvolle politische Debatte in den 20er Jahren werden, wenn wir das Jahr für Jahr tun müssen. Aber ich glaube, wir werden dann auch ein Gefühl für die Dinge bekommen. Wir wollen den Anteil der erneuerbaren Energien bis 2030 auf 65 Prozent, also zwei Drittel, erhöhen. Wir sind das einzige Land, das 2022 aus der Kernenergie und spätestens 2038 auch aus der Kohleverstromung aussteigt – das ist zum Beispiel auch in New York sehr aufmerksam gehört worden, weil es nicht allzu viele solcher Länder gibt –; und das stellt uns auch vor große Herausforderungen. Unser Anteil der erneuerbaren Energien am Bruttostromverbrauch ist inzwischen bereits auf fast 40 Prozent angestiegen. Das heißt, wir reden nicht nur, sondern sind auf diesem Pfad. Wir sind in einer kontroversen Diskussion auch immer wieder darauf hingewiesen worden, dass die Arbeitsgruppe „Akzeptanz“ doch den Ausbau verhindern würde. Ich kann nur sagen, die Regelungen, die wir jetzt gefunden haben, werden den Ausbau wieder akzeptabler machen. Wir haben nämlich nichts davon, wenn wir sozusagen aus der Großstadt heraus erklären, wie das alles in den ländlichen Räumen funktionieren soll, aber anschließend alle Klagewege eingeschlagen werden und Genehmigungen für ein neues Windrad fünf Jahre dauern. Dann ist nichts gewonnen. Einen Weg ohne breite Akzeptanz gehen zu wollen, wird man auf Dauer nicht durchhalten können. Deshalb ist es richtig, wenn wir auch die Bedürfnisse derer bedenken, die den Strukturwandel materiell vor der Haustür haben. Im Übrigen ist es auch so, dass wir Wege und Formen – das machen wir auch schon bei der Grundsteuer – finden müssen, um auch Kommunen zu beteiligen, wenn sie große Windanlagen in ihrer Nähe haben. Ich sage einmal: Akzeptanz von Kernkraftwerken in der Region ist zum Teil auch dadurch geschaffen worden, dass man die betroffenen Kommunen bei ihrer strukturellen Entwicklung relativ gut bedacht hat. Das muss im Bereich der Windkraft oder der Solarenergie im Grunde auch so gehandhabt werden. Wir werden 2020 unsere Ziele nach menschlichem Ermessen nicht erreichen. Wir hatten uns 40 Prozent Reduktion gegenüber 1990 vorgenommen. Nun muss man sagen – ich bin der Sache noch einmal nachgegangen –: Im Koalitionsvertrag 2005 hatten wir geschrieben: 30 Prozent Reduktion; dann hatten wir das im Verlauf der Legislaturperiode auf 40 Prozent verschärft. Dass das sehr anspruchsvoll wird, konnte man sich ausrechnen. Wenn man in 20 Jahren – inklusive Deutscher Einheit – 20 Prozent reduziert und dann in den nächsten zehn Jahren nochmals 20 Prozent reduzieren will, ist das ganz schön ambitioniert. Aber jetzt müssen wir die Ziele bis 2030 wirklich erreichen. Deshalb haben wir ein großes Maßnahmenbündel verabschiedet, das uns auf diesen Pfad führen wird. Wichtig und anders als 2010 oder 2005 ist, dass wir nicht nur im Bereich der erneuerbaren Energien neue Technologien haben, sondern auch mit Elektroautos oder Wasserstoffautos in großem Maße Möglichkeiten haben, die Mobilität umzustellen. Bei der Umstellung der Mobilität müssen wir allerdings immer daran denken: Solange wir nicht wirklich die Masse des Stroms aus erneuerbaren Energien haben, hat die Elektromobilität für sich noch keine besonders aufregende Ökobilanz; man muss viele Kilometer fahren, ehe man da mit dem Verbrennungsmotor gleichzieht. Aber wir können natürlich nicht warten, bis wir Strom nur aus erneuerbaren Energien haben, und dann erst anfangen, moderne Mobilität zu entwickeln, sondern das müssen zwei parallele Prozesse sein. Neue Formen der Mobilität werden eben erst dann richtig Wirkung zeigen, wenn es auch auf dem Ausbaupfad der erneuerbaren Energien wirklich vorangegangen ist. Nun haben wir uns – überwölbend zu den vielen Einzelmaßnahmen – entschieden, auch in den Bereichen Gebäude und Verkehr in ein Bepreisungssystem einzusteigen. Da wird nun gesagt: Dieser Einstieg ist zu langsam. Und: Das zeigt keine Wirkung. – Wir werden sehen; und wir werden lernen müssen. Aber das wirklich Wichtige ist, dass wir diesen Einstieg gewählt und damit den Mechanismus in der Hand haben, wie wir Budgetsteuerung betreiben können. Wir fangen mit einem Festpreis an. Der Festpreis allein hilft uns aber noch nicht, sondern wir müssen dann natürlich zu einem Preis kommen, der wirklich eine Mengensteuerung beinhaltet. Diese Mengensteuerung wäre idealerweise auf europäischer Ebene zu finden. Ursula von der Leyen hat gesagt, sie werde der Kommission in den ersten hundert Tagen einen Vorschlag machen. Es kann sein, dass in diesem Vorschlag auch ein Bepreisungssystem für Gebäude und Verkehr enthalten ist. Dann würden wir uns gern dem europäischen Mechanismus anschließen. Aber wir können auch nicht warten, bis das dann wirklich geschafft ist. Deshalb haben wir uns jetzt erst einmal für einen nationalen Schritt entschieden, damit wir nicht sozusagen auf etwas warten, das vielleicht sehr lange dauert, bis man es dann einsetzt. Die CO2-Bepreisung ist also ein sehr wichtiges Element. Aber sie allein wird noch nicht reichen. (Ein Transparent wird hochgehalten) – Hier gibt es gerade noch Zusatzinformationen für die Fernsehkameras; das ist auch schön. – Und wir wollen durch eine Menge anderer Maßnahmen auch sicherstellen, dass Verhaltensänderungen vorangetrieben und angereizt werden. Die Menschen müssen wissen: Wo entstehen eigentlich die CO2-Emissionen im Bereich Gebäude und Verkehr? Deshalb gibt es eine Förderung zur energetischen Sanierung der Gebäude, deshalb gibt es attraktive Austauschprogramme für Ölheizungen, deshalb gibt es Angebote dafür, auf Elektromobilität umzusteigen – inklusive Bereitstellung der Ladeinfrastruktur, die wir natürlich auch brauchen. Wir wollen technologieoffen arbeiten. Das heißt, wir setzen etwa nicht nur auf Elektromobilität, sondern auch auf Wasserstoff. Wasserstoff wird im Übrigen in Zukunft bei Lkws und Zügen eine herausragende Rolle spielen; das ist schon absehbar. Inwieweit sich das im Pkw-Bereich weiterentwickelt, wird man sehen. Wir haben natürlich auch Aufgaben in den gesamten Industrieprozessen zu leisten. Und wir wollen – das ist ganz wichtig – all das, was mit höherer Bepreisung verbunden ist – das ist in unserem Modell nicht nur die CO2-Bepreisung, sondern auch die Erhöhung der Kfz-Steuer in Abhängigkeit von CO2-Emissionen –, also das Geld, das wir dadurch einnehmen, für Klimaschutz verwenden und es den Bürgerinnen und Bürgern dadurch zurückgeben. Es ist ganz wichtig, dass wir hierbei hohe Transparenz haben, damit die Menschen verstehen, dass all das einer nachhaltigen Wirtschaftsweise gerecht wird bzw. einer Entlastung der Bürger dient, wenn sie zusätzlich belastet werden, und zu einer Steuerung dahingehend führt, dass weniger klimaschädliche Gase emittiert werden. Wir glauben, dass wir noch recht große Einsparpotenziale haben. Und wir glauben – hierfür gibt es auch Weiterbildungsstrategien und vieles andere –, dass der Wandel in der Beschäftigung und die Notwendigkeit, sich lebenslang zu qualifizieren, durch diese Maßnahmen abgefedert werden. Das heißt, wir wollen die Menschen damit nicht allein lassen. Und wir wollen Unternehmen da unterstützen, wo technologischer Wandel stattfindet. Wir glauben auch, dass wir positive Beschäftigungseffekte haben können. Der gesamte Bereich der energetischen Gebäudesanierung wird im Wesentlichen an dem Mangel leiden, dass wir viel zu wenige Fachkräfte auf dem Bau haben. Deshalb gibt es ja auch unsere Fachkräftestrategie und das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Und wir werden natürlich Menschen aus bestimmten Bereichen für andere Bereiche umqualifizieren müssen. Ich glaube jedenfalls, dass uns unter keinen Umständen die Arbeit ausgeht. Das Wichtige ist, dass wir jetzt in einen Gesamtprozess eintreten, der den Menschen nicht Furcht macht, sondern zeigt: Wir tun etwas Gutes und in die Zukunft Führendes. Vorne mit dabei zu sein, das ist ein Ansporn. Es kann im Übrigen auch ein gutes Projekt für den Zusammenhalt unseres Landes sein, für das Zusammenwachsen von Ost und West, dass alle an diesem Projekt beteiligt sind. Wenn wir einmal an die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland denken, dann erinnern wir uns, dass man doch sehr stolz darauf war, mit Kreativität, mit neuen Produkten, mit Innovationen voranzugehen. Wir geben jetzt auf der einen Seite sozusagen politisch Hinweise: Förderung der Elektromobilität und der energetischen Gebäudesanierung und andere Dinge. Wir geben durch die Tatsache, dass bis zu dem Jahr, in dem wir klimaneutral sein werden, die CO2-Bepreisung anwachsen wird, bis dann zum Schluss an der Bepreisung nichts mehr zu verdienen sein wird, weil kein CO2 mehr ausgestoßen wird, ein Signal. Auf der anderen Seite werden durch dieses Bepreisungssystem auch Bereiche abgedeckt, worauf wir im Einzelnen politisch gar nicht kommen würden. Wir können ja nicht sozusagen jedes Abfallmanagement, jede landwirtschaftliche Produktionsmethode, jede technologische Entwicklung voraussagen und dafür Standards festlegen. Deshalb ist es allemal sinnvoll, möglichst viele – ganz ohne Verbote und Gebote kommt man auch nicht aus – Anreize zu geben und zu schauen, in welche technologische Richtung sich die Dinge entwickeln. Deshalb, meine Damen und Herren, macht klimafreundliches Wirtschaften Freude. Deshalb ist es eine Aufforderung an uns alle. In diesem Geiste arbeitet die Bundesregierung und – ich bin ja auch Mitglied dieser Fraktion – auch diese Bundestagsfraktion. Deshalb herzlichen Dank für die Einladung und alles Gute für den weiteren Verlauf des Kongresses!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel
anlässlich des UN-Side-Events zur Vorstellung des „Global Action Plan for Healthy Lives and Well-being for All“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-anlaesslich-des-un-side-events-zur-vorstellung-des-global-action-plan-for-healthy-lives-and-well-being-for-all–1674756
Tue, 24 Sep 2019 11:48:00 +0200
New York
keine Themen
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Herr Akufo-Addo, liebe Erna Solberg, lieber Chef der WHO, Herr Tedros, meine Damen und Herren, dass das Thema Gesundheit in viele Bereiche hineinreicht, ist ja klar. Gesundheit und Wohlergehen vertragen sich nicht mit Hunger und Armut. Gesundheit braucht Bildung und Gleichstellung. Auch der Klimawandel hat Auswirkungen auf die Gesundheit. Gesundheit ist zwar ein eigenes Ziel, aber in ihm kommt auch zum Ausdruck, wie andere Ziele erreicht werden. Das Gesundheitsziel hängt also mit anderen SDG-Zielen zusammen. Deutschland hat, wie eben gesagt wurde, schon während seiner G7-Präsidentschaft bei der Suche nach einer Antwort auf die Ebola-Krise sich stark mit dem Thema internationale Gesundheit beschäftigt – und zwar besonders auch im Hinblick auf die Frage: Welche Rolle kann die WHO spielen, wie können wir die WHO effizienter machen? Ich habe mich mit Ministerpräsidentin Erna Solberg und mit Präsident Akufo-Addo an die Vereinten Nationen gewandt, um die Erarbeitung eines Aktionsplans dazu zu erbitten, wie wir das SDG-Ziel Nummer drei, Gesundheit, auch wirklich erreichen können und 2028 nicht feststellen müssen, dass es leider nicht funktioniert. Es gibt sehr gute Nachrichten zu vermelden: Der Globale Aktionsplan ist auf dem Weg. Es ist eben nicht ein Moment, sondern es ist ein Prozess, den wir verfolgen müssen. Ich möchte mich als Erstes bei den zwölf internationalen Organisationen aus den Bereichen Gesundheit, Entwicklung und humanitäre Hilfe bedanken, die gemeinsam Fortschritte bei den gesundheitsbezogenen SDGs erreichen wollen. Diese internationalen Organisationen verfügen immerhin über 12,7 Milliarden US-Dollar – das ist ein Drittel der gesamten Entwicklungshilfe. Natürlich hat die Weltgesundheitsorganisation in diesem Prozess eine steuernde und überwachende Funktion. Es geht jetzt, nachdem sich diese zwölf Organisationen engagiert haben – wofür ich noch einmal danken möchte – um die Frage der Beschleunigung von Fortschritten in sieben festgelegten Bereichen: zum Beispiel Grundversorgung, Systemfinanzierung, Forschung und Entwicklung sowie Epidemievorsorge. Zweitens arbeitet man unter dem Stichwort „Align“ an der Harmonisierung des operativen und finanziellen Vorgehens bei der Länderunterstützung. Man muss sich das ja so vorstellen: Jede Organisation hat ihre eigene Arbeitsweise; man gibt sich aber gemeinsame Unterziele und versucht dann, mit Blick auf die betroffenen Länder mit einer einheitlichen Arbeitsweise und einem gemeinsamen Ansatz aufzutreten, damit diese Länder nicht sozusagen zwölf Mal verschiedene Angebote annehmen müssen. Unter dem Stichwort „Account“ geht es darum, Fortschritte immer wieder zu überprüfen. Dazu haben wir das Zwischenziel 2023 definiert. Dann wollen die Organisationen besser aufeinander abgestimmt sein und sich Benchmarks vornehmen. Ganz wichtig ist auch: Die Aktionen sollen nicht dem Maßstab „one size fits all“ folgen, sondern sie sollen auf die Empfängerländer abgestimmt sein, also mit diesen Ländern besprochen und diskutiert werden, sodass die Länder auch Ownership entwickeln. Das ist das Allerwichtigste: Wir müssen die Menschen mitnehmen, wir müssen die Länder und die Institutionen in diesen Ländern mitnehmen. Denn wenn diese das nicht implementieren, was wir an Ressourcen geben können, dann wird daraus auch kein Erfolg werden. Man kann beraten, man kann helfen, man kann unterstützen und soll dabei nicht mit 20 verschiedenen internationalen Prinzipien auftreten. Aber wenn dann ein in sich geschlossenes, harmonisiertes Angebot gemacht wird, muss auch garantiert sein, dass die betroffenen Länder damit auch wirklich etwas anfangen können. Das heißt, wir werden durch den Globalen Aktionsplan einen Prozess erleben, in dem sich das Verhältnis der Organisationen untereinander von Komplementarität zu Synergie verwandelt. Die Weltgesundheitsorganisation hat ihre Leitungs- und Koordinierungsrolle bei der Erarbeitung dieses globalen Aktionsplans sehr gut wahrgenommen. Und sie wird auch die Umsetzung dieses globalen Aktionsplans überwachen, begleiten und in die Arbeit der gesamten Weltgesundheitsorganisation mit einbeziehen. Das ist sehr wichtig. Fortschritte müssen natürlich immer wieder eingefordert werden. Es gibt jetzt einen Maßnahmenplan. Er wird aber nur dann funktionieren – ich habe es eben schon angedeutet –, wenn die Geber- und Nehmerländer auch wirklich mitmachen. Wir brauchen Geldgeber und wir brauchen die, die mit dem Geld etwas machen müssen. Deshalb werden wir unsere Aufmerksamkeit natürlich nicht mit dem heutigen Tag einstellen, sondern werden weiter mit dabei bleiben. Deutschland, Ghana und Norwegen fühlen sich für diesen Prozess weiter verantwortlich. Was gut ist, ist, dass dieser Globale Aktionsplan nicht nur mit den erwähnten Organisationen und der Weltgesundheitsorganisation erarbeitet wurde, sondern dass bereits 24 Länder involviert waren, was natürlich die Akzeptanz unter den Mitgliedstaaten steigert. Jetzt müssen wir weitere Länder gewinnen, die mitmachen. Und ich bin gespannt, wie es weitergeht.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des Mittagessens zum Thema „Frieden, Sicherheit und Entwicklung in Afrika“ am 23. September 2019 in New York
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-des-mittagessens-zum-thema-frieden-sicherheit-und-entwicklung-in-afrika-am-23-september-2019-in-new-york-1674372
Mon, 23 Sep 2019 12:48:00 -0400
New York
keine Themen
Liebe Präsidenten, sehr geehrter Präsident der Afrikanischen Union, wir freuen uns, dass Sie heute zu diesem Mittagessen gekommen sind. Die Woche der Vereinten Nationen ist immer ein bisschen hektisch. Mit dem Auto kommt man gar nicht voran, zu Fuß etwas besser. Ich denke aber, die Präsidentin von Äthiopien, die wir auch eingeladen haben, und der Präsident von Mauretanien kommen vielleicht noch. Ansonsten möchte ich Sie aber ganz herzlich begrüßen. Und wenn ich sage, dass ich Sie auch im Namen der deutschen Delegation begrüßen möchte, dann möchte ich hier insbesondere unseren Minister für Entwicklung erwähnen, den Sie alle wahrscheinlich kennen und dessen Herz wirklich für Afrika schlägt. Wir wollen Sie heute gerne mit diesem Mittagessen zu einer freimütigen Diskussion über die Situation, wie wir sie in Afrika sehen, einladen. Und wir wollen Ihnen berichten, welche Anstrengungen wir gerade unternehmen, um zu versuchen, vom Norden her schauend etwas zur Beantwortung der schwierigen Fragen in Libyen zu tun. Wir wissen, dass dies nie klappen wird, wenn die Afrikanische Union hierbei nicht ein wichtiges Wort mitzureden hat. Ich bin hierüber mit dem Vorsitzenden Faki in der Diskussion. Wir werden heute auch noch ein bilaterales Treffen haben. Wir sehen mit Sorge die sich verschlechternde Sicherheitslage in den G5-Sahel-Staaten, die inzwischen Auswirkungen bis hin in Richtung Ghana, Nigeria und vielen anderen Regionen hat, sodass wir hierüber auch sehr offen sprechen sollten. Wir wollen außerdem unsere Initiative bezüglich des „Compact with Africa“ fortsetzen. Ich bitte um sehr freimütige Äußerungen dazu, was funktioniert, was nicht funktioniert und an welchen Stellen wir besser werden müssen, gerade wenn es um Investitionen der Wirtschaft in den afrikanischen Staaten geht. Heute stand der Tag hier bei der UN-Vollversammlung ganz unter dem Eindruck des Klimaschutzes. Ich denke, dass Generalsekretär Guterres eine hervorragende Vorbereitungsarbeit geleistet hat. Ich habe in meiner Rede heute erwähnt: Die Industriestaaten haben den Klimawandel verursacht, die Leidtragenden sind die Entwicklungsländer. Daraus erwächst auch unsere Verantwortung. Wir wissen, wie sehr die Zerstörung der Lebensgrundlagen auch mit Fragen der Sicherheit zusammenhängt und dass es ohne Sicherheit keine Entwicklung geben wird. Insofern freue ich mich jetzt auf ein offenes Gespräch. Sie sind sehr zahlreich hier bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen vertreten. Ich möchte Präsident Mahamadou Issoufou beglückwünschen. Er hat die letzte Konferenz der Afrikanischen Union veranstaltet – sicherlich ein Kraftakt für ein Land wie Niger. Aber nach allem, was ich höre – und ich habe viele afrikanische Regierungschefs gefragt –, war das ein voller Erfolg. – Jetzt begrüßen wir die Präsidentin von Äthiopien ganz herzlich. – Wir haben verfolgt, wie dieser Gipfel ablief. Die Afrikanische Freihandelszone ist ein Riesenprojekt. In Zeiten, in denen der Protektionismus immer weiter wächst, wäre es ein wirklich gutes Zeichen, wenn sich der Freihandel auf dem afrikanischen Kontinent entwickelt. Das wird auch eine Botschaft an die Europäische Union sein, die Handelsbeziehungen zwischen der Europäischen Union und der Afrikanischen Union freier, aber auch fairer zu gestalten. Deutschland wird in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 die EU-Ratspräsidentschaft innehaben. Wir würden mit Ihnen in diesem Zusammenhang gerade auch an der Handelsagenda gerne weiter arbeiten. Noch einmal ein ganz herzliches Willkommen, auch an die äthiopische Präsidentin. Wir freuen uns, Sie hier dabeizuhaben. Ähnlich wie in Europa sind in Afrika die Frauen, die höchste Ämter innehaben, noch nicht in der Mehrheit. Die Dinge werden sich aber entwickeln. Insofern freue ich mich, dass noch eine Frau hier an diesem Tisch sitzt, die eine wichtige Position innehat. Ich will noch sagen: Es gibt ja viele kritische Nachrichten aus Afrika, aber was mit Blick auf Sudan gelungen ist, ist ein großes Werk. Wir werden das von unserer Seite aus auch unterstützen, damit die Entwicklung weitergehen kann. Herzlichen Dank an Sie alle, ganz besonders auch an die Afrikanische Union. Wir werden noch viel Arbeit zu leisten haben und wollen das im Geiste der Kameradschaft und der Gemeinsamkeit tun. Dann freuen wir uns jetzt auf unser Mittagessen – und danken der Presse
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum UN Climate Action Summit am 23. September 2019 in New York
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-un-climate-action-summit-am-23-september-2019-in-new-york-1674236
Mon, 23 Sep 2019 11:02:00 -0400
New York
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Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle haben den Weckruf der Jugend gehört. Und ich möchte Generalsekretär António Guterres ganz herzlich dafür danken, dass er dieses Ereignis hier im Vorfeld der Generalversammlung abhält. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Klimawandel und Erderwärmung im Wesentlichen von Menschen gemacht sind. Deshalb müssen wir dem Ratschlag der Wissenschaft folgen. Es ist eine globale Herausforderung, die nur gemeinsam bewältigt werden kann. Wir alle haben nur eine Erde. Der Maßstab für unser Handeln muss das Pariser Abkommen sein, das den Rahmen setzt, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu beschränken. Die Industriestaaten sind die Hauptverursacher dieser Erderwärmung, wie wir sie heute erleben. Die Entwicklungsländer sind die Hauptleidtragenden. Deshalb haben wir als Vertreter der Industrieländer die Pflicht, Innovation, Technologie und Geld einzusetzen, um die Wege zu ebnen, um die Erderwärmung zu stoppen. Deutschland sieht seine Verantwortung international und national. International werden wir unsere Mittel für den weltweiten Klimaschutz im Verhältnis zu 2014 von zwei auf vier Milliarden Euro erhöhen. Insbesondere werden wir 1,5 Milliarden Euro in den Green Climate Fund einzahlen. Wir setzen uns ein für Klimarisikoversicherungen. Und wir sind seit Jahrzehnten aktiv – und werden dies fortsetzen – im Bereich des Waldschutzes. National stellt sich die Lage folgendermaßen dar: Deutschland hat ein Prozent der Weltbevölkerung, verursacht aber zwei Prozent der weltweiten Emissionen. Wenn alle so handeln würden wie Deutschland, würden sich die Emissionen weltweit verdoppeln. Jeder weiß, was das bedeutet. Deshalb haben wir uns vorgenommen, bis 2030 55 Prozent unserer CO2-Emissionen gegenüber 1990 einzusparen und im Jahr 2050 klimaneutral zu sein. Dazu wollen wir 2030 65 Prozent, also fast zwei Drittel, unserer Energieversorgung aus erneuerbaren Energien erwirtschaften. Wir werden 2022 aus der Kernenergie ausgestiegen sein und spätestens 2038 aus der Kohlekraftwerkswirtschaft. Wir werden in den nächsten Jahren im Bereich des Verkehrs eine Wende einleiten. Dazu und für Veränderungen im Gebäudebereich wollen wir in den nächsten vier Jahren insgesamt 54 Milliarden Euro in neue Technologien, in neue Mobilität, in Isolierung unserer Häuser, in neue Heizungssysteme investieren. Wir werden außerdem eine CO2-Bepreisung einführen – nicht nur, wie wir sie schon heute im Rahmen der Europäischen Union für die Bereiche Industrie und Energie haben, sondern wir werden – national beginnend und dann hoffentlich europäisch fortsetzend – CO2-Emissionen auch im Bereich von Gebäuden und Verkehr einen Preis geben. Denn wir glauben, dass nur die Entwicklung eines Preissignals uns wirklich dazu bringt, die noch verfügbaren Budgets an klimaschädlichen Gasen nicht zu überschreiten. Insgesamt sehen wir uns und unser Land vor einem tiefgreifenden Wandel, bei dem wir durch Anreize die Menschen mitnehmen müssen. Es gibt diejenigen, die aktiv sind, demonstrieren und uns Druck machen, aber es gibt auch Zweifler. Aufgabe jeder Regierung ist es, möglichst alle Menschen mitzunehmen. Dieser Aufgabe stellt sich Deutschland. Mit unseren am letzten Freitag beschlossenen Maßnahmen und dem, was wir bisher getan haben, werden wir unseren Beitrag zu einer nachhaltigen Wirtschaft und zu einem nachhaltigen Leben weltweit leisten. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum UN-Side-Event „Alliance for Rainforests“ am 23. September 2019 in New York
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-un-side-event-alliance-for-rainforests-am-23-september-2019-in-new-york-1674190
Mon, 23 Sep 2019 09:19:00 -0400
New York
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Meine Damen und Herren, ich möchte ganz herzlich den Initiatoren dieser Konferenz danken: der Allianz für den Amazonas, dem französischen Präsidenten bei der G7-Partnerschaft, dem chilenischen und dem kolumbianischen Präsidenten. Wir begrüßen diese Initiative aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland auch deshalb, weil wir seit Jahrzehnten im internationalen Waldschutz tätig sind und ganz besonders auch in den Ländern des Amazonas. Jedem ist klar: die Amazonasregion ist der Lebensraum von indigenen Völkern – es war sehr schön, dass wir sie heute hören konnten –, sie ist ein Reichtum mit Blick auf die Artenvielfalt auf der Erde und sie ist ein großer Speicher für CO2. Es ist also aus verschiedensten Gründen sehr wichtig, dass wir den Amazonas-Regenwald wie auch die Regenwälder anderswo erhalten. Ich möchte anhand von drei Beispielpunkten über die deutsche Arbeit berichten. Wir unterstützen die Biodiversität und den Wald mit einem aktuellen Finanzvolumen von etwa 337 Millionen Euro und tun das schon seit langer Zeit. Wir haben in diesem Zusammenhang eine multilaterale Partnerschaft, die Waldkohlenstoffpartnerschaft, gegründet. Wir achten außerdem auf zwei Dinge, die ich hier nennen möchte: zum einen auf die Beteiligung der indigenen Völker – da geht es also um das, was man Ownership nennt – und zum anderen auf eine bestimmte Methodologie. Emmanuel Macron hat davon gesprochen, dass wir nicht einfach Geld geben dürfen, sondern dass wir natürlich Ergebnisse erzielen müssen. Deshalb ist der Mechanismus „REDD+“, wie er so schön heißt – „Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation“ – ein bewährter Mechanismus, den wir auch im Amazonasfonds in Brasilien zusammen mit Norwegen einsetzen. Zahlungen erfolgen immer dann, wenn man nachweisen kann, dass wirklich eine Reduzierung der Entwaldung stattgefunden hat. Ich denke, diese Methodologie ist sehr wichtig, damit wir eben zu guten Arbeitsmethoden kommen. Ich möchte als Zweites erwähnen, dass wir auch schon seit vielen Jahren im Kongobecken – der Präsident ist hier – die Zentralafrikanische Waldinitiative unterstützen. Es ist sehr wichtig, dass wir mit Blick auf die Erhaltung des Regenwalds auch in Afrika alle Anstrengungen fokussieren. Das ist dort genauso wichtig wie in der Amazonasregion. Drittens möchte ich auf die neue Initiative der Weltbank hinweisen, die jetzt gegründet wurde und an der sich Deutschland mit 200 Millionen Euro beteiligt. Wir glauben, dass diese globale Partnerschaft für nachhaltige und resiliente Landschaften eine wichtige Initiative der Weltbank ist, die wir unterstützen wollen. Es gibt in Deutschland ein Sprichwort: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Also: Agieren wir, handeln wir für unseren Regenwald auf der Welt. Es ist so wichtig für unser aller Überleben. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Empfang der Preisträgerinnen und Preisträger des 54. Bundeswettbewerbs „Jugend forscht“ am 19. September 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-empfang-der-preistraegerinnen-und-preistraeger-des-54-bundeswettbewerbs-jugend-forscht-am-19-september-2019-in-berlin-1672668
Thu, 19 Sep 2019 11:02:00 +0200
Berlin
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Sehr geehrter Herr Baszio, lieber Herr Parlamentarischer Staatssekretär, lieber Thomas Rachel, meine Damen und Herren, vor allem liebe Preisträgerinnen und Preisträger von „Jugend forscht“, ich möchte Sie alle hier im Kanzleramt ganz herzlich willkommen heißen. Das ist eine gute Tradition. „Frag nicht mich – frag Dich!“ – Dazu hat die diesjährige Wettbewerbsrunde aufgerufen. Und genau das haben Sie auch getan; und zwar nicht nur Sie, sondern viele andere mit Ihnen. Sie sind auf eine knifflige Frage gestoßen und haben sich selbst gefragt, was die Antwort darauf sein könnte. Sie haben sich nicht nur gefragt, sondern Sie haben gelesen, gerechnet, getüftelt, erprobt, nachgedacht und damit genau das gezeigt, was man Forschergeist nennt. Ich weiß nicht, wie es Ihnen erging, aber mir ist es früher als Naturwissenschaftlerin oft so ergangen, dass man auch eine Durststrecke hat, nicht genau weiß, wie es weitergeht; und plötzlich und ganz unerwartet hat man dann eine Idee, was man ausprobieren könnte. Das Gefühl, wenn das klappt, ist natürlich großartig. Sie mussten bestimmt auch beharrlich sein und an der Sache dranbleiben. Dabei sind wirklich tolle Ideen entstanden. Jakob Rehberger und Jonas Münz zum Beispiel haben eine bemerkenswerte Maschine entwickelt, mit der man mit Ultraschallwellen kleinste Verunreinigungen an Titanschrauben von Knochenimplantaten entfernen kann. Tara Moghiseh überlegte sich, wie die Untersuchung weißer Blutkörperchen von Leukämiekranken mit Hilfe künstlicher Intelligenz schneller und günstiger erfolgen kann, und hat dazu Algorithmen programmiert. Neben dem Thema Gesundheit war natürlich auch Umweltschutz ein großes Thema des Wettbewerbs. Paul Kunisch und Thomas Derra haben ein neuartiges und kostengünstiges Bindemittel entwickelt, um Ölteppiche auf Gewässern zu bekämpfen, und zwar mit einer höheren Saugkraft als es bisher möglich war. Ich denke, schon allein diese drei Beispiele zeigen, dass Sie einerseits Forschung auf höchstem Niveau betreiben und damit andererseits auch Verantwortung dafür übernehmen, dass unsere Welt besser wird. Sie wollen Ihren Teil dazu beitragen, indem Sie Probleme nicht nur beschreiben, sondern auch lösen und damit das Leben von Menschen verbessern können. Dafür haben Sie auch viel Zeit eingesetzt. Ich habe Sie hierher ins Bundeskanzleramt eingeladen, um dafür einfach danke zu sagen. Es macht mich froh, wenn ich sehe, wie viele engagierte und kluge Köpfe auch an diesem immerhin schon 54. Wettbewerb teilgenommen haben. Noch nie gab es so viele angemeldete Forschungsprojekte wie in dieser Runde – über 6.600. 12.150 junge Forscherinnen und Forscher haben sich angemeldet. Das ist ein Riesenerfolg und erfordert natürlich auch viel Organisationsgeschick. Deshalb geht der Dank nicht nur an Sie, die Sie geforscht haben, sondern auch an alle, die das überhaupt ermöglicht haben. Das sind über 5.000 Lehrer und Ausbilder, über 3.000 Fach- und Hochschullehrer sowie Experten aus der Wirtschaft. Sie haben gemeinsam ein weiteres Kapitel in der Erfolgsgeschichte von „Jugend forscht“ geschrieben. Danke also dafür. Natürlich gilt der Dank auch dem diesjährigen Paten, dem Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik in Chemnitz. Ich habe von Ministerpräsident Kretschmer gehört, dass Chemnitz ein sehr, sehr guter Austragungsort war. Ich finde es sehr schön, dass Sie sich dazu bereiterklärt haben. Ich finde, die rege Teilnahme kann uns mit Blick auf den Forschungsstandort Deutschland zuversichtlich stimmen. Ich bin mit meiner Zuversicht nicht allein, denn die OECD hat in ihrer internationalen Studie „Bildung auf einen Blick“ festgestellt, dass Deutschland bei den MINT-Fächern stark ist. 40 Prozent der Anfänger eines Bachelorstudiums oder einer gleichwertigen Ausbildung haben sich 2017 für Mathematik, Ingenieur- und Naturwissenschaften oder Informatik entschieden. Das sind so viele wie in keinem anderen Land dieser Studie. Trotzdem brauchen wir immer noch mehr davon, da wir einen Fachkräftemangel in diesen Bereichen haben. Im IT-Bereich zum Beispiel konnten in diesem Jahr rund 59.000 Stellen nicht besetzt werden. Deshalb möchte ich Sie ermuntern, nicht einfach alles beiseitezulegen, nachdem Sie einen Preis bei „Jugend forscht“ gewonnen haben, sondern auch ein Stück weit Ihre eigene Geschichte daraus zu machen und vielleicht eine Ausbildung in diesen Bereichen anzunehmen. Wir haben riesige Aufgaben – Klimaschutz, Erhaltung der Artenvielfalt, Einsparung von Energie und anderes; all das werden wir nur mit Forschung und Innovation erreichen. Es wird sehr oft darüber gesprochen, welche Gesetze man zur Bewältigung dieser Aufgaben machen soll. Aber wenn der Wohlstand erhalten bleiben soll, dann müssen wir interessante, spannende Forschungsergebnisse haben und in Bereiche vordringen, in die wir noch gar nicht vorgedrungen sind. Dazu brauchen wir natürlich auch vernünftige Rahmenbedingungen für Menschen, die forschen. Da darf ich Ihnen für Ihre Zukunft sagen, dass wir da schon vorgesorgt haben. Denn wir zählen heute weltweit zu den fünf Ländern, die am meisten Geld für Forschung und Entwicklung ausgeben. Das muss man ja sehen: Wir haben weit über 180 Länder; und wir gehören zu den fünf besten. Das Forschungsministerium hat drei große Wissenschaftspakte geschlossen. Damit haben wir für die nächsten zehn Jahre, also für die Perspektive bis 2030 – für die Zeit, in der Sie studieren werden, in der Sie eine Ausbildung machen werden, in der Sie ins Berufsleben eintreten werden –, schon jetzt 160 Milliarden Euro veranschlagt, die in das Wissenschaftssystem einfließen werden. Ich glaube, das ist eine ganz gute Grundlage für Sie, weil Sie sagen können: Hier wird wirklich investiert; und zwar sowohl in die Hochschulentwicklung als auch in die Entwicklung der außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Für diejenigen, die an einem Fraunhofer-Institut, Max-Planck-Institut, Leibniz-Institut oder Helmholtz-Institut arbeiten, ist es natürlich ganz wichtig zu wissen: Wir bekommen jedes Jahr drei Prozent mehr. Das bietet Sicherheit. Daher kommen auch international anerkannte Forscher zu uns zurück – oder manche gehen gar nicht erst weg. Das ist ja genau das, was wir brauchen. Nun habe ich hier nicht nur die Aufgabe, allen, die Preise gewonnen haben, zu gratulieren, sondern ich habe immer auch eine spezielle Möglichkeit; und das ist die Verleihung des Sonderpreises für die originellste Arbeit. Es ist natürlich immer schwierig herauszufinden, welche Arbeit das ist. Aber ich habe ja auch Helfer, die mich bei der Auswahl unterstützen. Die Preisträger, die ich gerne besonders ehren möchte, sind Anton Fehnker und Simon Raschke aus Münster. Es kann aber nur einer da sein. Wer ist das? – Anton Fehnker. Wir senden ganz herzliche Grüße nach Armenien, glaube ich, wo Simon Raschke im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahres tätig ist. Es gibt ja heute moderne Kommunikationsmittel, mit denen er auch ein bisschen etwas davon mitbekommen kann. Es sieht hier schon aus wie auf einer Autobahnbaustelle in Miniatur. Die Forschungsfrage, die ja wirklich spannend ist, lautet: „Wie bekommen Straßen Sixpacks?“ Ich würde einmal sagen, „Sixpack“ ist noch die bestmögliche Formulierung, die man dafür finden kann. Denn eigentlich ärgert man sich ja, wenn es unter einem so „rippelt“; und zwar zum Leidwesen von Auto- und besonders von Radfahrern, die es ja noch mehr merken. Wie diese Muster zustande kommen, hat sich manch einer schon gefragt, der auf so einer Strecke gefahren ist. Aber wie manches andere ist das gar nicht so einfach zu beantworten. Ich weiß es jedenfalls noch nicht und bin deshalb richtig gespannt darauf – und würde erst nach der Präsentation den Preis verleihen, damit ich einmal sehen kann, ob es sich lohnt. Dann wollen wir also einmal schauen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen der Verleihung des Staatspreises des Landes Nordrhein-Westfalen an Professor Dr. Klaus Töpfer am 16. September 2019 in Bonn
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Mon, 16 Sep 2019 18:26:00 +0200
Bonn
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Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Armin Laschet, lieber Kollege Müller, liebe ehemalige Kollegen aus dem Kabinett, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten – ich begrüße insbesondere die Abordnung des Saarlandes, die ja mit dem heutigen Abend auch etwas zu tun hat –, sehr geehrte Damen und Herren und vor allem natürlich: liebe Familie Töpfer – aus allen Generationen – und lieber Herr Professor Töpfer, lieber Klaus, als ich erfahren habe, dass Sie, dass du mit der höchsten Auszeichnung des Landes Nordrhein-Westfalen geehrt werden solltest, dachte ich mir: Das ist absolut verdient und eine gute Wahl. Als ich dann eingeladen wurde, die Laudatio zu halten, musste ich nicht lange überlegen und habe sofort entschieden: Das mache ich. Und ich mache das sogar sehr gerne. Es ist mir eine Freude, hier mit dabei zu sein, auch weil Klaus Töpfer Pionierarbeit geleistet hat. Das Bundesumweltministerium war gerade erst ein Jahr alt, als Klaus Töpfer dort 1987 sein Amt antrat. Die Gründung des Ministeriums war eine richtige und wichtige Antwort auf das Reaktorunglück von Tschernobyl 1986. Aber es ging um mehr als nur darum, in einer damals schwierigen Situation mehr Handlungsspielraum für die Politik zu gewinnen. Wichtig war vor allem, Umwelt- und Naturschutz dauerhaft zu einem zentralen Anliegen zu machen – und zwar in der Politik insgesamt. Das ist einerseits gelungen, andererseits darf ich berichten, dass es auch heute immer wieder bestimmter Kämpfe bedarf, damit das nicht in Vergessenheit gerät. Der Minister Klaus Töpfer erwies sich als Glücksfall, denn mit ihm gewann die Umweltpolitik auf Bundesebene ein deutliches Profil. Die Gründung des Bundesamts für Strahlenschutz, das Verbot von verbleitem Benzin, der FCKW-Ausstieg oder die Durchsetzung eines weltweiten Handelsverbots für Elfenbein – das alles sind Maßnahmen, im Übrigen ordnungsrechtliche Maßnahmen, die zu Gutem geführt haben. – Heute wird ja manchmal gesagt: Das Ordnungsrecht darf gar nicht mehr angewendet werden. Ich glaube aber, ohne Ordnungsrecht schaffen wir es nicht. – Das sind jedenfalls nur einige der Erfolge, auf die Klaus Töpfer stolz sein kann und für die wir ihm dankbar sind. Ich will das auch mit Blick auf die Deutsche Einheit sagen. Schon während der friedlichen Revolution hatten sich Umweltschützer in der ehemaligen DDR für die Bewahrung von Naturlandschaften stark gemacht. Die erste und letzte demokratisch gewählte Regierung der DDR mit Lothar de Maizière verabschiedete ein Nationalparkprogramm. Die darin enthaltenen Festlegungen galten nicht nur für eine befristete Übergangszeit, sondern wurden über den Einigungsvertrag zu fortgeltendem Recht geführt. Das ist ganz besonders auch wieder Klaus Töpfer zu verdanken, der diesen Prozess von Bonn aus sehr forciert hat. Das war damals eine einmalige Chance: Fünf Nationalparks, sechs Biosphärenreservate und drei Naturparks mit rund 5.000 Quadratkilometern und damit 4,5 Prozent der Landesfläche der ehemaligen DDR wurden dauerhaft unter Schutz gestellt. Da ich einen Wahlkreis habe, der reich gesegnet ist mit Biosphärenreservaten und Nationalparks, darf ich sagen: Das funktioniert, das hat sich gut entwickelt und hat die touristische Qualität jedenfalls meines Wahlkreises gefördert. Das ostdeutsche Nationalparkprogramm wurde ein wertvoller Beitrag zum Naturschutz insgesamt im wiedervereinten Deutschland. In diesem Jubiläumsjahr feiern wir neben 30 Jahren Mauerfall auch 70 Jahre Grundgesetz. Nach der Wiedervereinigung nahm die Diskussion über die Aufnahme des Umweltschutzes als Staatsziel in das Grundgesetz Fahrt auf. 1994 war dieses Ziel erreicht. – Rita Süssmuth habe ich eben nicht erwähnt, die so starke Präsidentin, die bei mancher Rede auch hinter mir saß und aufgepasst hat. – Rita Süssmuth hat damals sehr stark für eine andere Grundgesetzänderung gekämpft, nämlich für die Aufnahme der Gleichberechtigung der Frauen in das Grundgesetz. Das waren also zwei wesentliche Dinge, die im Zuge der Deutschen Einheit diskutiert wurden und die dann auch zu einer Verankerung im Grundgesetz geführt haben. Die Aufnahme des Umweltschutzes als Staatsziel in das Grundgesetz war ebenfalls maßgeblich Klaus Töpfer zu verdanken. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage: in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gab es nicht immer nur Hosianna-Gesänge – ich will dazu nicht weiter sprechen –, sondern es gab auch viel Kritik. Manch einer war auch ein bisschen sauer auf Klaus Töpfers Fähigkeit zur Public Relation, mit der er sich in die Herzen und Köpfe der Deutschen eingebrannt hatte. Ich habe an dem Bad im Rhein leider nicht teilnehmen können, aber diese Dinge waren jedenfalls etwas, über das uns, als wir nach der deutschen Wiedervereinigung aktive Bundesbürger wurden, immer wieder berichtet wurde. Meine Damen und Herren, wir wissen, dass Umweltschutz nicht an Landesgrenzen endet. Weil das so ist, beschränkte sich auch das Wirken von Klaus Töpfer nicht auf die nationale Umweltpolitik, sondern reichte weit darüber hinaus; und ich will sagen: mit wirklich prägender Kraft. 1992 fand in Rio die große UN-Konferenz statt, die letztendlich die Weichen gestellt hat für alles, was wir heute tun. Erstmals wurden, wie Armin Laschet schon gesagt hat, die Themen Entwicklung und Bewahrung der Schöpfung zusammen gedacht. Man konnte sagen, dass im Vorfeld des Gipfels von Rio de Janeiro die Erwartungen vielleicht nicht allzu hoch waren, aber es gelang mit dieser Konferenz ein für allemal und unumkehrbar, nachhaltige Entwicklung zum zentralen Leitbild globalen Handelns zu machen. Dass es uns gelungen ist, bei den Vereinten Nationen mit den 17 Sustainable Development Goals für alle auf der Welt, nicht nur für die Entwicklungsländer, gemeinsame Ziele festzulegen – und das in einer Zeit, in der der Multilateralismus schon sehr unter Druck war –, ist etwas Großartiges, was ohne die Vorarbeit von Klaus Töpfer und vielen anderen nicht möglich gewesen wäre. In Rio hat die Staatengemeinschaft die Klimarahmenkonvention verabschiedet – und im Übrigen auch die Biodiversitätskonvention, die manchmal ein kleines bisschen im Schatten der Klimarahmenkonvention lebt, aber auch deutlich macht: Klimaschutz und Artenvielfalt gehören sehr eng zusammen. Mit dieser Verabschiedung waren die Weichen für das spätere Kyoto-Protokoll zur Bekämpfung des Klimawandels gestellt. Es ist ja schon angeklungen: Ich wurde die Nachfolgerin von Klaus Töpfer im Umweltministerium. Für mich war das damals eine unglaublich spannende Aufgabe. Ich habe zu Beginn meiner Arbeit gesagt – das wurde mir dann sehr lange um die Ohren gehauen –, dass ich eigentlich als Frauen- und Jugendministerin schon viel darüber gelernt hätte, wie man Umweltpolitik macht. Das hat keiner verstanden. Aber gemeint war, dass man Widerstände überwinden muss – und das stimmte sowohl für die Frauenpolitik als auch für die Umweltpolitik. Insofern konnte ich dann ein bisschen in die sehr, sehr großen Fußstapfen von Klaus Töpfer treten. Wir hatten die große Berliner Konferenz im Vorfeld von Kyoto. Dann gab es viele, viele Rückschritte. Ich will daran erinnern: damals sind wir mit der Maßgabe an die Sache herangegangen, dass es ein für alle verbindliches internationales Abkommen geben muss und verbindliche Ziele für jeden verabschiedet werden müssen. Dazu ist es letztendlich nicht gekommen, weil viele Länder nicht bereit waren, international einklagbare Reduktionsziele einzugehen. Es hat dann eine ganze Weile gedauert, bis wir mit dem Pariser Abkommen über einen anderen Weg, nämlich einen Weg der freiwilligen Verpflichtungen, im internationalen Rahmenwerk vorangekommen sind. Leider reichen die Verpflichtungen aber noch nicht aus, um das Zwei-Grad-Ziel oder das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten. Das heißt, wir müssen hier noch mehr tun. Dass diese Staatspreisverleihung zu Beginn einer Woche stattfindet, in der wir – nämlich am Freitag – in der Bundesregierung Farbe bekennen müssen, hat auch etwas Sinnhaftes. Zumindest fühle ich mich durch diese Preisverleihung angespornt, dass wir, wenn auch sicherlich nicht alle Probleme lösen, aber doch einen Schritt nach vorne machen können. Klaus Töpfer und die Vereinten Nationen – daraus wurde eine ziemlich langfristige Beziehung. Die Frau von Klaus Töpfer ist ja auch hier; und sie weiß … Nein, da ist sie; ich gucke schon die Frau von Armin Laschet an. Da gibt es auch eine langfristige Beziehung, aber keine mit den Vereinten Nationen. Jedenfalls war es eine gute Nachricht für die Vereinten Nationen, dass Klaus Töpfer auch als Bundesbauminister erst einmal noch Vorsitzender der UN-Kommission für Nachhaltige Entwicklung blieb. Als Bauminister hat er sich natürlich auch für die Belange der Ökologie eingesetzt. Er war Beauftragter der Bundesregierung für den Bonn-Berlin-Umzug. Und ich darf sagen: das CDU-Haus, in dem wir heute in Berlin tagen, war damals auch ein sehr avantgardistisches Gebäude und ohne Klaus Töpfer nicht denkbar. Er hatte damals Helmut Kohl davon überzeugt; und ich weiß noch, dass Helmut Kohl so überzeugt war, dass er es auch wirklich mutig vertreten hat. Und Klaus Töpfer hat ihn immer beobachtet, ob er die ganzen umweltpolitischen Gütesiegel dieses Hauses auch gut mit darstellt. In seiner Amtszeit nahm mit dem Freiwilligenprogramm der Vereinten Nationen die UN-Ansiedlung in Bonn ihren Lauf. Es war eigentlich sehr günstig, dass einer im Zusammenhang mit dem Bonn-Berlin-Umzug auch wieder global gedacht hat. Was, glaube ich, mit dem Fledermaus-Sekretariat begann, ist dann langsam aufgewachsen. Wenn ich heute sehe, wie dieser Klimakonventionsturm hier wächst und ein ansehnliches und stattliches Gebäude wird, dann ist das, Herr Oberbürgermeister, doch etwas, worauf Sie stolz sein können. Seien Sie deshalb manchmal auch mit denen, die in Berlin sitzen, gnädig. Wir tun sehr viel für Bonn und seine Zukunft. Es wurde ein UN-taugliches Konferenzzentrum gebaut – auch wieder, wie in Deutschland üblich, nicht ohne Schwierigkeiten, aber immerhin fertig. Deshalb haben die Vereinten Nationen in Bonn einen dauerhaften Ort gefunden. – Ich muss ganz stille sein. Der Berliner Flughafen reißt alles ein, was sonst noch gewesen ist. Dann ist Klaus Töpfer für eine Zeit lang ganz zu den Vereinten Nationen gegangen – aber nicht nach Bonn, sondern nach Nairobi. Eine ganz wichtige Nachricht für die Vereinten Nationen: Er ist auf einen anderen Kontinent gegangen, nämlich nach Afrika – einen Kontinent, dem wir viel, viel mehr Aufmerksamkeit widmen sollten; und zwar nicht immer unter dem caritativen Aspekt gemäß dem Motto „weil wir gerne etwas helfen“, sondern, wie ich mir wünschen würde, ein bisschen mehr unter dem Aspekt der Neugierde auf Menschen, die eine Kreativität, die eine Energie haben, von der wir manchmal nur träumen können. Ich glaube, wir können von Afrika viel lernen, genauso wie natürlich auch Afrika von uns lernen kann. Es könnte also eine Win-win-Beziehung sein. Klaus Töpfer hat die etwas in der Krise befindliche Organisation stabilisiert. Das UN-Umweltprogramm, das wir heute haben, verdanken wir wesentlich seinem Einsatz. Auch als er wieder zurückkam, blieb er der Nachhaltigkeitspolitik treu. Ich kann jetzt hier unmöglich alles sagen, was Klaus Töpfer in seinem Leben für die Nachhaltigkeit getan hat. Aber, lieber Klaus Töpfer, du hast nie die nationale Seite aus den Augen verloren, wenn du global unterwegs warst. Und du hast nie das Globale aus den Augen verloren, wenn du national unterwegs warst, weil das zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Wir dürfen auch niemals zulassen, dass das gegeneinander ausgespielt wird. Das ist der Kern des Multilateralismus. Ob im Rat für Nachhaltige Entwicklung, in der Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung, aktuell im Nationalen Begleitgremium für die Endlagersuche oder sei es in Stellungnahmen, Diskussionen oder Gastvorträgen an Hochschulen – du hast es immer verstanden, komplexe Fragen auf den Punkt zu bringen. Es ist ja auch wichtig, dass man sich nicht irgendwo in Fachbegriffen verliert, sondern die wichtigen Dinge so darlegt, dass Menschen mitgehen können. Du hast die Notwendigkeit einer Energiewende lange vorausgesehen und auch vorangetrieben. Wir brauchen mehr Energieeffizienz und mehr erneuerbare Energien, wenn wir den Klimaschutz wirklich ernst nehmen wollen. Ich glaube, du hast dich oft auch ein wenig als ein Rufer in der Wüste gefühlt, wenn ich zum Beispiel an den ersten Nationalen Klimaschutzbericht der Bundesregierung denke, der 1993 vorgestellt wurde. Schon damals hat sich Klaus Töpfer zu ehrgeizigen Zielen zur Reduzierung von CO2-Emissionen bekannt. Wir waren damals mittendrin in der Gestaltung der Deutschen Einheit und nicht jeder fand, dass das auf die Prioritätenliste kommen sollte. Er war eben seiner Zeit oft voraus, weil er die wirtschaftliche Entwicklung und den Schutz natürlicher Lebensgrundlagen stets konsequent zusammengedacht hat – also im Grunde Soziale Marktwirtschaft in allen Dimensionen. Da muss sich sozusagen die ökologische Dimension einordnen. Sie muss selbstverständlich werden. Es muss für uns ganz natürlich werden, in Kreisläufen zu denken, an die nächsten Generationen zu denken, dieses Denken zu verinnerlichen und im Sinne der Bewahrung der Schöpfung zu verstehen. Das ist nicht irgendetwas, das man nur jetzt gerade einmal tun muss, sondern das ist eine völlig neue, aber in sich extrem sinnvolle Art und Weise, menschliches Leben in vielen Generationen zu betrachten. Als wir an Klaus Töpfers 80. Geburtstag gedacht haben, haben wir die Veranstaltung dem Anthropozän gewidmet, dem Zeitalter, in dem wir leben. So hat es jedenfalls der Nobelpreisträger Paul Crutzen definiert. Das ist auch allgemein international akzeptiert. Wir müssen leider sagen: noch ist Nachhaltigkeit nicht das Wesensmerkmal des Anthropozäns. Die Zeit drängt. Wir erleben, dass der Mensch durch die von ihm verursachten Veränderungen – unter anderem auch die Klimaveränderung – und durch die Nutzung der Landschaft die Geologie der Erde dauerhaft beeinflusst. Wir haben es mit einer Reihe von bereits irreversiblen Veränderungen zu tun. Deshalb ist es sehr interessant und spannend, dass Klaus Töpfer auch jetzt wieder mahnt und sagt „Fangt nicht an, eine Irreversibilität mit einer anderen zu lösen“, dass wir uns also nicht auf Abhängigkeiten von Pfaden begeben dürfen, die uns später keine Korrekturmaßnahmen mehr ermöglichen und auch keinen demokratischen Diskurs mehr darüber zulassen. Das heißt also: Das, was man heute zum Beispiel mit Geo-Engineering macht – man muss gar nicht so viel sparen, man kann das CO2 irgendwie in geologische Formationen einbringen –, wäre ein Weg, der uns vom Regen in die Traufe bringen kann. Wir müssen umdenken. Wir müssen Neues machen; und wir werden Neues auch machen können. Die Eingriffe in die globalen Ökosysteme sind schon so groß, dass wir keine weiteren vornehmen dürfen, bei denen wir wieder die Risiken nicht abschätzen können und dann in weitere Handlungszwänge hineinkommen. Dabei kommen wir zu etwas, das den Katholiken Klaus Töpfer immer geprägt hat: Nicht alles, was technisch möglich ist, ist auch verantwortbar zu machen. Wir müssen uns die Folgewirkungen bewusst machen. Dort, wo wir sie nicht einschätzen können, sollten wir lieber die Finger davon lassen. Handlungsoptionen sollten also immer auf ihre Langfristigkeit hin überprüft werden. Spätere Korrekturmöglichkeiten sollten gegeben sein. Im Grunde ist das etwas, was ja schon Kant als Dilemma beschrieben hat, wonach die Notwendigkeit des Handelns immer weiter reiche als die Möglichkeit des Erkennens. In so einer Phase sind wir jetzt ganz sicherlich. Die Möglichkeit des Erkennens liegt eher hinter der Notwendigkeit des Handelns zurück. Deshalb haben wir mit Klaus Töpfer einen Übersetzer des Kategorischen Imperativs im umweltethischen Kontext. Er hat das praktiziert, er lebt es. Er ist ein Vordenker und ein Macher. Es gibt ja viele, die Vordenker sind, während andere versuchen zu machen. Klaus Töpfer hat beides immer zusammengebracht. Deshalb, lieber Klaus Töpfer, wünsche ich dir, dass du dich weiter so engagiert einsetzen kannst, dass du uns immer einmal auf die Zehen trittst und kritisierst – wir überleben das und sind ermutigt und nicht beleidigt – und dass wir alle davon lernen, an Morgen zu denken. Schön, dass auch jüngere Menschen hier sind, die ihren Beitrag dazu leisten. Man muss ja bekümmert sagen – ich sage das ganz offen –, dass uns erst die Jugend wieder ein bisschen auf Trab gebracht hat. Das ist gut. Das ist nicht nur das Recht der Jugend, sondern es tut uns allen gut. Wir werden ja auch am Freitag wieder sehr machtvolle Demonstrationen sehen. Es ist auch richtig, dass die junge Generation mit einer ganz anderen Lebensperspektive findet, dass es bis 2050 noch sehr lange hin ist, während andere finden, dass es ganz schön schwierig ist, bis dahin Klimaneutralität zu erreichen. Aber beides muss eben zusammen gedacht werden. Heute das Morgen zu denken – das ist etwas, das Klaus Töpfer seit Jahrzehnten gedacht hat. Deshalb wird es höchste Zeit, dass er den Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen bekommt. Und er bekommt ihn jetzt. Deshalb herzlichen Glückwunsch dazu. Wir setzen weiter auf dich und deine Beiträge. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich des Festakts zum 250. Geburtstag Alexander von Humboldts
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Sat, 14 Sep 2019 11:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Die Erfahrung des Fremden ist die treueste Begleiterin des Forschungsreisenden – das ist heute nicht anders als vor 220 Jahren, als Alexander von Humboldt zu seiner Südamerikareise aufbrach. „Weltanfreundungsversuche“ hat der weitgereiste Ethnologe Hans-Jürgen Heinrichs die Annäherungen an das Fremde in seinem gerade erschienen Essayband „Fremdheit. Geschichte und Geschichten der großen Aufgabe unserer Gegenwart“ genannt. Dazu gehört für ihn auch der Blick nach innen, die Selbstwahrnehmung des Reisenden in der Konfrontation mit Fremdheit, ich zitiere: „Oft genug steht er staunend und fragend vor seinen Erlebnissen und muss sich ein mögliches Verstehen erst mithilfe sich einander ergänzender Zugangsweisen erschließen. (…) An sich selbst erfährt er eine scheinbar unbegrenzte Neugierde, zugleich aber auch Angst und Widerstand gegen das gänzlich Unvertraute.“ Zum 250. Geburtstag des wohl berühmtesten deutschen Forschungsreisenden Alexander von Humboldt darf ich Sie herzlich willkommen heißen an einem Ort, der solche „Weltanfreundungsversuche“ ermöglichen soll: die Annäherung an das gänzlich unvertraute Fremde; das Verstehen im Lichte des vertrauten Eigenen. Fremdheit ist eine der großen Herausforderungen in unserer globalisierten Welt – in einer Zeit, in der vielerorts Welten aufeinanderprallen. Alexander von Humboldt ist für die Annäherung an das Fremde Vorbild und Vordenker. Er hat sich nicht nur mit seiner oft geradezu verwegenen Kühnheit und Furchtlosigkeit einen Namen gemacht, die es ihm erlaubte, ins „gänzlich Unvertraute“ aufzubrechen – an Orte, an denen kein Europäer vor ihm war. Angesichts seiner Herangehensweise an das Fremde, angesichts seiner wissenschaftlichen Prinzipien und Praktiken darf man den Forschungsabenteurer und Universalgelehrten getrost auch als Revolutionär des menschlichen Weltverständnisses bezeichnen: Er baute ein weltumspannendes wissenschaftliches Netzwerk auf, das ihm globale Forschungsprojekte ermöglichte. Er dachte interdisziplinär, um über Einzelphänomene hinaus Zusammenhänge, das große Ganze zu erkennen. Er kultivierte die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse über das Fremde für eine breite Öffentlichkeit in seinen legendären „Kosmos-Vorlesungen“. Natürlich war er dabei seiner eigenen Welt nicht entrückt, was sich nicht zuletzt auch an einem – aus heutiger Sicht – stellenweise durchaus kritikwürdigen Sprachgebrauch ablesen lässt. Doch, und das ist sein Vermächtnis: Seine Weltanschauung war kein geschlossenes Weltbild, sondern eine Haltung zur Welt: Lust und Neugier, die Welt anzuschauen und dabei zu lernen – sich Fremdes anzueignen statt Eigenes hermetisch abzugrenzen. Damit ist Alexander von Humboldt „250 Jahre jung!“, um das Geburtstagsmotto dieses fröhlichen Fests aufzugreifen: Sein Vermächtnis ist aktuell wie eh und je, leider auch angesichts rassistischer und nationalistischer Ab- und Ausgrenzung, und es ist zukunftsweisend für die gleichermaßen selbstbewusste wie weltoffene Annäherung der Völker und das Ideal eines gleichberechtigten Dialogs unterschiedlicher Weltkulturen. Deshalb steht er – gemeinsam mit seinem Bruder, dem Sprachforscher Wilhelm von Humboldt – Pate für das Humboldt Forum, das den Kulturen der Welt eine Bühne bietet und zur Annäherung an das „gänzlich Unvertraute“ einlädt. Unter seinem Dach wollen wir – den Humboldt’schen Prinzipien folgend – unterschiedliche Disziplinen in Forschung und Wissenschaft mit Kunst und Kultur in interdisziplinärer Zusammenarbeit vereinen, getragen von einer partnerschaftlichen Kooperation nationaler wie internationale Institutionen, mit Angeboten für ein gemischtes Publikum aus aller Welt – und aus allen Welten, die hier in Berlin aufeinandertreffen. Aus diesem Grund habe ich mich so vehement für freien Eintritt in die Dauerausstellung eingesetzt. Die Exponate aus den außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die hier von den großen, alle Kulturen prägenden Themen der Menschheitsgeschichte erzählen sollen, offenbaren in Verbindung mit der benachbarten Museumsinsel und deren Kulturschätzen aus Europa und dem Nahen Osten, dass es ein „Wir“ auch jenseits kultureller und nationaler Grenzen gibt. Entstehen soll ein lebendiger Ort möglichst breiter öffentlicher Debatten: ein Museum, das die Gesellschaft nicht nur abbildet, sondern auch mitformt. Es ist sicherlich nicht das schlechteste Vorzeichen, dass es diesen Anspruch schon vor seiner Eröffnung eingelöst und eine Debatte zum Umgang mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten angestoßen hat: Verdrängtes und vergessenes Unrecht ans Licht zu holen, ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber den ehemaligen Kolonien – und Voraussetzung für Versöhnung und Verständigung mit den dort lebenden Menschen, ganz im Geiste Alexander von Humboldts, der sich auf seiner Südamerikareise zu einem scharfen Kritiker des Kolonialismus und der Sklaverei entwickelte. „Angst vor dem Fremden ist eine menschheitsgeschichtliche Grundausrichtung. Die Anerkennung und Wertschätzung des Fremden ist erst eine spätere zivilisatorische Errungenschaft,“ schreibt der Ethnologe Hans-Jürgen Heinrichs in seinem eingangs erwähnten, lebens- und welterfahrungsreichen Buch über „Fremdheit“, die „große Aufgabe unserer Gegenwart“. Alexander von Humboldt hat dieser zivilisatorischen Errungenschaft mit seiner unbändigen Neugier auf das Fremde den Weg geebnet. Das würdigen wir aus gutem Grund mit einem international geprägten, welthaltigen Festprogramm. Ich danke allen, die dazu beitragen und es auf die Beine gestellt haben! Die verdiente, besonders schöne Würdigung erfährt Alexander von Humboldt aber auch in Form einer Gedenkmünze, für die ich mich stark gemacht habe, auf dass sein Vermächtnis noch größere Breitenwirkung entfaltet. Die Anerkennung und Wertschätzung des Fremden als zivilisatorische Errungenschaft zu verteidigen – insbesondere gegen jene, die Vorurteile und Hass gegen das Fremde, gegen Andersdenkende, Anderslebende, Andersglaubende schüren – bleibt Voraussetzung für Verständigung und damit Aufgabe für die Zukunft. Deshalb stellen wir im Herzen unserer deutschen Hauptstadt nicht das Eigene in den Mittelpunkt, sondern geben mit den Kulturen der Welt dem Fremden in Berlin ein Zuhause – in der Hoffnung, es möge am Ende eines Besuchs im Humboldt Forum die Erkenntnis stehen, dass es selbst im Fremden Vertrautes gibt, ja dass uns Menschen überall auf der Welt trotz aller Differenzen und Konflikte mehr verbindet als uns trennt. In diesem Sinne noch einmal: Herzlich willkommen im Humboldt Forum! Werden Sie Weltbürger, ganz so, wie – 250 Jahre jung! – Alexander von Humboldt.
In ihrer Rede würdigte Staatsministerin Monika Grütters den wohl berühmtesten deutschen Forschungsreisenden im gleichnamigen Humboldt Forum. „Alexander von Humboldt ist für die Annäherung an das Fremde Vorbild und Vordenker. Seine Weltanschauung war kein geschlossenes Weltbild, sondern eine Haltung zur Welt: Lust und Neugier, die Welt anzuschauen und dabei zu lernen – sich Fremdes anzueignen statt Eigenes hermetisch abzugrenzen“, so Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters im Rahmen der Verleihung des Preises der Nationalgalerie 2019
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-im-rahmen-der-verleihung-des-preises-der-nationalgalerie-2019-1671484
Mon, 16 Sep 2019 19:15:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
„An der heutigen Generation und heutigen Zeit ist bemerkenswert, wie stark wir von Bildern geprägt sind. Jeder besitzt die Werkzeuge dazu, sich darzustellen. Sich selbst gegenüber und für die Außenwelt“, sagen Sie, lieber Herr Fujiwara in dem kurzen Portrait, das die Deutsche Welle für diese Ausstellung über sie gedreht hat. Ja, die mediale Selbstinszenierung ist allgegenwärtig. Und oft rückt sie auch scheinbar Nebensächliches in den Fokus und verschafft ihm einen erstaunlichen Hype, meine Damen und Herren. Ganz wunderbar sichtbar gemacht hat das Simon Fujiwara mit dem blauen Anzug, der hier in der Ausstellung hängt. Die Sängerin Beyoncé trug ihn bei ihrem Besuch im Amsterdamer Anne-Frank-Haus und postete davon ein Foto auf Instagram. Innerhalb von 45 Minuten war der Anzug weltweit ausverkauft. Man reibt sich dann doch verwundert die Augen, warum dieses unauffällige Kleidungsstück, ein so immenses Begehren weckte. Der Kampf um Sichtbarkeit, das Schaulaufen im Netz, sie folgen einer ganz eigenen Logik. Und nicht immer sind es nur bemerkenswerte Positionen und kreative Einfälle, nicht immer sind es nur Qualität und Relevanz, die Berühmtheit und Aufmerksamkeit erlangen. In einer Gesellschaft der kurzen Halbwertszeiten und schnellen Hypes wirkt der Preis der Nationalgalerie mit seinem mehrstufigen Auswahlverfahren fast schon anachronistisch. Aber gerade, weil hier eine angesehene Jury mit viel Sachverstand, mit Zeit und mit fundierten Begründungen die Aufmerksamkeit auf Einzigartiges, auf bemerkenswertes kreatives Potential und ungewöhnliche Positionen lenkt, trägt er zum Erfolg außergewöhnlicher Künstler bei. Das belegt auch die Liste der Preisträger und der Nominierten vergangener Jahre: Olafur Eliasson, Tino Sehgal, Monica Bonvicini, Christian Jankowski, Katharina Grosse oder Anne Imhof (um nur einige zu nennen) − sie alle zählen mittlerweile zu den großen Namen der Gegenwartskunst. Ich danke Ihnen, liebe Jury, für Ihre wertvolle Arbeit. Dank Ihrer Expertise ist der Preis der Nationalgalerie inzwischen zu einer renommierten Auszeichnung mit bundesweiter, ja internationaler Strahlkraft geworden. Ganz herzlich danke ich auch Ihnen, liebe Gabriele Quandt, und dem Verein der Freunde der Nationalgalerie. Sie machen den Preis überhaupt erst möglich. Mit der Auszeichnung, die ja inzwischen nicht mehr mit einem Preisgeld, sondern mit einer Einzelausstellung in einem der Häuser der Nationalgalerie im Folgejahr verbunden ist, setzen Sie mittlerweile zum zehnten Mal ein Zeichen für junge, zeitgenössische Kunst in Berlin. Ihren selbst gesetzten Auftrag, jungen Künstlerinnen und Künstlern Räume zu geben, verstehen Sie mit dieser Form der Prämierung ganz offensichtlich nicht nur wortwörtlich; Sie setzen ihn auch unter großem persönlichen Einsatz um. Meine Damen und Herren, junge, mutige Künstlerinnen und Künstler brauchen Entfaltungsräume. Und wir brauchen junge Künstlerinnen und Künstler, die sich auf neues Terrain wagen, die an alten Gewissheiten und vertraute Bewertungsmustern rütteln: Die wie Pauline Curnier Jardin Haltungen und Stereotypen hinterfragen. Die wie Simon Fujiwara und Katja Novitskova einen kritischen Blick auf aktuelle Entwicklungen – insbesondere der digitalisierten Welt werfen. Die sich wie Flaka Haliti mit der jüngsten Geschichte und deren Folgen auseinandersetzen. Die nominierten Künstlerinnen und Künstler stellen politische und ethische Fragen und schaffen – zumindest kann ich das (nach meinem Rundgang) von mir behaupten − mit ihren Arbeiten ein gewisses Unbehagen. Meine Damen und Herren, wir brauchen Werke mutiger junger Künstler in den Galerien und auch in den großen renommierten Museen. Gerade in einer digitalisierten Welt, in der so oft Kritiklosigkeit und Bequemlichkeit belohnt werden, brauchen wir Kunst die irritiert und verstört. Gerade in einer Zeit, in der populistische Einfalt den Blick auf die Chancen kultureller Vielfalt verengt, brauchen wir Künstlerinnen und Künstler, die ihn durch einen Perspektivwechsel wieder weiten. Gerade in einer sich so rasant veränderten Gesellschaft wie dieser, brauchen wir Kunst, die uns zuweilen auch hilft, Widersprüche und Überforderungen auszuhalten – sie gar als Herausforderung und Aufgabe zu begreifen. Die künstlerische Avantgarde zu schützen und zu fördern, ihr Freiheiten zu sichern und Freiräume zu schaffen – das ist unsere Aufgabe, die der Politik und Gesellschaft. Es freut mich daher, dass dies mit Ausstellungen wie dem Preis der Nationalgalerie seit 20 Jahren immer wieder erfolgreich gelingt. Und es freut mich, dass die nominierten Künstlerinnen und Künstler, die aus den unterschiedlichsten europäischen Städten − die aus Pristina, aus Marseille, Tallinn oder aus London kommen − dass sie alle hier in Deutschland heimisch werden, oder zumindest einen Ort gefunden haben, in dem sie ihre Visionen umsetzen können. Dank „interessanter“, anregender Lebens- und Arbeitsbedingungen, dank einer vielfältigen Kreativszene, dank einer blühenden Kulturlandschaft, bietet insbesondere Berlin vielen internationalen Künstlern Orte kreativer Entfaltung. Ich hoffe, dass dies trotz steigender Mieten und Immobilienpreise auch so bleibt. Bald, meine Damen und Herren, wird Deutschland, wird Berlin mit dem Museum des 20. Jahrhunderts um eine weitere Attraktion reicher sein. Der erste Spatenstich soll im Herbst stattfinden, und es ist ein großer Gewinn, dass neben den Sammlern Marx, Marzona und Pietsch nun auch der Künstler Gerhard Richter dem Neuen Museum viele seiner Werke zur Verfügung stellen möchte. Dazu bewogen haben ihn nicht nur die großartige Sammlung der Neuen Nationalgalerie, sondern auch die Qualität des Entwurfs der Architekten Herzog & de Meuron. Das Museum des 20. Jahrhunderts wird also einen eigenen Gerhard-Richter-Saal bekommen, und ich danke Dir, lieber Udo, ganz herzlich, dass Du diesen Erfolg klug vorbereitet und überhaupt erst ermöglicht hast. Meine Damen und Herren, Udo Kittelmann hat hier in Berlin so etwas wie eine Ära des Zeitgenössischen geprägt. Dass er nun seinen Vertrag nicht verlängern und sich nach zwölf Jahren ab November 2020 neuen Aufgaben zuwenden möchte, bedaure ich sehr. Mit aufregenden, kühnen Ausstellungen hast Du, lieber Udo, die Nationalgalerie weiter geöffnet für die Kunst unserer Zeit. Ausstellungen wie „Die schwarzen Jahre. Geschichten einer Sammlung.1933-1945“ oder zuletzt „Emil Nolde. Eine deutsche Legende“ sind Lehrstücke über die Rolle der Kunst und ihre Gefährdungen in dunklen Zeiten. Mit „Hello World“ bist Du mit dem kanonisierten westlichen Kunstverständnis kritisch ins Gericht gegangen. Mit etlichen Einzelausstellungen beispielsweise der Künstler Carsten Höller, Otto Piene oder Gerhard Richter hast Du für ein volles Haus und nicht nur bei mir für bleibende Erinnerungen gesorgt. Mehr als 500 Werke sind während Deiner Amtszeit in die Sammlung der Nationalgalerie aufgenommen worden, darunter beispielsweise Lotte Lasersteins visionärer „Abend über Potsdam“. Lieber Udo, Du bist ein Kurator mit Leidenschaft, Mut und Konsequenz. Das habe ich immer bewundert, und deshalb wirst Du uns fehlen. Aber jetzt schauen wir erstmal auf die Preisträgerinnen und Preisträger heute. Diese Preisverleihung markiert für viele Künstlerinnen und Künstler den Beginn einer großen Karriere. Das jedenfalls wünsche ich ihnen … und gratuliere der Preisträgerin bzw. dem Preisträger wie auch Ihnen allen sehr herzlich. Sie und Ihre Werke stehen heute Abend im Mittelpunkt und sollen den verdienten Raum bekommen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen, meine Damen und Herren, Inspiration durch Konfrontation mit neuen Sichtweisen. Lassen Sie sie auf sich wirken!
In ihrer Rede dankte Kulturstaatsministerin Monika Grütters der Jury und lobte die Künstlerinnen und Künstler. „Wir brauchen junge Künstlerinnen und Künstler, die sich auf neues Terrain wagen, die an alten Gewissheiten und vertrauten Bewertungsmustern rütteln“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der 68. Internationalen Automobil-Ausstellung am 12. September 2019 in Frankfurt am Main
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-68-internationalen-automobil-ausstellung-am-12-september-2019-in-frankfurt-am-main-1670394
Thu, 12 Sep 2019 10:37:00 +0200
Frankfurt am Main
Alle Themen
Sehr geehrter Herr Mattes, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Volker Bouffier, Exzellenzen, meine Damen und Herren, „Driving Tomorrow“ – so lautet das Motto der diesjährigen Internationalen Automobil-Ausstellung. Es ist natürlich spannend zu sehen, wie wir morgen fahren. Und wo könnten wir das besser erfahren als auf der IAA? Wir haben ja soeben ein beeindruckendes Beispiel gesehen, wohin die Reise geht. Es geht also nicht nur darum, wie wir in Zukunft selber fahren, sondern auch darum, wie wir ans Ziel kommen, ohne selbst zu fahren. Das Zukunftsthema heißt also nicht nur „Driving Tomorrow“, sondern auch „Being Driven Tomorrow“. Ich glaube, es kann nicht besser gezeigt werden, dass diese IAA in vielerlei Hinsicht anders ist als manche vorher, wenngleich sich in den letzten Jahren der Wandel schon angedeutet hat. Aber jetzt wird es sichtbarer. Die IAA ist heute nach wie vor ein wichtiger Gradmesser für den mobilen Fortschritt. Doch es war ihr keineswegs in die Wiege gelegt, ihrer Zeit voraus zu sein. Als sie nämlich 1897 in Berlin erstmals stattfand, war Deutschland nicht das erste Land mit einer solchen Ausstellung. Frankreich und England waren uns voraus. Dort wurden bereits 1894 und 1895 Automobil-Ausstellungen organisiert. In der Anfangszeit des Automobils hatte Deutschland also zumindest im Bereich der Vermarktung von Automobilen einen Rückstand gegenüber anderen Ländern. Diesen galt es aufzuholen; und das gelang damals auch. Gleichwohl hatten sie schon 1914 wieder das Nachsehen, als Henry Ford in den USA die Fertigung von Autos auf automatisch angetriebene Fließbänder umstellte. Die damit gesunkenen Produktionszeiten und Produktionskosten erlaubten es ihm, die Verkaufspreise deutlich zu senken. Die Markterfolge ließen nicht lange auf sich warten. Nach den Zerstörungen des von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkriegs mussten die deutschen Hersteller, wie die Wirtschaft insgesamt, im Grunde völlig neu anfangen. Wir alle wissen, dass das sogenannte Wirtschaftswunder der jungen Bundesrepublik Deutschland gerade auch in der Automobilindustrie seinen Lauf nahm. Heute ist die Automobilindustrie für den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes eine ganz wesentliche Branche, die hunderttausenden Menschen Beschäftigung und damit Sicherheit gibt. Jetzt liegt ein Kapitel vor uns, zu dem Herr Mattes sagte: „Kein Stein bleibt auf dem anderen.“ Ich glaube trotzdem, dass wir auf dem aufbauen können, was wir geschaffen haben. Das ist natürlich nicht nur für die Ingenieure, für die, die entwickeln, eine große Herausforderung, sondern vor allem auch für die vielen anderen Beschäftigten, die man mitnehmen muss und die sich sozusagen lebenslang weiterqualifizieren müssen. Auch das ist ein Thema, das uns in der Politik sehr beschäftigt. Die Branche hat also riesige Aufgaben vor sich. Belastend wirkt dazu noch die Thematik der unzulässigen Abschalteinrichtungen, die mitten in einem riesigen Wandel im Grunde zu einem Vertrauensverlust geführt hatte. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass die Automobilindustrie jetzt Verlässlichkeit zeigt und sich den geänderten Bedürfnissen anpasst. Das heißt eben, ressourcensparend und klimaschonend unterwegs sein können; und das auf der Grundlage moderner Technologien. Es ist ein Umbruch, wie man ihn seit der Erfindung des Automobils nicht gesehen hat, weil er ja in verschiedenen Bereichen und Sektoren stattfindet. Es geht einmal um veränderte Antriebe, es geht um autonomes Fahren, es geht um ein völlig verändertes Besitzverhalten zumindest in den urbanen Zentren. Und das alles muss auf einmal bewältigt werden. Ich glaube, das erfordert auch eine sehr enge Kooperation zwischen staatlichen Stellen und der Industrie, weil wir natürlich auch die Rahmenbedingungen dafür setzen müssen, dass dieser Umbruch bewältigt werden kann. An manchen Stellen – ich komme später noch darauf zurück – ist uns ja noch gar nicht klar: Was ist eigentlich die wirtschaftliche Verantwortung und was ist sozusagen die staatliche Verantwortung? Wenn es um die Zulassung eines Mobils geht, das man Auto nennt, bei dem aber kein Fahrer mehr hinterm Steuerrad sitzt, dann haben wir das schon rechtlich bewältigt. Wenn es aber um die Frage des Ausbaus von Infrastrukturen für verschiedene Antriebstechnologien geht, dann gibt es dafür keine richtige historische Folie, auf der wir aufsetzen können. Ist der Staat dafür verantwortlich? Ist die Wirtschaft dafür verantwortlich? Wie finden wir gute Modelle? Ich komme darauf noch zurück. Erst einmal ist es ganz wichtig, dass die Automobilwirtschaft in Deutschland über 25 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investiert. In Deutschland sind immerhin rund 47 Millionen Pkw angemeldet; und wir sehen ja, dass das Mobilitätsbedürfnis weltweit weiter steigt, weil die Weltbevölkerung weiter wächst. Diese hohe Mobilität hat ihren Preis, wenn nicht klimafreundlichere, effizientere Fahrzeuge hergestellt werden. Wenn wir uns unsere Klimaschutzauflagen in Deutschland ansehen, dann sehen wir ja, dass wir heute zwar viel effizientere Technologien im individuellen Auto haben, aber dass seit 1990 keinerlei CO2-Reduktion in der Gesamtmenge des Verkehrs erreicht wurde. Zwar haben wir effizientere Autos, aber die Menge an Verkehr hat zugenommen. Damit liegt nach den europäischen Vorgaben bis 2030 eine Riesenherausforderung vor uns – nicht nur vor Ihnen, was die Reduzierung des Flottenverbrauchs anbelangt, sondern auch vor uns, da wir von heute bis 2030 40 Prozent der CO2-Emissionen im Verkehr reduzieren müssen. Das sind die Vorgaben, die wir uns gesetzt haben, um die Klimaziele zu erreichen. Das ist eine Herkulesaufgabe für Sie und für uns. Ermutigend ist natürlich, dass sich überall auf der Welt Autohersteller, Zulieferer, Elektroindustrie, Energiewirtschaft und andere darauf einstellen, Lösungen für die veränderten Mobilitätsbedürfnisse zu finden. Beginnen wir einmal mit den alternativen Antriebstechnologien. Da ist die Elektromobilität jetzt prägend für viele Aussteller auf dieser Internationalen Automobil-Ausstellung. Wenn wir uns die CO2-Bilanz anschauen, müssen wir heute ja noch sagen: Die Elektromobilität ist sozusagen noch ein Entwurf für die Zukunft, denn wirklich klimafreundlich sind die Autos erst dann, wenn der Strom auch aus erneuerbaren Energien entsteht. Mit annähernd 40 Prozent Anteil bei der Stromversorgung sind die erneuerbaren Energien immerhin schon die wichtigste Säule unserer Stromerzeugung, aber wir sind noch weit davon entfernt, 100 Prozent erneuerbare Energien zu haben. Wir wollen 65 Prozent bis 2030 erreichen. Und wenn ich sehe, wer alles nur noch Strom aus erneuerbaren Energien haben will, frage ich mich, ob das für 2030 überhaupt reicht. Wenn ich auf der anderen Seite sehe, in welcher Geschwindigkeit neue Leitungssysteme gebaut werden, dann frage ich mich auch, ob wir das mit den 65 Prozent überhaupt schaffen. Wenn ich darüber hinaus die Akzeptanzprobleme der Windenergie sehe, muss ich sagen: Diese Fragen werden dadurch noch drängender. Das heißt, wir müssen sozusagen eine Parallelität Ihrer Antriebsentwicklungen und der Umstellung der gesamten Energiewirtschaft erreichen; und das ist alles andere als trivial. Wir wissen aber auch: Die Welt schläft nicht. Herr Krafcik hat uns das gerade eindrucksvoll gezeigt. Ich war vorige Woche in China – viele chinesische Aussteller sind auch hier – und konnte sehen, mit welcher Dynamik auch dort in die neuen Aufgaben eingestiegen wird. Ich glaube: wir können es in Deutschland schaffen, vorne mit dabei zu sein. Aber das ist nicht naturgegeben, sondern bedarf einer zusätzlichen Anstrengung. Globalisierung hin oder her – ich möchte, dass die deutsche Mobilitätswirtschaft, sage ich einmal, die Automobilindustrie, nach wie vor führend bleibt oder immer wieder führend wird, zumal sie in der Geschichte gezeigt hat, dass sie da, wo Rückstände sind, auch immer wieder aufholen kann. Und da, wo sie gut ist, müssen die anderen aufholen. Das muss unser gemeinsames Ziel sein. Nun sehen wir hier also eine Vielzahl an Elektrofahrzeugen aus deutscher Produktion; und zwar nicht nur Konzeptstudien, sondern auch wirklich Serienfahrzeuge. Daran sieht man, dass mehr Bewegung in die Elektromobilität gekommen ist. Allerdings ist dies auch noch eine Frage des Preises; das heißt, wir müssen auch in eine Skalierung kommen, damit der Preis dann so wird, dass das Ganze auch für Menschen mit niedrigem Einkommen erschwinglich ist. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten. Für die Akzeptanz des alternativen Antriebs Elektromobilität ist die Verlässlichkeit der Ladeinfrastruktur natürlich von größter Bedeutung. Wir haben heute zwar 50 Prozent mehr Ladepunkte als im vergangenen Jahr, aber mit 20.000 ist das noch lange nicht ausreichend. Nun stellt sich als wesentliche politische Aufgabe, im Gespräch mit Ihnen zu klären: Wie bekommen wir möglichst schnell eine verlässliche Ladeinfrastruktur? In diesem Zusammenhang gibt es so interessante Aufgaben wie die Reform des Wohneigentumsgesetzes. Denn bei Häusern mit mehreren Mietparteien bzw. Eigentumsparteien müssen alle Eigentümer zustimmen, dass in ihrem Haus eine Ladeinfrastruktur installiert werden kann. Sie können sich vorstellen, wie lange das dauern kann. Insofern müssen wir Wege finden, dass nicht einer alles aufhalten kann. Wir müssen uns auch überlegen, wie wir eine sich rechnende Ladeinfrastruktur aufbauen. Die Geschäftsmodelle sind heute noch nicht gut. Wir müssen überlegen: Wer kann das tun? Da brauchen wir die Diskussion mit Ihnen. Wir haben dazu ja auch einen strukturierten Dialog mit der Automobilindustrie begonnen. Zudem geht es um die Frage der technologischen Autonomie. Heute beziehen alle deutschen Hersteller ihre Batteriezellen von ausländischen Produzenten. Wir werden auch Werke in Deutschland haben, zum Beispiel Werke chinesischer Anbieter. Es scheint sich aber auch in der deutschen Wirtschaft der Trend durchzusetzen, parallel auch eine gewisse Autonomie zu entwickeln. Das können wir europäisch machen; denn ich glaube, das ist eines der Projekte, die wir allein national nicht hinbekommen können. Deshalb hat der Bundeswirtschaftsminister jetzt Konsortien im Blick, die sich im Rahmen der europäischen Förderprogramme – neben anderen Mitgliedstaaten natürlich auch mit Beteiligung Deutschlands – auf den Weg machen wollen. Wir haben jetzt zwei solcher Konsortien in Aussicht. Ich hoffe, dass das Ganze auch wirklich vorangeht. Außerdem stärken wir mit den Initiativen der Bundesministerin für Bildung und Forschung das Projekt „Forschungsfertigung Batteriezelle“, um bei den Energiespeichertechnologien der nächsten Generation vorne mit dabei zu sein. So wird nach meiner heutigen Einschätzung die Elektromobilität der alternative Antrieb sein, den wir inklusive einer Ladeinfrastruktur flächendeckend ausrollen müssen. Das heißt aber nicht, dass wir uns auf eine einzige alternative Antriebstechnologie beschränken können; das tun Sie auch nicht. Wir müssen technologieoffen arbeiten, wenngleich ich sagen will: Zwei Technologien voll auszurollen – zum Beispiel Wasserstoff parallel zur Elektromobilität – wird nicht so ganz einfach sein. Wir müssen die Wasserstoffentwicklung aber im Blick behalten. Synthetische Kraftstoffe müssen mehr in den Blick kommen. Die Bundesregierung wird daher bis Ende des Jahres eine Wasserstoffstrategie erarbeiten, die auch den Mobilitätsbereich mit abdecken kann. Nun ist emissionsärmere Antriebstechnologie nicht der einzige Beitrag zum Klimaschutz; das ist hier schon angeklungen. Vielmehr eröffnet uns die Digitalisierung viele Möglichkeiten des klugen Fahrens und auch der klugen Vernetzung von Verkehrssystemen. Das Carsharing ist in den urbanen Zentren in den Mittelpunkt getreten. Das autonome Fahren ist natürlich ein ganz wesentlicher Entwicklungspunkt. Es ist spannend, wie man da vorgeht – das werden wir heute vielleicht noch in der Diskussion miteinander bereden können –: Level 1 bis Level 5 oder eben gleich in die Vollen, wie Herr Krafcik uns das hier dargestellt hat. Was mir jedenfalls einleuchtet, ist, dass die Autopilotsysteme, bei denen man nicht einschlafen darf, kein guter Weg waren; das verstehe ich sofort. Sie sagen ja: wenn, dann muss man schon die gesamte Autonomie praktizieren. Wir sind mit unseren Testfeldern auch einige Schritte vorangekommen – nicht nur beim Testfeld auf der A9, sondern auch beim Testfeld für den städtischen Bereich in Hamburg. Wir brauchen außerdem noch eine ganze Reihe gesetzlicher Maßnahmen. Die müssen Sie uns abfordern oder abringen, damit wir da, wo es geboten ist, schneller werden, sodass die Systeme dann auch wirklich zum Einsatz kommen können. Denn wir brauchen die Dinge ja bundesweit flächendeckend. Ich glaube nicht, dass es gut wäre, wenn jedes Bundesland für sich allein anfängt, Genehmigungen zu erteilen. Die Rechtsfragen sollten wir durchaus gemeinsam lösen. Neben der Ladeinfrastruktur und den Ladepunkten für alternative Antriebstechnologien brauchen wir natürlich auch eine vernünftige digitale Infrastruktur. Wir haben versucht, bei der Versteigerung der 5G-Frequenzen die Versorgungsauflagen so zu gestalten, dass sie auch der Automobilindustrie helfen. Wir werden bis spätestens Ende 2022 die Autobahnen und bis Ende 2024 sämtliche Bundesstraßen mit 5G-Mobilfunk versorgt haben. Ich glaube, das könnte für Sie eine gute Mitteilung sein, wenn es gerade auch um komplexe Fahrsituationen in urbanen Bereichen oder in sehr stark befahrenen Bereichen geht. Wenn auch nicht jedes Auto sozusagen alle Fähigkeiten in sich hat, brauchen wir für das autonome Fahren zum Schluss ja doch ein flächendeckendes, verlässliches Mobilfunknetz für ganz Deutschland. Das ist noch einmal eine ziemlich große Herkulesaufgabe. Ein weiterer Bereich, in dem wir nicht von vornherein führend sind und den Sie aus Ihrer eigenen Automobilerfahrung heraus auch nicht als Ihren Schwerpunkt haben, sind all die Fragen der künstlichen Intelligenz, die mit dem autonomen Fahren eng verknüpft sind. Hier versuchen wir über Forschung und Entwicklung für Deutschland neue Wege zu gehen. Wir haben eine KI-Strategie und wollen auch führende Forscher nach Deutschland holen. Es gibt im Augenblick einen ziemlich heftigen Kampf um die besten Köpfe auf der ganzen Welt. Deshalb braucht man auch sehr verlässliche Forschungsbedingungen, die wir auch haben. Des Weiteren geht es um die ganze Frage der Datenbehandlung. Hier mache ich mir, ehrlich gesagt, mit am meisten Sorgen über unsere Autonomie und auch um die Akzeptanz des autonomen Fahrens bei den Bürgerinnen und Bürgern. Ich glaube, man kann schon sagen, dass die europäische Betrachtungsweise der Frage „Was bedeuten meine Daten für die Allgemeinheit, wie viel Souveränität möchte ich über meine Daten haben?“ eine Sichtweise ist, die wir vielleicht woanders so nicht finden. Auf der einen Seite gibt es in den Vereinigten Staaten von Amerika eine sehr ausgeprägte Datenhoheit der Unternehmen und einen vergleichsweise nicht allzu gut ausgebauten Datenschutz. Auf der anderen Seite gibt es in China viele Zugriffsmöglichkeiten des Staates auf Daten der Bürgerinnen und Bürger. Wie es mit der Sozialen Marktwirtschaft so ist, auf die wir ja in Europa recht stolz sind, wird es wahrscheinlich notwendig sein, dass wir für uns einen eigenen Weg finden. Die Datenschutz-Grundverordnung ist ein erster Versuch, aber sicherlich kein ausreichender. Es darf eben nur nicht dazu führen, dass unsere Vorstellungen von Datenschutz uns bei der Weiterentwicklung aller Technologien blockieren. Das zusammenzubringen, ist eine weitere schwierige Aufgabe. Das heißt also, Ihre zukünftigen Produkte hängen nicht nur von Ihrer Kraft ab, sondern auch davon, wie benachbarte Bereiche – Energieversorgung, künstliche Intelligenz, Digitalisierung, digitale Infrastruktur – sich in unserem Land entwickeln. Das heißt, das Auto bzw. die Mobilität ist sozusagen im Zentrum eines Entwicklungsprozesses, in dem sich viele Bereiche unseres Landes parallel weiterentwickeln müssen. Wir müssen jetzt einen Weg finden, das Ganze durch kluge Rechtsetzung zu incentivieren, wie man heute sagt. Es sind also Anreize zu setzen, sodass die Bürgerinnen und Bürger diesem Prozess des Wandels folgen können. Diesbezüglich stehen wir in wenigen Tagen vor grundlegenden Entscheidungen. Es sagt sich sehr einfach und ist richtig und muss auch von uns beachtet werden, dass die Bepreisung von CO2 der richtige Weg ist, um deutlich zu machen: wir müssen alle Innovationen darauf setzen, weniger CO2 zu emittieren. Wenn wir das langfristig berechenbar anlegen, werden die Anreize aus meiner Sicht auch so gesetzt werden, dass dann die Technologieentwicklung in die richtige Richtung geht. Es ist ganz interessant: Wenn wir uns bei unseren vorbereitenden Arbeiten für die Entscheidungen des Klimakabinetts am 20. September anschauen, mit welcher Summe an Geld man eine Tonne CO2 einsparen kann, dann sieht man, dass man das über Bepreisung relativ einfach kann. Zum Beispiel sind wir in der Industrie im Augenblick bei einem Zertifikatspreis von 30 Euro pro Tonne. Wenn Sie aber Förderprogramme auflegen und richtige Incentives setzen wollen, dann sind Sie sehr schnell dabei, dass Sie 500 oder 1.000 Euro einsetzen müssen, um eine Tonne CO2 einzusparen. Das werden wir zum Teil machen, weil wir ja auch das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger in bestimmte Richtungen lenken wollen. Aber zu glauben, man könnte über staatliche Förderprogramme, die wir uns ausdenken, die gesamte Innovation der nächsten zehn Jahre abbilden, wäre ein Trugschluss. Deshalb muss es ein Element der Bepreisung geben. Wenn der Klimaschutz eine Menschheitsaufgabe ist – und ich glaube, dass er es ist –, dann müssen wir diesen Preis auch zahlen, weil wir ansonsten später ganz andere Preise zahlen müssen. Im Übrigen wird bei dieser Diskussion oft vergessen, dass Ordnungsrecht auch seinen Preis hat. Wenn wir Ihnen Euro-6-Normen vorgeben oder wenn wir Flottenverbräuche vorgeben, dann spiegelt sich das natürlich auch in den Preisen neuer Autos wider. So ist es ganz allgemein im Ordnungsrecht: Wenn wir Abwasservorschriften oder Abgasvorschriften machen, wenn wir Verpackungsverordnungen erfinden und Kreislaufwirtschaft praktizieren, dann spiegelt sich das für die Bürgerinnen und Bürger ja auch in gestiegenen Preisen wider. So zu tun, als ob nur eine sinnvolle, intelligente Bepreisung zu höheren Kosten führte, wäre also falsch, weil auch Ordnungsrecht immer zu höheren Kosten führt – ich glaube sogar, oft zu noch höheren Kosten, als wenn man der Innovation ihren Lauf lässt. Meine Damen und Herren, insgesamt ist dies also eine revolutionäre Internationale Automobil-Ausstellung. Bei Revolutionen weiß man anfangs noch nicht ganz genau, wo man zum Schluss herauskommt. Deshalb müssen wir sie möglichst evolutionär gestalten. Ich möchte, dass am Ende eine starke deutsche Automobilindustrie als fairer Wettbewerber mit anderen Anbietern auf der Welt entsteht. Wir wollen versuchen, das politisch vernünftig zu begleiten. Herzlichen Dank dafür, dass ich dabei sein darf.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen der Kultursommernacht 2019 des Landes Sachsen-Anhalt am 11. September 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-der-kultursommernacht-2019-des-landes-sachsen-anhalt-am-11-september-2019-in-berlin-1670082
Wed, 11 Sep 2019 18:18:00 +0200
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Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Reiner Haseloff, liebe Mitglieder der Landesregierung, Frau Landtagspräsidentin, liebe Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, Herr Staatsminister Hoppenstedt, Exzellenzen – ich habe die französische Botschafterin hier unter uns gesehen; sie weiß, was Kultur bedeutet; Frankreich braucht sich dabei nicht zu verstecken –, liebe Gäste dieses Abends, ich freue mich sehr, heute wieder dabei zu sein. Die Landesfeste sind ganz unterschiedlicher Natur. Sachsen-Anhalt hat mit seiner Kultursommernacht wirklich ein Thema gesetzt, das man nicht bei allen Landesfesten hat. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass Sachsen-Anhalt die Landesvertretung mit dem künstlerischsten Erbe gewählt hat. Der Künstlerclub „Möwe“ ist legendär und steht für alles, was in der DDR an kleinen freiheitlichen Bewegungen möglich war und wozu auch nicht jedermann jederzeit Zutritt hatte. Ich habe den vergangenen Sonntag in Dessau in der Tat sehr genossen, weil das Bauhaus-Jubiläum und die Neueröffnung des Museums durchaus eine bemerkenswerte Sache sind. Vielleicht wissen viele Bürgerinnen und Bürger Deutschlands gar nicht ausreichend, was das Bauhaus bewegt hat. Ein Blick auf Reiner Haseloffs Apple Watch zeigt sofort die Linien zu Steve Jobs, der ja keinesfalls nur Ingenieur war, sondern auch einen guten Blick für deutsches Design hatte und wusste, dass man beim Bauhaus anknüpfen muss, wenn man etwas Zweckmäßiges und Schönes haben will. Dass der Ort Dessau sich angeboten hat, liegt vielleicht auch daran, dass Sachsen-Anhalt in der Tat die höchste Dichte an Welterbestätten hat, die Deutschland aufweisen kann – fünf an der Zahl –, was Sachsen-Anhalt natürlich auch vor große Herausforderungen stellt. Der Bund versucht zu helfen, aber das Land versucht auch akribisch, sein Kulturerbe zu schätzen und zu schützen. Neben dem Bauhaus zählen dazu die weltberühmten Luthergedenkstätten, an die wir vor allem während des Reformationsjubiläums 2017 gedacht haben, und auch das Gartenreich Dessau-Wörlitz, wo auf kleinem Gebiet eine hohe Konzentration ist. (Zuruf MP Haseloff: Alles in meinem Wahlkreis.) – Alles in seinem Wahlkreis. Das musste auch noch einmal gesagt werden. – Dann sind es noch Quedlinburg und der Naumburger Dom. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich ein Originalstück aus dem Naumburger Dom bekommen kann. Man hat mir gesagt, es sei sehr schwer. Deshalb habe ich es nicht angehoben. Gibt es jetzt eine Lücke im Dom; oder wie ist das? Wurde das Stück ersetzt oder muss ich mir Sorgen machen, dass Schädigungen eingetreten sind? – Nein. Ich habe schon ein kleines Stück vom Dach des Hamburger Michels. Da regnet es auch nicht durch. Das wurde nämlich erneuert. Insofern stammt mein Stück vom alten Dach. Ich denke, diese Welterbestätten in Sachsen-Anhalt zeigen auch, was in den vergangenen 30 Jahren geleistet wurde, das auch internationale Anerkennung mit sich gebracht hat. Denn jede dieser Kulturstätten erstrahlt heute in weit besserem Zustand, als dies vor 30 Jahren der Fall war. Deshalb kann man heute, etwa 30 Jahre nach dem Mauerfall, auch stolz darauf sein, was alles geschafft wurde. Aber wir stehen auch vor großen Problemen. Allein die Kulturdenkmäler machen ein Land ja nicht lebendig, sondern Menschen müssen auch ihr Heimatgefühl entwickeln können. Sie müssen sich sozusagen in ihrer Geschichtslinie wiederfinden. Das will ich an einem solchen Abend auch noch einmal zu bedenken geben. Wir müssten eigentlich mehr über unsere Geschichte wissen. Ich schließe mich dabei ausdrücklich mit ein. Der Geschichtsunterricht in der ehemaligen DDR begann meistens mit dem Jahr 1848 und endete 1919 mit Rosa Luxemburg. Wir haben wenig über die langen Linien der Geschichte gelernt. Ich denke, das ist auch etwas, das uns heute manchmal zu schaffen macht und das man auch nicht einfach wiederholen kann. Deshalb halte ich auch ein Plädoyer für den Geschichtsunterricht für die Schülerinnen und Schüler von heute, damit sie etwas über die langen Linien wissen, in denen wir leben, arbeiten und an die wir anknüpfen. Ohne unsere Vorfahren wären wir nicht das geworden, was wir heute sind. Das müssen wir einfach auch ein Stück weit weitergeben. Deshalb ist diese Kultursommernacht Sachsen-Anhalt eine tolle Idee. Ich bin gern mit dabei. Feiert schön und denkt an all das, was unsere Vorfahren schon geschaffen haben und was wir heute auch dazutun. Denn das neue Bauhausgebäude ist ja zum Beispiel auch etwas, das wir wiederum unseren Nachfahren hinterlassen. Alles Gute und herzlichen Dank dafür, dass ich dabei sein kann.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 70. Jubiläum des
Bundes der Steuerzahler e. V. am 10. September 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-70-jubilaeum-des-bundes-der-steuerzahler-e-v-am-10-september-2019-in-berlin-1669462
Tue, 10 Sep 2019 18:15:00 +0200
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Präsident Holznagel, sehr geehrte Landesvorsitzende und Mitglieder des Vorstands, liebe Fraktionsvorsitzende und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, liebe Kollegen aus den Parlamenten, lieber Herr stellvertretender Ministerpräsident und Innenminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern, lieber Lorenz Caffier, meine Damen und Herren, der Bund der Steuerzahler wird 70 – und er hat passenderweise seine Festveranstaltung in die Haushaltswoche gelegt, in der auch wir morgen wieder über Steuereinnahmen und -ausgaben diskutieren werden. Sieben Jahrzehnte des Wirkens als Anwalt, Sprachrohr und Interessenvertreter von Steuerzahlern – das ist etwas, worauf alle, die hier engagiert sind, wirklich stolz sein können und worüber sich letztlich die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, Millionen von Menschen, freuen können. Daher möchte ich aus ganzem Herzen gratulieren und alles Gute wünschen. Soweit bekannt, gab es erste Ideen zu einer Steuerzahlerinitiative in Deutschland schon in den 1920er Jahren. Dies war auch die Zeit des Sturms der Moselwinzer auf Finanzamt, Finanzkasse und Zollamt in Bernkastel-Kues im Jahre 1926. Auslöser der Verzweiflungstat war bittere wirtschaftliche Not. Die französische und spanische Konkurrenz war schier erdrückend. Hinzu kam eine ungewöhnlich hohe Weinsteuer. Die Moselwinzer sahen sich daher in ihrer Existenz bedroht. Sie forderten Steuern zurück und bessere wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Die Aktion endete in einem deutschlandweit beachteten Prozess; und sie führte auch zu einem politischen Erfolg, nämlich dazu, dass die Weinsteuer wegfiel. In der Folge besserte sich auch die wirtschaftliche Situation der Moselwinzer wieder. Ob die Finanzamtsstürmer von Bernkastel auch Einfluss auf die Idee hatten, eine Steuerzahlerinitiative für ganz Deutschland zu starten, ist nicht belegt. Jedenfalls reifte die Idee erst einmal viele Jahre. Seinen Abschluss fand dieser Reifungsprozess mit der Gründung des Bundes der Steuerzahler im Jahre 1949 – dem Jahr, in dem auch das Grundgesetz in Kraft getreten ist. Als erste Steuerzahlerinitiative in Deutschland überhaupt gehört der Bund der Steuerzahler also gleichsam zum Gründungsinventar der Bundesrepublik; und so soll es auch bleiben. Auch der Föderalismus-Gedanke ist dem Steuerzahlerbund nicht fern, wie an seinen Landesverbänden unschwer zu erkennen ist. Als ausschlaggebend für die Gründung gelten die Forschungen des Finanzwissenschaftlers Günter Schmölders auf dem Gebiet der Finanz- und Steuerpolitik – speziell zu Verhalten, Einstellungen und Motivationen der Steuerzahler gegenüber Besteuerungen. Es sind wohl die wenigsten, die wirklich gerne Steuern zahlen. Aber die allermeisten dürften sich bewusst sein, dass ohne Steuern kein Staat zu machen ist. Steuereinnahmen ermöglichen es, unser Gemeinwesen zu finanzieren und staatliche Leistungen bereitzustellen – Leistungen, die der Allgemeinheit dienen und ohne Steuern ausbleiben würden. – Sie haben ja die guten Seiten des Steuerzahlens auch hier vorhin in Ihrem Film angeführt. – Dabei geht es vor allem um Infrastrukturen, die das Leben, Wohnen und Arbeiten erleichtern, um Mobilität und soziale Daseinsvorsorge, um Bildung und Kultur. Wir Steuerzahler wissen, dass unser Rechts- und Sozialstaat etwas kostet und daher auskömmlich finanziert werden muss. Das aber entbindet die Politik nicht von der Aufgabe, die Staatsfinanzierung mit den legitimen Interessen der Steuerzahler in Einklang zu bringen. Der Steuerbeitrag sollte als angemessen und gerecht empfunden werden. Genau hier setzt der Bund der Steuerzahler an. Seit jeher verfolgt er mit Argusaugen das haushalts- und finanzpolitische Geschehen und bezieht Stellung hierzu. Er ist sozusagen der Garant eines lebendigen Austauschs zwischen Steuerzahlern und Politik. Er hinterfragt und drängt auf Vereinfachung und Entlastung. Er steht Bürgern und Betrieben mit Infos und Rat und Tat zur Seite. Er unterstützt Musterklageverfahren. Nicht zuletzt überwacht er das Handeln von Politik und Verwaltung und mahnt eine vernünftige Verwendung von Steuergeldern an. Natürlich kann dieser Disput mitunter recht unbequem sein. So wurde der Bund der Steuerzahler vor allem in den ersten Jahren seines Bestehens sehr skeptisch von Politik und Verwaltung betrachtet. Im Zeitverlauf aber konnte sich der Steuerzahlerbund als hartnäckiger Wächter der Haushalts- und Finanzpolitik etablieren. Dahinter stehen die Einsicht und Erfahrung, dass ein kritischer Austausch vonnöten und oft auch lohnend ist, um im Ergebnis einen Weg zu finden, der im Sinne des Gemeinwohls akzeptabel und vertretbar ist. Die große Zahl an Gratulanten zeigt ja auch, dass das parteiübergreifend so gesehen wird. Einer der ersten Erfolge dieser Hartnäckigkeit – man glaubt es kaum, dass man darum kämpfen musste – war, die Haushaltspläne der öffentlichen Hand transparent zu machen. Denn in den Anfangsjahren der Bundesrepublik war die Neigung zur Veröffentlichung der Haushaltspläne eher gering. Transparenz, wie wir sie heute als Demokratiegebot kennen, mussten Politik und Verwaltung erst lernen. Außerdem gab es nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst sehr hohe Steuerbelastungen – mit einem Spitzensatz bei der Einkommensteuer von 95 Prozent, einem Körperschaftsteuersatz von 60 Prozent und mit hohen Vermögensteuern. Bis zur Währungsreform 1948 gab es nur geringe Entlastungen. Wissenschaft, Wirtschaft und Verbände aber drängten weiter darauf, mehr Anreize für Leistung und Vermögensaufbau zu setzen. Erst nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurden Wege gesucht, die Steuerbelastung zu senken. Da aber die damaligen Besatzungsmächte hohe Steuersätze bevorzugten, musste ein kleiner Trick angewendet werden. Statt sich mit dem Steuertarif auseinanderzusetzen, wurde verstärkt die Steuerbemessungsgrundlage in den Blick genommen, um mit ihrer Kürzung die Steuerbelastung erträglicher zu gestalten. Man weiß ja auch, dass es damals gar nicht so einfach für Ludwig Erhard war, die Soziale Marktwirtschaft einzuführen. Diese beiden Dinge korrespondieren, glaube ich, sehr gut miteinander. Die ersten Steuerreformmaßnahmen – von Konrad Adenauer bereits 1949 angekündigt – erfolgten schließlich in den Jahren zwischen 1953 und 1955. Das lange Bohren dicker Bretter machte sich bezahlt. Es wurde nicht nur die steuerliche Bemessungsgrundlage gekürzt, sondern auch der Tarif wurde gesenkt. Es gab zudem strukturelle Änderungen. Das sollten beileibe nicht die letzten Steuerreformen bleiben, wie wir wissen. Weitere folgten, natürlich mit aufmerksamer Begleitung durch den Bund der Steuerzahler. Um nur einige Beispiele zu nennen: Die Tarifreformen bei der Einkommensteuer, die 1958 mit der Einführung des Splittingtarifs ihren Anfang nahmen, die Unternehmensteuerreformen von 1977, 2000 und 2008 sowie die Festlegung des Deutschen Bundestags im Jahr 2012, zukünftig regelmäßig Berichte zur kalten Progression vorzulegen. Rund 65 Jahre seit der ersten großen Steuerreform und nach einer Vielzahl von Gesetzesänderungen stehen heute noch immer Steuerstruktur und Steuertarif im Mittelpunkt vieler Diskussionen. Da Ihnen ja auch der Verband der Steuerberater gratuliert hat, will ich nicht verhehlen, dass es manchmal ein gewisses Spannungsfeld gibt: Je einfacher das Steuerrecht, umso schlechter vielleicht die Karten der Steuerberater. Aber hier sind vielleicht viele, die sich auch nach einem einfachen Steuersystem sehnen. Das Thema Abbau der kalten Progression ist genauso alt wie aktuell. Bereits in den 60er Jahren hat sich der Bund der Steuerzahler für eine Tarifreform bei der Einkommensteuer ausgesprochen, um der kalten Progression entgegenzuwirken. Entsprechende Korrekturen gab es in der Vergangenheit aber immer nur sporadisch. Erst im Jahr 2012 hat, wie gesagt, ein Bundestagsbeschluss den Weg für ein festes und verlässliches Verfahren geebnet. 2015 wurde der erste Steuerprogressionsbericht vorgelegt. Die an den Bericht anknüpfende Tarifkorrektur wurde gesetzlich verabschiedet. So konnten 2016 entsprechende Entlastungen in Kraft treten. Auf der Basis der Berichte, die im Zweijahresrhythmus vorgelegt werden, hat der Gesetzgeber inzwischen schon dreimal hintereinander die kalte Progression ausgeglichen. Mehr steuerliche Gerechtigkeit durch regelmäßige Tarifanpassungen – das dürfte im Sinne des Steuerzahlerbundes sein. Der leise, aber doch hörbare Beifall hat es gezeigt. Aber ich weiß natürlich auch, dass nach der Reform schon wieder vor der Reform ist. Denn es gibt immer etwas, das wir noch besser machen können. Die Arbeit wird dem Steuerzahlerbund deshalb nicht ausgehen; das darf ich Ihnen schon versprechen. Richtig ist, dass unser Steuerrecht für den Regelfall zwar gut handhabbar ist. Richtig ist aber auch, dass es durchaus ziemlich kompliziert werden kann. Denn es ist regelrecht ein Kunststück, ein einfaches Steuerrecht mit einem komplexen Wirtschaftssystem und der unendlichen Vielfalt des Lebens in Einklang zu bringen. Die Globalisierung stellt uns natürlich vor völlig neue Herausforderungen, genauso wie die Digitalisierung. Es wird also noch viel Diskussionsstoff geben, wenn die internationale Steuerarchitektur grundsätzlich modernisiert wird. Die OECD arbeitet daran; und wir wollen im nächsten Jahr ja schon Ergebnisse sehen. Wir wissen, wie kompliziert vor allem die Diskussion über eine angemessene Besteuerung der global aktiven Digitalwirtschaft ist. Aber wir werden uns in den nächsten Jahren auch damit auseinandersetzen müssen, welche Steueranteile wir als Exportnation bei uns behalten können und welche in den Ländern verbleiben, in denen auch Wertschöpfung stattfindet. Auch das wird ein ständiges Ringen sein. In welchem Wirtschaftsbereich auch immer – um Steuervermeidung oder Doppelbesteuerung zu verhindern, kommen wir angesichts weltweiter Wertschöpfungsketten nicht umhin, das Steuerrecht eben international mehr und besser miteinander zu verknüpfen. Das ist in der Praxis nicht einfach. Aber wir müssen die Möglichkeit nutzen und das dann möglichst auch auf eine einfache, verständliche Grundlage stellen, damit die Bürgerinnen und Bürger verstehen, was da vonstattengeht. Das Stichwort Vereinfachung ist sozusagen das Zauberwort und eine regelmäßige Forderung mit Blick auf den bürokratischen Aufwand. Der Bund der Steuerzahler pocht darauf zu Recht und auch mit Erfolg. Den beiden Bürokratieabbaugesetzen aus vergangenen Legislaturperioden wollen wir jetzt ein drittes folgen lassen, um Bürger und Unternehmen noch einmal zu entlasten. Die Entlastung sollte wirklich spürbar sein. Deshalb sind im politischen Handeln die Dinge vom Steuerzahler her zu denken. Wir binden deshalb die Bürgerinnen und Bürger bei der Suche nach Wegen der Vereinfachung direkt ein – zum Beispiel mit dem sogenannten Formularlabor zur Einkommensteuer. Hier werden Formulare einem Praxistest unterzogen, was die Benutzerfreundlichkeit anbelangt. Das haben wir zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Familienentlastungsgesetz gemacht; und damit sind deutliche Verbesserungen für Steuerbürger und Familien gelungen. Es wird ja demnächst, ab 2021 – was aber selbstverständlich auch wieder Gegenstand kontroverser Diskussionen ist –, einen ersten großen Schritt der Entlastung beim Solidaritätszuschlag geben. Sie aber wollen den Zeitpunkt für die komplette Abschaffung des Solidaritätszuschlags bereits festschreiben. Ich halte dennoch den beschlossenen Einstieg in den Ausstieg aus dem Solidaritätszuschlag – da sind wir uns ja sogar einig – für einen wichtigen steuerpolitischen Schritt. Ein erster Schritt ist erst einmal wichtig; und das heißt ja nicht, dass wir bei diesem Schritt stehen bleiben. Ich sage ganz ausdrücklich: Es bleibt das Ziel, den Soli ganz abzuschaffen. Der Bund der Steuerzahler wird gewiss dafür sorgen, dass wir dieses Ziel nicht aus dem Blick verlieren werden. Im steten Kampf um Entlastung und Sparsamkeit führen Sie manchmal auch ziemlich schwere Geschütze ins Feld. Das ist ja auch legitim. Öffentlichkeitswirksame Beispiele sind die jährliche Aktion Frühjahrsputz, mit der Sie Einsparvorschläge zum jeweils neuen Haushalt machen, das Schwarzbuch, in dem Sie Fälle von aus Ihrer Sicht grober Steuerverschwendung bei Bund, Ländern und Kommunen auflisten, und der Steuerzahlergedenktag, der daran erinnern soll, ab wann Steuer- und Beitragszahler nicht mehr für den Staat und die Sozialversicherungen, sondern für sich arbeiten. Der Bund der Steuerzahler sorgt auch dafür, dass die Öffentlichkeit die Entwicklung der Staatsverschuldung genau vor Augen hat. Dafür wird das Ist des Schuldenstands geschätzt und sekundengenau auf der sogenannten Schuldenuhr abgebildet. Diese Schuldenuhr ist ein berechtigter Appell an die Politik, sich mit den Staatsschulden intensiv auseinanderzusetzen – nicht zuletzt mit Blick auf kommende Generationen, die die Schuldenlasten erben werden. Ich sage immer wieder auch in internationalen Gesprächen: Angesichts unserer demografischen Situation ist dieses Thema bei uns auch sehr viel virulenter und wichtiger als in anderen Ländern mit einer anderen demografischen Entwicklung und mehr jungen Menschen. Schön war natürlich, dass die Schuldenuhr besondere Aufmerksamkeit bekam, als feststand, dass sie ab 2018 rückwärts läuft. Eigentlich müssten ja die rot leuchtenden Ziffern nunmehr gegen schwarze ausgetauscht werden; aber das ist dann vielleicht von der Sichtbarkeit her nicht so gut. Dass im Übrigen der Rückwärtsgang technisch überhaupt möglich ist, ist der Erneuerung der Uhr Ende 2016 zu verdanken. Vorher hätte sie den Schuldenabbau gar nicht anzeigen können. Aber die Hauptsache ist natürlich, dass die staatliche Gesamtverschuldung zurückgeht. Und so wird die gesamtstaatliche Schuldenstandsquote dieses Jahr unter den Wert von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sinken. Damit wird Deutschland erstmals seit dem Jahr 2002 wieder die entsprechende Obergrenze des Maastricht-Vertrags einhalten. Bei aller Kritik, für die wir natürlich offen sind, zeigt diese Entwicklung aber auch, dass wir die Verantwortung für eine solide Haushaltspolitik als Bundesregierung ernst nehmen. Ich darf Ihnen versichern: An dem Ziel eines ausgeglichenen Haushalts – beim Bundeshaushalt – halten wir fest; eben nicht aus Gründen des Selbstzwecks, wie es uns oft vorgeworfen wird, sondern weil handfeste ökonomische Gründe und Gerechtigkeitsaspekte dafür sprechen. Meine Damen und Herren, in einer Demokratie braucht die Politik wachsame und konstruktive Partner. Wir schätzen das. Deshalb bin ich heute Abend hier und gratuliere aus vollem Herzen. Es ist gut, dass die Politik auch in Zukunft mit Stellungnahmen und Empfehlungen des Steuerzahlerbundes rechnen kann und muss. Dass der Bund der Steuerzahler eine der mitgliederstärksten Steuerzahlerorganisationen der Welt ist, spricht für sich und seine Bindung an die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Die große Zahl der Gäste heute in diesen Bolle Festsälen spricht dafür, dass der Verein wirklich einen festen Platz in unserer Gesellschaft hat. Sie scheuen keinen Aufwand, um vielen Menschen unnötigen Steueraufwand zu ersparen. Das ehrt Sie und den Steuerzahlerbund als Jubilar. Deshalb noch einmal herzlichen Glückwunsch und viel Erfolg. Seien Sie ein unbequemer Partner. Bleiben Sie fair in der Berichterstattung. Ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der Auszeichnung von Prof. Dr. Andreas Nachama mit der Moses Mendelssohn Medaille
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-der-auszeichnung-von-prof-dr-andreas-nachama-mit-der-moses-mendelssohn-medaille-1670084
Mon, 09 Sep 2019 19:45:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Der große israelische Schriftsteller und streitbare Intellektuelle Amos Oz, der sich mit Blick auf seine Kindheit in Jerusalem gelegentlich scherzhaft als „Experte für Vergleichende Fanatismusforschung“ bezeichnete, hat kurz nach den Anschlägen des 11. September eine bemerkenswerte Rede gehalten. Sie war überschrieben mit dem Titel „Wie man Fanatiker kuriert“, galt aber nicht, wie man vermuten würde, dem Furor religiöser Fundamentalisten. Nein, Amos Oz widmete sich darin dem profanen Fanatismus des Alltags, der zivilisiert und aufgeklärt daherkommt: in Gestalt eingefleischter Vegetarier oder militanter Pazifisten beispielsweise, im Bedürfnis, Freunde, Nachbarn und Kollegen von ihren Sünden und Irrtümern zu befreien, oder allgemeiner ausgedrückt: in der Weigerung, das Anderssein des Anderen zu ertragen, im Anspruch, den Mitmenschen und die Welt zu verbessern – mit moralischem Sendungsbewusstsein und „kompromissloser Selbstgerechtigkeit (…), jener Selbstgerechtigkeit, die der Fluch so vieler Jahrhunderte war.“ Man könnte auch sagen: Amos Oz geht es um den Fanatiker, der wohl in jedem von uns steckt und sich – beim einen leise, beim anderen lautstark – als Gegner des Kompromisses zu Wort meldet, wenn es um die eigenen, weltanschaulich, moralisch oder auch religiös begründeten Werte und Überzeugungen geht. Wie kuriert man diesen Fanatiker? Die Moses Mendelssohn Medaille zeichnet Persönlichkeiten aus, denen dies offensichtlich gelungen ist: Menschen, die imstande sind, neben dem Eigenen auch das Andere gelten zu lassen, die dafür werben, das Menschliche über die Unterscheidung zwischen gläubig und nicht gläubig, zwischen christlich und jüdisch oder auch muslimisch zu stellen; Menschen, die damit zu Wegbereitern interkultureller und interreligiöser Verständigung, zu Fürsprechern der Versöhnung, zu Botschaftern gesellschaftlicher Integration wurden – ganz im Sinne Moses Mendelssohns, des Pioniers der jüdischen Aufklärung. Als der Schweizer Theologe Johann Caspar Lavater ihn einst mit christlichem Missionierungseifer öffentlich agitierte, reagierte er mit jüdischer Toleranz. Seine Antwort darf man getrost auch als eine mögliche Antwort auf die Frage lesen, wie man einen Fanatiker kuriert. Ich zitiere: „Die verächtliche Meinung, die man von einem Juden habet, wünsche ich durch Tugend und nicht durch Streitschriften widerlegen zu können“. Er vertrat die Überzeugung, ich zitiere ihn noch einmal: „Da die Menschen alle von ihrem Schöpfer zur ewigen Glückseligkeit bestimmt sind, so kann eine ausschließende Religion nicht die wahre sein. Diesen Satz getraue ich mir als Kriterium der Wahrheit in Religionssachen auszugeben.“ Lavater hat sich übrigens später bei Mendelssohn entschuldigt … . Wie man Fanatikern und Fanatismus begegnet, können wir auch von Ihnen lernen, verehrter Herr Rabbiner Nachama – allein schon deshalb, weil Sie in Ihrem liberalen Elternhaus, als Sohn des berühmten Berliner Oberkantors Estrongo Nachama, von früher Kindheit an erlebt haben, dass das Bekenntnis zum Eigenen und der Respekt vor dem Anderen einander nicht ausschließen, ganz im Gegenteil: dass Menschlichkeit – dass Barmherzigkeit, göttliche Tugend in allen Weltreligionen – im Austausch zwischen den Religionen gedeiht. So ist Ihre Religion auch für Sie, wie einst für Moses Mendelssohn, kein exklusiver Anspruch auf Wahrheit, den man predigt und anderen aufzwingt, sondern einer der unterschiedlichen, gleichwertigen Wege zu Gott, den jeder für sich wählt und geht. Aus dieser Haltung gleichermaßen selbst-bewusster wie respektvoller Toleranz erwächst jene Kraft, die Sie als Wegbereiter interreligiöser Verständigung und Versöhnung geradezu prädestiniert: die Fähigkeit, das Verbindende über das Trennende zu stellen und damit eine Gesprächsatmosphäre der Offenheit und Wertschätzung zu schaffen, die auch bei anderen den „inneren Fanatiker“ verstummen lässt, sie Abstand nehmen lässt von der „kompromisslosen Selbstgerechtigkeit“, „die der Fluch so vieler Jahrhunderte war“. Zwischen verhärteten Fronten Wege der Annäherung zu eröffnen und im wechselseitigen Verstehen das Verständnis füreinander und die Verständigung miteinander zu fördern, dafür stehen Sie – mit Herz und Verstand, mit sinnenbetonter Lebensfreude und scharfem Intellekt: sei es als Mitglied im Präsidium des Deutschen Koordinierungsrates für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, sei es als Mitglied im Vorstand des „House of One“ für interreligiöse Begegnungen, sei es als gefragter Gesprächspartner sowohl meines Hauses, der BKM, als auch an konfliktträchtigen „Runden Tischen“, sei es – last but not least – als langjähriger Direktor der Topographie des Terrors, die Sie zu einem Ort des Lernens aus dem menschenverachtenden Fanatismus der Nationalsozialisten gemacht haben. Ja, auch das Lernen aus der Vergangenheit, wie Sie es mit profunder Kenntnis jüdischer Geschichte einerseits und Empathie für unterschiedliche Perspektiven und Lebenswelten der jährlich rund 1,4 Millionen Besucherinnen und Besucher andererseits kultivieren, kann die Wahrnehmung jeder und jedes Einzelnen sensibilisieren, kann Anstoß sein, die eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen zu reflektieren – und damit vielleicht auch den einen oder anderen Fanatiker kurieren. Ihr Anspruch ist es jedenfalls, wie Sie einmal in einem Interview gesagt haben, Geschichte nicht nur zu dokumentieren, sondern mit Ihren Ausstellungen auch das Bewusstsein für die Gefährdungen unserer Gesellschaft zu schärfen. Das gelingt Ihnen immer wieder. Ich bin überzeugt: Wer einmal an diesem eindrucksvollen Erinnerungsort gesehen hat, wie aus gewöhnlichen Menschen fanatische Vollstrecker einer mörderischen Ideologie wurden, wird danach nicht mehr so einfach weghören und wegschauen können, wenn antisemitisches, rassistisches und diskriminierendes Reden und Handeln Anklang und Beifall finden. Denn eben damit begann einst der unheilvolle Weg, der in Krieg und Vernichtung, in den Zivilisationsbruch der Schoah geführt hat. Deshalb können und dürfen wir auch nicht die Augen davor verschließen, dass Rassismus und Antisemitismus in unserer Gesellschaft zugenommen haben. Diskriminierende, ausgrenzende und hasserfüllte Parolen werden immer ungenierter öffentlich kundgetan. Selbst hier in Berlin – einer Stadt, die sich gern mit ihrer Vielfalt und Weltoffenheit schmückt – sehen Juden sich mit längst überwunden geglaubten Vorurteilen und Beleidigungen, mit Verachtung und Gewalt konfrontiert. Es ist etwas ins Rutschen geraten. Diese Entwicklung sehe ich mit großer Besorgnis, und deshalb will ich zumindest kurz erwähnen, dass die Bundesregierung die politischen Anstrengungen zur Bekämpfung des Antisemitismus noch einmal verstärkt hat, auf dass die Keime totalitärer Ideologien in Deutschland keinen Nährboden finden: etwa mit einer gemeinsamen Strategie zur Extremismusprävention und mit der Berufung eines Beauftragten (der Bundesregierung) für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. Auch mein neues Förderprogramm „Jugend erinnert“, das NS-Gedenkstätten dabei unterstützt, innovative Bildungsformate (nicht nur, aber vor allem) für und mit jungen Menschen zu entwickeln, leistet einen wichtigen Beitrag, dass auch die junge Generation und künftige Generationen aus der Geschichte lernen können. Sie selbst, verehrter Herr Professor Nachama, haben die notwendigen erinnerungspolitischen Konsequenzen in einem Gastbeitrag für die Jüdische Allgemeine „als neue Strophe in einem alten Lied“ bezeichnet und darauf hingewiesen, dass Erinnern sich durch alle Jahrzehnte gegen das Vergessenwollen behaupten musste, ja dass Erinnern immer wieder neu erstritten werden musste. Dennoch warnen Sie nachdrücklich davor, angesichts der Übergriffe auf Kippaträger pauschal den importierten Judenhass muslimischer Zuwanderer anzuprangern. Dass es einzelne Personen gibt, die sich inakzeptabel verhalten, berechtige uns nicht, auf alle zu schließen und die Dinge ins Grundsätzliche zu verzerren, haben Sie sinngemäß einmal in einem Interview gesagt. Ihre Nachdenklichkeit und Besonnenheit tun der Erinnerungskultur in diesem Land gut. Unaufgeregt und differenziert statt alarmistisch und verallgemeinernd: Damit hätten Sie sich bei Amos Oz ganz klar als immun gegen Fanatismus qualifiziert – als prädestiniert dafür, Fanatiker zu kurieren. Denn, dieser Gedanke steht am Schluss seiner eingangs zitierten Rede: „Fanatismus (…) ist sehr ansteckend.“ … und ich zitiere weiter: „Man kann ihn sich leicht zuziehen, während man versucht, ihn zu besiegen. Ja, rasch wird man zum antifanatischen Fanatiker“ – zu einem Menschen also, der Fanatismus mit Fanatismus bekämpft, der kompromisslose Selbstgerechtigkeit mit kompromissloser Selbstgerechtigkeit beantwortet und der sich damit jeder Verständigung verschließt. Genau das, verehrte Damen und Herren, erleben wir im Moment: in der Abwertung anderer Sicht- und Lebensweisen; in der Verweigerung sachlicher Auseinandersetzung; in der Verrohung des öffentlichen Diskurses in den (so genannten) „sozialen“ Netzwerken; im Abgrenzen des Eigenen gegen das Fremde, kurz: in der schwindenden Bereitschaft, das Anderssein des Anderen zu ertragen – ein Mangel, der durchaus in der ganzen Breite des politischen und gesellschaftlichen Spektrums zu beobachten ist und der den Kern der Demokratie bedroht: den konstruktiven Streit, die Suche nach Kompromissen, die Verständigung über die Grenzen zwischen unterschiedliche Lebenswelten hinweg. Die von Amos Oz aufgeworfene Frage, wie man einen Fanatiker kuriert, hat also nichts an Relevanz und Dringlichkeit verloren, ganz im Gegenteil. Ich will Ihnen deshalb nicht vorenthalten, was Amos Oz Fanatikern als Kur verschreiben würde: zum einen Humor – sich selbst nicht so schrecklich ernst nehmen; zum anderen das Schulen der Fähigkeit, sich in andere hinein zu versetzen – so wie Schriftsteller es tun müssen. Amos Oz rät in diesem Zusammenhang dezent zum Lesen seines damals gerade fertig gestellten Romans „The Same Sea“. Ja, die Literatur, die Kunst ist zweifellos eine Schule der Empathie. Ihre Freiheit zu schützen, gehört nicht umsonst zu den Lehren, die wir aus Totalitarismus und Fanatismus im 20. Jahrhundert gezogen haben. Doch keine Schule ohne Lehrer – das gilt auch für die Schule der Empathie. Sie, verehrter Herr Rabbiner Nachama, sind wie einst Moses Mendelssohn ein leuchtendes Vorbild respektvollen und wertschätzenden Miteinanderredens, Sie überzeugen, wie einst Moses Mendelssohn, mit Tugend statt Agitation. Sie sind damit, wie einst Moses Mendelssohn, ein wahrer Lehrmeister der Toleranz und Verständigung. Dafür danke ich Ihnen von Herzen. Es ist mir eine Ehre, Ihnen heute gemeinsam mit Herrn Prof. Lammert und Herrn Prof. Schoeps die Moses-Mendelssohn-Medaille überreichen zu dürfen. Herzlichen Glückwunsch zu dieser besonderen Auszeichnung!
In ihrer Rede würdigte die Staatsministerin Rabbiner Prof. Dr. Nachama als „leuchtendes Vorbild respektvollen und wertschätzenden Miteinanderredens“ und „wahren Lehrmeister der Toleranz und Verständigung“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung des Bauhaus Museums Dessau am 8. September 2019 in Dessau
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-eroeffnung-des-bauhaus-museums-dessau-am-8-september-2019-in-dessau-1668768
Sun, 08 Sep 2019 11:56:00 +0200
Dessau
keine Themen
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Reiner Haseloff, sehr geehrte Damen und Herren Minister und Abgeordnete, Exzellenzen, sehr geehrte Frau Perren, sehr geehrter Herr Professor Gumbrecht, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren, was soll ich nach einem solchen Vortrag und nach so vielen Grußworten noch Schlaues sagen, außer dass ich mich außerordentlich freue, dass ich heute, an diesem außergewöhnlichen Tag, bei Ihnen sein kann. „Die Welt hat für mich nur dann einen Sinn, wenn sie ein Bauhaus ist. Die ganze Welt ein Bauhaus!“ – So euphorisch äußerte sich 1928 Fritz Kuhr als junger Bauhausschüler. Das sagt etwas über den Spirit, würde man heute vielleicht sagen, über den Geist aus, der damals am Bauhaus herrschte. Auch 100 Jahre nach der Gründung spüren wir noch immer die Faszination des Projektes Bauhaus. Bauhaus-Ideen, Bauhaus-Architektur, Bauhaus-Kunst und Design beeinflussen bis heute, wie wir bauen, wohnen und gestalten. Die Avantgarde-Schule hat unsere Alltagskultur geprägt wie kaum eine andere Schule. Die Stahlrohrstühle von Marcel Breuer, die Lampen von Marianne Brandt oder auch der Klapptisch von Gustav Hassenpflug sind Klassiker der Moderne geworden und haben die geschmacklichen Empfindungen ganzer Generationen von jungen Menschen geprägt. So stilbildend, wie das Bauhaus seit Generationen wirkt, so unerschöpflich sind Bauhaus-Ideen als Quelle der Inspiration zur Gestaltung der Zukunft. Professor Gumbrecht hat davon gesprochen, dass die Ingenieure heute so herausragend sind. Der Ministerpräsident hat mir dann gleich einmal seine Apple-Watch gezeigt. Wir alle wissen: Steve Jobs war eben kein klassischer Ingenieur, sondern kam aus einer Bewegung, die sich sehr wohl auch um Design gekümmert hat. Er hat bei vielen seiner Produkte auf Bauhaus-Ideen zurückgegriffen. Das hat die Faszination und die Brauchbarkeit ausgemacht. Es ist ein, wie ich finde, sehr interessantes Phänomen, das über den Atlantik seine Kraft entfaltet hat. Davon zeugt nun auch und besonders das neue Bauhaus Museum hier in Dessau. Seine Eröffnung ist ohne Zweifel ein Höhepunkt in diesem Jubiläumsjahr. Ich bin dankbar dafür, mit dabei zu sein. Ich bin ganz gerührt, wie viele Menschen am heutigen Sonntagvormittag hierhergekommen sind, Herr Oberbürgermeister, weil sie fühlen, dass sich hier im Zentrum Ihrer Stadt etwas verändert beziehungsweise dass diese Stadt nach den schweren Zeiten nach dem Zweiten Weltkrieg wieder ein neues Zentrum bekommt. Auch das Drumherum haben Sie ansprechend gestaltet. Das wird sicherlich viel Freude finden. Das Herz des Bauhauses schlägt in Dessau, Weimar und Berlin. Sein Herz schlägt aber auch in ganz Deutschland und weit über unsere Landesgrenzen hinaus. Die weitverzweigten internationalen Einflüsse der Bauhaus-Ideen sind unverkennbar. Daher begehen wir das Bauhaus-Jubiläum auch weltweit. Bei uns in Deutschland gibt es weit über 2.000 Veranstaltungen in mehr als 250 Städten. Die Bundesregierung unterstützt dieses Jubiläum mit erheblichen Mitteln. Denn wir teilen das Anliegen und die Verantwortung, das vielgestaltige Erbe des Bauhauses zu bewahren und die bahnbrechenden Ideen dieser Schule zu vermitteln. In dem vorhin zitierten Ausruf Fritz Kuhrs offenbart sich der ganzheitliche Anspruch der Bauhäusler. Es ging ihnen darum, die Welt neu zu denken, neue Antworten auf grundlegende Fragen zu finden. Sie taten dies nach den Schrecknissen des Ersten Weltkriegs. Vielleicht taten sie es auch als Antwort auf die weitere Verflachung von Formen und Gegenständen durch die Industrialisierung. Sie fragten: Wie wohnen wir? Wie arbeiten wir? Wie modernisieren und verbessern wir das Leben und Zusammenleben in der Gesellschaft? Das sind Fragen von zeitloser Aktualität, die heute aber natürlich unter ganz anderen Bedingungen gestellt werden. Die Globalisierung, die Digitalisierung, der Klimawandel und vieles andere mehr stellen neue Anforderungen. Dennoch sind auch heute die Ideen der Bauhäusler Inspiration – weil sie ganzheitlich dachten, weil sie Dinge auf das Wesentliche reduzierten und auf ihre Funktion zielten, weil sie neue Formen des Zusammenwirkens zwischen Handwerk und Kunst, zwischen Plastik, Malerei und Architektur erprobten. Für mich besonders interessant ist das Zusammenarbeiten von Künstlern und Handwerkern in einer erhofften hierarchiefreien Welt. Da bin ich in den Details nicht bewandert, aber der Ansatz ist erst einmal richtig. Sie haben sich mit dem Erreichten nicht begnügt, sondern haben immer wieder neue Wege gesucht. Natürlich war das 1919 gegründete Bauhaus auch ein Kind seiner Zeit. Die 14 Jahre, die es bestand, waren geprägt von weitreichenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen. Nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs gelang es in der Weimarer Republik – wenn auch unter äußerst schwierigen Umständen –, neue Formen des Zusammenlebens zu ergründen. Es gelang, wirtschaftliche und soziale, künstlerische und handwerkliche Experimente zu wagen und sich dabei Freiheiten zunutze zu machen, wie sie wenige Jahre zuvor noch kaum denkbar gewesen wären. An diese Zeit der Umbrüche und der Hoffnungen auf eine bessere Zukunft erinnert ein Museum, das mithilfe des Bundes kürzlich in Weimar errichtet wurde. Es wird deutlich, dass sich die vielfältigen Strömungen der staatlichen Selbstfindungsphase der Weimarer Republik auch in der facettenreichen Entwicklung des Bauhauses widerspiegeln. Dies konnte auch gar nicht anders sein, wollten sich doch die Bauhäusler nicht in einem Elfenbeinturm einrichten. Vielmehr wollten sie sich einmischen. Es ging ihnen in ihrem künstlerischen und handwerklichen Schaffen um gesellschaftliche Wirkung und vor allem um soziale Relevanz. Dazu sollten wir uns heute noch einmal kurz die wichtigen politischen und sozialen Rahmenbedingungen vor 100 Jahren vergegenwärtigen. Die Erarbeitung der ersten demokratischen Verfassung für Deutschland gehören dazu ebenso wie der Ausbau des Sozialstaates und die Vereinbarung der Tarifautonomie. Auch hatte sich die Rolle der Frauen in Politik und Gesellschaft grundlegend geändert. Bei der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 hatten Frauen erstmals in der deutschen Geschichte das aktive und passive Wahlrecht und nahmen es mit großer Beteiligung in Anspruch. In das Parlament wurden knapp zehn Prozent Frauen gewählt. Damals war das der mit Abstand höchste Frauenanteil weltweit. Er wurde übrigens im Deutschen Bundestag erst 1983 wieder erreicht. Gut Ding will Weile haben. Erstmals also wurden Frauen bei staatsbürgerlichen Rechten Männern gleichgestellt. Das war ein Sieg der Demokratie. Und dieser wirkte sich in allen Bereichen aus. Unter anderem gewährte die Verfassung den Frauen Lernfreiheit. Das bedeutete in der Praxis, dass die Akademien Frauen nicht mehr einfach die Aufnahme verweigern konnten. Und die Frauen wollten lernen. Sie wollten sich und ihre Talente und Ideen einbringen. Für mich als jemand, der ja nicht in der alten Bundesrepublik groß geworden ist, ist es ein besonderes Erinnerungsstück, dass die Frau den Mann bis in die 1970er Jahre fragen musste, ob sie berufstätig sein darf. Mit der Lernfreiheit war man vorher schon einmal ein Stück vorangekommen. Aber die Frauen wurden keineswegs überall mit offenen Armen empfangen. Das galt auch für das Bauhaus. Dorthin strömten gleich nach seiner Gründung 1919 sogar mehr Frauen als Männer. Damit hatte Walter Gropius nicht gerechnet. Es gibt die Sage, dass es ihm auch nicht ganz recht war. Es waren ihm zu viele Frauen. Wer von ihnen sich in der Folgezeit trotzdem den Zugang erkämpft hatte, sah sich dann nicht selten in die Weberei abgedrängt. Fast ist es eine Ironie der Geschichte, dass die Weberei zu einem der profitabelsten Geschäftszweige des Bauhauses wurde. Insgesamt aber waren es nur 462 Frauen, die am Bauhaus in den 14 Jahren seines Bestehens studierten. Trotz Diskriminierung erbrachten die Bauhäuslerinnen große Leistungen in der Reformpädagogik, Möbelgestaltung, Fotografie und anderen Bereichen. Die Geschichte des Bauhauses ist also auch die Geschichte beeindruckender, tatkräftiger Bauhaus-Frauen. Dass dies in diesem Jubiläumsjahr gewürdigt wird, freut mich besonders. Wir denken zum Beispiel an Anni Albers und Marianne Brandt, an Lucia Moholy und Alma Siedhoff-Buscher. Wir denken an Gunta Stölzl – die erste und einzige Frau, der es gelang, Werkmeisterin am Bauhaus zu werden. Sie verwandelte die Weberei in ein Textillabor und experimentierte mit neuen Materialien und Techniken. Dies war ein sehr langer und steiniger Weg für sie. Frauen in leitenden Funktionen gab es am Bauhaus kaum. So weit wollte es man dann doch nicht kommen lassen. Wenn wir allerdings fragen, wie es heute in verschiedensten Leitungsbereichen aussieht, so ist die Antwort leider immer noch ernüchternd. Wie viele Frauen haben heute einen Lehrstuhl inne? Wie viele Intendantinnen leiten ein Theater? Wie viele sind in den Vorständen großer Unternehmen? – Frau Perren, es ist sehr schön, dass Sie heute hier sind. – Selbstverständlich hat es seit der Einführung des Frauenwahlrechts und der Gründung des Bauhauses vor 100 Jahren einen großen Bewusstseinswandel gegeben. Zweifellos aber ist der Prozess der Gleichstellung auch heute noch nicht abgeschlossen. Gleichwohl bleibt der Beitrag des Bauhauses zum sozialen Fortschritt unbestritten. In der Weimarer Republik waren insbesondere das soziale Bauen und Wohnen drängende Fragen, mit denen sich das Bauhaus richtigerweise intensiv auseinandersetzte. Vor allem in größeren Städten mussten viele Arbeiterfamilien, die sich nichts anderes leisten konnten, in beengten, dunklen und armseligen Hinterhofwohnungen ihr Dasein fristen. Wer Berlins Entstehungsgeschichte kennt, weiß, was das bedeutete. In seinem Manifest rief Walter Gropius 1919 Architekten, Bildhauer und Maler dazu auf, sich dem Handwerk zuzuwenden und gemeinsam den neuen Bau der Zukunft zu erschaffen. So wurden neue Modelle erprobt, die gesundes Wohnen mit Licht, Luft und Grün ermöglichen, aber trotzdem finanzierbar bleiben sollten. Das ist die Aufgabenstellung, vor der alle Städtebauer auch heute stehen. Es ging darum, lebenswertes Wohnen zu ermöglichen – mit funktionsgerechter Wohnungseinrichtung wie auch mit einem Wohnumfeld, das soziale Kontakte fördert statt sie zu verhindern. Der Gestaltungswille der Bauhäusler erstreckte sich also von der Siedlung bis zum Haushaltsgegenstand. Oder wie es Gropius selbst formulierte: „Bauen ist Gestaltung von Lebensvorgängen.“ In den 1920er Jahren war auch in der Industriestadt Dessau die Wohnungsnot groß. Auch deswegen setzten Walter Gropius und seine Bauhäusler ab 1925 hier ihre Ideen in die Praxis um. Das Bauhaus errichtete in Dessau-Törten eine Musterwohnsiedlung. Die Gebäude des Bauhauses selbst – das Schulgebäude und die Meisterhäuser hier in Dessau – wurden zum Inbegriff moderner deutscher Architektur. Die Ausstattung kam komplett aus den Bauhauswerkstätten. Schon damals kamen viele Besucher, um diese Gebäude zu bestaunen, die sich durch eine neue Klarheit und Funktionalität auszeichneten. Doch auch die anderen visionären Bauwerke – wie etwa das Arbeitsamt, das Kornhaus und das Konsumgebäude – beeindrucken die Besucher bis heute. Viele der damaligen Fragen und Diskussionen bewegen uns auch heute: Wie wollen wir als Gesellschaft zusammenleben? Welche Wohnformen passen zu unseren Bedürfnissen? Wie bringen wir sozialen und bezahlbaren Wohnbau voran? Wie können wir mit stadtplanerischen und gestalterischen Ideen zu gleichwertigen Lebensverhältnissen beitragen? Heute fragen wir uns auch, wie wir Nachhaltigkeit und Naturschutz gerecht werden können. Aber vergessen wir nicht: Der große Einfluss des Bauhauses auf die Moderne war alles andere als selbstverständlich. Der Erfolg fiel den Bauhäuslern nicht in den Schoß. Sie fanden nicht nur Bewunderung, sondern trafen auch auf viel Widerstand in Politik und Bevölkerung. Das, was uns heute ganz selbstverständlich erscheint, war damals auch Provokation in allgemeinem Sinne. Die NSDAP setzte in Dessau 1932 die Auflösung des Bauhauses durch. Auf den anschließenden Neuanfang in Berlin als private Schule folgte mit zunehmendem Druck der Nationalsozialisten 1933 das baldige endgültige Aus. – Das, was Sie eben über das Menschenbild und über die Möglichkeiten, dieses Menschenbild zu missbrauchen, dargelegt haben, hat sich vielleicht auch darin gezeigt, dass die Nationalsozialisten den Bauhäuslern Bolschewismus vorwarfen. Beide Menschenbilder sind ja nicht die, die wir heute als das verstehen, was dem Artikel 1 unseres Grundgesetzes entspricht. Viele Bauhäusler zogen sich zurück, landeten in Zuchthäusern oder Konzentrationslagern. Viele emigrierten ins Ausland. Doch damit war die Geschichte des Bauhauses zum Glück nicht zu Ende. Chicago ist heute schon öfters erwähnt worden. Man kann die Spuren des Bauhauses dort wunderbar besichtigen – das New Bauhaus, aus dem später das Institute of Design wurde. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Bauhaus als leuchtendes Beispiel der Moderne, als Gegenpol zum Nationalsozialismus gesehen. Es stand für die positiven Seiten der deutschen Geschichte und wurde Chiffre eines besseren, modernen Deutschlands. Der Einfluss in der westdeutschen Nachkriegsarchitektur war beachtlich – allerdings hat er sich nicht in jeder deutschen Innenstadt durchgesetzt –: durch die Interbau in Berlin oder die Industrie- und Kaufhausbauten von Ernst Neufert. Hinzu kommen Möbel, Grafik und Design, bei denen das Bauhaus in den 1950er und 1960er Jahren markante Spuren im Alltagsleben hinterließ. Die Hochschule für Gestaltung Ulm, die von 1953 bis 1968 existierte, berief sich ausdrücklich auf die Geschichte des Bauhauses. Während das Bauhaus zur Zeit seines Bestehens von Nationalsozialisten als bolschewistisch diffamiert worden war, wie ich schon sagte, wurde es in der DDR der 1950er Jahre als kapitalistisch und antisozialistisch eingeordnet. Zugleich aber wirkten Bauhäusler wie Selman Selmanagić, Marianne Brandt und Mart Stam in der Kunsthochschule Berlin-Weißensee in Ostberlin mit, die deshalb auch als eine Nachfolgeinstitution des Bauhauses gelten kann. Ab den 1960er Jahren wurde das Bauhaus auch in der DDR wieder etwas mehr wertgeschätzt. Ausdruck fand dies vor allem in der Renovierung und Wiedereröffnung des Dessauer Bauhauses im Jahr 1976. Das Design und das, was man da sehen konnte, war sozusagen ein Leuchtturm in der Vielzahl von Geschmacklosigkeiten, mit denen wir in der DDR umgeben waren. Man konnte dort gutes Design sehen. Mit der Deutschen Einheit haben sich die Grundlagen der Bauhaus-Rezeption fundamental verbessert. Heute wird das Bauhaus-Erbe in Deutschland vor allem von drei Institutionen an den historischen Wirkungsstätten Weimar, Dessau und Berlin bewahrt, die eng zusammenarbeiten und die Bauhaus-Vielfalt mit unterschiedlichen Schwerpunkten präsentieren können. Die Bundesregierung hat dabei gerne mitgemacht und freut sich, dass die weltweit zweitgrößte Bauhaus-Sammlung hier im neuen Dessauer Museum ein würdiges Zuhause findet. An der Vorbereitung der Ausstellung haben übrigens sogenannte Bauhaus-Agenten mitgewirkt. Gemeinsam mit Schülern und Experten der Stiftung haben sie neue Formen der Vermittlung entwickelt, um auch Kinder und Jugendliche anzusprechen und ihnen das Bauhaus nahezubringen. Ich halte das für ganz wichtig. Meine Damen und Herren, 1926 schrieb das Berliner Tageblatt über das Bauhausgebäude in Dessau – ich zitiere –: „Dieses Haus muss man gesehen haben!“ Ich finde, dass man das auch über das neue Bauhaus Museum mit seinem lichten Foyer und der Blackbox sagen kann. Mein Dank gilt deshalb an dieser Stelle allen, die an seinem Aufbau mitgewirkt haben! – Als ich gelesen habe, dass der Vogelschutz noch ein paar Probleme hervorgerufen hat, habe ich gedacht: Oh Gott, hoffentlich ist das mit dem Vogelschutz ein bisschen anders als sonst. Aber hier ist das ja ganz anders. Deshalb bin ich sehr erleichtert. Ich wünsche Ihnen, dass Sie den besonderen Geist des Bauhauses lebendig halten! Ich gratuliere zum Jubiläum und wünsche allen, die hier arbeiten, alles Gute, viel Freude und eine gute Kooperation mit den anderen Bauhaus-Teilen. Den vielen Besuchern wünsche ich eine gute Erinnerung an ein gutes Stück deutscher Geschichte! Herzlichen Dank!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel an der Huazhong University of Science and Technology am 7. September 2019 in Wuhan
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-an-der-huazhong-university-of-science-and-technology-am-7-september-2019-in-wuhan-1668736
Sat, 07 Sep 2019 00:00:00 +0200
Wuhan / China
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Präsident Li Yuanyuan, sehr geehrte Angehörige des Kollegiums, liebe Studentinnen und Studenten, liebe Gäste, ich möchte mich ganz herzlich für die Einladung bedanken und freue mich außerordentlich, bei Ihnen zu sein, weil Ihre Universität ein ausgezeichnetes Beispiel dafür ist, wie vielseitig ein naturwissenschaftliches oder technisches Studium später genutzt werden kann. Ihre Universität ist die Alma Mater berühmter Wissenschaftler. Ich denke etwa an Professor Deng Julong und Professor Liu Sifeng, die Begründer der „Grey System Theory“. Hier bei Ihnen haben auch sehr erfolgreiche Unternehmer studiert wie Zhang Xiaolong, der Vater des Messengerdienstes „WeChat“. Es gab und gibt viele Absolventinnen und Absolventen Ihrer Hochschule, die die Welt mitgestaltet und auf verschiedene Weise Geschichte geschrieben haben, so etwa auch die beiden Tennisspielerinnen Li Na und Li Ting. Ihre Universität ist also ganz offensichtlich ein Ort vieler Talente. Und so genießt sie aus vielen guten Gründen in China und über die Landesgrenzen hinaus hohes Ansehen. Wir Deutschen schauen mit großem Interesse nach China und darauf, wie viele gute Ideen hier heranreifen. Wuhan und Ihre Universität haben ja auch eine enge Beziehung und Verbindung zu Deutschland. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Anfang des 20. Jahrhunderts war Deutschland im damaligen Hankou sehr präsent. Auch heute noch zeugen Gebäude im deutschen Stil von dieser Zeit. Seit 1982 verbindet eine Städtepartnerschaft Wuhan mit Duisburg. Der Bürgermeister von Duisburg hatte mir vor dieser Reise geschrieben und mir über diese Städtepartnerschaft berichtet. Die Anregung zu dieser ersten deutsch-chinesischen Städtepartnerschaft kam vor allen Dingen vonseiten der Wirtschaft. Denn Wuhan ist ein wichtiger Wirtschaftsstandort für deutsche Unternehmen wie Bosch, Siemens und ThyssenKrupp. Aber nicht nur weithin bekannte Unternehmen sind hier aktiv, sondern auch viele innovative Mittelständler. Besonders am Herzen liegt mir der Austausch in der Wissenschaft. Die technologische Entwicklung ist rasant. Sie bietet Möglichkeiten, von denen wir früher nur träumen konnten. Denken wir nur an die Künstliche Intelligenz. Diese dient heute zum Beispiel in der Medizin dazu, Millionen von Bildern und Daten zu durchsuchen und auszuwerten, um etwa Krebs besser diagnostizieren und therapieren zu können. Ob in der Wissenschaft, in der Medizin, in der Wirtschaft oder in anderen Bereichen – maschinelles Lernen wird unser Arbeiten, Leben und Zusammenleben immer mehr prägen. Sie als junge Menschen sind davon natürlich noch viel mehr betroffen als wir, die Älteren. Bei technologischen Umwälzungen geht es aber nicht immer nur um Wissen, Anwendung und wirtschaftliche Wertschöpfung. Vielmehr bedeuten neue Erkenntnisse auch neue Herausforderungen im Bereich der Ethik. Künstliche Intelligenz, Big Data, Fortschritte in der Gentechnologie müssen immer auch von einer Debatte über ethische und rechtliche Standards begleitet werden. Ist alles, was möglich ist, auch tatsächlich wünschenswert? Wo genau ziehen wir die Grenzen der Anwendung? Wie wahren wir die Würde jedes einzelnen Menschen? Sie, liebe Studierende, haben die Chance, sich in diese Debatte einzubringen – mit Ihrem Fachwissen, aber auch mit Ihren Wertvorstellungen. Das ist eine Debatte, die nicht nur hier geführt wird; vielmehr ist das eine globale Debatte. In unserer eng vernetzten Welt haben wissenschaftliche, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen der einen immer auch Auswirkungen auf andere – das gilt im positiven Sinne und das gilt natürlich auch im negativen Sinne. Globalisierung bedeutet im Kern, dass das nationale Gemeinwohl mehr denn je auch vom globalen Gemeinwohl abhängt; es ist ein Teil davon. Das verlangt ein Bewusstsein gemeinsamer Verantwortung, von dem wir uns leiten lassen sollten. Denn nur so lassen sich die großen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen. Sie betreffen ja uns alle. Einzelne Länder oder Regionen würden damit vollkommen überfordert sein; allein könnten sie globale Fragen nicht beantworten. Ganz besonders offenkundig ist das natürlich beim Klimawandel. Er bedroht unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Er ist von Menschen entscheidend mit verursacht. Also müssen wir Menschen auch alles Menschenmögliche tun, um den Klimawandel und seine fatalen Folgen einzudämmen. Darauf hat sich die Weltgemeinschaft mit dem Klimaschutzabkommen in Paris verpflichtet. Jedes Land ist dazu aufgefordert, den Beitrag zu leisten, der ihm möglich ist – den bestmöglichen Beitrag zu leisten. Wir wissen, dass Klimaschutz nur gemeinsam gelingt oder eben gar nicht; mit Auswirkungen auf alle. China geht gerade auch mit Blick auf erneuerbare Energien ehrgeizig vor. Ich kann Sie nur dazu ermuntern, den eingeschlagenen Weg konsequent weiterzugehen. Denn angesichts der Größe und der Wirtschaftskraft Chinas ist der internationale Klimaschutz auf einen gewichtigen chinesischen Beitrag angewiesen. Wir alle auf der Welt müssen noch besser werden – das sage ich auch sehr selbstkritisch zu uns in Deutschland. Ich setze mich deshalb mit ganzer Kraft dafür ein, dass Deutschland 2050 Klimaneutralität erreicht. Zugleich hängt das Wohl der Länder – der Industrieländer wie der Entwicklungsländer – natürlich auch von weltwirtschaftlichen Entwicklungen ab. Daher ist es unverzichtbar, auch hierbei auf gemeinsame Regeln zu setzen und ein Handelswesen zu haben, das nicht auf Handelsbarrieren, sondern auf einen Handel zum Wohle aller ausgerichtet ist. Es bieten aber seit geraumer Zeit protektionistische Tendenzen und Handelskonflikte Anlass zu großer Sorge. Protektionismus schadet am Ende uns allen, die wir über internationale Wertschöpfungsketten miteinander verbunden sind. Daher gilt es auch hier, uns zu einer Politik zu entschließen, die neben dem nationalen auch das globale Gemeinwohl in den Blick nimmt. Chinas Weg zu mehr Offenheit und Reformen auf dem Weg hin zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist der richtige Weg. Ich ermuntere Sie ausdrücklich, einen solchen Reformweg im Rahmen unserer multilateralen Ordnung entschlossen fortzusetzen. Multilaterales Handeln zahlt sich aus. Das gilt auch für Ihr Land, das in den letzten Jahrzehnten eine beeindruckende Entwicklung genommen hat. Viele Millionen Chinesen haben einen Weg aus der Armut gefunden. Mit dem wirtschaftlichen Gewicht Chinas ist zugleich seine globale Verantwortung gewachsen. So zählt das Land heute zu den wichtigsten Akteuren in der internationalen Politik. Dieser Rolle gerecht zu werden, ist gerade in Zeiten wie diesen von großer Bedeutung. Das umfasst auch alle Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte, über die wir mit China auch ganz offen sprechen. Denn nur auf einer solchen Grundlage kann unsere internationale Zusammenarbeit auch in Zukunft erfolgreich sein. Nur so kann sich das auch im Leben des Einzelnen spürbar niederschlagen. Es geht um eine saubere Umwelt, in der die Menschen leben und arbeiten. Es geht um interessante und gut bezahlte Arbeit, die ein gutes Leben ermöglicht. Diese und andere Ziele sind nicht nur chinesisch oder deutsch, sie sind universell. Mich leitet dabei die Erfahrung, dass Veränderungen zum Guten möglich sind. In Alleingängen wird das aber nicht gelingen. Mehr denn je müssen wir deshalb multilateral statt unilateral denken und handeln, global statt national, weltoffen statt isolationistisch – kurzum: gemeinsam statt allein. Liebe Studentinnen und Studenten, ich wünsche Ihnen, dass Sie die nötigen und geeigneten Möglichkeiten vorfinden, mit denen Sie Ihren Weg gehen können! Ich wünsche der Welt, dass Ihre Generation aktiv an einer lebenswerten Zukunft mitarbeitet! Und nun freue ich mich auf eine interessante Diskussion mit Ihnen und sage erst einmal danke dafür, dass ich hier sein darf und dass Sie mir zugehört haben!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Handelshochschule Leipzig am 31. August 2019 in Leipzig
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verleihung-der-ehrendoktorwuerde-durch-die-handelshochschule-leipzig-am-31-august-2019-in-leipzig-1666214
Sat, 31 Aug 2019 11:54:00 +0200
Leipzig
Alle Themen
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Michael Kretschmer, sehr geehrte Frau Lagarde, liebe Christine, sehr geehrter Herr Professor Stubner, sehr geehrter Herr Professor Schirmer, liebe Absolventinnen und Absolventen, meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich auch liebe Mitglieder des Gewandhausorchesters, herzlichen Dank! Das ist ein ganz besonderer Tag. Jeder spürt es in verschiedener Hinsicht. Die Ehrendoktorwürde der renommierten Handelshochschule Leipzig entgegenzunehmen, ist für mich natürlich eine große Freude und Ehre. Dabei bin ich mir nicht ganz sicher, was mich mehr ehrt: die hohe Auszeichnung an sich oder die lobenden Worte, die Sie für mich gefunden haben, Herr Professor Stubner, und natürlich besonders Du, liebe Christine. Es waren bewegende Worte, für die ich mich ganz herzlich bedanke! Ich darf Ihnen versprechen: ich werde mich jetzt nicht niedersetzen, sondern ich werde daran denken und weiterarbeiten. Denn es gibt noch viel zu tun. Ich wusste nicht, dass dieser Laudatio ein wissenschaftlicher Prozess vorausgegangen ist. Deshalb möchte ich mich auch bei den Gutachtern dafür bedanken, dass sie auf unabhängige Art und Weise den ehrenwerten Senat dieser Hochschule so überzeugen konnten, dass er auch noch zu einer einstimmigen Entscheidung gekommen ist. Wo hat man das heute schon? Das würde man gern öfters haben. Ich möchte mich natürlich auch dafür bedanken, dass hier passenderweise die Ouvertüre der „Meistersinger“ gespielt wurde. Das gilt ja in vielfacher Hinsicht. Auf der einen Seite: Ja, ich liebe die Musik von Richard Wagner. Es ist vor allem „Tristan und Isolde“, was mich sehr bewegt. Ich glaube, wenn man über das Leben an sich nachdenkt, sollte man sich dem „Ring“ zuwenden. Ich will das ausdrücklich sagen, weil ich es in diesem Jahr auch in Bayreuth gehört habe. Die „Meistersinger“ muss man sich mehr erarbeiten, als man denkt. Man denkt, es geht um Handwerker im Mittelalter. Aber die Sache ist doch etwas komplizierter. Ich will nur sagen: Der Ruf „Verachtet mir die Meister nicht!“ passt nun auch zu dem Anlass, den wir heute hier haben, zur Graduiertenfeier. Für die Absolventinnen und Absolventen, die hier ihren Abschluss gemacht haben, passt das nun ganz besonders. Es ging damals zwar um Handwerksmeister – und Sie haben eine akademische Ausbildung –, nichtsdestotrotz ist der Ruf „Verachtet mir die Meister nicht!“ etwas, das Sie jetzt auch für sich in Anspruch nehmen können. Sie haben ein Recht darauf, anerkannt zu sein. Deshalb möchte ich Ihnen allen sehr herzlich gratulieren und Ihnen alles Gute wünschen! Sie können stolz auf den Abschluss an der Handelshochschule Leipzig sein! Nun geht es für Sie richtig los. Es werden sich viele Türen in eine spannende Berufswelt öffnen. Durch welche Tür auch immer Sie treten werden, ich wünsche Ihnen, dass Sie sich die Neugier und die Offenheit bewahren, die Sie durch Ihr Studium getragen haben! Denn nur wer sich auf Neues einlässt, kann auch immer wieder neue Chancen für sich entdecken. Sie sind Teil einer Gesellschaft, die sich immer wieder neu entdecken muss. Um im globalen Innovationswettbewerb ein gewichtiges Wort mitzureden, müssen wir wandlungsfähig sein. Wir müssen eine Gesellschaft sein, in der wir uns mit Gegebenem nicht begnügen, sondern über den Tellerrand hinaus blicken. Dazu brauchen wir Sie, die jungen Menschen. Denn Sie sind noch nicht festgelegt, Sie haben neue Ideen. Ich erinnere mich noch ganz genau an die Zeit nach meinem Studium hier in Leipzig und daran, wie frustrierend es auch sein kann, in das Korsett eines beruflichen Alltags eingeschnürt zu werden. Lassen Sie sich nicht zu schnell entmutigen, sondern seien Sie mutig! Die Älteren brauchen das: den Mut und die Kraft der Jugend. Das möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben. Ich denke sehr gern an meine Studienjahre in Leipzig zurück, obwohl sie unter einem politischen System stattgefunden haben, das wirklich sehr bedrückend und bedrängend war. Als ich heute in das Opernhaus ging, fiel mir wieder ein, dass ein früher in der DDR wichtiger Mensch, als er aus dieser Oper kam, auf eine Kirche schaute – die Universitätskirche – und beschied: „Diese Kirche muss weg. Wenn ich das nächste Mal in Leipzig sein werde, möchte ich nicht, dass eine Kirche in der Nähe der Universität steht.“ Dass dort heute wieder eine neu erbaute Kirche steht, ist ein unglaubliches Glück. Deshalb ist Leipzig auch in altem und neuem Glanz wieder erstrahlt. Die Studienzeit war für mich, wie für jeden natürlich, prägend. Ich kam aus ländlichen Gebieten der Uckermark, nördlich von Berlin, aus einem behüteten und tollen Elternhaus. Aber es war beschaulich. Die Erfahrung einer Großstadt war wunderbar. Es waren hier zum Beispiel unglaublich schöne Begegnungen mit dem Thomanerchor und vielem anderen in Leipzig möglich. Es war zwar nicht einfach, sich in die physikalische Materie einzuarbeiten. Aber es hat Spaß gemacht, in eine diskussionsfreudige Forschungslandschaft einzutauchen. In dem Hochhausgebäude, das Sie gegenüber der Oper sehen, das heute dem „MDR“ zugeordnet ist, habe ich meine Praktika machen müssen. Ich bin theoretische Physikerin geworden. Ich hatte nie zwei rechte Hände, aber ich habe es irgendwie geschafft. Meine Damen und Herren, ich habe mich ganz wesentlich deshalb für das Physik-Studium entschieden, weil die DDR zwar vieles verbiegen konnte, aber die Naturwissenschaften nicht. Die Erdanziehungskraft galt auch bei uns. Insofern war man auf sicherem Terrain mit Ausnahme der vielen Marxismus-Kurse, die man belegen musste. Aber das ist ein anderes Kapitel. Das Interessante damals für mich war die Erfahrung: man wollte einerseits Forscher, die möglichst auch in westlichen Journalen publizieren konnten, die erfolgreich waren. Das heißt also, während unserer Berufstätigkeit sollten wir alle frei denken. Wenn wir dann die Universität oder die Akademie der Wissenschaften verließen, dann sollten wir aber plötzlich aufhören zu denken, dem Staat dankbar sein und uns nicht mehr über Freiheit und Demokratie Gedanken machen. Beides ging hinreichend schlecht zusammen, aber schließlich hatte es sich überlebt. Der repressive Staat war zum Scheitern verurteilt. Es war vor 30 Jahren natürlich eine besondere Zeit. Ich komme noch einmal darauf zurück. Aber zu sozialistischen Zeiten waren in Leipzig auch jenseits des wissenschaftlichen Betriebs viele darauf bedacht, sich ein paar Freiräume zum Denken zu bewahren. Es war immer ein Hauch von Freiheit in dieser Stadt zu spüren. Das hatte vielleicht auch mit der Handels- und Messetradition zu tun. Leipzig war schon immer ein Ort, an dem sich viele Menschen – auch aus der alten Bundesrepublik oder aus anderen westlichen Ländern – begegnet sind, Geschäfte gemacht haben, ins Gespräch gekommen sind. Aus dem damaligen Hauch von Freiheit ist ein frischer Wind geworden. Heute zählt Leipzig zu den dynamischsten Großstädten in Europa. Leipzig macht als sogenannte Schwarmstadt von sich reden. Junge Leute wollen hierher. Und das Bevölkerungswachstum hier spricht eine deutliche Sprache. Leipzig ist eine Stadt der Möglichkeiten. Die Unternehmenslandschaft hat sich seit 1990 grundlegend erneuert. Die Wirtschaftskraft der Region Leipzig erreicht heute – ich sage das aus gegebenem Anlass, weil Christine Lagarde als französische Bürgerin bei uns ist – fast das Niveau der Region Rhône-Alpes. Das ist immerhin die wirtschaftlich zweitstärkste Region Frankreichs. Das heißt, die Region Leipzig kann auf das Erreichte wirklich stolz sein. Die Handelshochschule Leipzig trägt kräftig zur wirtschaftlichen Entwicklung bei. Sie steht nicht nur für exzellente Ausbildung, sondern ist auch ein bundesweiter Leuchtturm im Hinblick auf Unternehmensgründungen aus der Hochschule heraus. Deshalb ist der Ruf dieser Hochschule auch so gut. Sie zieht Studierende aus Deutschland, Europa und der ganzen Welt an. Über ein Drittel der Absolventinnen und Absolventen kommt aus dem Ausland. Ich habe eine Bitte: Entweder Sie bleiben hier und helfen uns, dass wir noch stärker werden, oder Sie bleiben Botschafter Deutschlands, Sachsens, Leipzigs, wenn Sie nach Hause gehen. Wir nehmen Sie immer wieder gern als Gast bei uns auf und sagen: Lassen Sie Ihr Studium hier ein völkerverbindendes Zeichen sein! Die HHL ist ein wunderbares Beispiel für Weltoffenheit in Deutschland. Nach den USA, Großbritannien und Australien zählt Deutschland weltweit zu den beliebtesten Ländern für einen Studienaufenthalt. Wir haben natürlich eine Sprachbarriere. Aber unter den nicht-englischsprachigen Gastländern rangieren wir ganz oben auf der Liste. Daran haben viele Anteil. Die Handelshochschule Leipzig gehört zweifellos dazu. Ich möchte allen Lehrkräften an dieser Hochschule ganz herzlich dafür danken! Exemplarisch möchte ich hier noch einmal das „Leipziger Führungsmodell“ erwähnen, das hier entwickelt wurde und auf ein erweitertes Führungsverständnis abstellt. Es begnügt sich eben gerade nicht mit einer verengten Sichtweise zum Beispiel auf den Shareholder Value. Ich glaube, es ist von einem nicht zu unterschätzenden Wert, dass Sie sich ausdrücklich dies zum Markenzeichen gemacht haben. Denn seien wir ehrlich: Die Soziale Marktwirtschaft, wie sie Deutschland großgemacht hat, wie sie das Wirtschaftswunder in der alten Bundesrepublik möglich gemacht hat, steht angesichts der globalen Gegebenheiten unter Druck. Sie muss neu definiert werden. Ihre Prinzipien sind richtig. Aber ihre Gegebenheiten müssen neu ausgearbeitet werden. Dabei ist es sehr wichtig, dass in Ihrem Führungsmodell etwas eine Konstante ist, das uns in den letzten Jahrzehnten stark gemacht hat: Es muss das Menschenbild, das Bild der Würde des einzelnen Menschen, erhalten bleiben, wenn man als Führungskraft tätig sein will. Dass Sie auf Führungspersönlichkeiten abstellen, die, um sich in einem Umfeld zurechtzufinden, das sich ja rasch verändert, eine Art inneren Kompass haben müssen, der auf übergeordneten Werten beruht, das ist von nicht zu unterschätzendem Wert. Ich möchte Ihnen dafür danken! Werteorientierte Führung bedeutet nicht, ohne Rücksicht auf andere sich selbst gesteckte Ziele und Eigeninteressen zu verfolgen, sondern ein größeres Ganzes in den Blick zu nehmen, nämlich das Wohl des Unternehmens, der Mitarbeiter, der Kunden und der Gesellschaft, und zwar – wenn ich das hinzufügen darf – nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern über eine längere Strecke hinweg. Wir alle müssen nachhaltig denken. Wir alle müssen daran denken, dass sich etwas immer über eine längere Zeit entwickelt. Deshalb ist es so wichtig und richtig, dass Unternehmerinnen und Unternehmer – Führungskräfte – auch heute über ihren Betrieb und die Belegschaft hinaus Verantwortung tragen. Sie stehen nicht selten im Licht der Öffentlichkeit; und das wird Ihnen auch passieren. Sie sollten sich deshalb immer bewusst sein, dass das eigene Verhalten das Bild von vielen Menschen mitprägen kann, das sie sich vom Unternehmertum und von der Sozialen Marktwirtschaft machen. Dieses Bild hat gelitten, insbesondere während der internationalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise vor rund zehn Jahren. Das Vertrauen ist noch nicht wieder voll hergestellt. Deshalb wird es Ihre Generation sein, die beweisen muss, ob es wieder zu solchen Entwicklungen kommt oder ob es gelingen kann, dass man zu einer Sozialen Marktwirtschaft in umfassendem Sinne kommt. Deshalb liegt vor Ihnen – weit mehr als die vielleicht kommende Management- oder Unternehmensfunktion – die Aufgabe, Menschen wirklich auch gesellschaftlich positiv zu beeinflussen. Inwieweit die gesellschaftliche Vorbildrolle als Unternehmer ausgefüllt wird, hat also eine immense gesamtgesellschaftliche und politische Dimension. Dazu gehört zweierlei: dass die Gesellschaft den Unternehmer und die Unternehmerin anerkennt, den Führungskräften etwas zutraut; und es gehört genauso dazu, dass auch sie die gesamtgesellschaftliche Verantwortung spüren. Deshalb ist Führung nicht als Selbstzweck zu verstehen, sondern als Mittel zum Zweck, der auch anderen und nicht allein dem Führungspersonal dient. Führung in diesem Sinne setzt die Fähigkeit voraus, verschiedene Überzeugungen und Interessen wahrzunehmen, aufzugreifen und dann auch immer einen Raum zu finden, in dem Ausgleich und Kompromissfindung möglich sind. Das heißt, Führung kann nur dann gut ausgeübt werden, wenn Sie immer wieder auch neugierig auf die Meinung anderer sind. Ich sage ausdrücklich: Sie sollten neugierig auf die Meinung aller in einem Unternehmen sein, die zum Wohle des Unternehmens beitragen, und nicht nur derer, die im Senat oder in der Führung sitzen. Der Raum für Kompromissfindung ist heute oft nicht mehr leicht zu finden. Man muss ihn sich häufig erst erarbeiten, weil die Ambiguität, wie man heute so schön sagt, nicht allzu sehr geschätzt wird. Man möchte sozusagen glasklare Positionen. Aber da wir nun alle unterschiedlich vom Herrgott geschaffen wurden und unterschiedliche Persönlichkeiten sind, wachen wir ja morgens nicht mit der gleichen Meinung und Überzeugung auf. Deshalb muss es immer wieder gelingen, die vielen verschiedenen Meinungen in einem Raum der Kompromisse zusammenzuführen. Deshalb würde ich neben das Wort „Verachtet mir die Meister nicht!“ von Richard Wagner das Wort setzen: Verachtet mir den Kompromiss nicht! Ohne Kompromiss kann die Gesellschaft nicht zusammenhalten. Im Übrigen ordnet sich die dienende Funktion von Führung in unser humanistisches Weltbild ein, das auf dem Respekt gegenüber dem Mitmenschen beruht. Das ist sozusagen eine europäische Tradition – wir können sagen, seit der Französischen Revolution 1789 –, die etwas im Menschenbild total verändert hat, die uns einzigartig macht. Dies im 21. Jahrhundert weiterzuentwickeln, das wird Ihre Aufgabe sein. In diesem Zusammenhang berührt es mich natürlich sehr, aber spornt mich auch an, dass mir gerade für das Führungsverständnis die Ehrendoktorwürde verliehen wurde. Das ist etwas, das mich auch immer wieder dazu veranlassen wird, nach Räumen der Kompromisse zu suchen. Deshalb möchte ich Sie bitten: Bleiben Sie auch weiterhin dabei – jedenfalls würde ich mir das als Ihre Ehrendoktorin wünschen; ich habe ja jetzt auch Möglichkeiten, mich hier zu äußern – und unterstützen Sie dieses Führungsverständnis! Ich glaube, das eben skizzierte Führungsverständnis lässt sich auf alle Lebens- und Arbeitsbereiche übertragen – ob im Unternehmen oder in der Gesellschaft. Das habe ich Ihnen, glaube ich, noch gar nicht gesagt: Alle Universitäten oder Hochschulen, die mir einen Ehrendoktor verliehen haben, werden noch von mir hören, wenn ich nicht mehr Bundeskanzlerin bin. Ich komme wieder. Dann verlasse ich Sie nicht wie heute gleich wieder, sondern hoffe, auch etwas länger zu bleiben. Ich muss noch einmal auf die 70 Jahre unseres Grundgesetzes zurückkommen. In Artikel 1 heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das heißt eben auch, der Staat ist für die Menschen da. Unsere Verfassung erteilt mit ihren Freiheitsrechten zugleich eine Absage an die Allzuständigkeit von Politik und Staat. Das bringt – darüber diskutieren wir zurzeit auch sehr viel – den einzelnen Bürger in eine Verantwortung. Daran erinnert uns das 70. Jahr des Grundgesetzes, aber eben auch das 30. Jahr des Mauerfalls. Leipzig war die Stadt, wo die Montagsdemonstrationen stattfanden. Es waren mutige Frauen und Männer, die ein starkes Zeichen gegen staatliche Willkür und Bevormundung setzten – und damit letztlich die Mauer zu Fall brachten. Wenn wir uns an den Mauerfall erinnern, dann sollten wir auch daran denken, was danach kam – an die vielen Veränderungen und vor allem die Leistungen in den letzten drei Jahrzehnten. Das Ende der DDR – viele, die jünger sind, können das ja nur noch nachlesen – bedeutete für viele Menschen eine Zäsur in ihrer Biografie. In meiner Biografie war es die Zäsur, als Wissenschaftlerin an der Akademie der Wissenschaften der DDR mich in die Abenteuer der Politik zu begeben. Für viele war es aber auch eine Zäsur, die ihnen nicht solche Möglichkeiten eröffnet hat. Ich sage oft: In der DDR haben elf Prozent der Menschen in der Landwirtschaft gearbeitet, ab dem Tag der Wirtschafts- und Währungsunion konnten es nur noch 1,5 Prozent sein. Das heißt, ein großer Teil der Bevölkerung stand vor völlig neuen Situationen; und nicht jedem konnte es gelingen, wieder einen Anknüpfungspunkt zu finden. Die Chancen hingen auch sehr stark vom Lebensalter ab. Viele hätten sich in den Wandel gern mehr eingebracht. Auch darüber müssen wir weiter sprechen. Denn es geht um Biografien, in denen auch Dinge passiert sind, die sich Menschen anders gewünscht hätten. Sich in einem völlig veränderten Lebensumfeld neu zu orientieren, fiel gewiss nicht jedem leicht. Wenn Sie in einem Staat leben, der für Sie scheinbar alles regelt, auch wenn er ökonomisch immer schwächer wird, dann ist es natürlich gar nicht so einfach, plötzlich in eine freiheitliche Situation zu kommen und genau zu wissen, was die Kinder lernen sollen, wie man was nun machen muss, welche Versicherungen man abschließen soll. Das heißt, Freiheit war auch eine Aufgabe, in ihr zu leben. Deshalb finde ich nach wie vor, dass wir zwischen Ost und West – bei allem, was wir geschafft haben – uns über Biografien und Leistungen noch besser austauschen müssen, um wirklich Verständnis füreinander zu gewinnen. Da bin ich dabei: Wir sollten uns mit der Vergangenheit beschäftigen. Das eigentlich Spannende ist – ob nun in Sachsen, in Thüringen oder in Mecklenburg-Vorpommern, wo ich herkomme, ob in Bayern, in Rheinland-Pfalz oder sonst wo –: unser Leben sollte eigentlich auf die Zukunft ausgerichtet sein. Wir sollten uns an der Frage orientieren: Was wird aus unseren Kindern und aus unseren Enkeln in einer Welt, die sich massiv verändert? Die Welt fragt nicht jeden Tag, welche Ungerechtigkeiten vielleicht im Zuge der Deutschen Einheit passiert sind, sondern schaut auf Deutschland und sagt: Ihr habt es doch gut gemacht; so wie ihr wollen wir es auch gut machen. Das ist die Aufgabe, vor der wir auch jetzt stehen. Sie haben jetzt die Aufgabe, dies in Ihr weiteres Leben einzubringen. Ich weiß, dass heute ein Feiertag ist. Ich bin vielleicht ein bisschen streng, wenn ich Ihnen sage, was Sie in Zukunft erwartet. Aber es gibt dieses schöne Wort: „There is no free lunch in this world.“ Das habe ich oft erlebt; und jetzt erleben Sie es auch. Also: keine Absolventenfeier ohne Aufträge. Ich sage Ihnen nochmals herzlichen Glückwunsch! Ich wünsche Ihnen alles, alles Gute auf Ihrer weiteren Lebensbahn! Der Universität sage ich ganz herzlichen Dank! Seien Sie weiter so gute Lehrkräfte! Danke dafür, dass ich nun auch mit dieser Hochschule verbunden bin!
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters beim Sommerempfang „Koch. Kunst. Kultur“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-beim-sommerempfang-koch-kunst-kultur–1666586
Thu, 29 Aug 2019 19:30:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Liebe geht bekanntlich durch den Magen. Das gilt ganz bestimmt auch für die christliche Nächstenliebe. Die Einladung zum heutigen Abend unter dem Motto „Koch.Kunst.Kultur“ weckt deshalb durchaus auch kulinarische Erwartungen, und das im besten christlichen Sinne: Zwar lebt der Mensch nicht vom Brot allein, doch Speis und Trank bringen Menschen zusammen, ja „gemeinsames Essen ist das Rückgrat des menschlichen Miteinanders“. So hat es kürzlich ein Psychologe formuliert, der in einem langen Zeitungsartikel zum Thema „Gemeinsam essen“ zu Wort kam. Ich freue mich jedenfalls auf gute Gespräche, begleitet von Koch-Kunst und Kultur-Genuss. Vielen Dank für die Einladung, verehrter/lieber Herr Erzbischof Koch. Ein Gesprächsthema drängt sich mir an diesem Ort und an diesem Tag geradezu auf: Es ist die identitätsstiftende Bedeutung des baukulturellen Erbes im Allgemeinen und der Kirchengebäude im Besonderen. Wir befinden uns hier in der Ruine einer Kirche, die viel über die Geschichte Berlins erzählt – und zwar auf den Tag genau 1010 Jahre, nachdem ein anderer, bedeutender Kirchenbau, der Mainzer Dom nämlich, fast bis auf die Grundmauern niederbrannte. Letzter ist längst wiederaufgebaut und der Brand nahezu in Vergessenheit geraten; St. Michael dagegen ist nach wie vor von den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs gezeichnet und verweist damit auch auf die Grausamkeit von Kriegen. Beide Bauten aber erinnern daran, welch hohe Bedeutung Kirchengebäude weit über die Gemeinschaft gläubiger Christen hinaus haben. Kirchengebäude sind nicht nur Orte des Gottesdienstes und der Einkehr für Gläubige. Auch Menschen, die keiner Kirche angehören und der Kirche als Institution vielleicht sogar kritisch gegenüberstehen, betrachten Kirchen im Allgemeinen als schützens- und erhaltenswert- sei es als Rückzugsorte im hektischen Alltag, sei es als bedeutende Kulturdenkmäler, als Teil unseres reichen kulturellen Erbes. Kirchen sind Ankerpunkte und Bezugspunkte des gesellschaftlichen Miteinanders. Sie gehören zum Fundament unserer Identität – in Berlin wie in Mainz, in Deutschland und in ganz Europa und der Welt. Nicht umsonst hat ja auch die verheerende Brandkatastrophe von Notre-Dame im April dieses Jahres Gläubige und Nichtgläubige weit über Frankreich hinaus zutiefst erschüttert und eine Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst. Auch ich habe meinem französischen Amtskollegen Franck Riester Hilfe beim Wiederaufbau angeboten, und die Kölner Dombau-meisterin Barbara Schock-Werner, eine ausgewiesene Expertin, mit der Koordinierung der Hilfsangebote aus Deutschland beauftragt. Angesichts ihrer identitätsstiftenden Bedeutung ist der Erhalt von Sakralbauten eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe; dazu leistet – neben den Kirchen selbst – auch der Staat seinen Beitrag. In Deutschland sind Denkmalschutz und Denkmalpflege in erster Linie Aufgabe der Länder. Doch auch die Bundesregierung engagiert sich für den Erhalt historischer Gottesdienststätten und Kirchen in Städten und Gemeinden. So sind aus meinem Etat in den vergangenen Jahren beträchtliche Mittel in den Substanzerhalt national wertvoller Denkmäler – darunter auch zahlreiche Kirchen, Dome, Klöster, Synagogen und weitere sakrale Gebäude – geflossen. Überschlägig betrachtet kommt nahezu die Hälfte der Fördermittel aus den Denkmalschutzprogrammen der Bundesregierung Sakralbauten zugute. Das ist beachtlich, zumal wenn man bedenkt, dass längst nicht mehr alle für den Gottesdienst genutzt werden. Und es ist gut angelegtes Geld. Denn Sakralbauten sind – um es in Worten der Bibel zu formulieren – angesichts der hohen Wertschätzung in unserer Gesellschaft ein „Pfund“, mit dem die Gemeinden „wuchern“ können – ein Schatz, der auch dem Zusammenhalt in Vielfalt in einer pluralistischen Gesellschaft zugutekommt. Gerade im multi-ethnischen, multikulturellen Berlin erleben wir jeden Tag aufs Neue, dass die Vielfalt der Kulturen, Religionen, Lebensentwürfe und Weltanschauungen manchmal ebenso beängstigend und verstörend sein kann, wie sie zweifellos inspirierend und bereichernd ist. Vielfalt ist nicht nur Gewinn. Vielfalt bleibt eine Herausforderung – manche empfinden sie sogar als eine Bedrohung. Zusammenhalt in einer vielfältiger gewordenen Gesellschaft setzt deshalb zweierlei voraus: zum einen ein Bewusstsein der eigenen Identität – Klarheit darüber, was uns ausmacht als Deutsche, als Europäer. Denn nur wer das Eigene kennt und wertschätzt, kann auch dem Fremden Raum geben und Toleranz entgegenbringen, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen; und wer unser „Eigenes“ kennen will, muss etwas über das Christentum und seine Bedeutung wissen. Das sakrale kulturelle Erbe lädt ein, sich damit auseinander zu setzen. Zum anderen erfordert Zusammenhalt in Vielfalt die Fähigkeit, das Verbindende über das Trennende zu stellen: das Menschliche über die Unterscheidung zwischen gläubig und nicht gläubig, zwischen deutsch und nicht-deutsch, zwischen weiblich und männlich, zwischen muslimisch und christlich. Zu Weltoffenheit und Selbstvergewisserung können insbesondere Kunst und Kultur in besonderer Weise beitragen. Ob Literatur, Theater, bildende Kunst, ob Musik, Tanz oder Film: Kunst kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht, Kunst kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Diese Kräfte brauchen wir gerade in diesen Zeiten mehr denn je: in Zeiten, in denen die zunehmende Spaltung unserer Gesellschaft Anlass zur Sorge gibt; in Zeiten, in denen die Bereitschaft schwindet, den Anderen zu ertragen, und sei es schlicht als Gegenüber in einer sachlichen Auseinandersetzung. Deshalb bin ich dankbar, dass die Kirchen sich über den Erhalt des kulturellen Erbes hinaus auch für Kunst und Kultur engagieren: Gerade auch in ländlichen Räumen bringen Kirchengemeinden mit ihrer Kulturarbeit Menschen zusammen; mancherorts sind sie gar die einzigen Kulturanbieter. Bei den neuen Maßnahmen meines Hauses zur Förderung von Kultur im ländlichen Raum habe ich deshalb auch an die Kirchen gedacht. Aus den zur Verfügung stehenden Mitteln wird sowohl ein Projekt der Evangelischen als auch der Katholischen Kirche gefördert. Darüber hinaus zähle ich auch auf die Stimme der Kirchen in den im wahrsten Sinne des Wortes welt-bewegenden Debatten unserer Zeit. Denn wie die Kunst lenkt auch die Kirche den Blick über Vordergründiges hinaus; wie die Kunst widmet sich auch die Kirche den existentiellen Fragen des Menschseins. Die Verwandtschaft – um nicht zu sagen: Seelenverwandtschaft – von Kirche und Kunst hat wohl kaum jemand poetischer umschrieben als einst der böhmische Schriftsteller Adalbert Stifter, ich zitiere: „Es ist wahr, dass die Kunst in jeder ihrer Darstellungsarten himmlisch ist, ja sie ist das einzige Himmlische auf dieser Welt, sie ist, wenn ich es sagen darf, die irdische Schwester der Religion, die uns auch heiligt, und wenn wir ein Herz haben, sie zu vernehmen, werden wir erhoben und beseligt.“ Damit darf ich Ihnen, darf ich uns allen ganz in diesem Sinne einen erhebenden und „beseligenden“ Abend wünschen: auf gute Gespräche mit „Koch. Kunst. Kultur“!
In ihrer Rede thematisierte Kulturstaatsministerin Grütters die identitätsstiftende Bedeutung des baukulturellen Erbes im Allgemeinen und der Kirchengebäude im Besonderen. Angesichts einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft sagte Grütters: „Kunst kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht, Kunst kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie“.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Eröffnung der neuen Dauerausstellung der Gedenkstätte Plötzensee
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-eroeffnung-der-neuen-dauerausstellung-der-gedenkstaette-ploetzensee-1666560
Thu, 29 Aug 2019 11:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Gedenken,Kultur
Für eine Gedenkzeremonie wie die heutige, anlässlich der Eröffnung der neuen Dauerausstellung der Gedenkstätte Plötzensee, gibt es wohl kaum einen würdevolleren Ort als die Kirche Maria Regina Martyrum. Wir verdanken sie vor allem auch Wilhelm Weskamm, dem Bischof von Berlin, der 1952 auf dem 75. Deutschen Katholikentag seine Vision einer Gedenkkirche für die Opfer der Haftanstalt Plötzensee formulierte: „Die Kirche, die in der Nähe vom Gefängnis dort in Plötzensee einmal erstehen wird und bald erstehen muss, die Kirche in Plötzensee – sie könnte ein lebendiges Denkmal sein an das, was wir heute vor unserem geistigen Auge erstehen sahen. Wenn dann die Kinder an der Hand ihrer Mutter durch Plötzensee gehen und nach der Kirche fragen: was ist das für eine Kirche, gibt es denn Märtyrer? Dann mögen die Mütter ihren Kindern antworten: Es gab Märtyrer, und es gibt Märtyrer. Ich habe noch welche gekannt.“ Mütter, die ihren Kindern antworten können: „Es gab Märtyrer, und es gibt Märtyrer. Ich habe noch welche gekannt“, wird es, meine Damen und Herren, immer weniger geben. Wenn die Zeitzeugen verstummen und die Geschichten der Märtyrer in den Familien nicht mehr weitererzählt werden, sind wir, sind künftige Generationen besonders auf authentische Orte als Zeugnisse der NS-Vergangenheit angewiesen – auf Orte, die eine Identifikation mit den Menschen möglich machen, auf Orte, die einen emotionalen Zugang zur Geschichte, zur Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswirklichkeit ermöglichen. Mit der neuen Dauerausstellung „Hinrichtungen im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee“ haben Sie, lieber Herr Tuchel, einmal mehr einen bedeutsamen Ort deutscher Geschichte so aufbereitet, dass er diese Form der Erinnerung und vertieften Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte ermöglicht. Der historische Ort der Strafanstalt Plötzensee ist ein Ort, der tief erschüttert, ein Ort der aufrüttelt und bewegt, ein Ort des unermesslichen Leids, ein Ort abscheulicher Verbrechen, ein Ort der Grausamkeit und Menschenfeindlichkeit. Eine Ausstellung für einen solchen Ort zu entwickeln, ist eine große Herausforderung, die Sie, verehrter Herr Tuchel, zusammen mit Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hervorragend gemeistert haben. Die neue Ausstellung hält die Erinnerung an die Opfer wach und ermöglicht – nicht zuletzt auch Ihnen, liebe Angehörige − ein würdiges Gedenken. Sie vermittelt aktuell und faktenreich historisches Wissen. Sie informiert, ordnet ein, klärt auf und beschreibt die erinnerungspolitische Suche nach der richtigen Form des Gedenkens. Nüchtern kontrastiert sie die zynische Justizbürokratie des Unrechtsstaats mit dem Ringen der Opfer um Würde und Menschlichkeit. Damit regt sie an, uns selbst und unsere vermeintlichen Gewissheiten zu hinterfragen. Indem die Ausstellung die persönlichen Schicksale der Widerstandskämpfer mit Bildern und Biografien in den Vordergrund stellt, erreicht sie Herz und Verstand. Die Finanzierung der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand gemeinsam mit dem Land Berlin, ist mir ein großes Anliegen. Zur Stiftung gehören auch die Gedenkstätte im Bendlerblock, die Gedenkstätte Stille Helden und das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt. Aus meinem Haushalt konnte ich zudem Sondermittel für die Sanierung der Außenfläche der Gedenkstätte Plötzensee bereitstellen. Die Maßnahme findet mit der heutigen Eröffnung der neuen Ausstellung nun ihren Abschluss. Das ist uns sehr viel Wert, denn: Die Erinnerung an die Gräueltaten der NS-Terrorherrschaft und den Widerstand wach zu halten, das Vermächtnis der Geschichte als Mahnung und Aufgabe zu begreifen – das bleibt unsere immerwährende Verantwortung. Die Portraits der in Plötzensee Ermordeten zeigen deutlich: Der Widerstand geschah nicht aus einer homogenen Gruppe. Er bestand aus einer kleinen Minderheit couragierter Frauen und Männer, die Wahlmöglichkeiten sahen und Handlungsspielräume nutzten, wo die schweigende Mehrheit behauptete, keine Wahl gehabt oder das Ausmaß des Unrechts nicht erkannt zu haben. Der Mut der Widerstandskämpfer wurde von den unterschiedlichsten Überzeugungen und Idealen getragen. Was sie einte, war ihre Überzeugung, dass es richtig ist, dem eignen Gewissen zu folgen. Was sie verband, war ein tiefes Verantwortungsbewusstsein für die Gesellschaft, und es war die Bereitschaft, dafür das eigene Leben zu riskieren. So gab es ausländische Zwangsarbeiter aus den unterschiedlichen europäischen Ländern, die Widerstandsorganisationen aufbauten, um eine gesamteuropäische sozialistische Nachkriegsordnung vorzubereiten. Es gab Kirchenvertreter und überzeugte Christen, die Kritik am Regime übten oder den Wehrdienst verweigerten. Es gab Widerstand aus Militärkreisen, zu denen auch viele Männer des 20. Juli gehörten. Es gab die Rote Kapelle, ein loses Netzwerk aus sieben Berliner Widerstandskreisen, deren Mitglieder politische Aufklärungsarbeit leisteten. Es gab aber auch zahlreiche stille Helden, Helferinnen und Helfer, die Verfolgte des Regimes versteckten. Im Strafgefängnis Plötzensee wurden mehr als 2.800 Menschen aus 20 Nationen erhängt oder mit dem Hand- bzw. Fallbeil ermordet. Viele dieser Menschen, die in Plötzensee ihr Leben ließen, entschieden sich für die Freiheit des Gewissens in einer von Zwang und Gewalt geprägten Zeit. Sie entschieden sich für Moral und Selbstachtung in einer gewissenlosen Zeit. Sie traten für Menschlichkeit ein in einer menschenverachtenden Zeit. Aus ihrer Geisteshaltung können wir für die Gegenwart und Zukunft lernen. Sie sind bis heute Vorbilder für mutiges, für ein unabhängiges Handeln. In der Gedenkstätte Plötzensee wurden jedoch nicht nur Widerstandskämpfer, Helden und Märtyrer ermordet. Die Ausstellung, meine Damen und Herren, zeigt auch, was viel weniger bekannt ist: nämlich, dass in den Kriegsjahren immer mehr Zivilisten wegen kleiner Vergehen der NS-Unrechtsjustiz zum Opfer fielen. Beispielsweise der Hausmeister Hans Dobroszczyk, der nach einem Luftangriff auf einem Ruinengrundstück eine Tasche aufhob, denunziert und wegen „Plünderung“ am 3. März 1943 in Plötzensee enthauptet wurde. Oder der hungrige Kutscher Albert Tamboer, der aus einem bombengeschädigten Haus zwei Fischkonserven stahl, eine sofort aufaß, die andere einsteckte und dafür am 30. November 1944 in Plötzensee ermordet wurde. Kostenrechnungen für Todesstrafen, Eintrittskarten für Enthauptungen und Schreiben anlässlich der Überführungen von Leichnamen an das anatomische Institut machen begreiflich, was Hannah Arendt meinte, als sie vom „bürokratischen Eifer“ der Tötungsmaschinerie sprach. Sie zeigen auf erschütternde Weise, wie eine Willkürjustiz die Diktatur aufrechterhielt – wie sie Angst schürte, zur Denunziation anstachelte und mit unschuldigen Opfern abschreckende Exempel statuierte, um jegliches Aufkeimen an Kritik, jedes Eintreten für Gerechtigkeit und Empathie zu ersticken. In einer Zeit, in der alte Gewissheiten wieder in Frage gestellt werden, in einer Zeit, in der anders Denkende und anderes Glaubende wieder diffamiert, beschimpft und ausgegrenzt werden, in einer Zeit also, in der das Fundament unserer Demokratie brüchig zu werden scheint, schärft diese Ausstellung den Blick für die Errungenschaften einer freiheitlichen demokratischen Rechtsordnung. Sie erinnert schmerzlich daran, wie dünn die Decke der Zivilisation ist. Eindrücklich konfrontiert sie Besucherinnen und Besucher mit der Frage nach dem „Warum?“. Das Ringen um eine zeitgemäße Form des Erinnerns bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – insbesondere in der Kulturpolitik. Gleichzeitig ist dieses „erinnerungspolitische Ringen“ oft Teil eines Gesellschaftsdiskurses über gegenwärtige Werte, und es fördert damit nicht selten auch tiefsitzende gesellschaftliche Meinungsverschiedenheiten, Ressentiments und Verunsicherungen zutage. Deshalb bin ich Ihnen dankbar, lieber Herr Tuchel, dass Sie in ihrer neuen Dauerausstellung eine aktuelle, sehr berührende Form des Erinnerns gefunden haben, an der sich andere Ausstellungsmacher- und Macherinnen ein Beispiel nehmen können. Indem sie den Umgang mit dem historischen Ort Plötzensee nach 1945 darstellen, dokumentieren Sie zudem exemplarisch die bundesrepublikanische Aufarbeitung eines der dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte. Das schärft die Sinne für gesellschaftliche Entwicklungen, beschreibt den Reifungsprozess einer Demokratie ebenso wie ihre Gefährdungen − und weist genau wie die Erinnerungen an die Märtyrer selbst in die Zukunft. Der in Plötzensee ermordete Helmut Graf von Moltke hat seine persönliche, zeitüberdauernde Erfahrung so festgehalten: „Euch aber will ich folgendes sagen: ich habe mein ganzes Leben lang, schon in der Schule, gegen einen Geist der Enge und der Gewalt, der Überheblichkeit und der mangelnden Ehrfurcht vor Anderen, der Intoleranz und des Absoluten, erbarmungslos angekämpft, der in den Deutschen steckt, und der seinen Ausdruck in dem nationalsozialistischen Staat gefunden hat.“ In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen wachen, unerschrockenen Geist und dazu den Mut, der Überheblichkeit und Intoleranz die Stirn zu bieten. Ganz sicher wird diese Ausstellung die Bereitschaft zum Nachdenken und Handeln fördern. Ich wünsche ihr zahlreiche Besucherinnen und Besucher!
In ihrer Rede würdigte die Staatsministerin die neue Daueraustellung als exemplarische Dokumentation der Aufarbeitung eines der dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte. „Die Erinnerung an die Gräueltaten der NS-Terrorherrschaft und den Widerstand wach zu halten, das Vermächtnis der Geschichte als Mahnung und Aufgabe zu begreifen – das bleibt unsere immerwährende Verantwortung“ so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Nationalen Konferenz „Luftfahrtstandort Deutschland“ am 21. August 2019 am Flughafen Leipzig/Halle
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-nationalen-konferenz-luftfahrtstandort-deutschland-am-21-august-2019-am-flughafen-leipzig-halle-1662806
Wed, 21 Aug 2019 13:45:00 +0200
keine Themen
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Michael Kretschmer, liebe Bundesminister Peter Altmaier und Andreas Scheuer, sehr geehrter Herr Staatssekretär, sehr geehrter Herr Beauftragter für die Luftfahrt, sehr geehrter Herr Ahmelmann als Gastgeber, Herr Ogilvie stellvertretend für viele, die hier sind, Herr Spohr natürlich, sehr geehrte Kollegen aus den Landesparlamenten, sehr geehrte Vertreter von Verbänden und Gewerkschaften, als ich 2006 genau hier an diesem Ort war, befand sich dieses Gebäude noch im Rohbau. Der Standort Leipzig/Halle hatte sich in einem europäischen Wettbewerb um diese Investition durchgesetzt. Heute können wir erfreut feststellen, dass der Hub Leipzig/Halle das zweitgrößte Drehkreuz für Luftfracht in Deutschland ist. Über eine Million Tonnen werden hier im Jahr abgefertigt. Täglich starten rund 65 Flugzeuge zu über 50 Zielen weltweit. Und knapp 6.000 Menschen arbeiten hier. Man muss schon sagen – Michael Kretschmer hat es ja eben auch gesagt –: Das ist ein toller Erfolg, der dadurch zustande gekommen ist, dass Leipzig, dass Sachsen ganz entschieden geworben und gezeigt haben, wie Leistung und Mut der Menschen dieser Region wirklich auch Neues gebracht haben. Deshalb ist dieser Austragungsort der ersten Bund-Länder-Konferenz zum Luftfahrtstandort Deutschland hier in Leipzig ein richtiger Ort. Natürlich wären einem auch andere Städte eingefallen, aber auch als Luftfahrtstandort Deutschland sind wir ein Land, das föderal strukturiert ist. Leipzig hat in den letzten Jahren wirklich Herausragendes vollbracht, aber andere stehen auch im Wettbewerb. Dass diese erste Bund-Länder-Konferenz stattfindet, zeigt ja auch, dass sich die Bundesregierung diesem Thema in der ganzen Breite verpflichtet fühlt – angefangen von den Innovationsthemen über die Standortbedingungen bis hin zu den Arbeitsbedingungen –, weil wir wissen, dass der Rest der Welt nicht schläft, weil wir ganz bewusst ein Zeichen setzen wollen und eben auch unsere föderale Struktur an dieser Stelle als einen Mehrwert deutlich machen wollen. Und das bedeutet, dass wir eben diese Konferenz hier durchführen. Dieses Jahr ist, wenn man so will, auch für die Luftfahrt in gewisser Weise ein Jubiläumsjahr. Vor 70 Jahren hatte die Luftbrücke eine Funktion, die dem damaligen West-Berlin Freiheit ermöglicht hatte; wir sollten daran noch einmal denken. Und wir haben vor 30 Jahren hier in unmittelbarer Nähe, in Leipzig, die Montagsdemonstrationen gehabt, die diesem Standort hier überhaupt die freiheitlichen Möglichkeiten gebracht haben, die wir heute im fairen Wettbewerb mit anderen nutzen können. Die Welt ist in den letzten Jahrzehnten mehr zusammengerückt. Grenzüberschreitender Austausch und internationale Vernetzung sind gelebter Alltag. Und dabei spielt das Fliegen eine entscheidende Rolle. Fliegen verbindet Länder, Menschen und Märkte. Weltweite Kooperation ist für die Luftfahrtbranche tägliches Selbstverständnis. Und diese Branche ist von erheblicher gesamtwirtschaftlicher Bedeutung – erst recht für eine Exportnation wie Deutschland, die nicht nur auf global vernetzte Transportmöglichkeiten angewiesen ist, sondern anderen Ländern auch durch ihre Produkte zu Transportmöglichkeiten verhilft. Der Wert der Waren, die in Deutschland per Luftfracht in außereuropäische Länder exportiert werden, beläuft sich auf weit mehr als ein Viertel des Gesamtwerts der dorthin ausgeführten Waren. – Nun muss man wissen, dass zum Beispiel Medizinprodukte pro Kilo etwas teurer sind als andere Produkte; deshalb spreche ich vom Wert der Waren. – Und ein substanzieller Anteil entfällt auf die Luftfracht von hier aus, von Leipzig/Halle. Wir haben in der Luftfahrtbranche hierzulande rund 330.000 Menschen direkt beschäftigt – bei Herstellern und Zulieferern, in Fluggesellschaften, Flughäfen und der Flugsicherung. Zählt man die indirekte Beschäftigung noch dazu, dann stellt man fest, dass insgesamt bis zu 850.000 Menschen von der Luftfahrt profitieren. Das ist also alles andere als ein vernachlässigbarer Teil unserer wirtschaftlichen Wertschöpfung. Deshalb müssen wir aus vielen guten Gründen die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit des Luftfahrtstandortes Deutschland stärken. Und das gelingt nur bzw. am besten, wenn Bund, Länder und die gesamte Branche und die Gewerkschaften eng zusammenarbeiten. Dazu gehört auch, dass wir Deutschland zu einem führenden Standort für klimaverträglichere Flugzeugtechnologien machen wollen. Jeder spürt ja angesichts der globalen Diskussion, dass sich hier in den nächsten Jahren vieles ändern wird. Wer sich diesem Thema frühzeitig widmet, wird auch die besten Möglichkeiten haben. Wir wissen auch und können daran nicht vorbeigehen, dass es eine zunehmende Kritik gerade auch am Flugverkehr gibt. Umso wichtiger ist es, dass die Branche zeigen kann, dass Wachstum nicht mit immer mehr Wachstum klimaschädlicher Emissionen verbunden ist, sondern dass, wie auch in anderen Bereichen, eine Entkopplung erreicht werden kann. Da muss die Luftfahrt ihren Beitrag leisten. Mit der Selbstverpflichtung, die CO2-Emissionen des Luftverkehrs ab dem Jahr 2020 einzufrieren und bis 2050 auf 50 Prozent des Wertes von 2005 zu senken, hat sich die Luftfahrtbranche wichtige Ziele gesetzt. Die Notwendigkeit der Änderungen im Zusammenhang mit dem Klimaschutz kann auch eine wirtschaftliche Chance sein, wenn wir in neue Technologien investieren. Wenn wir uns auf moderne Flugzeuge mit lärm- und emissionsarmen Antrieben konzentrieren, dann können die Akzeptanz des Luftverkehrs und damit auch die Nachfrage und Wettbewerbsfähigkeit gesichert werden. Das kommt auch im „Leipziger Statement für die Zukunft der Luftfahrt“ zum Ausdruck. Die Wichtigkeit dieses Statements beruht vor allen Dingen darin, dass Sie sich alle gemeinsam entschieden haben, die Bedeutung deutlich zu machen – wir wissen natürlich, dass es richtig ist; und das ist auch ein Schwerpunkt der Bundesregierung –, dass wir Effizienz und Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt stellen. Dabei haben wir verschiedene Komponenten zu berücksichtigen. Dazu gehören alternative Flugkraftstoffe. Sie sind heute noch viel zu teuer und nur begrenzt verfügbar. Aber es war, wenn wir mal ganz ehrlich sind, bei jeder neuen Technologie so, dass es am Anfang teuer war. Wir können mit Blick auf erneuerbare Energien ein Lied davon singen, wenn wir uns zum Beispiel die Subventionen für die Windkraftanlagen auf See anschauen und wo wir heute stehen. Als ich in den 90er Jahren Umweltministerin war, schien die Solarenergie meilenweit entfernt von jeder Art von Wirtschaftlichkeit zu sein, aber es ist dann doch gelungen, dort hinzukommen. Deshalb müssen wir auch bei Flugkraftstoffen entschiedene und wichtige erste Schritte gehen. Das kommt in der Mobilitäts- und Kraftstoffstrategie der Bundesregierung zum Ausdruck. Der Bundesverkehrsminister hat hier im Zusammenhang mit dem Biomasseforschungszentrum ein Forschungsprojekt für diesen Standort aufgesetzt. Andere finden auch an Raffinerie-Standorten statt. Wir müssen jedenfalls das Thema Power-to-Liquid ansprechen, müssen Referenz- oder Demonstrationslabore dazu haben und weiter daran arbeiten. Wir werden bis zum Ende des Jahres auch eine nationale Wasserstoffstrategie erarbeiten. Das ist in vielerlei Hinsicht leichter gesagt als getan, aber wir wollen technologieoffen an die Dinge herangehen. Wir haben mit der Elektromobilität einen wichtigen Baustein in der Automobilmobilität. Aber sich nur auf diesen Bereich zu konzentrieren, wäre nach unserer Sicht ganz falsch. Die Potenziale von Wasserstoff sind auch für die Luftfahrt noch längst nicht erschlossen. Daher müssen wir auch da schauen, wie wir weiter vorankommen. Wir freuen uns, dass die Forschung zum elektrisch angetriebenen Fliegen deutliche Fortschritte gemacht hat. Peter Altmaier hat erzählt, wie man noch vor wenigen Jahren, als er Kanzleramtsminister war, etwas lächelte, wenn man den elektrischen Antrieb im Zusammenhang mit dem Fliegen nannte. Heute wissen wir, dass das möglich ist. Und dass hier draußen schon ein Prototyp des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt steht, zeigt das ja auch. Kleine Maschinen können bereits über elektrische Antriebe verfügen. Die Nachfrage von Fliegern mit bis zu 80 Sitzen für kurze Strecken nimmt womöglich zu. Das heißt also, auch das scheint kein Ding der Unmöglichkeit mehr zu sein. Wir wissen natürlich: wir können bei all dem nicht allein national arbeiten. Wir können Vorreiter sein, wir können Innovationstreiber sein, aber in Sachen Klimaschutz unterstützen wir natürlich auch CORSIA – Carbon Offsetting and Reduction Scheme for International Aviation. Wir wollen eine ambitionierte Gestaltung dieses Klimaschutzinstruments, damit das Ziel, das Wachstum des internationalen Flugverkehrs CO2-neutral zu gestalten, auch tatsächlich erreicht wird. Für den EU-Emissionshandel müssen wir die mit innereuropäischen Flügen gesammelten Erfahrungen auswerten. Wir müssen die künftige Rolle dieses Instruments noch klären. Wir müssen darauf achten, dass die Klimaschutzinstrumente im Flugverkehr greifen, dass sie nicht wettbewerbsverzerrend sind und wir nicht lauter verschiedene Dinge machen, die sich irgendwie quer im Raum entgegenstehen. Deshalb müssen wir versuchen, möglichst eine einheitliche Herangehensweise zu erreichen. Wir wollen keine erzwungenen Einschränkungen unserer Mobilität, sondern wollen auf moderne Mobilität setzen. Das ist angesichts der Entwicklungen weltweit und angesichts des Charakters unseres Landes als Exportnation sehr wichtig. Forschung für mehr Nachhaltigkeit muss also im Zentrum stehen. Deshalb fühlen wir hier auch einen Druck. Und wir können also den Ländervertretern sagen: wir werden uns als Bund hier weiter engagieren. Die Luftfahrtindustrie ist seit jeher ein Innovationsmotor. Wir fördern die Stärke der Branche nicht nur allgemein mit Instrumenten wie der steuerlichen Forschungsförderung, sondern auch gezielt über das Luftfahrtforschungsprogramm. Es gibt, um mehr Nachhaltigkeit zu erreichen, eine Vielzahl von Ansatzpunkten, die ich hier nur kursorisch nennen kann – zum Beispiel die Turbinenforschung. Dass wir den Airbus A319neo hier haben, demonstriert auch wieder einen Schritt hin zu einer besseren Effizienz. Airbus hat eine 50-jährige Geschichte. 1969 schlossen Deutschland und Frankreich den Vertrag über den gemeinsamen Bau eines A300B. Spanien und Großbritannien sind später der Kooperation beigetreten. Die Vision, ein europäisches Schwergewicht im Flugzeugbau zu haben, ein globales Schwergewicht aus Europa, hat sich erfüllt. Allein in Deutschland sind über 46.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Airbus beschäftigt. Deshalb können wir sagen, Airbus ist ein Glücksfall. Und wir hoffen, dass die Branche auch mit neuen Projekten, zum Beispiel dem deutsch-französischen Luftverteidigungssystem FCAS, Future Combat Air System, weiteren Rückenwind bekommt und wir an dieser Stelle die gemeinsame europäische Kooperation noch sehr viel klarer darstellen können. Wesentlich ist natürlich auch das Thema Digitalisierung als Innovationstreiber für die Steuerung und den Betrieb von Flugzeugen sowie vor allen Dingen auch für die Abläufe am Boden. Ohne Digitalisierung würden viele Flughäfen heute nicht mehr zu betreiben sein; von den Flugzeugen will ich erst gar nicht sprechen. Ein neuer und wachstumsstarker Markt im Luftverkehr ist durch die Entwicklung von Drohnen, von unbemannten Flugsystemen, entstanden. Die Einsatzmöglichkeiten sind vielfältig – manchmal zu vielfältig; der Verkehrsminister muss auch regulatorisch eingreifen, damit hier nicht Störungen eintreten. Aber insgesamt ist der Drohneneinsatz eine faszinierende neue Methode zur Datengewinnung, wenn ich etwa an die Logistik denke, an die Landwirtschaft oder an den militärischen und polizeilichen Bereich. Nun geht es natürlich auch darum, mit zunehmendem Einsatz unbemannter Systeme die verschiedenen Betriebsabläufe so zu gestalten, dass sie sich nicht gegenseitig behindern und dass die Bevölkerung sie auch akzeptiert. Um innovativen und verlässlichen Luftfahrtanwendungen den Weg zu bereiten, bieten sich natürlich auch digitale Testfelder an, wie wir sie schon von Autobahnen kennen. So faszinierend unbemannte Flugsysteme oder die Vision von Flugtaxis sind – natürlich sind auch in der klassischen Luftfahrt neue Lösungen gefragt, um hohen Mobilitätsansprüchen gerecht zu werden. Wir erleben ja immer wieder Überlastungen, insbesondere in der Sommerzeit; ich rede jetzt nur über das letzte Jahr, noch nicht über dieses. Um Verspätungen vorzubeugen, brauchen wir mehr Kapazitäten am Boden und in der Luft und vor allen Dingen eine Überarbeitung des Rechtsrahmens des Einheitlichen Europäischen Luftraums, die darauf abzielt, den Luftraum effizienter zu gestalten und mehr Kapazitäten zu schaffen. Wir haben ein ganz besonderes Augenmerk auf dieses Vorhaben, möchte ich sagen. Allerdings ist der Fortschritt, die verschiedenen Interessen der europäischen Länder übereinzubringen, manchmal auch eine Schnecke. Wenn wir aber in Europa nicht in der Lage sind, in den verschiedenen Bereichen – ob Digitalisierung, ob einheitlicher Luftraum – die Vorteile des Binnenmarkts auch wirklich konsequent umzusetzen, werden uns andere Regionen auf der Welt abhängen. Also, wir wollen als Bundesregierung unterstützend tätig sein und – das sage ich auch im Namen der beiden Minister, die diese Konferenz vorbereitet haben – an die insgesamt positive Entwicklung der letzten Jahre anknüpfen. Aber wir wissen auch: der Konjunkturhimmel ist in diesen Monaten nicht wolkenfrei. Die Spannungen in den internationalen Handelsbeziehungen und der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union bereiten uns durchaus Kopfzerbrechen. Die Luftfahrt zeigt sich ja sensitiv. Wenn es Handelsspannungen gibt, kann man das zum Beispiel in Leipzig sofort wie an einem Seismografen ablesen. Deshalb werde ich heute auch im Gespräch mit dem britischen Premierminister, der mich besucht, darüber reden, wie wir einen möglichst friktionsfreien Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union hinbekommen. Wir müssen natürlich um unser Wirtschaftswachstum kämpfen. Wir werden deutlich machen: ein neues Luftverkehrsabkommen auszuhandeln, braucht Zeit. Deshalb wäre es natürlich das Beste, wenn man für die Zeit des Übergangs auch klare Möglichkeiten hätte. Und natürlich werden mit Blick auf einen Drittstaat, der Großbritannien dann ja sein wird, nicht alle Vorteile gewährleistet werden können, die wir innerhalb der Europäischen Union haben. Im Verkehr insgesamt zeigt sich exemplarisch, was Europa zu einem guten Teil ausmacht: Freizügigkeit, Vernetzung, Mobilität, Passagierrechte, Sicherheit, Standards, Nachhaltigkeit. Bei all dem ist eine Gesamtverständigung richtig und wichtig, um Europa als Global Player noch effizienter zu machen. Deutschland und die EU treten für einen möglichst freien Welthandel ein. Protektionismus lehnen wir ab. Wir wollen deshalb auch neben den bilateralen Handelsabkommen, die wir immer wieder seitens der Europäischen Union verhandeln, vor allen Dingen auch die Modernisierung der WTO voranbringen. Wir wollen versuchen – gerade auch im Streit über Subventionen –, Strafzahlungen möglichst zu vermeiden und zu gütlichen Einigungen zu kommen, wie etwa im Augenblick in den Gesprächen mit den USA. Ein konstruktives Miteinander – davon bin ich zutiefst überzeugt – ist allemal besser als ein Gegeneinander. Deshalb freue ich mich, dass ein schönes Beispiel auch hier auf dieser Luftfahrtkonferenz zu sehen ist, nämlich die DO 328, die von 1992 bis 2005 von Dornier gebaut wurde. Heute Morgen kam es zu einer Unterzeichnung; die US-Muttergesellschaft hat verkündet, dass Entwicklung und Herstellung eines hochmodernen Typs der DO 328 in Deutschland wieder aufgenommen werden – und zwar nicht irgendwo, sondern ganz wesentlich hier in Leipzig; und die Entwicklung an anderen Stellen. Wir freuen uns, dass die Neuansiedlung der Produktion für die Region wieder ein weiteres Steinchen im Mosaik eines erfolgreichen Wirtschaftsstandorts ist. Und dass wir die Perspektive haben, dass die DO 328 einmal hybrid-elektrisch angetrieben wird, weist auch darauf hin, dass nicht einfach theoretische Aussagen getroffen werden, sondern dass man hier ganz praktisch denkt. Ich habe eben mit der Vertreterin gesprochen, die diese Entwicklung voranbringt; und dabei geht es nicht um Jahrzehnte, sondern um drei bis fünf Jahre, was natürlich toll wäre. All die Themen, die ich jetzt genannt habe, zeigen ja, dass wir vor großen Herausforderungen stehen. Deshalb ist diese Konferenz nicht der Endpunkt einer Entwicklung, sondern der Auftakt für Folgeveranstaltungen. Und sie ist ein Auftakt für die Überarbeitung unserer Luftfahrtstrategie, die die Bundesregierung 2014 verabschiedet hatte. Und hier werden auch die Themen des Leipziger Statements – inklusive der Situation und der Erwartungen der Beschäftigten – eingehen. Der heutige Konferenztag bietet sicherlich noch weitere Gelegenheiten für Gespräche und einen umfassenden Austausch. Ich freue mich, dass ich dabei sein konnte, und ermuntere Sie alle, sich einzubringen. Jeder und jede, der oder die hier dabei ist, hat ja ein Herz für den Luftfahrtstandort Deutschland und hat Wissen beizusteuern. Wir wissen: nur wenn wir dieses Wissen vernetzen, nur wenn wir uns gegenseitig Beispiel sind, nur wenn die Großen und die Kleinen gut zusammenarbeiten, dann werden wir erfolgreich sein. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch erfolgreiche Stunden und bedanke mich dafür, dass ich hier dabei sein konnte.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum 30. Jahrestag des Paneuropäischen Picknicks am 19. August 2019 in Sopron/Ungarn
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-30-jahrestag-des-paneuropaeischen-picknicks-am-19-august-2019-in-sopron-ungarn-1661822
Mon, 19 Aug 2019 11:09:00 +0200
Sopron
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Viktor Orbán, sehr geehrter Herr Bürgermeister, Herr Kardinal, Erzbischof Erdő, Herr Bischof Kondor, Herr Pastor Balog, sehr geehrte Damen und Herren aus Ungarn, Deutschland, Österreich und vielleicht auch noch anderen Ländern! „Baue ab und nimm mit!“ – das stand vor 30 Jahren auf den Handzetteln, die zum Paneuropäischen Picknick am Eisernen Vorhang einluden. Es sollte ein europäisches Friedensfest sein. Die Grenze sollte für ein paar Stunden symbolisch geöffnet werden. So hatten es sich die Organisatoren des Ungarischen Demokratischen Forums und der Paneuropa-Union überlegt. Die ungarischen Campingplätze waren in jenem Sommer überfüllt mit DDR-Bürgern. Auch unter ihnen verbreiteten sich die Handzettel. Hunderte machten sich schließlich auf den Weg nach Sopron. Sie ließen alles zurück, um über die Grenze in die Freiheit zu gelangen. Aus dem Picknick wurde die größte Massenflucht aus der DDR seit dem Bau der Mauer 1961. Aus dem Picknick wurde ein Weltereignis. Doch Ungewissheit und Anspannung waren groß – wusste doch jeder, wie eine Flucht enden konnte; wusste doch jeder, wie der Volksaufstand in der DDR 1953, der Aufstand in Ungarn 1956 und der Prager Frühling 1968 geendet hatten; erinnerte sich doch jeder, dass infolge der Freiheitsbewegung in Polen 1981 das Kriegsrecht verhängt wurde. Aber die ungarischen Grenzschützer schossen nicht. Sie ließen die DDR-Bürger ziehen. Sie bewiesen Mut, indem sie Menschlichkeit über Dienstvorschriften stellten. Wenige Wochen später, am 11. September 1989, öffnete Ungarn endgültig seine Grenze. Am 9. November fiel in Berlin die Mauer. Die Teilung Europas fand endlich ein Ende. So wurde also das Paneuropäische Picknick zum Symbol für die großen Freiheitsbewegungen des Jahres 1989. Es zeigt, dass sich der Freiheitswille der Menschen nicht unterdrücken lässt. Es zeigt, dass uns Europäer gemeinsame Werte einen. Es zeigt, was wir in Gemeinsamkeit erreichen können. Wir Deutsche erinnern uns mit großer Dankbarkeit an Ungarns Beitrag zur Überwindung der Teilung Europas und auch an Ungarns Beitrag zur Findung der Deutschen Einheit. Ich danke den Ungarn, die das Picknick mitorganisierten. Ich danke den Ungarn, die Frauen, Männer und Kinder aus der DDR bei der Flucht unterstützten. Und ich danke den Ungarn, die für demokratische Reformen eintraten. Dank und Anerkennung gelten ebenso allen anderen, die mutig für die Freiheit aufgestanden sind: den Solidarność-Aktivisten in Polen, den Singenden Revolutionären in den baltischen Ländern, den Unterzeichnern der Charta 77 in der Tschechoslowakei und den Teilnehmern an den Montagsdemonstrationen in der DDR. All diese Menschen haben an der Freiheitsgeschichte Europas mitgeschrieben. Sie haben ein Stück des Eisernen Vorhangs abgebaut und ein Stück zu Europas Einheit aufgebaut. Sopron ist ein Beispiel dafür, wie viel wir Europäer erreichen können, wenn wir für unsere unteilbaren Werte mutig einstehen. Sopron zeigt, was uns Europäer ausmacht. Sopron steht für Solidarität, Freiheit und Frieden – für ein menschliches Europa. Angesichts der großen Aufgaben, vor denen wir Europäer heute stehen, sollten wir uns eben auf genau diese Werte besinnen, die uns in Europa einen. Wir sollten uns stets bewusst sein, dass nationales Wohl immer auch vom europäischen Gemeinwohl abhängt. Europa kann nur so stark sein, wie es geeint ist – wie wir uns also auch in strittigen Fragen bereit und fähig zum Kompromiss zeigen. Wir sehen: Das Friedensprojekt Europa ist kein Selbstläufer. Es verlangt auch, manchmal über den eigenen Schatten zu springen, um unserer gemeinsamen Verantwortung für Europa und auch für die Welt gerecht zu werden. Daran erinnern uns nicht zuletzt schutzbedürftige Menschen aus Kriegs- und Krisenregionen, die bei uns Zuflucht suchen. Und sie erinnern uns daran, wie wichtig es ist, die Ursachen von Flucht und Vertreibung zu bekämpfen. Meine Damen und Herren, die Ereignisse von 1989 haben Europas Völker einander nähergebracht. Heute gestalten wir – Deutschland und Ungarn zusammen mit den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union – als Nachbarn, Partner und Freunde unsere Zukunft, die Zukunft Europas. Lassen Sie uns weiter gehen auf dem Weg der Freiheit, der Demokratie und Einheit! Wie für viele andere Menschen wird dabei die Erinnerung an das Paneuropäische Picknick auch für mich immer eine Kraftquelle sein. Genau deshalb bedeutet es mir sehr viel, lieber Viktor Orbán, heute hier an diesem Ort zu sein, an dem vor 30 Jahren Weltgeschichte geschrieben wurde. Vielen Dank! Köszönöm szépen!
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich der Preisverleihung „Spiel des Jahres 2019“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-der-preisverleihung-spiel-des-jahres-2019–1651322
Mon, 22 Jul 2019 11:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
„Es ist das Spiel und nur das Spiel, das den Menschen vollständig macht, so hat es Friedrich Schiller einmal formuliert, und die vielen Redewendungen in der deutschen Sprache zeigen wunderbar, wie sehr das Spiel Abbild und Metapher des Lebens ist − wie sehr der Begriff des Spielens unser Denken und Handeln bestimmt. Gerade wir Politiker scheinen ja den Medienberichten zur Folge passionierte Spieler zu sein, ist doch immer wieder die Rede davon: dass wir die „Spielregeln vorgeben“, „dass wir „etwas aufs Spiel setzen“, „ein doppeltes Spiel“ oder gar „mit dem Feuer spielen“, dass wir „das Spiel durchschauen“, unsere „Hand im Spiel haben“, „Spielverderber“ sind, „ein offenes Spiel spielen“ oder uns endlich über ein „gewonnenes Spiel“ freuen dürfen. Dass wir in der Politik aber über die Bedeutung des Spielens reden, kommt dann doch eher selten vor. Umso mehr freue ich mich, lieber Herr Schrapers, lieber Herr Heinecke und lieber Herr Löhlein, über Ihre Einladung. Haben Sie herzlichen Dank, dass Sie mich bei dieser Preisverleihung „nicht aus dem Spiel lassen“ und mir einmal die Gelegenheit geben, Ihr Engagement und den Erfolg der Spieleautorinnen und Autoren zu würdigen. Dass der Spiele-Markt wächst und auch analoge Gesellschaftsspiele trotz des vielfältigen digitalen Angebotes einen regelrechten Boom zu verzeichnen haben, − ja, dass immer wieder neue, anspruchsvolle und phantasievolle analoge Spiele entwickelt werden, belegt nicht nur den großen Innovationsgeist Ihrer Branche, meine Damen und Herren, es zeigt auch deutlich: Das analoge Spiel hat durch den Aufstieg des digitalen Spiels keineswegs an Bedeutung verloren! Im Gegenteil: Die Lust am Austausch, die Freude an der Geselligkeit, am Gruppenerlebnis und an der sozial integrativen Kraft des Brettspiels ist ungebrochen. Die digitale und die analoge Spielebranche laufen sich nicht etwa gegenseitig den Rang ab, nein, sie profitierten voneinander und befruchten sich gegenseitig. Das zeigt auch die erfolgreiche Entwicklung der Hybridspiele, die Elektronik und Brettspiel raffiniert miteinander vereinen. Und ist es nicht auch hier gerade die haptische Qualität des Spiels, das Klicken und Klackern der Würfel, Figuren und Kärtchen, das detailreich gestaltete Material aus Pappe, Holz und Plastik, das die Sinne reizt und die Spiellust steigert? Bei mir jedenfalls stellen sich gleich Entspannung und Spielfreude ein, wenn ich die Würfel in meinen Händen schüttle und sie auf das Brett fallen lasse oder der Sand langsam durch den schmalen Hals der Sanduhr rieselt. Und das gilt offenbar nicht nur für mich, sondern auch für fast die Hälfte der Deutschen. Deutschland ist eine Spielenation, meine Damen und Herren. Nicht zufällig werden Gesellschaftsspiele im Ausland „German Games“ genannt. Nicht zufällig bezeichnet der Begriff „German-style“ im Spielerjargon anspruchsvolle, qualitativ hochwertige Spiele. Die Lust am Fantasieren, Verwandeln und Erfinden, die Freude daran, das Glück mit Kreativität, Geschick und strategischer Klugheit herauszufordern, teilen hierzulande Millionen Menschen − vom Kleinkind bis zum Rentner. Ihnen bieten die Verlage jedes Jahr 300 bis 400 neue Spiele − ungemein vielfältige Angebote und Möglichkeiten, in unterschiedliche Spielwelten einzutauchen, die Sie, liebe Spieleautorinnen und Autoren und liebe Illustratorinnen und Illustratoren, mit Kreativität, Erfindergeist und Mut entwickeln und entwerfen. Aber natürlich kann nicht jedes Spiel, meine Damen und Herren, in gleicher Weise kulturell wertvoll sein. Nicht jedes Spiel erlangt Kultstatus, nicht jedes Spiel ist gleichermaßen spannend, inspirierend und bereichernd. Umso wichtiger ist es, dass die Jury „Spiel des Jahres“ Orientierung bei der Auswahl, bei der Suche nach herausragenden und kulturell wertvollen Spielen gibt und damit den Verkauf der ausgezeichneten Spiele, vor allem aber auch die begabtesten Spieleautorinnen und Autoren fördert. Dass sich „Die Siedler von Catan“ fast doppelt so häufig verkauft haben wie beispielsweise Patrick Süskinds Weltbestseller „Das Parfüm“ oder Ernest Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ ist sicherlich dem Sog, der psychologischen Raffinesse und dem sozialen Charakter dieses so populären Spiels zu verdanken. Das amerikanische Magazin „Wired“ hat es sogar einmal als „Kokain der Brettspielszene“ bezeichnet, das selbst Unternehmer des Silicon Valley und die Nerds der Digitalbranche süchtig macht. Offenbar müssen wir uns also auch über den Suchtcharakter solcher Brettspiele Gedanken machen, jedenfalls aber hat sein Erfinder Klaus Teuber mit dem verstaubten Image des Gesellschaftsspiels ein für alle Mal aufgeräumt. Dass „Die Siedler von Catan“ über 27 Millionen Mal verkauft und in über 40 Sprachen übersetzt wurden, dass dieses Spiel − wie auch andere herausragende Spiele − einen derart großen Erfolg zu verzeichnen haben, ist aber vor allem auch Ihnen zu verdanken, liebe Jurymitglieder; gelingt es Ihnen doch Jahr für Jahr, mit Sensibilität für gesellschaftliche Entwicklungen und Trends, mit Spielleidenschaft und Expertise, die erfolgversprechendsten und besten Spiele ausfindig zu machen. Ich denke, die größte Anerkennung Ihrer Arbeit ist sicherlich das Vertrauen, das Ihnen tausende Spieler mit dem Kauf des „Spiel des Jahres“ immer wieder aufs Neue entgegenbringen. Auch ich danke Ihnen für diese anregende Arbeit, die ich nicht nur als – ich gebe zu, aus Zeitgründen leider nur „Gelegenheitsbrettspielerin“, sondern auch als Kulturstaatsministerin schätze. Mit den Auszeichnungen „Spiel des Jahres“ und dem „Kennerspiel des Jahres“ tragen Sie zur kulturellen Wertschöpfung und zur Entwicklung des Gesellschaftsspiels bei und setzen wichtige Impulse, um für das Spiel als Kulturgut zu werben. „Es ist das Spiel und nur das Spiel, das den Menschen vollständig macht“. Das Spiel gehört zum Wesen des Menschen, um noch einmal das Eingangszitat Friedrich Schillers aufzugreifen. Ihm, Schiller, haben wir ja gewissermaßen auch den „Homo ludens“ zu verdanken. Im Spiel lernt der Mensch sich selbst kennen, im Spiel entdeckt er die Welt, im Spiel taucht er in andere Rollen ein und erforscht Möglichkeiten des Seins. Das Spiel ermöglicht es, Gewohntes hinter sich zu lassen, nach anderen Gesetzen und Regeln zu handeln, Neues zu entdecken und hervorzubringen. Und das gilt übrigens gleichermaßen für ein Pen & Paper-Rollenspiel wie für eine künstlerische Videoperformance oder ein klassisches Theaterstück. So entsteht seit Jahrtausenden im Spiel und durch das Spiel Kultur. Im Spiel, meine Damen und Herren, entstehen Kommunikation, gesellschaftliches Miteinander und Gemeinsinn im besten Sinne. Ob die Spieler wie bei „Werwörter“ ein Geheimwort herausfinden müssen, um Werwölfe in die Flucht zu schlagen, ob sie wie in „Just One“ assoziativ Begriffe umschreiben oder wie bei „Detective“ gemeinsam Fälle lösen müssen; das Spielen erfordert das gemeinsame Aushandeln eigener Regeln, es verlangt Verständigung, Kooperationsgeschick und eine versierte Koordination von Hand, Herz und Hirn. Und fast immer belohnt es Empathie. Wer sich einfühlen kann, wer errät, was der andere Spieler plant und denkt, ist klar im Vorteil. Nicht zuletzt deshalb gewinnt in einer zunehmend digitalen Welt, in der Skeptiker dieser Entwicklung einen Verlust der Empathie, des Zuhörens und der direkten Kommunikation beklagen, das analoge Spiel an Bedeutung und Relevanz. Die Lerneffekte des Spielens sind beachtlich, und es erstaunt mich immer wieder, welchen thematischen Reichtum, wie viel historisches Wissen, wie viele Kulturen, Länder und Fähigkeiten man sich mittlerweile spielerisch erschließen kann. Während wir in unserer Jugend noch die Städte unserer Nachbarländer mit der „Europareise“ kennen lernten, reisen die Spieler heute mit dem Schiff den Ganges entlang, legen auf Puerto Rico Plantagen an oder bauen auf den Lofoten ein Fischerdorf wieder auf. Und ganz nebenbei und mit großem Vergnügen lernen sie dabei strategisches Denken, sprachliche Präzision, Verhandlungsfähigkeiten, Umgang mit Risiken oder Wahrscheinlichkeitskalkulationen. Die Welt der Spiele ist also gewissermaßen ein Abbild unserer Zeit und damit auch ein Dokument unserer Kultur. Sie ist komplexer, internationaler und globaler geworden wie unsere Gesellschaft eben auch. Was die Spiele aber über Generationen und Kulturen hinweg verbindet, ist ihre Gemeinschaft stiftende Kraft − jenseits von Status, Bildung und Herkunft, jenseits von Alter und Geschlecht. Spielen fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es lehrt Fähigkeiten, die wir auch über die Brettgrenzen hinaus einsetzen können. Das Spiel erlaubt, einmal einen anderen Charakter anzunehmen, einmal in einem anderen Staat zu leben, einmal Herrscher oder Kanzlerin zu sein. Ob Sie Letzteres können, lässt sich übrigens mit dem Spiel „Machtprobe“ testen. Es gibt offenbar derzeit eine große Nachfrage nach dem Spiel, jedenfalls ist es gerade vergriffen… Auch die diesjährigen nominierten Spiele bieten wieder spannende Möglichkeiten für einen Perspektivwechsel, für aufregende Grenzgänge zwischen Realität und Fiktion. Den nominierten Autorinnen und Autoren und den Gewinnern gratuliere ich bereits jetzt sehr herzlich. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Inspiration und das nötige Glück, das man eben nicht nur im Spiel, sondern auch als Kreative neben Begabung und guten Rahmenbedingungen unbedingt braucht. Alles Gute! Ich bin gespannt, „wie die Würfel fallen“.
In ihrer Rede würdigte Monika Grütters die Spieleautorinnen und -autoren und sagte: „Was die Spiele über Generationen und Kulturen hinweg verbindet, ist ihre Gemeinschaft stiftende Kraft − jenseits von Status, Bildung und Herkunft, jenseits von Alter und Geschlecht. Spielen fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag des 20. Juli 1944 in Berlin am 20. Juli 2019
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-20-juli-1649888
Sat, 20 Jul 2019 13:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Aufgaben_der_Kanzlerin
Gedenken
Exzellenzen, sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Damen und Herren, die Sie Bund und Länder repräsentieren, ganz besonders: liebe Frau von Hammerstein – Sie begrüße ich stellvertretend für die Familien und Angehörigen der Frauen und Männer des Widerstands -, sehr geehrte Damen und Herren! In diesem Hof wurden vor 75 Jahren Friedrich Olbricht, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim und Werner von Haeften hingerichtet. Ihr Mitverschwörer Ludwig Beck starb schon vorher im Bendlerblock. Das Attentat auf Hitler war gescheitert – ebenso der Versuch des Staatsstreichs. Dieses Scheitern bedeutete eine Katastrophe – für unser Land, für Europa und die Welt. Viele Millionen Menschen wurden in den zehn Monaten vom 20. Juli 1944 bis zum Kriegsende 1945 noch Opfer des Kriegs und der Shoa. Die Nationalsozialisten diffamierten Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Mitverschwörer als verbrecherische Vaterlandsverräter und kleine Clique von Ehrgeizlingen. Die Angehörigen verloren ihre Ehemänner und Väter, ihre Söhne und Brüder. Sie selbst erfuhren Demütigung und Gewalt. Viele wurden verhaftet, manche in Konzentrationslagern interniert. Mehrere Kinder wurden nach dem 20. Juli 1944 ihren Eltern entrissen und in ein Kinderheim nach Bad Sachsa verschleppt. Das jüngste unter ihnen war gerade wenige Wochen alt, das älteste Kind 15 Jahre. Im Heim wurden diesen Kindern neue Namen gegeben und die Bilder ihrer Eltern genommen, um die Erinnerung an ihre Herkunft auszulöschen. Dies ist aber nicht gelungen. Eines dieser Kinder, die damals zwölfjährige Christa von Hofacker, vermerkte in ihren Aufzeichnungen 1946: „Ob wir wohl nie mehr unsere Namen sagen durften? Ob wir uns immer wirklich unserer Herkunft schämen sollten? Nein, nie könnte ich das tun. Auf Vater muss man stolz sein und auf all die anderen auch!“ 75 Jahre nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler gedenken wir der Frauen und Männer des Widerstands vom 20. Juli 1944 mit größter Hochachtung. Sie handelten, als andere schwiegen. Sie folgten ihrem Gewissen und übernahmen Verantwortung für ihr und unser Land, als andere wegsahen. Sie stellten sich einem unmenschlichen System entgegen. Ihnen war sehr bewusst, welche Folgen ihr Handeln für sie und ihre Familien haben konnte. Sie waren bereit, das größte Opfer, ihr Leben, zu erbringen. Sie stellten Menschlichkeit über ihr eigenes Menschenleben. Der Blick auf die Widerstandskämpfer vom 20. Juli hat sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt zum Glück, muss man sagen. Denn auch das Ende des Krieges brachte ihren Familien noch keineswegs die Anerkennung, die sie verdient hätten. Allzu oft wurden sie weiter verleumdet und verächtlich gemacht. Es gab viele Missverständnisse. Es gab Abwertungen, aber auch Überhöhungen. Es gab Zerrbilder und oft zu wenig Kenntnis der Ereignisse. Heute gibt es einen Gedenkort und die Gedenkstätte Deutscher Widerstand an dieser Stelle, direkt am Berliner Dienstsitz des Bundesverteidigungsministeriums. Die Einrichtung dieses Gedenkorts ging auf eine Anregung Angehöriger zurück. Sie fanden an dieser Stelle einen Ort ihrer persönlichen Trauer. Doch dieser Ort ist mehr. Er ist auch ein Ort des gemeinschaftlichen und offiziellen Gedenkens. Dass das Gedenken an die Männer und Frauen des Widerstands zu unserer Staatsräson gehört, dies zeigt sich auch an dem feierlichen Gelöbnis, das junge Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten hier und heute abgelegt haben. Claus Schenk Graf von Stauffenberg ist zu einer Symbolfigur des Widerstands geworden. Aber seine Geschichte ist nicht die einzige Geschichte des Widerstands – so wie auch der 20. Juli nicht den einzigen Akt des Widerstands markiert. Von Anfang an fanden sich mutige Menschen, die sich gegen das nationalsozialistische Regime zur Wehr setzten. Und obwohl viel zu wenige aufstanden, war der Widerstand doch vielfältig. Heute ehren wir das Andenken aller, die sich dieser unmenschlichen Diktatur widersetzten. Wir denken an den Kreisauer Kreis, die Weiße Rose und die Rote Kapelle. Wir denken an den Widerstand kleinerer Gruppen wie der Berliner Widerstandsgruppe „Onkel Emil“ – ein Kreis Intellektueller, die während der Kriegsjahre verfolgte Juden und ausländische Zwangsarbeiter unterstützten. Wir denken an die Gruppe um Helmuth Hübener, der Flugblätter in Hamburger Arbeitervierteln verteilte. Wir denken an standhafte Persönlichkeiten wie Carl Friedrich Goerdeler und Julius Leber. Wir gedenken des kommunistischen Widerstands. Wir erinnern an den Widerstand der evangelischen Christen der Bekennenden Kirche und der katholischen Christen um Priester wie Bernhard Lichtenberg oder Kardinal von Galen. Wir erinnern auch an den Widerstand der Zeugen Jehovas und der Sinti und Roma. Nicht zuletzt denken wir an den jüdischen Widerstand – insbesondere an den Aufstand im Warschauer Ghetto im April 1943, aber auch an diejenigen in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor. Ich erwähne auch die mutigen Menschen, die Juden bei sich versteckten oder ihnen auf andere Weise halfen, zu überleben. So manche, auch namentlich nicht bekannte sogenannte „Stille Helden“ zeigten auf vielerlei Weise ihre Gegnerschaft zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. In wenigen Tagen, am 1. August, wird in Polen des Warschauer Aufstands vor 75 Jahren gedacht, des größten Aufstands gegen die nationalsozialistischen Besatzer. Dessen blutige Niederschlagung forderte unfassbar viele Opfer, vor allem Zivilisten. Auch an sie möchte ich in tiefer Demut erinnern. Heute ehren wir den Widerstand gegen die Tyrannei des Nationalsozialismus – unabhängig von jeweiligen persönlichen, ideologischen oder religiösen Überzeugungen. Wie aber schafft es ein Mensch, sich einem unmenschlichen, aber schier übermächtigen System entgegenzustellen? Wie schafft es ein Mensch, in tiefster Finsternis ein Licht der Menschlichkeit zu entzünden und anderen zu leuchten? Was alle, die aufstanden, einte, das war ihr Gewissen. Mit ihren Überzeugungen und Wertvorstellungen sahen sie sich zum Handeln verpflichtet. Sie waren sich gewiss, ein Nichthandeln nicht rechtfertigen zu können – weder vor sich noch vor anderen. Eugen Bolz fasste es kurz und knapp zusammen: „Ich muss dabei sein.“ Wenn wir unsere europäische Geschichte erzählen und uns auf europäische Werte berufen, haben wir auch das Beispiel dieser – im Wortsinn – todesmutigen Frauen und Männer vor Augen, die ihr Leben für Freiheit, Recht und Menschlichkeit riskierten und opferten. Was bedeutet uns ihr Beispiel heute? Was haben sie uns in unserer heute gänzlich anderen Zeit zu sagen? Die Männer und Frauen des Widerstands sind ihrem Gewissen gefolgt. Sie stehen für alle Menschen, die für Menschlichkeit, Recht und Freiheit kämpfen. Das Andenken der Männer und Frauen des Widerstands in Ehren zu halten, bedeutet also weit mehr als historisches Wissen zu vermitteln. Auch durch sie konnten wir die Lehren aus der Vergangenheit für uns ziehen und die Grundlagen unseres Zusammenlebens gestalten. Ihr Handeln war eine der Inspirationen für die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes, das nur fünf Jahre später, am 23. Mai 1949, verabschiedet wurde. Der Artikel 1 des Grundgesetzes besagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ In Artikel 4 des Grundgesetzes wird die Freiheit des Gewissens festgeschrieben. Es heißt: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Das Grundgesetz wurde zum Fundament eines geregelten Zusammenlebens in unserer freien und rechtsstaatlichen Demokratie. Die Institutionen unseres Staates verkörpern und schützen die Grundrechte unseres Grundgesetzes. Damit unterscheidet sich unsere heutige Lebenssituation fundamental von der in der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Aber: Auch die Institutionen unseres Rechtsstaates leben durch das Handeln seiner Bürgerinnen und Bürger. Und für uns als Bürger der heutigen Bundesrepublik Deutschland sind die Männer und Frauen des Widerstands Vorbilder, auch wenn die Umstände völlig andere sind. Setzen auch wir uns für Menschlichkeit, Recht und Demokratie ein? Oder nehmen wir dies als selbstverständlich hin und begnügen uns damit, zu denken, dass sich darum schon andere kümmern? Bringen wir Zivilcourage auf, wenn wir Zeugen von Antisemitismus und Rassismus, von Demütigungen und von Hass werden? Oder sehen wir lieber darüber hinweg, weil es für uns unangenehm werden könnte? Als Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie haben wir eine Verpflichtung. Zu unserer Verpflichtung gehört, dass Politiker und Ehrenamtliche, die öffentlich Verantwortung übernehmen, deshalb nicht um Leib und Leben fürchten müssen. Zu unserer Verpflichtung gehört, dass Juden in deutschen Städten sorgenfrei die Kippa tragen können. Zu unserer Verpflichtung gehört, dass wir nicht dulden, wenn Menschen gegen andere hetzen, nur weil sie anders aussehen, anders sprechen oder eine andere Meinung vertreten. Es gehört zu unserer Verpflichtung, dass wir unsere rechtsstaatlichen Mittel der Strafverfolgung konsequent einsetzen, wenn Extremisten Menschen bedrohen, verletzen oder gar töten. Und es gehört zu unserer Verpflichtung, dass das Wissen um unsere Geschichte nicht verblasst. Dieses Wissen und die Lehren daraus muss sich jede Generation wieder neu erarbeiten. Dafür müssen wir in den Schulen, an den Universitäten, in Museen und Gedenkstätten auch in Zukunft Sorge tragen. Der 20. Juli, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Henning von Tresckow, die Weiße Rose, Julius Leber, der Warschauer Aufstand – all dies muss auch künftigen Generationen ein Begriff sein. Nehmen wir diese Verpflichtung an – im Kleinen wie im Großen! Bewahren wir das Gedenken an alle Widerständler und ehren wir sie auch dadurch, dass wir uns stark machen für ein freiheitliches und friedliches Zusammenleben! Erweisen wir den Widerstandskämpfern Ehre, indem wir Zivilcourage aufbringen und allgemeingültige Werte verteidigen, statt wegzusehen und zu schweigen! Engagieren wir uns, statt nur auf den eigenen Vorteil zu schauen! Stärken, verteidigen und bringen wir uns ein in unsere rechtsstaatliche Demokratie! Dies gilt auch für unser Eintreten für die internationale Ordnung, die als Lehre aus den Schrecknissen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs entstanden ist. Europa überwand jahrhundertelange Konflikte. Es entstand eine Friedensordnung, die auf Gemeinsamkeit baut statt auf scheinbare nationalstaatliche Stärke. Wir Europäerinnen und Europäer sind zu unserem Glück vereint. Aber auch heute müssen wir entschlossen für die Zukunft der Europäischen Union eintreten, gegen Nationalisten und Populisten. Mehr denn je und das gilt über Europa hinaus müssen wir multilateral statt unilateral denken und handeln, global statt national, weltoffen statt isolationistisch – kurzum: gemeinsam statt allein. Das sind die Aufgaben unserer Zeit – ob es um Frieden geht, um die Bekämpfung des Klimawandels und des Artensterbens, um die Ausrottung des Hungers oder um Gesundheitsversorgung für alle. Da muss uns das leiten, was Dietrich Bonhoeffer als seine Verantwortung beschrieben hat: „Mag sein, dass der jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“ Meine Damen und Herren, diejenigen, die den Widerstand gegen die verbrecherische NS-Diktatur wagten, haben an eine bessere Zukunft für ihre Mitmenschen, für Deutschland und für Europa geglaubt, daran gearbeitet und dafür alles riskiert. Haltung und Verantwortung zeigen sich in großen Taten, aber auch in kleinen Gesten. In jedem Fall lassen sich Risiken und Rückschläge nie ganz ausschließen. Ganz gewiss aber lässt sich Zukunft nicht durch Tatenlosigkeit gewinnen. Das gilt auch für uns heute. Es gibt viele Motive und Motivationen, etwas zum Gemeinwohl beizutragen. Auf welche Weise auch immer jemand mithilft, unser Land noch lebens- und liebenswerter zu machen, es ist die beste Art, den Männern und Frauen des Widerstands ein ehrendes Gedenken zu bewahren. Vielen Dank!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich des Feierlichen Gelöbnisses der Bundeswehr am 20. Juli 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-geloebnis-1649880
Sat, 20 Jul 2019 11:30:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Verteidigung
Sicherheit und Verteidigung
Sehr geehrte Frau Bundesministerin, sehr geehrte Soldatinnen und Soldaten, Rekrutinnen und Rekruten, sehr geehrte Eltern, Angehörige und Freunde, sehr geehrte Vertreter des Kabinetts und des Bundesrats, Exzellenzen, werte Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, meine Damen und Herren, es gibt Momente, in denen Ungehorsam eine Pflicht sein kann – Momente, in denen man nur dann Anstand und Menschlichkeit wahrt, wenn man sich gegen einen Befehl, gegen den Druck von Vorgesetzten oder auch den Druck der Masse auflehnt und gegenhält. Es gibt Momente, in denen der Einzelne die moralische Pflicht hat, zu widersprechen und sich zu widersetzen. Das erkennt auch unsere Verfassung an. In Artikel 20 unseres Grundgesetzes ist das Recht zum Widerstand festgeschrieben, und zwar „gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen (…), wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Auf solches Recht konnten sich die Widerstandskämpfer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg vor 75 Jahren nicht berufen. Doch sie wagten trotzdem den Versuch, das nationalsozialistische Unrechtsregime zu stürzen – in vollem Bewusstsein möglicher persönlicher Konsequenzen. Als sie sich dafür entschieden, ging es ihnen darum, den Zweiten Weltkrieg möglichst schnell zu beenden. Unnötiges Leiden und Sterben sollte verhindert werden. Es ging ihnen aber auch um die Wiederherstellung des Ansehens Deutschlands in der Welt, indem sie selbst gegen die menschenverachtende Diktatur im Lande ankämpften. Wir wissen, das Attentat auf Hitler scheiterte. Der Umsturzversuch misslang. Die Frauen und Männer des Widerstands riskierten ihr Leben – und die meisten von ihnen verloren es. Hunderte wurden nach dem 20. Juli 1944 hingerichtet. Ihre Familien wurden in Sippenhaft genommen, schikaniert und in den Ruin getrieben. Die Frauen und Männer des Widerstands handelten aus tiefer moralischer Überzeugung. Ihrem Gewissen folgend erwiesen sie sich als wahre Patrioten. Und dennoch tat sich Deutschland lange schwer mit dem Gedenken daran. Bis heute gibt es noch Missverständnisse und Unbehagen – auch weil die zentrale Person und Symbolfigur des deutschen Widerstands, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Offizier der Wehrmacht war. Gedenken und Kritik sind aber kein Widerspruch. Die kritische Auseinandersetzung mit unserer nationalen Vergangenheit bedingt vielmehr jede Beschäftigung mit der Vergangenheit und gehört deshalb auch zur Traditionspflege in der Bundeswehr. Der Traditionserlass besagt ganz deutlich, dass die Wehrmacht kein Vorbild sein kann – Angehörige der Wehrmacht, die Widerstand geleistet haben, jedoch schon. Seit 20 Jahren legen Rekruten in Berlin am 20. Juli ihr Gelöbnis ab. Sie tun dies, eben weil Widerstandskämpfer Vorbilder waren und sind. Ihre klare Haltung, ihr Mut, ihr Verantwortungsbewusstsein, ihre Handlungsbereitschaft können und sollten uns auch heute leiten. Das Erinnern an die Widerstandskämpferinnen und -kämpfer ist auch deshalb so wichtig, weil immer weniger Zeitzeugen unter uns leben, die ihre Erfahrungen mit uns teilen können. Wir müssen das Gedenken pflegen und die Erinnerung weitertragen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Lehren aus der Geschichte nicht verblassen. Das ist Teil unserer Verantwortung – einer Verantwortung für die Bewahrung und Verteidigung von Frieden und Freiheit, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Dieser zeitlosen Verantwortung gerecht zu werden – darin sehe ich für uns Auftrag und Vermächtnis der Frauen und Männer des 20. Juli 1944, ebenso des Kreisauer Kreises oder der Weißen Rose und anderer Mitglieder und Gruppierungen des Widerstands. Gewiss, Verantwortung für Freiheit wahrzunehmen, sieht heute anders aus als im Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Auch Sie, liebe Rekrutinnen und Rekruten, werden diese Verantwortung in Ihren Bereichen in besonderer Weise verkörpern. Heute sind deutsche Soldatinnen und Soldaten weltweit im Einsatz, um Freiheit zu verteidigen, um in krisengeschüttelten oder gefährdeten Regionen auf mehr Stabilität, auf Demokratie, auf die Bewahrung von Menschenrechten hinzuwirken. In unserer eng vernetzten Welt dienen sie damit einem guten internationalen Zusammenleben – und somit auch einem Leben in Frieden und Freiheit in Deutschland. Die Bundeswehr leistet Friedensarbeit – und das stets gemeinsam mit unseren Verbündeten, niemals allein. Auch das ist eine Lehre aus unserer Geschichte. Die Bundeswehr ist eingebettet in eine multilaterale Ordnung, die dem Frieden und den Menschenrechten verpflichtet ist. Deutsche Soldatinnen und Soldaten nehmen an UN- und EU-geführten Einsätzen teil, wie etwa in Mali – von der hohen Einsatzbereitschaft dort konnte ich mich in diesem Jahr auch wieder persönlich überzeugen –, am Horn von Afrika oder vor dem Libanon. Sie sind auf dem Balkan stationiert. Sie arbeiten im Auftrag der NATO in Afghanistan und in Litauen. Selbst außerhalb der Einsätze arbeiten unsere Streitkräfte eng zusammen – zum Beispiel in der Deutsch-Französischen Brigade. Dies haben wir am letzten Sonntag eindrucksvoll in Paris gesehen. Die Landes- und Bündnisverteidigung hat wieder an Bedeutung gewonnen. Das zeigt etwa unser Einsatz in Litauen. Dort habe ich mir im September ein Bild von der Lage vor Ort gemacht. Sehr beeindruckend waren auch die Demonstrationen in Munster bei der NATO-Speerspitze unter deutscher Führung im Mai. Ich bin der festen Überzeugung: Wir müssen stets unter Beweis stellen, dass wir bereit und fähig sind, unsere Streitkräfte zum Einsatz zu bringen und uns zu verteidigen. So sichern wir uns nicht zuletzt auch Möglichkeiten zu Verhandlungen und politischen Lösungen. Aber so wenig selbstverständlich ein Leben in Frieden ist, so wenig selbstverständlich ist auch die Bereitschaft von Soldatinnen und Soldaten, sich in eben diesen Dienst für uns alle zu stellen. Ob in Deutschland oder im Ausland – Ihr Dienst in den Streitkräften wird immer wieder mit persönlichen Härten und Entbehrungen verbunden sein. Sie haben sich für eine fordernde Aufgabe entschieden, die auch für Ihre Familien oft eine Belastung bedeutet – nicht nur, wenn Sie in den Einsatz gehen, sondern etwa auch, wenn wieder einmal ein berufsbedingter Wohnsitzwechsel ansteht. Das wird nicht immer einfach sein. Das verlangt Einsatz- und Verantwortungsbereitschaft. Ja, der soldatische Dienst ist aus vielen Gründen ein besonderer, ein anspruchsvoller Beruf. Den Frauen und Männern, die ihn ergreifen, zolle ich Hochachtung und Respekt. Aber wohlmeinende Worte allein reichen natürlich nicht. Unsere Soldatinnen und Soldaten müssen die zur Erfüllung ihrer Aufgabe notwendige Unterstützung, Ausrüstung und Ausbildung erhalten. Deshalb haben wir bereits unsere Verteidigungsausgaben gesteigert und werden dies noch weiter tun. Das schulden wir unseren Soldatinnen und Soldaten. Das schulden wir auch unseren Partnern in den Vereinten Nationen, der NATO und der Europäischen Union. Und das muss uns der Einsatz für Frieden und Sicherheit auch wert sein. Meine Damen und Herren, die Entschlossenheit der Widerstandskämpfer, gegen das nationalsozialistische Terrorregime vorzugehen, und das Opfer, das sie gebracht haben, sind und bleiben uns eine Mahnung. Sie mahnen uns, wachsam zu sein. Sie mahnen uns, Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus in all ihren Erscheinungsformen entschieden entgegenzutreten. Auch das ist – im besten Sinn des Wortes – Dienst für unser Land. Liebe Rekrutinnen und Rekruten, wenn Sie gleich Ihre feierliche Verpflichtung als Soldatin oder Soldat sprechen, dann tun Sie dies im Bewusstsein, wem Sie dienen: Sie dienen der Bundesrepublik Deutschland mit ihren Menschen, ihrer Freiheit und ihrer Würde. Sie dienen der Demokratie als unserer Staatsordnung. Sie dienen dem Recht eines jeden Einzelnen von uns. Sie stehen hier für ein menschliches Deutschland. Der Deutsche Bundestag, die Bundesregierung und die deutsche Bevölkerung stehen hinter Ihnen. Wir stehen hinter unserer Parlamentsarmee, der Bundeswehr. Deutschland ist dankbar für Ihr Verantwortungsbewusstsein und Ihre Bereitschaft, unserem Land, „der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“. Ich wünsche Ihnen – auch im Namen der gesamten Bundesregierung – alles Gute, vor allem Gesundheit und Gottes Segen. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 2. Sächsischen Frauennetzwerktreffen am 15. Juli 2019 in Dresden
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-2-saechsischen-frauennetzwerktreffen-am-15-juli-2019-in-dresden-1648456
Mon, 15 Jul 2019 19:05:00 +0200
Im Wortlaut
Dresden
keine Themen
Sehr geehrte Frau Prof. Dr. Ackermann, sehr geehrte Frau Wagner, lieber Michael Kretschmer – danke für deine Idee, mich hierher einzuladen –, liebe Frauen, liebe Abgeordnete aus dem Sächsischen Landtag, liebe Gäste, ich möchte auch guten Abend sagen und mich dafür bedanken, dass so viele von Ihnen gekommen sind. Ich bin gern nach Dresden gekommen, diesmal zu einer ganz speziellen Veranstaltung. Hier geht es um Ihre Meinung, um Ihre Anregungen, Ihre Fragen. Dass das Thema „Was haben Frauen zum Zusammenhalt unseres Landes zu sagen?“ ein ganz wichtiges ist, liegt auf der Hand. Ich freue mich, dass das jetzt durch das, was Michael Kretschmer hier auf den Weg gebracht hat, auch realisiert wird. Denn Frauen müssen auch zu Wort kommen und sich artikulieren. In der Tat bin ich öfters auf Veranstaltungen, auf denen weniger Frauen als Männer sind. Deshalb ist es gut, wenn es auch Veranstaltungen gibt, wo deutlich mehr Frauen als Männer anwesend sind. Unser Ziel muss an allen Stellen die Parität sein. Das tiefe Verständnis, dass die Vielfalt der Charaktere, aber eben auch die Geschlechter uns als Gesellschaft bereichern und stärker machen – mit diesem Anspruch muss man einfach an die Dinge herangehen; dann wird das Leben auch gleich viel lebendiger. Die Frage beschäftigt uns ja alle, warum Frauen an manchen Stellen sehr häufig zu finden sind, an anderen Stellen aber nicht, wenn ich allein an das Thema Digitalisierung denke. Ich mache jedes Jahr im Bundeskanzleramt eine Veranstaltung zum Girls‘ Day. Es wird jedes Jahr immer eine Preisfrage gestellt – zum Beispiel: Wie viele Informatikstudentinnen haben sich im letzten Semester eingeschrieben? Wie viele haben Programmiererin gelernt? Dann müssen die Schülerinnen schätzen. Und wenn man dabei deutlich unter 30 Prozent bleibt, ist man immer auf der richtigen Seite; die Antworten variieren zumeist zwischen 23 und 27 Prozent. Da stellt sich natürlich die Frage: Warum ist das so? Ist das veranlagt, ist das langjährige Tradition – ich als Physikerin kann das nicht ganz verstehen –, ist das die Sorge, solche Fächer oder Berufe nicht zu schaffen? Sind die Ursache falsche Bildungswege und -methoden, sodass einfach das Interesse nicht geweckt wird? Wenn ich in die Politik schaue – ich schaue jetzt mal in die Partei, der ich angehöre und der Michael Kretschmer angehört –, stelle ich fest, dass auch der Anteil weiblicher Parteimitglieder ungefähr so hoch ist, wie der Anteil von Informatikstudentinnen – eben viel zu niedrig. Da stelle ich mir schon die Frage: Was machen wir denn falsch? Warum ist das für Frauen nicht spannend? Ich glaube, man kann Frauen nicht einfach in die gleichen Strukturen pressen, die Männer sich herausgebildet haben. Vielmehr müssen wir in dem Moment, in dem wir um mehr Frauen werben, auch offen dafür sein, die Struktur der Arbeit zu verändern – vielleicht projektbezogener, vielleicht zeitlich anders aufgestellt, vielleicht mehr auf den Punkt gebracht, vielleicht an mancher Stelle auch komplizierter aus dem Blickwinkel eines Mannes; es muss ja nicht alles nur besser werden, aber zumindest anders werden und damit sicherlich auch spannender in der Gesellschaft. Aber eines ist klar: Sachsen wäre nicht Sachsen, so wie es heute ist – und Sachsen hat viel geschafft –, wenn nicht Frauen an den verschiedensten Stellen mit angepackt hätten. Und deshalb müssen wir das fortsetzen. Deshalb können wir heute Abend auch über klassische Frauenthemen reden: Wie gelangt man zu mehr Partizipation? Ich finde, Michael Kretschmer hat dazu schon etwas Gutes gesagt. Denke ich an die DDR-Zeit, dann war es damals ja so, dass die Frau erwerbstätig war – okay, aber die Frauen hatten selbstverständlich auch noch einen Haushalt zu versorgen. Trabis zu reparieren war Männersache, aber der Rest doch in hohem Maße Frauensache. Das ist nicht das, was wir wollen. Sondern wir wollen ja, dass die Geschlechter in allen Lebensbereichen paritätisch vertreten sind – bei der Kindererziehung die Männer genauso wie im Berufsleben die Frauen. Das muss der Anspruch sein. Neben den Themen der Partizipation müssen wir natürlich auch über anderes reden, das uns in Deutschland, in unserem Land bewegt. Da bin ich sehr gespannt darauf, was Sie zu sagen haben. Wir haben uns in der Bundesregierung mit verschiedenen Dingen sehr intensiv beschäftigt – eines davon ist das Thema gleichwertige Lebensverhältnisse. Zu deren Schaffung sind wir ja nach dem Grundgesetz aufgefordert. Aber wir erleben, dass die Probleme, die Menschen empfinden, immer stärker variieren. Das Problem des bezahlbaren Wohnraums ist in Dresden groß; und das Problem, einen Arzt zu finden, ist in ländlichen Regionen groß. Die Frage, wie man Gleichwertigkeit schaffen kann, treibt uns sehr um. Michael Kretschmer und ich waren heute in Görlitz und haben uns dort mit der Zukunft des Siemens-Standorts und der Innovationskraft einer Stadt wie Görlitz beschäftigt. Es ist wichtig, dass jede Region Deutschlands eine Zukunftsperspektive hat. Daher ist es auch wichtig, dass in jeder Region Deutschlands alle Generationen vertreten sind. Denn was ziemlich viele Schwierigkeiten hervorruft, liegt auch darin begründet, dass eine Region wie Görlitz in den letzten Jahren 19 Prozent der Menschen verloren hat, dass nicht Menschen jeglichen Alters von dort weggezogen sind, sondern vor allem Jüngere, die jetzt dort fehlen. Einem Landstrich, aus dem Jüngere wegziehen und an anderen Stellen des Landes – in Stuttgart, München oder sonst wo in den alten Bundesländern – ihre Kinder bekommen, fehlt dann etwas; es fehlt Leben, es fehlt generationenübergreifendes Handeln. Der Zusammenhalt einer Gesellschaft muss ja alle Generationen umfassen, so wie er Männer und Frauen umfasst. Deshalb haben wir mit dem Beschluss zu gleichwertigen Lebensverhältnissen mehrere Dinge in den Blick genommen, die sehr wichtig sind. Das betrifft insbesondere neue Ansiedlungen. Wir müssen ganz bewusst auf Regionen schauen, die heute nicht so gut an Infrastrukturen angebunden sind und die nicht so gute Behördenstrukturen und anderes haben. Unsere Erfahrung ist: wenn etwa ein Teil eines Fraunhofer-Instituts an einem bestimmten Ort aufgebaut wird – beispielsweise in Görlitz oder auch in Hof in Bayern –, dann sammelt sich um diesen Nukleus, um diesen Kern eine ganze Menge an Aktivitäten. Da entstehen Start-ups, da entsteht neues Leben. Wir können also sozusagen Ansatzpunkte schaffen; und vieles davon entwickelt sich dann weiter. Dann kommen natürlich auch neue Forderungen auf die Tagesordnung: Wie sieht es mit der Verkehrsanbindung aus? Wie sieht es mit den Kindergärten aus? So entstehen Stück für Stück eben gleichwertige Lebensverhältnisse. Deshalb haben wir uns vorgenommen, die regionale Wirtschaftsförderung in Zukunft um das Kriterium demografische Situation zu erweitern. Das heißt, da, wo der Altersdurchschnitt höher ist, da, wo Menschen weggegangen sind, gibt es mehr Chancen auf Wirtschaftsförderung als da, wo sich schon alles ballt. Wenn wir in der Bundesregierung darüber sprechen „Wo bringen wir denn was hin?“, dann wird als Erstes irgendein Standort zwischen Leipzig und Halle erwogen, dann kommt Dresden. Der Berliner Speckgürtel ist ganz gut im Kommen. Aber Schwerin, also die Gegend, aus der ich komme, oder Stralsund werden kaum in Erwägung gezogen. Es darf aber nicht sein, dass da, wo schon was ist, immer mehr hinzukommt, sondern wir müssen das flächendeckend hinbekommen. Allerdings haben wir auch einiges Gutes. Die neue Cybersicherheitsagentur zum Beispiel am Flughafen Leipzig-Halle wollen wir mal nicht geringeschätzen. Aber Sachsen und die neuen Länder sind größer. Wir versuchen seitens der Bundesregierung, Planungssicherheit zu geben. Der Digitalpakt Schule ist ein solcher Bereich. Ich bin Sachsen dankbar; es ist eines der wenigen Bundesländer, die eine Förderrichtlinie haben, sodass es Planungssicherheit für die Schulen gibt. Das haben längst nicht alle Bundesländer. Wir haben Planungssicherheit mit all den Pakten für die Hochschulen und die Wissenschaft – ganz, ganz wichtig. Denn jemand wie Herr Neugebauer von der Fraunhofer-Gesellschaft kann in Regionen, wo noch nicht so viel ist, nur dann mit neuen Projekten hingehen, wenn er weiß, dass er jährliche Steigerungen der finanziellen Mittel erwarten kann; das ist ganz wichtig. Wir müssen natürlich im Mobilfunkausbau vorankommen. Und wir müssen in den nächsten Jahren auch mit Blick auf unsere Kinder lernen. „Fridays for Future“ zeigt ja, dass Kinder sagen: Wir nehmen die Dinge in die Hand; das ist unser Leben. Wir müssen lernen, das Leitbild der Nachhaltigkeit, also das Denken in Kreisläufen, in unser gesamtes Leben und Wirtschaften zu integrieren. Man darf in der Wirtschaft nicht so weitermachen, wie es immer war, und sagen: Und dann machen wir noch ein bisschen Klimaschutz obendrauf. Wir müssen vielmehr unser Denken darauf ausrichten, dass Nachhaltigkeit, Dauerhaftigkeit ein Grundsatz unseres Lebens wird. Wir müssen in Kreisläufen denken. Wir haben heute über ein Thema gesprochen, das uns im Augenblick sehr beschäftigt – ich weiß nicht, wie sehr das schon zu Ihnen gedrungen ist –: über die Situation des Waldes infolge der sehr hohen Klimaherausforderungen. Der Wald gehört ja sozusagen zum System Deutschland, zu unserem Land dazu. Er hat etwas sehr Emotionales an sich. Der Wald ist sehr gestresst und leidet sehr stark unter den Klimaveränderungen der letzten Jahre. Wir müssen uns also auch in dieser Hinsicht überlegen, wie wir in Fragen der Nachhaltigkeit vorankommen. Wir haben in der Bundesregierung seit langem versucht, dem Thema gleichwertige Lebensverhältnisse dadurch etwas mehr Kraft einzuflößen, dass wir uns mit Mehrgenerationenhäusern um Kerne in nicht so gut entwickelten Orten kümmern. Diese Projekte laufen eigentlich sehr gut. Wir überlegen, wie wir das Ehrenamt weiter stärken können; das macht natürlich eine Landesregierung von sich aus. Aber auch, wie wir hierbei mehr Vernetzung, mehr Kommunikation ermöglichen können, ist ein Thema, mit dem wir uns befassen wollen. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer stellen wir fest, dass es natürlich noch Unterschiede gibt. Als ich von 1990 bis 1994 Frauenministerin in der Bundesregierung war, bin ich einmal bei einer Veranstaltung in Pulheim darauf angesprochen worden, dass die Frauen in den neuen Ländern viel mehr Rente bekämen als die Frauen in den alten Ländern. Dazu habe ich gesagt: Na ja, die haben ja auch gearbeitet. Da war was los im Raum, weil die Frage „Was ist Arbeit?“ natürlich mehr bedeuten kann als nur Erwerbsarbeit. Aber es ist auch so, dass wir nach wie vor bestimmte strukturelle Unterschiede zwischen den alten und den neuen Ländern haben. Dieses Thema ermüdet inzwischen auch ein bisschen. Menschen, die vielleicht lange gedacht haben „Okay, das wird sich schon noch entwickeln“, sagen nun nach 30 Jahren: Die Entwicklung gestaltet sich doch viel schwieriger als gedacht. Und wenn man dann immer noch eine Steuerbasis hat, die strukturell deutlich schwächer ist als die Steuerbasis in den alten Ländern, dann wirft das natürlich Fragen auf. Deshalb war es gut, dass wir den Bund-Länder-Finanzausgleich neu aufgelegt haben, dass der Bund da auch Verantwortung übernommen hat. Es ist wichtig, dass wir die Besonderheiten der neuen Länder immer wieder klar zum Ausdruck bringen, genauso wie Michael Kretschmer es auch macht. Ein Letztes: Die Digitalisierung fordert uns sehr heraus. Sie verändert unser Kommunikationsverhalten, sie verändert unser Zusammenleben vollständig. Ich mache das etwa am Beispiel des familiären Abendbrottisches fest: Da muss man aufpassen, dass nicht alle permanent auf ihr Handy gucken und vielleicht doch noch mit ihrem Gegenüber sprechen. Wir müssen neue Regeln finden, damit nicht der, der sozusagen eine Whatsapp-Gruppe bedient, mehr Rechte hat als der, der einem gegenübersitzt. Wem antworte ich schneller? Dem, der mir gegenüber eine Frage stellt, oder dem, der mir gerade etwas geschickt hat? Das sind so Dinge, die wir neu miteinander aushandeln müssen. Wir dürfen auch nicht verlernen, uns über verschiedene Meinungen auszutauschen. Frau Ackermann hat schon gesagt, dass das Albertinum auch ein Ort ist, an dem solche Debatten stattfinden. Debatten brauchen eine Kultur. Die kulturellen Fähigkeiten dazu sind nicht so schwer zu erwerben, aber auch nicht so leicht, wie man vielleicht denkt. Das Erste ist, zuhören zu können, nicht schon nach dem ersten Halbsatz zu wissen glauben, was derjenige oder diejenige, der oder die gerade eine Frage stellt, eigentlich sagen möchte, und schon eine Antwort rauszuposaunen. Das Zweite ist die Fähigkeit, sich nach dem Zuhören auch in die Lage des anderen hineinzuversetzen, in seine Schuhe zu schlüpfen und sich zu überlegen: wie würde ich denn agieren? Ich mache das zum Beispiel immer mit meinen Kollegen: Wir reden oft darüber, wie man die Dinge sähe, wenn man dänischer, finnischer oder deutscher Ministerpräsident wäre. Dann frage ich etwa: Was würdest du machen, wenn du maltesischer Premierminister wärst und gegenüber der libyschen Küste wohnen würdest; wie würdest du da handeln? Die Bereitschaft und Fähigkeit, den anderen verstehen zu wollen, ist die Grundlage dafür, gemeinsame Lösungen zu finden. Das Allerwichtigste ist, den Kompromiss nicht zu verunglimpfen. Miteinander zu leben, bedeutet immer auch, dass ich mit einem anderen etwas aushandle; und das ist selten das, was ich 100 Prozent alleine denke. Es gibt eine Tendenz, dass der Kompromiss per se schon irgendwie als faul oder als etwas Schlechtes angesehen wird. Aber ohne Kompromiss gibt es kein Zusammenleben. Das fängt in der Familie an, wenn man sich auf eine Essenszeit oder auf einen Wochenendausflug einigt. Das geht weiter in der Gesellschaft, im Arbeitsleben oder eben auch im Leben politischer Gruppen. Ich muss zum Schluss akzeptieren, dass die beste Ordnung noch immer die ist, in der alle angehört werden und zum Schluss die Mehrheit entscheidet. Da finde ich mich nicht immer wieder. Dann muss ich vielleicht versuchen, mich mehr einzubringen. Aber ich kenne jedenfalls kein anderes System, in dem eine andere Form des Zusammenlebens gut gelingen könnte. Mit Mehrheitsentscheidungen leben zu können und das zu akzeptieren, ist eben etwas sehr, sehr Wichtiges. Jetzt freue ich mich, mit Ihnen in einen Diskurs über das zu kommen, was Ihnen wichtig ist, und über das, was Sie von mir wissen wollen. Ich freue mich auf den Abend; wir haben Zeit bis 20.30 Uhr. Also wenn die Diskussion nachher eröffnet wird, melden Sie sich lieber schnell als langsam, dann sind die Chancen größer, dass Sie drankommen. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Festveranstaltung zum 50. Jubiläum des Entwicklungshelfer-Gesetzes am 12. Juli 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-festveranstaltung-zum-50-jubilaeum-des-entwicklungshelfer-gesetzes-am-12-juli-2019-in-berlin-1647732
Fri, 12 Jul 2019 13:10:00 +0200
Berlin
Alle Themen
Sehr geehrte Frau Dr. Füllkrug-Weitzel, sehr geehrte Frau Ohene, Herr Prälat Dr. Dutzmann, Herr Prälat Dr. Jüsten, liebe Entwicklungshelferinnen und -helfer, Zurückgekehrte, meine Damen und Herren, vielen Dank für die Einladung und ein noch größeres Dankeschön an alle Fachkräfte für ihren Einsatz. Ein herzliches Willkommen zurück zu Hause in Deutschland. Sie haben in Afrika, Asien, Lateinamerika und im Nahen Osten gearbeitet. Sie haben sich für Frieden, für Gerechtigkeit und nachhaltige Entwicklung stark gemacht. Und Sie haben vielen, vielen Menschen Hoffnung gebracht. Daher freue ich mich sehr, dass ich heute mit Ihnen gemeinsam auch daran denken darf, dass vor 50 Jahren das Entwicklungshelfer-Gesetz in Kraft getreten ist – ein wirklich wegweisendes rechtliches Instrument. Entwicklungs- und Friedensfachkräfte im Einsatz müssen sich in anderen Kulturen, in anderen klimatischen Umgebungen, anderen Lebensbedingungen zurechtfinden. Sie übernehmen Aufgaben, die sich nicht einfach auf die Schnelle erledigen lassen, sondern Zeit brauchen – Aufgaben, auf die sie gut vorbereitet sein müssen, auch um unvermeidliche Rückschläge verkraften zu können. Ihre Arbeit in aller Welt ist ein Aushängeschild für unser Land, für Deutschland. Diese Arbeit macht Sie zu Botschafterinnen und Botschaftern unseres Landes. In mehr als hundert Staaten helfen Sie, das Leben von Menschen vor Ort zu verbessern. Sie zeigen mit Ihrer Arbeit zudem, wofür Deutschland steht: für grundlegende Werte, allen voran für die Achtung der Menschenwürde, für einen respektvollen und partnerschaftlichen Umgang und auch für Verlässlichkeit. Im Gegenzug erhalten Sie oft einen tiefen Einblick in die Lebenssituation vor Ort. Das ist ja auch ein Zeichen des Vertrauens, das die Partner in Sie setzen. Ich möchte deshalb sehr gern diese Gelegenheit nutzen und Ihnen von Herzen dafür danken, dass Sie dieses Wagnis eingegangen sind, dass Sie losgezogen sind, dass Sie sich auf Unbekanntes eingelassen haben und sicherlich dabei auch viel, viel Spannendes erlebt haben, aber eben auch viel Schweres. Danke schön von ganzem Herzen dafür. Auch auf meinen Reisen mache ich mir ja immer wieder ein Bild von praktischer deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Oft kommt Tanja Gönner als GIZ-Chefin mit. Aber meine Besuche sind natürlich immer nur Momentaufnahmen. Ich kann manchmal nur erahnen, dass hinter dem, was mir da gezeigt wird, oft jahrelange Arbeit steckt. Es ist beeindruckend, wie vielfältig die Aufgaben sind, die sich Ihnen während Ihres Aufenthaltes oder Einsatzes gestellt haben – ob es die Ernährungssicherheit ist, ob es Kinder sind, die unterrichtet werden, ob es Aufklärung im Gesundheitsbereich ist, ob es Arbeiten im Zusammenhang mit Umwelt- und Klimaschutz und mit Landwirtschaft sind oder Projekte, in denen es um Frieden und Versöhnung geht. Und jeder von Ihnen hat unter schwierigen Bedingungen gearbeitet – viele auch in Regionen mit besonders hohen Risiken, und zwar nicht nur für den Erfolg des Projekts, sondern auch für die eigene Sicherheit, wenn ich nur an Länder wie den Südsudan, den Irak oder Afghanistan denke. Da sind oft Flexibilität und zugleich nachhaltiges Handeln gefordert. Da braucht man Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit, die Erwartungen, die man selber hat und die andere haben, mit dem tatsächlich Machbaren zusammenzubringen. Jede Mitgliedsorganisation der Arbeitsgemeinschaft der Entwicklungsdienste hat natürlich ihre eigene Handschrift, ihre eigene Herangehensweise. Aber der zentrale Leitgedanke deutscher Entwicklungszusammenarbeit ist und bleibt, dass wir einen Beitrag zu wirtschaftlichem, sozialem und politischem Fortschritt in Entwicklungs- und Schwellenländern leisten wollen. Das ist in einer eng vernetzten Welt immer auch in unserem eigenen Interesse. Hilfe für andere ist in unserem eigenen Interesse, da partnerschaftliche Entwicklungszusammenarbeit allen dient. Sie dient einem globalen Gemeinwohl und damit einem guten Leben und Zusammenleben auch hier bei uns. Dieser Gedanke ist nicht neu. An ihm hat sich in den 50 Jahren Entwicklungshelfer-Gesetz im Grunde nichts geändert, wenngleich er vielleicht nicht allen immer hinreichend klar ist. Dieser Gedanke des Zusammenlebens auf der Welt muss ja gerade auch in diesen Jahren immer wieder betont und vertreten werden. Deshalb ist es so wichtig, dass Sie nach Ihrem Einsatz Ihre vielen neuen Erfahrungen mit uns teilen. Berichten Sie davon – Ihren Familien, Ihren Freunden, in der Arbeit, an Universitäten, in den Vereinen, in den verschiedensten Veranstaltungen. Schreiben Sie Blogs, lassen Sie andere an Ihren Erfahrungen teilhaben. Das ist wichtig. Damit vertiefen Sie bei uns das Verständnis für Entwicklungszusammenarbeit, und zwar nicht nur allgemein für Entwicklungszusammenarbeit, sondern konkret, indem Sie am eigenen Beispiel zeigen, wie ein gutes Zusammenleben in der Welt gestaltet werden kann und dass jeder und jede – unabhängig davon, ob man selbst im Ausland und im Einsatz ist oder eben nicht – auch ein Stück weit dazu beitragen kann. Ursachen, die eine gute Entwicklung behindern oder gar rückgängig machen, sind ja leider vielfältig. Klimawandel, Wirtschaftskrisen, militärische Konflikte, Terrorismus, Flucht und Migration – diese und viele andere große Herausforderungen betreffen ja unser aller Wohlergehen auf der Welt. Nun können wir darauf auf zweierlei Weise reagieren: Entweder tun wir so, als ginge uns das alles nichts an – wir ziehen uns auf uns selbst und unser Land zurück, schotten uns ab und begnügen uns damit, vermeintlich einfache Antworten auf das zu finden, was so kompliziert erscheint –, oder aber wir verstehen, dass wir die großen Herausforderungen unserer Zeit nur bewältigen können, wenn wir multilateral statt unilateral, weltoffen statt isolationistisch, global statt national, gemeinsam statt allein denken und handeln. Entwicklungen an einem Ende der Welt können sich auch immer auf das Leben der Menschen am anderen Ende der Welt auswirken. Wir tragen also gemeinsam Verantwortung für diese Welt. – Und deshalb ist auch Ihr Motto so schön: „Die Welt im Gepäck.“ Das ist ja genau das Bewusstsein, das uns geleitet hat, als die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen vor vier Jahren verabschiedet wurde. Im September dieses Jahres werden die Staats- und Regierungschefs zu einem UN-Nachhaltigkeitsgipfel zusammenkommen, um dann Bilanz zu ziehen und hoffentlich auch ein deutliches Signal zu setzen, dass die Agenda 2030 auch wirklich umgesetzt werden muss. Wir kommen zwar voran, aber deutlich zu langsam. Es gibt bei einigen Nachhaltigkeitszielen sogar Rückschritte. So ist zum Beispiel die Zahl der Menschen, die Hunger leiden, wieder angewachsen. Und wir müssten doppelt so schnell wie bisher vorankommen, um allen Menschen bis 2030 den Zugang zu sanitärer Grundversorgung zu sichern. Auch die CO2-Emissionen sind ebenso wie der Rohstoffverbrauch weiter angestiegen. In einem Wort: Wir müssen unsere Bemühungen verstärken, um die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 zu erreichen. „Wir“ – das sind wir alle; natürlich auch die Regierungen, natürlich auch die Wirtschaft, die Wissenschaft und jeder und jede Einzelne. Und Sie, meine Damen und Herren, können in besonderer Weise dazu beitragen, den Gedanken der Nachhaltigkeit im täglichen Leben und Arbeiten stärker ins Bewusstsein zu rücken, wenn Sie über Ihre Erfahrungen sprechen. Jahr für Jahr wächst die Gesamtzahl derjenigen, die ihr Wissen und Können in den Dienst der Entwicklungszusammenarbeit gestellt haben. Rund 30.000 sind es bereits seit Inkrafttreten des Entwicklungshelfer-Gesetzes vor 50 Jahren, darunter auch viele Entwicklungshelferinnen. Das Verhältnis von weiblichen zu männlichen Fachkräften war Ende 2018 mit 48 zu 52 Prozent fast ausgeglichen. – Glückwunsch dazu. Das Gesetz sorgt für eine rechtliche und soziale Absicherung der Arbeit im Ausland. Angesichts der oft schwierigen und teilweise auch gefährlichen Arbeitsbedingungen ist das auch absolut notwendig. Vieles hat sich seit 1969 verändert. Die Weltbevölkerung hat sich seitdem verdoppelt. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist weiter gestiegen. Der Kalte Krieg und die Blockkonfrontation gehören der Vergangenheit an. Und die Globalisierung mit all ihren Facetten ist rasant vorangekommen. Die damit verbundenen Chancen konnten auch frühere Schwellenländer für sich nutzen – allen voran China, heute eine der größten Handels-, Technologie- und Wirtschaftsnationen der Welt. Indien, Brasilien oder Mexiko sind weitere Beispiele und wichtige Akteure der Weltpolitik geworden. Wenn man sich überlegt, dass ein Land wie China es geschafft hat, in wenigen Jahrzehnten die allermeisten Bewohner aus absoluter Armut zu befreien, und dass das wahrscheinlich bis Ende 2020 auch bei den übrigen rund 80 Millionen Menschen gelingen wird – so viele, wie wir hierzulande sind, dann sieht man auch, dass das eine unglaubliche Leistung ist. Die aufsteigenden Wirtschaftsnationen verändern natürlich die gesamten Strukturen der Weltwirtschaft. Sie sind heute starke Partner, sie sind Wettbewerber und sie sind auch Antreiber der Globalisierung und spielen heute zum Beispiel in der Gruppe der G20-Länder eine wichtige Rolle. Sie werden selbst immer mehr zu Anbietern entwicklungspolitischer Zusammenarbeit. Oft diskutieren wir darüber, welche Rahmenbedingungen da gesetzt werden. Ich glaube, wir können ihnen einiges von unseren Ansätzen vermitteln. Aber was zum Beispiel die Geschwindigkeit mancher Projekte anbelangt, können wir auch von anderen etwas lernen, wie ich sagen muss. Zugleich prägen immer noch große soziale Unterschiede und Armut das Leben in diesen Ländern. Deshalb brauchen wir für die Zusammenarbeit mit diesen Ländern innovative Ansätze. Auf der einen Seite haben wir dort eben teils sehr schwierige soziale Bedingungen, wenn ich zum Beispiel an Brasilien, an Indien denke, und auf der anderen Seite aber auch Hightech-Angebote, wobei wir zum Teil gar nicht mithalten können. Das Erfordernis innovativer Ansätze wird uns auch in den nächsten Jahren wirklich fordern. Angesichts der Veränderungen in den letzten Jahrzehnten und der unterschiedlichen Problemlagen weltweit ist klar, dass sich Entwicklungspolitik nicht auf Entwicklungshilfe reduzieren lässt. Natürlich ist und bleibt die humanitäre Hilfe immer wichtig, um Menschen in Not zu unterstützen. Leider ist sie in den letzten Jahren wieder noch wichtiger geworden angesichts der vielen Flüchtlinge und Migranten auf der Welt. Und sie ist ja auch eine ethische Verpflichtung. Doch was die Zusammenarbeit insgesamt anbelangt, so ist an die Stelle des Geben-Nehmen-Prinzips doch sehr viel stärker eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe getreten. Aus der Arbeit für Menschen wurde mehr und mehr eine Arbeit mit den Menschen in unseren Partnerländern. Wir wissen oder haben inzwischen verstanden, dass sich Entwicklung nicht von außen verordnen lässt, sondern sie muss aus dem Inneren heraus getragen werden. Man nennt das heute so schön Ownership. Entwicklung muss eben auch von innen kommen. Und ich glaube, wir müssen manchmal auch noch geduldiger sein – ich sage das jetzt mal für die Politik; Sie sind es wahrscheinlich –, um die Ansätze herauszufinden, von denen die Partnerländer glauben, damit ihre Entwicklung am besten gestalten zu können. Ähnlich wie bei der Kindererziehung muss man manchmal auch kleine Erfahrungen zulassen und nicht immer sagen „Ich weiß schon, wie es ausgeht“ und „Da macht ihr diesen Fehler“ und „Das haben wir auch alles so gemacht“, sondern einfach noch mal neu herangehen und sagen „Wir gucken mal, wie es geht; und vielleicht haben ja auch nur wir die Fehler gemacht auf dem Entwicklungsweg; andere haben vielleicht ganz andere Ideen“. Gute Entwicklung lässt sich also nicht verordnen. Maßnahmen und Projekte müssen angenommen werden. Das gilt für jede Form von Entwicklung. Aber wir haben oft noch ein sehr kompliziertes Verhältnis von Regierungen und Zivilgesellschaft. Wir haben Länder, die Fortschritte und Reformen abblocken; und wir haben – auch weil Sie in wundersamer Weise eingebunden sind; zumeist auf der Seite der Zivilgesellschaft – solche Länder, die aufgeschlossen sind. Ich denke, unsere Entwicklungspolitik sollte auch deutlich machen, dass die, die aufgeschlossen sind, die reformbereit sind, auch spüren, dass das dann auch Erfolge und weitere Partnerschaften mit sich bringen kann. Entwicklungszusammenarbeit muss mit anderen Politikbereichen kompatibel sein, da Erfolge in der Außen-, Sicherheits-, Klimaschutz- und Wirtschaftspolitik und Erfolge der Entwicklungszusammenarbeit einander bedingen. Ich glaube, hierbei hat sich in den letzten Jahren viel getan. Als ich Bundeskanzlerin wurde, war es manchmal noch sehr schwierig, dass sich da, wo ein deutscher Soldat war, überhaupt jemand aus dem Entwicklungsbereich zeigen wollte. Das wird heute immer noch, glaube ich, diskutiert, aber man kommt sich näher, würde ich mal sagen. Und daran zeigt sich, dass wir auch wissen: Ohne Sicherheit keine Entwicklung, ohne Entwicklung keine Sicherheit. Das hängt ja aufs Engste zusammen. In den letzten Jahren ist der Fokus wieder sehr stark auf Afrika gelenkt worden. Ich freue mich sehr, dass die Afrikanische Union die Afrikanische Agenda 2063 entwickelt hat, um auch selbst zu sagen, welche Richtung die Entwicklung auf ihrem Kontinent nehmen sollte. Wir haben während der deutschen G20-Präsidentschaft im Jahr 2017 einen sogenannten Compact with Africa ins Leben gerufen. Die Kernidee ist, den betreffenden afrikanischen Partnerländern, die selber die Voraussetzungen für private Investitionen, Handel und Beschäftigung verbessern, bessere Konditionen einzuräumen und ihnen zu sagen: Wir helfen euch besser bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Das schlägt sich zum Beispiel in Kreditbedingungen nieder. Und das fördert dann auch deutsche Investitionen in diesen Ländern. In diesem Zusammenhang habe ich im Übrigen die Bitte, dass wir noch stärker versuchen, die Entwicklungszusammenarbeit mit dem Übergang in die wirtschaftliche Tragfähigkeit zu verbinden. Denn wir haben oft die Erfahrung gemacht – jedenfalls habe ich es so gesehen –, dass, nachdem wunderbare Trainingsprogramme zum Beispiel für Landwirte ausgelaufen waren, die anschließende Rückkehr in die eigene Landwirtschaft oder in die eigene dörfliche Umgebung nicht das an Veränderung mit sich gebracht hat, was man von einer moderneren Landwirtschaft eigentlich erhofft hatte. Es gab oft Enttäuschungen. Wir müssen also gucken, wie wir möglichst reibungslos an solche Programme anknüpfen können. Ich werde dieses Jahr die Präsidenten der zwölf Compact-Länder wieder nach Berlin einladen. Wir werden sowohl eine Investorenkonferenz abhalten als auch über unsere Zusammenarbeit sprechen. Ich habe in diesem Frühjahr Burkina Faso, Mali und Niger besucht und mich dabei auch mit den Staatspräsidenten der G5-Sahel-Staaten getroffen. Wir müssen leider konstatieren, dass sich in diesen Ländern – ganz wesentlich, um es mal vorsichtig auszudrücken, durch die Fragilität Libyens bestimmt – die terroristischen Bedrohungen verstärkt haben und sich die Sicherheitslage dramatisch verschlechtert hat. Deshalb ist es ein mutiger Schritt, dass die G5 auch eine gemeinsame Terrorismusbekämpfungstruppe aufbaut. Und dabei stellt sich natürlich auch die Aufgabe, sie zu unterstützen. Das ist jetzt nicht Ihr Kernbereich, sondern Sie sind sozusagen damit betraut, im zivilen Friedensdienst Lösungen zu finden, bevor es überhaupt zu Gewalt kommt. Ich spreche aber deshalb auch von dieser zunehmenden terroristischen Bedrohung, weil zum Beispiel in einem Land wie Burkina Faso, wo es Mischehen aus Muslimen und Christen gab, wo das Zusammenleben der Religionen eingeübt war, jetzt die Religionen gegeneinander gestellt werden und ein bislang gutes Zusammenleben zu zerbrechen droht. Da ist so etwas wie Friedensdienst natürlich von größter Bedeutung. Aber wir brauchen manchmal gar nicht so weit wegzufahren. Es kann auch im Kosovo sein, wo so etwas dringend erforderlich ist. Sie arbeiten im Libanon, in Myanmar, in Guatemala, in Kambodscha, in Kenia und vielen anderen Ländern. Gerade auch bei festgefahrenen Konflikten ist es oft wichtig, wenn man mit einem neutralen Blick von außen auf diese Konflikte schaut, auf Vertrauen zu den Partnern setzt und versucht, auch gemeinsam Lösungen zu finden. Manchmal dauert es sehr lange, manchmal haben solche Bemühungen aber auch Erfolge. Und wenn sie Erfolge haben, dann muss es ein wunderschönes Erlebnis sein, wenn man dabei war und mitgeholfen hat, ein bisschen mehr Friedfertigkeit auf die Welt zu bringen. Meine Damen und Herren, in den letzten 50 Jahren hat sich in der Entwicklungszusammenarbeit vieles verändert, aber nicht alles. Denn zu jeder Zeit brauchte und braucht es Menschen mit Herz und Verstand, die sich freiwillig und mutig auf den Weg machen, um in aller Welt Entwicklungs- oder Friedensdienst zu leisten. Es braucht Menschen, die um die Bedingungen vor Ort wissen – die wissen, was gebraucht und was angenommen wird, welche Unterstützung tatsächlich Entwicklung fördert. Da kann man an dieser Stelle einfach sagen: Es braucht Menschen wie Sie, die Sie hier in diesem Raum sind. Deshalb finde ich es eine sehr, sehr gute Initiative, diejenigen, die zurückkommen, die von ihren Erfahrungen berichten können, die Herausragendes geleistet haben, dann auch einzuladen und ihnen zu sagen: Wir hören euch zu, wir wollen von euch etwas erfahren, wir sagen euch danke. Deshalb noch einmal – und das kommt wirklich von Herzen –: Danke für das, was Sie unternommen haben. Das sage ich auch für die ganze Bundesregierung. Ich werde jetzt vielleicht noch die Chance haben, in der Diskussion etwas mehr zu erfahren. Danke dafür, dass Sie mich zu einem solchen Tag eingeladen haben.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung der James-Simon-Galerie am 12. Juli 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-eroeffnung-der-james-simon-galerie-am-12-juli-2019-in-berlin-1647612
Fri, 12 Jul 2019 11:40:00 +0200
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Professor Parzinger, sehr geehrter Herr Professor Eissenhauer, sehr geehrter Herr Chipperfield, sehr geehrter Herr Simon, liebe Familie Simon, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, Herr Regierender Bürgermeister, Herr Ministerpräsident Haseloff, Frau Staatsministerin Grütters, meine Damen und Herren, Zeitreisen zu unternehmen scheint ja eine sehr menschliche Sehnsucht zu sein – in andere Zeiten einzutauchen, neue Welten zu ergründen, der Fantasie freien Lauf zu lassen. Dass Zeitreisen keine Utopie sein müssen, beweist die Berliner Museumsinsel. 6.000 Jahre Kunst und Kultur spiegeln sich in den Sammlungen ihrer fünf Häuser wider: von Geräten aus der Altsteinzeit bis hin zu Werken französischer Impressionisten. Die Museumsinsel ist ein Universalmuseum der Menschheitsgeschichte. Sie birgt Sammlungen von Weltrang und bildet selbst ein einzigartiges architektonisches Gesamtkunstwerk mit fünf Solitären, eröffnet in den hundert Jahren zwischen 1830 und 1930. So zeigte sich Berlin hier zwischen Spree und Kupfergraben einst von seiner schönsten Seite. Doch der Zweite Weltkrieg und auch 40 Jahre DDR hinterließen auch hier ihre Spuren. 1999 wurde dann ein Masterplan mit dem Ziel beschlossen, die im selben Jahr als UNESCO-Welterbe anerkannte Museumsinsel in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Das dauert natürlich seine Zeit. Die Sanierung ist ein Generationenprojekt. Allen Schwierigkeiten zum Trotz kommt es dennoch voran. Die Alte Nationalgalerie und das Bode-Museum sind bereits saniert. Vor rund zehn Jahren, im Oktober 2009, durfte ich bei der Eröffnung des Neuen Museums mit dabei sein. Den einst prachtvollen, aber stark zerstörten Bau von Friedrich August Stüler hat David Chipperfield behutsam wiederhergestellt und kongenial ergänzt. Bis aber das Pergamonmuseum um den vierten Flügel erweitert und komplett saniert sein wird, werden wohl noch etliche Jahre vergehen. Zudem stehen noch grundlegende Sanierungsarbeiten am Alten Museum aus. Die fünf Häuser der Museumsinsel folgen der Tradition antiker Sakralarchitektur. Säulen, Portiken und Dreiecksgiebel verweisen auf griechische Tempel als Vorbilder. Das entsprach dem romantischen Ideal des 19. Jahrhunderts, wonach Ausstellungshäuser Orte erhabener Kontemplation sein sollten. Heute sehen wir das Museum – ohne die Ästhetik der Ausstellungsstücke und Bauten zu verkennen – etwas pragmatischer und etwas profaner: eher als Ort der Wissensvermittlung, der Bildung und auch der Kommunikation. Dazu gehört, dass wir uns die Möglichkeit schaffen, aus neuen Ansichten neue Einsichten zu gewinnen und dass wir unsere in der Welt des Wandels so wichtige Fähigkeit stärken, die notwendigen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, um eine gute Zukunft zu gestalten, wenn wir mit unserem Geschichts- und Weltbild offen auch für kontroverse Deutungen und Debatten sind. Die Zeitreise durch die Sammlungen der Museumsinsel kann auch vermitteln, wie viel uns Menschen über Jahrhunderte und über Ländergrenzen hinweg verbindet. Wir stellen fest, dass uns weit mehr verbindet, als uns trennt. So ist die Museumsinsel nicht nur ein Ort, an dem wir von Kulturen und Geschichtsläufen erfahren, sondern an dem wir uns auch heutiger gegenseitiger Abhängigkeiten auf unserer Welt bewusst werden können. Das ist in seiner Bedeutung für unser Zusammenleben gar nicht hoch genug zu schätzen. Denn wie verführerisch und zugleich fatal ist es doch, die Augen vor der Komplexität globaler Wechselwirkungen zu verschließen und sich lieber ein eigenes, überschaubares Weltbild zu schaffen. Wir erleben derzeit ja weltweit, dass im öffentlichen Diskurs immer mehr das Eigeninteresse oder das, was dafür gehalten wird, als das Maß der Dinge angesehen wird. Darunter leiden die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Kompromiss. Abgrenzung, Ausgrenzung, Abschottung sind die Folge. Auf einem solchen Nährboden wachsen Missverständnisse, Vorurteile, Feindbilder. Das lehrt uns die Geschichte. Und sie lehrt uns zugleich, dass sich Kulturen, Ethnien und Staaten schon seit Jahrtausenden im gegenseitigen Austausch entwickelt haben. Die Museumsinsel ist ein Ort, an dem Vergangenheit und Zukunft zusammen gedacht werden können. Sie findet heute – beinahe 200 Jahre nach Baubeginn des Alten Museums – mit der neuen James-Simon-Galerie ihren baulichen Abschluss. David Chipperfield hat mit diesem Neubau bewiesen, dass er den großen Vorbildern auf der Museumsinsel mit einem eigenständigen Entwurf auf Augenhöhe begegnen kann. Schinkel, Stüler, Ernst von Ihne, Alfred Messel, David Chipperfield – eine, wie ich finde, sehr beachtliche Liste des Who is who der Museumsbaukunst. Besonders freue ich mich, dass mit dem neuen Eingangsgebäude an den großen Berliner James Simon erinnert wird. Der erfolgreiche Unternehmer und preußische Patriot zeichnete sich auch als Mäzen aus. Die Staatlichen Museen verdanken ihm Schenkungen von unermesslichem Wert. Ich nenne nur die Renaissance-Sammlung, die Spätmittelalter-Sammlung sowie die berühmte Nofretete-Büste. Außerdem war er – das ist hier auch schon angeklungen – ein sozialer Wohltäter, der Hilfs- und Wohltätigkeitsorganisationen, Krankenhäusern und Volksbädern große Summen spendete. Das allerdings ist nur lückenhaft dokumentiert, weil Simon keinen Wert darauf legte, sich hiermit öffentlich zu profilieren. „Dankbarkeit ist eine Last, die man niemandem aufbürden sollte“, soll er einmal gesagt haben. Dieser Satz passt jedenfalls zu ihm als Mensch, der seinen Wohlstand als Verpflichtung zu sozialer Verantwortung verstand. Daher freut es mich sehr, seinen Enkel Tim Simon und weitere Familienmitglieder hier begrüßen zu dürfen. Auch von meiner Seite sage ich Ihnen ein ganz herzliches Willkommen – nicht nur hier und heute, sondern auch deshalb, weil Sie wieder in Berlin zu Hause sind. Der heutige Tag ist also nicht nur ein Festtag für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Vielmehr ehren wir auch eine Persönlichkeit, die viel zu lange beinahe vergessen schien. Nun aber bleibt sein Name, James Simon, mit diesem Bauwerk fest verbunden, das uns den Zugang zu den ansehnlichen Sammlungen der Staatlichen Museen gewährt. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist eine Institution mit Tradition, die Hüterin eines reichen kulturellen Erbes. Traditionspflege darf aber nicht im Blick zurück erstarren, sie muss vielmehr nach vorn gerichtet und offen für Weiterentwicklung sein. Deshalb war es richtig, die altehrwürdigen Bestandsgebäude der Museumsinsel um einen modern gestalteten Neubau zu ergänzen, der eine große Leichtigkeit ausstrahlt und damit so einladend wirkt. Ebenso begrüße ich, dass die Stiftung Preußischer Kulturbesitz beschlossen hat, sich einer Evaluierung durch den Wissenschaftsrat zu unterziehen. Ich glaube, auch hierin liegt eine große Chance, denn stetige Modernisierung ist die beste Form der Traditionspflege. Meine Damen und Herren, der preußische Staatsmann und Gelehrte Wilhelm von Humboldt, der die Fertigstellung des Alten Museums noch erlebte, war der Überzeugung: „Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.“ In diesem Sinne lässt uns die Berliner Museumsinsel der Zukunft zuversichtlich entgegensehen. Allen, die dazu beigetragen haben, dass wir die heutige Eröffnung feiern können – den Architekten und Bauleuten sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bauverwaltung und der Stiftung –, danke ich sehr herzlich. Ich bin auch stolz darauf, dass aus meinem Wahlkreis, von der Insel Rügen, eine Metallbaufirma aus Lauterbach dabei war. Man sieht also: Viele haben einen Anteil daran. Da den meisten Rügen nur in Zusammenhang mit Urlaub bekannt ist, wollte ich doch darauf hinweisen, dass Rügen auch an solchen wichtigen Gebäuden mitwirken kann. Für die Zukunft sind wir immer noch auf das Spekulieren, Hoffen und Wünschen angewiesen. Ich will es beim Wünschen belassen und wünsche der James-Simon-Galerie und der Museumsinsel für die Zukunft viele und im besten Sinne neugierige Besucherinnen und Besucher aus aller Welt. Morgen wird das bunte Treiben ja losgehen. Herzlichen Dank, dass ich hier dabei sein durfte.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Pre-Opening Veranstaltung der James-Simon-Galerie
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-pre-opening-veranstaltung-der-james-simon-galerie-1648066
Thu, 11 Jul 2019 20:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Anrede! „Über die Treppe ins Glück“, titelte am Montag der Tagesspiegel anlässlich der Eröffnung der James-Simon-Galerie und der Guardian verweist uns gleich ins „Reich der Götter“… Dass Sie, lieber David Chipperfield, ein echter Stararchitekt sind, ist „common knowledge“. Spätestens jetzt, mit der Vollendung der James-Simon-Galerie, darf man also wohl getrost behaupten, dass nun endgültig der Aufstieg in den Olymp der Architektur geschafft ist. Dafür spricht nicht nur der Artikel des britischen Guardian von Anfang dieser Woche mit dem „David Chipperfields Berlin temple: ‚Like ascending to the realm of the gods’“. Dafür spricht vor allem auch das Gebäude als solches, das die Museumsinsel wahrhaftig in neue, fast schon „göttliche Sphären“ hebt. Ja, die James-Simon Galerie ist ein beglückender Bau, sie ist das großartige neue Entrée der Museumsinsel: mit einer imposanten Freitreppe und der Fortführung der Stülerschen Kolonnaden eröffnet sie künftig Räume der Begegnung mit Kunst und Kultur aus mehreren tausend Jahren Menschheitsgeschichte. Und lädt dabei ihre Besucherinnen und Besucher nicht zuletzt dazu ein, Weltbürger zu sein: Ein Gedicht sei immer die Frage nach dem Ich, hat Gottfried Benn einmal gesagt – und man könnte ergänzen: Ein Museum ist immer die Frage nach dem Wir. Museen sind kollektives Gedächtnis und Bewusstsein. So machen auch die fantastischen Museen auf der Museumsinsel gemeinsame Erinnerungen, Werte, Perspektiven auf die Welt sichtbar und erfahrbar – und stiften damit unsere Identität als Weltbürger. Sie, lieber Sir David, geben diesem Selbstverständnis als Weltbürger mit Ihren Bauwerken auf der ganzen Welt immer wieder ein Gesicht, ein Zuhause – ob in Rom, Mexiko-Stadt, Kyoto, Innsbruck, Philadelphia, Marbach oder Antwerpen. Wir hier in Berlin sind stolz und dankbar, dass wir mit der einzigartigen James-Simon-Galerie nun einen weiteren Ihrer markanten architektonischen Höhepunkte zu unserem Stadtbild zählen dürfen. Bereits mit dem Neuen Museum, das nach Ihren preisgekrönten Plänen wiederaufgebaut wurde, haben Sie in Berlin Architekturgeschichte geschrieben und bewiesen, dass Sie es wie kaum ein anderer verstehen, historische Elemente der großen Museumsbauten mit der Ästhetik der Gegenwart meisterhaft zu verbinden. Dabei reihen Sie sich immer auch mit Demut neben anderen großen Architekten, neben anderen großen Bauwerken ein: So ist Ihre James-Simon-Galerie, um nochmals den Titel des Guardian aufzugreifen, eine wahrhafte Treppe hinauf in das „Reich der Götter“, aber sie stellt sich dabei nicht auf ein Podest, sondern stellt eine symbiotische Verbindung zu ihrer Umgebung her. Denn Sie denken bei Ihrem Schaffen immer auf ganz eigene, eben auf eine „Chipperfieldsche“ Weise die Geschichte, die Umgebung oder die Energie eines Ortes mit. Eben deshalb haben wir Sie mit der Sanierung unserer Neuen Nationalgalerie betraut, denn auch der Umgang mit dem Mies van der Rohe-Bau braucht große Empathie. Lieber David Chipperfield, ich bin Ihnen als Architekt, als Mensch und als Freund sehr dankbar: für dieses großartige Bauwerk, für Ihre architektonische Kunst und natürlich für Ihre große Gastfreundschaft, für die deutsch-britische Freundschaft! Und nun freue ich mich, mit Ihnen allen zu feiern. Auf die Eröffnung der James-Simon-Galerie!
In ihrer Rede dankte Staatsministerin Grütters dem Architekten der James-Simon-Galerie, David Chipperfield: „Wir hier in Berlin sind stolz und dankbar, dass wir mit der einzigartigen James-Simon-Galerie nun einen weiteren Ihrer markanten architektonischen Höhepunkte zu unserem Stadtbild zählen dürfen“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Jahresempfang für das Diplomatische Corps am 9. Juli 2019 auf Schloss Meseberg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-jahresempfang-fuer-das-diplomatische-corps-am-9-juli-2019-auf-schloss-meseberg-1646636
Tue, 09 Jul 2019 16:28:00 +0200
Meseberg
Alle Themen
Sehr geehrter Herr Nuntius, sehr geehrte Exzellenzen, meine Damen und Herren, ich freue mich, Sie alle gemeinsam auf Schloss Meseberg begrüßen zu können, und heiße Sie ganz herzlich willkommen. Als wir uns im letzten Jahr hier trafen, habe ich davon gesprochen, dass wir in turbulenten Zeiten leben. Daran hat sich bis heute wenig geändert – denken wir allein an die vielen Konflikte in unseren Tagen, an die Abkehr von Vereinbarungen im Bereich der Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung oder an die Auseinandersetzungen in der Außenwirtschaft. Diese Beispiele zeigen auch, wie schnell Vertrauen, das oft über Jahre mühsam aufgebaut wurde, wieder eingebüßt werden kann. Deshalb möchte ich Sie ganz persönlich ansprechen, liebe Exzellenzen, denn Sie nehmen da eine Schlüsselrolle ein. Sie sind Botschafter, Vermittler, Anwalt und Repräsentant in einem. Auf vielfältige Art und Weise fördern Sie Austausch. Sie geben hierzulande Ihren Heimatländern ein Gesicht. Und umgekehrt zeichnen Sie bei sich zu Hause ein Bild von Deutschland. So prägen Sie die politischen genauso wie die gesellschaftlichen Beziehungen unserer Länder entscheidend mit. Die Bereitschaft und die Fähigkeit zu konstruktivem Dialog sind ein unschätzbarer Wert an sich. Ich denke, die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns dies mehr als deutlich gemacht. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und nach dem Zivilisationsbruch der Shoa, mit denen Deutschland, mein Land, unendlich viel Leid über Europa und die Welt gebracht hatte, hatten sich weitsichtige Frauen und Männer darangemacht, eine Ordnung des Friedens zu schaffen. Deutschland konnte einen neuen, festen Platz in der internationalen Staatengemeinschaft finden. Aus Kriegsgegnern wurden Verbündete, Partner und Freunde. All das wäre undenkbar gewesen ohne Vertrauen und ohne die Grundlage von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Auch der Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren, der den Weg zur Deutschen Einheit freigemacht hat, wäre niemals ohne das im steten Dialog aufgebaute Vertrauen denkbar gewesen, das Deutschland entgegengebracht wurde. Ohne Dialog und Vertrauen können auch heutige Herausforderungen nicht bewältigt werden. Aber mit Dialog und mit Vertrauen ist alles möglich. Denken wir allein an die Lösung des Namensstreits zwischen Nordmazedonien und Griechenland: Sie ist ein aktuelles Beispiel dafür, wie auch in über Jahrzehnte festgefahrenen Konflikten plötzlich Lösungen gefunden werden können. Dazu bedurfte es beharrlicher Vermittlung seitens der Vereinten Nationen, der Unterstützung durch die Europäische Union, aber besonders des Vertrauens, das sich der mazedonische Ministerpräsident Zoran Zaev und der bis gestern amtierende griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras gegenseitig zu schenken bereit waren. Über den Aufbau gegenseitigen Vertrauens ist also Fortschritt sowohl im jeweiligen nationalen Interesse als auch im europäischen oder sogar globalen Interesse möglich. Diese Haltung leitet auch die deutsch-französische Zusammenarbeit. Mit dem Aachener Vertrag, den wir im Januar dieses Jahres unterzeichnet haben, haben wir unsere gemeinsamen Vorstellungen zur Weiterentwicklung Europas zum Ausdruck gebracht. Im Normandie-Format setzen Deutschland und Frankreich auch ihre Vermittlungsbemühungen zur Lösung des Konflikts in der Ostukraine weiter fort. Es ist jede Anstrengung wert, das Leid der Zivilbevölkerung vor Ort zu lindern und dem Völkerrecht Geltung zu verschaffen, das auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten beruht. Mit Deutschland und Frankreich gab es außerdem erstmals in der Geschichte des UN-Sicherheitsrates eine sogenannte Zwillingspräsidentschaft. Während der zwei Monate dieser gemeinsamen Präsidentschaft konnte eine Resolution zur Prävention und Bekämpfung sexueller Gewalt in Konflikten verabschiedet werden. Dass in Zukunft Straftäter international besser verfolgt werden können, ist ebenfalls dem vertrauensvollen Zusammenwirken mehrerer Staaten zu verdanken. Breite Kooperationsbereitschaft und Vertrauen sind auch gefragt, wenn es gilt, in Afghanistan endlich dauerhaft Frieden und Stabilität schaffen zu können. Dank der Bemühungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der afghanischen Regierung beginnt die Arbeit für eine politische Befriedung Afghanistans langsam Gestalt anzunehmen. Ich hoffe, dass das innerafghanische Treffen am Sonntag, das Deutschland und Katar auf den Weg gebracht haben, weitere Bewegung in den Friedensprozess bringt. Vertrauen zu schaffen und Frieden zu stiften – wie langwierig und schwierig das ist, dafür gibt es leider viel zu viele Beispiele. So ist seit acht Jahren die Weltgemeinschaft Zeuge des furchtbaren Krieges in Syrien. Wir bleiben bei unserer Überzeugung: Nur ein politischer Prozess auf der Grundlage der Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats und unter dem Schirm der Vereinten Nationen ist geeignet, das Blutvergießen in Syrien zu beenden, Vertrauen aufzubauen, eine nationale Versöhnung einzuleiten und der syrischen Bevölkerung – und zwar sowohl vor Ort als auch einschließlich der ins Ausland geflohenen Syrer – die Möglichkeit zu geben, über die politische Zukunft ihres Landes in freien Wahlen selbst zu entscheiden. Gemeinsam mit den Vereinten Nationen und unseren internationalen Partnern wird sich die Bundesregierung weiterhin dafür einsetzen, den politischen Prozess voranzutreiben. Es geht leider nur millimeterweise voran. Dringend Fortschritt brauchen wir angesichts der katastrophalen humanitären Lage vor Ort auch im Jemen. Dazu gilt es, insbesondere die Arbeit des UN-Sondergesandten für Jemen zu unterstützen. Auch die Lage im Sudan bereitet uns Sorgen. Das Land befindet sich an einem Scheidepunkt. Mit der Bildung einer Übergangsregierung eröffnet sich nun hoffentlich die Chance, einen friedlichen Weg der Demokratie und wirtschaftlichen Entwicklung einzuschlagen. Das ist vor allem auch den Vermittlungsbemühungen der Afrikanischen Union und Äthiopiens zu verdanken. Dafür wirklich herzlichen Dank. Mit sehr großer Sorge aber blicken wir nach Libyen. Welche schrecklichen Entwicklungen mit dem andauernden Konflikt einhergehen, hat kürzlich der fürchterliche Angriff auf ein Lager mit afrikanischen Flüchtlingen und Migranten gezeigt, der zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert hat. Deutschland hat als UN-Sicherheitsratsmitglied den Vorsitz des Sanktionskomitees zu Libyen inne. Deutschland unterstützt die Bemühungen der Vereinten Nationen für einen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen sowie für den Wiedereinstieg in einen politischen Prozess. Dieser ist dringend notwendig, wie ich angesichts der derzeitigen Lage nur sagen kann. Durch externe Akteure gelangen viel zu viele Waffen nach Libyen. Deshalb muss es eine Umsetzung des Waffenembargos geben, um einer weiteren Eskalation entgegenzuwirken. Wir müssen alles daransetzen, dass es nicht eine Entwicklung gibt, wie wir sie nun seit Jahren in Syrien sehen. Die fragile Lage in Libyen hat auch Auswirkungen auf die Sicherheitslage in der Sahel-Region. Im Mai habe ich Mali, wo sich die Bundeswehr an der UN-Stabilisierungsmission MINUSMA beteiligt, sowie Niger und Burkina Faso besucht. In den Diskussionen dort gab es vollständige Einigkeit der Präsidenten darüber, dass der internationale Terrorismus nur mit vereinten Kräften zurückgedrängt werden kann. Die Sicherheitslage in dieser Region verschlechtert sich leider im Augenblick zum Teil dramatisch. Natürlich hängen Fortschritte bei der Sicherheit und der Stabilität der Region auch vom Eigenengagement der G5-Staaten ab. Gleichwohl können und sollten internationale Partner dabei Hilfestellung leisten. Mit vereinten Kräften ist es möglich, im Sahel zu mehr Stabilität und damit auch zu besserer Entwicklung zu gelangen. Denn zu Recht heißt es in der Präambel der Agenda 2030 der Vereinten Nationen: „Ohne Frieden kann es keine nachhaltige Entwicklung geben und ohne nachhaltige Entwicklung keinen Frieden.“ In der Tat ist Sicherheit eine grundlegende Voraussetzung für wirtschaftliche Prosperität, die wiederum hilft, einer Radikalisierung vorzubeugen. Deshalb sind sicherheitspolitisches und ziviles Engagement zwei Seiten einer Medaille. Aus europäischer Sicht ist es ein besonderes Anliegen, unseren Nachbarkontinent Afrika in seiner Eigenverantwortung für Sicherheit und Entwicklung zu unterstützen. Hierfür engagiert sich die Bundesregierung auf vielfältige Weise. Afrika insgesamt ist nicht nur reich an Rohstoffen, sondern vor allem ein innovativer Kontinent, weil so viele junge Menschen dort leben – ein Kontinent mit großen wirtschaftlichen Potenzialen; und diese müssen wir besser nutzen. Die geplante afrikanische Freihandelszone, wie sie auf der Konferenz der Afrikanischen Union in Niger verabredet wurde, kann der Schlüssel dazu sein. Allerdings sehen wir auch, dass in einigen Regionen Afrikas das Wirtschaftswachstum mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt hält und es nach wie vor zu viel Armut gibt. Zugleich werden einige afrikanische Länder mehr und mehr attraktive Wirtschaftspartner Deutschlands und Europas. Das gilt besonders für die Länder der Compact-with-Africa-Initiative, die wir im Jahr 2017 während der deutschen G20-Präsidentschaft ins Leben gerufen haben. Dass in diesen Ländern die ausländischen Direktinvestitionen in den letzten Jahren deutlich gestiegen sind, zeigt schon jetzt, wie wichtig der Compact with Africa ist. Daher werde ich mich auch in diesem Jahr wieder mit den Staats- und Regierungschefs der sogenannten CwA-Länder in Berlin treffen. Ich möchte sie darin bestärken, auf dem eingeschlagenen wachstumsfreundlichen Reformweg weiterzugehen. Wir wollen aber vor allen Dingen auch mit ganz konkreten Investitionsangeboten die wirtschaftliche Entwicklung voranbringen. Wir wollen aufrichtig auch darüber reden, wie wir einander besser unterstützen können. Die deutsche Wirtschaft sollte noch mehr in Afrika investieren – wir arbeiten daran. Deshalb wird parallel zu dieser Konferenz auch eine Investorenkonferenz stattfinden. Dieses Engagement fügt sich ein in das Gesamtbild einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit, die auf gegenseitigem Vertrauen aufbaut – und darauf, dass die Afrikaner selbst am besten wissen, was für die Entwicklung ihres Kontinents notwendig und richtig ist. In diesem Sinne hat die Bundesregierung auch ihre Afrikapolitischen Leitlinien weiterentwickelt, um unsere Partnerschaften zu stärken. Dazu nehmen wir unter anderem die Themen Digitalisierung und Innovation, Bildung und Ausbildung – dreimal unterstrichen –, Beschäftigung, Handel und Investitionen in den Blick. Auch die G20-Treffen nehmen die großen Zukunftsfragen in den Blick. Ihre Ergebnisse sind jedoch leider nicht immer vollends überzeugend. So haben wir beim letzten G20-Treffen in Osaka beim Klimaschutz wieder nur ein 19:1-Ergebnis und in Handels- und Migrationsfragen nur einen Minimalkonsens erreicht. Dennoch möchte ich der japanischen Präsidentschaft für ihre unendlichen Bemühungen ganz herzlich danken. Beim Thema Künstliche Intelligenz konnten immerhin gemeinsame Prinzipien zur verantwortungsvollen Entwicklung und Nutzung dieser Technologie verabschiedet werden. Auch zur Reform der WTO hat sich die G20 in Osaka noch einmal bekannt. Hierbei geht es vor allem um vergleichbare Wettbewerbsbedingungen, um mehr Transparenz und um eine effektive Streitbeilegung. Mit dem WTO-Handelssystem gemeinsame Spielregeln zu haben, ist für unsere Volkswirtschaften, die über internationale Wertschöpfungsketten miteinander verbunden sind, von größter Bedeutung. Denn Entscheidungen und wirtschaftliche Entwicklungen der einen haben immer auch Auswirkungen auf die Volkswirtschaften der anderen. Das spüren wir hautnah. Daher ist und bleibt der multilaterale Ansatz in der Handelspolitik der beste aller Wege für die Weltwirtschaft insgesamt. Im Sinne eines regelbasierten, fairen und freien Handels unterstützt Deutschland auch die Europäische Union darin, bilaterale und regionale Handelsabkommen abzuschließen. Mit den Mercosur-Staaten wurde kürzlich ein Abkommen vereinbart, das den weltweit größten Freihandelsraum mit 780 Millionen Einwohnern schafft. Ich bin fest davon überzeugt, dass Unternehmen, Arbeitnehmer und Verbraucher in Europa und Südamerika gleichermaßen davon profitieren werden. Dass die Vereinbarung zwischen der EU und dem Mercosur auch ein Bekenntnis zum Pariser Klimaschutzabkommen enthält, verdeutlicht, dass uns weit mehr als ausschließlich wirtschaftliche Beziehungen verbindet. Wir können die großen Menschheitsherausforderungen letztlich nur gemeinsam bewältigen. Mit Blick auf alle globalen Herausforderungen – Klima, Armut, Hunger, Krankheiten, Zugang zu Bildung, digitale Revolution – kann gar nicht oft genug betont werden, dass das nationale Wohl in unserer vielfach vernetzten Welt immer auch vom globalen Gemeinwohl abhängt. Mehr denn je müssen wir also multilateral statt unilateral, weltoffen statt isolationistisch, global statt national, gemeinsam statt allein denken und vor allen Dingen auch so handeln. Es gibt so viele gute Beispiele, die zeigen, was Vertrauen zwischen den Staaten bewirken kann, wie sinnvoll und im Wortsinne notwendig – nämlich die Not wendend – internationale Kooperation ist. Ein besonderes Beispiel hierfür ist der sogenannte Vertrag über den Offenen Himmel. In seinem Rahmen teilen sich von Vancouver bis Wladiwostok 34 Vertragsstaaten ein Beobachtungsflugzeug, mit dem jährlich jeder Vertragsstaat eine bestimmte Anzahl vereinbarter Beobachtungsflüge im Luftraum anderer Vertragsstaaten umsetzen kann. Bei diesen Flügen kommen Sensoren für Foto-, Radar- und Infrarotaufnahmen sowie digitale Sensoren zum Einsatz. Erst im Juni hat Deutschland ein neues Flugzeug dafür bereitgestellt. Alle Beobachtungsflüge werden kooperativ mit Vertretern der beobachtenden und der beobachteten Staaten durchgeführt. Der Staat, der überflogen wird, hat dabei auch eigenes militärisches Personal an Bord. Der Vertrag sorgt damit nicht nur für Vertrauen und kooperative Sicherheit, sondern trägt auch konkret zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung bei. Meine Damen und Herren, der berühmte deutsche Naturforscher Alexander von Humboldt, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 250. Mal jährt, war der festen Überzeugung, dass alles Wechselwirkung sei. Er war außerdem der Ansicht: „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.“ Sie hingegen, die Sie in diplomatischen Diensten stehen, schauen die Welt an. Sie bauen Kontakte auf. Sie erklären Standpunkte und vermitteln zwischen Standpunkten. Sie helfen mit, das Vertrauen aufzubauen und zu festigen, das unerlässlich ist für ein gutes Miteinander. Ich bin dankbar dafür, dass Sie uns als Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Das sage ich auch im Namen der gesamten Bundesregierung, von der viele Mitglieder hier sind: der Chef des Kanzleramts, die Staatsministerin aus dem Auswärtigen Amt, der Staatsminister aus dem Kanzleramt, die Parlamentarische Staatssekretärin aus dem Entwicklungsministerium und noch ein Parlamentarischer Staatssekretär und und und; das ist hier ja ein Überbietungswettbewerb. Wenn der Minister außer Haus ist, können die Parlamentarischen Staatssekretäre auch ein bisschen reisen; das ist schön. Natürlich sind auch Abteilungsleiter aus dem Kanzleramt und verschiedenen Ministerien hier. Wir alle freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit mit Ihnen. Vielen Dank und noch einmal ein herzliches Willkommen.
Rede von Staatsministerin Grütters beim Bauhaus-Dinner im Getty Research Institute
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-gruetters-beim-bauhaus-dinner-im-getty-research-institute-1648636
Sun, 07 Jul 2019 20:00:00 +0200
Im Wortlaut
Los Angeles
Kulturstaatsministerin
Kultur
So sehr ich mich freue, „100 Jahre Bauhaus“ mit Ihnen zu feiern: Ich bin froh, dass uns beim heutigen Bauhaus-Dinner ein „Bauhaus-Menü“ erspart bleibt. In kulinarischer Hinsicht nämlich soll die Experimentierfreude der Bauhaus-Meister – vorsichtig formuliert – wenig Erinnerungswürdiges hervorgebracht haben… . So lästerte einst der New Yorker Journalist und Schriftsteller Tom Wolfe in seiner amüsant zu lesenden Polemik „From Bauhaus to Our House“ über das vom Bauhaus kultivierte „sinnliche Entzugskoma“ im Allgemeinen und die Essgewohnheiten der Bauhäusler im Besonderen. Ich zitiere: „During one stretch at Weimar, the Bauhaus diet consisted entirely of a mush of uncooked bresh vegetables. It was so bland and fibrous they had to keep adding garlic in order to create any taste at all.” Der Strahlkraft der Bauhaus-Ideen hat das offensichtlich nicht geschadet. Das Bauhaus wirkte gerade in den USA stilbildend und zukunftsweisend – und hat umgekehrt enorm von künstlerischen Entwicklungen im Ausland, auch in den USA, profitiert. Man denke nur an das Prinzip „Form follows function“, das mit dem Bauhaus um die Welt ging: Es wurde 1896 von einem amerikanischen Architekten, von Louis Sullivan, formuliert. Einfluss hatten auch Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt, die zum Studium ans Bauhaus kamen. Umgekehrt trug nicht allein die zwangsweise Emigration zahlreicher Bauhauslehrer und -schüler in die USA vor und während des Zweiten Weltkriegs zur Verbreitung der Bauhaus-Ideen jenseits des Atlantiks bei. Bauhäusler aus Deutschland waren zuvor vielfach in ferne Länder gereist, um sich dort neue Impulse zu holen. Kurz und gut: Es war eine von Dialog und Austausch, von Neugier und Offenheit, vom Zusammenwirken unterschiedlicher Perspektiven geprägte Arbeitsweise, die aus einer Weimarer Reformschule eine weltweite „Werkstatt der Moderne“ werden ließ. Die vielfachen Wechselwirkungen zwischen künstlerischen Entwicklungen in den USA und Deutschland offenbart auch die Ausstellung am Getty Institute mit mir bisher unbekannten Schätzen aus der Frühphase des Bauhauses, die mich sehr beeindruckt hat. Herzlichen Dank für die interessante Führung, liebe Frau Casciato. Das Getty Institute, ein wichtiger Kooperationspartner insbesondere der Berliner Museen, hat schon in der Vergangenheit mit Leihgaben für Ausstellungen in Europa immer wieder dazu beigetragen, die verschlungenen Pfade wechselseitiger Inspiration sichtbar zu machen – erst vor kurzem beispielsweise im Rahmen der Ausstellung „Bauhaus und Amerika. Experimente in Licht und Bewegung“ in meiner Heimatstadt Münster. Ihnen, lieber Herr Whalen, stellvertretend für das gesamte Getty-Team dafür herzlichen Dank! Im Bauhaus einen brodelnden Schmelztiegel der Ideen aus unterschiedlichen Ländern zu erkennen, ist nicht nur für Kunsthistoriker aufschlussreich. Gerade in einer Zeit, in der populistische Politiker vielerorts gegen Multikulturalismus und Weltoffenheit hetzen und eine – auch kulturpolitische – Rückbesinnung auf das Nationale fordern, gerade in diesen Zeiten ist es wichtig und notwendig, sichtbar zu machen, wie sehr Ideen und Impulse aus unterschiedlichen Welten die eigene Kultur bereichert haben. Das Bauhaus bezeugt, dass es unterschiedliche Perspektiven braucht, um die Welt neu zu denken und zu verändern – eine Erkenntnis, die im Übrigen nicht nur zum besseren Verständnis des Bauhauses, sondern auch zum besseren Verständnis des gesellschaftlichen Fortschritts insgesamt beiträgt. In diesem Sinne, meine Damen und Herren, ist das Bauhausjubiläum eine großartige Chance, einem breiten Publikum zu vermitteln, dass viele Ideen des Bauhauses nach wie vor relevant sind für eine freie und weltoffene Gesellschaft. Deshalb stellt die deutsche Bundesregierung im Jubiläumsjahr insgesamt rund 57 Millionen Euro zur Kofinanzierung dreier Museumsneubauten in Weimar, Dessau und Berlin zur Verfügung und fördert ein facettenreiches Jubiläumsprogramm deutschland-und weltweit. Im Mittelpunkt steht dabei die Vielfalt teils widersprüchlicher künstlerischer und gesellschaftlicher Konzepte und Experimente, mit denen die Bauhäusler sowohl die Welt der Formen neu denken als auch eine geistig und moralisch bis ins Mark erschütterte Welt neu gestalten wollten. Es ist eine Vielfalt mit Licht und Schatten: eine Vielfalt, in der nicht nur kosmopolitische, sondern auch rassistische Kräfte, nicht nur liberale, sondern auch fundamentalistische Kräfte, nicht nur progressive, sondern auch reaktionäre Kräfte, nicht nur idealistische, sondern auch opportunistische Kräfte am Werk waren. Man denke nur an jene Bauhäusler, die nach 1933 zu Kollaborateuren des NS-Regimes wurden. Der Auseinandersetzung mit solchen Ambivalenzen und Widersprüchen innerhalb der Bauhaus-Vielfalt Raum zu geben, ist im Jubiläumsjahr ebenso wichtig die Vergegenwärtigung und Vermittlung seiner revolutionären gestalterischen Ideen und seiner gesellschaftlichen Utopien. Nicht zuletzt, meine Damen und Herren, konfrontiert uns das Bauhaus-Jubiläum auch mit der Frage, wie weit es denn eigentlich heute her ist mit der Bereitschaft, die Freiheit und Autonomie der Kunst zu respektieren. Deutschland hat die Freiheit der Kunst als Lehre aus der nationalsozialistischen Diktatur aus gutem Grund in den Verfassungsrang erhoben. Doch die Freiheit, kritisch und unbequem sein zu dürfen, erfordert die Bereitschaft einer Gesellschaft, die damit gelegentlich auch verbundenen Zumutungen auszuhalten. Natürlich müssen Künstlerinnen und Künstler sich Kritik gefallen lassen; natürlich darf und muss es kontroverse Debatten geben. Doch eine Kunst, die sich festlegen ließe auf die Grenzen des politisch Wünschenswerten, eine Kunst, die den Absolutheitsanspruch einer Religion oder Weltanschauung respektierte, die gar einer bestimmten Moral oder Politik diente – eine solchermaßen begrenzte oder domestizierte Kunst würde sich nicht nur ihrer Möglichkeiten, sondern auch ihres Wertes berauben. Die Bauhäusler haben mit Mut zum Experiment provoziert und polarisiert, sie haben der Lethargie der Einfallslosen den Enthusiasmus der Fantasie entgegen gesetzt. Sie haben gezeigt, was Kunst zu leisten imstande ist. Nicht zuletzt deshalb feiern wir 100 Jahre Bauhaus unter dem Motto „Die Welt neu denken“, und ich hoffe, dass dieses Jubiläum nicht nur in Deutschland, sondern – mit 2.000 Veranstaltungen weltweit – auch im Ausland, auch in den USA zum Mit-Denken verführt. Herzlichen Dank, dass Sie dazu beitragen, verehrte Damen und Herren!
In ihrer Rede betonte Kulturstaatsministerin Grütters die transatlantische Verbundenheit und sagte: „Es war eine von Dialog und Austausch, von Neugier und Offenheit, vom Zusammenwirken unterschiedlicher Perspektiven geprägte Arbeitsweise, die aus einer Weimarer Reformschule eine weltweite „Werkstatt der Moderne“ werden ließ“.
Rede von Staatsministerien Grütters bei der Diskussionsveranstaltung „Aufsteigende Angst“ im Thomas-Mann-House.
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerien-gruetters-bei-der-diskussionsveranstaltung-aufsteigende-angst-im-thomas-mann-house–1648314
Fri, 05 Jul 2019 15:00:00 +0200
Im Wortlaut
Los Angeles
Kulturstaatsministerin
Kultur
Vermutlich gibt es in der Filmgeschichte nur wenige Gespräche, die so verlaufen sind wie ein Telefonat zwischen Werner Herzog und dem Schauspieler Klaus Kinski vor mehr als 40 Jahren. Sie, lieber Herr Herzog, haben darüber einmal in einem Interview Folgendes erzählt, ich zitiere: „Als ich ihm (Klaus Kinski) das Drehbuch […] schickte, rief er mich drei Tage später um drei Uhr in der Früh an. Vierzig Minuten lang hörte ich nur unartikuliertes Schreien. Irgendwie filterte ich dann zwei Dinge heraus: Erstens: Es ist Kinski. Zweitens: Er schreit, weil er noch nie ein Skript dieses Kalibers gelesen hat. Nach etwa einer Stunde sagte ich zu ihm: Herr Kinski, es freut mich, Sie an Bord zu haben.“ Die wenigsten Künstlerinnen und Künstler pflegen einen solchen – nun ja, sagen wir: – expressiven Stil, um ihrer Begeisterung Ausdruck zu verleihen. Aber das Gefühl, elektrisiert zu sein von einer großartigen Idee – dieses Gefühl treibt wohl die meisten Künstlerinnen und Künstler an. Daraus erwächst der Mut zum Experiment, der Künstlerinnen und Künstler auszeichnet: eine verwegene Kühnheit, die einerseits immer das Risiko des Scheiterns mit einschließt, die andererseits aber auch Grenzen sprengen und die Welt verändern kann. Nicht umsonst fürchten jene, die ihre Macht dem bösen Spiel mit der „aufsteigenden Angst“ vor der Vielfalt einer weltoffenen Gesellschaft verdanken, ihrerseits nichts so sehr, wie die gewaltigen Kräfte der Kunst: ihre Fähigkeit zu berühren; ihre Kraft, Schweigen und Tabus zu brechen; ihr Vermögen, die Sehnsucht nach einem anderen Leben, nach einer besseren Welt zu wecken; ihren Ehrgeiz, Revolutionen im Wahrnehmen, Denken und Fühlen anzustoßen. Ich freue mich, heute mit Ihnen darüber zu diskutieren, wie wir mit diesen Qualitäten die Demokratie verteidigen können – ganz im Geiste dieses in neuem Glanz erstrahlenden Hauses, das Debatten über grundlegende Themen der Gegenwart und Zukunft im transatlantischen Dialog eine Bühne bietet, ganz im Sinne Thomas Manns, der als einer von insgesamt rund 130.000 bis 140.000 deutschsprachigen Flüchtlingen während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in die USA kam und – wie viele andere Künstlerinnen und Künstler – im amerikanischen Exil die schmerzlich vermisste künstlerische Freiheit wiederfand. Das Klima „aufsteigender Angst“ in Deutschland vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten beschrieb Thomas Mann eindringlich schon 1930 in seiner Rede mit dem Titel „Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft“, ich zitiere: „Dennoch gibt es Stunden, Augenblicke des Gemeinschaftslebens, wo (…) der Künstler von innen her nicht weiter kann, weil unmittelbarere Notgedanken des Lebens den Kunstgedanken zurückdrängen, krisenhafte Bedrängnis der Allgemeinheit auch ihn auf eine Weise erschüttert, dass die spielend leidenschaftliche Vertiefung ins Ewig-Menschliche, die man Kunst nennt, (…) zur seelischen Unmöglichkeit wird.“ Thomas Mann hielt diese Rede, begleitet von Tiraden und Tumulten der SA, am 17. Oktober 1930 in Berlin. Als er seine Gedanken über die „seelische Unmöglichkeit“ der Kunst in Zeiten „krisenhafter Bedrängnis der Allgemeinheit“ zu Papier brachte, stand er unter dem Eindruck eines von Fanatismus und Nationalismus aufgeheizten gesellschaftlichen Klimas in Deutschland. Den Mut, den er 1930 in seinem öffentlichen „Appell an die Vernunft“ bewies, muss in unseren Ländern heute zum Glück niemand an den Tag legen, um an die Vernunft zu appellieren und demokratische Werte zu verteidigen. Und doch wäre es ebenso trügerisch wie gefährlich anzunehmen, dass die Demokratie keine Verteidiger braucht. In Deutschland haben wir aus zwei Diktaturen – aus der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten und aus dem kommunistischen Regime in der DDR – eine Lehre gezogen, die da lautet: Kritik und Freiheit der Kunst sind konstitutiv für eine Demokratie. Aus diesem Grund haben wir die Freiheit der Kunst in den Verfassungsrang erhoben. Sie zu sichern, ist oberster Grundsatz unserer Kulturpolitik in Deutschland. Deshalb finanzieren verschiedene Ebenen des Staates – Kommunen, Länder und Bund – die Kultur auskömmlich: um sie unabhängig zu machen von Interessen, vom Zeitgeist, vom Markt. Denn frei ist die Kunst dann, wenn sie weder dienen noch gefallen muss – wenn sie sich weder der Logik des Marktes beugen, noch in den Dienst eines politischen Anliegens, einer Weltanschauung oder Ideologie stellen muss. Wo Künstlerinnen und Künstler nicht gefällig sein müssen, wo sie irritieren und provozieren, den Widerspruch und den Zweifel kultivieren dürfen, beleben sie den demokratischen Diskurs und sind so imstande, unsere Gesellschaft vor gefährlicher Lethargie und unsere Demokratie vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu bewahren. Nicht zuletzt aus unserer historischen Verantwortung heraus darf es uns in Deutschland auch nicht gleichgültig sein, wenn eine Diktatur des Zeigbaren und Sagbaren Künstlerinnen und Künstler in anderen Ländern in die Selbstzensur zwingt oder gar ins Gefängnis bringt. Deshalb finanziert die Bundesregierung beispielsweise das „Writers in Exile“-Programm, das wir gemeinsam mit dem deutschen PEN 1999 ins Leben gerufen haben. Es gewährt verfolgten Schriftstellerinnen und Schriftstellern vorübergehend Zuflucht und eröffnet ihnen künstlerische Freiheiten, die es in ihren Heimatländern nie gab oder nicht mehr gibt. Darüber hinaus unterstützen wir auch das „Journalists in Residence“-Programm des Europäischen Zentrums für Presse- und Meinungsfreiheit für verfolgte Journalistinnen und Journalisten. Für die zivilisatorische Wende nach den barbarischen Verbrechen in deutschem Namen steht insbesondere unser Grundgesetz, unsere Verfassung, deren 70-jähriges Bestehen wir im Mai gefeiert haben. Über die Jahrzehnte haben wir Deutschen Freiheit und Demokratie schätzen und lieben gelernt, meine Damen und Herren. Die USA haben alles in ihrer Möglichkeit Stehende getan, um uns dabei zu helfen: sei es mit Rat und Tat beim Aufbau eines liberalen, pluralistischen und demokratischen Rechtsstaats; sei es als Garant der Freiheit in den Jahrzehnten des Kalten Krieges bis zum Fall der Mauer, der sich am 9. November dieses Jahres zum 30. Mal jährt; sei es durch Unterstützung bei der deutschen Wiedervereinigung, der deutschen Einheit in Freiheit. All das werden wir unseren amerikanischen Freunden niemals vergessen! Als überzeugte Transatlantikerin bin ich zuversichtlich, dass das Wertebündnis für Freiheit und Demokratie, das über die Jahrzehnte zwischen Deutschen und Amerikanern geschmiedet wurde, auch eine Präsidentschaft unter dem Motto „America first“ überdauert … . Die Diplomatie der Kunst kann dazu beitragen, gerade dann, wenn die Kunst der Diplomatie an ihre Grenzen stößt. Kunst kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Kunst kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht. Kunst kann unseren Werten jenseits argumentativer Auseinandersetzung Gehör verschaffen. Ich jedenfalls glaube an die Kraft der Kunst: Künstlerische Vielfalt ist auf Dauer stärker als populistische Einfalt – und zwar dank jener verwegenen Kühnheit, für die (um nur ein Beispiel zu nennen) Ihr unvergesslicher Film „Fitzcarraldo“, lieber Werner Herzog, zur filmischen Metapher geworden ist. „Fitzcarraldo“, meine Damen und Herren, erzählt die Geschichte eines Kautschuk-Barons, der ein Opernhaus in einer kleinen Stadt mitten im Dschungel bauen lassen will und dafür wegen der Stromschnellen einen Amazonasdampfer über einen Berg wuchten lässt. Werner Herzog weigerte sich bekanntlich stur, dafür ein Modellschiff aus Plastik über einen Studiohügel ziehen zu lassen. Ein wirklicher Dampfer über einen wirklichen Berg im wirklichen Dschungel musste es sein – und er setzte sich damit durch! Ein vierzig Meter langes, dreihundert Tonnen schweres Schiff mit Flaschenzügen und Seilwinden einen Steilhang hochziehen zu lassen, ist nicht jedermanns Sache. Doch ich bin sicher: Gerade mit jenem kompromisslosen Wahnsinn, den es braucht, um mit einem Schiff über einen Berg zu kommen, kann Kunst auch Berge versetzen – selbst bei „aufsteigender Angst“. Geben wir ihr dafür den nötigen Freiraum!
In ihrer Rede sagte Kulturstaatsministerin Grütters: „In Deutschland haben wir aus zwei Diktaturen – aus der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten und aus dem kommunistischen Regime in der DDR – eine Lehre gezogen, die da lautet: Kritik und Freiheit der Kunst sind konstitutiv für eine Demokratie“.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Diskussionsveranstaltung zum Thema „Fotoarchive – Kulturgut oder Handelsware?“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-diskussionsveranstaltung-zum-thema-fotoarchive-kulturgut-oder-handelsware–1642978
Mon, 01 Jul 2019 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Herzlich willkommen zu unserer heutigen Diskussion über den Umgang mit dem Vermächtnis herausragender Fotografinnen und Fotografen! Eine bessere Vorberichterstattung für diese Veranstaltung hätte ich mir wahrlich nicht wünschen können: Kürzlich wurde bekannt, dass der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in diesem Jahr erstmals an einen Fotografen – an Sebastião Salgado – verliehen wird. Wenn es noch eines Belegs für die herausragende Rolle der Fotografie in unserer Gegenwart bedurft hätte – diese Nachricht wäre dafür bestens geeignet. „Er hat unsere Augen klüger gemacht“, war ein Kommentar dazu in der Berliner Zeitung überschrieben, und das gilt für alle herausragenden Fotografinnen und Fotografen: Sie machen unsere Augen klüger. Klüger machen wird uns hoffentlich auch die heutige Diskussion, meine Damen und Herren. Die Frage eines angemessenen Umgangs mit den Vor- und Nachlässen herausragender Fotografinnen und Fotografen ist zwar nicht neu; denn Initiativen dafür gab es auch schon früher: Dennoch kann von einem systematischen Schutz des fotografischen Kulturerbes in Deutschland nach wie vor keine Rede sein. Die Fotografie hat – insbesondere im Vergleich zur Literatur – erheblichen Nachholbedarf. Während die Nachlässe etwa der Schriftstellerinnen und Schriftsteller schon seit Ende des 19. Jahrhunderts – seit der Gründung des ersten deutschen Literaturarchivs in Weimar – Aufnahme in einem dichten Netz nationaler, regionaler und lokaler, staatlicher wie teilweise auch privater Archive finden, ist der Umgang mit den Vor- und Nachlässen bedeutender deutscher Fotografinnen und Fotografen in jüngerer Zeit überhaupt erst zu einem kulturpolitischen Thema geworden. Ja, die Fotografie ist nicht nur eine vergleichsweise junge, sondern auch eine vielfach immer noch unterschätzte Kunstsparte – und das, obwohl die künstlerische wie auch die dokumentarische Fotografie „unsere Augen klüger macht“ und – im wahrsten Sinne des Wortes – das Gedächtnis unserer Gesellschaft abbildet. Hier geht es also nicht nur um die spezifischen Interessen einer Berufsgruppe, sondern um ein öffentliches Interesse: Es liegt im Interesse der Allgemeinheit, die Nachlässe bedeutender Fotografinnen und Fotografen als bildhaftes Gedächtnis unserer Gesellschaft zu bewahren. Darüber eine breite kulturpolitische Debatte zu führen, ist nicht nur deshalb wichtig, weil es viel über die Verfasstheit einer Demokratie aussagt, wie ein Land mit seinem kulturellen Erbe und mit dem Vermächtnis seiner großen Künstlerinnen und Künstler umgeht. Zur Diskussion über den Schutz und Erhalt des fotografischen Kulturerbes habe ich auch deshalb eingeladen, weil es sich dabei um eine Gemeinschaftsaufgabe handelt – weil es also nicht die eine Instanz gibt, an die sich diese Herausforderung delegieren ließe. Nur wenige Fotografen kümmern sich selbst um eine langfristige Sicherung ihres Archivs – vorbildlich zum Beispiel Michael Schmidt, dessen Bilder ich gerade erst in Rom in der Villa Massimo habe bewundern können. Hier wurde bereits 1999 die Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt gegründet. Die Museen – Sachverwalter des materiellen Kulturerbes – wiederum sind allein schon aus Gründen räumlicher Beschränktheit überfordert mit kompletten Künstlernachlässen. Sie verfügen in der Regel auch nicht über die finanziellen Mittel, die spezialisierten Kenntnisse und technischen Voraussetzungen, um mit dem hochsensiblen Material arbeiten zu können. Auch Kunsthändler und Galeristen eignen sich als Garanten für den Schutz des fotografischen Kulturerbes nur bedingt. Am Kunstmarkt wächst derzeit zwar das Interesse an Archiven und Nachlässen. Zahlreiche international agierende kommerzielle Galerien haben in kurzer Zeit bereits komplette Bestände bildender Kunst aufgekauft. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch fotografische Archive Ziel dieses Interesses werden. Doch damit droht Kulturgut von nationaler Bedeutung unwiderruflich verloren zu gehen. Hinzu kommt: Am Kunstmarkt ist der Marktwert eines Künstlers, einer Künstlerin entscheidend; doch schützenswert und bewahrenswert ist nicht nur das, was einen Marktwert hat. „Das ist häufig der Lauf der Avantgarden“, schrieb der Schriftsteller Martin Mosebach über eine der spät entdeckten und publizierten Schrift Gustave Flauberts, „- aus den ausweglosen Verzweiflungen missverstandener Einzelgänger geboren zu werden, um nach hundert Jahren in den Strom der offiziellen Kultur einzumünden.“ Ja, so mancher Künstler ist seiner Zeit voraus, so manches Werk erfährt erst spät die verdiente Anerkennung – das gilt nicht nur für die Literatur. Kurz und gut: Es wird Zeit, dieses Thema endlich auf die bundeskulturpolitische Agenda zu setzen. Ich kann und will dem drohenden Verlust wertvollen Kulturgut jedenfalls nicht tatenlos zusehen; ich will und werde für eine zentrale Einrichtung eintreten, die das künstlerische Erbe herausragender deutscher Fotografinnen und Fotografen bewahrt. Natürlich sichern Einrichtungen des Bundes – zum Beispiel auch die AdK, in der wir heute beisammen sitzen – die Bestände herausragender Mitglieder; und erfreulich ist auch, dass das Museum für Fotografie hier in Berlin die wunderbaren Bestände der Kunstbibliothek präsentiert. Doch ist es nicht auch Aufgabe des Bundes, die künstlerische Fotografie, das Werk bedeutender Fotografinnen und Fotografen ebenso zu schützen wie Werke der Literatur oder der Musik? In der Schweiz, in Frankreich, Österreich und in den Niederlanden haben sich längst nationale Einrichtungen für die Archive, Vor- oder Nachlässe zeitgenössischer Fotografinnen und Fotografen etabliert. Droht die Bundesrepublik Deutschland hier im internationalen Vergleich dazu den Anschluss zu verlieren? Könnte ein Institut für Fotografie dieses Defizit beheben? – …ein Institut, das systematisch Archive, Vor- oder Nachlässe herausragender deutscher Fotografinnen und Fotografen sammelt, das eine Spezialbibliothek zur Fotografie und ihrer Geschichte einrichtet, das Ausstellungen ermöglicht und eventuell interdisziplinäre und internationale Forschungsprojekte anregt und realisiert? Das sind Fragen, die ich heute in der Hoffnung auf Rat und Unterstützung an unser hochkarätig besetztes Panel richten möchte. Warum diese Fragen so wichtig sind, hat ein Dichter – Durs Grünbein – in treffende Worte gefasst, ich zitiere: „Nur Photographie vermag das in solcher Deutlichkeit und Differenziertheit: Zivilisation in lauter lebendigen Tableaus auf den Punkt zu bringen. Gute Photographie versetzt uns in einen Zustand dauernder visueller Alarmbereitschaft, sie arbeitet an einem Gefühl für die Kostbarkeit des gemeinsamen Augenblicks“ Dafür, meine Damen und Herren, sollten wir der zeitgenössischen Fotografie den Rang einräumen, der ihr unter den anderen Kunstsparten gebührt. Ich hoffe, dass die heutige Veranstaltung dazu beiträgt und freue mich auf eine angeregte Diskussion und inspirierende Debattenbeiträge.
In ihrer Rede thematisierte Staatsministerin Grütters die Frage der systematischen Bewahrung des fotografischen Kulturerbes in Deutschland. „Es liegt im Interesse der Allgemeinheit, die Nachlässe bedeutender Fotografinnen und Fotografen als bildhaftes Gedächtnis unserer Gesellschaft zu bewahren“ sagte Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim 10. Kulturpolitischen Bundeskongress „KULTUR.MACHT.HEIMATen“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-10-kulturpolitischen-bundeskongress-kultur-macht-heimaten–1645790
Thu, 27 Jun 2019 10:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Vielleicht geht es einigen unter Ihnen ähnlich: Noch vor den Begrüßungsworten meiner beiden Vorredner war ich auf das Tagungsthema „Kultur macht Heimat(en)“ irgendwie eingestimmt. Denn in katholischen Akademien – zumal wenn ein so wunderbarer Kirchenraum das Herz des Tagungszentrums bildet – fühle ich mich immer gleich ein wenig „wie zuhause“. Ich bin in Münster in einem religiösen Elternhaus aufgewachsen, und der katholische Glaube hat nicht nur meine Kindheit geprägt. Die Atmosphäre in katholischen Einrichtungen wecken bei mir deshalb gute Erinnerungen, und ja: auch Heimatgefühle. Wenn Sinneseindrücke die Vergangenheit wachrufen und eine vertraute Welt entstehen lassen, sprechen Wissenschaftler vom „Proust-Effekt“. Denn niemand wusste das literarisch eindrücklicher zu schildern als der Namensgeber dieses Phänomens. In seinem berühmten Roman „Auf der Suche nach der Verlorenen Zeit“ schildert Marcel Proust wie der Geschmack der Madeleines Combray, den Ort der Kindheit auferstehen lassen, ich zitiere: „die Leutchen aus dem Dorfe und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung (…) die Stadt und die Gärten“ steigen „deutlich und greifbar“ auf „aus seiner Tasse Tee“. Diese Erinnerung an Combray bildet dann den Ausgangspunkt eines gewaltigen Romanepos. Heimat und Herkunft bilden auch den Ausgangspunkt einer jeden Biografie. Heimat und Herkunft haben auf deren Fortschreibung, haben auf die Erzählung unseres Lebens einen prägenden Einfluss, sie bleiben immer Teil unserer Existenz. „Ich bin, also heimate ich“, so hat es Hölderlin einmal ausgedrückt. Dennoch ist „Heimat“ ein Begriff, der viele Interpretationen und Projektionen, der unterschiedliche Deutungen und Vereinnahmungen zulässt. Er steht für Verbundenheit, und dennoch spaltet er. Er verspricht Zugehörigkeit, und wird doch als Mittel der Ausgrenzung missbraucht. Eben deshalb, meine Damen und Herren, dürfen wir die Deutungshoheit über diesen Begriff nicht den Rechtspopulisten und Rechtsextremen überlassen. Eben deshalb ist es wichtig, dass wir – wo auch immer wir uns im demokratischen Spektrum verorten – darüber diskutieren, was uns Heimat bedeutet, wie wir sie verstanden wissen und gestalten wollen. Ich bin Ihnen deshalb sehr dankbar – lieber Herr Dr. Knoblich, lieber Herr Dr. Sievers, liebe Frau Neundlinger und verehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kulturpolitischen Gesellschaft – dass Sie Ihren 10. Kulturpolitischen Bundeskongress gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung der Frage nach der Heimat bzw. den „Heimaten“ widmen. Sie haben dazu ein Kongressprogramm auf die Beine gestellt, das inspirierende Debatten verspricht, und deshalb freut es mich sehr, dass ich den Kongress mit Mitteln aus meinem Kulturetat finanziell unterstützen und damit auch das zehnte Jubiläum des Kongresses würdigen kann, das mit einem Generationenwechsel einhergeht: Sie, lieber Herr Dr. Sievers, gehen nach 37-jähriger Tätigkeit bei der KuPoGe, zuletzt als deren Hauptgeschäftsführer und Direktor des Instituts für Kulturpolitik (IfK), in den Ruhestand. Haben Sie vielen Dank für Ihren unermüdlichen kulturpolitischen Einsatz. Ihnen, lieber Herr Dr. Knoblich, der Sie im November 2018 als neuer Präsident angetreten sind, wünsche ich alles Gute und viel Erfolg und freue mich auf die Zusammenarbeit. In diesem Sinne will ich zur Eröffnung des Kongresses gerne einige kulturpolitische Denk- und Diskussionsimpulse beisteuern und die Bedeutung der Kultur und der Kulturpolitik als Beitrag zur Selbstvergewisserung einerseits wie auch zu Weltoffenheit andererseits unterstreichen. Herzlichen Dank für die Einladung. KULTUR.MACHT.HEIMATen: Der Tagungstitel bringt auf den Punkt: Heimat ist kein festumrissenes Gebiet, keine unverrückbare Tradition. Und Heimatverbundenheit erschöpft sich weder in Brauchtumspflege, noch beschreibt sie Folklorekitsch oder gar Bierzeltgeselligkeit. Ob wir mit Heimat einen Ort, ein Gefühl, eine Landschaft benennen, ob wir uns auf Familie, Sprache oder eine andere Art von Gemeinschaft beziehen − all jene persönlichen Verortungen, all diese Erfahrungsräume können Heimat, können HeimatEN bieten. Für viele ist Heimat der Ort der Herkunft, vielleicht weil er in Kindertagen einen Kosmos der Geborgenheit bot, sicherlich jedoch, weil er für etwas Vertrautes, weil er für Halt und Verlässlichkeit steht. Auch die germanische Wortwurzel „haima“ verweist ja auf den Herkunftsort – das Dorf, die Stadt, die Region, die Gemeinschaft, aus dem wir stammen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass gerade in diesen Zeiten, in denen der scharfe Wind der Globalisierung weht, in denen Bindungen an Stabilität verlieren und der Pluralismus unserer Gesellschaft längst nicht mehr nur das Straßenbild Berlin-Neuköllns prägt, sondern auch die Städte abseits der Metropolregionen, dass gerade in diesen Zeiten das Bedürfnis nach Heimat wächst: das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Zugehörigkeit, nach geistigen und kulturellen Wurzeln. Denn die Vielfalt der Kulturen, Religionen, Lebensentwürfe und Weltanschauungen in einem weltoffenen Deutschland und in einer globalisierten Welt kann manchmal ebenso beängstigend und verstörend sein, wie sie zweifellos inspirierend und bereichernd ist. Vielfalt ist nicht nur Gewinn. Vielfalt bleibt eine Herausforderung – für manche ist sie sogar eine Bedrohung. Wir erleben deshalb im Moment, dass die Bereitschaft zur Toleranz schwindet – und damit das Lebenselixier einer pluralistischen Demokratie und eines in Vielfalt geeinten Europas: die Bereitschaft, andere Meinungen und Lebensweisen zu respektieren; die Bereitschaft, den anderen zu ertragen, und sei es schlicht als Gegenüber in einer sachlichen Auseinandersetzung; die Bereitschaft zur Verständigung mit Andersdenkenden auf der Basis konstruktiven Streitens. All dies schadet der Demokratie, die auf Verständigung gründet. Was heißt das für die Kulturpolitik? Es bedeutet, dass Kulturpolitik für eine weltoffene Gesellschaft auch Selbstvergewisserung und Heimatverbundenheit fördern sollte. Denn nur wer das Eigene kennt und wertschätzt, kann auch dem Fremden Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen. Klarheit darüber, was uns ausmacht als Deutsche und auch als Europäer, ist deshalb Voraussetzung für Toleranz und Verständigung. Umgekehrt kann mit dem Mangel an Heimatverbundenheit ein Stück Identität verloren gehen. Das befördert Radikalismus und Fundamentalismus. Oder, um es noch einmal mit Proust zu sagen: „man wird frömmlerisch, aus Angst nichts zu sein.“ Aus diesen Gründen verstehe ich es als eine zentrale Aufgabe der Kulturpolitik, zur gesellschaftlichen Selbstvergewisserung beizutragen. Dafür stehen beispielsweise die bundesgeförderten Museen. Ein Gedicht sei immer die Frage nach dem Ich, hat Gottfried Benn einmal gesagt – und man könnte ergänzen: Ein Museum ist immer die Frage nach dem Wir. Museen sind kollektives Gedächtnis und Bewusstsein. Sie machen gemeinsame Erinnerungen, Werte, Perspektiven auf die Welt sichtbar, sie machen damit auch Heimat erfahrbar und stiften Identität. Sie spiegeln und prägen unser Selbstverständnis, und im Idealfall regen sie als Orte öffentlicher Debatten zur gesellschaftlichen Selbstverständigung an. Das gilt nicht nur für Museen, sondern auch für Theater, Kinos und andere Kulturorte. Deshalb ist es so wichtig, die kulturelle Grundversorgung auch abseits der Großstädte sicher zu stellen, zumal mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland heute in Kleinstädten und Dörfern lebt. Und deshalb arbeiten wir, arbeitet die BKM gemeinsam mit den Ländern und Kommunen daran, Kultur in ländlichen Regionen zu stärken und setzen damit unser Engagement der vergangenen Jahre fort. Das im Koalitionsvertrag angekündigte Förderprogramm „Kultur in ländlichen Räumen“ leistet dazu mit 10 Millionen Euro aus dem Bundesprogramm Ländliche Entwicklung einen wichtigen Beitrag. Die aus meinem Kulturetat finanzierte Kulturstiftung des Bundes fördert darüber hinaus das Programm „TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel“. Von 2015-2024 stehen insgesamt rund 22,8 Millionen zur Verfügung, um Verbesserungen der kulturellen Infrastruktur in ländlichen Regionen, die in besonderer Weise vom demografischen Wandel geprägt sind, zu unterstützen. Im Rahmen des Programms „Investitionen für nationale Kultureinrichtungen in Ostdeutschland“ stellt die BKM außerdem jährlich vier Millionen Euro für Erhalt und Erneuerung bedeutender Kultureinrichtungen in den strukturschwachen ostdeutschen Ländern zur Verfügung. Dieses Programm soll ab 2020 aufgestockt und auf alle Länder ausgeweitet werden. Darüber hinaus versuchen wir, durch etliche Bundeskulturpreise für Theater, Kinos, Musikclubs und Buchhandlungen das großartige Netz „geistiger Tankstellen“ aufrecht zu erhalten und kulturell herausragenden Kulturorten mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu verschaffen. Mit einem neuen Programm wollen wir künftig dazu beitragen, dass auch das Kino als Kulturort attraktiv bleibt. Wichtig sind mir auch die stark in den Regionen verankerten soziokulturellen Zentren, die mit ihren generationenübergreifenden und interkulturellen Angeboten die Teilhabe unterschiedlicher sozialer Gruppen fördern. Mein Haus unterstützt deshalb die Bundesvereinigung Soziokulturelle Zentren e.V. als Dachverband mit mehr als 550 soziokulturellen Zentren. Den Fonds Soziokultur − den Sie, lieber Herr Dr. Sievers, so engagiert und kompetent führen – finanzieren wir mit jährlich 2 Millionen Euro. Sie fließen in Kulturprojekte vor Ort; die Mittel dafür konnten wir verdoppeln. Last but not least trägt auch die Pflege des immateriellen Kulturerbes in Deutschland gerade in ländlichen Räumen zur Heimatverbundenheit bei – zumal sie vom breiten zivilgesellschaftlichen Engagement getragen wird. Die aus meinem Etat finanzierte Geschäftsstelle Immaterielles Kulturerbe der Deutschen UNESCO-Kommission begleitet und koordiniert die bundesweiten Aktivitäten. KULTUR MACHT HEIMATen: Das gilt nicht nur mit Blick auf Identität und Selbstvergewisserung in einem regionalen Kontext, meine Damen und Herren. MACHT im besten Sinne, Macht im Sinne integrativer Kraft entfaltet die Kultur auch in Europa: Sie stiftet Zusammenhalt in Vielfalt, sie ermöglicht es, sich nicht nur in Regionen und Nationalstaaten, sondern auch in Europa beheimatet zu fühlen. Europa vereint rund 500 Millionen Menschen, die eine gemeinsame Geschichte, die gemeinsame Werte, eine gemeinsame geistige Heimat teilen. Daran erinnert nicht zuletzt das baukulturelle Erbe. Deshalb haben wir das vergangene Jahr als Europäisches Kulturerbejahr begangen: als Jahr der Verständigung über unsere europäischen Wurzeln und Werte, unterstützt und gefördert nicht nur von meinem Haus, von Bund und Ländern, sondern getragen von vielen leidenschaftlichen Europäerinnen und Europäern aus Politik und Zivilgesellschaft in ganz Europa, erlebbar in zahlreichen – Identität und Zusammenhalt stiftenden – Projekten und Initiativen. Die gemeinsame Herkunft sichtbar zu machen, auf die sich Menschen aus allen europäischen Ländern beziehen können, ist aus meiner Sicht das Beste, was wir für ein starkes, demokratisches Europa und für ein europäisches Heimatgefühl tun können. Denn Europas Puls schlägt laut und kräftig, wo die Herzen der Europäer für Europa schlagen. Und das wird letztlich nicht von der Höhe der Agrarsubventionen abhängen, und auch nicht allein von der Ausgestaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Es ist vielmehr unsere gemeinsame Kultur, die Herzen höher schlagen lässt – das, was Europa im Kern ausmacht: eine Kultur der Offenheit für Vielfalt, eine Kultur, zu der die großen humanistischen Traditionen von der Antike bis zur Aufklärung ebenso gehören wie das Christen- und Judentum und auch die gemeinsamen, leidvollen Erfahrungen von Krieg und Grausamkeit in der Geschichte der europäischen Staaten. Europa steht für eine zivilisatorische Errungenschaft, die sich nach dem unfassbaren Leid zweier Weltkriege und nach dem Grauen der nationalsozialistischen Barbarei vermutlich nicht einmal die visionären Unterzeichner der Römischen Verträge hätten träumen lassen. Wir Europäerinnen und Europäer haben es geschafft, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen und eben dadurch unterschiedlichen Kulturen und Religionen, Traditionen und Träumen, Lebensentwürfen und Weltanschauungen eine Heimat zu bieten. Europa als Heimat unterschiedlicher „Heimaten“: Diese Offenheit für Vielfalt macht Europa im Kern aus; ihr verdanken wir Freiheit, Frieden und Wohlstand, und die Kraft der Kultur ist dafür unverzichtbar. Kulturelle Förderprogramme wie „Creative Europe“ der EU tragen zur Kooperation und Verständigung in Kultur, Kreativwirtschaft und Medien bei. Deshalb bin ich froh, dass die KuPoGe das Creative Europe Desk Kultur trägt: Es setzt sich sehr verdienstvoll dafür ein, dass auch Deutschland an diesen EU-Förderungen partizipiert. Alles in allem, meine Damen und Herren, lässt sich das Verhältnis von Kultur und Heimat also als MACHT-Verhältnis im doppelten Sinne beschreiben: Kultur macht Heimat, als Satz geschrieben, beschreibt ihren Beitrag zur Selbstvergewisserung und Selbstverständigung einer Region oder einer Nation, in einer Gemeinschaft oder auch in der Europäischen Union. „KULTUR. MACHT. HEIMATen“, als drei Substantive geschrieben, unterstreicht die integrative Kraft der Kultur, die es ermöglicht der Vielfalt eine Heimat zu geben und Zusammenhalt auch über Trennendes hinweg – über unterschiedliche Herkunft, unterschiedliche „Heimaten“ hinweg – zu stiften. So führt Kultur Weltläufigkeit und Heimat in eins. Sie lädt dazu ein, über Heimat nachzudenken und die Rückbindung an die eigene Herkunft als Voraussetzung für eine gute gemeinsame Zukunft zu begreifen. „Zukunft braucht Herkunft“, so hat der Philosoph Odo Marquard einmal formuliert. Dafür braucht es politische Rahmenbedingungen, die die Freiheit der Kunst und die kulturelle Vielfalt garantieren – Rahmenbedingungen, die sicherstellen, dass Künstlerinnen und Künstler wie auch Kultureinrichtungen frei von politischer Einflussnahme und Bevormundung arbeiten können. Das ist heute – wie zuletzt bei der Europawahl deutlich wurde – keine Selbstverständlichkeit mehr. In vielen europäischen Ländern sind populistische Parteien auf dem Vormarsch und machen Stimmung gegen Demokratie, Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit. Die Bereitschaft, die Freiheit und Autonomie der Kunst zu respektieren – früher ein parteiübergreifender Grundsatz – scheint dabei vielerorts ins Wanken zu geraten. Künstlerinnen und Künstler wie auch Kultureinrichtungen sehen sich mit Anfeindungen konfrontiert, müssen im Extremfall gar um ihre Sicherheit fürchten. Ihnen Rückendeckung zu geben – nicht nur durch politische Rahmenbedingungen, sondern auch durch zivilgesellschaftliche Kräfte – ist deshalb heute wichtiger denn je. Ich hoffe, dass dieser 10. Kulturpolitische Bundeskongress dafür einmal mehr Motivation und Anregungen bietet. „Es geht nicht um Globalisierung oder Heimat, es geht darum, ob wir auch unter der Ägide der Globalisierung eine Heimat finden können“, so hat es Walter Leimgruber, Professor für Kulturwissenschaft an der Universität Basel, vor einiger Zeit in einem Beitrag für die Neue Zürcher Zeitung formuliert. Weiter heißt es darin: „Wir müssen unsere Gesellschaft so bauen, dass sie möglichst vielen Menschen Vertrauen, Sicherheit und Geborgenheit gibt. Denn Heimat ist nicht vergangene Idylle, sondern Utopie, Zuversicht für die Zukunft.“ Möge die Diskussion unter dem Motto „KULTUR. MACHT. HEIMAT(en)“ in diesem Sinne die Zuversicht für die Zukunft beflügeln! Dafür wünsche ich Ihnen, meine Damen und Herren, einen inspirierenden und ertragreichen Austausch!
Im Rahmen ihrer Rede zeigte die Ministerin die zunehmenden Tendenzen rechtspopulister Gefahren in Europa auf und erklärte: „Die gemeinsame Herkunft sichtbar zu machen, auf die sich Menschen aus allen europäischen Ländern beziehen können, ist aus meiner Sicht das Beste, was wir für ein starkes, demokratisches Europa und für ein europäisches Heimatgefühl tun können.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Jahrestagung der Humboldt-Stiftung am 26. Juni 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-jahrestagung-der-humboldt-stiftung-am-26-juni-2019-in-berlin-1641192
Wed, 26 Jun 2019 16:00:00 +0200
Berlin
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Sehr geehrter Herr Professor Pape, sehr geehrter Herr Professor Ziegler, liebe Humboldtianer, insbesondere auch liebe Preisträger, meine sehr geehrten Damen und Herren. Universalgelehrter, Genie, Weltenversteher und Weltenerklärer – keine Bezeichnung scheint zu hoch gegriffen, um die Ausnahmepersönlichkeit zu beschreiben, die Alexander von Humboldt zweifellos war. Sein 250. Geburtstag ist deshalb für mich zunächst ein überaus willkommener Anlass, Ihnen allen zu danken, die Sie im Namen Humboldts den Dingen unseres Lebens auf den Grund gehen und sich nicht scheuen, auch scheinbar Unmögliches zu denken. Genau damit bereiten Sie dem menschlichen Fortschritt den Boden. Und genau damit fügt sich Alexander von Humboldts 250. Geburtstag so wunderbar zusammen mit zwei weiteren wichtigen Jubiläen, die wir in diesem Jahr feiern können: mit dem 70. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland und dem 70. Geburtstag des Grundgesetzes, in dessen Artikel 5 es heißt: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“; und mit dem Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren. Hatte diese Mauer zuvor so viele Jahre die freie Selbstentfaltung und Selbstbestimmung der DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger begrenzt, so war mit einem Mal das Brandenburger Tor, das Tor zur Freiheit, offen. Meine Damen und Herren, es ist die Freiheit, die die wesentliche Triebkraft menschlichen Handelns und damit des Fortschritts war, ist und bleibt. Freiheit ermöglicht uns Menschen, neue Perspektiven zu gewinnen. Dazu gehört vorneweg die Freiheit der Forschung. Aus eigener Erfahrung, wenn auch schon lange zurückliegend, in der Physik, aber auch aus der Erfahrung in der Politik weiß ich, dass der Weg zu neuen Erkenntnissen über das stete Infragestellen bisherigen Wissens oder vermeintlicher Wahrheiten führt. Dieses Infragestellen setzt Freiheit voraus, die wiederum eine offene Diskussionskultur bedingt. Alexander von Humboldt selbst war ein überaus meinungsfreudiger, ein aufgeschlossener und weltoffener Mensch. Ihm war nicht nur das Denken in fachlichen Grenzen fremd, auch gesellschaftliche Ausgrenzungen missfielen ihm. So wurde er auf seinen Reisen durch Lateinamerika zu einem scharfen Kritiker des Kolonialismus und der Sklaverei. Ein Freigeist wie Humboldt ließ sich in seiner Forschungsarbeit nicht in ein Korsett zwängen. Das machte er zum Beispiel auch während seiner Russland-Reise klar, als er trotz Überwachung durch die staatliche Obrigkeit von der ihm vorgeschriebenen Route abwich. Natürlich gab es Spannungen zwischen Politik und Wissenschaft nicht nur zu Lebzeiten Humboldts. Es gibt sie auch heute. Und sie liegen durchaus auch in der Natur der Dinge, denn es treffen ja zwei Bereiche unserer Gesellschaft mit unterschiedlichen Beweggründen aufeinander. Strebt die Wissenschaft in der Regel danach, die Dinge in ihrer gesamten Komplexität verstehen zu wollen, um so das denkbar mögliche Optimum zur Lösung eines Problems herauszuarbeiten, so muss die Politik dagegen nach mehrheitsfähigen, also nachvollziehbaren, weithin akzeptierten und damit auch in die Praxis umsetzbaren Lösungen suchen. Doch gerade dieses Spannungsverhältnis zwischen Politik und Wissenschaft kann sich als einer der wichtigsten Motoren erweisen, die die demokratische Diskussionskultur mit antreiben. Denn auch wenn die Wissenschaft frei sein muss, so ist sie natürlich nicht frei von Verantwortung für unsere Gesellschaft, wie sich zum Beispiel in Fragen der Bioethik zeigt – sei es im Bereich der Gentechnologie oder der Humangenetik. Es ist immer wieder zu klären, ob alles, was aufgrund wissenschaftlicher Entdeckungen gemacht werden kann, auch tatsächlich gemacht werden soll. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Politik in vielen Fragen auf die Beratung und den Sachverstand der Wissenschaft angewiesen ist. Die Wissenschaft kann uns Politikern Orientierung vor politischen Entscheidungen bieten und neue Wege aufzeigen. Anschließend liegt es an der Politik zu entscheiden, ob sie diese Wege beschreiten will oder nicht – und falls ja, wie sie möglichst viele Menschen in unserer Gesellschaft dabei mitnehmen kann. So sind und bleiben beide, die Politik wie die Wissenschaft, im Rahmen ihrer jeweiligen Verantwortlichkeiten frei bei dem, was sie tun und was sie lassen. Das macht einen wesentlichen Kern der Demokratie aus. Wie anders sieht es dagegen aus, wenn die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre in Frage gestellt oder gar bedroht wird, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt sind oder sich zur Flucht gezwungen sehen? Ich freue mich deshalb, dass die Bundesregierung mit der Alexander von Humboldt-Stiftung die Philipp-Schwartz-Initiative ins Leben gerufen hat, die es sich zum Ziel gesetzt hat, gefährdete Forscherinnen und Forscher, die ihre Heimat verlassen müssen, zu unterstützen. Bisher konnten wir 160 Forschende aus verschiedenen Ländern fördern. Der Namensgeber dieser Initiative, Philipp Schwartz, erinnert an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, als Deutschland während des Nationalsozialismus unendlich viel Leid über Europa und die Welt gebracht hat. Auch Philipp Schwartz konnte nur überleben, weil er während des Nationalsozialismus Zuflucht in der Türkei fand. Mit der Philipp-Schwartz-Initiative zeigen wir, wie sehr sich unser Land heute der Wissenschaftsfreiheit verpflichtet fühlt. Freiheitliches und gemeinwohlorientiertes Denken muss überall Raum finden können. Das ist die Grundlage eines Fortschritts, der den Menschen und dem Gemeinwohl dient. Wer also Fortschritt im Sinne des Gemeinwohls will, muss Freiräume schaffen, muss Freiräume erhalten und sie aushalten – in der Forschung wie in der Lehre. Durch Kooperation lassen sich Freiräume noch vergrößern. Auch deshalb ist es so wichtig, dass wir offen dafür sind und offen dafür bleiben, Wissen über Grenzen hinweg auszutauschen, miteinander und voneinander zu lernen. „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.“ – Dieser Satz, meine Damen und Herren, wird Alexander von Humboldt zugeschrieben. Ich freue mich deshalb sehr, dass ganz im Sinne dieses Satzes die Alexander von Humboldt-Stiftung dazu einlädt, sich die Welt anzuschauen und dass sie seit 1953 den Austausch namhafter Forscherinnen und Forscher aus aller Welt fördert. Netzwerke von Forschenden – wir haben davon von Herrn Professor Ziegler gehört – sind heute als Lebensadern der Wissenschaft Teil der gelebten und gestalteten Globalisierung. Mit weltweit fast 30.000 Mitgliedern sticht das Humboldt-Netzwerk besonders hervor. Der Weltenbürger Alexander von Humboldt hätte gewiss seine Freude daran. Er allein beteiligte hunderte Wissenschaftler daran, Informationen und Gedanken zusammenzutragen – und das zu Zeiten, als es kein Telefon, keine E-Mail, kein Facebook oder Skype gab. Sein Entdecker- und Abenteuergeist führte Humboldt in die entlegensten Winkel der Welt. Deshalb wurde ihm auch bewusst, dass alle Prozesse auf dieser Welt letztlich Wechselwirkungen sind. So war für ihn das Denken in disziplinären wie auch in nationalen Grenzen geradezu widersinnig angesichts grenzüberschreitender Zusammenhänge. Eine solche Freiheit und Offenheit des Denkens ist letztlich auch die Basis unserer heutigen multilateralen Zusammenarbeit und unserer gemeinsamen globalen Verantwortung. Doch wir müssen feststellen, dass dieser multilaterale Ansatz seit geraumer Zeit immer wieder infrage gestellt wird. Das muss allen, die sich, wie schon Humboldt vor gut 200 Jahren, der Vielfalt globaler Wechselwirkungen bewusst sind, große Sorgen machen. Deshalb verstehen wir gerade vor diesem Hintergrund, welche Bedeutung Institutionen wie die Alexander von Humboldt-Stiftung mit ihren vielfältigen Initiativen und Förderprogrammen haben, die in der Lage sind, nicht nur Brücken innerhalb der Wissenschaft, sondern auch Brücken zwischen Gesellschaften und Kulturen zu bauen. Es sind ja gerade auch die Forschenden, die Hochschul- und Wissenschaftsinstitutionen, die Multilateralismus täglich leben – die es verstehen, die Zusammenarbeit nicht zuletzt auch zwischen Ländern zu pflegen, deren politische Beziehungen nicht unbedingt immer zum Besten stehen. Über Grenzen hinweg eng zusammenzuarbeiten – das ist für uns in Europa selbstverständlich. So haben wir eine gut vernetzte europäische Hochschullandschaft und mit „Horizont Europa“ ein ehrgeiziges Rahmenprogramm für Forschung und Innovation auch für die Jahre 2021 bis 2027. Zugleich ist es unser Anspruch als Europäer, auch über die Grenzen unseres Kontinents hinaus zu blicken und den Austausch mit Studierenden und Forschenden aus aller Welt zu suchen. Dabei wollen wir auch Regionen, zum Beispiel in Afrika, stärker einbeziehen, in denen die Möglichkeiten der Zusammenarbeit noch lange nicht ausgeschöpft sind. In Afrika leben heute 1,3 Milliarden Menschen. Diese Zahl wird sich voraussichtlich bis zum Jahr 2050 auf 2,5 Milliarden fast verdoppeln. Zudem ist Afrika ein junger Kontinent, denn mehr als 40 Prozent der Menschen dort sind jünger als 15 Jahre alt. Das heißt, es werden sehr schnell immer mehr Menschen ins erwerbsfähige Alter kommen und nach Arbeit suchen. Sie alle haben den berechtigten Anspruch, in ihrer Heimat eine gute Zukunft haben zu können. Gute Bildung gibt ihnen dazu den Schlüssel in die Hand. Daher hat die Bundesregierung mit der Aktualisierung ihrer „Afrikapolitischen Leitlinien“ im März auch die Möglichkeiten vertiefter Wissenschafts- und Hochschulkooperationen in den Blick genommen. Dabei müssen wir wirklich nicht bei null anfangen. Wir können vielmehr auf heute schon bestehenden Kooperationen deutscher Wissenschaftler mit Partnern in über 30 afrikanischen Ländern aufbauen. Hinzu kommen über 700 Hochschulkooperationen zwischen Deutschland und afrikanischen Ländern. Daran wollen wir anknüpfen und zum Beispiel auch Stipendienprogramme ausweiten und Alumni-Netzwerke weiter fördern. Meine Damen und Herren, ob in Afrika, Europa oder anderswo – Deutschland ist als Partner in der Welt der Wissenschaften nur so attraktiv, wie wir selbst wissenschaftliche Kompetenz haben. Auch deshalb ist es so wichtig, dass unser Land heute zu den fünf Ländern gehört, die weltweit am meisten für Forschung und Entwicklung aufwenden. 2017 haben wir, Wirtschaft und Staat zusammen, erstmals erreicht, dass drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung investiert wurden. Jetzt visieren wir als Ziel 3,5 Prozent an. Denn wir wissen, Israel, Südkorea und andere liegen heute schon über dem Drei-Prozent-Ziel. Ich darf Ihnen zusagen, dass der Bund für die Wissenschaft ein verlässlicher Partner ist und bleibt. Exzellenzstrategie, Hochschulpakt, Qualitätspakt Lehre, Pakt für Forschung und Innovation – allein an diesen Stichpunkten lässt sich ablesen, wie viel der Bundesregierung an der Leistungsfähigkeit des deutschen Wissenschaftssystems gelegen ist; und auch an der Berechenbarkeit für wissenschaftliche Einrichtungen. Dass wir eine Zeitachse bis 2030 gewählt haben, bedeutet ein hohes Maß an Berechenbarkeit. Natürlich ist ein recht gutes Verhältnis von Grundlagenforschung und angewandter Forschung von großer Bedeutung, denn wir sind uns sehr wohl bewusst, dass viele Errungenschaften unserer Zivilisation das Ergebnis jahrelanger grundlegender Forschung sind. Auch aktuelle wissenschaftliche Durchbrüche gehen auf die Grundlagenforschung zurück. Denken wir zum Beispiel nur an die sogenannten Gen-Scheren, mit denen HIV aus infizierten Zellen entfernt werden kann. Ihrem Namen verpflichtet, setzt die Alexander von Humboldt-Stiftung auf die Freiheit der Wahl der Forschungsthemen. Sie ist nicht nur in allen Disziplinen vertreten. Die Humboldt-Familie ist auch in über 140 Ländern zu Hause. Diese Weltoffenheit wirft zugleich ein gutes Licht auf den Wissenschaftsstandort Deutschland und darauf, dass wir hierzulande attraktive Arbeitsbedingungen und Karrierewege in der Wissenschaft anbieten können. Als Hightech-Land stehen wir mitten im Wettbewerb um Technologieführerschaften und im weltweiten Wettbewerb um kluge Köpfe. Daher kann ich es nur begrüßen, dass die Alexander von Humboldt-Stiftung immer wieder namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt für Deutschland gewinnt bzw. nach Auslandsaufenthalten wieder zurückgewinnt. Das liegt auch an der Alexander von Humboldt-Professur, die als Forschungspreis – auch im internationalen Vergleich – hoch attraktiv ist. Die Stiftung fördert jedes Jahr rund 2.000 Forschungsaufenthalte an deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Auch für den Nachwuchs – etwa für Postdoktoranden – gibt es zahlreiche Angebote. Und die Freie Universität ist ja offensichtlich auch mit dabei, wie die anderen Berliner Universitäten auch. Es gilt, sowohl jungen, vielversprechenden Talenten Freiräume zu bieten und Vertrauen zu schenken, damit sie schon in frühen Phasen ihrer Karriere ein Team leiten und kühne Ideen verfolgen können, als auch Wissenschaftlerinnen gleiche Chancen einzuräumen. Denn wir brauchen jedes Talent, um nicht zuletzt auch den uns möglichen Beitrag zur Bewältigung der großen Herausforderungen unserer Zeit leisten zu können. Das alles sind Herausforderungen, die kein Land alleine bewältigen kann. Beim Klimawandel zum Beispiel liegt das klar auf der Hand, Alexander von Humboldt zeichnete sich durch ein umfassendes Wissen um natürliche Zusammenhänge aus. So erkannte er, dass Eingriffe des Menschen in die Natur Lebensgrundlagen schädigen und das Klima beeinflussen können. Welche Dimensionen der Klimawandel und seine Folgen eines Tages annehmen würden, konnte er seinerzeit nicht vorhersehen, aber um die Zusammenhänge wusste auch er schon. Der aktuelle Bericht des Weltklimarats IPCC ist ebenso eindeutig wie alarmierend. Er macht deutlich, dass der Klimawandel und die Erderwärmung weiter voranschreiten. Gletscher schmelzen, Permafrostböden tauen auf, Meeresspiegel steigen. Daraus gilt es jetzt die notwendigen politischen Konsequenzen zu ziehen. Dabei sind wir einmal mehr auf wissenschaftliche Begleitung angewiesen, bei der es darum geht, intelligente klimafreundliche Maßnahmen, Instrumente und Technologien zu entwickeln und zu fördern und diese zugleich mit wirtschafts- und sozialpolitischen Anforderungen zusammen zu denken. Mit dem Klimaschutzplan 2050 hat die Bundesregierung einen Prozess eingeleitet, mit dem die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens in nationale Politik umgesetzt werden sollen. Wir wollen das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 erreichen. Der Weg dahin muss immer wieder neu überprüft und bewertet werden. Um die Politik hierbei zu unterstützen, haben wir eine Wissenschaftsplattform ins Leben gerufen. Bei allen Zielen ist die Frage zu beantworten: Mit welchen Maßnahmen lässt sich die notwendige CO2-Reduktion am besten erreichen? Zu dieser Frage hat die Bundesregierung verschiedene Gutachten in Auftrag gegeben. Die wissenschaftlichen Ergebnisse werden wir uns sehr genau anschauen und dann die notwendigen gesetzlichen Grundlagen noch in diesem Jahr erarbeiten. Meine Damen und Herren, neben dem Klimaschutz haben wir zahlreiche weitere große Aufgaben zu meistern: den demografischen Wandel, der das Bild ganzer Gesellschaften verändern und neue Herausforderungen mit sich bringen wird; weltwirtschaftliche Probleme und Finanzkrisen, die trotz aller Vorkehrungen nie ganz auszuschließen sind; die Bekämpfung von Volkskrankheiten, Epidemien und Antibiotikaresistenzen, die die Gesundheitssysteme weltweit auf den Prüfstand stellen; die digitale Revolution, die unsere Welt, die unsere Art zu arbeiten, zu kommunizieren, ja, zu leben tiefgreifend verändert. Vor allem die Künstliche Intelligenz ist es, die den weltweiten Wettbewerb in den letzten Jahren rasant beschleunigt hat. Deshalb verfolgt die Bundesregierung eine ehrgeizige KI-Strategie. Wir setzen auf Kooperation – zum einen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, um Forschungsergebnisse möglichst schnell zur Anwendung zu bringen, zum anderen auf Kooperation innerhalb der Wissenschaft. Wir werden unsere nationalen Forschungshubs, die KI-Kompetenzzentren, ausbauen und international vernetzen. Im Frühjahr haben wir einen Wettbewerb zum Aufbau von internationalen Zukunftslaboren gestartet. Damit sind Forscherinnen und Forscher aus aller Welt eingeladen, in Deutschland an der Lösung aktueller Forschungs- und Entwicklungsfragen im Bereich der Künstlichen Intelligenz mitzuarbeiten. Auch mit der Ankündigung, 100 neue KI-Professuren einzurichten, haben wir ein deutliches Zeichen gesetzt, wie wichtig uns das Thema ist. Da es nicht nur bei der Ankündigung bleiben soll, haben wir bereits entschieden, die Alexander von Humboldt-Professur für Künstliche Intelligenz ins Leben zu rufen. Hinzu kommt, dass der Einsatz Künstlicher Intelligenz in vielen Bereichen auch viele ethische Fragen aufwirft, die wir sehr, sehr ernst nehmen müssen. Dabei leitet uns, dass bei allen Entwicklungen immer der Mensch im Mittelpunkt der Überlegungen zu stehen hat. Auf dieser Grundlage können wir auch die Chancen erkennen und nutzen, die die Künstliche Intelligenz mit sich bringt. Wenn zum Beispiel maschinelle Mustererkennung Krebs deutlich zuverlässiger diagnostiziert oder wenn digitale Assistenten ein selbstbestimmtes Leben bis ins hohe Alter ermöglichen, dann verstehe ich das als Fortschritt, den wir uns zunutze machen sollten. Fest steht, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Technologiesprünge unser Leben und Arbeiten immer weiter verändern werden. Unsere Aufgabe dabei ist es, Risiken zu minimieren und Chancen zu erkennen und zu nutzen – Chancen für neue Arbeitsplätze und hohen Lebensstandard, Chancen für eine bessere medizinische Versorgung, für wirksamen Klima- und Umweltschutz, für moderne Mobilität und vieles andere mehr. Es sind unendlich viele denkbare Chancen, die die Neugier auf die Zukunft wecken und Forschung immer wieder antreiben. Für seinen unermüdlichen Forschungseifer fand Alexander von Humboldt selbst eine Erklärung. Ich möchte ihn noch einmal zitieren: „Wissen und Erkennen sind die Freude und die Berechtigung der Menschheit; sie sind Teile des Nationalreichtums; oft ein Ersatz für die Güter, welche die Natur in allzu kärglichem Maße ausgeteilt hat.“ – Zitatende. Und was, meine Damen und Herren, können wir heute von Alexander von Humboldt lernen? Auf diese Frage gab zum Beispiel der Humboldt-Forscher Andreas Daum zur Antwort – ich zitiere: „Humboldt litt unter der Explosion des Wissens, das ihm geradezu zerfloss unter seiner Schreibfeder. Also suchte er nach Auswegen – und bildete Netzwerke, kommunizierte viel, arbeitete nach Möglichkeit arbeitsteilig, setzte auf den Nachwuchs und lernte von den Jungen. Das sind moderne Strategien.“ So können wir uns auch heute in Wissenschaft und Forschung wie auch in der Politik vom Humboldtschen Ansatz leiten lassen, indem wir auf der Welt im Bewusstsein gemeinsamer Verantwortung gemeinsame Herausforderungen gemeinsam angehen und indem wir dementsprechend auf Vernetzung und Zusammenarbeit setzen und uns dabei von nationalen und fachlichen Grenzen nicht einengen lassen. Denn Humboldt zeigte sich überzeugt – ich zitiere ihn nochmals –: „Ideen können nur nützen, wenn sie in vielen Köpfen lebendig werden.“ Mit diesem Ansatz war Alexander von Humboldt für alle, die danach streben, komplexe Zusammenhänge besser zu verstehen, eine schier unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Das ist er auch heute – allen voran natürlich für die vielen Humboldtianer überall auf der Welt. Schon allein die lange Liste der 55 Nobelpreisträger in ihren Reihen flößt Ehrfurcht ein. Mit ihrer geballten wissenschaftlichen Exzellenz macht die gesamte Humboldt-Familie ihrem Namensgeber alle Ehre. Und so wünsche ich Ihnen, dass Ihr unermüdlicher Erkenntnisdrang Sie auch immer wieder zu neuem Erkenntnisgewinn führen möge. Alles Gute und vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit bei diesen hohen Temperaturen heute.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 37. Deutschen Evangelischen Kirchentag am 22. Juni 2019 in Dortmund
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-37-deutschen-evangelischen-kirchentag-am-22-juni-2019-in-dortmund-1640026
Sat, 22 Jun 2019 11:00:00 +0200
Dortmund
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Liebe Frau Präsidentin, liebe Ellen Johnson-Sirleaf, sehr geehrte Frau Limperg, sehr geehrte Frau Prof. Helmke, vor allem: liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kirchentags, natürlich bin ich heute sehr gerne hierhergekommen, ganz besonders, weil Ellen Johnson-Sirleaf hier ist. Wir können uns, glaube ich, als politische Freundinnen bezeichnen. Eine meiner bewegendsten Reisen nach Afrika war in der Tat die nach Liberia. Sie hat ja darüber gesprochen, was sie geleistet hat. Liebe Ellen, so, wie du gezeigt hast, dass der demokratische Wechsel in Liberia endlich zur Tagesordnung gehört, so ist das in Deutschland eben auch. Alles hat einen Anfang; und alles hat auch einmal ein Ende. Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer, der Evangelische Kirchentag wird in diesem Jahr 70 Jahre alt, so alt wie unser Grundgesetz. Es wird gebetet, musiziert und debattiert über das, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Dieser Zusammenhalt einer Gesellschaft kann ohne Vertrauen, ohne ein Mindestmaß an Vertrauen nicht gelingen. Überhaupt können keine Beziehungen ohne Vertrauen gelingen – nicht im Kleinen, nicht im Großen, nicht in der Familie, nicht in der Nachbarschaft; und so ist es eben auch zwischen den Völkern und Nationen. Deshalb könnten das Motto des Kirchentags „Was für ein Vertrauen“ und das Thema dieses Panels „Vertrauen als Grundlage internationaler Politik?“ kaum besser gewählt sein. Ich möchte aber gleich zu Beginn das Fragezeichen, das Sie beim Panelmotto gemacht haben, durch ein Ausrufezeichen ersetzen. Denn ohne Vertrauen als Grundlage kann internationale Politik nicht gelingen – jedenfalls nicht, wenn sie auf das Wohl der Menschen ausgerichtet sein soll. Ich glaube, die Rede von Ellen Johnson-Sirleaf hat das gezeigt. Gerade auch unser Land, Deutschland, sollte das wirklich nie vergessen. Unserem Land wird heute viel Vertrauen in der Welt geschenkt. Das grenzt eigentlich an ein Wunder, nachdem Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus mit dem von ihm entfesselten Zweiten Weltkrieg und dem Zivilisationsbruch der Shoa unendlich viel Leid über Europa und die Welt gebracht hatte. Es wäre nicht unwahrscheinlich gewesen, wenn sich Europa und die Welt nach dem Ende dieser Schrecken weiter unversöhnlich gegenübergestanden hätten. Aber stattdessen hat Europa jahrhundertealte Konflikte überwunden. Es entstand eine Ordnung des Friedens, die auf Gemeinsamkeit statt auf scheinbare nationale Stärke aufbaute, eine Ordnung, die den Menschen und seine Rechte schützen sollte, eine Ordnung, die Raum für neues, für ein begründetes und berechtigtes Vertrauen schuf, weil sie auf Zusammenarbeit und Verständigung, auf gemeinsamen Regeln und auf Kompromissen beruhte. Wir Deutschen können gar nicht dankbar genug sein, dass es damals starke Fürsprecher gab, die Deutschland den Weg zurück in die Weltgemeinschaft, den Weg in die Ordnung des Friedens geebnet haben. Heute dürfen wir als Deutsche auch sagen, dass die Fürsprecher für ein demokratisches Deutschland nicht enttäuscht wurden – zunächst mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland, für die vor 70 Jahren das Grundgesetz in Kraft trat; und nach dem Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren und der Wiedervereinigung vor 29 Jahren dann auch mit Blick auf das ganze wiedervereinte Land. Meine Damen und Herren, nach innen ist es der demokratische Rechtsstaat, der einer Vertrauensbeziehung zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und ihrem Staat Ausdruck verleiht. Das ist im Grunde ein Versprechen: der Rechtsstaat gibt Bürgerinnen und Bürgern eine Grundlage für Vertrauen in diesen Staat. Der DDR, die wie die Bundesrepublik vor 70 Jahren gegründet wurde, fehlte es an dieser Vertrauensbeziehung. Der Staat misstraute den eigenen Bürgerinnen und Bürgern so sehr, dass Persönlichkeits- und Freiheitsrechte immer wieder beschnitten wurden, dass ausspioniert wurde und dass eine Mauer errichtet wurde, weil man Angst hatte, dass sonst zu viele weggehen. Wer diese Mauer überwinden wollte, wurde verhaftet oder erschossen. Aber dann, als die Mauer vor 30 Jahren fiel, habe auch ich persönlich erlebt, dass nichts so bleiben muss, wie es ist. Das, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer, ist eine großartige Erfahrung, auch wenn damit nicht alle Probleme weg sind. Der Westen, die alte Bundesrepublik und ihre Partner, konnten schon in den ersten 40 Jahren nach dem Krieg an der anderen großartigen Erfahrung des 20. Jahrhunderts teilhaben: an der Erfahrung des europäischen Einigungsprozesses. Die europäische Einigung und mit ihr auch die transatlantische Partnerschaft wurden nur möglich, weil sie auf gemeinsamen Werten gründeten, weil aus Verständigung über gemeinsame Werte Vertrauen entstanden ist – und zwar nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch inmitten unserer Gesellschaft. Es kam zu Städtepartnerschaften, Schüleraustausch, Christinnen und Christen engagierten sich für die Aussöhnung der Völker. Denken wir nur an das Nagelkreuz von Coventry als Zeichen der Vergebung und des Friedens. Vertrauen war es auch, das aus Deutschen und Franzosen, den einstigen sogenannten Erbfeinden – ein schreckliches Wort –, Partner und Freunde machte. Einen wirklich echten Vertrauensvorschuss erhielten wir Deutschen von Israel, als 1952, nur sieben Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und der Shoa, das sogenannte Luxemburger Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel unterzeichnet wurde, und 1965 auch diplomatische Beziehungen aufgenommen wurden. Auch in Polen wurde neues Vertrauen gefasst. Dort besaßen zum Beispiel die katholischen Bischöfe die Kraft, 1965, mitten im Kalten Krieg, ihren deutschen Amtsbrüdern zu schreiben: „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“ Und schließlich wissen wir alle, dass die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit niemals möglich gewesen wäre, wenn die einstigen vier Alliierten in den Zwei-plus-vier-Verhandlungen 1990 uns Deutschen kein Vertrauen hätten schenken können. Natürlich fällt Vertrauen nicht vom Himmel. Es hängt entscheidend von der Glaubwürdigkeit von Persönlichkeiten ab – zum Beispiel von Staatsmännern wie Willy Brandt, Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher und so vielen anderen, die dazu beitrugen, das notwendige Vertrauen in Ost und West über viele, viele Jahre aufzubauen. In der Politik wie im ganz alltäglichen Leben beruhen Glaubwürdigkeit und Vertrauen vorneweg immer auf der unmittelbaren Begegnung. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es einen Riesenunterschied macht, ob ich mit meinen Amtskolleginnen und -kollegen telefoniere oder ob wir uns persönlich treffen – sei es zu bilateralen Begegnungen oder in der EU, der NATO, der UNO oder auch im Kreis der G7 und G20. Am kommenden Donnerstag werde ich nach Osaka in Japan fahren, zum nächsten G20-Gipfel. Das alles ist sicher nicht einfach; und trotzdem ist es wichtig, dass wir uns begegnen und um Vertrauen kämpfen. Ohne die Begegnungen mit Ellen Johnson-Sirleaf, auch in ihrem eigenen Land, hätte ich überhaupt keine Vorstellung davon, wie es dort ist. Vertrauen beruht eben auch auf der Kenntnis der Lebenswelt des anderen. Zugleich weiß ich aber auch, dass der, der Vertrauen genießt, natürlich auch Verantwortung hat. Dieser Verantwortung müssen wir jeden Tag gerecht werden. Wir tun das in der Überzeugung, dass kein Land allein die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen kann. Aber wir erleben im Augenblick – 70 Jahre nach Gründung all dieser Institutionen, die ja auch geschaffen wurden, um Vertrauen auszudrücken –, dass das Vertrauen in die internationalen Beziehungen an vielen Stellen abnimmt. Misstrauen wird mancherorts gar zur Regierungspolitik erklärt. Es wird erklärt, dass man sich nur auf sich und die eigenen Interessen konzentrieren soll. So werden vielfältige internationale Wechselwirkungen und gegenseitige Abhängigkeiten ignoriert. Mitverantwortung in globalen Fragen der Wirtschaft, des Klimaschutzes, der Migration wird vernachlässigt oder anderen überlassen. Kompromisse, Regeln, Verträge, internationale Organisationen werden infrage gestellt. Wir wissen nur zu gut, dass Protektionismus und Handelskonflikte den freien Welthandel und damit die Grundlagen unseres Wohlstands gefährden. Zugleich sehen wir, wie sehr die Digitalisierung alle Lebensbereiche erfasst, wie Kriege und Terrorismus zu Flucht und Vertreibung führen, wie der Klimawandel die natürlichen Lebensgrundlagen bedroht. Nichts davon kann ein Land allein – und sei es noch so stark, wirtschaftlich wie militärisch – bewältigen, jedenfalls nicht dauerhaft. Davon bin ich überzeugt. Allein die multilaterale Ordnung ist es, die die nötigen Handlungsmöglichkeiten zum Wohle aller schafft, die Verlässlichkeit und damit Vertrauen herstellen kann. Es sind die UN-Charta, die Menschenrechtspakte, das Klimaschutzabkommen von Paris, die Agenda 2030, Abrüstungsverträge, Handelsregeln der WTO und vieles mehr, die unserer Staatengemeinschaft insgesamt dienen und damit zum globalen Gemeinwohl beitragen und in der Folge auch den nationalen Interessen dienen. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Deshalb werde ich wieder und wieder dafür werben, dass wir multilateral statt unilateral, global statt national, weltoffen statt isolationistisch, gemeinsam statt allein denken und handeln. Genau diesem Ziel dienen auch zwei Gipfeltreffen, die noch in diesem Jahr stattfinden werden: der Klimagipfel und der Nachhaltigkeitsgipfel im September, veranstaltet vom Generalsekretär der Vereinten Nationen. Es wird dabei nicht reichen, vornehmlich über die bisherige Entwicklung Bilanz zu ziehen. Vielmehr müssen die Staats- und Regierungschefs von diesem Gipfel das Signal aussenden, dass sie ihre Anstrengungen verstärken und deutlich machen, dass wir besser werden müssen. Ich werde mich dafür einsetzen. Für uns – UN-Generalsekretär Guterres nimmt uns dafür auch in die Pflicht – heißt das mit Blick auf das Klimathema, dass wir in Deutschland bis 2050 Klimaneutralität erreichen können und erreichen werden. Das ist unsere Verpflichtung. Die Agenda 2030 und ihre 17 Nachhaltigkeitsziele – Hunger und Armut zu bekämpfen, Zugang zu sauberem Wasser, zu Gesundheit und Bildung zu schaffen und vieles andere mehr – müssen uns Verpflichtung sein, dass wir sie wirklich bis 2030 erreichen. Da liegt viel Arbeit vor uns. Ich freue mich sehr, dass Ellen Johnson-Sirleaf den „Compact with Africa“ erwähnt hat. Das ist etwas, das wir auch als „Ownership“ beschreiben, wenn nämlich die afrikanischen Länder ihre eigenen Pläne haben. Sie haben ihre Agenda 2063; und an dieser müssen wir uns orientieren. Wir dürfen nicht nur das machen, was wir richtig finden, sondern wir müssen das machen, was Afrika mit seinen Regierungen und mit seiner Zivilgesellschaft zu brauchen glaubt. Die Präsidentin hat uns eben erzählt, mit welchem Mut sie in Libera an die Dinge herangegangen ist und welche Schritte gegangen werden konnten. Auch unsere eigene Geschichte wie auch die Geschichte anderer Länder zeigen: Veränderungen zum Guten sind möglich. In welchem Land auch immer und in welcher Situation auch immer – wir haben die Kraft, Veränderungen zum Guten zu bewirken. Wir können die Erderwärmung stoppen, wir können den Hunger besiegen, wir können Krankheiten ausrotten, wir können den Menschen, besonders den Mädchen, Zugang zu Bildung verschaffen, wir können die Ursachen von Flucht und Vertreibung bekämpfen. Das alles können wir schaffen. Wir haben die Kraft, zu gestalten. Es ist eine Kraft, die wir Christinnen und Christen auch aus Gottvertrauen schöpfen können. Den Religionen insgesamt kommt für die Gestaltung des Miteinanders der Völker eine große Bedeutung zu. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass auch dieser Evangelische Kirchentag Vertrauen stiftet. Jetzt hoffe ich auf eine spannende Diskussion. Herzlichen Dank.
Rede von Staatsministerin Grütters anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Freunde der Akademie der Künste
am 19. Juni 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-gruetters-anlaesslich-des-20-jaehrigen-jubilaeums-der-freunde-der-akademie-der-kuenste-am-19-juni-2019-in-berlin-1640268
Wed, 19 Jun 2019 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
„Wenn ich mich für eins von beiden entscheiden müsste, wär’s mir, ehrlich gesagt, lieber, keine Freunde zu haben, als wahnsinnig langweilig zu sein. Weil, wenn man langweilig ist, hat man automatisch keine Freunde, oder nur Freunde, die noch langweiliger sind als man selbst.“ Das sind nicht meine Worte; das sind die Worte des Ich-Erzählers Maik aus Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“, einer wunderbaren Geschichte über Freunde und Freundschaft – ein Buch, das ich schon vielen guten Freunden geschenkt habe. Nach Maiks Logik darf ich gleich zu Beginn dieser Jubiläumsfeier festhalten: Wer solche Freunde hat wie die Akademie der Künste, wer einen so großen, illustren Freundeskreis um sich schart – „… und das seit 20 Jahren“- ist ganz bestimmt nicht langweilig. Schön, dass auch ich mich zu den Freunden der AdK zählen und heute den 20. Geburtstag dieses Freundeskreises mitfeiern darf! Vielen Dank für die Einladung, lieber Bernd Wieczorek! 20 Jahre, das ist eine vergleichsweise junge Freundschaft angesichts der über 300-jährigen Geschichte dieser renommierten Institution. Und doch haben Sie alle, liebe Freundinnen und Freunde der Akademie der Künste, seit der Gründung der Gesellschaft der Freunde im Jahr 1999 eine Menge bewegt – mit Rat und Tat und Ihren Mitgliedsbeiträgen. Publikationen und Ausstellungsvorhaben, Konzerte und Lesungen, Podiumsdiskussionen, Nachwuchsförderung und Erwerbungen für das Archiv – all das machen Sie seit 20 Jahren zuverlässig möglich. Sage und schreibe 2,6 Millionen Euro hat der Verein seit seiner Gründung an die Akademie der Künste überwiesen. Das ist ganz gewiss mehr als „nur“ ein Freundschaftsdienst: Das ist Beistand und Rückhalt, wie man ihn nur von guten Freunden erwarten kann. Obendrein ist die Gesellschaft der Freunde mit namhaften Unternehmen und Persönlichkeiten einer der einflussreichsten Freundeskreise hier in der Hauptstadt, und als solcher steht er der AdK nicht nur finanziell, sondern auch beratend und Strippen ziehend zur Seite. Dafür haben Sie, lieber Klaus Mangold und lieber Rolf Breuer, als erste Vorstände der Gesellschaft die Weichen gestellt, und dazu haben Ihre Nachfolger beigetragen – aktuell Du, lieber Bernd Wieczorek, der Du seit 2007 unermüdlich mit viel Elan als Vorstand im Einsatz bist. Große Anerkennung verdient auch Dein Engagement, lieber Peter Raue: Ohne Dich geht in Berlin ja sowieso fast gar nichts… als Rechnungsprüfer der Gesellschaft der Freunde hast Du von Anfang an neben Deiner juristischen Fachkompetenz auch Dein hervorragendes Netzwerk eingebracht. Dir und Ihnen allen, liebe Freundinnen und Freunde der Akademie der Künste, danke ich von Herzen für Ihr beispielhaftes Engagement für die Kunst. Sie alle haben dazu beigetragen, die Akademie der Künste zu einem kulturellen Leuchtturm mit Strahlkraft weit über Berlin hinaus zu machen: Ihr Archiv ist das bedeutendste Archiv zur Kunst des 20. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum mit über 1.200 Einzelbeständen und einer Kunstsammlung mit 70.000 Objekten. Sie betreut die Künstlerwohnungen von Bert Brecht, Helene Weigel und Anna Seghers sowie eine große Zahl an Kunstpreisen und Künstlerehrungen. Mit der Jungen Akademie, ihrem Stipendiatenprogramm, fördert sie Nachwuchskünstlerinnen und – künstler aus der ganzen Welt; mit ihrem Bildungsprogramm „Kunstwelten“ leistet sie beispielhafte kulturelle Bildungsarbeit. Diese wenigen Beispiele zeigen: Die Akademie der Künste ist eine Einrichtung, zu deren Freundinnen und Freunden man sich als Kunstliebhaber gerne zählt – eine Einrichtung von nationaler – und internationaler -Bedeutung. Deshalb wurde sie 2006 in die Trägerschaft des Bundes übernommen – eine enorme Bereicherung zweifellos in der Reihe der vom Bund getragenen Kultureinrichtungen, aber umgekehrt auch ein Ritterschlag für die Akademie der Künste. Ihre Strahlkraft, ihr Renommee verdankt sie nicht zuletzt auch dem Kreis ihrer engagierten Freundinnen und Freunde. Dieses Engagement brauchen wir heute mehr denn je, meine Damen und Herren, und damit meine ich nicht nur die finanzielle Unterstützung, das gewinnbringende Miteinander öffentlichen und bürgerschaftlichen Engagements, dem Deutschland sein dichtes Netz an Kultureinrichtungen verdankt. Ich meine damit auch und vor allen die ideelle Unterstützung: das Eintreten dafür, dass Einrichtungen wie die Akademie der Künste in Freiheit und Autonomie arbeiten können – frei von politischer Einmischung und Bevormundung. Wir haben gerade heute allen Grund, Institutionen wie die Akademie der Künste als Foren des öffentlichen Austauschs und der gesellschaftlichen Selbstverständigung zu schützen und zu stärken. In vielen Ländern in und außerhalb Europas sind populistische Parteien auf dem Vormarsch und machen Stimmung gegen Demokratie, Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit – und auch gegen Kultureinrichtungen, die das Fragen und den Zweifel kultivieren und auf diese Weise Diskussionen anstoßen. Die Bereitschaft, die Freiheit und Autonomie der Kunst und Kultur zu respektieren – früher ein parteiübergreifender Grundsatz – scheint dabei vielerorts ins Wanken zu geraten. Künstler und Kuratoren sehen sich mit Anfeindungen konfrontiert; im Extremfall müssen Künstler um ihre Sicherheit fürchten. Die Rückendeckung durch einen Kreis engagierter Unterstützerinnen und Unterstützer ist deshalb heute wichtiger denn je. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass Mäzene, Spender und Stifter hierzulande viele Millionen Euro geben, um Kultureinrichtungen zu unterstützen. Ohne dieses private bürgerschaftliche Engagement wäre die Kulturnation um ein Vielfaches ärmer. Doch nicht minder wichtig als das finanzielle Engagement ist ihre gesellschaftspolitische Wirkung: Freundeskreise vermitteln zwischen Kulturinstitutionen und der Öffentlichkeit, sie stärken Kultureinrichtungen den Rücken – auch gegen die Feinde kultureller Vielfalt und Autonomie. Darin will ich Sie bestärken, verehrte Freundinnen und Freunde der AdK. Denn damit erweisen Sie sich auch als Freundinnen und Freunde der Demokratie. „Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kunst“, hat Joseph Beuys einmal gesagt, und er hat dabei sicherlich nicht an die Weltrevolution gedacht, sondern an die kleinen Veränderungen im Denken und Wahrnehmen, die den großen gesellschaftlichen Veränderungen vorausgehen. Doch die Keime des im besten Sinne Revolutionären würden verkümmern, wenn sie nicht auf fruchtbaren Boden fielen. Vereine wie der Freundeskreis der Akademie der Künste eröffnen geistige und diskursive Resonanzräume, in denen die „revolutionäre Kraft“ der Kunst sich entfalten kann. Ja, Kunst und Kultur können Kräfte entwickeln, die jene der Politik und der Wirtschaft bisweilen übersteigen. Dafür, dass Sie diese Kräfte durch Ihre Freundschaft immer wieder anregen, beleben und stärken, dafür danke ich Ihnen von Herzen! Im Übrigen lässt Ihre Freundschaft für die Zukunft der Akademie der Künste nur das Allerbeste hoffen: Australische Forscher haben vor wenigen Jahren herausgefunden, dass es vor allem gute Freunde sind, die die Lebenserwartung erhöhen. Darauf will ich – in aller Freundschaft – heute mit Ihnen anstoßen: auf viele weitere erfolgreiche Jahre für die Akademie der Künste und ihren Freundeskreis! Herzlichen Glückwunsch zum 20. Freundschaftsjubiläum!
In ihrer Rede dankte Kulturstaatsministerin Grütters den Freundinnen und Freunden der AdK für ihre Spenden und ihr Engagement: „Sie alle haben dazu beigetragen, die Akademie der Künste zu einem kulturellen Leuchtturm mit Strahlkraft weit über Berlin hinaus zu machen: Ihr Archiv ist das bedeutendste Archiv zur Kunst des 20. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum mit über 1.200 Einzelbeständen und einer Kunstsammlung mit 70.000 Objekten“.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich der Buchvorstellung „Toleranz: Einfach schwer“ von Bundespräsident a.D. Joachim Gauck
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-der-buchvorstellung-toleranz-einfach-schwer-von-bundespraesident-a-d-joachim-gauck-1640230
Tue, 18 Jun 2019 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
„Wir können nur dann eine freie Gesellschaft haben, wenn wir in einem offenen Diskurs so etwas wie eine humane Übereinkunft oder zumindest eine Toleranz verschiedener Positionen erreichen“, sagte kürzlich der Autor Ilija Trojanow – einer der führenden, intellektuellen Köpfe unserer Zeit, der wie Du, lieber Joachim, sowohl die Zwänge eines repressiven Systems als auch die Vielfalt unterschiedlicher Kulturen kennen gelernt hat. Toleranz, meine Damen und Herren, ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie. Sie ist die Antwort auf die Vielfalt, die unser Land und die auch Europa ausmacht – mit seinen unterschiedlichen Regionen, Traditionen und Konfessionen, mit seiner durch Wanderung und Zuwanderung gewachsenen Heterogenität. Toleranz ermöglicht ein friedliches Miteinander über alle Unterschiede hinweg. Sie gehört seit dem Westfälischen Frieden zum Wesen der europäischen und der deutschen Kultur. Doch die Vielfalt der Kulturen, Religionen, Lebensentwürfe und Weltanschauungen kann manchmal ebenso beängstigend und verstörend sein, wie sie zweifellos inspirierend und bereichernd ist. Vielfalt ist nicht nur Gewinn. Vielfalt bleibt eine Herausforderung – für manche ist sie sogar eine Bedrohung. Deshalb hält die Toleranz der Menschen mit der zunehmenden Vielfalt unserer Gesellschaft nicht unbedingt Schritt. Wir erleben im Moment, dass die Bereitschaft zur Toleranz schwindet: die Bereitschaft, andere Meinungen und Lebensweisen zu respektieren; die Bereitschaft, den anderen zu ertragen, und sei es schlicht als Gegenüber in einer sachlichen Auseinandersetzung; die Bereitschaft zur Verständigung mit Andersdenkenden auf der Basis konstruktiven Streitens. All dies schadet der Demokratie, die auf Verständigung gründet, und es schadet damit auch der Freiheit. In einem offenen Diskurs so etwas wie eine „humane Übereinkunft zu erreichen“ (Ilija Trojanow), ist schwierig, ja unmöglich zwischen verhärteten Fronten – erst recht, wenn Ressentiments geschürt werden, wenn Hass und Hetze die Kluft zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen vertiefen, so wie es im Moment landauf landab zu beobachten ist. Dein Buch, lieber Joachim, kommt also ganz offensichtlich zu rechten Zeit, und die kontroverse Debatte, angestoßen von Deinen Interviews zum Buch am Wochenende, zeigt, dass Du mit Deiner Frage, wieviel Toleranz eine Demokratie einerseits braucht und andererseits vertragen kann, einen Nerv getroffen hast. Das Buch Joachim Gaucks, meine Damen und Herren, ist ein Plädoyer für eine recht verstandene Toleranz. Dazu beschreibt er 12 Aspekte der Toleranz, die den Kern des Buches ausmachen. Zentral dabei ist: Toleranz trägt einem Zwiespalt Rechnung. Da ist etwas, das ich nicht gut heiße, das mir zumindest fremd oder auch nur ungewohnt erscheint, aber trotzdem lasse ich es zu, bin ich bereit damit zu leben. Toleranz ist in Situationen gefragt, in denen sie Selbstüberwindung kostet, in denen ich über meinen eigenen Schatten springen und meine persönliche Komfortzone verlassen muss. Toleranz ist auch eine Herausforderung, das wird im Buch sehr deutlich: Wer die Freiheitsrechte ernst nimmt, muss gerade auch Dinge aushalten, die irritieren. Ja, tolerant zu sein, ist eine Zumutung – eine Zumutung, die Demokratie uns allen abverlangt, selbstverständlich auch denjenigen, die in den vergangenen Jahren erst hierher nach Deutschland gekommen sind. Niemand ist davon ausgenommen. Ein Beispiel, das Du anführst, lieber Joachim, sind die Mohammed-Karikaturen von Kurt Westergaard. Obwohl Du sie nicht magst, hast Du eine Laudatio auf den Künstler im Rahmen einer Preisverleihung zugesagt. Mir geht es oft ähnlich. Auch mir missfällt manches in der Kunst, sogar manches, das aus meinem Kulturetat gefördert wird, zum Beispiel, weil es meine religiösen Gefühle verletzt oder, weil ich es schlicht geschmacklos finde. Aber das muss der Einzelne, das muss eine Demokratie aushalten. Freiheit lebt ja nicht allein von der Verankerung im Grundgesetz. Sie lebt auch von der Bereitschaft einer Gesellschaft, die damit immer wieder auch verbundenen Irritationen und kontroversen Debatten auszuhalten. Denn Kunst, die sich festlegen ließe auf die Grenzen des politisch Wünschenswerten, die gar den Absolutheitsanspruch einer Ideologie oder Weltanschauung respektierte, die einer bestimmten Moral oder Politik diente – eine solchermaßen begrenzte oder domestizierte Kunst würde sich nicht nur ihrer Möglichkeiten, sondern auch ihrer Freiheit, ihres Wertes berauben. In eine ähnliche Richtung zielt das Kapitel unter der Überschrift: „Die Intoleranz der Guten: Wenn politische Korrektheit zum Problem wird“. Darin schreibt Joachim Gauck unter anderem über das Phänomen des „Betreuten Sprechens“ – eine schöne Bezeichnung für Bevormundung im Dienste einer Hyperkorrektheit. Wir alle kennen die Diskussionen über alltägliche Begriffe, die angeblich diskriminierend, zu wenig genderbewusst oder anderweitig ausgrenzend seien. Eva Menasse hat erst kürzlich in einem Interview mit der ZEIT ein schönes Beispiel für die „Sprachsäuberung“ und ihre Folgen beschrieben. Die Schriftstellerin meinte: „Kein Nazi wird verhindert, wenn Sie den ‚Negerkönig‘ aus Astrid Lindgrens Werk streichen. Aber Sie verhindern eine Diskussion mit ihren Kindern über Geschichte, über Sprachwandel und Rassismus“. Und tatsächlich, meine Damen und Herren, wenn sprachliche Überkorrektheit nur noch der Gewissensentlastung dient und echtes Nachdenken verhindert, dann hat sie ihr Ziel klar verfehlt. Über diese anschaulichen Beispiele hinaus hat mich persönlich vor allem überzeugt, lieber Joachim, dass Du die Janusgesichtigkeit der Toleranz – Lebenselixier freiheitlicher Demokratien einerseits und Zumutung des in Freiheit gedeihenden Pluralismus andererseits – vor dem Hintergrund Deiner eigenen Erfahrungen beschreibst und damit Verbindung zur Lebenswelt Deiner Leserinnen und Leser herstellst. Es ist dieses Zugehen auf Menschen, das Ernstnehmen von Gefühlen, Einstellungen und Lebenswirklichkeiten, das Dich, lieber Joachim, auszeichnet – und das wir von Dir als Bundespräsident und als Pfarrer kennen – und ich persönlich auch von Dir als Freund. So lässt Du Deine Leser Anteil daran haben, wie Du Deine persönliche Toleranzgrenze erfahren hast, als Du nach 1989 als „Neubürger in der Freiheit“ – wie Du es nennst – mit dem Fremden „gefremdelt“ hast. Du beziehst Dich dabei auf Migranten oder diejenigen, die Du mitten in Berlin als solche wahrnahmst, aber auch auf den offenen Umgang mit Homosexualität. Im Buch heißt es, ich zitiere: „Konfrontiert mit der Vielfalt in einer freien, offenen Gesellschaft sagte mir mein Kopf: Das ist Pluralität, und Pluralität braucht Toleranz. Mein Gefühl hinkte aber hinterher – im Vertrauten fühlte ich mich sicherer.“ In urbanen Milieus mag es Menschen geben, die dafür – aus welchen Gründen auch immer – kein Verständnis haben, doch kaum jemand, meine Damen und Herren, wird Joachim Gauck, der seine Weltoffenheit und Weltläufigkeit nicht zuletzt als Bundespräsident unter Beweis gestellt hat, ernsthaft unterstellen können, er mache sich im Eingeständnis seiner Verunsicherung angesichts des Unbekannten mit den populistischen Verächtern demokratischer Vielfalt gemein. Im Gegenteil: Er öffnet dem Leser, der Leserin damit eine Tür, sich mit eigenen Ängsten differenziert auseinander zu setzen – und das ist allemal besser, als diese Gefühle der Bewirtschaftung durch Populisten zu überlassen, die daraus politischen Profit für ihre Angriffe auf Demokratie, Freiheit und Pluralismus, für Hass und Hetze gegen Andersdenkende, Andersglaubende und Anderslebende ziehen. Besonders deutlich wird dies, wenn Joachim Gauck in seinem Buch die Ereignisse im Spätsommer und Herbst 2015 analysiert, als viele Menschen aus Syrien, Afghanistan und anderen Staaten zu uns nach Deutschland kamen. Ängste hatten damals in der öffentlichen und medialen Diskussion kaum bis gar keinen Platz. Umso mehr Wasser spülten sie auf die Mühlen populistischer Demokratieverächter, umso mehr Nahrung lieferten sie dem Misstrauen gegenüber Politik und Medien! Im Buch ist von einer „Repräsentanzlücke“ die Rede, und tatsächlich verdankt die AfD ihre Wahlerfolge – da gebe ich Joachim Gauck recht – nicht primär der Verunsicherung in der Bevölkerung, sondern der fehlenden demokratischen Auseinandersetzung mit den Gründen für diese Verunsicherung. Ängste zu thematisieren, die Gründe zu beleuchten und sich auch mit den Risiken und Zumutungen gesellschaftlicher Vielfalt auseinanderzusetzen, ist unverzichtbar – allein schon deshalb, weil wir diese Ängste wie auch das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung ansonsten den Nationalisten und ihrer Ideologie des Eigenen überlassen, die in der Abwertung des Anderen Rassismus nährt und Ausgrenzung fördert. Solche Debatten zu führen ist aber auch deshalb notwendig, weil die in vielerlei Hinsicht bereichernde Vielfalt eines weltoffenen Deutschlands eben nicht in jeder Hinsicht unproblematisch ist – zum Beispiel dort nicht, wo Menschen eine neue Heimat suchen, deren Wahrnehmung und Einstellungen von einem in ihren Herkunftsländern weit verbreiteten Antisemitismus geprägt sind. Wir haben aus unserer Vergangenheit, insbesondere aus der Aufarbeitung des Holocaust, die Lehre gezogen, dass es in Europa nie wieder Orte geben darf, an denen Angehörige eines anderen Glaubens – vor allem aber Menschen jüdischen Glaubens – Gewalt und Diskriminierung von wem auch immer schutzlos ausgesetzt sind. Das müssen wir allen vermitteln, die in Europa heimisch werden wollen. Hier darf es keinen Raum für Vielfalt, keine Toleranz geben. Deshalb sollten wir mit aller Entschiedenheit widersprechen, wenn neue politische Kräfte in unserem Land unsere Erinnerungskultur, an der unsere Gesellschaft und unsere Demokratie gereift sind, für parteipolitische Zwecke missbrauchen. Und nebenbei bemerkt: Allein schon deshalb kommt die AfD als Koalitionspartner nicht in Frage – weder auf Landes-, noch auf Bundesebene! Denn Toleranz hat Grenzen – und auch diese Grenzen vermisst Joachim Gauck in seinem Buch. Quasi als Quintessenz heißt es am Schluss: „Jeder bewusste Demokrat … muss sein überzeugtes Ja zur Toleranz ergänzen durch ein entschlossenes Ja zur Intoleranz, nämlich dann, wenn Freiheit und Toleranz bedroht sind und ausgelöscht werden sollen. Tolerieren und verteidigen gehören zusammen.“ Toleranz, die konsequent auch ihrem Gegner gelten würde, hätte unweigerlich das Ende der Toleranz zur Folge. Wer die Demokratie missbraucht oder gar aufheben will, wer die Menschenwürde oder den Geist unserer Verfassung mit Füßen tritt, der muss unseren Widerstand zu spüren bekommen. Toleranz ist da völlig fehl am Platz. Joachim Gauck sieht Toleranz als aktive Haltung, die durchaus kämpferisch sein kann und auch sein muss. So wie es „keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ geben darf, um es mit den Worten des liberalen Publizisten Dolf Sternberger zu sagen ( – der den Begriff „Verfassungspatriotismus geprägt hat -), so darf es in einer Demokratie auch keine Toleranz für die Feinde der Toleranz geben. Bleibt die Frage, ob Toleranz auch helfen kann, mit den aktuellen Umbrüchen, die zum Beispiel die Globalisierung und die Digitalisierung mit sich bringen, besser zurechtzukommen. Diese Frage bejaht Joachim Gauck: Toleranz mache uns nicht nur menschlicher, sondern auch zukunftsfähiger, so lautet seine These. Ich selbst füge hinzu – schließlich stamme ich aus Münster, der Stadt des Westfälischen Friedens: Wenn die Toleranz einst die Kraft hatte, Kriege im vielfältiger gewordenen Europa zu schlichten, dann hat sie heute auch die Kraft, Zusammenhalt in einer vielfältiger gewordenen Gesellschaft zu stiften. Das setzt aus meiner Sicht zweierlei voraus: zum einen ein Bewusstsein der eigenen Identität – Klarheit darüber, was uns ausmacht als Deutsche, als Europäer. Denn nur wer das Eigene kennt und wertschätzt, kann auch dem Fremden Raum geben und Toleranz entgegen bringen, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen, und nur, wer sich begründet abgrenzen kann, ist imstande, die eigenen (demokratischen) Werte zu verteidigen und jene „kämpferische Toleranz“ an den Tag zu legen, wie Joachim Gauck sie fordert. Toleranz erfordert andererseits aber auch, das Verbindende über das Trennende stellen zu können: das Menschliche über die Unterscheidung zwischen gläubig und ungläubig, zwischen deutsch und nicht-deutsch, zwischen weiblich und männlich, zwischen muslimisch und christlich. Zu jenem toleranten Miteinander, das die Demokratie ihren Bürgerinnen und Bürgern abverlangt, aber auch zur Selbstvergewisserung und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, können insbesondere Kunst und Kultur in besonderer Weise beitragen. Ob Literatur, Theater, bildende Kunst, ob Musik, Tanz oder Film: Kunst kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht, Kunst kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Nicht umsonst hat Deutschland, das sich zivilisatorischen Errungenschaften wie Toleranz nach der nationalsozialistischen Barbarei mühsam wieder erarbeiten musste, die Freiheit der Kunst in den Verfassungsrang erhoben. Lieber Joachim, ob als Pfarrer, Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde oder Bundespräsident – stets stand im Zentrum Deiner Arbeit das Thema Freiheit. Dass Du Dich mit Deinem Buch jetzt der Toleranz zugewendet hast, ist nur folgerichtig. Den engen Zusammenhang zwischen Freiheit und Toleranz hat Theodor Fontane, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 200. Mal jährt, auf poetische Weise beschrieben: „Toleranz, die von der Freiheit stammt, ist freilich ein Himmelskind und der schönsten eines, aber die Toleranz, die nichts ist als Umschreibung des Satzes: ‚Alles ist schließlich ganz egal‘, die mag der T- holen.“ – Das „T“ bei Fontane meint natürlich den Teufel. Ja, undifferenzierte Toleranz befördert Stillstand und Lethargie und schadet unserer Demokratie ebenso wie grenzenlose Toleranz. Ich schließe mich, lieber Joachim, gern Deinem Plädoyer für eine „kämpferische Toleranz“ an. Deinem Buch wünsche ich zahlreiche interessierte Leserinnen und Leser, die sich von der Lektüre inspirieren lassen, damit es im Sinne Ilija Trojanows den offenen Diskurs in einer freien Gesellschaft beflügelt und zu einem gelebten, toleranten Miteinander in einem vereinten Europa beiträgt.
In ihrer Rede unterstrich Staatsministerin Monika Grütters die Bedeutung dieses Themas und sagte: „Toleranz ist in Situationen gefragt, in denen sie Selbstüberwindung kostet, in denen ich über meinen eigenen Schatten springen und meine persönliche Komfortzone verlassen muss. Toleranz ist auch eine Herausforderung, das wird im Buch sehr deutlich: Wer die Freiheitsrechte ernst nimmt, muss gerade auch Dinge aushalten, die irritieren“.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der neuen Dauerausstellung „Ein Denkmal aus Papier: Die Geschichte der Arolsen Archives“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-neuen-dauerausstellung-ein-denkmal-aus-papier-die-geschichte-der-arolsen-archives–1639890
Tue, 18 Jun 2019 12:00:00 +0200
Im Wortlaut
Bad Arolsen
Kulturstaatsministerin
Kultur
Es muss ein bewegender Moment gewesen, als Etienne Scharf im Jahr 2017 erfuhr, wer sein Großvater ist. Seit den 1970er Jahren hatte Etiennes Vater Emmanuel Scharf vergeblich versucht, seinen Vater zu finden – von dem er nicht viel mehr wusste, als dass er ein polnischer Holocaust-Überlebender war. Emmanuel Scharf starb 1995, ohne seinen Vater je kennen gelernt zu haben. Anders Etienne Scharf, der Enkel: Dank einer glücklichen Fügung wurde der Fall im Jahr 2017 durch die Arolsen Archives endlich gelöst. Emmanuel Scharfs Sohn Etienne reiste in die USA; um dort seinen Großvater zu besuchen. Es sind solche Geschichten, meine Damen und Herren, die von der Bedeutung der Arolsen Archives erzählen, die bis heute einen unverzichtbaren Beitrag zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen leisten. Ja, in unzähligen Familiengeschichten kam es zu solch bewegenden Momenten des Wiederfindens, des Wiederzusammenfindens gar – dank der Arbeit des International Tracing Service. So hat der ITS in seiner Geschichte nicht nur zahlreiche „Denkmale aus Papier“ gesetzt, wie der Titel der neuen Dauerausstellung heißt, sondern zahlreichen Geschichten eine lang ersehnte Wendung gegeben – sei es durch Informationen, die Familien zusammenführten, sei es durch Übergabe persönlicher Gegenstände an die Angehörigen. Eindringlich veranschaulicht diese großen Verdienste die neue Dauerausstellung: Sie dokumentiert sowohl das Ausmaß und die Systematik der NS-Verbrechen und ermöglicht zugleich einen Blick auf die Einzelschicksale hinter den abstrakten Opferzahlen. Mit den ausgestellten Dokumenten bewahrt sie ein Stück Identität der Menschen, denen die Nationalsozialisten alles genommen haben: das Eigentum, die Namen, die Würde und zuletzt oft auch das Leben. Akribisch haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ITS diese Dokumente in den vergangenen Jahrzehnten ausfindig gemacht, gesammelt, sortiert und bearbeitet. Und noch viel mehr als das: In den Nachkriegsjahren ermittelten sie selbständig. Um etwa Opfer der Todesmärsche zu identifizieren, befragten sie ehemalige Häftlinge, rekonstruierten Todesorte und führten Exhumierungen durch. Es ist kaum vorstellbar, mit welch entsetzlichem Leid und erschütternden Verbrechen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dabei konfrontiert wurden – und sie werden es bei der Bearbeitung der Anfragen auch heute noch. Unvorstellbare 17,5 Millionen Menschen sind es, zu denen es heute Hinweise im Archiv des ITS gibt. Teile dessen, insbesondere die Originaldokumente, gehören zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Darunter sind KZ-Unterlagen, Transportlisten oder Zwangsarbeiterlisten, zu denen mit einer Zentralen Namenkartei ein Schlüssel für die Suche erstellt wurde. Die Ausstellung dokumentiert dies, zeigt aber auch, wie sich die Aufgaben des ITS im Laufe der Zeit gewandelt haben: Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Suche nach Vermissten eine Aufgabe von herausragender humanitärer Bedeutung. Heute stammt die Mehrzahl der Anfragen – insgesamt etwa 16.000 pro Jahr – von den Nachkommen ehemaliger NS-Verfolgter, die mehr über das Schicksal ihrer Verwandten erfahren wollen. Dass seit 2007 die Archive für jedermann zugänglich sind, ist ein wesentlicher Beitrag zur demokratischen Erinnerungskultur und zur Aufarbeitung der NS-Zeit. Dafür danke ich Ihnen, liebe Frau Azoulay, und Ihrem kompetenten Team! Mit hohem persönlichen Einsatz, mit Pragmatismus, Hartnäckigkeit, diplomatischem Geschick und beeindruckender Expertise haben Sie sich seit Ihrem Amtsantritt unermüdlich für den Erfolg des ITS engagiert. Und auch Ihrer Vorgängerin – Ihnen, liebe Frau Professor Boehling -, danke ich sehr für Ihr großes Engagement. Mein herzlicher Dank gilt auch Ihnen, verehrter Lord Pickles, stellvertretend für den gesamten Internationalen Ausschuss, der als wohlwollender und kritischer Begleiter die Arbeit des ITS entscheidend mitprägt und mit seiner internationalen Expertise nicht zuletzt auch die erfolgreiche Neuausrichtung der Einrichtung maßgeblich vorangebracht hat. Meine Damen und Herren, auch die deutsche Bundesregierung steht an der Seite des ITS, und sie steht zu ihren Verpflichtungen aus dem internationalen Vertrag zum Status des ITS. Das schließt ausdrücklich das Bekenntnis zum Standort in Bad Arolsen ein. Nicht nur, weil das der Vertrag so vorsieht und Bad Arolsen in mehr als 70 Jahren zu einem Synonym für Aufarbeitung geworden ist, sondern auch, weil wir uns dafür einsetzen, dass bedeutende Institutionen wie der ITS eben nicht nur in einschlägigen Großstädten präsent sind. Ich bin mir sicher, dass nicht zuletzt die beeindruckende neue Dauerausstellung wie auch der Archivbau, dessen Planung trotz einiger Verzögerungen voranschreitet, zur Attraktivität des Standortes beitragen werden. Und ich verspreche Ihnen, dass wir den ITS weiterhin bestmöglich unterstützen, etwa bei der internationalen Vernetzung oder bei Ausstellungsvorhaben andernorts. Denn auch wenn es zweifellos ein großer Fortschritt ist, dass die Archive über das Internet heute weltweit zugänglich sind: Wir müssen uns weiterhin auch dafür einsetzen, dass noch mehr Menschen von der großartigen Arbeit, die der ITS darüber hinaus leistet, erfahren. Dafür sorgt nicht nur die neue Dauerausstellung, sondern beispielsweise auch die Wanderausstellung und Kampagne „Stolen Memory“: Sie hat ermöglicht, dass bislang schon über 300 persönliche Gegenstände wie Eheringe, Ausweispapiere, Uhren und Fotos, die den Häftlingen in Konzentrationslagern abgenommen wurden, sogenannte „Effekten“, an Angehörige der Opfer zurückgegeben werden konnten. Es hat mich bei meinem letzten Besuch des ITS sehr bewegt zu hören, dass sich tatsächlich noch Enkel oder andere Angehörige gemeldet haben, die dank des Einsatzes der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ITS und zahlreicher Freiwilliger ausfindig gemacht werden konnten oder die die Habseligkeiten dank der Fotos im Internet erkannt haben und sie hier in Bad Arolsen in Empfang nehmen konnten. Das Projekt „Stolen Memory“ zeigt: Hinter jedem Dokument, hinter jedem Objekt stehen menschliche Schicksale. Dokumente und Objekte sind nicht „stumm“, sie erzählen uns Geschichten. Sie sind Zeugen vergangenen menschlichen Lebens – und zugleich Zeugnisse einer unmenschlichen Diktatur und barbarischer Verbrechen in deutschem Namen. Sie sind Teil unserer gemeinsamen Erinnerungskultur und ein Appell gegen das Vergessen. Mit uns hier sind heute auch Nachfahren von Opfern – Sie alle begrüße ich sehr herzlich und danke Ihnen von ganzem Herzen. Sie tragen dazu bei, über das Erinnern an den Zivilisationsbruch des Holocaust hinaus auch die Erinnerung an den einzelnen Menschen lebendig zu halten und individuelle Gesichter und Geschichten sichtbar zu machen. Das ist wichtig, nicht zuletzt um ein Erstarken jener unmenschlichen Ideologie zu verhindern, die mit der Abwertung des Anderen Diskriminierung und Rassismus, Gewalt und Unterdrückung nährt. Deutschland darf nie wieder ein Land sein, in dem Hass und Hetze gegen Minderheiten auf eine schweigende Mehrheit treffen – weder auf Schulhöfen noch auf öffentlichen Plätzen, weder auf Demonstrationen noch in Moscheen oder Parteien. Auch daran erinnert uns, was hier in Bad Arolsen dokumentiert und verwahrt ist. Die Aufarbeitung des Holocaust ist Teil unseres Selbstverständnisses. Sie ist nicht verhandelbar. Das müssen wir allen vermitteln, die in Deutschland heimisch sind und die in Deutschland heimisch werden wollen. So ist es eine wahrhaft staatstragende Aufgabe, die der ITS seit 70 Jahren erfüllt, indem er Menschen, die von den Nationalsozialisten beraubt, enteignet und verfolgt wurden, zu quälender Arbeit gezwungen, in Konzentrationslagern ermordet, in den Tod getrieben oder – mittellos – zur Emigration gezwungen wurden, vor dem Vergessenwerden bewahrt. Damit setzt der ITS nicht nur ein Denkmal, sondern auch ein Mahnmal: Wir alle tragen Verantwortung dafür, die Erinnerung wach zu halten – und zu widersprechen, wenn neue politische Kräfte in unserem Land diese Verantwortung mit Füßen treten. Der neuen Dauerausstellung wünsche ich zahlreiche, auch und vor allem junge Besucherinnen und Besucher, die diese Botschaft verstehen und verinnerlichen. Ihnen allen, die Sie dafür in Bad Arolsen Ihr Bestes geben, danke ich herzlich für Ihr Engagement!
Anlässlich der Eröffnung der neuen Dauerausstellung der Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution in Bad Arolsen, sagte Kulturstaatsminsterin Grütters: „Die Aufarbeitung des Holocaust ist Teil unseres Selbstverständnisses. Sie ist nicht verhandelbar. Das müssen wir allen vermitteln, die in Deutschland heimisch sind und die in Deutschland heimisch werden wollen.“ Deshalb erfülle der ITS seit 70 Jahren eine wahrhaft staatstragende Aufgabe, indem er Menschen, die von den Nationalsozialisten in den Tod getrieben, beraubt, enteignet und verfolgt wurden, vor dem Vergessenwerden bewahre.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich des Jahrestreffens des International Council des Museums Berggruen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-des-jahrestreffens-des-international-council-des-museums-berggruen-1640248
Sat, 15 Jun 2019 20:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Im Kulturressort hat man zwar bedauerlicherweise nicht den größten Etat und nicht die üppigste Personalausstattung – dafür aber die schönsten dienstlichen Termine: Museumsbesuche zum Beispiel. Mit Blick auf die vielen Museen, die ich als Kulturstaatsministerin schon besucht habe, kann ich sagen: Unter den zahlreichen Schmuckstücken, die Deutschlands Museumslandschaft zu bieten hat, ist das Museum Berggruen ein echtes Kleinod. Deshalb freue ich mich sehr über die Gelegenheit, Ihnen, verehrte Familie Berggruen, zu danken für Ihre anhaltende Verbundenheit mit dem großen Lebenswerk Ihres Vaters und Ehemanns. Ein Gedicht sei immer die Frage nach dem Ich, hat Gottfried Benn einmal gesagt – und man könnte ergänzen: Ein Museum ist immer die Frage nach dem Wir. Museen sind kollektives Gedächtnis und Bewusstsein. Sie machen gemeinsame Erinnerungen, Werte, Perspektiven auf die Welt sichtbar und erfahrbar – und stiften damit Identität. Sie spiegeln und prägen unser Selbstverständnis. All das klingt an, wenn wir den gesellschaftlichen Auftrag von Museen definieren, der darin besteht, unser kulturelles Erbe zu sammeln, zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln. Das tun sie nach wie vor höchst erfolgreich – auch im Zeitalter der Digitalisierung. 2017 hatten die Museen in Deutschland 114 Millionen Besucherinnen und Besucher. Das waren 2,2 % mehr als im Vorjahr. Die Neugier des Publikums und das Interesse an den Museen sind also ungebrochen – zum Glück! Denn Orientierung in einer komplexen Welt brauchen wir im Zeitalter der Digitalisierung und in einer globalisierten Welt mehr denn je. Museen sind Orte der Erkenntnis und Schulen der Wahrnehmung und des Sehens – vor allem Kunstmuseen wie das Museum Berggruen. Im Idealfall – wie beim Humboldt Forum und der Debatte um unseren Umgang mit dem Kolonialismus – sind sie Katalysatoren gesellschaftlicher Meinungsbildung. Das alles können Museen aber nur sein und bleiben, wenn sie in Freiheit und Autonomie arbeiten können – frei von jeder politischen Bevormundung. Wir haben deshalb allen Grund, das Museum auch als Institution zu schützen und zu stärken. In vielen Ländern in und außerhalb Europas sind populistische Parteien auf dem Vormarsch und machen Stimmung gegen Demokratie, Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit. Die Bereitschaft, die Freiheit und Autonomie der Kunst zu respektieren – früher ein parteiübergreifender Grundsatz – scheint dabei vielerorts ins Wanken zu geraten. Künstler und Kuratoren sehen sich mit Anfeindungen konfrontiert; im Extremfall müssen Künstler um ihre Sicherheit fürchten. Die Rückendeckung durch einen Kreis engagierter Unterstützerinnen und Unterstützer ist deshalb heute wichtiger denn je. Viele Millionen Euro geben Mäzene, Spender und Stifter hierzulande, um Museen zu unterstützen. Ohne dieses private bürgerschaftliche Engagement wäre die Kulturnation um ein Vielfaches ärmer. Doch nicht minder wichtig als das finanzielle Engagement ist die gesellschafts-politische Wirkung: Freundeskreise vermitteln zwischen Museum und Publikum, sie stärken den Museen den Rücken – auch gegen die Feinde kultureller Vielfalt und Autonomie. Darin will ich Sie bestärken, verehrte Freunde und Unterstützer des Berggruen-Museums. Denn auch das ist eine Antwort auf die „Frage nach dem Wir“: ein Beitrag zur Stabilität unserer Demokratie. Vielen Dank dafür. Ich freue mich auf den Austausch mit Ihnen.
„Orientierung in einer komplexen Welt brauchen wir im Zeitalter der Digitalisierung und in einer globalisierten Welt mehr denn je“, erklärt Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Museen wie das Museum Berggruen seien Orte der Erkenntnis und Schulen der Wahrnehmung und des Sehens.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum Eröffnungsempfang des 20. Poesiefestivals in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-eroeffnungsempfang-des-20-poesiefestivals-in-berlin-1639858
Fri, 14 Jun 2019 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Eine lange „Nacht der Poesie“ in einer der kürzesten Nächte des Jahres, die unter dem Motto „Weltklang“ das zeitgenössische Lyrik-Universum vermisst: Da haben Sie sich für die 20. Ausgabe des Poesiefestivals wieder einmal eine Menge vorgenommen, lieber Thomas Wohlfahrt. Dass Sie damit volles Haus haben, spricht nicht nur für den hervorragenden Ruf des Poesiefestivals. Es erzählt auch eine Menge über das Bedürfnis nach Worten, die tiefer gehen, die „welt-haltiger“ sind als die Alltagssprache, als der Informationsfluss in den Medien oder auch als die schnell konsumierbaren 280 Zeichen eines Tweets. Trotz ihrer ganz eigenen Ausdrucksmöglichkeiten hat Lyrik ja den Ruf, hermetisch und schwer zugänglich zu sein – ein anspruchsvoller Genuss, nur für wahre Kenner. Umso mehr freut es mich, dass Sie der Lyrik mit dem Poesiefestival alle Jahre wieder eine Bühne bieten und mit Formaten wie „Weltklang“ oder „Poet´s Corner“ Gedichte auch „auf den Marktplatz“ bringen: in die Stadt, in die Kieze, unter die Leute – und auch zu Jugendlichen und Kindern. Mit einem abwechslungsreichen Programm erweitert das Festival nicht nur seinen geografischen Radius und den Kreis der Lyrik-Leser und -Hörer; es lotet auch die Schnittstellen der Poesie zur Musik, zum Film und zur Bildenden Kunst aus und gibt damit neuen künstlerischen Ausdrucksweisen Raum. Damit ist das Festival in den vergangenen 20 Jahren zu einem internationalen Kristallisationspunkt der Dichtkunst geworden – zu einem Ort der Begegnung und des Dialogs. Für das herausragende, für das enthusiastische und beharrliche Engagement, das diesen „Weltklang“ aus unterschiedlichen Facetten der Poesie und ihren Stimmen aus aller Welt ermöglicht, danke ich Ihnen, lieber Thomas Wohlfahrt, und Ihrem Team sehr herzlich. 150 Dichterinnen und Dichter aus 25 Ländern werden hier in den kommenden Tagen unter dem Motto „Endlich Zeit für Sprache“ ihre Werke vorstellen und damit unsere Sinne für die Kraft des Wortes schärfen. Ob sie an so etwas wie „die magischen Qualitäten der Worte“ glaube, wurde die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller einmal gefragt. Ihre Antwort ist nachzulesen in einem kleinen Bändchen mit dem Titel „Lebensangst und Worthunger“. Ich zitiere: „[I]ch glaube, Wörter können alles. Die können schikanieren und die können schonen, und die können einen besetzen, und die können einen leerräumen. (…) Sie sind latent zu allem fähig.“ Wer, darf ich hinzufügen, wer wüsste das besser als wir Deutschen, die in ihrer Geschichte im Guten wie im Bösen, in der sprachlichen Vollendung durch große Dichter wie in der sprachlichen Verrohung in Zeiten der Diktatur, erlebt haben, wozu Worte imstande sind? Und auch in diesen Tagen, in denen der Traum von einem geeinten Europa auf wachsendes Unverständnis, erstarkenden Nationalismus und autoritäre Tendenzen stößt, auch in diesen Tagen bekommen wir wieder eine Ahnung davon, dass Worte nicht nur poetische Magie, sondern auch eine dunkle Macht entfalten können. Ich will hier gar nicht näher eingehen auf geistige Brandstifter, die mit menschenverachtenden Parolen gegen anders Lebende, anders Aussehende, anders Glaubende und anders Denkende hetzen. Verrohung beginnt immer in der Sprache: mit der Invasion von Kampfbegriffen in den öffentlichen Sprachgebrauch, mit der Verschiebung der Grenzen des Sagbaren. Deshalb ist das Gespür für die Macht der Worte so wichtig, und Sie sind es, liebe Lyrikerinnen und Lyriker, die dafür in besonderer Weise sensibilisieren. Deshalb freut es mich sehr, dass das Poesiefestival diesem Thema ein eigenes Forum widmet: gegen die „Diskursvergiftung“, für den „poetischen Widerstand“! Ja, es ist „Endlich Zeit für Sprache“, um das diesjährige Festivalmotto aufzugreifen: In Deutschland, in Europa, in der Welt brauchen wir den poetischen Widerstand gegen die Diskursvergiftung, und ich bin überzeugt, dass die Lyrik politische Wirkung entfalten kann. Mit Blick auf das 30-jährige Jubiläum der Friedlichen Revolution, das wir am 9. November – dem Jahrestag des Mauerfalls – feiern, erinnere ich beispielsweise an den tschechischen Dichter Jaroslav Seifert, der 1984 für sein lyrisches Werk den Nobelpreis erhielt. Ein Dichter muss – ich zitiere – „mehr sagen, als sich im Gemurmel der Worte verbirgt, will er den Frost zwingen, uns Schauer über den Rücken zu jagen“, hat er einmal gesagt. Mehr sagen, als sich im Gemurmel der Worte verbirgt: Auch dafür steht das Poesiefestival – und die hier vernehmbare Vielstimmigkeit der gegenwärtigen Lyrik ist ein Beitrag gelebter Völkerverständigung, ein Beispiel „beglückender Selbstverständlichkeit“ beim Überqueren nationaler und sprachlicher Grenzen, wie es die Herausgeber des lesenswerten Bandes „Grand Tour. Reise durch die junge Lyrik Europas“, Federico Italiano und Jan Wagner, formuliert haben. Dieses Buch soll im nächsten Jahr, wenn Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft innehat, im Mittelpunkt eines Lyrikabends stehen, mit dem ich die von mir eingeführte Tradition der literarischen Abende im Bundeskanzleramt fortsetzen will. Sie sollen Aufmerksamkeit schaffen für die Wirkmacht der Poesie. Darüber hinaus braucht es aber auch finanzielle Unterstützung, um der Lyrik eine Bühne zu geben. Deshalb freue ich mich sehr, dass wir dem Poesiefestival vor zwei Jahren gemeinsam mit dem Land Berlin im Rahmen des Hauptstadtkulturfonds mehr Planungssicherheit und eine Etaterhöhung zusichern konnten. Mittel aus meinem Kulturetat erhält auch das bundesweite „Netzwerk Lyrik“, dessen Zentrum das Haus für Poesie in Berlin ist. Wir haben außerdem in diesem Jahr mit der Förderung durch die Bundeskulturstiftung den großen Kongress „Fokus Lyrik“ unterstützt – um nur drei Beispiele der Lyrikförderung des Bundes zu nennen. Die wichtigste Unterstützung aber ist und bleibt das Eintreten für die Freiheit der Kunst. Das ist die Lehre, die Deutschland aus zwei Diktaturen gezogen hat. Angesichts der zunehmenden Zahl bewaffneter Konflikte, angesichts eingeschränkter Meinungsfreiheit und Zensur ist diese Freiheit vielerorts –selbst in Europa – in Gefahr. Deshalb finanziert die Bundesregierung das „Writers in Exile“-Programm, das wir gemeinsam mit dem deutschen PEN ins Leben gerufen haben. Es gewährt verfolgten Schriftstellerinnen und Schriftstellern vorübergehend Zuflucht und eröffnet ihnen künstlerische Freiheiten, die es in ihren Heimatländern nicht mehr gibt oder noch nie gab. Wie das Poesiefestival begeht auch das „Writers in Exile“-Programm in diesem Jahr sein 20-jähriges Jubiläum. Verständigung und Demokratie, verehrte Damen und Herren, brauchen die Kraft der Poesie, brauchen Sprachkünstler, Querdenker und Freigeister, brauchen Dichterinnen und Dichter, die „mehr sagen, als sich im Gemurmel der Worte verbirgt“ – und jene, die ihnen Gehör verschaffen und ihnen den Weg bereiten. Zu diesen Wegbereitern gehört das Poesiefestival, und dafür bin ich von Herzen dankbar. Herzlich Glückwunsch zu 20 Jahren „Weltklang“, lieber Thomas Wohlfahrt! Möge der Austausch im Rahmen des Festivals auch weiterhin all jene, die sich der Dichtkunst verschrieben haben, inspirieren und ermutigen, die Kraft der Poesie zum Klingen zu bringen und ihnen dafür die verdiente Aufmerksamkeit bescheren!
In ihrer Rede begrüßte Kulturstaatsministerin Grütters die 150 Dichterinnen und Dichter aus 25 Ländern und hob die Macht der Worte hervor: „In Deutschland, in Europa, in der Welt brauchen wir den poetischen Widerstand gegen die Diskursvergiftung, und ich bin überzeugt, dass die Lyrik politische Wirkung entfalten kann“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum 25. Jahrestag der Eröffnung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland am 14. Juni 2019 in Bonn
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-25-jahrestag-der-eroeffnung-des-hauses-der-geschichte-der-bundesrepublik-deutschland-am-14-juni-2019-in-bonn-1637826
Fri, 14 Jun 2019 13:05:00 +0200
Bonn
Alle Themen
Sehr geehrter Herr Professor Hütter, sehr geehrter Herr Winands, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrter Herr Schneider, sehr geehrte ehemalige und heutige Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestags – ich schaue gerade Jürgen Rüttgers an –, lieber Herr Krings, natürlich werte Gäste dieses Tages, wie sehen Demokratie und Dialog, Offenheit und Austausch aus, wenn sie in Architektur übersetzt werden? So wie hier im Haus der deutschen Geschichte, finde ich. Die Architekten Ingeborg und Hartmut Rüdiger haben die Idee dieses Museums in Stein und Glas umgesetzt. Damit strahlt das Gebäude eine Atmosphäre der Offenheit aus, die geradezu zum Dialog einlädt. Die weitläufigen Glasfronten gewähren gleichermaßen Aus- und Einblicke. Schon das lichtdurchflutete Foyer vermittelt den Eindruck, nichts im Dunkeln lassen zu wollen. Seit 25 Jahren ist das Haus der Geschichte Teil unseres kulturellen Gedächtnisses. Es fördert Geschichtsbewusstsein und regt zum Austausch über unsere jüngere und jüngste Geschichte an. Das gilt im Übrigen für alle vier Stätten der Stiftung – neben dem Haus hier in Bonn auch für den „Tränenpalast“ und das Museum in der Kulturbrauerei in Berlin sowie das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig. Das Zusammenwirken an den verschiedenen Standorten in Ost und West macht die Stiftung selbst zu einem Beispiel gelebter Deutscher Einheit, auch wenn die Einheit sozusagen als unvorhergesehene Sache während des Baus dieses Hauses dazwischenkam. Alle Standorte sind Orte des Lernens und Erlebens, des Erinnerns und Wiedererkennens und auch des Staunens. Denn es ist ein lebendiges Geschichtsbild, das hier vermittelt und präsentiert wird. Das zeigt sich, glaube ich, ganz besonders an den Wechselausstellungen. Es freut mich sehr, gemeinsam mit Ihnen das Jubiläum einer Institution zu feiern, die es sich zum Ziel gesetzt hat, ein facettenreiches Geschichtsbild zu vermitteln – und zwar gleichermaßen sehr ansprechend wie auch hohen wissenschaftlichen Ansprüchen genügend. So wirkt das hier vermittelte Geschichtsbild in bestem Sinne wie ein Mosaik. Welche Teile und wie viele Teile dieses Mosaiks sich den Besucherinnen und Besuchern auch immer erschließen mögen – fest steht, dass jeder und jede, der oder die sich auf die hier mögliche Zeitreise durch die Vergangenheit begibt, in jedem Fall eine Ahnung von dem ganzen Bild bekommt; also davon, was die nationale und kulturelle Identität unseres Landes ausmacht und prägt. Das zu schaffen, ist eine große und überaus verdienstvolle Leistung. So gratuliere und danke ich allen von Herzen, die die 25 Jahre dieses Hauses zu ganz außergewöhnlichen 25 Erfolgsjahren gemacht haben. Herzlichen Glückwunsch. Meine Damen und Herren, es trifft sich natürlich gut, dass wir in diesem Jubiläumsjahr des Hauses der Geschichte an besonders viele geschichtsprägende Ereignisse unseres Landes erinnern können: vorneweg an die Verabschiedung des Grundgesetzes vor 70 Jahren und den Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren, aber auch an die Bildung der Weimarer Nationalversammlung und das Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung vor 100 Jahren, an den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren, an die Landung der Alliierten vor 75 Jahren in der Normandie, die den Anfang vom Ende dieses von Deutschland entfesselten Kriegs und des Zivilisationsbruchs der Shoa markiert. In einem Haus wie diesem können wir förmlich spüren, dass Geschichte nichts Abstraktes ist, sondern etwas, das jede und jeden von uns berührt. Heute vor 25 Jahren, auf den Tag, ja, sogar beinahe auf die Stunde genau, am 14. Juni 1994, eröffnete Bundeskanzler Helmut Kohl dieses damals wie heute außergewöhnliche Museum deutscher Zeitgeschichte. Dieses Haus war ihm eine Herzensangelegenheit. Bereits in seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland im Herbst 1982 hatte er angeregt, dass „eine Sammlung zur deutschen Geschichte seit 1945 entsteht, gewidmet der Geschichte unseres Staates und der geteilten Nation.“ Auf diesen Vorschlag – man kann es sich vorstellen – reagierten damals nicht alle mit Begeisterung. Vielmehr folgte eine erregte Debatte. Manche befürchteten eine gleichsam von oben verordnete Geschichtsschreibung, eine vermeintlich regierungsamtliche Sicht der Geschichte. Aber das lag Helmut Kohl nun wirklich völlig fern. Er pochte auf institutionelle Selbständigkeit und inhaltliche Unabhängigkeit. In diesem Sinne entstand dann 1990 die Stiftung Haus der Geschichte, in der sowohl ein wissenschaftlicher Beirat als auch ein Arbeitskreis gesellschaftlicher Gruppen mitwirken. Der Eintritt in das Haus ist frei. Das ist im Gesetz zur Errichtung der Stiftung festgeschrieben. Die Kosten trägt der Bund. – Herr Oberbürgermeister, das freut Sie sicherlich. – Ich finde, dies waren beides sehr kluge Entscheidungen, denn dieses Haus soll allen offen stehen. Dieses Haus will alle einladen. In den letzten 25 Jahren zogen allein die mehr als 140 Ausstellungen in Bonn nahezu 20 Millionen Besucherinnen und Besucher an. Das Haus der Geschichte erzählt die Geschichte unseres einst geteilten und seit bald drei Jahrzehnten wiedervereinten Landes. Es erzählt zugleich die Geschichten der Menschen in unserem Land. Es gibt Antworten auf viele, viele Fragen: Wie wohnen die Deutschen? Wie kleiden sie sich? Wie reisen sie? Worüber lachen sie? Wie sieht ihr Vereinsleben aus? Wie hat sich jüdisches Leben in Deutschland seit 1945 neu entwickelt? Im Haus der Geschichte können alte Karikaturen und Spielsachen, Möbel und Haushaltsgeräte bestaunt werden. Hier hat der VW-Bulli genauso seinen Platz wie der Trabant. Die Besucherinnen und Besucher können in Erinnerungen an früher schwelgen – oder sich an den Kopf fassen angesichts dessen, was einmal als guter Geschmack galt. Jedes Sammlungsstück hat seine eigene Geschichte. Jede und jeder kann persönliche Erinnerungsstücke zur Sammlung beisteuern, die etwas über eine bestimmte Zeitphase aussagen – und wenn es nur eine selbst aufgenommene Musikmix-Kassette ist. Über eine Million Objekte der Zeitgeschichte wurden im Haus der Geschichte bislang zusammengetragen. Oft sind es gerade die kleinen Dinge und Gegenstände des Alltags, die die großen Zusammenhänge und Fragen der Zeitgeschichte anschaulich widerspiegeln. Auch etwas an sich Unscheinbares wie ein Zettel mit handschriftlichen Notizen kann Geschichte machen, wie wir seit der denkwürdigen Pressekonferenz von Günter Schabowski am Abend des 9. November vor 30 Jahren wissen. Damals trauten wir Deutschen kaum unseren Ohren, als Schabowski verkündete, dass Ausreisen über die DDR-Grenzstellen unverzüglich möglich wären. Keine Frage, dass sein Sprechzettel in der Sammlung des Hauses der Geschichte nicht fehlen darf. Auch eine Strickjacke und ein Pullover erzählen die Geschichte unserer Wiedervereinigung. Helmut Kohl und Michail Gorbatschow zeigten sich so gekleidet, als sie 1990 im Kaukasus über die Deutsche Einheit sprachen. Es sind aber natürlich nicht nur Sachen, aus denen Geschichte spricht, sondern ganz besonders die Zeitzeugen, die Geschichte nahebringen und nachvollziehbar machen. Ihre persönlichen Berichte und Erzählungen berühren. Sie verbinden uns unmittelbar mit historischen Begebenheiten. Es gibt kaum eindringlichere Mittel und Wege, sich der Vergangenheit zu nähern. Daher kann ich es nur begrüßen, dass die Stiftung ein großes Zeitzeugenportal eingerichtet hat – auf Initiative der Bundeskulturbeauftragten Monika Grütters. Mittlerweile sind rund 12.000 Zeitzeugeninterviews erfasst, in Video- und Audioformat, und über das Internet zugänglich gemacht. Hinzu kommen rund 1.000 Interviews des Mainzer Vereins Gedächtnis der Nation. Zu Wort kommen Persönlichkeiten aus allen Bereichen der Gesellschaft mit mehr oder minder staatstragenden Funktionen. Sie alle haben ihre eigenen, ihre persönlichen Antworten auf historische Fragen: Wie wurde 1914 die so oft zitierte Euphorie bei Kriegsausbruch erlebt? Was bedeutete es, als Jude 1938 den Novemberpogromen machtlos und schutzlos ausgesetzt gewesen zu sein? Wie haben die West-Berliner die Blockade ihrer Stadt 1948/49 überstanden? Wie erlebte ein Schüler den Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR? Wie war es, mitansehen zu müssen, als der Bau der Berliner Mauer 1961 Familien trennte und Lebensträume zerstörte? Schon allein diese wenigen Fragen verdeutlichen, dass sich die deutsche Geschichte seit 1945 nicht isoliert ohne ihre Vorgeschichte erzählen lässt. Natürlich nicht. Denn ohne Bezugnahme auf die Weltkriege und die immerwährende Verantwortung Deutschlands für den Zivilisationsbruch der Shoa ließe sich die Entwicklung der deutschen Nachkriegsgeschichte gar nicht erklären und schon gar nicht eine gute Zukunft gestalten. Dazu gehört dann auch, dass das Haus der Geschichte nicht für sich allein steht, sondern eine Ergänzung mit dem Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig und dessen Fokus auf Opposition und Widerstand in der DDR findet. Das Forum in Leipzig wurde vor fast 20 Jahren eröffnet – am 9. Oktober 1999, dem zehnten Jahrestag der großen Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989. Als damals mehr als 70.000 Menschen in Leipzig friedlich und mit Kerzen für Reformen demonstrierten, lag eine unglaubliche Spannung in der Luft. Viele Teilnehmer hatten vorher Abschiedsbriefe geschrieben. Die Polizei und die Staatssicherheit der DDR hatten sichtbar Vorbereitungen getroffen, um mit Gewalt gegen die Demonstrierenden vorzugehen. Aber sie taten es nicht, sondern schreckten zurück vor den vielen Menschen, vor ihrem Mut und ihren Gebeten. Viele können sich heute kaum noch vorstellen, was es 40 Jahre lang bedeutet hatte, in einem geteilten Land mit Mauer und Stacheldraht zu leben. Daran zu erinnern – mit Zeitzeugen und Ausstellungen –, bleibt deshalb eminent wichtig. Auch deshalb wurde im Jahr 2008 die Gedenkstättenkonzeption des Bundes fortgeschrieben. Damit war auch die Grundlage geschaffen für den Erinnerungsort im „Tränenpalast“ an der Berliner Friedrichstraße und das Museum in der Berliner Kulturbrauerei, das den Alltag unter der SED-Diktatur beleuchtet. Zum Beispiel zu solchen Fragen: Wie war es, Kind in der DDR zu sein? Wie war es, in einem Land zu arbeiten, in dem offiziell keine Arbeitslosigkeit herrschte? Vor allen Dingen: Wie war es, wenn man nicht arbeiten wollte? – Das war nämlich nicht erlaubt. – Unter welchen Umständen wurde es gestattet, in das sogenannte westliche Ausland zu reisen? Antworten auf diese und viele andere Fragen sollten sich insbesondere auch jüngeren Generationen immer wieder erschließen, die die deutsche Teilung glücklicherweise selbst nicht mehr erleben mussten. Deshalb ist es so wichtig, dass das Stiftungskonzept überzeugt und das Bonner Haus auch anderen Häusern der Geschichte Vorbild ist – in Deutschland und darüber hinaus: etwa dem Haus der Geschichte Baden-Württemberg, dem vor wenigen Tagen eröffneten Haus der Bayerischen Geschichte in Regensburg, dem Haus der Geschichte Österreich, dem Haus der europäischen Geschichte in Brüssel und nicht zuletzt auch dem Aufbau des neuen „Forum Recht“ in Karlsruhe, das das Wesen und den Wert von Recht und Rechtsstaat verdeutlichen und vermitteln will. Auch das Haus der Geschichte hier in Bonn entwickelt sich immer weiter – zum Beispiel indem es historische Orte unserer Demokratie zugänglich macht: den Kanzlerbungalow im Garten des Palais Schaumburg, das Arbeitszimmer des Bundeskanzlers, den großen Kabinettsaal im früheren Bonner Bundeskanzleramt, den ehemaligen Plenarsaal des Bundesrats, in dem Konrad Adenauer vor 70 Jahren das Grundgesetz verkündete. Nicht mehr aufgenommen werden in diesen Reigen konnte der alte Bonner Plenarsaal des Deutschen Bundestags. Aber er wurde natürlich nicht vergessen, denn kein Ort stand so sehr für Bonn und 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland mit Demokratie und Stabilität in Frieden und Freiheit wie dieser Saal des Deutschen Bundestags. Die Dauerausstellung des Hauses der Geschichte zeigt sein Originalgestühl. Die Besucherinnen und Besucher können sich dort selbst aussuchen, welche Filmausschnitte aus dem Parlamentsleben sie sich anschauen. Das ist lebendige Demokratiegeschichte. Das Haus der Geschichte ist auch ein Ort der Selbstvergewisserung. Es zeigt, was uns und unser Land geprägt hat. Damit prägt es auch unser Geschichtsbewusstsein. Letztlich ist es auch selbst zu einem Teil der deutschen Geschichte geworden. Geschichte bietet Orientierung. Mit Geschichtsbewusstsein lassen sich aktuelle Entwicklungen in Deutschland, Europa und der Welt erkennen und einordnen. Wer sich zum Beispiel vor Augen führt, was Robert Schuman, Jean Monnet und Konrad Adenauer bewogen hatte, Europa politisch und wirtschaftlich näher zusammenrücken zu lassen, kann besser verstehen, warum wir uns für dieses Europa auch heute einsetzen müssen, warum es so wichtig ist, verschiedene Interessen zusammenzuführen, zu Kompromissen bereit zu sein – multilateral statt unilateral, global statt national, gemeinsam statt allein zu denken und zu handeln. Meine Damen und Herren, gerade auch deshalb darf ein Geschichtsmuseum niemals in der Vergangenheit stehen bleiben. Es darf keinen Staub ansetzen, es muss mit der Zeit gehen, wenn es auch in Zukunft viele Besucherinnen und Besucher ansprechen will. Deshalb freue ich mich, dass die Stiftung Haus der Geschichte vorbildlich zeigt, wie ein Museum auch im digitalen Zeitalter attraktiv bleiben kann. Die Nutzung neuer Medien ist mehr als eine technische Frage. Um mehr Sensibilität im Umgang mit Medien zu stiften, hat das Haus der Geschichte schon vor Jahren die Ausstellung „Bilder, die lügen“ ins Leben gerufen. Medienkompetenzen zu stärken und Manipulationen als solche zu entlarven – das bleibt im modernen Informationszeitalter wichtiger denn je, in dem ohnehin nicht selten von sogenannten alternativen Fakten die Rede ist – ein Begriff, der als solcher schon eine hochinteressante Kombination ist. Auch mit der Gestaltung der Innenarchitektur bleibt das Haus der Geschichte am Puls der Zeit. Das ist an der neuen Lounge leicht zu erkennen. Hier kann man sich etwa in sogenannten Sonic Chairs Zeitzeugeninterviews anhören. Die moderne Räumlichkeit lädt nicht nur zum Informieren, sondern einfach auch zum Verweilen und zum Gespräch ein. Da sich die Welt weiter wandelt und mit ihr auch unser Bild von der Welt, ist es wichtig, immer wieder einen Bezug zur jeweiligen Gegenwart herzustellen, um Menschen anzusprechen. Das heißt für die Stiftung, immer wieder auch die Konzeption der Dauerausstellungen an den einzelnen Standorten zu überprüfen und gegebenenfalls zu überarbeiten. Genau das geschieht ja auch – übrigens auch im Bundeskanzleramt, wo sich im Foyer eine Staatsgeschenkeausstellung befindet, deren Überarbeitung pünktlich zum Tag der offenen Tür der Bundesregierung im August fertig sein wird. Auch wir laden nach Berlin ein, wenn man das in Bonn darf. Ich bin gespannt darauf, wie die neue Ausstellung aussieht und werde sie natürlich in Augenschein nehmen. Ich muss zugeben, dass ich noch in die Kulturbrauerei schauen muss. Den „Tränenpalast“ habe ich mir schon angeschaut und meine Erinnerung an die Vergangenheit wieder aufgeweckt, aber die Kulturbrauerei liegt noch vor mir. Insofern wird jeder und jede von Ihnen sicherlich auch noch etwas zu entdecken haben, was Sie noch nicht genau kennen, was man noch näher betrachten muss. Ich glaube, gerade auch in der heutigen Zeit sind Geschichte und Gegenwart immer wieder in eine Verbindung zu bringen. Dass Sie das alle tun, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Hauses, lieber Herr Hütter, dafür ein herzliches Dankeschön. Alles Gute für die nächsten 25 Jahre.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 68. Deutschen Mietertag am 14. Juni 2019 in Köln
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-68-deutschen-mietertag-am-14-juni-2019-in-koeln-1637792
Fri, 14 Jun 2019 11:22:00 +0200
Köln
keine Themen
Sehr geehrter Herr Rips, sehr geehrte Frau Ministerin Scharrenbach, sehr geehrter Herr Staatssekretär Billen, sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Reker, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag und dem Landtag und vor allem Sie, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Deutschen Mietertages, meine Damen und Herren, ich freue mich, dass ich hier bin, obwohl ich wusste, dass hier nicht der Tag der vollständigen Harmonie sein wird. Es geht hier um ein zentrales Anliegen von Menschen, die in unserem Land gut leben wollen; und das ist das Thema Wohnen. Zur Frage des Geschlechts eines Bundeskanzlers oder einer Bundeskanzlerin darf ich sagen, dass – da ich mich gerade in das Buch der Stadt Köln eintragen durfte –hier zumindest einmal jemand Oberbürgermeister war, der später männlicher Bundeskanzler geworden ist. Das hat es also schon gegeben. Was die Zukunft bringt, das wissen wir nicht. Da müssen wir einmal schauen. Meine Damen und Herren, das Thema Wohnen beschäftigt die Menschen, die Architekten, die Städteplaner im Grunde seit vielen Jahren. Auch durch die Industrialisierung sind die großen Ballungsgebiete in unserem Land entstanden. Qualitativ gutes Wohnen hat eine lange Geschichte. Wir denken gerade auch im Zusammenhang mit dem Bauhaus und den vielen Gartenstädten an hundert Jahre dieser weisen und voraussehenden Städteplanung. Das eine sind die Wohnungen, in denen die Menschen wohnen. Das andere ist das Lebensumfeld, das Umfeld einer Stadt. Viele große Dinge – wie der Prototyp der Einbauküche bis hin zur Gestaltung von Gärten und Umwelt in der Stadt – sind sozusagen legendär und gehören zu einem guten Stück deutscher Geschichte. Das Thema Verkehrsanbindung und viele andere Aspekte spielen eine große Rolle für die Lebensqualität des Wohnens. Aber ich will mit sozialen Fragen beginnen, die Sie umtreiben und die uns ja auch in eine permanente Diskussion verwickeln, die nicht immer nur harmonisch verläuft, aber bei der doch Etliches passiert ist. Die jetzige Bundesregierung, die von Ihnen gerade auch kritisiert wurde, aber für die ich trotzdem ein gutes Wort einlegen möchte, hat das Thema bezahlbarer Wohnraum ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt. Wir haben im September 2018 einen gemeinsamen Wohngipfel veranstaltet. Dieser fand in dem Geist statt, dass wir zur Lösung des Wohnproblems in Deutschland nur kommen, wenn Kommunen, Länder und Bund zusammenarbeiten. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es – ganz zum Schluss muss vor Ort Wohnraum gebaut werden. Ich war sehr beeindruckt, als mir Frau Reker eben sagte, dass es durch eine Konzentration auf die Aufgabe gelungen ist, dass zum Beispiel in der Stadt Köln in 2018 über 80 Prozent mehr Wohnraum als 2017 fertiggestellt werden konnte. Das ist ein Lichtblick. Da muss weitergemacht werden. An dieser Stelle wollen wir helfen und unsere Maßnahmen mit einleiten. Ich will einige Punkte nennen. Wir werden in dieser Legislaturperiode über 13 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau, das Baukindergeld und das Wohngeld und die Städtebauförderung zur Verfügung stellen. Lassen Sie mich mit dem sozialen Wohnungsbau beginnen. Ich habe eben sehr aufmerksam zugehört, als Frau Scharrenbach gesagt hat, man wolle das auch für Modernisierungen öffnen. Ich habe gleich gefragt, ob das rechtlich machbar ist. Wenn ja, dann ist das sehr gut, weil natürlich sozialer Wohnungsbau auch nicht einfach dem Stillstand unterworfen werden kann. Wir haben ja große Klimaschutzherausforderungen und vieles andere mehr. Insofern muss sozialer Wohnungsbau da auch mithalten können. Bund und Länder haben 2006 in einer gemeinsamen Aktion der Föderalismusreform entschieden, dass der soziale Wohnungsbau von Stund an nur noch durch die Länder geleistet wird. Es gab dafür sogenannte Kompensationsmittel, die 2019 auslaufen. Wir haben angesichts der Größe der Aufgabe, die wir ja auch sehen, und angesichts von Entwicklungen – Sie haben das in Ihrem Antrag ja auch sehr gut mit den europäischen Entwicklungen der Freizügigkeit zusammengebracht – gesagt: Obwohl wir beschlossen hatten, dass 2019 die Unterstützung des Bundes ausläuft, öffnen wir das Grundgesetz wieder und ermöglichen weitere Kompensationszahlungen. So werden wir in dieser Legislaturperiode weiter fünf Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung stellen. Das ist ein richtiger Schritt. Aber wir haben sehr aufmerksame Haushaltspolitiker im Deutschen Bundestag. Sie haben sich einmal in allen Ländern angeschaut, ob die Kompensationsmittel, die in den vergangenen Jahren für den sozialen Wohnungsbau vom Bund ausgereicht wurden, auch wirklich im sozialen Wohnungsbau angekommen sind. Das war nicht in allen Fällen der Fall. Ich will jetzt hier gar keinen an den Pranger stellen. Ich will nur sagen: Das soziale Wohnungsproblem ist so groß, dass wirklich jeder Euro, der dafür gewidmet ist, auch in diesem Bereich ausgegeben werden muss. Ich denke, darin sind wir uns einig. Dann haben wir etwas gemacht, was viele Menschen auch aus Hartz IV herausbringt, nämlich aus der Situation, Anträge auf Zuschüsse zu stellen. Wir haben das Wohngeld um 30 Prozent erhöht. Ich finde, das ist eine wegweisende Änderung und ein wirklich wichtiger Schritt. Ich glaube, Herr Rips darf das nicht so positiv sagen. Aber ich finde, 30 Prozent mehr ist schon gut. Das bedeutet, dass statt 440.000 Menschen in Zukunft 660.000 etwas davon haben werden. Aber die viel wichtigere Weichenstellung ist, dass wir das mit den Lebenshaltungskosten verbunden haben. Das heißt, wir werden nicht jedes Jahr die Frage haben „Ist der Anpassungszeitpunkt schon wieder da?“ oder lange Zeiträume, in denen sich das Wohngeld überhaupt nicht mit den allgemeinen Kosten mitentwickelt, sondern wir haben jetzt die sogenannte Indizierung rechtlich verankert und damit ein Stück weit mehr Berechenbarkeit auf diesem Gebiet. Das halte ich auch für sehr, sehr wichtig. Wir haben das Baukindergeld eingeführt. Ich weiß nicht, wie hoch das bei Ihnen im Kurs steht. Aber es gibt immerhin schon 100.000 Anträge. Das Geld ist schon ziemlich weit ausgeschöpft. Wir haben viele Maßnahmen begonnen, die etwas mit der Frage zu tun haben: Wie können wir mehr Wohnungen bauen? Sie vertreten hier – das ist gut und wichtig; auch im Geiste der Partnerschaft und der Sozialen Marktwirtschaft – die Interessen der Mieterinnen und Mieter. Wir als Bundesregierung müssen natürlich auch darauf achten, dass genügend Wohnraum gebaut wird. Das kann nicht nur über staatliche Förderung geschehen, obwohl wir da sicherlich wieder mehr machen müssen, als wir in der Vergangenheit gemacht haben. Dazu gehört zum Beispiel auch, Wohnraum für unsere Bediensteten im Bundesbereich zu bauen. Die Länder tun das zum Teil auch. Wir müssen auch ein Klima schaffen, in dem gern gebaut wird. Allerdings braucht es Leitplanken, damit nicht dauernd das Falsche gebaut wird, sondern damit bedarfsgerecht gebaut wird. Dafür brauchen wir selbstverständlich auch interessierte private Investoren, die sich auch dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen müssen. Ob sie das immer getan haben, darüber gibt es ja unterschiedliche Einschätzungen. Auch ich bin nicht über jede Entwicklung froh. Aber ich glaube, es muss weiterhin für eine Gruppe von Menschen, die sich diesem Land verpflichtet fühlen, interessant und attraktiv sein, in Wohnraum zu investieren. Deshalb haben wir einige Maßnahmen auf den Weg gebracht, die Verbesserungen mit sich bringen und dann zu mehr Wohnungen führen. Denn die beste Antwort auf Wohnungsknappheit ist es, neuen Wohnraum zu schaffen. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Ein Vorhaben ist, eine Sonderabschreibung zu verabschieden, die – preislich gedeckelt – eine steuerliche Förderung für die Schaffung von Wohnraum mit sich bringt. Das Ganze liegt im Bundesrat und wird leider permanent – das muss ich sagen – von den Grünen im Bundesrat mit ordnungspolitischen Maßnahmen verquickt, sodass wir überhaupt nicht vorankommen. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir diese Blockade im Bundesrat überwinden könnten. Wir haben verschiedenste Kompromissangebote gemacht. Wir möchten, dass das nicht so ein Ding wird wie die Förderung der energetischen Gebäudesanierung, zu der ich noch einmal sagen möchte: Ich habe in meinem ganzen Leben keine Sache erlebt, bei der das Handwerk, die deutsche Wirtschaft und alle Umweltverbände drängend darum gebeten haben, dass die Altbausubstanz leichter energetisch saniert werden kann, um damit auch etwas für den Klimaschutz zu tun. Es ist nie durch den Bundesrat gekommen. Wir werden jetzt einen neuen Anlauf seitens der Bundesregierung unternehmen und hoffen, dass wir dann vielleicht doch noch ein Ergebnis bei der Frage zur Förderung der energetischen Gebäudesanierung bekommen. Wir müssen ja im Altbaubestand etwas machen, weil wir in diesem Bereich wirklich große Möglichkeiten für mehr Klimaschutz haben, aber eben auch großen Nachholbedarf. Wir haben die von Herrn Rips schon genannte Baulandkommission. Ich sage einmal, das Thema Bauland ist nun wirklich ein sehr drängendes. Denn seien wir einmal ehrlich: In den großen Ballungsbieten ist oft die Freude derjenigen, die in einem noch nicht allzu verdichteten Stadtteil wohnen, darüber begrenzt, neuen Wohnraum gebaut zu bekommen. Das heißt also, es muss hierüber auch eine öffentliche Diskussion von den Oberbürgermeistern geführt werden – sie wird ja auch geführt –, dass zur Schaffung von neuem Wohnraum auch gehört, eine sinnvolle Stadtgestaltung zu finden, damit sich Menschen auch wohlfühlen können. Nicht alle haben, wie Frau Reker mir gerade sagte, die Möglichkeit, ganz neue Stadtteile zu bauen, weil die Stadtgrenzen sehr beschränkt sind. Deshalb denken wir darüber nach: Wie kann man auch für Städte, die sozusagen schon bis an den Rand gewachsen sind, Erweiterungsmöglichkeiten finden? Deshalb denken wir darüber nach, welche anderen Möglichkeiten es gibt. Das Ergebnis soll im Sommer veröffentlicht werden. Ich hoffe, dass ein paar wirklich praktikable Dinge herauskommen. Wir stehen natürlich, was auch für Sie von großer Bedeutung ist, vor der Frage: Wie können wir dem Mietwucher begegnen? Wie können wir gegen zum Teil explosionsartige Mietsteigerungen angehen? Wir hatten die Mietpreisbremse eingeführt. Wir haben sie gleich zu Beginn dieser Legislaturperiode reformiert. Wir haben jetzt eine Bewertung, eine Begutachtung der Ergebnisse und werden im Lichte dieser Begutachtung überlegen, was man noch tun kann. Hier sind Ihre Forderungen weitergehender als die, die ich selber vertrete. Aber ich glaube, wir müssen mit solchen Instrumentarien des Ordnungsrechts durchaus arbeiten, weil wir ansonsten den Dingen sehr schwer Herr werden. Dazu gehören die Auskunftspflichten. Dazu gehört natürlich auch die Erstellung von Mietspiegeln – und zwar nicht nur von irgendwelchen Mietspiegeln, sondern von qualifizierten Mietspiegeln. Ich persönlich bin an dieser Stelle nicht restriktiv, weil ich finde: Transparenz muss man aushalten. Wir müssen aber aufpassen, dass wir uns nicht völlig verbürokratisieren. Ich weiß jetzt nicht, ob uns ein bundesweites Immobilienregister weiterhilft. Aber dass man vor Ort einen qualifizierten Mietspiegel hat, dass Mietsteigerungen transparent sind und dass es Auskunftspflichten gibt – all das halte ich für vernünftig und für richtig, um auch darauf achten zu können, dass die Dinge sich nicht selbst beschleunigen. Wir sind hier nach wie vor in einer noch sehr strittigen Diskussion. Und wenn Sie hier meinen Koalitionspartner, die Sozialdemokraten, einfach mal so ein bisschen abgewatscht haben, dann darf ich Ihnen sagen: die Sozialdemokraten kämpfen doch für viele Ihrer Anliegen; das will ich der guten Ordnung halber noch einmal sagen. Ich persönlich würde an Ihrer Stelle auf diese Unterstützung nicht einfach verzichten. Meine Damen und Herren, unser Thema heißt also: Wir wollen es schaffen, dass wir jedes Jahr 350.000 Wohnungen in Deutschland neu bauen. Das ist auch notwendig, gerade auch in der Situation, in der wir Fachkräftemangel haben. Sie weisen in Ihrem Leitantrag zu Recht darauf hin, dass jede Art von Fachkräftezuwanderung, sei es im Rahmen der europäischen Freizügigkeit oder sei es durch ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz, auch wieder abgebildet werden muss in der Stadtentwicklung, bei der Frage, genügend Schulen und Wohnraum zu haben. Das gehört einfach dazu. Ein letztes Wort noch zur Modernisierungsumlage: Auch hier haben wir etwas getan – im Sinne von Herrn Rips natürlich nicht genug, aber ich will trotzdem darauf verweisen. Ich halte es jedenfalls für einen guten Schritt, dass wir die Modernisierungsumlage von elf auf acht Prozent gesenkt haben. Auch hier gibt es wieder einen Konflikt, den Sie ja auch sehen; das weiß ich ja: Was wird dann noch modernisiert, was ist attraktiv?“. Ist das bei vier Prozent, wie Sie sagen, noch attraktiv? Wir haben da Zweifel. Deshalb sind wir den Schritt auf acht Prozent gegangen und werden uns natürlich anschauen, welche Wirkung das entfaltet. Jetzt zur Grundsteuer: Dazu werden wir in der nächsten Woche, ich sage einmal, mit großer Wahrscheinlichkeit einen Gesetzentwurf vorstellen, der dann auch schwierige parlamentarische Beratungen, auch im Bundesrat, mit sich bringen wird. Es ist richtig: Die Politik hat geahnt, dass, wenn die Sache vor das Verfassungsgericht kommt, wahrscheinlich das Verfassungsgericht damit nicht hundertprozentig zufrieden ist. Auf der anderen Seite wissen Sie auch, dass es ein sehr, sehr großes Rad ist, die Grundsteuer, die historisch gewachsen ist und die im Übrigen in den neuen Ländern anders erhoben wurde als in den alten Bundesländern, zu verändern. Wir müssen sehen – und da tritt natürlich die Schwierigkeit einer bundesweiten Mietenpolitik zutage –, dass wir auf der einen Seite sehr hoch bewertete Ballungsräume und auch sonstige sehr hochwertig bewertete Wohngegenden haben und auf der anderen Seite Städte, die Leerstände aufweisen, in denen aber Menschen, die genauso viel in ihre Immobilien investiert haben – ich denke da an Eigenheime –, heute aber nur einen Bruchteil zum Beispiel als Alterssicherung herausbekommen. Das ist ein riesiges Thema. Wenn zum Beispiel einer ein Haus in Höxter und ein anderer ein Haus in Freiburg gebaut hat, wenn diese Häuser irgendwann, vor Jahr und Tag, ähnlich viel wert waren, so klaffen aber heute die Werte weit auseinander. Der eine kann sich beim Verkauf einen guten Altersabschnitt sichern und der andere hat große Probleme, damit überhaupt noch klarzukommen. Das heißt, wir haben auch die Aufgabe, gerade auch in dicht besiedelten Regionen wie zum Beispiel dem Ruhrgebiet eine gute Verteilung durch Verkehrsanbindung, durch öffentlichen Personennahverkehr hinzubekommen, damit sich das Wohninteresse auf größere Gebiete erstreckt. Das ist etwas, das wir auch bedacht haben und worauf wir auch eine Antwort gefunden haben. Denn wir haben nicht nur für den sozialen Wohnungsbau unser Grundgesetz wieder geöffnet, sondern wir haben es auch für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz geöffnet, weil wir für den öffentlichen Personennahverkehr auch auf Bundesseite mehr tun müssen. Weil wir schon ahnten, dass die Ländervertreter bald wieder kommen und sagen, dass das nicht reicht, hatten wir die Dinge extra im Grundgesetz festgeschrieben. Der ehemalige Finanzminister, Herr Schäuble, hat gesagt: An das Grundgesetz geht so schnell keiner heran. Aber schwuppdiwupp, kaum schienen die Mittel nicht mehr auszureichen, hat man gesagt „Wir beteiligen uns auch an diesen Finanzierungen“ und hat das Grundgesetz wieder geändert. Ich glaube, das war zum Schluss auch richtig. Der Bund steht vor folgender Aufgabe: Wir haben auf der einen Seite die Notwendigkeit, Kommunen und Länder zu unterstützen. Ich habe Ihnen eine Vielzahl von Dingen genannt, bei denen wir nicht nur ordnungsrechtlich etwas machen, sondern auch finanziell unterstützen. Wir haben auf der anderen Seite auch international – schauen Sie sich heute einmal die Schlagzeilen zur internationalen Situation an – wachsende Aufgaben, was etwa die Sicherheit, die Entwicklungshilfe, die Bekämpfung von Fluchtursachen und viele andere Dinge anbelangt. Unser Steueraufkommen wird immer gleich verteilt – mit der Tendenz, mehr Anteile in die Richtung der Länder und Kommunen zu geben. Wir haben den Bund-Länder-Finanzausgleich neu geschaffen und vieles andere mehr getan. Wir haben aber ein systemisches Problem – und ich bitte Sie, mit daran zu denken –: Das ist das Problem, dass alles, was wir zwischen Bund und Ländern neu regeln – bis auf die Kosten der Unterkunft –, immer nach dem Umsatzsteueranteil geht. Das bedeutet schlicht und ergreifend, dass diejenigen, die relativ gut situiert sind, immer wieder mehr bekommen, und die, die relativ schlecht situiert sind, tendenziell weniger bekommen. Ich kann zum Beispiel Gelsenkirchen und Düsseldorf nennen. Das heißt, durch jede Umverteilung vom Bund auf die Länder erhöht sich auf der kommunalen Ebene der Unterschied zwischen den Finanzstärkeren und den Finanzschwächeren. Dieses Problem müssen wir – auch deswegen haben wir die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ eingesetzt – irgendwie lösen. Wir haben jetzt bei den Kosten der Unterkunft unser Konto im Grunde fast ausgereizt. Wir müssten dann zur Auftragsverwaltung übergehen. (Zuruf: Kein Problem.) – Kein Problem, sagt Frau Scharrenbach; sie muss auch nicht direkt mit den Kommunen darüber verhandeln, welche Wohnungen man dann vermietet, wenn der Bund ja eh alles zahlt. – Das ist aber eigentlich unser einziger Hebel, um wirklich zu einem Ausgleich der Lebensverhältnisse und der Finanzkraft zu kommen. Ich finde, wir müssen darüber noch einmal nachdenken, zumal ich ganz ehrlich sagen muss: Als Bundespolitiker – und ich bin ja Physikerin und verstehe ein bisschen etwas von Formeln, Mathematik und so – zu verstehen, wie innerhalb der 16 Bundesländer der Finanzausgleich mit den Kommunen und den Kreisen stattfindet, ist eine Wissenschaft für sich, da wir völlig unterschiedliche Systeme haben. Es ist fast nicht möglich, herauszufinden, wo genau ein Euro, den wir als Bund für einen guten Zweck gegeben haben, bei der Kommune angekommen ist, nachdem wir die Umsatzsteuer verteilt haben. Das ist ein Buch mit sieben Siegeln. Aber vielleicht beschäftige ich mich, wenn ich nicht mehr im Amt bin, speziell noch einmal damit, denn das möchte ich eigentlich doch noch verstehen. Meine Damen und Herren, wir haben eine Vielzahl an Möglichkeiten, schneller zu bauen und auch umweltfreundlicher zu bauen. Wir haben die „Forschungsinitiative Zukunft Bau“, die auch vom Bund unterstützt wird. Wir investieren in diesem Jahr, glaube ich, 790 Millionen Euro in die Städtebauförderung. Die soziale Stadt ist ja mehr als die Summe aller Wohnungsangebote; da gehört sehr viel mehr dazu. Ich glaube, wir müssen auch mehr zu einem typisierten Bauen kommen, da wir planungsrechtlich nicht allzu schnell sind; dafür ist Deutschland bekannt. Nicht alles dauert so lange wie der Bau des Berliner Flughafens, aber vieles kommt trotzdem zu langsam voran. Deshalb müssen wir auch für Planungsbeschleunigung sorgen. Wir müssen vielleicht auch nicht jeden Wohnungstypus extra genehmigen, sondern können an einigen Stellen auch von den Lernerfahrungen anderer profitieren. Ich will abschließend noch sagen, dass wir in zwei Richtungen große Herausforderungen haben, für die die Städtebauförderung und verschiedene Maßnahmen wichtig sind. Die eine große Herausforderung ist unsere demografische Entwicklung. Wir brauchen das altersgerechte – und ich füge hinzu: auch das behindertengerechte – Umbauen von Wohnraum. Hier haben wir noch eine riesige Aufgabe vor uns. Zweitens brauchen wir in Zukunft eine neue Form der Mobilität – auch als Antwort auf die Klimakrise. Der Charakter der Mobilität wird sich in den Ballungszentren komplett verändern. Es gibt eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die Vorschläge zur Novellierung des Wohneigentums und des Mietrechts vorlegen wird. Dabei geht es auch um Fragen der Barrierefreiheit, der energetischen Sanierung und des Einbaus von Ladestellen für Elektrofahrzeuge. Das gestaltet sich ja auch äußerst schwierig. Wenn Sie ein Eigentümerhaus mit 16 oder 20 Parteien haben, dann muss auch der letzte zugestimmt haben, bevor der erste eine Ladeinfrastruktur einbauen kann. Wenn wir da nicht schneller vorankommen, dann werden wir nicht nur die Erweiterung des Wohnraumkontingents, sondern eben auch die erforderliche Neugestaltung der Infrastruktur nicht in der richtigen Zeit wirklich angehen können. Und das wäre sehr fatal. Deshalb müssen wir – und da bin ich auch wirklich dabei – den Städten und Kommunen die Möglichkeit geben, die ihnen angepassten Lösungen für die Verkehrsführung und damit für die Einhaltung der Umweltnormen – zu NOx, Feinstaub und Ähnlichem – zu finden. Das heißt, eine gute kommunale Finanzausstattung ist natürlich auch im Interesse des Bundes. Aber es ist nicht so, dass eine Lösung alle Probleme dieses Landes löst, sondern jede Kommune hat ihre eigene besondere Situation. Ich habe mich im Zusammenhang mit den Grenzwertüberschreitungen sehr intensiv mit den verschiedensten deutschen Kommunen befasst und darf sagen, dass manche sehr innovativ sind, während andere noch ein bisschen hinterherhinken. Man muss schon sagen: Solche Fragen sind im Grunde Chefsache; damit kann sich nicht allein der Umweltdezernent beschäftigen. Wir haben eine ganze Reihe von Anreizen für eine Erneuerung des öffentlichen Personennahverkehrs geschaffen – zum Beispiel mit Bussen oder auch kleineren Fahrzeugen, die elektrisch, mit Wasserstoff oder mit Gas betrieben sind. Es muss aber natürlich auch alles Hand in Hand im gesamten Verkehrsbereich vor Ort geschehen. Meine Damen und Herren, wir sind im Grunde also in einer Phase, in der Deutschland noch einmal grundlegend erneuert werden muss. Dazu gehört mehr Wohnraum. Insofern hatte Gerhard Stoltenberg damit – wenn er es so gesagt hat –, dass Deutschland gebaut sei und nun nichts mehr passieren müsse, die Sache sicherlich nicht voll erfasst; manches ist ja da, aber nicht alles. Ich glaube, wir können auch im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern deutlich machen, dass es Freude machen kann, Deutschland zu erneuern. Das setzt aber voraus, dass wir an alle denken; da gebe ich Ihnen recht. Und da sind die Mieterinnen und Mieter eine wichtige Gruppe. Deshalb lassen Sie mich danke sagen. Ich habe mir natürlich überlegt, ob ich zu Ihnen komme – klar, ich muss mir ja überlegen, ob ich Ja oder Nein sage. Ich habe mich durchaus über die Einladung gefreut, aber ich wusste ja, dass ich auch Kritik zu hören bekomme. Es ist sehr wichtig, dass wir in diesen Zeiten miteinander im Gespräch bleiben, gerade weil viele Menschen kaum mehr ein Gespräch suchen. Alle, die hier sind, sind ja sozusagen abgesandt von anderen, an diesem Deutschen Mietertag teilzunehmen. Das alles sind Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, die versuchen, anderen Menschen zu helfen und deren Interessen zu vertreten. Ich weiß, dass, wenn man sich mit jedem Einzelnen von Ihnen unterhalten würde, jeder eine Unzahl ziemlich gravierender Dinge erzählen könnte, die nicht so laufen, wie sich die Väter und Mütter der Sozialen Marktwirtschaft das vorgestellt haben. Deshalb sage ich ausdrücklich: Wir müssen im Gespräch bleiben; Sie müssen die Interessen der Mieterinnen und Mieter vertreten; und wir werden das Thema Wohnungsbau ganz oben auf der Tagesordnung haben – und zwar Wohnungsbau, der dem Gemeinwohl dient. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Verabschiedung des Direktors der Villa Massimo, Joachim Blüher
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-verabschiedung-des-direktors-der-villa-massimo-joachim-blueher-1639884
Thu, 13 Jun 2019 11:00:00 +0200
Im Wortlaut
Rom
Kulturstaatsministerin
Kultur
Sich zu verewigen, etwas Bleibendes zu schaffen, etwas aufzubauen, was über die eigene Amtszeit hinaus als Vermächtnis im Gedächtnis bleibt, das ist schwer genug. Am schwersten überhaupt ist es vielleicht in der „Ewigen Stadt“: in jener Stadt, in der materielle und geistige Vermächtnisse, Schätze und Werte von der Antike bis zur Gegenwart sich zu einem Panorama europäischer Geschichte, zum Fundament Europas verdichten; in jener Stadt, in der die ganz Großen ihre Spuren hinterlassen haben. Ja, Rom ist ein hartes Pflaster, um Geschichte zu schreiben – wenn man nicht gerade als Papst den Dienst antritt. Umso bemerkenswerter finde ich es, lieber Joachim, dass Du es geschafft hast, Dir in Rom einen Namen und Deutschland damit alle Ehre zu machen! Ehrensache, dass ich heute nach Rom komme, um mich persönlich bei Dir zu bedanken und im Kreis Deiner Familie, Deiner Freunde, Weggefährten und aktuellen Stipendiatinnen und Stipendiaten wenigstens kurz Revue passieren zu lassen, was bleibt aus 17 Blüher-Jahren! Ob Du damit in die Annalen Roms eingehen wirst, wissen die römischen Götter. Der lange im Dornröschenschlaf versunkenen Villa Massimo jedenfalls hast Du einen prominenten Platz im pulsierenden Kulturleben Roms verschafft und sie – einst weltentrücktes Idyll, ein sprichwörtlicher Elfenbeinturm deutscher Dichter und Denker – in einen brodelnden Schmelztiegel wechselseitiger Inspiration und Neugier verwandelt. Man sieht es diesem ehrwürdig anmutenden Palazzo mit dem malerischen Park ja nicht auf den ersten Blick an: Doch im Austausch, in der Reibung, bisweilen auch in der Konfrontation zwischen unterschiedlichen künstlerischen Disziplinen und Positionen einerseits und zwischen Stadtgesellschaft und Künstlergemeinschaft, zwischen Kunst und Kirche, zwischen deutscher und italienischer Kultur andererseits entsteht hier jene ganz besondere Energie, die den Geist der Villa Massimo ausmacht: Funken, an denen sich das Feuer schöpferischer Kraft entzünden kann. Wer einmal durch die Künstlerpavillons geschlendert ist, wer sich mit den Stipendiatinnen und Stipendiaten über ihre in Arbeit befindlichen Werke unterhalten konnte, weiß genau, wovon ich rede – und auf den Streifzug durch die Ateliers beim Sommerfest heute Abend freue ich mich deshalb auch schon sehr! Es ist Dein Verdienst, lieber Joachim, dass dieser Geist der Freiheit und Inspiration in Offenheit und Vielfalt in der Villa Massimo mit frischem Wind zu neuem Leben erwacht ist. Du warst es, der die Türen und Fenster geöffnet hat, der ordentlich durchgelüftet und für Kontakt und Austausch mit der Kunst– und Kulturszene auch jenseits der Parkmauern gesorgt hat: bei Hauskonzerten, Lesungen und Ausstellungen, bei Studiopräsentationen, aber auch mit Kult-Events, für die gerade junge Italienerinnen und Italiener Schlange stehen. Ja, Du verstehst es, deutsche Kulturtradition und zeitgenössische Kunst gleichermaßen zu zelebrieren – und das nicht nur beim mittlerweile legendären Sommerfest, für das die Villa heute Abend wie jedes Jahr ihre Tore öffnet. So ist die Villa Massimo unter Deiner Ägide zum Mekka deutscher Kultur in Rom, zur Pilgerstätte ihrer Liebhaber geworden. Damit hast Du in der Ewigen Stadt bleibenden Eindruck hinterlassen, und davon hat auch das Renommeé des Stipendiums profitiert: Nicht nur wegen der klingenden Namen bisheriger Stipendiatinnen und Stipendiaten, sondern auch dank Deines Wirkens ist es heute gleichermaßen Statussymbol und kreativer Schub für Künstlerinnen und Künstler. So übergibst Du Deiner Nachfolgerin Julia Draganovic eine deutsche Werkstatt für Weltkunst und ein beeindruckendes Schaufenster zeitgenössischer Kunst und Kultur aus Deutschland – eine Einrichtung, für die jene 2,3 Millionen Euro, die der Bund jährlich zur Verfügung stellt, gut angelegtes Geld sind; eine Einrichtung, wie der große jüdische Mäzen Eduard Arnhold – (einer der bedeutendsten Kunstförderer, dessen Verdienste viel mehr als bisher Wahrnehmung und Würdigung verdienen!) – sie vor Augen hatte, als er dem deutschen Staat vor gut 100 Jahren die „Academia Tedesca“ in Rom schenkte. Weil Sie sich nun möglicherweise fragen, meine Damen und Herren, wie Joachim Blüher es hinbekommen hat, aus einem – ein wenig angestaubten – deutschen Kultur-Ort eine pulsierende und vibrierende Kult-Stätte zeitgenössischer deutscher Kunst zu machen, will ich nicht unerwähnt lassen, dass italienisches Kulturgut dabei eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat. Joachim Blüher weiß nämlich nur zu gut, dass Liebe durch den Magen geht – und zwar auch außerhalb Italiens. Partner und Unterstützer aus der Politik, Sponsoren und Förderer aus der Wirtschaft hat er deshalb mit kulinarischen Spezialitäten (im wahrsten Sinne des Wortes!) auf den Geschmack gebracht – sei es, um Mittel für die Renovierung locker zu machen, sei es, um den Stipendiatinnen und Stipendiaten mit der Villa Massimo-Nacht im Martin-Gropius-Bau einmal im Jahr eine Bühne in der deutschen Hauptstadt zu bieten. In Berlin erkannte man ihn schon von weitem nicht nur an seiner markanten Statur, sondern auch an den Beutelchen, die er immer mit sich herumtrug – darin ein unfassbar aromatischer Limoncello, der sich parteiübergreifend großer Beliebtheit erfreute. Ja, Joachim Blüher konnte mit allen gut, er ist ein begnadeter Netzwerker … und ich denke, diese Offenheit, diese Aufgeschlossenheit für ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, Milieus und Kulturen, die Fähigkeit, Vielfalt als Gewinn zu sehen, das ist sein Erfolgsgeheimnis. „Nie dürfen wir in Europa gleich werden wollen, gerade unsere Unterschiede vereinen uns“: So hast Du Deine Grundüberzeugung einmal formuliert, lieber Joachim, und das Zusammentreffen des Unterschiedlichen tut auch der Villa Massimo gut. Nur in einem Punkt würde ich persönlich – als bekennende Bewunderin des italienischen Kleidungsstils – Dir zur optischen Angleichung raten: Deine schmucke Fliege (korrekt sagt man „Schleife“, wie ich beim Herrenausstatter erfahren habe) … Deine schmucke Schleife also hing oft ein bisschen müde an Deinem Hemdkragen, und das passt so gar nicht zu ihrem unermüdlichen Träger. Deshalb habe ich Dir als Abschiedsgeschenk eine hoffentlich gut sitzende Fliege / Schleife mitgebracht, erworben beim Ausstatter des Bundespräsidenten: als Reminiszenz an das italienische Stilbewusstsein – oder auch als Reminiszenz an den deutschen Perfektionismus. Du wirst sicherlich auch hier das Beste aus beiden Welten zusammen bringen – so wie in den vergangenen 17 Jahren. Dafür danke Dir von Herzen: Grazie mille, dottore!
In ihrer Rede würdigte Kulturstaatsministerin Grütters die Verdienste des langjährigen Direktors der Villa Massimo. Mit ihm sei der „Geist der Freiheit und Inspiration in Offenheit und Vielfalt in der Villa Massimo mit frischem Wind zu neuem Leben erwacht“.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters im Rahmen eines Abendessens in der deutschen Botschaft Rom
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-im-rahmen-eines-abendessens-in-der-deutschen-botschaft-rom-1640260
Wed, 12 Jun 2019 20:00:00 +0200
Im Wortlaut
Rom
Kulturstaatsministerin
Kultur
Liebe geht bekanntlich durch den Magen. Das gilt besonders für die Liebe der Deutschen zu Italien. Ich gestehe deshalb gerne, lieber Herr Elbling, dass ich Ihrer Einladung zum Abendessen, heute Abend mit mindestens genauso großer Freude gefolgt bin als vor zwei Jahren bei unserer ersten Begegnung in Mexiko-Stadt, Ihrer damaligen Diplomatenstation. Denn bei aller Wertschätzung für die mexikanische Küche: Das kulinarische Weltkulturerbe Italiens steht einem deutschen Magen nicht nur geographisch gesehen doch noch näher. Die Cucina Italiana ist längst fester Bestandteil deutscher Esskultur, und auch, wenn „Prosciutto di Parma“, „Gnocchi“, und „Stracciatella“ den Deutschen bis heute nicht immer fehlerfrei über die Lippen gehen: Der Gaumenfreude tut das keinen Abbruch… Kurz und gut: Ich freue mich, (wieder einmal) in Rom zu sein und danke ich Ihnen herzlich für die Einladung zum Abendessen, lieber Herr Elbling. Leider ist die Aufgeschlossenheit für kulturelle Vielfalt im Allgemeinen nicht in jeder Hinsicht so selbstverständlich wie beim Essen… : Die Bereitschaft, über den eigenen Tellerrand zu schauen, reicht vielfach nicht über selbigen hinaus. Selbst in Gründungsstaaten der Europäischen Union, in Deutschland wie auch in Italien, reden populistische Parteien und Politiker einem längst überwunden geglaubten Nationalismus das Wort. Ihre Stimmengewinne bei der Europawahl nicht zuletzt in Italien und in Teilen Deutschlands zeigen: Der überparteiliche Konsens, dass die Europäische Union Frieden und Wohlstand sichert und viele Herausforderungen sich besser auf europäischer als auf nationalstaatlicher Ebene bewältigen lassen, ist brüchig geworden. Ja, selbst das Bekenntnis zu demokratischen Errungenschaften, zu den Lehren aus den Diktaturerfahrungen des 20. Jahrhunderts, zur Freiheit der Kunst, der Wissenschaft und der Presse, ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Trotz der Vorfreude auf einen heiteren, vom politischen Tagesgeschäft ungetrübten Abend kann und will ich deshalb doch auch nicht verhehlen, dass mir diese Entwicklungen große Sorgen machen – und dass ich gerade uns in einer besonderen Verantwortung sehe, die wir in der Kulturpolitik, in Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen erleben, wie bereichernd kulturelle Vielfalt und interkultureller Austausch sein können. Ja, bei allem Respekt vor Ihren diplomatischen Künsten, lieber Herr Elbling: Es gibt wohl kaum eine bessere „Botschafterin“ als die Kultur selbst – und das gilt nicht nur für die eingangs erwähnte Esskultur! Ob Literatur, Theater, bildende Kunst, ob Musik, Tanz oder Film: Kunst kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht, Kunst kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Und wo, wenn nicht in Museen, wo, wenn nicht im Angesicht unseres reichen, europäischen Kulturerbes (gerade hier in Rom!), wird sichtbar und erfahrbar, dass die Europäische Union viel mehr ist als eine Freihandelszone oder ein Zweckbündnis zur Durchsetzung der Interessen ihrer Mitglieder! Kulturelle Vielfalt ist deshalb das Beste, was wir populistischer Einfalt entgegensetzen können. Deshalb, verehrte Damen und Herren, bin ich von Herzen dankbar für die Arbeit gerade der kulturellen Mittler Deutschlands in Rom. Sie wecken nicht nur das Interesse an Bach und Beethoven, Goethe und Schiller. Sie stärken auch nicht nur die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Italienern und Deutschen. Sie erinnern vor allem immer wieder daran, dass uns Europäer – trotz aller Krisen und Konflikten – viel mehr verbindet als uns trennt. Mich interessiert sehr, verehrte Damen und Herren, wie Sie die Stimmung in Rom, in Italien insgesamt wahrnehmen: die Haltung zu Deutschland und zu Europa zum einen – und zum anderen die Möglichkeiten, mit der Kraft der Kultur zu einem lebendigen, sich seiner selbst bewussten Europa, zur europäischen Einheit in Vielfalt beizutragen. Deshalb freue ich mich auf den Austausch mit Ihnen und auch auf meine morgigen Termine, insbesondere auf das in Rom mittlerweile legendäre Sommerfest der Villa Massimo. So mancher Italiener soll hier ja schon überrascht festgestellt haben, dass die Deutschen gut gelaunt feiern, ja sich sogar dem dolce vita hingeben können. Umgekehrt hat man auch auf deutscher Seite mit Hilfe neuer kulinarischer Erfahrungen schon so manche Barriere überwunden. Roms erster deutscher Ehrenbürger, der Ostpreuße Ferdinand Gregorovius, jedenfalls schwärmte Mitte des 19. Jahrhunderts noch von den schlesischen Wurstbuden Roms und verschmähte die Pizza – mit der Begründung, es gehöre der Magen eines Lazzarone – eines Lumpen, eines Gauners – dazu, sie zu verdauen. Heute essen die Deutschen Pizza nicht nur; sie machen sie sogar selbst. Und wenn Magen und Gaumen lernfähig sind, dann sind es doch auch Herz und Hirn! In diesem Sinne: auf die deutsch-italienische Freundschaft! Guten Appetit!
Angesichts zunehmend populistischer Entwicklungen in Teilen Europas stellte Monika Grütters fest: „Der überparteiliche Konsens, dass die Europäische Union Frieden und Wohlstand sichert und viele Herausforderungen sich besser auf europäischer als auf nationalstaatlicher Ebene bewältigen lassen, ist brüchig geworden.“
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum 50-jährigen Jubiläum des Grips-Theaters
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-50-jaehrigen-jubilaeum-des-grips-theaters-1637598
Tue, 11 Jun 2019 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
„Sechs Uhr vierzehn Bahnhof Zoo. Der Zug rollt ein/Die Bremsen schreien/ (…) Ich spür´s wie Fieber/ Jetzt bin ich am Ziel/ Ich schnapp gleich über/ Mann ist das´n Gefühl“. So beginnt die „Linie 1“, meine Damen und Herren. Ich bin zwar nicht in Berlin, sondern in Münster aufgewachsen, aber die „Linie 1“ ist auch dort angekommen, und ihre berühmten Lieder klingen mir bis heute im Ohr. Verzeihen Sie mir bitte, dass ich hier trotzdem nur zitiere und nicht singe, musikalische Beiträge gibt es ja heute noch viele. Mittlerweile hat die „Linie 1“ auf allen Kontinenten und in etlichen Metropolen dieser Erde Station gemacht von Seoul bis New York, von Kalkutta bis Wien. Und sie erzählt viel darüber, was es bedeutet, Grips zu haben und Grips zu sein. „Ich spür´s wie Fieber“ singt das Mädchen aus der „Linie 1“, und dieses Fieber, diese vibrierende Energie, diesen Aufbruchswillen spürte man auch in den Gründerjahren des Gripstheaters – und, meine Damen und Herren, man spürt es bis heute, wenn man in dieses pulsierende, lebendige Theater geht. Als wir Münsteraner Mädchen in den 60er Jahren uns noch mit brav inszenierten Weihnachtsmärchen begnügen mussten, wenn wir ins Theater gingen, fieberten die Berliner Kinder (und übrigens auch die, die die Fernsehübertragungen gucken durften) schon mit der frechen Millipilli mit und sangen selbstbewusst auf den Pausenhöfen Lieder wie: „Wer sagt, dass Mädchen dümmer sind, der spinnt“. Denn, meine Damen und Herren, in Westberlin eroberte die Grips-Truppe die Herzen der Kinder- und Jugendlichen im Sturm. Kein Wunder, denn sie nahmen die Kinder als eigenes Publikum ernst. Sie sprachen mit ihnen und hörten ihnen zu. Sie kannten ihre Nöte, ihre Ängste, ihre Hoffnungen und Wünsche. Sie ermutigten sie zum eigenständigen Denken, sie weckten in ihnen Rebellion und Widerspruch. Lieber Volker Ludwig, liebes Ensemble und alle, die am Erfolg des Grips-Theaters beteiligt waren und es noch sind: Sie haben mit Ihren Songtexten und Melodien, Sie haben mit Ihren Revuen und Stücken Kindern und Jugendlichen neue, phantastische Welten eröffnet und der kühlen Alltagswelt der Erwachsenen mit wärmendem Humor das Bedrohliche genommen. Mit dem „Fieber“ der Anfangsjahre, mit Ihrem Enthusiasmus und Ihrer Kreativität haben Sie Kinder, Eltern und Lehrer, haben Sie Theatermacher in der ganzen Bundesrepublik buchstäblich angesteckt. In der Folge entstanden in vielen Städten und Gemeinden Kinder- und Jugendtheater als eigenständige Sparte mit einer anspruchsvollen Ästhetik – jenseits jeder Verniedlichung und der bis dato oft üblichen „Kindertümelei“. Die Stücke des Grips gehörten und gehören deshalb bis heute zum Repertoire der meisten Häuser. Das Grips hat eine Entwicklung angestoßen, der eine wichtige kulturpolitische und soziale Bedeutung zukommt. Als Pionier eines zeitgenössischen Kinder- und Jugendtheaters führte es ein junges Publikum unabhängig von Herkunft und Bildungsschicht an Kunst und Kultur heran, öffnete ihm neue Welten und schärfte das Bewusstsein dafür, wie wichtig Theater für die Persönlichkeitsentfaltung, für Reflexion und Selbstbewusstsein und damit auch für die Entwicklung unserer Gesellschaft ist. Dazu gehört auch, dass Kunst manchmal wehtun muss. Dass sie grell ins Auge sticht, weil sie Wahrheiten ans Licht bringt. „Ans Licht gezerrt / Aus der Würde der Nacht / in den Tag / der alles zur Lüge macht“, heißt es im zweiten Bild der „Linie 1“, die mit einem Kaleidoskop an Figuren aller Couleur und Gesellschaftsschichten Abgründe sichtbar macht und soziale Missstände aufzeigt. Liebe Gripstheatermacherinnen und -macher, Sie waren und sind oft unbequem und das, meine Damen und Herren, ist selbstverständlich ein Kompliment. Sie haben nicht nur mit Stücken, wie „Ab heute heißt Du Sara“ über die nationalsozialistische Vergangenheit aufgeklärt; Sie haben mit Charme und Chuzpe auch mit dem braunen Sumpf der Nachkriegsjahre aufgeräumt. Wer kennt sie nicht, die Wilmersdorfer Witwen: schrille Altnazis, die mit ihrem speziellen Sinn für Recht und Ordnung meinem Kiez zwar wahrlich keine Ehre machten, ihm aber immerhin Weltbekanntheit verschafften. Schonungslos und unerbittlich haben Sie auch immer wieder in Ihren Stücken und Liedern mit einem liebevollen Blick auf die kleinen Leute, die Abgehängten und Verlierer, die Schattenseiten des Kapitalismus entlarvt. Beim Schielen über die Mauer haben Sie allerdings – vor allem in den Anfangsjahren – manchmal ein wenig zu sehr die Augen zugekniffen. Aber Sie haben Kindern und Jugendlichen eben immer gezeigt, dass sich die Welt verändern lässt. Sie haben sie ermutigt und darin bestärkt, für ihre Rechte einzutreten. Wie heißt es doch so schön in der „Linie 1“: Hab wieder Mut zum Träumen / von einem Leben, das brennt / Mut zum Träumen / von dir, wie keiner dich kennt.“ Ja, meine Damen und Herren, das Grips hat vielen frech in die Suppe gespuckt – auch meiner Partei übrigens, die in den 70er Jahren mit ihrer Anti-Grips-Kampagne unfreiwillig für das Haus warb. Aber auch wir sind 50 Jahre weiter und haben daraus unsere Lehre gezogen. Wer hätte gedacht, dass eine CDU-Politikerin ein Jubiläumsgrußwort auf der Gripsbühne hält? Herzlichen Dank, lieber Herr Harpain und lieber Herr Ludwig, für Ihre Einladung. Ich freue mich sehr, heute hier zu sein, verbindet uns doch, ungeachtet aller politischer Differenzen, nicht nur die Liebe zum Theater, sondern auch der Glaube an die Freiheit und Unabhängigkeit der Kunst. Es ist ihr Recht und ihre Aufgabe, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Das Grips hat sich dabei immer und ganz besonders die Menschen vor Ort, nämlich die Berlinerinnen und Berliner, vorgenommen. Nicht nur in der „Linie 1“ haben Sie, liebe Gripstheatermacher, Berlin besungen: „Darum, du Sonnenaufgangsstadt/ Solang die Zwangsneurose blüht/ Sing ich dein Lied Berlin/ Sing ich dein Lied“. Sie sind aber auch in die Welt hinausgegangen und haben auf vielen Kontinenten dieser Erde Ihre Stücke gespielt. Und Sie haben sich die Welt ins Grips geholt. Man muss hier nur ins Publikum blicken oder Ihr Jubiläumsprogramm mit den Adaptionen der Gripsstücke aus Indien, Griechenland, Südkorea, Uganda und Ägypten anschauen: Grips ist gelebte Völkerverständigung. Dieser Kulturaustausch befruchtet nicht nur den ästhetischen Diskurs, er trägt vor allem auch zu einer offenen Gesellschaft, zu einem lebendigen Miteinander bei. Mit Ihrem Open-Stage-Format und Ihren theaterpädagogischen Konzepten haben Sie gerade in den vergangenen Jahren immer wieder Begegnungsräume für Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen und ethnischen Milieus – für Menschen mit und ohne Fluchterfahrung − geschaffen und ihnen die Möglichkeit gegeben, gemeinsam Ideen und Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Das hat Modellcharakter und setzt Maßstäbe für unsere gesamte Gesellschaft. Ich freue mich sehr, dass der Berliner Senat diese wichtige und wertvolle Arbeit umfangreich unterstützt. Der Bund hat dazu − Stichwort Kulturföderalismus − kaum Möglichkeiten. Umso wichtiger ist das langjährige Engagement des Landes Berlin, ist die so wichtige institutionelle Förderung des Grips. Liebes Grips-Ensemble, Ihre Bühne ist für viele eine künstlerische Heimat geworden. Sie hat sich mit den Menschen, die sie bevölkern, gewandelt. Und sie ist sich dabei doch immer selbst treu geblieben. Mit Ihrem wachen Geist sind Sie heute wie damals am Puls der Zeit. Es erfordert Mut und Vertrauen, sich dem Generationenwechsel und den neuen Sehgewohnheiten zu stellen, die das digitale Zeitalter mit sich bringt. Beides wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen: den Mut, Ihren Weg beharrlich, auch gegen Widerstände, weiterzugehen; und Vertrauen in Ihr Können und nicht zuletzt in Ihr Publikum: die Kinder. Sie sind die ehrlichsten und kritischsten Zuschauer überhaupt! 50 Jahre: Das ist zumindest in einem Menschleben nicht mehr ganz die Mitte, aber es sind die besten Jahre – das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Ich wünsche Ihnen noch viele, viele weitere gute Jahre! Herzlichen Glückwunsch allen Ermöglichern, Machern und Wegbereitern des Grips!
In ihrer Rede lobte Kulturstaatsministerin Grütters die Verdienste des Grips-Theaters in Berlin. Als Pionier eines zeitgenössischen Kinder- und Jugendtheaters habe es ein junges Publikum unabhängig von Herkunft und Bildungsschicht an Kunst und Kultur herangeführt, ihm neue Welten geöffnet und das Bewusstsein dafür geschärft, „wie wichtig Theater für die Persönlichkeitsentfaltung, für Reflexion und Selbstbewusstsein und damit auch für die Entwicklung unserer Gesellschaft ist“, erklärte Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum 100. Gründungsjubiläum der Internationalen Arbeitsorganisation am 11. Juni 2019 in Genf
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-100-gruendungsjubilaeum-der-internationalen-arbeitsorganisation-am-11-juni-2019-in-genf-1636370
Tue, 11 Jun 2019 12:21:00 +0200
Genf
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Sehr geehrter Herr Präsident, Exzellenzen, sehr geehrter Herr Generaldirektor, lieber Guy Ryder, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, meine Damen und Herren, ob es in einer Gesellschaft menschlich und gerecht zugeht, zeigt sich auch und ganz besonders an den Arbeitsbedingungen. Werden Menschen allein als Produktionsfaktoren angesehen oder können sie sich verwirklichen und ihre Talente entfalten? Reicht das Einkommen für ein menschenwürdiges Leben? Wie steht es um Gesundheit und Sicherheit bei der Arbeit? Die Internationale Arbeitsorganisation ILO arbeitet seit jeher daran, die Arbeitsbedingungen menschengerecht zu machen. Die Mitgliedstaaten sind in dem Bestreben vereint, menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu fördern. Denn die Wirtschaft hat dem Menschen zu dienen und nicht umgekehrt. Ich denke, das ist der zentrale Satz, den wir uns immer wieder vor Augen führen müssen – auch und gerade in Zeiten zunehmender Globalisierung. Ich danke Ihnen, Herr Generaldirektor Ryder, deshalb sehr für die Einladung. Dies ist die 108. Internationale Arbeitskonferenz; und sie ist eine ganz besondere Konferenz. Denn sie ist gleichsam der Höhepunkt der Feiern zum hundertjährigen Bestehen der ILO. Ich möchte Ihnen ganz besonders zu diesem Geburtstag gratulieren – der Organisation und allen, die sich ihren erklärten Zielen verpflichtet fühlen: sozialer Gerechtigkeit und anständiger Arbeit. Das ist übrigens nicht das erste 100. Jubiläum, das ich mit Ihnen feiern darf. Ich erinnere mich noch genau und gerne an meinen Besuch vor acht Jahren. Damals war es die 100. Arbeitskonferenz. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO wird heute genauso gebraucht wie zu ihrer Anfangszeit vor 100 Jahren. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurden in der Pariser Friedenskonferenz 1919 nicht allein Fragen von Grenzziehungen und Gebietszuteilungen, Kriegsschuld und Reparationen behandelt. Es ging auch um Arbeiterrechte. Die soziale Frage war fester Teil des Friedensprozesses – eine sehr weitsichtige Entscheidung. So wurde 1919 neben dem Völkerbund auch die Internationale Arbeitsorganisation ins Leben gerufen. Ein neues Kapitel der Zusammenarbeit zwischen den Staaten war aufgeschlagen. Wie können wir Frieden sichern? Die Antwort der ILO darauf lautet: mit sozialer Gerechtigkeit. In der Präambel ihrer Verfassung sehen sich die Partnerstaaten „geleitet sowohl von den Gefühlen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit als auch von dem Wunsche, einen dauernden Weltfrieden zu sichern.“ Diese Hoffnung erwies sich allerdings sehr schnell als trügerisch. Denn schon zwei Jahrzehnte später, 1939, entfesselte Deutschland den Zweiten Weltkrieg. Er und der von Deutschland begangene Zivilisationsbruch der Shoa übertrafen alles bisher Geschehene an Grauen, an menschlichen Verlusten und Verbrechen. Deshalb können wir es gar nicht hoch genug schätzen, dass sich nach dem Ende dieser Schrecken weitsichtige Frauen und Männer daranmachten, eine Friedensordnung in Europa zu schaffen. Historisches Glück, politische Umsicht und strategische Weitsicht – kein Wort ist zu hoch gegriffen, um zu beschreiben, was damals geschah, was in den folgenden Jahrzehnten die europäische Integration und was die internationale Friedensordnung in Gang setzen sollten – allen voran die Vereinten Nationen und mit ihr die Internationale Arbeitsorganisation als UN-Sonderorganisation. Über die Jahre wuchs die Zahl der Mitgliedstaaten an – von anfangs 32 auf stolze 187 heute – und mit ihr auch das politische Gewicht der Internationalen Arbeitsorganisation. Ihre dreigliedrige Struktur macht die Internationale Arbeitsorganisation einzigartig. Arbeiternehmer, Arbeitgeber und Regierungen verständigen sich seit 100 Jahren auf gemeinsame Regeln für menschenwürdige Arbeitsbedingungen und wachen über ihre Einhaltung. Das Modell der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland ist stark an diese geteilte Verantwortung von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Regierungen angelehnt. Ungeachtet dessen, dass sich nicht in allen Ländern, die heute Mitgliedstaaten sind, die Arbeitnehmerorganisationen, die Gewerkschaften, auch als diejenigen verstehen, die Verantwortung mit übernehmen müssen, glaube ich, die Internationale Arbeitsorganisation hat ein sehr weitsichtiges und zukunftsgerichtetes Konzept. 1969, zum 50. Geburtstag der Organisation, erhielt die ILO den Friedensnobelpreis. Der damalige Generalsekretär David A. Morse sagte damals: „Obwohl wir als Organisation bereits seit 50 Jahren bestehen, stehen wir erst am Anfang unserer Aufgabe.“ Im Grunde kann man auch nach hundert Jahren sagen: Es gibt wahnsinnig viel zu tun; leider. Wir müssen auch heute, am 100. Geburtstag, feststellen, dass der Einsatz für menschenwürdige Arbeitsbedingungen unverändert dringlich ist. Daran erinnert uns auch der morgige Tag, der 12. Juni. Das ist der Welttag gegen Kinderarbeit. Seit ihrer Gründung kämpft die Internationale Arbeitsorganisation gegen Kinderarbeit. In ihrer aktuellen Kampagne fordert die ILO: „Children shouldn’t work in fields, but on dreams.“ Doch was viele Kinder stattdessen erleben, ist ein Albtraum. Weltweit werden 152 Millionen Kinder zur Arbeit gezwungen. Beinahe die Hälfte von ihnen ist nur fünf bis elf Jahre alt. 73 Millionen Kinder machen sogar gefährliche Arbeit. Das ist ein Zustand, den wir in keiner Weise hinnehmen dürfen. Dagegen müssen wir alle gemeinsam ankämpfen. Wir müssen in unserer eng vernetzten Welt deutlich besser darin werden, aus Wirtschaftswachstum tatsächlich sozialen Fortschritt zu machen, an dem alle, also auch Kinder, teilhaben können. Dem Empfinden vieler Menschen zufolge aber verläuft die Entwicklung zum Teil in die entgegengesetzte Richtung. Sie haben den Eindruck, dass die Globalisierung zwar viele Reiche schafft, aber auch soziale Ungleichheiten zunehmen lässt. Gerade auch Arbeitsmigranten haben in der Arbeitswelt oft einen schweren Stand. Nach den Schätzungen der ILO gibt es weltweit 232 Millionen Arbeitsmigranten. Viele Millionen von ihnen erlebten und erleben Ausbeutung – auf dem Bau, in der Landwirtschaft, als Hausangestellte. Viele von ihnen werden misshandelt, leben in sklavenähnlichen Verhältnissen und können sich kaum oder gar nicht dagegen schützen. Rund 700 Millionen Arbeitskräfte weltweit leben in Armut und haben weniger als 3,20 Dollar täglich zur Verfügung. Nicht umsonst umfasst das achte Nachhaltigkeitsziel der Agenda 2030 der Vereinten Nationen menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum gleichermaßen. Missstände und Diskriminierungen in der Arbeit führen uns schmerzlich vor Augen, wie aktuell auch die Erklärung der ILO von Philadelphia von 1944 heute immer noch ist. In diesen Leitsätzen heißt es unter anderem: „Arbeit ist keine Ware. (…) Armut, wo immer sie besteht, gefährdet den Wohlstand aller. Der Kampf gegen die Not muss innerhalb jeder Nation und durch ständiges gemeinsames internationales Vorgehen unermüdlich weitergeführt werden.“ Genau diese Unermüdlichkeit zeigt die Internationale Arbeitsorganisation. Sie setzt sich für Arbeitssicherheit ein, gegen Diskriminierung bei der Auswahl von Personal und im Arbeitsalltag. Sie stärkt die Geschlechtergerechtigkeit und damit die Rolle der Frauen. Sie stärkt den sozialen Dialog. Sie kämpft gegen Zwangsarbeit und gegen Menschenhandel. Es ist die ILO, die immer wieder auf Missstände hinweist, gegen diese überall auf der Welt mit Programmen vorgeht und die Umsetzung menschenwürdiger Arbeits- und Sozialstandards überprüft. Viele der klassischen Probleme, gegen die die ILO seit 100 Jahren kämpft, gibt es auch heute noch – trotz aller Fortschritte; leider. Zugleich erleben wir mehr und mehr, dass sich unsere Arbeitswelt durch die Digitalisierung so stark verändert wie noch nie seit der Industrialisierung. Digitale Arbeit wird oft aus Unternehmen ausgelagert. Viele Aufgaben werden zunehmend über Plattformen erledigt, zum Beispiel Übersetzungen in andere Sprachen oder Bearbeitungen von Bilddateien. Auch wenn im Zuge der technologischen Weiterentwicklung menschliche Arbeitskraft nicht weniger wichtig und uns die Arbeit nicht ausgehen wird, wird sie dennoch immer wieder anders aussehen und neue Qualifizierungen erfordern. Das treibt viele Menschen um, auch in Deutschland. Sie fragen sich, ob sie mit ihren Kompetenzen mithalten können, ob ihr Beruf auch in Zukunft noch gebraucht wird, ob ihr Arbeitsplatz verlorengeht und wo sie dann möglichst adäquate Arbeit finden können. Das sind große, ernsthafte Fragen – und damit auch große und ernsthafte Herausforderungen für die Politik. Doch damit nicht genug. Moderne Technologien verändern nicht nur die Möglichkeiten, was wir arbeiten, sondern auch, wie und wo wir arbeiten – ob in der Firma, zu Hause oder von unterwegs aus. Dies weckt natürlich Erwartungen sowohl der Arbeitnehmer wie auch der Arbeitgeber. So kann etwa das Homeoffice eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie bedeuten, zugleich aber auch mit zunehmender Belastung durch ständige Erreichbarkeit verbunden sein. Wir müssen deshalb bei Arbeitsbedingungen vieles vollkommen neu denken – auch deshalb, weil sich die klassische Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wandelt. Wie können Arbeitnehmerrechte von einer Plattform eingefordert werden? Wie können oder sollen sich menschliche und künstliche Intelligenz ergänzen? Wie wird die erforderliche Weiterbildung sichergestellt? Wir in Deutschland haben eine neue Weiterbildungsstrategie erarbeitet, die heute vorgestellt wird und die wir demnächst im Kabinett verabschieden werden. So machen das viele auf der Welt. Es ist gut, dass die Internationale Arbeitsorganisation diese Fragen sehr ernst nimmt. Sie selbst hat eine unabhängige Globale Kommission zur Zukunft der Arbeit ins Leben gerufen, um schlüssige Antworten auf diese Fragestellungen zu finden. Natürlich arbeiten wir auch in der Europäischen Union an diesen Fragen. Es wurden in den letzten Monaten immer wieder Vorschläge zur sozialen Dimension Europas verhandelt – zum Beispiel eine Verordnung zur Errichtung einer europäischen Arbeitsbehörde oder eine Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Eltern und pflegende Angehörige. Das Thema Mindestlohn spielt auch eine Rolle in der Europäischen Union. Deutschland hat einen Mindestlohn, viele Mitgliedstaaten haben einen Mindestlohn. Wir müssen jetzt schauen, wie wir auch im Hinblick auf den Lebensstandard der Länder vergleichbare Mindestlöhne haben können. Dass es jedenfalls Mindestbedingungen für Arbeit geben muss, das ist auch in der Europäischen Union selbstverständlich. Angesichts unserer arbeitsteiligen Wirtschaft mit ihren vielen Abhängigkeiten sind eine verlässliche internationale Zusammenarbeit und gemeinsame Regeln unverzichtbar. Das gilt für Europa; das gilt auch weltweit. Ich sage das nicht nur mit Blick auf die Internationale Arbeitsorganisation, sondern etwa auch mit Blick auf die Welthandelsorganisation. Ich nenne auch die Formate der G7 und G20, in denen sich Deutschland immer wieder auch gerade mit Blick auf Arbeitsbedingungen sehr stark engagiert. Zweifellos profitieren ja besonders die weltweit führenden Industrienationen von der Globalisierung und der internationalen Arbeitsteilung. Daher stehen gerade diese Länder, die Industrienationen, in der Verantwortung, nicht nur jeweils bei sich für faire Arbeitsbedingungen zu sorgen, sondern auch anderswo darauf zu drängen, also an jeder anderen Stelle der globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten. Ein gutes Beispiel hierfür ist der 2015 unter deutscher G7-Präsidentschaft beschlossene Vision Zero Fonds – ein globaler Präventionsfonds für besseren Gesundheitsschutz und zur Vermeidung von Arbeitsunfällen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass der Vision Zero Fonds von der ILO umgesetzt wird. Erste Projekte sind auf den Weg gebracht worden – unter anderem in Myanmar, Laos, Äthiopien und Madagaskar. Vor Ort entscheiden die Regierungen gemeinsam mit den Sozialpartnern, welche Projekte im Bereich des Arbeitsschutzes vom Fonds gefördert werden sollen. Als G7 und G20 legen wir auch ein besonderes Augenmerk auf die Frage, wie wir die Stellung von Frauen in Wirtschaft und Gesellschaft weltweit und besonders in vielen ärmeren Ländern stärken können. Daher haben sich die G7 und die G20 auch vorgenommen, auf einen gleichberechtigten und damit besseren Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt hinzuwirken. Dazu gehört, insbesondere die berufliche Qualifizierung von Frauen in Entwicklungsländern weiter voranzutreiben. Doch die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Wirtschaft lässt auch in Industriestaaten zum Teil sehr zu wünschen übrig. In Deutschland sind Frauen überhaupt erst zu einem Drittel in die Aufsichtsräte berufen worden, nachdem wir ein Gesetz verabschiedet hatten, weil über Jahrzehnte hinweg alle Selbstverpflichtungen nicht gefruchtet haben. Selbst heute ist in den größten Industrieunternehmen noch keine Frau zu finden, die ein solches Unternehmen führt. Das kann und darf nicht so bleiben. Da hilft auch eine Bundeskanzlerin nicht als Ausrede, wenn die Wirtschaft selbst nicht vorankommt. Meine Damen und Herren, die ILO zeigt mit der Internationalen Arbeitskonferenz jedes Jahr aufs Neue, wie sehr uns multilaterales Handeln voranbringt, aber auch, wie sehr wir auf multilaterales Handeln angewiesen sind. Regierungsvertreter aus 187 Ländern sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter kommen zusammen, um Arbeits- und Sozialnormen zu entwickeln und ihre Anwendung und Einhaltung zu kontrollieren. Im Mittelpunkt der diesjährigen Internationalen Arbeitskonferenz steht die Erarbeitung einer ILO-Jahrhunderterklärung zur Zukunft der Arbeit. Ich begrüße das sehr. Mit ihr sollen die Leitplanken für die Arbeitswelt vor dem Hintergrund der weiter voranschreitenden Globalisierung und Digitalisierung wie auch angesichts der Herausforderungen durch den Klimawandel und den demografischen Wandel definiert werden. Ich sage voraus: Bevor das Dokument fertiggestellt sein wird, wird es wieder lange, zähe Diskussionen geben. Aber es wäre beileibe nicht das erste Mal, dass die ILO auch dieses Mal die Kraft beweist, die in der Fähigkeit zum Kompromiss liegt. Meine Damen und Herren, da dieses internationale System der multilateralen Zusammenarbeit im Augenblick in Gefahr ist, da es viele gibt, die sagen „Wir kommen allein besser zurecht“, will ich ausdrücklich sagen: Der Kompromiss ist Teil der internationalen Kooperation. Der Kompromiss an sich ist nicht anzugreifen, sondern der Kompromiss ist die Möglichkeit, aus unterschiedlichen Sichtweisen weltweit zu einem gemeinsamen Ergebnis zu gelangen. Der Kompromiss ist für fast niemanden jeweils zu hundert Prozent zufriedenstellend. Aber der Kompromiss erlaubt es, insgesamt voranzukommen. Die Fähigkeit zum Kompromiss hat die ILO in hundert Jahren bewiesen und sie zum Erfolgsmodell gemacht. Die Delegierten der vergangenen 107 Internationalen Arbeitskonferenzen haben es immer wieder geschafft, Wertvorstellungen in Übereinkommen und Empfehlungen zu übertragen. Das Ergebnis ist ein umfassendes und weltweit anwendbares Normensystem für eine gerechte Arbeitswelt. Neben 205 Empfehlungen wurden 189 Übereinkommen verabschiedet. Sicherlich – das habe ich ja gesagt – bleibt noch viel zu tun. Aber ohne diese 189 Übereinkommen würde unsere Welt noch schlechter aussehen. Darin sind vier Grundprinzipien niedergelegt: die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen, die Beseitigung der Zwangsarbeit, die Abschaffung der Kinderarbeit und das Verbot der Diskriminierung. Diese Grundprinzipien wurden in acht Übereinkommen konkret ausgestaltet. Über 140 ILO-Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, haben alle acht dieser Kernarbeitsnormen ratifiziert. Es wäre zu begrüßen, wenn sich auch die anderen Mitgliedstaaten, immerhin über 40, ebenfalls dazu durchringen könnten. Meine Damen und Herren, gute Arbeit mit guten Arbeitsbedingungen für ein gutes Leben – sicherlich führen viele Wege zu diesem Ziel. Aber immer noch sind viel zu vielen Menschen auf der Welt diese Wege verschlossen. Zu viele Menschen stoßen auf Hindernisse, die sie nicht weiterkommen lassen. Deshalb ist es wie vor hundert Jahren: Wir brauchen auch heute das Engagement der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Ich habe mich immer sehr dafür eingesetzt, dass diese Organisation wie die anderen internationalen Organisationen sich auch in den G20-Prozess einbringen, um auch immer in direktem Kontakt zu bleiben. Wir brauchen sozialen Frieden. Wir brauchen faire Arbeitsbedingungen. Wir brauchen die Wahrung der Menschenwürde. Die ILO hat vieles erreicht. Dazu kann ich nur herzlich gratulieren. Zugleich gibt es sehr vieles, das noch erreicht werden muss. So hoffe und wünsche ich, dass Sie in dem Erreichten einen Ansporn sehen, weiterzumachen und sich voller Elan auch unter wieder ganz neuen Bedingungen in die Arbeit zu stürzen. Ich möchte denen, die hier Tag für Tag, oft nicht begleitet von den Schlagzeilen der Weltzeitungen oder des Internet, sich der mühseligen Arbeit des Verhandelns widmen und um jedes Komma ringen – wir Deutsche sind immer mit dabei –, danke sagen: Danke dafür, dass sie diese Arbeit machen, weil sie sich für viele Menschen auszahlt, die sich Hoffnung auf bessere Arbeitsbedingungen machen können oder ein Recht haben, auf bessere Arbeitsbedingungen zu pochen. Ich darf Ihnen sagen, dass Deutschland weiterhin aktives Mitglied der ILO bleiben wird. Sie haben das Leitbild der Würde des Menschen, Sie haben die Menschenrechte auf Ihrer Seite. Und damit kämpfen Sie für das Richtige. Das sage ich in Richtung der Regierungen, der Arbeitgeber- wie auch der Arbeitnehmervertreter. Alles Gute. Wir werden Sie in diesem Kampf begleiten. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Verleihung des deutsch-französischen Franz-Hessel-Preises für Literatur
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-verleihung-des-deutsch-franzoesischen-franz-hessel-preises-fuer-literatur-1636736
Fri, 07 Jun 2019 15:00:00 +0200
Im Wortlaut
Genshagen
Kulturstaatsministerin
Kultur
Als die französische Schriftstellerin Germaine de Staël zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihr Buch „De l’Allemagne“ veröffentlichte, ahnte sie wohl nicht, dass in ihrem Heimatland kurze Zeit später eine regelrechte Deutschland-Euphorie ausbrechen sollte. Von Goethe gelobt, von Heine verrissen: Das Buch, das die Deutschen als Volk der Dichter und Denker feierte, schlug hohe Wellen. Unbestreitbar ist heute, dass es das Interesse der Franzosen an ihrem Nachbarvolk in erheblichem Maße gesteigert und so zu einer Annäherung zwischen Franzosen und Deutschen geführt hat – zu einer Zeit wohlgemerkt, in der man sich in Frankreich vorher noch nicht sonderlich für Deutschland interessiert hatte. 1857 wurde in Frankreich, anknüpfend an die von Madame de Staël ausgelöste Begeisterung, sogar die Zeitschrift „Revue allemande“ gegründet, mit der prominente Schriftsteller und Intellektuelle „eine Brücke über den Rhein schlagen“ wollten. Eine Brücke über den Rhein schlägt seit 10 Jahren auch der Franz-Hessel-Preis. Wie Germaine de Staël war Franz Hessel ein bedeutender literarischer Mittler zwischen Deutschland und Frankreich, der mit seinem Schaffen Räume des Verstehens und der Verständigung eröffnete. Der nach ihm benannte Franz-Hessel-Preis soll in diesem Sinne den literarischen Austausch zwischen Frankreich und Deutschland und damit Offenheit und freundschaftliche Annäherung fördern. Er würdigt die verbindende Kraft der Literatur. Eben dafür stehen die beiden ausgezeichneten Werke: Sie, liebe Susanne Röckel, stellen in Ihrem Roman „Der Vogelgott“ poetisch und spannungsreich die Frage nach Gut und Böse, nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur, der Technik zum Göttlichen, und erzählen von den damit verbundenen Ängsten und Sehnsüchten. Mit „Le Grand Nord-Ouest“ nehmen Sie, liebe Anne -Marie Garat, Ihre Leserinnen und Leser mit auf eine Reise in eisige Regionen Alaskas und Kanadas, in ein „verlorenes Paradies“, und erzählen dabei hinreißend fantasievoll von der menschlichen Suche nach Identität. Beide Romane berühren große Fragen des Menschseins – universelle Themen, die Menschen über Grenzen hinweg verbinden – und die doch aus unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Perspektiven in unterschiedlichem Licht erscheinen. Die Perspektive zu wechseln, die Dinge in neuem Licht zu sehen, das ist nicht einfach. Das weiß jeder aus Situationen, in denen unterschiedliche Standpunkte sich scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen. Umso wichtiger ist die Kunst, ist die Literatur als Mittlerin. Mit der Kraft Ihrer Worte, verehrte Preisträgerinnen, verführen Sie zu Perspektivenwechseln und Grenzüberschreitungen. Der Franz-Hessel-Preis soll Ihrem Werk im Nachbarland deshalb gewissermaßen den roten Teppich ausrollen – auf dass möglichst viele Leserinnen und Leser sich auf die Einladung zum Perspektivenwechsel einlassen und die „Brücken über den Rhein“ überqueren, die Sie mit Ihren Worten gebaut haben. Die Erfahrung zeigt: Tragfähiger und belastbarer als Brücken aus Stein sind jene, die das Denken und Fühlen der Menschen beiderseits des Rheins erreichen – die Brücken, die nicht zuletzt die Literatur zu bauen vermag. Gerade in diesen Zeiten, in denen leider beiderseits des Rheins Rufe nach Abschottung laut werden und ein längst überwunden geglaubter Nationalismus Beifall findet, verdient die Kunst, verdient die Literatur deshalb in ihrer Rolle als Brückenbauerin Würdigung und Unterstützung! Brückenbauer sind mit ihrem Programm und ihrem Wirken auch die Stiftung Genshagen und die Villa Gillet Dafür danke ich Ihnen, liebe Frau Dr. Eder, und ganz besonders Ihnen, lieber Herr Walter, der Sie im Sommer nach vielen Jahren des unermüdlichen Engagements Ihr Amt als Direktor der Villa niederlegen. Für Ihre Zukunft wünsche ich Ihnen alles Gute! Was die Zukunft Europas betrifft, bin ich überzeugt, dass die deutsch-französische Freundschaft von herausragender Bedeutung ist. Das unterstreicht nicht zuletzt der Vertrag von Aachen, den Bundeskanzlerin Merkel und Staatspräsident Macron am 22. Januar dieses Jahres unterzeichnet haben. Allen, die dabei sein durften, wird die zuweilen sehr berührende Zeremonie in Aachen noch lange in Erinnerung bleiben. Franck Riester und ich haben uns gemeinsam intensiv dafür eingesetzt, insbesondere die Kultur als verbindende Kraft zu stärken – nicht zuletzt auch aus der Überzeugung heraus, dass kulturelle Vielfalt überzeugender ist als populistische Einfalt. So freue ich mich, dass gemeinsame kulturpolitische Initiativen und Projekte wie der Franz-Hessel-Preis oder auch das „Rendezvous im Garten“, zu dem wir uns gleich im Anschluss treffen werden, gerade in diesem Sinne künftig eine noch wichtigere Rolle spielen werden. Meine Damen und Herren, so kontrovers Germaine de Staëls Buch „De l‘Allemagne“ im 19. Jahrhundert auch diskutiert wurde: Die Beschreibung Deutschlands als „Land der Dichter und Denker“ ist bis heute geblieben, und wir verdanken sie einer französischsprachigen Autorin! Gibt es einen schöneren Beweis für die Aussage des Übersetzers Karl Dedecius, dass die „Literatur ein Fenster ist, durch welches ein Volk dem anderen in die Augen schauen kann“? Auch Ihre Bücher, liebe Susanne Röckel und liebe Anne-Marie Garat, sind solche „Fenster“ – schön, dass Deutsche und Franzosen einander auf diese Weise in die Augen schauen können. Herzlichen Glückwunsch zum Franz-Hessel-Preis!
In ihrer Rede würdigte Monika Grütters die verbindende Kraft der Literatur im Besonderen und der Kultur im Allgemeinen. Gemeinsam mit ihrem französischen Amtskollegen, Franck Riester, will sich die Kulturstaatsministerin dafür einsetzen, den gegenseitigen kulturellen Austausch weiter zu vertiefen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Festveranstaltung „60 Jahre Hessischer Kreis e. V.“ am 5. Juni 2019 in Frankfurt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-festveranstaltung-60-jahre-hessischer-kreis-e-v-am-5-juni-2019-in-frankfurt-1635224
Wed, 05 Jun 2019 19:52:00 +0200
Frankfurt
Alle Themen
Meine Damen und Herren, lieber Herr de Maizière, lieber Herr Quandt, lieber Herr Corts, liebe ehemalige Kollegen aus dem Kabinett, es hört sich vielleicht komisch an, aber ich habe von jedem viel gelernt – natürlich insbesondere vom gestrengen Fritz Bohl; das muss man sagen. Ich weiß nicht, ob Fritz Bohl gerne früh um 7 Uhr den ersten Termin gemacht hat, aber auf jeden Fall waren wir Ostdeutsche damals noch so getrimmt, dass wir immer so früh anfingen zu arbeiten. Da konnte er, bevor die damaligen westdeutschen Abgeordneten aus den Federn kamen, mit uns schon mal über das Sachenrechtsbereinigungsgesetz und lauter solche schönen Sachen diskutieren. Das war total animierend. Es sind einige Weggefährten hier. Man muss ja auch bei Roland Koch sagen: Auch wir haben schon viele Jahre miteinander verbracht, in ganz unterschiedlichen Konstellationen. Das gilt auch für Tanja Gönner. Aber wenn ich jetzt anfange, einzelne Leute zu erwähnen, komme ich in Teufels Küche. Das will ich dann vielleicht doch nicht tun. Meine Damen und Herren, ich freue mich, heute hier zu sein, und sage: herzlichen Glückwunsch zum 60. Geburtstag des Hessischen Kreises. Sie sind ein sehr ordentlicher Verein. Ich habe die Zusammenfassung meiner Ausführungen von 2003 übersandt bekommen. Offensichtlich ist Christian Schwarz-Schilling daran beteiligt. Ich bereue nichts von dem, was ich damals gesagt habe. Ich weiß aber nicht, ob wir alles eingelöst haben, was man aus der Oppositionsperspektive heraus in Aussicht gestellt hat. Wenn ich die gestrige BDI-Veranstaltung Revue passieren lasse, würde ich sagen, es gibt Zweifel, aber es ist auch manches gut gelungen. Ich glaube, dass es Deutschland über viele Jahre doch recht gut ging. Ich komme in der Tat von der Veranstaltung zum 75. Jahrestag des D-Day. Das war in der Tat sehr, sehr bewegend, muss ich sagen. Anwesend waren 300 Veteranen, die damals dabei waren. Mit einigen konnte ich sprechen. Sie haben erzählt, wie sie über Frankreich und Belgien oder die Niederlande in Norddeutschland landeten. Sie konnten sich immer noch Osnabrück und Kiel und alles, was darum herum ist, gut in Erinnerung rufen. Dass wir heute zusammen sind, dass wir heute internationale Aufgaben gemeinsam wahrnehmen, das empfinde ich nach wie vor als ein Geschenk der Geschichte, das wir pflegen und hegen müssen. Dies bringt mich auch dazu, zu sagen: Es war eine weise Tat, dass 1959 der Hessische Kreis gegründet wurde – auch als eine Institution, die auf die Gefahren des Kalten Kriegs und der Konfrontation hinweisen sollte, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sehr schnell herausbildete zwischen dem, was man das sowjetische Imperium nannte, und dem, was der freie Westen war. Es war auch bewegend, als der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki heute darüber gesprochen hat, dass ein Land wie Polen nach all dem Leid, das Deutschland im Zweiten Weltkrieg über Polen gebracht hatte, anschließend durch die Sowjetunion und die Zugehörigkeit zum sowjetischen System wieder in Unfreiheit geraten war und dass daraus sogar Jahrzehnte der Abwesenheit von Freiheit wurden. Deutschland war zwar in die Bundesrepublik Deutschland und die DDR geteilt, aber das hatte etwas mit der Geschichte zu tun. Ein Land wie Polen, das doppelt gelitten hat, hat natürlich eine ganz andere Perspektive auf die Zeit des Kalten Kriegs. Heute sind wir zu unserem Glück vereint, wie wir anlässlich eines Jahrestags der Römischen Verträge einmal gesagt haben. Trotzdem haben wir eine Vielzahl von Aufgaben. Wir haben heute auch beim Mittagessen mit dem amerikanischen Präsidenten, mit der britischen Premierministerin, mit dem französischen Präsidenten und anderen darüber gesprochen: Was ist eigentlich passiert, dass diese Nachkriegsordnung – alles, was wir als internationale Institutionen kennen und als multilaterale Zusammenarbeit erleben, ist ja im Grunde das Ergebnis der Nachkriegsordnung; die Vereinten Nationen, die internationalen Organisationen, die Europäische Union – jetzt unter Druck kommt? Ich persönlich frage mich, ob das etwas damit zu tun hat, dass die Zeitzeugen immer weniger werden, dass wir vielleicht leichtfertig werden, dass wir sagen: es ist ja alles unperfekt; vielleicht könnten wir es viel einfacher haben, wenn wir die Dinge wieder für uns alleine lösen. – Ich glaube, das ist wirklich eine Gefahr unserer Zeit. Auf diese Gefahr müssen wir versuchen Antworten zu finden; und zwar möglichst gemeinsame Antworten. Es ist an der Zeit, in der wir Position beziehen müssen in grundsätzlichen Fragen. Wollen wir die Dinge national lösen oder glauben wir, dass Kooperation die bessere Methode ist? Sind wir fähig, auch einmal in die Schuhe des anderen zu schlüpfen, die Welt einmal aus der Perspektive des anderen zu sehen? Halten wir Kompromisse für eine akzeptable Möglichkeit, miteinander Lösungen zu finden? Oder ist ein Kompromiss an sich immer schon etwas Schlechtes? All diese Fragen müssen beantwortet werden. Da gibt es wenige Grauzonen, da gibt es nur grundsätzliche Weichenstellungen. Deshalb glaube ich, dass die Politik da gefragt ist. Aber ich glaube auch, dass die Zivilgesellschaft gefragt ist und dass gerade für ein Gremium wie den Hessischen Kreis jetzt auch wieder Zeit ist, Stellung zu beziehen, zu diskutieren und sich einzusetzen für das, was ich jedenfalls für einen Glücksfall der Geschichte halte, nämlich für ein gemeinsames Europa, eine transatlantische Gemeinschaft, ein gemeinsames Verteidigungsbündnis wie die NATO und für die Vereinten Nationen. Diese sind alles andere als perfekt, sie müssen auch erneuert werden – die Systeme dürfen nicht erstarren; das ist ganz wichtig –, aber für sie sollten wir auch eintreten. In diesem Kontext will ich auch einiges zur Europäischen Union sagen. Ich gebe Ihnen jetzt einfach ein paar Ansatzpunkte für die anschließende Diskussion. Ich will auch nicht zu lange sprechen, damit wir noch ein bisschen Zeit haben, das zu bearbeiten, was Sie für am interessantesten halten. Wir haben kürzlich die europäischen Wahlen gehabt. Wir haben im Übrigen seit langem zum ersten Mal wieder einen aussichtsreichen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission. Seit Hallstein ist kein Deutscher mehr Präsident der Europäischen Kommission gewesen. Man kann also nicht sagen, dass wir da zu oft an der Spitze vertreten waren. Aber ich will jetzt nicht über Personalentscheidungen sprechen, sondern darüber, was die Aufgabe der Europäischen Union ist. Ich glaube, gerade unsere mittel- und osteuropäischen Partner, die ja noch nicht so lange Mitglieder der Europäischen Union sind, mit denen wir auch zum Teil sehr schwierige rechtsstaatliche Fragestellungen diskutieren, haben einen sehr guten Sinn dafür, was in Europa zur Debatte steht. Es steht vor allem auch zur Debatte: Wie werden wir künftig ökonomisch, wirtschaftlich stark sein? Wie werden wir mit disruptiven Innovationen klarkommen? Welche Antwort haben wir darauf? Wie halten wir mit den großen Spielern mit, auf der einen Seite mit den Vereinigten Staaten von Amerika und auf der anderen Seite einem immer stärker werdenden China? Deshalb liegt die Aufgabe in der neuen Periode, in die wir mit der Europäischen Union eintreten, darin, unseren Vorteil, den größten Binnenmarkt der Welt zu haben, auf die Digitalisierung auszuweiten. Wir haben die Aufgabe, mehr für Innovation zu tun. Wir haben die Aufgabe, im Bereich der Künstlichen Intelligenz besser zusammenzuarbeiten und damit Rückstände aufzuholen, die wir zweifelsohne haben, und vor allen Dingen – das ist für mich das schwierigste Kapitel – in unseren Entscheidungen schneller zu werden. Ich glaube, was uns in Deutschland hemmt und beschwert und was uns auch in Europa zum Teil beschwert, das sind die sehr langen Prozesse, die wir uns im rechtsstaatlichen Rahmen angewöhnt haben und die zu der Schnelligkeit des Wandels unserer Zeit nicht mehr passen. Wir haben zum Beispiel seitens der Bundesregierung, von außen relativ unbeachtet, für die Infrastrukturmaßnahmen noch einmal ein Planungsbeschleunigungsgesetz verabschiedet, vergleichbar mit dem, das wir im Zusammenhang mit den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit hatten. Wir haben mit den Ländern einen Pakt für den Rechtsstaat geschmiedet, um zu versuchen, die Digitalisierung schneller Eingang finden zu lassen in die Gerichte und in sämtliche Justizbehörden. Man muss sich fragen: Wie erlebe ich den Rechtsstaat, wenn meine Verfahren ziemlich lange dauern? Was wird eigentlich daraus, wenn eine Elbvertiefung zehn oder elf oder zwölf Jahre dauert? Drei verschiedene panamaische Präsidenten haben mich gefragt, ob ich eigentlich wüsste, dass der Ausbau des Panamakanals fertig ist. Die Containerschiffe werden immer größer; und wir haben mit den Vorhaben als Reaktion darauf immer noch nicht angefangen. Das sind Fragen, die uns umtreiben müssen und die wir natürlich demokratisch lösen müssen – nicht durch die Abschaffung von Beteiligungsmöglichkeiten, aber schneller. Ich glaube nicht, dass unsere heutigen Prozeduren sozusagen konstitutiv für Demokratien sind, sondern dass sie sich herausgebildet haben und dass wir auf die neuen Zeiten auch neue Antworten geben müssen. Wir versuchen seitens der Bundesregierung an vielen Stellen, das Thema Digitalisierung besser umzusetzen. Ich könnte jetzt unter den gestrengen Augen von Roland Koch etwas über den Ausbau der Breitbandinfrastruktur sagen. Darüber können wir, wenn es passt, auch nochmals diskutieren. Wir müssen aber vor allen Dingen verstehen, was mit der Digitalisierung passiert. Ganz Europa muss verstehen, dass das eine Disruption ist, die unsere gesamte Gesellschaft erfasst und völlig verändern wird. Wir erleben das im Augenblick in den Medien sehr stark; und wir werden das in allen Bereichen des Arbeitens, des Steuersystems, des Rechtssystems, des Regierungshandelns erleben. Angesichts des ziemlich guten Wohlstands, den wir in Deutschland haben, wird die Notwendigkeit von revolutionären Veränderungen in unseren Bürokratien, in unseren Unternehmen und anderswo längst nicht so dramatisch gesehen, wie es vielleicht in China gesehen wird, wo man erst mal Anschluss an die Weltspitze finden muss. Insofern muss eine gewisse Resistenz, ein gewisser Widerstand immer wieder überwunden werden, wie wir das zum Beispiel bei der Frage erleben, wie wir endlich alle staatlichen Leistungen digitalisieren. Es soll 575 Funktionen geben, die der Bürger beim Staat digital abrufen kann. Sie sind auf der kommunalen Ebene, sie sind auf der Landesebene, sie sind auf der Bundesebene. Auf Bundesebene haben wir ungefähr 150, die restlichen sind bei den Ländern und Kommunen. Der Bürger möchte natürlich nicht jedes Mal ein unterschiedliches Verfahren haben, wenn er sich Zugang verschafft, sondern er möchte mit einem Zugang an alle seine staatlichen Leistungen herankommen. Dazu mussten wir erst einmal das Grundgesetz ändern. Das ist sozusagen fast unter dem Radarschirm erfolgt. Die Länder wollten gerne über den Bund-Länder-Finanzausgleich Geld. Da haben wir gesagt: Wir brauchen noch eine Grundgesetzänderung. Daraufhin haben sie gesagt: Okay, wenn die Kasse stimmt, dann gibt es auch eine Grundgesetzänderung. So haben wir sie erst mal hinbekommen; und so gibt es jetzt eine Zusammenarbeit mit den Bundesländern und Kommunen. Aber auch die Tendenz, dass jeder mit seiner Regelung schon mal angefangen hat und glaubt, sie sei das Beste, ist in einigen Bereichen ganz stark. Über Estland sagen wir, dass es ein tolles System habe, aber so etwas in Deutschland sehr viel schwieriger herzustellen sei, weil wir auf einer schon gebauten Substanz aufsetzen. Trotzdem müssen wir dafür kämpfen. Auch die estnische Präsidentin war gestern bei der Jahrestagung des BDI. Meine Bitte ist, dass Sie auch vonseiten der Wirtschaft uns in der Politik fordern. Zum Beispiel ist in Estland die Digitalisierung aller staatlichen Leistungen auch dadurch in Gang gekommen, dass die Banken erklärt haben, dass sie Überweisungen oberhalb von 100 Euro nur noch mit dem persönlichen Zugangscode jedes Bürgers nach einem einheitlichen Verfahren ausführen. Dies ist das Verfahren, das dann auch der Staat übernommen hat, um seine Dienstleistungen anzubieten. Wir brauchen also, glaube ich, eine Partnerschaft von Wirtschaft und Politik, die deutlich macht, dass sich das grundsätzlich ändern muss. Wir wollen diese 575 Verwaltungsdienstleistungen übrigens bis Ende 2022 digital anbieten können. Sie können also heute schon anfangen zu üben. Es muss dann auch noch so sein, dass es für jeden Bürger einen Zugang gibt, der auf der einen Seite sicher ist, der auf der anderen Seite aber nicht so kompliziert ist, dass wir überhaupt nicht vorankommen. Ich sage das an dieser Stelle so ausführlich, weil ich glaube, dass wir in allem neu denken müssen. Heutige Prozeduren der Antragstellung dürfen nicht einfach eine Überführung auf das Digitale erfahren. Beantragungen müssen aus dem Digitalen heraus völlig neu gedacht werden; und zwar aus der Perspektive des Bürgers, damit er das auch annehmen kann. Wenn ich mir die wirtschaftlichen Entwicklungen in Deutschland anschaue, dann glaube ich, dass wir gemeinsam Wege finden müssen, wie wir zum Beispiel die Plattformen noch besser entwickeln können. Aber vor allem im mittelständischen Bereich, wenn ich das vor diesem Publikum sagen darf, wird angesichts der heute vollen Auftragsbücher die Dringlichkeit, mit der Daten gespeichert werden müssen und der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden müssen, nicht so gesehen. Es geht dabei nicht nur um den eigenen Sektor, in dem ich arbeite, sondern ich muss die Daten so aufbereiten, dass daraus beliebig viele andere Anwendungen gemacht werden können. Da hinken wir in Deutschland noch viel zu sehr hinterher – auch bei unserem Wettbewerbsrecht. Wie viel darf ich auf einer Plattform tun, damit ich dann auch wirklich vorankomme? Diese Frage muss auch wettbewerbsrechtlich beantwortet werden. Genauso müssen wir auf europäischer Ebene über das Wettbewerbsrecht nachdenken. Das heißt also, wir müssen alle unsere Strukturen – ich habe das jetzt nur an diesem einen Beispiel gezeigt – erneuern. Wir haben über die gesamte Zeit, in der ich Bundeskanzlerin bin, verzweifelt versucht, die Patientengesundheitskarte als digitales Tool zu implementieren. Der Gesundheitsminister hat jetzt gesagt: Ich habe die Geduld verloren. Es sind ja Journalisten im Nachbarraum; sonst hätte ich gesagt: die Faxen dicke. Er sagte also: Ich habe die Geduld verloren; und ich übernehme jetzt für den Bund 51 Prozent der Beteiligung an dieser Gesundheitskarte, damit die Entscheidungsmöglichkeiten beim Bund liegen, weil die so gelobten Partner des Gesundheitssystems sich in keiner Weise darauf einigen konnten, wie sich die Sache in die Breite entwickeln sollte. Das ist eigentlich kein gutes Beispiel, weil wir ja im Grunde auf die Selbstverwaltung setzen, weil wir im Grunde sagen: Die Partner, sowohl im Tarifbereich als auch im Bereich der Sozialsysteme, sollen die richtigen Lösungen finden. Es stellt sich allerdings heraus, dass das dann oft sehr lange dauert. Digitalisierung bringt Transparenz. Und im Gesundheitssystem ist Transparenz nicht für jeden ein Vorteil, weil dann nämlich etwa auch herauskommt, wie viele Internisten man bei freier Arztwahl wegen ein und derselben Frage hintereinander besucht hat. Und dies bringt natürlich Probleme mit sich. Wir haben also unglaublich viel zu tun; und ich weiß nicht, ob wir schon den ausreichenden Sinn für die Dringlichkeit haben. Auf jeden Fall haben wir keinerlei Zeit mehr zu verlieren. Ich möchte jetzt etwas zu den Herausforderungen sagen, vor denen Europa steht. Helmut Kohl war auch zu Gast beim Hessischen Kreis. Wir haben in seiner Zeit zwei große Entscheidungen getroffen, die für die Europäische Union wegweisend waren und die wir jetzt – ich sage es mal in meiner Sprache – vollenden müssen. Das eine war die Entscheidung für eine gemeinsame Währung – auch eine Absicherung gegen die Gefahr, sich wieder in Kriege gegeneinander zu verwickeln. Das ist also etwas, das weit über die monetäre Aufgabe hinausgeht. Aber wir haben an den ersten Krisen gesehen, dass die Architektur des Euro eben doch nicht krisenfest war. Daher ist, unter anderem mit dem Stabilitätsmechanismus, vieles getan worden. Aber es gibt auch große Skepsis, ob die Eigenverantwortung jedes Teilnehmers am Eurosystem im nationalen Bereich ausreichend ausgeprägt ist und ob die Sanktionsmöglichkeiten, also die Möglichkeiten, die Einhaltung der gemeinsamen Regeln durchzusetzen, wirklich ausreichend gegeben sind. Deshalb ist es so wichtig, dass wir weiter daran arbeiten, die Bankenunion zu vollenden. Deshalb ist es so wichtig, eine Kapitalmarktunion in Europa zu entwickeln. Wir haben nach wie vor ein völlig zersplittertes, national ausgerichtetes Kreditvergabesystem. Aber wir müssen darauf achten, dass wir die Verantwortung dort lassen, wo sie ist, solange die Risiken nicht abgebaut sind. Das heißt, der Risikoabbau ist genauso wichtig wie die gemeinschaftlichen Entscheidungen. Ich hoffe, dass uns das gelingt. Ich weiß, dass das gerade in Deutschland sehr aufmerksam beobachtet wird – am Finanzplatz Frankfurt natürlich in ganz besonderer Weise. Wir müssen den Euro so krisenfest machen, damit er als Währung auch weltweit an Bedeutung gewinnt. Angesichts der Handelskonflikte, die wir jetzt haben, angesichts der unterschiedlichen politischen Bewertungen von bestimmten internationalen Abkommen – ich denke zum Beispiel an den Iran – entfaltet die Frage, ob der Euro eines Tages auch eine Währung für die Fälle sein kann, in denen man sich unabhängiger vom Dollar machen möchte, natürlich ein eigenes Gewicht. Diese Frage ist für die nächsten Jahre durchaus von Relevanz. Da muss Europa aus meiner Sicht noch besser werden. Eine weitere große Errungenschaft ist das sogenannte Schengen-System, also die Freizügigkeit und die Abschaffung von Grenzkontrollen. Ich weiß noch genau, als das Schengen-System eingeführt wurde. Wir standen am deutschen, polnischen und tschechischen Dreiländereck, wo endlich die Grenzpfosten weg waren. Sie alle haben das erlebt – etwa an der französisch-deutschen Grenze und an anderen Grenzen. Aber auch beim Schengen-System hat sich gezeigt, dass es auf Krisen nicht vorbereitet war und dass es nicht immer funktioniert. Daran hat Deutschland auch einen Anteil, weil wir in den Zeiten, als man über eine redliche Verteilung von Flüchtlingen sprechen wollte, die vielen Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien wieder nach Hause haben gehen lassen können, weil dort wieder Frieden eingekehrt war. Wir glaubten, dass wir nunmehr für die nächsten Jahre und Jahrzehnte keinerlei große Verantwortung mehr tragen müssten. So haben wir im Grunde die gesamte Verantwortung an die Länder mit der europäischen Außengrenze gegeben. Bis heute haben wir kein vernünftiges Verteilungssystem in den Fällen, in denen Flüchtlinge ankommen, die ein Bleiberecht haben. Und wir tun uns auch mit dem Außengrenzenschutz noch immer sehr schwer. Im Übrigen war von sehr vielen Menschen in Deutschland gedanklich noch gar nicht nachvollzogen worden, dass mit der Einführung des Schengen-Systems die nationale Grenze sozusagen zurückgetreten war und seitdem die eigentliche Grenze eine europäische ist. Wenn Sie sich mal die Landkarte vor Augen führen, dann reichen die europäischen Grenzen im Grunde vom Nordpol – Norwegen gehört ja auch zum Schengen-System – über Russland, die Ukraine – ich will jetzt nicht alle Länder aufzählen – und die Türkei bis Syrien. Dann kommen Sie an die Mittelmeerländer. Zypern liegt gegenüber von Syrien, Griechenland liegt gegenüber der Türkei. Das sind unsere Außengrenzen. Damit haben wir eine gemeinsame Verantwortung übernommen, die wir längst noch nicht exekutieren können. Auch wenn wir die europäische Grenzschutzagentur Frontex gegründet haben, bleibt die Frage: Wie viel nationale Souveränität will ich denn im Zweifelsfalle abgeben? Was will ich von den Kompetenzen meiner eigenen Grenzpolizei der Frontex-Agentur übertragen? Da haben wir erhebliche Schwierigkeiten. Ich glaube, wenn wir das Schengen-System nicht in Ordnung bringen und wenn wir die Euro-Widerstandsfähigkeit nicht noch verbessern, dann sind zwei ganz wichtige Säulen Europas in Gefahr. Deshalb ist es die Aufgabe für die nächsten Jahre, daran ruhig und auch sehr zielstrebig weiterzuarbeiten. Die Frage der Flüchtlinge aus Syrien und aus dem Irak hat uns im Grunde die Augen geöffnet, dass Krisen, die außerhalb unseres europäischen Bereichs stattfinden, um deren Bewältigung wir uns nicht ausreichend kümmern, uns einholen. Der Fehler war ja, dass wir uns nicht darum gekümmert haben, wie viele syrische Flüchtlinge im Libanon und in Jordanien sitzen, dass sie kein Geld haben und die Kinder keine Schule besuchen können, sodass die Schlepper überhaupt erst die Hoheit darüber bekommen konnten, das zu tun, was sie dann taten. Dieses Augenöffnen erstreckt sich gleich weiter auf unseren Nachbarkontinent Afrika. Auf die Europäische Union kommt in den nächsten Jahren die gewaltige Aufgabe zu, deutlich zu machen, dass wir Afrika als Partner verstehen, dass wir Afrika helfen, sich wirtschaftlich zu entwickeln, dass wir über den Charakter unserer Entwicklungshilfe nachdenken. Entwicklungshilfe muss zu wirtschaftlicher Aktivität führen. Ansonsten werden wir ein großes und lang anhaltendes Problem haben. Ich möchte nicht, dass Afrika als Problemkontinent verstanden wird, sondern als ein Kontinent der Chancen, wo Menschen auch das Recht und die Hoffnung haben sollen, gut leben zu können. Diese Aufgabe hat eine völlig neue Dimension entwickelt. Ich freue mich, dass Tanja Gönner, die auf diesem Gebiet sehr viel tut, heute hier ist. Aber auch bei dieser Aufgabe sind unsere Mechanismen schwerfällig. Auch da dauert vieles sehr lange, aber die Menschen dort haben keine Zeit. Ich war kürzlich wieder in Burkina Faso, Niger und Mali. Dort beträgt das Durchschnittsalter der Bevölkerung ungefähr 15 Jahre. Unser Durchschnittsalter liegt bei rund 45 Jahren, das der Mitglieder der CDU im Übrigen bei über 60 Jahren. Ich habe heute gelernt: das Durchschnittsalter der Tories liegt bei 70 und das der norwegischen Partnerpartei bei 59 Jahren. Wir bewegen uns alle also etwa in diesem Bereich. Also, das Durchschnittsalter in den genannten westafrikanischen Staaten liegt bei 15 Jahren, das Einkommen bei 350 Dollar im Jahr pro Person. Das ist die Ausgangslage. Darum müssen wir handeln, damit diese Länder in einen wirtschaftlichen Aufschwung kommen. Das sind die für mich wesentlichen europäischen Aufgaben: wirtschaftliche Prosperität, Innovation, Grenzschutz – also Schengen wetterfest machen –, den Euro krisenfest machen und die Partnerschaft mit Afrika entwickeln. Wenn wir uns mal geostrategisch anschauen, wo wir liegen, wo Europa geografisch verortet ist, dann sehen wir, dass sich um uns herum ziemlich viele der weltweiten Konflikte versammelt haben. Das wird uns noch viele Jahre begleiten. Deshalb ist natürlich auch die Frage unseres Miteinanders mit islamisch geprägten Staaten von allergrößter Bedeutung. Dort werden auch in den nächsten Jahren leider weiter Konflikte zu erwarten sein. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben – das sage ich den jeweiligen Präsidenten immer – eigentlich eine sehr einfache geografische Lage: links ein Ozean, rechts ein Ozean, oben Kanada. Es bleibt nur eine Landgrenze im Süden; und selbst diese ist schwierig zu bewältigen. Da sieht man, wie kompliziert im Vergleich dazu unser Außenbereich ist. Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sollten trotz aller Herausforderungen positiv an die Dinge herangehen. Aber wir sollten wissen: nichts ist sozusagen für immer sicher, wenn man nicht dafür arbeitet und wenn man sich dafür nicht einsetzt. Deshalb ist es eine Zeit – davon bin ich zutiefst überzeugt –, die alle in der Gesellschaft zum Engagement auffordert, die sich für die Zukunft interessieren. Es zeigt sich jetzt ja, dass unsere Jugend sehr aufmerksam geworden ist, dass da sozusagen ein Sensor getroffen wurde im Zusammenhang mit dem Thema Klimaschutz, auch mit den Themen Biodiversität und Artenschutz. Man muss sich einmal in die Perspektive von 18-Jährigen hineinversetzen, die jetzt Berichte des IPCC, also des Weltklimarats, lesen, dass es eine gewisse Wahrscheinlichkeit gibt, dass im Jahr 2030, also in elf Jahren, bereits ein Temperaturanstieg um 1,5 Grad stattgefunden haben wird, mit dem dann mit einer wieder nicht zu vernachlässigenden Wahrscheinlichkeit alle Permafrostböden dieser Erde auftauen, dadurch unglaublich viel Methan entweicht und sich damit ein sich selbst beschleunigender Prozess ergibt, der zu weiterer Erwärmung führt. Ein Besuch im Berliner Naturkundemuseum, in dem die alten Dinosaurier ausgestellt sind, zeigt, wie immer wieder Situationen für Lebewesen entstanden sind, in denen ein Überleben nicht möglich war. Das sollten wir für die Menschheit vermeiden. Deshalb müssen wir die Warnungen der Jugend ernst nehmen und zum Wandel bereit sein – nicht sozusagen aufgepfropft auf unsere sonstige wirtschaftliche Tätigkeit, sondern eingearbeitet in unsere Soziale Marktwirtschaft. Damit bin ich beim Thema meines Vortrags im Jahr 2003, der Sozialen Marktwirtschaft. Damals habe ich von „Neuer Sozialer Marktwirtschaft“ gesprochen, weil für mich die Dimension der Globalisierung so wichtig war. Wir haben während der Arbeiten an einem neuen Grundsatzprogramm über eine soziale und ökologische Marktwirtschaft gesprochen. Das haben wir in einem weiteren Grundsatzprogramm wieder fallen gelassen und haben gesagt: Das Soziale umfasst auch das Ökologische. Aber das Denken in Kreisläufen, das Denken im Geiste der Nachhaltigkeit, dass wir den Planeten nicht mehr belasten dürfen, als er sich regenerieren kann, muss Teil unseres Denkens in der Sozialen Marktwirtschaft werden. Ansonsten werden wir scheitern. Das ist eine Riesenaufgabe, an der mitzuwirken allerdings Freude macht. Deshalb danke ich Ihnen für die Aufmerksamkeit und freue mich jetzt auf die Diskussion.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur 19. Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung am 4. Juni 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-19-jahreskonferenz-des-rates-fuer-nachhaltige-entwicklung-am-4-juni-2019-in-berlin-1634694
Tue, 04 Jun 2019 11:14:00 +0200
Berlin
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Liebe Frau Thieme, liebe Ratsmitglieder, sehr geehrte Damen und Herren, noch ist nicht der Tag des Danks, denn Sie werden ja noch bis November im Amt bleiben. Aber auf einer solchen Veranstaltung werden wir uns nicht wieder begegnen – nicht wegen mir, sondern wegen Ihnen; das will ich ausdrücklich hinzufügen. Sie haben uns ja über viele Jahre hinweg bei der Nachhaltigkeitsstrategie begleitet. In der öffentlichen Diskussion hat das Thema ja auch wirklich an Fahrt gewonnen. Das ist sicherlich auch Ermutigung, ein paar Ecken und Kanten noch näher in den Blick zu nehmen. Junge Menschen in vielen Ländern gehen auf die Straße. Sie haben heute einen von ihnen zu Gast gehabt. Ich finde es gut – das habe ich ja auch schon ausdrücklich gesagt –, dass uns die Jugend Dampf macht, weil wir in der Politik auch immer die verschiedenen Entwicklungen zusammenhalten müssen. Dass die Jugend sich zu Wort meldet, ist richtig und ist erwünscht. Im Übrigen wird Klimaschutz ja nicht nur von Jugendlichen eingefordert, sondern uns auch von der Wissenschaft sehr nahegelegt. Deshalb brauchen wir in der Tat politische Antworten und konkrete Taten. Wir haben ja gerade auch in Deutschland gesehen, wie sehr dieses Thema die europäischen Wahlen bestimmt hat. Das ist nicht in allen europäischen Ländern so, aber in Deutschland war es so. Deshalb muss die Politik ihr Handeln noch mehr auf die Zukunft ausrichten. Ich sage allerdings auch, wenn ich mir die Wahlergebnisse anschaue: Wir haben 30 Jahre nach dem Mauerfall im Grunde auch ein Problem damit, Menschen in allen Teilen Deutschlands mitzunehmen. Unsere Aufgabe ist es auch immer wieder, einen Zusammenhalt der Gesellschaft zu erreichen, damit wir nicht zu großen Polarisierungen kommen, die die politische Handlungsfähigkeit sicherlich nicht verbessern. Das soll keine Relativierung sein, sondern das ist eben unsere Aufgabe in der Politik. Mit Ihrem Konferenztitel „Zukunft zur Heimat machen“ bringen Sie die Aufforderung, mehr zu tun, ja zum Ausdruck. Wir müssen uns in der Zukunft zu Hause fühlen, heimisch fühlen. Das heißt eben, dass insbesondere auch die junge Generation positive Lebensperspektiven haben muss. Wir müssen Vorsorge treffen – Sie haben das Vorsorgeprinzip ausdrücklich erwähnt. Ich sage „wir“, weil das eine Verantwortung ist, die zweifelsohne uns in der Politik, aber auch uns alle betrifft. Es gibt ungefähr zehn Grundgesetzerweiterungen, die auf unserer Tagesordnung stehen. Im Grunde genommen ist der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen natürlich schon ein Auftrag aus dem Grundgesetz. Aber wenn Sie glauben, dass Nachhaltigkeit als solche ins Grundgesetz gehört – ich habe das ja am Beifall gemerkt –, dann muss man darüber ernsthaft nachdenken. Ja, das kann man machen. Allerdings ist mit der Aufnahme in das Grundgesetz die Arbeit nicht erledigt. Sie wird vielleicht leichter, sie wird vielleicht die Rechtsprechung verändern, aber sie ist damit nicht erledigt. Das ist also eigentlich noch der einfachste Teil. Ich sehe schon wieder Klima-Plakate. Ich werde zum Schluss darauf zu sprechen kommen; keine Sorge. Bis morgen noch läuft die Europäische Nachhaltigkeitswoche. 6.000 Initiativen in 25 Ländern finden in dieser Woche statt. Letztes Jahr haben drei Millionen Menschen an den Veranstaltungen teilgenommen. Schulen und Unis, Kirchen und NGOs, Unternehmen und Ministerien engagieren sich jedes Jahr. Es wird breit über Nachhaltigkeit informiert. Das ist auch nach wie vor notwendig. Wenn ich einmal in meinem Wahlkreis, der in einer ländlichen Region liegt, nachfrage, was Nachhaltigkeit genau bedeutet, dann – das muss ich ganz ehrlich sagen – fällt die Antwort immer noch unbefriedigend aus, weil dieser Begriff sozusagen noch nicht Eingang in die natürliche Umgangssprache gefunden hat. Aber wir wissen, was gemeint ist. Deshalb gibt es ja auch eine Vielzahl von Aktivitäten, die ich hier jetzt nicht alle aufzählen will, die aber deutlich machen: Es muss sich an dem gesamten Lebensstil etwas ändern. Es geht nicht nur um die Klimafrage, nicht nur um die Energiefrage, nicht nur um die Artenschutzfrage, sondern es geht im Grunde um das Denken in Kreisläufen und darum, die Welt nicht mehr in Anspruch zu nehmen, als sie sich regenerieren kann. Das ist eine wirklich große Aufgabe. Vielfältig gelebte Nachhaltigkeit nimmt aber zu. Gerade auch die junge Generation bietet hierfür Beispiele. Wir müssen das in unserem Land erreichen, aber wir müssen es auch weltweit erreichen. So ist die Frage, wie wir die SDGs, also die Sustainable Development Goals, bis 2030 umsetzen können, eine, die von allergrößter Bedeutung ist. Es sind noch knapp 4.000 Tage bis 2030. Jeder dieser Tage zählt. Vier Jahre liegen schon zurück seit der Verabschiedung der Agenda 2030. Wir wissen, dass wir die darin festgelegten 17 Nachhaltigkeitsziele global nur dann, wie beschlossen, erreichen werden, wenn wir in Zukunft deutlich schneller vorankommen. Ich habe mir kürzlich wieder die Situation in Westafrika angeschaut. Wir haben unglaublich viel zu tun, um auch diesen Ländern zu helfen. Der Fortschrittsbericht des UN-Generalsekretärs spricht eine deutliche Sprache: Wir kommen voran, aber zu langsam; und es gibt sogar Rückschritte. So ist die Zahl der hungerleidenden Menschen weltweit wieder gestiegen. Für den Zugang aller zu sanitärer Grundversorgung müsste die Umsetzungsgeschwindigkeit verdoppelt werden. Der Rohstoffverbrauch ist ebenso weiter angestiegen wie auch die weltweiten Treibhausgasemissionen. Es muss also sehr viel mehr Ehrgeiz an den Tag gelegt werden. Das ist eine große Aufgabe, deren Bedeutung auch darin Ausdruck findet, dass ein Hochrangiges Politisches Forum der Vereinten Nationen stattfinden wird. Aber es zeigt sich eben auch: jeder ist gefordert. Im September werden die Staats- und Regierungschefs zum ersten UN-Nachhaltigkeitsgipfel zusammenkommen. Wenn es die Umstände erlauben, möchte ich gerne daran teilnehmen, genauso wie am Klimagipfel des Generalsekretärs der Vereinten Nationen. Wir werden Lehren dafür ableiten müssen, wie wir schneller vorankommen. Denn es reicht nicht aus, wenn nur einige Staaten Akzente setzen. Alle müssen ihren Beitrag leisten. Allerdings, und das soll keine Ausrede sein, stehen die Industrieländer in einer besonderen Verantwortung – damit auch Deutschland. Es stimmt zwar, dass Deutschland und seine europäischen Partner immer eine treibende Kraft bei den Verhandlungen hinsichtlich der globalen Klimaschutzziele und der anderen Agenda-Entwicklungsziele waren. Aber wir müssen auch die treibende Kraft bei der Umsetzung sein. Deshalb sind alle relevanten Akteure gefragt: Regierungen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Deshalb wird es in diesem Jahr auch eine Konferenz des Umweltministeriums und des Entwicklungsministeriums geben: eine Vorbereitungskonferenz für das UN-Forum zur nachhaltigen Entwicklung. Damit greifen wir auch einen Vorschlag Ihres Nachhaltigkeitsrats auf. Bereits Anfang des Jahres hat die Europäische Kommission Vorschläge dafür unterbreitet, wie wir mehr Politikkohärenz erreichen können, also mehr Vereinbarkeit der verschiedenen Politikfelder. Auch Entwicklungspolitik muss auf die Nachhaltigkeitsziele ausgerichtet sein. Wir brauchen Zeitpläne, wir brauchen Ziele, wir brauchen konkrete Maßnahmen zur Berücksichtigung der Agenda 2030. Wir brauchen also eine europäische Umsetzungsstrategie zur Agenda 2030. Das wird für Deutschland ein Schwerpunkt unserer EU-Ratspräsidentschaft sein, die wir im nächsten Jahr übernehmen werden. Dabei soll Nachhaltigkeit inhaltlich wie auch organisatorisch eine wichtige Rolle spielen. Wir wollen das auch ganz konkret angehen. Manchmal wird ja gelächelt, wenn man sozusagen alle Feinheiten einer Veranstaltung auf Nachhaltigkeitsziele durchgeht, aber nur so kann es ja praktisch gezeigt werden. Dazu gehört nicht nur, dass wir die Klimaauswirkungen von Reisen zu den Veranstaltungen kompensieren. Wir haben in einer Checkliste festgehalten, was bei der Organisation zu beachten ist – von der Auswahl des Veranstaltungsorts und der Vermeidung von Drucksachen über eine umweltfreundliche Anreise bis hin zu Hinweisen für ein nachhaltiges Catering. Na ja, man muss ja bei sich zu Hause anfangen. Wir wissen aber, dass unsere Arbeit sich nicht darin erschöpft; aber es ist ein Beitrag. Wir haben die Agenda 2030 zur Richtschnur unserer Politik erklärt. Dementsprechend haben wir die Nachhaltigkeitsstrategie auch an die Agenda 2030 angepasst und deshalb im November vergangenen Jahres eine Aktualisierung der Strategie beschlossen. Es wurden unter anderem Indikatoren und Ziele für eine nachhaltige öffentliche Beschaffung ergänzt. Auch da wird es sehr konkret. So soll zum Beispiel der Anteil von Recyclingpapier am Gesamtpapierverbrauch in der Bundesverwaltung bis 2020 auf 95 Prozent steigen. Der durchschnittliche CO2-Ausstoß von Dienstfahrzeugen soll deutlich gesenkt werden. Wir werden auch die Anschaffungsbedingungen verändern, damit auch alternative Antriebstechnologien besser verwendet werden können. Außerdem haben wir neue übergeordnete Nachhaltigkeitsprinzipien in unsere Strategie aufgenommen. Das erste Prinzip fordert, nachhaltige Entwicklung als Leitbild konsequent in allen Bereichen und bei allen Entscheidungen anzuwenden. Die weiteren Prinzipien spannen einen weiten Bogen von der Übernahme globaler Verantwortung, dem Erhalt natürlicher Lebensgrundlagen über eine nachhaltige Wirtschaft und den sozialen Zusammenhalt bis hin zu Bildung, Wissenschaft und Innovation. Diese allgemeinen Prinzipien müssen natürlich konkretisiert werden. Deshalb soll die nächste große Weiterentwicklung der Strategie bis Ende 2020 erfolgen. Hierzu werden wir im Herbst eine Dialogreihe starten. Vorgesehen sind fünf Konferenzen. Ich hoffe wieder auf eine rege Beteiligung aus diesem Kreise. Jeder ist dazu eingeladen, auch „Fridays for Future“. Fortschritt im Sinne von Nachhaltigkeit ist ein Gemeinschaftswerk. Das heißt also, wir brauchen eine Zusammenarbeit mit allen. Daher laden wir zum Beispiel zum Forum Nachhaltigkeit in das Bundeskanzleramt ein. Das nächste Treffen wird zusammen mit dem Kanzleramtsminister in der kommenden Woche stattfinden. Wir beteiligen auch gesellschaftliche Akteure stärker an der Vorbereitung des Staatssekretärsausschusses. Hierzu finden vor den Sitzungen Dialoge mit den Ministerien statt. Wer andere für mehr Nachhaltigkeit in die Pflicht nimmt, muss selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Deshalb ist es wichtig, dass die öffentliche Verwaltung ein Maßnahmenprogramm Nachhaltigkeit zur Hand hat, das für alle Ministerien und nachgeordneten Bereiche gilt – insgesamt also für rund 120 Behörden mit etwa 500.000 Beschäftigten. Zu diesem Programm gehört ein Leitfaden für nachhaltiges Bauen. Dazu gehören klare Leitlinien für technische Geräte, die sich jeweils durch höchste Energieeffizienzgrade auszeichnen sollten. Bei Dienstreisen gilt es auch auf mehr Nachhaltigkeit zu achten. Wir drängen auf die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen. Wir wollen das bis 2025 innerhalb der Bundesregierung umgesetzt haben. Diesem Ziel dienen Mentoring- oder Qualifizierungsprogramme sowie mehr Möglichkeiten, Führungsfunktionen auch in Teilzeit wahrzunehmen. Ich will an dieser Stelle sagen, dass ich ein bisschen stolz darauf bin, dass wir bei den B9-Stellen im Kanzleramt inzwischen eine Parität erreicht haben. Als ich Bundeskanzlerin wurde, gab es keine einzige Frau auf einer solchen Stelle. Inzwischen ist die Parität erreicht; und das muss der Maßstab für alles sein. Wir werden also die Nachhaltigkeitsstrategie in der gesamten Bundesverwaltung konsequent weiter verfolgen. Das ist auch deshalb von so großer Bedeutung, weil die Analyse der gesamten Entwicklung in Deutschland ein durchaus gemischtes Bild ergibt. Das Statistische Bundesamt nimmt ja verschiedenste Indikatoren in den Blick, zum Beispiel Nitrat im Grundwasser, die Raucherquote bei Jugendlichen, die Ganztagsbetreuung für Kinder, den Schuldenstand, die Einkommensverteilung, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung – kurz: alles, womit sich die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele messen, quantifizieren lässt. Der Befund ist: Bei 24 von 66 Indikatoren wurden die Ziele der Strategie erreicht oder sie werden bei gleichbleibender Entwicklung erreicht. Unter anderem haben wir das Wirtschaftswachstum weitgehend vom Rohstoffverbrauch entkoppelt. 28 weitere Indikatoren entwickeln sich in die richtige Richtung. Die Ziele werden aber nach jetzigem Stand verfehlt werden. Hier müssen wir also nachsteuern. Bei acht Indikatoren gab es Rückschritte. Hier muss natürlich eine Schubumkehr erfolgen. Es bleibt also viel zu tun. Und das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere Staaten. Deshalb ist es eben wichtig, dass die erwähnten Gipfel stattfinden: sowohl der Nachhaltigkeitsgipfel als auch der Klimagipfel. Meine Damen und Herren, damit komme ich zum Thema Klimaschutz, das ja im Augenblick sehr breit diskutiert wird und bei dem wir noch sehr, sehr viele Aufgaben zu lösen haben. Wir haben uns vorgenommen, Treibhausgasemissionen bis 2030 im Vergleich zu 1990 um 55 Prozent zu reduzieren. Das ist eine gewaltige Aufgabe. Wir werden 2020 nach jetzigem Stand eine Reduktion von 32 oder 33 Prozent erreicht haben. Das hängt natürlich sehr stark vom Wirtschaftswachstum und im Übrigen auch von den CO2-Preisen, den Zertifikatepreisen, ab. Das ist sehr interessant: Dadurch, dass es im letzten Jahr endlich einen ansteigenden Zertifikatepreis gab, ist der Export von Braunkohlestrom in andere Länder, zum Beispiel nach Polen, stark gesunken. Das heißt, wir exportieren viel weniger und haben dadurch eine sehr viel bessere CO2-Bilanz. Das heißt, eine Bepreisung von CO2 zeigt ihre Wirkung. Es hat jahrelang mit dümpelnden CO2-Zertifikatepreisen im Grunde keine Lenkungswirkung gegeben; aber jetzt setzt eine Lenkungswirkung ein. Ich finde es sehr interessant, das zu beobachten. Insgesamt sind unsere Emissionen 2018 um 4,5 Prozent zurückgegangen. Es wird sehr interessant zu beobachten sein, ob sich dieser Trend fortsetzt. Eine der Ursachen ist auch der weitere Ausbau der erneuerbaren Energien. Schon heute stammt hierzulande mehr als jede dritte verbrauchte Kilowattstunde aus Wind-, Wasser-, Solar- oder Bioenergie. Deutschland hat hohe Förderkosten bei der Entwicklung erneuerbarer Energien getragen. Das hat aber auch geholfen, die Stromerzeugung mit Windkraft- und Solaranlagen zur Marktreife zu bringen. Genau das ist ein Beispiel für einen gelungenen Beitrag von Industrieländern: Wir übernehmen die Kosten dafür, dass zum Schluss marktreife Produkte da sind, die wir dann auch in andere Teile der Welt exportieren können oder die in anderen Teilen der Welt einsetzbar sind. Ganz ehrlich gesagt, ist es zu dem Durchbruch auch durch die Ausschreibungsregeln gekommen, die in Europa vereinbart wurden. Das ist ein sehr wichtiger Beitrag gewesen. Dennoch will ich zum Ausbau der erneuerbaren Energien sagen: Es gibt zwar eine hohe Akzeptanz erneuerbarer Energien in städtischen Ballungsgebieten, aber es gibt eine zunehmende Abwehr in ländlichen Regionen. Dass man heute Naturschutz zum Beispiel wieder gegen erneuerbare Energien ausspielen kann, ist nicht im Sinne der Nachhaltigkeitsstrategie, sondern beides muss zusammengehen. Das müssen wir auch mit den Menschen diskutieren und es ihnen sagen. Aber die neuen, zu Land erbauten Windkraftanlagen erfreuen sich sozusagen nicht einer durchgehenden Akzeptanz. Deshalb müssen wir auch überlegen, wie wir denjenigen, die diese – in Anführungsstrichen – „Last“ tragen, eine gewisse Kompensation bieten können. Früher hat jede Gemeinde, die ein Atomkraftwerk hatte, viel staatliche Förderung bekommen, damit die Bevölkerung das akzeptiert hat. Dort, wo Atomkraftwerke standen, ist es den Kommunen sehr gut gegangen. Da kann man ja lachen. Wir steigen ja auch aus. Aber dass man die großen Windkraftanlagen heute den Leuten vor die Haustür setzt und sagt „Bitte freut euch“, das wird nicht so einfach funktionieren. Deshalb darf nicht nur der, der Land zur Verfügung stellt, profitieren, sondern man muss sich überlegen, ob man auch in den ländlichen Regionen eine besondere Förderung macht, um die Akzeptanz für erneuerbare Energien – in diesem Falle die Windkraft – wirklich zu steigern, sonst wird das nicht gutgehen. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Gleiches gilt für den Leitungsbau, weil wir die erneuerbaren Energien nur dann wirklich voranbringen, wenn wir auch im Leitungsbau vorankommen. Wir liegen weit zurück. Wir versenken jedes Jahr noch und noch Kilowattstunden, weil sie sozusagen nicht an die Plätze geleitet werden können, an denen wir Strom brauchen. Das erfordert einen Gesamtumbau, bei dem nicht nur die Nutzer des erneuerbaren Stroms zufrieden sein dürfen, sondern auch die, die sozusagen die industriellen Herausforderungen bewältigen, müssen auch etwas davon haben. Darauf sind weder unsere Steuersysteme noch unsere Fördersysteme noch unsere Finanzzuweisungen ausgerichtet. Das spielt zum Beispiel für die Arbeit in der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ eine Rolle. Jetzt gibt es ja – das ist den Kennern bekannt – den Bereich, der heute schon dem europäischen Zertifikatehandel unterliegt. Das hat sich auch nicht als ganz so einfach erwiesen, wie wir uns das gewünscht hätten, weil die Wirtschaftsflaute dazu geführt hat, dass wir zu viele Zertifikate hatten. Das marktwirtschaftliche Instrument ist also auch nachbesserungsbedürftig. Aber es gibt einen Bereich, der jetzt in Deutschland zur Diskussion steht – Verkehr, Wohnen, Landwirtschaft –, in dem es keinerlei Bepreisung gibt, sondern einen ziemlichen Wildwuchs von Abgaben, Steuern und ordnungsrechtlichen Maßnahmen, die zum Teil wirken, zum Teil weniger wirken. Und ob das effizient ist, sei dahingestellt. Deshalb haben wir – ich habe das auch persönlich gemacht – den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mit seinem Chef, Professor Schmidt, gebeten, uns zusammen mit Professor Edenhofer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung ein Sondergutachten anzufertigen, um uns für diesen, dem Zertifikatehandel noch nicht unterliegenden Sektorenbereich Vorschläge dazu zu machen, wie man mit der Bepreisung von CO2 umgehen kann. Dieses Gutachten wird nicht am Sankt-Nimmerleins-Tag, sondern am 12. Juli vorliegen. Am 18. Juli wird das Klimakabinett mit den beiden Professoren darüber diskutieren. Dann werden wir im September eine Grundentscheidung darüber treffen, ob wir weiterhin auf den sektoralen Ansatz setzen – also darauf, dass der Verkehrssektor Emissionen um 40 Prozent, der Wohnsektor um so und so viel Prozent und die Landwirtschaft um so und so viel Prozent reduzieren muss – oder ob wir einen Gesamtansatz für diesen gesamten, noch nicht dem Zertifikatehandel unterworfenen Bereich wählen und dann mit der CO2-Bepreisung vorangehen. Ich habe mit meinem niederländischen Kollegen und mit Emmanuel Macron darüber gesprochen, dass es besser wäre, wenn nicht jedes europäische Land einen einzelnen Ansatz hätte, sondern wenn sich Vorreiter versammeln. Darauf zu warten, dass ganz Europa diesen anderen Bereich auch in den Zertifikatehandel einbezieht, würde uns zu viel Zeit kosten. Aber mit Gleichgesinnten über ähnliche Herangehensweisen zu sprechen, ist die Sache wert. Darüber wollen wir – sozusagen unser Klimakabinett mit den Klimakabinetten beider Länder – diskutieren. Wir werden die rechtlichen Rahmensetzungen vornehmen, sodass wir einen Pfad haben werden, mit dem wir die Klimaziele 2030 mit Sicherheit erreichen werden. Natürlich muss das immer mit dem Wirtschaftswachstum und den Entwicklungen abgeglichen werden. Einen Riesenbeitrag zur Erreichung der 2030-Ziele hat die Kohlekommission geleistet. Es war eine große gesellschaftliche Kraftanstrengung, dass sich von Professor Schellnhuber bis zum Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie alle auf ein spätestes Ausstiegsdatum geeinigt haben und uns die Rahmenbedingungen vorgegeben haben. Diese Leistung ist für uns als Bundesregierung jetzt Auftrag, die Vorgaben umzusetzen. Implizit ist in diesem Ausstieg aus jeglicher Kohleverstromung, sowohl der von Braunkohle als auch der von Steinkohle, enthalten, dass die Klimaziele im Energiebereich für 2030 erreicht werden. Damit haben wir einen erheblichen Teil der CO2-Emissionen schon erfasst. An diesem Beispiel der Kohlekommission sehen Sie aber, wie schwierig es ist – ein Blick auf die Landkarte und auf die Wahlergebnisse der Europawahlen verdeutlicht das noch einmal –, Menschen mitzunehmen und Menschen Vertrauen darin zu geben, dass sie auch nach dem Verlust des Braunkohleabbaus in ihrer Heimat weiterhin eine Perspektive haben. Deshalb ist Ihr Titel „Zukunft zur Heimat machen“ so hellseherisch, wie ich einmal sagen will. Die Leute wollen nicht aus der Lausitz wegziehen. Sie wollen dort eben auch für sich und ihre Kinder eine Zukunft haben. Das zusammenzubringen, ist wirklich eine Kraftanstrengung. Wir haben die Eckpunkte für die Maßnahmen der Kohlekommission mit den betroffenen Bundesländern verabschiedet. Wir werden noch bis zum Sommer ein Gesetz im Kabinett verabschieden, um schnellstmöglich auch die parlamentarischen Beratungen voranzubringen. Das heißt, das Klimakabinett – das sage ich, weil ich immer lese „Die haben wieder nur diskutiert“ – hat einen ganz klaren Fahrplan. Wir werden noch in diesem Jahr die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir die Klimaziele bis 2030 auch wirklich erreichen. Wir haben jetzt wieder ein neues Ziel, das der UN-Generalsekretär ausgegeben hat. Das ist Klimaneutralität bis 2050. Da bin ich nun als Bundeskanzlerin, ehrlich gesagt, ein bisschen in einer Zwickmühle. Sage ich „Ich will das erreichen“, dann sagt man mir: Nun kommt sie schon wieder mit einem neuen Ziel. Das Ziel habe ich aber nicht ausgegeben, sondern nach dem werde ich gefragt. Das hat der UN-Generalsekretär ausgegeben. Ich habe für Deutschland erklärt: Auch wir müssen alles daransetzen, dieses Ziel zu erreichen. Gleichzeitig sagt man: Erreicht doch erst einmal eure naheliegendsten Ziele; da seid ihr säumig; insofern glauben wir euch auch für die Zukunft nur bedingt. – Richtig, da können Sie klatschen. Aber trotzdem muss ich mich auch zu den langfristigen Zielen äußern und die Rahmenbedingungen vorgeben – das hat auch Frau Thieme gefordert –, weil Berechenbarkeit auf diesem Weg sehr wichtig ist und weil wir die Planungen überhaupt nur so einleiten können, wenn wir auch einen Langfristpfad vor uns haben. Deshalb ist das Ziel 2050 des UN-Generalsekretärs richtig, aber das entbindet uns nicht davon, über die Jahre 2020 bis 2030 nachzudenken. Ich will – hier in diesem Hause weiß das wahrscheinlich jeder; aber hier wird ja auch vonseiten der Öffentlichkeit zugehört – in Erinnerung rufen: Es geht nicht nur um die Erreichung der Ziele bis 2030, sondern es geht ab 2020 Jahr für Jahr um ein von der Europäischen Union festgelegtes nationales Budget für CO2-Emissionen im Nicht-Zertifikate-Bereich. Das heißt, wir müssen bis 2030 einen klaren Pfad einhalten, der dann Jahr für Jahr abgeglichen wird. Wenn wir mehr CO2 emittieren, dann müssen wir Zertifikate bei denen, die noch welche übrig haben, oder bei der Europäischen Kommission für einen erhöhten Preis zukaufen. Dann werden wir Milliarden von Euro dafür ausgeben, dass wir unsere jährlichen Ziele nicht erreicht haben, anstatt diese Milliarden in Forschung und Innovation zu stecken. Und das wird zu einer breiten negativen gesellschaftlichen Diskussion führen. Deshalb muss die Bundesregierung sicherstellen, dass wir nicht nur das Ziel 2030 im Blick haben, sondern dass wir auch auf dem Pfad dahin unsere Ziele erreichen. Das ist ein ziemlich klares Korsett, will ich einmal sagen, in dem wir uns befinden. Aber wir müssen das hinbekommen. Ich will nur sagen: ab 2020 werden sich die Gegebenheiten noch einmal schnell verändern. Ab dann wird es keine Fünf- oder Sechsjahresperioden mehr geben, sondern dann wird man ganz klare Vorgaben haben, die wir natürlich auch umsetzen wollen. Jetzt will ich abschließend noch auf einen Bereich eingehen, der auch für die Jugend im Sinne der Generationengerechtigkeit wichtig ist. Das ist die Nachhaltigkeit in der Haushaltspolitik. Es wird ja manchmal davon gesprochen, dass wir irgendwie in die schwarze Null verliebt seien. Aber daran festzuhalten, ist ein gutes Zukunftswerk. Wir sind in den letzten Jahren – auch durch ein vernünftiges Wirtschaftswachstum – der 60-Prozent-Gesamtverschuldung wieder sehr nahegekommen. Das ist auch wichtig, um die Stabilitätskriterien des Vertrags von Maastricht einzuhalten. Wenn wir uns die demografische Situation in Deutschland anschauen, dann wissen wir, dass der Umstand, dass die Verschuldung bestenfalls tatsächlich sinkt, aber 60 Prozent jedenfalls nicht übersteigt, eine sehr, sehr wichtige Wegmarke ist, weil sich so den nach uns kommenden Generationen Spielräume eröffnen. Wir werden deshalb am Ziel des ausgeglichenen Haushalts festhalten, auch wenn uns das bei sinkenden Steuereinnahmen im Augenblick vor ziemlich große Probleme stellt. Wir müssen auch sehr viel mehr sozusagen grüne Instrumente – sustainable finance in unser gesamtes Finanzwesen einbauen, wie ja überhaupt die Aufgabe sozusagen nicht heißt „Hier ist die Wirtschaft; und da ist die Nachhaltigkeit“, sondern es muss im Sinne der Kreislaufwirtschaft alles miteinander zusammenwachsen. Die einzelnen Umweltziele und Nachhaltigkeitsziele dürfen kein Fremdkörper sein, sondern sie müssen mitgedacht werden und ganz selbstverständlich werden. Das ist die eigentliche Aufgabe. Was das angeht, haben wir beim Klima ein Riesenproblem und auch bei anderen Dingen, wie etwa bei der Biodiversität. Der Welt-Biodiversitätsrat hat uns gemahnt und gesagt, dass sich der Zustand der Natur weltweit dramatisch verschlechtert. Das gilt auch für Deutschland. Wir wissen, dass wir uns damit sozusagen unserer eigenen Lebensgrundlagen berauben. Deshalb müssen wir auch weiterhin sehr kontroverse Diskussionen in der Landwirtschaftspolitik, beim Tierschutz und beim Naturschutz führen. In der Bundesregierung tobt sozusagen der Streit, wenn man etwa nur an die Düngemittelverordnung denkt. Der eine fährt zu den Demonstrationen, die für geringere Nitrateinträge sind, die andere Ministerin fährt dann zu den Demonstrationen der Bauern. Ja, so ist die Aufgabenteilung. Aber ich glaube, trotzdem muss es geringere Nitrateinträge geben. Deutschland hat jahrelang versucht, Auswege zu finden. Wir müssen jetzt handeln. Das hat dann natürlich auch Auswirkungen auf bestimmte Formen der Landwirtschaft sowie auf die Intensivhaltung von Tieren. Aber ich glaube, das ist einfach notwendig. Und auch das wird mit jedem Tag klarer. Die Bundesregierung arbeitet an einer Ackerbaustrategie und an einem Aktionsprogramm Insektenschutz. Das Aktionsprogramm Insektenschutz wird noch im Sommer, so hoffe ich, verabschiedet, damit wir hier auch schnell handeln und den Koalitionsvertrag schnell umsetzen können. Meine Damen und Herren, die Physikerin Marie Curie soll einmal gesagt haben: „Man merkt nie, was schon getan wurde, man sieht immer nur, was noch zu tun bleibt.“ Das ist menschlich. Aber wir können vielleicht auch ab und zu – um uns zu ermutigen; nicht, um uns zur Ruhe zu setzen – einen Blick zurückwerfen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts konnten in Deutschland nur 13 Prozent mit dem Begriff „nachhaltige Entwicklung“ etwas anfangen. Inzwischen sollen es 80 Prozent sein. Ich habe vorhin gesagt, dass ich glaube, dass wir trotzdem daran noch arbeiten müssen. Für mehr als ein Drittel ist die Agenda 2030 inzwischen ein Begriff. Auch das sollte für jeden ein Begriff werden. Mit einer Kampagne versucht das Bundespresseamt die Menschen noch mehr zu informieren, damit auch die 17 Ziele in Fleisch und Blut übergehen und mitgedacht werden können. Ich will ausdrücklich sagen, dass es sehr, sehr hilfreich für uns ist, dass es so viele lokale, kommunale Nachhaltigkeitsinitiativen gibt. Das wird vor Ort gelebt. Es gibt hierfür herausragende Beispiele. Ich will vielleicht die Stadt Münster nennen. Dort gibt es zum Beispiel ein Dezernat für Nachhaltigkeit, in dem Nachhaltigkeit mit Fragen des sozialen Wohnungsbaus verbunden wird. Die Vergabe von Bauland wird daran geknüpft, dass Investoren mindestens 30 Prozent an Sozialwohnungen ausweisen. Das meistgenutzte Verkehrsmittel in Münster ist seit jeher das Fahrrad. Dafür und für viele weitere vorbildliche Aktivitäten hat Münster 2018 den Deutschen Nachhaltigkeitspreis erhalten. Es gibt auch eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Wir haben uns zum Beispiel auf knapp 30 Nachhaltigkeitsindikatoren geeinigt, die von Bund und Ländern möglichst für ihre Strategien genutzt werden sollten. Dazu gehören die Indikatoren zum ökologischen Landbau und zum Flächenverbrauch ebenso wie die zum Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen. Ich werde am Donnerstag wieder mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder auch darüber sprechen. Meine Damen und Herren, der französische Schriftsteller Victor Hugo war der Ansicht: „Die Zukunft hat viele Namen: Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare, für die Furchtsamen ist sie das Unbekannte, für die Tapferen ist sie die Chance.“ So wollen wir bei aller Zähigkeit, die wir zu überwinden haben, die Tapferkeit und den Mut doch zu Maßstäben machen und noch mehr tun. Dazu fordert uns der Nachhaltigkeitsrat auf. Wir wollen Zukunft zur Heimat machen. Und ich darf Ihnen versprechen, dass ich bereit bin, dafür energisch zu arbeiten. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Tag der deutschen Industrie am 4. Juni 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-tag-der-deutschen-industrie-am-4-juni-2019-in-berlin-1634644
Tue, 04 Jun 2019 10:05:00 +0200
Berlin
Alle Themen
Sehr geehrte Frau Staatspräsidentin Kaljulaid, sehr geehrter Herr Professor Kempf, meine Damen und Herren, ich bin gerne hier; der Morgen hat ja auch schon kämpferisch begonnen. Ich werde versuchen, darauf zu antworten, möchte aber erst einmal sagen: ich freue mich, dass Sie Europa in den Mittelpunkt dieses Tags der deutschen Industrie gestellt haben und dass Sie die estnische Präsidentin eingeladen haben. Übermorgen, am 6. Juni, jährt sich zum 75. Mal die Landung der Alliierten in der Normandie. Ich werde zu den Gedenkfeiern nach Großbritannien reisen. Wir können froh sein, dass nach dem Ende dieses schrecklichen Zweiten Weltkriegs, der ja von Deutschland begonnen wurde, eine Ordnung entstanden ist, die die Europäische Union hervorgebracht hat, die uns Frieden sichert, die uns Stabilität sichert und die auch die östlichen Länder mit einschließt. Die heutige Anwesenheit der estnischen Präsidentin ist dafür ja ein Symbol. Die Freiheit im Baltikum musste aber – das vergessen wir häufig – erst erkämpft werden. Im August 1989 reichten sich hunderttausende Esten, Letten und Litauer die Hände zu einer 600 Kilometer langen Menschenkette, die Tallinn, Riga und Vilnius miteinander verband. Sie forderten Unabhängigkeit ein, die dann zwei Jahre später erreicht war – eine unglaubliche Leistung der Menschen; das sollten wir nicht vergessen. 2004 traten die drei baltischen Staaten mit sieben weiteren Ländern der Europäischen Union bei. Europa wurde eins. Wir freuen uns, glaube ich, alle miteinander, dass dieses Mal Millionen mehr Menschen an der Europawahl teilgenommen haben. Ich danke auch dem BDI dafür, dass er sehr dafür geworben hat bzw. dass Sie persönlich dafür geworben haben, an dieser Europawahl teilzunehmen. Denn das war auch ein Beitrag, der den Einfluss populistischer Kräfte zwar nicht völlig gestoppt hat, ihn aber doch so limitieren konnte, dass ein arbeitsfähiges proeuropäisches Europäisches Parlament entstehen konnte. Das ist eine große Leistung. Damit bin ich sozusagen schon mitten in dem, was auch Herr Kempf angesprochen hat. Im aufkommenden Populismus drückt sich natürlich auch etwas aus, was uns alle betrifft und was wir auch nur gemeinsam bewältigen können: Das ist die Tatsache, dass wir in disruptiven Zeiten in umfassendem Sinne leben. Die Digitalisierung bedeutet eine Disruption des gesamten gesellschaftlichen Lebens. Sie fordert uns alle heraus. Deshalb verstehe ich auch, dass sehr klare Erwartungen an die Bundesregierung gestellt werden. Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass diese Bundesregierung jetzt ein Jahr und drei Monate im Amt ist. Ich könnte jetzt darüber sprechen, wie viele Stunden ich in diesem einen Jahr und den drei Monaten damit verbracht habe, mich mit dem Vertrauensverlust der deutschen Automobilindustrie und ihren Regelverletzungen auseinanderzusetzen. Das will ich hier jetzt aber nicht tun. Ich will nur sagen: wir haben eine gemeinsame Verantwortung. Und das muss bedeuten, dass Soziale Marktwirtschaft in Deutschland weiter akzeptiert bleibt und wir die Möglichkeiten haben, die Menschen mitzunehmen. Soziale Marktwirtschaft muss in Zeiten der Globalisierung um Akzeptanz in umfassendem Sinne kämpfen. Und deshalb ist Vertrauen in die Bundesregierung wichtig. Aber Vertrauen in die Wirtschaft ist genauso wichtig. Das zu stärken, ist deshalb meine Bitte an Sie, meine Damen und Herren. Als Europäischer Rat haben wir die Europäische Kommission gebeten, in den nächsten Monaten eine Industriestrategie zu erarbeiten, die deutlich macht, wo Europa seinen Platz sieht. Die Wettbewerber China und USA wurden von Herrn Kempf ja richtig beschrieben. Auch die Bundesregierung ist sich der Herausforderungen im internationalen Wettbewerb bewusst. Nun will ich einmal sagen, wie man es macht. Es gab Zeiten – Herr Kempf hat es angesprochen –, in denen Franz Beckenbauer mit seiner Herangehensweise für Deutschland ziemlich erfolgreich war; und da stand er auch hoch im Kurs. Deshalb würde ich mich über ihn da jetzt nicht lustig machen. Es muss aber natürlich ab und zu auch ein Tor geschossen werden; da gebe ich Ihnen recht. Meine Damen und Herren, ich möchte darauf hinweisen, dass wir in dieser Woche ein ganz wichtiges Gesetzgebungspaket im Deutschen Bundestag verabschieden werden, nämlich ein Paket aus acht Gesetzen vor allem zur Ordnung und Steuerung von Migration. Wir haben schon seit Jahren auch auf dem Tag der deutschen Industrie über genau dieses Thema gesprochen. Ich bedanke mich bei der deutschen Wirtschaft für die positive Einstellung, die gegenüber der humanitären Herausforderung gezeigt wurde. Ich glaube, wir haben noch einen langen Weg der Integration derer, die bei uns bleiben können, vor uns. Wir haben hier aber immer ein gutes Miteinander gehabt. In den angesprochenen Gesetzen geht es zumeist um die Ordnung und Steuerung von Migration. Es ist aber auch ein Gesetz dabei, das für die deutsche Wirtschaft von außerordentlicher Bedeutung ist, nämlich das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Dieses Gesetz ist eine Antwort auf eine Herausforderung, die Sie alle umtreibt und die in den nächsten Jahren angesichts der demografischen Entwicklung wahrscheinlich noch herausragender wird. Es gibt Menschen, die – so, wie es uns Deutschen eigen ist – schon vor der Verabschiedung und Inkraftsetzung des Gesetzes einen Haufen Bedenken haben, dass die Umsetzung des Gesetzes nicht funktionieren wird, weil etwa die vorgesehene Antragstellung zu kompliziert ist. Da will ich nur danke sagen in Richtung des Deutschen Industrie- und Handelskammertags. Denn die Auslandshandelskammern haben gemeinsam mit den Botschaften Verantwortung mit übernommen, um die Antragstellungsverfahren zu entwickeln. Wir werden das natürlich genau beobachten. Dieses Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll uns in den Bereichen, in denen absoluter Fachkräftemangel besteht, auch wirklich helfen. Es wird, wie gesagt, diese Woche im Parlament verabschiedet. Meine Damen und Herren, ich habe von einer disruptiven Entwicklung gesprochen. Auf diese Entwicklung müssen wir in allen gesellschaftlichen Bereichen Antworten geben. Die Bundesregierung hat, nachdem sie im März vergangenen Jahres ins Amt gekommen war, eine Vielzahl von Schritten eingeleitet, von denen einige auch schon deutliche Ergebnisse zeigen. So ist der Digitalpakt Schule mit den Bundesländern verabschiedet worden. Damit wird erreicht, dass alle Schulen ans schnelle Internet angebunden werden – wie im Übrigen in kurzer, absehbarer Zeit auch alle Gewerbegebiete Deutschlands. Dieser Pakt wird dafür sorgen, dass wir eine gemeinsame Schul-Cloud haben, um damit Lehrmaterialien für die Schulen in den einzelnen Bundesländern zur Verfügung zu stellen. Wie immer gestaltet sich die Kooperation mit den Ländern im Bildungsbereich nicht ganz einfach, weil viele Bundesländer ihre eigenen Vorstellungen haben. Wenn aber etwas vom Hasso-Plattner-Institut zusammen mit der Bundesregierung entwickelt wird, rate ich trotzdem dazu, auf diese gemeinsame Schul-Cloud zurückzugreifen. Um beim Thema Digitalisierung zu bleiben, was ja auch viel mit Forschung und Entwicklung zu tun hat: Wir haben im vergangenen Jahr zum ersten Mal das Ziel erreicht, drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Innovation aufzuwenden. Das ist zu einem großen Teil ein Beitrag der deutschen Wirtschaft, aber das ist auch ein staatlicher Beitrag, der sehr zu begrüßen ist. Was wir in den letzten Tagen erreicht haben, ist, dass unsere Bildungs- und Forschungsministerin die Forschungspakte mit den Ländern verabschiedet hat. Das heißt, wir haben bis zum Jahr 2030 absolute Berechenbarkeit über die Mittel zur außeruniversitären Forschung und über die Hochschulfinanzierung. Das ist von allergrößter Bedeutung. Deutschland ist wieder ein attraktiver Forschungsstandort geworden, seitdem wir eine jährliche Steigerung des Budgets in den Forschungseinrichtungen von drei Prozent haben. Damit sind wir auch attraktiv für ausländische Wissenschaftler geworden. Das ist auch mit Blick auf die Künstliche Intelligenz von allergrößter Bedeutung. Sie wissen, dass wir eine Strategie zur Künstlichen Intelligenz entwickelt haben. Ja, die finanziellen Mittel sind noch nicht voll ausgewiesen, wir stehen aber zu diesen drei Milliarden Euro. Jetzt geht es aber zunächst darum, eine gute Kooperation mit den Bundesländern hinzubekommen, denn die drei Milliarden Euro sind nicht der komplette deutsche Beitrag staatlicherseits, da auch Länder wie Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen mindestens noch einmal die gleiche Menge dazugeben. Das heißt, wir können hierbei mit Frankreich absolut mithalten. Wir haben mit den Bundesländern vereinbart, dass wir die Dinge gemeinsam voranbringen. Wir müssen, was Kompetenzen bei Künstlicher Intelligenz anbelangt, im Kampf um kluge Köpfe attraktive Angebote machen. Deshalb gibt es hundert neue Professuren im Bereich Künstliche Intelligenz. Wir werden uns aber sehr strecken müssen, um hierfür die besten Leute zu bekommen. Ich war kürzlich an der TU München und habe mir dort den Robotik-Bereich angeschaut. Das, was man dort sieht, ist sehr beeindruckend. Wir haben also Chancen, aber wir sind in einigen Bereichen auch hintendran. Die größten Sorgen macht mir, wie wir staatliches Geld gut kombinieren mit den industriellen Anstrengungen zur Plattformwirtschaft. Wir sind hoffnungslos zurück in allen Bereichen – und das ist nicht nur die Schuld der Regierung –, wenn es um Plattformwirtschaft und um die Frage geht, wie wir unsere Daten in Zukunft speichern und vernetzen und wie daraus neue Wirtschaftsmodelle entstehen. Wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf – wir haben hier heute ja den Tag der offenen Aussprache –: Der deutsche Mittelstand ist noch nicht ausreichend darauf vorbereitet, seine Daten auch so zu speichern, dass sie für von den Mittelständlern selbst benötigte Anwendungen wirklich zur Verfügung stehen. Wenn ich mir die Taxonomie der Datenspeicherung und die Frage, wie viel Geld wir da investieren, anschaue, kann ich nur sagen: Das können wir nur gemeinsam machen – genauso wie wir in der Frage von Großrechnern und Cloud-Computing nur gemeinsam vorgehen können. Hierzu brauchen wir auch noch Ratschläge seitens der deutschen Wirtschaft, wie Sie das gerne hätten. Wir haben Ansätze, aber wir werden nur mit einer guten Plattform-Datenwirtschaft wirklich wettbewerbsfähig bleiben. Wir haben Agenturen zur Förderung von Sprunginnovationen gegründet. Das ist für die Bundesregierung eine völlig neue Herangehensweise, die insbesondere beim Bundesrechnungshof als disruptives Verhalten der Bundesregierung angesehen wird. Denn bei Sprunginnovationen müssen Sie damit rechnen, dass 90 Prozent eben kein Ergebnis erbringen. Aber ab und zu ist eben doch ein Blockbuster dabei. Das ist das, was wir anstreben und auch tun wollen. Peter Altmaier hat eine Industriestrategie vorgelegt. Ich bin dankbar dafür, dass Sie das auch so aufgenommen haben, dass das ein Diskussionsanstoß ist. – Er wird ja heute noch zu Ihnen kommen. – Ich finde auch sehr bemerkenswert, dass der BDI über hundert Vorschläge gemacht hat, wie man an dieser Strategie weiterarbeiten kann. Was mich aber verwundert – das sage ich ganz ehrlich –, ist, mit welcher Akribie an dieser einen Frage der Beteiligungsfazilität festgehalten wird, so als würden wir sozusagen Kühnertsche Ideen der Verstaatlichung haben. Wer Peter Altmaier kennt, der weiß doch, dass das nicht richtig ist. Wir standen im vergangenen Jahr aber vor einer ganz praktischen Frage: 50Hertz wurde verkauft; und die Frage war, ob wir unser Elektrizitätsnetz in ausländische Hände geben; ich nenne jetzt einmal keine Namen. Das ist eine strategische Frage; und auf solche Fragen müssen wir antworten. Da sich nicht sofort ein Käufer gefunden hat, haben wir in diesem Falle die KfW als Zwischenlagerung genommen. Wir brauchen aber Möglichkeiten, auf solche Fragen strategisch zu antworten. Aber das wird noch schwieriger werden, wenn es um Cybersicherheit und viele andere Dinge geht, die wir in nationaler oder europäischer Hand behalten müssen. Diese Diskussion muss geführt werden; und deshalb darf sie nicht sozusagen mit dem Totschlagargument abgetan werden, wir wollten jetzt nur noch „Planification“ betreiben – wobei ich gar nicht weiß, was das genau ist, weil es mir völlig fremd ist. Das ist nicht die einzig mögliche Antwort. Wenn ein Bundeswirtschaftsminister einmal eine Industriestrategie macht und sagt „Wir brauchen europäische Champions“, dann ist doch auch das nicht falsch. Wie oft haben wir gesagt, wie stolz wir darauf sind, dass die BASF das größte Chemieunternehmen der Welt ist? Dankenswerterweise ist die BASF jetzt auch einer der Profiteure der Marktöffnungsstrategie Chinas geworden, weil nämlich Beteiligungen möglich sind, die oberhalb von 50 Prozent liegen. Deutschland hat davon sehr profitiert – das will ich ausdrücklich sagen –, obwohl ich mit Blick auf China natürlich auch manches kritisch sehe. Aber dass dann in einer Industriestrategie einmal der Mittelstand nicht die Hauptrolle spielt, heißt doch nicht, dass die mittelständischen Hidden Champions von uns plötzlich nicht mehr geachtet würden. Das heißt, wenn man über das eine spricht, ist doch das andere nicht ausgeschlossen. Um diese Art der Betrachtungsweise bitte ich; und ansonsten wird die Industriestrategie durch die Zulieferungen des BDI sicherlich vollkommen werden. Ich komme noch einmal zurück zu den europäischen Champions und der Frage – und da stimmen wir ja auch wieder überein –, wie unser Wettbewerbsrecht in Europa ausgerichtet ist. Wenn die Marktbetrachtung so bleibt, wie sie ist, und wenn weiter jeder potenzielle Wettbewerber gefragt wird, ob er es gut findet, wenn sich zwei andere zusammenschließen, und das Urteil dieses Wettbewerbers den Ausschlag gibt und anschließend gesagt wird, es hätte ja noch kein außereuropäisches Interesse an einem bestimmten Sektor gegeben und das würde in den nächsten fünf Jahren auch nicht passieren, dann wundert man sich manchmal, wie die Urteilsfindung stattfindet. Wenn zum Beispiel China im Bereich von Alstom und Siemens – das war ja einer dieser Fälle – heute 60 oder 70 Prozent – ich habe es jetzt nicht genau im Kopf – der Weltmarktanteile hat, aber sich noch nicht in Europa engagiert hat, wie will man dann sagen, dass sich China auch in den nächsten fünf Jahren nicht in Europa engagieren will? Eine solche Behauptung finde ich kühn. Deshalb müssen wir mit der Kommission – und es geht hier nicht um Menschen, es geht hier nicht um die Kommissare, sondern es geht einfach um die Regeln, die wir selbst gemacht haben – darüber reden, wie wir die Regeln verändern können, um wirklich wettbewerbsfähig zu werden. Meine Damen und Herren, ich will auch auf die Handelspolitik eingehen, bei der wir ja eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten haben. Wir haben das Japan-Abkommen abgeschlossen; das ist eine großartige Sache. Auch beim Abkommen mit Singapur sind wir fertig. Wir haben in wirklich harter Arbeit – Deutschland hat sich hierbei sehr stark eingebracht – auch ein Gesprächsmandat für die Vereinigten Staaten von Amerika erreicht. Es ist bedauerlich, dass Frankreich ganz zum Schluss gegen dieses Mandat gestimmt hat, aber vielleicht können wir in Zukunft auch noch Überzeugungsarbeit leisten. Aus meiner Sicht müssen wir versuchen, gerade auch die Handelskonflikte mit den Vereinigten Staaten von Amerika durch Gespräche und vernünftige Lösungen zu beenden. Ansonsten kommen wir in eine sehr unruhige Phase der gesamten Weltwirtschaft. Wir sehen schon jetzt, welche Auswirkungen die strittigen Fragen zwischen China und den Vereinigten Staaten von Amerika auch auf unsere Wirtschaftslage haben. Ich kann deshalb nur hoffen, dass man hier zu Lösungen kommt. Wir haben uns natürlich auch mit dem Thema Klimaschutz zu beschäftigen. Ich will an dieser Stelle Herrn Kempf danken – er hat verschwiegen, wie viel Arbeit er da hineingesteckt hat – dafür, dass die deutsche Wirtschaft so intensiv in der Kohlekommission mitgearbeitet hat. Wir haben, wenn ich das einmal sagen darf, in sehr kurzer Zeit ein Ergebnis dieser Kohlekommission bekommen, demnach bis spätestens 2038 der Ausstieg aus der Energiegewinnung mit Kohle – Braunkohle und Steinkohle – erfolgt. Dass das gelungen ist, gemeinsam mit Umweltverbänden und der Wirtschaft, ist eine großartige Leistung. Deshalb sage ich danke dafür. Ehrlich gesagt bin ich sehr froh, weil damit auch verbunden ist, dass im gesamten Energiebereich die Klimaziele bis 2030 erfüllt werden, wenn wir diese Ergebnisse der Kohlekommission umsetzen. Das erfordert natürlich eine Neuplanung unserer Energiepolitik und unserer gesamten Herangehensweise auf dem Gebiet der Energie. Das Konzept dazu werden wir bis Jahresende vorlegen, um Verlässlichkeit und Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Das erfordert auch – da wir aus der Kernenergie und aus der Kohle aussteigen –, dass wir auf den Energieträger Gas setzen. Deshalb habe ich mich auch immer wieder dafür eingesetzt, dass die Gasleitung Nord Stream 2 gebaut werden kann. Ich glaube, auch hier sind wir nicht unterschiedlicher Meinung. Probleme haben wir bei der Erfüllung der Klimaschutzziele noch in den Sektoren, die nicht dem Zertifikatehandel unterliegen. Dazu gehört der Verkehrssektor. Im Verkehrsbereich ist seit 1990 keine Emissionseinsparung erfolgt, weil jede technische Verbesserung im Grunde zu einer Zunahme des Verkehrs oder zu einer Vergrößerung der Autos geführt hat. Wir waren ja schon einmal ganz dicht beim Drei-Liter-Auto; mit dem SUV sind wir aber wieder in eine ganz andere Marktrichtung gegangen. Gut, das ist halt so; so sind die Wünsche der Bevölkerung. Aber wir müssen deshalb den Umstieg auf alternative Antriebe möglichst schnell schaffen. Dazu haben wir im Übrigen die Nationale Plattform Zukunft der Mobilität. Wir werden mit der Automobilindustrie noch im Juni in einen strategischen Dialog einsteigen, um Antworten unter anderem auf die Frage zu finden: Wie können wir den Ausbau der Ladeinfrastruktur begleiten und wie können wir auch die Elektromobilität insgesamt fördern? Auch für die Wasserstofftechnologie können wir das tun. All das ist in Arbeit. Sie haben so schön gesagt: Alles hätte zwar gestern stattfinden müssen, nur bei der Sache mit der Energiebepreisung sollten wir schön aufpassen und ganz langsam vorgehen – da hat Beckenbauer auch aus Ihnen ein bisschen herausgesprochen. Wir müssen uns irgendwann aber auch entscheiden. Wir haben heute ein Abgabensystem von etwa 60 Milliarden Euro, das in seiner Lenkungswirkung nicht so ist, dass man sagen könnte: es ist ökologisch effizient. Deshalb haben wir beim Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – bei Professor Schmidt, der das zusammen mit Professor Edenhofer macht – ein Sondergutachten in Auftrag gegeben. Wir überlegen, ob die Bepreisung im Sinne des Zertifikatehandels – das ist der Vorschlag der Professoren – auch in den Bereichen möglich ist, die heute noch nicht dem Zertifikatehandel unterliegen, also im Verkehrs-, im Wohnungs- und im Landwirtschaftsbereich, um die preisgünstigsten Pfade zur Emissionsreduktion zu finden. Wenn wir die Reduktionsziele nur sektoral zuordnen, ist die Gefahr, dass wir sehr hohe Kosten verursachen, nicht wegzudenken. Wir werden bis September die Entscheidung treffen, für welchen Pfad wir uns entscheiden: entweder sektorale Reduktion oder aber die Gesamtbepreisung auch des heute noch nicht dem Zertifikatehandel unterliegenden Bereichs. Das wird eine Grundsatzentscheidung sein. Diese muss sorgfältig getroffen werden, deshalb kann ich die auch nicht vorgestern getroffen haben. Sie muss aber zeitnah getroffen werden. Wir müssen wissen – ich weiß nicht, ob das jedem von Ihnen bekannt ist; ich habe mir das auch erst in den letzten Monaten wirklich vor Augen geführt –: Wir haben nach den europäischen Verabredungen nicht nur die Klimaschutzziele 2030, sondern wir haben für jedes Jahr ab 2020 ein bestimmtes Budget von CO2-Emissionen für den Verkehrs-, Wohnungs- und Landwirtschaftssektor. Und wenn wir dieses Budget überschreiten, müssen wir Zertifikate in anderen Ländern für teures Geld kaufen. Das heißt, Geld, das wir nicht für Innovationen und die Inkorporation des Klimaschutzes in unserem Wirtschaftskreis ausgeben können, sondern ausgeben müssen, um Zusatzzertifikate zu kaufen. Das wäre ganz falsch. Das Zertifikat hat aber eben den Vorteil, dass wir sozusagen eine punktgenaue Steuerungswirkung erreichen können im Gegensatz zu steuerlichen Maßnahmen, die immer sehr breit gestreut sind und vielerlei Nebeneffekte haben. Meine Damen und Herren, jetzt noch zum Thema Breitbandausbau: Ja, hier gibt es Lücken. Wir haben jetzt allerdings für 99 Prozent der Haushalte bis Anfang der 20er-Jahre eine klare Vorstellung. Den Rest müssen wir mit staatlichen Mitteln machen. Es besteht berechtigterweise die Erwartung der Bevölkerung, dass nicht nur die Haushalte, die Gewerbegebiete und die Industriegebiete angebunden werden, sondern dass auch flächendeckend für den Landwirt, für den Forstwirt, für das Telefonieren auf jedem Waldweg Internet angeboten wird. Da sind wir nicht so gut, wie wir es sein könnten. Allerdings will ich dann doch sagen, dass wir bei der 5G-Versteigerung nicht zu den Letzten in Europa gehören. Unsere Versteigerung läuft. Es gibt viele große europäische Länder, in denen die Versteigerung noch nicht einmal begonnen hat. Darüber hinaus haben wir – man muss ja auch über die guten Taten reden, wenn Herr Kempf es nicht selbst tut – einen Bereich von der 5G-Versteigerung ausgenommen – sehr zum Ärger der Telekommunikationsanbieter –, der nur für die Industrie reserviert ist, damit Sie schnell und unmittelbar Ihre Investitionen im 5G-Bereich machen können. Das ist eine industriefördernde Herangehensweise, da Sie nicht auf die Versteigerung und den Ausbau warten müssen. Meine Damen und Herren, wir haben im Zusammenhang mit der Energieversorgung Rückstände im Leitungsbereich. Der Bundeswirtschaftsminister hat sich der Sache angenommen, hat Reisen unternommen, hat sich die Dinge angeschaut. Sie wissen aber so gut wie ich: Die Bundesregierung kann das alleine nicht durchbringen. Es gibt Klageverfahren. Die Elbvertiefung hat, wie Sie wissen, allein aufgrund von Gerichtsverfahren – nicht aufgrund von Fehlhandeln der Hansestadt Hamburg – zwölf Jahre lang gedauert. Gegen solche Gerichtsprozesse können wir nichts tun. Wir haben eine Planungsbeschleunigung für die Infrastruktur, für bestimmte Projekte im Straßenbau vorgenommen. Und wir werden auch im Leitungsbau alles tun, was wir tun können. Wir haben auch die Erdverkabelung und anderes vorangebracht. Nichtsdestotrotz haben wir ein Problem. Das liegt aber nicht daran, dass sich die Bundesregierung nicht einig wäre, wie das zu lösen ist, sondern es liegt an Problemen vor Ort. Wir müssen mit den Ländern natürlich noch weiter darüber reden, wie wir vorankommen. Meine Damen und Herren, wir haben auch beim Ausbau der erneuerbaren Energien ein Akzeptanzproblem. In Städten ist man froh, wenn zu hundert Prozent erneuerbare Energien genutzt werden können, aber in den ländlichen Bereichen hat man lautstarke Anlagen vor der Haustür und ist nicht ganz so froh. Insofern müssen wir auch hier die Dinge ausgleichen. Damit hat zum Beispiel auch unsere Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ zu tun. Ich will noch ein letztes Wort zur Steuerpolitik sagen – der Bundesfinanzminister kommt ja noch und kann Ihnen dann detailliert Auskunft geben. Was – erstens – die steuerliche Forschungsförderung betrifft, ist es so, wie es immer so ist: Lange gewartet, endlich getan und dann doch wieder falsch gemacht. Dass wir es evaluieren, ist ja auch in Ihrem Interesse. Wir haben jetzt die Herangehensweise gewählt, zu sagen: Wir wollen, dass der forschende Mittelstand in Deutschland gestärkt wird. Das heißt, dass wir in Deutschland diejenigen unterstützen, die Forschungsaufträge übernehmen. Wir wollten also nicht auch die Fraunhofer-Gesellschaft weiter stärken und wir wollten auch nicht diejenigen stärken, die Forschung in Auftrag geben. Wir wollen die Mittel natürlich bei uns allokieren und sicherstellen, dass in Deutschland mehr geforscht wird. Das war der Ausgangspunkt; und deshalb haben wir uns für diesen Weg entschieden. Man kann trefflich darüber streiten; das will ich gar nicht bestreiten. Wir haben uns aber auch etwas dabei gedacht. Zweitens. Wir wissen, dass sich im Unternehmensteuerbereich in den letzten Jahren die Sache sehr zu Ungunsten Deutschlands verschoben hat. Sie haben gesagt, wir müssten jetzt endlich eine maximale Unternehmensbesteuerung von 25 Prozent erreichen. Ich sage einmal: Die amerikanische Steuerreform ist, glaube ich, auch erst ein Jahr alt; das heißt, die Wettbewerbsverhältnisse haben sich vor kurzem sehr zu unseren Ungunsten verschoben. Deshalb werden wir an dieser Stelle auch versuchen, in der Großen Koalition noch etwas zustande zu bringen. Hierbei geht es vor allem auch um Thesaurierungsfragen. Aber darauf sollte Herr Scholz heute vielleicht noch eine Antwort geben; ich werde ihm noch eine SMS schreiben. Wir wollen nach wie vor – das ist beschlossen und das wird auch zeitnah als Gesetzentwurf eingebracht – für 90 Prozent der Menschen den Solidaritätszuschlag abschaffen. Wir wissen um die Frage der zehn Prozent. Ich habe letztes Jahr dazu Stellung genommen, was das auch für die deutsche Wirtschaft bedeutet. Aber das Projekt zur Abschaffung bzw. zum Einstieg in die Abschaffung des Soli mit zehn Milliarden Euro Steuerentlastung werden wir vornehmen. Ich wünsche mir, dass wir auch die energetische Gebäudesanierung noch voranbringen können. Das wäre sehr hilfreich, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Insofern wird auf steuerpolitischem Gebiet einiges geschehen. Meine Damen und Herren, ich will abschließend Folgendes sagen: Wir sind in einer Zeit, in der sich sozusagen auch in der Diskussionsgeschwindigkeit die Disruptivität der technologischen Entwicklung und die Veränderungen in der Welt widerspiegeln. Wir müssen versuchen – das ist jedenfalls mein Ansatz –, da ein Stück Stabilität und Verlässlichkeit hineinzubringen. Ich kann verstehen, dass Sie bei den vielen Gesetzen, die wir zur Pflege und zu anderem gemacht haben, fragen: Muss das sein? Ich sage Ihnen: Es muss sein, damit wir auch Akzeptanz für die Soziale Marktwirtschaft haben. Ich habe Ihnen aber auch einiges aufgezählt, was wir als Bundesregierung in einem Jahr und drei Monaten auf den Weg gebracht haben. Es ist noch nicht alles zum Abschluss gebracht worden, aber es ist viel im Gange. Wir wissen, dass wir unsere Sozialleistungen nur dann erhalten können, wenn wir auch die nötige Innovationskraft haben, wenn wir eine starke Wirtschaft haben und wenn wir Arbeitsplätze zur Verfügung haben. Wir wissen auch, dass das nur mit der Wirtschaft möglich ist – ob mit großen Unternehmen oder kleinen und mittelständischen Unternehmen. Wir haben ein bisschen Sorge – das sage ich auch, weil die Auftragsbücher im Augenblick noch ganz gut ausgelastet sind –, dass nicht nur der Eindruck da ist, wir könnten noch vieles verteilen, sondern dass auch in der deutschen Wirtschaft die Bereitschaft, disruptive Wege zu gehen und neue Herangehensweisen zu wählen, ein bisschen gebremst werden könnte, weil man heute ja noch ganz gut dasteht. Uns eint aber das Gefühl, dass sich unglaublich viel ändert. In diesem Sinne wünsche ich mir bei aller Kritik dann doch auch eine weiterhin gute Zusammenarbeit, denn wir werden es nur gemeinsam schaffen. Deshalb sage ich Ihnen danke für die ehrlichen Worte, aber hoffe auch auf eine gute Zusammenarbeit. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Preisverleihung des 15. Wettbewerbs „startsocial“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-preisverleihung-des-15-wettbewerbs-startsocial–1634206
Mon, 03 Jun 2019 12:16:00 +0200
Berlin
keine Themen
Ich freue mich, Sie heute hier zu begrüßen – Herr Düsedau und liebe Coaches, diejenigen, die die Hauptsponsoren vertreten, und allen voran Sie, die Sie am Wettbewerb teilgenommen haben! Frau Gärtner und Frau Enoch begrüße ich auch ganz herzlich! Sie haben letztes Jahr den startsocial-Sonderpreis erhalten – und zwar völlig zu Recht, wie uns auch gerade wieder bestätigt worden ist –, nämlich für das Projekt „Wolfsträne“. Das haben Sie heute noch einmal vorgestellt. Es ist schön, dass das weitergegeben wird. Denn in diesem Jahr sind ja wieder andere Menschen hier als im letzten Jahr. Sie sind mit Ihrem Verein für Kinder und Jugendliche, die Eltern oder Geschwister verloren haben, eine unglaubliche Stütze. Sie begleiten diese jungen Menschen und ihre Familien auf einem schwierigen Weg. Ich möchte Ihnen noch einmal ganz herzlich für diese Arbeit danken, die ja in diesem Jahr nicht einfacher geworden ist, als sie es im letzten Jahr war. Herzlichen Dank. Damit sind wir im Grunde auch schon bei dem, was den Anfang jedes sozialen Projekts ausmacht, nämlich dass man einen wachen Blick für die Nöte anderer Menschen hat. Der Wunsch zu helfen entsteht. Daraus entwickelt sich erst einmal eine Idee. Dann fragt man sich: Wie lässt sie sich erfolgreich umsetzen, wie mache ich das, wie wird das praktikabel? Und was verleiht einem Projekt Beständigkeit? Das heißt, auch Helfer brauchen Hilfe. Diese finden sie über startsocial. Daraus ist – und deshalb habe ich Sie auch jedes Jahr hier so gern zu Gast – über die Jahre eine ganz besondere Symbiose geworden. Jedes Jahr werden mit Hilfe des startsocial-Wettbewerbs hundert soziale Initiativen beraten. Das Spektrum reicht vom Fundraising über Mitgliederwerbung bis hin zum Marketing. So helfen die Berater von startsocial den Wettbewerbsteilnehmern, ihre Ziele zu verwirklichen. In unserer Gesellschaft ist noch gar nicht genug bekannt und kann auch gar nicht bekannt genug gemacht werden, was aus dieser Zusammenarbeit, also dadurch, dass Wissen aus der Wirtschaft in ehrenamtliche Tätigkeiten einfließt, entstehen kann. Was Sie ehrenamtlich vorangetrieben haben, kann sich sehen lassen. Deshalb bin ich auch so gern Schirmherrin. Denn das macht mich stolz, obwohl ich gar nichts tue, außer Schirmherrin zu sein. Sie alle dürfen sich heute als Gewinner fühlen. Sie alle hier überzeugen damit, dass Sie ein Stück mehr Menschlichkeit in unsere Gesellschaft bringen. Dass man sich nicht nur mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt, sondern auch einen Blick für andere Menschen und ihre Bedürfnisse hat, hält die Gesellschaft zusammen. Menschlichkeit erfahren wir eben, wenn jemand Anteil nimmt, wenn man zuhört, wenn man die Hand ausstreckt und hilft – in der Familie, in der Nachbarschaft, in Vereinen, in Initiativen. Deutschland ist dadurch stark, dass es Hunderttausende solcher Vereine und Initiativen gibt. Das Spektrum ist fast unbegrenzt – das muss man sagen –, ob es um Hilfe für Flüchtlingskinder geht, um gesunde Ernährung, um Seniorinnen und Senioren oder um religiöse Begegnungen. Ich habe aus meinen Bürgerdialogen in diesem Jahr mitgenommen, dass viele manchmal nicht damit einverstanden sind, dass man beim Ehrenamt immer sofort an die freiwillige Feuerwehr denkt. Die Breite der Initiativen ist oft gar nicht bekannt. Bei startsocial sieht man aber, dass in ganz großer Breite gearbeitet wird. Als 2015 und 2016 so viele Menschen zu uns kamen, war Hilfsbereitschaft wirklich eine Stütze. Aber das ist ja nur ein Teil einer besonderen Herausforderung gewesen; Sie arbeiten ja in einer viel größeren Breite. Mit Ihren Initiativen fördern Sie Dialog und Toleranz. Sie helfen Vorurteile zu überwinden. Dass jeder zweite in Deutschland in irgendeiner Weise ehrenamtlich tätig ist, das kann uns stolz machen. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass wir das auch auf die junge Generation übertragen. Manches Engagement ist auch gefährdet. Aber neue Ideen kommen wieder dazu. Und dafür muss ja auch Platz sein. Ich möchte würdigen – deshalb bin ich hier, deshalb habe ich Sie eingeladen, deshalb bin ich Schirmherrin von startsocial –, dass wir ein solch breites Engagement haben. Ich danke Ihnen deshalb ganz generell. Ich werde nachher ja noch den Sonderpreis verleihen. Aber erst einmal wollen wir hören, wie das heute hier abläuft. Nochmals ein herzliches Willkommen. Ich bin gemeinsam mit Ihnen gespannt darauf, was wir in der nächsten knappen Stunde miteinander erleben werden.
im Bundeskanzleramt
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Verleihung des „startsocial“-Sonderpreises am 3. Juni 2019
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Mon, 03 Jun 2019 12:00:00 +0200
Berlin
Meine Damen und Herren, als Wettbewerbsteilnehmer haben Sie ja schon Spannung hinter sich – jetzt gibt es noch ein bisschen was dazu. Das ist heute ein außergewöhnliches Ereignis für Sie. Anders sieht es bei alltäglichen Dingen aus. Über diese sehen wir zumeist hinweg, weil sie uns selbstverständlich vorkommen. Wer denkt schon morgens darüber nach, was für ein Glück es ist, dass sauberes Trinkwasser aus dem Hahn fließt? Das merkt man höchstens dann, wenn man einmal kein Wasser hat. Oder wer denkt darüber nach, wie toll es doch ist, dass Strom aus der Steckdose kommt? Dies und vieles andere gehört zu unserem Alltag. Wir können uns kaum noch vorstellen, dass es solche Dinge nicht gibt. Aber für viele auf der Welt ist das die tägliche Realität: Mehr als zwei Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, mehr als eine Milliarde Menschen haben keinen oder nur unzureichenden Zugang zu Strom. Was funktioniert heute noch ohne Strom? Wie soll ein Krankenhaus ohne Strom arbeiten, wie ein Unternehmen? Wie sollen Schulen ihrem Bildungsauftrag nachkommen? Ohne Strom ist eine Region im wahrsten Sinne des Wortes abgestellt – sie kann sich kaum entwickeln, sie steckt in einer schwierigen Armutsfalle. Dieses Problem, denkt man, müsste im 21. Jahrhundert doch lösbar sein; da muss man doch helfen können. So ähnlich dachten wohl die Elektriker ohne Grenzen, bevor sie 2012 ihren Verein in Karlsruhe gründeten. Die Elektriker ohne Grenzen machen sich ehrenamtlich und natürlich voller Energie ans Werk. Sie ziehen los in entlegene Weltregionen, um der Energiearmut den Kampf anzusagen. Ob in Tansania oder Vietnam, in Nepal, Laos oder anderen Ländern – sie bringen Strom in Schulen und Krankenhäuser, in Waisenheime und Ausbildungszentren oder auch einfach an die Straßen, um sie heller und sicherer zu machen. Wer einmal Erzählungen darüber gehört hat, wie es ist, wenn Kinder zum ersten Mal elektrisches Licht sehen und zum Beispiel abends unter den Straßenlaternen Hausaufgaben machen – was man in Deutschland nicht so gerne macht; aber die machen das dann mit Leidenschaft, weil sie auch nach Einbruch der Dunkelheit endlich etwas sehen können –, wird nachvollziehen können, wie wichtig das ist. Die Elektriker ohne Grenzen setzen auf erneuerbare Energien wie Solaranlagen. Sie binden die lokale Bevölkerung in ihre Projekte ein – ganz wichtig – und arbeiten mit heimischen Handwerkern zusammen – noch wichtiger. So fließt nicht nur Strom, sondern auch Know-how; und das sichert Nachhaltigkeit. Besondere Initiativen verdienen besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung. Und sie verdienen auch besondere Preise. Lieber Herr Volpp und liebe Frau Wenger – schön, dass eine Elektrikerin dabei ist, oder jedenfalls eine, die sich für Strom interessiert –, es freut mich sehr, die Elektriker ohne Grenzen für ihr Engagement auszuzeichnen. Elektriker ohne Grenzen helfen Licht ins Dunkel des Alltags zu bringen. Dazu wünsche ich Ihnen noch viele weitere erfolgreiche Projekte. Und jetzt darf ich Sie beide nach vorne bitten.
im Bundeskanzleramt
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich des Abendessens zu Ehren des Ordens Pour le mérite
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Sat, 01 Jun 2019 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Säße der erste Ordenskanzler, dem Sie vorhin zu seinem 250. Geburtstag die Ehre erwiesen haben hier im Bode-Museum mit uns an einem dieser festlich gedeckten Tische, wir müssten uns wohl auf einen sehr, sehr langen Abend einstellen … . In den Berliner und Pariser Salons nämlich war Alexander von Humboldt nicht nur als ungemein geistreicher Redner und inspirierender Gesprächspartner berühmt, sondern berüchtigt auch als scharfzüngig-humorvoller Spötter. Der französische Astronom und Physiker François Arago – er wurde vor ziemlich genau 177 Jahren als ausländisches Mitglied in den Orden Pour le mérite aufgenommen – sagte einmal über ihn: „Mein Freund Humboldt ist das beste Herz auf der Welt, aber auch das größte Schandmaul, das ich kenne.“ Eben deshalb konnten Abendgesellschaften sich in seiner Anwesenheit deutlich in die Länge ziehen: weil so mancher Zeitgenosse – Müdigkeit hin oder her -, nicht aufzubrechen wagte, solange Humboldt mit am Tisch saß, um ja nicht selbst Gegenstand des Tischgesprächs zu werden, ganz nach dem Motto: Lieber Sitzfleisch haben, als Gesprächsstoff liefern. Zumindest in dieser Hinsicht gibt es beim Orden Pour le mérite – soweit ich weiß – niemanden, der in Alexander von Humboldts Fußstapfen tritt. Wenn wir also heute Abend Sitzfleisch entwickeln, verehrte Damen und Herren, dann allein des inspirierenden Gesprächsstoffs wegen, den wir Ihren bahnbrechenden wissenschaftlichen Erkenntnissen, Ihrem zukunftsweisenden künstlerischen Schaffen und Ihren weltweit ausstrahlenden Verdiensten verdanken – und nicht zuletzt, liebe Frau Nüsslein-Volhard, auch Ihrer engagierten, klugen und umsichtigen Führung des Ordens durch turbulente Zeiten, für die ich Ihnen herzlich danke. Kurz und gut: Ich freue mich sehr, dass Sie alle heute Abend einmal mehr meine Gäste sind, und heiße Sie herzlich willkommen zu einem Abendessen, bei dem intellektuelle wie kulinarische Feinschmecker hoffentlich gleichermaßen auf ihre Kosten kommen. Passend zur Menüfolge, gewissermaßen als geistige Vorspeise, will ich dazu einige Gedanken zum Jubiläumsjahr 2019 beisteuern: Es ist ja nicht nur der 250. Geburtstag des ersten Ordenskanzlers, der es verdient, gewürdigt zu werden. Verbindungen zur Geschichte und zur Bedeutung des Ordens Pour le mérite lassen sich auch zu weiteren bedeutsamen Jahrestagen ziehen: etwa zum 70. Geburtstag unseres Grundgesetzes, den wir vor einer guten Woche gefeiert haben, und auch zum 30. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November. Die Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 darf man wohl mit Fug und Recht als geistig-moralische Grundsteinlegung für die Demokratie in Deutschland im Allgemeinen wie auch für die Neugründung des Ordens im Besonderen bezeichnen. „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“, heißt es in Artikel 5 – eine Lehre aus der nationalsozialistischen Diktatur, eine Lehre, die auch der Renaissance des Ordens nach dem Zweiten Weltkrieg den Weg ebnete. Theodor Heuss, der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, wirkte als Mitglied des Parlamentarischen Rates maßgeblich daran mit, den antitotalitären Konsens nach den barbarischen Verbrechen in deutschem Namen im Grundgesetz zu verankern. Und Theodor Heuss war es auch, der in diesem Sinne die Neubegründung des Ordens Pour le mérite beharrlich vorantrieb, weil es sich um eine der wenigen deutschen Traditionen handelte, die sich von den national-sozialistischen Machthabern nicht hatte gleichschalten lassen. Ihm sei viel an der Wiedererrichtung des Ordens gelegen, schrieb er 1951 in einem Brief, ich zitiere: „um in der Welt des geistigen und künstlerischen Schöpfertums die von der Macht der Politik zerrissenen Kräfte neu zu festigen, indem sie in den Strom einer ehrwürdigen Überlieferung gestellt werden.“ Die Kräfte der Demokratie zu festigen: Dazu hat nicht nur der Wiederbegründer des Ordens, Theodor Heuss, sondern seit 1952 auch der Orden selbst beigetragen – mit den Mitteln des „geistigen und kulturellen Schöpfertums“, das den Zweifel und den Widerspruch, das Suchen und das Fragen kultiviert. Genau damit beleben Sie, verehrte Ordensmitglieder, als Künstlerinnen und Künstler, als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den demokratischen Diskurs; genau damit schützen Sie unsere Gesellschaft vor gefährlicher Lethargie und unsere Demokratie vor neuerlichen totalitären Anwandlungen. Doch die Bereitschaft, Freiheit und Autonomie der Kunst und der Wissenschaft zu respektieren, früher ein parteiübergreifend akzeptierter Grundsatz, scheint in vielen europäischen Ländern, auch in Deutschland, zu schwinden: – ein Befund, der mir große Sorgen macht. Diese Freiheit lebt ja nicht allein von der Verankerung im Grundgesetz. Sie lebt auch von der Bereitschaft einer Gesellschaft, die damit immer wieder auch verbundenen Zumutungen und kontroversen Debatten auszuhalten. Eine Kunst oder eine Wissenschaft, die sich festlegen ließe auf die Grenzen des politisch Wünschenswerten, die den Absolutheitsanspruch einer Ideologie oder Weltanschauung respektierte, die gar einer bestimmten Moral oder Politik diente – eine solchermaßen begrenzte oder domestizierte Kunst oder Wissenschaft würde sich nicht nur ihrer Möglichkeiten, sondern auch ihres Wertes berauben. So ist der Orden Pour le mérite, über dessen Vergabe allein seine Mitglieder ohne Beteiligung der Politik entscheiden, nicht nur die höchste Auszeichnung, die die Bundesrepublik Deutschland zu vergeben hat. Er ist auch ein Bekenntnis dieser Bundesrepublik zur Freiheit der Kunst und der Wissenschaft, eine Bekundung höchster Wertschätzung: der Überzeugung nämlich, dass unsere Demokratie auch und insbesondere in der „Welt des geistigen und künstlerischen Schöpfertums“ wurzelt. In diesem Sinne freut es mich sehr, heute drei neue Ordensmitglieder offiziell begrüßen zu dürfen: Neben einem weltberühmten musikalischen Universalgenie, dem Schweizer Oboenvirtuosen, Komponisten und Dirigenten Heinz Holliger, der heute leider terminlich verhindert ist, sind dies Andrea Breth, eine der bedeutendsten und vielfach preisgekrönten Theaterregisseurinnen und -regisseure der Gegenwart, und Michael Haneke, österreichischer Regisseur, Drehbuchautor und Oscar-Preisträger, dessen Werke zu den Glanzstücken deutschsprachiger Filmkunst zählen. Er muss gestern krankheitsbedingt leider kurzfristig absagen. Beide gelten als ebenso tiefgründige wie ausdrucksstarke Seelenforscher und konfrontieren ihr Publikum immer wieder mit existentiellen Fragen des Menschseins. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Auszeichnung mit dem Orden Pour le mérite, verehrte Frau Breth, verehrter Herr Haneke, verehrter Herr Holliger! Möge Ihre Aufnahme in diesen Kreis der klügsten und kreativsten Köpfe Sie in Ihrer Schaffenskraft ebenso bereichern wie umgekehrt Ihre schöpferische Kraft den Orden! Die wechselseitige Inspiration über Grenzen – über unterschiedliche künstlerische Sparten und wissenschaftliche Disziplinen, über verschiedene Sprachen und Kulturen – hinweg hat sich in der Vergangenheit immer wieder als im besten Sinne revolutionäre gesellschaftliche Kraft erwiesen. Dafür, verehrte Damen und Herren, stehen bahnbrechende Erfindungen und avantgardistische Kunstwerke, und deshalb wollen wir diesem Austausch, dem interdisziplinären und interkulturellen Dialog auch im Humboldt Forum Raum geben – im Museum der Weltkulturen in Berlins historischer Mitte, das zum 250. Geburtstag Alexander von Humboldts noch in diesem Jahr seine Pforten öffnen soll. Revolutionäre Kraft entfaltet aber auch die Fantasie, die Künstler und viele Wissenschaftler auszeichnet – und die ihre Sternstunden oft in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche erlebt. Wenn sich am 9. November die Friedliche Revolution zum 30. Mal jährt, ist dies auch ein Tag, die Kraft der Fantasie zu feiern und daran zu erinnern, dass die Vorstellungskraft – im wahrsten Sinne des Wortes – Mauern zum Einsturz bringen kann. Denn die Menschen, die damals für die Friedliche Revolution auf die Straße gegangen sind und den Triumph der Freiheit über Unfreiheit und Unterdrückung errungen haben, diese Menschen hatten neben Mut und Kampfgeist vor allem eines: eine Vorstellung von einer besseren Welt. Heute brauchen wir diese Vorstellungskraft, nebenbei bemerkt, ganz besonders für die Zukunft, für das weitere Zusammenwachsen Europas. „In der Mitte von Schwierigkeiten liegen die Möglichkeiten“, so hat es Albert Einstein formuliert, der 1923 in den Orden aufgenommen wurde und 1933 nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten auf seine Mitgliedschaft verzichtete. Kunst und Wissenschaft können Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und auf diese Weise den Blick auf die Möglichkeiten inmitten der Schwierigkeiten lenken. In diesem Sinne tragen Kunst und Wissenschaft immer den Keim des – im besten Sinne – Revolutionären in sich. Dass aus diesen Keimen etwas wachsen darf, dass es einen fruchtbaren Nährboden dafür gibt und ein wachstumsförderndes Klima – das macht eine vitale Demokratie aus. Lassen Sie uns darauf heute Abend anstoßen: auf 70 Jahre Grundgesetz und 30 Jahre Friedliche Revolution, auf die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft, auf die Entdeckung künftiger Möglichkeiten – auf die Demokratie! Und nicht zu vergessen: auf Jürgen Osterhammel, der heute seinen 67. Geburtstag feiert! Herzlichen Glückwunsch und alles Gute!
Die Kulturstaatsministerin begrüßte offiziell drei neue Ordensmitglieder und hob die Bedeutung des Ordens, über dessen Vergabe allein seine Mitglieder entscheiden, als „ein Bekenntnis dieser Bundesrepublik zur Freiheit der Kunst und der Wissenschaft“ hervor.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der 368. Graduationsfeier der Harvard University am 30. Mai 2019 in Cambridge/USA
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Thu, 30 May 2019 00:00:00 +0200
Cambridge
Auswärtiges
President Bacow, Fellows of the Corporation, Members of the Board of Overseers, Members of the Alumni Board, Members of the Faculty, Proud Parents and Graduates! Today is a day of joy. It’s your day. Many congratulations! I am delighted to be here today and would like to tell you about some of my own experiences. This ceremony marks the end of an intensive and probably also hard chapter in your lives. Now the door to a new life is opening. That’s exciting and inspiring. The German writer Hermann Hesse had some wonderful words for such a situation in life. I’d like to quote him and then continue in my native language. Hermann Hesse schrieb: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“ Diese Worte Hermann Hesses haben mich inspiriert, als ich mit 24 Jahren mein Physikstudium abschloss. Es war das Jahr 1978. Die Welt war geteilt in Ost und West. Es war die Zeit des Kalten Krieges. Ich bin in Ostdeutschland aufgewachsen, in der DDR, dem damals unfreien Teil meines Heimatlandes, in einer Diktatur. Menschen wurden unterdrückt und überwacht. Politische Gegner wurden verfolgt. Die Regierung der DDR hatte Angst, dass das Volk weglaufen würde in die Freiheit. Deshalb hatte sie die Berliner Mauer gebaut. Sie war aus Beton und Stahl. Wer bei dem Versuch entdeckt wurde, sie überwinden zu wollen, wurde verhaftet oder erschossen. Diese Mauer mitten durch Berlin teilte ein Volk – und sie teilte Familien. Auch meine Familie war geteilt. Meine erste Arbeitsstelle nach dem Studium hatte ich als Physikerin in Ost-Berlin an der Akademie der Wissenschaften. Ich wohnte in der Nähe der Berliner Mauer. Auf dem Heimweg von meinem Institut ging ich täglich auf sie zu. Dahinter lag West-Berlin, die Freiheit. Und jeden Tag, wenn ich der Mauer schon sehr nahegekommen war, musste ich im letzten Moment abbiegen – zu meiner Wohnung. Jeden Tag musste ich kurz vor der Freiheit abbiegen. Wie oft habe ich gedacht, das halte ich nicht aus. Es war wirklich frustrierend. Ich war keine Dissidentin. Ich bin nicht gegen die Mauer angerannt, aber ich habe sie auch nicht geleugnet, denn ich wollte mich nicht belügen. Die Berliner Mauer begrenzte meine Möglichkeiten. Sie stand mir buchstäblich im Weg. Aber eines, das schaffte diese Mauer in all den Jahren nicht: mir meine eigenen inneren Grenzen vorzugeben. Meine Persönlichkeit, meine Phantasie, meine Sehnsüchte – all das konnten Verbote und Zwang nicht begrenzen. Dann kam das Jahr 1989. Überall in Europa setzte der gemeinsame Wille zur Freiheit unglaubliche Kräfte frei. In Polen, in Ungarn, in der Tschechoslowakei und auch in der DDR wagten sich Hunderttausende auf die Straße. Die Menschen demonstrierten und brachten die Mauer zu Fall. Was viele Menschen nicht für möglich gehalten hatten – auch ich nicht –, wurde Realität. Da, wo früher eine dunkle Wand war, öffnete sich plötzlich eine Tür. Auch für mich war der Moment gekommen, hindurchzutreten. Ich musste nicht mehr im letzten Moment vor der Freiheit abbiegen. Ich konnte diese Grenze überschreiten und ins Offene gehen. In diesen Monaten vor 30 Jahren habe ich persönlich erlebt, dass nichts so bleiben muss, wie es ist. Diese Erfahrung, liebe Graduierte, möchte ich Ihnen für Ihre Zukunft als meinen ersten Gedanken mitgeben: Was fest gefügt und unveränderlich scheint, das kann sich ändern. Und im Großen wie im Kleinen gilt: Jede Veränderung fängt im Kopf an. Die Generation meiner Eltern musste das überaus schmerzlich lernen. Mein Vater und meine Mutter wurden 1926 und 1928 geboren. Als sie so alt waren wie die meisten von Ihnen hier heute, waren der Zivilisationsbruch der Shoa und der Zweite Weltkrieg gerade vorbei. Mein Land, Deutschland, hatte unvorstellbares Leid über Europa und die Welt gebracht. Wie wahrscheinlich wäre es gewesen, dass sich Sieger und Besiegte für lange Zeit unversöhnlich gegenüberstehen würden? Aber stattdessen überwand Europa jahrhundertelange Konflikte. Es entstand eine Friedensordnung, die auf Gemeinsamkeit baut statt auf scheinbare nationale Stärke. Bei allen Diskussionen und zwischenzeitlichen Rückschlägen bin ich fest überzeugt: Wir Europäerinnen und Europäer sind zu unserem Glück vereint. Auch das Verhältnis zwischen Deutschen und Amerikanern zeigt, wie aus ehemaligen Kriegsgegnern Freunde wurden. Ganz wesentlich hat dazu der Plan von George Marshall beigetragen, den er hier 1947 bei einer Commencement Speech verkündete. Die transatlantische Partnerschaft mit unseren Werten von Demokratie und Menschenrechten hat uns eine nun schon über 70 Jahre dauernde Zeit des Friedens und des Wohlstands beschert, von der alle Seiten profitieren. Und heute? Es wird nicht mehr lange dauern, dann sind die Politikerinnen und Politiker meiner Generation nicht mehr Gegenstand des Kurses „Exercising Leadership“, sondern höchstens noch von „Leadership in History“. Lieber Harvard-Jahrgang 2019, Ihre Generation wird in den kommenden Jahrzehnten den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gegenüberstehen. Sie gehören zu denjenigen, die uns in die Zukunft führen werden. Protektionismus und Handelskonflikte gefährden den freien Welthandel und damit die Grundlagen unseres Wohlstands. Die Digitalisierung erfasst alle Lebensbereiche. Kriege und Terrorismus führen zu Flucht und Vertreibung. Der Klimawandel bedroht die natürlichen Lebensgrundlagen. Er und die daraus erwachsenden Krisen sind von Menschen verursacht. Also können und müssen wir auch alles Menschenmögliche unternehmen, um diese Menschheitsherausforderung wirklich in den Griff zu bekommen. Noch ist das möglich. Doch dazu muss jeder seinen Beitrag leisten und – das sage ich auch selbstkritisch – besser werden. Ich werde mich deshalb mit ganzer Kraft dafür einsetzen, dass Deutschland, mein Land, im Jahr 2050 das Ziel der Klimaneutralität erreichen wird. Veränderungen zum Guten sind möglich, wenn wir sie gemeinsam angehen. In Alleingängen wird das nicht gelingen. Und so ist dies mein zweiter Gedanke für Sie: Mehr denn je müssen wir multilateral statt unilateral denken und handeln, global statt national, weltoffen statt isolationistisch. Kurzum: gemeinsam statt allein. Sie, liebe Absolventinnen und Absolventen, werden dazu in Zukunft noch ganz andere Chancen haben als meine Generation. Wahrscheinlich hat Ihr Smartphone weitaus mehr Rechenleistung als der von der Sowjetunion nachgebaute IBM-Großrechner, den ich 1986 für meine Dissertation in der DDR nutzen konnte. Heute nutzen wir Künstliche Intelligenz, etwa um Millionen von Bildern nach Symptomen von Krankheiten zu durchsuchen und zum Beispiel Krebs besser diagnostizieren zu können. Zukünftig könnten empathische Roboter Ärzten und Pflegern helfen, sich auf die individuellen Bedürfnisse einzelner Patienten zu konzentrieren. Wir können gar nicht absehen, welche Anwendungen möglich werden. Aber die Chancen, die sich damit verbinden, sind wahrhaftig atemberaubend. Liebe Absolventen, es liegt im Wesentlichen an Ihnen, wie wir diese Chancen nutzen werden. Sie werden es sein, die darüber mitentscheiden, wie sich unsere Art zu arbeiten, zu kommunizieren, uns fortzubewegen, ja, unsere ganze Art zu leben, weiterentwickeln wird. Als Bundeskanzlerin muss ich mich oft fragen: Tue ich das Richtige? Tue ich etwas, weil es richtig ist, oder nur, weil es möglich ist? Das sollten auch Sie sich immer wieder fragen – und das ist mein dritter Gedanke für Sie heute. Setzen wir die Regeln der Technik oder bestimmt die Technik unser Zusammenleben? Stellen wir den Menschen mit seiner Würde und in all seinen Facetten in den Mittelpunkt oder sehen in ihm nur den Kunden, die Datenquelle, das Überwachungsobjekt? Das sind schwierige Fragen. Ich habe gelernt, dass auch für schwierige Fragen Antworten gefunden werden können, wenn wir die Welt immer auch mit den Augen des anderen sehen. Wenn wir Respekt vor der Geschichte, der Tradition, der Religion und der Identität anderer haben. Wenn wir fest zu unseren unveräußerlichen Werten stehen und genau danach handeln. Und wenn wir bei allem Entscheidungsdruck nicht immer unseren ersten Impulsen folgen, sondern zwischendurch einen Moment innehalten, schweigen, nachdenken, Pause machen. Freilich, dafür braucht es durchaus Mut. Vor allem braucht es Wahrhaftigkeit gegenüber anderen und – vielleicht am wichtigsten – gegenüber uns selbst. Wo wäre es besser möglich, damit anzufangen, als genau hier an diesem Ort, an dem so viele junge Menschen aus der ganzen Welt unter dem Motto der Wahrheit gemeinsam lernen, forschen und die Fragen unserer Zeit diskutieren? Dazu gehört, dass wir Lügen nicht Wahrheiten nennen und Wahrheiten nicht Lügen. Es gehört dazu, dass wir Missstände nicht als unsere Normalität akzeptieren. Was aber, liebe Absolventinnen und Absolventen, könnte Sie, was könnte uns daran hindern? Wieder sind es Mauern: Mauern in den Köpfen – aus Ignoranz und Engstirnigkeit. Sie verlaufen zwischen Mitgliedern einer Familie ebenso wie zwischen gesellschaftlichen Gruppen, Hautfarben, Völkern, Religionen. Ich wünsche mir, dass wir diese Mauern einreißen – Mauern, die uns immer wieder daran hindern, uns über die Welt zu verständigen, in der wir ja gemeinsam leben wollen. Ob es gelingt, liegt an uns. Deshalb, liebe Graduierte, mein vierter Gedanke: Bedenken Sie: nichts ist selbstverständlich. Unsere individuellen Freiheiten sind nicht selbstverständlich, Demokratie ist nicht selbstverständlich, Frieden nicht und Wohlstand auch nicht. Aber wenn wir die Mauern, die uns einengen, einreißen, wenn wir ins Offene gehen und Neuanfänge wagen, dann ist alles möglich. Mauern können einstürzen. Diktaturen können verschwinden. Wir können die Erderwärmung stoppen. Wir können den Hunger besiegen. Wir können Krankheiten ausrotten. Wir können den Menschen, insbesondere Mädchen, Zugang zu Bildung verschaffen. Wir können die Ursachen von Flucht und Vertreibung bekämpfen. Das alles können wir schaffen. Fragen wir deshalb nicht zuerst, was nicht geht oder was schon immer so war. Fragen wir zuerst, was geht, und suchen wir nach dem, was noch nie so gemacht wurde. Genau diese Worte habe ich im Jahr 2005 in meiner allerersten Regierungserklärung als neu gewählte Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, als erste Frau in diesem Amt, im Deutschen Bundestag, dem deutschen Parlament, gesagt. Und genau mit diesen Worten möchte ich Ihnen auch meinen fünften Gedanken sagen: Überraschen wir uns damit, was möglich ist – überraschen wir uns damit, was wir können! In meinem eigenen Leben war es der Fall der Berliner Mauer, der es mir vor nun fast 30 Jahren erlaubte, ins Offene zu gehen. Ich habe damals meine Arbeit als Wissenschaftlerin hinter mir gelassen und bin in die Politik gegangen. Das war aufregend und voller Zauber, so wie auch für Sie Ihr Leben aufregend und voller Zauber sein wird. Aber ich hatte auch Momente des Zweifels und der Sorge. Wir alle wussten damals, was hinter uns lag, aber nicht, was vor uns liegen würde. Vielleicht geht es Ihnen bei aller Freude über den heutigen Tag ja auch ein wenig so. Als meine sechste Erfahrung kann ich Ihnen deshalb auch sagen: Der Moment der Offenheit ist auch ein Moment des Risikos. Das Loslassen des Alten gehört zum Neuanfang dazu. Es gibt keinen Anfang ohne ein Ende, keinen Tag ohne die Nacht, kein Leben ohne den Tod. Unser ganzes Leben besteht aus der Differenz, aus dem Unterschied zwischen dem Beginnen und dem Beenden. Das, was dazwischenliegt, nennen wir Leben und Erfahrung. Ich glaube, dass wir immer wieder bereit sein müssen, Dinge zu beenden, um den Zauber des Anfangens zu spüren und Chancen wirklich zu nutzen. Das war meine Erfahrung im Studium, in der Wissenschaft – und das ist sie in der Politik. Und wer weiß, was für mich nach dem Leben als Politikerin folgt? Es ist völlig offen. Nur eines ist klar: es wird wieder etwas Anderes und Neues sein. That’s why I want to leave this wish with you: Tear down walls of ignorance and narrowmindedness, for nothing has to stay as it is. Take joint action – in the interests of a multilateral global world. Keep asking yourselves: Am I doing something because it is right or simply because it is possible? Don’t forget that freedom is never something that can be taken for granted. Surprise yourselves with what is possible. Remember that openness always involves risks. Letting go of the old is part of a new beginning. And above all: Nothing can be taken for granted, everything is possible. Thank you! (Die veröffentlichte Rede ist ohne Einschränkung zitierfähig.)
Rede von Kulturstaatsministerin grütters zur Verleihung des Theaterpreises des Bundes 2019
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-verleihung-des-theaterpreises-des-bundes-2019-1633586
Mon, 27 May 2019 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Gera
Kulturstaatsministerin
Ein scharfsinniger Beobachter war er – einer, der sich vom schönen Schein nie täuschen ließ, immer auf der Jagd nach dem, was er das „unverdünnte Leben“ nannte, schonungslos und provokativ in der Zurschaustellung menschlicher Abgründe: So machte sich einer der bekanntesten Söhne der Stadt Gera einen Namen, und er wusste schon früh: „Entweder ich werde berüchtigt – oder berühmt.“ Er wurde berüchtigt als avantgardistischer Bürgerschreck, und er wurde berühmt als Meister der Neuen Sachlichkeit: Otto Dix, geboren hier in Gera, war Maler; doch mit seinem Anspruch, Erforscher des Menschseins zu sein, könnte er auch für die Theater Pate stehen, die wir heute Abend mit dem Theaterpreis des Bundes 2019 würdigen. Auch ihr Stoff ist das „unverdünnte Leben“; auch sie provozieren und irritieren, indem sie sichtbar machen, was der schöne Schein verbirgt: all die Sorgen, Nöte und existentiellen Ängste, die Menschen umtreiben, all die Lebenslügen und Fassaden, hinter denen Menschen sich verstecken, all die Ambivalenzen und Abgründe, die sich dahinter auftun, all die Widersprüche und Konflikte, die gerne unter den Teppich gekehrt werden. Damit sind Theater Orte des Nachdenkens und des Austauschs über die großen Fragen des Menschseins, und wir alle können uns glücklich schätzen, dass man dafür in Deutschland nicht erst in die nächste Großstadt fahren muss, sondern landauf landab Theaterkunst auf höchstem Niveau erleben kann – in eben jenen kleinen und mittelgroßen Theatern, die wir mit dem Theaterpreis des Bundes stärker ins öffentliche Rampenlicht holen wollen. Die Frage „Berüchtigt – oder berühmt?“ stellt sich für sie in der Regel nicht – ja, ihre herausragenden künstlerischen Leistungen sind überregional oft nicht einmal bekannt. Dass deutschlandweit über sie berichtet wird oder ein Journalist sich gar die Mühe macht, die ganze Vielfalt der Opern- und Theaterbühnen in Deutschland vermessen, so wie Ralph Bollmann vor einiger Zeit in seinem lesenswerten Buch „Walküre in Detmold“, ist ja eher die Ausnahme. In diesem wunderbaren Buch, einer Liebeserklärung an Deutschlands vielfältige Kulturlandschaft, schreibt Bollmann übrigens über einen Besuch im Theater Gera, dass sich hier, ich zitiere, „Behagen“ einstelle: „Behagen (…) darüber dass ich in einer Stadt wie Gera Verdi hören kann, dass es hier ein respektables Kunstmuseum gibt; dass man so etwas in Deutschland jedes Wochenende haben kann, immer an einem anderen Ort.“ So ist es, meine Damen und Herren, darum beneidet man uns im Ausland – und doch ist eben dies leider selbst regelmäßigen Feuilletonlesern oft gar nicht bewusst. Die kleinen und mittleren Theater und die Vielfalt unserer Theaterlandschaft mit ihrer enormen Bandbreite an Formaten, an ästhetischen Experimenten, an zukunftsweisenden Programmüberlegungen und innovativen künstlerischen wie auch pädagogischen Konzepten bekannter zu machen – dazu dient der Theaterpreis des Bundes. Ich habe ihn ausgelobt, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, welche herausragende Bedeutung sie in der Stadtgesellschaft haben: nicht nur als Garanten der kulturellen Grundversorgung abseits der Metropolen, sondern auch als Orte gesellschaftlicher Reflexion und künstlerischer Intervention. Ausgezeichnet werden kleine und mittlere Theater, die sowohl durch ein anspruchsvolles künstlerisches Programm als auch durch eine außergewöhnliche Spielplangestaltung überzeugen. Unter 119 interessanten Bewerbungen aus ganz Deutschland in diesem Sinne eine Bestenauswahl zu treffen, erfordert eine Menge Expertise und einen hervorragenden Überblick, und deshalb bin ich dankbar, dass wir dabei auf eine hochkarätig besetzte Jury zählen konnten. Über deren Auswahl hieß es kürzlich in einem Leser-Eintrag auf Nachtkritik: „Ich bin sehr erfreut (…) über dieses Gesamtpaket! Selten schien mir eine Jury so genau geschaut, so fachbewusst und außerdem innerdeutsch gerecht gewählt zu haben.“ Diesem Lob kann ich mich nur anschließen! Ein herzliches Dankeschön allen Jury-Mitgliedern für ihre Sorgfalt und ganz besonders auch für das enorme zeitliche Engagement, das damit verbunden ist! Es freut mich sehr, dass die Preisträger aus ganz Deutschland kommen und dass in diesem Jahr sechs Preise – mehr als die Hälfte – an Freie Theater und Produktionshäuser vergeben werden, die Jury damit also auch die zunehmende Bedeutung der zu Unrecht oft stiefmütterlich behandelten freien Szene unterstreicht. Mein herzlicher Dank gilt auch dem Zentrum Bundesrepublik Deutschland des Internationalen Theaterinstituts (ITI), das uns einmal mehr eine wertvolle Unterstützung bei der Ausschreibung, der Aufarbeitung der Unterlagen und bei der Vorbereitung der Preisverleihung und des Symposiums war. Nicht zuletzt verdienen unser aller Dank heute aber auch und ganz besonders jene Länder und Kommunen, die kontinuierlich und verlässlich Mittel zur Finanzierung der Theater und damit für den Erhalt einer vielfältigen Theaterlandschaft zur Verfügung stellen – für ein Kulturerbe, das weltweit seinesgleichen sucht. Das finanzielle Engagement für die Theater liegt zwar – Stichwort Kulturföderalismus – ausdrücklich in der Verantwortung der Länder und Kommunen; der Bund hat hier keine Kompetenzen. Dieses Engagement ist aber insbesondere dort nicht selbstverständlich, wo gespart werden muss: Die Leidtragenden kommunaler Finanznöte sind dann bekanntlich mancherorts die Theater, obwohl es politisch kurzsichtig ist, ausgerechnet hier den Rotstift anzusetzen. Denn ein Theater ist kein dekorativer Luxus, den man sich nur in Zeiten gut gefüllter Kassen leistet. Als Foren der öffentlichen Verhandlung von Konflikten sind Theater unverzichtbar, um miteinander im Gespräch zu bleiben – auch über die tiefen Gräben hinweg, die sich in unserer heutigen pluralistischen, fragmentierten Gesellschaft zwischen einander oft unversöhnlich gegenüberstehenden Gruppen auftun. Genau deshalb sind Theater populistischen Demokratieverächtern ja auch ein Dorn im Auge. Nicht umsonst hetzen jene, die die kulturelle und Meinungsvielfalt verachten, gegen Theater, die dieser Vielfalt eine Bühne geben, die unterschiedlichen Positionen jenseits argumentativer Auseinander-setzung Gehör verschaffen, die zum Perspektivenwechsel anstiften und damit Verständnis und Verständigung fördern. Radikale Gruppierungen pöbeln gegen Theaterstücke, stören Inszenierungen und fordern, wenn ihnen ein Programm nicht passt, staatliche Förderungen zu kürzen. Theaterschaffende sehen sich mit Anfeindungen konfrontiert, und im Extremfall müssen Künstler um ihre Sicherheit fürchten! So mancher unserer Preisträger weiß ein Lied davon zu singen … . Ja, die Bereitschaft, Freiheit und Autonomie der Kunst zu respektieren, früher ein parteiübergreifend akzeptierter Grundsatz, scheint auch in Deutschland zu schwinden – ein Befund, der mir große Sorgen macht. Denn die Freiheit der Kunst lebt ja nicht allein von der Verankerung im Grundgesetz, dessen 70. Geburtstag wir gerade gefeiert haben. Die Freiheit der Kunst, kritisch und unbequem sein zu dürfen, lebt auch von der Bereitschaft einer Gesellschaft, die damit immer wieder auch verbundenen Zumutungen auszuhalten. Eine Kunst, die sich festlegen ließe auf die Grenzen des politisch Wünschenswerten, eine Kunst, die den Absolutheitsanspruch einer Ideologie oder Weltanschauung respektierte, die gar einer bestimmten Moral oder Politik diente – eine solchermaßen begrenzte oder domestizierte Kunst würde sich nicht nur ihrer Möglichkeiten, ihrer Freiheit, sondern auch ihres Wertes berauben. Frei ist die Kunst dann, wenn sie weder dienen noch gefallen muss – wenn sie sich weder der Logik des Marktes beugen, noch in den Dienst eines politischen Anliegens, einer Weltanschauung oder Ideologie stellen muss. Auch in diesem Sinne ist der Theaterpreis des Bundes ein „Ermutigungspreis“: Er soll Ihnen den Rücken stärken, verehrte Künstlerinnen und Künstler, auf dass Sie sich von Demokratieverächtern nicht einschüchtern lassen! Er soll sie darin bestärken, Ihren künstlerischen Anspruch auch gegen politische Widerstände zu verteidigen, weiterhin mit Mut zum Experiment zu irritieren und zu provozieren und dabei den Zweifel und den Widerspruch zu kultivieren! Denn genau damit beleben Sie den demokratischen Diskurs, genau damit schützen Sie unsere Gesellschaft vor gefährlicher Lethargie und unsere Demokratie vor neuerlichen totalitären Anwandlungen. „Künstler sollen nicht bessern und bekehren. (…) Nur bezeugen müssen sie.“ So hat es Otto Dix formuliert. Nur bezeugen: Das klingt wenig ambitioniert, doch in Wirklichkeit ist eben dies der hehrste Anspruch überhaupt: sichtbar zu machen und offen zu legen, was hinter Masken und Fassaden gärt; zu vermitteln, wie unterschiedlich die Welt, je nach Blickwinkel und Perspektive, aussehen kann – und auf diese Weise Positionen in Frage zu stellen statt fertige Antworten zu präsentieren. An fertigen Antworten herrscht im öffentlichen Diskurs gewiss kein Mangel, wohl aber an der Fähigkeit und der Bereitschaft, die Perspektive zu wechseln und die Welt in anderem Licht zu sehen. Das ist wahrhaft preiswürdig, das verdient besondere Wertschätzung. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, zu Ihrer Auszeichnung mit dem Theaterpreis des Bundes 2019!
„Ein Theater ist kein dekorativer Luxus, den man sich nur in Zeiten gut gefüllter Kassen leistet“, erklärte die Kulturstaatsministerin bei der diesjährigen Verleihung des Theaterpreises des Bundes in Gera. Als Foren der öffentlichen Verhandlung von Konflikten seien sie unverzichtbar, um miteinander im Gespräch zu bleiben.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Verleihung des Tabori-Preises 2019
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-verleihung-des-tabori-preises-2019-1632920
Fri, 24 May 2019 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Meine sehr geehrten Damen und Herren, vielleicht sollte ich Sie bei der Verleihung eines Preises, der nach George Tabori benannt ist, besser ganz unverfänglich mit „Liebe Theaterfreundinnen und -freunde“ begrüßen… Tabori nämlich begann einmal, wie vor einiger Zeit im Tagesspiegel zu lesen war, in den Münchener Kammerspielen eine Rede mit der Bemerkung, er habe eigentlich mehr Fragen als Antworten. Diese begännen bereits mit der Begrüßungsformel „Meine sehr geehrten Damen und Herren“: Wie könne er einfach sagen, „meine“, schließlich gehöre das Publikum ja nicht ihm. Und ob alle anwesenden Frauen Damen seien, könne er auch nicht beurteilen, denn er kenne sie ebenso wenig wie die Herren; und der Beiklang in dem Wort „Herr“ gefalle ihm überdies auch nicht. Liebe Theaterfreundinnen und -freunde – das sind Sie doch jedenfalls hoffentlich alle? Tabori war ein Theatermacher, der dem Gewohnten, Alltäglichen, aber auch dem Schrecklichen und Unfassbaren immer auch das Groteske entlockte, der Widersprüche aufspürte und über sie lachte. Und es gehört zu den schönen Widersprüchen, die zu ihm passen, dass er das Scheitern lustvoll zelebrierte, über „Trophäensammler“ spöttelte, selbst aber als einer der erfolgreichsten Theatermacher des 20. Jahrhunderts gefeiert wurde und etliche Preise erhielt. Dass ausgerechnet er der Namensgeber eines Preises ist, der an frei produzierende Ensembles und Künstlerinnen mit bundesweiter Ausstrahlung verliehen wird, ist ganz und gar kein Widerspruch − und es freut mich sehr, liebe Theaterfreundinnen und -freunde, dass ich heute anlässlich seines zehnjährigen Bestehens mit Ihnen den Preis, die Preisträger und den Erfolg der Freien Darstellenden Künste feiern und würdigen kann. Dieser Preis passt zu ihm: Denn die freie Theaterszene hat sich um vieles verdient gemacht, was in der Tradition Taboris steht. Mit ihrem wachen Geist führt sie sein Erbe in die Zukunft. Tabori war ein Provokateur und Tabubrecher, der hinters Feigenblatt guckte und mit Witz und Ironie Salz in offene Wunden streute. Tabori war ein Regisseur, der unerschrocken neue ästhetische Formen erprobte und die Grenzen zwischen Realität und Kunst einriss. Er war ein Theaterneuerer, der den Ensemblegedanken lebte, sich mehr als „Spielmacher“ denn als Regisseur begriff, dem hierarchischen System des Stadttheaters trotzte und sich trotzdem beherzt auf eine Liaison mit ihm einließ. Er war ein Theatermacher, der die Abgründe der Gesellschaft kannte und aufzeigte und der gleichzeitig aus dem Spiel eine ungeheure Lust zog, die ansteckt und Freude macht. Liebe Theatermacherinnen und Theatermacher der Freien Darstellenden Künste, das alles trifft auch auf Sie zu. Mit Mut und Leidenschaft stiften Sie Unruhe und legen die neuralgischen Punkte unserer Gesellschaft frei. Mit Innovationsgeist und spielerischer Hingabe erproben sie neue Praktiken und ästhetische Herangehensweisen. Sie befruchten den ästhetischen Diskurs und setzen Impulse, die seit langem auch das Stadttheater aufnimmt – die Internationalisierung und die Auflösung der Spartengrenzen gehören beispielsweise dazu. Oft genug hat das freie Theater Laborfunktion für die gesamte Theaterlandschaft. Und immer häufiger befruchten sich nicht mehr nur Freie Szene und Stadt- und Staatstheater einander; immer häufiger entstehen auch Koproduktionen, die bundesweit und international für Aufsehen sorgen. Viele von Ihnen sind wie George Tabori Grenzgänger. Sie arbeiten mal mit Bühnenverträgen an festen Häusern und dann wieder unter den Bedingungen, die das Freie Theater mit sich bringt. Es sind vor allem diese Produktionsbedingungen, die immer noch mithin den größten Unterschied zwischen der sogenannte etablierten Szene und den Freien Darstellenden Künsten markieren. Das Fehlen eines hierarchisch strukturierten Apparats und einer engen Premierentaktung, setzt ohne Frage kreative Kräfte frei. Aber mir ist auch bewusst, dass viele von Ihnen unter prekären Arbeitsbedingungen produzieren und es nicht allein Ihrem Können, sondern auch Ihrem hohen Idealismus und Ihrer Leidenschaft fürs Theater zu verdanken ist, dass Sie künstlerisch so bemerkenswerte Abende auf die Bühne bringen. Wir weisen deshalb übrigens in unseren Ausschreibungen und Förderprogrammen auf die Einhaltung sozialer Mindeststandards hin und sind nach wie vor im Gespräch mit Ländern und Kommunen, die notwendigen Veränderungen weiter voranzutreiben. Das bedarf einer gemeinsamen Anstrengung und bleibt Herausforderung nicht allein für den Bund. Kunst braucht Rahmenbedingungen, die Kontinuität ermöglichen, damit sie sich entfalten kann. George Tabori hat einmal gesagt, ich zitiere: „Zeitliche, räumliche und personelle Beständigkeit sind die Minimalforderungen für eine Gruppe oder ein Team.“ Ich freue mich daher, dass wir die Freien Darstellenden Künste umfangreich, kontinuierlich und mit einem stetig wachsenden Etat unterstützen können: Sei es durch die Förderung von „Impulse“, immerhin eines der wichtigsten Festivals für Freie Darstellende Künste, durch die Finanzierung einer Geschäftsstelle des Bundesverbandes Freie Darstellende Künste, sei es durch die Förderung der Bundeskulturstiftung mit ihren Angeboten für Kooperationspartner. Und natürlich auch durch die Finanzierung des Fonds Darstellende Künste, diesem wichtigen Förderinstrument für die Freien Darstellende Künste und dem Auslober dieses Preises. Die Förderung des Bundes hat wesentlich zur Professionalisierung und Internationalisierung der Freien Szene beigetragen. Einladungen zu vielen renommierten Festivals, Auszeichnungen, vor allem aber bewegende Theaterkunst – wie sie auch die Preisträger dieses Abends hervorbringen – sind die Früchte dieser Entwicklung und ein schöner Erfolg. Wenn man das gelungene Begleitheft zum heutigen Abend durchblättert und sich dabei nochmals die Arbeiten der Preisträger der vergangenen zehn Jahre vergegenwärtigt, wird deutlich: Es braucht einen Preis wie diesen, weil Künstler wie Sie, die Sie mit ihrer mutigen, experimentellen Gestaltungskraft in die Gesellschaft hineinwirken, eine verstärkte Aufmerksamkeit der Presse und der Kritik mehr als verdient haben. Es braucht einen Preis wie diesen, weil er dazu beiträgt, dass Akteure, Spielstätten und Produktionen, dass die Vielfalt und die hohe Qualität der Freien Szene als essentieller Bestandteil der bundesdeutschen Theaterlandschaft wahrgenommen werden – mittlerweile gleichrangig neben den Stadt- und Staatstheatern. Ein schöner Beleg dafür ist übrigens auch, dass in diesem Jahr drei der zehn zum Theatertreffen eingeladenen Inszenierungen aus der Freien Szene kommen und beispielsweise auch die Produktion „Oratorium“ von She She Pop dazu gehört. Die Gruppe war bereits 2011 mit ihrer – übrigens aus Mitteln des Fonds Darstellende Künste geförderten – Produktion „Testament“ zum Theatertreffen eingeladen und wurde 2015 mit dem Tabori-Preis ausgezeichnet. Den Preisträgerinnen und Preisträgern des heutigen Abends wünsche ich, dass sie eine ähnliche Erfolgsgeschichte schreiben. Der Tabori-Preis mit seinem Renommee und seiner öffentlichen Beachtung ist ganz offensichtlich die beste Voraussetzung für eine steile Karriere. Umso mehr freue ich mich, dass dieses Jahr alle drei nominierten Ensembles auch ausgezeichnet werden. Herzlichen Dank auch an die Jury, die sich mit ihrer Auswahl als hervorragende Kennerin der Freien Darstellenden Künste erweist. Lieber Herr Bergmann, lieber Herr Professor Schneider, ich danke auch Ihnen und dem gesamten Vorstand des Fonds Darstellende Künste ganz herzlich, dass Sie den Tabori-Preis ausloben und nicht nur meinem Haus, sondern vor allem auch der Freien Szene seit vielen Jahren ein so wichtiger und verlässlicher Partner sind. Mit dem Preis, mit ihren Förderprogrammen und nicht zuletzt auch mit Ihrem Engagement für die Rechteinteressen der Künstlerinnen und Künstler haben Sie zur Professionalisierung und Sichtbarkeit der Freien Szene wesentlich beigetragen. Wir konnten den Etat des Fonds (ab 2018 um rund 900. 000 Euro) auf zwei Millionen Euro jährlich erhöhen. Das ermöglicht die Vergabe von drei erheblich dotierten Tabori-Preisen, aber auch die Finanzierung des neuen Förderprogramms „Konfiguration“ – eine wertvolle und zukunftsweisende Unterstützung, über die ich mich freue. Der Fonds Darstellende Künste wirkt mit seinen Förderinstrumenten besonders auch in die Fläche. Gerade abseits der Metropolen brauchen wir Theater als Ort der Verständigung, als Ort der lebendigen Debattenkultur. In einer Zeit, in der Hass und Verrohung in sozialen Netzwerken und auf Demonstrationen gedeihen, in der Ressentiments geschürt werden gegen anders Denkende, anders Glaubende, anders Aussehende, anders Lebende und damit gegen die Freiheit und Vielfalt einer pluralistischen Gesellschaft – gerade in dieser Zeit braucht es Künstler wie Sie, liebe Theaterfreundinnen und -freunde, braucht es Menschen, die die Gesellschaft nicht nur abbilden, sondern sie auch mitgestalten, die ihr den Spiegel vorhalten und – wenn es erforderlich ist – auch daran erinnern, wie dünn die Decke der Zivilisation ist – auch dafür steht der Name George Tabori. Dabei kann ich Sie – im Sinne Taboris – nur ermutigen, weiterhin auf Ihre Originalität und Kreativität, aber auch auf Ihren Humor und Ihren Spieltrieb zu vertrauen. In Taboris Geschichte „Der alte Mann und was mehr“ fragt der Erzähler einen alten Lebenskünstler, in dem unschwer Tabori selbst zu erkennen ist, ob er ihm ein oder zwei Worte sagen könne, um ihm den Weg ins Alter zu erheitern. Der alte Lebenskünstler antwortet ihm: „Eines Tages, bald, werde ich der kleine alte Mann sein, der ich als Kind war, als ich auf dem Boden krabbelte, um zum ersten Mal einen Porzellanhasen mit einer Neugier zu berühren, die ich im Begriff bin wiederzuentdecken. Diese Gabe kann jedes noch so banale Objekt in etwas Schönes verwandeln (…) Originalität ist ein Zustand, in dem man am authentischsten man selbst ist“. Auch wenn Sie noch keine Tipps fürs Altern brauchen: Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Kreativität und Originalität, um sich von den Dingen, die Sie umgeben, zu künstlerischem Schaffen inspirieren zu lassen. Den Preisträgerinnen und Preisträgern ist dies ganz offensichtlich geglückt. Herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung mit dem Tabori-Preis!
In ihrer Rede würdigte die Kulturstaatsministerin die Theatermacherinnen und Theatermacher der Freien Darstellenden Künste. „Mit Mut und Leidenschaft stiften Sie Unruhe und legen die neuralgischen Punkte unserer Gesellschaft frei“, so Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum Thema „Kunst und Kommerz“ im Rahmen der Diskussionsreihe „ZUKUNST! Perspektiven für Kultur und Medien“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-thema-kunst-und-kommerz-im-rahmen-der-diskussionsreihe-zukunst-perspektiven-fuer-kultur-und-medien–1614800
Mon, 20 May 2019 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Städel Museum
Kulturstaatsministerin
Kultur
Herzlich willkommen zur Diskussionsveranstaltung „Kunst und Kommerz“ im Rahmen unserer Veranstaltungsreihe „ZUKUNST! Perspektiven für Kultur und Medien“ aus Anlass des 20jährigen BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien-Jubiläums. „Kunst und Kommerz“ – da rümpft der feingeistige Kulturfreund erst einmal indigniert die Nase. Ist es nicht gerade die Unabhängigkeit von den Kriterien kommerziellen Erfolgs, die Weigerung, sich den Regeln des Marktes zu unterwerfen, die den Künstler von einem – sagen wir – Handwerker unterscheidet? Pablo Picasso hat für dieses Spannungsverhältnis salomonische Worte gefunden: „Ein Maler“, so Picasso – „ein Maler ist ein Mann, der malt, was er verkauft. Ein Künstler ist ein Mann, der verkauft, was er malt.“ Diese Aussage deckt die Bandbreite der Schönen Künste natürlich nicht annähernd ab. Sie fasst aber recht anschaulich zusammen, dass Kunst und Kommerz sich zumindest nicht ausschließen. Über Konflikte einerseits und Allianzen andererseits, die möglich sind, wenn Kunst und Kommerz, wenn Genialität und Geld aufeinander treffen, wollen wir heute mit Ihnen diskutieren. Ich danke Ihnen, lieber Philipp Demandt, dass wir dieser Diskussion im ehrwürdigen Städel Museum einen inspirierenden Rahmen geben können. Denn hier zeigt sich die Allianz von Kunst und Geld, von Kultur und Bürgersinn von ihrer besten Seite. Gerade die Geschichte des Städel erinnert ja daran, dass Deutschland seine im europäischen Vergleich einmalige Dichte kultureller Einrichtungen nicht nur einer relativ großzügigen staatlichen Kulturfinanzierung verdankt, sondern auch einer beträchtlichen Zahl wohlhabender Bürgerinnen und Bürger, denen es ein Herzensanliegen war und ist, unserem Staat und unserer Gesellschaft etwas zurück zu geben. Das Städel ist das Vermächtnis eines wohlhabenden Bürgers, Johann Friedrich Städel. Es profitiert bis heute enorm von Stiftungen, Spenden und Schenkungen, und der 2012 eröffnete Erweiterungsbau wurde zur Hälfte aus privaten Spendengeldern finanziert. Gerade in einer Zeit, in der viele Häuser mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen haben – bedingt durch steigende Kosten beispielsweise für Ausleihe, Transport, Versicherung und bedingt auch durch immer anspruchsvollere Vorgaben der Leihgeber – kann man den Wert solch privater Förderung nicht hoch genug einschätzen. So stehen – wie hier im Städel – zahlreiche Fördervereine deutscher Museen landauf landab für im doppelten Wortsinn wertvolle Allianzen privater Sammler und Spender mit der Kunst und Kultur. Wertvolle, wertstiftende Verbindungen gehen Kunst und Kommerz – um noch ein zweites Beispiel zu nennen – auch in der Kultur- und Kreativwirtschaft ein, die von der Kommerzialisierung kreativer Leistung lebt. Sie liefert mit Ideen – dem vielleicht wichtigsten Wirtschaftsgut in einem rohstoffarmen Land – den immateriellen Rohstoff für Innovationen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Hier tragen Künstler und Kreative die Fackel, an der viele andere das Feuer eigener schöpferischer Kraft entzünden – auch wenn man den Wert geistig-schöpferischer Leistung natürlich nicht auf ökonomische Verwertbarkeit reduzieren kann und sollte. Dass es im Verhältnis zwischen Wert und Verwertbarkeit, zwischen Kultur und Kapital auch zu Konflikten kommen kann, ist evident. Um einen Eindruck davon zu bekommen, reicht es, regelmäßig das Feuilleton zu lesen: Spätestens seit die Tate Britain kein Geld der Familie Sackler mehr annimmt, die ihren Reichtum umstrittenen Schmerzmitteln verdankt, und die Mailänder Scala vor einigen Wochen umstrittene Spendenmillionen aus Saudi Arabien zurück gab, wird (wieder) über die Frage diskutiert, ob schmutziges Geld der Kunst gut tut und ob Kultursponsoring, mit dem Unternehmen ihr ramponiertes Image polieren, nicht am wertvollsten Kapital der Kunst – ihrer Glaubwürdigkeit – zehrt. Angesichts des Hypes um zeitgenössische Kunst und mit Blick auf einen überhitzten Kunstmarkts stellt sich darüber hinaus die Frage, ob möglicherweise das Bewusstsein verloren gegangen ist, dass Kunst einen Wert und einen Preis hat und dass die sorgfältige Unterscheidung zwischen beidem keinesfalls nur eine semantische Spitzfindigkeit ist. Wie können wir angesichts der Fixierung auf Preise und Profite die Wertschätzung für die Kunst fördern? Was können wir ihrer Degradierung zur Image-Politur, zur Handelsware, zum Spekulationsobjekt entgegen setzen? Welche politischen Rahmenbedingungen brauchen wir, damit Bildende Kunst, Literatur, Musik, Film, Theater und Tanz auch abseits des Mainstreams gedeihen und sich dem Diktat des Marktes, des Zeitgeistes und des Massengeschmacks, also den Kriterien des kommerziellen Erfolgs, widersetzen können? Kunst und Kultur dürfen, sie sollen und müssen ja zuweilen Zumutung sein, und deshalb braucht es Schutz und Förderung, auf dass nicht nur das am leichtesten Kommerzialisierbare gedeiht. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund unserer Geschichte gibt es jedenfalls gute Gründe, Kunst nicht allein dem Markt, der Regulierung durch Angebot und Nachfrage zu überlassen. Soweit in aller Kürze beispielhaft einige einführende Gedanken zum Verhältnis zwischen Kunst und Kommerz, meine Damen und Herren. Damit ist allenfalls ein grobes Bild unseres heutigen Diskussionsthemas skizziert, in dem andere Perspektiven als die kulturpolitische noch gar nicht berücksichtigt sind – etwa die gleichstellungspolitische Frage, warum Frauen auf dem Kunstmarkt eigentlich immer noch deutlich niedrigere Preise erzielen, warum weibliche Leistungen selbst im 21. Jahrhundert immer noch weniger wert sind als jene von Männern, warum es also diesen offensichtlichen Widerspruch zwischen einem überkommenen, verstaubten Rollenverständnis und dem Selbstverständnis der Kunst als gesellschaftliche Avantgarde gibt. Ja, im Verhältnis von Kunst und Kommerz – in den Allianzen, in den Konflikten, in den Widersprüchen – spiegeln sich gesellschaftliche Entwicklungen, die nicht nur für Künstlerinnen und Künstler, für Kunstliebhaber und Kulturvermittler relevant sind, sondern für unser demokratische Selbstverständnis, für die Werte unserer Gesellschaft insgesamt. Deshalb haben wir das Podium – moderiert von Dr. Rose-Maria Gropp, Ressortleiterin Kunstmarkt bei der FAZ–Frankfurter Allgemeine Zeitung – mit Expertinnen und Experten besetzt, deren Expertise aus unterschiedlichen Blickwinkeln ein möglichst differenziertes Bild von der Situation auf dem Kunstmarkt und der Rolle der unterschiedlichen Akteure zeichnen soll. Dr. Philipp Demandt, Direktor des Städel Museums und des Liebighauses und Leiter der Schirn Kunsthalle hier in Frankfurt, gehört zu den profiliertesten Museumsmachern / Museumsexperten in Deutschland. Prof. Karin Kneffel hat sich mit ihren vielfach preisgekrönten Werken und gefeierten Ausstellungen national und international als Künstlerin einen Namen gemacht. Sie gehört zu denen, die ordentliche Preise erzielen … . Markus Eisenbeis hat als Inhaber und Geschäftsführer des Auktionshauses „Van Ham Kunstauktionen“ einen hervorragenden Überblick über die Entwicklungen auf dem Kunstmarkt. Wie diese sich auf unsere Gesellschaft auswirken, kann uns der Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Prof. Wolfgang Ulrich erklären, der bis 2015 an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe lehrte und heute als freier Publizist mit einschlägigen Büchern zur Sache tätig ist. Auf seinen Impulsvortrag freue ich mich mit Blick auf seine interessanten Buchpublikationen der vergangenen Jahre ganz besonders. Ein herzliches Dankeschön Ihnen allen, unseren Podiumsgästen! Lieber Herr Prof. Ullrich, Sie haben das Wort.
In ihrem Eingangsstatement zur Diskussionveranstaltung im Frankfurter Städel Museum stellte die Kulturstaatsministerin die Frage nach den Konflikten und Allianzen, die entstehen, wenn Kunst und Kommerz aufeinandertreffen.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum 70. Jubiläum des Deutschen Filminstituts & Filmmuseums (DFF)
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-70-jubilaeum-des-deutschen-filminstituts-filmmuseums-dff–1614606
Mon, 20 May 2019 13:30:00 +0200
Im Wortlaut
Frankfurt am Main
Kulturstaatsministerin
Kultur
Es ist eine der Schlüsselszenen des Films „Deutschland im Herbst“, die Rainer Werner Fassbinder in einem Zwiegespräch mit seiner Mutter Liselotte Eder am Küchentisch zeigt: „Ich kann Dich wirklich nicht verstehen“, sagt er da zu ihr, senkt seinen Kopf in die Hände und seufzt mit schmerzverzerrtem Gesicht. Und auch sie versteht ihn nicht, als er ihr unter anderem mangelndes Verständnis von Demokratie vorwirft. So zeigt die Szene auf eindringliche Weise, wie groß die Kluft war zwischen der in der NS-Zeit sozialisierten Elterngeneration und ihren Kindern, von denen viele in den 1960er und 1970er Jahren lautstark für eine liberale, antiautoritäre Gesellschaft auf die Straße gingen. Der Episodenfilm „Deutschland im Herbst“ – an dem neben Rainer Werner Fassbinder etwa auch Volker Schlöndorff und Alexander Kluge mitgewirkt haben – ist ein bedeutendes Zeugnis der Zeit unmittelbar nach dem „Deutschen Herbst“, als der Terror der RAF Deutschland in Atem hielt. Und er ist ein bedeutender Teil unseres filmkulturellen Erbes. Dass dieses filmkulturelle Erbe erhalten und Vergangenes auf diese Weise im kollektiven Gedächtnis bleibt, ist nicht zuletzt ein Verdienst des DFF – des Deutschen Filminstituts & Filmmuseums. Ich freue mich sehr, dass wir heute sein sage und schreibe 70. Jubiläum feiern können. Mit seinem Engagement für ein vielgestaltiges Filmerbe, das die historische und kulturelle Entwicklung unseres Landes dokumentiert, hat sich das DFF in den vergangenen 70 Jahren als international anerkannter Vorreiter in der digitalen Dokumentation und Zugänglichmachung des Kulturguts Film und damit als filmisches Gedächtnis unseres Landes profiliert. Das DFF macht die ästhetische und historische Vielfalt des Kulturguts Film vom Stummfilmklassiker bis zum Neuen Deutschen Film erlebbar – durch herausragende Ausstellungen, Festivals und Kinoprogramme sowie durch eine beispielhafte Bildungsarbeit für alle Altersklassen. Danke, liebe Frau Harrington, für Ihre großartige Arbeit, die Sie gemeinsam mit Ihrem Team hier leisten! Und natürlich danke ich auch allen früheren Direktorinnen und Direktoren – insbesondere Ihnen, liebe Frau Dillmann, die Sie das Filminstitut zuletzt ganze 20 Jahre geleitet und dabei zukunftsweisend geprägt haben. Auch Ihnen, lieber Herr Dr. Hensel, danke ich herzlich für Ihr langjähriges Engagement als Vorstand und – stellvertretend für all die treuen Freunde und Förderer des Hauses – für Ihre großzügige Unterstützung. Sie alle haben die ebenso kühne wie kluge Vision Hilmar Hoffmanns für ein „Haus für den Film“ am Museumsufer wahr werden lassen und eine unverzichtbare Institution für die umfassende Bewahrung und Vermittlung des Films in Deutschland und Europa geschaffen. Damit sind Sie, ist das DFF, für mein Haus ein sehr wichtiger Partner in Fragen des Filmerbes, der Digitalisierung und vor allem der filmographischen Dokumentation. Dass wir heute zeitgleich mit dem Jubiläum die Eröffnung des neuen Standorts „DFF – Fassbinder Center Frankfurt“ feiern, ist ein weiterer Meilenstein in der Geschichte des DFF und ein Gewinn für die internationale Filmkultur. Als zentraler Ort für die Bewahrung und Erforschung des Lebenswerks Rainer Werner Fassbinders sind im Center künftig die umfangreichen Bestände des DFF zum Neuen Deutschen Film mit den Sammlungen der Fassbinder Foundation unter einen Dach vereint. 1986 von Fassbinders Mutter Liselotte Eder gegründet, pflegt die Fassbinder Foundation – deren Präsidentin ich an dieser Stelle auch sehr herzlich begrüße – bis heute den umfangreichen Nachlass dieses Ausnahmekünstlers. Das Erbe deutscher Filmkünstlerinnen und Filmkünstler möglichst weitgehend zu erhalten, ist eine gigantische Aufgabe, die politischer Unterstützung bedarf und für die auch ich mich mit Nachdruck einsetze. Deshalb hat die BKM bereits seit 2012 mit erheblichen Mitteln Digitalisierungsprojekte an den Einrichtungen des Kinemathekverbunds gefördert. Klar war allerdings auch, dass wir diese enorme Aufgabe langfristig nur mit vereinten Kräften und zusätzlichen Mitteln meistern können. Daher habe ich mich dafür engagiert, dass wir mit den Ländern und der Filmförderungsanstalt ein gemeinsames Digitalisierungsprogramm aufsetzen und das bisherige Engagement des Bundes noch einmal verstärken. Dieses Programm ist zum 1. Januar 2019 gestartet. Mit einer Gesamtfinanzierung von bis zu 10 Millionen Euro im Jahr können wir nun die dringend notwendige Digitalisierung voranbringen, um das deutsche Filmschaffen in seiner ganzen Breite und künstlerischen Vielfalt auch für künftige Generationen zu erhalten. Insbesondere Einrichtungen, die sich – wie das DFF – im öffentlichen Interesse um die Wahrung und Vermittlung des deutschen Filmerbes verdient machen, werden von diesem Programm maßgeblich profitieren. Zur Pflege der Filmkultur gehört aber natürlich nicht nur der Erhalt des Filmerbes, sondern auch der Erhalt des Kinos als Kulturort. Gerade in Zeiten verhärteter Fronten in unserer Gesellschaft, gerade auch in ländlichen Räumen, wo Menschen sich abgehängt fühlen, brauchen wir für Verständnis und Verständigung die ja sehr spezifische Fähigkeit der Filmkunst, Menschen zu sensibilisieren, anzusprechen, zu berühren. Deshalb freue ich mich, dass wir in diesem Jahr mit fünf Millionen Euro Soforthilfe Kinos in ländlichen Räumen fördern können – und im kommenden Jahr mit bis zu 17 Millionen Euro im Rahmen des neuen „Zukunftsprogramms Kino“. Und mit der notwendigen 50-prozentigen Kofinanzierung stehen dann bis zu 34 Millionen Euro zur Verfügung. Auch das DFF ist – wenngleich Frankfurt gewiss nicht zum ländlichen Raum zählt – mit seinem anspruchsvollen, lebendigen Kinoprogramm ein beispielhafter Kulturort für die Menschen in Frankfurt und darüber hinaus. Das beispielhafte Zusammenwirken der Förderer BKM, Land Hessen und – seit der gelungenen Integration des Deutschen Filmmuseums ins Deutsche Filminstitut im Jahr 2006 – der Stadt Frankfurt am Main ist wesentlicher Teil seiner andauernden Erfolgsgeschichte. Das soll auch in Zukunft so bleiben; dafür werde ich mich weiterhin einsetzen. Im Übrigen ist das Zusammenwirken unterschiedlicher Kräfte nicht nur in der Förderpolitik, sondern auch für die Wirkmacht unseres Filmerbes ein Gewinn. So hat Alexander Kluge, der wie Rainer Werner Fassbinder als einer der einflussreichsten Vertreter des Neuen Deutschen Films gilt, einmal gesagt, ich zitiere: „Ein Kunstwerk beleuchtet das andere. Wie Konstellationen bilden sie gemeinsam einen Sternenhimmel.“ Ganz in diesem Sinne präsentiert Andreas Dresen, der mit „Gundermann“ gerade beim Deutschen Filmpreis abgeräumt hat, im Kinoprogramm des Deutschen Filmmuseums gerade einige seiner persönlichen Lieblingsfilme. Darunter finden sich Hollywood-Klassiker wie „Taxi Driver“, Weimarer Kino von Fritz Lang und ein Festival des japanischen Films – Filme also, die die Welt an unterschiedlichen Perspektiven spiegeln und dabei eine große Vielfalt von Lebensentwürfen und kulturellen Eigenheiten sichtbar und verständlich machen. Dabei beleuchtet ein Film den anderen – und mit dem Blick auf diesen filmischen Sternenhimmel tritt man aus der eigenen beschränkten Lebenswelt, aus der eigenen Zeit, aus der eigenen Filterblase heraus. Davon kann das menschliche Miteinander nur profitieren. Deshalb hoffe ich, dass der Sternenhimmel des deutschen Filmerbes auf Dauer leuchten möge! In diesem Sinne gratuliere ich dem Deutsches Filmmuseum und Filminstitut herzlich zum 70-jährigen Bestehen: auf viele weitere erfolgreiche Jahre!
In ihrer Rede hob die Kulturstaatsministerin die Verdienste des DFF hervor. Das angeschlossene Fassbinder Center Frankfurt, das gleichzeitig eröffnet wurde, würdigte Grütters als weiteren „Meilenstein in der Geschichte des DFF und Gewinn für die internationale Filmkultur“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen der 11. Nationalen Maritimen Konferenz am 22. Mai 2019 in Friedrichshafen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-der-11-nationalen-maritimen-konferenz-am-22-mai-2019-in-friedrichshafen-1670088
Wed, 22 May 2019 00:00:00 +0200
Friedrichshafen
Wirtschaft und Energie,Alle Themen
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann, sehr geehrter Herr Kollege Brackmann, liebe Kollegen Staatssekretäre, sehr geehrter Herr Stott, Herr Landrat Wölfle, Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren, vielen Dank für die Einladung zur 11. Nationalen Maritimen Konferenz. Ich bin gerne wieder mit dabei. Wir waren mit dieser Konferenz natürlich schon an der Nord- und Ostsee. Warum also nicht mal am Bodensee – am Schwäbischen Meer, wie dieser See ja auch gern genannt wird. Große Kreuzfahrtschiffe und Containerhäfen sucht man hier zwar vergeblich, auch die Bergkulisse im Hintergrund erinnert eher an Alpines als an Maritimes, dennoch sprechen für Friedrichshafen viele gute Gründe als Veranstaltungsort. Dieser Veranstaltungsort steht für die Vielfalt unserer maritimen Industrie, die sich in der Binnenschifffahrt ebenso wie in der Seeschifffahrt zeigt. Wir haben Werften und Häfen, wissenschaftliche Einrichtungen und Unternehmen der Offshore-Windindustrie, aber vor allem sind es viele Zulieferer, mit denen die maritime Wirtschaft von Flensburg bis Friedrichshafen breit vertreten ist. Sie alle zusammen unterstreichen hier das diesjährige Konferenzmotto „Deutschland maritim – global. smart. green.“ Das zeigt also, dass wir auf Globalisierung, auf Innovation und auf Nachhaltigkeit setzen. Das sind Schlagworte, die sehr treffend für unsere maritime Industrie gewählt wurden. Deutschland gehört ja nicht nur zu den weltweit führenden Exportnationen, sondern ist auch eine der größten Schifffahrtsnationen der Welt. Nicht zuletzt ist Deutschland auch Logistikweltmeister. Diese Internationalität der Branche ist auch hier in Friedrichshafen am Drei-Länder-Meer zu spüren. Die deutsche maritime Wirtschaft kann sich in der Welt wirklich sehen lassen. Vor allem durch ihre Innovationsstärke ist sie ein wichtiger Wachstumsfaktor unserer Volkswirtschaft. Wenn man das in Zahlen ausdrücken will, dann kann man sagen: Mehr als 50 Milliarden Euro Jahresumsatz, annähernd eine halbe Million Beschäftigte – das muss man sich immer wieder vor Augen führen – und über 2.000 Handelsschiffe im Eigentum deutscher Reedereien und damit eine der größten Flotten der Welt. Kurzum: es ist wirklich beeindruckend, was die Branche leistet. Davon habe ich mir auch erst kürzlich wieder ein Bild machen können, als ich den Hamburger Hafen besucht habe, um mir das Containerterminal Altenwerder anzuschauen. Das ist ein Hightech-Terminal – übrigens auch wegen vieler Förderungen der Bundesregierung bzw. des Bundesverkehrsministeriums. Es ist gewissermaßen ein Test- und Forschungslabor im Realbetrieb. – Wir haben ja eben den Vortrag von Herrn Stott gehört. Es ist sehr interessant, wie die Zukunft solcher Containerterminals aussehen wird. Die Frage, die sich angesichts von Digitalisierung, 3D-Druck und Individualisierung der Produktion stellt, ist natürlich: Was bedeutet das für die Schifffahrt, für die Handelsschifffahrt; und inwieweit wird Wertschöpfung wieder dahin zurückverlegt, wo die Konsumenten und Nutzer der Produkte sind? Also ein sehr spannendes Feld. – Wenn man sich diese Anlage anschaut, dieses Containerterminal Altenwerder, dann wundert man sich nicht, dass die deutschen Seehäfen insgesamt rund zwei Drittel des seewärtigen Außenhandels unseres Landes abwickeln und auch einen erheblichen Teil des europäischen Außenhandels. Aber wir müssen kämpfen. Lieber Herr Ministerpräsident, ich habe gelernt: bei der Frage der Besteuerung und der Zusammenarbeit des Bundeszolls und der Ländersteuerverwaltungen haben wir ein gewaltiges Problem; hier haben wir durch unsere föderale Struktur einen Nachteil zum Beispiel gegenüber den Niederlanden. Es wäre ein herausragendes Beispiel, wenn man zeigen könnte, wie schnell wir auch bestimmte Steuerverfahren digitalisieren könnten. Dann könnten wir einen richtig großen Schritt machen. Man glaubt es kaum, aber Besuche zeigen einem immer wieder, dass man etwas dazulernen kann. Jedenfalls hat man es halt nicht gern, wenn die Niederländer Videos drehen über die Langsamkeit der Deutschen und die Schnelligkeit der Niederländer. Das sollte uns herausfordern. Das gilt für alle Bundesländer gleichermaßen und auch für den Bund. Steuerverwaltungen sind sozusagen ein Wert an sich, aber könnten durchaus noch an Geschwindigkeit zulegen. Von den leistungsstarken Häfen profitieren viele deutsche Industrie- und Dienstleistungsbereiche in allen Regionen, nicht nur in Küstennähe. Importeure und Exporteure etwa hier in Baden-Württemberg oder in Bayern und Nordrhein-Westfalen sowie auch in unseren Nachbar- oder anderen europäischen Staaten, wie zum Beispiel Schweiz, Liechtenstein, Österreich, Ungarn und Ukraine, nutzen deutsche Häfen für ihren Handel. Die Attraktivität von Häfen hängt natürlich immer auch von ihrer Hinterlandanbindung ab. Daher ist die bedarfsgerechte Anpassung der Verkehrsinfrastruktur eine unserer investitionspolitischen Schwerpunkte für unser Land als Verkehrs- und Logistikdrehscheibe in Europa. Wir haben als Bundesregierung 2016 ein neues Nationales Hafenkonzept verabschiedet, das unser strategischer Leitfaden für die Hafenpolitik auch der nächsten Jahre ist. Wir wollen erreichen, dass unsere Häfen noch wettbewerbsfähiger werden. Dazu gehört eben auch, dass wir den weiteren Ausbau der digitalen Infrastruktur und die Vernetzung der Häfen weiter vorantreiben. Innerhalb der gesamten Transport- und Logistikkette sind die Häfen bei der Nutzung digitaler Möglichkeiten Vorreiter. Schon die massenhafte Abfertigung von Containern seit den 70er Jahren wäre ohne den Einsatz elektronischer Datenverarbeitung kaum denkbar gewesen. Seitdem schreitet die technologische Transformation unaufhaltsam voran. Als Bundestagsabgeordnete mit einem Wahlkreis an der Ostsee habe ich natürlich auch ein besonderes Auge auf den Schiffbau. – Im Übrigen, da ich über meinen Besuch in Hamburg gesprochen habe, Herr Stott: ich habe mehrere panamaische Präsidenten erlebt, die mir erzählt haben, dass Hamburg sozusagen vom Schicksal des Panamakanals unmittelbar betroffen sein wird. Ich habe das auch geglaubt, denn die Verbreiterung des Kanals bringt einfach auch neue Containerschiffe mit sich; und deshalb ist es gut, dass nach geschlagenen elf oder zwölf Jahren nun die ersten Spatenstiche zur Elbvertiefung durchgeführt werden können. Gemessen an der Bauzeit des Berliner Flughafens sind wir da aber immer noch schnell. – Aber zurück zu meinem Wahlkreis und zum Schiffbau in Deutschland. Hier überzeugen unsere Unternehmen vor allem damit, dass sie Spezialschiffe liefern, die höchsten technologischen Ansprüchen genügen. Die Palette reicht von zivilen Seeschiffen und Marineschiffen über Produktions- und Förderanlagen für den Offshore-Einsatz bis hin zu auch sehr gefragten Segel- und Motorbooten für Binnengewässer. Der Schiffbau ist in vieler Hinsicht typisch für das, was unsere deutsche Wirtschaft insgesamt erfolgreich macht: Er ist mittelständisch geprägt, exportorientiert und in vielen Bereichen auch führend in der Technologie. Ich weiß natürlich, dass die internationale Konkurrenz insbesondere aus Asien im Schiffbau sehr hoch ist. Damit unsere Schiffbauer technologisch weiter vorne sein können, dürfen wir eben bei Forschung und Entwicklung nicht nachlassen. Sie, Herr Stott, haben ja bei der WTO Schiedsverfahren zwischen der EU und Südkorea begleitet. Ich habe aus eigener Erfahrung in meinem Wahlkreis gesehen: Indirekte Subventionen nachzuweisen – das gehört auch zu diesem Thema –, gleicht der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen. Deshalb ist es gut, wenn wir forschungsmäßig und technologisch einfach immer eine Runde weiter sind. Dann haben wir die besten Chancen. Das gilt gerade auch mit Blick auf Klima- und Umweltschutzvorgaben. Technologien, die die Ressourceneffizienz erhöhen und Schadstoffemissionen senken, werden immer wichtiger. Die Schifffahrt ist mit Blick auf die Transportkapazitäten ein vergleichsweise umweltschonender Verkehrsträger. Trotzdem muss auch die Schifffahrt ihren Beitrag dazu leisten, dass wir unsere globalen, europäischen und nationalen Klimaschutzziele erreichen. – Der Ausflugsverkehr auf Berliner Gewässern ist da vergleichsweise eine „low-hanging-fruit“, würde ich mal sagen. Auf dem Bodensee ist das, glaube ich, besser geregelt als auf der Spree. – Dahinter steht auch die Überzeugung, dass kein oder zu wenig ambitionierter Klimaschutz mit weitaus höheren Kosten verbunden wäre als die Anforderungen, die das Abkommen von Paris und auch unsere nationalen Vorgaben uns stellen – Kosten finanzieller Art wie auch Kosten durch den Verlust von Lebensräumen, Lebensgrundlagen und menschlichen Lebens. Der Kampf gegen den Klimawandel ist eine der größten und drängendsten Herausforderungen unserer Zeit. Derzeit diskutieren wir über das Ziel, wie wir bis 2050 Klimaneutralität schaffen. Das ist ein sehr ehrgeiziges Ziel. Ich glaube, wir können es nur erreichen, so jedenfalls die Fachleute, wenn wir auch bereit sind, Kohlendioxid in gewissem Umfang mit der CCS-Methode zu speichern. Das bedarf einer breiten gesellschaftlichen Diskussion in Deutschland; und diese müssen wir auch führen. Ich freue mich, dass das auch parteiübergreifend so gesehen wird. Wir werden in unserem Klimakabinett genau auch das in den nächsten Wochen tun. Fest steht, dass die Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschafts- und Lebensweise jeden Bereich betrifft und somit also auch den Verkehrsbereich. Da bildet der Seeverkehr natürlich keine Ausnahme. Die Bundesregierung setzt sich in der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation IMO dafür ein, dass weltweit auch der Seeverkehr seinen Beitrag zum Klimaschutz leistet. Die IMO will den CO2-Ausstoß bis 2050 um mindestens 50 Prozent reduzieren. Dafür brauchen wir, ähnlich wie an Land, auf See noch mehr Effizienz, erneuerbare Energien und alternative Antriebstechnologien. So kann auch im Seeverkehr die Elektromobilität ausgebaut werden, insbesondere bei kürzeren Strecken. Über die Entwicklung und Anwendung synthetischer Kraftstoffe auf der Basis erneuerbarer Energien können wir den Seeverkehr ebenfalls klimaschonender voranbringen. Auch hierbei ist das Bundesverkehrsministerium ja zu Wasser und auch zu Land und in der Luft tätig. Für die Dekarbonisierung des Langstreckenseeverkehrs kann zum einen LNG, also Flüssigerdgas, an Bedeutung gewinnen, das deutlich schadstoffärmer ist als Schweröl. Zum anderen kommen alternative Antriebe wie die Brennstoffzelle in Betracht. Friedrichshafen hat hier eine lange Tradition. Denn Wasserstoff wurde ja als Antrieb für Zeppeline genutzt. Ferdinand Graf von Zeppelin ließ hier am Bodensee am 2. Juli 1900 ein Luftschiff zur Jungfernfahrt aufsteigen. Es ist beruhigend zu wissen, dass heute der Einsatz von Wasserstoff im Verkehr weniger riskant ist als bei den fliegenden Zigarren, wie die ersten Zeppeline auch genannt wurden. Nicht nur auf See, sondern auch in den Häfen müssen die Emissionen gesenkt werden, zum Beispiel während der Hafenmanöver und der Hafenliegezeiten. Hier kann Strom aus dieselbetriebenen Schiffsgeneratoren durch Landstrom ersetzt werden. Im besten Fall kommt dieser Strom dann aus erneuerbaren Energien. An der Küste bietet sich die Windenergie an. Hier haben wir allerdings noch Preisprobleme. Wir sind jetzt gerade in Kiel dabei, aus Gründen der NOx-Emissionen das mal durchzuexerzieren. Wenn preislich nicht auch die Incentives so gesetzt werden, dass sich das lohnt, wird es auf Dauer schwer sein, das durchzusetzen. Es ist vor allem die Offshore-Windenergie, die einen wichtigen Beitrag zur Energiewende und zum Erreichen unserer Klimaziele leistet. Bei den Ausschreibungen haben wir gesehen, dass sich die Offshore-Windparks zum Teil schon ohne staatliche Förderung realisieren lassen. Das heißt, Windenergie gewinnt auch in rein wirtschaftlicher Hinsicht weiter an Bedeutung. Zudem hat die Offshore-Windenergie einige Vorteile gegenüber anderen erneuerbaren Energietechnologien. Die Versorgungssicherheit ist besser und die Stromerzeugung stabiler. Inzwischen sind in der deutschen Nord- und Ostsee zusammen rund 6,4 Gigawatt Offshore-Windenergie installiert. Bis 2020 werden voraussichtlich Offshore-Windparks mit einer Kapazität von 7,7 Gigawatt am Netz sein. Offshore-Anlagen genießen, wenn es richtig gemacht wird, oft mehr Akzeptanz als Windparks an Land. Akzeptanz ist natürlich eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Energiewende mit dem beschlossenen Ausstieg aus der Kernenergie und aus der Kohleverstromung insgesamt gelingt. Wir haben heute im Bundeskabinett die Eckpunkte für die Gestaltung des Strukturwandels beschlossen. Wir müssen bis zum Ende des Jahres die gesamte Energieversorgung nochmals durchkalkulieren, damit wir den Ausstieg aus der Kernenergie plus den Ausstieg aus der Kohle in den nächsten 20 Jahren – bei der Kernenergie natürlich viel schneller – auch wirklich gut durchführen können. Es sind also durchaus günstige Voraussetzungen, von denen die maritime Industrie mit ihren Spezialschiffen für Offshore-Windenergie profitieren kann. Wir schaffen es immer besser, ökologische und ökonomische Ziele miteinander zu verbinden. Das kann sich für unsere maritime Wirtschaft als Markenzeichen und besonderer Vorteil auch im internationalen Wettbewerb erweisen. Als große Außenhandelsnation muss Deutschland natürlich so sehr auf seine internationale Wettbewerbsfähigkeit achten, wie wir das auch tun. Wir profitieren in besonderer Weise von einer guten Weltkonjunktur, auch wenn es zurzeit ziemlich viele Friktionen gibt. Kritiker unserer Leistungsbilanzüberschüsse sollten nicht übersehen, dass wir als Außenhandelsnation auch besondere Risiken tragen, wenn sich die Weltkonjunktur eintrübt. Wir haben ja eben sehr eindrücklich von den 30-Jahres-Zyklen gehört, die im Schiffbau immer wieder durchlaufen werden. Man wundert sich manchmal, warum man aus so etwas nicht schneller lernt. Aber die Faszination der großen Gewinne in der Anfangsphase trübt den Blick für eine nachhaltige Betrachtungsweise offensichtlich immer wieder. Nirgends wird jedenfalls die Bedeutung des Welthandels deutlicher als am Beispiel der maritimen Wirtschaft, da ja der Großteil des Welthandels über den Seeverkehr abgewickelt wird. In Hamburg kann man sozusagen mit Händen greifen, wenn irgendwo ein Handelskonflikt ausgebrochen ist. Da muss man sich einfach nur die Anzahl der ankommenden Container anschauen. Das Auf und Ab des Außenhandels wirkt sich nicht nur unmittelbar auf die Schifffahrt und Hafenwirtschaft aus, sondern, mit zeitlichem Abstand, mittelbar auch auf andere maritime Branchenbereiche wie die Werften und ihre Zulieferer. Wenn unser Wirtschaftswachstum in diesem Jahr voraussichtlich sehr moderat ausfallen wird, dann ist das eben gerade auch den derzeitigen außenwirtschaftlichen Unsicherheiten geschuldet. Umso wichtiger ist es, weiterhin für einen freien und fairen Handel mit gemeinsamen Regeln zu werben, das Handelssystem der WTO zu erhalten und die WTO selbst zu modernisieren. Ich freue mich sehr, dass die japanische G20-Präsidentschaft – wir werden den nächsten Gipfel Ende des Monats Juni in Osaka haben – sich genau auch diesen Themen verschrieben hat. Die bilateralen Abkommen der Europäischen Union mit vielen Staaten und Regionen, zuletzt auch mit Japan, sind äußerst wichtige Ergänzungen des multilateralen Regelwerks. Wir sprechen uns gemeinsam mit unseren Partnern in der EU auch für den Abschluss weiterer Handelsabkommen aus. Jedes Abkommen, das für alle Beteiligten die Handelsbarrieren senkt, ist aus meiner Sicht ein gutes Abkommen. Und daher wollen wir auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika nicht nur über die Vermeidung von neuen oder höheren Zöllen sprechen, sondern unsere Handelsbeziehungen auch insgesamt vorteilhaft gestalten. Ich bin sehr froh, dass es der Europäischen Kommission zusammen mit den Mitgliedstaaten gelungen ist, nun doch ein Mandat für Handelsgespräche mit den Vereinigten Staaten von Amerika zu verabschieden. China war im letzten Jahr wieder unser wichtigster Handelspartner. Unsere maritime Wirtschaft profitiert erheblich von den engen Wirtschaftsbeziehungen zu China. Aber ich sage auch ganz klar, dass China aufgefordert ist, für gleiche und damit faire Wettbewerbsbedingungen für unsere Unternehmen in China zu sorgen – so wie umgekehrt chinesische Unternehmen diese auch bei uns in der EU genießen. Auch innerhalb der Europäischen Union werden uns schwierige handelspolitische Fragen ins Haus stehen. Das hängt sehr davon ab, wie Großbritannien seinen beabsichtigten EU-Austritt gestalten will. Wir haben im Europäischen Rat im Einvernehmen mit der britischen Regierung die EU-Austrittsfrist bis zum 31.Oktober 2019 verschoben. Bis dahin bleibt Großbritannien EU-Mitglied mit allen Rechten und Pflichten, es sei denn, es tritt von sich aus vorher aus. Für die Bundesregierung bleibt es dabei, dass ein Abkommen, in dem alle relevanten Fragen für einen geordneten Austritt geregelt sind, allemal besser ist als kein Abkommen. Deshalb hoffen wir, dass der für uns so wichtige Wirtschaftspartner Großbritannien auch die notwendigen Entscheidungen fällen wird. Wie der Austritt des Landes aus der EU erfolgen wird, ist natürlich für Wachstum, Beschäftigung und Arbeitsplätze sowohl in Deutschland und allen anderen EU-Mitgliedstaaten als auch in Großbritannien von großer Wichtigkeit. Arbeitsmarktpolitisch stellen sich ohnehin schon die Ausflaggungen in Drittstaaten als Problem dar. Ich habe ja erst nur davon gesprochen, wem die Schiffe gehören und noch nicht davon, unter welcher Flagge sie fahren. Ausflaggungen bleiben natürlich nicht ohne Folgen – etwa auch für die maritime Ausbildung. Durch neue Technologien ändern sich natürlich auch die beruflichen Aufgaben für diejenigen, die in der maritimen Wirtschaft beschäftigt sind, weshalb die maritime Wirtschaft existenziell auf qualifizierte Arbeitskräfte angewiesen ist – und mit Blick in die Zukunft eben auch auf geeignete Nachwuchskräfte. Wir alle wissen, dass bei uns die demografische Entwicklung die Herausforderung nicht gerade leichter macht, obwohl wir in der maritimen Wirtschaft sehr attraktive und interessante Tätigkeitsbereiche haben. Daher sorgen neben der Wirtschaft und den Gewerkschaften auch der Bund und die Küstenländer für Qualifizierung, Aus- und Weiterbildung. Die Bundesregierung fördert die maritime Ausbildung und Beschäftigung unter deutscher Flagge jährlich mit rund 60 Millionen Euro. Gemeinsam mit unseren Partnern im Maritimen Bündnis machen wir uns dafür stark, dass Know-how und qualifizierte Beschäftigung am Standort Deutschland auch wirklich erhalten bleiben. Ich möchte allen, die an diesem Maritimen Bündnis mitarbeiten, ein herzliches Dankeschön sagen. Wenn wir das nicht hätten – lieber Herr Brackmann, ich glaube, wir stimmen überein –, dann wäre der maritime Standort Deutschland heute nicht mehr so vielfältig. Deshalb kann ich Sie nur ermuntern und uns selbst auch, in diesem Bündnis weiterzuarbeiten. Meine Damen und Herren, die maritime Industrie steuert spannenden Zeiten entgegen. Die Herausforderungen sind groß, die Chancen, davon bin ich überzeugt, noch größer. Dass sich dabei auch die Politik in der Pflicht sieht, um für vernünftige Rahmenbedingungen zu sorgen, versteht sich für uns von selbst. Daher bin ich Norbert Brackmann sehr dankbar, denn mit ihm als Koordinator für die maritime Wirtschaft ist sichergestellt, dass die Branche immer ein offenes Ohr in der Bundesregierung findet. Mein Dank gilt natürlich allen, die diese Konferenz vorbereitet haben. Darin sind viele Ressorts der Bundesregierung mit eingebunden, aber auch viele andere Akteure. Dass Ihnen das hier Freude bereitet und die Stimmung gut ist, das hat, glaube ich, einfach auch mit der schönen Bodenseeregion zu tun. Nichts gegen Ost- und Nordsee, aber Deutschlands Vielfalt ist doch insgesamt eine Bereicherung. Ich wünsche Ihnen nicht nur heute und morgen einen regen und gewinnbringenden Austausch und gute Gespräche in angenehmer Atmosphäre. Die Küche hier und die Weine sind ja auch für ihre Qualität berühmt. Es war eine gute Entscheidung, hierher nach Friedrichshafen zu gehen. Ich bin gerne kurz dabei gewesen, wünsche Ihnen viel Erfolg und der Branche alles Gute.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum 10. Jubiläum der Generationsbrücke Deutschland am 21. Mai 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-10-jubilaeum-der-generationsbruecke-deutschland-am-21-mai-2019-in-berlin-1613574
Tue, 21 May 2019 11:20:00 +0200
Berlin
Alle Themen
Sehr geehrter Herr Krumbach, Herr Minister Antoniadis und alle Gäste, liebe Seniorinnen und Senioren, liebe Kinder, liebe Teammitglieder der Generationsbrücke Deutschland, liebe Freunde und Unterstützer – dazu zählen – jetzt lasse ich Lücken; das weiß ich jetzt schon – auch Sie, Herr Schaefer, Herr Hipp und Herr Professor Milberg –, meine Damen und Herren und alle, die ich noch nicht erwähnt habe, es ist mir eine Freude und eine Ehre, heute mit Ihnen das zehnte Jubiläum der Generationsbrücke Deutschland hier im Allianz Forum feiern zu können. Die Generationsbrücke Deutschland bringt wie kaum ein anderes Projekt auf schöne, nachhaltige und kompetente Weise alte Menschen und Kinder zusammen. Wir haben das hier eben wunderbar gesehen. Zehn Jahre Generationsbrücke – das sind zehn Jahre einer sich immer noch weiter entwickelnden Erfolgsgeschichte des Zusammenhalts zwischen den Generationen. Diesen Zusammenhalt brauchen wir in unserer Gesellschaft so sehr. Wir reden oft über Globalisierung, Digitalisierung, über eine unruhige politische Weltlage, über Probleme unserer Demokratie. Aber was kann gesellschaftlichen Zusammenhalt mehr stärken, und zwar im Kleinen wie im Großen, als Begegnungen zwischen Menschen? Wenn Familien, Nachbarn, Menschen in Vereinen, Unternehmen und Verbände ihr Handeln darauf ausrichten, das Erreichen gemeinsamer Ziele unserer Gesellschaft zu fördern, und wir uns nicht durch Falschinformation, Hass und fehlenden Dialog spalten lassen, dann – davon bin ich überzeugt – wird unser Land stark bleiben. Dazu müssen wir bereit sein. Wir müssen bereit sein, dem anderen zuzuhören. Wir müssen bereit sein, auch ein Stück weit Hemmungen zu überwinden und Brücken zu bauen, wo noch keine Brücken da sind. Wir brauchen gute Ideen, um sie in die Tat umzusetzen; und manchmal auch professionelle Unterstützung. Meine Damen und Herren, wie nicht selten schreibt das Leben selbst die schönsten und auch ungewöhnlichsten Geschichten. Dazu gehört auch Ihre Geschichte, Herr Krumbach. Denn Sie haben ja zu all dem, was wir heute feiern können, maßgeblich beigetragen. Vor über zehn Jahren haben Sie, damals Ex-Bankfilialchef und Quereinsteiger in der Leitung eines Pflegeheims in Aachen, sich viele Gedanken darüber gemacht, wie der Alltag der älteren Menschen in Ihrem Heim mit mehr Freude erfüllt werden kann. – Die Karriere ist ungewöhnlich: Ein Ex-Banker wird Altenheimleiter. Da lag irgendwo sozusagen schon das Samenkorn für eine ungewöhnliche weitere Entwicklung im Nest. – Mit einer Kita in der Nähe lag für Sie der Gedanke nahe, die Jüngsten und die Ältesten zusammenzubringen. Sie fanden dann heraus, dass diesen Gedanken auch schon andere zum Beispiel in den USA hatten. Dem wollten Sie genauer auf den Grund gehen und hospitierten dort. Sie kamen mit neuen Erfahrungen, voller Begeisterung und Tatendrang zurück. Deshalb, lieber Herr Krumbach, ist es mir eine Freude, heute mit Ihnen nicht nur das erste runde Jubiläum der Generationsbrücke Deutschland zu feiern, sondern Ihnen auch ganz persönlich einfach einmal danke zu sagen. Der Dank erstreckt sich natürlich auch auf alle, die Ihnen geholfen haben. Aber erst einmal mussten Sie sie ja überzeugen. Die Generationsbrücke war und ist für viele Senioren und Kinder eine Brücke hin zu einem guten Stück neuen Lebensglücks. Auch viele Angehörige der Senioren fühlen sich wohler, wenn sie annehmen können, dass ihre Eltern oder Großeltern Abwechslung und Freude im Alltag erfahren. Die Generationsbrücke hilft, Verständnis zwischen alten und jungen Menschen dafür zu schaffen, was Kinder und Senioren heute bewegt, wie sie die Welt jeweils erleben und was sie sich wünschen. Es berührt mich sehr, wenn mir erzählt wird, dass ein Altenheimbewohner zunächst nicht bei den Aktivitäten der Generationsbrücke mitmachen wollte – man kann auch verstehen, dass man sagt: Na ja, die eigenen Enkel sind nicht da; und es kommen jetzt plötzlich Kinder; wer weiß, was passiert –, dann aber seine Meinung geändert hat, als der junge Pate direkt zu ihm ins Zimmer gekommen war, und beide offensichtlich doch schnell einen Draht zueinander gefunden haben. Älteren Menschen bedeuten solche Treffen mit ihren kleinen Partnern sehr viel. Gleiches gilt auch für Kinder, die viel lernen können und zudem ihre Sozialkompetenzen stärken. Vor wenigen Generationen waren Begegnungen zwischen Jung und Alt ganz natürlich und gehörten für die meisten Menschen zum Alltag. Solche Begegnungen mussten nicht extra organisiert werden. Aber heute gibt es in Deutschland immer weniger Familien, die mit mehreren Generationen unter einem Dach leben. Oft leben die Enkelkinder in anderen Städten und Regionen als die Großeltern. Vielen aber fehlen die Begegnungen; und sie spüren: da gibt es eine große Lücke. Ich kenne das auch aus meinem eigenen Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern. Viele Kinder sind nach München gezogen oder nach Stuttgart, jedenfalls meistens nach Süddeutschland, und haben dort eine Familie gegründet. Die Mietpreise in diesen Regionen sind hoch, die Wohnungen klein. Wenn dann die Großeltern zu Besuch kommen, dann sagt man bei aller Freude darüber nach ein, zwei, drei Tagen: Na ja, wann willst du wieder nach Hause? Ferien sind auch nicht immer. Insofern fehlt einfach etwas. Deshalb ist das, was Sie machen, wirklich lebensnah. Die Generationsbrücke überwindet nämlich genau solche Lücken. Sie hat sich zu einer stabilen Brücke entwickelt. Sie wird nicht nur ab und an einmal überquert wie eine Behelfsbrücke, sondern regelmäßig. Das ist, denke ich, das Geheimnis Ihrer Herangehensweise. Ein Jahr lang treffen Kinder im Kita- oder Schulalter Pflegeheimbewohner; und zwar mindestens einmal im Monat zum gemeinsamen Spielen, Gestalten, Tanzen und zu anderen Aktivitäten. – Wir konnten uns ja gerade ein Bild davon machen. – Man muss auch sehen, dass das nicht einfach so passiert, sondern dass das pädagogisch und psychologisch vorbereitet und begleitet wird. Jedes Kind und jeder ältere Mensch bekommt einen festen Partner in einer festen Gruppe. Das gibt Halt. So kann sich eine verlässliche, vertrauensvolle Beziehung entwickeln. Das Konzept überzeugt. Mit über 220 Kooperationspartnern finden bereits in elf Bundesländern solche Projekte statt. Das Konzept findet auch über unsere Landesgrenzen hinaus Verbreitung und Anwendung: in Pflegeheimen in Polen, Belgien und Russland. Ich habe sehr gern die Schirmherrschaft übernommen. Wir haben ja ein bewährtes soziales System in Deutschland, aber wir brauchen, denke ich, auch immer wieder neue Impulse. Deshalb finde ich auch, dass der Forschungsauftrag, den das BMFSFJ damals übernommen hat, wie die Caritas zur Verbreitung einer solchen Initiative beitragen kann, sehr, sehr wichtig war. Denn wir dürfen ja nicht einfach stehen bleiben. Unsere Gesellschaft entwickelt sich weiter. Ich habe immer gern auch einen Blick auf diejenigen geworfen, die nicht schon von Haus aus sozusagen seit 40 Jahren die Schirmherrschaft einer Bundeskanzlerin sicher haben, sondern möchte auch einfach einmal neuen Initiativen die Möglichkeit geben; und Ihre gehört dazu. Hinter der Generationsbrücke stehen viel Arbeit und Organisation. Das gelang und gelingt mit großzügigen und engagierten Partnern. Die BMW Foundation Herbert Quandt leistet sehr, sehr viel. Wir haben von Herrn Krumbach gehört, dass auch viele andere hierzu ihren Beitrag leisten. Einen wichtigen Beitrag übernimmt auch der Beirat. Er hat für die pädagogische Fundierung des Konzepts mit gesorgt und bringt auch immer wieder neue Ideen in die praktische Arbeit mit ein. So ist also die Generationsbrücke ein wunderbares Beispiel dafür geworden, wie soziales Engagement, Unternehmertum, Wissenschaft und Politik zum Wohle aller zusammenwirken können. Immer wieder erweisen sich Projekte als erfolgreich, in denen wirtschaftlicher Sachverstand mit sozialen Vorhaben in Verbindung gebracht wird. Geradezu formvollendet exemplarisch hierfür steht Ihre Biografie, Herr Krumbach. Unabhängig vom Alter aufeinander zuzugehen und füreinander da zu sein – das ist eine Tugend, deren ohnehin schon an sich unschätzbarer Wert angesichts unserer demografischen Entwicklung noch weiter steigt. Mehr als jeder Fünfte in Deutschland ist inzwischen über 65 Jahre alt. Wir gehören zu den Ländern mit dem weltweit höchsten Durchschnittsalter und – das kommt erfreulicherweise hinzu – einer relativ hohen Lebenserwartung. Das Durchschnittsalter in Deutschland beträgt, glaube ich, ungefähr 45 Jahre. Ich war kürzlich in Westafrika – in Mali, Burkina Faso und Niger. Dort ist das Durchschnittsalter der Bevölkerung 15 Jahre. Das sind schon erhebliche Unterschiede. Jede Gesellschaft hat ihre eigenen Probleme. Hier in diesem Raum gab es einmal eine Preisverleihung für Hörfunkbeiträge. In einem der Beiträge ging es um einen äthiopischen Asylbewerber, der erzählte, dass er seine Mutter in Äthiopien angerufen habe. Sie habe ihn gefragt: Sag mal, ist es bei euch nicht fürchterlich kalt? Er hat gesagt: Damit komme ich schon klar. Aber, Mutter, eines kann ich dir sagen: Wenn du dich hier auf eine Bank setzen würdest, dann würdest du hier überhaupt nicht auffallen, weil du alt bist. – So unterschiedlich sind die Blickwinkel. Bei uns ist also jeder Fünfte über 65 Jahre alt. Wir können und dürfen auch nicht ausblenden – das tut das Projekt auch nicht –, dass Alter auch ein Lebensabschnitt mit Gebrechlichkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit ist. Das ist nicht der einzige, aber eben auch ein Ausschnitt der Realität. Auch das kennenzulernen und damit umgehen zu lernen, ist für Kinder natürlich eine ganz wichtige Erfahrung. Für ältere Menschen ist es eine wichtige Erfahrung, dass sie mit ihrer Lebenserfahrung etwas zur Freude der Kinder beitragen können. Ich habe übrigens neulich ein Pflegeheim besucht. Dort haben die Pflegekräfte zu mir gesagt: Wissen Sie, wir reden viel über die Situation der Pflege. Aber das, was für mich den Wert der Arbeit ausmacht und wofür ich eigentlich mehr Zeit haben möchte, ist, dass ich so viel von Erfahrungen älterer Menschen erfahre, von deren Leben und aus der Geschichte, was mir sonst gar nicht zugänglich wäre. – Das darf man auch nicht vergessen. Mit Älteren in der Familie stellt sich den allermeisten früher oder später die Frage, wie die Betreuung der Älteren, etwa der Eltern oder Großeltern, aussehen soll. Das ist oft eine sehr, sehr schwierige Entscheidung. Viele übernehmen in der Familie die Aufgabe, Angehörige zu Hause zu pflegen. Das verdient allergrößten Respekt, da viele Herausforderungen zu bewältigen sind und zum Beispiel Beruf und Pflege miteinander zu vereinbaren sind. Die Unterstützung der Familie durch Fachkräfte der häuslichen Pflege ist dabei von großer Bedeutung. Aber auch die Entscheidung, die Pflege älterer Menschen in die Hände von Pflegerinnen und Pfleger in Heimen zu geben, verdient genauso Respekt. Wir haben ja verschiedene Formen der Pflege. In einer alternden Gesellschaft wird die Pflege insgesamt – ob zu Hause oder im Heim – immer wichtiger. Und deshalb brauchen wir gute und verlässliche Pflege. Das ist etwas, mit dem wir uns politisch natürlich sehr viel beschäftigen und gerade auch in den letzten Jahren und Monaten viel beschäftigt haben. Wir haben die Pflegestufen geändert. Das hat sehr lange gedauert. Ich selbst wurde bezichtigt, dass ich das zu lange hinausgezögert hätte. Aber mir war wichtig, dass wir sicherstellen, dass Menschen mit einer neuen Pflegestufe nicht schlechter als vorher gestellt werden. Es gibt in unserem Pflegesystem inzwischen auch die Erfassung derer, die demenzkrank sind. Und das ist ganz, ganz wichtig. Aber das Allerwichtigste für eine gute Pflege sind die Menschen, die pflegen. Damit Pflegekräfte ihrer Aufgabe gerecht werden können, brauchen sie eben selbst gute Bedingungen. Das ist auch eine politische Aufgabe. Wie machen wir den Pflegeberuf attraktiv? Er muss zum einen höhere Wertschätzung erfahren. Aber mit Wertschätzung allein ist es nicht getan – obwohl Ihr Projekt auch mit Wertschätzung zu tun hat, da ja auch jüngere Menschen, Kinder, sich dafür interessieren, was in einem Pflegeheim passiert. Es gibt aber auch Tendenzen, Bereiche unserer Gesellschaft in kleine Gruppen einzuteilen und anschließend zwischen den verschiedenen Gruppen keinen Kontakt mehr zu haben. Zusammenhalt ist genau das Gegenteil davon. Und deshalb ist Wertschätzung auch für Pflegekräfte eine wunderbare Erfahrung. Deshalb ist auch das neue Gesetz – die neue rechtliche Grundlage, die wir für das Pflegepersonal haben –, das seit Januar in Kraft ist, ein wichtiger Baustein. Pflegekräfte sollen im Alltag spürbar entlastet werden – durch bessere Arbeitsbedingungen, durch Geld für Digitalisierung, sodass der bürokratische Aufwand abnimmt, und auch durch Personalaufstockung. Wir wollen 13.000 neue Stellen schaffen. Viele sagen: Na ja, das ist ja nur ein Tropfen auf den heißen Stein und zu wenig ehrgeizig. Aber das ist ein erster Schritt. Und diese Stellen müssen erst einmal besetzt werden. Dafür müssen wir geeignete Männer und Frauen finden. Und jeder von Ihnen, der in einem Pflegeheim arbeitet, weiß auch, wie schwierig es ist, überhaupt Personal zu finden. Deshalb muss das Berufsbild aufgewertet werden. Wir arbeiten daran mit Ländern, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden. Wir wollen, dass sich junge Menschen gerne für diesen Beruf entscheiden können, dass sie gute Perspektiven haben, dass es Verlässlichkeit gibt, dass die Arbeitsbedingungen – insbesondere die zeitliche Verfügbarkeit – so geregelt werden, dass man sich darauf verlassen kann, dass man planen kann. Das ist ja für viele ein Riesenthema. Außerdem haben wir die Ausbildung modernisiert. Ab 1. Januar 2020 wird das Schulgeld in der Altenpflege abgeschafft und durch eine Ausbildungsvergütung ersetzt. Man wundert sich sowieso, muss ich ganz ehrlich sagen: Ich bin ja erst 1990 aktiv in die Bundesrepublik eingetreten; ich hatte gedacht, das sei schon vor der Deutschen Einheit geregelt gewesen, aber es bedurfte fast noch 30 Jahre, um gesetzlich zu regeln, dass eine Ausbildungsvergütung eingeführt wird und kein Schulgeld mehr gezahlt werden muss. Wir werden eine ordentliche Ausbildungsvergütung haben. Wir haben zudem die Berufsausbildung für die Kranken-, Alten- und Kinderpflege vereinheitlicht. Das war auch eine sehr interessante Diskussion, weil viele Ältere besorgt waren und gefragt haben: Ist das eigentlich in Ordnung, dass ihr uns jetzt sozusagen mit der Kinder- oder der Krankenpflege gleichsetzen wollt? Wir sind doch etwas anderes. Aber wir haben, wie ich glaube, eine gute Lösung gefunden, mit der zum Schluss zwar weiterhin Spezialisierungen möglich sind, aber die Grundausbildung, der wesentliche Teil der Ausbildung für Pflegeberufe, gleich ist, was dazu führt, dass Pflegekräfte später auch leichter in andere Bereiche umsteigen können. Ich glaube, das ist ganz wichtig. Die Bundesregierung arbeitet außerdem daran, die Bezahlung im Beruf zu verbessern. Dabei geht es auch um die Frage, wie Tarifverträge in der Altenpflege flächendeckend angewendet werden können. Es gibt heute noch unglaublich unterschiedliche Bezahlungen. Von der Verlässlichkeit, was die Arbeitszeiten und die freien Tage angeht, habe ich schon gesprochen. Wir müssen natürlich auch den berechtigten Anliegen aller, also von Jüngeren und Älteren, gerecht werden und immer auch auf eine Balance zwischen Bezahlbarkeit und Beitragshöhe achten. Das alles, können Sie sich vorstellen, ist Gegenstand permanenter Diskussionen. Meine Damen und Herren, Menschen gleich welchen Alters brauchen Teilhabe am sozialen Leben. Unsere Gesellschaft ist nur reich, wenn alle Menschen in unserer Gesellschaft am sozialen Leben teilhaben können. Sonst verarmen wir alle miteinander. Menschen brauchen Begegnung mit anderen Menschen. Sie brauchen die Möglichkeit, Neues zu lernen, sich zu bilden und sich in ein gutes Zusammenleben einzubringen. Und sie brauchen das Gefühl, wirklich gebraucht zu werden. Es geht also auch ein Stück weit um Seelenpflege, um Sie, Herrn Krumbach, zu zitieren – Seelenpflege, die zum Beispiel auch in Mehrgenerationenhäusern stattfindet, die von der Bundesregierung gefördert werden. Es gibt auch viele Initiativen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen – zum Beispiel die Servicestelle „Digitalisierung und Bildung für ältere Menschen“, die „Lokalen Allianzen für Menschen mit Demenz“ und – davon haben Sie gesprochen – die Bürgerstiftungen. Seniorenpolitik ist Gesellschaftspolitik. Hier Erfolge zu erzielen, kann nur gemeinschaftlich gelingen. Wir in der Politik sind immer auch auf Partner in Kommunen, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Sozialunternehmen angewiesen. Es ist völlig klar, dass hierbei auch das ehrenamtliche Engagement eine große Rolle spielt. Wir können stolz darauf sein, dass das Ehrenamt ein Markenzeichen unseres Landes ist und dass zusammen mit der Arbeit der Hauptamtlichen daraus eine starke Zivilgesellschaft entsteht. Ehrenamt als Ersatz von Hauptamt wäre falsch. Ehrenamt als Ergänzung ist notwendig für eine vielfältige Gesellschaft. Sie alle hier bringen sich in dieser oder jener Form in eine vielfältige, lebenswerte Gesellschaft ein. Ob in Stiftungen, Sozialunternehmen, Seniorenheimen oder Kitas – Sie und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten jeden Tag Großartiges für unsere Gesellschaft. Deshalb ist der heutige Tag – Sie werden es sicher akzeptieren, Herr Krumbach – auch der richtige Tag, um all denen danke zu sagen, die das tun. Großartig ist auch, dass in zehn Jahren Generationsbrücke aus einer Initiative eine Institution wurde. Es macht mich stolz, Schirmfrau dieser Institution zu sein. Es bleibt mir nur, Ihnen mindestens weitere zehn gute Jahre zu wünschen, aber eigentlich noch mehr. Sie haben das Fundament gebaut, das Ganze ist mit Leben erfüllt. Machen Sie weiter, es ist ein wunderbares Projekt. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Aushändigung des Verdienstkreuzes 1. Klasse an Elisabeth Niggemann
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-aushaendigung-des-verdienstkreuzes-1-klasse-an-elisabeth-niggemann-1631050
Mon, 20 May 2019 18:30:00 +0200
Im Wortlaut
Frankfurt am Main
Kulturstaatsministerin
Kultur
Der französische Schriftsteller Honoré de Balzac, der heute auf den Tag genau vor 220 Jahren geboren wurde, sagte einmal mit Blick auf seine vielfältigen Erlebnisse und den reichen Figurenkosmos, den er mit seinen Romanen erschuf: „Ich werde eine ganze Welt in meinem Kopf getragen haben“. Sie, liebe Frau Niggemann, hüten das „kulturelle Gedächtnis“ der Nation − zwar nicht in Ihrem Kopf, aber in Ihrer Verantwortung. Es umfasst die gewaltige Welt der gedruckten Dokumente und Bücher, die Welt der Tonträger und der Netzpublikationen. Es lagert (größtenteils) hier unter uns auf drei Etagen und jede Etage ist – das habe ich mir sagen lassen – so groß wie ein Fußballfeld. Mit seinen 36 Millionen Einheiten, meine Damen und Herren, beeindruckt es schon alleine durch seine schiere Größe. Das Gedächtnis der Deutschen braucht jedoch nicht nur Platz; es muss bewahrt, archiviert und aktualisiert werden; es braucht Pflege, Verständnis und Zuwendung. Diesen Aufgaben haben Sie sich mit Verantwortungsbewusstsein, Innovationsgeist und fachlicher Expertise über 20 Jahre lang gewidmet − eine Arbeit von unschätzbarem Wert, die nicht nur Wissenschaftlern, Studenten, Verlegern, Autoren und allen, die die Medien der Deutschen Nationalbibliothek nutzen, zu Gute kommt; eine Arbeit, die vor allem auch den öffentlichen Diskurs befruchtet und die darüber hinaus die kulturelle Identität unserer Gemeinschaft stärkt. Denn so wie jedes Individuum erst durch Erfahrungen und Erinnerung eine eigene Identität entwickelt, so ist auch jede Nation darauf angewiesen, dass sie Zugang zu ihrem gespeicherten Gedächtnis und Wissen erhält. Aus der Dokumentation unserer kulturellen Herkunft lernen wir für die Zukunft. Balzac wollte sich die Welt erschließen − mit all ihren Schattierungen, mit ihren Abgründen und Schönheiten. Und er wollte über diese Welt erzählen, sie weitergeben − an Leser, die sich über Literatur, über Sprache Erfahrungen anverwandeln. Seit Balzacs Zeiten hat sich die Welt radikal verändert. Heute sind es nicht mehr nur große Romanciers und Verleger, die unsere Meinung beeinflussen, die unser Weltbild prägen. Es sind nicht mehr nur Publizisten und Journalisten, die über Relevanz, Zusammensetzung und Einordnung von Informationen entscheiden. Heute veröffentlichen Blogger, Netzaktivisten, Unternehmen, Konzerne und private Nutzer ihre Botschaften in rasanter Taktung im Netz. Das stellt Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, ja die gesamte Gesellschaft vor enorme Herausforderungen. Von Führungspersönlichkeiten wie Ihnen, liebe Frau Niggemann, verlangt es, die Weichen neu zu stellen, geht es doch um nichts Geringeres als um die Frage, welche Daten des gewaltigen Informationsflusses für die Gesellschaft relevant sind, welche zu unserem kulturellen Gedächtnis beitragen, wie sie auch künftig archiviert, rezipiert und genutzt werden können. Mit Mut, Weitblick und Entschlossenheit haben Sie sich diesen Aufgaben angenommen. Sie haben frühzeitig Möglichkeiten und Chancen der Digitalisierung erkannt und sich an internationalen Debatten beteiligt, die zu einer Neudefinition des Bibliothekswesens beitrugen. Als kluge Mittlerin haben Sie stets die Interessen von Bibliotheken und Verlegern im Blick, loten internationale Kooperationen aus und setzen sich im Spannungsfeld von Open Access und Urheberrecht sowohl für die Belange der Kreativen und der Buchbranche als auch für die der Nutzer ein. Heute ist das kulturelle Erbe mehr Bürgerinnen und Bürgern zugänglich als je zuvor. Das verdanken wir auch Ihnen, liebe Frau Niggemann. Die Demokratisierung der Kultur durch das Internet ist ein Meilenstein der nationalen und internationalen Kulturpolitik. Sie haben sie mit Ihrer Expertise in vielen Ämtern und ehrenamtlichen Tätigkeiten mitgeprägt − beispielsweise in Ihrer Funktion als Mitglied der Reflexionsgruppe „Digitalisierung 2010/2011“, in der Sie die Europäische Kommission beraten haben, wie die Online-Präsenz des kulturellen Erbes gefördert und der digitale Wandel im Kultursektor gestaltet werden kann. Kultur findet sich überall im Netz, aber es ist ein gigantisches Projekt, ein orts- und zeitunabhängiges Fenster in die Welt der Musik, der Geografie, Geschichte, Kunst, Architektur, der Mode und des Films zu öffnen und über eine zentrale Plattform einen systematischen Zugang zu unserer reichen europäischen Kulturlandschaft zu bieten. Mit der „Europeana“ ist dies gelungen. Sie haben sie als Vorsitzende der European Libary Foundation mitaufgebaut. Als Projektsteuerin der Deutschen Digitalen Bibliothek wirkt Ihre DNB maßgeblich daran mit, dass wir bald auf ein riesiges Wissen- und Kulturarchiv aller deutschen Bibliotheken, Archive, Museen, Denkmalschutzeinrichtungen und Mediatheken zugreifen können. Ich bin schon jetzt beindruckt, wie umfangreich die Deutsche Digitale Bibliothek mittlerweile ist und freue mich sehr, dass sie weiter wächst. Liebe Frau Niggemann, wenn ich sehe, wo Sie sich neben diesen herausfordernden Tätigkeiten sonst noch überall engagieren oder engagiert haben − dann frage ich mich schon, ob Sie noch Zeit für die amerikanischen und englischen Krimis, James Joyce und all die anderen Bücher finden, die sie (wie ich einem Zeitungsartikel entnommen habe) so gerne lesen. Jedenfalls dürfen wir sicher sein, dass das Kulturgut Buch nicht aus Ihrer Bibliothek verschwindet, denn bei allem Engagement für die Digitalisierung heben Sie seinen besonderen Wert ja immer wieder hervor. Das freut mich nicht nur als Kulturstaatsministerin , sondern auch als leidenschaftliche Leserin sehr, denn was wäre eine Bibliothek ohne das gute alte, manchmal vergilbte und verstaubte Buch? Es kann angeschaut und angefasst werden, an ihm kann gerochen, in ihm kann geblättert, rumgeschiert und gelesen werden − zumindest wenn man in ihren Lesesaal geht. Auch das ist übrigens eine beinahe antiquiert anmutende, analoge Einrichtung, die hoffentlich nie verschwinden wird, weil sie ein Ort des Austauschs und der Begegnung ist − oder wie Sie einmal in einem Interview sagten, ein Ort, an dem auch weiterhin geflirtet werden darf. Liebe Frau Niggemann, Sie verbinden beide Welten − die analoge und die digitale − und Sie bringen dabei besondere menschliche Fähigkeiten und Führungsqualitäten mit: als kluge und empathische Zuhörerin und wortgewandte, pragmatische Gesprächspartnerin. Für Ihre beeindruckenden Leistungen und Ihr Engagement hat Ihnen Bundespräsident Frank Walter Steinmeier das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse am 31. Januar 2019 verliehen. Er ist damit meinem Vorschlag gefolgt, und ich freue mich sehr, dass ich Ihnen heute die Medaille überreichen kann. Die Damenversion ist leider ein bisschen kleiner geraten als die für Männer – eine Tradition, die dringend abgeschafft gehört. Schließlich verdienen Frauen, die sich in einer männlich dominierten Arbeitswelt als Führungskraft ein solches Renommee erarbeiten, die wie Sie Zukunft und Gesellschaft so entscheidend mitgestalten, großen Respekt und Anerkennung. Meine Gratulation jedenfalls fällt mindestens genauso groß aus wie für einen Mann: Herzlichen Glückwunsch zu dieser ehrenvollen Auszeichnung!
Die Kulturstaatsministerin würdigte die Generaldirektorin der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) als Hüterin des „kulturellen Gedächtnisses“ der Nation. „Aus der Dokumentation unserer kulturellen Herkunft lernen wir für die Zukunft“, erklärte Grütters in ihrer Rede zur Bedeutung der DNB–Deutsche Nationalbibliothek.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Besuch der Panzerlehrbrigade 9 am 20. Mai 2019 in Munster
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-besuch-der-panzerlehrbrigade-9-am-20-mai-2019-in-munster-1613202
Mon, 20 May 2019 11:53:00 +0200
Munster
Verteidigung
Herr Zorn, Herr Vollmer, Herr Spannuth, liebe Soldatinnen und Soldaten, ich danke erst einmal dafür, dass Sie mir in so komprimierter Form Ihre Fähigkeiten vorgeführt haben – die Fähigkeiten, die in der VJTF gebraucht werden. Ich sage ganz offen: Es ist sehr beindruckend, wenn man das technische Zusammenspiel sieht. Wie Herr Spannuth schon gesagt hat, muss das technische Werk ja bedient werden, es muss kommandiert werden, es muss geordnet werden. Und Sie haben gezeigt, wie das ineinandergreift. Ich war 2012 schon einmal in Munster. Eigentlich ist das noch nicht allzu lange her, aber seitdem hat sich die politische Aufgabe vollkommen verändert. Ich bin ja heute nicht alleine hergekommen, sondern es sind auch Kollegen aus dem Deutschen Bundestag da, die ich ganz herzlich begrüße, mein Kollege Otte und mein Kollege Klingbeil. Wir haben politische Wegmarken gesetzt und Entscheidungen treffen müssen, die wir uns vor den Ereignissen in der Ukraine nicht so vorgestellt hatten. Mit dem, was wir dort erlebt haben, ist eine neue Situation entstanden, die die Verteidigung des Bündnisgebiets gerade im europäischen Bereich wieder zu einer Priorität hat werden lassen. Das heißt, neben den Fragen der Verteidigung unserer Sicherheit im Ausland, außerhalb des Bündnisgebiets – zum Beispiel in Afghanistan oder auch Mali –, ist inzwischen die Verteidigung des Bündnisgebiets wieder eine herausragende Aufgabe geworden – mit all den Folgen, die das hat, was die Schnelligkeit der Verlegung anbelangt, was die Interoperabilität der verschiedenen Streitkräfte anbelangt, was die technische Ausstattung anbelangt. Die Bundeswehr ist an verschiedenen Bereichen intensiv beteiligt. Sie nehmen mit Ihren Kolleginnen und Kollegen aus den europäischen Partnerländern, von denen ich ja auch einige begrüßen konnte, diese Aufgabe engagiert wahr. Davon konnte ich mich heute überzeugen. Wir haben natürlich auch das große Übungsmanöver in Norwegen verfolgt. Ich freue mich, dass Sie dort auch die notwendigen Zertifizierungen bekommen haben. Es ist so, dass Sie, die Sie jetzt die verschiedenen Stufen der VJTF durchlaufen, in diesem Jahr besonders gefordert sind. Für uns in der Politik wird damit noch einmal klar, dass es schön ist, wenn wir unsere Bündnisverpflichtungen mit dieser Brigade erfüllen können, aber dass andere natürlich auch die Erwartung haben, eine ähnliche Ausrüstung zu haben. Daraus ergibt sich auch der weitere Ausbau der Fähigkeiten der Bundeswehr. Hinzu kommt die permanente technische Erneuerung. Ich habe mir eben auch sagen lassen, wie wichtig die Fähigkeit ist, zwischen den verschiedenen Streitkräften und miteinander kommunizieren zu können. Auch das ist natürlich eine große Herausforderung. Insofern ist es verständlich, warum wir uns dafür einsetzen, dass die Ausstattung der Bundeswehr verbessert wird. Es hat in den letzten Jahren einen erheblichen Aufwuchs in der finanziellen Ausstattung der Bundeswehr gegeben. Auch angesichts begrenzter Spielräume werden wir das in Zukunft trotzdem fortsetzen müssen. Denn das sind ja auch die Erwartungen, die unsere Partner an uns haben, nämlich dass wir unsere Bereitschaft und unsere Fähigkeiten immer wieder unter Beweis stellen. Wir bemühen uns parallel zu Ihren Verteidigungsfähigkeiten und Anstrengungen auch immer darum, die Dinge politisch voranzubringen und zu lösen und die Bedrohungssituationen abzuschwächen. Aber gerade auch die Fähigkeiten, die wir in die Waagschale werfen können, sind auch ein Beitrag dazu, dass andere wissen, dass es uns ernst damit ist, unser Gebiet zu verteidigen. Und damit eröffnen sich auch Möglichkeiten von Verhandlungen. Das heißt also, es reicht nicht allein, von Frieden zu reden, sondern wir müssen auch unter Beweis stellen, dass wir bereit sind, diesen Frieden zu verteidigen. Das ist ein Zusammenhang, der oft übersehen wird. Ich war heute sehr davon beeindruckt, dass auch alles getan wird, um Leben von Soldatinnen und Soldaten zu retten und zu sichern. Auch hier sind die Reaktionszeiten sehr, sehr beeindruckend, wie ich sagen muss. Das ist ja auch genau der Ansatz, den wir haben: Wir wollen uns verteidigen, wir zeigen unsere Stärke, wir suchen politische Lösungen und wir achten den Einsatz der Soldatinnen und Soldaten. Das gilt auch für medizinische Versorgungsleistungen. Heute ist der Tag, an dem der neue ukrainische Präsident vereidigt wurde. Er hat es zu seiner zentralen Aufgabe gemacht, zu versuchen, den Krieg auf seinem Staatsgebiet zu beenden. Sie wissen, dass wir über das Minsk-Abkommen mit unseren französischen Partnern politisch versuchen, dass die Sicherung der territorialen Integrität, die unser Leitprinzip ist, auch für die Ukraine wieder Realität werden kann. Umso wichtiger ist unser Einsatz in unserem eigenen Bündnisgebiet, um deutlich zu machen, dass wir hierzu auch technisch in der Lage sind. Liebe Soldatinnen und Soldaten, ich sage danke für das, was ich sehen konnte; danke für die Vorbereitung. Bevor ich komme, ist ja meistens schon ein bisschen was los und man muss üben. Aber soweit ich es beurteilen konnte, hat das alles wunderbar geklappt. Danke für Ihren Einsatz. Grüßen Sie bitte auch alle anderen, die heute nicht beteiligt waren, und Ihre Familien, die ja auch vieles auf sich nehmen, damit Sie die Sicherheit unseres Landes verteidigen können. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Konferenz „Burning Issues Meets Theatertreffen“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-konferenz-burning-issues-meets-theatertreffen–1631188
Mon, 27 May 2019 17:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur,Gleichstellung
Nerviges Gehuste als Begleitmusik des Bühnengeschehens: Den Schauspielerinnen und Schauspielern unter Ihnen dürfte das Phänomen bekannt sein, zu dem Ulrich Matthes vom Deutschen Theater der FAZ vor einiger Zeit ein höchst amüsant zu lesendes Interview gegeben hat. Es war mit der Frage überschrieben „Wann möchten Sie zur Kalaschnikow greifen, Herr Matthes?“, und es ging darin um unterschiedliche Arten von Husten und Hüsteln im Publikum – eine „Burning Issue“ zweifellos für alle, die auf der Bühne Bedeutung in jedes Wort, in jeden Seufzer, ja in jede Sprechpause legen! Aber warum erzähle ich Ihnen das im Rahmen einer gleichstellungspolitischen Fragen gewidmeten Konferenz? – Ich erzähle das, weil Ulrich Matthes in diesem Zusammenhang auf eine männliche Art des „Ego-Husters“ – in Abgrenzung vom erkältungsbedingten Not-Husten – zu sprechen kommt. Er beschreibt das so, ich zitiere: „Ein Teil des beglückenden Erlebnisses, das man im Theater haben kann, ist ja die gemeinsame Konzentration auf eine Sache. Diese Andacht kann bei unruhigeren Gemütern dazu führen, dass sie sich selber und der Welt beweisen müssen, dass sie noch auf der Welt sind. [E]ine Gruppenveranstaltung, in der eine gesteigerte Aufmerksamkeit für andere Menschen gefragt ist, reizt manche Männer dazu, zu sagen: Übrigens, ihr könnt euch seinodernichtseinmäßig abstrampeln, mich gibt’s auch noch.“ Wie er denn diese „Ich-bin-auch-noch-da-Huster“ akustisch von anderem Husten unterscheiden könne, fragt daraufhin ungläubig die Redakteurin, und sie schreibt dazu: „Matthes hustet nun auf eine Art nachdrücklich, zielstrebig und unverschleimt, dass sofort klar ist: Hier will einer husten.“ Ja, meine Damen und Herren, offenbar findet männliches Dominanzgebaren, wenn es keine Bühne und kein Mikrofon bekommt, ganz subtil als banale Ruhestörung nach dem Motto „Ich huste, also bin ich“ seinen Weg. Wenn hier also während der vergangenen beiden Konferenztage auffallend viel in tiefer Stimmlage gehüstelt wurde, wissen Sie, warum. Starke Frauen in der Hauptrolle, Kritik an Sexismus und Diskriminierung und Beifall für lautstarke Forderungen nach fairen Chancen und gerechter Bezahlung: All das kann „bei unruhigeren Gemütern dazu führen, dass sie sich selber und der Welt beweisen müssen, dass sie noch auf der Welt sind“. Doch mag es auch nicht jedem passen, dass Frauen sich und ihren berechtigten Anliegen Raum und Aufmerksamkeit verschaffen: Es ist wichtig, und es ist überfällig! Deshalb finde ich es großartig, dass Theaterfrauen – dass die Initiatorinnen Nicola Bramkamp und Lisa Jopt mit einer wachsende Zahl von Mitstreiterinnen- der männlichen Dominanz im Theaterbetrieb mit ihrer „Konferenz zur Gender(un)gleichheit“ den Kampf ansagen. Vielen Dank Ihnen allen für Ihr Engagement – und vielen Dank auch Ihnen, liebe Yvonne Büdenhölzer, die Sie den „Burning Issues“ beim renommierten Theatertreffen eine Bühne bieten. Sie holen die „Burning Issues“ damit dorthin, wo sie hingehören: ins überregionale, öffentliche und mediale Rampenlicht. Ehrensache, dass ich dafür – als „Brandbeschleuniger“ im besten Sinne – Fördermittel aus meinem Kulturetat zur Verfügung stelle, zumal die Initialzündung, die Impulsgeberin ja offenbar, wie ich gehört habe, die von meinem Haus geförderte, 2016 veröffentlichte Studie „Frauen in Kultur und Medien“ war. Es freut mich sehr, dass nicht zuletzt dadurch im deutsch-sprachigen Theater gleichstellungspolitisch viel in Bewegung gekommen ist. Der ernüchternde Befund zur Rolle der Frau im Kultur- und speziell im Theaterbetrieb ist mit dieser Studie schwarz auf weiß dokumentiert und mit harten Zahlen und Fakten untermauert, die während der Konferenz sicher hinreichend zur Sprache kamen und die ich hier deshalb nicht noch einmal im Einzelnen vortragen muss. Sie lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Die Wertschätzung für künstlerische Leistungen – ob monetär oder in der Währung öffentlicher Aufmerksamkeit, ob bei der Spielplangestaltung oder in den Inszenierungen, ob in der Verteilung von Führungs- und insbesondere Regieverantwortung oder bei der Vergabe von Preisen und Auszeichnungen… – die Wertschätzung für künstlerische Leistungen von Frauen und Männern ist extrem ungleich verteilt. Dieser Befund ist gleichstellungspolitisch beschämend gerade für eine Branche, die sich als gesellschaftliche Avantgarde versteht. Kulturpolitisch ist er ein Armutszeugnis. Denn mit dem Mangel an Gleichberechtigung leidet auch die künstlerische Vielfalt, weil künstlerische Perspektiven und Positionen unsichtbar und künstlerische Potentiale unerschlossen bleiben. Frauen verdienen mehr Wertschätzung, keine Frage! Doch nicht minder wichtig ist der kulturpolitische Aspekt: Ein Land, das sich als Kulturnation versteht, verdient größtmögliche künstlerische und kulturelle Vielfalt! Deshalb habe ich 2017 den Runden Tisch „Frauen in Kultur und Medien“ ins Leben gerufen: Gemeinsam mit hochrangigen Vertreterinnen und Vertretern der unterschiedlichen Branchen haben wir hier konkrete Maßnahmen und Selbstverpflichtungen für mehr Chancengleichheit entwickelt. Zu den Vorhaben, die mein Haus auf der Basis der Ergebnisse des Runden Tisches zusammen mit dem Deutschen Kulturrat umgesetzt hat, gehört beispielsweise ein Mentoring-Programm für Frauen, die Führungsverantwortung im Kultur- und Medienbereich übernehmen wollen. Für den gerade beginnenden zweiten Durchgang gab es wieder fast 250 Bewerberinnen auf rund 20 Plätze – eine klare Widerlegung des immer wieder zu vernehmenden Vorurteils, Frauen hätten wenig Interesse an Führungsaufgaben! Mehr Parität auf den Führungsebenen dürfte übrigens auch die beste Prävention gegen den schockierenden Machtmissbrauch im Filmbereich und in anderen Kulturbranchen sein, der im Zuge der #MeToo-Debatte vielfach ans Licht kam. Damit Betroffene wissen, an wen sie sich vertrauensvoll wenden können, habe ich von Anfang an eine Initiative aus der Kulturbranche zur Einrichtung einer Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt unterstützt und sichere nun deren Anschubfinanzierung aus meinem Etat ab. Aber natürlich ist es Aufgabe der Branche selbst, diese neue Stelle ausreichend zu finanzieren. Es freut mich sehr, dass sich daran unter anderem auch der Deutsche Bühnenverein beteiligt. Ein weiteres Beispiel für bundeskulturpolitisch umsetzbare Maßnahmen für mehr Geschlechtergerechtigkeit ist die paritätische Besetzung von Gremien, Jurys und Auswahlkommissionen in meinem Zuständigkeitsbereich, die wir jetzt voll erreicht haben. Damit haben wir in der Filmförderung bereits gute Erfahrungen gemacht: Seit ich im Rahmen der Novellierung des Filmförderungsgesetzes dafür gesorgt habe, dass mehr Frauen an den Förderentscheidungen beteiligt sind, konnten sich auch mehr von Frauen geprägte Projekte durchsetzen. Deshalb bin ich persönlich – (bei aller Wertschätzung Ihres Engagements, liebe Frau Büdenhölzer) – übrigens auch überzeugt, dass es mit einer paritätisch durch Frauen und Männer besetzten Jury, wie es sie beim Theatertreffen schon seit Jahren gibt, einer Frauenquote nicht bedurft hätte. Das Theatertreffen als eine Art Bestenauswahl der deutschsprachigen Bühnen sollte die zehn „bemerkenswertesten Inszenierungen“ eines Jahres allein nach ästhetisch-künstlerischen Kriterien zusammenstellen. Die Vermischung von Qualitäts- mit Strukturkriterien, mit Vorgaben also für das Auswahlergebnis – konkret: die Besten sollen gewinnen, aber nur, wenn mindestens die Hälfte davon Frauen sind – halte ich für kulturpolitisch widersprüchlich und gleichstellungspolitisch kontraproduktiv. Denn diese Einschränkung der Entscheidungsfreiheit der Jury kann und wird dazu führen, dass erstens eine Inszenierung nur deshalb NICHT eingeladen wird, weil es sich um die Regiearbeit eines Mannes handelt – und dass zweitens jede Regisseurin, die mit ihrer Inszenierung eingeladen wird, im Verdacht steht, ihre Einladung mehr ihrem Geschlecht als ihrer Leistung zu verdanken, während Männer über derlei Zweifel völlig erhaben sind. Wie auch immer: Über Quoten lässt sich trefflich streiten, selbst bei absoluter Einigkeit, was die Notwendigkeit von Frauenförderung betrifft. Unstrittig und unbestreitbar aber ist für mich die Autonomie unserer Kultureinrichtungen. Der Respekt vor dieser Autonomie, vor der Freiheit der Kunst ist oberster Grundsatz meiner Kulturpolitik. Zu dieser Klarstellung veranlassen mich Spekulationen einzelner Journalisten, die Quote beim Theatertreffen folge politischen Vorgaben der BKM. Mit Verlaub Was für ein Blödsinn! Solche Kommentare sind die journalistische Variante des „Ego-Husters“: Mit solchen ebenso haltlosen wie überflüssigen Unterstellungen heischt man(n) im Feuilleton geräuschvoll um Aufmerksamkeit. Apropos Husten, meine Damen und Herren: Erfreut stelle ich fest, dass während meiner Rede kaum Gehüstel zu vernehmen war. Vielleicht hat sich keiner mehr getraut. Vielleicht ist es aber auch schlicht und einfach so, dass die „Burning Issues“-Konferenz Menschen – Frauen UND Männer – versammelt, für die männliches Dominanzgebaren im Theater ebenso fehl am Platz ist wie patriarchalische Strukturen. Ich bin sicher, es bleibt auch für die Theaterwelt insgesamt nicht ohne Folgen, wenn diese Themen intensiv diskutiert werden. Ermutigende Fortschritte sind ja auch erkennbar, man denke an die jüngsten Neuigkeiten aus Dortmund, wo auf den erfolgreichen Intendanten Kay Voges zur Spielzeit 2020/2021 ein starkes Frauenduo (Julia Wissert und Sabine Reich) folgen wird, oder an die Diskussionen, die Schauspieldirektorin Anna Bergmann in Karlsruhe mit ihrer Entscheidung entfacht hat, in ihrer ersten Spielzeit ausschließlich Frauen Regie führen zu lassen und mit der Umkehr bestehender Ungerechtigkeiten auf selbige aufmerksam zu machen. Jedenfalls wünsche ich der „Burning Issues“-Konferenz, dass alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer das Feuer, das hier entfacht wurde, mit in ihre eigenen Häuser, in die Theater, auf die Bühnen nehmen – als Initialzündung für Veränderungen deutschlandweit! Ob damit auch die „Ego-Huster“ im Publikum verstummen, sei dahingestellt. Man könnte sie auf die Seite www.hustenkultur.de – ja, so etwas gibt es – verweisen, die unter der Rubrik „Manierliches“ wertvolle Ratschläge für Zeitpunkt und Lautstärke des Hustens im Zuschauerraum bereithält, dazu die Empfehlung: „Räuspern ist der kleine Bruder des Hustens“. In diesem Sinne: Ohren und Augen auf für starke Frauen! Viel Erfolg der Vielfalt! Viel Beifall und Anerkennung für künstlerische Leistungen, ganz unabhängig vom Geschlecht!
Mit Blick auf die angekündigte Einführung einer Frauenquote bei der Auswahl der Stücke für das Berliner Theatertreffen hat sich Kulturstaatsministerin Grütters gegen eine Vermischung von Qualitäts- mit Strukturkriterien ausgesprochen. Kulturpolitisch sei dies widersprüchlich und gleichstellungspolitisch kontraproduktiv, erklärte sie in ihrer Rede.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Jahresversammlung des Verbandes deutscher Unternehmerinnen am 16. Mai 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-jahresversammlung-des-verbandes-deutscher-unternehmerinnen-am-16-mai-2019-in-berlin-1612194
Thu, 16 May 2019 14:45:00 +0200
Berlin
Alle Themen
Sehr geehrte Frau Präsidentin Arbabian-Vogel, meine Damen und auch vereinzelten Herren, ich möchte Sie ganz herzlich auch von meiner Seite grüßen und freue mich, wieder einmal zu Gast zu sein – und das zu einem halbrunden Jubiläum. Denn vor 65 Jahren, 1954, wurde der VdU gegründet. Sie haben die Parallelität zu meinem Lebensalter aufgezeigt. Es war vielleicht kein ganz schlechter Jahrgang. Also herzlichen Glückwunsch und alles Gute. Es ist ja immer wieder zu hören, dass etwas erfunden werden müsste, wenn es das noch nicht gäbe. Und das trifft auf jeden Fall auf Ihren Verband zu. Seit 65 Jahren streitet und wirbt der VdU für mehr weibliches Unternehmertum, mehr Frauen in Führungspositionen und bessere Bedingungen für Frauen in der Wirtschaft. Hinter diesem Einsatz stehen ein Netzwerk und ein breites Bündnis von mehr als 1.800 Unternehmen mit mehr als 500.000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 85 Milliarden Euro. Schon diese Zahlen zeigen, welchen Beitrag Sie für die wirtschaftliche Stärke und damit auch für den Wohlstand unseres Landes leisten. Sie zeigen, wie erfolgreich Unternehmerinnen sind. Spätestens seit vor 100 Jahren die ersten Frauen als Abgeordnete ins Nationalparlament gewählt wurden, dürfte auch dem Letzten klargeworden sein, dass ohne Frauen kein Staat zu machen ist. Ein Staat hat viele Facetten; und dazu gehört eben auch Unternehmertum. Auch Frauen als Unternehmerinnen gehören dazu. Sie sind der Beweis, dass ohne Frauen eben auch keine Wirtschaft zu machen ist, jedenfalls keine dauerhaft erfolgreiche. Ich bin zutiefst überzeugt, dass, wenn wir später auch den 75. Geburtstag und den 85. Geburtstag feiern werden, die Bedeutung von Frauen in der Wirtschaft bis dahin weiter zugenommen haben wird. Wir haben heute im Deutschen Bundestag an 70 Jahre Grundgesetz gedacht. Wenn man sich überlegt, wie lange Frauen dafür kämpfen mussten, ohne Einwilligung des Mannes überhaupt erwerbstätig zu werden, dann zeigt sich, dass wir auch selbst in der Bundesrepublik Deutschland – vor allen Dingen auch in der alten Bundesrepublik – doch immer wieder mutiger Frauen bedurften, die manche Dinge vorangetrieben haben. Manchmal mussten auch die Gerichte entscheiden, weil die Politik nicht dazu in der Lage war. Die Zahl der erwerbstätigen Frauen insgesamt ist, vor allem in den letzten Jahren, deutlich gestiegen. Vor allem Sie sind es, die als Unternehmerinnen ganz besondere Akzente in der und für die Wirtschaft setzen. Damit sind Sie wiederum Vorbilder für viele andere. Sie sind gut miteinander vernetzt, auch weit über die Landesgrenzen hinaus. Sie verschaffen sich und Ihren Anliegen weithin Gehör. Ich glaube, man kann deshalb mit Fug und Recht behaupten, dass der VdU die frauenpolitische Stimme in der Wirtschaft ist. Und als solche möchte ich Sie auch beglückwünschen. Ich bin überzeugt: Diese Stimme braucht es, wenn wir über Zukunftsfragen sprechen, bei denen es ja ganz wesentlich auf Kreativität und Innovation ankommt. Das unterstreichen Sie ja auch mit dem Motto Ihrer Jahresversammlung „Kreativität und Innovation – Zukunftswerkstatt für Unternehmerinnen“. Genau das ist das Fundament, auf dem wirtschaftlicher Fortschritt und Wohlstand gedeihen können. Wir leben ja in Zeiten – das spürt man ja allerorten –, in denen neue Gedanken gebraucht werden, in denen Innovation gebraucht wird, vor allen Dingen auch der Perspektivwechsel, den Sie eben angesprochen haben. Ich glaube, dazu braucht man die Frauen. Männer schaden nicht, aber alleine und ohne Frauen geht es auch nicht. Unser Land gehört ja heute noch – ich hoffe, dass das auch so bleibt; aber wir müssen darum kämpfen – zu den führenden Wirtschaftsnationen der Welt, weil wir immer wieder in der Lage sind, Produkte zu entwickeln, die zuvor noch niemand anzubieten hatte. Diese Fähigkeit und auch dieses Selbstverständnis werden in den nächsten Jahren mehr denn je gebraucht werden, denn die Welt schläft nicht. Wir haben erlebt, dass immer wieder Frauen mit Erfindungen ganz wesentlich dazu beigetragen haben. Manchmal haben Frauen selbst mit den einfachsten Mitteln gezeigt, wie man große Markterfolge erzielt. Die erste Tasse Kaffee beim Frühstück erinnert uns schon daran. Melitta Bentz war der Kaffeesatz in ihrer Tasse nicht recht. Also hat sie den ersten Kaffeefilter erfunden – mit einem Topf, den sie mit Hammer und Nagel durchlöcherte, und einem Löschblatt, das sie darauflegte. Sie meldete ihre Erfindung 1908 zum Patent an und ließ sich mit einem Eigenkapital von 73 Pfennigen ins Handelsregister eintragen. So nahm mit ganz einfachen Mitteln eine außergewöhnliche Unternehmensgeschichte ihren Lauf. Unternehmerische Weitsicht bewies etwa auch Marga Faulstich mit der Entwicklung von Brillengläsern und anderen optischen Gläsern. Rund 40 Patente sind mit dem Namen der ersten weiblichen Führungskraft bei Schott-Glas verbunden. Über solche spannenden Lebens- und Berufswege könnte man eine ganze Vorlesungsreihe halten. Und man müsste sie immer wieder erweitern. Denn auch heute tragen viele Unternehmerinnen mit kleinen und großen Erfindungen zu unserem Wohlstand bei. Wenn man hier in diesen Saal kommt, dann sieht man ja schon, dass Frauen auch ganz praktisch veranlagt sind, ihre Produkte gleich anderen Frauen zeigen und damit zur Weiterverbreitung beitragen. Wir wissen und Sie spüren es: Unsere Zeit ist geprägt von einem rasanten technologischen Wandel, der vor allem durch Digitalisierung und mehr und mehr durch Künstliche Intelligenz vorangetrieben wird. Um die Chancen, die damit einhergehen, nutzen zu können, müssen möglichst überall leistungsstarke Breitband- und Mobilfunknetze verfügbar sein. Ihre Präsidentin hat schon den rhetorischen Trick angewandt, zu sagen, worüber sie alles nicht sprechen möchte. Aber ich kann ihr sagen: Wir kommen beim Ausbau gigabitfähiger Netze voran. Aber die Zeit drängt; wir müssen uns sputen. Es reicht nicht mehr aus, jeden Haushalt mit dem Breitbandnetz zu verbinden, sondern es gibt auch die Erwartung von Landwirten, von Forstwirten und von allen, die auf der Landstraße telefonieren wollen, dass man halt nicht nur zu Hause eine vernünftige Anbindung an das Internet hat, sondern überall. Deshalb müssen wir mehr privatwirtschaftlichen Ausbau haben und dafür die richtigen Anreize setzen – und dort, wo der Markt den Netzausbau alleine nicht schafft, eben auch als Staat unterstützend tätig werden. Das ist eine neue Herangehensweise. Stromversorgung, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung und anderes werden vom Staat als sogenannte Daseinsvorsorge organisiert. Wir sind jetzt zum ersten Mal dabei, mit marktwirtschaftlichen Mitteln, wenn auch mit staatlicher Unterstützung, zu versuchen, flächendeckend eine neue Daseinsvorsorge zu schaffen. Da müssen wir natürlich auch in der Politik dazulernen. Heute ist jede Branche auf eine leistungsfähige digitale Infrastruktur angewiesen; und das gilt ganz besonders für die Start-up-Szene. Für Frauen in Start-ups war 2018 ein gutes Jahr, in dem sich vier Prozent mehr Frauen selbständig machten als im Jahr davor. Bei Männern hingegen waren es fünf Prozent weniger. Wir haben es also nicht zuletzt Frauen zu verdanken, dass sich die Gründungstätigkeit hierzulande nach eher verhaltenen Jahren wieder stabilisiert hat. Die Berliner Start-up-Szene zum Beispiel steht besonders gut da. Mit rund 40.000 Gründungen im Jahr ist unsere Hauptstadt auch die Gründermetropole. Hier vernetzt sich die internationale Digital-Community in den Bereichen FinTech und Internet of Things. Hier werden innovative Geschäftsmodelle für global agierende Unternehmen und den Mittelstand entwickelt. Um die Zusammenarbeit zu stärken, gibt es bei uns die Digital Hub Initiative. Mit ihr wollen wir regionale Kooperationen von Wissenschaft, Start-ups, Mittelstand und Großunternehmen unterstützen. Aber wir können mehr erreichen. Wir wissen, dass es an Kapitalangeboten mangelt; und wir nehmen das, was Sie sagen, sehr ernst, nämlich dass Frauen immer noch schwerer an Kapital herankommen. Es ist sicherlich eine gute Nachricht, dass sich der Venture-Capital-Markt gut entwickelt hat. Bundesweit flossen 2018 insgesamt 4,6 Milliarden Euro allein in junge Technologiefirmen. Aber wir brauchen viel mehr Investoren am deutschen Venture-Capital-Markt, damit Ideen und Geschäftsmodelle, die bei uns entwickelt werden, auch bei uns mit Erfolg umgesetzt werden können. Wir brauchen die richtigen steuerlichen Rahmenbedingungen. Der Bundeswirtschaftsminister hat hierzu jüngst Vorschläge gemacht, über die wir nun diskutieren. Wir haben auch schon einige Verbesserungen erreicht. Das ist mit Blick auf das europäische Recht zum Teil gar nicht so einfach. Wir werden auch mit großer Wahrscheinlichkeit – ich bin einmal ganz vorsichtig – nächste Woche im Kabinett einen Gesetzentwurf zur steuerlichen Forschungsförderung beschließen. Dabei wird es darum gehen, dass es finanzielle Zulagen von bis zu 500.000 Euro pro Unternehmen und Jahr gibt, wenn man sich in der Forschung engagiert. All das ist wichtig, aber bei Ihnen geht es natürlich auch um die Frage der Geschlechtergerechtigkeit. Deshalb sage ich ausdrücklich: Das ist wichtig für Unternehmerinnen und alle, die ihre Frau im Beruf stehen. Wir wollen, dass Frauen in gleichem Umfang teilhaben. Das Ziel kann nicht sein, irgendwo bei 20 oder 30 Prozent stehenzubleiben, sondern wir müssen in allen Bereichen Parität haben, wenn wir wirklich von Gleichberechtigung sprechen wollen. Daher gibt es uns natürlich zu denken, dass das Weltwirtschaftsforum unser Land bei der Geschlechtergerechtigkeit nur auf den weltweit 14. Platz gesetzt hat. Wir sind bei Innovationen im letzten Jahr auf dem ersten Platz gewesen und sind bei der Geschlechtergerechtigkeit auf dem 14. Platz – das kann uns nicht zufriedenstellen. Wir brauchen also mehr Ehrgeiz für Chancengerechtigkeit; und das gilt überall – in Unternehmen, in Universitäten, in der Politik, in der Kultur, in den Medien. Parität muss die Aufgabe und die Vorstellung sein. Doch wir haben nach wie vor zu wenige Frauen in Führungspositionen. Wir wissen, wie wichtig die Rollenmodelle und die Vorbilder sind; Sie haben davon auch gesprochen. Das gilt für die Privatwirtschaft ähnlich wie für den öffentlichen Dienst. Wir haben uns für das Jahr 2025 vorgenommen, im öffentlichen Dienst des Bundes bei der Parität angelangt zu sein. Ich darf sagen, dass ich nach etwas mehr als 13 Jahren im Bundeskanzleramt heute sagen kann, dass die B9-Stellen bei uns im Kanzleramt paritätisch verteilt sind. Es gibt sogar drei weibliche Staatsministerinnen und einen männlichen Staatsminister. Dafür gibt es einen männlichen Kanzleramtsminister, aber auch eine weibliche Kanzlerin. Wir sind also wirklich vorangekommen. Als ich Bundeskanzlerin wurde, sah das noch ganz anders aus. Laut AllBright-Bericht finden sich unter den deutschen Aufsichtsräten und Vorstandsvorsitzenden am häufigsten die Namen Michael und Thomas. Es gibt mehr Aufsichtsratsvorsitzende, die Michael heißen, als weibliche Aufsichtsratsvorsitzende insgesamt. Das muss sich ändern, meine Damen und Herren. Diese Ansicht ist im Übrigen nicht neu. Denn schon Ihre erste Präsidentin, Käte Ahlmann, vertrat diese Ansicht und brachte sie 1958 mit eingängigen Worten zum Ausdruck: „Ob mir ein Mann seinen Sitz in der Straßenbahn anbietet, ist mir egal. Er soll mir einen Sitz in seinem Aufsichtsrat anbieten.“ Das war vor 61 Jahren. Dennoch gelang es erst in den letzten Jahren mit einem ganzen Paket von Maßnahmen, diesen äußerst unbefriedigenden Zustand wenigstens etwas aufzubrechen. Heute gibt es immerhin 30 Prozent Frauen in den Aufsichtsräten der 100 größten börsennotierten Unternehmen. Aber in den Vorständen dieser Unternehmen sieht es für Frauen immer noch deprimierend schlecht aus; denn da sind Frauen nur mit 8,5 Prozent vertreten – und das, obwohl sich die Unternehmen eine Zielgröße für den Vorstand setzen müssen. Sie glauben gar nicht, wie viele Unternehmen uns einfach schreiben: „Zielgröße: null Steigerung.“ Das grenzt schon an Verweigerungshaltung, muss ich sagen. Ich will an dieser Stelle auch noch einmal offen sagen: Es wird ja oft darüber geschimpft, dass wir so vieles an staatlicher Regulierung machen. Aber was wollen Sie nach der zehnten Selbstverpflichtung, nach dem 15. Mahnen, nach dem 16. Gut-Zureden tun, wenn sich einfach nichts ändert und wenn man in den Aufsichtsräten jetzt sieht, dass es mit etwas Druck doch geht? Wenn es die Politik des leeren Stuhls gibt, wenn man sagt „Dann könnt ihr eben den frei gewordenen Stuhl gar nicht mehr besetzen, weil das sonst rechtlich nicht mehr okay ist“, dann geht es plötzlich. In unserer Gesellschaft muss es normal werden, dass man einfach danach schaut, wie man potenziell gute Frauen finden kann. Sie finden sich, wenn man nur will; das ist die Erfahrung. Ich kann nur hoffen, dass wir nicht alles und jedes regulieren müssen, sondern dass sich das von alleine entwickelt. Bitte lassen Sie uns das gemeinsam tun. Ansonsten muss man eben noch härter darangehen. Wir werden in Zukunft zum Beispiel darangehen müssen – ich habe mir das alles nicht gewünscht, als ich mich vor fast 30 Jahren über die Deutsche Einheit gefreut habe; damals habe ich mir nicht vorstellen können, wie mühselig der Teil der Umsetzung des deutschen Grundgesetzes, „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, ist –, wenn uns Unternehmen einfach wieder die Zielgröße Null mitteilen, das in irgendeiner Weise zu sanktionieren. Dann bitte ich auch um Verständnis dafür. Der öffentliche Dienst versucht – ich habe es schon gesagt –, mit gutem Beispiel voranzugehen. 2025 wollen wir Parität erreichen. Aber es geht natürlich auch um eine Unternehmens- und Arbeitskultur mit echter Chancengleichheit. Es geht darum, dass Frauen nicht als Zählkandidatinnen auf den Shortlists für verantwortungsvolle Positionen auftauchen, sondern dass sie wirklich gleichberechtigt teilhaben können, dass sie in Meetings zu Wort kommen und dass sie gleich bezahlt werden wie ihre männlichen Kollegen. Um das alles zu erreichen, ist das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie essenziell für unsere Gesellschaft. Das betrifft berufstätige Mütter und Väter gleichermaßen. Das Rollenverständnis wird sich für beide Geschlechter ändern müssen. Es ändert sich ja – das muss man ja auch sehen – bei jüngeren Männern. Das müssen wir vorantreiben; und deshalb ist Frauenpolitik, weiß Gott, nicht nur eine Politik, die sich an Frauen wendet, sondern Frauenpolitik ist eine Gesellschaftspolitik, die sich an alle wendet. Es geht etwa auch darum, Führung in Teilzeit zu ermöglichen. Hierfür gibt es interessante Modelle. Wir probieren sie jetzt auch im Kanzleramt aus. Es zeigt sich, dass auch das möglich ist. Man muss also, wie gesagt, kreativ denken, innovativ denken. Wir haben in den letzten Jahren wirklich viel getan, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familien zu verbessern. Das Elterngeld ist eingeführt worden. Das Elterngeld mit den Vätermonaten hat dazu geführt, dass Unternehmen nicht mehr genau wissen, wer die Elternzeit nimmt. Das bringt natürlich Veränderungen mit sich. Wir haben den Rechtsanspruch für die Betreuung von Kindern unter drei Jahren festgeschrieben und werden noch daran arbeiten, den Rechtsanspruch auch für eine Grundschulbetreuung festzuschreiben. Rückständige Geschlechterklischees engen im Übrigen auch die Handlungsspielräume von Männern unnötig ein. Es gibt auch immer wieder Situationen, in denen Väter auf wenig Verständnis stoßen, wenn sie zum Beispiel Elternzeit nehmen wollen. Das ist genauso diskriminierend, wie es im umgekehrten Falle bei Frauen ist. Gleichstellung ist also eine Frage, die Frauen und Männer gemeinsam betrifft und die wir auch nur gemeinsam lösen können – sei es bei der Personalauswahl im Unternehmen oder bei der Aufteilung der Hausarbeit und der Kinderbetreuung. Meine Damen und Herren, wir brauchen natürlich auch flexible Öffnungszeiten, wenn es um Kinderbetreuung geht. Seitens des Bundes haben wir die Kommunen in der letzten Legislaturperiode mit über sechs Milliarden Euro unterstützt. Wir haben jetzt das sogenannte Gute-Kita-Gesetz verabschiedet. Ich muss Ihnen sagen, dass ich persönlich sehr skeptisch bin, wenn manche Länder voll auf die komplette Beitragsfreiheit setzen, aber gleichzeitig keine flexiblen Öffnungszeiten, einen schlechten Betreuungsschlüssel und schlechte Integrationsmöglichkeiten haben. Ich denke, hier sollte man einen Weg finden, der bezahlbare Gebühren mit einer guten Qualität der Betreuung verbindet. Denn inzwischen wissen wir ja, dass die ersten Lebensjahre für die Bildungschancen von Kindern besonders wichtig sind. Jahrelang aber hat man gesagt, der Ernst des Lebens beginne mit der Schule. Das ist eine sehr deutsche Betrachtungsweise. Inzwischen hat man akzeptiert, dass Bildung auch vorher stattfindet und dass Schule auch Spaß machen kann. Beides hilft gerade auch Mädchen, sich später besser zurechtzufinden. Chancengleichheit haben wir also dann erreicht, wenn es eines Tages völlig normal und ganz selbstverständlich ist, dass der Vater die Elternzeit nimmt und die Vorstandsvorsitzende eine Frau ist. Dafür haben wir noch eine ganze Menge zu tun. Meine Damen und Herren, weil wir uns so gern als Land der Chancen begreifen wollen, müssen wir Rollenklischees überwinden und einfach sagen: Jeder hat seine Chancen. Jeder und jede soll seinen Weg finden – auch was das Thema MINT-Fächer anbelangt. Doch noch immer trauen sich viel zu wenige junge Frauen zu, Berufe mit MINT-Qualifikationen anzusteuern. Wir haben in der MINT-Förderung viel unternommen. Aber wir sehen auch, dass wir solche Erfolge, wie sie zu wünschen wären, bis jetzt noch nicht erreicht haben. Jedes Jahr löse ich beim Girls’ Day eine Preisfrage an Schülerinnen auf, die aus verschiedenen Berliner Schulen zu uns ins Bundeskanzleramt kommen. Bei diesen Fragen geht es zum Beispiel darum, wie viele junge Frauen das Ingenieurstudium begonnen haben oder Softwareprogrammiererinnen oder etwas Ähnliches werden. Immer liegt die Zahl deutlich unter 30 Prozent. Das kann uns nicht zufriedenstellen. Ich bin auch durchaus sehr gespannt auf Hinweise, die Sie geben wollen. Ich persönlich würde aufgrund der Erfahrung aus meinem eigenen Leben, aus meinem eigenen Physikstudium sagen, dass getrennte Unterrichtung oder zumindest getrennte Praxisseminare von Mädchen und Jungen kein Fehler sein müssen, weil deren Herangehensweise oft etwas unterschiedlich ist. In meinem Physikstudium haben die männlichen Beteiligten erst einmal eine Okkupation aller Geräte vorgenommen, um dann in einer Serie von Fehlern zu versinken und eigentlich auch nicht schneller fertig zu sein als ich, die ich mich erst einmal ruhig vor ein Gerät gesetzt habe, falls noch eines frei war, lange nachgedacht und irgendwann etwas getan habe. Das hat auch gedauert, war aber nicht stärker oder schwächer fehlerbehaftet. Vielleicht gibt es eben doch unterschiedliche Herangehensweisen. Wir müssen jedenfalls junge Mädchen und Frauen für MINT-Fächer begeistern. Denn in den nächsten Jahren wird die Wertschöpfung im Zuge der Digitalisierung noch stärker in diesen Fächern stattfinden. Wenn Frauen am Wohlstand teilhaben wollen, wenn sie bei den Einkommen gleichziehen wollen, dann wird das ganz ohne MINT-Fächer nicht gutgehen. Deshalb sind wir der Überzeugung, dass wir nicht nachlassen dürfen, für MINT-Fächer zu werben. Das zeigt etwa auch der Blick auf die Technologie-Start-ups. Denn hier erfolgen nur 15 Prozent der Gründungen durch Frauen. Ich habe erst über die Steigerungsrate gesprochen – sie ist erfreulich –, aber zwischen 15 Prozent und 50 Prozent gibt es noch einen ziemlich langen Weg zu gehen. Im Global Gender Gap Report 2018 werden 20 Länder miteinander verglichen, die sich in Fähigkeiten im Bereich der Künstlichen Intelligenz besonders hervortun. Deutschland belegt in dieser Liste den respektablen dritten Platz. Aber im Vergleich der weiblichen KI-Fachkräfte belegen wir von 20 Ländern nur den drittletzten Platz. Es zeigt sich also, dass bei uns noch irgendetwas anders sein muss als woanders. Mit einem Frauenanteil von 16 Prozent liegen wir deutlich unter dem Durchschnitt von 21 Prozent, der für sich betrachtet auch eher beschämend ist. Deshalb haben wir schon während der deutschen G20-Präsidentschaft vor zwei Jahren auf dem W20-Dialogforum – Sie haben es erwähnt –, das der VdU damals gemeinsam mit dem Deutschen Frauenrat veranstaltet hat, gefordert, dass wir die digitalen Fertigkeiten von Frauen und Mädchen fördern müssen. Das Engagement und die Erfahrungen des Verbandes deutscher Unternehmerinnen und des Deutschen Frauenrates in der W20 sind von großem Wert. Als Women20 sind Sie in Tokyo Ende März wieder zusammengekommen. Ich danke allen im VdU, die mit ihren Partnerverbänden die Empfehlungen für den G20-Gipfel in Osaka erarbeitet haben. Wir freuen uns, dass Japan als diesjähriger Ausrichter des G20-Gipfels das Frauenthema aufgenommen hat. Denn gerade in Gesellschaften – das gilt für Japan wie auch für Deutschland – mit einem demografischen Problem, mit demografischen Herausforderungen wie einem abnehmenden Fachkräftepotenzial ist es so unendlich wichtig, die Potenziale von Frauen wirklich zu erschließen. Deshalb danke ich Ihnen, weil Ihr Wissen, Ihre Erfahrungen und Ihre Kompetenzen gefragt sind. Jede Einzelne von Ihnen ist auf diese oder jene Weise Vorbild für viele, viele andere. Als erfahrene Unternehmerinnen können Sie auch voneinander lernen, aber Sie können vor allen Dingen auch Impulse in die Gesellschaft geben. Ich glaube, liebe Frau Arbabian-Vogel, dass Sie und alle Ihre Mitstreiterinnen das auch mit Verve tun. Auf Ihrem Verbandstag können Sie Kraft schöpfen, aber die eigentliche Schlacht findet draußen statt. Bitte lassen Sie uns auch an Ihren Erfahrungen teilhaben. Wir können ja auch aus den Beispielen, in denen manches noch nicht so gelingt, lernen, dass es besser gelingt. Ich glaube, dass sich in den nächsten Jahren die Chancen verbessern werden, weil wir, wie gesagt, Fachkräfte, Kreativität und Bereitschaft zu neuen Wegen brauchen. Weil Frauen doch immer bereit sein müssen, gerade auch durch viele Arbeit, die in der Familie stattfindet, nicht immer nur in vorgefahrenen Wegen zu arbeiten, sondern spontan und auf die Realität reagierend Lösungen zu finden, setze ich viel Vertrauen in Sie – nicht im Gegeneinander zu Männern, aber durch klares Abstecken der eigenen Positionen und auch durch klares Markieren dessen, was im 21. Jahrhundert nicht mehr geht. Deshalb herzliche Glückwünsche und viel Kraft. Lassen Sie sich nicht in die stille Ecke verbannen. Aber das tun Sie eh nicht. Verbreiten Sie guten Mut und Optimismus nach draußen. Dann werden ich und die ganze Bundesregierung an Ihrer Seite stehen. Herzlichen Dank und alles Gute.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur ersten Dr.-Andreas-Schockenhoff-Lecture am 15. Mai 2019 in Ravensburg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-ersten-dr-andreas-schockenhoff-lecture-am-15-mai-2019-in-ravensburg-1612114
Wed, 15 May 2019 18:30:00 +0200
Ravensburg
Alle Themen
Exzellenzen, sehr geehrter Herr Vizepräsident Stephan Harbarth, sehr geehrter Herr Minister, lieber Thomas Strobl, sehr geehrter Herr Kollege, lieber Axel Müller, lieber Kollege aus dem Landtag, August Schuler, und Herr Lins aus dem Europäischen Parlament, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Rapp und ganz besonders natürlich: liebe Familie Schockenhoff und Kinder von Andreas Schockenhoff, sehr geehrte Damen und Herren, Andreas Schockenhoff und die Außenpolitik – beides gehört zusammen wie der Marienplatz zu Ravensburg. Andreas Schockenhoff war Außenpolitiker durch und durch. Ich hatte den Eindruck, er fühlte sich nicht nur qua Amt, sondern auch ganz persönlich in der Verantwortung, sich nach Kräften für ein friedvolles Miteinander der Völker und Nationen stark zu machen. Daher begnügte er sich auch nicht damit, internationale Themen nur tagespolitisch zu behandeln. Es war ihm vielmehr sehr wichtig, auch den dahinterstehenden grundsätzlichen Fragen und den langen Linien nachzugehen. Deshalb finde ich, lieber Axel Müller, dass diese Idee einer Lecture für Andreas Schockenhoff eine wirklich gute Idee ist, weil es damit die Möglichkeit gibt, Jahr für Jahr noch einmal an langen Linien anzuknüpfen und zu verfolgen, wo sich etwas ändert und auch wo wir unseren Werten treu geblieben sind. Das tägliche Gespräch geht ja über vieles. Oft kommt die Außenpolitik dabei zu kurz. Deshalb finde ich es allemal gut, wenn man weiß, wie unser Schicksal, wie die Frage, ob wir sicher leben können, ob wir in Wohlstand leben können, von außen- und sicherheitspolitischen Fragen abhängt, und dass wir dieser Diskussion immer wieder Raum bieten. Deshalb möchte ich mich ganz herzlich dafür bedanken, dass Sie heute hier so zahlreich erschienen sind. Nun haben wir also einen Rahmen mit dieser Lecture, über den sich Andreas Schockenhoff freuen würde. Da bin ich mir ganz sicher. Deshalb bin ich in der Tat sehr, sehr gerne nach Ravensburg gekommen und danke nochmals für die Einladung. 24 Jahre, von 1990 bis zu seinem viel zu frühen Tod 2014, gehörte Andreas Schockenhoff dem Deutschen Bundestag an. Er stritt als Abgeordneter mit Leidenschaft für seine Überzeugungen, für ein starkes und geeintes Europa, für die deutsch-französische Freundschaft, für die Einheit des Westens, für die Verständigung mit Russland und für Stabilität auf dem Westlichen Balkan. Das alles sind Fragen, die unverändert Aufmerksamkeit und Einsatz erfordern. Und darin, wie wir diese Fragen beantworten, spiegelt sich auch das Grundsätzliche wider: Was leitet uns? Was macht unser Selbstverständnis als Deutsche und als Europäer aus? In welcher Rolle sehen wir uns in der internationalen Staatengemeinschaft? Was wollen wir mit unserer Außen- und Sicherheitspolitik erreichen und was mit unserer Europapolitik? In Umbruchzeiten, wie wir sie gegenwärtig erleben, ist es ganz besonders wichtig, sich der Grundlagen und Parameter der täglichen Arbeit zu vergewissern. Dabei hilft auch ein Blick zurück. Vor 74 Jahren fanden der Zivilisationsbruch der Shoa und der Zweite Weltkrieg ein Ende. Deutschland im Nationalsozialismus hatte unsägliches Leid über Europa und die Welt gebracht. Wir können Vergangenes natürlich nicht ungeschehen machen, aber wir können daraus lernen. Das können wir nicht nur, sondern das müssen wir auch. Das ist ja einer der wesentlichen Gründe, warum wir uns mit Geschichte befassen – natürlich auch, um zu erfahren, wie etwas war, aber vor allen Dingen, um auch etwas zu lernen, wie wir die Zukunft gestalten können. Dass wir dieses Lernen immer wieder ernst nehmen, auch wenn wir immer weniger Zeitzeugen unter uns haben, das schulden wir den unvorstellbar vielen Opfern. Das schulden wir aber auch künftigen Generationen, denen wir unsere Welt eines Tages hinterlassen werden. Dieser Gedanke hat ja auch tatkräftige und weitsichtige Frauen und Männer geleitet, als sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg daran gemacht haben, eine neue internationale Ordnung aufzubauen. Bereits im Oktober 1945 wurden die Vereinten Nationen gegründet. Drei Jahre später wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. 1949 folgte die Gründung der NATO und des Europarats – genau in dem Jahr, in dem der Westen Deutschlands mit Inkrafttreten des Grundgesetzes ein stabiles Fundament bekam, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufzubauen. Wir erinnern uns ja an diesen Tagen, am 70. Jahrestag, an das Inkrafttreten des Grundgesetzes. In Frankreich entwarf Außenminister Robert Schuman eine völlig neue Form der Zusammenarbeit, die Montanunion. Mit ihr nahm die europäische Integration ihren Lauf. Internationale Organisationen, Pakte und Abkommen entstanden. Im Rückblick wird klar, dass solche bitteren Erfahrungen, wie sie im Zweiten Weltkrieg gemacht wurden, durch den Aufbau einer internationalen Ordnung verhindert werden sollten. Die Ordnung reifte und wurde immer ausgefeilter – getragen auch von gegenseitigem Vertrauen. Über regelbasierte Zusammenarbeit konnten Beschränkungen abgebaut werden. Der Handel nahm zu und mit ihm auch der Wohlstand. Viele Freiheiten, die wir heute genießen, hängen eng an dieser Ordnung. Herausforderungen, die sich vielen Staaten in ähnlicher Weise stellen, lassen sich nur gemeinsam innerhalb dieser Ordnung bewältigen. Diese Ordnung ist natürlich nicht perfekt; das wird heute ja oft kritisiert. Aber deshalb ist sie trotzdem besser, als keine Ordnung zu haben. Sie kann natürlich nicht alle Probleme, Krisen und Konflikte verhindern oder sofort lösen, aber sie bietet nach meiner festen Überzeugung wesentliche Voraussetzungen dafür, dass wir gemeinsam daran arbeiten können, Interessengegensätze einvernehmlich und friedlich zu lösen. Ohne diese Ordnung, an der wir uns orientieren, ohne ihre Prinzipien und Mechanismen würde ein sehr viel stärkeres gegenseitiges Misstrauen in die Welt zurückkehren – mit allen damit verbundenen Konsequenzen für das Zusammenleben. Deswegen tritt die gesamte Bundesregierung beständig für eine internationale Ordnung ein – für gemeinsame Regeln, Verträge und Institutionen. Wir setzen uns ein für die territoriale Unversehrtheit der Staaten, für eine friedliche Streitbeilegung und die Suche nach Kompromissen, für den Schutz der Menschenrechte und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, für freien und fairen Handel. Das kann man vielleicht so zusammenfassen, dass ich sage, wir setzen uns dafür ein, dass wir mehr denn je global statt national, gemeinsam statt allein, weltoffen statt protektionistisch, multilateral statt unilateral handeln. Das ist so etwas wie ein Kompass in unserer Hand. Und mit diesem Kompass dürfen wir nicht darüber hinwegsehen, wenn unsere internationale Ordnung und die ihr zugrundeliegenden Werte grundsätzlich in Frage gestellt werden, sondern wir sind aufgefordert, uns entschieden dafür einzusetzen. Ich habe das tiefe Gefühl, dass wir jetzt gerade in einer Zeit leben – vielleicht auch, weil eben nicht mehr viele Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs da sind –, in der wir uns alle miteinander für diese Ordnung einsetzen müssen, in der wir wieder kämpfen müssen, in der wir der jungen Generation erklären müssen, warum ist das so und warum ist diese Unvollkommenheit, die besteht, trotzdem allemal besser, als wenn wir diese Ordnung nicht hätten. Deshalb dürfen wir eben nicht die Augen verschließen und wir können es auch nicht hinnehmen, wenn – wie mit Blick auf die russische Aggression gegen die Ukraine und die rechtswidrige Annexion der Krim – gegen die territoriale Integrität und die politische Souveränität eines Staates verstoßen wird. Herr Botschafter, ich bin sehr froh, dass Sie heute hier sind. Sie wissen, dass wir uns für diese Prinzipien einsetzen. Wir tun dies deshalb, weil der Wesenskern des Völkerrechts in Frage gestellt wird. Wir werden ja oft gefragt, ob das denn so wichtig sei, da doch die Beziehungen zu Russland so entscheidend sind. Aber ich muss Ihnen sagen, wenn ein Land wie die Ukraine, das nach dem Zerfall der Sowjetunion, um sich auf die territoriale Integrität zu verlassen, sogar auf seine Nuklearwaffen verzichtet hat, aber schließlich angegriffen wird und in seiner territorialen Integrität verletzt wird, dann darf man das nicht durchgehen lassen. Und deshalb handeln wir so, wie wir handeln. Wir können auch nicht einfach darüber hinwegsehen, dass mühsam erzielte internationale Verträge zur Abrüstung und Nichtverbreitung von Waffensystemen in Gefahr geraten. Dazu zählen zum Beispiel die Verletzung des INF-Vertrags durch Russland und des Chemiewaffenübereinkommens zum Beispiel durch Syrien. Auch können wir nicht akzeptieren, wenn die internationale Sicherheit mit der Entwicklung ballistischer Raketentechnologie durch Staaten wie Nordkorea oder Iran bedroht wird. In Europa, das will ich hier ausdrücklich sagen, stehen wir zu dem mit dem Iran ausgehandelten Abkommen. Ich bin sehr stolz darauf, dass es hierbei eine Einigkeit Europas gibt. Denn ich glaube, dass selbst ein noch so lückenhaftes Abkommen – und ich weiß, dass es sehr viele Dinge beim Iran gibt, die Kritik hervorrufen – immer noch eine gute Grundlage für eine Kooperation ist, um Schlimmeres zu verhindern. Ein nukleares Wettrüsten zu verhindern, ist auf jeden Fall eine wichtige Sache. Wir müssen in unseren Tagen auch erfahren, dass internationale Organisationen und Institutionen, die sich über viele Jahre hinweg in der Bewältigung von Krisen bewährt haben, zunehmend unter Druck geraten – zum einen, weil es zu wenige finanzielle Mittel gibt, wie zum Beispiel für das Welternährungsprogramm oder die UN-Flüchtlingshilfe; zum anderen, weil die politische Unterstützung nachlässt, wie zum Beispiel für die Welthandelsorganisation, bei der die Vereinigten Staaten von Amerika die Richterposten leider nicht mehr nachbesetzen, sodass die Handlungsfähigkeit als Schiedsstelle in Gefahr gerät, oder für den Internationalen Strafgerichtshof oder das Pariser Klimaabkommen, von dem sich einige Länder zurückgezogen haben, unter anderem leider auch die Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn wir uns einmal anschauen, wie mühselig oft internationale Abkommen verhandelt werden, dann ist es natürlich unglaublich bedauerlich, wenn solche Abkommen ins Wanken geraten. Ich war selber von 1994 bis 1998 Umweltministerin. Meine erste größere politische Aufgabe als Umweltministerin bestand darin, Gastgeberin einer Berliner Konferenz zu sein, die der Vorarbeit zur Aushandlung des Kyoto-Protokolls gedient hat. Wir haben später gemerkt, dass das Kyoto-Protokoll nicht funktioniert, weil mit ihm völkerrechtlich verbindliche Zusagen von jedem Mitgliedstaat erwartet wurden. Wir haben nach dem Scheitern der Kopenhagener Klimakonferenz – daran kann sich vielleicht manch einer noch erinnern – bis hin zum Pariser Klimaabkommen wieder hart gearbeitet, haben andere Mechanismen der freiwilligen Selbstverpflichtung gefunden, haben uns als Staatengemeinschaft insgesamt darauf geeinigt, den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu beschränken. Wir erahnen heute, wie wichtig es ist, ein solches Abkommen zu haben. Gerade beim Klimaschutz ist ja evident, dass ein Land allein die damit verbundenen Herausforderungen nicht bewältigen kann. Ähnliches gilt für den Rio-Prozess und die Entwicklung der Biodiversitätskonvention. Wenn wir heute die Zahlen über das Artensterben lesen, dann wissen wir, welch dringender Handlungsbedarf besteht. Auch hier – beim Schutz der Lebensräume und der Artenvielfalt – ist die Aufgabe global und kann nicht nur national oder regional gedacht werden. Das heißt also, wir haben Rückschläge zu verkraften, aber wir dürfen nicht einfach wegschauen, sondern müssen umso entschiedener dafür eintreten, dass diese internationale Ordnung nicht in sich zusammenbricht. Natürlich ist die Infragestellung einer multilateralen Ordnung auch für den internationalen Warenverkehr eine große Herausforderung. Wir sehen leider ein Zunehmen an protektionistischen Tendenzen. Ich will nochmals daran erinnern, dass die Überwindung der internationalen Finanzkrise vor rund zehn Jahren überhaupt nur gelingen konnte, weil damals die 20 führenden Industrieländer sich entschieden haben, gemeinsam Konjunkturprogramme aufzulegen und gemeinsam Regeln für den Umgang mit systemrelevanten Banken zu entwickeln. Daraus ist das G20-Treffen der Staats- und Regierungschefs geworden. Wenn wir das nicht gemeinsam gemacht hätten, wären die Folgen dieser Krise noch sehr viel gravierender ausgefallen. Und ich bin auch sehr überzeugt davon, dass höhere Handelsbarrieren und Handelskriege zum Schluss nur Verlierer kennen. Die großen Herausforderungen unserer Zeit – der Klimawandel, die technologische Revolution, die atomare Bedrohung, die weltweite Migration, Hunger und Armut – das alles sind Dinge, die wir im Sinne des globalen Gemeinwohls nur in den Griff bekommen, wenn die Staaten auf der Basis des Völkerrechts zusammenarbeiten und sich nicht von vornherein jeglichen Kompromissen verschließen. Es gehört eben auch zur internationalen Zusammenarbeit, dass ich ein wenig die Fähigkeit haben muss, mich auch in die Gedankenwelt des anderen hineinzuversetzen. Natürlich muss ich als deutsche Bundeskanzlerin als Erstes deutsche Interessen artikulieren und vertreten, geleitet von unseren Werten. Aber ich muss auch fragen: Ist es nicht auch im deutschen Interesse, die Interessen des anderen ernst zu nehmen und einen Kompromiss zu finden? Eine Erscheinung unserer Tage, die mir sehr große Sorgen macht und die sehr viel mit der Frage der internationalen Zusammenarbeit zu tun hat, ist die Frage: Welchen Stellenwert hat in unserem Denken der Kompromiss? Der Kompromiss wird heute zum Teil verhöhnt, er wird schlecht gemacht. Ein Kompromiss wird quasi vorab schon als ein fauler Kompromiss angesehen. Aber wenn wir nicht mehr in der Lage sind, Kompromisse einzugehen, sind wir nicht mehr handlungsfähig. Das fängt schon in der Familie an. Die Einigung, was es zum Mittagessen gibt oder wie man den Nachmittag gestaltet, erfordert meistens Kompromissfähigkeit. Das setzt sich im Gemeinwesen vor Ort fort. Auch in einer Stadt muss man Kompromisse machen, um zusammenleben zu können. Man muss in der Landespolitik Kompromisse machen. Es wird dann zwar immer schwieriger, weil man immer mehr Kompromisse machen muss, aber man kann einen Zusammenhalt einer Gesellschaft niemals hinbekommen, wenn man nicht mehr kompromissfähig ist. Und das gilt allemal in der internationalen Politik. Deshalb könnte ich analog zu Wagners Aufruf „Verachtet mir die Meister nicht“ rufen: Verachtet mir den Kompromiss nicht. Der Kompromiss ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für politische Handlungsfähigkeit. Natürlich ändern sich im Laufe der Zeit auch die Herausforderungen. Deshalb müssen wir auch unsere internationale Ordnung immer wieder weiterentwickeln – auch um das Vertrauen in sie zu erhalten. Denn die Menschen wollen ja Lösungen haben. Ein Mindestmaß an Vertrauen ist eben die Voraussetzung dafür, dass Zusammenarbeit möglich ist. Und ich meine, das haben wir Deutsche allemal in besonderer Weise erfahren. Die Wunden des Zweiten Weltkriegs waren noch frisch, als Frankreich Deutschland die Hand zur Versöhnung reichte. Ohne Vertrauen, ohne Zutrauen – undenkbar. Die Gunst der Stunde nach dem Mauerfall konnte Helmut Kohl nur deshalb nutzen, weil er bei Partnern Vertrauen in Deutschland geschaffen hatte. So sagten Bush, Gorbatschow, Thatcher und Mitterrand Ja zu einem geeinten Deutschland. Das war alles andere als selbstverständlich. Vertrauen muss immer wieder aufs Neue erarbeitet werden und verdient sein – und zwar von allen Partnern. Andreas Schockenhoff hat in seiner letzten Bundestagsrede im September 2014 gesagt – ich zitiere ihn –: „Deutschlands Außenpolitik ist geleitet von einer Kultur der Verantwortung. (…) Eine Kultur des Heraushaltens können wir uns nicht leisten.“ – Zitatende. Genauso ist es. Er hat sich genau von diesem Gedanken leiten lassen. Auf dieser Kultur der Verantwortung gründet nicht zuletzt auch die Erfolgsgeschichte des europäischen Einigungsprozesses. Die Europäische Union bildet den größten einheitlichen Wirtschaftsraum der Welt. Fast 500 Millionen Menschen leben hier. Wenn wir Europäer mit einer Stimme sprechen, verschaffen wir uns in der Welt ziemlich viel Gehör – und allemal deutlich mehr, als wenn jeder einzelner Mitgliedstaat allein agieren würde. Wenn wir uns mal anschauen, mit wem wir es zu tun haben in der Welt, dann sind da die ökonomisch und auch politisch sehr mächtigen Vereinigten Staaten von Amerika, das weiter aufstrebende China mit 1,4 Milliarden Einwohnern, Indien mit 1,3 Milliarden Einwohnern. Das heißt also, zu glauben, wir könnten alleine, Deutschland als größte europäische Volkswirtschaft, auch viel bewegen, wenn wir in Europa nicht zusammenhalten, dann ist das eine Illusion. Das müssen wir uns immer wieder vor Augen führen, auch wenn es manchmal lange dauert und schwierig ist, in Brüssel gemeinsame Entscheidungen herbeizuführen. Aber das ist ja auch bei Ministerpräsidenten-Konferenzen und auch auf kommunaler Ebene nicht immer einfach. Also, man soll und darf sich da überhaupt nicht verdrießen lassen. Die Stärke Europas ist natürlich ein Thema, das uns gerade auch jetzt in den Tagen vor der Europawahl sehr beschäftigt. Wir hatten kürzlich den 500. Todestag von Leonardo da Vinci. Da ist mir nochmals klargeworden, über Jahrhunderte kamen alle wesentlichen oder zumindest sehr, sehr viele Erfindungen aus Europa. Von der heutigen Zeit können wir das so nicht mehr sagen. Es kommen zwar noch immer viele Erfindungen aus Europa, aber längst nicht die allermeisten, die unser Leben gestalten. Wenn ich mich mit dem chinesischen Präsidenten unterhalte, dann erklärt er mir aber, dass eigentlich 1.600 oder 1.700 Jahre seit dem Jahr 0 die Chinesen die größte Volkswirtschaft der Welt waren und dass sie nur die letzten 300 Jahre nicht so präsent waren, aber jetzt in einen Normalzustand zurückkehren. Das erstaunt uns Europäer. Aber der chinesische Blickwinkel ist, es kehrt wieder Normalität ein auf der Welt. Für uns Europäer aber ist das mit Herausforderungen verbunden, denen wir uns stellen müssen. Wir müssen außenpolitisch vor allen Dingen kohärent arbeiten. Wir sind außenpolitisch zwar zusammengerückt. – Andreas Schockenhoff würde das freuen, wenn er das sähe. – Aber wir sind außenpolitisch noch längst nicht so bereit, Kompromisse einzugehen, gesamteuropäisch zu denken, gesamteuropäisch zu planen und gesamteuropäisch zu handeln, wie es zum Teil notwendig wäre. Deshalb trete ich dafür ein, dass wir auch die Möglichkeit qualifizierter Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union ins Auge fassen. Es gibt zum Beispiel auch Überlegungen Frankreichs und Deutschlands, einen Europäischen Sicherheitsrat zu gründen, in dem nicht alle EU-Staaten gleichzeitig Mitglieder sind, sondern bei dem es eine rotierende Mitgliedschaft gibt, damit Entscheidungen schneller und verbindlicher getroffen werden können. Wir haben wichtige Fortschritte gemacht – zum Beispiel im Bereich der Verteidigungspolitik mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit, die man heute PESCO nennt, und mit dem Europäischen Verteidigungsfonds. Damit können wir bei der Entwicklung und Beschaffung von Verteidigungsgütern abgestimmter vorgehen und so auch Lücken bei unseren Fähigkeiten besser schließen. Die französische Generalkonsulin ist heute unter uns. Ich darf sagen, dass Deutschland und Frankreich sich jetzt auf den Weg machen, gemeinsam ein Flugzeug zu entwickeln, auch zusammen mit anderen Partnern, und gemeinsam einen neuen Panzer zu entwickeln. Das ist ein hoher Vertrauensbeweis, auch wenn wir Deutsche zum Teil keine sehr leichten Partner sind. Unsere restriktiven Exportrichtlinien im Rüstungsbereich lassen unsere Partner manchmal ein bisschen verzweifeln. Deutschland wird daher kompromissfähiger sein müssen, um hierbei als Partner überhaupt in Frage zu kommen. Nun beschränkt sich internationale Verantwortung gewiss nicht allein auf militärische Fähigkeiten, sondern es geht gleichermaßen um Sicherheitspolitik, um Diplomatie, um Entwicklungszusammenarbeit. Diese Bereiche müssen ineinandergreifen. Wir nennen das den vernetzten Ansatz, den wir zuerst in Afghanistan praktiziert haben und den wir jetzt auch in unserer Afrika-Politik stärker anwenden. Deshalb haben wir auch die Haushaltsausgaben für die Bereiche der Diplomatie, der Entwicklungszusammenarbeit und des Militärischen deutlich erhöht. Wir kommen im Augenblick unserer Verantwortung in ganz besonderer Weise im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach. Wir sind für die nächsten zwei Jahre, also dieses Jahr und nächstes Jahr, Mitglied des Sicherheitsrates. Dort koordinieren die ständigen Mitglieder Frankreich und Großbritannien ihre Positionen auch mit den nichtständigen europäischen Mitgliedern – zurzeit also mit Deutschland, Polen und Belgien. So können wir dort auch mit einer europäischen Stimme auftreten. Ich bin sehr froh, dass Großbritannien sich weiter in die europäische Sicherheitspolitik einbringen will. Denn gerade hierbei, aber natürlich auch in anderen Bereichen, brauchen wir in Europa eine enge Partnerschaft mit Großbritannien, auch wenn Großbritannien die Europäische Union verlassen wird. Premierministerin Theresa May hat gesagt: Wir verlassen die Europäische Union, aber nicht Europa; wir bleiben Europäer. Wo immer Großbritannien zur Zusammenarbeit bereit ist, sollten wir die ausgestreckte Hand nutzen. Dadurch werden wir stärker. Für die Europäische Union der zukünftig 27 Mitgliedstaaten gilt, dass wir zusammenrücken und noch stärker als bisher gemeinsame Herausforderungen gemeinsam angehen müssen. Auch deshalb sind die Wahlen zum Europäischen Parlament von ganz besonderer Wichtigkeit. Meine Damen und Herren, eine Andreas-Schockenhoff-Lecture würde ihr Ziel verfehlen, wenn wir uns im Zusammenhang mit Europa nicht auch der herausragenden Rolle der deutsch-französischen Beziehungen für das europäische Projekt widmen würden. Sie erweisen sich seit Charles de Gaulle und Konrad Adenauer als wichtigster Motor der europäischen Einigung. Sie sind allerdings auch deshalb Motor, nicht weil immer Einigkeit sozusagen schon beim Aufwachen morgens da ist, sondern weil immer wieder um Einigkeit gerungen wurde und wird. Für Andreas Schockenhoff – er war Romanist – waren gute freundschaftliche Beziehungen unserer beiden Nachbarländer zum Wohle Deutschlands, Frankreichs und Europas wirklich ein Herzensanliegen. Andreas Schockenhoff war 20 Jahre lang Vorsitzender der Deutsch-Französischen Parlamentariergruppe. Zu jeder Gelegenheit warb er für eine noch intensivere Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Bundestag und der Assemblée nationale. Mit der Deutsch-Französischen Versammlung, die wir kürzlich ins Leben gerufen haben, hat diese Zusammenarbeit nun eine neue Stufe erreicht. 100 Abgeordnete, 50 aus Frankreich und 50 aus Deutschland, treffen sich in Zukunft zweimal im Jahr zu einem umfassenden Austausch. Das wird die parlamentarischen Beziehungen weiter sehr verbessern. Im Januar dieses Jahres haben wir den Vertrag von Aachen unterzeichnet. Das ist der Nachfolgevertrag des Élysée-Vertrags. Im Aachener Vertrag verdeutlichen Frankreich und Deutschland gemeinsame Vorstellungen von einem starken und souveränen Europa der Zukunft. Das unterscheidet diesen Vertrag stark vom Élysée-Vertrag, der noch nicht auf die europäische Dimension in dieser Breite abgestellt werden konnte. Deutschland und Frankreich wollen dazu beitragen, den europäischen Binnenmarkt zu vollenden, der das Herzstück der Europäischen Union ist. Wir wissen, dass es gerade auch bei der Personenfreizügigkeit noch einiges zu tun gibt – beispielsweise bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen. Ein Krankenpfleger aus Marseille muss ohne bürokratische Hindernisse auch in Mailand, Maastricht oder Mannheim seinem Beruf nachgehen können. Und eine Ravensburger Handwerkerin, die ihre Kenntnisse für ein paar Jahre anderswo erweitern will, sollte dies auch ohne Probleme tun können. Wir haben heute eine Änderung des Berufsbildungsgesetzes beschlossen. Damit werden deutsche Handwerksbezeichnungen, wie zum Beispiel der „Meister“, mit einer englischen Bezeichnung ergänzt. In Deutschland verwenden wir weiter den Meistertitel, keine Sorge, aber er wird durch die Bezeichnung „Bachelor Professional“ ergänzt. Ich habe Herrn Wollseifer, den Präsidenten des Handwerksverbands, gefragt, ob das sein Ernst ist, dass er das will. Da hat er gesagt: Ja. Wenn jemand aus Nordrhein-Westfalen in Belgien, in Holland oder in Spanien einen Auftrag bekommen will, dort aber kein Mensch weiß, was der „Meister“ für eine Qualifikationsstufe ist, dann braucht es eine Bezeichnung, die in Europa verstanden wird. Meine Damen und Herren, wir wollen – das besagt auch der Aachener Vertrag – unsere Volkswirtschaften und Sozialmodelle auf dem höchsten Niveau einander annähern. Das ist durchaus eine sehr spannende Sache. Wir sagen nicht, wir wollen die Sozialsysteme zusammenlegen. Aber wir haben natürlich gemerkt, dass, wenn wir völlig unterschiedliche Rentensysteme haben, wenn wir völlig unterschiedliche Arbeitslosenversicherungen haben, dann die Frage der Vergleichbarkeit der Wettbewerbsfähigkeit auch sehr schnell Schaden nimmt. Dieser Wunsch, gerade auch zwischen Deutschland und Frankreich, sich mehr anzunähern, die Systeme besser zu verstehen, von den jeweiligen guten Seiten etwas zu lernen, dieser Wunsch ist richtig und gut. Es braucht aber auch einen Willen dazu. Wir wollen den Informationsaustausch zwischen Justiz und Nachrichtendiensten verbessern und die Bekämpfung des Terrorismus verstärken. Es sind neue Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen und denen wir in der digitalen Welt nur durch enge Vernetzung und Datenaustausch gerecht werden können. Wir wollen die Potenziale der Digitalisierung nutzen, um neue Lösungen für alte und neue Probleme zu finden. In einem deutsch-französischen Zukunftswerk werden wir Akteure beider Staaten zusammenbringen, um beispielsweise über die Chancen und Herausforderungen Künstlicher Intelligenz zu diskutieren und auch gemeinsam neue Projekte in Angriff zu nehmen. Wer sich einmal anschaut, was in China im Bereich der Künstlichen Intelligenz an Wollen und Können vorhanden ist, der weiß, dass wir uns sputen müssen. Nicht zuletzt ist im Aachener Vertrag auch die Förderung der Zweisprachigkeit in den Grenzregionen angesprochen. Dadurch werden unsere Gesellschaften enger zusammengebracht. Dies alles ist uns, Frankreich und Deutschland, wichtig, weil wir wissen, wie sehr unsere beiden Länder auch für die Verwirklichung der europäischen Idee gebraucht werden und wie sehr Europa eine Schicksalsgemeinschaft insgesamt ist. Zudem wissen wir in Europa aber auch, dass neben dem Prozess der europäischen Einigung seit sieben Jahrzehnten die transatlantische Allianz das Fundament unserer Sicherheit und der wichtigste Garant für Frieden und Freiheit in Europa ist – seit mittlerweile 20 Jahren auch für europäische Staaten östlich des einstigen Eisernen Vorhangs. Wir sehen uns nun aber mit einer verschlechterten Sicherheitslage konfrontiert. Die Ereignisse in der Ukraine waren ein unglaublicher Weckruf, nicht zu glauben, dass sich alle Konflikte auflösen würden. Wir haben deshalb in der Nordatlantischen Allianz dringend notwendige Schlussfolgerungen gezogen. Wir haben die Reaktions- und Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses erhöht. Es gab eine Zeit, in der wir dachten, die Sicherheit Deutschlands werde am Hindukusch verteidigt – das wird sie auch heute noch, in Afghanistan – und das reiche; auch die Reaktionsfähigkeit im Raum Europa müsse nicht allzu hoch sein, weil hier ja keine Gefahren drohten. Das aber hat sich mit dem Agieren Russlands gründlich geändert. Wir haben unseren mittel- und osteuropäischen Partnern die Rückversicherung garantiert – eine sehr wichtige Sache. Und wir haben unsere Anstrengungen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gesteigert. Auf dem NATO-Gipfel 2014 in Wales haben wir den Prozess einer fairen Lastenteilung angestoßen oder ihm nochmals mehr Leben eingehaucht. Seitdem haben alle NATO-Mitgliedstaaten ihre Verteidigungsausgaben erkennbar und verantwortungsvoll erhöht. Wir haben gesagt, wir wollen in Richtung des Zwei-Prozent-Ziels gehen, also zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgeben. Deutschland hinkt hierbei hinterher. Man muss sich nur in Erinnerung rufen, wenn heute zum Teil gegen ein solches Ziel polemisiert wird, dass in Zeiten des Kalten Krieges die Bundesrepublik Deutschland Verteidigungsausgaben hatte, die immer oder über lange Zeit über zwei Prozent lagen. Wir haben nach der deutschen Wiedervereinigung gedacht, dass sich die Konflikte des Kalten Krieges sozusagen in Luft auflösen würden. Aber wir haben nicht bedacht, dass neue Herausforderungen kommen könnten. Deshalb müssen wir den jetzt eingeschlagenen Weg konsequent weitergehen. Das fällt uns nicht ganz leicht. Bei den Haushaltsberatungen spielt das immer wieder eine Rolle. Wir werden auch dafür kritisiert, dass wir die Ausgabensteigerung zu langsam angehen. Nichtsdestotrotz haben wir erhebliche Fortschritte in den letzten Jahren gemacht. Ich glaube, das ist auch absolut richtig. Und das wird noch über viele Jahre fortgesetzt werden müssen. Wir haben im Übrigen – wieder entsprechend des vernetzten Ansatzes unserer Außen- und Sicherheitspolitik – nicht an anderer Stelle gekürzt, zum Beispiel in der Entwicklungspolitik. Denn insbesondere die Ereignisse der Migration im Jahr 2015 haben uns eines vor Augen geführt: Wenn wir nicht vor Ort in den krisengeschüttelten Ländern, vor allem in Syrien und im Irak, helfen, dann wird das Thema illegale Migration uns wieder ereilen. Wir hätten schon viel früher und sehr viel stärker das Welternährungsprogramm und das Flüchtlingsprogramm der Vereinten Nationen unterstützen sollen. Dann hätten sich viele Menschen nicht in die Hände von Schleppern und Schleusern begeben, sondern wären vielleicht in der Nähe ihrer Heimat geblieben. Das Engagement Deutschlands beschränkt sich aber nicht nur auf finanzielle Beiträge. Wir haben auch Führungsverantwortung an verschiedenen Stellen übernommen, zum Beispiel bei der sogenannten Vornepräsenz in Litauen. – „Vorne“ heißt sozusagen an der Grenze der NATO; das ist eine etwas komische Formulierung, aber wenn man aus dem Englischen wörtlich zurückübersetzt, dann kommt so was raus. – Wir tragen zur Sicherung des baltischen Luftraums bei. Die Bundeswehr hat beim Aufbau der sogenannten Speerspitze der NATO – das hat wieder etwas mit den östlichen Partnerländern zu tun – wichtige Arbeit geleistet. Und hier in der Nähe, in Ulm, entsteht ein neues NATO-Logistikzentrum, das dazu dient, Truppen und Geräte schnell verlegen zu können. Bei dieser Gelegenheit schauen sich unsere Partner, wenn sie hierherkommen, auch unsere Infrastruktur insgesamt an und sagen, dass auch im zivilen Bereich die Infrastruktur durchaus noch verbesserungsfähig sei. Ich sage das aber nicht vorwurfsvoll in Richtung der Landesregierung, sondern aufmunternd mit Blick auf den Bundesverkehrswegeplan. Meine Damen und Herren, dieses und vieles mehr sind Beispiele gelebter Verantwortung. Sie sind für uns Deutsche und Europäer zudem Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels unserer strategischen Kultur seit Ende des Kalten Krieges. Das steht nicht im Widerspruch dazu, dass wir wissen, dass dauerhafte Sicherheit in Europa nur gemeinsam mit Russland gelingen kann; und zwar aber eben nur auf Grundlage des Völkerrechts, dessen zentraler Leitsatz die souveräne Gleichheit der Staaten ist. Es ist und bleibt deshalb unverzichtbar, dass die Bundesregierung den kritischen Dialog mit Russland fortführt, der ja auch mit Blick auf die Ukraine zum Minsker Abkommen geführt hat. Dessen Umsetzung ist leider sehr unvollkommen. Der erste Punkt dieses Minsker Abkommens, nämlich ein Waffenstillstand, ist an keinem Tag erreicht worden. Das behindert auch weitere Fortschritte. Trotzdem glaube ich, dass es richtig war, diese Minsker Vereinbarung zu schließen, weil wir damit zumindest etwas in der Hand haben und weil es ein Gesprächsformat gibt. Wir werden natürlich auch mit dem neuen Präsidenten alles daransetzen, mit diesem Format weiterzumachen. Ob es um humanitäre Fragen geht, um den Austausch von Gefangenen oder die Freilassung der noch immer inhaftierten ukrainischen Seeleute – wie, wenn nicht im direkten Gespräch kann man denn solche Probleme sonst klären? Deshalb gilt es, die Gesprächsfähigkeit weiter zu erhalten, selbst wenn es tiefe Meinungsverschiedenheiten gibt. Auch der Dialog zwischen den Gesellschaften bleibt wichtig. Deutsche und Russen verbindet nicht nur die Liebe zur Literatur. Wir haben in vielen Bereichen einander viel zu sagen. Deshalb haben wir auch immer wieder darauf geachtet, dass der Petersburger Dialog weitergeführt wird und dass die Zivilgesellschaft in einem offenen und kritischen Dialog miteinander bleibt. Andreas Schockenhoff sprach auf seinen vielen Reisen nach Russland immer wieder auch mit Vertretern der Zivilgesellschaft und mit zahlreichen Oppositionspolitikern. Als Russlandkoordinator setzte er sich gegen Repressalien wie die verschärfte NGO-Gesetzgebung in Russland ein. Das war sehr, sehr wichtig. Meine Damen und Herren, ein Bereich der Außenpolitik ist in den letzten Jahren stärker in den Fokus gerückt, der zu Zeiten des außenpolitischen Wirkens von Andreas Schockenhoff noch nicht so eine große Rolle spielte; und das sind unsere Beziehungen zu Afrika. Im Grunde hat sich unsere Entwicklungspolitik nicht dramatisch verändert, da afrikanische Staaten schon immer Partnerländer der Entwicklungszusammenarbeit mit Deutschland, Europa und vielen Nichtregierungsorganisationen waren. Aber wir haben sozusagen die strategische Bedeutung für unser Zusammenleben von Europa und Afrika neu definiert. Afrika ist unser Nachbarkontinent, von dessen Schicksal auch unsere Sicherheit und auch unser Wohlstand abhängen. Man wird, das ist meine tiefe Überzeugung, illegale Migration, Drogenschmuggel, Waffenschmuggel nicht bekämpfen können, indem man rein auf Abschottung setzt. Das ist auch eine Lehre aus der Geschichte. Vielmehr muss man es schaffen, gewissermaßen in einer guten Balance mit seiner Nachbarschaft zu leben. Das beginnt in Nordafrika und das setzt sich weiter Richtung Süden fort. Wir sind zu einem völlig neuen außenpolitischen Engagement gekommen durch die französische Bitte nach den Terroranschlägen in Paris, uns auch in Mali zu engagieren. Ich war jüngst gerade wieder in drei der ärmsten Länder Afrikas – in Burkina Faso, Mali und Niger. Und ich muss Ihnen sagen, dass das dort aus deutscher Sicht eine völlig andere Welt ist. Hierzulande lassen demografische Veränderungen unser Durchschnittsalter ansteigen. Das liegt so um die 45 Jahre in Deutschland. In den drei genannten Ländern liegt es bei 15 Jahren. Wir haben ein Pro-Kopf-Einkommen in der Bundesrepublik Deutschland in Höhe von rund 40.000 Euro im Jahr. Die drei afrikanischen Länder haben eines zwischen 480 und 580 Dollar pro Jahr. Die Bevölkerung von Niger verdoppelt sich alle zwölf Jahre. Wie das in den Griff zu bekommen ist, hängt vor allem davon ab, ob es in Niger genug Schulen gibt und ob auch die Mädchen in die Schule gehen können und gebildet werden. Wir müssen uns fragen, ob wir für solche Investitionen nicht noch weitaus mehr Kraft aufbringen müssen und ob wir nicht schneller werden müssen. Zwölf Jahre – das sind in Deutschland in etwa die Zeit, die man zum Beispiel braucht, um von der Idee bis zu einer möglichen Realisierung eines zwei Kilometer langen Abschnitts einer Hochspannungsleitung zu gelangen. Zwölf Jahre lang, glaube ich, wurde auch über die Elbvertiefung in Hamburg diskutiert. Und über den Berliner Flughafen möchte ich gar nicht erst sprechen, weil ich den Zeitpunkt der Eröffnung noch nicht genau kenne. Aber meine Damen und Herren, in einem solchen Zeitraum verdoppelt sich in einem Land wie Niger die Bevölkerung; und die Antwort auf die Frage, ob irgendwas nach einem Jahr, nach anderthalb Jahren oder nach drei Monaten kommt – zum Beispiel die Versorgung mit Malarianetzen oder der Bau einer Straße, die vielleicht verfeindete Regionen miteinander verbindet – ist entscheidend für Krieg und Frieden, für Leben und Nichtleben von Menschen. Wenn ich auch sehe, wie schnell und konsequent China agiert, dann kann ich nur sagen: Europa muss besser werden. Denn für unsere Werte und Worte kann man sich auch im wahrsten Sinne des Wortes nichts kaufen, wenn nicht auch Taten folgen. Die Langsamkeit, die hier in Deutschland vielleicht verkraftbar ist – aber auch nicht unendlich; auch wir müssen schneller werden, weil uns sonst die Welt überholt –, darf man in afrikanischen Ländern eben nicht an den Tag legen. Das stellt uns vor neue außenpolitische Herausforderungen. Meine Damen und Herren, politische Gespräche sind meist Gespräche über Probleme und Krisen, über Handlungsbedarf, Geld und Verantwortlichkeiten. Das ist in der Außenpolitik nicht anders als in der Innenpolitik. Und das ist in Lectures nicht anders als in der Tagespolitik. Die Lösung vor allem grenzüberschreitender Herausforderungen verlangt Geduld und Hartnäckigkeit, Beständigkeit und Verlässlichkeit. Das sehen wir an einem Tag wie heute auch bei einem kurzen Blick in die Geschichtsbücher. 2019 ist ein Jubiläumsjahr. Denken wir zum Beispiel nur an den Fall der Berliner Mauer vor fast 30 Jahren. Mit der Mauer war die Teilung Deutschlands buchstäblich in Beton gegossen. Aber der Freiheitswille von Menschen lässt sich eben nicht in Beton gießen und einmauern. Das haben mutige Frauen und Männer in Danzig, in Leipzig, in Prag und Budapest bewiesen. Sie haben Löcher in den Eisernen Vorhang gerissen. Geduldige und weitsichtige diplomatische Bemühungen in Ost und in West haben geholfen, den Weg zur Deutschen Einheit und europäischen Einigung zu ebnen. Geduldige und weitsichtige Bemühungen sind auch heute unverändert gefragt. So ließ sich auch der über Jahrzehnte festgefahrene Namensstreit zwischen Griechenland und Nordmazedonien über zähe Verhandlungen endlich lösen. Wie hätte sich Andreas Schockenhoff darüber gefreut. Ich erinnere mich noch gut an den NATO-Gipfel 2008 in Bukarest. Man hat dort über Iterationen, wie man das so in der Mathematik lernt, verschiedenste Namensvorschläge wie Ober-, Unter-, Nord-, Süd-, Auf- und Ab-Mazedonien hin und her geworfen. Es gab keinen Weg, irgendwie zu einem Namen zu kommen. Und später ist es dann also doch noch gelungen. Das ist eine große Freude. Damit konnten bilaterale Konflikte gelöst werden. Und auch der Weg zur NATO wurde frei. Aber es bleibt noch genug zu tun im Westlichen Balkan. Auch da müssen wir weiter dranbleiben. Und das wäre auch ganz im Sinne von Andreas Schockenhoff. Axel Müller hat vorhin erwähnt, dass wir die Staats- und Regierungschefs der Westbalkanstaaten kürzlich bei uns in Berlin zu Gast hatten. Wir haben 2014, als wir den 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs hatten, überlegt, was wir neben der Gedenkveranstaltung noch machen könnten. Wir haben dann den sogenannten Berliner Prozess mit den Staaten des Westlichen Balkans gestartet. Inzwischen haben wir dort ein Jugendwerk, wir haben eine Wissenschaftskooperation, wir haben Infrastrukturprojekte. Die Staats- und Regierungschefs sind durchaus stolz darauf, dass sie sich seitdem auch ohne uns treffen und miteinander reden. Damit sind längst nicht alle Probleme gelöst, aber man ist wieder dazu gekommen, miteinander zu kooperieren, auch wenn es mühselig ist. Dass sich serbische und kosovarische Staats- und Regierungschefs immerhin an einen Tisch setzen, ist auch ein Verdienst von Andreas Schockenhoff. Denn mit seinem langjährigen Engagement hat er entscheidend mit dazu beigetragen, dass die Europäische Union im Laufe der Zeit viele praktische Schritte zur Normalisierung des Verhältnisses beider Länder erreichen konnte. Andreas Schockenhoff wusste nur zu gut, welch starke Transformationskraft die Europäische Union auf dem Balkan entwickeln kann und wie wichtig es ist, diese Kraft auch wirklich zu nutzen. Viele andere Beispiele für erfolgreiches Krisenmanagement und proaktive Konfliktlösungen ließen sich noch anführen. Oft werden sie schnell vergessen, weil sich schon wieder andere Fragen und neue Konflikte auftürmen. Aber um sich Mut zu machen, sollte man ab und an auch an das Gelungene denken. Beharrlichkeit und Optimismus haben auch Andreas Schockenhoff ausgezeichnet. Kein Brett war ihm zu dick, um es nicht doch zu bohren. Ein gutes, gedeihliches und friedliches Zusammenleben in Europa – das war ihm immer jeden Einsatz wert. In seinem Engagement, seiner Geradlinigkeit und Verlässlichkeit bleibt er uns deshalb ein Beispiel. Daher bleibt mir nur zu wünschen, dass die heutige Dr.-Andreas-Schockenhoff-Lecture der Anfang einer guten und langen Tradition sein möge – und dass wir im Gedenken an das, was er bewirkt hat, immer auch daran glauben, dass gut Ding manchmal auch Weile haben will, dass man nicht zu schnell die Flinte ins Korn wirft, sondern dass man einfach weitermacht und dann ab und an auch Ergebnisse erreicht; und wenn nicht, muss man es eben noch einmal versuchen. Daher danke für die gute Idee und danke nochmals für die Einladung.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 26. Deutschen Sparkassentag am 15. Mai 2019 in Hamburg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-26-deutschen-sparkassentag-am-15-mai-2019-in-hamburg-1611518
Wed, 15 May 2019 14:41:00 +0200
Hamburg
Alle Themen
Sehr geehrter Herr Schleweis, sehr geehrter früherer Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, sehr geehrte Damen und Herren, die Sie hier die Sparkassen – 384 an der Zahl – vertreten, teilweise auch die Kommunen und Landkreise, in denen Sparkassen ihren Sitz haben! Ich habe gehört, dass aus meinem Wahlkreis der Stralsunder Oberbürgermeister hier ist, habe ihn aber in dieser Menge nicht gesehen. Ich grüße ihn stellvertretend für alle anderen Kommunalvertreter! Ich freue mich, dass ich hier sein kann. Danke auch für den spektakulären Empfang, Herr Schleweis! Die Sparkassen haben immer ein sehr gutes Hallengefühl und ein gutes Design. Dieses Mal geht es bei Ihrem Sparkassentag um moderne Lebenswelten. Es ist ja sehr wichtig, dass wir hier auch über das, was vor uns liegt und was wir zu tun haben, reden. Sie haben das Motto „Gemeinsam allem gewachsen“. Das zeigt, dass Sie mutig in die Zukunft schauen – in eine Zukunft, die uns allen natürlich sehr viel Veränderung abverlangt. Wenn ich an die 384 Sparkassen denke, dann sehe ich, dass diese sehr viel mit dem zu tun haben, das auch die Bundesregierung umtreibt, nämlich mit der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Wir spüren, dass die Veränderungen dazu führen, dass die Diversität in unserem Land wächst, dass sich Menschen in ländlichen Räumen zurückgelassen fühlen, während in den Ballungszentren ganz andere Probleme im Zusammenhang mit bezahlbarem Wohnen und Mieten auftreten, und dass Sie auch diejenigen sind, die für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse mit sorgen können. Deshalb meine Bitte: Auch wenn Sie 2018 erneut ein gutes Ergebnis erwirtschaftet haben, auch wenn Sie Ihr Kreditgeschäft mit Unternehmen und Selbstständigen weiter gesteigert haben, auch wenn wir uns noch einmal vor Augen führen sollten, dass Sie immerhin über 40 Prozent aller Unternehmenskredite vergeben – bleiben Sie der Fläche gewogen! Das ist sehr wichtig, denn mehr als die Hälfte der Menschen lebt in der Fläche. Ich weiß, dass das leichter gesagt, als getan ist. Auch Sie, Herr Schleweis, kennen den Reformbedarf, dem man sich stellen muss. Aber Sparkassen sind eine wichtige Stütze des deutschen Finanzmarkts – auch gerade da, wo die Bevölkerungsdichte zum Teil geringer ist. Für eine starke Wirtschaft brauchen wir einen guten Finanzmarkt. Deshalb will ich – so wie ich auf jedem Sparkassentag, den ich besucht habe, immer wieder gesagt habe – noch einmal ein deutliches Bekenntnis zum Drei-Säulen-Modell abgeben. Jede Säule für sich muss stark und wettbewerbsfähig sein. Ich denke, dass wir uns die Vielfalt an dieser Stelle im wahrsten Sinne des Wortes nicht nur leisten können, sondern auch leisten sollten. Manchmal – ich bin auch selbst nicht gefeit vor solchen Klagen – sagt man: Deutschland hat so ein kompliziertes System mit einer großen Vielfalt, einem föderalen System, einer Selbstverwaltung der Kommunen und mit verschiedenen Bundesländern. Es gibt immer wieder viele Ärgernisse, die wir zu überwinden haben. Aber das Ganze gibt unserem Land doch eine besondere Stabilität. Diese Stabilität bewährt sich auch in Krisensituationen. Deshalb sollten wir, denke ich, uns zu dieser Kompliziertheit und Vielfalt bekennen. Meine Damen und Herren, Sie bei den Sparkassen haben oft langfristige und sehr verlässliche Kundenbeziehungen. Sie bieten Finanzdienstleistungen für Unternehmen, Selbstständige, Bürgerinnen und Bürger an und genießen großes Vertrauen. Ich bitte Sie, dass Sie dieses Vertrauen pfleglich behandeln. Das tun Sie. Ich danke Ihnen auch dafür. Denn Vertrauen kann in unserer heutigen Zeit sehr, sehr schnell verloren gehen. Jeder, der sich mit den Herausforderungen der Landesbanken beschäftigt hat, weiß, wie schnell man in eine schwierige Lage kommen kann. Ich will das jetzt nicht vertiefen. Aber die Sparkassen vor Ort haben sehr viel Vertrauen auch über die schwierige Zeit der Finanzkrise gerettet. Dafür will ich ausdrücklich danke sagen. Sie stehen auch heute noch vor riesigen Herausforderungen, die indirekt immer noch etwas mit der globalen Finanzkrise zu tun haben. Ich meine vor allem das sehr niedrige Zinsniveau, das wir im Augenblick haben. Diesen Herausforderungen müssen Sie sich stellen. Meine Damen und Herren, damit bin ich, zumal ich hier in Hamburg bin, bei einem Thema, mit dem wir uns natürlich auch sehr intensiv befasst haben. Denn wir hatten hier ja das G20-Treffen 2017. Beim Sparkassentag geht es auf den Straßen etwas ruhiger zu als während des G20-Treffens. Das spricht auch für das Vertrauen, das man Ihnen entgegenbringt. Aber dieses G20-Treffen auf Ebene der Staats- und Regierungschefs ist im Grunde als Folge der globalen Finanz- und Bankenkrise entstanden. Bis dahin gab es G20-Treffen nur auf der Ebene der Finanzminister. Angesichts der Größe der Herausforderung habe ich mit dem damaligen Präsidenten George Bush besprochen, dass wir ein solches Treffen unbedingt auch auf Ebene der Staats- und Regierungschefs brauchen. Wir haben damals vieles in eine globale Ordnung zu bringen versucht, um die Risiken zu minimieren. Auch daraus sind neue Herausforderungen erwachsen, die auch Sparkassen betreffen. Die Finanzmärkte sind in einem großen Wandel begriffen. Ich will einige der Herausforderungen nennen. Ich will mit einem Thema beginnen, das sehr gut in die augenblickliche Diskussion passt. Es heißt „Sustainable Finance“ – also nachhaltige Finanzen. Wir alle erleben in diesen Tagen die berechtigte Ungeduld der Jugend, die darauf drängt, dass wir uns mit den Fragen des Klimawandels und auch des Artenschutzes intensiver und entschiedener befassen. Antworten darauf werden wir nicht allein auf der Umweltschiene finden, weil diese Fragen alle Bereiche auch der Wirtschaft durchdringen. Daher gilt es etwa auch, das Thema klimabezogene Risiken auf den Finanzmärkten besser abzubilden, nachhaltige Finanzinstrumente zu stärken und entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen. Sustainable Finance hilft einerseits, die Effizienz und Stabilität des Finanzsystems zu erhöhen. Andererseits trägt es dazu bei, die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens und auch die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Das sind zwei entscheidende Gründe dafür, dass die Bundesregierung im Februar dieses Jahres beschlossen hat, eine Strategie mit dem Ziel zu entwickeln, Deutschland zu einem der führenden Sustainable-Finance-Standorte zu entwickeln. Ich lade Sie als Sparkassen ein, bei denen, die Ihre Kunden sind, ganz bewusst dafür zu werben. Es ist natürlich nicht nur eine nationale Frage, Finanzflüsse kompatibel mit dem Ziel einer kohlenstoffarmen und klimaschonenden Entwicklung zu machen. Daher sind wir natürlich auch auf europäischer Ebene aktiv. Die Europäische Kommission hat einen Aktionsplan zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums auf den Tisch gelegt. Jetzt geht es darum, ihn möglichst sachgerecht, wirkungsvoll und praktikabel umzusetzen. Es kann ja kein Zweifel daran bestehen, dass das heutige Finanzmarktsystem Nachhaltigkeitsaspekte noch nicht ausreichend integriert. Die Anreize, in wirklich nachhaltige Projekte zu investieren, reichen noch lange nicht aus. Deshalb möchte ich Sie ermuntern, auch in diese Richtung zukunftszugewandt zu denken und Wachstum und Klimaschutz kompatibel zu machen. Das ist eine der ganz großen Aufgaben unserer Zeit. Wir als Bundesregierung und ich ganz persönlich setzen dabei auch auf technologischen Fortschritt. Wir wollen Fortschritt nicht gegen Klimaschutz und Artenvielfalt ausspielen, vielmehr brauchen wir ihn für beides. Denken wir zum Beispiel an erneuerbare Energien und Effizienztechnologien. Deutschland ist dabei an vielen Stellen durchaus führend mit dabei. Aber damit werden wir uns in den nächsten Jahren sicherlich noch viel intensiver beschäftigen müssen. Hinzu kommt die digitale Revolution. Sie ermöglicht uns vieles, was wir vorher nicht konnten, aber sie stellt uns auch vor völlig neue Herausforderungen. Auch Sie bei den Sparkassen müssen natürlich aufpassen, dass Sie die Herausforderungen der Digitalisierung beherrschen; und zwar so beherrschen, dass Sie nicht überall Filialen schließen und davon ausgehen, dass der Kunde schon irgendwie übers Internet zu Ihnen gelangt, ganz davon abgesehen, dass wir im ländlichen Raum damit zum Teil noch hinterher sind. Die Geschäftsmodelle verändern sich. Umso wichtiger ist es, dass wir bei FinTech eine Vorreiterrolle einnehmen. Deshalb ist die Bundesregierung dabei, ein Eckpunktepapier zum Beispiel zur Einführung elektronischer Wertpapiere und Ähnliches zu erarbeiten. Wir können heute noch nicht ganz ermessen, welche Möglichkeiten sich aus FinTechs, BigTechs und Blockchain-Technologien ergeben und wie sich auch das Kundenverhalten verändern wird. Ich denke aber, Sie werden in ganz besonderer Weise davon betroffen sein, da Sie eine große Bandbreite an Kunden haben: junge, innovative Kunden, die Start-ups führen, die in diesem Bereich sehr agil sind und von Ihnen vieles erwarten, und gleichzeitig Kunden, die im Augenblick Angst haben, abgehängt zu werden, weil sie sozusagen noch im klassischen Denken verfangen sind. Wir sind ja in einer Umbruchzeit. Man benützt das Wort „disruptiv“ heute etwas leichtfertig, aber wir sind ja wirklich in einer Umbruchzeit. Diese Umbruchzeit so zu gestalten, dass die Menschen mitgenommen werden, und zwar in allen Altersgruppen, in allen Ausbildungsgruppen, das ist eine der ganz großen Herausforderungen. Deshalb haben auch Sie in Ihren Sparkassen natürlich ganz neue Aufgaben. Wir müssen ja feststellen, dass wir als Ältere heute diejenigen sind, die sich von den Jungen vieles abschauen müssen. Das ist ein völlig neues Lernverhalten. Das heißt, Sie müssen die, die Sie in Ihren Sparkassen jung einstellen, ermuntern, offen für neue Technologien zu sein, und gleichzeitig alte Strukturen evolutionär dahin verändern, wohin sie verändert werden müssen. Das heißt, dass Sie innovativ sein und gleichzeitig das Ganze im Blick behalten müssen. Wir brauchen Automatisierung von Prozessen. Wir brauchen Anpassung von Bankdienstleistungen an veränderte Kundenerwartungen. Wir brauchen eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Institutsgruppen, um im Zahlungsverkehr beim E-Commerce gegenüber den Internetgiganten mithalten zu können. Das alles ist leichter gesagt, als getan. Aber wer sich neuen Entwicklungen verschließen würde, könnte seine Filialen vielleicht bald auch schließen müssen. Deshalb dürfen Sie sich nicht verschließen; und Sie dürfen auch nicht zu viele Filialen schließen. Deshalb, meine Damen und Herren, gilt es für Sie, eigenständige Unternehmenslösungen zu finden, die den Risiken standhalten. Deshalb kann ich mir vorstellen, dass Sie hier vieles zu diskutieren haben. Hinzu kommen Sicherheitsaspekte, die Cybersicherheit, die immer wichtiger werden. Denn viele Verbraucher fragen sich etwa, wie sicher ihre Banking-App vor einem Zugriff Dritter ist. Die IT-Infrastruktur gegen Cyberangriffe abzusichern, ist eine große Herausforderung für die Finanzinstitute. Natürlich haben Sie auch ein großes Interesse daran, dass wir seitens der Bundesregierung mit der Digitalisierung vorankommen. Denn Sie können Ihren Kunden ja nur das anbieten, was auch praktikabel und machbar ist. Das Thema weiße Flecken, die Frage, wie wir flächendeckend schnelles Internet hinbekommen, ist auch eines der ganz großen Themen, das uns umtreibt. Ich will an dieser Stelle allerdings, weil hier sehr viele kommunale Vertreter anwesend sind, noch einmal daran erinnern, dass die Bewältigung neuer technologischer Entwicklungen nicht nur eine Aufgabe der Bundesregierung ist. Wir haben in Bund, Ländern und Kommunen noch gar nicht ausreichend darüber gesprochen, wer denn qualitative Veränderungen in welchem Ausmaß meistern muss. Wenn es um Digitalisierung oder zum Beispiel um Elektromobilität geht, dann kann es nicht ausschließlich die Aufgabe des Bundes sein, alle Innovationen durchzusetzen, sondern vom Bürgermeister und vom Landrat an bis hin zu den Ländern und zum Bund müssen wir diese Aufgabe gemeinsam angehen. (Vereinzelter Beifall) – Die kommunalen Spitzenverbände klatschen noch nicht. Aber es ist so. – (Heiterkeit und Beifall) Wir sind ein föderales Gebilde; und ortsspezifische Lösungen werden wir kaum finden, wenn wir alles von der Berliner Zentrale aus mit der Gießkanne machen, sondern sie müssen eben auch vor Ort erarbeitet werden. Sie werden zugeben, dass die Bundesregierung durchaus ein großes Herz für Kommunen hat. Ich könnte jetzt sagen, wenn es die Länder dazwischen nicht gäbe, dann wäre alles noch einfacher, aber das sagt sich leicht in einer Hansestadt und dann, wenn kein Ministerpräsident in der Nähe ist. Verraten Sie mich also nicht weiter. Meine Damen und Herren, wir wissen, dass gerade beim Thema IT-Sicherheit und bei Digitalisierung insgesamt nationale Maßnahmen allein natürlich nicht ausreichen. Deshalb setzen wir uns auch im Rahmen von G7 und G20 für einen verbesserten Schutz gegen Cyberangriffe im Finanzdienstleistungssektor ein. Das wird auch in Zukunft eine sehr große Aufgabe bleiben. Cybersicherheit ist Vertrauenssache. Und Vertrauen allgemein ist, wie ich eingangs schon sagte, mit das wichtigste Kapital von Finanzinstituten. Dieses dürfen wir nach der internationalen Finanzkrise nicht noch einmal verspielen. Wir wissen, dass die Finanzmärkte auch heute immer wieder großen Risiken ausgesetzt sind. Deshalb haben wir die notwendigen Lehren zur Regulation und Aufsicht zu ziehen versucht. Wir haben die Lektion gelernt und mit den Finanzmarktreformen bereits viel erreicht. Allerdings ist wieder eine Tendenz spürbar, diese Lektion ein wenig zu vergessen. Vor allen Dingen ist es uns nicht ausreichend gelungen – damit bin ich bei einem Thema, das Sie sehr umtreibt, nämlich Basel III –, das „level playing field“ international wirklich so durchzusetzen, wie es eigentlich notwendig wäre. Hier ist also weiterhin Arbeit notwendig. Wir haben uns in Europa entschieden, die Dinge europaweit gemeinsam zu lösen und zu regeln. Das ist auch notwendig, wenn man eine gemeinsame Währung hat. Ich will das ausdrücklich sagen. Ich denke, wir sind uns einig, gerade wenige Tage vor der Europawahl, dass die gemeinsame Währung für uns eine Friedenssicherung ist. Länder, die eine gemeinsame Währung haben, führen keinen Krieg gegeneinander. Das zeigt die Geschichte. Insofern ist der Euro weit mehr als eine Währung. Er ist ein großer gegenseitiger Vertrauensbeweis. Aber er erfordert natürlich auch, dass dieses Vertrauen von jedem einzelnen Mitglied des Euroraums gerechtfertigt wird. Deshalb nehme ich Ihre Worte sehr ernst und unterstütze es, dass gemeinsames Handeln nicht darauf beruhen kann, dass man sozusagen die Risiken gemeinsam trägt und keine Verantwortung dahinter ist. Deshalb muss als Erstes jeder bei sich zu Hause das ganze Haus in Ordnung halten. Das ist das Prinzip, mit dem die Bundesregierung in diese Diskussionen hineingeht. Wir arbeiten also an einer Bankenunion. Wir arbeiten an einer Kapitalmarktunion. Ich würde mich freuen, wenn Sie als Vertreter der Sparkassen auch ein gutes Wort für diese Kapitalmarktunion einlegen. Es gibt viele Diskussionen, in denen beispielsweise gesagt wird: „Warum müssen wir denn italienischen Unternehmen Kredite geben? Es ist doch gut, wenn das national stattfindet.“ – Letztlich ist es für den Wettbewerb und für die Konvergenz innerhalb der Europäischen Union nicht gut. Deshalb ist die Kapitalmarktunion wichtig. Bei der Bankenunion geht es vor allen Dingen um Risikoabbau. Deshalb müssen wir den Risikoabbau auch mit der entsprechenden Entschlossenheit angehen. Das bedeutet, dass wir den Abbau von notleidenden Krediten in der EU und die adäquate Regulierung auch der Risiken, die sich aus den Staatsanleihen ergeben, vorantreiben. Das ist ein zum Teil mühseliges Geschäft. Aber wir sind dabei vorangekommen. Ich darf Ihnen sagen, dass wir als Bundesregierung immer versucht haben, die Besonderheit unseres Bankensystems, nämlich auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip, mit Blick auf die Sparkassen durchzusetzen. Das ist eine schwierige Aufgabe in der Europäischen Union, weil wir ein Finanzsystem haben, das so in vielen Ländern nicht bekannt ist. Aber ich hoffe, Herr Schleweis, dass Sie mit unseren Bemühungen einigermaßen zufrieden sind. Wir werden auch weiterhin sehr genau auf Sie hören. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass das Bankenpaket nun eine Definition für sogenannte kleine, nicht komplexe Institute enthält. Maßgeblich sind eine Bilanzsumme von maximal fünf Milliarden Euro sowie qualitative Kriterien. Das ist vielleicht auch ein kleiner Schutzschild, um nicht zu viele Sparkassen zusammenzulegen und zu große Konglomerate daraus zu machen, sondern auch die kleinen Sparkassen zu achten und zu schützen. Der Grundstein ist also gelegt, dass den Instituten künftig gezielt dort Erleichterungen eingeräumt werden, wo der Verwaltungsaufwand nicht im Verhältnis zum Nutzen der Aufsicht steht. Daran können wir anknüpfen und unverhältnismäßige Lasten in der Regulierung für kleine, nicht komplexe Institute weiter senken. Allerdings vermute ich, dass wir so, wie ich die europäischen Regulierungen kenne, bei der Implementierung dieser Regelungen noch einmal aufpassen müssen. Wir stehen ja in einem engen Diskussionsprozess. Wir können also insgesamt festhalten: Die Banken in Europa haben ihr Eigenkapital gestärkt; sie sind stabiler als vor der Finanzkrise. Die Konsolidierung des Bankenmarkts ist in vollem Gange. Den Banken in Europa ist es letztes Jahr gelungen, ihre Gewinne zu erhöhen; und zwar trotz eines schwierigen Umfelds. Wir haben natürlich verschiedene Unsicherheiten zu bewältigen. Eine hängt mit dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union zusammen. Wir haben die Austrittsfrist bis zum 31. Oktober 2019 verlängert. In der Abwägung der Entscheidungsmöglichkeiten ist es aus meiner Sicht die beste Variante, den Briten einfach etwas mehr Zeit zu geben, um ihren eigenen Weg aus der Europäischen Union zu finden, sich aber vor allen Dingen auch darüber klar zu werden, welches Verhältnis Großbritannien in Zukunft zur Europäischen Union entwickeln will. Aus meiner Sicht ist die Phase, in der wir jetzt sind, eine sehr entscheidende Phase. Wir erleben zum ersten Mal, dass ein Land die Europäische Union verlassen wird. Premierministerin Theresa May hat mit Recht gesagt: Wir verlassen nicht Europa, sondern wir verlassen die Europäische Union. Da Europa immer auch sehr viel mit Krieg und Frieden und zukünftigen Beziehungen zu tun hat, ist es mir sehr, sehr wichtig, dass dieser Prozess des Austritts Großbritanniens selbstbestimmt durch Großbritannien geführt wird, auch was die zeitlichen Rahmenlinien angeht, damit später in der Geschichtsschreibung nicht festgehalten werden muss, dass die Europäische Union eine drängende, Großbritannien verletzende Rolle eingenommen hat. Ich glaube, das ist ein sehr sensibler Moment, der für die Beziehungen, die wir in Zukunft zueinander haben, sehr entscheidend sein wird. Nichtsdestoweniger haben sich einige Finanzmarktakteure bereits entschieden, ihr Geschäft zu verlagern bzw. woanders aufzubauen. Davon profitiert auch der Finanzstandort Deutschland. Das alles ändert aber nichts daran, dass der Austritt Großbritanniens aus meiner Perspektive letztendlich ein Verlust ist. Diese kleinen Gewinne machen das natürlich nicht wett. Meine Damen und Herren, das ist aber nicht die einzige Herausforderung, vor der wir stehen. Ihr heutiges Motto lautet: „Gemeinsam allem gewachsen“. Das zeigt, dass Sie glauben, dass man die Probleme lösen kann. Ich glaube das auch, will aber nicht darum herumreden, dass die Gemeinsamkeit und Zusammenarbeit auf globaler Ebene nicht einfacher geworden sind und dass der Grundgedanke, der uns seit Jahrzehnten getragen hat, nämlich dass nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, nach der Katastrophe des Nationalsozialismus, nur eine gemeinsame Herangehensweise Frieden und Sicherheit liefert, nicht mehr unbestritten ist. Man muss heute wieder für diesen Grundgedanken kämpfen. Mir ist es sehr wichtig, dass wir alle dies tun; denn das kann Politik nicht alleine. Das versetzt uns eigentlich in die Lage, noch einmal sozusagen von Grund auf zu begründen, warum es wichtig ist, global miteinander zusammenzuarbeiten, warum es wichtig ist, in Europa miteinander zusammenzuarbeiten, und warum keiner von uns – auch nicht das größte Land – die großen Probleme allein lösen kann. Gerade in diesen Tagen, in denen wir ja auch an 70 Jahre Grundgesetz denken, erweist sich das als eine ganz wichtige Aufgabe, vor der wir stehen. Ich werde mich und die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dass wir gerade in einer Zeit, in der es wieder umkämpft ist, ein klares und starkes Bekenntnis zum Multilateralismus abgeben. Wir werden ansonsten wieder anfangen, gegeneinander zu arbeiten, schlecht übereinander zu reden, zu pauschalisieren und zum Schluss in immer weitere Spannungen hineinzugehen. Wir alle haben in Büchern wie „Die Schlafwandler“ gelesen, wie es zum Ersten Weltkrieg gekommen ist. Es heißt auch in der heutigen Zeit, aufmerksam zu sein – sehr aufmerksam zu sein – und immer wieder zu versuchen, sich auch in die Situation des anderen hineinzuversetzen. Denn anders kann man Probleme weltweit nicht lösen. Wir haben uns deshalb in unserer G20-Präsidentschaft und auch in der Begleitung der nachfolgenden Präsidentschaften immer wieder dafür eingesetzt, globale Aufgaben auch global zu lösen. Das gilt nicht nur für die Finanzmärkte, sondern das gilt für die Gesamtheit aller globalen Probleme. Da Sie ja besonders gut prosperieren, wenn die internationale Wirtschaft gut funktioniert, sind gerade auch die Fragen des Handels und des Protektionismus hier ein ganz wichtiges Thema. Wir haben damals die internationale Finanzkrise, die globale Bankenkrise, nur deshalb gelöst bekommen, weil wir als G20, als die führenden Industrieländer, zusammengearbeitet haben. Wenn ich sehe, wie im Augenblick die Handelsbarrieren wieder wachsen, wie Protektionismus wieder salonfähig wird, wie schwierig es ist, die Welthandelsorganisation zu gemeinsamen Beschlüssen zu bringen oder überhaupt ihre Arbeitsfähigkeit zu erhalten, dann zeigt sich daran, dass dieser Kampf keineswegs gewonnen ist. Aber wir müssen ihn trotzdem führen. Ich habe gerade erst in der letzten Woche den Hamburger Hafen besucht. Dort können Sie sozusagen seismographisch sehen, wie das Wirtschaftswachstum und der Wohlstand Deutschlands davon abhängen, ob wir international zusammenarbeiten oder ob es Friktionen im internationalen Handel gibt. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir als Europäische Union doch eine ganze Reihe von Handelsabkommen abschließen konnten. Jedes Mal, wenn uns das zwischen der EU und einem anderen Land gelungen ist, ob es nun Südkorea oder Kanada ist – das mit Japan ist vor kurzem fertig geworden –, haben wir davon profitiert. Deshalb haben wir uns als Bundesregierung auch dafür eingesetzt, Handelsgespräche mit den Vereinigten Staaten von Amerika zu suchen. Es war kein einfacher Vorgang, hierfür innerhalb der Europäischen Union ein gemeinsames Mandat zu bekommen. Aber wir setzen auf solche Gespräche, weil wir glauben, dass sie uns insgesamt weiter voranbringen. Deutschlands Wohlstand und damit auch der Wohlstand jedes einzelnen Bürgers hängt auch ganz wesentlich mit der Stärke unserer Exportwirtschaft zusammen. Deshalb werden wir in unserer Politik weiter darauf setzen, dass wir wettbewerbsfähig bleiben. Das ist für die Europäische Union eine der zentralen Aufgaben. Wir sind, muss man ganz klar sagen, heute nicht innovativ genug. Wir sind vor allen Dingen im Handeln der Europäischen Union nicht schnell genug. Aber es ist sozusagen aus meiner Sicht ohne eine vernünftige Alternative, dass wir die Europäische Union handlungsfähiger machen, dass wir sie verbessern, dass wir innovativer werden und dass wir einen Anspruch an uns haben, nämlich dass wir, wenn wir wertegeleitet bestimmte Dinge auf der Welt durchsetzen wollen – Stichwort Klimaschutz, Stichwort Sicherheit, Stichwort Handel ohne Protektionismus –, dann gemeinsam agieren müssen. Wir müssen unser Gewicht gemeinsam in die Waagschale werfen, sonst werden wir auf der Welt nichts bewegen. Da sind wir eben heute mit Partnern konfrontiert – nicht nur mit den Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch mit China und Indien –, die globale Schwergewichte sind. Und da sind wir überhaupt nur über den europäischen Zusammenschluss in der Lage, diese Herausforderung zu bewältigen. Deshalb, meine Damen und Herren, wird es mit der neuen Kommission nach der Europawahl darauf ankommen, sich auch wirklich auf die Schwerpunkte zu konzentrieren. Europa darf sich nicht um alles und jedes kümmern. Wir haben heute im Kabinett ein Gesetz zur Veränderung der Hebammenausbildung beschlossen. In Europa ist beschlossen worden, dass man nur Hebamme werden kann, wenn man zwölf Jahre zur Schule gegangen ist. Ich wage zu bezweifeln, dass das eine zentrale europäische Verantwortlichkeit ist. Aber wenn es um die Erschließung des europäischen Binnenmarkts im digitalen Bereich geht, wenn es darum geht, dass wir diesen Markt sozusagen barrierefrei und ohne Hemmnisse nutzen können, wenn es um einen gemeinsamen Energiemarkt geht, wenn es um einen gemeinsamen Datenschutz geht, dann hat Europa seine Aufgaben und seine Pflichten. Wir werden uns weltweit nur durchsetzen können, wenn wir wettbewerbsfähig und innovativ genug sind. Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen danke dafür, dass Sie jeden Tag Ihre Arbeit tun. Ja, das ist ja nicht selbstverständlich. Ich meine, es gibt genügend andere Beispiele. Ich sage danke dafür, dass so viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vertrauensvolle Beziehungen zu ihren Kunden aufgebaut haben. Ich habe mir sagen lassen, dass aus jeder Sparkasse heute zwei bis drei Vertreter hier sind. Sie alle haben viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Grüßen Sie die ganz herzlich von diesem Sparkassentag aus. Wir sind darauf angewiesen, dass Sie alle sich den neuen Herausforderungen stellen. Arbeiten Sie gut mit Ihren Bürgermeistern und Landräten zusammen und vergessen Sie nicht, dass diese auch ein hartes Leben haben. Das heißt also, die Sparkasse muss schon auch noch so etwas wie die gute Seele einer Region und eines Ortes bleiben. Nur Effizienzgesichtspunkte alleine lösen nicht alle Probleme. Deshalb haben wir uns auch gerne für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf europäischer Ebene eingesetzt. Aber dafür möchten wir auch, dass Sie Ihrer Region wirklich verbunden bleiben und kenntnisreich mit der Bevölkerung zusammenarbeiten. Herzlichen Dank und alles Gute für Ihre Arbeit!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Festakt der Deutschlandstiftung Integration zu 70 Jahren Grundgesetz und zur Verleihung des „Talisman“ am 14. Mai 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-festakt-der-deutschlandstiftung-integration-zu-70-jahren-grundgesetz-und-zur-verleihung-des-talisman-am-14-mai-2019-in-berlin-1610998
Tue, 14 May 2019 11:50:00 +0200
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Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrter Herr Döpfner, sehr geehrte Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, Herr Staatsminister, liebe Staatssekretäre, meine Damen und Herren, vor allem natürlich: sehr geehrte Frau Friedländer, auch ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zu dieser Auszeichnung. Ich freue mich, dass Sie den ersten „Talisman“ der Deutschlandstiftung Integration erhalten. Nachdem wir Sie gehört haben, erübrigen sich alle Worte darüber, dass Sie ihn mehr als verdient haben. Ich glaube aber, vielleicht auch im Namen aller, sagen zu können: Das, was Sie uns gesagt haben, ist für uns Verpflichtung für die Zukunft; das werden wir sehr ernst nehmen. Danke. Es ist wirklich alles andere als eine Selbstverständlichkeit, dass Sie bereit sind, Ihre Geschichte zu erzählen. In Ihrem Buch fragen Sie deshalb auch – und ich möchte Sie zitieren –: „Eine Geschichte habe ich. Aber diese Geschichte ist verknüpft mit dem Leiden und Sterben von vielen Millionen Menschen. Wie kann ich darüber schreiben?“ Sie haben das trotzdem auf sich genommen. Wieviel Kraft Sie das gekostet hat, das können wir nicht ermessen. Wir können Ihnen nur danke sagen – danke, dass Sie ausgerechnet in dem Land, in dem Sie so viel Grausames erlebt und überlebt haben, nun so viel Gutes stiften. Denn das tun Sie, indem Sie mit Schülerinnen und Schülern über Ihre Geschichte und über das dunkelste Kapitel der Geschichte Deutschlands sprechen, über den Zivilisationsbruch der Shoa und wie es zu ihm kommen konnte. Ganz besonders für junge Menschen sind Gespräche mit Zeitzeugen von unschätzbarem Wert; und das gilt erst recht, je länger die Shoa zurückliegt. Sie sind so wichtig, weil wir nie vergessen dürfen, dass nur, wer die Vergangenheit kennt und wer die Verantwortung für die Vergangenheit annimmt, eine gute Zukunft gestalten kann. Wir dürfen niemals vergessen, was Menschen Menschen antun können. Wir dürfen niemals vergessen, dass der Mensch imstande ist, anderen Menschen einfach das Menschsein abzusprechen. Deshalb braucht es Botschafterinnen der Menschlichkeit, die wie Sie, liebe Frau Friedländer, deutlich machen – und ich erlaube mir, Sie noch einmal zu zitieren –: „Es gibt kein jüdisches, kein christliches, kein arabisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut. Wir sind alle Menschen.“ Genau darum, liebe Frau Friedländer, geht es. Wir sind alle Menschen. Oder um es mit dem ersten Satz des Grundgesetzes zu sagen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So hielten es vor 70 Jahren die Mütter und Väter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland unwiderruflich fest. „Die Würde des Menschen […] zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ – So formulierten sie weiter in Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Daraus folgt sehr Konkretes – vorneweg, dass über die Freiheitsrechte des Einzelnen staatlicherseits nicht einfach verfügt werden darf und kann. Es folgt daraus, dass jede und jeder einen Anspruch auf rechtliches Gehör hat und darauf, die Bewahrung der Grundrechte auch gerichtlich verteidigen zu können oder klären zu lassen, ob Gesetze und staatliches Handeln den Grundrechten entsprechen oder nicht. In diesem Sinne haben Gesetzgebung und Rechtsprechung insbesondere durch das Bundesverfassungsgericht in den 70 Jahren seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland die grundgesetzlich verbürgten Freiheiten immer neu präzisiert und unser Recht im Lichte des gesellschaftlichen Wandels fortentwickelt. Es ist nicht selbstverständlich, dass sich ein Verfassungswerk über sieben Jahrzehnte hinweg als Grundlage gelebter Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit so sehr bewährt wie unser Grundgesetz. Technologische Revolutionen, sich wandelnde gesellschaftlich-moralische Wertvorstellungen, Kalter Krieg und Mauerfall, Deutsche Einheit und europäische Integration, Globalisierung und Digitalisierung – bei all dem diente uns das Grundgesetz stets als verlässliches Fundament unseres Zusammenlebens; und das tut es auch heute noch. Das liegt im Verfassungstext an sich begründet wie auch in den gelegentlichen Änderungen und Anpassungen einzelner Stellen des Grundgesetzes in den letzten 70 Jahren. So haben die Bürgerinnen und Bürger in all den Jahren ihr Grundgesetz wirklich angenommen. Und im Umkehrschluss konnte das Grundgesetz seine volle Wirkmacht entfalten. Es ist dabei gar nicht hoch genug zu schätzen, dass mit diesem Grundgesetz und seiner Wirkmacht unser Land für Menschen, die wie Frau Friedländer während des Nationalsozialismus den Staat als gefährlichen Feind erfahren haben, zu einem Staat wurde, in dem sie sich sicher fühlen konnten. Dieser Staat wurde ein Rechtsstaat, der seine Bürgerinnen und Bürger schützt und ihnen dient – der den Menschen nicht vorschreibt, wie sie im Einzelnen zu leben haben, sondern ihnen Chancen einräumt, ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Das Grundgesetz schafft den Raum für die Freiheit, die der Mensch zum Menschsein braucht. Es schafft die Grundlage für die Vielfalt in unserem Land. Vielfalt auch durch Zuwanderung – das gibt es hier im Herzen Europas schon seit Jahrhunderten. Das erleben wir also wahrlich nicht erst seit Inkrafttreten des Grundgesetzes. Und doch erreichte die Zuwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Stufe. Zunächst fanden deutsche Vertriebene, Flüchtlinge und Spätaussiedler vor allem im Westen Deutschlands, in der Bundesrepublik, Aufnahme und schließlich ein neues Zuhause. Als dann ab Mitte der 1950er Jahre die Bundesrepublik Deutschland mehrere sogenannte Anwerbeabkommen schloss, kamen Millionen von Arbeitskräften und Familienangehörigen in die Bundesrepublik, die sogenannten Gastarbeiter. – Ich freue mich, dass Vertreter der Familie Doğan heute auch bei uns dabei sind. – In die DDR kamen die sogenannten Vertragsarbeiter. Von Integration in die Gesellschaft konnte keine Rede sein. Vielmehr mussten diese Menschen dort mehr oder weniger abgeschottet von der einheimischen Bevölkerung leben. Ich habe das mit Menschen aus Angola, Mosambik und Vietnam erfahren. Nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges 1989/1990 kamen in den 1990er Jahren vor allem viele Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland – später, ab 2015, insbesondere aus Syrien und dem Irak. Über die Jahrzehnte hinweg hat sich die Einwanderungs- und Integrationspolitik unseres Landes stark gewandelt. Lange Zeit ging es wesentlich um Arbeitsmigration, Ausländerpolitik und Ausländerrecht. Erst nach und nach rückte die Integration in den Mittelpunkt der Politik und des öffentlichen Interesses. Das war ein langwieriger Lernprozess. – Maria Böhmer ist hier heute mit dabei; wir wissen, wovon wir reden. – Wir haben mühsam verstanden, dass und wie die Einwanderung unser Land verändert und wie sie unser Land auch noch weiter verändern wird. Dabei haben wir gelernt, dass unser Land sowohl ein Einwanderungsland als auch ein Integrationsland sein muss, ganz besonders mit Blick auf gleiche Bildungs und Ausbildungschancen. Daran entscheidet sich wesentlich die wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Unser Grundgesetz erweist sich als das Programm für Zusammenhalt und Integration einer vielfältigen Gesellschaft. Es ist eine Antwort auf die Frage, wie heute über 80 Millionen Menschen mit all ihren Unterschieden gut zusammenleben können. Mittlerweile haben in Deutschland über 19,3 Millionen Menschen eine familiäre Einwanderungsgeschichte. Deshalb freue ich mich über das großartige Zeichen, das die Deutschlandstiftung mit ihrer jüngsten Kampagne „Mein Deutschland. Ich lebe hier auf gutem Grund.“ setzt. Das ist die Botschaft, die Menschen mit familiärer Einwanderungsgeschichte mit dieser Kampagne vermitteln. Sie sind jeweils Botschafter einzelner Artikel des Grundgesetzes. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ – So heißt es in Artikel 1 des Grundgesetzes. Wir freuen uns sehr, liebe Frau Friedländer, dass Sie die Patin sind. „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ – So heißt es in Artikel 3 des Grundgesetzes. Dafür setzt sich die Herzchirurgin Dilek Gürsoy ein. „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ – So heißt es in Artikel 4 des Grundgesetzes. Dafür kämpft die Boxmeisterin Zeina Nassar. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ – So heißt es in Artikel 16a. Und darauf pocht der Gastronom Dat Vuong. Meine Damen und Herren, die Werte und Rechte unseres Grundgesetzes gelten für alle im Land. So verschieden wir auch sind – ob jung oder alt, Frau oder Mann, Städter oder Landbewohner, mit oder ohne Einwanderungsgeschichte –, so sehr verbinden uns die Werte dieses Grundgesetzes. Mit ihnen leben wir hier gemeinsam und, um das Wort Ihrer Kampagne aufzugreifen, „auf gutem Grund“. Daher stehen wir auch alle gemeinsam in der Pflicht und der Verantwortung, die Werte und Grundrechte zu schützen. Das gilt ganz besonders dann, wenn wir uns Rassismus und Antisemitismus, Hass und Gewalt entgegenstellen müssen; und zwar mit allen Mitteln, die uns der Rechtsstaat zur Verfügung stellt. Aber es sind zu oft auch die eher kleinen Nadelstiche, die unseren Zusammenhalt auf die Probe stellen. Das fängt bei der Wortwahl an, die, mehr oder minder bewusst, ausgrenzend oder diffamierend wirken kann. Nicht selten werden die Grenzen der Meinungsfreiheit auch sehr kalkuliert ausgetestet. Aus politischem Kalkül werden Vorurteile bedient. So etwas muss überall und immer auf unseren Widerspruch stoßen. Denn die Würde des Menschen ist nicht verhandelbar. Unsere Verfassung bietet den Rahmen für einen guten Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Ob Anna oder Aljona, Max oder Mohammed – jede und jeder muss auf Chancengerechtigkeit vertrauen können; bei der frühkindlichen Bildung, in der Schule, im beruflichen und gesellschaftlichen Leben. Das ist eine Daueraufgabe. Ich weiß, dass Menschen mit familiärer Einwanderungsgeschichte zu oft das Gefühl haben, trotz gleicher Qualifikationen nicht die gleichen Chancen zu haben. Damit dürfen wir uns nicht abfinden. Deshalb ist es wichtig, dass die Bundesregierung im steten Bemühen um Teilhabe auf starke Partner zählen kann. Zu diesen Partnern gehört auch die Deutschlandstiftung, die schon viele junge Menschen begleitet hat, damit sie ihren Weg gehen konnten. Davon zeugen beeindruckende Lebensläufe als Unternehmer oder Arbeitnehmer, als Ärzte, Ingenieure oder Journalisten. Ich freue mich, dass so viele heute gekommen sind. Ich grüße alle Stipendiaten und Mentoren. Ich habe mich gefreut, dass gestern so viele Neue dazugekommen sind. Herzlichen Dank. Wir werden Ihnen als Erinnerung an diesen Tag unsere besondere Ausgabe des Grundgesetzes, die die Bundesregierung herausgebracht hat, noch übergeben. Mit dem Grundgesetz in der Hand können Sie Ihren Stipendiatenweg gut gehen. Alles Gute für Ihren weiteren Weg. Meine Damen und Herren, 70 Jahre Grundgesetz – das ist in der Tat ein Anlass zu feiern. Denn in diesen sieben Jahrzehnten ist es immer wieder gelungen, die Werte und Rechte unserer Verfassung mit Leben zu erfüllen. Wie wertvoll dies ist, daran denken wir vielleicht nicht jeden Tag, aber das führen uns gerade auch die vielen Konflikte und Krisen rund um die Welt vor Augen. Nichts ist selbstverständlich – weder Frieden noch Freiheit, weder Sicherheit noch gleichberechtigte Teilhabe. Diese Werte müssen stets aufs Neue verteidigt und behauptet werden. Es ist mir deshalb eine große Freude, als Bundeskanzlerin aller Menschen dieses Landes mit dazu beitragen zu können, dass alle, die hier leben, gleichberechtigt an den großartigen Chancen unseres Landes teilhaben können. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Veranstaltung „Die Frauen des 20. Juli 1944“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-veranstaltung-die-frauen-des-20-juli-1944–1631126
Tue, 14 May 2019 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Gedenken
Wenn wir in diesen Tagen den 70. Geburtstag des Grundgesetzes feiern, würdigen wir das Fundament unseres Zusammenlebens, ein Regelwerk deutscher Rechtstaatlichkeit und Demokratie. Das Grundgesetz garantiert Freiheit und die Achtung der Menschenwürde: Werte, die viele, insbesondere junge Menschen heute als selbstverständlich erachten; Werte, für die einst die Widerstandskämpfer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg ihr Leben gegeben haben. Mit ihrem Attentat vom 20. Juli 1944 wollten sie die „zerbrochene Freiheit des Geistes, des Gewissens, des Glaubens und der Meinung“ wiederherstellen. So haben sie es im Entwurf ihrer sogenannten „Regierungserklärung“ formuliert. Der Versuch, „Deutschland vor einem namenlosen Elend zu bewahren“ (mit diesen Worten beschrieb der Widerstandskämpfer Fritz Dietlof Graf von der Schulenburg das Attentat vor der Verkündung seines Todesurteils), − dieser Versuch scheiterte. Doch die Aufnahmen des grausamen Schauprozesses vor dem Volksgerichtshof bezeugen noch heute, mit welchem Mut die Widerstandskämpfer sich zu ihrer Tat bekannten − eine bewegende Dokumentation ihrer Zivilcourage. Mit beeindruckender, ja erschütternder Aufrichtigkeit gingen sie in den Tod. Sie folgten ihrem Gewissen ohne Rücksicht auf Konsequenzen. Sie setzten sich für das Ende des Tötens ein, ohne Rücksicht auf das eigene Leben. Sie kämpften für Freiheit und Menschenwürde, ohne Rücksicht auf ihre Familie und ihr persönliches Glück. In einer gewissenlosen und menschenverachtenden Zeit entschieden sie sich für Moral und Mitmenschlichkeit. Weniger bekannt ist, wie viel Courage und welche Konsequenzen das Engagement der Widerstandskämpfer auch ihren engsten Angehörigen abverlangte. Deshalb bin ich der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft, bin ich Euch, liebe Michaela Noll und liebe Elisabeth Motschmann, für die Einladung zu der heutigen Veranstaltung sehr dankbar. Verehrter Herr Professor Tuchel, auch Ihnen danke ich ganz herzlich, dass Sie es uns ermöglichen, die Folgen des Umsturzversuchs vom 20. Juli heute einmal unter diesem Blickwinkel zu betrachten. Die letzten Briefe der zum Tode verurteilten Widerstandskämpfer bezeugen die tiefe Dankbarkeit und Verbundenheit, die sie mit ihren Frauen einte. In einem Brief aus der Haftanstalt Tegel berichtete Helmuth James von Moltke, einer der führenden Köpfe des Kreisauer Kreises, seiner Frau Freya von einem Traum: „Ich kam zur Hinrichtung nach Plötzensee, und da sagt der Henker: ‚Wie soll ich denn den linken allein hinrichten ohne den rechten, das geht ja nicht.‘ Und als man mich ansah, da warst Du an meiner rechten Seite angewachsen, wie die Siamesischen Zwillinge, sodass eine Hinrichtung unmöglich war.“ Die Frauen des 20. Juli waren an der Verschwörung in sehr unterschiedlicher Weise beteiligt. Einige waren in die Vorbereitungen unmittelbar eingebunden. Manche kannten die Einzelheiten der Pläne; andere wussten lediglich, dass es sie gab. Allein diese fünf Zeilen aus dem Brief Moltkes an seine Frau machen jedoch deutlich, meine Damen und Herren, welche bedeutende menschliche und moralische Rolle den Frauen des deutschen Widerstands – unabhängig von ihrem konkreten politischen Engagement – zukam. Sie bestärkten die Männer, ihrem Gewissen zu folgen. Sie gaben ihnen Halt und Kraft auf dem schweren Weg in den Tod. „Das Hoffen des Anfangs wie die bittere Enttäuschung des Misslingens wurden von beiden getragen, den Männern wie den Frauen, und so waren die Männer letztlich doch nicht jene ,einsamen Zeugen‘“, schrieb einmal der Historiker Klemens von Klemperer. Viele der Frauen des 20. Juli überlebten den Nationalsozialismus. Der Preis, den sie für ihre familiäre Zugehörigkeit zum Widerstand zahlen mussten, war hoch: Sie verloren nach dem Attentat ihre Ehemänner. Sie wurden in Sippenhaft genommen. Ihre Kinder wurden in Heime gebracht, ihrer Identität beraubt und umerzogen. Und auch noch nach dem Krieg mussten sich die Witwen und Kinder der Verschwörer − oft noch bis in die 60er Jahre hinein − den Vorwurf gefallen lassen, ihre Männer und Väter seien Volksverräter gewesen. Marion Gräfin Dönhoff, die selbst im Widerstand aktiv und mit vielen Widerstandskämpfern befreundet war, hat einmal eine sehr schlüssige psychologische Erklärung für diese diffamierende Haltung der Deutschen geliefert. In einer Atmosphäre der „Selbstentlastung“ habe die Erinnerung daran, dass es durchaus die Möglichkeit einer Opposition gab, die Schuldgefühle der Mitläufer vergrößert. Die Stigmatisierung der Frauen und Männer des 20. Juli war letztlich ein Akt der Verdrängung. Sie bezeugte – um es mit den Worten der Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlichs zu sagen − „die Unfähigkeit zu trauern“. In der Rezeptionsgeschichte des Widerstands spiegeln sich Umgang und Auseinandersetzung mit Verantwortung und Schuld. Die Erinnerungen an die Gräueltaten der NS-Terrorherrschaft und den Widerstand wach zu halten, das Vermächtnis der Geschichte als Mahnung und Aufgabe zu begreifen − das bleibt unsere immerwährende Verantwortung. Dazu gehört auch die Erinnerung an all jene, die sich − wie die Frauen des 20. Juli − gegen das weit verbreitete Mitläufertum entschieden und die Konsequenzen des Widerstands mittrugen. Dafür haben sie meinen größten Respekt, und dafür verdienen sie mehr als bisher öffentliche Anerkennung und Würdigung. Darüber hinaus verdanken wir den Frauen des 20. Juli zahlreiche Augenzeugenberichte, Briefe und Dokumente, die uns heute helfen, die Erinnerung lebendig zu halten, die uns helfen, aus der Geschichte für die Gegenwart und Zukunft zu lernen. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ermöglichen es, uns die Vergangenheit mit Herz und Verstand zu erschließen. Wenn sie irgendwann verstummen, sind wir, sind künftige Generationen besonders auf authentische Gedenkorte als Zeugnisse der NS-Vergangenheit angewiesen. Ich danke Ihnen, verehrter Herr Professor Tuchel, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich, für Ihre wertvolle Arbeit, mit der es Ihnen immer wieder gelingt, die Geschichte des Widerstands emotional und faktenreich, verstörend und verständlich, berührend und gegenwartsbezogen zu vermitteln. Dass der 20. Juli auch und ganz besonders für die Frauen und Kinder der Verschwörer ein Schicksalsdatum war, wurde in der von Ihnen und der Stiftung 20. Juli 1944 initiierten Ausstellung „Unsere wahre Identität sollte vernichtet werden“ sichtbar − einer 2016 in Bad Sachsa eröffneten Ausstellung, meine Damen und Herren, die das Schicksal der Kinder des 20. Juli und das Ausmaß der Sippenhaft eindringlich dokumentiert. Eine beeindruckende Frau, die auch in Sippenhaft genommen wurde, war Clarita von Trott zu Solz. Ich freue mich sehr, dass ihre Töchter – dass Frau Onken-von Trott und Frau Professor Müller-Plantenberg – heute hier sind. Adam von Trott zu Solz gehörte zu den herausragenden Vertretern des deutschen Widerstands. Er warb bereits in den 1930er und 40er Jahren für die Idee eines vereinten Europas und blieb bis zu seiner Hinrichtung in der Haftanstalt Plötzensee seinen Werten und Überzeugungen treu. Der Verein „Stiftung Adam von Trott, Imshausen e.V.–eingetragener Verein“ engagiert sich als Ort des Dialogs für das politische Erbe Adam von Trott zu Stolz´. Er setzt damit Impulse für Zivilcourage, Verständigung und Toleranz. Ein solches Engagement ist von großem Wert für unsere Erinnerungs- und Debattenkultur. Sehr geehrte Frau Dr. Maria-Theodora Freifrau von dem Bottlenberg-Landsberg, ich freue mich sehr, dass Sie heute hier sind – auch Sie haben sich in den vergangenen Jahrzehnten um die Erinnerung an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in besonderer Weise verdient gemacht und ich möchte Ihnen an dieser Stelle einmal ausdrücklich dafür danken. Nur wenige hundert Meter von hier war das Zellengefängnis Lehrter Straße, in dem nach dem 20. Juli 1944 viele Männer inhaftiert waren. Noch in der Nacht vom 23. auf den 24. April 1945 wurden dort der Diplomat Albrecht Graf von Bernstorff, der frühere Reichstagsabgeordnete Ernst Schneppenhorst und Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg ermordet, der Vater von Frau Dr. Maria-Theodora Freifrau von dem Bottlenberg-Landsberg. Das Attentat des 20. Juli 1944 mag gescheitert sein, meine Damen und Herren, die Überzeugungen der Widerstandskämpfer sind es nicht. Sie leben fort in einem Rechtsstaat, der Freiheit und Menschenrechte schützt und die Würde des Menschen als unantastbar achtet. Umso bitterer und beschämender ist die Vereinnahmung von Personen und Symbolen des Widerstands durch Rechtspopulisten! Dass ausgerechnet diejenigen, die spalten, ausgrenzen und demokratische Errungenschaften in Frage stellen, die vom Widerstandskämpfer Josef Wirmer 1944 entworfene Fahne des 20. Juli auf ihren Demonstrationen schwingen, ist eine Verhöhnung der Werte und der Haltung der Widerstandskämpfer. Dieser schändlichen Vereinnahmung sollten und müssen wir historische Fakten und politisches wie auch zivilgesellschaftliches Engagement entgegen setzen. Die Erinnerung an das Attentat vom 20. Juli 1944 ist auch eine Aufforderung: eine Aufforderung, dem nicht Tolerierbaren die Stirn zu bieten; eine Aufforderung, Zivilcourage zu zeigen, wenn andere Menschen ausgegrenzt werden; eine Aufforderung, für unsere demokratischen Werte einzutreten. Ja, die Männer und Frauen des 20. Juli dürfen auch deshalb nicht in Vergessenheit geraten, weil sie Vorbilder für unabhängiges, mutiges Handeln sind. Umso wichtiger ist es, ihrer immer wieder zu gedenken – nicht nur, aber auch in Veranstaltungen wie der heutigen! Vielen Dank noch einmal den Organisatorinnen und Organisatoren!
Kulturstaatsminsterin Grütters würdigte das Engagement der Frauen und Familien der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944. Wir verdanken ihnen „Augenzeugenberichte, Briefe und Dokumente, die uns heute helfen, die Erinnerung lebendig zu halten, die uns helfen, aus der Geschichte für die Gegenwart und Zukunft zu lernen“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum 10. Petersberger Klimadialog am 14. Mai 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-10-petersberger-klimadialog-am-14-mai-2019-in-berlin-1611002
Tue, 14 May 2019 10:03:00 +0200
Berlin
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Sehr geehrte Frau Umweltministerin Schmidt Zaldívar, sehr geehrte, liebe Kollegin Svenja Schulze, sehr geehrte Damen und Herren und Teilnehmer am Petersberger Klimadialog, der in der Tat nach Ruhrgebietszählung schon lange Tradition ist – aber beim zehnten Mal wird selbst in Berlin etwas zur Tradition –, ich möchte Sie alle hier in Berlin zu dieser Veranstaltung herzlich willkommen heißen. Es freut mich sehr, dass Chile und Deutschland gemeinsam den diesjährigen Petersberger Klimadialog ausrichten. Ich bitte Sie, ganz herzliche Grüße an Präsident Piñera zu übermitteln. Wir haben erfahren, dass Chile große Ambitionen hat. Das freut mich. Die geografische Distanz zwischen unseren Ländern ist zwar beträchtlich, aber das gemeinsame Wollen ist erkennbar. Deshalb freut es mich, dass es hier eine sehr gute Zusammenarbeit gibt. Die nächste Konferenz wird in rund einem halben Jahr stattfinden. Es ist guter Brauch, dass immer in der Mitte zwischen diesen Konferenzen der Petersberger Dialog mit vielen wesentlichen Akteuren versucht, die Weichen zu stellen und die Dinge voranzubringen. Gegenüber den vergangenen Jahren hat sich etwas verändert. Es hat sich nicht nur verändert, dass das Thema als solches weiter an Bedeutung gewonnen hat. Weltweit treffen jetzt auch Kinder und Jugendliche immer freitags zum Schulstreik für den Schutz des Klimas zusammen und machen Druck auf die Politiker weltweit. Ehrlich gesagt, ist das natürlich alles andere als bequem. Aber ich will ausdrücklich sagen: das ist verständlich. Denn aus der Perspektive junger Menschen stehen unsere Natur und unser Zusammenleben zur Disposition. Sie fühlen, dass sie vor dieser Katastrophe warnen und den heutigen Akteuren sozusagen Dampf und Druck machen müssen. Das sollten wir aufnehmen und in Handeln umsetzen. Das Klimaabkommen von Paris aus dem Jahr 2015 gibt das Versprechen ab, dass wir dem Klimawandel wirksam begegnen und seine Folgen begrenzen. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es sowohl des globalen Handelns als auch der jeweils nationalen Beiträge. Jedes Land ist aufgefordert, seinen eigenen Weg zu beschreiten. Aber es stellt sich eben auch die Aufgabe, die globalen Zusammenhänge zu erkennen und dafür zu sorgen, dass wir weltweit vorankommen. Es ist völlig klar – das ist seit Beginn der Klimadiskussion auch immer wieder gesagt worden –, dass wir eine gemeinsame Verantwortung haben, aber aus sehr unterschiedlichen Situationen heraus agieren. Das heißt, dass wir die unterschiedlichen Situationen in den verschiedenen Regionen der Welt auch berücksichtigen, wenn es darum geht, Klimapolitik global zu gestalten. Auf der einen Seite geht es darum, Emissionen von CO2 und anderer klimaschädlicher Gase zu reduzieren. Auf der anderen Seite geht es auch um Resilienz, also um Widerstandsfähigkeit, um mit den Folgen des Klimawandels fertigzuwerden. Dabei gilt es, die Kosten der Klimaschäden auf möglichst viele Schultern zu verteilen. Als Instrument dafür haben sich Versicherungslösungen durchaus etabliert und können auch weiterentwickelt werden. Während unserer G7-Präsidentschaft und der G20-Präsidentschaft in den Jahren 2015 und 2017 haben wir die Globale Partnerschaft für Klimarisikoversicherungen ins Leben gerufen und weiterentwickelt. Damit sollen bis 2020 zusätzlich 400 Millionen Menschen gegen Klimarisiken abgesichert werden. Wir kennen solche Absicherungen in Industriestaaten. Sie sind dort gang und gäbe. In wirtschaftlich schwächeren Ländern sind sie noch nicht so ausgeprägt. Aber gerade sie sind ja die Länder, die die Folgen des Klimawandels besonders zu spüren bekommen. Daher wollen wir auch in und mit der Globalen Anpassungskommission den politischen Stellenwert der Anpassung an den Klimawandel steigern. Wenn wir beispielsweise mit Blick auf die Nachhaltigkeitsziele Armut und Hunger bekämpfen wollen und dabei ja auch einige Fortschritte erreicht haben, dann darf uns das natürlich in keiner Weise ruhig stimmen, sondern wir dürfen uns über die Gefahren nicht täuschen lassen. Klimabedingte Naturkatastrophen können und werden Hunger und Elend wieder verschärfen, wenn wir nicht handeln. Die Landwirtschaft wird leiden. Immer mehr Menschen werden den ländlichen Raum verlassen. Und auch die Anfälligkeit für politische Instabilität und Terrorismus wird wachsen. Dem müssen wir uns entgegenstemmen. Ich habe mir bei einem Besuch in drei westafrikanischen Ländern in den letzten Tagen wieder angeschaut, wie schwierig die Situation ist. In Ländern wie Burkina Faso, Niger oder Mali kann man dieses Zusammenspiel sehr gut, aber eben auch sehr leidvoll beobachten. Wenn wir beim Klimaschutz versagen, sind angesichts der wachsenden Weltbevölkerung Konflikte geradezu vorprogrammiert, weil Ressourcen zunehmend knapper werden. Das ist auch der Grund dafür, dass Deutschland als nicht-ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat derzeit auch einen Schwerpunkt auf das Thema Sicherheit und Klimaschutz legt. Ich freue mich auch sehr, dass Sie das Thema Frauen hier diskutiert haben. Auch das ist ja ein Thema der deutschen Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat – auch in dem Monat, in dem wir die Präsidentschaft innehatten. Ich denke, Frauen als Akteure zu ertüchtigen und zu befähigen, ist auch im Zusammenhang mit Sicherheit und Klimaschutz von besonderer Bedeutung. Klimaschutz und Resilienz kosten Geld, das ärmere Staaten nicht ausreichend aufbringen können. Daher haben die Industrieländer zugesagt, ab 2020 jährlich 100 Milliarden US-Dollar für diese Staaten aufzubringen. Für Deutschland kann ich nur wiederholen, dass wir zu diesem Ziel der 100 Milliarden US-Dollar stehen und bis 2020 unsere öffentliche Klimafinanzierung verdoppeln werden. Für die Förderung einer emissionsarmen und klimaresilienten Entwicklung ist auch die Wiederauffüllung des Grünen Klimafonds sehr wichtig. Dieses Thema wird auf der diesjährigen Klimakonferenz in Chile eine besondere Bedeutung haben. Deutschland hat angekündigt, seinen Beitrag zum Grünen Klimafonds im Vergleich zur ersten Auffüllungsrunde zu verdoppeln. Wir haben uns vorgenommen, insgesamt 1,5 Milliarden Euro bereitzustellen. Es würde mich freuen, wenn sich dem möglichst viele Länder anschlössen und ihre Beiträge ebenfalls substanziell erhöhten. Mit Blick auf die besonders betroffenen Länder will ich sagen: auch wenn es um große Zahlen geht, müssen wir aber aufpassen, dass daraus auch Projekte werden. Denn vieles wird in Töpfe getan. Aber wenn man dann auf kleinen Inseln oder anderswo nachfragt, was denn nun vor Ort wirklich angekommen und geschehen ist, dann zeigt sich, dass der Weg vom Pledging über den Fonds bis hin zur Umsetzung des Projekts oft ein sehr langer ist, obwohl die Zeit drängt. Letztlich müssen wir als Weltgemeinschaft dafür sorgen, dass die globalen Finanzflüsse insgesamt stärker als bislang auf Nachhaltigkeit und auf die Ziele des Pariser Abkommens ausgerichtet werden. Deshalb kann ich nur begrüßen, dass sich auf Initiative von Chile und Finnland eine Finanzministerkoalition gebildet hat, der auch Deutschland beigetreten ist. Die verabschiedeten Helsinki-Prinzipien machen deutlich, was eine klimafreundliche Finanzpolitik ausmacht. Es kommt natürlich auch auf geeignete Rahmenbedingungen an, um privates Kapital für den Klimaschutz zu mobilisieren und klimafreundliche Investitionen anzuregen. Investoren müssen und sollen sehen, dass es sich lohnt, in moderne Effizienztechnologien zu investieren statt in ressourcenverschlingende Anlagen. Viel zu lange Zeit waren Innovation und Wachstum mit mehr Rohstoffverbrauch und mehr Schadstoffemissionen verbunden. Dies können wir uns auch angesichts der wachsenden Weltbevölkerung nicht länger leisten. Dabei kommt es besonders darauf an, dass Industriestaaten ihre Innovationsfähigkeiten noch mehr im Sinne von Nachhaltigkeit nutzen. Bei uns in Deutschland gibt es sehr oft die Diskussion, dass wir doch nur einen geringen Anteil an den CO2-Emissionen hätten; von uns hänge doch gar nicht so viel ab. Den Menschen, die so diskutieren, muss man immer und immer wieder sagen: wir haben einen unglaublichen Ressourcenverbrauch bereits hinter uns, womit auch wir die Weichen dafür gestellt haben, dass die Welt heute in einer so schwierigen Lage ist. Deshalb haben wir angesichts unseres Wohlstands auch die Verantwortung, für klimafreundliche Innovationen in ganz besonderer Weise da zu sein. Diese Diskussion müssen wir in den entwickelten Industrieländern führen. Deutschland hat bei der Entwicklung erneuerbarer Energien einiges geleistet und ist hiermit sozusagen in Vorleistung getreten. Wir haben relativ hohe Förderkosten auf uns genommen, bevor diese Technologien jetzt fast Marktreife erlangt haben. Wir haben gesehen, dass Skalierungseffekte dazu geführt haben, der Wirtschaftlichkeit doch sehr nahezukommen. Heute zeigt es sich, dass wir über Ausschreibungen zum Beispiel für die Vergabe von Windenergien an vielen Stellen ohne zusätzliche Subventionen Windenergie erzeugen können. Es ist also eine Frage der Gerechtigkeit, dass Industrieländer klimafreundliche Technologien entwickeln und zum Einsatz bringen, da sie eben über lange Zeit Hauptverursacher klimaschädlicher Emissionen gewesen sind. Es ist eine weitere Frage der Gerechtigkeit, dass sie sich auch für den Technologietransfer verantwortlich fühlen. Das heißt, dass wir zum Beispiel im Rahmen unserer Entwicklungspolitik Einführungsmöglichkeiten in anderen Ländern suchen, um dann auch dort zu marktreifen Produkten zu kommen. Das wird im Übrigen unsere Entwicklungspolitik in den nächsten Jahren verändern. Wir müssen Entwicklungspolitik in Zukunft stärker sozusagen als Scharnier zu einer marktwirtschaftlichen Nutzung von Innovationen begreifen. Heute verlaufen marktwirtschaftliche Mechanismen der Wirtschaft einerseits und Entwicklungspolitik andererseits häufig noch auf völlig getrennten Gleisen. Wir müssen im Grunde dazu kommen, dass ein Teil von Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit auch auf einen Transfer von Innovation hin zu einem marktreifen Produkt vor Ort abstellt. Technologische Neuerungen spielen also eine wichtige Rolle für die Transformation hin zur globalen Treibhausgasneutralität. In diesem Zusammenhang gibt es neben vielem, was uns Sorge machen kann, auch sehr viele positive Beispiele. Ich will Chile nennen. Wir sehen dort einen bemerkenswerten Aufschwung erneuerbarer Energien. Windenergie, Fotovoltaik und Solarthermie verzeichnen seit fünf Jahren hohe Wachstumsraten. Ich finde es auch sehr schön, dass die deutsch-chilenische Zusammenarbeit in diesem Zusammenhang Früchte trägt. Costa Rica ist ein weiteres Beispiel. Das Land arbeitet an einer Energie-, Verkehrs- und Agrarwende mit dem Ziel von Nullemissionen bis 2050. Auch China weist ein weiterhin beachtliches Wachstum der erneuerbaren Energien auf. 2018 haben sie dort bereits mehr als ein Viertel zur Stromproduktion beigetragen. Wenn man sich überlegt, dass China ein sehr großes Land mit einer sehr großen Bevölkerung ist, dann sieht man, dass das etwas ist, was im weltweiten Maßstab auch wirklich Wirkung zeigt und deutlich macht, mit welcher Entschiedenheit sich China der Herausforderung des Klimawandels stellt. Wir sehen sehr große Potenziale für erneuerbare Energien in Afrika. So bringt sich Deutschland auch in den „Compact with Africa“ mit ein. Das ist eine Initiative, die wir während unserer G20-Präsidentschaft entwickelt haben. Hierbei geht es darum, Investitionen in Afrika anzureizen – darum, afrikanische Länder dazu zu ermutigen, ihre gesamte Finanzpolitik transparenter auszurichten, die Kreditwürdigkeit zu verbessern und auch deutsche Unternehmen dazu aufzufordern, gerade in diesen Ländern zu investieren. Im Rahmen unserer bilateralen Reformpartnerschaften zum Beispiel mit Ghana und der Elfenbeinküste haben wir schon recht gute Erfolge erzielt. Die Transformationsfortschritte dürfen sich nicht nur auf den Energiebereich beschränken. So stellt zum Beispiel der indische Bundesstaat Sikkim seine Landwirtschaft auf 100 Prozent ökologischen Landbau um. Drei weitere indische Bundesstaaten planen dies ebenfalls. Auch das ist ein Beitrag für den Klimaschutz. Aber wir sind uns einig – ich könnte natürlich noch viele gute Beispiele aufzählen –, dass das alles noch nicht ausreicht, um unsere Ziele wirklich zu erreichen. So sehen wir nach wie vor, dass die Erwärmung in den nördlichen Polarregionen zunimmt. Eisflächen und Permafrostböden drohen zu verschwinden, was dann die Erderwärmung noch weiter anheizt. Wir wissen, dass es im Klimawandel Kipppunkte gibt, die sehr schwer vorauszusagen sind, die dann aber auch neue große und qualitative Auswirkungen haben werden. Deshalb muss es uns auch mit Sorge erfüllen, dass lange Hitze- und Dürreperioden ihre Folgen zeigen. Die Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, die FAO, schätzt, dass die weltweite Getreideernte im aktuellen Agrarjahr 2018/19 nicht ausreichen wird, um den Verbrauch zu decken. Wir sehen also an einigen Stellen, dass es wirklich im wahrsten Sinne des Wortes an die Reserven geht. Auch Stürme und Überschwemmungen tragen dazu bei. Und wir wissen, dass das viele Menschenleben kostet und viel Leid verursacht. Wir sehen, dass der Klimawandel eine Tatsache ist. Ich begrüße es deshalb sehr, dass uns der Generalsekretär der Vereinten Nationen zusätzlich zu der Klimakonferenz in Chile für den September auch noch einmal als Staats- und Regierungschefs zu einem Gipfel der Vereinten Nationen eingeladen hat, um zu sehen, welche Fortschritte wir seit der Verabschiedung des Abkommens in Paris erreicht haben. Ich werde daran teilnehmen. Er wird dort auch noch einmal Druck machen. Und Frau Schulze hat natürlich recht: mit dem Thema Klimaschutz darf man die Umweltminister nicht allein lassen, sondern jeweils das ganze Kabinett und damit auch die politische Leitung jedes Landes muss dahinterstehen. Jetzt komme ich zu Deutschland. Wir haben uns, wie es in Europa auch verabredet wurde, Ziele gesetzt. Beim ersten Ziel für 2020 gibt es – das muss man ganz offen sagen – eine Lücke zu dem, was wir bezüglich der Frage „Werden wir das umsetzen können?“ in Aussicht genommen haben. Wir haben uns für 2020 ein sehr ambitioniertes Ziel vorgenommen. Es gab von 1990 bis 2010 eine CO2-Reduktion um 20 Prozent – also 20 Prozent innerhalb von 20 Jahren. Das beinhaltete noch den gesamten Strukturwandel nach der deutschen Wiedervereinigung. Wir haben dann gesagt: von 2010 bis 2020 wollen wir noch einmal 20 Prozent schaffen. Das erweist sich jetzt doch als nicht ganz einfach. Umso mehr fühlen wir uns verpflichtet, jetzt bei den Zielen für 2030 deutlich zu machen: diese müssen wir erreichen. Deshalb ist es nicht immer bequem, aber richtig, dass die Umweltministerin darauf beharrt, dass wir dazu auch rechtliche Rahmensetzungen vornehmen. Uns kann zwar erfreuen, dass die Treibhausgasemissionen im letzten Jahr um 4,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken sind. Das liegt unter anderem auch daran, dass wir erneuerbare Energien inzwischen zum wesentlichen Pfeiler unserer Energieversorgung ausgebaut haben. Weit mehr als jede dritte verbrauchte Kilowattstunde in Deutschland kommt jetzt aus Wind-, Wasser-, Solar- oder Bioenergie. Womit wir große Schwierigkeiten haben, ist, den Leitungsausbau zeitgerecht voranzubringen, damit die Energie von einem Teil Deutschlands auch in die Teile transportiert werden kann, in denen mehr Strom gebraucht wird. Das drängt, weil wir ja Anfang der Zwanzigerjahre auch aus der Kernenergie aussteigen werden und damit noch einmal vor großen Herausforderungen stehen werden. Wir haben in den letzten Monaten einen großen Erfolg errungen, der uns bis 2030 auch sehr helfen wird. Wir haben in einer umfassend zusammengesetzten Kohlekommission Einigkeit darüber hergestellt, bis 2038 aus der gesamten Kohleverstromung auszusteigen. Das ist im Hinblick auf die Rolle der Kohle und im Hinblick auf die Tatsache, dass wir vorher aus der Kernenergie aussteigen, wirklich ein Kraftakt. Dass parteiübergreifend und vor allen Dingen auch zwischen Umweltverbänden und deutscher Wirtschaft vereinbart wurde, den Ausstieg aus der Kohleverstromung bis spätestens 2038 vorzunehmen, ist eine sehr wichtige Wegmarke. Wir werden nächste Woche im Kabinett die Eckpunkte für die betroffenen Regionen beschließen, da die Menschen in den betroffenen Kohleproduktionsregionen natürlich fragen: Was wird aus uns, was bedeutet das für unsere Zukunft? Die entsprechenden strukturellen Zusagen müssen wir dann auch einhalten. Eines ist nämlich auch wichtig: Wir müssen gesellschaftliche Akzeptanz für diesen Wandel haben; und das heißt, eine breite Diskussion zu führen. Ich glaube also, vor uns liegt noch viel Arbeit. Wir werden noch vor Ende dieses Jahres die Maßnahmen in Bezug darauf beschließen, wie wir vorgehen wollen. Wir diskutieren noch über verschiedene Mittel und Wege. Es gibt ja in der Europäischen Union für einen Teil der Emissionen, insbesondere im Industriebereich, einen Zertifikatehandel. Nach langem Ringen ist die Menge jetzt sozusagen auch wieder so weit austariert, dass man einen signifikanten CO2-Preis für die Zertifikate hat. Aber für die Bereiche Verkehr, Wohnen und Landwirtschaft haben wir ein solches Instrument noch nicht. Wir werden uns fragen müssen: Welches ist das richtige Instrument? Welcher Mix aus Ordnungsrecht und marktwirtschaftlichen Methoden ist der richtige Weg, um auch in der Landwirtschaft, im Verkehr und im Bereich des Bauens, im Gebäudebereich, die CO2-Emissionen so zu verringern, dass wir unsere Ziele für 2030 – eine Reduktion in Höhe von 55 Prozent – auch wirklich erreichen? Das wird nicht einfach, da Deutschland zum Beispiel ein Transitland ist. Im Verkehrsbereich zählt jeder, der bei uns tankt. Das können deutsche Autohalter und Lkw-Halter sein, es können aber auch polnische oder französische sein oder andere aus unserer Nachbarschaft. Wir müssen schauen, dass wir auch viele europäische Maßnahmen haben. Die haben wir auch. Europa hat ja einen sehr detaillierten Plan hinsichtlich der Budgets für die Zeit von 2020 bis 2030, die jedem Mitgliedstaat zur Verfügung stehen. So kann und muss man jetzt im Grunde in jährlichen Scheiben vorgehen und die jeweiligen Ziele erreichen. Und das muss dann auch wirklich verlässlich umgesetzt werden. Ansonsten wird das eine sehr teure Angelegenheit. Ansonsten müssen wir für viel Geld Zertifikate kaufen. Das Geld können wir besser investieren, wenn wir unsere Ziele einhalten. Nun gibt es eine neue Diskussion. Die schließt an das an, was auch in Paris gesagt wurde. In Paris wurde gesagt, dass man „in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts ein Gleichgewicht zwischen den anthropogenen Emissionen von Treibhausgasen aus Quellen und dem Abbau solcher Gase durch Senken“ erreichen soll. Darüber, wie die „zweite Hälfte des Jahrhunderts“ zu definieren ist, gibt es eine Debatte. Sie wird unstrittig im Jahr 2050 beginnen. Deshalb haben neun europäische Länder unter der Führung von Frankreich gesagt: Wir wollen die Klimaneutralität 2050 erreichen. Auch wir in Deutschland führen jetzt eine Diskussion darüber. Und ich will hier an dieser Stelle ganz deutlich Folgendes sagen: Es geht um Klimaneutralität. Das heißt, es muss nicht sichergestellt werden, dass es überhaupt keine CO2-Emissionen mehr gibt, sondern man muss, wenn es noch CO2-Emissionen gibt, alternative Mechanismen dafür finden, wie man diese Emissionen kompensieren kann. Das kann man etwa durch Aufforstungen machen – das ist in entwickelten Ländern begrenzt möglich –; und das kann man durch CO2-Speicherung tun. Die CO2-Speicherung ist in Deutschland sehr umkämpft. Viele Menschen haben Sorgen. Andere Länder nehmen diesen Weg ins Auge. Ich schlage vor – ich habe das der Umweltministerin gerade gesagt –, dass wir im Klimakabinett, das wir haben, eine Diskussion darüber führen, wie wir dieses Ziel, 2050 klimaneutral zu sein, erreichen können. Die Diskussion soll sich nicht darum drehen, ob wir es erreichen können, sondern darum, wie wir es erreichen können. Wenn wir darauf eine vernünftige Antwort finden, dann können wir uns der Initiative der neun Mitgliedstaaten der Europäischen Union anschließen. Ich würde mir wünschen, dass wir das können. Ich möchte aber auch, dass wir nicht einfach Ja sagen, sondern dass wir das untermauern und es fundiert betreiben. Unser Klimakabinett ist der richtige Ort dafür, diese Diskussion miteinander zu führen. Meine Damen und Herren, damit zeigt sich: wir haben als Bundesregierung viel zu tun. Es gibt den Kohleausstieg, die 2030er Ziele; und wir blicken in Richtung 2050. Wir wissen noch nicht ganz genau, was wir in 10, 20 Jahren technologisch können werden. In der Zeit ab 2030 wird es vielleicht Dinge geben, die wir heute noch gar nicht genau überblicken können. Aber ich glaube, wenn wir uns keine ehrgeizigen Ziele setzen, dann werden wir auch große Schwierigkeiten damit haben, überhaupt den Weg dorthin zu finden. Deshalb ist die Zielsetzung über lange Zeiträume hinweg richtig. Und deswegen werden wir hierbei auch sehr intensiv miteinander ringen. Meine Damen und Herren, die Frage lautet ja nicht „Was kostet es uns, diese Ziele zu erreichen?“, sondern die Frage lautet: Wie viel mehr würde es uns kosten, wenn wir nichts täten? Leider sind noch nicht alle auf der Welt davon überzeugt, dass das die richtige Fragestellung ist. Ich bin es. Deshalb ist es aus meiner Sicht richtig, sich auf langfristige Wege zu machen, weil dann die Anpassungskosten geringer sind, als wenn man ad hoc entscheiden muss. Das ist das, was uns leitet. Ich bin sehr froh, dass Chile mit an unserer Seite ist und dass Sie alle, die Sie hier sind, auf diese und jene Weise Ihren Beitrag dazu leisten, dass wir das Pariser Abkommen auch wirklich umsetzen. Meine politische Laufbahn hat unter anderem mit der Berliner Konferenz begonnen, bei der wir das Kyoto-Protokoll vorbereitet haben. Wir haben dann sehen müssen, dass die verpflichtenden, völkerrechtlich bindenden Ziele sozusagen nicht der Weg waren, auf dem wir wirklich vorangekommen sind. Aber wir haben nach Kopenhagen dann in Paris mit dem Erreichen des Pariser Abkommens einen Weg gefunden, der es sehr viel mehr Ländern möglich macht, den Weg der CO2-Reduktion mitzugehen. Dabei geht es um nicht völkerrechtlich bindende Verpflichtungen, aber zum Schluss geht es darum, für die gesamte Welt etwas Bindendes zu erreichen. Das appelliert nun an die Verantwortung von jedem. Deutschland will seinen Beitrag dazu leisten und wird seinen Beitrag dazu leisten. Ich freue mich, dass wir dabei bei Weitem nicht allein sind auf der Welt. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Jahrestagung der Fraunhofer-Gesellschaft am 8. Mai 2019 in München
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-jahrestagung-der-fraunhofer-gesellschaft-am-8-mai-2019-in-muenchen-1608444
Wed, 08 May 2019 17:58:00 +0200
München
keine Themen
Sehr geehrter Herr Professor Neugebauer, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Reiter, sehr geehrter Herr Präsident des Senats, Professor Fuhrmann, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraunhofer-Gesellschaft und -Institute, meine sehr verehrten Damen und Herren, Fraunhofer ist der beste Beweis dafür, dass man auch mit 70 Jahren noch sehr erfolgreich Zukunftspläne schmieden kann. Aber allein in die Zukunft zu denken – damit begnügen Sie sich bei Fraunhofer nicht. Sie halten es vielmehr mit dem Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry, der einst anmahnte: „Die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen.“ Die Zukunft möglich machen – es ist schlichtweg faszinierend, wie Sie diesem Anspruch immer wieder gerecht werden. 70 Jahre Fraunhofer-Gesellschaft – das sind sieben Jahrzehnte voller wissenschaftlicher Neugier, Tatendrang und Erfindungen. Sie haben Ihr 70. Jubiläum schon mit einem Festakt gewürdigt. Aber es strahlt auch auf die heutige Jahrestagung aus. Daher ist es sicherlich noch nicht zu spät, Ihnen zu diesem besonderen Geburtstag noch einmal ganz herzlich zu gratulieren. Als die Fraunhofer-Gesellschaft 1949 gegründet wurde, blickte das Land einer äußerst ungewissen Zukunft entgegen. Die Folgen des selbst verschuldeten Krieges waren überall unübersehbar. Es fehlte an Wohnraum und an Infrastrukturen. Die Wirtschaft lag am Boden. Es galt, die Bevölkerung zu versorgen, Kriegsheimkehrer, Heimatvertriebene und Flüchtlinge zu integrieren. Es galt nach jahrelanger Diktatur ein demokratisches Staatswesen aufzubauen; das war eine besondere Herausforderung. Genau heute vor 70 Jahren, am 8. Mai 1949, hat der Parlamentarische Rat das Grundgesetz beschlossen. Bekanntlich stand Bayern dem Grundgesetz relativ skeptisch gegenüber. Der Bayerische Landtag stimmte ihm dann auch nicht zu, weil er um die Eigenständigkeit des Freistaates fürchtete. Ich denke, diese Furcht hat sich im Großen und Ganzen gelegt. Aber das Selbstbewusstsein ist geblieben. Das ist nicht nur hier in München zu spüren, sondern manchmal auch in Berlin. Aber, meine Damen und Herren, wie das so ist: Genau diesem Selbstbewusstsein ist es auch zu verdanken, dass hier in Bayern ein ehrgeiziger Plan in die Tat umgesetzt wurde. Eine neue Gesellschaft für angewandte Forschung sollte zur Triebfeder von Innovation und damit von Wachstum und Wohlstand werden. Mehr noch, sie sollte Deutschland zu internationaler Anerkennung verhelfen. Ich glaube, heute können wir sagen: Dieser Gedanke ist Realität geworden. Die Fraunhofer-Gesellschaft hat 26.600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das Forschungsvolumen beträgt 2,6 Milliarden Euro. Es gibt 72 Institute und Forschungseinrichtungen. Rund 70 Prozent werden mit Aufträgen aus der Industrie und mit öffentlich finanzierten Forschungsprojekten erwirtschaftet. Das heißt, die Idee, gleichermaßen Forschung und Wirtschaft zu beflügeln, ist in der Fraunhofer-Gesellschaft Realität geworden. Genau das wünsche ich Ihnen auch mit gleichem Erfolg für die Zukunft. Die Fraunhofer-Gesellschaft hat immer wieder revolutionäre Erfindungen gemacht. LED und mp3 stehen dafür. Unsere Stärke in Wissenschaft und Forschung ist es, die unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit ausmacht. Sie spüren ja, dass die Welt um uns herum nicht schläft, dass das Tempo zunimmt und dass deshalb die Beantwortung der Frage „Haben wir einen wissenschaftlichen, innovativen Vorsprung?“ über die Zukunft der deutschen Wirtschaft und damit natürlich auch über unseren Wohlstand in der Zukunft entscheidet. Deshalb ist es wichtig, dass wir, so wie 2018, auch weiterhin Innovationsweltmeister sein können. Meistermacher gibt es in Deutschland viele, aber Fraunhofer sticht da immer wieder hervor. Mit Ihren Instituten und Einrichtungen entwickeln und verfolgen Sie unaufhörlich Ideen, um daraus praktischen Mehrwert zu machen und so unser aller Leben ein Stück weit besser, bereicherter, erleichterter zu gestalten. Sie zelebrieren und praktizieren Zukunftsoffenheit. Sie zeigen Zukunftsfreude, wie sie etwa auch der gebürtige Münchner und Schriftsteller Christian Morgenstern zum Ausdruck brachte – ich zitiere ihn –: „Wir brauchen nicht so fortzuleben, wie wir gestern gelebt haben. Machen wir uns von dieser Anschauung los; und tausend Möglichkeiten laden uns zu neuem Leben ein.“ Mögen Sie sich diesen Geist auch in den nächsten Jahrzehnten bewahren. Das ist ja ein Thema, das unsere Gesellschaft umtreibt: Sehen wir in möglichen Veränderungen zuerst die Risiken und Ungewissheiten oder sehen wir die Chancen und Möglichkeiten? Nun kann man Risiken und Ungewissheiten durchaus sehen; man kann sie auch beherrschen. Aber wenn man die Chancen überhaupt nicht mehr sieht, dann kommt man natürlich nicht voran. Deshalb ist die Tatsache, dass wir zu den wohlhabendsten Wirtschaftsnationen der Welt zählen, immer auch gepaart damit, dass wir innovativ waren, dass wir Lust auf Neues hatten, dass wir fragten: „What’s next?“ – so wie es hier bei Ihnen steht. Wenn uns das in Deutschland gelungen ist, dann sind wir erfolgreich gewesen. Natürlich haben wir nicht aus allen Erfindungen das herausgeholt, was wir hätten herausholen können. Wenn ich daran denke, dass Konrad Zuse den ersten Computer entwickelt hat, denke ich auch daran, dass dann doch einige der Wertschöpfungsnachfolger abgewandert sind. Aber da, wo wir nicht vorne dran sind, müssen wir eben aufholen und wieder besser werden. Wenn die Autoren des Fraunhofer-Medienprojekts „Homo Digitalis“ Recht behalten, dann treffen wir in Zukunft virtuelle Freunde, steuern Drohnen mit unseren Gedanken und hacken unsere eigene DNA. In jedem Fall werden wir unsere Rolle und Aufgaben im Zusammenwirken mit immer intelligenteren Maschinen neu definieren müssen. In den USA sind Roboter heute Kollegen, in Japan Freunde, in Deutschland oft eher Objekte, denen man mit Zurückhaltung oder Skepsis begegnet. Hier ist der Optimismus von Fraunhofer einfach wohltuend. Deshalb wünsche ich mir für Deutschland ein Stück weit mehr von der Fraunhoferschen Neugier. Wirken Sie also hinein in die Gesellschaft. Denn solche Neugier kann zu ganz neuen Entwicklungen führen. Denken Sie an Serviceroboter im Pflegebereich. Ob es etwa darum geht, dass Roboter Essen und Wäsche transportieren, Pflegeutensilien aus dem Versorgungslager holen und selbstständig an den Einsatzort bringen – Serviceroboter können Pflegekräfte entlasten, die so mehr Zeit für Patienten gewinnen. Für Berufsbereiche, in denen es ganz besonders an Personal und Zeit mangelt, kann man sich leicht vorstellen, dass Teams aus natürlicher und künstlicher Intelligenz funktionieren und entsprechend gefragt sind. In welchen Branchen und Lebensbereichen auch immer – Technologiesprünge werden in der Wirtschaft vieles auf den Kopf stellen und unser Leben und Arbeiten weiter verändern. Wir können eigentlich fröhlich sein, dass wir in einer Zeit leben, in der disruptive Veränderungen vorkommen. Es gibt ja auch lange Phasen in der Geschichte der Menschheit, in denen sehr viel evolutionär passiert. Durch die Digitalisierung sind wir mit Sicherheit in einer disruptiven Zeit mit all ihren Problemen, mit all ihren Neuheiten, mit all ihren Lernprozessen. Deshalb ist es so wichtig, dass Deutschland nicht bei jedem Fehler resigniert, sondern dass Deutschland aus Fehlern lernt und fragt: Das ist der normale Gang der Dinge, aber wie können wir Risiken beherrschen? Natürlich müssen wir verantwortungsvoll mit neuen Technologien umgehen, uns genau überlegen, wo sie eingesetzt werden, natürlich auch ethische Diskussionen führen, Grenzen festlegen. Das war immer so in der Geschichte der Menschheit. Wir müssen Risiken minimieren und Chancen nutzen. Es sind unendlich viele Chancen und Möglichkeiten. Bei der Fraunhofer-Gesellschaft gehen Sie noch einen Schritt weiter. Sie definieren das Mögliche immer wieder neu. Sie sagen: „Doch. Das geht. Das funktioniert. Das muss möglich sein.“ Das klingt zwar, als ob Sie mit dem Kopf durch die Wand wollen. Aber was sich vielleicht als Vorwurf anhört, versteht sich – so meine ich es – als Kompliment. Denn wo andere nur bis zu einem bestimmten Punkt nachdenken, denken viele in den Instituten, in denen Sie arbeiten, weiter. Und so scheuen Sie sich nicht, das scheinbar Unmögliche möglich zu machen. Mit Gedanken Maschinen steuern – warum nicht? Vielleicht funktioniert das zum Beispiel mithilfe der Quantensensorik. Heute das Morgen denken – zum Beispiel mit digitalen Zwillingen nicht nur für die Industrieproduktion, sondern auch für Patienten. Solche Zwillinge sollen alle relevanten Gesundheitsdaten des Patienten auf sich vereinen und so sein digitales Abbild sein. So können zum Beispiel individuelle Krankheitsverläufe besser vorhergesagt werden. Therapien können personenzugeschnitten erprobt und auf die konkreten Bedürfnisse des Patienten ausgerichtet werden. Fraunhofer-Institute erstellen sogar Live-3D-Modelle ganzer Krankenhausstationen inklusive Inventar und bringen virtuelle Realität in die OP-Säle. Neue Wege wollen Sie auch in der Mobilität einschlagen. Auf einer Teststrecke im Emsland haben Sie gezeigt, dass sich Batterien von Elektroautos auch ohne Kabel schon beim Fahren aufladen lassen. Kurzum: Fraunhofer unterstreicht unseren Anspruch, nicht nur ein Land der Ideen zu sein, sondern auch ein Land der Realisierung von Ideen, ein Land neuartiger Produkte. Daran ist uns als Bundesregierung natürlich auch sehr gelegen. Daher fördern wir Gründungen. Daher greifen wir jungen Unternehmen unter die Arme. Daher stärken wir den deutschen Wagniskapitalmarkt. Und so versuchen wir immer wieder, für frischen Wind auf den Märkten zu sorgen – auch deshalb, weil Sie bei Fraunhofer nicht ins Blaue hinein forschen, sondern konsequent anwendungsorientiert arbeiten. Anwendungsorientierung – gerade das macht auch den Erfolg Deutschlands als Industrieland und als Innovationsstandort aus. Das Stichwort Industrie 4.0 steht exemplarisch dafür, klassische Stärken unserer Industrie mit Innovationen, die sich aus der Digitalisierung ergeben, zu verbinden. Doch Sie wissen das vielleicht besser als ich, aber wir spüren das alle: wir dürfen uns nicht auf Erfolgen ausruhen. Wir dürfen nicht den Erfolgen der Vergangenheit hinterhertrauern, sondern wir müssen neue technologische Entwicklungen mitbestimmen. Mit Blick auf die Elektromobilität zum Beispiel hätten wir vielleicht schon früher an Tempo zulegen müssen. Dass wir heute schauen müssen, wie wir zum Beispiel eine Batteriezellenproduktion nach Europa bringen, dass wir mühevoll Konsortien bilden und schauen, dass das mit europäischen Sonderunterstützungsmöglichkeiten gelingt, das zeigt, dass unser Tempo da zu langsam war und dass wir gegenüber asiatischen Anbietern an Kompetenz verloren haben. Aber ich glaube, es bietet sich auch eine europäische Möglichkeit. Wenn wir das als „wichtiges Projekt von gemeinsamem europäischen Interesse“ einstufen, dann haben wir eine Chance. Ich habe gerade auch heute mit den Ministern Karliczek und Altmaier darüber gesprochen, wie wir eine mögliche europäische Förderung für die Großproduktion von Batteriezellen vorbereiten und verbinden können mit einer Forschungsfabrik für Batteriezellen, die gerade ausgeschrieben wird und wofür Fraunhofer sozusagen die Anlaufstelle ist. Wir werden für die Fertigungstechnologien Mittel einsetzen, aber wir werden auch für diese Forschungsfabrik 500 Millionen Euro aufwenden. Ich setze sehr darauf, dass das, was wir an Erfolg verloren haben, dann aufgeholt werden kann und wir wieder vorankommen. Auch bei der Künstlichen Intelligenz ist der weltweite Wettbewerb hart. Wenn wir uns die chinesischen Vorstellungen anschauen, wenn wir sehen, was in den Vereinigten Staaten von Amerika los ist, dann wissen wir: das maschinelle Lernen wird unsere gesamte Wirtschaft, unser Leben, unser Zusammenleben völlig verändern. Wir haben als Bundesregierung eine Strategie zur Künstlichen Intelligenz verabschiedet. Wir werden zu deren Umsetzung drei Milliarden Euro aufwenden. Und wir werden vor allen Dingen zusammen mit den Ländern Weiterentwicklungen unterstützen. Es gibt einige Bundesländer, die sehr entschieden dabei sind, unter anderem Bayern, aber auch Baden-Württemberg und andere. Wir wollen Kompetenzzentren einrichten und zum Beispiel die Kompetenzzentren Maschinelles Lernen zu einem nationalen Netzwerk verbinden. Wir haben über den Aachener Vertrag mit Frankreich verabredet, dass wir solche Netzwerke auch zu europäischen ausbauen, da man allein national nicht gut genug vorankommen wird. Wir setzen auf Kooperation innerhalb der Wissenschaft, aber auch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Innovationen „made in Germany“ sind auch heute schon oft das Ergebnis guter Kooperation und Arbeitsteilung. Es haben sich viele Partnerschaften etabliert. Ich glaube, man sieht das hier auch bei der Versammlung heute Abend. Wir haben tragfähige Netzwerke, leistungsstarke Cluster, in denen Forschungseinrichtungen, Hochschulen und Unternehmen zusammenarbeiten. So wird mancher Weg von der Idee zum Produkt auch kürzer. Das Modell Fraunhofer steht beispielhaft für die erfolgreiche Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft. Daran hat sich auch in der digitalen Welt nichts geändert. Im Gegenteil: Ich glaube, Herr Professor Neugebauer, bei der Durchdringung des gesamten deutschen Mittelstandes mit der Erkenntnis, wie grundlegend sich die Wertschöpfung durch die Digitalisierung verändern wird, kann die Fraunhofer-Gesellschaft eine ganz entscheidende Rolle spielen. Wir wollen mit Daten umgehen, wir müssen Daten teilen. Das, was ich mir wünsche, ist, dass auch in der Wirtschaft umfassend verstanden wird, dass die Daten, die ich erzeuge – es wird alles digitalisiert werden; und aus allem, was digitalisierbar ist, werden Daten gemacht werden können –, nicht nur für die mir bekannte Anwendung zur Verfügung stehen, sondern dass ich auch bereit bin, diese Daten so zur Verfügung zu stellen, dass völlig neue Anwendungen daraus entstehen können. Ich habe aber manchmal den Eindruck, dass wir hier noch sehr einem Sektordenken verhaftet sind. Deshalb ist auch die Initiative „International Data Spaces“ eine ganz, ganz wichtige. Wir brauchen sichere und offene Datenmarktplätze; das ist ein Riesenthema. Deshalb nehmen wir natürlich auch Ihre Anregung auf, in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in diesem Bereich aktiv zu sein. Wir werden das miteinander diskutieren. Digitale Vernetzung und Datenaustausch werden die Entstehung und Verbreitung von Innovationen weiter beschleunigen. Weniger kontinuierliche, mehr disruptive Veränderungen werden das Kennzeichen sein. Deshalb hat die Bundesregierung auch die Gründung von zwei Agenturen zur Förderung von Sprunginnovationen beschlossen. Ich möchte Sie bitten, sich auch hier aktiv einzubringen. Wie man mit Sprunginnovationen Zukunftsmärkte erschließen kann, haben wir in der Vergangenheit am Beispiel der LED-Technologie durchaus schon erlebt. Wir brauchen eine offene Innovationskultur. Diese steht im Mittelpunkt der Hightech-Strategie 2025 der Bundesregierung. Wir verstehen darunter einen offenen Zugang zu Wissen, Experimentierräumen, die Einbindung neuer Akteure und das Einnehmen neuer Perspektiven. Wir verstehen unter Offenheit auch eine international ausgerichtete Forschungs- und Innovationspolitik mit weltweiten Partnerschaften. Als größte anwendungsorientierte Forschungsorganisation in Europa gestaltet die Fraunhofer-Gesellschaft die internationale Forschungszusammenarbeit entscheidend mit. Man trifft sie an vielen Stellen auf der Welt. Stärken über Grenzen hinweg zu bündeln – das bietet sich für uns in Europa in besonderem Maß an. Deshalb freut es mich auch, dass die EU-Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament und die Kommission mit „Horizont Europa“ ein ehrgeiziges Rahmenprogramm für Forschung und Innovation für die nächsten Jahre verabredet haben. Genau in diesem Geist werden wir auch unsere deutsche Präsidentschaft durchführen. Aber Europa kann nur so innovationsstark sein, wie es die einzelnen Länder sind. Da kommt Deutschland eine ganz besondere Rolle zu, denn wir sind die größte europäische Volkswirtschaft. Deshalb ist es gut, dass wir weltweit zu den fünf Ländern zählen, die am meisten für Forschung und Entwicklung ausgeben. Wir haben 2017 zum ersten Mal unser Ziel erreicht, drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung zu investieren. Bereits im Jahr 2000 hatten die Staats- und Regierungschefs verabredet, dass dies alle europäischen Länder tun sollten. Davon sind wir leider noch weit entfernt. Aber jetzt visieren wir, also Staat und Wirtschaft, in Deutschland eine Steigerung auf 3,5 Prozent bis 2025 an. In diesen Zusammenhang gehört auch unser Projekt zur steuerlichen Forschungsförderung. Ich will jetzt hier nicht ins Detail gehen, weil es da noch einigen Gesprächsbedarf gibt. Aber wir haben das jetzt auf den Weg gebracht. Das wird nächste Woche im Kabinett sein. Dann müssen wir weiter diskutieren. Ich bin sehr erleichtert – das sage ich ganz offen –, dass es Bund und Ländern gelungen ist, die Wissenschaftspakte, die von Ihnen, Herr Neugebauer, schon genannt wurden, fortzuschreiben und damit Planungssicherheit zu geben. Wir haben auch viele Forscher zur Rückkehr nach Deutschland überreden oder motivieren können, weil wir hier in der letzten Zeit eine verlässliche Forschungslandschaft aufgebaut haben. Ich finde es auch sehr gut, dass bezüglich der Pakte Einigkeit herrscht, dass auch die schrittweisen Steigerungsraten bis 2030 für die außeruniversitären Forschungseinrichtungen wieder von Bund und Ländern getragen werden. Wir werden diese Pakte auch immer wieder weiterentwickeln, immer wieder anpassen; auch das gehört natürlich dazu. Aber wir haben jetzt erst einmal für mehr als eine Dekade wirklich eine Berechenbarkeit. Meine Damen und Herren, Eleanor Roosevelt war der Ansicht – ich möchte sie zitieren –: „Die Zukunft gehört denen, die an die Wahrhaftigkeit ihrer Träume glauben.“ Das ist wohl auch der Grund, warum Sie in der Fraunhofer-Gesellschaft immer wieder voller Neugier der Zukunft entgegenblicken und fragen: Was kommt als Nächstes? „What‘s next?“ – so Ihr Jubiläumsmotto. Aber das Beste ist natürlich, dass Sie nicht nur fragen, sondern auch Antworten geben. Herr Professor Neugebauer, daher bin ich froh, Sie bei den strategischen Diskussionen über die Zukunft unseres Landes an unserer Seite zu wissen. Als Vorsitzender des Hightech-Forums und im Innovationsdialog geben Sie uns immer wieder wertvolle Impulse. Dafür möchte ich Ihnen auch persönlich an dieser Stelle ganz herzlich danken. Danken und gratulieren möchte ich auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, allen Forschern, allen Technikern, all denen, die dafür sorgen, dass die Institute gut arbeiten. Dass sich exzellente Forschungsarbeit lohnt, das wird ja heute noch mit einer Preisverleihung unterstrichen. Da ich dann nicht mehr dabei sein werde, möchte ich den Preisträgerinnen und Preisträgern schon jetzt ganz herzlich gratulieren. Ich kann Ihnen zum Abschluss nur sagen: Bewahren Sie sich Ihre Neugier, Ihre Zukunftsfreude, Ihren Erfindungsgeist. Und sagen Sie so oft wie möglich: „Doch. Das geht. Das funktioniert.“ Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Kongress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion „Globale Gesundheit stärken – UN-Nachhaltigkeitsziel umsetzen“ am 8. Mai 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-kongress-der-cdu-csu-bundestagsfraktion-globale-gesundheit-staerken-un-nachhaltigkeitsziel-umsetzen-am-8-mai-2019-in-berlin-1608800
Wed, 08 May 2019 14:30:00 +0200
Berlin
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Sehr geehrter Generaldirektor Tedros, lieber Ralph Brinkhaus, lieber Hermann Gröhe, lieber Georg Nüßlein, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, vor allem Sie, die Gäste, Exzellenzen – es sind eine Reihe von Botschaftern hier, hat mir Hermann Gröhe gerade eben gesagt; wir freuen uns, dass Sie heute hierhergekommen sind. Wenn ich sage „wir“, dann deshalb, weil ich ja auch Mitglied dieser Bundestagsfraktion und nicht nur Bundeskanzlerin bin. Und da, wo ich jetzt stehe, da sitzen wir meistens aufgereiht und hören uns an, was es an Diskussionen gibt. Nicht immer einfach, aber immer schön. – Den Gesundheitsminister begrüße ich natürlich auch ganz herzlich. Meine Damen und Herren, „Wer nicht jeden Tag etwas für seine Gesundheit aufbringt, muss eines Tages sehr viel Zeit für die Krankheit opfern“ – eine Weisheit von Sebastian Kneipp, die auch heute noch aktuell ist und nicht nur ein Mahnspruch für Berufspolitiker. Wer sich gesund ernährt, sich ausreichend bewegt, wer auf Rauchen verzichtet, zu Vorsorgeuntersuchungen geht und wer sich impfen lässt – um nicht zuletzt eine deutsche Diskussion aufzunehmen, die vom Bundesgesundheitsminister im Augenblick mit großem Nachdruck und zu Recht, wie ich ausdrücklich sagen will, geführt wird –, der kann Zivilisationskrankheiten vermeiden. Wir wissen, dass gesundheitsbewusste Lebensführung und individuelle Lebensqualität sehr eng zusammenhängen. Der gut gemeinte Hinweis von Sebastian Kneipp ist ein Plädoyer für Prävention, die nicht nur individuell, sondern auch im Gesundheitswesen einen festen Platz einnehmen sollte. Prävention und umsichtiges Verhalten betreffen keineswegs nur den Einzelnen, sondern Krankheiten sind auch immer mit Folgen für die gesamte Gesellschaft verbunden. Sie kosten Zeit und Geld, sie erfordern Know-how und medizinische Ausstattung. Der Einzelne wäre sehr schnell damit überfordert, sich allein hinreichend gegen Krankheitsrisiken abzusichern. Das gilt für Personen, aber das gilt auch für ganze Länder und Regionen – vor allem für die, die nicht zu den reichsten der Welt zählen. Wer glaubt, Gesundheitssysteme zu entwickeln, sei eine Aufgabe, die auf einem bestimmten Wohlstandsniveau aufhöre, der irrt. Das erleben wir permanent. Aber wer – so wie ich kürzlich drei Tage lang in Mali, Burkina Faso und Niger – einmal in den ärmsten Ländern der Welt war, weiß auch – da zeigt sich auch die Spanne an Themen, die der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation Tedros abzudecken hat –, wie anders die Probleme dort sind im Vergleich zu Industrieländern. Auch da müssen wir darauf achten, dass wir uns gesundheitsbewusst verhalten, dass wir gute Gesundheitssysteme haben – zudem aber auch, dass wir unseren Beitrag aus Forschung und Entwicklung leisten, dass wir zum Beispiel nicht durch eine falsche Tierhaltung zu Antibiotikaresistenzen beitragen, die zum Schluss die gesamte Welt beeinträchtigen, und dass wir im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit etwas tun, das hilft, dass auch woanders Entwicklungsziele und Gesundheitsziele erfüllt werden können. Nicht umsonst wird ein weiterer Kollege aus dem Kabinett hier auf diesem Kongress sein, nämlich Gerd Müller. Das heißt, Gesundheit ist eine Gemeinschaftsaufgabe in nationaler wie auch in globaler Hinsicht. Das wird natürlich ganz besonders sichtbar bei übertragbaren Krankheiten. Diese können grenzüberschreitend verheerende Folgen nach sich ziehen. Das hat uns die Ebola-Epidemie 2014 in Westafrika besonders schmerzhaft vor Augen geführt. Wir erleben auch im Augenblick in der Demokratischen Republik Kongo, wie politische Instabilität und Verunsicherung durch Ebola eine fatale Verbindung eingehen. Die Krankheit wird zur Durchsetzung politischer Interessen benutzt. Hilfskräfte werden bedroht und angegriffen. Bei einem Angriff kam im April der von der WHO entsandte Epidemiologe Richard Mouzoko ums Leben. Man sieht also, Menschen opfern ihr Leben, müssen ihr Leben opfern, weil sie neben schrecklichen Krankheiten auch in politische Spannungen geraten. Ich möchte auch hier, lieber Herr Tedros, den Angehörigen, Freunden und Kollegen von Richard Mouzoko unsere herzliche Anteilnahme aussprechen. Es kann nicht sein – und dafür müssen wir kämpfen –, dass diejenigen, die allein dadurch, dass sie anderen helfen wollen, selbst Angst um Leib und Leben haben müssen. Es ist doch nur dem engagierten und unermüdlichen Einsatz der Helferinnen und Helfer zu verdanken, dass sich Ebola nicht noch weiter ausbreitet. Wir sehen aber leider, dass die Anzahl der Infizierten zuletzt wieder angestiegen ist. Deshalb möchte ich noch einmal auch von hier aus an alle Verantwortlichen in der Region appellieren, dass den Hilfskräften wirklich ungehinderter Zugang gewährt wird, damit sich die Krankheitsfälle nicht zu einer noch größeren Epidemie ausweiten. Ich weiß, dass das leichter gesagt, als getan ist, vor allem in einer Region, in der es immer wieder zu Gewaltausbrüchen kommt. Da zeigt sich aber auch, wie wichtig die MONUSCO-Mission der Vereinten Nationen zur Stabilisierung der Demokratischen Republik Kongo ist. Die beste Hilfe für Helfer wäre natürlich, wenn deren Hilfe so wenig wie möglich gefragt wäre, wenn also Vorsorge mehr Raum greifen würde. Immer erst auf Gesundheitsrisiken zu reagieren, wenn sie sich schon realisiert haben, ist alles andere als optimal – vor allem wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass zeitgleich auch Sicherheitsrisiken genau dann die Hilfseinsätze erschweren, wenn sie besonders notwendig wären. Deshalb müssen wir auch in Zeiten, in denen Gesundheitskrisen nicht die Weltpresse beherrschen, gemeinsam an einer Stärkung des Gesundheitswesens weiterarbeiten. Die internationalen Systeme müssen für den Fall der Fälle möglichst gut vorbereitet sein. Dazu will ich sagen, es ist ein großer Fortschritt, dass die Abläufe innerhalb der Weltgesundheitsorganisation und der Vereinten Nationen mittlerweile viel besser koordiniert sind. Ich möchte Generaldirektor Tedros danken für seine Reformanstrengungen und den Aufbau klarer Notfallstrukturen. Lieber Herr Tedros, das ist ein Weg, auf dem wir Sie gerne weiter unterstützend begleiten. Wer sich einmal vertieft damit befasst, weiß, dass das Wort eines Generaldirektors einer UN-Organisation Gewicht hat, aber dass bei den Vereinten Nationen die Regionen sehr selbstständig sind, weshalb viele gute Argumente und viel Überzeugungskraft notwendig sind, um das Ganze zu einer reibungslosen Kooperation zu führen. Natürlich können internationale Vorkehrungen die einzelnen Staaten nicht von ihrer eigenen Verantwortung entbinden. Nationale Gesundheitssysteme zu stärken, liegt ohnehin im ureigenen Interesse, im Übrigen auch im jeweiligen volkswirtschaftlichen Interesse, da Gesundheit ja auch eine wesentliche Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes ist. Aber dazu will ich auch sagen: Mein Besuch in Mali, Niger und Burkina Faso hat mir auch verdeutlicht, wie sehr alle drei Länder terroristischen Gefährdungen ausgesetzt sind. Sie geben zwischen 20 und 30 Prozent ihres Budgets allein für Sicherheit aus. Wenn das der Fall ist, dann kommen natürlich andere Entwicklungsbereiche, die genauso notwendig sind, eher zu kurz. Die Aufgaben sind also eng miteinander vernetzt – für Sicherheit zu sorgen, für Gesundheit zu sorgen und damit auch einen Beitrag zu wirtschaftlicher Prosperität zu leisten. Wir stellen auf deutscher Seite im Rahmen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit jährlich über eine Milliarde Euro für gesundheitsrelevante Projekte zur Verfügung. Dabei kommt es uns darauf an, gemeinsam an Lösungen vor Ort zu arbeiten. In diesem Zusammenhang begrüße ich auch den WHO-Ansatz, Lösungen nicht zentral vorzugeben, sondern zunächst vor Ort in Erfahrung zu bringen, was wirklich gefragt und benötigt wird und was nachhaltig erhalten werden kann. Denn es muss doch nicht sein, dass zum Beispiel ganze Krankenhauskomplexe irgendwo hingesetzt werden, dann aber die Vernetzung in der Region nicht so erfolgt, wie man sich das wünschen würde. Deshalb ist partnerschaftliche Zusammenarbeit von größter Notwendigkeit, um Akzeptanz vor Ort zu schaffen und dauerhaft wünschenswerte Ergebnisse zu erhalten. Ob aus humanitären, aus entwicklungspolitischen und volkswirtschaftlichen Gründen oder auch aus Gründen des Eigeninteresses – die Ausbreitung von Krankheiten einzudämmen, ist notwendig. Wir haben als Staatengemeinschaft dafür eine gemeinsame Verantwortung. Und wir haben die Verantwortung, ärmere Staaten zu unterstützen, um sie in die Lage zu versetzen, ihre Eigenverantwortung überhaupt leben zu können. Diese gemeinsame Verantwortung spiegelt sich auch in der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung wider. Wir in Deutschland fühlen uns den Nachhaltigkeitszielen verpflichtet. – Das ist ja das Besondere der Agenda 2030, nämlich dass sie nicht eine Agenda für die nicht so entwickelten Länder ist, sondern eine gemeinsame globale Agenda. – Bezogen auf das globale Gesundheitsziel haben wir unser Engagement erheblich gesteigert; und das nicht nur finanziell. Hermann Gröhe hat es eben schon gesagt: wir haben das Thema sehr bewusst auf die Agenda unserer G7- und G20-Präsidentschaften gesetzt und alles darangesetzt, dass es nicht in Vergessenheit gerät. Deshalb bin ich Japan, das im Augenblick die G20-Präsidentschaft innehat, sehr dankbar dafür, dass auch hier ein besonderes Augenmerk dem Thema „Universal Health Coverage“ gilt. Wir wollen darüber diskutieren, wie wir möglichst konkrete Schritte hin zu einer allgemeinen Gesundheitsversorgung vereinbaren können. Damit werden sich auch die Staats- und Regierungschefs bei den Vereinten Nationen im September befassen. Das ist ein sehr wichtiges Signal, denn damit zeigen wir, welche Bedeutung die globale und allgemeine Gesundheitsversorgung hat. Gerade auch in Gesundheitsfragen zeigt sich, was internationale Zusammenarbeit erreichen kann. Ich denke etwa an die Notfall- und Pandemiefonds bei der WHO und der Weltbank. Wir haben damit sehr wertvolle Instrumente, um Gelder zur Krisenbewältigung schnell und unbürokratisch bereitzustellen. Wir haben das Zusammenspiel ja auch während unserer G20-Präsidentschaft in einer Übung sozusagen durchexerziert. Die Bundesregierung engagiert sich hier in besonderer Weise. Ebenso wichtig ist mir, dass Forschungsfortschritte auch wirtschaftlich schwächeren Ländern zugutekommen. Wir können heute neue Impfstoffe durch die CEPI-Initiative – Coalition for Epidemic Preparedness Innovations – besser weitergeben und auch neue Antibiotika durch die Globale Antibiotika Forschungs- und Entwicklungspartnerschaft gut und gerecht verteilen. Zu den Antibiotika will ich sagen: Es gehört vielleicht mit zu den ernstesten Problemen, die aber oft unterschätzt werden, dass wir mit Antibiotika teilweise sehr lax umgehen und dass es unendlich schwierig und keinesfalls gesichert ist, dass permanent neue Antibiotika entwickelt werden können. Deshalb müssen wir hier sehr, sehr sorgsam und achtsam sein. Viele Krankheiten in ärmeren Ländern und deren Behandlungsmöglichkeiten werden nicht oder nicht ausreichend erforscht, weil sich das wirtschaftlich nicht rechnet. Es ist durchaus eine große Gefahr, dass sich die reichen Länder zwar um ihre Krankheiten kümmern, aber übersehen, dass wir woanders Massenerkrankungen haben, für deren Behandlung mit relativ überschaubaren Forschungsmitteln Fortschritte erzielt werden könnten. Es ist mir ein besonderes Anliegen, dass wir solche armutsassoziierten Krankheiten nicht vergessen. Denn Schätzungen zufolge sind insgesamt mehr als eine Milliarde Menschen davon betroffen. Man kann also nicht sagen, dass diese sogenannten vernachlässigten Tropenkrankheiten vernachlässigbare Krankheiten sind. Das gilt natürlich erst recht für die großen Drei: HIV, Malaria und Tuberkulose. An Malaria sterben allein in Afrika jedes Jahr immer noch rund 250.000 Kinder. Wenn man weiß, was ein Malarianetz kostet, und sich überlegt, ob das nicht zur Verfügung zu stellen wäre, dann zeigt sich doch, dass wir wirklich handeln sollten, wo immer wir können. Um gegen diese Krankheiten vorzugehen, haben wir den Globalen Fonds, dessen Wiederauffüllung für die Jahre 2020 bis 2022 im Oktober in Lyon ansteht. Die Bundesrepublik Deutschland wird sich auch daran wieder substantiell beteiligen. Große Hoffnungen ruhen jetzt auf dem neuen Impfstoff gegen Malaria. Er wird in Malawi getestet, ist über drei Jahrzehnte entwickelt worden und hat das Potenzial, 40 Prozent der Gesamterkrankungen und 30 Prozent der schweren Malariafälle zu verhindern. Damit wäre schon viel gewonnen, wenn wir das auch wirklich zu den Menschen bringen können. Ich glaube, meine Beispiele haben gezeigt, dass Gesundheit für sich allein betrachtet schon jede Anstrengung wert ist. Aber aus guten Gründen lautet eines der Ziele der Agenda 2030 „Gesundheit und Wohlergehen“. Das verdeutlicht, dass Gesundheit über unzählige Wechselwirkungen auch mit anderen Nachhaltigkeitszielen verknüpft ist, die unser aller Wohlergehen betreffen. Angesichts der zentralen Bedeutung von Gesundheit für ein würdevolles Leben habe ich gemeinsam mit der norwegischen Ministerpräsidentin Erna Solberg und dem ghanaischen Staatspräsidenten Nana Akufo-Addo angeregt, einen Aktionsplan zur Umsetzung des Agenda-Gesundheitsziels zu entwickeln. Ich bin sehr dankbar dafür, dass die WHO diese Arbeit leistet. Lieber Herr Tedros, das ist eine ganz wichtige Sache, die wir natürlich auch weiter begleiten werden. Denn wenn wir wissen, wie wir im Einzelnen das Erreichen der gesundheitsbezogenen Ziele beschleunigen oder zumindest sicherstellen können, können wir insgesamt zielgerichteter handeln. Das ist ja im Grunde bei allen Agenda 2030-Zielen das große Thema. Man muss sich das ja nur vorstellen: Wir haben eine große Zahl an Empfängerländern – allein Afrika hat über 50 Länder; es gibt bestimmt 60, 70 Länder, die durch Entwicklungsmaßnahmen Gutes tun können, aber keiner fragt den anderen, wie sich das eigentlich auf die Zielerfüllung in dem jeweiligen Land auswirkt. Insofern ist es wichtig, dass wir – und das macht die WHO ja auch – international koordiniert vorgehen und darauf achten, was wo ankommt und wie wir dann auch sicherstellen können, auf einem guten Zielpfad zu bleiben. Beim Weltgesundheitsgipfel im vergangen Oktober hier in Berlin wurde ja schon eine erste Version des Aktionsplans vorgestellt. Jetzt läuft die Erarbeitung der Endversion. Das wird sicherlich auch heute in den Diskussionen noch eine Rolle spielen. Die ersten Ergebnisse zeigen, dass die unterzeichnenden Organisationen – also etwa WHO, Unicef, Weltbank, Globaler Fonds und die Impfallianz Gavi – ihre Arbeitsprogramme übereinanderlegen und Strategien vereinheitlichen. Ich bin sehr auf das finale Dokument gespannt, das während der UN-Woche im September vorgestellt werden soll. Vielleicht gibt ja Herr Tedros hier noch einige Einblicke in das, was da gerade stattfindet. Wir versuchen natürlich auch mit Stiftungen zusammenzuarbeiten. – Die Gates-Stiftung zum Beispiel ist heute hier vertreten, andere vielleicht auch. – Auch dabei müssen wir darauf achten, dass wir unsere Ziele eben koordiniert angehen. Ich hoffe natürlich – und jetzt richte ich einen sehnsüchtigen Blick in Richtung des Fraktionsvorsitzenden – auf die Unterstützung des Deutschen Bundestags, liebe Kolleginnen und Kollegen und lieber Ralph Brinkhaus. Denn es wäre schön, wenn wir auch über die Parlamente für die Unterstützung des Aktionsplans werben könnten. Das ist ganz wichtig. Dass es einen Unterausschuss Globale Gesundheit gibt, der in dieser Legislaturperiode neu gegründet wurde, ist ja auch ein Zeichen, dass wir diesem Thema neue Bedeutung zumessen. Ich freue mich, dass es bei diesem Thema einen weitreichenden Konsens gibt, denn das ist auch für uns als Bundesregierung natürlich sehr wichtig. Wir wissen, dass wir in diesem Jahr oder auch im nächsten Jahr etwas knappere finanzielle Ressourcen haben, aber wir hoffen, dass das Thema Globale Gesundheit doch auch weiter von großer Bedeutung sein wird. Ich darf Ihnen versichern, die Bundesregierung nimmt sich dieses Themas auch weiter sehr engagiert an. Wir arbeiten an einer neuen Strategie, die wir noch vor Jahresende vorlegen wollen. Abschließend möchte ich sagen, dass ein gesundes Leben für jeden Menschen auf der Welt möglich sein sollte. Auch in ärmeren Ländern muss der Zugang zu einer funktionierenden Gesundheitsversorgung gelingen. Mit der Agenda 2030 sind wir eine starke Verpflichtung eingegangen. Uns verpflichtet aber nicht nur das Schriftstück, sondern vor allem das Gebot der Menschlichkeit. Mit vereinten Kräften können wir sehr viel bewegen. Und ich bin überzeugt, dass der heutige Kongress einen Beitrag dazu leistet, dass die Wichtigkeit dieses Themas noch stärker in den Vordergrund rückt, und dass auch ein koordiniertes gemeinsames Handeln noch stärker dazu beiträgt, die anspruchsvollen Ziele erreichen zu können. Lieber Hermann Gröhe, lieber Georg Nüßlein, danke für die Organisation dieses Kongresses, den ich für sehr wichtig halte und bei dem ich gerne als Gast dabei war. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum Bundesauftakt der Grand Tour der Moderne
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-bundesauftakt-der-grand-tour-der-moderne-1606422
Thu, 02 May 2019 11:30:00 +0200
Im Wortlaut
Bernau
Kulturstaatsministerin
„Man muss rund um den Bau herumgehen, um seine Körperlichkeit und die Funktion seiner Glieder zu erfassen“, sagte Walter Gropius einmal über das Bauhaus Dessau. Das, meine Damen und Herren, gilt auch für die Bundesschule Bernau. Ich hoffe, Sie konnten sich bereits einen ersten Eindruck verschaffen von dieser Stilikone des gemeinschaftlichen Wohnens und Lernens, mit der Hannes Meyer und Hans Wittwer die Programmatik des Bauhauses beispielhaft umsetzten. Die behutsame Einbettung der Architektur in die Landschaft, die Wechselwirkung und Kontrastierung von Natur und „rationalem Funktionalismus“ erschließt sich erst vollständig bei einem Rundgang über das weitläufige Gelände – oder bei einer Rundfahrt mit einem Oldtimer. Von einem Oldtimer konnten Grand-Tour-Reisende früherer Jahrhunderte natürlich nur träumen. Die jungen Männer aus adeligen (später auch bürgerlichen) Familien, die die legendäre „Grand Tour“ nach Mittel- und Südeuropa als „Krönung ihrer Erziehung“ unternahmen, reisten mit der Kutsche, dem Schiff oder zu Fuß. Sie mussten − so beschreibt es der Autor und Bildungsreisende Edward Gibbon im 18. Jahrhundert − „über eine große, unerschöpfliche Energie verfügen, die jeder Fortbewegungsart standhält und ihm (also dem Reisenden) erlaubt, alle Widrigkeiten der Straße, des Wetters und des Gasthauses mit einem Lächeln zu ertragen. Sie muss ihn außerdem zu unermüdlicher Neugier antreiben…“ Zur Neugier verführen wollen wir auch mit der Grand Tour der Moderne. Sie verlangt den Reisenden zwar weder die beschriebenen Strapazen ab, noch bleibt sie ausschließlich einer Elite vorbehalten. Vielmehr demokratisiert sie ganz im Sinne des Bauhausgedankens die historische Bildungstradition und eröffnet Bürgerinnen und Bürgern aus dem In- und Ausland den Zugang zu Kunst und Kultur − zu einer facettenreichen deutschen Architekturgeschichte, die ganz wesentlich von den Ideen des Bauhauses geprägt wurde. Die Grand Tour verbindet 100 bedeutende Orte der Moderne, die zwischen 1900 und 2000 erbaut wurden. Dazu gehören Einzelgebäude wie das Haus am Horn, Siedlungen wie Berlin-Siemensstadt, Fabrikgebäude wie die Faguswerke und Welterbestätten wie die Bundesschule Bernau − Klassiker und Kleinode, die auf Reiserouten quer durch Deutschland entdeckt werden können. Als Schirmherrin der Grand Tour lade ich Sie herzlich ein, dieses reiche architektonische Erbe mit der Bahn, dem Rad, dem Auto oder zu Fuß zu erkunden − eine wunderbare Gelegenheit, um die Freude an Architektur und Design, Reiselust und Erkenntnisgewinn zu verbinden. Je nach Zeit und Interesse können Sie sich auch eine individuelle Route zusammenstellen. Umfangreiche Anregungen finden Sie auf dem digitalen Vermittlungsformat der Grand-Tour-Website, das wir heute freischalten werden. Herr Professor Holler aus Weimar hat die Grand Tour für die Bauhaus-Kooperation maßgeblich betreut. Ich danke Ihnen ganz herzlich, lieber Herr Professor Holler für Ihre großartige Arbeit und auch Ihnen liebe Frau Horn für die kompetente Projektleitung. Mein Dank gilt aber auch Professor Durth, dem Ideengeber der Grand Tour der Moderne, und den sieben Juroren, die mit ihrer Expertise aus den Fachgebieten Baukultur, Denkmalpflege, Architektur, Journalismus, Kulturvermittlung und Tourismus die Orte ausgewählt haben. Die Auswahl zeigt, dass das Bauhaus, dass die Moderne keineswegs nur in den Metropolen, sondern auch in der Peripherie, in Vororten und auf dem Land das neue Bauen beeinflusste. Es hat die architektonische Vielfalt unseres Landes bereichert und ist ein bedeutender Bestandteil unserer Kulturlandschaft. Für deren Sichtbarkeit, Förderung und Erhalt zu sorgen, ist gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen. Die Grand Tour und das Bauhausjubiläum sind gute Beispiele dafür, wie dies im Verbund gelingen kann. So fördert mein Haus die Grand Tour der Moderne mit rund einer Mio. Euro. Hinzu kommen Mittel der Länder Sachsen-Anhalt und Thüringen. Vielen Dank allen Verantwortlichen hier wie auch in anderen Bundesländern, die eigene Länderrouten entwickelt und damit die Grand Tour der Moderne bereichert haben! Durch die gemeinsame Arbeit im Bauhaus-Verbund ist es den drei Bauhaus-Institutionen in Berlin, Dessau und Weimar, elf Ländern und dem Bund (hier vertreten durch mein Haus und die Kulturstiftung des Bundes) gelungen, ein umfangreiches Jubiläumsprogramm mit weit über 1.400 Veranstaltungen auf die Beine zu stellen. Es trägt der besonderen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland Rechnung, das vielgestaltige Erbe des Bauhauses zu bewahren und die bahnbrechenden gestalterischen Ideen dieser Schule lebendig zu vermitteln. Bund und Länder würdigen den 100-jährigen Geburtstag als nationales Ereignis mit internationaler Strahlkraft – und ich freue mich sehr, dass wir hier einmal mehr unter Beweis stellen konnten, wie fruchtbar der „kooperative Kulturföderalismus“ sein kann. Die Eröffnung der Grand Tour ist nach dem Eröffnungsfestival in der Berliner Akademie der Künste, der Eröffnung der Ausstellung bauhaus imaginista im Haus der Kulturen der Welt und der Einweihung des Bauhaus-Museums in Weimar ein weiterer großer Höhepunkt des einhundertjährigen Jubiläums. Das Bauhaus leitete zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen kulturellen Aufbruch ein, der die Alltagsästhetik bis heute, der die Architektur unserer Städte, den Umgang mit Raum, Licht und Material sowie soziale Zuschreibungen der Kunst grundlegend geprägt hat. Die Fragen, die sich die Bauhäusler stellten: Wie wollen wir miteinander leben und wohnen, wie können alle von besseren Lebensbedingungen profitieren, und wie muss eine universelle Formensprache aussehen, die sich an der jeweiligen Funktion ausrichtet? − diese Fragen haben nichts an Brisanz und Aktualität verloren. Das Bauhaus-Jubiläum 2019 ist eine großartige Chance, ein breites Publikum für diese bedeutsamen Aspekte unseres Zusammenlebens und für unser kulturelles Erbe zu interessieren. Viele Ideen des Bauhauses sind ganz offensichtlich nach wie vor aktuell und relevant für eine freie und weltoffene Gesellschaft. Die Entwicklung des Bauhauses ist aber − wie könnte es anders sein? − auch eine Geschichte mit Brüchen und Widersprüchen. Sie brachte eine Vielfalt hervor mit Licht und Schatten: eine Vielfalt, in der nicht nur kosmopolitische, sondern auch rassistische Kräfte, nicht nur liberale, sondern auch fundamentalistische Kräfte, nicht nur progressive, sondern auch reaktionäre Kräfte nicht nur idealistische, sondern auch opportunistische Kräfte am Werk waren. Man denke nur an jene Bauhäusler, die nach 1933 zu Kollaborateuren des NS-Regimes wurden. Gerade an der Bundesschule Bernau zeigt sich, wie nah humanistische Gesellschaftsutopien und menschenverachtende Ideologien beieinanderliegen können. Gerade an diesem Ort wird deutlich, wie Architektur zweckentfremdet, entstellt und missbraucht werden kann. Die Architekten dieses Gebäudes wollten mit der Lichtdurchlässigkeit Transparenz und Offenheit schaffen. Architektur – das war das Diktum des Bauhauses − sollte das Wahrnehmen, Denken und Empfinden positiv beeinflussen. Der Bau, die Bundesschule Bernau, sollte durch das Wohnkonzept Gemeinsinn stiften. Diese Funktion konnte der Bau aber gerade einmal drei Jahre erfüllen, dann wurde die Stilikone der Avantgarde zur Kaderschmiede der Nationalsozialisten. Hier wurden Funktionäre auf Judenhass und Herrenmenschentum eingeschworen, hier plante und probte ein Spezialkommando der SS den fingierten „polnischen Überfall“ auf deutsche Grenzübergänge, um einen Vorwand für den Einmarsch der Wehrmacht zu liefern. Man reibt sich auch verwundert die Augen, wie unsensibel das architektonische Raum-Konzept der Schule anschließend in der DDR-Zeit verunstaltet wurde – dabei war Meyer ja selbst Sozialist. Mauern wurden hochgezogen und verdunkelten eine transparente, lichtdurchflutete Bauhausarchitektur. Kristallene Lüster, Säulenverkleidungen und Gardinen verdeckten klare Linien und Formen. Den Glasgang nannten Studenten angeblich den „Seufzergang“, weil er so bedrückend wirkte. Heute ist das kaum mehr vorstellbar, hebt er doch die Grenze von Innen- und Außenraum wieder so gelungen auf. Nach aufwendigen Sanierungsarbeiten seit 2002 (übrigens ebenfalls mitgefördert aus meinem Etat) erstrahlt die Bundesschule Bernau wieder in ihrem alten Glanz. Es freut mich sehr, dass sie seit 2017 auch zum Unesco Welterbe gehört und damit ihre kulturelle Bedeutung angemessen gewürdigt wird. Ästhetik und Kunst haben eine gesellschaftsverändernde Kraft, das wussten nicht nur die Bauhäusler. Künstlerische Entwicklungen vollziehen sich nicht in einem politischen Vakuum. Sie sind Ausdruck und Spiegel einer Zeit. Die Entfaltungsmöglichkeiten und Wirkungsweisen der Kunst sind abhängig von politischen Rahmenbedingungen und müssen immer wieder neu erkämpft und verteidigt werden. Dabei sind sie auch und ganz besonders auf die Resonanz einer Gesellschaft und deren Offenheit und Veränderungsbereitschaft angewiesen – auch daran erinnern das Bauhausjubiläum und die Bundesschule Bernau. Insofern bietet die Grand Tour – wie man an diesem Ort exemplarisch sehen kann – auch eine wunderbare Möglichkeit, sich mit unserer sehr widersprüchlichen Geschichte zu befassen. „Die Welt neu denken“ ist das Motto des Bauhaus-Jubiläums, meine Damen und Herren. Es steht für die Herausforderungen, denen sich Kunst, Kultur – denen wir uns alle angesichts einer veränderten und unberechenbarer gewordenen globalen Wirklichkeit stellen müssen. „Die Welt neu denken“ konnten auch Grand-Tour-Reisende früherer Jahrhunderte, die mit einem reichen Erfahrungsschatz, mit einem erweiterten Horizont von ihrer Bildungsreise heimkehrten. Überdies brachten sie angeblich einen immensen Anekdotenschatz mit, mit dem sie wohl sämtliche Abendgesellschaften ihres restlichen Lebens unterhalten konnten. Diesen kann ich Ihnen zwar für eine Grand Tour der Moderne nicht zusichern. Aber eindrückliche Erlebnisse, die den Blick auf die Architektur- und Gesellschaftsgeschichte weiten, kann ich Ihnen versprechen. In diesem Sinne: gute Reise!
In ihrer Rede zum Start der Grand Tour der Moderne im Jahr des Bauhausjubiläums verspricht die Kulturstaatsministerin „eindrückliche Erlebnisse, die den Blick auf die Architektur- und Gesellschaftsgeschichte weiten.“ Die 100 ausgewählten Reiseziel würden zeigen, dass das Bauhaus keineswegs nur in den Metropolen, sondern auch in der Peripherie, in Vororten und auf dem Land das neue Bauen beeinflusste, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur offiziellen Inbetriebnahme des Offshore-Windparks Arkona am 16. April 2019 in Sassnitz-Mukran/ Rügen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-offiziellen-inbetriebnahme-des-offshore-windparks-arkona-am-16-april-2019-in-sassnitz-mukran-ruegen-1601420
Tue, 16 Apr 2019 11:59:00 +0200
Sassnitz-Mukran
Verkehr und digitale Infrastruktur,Umwelt Naturschutz Bau und Reaktorsicherheit
Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Frau Schwesig, sehr geehrter Herr Minister Freiberg, sehr geehrter Herr Teyssen, sehr geehrter Herr Reinhardsen, sehr geehrter Herr Peeters, sehr geehrte Exzellenzen, meine Damen und Herren, Herr Landrat, Herr Bürgermeister, ich freue mich, heute in doppelter Funktion mit dabei zu sein – zum einen als Bundeskanzlerin, was dafür spricht, dass hier ein Projekt von nationaler Bedeutung eröffnet wird, und gleichzeitig als gewählte Abgeordnete dieses wunderschönen Teils Deutschlands. Ich glaube, Sie können jetzt alle verstehen, dass ich eine wunderbare politische Heimat habe. Wir eröffnen hier einen Windpark, dem man schon einen Song gewidmet hat. Die jungen Leuten vom Gospel Train Chor Hamburg genauso wie die jungen Leute, die gleich auf der Bühne stehen werden, zeugen davon, dass wir hier im wahrsten Sinne des Wortes ein Zukunftsprojekt einweihen, das aber schon Realität ist. Wir alle wissen und diskutieren ja in diesen Tagen wieder sehr viel darüber, dass die Folgen des Klimawandels eingedämmt werden müssen und dass wir ihn begrenzen müssen. Dazu bedarf es auch eines vollständigen Umstiegs unseres gesamten Energiesystems. Deshalb ist heute ja nicht nur allein ein wichtiger Tag für die, die unmittelbar an diesem Arkona-Projekt beteiligt sind, sondern ein wichtiger Tag für uns alle. Wir sehen quasi an einem praktischen Beispiel, was das etwas abstrakte Wort Energiewende bedeutet. Arkona setzt Maßstäbe. Dies ist mit einer installierten Leistung von 385 Megawatt der bislang größte Offshore-Windpark in der deutschen Ostsee. Wir haben ja bei den limitierten Mengen an Offshore-Windenergie immer sehr darauf geachtet, dass die Nordsee nicht zu sehr bevorzugt wird. Mit Arkona zeigt sich, dass auch die Ostsee guten Wind hat. Wir können damit rechnerisch 400.000 Haushalte mit Strom versorgen. Das hier ist auch ein Beispiel dafür, dass etwas in Rekordzeit errichtet werden und im Rahmen des Preisgefüges bleiben kann. Das ist natürlich vor allen Dingen den Bauarbeiterinnen und Bauarbeitern, den Ingenieuren, der Logistik und den Zulieferunternehmen zu verdanken. Sehr geehrter Herr Peeters, ich danke schön dafür, dass Sie eben auch einmal die Menschen, die sich mit den Widrigkeiten und den Chancen eines solchen Projekts beschäftigen, in den Mittelpunkt gestellt haben. In der deutschen Nord- und Ostsee sind inzwischen rund 6,4 Gigawatt Offshore-Windenergie installiert. Weitere Anlagen sind in Planung und im Bau. Es wird bis 2020 wahrscheinlich Anlagen mit einer Kapazität von 7,7 Gigawatt geben. Ich habe mich gerade mit Herrn Teyssen ausgetauscht: Bisher erfolgte Vergaben waren noch mit einem hohen Subventionspreis verbunden. Aber wir sehen eine Entwicklung, auch bei der Onshore-Windenergie und der Solarenergie, nämlich dass durch Ausschreibungen die Zuzahlung, die Unterstützung oder die Subventionen dramatisch sinken und dass sie teilweise auch schon bei 0 Cent pro Kilowattstunde liegen. Das ist auch etwas, worüber wir politisch sehr viel streiten oder viel sprechen: Was kann unser Beitrag, der deutsche Beitrag oder auch der Beitrag hochentwickelter Industrieländer, zur Entwicklung der erneuerbaren Energien sein? Es kann ein Schritt sein, für den man am Anfang noch Unterstützung braucht. Man darf es ja auch aussprechen: Das wird ja nicht von irgendjemandem getragen, sondern letztendlich von denen, die Strom verbrauchen. Aber das Ganze hilft dabei, dass diese Technologien dann Marktreife erlangen und an anderen Stellen auf der Welt sehr viel billiger eingeführt werden können. Wenn man sich einmal die historische Verantwortung anschaut, die wir haben, weil wir schon sehr viel CO2 in die Luft emittiert haben, dann ist das, glaube ich, durchaus eine Frage der Gerechtigkeit und einer Art der Entwicklungszusammenarbeit in dem Sinne, die man zwar nicht in einem Entwicklungsetat abbilden kann, die aber unsere Verantwortung gegenüber Ländern, die noch keine Industrialisierung hatten, wirklich deutlich macht. Meine Damen und Herren, der Großteil des Stroms aus erneuerbaren Energien kann heute noch nicht ohne Förderung auskommen. Aber wir haben in der letzten Legislaturperiode wirklich einen Meilenstein gesetzt, als wir uns auf Ausschreibungen verständigt haben. Das ist im Übrigen – das darf an dieser Stelle auch einmal gesagt werden – auch europäischem Druck zu verdanken. Wir hätten das national in Deutschland nicht hinbekommen. Ich will jetzt gar nicht sagen, wer alles dagegen gewesen wäre. Auf jeden Fall aber haben wir auf europäischen Druck hin ein marktwirtschaftliches Instrument eingeführt – und siehe da, es klappt. Allerdings haben wir auch Anfangsschwierigkeiten zu bewältigen. Manche dieser Anfangsschwierigkeiten liegen daran, dass immer, wenn man von einer Methode auf eine andere umstellt, ein bestimmter Fadenriss passieren kann. Das birgt die Gefahr, dass bestimmte Technologien bzw. bestimmte Unternehmen nicht ausgelastet sind. Und da müssen wir ansetzen. Es gibt jetzt zum Beispiel Sonderausschreibungen im Bereich der Windenergie. Das ist im Deutschen Bundestag hart umkämpft, weil die Frage, wer erneuerbare Energien verbraucht – gerade auch in den Ballungszentren – und wer die Leitungen und die Windkraftanlagen vor dem Haus hat, natürlich eine viel diskutierte Frage ist. Gerade auch angesichts neuester Wahlergebnisse in Skandinavien, wenn ich an Finnland denke, müssen wir es schaffen – und das ist ganz, ganz wichtig –, die wirtschaftliche Bedeutung und die klimapolitische Notwendigkeit der erneuerbaren Energien so mit Wohlstand und Arbeitsplätzen zu verbinden, dass nicht der Eindruck entsteht, dass hier eine Spaltung der Gesellschaft passiert, dass die einen von und mit zukunftsfähigem Strom leben und die anderen die Lasten tragen. Dieser Diskussion müssen wir eine große Bedeutung beimessen. Nun kann man nicht über die Erzeugung von Strom sprechen, ohne auch über seine Weiterleitung zu sprechen. Der Netzausbau ist natürlich eine der ganz großen Herausforderungen. Alle Menschen, die bei 50Hertz und anderen Energieleitungsunternehmen arbeiten, wissen, wovon ich rede. Wenn die HGÜs und deren Verlauf durch Deutschland ausgeschrieben werden, dann ist natürlich jedes Mal eine sehr erregte Diskussion zu bewältigen. Aber es ist klar: Wenn wir eine neue Art der Energieversorgung in Deutschland aufbauen wollen, dann müssen wir auch eine neue Art des Energietransports aufbauen, weil es sehr unwahrscheinlich ist, dass die besten Standorte für erneuerbare Energien gerade da sind, wo sie es für Kohle oder Gas waren. Manchmal, muss ich sagen, finde ich, dass unsere Vorväter und Vormütter doch Herausragendes geleistet haben. Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten heute überhaupt noch keine Elektrifizierung und müssten nun mit unserem Planungsrecht über das Energieversorgungssystem elektrischen Strom an alle Haushalte liefern. Wir hätten echt zu tun. Deshalb ist es ganz gut, dass ein bisschen davon schon vorhanden ist. Und die notwendigen Veränderungen müssten wir eigentlich im Hinblick auf das, was die geleistet haben, die vor uns kamen, auch hinbekommen. Meine Damen und Herren, wir wissen, dass dieser Umwandlungs- oder Umstiegsprozess auf das neue Zeitalter der erneuerbaren Energien mit einem tiefgreifenden Wandel verbunden ist. Für Deutschland bedeutet das zweierlei, nämlich den Ausstieg aus der Kernenergie, der 2022 beendet sein wird, und den Ausstieg aus der Kohle, der 2038 beendet sein soll. Ich bin allen, die in der Kohlekommission gearbeitet haben, sehr, sehr dankbar. Es ist gelungen – von den Umweltverbänden bis hin zur deutschen Wirtschaft –, einen gemeinsamen Planungskorridor festzulegen, was wiederum dem gesellschaftlichen Zusammenhalt sehr nutzt. Es war gut, dass die Bundesregierung nicht immer dabei war. So konnten die Finanzen sozusagen unabhängig von uns schon einmal festgelegt werden. Wir haben daran noch ein bisschen zu knabbern, aber für uns ist das Ergebnis der Arbeit der Kohlekommission durchaus maßgebend. Wir haben uns gegenüber den Ländern, die vom Ausstieg aus der Braunkohle besonders betroffen sind, dazu verpflichtet, ein Sofortprogramm und dann auch langfristige Strukturwandelprogramme zu unterstützen und dafür den notwendigen rechtlichen Rahmen zu schaffen. Daran arbeiten wir gerade. Wir haben große Mühe, unsere sehr ehrgeizigen Klimaziele zu erreichen. Deshalb hat sich die Bundesregierung vorgenommen, die bis 2030 anvisierten Ziele für alle Sektoren – das sind 55 Prozent CO2-Reduktion bezogen auf 1990 – verbindlich umzusetzen. Da sind wir noch in der Diskussion: Wollen wir das durch ordnungspolitische Maßnahmen erreichen oder wollen wir das durch eine Bepreisung des CO2-Ausstoßes erreichen? Wir haben ja zum Beispiel schon heute einen Teil der Energiewirtschaft im sogenannten Zertifikatesystem und machen damit unsere Erfahrungen. Darüber werden wir also weiter diskutieren. 55 Prozent Reduktion müssen Sie sich als besondere Herausforderung vorstellen. Es gab von 1990 bis 2010, also innerhalb von 20 Jahren, in Deutschland eine Reduktion in Höhe von 20 Prozent. Damals war sozusagen auch die Möglichkeit gegeben, die gesamten ineffizienten DDR-Betriebe, die aus der Produktion gegangen sind, mit in diese Bilanz einzubeziehen. Wir haben uns dann vorgenommen, den CO2-Ausstoß von 2010 bis 2020 wieder um 20 Prozent zu reduzieren. Und da sind wir im Augenblick in einer Situation, in der es uns sehr schwer fällt, das Ziel für 2020 zu erreichen, weil es natürlich auch extrem ehrgeizig ist. Dann haben wir das Ziel, eine Reduktion um 55 Prozent – als noch einmal 15 Prozent mehr – zwischen 2020 und 2030 zu erreichen; und das muss dann verbindlich sein. Das bedeutet, dass dann im Energiebereich 65 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien erzeugt werden soll. Schon heute sind die erneuerbaren Energien der wesentliche, größte Pfeiler unserer Energieversorgung. Damit zeigt sich, dass sie aus einer Nischenecke heraus in das Zentrum unserer Energieversorgung gerückt sind. Das Thema Versorgungssicherheit und Dauerhaftigkeit ist natürlich wichtig. Hierfür ist die Offshore-Windenergie natürlich ein sehr, sehr guter Beitrag. Ich habe gerade mit Herrn Teyssen darüber gesprochen, ab welcher Windstärke abgeschaltet werden muss. Es sind ziemlich stürmische Wetterlagen, in denen immer noch Offshore-Windenergie erzeugt werden kann. Das ist eine riesige technologische Herausforderung. Den Entwicklern also auch ein herzliches Dankeschön. Meine Damen und Herren, wir werden also miteinander diskutieren müssen, wie wir unsere Ziele erreichen. Die Energieerzeugung ist ein Beitrag, aber bei Weitem nicht der einzige. Große Möglichkeiten haben wir noch im Wärmebereich. Dieser wird nach wie vor und mit Recht als der schlafende Riese bezeichnet. Ich muss sagen: Dass es uns in nunmehr, glaube ich, acht bis zehn Jahren nicht gelungen ist, ein Instrument, das alle toll finden – von den Handwerkern bis zu den Umweltverbänden, von den Ländern bis zum Bund –, nämlich eine steuerliche Förderung der Gebäudesanierung, zu erreichen, spricht auch nicht gerade für Handlungsfähigkeit. Ich gucke Frau Schwesig einmal ganz scharf an. Letztlich hätten wir durch die Intensivierung der Bautätigkeit höhere Mehrwertsteuereinnahmen – alle: Kommunen, Länder und Bund –, wenn wir diese steuerliche Förderung einführen würden. Vielleicht bekommen wir das doch noch hin. Unser schwierigster Sektor wird der Verkehrssektor sein. Hier stehen wir auch vor einem Riesenwandel. Wir müssen nämlich bis 2030, bezogen auf 1990, 40 Prozent einsparen, aber wir haben zwischen 1990 und heute nichts eingespart. Wir haben zwar effizientere Autos, aber auch mehr Autos und größere Autos. Da Deutschland ein Transitland ist und unser Verkehrssektor danach berechnet wird, wie viele Menschen in Deutschland tanken, liegt die Zielerreichung gar nicht allein in unserer Hand. Selbst wenn wir alle hierzulande Elektroautos hätten, aber diese Entwicklung dahin nicht gleichermaßen in Polen oder Frankreich oder Belgien oder den Niederlanden stattfindet, haben wir eine große Schwierigkeit. Es liegen also noch große Dinge vor uns. Heute aber gibt es einen Beitrag dazu, dass es gelingen kann – und das ist Arkona. Deshalb ganz herzlichen Dank einer sehr, sehr guten deutsch-norwegischen Zusammenarbeit, die wir an vielen Stellen sehen. Dass aus Statoil Equinor wurde, erfordert natürlich wieder Lernfähigkeit, aber wir werden uns Mühe geben und vergeblich an Tankstellen danach suchen, dass dort noch Statoil steht. Wir freuen uns, dass auch Mecklenburg-Vorpommern mit den Fundamenten, die aus Rostock kommen, zur Wertschöpfung beigetragen hat. Siemens-Windturbinen wurden gewählt. Das Umspannwerk aus Frankreich ist ein Beispiel für eine gute deutsch-französische Kooperation. Danke dafür, dass der Botschafter Deutschlands aus Frankreich heute auch hierhergekommen ist und über ein gutes Projekt der Kooperation berichten kann. Der Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz hat ebenfalls zum Projekt beigetragen. Ich danke allen, die dabei waren und die auch einen volkswirtschaftlichen Nutzen erwirtschaftet haben. Es gibt nun ein paar hochwertige Arbeitsplätze mehr auf der Insel Rügen. Deshalb darf ich sagen: Dieser Wahlkreis wie auch ganz Mecklenburg-Vorpommern stehen für gute Wertschöpfung bereit. Ich habe gerade einmal geträumt: Wenn nicht so viele Energieleitungen da sind, wie man eben zum Weiterleiten bräuchte, dann kann man ja auch gleich hier im Norden mehr Industrie ansiedeln. Zum Beispiel könnten sich Anbieter für Cloud-Computing oder Server hier gleich hinter dem Windpark ansiedeln. Dafür steht Mecklenburg-Vorpommern bestimmt auch bereit. Herzlichen Dank, dass ich dabei sein konnte, und alles Gute für den Betrieb von Arkona.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters auf der Diskussionsveranstaltung zum 30. Jahrestag der Aufhebung des Schießbefehls an der DDR-Grenze
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-auf-der-diskussionsveranstaltung-zum-30-jahrestag-der-aufhebung-des-schiessbefehls-an-der-ddr-grenze-1600378
Tue, 09 Apr 2019 20:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin Tränenpalast
Kulturstaatsministerin
Gedenken,Deutsche Einheit
30 Jahre nach der Aufhebung des Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze, drei Jahrzehnte nach der Friedlichen Revolution sind die Spuren des DDR-Grenzregimes nahezu verschwunden: die Mauer, die Zäune, die Wachtürme, die Schussapparate und Minen, das schwere Kriegsgerät und die Maschinengewehre, mit denen etwa 50.000 Mann einen Staat zum Gefängnis für seine Bürgerinnen und Bürger machten und den totalitären Machtanspruch der SED-Diktatur durchzusetzen halfen. Doch die Grausamkeit dieses Grenzregimes lässt sich auch ohne sichtbare Spuren vergegenwärtigen: etwa in den Dienstanweisungen, die Menschen in kalter Technokratensprache im wahrsten Sinne des Wortes zum Abschuss freigaben. Die 1977 für die Grenzregimenter erlassene Dienstverordnung DV 718/0/002 zum „Einsatz der Grenztruppen zur Sicherung der Staatsgrenze“ erteilte in präzisem Verwaltungsdeutsch Instruktionen zur Verfolgung so genannter „Grenzverletzer“ und formuliert unmissverständlich, was dabei erwartet wurde – ich zitiere: „Die Verfolgung hat das Ziel, Grenzverletzer in kürzester Zeit und unter Ausnutzung des Geländes festzunehmen oder zu vernichten.“ Solche Anweisungen zur – Zitat! – „Vernichtung“ von „Grenzverletzern“ finden sich an mehreren Stellen; zusammen mit den Regelungen im DDR-Grenzgesetz und öffentlichen Äußerungen der SED-Führung umschreiben sie jene totalitäre Praxis der Grenzsicherung, die unter dem Stichwort „Schießbefehl“ subsumiert wird und die jeden Traum von Freiheit im Keim ersticken sollte. Wer sich diesen Traum dennoch nicht nehmen ließ, wer sich nicht einschüchtern und abschrecken ließ, bezahlte unter Umständen mit dem Leben – so wie der 15jährige Heiko Runge: Zusammen mit seinem gleichaltrigen Freund Uwe Fleischhauer wagte er am 8. Dezember 1979 im Kreis Wernigerode die Flucht. Gut 100 Meter vor dem Grenzzaun liefen die jugendlichen „Grenzverletzer“ den alarmierten Grenzsoldaten in die Arme. Auf beide wurden, weil sie nicht stehen blieben, insgesamt 51 Schüsse abgefeuert. Uwe Fleischhauer überlebte. Heiko Runge wurde, der Dienstverordnung DV 718/0/002 entsprechend, „vernichtet“. Meine Damen und Herren, jedes einzelne solche Schicksal erzählt von der Unmenschlichkeit der SED-Diktatur und von der Gnadenlosigkeit eines totalitären Regimes; und jede dieser Geschichten findet eine Fortsetzung in weiteren Geschichten von Leid und Unrecht. Denn Familien und Freunde der „Grenzverletzer“ wurden massiv ausgespäht und sahen sich den Schikanen, Repressionen und Zermürbungsstrategien des Staatssicherheitsdienstes ausgesetzt. Persönlichen Geschichten Gehör zu schenken, individuellen Schicksalen Aufmerksamkeit zu verschaffen und hinter abstrakten Zahlen den einzelnen Menschen sichtbar zu machen – das sind wir den Opfern staatlicher Unterdrückung und Gewalt schuldig, auch und nicht zuletzt jenen, die an der innerdeutschen Grenze für Freiheit und Selbstentfaltung ihr Leben ließen. Sowohl für ein würdiges Gedenken als auch für die politische Bildung gerade junger Menschen, für das Lernen aus Diktaturerfahrungen und die Sensibilisierung für den Wert demokratischer Freiheitsrechte, ist die Konfrontation mit den erschütternden Geschichten hinter der leidvollen deutsch-deutschen Teilungsgeschichte unverzichtbar: Denn mehr als ein Überblick im Geschichtsbuch geht die Begegnung mit Zeitzeugen und Zeitzeugnissen unter die Haut, sei es in persönlichen Gesprächen, sei es in Filmen und Büchern, sei es in Dokumentationen und an authentischen Erinnerungsorten. Zur notwendigen Aufarbeitung der SED-Diktatur gehört aber natürlich – über das Erinnern und Gedenken an die Opfer, über die Auseinandersetzung mit ihren Schicksalen hinaus – auch die umfassende Erforschung der DDR-Geschichte und des SED-Unrechts. Um das Geschehene einordnen zu können, um es politisch, historisch, rechtlich und moralisch bewerten und vergleichen zu können, um seine Ursachen und Folgen benennen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen zu können, braucht es eine Erweiterung der Sicht über den Blickwinkel persönlicher Betroffenheit hinaus. Es braucht den nüchternen Blick und die distanzierte Perspektive einer freien, politisch und ökonomisch unabhängigen Wissenschaft, es braucht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich an fachlichen Standards orientieren und die Ergebnisse ihrer Arbeit in der Fachwelt wie auch in der Öffentlichkeit zur Überprüfung und Diskussion stellen. Nationales Gedächtnis und Erinnerungskultur einer Demokratie müssen auf historischen Fakten beruhen. Im Bemühen, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, darf kein Raum sein für Geschichtsklitterung und Legendenbildung, für unzulässige Vereinfachungen oder politische Deutungsmonopole. Deshalb fördert und betreut die BKM auf der Grundlage der Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes umfassend die wissenschaftlich fundierte Aufarbeitung der SED-Diktatur – beispielsweise durch den BStU, also die Stasiunterlagenbehörde, die Stiftung Aufarbeitung, die Stiftung Berliner Mauer und in weiteren Gedenkstätten und Museen. Weil auch Wissenschaft – obwohl der Wahrheit verpflichtet – natürlich nicht unfehlbar ist, müssen ihre Quellen und Ergebnisse nachprüfbar und ihre Methoden transparent sein und sich sowohl der Beurteilung durch die Fachwelt als auch der öffentlichen Diskussion stellen. Die von Klaus Schroeder und Jochen Staadt herausgegebene Studie „Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an den innerdeutschen Grenze 1949-1989“ hat – finanziell unterstützt von der BKM – mit ihrer systematischen und detailliert auf die Einzelschicksale eingehenden Untersuchung einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der SED-Diktatur geleistet. Sie ist aber in der Fachwelt und in der öffentlichen Diskussion massiv in die Kritik geraten, weil die von den Herausgebern gebildeten Kategorien für unterschiedliche Opfergruppen im Vergleich zu denen in der Studie von Hans-Hermann Hertle und Maria Nooke über die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961-1989 deutlich erweitert wurden. Die im Vorwort zu der Studie vorgenommene Erläuterung dieser Abweichung (- auf die mein Haus gedrängt hatte -) konnte offenbar nicht überzeugen. Darüber hinaus lässt sich über die von Schroeder und Staadt gewählte Kategorisierung insbesondere in der Darstellung einzelner Fälle trefflich streiten: So ist beispielsweise der Selbstmord eines jungen Grenzsoldaten ohne Zweifel traurig und tragisch; ob er aber neben den von Grenzsoldaten ermordeten Fluchtwilligen Erwähnung finden und zu den Opfern des DDR-Grenzregimes zählen darf und sollte, ist zumindest fragwürdig – insbesondere dann, wenn der Suizid nicht, wie im Vorwort suggeriert, eindeutig im Zusammenhang mit den Zumutungen des Dienstes an der Grenze stand. Genauso fragwürdig ist die Einbeziehung der an der innerdeutschen Grenze Getöteten vor 1961, weil vor der endgültigen Abriegelung der Sperranlagen auch Schmuggel oder blanker Hunger die Gründe sein konnten, die Zonen- und spätere DDR-Grenze zu überqueren. Betonen will ich aber auch: Selbst wenn man alle strittigen Opfer abzieht, kommen zu den 138 Toten an der Berliner Mauer mindestens 140 Menschen, die im Vergleichszeitraum zwischen 1961 und 1989 an der innerdeutschen Grenze ihre Leben verloren. Und über ihr Schicksal – das Schicksal etwa von Heiko Runge und Uwe Fleischhauer – wissen wir durch die Studie von Schroeder und Staadt erheblich mehr als zuvor. Bleibt die Frage, ob es gute, wissenschaftlich fundierte Gründe für die von Schroeder und Staadt gewählten Opferkategorien gibt: Dies abschließend zu beurteilen, ist weder Aufgabe noch Kompetenz der Politik. Forschung und Wissenschaft sind frei – und deshalb muss auch die fachliche Auseinandersetzung mit den Ergebnissen freier Forschung der Wissenschaft überlassen bleiben. Mir ist aber sehr daran gelegen, dass diese Debatte geführt wird, und dass sie öffentlich, transparent und für alle Interessierten nachvollziehbar geführt wird. Deshalb habe ich den 30. Jahrestag der Aufhebung des Schießbefehls zum Anlass genommen, gemeinsam mit Herrn Prof. Hütter zu einer Diskussion über das DDR-Grenzregime und über die von meinem Haus dazu geförderte Studie einzuladen. Dieser Diskussion und damit auch der Kritik Raum zu geben, finde ich nicht nur erinnerungspolitisch – im Sinne einer seriösen, wissenschaftlich fundierten Aufarbeitung der DDR-Diktatur – enorm wichtig. Es geht mir auch um das Vertrauen in die Wissenschaft. Wenn der falsche Eindruck entstünde, dass wissenschaftliche Erkenntnisse auf einer wackeligen Basis stehen oder gar auf bestimmten Interessen beruhen, wäre dies Wasser auf den Mühlen populistischer Demokratieverächter, die Misstrauen gegen Politik, Medien und Wissenschaft – die so genannten „Eliten“ – schüren und Fakten als „fake news“ diskreditieren, um ihre Propaganda verbreiten zu können. Transparenz und der offene Umgang mit Kritik schaffen Vertrauen, und auch deshalb bin ich froh, dass sich drei ausgewiesene Fachwissenschaftler bereit erklärt haben, heute Abend – moderiert von Sabine Adler vom Deutschlandradio – aus ihrer jeweiligen fachlichen Sicht Stellung zu nehmen und Argumente auszutauschen: die Soziologin Dr. Maria Nooke, Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur und Mitautorin des 2009 erschienenen Bandes über die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961-1989; der Historiker Prof. Dominik Geppert, Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam und der Jurist Prof. Georg Nolte, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Humboldt Universität Berlin. Herzlichen Dank für Ihre Bereitschaft, Ihre fachliche Expertise öffentlich in die Diskussion einzubringen, verehrte Podiumsgäste! Mich interessiert sehr, wie Sie die Kategorisierung der Opfer und die Trennung zwischen Opfern und Tätern in der Studie von Schroeder und Staadt bewerten. Ich erhoffe mir Zusammenhang auch Antworten auf folgende Fragen: War die Abriegelung der innerdeutschen Grenze 1961 eine so tiefgehende Zäsur, dass eine kategoriale Trennung zwischen den Opfern vor und nach diesem Zeitpunkt in der Arbeit von Schroeder und Staadt geboten gewesen wäre? Wie bewerten Sie die Aufnahme von Selbstmorden unter den Grenzsoldaten in die Gesamtzahl der Todesopfer des DDR-Grenzregimes? Wie ist zu bewerten, dass das Grenzregime der DDR durch junge Wehrpflichtige gestützt wurde, die erst der Schießbefehl zu möglichen Tätern machte? Was drohte demjenigen, der sich dem Schießbefehl verweigerte? Wurde – etwa in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg – auch an anderen Staatsgrenzen in Europa geschossen? Antworten auf diese Fragen erhellen hoffentlich nicht nur die Stärken und Schwächen der Studie und ihre Bedeutung für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Darüber hinaus hoffe ich, dass in der Auseinandersetzung mit dem DDR-Grenzregime auch deutlich wird, welch große und zugleich fragile politische Errungenschaft ein Europa der offenen Grenzen ist. Mit dem 30jährigen Jubiläum des Mauerfalls feiern wir im kommenden Herbst einen der glücklichsten Momente deutscher und auch europäischer Geschichte, einen wahren Triumph in der deutschen und europäischen Freiheitstradition: den Triumph der Demokratie über die Diktatur, den Triumph der Freiheit über Unfreiheit und Unterdrückung, den Triumph des Rechtsstaats über staatliche Willkür, den Triumph jener Werte, für die Menschen an der innerdeutschen Grenze ihr Leben riskierten und vielfach verloren und für die Hundertausende im Herbst 1989 in Berlin, Leipzig und anderen Städten der DDR mutig ihre Stimme erhoben. Ich bin überzeugt: Die Auseinandersetzung mit den Diktaturerfahrungen des 20. Jahrhunderts kann helfen, den politischen Gegnern der europäischen Idee entschieden entgegen zu treten, und sie kann auch motivieren, für Freiheit und Demokratie einzustehen. Dafür brauchen wir die Unterstützung der Wissenschaft und die Arbeit unserer Gedenkeinrichtungen. In diesem Sinne freue ich mich auf eine inspirierende Diskussion!
„Zur notwendigen Aufarbeitung der SED-Diktatur gehört aber natürlich – über das Erinnern und Gedenken an die Opfer, über die Auseinandersetzung mit ihren Schicksalen hinaus – auch die umfassende Erforschung der DDR-Geschichte und des SED-Unrechts“, erklärte Kulturstaatsministerin Monika Grütters in ihrem Eingangsstatment zur Diskussionsveranstaltung im Berliner Tränenpalast.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen am 9. April 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-jahresempfang-des-bundes-der-vertriebenen-am-9-april-2019-in-berlin-1599386
Tue, 09 Apr 2019 18:24:00 +0200
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Präsident, lieber Herr Fabritius, sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, sehr geehrte Frau Staatsministerin, sehr geehrte Staatssekretäre, sehr geehrter Alexander Dobrindt und liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag, Exzellenzen – allen voran begrüße ich ganz herzlich den Nuntius –, aber vor allem Sie alle, meine Damen und Herren, natürlich bedanke ich mich wieder für die Einladung. Sehr gerne, lieber Herr Fabritius, bin ich wieder zu diesem traditionellen Jahresempfang gekommen, an dem ich auch relativ beständig teilnehme; und das auch immer aus tiefer Überzeugung. Wir feiern in diesem Jahr den 70. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland. Politische Stabilität, wirtschaftlicher Erfolg und sozialer Frieden waren und sind die wesentlichen Markenzeichen dieser 70 Jahre. Die Heimatvertriebenen haben an dieser Entwicklung einen großen Anteil. Das ist alles andere als selbstverständlich nach all dem Schrecklichen, das Sie und Ihre Vorfahren durchgemacht haben. Es bleibt unvergessen, was die Heimatvertriebenen für den Wiederaufbau Deutschlands geleistet haben. Sie haben mitgeholfen, dass Deutschland, das so viel Leid und Elend über Europa und die Welt gebracht hatte, seinen Platz als anerkannter Partner in der Staatengemeinschaft wiederfinden konnte. Wir dürfen nicht vergessen, was wir auf dem Weg der Versöhnung und Freundschaft vor allem mit unseren europäischen Nachbarn erreicht haben. Uns verbindet heute weit mehr als ein gemeinsamer Markt. Uns verbindet zuallererst ein freiheitliches und friedliches Europa. Das sollten wir auch vor Augen haben – und ich bedanke mich in diesem Zusammenhang auch für die Worte des Präsidenten Fabritius –, wenn wir rund 450 Millionen Europäerinnen und Europäer in wenigen Wochen unser neues Europaparlament wählen. Europa ist heute, 80 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, ein weltweit einzigartiger Raum des Friedens, der Sicherheit und des Wohlstands. Das war beileibe nicht immer so. Gerade Ihre Familiengeschichten erzählen von Leid und Entbehrung zu einer Zeit, in der eine europäische Einigung reine Utopie zu sein schien. Sie erzählen von der Flucht unter Lebensgefahr zum Beispiel über das zugefrorene Haff, vom Leben in den Flüchtlingsbaracken, vom völligen Neuanfang fern der Heimat und vor allem von den vielen Menschen, die ihr Leben verloren haben. Europa als Friedensgemeinschaft – das war und ist die Antwort auf Krieg und all seine schrecklichen Folgeerscheinungen. Wer könnte besser als Sie, die Heimatvertriebenen, davon erzählen, was wir an Europa haben? Und zwar nicht abstrakt, sondern – viele, die heute hier sind, können das ja auch – mit Blick auf Ihre Familienschicksale und auch auf die Arbeit heute außerhalb der deutschen Grenzen. Gerade Sie können jenen, die an Europa zweifeln und sich lieber ins Nationale zurückziehen wollen, glaubhaft vermitteln, was Europa bedeutet und bedeuten kann. Gerade Sie wissen, wie wichtig es ist, Erinnerung zu pflegen, um im Bewusstsein der Vergangenheit eine gemeinsame Zukunft zu gestalten. Das bedeutet – und ich weiß, dass Sie dazu bereit sind –, den Weg der Versöhnung weiterzugehen. Ich weiß, dass sich das so leicht sagt, dass es aber nicht ganz so leicht ist, das zu tun. Wer an die Verluste und Schmerzen der Menschen – gleich welcher Nationalität – denkt, der weiß, dass der Versöhnungsprozess nach all dem, was in Europa vor über 70 Jahren geschah und was uns noch heute prägt, alles andere als einfach war. Umso wichtiger ist es – und das tun Sie; auch der heutige Abend ist ja ein Beispiel dafür –, immer wieder das Gespräch zu suchen. Dialog – genau dafür steht der Bund der Vertriebenen. Er schlägt immer wieder Brücken in die Zukunft. Er setzt sich unter Einbeziehung historischer Erfahrungen für Versöhnung ein – oder, wie es in Ihrem aktuellen Jahresleitwort heißt, für „Menschenrechte und Verständigung – für Frieden in Europa“. Aus dem Schicksal der Vertriebenen und aus ihrem Selbstverständnis als Brückenbauer in Europa erwächst ohne jeden Zweifel auch politische Verantwortung. Die Bundesregierung nimmt diese Verantwortung sehr ernst – Sie haben das eben deutlich gemacht: sowohl das Bundesministerium des Innern als auch die Staatsministerin für Kultur. Als Beispiel nenne ich nur die im Bundesvertriebenengesetz festgelegte Aufgabe, das Kulturerbe zu erforschen und zu bewahren. Das Konzept ist weiterentwickelt worden. Wir erschließen uns immer wieder neue Perspektiven. Deutlich macht dies die grenzüberschreitende Arbeit mehrerer Forschungseinrichtungen und Landesmuseen, die der Bund gemeinsam mit den Ländern und weiteren Partnern fördert. Dafür sind in unserem Budget in diesem Jahr 23 Millionen Euro vorgesehen. Das kulturelle Erbe der Deutschen im östlichen Europa ist durch Wechselwirkungen mit Kulturen anderer Völker Teil einer europäischen Beziehungsgeschichte. Diese vielfältige Geschichte zu vermitteln, hilft, das Bewusstsein für die gemeinsamen Wurzeln, die wir in Europa haben, zu schärfen und so die Versöhnung mit unseren östlichen Nachbarn zu festigen. Das ist eine fortwährende Aufgabe. Ich freue mich, dass auch auf der bevorstehenden Reise der Staatsministerin für Kultur und Medien nach Rumänien das Thema Vertreibung eine Rolle spielen wird und der Blick von der Gegenwart sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft gewandt wird. In diesem Sinne wirkt auch die Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Auch die Stiftungsarbeit wurde konzeptionell und inhaltlich weiterentwickelt – auch ein permanenter Weg, der aber, wie ich mich gerade eben wieder erkundigt habe, doch erfolgreich gegangen wird. Für die Eröffnung des Dokumentationszentrums sind natürlich die Fertigstellung und Übergabe des Gebäudes von Bedeutung. Ich habe mich gerade einmal erkundigt – bei den Bautempi sind wir ja sozusagen nicht immer weltmeisterverdächtig –: Laut baubegleitender Behörde könnte es im Februar 2020 so weit sein. Dann kann die Stiftung als deutschlandweit einzigartiger, gesamteuropäisch verankerter und international sichtbarer Lern- und Erinnerungsort endlich seiner Bestimmung zugeführt werden. Ich habe mich an diesen Diskussionen sehr intensiv beteiligt. Es würde mich unendlich freuen, wenn wir endlich einmal einfach die Türen öffnen und Menschen hineinbringen könnten. Meine Damen und Herren, mit Blick auf die Vergangenheit Verantwortung für Gegenwart und Zukunft zu übernehmen, kann ganz unterschiedliche Ausprägungen haben. Dazu gehört etwa auch – und darauf bezog sich ja ein breiter Teil der Ansprache des Präsidenten –, eine angemessene soziale Absicherung im Alter für Spätaussiedler zu gewährleisten. Sie haben uns noch einmal deutlich gemacht, Herr Fabritius, dass Ihnen dieses Thema ein besonderes Anliegen ist. Es ist ein Anliegen, das die Bundesregierung mit Ihnen teilt. Wir haben Anfang 2019 ja das „Gesetz über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzlichen Rentenversicherung“ in Kraft gesetzt. Von den Regelungen etwa zur Rentenniveausicherung, zu den Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente und bei der Anrechnung von Kindererziehungszeiten profitieren auch die Spätaussiedler. Dennoch habe ich Ihren Punkt verstanden; und auch Ihre Zahlenangaben waren nicht ohne jede logische Relevanz, würde ich einmal sagen, was den demografischen Aufbau der Gruppe der Spätaussiedler anbelangt. Ich werde mir das daher noch einmal sehr genau anschauen. Wir haben uns außerdem vorgenommen, für Härtefälle in der Grundsicherung im Rentenüberleitungsprozess einen Ausgleich durch eine Fondslösung zu schaffen. Auch hierbei wollen wir Spätaussiedler mit einbeziehen. Ich hoffe, dass die Koalition hierzu eine vernünftige Lösung finden wird. Aber ich habe schon verstanden: Mit all dem kann ich Sie noch nicht beruhigen. Wir müssen also weiterarbeiten. Meine Damen und Herren, es gibt viele Anknüpfungspunkte für die Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und dem Bund der Vertriebenen. Das Spektrum reicht von einer umfassenden Pflege der Erinnerungskultur bis hin zu gesetzlicher Detailarbeit. Deshalb freue ich mich auf eine weiterhin gute Zusammenarbeit. Ich möchte aber vor allen Dingen auch danke sagen: danke Ihnen allen, die Sie – jeder und jede Einzelne hier – Ihren Beitrag dazu leisten, dass das, was wir tun können – finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, Museen bauen, soziale Gesetze machen –, mit Leben erfüllt wird. Denn das können wir ja nicht so einfach. Wir können die Rahmenbedingungen setzen, aber sie müssen dann auch genutzt werden. Das ist oft eine sehr aufwändige Arbeit im wahrsten Sinn des Wortes. Lange Reisezeiten auf sich zu nehmen, sich immer wieder auch auf andere Befindlichkeiten einzustellen, immer wieder auf veränderte politische Situationen zu reagieren – ob in Polen, in Rumänien oder anderswo –, den deutschen Minderheiten außerhalb Deutschlands Mut zu machen und sie bei der Stange zu halten, die nächste Generation mit einzubeziehen – all das ist Arbeit, die nur durch einen Verband wie Ihren überhaupt geleistet werden kann. Da wir ja alle wissen, dass im 21. Jahrhundert die Zeit ein immer wertvolleres Gut wird – wer gibt für wen Zeit? –, möchte ich mich dafür bedanken, dass Sie Zeit für unsere gemeinsame Geschichte, für unser gemeinsames Land geben und dass Sie – nicht nur die, die vor Ihnen gearbeitet haben – damit auch weiter zum Zusammenhalt in unserem Land und zur erfolgreichen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beitragen. Danke dafür im Namen der ganzen Bundesregierung.
Rede der Kulturstaatsministerin zur Eröffnung der Ausstellung „Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht“ in der Berlinischen Galerie
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-zur-eroeffnung-der-ausstellung-lotte-laserstein-von-angesicht-zu-angesicht-in-der-berlinischen-galerie-1599096
Thu, 04 Apr 2019 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Es ist ein schöner Zufall, dass die heutige Ausstellungseröffnung ausgerechnet auf den Geburtstag Bettina von Arnims fällt. Die Dichterin, die heute vor234 Jahren geboren wurde, schrieb einmal: „Finde Dich, sei Dir selber treu, lerne Dich verstehen, folge Deiner Stimme, nur so kannst Du das Höchste erreichen!“ Was heute beinahe ein wenig wie Ratgeberliteratur wirkt, bedeutete in einer Zeit, in der die Frau auf die Rolle der fürsorglichen Gattin und Mutter reduziert wurde, nicht nur für eine Dichterin: Erwartungen zu unterlaufen und gegen äußere Widerstände selbstbewusst und mutig der eigenen Berufung und Überzeugung zu folgen. Glaubt man Bettina von Arnims eigenen Darstellungen, so riet ihr sogar ihr geschätzter Bruder Clemens Brentano, sie solle doch lieber Strümpfe stricken als Philosophen lesen. Wie gut, dass sie seine Ratschläge nicht beherzigte! So konnte sie zu einer Wegbereiterin für Künstlerinnen werden, zu einem Vorbild für Frauen, die, um es salopp zu sagen, „ihr Ding machen“ wollten. So wie Bettina von Arnim ging auch Lotte Laserstein unbeirrt ihren Weg. Beide eroberten Männerdomänen, beide verließen sich selbstbewusst auf ihr Können. Lotte Laserstein schuf ein beeindruckendes Oeuvre, das vor dem Krieg zwar gebührend gefeiert, nach dem Krieg aber zu Unrecht vergessen wurde. Damit teilt sie das Schicksal vieler Zeitgenossinnen. Die vom Städel initiierte und von Ihnen, liebe Frau Lütgens, kuratierte Ausstellung ist eine wichtige Etappe auf dem Weg ihrer Wieder- und Neuentdeckung. Eine Art Durchbruch war 2010 der Ankauf des Bildes „Abend über Potsdam“ für die Neue Nationalgalerie. BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien hat ihn damals mit einer finanziellen Beteiligung unterstützt. Ich hoffe zuversichtlich, dass die späte Würdigung ihres Schaffens (ein Vierteljahrhundert nach ihrem Tod) dazu beitragen wird, Lotte Laserstein einen angemessenen, ja, den ihr gemäßen Platz in der Kunstgeschichte einzuräumen, gleichrangig neben bekannten männlichen Künstlern ihrer Zeit. Ihnen, lieber Herr Köhler, danke ich sehr herzlich, dass Sie sich immer wieder für die Sichtbarkeit großer Künstlerinnen engagieren – so auch mit der sehr erfolgreichen Jeanne-Mammen-Retrospektive, für die Sie − wie Sie das ja immer wieder tun – unter großem persönlichem Einsatz Gelder eingeworben haben. „Museumsarbeit heißt entdecken, aber eben auch gut auswählen“, so wurden Sie in der Berliner Zeitung in diesen Tagen zitiert. Und ich kann nur sagen: Das gelingt Ihnen vortrefflich! Ich freue mich sehr, dass Ihr Vertrag um weitere fünf Jahre verlängert wurde − und dass ich heute mit der gemeinsamen Eröffnung der Lotte-Laserstein-Ausstellung eine weitere „Entdeckung“ und eine „gute Wahl“ der Berlinischen Galerie würdigen kann. Weibliche Kreative stärker ins Rampenlicht rücken − das ist mir nicht nur als Kunstliebhaberin, sondern auch politisch ein Herzensanliegen. Denn leider gilt ja bis heute, was Lotte Laserstein erleben musste: Künstlerinnen haben es deutlich schwerer als Künstler in einer eben doch sehr männlich dominierten Kunstwelt. Laserstein gehörte zu den ersten Frauen, die an der Kunsthochschule studierten. Bis vor 100 Jahren schlossen die meisten Akademien die als „Malweiber“ verspotteten Künstlerinnen vom Studium aus. Frauen, die eine Künstlerkarriere anstrebten, waren auf Privatlehrer oder kostspielige private Kunsthochschulen angewiesen. Eine Karikatur von Bruno Paul, 1901 im Simplicissimus veröffentlicht, zeigt deutlich, was man(n) von malenden Frauen hielt: Ein Maler sagt zu seiner Schülerin: „Sehen Sie, Fräulein, es gibt zwei Arten von Malerinnen: die einen möchten heiraten und die anderen haben auch kein Talent.“ Wir kennen das ja aus den Biographien vieler großer Künstlerinnen: Spott und Häme waren ihnen sicher, Anerkennung und Wertschätzung enthielt man ihnen vor. Anna Dorothea Therbusch beispielsweise, die wohl erste Malerin in Berlin und Preußen, die zu Erfolg und Ansehen kam, stieß mit ihrem herausragenden Werk „Junge Dame im Negligé“ 1768 in der Kunstwelt auf Ablehnung. Die Mitglieder der Pariser Kunstakademie – allesamt Männer – hielten es für eine Täuschung − es war einfach zu gut gelungen, als dass es von einer Frau hätte stammen können; und Denis Diderot, der damalige „Kunstpapst“, verspottete die Malerin ihrer Freizügigkeit wegen. Paula Modersohn-Becker wiederum, eine der bedeutendsten Vertreterinnen des frühen Expressionismus, klagte um 1900: „Die Zahl derer, mit denen ich es aushalten kann, über etwas zu sprechen, was meinem Herzen und meinen Nerven naheliegt, wird immer kleiner werden.“ Ihr Zeitgenosse, der Kunstkritiker Karl Scheffler, bezeichnete eine malende Frau als „die Imitatorin par excellence. […] Sie ist die geborene Dilettantin.“ Und der Kunsthistoriker Wilhelm Lübke stellt 1862 mit Befriedigung fest, „sie haben über Pinsel und Palette nicht die Sorge für die Kinder und den Mann, über den Farbtöpfen nicht die Kochtöpfe […] vergessen […]. Solange sie so treffliche Töchter, Gattinnen und Mütter sind, mögen wir, dünkt mich, es leichter ertragen, wenn sie keine Raffaels und Michelangelos werden.“ Sprüche wie diese gehören der Vergangenheit an? – …sollte man meinen. Doch tatsächlich gibt es auch heute noch Männer, die Künstlerinnen ihr Talent schlicht absprechen. Georg Baselitz gab beispielsweise wiederholt zu Protokoll „Frauen können nicht malen“ und führte als Begründung an: „Der Markt lügt nicht“. Unter den teuersten Künstlern seien kaum Frauen, ergo: das Preisschild gibt Auskunft über die Qualität des Kunstwerks. Möglicherweise ist ihm entgangen, dass Werke mancher einst gut bezahlter Künstler heute in den Depots verstauben, während einst unter Wert gehandelte Künstlerinnen mittlerweile sehr hohe Preise erzielen. Käthe Kollwitz wurde beispielsweise 1904 der Zugang zur Akademie verweigert, weil der Berliner Akademiedirektor Anton von Werner wie Baselitz der Meinung war, Frauen könnten nicht malen. Ein kleines Aquarell von Käthe Kollwitz kostet heute zehnmal so viel wie ein großformatiges Ölbild von ihm. Man mag Äußerungen wie die von Baselitz heute als Einzelmeinung eines eitlen Künstlers abtun. Doch leider wird die Argumentationsfigur immer wieder bemüht. Ein internationales Forscherteam hat 1,5 Millionen Auktionsabwicklungen in 45 Ländern aus den Jahren 1970 bis 2013 untersucht und die Ergebnisse 2017 in einer Studie veröffentlicht. Dabei stellte sich heraus: Kunst von Frauen wird nicht nur weniger gezeigt und verkauft; auf weibliche Kunstwerke gibt es auch einen „Geschlechtsrabatt“ von 47,6 Prozent. Da sollte man doch gleich zuschlagen. Die Forscher hatten verschiedene Experimente mit kunstaffinen Teilnehmern durchgeführt. In einem Experiment sollten die Probanden erraten, ob die gezeigten Bilder von Frauen oder Männern gemalt wurden. Die Zuordnung gelang ihnen nicht − und Bilder, die sie für Werke von Männern hielten, gefielen ihnen einfach besser. Es liegt auf der Hand, dass hier angeblich überkommene, gleichwohl tief in der Gesellschaft verwurzelte Rollenbilder am Werk sind. Ein anderes Ergebnis der Studie: Der „Geschlechts-Rabatt“ variiert entsprechend der Geschlechterverhältnisse in den einzelnen Ländern und Zeiten. Wo wenige Frauen im Parlament und Bildungswesen vertreten sind, ist der Pay-Gap größer. Das, meine Damen und Herren, bestätigt: Wir brauchen weibliche Vorbilder, die ein Umdenken einleiten − und wir Politiker können einiges dafür tun. Zum Beispiel mit dem Mentoring-Programm, das wir gemeinsam mit dem Projektbüro „Frauen in Kultur und Medien“ beim Deutschen Kulturrat entwickelt haben: Es ermöglicht Künstlerinnen und weiblichen Kreativen, von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen zu lernen und von deren Netzwerken zu profitieren. Denn Begabung alleine reicht oft nicht. Wer als Künstlerin Erfolg haben möchte, muss Fäden ziehen, Netzwerke spinnen und innovative Selbstvermarktungsstrategien beherrschen. Das war übrigens zu Lasersteins Zeiten nicht anders. Zum Glück war Lotte Laserstein nicht nur ein herausragendes Talent. Sie war auch eine gute Netzwerkerin und setzte versiert − heute würde man sagen − „zielgruppengerechte“ Strategien ein, um sich auf einem männlich dominierten Kunstmarkt behaupten zu können. So suchte sie Anschluss an einflussreiche und professionelle Kreise, nahm an Wettbewerben wie „Das schönste deutsche Frauenportrait“ teil und veröffentlichte ihre Bilder in Magazinen. Sie wäre eine wunderbare Mentorin für unser Förderprogramm gewesen. Von ihr kann man viel über Erfolgsstrategien lernen. In der späten Ära der Weimarer Republik jedenfalls wurde Lotte Laserstein euphorisch gefeiert − obwohl sie eine Frau war, obwohl sie sich keiner Mode unterwarf und obwohl sie − wie es Bettina von Arnim riet − sich selbst treu blieb. Doch die angesehene, erfolgreiche Künstlerin geriet danach über Jahrzehnte in Vergessenheit. Die als Jüdin verfolgte Lotte Laserstein steht exemplarisch für die sogenannte „verlorene Generation“ von Künstlern und (den auch dabei etwas aus den Blick geratenen) Künstlerinnen, die in der NS-Zeit aus politischen oder rassischen Gründen aus dem Kunstbetrieb ausgeschlossen wurden und in Vergessenheit gerieten, auch weil sie nach 1945 mit ihren realistisch gemalten Bildern in der avantgardeorientierten Nachkriegskunst nicht mehr an ihre erfolgversprechenden Vorkriegskarrieren anknüpfen konnten. Umso erfreulicher ist es, dass sie wiederentdeckt werden, dass sie heute zunehmend die verdiente Aufmerksamkeit erfahren! Ich bin auch sicher: Lotte Laserstein wäre zufrieden und glücklich, dass ihre Werke nicht nur im Städel-Museum in Frankfurt, sondern auch in Berlin gezeigt werden. Berlin war die künstlerisch prägendste und erfolgreichste Station in ihrem Leben. Die Berlinische Galerie ist deshalb geradezu prädestiniert für diese umfassende Schau der künstlerischen Entwicklung Lotte Lasersteins, ergänzt um Arbeiten anderer Künstler ihrer Zeit. Die Schriftstellerin Eva Menasse hat in einem Portrait über Lotte Laserstein geschrieben, es wäre zu kurz gegriffen, ihr Leben und ihre Karriere nur unter dem Label „benachteiligte Frau“ zu betrachten. Ebenso wird ihr eine Reduzierung auf das Label „verfolgte Künstlerin“ kaum gerecht. Ihr Werk verweigert sich klaren Zuschreibungen, ihre Bilder erfüllen keine Rollenerwartungen und lassen sich keinem bestimmten Stil zuordnen. Ich denke, sie erschließen sich in ihrer Vielschichtigkeit am besten, wenn man Lasersteins eigenen, unvoreingenommenen Blick einnimmt − diesen Blick, der ihr Werk auszeichnet. Mit diesem Blick erkennt der Betrachter, welch große Künstlerin uns in diesem Werk begegnet − so wie der Sammler John Chrichton Stuart, der über seine Laserstein-Bilder gesagt haben soll: „Ich habe mit Lottes Kunst gelebt und ich habe nie versäumt, sie zu betrachten und ihre Schönheit zu bestaunen.“ Machen Sie es ihm nach, meine sehr verehrten Damen und Herren, und bestaunen Sie die Schönheit dieser Bilder. Ich wünsche Ihnen dabei viel Freude und Kunstgenuss!
Lotte Laserstein steht nach Ansicht der Kulturstaatsministerin exemplarisch für die sogenannte „verlorene Generation“ von Künstlern und Künstlerinnen, die in der NS-Zeit aus politischen oder rassischen Gründen aus dem Kunstbetrieb ausgeschlossen wurden und in Vergessenheit gerieten. „Umso erfreulicher ist es, dass sie wiederentdeckt werden, dass sie heute zunehmend die verdiente Aufmerksamkeit erfahren“, sagte Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung des neuen Bauhaus-Museums in Weimar
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-des-neuen-bauhaus-museums-in-weimar-1598766
Fri, 05 Apr 2019 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Weimar
Kulturstaatsministerin
Weimar, die Stadt Goethes und Schillers, gilt mit ihrem kulturellen Erbe, mit ihren Museen und Kulturschätzen schon lange als Schaufenster für das Land der Dichter und Denker. Das wird sich mit der Eröffnung des neuen Bauhaus-Museums ändern – im positiven Sinne: Als Land der Dichter, Denker und Designer wird man Deutschland hier in Weimar künftig noch besser als bisher kennenlernen können, pünktlich zum 100-jährigen Jubiläum der Bauhaus-Gründung. Ich freue mich, dass auch der Bund mit finanzieller Unterstützung aus meinem Kulturetat dazu beitragen konnte, die weltweit älteste Bauhaus-Sammlung ihrer kunsthistorischen und auch politischen Bedeutung angemessen zu präsentieren. Als das Bauhaus hier in Weimar vor 100 Jahren seine Pforten öffnete, hieß ‚Design‘ noch ‚Formgebung‘ und war – natürlich – eine Männerdomäne. Walter Gropius verkündete zwar zunächst „absolute Gleichberechtigung“, schließlich hatten in der Weimarer Nationalversammlung gerade die ersten Frauen die parlamentarische Bühne betreten. Doch als sich gleich im ersten Jahr mehr Frauen als Männer für ein Studium einschrieben, bekamen die Bauhaus-Meister kalte Füße: Die große Anzahl von Frauen, fürchtete Gropius, könnte dem Ansehen des Bauhauses schaden. Gerhard Marcks, Formmeister der Töpferei, plädierte dafür, „möglichst keine Frauen in die Töpferei aufzunehmen, beides ihret- und der Werkstatt wegen“. Ähnlich besorgt gab man(n) sich in der grafischen Druckerei und in der Metallwerkstatt, deklarierte dafür aber 1920 die Weberei als Frauenklasse, ganz nach dem Motto, mit dem der Maler Oskar Schlemmer sich einen unrühmlichen Platz weit oben im Ranking peinlich-reaktionärer Chauvi-Sprüche gesichert hat: „Wo Wolle ist, ist auch ein Weib, das webt, und sei es nur zum Zeitvertreib.“ Ironie der Bauhausgeschichte, dass damals ausgerechnet die Weberei zu einer der künstlerisch produktivsten und auch noch kommerziell erfolgreichsten Werkstätten wurde – und dass heute für das Bauhaus-Museum, für die adäquate Präsentation des von Männern dominierten Bauhaus-Vermächtnisses zwei Frauen als Architektin bzw. Museumsleiterin verantwortlich zeichnen. Einem Land, das auch stolz auf seine Dichterinnen, Denkerinnen und Designerinnen sein kann, steht das gut zu Gesicht – so wie auch der nüchterne, differenzierte Blick auf die eigene Geschichte. Der beeindruckende Neubau gibt deshalb nicht nur der hiesigen Bauhaus-Sammlung mit ihrer Vielzahl an Exponaten Raum, sondern auch kritischem Nachdenken und kontroversen Debatten. Mit der neuen Dauerausstellung lädt er zur Auseinandersetzung mit der Vielfalt teils widersprüchlicher künstlerischer und gesellschaftlicher Konzepte und Experimente ein, mit denen die Bauhäusler nach dem Ersten Weltkrieg sowohl die Welt der Formen neu denken als auch eine geistig und moralisch bis ins Mark erschütterte Welt neu gestalten wollten. Ich danke Ihnen, liebe Frau Hanada und liebe Frau Bestgen, und Ihren Teams für die großartige Arbeit in den vergangenen Jahren! Gerade in der Kultivierung des Suchens und Ringens, das auch in Irrtümer und auf Irrwege führen kann, bietet das Bauhaus als ‚Werkstatt der Moderne‘, als Labor für Ideen und Experimente bis heute zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir leben und zusammenleben wollen – und welche Rahmenbedingungen notwendig sind, damit das Zusammenspiel einer dem Machbaren verpflichteten Politik und einer das Mögliche, gar das Utopische beschwörenden Kunst in gesellschaftlichen Fortschritt mündet. Das neue Bauhaus-Museum kann dafür über das Jubiläum ‚100 Jahre Bauhaus‘ hinaus Quelle der Inspiration und des Lernens sein – zumal in Weimar, jener Stadt, die mit der Weimarer Klassik Synonym geworden ist für die Kulturnation Deutschland und Vollendung im Ästhetischen und die gleichzeitig als Gründungsort der Weimarer Republik für das Versagen im Politischen steht, für das Scheitern der ersten deutschen Demokratie. Von Weimar ist es nicht weit nach Buchenwald, als KZ-Gedenkstätte Fanal der Unmenschlichkeit der national-sozialistischen Diktatur und des moralischen Zusammenbruchs unseres Landes. Die Gesichter der überlebenden Buchenwald-Häftlinge, die gerade in einer Open-Air-Foto-Ausstellung rund um das Bauhaus-Museum zu sehen sind, erinnern uns auf erschütternde Weise daran, wie nah Humanismus und Aufklärung neben Völkermord und Barbarei liegen können. Die Linien und Brüche in der Entwicklung von der Klassik über die Moderne bis zur Gegenwart nachzuzeichnen – das war seit langem Ihre Vision für Weimar, lieber Herr Seemann. Dazu hat die Klassik Stiftung Weimar 2007 den Masterplan ‚Kosmos Weimar‘ vorgelegt, der alle musealen Einrichtungen der Stiftung inhaltlich und konzeptionell vernetzt. Das neue Bauhaus-Museum vollendet diesen Masterplan. Damit hinterlassen Sie, wenn Sie sich im Sommer in den wohlverdienten Ruhestand verabschieden, eine profilierte Einrichtung, die dann bei Ihnen, liebe Frau Lorenz, der künftigen Leiterin, gewiss in den besten Händen liegt. Ich danke Ihnen, lieber Herr Seemann, und allen, die am Erfolg des ‚Kosmos Weimar‘ Anteil haben, und kann Ihnen versichern, dass wir – die öffentlichen Förderer: Bund, Land und Stadt – weiterhin nach Kräften zum Gedeihen der Klassik Stiftung Weimar beitragen werden. Jedenfalls hoffe und wünsche ich mir, meine Damen und Herren, dass Weimar seinen Besucherinnen und Besuchern künftig noch mehr als bisher die Bedeutung der Kunst vor Augen führt – und zwar neben der Wirkmacht der Sprachkunst Goethes und Schillers auch die des Designs, der Gestaltung der uns umgebenden Gebrauchsgegenstände. Denn auch das erfahren wir im neuen Bauhaus-Museum: dass Design nicht einfach nur schmuckes Beiwerk, oberflächliche Dekoration ist, sondern Einfluss nimmt auf unser Leben. Kaum jemand – jedenfalls soweit ich weiß, kein deutscher Dichter, Denker oder Designer – hat die soziale und politische Dimension des Ästhetischen so eindringlich beschrieben wie die in Rumänien aufgewachsene, deutsche Dichterin und Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller im Zusammenhang mit rumänischen Vitrinen und der – wie sie es formulierte -„allgegenwärtigen Hässlichkeit (…) im Sozialismus“, ich zitiere: „Die hässliche Gleichheit drückt aufs Gemüt, macht apathisch und anspruchslos, das wollte der Staat. (…) So eine Vitrine ist ein Lebensgefühl. Sie ist depressiv und überträgt ihre Depression tagtäglich auf alle, die an ihr vorbei gehen. Selbst wenn sie nur gedankenlos hinsehen, haben sie diese Vitrine schon im Gemüt. Ich glaube, Schönheit gibt einem Halt, sie behütet oder schont einen. (…) Ästhetik ist nicht bloß ,Stilmittel‘, sondern Substanz.“ Ja, Schönheit verleiht den Dingen eine ganz besondere Kraft. Auch das erfahren wir im neuen Bauhaus-Museum. Deshalb können Designer mit ihrer Formensprache das Wahrnehmen, Denken und Empfinden verändern. Es sind solche kleinen Veränderungen im Bewusstsein, die jeder großen gesellschaftlichen Veränderung vorausgehen, und in diesem Sinne trägt künstlerische Gestaltungskraft immer den Keim des Fortschrittlichen, des – im besten Sinne – Revolutionären in sich. Damit haben die Bauhäusler provoziert und polarisiert. Sie haben der Lethargie der Einfallslosen den Enthusiasmus der Fantasie entgegen gesetzt. Das feiern wir mit dem Jubiläum ‚100 Jahre Bauhaus‘. Ich bin sicher: Eine Gesellschaft, die der Gestaltungskraft Raum gibt, bleibt in jeder Hinsicht veränderungs- und innovationsfähig. Möge das Bauhaus-Museum Weimar mit seiner beeindruckenden Ausstellung dazu beitragen! Auf eine erfolgreiche Zukunft und viele begeisterte Besucherinnen und Besucher!
In ihrer Rede zeigte sich die Staatsministerin beeindruckt von dem Neubau am Museumsquartier in Weimar. Mit der neuen Dauerausstellung lade er zur Auseinandersetzung mit der „Vielfalt teils widersprüchlicher künstlerischer und gesellschaftlicher Konzepte und Experimente ein, mit denen die Bauhäusler nach dem Ersten Weltkrieg sowohl die Welt der Formen neu denken als auch eine geistig und moralisch bis ins Mark erschütterte Welt neu gestalten wollten“, sagte Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei einer Diskussionsveranstaltung zum Thema „Kunst und Digitalisierung“ in der BKM-Reihe „ZUKUNST! Perspektiven für Kultur und Medien“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-einer-diskussionsveranstaltung-zum-thema-kunst-und-digitalisierung-in-der-bkm-reihe-zukunst-perspektiven-fuer-kultur-und-medien–1598412
Mon, 01 Apr 2019 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Dortmund
Kulturstaatsministerin
Herzlich willkommen zur Diskussionsveranstaltung „Kunst und Digitalisierung“ im Rahmen unserer Veranstaltungsreihe „ZUKUNST! Perspektiven für Kultur und Medien“. Mit „ZUKUNST“ wollen wir Zukunftsmusik anklingen lassen, wollen wir – ganz analog zunächst – dem Digitalen (heute hier im Theater) eine Bühne bieten, wollen wir diskutieren, wo in Zukunft kultur- und medienpolitisch die Musik spielt, was in Zukunft kultur- und medienpolitisch im Rampenlicht steht – und dazu verschiedene Stimmen zu verschiedenen Themen in verschiedenen deutschen Städten hören. Ich danke Ihnen, lieber Herr Voges, dass Sie diesem Anliegen im Schauspielhaus Dortmund Raum geben, und freue mich darauf, für meine politische Arbeit als Staatsministerin für Kultur und Medien die ein oder andere Anregung mit nach Berlin zu nehmen. Weil die Musik auf jeden Fall (auch) im Internet spielt, soll es heute um „Kunst und Digitalisierung“ gehen, um ein Thema also, das im Zusammenhang mit der Reform des Urheberrechts in den vergangenen Wochen und Monaten die Gemüter erhitzt hat – zu Recht auch die Gemüter vieler Künstlerinnen und Künstler. Schließlich wurde hier nicht zuletzt die Frage verhandelt, ob und wie professionelles kreatives Schaffen auch im digitalen Zeitalter angemessen vergütet wird – und damit auch die Frage, ob künstlerische und mediale Vielfalt und die Vielstimmigkeit des öffentlichen Diskurses erhalten bleiben. Deshalb habe ich mich auf europäischer Ebene stets für eine Anpassung des Urheberrechts an das digitale Zeitalter eingesetzt und freue mich sehr, dass der nach mehr als zwei Jahren mühevoll errungene Kompromiss vergangene Woche vom Europäischen Parlament verabschiedet wurde. In der Diskussion um die Urheberrechtsreform ging es um eine Regulierung des digitalen Zugangs zu Kunst und Kultur, um Schranken gegen die im Netz verbreitete Gratismentalität. Nicht minder wichtig aber ist die Erweiterung des digitalen Zugangs. Denn der Aufbruch ins digitale Zeitalter hat eine Demokratisierung der Kultur ermöglicht, die lange als utopisch galt. Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht noch, als der mittlerweile verstorbene Hilmar Hoffmann als Kulturdezernent in Frankfurt am Main in den 1970er Jahren mit seinem Schlachtruf „Kultur für alle“ in den Kampf gegen einen elitären Kulturbegriff zog. Kultur galt in Deutschland bis dato als Leidenschaft der Bessergebildeten und Besserverdienenden. Diesem exklusiven, auf Abgrenzung und Ausgrenzung zielenden Kulturverständnis setzte Hoffmann seine Auffassung von Kultur als „langfristiger Beitrag zur Selbstfindung des Menschen“ entgegen. Der digitale Zugang zu Kultur ist dafür der Schlüssel: Es ist ein einladender Zugang für die jüngere Generation der „digital natives“, die dem kulturellen Angebot mit völlig anderen Hör- und Sehgewohnheiten begegnen. Vor allem aber ist es ein barrierefreier, niedrigschwelliger Zugang für all jene, die den Tempeln der Hochkultur bisher aus welchen Gründen auch immer fern bleiben. Und er steht auch in ländlichen Regionen offen, also dort, wo Menschen sich abgehängt fühlen und deshalb zuweilen empfänglicher für populistische Parolen sind als anderswo. Wer außerhalb der großen Städte lebt – wie übrigens die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland -, viele Kilometer entfernt vom nächsten Kino, vom nächsten Theater, von der nächsten Buchhandlung, wird den digitalen Zugang zu Kultur als Sicherung der kulturellen Grundversorgung jedenfalls sehr zu schätzen wissen. Deshalb unterstützt mein Haus Kultureinrichtungen bei der Erweiterung ihres digitalen Zugangs – beispielsweise im Rahmen des Projekts „museum4punkt0“, von dem die Leiterin, Frau Prof. Hagedorn-Saupe, nachher noch ausführlich berichten wird. Die beteiligten Museen entwickeln unter Federführung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz digitale Strategien für das Museum der Zukunft. Als Kulturvermittler wie auch als „Kultur-Verführer“ sind diese digitalen Zugangs-Erweiterer – von der App über digitale Erzählformate bis hin zu Cyberbrillen und Virtual Reality Labs – jeden Fördercent wert! Kultur- und medienpolitisch sind diese beiden auf den ersten Blick so widersprüchlichen Ziele also gleichermaßen wichtig: einerseits die Öffnung digitaler Zugänge zu Kultur, denn damit öffnen sich auch neue Wege kultureller Teilhabe; andererseits die Regulierung des digitalen Zugangs, denn es braucht Regeln, um jenen Freiraum zu schaffen, in dem Kunst und Kultur in Vielfalt gedeihen können. „Kultur für alle!“ – aber nicht: „Kultur umsonst für alle!“: In diesem politischen Spannungsfeld bewegen wir uns, wenn wir über Kunst und Digitalisierung diskutieren. Dafür, meine Damen und Herren, haben wir das Podium mit Expertinnen und Experten besetzt, die als geistig und schöpferisch Tätige nicht nur beide Pole dieses Spannungsfelds kennen, sondern die auch selbst mit den neuen digitalen Möglichkeiten experimentieren: sei es in der Darstellenden Kunst wie der Regisseur Kay Voges, der sich seit vielen Jahren künstlerisch mit der global vernetzten, digitalen Welt auseinander setzt und ihre technischen Innovationen für innovative Erzähl- und Darstellungsformate nutzt; sei es als Autorin und Kuratorin wie Inke Arns, die sich in Publikationen und Ausstellungen mit der Medien- und Netzkultur beschäftigt; sei es als Verwerterin wie E-Book-Verlegerin Nikola Richter, die das Smartphone nicht als Konkurrenz des Buchs, als Bedrohung der Lesekultur, sondern als deren Zukunft versteht und der Literatur den Weg ins digitale Zeitalter bereiten will; sei es als Wissenschaftlerin, als Wissenschaftler wie Monika Hagedorn-Saupe und Bernhard Pörksen, die sich der Frage widmen, wie die Digitalisierung die Kultur- und Medienrezeption verändert und wie sich diese Veränderungen auf kulturelle Teilhabe und Demokratie auswirken. Ich freue mich auf diese unterschiedlichen Perspektiven und bin gespannt auf Beispiele und Erfahrungen, die zeigen, welche neuen Möglichkeiten künstlerischen Schaffens und kultureller Vermittlung sich mit der Digitalisierung eröffnen und wie kulturelle Vielfalt und kulturelle Teilhabe davon profitieren! Ein herzliches Dankeschön dafür unseren Podiumsgästen! Zunächst aber dürfen wir uns auf den Vortrag des vielleicht profiliertesten und bekanntesten deutschen Medien- und Kommunikationswissenschaftlers freuen, der an der Universität Tübingen lehrt und zahlreiche, viel diskutierte Bücher zum „kommunikativen Klimawandel“ im digitalen Zeitalter veröffentlicht hat. Lieber Herr Prof. Pörksen, Sie haben das Wort.
Bei der Podiumsdiskussion im Schauspielhaus Dortmund hat die Kulturstaatsministerin die Notwendigkeit für eine Regulierung des digitalen Zugangs zu Kultur und Medien unterstrichen: „Es braucht Regeln, um jenen Freiraum zu schaffen, in dem Kunst und Kultur in Vielfalt gedeihen können. ‚Kultur für alle!‘ – aber nicht: ‚Kultur umsonst für alle!‘, sagte sie vor den rund 200 anwesenden Gästen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung der Hannover Messe am 31. März 2019
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-eroeffnung-der-hannover-messe-am-31-maerz-2019-1596306
Sun, 31 Mar 2019 19:04:00 +0200
Hannover
keine Themen
Digitalisierung
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Stefan Löfven, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Weil, sehr geehrter Herr Ziesemer, sehr geehrter Herr Neugebauer, sehr geehrte, liebe Kollegin Anja Karliczek, liebe Minister, Kommissare, Abgeordnete, Exzellenzen, Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren, es ist mir eine Freude, auch in diesem Jahr die Hannover Messe zu eröffnen. Ich bin sehr froh, dass das Partnerland Schweden heute dabei ist. Denn die Wirtschaftsbeziehungen unserer beiden Länder haben wirklich eine lange und gute Tradition. Wir sind Nachbarn; und ich weiß aus meinem Wahlkreis, wie wichtig der Handel zwischen Deutschland und Schweden schon seit Jahrhunderten ist. So denke ich zum Beispiel an die Hafenordnung von Stralsund. Darin fanden die südlichen Häfen Schwedens bereits vor rund 750 Jahren als sehr bedeutsame Anlaufstellen für die heimische Schifffahrt Erwähnung. Stralsund zählte später auch viele Jahre zum schwedischen Hoheitsgebiet. Und ich habe den Eindruck, dass sich sogar heute noch mancher Stralsunder eher als Südschwede versteht. Tatsache ist: Die Ostsee trennt nicht, sondern sie verbindet unsere beiden Länder. Das unterstreicht auch, dass Königin Silvia in wenigen Tagen Niedersachsen besuchen wird. Durch die Ostsee sind wir sehr eng verbunden. Aber heute freuen wir uns erst einmal über Ihren Besuch, lieber Herr Ministerpräsident. Ein herzliches Willkommen Ihnen und allen 160 schwedischen Ausstellern. Diese stehen exemplarisch für die insgesamt mehr als 1.000 in Deutschland ansässigen schwedischen Unternehmen. Alle diese Unternehmen genießen einen ausgezeichneten Ruf. Das haben wir eben auch am Beispiel der Roboter-Präsentation gesehen. Ob Produkte rund um das Automobil, ob Maschinen, Mobilfunk oder Möbel – schwedische Produkte sind hierzulande sehr gefragt. Aber das beruht auch auf Gegenseitigkeit. Und so war Deutschland im letzten Jahr erneut der wichtigste Handelspartner Schwedens. Insofern ist es nahezu folgerichtig – man fragt sich, warum dies so lang nicht passiert ist –, dass Schweden einmal Partnerland der Hannover Messe ist. Es hat sich heute auch in voller Sympathie präsentiert. Nun hat jede Hannover Messe ihre Besonderheiten. In diesem Jahr kommt eine organisatorische Besonderheit hinzu. Nachdem die CeBIT vor 33 Jahren aus der Hannover Messe ausgegliedert wurde, ist sie nun wieder eingegliedert worden. Sie war seit 1986 selbständig. Es hat sich dann in einer interessanten Entwicklungsgeschichte herausgestellt, dass die Entstehung digitaler Optionen zwar erst eine gewisse Distanz zu den klassischen Maschinen geschaffen hat, sodass man glaubte, zwei Messen zu brauchen. Aber jetzt erleben wir sozusagen eine neue Konvergenz, eine nicht erwartete Harmonie. Es war schon in den letzten Jahren der CeBIT erkennbar, dass man fast immer über Ähnliches gesprochen hat, weil seit dem Jahr 2011 – man kann vielleicht sagen, Industrie 4.0 ist hier geboren worden – immer deutlicher wurde, dass die digitalen Möglichkeiten und die Maschinen miteinander verschmelzen. Wir können feststellen, dass dies durch Künstliche Intelligenz jetzt noch im wahrsten Sinne des Wortes getrieben wird. Industrie und IT gehören zusammen. Insofern wird diese Hannover Messe sehr interessant sein, weil an hundert Anwendungsbeispielen gezeigt wird, wie dies praktisch aussieht. Meine Damen und Herren, die Hannover Messe ist nach wie vor die Weltleitmesse der Industrie. Deshalb kommt auch der größte Teil der Aussteller aus dem Ausland. Daran zeigt sich, wie vernetzt die deutsche Industrie ist. Sie setzt internationale Maßstäbe, sie ist breit aufgestellt. Das Spektrum reicht von innovativen Start-Ups über mittelständische Unternehmen mit zahlreichen Weltmarktführern bis hin zu großen Industriekonzernen, die weltweit zehntausende oder hunderttausende Beschäftigte haben. Einige von ihnen haben eine Unternehmensgeschichte, die mehr als 250 Jahre zurückreicht – in eine Zeit, in der James Watt mit seiner Weiterentwicklung der Dampfmaschine die Industrie 1.0 in Gang setzte. Wir haben also einen Mix aus kleinen und großen, jungen und etablierten, spezialisierten und diversifizierten Unternehmen. Das ist ein maßgeblicher Grund dafür, warum die deutsche Industrie als Ganzes so leistungsstark ist und für fast ein Viertel der deutschen Wirtschaftsleistung steht. Auf diesen hohen Industrieanteil sind wir stolz, aber er ist natürlich nicht in Stein gemeißelt, sondern muss immer wieder erarbeitet werden. Dass wir beim World Economic Forum im letzten Jahr Innovationsweltmeister wurden, hat auch sehr viel mit der deutschen Industrie zu tun. Ansonsten könnte sie nicht diesen großen Anteil haben. Die Industrie ist natürlich nicht allein für Deutschland, sondern auch für Europa insgesamt von enormer Bedeutung. 80 Prozent der Exporte der Europäischen Union und rund 30 Millionen Arbeitsplätze sprechen dafür. Weil wir wissen, dass wir alle miteinander – heute noch 28 und in Zukunft 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union – keine gute Zukunft haben werden, wenn wir nicht auch eine klare Vorstellung davon haben, wie es industriepolitisch vorangehen soll, haben wir – ich bin sehr dankbar dafür, dass der Bundeswirtschaftsminister für Deutschland diesen Stein ins Rollen gebracht hat – auf der Grundlage der Vorstöße von Frankreich, Deutschland und vieler anderer in der letzten Woche bei unserem Europäischen Rat über die Rolle der Industrie und eine Strategie für eine global wettbewerbsfähige Industrie diskutiert. Wir haben die Kommission gebeten, uns bis zum Jahresende Vorschläge zu machen, in welche Richtung wir hierbei zusammenarbeiten müssen. Denn, Herr Ziesemer, ich gebe Ihnen recht: Es wird nicht ausreichen, dass wir einfach so weitermachen, wie wir es immer gemacht haben. Wir müssen uns in einem sich verändernden globalen Umfeld orientieren. Dabei stehen wir völlig neuen Wettbewerbssituationen gegenüber. Wir kennen Länder, die durchaus darauf achten, dass ihre Unternehmen Vorteile haben, und die den Gedanken des level playing field nicht ganz so faszinierend finden wie wir. Wir kennen Länder, die einzelne Unternehmen oder Wirtschaftszweige sehr stark subventionieren. Wir lesen viel über tarifäre, aber vor allem auch über nichttarifäre Handelshemmnisse. Es gibt viele Länder, die das Beihilferegime unter den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union eher für etwas zum Belächeln halten als für etwas, aus dem man wirtschaftliche Stärke entwickeln kann. Deshalb möchte ich an diesem Ort noch einmal sagen: Ich bleibe eine große Befürworterin von Marktoffenheit und freiem Handel. Es ist auch richtig, dass der Staat niemals denken sollte, dass er der bessere Unternehmer sei. Manchmal werden Verdächtigungen geäußert, dass wir jetzt völlig von der Rolle seien – wir kämen gar nicht darauf, einen solchen Satz auszusprechen –, aber ich sage es dennoch: Wir erleben, dass sich Spielregeln verändern. Deshalb brauchen wir Antworten auf entscheidende Fragen. Das können keine nationalen Antworten sein, das müssen europäische Antworten sein. Wir müssen diese Antworten auch mit Blick auf die großen Wirtschaftsmächte finden, von denen ich hier einmal die USA und China nennen möchte. Wir müssen als Europäer vor allem gemeinsam handeln, eine gemeinsame Position finden. Das stellt sich täglich als nicht ganz einfach dar. Um es noch einmal zu unterstreichen: Ich bin sehr dankbar gewesen, dass der französische Präsident, Emmanuel Macron, Jean-Claude Juncker und mich zu einem Treffen mit dem chinesischen Präsidenten Xi eingeladen hat, bei dem wir über Fragen des Multilateralismus sprechen konnten. Ich glaube, wir sind uns in einigen Grundfragen einig; und dies gilt ganz und gar auch für den schwedischen Ministerpräsidenten. Erstens brauchen wir einen umfassenden Ansatz, der bei den Auswirkungen unseres Handelns zum Beispiel im Klimaschutz auch die Industrie und ihre Wettbewerbsfähigkeit berücksichtigt. Zweitens sind wir uns einig, dass wir – ich sage es ganz vorsichtig – ein gewisses Maß – das wird es niemals zu hundert Prozent geben – an Gegenseitigkeit und Gleichbehandlung brauchen. Wenn wir ausländischen Unternehmen entgegenkommen, dann erwarten wir auch für unsere Unternehmen, die im Ausland tätig sind, Erleichterungen für Handel und Investitionen. Drittens sind wir uns auch einig, dass Protektionismus am Ende allen schadet. Ich will noch einmal daran erinnern, dass wir vor zehn Jahren die internationale Finanzkrise überhaupt nur überwinden konnten, weil wir damals gemeinsam gehandelt haben. Daraus ist das G20-Format der großen Industriestaaten auf der Ebene der Regierungschefs entstanden. Deshalb ist und bleibt der multilaterale Ansatz in der Handelspolitik der beste. Leider geht es mit der Reform der Welthandelsorganisation nur sehr langsam voran. Der zweitbeste Ansatz sind bilaterale Handelsabkommen, von denen die Europäische Union in letzter Zeit erfreulicherweise einige abschließen konnte. Wir müssen natürlich auch unsere Handelsbeziehungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika entwickeln. Wir wollen niedrigere Zölle, wir wollen ein gutes Abkommen. Die Kommission arbeitet gerade mit den Mitgliedstaaten an einem Verhandlungsmandat. Ich hoffe, dass man sich schnell einigen kann. Viertens haben wir im Europäischen Rat vereinbart, auch Änderungen des Wettbewerbsrechts zu überprüfen. Die Kommission wird noch in diesem Jahr Vorschläge vorlegen, wie wir auf Verzerrungen im internationalen Wettbewerb reagieren können. Das sind zum Teil sehr angespannte und sehr emotional geführte Diskussionen. Ein kluges Wettbewerbsrecht darf sich sicherlich nicht von Emotionen leiten lassen, aber die Marktdefinition in Zeiten der Globalisierung ist schon eine, die man mit Interesse berücksichtigen sollte. Ich habe gerade bei einem bekannten Fall zwischen Deutschland und Frankreich gelernt, dass der Ausschreibungsmarkt immer wieder ein Betrachtungsraum ist. Das ist richtig und gut. Wer sich heute an Ausschreibungen auf europäischem Gebiet beteiligt, sollte mit einbezogen werden. Aber wenn es zum Beispiel strategische Fusionen in Europa gibt, dann betreibt man diese Fusionen ja nicht für heute, sondern für eine ganze Dekade oder auch für zwei. Ob der europäische Ausschreibungsmarkt dann noch so bedient werden wird, wie er heute bedient wird, weiß keiner. Insoweit müssen wir uns auf die Zukunft vorbereiten. Aber viel interessanter sind noch die Fragen des Wettbewerbsrechts in Zeiten der Digitalisierung. Wir werden noch sehr viel zu tun haben, um die Plattformwirtschaft sich entwickeln zu lassen. Denn die Plattformwirtschaft bedeutet eine groß angelegte Vernetzung vieler Marktteilnehmer. Das verändert natürlich auch unseren Blick auf das klassische Wettbewerbsrecht. – Es geht also um äußere Rahmenbedingungen. Des Weiteren geht es um Innovation. Das Stichwort „5G“ ist hier schon genannt worden. Schweden ist ein Land, das über einen Akteur in diesem Bereich verfügt. Wir sind jetzt in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in der Diskussion darüber, welche Sicherheitsanforderungen wir stellen müssen. 5G wird uns noch einmal vor völlig neue Herausforderungen stellen. Aber ich bin dagegen, dass wir sozusagen per Definition jemanden ausschließen. Wichtig sind vielmehr die Standards, die eingehalten werden müssen. So sollten wir uns dann auch aufstellen. Es läuft die Versteigerungsrunde. Man hört noch nicht viel, aber ich hoffe, es geht ordentlich voran. Ich schaue aufmerksam Herrn Höttges an, aber er sieht noch ganz ruhig aus. Wir wollen also sehen, dass das vernünftig vonstattengeht. Wer sehen will, was bei 5G möglich ist, der kann hier in die 5G-Arena gehen. Die deutsche Industrie hat sich einen extra Raum geschaffen, wo Frequenzen für industrielle Entwicklungen vergeben werden. Das ist ein positives Phänomen. Sie dürfen nicht vergessen: Alle anderen müssen dafür bezahlen. Die deutsche Wirtschaft kommt schon einmal in die Frontstellung; und wenn wir über Standortfaktoren reden, dann wäre es schön, wenn ich bei all dem, was auch zu beklagen ist, an der Stelle auch einmal ein positives Wort hören könnte. Ich weiß nicht, wie es in Schweden ist. Das Gute wird so gut wie nicht besprochen, meistens wird über das Schlechte diskutiert. Das ist auch in Ordnung, weil man ja eine Lösung für das Schlechte finden will. Insofern haben wir hier viel zu tun. Meine Damen und Herren, diese Hannover Messe findet in einer Zeit statt, in der sich insbesondere die Künstliche Intelligenz exponentiell entwickelt. Sie befindet sich sozusagen im Kern ihrer Entwicklungsphase; und wir müssen schon hier sehr aufmerksam sein. Die KI-Strategie von gestern kann für morgen schon nicht mehr ausreichen. Wenn ich mir anschaue, was weltweit passiert, mit welcher Kraft hieran geforscht wird, wenn ich mir anschaue, welcher Kampf um die besten Köpfe stattfindet, dann kann ich nur sagen: Deutschland alleine wird das nicht bewältigen. Hier müssen wir europäisch zusammenarbeiten, hier müssen wir unsere Agenturen zur Förderung von Sprunginnovationen aufstellen, wir müssen uns vernetzen, müssen auch ein bisschen europäisch denken und gute Standortbedingungen für die Fachkräfte bieten. Ich glaube, dieses Thema wird uns in der nächsten Zeit sehr stark beschäftigen. Die Bundesregierung ist jedenfalls in einem sehr aufmerksamen Zustand. Ich sage für mich: Ich bin mir noch nicht ausreichend sicher, ob wir schon die Voraussetzungen haben, um weltweit mitzuspielen. Für Europa ist es eine der ganz großen Herausforderungen, auf diesem Feld hinterherzukommen. Wir sehen ja schon in verschiedenen Bereichen, wie das zu Buche schlägt. Für Hannover ist die Automobilindustrie von ganz besonderer Bedeutung. Sie steht vor der großen Herausforderung, sowohl sich, die Art des Fortbewegens durch Künstliche Intelligenz, durch autonomes Fahren als auch die Antriebstechnologien völlig zu verändern. Denn wir wissen, die Klimaherausforderungen sind von sehr großer Bedeutung für die Zukunft unseres Planeten. Wir haben als klassische Industrienation die Aufgabe, die technologischen Entwicklungen der Zukunft vorzuzeichnen, damit sie dann weltweit angewandt werden können. Das ist auch eine der großen Aufgaben, vor denen wir stehen. Das heißt, ganz im Geist der klassischen Sozialen Marktwirtschaft müssen wir Ökologie, Ökonomie und Soziales zusammendenken. Wir müssen dabei vor allem im Blick haben, dass wir dies alles für die Menschen tun und dass Technologie als solche kein Selbstzweck ist. Aber Technologie entfaltet herausragende Möglichkeiten. Die ethischen Implikationen gerade auch der Künstlichen Intelligenz sollten wir ebenfalls miteinander besprechen. Meine Damen und Herren, dies ist also eine spannende Messe – eine Messe, bei der wir auch sehr aufmerksam darauf schauen wollen, was uns andere zeigen werden. Dabei richtet sich unser Blick besonders auf die schwedischen Aussteller. Ich bin sehr froh, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Stefan, dass wir morgen sozusagen die zweite Stufe der deutsch-schwedischen Innovationspartnerschaft aus der Taufe heben können, mit zwei neuen Bereichen, in denen wir zusammenarbeiten wollen: im Bereich der Künstlichen Intelligenz und in der Batteriezellproduktion – zwei große Herausforderungen für unsere beiden Länder. Das wird Deutschland und das wird Schweden guttun. Mit dieser positiven Stimmung und der Vorfreude auf den Rundgang morgen, bei dem ich hoffentlich wieder viel Neues lernen kann, darf ich jetzt die Hannover Messe für eröffnet erklären. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Verleihung der „Lampe des Friedens“ an den jordanischen König Abdullah II. am 29. März 2019 in Assisi
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-verleihung-der-lampe-des-friedens-an-den-jordanischen-koenig-abdullah-ii-am-29-maerz-2019-in-assisi-1596004
Fri, 29 Mar 2019 12:04:00 +0100
Assisi
keine Themen
Ehrwürdiger Pater Kustos, Eminenzen, Eure Majestät, König Abdullah von Jordanien, Eure Majestät, Königin Rania von Jordanien, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Giuseppe Conte, sehr geehrter Präsident des Europäischen Parlaments, lieber Herr Tajani, sehr geehrte Damen und Herren, wir haben uns an einem Ort versammelt, der Frieden ausstrahlt – hier in der Heimatstadt des Heiligen Franziskus; hier in Assisi, wohin Papst Johannes Paul II. in Zeiten des Kalten Krieges erstmals Vertreter verschiedener Glaubensrichtungen zu einem Weltgebetstag eingeladen hatte. Uns auf Frieden zu besinnen und Frieden zu stiften – nichts scheint auch heute dringender zu sein. Schon allein der Blick nach Syrien erfüllt uns mit Entsetzen. Seit acht Jahren suchen Tod, Leid und Zerstörung das Land heim. Millionen Menschen sind vor Krieg und Gewalt geflohen. Das Nachbarland Jordanien sieht über diese Not nicht hinweg; im Gegenteil. Majestät, Sie begegnen den Grausamkeiten des Krieges mit Menschlichkeit. Sie helfen zahlreichen Geflohenen und Entwurzelten und gewähren ihnen Obdach und Schutz. Das ist alles andere als selbstverständlich. Jordanien hat annähernd zehn Millionen Einwohner. Das Land hat zusätzlich zu den vielen palästinensischen Flüchtlingen mehr als 670.000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Und das sind nur die offiziellen Zahlen. Wenn wir das Größenverhältnis auf Deutschland umrechnen würden, dann würde dies die Aufnahme von rund 5,7 Millionen Menschen bedeuten, zum Beispiel für Italien mehr als vier Millionen Menschen. Wir Europäer tun wirklich gut daran, uns diese Dimension vor Augen zu führen. Dies nötigt uns nicht nur höchsten Respekt vor der Leistung der jordanischen Bevölkerung und Regierung ab. Dies fordert auch unsere Solidarität ein. Wir müssen weiter hilfsbereit an der Seite Jordaniens stehen. Und wir werden mit Jordanien und anderen Partnern auch nicht nachlassen, auf einen politischen Prozess in Syrien hinzuwirken, der dem leidgeprüften Land endlich Frieden bringen möge und den geflüchteten Menschen auch eine Rückkehr ermöglicht. Frieden – wo auch immer, wann auch immer – ist eine große Aufgabe. Frieden wächst nicht von allein. Frieden ist niemals selbstverständlich, auch wenn er einmal erreicht ist. Er muss immer wieder neu geschaffen werden, immer wieder erhalten und bewahrt werden. Dafür braucht es mutige und besonnene, barmherzige und weltoffene Menschen. Vor 800 Jahren brach Franz von Assisi ein Tabu, als er auf Leprakranke, auf gesellschaftlich Ausgestoßene, zuging und ihnen die Hand reichte. Er predigte und lebte Barmherzigkeit und Verständigung. Wenn wir uns heute in der Welt umsehen, wenn wir Terrorangriffe auf Betende in Gotteshäusern wie zum Beispiel auf koptische Christen in Ägypten oder erst kürzlich auf Muslime in Moscheen im neuseeländischen Christchurch erleben müssen, dann drängt sich immer wieder neu die Frage auf: Was haben wir eigentlich aus der Menschheitsgeschichte gelernt? Warum fügen Menschen Menschen immer wieder so viel Leid zu? Solche Fragen, die so alt sind wie die Geschichte selbst, sind im Grunde deprimierend. Aber abfinden dürfen wir uns damit nie. Vielmehr müssen wir unermüdlich weiter dafür arbeiten, zu einem friedlichen Miteinander oder zumindest zu einem friedlichen Nebeneinander beizutragen. Dazu ist interreligiöser Dialog unverzichtbar. Er kann helfen, Vorurteilen vorzubeugen oder sie abzubauen. Natürlich sind interreligiöser und interkultureller Dialog nicht immer einfach. Denn Fragen der Religion und Kultur berühren ja das Selbstverständnis jedes Einzelnen, eines jeden von uns. Wir wissen, wie wichtig Religion und Kultur für den Einzelnen sind und wie stark sie eine Gemeinschaft zu prägen vermögen. Doch die Bereitschaft, die Welt auch mit den Augen des anderen zu sehen, mehr noch, ein offenes Ohr auch für andere zu haben, und der Respekt voreinander – sie bedingen sich gegenseitig. So ist es auch der Respekt vor religiösen Bindungen, der ein friedliches Zusammenleben stärkt. Majestät, daher ist es gar nicht hoch genug zu schätzen, dass Sie sich immer wieder in den Dienst der Verständigung zwischen den Religionen und Kulturen gestellt haben. Ein ganz besonderes Zeichen haben Sie 2007 gesetzt, als Sie den offenen Brief „Ein gemeinsames Wort zwischen uns und euch“ unterstützt haben, der von 138 islamischen Gelehrten an die Führer christlicher Kirchen versandt wurde. Ein solches Dialogangebot ist in der 1.400-jährigen Geschichte der muslimisch-christlichen Beziehungen einzigartig. Mehr noch: Im Jahr 2010 schlugen Sie in der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Einrichtung einer – so wörtlich – „Woche der Harmonie zwischen den Religionen“ vor. Seither wird diese Woche jedes Jahr im Februar begangen. In einem Wort: Majestät, Sie stärken Verständigung, Sie stiften Hoffnung, Sie setzen sich für Frieden ein. Damit sind Sie ein Vorbild weit über Jordanien und den Nahen Osten hinaus. Sie sind ein wahrer „Weltbotschafter des Friedens“. Das ist der Titel, der Ihnen heute verliehen wird. In ihm spiegeln sich Ihr Wirken und Ihre Überzeugungen wider. – Dass Sie von Ihrer Gattin, Königin Rania, begleitet werden, freut uns sehr. Das gilt nicht zuletzt auch für die Haltung, die Ihr Land Jordanien sowohl im Verhältnis zum Staat Israel als auch als Stabilitätsanker in der von Konflikten so sehr geprägten Region des Nahen Ostens insgesamt einnimmt, und zwar ganz gleich, wie unendlich mühsam die Anstrengungen für zwei Staaten, Israel und Palästina, Seite an Seite, in Frieden und Sicherheit, auch immer sein mögen. Es ist mir eine große Ehre und eine ganz besondere Freude, die „Lampe des Friedens“ an Sie, Majestät, weitergeben zu dürfen. Herzlichen Dank!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum 19. Girls’ Day am 27. März 2019
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-19-girls-day-am-27-maerz-2019-1595286
Wed, 27 Mar 2019 14:16:00 +0100
Berlin
keine Themen
Meine Damen und Herren, liebe Gäste, vor allem: liebe Schülerinnen und Schüler sowie Herr Schwaderer, herzlich willkommen. Ich möchte mit dieser Veranstaltung daran erinnern, dass morgen der 19. Girls’ Day stattfinden wird. Wir machen dafür schon heute den Auftakt und zeigen damit, dass wir den Girls’ Day für wichtig halten. Er ist aber nicht nur als Tag wichtig – so, wie er heißt –, sondern vor allen Dingen deshalb, weil es dabei ja letztlich um berufliche Chancen geht, die für Euch oder Sie die Perspektiven für eine lange Lebensstrecke sein können, weil es darum geht, dass Unternehmen, die an ihre Zukunft denken, natürlich gute Fachkräfte haben wollen. Damit geht es auch insgesamt um unsere Gesellschaft. Einem solchen Tag gehen natürlich immer viele Vorbereitungen voraus. Deshalb möchte ich Herrn Schwaderer auch ganz herzlich danken. Es nehmen Unternehmen daran teil, es nehme Institutionen daran teil. Herr Schwaderer als Präsident der Initiative D21 steht stellvertretend dafür. Und deshalb nochmals ein Dankeschön. Für viele Mädchen wie Sie, die daran teilnehmen, ist das ja sozusagen auch der Eintritt in das nähere Nachdenken über die Frage: Wie geht es in meinem Leben weiter? Jede dritte Teilnehmerin hat in den letzten Jahren eine Ausbildung oder ein Praktikum bei dem Unternehmen gemacht, das sie am Girls’ Day kennengelernt hat. Das ist eigentlich eine gute Bilanz. Auch viele andere Teilnehmerinnen haben wichtige Erfahrungen gemacht. Unser gemeinsamer Ansatz mit der Industrie ist natürlich, dass Sie auch Berufe wie zum Beispiel „Technische Modellbauerin“ kennenlernen, von denen Sie in Ihrem bisherigen Leben vielleicht noch gar nichts gehört haben. Wie werden Flugzeuge repariert? Wie wird Software für alle möglichen Einsatzbereiche entwickelt? Chemikerin, Mechanikerin, Programmiererin, Mechatronikerin – bei diesen und anderen Berufen muss man vielleicht einmal gesehen haben, was sich überhaupt dahinter verbirgt. Der Girls’ Day gibt dazu die Möglichkeit. Ich wünsche mir natürlich, dass alle Schülerinnen und Schüler ihre Studien- und Berufswahl unabhängig von Geschlechterklischees vornehmen. Der „Erzieher“ sollte genauso selbstverständlich und anerkannt wie die „Software-Programmiererin“ oder die „Ingenieurin“ sein. Der Girls’ Day heißt auf Deutsch etwas sperrig „Mädchen-Zukunftstag“. Die Berufe, die Sie kennenlernen, liegen im technischen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich. Der Girls’ Day hat sich inzwischen auch ein bisschen zu einem Tag entwickelt, an dem man auch Jungen zeigt, wo heute Frauen arbeiten. Deshalb sollte sich kein Geschlecht die Erfahrungen entgehen lassen. Wir haben jedes Jahr eine Preisfrage. Auch diesmal hat diese Preisfrage etwas mit qualifiziertem Nachwuchs tun. Jedes Mal erwartet die Gewinnerin und ihre Mitschülerinnen ein Ausflug – diesmal in den Wissenschaftspark „Campus Berlin-Buch“. Dort kann man in das „Gläserne Labor“ hineinschnuppern – und zwar wortwörtlich. Denn dort werden Sie zum Beispiel erfahren, wie man aus Naturmaterialien Duftöle herstellt und wofür man diese Duftöle dann auch einsetzen kann. Die Frage – mit der richtigen Beantwortung kann man den Preis gewinnen – lautet diesmal: Wie hoch war der Anteil von Frauen unter den Auszubildenden, die im Jahr 2018 eine duale Ausbildung zur Fachinformatikerin begonnen haben? Die Antwort – ich gucke ganz traurig – lautet: 7,6 Prozent. Die Gewinnerin ist Lotte Götzmann. Wer ist das? – Super; sie hat nämlich auf 8,3 Prozent getippt. Das ist immer noch zu positiv, lag aber am dichtesten dran. Herzlichen Glückwunsch. Wir sind uns, glaube ich, einig, dass 7,6 Prozent noch nicht so richtig Jubel hervorruft, wenn es uns um eine gleiche Verteilung der Berufswahlwünsche geht. Aber nichtsdestotrotz hilft ja vielleicht der Ausflug von Ihnen mit Ihren Mitschülerinnen. Wer gehört zu der Schule von Lotte Götzmann dazu? – Also eine schöne Reise nach Buch, ein gutes Schnuppern an den Duftölen und vielleicht dann auch ein bisschen Spaß an Berufen, die damit zu tun haben. Damit sind wir auch schon so weit, dass Herr Schwaderer das Wort bekommt und aus seiner Perspektive sagt, worum es geht.
im Bundeskanzleramt
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Fachgespräch der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum Thema „Heimat mit Zukunft − für eine reiche Kultur in ländlichen Räumen“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-fachgespraech-der-cdu-csu-bundestagsfraktion-zum-thema-heimat-mit-zukunft-fuer-eine-reiche-kultur-in-laendlichen-raeumen–1592924
Mon, 18 Mar 2019 18:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Anrede! So weit als die Welt, So mächtig der Sinn, So viel Freude er umfangen hält, So viel Heimat ist ihm Gewinn. Eine Veranstaltung, die Kultur und Heimat gewidmet ist, darf man getrost mit einem Gedicht beginnen, finde ich – zumal diese Verse Clemens Brentanos klangvoll unterstreichen, dass Weltläufigkeit und Heimatliebe eben kein Widerspruch sind. Im Gegenteil: Wer das Eigene kennt und schätzt, kann dem Fremden selbstbewusst und offen begegnen. Erst über die Weltläufigkeit erschließt sich die Bedeutung der Heimat in ihrer ganzen Fülle. Obwohl wir mittlerweile wieder intensiv über „Heimat“ sprechen, machen sich Menschen, die ihre Heimatliebe artikulieren, schnell einer gewissen Deutschtümelei verdächtig. Zumindest aber müssen sie damit rechnen, dass ihnen Weltläufigkeit abgesprochen wird. Heimweh zu haben, gilt hingegen als völlig legitim. Es gehört zum Leidensrepertoire des Kosmopoliten. Jeder kennt Heimweh, jeder darf es haben. Interessanterweise war das fast über zweieinhalb Jahrhunderte lang geradezu umgekehrt. Unter Wissenschaftlern jedenfalls galt Heimweh als geradezu pathologischer Befund. Der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers beschäftigte sich noch 1909 in seiner Doktorarbeit mit diesem Phänomen als Krankheit. Er untersuchte seltsame „Heimwehverbrechen“ junger Frauen. Sie waren als Kindermädchen in fremde Gegenden gegangen und hatten dort entweder Brände gelegt oder gar die ihnen anvertrauten Kinder ermordet. Christoph Marthaler hat einmal aus dem Stoff am Hamburger Schauspielhaus einen streitbaren Theaterabend gemacht. Dem Begriff „Heimatliebe“ wird im Gegensatz zum Heimweh heute schnell etwas Exklusives, Ausschließendes unterstellt. Dabei kommt Heimweh nicht ohne Heimatliebe aus. In jedem Fall lässt sich über das Heimweh gut verdeutlichen, warum „Heimat“ auch und gerade in einer offenen Gesellschaft Zukunft braucht. Wer Heimweh hat, vermisst seine vertraute Umgebung: Orte die er kennt, die ihm Struktur und Halt geben. Wer Heimweh hat, sehnt sich nach Menschen, mit denen er Erinnerungen und Werte teilt, Menschen, von denen er sich verstanden fühlt. Soweit zur Vorrede. Kultur bietet eine geistige Heimat – gerade in einer globalisierten und digitalisierten Welt, in der alte Gewissheiten in Frage gestellt werden, in der sich Regionen und Städte rasant verändern, in der oft auch soziale Strukturen wegbrechen. Kultur gibt Halt und Orientierung und ermöglicht Erfahrungen der Zugehörigkeit. Kultur stellt das Verbindende über das Trennende und bietet so eine Heimat, ohne auszuschließen. Kultur führt Weltläufigkeit und Heimat zusammen. Über die Bedeutung der Kultur für Heimat und Heimatverbundenheit wollen wir heute diskutieren, und es freut mich, dass wir uns dabei in bester Gesellschaft befinden: zum einen, weil so viele Kultureinrichtungen, die sich in diesem Sinne in ländlichen Räumen engagieren, prominent hier vertreten sind. Zum anderen, weil nicht nur die CDU/CSU-Fraktion, sondern auch die Kulturverbände dieses wichtige Thema auf ihre Agenda gesetzt haben – der Deutsche Kulturrat zum Beispiel und auch die Kulturpolitische Gesellschaft, die ihren Bundeskongress im Juni dem Motto KULTUR.MACHT.HEIMATen widmet. Vielen Dank dafür – solche kulturpolitischen Diskussionen brauchen wir. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Kunst und Kultur sind Ausdruck des menschlichen Daseins. In ihrer Freiheit und Vielfalt bereichern sie unser Leben, prägen unsere kulturelle Identität, leisten einen Beitrag zu gesellschaftlichem Zusammenhalt und zur Integration und schaffen Freiräume für kritischen Diskurs.“ Das gilt selbstverständlich nicht nur für das städtische Leben sondern gerade auch für ländliche Regionen. Mehr als die Hälfte der Menschen lebt heute in Kleinstädten und Dörfern. Zugleich sehen sich aber die strukturschwachen ländlichen Regionen mit enormen Herausforderungen konfrontiert: Wo nicht nur das nächste Krankenhaus, sondern auch das nächste Kino, die nächste Bibliothek, das nächste Museum kilometerweit entfernt sind, fühlen Menschen sich abgehängt. Das beschert Populisten Zulauf. Gerade in diesen Regionen werden Kultureinrichtungen als Orte der Begegnung und Zentren des Austauschs gebraucht. Sie sind nicht weniger wichtig als Schulen und Einkaufsmöglichkeiten. Deshalb müssen wir gemeinsam mit den Ländern und Kommunen Kultur in ländlichen Regionen stärken. Und deshalb haben wir im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir uns der Herausforderung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland stellen wollen. Lassen Sie mich an Hand einiger ausgewählter Beispiele darstellen, was mein Haus dazu beiträgt und beizutragen plant – mit Maßnahmen und Aktivitäten, die weit über die bekannten Denkmalpflegeprogramme hinausgehen: Die aus meinem Kulturetat finanzierte Kulturstiftung des Bundes fördert beispielsweise das Programm „TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel“. Von 2015 bis 2024 stehen insgesamt 22,8 Millionen Euro zur Verfügung, um Veränderungsprozesse der kulturellen Infrastruktur in ländlichen Regionen zu unterstützen, die in besonderer Weise vom demografischen Wandel geprägt sind. Ziel ist es, das kulturelle Angebot in diesen Regionen dauerhaft zu stärken und bestehende öffentliche Kulturorte mit der Bevölkerung vor Ort für die Zukunft zu rüsten. Im Rahmen des Programms „Investitionen für nationale Kultureinrichtungen in Ostdeutschland“ stellt die BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien zudem jährlich vier Millionen Euro für den Substanzerhalt und die Erneuerung bedeutender Kultureinrichtungen in den strukturschwachen ostdeutschen Ländern zur Verfügung. Dieses Programm soll ab 2020 aufgestockt und auf alle Bundesländer ausgeweitet werden. Darüber hinaus versuchen wir, durch etliche Bundeskulturpreise für Theater, Kinos, Musikclubs und Buchhandlungen das großartige Netz „geistiger Tankstellen“, wie Helmut Schmidt es mal so treffend formulierte, aufrecht zu erhalten und kulturell herausragenden Kulturorten mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu verschaffen. Diese Preise sollen auch Unterstützung und Ermutigung für die zahlreichen Kleinkultur-Einrichtungen sein, in denen wahre Liebhaber am Werk sind und mit viel Herzblut und persönlichem Einsatz dafür sorgen, dass es auch fern der Metropolen ein großartiges Kulturangebot auf hohem professionellen Niveau für alle Bürgerinnen und Bürger gibt. Wichtig sind mir auch die Soziokulturelle Zentren. Zum einen sind sie stark in den ländlichen Räumen verankert. Zum anderen fördern sie mit vielfältigen, generationenübergreifenden und interkulturellen Angeboten die Teilhabe diverser sozialer Gruppen und sorgen für neue Impulse. Mein Haus fördert deshalb die Bundesvereinigung Soziokulturelle Zentren e.V. als Dachverband mit mehr als 550 soziokulturellen Zentren. Den Fonds Soziokultur finanziere ich aus meinem Etat mit jährlich zwei Millionen Euro. Sie fließen in Kulturprojekte vor Ort, die Mittel dafür konnten wir verdoppeln. Auch die Pflege des immateriellen Kulturerbes in Deutschland trägt gerade in ländlichen Räumen zur Heimatverbundenheit bei – zumal sie vom breiten zivilgesellschaftlichen Engagement in den so genannten Trägergruppen lebt. Die aus unserem BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien-Etat finanzierte Geschäftsstelle Immaterielles Kulturerbe der Deutschen UNESCO–United Nationas Educational, Scientific and Cultural Organisation-Kommission begleitet, berät und koordiniert die bundesweiten Aktivitäten. In geradezu mustergültiger Manier wird auf diese Weise die kulturelle Vielfalt Deutschlands in der Fläche neu entdeckt, belebt und gewürdigt. Das gilt auch für die Amateurbewegung, insbesondere im Bereich Musik und Theater. So bilden die zahlreichen Chöre und Orchester geradezu die Basis des deutschen Musiklebens. Der Bund engagiert sich für die Rahmenbedingungen dieses Musizierens – zum Beispiel mit der Sicherung der Übungsleiterpauschalen. Um mehr Aufmerksamkeit für die Bedeutung der Amateurmusik zu schaffen, finanziert die BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medienaußerdem einzelne herausgehobene Projekte wie die „Tage der Chor- und Orchestermusik“ und das „Deutsche Musikfest“. Auch die zahlreichen Bühnen und Amateurtheater praktizieren Theater als ehrenamtliche Aufgabe und bilden so eine wesentliche Säule des kulturellen und vor allem auch bürgerschaftlichen Engagements. Der Bund deutscher Amateurtheater ist mit seinen 18 Mitgliedsverbänden und rund 2.400 angeschlossenen Theaterbühnen einer der größten Interessenverbände für die Darstellenden Künste in Europa. Er wird allein aus meinem Haus mit über 450.000 Euro jährlich gefördert. Diese Beispiele zeigen: Gerade in den ländlichen Räumen spielt freiwilliges Engagement im Bereich Kunst und Kultur eine zentrale Rolle für das Gemeinwesen und den Zusammenhalt. Deshalb ist es so wichtig, den vielen tausend ehrenamtlich und bürgerschaftlich Engagierten den Rücken zu stärken. In diesem Sinne unterstütze ich auch die Gründung des bundesweiten Dachverbands der Kulturfördervereine, der sich für die Qualifizierung von Ehrenamtlichen und für einen gegenseitigen Wissenstransfer zwischen Land und Stadt in der Kulturarbeit einsetzt. Für die Aufbauphase des Dachverbands der Kulturfördervereine habe ich deshalb gerne die Schirmherrschaft übernommen. Last but not least bietet auch der digitale Wandel großartige neue Chancen, um allen Menschen, insbesondere auch in ländlichen Räumen, den Zugang zu Kultur zu ermöglichen. Deshalb unterstützt mein Haus Kultureinrichtungen bei der Erweiterung ihres digitalen Zugangs – beispielsweise im Rahmen des Projekts „museum4punkt0“, das mit insgesamt 15 Millionen Euro aus meinem Kulturetat gefördert wird. Die beteiligten Museen entwickeln unter Federführung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz digitale Strategien für das Museum der Zukunft und haben Ende 2018 eine sehr beeindruckende Zwischenbilanz präsentiert: Apps und digitale Erzählformate, Cyberbrillen und Virtual Reality Labs haben auch mich begeistert, die ich Bilder und Exponate eigentlich gerne – ganz altmodisch – analog bewundere. Als Kulturvermittler wie auch als „Kultur-Verführer“ sind diese digitalen Zugangs-Erweiterer jedenfalls jeden Fördercent wert. Von den neuen Strategien sollen dann auch alle Kultureinrichtungen in ganz Deutschland profitieren. Meine Damen und Herren, das sind wie gesagt nur ein paar Beispiele für unser Engagement in den ländlichen Räumen. Wir arbeiten kontinuierlich und intensiv daran, es weiter auszubauen. Besonders wichtig ist dabei die koordinierte und gute Zusammenarbeit mit den Ländern. Deshalb haben wir im 10. Kulturpolitischen Spitzengespräch der Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder und des Bundes am 13. März verabredet, dass wir unsere Förderaktivitäten im Bereich „ländliche Räume“ künftig noch effektiver miteinander abgleichen. Wenn wir Schnittstellen und Gemeinsamkeiten identifizieren, können wir gezielt wirksame Kofinanzierungen und Kooperationen entwickeln. Für eine effiziente Stärkung der ländlichen Räume ist jedoch nicht nur ein koordiniertes, sondern auch ein ressort- beziehungsweise disziplinübergreifendes Vorgehen notwendig. Im September 2018 hat die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ unter Vorsitz der Bundeskanzlerin ihre Arbeit aufgenommen: Dort arbeitet die Bundesregierung mit den Ländern und kommunalen Spitzenverbänden zusammen, um mit konkreten Maßnahmen eine gerechte Verteilung von Chancen und Ressourcen für alle Menschen in Deutschland zu erreichen. Mein Haus wirkt daran in zwei von sechs Arbeitsgruppen mit. Auf Basis der Ideen aus den Facharbeitsgruppen wird die Kommission bis Mitte 2019 einen Bericht mit konkreten Vorschlägen vorlegen. Darüber hinaus erarbeiten wir gegenwärtig auch weitere konkrete Maßnahmen, um die Kultur in ländlichen Räumen zu stärken: So werden wir zum Beispiel dazu beitragen, dass das Kino als kultureller und sozialer Ort attraktiv bleibt, und zwar in ganz Deutschland, nicht nur in den Metropolen. Mit einem aus meinem Etat kofinanzierten „Zukunftsprogramm“ soll der Kulturort Kino künftig auch außerhalb von Ballungsgebieten gestärkt werden. Neu hinzu kommt auch das im Koalitionsvertrag angekündigte Förderprogramm „Kultur in den Regionen“. Dazu stehen ab diesem Jahr zehn Millionen Euro aus dem Bundesprogramm Ländliche Entwicklung (BULE) des BMEL zur Verfügung. Mit diesen Mitteln werden wir die Kultur in den ländlichen Räumen nachhaltig stärken, zum Beispiel, indem wir die Strahlkraft kultureller Leuchttürme in die Fläche holen. Das kann zum einen durch mobile Vermittlungsprojekte bundesgeförderter Einrichtungen gelingen. Zum anderen will ich aber auch den Zugang breiterer Kreise zu Kultureinrichtungen in den Metropolen erleichtern. Es gibt bereits einige beispielgebende Programme, die aus meinem Etat geförderte Einrichtungen schon länger anbieten und an die wir anknüpfen können: Das Jüdische Museum Berlin etwa fährt mit dem Museumsbus „Museum.On Tour“ schon seit zehn Jahren Schulen im ganzen Bundesgebiet an, damit jedes Schulkind in Deutschland das Museum kennenlernen kann − auch ohne nach Berlin zu reisen. Im Gepäck ist ein mehrtägiges pädagogisches Begleitprogramm, das auch eine Spurensuche zum jüdischen Leben vor Ort beinhaltet. Solche Initiativen sind vorbildlich. Davon wollen wir künftig mehr! Unser gemeinsames Ziel muss es sein, meine Damen und Herren, dass man in ganz Deutschland von Aschau bis Zingst an unserem reichen Kulturschatz teilhaben kann. Kunst und Kultur bergen die Kraft, Selbstvergewisserung und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Kultur kann Brücken bauen und Türen öffnen. Sie stiftet Heimat und öffnet Welten. Diese Kräfte brauchen wir! Ich freue mich und hoffe sehr, dabei auf Ihre Unterstützung zählen zu können: für Heimat mit Zukunft, für eine reiche Kultur in ländlichen Räumen!
In ihrer Rede schlug die Kulturstaatsministerin eine Brücke zwischen den Begriffen „Heimatliebe“ und „Weltläufigkeit“: Gerade weil Kultur eine geistige Heimat biete, ohne auszuschließen, führe sie diese beiden Konzepte zusammen. Deshalb sei es der Bundesregierung ein wichtiges, kulturelle Angebote für Menschen in ländlichen Regionen zu sichern und sie gemeinsam mit den Ländern und Kommunen noch stärker auszubauen.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-leipziger-buchmesse-1592426
Wed, 20 Mar 2019 19:00:00 +0100
Im Wortlaut
Leipzig
Kulturstaatsministerin
Ein Dichter muss „mehr sagen, als sich im Gemurmel der Worte verbirgt, will er den Frost zwingen, uns Schauer über den Rücken zu jagen“, sagte einmal der tschechische Literaturnobelpreisträger Jaroslav Seifert. Wenn morgen – passenderweise am Welttag der Poesie – die Leipziger Buchmesse als Branchentreff und Mekka für Buchliebhaber ihre Pforten öffnet, belebt und beflügelt die Aufmerksamkeit für Neuerscheinungen hoffentlich nicht nur das Geschäft mit der Handelsware, dem Konsumgut Buch, sondern auch die Aufmerksamkeit und Wertschätzung für das Kulturgut Buch: für die Kraft der Literatur und für die Wirkmacht einer Sprache, die „mehr sag[t], als sich im Gemurmel der Worte verbirgt“, die damit die Routinen und Gewohnheiten unseres Denkens und Wahrnehmens durchbricht, ja die vielleicht gar „den Frost zwing[t], uns Schauer über den Rücken zu jagen“. Der in seiner Heimat verehrte tschechische Dichter Jaroslav Seifert, der diesen hehren Anspruch einst formulierte und ihn über Jahrzehnte – allen Repressalien des kommunistischen Regimes trotzend – immer wieder auch einlöste, ist einer größeren Leserschaft außerhalb Tschechiens leider erst 1984 mit der Verleihung des Literaturnobelpreises bekannt geworden: eineinhalb Jahre vor seinem Tod. Das ist bitter, denn die Keime des Widerständigen in der Klarheit seiner Worte hätten der Sehnsucht nach Veränderung auch anderswo Nahrung geben können, gerade in Zeiten der Spaltung Europas in Freiheit und Unfreiheit. Umso mehr freue ich mich, dass Tschechien 30 Jahre nach der glücklichen Überwindung dieser Spaltung mit rund 60 Autorinnen und Autoren und etwa 70 Neuerscheinungen Gastland der Leipziger Buchmesse ist – eine schöne Bekräftigung der deutsch-tschechischen Verbundenheit, die nicht zuletzt der engen Verbindung zwischen den Demokratisierungsbewegungen in Mitteleuropa und den Montagsdemonstrationen hier in Leipzig, zwischen dem Fall der Mauer in Deutschland und der „Samtenen Revolution“ in der einstigen Tschechoslowakei geschuldet ist. Auffällig viele der Autorinnen und Autoren aus Tschechien, die sich in Leipzig präsentieren, wagen sich mit ihren Büchern in die von Krieg und Diktatur, von Gewalt und Unterdrückung geprägte, jüngere Vergangenheit Europas – und damit auch auf vermintes Gelände im politischen Diskurs: Sie bereisen literarisch die Schlachtfelder der Vergangenheit; sie thematisieren Traumata durch Flucht und Vertreibung; sie berühren wunde Punkte im tschechischen Selbstverständnis und auch im deutsch-tschechischen Verhältnis; sie bringen zur Sprache, was Verständnis und Verständigung oft so schwer macht. „Was könnte das positive Ergebnis einer entstehenden dezidiert europäischen Gedächtniskultur sein?“, fragte der Historiker Karl Schlögel vor einiger Zeit im Zusammenhang mit der Neuvermessung Europas nach 1989. Seine Antwort liest sich wie ein Plädoyer, auch die Kraft der Literatur für eine europäische Kultur der Verständigung zu nutzen: „Was könnte das positive Ergebnis einer entstehenden dezidiert europäischen Gedächtniskultur sein? Kein europäisches Gedächtnis, kein homogenes Narrativ aus einem Guss, kein kurzer Lehrgang in europäischer Geschichte, sondern die Entstehung eines geschützten Raumes für den Strom der Erzählungen […]. Für viele ist das zu wenig. In meinen Augen ist es das Schwierigste überhaupt. Denn es bedeutete die Verteidigung eines geschützten Raumes, einer Sphäre von Öffentlichkeit, die den Pressionen von außen (…) standhält (…) und die Zumutungen aushält, die in den Erzählungen präzedenzlosen Unglücks im Europa des 20. Jahrhunderts enthalten sind.“ Die Kunstfreiheit schafft eine solchen „geschützten Raum für den Strom der Erzählungen“, und bewässert vom „Strom der Erzählungen“ gedeihen Empathie, Verständnis und die Fähigkeit, das Verbindende über das Trennende zu stellen. Wie bitter nötig der „Strom der Erzählungen“ als demokratisches Lebenselixier ist, zeigt sich umso mehr in diesen Zeiten verhärteter Diskursfronten und teils fanatischen Hasses, in Zeiten nationalistischer Beschwörung des Eigenen und populistischer Hetze gegen das Andere, das Fremde. So steht das Buch – allen kulturpessimistischen Abgesängen zum Trotz – zumindest gesellschaftspolitisch weiterhin hoch im Kurs: Verständigung braucht die Bereitschaft zum einfühlenden Perspektivenwechsel, zu dem ein Roman verführt. Verständigung braucht Weitblick und Expertise, die sich in einem Sachbuch anders entfalten kann als in einem Tweet, einem Post oder auch einem Zeitungsartikel. Verständigung braucht die Kraft der Poesie, braucht Dichterinnen und Dichter, die „mehr sagen, als sich im Gemurmel der Worte verbirgt“. Kurz: Demokratie braucht Sprachkünstler, Querdenker und Freigeister – und dazu Verlegerinnen und Verleger, die sich als deren Wegbereiter verstehen. Deshalb können und dürfen wir nicht tatenlos zusehen, wie die literarische Vielfalt durch Konzentrationsentwicklungen auf dem Buchmarkt oder durch gerichtliche Grundsatzentscheidungen zulasten der Verlage unter die Räder gerät. Besorgniserregend ist auch die Insolvenz eines großen Zwischenhändlers. Und schlicht inakzeptabel ist, wenn professionelles kreatives Schaffen im digitalen Zeitalter nicht anmessen vergütet wird. Es ist das Urheberrecht, das mit einer angemessenen Vergütung künstlerischer und kreativer Leistungen die Vielfalt der Kultur und der Medien und damit auch den „Strom der Erzählungen“, die Vielstimmigkeit des öffentlichen Diskurses nährt! Deshalb habe ich mich auf europäischer Ebene stets für seine Anpassung an das digitale Zeitalter und insbesondere für eine Verlegerbeteiligung eingesetzt und hoffe sehr, dass der nach rund zwei Jahren mühevoll errungene Kompromiss nun Ende März vom Europäischen Parlament verabschiedet wird. Darüber hinaus habe ich, um die Bedeutung unabhängiger Verlage zu würdigen und den Mut zum verlegerischen Risiko zu fördern, nach dem Vorbild des sehr erfolgreichen Deutschen Buchhandlungspreises einen Deutschen Verlagspreis ausgelobt: einen Preis, der gleichermaßen eine Liebeserklärung an das Kulturgut Buch wie auch eine öffentliche Kampfansage gegen die Degradierung dieses Kulturguts zur bloßen Handelsware gedacht ist, eine Kampfansage gegen die Bewirtschaftung einer geistigen Monokultur, in der nur überlebt, was hohe Verkaufszahlen garantiert. Ja, meine Damen und Herren: einen geschützten Raum für den „Strom der Erzählungen“ zu schaffen, zu bewahren und ihn gegen die „Pressionen von außen“ – gegen die Logik des Marktes wie auch gegen die Indienstnahme für eine Weltanschauung, eine Ideologie, ein politisches Anliegen – zu verteidigen, das ist wohl tatsächlich, wie Karl Schlögel einmal sagte, „das Schwierigste überhaupt“. Fest steht: Ohne beherzte Unterstützung auf breiter Front, ohne Menschen auch, die das Buch wertzuschätzen wissen, wird es nicht gehen. Deshalb wünsche ich dieser Buchmesse ein Fachpublikum, das vom inspirierenden Austausch nicht nur lukrative Verträge, sondern auch neue Ideen zur Leseförderung mit nach Hause nimmt, und Europas größtem Lesefest „Leipzig liest“ zahlreiche Besucherinnen und Besucher, die mit ihrer Lesefreude Botschafter des Buches werden oder bleiben. „Einfach erlesen“: Das ist auf jeden Fall das Programm der nächsten Tage mit einer Fülle vielversprechender Autorinnen und Autoren! „Einfacher lesen“: In diesem Sinne lohnt es sich nachzudenken, zu streiten und zu kämpfen – für künstlerische Freiheit, für verlegerische Vielfalt, für ein dichtes Netz an Buchhandlungen, auf dass das Kulturgut Buch eine Zukunft hat!
Plädoyer für das Kulturgut Buch: In ihrer Rede zur Eröffnung der diesjährigen Leipziger Buchmesse bezog die Kulturstaatsministerin nachdrücklich Stellung für den Erhalt der literarischen Vielfalt in Deutschland. Um die hiesige Buchlandschaft sichtbar gegen eine reine „Logik des Marktes“ zu verteidigen, die immer stärkere Konzentrationsentwicklungen mit sich bringt, lobt die Bundesregierung in diesem Jahr erstmals den Deutschen Verlagspreis aus. Zudem bekräftigte die Staatsministerin ihr Engagement auf europäischer Ebene für die Anpassung des Urheberrechts an das digitale Zeitalter und insbesondere für eine Verlegerbeteiligung.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der Ausstellung „bauhaus imaginista“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-ausstellung-bauhaus-imaginista–1592174
Thu, 14 Mar 2019 19:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Es ist natürlich Zufall, dass die Eröffnung der Ausstellung bauhaus imaginista ausgerechnet auf den heutigen 140. Geburtstag Albert Einsteins fällt. Passend zum 100. Bauhausjubiläum, passend zum Jubiläumsmotto „Die Welt neu denken“ ist es allemal – zumal Einsteins Relativitätstheorie ja nicht nur unsere Vorstellung von Raum und Zeit revolutionierte, sondern auch das Bauhaus und seine Meister inspirierte. Paul Klee und Wassily Kandinsky beispielsweise beschäftigten sich intensiv mit der Vorstellung eines raumzeitlichen Kontinuums, und Architekten wie Mies van der Rohe entwickelte, angeregt durch Einsteins bahnbrechende Erkenntnisse, jene fließende Architektur, das Konzept des „fließenden Raumes“, das heute zum Bauhaus-Vermächtnis und zum Kanon der Architekturgeschichte gehört. Der Einfluss der Relativitätstheorie auf die Kunst der Avantgarde, die Brücke vom heutigen 140. Geburtstag Albert Einsteins zum Bauhaus-Jubiläum, steht exemplarisch für die Arbeitsweise, die aus einer Reformschule eine „Werkstatt der Moderne“ werden ließ: für Neugier und Offenheit, für Dialog und Austausch, für das Zusammenbringen und das Zusammenwirken unterschiedlicher Perspektiven auf die Welt. Das gilt nicht nur für so unterschiedliche Disziplinen wie Physik und Architektur; das gilt auch – die Ausstellung, die wir heute eröffnen, dokumentiert es eindrucksvoll – für unterschiedliche Kulturen. Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt kamen zum Studium ans Bauhaus und brachten Traditionen ihrer Herkunftsländer mit, und umgekehrt reisten Bauhäusler aus Deutschland in ferne Länder, holten sich dort Impulse und Ideen aus teils ähnlich revolutionären Schulen und sorgten für die Weiterentwicklung wie auch für die weltweite Verbreitung der Bauhaus-Ideen, letzteres insbesondere auch nach der zwangsweisen Emigration zahlreicher Bauhauslehrer und -schüler vor und während des Zweiten Weltkriegs. Den verschlungenen Pfaden wechselseitiger Inspiration zu folgen, ist nicht nur für Kunsthistoriker aufschlussreich. Gerade in einer Zeit, in der Populisten vielerorts – auch in Deutschland – gegen Multikulturalismus hetzen und eine kulturpolitische Rückbesinnung auf das Nationale fordern, gerade in diesen Zeiten ist es wichtig und notwendig, Spuren des Anderen im Eigenen sichtbar zu machen und zu zeigen, wieviel internationaler Einfluss, wieviel interkulturelles Erbe im nationalen Kulturerbe steckt. Diesen hehren Anspruch löst die Schau bauhaus imaginista mit einer enormen Bandbreite an Exponaten zur internationalen Wirkungs- und Rezeptions-geschichte des Bauhauses ein. Für die aufwändige Recherche-Arbeit und die internationale Koordinierung der Vorbereitungen bin ich den Verantwortlichen im Haus der Kulturen der Welt und allen beteiligten Partnern – insbesondere der Bauhaus-Kooperation und dem Goethe-Institut – sehr dankbar. Sie vermitteln mit dieser facettenreichen Schau, dass es Ideen und Impulse aus unterschiedlichen Welten braucht, um die Welt (getreu dem Jubiläumsmotto) neu zu denken und zu verändern – eine Erkenntnis, die im Übrigen nicht nur zum besseren Verständnis des Bauhauses, sondern auch zum besseren Verständnis des gesellschaftlichen Fortschritts beiträgt. Das Bauhausjubiläum 2019 ist eine großartige Chance, einem breiten Publikum das vielgestaltige Erbe des Bauhauses und seine Rolle in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs und Aufbruchs nach dem Zusammenbruch infolge eines grauenvollen Krieges zu vermitteln. Deshalb fördert der Bund das Jubiläumsprogramm mit seinen rund 700 Veranstaltungen deutschlandweit, und ich freue mich, dafür rund 21 Millionen Euro aus meinem Kulturetat zur Verfügung stellen zu können (davon mehr als 1,3 Millionen Euro für das Projekt imaginista). Im Mittelpunkt steht die Vielfalt teils widersprüchlicher künstlerischer und gesellschaftlicher Konzepte und Experimente, mit denen die Bauhäusler sowohl die Welt der Formen neu denken als auch eine geistig und moralisch bis ins Mark erschütterte Welt neu gestalten wollten. Es ist eine Vielfalt mit Licht und Schatten: eine Vielfalt, in der nicht nur kosmopolitische, sondern auch rassistische Kräfte, nicht nur liberale, sondern auch fundamentalistische Kräfte, nicht nur progressive, sondern auch reaktionäre Kräfte, nicht nur idealistische, sondern auch opportunistische Kräfte am Werk waren. Man denke nur an die Bauhaus-Meister, die Frauen als „Webmädchen“ verspotteten und dafür sorgten, dass ihnen viele Bauhaus-Türen verschlossen blieben oder an jene Bauhäusler, die nach 1933 zu Kollaborateuren des NS-Regimes wurden. Der Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen und Widersprüchen innerhalb der Bauhaus-Vielfalt Raum zu geben, ist deshalb im Jubiläumsjahr nicht weniger wichtig als die Vergegenwärtigung und Vermittlung seiner revolutionären gestalterischen Ideen und seiner gesellschaftlichen Utopien, die ihre Strahlkraft einer – angesichts der herrschenden Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg – geradezu verwegenen Zuversicht der Künstlerinnen und Künstler verdankten, das Leben vieler Menschen zum Besseren verändern zu können. Mit diesem politischen Anspruch, der mit der schöpferischen Kraft der Kunst eingelöst werden sollte, stieß das Bauhaus von Anfang an auch auf Angst und Ablehnung, und die Attacken der Bauhausgegner, die es als bolschewistisch-spartakistisches Zentrum diffamierten und auch wegen seiner Internationalität anfeindeten,- diese Attacken hatten, befeuert durch den politischen Klimawandel in der Weimarer Republik, zunehmend Erfolg. So ist es vielleicht kein Zufall, zumindest aber eine bittere Ironie der Geschichte, dass das 100. Bauhausjubiläum uns auch mit der Frage konfrontiert, wie weit es denn eigentlich heute her ist mit der Bereitschaft, die Freiheit und Autonomie der Kunst zu respektieren. Die Musik und die Texte der Band Feine Sahne Fischfilet mögen nicht jedem gefallen – übrigens auch mir nicht. Aber es wäre ein fatales Zeichen, wenn allein der Druck der rechten Szene ausreichte, um kulturelle Angebote zu unterbinden. Deutschland hat die Freiheit der Kunst aus gutem Grund in den Verfassungs-rang erhoben. Doch die Freiheit, kritisch und unbequem sein zu dürfen, erfordert die Bereitschaft einer Gesellschaft, die damit gelegentlich auch verbundenen Zumutungen auszuhalten. Natürlich müssen Künstlerinnen und Künstler sich Kritik gefallen lassen; natürlich darf und muss es kontroverse Debatten geben. Doch eine Kunst, die sich festlegen ließe auf die Grenzen des politisch Wünschenswerten, eine Kunst, die den Absolutheitsanspruch einer Religion oder Weltanschauung respektierte, die gar einer bestimmten Moral oder Politik diente – eine solchermaßen begrenzte oder domestizierte Kunst würde sich nicht nur ihrer Möglichkeiten, sondern auch ihres Wertes berauben. Die Bauhäusler haben mit Mut zum Experiment provoziert und polarisiert, sie haben der Lethargie der Einfallslosen den Enthusiasmus der Fantasie entgegen gesetzt, sie haben – um eine prägnante Formulierung von Jürgen Habermas aufzugreifen – mit „avantgardistische[m] Spürsinn für Relevanzen“ die Welt neu gedacht. Kurz: Sie haben gezeigt, was Kunst zu leisten imstande ist. Nicht zuletzt deshalb feiern wir 100 Jahre Bauhaus unter dem Motto „Die Welt neu denken“, und ich hoffe, dass die Ausstellung bauhaus imaginista in diesem Sinne zum Mit-Denken verführt.
Das Bauhaus war nicht nur Avantgarde und Provokation der frühen deutschen Moderne, sondern ist bis heute „Weltkulturerbe“, erklärte die Staatsministerin für Kultur und Medien. Gleichwohl gab Grütters zu bedenken: „Der Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen und Widersprüchen innerhalb der Bauhaus-Vielfalt Raum zu geben, ist im Jubiläumsjahr nicht weniger wichtig als die Vergegenwärtigung und Vermittlung seiner revolutionären gestalterischen Ideen und seiner gesellschaftlichen Utopien.“
Rede der Kulturstaatsministerin beim Neuwahl-Empfang des Deutschen Kulturrats im Museum für Kommunikation
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-beim-neuwahl-empfang-des-deutschen-kulturrats-im-museum-fuer-kommunikation-1593068
Wed, 20 Mar 2019 11:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Da haben Sie bei der Wahl des Termins für die Staffelübergabe aber wirklich nichts unversucht gelassen, um der Abschiedswehmut zu trotzen: Heute ist offizieller „Weltglückstag“ – der International Day of Happiness der Vereinten Nationen – und außerdem kalendarischer Frühlingsanfang. Gute Laune macht also auf jeden Fall der Blick auf den Kalender – auch wenn die satzungsgemäße Verabschiedung des Präsidenten schwerfällt, und auch wenn klar ist: Sie, lieber Herr Professor Höppner werden fehlen! Denn mit Ihnen geht heute der Steuermann von Bord, der den Deutschen Kulturrat sechs Jahre lang als Präsident und zuvor bereits in der Funktion des Vizepräsidenten sicher durch die zunehmend rauen Gewässer der Kulturpolitik manövriert hat. Ihre Amtszeit war geprägt durch zahlreiche richtungsweisende Debatten zu zentralen kultur- und auch gesellschaftspolitischen Themen, in denen Sie wortstark und leidenschaftlich Position für die Kultur, für Künstler und Kreative bezogen haben: etwa in den Verhandlungen zu internationalen Freihandelsabkommen wie TTIP oder der EU-Urheberrechtsreform. Ihr Herzensanliegen, die kulturelle Vielfalt in all ihren Facetten, haben Sie mit Verve beispielsweise auch bei der Initiative Kulturelle Integration verteidigt, auf die wir, wie ich finde, wirklich stolz sein können. Denn nicht minder revolutionär als ihr Inhalt – eine Reflexion grundlegender Prinzipien, Werte und Gepflogenheiten unseres Zusammenlebens – ist ihre Existenz als solche. Zum einen, weil die Deutschen – Kurt Tucholsky lässt grüßen – bekanntlich nie so außer sich geraten, wie wenn sie zu sich kommen wollen. Und zum anderen, weil eben dies umso schwieriger ist, je mehr kluge Köpfe daran beteiligt sind. In diesem Fall waren es nicht nur viele kluge Köpfe, sondern ein breites Spektrum an Institutionen und Organisationen, das die Vielfalt unserer Gesellschaft spiegelt: Staat, Religionsgemeinschaften, Medien, Sozialpartner, Migrantenverbände. Sie alle nicht nur an einen Tisch, sondern auch hinter 15 Thesen zur kulturellen Integration zu bringen, war eines jener Meisterstücke des Deutschen Kulturrats, mit dem Ihre Amtszeit und Ihr Name verbunden und im Gedächtnis bleiben werden. „Musik kann ein Stück nicht fassbaren Glücks vermitteln. Ein Glück, das man nicht in Worte fassen kann“, haben Sie, lieber Herr Professor Höppner, einmal gesagt. Diese Haltung passt nicht nur zum heutigen Weltglückstag. Sie verrät auch, woher Ihr Gespür für kulturelle Vielfalt kommt. Als gelernter Cellist und Dirigent wissen Sie um die besondere Qualität der Orchestermusik und sind geschult in den Schlüsselkompetenzen, die auch der Umgang mit kultureller Vielfalt erfordert: zuhören und sich einfühlen zu können, zu lauschen auf andere Stimmen, auf Takt und Tonart, auf laut und leise. Ja, Musik öffnet Welten, Kultur öffnet Welten: Dafür haben Sie sich als Präsident des Deutschen Kulturrats immer stark gemacht, damit haben Sie zu einer demokratischen Kultur der Verständigung beigetragen, und dafür danke ich Ihnen herzlich! Mein Dank gilt natürlich auch den beiden Vizepräsidenten: Ihnen, liebe Frau Möbius, die Sie mit großem Engagement das Reformationsjubiläum begleitet und um wertvolle Debattenbeiträge bereichert haben; und Ihnen, lieber Herr Kämpf, der Sie sich das so wichtige Thema Europa und dort insbesondere das Thema EU-Kulturförderung auf die Fahnen geschrieben hatten! Und was wäre ein Kapitän ohne seine Co-Kapitäne? Sie alle drei haben gemeinsam während Ihrer sechsjährigen Amtszeit eine Reihe wesentlicher Debatten vorangetrieben: sei es über Digitalisierung im Kulturbereich, sei es über Werte und Heimat oder auch über Geschlechtergerechtigkeit und Nachhaltigkeit im Kulturbetrieb. Nicht zuletzt Ihrem Wirken ist es zu verdanken, dass der Kulturrat so präsent ist im kulturpolitischen Diskurs, und dass es ihm immer wieder gelingt, relevante und hochaktuelle Themen aufzugreifen und Debatten anzustoßen. Davon – und das ist bemerkenswert, da wir ja auf verschiedenen Seiten stehen – profitiert auch mein Haus in hohem Maße. Ja, die Zusammenarbeit meines Hauses mit dem Deutschen Kulturrat ist auch ein Beispiel für ein gewinnbringendes Zusammenwirkens von Zivilgesellschaft und Staat – da kann ich Ihrem Lob, wie Sie es kürzlich geäußert haben, lieber Herr Professor Höppner, nur beipflichten und es zurückgeben. Ich bin sehr dankbar, dass wir so konstruktiv und gemeinwohlorientiert zusammenarbeiten und der Deutsche Kulturrat uns ein stets verlässlicher Partner ist! Und das bereits seit zwei Jahrzehnten! Keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, dass selbst eine Ehe – laut Statistik – heutzutage durchschnittlich gerade mal 15 Jahre hält… Mit Blick auf unsere vertrauensvolle Zusammenarbeit in den vergangenen 20 Jahren darf man also getrost von einer stabilen Partnerschaft sprechen, die, ich bin mir sicher, auch in Zukunft auf einem festen Fundament stehen wird! Stichwort Zukunft: Heute tritt eben nicht nur die bewährte Steuercrew ab. Mit Ihnen, sehr geehrte Frau Professor Keuchel, geht eine neue Steuerfrau an Bord! Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Wahl und freue mich ganz besonders, dass Sie als erste Frau in der Geschichte des Deutschen Kulturrates die Präsidentschaft und damit das Ruder übernehmen. Auch den neuen Vizepräsidenten gratuliere ich sehr, lieber Herr Kochan, liebe Frau Professor Liedtke – und wünsche Ihnen alles Gute für Ihre neuen Aufgaben! Diese Wahl ist nicht zuletzt ein wichtiges Signal für die Kulturverantwortlichen und Kreativen in ganz Deutschland, denn sie setzt ein Zeichen im Sinne unseres gemeinsamen Engagements für mehr Geschlechtergerechtigkeit in Kultur und Medien – ein Thema, das ja auch der Kulturrat seit über zwanzig Jahren maßgeblich vorantreibt. Auf weibliche Vorbilder wie Sie, liebe Frau Professor Keuchel, kommt es ganz entscheidend an, wenn wir sicherstellen wollen, dass künftig noch mehr Frauen an den Schaltstellen von Kultur und Medien sitzen. Ich bin froh, dass ich dieses wichtige Thema mit dem von mir geförderten Projektbüro „Frauen in Kultur und Medien“ beim Deutschen Kulturrat in besten Händen weiß! Und ich freue mich darauf, die guten Verbindungen zwischen uns, die bisher in erster Linie im Bereich der kulturellen Bildung bestehen, in Zukunft noch weiter auszubauen und dabei auch maßgeblich mit Ihnen, mit dem neu gewählten Vorstand, zusammenzuarbeiten! Der heutige 20. März ist nicht nur Weltglückstag und kalendarischer Frühlingsbeginn, sondern auch der Geburtstag des großen Dichters Friedrich Hölderlin, der einmal gesagt hat: „Lern im Leben die Kunst, im Kunstwerk lerne das Leben.“ Genau dafür steht auch der Deutsche Kulturrat als Spitzenverband der Bundeskulturverbände, seinem neuen Vorstand wünsche ich für die kommenden drei Jahre viel Energie und Schaffenskraft!
Mit Susanne Keuchel hat der Deutsche Kulturrat zum ersten Mal eine Frau als Präsidentin. Kulturstaatsministerin Grütters sieht in dieser Wahl nicht nur ein „Zeichen im Sinne unseres gemeinsamen Engagements für mehr Geschlechtergerechtigkeit in Kultur und Medien“, sondern auch ein wichtiges Signal an Kulturschaffende in Deutschland, wenn es darum geht sicherzustellen, dass künftig noch mehr Frauen an den „Schaltstellen“ sitzen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Global Solutions Summit am 19. März 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-global-solutions-summit-am-19-maerz-2019-in-berlin-1591792
Tue, 19 Mar 2019 11:02:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Professor Snower, meine Damen und Herren, herzlichen Dank für die Einladung. Es ist hier ja schon viel passiert. Ich habe mir Ihr Programm angeschaut. Sie arbeiten intensiv, haben wahrscheinlich alle Themen schon einmal durchdiskutiert und von verschiedenen Seiten beleuchtet. Aber ich bin auch sehr gerne am letzten Tag dieser Konferenz zu Ihnen gekommen, denn die Fragen, die Sie traktieren und mit denen Sie sich beschäftigen, sind wirklich von außerordentlicher Bedeutung. Wir fragen uns: Wie geht es weiter mit der Demokratie, mit dem Multilateralismus und mit den großen Herausforderungen, die mit Nachhaltigkeit zu tun haben – allen voran mit dem Thema Klimawandel, auch mit Blick auf daraus erwachsende Folgen wie zum Beispiel auch Flucht und Bürgerkriege, militärische oder gewalttätige Auseinandersetzungen? Die Ausmaße der Themen, mit denen Sie sich beschäftigen, sind global. Sie können nach meiner festen Auffassung – die meisten unter Ihnen teilen diese Einschätzung ja auch – nur dann gelöst werden, wenn wir uns nicht nur in nationalen Zusammenhängen als Verantwortungsgemeinschaft betrachten, sondern wenn wir auch unsere gesamte Welt als Verantwortungsgemeinschaft ansehen. Das ist natürlich leichter gesagt als getan, da wir natürlich schon im nationalen Kontext oft Mühe haben zu verstehen, was gemeinsame Verantwortung bedeutet. Wir in der Bundesrepublik Deutschland haben ein föderales System. Da ist es manchmal gar nicht so einfach, dass sich die kommunale Ebene als gemeinsame Verantwortungsgemeinschaft mit der Länderebene und der Bundesebene versteht oder umgekehrt. Das Ganze nun auf die gesamte Welt zu projizieren, ist natürlich eine unglaubliche Herausforderung für den Einzelnen. Deshalb ist der Slogan „Global denken und lokal handeln“ vielleicht auch eine gute Antwort, weil ja nicht jeder sozusagen immer alles im gleichen Moment überblicken kann. Aber ich glaube, es ist unbestritten: Wir brauchen eine gemeinsame Verantwortung für die Welt. Wir müssen uns fragen, wie wir diese Verantwortung mit Energie in eine aktive Gestaltung umwandeln können. Dabei ist es evident, wenn wir uns als Verantwortungsgemeinschaft auf der Welt verstehen, dass wir auch einen multilateralen Ansatz brauchen. Das heißt ja nichts anderes, als dass alle Akteure miteinander so im Gespräch sind, dass sie gemeinsame Lösungen finden wollen. Das wiederum bedeutet, dass ich mir die Mühe machen muss, nicht nur mich selbst zu verstehen, sondern auch meine Partner. Das erfordert die Fähigkeit, über den Tellerrand hinauszuschauen, wie wir in Deutschland sagen. Und das erfordert die Fähigkeit, mich in die Schuhe des anderen hineinzuversetzen, seine Argumentation zu verstehen und aus meinen Interessen und den Interessen der anderen einen Kompromiss zu formen. Deshalb werde ich nicht müde zu sagen: Wer sich für Multilateralismus einsetzt, muss auch mit Kompromissen gut umgehen, da nie zu 100 Prozent die eigene Lösung herauskommen wird. Natürlich ist nicht jeder beliebige Kompromiss akzeptabel, sondern bei einem Kompromiss – so habe ich es bei meiner politischen Arbeit immer gesehen und sehe es weiter so – ist es so, dass wir sagen, dass die Vorteile die Nachteile überwiegen müssen. Aber es wird sozusagen niemals das totale Glücksgefühl für einen geben, sondern es wird allen etwas fehlen. Aber unter dem Strich wird für die Gesamtheit etwas entstehen, das mehr als die Summe der Einzelinteressen ist. Das ist ja der Mehrwert des Multilateralismus. Nun steht der Multilateralismus unter Druck, weil sich in den letzten Jahren eine Betrachtung durchzusetzen beginnt, die aussagt: Das ist alles so mühselig, das ist so unvollkommen; und eigentlich kann ich als nationaler Akteur für meine Interessengemeinschaft mehr bewegen und komme dabei besser weg. Diesen systemischen Wettbewerb – das ist ja ein Wettbewerb zweier Systeme des Denkens – müssen wir einfach aushalten und austragen. Da gibt es auch wenige Kompromisse. Entweder sieht man als Nation nur seine alleinige Sicht oder man begibt sich auf den Weg, mit anderen gemeinsame Lösungen zu finden, und akzeptiert, dass die anderen eben auch Interessen haben. Dass diese Entwicklung zulasten des Multilateralismus so schnell eintritt, ist bedauerlich, weil wir die große internationale Finanzkrise ja gerade erst einmal zehn Jahre hinter uns gelassen haben. Damals ist die G20 auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs gegründet worden. Bis dahin bestand sie ja nur auf der Ebene der Finanzminister. Ich weiß noch ganz genau, wie ich mit George Bush, der damals Präsident war, telefoniert und gesagt habe – darauf haben wir uns auch miteinander geeinigt –, dass es einer internationalen Antwort auf diese internationale Krise bedarf. Wir sind dann – sozusagen in der Interimszeit zwischen den Präsidentschaften von George Bush und, nach der schon stattgefundenen Wahl, von Barack Obama – zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten von Amerika zusammengekommen. Damals haben sich alle darauf geeinigt, aus der Krise zu lernen, aber auch mithilfe von Konjunkturprogrammen, allgemeinen Bankenregeln usw. erst einmal die unmittelbaren Folgen dieser Krise zu bekämpfen. Ich werde nie vergessen, dass gerade auch China in dieser Phase eine sehr wichtige Rolle gespielt hat, und zwar mit großen Konjunkturprogrammen. Wir alle haben Konjunkturprogramme aufgelegt, aber bei 1,3 Milliarden Einwohnern sind solche Konjunkturprogramme natürlich besonders wirksam. Das hat dabei geholfen, dass die Weltwirtschaft nicht weiter abgerutscht ist, sondern dass ein Weg gefunden wurde, wieder aus dieser Krise herauszukommen. Wir haben auch noch eine Vielzahl von Bankenregulierungen gefunden und – wir erinnern uns alle daran – gesagt: Nie wieder darf ein Finanzmarktakteur bzw. -produkt ohne Regulierung sein. Diese Dinge haben wir einigermaßen vorangebracht. Nun komme ich zu dem, was man auf Englisch einen Backlash nennt, also zu der Frage, ob wir alleine nicht doch besser klarkommen, weil das Geschäft der internationalen Ordnung natürlich – das ist gar keine Frage – mühselig ist. Aber ich glaube, wir müssen den Weg der Multilateralität und auch des G20-Prozesses weitergehen. Sie, die Sie hier sitzen, haben sich das ja sozusagen auch auf Ihre Fahnen geschrieben – mit allen unterschiedlichen Interessen, mit all den unterschiedlichen Motivationen dafür. Deshalb setzen wir uns als Erstes für eine Reform der internationalen Organisationen ein, allen voran der Welthandelsorganisation. Wir konnten uns auf dem letzten G20-Treffen in Argentinien auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika darauf einigen, dass es eine WTO-Reform geben soll. Darüber, wie sie aussehen soll, gibt es allerdings noch keine Einigkeit. Besonders dringlich ist bei der Welthandelsorganisation natürlich das Thema Streitbeilegung. Denn wenn die betreffenden Richterstellen nicht wieder besetzt werden, dann ist sozusagen der ganze Mechanismus – das leuchtet ja ein – nicht praktikabel. Wir müssen sagen und auch zugeben, dass die Malaise, wenn ich das einmal so sagen darf, der Reform der internationalen Organisationen ja nicht erst mit der jetzigen amerikanischen Administration begonnen hat. Ich erinnere mich gut an die Amtszeit von Barack Obama, in der wir immer und immer wieder über WTO-Reformen und vor allen Dingen auch über WTO-Abkommen gesprochen haben, bis wir uns dann dazu entschieden haben, uns für eine bestimmte Zeit doch auf bilaterale Handelsabkommen zu konzentrieren. Diese bilateralen Handelsabkommen sind dann ja auch wie Pilze aus dem Boden geschossen. Auch die Europäische Union hat eine Vielzahl solcher bilateralen Handelsabkommen verabschiedet. Sie sind gut, aber sie sind im Grunde nur die zweitbeste Lösung. Die bessere Lösung ist eine Gesamtlösung für die Welt. Aber dafür muss man eben an die 180 Länder zum gleichen Zeitpunkt zum gleichen Konsens bringen; und das entpuppt sich als außerordentlich schwierig. Ich bin sehr froh, dass die japanische G20-Präsidentschaft die Dinge jetzt auch auf die Frage der Digitalisierung und auf die Frage des Umgangs mit Daten ausweitet. Denn dafür haben wir noch überhaupt keine internationalen oder multilateralen Regulierungen. Man kann natürlich national und europäisch manches machen, aber das ist dann ein sozusagen nicht wirklich umfassendes System. Deshalb ist die Frage nach einem globalen Daten-Regelwerk, die in Osaka beim G20-Gipfel auf der Tagesordnung steht, aus meiner Sicht ein ganz wichtiger Programmbaustein Japans, den wir auch brauchen, um ethische Fragen der Künstlichen Intelligenz, die uns ja eher früher als später erreichen werden, auch global beantworten zu können. Deshalb ist das sehr wichtig. Wir haben weitere Fragen. Ich habe die Langsamkeit der Reform der internationalen Organisationen angesprochen. Ich will das jetzt nicht am Beispiel der Quotenregelung beim IWF oder der Kapitalerhöhung bei der Weltbank tun; auch das hat lange gedauert. Die Wahrheit dahinter ist doch, dass wir in einer Zeit stehen, in der sich die Kräfteverhältnisse auf der Welt verschieben. Das sind Verschiebungen, die man mit Entwicklungen in der erdzeitlichen Geschichte vergleichen kann. Plötzlich entsteht ein hoher Berg, wo früher eine Senke war. Allerdings kann bzw. muss man jetzt entscheiden, ob man diesen hohen Berg akzeptieren will oder nicht. So verschieben sich die Kräftegleichgewichte zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und ihrer ökonomischen Macht, die ja sehr groß ist, und zum Beispiel China. Das gilt auch im Zusammenhang mit anderen asiatischen Staaten. Bei Indien wird das eines Tages auch noch passieren. Wie gehen wir damit um? Sagen wir: Nein, die Landschaft, wie wir sie kennen, ist unsere; und an ihr lassen wir keine Änderung zu, sondern arbeiten mit allem, was wir haben, gegen tektonische Verschiebungen. Oder sagen wir: Okay, das ist das Ergebnis von Anstrengungen auch in anderen Ländern; wir müssen mit dieser neuen Landschaft umgehen, und zwar fair und redlich, natürlich reziprok; wir müssen sie akzeptieren und dürfen sie nicht bekämpfen, als wären wir sozusagen in einer Schlacht. Heute, 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, als wir dachten, der Systemwettbewerb sei zugunsten der Demokratien gewonnen, haben wir eine riesige Herausforderung, weil sich herausstellt, dass wir mit China in einem systemischen Wettbewerb stehen. Aber die Antwort kann nicht sein, diejenigen, die ökonomisch stark sind, einfach zu bekämpfen, sondern wir müssen für reziproke, faire Regelungen eintreten und dürfen das multilaterale System nicht aufgeben. Das ist aus meiner Sicht das Gebot der Stunde. Nun merken wir natürlich – das hat sich in Deutschland an den Diskussionen über TTIP, das Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika, herausgestellt –, dass die Komplexität des systemischen Wettbewerbs nicht einfach dadurch zu erklären ist, dass man sagt: Ich mache einmal die Nullvariante, die Nullnäherung; ich reduziere oder schaffe Zölle ab. Das sind die tarifären Handelshemmnisse; da kann man viel tun. Das ist relativ übersichtlich; und das traut man den Leuten, die mit Handel zu tun haben, auch zu. Das können sie machen. Schwierig wird es immer dann, wenn wir uns im Bereich der nichttarifären Hemmnisse bewegen, wenn man also zum Beispiel eine ganz tolle neue Technologie für das Kontrollgerät am Flughafen für die Sicherheitsüberprüfung herstellt und sagt: Die ist es; und nur, wer diese Technologie anwendet, darf noch mit amerikanischen oder chinesischen oder deutschen oder welchen Flugzeugen auch immer – ich will gar keinen ausnehmen – fliegen. Dann hat man plötzlich eine Handelsbarriere, die mit Zöllen zwar nichts zu tun hat, die aber dazu führt, dass man nur noch die eigenen Sicherheitsgeräte am Flughafen verkaufen kann. Wer andere kauft, hat nicht mehr den Zugang der Passagiere. So passiert das jetzt an vielen Stellen, weshalb man sagt: Tja, wenn wir uns das richtig überlegen, dann stellen wir fest, dass wir nichttarifäre Handelshemmnisse haben, angefangen bei den Sozialsystemen bis hin zu den Umweltregelungen. Überall gibt es Regelungen, die Ausschlusskriterien sein können und die wir mit Zöllen gar nicht erfassen, die aber jetzt zur Disposition stehen. Natürlich ist dann eine gesellschaftliche Diskussion entstanden, in der gesagt wurde: Tja, es können sich doch nicht einfach die Ökonomen, die sich mit Zöllen auskennen, plötzlich mit unseren Umweltregeln befassen oder anfangen, sozusagen das Chlorhühnchen nach Europa zu schaffen. – Was hatten wir nicht alles an Debatten. Das heißt, die große Frage des Multilateralismus wird sein, wie man mit den nichttarifären Handelshemmnissen umgeht. Deshalb hat sich das Spektrum von G20 erweitert. Deshalb beschäftigen wir uns eben nicht mehr nur mit Finanzmarktregulierung und Zöllen, sondern eben auch mit Klimaschutz, mit Umweltregeln, mit der Frage von sozialen Mindeststandards, mit der Wertschöpfungskette von Textilprodukten von Bangladesch bis nach Deutschland und mit Gesundheitsfragen, die natürlich auch eine wahnsinnig große Auswirkung auf die Entwicklungsmöglichkeiten einzelner Länder haben. Ich denke, wir können sagen, dass Deutschland damals in seiner G20-Präsidentschaft für die Verbreiterung der Themenpalette einiges getan hat. Wir freuen uns, dass Japan jetzt einige dieser Themen übernimmt. Das Thema Weltgesundheit spielt weiter eine Rolle. Das Thema der Rolle der Frauen in den Gesellschaften spielt weiter eine Rolle, was ich für ganz wichtig halte – sowohl für die relativ hoch entwickelten Industrieländer als auch im Zusammenhang mit der Frage, wie Afrika mit seinen Chancen und wie ärmere asiatische Länder mit ihren Chancen umgehen. Das Thema Klimaschutz spielt natürlich auch eine Rolle und steht in Japan auch ganz oben auf der Tagesordnung. Bei der Frage des Klimaschutzes – wir sehen das auch an den jungen Leuten, die jetzt weltweit auf die Straße gehen – zeigt sich in besonderer Weise, wie wir mit Nachhaltigkeit umgehen, wie wir an die Zukunft denken. Das heißt, wir haben uns nicht nur mit der Frage zu befassen, ob wir miteinander – Multilateralismus – etwas machen wollen, ob wir sozusagen über die bisherigen Gedankengänge zum tarifären Hürdenabbau hinaus gehen und noch die nichttarifären Fragen bedenken wollen, sondern wir müssen auch lernen, über das Jetzt und Heute hinaus zu denken und aus den Regelungen für das nächste Jahr Regelungen für das ganze Jahrhundert zu machen. Das ist natürlich eine ziemlich komplexe Aufgabe für eine Politik, die sich fast jeden Tag Wahlen stellen muss; jeden Tag in einem anderen Land. Das heißt also, das sind durchaus große Herausforderungen. Aber so, wie es bei der Regulierung des Umgangs mit Daten ist, ist es auch bei der Frage, wie wir die richtigen Signale mit Blick auf den Klimawandel setzen können. Wir brauchen eigentlich internationale Lösungen. Man kann es mit einer Börsenumsatzsteuer oder einer Finanztransaktionssteuer in Europa versuchen. Wir haben das jetzt gemacht. Es kommt eine kleine Börsensteuer heraus, damit es möglichst geringe Marktverzerrungen gibt, weil sonst Marktteilnehmer aus dem Gebiet, in dem reguliert wird, einfach in das Gebiet abwandern, in dem nicht reguliert wird. Ein ähnliches Thema haben wir bei der Frage zu den Anreizen im Bereich des Klimaschutzes. Natürlich ist theoretisch gesehen die CO2-Bepreisung das beste Instrument. Wir sehen neben Europa glücklicherweise auch eine Zunahme von CO2-Emissionssystemen von Lateinamerika über einzelne Bundesstaaten der Vereinigten Staaten von Amerika bis hin zu China. Wir haben auch einen sogenannten ETS-Bereich. Aber sinnvoll wäre es natürlich, wenn wir auch für den Nicht-ETS-Bereich, zum Beispiel für die Bereiche Verkehr, Gebäude, Landwirtschaft, ein weltweites System bekämen. Die große Frage ist immer: Wie groß muss das System sein, damit es noch einen vernünftigen Effekt erzeugt? Wenn das System zu klein ist und nur zu Verlagerungseffekten führt, dann ist es natürlich nicht sinnvoll. Diese Frage wird uns in Europa mit Blick auf die Nicht-ETS-Bereiche stark beschäftigen, in denen wir Reduktionswerte erreichen müssen. Ich sage nur: Wir haben in Deutschland die riesige Aufgabe, die Klimaschutzziele bis 2030 zu erreichen. Wir werden das jetzt gesetzlich festlegen müssen. Wir werden dafür ein Klimakabinett bilden. Wir werden bis Ende des Jahres ein Klimaschutzgesetz oder mehrere Gesetze verabschieden. Aber da stehen wir vor Riesenherausforderungen, zum Beispiel im Bereich des Verkehrs. Deutschland ist ein Transitland. Deutschland bekommt alle Emissionen angerechnet, die aus dem Tanken in Deutschland resultieren. Egal, ob jemand aus Polen, Weißrussland, Russland oder Frankreich zu uns kommt: Wenn er in Deutschland tankt, dann führt das zu einer deutschen Emission. Das heißt, wir haben gar nicht ganz genau in der Hand, wie viele Emissionen im Verkehr entstehen. Trotz aller Reduktionen pro Fahrzeug in den Jahren seit 1990 hatten wir keine Emissionsreduzierung im Verkehr, weil diese Reduktionen durch mehr Verkehr aufgefressen wurden. Das heißt, wenn wir im Verkehrsbereich 42 Prozent des CO2-Ausstoßes von heute bis 2030 einsparen müssen, dann ist das eine irrsinnig große qualitative Veränderung und überhaupt nur durch Elektromobilität bzw. durch neue Antriebstechnologien zu schaffen. Mit alten Antriebstechnologien ist das nicht zu schaffen. Meine Damen und Herren, ich könnte jetzt noch über viele Dinge sprechen. Ich will aber nur noch kurz erwähnen – ich habe immer eine Uhr vor mir; das ist ja auch sehr heilsam –: Mir persönlich ist es besonders wichtig, dass wir die Entwicklung des afrikanischen Kontinents fördern. Wir haben in den letzten Jahrzehnten im Grunde explosionsartige Entwicklungsschübe in asiatischen Ländern gesehen, aber wir sind in Afrika noch nicht an diesem Punkt. Ich glaube, dass die Afrikanische Union sehr viel selbstbewusster geworden ist und dass wir aufhören müssen, sozusagen paternalistisch auf Afrika zu blicken. Wir müssen Afrika vielmehr als Partner im wirklichen Sinne sehen. Das heißt, wir müssen auch auf die Ideen dort hören, „ownership“, wie man heute so schön sagt, einfordern – also die Bereitschaft, sich mit bestimmten Zielen zu identifizieren und für sie zu kämpfen – und selber ab und zu auch mal den Mund halten. Wir denken ja oft, wir wüssten alles besser. Wir haben bestimmte Entwicklungslinien durchschritten und denken dann: Na ja, es ist doch ganz natürlich, dass andere auf uns hören und uns fragen: Wie war es denn und wie wollt ihr es machen? Das klappt schon bei der Erziehung der eigenen Kinder nicht immer; und das sollte man bei anderen Ländern schon gar nicht versuchen. Allerdings müssen wir afrikanische Länder auch dazu ermutigen, Vertrauen in ihre Zivilgesellschaft zu entwickeln. Afrika ist ein so junger Kontinent, wie wir uns das hier im alternden Berlin bzw. im alternden Deutschland gar nicht vorstellen können. Wir müssen die Bereitschaft entwickeln, die Kreativität der Jugend und auch die Eigenschaft der Jugend, in viel größeren Zeiträumen zu denken, aufzunehmen und zu sagen: Jawohl, das kann für uns Inspiration sein; das kann für uns auch Antrieb sein. Diese Bereitschaft haben wir in Europa noch nicht ausreichend. Insofern, meine Damen und Herren, bleibt viel, viel Arbeit. Ich bin gern bereit, in der Diskussion noch auf einiges einzugehen, aber insgesamt, glaube ich, müssen wir die Stimme des Multilateralismus in diesem breiten Ansatz, wie ich ihn eben auch beschrieben habe, so stark wie möglich machen. Das wird die Politik alleine nicht können. Dazu bedarf es vielmehr auch einer starken Zivilgesellschaft. Deshalb freut es mich so, dass diese Konferenz in diesem Jahr einen großen Anklang gefunden hat, dass hier intensiv diskutiert wird und dass jeder und jede, wenn er bzw. sie nach Hause fährt, wieder viele neue Ansprechpartner hat. Denn dann kann man sagen: Lassen Sie uns trotz aller Unterschiede, die wir zwischen NGOs aus dem Umweltbereich und anderen Bereichen einerseits und den politisch Agierenden andererseits haben, immer eine gemeinsame Herangehensweise im Blick haben und sagen: Okay, aus Reibung, aus Unterschieden entstehen kreative Impulse, die wir aufnehmen müssen, denen wir uns stellen müssen; aber seien wir sozusagen eine gemeinsame Front für eine multilaterale Herangehensweise. Alles andere wird nach meiner Meinung nicht nur scheitern, sondern wird leider auch dazu führen, dass es wieder mehr gewalttätige Auseinandersetzungen gibt und dass es wieder mehr das gibt, was wir in Europa, einmal von den Balkankriegen abgesehen, glücklicherweise seit 70 Jahren nicht mehr hatten, nämlich mehr militärische Lösungsversuche. Die europäische Lehre aus den letzten Jahrhunderten ist, dass wir das auf jeden Fall vermeiden müssen und uns deshalb lieber der komplizierten Frage des Multilateralismus zuwenden und für sie kämpfen sollten. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Übergabe des Gutachtens 2019 der Expertenkommission Forschung und Innovation am 27. Februar 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-uebergabe-des-gutachtens-2019-der-expertenkommission-forschung-und-innovation-am-27-februar-2019-in-berlin-1584916
Wed, 27 Feb 2019 10:42:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Harhoff und liebe Mitglieder der Expertenkommission Forschung und Innovation, liebe Bundesministerin Anja Karliczek, meine Damen und Herren, vielen Dank für Ihr nunmehr zwölftes Jahresgutachten. Sie geben uns jedes Jahr wertvolle Analysen und Empfehlungen zu der Frage, wo und wie wir noch besser werden können oder müssen. Was uns eint, ist Ihre und unsere Auffassung, dass Bildung, Forschung und Innovation zentrale Elemente nicht nur unserer Politik sind, sondern auch Voraussetzung für Wohlstand in unserem Land. Wir haben 2017 gemeinsam mit der Wirtschaft erstmalig das Drei-Prozent-Ziel für die Ausgaben in Forschung und Entwicklung erreicht, bei denen der Bund in der Tat nur einer von vielen Akteuren ist. Der Haupt- und Löwenanteil wird durch die Wirtschaft erbracht. Wir wollen unser Forschungs- und Wissenschaftssystem auf der Höhe der Zeit halten. Wir sind uns bewusst, dass die externe Dynamik hoch ist. Dennoch danken wir dafür, dass Sie auch erwähnt haben, dass wir in dieser Legislaturperiode bereits einige Weichen gestellt haben. Die Stichworte sind gefallen: Hightech-Strategie, Sprunginnovationsagentur, Strategie für Künstliche Intelligenz und die Umsetzungsstrategie zur Digitalisierung. Wir sind in der Abstimmung – der Gesetzentwurf ist schon gesichtet worden – zur steuerlichen Forschungsförderung. Ich hoffe, dass wir dieses Mal ernst machen, nachdem wir schon mindestens zwei Legislaturperioden lang darüber gesprochen haben. Aber jetzt sieht es wirklich gut aus. Ich glaube, dass jetzt auch der Digitalpakt Schule kommen kann. Dass die Grundgesetzänderungen gelungen sind, ist eine sehr, sehr gute Mitteilung. Ich musste eben etwas schmunzeln, als Sie über die Digitalisierung an den Hochschulen sprachen und sagten, Sie wollten auch bei sich einmal nachschauen, weil das dann doch sehr schnell wieder bei finanziellen Beiträgen endete, wobei Sie nicht näher spezifiziert haben, von wem diese kommen sollten. Aber wenn wir mit den Ländern sprechen, haben sie eine klare Vorstellung, wer was dazu beitragen soll. Nichtsdestoweniger ist das wichtig. Denn wenn die Schulen besser ausgestattet wären, was an sich gut wäre, aber die Universitäten hinterherhinken würden, wäre das natürlich schlecht. Sehr gut ist, dass Sie sich mit der Blockchain-Strategie auseinandergesetzt und uns dazu noch einmal Empfehlungen gegeben haben. Ich denke, das werden wir mit besonderem Interesse lesen. Lieber Herr Professor Harhoff, dies ist das letzte Gutachten von Ihnen als Vorsitzendem der Kommission. Sie haben dieses Expertengremium über viele Jahre geleitet und haben vieles geleistet. Man muss sagen, dass das ein sehr langer Zeitraum gewesen ist – angesichts des rasanten technologischen Fortschritts wirklich eine Ewigkeit. Als Sie vor zwölf Jahren begonnen haben, gab es noch nicht einmal das iPhone. Heute sind wir schon in ganz anderen Welten. Sie haben sich immer wieder auch als Vordenker erwiesen. Herzlichen Dank dafür. Diesen Dank möchte ich auch auf zwei weitere Mitglieder ausweiten: auf Frau Professor Backes-Gellner und Frau Professor Schnitzer. Auch Ihnen sehr herzlichen Dank für den großen Einsatz. Denn solch ein Gutachten zusammenzustellen, ist eine Menge Arbeit. Deshalb danke ich auch denen, die verbleiben. Wir werden Ergänzungen durch Kabinettsbeschluss hinzufügen. Ich darf Ihnen sagen: Unabhängig davon, ob wir Bestätigung oder Kritik erfahren, sind Ihre Gutachten für uns wichtig, belebend und anregend. Manches davon – das konnten Sie, denke ich, sehen – wird auch in die Tat umgesetzt. Insofern ist die Arbeit nicht umsonst gewesen. Und insofern ganz herzlichen Dank. Auf eine gute weitere Zusammenarbeit mit einigen; und für andere alles Gute auf einem weiterhin spannenden Lebensweg.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Übergabe des Vorsitzes des Asien-Pazifik-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft am 26. Februar 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-uebergabe-des-vorsitzes-des-asien-pazifik-ausschusses-der-deutschen-wirtschaft-am-26-februar-2019-in-berlin-1584802
Tue, 26 Feb 2019 19:36:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Lienhard, sehr geehrter Herr Kaeser, Herr Kempf, Herr Schweitzer, Exzellenzen, Bundestagsabgeordnete, liebe frühere Vorsitzende des APA, sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich, mit dabei zu sein, wenn heute Herr Kaeser den Vorsitz des Asien-Pazifik-Ausschusses von Herrn Lienhard übernimmt. Mit dem chinesischen Philosophen Konfuzius möchte ich sagen: „Zu einem guten Ende gehört auch ein guter Beginn.“ – In Deutschland hat man anders gedacht: Im „Ring“ von Wagner gehört zu einem schlechten Anfang auch ein schlechtes Ende; so ist das nun mal. Das gute Ende Ihrer Amtszeit, Herr Lienhard, ist auch eine gute Voraussetzung dafür, dass es gut weitergeht. Hinter Ihnen liegen fünf Jahre, in denen Sie sich für gute wirtschaftliche Beziehungen zur Asien-Pazifik-Region eingesetzt haben. Ich konnte mich selbst davon überzeugen. Ich danke Ihnen ganz herzlich dafür. Sie haben gesagt, ich sei manchmal nicht zufrieden gewesen. Ich war deshalb nicht zufrieden – damit nichts Falsches aufkommt –, weil die Äußerungen mir gegenüber manchmal schärfer waren als den Gastgebern gegenüber. Und ich fand, dass bei mir zu viel Arbeit hängenblieb. Das war manchmal unser Punkt, an dem wir ein bisschen geübt haben, wer was an Vorstellungen übernimmt. – Nun gut. Ich weiß, auch aus eigener Erfahrung, wie viel persönlicher Einsatz neben einer sonst ja auch noch ausfüllenden beruflichen Tätigkeit verlangt wird. Das dürfte für Herrn Kaeser dann auch gelten. Trotzdem war natürlich die Kombination – sowohl Unternehmenschef zu sein und aus eigener Erfahrung auch Exporttätigkeit beurteilen zu können als auch die Aufgabe des APA-Vorsitzes zu übernehmen – auch eine ganz wichtige Voraussetzung für den Erfolg. Sie haben von vielen Regierungs- und Wirtschaftsvertretern Wertschätzung erfahren. Das weiß ich aus vielen Gesprächen. Deshalb möchte ich Ihnen ganz herzlich dafür danken, dass Sie diese Arbeit gemacht haben und wir sie miteinander doch im Großen und Ganzen ganz friedlich erledigt haben. Darüber, wie man und ob man überhaupt den Erfolg eines APA-Vorsitzenden messen kann, kann man natürlich spekulieren. Aber bei Ihnen, Herr Lienhard, konnte man sehen, dass in der Zeit, in der Sie Vorsitzender waren, der Handel zwischen Deutschland und den asiatisch-pazifischen Staaten deutlich gewachsen ist. Ich kann sagen, es waren durchschnittlich sechs Prozent Wachstum pro Jahr. Das ist schon eine wichtige Sache. Und in dieser Zeit ist China zu unserem wichtigsten Handelspartner geworden. Es spricht also viel dafür, dass auf das gute Ende Ihrer Amtszeit, Herr Lienhard, nun mit Ihnen, Herr Kaeser, auch ein guter Anfang folgt. Ich möchte Ihnen ganz herzlich zu Ihrer neuen Aufgabe gratulieren und freue mich auf die Zusammenarbeit. Sie bringen auch eine große internationale Erfahrung für die Arbeit im Asien-Pazifik-Ausschuss mit. Dass diese Arbeit von großer Bedeutung ist, zeigen die Zahlen. Über 15 Prozent der deutschen Ausfuhren gehen in die Region. Die deutschen Direktinvestitionen in der Region sind zwischen 2011 und 2016 um etwa 50 Prozent gestiegen und belaufen sich auf weit über 170 Milliarden Euro. Ich meine, man muss, wenn man über Handelsbilanzen diskutiert, einfach sehen, dass Handelsaktivitäten ja im Grunde auch in einem Zusammenhang mit Direktinvestitionen stehen. Das versuche ich manchmal verzweifelt in Gesprächen mit dem amerikanischen Präsidenten deutlich zu machen. Im Übrigen sind unsere Handelsüberschüsse ja immer auf Güter ausgelegt. Die Dienstleistungen sind gar nicht mit eingerechnet. Wir müssen also auch über die Statistiken, mit denen wir uns international vergleichen, dringend nachdenken, zumal die Dienstleistungen im digitalen Zeitalter ja immer wichtiger werden. Die Direktinvestitionen sind also um 50 Prozent gestiegen und belaufen sich auf weit über 170 Milliarden Euro. Das bedeutet natürlich auch eine unglaubliche kulturelle Erfahrung der deutschen Wirtschaft. Ich persönlich sage immer: Dass wir noch einigermaßen klarkommen mit der Globalisierung, auch in der gesellschaftlichen Diskussion, hängt damit zusammen, dass sehr, sehr viele Betriebsräte in deutschen Unternehmen wissen, wie es in den Ländern zugeht, in denen wir Direktinvestitionen haben. Daraus folgt einfach auch die Möglichkeit, zu vergleichen und zu fragen: Was muss erarbeitet werden, was können wir uns an sozialen Leistungen leisten? Das ist eine ganz wichtige kulturelle Erfahrung, die wir in unserem Land eben auch über Direktinvestitionen machen; und zwar nicht nur in der Unternehmensführung, sondern auch in der Mitarbeiterschaft. Die Bedeutung der Region für unsere Wirtschaft wie auch für die Weltwirtschaft wird insgesamt weiter zunehmen. Dafür sprechen schon allein die sehr hohen Wachstumsraten der beiden bevölkerungsreichsten Länder, China und Indien, aber auch die Wachstumsraten in anderen asiatischen Ländern, die ich jetzt nicht alle einzeln aufführen kann. Das bedeutet einen großen Wettbewerb für uns. Ich teile die Meinung derjenigen, die sagen, Asien wird eine herausragende Rolle im 21. Jahrhundert spielen. Wir spüren ja alle, dass sich im Augenblick tektonische Verschiebungen ergeben, die man am besten multilateral austariert. Aber man muss sie annehmen. Wer auf der Position des Jahres 1993, als der APA gegründet wurde, beharrte, fiele gnadenlos zurück. Asien wird also als Akteur bei der Gestaltung der Globalisierung immer wichtiger. Und damit stehen wir natürlich vor großen Herausforderungen, die bei Ihrer Amtseinführung noch nicht absehbar waren. Der multilaterale Ansatz gerät oder ist unter Druck. Das gilt besonders – und das ist nicht neu – für die Welthandelsorganisation. Ich weiß noch, in wie vielen Diskussionen ich mit Präsident Obama über die Fortentwicklung der WTO gesprochen habe. Letztlich sind die vielen einzelnen bilateralen Handelsabkommen ja nicht das, was wir uns früher erträumt hatten, sondern sie sind eigentlich eine Notlösung, weil es in den großen Runden der Welthandelsorganisation nicht weiterging. Ich kann mich noch genau an den Gipfel erinnern, an dem ich mit Präsident Obama darüber sprach, dass man doch weiter an der WTO-Reform arbeiten sollte. Er sagte damals: Ich glaube, da haben wir auf absehbare Zeit keine richtige Chance. Wir haben immerhin auf dem G20-Treffen in Argentinien wieder eine Reform der WTO zumindest im Kommuniqué verankert. Das, was wir jetzt sehen, sieht noch nicht nach Reform aus, aber wir sollten nicht aufgeben, die WTO zu modernisieren. Das ist sehr, sehr wichtig. China und Japan nehmen dabei Schlüsselrollen ein – insbesondere Japan, weil es die G20-Präsidentschaft in diesem Jahr innehat. Wir wissen: Wenn die Richterstellen in der WTO nicht besetzt werden, dann werden auch die Schiedsverfahren nicht mehr durchgeführt werden können. Das führt zu einem Ausbluten der WTO. Es muss versucht werden, das zu verhindern. Nun ist ja der Ansatz der WTO, vergleichbare Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, mehr Transparenz sowie eine bessere und auch möglichst schnelle Streitbeilegung zu erreichen. Deshalb gilt nach wie vor: Idealerweise würde eine gestärkte WTO den freien Welthandel stärken. Wir brauchen auch aus deutscher Sicht nicht höhere oder neue Zölle, sondern multilaterale Lösungen und im Zweifelsfalle einen Abbau von Handelshemmnissen. Und ich bin, ja, fast traurig darüber, dass wir, nachdem die G20 auch auf der Staats- und Regierungschefebene ins Leben gerufen wurde, aus der krisenhaften Erfahrung der Weltfinanzkrise, in der wir ja sozusagen in den Abgrund geschaut haben, heute nicht mehr die richtigen Lehren ziehen. Damals war die Erfahrung, dass kohärentes Handeln aller großen Wirtschaftsakteure dieser Welt letztlich die Welt vor einem noch größeren Einbruch bewahrt hat. Große Länder – und ich will an dieser Stelle gerade auch China nennen – haben mit großen Konjunkturprogrammen damals geholfen, die Weltwirtschaft wieder ins Laufen zu bringen. Das war eigentlich eine gute Erfahrung. Das dürfen wir nicht vergessen, sondern sollten weiter auf dieser Grundlage arbeiten. Herr Lienhard, Sie haben es schon erwähnt: Das Abkommen der Europäischen Union mit Japan ist Anfang dieses Monats in Kraft getreten – das größte Handelsabkommen, das jemals von der EU verabschiedet wurde. Es gilt für einen Wirtschaftsraum mit über 600 Millionen Menschen, der fast 40 Prozent des globalen Handels auf sich vereint. Das ist natürlich auch ein deutliches Zeichen dafür, wie die EU die Globalisierung mit ihren Partnern gestalten will – nämlich im gegenseitigen Einvernehmen, mit gemeinsamen Regeln, mit ehrgeizigen Marktöffnungen und Standards. Ich weiß noch, wie wir über das Freihandelsabkommen mit Südkorea gestritten haben und darüber, ob das alles gut geht. Es gibt heute keine einzige Klage darüber. Und dass die Abkommen mit Singapur und Vietnam ausgehandelt sind und bald in Kraft treten, ist auch eine gute Nachricht. Ich denke auch, dass wir schnelle Verhandlungsfortschritte mit Australien und Neuseeland erreichen. Und ich setze mich seit langem auch dafür ein, dass sich die EU und China auf ein Investitionsabkommen einigen; das wäre ein wichtiger Schritt. Eines darf man sagen: Angesichts der vielen Diskussionen über protektionistische Maßnahmen hat sich das Verhältnis des deutschen Bürgers zu Freihandelsabkommen spürbar verbessert. Wenn ich an die Kämpfe um CETA denke oder an die Frage von TTIP und das Chlorhühnchen, dann sehe ich, wir sind doch heute ganze Runden weiter, wobei man sagen muss, dass die Ansätze von CETA und TTIP auch ambitionierter als andere Abkommen waren, weil es da auch um nichttarifäre Standards geht, womit doch noch ganz andere Einflusssphären betroffen sind. Aber zurück zum Asien-Pazifik-Ausschuss: Er erweist sich in all diesen Bemühungen als treibende Kraft. Bei der Asien-Pazifik-Konferenz zeigt sich das immer wieder, die alle zwei Jahre vom APA gemeinsam mit den Auslandshandelskammern durchgeführt wird – auch denen natürlich ein herzliches Dankeschön für die permanente Präsenz – und auch vom Bundeswirtschaftsministerium mitorganisiert wird. 2020 geht es dann nach Tokyo. Das Interesse an partnerschaftlicher Zusammenarbeit ist riesig. Aber Partnerschaften leben natürlich von Voraussetzungen. Daher werben wir immer wieder auch für eine Gleichbehandlung von in- und ausländischen Unternehmen und für den Schutz geistigen Eigentums. Auch wir selbst müssen sehr aufpassen, dass wir uns nicht sozusagen einiger Wettbewerber durch Diskussionen entledigen, was eigentlich damit zu tun hat, dass diese Wettbewerber vielleicht einen kleinen technologischen Vorteil haben. Das alles wird uns noch beschäftigen. Aber ich hänge auch der Methode der Reziprozitäten an, wobei natürlich von vielen asiatischen Ländern – nicht nur von China – darauf hingewiesen wird, dass, wenn man sozusagen aus einer Startphase und einem niedrigen Entwicklungsniveau kommt, die Gegebenheiten anders sind und Reziprozität auch nicht zu jedem Zeitpunkt gleich definiert werden kann. Das gut auszuhandeln, ist wichtig. Wir müssen ja auch darauf hinweisen – Herr Kaeser hat es eben so schön gesagt –: Wir sind zwei Prozent gemessen am gesamten asiatischen Wirtschaftsraum. Daher müssen wir für unsere Interessen auch kämpfen; und das tun wir auch. Das bringt mich dazu, einen Blick auf die asiatische Erfolgsgeschichte zu werfen. Wenn man das insgesamt betrachtet und sich die globalen Zahlen anschaut, wie die Armut zurückgedrängt werden konnte und wie die Kindersterblichkeit zurückgegangen ist, dann stellt man fest, dass das im Wesentlichen asiatische Erfolge sind, allen voran Chinas, aber auch anderer Länder. Wenn sich Afrika auch nur ansatzweise so dynamisch entwickeln würde, hätten wir ein großes Problem weniger auf der Welt. Es hat sich in den letzten Jahrzehnten wirklich Erstaunliches getan. Aber wir haben – auch wegen der Systemunterschiede – doch eine ganz andere Zusammenarbeit von Politik und Wirtschaft. Für die Bundesrepublik Deutschland hat man aus guten Gründen gesagt: Der Staat setzt die Leitplanken; und innerhalb dieser Leitplanken kommen die Unternehmen schon einigermaßen zurecht. Und an vielen Stellen würde man in der heimischen Diskussion sagen: Macht weniger; dann sind Unternehmen freier und kommen besser hin. Das gilt so nicht 1:1 für viele asiatische und andere Länder der Welt, in denen wir eine langfristige Planung sehen, die weit über Legislaturperioden hinausgeht – eine strategische Planung. Ich vermute, dass wir uns diesen Entwicklungen und Gegebenheiten nicht vollständig entwinden können, sondern auch strategische Planungen gemeinsam ausarbeiten müssen. Deshalb denke ich, dass der Vorschlag des Bundeswirtschaftsministers, über den man im Detail diskutieren kann, eine Industriestrategie auf den Tisch zu legen, zwar hinreichend viel diskutiert wird – ich gucke Herrn Schweitzer an –, aber vom Grundsatz her durchaus nicht unwichtig ist – auch für Europa. Ich habe daher für den Europäischen Rat im März Gesprächsbedarf angemeldet bzw. werde morgen auch mit Staatspräsident Macron über eine mögliche industrielle Strategie für Europa sprechen. Wir können nicht im Umweltrat diese Dinge machen und in jenem Rat jene Dinge, sondern müssen uns über die Wettbewerbspolitik, über die Frage der Marktdefinition neue Gedanken machen. Wir kommen mit dem, was wir vor zehn, zwanzig Jahren erarbeitet haben, einfach nicht mehr hin. Daher müssen Politik und Wirtschaft sehr eng zusammenarbeiten, ohne die jeweilige Aufgabe aus den Augen zu verlieren. Ich kann nur unterstützen und unterstreichen, Herr Kaeser, was Sie gesagt haben: Innovationsfähigkeit ist das A und O. Wir sind als Standort nicht attraktiv, weil wir als Deutsche nett oder sonst liebe Menschen sind, sondern wir sind attraktiv, wenn wir innovativ sind. Meine Aufgabe oder die Aufgabe der Politiker ist es ja, dies in die Bevölkerung hinein zu vermitteln, das Verständnis dafür zu wecken. Und da, muss ich sagen, haben wir alle miteinander noch viel zu tun. Wenn ich mit Schulklassen über die Frage diskutiere, ob sie glauben, dass BASF, wenn sie mal so alt sind wie ich, noch das größte Chemieunternehmen der Welt ist, dann gucken die mich an, sagen: „Natürlich“ und haben überhaupt keine Sorge, dass woanders etwas entstehen könnte, das vielleicht größer ist. Wenn aber dieses Gefühl vorherrscht, dass wir sozusagen feste Positionen in der Weltstellung erarbeitet hätten, die für alle Zeiten gelten und die man wie einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz festschreiben kann, dann ist das etwas beunruhigend. Wir haben gemeinsam eine Aufgabe, nämlich ein Stück der Dynamik Asiens auch in unsere Reihen und in unser Land zu tragen. Daran können wir ja auch, wenn wir nicht gemeinsam auf Reisen sind, weiter arbeiten, manchmal auch auf getrennten Wegen. Herr Lienhard, noch einmal herzlichen Dank für das, was wir gemeinsam an Zeit im Flugzeug und an anderen Stellen verbracht haben. Herr Kaeser, Ihnen wünsche ich eine glückliche Hand. Erfahrung haben Sie ja. Wenn Siemens Ihnen die Zeit gibt, sich um den APA zu kümmern, dann freut uns das. Alles Gute und auf gute Zusammenarbeit.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung des Berlin Institute for Medical Systems Biology am 26. Februar 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-eroeffnung-des-berlin-institute-for-medical-systems-biology-am-26-februar-2019-in-berlin-1584270
Tue, 26 Feb 2019 15:42:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Professor Lohse, sehr geehrter Herr Professor Rajewsky, sehr geehrter Herr Staatssekretär Krach und sehr geehrter Herr Staatssekretär Schütte, meine Damen und Herren – ich möchte jetzt nicht alle Honoratioren begrüßen; denn wenn ich dann jemanden vergäße, wäre das auch nicht gut –, vor allem: liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, es waren erkennbarerweise nicht 200 hier im Raum. Ich grüße auch die, die heute nicht dabei sein können oder irgendwo arbeiten müssen. Aber es ist sicherlich ein schöner Tag. Ich freue mich über die Einladung. Und ich freue mich wirklich, bei der Eröffnung des Berlin Institute for Medical Systems Biology, BIMSB, dabei zu sein. Ich bedanke mich sehr dafür, dass ich eben schon Gelegenheit hatte, mir das Institut mit drei jungen Wissenschaftlern zusammen anzuschauen und einen kleinen Eindruck von dem zu bekommen, was Sie eben auch noch einmal dargestellt haben. Ein neuer Standort hier im Herzen Berlins. – Gut, dass es hier Krankenhäuser wie die Charité gibt, aber gut auch, dass es nicht nur Ministerien und das Kanzleramt in der Umgebung gibt, sondern eben auch Forschungsinstitutionen und Universitäten. – Das ist also ein neuer Standort für Sie, an dem Sie neue Ideen entwickeln und neue Methoden anwenden, aber im Grunde ja einen alten Traum verfolgen, den vielleicht ältesten Traum der Menschheit, nämlich möglichst lange und gesund zu leben. Seit Beginn der modernen Medizin arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daran, mehr Licht in das Geheimnis eines langen Lebens zu bringen. Wir können wirklich sagen – wir haben gerade die Charts gesehen –, dass wir immer besser verstehen, wie ein gesunder Organismus funktioniert und wie Krankheiten entstehen. Aber das Buch des Lebens ist noch so weit versiegelt und verschlüsselt, dass wahrscheinlich noch Generationen nach Ihnen noch genügend Möglichkeiten haben werden, daran zu forschen. Es ist eine Plattitüde, dass sich mit jedem Erkenntnisgewinn natürlich auch unser Horizont weitet. Aber das Schöne an der Forschung ist, dass sich daraus immer wieder neue Herausforderungen ergeben. Das ist übrigens ziemlich ähnlich zur Politik: Immer dann, wenn man ein Problem gelöst hat, hat man zehn neue vor sich, die auch der Lösung harren. Deshalb werden Sie an diesem neuen Ort natürlich weiterhin intensiv arbeiten. Die zentrale Frage, der Sie nachgehen – wie läuft die Genregulation in gesunden und in kranken Zellen ab? –, ist natürlich sehr spannend. – Ich erinnere mich an das Ende meines Biologieunterrichts, als wir bei Adenin usw. angekommen waren. Wenn man sieht, was man heute experimentell, aber auch theoretisch machen kann, dann ist das schon faszinierend. – Sie züchten aus umprogrammierten Hautzellen von Patienten – gerade auch von Patienten, die an bestimmten Krankheiten erkrankt sind – individualisierte Krankheitsmodelle, sogenannte Organoide. Damit lässt sich der Krankheitsmechanismus in einzelnen Zellen analysieren. Für mich – ich verfolge das ja nur aus der Ferne – gehört es zu den unglaublichen Dingen, dass man ausdifferenzierte Zellen wieder zu pluripotenten Zellen zurückentwickeln kann und dann faktisch einen Gesamtüberblick gewinnt. Es zeigt sich eben, dass Evolution stattfindet und dass man sie in jede Zeitrichtung verfolgen kann. Das ist schon faszinierend, finde ich. Die Forschungen in der Einzelzellbiologie waren – ich zitiere noch einmal das, was Sie schon an die Wand projiziert hatten – einer der Durchbrüche des Jahres 2018. So urteilte das amerikanische Wissenschaftsjournal „Science“. Nun könnte man sagen: Wenn „Science“ das sagt, dann gibt es natürlich keinerlei Widerspruch. Nur würde ich einmal sagen, dass auch „Science“ in eine Gesamtwelt eingebettet ist. Sie müssen sich, denke ich, nicht schämen, wenn Sie ab und zu auch noch in einer anderen Zeitschrift publizieren. Aber das Urteil von „Science“ gilt schon viel. „Science“ hat die Arbeit am Max-Delbrück-Centrum namentlich hervorgehoben. BIMSB-Forscherinnen und Forscher waren an dieser Pionierleistung maßgeblich beteiligt. Das ist wirklich etwas, worauf man stolz sein kann. Wir reden viel darüber, wo wir im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz stehen. Hier haben wir eine ganz praktische Anwendung. Maschinelles Lernen trägt nämlich dazu bei, dass die Datenberge der Einzelzellbiologie zu verarbeiten und zu verstehen sind. Auch das konnte ich mir eben anschauen. Aber wir müssen natürlich auch darüber sprechen, ob wir genug Daten haben. Daten sind der Rohstoff für die Künstliche Intelligenz. Gerade auch in der Medizin müssen wir schauen, dass von den anonymisierten – das betone ich für die Öffentlichkeit – Daten genügend viele vorhanden sind, damit wir wirklich Vergleiche stattfinden lassen können und die Muster gut sehen können. Es zeigt sich an diesem Haus exemplarisch, dass Spitzenforschung in vielen Bereichen nur über die Grenzen einzelner Disziplinen hinaus denkbar ist – so etwa zwischen der Biotechnologie, der Biochemie, der Molekularbiologie, der rechnergestützten Wissenschaft und der Medizin. Wie wichtig es auch beim BIMSB ist, über Fächergrenzen hinweg zusammenzuarbeiten, um Erkenntnisgrenzen zu überwinden, liegt selbst für Laien sehr klar auf der Hand. Eigentlich gibt es eine ganz interessante Entwicklung. Wir denken in diesem Jahr daran, dass sich der Geburtstag Alexander von Humboldts zum 250. Mal jährt. Die Humboldts waren vielleicht mit die letzten Universalgelehrten. Danach hat sich die Sache unglaublich ausdifferenziert. Heute kommt man aber eher wieder dahin, dass man verschiedene Fächer und Disziplinen enger zusammenbringen und wieder in verschiedenen Kombinationen gemeinsam denken muss. Lieber Herr Professor Rajewsky, das BIMSB wurde 2008 auf Ihre Initiative hin im Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin gegründet. Die Bundesregierung und das Land Berlin haben Ihr Institut früh gefördert; Sie haben es eben dargestellt. Dass es aus einem Pilotprojekt im Rahmen des Bundesprogramms „Spitzenforschung und Innovation in den Neuen Ländern“ hervorgegangen ist, zeigt auch, was in 30 Jahren Deutscher Einheit, die wir nächstes Jahr feiern werden, möglich geworden ist. Es ist gut, auch daran zu erinnern. Seit 2012 wird das BIMSB innerhalb des Max-Delbrück-Centrums institutionell gefördert. 16 Arbeitsgruppen, 250 Forscherinnen und Forscher – ich denke, in Ihrem Beispiel spiegelt sich auch die Stärke des Max-Delbrück-Centrums insgesamt wider. Als Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft zählt es zu den führenden biomedizinischen Forschungszentren weltweit. Wissenschaftliche Exzellenz und Internationalität gehen hier Hand in Hand. Deshalb wird auch die internationale Nachwuchsförderung sehr groß geschrieben. Das finde ich auch sehr wichtig, nämlich nicht nur über die Forschungsbereichsgrenzen hinweg zusammenzuarbeiten, sondern eben auch über die Grenzen von Institutionen und Ländern hinweg. Dass Sie von Berlin aus das LifeTime-Konsortium koordinieren, unter Beteiligung der Helmholtz-Gemeinschaft und gemeinsam mit Partnern in Frankreich, ist auch eine sehr, sehr gute Nachricht. Ich grüße die Gäste aus Frankreich. Ich werde morgen zwar nicht nur wegen Ihnen nach Paris fahren, aber dort auch von meiner heutigen Erfahrung berichten. Denn gerade im Bereich der Wissenschaftskooperation haben wir uns noch viel vorgenommen. Im Aachener Vertrag haben wir explizit festgelegt, auch im Bereich der Künstlichen Intelligenz zusammenzuarbeiten und ein gemeinsames Netzwerk bilden zu wollen. Dazu passt das hier sehr gut. Das LifeTime-Konsortium wird von mehr als 120 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus 53 Forschungseinrichtungen in 18 Ländern unterstützt. Daran kann man auch sehen, was globale Zusammenarbeit bedeutet und dass multilaterale Zusammenarbeit in manchen Bereichen noch sehr gut funktioniert. Der Bundesregierung ist es ein ganz besonderes Anliegen, die Gesundheitsforschung voranzubringen. Wir haben seit 2009 die Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung aufgebaut. Gleich zu Beginn dieser Legislaturperiode haben wir ein neues Rahmenprogramm verabschiedet. Es definiert, nach welchen Leitlinien die medizinische Forschung in Deutschland in den nächsten zehn Jahren gefördert werden soll. Ich glaube, ein Markenzeichen der letzten Jahre ist geworden, dass wir verlässlich arbeiten, dass wir nachhaltig arbeiten. Das hat dem Wissenschaftsstandort Deutschland insgesamt sehr gut getan und seine Attraktivität gefördert. Ich soll Sie im Übrigen sehr herzlich von der Forschungsministerin grüßen, die heute dankenswerterweise in meinem Wahlkreis ist, nämlich beim Wendelstein 7-X, wo sozusagen mögliche neue Formen der zukünftigen Energieversorgung vorangebracht werden sollen – übrigens ebenso ein internationales Projekt wie Ihres hier. Insbesondere geht es uns auch darum, dass wir medizinischen Fortschritt noch rascher bei den Patienten ankommen lassen; das haben Sie hier ja auch hervorgehoben. Das ist auch wichtig, denn die Menschen lesen und hören von bestimmten Dingen und fragen dann natürlich: Wann kann ich daran teilhaben? Dafür soll die Translation, also die Überführung von Forschungsergebnissen in medizinische Anwendungen, konsequent weiterentwickelt werden. Das ist auch gut so. Wir müssen dann nur gucken, dass die entsprechenden Ausschüsse das dann auch schnell zulassen. Damit plagt sich gerade der Gesundheitsminister herum. Um Translation voranzubringen, müssen wir natürlich auch Grenzen durchlässiger werden lassen – Grenzen zwischen akademischer und industrieller Forschung, zwischen experimenteller und theoretischer Forschung sowie zwischen Forschung und Versorgung. Die bestehenden Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung zu Volkskrankheiten wollen wir deshalb auch weiter ausbauen. Ich konnte mich in Bonn ja selber davon überzeugen, was dort geleistet wird. Wir wollen außerdem gemeinsam mit den Ländern die Hochschulmedizin deutlich stärken, die der zentrale Schrittmacher der Translation ist. – Herr Professor Frei wird diese Worte gerne hören. – Wenn Sie aber einmal eine Zusammenkunft von Forschungs- und Gesundheitsministern der Länder und des Bundes erlebt haben, dann wissen Sie, was da allein schon an Translation zwischen zwei Kategorien von Ministerien noch zu tun ist. Es ist jedenfalls sehr interessant, wie die einen mit den anderen umgehen und glauben, dass sie jeweils das Zentrum sind. Man muss sich aber gleichermaßen achten. In den letzten Jahren gab es gerade auch in der Krebsforschung beachtliche Fortschritte. Daran wollen wir natürlich anknüpfen. Auch hier müssen die Forschungsfortschritte schnell in der Praxis ankommen. Wir haben deshalb mit der „Nationalen Dekade gegen Krebs“ eine nationale Gesamtstrategie zur Tumorbekämpfung aufgelegt. Wir wollen eine engere Zusammenarbeit und Vernetzung – von der Spitzenforschung bis zur ärztlichen Behandlung. Es kommt eben auch auf das Teamwork an, um Tumorerkrankungen besser verstehen zu können und verlässliche Therapien zur Anwendung zu bringen. In der Früherkennung sind Sie ja auch mit dabei. Meine Damen und Herren, für medizinischen Fortschritt allgemein lässt sich der technologische Fortschritt nutzbar machen. Auch das ist etwas, das wir immer wieder in der Gesellschaft sagen müssen, nämlich dass aus scheinbar sehr entfernt liegenden Dingen plötzlich individueller Nutzen entstehen kann. Es ist klar, dass insbesondere der digitale Wandel völlig neue Möglichkeiten eröffnet. – Wir haben uns hier schon anschauen können, wie Data Scientists arbeiten. – Deshalb wollen wir als Bundesregierung die Ausbildung von Datenwissenschaftlern fördern; und das gerade auch in den Lebenswissenschaften. Wir fördern Professuren und Nachwuchsgruppen in der Bio- und Medizininformatik. Und wir haben als Bundesregierung eine Strategie zur Förderung der Künstlichen Intelligenz verabschiedet. Das ist auch sehr notwendig. Ich mache mir ein wenig Sorgen, ob wir in diesen Bereichen genügend eigene Expertise in Deutschland entwickeln. Es ist sehr wichtig, dass wir jungen Menschen, die vor der Entscheidung für Studienfächer stehen, gerade auch diesen Bereich ans Herz legen. Denn so schön es auch ist, wenn wir israelische und andere Gäste haben – wir haben hier eben auch unglaubliche Zukunftschancen für unsere eigenen Menschen. Es ist auf diesem Gebiet auf der Welt ein Kampf um kluge Köpfe entbrannt. Wir wollen jetzt hundert zusätzliche KI-Professuren an deutschen Hochschulen besetzen, um möglichst schnell Nachwuchs zu fördern. Wir werden für die Gesundheitsforschung künftig rund 2,5 Milliarden Euro pro Jahr zur Verfügung stellen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass das eine gewinnbringende Investition ist. Daraus ergibt sich eben auch, dass wir ein attraktiver Standort sind. Wir sind im Wettbewerb um Wissen und Können gefordert, denn die Welt schläft nicht. Das wissen wir mit Blick auf China, Korea, Japan und die Vereinigten Staaten von Amerika. Deshalb brauchen wir eine starke universitäre Forschung und eine starke außeruniversitäre Forschungslandschaft. Wir haben ja immer wieder eine Diskussion darüber gehabt, dass die Universitäten im Wesentlichen in der Hoheit der Länder und die außeruniversitären Forschungseinrichtungen in gemischter Verantwortung liegen. Wir haben uns entschieden, dass der Bund die jährlichen Steigerungen der Förderung von außeruniversitären Forschungseinrichtungen übernimmt. Zudem haben wir schweren Herzens auch noch die BAföG-Leistungen übernommen. Damit haben die Länder Spielräume gewonnen. Manche haben diese auch genutzt, andere weniger, aber das will ich hier jetzt nicht ausbreiten; das war jetzt kein Angriff auf Berlin. Wir versuchen also Beständigkeit und langfristige Planbarkeit in die Dinge zu bringen. Wir erleben jetzt in den Gesprächen mit dem Finanzminister, bei dem Herr Schütte gerade war, dass die Zeit der jährlich steigenden Steuereinnahmen im Augenblick erst einmal vorbei ist. Das wird für uns auch die Probe aufs Exempel sein, ob Wissenschaft und Forschung wirklich weiter unser Schwerpunkt bleiben. Ich jedenfalls werde dafür eintreten, denn wir haben hier ja auch langfristige Zusagen gemacht. Und das sind Zusagen, die über unsere Zukunft mitentscheiden. Das muss man auch ganz klar sagen. Seien Sie deshalb stolz auf Ihr schönes Kleinod. Wo früher die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR war, ist heute ein Zukunftsort entstanden. Und das ist doch ein schönes Zeichen. Genießen Sie es, indem Sie möglichst viele Stunden hier verbringen, ohne Ihre Familien zu sehr zu vernachlässigen. Herzlichen Dank.
Kulturstaatsministerin Grütters zur Verabschiedung von Festival-Direktor Dieter Kosslick bei der Preisverleihung der 69. Berlinale
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kulturstaatsministerin-gruetters-zur-verabschiedung-von-festival-direktor-dieter-kosslick-bei-der-preisverleihung-der-69-berlinale-1581906
Sat, 16 Feb 2019 18:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
Wie würdigt man einen Berlinale-Star, dem man keine Retrospektive widmen kann, den man nicht zum Jury-Präsidenten küren kann und dem man auch keinen Goldenen Bären für sein Lebenswerk verleihen kann? Wahre „Film-Helden“ jedenfalls, zu denen Du, lieber Dieter Kosslick, angesichts so mancher Herkules-Aufgabe in 18 Berlinale-Jahren zweifellos gehörst, – …wahre Filmhelden lässt man nicht ziehen, ohne noch einmal in Erinnerungen zu schwelgen. Eine besonders klangvolle Erinnerung und Würdigung Deiner Verdienste wäre ein Abschiedsständchen der Rolling Stones: weil Du als ebenso charmanter wie weltläufiger Gastgeber jahrelang den roten Teppich gerockt hast, und weil Du die Stones zur Berlinale-Eröffnung ins winterliche Berlin geholt hast.Aber das schaffst eben nur Du … . Weniger klangvoll, aber umso bedeutungsvoller wäre ein Erinnerungsstück aus dem Berlinale-Mobiliar – jener Jury-Stuhl, den Du 2011 demonstrativ für den mit Berufs- und Reiseverbot belegten iranischen Regisseur Jafar Panahi frei gehalten hast: ein Sitzmöbel als Erinnerung an die couragierte Standhaftigkeit, mit der Du der Freiheit der Kunst eine Bühne und verfolgten Künstlerinnen und Künstlern eine Kinoleinwand geboten hast. Aber sitzen und stillhalten ist ja eher nicht Dein Ding … . Eine Erinnerung ganz nach Deinem Geschmack wäre dagegen eine kulinarische Rückschau in 18 vegetarischen Gängen: als Reminiszenz an unzählige cineastische Leckerbissen und an das „Kulinarische Kino“, eine Deiner vielen Neuerungen im Berlinale-Programm, aber auch als Würdigung Deiner Entschlossenheit, currywurstaffinen Partygästen vegane Tofu-Kreationen kredenzen zu lassen und so ein Zeichen für Umwelt- und Klimaschutz zu setzen. Aber Liebe geht ja nicht nur durch den Magen; ein Abschiedsgeschenk für Dich muss natürlich auch den Filmgourmet in Dir ansprechen. Lieber Dieter, Du hast deutsche Filmgeschichte geschrieben, indem Du die Berlinale an den Fronten der großen, kontroversen Debatten unserer Zeit positioniert hast – mit künstlerisch herausragenden Filmen, die soziale Missstände beleuchten und Stellung beziehen, aber eben auch mit klaren Bekenntnissen zur gesellschaftspolitischen Mitverantwortung der Filmschaffenden und Filmliebhaber (auch wenn das nicht immer jedem „geschmeckt“ hat). Damit immer wieder ein riesiges Publikum zu begeistern und Lust auf großes Kino zu machen – dieses Kunststück muss Dir erst einmal jemand nachmachen! Deshalb habe ich mich für ein Geschenk entschieden, das über die „Ära Kosslick“ hinaus auf jene deutsche Filmgeschichte verweist, in der Du mit Deinen Verdiensten einen prominenten Platz hast. Es erinnert an einen der unzähligen, großen Filmabende, die Du einem begeisterten Berlinale-Publikum beschert hat: und zwar mit einem Klassiker deutscher Filmkunst, den Du genannt hast, als Du in einem Interview gefragt wurdest, welchen Film Du mit einem „Goldenen Dieter“ auszeichnen würdest: „Metropolis“, Fritz Langs Meisterwerk, das 2010 auf der 60. Berlinale seine zweite Weltpremiere in fast vollständiger Fassung erlebte. Wir haben von der Stiftung Deutsche Kinemathek exklusiv für Dich großformatige Reproduktionen dreier Zeichnungen des berühmten Filmarchitekten Erich Kettelhut fertigen lassen: Sie zeigen Bilder von der Stadt der Zukunft – von jener Kulisse also, die „Metropolis“ zum stilprägenden Film machte. Stilprägend, lieber Dieter, waren auch „Deine“ Berlinalen. Deshalb kann und will ich Dich bei dieser letzten Berlinale unter Deiner Regie nicht ohne Bär nach Hause gehen lassen. Für Deine Verdienste um eine Filmkunst, die den Blick für den Zustand der Welt schärft, verleihen wir Dir …- nein, keinen Goldenen Bären und auch keinen Silbernen Bären, sondern: die Patenschaft für einen Brillenbären. Oder vielmehr: für eine BrillenbärIN, zur besonderen Würdigung Deines Engagements für Gleichberechtigung und für mehr Regiearbeiten von Frauen im Programm und im Wettbewerb. Die Brillenbärin Puna, im Tierpark Berlin zuhause, ist mit 28 Jahren die älteste Brillenbären-Dame Europas. Sie ernährt sich wie Du überwiegend vegetarisch, und ist wie Du international bestens vernetzt – dank ihrer auf der ganzen Welt verteilten Nachkommen. Brillenbären gelten außerdem als ausgesprochen einfallsreich, vor allem in der Beschaffung besonderer Leckerbissen. Bei so vielen Gemeinsamkeiten werden Dir gelegentliche Besuche bei Puna im Tierpark hoffentlich Freude machen – zumal ihr literarischer Artgenosse, der berühmte Paddington Bär, auch die Herzen der Filmfans erobert hat: mit Hut wie Du – und einer Lebensstrategie, die da lautet: „Ein weiser Bär hat stets ein Marmeladen-Sandwich unter seinem Hut versteckt – nur für den Notfall.“ Was auch immer Du all die Jahre unter Deinem Hut hattest: Du warst und bist einer der ganz Großen, und das nicht nur auf dem roten Teppich! Mögen Dir noch viele weitere erfüllte Jahre bleiben, die Du all dem widmen kannst, was Dir lieb und teuer ist! Dafür wünsche ich Dir Glück und Gesundheit und sage – mit einem weiteren berühmten Bären der Filmgesch“chte: „Probier’s mal mit Gemütlichkeit …!“ Danke für 18 unvergessliche Berlinale-Jahre, lieber Dieter! Die Filmwelt verneigt sich vor Dir in Dankbarkeit!
In ihrer Rede würdigte Kulturstaatsministerin Grütters den scheidenden Festival-Leiter als einen der Großen der Filmwelt. „Du hast deutsche Filmgeschichte geschrieben“, erklärte sie.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Digitising Europe Summit 2019 am 19. Februar 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-digitising-europe-summit-2019-am-19-februar-2019-in-berlin-1581892
Tue, 19 Feb 2019 10:15:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Read, Herr Ametsreiter, Herr Reiter, meine Damen und Herren, ich möchte mich für die Einladung zu diesem Digitising Europe Summit bedanken! Dieser Einladung bin ich sehr gerne zum zweiten Mal gefolgt, weil ich glaube, dass hier eine wirklich wichtige Diskussion geführt wird. Was das Markenzeichen „Made in Europe“ künftig ausmacht, diskutieren Sie hier. Wie attraktiv wird Europa im digitalen Zeitalter bleiben? Herr Read hat ja eben – bei allem Optimismus – schon gemahnt, dass wir schneller werden müssen, dass wir entschlossener werden müssen. Trotzdem will ich neben den technischen Fragen mit dem Europathema beginnen. In wenigen Monaten wird nämlich ein neues Europäisches Parlament gewählt. Wir sollten bei allem, was wir diskutieren, nicht vergessen, dass die Europäische Union für uns ja Garantin für Frieden, Freiheit und Wohlstand ist. Das soll sie auch bleiben. Der gemeinsame Binnenmarkt ist zweifelsohne die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg und für die europäische Integration. Aber ich kann Jacques Delors, dem ehemaligen Kommissionspräsidenten, nur zustimmen, der gesagt hat: „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt.“ Das ist richtig. Deshalb muss bei allen technischen Entwicklungen und allen Diskussionen über die Digitalisierung klar sein, dass es natürlich immer um den Menschen geht, um seine Würde, seine Freiheit und seine Sicherheit. Das muss im Mittelpunkt stehen. Das macht ja auch das europäische Gesellschaftsmodell aus, das wir in Deutschland mit dem Begriff Soziale Marktwirtschaft beschreiben. Dieses Gesellschaftsmodell hat sich ja auch über die letzten sieben Jahrzehnte hinweg einigermaßen bewährt. Aber wir wissen auch, dass nicht alle auf der Welt diese Werte und diese Art, auf die wir in Europa leben, wirtschaften und arbeiten, teilen. Deshalb müssen wir Europäer unsere Wettbewerber im Blick haben und selbstbewusst unseren eigenen Weg gehen. Darum geht es. Europa muss eigene Antworten auf datengetriebene Geschäftsmodelle geben. Aber wenn ich „eigene“ sage, dann muss ich genauso „Antworten geben“ betonen. Es kann also nicht so sein, dass wir immer nur die Eigenheit unseres Weges beschreiben, während die Antworten hinter der Zeit zurückbleiben. Das heißt also, unsere eigenen Lösungen müssen Lösungen für die Probleme sein, die auf der Welt gelöst werden. Das ist die große Herausforderung, vor der wir stehen. Wir wollen mit Partnern zusammenarbeiten, auch aus aller Welt. Natürlich wäre es nach meinem Verständnis das Beste, wenn wir verlässliche globale Rahmenbedingungen hätten – auch, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Sie haben davon gesprochen, Herr Read, dass wir ein „level playing field“ brauchen. Eigentlich wäre es die Sache zum Beispiel der G20, bestimmte Regelungen herauszuarbeiten. Aber davon sind wir weit entfernt, weil wir doch sehr, sehr unterschiedliche Einstellungen zur Nutzung von Daten und zu den Rahmenbedingungen haben, die wir dafür finden. Eigentlich gibt es zwei Pole auf der Welt. Der eine sind sozusagen die Vereinigten Staaten von Amerika, wo viele Daten in privater Hand sind und die regulatorischen Fragen des Umgangs mit Daten weitaus weniger geklärt und geregelt sind als bei uns. Auf der anderen Seite gibt es den Pol China, wo der staatliche Zugriff auf Daten sozusagen etwas sehr Selbstverständliches ist, wie wir zum Beispiel beim „social scoring“ oder „social crediting“ erleben. Wir müssen jetzt schauen: Wie ist unser Verständnis in diesem Bereich? Was bedeutet unser eigener Weg? Wie können wir Wertschöpfungsketten in Europa etablieren oder halten und damit sozusagen auch für den Wohlstand von morgen sorgen? Deshalb müssen wir sozusagen das, was wir in der Sozialen Marktwirtschaft immer gemacht haben, klug definieren – also einerseits durch die Politik die Leitplanken definieren, innerhalb der unsere Entwicklungen stattfinden, aber andererseits eben auch genug Freiraum dafür lassen, dass sich Unternehmen entwickeln können. Ich habe eben zu Herrn Read gesagt, dass ich gemeinsam mit seinem Vorgänger viele, viele Sitzungen mit dem European Round Table besucht habe und mit der Europäischen Kommission und dem jeweiligen französischen Präsidenten über die Frage gesprochen habe, ob wir in Europa eigentlich bereit sind, auch Unternehmen zuzulassen, die eine globale Rolle spielen können, oder ob unser Wettbewerbsrecht an dieser Stelle eigentlich nicht ausreichend auf die globale Situation vorbereitet ist. Wir haben mit dieser Betrachtungsweise bis jetzt nicht viel Erfolg gehabt. Man denkt in Europa bei der Rentabilität von Telekommunikationsunternehmen sehr stark an den Kunden. Das ist schön. Aber man muss natürlich immer wieder auch fragen: Reichen die Investitionsmöglichkeiten? Reichen die Möglichkeiten, Kapital anzusammeln, um zu investieren, aus, um mit denen auf der Welt mitzuhalten, die dabei führend sind? Leider ist es so, dass wir ja jetzt auch anhand eines anderen Beispiels gesehen haben, dass die Betrachtungsweise des Wettbewerbs doch eine ist, die bei mir jedenfalls Zweifel daran hinterlässt, ob wir globale Player auf diese Art wirklich erreichen können. Aber dafür müssen wir dann auch eine europäische Bereitschaft in Bezug darauf finden, das Wettbewerbsrecht zu verändern. Meine Damen und Herren, Fragen der Datensicherheit, der Datensouveränität und ethische Fragen müssen also neben den Fragen der wirtschaftlichen Freiheit geklärt werden. Darum gab es ja gerade in diesen Tagen wieder dramatische Kämpfe, sage ich einmal, nachdem wir die Datenschutz-Grundverordnung geschaffen haben, für die man außerhalb Europas mehr Lob als innerhalb Europas bekommt. Aber ich glaube, vom Ansatz her ist sie ein richtiger Weg. Nur ist das, was uns oft fehlt, dass wir – wenn wir eine Rechtsetzung gemacht haben und wir uns erst einmal die nächste Dekade lang hinsetzen und sagen „Nun haben wir es getan“, während wir eigentlich in der digitalen Welt zu einem schneller lernenden System werden müssten – aus den Schwächen solcher Regulierungen, die ja naturgemäß vorhanden sind, auch lernen und sagen müssten: da müssen wir uns verbessern. Das ist ein wichtiger Punkt, den Europa besser lernen muss. Jetzt haben wir eine Diskussion über das Urheber- und das Leistungsschutzrecht. Die Staatsministerin aus dem Kanzleramt sitzt hier; wir vertreten etwas unterschiedliche Positionen. Ich habe gesagt, wir müssen endlich eine Lösung in Europa finden. Wenn sich 28 Länder um eine solche Lösung bemühen, dann kommt es sehr auf Deutschland und Frankreich an. In der Frage, wie wir mit Start-ups umgehen, ist eine schwere Kontroverse ausgebrochen. Die Uploadfilter heißen jetzt schon Merkel-Filter. Ich habe viele Shitstorms über mich ergehen lassen, Millionen von Klagen – nicht Millionen von rechtlichen Klagen, sondern sozusagen mentale Klagen. Aber ich glaube, die Frage, inwieweit Regeln aus der realen Welt auch in der digitalen Welt gelten müssen, wird uns weiter umtreiben. Ich jedenfalls bin der Meinung, dass auch das Internet kein Raum sein kann, in dem geistiges Eigentum überhaupt nicht mehr geschützt wird. Diesen Kampf müssen wir weiter austragen. Interessanterweise finden diese politischen Kämpfe gar nicht mehr zwischen den Parteien statt, sondern zwischen den jeweiligen Gruppen: den einen, die eher die Regeln der traditionellen Welt im Auge haben, und den anderen, die sich im Internet mehr zu Hause fühlen und glauben, dass dort andere Regeln aufgebracht werden müssen. Diese Diskussion müssen wir einfach weiter führen. Sicherheit und Vertrauen in die Sicherheit von Daten ist essenziell, auch für die Akzeptanz neuer Geschäftsmodelle. Sie haben ja auch Akzeptanzfragen aufgezeigt – ob es um Industrie 4.0, das autonome Fahren oder die Telemedizin geht. Das heißt, Freiheit und Sicherheit in eine gute Balance zu bringen, ist für Europa eine ganz herausragende Sache. Das gilt auch für die Künstliche Intelligenz. Wir als Bundesregierung haben hierzu eine Strategie entwickelt. Denn ich glaube, dass wir in Deutschland schneller werden müssen. Wir werden in der Umsetzung dieser Strategie vor allem auch auf eines achten müssen – Sie haben es genannt –, nämlich darauf, dass wir eine vernünftige Fachkräftebasis haben. Die Fähigkeiten sind nicht ausreichend vorhanden. Die Spezialisten sind auch nicht ausreichend vorhanden. Wir haben eine Vielzahl von Anstrengungen – vom Girls’ Day bis zu den MINT-Fächerwerbungen in den Schulen –, aber wir sind bis jetzt nicht ausreichend erfolgreich, den Menschen deutlich zu machen: Ihr habt, wenn ihr digitale Fähigkeiten habt und wenn ihr entsprechende Berufe ergreift, unendliche Chancen – nutzt sie! Es gibt hier immer noch eine Zurückhaltung und eine viel zu starke Konzentration auf die traditionell bekannten Berufe. Das ist auch meine Bitte an alle, die hier im Saal sitzen und die ja wissen, wie sich die Welt entwickeln wird. Es geht nicht um die Frage, ob man weniger Arbeitsplätze haben wird, sondern um die Frage, ob wir die richtige Ausbildung für die Zukunftsarbeitsplätze haben. Diese Frage steht im Raum. Da wir in Deutschland sowieso ein demografisches Problem haben – wir werden 2030 etwa sechs Millionen weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter haben als 2015/2016 –, kommt es natürlich ganz wesentlich darauf an, dass wir eine genügend hohe Anzahl Ausgebildeter in den neuen Technologien haben. Wir als Bund werden in den nächsten Jahren dieser Legislaturperiode drei Milliarden Euro zusätzlich für die Künstliche Intelligenz ausgeben. Das hört sich nach wenig an, aber das setzt sich in Deutschland immer so zusammen, dass das eine beim Bund und das andere bei den Bundesländern passiert. Es gibt Bundesländer, in denen sehr viel Kraft in die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz investiert wird. Ich glaube, dass wir bei der Forschung alle Möglichkeiten haben. Aber wir haben eine Schwierigkeit beim Transfer von Forschungsergebnissen in industrielle und andere Anwendungen. Darauf müssen wir einen Schwerpunkt legen. Das können wir als Deutschland nicht allein tun. Deshalb haben wir im Aachener Vertrag, dem neuen deutsch-französischen Vertrag, verabredet, dass wir mit Frankreich gemeinsam das gesamte Netzwerk der Künstlichen Intelligenz entwickeln wollen. Ich denke, das muss dann auch auf Europa ausgedehnt werden. Meine Damen und Herren, wir haben, um die Digitalisierung überhaupt erlebbar zu machen, auch als Staat eine Aufgabe. Auch damit sind wir im europäischen Maßstab leider nicht an führender Stelle vertreten. Aber wir sind entschlossen, bis Ende dieser Legislaturperiode, vielleicht Anfang 2022, alle Interaktionen des Bürgers mit seinem Staat zu digitalisieren, also ein Bürgerportal zu schaffen, über das alle über 500 Funktionen digital abgerufen werden können. Sie können sich nicht vorstellen, wie schwierig das im Föderalismus ist. Es ist erst einmal notwendig gewesen, dafür eine Grundgesetzänderung durchzuführen, um dem Bund überhaupt eine Kompetenz für diese Frage zu geben. Diese Grundgesetzänderung haben wir nur in einem sehr günstigen Moment in der vergangenen Legislaturperiode durchführen können, nämlich als die Länder über die Bund-Länder-Finanzverhandlungen mit uns gesprochen haben. In ihrer vollen Konzentration auf das Geld, das bei jedem ankommt, haben sie gesagt: Na okay, wenn ihr da unbedingt noch eine Grundgesetzänderung braucht, dann bekommt ihr die dafür. Die Grundgesetzänderung hatten wir also. Dann haben wir das entsprechende Gesetz, das Onlinezugangsgesetz, gemacht. Jetzt sind wir dabei, sozusagen mit Anreizen die verschiedenen Bundesländer in einen kleinen Wettbewerb zu bringen, welche Funktionen denn welches Bundesland am ehesten digitalisieren will. Die entscheidende Frage ist natürlich – und darüber streiten wir noch mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, wie Sie sich vorstellen können –, wie denn nun eigentlich der Zugang des Bürgers zu diesem Konto erfolgt. Der muss natürlich so sein, dass ich nicht links noch ein Gerätchen und rechts noch ein Gerätchen in der Tasche haben muss, sondern dass das einfach geht. Und da schauen wir uns bei anderen auf der Welt um, wie das vernünftig zu machen ist. Das ist eine Riesenaufgabe, aber ich glaube, es ist eine absolut notwendige Aufgabe, um seitens des Staates den Menschen zu zeigen, was Digitalisierung an Vereinfachung bedeuten kann. Und das hat dann natürlich auch einen gewissen Lerneffekt für die Akzeptanz von Digitalisierung insgesamt. Zum Ende will ich auf die Frage kommen, die Sie – und wenn ich „Sie“ sage, meine ich Vodafone und auch viele andere – im Augenblick umtreibt: Das ist die Frage der digitalen Infrastruktur. Wir brauchen eine bessere Infrastruktur. Ich bin zwar nicht immer überzeugt davon, dass anderswo alles so glänzend ist, wie es mir dargestellt wird – aber egal, bei uns ist es im Augenblick noch nicht ausreichend. Da stehen wir durchaus auch vor einer ganz neuen Aufgabe. Wir müssen nämlich etwas, das wir als Daseinsvorsorge einstufen, wie elektrische Leitungen und wie Wasser- und Abwasserleitungen, nicht mehr staatlicherseits schaffen; vielmehr wollen wir, dass das durch private Investitionen entsteht. Wir müssen die entsprechenden staatlichen Anreize so setzen, dass daraus zum Schluss wirklich eine Daseinsvorsorge für jeden Haushalt wird. Da haben Sie Ihre Investitionsinteressen; das ist klar. Deshalb haben wir ja auch zwischen, ich sage einmal, Köln und Düsseldorf auch kein Problem mit Breitbandverbindungen. Aber da, wo mein Wahlkreis liegt, sieht es schon etwas düsterer aus. Die Menschen erwarten aber, dass wir für jeden Haushalt eine Anbindung haben. Und während wir noch über diese Haushalte sprechen, sagen die Leute: Ja, aber Haushalt ist natürlich nicht genug; ich brauche auch eine Anbindung, wenn ich mein Picknick auf der Wiese mache. Oder die Landwirtschaftsministerin würde sagen: Der Bauer braucht sie eben auch in seiner Landmaschine. Das heißt, wir brauchen eine flächendeckende Abdeckung mit Internetzugang. Da geht im Augenblick in der Diskussion auch einiges durcheinander. Ich sage einmal: Wer öfters durch die brandenburgischen Wälder fährt, wäre ja schon über 2G-Verfügbarkeit auf der Landstraße erfreut. Der Anspruch muss heute 4G sein. Wir werden 99 Prozent der Haushalte – damit ich nichts Falsches sage: Was haben Sie versprochen? 2021 oder sogar schon 2020, glaube ich – erreichen. Zu uns kommt dann das eine Prozent der Haushalte und fragt: Was ist mit uns? Wir müssen jetzt also vernünftige Möglichkeiten finden, private Investitionskraft mit staatlicher Förderung zu verbinden. Weil es gerade um die Versteigerung von 5G-Frequenzen geht und jeder sagt „Das ist doch ein sehr günstiger Moment, um gleich alles, wo wir noch defizitär sind, mit abzuarbeiten“, sind wir im Augenblick in einer sehr schwierigen Diskussion. Denn im Augenblick geht es mit den zu versteigernden Frequenzen ja gar nicht darum, eine flächendeckende 5G-Abdeckung zu erreichen. Man will damit sozusagen verbinden, auch eine möglichst flächendeckende 4G-Abdeckung zu erreichen. In unseren Diskussionen geht es sozusagen einerseits um die Frage „Wie viele Auflagen geben wir Ihnen für die Versteigerung?“ und auf der anderen Seite um die Frage „Wie viel Freiheit bleibt Ihnen dann noch, die Investitionen zu tätigen, von denen Sie glauben, dass sie getätigt werden müssen?“. Das ist also ein harter Kampf, der, glaube ich, für eine Eröffnungsrede jetzt auch nicht einer weiteren Detaillierung bedarf; darüber werden Sie heute an anderer Stelle noch sprechen. Sie sollen nur wissen: Dieser Kampf ist mir bewusst; und er wird im Augenblick eben nicht nur von der Bundesregierung geführt, sondern auch sehr stark im parlamentarischen Bereich. Da wir in einigen Fragen hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind – etwas, das die Anbindung mit 50 Megabit pro Sekunde anbelangt –, ist eine gewisse Ungeduld spürbar. Und aus dieser Ungeduld heraus erwachsen dann politische Forderungen, bei denen wir eben wirklich aufpassen müssen, dass sie nicht eine überbestimmte Gleichung werden, wie ich als ehemalige Physikerin sagen würde. In diesem Sinne bleibt viel zu tun. Wir wissen, dass unser Wohlstand von morgen zur Debatte steht. Ich habe für den nächsten Europäischen Rat im März darum gebeten, dass wir auch unter den Staats- und Regierungschefs wieder einmal eine Diskussion über den Industriestandort Europa führen, weil ich den Eindruck habe, dass in der Summe von Regeln, die wir uns machen – im Umweltbereich und in anderen Bereichen –, ein Regelwerk entstehen könnte, in dem eine freiheitliche Entwicklung nicht ausreichend gedeihen kann. Ich stimme Ihnen absolut zu, Herr Read: Das ist nicht eine Frage von Jahrzehnten, sondern diese Frage steht jetzt auf der Tagesordnung. Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, wenn wir sehen, dass die großen Unternehmen alle außerhalb Europas sind. Deshalb danke für das, was Sie machen – kritische Diskussionen mit Ihnen eingeschlossen! Und danke dafür, dass Sie mich eingeladen haben!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 100-jährigen Firmenjubiläum der Firma Ottobock am 18. Februar 2019 in Duderstadt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-100-jaehrigen-firmenjubilaeum-der-firma-ottobock-am-18-februar-2019-in-duderstadt-1581402
Mon, 18 Feb 2019 12:19:00 +0100
Duderstadt
keine Themen
Herr Bürgermeister, wenn man das so sieht – die Schüler draußen, nunmehr schon mit Eis versorgt; und die Big Band –, dann kann ich nur sagen: bei Ihnen ist die Welt doch in großem Maße in Ordnung. Glückwunsch dazu! Lieber Herr Weil – sozusagen der Landesvater –, lieber Herr Professor Näder, liebe Ehrengäste von fern und nah, meine Damen und Herren und vor allem auch: liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Firma Ottobock, die auf diese oder jene Art – ungefähr 7.000 sind es – auch an diesen hundert Jahren beteiligt sind und sicherlich an die denken, die es vor ihnen waren, dieses Jahr ist ein wichtiges Jahr, gekrönt durch viele hundertste Jubiläen. Einige wurden schon genannt. Ich will noch an hundert Jahre Frauenwahlrecht erinnern. Damit grüße ich auch endlich die Parlamentskollegen, den Vizepräsidenten des Deutschen Bundestags, den Bundestagsabgeordneten Herrn Trittin und auch die, die ich vielleicht übersehen habe. Dann seien natürlich auch alle Parlamentarier aus den Landtagen und den Kreistagen gegrüßt. Wir haben ein wichtiges Jahr – und Sie haben ein wichtiges Jubiläum: 100 Jahre. Ich habe mir die Koffer auf der Bühne angeschaut; mir wurde gesagt, das seien die des Großvaters, der damit nach New York fuhr. Heute kommt man etwas schneller dahin, aber der globale Anspruch der Firma existierte früh. Ich hatte 2007 schon einmal die Gelegenheit, Ihr Unternehmen hier in Duderstadt zu besuchen. Christian Wulff war damals Ministerpräsident. Wir haben schon damals Einblick in Ihre spektakulären Erkenntnisse nehmen können. Aber die Dinge haben sich eben auch revolutionär weiterentwickelt. Eines zieht sich durch die Geschichte der Firma Ottobock; und das ist die Tatsache, dass Technologie den Menschen dient. Manchmal ist es bei aller Skepsis gegenüber Technologie für uns Deutsche ja auch ganz wichtig, uns immer wieder vor Augen zu halten, wie sehr wir von Wissenschaft, von Entwicklung und von der Überführung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis abhängig sind. – Dass Wissenschaft hier eine Rolle spielt, sieht man daran, dass sowohl die Präsidentin der Uni Göttingen als auch der Nobelpreisträger Herr Hell hier sind. – Diese Verbindung haben Sie immer wieder in etwas Gutes für die Menschen umgewandelt. 1919 also der Anfang als „Orthopädische Industrie“ – das Leid der Menschen im Blick, die aus dem Ersten Weltkrieg kamen, aber sofort auch – Herr Näder hat es eben gesagt – mit Sinn für Effizienz und Verlässlichkeit eines Produkts. Daraus ist dann wirklich bessere, höhere Lebensqualität geworden. Das, was uns Herr Popow eben gesagt hat, ist ja begeisternd. Sie dürfen davon ausgehen, dass ich das Spannungsfeld von Behinderung auf der einen Seite, das oft nach Ausschluss aus der Gesellschaft aussieht, und Normalität auf der anderen Seite sehr wohl in Richtung Normalität weiterentwickeln will. Ich darf Ihnen dazu zwei Dinge sagen. Das Erste: Ich selbst bin als Kind bei einer Einrichtung für geistig behinderte Kinder aufgewachsen. In der ehemaligen DDR wurden geistig behinderte Kinder, sofern man sie als nicht lernfähig einstufte, in die Hände der Kirche übergeben. Ich habe ein wunderbares Kinderleben mit geistig Behinderten geführt, die in einer Gärtnerei angestellt waren, die Ställe bewirtschaftet haben und mit denen ich Gespräche geführt habe. Das war für mich Normalität. Das Zweite: Ich habe nur mit Mühe mein Physikstudium bestanden, aber nicht deshalb, weil ich Physik an sich nicht bestanden hätte, sondern weil wir in der DDR eine Sportprüfung hatten. Da musste man ein bestimmtes Ergebnis beim 100-Meter-Lauf erreichen. Da bin ich einmal durchgefallen; und ich glaube, dass ich die Nachprüfung nur deshalb bestanden habe, weil diejenigen, die die Stoppuhr in der Hand hielten, Mitleid mit mir hatten. Wo die Behinderung oder das Handicap anfangen und wo sie aufhören, das sei also einmal dahingestellt. Das ist oft ein fließender Übergang und kann gar nicht so genau spezifiziert werden. Deshalb ist Inklusion – der Gedanke, dass wir alle Teil der Gesellschaft sind und für jeden das herausholen möchten, das seine Lebensqualität verbessert – für mich und für viele andere, die Politik betreiben, unser Grundansatz. Danke dafür, dass Sie uns das nochmals als wichtig in Erinnerung gerufen haben! Meine Damen und Herren, Verantwortungsbewusstsein zieht sich durch diese hundert Jahre. Das ist wunderbar. Die Geschäftslage scheint zufriedenstellend zu sein. Sie sind sozusagen ein Paradebeispiel für das, was Herr Weil schon als Mittelstand und Familienunternehmen bezeichnet hat. Aber auch in einem solchen Unternehmen kann gar nicht jeden Tag nur Sonnenschein sein – harte Arbeit, immer wieder Entscheidungen, die getroffen werden müssen: In welche Richtung entwickle ich mich? Das erfordert natürlich auch immer wieder einen guten Blick auf die Wettbewerber und darauf, was sich auf der Welt tut. Denn eines erleben wir im Augenblick: Die Welt schläft wirklich nicht. Gerade auch im asiatischen Raum oder in den Vereinigten Staaten von Amerika sind viele unterwegs, die auch gut sein wollen. Wir befinden uns gerade in einer Transformationsphase großen Ausmaßes. Die Digitalisierung und das, was daraus erwächst, ist eine neue Stufe des wirtschaftlichen Geschehens und kann, denke ich, mit Entwicklungen wie dem Buchdruck oder der Industrialisierung gleichgesetzt werden. In solchen Zeiten werden ja sozusagen Pfründe oder, wenn ich es etwas praktischer sage, Vormachtstellungen neu verteilt. Sie müssen wieder erkämpft werden. Als Kaiser Wilhelm II. noch die Idee hatte, dass das Auto bald wieder verschwinden und die Pferdekutsche wiederkommen würde, hatte bereits ein Transformationsprozess eingesetzt, in dem es, meine ich, nur ein einziger Kutschenhersteller geschafft hatte, sich zu einem Automobilunternehmen weiterzuentwickeln. Das war Karmann in Osnabrück. Alle anderen, die Pferdekutschen gebaut hatten, sind damals pleitegegangen. Deshalb müssen wir auch heute aufpassen. Herr Näder, ich nehme das, was Sie zur Automobilindustrie sagen, sehr ernst – das gilt auch für Herrn Weil –; dazu haben wir eine gemeinsame Einstellung. Wenn weite Teile unserer Gesellschaft heute sagen, auf den einzelnen Arbeitsplatz käme es jetzt vielleicht doch nicht an, dann ist das eine ganz gefährliche Einstellung, weil im Augenblick viele, viele Dinge neu verteilt werden. Wir streiten politisch darüber, inwieweit die Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit vorrangig ist und wie neue Technologien entwickelt werden müssen. Aber dass sich unglaublich viel tut, das ist richtig und wichtig. Deshalb müssen wir – das ist ganz wichtig – dranbleiben und – das sage ich ganz offen – auch an Tempo zulegen. Wir haben als neue Bundesregierung, die im März endlich ein Jahr im Amt sein wird, nachdem sich die Regierungsbildung schwierig gestaltet hatte, unsere Strategien sehr verbessert. Die Strategie für Künstliche Intelligenz war überfällig. Wir wollen unter anderem hundert neue Lehrstühle einrichten. Aber einfach schon der Kampf um die besten Köpfe in diesem Bereich ist alles andere als trivial. Denn überall auf der Welt werden Menschen mit Fachwissen gebraucht. Unser akademisches System ist, zum Teil von uns politisch auch nicht gerade ermutigt, manchmal auch etwas langsam. Das heißt: Geschwindigkeit plus Qualität sind das, was jetzt zählt. Auch in Ihrer Branche ist in der Kombination von Künstlicher Intelligenz und Bionik wahrscheinlich eine unglaubliche Revolution im Gange. Danke dafür, dass Sie sich dem widmen, und danke dafür, dass Sie auch schon die ethischen Implikationen mitdenken. Denn auch das wird sehr, sehr wichtig sein. Wir kümmern uns also um Künstliche Intelligenz. Aber wir müssen uns vorher erst einmal um die Basics kümmern. So wie man Straßen und Stromnetze braucht – neue Stromnetze brauchen wir heute auch wieder für die erneuerbaren Energien –, so brauchen wir eben auch die digitale Infrastruktur. Wir haben jetzt endlich – so will ich es einmal sagen – auch mit den Betreibern ein Einvernehmen darüber, dass wir bis 2020 eine 4G-Netzabdeckung von 99 Prozent haben werden. In der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ werden wir darüber sprechen, wie wir zu 100 Prozent kommen. Parallel beginnen wir mit dem 5G-Ausbau. Mittel- und langfristig brauchen wir natürlich überall 5G. Aber im Augenblick brauchen wir erst einmal überall 4G. Damit ist wirklich sehr viel mehr geschafft. Denn mit 4G können Sie super Videos sehen, sich bewegte Bilder anschauen und vieles, vieles tun. 5G wird dann sozusagen für die Echtzeitübertragung notwendig sein; also für das autonome Fahren, für vieles andere mehr und bei Ihnen sicherlich auch für viele Anwendungen. Sie haben so schön davon gesprochen, dass auch die Geschäftsführung dieses Neue sehen muss. Meine Bitte geht deshalb dahin, dass wir die Digitalisierung nicht nur sozusagen im Fertigungsbereich und in den Produkten sehen – ich denke, das ist unsere Schwäche in Deutschland; und das können wir nur gemeinsam mit der Wirtschaft schaffen –, sondern vor allen Dingen eben auch im Kontakt zum Kunden. Die Frage, wie wir auf die Plattform kommen, ob die Kunden die Plattform kennen und wie man, sozusagen vom Kundendenken her, zum gewünschten Produkt kommt, ist ja noch ein zweiter Transformationsprozess, von dem ich den Eindruck habe, dass er uns Deutschen noch schwer fällt. Wenn sich aber zum Schluss die Kunden die Produkte über eine Plattform aussuchen können, die nicht von uns betrieben wird, und wenn damit jeder Hersteller, im Grunde genommen auch Zulieferer, zu einem Kundenwunsch wird, dann ist ein großer Teil der Wertschöpfungskette weg. Das haben wir beim Auto, das haben wir im Maschinenbau und das haben wir hier bei Ihnen natürlich auch. – Das eifrige Nicken von Herrn Näder zeigt mir, dass ich Eulen nach Athen trage und dass das alles bekannt ist. Aber das muss angegangen werden. Zu der Infrastrukturaufgabe, zu der Strategie Künstliche Intelligenz, zu der Frage, wie wir zu vernünftigen Plattformen im Rahmen von Industrie 4.0 kommen und wie wir mit den vielen Daten umgehen – das wird Deutschland nicht allein schaffen; dazu machen wir europäische Clouds und europäische Plattformen –, gesellt sich vor allen Dingen die Frage der Weiterbildung, der Mitnahme der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unseren Unternehmen und ihres richtigen Einsatzes. Ich glaube nicht, dass Digitalisierung zu weniger Arbeitsplätzen führt, aber sie führt zu ganz anderen Arbeitsplätzen. In diesem Bereich die Weiterbildung voranzutreiben und auch die sozialen Veränderungen in der Arbeitswelt aufzunehmen – auch das ist Gegenstand dessen, womit wir uns beschäftigen. Meine Damen und Herren, es ist ein großer Tag – ein Tag, an dem sich zeigt, wie gut es ist, wenn ein Unternehmen in eine Stadt eingebunden ist, wenn über Wechselwirkungen Ihr Unternehmen gut eingebettet ist und davon auch der Stadt etwas zurückgegeben wird. Das gilt für viele Orte, an denen Sie sind, inzwischen auch wieder für Königsee. Sie haben vorhin Teile aus Ihrer Familiengeschichte geschildert. Das alles war Ihnen ja nicht in die Wiege gelegt. Wenn nach dem Zweiten Weltkrieg ein gut laufendes Unternehmen einfach weg ist und ins Volkseigentum überführt wird, unweit von hier, dann kann ich mir lebhaft vorstellen, wie Ihre Eltern auf den Tag gehofft haben, dass das wieder zusammenwachsen kann, dass sie aber vielleicht auch nicht mehr geglaubt haben, ihn noch zu erleben. Aber es ist vielleicht – das sei mir gestattet, Herr Bürgermeister – auch ein Zeichen dafür, welche strukturellen Schwierigkeiten wir in den neuen Ländern haben. Denn schauen Sie, was an Mehrwert aus dem Miteinander mit Ottobock nach 70 Jahren hier in Duderstadt entstanden ist, und schauen Sie, was anderen verlorengegangen ist, unweit von hier. Davon haben sie heute einen Teil wieder, aber viele Jahre haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und auch Bürgermeister diese Möglichkeiten nicht gehabt. Wenn man den Blick auf heute wirft, würde man sagen: Danke dafür, dass Sie zu einem Teil wieder zurückgegangen sind. Aber wenn man sich die ganze Spanne der ehemaligen DDR vor Augen führt, dann weiß man auch, dass das natürlich nicht so schnell aufgeholt werden kann. Es ist manchmal einer der Punkte, der – so will ich einmal sagen – in der innerdeutschen Diskussion zwischen den neuen und den alten Bundesländern eine Rolle spielt, dass es in den neuen Ländern manchmal auch Trauer und Frust gibt, dass sie nicht auf so einen Stock von Erfahrung und von gelingender Wirtschaft zurückblicken können. Sie haben viele Pläne. Jetzt stürzen Sie noch Berlin um und machen dort ein bisschen Stimmung und Tempo. Das finde ich super; das kann Berlin brauchen. Herr Weil wird das jetzt nicht bestätigen – doch? Aber ansonsten sind Sie hier gut verwurzelt. Ich sage nicht nur für die Niedersachsen danke, sondern ich sage für uns als Bundesrepublik Deutschland: Danke für das, was Sie für Deutschland tun, zusammen mit Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern! Auf weitere gute hundert Jahre! Herzlichen Dank!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur 55. Münchner Sicherheitskonferenz am 16. Februar 2019 in München
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-55-muenchner-sicherheitskonferenz-am-16-februar-2019-in-muenchen-1580936
Sat, 16 Feb 2019 10:15:00 +0100
Im Wortlaut
keine Themen
Sehr geehrte Präsidenten, Kolleginnen und Kollegen, Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, lieber Herr Ischinger, meine Damen und Herren, natürlich grüße ich auch den Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern. Ich glaube, München ist eine gute Gastgeberstadt. Die Kraft Bayerns zeigt sich hier in einer ganz besonderen Weise. Wir haben noch andere schöne Städte in Deutschland, aber heute steht München im Zentrum. Meine Damen und Herren, 2019 denken wir daran, dass vor 250 Jahren Alexander von Humboldt geboren wurde. Alexander von Humboldt lebte an der Schwelle zur Industrialisierung. Er war ein Wissenschaftler und Reisender, der von dem Drang durchdrungen war, die Welt als Ganzes zu verstehen und zu sehen. Er hatte mit diesem Wunsch auch ziemlich viel Erfolg. Sein Credo, wie wir in seinem mexikanischen Reisetagebuch aus dem Jahr 1803 nachlesen können, heißt: „Alles ist Wechselwirkung“. Ungefähr 200 Jahre später, im Jahr 2000, hat der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen festgestellt, nachdem er das Ozonloch und die chemischen Wechselwirkungen erforscht hatte, dass wir nun in ein neues geochronologisches Zeitalter eintreten. Eiszeit und Zwischeneiszeit sind vorbei; und wir haben das Anthropozän. 2016 wurde diese Definition dann auch von der internationalen geologischen Gesellschaft übernommen. Das heißt, wir leben in einem Zeitalter, in dem die Spuren des Menschen so tief in die Erde eindringen, dass es auch nachfolgende Generationen als ein ganzes Zeitalter, das vom Menschen geschaffen wurde, ansehen werden. Das sind Spuren von Kernwaffentests, des Bevölkerungswachstums, der Klimaveränderung, der Rohstoffausbeutung, des Mikroplastiks in den Ozeanen. Und das sind nur einige wenige Stichworte von dem, was wir heutzutage tun. All das hat Auswirkungen auf die globale Sicherheit und auf die Fragen, die genau hier diskutiert werden. Deshalb ist es auch folgerichtig, wenn man sich einmal anschaut, womit diese Tagung 1963 begonnen hat: mit einer Wehrkundetagung, noch geprägt von der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus in Deutschland; eine sehr transatlantisch geprägte Veranstaltung. Deshalb freue ich mich auch, dass so viele Vertreter der Vereinigten Staaten von Amerika heute da sind. Heute sind wir zu einer umfassenden Sicherheitskonferenz zusammengekommen, bei der man von der Energieversorgung über die Entwicklungszusammenarbeit und natürlich Verteidigungsfragen bis hin zu einem umfassenden Sicherheitsaspekt miteinander spricht. Das ist genau die richtige Antwort. Wir müssen in vernetzten Strukturen denken. Die militärische Komponente ist dabei eine. Das, was wir am Anfang des 21. Jahrhunderts – es ist ja jetzt das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts – doch spüren, ist, dass die Strukturen, in denen wir arbeiten, im Grunde immer noch Strukturen sind, die aus den Schrecknissen des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus entstanden sind, dass diese Strukturen aber unglaublich unter Druck geraten, weil die Entwicklungen erfordern, dass sie sich reformieren. Aber ich glaube, wir dürfen sie nicht einfach zerschlagen. Deshalb ist ja das Thema dieser Sicherheitskonferenz „The Great Puzzle“. Ich fange jetzt einmal nur mit dem ersten Teil des Themas an. Rivalität zwischen großen Mächten – das gibt uns ja schon einen Einblick, dass etwas, das wir als Ganzes, als eine Architektur der Welt angesehen haben, doch unter Druck ist und hier sogar als Puzzle beschrieben wird, also als in Teile zerfallen. Vor 30 Jahren – daran werden wir dieses Jahr denken – fiel die Berliner Mauer und damit auch der Eiserne Vorhang. Der Kalte Krieg fand seinen Abschluss. Damals hat man darüber gesprochen: Brauchen wir so etwas wie die NATO noch? Wir wissen heute: Ja, wir brauchen die NATO als Stabilitätsanker in stürmischen Zeiten. Wir brauchen sie als Wertegemeinschaft, denn wir sollten nie vergessen, dass wir die NATO nicht nur als Militärbündnis gegründet haben, sondern als eine Wertegemeinschaft, in der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit die Richtschnur für das gemeinsame Handeln sind. Dass diese NATO heute immer noch über eine große Attraktivität verfügt, haben wir in den letzten Monaten gesehen, als darum gerungen wurde, ob auch Nordmazedonien, wie wir es jetzt glücklicherweise alle gemeinsam nennen können, Mitglied der NATO werden kann. Ich möchte einfach den beiden Hauptakteuren, Ministerpräsident Zoran Zaev aus Nordmazedonien, und Alexis Tsipras, dem griechischen Ministerpräsidenten, ganz herzlich für ihren Mut danken. Sie werden heute Abend mit dem Ewald-von-Kleist-Preis geehrt. Das ist bei den vielen Konflikten, die wir heute haben und für die wir noch keine Lösung gefunden haben, ein gutes Beispiel dafür, dass man, wenn man etwas mutig in die Hand nimmt, doch auch Lösungen finden kann. Ich hatte es zwischenzeitlich schon aufgegeben, mir weitere Namenskombinationen zu überlegen, weil ich dachte, es habe sowieso keinen Sinn. Jetzt ist es gelungen. Und deshalb wirklich einen großen Glückwunsch! Aber es gibt eben sehr viele Konflikte, die uns herausfordern; und das ist ja auch hier der Gegenstand der Diskussionen. Ich möchte mit einem beginnen, der mich persönlich in meiner Arbeit, aber auch viele von uns sehr umtreibt: das ist unser Verhältnis zu Russland. Russland war ja in Form der Sowjetunion sozusagen der Antagonist in Zeiten des Kalten Krieges. Wir hatten ja nach dem Mauerfall durchaus die Hoffnung – in der Zeit ist dann auch die NATO-Russland-Grundakte entstanden –, dass wir zu einem besseren Miteinander kommen könnten. Wenn ich mich jetzt noch einmal daran erinnere, dass im Jahr 2011 am Rande dieser Sicherheitskonferenz zwischen Hillary Clinton und Sergej Lawrow die Ratifikationsurkunden für den Abrüstungsvertrag „New START“ ausgetauscht wurden, dann erscheint einem das heute, 2019, ziemlich lange her zu sein. Aber damals haben beide von einem Meilenstein in der strategischen Partnerschaft gesprochen. Ich sage das, um zu zeigen, was einerseits in den letzten Jahren passiert ist und dass es aber andererseits in ein paar Jahren wieder ganz anders aussehen kann, wenn sich Seiten auch miteinander auseinandersetzen. Deshalb möchte ich mich ganz herzlich bei Jens Stoltenberg dafür bedanken, dass er auch in den schwierigsten Zeiten, die wir in den letzten Jahren hatten, nicht nur immer wieder auf der NATO-Russland-Grundakte beharrt hat, sondern das Gespräch gesucht hat. Recht herzlichen Dank dafür! 2014 erfolgte im März die Annexion der Krim – ein klar völkerrechtswidriges Verhalten – und anschließend – Petro Poroschenko ist hier – der Angriff auf die Ostukraine; ein mühselig ausgehandelter Waffenstillstand, sozusagen fragil, stabil gehalten durch das Minsker Abkommen, mit dem Deutschland und Frankreich gemeinsam mit Russland und der Ukraine versuchen, den Konflikt zu lösen. Allerdings müssen wir sagen: Von einer Lösung sind wir weit entfernt; wir müssen unbedingt weiterarbeiten. Für uns, die Europäer, wenn ich das so sagen darf, war in diesem Jahr die wirklich schlechte Nachricht die Kündigung des INF-Vertrags. Nach nicht jahrzehnte-, aber jahrelangen Verletzungen der Vertragsbedingungen durch Russland ist diese Kündigung unabwendbar gewesen. Wir haben sie als Europäer alle mitgetragen. Trotzdem ist es – das sage ich unseren amerikanischen Kollegen – eine ganz interessante Konstellation: Ein Vertrag, der im Grunde für Europa gefunden wurde, ein Abrüstungsvertrag, der unsere Sicherheit betrifft, wird von den Vereinigten Staaten von Amerika und Russland in der Rechtsnachfolge der Sowjetunion gekündigt; und wir sitzen da und werden natürlich mit unseren elementaren Interessen auch alles versuchen, um weitere Abrüstungsschritte möglich zu machen. Denn die Antwort kann jetzt nicht in blindem Aufrüsten liegen. Allerdings, da heute ja auch ein Vertreter Chinas da ist, würde ich sagen: Abrüstung ist etwas, das uns alle umtreibt und hinsichtlich der wir uns natürlich auch freuen würden, wenn nicht nur zwischen den Vereinigten Staaten, Europa und Russland solche Verhandlungen geführt werden würden, sondern auch mit China. Ich weiß, dass es viele Vorbehalte gibt; ich will jetzt auch nicht in die Tiefe gehen. Aber freuen würden wir uns. Wir haben 2014 in Wales als Antwort auf die Ereignisse in der Ukraine gesagt: Nicht nur der Kampf gegen Terrorismus, wie wir in Afghanistan gesehen haben, sondern eben auch die Bündnisverteidigung steht wieder im Mittelpunkt unserer Bemühungen. Damals ist das Ziel, die Verteidigungsausgaben jedes Landes in Richtung zwei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts zu entwickeln, auch wieder aktualisiert worden. Ich werde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass das schon Anfang der 2000er Jahre ein Ziel war. All diejenigen, die neue Mitgliedstaaten der NATO werden wollten, haben gleich als Erstes gesagt bekommen: Wenn ihr euch nicht in Richtung zwei Prozent bewegt, dann werdet ihr gar nicht erst in die NATO aufgenommen. – Das war noch vor meiner Zeit als Bundeskanzlerin. Deutschland steht nun in diesem Zusammenhang in der Kritik. Ich werde im Weiteren auch noch darauf eingehen. Wir haben unsere Verteidigungsausgaben aber von 1,18 Prozent im Jahr 2014 auf immerhin 1,35 Prozent erhöht. Wir wollen 2024 bei 1,5 Prozent liegen. Vielen reicht das nicht, aber für uns ist das ein essenzieller Sprung. Natürlich müssen wir auch fragen: Was tun wir denn mit dem Geld? Ich sage es einmal so: Wenn wir alle in eine Rezession verfallen und kein Wirtschaftswachstum haben, dann wird es mit den Verteidigungsausgaben leichter. Aber dass das dem Bündnis dient, glaube ich nicht. Deshalb ist es richtig, dass wir einerseits solche Richtgrößen haben, aber uns andererseits auch überlegen, was die Beiträge sind. Deutschland leistet seine Beiträge. Wir sind jetzt seit 18 Jahren in Afghanistan und haben dort ungefähr 1.300 deutsche Soldatinnen und Soldaten. Wir sind zusammen mit 20 Partnerstaaten im Norden Afghanistans engagiert. Ich habe einfach die sehr herzliche Bitte, dass wir – das ist ja der erste und einzige Einsatz nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags, den wir gemeinsam seit einer doch sehr langen Zeit durchführen – auch über die Fragen der Fortentwicklung miteinander sprechen. Wir haben auch gegenüber unserer Bevölkerung viel Überzeugungsarbeit gebraucht, um zu sagen: Ja, unsere Sicherheit wird am Hindukusch verteidigt. Ich möchte wirklich nicht erleben, dass wir dann eines Tages dastehen und einfach weggehen müssen, da wir dort sehr vernetzte Kapazitäten haben. Wir sind in Litauen Rahmennation. Wir haben zum zweiten Mal die Führung der NATO-Speerspitze übernommen. Ich will jetzt nicht alles aufführen. Aber das alles sind Dinge, die gerade auch der Bündnisverteidigung sehr nutzen. Insofern sind wir auch bereit, unseren Beitrag zu leisten. Wir sind inzwischen auch außerhalb der NATO aktiv, zum Beispiel in Mali. Das ist für Deutschland ein Riesenschritt, der kulturell nicht so wie zum Beispiel bei unseren französischen Freuden eingeübt ist. Nicht umsonst hat heute Morgen hier eine Diskussion zwischen dem Präsidenten der Europäischen Union im Rahmen der rotierenden Ratspräsidentschaft und dem neuen Vorsitzenden der Afrikanischen Union, dem ägyptischen Präsidenten Al-Sisi – herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl; das war ja gerade erst vor wenigen Tagen – stattgefunden. Die Fragen der Entwicklung in Afrika und das Verhältnis zu Afrika werden uns als Europäer noch in anderer Weise als zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Amerika fordern. Da wird es nicht immer NATO-Einsätze geben. Deshalb bitte ich Sie, unsere Bemühungen für eine kohärente europäische Verteidigungspolitik nicht als etwas zu verstehen, das gegen die NATO gerichtet ist, sondern das als etwas zu verstehen, das die Kooperation in der NATO effizienter und besser möglich macht, weil wir viele der Ineffizienzen, die es unter den vielen Mitgliedstaaten gibt, die in der Europäischen Union und in der NATO sind, überwinden können, wenn wir auch eine gemeinsame militärische Kultur entwickeln und wenn wir unsere Waffensysteme besser sortieren. Ich sage Ihnen: Da wird Deutschland vor einer Riesenaufgabe stehen. Wir wollen jetzt gemeinsame Waffensysteme entwickeln. Und im Zusammenhang mit dem Aachener Vertrag, den wir mit Frankreich unterzeichnet haben, hat das Thema Rüstungsexporte natürlich auch eine Rolle gespielt. Wenn wir in Europa nämlich keine gemeinsame Kultur der Rüstungsexporte haben, dann ist die Entwicklung von gemeinsamen Waffensystemen natürlich auch gefährdet. Das heißt, man kann nicht von einer europäischen Armee und von einer gemeinsamen Rüstungspolitik oder Rüstungsentwicklung sprechen, wenn man nicht gleichzeitig auch bereit ist, eine gemeinsame Rüstungsexportpolitik zu machen. Da haben wir in Deutschland noch viele komplizierte Diskussionen vor uns. Das ist, glaube ich, kein Geheimnis, das ich Ihnen hier gerade verrate. Meine Damen und Herren, neben dem Verhältnis zu Russland ist für uns der Kampf gegen Terrorismus eine große Herausforderung; natürlich im Übrigen neben der Euro-Krise. Wir haben 2014/2015 sehr intensive Verhandlungen mit Griechenland über den Verbleib in der Eurozone geführt. Dann kam 2015 ganz massiv das Flüchtlingsthema auf uns zu. Das Flüchtlingsthema ist von der Situation in Syrien getrieben worden. Das ist ja sozusagen ein Bürgerkrieg, der gleichzeitig noch mit terroristischen Herausforderungen aufgeladen worden ist. Damit stand für uns eine Sicherheitsaufgabe ganz anderer Natur an als die, die wir zum Beispiel im Zusammenhang mit der Bündnisverteidigung sehen. Europa stand nämlich vor der Frage: Sind wir auch bereit, in gewisser Weise bei einem humanitären, zivilisatorischen Drama Verantwortung mit zu übernehmen oder sind wir es nicht? Dass so viele Flüchtlinge nach Europa kamen, hatte damit zu tun, dass wir uns vorher eben nicht um die Situation der Flüchtlinge in Jordanien, im Libanon und in der Türkei gekümmert haben. Dort waren bereits drei Millionen oder mehr angekommen. Die Stabilität dieser Länder war wirklich gefährdet. Das hat die Flüchtlinge dazu gebracht, sich zum Schluss Schleppern und Schleusern anzuvertrauen und zu sagen: Wir suchen uns andere Wege. Europa hat in diesem Zusammenhang dann eine Aufgabe übernommen – im Übrigen nicht nur Deutschland, sondern auch Schweden, Österreich und andere Länder: Wir haben damals in einer humanitären Notlage geholfen. Aber ich glaube, wir sind uns auch alle einig, dass die Antwort auf humanitäre Notlagen aufseiten von Staaten nicht heißen kann, dass Schlepper und Schleuser das Regime übernehmen und sich die Flüchtlinge unendlichen Gefahren aussetzen, sondern dass es die richtige Antwort war, das EU-Türkei-Abkommen zu machen. Es war die richtige Antwort für Deutschland, dann auch seine Entwicklungsausgaben zu stärken. Wir haben in der gleichen Zeit – in der Zeit, in der es die Beschlüsse von Wales gab; das Gehen in Richtung zwei Prozent innerhalb der NATO – in ebenso großem Umfang unsere Entwicklungskosten hochgefahren, weil wir der Überzeugung sind: Auch das ist eine Sicherheitsfrage. Wenn wir nicht endlich für die humanitäre Hilfe, für die Welthungerhilfe und für den UNHCR hinreichend Zahlungen vornehmen – dabei sind wir schon einer der größten Geber auf der Welt –, damit es den Menschen mit deren Hilfe besser geht, dann wird sich das Flüchtlingsdrama perpetuieren. Die Hilfsbereitschaft zum Beispiel der Deutschen war großartig, aber trotzdem müssen wir die Probleme vor Ort lösen. Das ist das, was wir jetzt gerade lernen. Das war also eine parallele Herausforderung, die ich sicherheitspolitisch als genauso wichtig wie die der verstärkten Bündnisfähigkeit erachte. Wir haben – auch in Blickrichtung Europa bzw. in diesem Fall Italien – durch die Entwicklung in Libyen einen Vorgeschmack von dem bekommen, was sowieso im Raum steht, nämlich der Frage: Wie entwickelt sich der afrikanische Kontinent weiter? Die Instabilität des Staates hat in Libyen dazu geführt, dass dieses Libyen sozusagen Ausgangspunkt vieler afrikanischer Flüchtlingsbewegungen geworden ist, wobei unsere spanischen Freunde diese Herausforderungen mit Blick auf Marokko ja schon sehr viel früher, zehn oder 15 Jahre früher, vor sich hatten. Das hat die Europäische Union dazu gebracht, dass sie sehr viel konsistenter und sehr viel entschiedener die Partnerschaft mit Afrika entwickelt hat. Aber seien wir ehrlich: Wir stehen immer noch am Anfang dieser Partnerschaft. Denn wenn die Entwicklung in Subsahara-Afrika, aber auch in Ägypten, in Marokko, in Tunesien oder in Algerien nicht so verläuft, dass junge Menschen die Chance und die Hoffnung sehen, dass sie in diesen Ländern Lebensperspektiven haben, dann werden wir mit dem Wohlstandsgefälle zwischen Europa und Afrika nicht zurechtkommen. Wir sehen, dass China in den vergangenen Jahren bereits in großer Weise Entwicklungspolitik in Afrika im Sinne von Investitionen betrieben hat. Wir sehen, dass wir in Europa sehr viel klassische Entwicklungspolitik betrieben haben. Ich habe mich mit Präsident Xi Jinping sehr oft darüber unterhalten, wie man eigentlich auch voneinander lernen kann, was der eine und was der andere gut macht. Aber wir haben noch keine entwicklungspolitische Agenda erarbeitet, mit der wir sozusagen sagen können: Die Investitionen werden auch für ausreichend viele Arbeitsplätze sorgen, um anschließend in diesen Ländern auch Sicherheit, Frieden und Stabilität zu haben. Wieder hat Deutschland, was uns in früheren Zeiten der Bundesrepublik Deutschland gar nicht so in das Stammbuch unserer Geschichte geschrieben war, gesagt: Okay, wir unterstützen die G5-Sahel-Truppe, die versucht, gegen Terrorismus anzugehen. Wir sind in Mali engagiert und versuchen dort auch gemeinsam mit den Vereinten Nationen gegen den Terror vorzugehen. Wir sind in Mali und versuchen dort die Streitkräfte auszubilden. Aber das alles wird nichts nützen, wenn diese Länder keine wirtschaftliche Perspektive haben. Und deshalb haben wir unsere Entwicklungshilfe eben erhöht. Aber ich sage noch einmal: Die Methodik dieser Entwicklungshilfe ist noch nicht allzu sehr ausgearbeitet; das können wir auch nur zusammen mit der Afrikanischen Union machen. Ich bin sehr glücklich, dass die Afrikanische Union inzwischen klare strategische Vorstellungen hat – Agenda 2063 oder andere Pläne –, mit denen Afrika sagt, was es will. Denn es muss das geben, was man heutzutage – ja auch schon fast auf Deutsch – als „ownership“ bezeichnet. Es muss sozusagen das eigene Empfinden geben: Das sind unsere Programme. Wenn multilaterale Zusammenarbeit in den letzten Jahren besser geworden ist, dann, muss ich sagen, ist die Afrikanische Union dafür aus meiner Sicht durchaus ein gutes Beispiel. Nun, meine Damen und Herren, sind das sozusagen die Probleme, die ich Ihnen darlegen wollte und hinsichtlich derer sich Deutschland engagiert. Jetzt geht es um die Frage der Methodik unserer Zusammenarbeit. Denn das transatlantische Bündnis ist natürlich, sagen wir einmal, vom Kern her ein Verteidigungsbündnis. Die Außenminister treffen sich zwar sehr häufig, aber wir haben viele Jahre lang mit Frankreich darüber gesprochen: Darf man da auch über politische Fragen diskutieren? Meine These ist: Die NATO wird ihren Aufgaben nur gerecht, wenn sie auch den vernetzten Sicherheitsbegriff immer wieder ins Auge fasst. Ich glaube, das geschieht auch in gewisser Weise. Denn allein militärisch kann man ja keinen dieser vielen Konflikte lösen. Da haben wir natürlich auch Spannungen in der Frage, wie die Antworten denn nun aussehen. Wie sehen die Antworten in Richtung Ukraine aus? Wir sind uns einig, was das Minsker Abkommen angeht. Meine herzliche Bitte ist, die Sanktionen gegenüber Russland, wenn es zu weiteren Verschärfungen kommt – siehe jetzt auch Soldaten in der Straße von Kertsch –, wirklich wieder abgestimmt zu entwickeln. Wir haben nichts davon, wenn jeder seine eigenen Sanktionen entwickelt. Der dritte Punkt ist: Wir stehen weiter zur NATO-Russland-Akte. Der Gesprächsfaden soll nicht abreißen. Dann gibt es einen vierten Punkt: die wirtschaftliche Kooperation. Darüber gibt es – Beispiel Nord Stream 2 – jetzt eine Vielzahl von Diskussionen. Ich verstehe Petro Poroschenko, der hier sitzt und sagt: Die Ukraine ist Transitland für russisches Erdgas und möchte es bleiben. Ich habe ihm immer und immer wieder versichert, dafür jede Unterstützung zu geben und Verhandlungen dafür zu führen; und das werden wir – Wahlkampf hin oder her – auch weiterhin tun. Ein russisches Gasmolekül bleibt ein russisches Gasmolekül – egal, ob es über die Ukraine kommt oder ob es über die Ostsee kommt. Das heißt, die Frage, wie abhängig wir von russischem Gas sind, kann durch die Frage, durch welche Pipeline es fließt, nicht geklärt werden. Auch da sage ich: Ich bin bereit. Niemand will einseitig und völlig einseitig von Russland abhängig werden. Aber wenn wir schon im Kalten Krieg russisches Gas bekommen haben – als ich noch auf der DDR-Seite saß und wir dort sowieso russisches Gas bekommen haben, aber als auch die alte Bundesrepublik in hohem Umfang russisches Gas eingeführt hat –, dann weiß ich nicht, warum die Zeiten heute so viel schlechter sein sollen, dass wir nicht sagen: Russland bleibt ein Partner. Ich sage einmal – auch wieder, das ist ja gar nicht einfach, in Anwesenheit von Präsident Poroschenko aus meiner Perspektive auf der linken Seite und des chinesischen Vertreters auf der rechten Seite –: Wollen wir Russland nur noch in die Abhängigkeit oder in die Erdgasabnahme von China bringen? Ist das unser europäisches Interesse? Das finde ich auch nicht. Wir wollen auch ein bisschen an den Handelsbeziehungen teilhaben. Also müssen wir darüber offen reden. Wir haben uns strategisch entschieden, obwohl es bereits eine sehr große LNG-Kapazität in Europa gibt – wir haben im Grunde viel mehr LNG-Terminals, als wir LNG-Gas haben –, angesichts der prognostizierten Verstärkung des Gasverbrauchs und der LNG-Produktion gerade auch in den Vereinigten Staaten von Amerika auch in Deutschland weiterhin auf LNG zu setzen. Da wir aus der Kernenergie und aus der Braunkohle und der Steinkohle aussteigen, wird Deutschland in den nächsten Jahren ein sehr sicherer Absatzmarkt sein – egal, für wen –, was Erdgas anbelangt. Dann haben wir das Thema Iran, das uns im Augenblick spaltet. Wir müssen aufpassen, was diese Spaltung angeht, die mich sehr bedrückt. Ich habe mich in einer Rede in der Knesset dazu verpflichtet, dass das Existenzrecht Israels zur Staatsräson Deutschlands gehört. Und das meine ich auch so, wie ich es gesagt habe. Ich sehe das ballistische Raketenprogramm, ich sehe den Iran im Jemen und ich sehe vor allen Dingen den Iran in Syrien. Die einzige Frage, die in dieser Frage zwischen uns, den Vereinigten Staaten und den Europäern, steht, ist: Helfen wir unserer gemeinsamen Sache, unserem gemeinsamen Ziel, nämlich die schädlichen oder schwierigen Wirkungen des Iran einzudämmen, indem wir das einzige noch bestehende Abkommen kündigen, oder helfen wir der Sache mehr, indem wir den kleinen Anker, den wir haben, halten, um dadurch vielleicht auch auf anderen Gebieten Druck machen zu können? Das ist die taktische Frage, über die wir streiten. Aber die Ziele sind natürlich die gleichen. Aber ich sage auch, weil ich ja auch selbst jeden Tag kritisiert werde: Ist es denn vonseiten der Amerikaner nun gut, sofort und schnell aus Syrien abzuziehen, oder ist das nicht auch wieder eine Stärkung der Möglichkeiten des Iran und Russlands, dort Einfluss zu nehmen? Auch darüber müssen wir sprechen. Das sind die Dinge, die auf dem Tisch liegen und die wir auch miteinander bereden müssen. Genauso stellt sich natürlich die Frage, wie es mit den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen China, den Vereinigten Staaten und Europa weitergeht. Das ist ein Riesenproblem. Wir erleben: China ist ein aufsteigendes Land. Wenn ich nach China fahre, sagen mir die chinesischen Vertreter: Wir waren 1.700 Jahre von den 2.000 Jahren seit Christi Geburt die führende Wirtschaftsnation. Regt euch nicht auf; es passiert weiter gar nichts, als dass wir wieder dahin kommen, wo wir immer waren. Ihr habt das in den letzten 300 Jahren nur nicht erlebt. – Und wir sagen: In den letzten 300 Jahren waren wir aber die Führenden; erst die Europäer, dann die Vereinigten Staaten von Amerika und dann wir zusammen. Nun aber müssen wir mit der gegebenen Situation umgehen und müssen vernünftige Lösungen finden, damit daraus nicht ein uns gegenseitig schwächender Kampf wird. Dazu sage ich ganz offen: Ich unterstütze alle Bemühungen der Fairness und des Handels. Ich spreche von Reziprozität. Darüber müssen wir reden. Wir sollten das im Sinne der Partnerschaft und der Tatsache tun, dass wir noch so viele andere Probleme auf der Welt zu lösen haben, weshalb es hilfreich wäre, wir könnten uns verständigen. Ich setze ja in die Verhandlungen, die jetzt im Handelsbereich mit den Vereinigten Staaten von Amerika geführt werden, große Hoffnungen. Ich sage ganz offen: Wenn es uns mit der transatlantischen Partnerschaft ernst ist, dann ist es für mich als deutsche Bundeskanzlerin zumindest nicht ganz einfach, jetzt zu lesen, dass offensichtlich – ich habe es noch nicht schriftlich vor Augen gehabt – das amerikanische Handelsministerium sagt, europäische Autos seien eine Bedrohung der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika. Schauen Sie: Wir sind stolz auf unsere Autos; und das dürfen wir ja auch sein. Diese Autos werden auch in den Vereinigten Staaten von Amerika gebaut. In South Carolina ist das größte BMW-Werk – nicht in Bayern, in South Carolina. South Carolina liefert wiederum nach China. Wenn diese Autos, die ja dadurch, dass sie in South Carolina gebaut werden, doch nicht weniger bedrohlich werden als dadurch, dass sie in Bayern gebaut werden, plötzlich eine Bedrohung der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika sind, dann erschreckt uns das. Dann sage ich einfach nur: Ich glaube, es wäre gut, wenn wir in ordentliche Gespräche miteinander kommen würden. Immer, wenn einer etwas vorzubringen hat, muss man darüber reden – das ist auf der Welt so. Und dann werden wir auch Lösungen finden. Meine Damen und Herren, all diese Fragen, die ja puzzleartig auf uns zukommen und die ich ja hier auch gar nicht alle nennen kann, sind letztlich Ausdruck einer Grundfrage. Weil wir merken, wie groß der Druck auf unsere klassische, für uns gewohnte Ordnung ist, stellt sich jetzt die Frage: Fallen wir in lauter Puzzlestücke auseinander und denken, jeder kann das Problem für sich alleine am allerbesten lösen? Dazu kann man als deutsche Bundeskanzlerin nur sagen: Da sind die Chancen für uns schlecht. Denn die Vereinigten Staaten von Amerika sind wirtschaftlich so viel machtvoller, der Dollar als Währung ist so viel machtvoller, dass ich nur sagen kann: Na klar, dann sind da die besseren Karten. China ist mit über 1,3 Milliarden Einwohnern so viel größer. Wir werden noch so fleißig, noch so toll, noch so super sein können – mit 80 Millionen Einwohnern werden wir nicht dagegen ankommen, wenn sich China dafür entscheidet, dass man mit Deutschland keine guten Beziehungen mehr haben will. So wird sich das überall auf der Welt abspielen. Deshalb ist die eine große Frage: Bleiben wir bei dem Prinzip des Multilateralismus, das die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg mit dem von Deutschland ja verursachten Nationalsozialismus war, auch wenn multilateral nicht immer toll ist, sondern schwierig ist, langsam ist, kompliziert ist? Nach meiner festen Überzeugung ist es besser, sich einmal in die Schuhe des anderen zu versetzen, einmal über den eigenen Tellerrand zu schauen und zu schauen, ob man gemeinsame Win-win-Lösungen erreicht, als zu meinen, alle Dinge allein lösen zu können. Deshalb, meine Damen und Herren, war ich gestern Abend so glücklich, als ich mich auf meine Rede vorbereitet habe und ein Zitat von Lindsey Graham gelesen habe, der gestern Abend gerufen hat: „Multilateralismus mag kompliziert sein, aber er ist besser, als allein zu Hause zu sein.“ Ich finde, genau das ist die Antwort auf das Motto dieser Tagung „The Great Puzzle: Who Will Pick Up the Pieces?“: Nur wir alle zusammen. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Übergabe der 2-Euro-Gedenkmünze „Bundesrat“ am 15. Februar 2019
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-uebergabe-der-2-euro-gedenkmuenze-bundesrat-am-15-februar-2019-1580830
Fri, 15 Feb 2019 11:57:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Herr Woidke, Sie sind stellvertretender Bundesratspräsident. Wir entschuldigen Ministerpräsident Daniel Günther, der erkrankt ist. Ich freue mich, dass Sie, dass die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Hagedorn, Herr Otto und viele andere hier sind, um einer schönen Tradition Folge zu leisten, die in diesem Jahr etwas anders ausfällt als in den anderen Jahren. Wir haben wieder eine 2-Euro-Gedenkmünze. Aber dieses Mal würdigen wir die föderale Vielfalt als solche und nicht in Form eines Bundeslandes. Das hat damit zu tun, dass das Bundesland, das den Bundesratspräsidenten stellt, schon eine 2-Euro-Münze hat. Also können wir einmal den Bundesrat als solchen würdigen. Seit 2006 stand jedes Jahr ein anderes Land im Mittelpunkt. Da wir heute das Jahr 2019 haben, wissen wir, dass noch wenige Länder übriggeblieben sind; ich glaube, Brandenburg selbst auch. Sie hatten gerade gesagt, dass Sie noch keine Münze hätten. Dieses Mal ist auf der Gedenkmünze das Preußische Herrenhaus inmitten Berlins zu sehen, das heute das Gebäude des Bundesrats ist. Die Münze gibt es nicht von ungefähr, sondern wir haben den 70. Geburtstag nicht nur des Grundgesetzes, sondern auch des Bundesrats. Deshalb haben wir diese Münze ausgewählt. Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet. In Artikel 50 heißt es: „Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes (…) mit.“ – Herr Woidke hat mir gerade verraten, dass er heute im Bundesrat bereits über 150 Punkte hat abstimmen lassen, wenngleich entscheidende gar nicht auf die Tagesordnung gekommen sind. – Später wurde Artikel 50 übrigens um die „Angelegenheiten der Europäischen Union“ ergänzt. Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern ist, denke ich, im Endeffekt eine Erfolgsgeschichte, auch wenn wir uns den Erfolg in manchen langen Sitzungen hart erarbeiten müssen. Aber das gehört dazu. Die Dinge werden dadurch auch besser. Ich denke, dass das vor allen Dingen deshalb gelingt, weil wir immer wieder die Kraft zum Kompromiss und zum Konsens aufbringen. Diese Fähigkeit sollte uns auch in den nächsten 70 Jahren erhalten bleiben. Die diesjährige 2-Euro-Gedenkmünze ist auch wieder ein sehr sehenswertes Stück. Das haben wir Herrn Otto zu verdanken. Herr Otto, herzlichen Dank dafür. Nun gebe ich das Wort an die Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesfinanzminister. Frau Hagedorn, Sie werden noch einiges ergänzen.
im Bundeskanzleramt
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Templin am 8. Februar 2019
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verleihung-der-ehrenbuergerwuerde-der-stadt-templin-am-8-februar-2019-1578956
Fri, 08 Feb 2019 17:54:00 +0100
Templin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Tabbert, lieber Herr Ziemkendorf, lieber Landrat a. D. Bodo Ihrke, sehr geehrte Frau Landrätin, sehr geehrte Abgeordnete und Bürgermeister, liebe Gäste – natürlich ganz besonders die Familienmitglieder, unter anderem meine Mutter, auch meine Geschwister; die ehemaligen Schulkameraden, Lehrer, Freunde, Weggefährten –, zuallererst möchte ich Herrn Gerhardt und Herrn Sachse zu der Ehrung beglückwünschen, die Sie heute bekommen haben. Ich möchte mich dafür bedanken, dass Sie mir die Ehrenbürgerwürde heute übertragen haben. Ich weiß diese Ehrung sehr zu schätzen. Ich sage es ganz offen: Es ist auch etwas ganz Besonderes; und da bin ich auch auf eine ganz bestimmte Weise ein wenig aufgeregt. Das Ganze bedeutet mir natürlich viel, denn Templin ist die Stadt meiner Kindheit und Jugend. Inzwischen ist Templin Kurstadt geworden. Und wir alle, die wir damals Kinder und Jugendliche waren, sind jetzt etwas älter. Naturgemäß verbinden mich viele prägende Erfahrungen, Begegnungen und Gespräche mit Templin. Vieles, was ich heute sein kann, ist hier in Templin entstanden. Das hat viel mit dieser Stadt und ihren Menschen zu tun und natürlich auch mit der wunderbaren Landschaft, mit den Seen und Wäldern. Das alles weckt nicht nur Erinnerungen, sondern zieht mich auch immer wieder hierher – nicht nur, weil ich meine Mutter sehr gerne besuche, sondern auch, weil ich am Wochenende sehr häufig in der Nähe in Hohenwalde bin. Dieses Hohenwalde ist ja auch ein Ort, an den wir als Familie, als wir noch Kinder waren, immer wieder hingefahren sind. Templin ist die Stadt der tausend Linden. Und ich werde, lieber Herr Tabbert, natürlich sehr gerne dabei sein, wenn nächstes Jahr Linden gepflanzt werden. Die Torte erfreut mich natürlich auch. Bäcker Kolberg samt der gesamten Familie ist sozusagen Inventar dieser Stadt; das ist klar. Wir haben schon als Kinder davon gezehrt. Also ganz herzlichen Dank. Ich habe mir sagen lassen, in anderen Städten bekämen die Ehrenbürger keine Linden oder Torten, sondern Freifahrtscheine. Templin ist da aber der Zeit voraus: Fahrscheinfrei fahren dürfen hier alle. Insofern sind alle Ehrenbürger dieser Stadt. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich bin auch ein wenig traurig darüber, dass so wenige Städte diesem Beispiel gefolgt sind. Denn wenn sich das eine Stadt in der Uckermark leisten kann, dann sollte es in Deutschland vielleicht noch die eine oder andere Stadt geben, die das ebenfalls schafft. Aber vielleicht macht diese Tradition ja doch irgendwann noch Schule; manche sind eben Spätzünder. Meine Damen und Herren, ich kann die Dinge, wenn ich heute hier stehe, in einem Satz zusammenfassen: So sehr Mecklenburg-Vorpommern und mein Wahlkreis in Vorpommern inzwischen meine politische Heimat geworden sind, so sehr wird nie ein Zweifel daran bestehen, dass Templin und die Uckermark meine persönliche Heimat sind und auch immer bleiben werden. Wir haben als Familie auf dem Waldhof gelebt. Ich bin in Templin zur Schule gegangen und in der Maria-Magdalenen-Kirche konfirmiert worden. Zum Studium bin ich dann – ich muss zugeben: gerne – fortgezogen nach Leipzig, später dann auch beruflich nach Berlin. Doch immer blieb ein Teil von mir hier, in dieser Stadt und dieser Region. Wenn ich über meine Jugend in Templin spreche, dann spreche ich natürlich über eine Jugend in der DDR. Es war eine Jugend in einem ganz anderen politischen System, das die heutige Jugend – die hier heute auch im Mittelpunkt steht; darüber freue ich mich ganz besonders – nur noch aus Erzählungen und aus Schulbüchern kennt. Früher haben wir gesagt: Großmutter erzählt vom Krieg. Heute erzählen wir von der DDR. Erkennen, dass man älter wird, muss man auch erst einmal schaffen. Ich glaube, unter dem Strich ist es wirklich gut, dass dieses System Geschichte ist. Es wird aber so oft vergessen, dass das eine das politische System war, aber das andere das reale persönliche Leben. Natürlich war das Leben auch durch das politische System geprägt, aber wir haben auch ein privates Leben gehabt, ein Leben mit Familie und Freunden, haben schöne Stunden verlebt, Enttäuschungen durchlebt. Das Leben war eben viel mehr; und es war eine sehr, sehr schöne Kindheit. Viele, die heute hier im Raum sind, erinnern mich daran. Ich möchte mich ganz besonders bei dir bedanken, lieber Bodo Ihrke. Ich habe schon gedacht, vor lauter „Bundeskanzlerin“ müsste ich jetzt dauernd „Herr Landrat a. D.“ sagen. Aber irgendwann hast du die Kurve ja noch gekriegt und auch noch einmal „liebe Angela“ über die Lippen gebracht. Das hat mir gutgetan. Ich freue mich natürlich, dass nicht nur du heute hier bist, sondern dass auch meine Freundinnen Cornelia, Brigitte und Ute hier sind und dass somit auch ein kleiner Teil der damaligen Klasse und des damaligen Lebens repräsentiert ist – neben denen, die aus meiner Familie da sind, zum Beispiel meinen Geschwistern. Wir sind hier geprägt worden. Und für mich ist es natürlich besonders erfreulich, dass mit Herrn Gerhardt heute sogar ein Lehrer geehrt wurde – bei dem ich aber in Biologie wahrscheinlich nicht ganz so gut war, wie ich hätte sein sollen. (Zuruf: Note „Eins.“) – Eins, okay; aber ehrlich gesagt: Wenn ich durch die Uckermärkischen Wiesen streife, dann ärgere ich mich regelmäßig, dass ich so gut wie keine Blume richtig bestimmen kann; und auch bei den Tieren hapert es ganz schön. Wenn ich Vögel fliegen sehe, muss ich immer im Buch nachgucken, wie die Schwänze aussehen usw. Ich hätte also ein bisschen besser aufpassen können. Ich freue mich natürlich, dass mein Mathematiklehrer, Herr Beeskow, heute hier ist, und dass auch meine Russischlehrerin hier ist, die uns ja durch ihre Motivation zu ungeahnten Erfolgen gebracht hat. Ich habe sie schon gefragt: Ещё говорит по русски она (Übers.: Sprechen Sie noch Russisch)? Aber sie spricht wahrscheinlich eben nicht nur Russisch, wie mir meine Mutter gesagt hat, sondern inzwischen auch ganz toll Polnisch und Französisch, was ich nach wie vor nicht kann. So sind wir heute hier vereint. Ich bin ganz besonders gerne hier und auch während der Ehrung der anderen hier dabei, weil wir noch einmal Revue passieren lassen können, was sich 1990 verändert hat und wie das, was wir heute kommunale Selbstverwaltung nennen, in die Realität umgesetzt wird. Ich weiß, dass das nicht ganz einfach ist. Wir reden im Augenblick viel über gleichwertige Lebensbedingungen. Gerade auch in den ländlichen Regionen hier in den neuen Bundesländern muss vieles sehr, sehr hart erarbeitet werden. Umso mehr, lieber Herr Tabbert, finde ich es toll, dass Sie mit den Stadtverordneten zusammen Ihren Mann und Ihre Frau stehen und das Leben hier vor Ort gestalten. Kommunale Selbstverwaltung ist ja im Grunde das, was Heimat bedeutet; da kann man etwas für die Menschen tun. Ich sage immer, dass ich als Bundespolitikerin eine große Hochachtung vor denen habe, die vor Ort arbeiten oder die als Landräte arbeiten. Ich bin, wenn es hoch kommt, alle fünf Jahre einmal irgendwo, bin dann wieder weg und kann das Blaue vom Himmel versprechen; mich zieht so schnell keiner zur Rechenschaft. Diejenigen, die vor Ort in der Stadtverordnetenversammlung die Entscheidungen treffen, müssen sich schon am nächsten Tag alles anhören. Herr Ziemkendorf, ich kann mir vorstellen, dass es nach der Zweidrittelmehrheit in der Stadtverordnetensammlung für Merkel nicht nur schön war, hier durch die Straßen zu gehen; denn viele haben wahrscheinlich auch geschimpft. Es ist Demokratie, dass man dann seine Entscheidung begründen muss, dass man aber auch sieht, wenn etwas entsteht, und sich freuen kann, dass es gelungen ist. Beides sollten wir immer auch sehr ernst nehmen. Nun freut es mich besonders, dass ich heute bei einem Neujahrsempfang dabei bin, bei dem „Bildung und Jugend“ Themen sind. Gerade auch die Frage, wie eigentlich die Zukunft aussehen wird, ist ja eine der ganz bewegenden. Deshalb ist es sehr schön, dass heute die Jugend im Mittelpunkt steht – obwohl Ferien sind; das ist besonders beachtlich. Deshalb auch ein Dankeschön an die Band und an den Solisten. Es ist schon beeindruckend, was hier im Multikulturellen Centrum entsteht. Natürlich ist es auch schön, dass die Stiftung Gebäudeensemble Joachimsthalsches Gymnasium heute geehrt wird. Das ist eine Geschichte, bei der ich – das sage ich ganz offen – meiner Mutter gegenüber und vielen anderen gegenüber fast immer ein bisschen ein schlechtes Gewissen habe, dass dieses Projekt noch nicht endgültig gelungen ist. Deshalb hat es mich ungemein gefreut, Frau Reemtsma, dass 2016 ein signifikanter, bedeutender Fortschritt entstehen konnte, da dieses Ensemble des Joachimsthalschen Gymnasiums ja wirklich etwas sehr Besonderes ist. Das zu erhalten, ist alle Mühe wert. Ich will hier keine falschen Versprechungen machen, aber ich denke, dass Sie das Thema Europa gewählt haben, passt nicht nur zu der Tatsache, dass dieses Jahr Europawahl ist, sondern das passt auch zu unserer Zeit. Die EU-Osterweiterung, wie wir das nennen, jährt sich jetzt schon zum 15. Mal. Und gerade auch hier in der Region, die ja im weiteren Sinne eine Region ist, die an Polen grenzt, ist das etwas, das auch einen symbolischen Wert hat. Bodo Ihrke hat es eben gesagt: Europäisch zu denken und zu handeln und gleichzeitig vor Ort etwas auf die Beine zu stellen, ist manchmal nicht einfach, aber es ist absolut notwendig. Wir sehen ja, wie schnell aus Misstönen auch Verachtung und Hass werden können. Wir wissen aus der Geschichte, wie schnell aus Hass dann auch kriegerische Auseinandersetzungen werden können. Das sollte uns wirklich eine Lehre sein. Deshalb lohnt es, sich für Projekte der Verbindung, für Projekte der Gemeinsamkeit, für Projekte der Begegnung einzusetzen – und ein europäischer Schulabschluss gehört dazu. Deshalb viel Erfolg bei Ihren Bemühungen. Wie gesagt, ich will nichts Falsches versprechen, aber meine Mutter sorgt schon dafür, dass ich nicht vergesse, dass hier auch noch etwas zu tun ist. Bodo Ihrke hat soeben in sehr schöner Weise darauf hingewiesen, wie sehr die verschiedenen Ebenen der Politik voneinander abhängen und einander bedingen. Oft wird darüber sehr kritisch gesprochen, gerade auf der Bundesebene. Ich habe zu Herrn Tabbert schon gesagt: In Teilen des Bundestages herrscht die Meinung, dass wir bald auf der Bundesebene nicht mehr ausreichend Geld haben, um unsere Aufgaben auszufüllen. Wir haben in den letzten Jahren aber mit sehr viel Überzeugung auch den Kommunen Unterstützung gegeben – nicht, weil das irgendetwas Karitatives wäre, sondern weil wir überzeugt sind: Wenn das Leben vor Ort nicht funktioniert, wenn dort gar nichts mehr läuft, wenn es nur noch Mangelverwaltung gibt – und das ist ja oft genug der Fall –, dann kann dort auch kein Leben mehr richtig gedeihen. Ich habe sehr wohl gehört, was Sie mir bezüglich der Funklöcher mit auf den Weg gegeben haben. Die Kinder sollen in Zukunft in der Tat keine Ausreden mehr haben. Deshalb wird der Breitbandausbau jetzt auch forciert. Die Landrätin weiß aus ihrer Vergangenheit in Mecklenburg-Vorpommern eigentlich, dass man Anträge auch sehr gut stellen kann. Ich hoffe, dass der Kreis hier auch bald vorne mit dabei ist. Im Augenblick ist das Problem eher, dass es schwierig ist, Tiefbaukapazitäten zu bekommen, und dass die Preissteigerungen so hoch sind. Wenn junge Leute also noch eine Berufsausbildung suchen, dann kann man ihnen sagen, dass der Baubereich im Augenblick sehr wichtig und sehr gut ist. Wir versuchen jetzt auch, die Grundgesetzänderung so hinzubekommen, damit wir den Digitalpakt Schule umsetzen können. Ich glaube, das ist etwas, worauf Sie auch warten. Und ich hoffe, dass der viel gelobte Vermittlungsausschuss in der Lage sein wird, hier eine Lösung zu finden. Ab und zu wäre es gut, wenn man einmal wieder vom Sachverhalt und von der Frage „Was wollen die Menschen?“ her denkt. Dann findet man vielleicht auch leichter Lösungen für unser Grundgesetz, das in diesem Jahr immerhin schon 70 Jahre alt wird. Was man auch manchmal vergisst: Wir leben jetzt schon länger ohne Mauer, als sie uns getrennt hat. Insofern zeigt sich, dass die 30 Jahre, die seit dem Mauerfall vergangen sind, eine lange Zeit sind. Ich freue mich, dass Templin nach wie vor Tourismusstandort ist und als solcher auch glänzt. Ich weiß nicht, ob man heute noch sagen darf, dass Templin die Perle der Uckermark ist; für mich ist es das natürlich. Falls ein Prenzlauer hier ist, möchte ich mit ihm jetzt aber nicht in eine Auseinandersetzung eintreten. Ich finde auch, Templin ist nach der deutschen Wiedervereinigung nicht überbewertet worden. Auf Englisch würde man sagen: Wir sind ein „hidden champion“. Dass es hier jährlich inzwischen 380.000 Gästeübernachtungen gibt, spricht für die Stadt. Was den Tourismus anbelangt, so wollen wir die breite Schönheit Deutschlands auch immer wieder deutlich machen. Deshalb werde ich natürlich versuchen, die Einladung für „750 Jahre Templin“ sehr gerne anzunehmen; denn das ist ein tolles Jubiläum. Meine Damen und Herren, ob man nun in der Bundesregierung oder Landesregierung, ob man als Landrat, Stadtrat oder Bürgermeister arbeitet – unsere Politik dient eigentlich immer dem gleichen Ziel: Das Leben von Menschen zu erleichtern, zu verbessern und unseren Nachfahren eine Welt zu hinterlassen, in der es sich mindestens genauso gut, wenn nicht besser, leben lässt. Das ist alles andere als einfach. Wir erleben jetzt, dass es auch nach einer sehr langen Friedensperiode nicht einfacher wird, dafür zu werben, wieder mitzumachen und Selbstverständliches nicht für selbstverständlich zu nehmen. Deshalb danke ich allen, die heute hier zu diesem Neujahrsempfang versammelt sind, da es wichtig ist, immer wieder andere zu motivieren, aufzustehen, sich einzubringen, mitzumachen – auch gegen Widerstände und gegen Häme. Es ist sehr leicht – so wie Bodo Ihrke das gesagt hat –, auf der Couch zu sitzen und über Misslungenes und Gelungenes zu richten. Es ist viel schwerer, mit anzupacken. Ich glaube aber, diejenigen, die es dann getan haben, merken zum Schluss auch, dass es nicht nur andere bereichert, sondern dass es auch sie selbst bereichert. Davon weiterzuerzählen – das ist jedenfalls mein Erleben –, kann auch zu etwas führen. Meine Damen und Herren, wieder einmal in der Stadt der Kindheit zu sein, ist sehr bewegend. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir diese Chance gegeben haben – trotz aller politischen Kontroversen. Das zählt viel. Das zeigt im Übrigen, dass in der Kommunalpolitik oft leichter parteiübergreifend gearbeitet wird als in der Bundespolitik. Aber nachdem ich jetzt viele Jahre lang auch Bundeskanzlerin einer Großen Koalition bin, darf ich Ihnen verraten, dass auch wir uns immer wieder zusammenraufen müssen. Als Bundeskanzlerin Deutschland in der Europäischen Union zu vertreten, bedeutet auch, viele Nächte damit zu verbringen, andere Sichtweisen zu verstehen. Sich immer wieder in die Lage des anderen hineinzuversetzen und über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, ist aber genau das, was Politik auch braucht. Theodor Fontane hat Templin in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ nicht besonders gut bedacht. Ich möchte ihn aber trotzdem zitieren, weil er zeitlos gesagt hat: „Das Beste aber, dem du begegnen wirst, das werden die Menschen sein“. Deshalb sage ich als Ehrenbürgerin Templins danke meiner Heimatstadt, danke, dass Sie mich ausgesucht haben, und auch danke all denen, die an meinem Leben mitgewirkt haben – durch persönliche Eindrücke, durch Bekanntschaften, durch Freundschaften – und mir damit auch das ermöglicht haben, was ich heute als Mensch sein kann. Das ist ein tiefer Dank aus ganzem Herzen. Herzlichen Dank.
in Templin
Rede der Kulturstaatsministerin zur Eröffnung der 69. Internationalen Filmfestspiele Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-zur-eroeffnung-der-69-internationalen-filmfestspiele-berlin-1578706
Thu, 07 Feb 2019 19:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort. – Anrede, Viele von Ihnen sind vor allem seinetwegen hier: Er verkörpert Standfestigkeit und aufrechte Haltung. Er bringt Filmstars aus der ganzen Welt zum Strahlen. Er wird dafür geküsst, getätschelt und geherzt. Ja, der Berliner Bär in Gold und Silber ist Deutschlands berühmtester Film-Botschafter. Und nur einer macht ihm dabei Konkurrenz: Das bist Du, lieber Dieter, und deshalb verdienst Du es, zur Eröffnung Deiner 18., unserer 69. Berlinale einmal auch als „Herr der Bären“ im Rampenlicht zu stehen! Standfestigkeit zeigst Du bei Schmuddelwetter vorm Berlinale Palast, politische Haltung bei der Programmgestaltung. Glamour verbreitest Du gut gelaunt mit schwäbischem Englisch. Und um die Küsschen, die Du in Deinen 18 Berlinale-Jahren auf prominente Wangen gehaucht hast, um diese Küsschen beneidet Dich ganz Deutschland. „Er schafft es, Nicole Kidman zum Lächeln zum bringen“, attestierte Dir mal anerkennend ein Jurymitglied. Unter Regisseuren gilt das offenbar als großes Kompliment. Das schönste Kompliment, verehrte Damen und Herren, kommt aber nicht aus unseren privilegierten Reihen hier. Es kommt aus den langen Reihen derer, die stundenlang vor den Berlinale-Ticketschaltern anstehen. Das schönste Kompliment sind 350.000 verkaufte Eintrittskarten jährlich. Das schönste Kompliment kommt von den Filmliebhabern, die eigens Urlaub nehmen, um vor den Berlinale-Verkaufsstellen zu campieren. Herzlich willkommen heiße ich auch sie, die „großes Kino“ zum Gemeinschaftserlebnis und die Berlinale zu einem Volksfest der Filmkunst machen! Ganz in diesem Sinne zieht Dieter Kosslick mit dieser 69. Ausgabe der Berliner Filmfestspiele noch einmal alle Register: 400 Beiträge aus 74 Ländern von Afghanistan bis Vietnam verhandeln Themen unserer Zeit, machen hinter abstrakten gesellschaftlichen Entwicklungen konkrete menschliche Schicksale sichtbar und lassen die Welt über sprachliche, kulturelle und weltanschauliche Grenzen hinweg ein Stück zusammenrücken. Dass weibliche und männliche Perspektiven dabei nach Möglichkeit gleichermaßen zur Geltung kommen sollten, ist einer jener hehren politischen Ansprüche, den die Berlinale 2019 einmal mehr einzulösen verspricht: mit 7 Regisseurinnen bei 17 Filmen im Wettbewerb; mit 49 Filmen von 49 Regisseurinnen in der Retrospektive (Danke dem Kurator Rainer Rother!); mit der großartigen Juliette Binoche als Jury-Präsidentin; und mit dem Ehrenbären für das Lebenswerk einer beeindruckenden Schauspielerin, für Charlotte Rampling. Eine beeindruckende Frau war es übrigens auch, die mit dem Berliner Bären eine der begehrtesten Trophäen der Filmkunst schuf: Die Bildhauerin Renée Sintenis feierte schon vor 100 Jahren als Künstlerin Erfolge – und als selbstbewusste Frau, die sich nicht um die gängigen Rollenvorstellungen scherte. „Jede Macht korrumpiert. Der geistige Mensch muss deshalb immer in der Opposition leben“, soll sie einmal gesagt haben. So ist „ihr“ Bär, der Goldene oder Silberne Berlinale-Bär, auch eine Anerkennung für jene Künstlerinnen und Künstler, die der Macht der herrschenden Verhältnisse in ihren Heimatländern die Kraft der Fantasie entgegensetzen und den Ehrgeiz haben, nicht Öl, sondern Sand im politischen und gesellschaftlichen Getriebe zu sein, vor allem dort, wo Willkür und Unrecht herrschen. Auch und ganz besonders für eine solche Filmkunst, die sich einmischt, hat Dieter Kosslick 18 Jahre lang den roten Teppich ausgerollt. Danke dafür, Dieter! Hätte ich (wie Du) einen schwarzen Hut, ich würde ihn zur heutigen Eröffnung Deiner letzten Berlinale vor Dir ziehen! So bleibt mir – und uns – nur, heiter mit Dir zu feiern! Und das werden wir … Auf eine erfolgreiche und inspirierende 69. Berlinale!
Sie verhandeln die Themen unserer Zeit und machen die menschliche Schicksale hinter abstrakten gesellschaftlichen Entwicklungen sichtbar – das ist es, was die auf der Berlinale gezeigten Filme aus aller Welt ausmacht, erklärte die Staatsministerin bei der Eröffnung der 69. Berlinale. Besonders erfreut zeigte sich Grütters darüber, dass das Programm weibliche und männliche Perspektiven gleichermaßen zur Geltung lassen komme.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnungsfeier der neuen Zentrale des Bundesnachrichtendienstes am 8. Februar 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-eroeffnungsfeier-der-neuen-zentrale-des-bundesnachrichtendienstes-am-8-februar-2019-in-berlin-1578762
Fri, 08 Feb 2019 11:30:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Herr Kahl, sehr geehrte ehemalige Präsidenten, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, sehr geehrter Herr Minister, liebe Staatssekretäre, meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, dass ich nach der Feier zum 60. Geburtstag des Bundesnachrichtendienstes im Jahr 2016 nun auch heute wieder dabei sein kann. Die Eröffnung der neuen BND-Zentrale hier in Berlin und damit einhergehend auch der Umzug weiter Teile des BND markieren einen Meilenstein in der Entwicklung des deutschen Auslandsnachrichtendienstes. Ich muss ganz ehrlich sagen: Dieser bescheidene Konferenzraum vermittelt nicht einmal eine Ahnung von dem, was sich hier eigentlich hinter den Pforten verbirgt. – Ich durfte eben bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sein. – Aber damit, würde ich sagen, könnte man jeden ausländischen Nachrichtendienst gut beeindrucken. Der neue Standort der BND-Zentrale könnte historischer kaum sein. Nur wenige Meter von hier entfernt befindet sich die Gedenkstätte für Günter Litfin – eines der ersten Todesopfer der Berliner Mauer. Und über die Chausseestraße selbst verlief die innerdeutsche Grenze. Ein paar Häuser weiter von hier entfernt, in der Chausseestraße 131, nahm der DDR-Liedermacher Wolf Biermann 1968 sein gleichnamiges Album auf. Er war von der SED mit einem Auftrittsverbot belegt worden. Die Staatssicherheit der DDR wollte ihn mundtot machen. Nur dank aus dem Westen eingeschmuggelter Aufnahmetechnik konnte Wolf Biermann in seiner Wohnung in der Chausseestraße eine neue Platte einspielen. Warum erwähne ich all das? Ich erwähne das, weil die Teilung Deutschlands quälend lange Wirklichkeit war. Europa und die Welt waren in zwei Blöcke geteilt. Und genau in diesem Spannungsverhältnis lag auch der Kernauftrag des BND, die Aufklärung des Ostens, begründet. Das endete mit dem Mauerfall, den wir ja in diesem Jahr schon zum 30. Mal feiern dürfen. Damit musste sich auch der BND ziemlich neu erfinden. Und ich darf heute sagen, dass er das auch geschafft hat. Anstelle der Blockkonfrontation des Kalten Krieges haben wir es heute mit einer oft sehr unübersichtlichen Welt, mit unklaren und sich auch ständig verändernden Kräfteverhältnissen zu tun. Der Frieden ist fragiler, als wir es uns nach dem Ende des Kalten Krieges erhofft hatten. Konflikte treten weltweit auf und können leicht eskalieren. Der Bundesnachrichtendienst hat den Wandel seines Auftrags seit dem Ende des Kalten Krieges erfolgreich angenommen. Heute beobachtet er für die Bundesregierung das Geschehen weltweit. In einer oft instabilen Weltordnung ist das wahrlich kein leichter Auftrag. Umso überzeugter bin ich davon, dass Deutschland einen starken und leistungsfähigen Auslandsnachrichtendienst dringender denn je braucht. Der Bundesnachrichtendienst leistet einen unverzichtbaren Beitrag für die Sicherheit und den Frieden in Deutschland. Und dafür bin ich sehr dankbar. Meine Damen und Herren, eine der erfolgreichsten Falschmeldungen der letzten Jahre lautete: „Legendärer Schauspieler Morgan Freeman gestorben.“ Diese Falschmeldung ist nur ein Beispiel dafür, wie sehr sich das Internet für die schnelle Verbreitung von Informationen eignet und wie häufig Informationen, wie wir alle wissen, manipulativ, nur halbwahr oder sogar gezielt als staatliche Propagandamaßnahme eingesetzt werden. Deshalb müssen wir lernen, auch mit den sogenannten Fake News als Teil einer hybriden Kriegsführung umzugehen. Aus meiner Sicht ist das eine der entscheidenden Weichenstellungen für die zukünftige Sicherheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland. Ich sage aus eigenem Erleben, dass man ja oft gar nicht glauben mag, was sich da abspielt. Aber wir müssen der Realität einfach ins Auge sehen; Sie in ganz besonderer Weise. Denn den Nachrichtendiensten kommt eine besonders wichtige Rolle zu. Eine schnelle Bewertung von Meldungen ist die Basis, um wichtige Fragen beantworten zu können. Welche Information stimmt? Was wurde manipuliert? Wohinter steckt gegebenenfalls die Propaganda einer staatlichen Organisation? Dies zu klären, ist eine der besonderen Herausforderungen, in der für mich auch ein Kern der zukünftigen Arbeit des BND liegt. Genauso brauchen wir den BND für die originäre Beschaffung belastbarer Meldungen. Unsere Botschaften und Konsulate weltweit beobachten die offen sichtbare Entwicklung in den jeweiligen Ländern. Der BND als Auslandsnachrichtendienst ist aber zugleich in der Lage, auch nachrichtendienstliche Mittel einzusetzen. Er arbeitet mit menschlichen Quellen oder sucht in den weltweiten Datenströmen gezielt nach sicherheitsrelevanten Informationen. Bei der Beschaffung exklusiver Informationen ist der BND bereits gut aufgestellt. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass er auch in Zukunft handlungsfähig bleibt und über angemessene Befugnisse verfügt. – Der Kanzleramtsminister hat mir gesagt, dass der Serverraum noch beeindruckender als das Atrium sei. – Wir werden also weiter daran arbeiten, dass das auch so bleibt. Lassen Sie mich nur zwei zentrale Themen nennen, die den BND mit Sicherheit auch in seiner neuen Zentrale erheblich beschäftigen werden. Erstens: die Lage in Syrien. Sie kann uns alle nur mit Sorge erfüllen. Der sogenannte Islamische Staat konnte in der Fläche glücklicherweise zurückgedrängt werden. Das heißt jedoch leider nicht, dass der IS schon verschwunden wäre. Er ist vielmehr zu einer asymmetrischen Kriegsführung übergegangen; und das bleibt natürlich auch eine Bedrohung. Syrien ist zum Spielball in einem Stellvertreterkrieg um Einflusssphären in einer strategisch wichtigen Region geworden. Von einem Frieden in Syrien sind wir leider – und das fast acht Jahre nach Ausbruch des Konflikts – nach wie vor weit entfernt. Deutschland wird weiterhin unermüdlich seinen Beitrag zu einer politischen Lösung für Syrien leisten. Wir sind dazu ja auch mit wichtigen Akteuren im Gespräch. Aber klar ist: Jedes Bemühen Deutschlands um eine friedliche Lösung in diesem Konflikt bedarf der belastbaren Einschätzung auch des BND. Welchem Akteur kann man trauen? Wie sind die aktuellen Grenzverläufe? Wohin wird der IS diffundieren? Ohne Informationen des BND könnten wir diese Fragen und viele andere nicht beantworten. Die Arbeit des BND gerade auch in Kriegs- und Krisenregionen ist somit essenziell für die deutsche Außenpolitik. Und leider ist Syrien ja nur eines von vielen Beispielen, denen wir weltweit begegnen. Das zweite zentrale Thema, das ich nennen möchte, ist die Cyberbedrohung. Wir wissen natürlich nicht erst seit der jüngsten Aufregung um illegal veröffentlichte Daten, dass der Schutz unserer IT-Strukturen immer wichtiger wird. Zudem sind auch viele Länder – nicht unbedingt unsere Freunde – hoch aktiv in der hybriden Kriegsführung; einem Krieg, der auch über das weltweite Netz ausgetragen wird. Auch hier brauchen wir einen starken BND, der die Cyberbedrohung aus dem Ausland für uns analysiert und rechtzeitig warnen kann. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund begrüße ich den Stellenaufwuchs und die aktuelle Einstellungspolitik des BND. In jeder Hinsicht gut ausgestattete Sicherheitsbehörden sind gerade beim Cyberthema zwingend erforderlich, damit es gar nicht erst zu gravierenden IT-Angriffen auf kritische Infrastrukturen in Deutschland kommen kann. Wenn ich von Einstellungspolitik und Stellenaufwuchs spreche, dann betrifft das ja nicht nur den BND, sondern auch andere Sicherheitsbehörden. Und ich freue mich, dass deren Chefs auch da sind, was für eine gute Kooperation aller Behörden spricht. Meine Damen und Herren, wie stellt sich Deutschland auf die schier endlosen Krisenherde ein? Man braucht ausnahmsweise keinen Auslandsnachrichtendienst, um zu erkennen, dass Deutschland auf multilaterale Zusammenarbeit angewiesen ist. Das ist evident. Wir sind ein Staat in Mittellage, ohne große Rohstoffvorkommen und mit einer hohen Außenhandelsquote. Die Antwort Deutschlands wird daher immer in internationalen Zusammenschlüssen zu liegen haben. Und deshalb bin ich zutiefst davon überzeugt, dass Multilateralismus die beste und nachhaltigste Form ist, um Konflikte zu lösen; und zwar nicht als Nullsummenspiel, sondern im Sinne eines fairen Interessenausgleichs für alle Beteiligten. Kaum ein Problem lässt sich noch allein national lösen. Zusammenarbeit ist daher der einzig sinnvolle Weg und liegt in unserem vitalen deutschen Interesse. Deutschland denkt und handelt multilateral. Gleichzeitig müssen und werden wir auch unsere eigenen Fähigkeiten stärken und ausbauen. Gerade weil wir ökonomisch stark sind, erwarten das auch andere auf der Welt von uns. Denn das ist eben kein Widerspruch zum multilateralen Bekenntnis. Im Gegenteil: Je leistungsfähiger wir sind, desto verlässlicher können wir auch unsere Zusagen in internationalen Organisationen und Bündnissen erfüllen. Wir wollen ein starker und verlässlicher Partner sein. Das beweisen auch die aktuell zwölf Auslandseinsätze der Bundeswehr, bei denen übrigens auch der BND eine wichtige Aufgabe hat. Der BND ist der deutsche Auslandsnachrichtendienst. Die internationale Kooperation mit seinen Partnerdiensten ist für ihn unabdingbar. Mit Frankreich verbindet uns, wie in jedem Politikfeld, auch auf Ebene der Nachrichtendienste eine ganz besonders enge Kooperation. Zusammen rufen wir gerade das „European Intelligence Network“ ins Leben, das eine gemeinsame strategische Kultur der Nachrichtendienste in Europa vorantreiben wird. Mit Großbritannien wollen und müssen wir unabhängig von der aktuellen Debatte um den Brexit die enge Zusammenarbeit mit den jeweiligen Nachrichtendiensten zum gegenseitigen Nutzen fortsetzen. Auch die Zusammenarbeit mit den amerikanischen Partnerdiensten, insbesondere beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus, ist von größter Bedeutung für uns; ich würde sogar „lebensnotwendig“ sagen. Die transatlantische Freundschaft ist und bleibt eine der wesentlichen Grundlagen unserer Sicherheit. Das sage ich auch ausdrücklich hier beim BND, der schon seine Entstehung den Vereinigten Staaten von Amerika verdankt. Meine Damen und Herren, bei Nachrichtendiensten sind wir, gerade in Deutschland, zu Recht auch hochsensibel. Ich sagte es zu Beginn: Hier in der Chausseestraße war noch vor 30 Jahren mit der Staatssicherheit der DDR ein anderer Geheimdienst aktiv. Er wurde gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt. Beim Bundesnachrichtendienst hingegen weiß ich, dass er fest auf dem Boden des Grundgesetzes steht, in ein enges Netz von Aufsicht und parlamentarischer Kontrolle eingebettet ist und seinen gesetzlichen Auftrag mit Augenmaß erfüllt. Deshalb bin ich dem BND und all seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für seine Arbeit überaus dankbar. Sie haben es nicht immer einfach. Das, was ich gesagt habe – „parlamentarische Kontrolle“, „eingebettet“ und „auf der Grundlage des Grundgesetzes“ –, wird ja nicht von allen immer und überall geteilt. Sie begegnen oft auch einem gewissen Misstrauen. Gesundes Misstrauen ist hilfreich. Übermisstrauisch zu sein, behindert aber die Arbeit. Deshalb darf ich Ihnen versichern – dass hier viele Ressorts der Bundesregierung vertreten sind, deutet auch darauf hin –, dass wir Sie unterstützen wollen, dass wir wissen, dass wir Sie brauchen, und dass wir auch wissen, dass viele von Ihnen einer Arbeit nachgehen, die alles andere als das ist, was wir aus dem normalen Alltag kennen. Deshalb habe ich auch bei der internen Veranstaltung vorhin den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein herzliches Dankeschön gesagt, auch den Familien, die das alles mittragen. Sie tun etwas dafür, dass Millionen von Deutschen sicher leben können. Dafür herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters auf dem Deutschen Produzententag
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-auf-dem-deutschen-produzententag-1578338
Thu, 07 Feb 2019 10:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort. – Anrede, Stellen Sie sich folgende Szene vor: ein Filmstudio in Hollywood; ein dunkler Saal, eine Leinwand, es läuft der Abspann eines deutschen Films. Das Licht geht an. Aus einem abgewetzten Sessel erhebt sich Steven Spielberg, um ihn herum sitzen frostig schweigend einige der großen amerikanischen Regisseure und Drehbuchautoren: „Warum“, fragt Spielberg, „warum macht ihr nicht solche spannenden und innovativen Streifen?“ Klingt nach einem schlechten Drehbuch? In den 1930er Jahren soll sich, so zumindest erzählt es eine Anekdote, Derartiges tatsächlich zugetragen haben. Es war der legendäre Produzent Irving Thalberg, der seine Leute einbestellt hatte, um ihnen Fritz Langs Thriller „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ zu zeigen und eben diese Frage zu stellen: Warum kommen solche Filme nicht von uns? Wenn heute Abend die 69. Internationalen Filmfestspiele eröffnen, dürfen wir uns zunächst einmal darüber freuen, dass drei deutsche Produktionen ins Rennen um den Goldenen und die Silbernen Bären gehen. Erfreulich ist auch, dass der Marktanteil deutscher Kinofilme 2018 vergleichsweise stabil geblieben ist – allerdings bei insgesamt rückläufigen Zahlen, die ich hier nicht im Detail ausbreiten muss. Sie wissen ja ebenso gut wie ich, dass 2018 kein berauschendes Kinojahr war– und dass der heiße Sommer und die Fußball-WM mit dem kläglichen Vorrunden-Aus der deutschen Mannschaft als Erklärungsansätze für den deutlichen Einbruch bei der Zahl der verkauften Kinokarten nur bedingt taugen. Zur Wahrheit gehört, dass wir 2018 nicht nur viel Sonne, sondern auch wenig zugkräftige Filme hatten – auch zu wenig zugkräftige Filme aus Deutschland. Zur Wahrheit gehört auch, dass es an zu wenig Geld in den Fördertöpfen nicht liegen kann, denn die sind gut gefüllt. In den vergangenen Jahren habe ich die kulturelle Produktionsförderung beinahe verfünffacht; ich habe den DFFF 2 neu eingeführt – beim DFFF reden wir insgesamt über eine Verdopplung der Fördermittel -, außerdem den GMPF unter das Dach der BKM geholt und ebenfalls deutlich erhöht, nämlich um 50 Prozent. Rechnet man alle Fördermaßnahmen zusammen, stehen mittlerweile jährlich rund 165 Millionen Euro allein für die Produktionsförderung von Kinofilmen und High End Serien bei der BKM zur Verfügung. Damit haben wir so viel Geld wie nie zuvor in der öffentlichen Filmförderung – und damit ist Deutschland im internationalen Standortwettbewerb vorne mit dabei, erst recht, wenn man bedenkt, dass durch die Kumulation mit Länderförderung und FFA-Förderung Förderquoten von 80 Prozent und mehr erreicht werden. Vor diesem Hintergrund dürfte es eigentlich nicht vollkommen abwegig erscheinen, was ich eingangs, frei nach Irving Thalberg, Steven Spielberg in den Mund gelegt habe: dass der deutsche Film international als stilbildend, vielleicht sogar als Konkurrenz zu Hollywood wahrgenommen werden könnte … . In den vergangenen Jahren haben wir hier, beim Deutschen Produzententag, vor allem über die filmpolitischen Erwartungen der Produzentenallianz an die Politik gesprochen, lieber Herr Thies, und wir sind uns sicherlich einig, dass die Stimme der Produzentenallianz nicht unerhört geblieben ist: Ich habe – mit eben jenen 165 Millionen Euro – die Produktionsförderung der BKM in den vergangenen drei Jahren nahezu verdreifacht. Lassen Sie uns deshalb heute in aller Freundschaft auch einmal über die Erwartungen sprechen, die mit der Erfüllung Ihrer Forderungen verbunden sind. Ich kann und will jedenfalls – bei aller Vorfreude auf die Berlinale und bei aller Wertschätzung für einzelne herausragende, deutsche Filme – nicht verhehlen, dass auch ich, wie viele andere, ein gewisses Missverhältnis zwischen Investition und Ertrag sehe: zwischen dem massiven, hart erkämpften Ausbau der deutschen Filmförderung einerseits und der Zug- und Strahlkraft des deutschen Films wie auch der Zahl deutscher Filmerfolge andererseits. Dies klar und deutlich auszusprechen, wird hier – dessen bin ich mir natürlich bewusst – ebenso wenig Beifall finden wie einst Irving Thalbergs dezenter Hinweis auf Filmkunst „made in Germany“. Aber der deutschen Filmwirtschaft ist langfristig ganz sicher nicht gedient, wenn wir so tun, als sei die öffentlich vorgetragene Kritik an der Förderbilanz vollkommen aus der Luft gegriffen, zumal es sich ja nicht um Einzelmeinungen schlecht informierter Nörgler und Ignoranten handelt. „Die Filmförderung fördert konsequent am Publikum und an den Kinos vorbei“, heißt es von Seiten der Kinobetreiber. „Hauptsache Sicherheit, Hauptsache keine Experimente“, auf diesen Nenner bringt ein vielfach ausgezeichneter Regisseur seine Kritik an der deutschen Filmförderung. Und in den Feuilletons liest man Sätze wie diese, ich zitiere: „Subventionen machen träge und nehmen den Antrieb, besser zu werden. Das gilt auch für die Filmindustrie, für die deutsche besonders.“ Man kann über die Berechtigung solcher Äußerungen trefflich streiten, meine Damen und Herren, aber eines ist klar: Wenn eine Branche derart massiv mit Steuergeld unterstützt wird wie die Filmbranche, darf und muss auch nach dem Nutzen dieser Förderung und gefragt werden – und zwar nicht nur nach dem Nutzen für die Produzenten, sondern auch nach dem Nutzen für das Produkt, den deutschen Film, und für seine Adressaten, das Kinopublikum – die steuerzahlenden Bürgerinnen und Bürger. Und wenn Aufwand und Nutzen nicht in einem ausgewogenen Verhältnis stehen, dann lohnt es sich, gemeinsam darüber nachzudenken, woran das liegt und wie sich das ändern lässt. Eben das will ich zusammen mit Ihnen, zusammen mit allen Beteiligten tun: im Dialog mit der gesamten Branche, mit den Produzenten, den Produktions-dienstleistern, mit Filmverleihern und Kinobetreibern. Deshalb werde ich in den nächsten Wochen zu einem Runden Tisch einladen, der noch im ersten Halbjahr dieses Jahres stattfinden soll. Um Missverständnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen: Genau wie Sie, verehrte Produzentinnen und Produzenten, möchte ich, dass die Fördertöpfe gut gefüllt bleiben, mindestens so gut wie sie es jetzt sind, um den Produktionsstandort Deutschland nachhaltig und dauerhaft international wettbewerbsfähig zu halten Schließlich habe ich dafür seit Beginn meiner ersten Amtszeit unermüdlich geworben und so manchen harten politischen Kampf geführt (und gewonnen). Diese filmpolitischen Erfolge werde ich verteidigen, darauf haben Sie mein Wort. Aber über die Verteilung der vorhandenen Mittel müssen wir reden: Wo müssen wir umsteuern? Welche Strukturen und Verfahren gehören auf den Prüfstand? Wo können wir unsere Ziele noch effektiver erreichen? Wie reagieren wir angemessen auf Veränderungen am Markt, ohne Bewährtes zu schwächen? Darüber hinaus gibt es ja auch weitere Themen, die der Branche unter den Nägeln brennen und die bei dieser Gelegenheit auch zur Sprache kommen können: der bevorstehende Brexit zum Beispiel. Im Moment ist noch nicht ersichtlich, wie genau er sich auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Filmwirtschaft auswirken wird. Im Falle eines „harten Brexits“ ohne ein Austrittsabkommen würden britische Bürger nicht mehr als EU-Bürger im Sinne der Fördermaßnahmen zählen. Das wird bei neuen Bewilligungen zu berücksichtigen sein. Auf Förderzusagen, die vor dem Brexit gegeben wurden, hat dies aber keine Auswirkungen. Wirkung würde ein harter Brexit aber auf den knallharten Wettbewerb der Standorte haben. Zwar bliebe den Briten der Zugang zu europäischen Fördertöpfen zukünftig verwehrt. Sie wären zukünftig aber auch nicht mehr an das EU-Beihilferecht gebunden und könnten ihre Förderungen somit noch deutlich anheben. Auch dies also ein Grund, über Verbesserungsmöglichkeiten für das deutsche Fördersystem nachzudenken… . Unabhängig von diesen Plänen für einen Runden Tisch arbeitet mein Haus bereits mit Hochdruck an der Vorbereitung der nächsten FFG-Novelle, in der nicht zuletzt der Erhalt des Kinos als Kulturort eine wichtige Rolle spielen wird, und – wie im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD vereinbart – an einem Zukunftsprogramm Kino, das noch 2019 mit ersten Maßnahmen anlaufen soll. Dazu sind wir seit Sommer 2018 im Gespräch mit den Berichterstattern der Regierungsfraktionen im Bundestag, der FFA sowie auch der Filmbranche und werden jetzt auch zügig das Gespräch mit den Ländern aufnehmen. Darüber hinaus tragen wir filmpolitisch auch den Entwicklungen des digitalen Zeitalters mit seinen neuen Erzählformen und -möglichkeiten Rechnung: Neue Serienformate von hohem künstlerischem Rang entstehen, deutschsprachige Regisseure und Autoren feiern damit Zuschauer- oder Festivalerfolge. Hier liegen enorme Chancen für die deutsche Filmproduktionswirtschaft. Deshalb haben wir 2018 nicht nur den GMPF übernommen und den Titelansatz schon 2019 erstmals erhöht, sondern auch dafür gesorgt, dass die für die wirtschaftliche Filmförderung insgesamt zur Verfügung stehenden Mittel flexibler und damit bedarfsgerechter eingesetzt werden können. So können DFFF II-Mittel, die nicht abfließen, bis zu einem gewissen Umfang der Produktion von High-End-Serien und auch dem DFFF I zugute kommen. Mit Blick auf die wachsende Bedeutung des digitalen Filmschaffens – insbesondere auf unsere international höchst anerkannten VFX-Firmen – haben wir den DFFF II für diese Belange außerdem noch besser nutzbar gemacht und prüfen im Moment, ob wir das auch bei der Serienförderung umsetzen können. Eine gesondert für VFX Produktionen herabgesetzte Einstiegsschwelle beim DFFF II musste in Brüssel angesichts der Vorgaben der Kinomitteilung hart durch BKM erkämpft werden. Dies haben wir aber gern auf uns genommen, weil uns der Erfolg des Filmstandortes Deutschland genauso am Herzen liegt wie Ihnen, liebe Produzentinnen und Produzenten. Nebenbei bemerkt: Am Dienstag habe ich mich mit Reed Hastings, dem Netflix CEO, getroffen, für den Filmstandort Deutschland geworben und mich unter anderem nachdrücklich dafür eingesetzt, dass Netflix künftig FFA-Abgabe zahlt, auf die Kinoauswertung Rücksicht nimmt und Kreative nicht zu lange durch Exklusivverträge vom Markt fernhält. Mit diesen Maßnahmen und den fortlaufenden Gesprächen, die mein Haus dazu mit der Branche führt, erkennen wir die kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung von High-End-Serienformaten an – wenn wir auch darauf achten müssen, dass High-End-Serienformate den Kinoformaten nicht das Wasser abgraben. Deshalb brauchen wir auch weiterhin klare Regeln in Form von Sperrfristen, die das Kino als Kulturort schützen. Wer von der Förderung profitieren möchte, muss sich an diese Regeln halten. Die Kinoleinwand darf nicht – Stichwort „Roma“ – zur bloßen Werbeplattform für VoD-Produktionen degradiert werden! Sie verdient weiterhin Wertschätzung als Bühne für „großes Kino“: für Filme, die berühren und bewegen, fesseln und erschüttern, für Filme, die im Gedächtnis bleiben, die Wahrnehmung verändern, Diskussionen anstoßen. Für solche Filme, für „großes Kino“ als Gemeinschaftserlebnis rollt die Berlinale heute Abend zum 69. Mal den roten Teppich aus, und deshalb freut es mich ganz besonders, dass Dieter Kosslick heute die Ehrenmitgliedschaft der Produzentenallianz verliehen bekommt, der sich um „großes Kino“ wahrlich verdient gemacht hat. Nicht nur hier, sondern auch in den Kinos landauf landab und auf den Festivals weltweit verdient Filmkunst „made in Germany“ mehr als eine Nebenrolle – ja, überall dort, wo aus Filmstoff Gesprächsstoff wird! Es muss ja nicht unbedingt Gesprächsstoff für Steven Spielberg sein …, aber schön wäre es doch, könnten wir an die goldenen Zeiten des deutschen Kinos anknüpfen, als deutsche Filme mit künstlerischen Wagnissen und Experimentierfreude selbst Hollywoodgrößen wie Irving Thalberg in Begeisterung versetzten… . Für „großes Kino“ und für eine herausragende Rolle des deutschen Films werde ich mich weiterhin stark machen, dafür steht die BKM weiterhin verlässlich an der Seite der deutschen Filmbranche! In diesem Sinne: auf eine erfolgreiche und inspirierende Berlinale!
Für die Filmförderung steht so viel Geld wie nie zuvor zur Verfügung. Und doch sei ein gewisses Missverhältnis zwischen Investition und Ertrag festzustellen, sagte Monika Grütters auf dem Deutschen Produzententag. Die Kulturstaatsministerin plant deshalb, Vertreter der Branche zu einem Runden Tisch zur Filmförderung einzuladen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutsch-Japanischen Wirtschaftsdialogforum am 5. Februar 2019 in Tokyo
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-deutsch-japanischen-wirtschaftsdialogforum-am-5-februar-2019-in-tokyo-1577074
Tue, 05 Feb 2019 15:21:00 +0100
Tokyo
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Schürmann, sehr geehrter Herr Kempf, sehr geehrter Herr Nakanishi, meine Damen und Herren, ich freue mich, heute hier dabei zu sein. Wir sind ja auch mit einer Wirtschaftsdelegation unter der Leitung von Herrn Staatssekretär Nussbaum nach Tokyo gekommen. Dass dies der Ausgangspunkt dieses Wirtschaftsforums und gestern auch eines Treffens mit Premierminister Shinzō Abe war, ist ein gutes Zeichen für die deutsch-japanischen Wirtschaftsbeziehungen insgesamt. Sie haben nun schon sehr stark gearbeitet; da ist es nicht ganz einfach, wenn man dann am Ende hinzukommt und noch irgendeine politische Rede hält. Ich darf sagen, dass das, was Sie in den zwei Panels erarbeitet haben, sicherlich sehr wichtig ist und dass wir sehr froh sind, dass das EU-Japan-Freihandelsabkommen abgeschlossen wurde. Es ist ganz interessant: In Deutschland gab es gegenüber Freihandelsabkommen in einigen Teilen der Gesellschaft eigentlich eine ziemlich große Skepsis. Man hat das gemerkt beim Freihandelsabkommen mit Kanada und noch mehr in der Diskussion über ein Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika, das ja nicht fertigverhandelt wurde. Seitdem der neue amerikanische Präsident eine doch etwas robustere Handelspolitik betreibt und wir mehr über Zollauflagen als über eine Abschaffung von Zöllen reden, haben Freihandelsabkommen inzwischen Konjunktur und haben sich in den Augen unserer Gesellschaft in etwas Gutes gewandelt. Ich finde es auch sehr beeindruckend, dass die japanische Regierung nach dem Ausscheiden der Vereinigten Staaten von Amerika aus der TPP einen Teil der TPP gerettet hat und damit auch noch einmal eine wichtige Handelszone geschaffen hat. Wenn man sich das überlegt – der EU-Japan-Raum umfasst fast 600 Millionen Menschen mit fast 40 Prozent des globalen Handels –, dann weiß man auch: Es geht nicht um irgendein kleineres Abkommen, sondern wirklich um neue Chance in jede Richtung. Ich hoffe, dass wir damit auch Entwicklungen sehen, die wir bisher so nicht gesehen haben und die zu einer Intensivierung unseres Handels in beide Richtungen führen werden. Es gab eine ganze Reihe von Sorgen auch der deutschen Wirtschaft auf dem Weg zu solchen Handelsabkommen. Das ist ganz normal, denn wir sind ja in einigen Bereichen auch Wettbewerber. Insgesamt hat sich dann aber herausgestellt – das war auch schon unsere Erfahrung mit dem Freihandelsabkommen mit Südkorea –, dass die Handelswege intensiver werden und man sich damit auch besser kennenlernt. Ich erwarte eine ähnliche Entwicklung auch vom EU-Handelsabkommen mit Japan. Wir als Europäische Union werden durch den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union kleiner werden. Sie haben heute auch darüber geredet – mit Recht darüber geredet. Auf der einen Seite drängt die Zeit, um Sicherheit für die Wirtschaft zu schaffen. Ich verstehe das, was Herr Kempf gesagt hat – also dass das ein sehr unschöner Zustand ist, zumal wir innerhalb des europäischen Binnenmarkts hochvernetzte Produktionsmechanismen haben, die auf Just-in-time-Lieferung basieren und insofern langwierige Zollkontrollen und ungeregelte Vorgänge nicht ertragen können. Politisch gesehen ist auf der anderen Seite ja immer noch Zeit – zwei Monate sind zwar nicht lang, aber es ist einfach noch Zeit. Diese Zeit soll auch von allen Seiten genutzt werden. Aber dabei wäre es schon sehr wichtig zu wissen, was genau sich die britische Seite hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Europäischen Union vorstellt. Denn von der Zollunion bis hin zu sehr engen Handelsabkommen kann man sich natürlich alles vorstellen. Die große Herausforderung besteht darin, dass Großbritannien uns mit seinem Austritt noch ein spezielles Problem mitbringt: Das ist das Problem der Situation zwischen Nordirland als Teil Großbritanniens und der Republik Irland als verbleibendem Mitglied der Europäischen Union. Dazwischen gibt es eine Grenze, die heute, da beide zum Binnenmarkt gehören, keine Grenze ist und nach Maßgabe des „Good Friday Agreements“ auch nach dem EU-Austritt Großbritanniens keine Grenze sein soll, aber bei Verlassen des Binnenmarkts natürlich eine Grenze werden muss. Diese komplizierte Sache erschwert den Austritt Großbritanniens im Vergleich zu jedem anderen Land sehr stark. Aber weil es ein so präzise zu beschreibendes Problem ist und weil Großbritannien ja auch aus der Europäischen Union austreten will, sollte man eigentlich für ein so präzise zu beschreibendes Problem nach menschlichem Ermessen auch eine Lösung finden. Diese Lösung hängt aber eben sehr ab von der Frage zu den zukünftigen Beziehungen Großbritanniens zur Europäischen Union und von der Art des Handelsabkommens, das wir miteinander schmieden. Wir wollen – das will ich hier ausdrücklich hinterlassen – mit Großbritannien eng zusammenarbeiten – wirtschaftlich, außenpolitisch, sicherheitspolitisch, verteidigungspolitisch. Theresa May hat immer wieder betont: Großbritannien verlässt die Europäische Union, bleibt aber ein europäisches Land. Ich darf Ihnen auch berichten, dass in den letzten zwei Jahren, in denen wir uns ja sehr oft mit dem Verlassen der Europäischen Union durch Großbritannien befasst haben, in vielen Bereichen die Zusammenarbeit enger war als in vielen Jahren zuvor, in denen Großbritannien Mitglied der Europäischen Union war. Das heißt also, die Beziehungen sind eigentlich zum heutigen Zeitpunkt sehr, sehr gut. Und nach meiner Maßgabe sollen sie es auch bleiben. Ich glaube, unsere beiden Länder haben sehr große Chancen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Sie haben zum Teil gleiche Ausgangsbedingungen: Wir sind Demokratien, wir sind einigermaßen strukturiert organisiert, wir beide haben die Herausforderung des demografischen Wandels. Insofern gibt es eigentlich viele, viele Möglichkeiten der Kooperation. Wir sind herausgefordert sowohl durch die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten von Amerika, wenn ich an die Hightech-Branchen, Digitalkonzerne und Plattformen denke, als auch durch China, das eben auch sehr affin in Richtung Plattformen und Big-Data-Management ist. Ich glaube, weder sind wir Länder, in denen, so wie in Amerika, der größte Teil der Daten dem privaten Bereich gehört, noch sind wir Länder wie China, wo alles der Staat bekommen soll. Das heißt also, auch die Frage von Datenethik und Datenschutz ist etwas, das beide Länder interessiert. Deshalb bin ich auch sehr dankbar dafür, dass Shinzō Abe als Gastgeber des diesjährigen G20-Treffens diese Frage der Datenethik und des Umgangs mit Daten auf die Tagesordnung der G20 setzen will. Denn das sind ja Dinge, die wir letztendlich nur international gemeinsam voranbringen können. Wenn da jeder sein eigenes Süppchen kochen würde, dann würde das viel kaputt machen. Und wir merken ja auch: einzeln kommt man nicht allzu weit. Deshalb war es zum Beispiel sehr interessant, dass auch das Weltwirtschaftstreffen in Davos in diesem Jahr die Frage einer zukünftigen internationalen Ordnung in Zeiten der Digitalisierung auf die Tagesordnung gesetzt hat. Der japanische Premierminister hat dort gesagt, dass er genau dies in Osaka auch voranbringen will. Damit bin ich bei einer weiteren Gemeinsamkeit unserer Länder: Wir versuchen, eine multilaterale Ordnung zu stärken und aufrechtzuerhalten. Wir wissen, dass bestimmte Institutionen wie zum Beispiel die WTO reformiert werden müssen. Wir wissen, dass die Reformen der internationalen Organisationen oft zu langsam vorankommen. Ich denke dabei zum Beispiel daran, wie lange es gedauert hat, zur neuen Quotenregulierung des IWF zu kommen. Die Weltbank hat es glücklicherweise geschafft, ihr Kapital aufzustocken. Aber die Gefahr, wenn sich diese Organisationen nicht schnell genug entwickeln und reformieren, ist natürlich, dass dann andere auch solche Institutionen gründen. Wenn die Weltbank etwas schneller ihr Kapital erhöht hätte, hätte es vielleicht die AIIB, die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank in China, gar nicht gegeben. Wenn die Quotenreformen auch in Zukunft nicht schnell genug geschehen, dann werden Parallelinstitutionen entstehen. Das kann eigentlich nicht in unserem Interesse sein. Deshalb sollten wir die multilateralen Organisationen hegen und pflegen. Sie sind letztlich alle als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs entstanden – das gesamte UN-System und alles, was sich darum herum rankt. Dieses System steht heute unter Druck. Japan und Deutschland sind allerdings zwei Länder, die dieses multilaterale System weiter aufrechterhalten und entwickeln wollen. Interessant ist, dass Sie sich auch mit dem Bereich der digitalen Landwirtschaft beschäftigt haben, der ja auch ein sehr wichtiger Bereich ist. Wir haben dafür jetzt auch erste Initiativen ergriffen. Unsere Landwirtschaftsministerin hat auf der Grünen Woche in Berlin mit 75 Landwirtschaftsministern ein digitales Forum entstehen lassen, um sich darüber auszutauschen, was man auf diesem Gebiet machen kann. Wir haben natürlich großen Bedarf, mit Ihnen in den verschiedenen Bereichen über Plattformwirtschaft, künstliche Intelligenz und Big-Data-Management zu sprechen. Da bietet sich der Gesundheitsbereich auf jeden Fall an. Wir sind auch sehr interessiert an der japanischen Vorstellung der Gesellschaft 5.0, die ja sozusagen über die Industrie 4.0 hinaus auch das Leben des Menschen in der Gesellschaft in den Blick nimmt. Worüber wir uns alle bzw. worüber wir uns in Deutschland – ich weiß nicht, wie es in Japan ist – sehr viele Gedanken machen, ist, wie wir angesichts der Entwicklung der Robotik und angesichts der Entwicklung der künstlichen Intelligenz unsere Bildungsarbeit richtig ausrichten und uns auf die Berufe der Zukunft ausreichend einstellen. Wir haben zum Beispiel einen riesigen Mangel an Fähigkeiten bei der künstlichen Intelligenz. Wir werden in Deutschland daher hundert neue Lehrstühle im Rahmen unserer KI-Strategie an den Universitäten ansiedeln. Wir erleben, dass die, die in der Entwicklung der künstlichen Intelligenz weiter vorne sind, uns mit Freude unsere Talente abwerben – zum Teil ist das auch geradezu ein Run zwischen den bestzahlenden Anbietern. Uns hierüber mit Japan auszutauschen, könnte auch von großem Interesse sein. Von deutscher Seite aus kann und darf ich Ihnen dieses Angebot jedenfalls machen. Es gibt 450 Firmen aus Deutschland, die sich in Japan engagieren. Ich lade alle Vertreter der japanischen Unternehmen ein, sich auch in Deutschland heimisch zu fühlen. Wir sind ein offener Markt, wir brauchen Sie und wollen Sie. Und wo immer Sie gemeinschaftliche Projekte auch durch diesen Workshop entwickeln konnten, sei es sehr gewünscht. Ich danke natürlich auch der Kammer, die wahrscheinlich so etwas wie ein Nukleus ist, um all diese Dinge zusammenzuhalten. Und ich danke auch der Botschaft, die auf ihre Art und Weise die deutsch-japanischen Bedingungen und Kooperationsmöglichkeiten stärkt. Im Grunde liegt zwischen uns geografisch ein großes Land: Das ist Russland. Wir fliegen zehn Stunden lang darüber hinweg. Aber ansonsten sind wir fast Nachbarn, wenn auch mit etwas unterschiedlichen Blickwinkeln auf verschiedene Ozeane. Es gibt jedenfalls gute Gründe für uns, noch enger zusammenzuarbeiten. Herzlichen Dank dafür, dass Sie das heute hier organisiert haben.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters beim Parlamentarischen Abend „Festivals und popkulturelle Vielfalt“ des Verbunds bundesweiter Musikfestivals und der Initiative Musik
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-beim-parlamentarischen-abend-festivals-und-popkulturelle-vielfalt-des-verbunds-bundesweiter-musikfestivals-und-der-initiative-musik-1575936
Tue, 29 Jan 2019 20:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Aus dem Jahr 1969 ist ein Satz überliefert, der in die Musikgeschichte eingegangen ist: „Verstehe ich Dich richtig“, fragte damals in einem New Yorker Restaurant ein fassungsloser Vater seinen Sohn, „verstehe ich Dich richtig – ihr wollt ein Konzert veranstalten auf einem Acker, der hundert Meilen von New York entfernt liegt?“ – Ja, genau das wollten sie: John Roberts, der Sohn jenes besorgten Vaters, und seine Mitstreiter. Finanziell und organisatorisch endete dieser Plan im Desaster. Doch der Mythos „Woodstock“ lebt bis heute. In diesem Jahr, im Jahr 2019, feiert die Mutter aller Musikfestivals 50. Geburtstag und steht damit einmal mehr im medialen Rampenlicht – und mit ihr auch die Kräfte, die gemeinsame Musikleidenschaft freisetzen kann. Von dieser Leidenschaft leben auch die bundesweiten Musikfestivals, die hierzulande die Liebe zu Rock, Pop und Jazz zelebrieren – professionell organisiert und solide finanziert allerdings, und zum Glück auch nicht auf Äckern, die sich in kürzester Zeit in Schlammwüsten verwandeln. Man tritt den Organisatoren des legendären Woodstock-Festivals deshalb gewiss nicht zu nahe, wenn man den Macherinnen und Machern der c/o Pop in Köln, der Pop-Kultur in Berlin, der jazzahead! in Bremen und des Reeperbahn Festivals in Hamburg wesentlich höhere Verdienste um eine prosperierende Musikwirtschaft und um die musikkulturelle Vielfalt bescheinigt als den Begründern jener Legende, die zum kollektiven Gedächtnis aller Rock- und Popmusikliebhaber gehört. Sie alle, liebe Festivalmacherinnen und -macher, begeistern mit den Künstlerinnen und Künstlern, die Sie ins Rampenlicht holen, nicht nur alle Jahre wieder ebenso zuverlässig wie engagiert eine treue Fangemeinde. Sie haben Ihre Festivals darüber hinaus auch als Trendschmieden und Türöffner für Talente, als Branchentreffs und Bühnen für den kulturellen Austausch etabliert. In den vergangenen Jahren haben Sie außerdem Ihre unterschiedlichen Profile klug geschärft und sich programmatisch wie auch in der Wahl der Veranstaltungsdaten voneinander abgegrenzt, was – im Sinne aller – sowohl zur Entschärfung einer etwas unglücklichen innerdeutschen Konkurrenzsituation beigetragen, als auch der facettenreichen Festivallandschaft hierzulande und dem Musikstandort Deutschland insgesamt gutgetan hat. Ja, als Verbund können Sie mittlerweile für sich in Anspruch nehmen, die popkulturelle Vielfalt unseres Landes zu repräsentieren – die gemeinsame Veranstaltung heute steht ja auch ganz in diesem Zeichen. Darüber freue ich mich sehr – vielen Dank für die Einladung! Und noch mehr freut es mich, dass dieses Miteinander sich ganz offensichtlich auszahlt. Angesichts der Erfolge im Verbund will ich Sie ausdrücklich darin bestärken, im eigenen Interesse weiterhin nicht ausschließlich das kurzfristige Eigeninteresse, sondern auch die langfristigen gemeinsamen Ziele den „Ton angeben“ zu lassen. Damit bereiten Sie im Übrigen auch den Boden für eine Bundeskulturpolitik, die in der Musikförderung längst nicht mehr allein klassische Musik, sondern auch Rock, Pop und Jazz zum Klingen bringt. Diese Genres gewinnen in der Bundeskulturförderung umso mehr an Bedeutung, je deutlicher sichtbar (und hörbar!) ihr Beitrag zur musikkulturellen Vielfalt ist, und genau das ermöglicht Ihr Verbund. So fördert der Bund nicht nur die einzelnen Festivals, sondern hat mit der Initiative Musik auch eine zentrale Fördereinrichtung für Pop, Rock und Jazz entwickelt, deren Mittel in diesem Jahr bei insgesamt 13 Millionen Euro liegen – eine Summe, die man erst recht zu schätzen weiß, wenn man bedenkt, dass die Förderung für diese Genres vor 20 Jahren bei der Gründung der BKM–Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien insgesamt gerade einmal 50.000 Euro pro Jahr betrug. (Den wirtschaftlich wie auch kulturell ertragreichen institutionellen Schulterschluss mit der Musikwirtschaft haben wir beim 10jährigen Jubiläum der Initiative Musik vor ein paar Monaten ja auch gebührend gefeiert.) Die Initiative Musik wird die zusätzlichen Mittel nutzen, um bestehende Förderbereiche wie etwa die Künstlerförderung und den Bereich Export zu stärken und neue Felder zu erschließen – Stichwort „Label- und Verlagsförderung“. Was die Perspektiven für die Fortschreibung der Förderung aus meinem Kulturetat betrifft, kann ich Ihnen versichern, dass ich alles tun werde, um auch in der Haushaltsaufstellung für 2020 gute Ergebnisse für diesen Bereich zu erzielen – und damit meine ich selbstverständlich auch die Förderung der heute hier vertretenen Festivals. Den Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag danke ich herzlich für ihre großartige Unterstützung und die ausgezeichnete Zusammenarbeit. Ich hoffe, dass ich auch in Zukunft darauf zählen kann – und dass alle beteiligten Bundesländer ebenso einen angemessenen Beitrag zur Finanzierung „ihrer“ Festivals leisten. Auch diesem Anliegen können Sie übrigens mit der starken Stimme eines Verbunds mehr Gehör und öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen, meine Damen und Herren, als jedes einzelne Festival es für sich allein könnte. Ihre starke Stimme ist, last but not least, auch gefragt, wenn es darum geht, Haltung zu zeigen. Das tun Sie im Sinne der Kunstfreiheit, indem Sie musikalischen Wagnissen und künstlerischen Experimenten eine Bühne bieten und auch jenseits des Mainstreams Musikbegeisterung zelebrieren. Haltung ist aber auch gefragt, wenn die Kunstfreiheit missbraucht wird, um Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Rassismus oder Gewaltverherrlichung zu verbreiten. Wenn solche Texte auf Schulhöfen zum „guten Ton“ gehören, darf die Branche sich nicht taub stellen! In diesem Sinne fand ich das Aus für den Musikpreis ECHO – für einen Preis, der das Klingeln der Kassen zum alleinigen Maßstab künstlerischer Preiswürdigkeit werden ließ – nur konsequent. Der Deutsche Bundestag hat meinem Haus die Möglichkeit gegeben, über die Initiative Musik andere Formen einer bundesweiten Anerkennung und Würdigung kultureller Leistungen im popmusikalischen Bereich zu überlegen und auch umzusetzen. Wie ich höre, hat diese Initiative im Bereich Jazz erfreulicherweise bereits ein breites ECHO gefunden …. .Jedenfalls weiß ich, dass sowohl die Initiative Musik wie auch die hier vertretenen Festivals sich intensiv und differenziert mit der Frage des Umgangs mit gewaltverherrlichenden, homophoben, frauenfeindlichen oder rassistischen Texten auseinandersetzen. Dafür danke ich Ihnen herzlich und erneuere gerne mein Angebot, sinnvolle Maßnahmen öffentlichkeitswirksam zu unterstützen. Gespür und Haltung sind darüber hinaus auch mit Blick auf faire Chancen für Künstlerinnen und für Frauen in Führungspositionen gefragt. Zwei der vier Leitungen der hier vertretenen Festivals sind mit Frauen besetzt – das ist vorbildlich. Die aus meinem Etat geförderte Studie „Frauen in Kultur und Medien“ des Deutschen Kulturrats hat allerdings vor zweieinhalb Jahren offenbart, dass die Sparte Musik, was faire Chancen für Frauen angeht, erheblichen Nachholbedarf hat. In der Frauenförderung ist also durchaus noch Musik drin, wenn es darum geht, die popkulturelle Vielfalt zum Klingen zu bringen. Insbesondere das Pop-Kultur-Festival geht hier mit gutem Beispiel voran. Dafür vielen Dank, liebe Frau Lucker! Bei diesen Themen will ich es mit Blick auf die Uhr auch bewenden lassen. Politischen Gesprächsstoff für diesen ersten Parlamentarischen Abend des Festivalverbundes gibt es jedenfalls zweifellos genug. Und so lohnt sich ein Rückblick auf das Jahr 1969 in diesem Zusammenhang dann vielleicht doch …: Mag Woodstock auch in musikwirtschaftlicher Hinsicht kein Maßstab sein – Kronzeugin für die Kraft der Musik ist die „Mutter aller Festivals“ mit ihrem Einfluss auf die Friedens- und Umweltbewegung an ihrem 50. Geburtstag allemal. „Woodstock gab ein weltweites Signal: Wir haben die Kraft, etwas zu verändern.“ So hat es der Direktor der Pop-Akademie Baden-Württemberg, Udo Dahmen, einmal auf den Punkt gebracht. In diesem Sinne: Auf die Kraft, etwas zu verändern! Dazu wünsche ich Ihnen allen inspirierende Gespräche!
„Trendschmieden“ und „Türöffner für Talente“, das sind die deutschen Musikfestivals nach Ansicht der Kulturstaatsministerin. Grütters versicherte deshalb in ihrer Rede, sie werde alles dafür tun, auch in der Haushaltsaufstellung für 2020 gute Ergebnisse zur Förderung der Musikfestivals aus ihrem Etat zu erreichen. Zugleich hoffe sie, dass „alle beteiligten Bundesländer ebenso einen angemessenen Beitrag zur Finanzierung ‚ihrer‘ Festivals leisten.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Auszeichnung mit dem
J. William Fulbright Prize for International Understanding 2018 am 28. Januar 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-auszeichnung-mit-dem-j-william-fulbright-prize-for-international-understanding-2018-am-28-januar-2019-in-berlin-1574512
Mon, 28 Jan 2019 18:31:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrte Frau Schmider, sehr geehrter Herr Philipp, Herr Bader, Herr Schmidt, sehr geehrte Frau Amanpour, sehr geehrter Herr Botschafter Grenell, meine Damen und Herren, liebe Fulbright Community, werte Gäste, das ist ein bewegender Moment. Ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie zum Teil eine sehr weite Reise auf sich genommen haben, um mich und damit ja ein Stück weit auch Deutschland hier zu ehren. Sie haben das wunderbar choreografiert. Mit Herrn Pauser ist jemand hier, der aus meinem Wahlkreis kommt. Greifswald gehört dazu. Es gibt wirklich bewegende Geschichten darüber, wie es heute möglich ist, dass ein Ort – zugegeben: eine ehrwürdige Hansestadt; aber eben ein Ort in Vorpommern – in die Welt eingemeindet ist. Dann natürlich die Grüße von Renée Fleming, deren Gesang ich so schätze. Es ist wunderbar, auch sie sozusagen unter uns zu haben. Und dann Sie, liebe Frau Amanpour, mit Ihrer Laudatio. Sonst sieht man sich nur im Fernsehen und meistens aus der Entfernung. Danke dafür, dass Sie heute hier sind und meine politische Arbeit gewissermaßen eingeordnet haben. Der Fulbright-Preis steht exemplarisch dafür, wie wichtig internationale Verständigung ist. Verständigung allein ist, wie man in der Mathematik sagen würde, nicht hinreichend, aber notwendig für ein friedliches Zusammenleben – im Kleinen genauso wie im Großen. William Fulbright hatte als junger Stipendiat und Student in Oxford selbst erlebt, wie über Grenzen und Kontinente hinweg durch Begegnung und Verständigung letztlich Verständnis und Vertrauen entstehen können. Mit dieser Erfahrung hat er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ein Programm initiiert, das bis heute zu den erfolgreichsten Austauschprogrammen zählt, die wir kennen. Ich finde, wir müssen uns immer wieder in diese Zeit hineinversetzen – kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Eigentlich war es eine Zeit, in der wir erwarten konnten, dass Hass, dass missliche Gefühle die Oberhand gewinnen würden. Doch es gab Menschen – und von ihrem Wirken zehren wir heute noch –, die in dieser katastrophalen Situation – aus der Perspektive der Deutschen mit Blick auf das, was sie angerichtet hatten – Versöhnung und Verständigung möglich gemacht haben. Verständigung und Verständnis lassen sich durch Staaten und Programme fördern, aber sie lassen sich nicht vorschreiben. Deshalb braucht es immer Menschen, die sich für andere mit ihren Sichtweisen und Erfahrungen offen zeigen. Es braucht Schüler, Studierende, Professoren und Berufstätige aller Art, die den Mut haben, sich auf Neues einzulassen, Fremdsprachen zu lernen, in anderen Ländern zu leben, zu arbeiten und sich dort etwas aufzubauen. Was für ein Erfolgserlebnis ist es, wenn das gelingt – vor allem dann, wenn aus neuen Bekanntschaften Freundschaften werden. Solche Erfahrungen prägen ein ganzes Leben lang. Es bleiben Offenheit gegenüber anderen Kulturen, Sympathie für andere Länder und auch ein Gefühl der Dankbarkeit für die Chance der Erweiterung des eigenen Horizonts. Wenn man einmal irgendwo anders ist, dann kann man seine Vorurteile eben nicht mehr so pflegen, sondern dann muss man mit der Realität leben. Auge in Auge sagt sich manches viel schwieriger als aus der Distanz; das kennen wir alle. Ich denke, dass diese Erfahrungen gerade heute, in unserer Zeit, wieder auf die Tagesordnung müssen und dass wir darüber reden müssen. Denn wer sich andernorts auf Land und Leute einlässt, wird dort ja auch als Botschafter wahrgenommen, der dem Leben in seiner Heimat Stimme und Gesicht verleiht. Umgekehrt hat, wer wieder nach Hause zurückkehrt, im Gepäck auch einen neu gewonnenen Erfahrungsschatz, den er mit anderen teilen kann. Das heißt, jeder einzelne gelungene Austausch fördert das Kennen- und Verstehenlernen zwischen unseren Ländern. Jeder Kontakt, jede Freundschaft ist ein Band im Netz internationaler Beziehungen. Senator Fulbright glaubte fest an eine solche Bürgerdiplomatie – an die Idee, dass nicht nur Politiker und Diplomaten zum Frieden beitragen, sondern alle Bürgerinnen und Bürger, die grenzüberschreitend freundschaftliche Beziehungen aufbauen und pflegen. Das sagt sich so leicht. Doch hinter dieser Weltoffenheit steht eine große kulturelle Leistung – eine Leistung, die gerade auch Amerikaner und Deutsche immer wieder unter Beweis stellen. So sehen viele US-Bürger in Deutschland eine zweite Heimat. Allein in Berlin leben etwa 20.000 Amerikaner. 10.000 Deutsche studieren an amerikanischen Hochschulen und sogar noch mehr junge Amerikaner bei uns, nämlich 12.600. Amerikaner und Deutsche studieren, forschen und arbeiten miteinander. Damit beleben und erneuern sie unsere Beziehungen jeden Tag. Dazu trägt das Fulbright-Programm entscheidend bei. Der Austausch mit Deutschland ist besonders intensiv. Über 46.000 Stipendien hat die Fulbright-Kommission an Deutsche und Amerikaner bislang vergeben. Daran lässt sich auch das große Interesse füreinander ablesen. Es kommt eben nicht von ungefähr, dass die Vereinigten Staaten und Deutschland einander in Partnerschaft und Freundschaft verbunden sind – und das seit nunmehr über 70 Jahren. Bereits 1946, nur ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs, startete das Fulbright-Programm. Im selben Jahr hielt der damalige Außenminister James Francis Byrnes in Deutschland eine Rede, die – das war 1946 – mit den Worten endete – ich zitiere: „Das amerikanische Volk wünscht, dem deutschen Volk die Regierung Deutschlands zurückzugeben. Das amerikanische Volk will dem deutschen Volk helfen, seinen Weg zurückzufinden zu einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedliebenden Nationen der Welt.“ Es waren Worte, die als „Speech of Hope“ bekannt wurden: Hoffnung auf Zukunft für ein Land, das von einem Krieg zerstört war, den es selbst entfesselt hatte; Hoffnung für ein Land, das staatlich, wirtschaftlich und moralisch am Boden lag. Warum aber sollte diesem Land, dem vormaligen Kriegsgegner, der so viel Leid über die Welt gebracht hatte, zu einer besseren Zukunft verholfen werden? Nachvollziehbare Bedenken und Zweifel gab es mehr als genug. Dass die Antwort dennoch positiv ausfiel, war außerordentlichem Mut und politischer Weitsicht zu verdanken. Deutschland sollte sein Schicksal wieder in die eigenen Hände nehmen. Es sollte eine Demokratie aufbauen. Es sollte so zu einem Partner heranwachsen, der Teil einer freiheitlichen und prosperierenden europäischen Realität ist. So hat unser Land in besonderer Weise erfahren, wie wichtig Zutrauen und Vertrauen sind. Das ist es, was die Vereinigten Staaten und auch die anderen westlichen Alliierten Deutschland entgegenbracht haben; und zwar in Wort und Tat. Das Fulbright-Programm ist Ausdruck dessen. Ich erinnere an dieser Stelle etwa auch an den Marshall-Plan und an die vielen alliierten Soldaten, die im Kalten Krieg in Deutschland stationiert waren. Denken wir an die Luftbrücke, die vor 70 Jahren das abgeriegelte Berlin mit dem Notwendigsten versorgte und die Hoffnung der Stadt auf Freiheit am Leben erhielt. Unvergessen bleibt auch das legendäre Bekenntnis des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy: „Ich bin ein Berliner.“ 2019, am 9. November, jährt sich der Berliner Mauerfall zum 30. Mal. Wir befinden uns hier an einem symbolträchtigen Ort, nämlich in der Nähe des Brandenburger Tors. Dieses jahrzehntelang geschlossene und nun fast 30 Jahre offene Tor ist ein Symbol – ein Symbol für die Freiheit dieser Stadt, für die Wiedervereinigung Deutschlands, für die Überwindung der Teilung Europas und dafür, dass dies alles gelingen konnte, weil sich unsere amerikanischen Freunde unermüdlich für ein freies Europa ausgesprochen und dieses Europa stark gemacht haben. Wir Deutsche werden das nicht vergessen. Als ich jüngst aus traurigem Anlass in Washington war, zur Beerdigung von George Bush, konnten wir uns noch einmal daran erinnern, dass es unter den westlichen Alliierten ganz wesentlich er war, der sich zusammen mit Helmut Kohl für die Deutsche Einheit eingesetzt und uns damals „Partnership in Leadership“ offeriert hat. All das ist unsere Geschichte, die auch Teil unserer Gegenwart ist. Aber wir sehen auch, dass bei der jungen Generation die transatlantische Partnerschaft nicht mehr dieselbe Selbstverständlichkeit genießt wie bei Älteren. Wir sehen, dass sich die Prioritäten in der Sicherheitspolitik gerade aus amerikanischer Sicht – und aus gutem Grund – verändert haben. Der pazifische Raum ist genauso herausfordernd wie der europäische Raum. Nach dem Ende des Kalten Krieges haben sich die Relationen verschoben. Wir sind natürlich – das war übrigens auch schon früher so – nicht immer einer Meinung, was die Abwägung und Abgleichung zwischen nationalen und internationalen Interessen angeht. Ich darf Ihnen aber sagen, dass Deutschland sukzessive, insbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges, mehr Verantwortung übernommen hat. Von Frau Amanpour wurde gerade daran erinnert, wie es war, als die ersten deutschen Truppen im Kosovo eintrafen. Ich war damals junges Mitglied in der Bundesregierung. Wir haben hart um die Frage gerungen, ob wir Schiffe zur Beobachtung dessen, was auf dem westlichen Balkan passiert, auf die Adria lassen. Wir sind heute ganz selbstverständlich mit unseren Verbündeten nicht nur auf dem westlichen Balkan tätig, sondern wir sind in Afghanistan, um dort zum ersten Mal nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags die Interessen der Vereinigten Staaten und unsere eigenen zu verteidigen. Wir sind in Afrika, in Mali. Und wir wissen, dass wir noch mehr tun müssen. Wir wollen und wir werden Verantwortung übernehmen. Das zeigt sich sowohl in steigenden Budgets für die Sicherheitsausgaben als auch in steigenden Budgets für die Entwicklungshilfe. Es ist unsere gemeinsame Sicherheit, die wir verteidigen müssen und wollen, weil wir auch unsere Werte verteidigen wollen. Aber 80 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs scheinen die Lehren aus der Geschichte etwas blasser zu werden und nicht mehr die gleiche prägende Kraft zu haben. Wir haben unter uns immer weniger Zeitzeugen der unfassbaren Verbrechen, die Deutsche während des Nationalsozialismus verübt haben. Es werden immer weniger, die damals am eigenen Leib erfahren mussten, welche ungeheure Lawine der Zerstörung eine menschenverachtende Ideologie auslösen kann. Deshalb müssen wir, diejenigen, die heute Verantwortung tragen, die Lehren aus dem, was die Welt mit dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat, weitertragen. Wir müssen dafür Verantwortung übernehmen, dass es auch weiter friedlich vorangeht. Wir dürfen uns heute glücklich schätzen, dass wir in unseren Ländern in Frieden und Freiheit leben können. Aber das ist eben nicht selbstverständlich, sondern dafür muss immer wieder gearbeitet werden. Wir müssen aufmerksam bleiben – aufmerksam gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen innerhalb und außerhalb unserer Länder. Wir gewärtigen – das gehört zur Analyse der heutigen Zeit – in vielen Ländern, auch bei uns in Deutschland, Populismus und ausgrenzenden Nationalismus. Wir stellen fest, dass das Denken in nationalen Einflusssphären zunimmt und damit auch völkerrechtliche oder menschenrechtliche Grundsätze zur Disposition gestellt werden. Dem müssen wir uns entschieden entgegenstellen. Wir sollten und müssen uns daran erinnern, warum die Vereinten Nationen, warum die Welthandelsorganisation und andere internationale Institutionen gegründet wurden. Das waren die Lehren aus den Schrecken des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und des überbordenden Nationalismus. Miteinander zu handeln, der Multilateralismus – das war die Antwort auf die Schrecknisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das gilt, jedenfalls für mich, uneingeschränkt bis heute. Wir brauchen internationale Spielregeln, um widerstreitende Interessen friedlich zu lösen. Daher brauchen wir handlungsfähige internationale Institutionen. Selbstverständlich müssen diese internationalen Institutionen auch in der Lage sein, auf neue Herausforderungen zu reagieren. Sie müssen reformierbar sein; und sie müssen sich fortentwickeln. Denn auch die Herausforderungen, vor denen wir als Weltgemeinschaft stehen, ändern sich mit der Zeit. Das sind Herausforderungen, die sich nach meiner festen Überzeugung in nationalen Alleingängen nicht bewältigen lassen. Das sind Herausforderungen, die uns alle in die Pflicht und Verantwortung nehmen. Wir können nicht so tun – kein Land kann das –, als ob sie uns nichts angingen – das sage ich auch ganz bewusst für Deutschland – oder als wären sie schicksalhaft, sodass man an ihnen nichts ändern könnte. Nein, Globalisierung, Digitalisierung und wirtschaftliche Entwicklung sind menschengemacht. Klimawandel, Kriege und Krisen sind auch von Menschen verursacht. Also können und sollten wir auch alles Menschenmögliche unternehmen, um diese und andere gemeinsame Herausforderungen auch wirklich gemeinsam anzugehen. Deshalb werbe ich dafür, dass es in unserer so vielfältig vernetzten Welt möglich ist, im globalen Gemeinwohl auch nationales Gemeinwohl zu erkennen. Natürlich hat jedes Land seine eigenen politischen Prioritäten. Aber globale Notwendigkeiten und nationale Interessen müssen keineswegs im Widerspruch zueinander stehen. Im Gegenteil: sich für das globale Gemeinwohl einzusetzen, hat nach meiner festen Überzeugung auch positive Rückwirkungen auf das nationale Gemeinwohl. Patriotismus heißt für mich, die eigenen Interessen immer auch zusammen mit den Interessen anderer zu denken. Deshalb werde ich nicht müde, immer wieder auch für eine Stärkung der multilateralen, werte- und regelgebundenen Weltordnung zu werben. Meine Damen und Herren, das gilt auch für die Europäische Union. Auch sie ist als Lehre aus den Schrecknissen des 20. Jahrhunderts gegründet worden. Auch Europa ist sozusagen ein multilaterales Projekt. Auch Deutschland geht es auf Dauer nur gut, wenn es auch Europa gutgeht. Ich bin davon überzeugt, dass die Idee der europäischen Integration die beste Idee ist, die wir je auf unserem Kontinent hatten. Natürlich müssen wir auf dem Weg der Weiterentwicklung der Europäischen Union auch Rückschläge verkraften. Für mich gehört die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens, aus der Europäischen Union auszuscheiden, zu diesen Rückschlägen. Aber sie ist zu respektieren. Deshalb werden wir auch alle Kraft darauf setzen, auch nach dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union gute und vertrauensvolle Beziehungen zu unserem Nachbarland zu haben. Theresa May sagt nicht ohne Grund: Wir bleiben weiterhin Teil Europas. Diese Beziehungen wollen wir im wirtschaftlichen Bereich, in den Kontakten zwischen unseren Zivilgesellschaften, im Sicherheitsbereich, im außenpolitischen Bereich und in vielen anderen Bereichen eng gestalten. Natürlich ist Europa auch oft umständlich. Ich habe genügend Nächte damit verbracht und versucht, Verhandlungsergebnisse zu erzielen. Aber wir haben auch immer wieder bewiesen, dass wir in der Lage sind, Kompromisse zu erzielen. So finden wir gemeinsam auch immer wieder tragfähige Antworten auf Fragen, mit denen jedes einzelne Land allein überfordert wäre. Meine Damen und Herren, wir diskutieren im Augenblick ja wieder über scheinbare Selbstverständlichkeiten. Auch die Frage der Werthaltigkeit eines Kompromisses gehört dazu. Wir sollten den Kompromiss hochschätzen. Denn er ist essenziell für das Zusammenleben der Menschen. Wir könnten sagen: Dieses und jenes in Europa zu machen, ist uns zu kompliziert; wir machen das in Deutschland. Aber dann würde man feststellen, dass Bund und Länder ebenfalls Nächte brauchen, um miteinander zu Ergebnissen zu kommen. Und wenn wir dann sagen würden, dass wir nur noch innerhalb der Bundesregierung verhandeln, dann würden wir feststellen, dass wir nächtliche Koalitionsausschüsse brauchen. Wenn wir letztlich sagen würden, dass wir überhaupt keinen Kompromiss brauchen, auch keinen außerhalb der Politik, dann sei etwa nur an die Planung der Wochenendgestaltung einer durchschnittlichen Familie erinnert. Ohne Kompromiss kommt auch nie ein Gericht auf den Mittagstisch. Ohne Kompromiss gibt es keine Gemeinsamkeit. Das heißt, wenn der Mensch zum Schluss ganz allein sein will, muss er keinen Kompromiss machen, sofern er nicht schizophren ist. Aber sobald er mit jemandem zusammenleben will, muss man Kompromisse machen. Meine Damen und Herren, in dieser Welt des Wandels kann nur ein geeintes Europa ein starkes Europa sein – ein Europa, das sich frei und selbstbestimmt mit seinen Werten behaupten kann. Auch als Partner und Freund der Vereinigten Staaten kann Europa nur so stark sein, wie es einig ist. Die transatlantische Partnerschaft baut auf einem gemeinsamen Wertefundament auf – auf Demokratie, auf Menschen- und Freiheitsrechten. Weil das so ist, können wir uns – Deutschland, Europa und die Vereinigten Staaten – keine besseren Partner füreinander wünschen. Das sollten wir trotz aller Differenzen, die es in jeder Partnerschaft gibt, niemals vergessen. Gerade jetzt, da im transatlantischen Verhältnis viel Gesprächsbedarf besteht, brauchen wir Begegnung, brauchen wir Wege, die zueinander führen. Solche Wege wollen wir unter anderem mit dem Deutschlandjahr bauen, das wir derzeit in den Vereinigten Staaten veranstalten. Unter dem Motto „Wunderbar together“ möchten wir mit möglichst vielen Amerikanern ins Gespräch kommen. Die mehr als tausend Veranstaltungen finden nicht nur in den Metropolen statt, sondern verteilt über das ganze Land. Wie Senator Fulbright bin auch ich fest davon überzeugt, dass es die Begegnungen der Bürgerinnen und Bürger sind, die die Staaten der Welt zu einer echten Staatengemeinschaft machen. So erweist sich das Fulbright-Programm nicht nur für Generationen von Stipendiaten, sondern auch für unsere zwischenstaatlichen Beziehungen als ein Segen. Daher kann ich nur wiederholen: Es ist mir eine große Freude und eine große Ehre, mit dem „Fulbright Prize for International Understanding“ ausgezeichnet zu werden. Dass der erste Preisträger Nelson Mandela hieß, macht diese Ehre noch größer. Hinzu kommt, dass diese Preisverleihung hier in Deutschland stattfindet und daher viele von Ihnen einen langen Weg auf sich genommen haben. Ich möchte Ihnen dafür danken. Ich möchte Ihnen auch sagen: Vielleicht ist Senator Fulbright heute so modern wie schon seit langer Zeit nicht mehr. Es ist gut, dass wir ihn hatten und dass wir seiner heute gedenken. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum Auftakt der BKM–Beauftragte für Kultur und Medien-Reihe „ZUKUNST! Perspektiven für Kultur und Medien“ mit dem Thema „Kunst und Freiheit“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-auftakt-der-bkm-beauftragte-fuer-kultur-und-medien-reihe-zukunst-perspektiven-fuer-kultur-und-medien-mit-dem-thema-kunst-und-freiheit–1574258
Thu, 24 Jan 2019 20:00:00 +0100
Im Wortlaut
Dresden
Kulturstaatsministerin
Erst die Arbeit, dann das Vergnügen – diese Auffassung gehört zweifellos zu den kulturellen Eigenheiten Deutschlands. Man geht hierzulande erst dann zum gemütlichen Teil über, wenn sämtliche Programmpunkte abgehakt sind. Ja, bei uns ist das „gemütliche Beisammensein“ oft sogar sauber als letzter Tagesordnungspunkt auf der Agenda vermerkt. Zur Feier der Bundeskultur- und medienpolitik haben wir uns ausnahmsweise die umgekehrte Reihenfolge gegönnt: Das 20. Jubiläum der BKM – der Beauftragten für Kultur und Medien – haben wir schon im Oktober 2018 in Berlin gefeiert: in Gesellschaft zahlreicher Weggefährten aus Politik, Kultur und Medien, mit inspirierenden Festreden der Kanzlerin und des Literaturkritikers Volker Weidermann, mit persönlichen Erinnerungen meiner Amtsvorgängerin und Amtsvorgänger, musikalisch umrahmt von Max Raabe und seinem Palastorchester, kurz: mit einer vielstimmigen Revue über die Jahre 1998 bis 2018. Der gemütliche Teil dieses Jubiläums liegt also schon hinter uns, meine Damen und Herren – was aber nicht heißen soll, dass es heute ungemütlich wird. Vielmehr kommt in dieser Reihenfolge zum Ausdruck, dass der Rückblick im Oktober nur ein Auftakt war – und das nun folgende gemeinsame Nachdenken mit Kulturschaffenden und Medienmachern, mit Künstlern und Kreativen über die Zukunft der Bundeskultur- und Medienpolitik der eigentliche Höhepunkt dieses Jubiläumsjahres ist. Zum Nachdenken, zum Diskutieren über die Zukunft habe ich im Rahmen unserer Veranstaltungsreihe „ZUKUNST! Perspektiven für Kultur und Medien“ in verschiedenen deutschen Städten eingeladen. Ich danke Ihnen, liebe Frau Prof.–Professor Ackermann, dass Sie diesem Anliegen im Albertinum Raum geben, und freue mich darauf, die ein oder andere Anregung und Handlungsempfehlung mit nach Berlin zu nehmen. Um „Kunst und Freiheit“ soll es heute gehen, und bevor ich unseren Podiumsgästen das Wort überlasse, will ich dieses weite Feld in aller Kürze und in ganz groben Zügen abstecken – und zwar dort, wo die Kunstfreiheit verhandelt wird: im Verhältnis zwischen Kunst und Markt einerseits und im Verhältnis zwischen Kunst und Politik andererseits. Im Verhältnis von Kunst und Markt geht es um die Unterscheidung zwischen Wert und Preis. Dass Kunst einen Wert und einen Preis hat und dass die sorgfältige Unterscheidung zwischen beidem keinesfalls nur eine semantische Spitzfindigkeit ist, das ist nicht neu. Eine relativ neue Entwicklung ist aber, dass die eindimensionale Sicht auf den Preis, also auf den Marktwert der Kunst mittlerweile hoffähig geworden ist: Da ist der Hype um zeitgenössische Kunst auf dem Kunstmarkt, der dazu führt, dass den erzielten Preisen oft mehr Aufmerksamkeit gilt als der Substanz, den Inhalten. Hier fehlt die Wertschätzung! Da gibt es Landesregierungen, die Kunstwerke verscherbeln, um mit dem Spekulationsgewinn Spielbanken zu sanieren bzw. zu bauen und Haushaltslöcher zu stopfen. Auch hier fehlt die Wertschätzung! Da ist die im digitalen Zeitalter mittlerweile weit verbreitete „Gratismentalität“, die Urheber geistiger und kreativer Leistungen häufig um ihren fairen Anteil am Ertrag bringt – das Gegenteil von Wertschätzung! Da ist – ein letztes Beispiel fehlender Wertschätzung – die Übermacht der Digitalkonzerne, die Kulturgüter behandeln wie Konsumgüter und die Unterwerfung unter die Marktlogik der Klick- und Verkaufszahlen fördern – und damit eine geistige Monokultur, in der nur das überlebt, was den Massengeschmack bedient. Wie können wir angesichts der Fixierung auf Preise und Profite die Wertschätzung für die Kunst fördern? Was können wir ihrer Degradierung zur Handelsware, zum Spekulationsobjekt entgegen setzen? Welche politischen Rahmenbedingungen, welchen gesellschaftlichen Nährboden brauchen wir, damit Literatur, Musik, Bildende Kunst, Film, Theater und Tanz auch abseits des Mainstreams gedeihen? Ich bin gespannt auf die Diskussion über das Verhältnis von Kunst und Markt. Im Verhältnis von Kunst und Politik wiederum ist es nicht Unterscheidung von Preis und Wert, sondern die Trennung des Ästhetischen vom Politischen, die den Freiraum für die Kunst absteckt. Die Zeiten, in denen Dichter und Denker, Maler und Musiker von Geld und Gunst ihrer Gönner abhängig waren, sind zum Glück vorbei. Deutschland hat die Freiheit der Kunst aus gutem Grund in den Verfassungsrang erhoben. In einem sehr noblen, im Artikel 5 des Grundgesetzes heißt es: „Kunst und Wissenschaft (…) sind frei“. Doch die Freiheit der Kunst, kritisch und unbequem sein zu dürfen, die Freiheit vom Zwang, gefallen oder dienen zu müssen, erfordert auch die Bereitschaft einer Gesellschaft, die damit auch verbundenen Zumutungen auszuhalten. Die Bereitschaft, die Autonomie der Kunst zu respektieren und das Ästhetische vom Politischen zu trennen, schwindet – so scheint es mir – nicht nur dort, wo missliebige Künstlerinnen und Künstler ausgegrenzt, verfolgt, unterdrückt oder hinter Gitter gebracht werden. Um das festzustellen, muss man nicht in den Wahlprogrammen einschlägiger Parteien blättern, die Künstler und Kulturschaffende auffordern, (ich zitiere) „einen positiven Bezug zur eigenen Heimat zu fördern“ oder „zur Identifikation mit unserem Land an(zu)regen“. Von der Agitation der Rechtsextremen und Rechtspopulisten gegen Kultureinrichtungen und Künstler können Sie gerade hier in Dresden ein trauriges Lied singen. Für Schlagzeilen hat zuletzt auch die Debatte um den Auftritt der Punkband Feine Sahne Fischfilet und die Absage durch die Stiftung Bauhaus Dessau im Vorfeld des Bauhausjubiläums gesorgt. Diese Musik und die Texte dieser Band mögen nicht jedem gefallen – übrigens auch mir nicht. Aber es ist ein fatales Zeichen, wenn allein der Druck der rechten Szene ausreicht, um kulturelle Angebote zu unterbinden. Agitation gegen Künstler gibt es allerdings auch aus der anderen Ecke des politischen Spektrums. Sie erinnern sich vielleicht daran, – der Fall sorgte bundesweit für Schlagzeilen -, dass die Berliner Alice-Salomon-Hochschule entschieden hat, das ihre Fassade schmückende Gedicht „avenidas“ des Schweizer Lyrikers Eugen Gomringer übermalen zu lassen (- was mittlerweile auch geschehen ist). Der Grund: Die Gedichtzeilen „Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer“ erinnerten nach Auffassung einiger Studierender „unangenehm an sexuelle Belästigung“. Man stelle sich vor, nicht der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) der Hochschule, sondern die Katholische Bischofskonferenz hätte die Übermalung des Gedichts gefordert – wegen „Gefährdung der katholischen Sexualmoral“ zum Beispiel. Dagegen hätten dieselben Studierenden ganz sicher wütend protestiert – und das völlig zu Recht. Denn eine Kunst, die sich festlegen ließe auf die Grenzen des politisch Wünschenswerten, eine Kunst, die den Absolutheitsanspruch einer Ideologie oder Weltanschauung respektierte, die gar einer bestimmten Moral oder Politik diente – eine solchermaßen begrenzte oder domestizierte Kunst würde sich nicht nur ihrer Möglichkeiten, ihrer Freiheit, sondern auch ihres Wertes berauben. Bei diesen Beispielen will ich es zur Einführung ins Thema bewenden lassen. Frei ist die Kunst dann, wenn sie weder dienen noch gefallen muss – wenn sie sich weder der Logik des Marktes beugen, noch in den Dienst eines politischen Anliegens, einer Weltanschauung oder Ideologie stellen muss. „Kunst ist eine Tochter der Freiheit“, so schlicht und schön hat es einst Friedrich Schiller formuliert. Wo Künstlerinnen und Künstler nicht gefällig sein müssen, wo sie irritieren und provozieren, den Widerspruch und den Zweifel kultivieren dürfen, beleben sie den demokratischen Diskurs und sind so imstande, unsere Gesellschaft vor gefährlicher Lethargie und unsere Demokratie vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu bewahren. Und deshalb finanzieren verschiedene Ebenen des Staates – Kommunen, Länder und Bund – die Kultur so auskömmlich: um sie unabhängig zu machen von Interessen, vom Zeitgeist, vom Markt. Und deshalb lohnt es sich, die mit der Freiheit der Kunst verbundenen Zumutungen und Spannungen auch auszuhalten – und darüber nachzudenken, was Kulturpolitik und Kultureinrichtungen dafür tun können. Dazu lade ich Sie herzlich ein, meine Damen und Herren, und freue mich auf die Impulse, die wir aus der heutigen Podiumsdiskussion dafür bekommen. Ein herzliches Dankeschön unseren Podiumsgästen: Prof.–Professor Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Christian Friedel, Schauspieler und Musiker, und der Künstler Wolfgang Tillmans. Sie haben das Wort!
In ihrer Rede zur Eröffnung der Podiumsdiskussion im Dresdner Albertinum hat die Staatsministerin eine größere Wertschätzung der Kunst gefordet. Die verschiedenen Ebenen des Staates – Bund, Länder und Kommunen – würden die Kultur deshalb so auskömmlich finanzieren, „um sie unabhängig zu machen von Interessen“, hob Grütters hervor. Frei sei die Kunst dann, „wenn sie weder dienen noch gefallen muss, wenn sie sich weder der Logik des Marktes beugen noch in den Dienst eines politischen Anliegens, einer Weltanschauung oder Ideologie stellen muss.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur 49. Jahrestagung des Weltwirtschaftsforums am 23. Januar 2019 in Davos
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-49-jahrestagung-des-weltwirtschaftsforums-am-23-januar-2019-in-davos-1572920
Wed, 23 Jan 2019 14:15:00 +0100
Davos
keine Themen
Sehr geehrter Herr Professor Schwab, meine Damen und Herren, ich bin gerne heute wieder in Davos. Ich habe auch den Eindruck, dass der Schnee in diesem Jahr eher schöner als schlechter ist. Ich freue mich, Sie alle zu begrüßen – insbesondere auch die Kollegen aus meinem Kabinett, die ich hier sehe –, und darf Ihnen sagen, dass Deutschland wieder eine stabile Regierung hat und wir nach anfänglichen Schwierigkeiten auch gewillt sind, gut zu arbeiten. Sie haben sich hier in Davos ein Thema gesetzt, das von allergrößtem Interesse ist, nämlich das Thema: Wie sieht die globale Architektur im Zeitalter der vierten industriellen Revolution aus? Der Ausgangspunkt Ihrer Beratungen wird geprägt von zwei Dingen; und zwar zum einen von dem globalen Risikobericht, den es ja immer vor einem solchen Davoser Forum gibt, der darauf hinweist, dass es eine Vielzahl an großen Herausforderungen gibt. Ich will hier nur den Klimawandel und die Naturkatastrophen nennen, aber auch Cyberattacken und die damit verbundenen Herausforderungen sowie Terrorangriffe. Gleichzeitig gibt es eine Vielzahl an Störungen und Verunsicherungen im multilateralen System. Das führt neben den allgemeinen Herausforderungen auch zu sinkenden Wachstumsprognosen durch den Internationalen Währungsfonds. Das ergibt eine Gemengelage, in der man, glaube ich, durchaus sagen kann, dass dieses Forum einen Beitrag dazu leisten kann, wieder mehr Sicherheit in die Dinge hineinzubringen, statt die Unsicherheit nach einer solchen Diskussion noch wachsen zu lassen. Denn ich glaube, es gibt viele, die willens sind, die multilaterale Ordnung zu stärken. Wenn wir uns die globale Architektur zu Beginn des 21. Jahrhunderts ansehen, dann sehen wir, dass sie im Wesentlichen immer noch durch die Ergebnisse des Handelns nach Ende des Zweiten Weltkriegs geprägt ist. Wir haben die Vereinten Nationen und wir haben Formate – G7 und G20 auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs –, die sich später in Reaktion auf eine der großen Krisen, die letztendlich auch schon durch den digitalen Wandel geprägt war, nämlich die große Bankenkrise, vor mehr als zehn Jahren entwickelt haben. Wenn man ehrlich ist, muss man sagen, dass uns diese Krise noch heute in den Knochen steckt. Sie hat unglaublich viel Vertrauen gekostet – in der Politik, aber auch im Bereich der Wirtschaft, insbesondere im Finanzsektor. Die Regulierungen, die wir eingeführt haben – eine bessere Kontrolle der Banken –, waren zwar Fortschritte, aber wenn man in unseren Ländern nachfragt, muss man doch feststellen, dass der Glaube an einen stabilen internationalen Finanzsektor doch sehr gelitten hat. Deshalb muss alles getan werden, um eine Wiederholung der Krise zu verhindern. Wenn wir uns die Zinspolitik der großen Notenbanken anschauen, dann wissen wir, dass wir letztendlich immer noch an dieser Krise knabbern, dass wir immer noch nicht heraus sind und dass wir uns durch diese Krise auch Raum für mögliche kommende Aufgaben genommen haben. Das heißt, wir müssen möglichst schnell wieder Normalität zurückgewinnen. Zweitens haben wir große internationale Organisationen, wie zum Beispiel die Welthandelsorganisation, und wir haben auch eine Entwicklung, die zeigt: Diese internationale Architektur – die Vereinten Nationen mit all ihren Unterorganisationen, die Internationale Organisation für Arbeit, die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und auch die OECD – hat dazu beigetragen, dass sich die Welt doch insgesamt positiv entwickelt hat. Bei all den Problemen möchte ich noch einmal darauf hinweisen: Als 1971 das Weltwirtschaftsforum gegründet wurde, hatte die Welt 3,8 Milliarden Einwohner; 60 Prozent davon lebten in extremer Armut. Heute haben wir 7,6 Milliarden Einwohner auf der Welt; und nur zehn Prozent der Menschen leben noch in extremer Armut. Das sind 700 bis 800 Millionen Menschen, ja, aber es sind erstens in absoluten Zahlen und zweitens auch beim Prozentsatz weniger. Einer der Lichtblicke der internationalen Beschlüsse ist zum Beispiel, dass wir die SDGs, die Entwicklungsziele für 2030, haben und die Weltgemeinschaft sich in großer Einigkeit zum Beispiel darauf verpflichtet hat, bis zum Jahr 2030 die extreme Armut zu überwinden. Ich glaube, das können wir auch erreichen. Auch mit dem Migrationspakt und dem Pakt für Flüchtlinge, der von den Vereinten Nationen vergleichsweise einmütig verabschiedet wurde, haben wir Lichtblicke. Aber schon an diesen beiden Dingen hat sich gezeigt, dass die internationale Ordnung im Augenblick unter Druck gerät und angezweifelt wird. Wenn wir uns fragen, was die Ursachen sind, und auf die Geschichte der Menschheit schauen, dann sehen wir: Die Grundentscheidungen für unsere heutige Ordnung liegen jetzt etwa 74 Jahre zurück. Das ist sozusagen ein Menschheitsalter. Wir müssen aufpassen, dass das Wissen und die Einsichten der Menschen, die unmittelbar nach dem Ende des Schreckens des Zweiten Weltkriegs gehandelt haben, von uns heute nicht einfach entweder achtlos oder unaufmerksam weggewischt werden. Denn damals hat man, wie ich finde, die richtigen Schlussfolgerungen gezogen, indem man zum Beispiel die Vereinten Nationen gegründet hat. Wir haben aber auch erlebt, dass sich internationale Organisationen letztendlich nur sehr schwerfällig reformieren. Ich denke zum Beispiel daran, wie viele Jahre wir dafür gebraucht haben, um die Quotenreform beim IWF oder die Kapitalerhöhung bei der Weltbank durchzuführen. Letztendlich waren diese Veränderungen dringend notwendig, weil Schwellenländer wie China und Indien unsere Weltwirtschaft längst sehr viel stärker beeinflussen. Wenn ein bestehendes System darauf viel zu langsam reagiert, dann hat das zur Folge, dass sich andere auch mit neuen Institutionen bemerkbar machen. Das hat ja auch stattgefunden. Wenn es neben dem etablierten G20-Format und neben der Weltbank jetzt zum Beispiel eine Asiatische Investitionsbank gibt, wenn es neben dem G20-Format eine Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit gibt, in der China, Indien, Russland und andere Länder dabei sind, und wenn sich China ein 16+1-Format sucht, um mit Teilen der Europäischen Union zusammenzuarbeiten, dann ist das, wie ich finde, ein Warnschuss und sollte uns bzw. mich – ich nehme jetzt einmal mich als Beispiel, die ich ja aus der westlich geprägten Welt komme – doch warnen, dass wir einer Fragmentierung der internationalen Architektur dadurch entgegenwirken müssen, dass wir bereit sind, die bestehenden Institutionen so zu reformieren, dass sie die realen Kräfteverhältnisse auf der Welt widerspiegeln. Wir wissen natürlich auch, wie sehr im Augenblick die Frage, wie jetzt weiter voranzugehen ist, die Welt spaltet. Ich finde, da dürfen wir nicht um den heißen Brei herumreden. Wenn es darum geht, bestehende Institutionen, die globale Leitplanken setzen, zu reformieren, dann müssen wir dabei sein und dann müssen wir die bestehenden Kräfteverhältnisse akzeptieren. Es ist aber ein anderer Ansatz hinzugetreten; und das ist ein Ansatz, bei dem grundsätzliche Zweifel am Multilateralismus gehegt werden und gesagt wird: Der Welt geht es am besten, wenn jeder an sich denkt und wenn jeder zuerst einmal guckt, wie es um die eigenen Interessen steht; und dann wird es schon zu einer Ordnung kommen, in der es allen gutgeht. Ich habe daran Zweifel. Ich glaube, wir sollten unsere nationalen Interessen jeweils so verstehen, dass wir die Interessen anderer mitdenken, um daraus Win-win-Situationen zu machen, die die Voraussetzung für multilaterales Handeln sind. Ich sehe mich damit sozusagen auch in der Folge eines von mir sehr verehrten Soziologen, nämlich Max Weber, der vor genau 100 Jahren über die Verantwortungsethik für Politiker gesprochen hat – „Politik als Beruf“ –, uns Leitplanken gesetzt und gesagt hat: Der Kompromiss ist ein Ergebnis verantwortlichen Handelns von Politikern. Wenn ich höre, wie oft heute gesagt wird, dass der Kompromiss etwas nicht zu Akzeptierendes, etwas Schlechtes, etwas Negatives sei, dann will ich hier ausdrücklich sagen: Eine globale Architektur wird nur dann funktionieren, wenn wir insgesamt fähig zum Kompromiss sind. Nun haben wir ja bereits Schwierigkeiten, die augenblickliche Architektur der globalen Institutionen zu reformieren und voranzubringen. Aber die Frage dieses Weltwirtschaftsforums geht ja weiter: Jetzt haben wir eine disruptive Entwicklung, wir haben eine vierte industrielle Revolution – was bedeutet das für die bestehenden Architekturen? Ich jedenfalls stehe als jemand vor Ihnen, der den Multilateralismus, die multilateralen Institutionen schätzt und sie für unabweisbar für eine gedeihliche Entwicklung der Welt hält. Deshalb geht es um die Frage: Wo können wir jetzt wirklich neue Pflöcke einschlagen? Diesbezüglich könnte ich jetzt eine etwas karikaturistische, aber trotzdem sehr ernst gemeinte Anmerkung machen: Manches gelingt ja doch noch. Am 16. November – ich weiß nicht, ob Ihnen das aufgefallen ist – hat eine Revolution in Versailles in Frankreich stattgefunden. Da hat nämlich die Generalkonferenz für Maße und Gewichte stattgefunden. Mit dieser Konferenz werden das alte Kilogramm, das Ampere und andere Einheiten insofern ausgedient haben, als sie durch Naturkonstanten neu definiert werden. Das ist in der Welt der Maße und Gewichte wirklich eine Revolution. Die Staatengemeinschaft hat sich gemeinsam darauf eingelassen. Ab dem 20. Mai 2019 werden wir alle grundsätzlichen Einheiten neu definiert haben. Dann wird das Urkilogramm aus dem Jahr 1889 nicht mehr schrumpfen, sondern wir werden immer ein ordentlich definiertes Kilogramm haben. Das sollte uns ermutigen, auch weiter einen reformatorischen Ansatz zu pflegen und die Gedanken der Neuzeit aufzunehmen. Die erste große Herausforderung, die hierbei zu nennen ist, ist der Umgang mit Daten, ihre Bewertung und die Klärung der Eigentumsfragen; das treibt uns in allen Bereichen um. Zweitens: In der Big-Data-Welt haben wir einen riesigen Entwicklungsschub im Bereich der künstlichen Intelligenz. Hierbei wird es auch darum gehen, ethische Leitplanken einzuziehen. Drittens möchte ich die Möglichkeiten der Gentechnik und bioethische Fragen nennen. Auch hierfür gibt es bis heute alles andere als weltweite Übereinkünfte. Auf diese drängenden Fragen muss es Antworten geben. Da sehe ich vor mir eben noch keine globale Architektur, um mit diesen Fragen umzugehen. Ich kann mir aber auch nicht vorstellen, dass jede große Wirtschaftsmacht sie anders beantwortet. Schauen wir uns einmal die beiden großen Pole der Bearbeitung von Daten an. Auf der einen Seite haben wir die USA. Dort sind Daten sehr stark in privater Hand, weshalb wir uns sozusagen mühen müssten, Leitplanken einzuziehen, die festlegen, wo die Grenzen liegen. Meine Einstellung ist, dass wir Regeln, die wir in der analogen Welt hatten, für die digitale Welt nicht einfach ausschließen können, sondern dass wir auch hier klare Leitplanken brauchen. Auf der anderen Seite haben wir China. Dort gibt es einen sehr großen Zugriff des Staates auf alle Daten – auch auf persönliche Daten. Insofern sind das zwei Ansatzpunkte, die noch nicht der Vorstellung entsprechen, der ich anhänge und die auch Deutschland mit seiner Sozialen Marktwirtschaft geprägt hat, in der wir durchaus Persönlichkeitsrechte schützen müssen. Die Europäische Union hat – bei allen Unvollkommenheiten – mit der Verabschiedung einer Datenschutz-Grundverordnung Leitplanken eingezogen, um den Umgang mit individuellen Daten besser zu regeln. Das ist mühselig; aber als die industrielle Revolution stattfand und die Menschen vom Land in die Stadt zogen, war es wahrscheinlich auch mühselig, permanent verschiedene Schlüsselbunde mit sich zu führen, um durch eigene Haustüren zu kommen. Das sind zivilisatorische Prozesse, die wir durchlaufen müssen. Ich glaube also, wir sollten durchaus den Anspruch haben, unsere Persönlichkeitsrechte in einem bestimmten Umfang zu schützen. Wir stehen auch vor der großen Frage nach Steuergerechtigkeit in der digitalen Welt. Ich setze stark auf die Vorschläge, die im Augenblick im Bereich der OECD erarbeitet werden, und glaube, dass wir mit dem Ansatz einer Minimalbesteuerung in der Kombination mit dem, was die G20-Finanzminister ausgearbeitet haben – dem sogenannten BEPS-System –, zu mehr Steuergerechtigkeit und mehr Steuerklarheit kommen werden. Das dürfen wir aber natürlich keineswegs dem Zufall überlassen. Wir haben uns auf deutscher Seite schon seit 2014 oder 2013, als wir Schwierigkeiten mit dem amerikanischen Nachrichtendienst NSA hatten, bemüht, in der Generalversammlung der Vereinten Nationen und auch im UN-Menschenrechtsrat immer wieder Resolutionen einzubringen, um uns mit der Privatheit von Daten im digitalen Zeitalter zu befassen. Das ist eine gute Nord-Süd-Kooperation, wie man sagen würde, denn Deutschland und Brasilien versuchen dabei zusammen mit Mexiko, Österreich und vielen anderen immer klarer zu definieren, wie wir hierbei vorankommen, wenngleich ich nicht verhehlen will, dass das ein mühseliger Prozess ist. Ich freue mich sehr, dass mein japanischer Kollege Shinzō Abe heute hier gesagt hat, er möchte die G20-Präsidentschaft Japans zu einer Präsidentschaft machen, in der wir uns mit Daten beschäftigen und die in der Datengovernance einen Ausgangspunkt findet. Ich glaube, die G20 ist ein sehr gutes Format, um dieses Thema übergreifend und unter den größten Industrieländern auf die Tagesordnung zu bringen. Wenn wir uns nun auf europäischer Seite oder auf deutscher Seite an der Beantwortung der Frage, wie eine globale Architektur aussehen soll, beteiligen wollen, dann ist die Voraussetzung natürlich erst einmal, dass wir ein wichtiger Akteur sind, dass wir ein wirtschaftlich starker Akteur sind, der auch überhaupt ethische Maßnahmen durchsetzen kann. Denn auch das ist eine der Wahrheiten: Man wird nur dann international Fußabdrücke hinterlassen, wenn man auch wirtschaftlich mithalten kann und in der Lage ist, die Probleme nicht nur zu analysieren und anderen moralische Hinweise zu geben, sondern aus eigener Erfahrung zu sprechen. Wenn ich diesbezüglich einmal bei meinem eigenen Land bleibe, bei Deutschland, dann darf ich Ihnen sagen, dass wir nach wie vor eine starke Wirtschaft haben, die allerdings sehr stark durch das industrielle Zeitalter geprägt ist. Wir sind ein Land, das immer noch eine sehr hohe industrielle Wertschöpfung hat. Und wir sind sicherlich ein Land, in dem die Automobilindustrie bei der Wertschöpfung eine sehr große Rolle spielt. Wenn wir uns die revolutionäre Entwicklung im Bereich der Automobilindustrie anschauen, dann wissen wir natürlich, dass auch hier Risiken lauern: Risiken, die etwas zu tun haben mit Arbeitsplätzen; Risiken, die etwas zu tun haben mit dem Datenmanagement. Dabei ist zum Beispiel die Frage, wem die Daten gehören, von entscheidender Bedeutung. Wenn die Daten sozusagen immer den Plattformen gehören, dann sind unsere Chancen schlechter, als wenn sie den Autoherstellern selbst gehören. Die Tatsache, dass wir zum Beispiel in Deutschland, aber auch in Europa bis heute nicht in der Lage sind, selber Batteriezellen zu produzieren, ist mit Sicherheit ein großes Manko für die Zukunft des Automobilstandorts Europa. Deshalb bin ich nach wie vor dafür, dass wir hier auch industriepolitische Entscheidungen fällen, so wie wir das schon bei der Chipfertigung gemacht haben, und die europäische Gemeinsamkeit auch nutzen, um in Technologiebereichen, in denen wir zurückgefallen sind, wieder aufzuholen. Denn ich glaube, wir können nicht einfach große Teile der Wertschöpfung beim zukünftigen Auto, zum Beispiel in der Elektromobilität, anderen Kontinenten überlassen, wenn wir dauerhaft Wettbewerber sein wollen. Deutschland hat im Grunde drei Herausforderungen, die für unsere Zukunft sehr stark von Bedeutung sind und die ich hier nennen möchte. Das ist erstens die Frage der Energiewende – die Frage bezahlbarer, aber auch nachhaltiger und dem Klimaschutz entsprechender Energieversorgung. Ich bin zutiefst überzeugt – und es wird ja im Grunde von Jahr zu Jahr erkennbarer –, dass die Klimaveränderung für uns bzw. für die gesamte Welt eine riesige Bedeutung hat. Daraus ergibt sich dann auch die Verantwortlichkeit der Industrieländer – nicht, weil wir mit dem, was wir zum Beispiel in Deutschland mit 80 Millionen Menschen an CO2 ausstoßen, den gesamten Ausstoß völlig verändern könnten, aber doch deshalb, weil wir die Fähigkeit und nach dem, was wir in der Industrialisierung schon an CO2 ausgestoßen haben, auch die Verantwortung haben, Technologien zu entwickeln, von denen auch andere profitieren können. Deshalb bin ich sehr froh, Ihnen sagen zu können – auch wenn das Einfluss auf unsere Energiepreise hat –, dass die erneuerbaren Energien in Deutschland jetzt der Pfeiler unserer Energieversorgung sind, der bei der Gesamtenergieversorgung den führenden Prozentsatz einnimmt. Wir werden bis 2022 aus der Kernenergie aussteigen. Wir haben das sehr schwierige Problem, dass die fast einzige grundlastfähige Energiequelle dann Stein- und Braunkohle sein werden. Deutschland ist jetzt aus der eigenen Steinkohleproduktion ausgestiegen. Damit sind Subventionen weggefallen. Die Braunkohle wird nicht subventioniert und ist damit eine relativ billige, aber sehr CO2-haltige Energiequelle. Wir haben deshalb eine Kommission eingerichtet, die sich mit dem Kohleausstieg Deutschlands befasst und die jetzt in der Endphase ihrer Arbeit ist. Aber natürlich werden wir nicht ohne grundlastfähige Energie auskommen. Daher wird Erdgas noch über einige Jahrzehnte eine zunehmende Rolle spielen. Deshalb ist auch der Streit, woher wir unser Erdgas beziehen, ein bisschen überzogen. Denn wir werden auf der einen Seite weiter Erdgas aus Russland beziehen – das ist vollkommen klar –, aber wir wollen natürlich auch diversifizieren. Deshalb werden wir auch Flüssiggas beziehen; und das vielleicht auch von den Vereinigten Staaten von Amerika und von anderen Quellen. Wir bauen also die Infrastruktur in alle Richtungen aus. Ich glaube aber, wir tun gut daran, zu sagen: Wenn wir aus der Kohle aussteigen und wenn wir aus der Kernenergie aussteigen, dann müssen wir den Menschen auch ehrlich sagen, dass wir dann auch mehr Erdgas brauchen. Und Energie muss ja auch bezahlbar sein. Hier kommen wir an einen Punkt, bei dem wir uns in der Koalition vorgenommen haben, besser zu werden. Denn ich muss ganz ehrlich sagen: Unsere Bauvorhaben realisieren wir im Weltmaßstab viel zu langsam. Wir sind beim Leitungsausbau – die Erzeugung erneuerbarer Energien erfordert ja eine völlig andere Leitungsstruktur – zu langsam. Wir sind mit Blick auf unsere gesamte Infrastruktur zu langsam. – Ich sehe unseren Infrastrukturminister hier. – Unser Ziel muss sein, schneller zu werden, ohne natürlich die rechtsstaatlichen Prozeduren zu vernachlässigen. Der zweite Punkt ist die Digitalisierung. Da geht es auch um Infrastruktur, aber auch um sehr viel mehr. Mir macht vor allen Dingen die Tatsache Sorgen – und das werden wir auch nur im europäischen Maßstab lösen können –, dass wir in der Plattformwirtschaft weit zurückgefallen sind. Vielleicht ist es auch so, dass Länder, die eine ziemlich gesättigte und einigermaßen funktionierende Verwaltung haben, nicht so einen Innovationsdrang verspüren wie Entwicklungsländer und aufsteigende Schwellenländer. Gerade das, was der Staat mit seinen Bürgern macht, ist längst nicht so digitalisiert, wie es sein müsste. Deshalb haben wir uns vorgenommen, alle staatlichen Verwaltungsfunktionen für die Bürgerinnen und Bürger bis spätestens 2022 auch digitalisiert zur Verfügung zu stellen. Aber da sind wir auch im europäischen Vergleich wirklich nicht „front runner“, sondern liegen eher ein bisschen zurück. Die digitale Transformation funktioniert bei unseren großen Unternehmen, glaube ich, recht gut. Es wird besser bei den mittelständischen Unternehmen; B2B geht eigentlich recht gut. Aber Business-to-Customer ist unsere offene Flanke. Hier leben wir in einem Wettlauf – das ist vollkommen klar –, der darüber entscheiden wird, ob die, die die Plattform betreiben, oder die, die das Produkt anbieten, dann sozusagen die Wertschöpfung bekommen. Diese Schlacht ist meiner Meinung nach noch nicht geschlagen – jedenfalls aus deutscher Perspektive nicht. Da können wir gewinnen, aber dafür müssen wir schnell sein. Der dritte Punkt ist die demografische Veränderung in Deutschland. Hierbei hilft uns die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union. Aber wir haben uns jetzt entschieden – nach jahrzehntelanger Diskussion, muss man sagen –, in Deutschland ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz zu verabschieden. Das bedeutet auf der anderen Seite natürlich auch, dass wir eine bessere Steuerung der Migration hinbekommen müssen. Aber auch dabei haben wir in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Wir haben erlebt, meine Damen und Herren – und das will ich als vierten Punkt noch hinzufügen –, dass wir nur dann wirklich vorankommen werden, wenn wir unseren Glauben ablegen, wir könnten uns alleine entwickeln. Wir haben mit dem Syrien-Krieg und mit dem Terrorismus im Irak erlebt, wie Globalisierung zu uns nach Europa und vor allem nach Deutschland auch kommt, und zwar in Form vieler Flüchtlingsbewegungen. Deshalb bin ich recht stolz, sagen zu können, dass Deutschland in dem Bogen von Syrien, Jordanien, Libanon einer der großen Geber ist, um diese Region zu stabilisieren. Denn wir wissen, es ist um vieles besser, wenn Menschen in ihrer Heimat bleiben können und nicht in die Hände von Schleusern geraten. Und auch unsere Entwicklung verläuft besser, wenn wir vor Ort helfen. Deshalb wird diese Region in unserem Fokus liegen, aber auch die Partnerschaft mit Afrika. Wir haben diesbezüglich während unserer G20-Präsidentschaft vieles gemacht. Ich will noch einmal darauf hinweisen: Afrika wird ja aus der europäischen Perspektive oft als ein Problemkontinent gesehen. Wenn wir uns einmal anschauen, wie Afrika, ein riesiger Kontinent mit zwei Milliarden Einwohnern in 2050, Schritt für Schritt multilateral zusammenarbeitet, seine Afrikanische Union stärkt, seine Regionalverbände stärkt, Freizügigkeit einführen will und eine starke, klare Vorstellung von zukünftigen Infrastrukturprojekten hat, dann müssen wir Afrika auch als Kontinent der Chancen sehen. Das gilt gerade für uns Europäer, die wir die Nachbarn von Afrika sind. Deshalb ist für uns ein klares Bekenntnis zum Multilateralismus, auch wenn es Mut erfordert, wesentliche Voraussetzung für unsere Politik. Es lohnt sich auch, Gleichgesonnene auf der Welt zusammenzubringen, weil alles andere uns ins Elend führen wird. In diesem Sinne sieht Deutschland seine Zukunft auch ganz klar in der Europäischen Union. Denn die Europäische Union kann Kraft entwickeln, um die Dinge voranzubringen. Wir müssen jetzt aber mit dem Schock leben, dass Großbritannien aus der Europäischen Union austreten will. Mein ganzes Sinnen und Trachten richtet sich darauf, das in einer geregelten Form hinzubekommen, in der wir eine gute Partnerschaft zum Wohle aller haben können. Wir sind in den Fragen zur inneren Sicherheit, zur äußeren Sicherheit und zur Verteidigung dringend auf eine Kooperation mit den Briten angewiesen. Aber wir sind eben auch ein Handelsraum; und je enger und unkomplizierter unsere Beziehungen sind, umso besser. Aber das liegt natürlich auch in der Hand Großbritanniens. Wir haben uns in der Europäischen Union immer für Freihandel eingesetzt. Und ich bin froh, dass am 1. Februar das EU-Japan-Freihandelsabkommen in Kraft tritt. Wir setzen uns auch für Handelsgespräche mit den Vereinigten Staaten von Amerika ein. Wir haben die Handelsgespräche mit Kanada zu Ende gebracht. Und ich glaube, weitere sollten folgen – Singapur, Australien, wenn möglich auch Mercosur und andere. Meine Damen und Herren, wir haben uns in Europa zu dem gewaltigen Schritt entschieden, zu sagen: Wir wollen in Zukunft auch unsere Verteidigungsfähigkeiten zusammenlegen. Das ist auch eine Frage des Selbstverständnisses. Diese gemeinsame strategische Verabredung, Verteidigungspolitik gemeinsam zu denken, ist nicht gegen die NATO gerichtet. Sie kann sogar der NATO die Sache erleichtern, denn wir haben heute über 170 Verteidigungssysteme bzw. Waffensysteme. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben, glaube ich, unter 60. Sie können sich vorstellen, was das mit Blick auf Training, Ausbildung und Wartung für ein Effizienzverlust ist. Die Entscheidung zum Beispiel von Deutschland und Frankreich, in Zukunft gemeinsam Kampfflugzeuge zu bauen, gemeinsam Panzer zu bauen, ist natürlich eine strategisch sehr wichtige Entscheidung – genauso wie die gestrige Unterzeichnung des Vertrags von Aachen zwischen Deutschland und Frankreich als Fortentwicklung des Élysée-Vertrags in einer Zeit vieler Unsicherheiten ein Bekenntnis ist: Ja, wir wollen als wichtige Partner auch in Europa mit dabei sein und die Europäische Union weiterentwickeln. Es war gestern für mich sehr bewegend, dass nicht nur der französische Präsident und die deutsche Bundeskanzlerin einen Vertrag unterschrieben haben, sondern dass dies eben auch in Anwesenheit des Präsidenten der Kommission, des Präsidenten des Europäischen Rates und der rotierenden Ratspräsidentschaft des rumänischen Präsidenten stattfand, um ganz deutlich zu machen: Wir wollen einen Beitrag zur Stärkung Europas leisten. Aber wir Deutsche, das will ich Ihnen sagen, haben durchaus immer noch – historisch geprägt – unsere Schwierigkeiten mit dem Multilateralismus. Denn mit Frankreich gemeinsam zum Beispiel Rüstungsexportrichtlinien zu verabreden, ist ein riesiges Stück Arbeit. Das muss aber sein, denn kein Mensch wird mit uns zusammen Waffensysteme entwickeln, wenn er nicht weiß, ob er die später auch verkaufen kann. Das heißt, ich will hier ausdrücklich sagen: Es ist nicht so, dass mir Multilateralismus immer leicht von der Hand ginge, weil das immer nur einfach wäre; vielmehr ist das eine schwierige Sache. Aber ich muss mich immer wieder fragen: Was ist die Alternative; und was bedeutet das? Wir sehen es in all unseren Ländern: Wir haben die Herausforderungen des Populismus, wir haben nationalistische Kräfte – und wir müssen dagegen antreten. Aber vielleicht macht das die Schlachtordnung auch klarer und stärker. Deshalb werde ich mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen in Deutschland im Kabinett sehr stark dafür einsetzen, dass unsere multilaterale Ordnung nicht bei der Europäischen Union endet, sondern dass es eine wird, die auch auf neue globale Herausforderungen wirklich gute Antworten gibt. Das setzt aber voraus, dass wir die bestehende Ordnung nicht so weit ruinieren, dass kein Mensch mehr an neue Leitplanken glaubt. Daher freue ich mich, das in diesem Sinne hier klargestellt zu haben. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich der Rückkehr des „Mars“ von Giambologna in den Freistaat Sachsen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-der-rueckkehr-des-mars-von-giambologna-in-den-freistaat-sachsen-1574256
Wed, 23 Jan 2019 11:00:00 +0100
Im Wortlaut
Freiberg
Kulturstaatsministerin
Ausgerechnet eine Bronzefigur des Kriegsgottes Mars! Ausgerechnet eine Figur jenes Gottes, der in den meisten Darstellungen mit Schild und Lanze gewappnet ist – gleichsam jederzeit bereit, in den Kampf zu ziehen! Ja, angesichts der Kämpfe, die nötig waren, um das persönliche Geschenk Giambolognas an Kurfürst Christian I. von Sachsen zurück an seinen Bestimmungsort, zurück nach Dresden, zu holen, könnte man meinen, der Künstler selbst hätte sein Geschenk für ebendiese Kämpfe gewappnet! Schild und Lanze waren aber zum Glück nicht nötig – dank des beherzten Eingreifens und des überwältigenden Engagements sowohl von staatlicher wie auch von privater Seite. Es ist großartig, dass Politik, Kultur und private Förderer es geschafft haben, die wertvolle Kleinbronze für die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zurückzugewinnen. Ich freue mich sehr, dass auch der Bund mit Mitteln aus meinem Kulturetat dazu einen Beitrag leisten konnte. „Der Kriegsgott darf nach Hause“ titelte die Rheinische Post im vergangenen Juli, als die Entscheidung über seinen weiteren Verbleib geklärt war. Die „Heimkehr“ des „Mars“ ist ein schönes Beispiel für die sehr gute und effektive Zusammenarbeit zwischen dem Bund, den Ländern – in diesem Fall dem Freistaat Sachsen – und privaten Förderern, die in Deutschland eine lange Tradition hat. Klein und leicht mutet die berühmte Statuette nur hinsichtlich ihrer Maße an. Im Hinblick auf ihre kunsthistorische Bedeutung haben wir es aber mit einem echten Schwergewicht zu tun. Denn es steht außer Frage, dass diese berühmte Renaissance-Figur, die sich mehr als 300 Jahre in der Skulpturensammlung in Dresden befand, eng mit der Geschichte Dresdens, des Freistaates Sachsen und Deutschlands verbunden ist. Dies allein schon deshalb, weil der „Mars“ 1587 zusammen mit drei anderen Kleinbronzen Giambolognas an den sächsischen Hof kam und die drei anderen Teile des Ensembles bis heute zu den wichtigsten Exponaten des Grünen Gewölbes und der Dresdner Skulpturensammlung zählen. Der rückkehrende „Mars“ macht dieses einzigartige Quartett nun wieder komplett. Vor allem aber handelt es sich beim „Mars“ um ein einzigartiges künstlerisches Meisterwerk: Giambologna ist der bedeutendste Bildhauer in der Nachfolge Michelangelos. Der „Mars“ ist charakteristisch für die Formensprache des Künstlers und steht exemplarisch für sein Oeuvre. Und ebendieses herausragende Werk schenkte Giambologna höchstpersönlich dem Kurfürsten Christian I. von Sachsen. Die daraus resultierende 300-jährige Rezeptionsgeschichte in Dresden hat Strahlkraft weit über die Grenzen Sachsens hinaus entwickelt. Heute gilt er wegen seiner einzigartigen künstlerischen wie auch historischen Bedeutung als emblematisch für unsere Geschichte und damit als national wertvolles Kulturgut. Die Überzeugung, dass Kulturgüter existentiell sind als Spiegel unserer Geschichte und unserer Identität, diese Überzeugung ist Teil unseres Selbstverständnisses als Kulturnation. Deshalb leisten wir uns ja auch eine staatliche Kulturförderung, die weltweit ihresgleichen sucht. Umso mehr enttäuscht es mich – das will ich heute bei aller Freude nicht verhehlen -, wenn die Eigentümer gerade bei einem solchen kunst- und kulturhistorisch einzigartigen Stück nur den möglichen Profit auf dem Kunstmarkt sehen, aber keinerlei Gespür für seinen Wert erkennen lassen und es damit schlicht zum Spekulationsobjekt degradieren. Gut, dass wir den Verlust mit vereinten Kräften in letzter Minute verhindern konnten! Ich bedanke mich noch einmal herzlich bei all jenen, die sich mit ihrem persönlichen Engagement für die Rückkehr des Mars nach Sachsen eingesetzt haben. Allen voran bei Ihnen, lieber Herr Dr.–Doktor Plieninger, und Ihnen, lieber Herr Schmidt, die Sie als Erben ihres Vorfahren Theodor Plieninger – er war der einzige, der den „Mars“ von Giambologna bis dato jemals käuflich erworben hat – in einem offenen Brief an die Bayer AG appellierten, die Versteigerung abzusagen und den „Mars“ schenkweise den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zu überlassen. Und natürlich danke ich den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, die mit Beharrlichkeit und Hingabe für „ihren“ „Mars“ gekämpft haben und dafür nun sogar zwei Jahre auf ihren Ankaufsetat verzichten. Ich hoffe, dass sich ein solcher Fall in Zukunft nicht wiederholt. Fest steht jedenfalls, dass wir bei Konflikten nicht auf den Beistand eines Kriegsgottes angewiesen sind. Denn statt göttlichem Beistand haben wir Gesetze, die den Umgang mit national wertvollem Kulturgut regeln. Demnach hätte Giambolognas Mars niemals ausgeführt werden dürfen, sondern wäre in den vergangenen Jahrzehnten in ein Verzeichnis national wertvollen Kulturguts einzutragen gewesen. Das ergibt sich offenkundig aus seiner Geschichte und seiner Rezeption in Deutschland. Mit der Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes 2016 und der damit einhergehenden Schärfung des öffentlichen und behördlichen Bewusstseins für national wertvolles Kulturgut werden solche Versäumnisse nunmehr hoffentlich verhindert. Im Kulturgutschutzgesetz sind die Eintragungsvoraussetzungen für national wertvolles Kulturgut jedenfalls deutlich klarer geregelt als zuvor. Außerdem unterscheidet das Kulturgutschutzgesetz nun auch eindeutig zwischen einer „vorübergehenden“ (bis zu 5 Jahre) und einer „dauerhaften“ (mehr als 5 Jahre) Ausfuhrgenehmigung. Vor allem aber hat das Gesetz dazu beigetragen, dass sowohl in der Öffentlichkeit, als auch bei einflussreichen Unternehmen in Deutschland, die Sensibilität im Umgang mit derart bedeutenden Objekten deutlich zunimmt – und das ist auch wichtig und dringend notwendig. Dazu wird künftig, da bin ich sicher, nach seiner Rundreise durch Sachsen und seiner glücklichen Heimkehr nach Dresden auch Giambolognas „Mars“ selbst beitragen. Ich wünsche ihm und allen beteiligten Ausstellungshäusern zahlreiche Besucherinnen und Besucher, die sich an seiner Schönheit erfreuen und einen Blick entwickeln für seinen einzigartigen Wert!
„Gut, dass wir den Verlust mit vereinten Kräften in letzter Minute verhindern konnten!“, erklärte Monika Grütters erleichtert bei der Präsentation der Kleinbronze im Freiberger Bergbaumuseum. Die Überzeugung, dass Kulturgüter als Spiegel unserer Geschichte und unserer Identität existentiell sind, sei Teil unseres Selbstverständnisses als Kulturnation. Umso mehr enttäusche es sie, wenn die Eigentümer gerade bei einem solchen kunst- und kulturhistorisch einzigartigen Stück nur den möglichen Profit auf dem Kunstmarkt sehen, aber keinerlei Gespür für seinen Wert erkennen lassen und es damit schlicht zum Spekulationsobjekt degradieren.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Unterzeichnung des Vertrags
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration am 22. Januar 2019 in Aachen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-unterzeichnung-des-vertrags-zwischen-der-bundesrepublik-deutschland-und-der-franzoesischen-republik-ueber-die-deutsch-franzoesische-zusammenarbeit-und-integration-am-22-januar-2019-in-aachen-1571070
Tue, 22 Jan 2019 11:04:00 +0100
Im Wortlaut
Aachen
keine Themen
Sehr geehrte Festversammlung, Exzellenzen, liebe Bürgerinnen und Bürger der Partnerstädte Reims und Aachen, liebe Studentinnen und Studenten, Schülerinnen und Schüler, sehr geehrter Herr Präsident der Französischen Republik, lieber Emmanuel, meine Damen und Herren, heute ist ein bedeutender Tag für die deutsch-französische Freundschaft. Mit dem Aachener Vertrag erneuern wir das Fundament der Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern. Wir bekräftigen, dass wir die großen Herausforderungen unserer Zeit Hand in Hand angehen wollen. Wir tun dies in Aachen, der Hauptresidenz Karls des Großen oder Charlemagnes – desjenigen, den wir den Vater Europas nennen. Wir tun dies also an einem Ort, der gleichermaßen für eine historische Verwandtschaft zwischen Deutschland und Frankreich steht und für den Ausgangspunkt einer sehr verschiedenen Entwicklung. Wir unterzeichnen den Vertrag am 56. Jahrestag des Élysée-Vertrags von 1963. Wir unterzeichnen den Aachener Vertrag – ein Dokument, das den Rahmen für unsere zukünftige Zusammenarbeit aufspannt. Lieber Emmanuel Macron, vor gerade einmal acht Monaten wurdest du hier, genau an diesem Ort, mit dem Karlspreis geehrt – geehrt für deinen Einsatz für Europa, für deine Ideen für Europa und für deine Ideen für die Zusammenarbeit unserer beiden Länder. Angesichts der langen Epoche von Rivalität und Kriegen zwischen unseren Ländern ist es nicht selbstverständlich, dass wir heute so zusammenkommen. Das sollten wir uns immer wieder vor Augen führen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, den Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus über Europa gebracht hat, kam es zu Verständigung, Aussöhnung und schließlich zu Freundschaft – einer Freundschaft, die inzwischen tief in unseren Gesellschaften verwurzelt ist. Damit hat die Geschichte eine Wendung genommen, die für uns nicht glücklicher hätte sein können. Wir erinnern uns an die Weitsicht und die Entschlusskraft Konrad Adenauers und Charles de Gaulles. Sie haben diesen Prozess mit dem Élysée-Vertrag vorangetrieben und unumkehrbar gemacht. Wir erinnern uns an viele weitere mutige Politiker und Vordenker, die sich mit ganzer Kraft für die deutsch-französische Freundschaft eingesetzt haben. Stellvertretend möchte ich Politiker wie Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt, Helmut Kohl und François Mitterrand nennen. Genauso wichtig sind die Tausenden von Bürgermeistern und Verantwortlichen in unseren Partnerstädten, die Verantwortlichen für die 180 akademischen Austauschprogramme und die acht Millionen Menschen, die im Zusammenhang mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk über die Zeit hinweg einander kennenlernen konnten. Ich begrüße Vertreter von allen hier. Dass all dies entstehen konnte, war keineswegs selbstverständlich. Es war auch keineswegs so einfach, wie dies heute im Rückblick manchmal erscheint. Die Geschichte der Entstehung und vor allen Dingen die Ratifizierung des Élysée-Vertrags vor 56 Jahren war ein dorniger Weg, um in dem Bild zu bleiben, das damals oft verwendet wurde. Konrad Adenauer als Rosenzüchter wusste, wovon er sprach. Dennoch hat der Élysée-Vertrag die deutsch-französische Freundschaft zu einer einzigarten Beziehung werden lassen. Warum unterzeichnen wir heute einen neuen Vertrag, ergänzt durch eine Vereinbarung unserer beiden Parlamente, die in einer parlamentarischen Versammlung von je 50 Abgeordneten in Zukunft strukturiert zusammenarbeiten werden? Warum setzen wir den Vorschlag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron aus seiner Rede an der Sorbonne im September 2017 bereits 16 Monate später um? Wir tun dies, weil wir in besonderen Zeiten leben und weil es in diesen Zeiten entschlossener, eindeutiger, klarer und zukunftsgewandter Antworten bedarf. Einerseits ist das Europa von heute mit dem von 1963 kaum zu vergleichen – weder was die Tiefe der Integration noch was die Zahl der Mitgliedstaaten anbelangt. Andererseits erstarken in allen unseren Ländern Populismus und Nationalismus. Zum ersten Mal verlässt mit Großbritannien ein Land die Europäische Union. Weltweit gerät der Multilateralismus unter Druck – ob in der Klimazusammenarbeit, im Welthandel, in der Akzeptanz der internationalen Institutionen bis hin zu den Vereinten Nationen. 74 Jahre – ein Menschenleben – nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird scheinbar Selbstverständliches wieder infrage gestellt. Deshalb bedarf es erstens einer Neubegründung unserer Verantwortung innerhalb der Europäischen Union – der Verantwortung von Deutschland und Frankreich in dieser Europäischen Union. Deshalb bedarf es zweitens einer Neubestimmung der Richtung unserer Kooperation. Deshalb bedarf es drittens eines gemeinsamen Verständnisses unserer internationalen Rolle, das in gemeinsames Handeln münden kann. Deshalb bedarf es viertens gelebter Gemeinsamkeiten unserer beider Völker – in Institutionen, aber vor allem im täglichen Zusammenleben unserer Völker; und das ganz besonders im grenznahen Raum. Sieben Kapitel und 28 Artikel – das ist der neue Vertrag, der Vertrag von Aachen. Ganz bewusst beginnen wir mit dem Kapitel „Europa“. Wir sind Teil der Europäischen Union. Als dieser Teil wollen wir zu ihrem Gelingen beitragen. Ich bin den Vertretern der Europäischen Institutionen ganz besonders dankbar, dir, lieber Jean-Claude Juncker, dir, lieber Donald Tusk, und dir, lieber Klaus Johannis, dass ihr heute hier dabei seid. Das trifft das, was wir mit diesem Vertrag aussagen wollen. Gewollt ist, dass der Vertrag bereits im zweiten Kapitel die Fragen von Frieden und Sicherheit aufwirft. Eingebunden in unsere gemeinsamen Systeme der kollektiven Sicherheit verpflichten wir, Deutschland und Frankreich, uns, im Falle eines bewaffneten Angriffs auf die jeweiligen Hoheitsgebiete jede in unserer Macht stehende Hilfe und Unterstützung zu geben. Dies schließt militärische Mittel ein. Das liest sich sehr einfach und auch sehr selbstverständlich; das ist es aber nicht. Deshalb haben wir lange über jedes Wort gesprochen. Aber das ist die notwendige Schlussfolgerung aus dem atemberaubenden Weg, den unsere Völker genommen haben. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal für die Einladung des französischen Präsidenten an mich anlässlich des 100. Jahrestags des Endes des Ersten Weltkriegs danken. Wir waren an dem Ort, an dem der Waffenstillstand 1918 unterzeichnet wurde, in Compiègne. Der Weg von diesem bis zum heutigen Tag, bis zu der Verpflichtung, uns gegenseitig beizustehen, ist nichts anderes als atemberaubend. Danke, dass wir ihn gehen durften. Wir verpflichten uns zur Entwicklung einer gemeinsamen militärischen Kultur, einer gemeinsamen Verteidigungsindustrie und einer gemeinsamen Linie zu Rüstungsexporten. Damit wollen wir unseren Beitrag zur Entstehung einer europäischen Armee leisten. Das alles wird aber nur funktionieren, wenn wir dies gleichzeitig mit einer Koordinierung in unserer Außenpolitik verbinden. Wer weiß, dass jeden Tag vieles passiert, der weiß auch, was es bedeutet, wenn wir uns jetzt verpflichten, gemeinsam außenpolitische Verantwortung wahrzunehmen und gemeinsam unsere Interessen zu vertreten. Das gelingt nur, wenn wir auch unsere Entwicklungspolitik besser koordinieren. Ganz besonders wird unser Nachbarkontinent Afrika in diesem Zusammenhang genannt. Es geht um unsere Zukunft in diesem Vertrag. Das gilt für die Bereiche Kultur, Bildung, Forschung, Mobilität, genauso für nachhaltige Entwicklung, Klima, Umwelt und wirtschaftliche Angelegenheiten. Frankreich und Deutschland wollen und müssen Taktgeber in den Zukunftsbereichen sein, die für den Wohlstand unserer Europäischen Union verantwortlich sind. Wir wissen: Sozialen Zusammenhalt können wir nur sichern, wenn wir wirtschaftlich erfolgreich sind, wenn Bildung eine Schlüsselrolle spielt und wenn die Kultur uns die Luft zum Atmen gibt. Wir wissen auch: Die Zeit drängt, die Welt schläft nicht. Europa konnte sein Versprechen aus dem Jahre 2000, der führende Kontinent auf der Welt zu werden, nicht einhalten. Wir müssen in vielen Bereichen aufholen. Das bedeutet: Wir wollen den europäischen Binnenmarkt vollenden. Wir müssen einen digitalen Binnenmarkt schaffen. Wir müssen unsere Forschungsbereiche koordinieren, insbesondere im Bereich der künstlichen Intelligenz. Wir müssen gemeinsame Plattformen entwickeln. Das sind nur einige Stichworte für die Vielzahl von Aufgaben, die vor uns liegen. Die Integration hin zu einem deutsch-französischen Wirtschaftsraum mit gemeinsamen Regeln, wie es in dem Vertrag heißt, beinhaltet viel Arbeit, die vor uns liegt. Das bedeutet die Harmonisierung des Rechts in den entsprechenden Bereichen. Wir wollen gemeinsam über die Zukunft der Arbeit nachdenken. Wir können sehr viel mehr in unserer Arbeitsmarktpolitik koordinieren. Nur so wird das, was wir als Ziel haben, nämlich Konvergenz zwischen unseren Volkswirtschaften, möglich sein. Das schließt natürlich das Vorantreiben der Energiewende mit ein. Jeder weiß, von welch unterschiedlichen Positionen bezüglich der Kernenergie, der erneuerbaren Energien und der Kohle wir kommen. Das ist also eine große Aufgabe. Diejenigen, die Vorreiter für diesen gemeinsamen Raum des Lebens sein sollen, sind die grenznahen Regionen. Ich glaube, das ist ein gutes Kapitel in diesem Vertrag. Das ist aus französischer Perspektive vielleicht sogar ein ungewöhnliches Kapitel, weil wir, die wir Föderalisten sind, natürlich wissen, dass wir in Deutschland Ministerpräsidenten haben, die mindestens so viel zu sagen haben wie die Bundesregierung. Aber in Frankreich ist die Struktur des Landes doch anders. Wir sind nicht durch Zufall heute hier in Aachen – in einer Stadt, die nicht nur stellvertretend für die Geschichte unserer beiden Länder steht, sondern die auch stellvertretend für die vielen Städte in den grenznahen Regionen unserer annähernd 500 Kilometer langen Grenze steht. Die Menschen in diesen Regionen sollen neue Wege der Zusammenarbeit entwickeln. Sie sollen uns darüber berichten, welche Erfahrungen sie machen. Sie bekommen besondere Freiräume eröffnet. Sie dürfen Verwaltungsvorschriften ändern. Man weiß, was das bedeutet, wenn nicht alle, die sonst dafür zuständig sind, auch wirklich hinschauen. Meine Damen und Herren, dies sind nur Ausschnitte von dem, was wir uns vorgenommen haben. Ich glaube, der Rahmen ist mit diesem Aachener Vertrag gut aufgespannt. Aber – dies muss uns am heutigen Tag bewusst sein – die Arbeit ist damit nicht getan. Der Vertrag muss gelebt werden – Tag für Tag. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie träge unsere Antworten auf neue Herausforderungen oft ausfallen, mit wie viel Beharrungsvermögen Entscheidungen aufgeschoben werden und wie oft gesagt wird, dass etwas gerade jetzt nicht möglich ist. Deshalb ist die Frage entscheidend, ob hinter diesem Vertrag der Wille steht, ihn auch wirklich mit Leben zu erfüllen. Für die deutsche Bundesregierung, vor allem für meine Kollegen, die heute hier sind, aber auch für diejenigen, die nicht hier sein können, sage ich: Ja, wir haben den unbedingten Willen dazu. Ich weiß, dass dies auch von unseren Bundesländern genauso gesehen wird. Ich weiß, dass unzählige Organisationen genau auf ein solches Signal warten, um die deutsch-französische Kooperation im Geiste Europas weiter leben zu können. Wir werden hart daran arbeiten müssen, dass wir uns immer besser verstehen, nicht nur sprachlich, sondern auch mental und organisatorisch, dass wir uns in Respekt vor der jeweils anderen Kultur gegenübertreten und dies als Bereicherung unserer eigenen Kultur verstehen und dass wir möglichst viele Menschen auf diesem Weg mitnehmen und überzeugen können. Ich weiß, dass das ein mühevolles Unterfangen ist. Am Ende dieses Weges wird es aber eine unendliche Bereicherung sein. Ich möchte mich hier verpflichten – und das für die gesamte Bundesregierung –, dass wir dies mit voller Kraft und mit ganzem Herzen tun werden. Es lebe die deutsch-französische Freundschaft!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Tagung des Global Forum for Food and Agriculture am 18. Januar 2019 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-tagung-des-global-forum-for-food-and-agriculture-am-18-januar-2019-in-berlin-1570210
Fri, 18 Jan 2019 14:30:00 +0100
Berlin
keine Themen
Liebe Julia, sehr geehrte Minister, sehr geehrte Herren Kommissare, sehr geehrte Staatssekretäre, ich möchte Sie auch seitens der ganzen Bundesregierung sehr herzlich hier in Berlin auf der Grünen Woche zu dieser speziellen Veranstaltung begrüßen. Dass Sie in so großer Zahl hierhergekommen sind, zeigt den Willen, zu kooperieren und sich dem Innovationspotenzial der Landwirtschaft zu stellen. Das Global Forum for Food and Agriculture ist, wie schon gesagt wurde, eine Plattform, die sich auch in multilaterale Bemühungen insgesamt einreiht – von der argentinischen G20-Präsidentschaft hin zur japanischen G20-Präsidentschaft. Ich habe gehört, dass Sie in einem sehr guten Geist und auch mit sehr hoher Flexibilität fürs Verhandeln miteinander kooperieren. Das ist auch immer wichtig. Wir – das darf ich Ihnen sagen – versuchen, gute Gastgeber zu sein. Das Davos für die Landwirtschaft – allein, es fehlen der Schnee und ein wenig die Berge. Aber wir versuchen, das in Berlin durch andere Dinge zu kompensieren. Berlin ist reich an Attraktionen, wenn auch nicht reich an Landwirtschaftsunternehmen. Aber wer es keinen ganzen Tag ohne Landwirtschaft aushalten kann, kann die Domäne Dahlem besuchen, auch wenn es nur ein relativ kleiner Betrieb ist. Aber hier auf der Grünen Woche gibt es ja auch genug zu sehen. Sie befassen sich im Zusammenhang mit Ernährung vor allem mit Ernährungssicherheit und mit dem Kampf gegen den Hunger – mit einem Thema, das auch in den SDGs, den Sustainable Development Goals für das Jahr 2030, eine zentrale Rolle einnimmt. Eine Welt ohne Hunger ist eines der ausgesprochenen Ziele. Sie nehmen das Innovationspotenzial auf, um scheinbar unvereinbare Dinge zusammenzubringen, nämlich Ernährungssicherung mit einer wachsenden Weltbevölkerungszahl und einem zum Teil auch robusten Umgang mit unseren Ressourcen. Für diese Herausforderungen bietet die Digitalisierung im Grunde sehr viel mehr Chancen, als sie uns Angst machen muss. Aber wie bei allem brauchen wir, damit der Mensch im Zentrum der Dinge bleibt, Leitplanken, Regulierung, einen Rahmen, womit alles im Sinne von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit ablaufen kann. Sie sind nach Deutschland gekommen. Hier gibt es, wie wahrscheinlich auch in Ihren Ländern, sehr viele Landwirte, die sich fragen, was Strukturwandel, Extremwetterlagen, Niedrigpreise oder Handelsstreit für ihre Zukunft bedeuten. Jeder landwirtschaftliche Betrieb ist ja ein Stück Heimat und immer auch etwas, das sehr stark mit Gefühlen zu tun hat und gleichzeitig ökonomisch funktionieren muss. Deshalb müssen wir an dieser Stelle so zusammenarbeiten, dass wir eine nachhaltige Nutzung der Natur, unserer Erde, um es etwas pathetischer zu sagen, mit den Notwendigkeiten des wirtschaftlichen Funktionierens zusammenbringen. Wir haben viele Chancen. Gerade auch die landwirtschaftlichen Berufe können durch die Digitalisierung auch ungemein attraktiv sein. Ich weiß, dass hier im Umkreis dieses Forums auch Start-ups sind. Eine der Chancen ist natürlich, dass schwere körperliche Arbeit wegfällt. Roboter in den Ställen können heutzutage recht viel. Ich konnte mir das im vergangenen Sommer selbst anschauen. Farmmanagementsysteme können Buchführung und Planung erleichtern. Deshalb kann man in einigen Betrieben heute schon sehen, wie die Zukunft aussieht – nicht nur in Großbetrieben. Wir in Deutschland versuchen, gerade auch die kleineren und mittelständischen Betriebe in den Blick zu nehmen. Da muss ich auch einen Blick auf die europäischen Kommissare werfen. Wir verfolgen natürlich alles, was in der Kommission diskutiert wird. Ich komme aus einer Region, in der eher große Betriebe zu Hause sind. Andere Regionen haben eher kleine Betriebe. Aber ich möchte Sie jetzt nicht mit EU-internen Diskussionen langweilen. Der technische Fortschritt geht schnell voran. Zum Beispiel wird wahrscheinlich bereits 2025 jede zweite Kuh in Nordwesteuropa von Robotern gemolken. Oft vollziehen sich die digitalen Entwicklungen noch schneller. Ich denke, trotzdem wird es zumindest in Deutschland ein wichtiges Problem sein, den Generationenwandel gut begleiten zu können. Aber je besser die materielle und ökonomische Lage der Betriebe ist, desto schneller werden sich auch Innovationen durchsetzen. Damit Landwirte die Möglichkeiten der Digitalisierung überhaupt nutzen können, müssen wir allerdings erst einmal eine leistungsstarke digitale Infrastruktur aufbauen. Dabei haben wir in Deutschland noch viel zu tun. Ich vermute aber, das ist in anderen Ländern auch so. Julia Klöckner, unsere Landwirtschaftsministerin, zeigt hohe Schlagkraft, wenn es darum geht, dass auch die ländlichen Regionen ans Internet angeschlossen werden; und zwar nicht an irgendein Internet, sondern möglichst rasch natürlich auch an das schnelle Internet. Da wir aber erleben, dass in den ländlichen Regionen das rein marktwirtschaftlich nicht funktioniert, brauchen wir hierbei staatliche Unterstützung. Die Präzisionslandwirtschaft, auf die ich später noch zu sprechen kommen werde, ist ein klassisches Beispiel dafür, dass allein der Anschluss des Bauernhofs noch nicht reicht, sondern dass man auch auf vielen Hektar großen Flächen, die man bewirtschaftet, Zugang zum Internet braucht. Deshalb also ist dies ein Topthema, denn sonst bräuchten wir über Digitalisierung in weiten Bereichen nicht zu sprechen. Die traditionsreiche Branche der Landwirtschaft muss also – das ist jedenfalls deutsche Politik; und ich glaube, in den allermeisten Ländern ist es auch so – einen festen Platz in der Wirtschaftspolitik unserer Länder, in der Wertschöpfungspolitik unserer Länder einnehmen. Sie bedeutet auch immer einen zusätzlichen Beitrag zur Landschafts- und Kulturpflege. Sie leistet einen Beitrag für nachwachsende Rohstoffe und natürlich auch für die Versorgung mit Nahrungsmitteln. Die Vereinten Nationen schätzen, dass weltweit bis zum Jahr 2050 zwei bis drei Milliarden Menschen mehr ernährt werden müssen. Das heißt, die Landwirtschaft muss etwa zwei Drittel mehr produzieren. Aber es ist uns schon bis heute noch nicht gelungen, den Hunger aus der Welt zu verbannen. Es wird also immer wichtiger, dass wir neue Wege finden – auch um ökologische Nachteile zu vermeiden oder um da, wo heute noch unökologisch gewirtschaftet wird, diesen Zustand zu überwinden. Die Lebensmittelproduktion kann und muss also gesteigert werden, gerade auch in den Ländern, die wir gemeinhin als Entwicklungsländer bezeichnen. Deshalb müssen wir verschiedene Dinge verbessern. Ich will erstens die Verbesserung des Zugangs zu Märkten und Betriebsmitteln sowie der allgemeinen Rahmenbedingungen für Investitionen nennen. Wir, die wir in Europa zu Hause sind, haben dabei auch unsere Probleme. Aber ich habe mich auch sehr viel mit afrikanischen Ländern beschäftigt. Wenn man sieht, welche Kreditzinsen gezahlt werden müssen und wie schwierig es ist, überhaupt einen Kredit zu bekommen, dann begreift man, dass man vor riesigen Problemen steht. Deshalb haben wir – das hat nicht direkt etwas mit Landwirtschaft zu tun – als Initiative während unserer G20-Präsidentschaft einen sogenannten „Compact with Africa“ aufgelegt, mit dem wir die Länder ermuntern, ihre finanziellen Rahmenbedingungen transparenter zu machen und mit der Weltbank und dem IWF zusammenzuarbeiten. Im Gegenzug verbessern wir die Zugangsmöglichkeiten für Kredite und arbeiten mit der Afrikanischen Entwicklungsbank zusammen. Ich denke, das ist sehr wichtig. Denn sie dürfen sich ja auch nicht in Abhängigkeiten begeben, die ihnen für vielleicht zwei oder drei Jahre eine gute Zukunft verschaffen, mit denen sie anschließend aber auf den Schulden sitzen bleiben und keine nachhaltige Entwicklung schaffen können. Gute Regierungsführung ist Voraussetzung für eine gute Zusammenarbeit. Sie sind hier als Vertreter Ihrer Staaten. Wenn ich mir das zu sagen erlauben darf: Viele Länder haben ganz andere Probleme als wir in Europa. Wir in Europa haben ein steigendes Durchschnittsalter. Aber in asiatischen Ländern und noch mehr in afrikanischen Ländern gibt es einen unglaublich hohen Prozentsatz junger Menschen. Sie alle wollen eine Zukunft haben. Diese jungen Menschen haben oft, noch bevor sie einen dauerhaften Zugang zu Strom haben, schon ein Smartphone. Wenn sie ein Smartphone haben, dann wissen sie, was auf der Welt möglich ist. Diese jungen Menschen wollen mitsprechen, sie wollen Teil einer aktiven Zivilgesellschaft sein. Deswegen meine Bitte: Haben Sie keine Sorge vor einer aktiven Zivilgesellschaft, sondern nutzen Sie die Chance, dass Menschen mitbestimmen können und ihr Leben mitgestalten können. Die Menschen wollen natürlich auch Sicherheit bei ihren Eigentumsrechten haben. Und man muss alles tun, um sozialen Frieden zu schaffen und zu sichern. Zweitens: Neben der Verbesserung des Zugangs zu Märkten und Betriebsmitteln sind moderne, regional angepasste und umweltverträgliche Methoden gefragt, um Produktion und Produktivität zu erhöhen. Um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden, braucht es Innovation. Ich weiß, viele Länder, in denen noch eine, sagen wir einmal, sehr familienbezogene Landwirtschaft mit einem sehr geringen technischen Aufwand betrieben wird, stehen jetzt vor einem riesigen Sprung. Auch wenn wir ihnen über Entwicklungshilfe Methoden modernster Landwirtschaft beibringen und ihnen die schönsten Maschinen zeigen, gibt es aber vor Ort oft immer noch einen Kampf um die Felder. Und man steht vor Fragen wie etwa: Kann man mit dem Nachbarn und seinen Maschinen zusammenarbeiten und sozusagen sein Land zusammentun; wie macht man das am besten und welche Risiken geht man dabei ein? Insofern ist in vielen Bereichen auch ein riesiger kultureller Prozess zu bewältigen. Wir müssen uns der Digitalisierung stellen. Wettervorhersagen sind dabei noch das einfachste. Es gibt Internetinformationen über neue Anbaumethoden und über Schädlingsbekämpfung. Ganz wichtig ist auch: Man kann Preise vergleichen. Es kann einen nicht irgendeine Person, die irgendwo auftaucht, erpressen, sondern man kann seinen Zugang nutzen, um vergleichbare Preise zu bekommen. Man kann die Direktvermarktung sehr viel besser hinbekommen. Das G20-Agrarmarkt-Informationssystem AMIS ist schon zu einem ganz guten Instrument geworden, um Ernteaussichten und Preise für Reis, Mais, Weizen und Soja transparenter zu machen, Preisschwankungen besser einzudämmen und damit auch in gewisser Weise Hungerkatastrophen vorzubeugen. All das – auch das wird klar – geht ohne internationale Zusammenarbeit überhaupt nicht. Wer glaubt, er könne das alles für sein Land alleine lösen und dabei andere über den Tisch ziehen, der wird grauenhaft scheitern. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Deshalb ist es so wichtig, dass wir hier mit Ihrem Forum auch ein Beispiel für internationale Zusammenarbeit haben. Natürlich gibt es keine Pauschallösung. Nicht nur zwischen den einzelnen Ländern etwa in Nord und Süd, sondern auch innerhalb der Länder – ich habe es an Deutschlands Beispiel schon gezeigt – sind die Probleme vollkommen unterschiedlich. Das heißt, man muss gleichermaßen Lösungen für kleine, mittlere und riesige Betriebe finden. Wir müssen natürlich auch im Blick haben, dass wir die Vielfalt der Natur und die Regenerationsfähigkeit von Böden und Ökosystemen erhalten. Wenn wir uns mit dem Schwund der Arten beschäftigen, den wir weltweit sehen können, dann erkennen wir, dass das ein riesiges Thema ist – auch bei uns in Deutschland. Der Klimawandel erfasst immer weitere Teile der Welt. Afrikaner wissen seit langem, was das in ihren Ländern bedeutet, insbesondere in der Sahelzone. Aber auch hierzulande sehen wir, dass der Klimawandel unsere Bedingungen sehr verändert. Das wird ein Sommer allein nicht beschreiben, aber man kann inzwischen sehr wohl sehen, wie bestimmte Pflanzenarten in bestimmten Regionen Deutschlands nicht mehr so gedeihen wie noch vor hundert Jahren. Deshalb können wir schon sagen, dass der Klimawandel die ökologische Herausforderung unserer Zeit ist. Deshalb wollen wir auch alles tun, um auch mit einer nachhaltigen Landwirtschaft das Pariser Klimaschutzabkommen einhalten zu können. Das soll den Anstieg der Erderwärmung auf 1,5 Grad oder darunter beschränken. Dazu muss man aber ehrlicherweise sagen: Nicht jeder Sektor kann den gleichen Beitrag leisten. Für die Landwirtschaft zum Beispiel ist es nicht so ganz einfach, insbesondere in der Tierhaltung, die CO2-Emissionen zu reduzieren. Wir haben dazu inzwischen sehr interessante Forschungsmethoden, die zeigen, wie Ernährung und CO2-Emissionen zusammenhängen. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Wenn wir sagen, dass die Wirtschaft am Ende unseres Jahrhunderts weitestgehend dekarbonisiert sein muss, dann bedeutet das, dass die Landwirtschaft zu den Sektoren gehört, die bis zum Ende ihre Beiträge leisten werden. Wichtig ist auch die Frage – und das ist für uns mit Blick auf weite Teile der Welt eine riesige Sorge –: Wie gehen wir mit unseren Wäldern um? Solange Holz immer noch zum Heizen benötigt wird, kann von einer ökologischen Nachhaltigkeit keine Rede sein. Deshalb ist das Thema erneuerbare Energien und Landwirtschaft natürlich von sehr großer Bedeutung. Intensive Landwirtschaft – hohe Stickstoffeinträge und Pflanzenschutzmittel – ist natürlich auch ein Problem. Da kommt uns die Präzisionslandwirtschaft wirklich gerade recht. Es ist ja so, dass Digitalisierung – das merken wir zum Teil schmerzhaft und zum Teil sehr erfreut – überall Individualisierung fördert. Zum Teil erreichen wir die Menschen gar nicht mehr, weil jeder sozusagen seine Informationsecke hat, in der er sich austauscht. Sie können aber eben auch jede Pflanze in den Blick nehmen und spezifisch Einträge vornehmen und dadurch Dünger und Düngemittel sparen und hierfür auch eine Vorausschau machen. Wenn Künstliche Intelligenz und ihre Prognosemethoden noch dazukommen, dann wird man ganz wunderbare Dinge machen können, die uns heute noch recht unwahrscheinlich erscheinen. Julia Klöckner hat mir gerade gesagt, wie man bestimmte Schädlinge schon frühzeitig erkennen kann und wie man Pflanzen einzeln düngen kann. Das ist natürlich etwas, das aus meiner Perspektive sehr schön ist. Wenn sozusagen die Drohne ein pflanzengenaues Arbeiten ermöglicht, dann ist das letztlich auch für die Verbraucher von Vorteil. Natürlich betrifft die Digitalisierung auch sämtliche Vermarktungsmethoden. Das kann dazu führen, dass Verluste, die es heutzutage selbst in Ländern gibt, in denen traurigerweise noch Hunger herrscht, vermieden werden können. Wir weisen aber natürlich auch auf Gefährdungen hin. Das tun Sie ja auch, wenn Sie nach dem Eigentum an Daten und nach der Verantwortung für die Daten fragen. Die Hoheit über die Daten entscheidet in Zukunft im Grunde darüber, wo Wertschöpfung betrieben wird. Denn wer die Daten hat, der wird auch die Preise bestimmen können. Deshalb müssen wir auch im Datenbereich eine Wettbewerbsordnung schaffen. Wir müssen für die Nutzer Sicherheitsvorkehrungen vornehmen. Wir haben in Europa auch viele Klagen – das sage ich ganz offen –, weil wir manchmal zu bürokratischen Lösungen neigen. Aber im Grundsatz ist das, was wir als Datenschutz-Grundverordnung haben – mit bestimmten Sicherheitsansprüchen –, wirklich von allergrößter Bedeutung. Auch hierfür müssen wir eine weltweite, eine globale Lösung finden. Und dazu tragen Sie, die Sie in so großer Zahl hier sind, bei. Das heißt also: Sie sind einerseits in der Mitte einer riesigen, chancenreichen Entwicklung mit – wenn man einmal an die Zeit vor 50 Jahren denkt – fantastischen, kaum erdachten Möglichkeiten. Sie sind auf der anderen Seite aber auch in einer Entwicklung, in der es passieren kann, dass Menschen, die mit Landwirtschaft gar nichts zu tun haben, alle relevanten Daten gehören, nur weil sie eine Plattform betreiben und so einen großen Teil der Wertschöpfung aus der Landwirtschaft übernehmen können. Dafür, da die richtige Balance zu finden, die Belange der Landwirtschaft zu sehen und die Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten, in den Mittelpunkt zu stellen, ist dieses Forum gerade gut. Deshalb bin ich sehr gerne hierhergekommen und habe damit sozusagen einen unorthodoxen Besuch der Grünen Woche gemacht. Julia Klöckner hat mir dieses Forum ans Herz gelegt. Und ich bin sehr froh, dass ich der Einladung nachgekommen bin. Ich wünsche Ihnen auch weiter sehr gute Beratungen, ein gutes Endkommuniqué, ein gutes Weiterentwickeln – und in der knappen Freizeit, die Sie von der Gastgeberin vielleicht auch gegönnt bekommen, auch ein bisschen Freude an der Hauptstadt Berlin. Herzlichen Dank, dass ich hier dabei sein durfte.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Restitution eines Gemäldes von Thomas Couture aus dem Kunstfund Gurlitt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-restitution-eines-gemaeldes-von-thomas-couture-aus-dem-kunstfund-gurlitt-1567646
Tue, 08 Jan 2019 11:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Bis gestern war das Gemälde „Porträt einer sitzenden jungen Frau“ von Thomas Couture Teil der Ausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt“ hier im Martin-Gropius-Bau. Heute werden wir es seinen berechtigten Erben zurückgeben. Das freut mich sehr, zeigt es doch einmal mehr, dass die so aufwändige und mühselige Provenienzforschung der Gerechtigkeit wie auch der Wahrheit einen Dienst erweist. Deutschland trägt Verantwortung für die Aufarbeitung der Herkunft geraubter und entzogener Kunstwerke. Dazu gehört die moralische Pflicht, den menschlichen Schicksalen hinter den geraubten und entzogenen Werken gerecht zu werden. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass Sie, Frau Estrada und Herr Kleinertz, die Reise nach Berlin auf sich genommen haben, um das Werk „Portrait einer sitzenden jungen Frau“ entgegen zu nehmen: Die Nationalsozialisten haben es dem französischen Politiker Georges Mandel geraubt – Ihrem Großvater beziehungsweise Schwiegervater, der als Jude von den Nazis verfolgt und interniert wurde. Seien Sie als seine Erben heute ganz besonders herzlich willkommen! Sehr herzlich begrüße ich auch Herrn Ollagnier, den Gesandten Frankreichs in Berlin als Vertreter der französischen Botschafterin und Herrn Croquette, den französischen Botschafter für Menschenrechte, die internationale Dimension der Shoah, die Erinnerungskultur und die Bearbeitung der Enteignungen. Ich bin für die wertvolle Unterstützung Frankreichs bei der Aufklärung des Kunstfunds Gurlitt dankbar, besonders für die Unterstützung bei dieser Restitution, und freue mich, dass ein weiteres Werk aus dem Kunstfund Gurlitt nach Frankreich restituiert werden kann. Willkommen heißen darf ich außerdem Herrn Dr.–Doktor Brülhart und Frau Dr.–Doktor Zimmer als Vertreter des Kunstmuseums Bern. Mit der Annahme der Erbschaft Cornelius Gurlitts hat diese private schweizerische Einrichtung einen erheblichen Beitrag zur Aufarbeitung des NS-Kunstraubs geleistet. Ihre Bereitschaft, nach den Washingtoner Prinzipien zu handeln und NS-Raubkunst an die berechtigten Erben zurückzugeben, hat die heutige Restitution erst möglich gemacht. Dafür, lieber Herr Dr.–Doktor Brülhart, liebe Frau Dr.–Doktor Zimmer, noch einmal herzlichen Dank. Ihnen wiederum, liebe Frau Estrada, lieber Herr Kleinertz, ist es zu verdanken, dass das Bild von Thomas Couture in den Ausstellungen zum Kunstfund Gurlitt in Bonn, Bern und Berlin zu sehen war. Dadurch war es möglich, das Schicksal des jüdischen Politikers Georges Mandel einer breiten Öffentlichkeit bekannt und einmal mehr deutlich zu machen, dass hinter jedem geraubten Kunstwerk das individuelle Schicksal eines Menschen steht. Dieses Schicksal anzuerkennen sind wir den Opfern der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und deren Nachfahren schuldig. Die heutige Rückgabe des Werks ist deshalb ein würdiger Schlusspunkt dieser Ausstellungen – wenn auch freilich kein Abschluss der rückhaltlosen Aufarbeitung des NS-Kunstraubs. Das Team des Projekts „Provenienzrecherche Gurlitt“, das beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste angesiedelt ist, hatte das Werk im Oktober 2017 – kurz vor der Eröffnung der Ausstellungen in Bonn und Bern – als NS-Raubkunst identifiziert. Ein winziges, repariertes Loch in dem Gemälde führte die Provenienzforscher auf die Spur des früheren Eigentümers. Der Erfolg der Forscherinnen und Forscher, die das Gemälde anhand eines derart kleinen Details als NS-Raubkunst identifizieren konnten, unterstreicht einmal mehr, wie wichtig es ist, in der Provenienzforschung nicht nachzulassen. Liebe Frau Bahrmann, Ihnen als Leiterin des Projektes sowie den beteiligten Forscherinnen und Forschern gilt daher ebenfalls mein herzlicher Dank. Unzählige, meist jüdische Sammler von Kunst- und Kulturgütern verloren während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ihr Eigentum: Sie wurden von den Nationalsozialisten verfolgt, sie wurden beraubt, sie wurden enteignet. Andere mussten ihren Besitz weit unter Wert veräußern oder bei Flucht und Emigration zurücklassen. Dieses Leid, dieses Unrecht lässt sich nie wieder gutmachen. Dennoch empfinde ich es als wichtige und bedeutsame Geste, mit der Rückgabe des Couture-Gemäldes an die Erben des ursprünglichen Eigentümers George Mandel wenigstens ein Stück weit zu historischer Gerechtigkeit beitragen zu können. In diesem Sinne ist und bleibt unsere Verpflichtung, die Herkunft aller Kulturgüter zu untersuchen, die möglicherweise NS-verfolgungsbedingt entzogen wurden. Mag es auch ungeheuer schwierig sein, die Herkunft eines Kunstwerks über Jahrzehnte zurück zu verfolgen und zweifelsfrei zu klären: Mit jeder Rückgabe an die rechtmäßigen Erben zollen wir dem Schicksal ihrer jüdischen Besitzer Respekt. Wahrheit und Gerechtigkeit müssen deshalb Maßstäbe der Aufarbeitung des NS-Kunstraubs bleiben. Das verdient jede nur mögliche Anstrengung und Aufmerksamkeit. Ich danke allen, die daran Anteil haben, und darf nun Herrn Ollagnier bitten, ein paar Worte zu sprechen.
„Mit jeder Rückgabe an die rechtmäßigen Erben zollen wir dem Schicksal ihrer jüdischen Besitzer Respekt“, erklärte die Kulturstaatsministerin in Berlin bei der Rückgabe eines weiteren Gemäldes aus der Sammlung Gurlitt, das sich als NS-Raubkunst erwiesen hat. Hier zeige sich einmal mehr, „dass die so aufwändige und mühselige Provenienzforschung der Gerechtigkeit wie auch der Wahrheit einen Dienst erweist“, unterstrich Grütters. Die Aufarbeitung des NS-Kunstraubs verdiene deshalb jede nur mögliche Anstrengung und Aufmerksamkeit.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Empfang der Sternsinger am 7. Januar 2019
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-empfang-der-sternsinger-am-7-januar-2019-1565962
Mon, 07 Jan 2019 11:29:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrter Herr Prälat Krämer, sehr geehrter Herr Pfarrer Bingener und vor allem Ihr, liebe Sternsinger, ich freue mich in diesem Jahr ganz besonders, dass Ihr hierhergekommen seid, denn manche hatten einen ziemlich beschwerlichen Weg, weil es nicht überall so aussieht wie in Berlin, sondern in einigen Teilen Deutschlands ja sehr viel geschneit hat. Deshalb danke dafür, dass auch die, die aus Bayern und aus dem Süden Deutschlands kommen, den Weg hierher geschafft haben. Ich freue mich jedes Jahr, wenn Ihr kommt und damit das neue Jahr sozusagen einläutet und diesem Haus den Segen für die Arbeit gebt. Das sage ich auch im Namen der hier Arbeitenden, auch der beiden Staatsminister, die heute dabei sind, Monika Grütters und Herr Hoppenstedt. Eure Anwesenheit ist immer etwas ganz Besonderes für uns. Denn die Farbigkeit eurer Kostüme, die Musik, die Fröhlichkeit und der Segen – das haben wir nicht alle Tage; und das muss dann für 365 Tage reichen, bis Ihr wiederkommt. Ihr seid also Segensbringer – und Ihr seid Botschafter. Eure Botschaft ist: „Wir gehören zusammen.“ Das haben wir auch durch das Anfassen miteinander gezeigt. Dass Ihr in diesem Jahr besonders auf die Situation von Kindern mit Behinderung aufmerksam macht, finde ich sehr wichtig. Das betrifft nicht nur ein Projekt in einem Land, sondern das ist etwas ganz Generelles. Ihr habt das ja eben an verschiedenen Beispielen deutlich gemacht. Viele Kinder mit Behinderung könnten so viel machen, wenn man ihnen manchmal mehr helfen und kleine Unterstützungen geben würde. Das ist leider nicht überall möglich. Die meisten Menschen mit Behinderung leben in Entwicklungsländern. Dort ist es oft schon für die Menschen, die keine Behinderung haben, sehr schwer, überhaupt das Leben zu gestalten, aber dann erst recht das Leben mit Behinderung. Oft reichen auch das Wissen und die Kraft nicht aus. Oft werden diese Menschen auch ausgegrenzt. Wenn man ihnen Hilfen geben kann – Sehhilfen, Hörhilfen, Hilfsmittel wie zum Beispiel Rollstühle –, dann wird vieles schon sehr viel besser. Für uns in Deutschland ist das zum Teil selbstverständlich. Vielleicht kennt auch Ihr aus der Bekanntschaft oder aus der Schule Menschen, die Behinderungen haben. Aber seien wir einmal ganz ehrlich: Auch wenn wir materiell alles haben, werden Menschen, die ein bisschen anders sind, manchmal auch ganz schön gehänselt und haben es nicht so einfach. Deshalb ist es selbst in einem reichen Land ganz wichtig, dass wir mit Menschen mit Behinderung so umgehen, dass wir ihre Würde immer respektieren und uns einmal in sie hineinversetzen. Auch das ist ja ein Teil Eurer Arbeit. Aber in den Entwicklungsländern gibt es noch ganz andere Probleme. Kinder mit Behinderung leben oft zu Hause und können nicht in die Schule gehen. Sie werden auch oft in Kinderheimen untergebracht. Man möchte sie aus der Gesellschaft ausgrenzen. Die Eltern schämen sich manchmal, dass sie Kinder haben, die nicht so sind wie die anderen. Deshalb ist es ganz, ganz wichtig, dass Ihr diese jungen Menschen in den Mittelpunkt stellt. Wenn Kinder keine oder nur schlechte Möglichkeiten haben, etwas zu lernen oder sich gut zu entwickeln, wenn sie keine Unterstützung erfahren, wenn sie nicht wissen, was in der Zukunft aus ihnen wird, dann läuft natürlich etwas ganz falsch. Damit dürfen wir uns niemals abfinden, auch wenn die Probleme riesig sind und man gar nicht weiß, wo man zuerst anfangen soll. Viele Länder haben zwar Vereinbarungen unterschrieben – die Vereinten Nationen haben eine Konvention verabschiedet, die sehr viele Länder unterzeichnet haben –, aber die Realität, die Wirklichkeit, das, was man zu Hause erlebt, sieht oft ganz anders aus. Deshalb setzen wir als Bundesregierung uns dafür ein, dass Menschen mit Behinderung, gerade auch Kinder, bessere Möglichkeiten haben. Ich sage ganz offen: Wir helfen in anderen Ländern, aber wir haben auch bei uns zu Hause noch viel zu tun. Denn Barrierefreiheit und vieles andere mehr – ich habe auch vom Ausgrenzen gesprochen –, das ist manchmal auch bei uns ein Problem. Das, was wir als Staat tun, ist wichtig und notwendig. Aber es ist gut und wichtig, dass es Euch gibt, weil das, was wir tun können, nicht ausreicht. Deshalb sammelt Ihr in diesem Jahr Geld, um Kindern mit Behinderung in Peru und in vielen anderen Ländern der Welt zu helfen. Das kann darin bestehen, dass man spezielle medizinische Behandlungen gibt. Das kann darin bestehen, dass ein Schulbesuch ermöglicht wird. Das kann darin bestehen, dass Kinder eine Ausbildung bekommen, die sonst keine Ausbildung bekämen. Deshalb freue ich mich, dass Ihr zwei Reha-Zentren für Kinder und Jugendliche im Amazonasgebiet in Peru unterstützt. Dort herrscht ganz große Armut. Ihr werdet sicherlich darüber gesprochen haben. Dass sich für diese Kinder etwas bewegt, etwas ändern wird, dass sie Hoffnung für ihre Zukunft haben – das ist etwas ganz Schönes zu Beginn des Jahres 2019. Ihr macht aber mehr. Ihr sammelt nicht nur für diese Projekte. Dass es Euch gibt, und so viele davon, dass es die Betreuer gibt – genau das ist auch die Botschaft an uns alle und an die Menschen, die Ihr besucht: Macht doch auch etwas; jeder kann einen kleinen Beitrag leisten. Ich hoffe, Euch haben sich viele Türen geöffnet und Ihr habt freundliche Menschen getroffen. Denn wir hier in Deutschland sind im Durchschnitt, verglichen mit anderen, doch eben sehr viel besser dran. Auch wer nur ein kleines bisschen hilft, der kann schon einen Beitrag dazu leisten, dass sich woanders das Leben eines Menschen verändert. Im vergangenen Jahr habt Ihr mit fast 49 Millionen Euro so viel Geld gesammelt wie noch niemals zuvor. Damit konnten viele, viele gute Projekte verwirklicht werden. Ich hoffe natürlich, dass es dieses Jahr wieder so gut wird und dass Ihr mindestens so viel sammelt. Aber wir wollen erst einmal abwarten, bis alles zu Ende ist. Ich wünsche Euch weiterhin viel Freude. Ich danke Euch, dass Ihr Euch von so jungem Alter – wir haben heute ja auch ganz kleine Könige dabei – bis hinauf fast schon ins Alter von Jugendlichen auf den Weg gemacht habt und auch uns hier im Kanzleramt in Berlin besucht. Damit auch in diesem Jahr wieder etwas zusammenkommt, habe ich natürlich auch eine Spende für Euch. Vielleicht hat auch jemand eine Schatulle, mit der er zu mir kommen könnte. Ich wünsche Euch alles Gute; und ich wünsche auch, dass die Projekte wirklich gut gelingen mögen.
im Bundeskanzleramt
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum 30-jährigen Bestehen der Kulturstiftung der Länder
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-30-jaehrigen-bestehen-der-kulturstiftung-der-laender-1563420
Fri, 14 Dec 2018 12:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Kronzeugen für das erfolgreiche Wirken der Kulturstiftung der Länder zu finden, ist ganz offensichtlich nicht schwer: Das erschließt sich schon aus dem Programm des heutigen Festakts, der mit einer ganzen Reihe von Reden aufwartet – und mit Blick auf ein (großes) Publikum, das sich davon nicht abschrecken lässt. Kronzeugen für 30 erfolgreiche Jahre sind auch die mehr als 1.000 Kunst- und Kulturschätze, die dank der Kulturstiftung der Länder in öffentlichen Sammlungen in Deutschland zu sehen sind: Würde man sie heute alle gesammelt in einer Jubiläumsausstellung zeigen, bedürfte es wohl keiner Festreden mehr: Die Objekte, angefangen von den Tagebüchern Alexander von Humboldts bis hin zu Meisterwerken Iza Genzkens oder Gerhard Richters, sprächen für sich – und für die Arbeit der KSL–Kulturstiftung der Länder, für das Engagement ihrer Führung, ihres Kuratoriums und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Trotz der zahlreich vorhandenen Zeugnisse ihrer Erfolgsgeschichte will ich heute aber auf einen weiteren Kronzeugen für die gesellschaftliche Bedeutung der KSL–Kulturstiftung der Länder hinweisen – auf einen Kronzeugen, mit dem wohl kaum jemand gerechnet hätte, dessen Botschaft aber umso eindrücklicher unterstreicht, warum es so wichtig ist, was der KSL–Kulturstiftung der Länder seit mehr als 30 Jahren immer wieder gelingt: nämlich national bedeutsame Kulturgüter vor dem Abwandern ins Ausland zu bewahren und stattdessen in deutschen Museen und Sammlungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dieser Kronzeuge ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag – ein Gericht, das sich üblicherweise mit schwersten Menschenrechtsverletzungen befasst. Zwei Jahre ist es her, dass der Internationale Strafgerichtshof die Zerstörung von Kulturgütern durch Islamisten in der malischen Stadt Timbuktu als Kriegsverbrechen verurteilt hat: ein historisches Urteil, das der Weltöffentlichkeit eindrucksvoll vor Augen führte, warum Kulturgut einen besonders hohen Schutz verdient. Der Internationale Gerichtshof hat damit erstmals unmissverständlich und unüberhörbar klar gemacht: Kulturgüter sind keine Luxusgüter. Kulturgüter sind, wie eine Tageszeitung (DIE WELT) die Anklage zutreffend kommentierte, „existentiell, für Gemeinschaften, Nationen, die Menschheit“. Die Überzeugung, dass Kulturgüter existentiell sind als Spiegel unserer Geschichte und unserer Identität, diese Überzeugung ist Teil unseres Selbstverständnisses als Kulturnation. Kultur ist, was uns definiert. Kultur ist, was uns ausmacht – als Menschen, als Europäer, als Deutsche, als Rheinländer oder Thüringer, als Bayern oder Mecklenburger, als Hamburger oder Berliner. Es ist diese Überzeugung, aus der heraus die Kulturstiftung der Länder geboren wurde. Es ist diese Überzeugung, die das Wirken der KSL–Kulturstiftung der Länder und das Zusammenwirken der 16 Bundesländer bis heute trägt und die dafür sorgt, dass die Kulturgüter, die in den Ländern gesammelt, bewahrt und ausgestellt werden, gleichermaßen föderale Vielfalt wie auch kulturelle Identität sichtbar machen. Es ist diese Überzeugung, die der KSL–Kulturstiftung der Länder von Anfang an auch die Unterstützung des Bundes sicherte und die – bei allen tagespolitischen Konflikten im föderalen Gefüge und trotz der 2005 gescheiterten Fusionierung mit der Kulturstiftung des Bundes – eine Bund-Länder-Allianz im Sinne eines kooperativen Kulturföderalismus zusammenhält. So löst die Kulturstiftung der Länder zwischen Schwarzwald und Ostsee und von Regensburg bis Kiel, von Dresden bis Köln als Ankaufallianz der Bundesländer und als Schmiede von Finanzierungskoalitionen mit privaten Stiftungen und Mäzenen genau das ein, was der Internationale Strafgerichtshof der Weltgemeinschaft am Beispiel Timbuktus ins Stammbuch schrieb: die gemeinsame Verantwortung für den Schutz des kulturellen Erbes und für seine Pflege als Spiegel unserer Geschichte und Identität. Gegründet als „Einkaufsgemeinschaft der Länder“ zum Erwerb national oder auch regional bedeutsamer Kulturschätze, hat die KSL–Kulturstiftung der Länder sich in den vergangenen drei Jahrzehnten als „Kulturgutschutzgemeinschaft“ und damit auch als eine der wichtigsten Institutionen der Kulturnation Deutschlands etabliert. In einer Zeit, in der Kulturgüter auf einem heiß gelaufenen Kunstmarkt bisweilen zu reinen Spekulationsobjekten degradiert und auf ihren materiellen Wert reduziert werden, rückt sie ihren ideellen Wert ins Licht der Öffentlichkeit. Was sich damit bewegen lässt, ist schwarz auf weiß in beeindruckenden Zahlen dokumentiert: Mit rund 170 Millionen aus Ländermitteln konnte die KSL–Kulturstiftung der Länder fast das Dreifache an Mitteln von privaten Stiftungen, Unternehmen und Mäzenen mobilisieren und so in den vergangenen drei Jahrzehnten Kulturschätze im Gesamtwert von 640 Millionen Euro in öffentliche Sammlungen bringen – ein wahrer Segen in Zeiten knapper Ankaufetats! Ob es um Autographen Ludwig van Beethovens für das Beethoven-Haus in Bonn ging oder um eine Werkgruppe des Malers Carl Lohse für das Stadtmuseum Bautzen, ob um das Archiv Walter Kempowskis für die Berliner Akademie der Künste oder um den Schreibtisch Friedrichs des Großen für das Potsdamer Schloss Sanssouci: Das erfolgreiche Trommeln für bürgerschaftliches Engagement und das euphorische Echo, das ein Ankauf vor Ort regelmäßig hervorruft, sind Musik in den Ohren jedes Kulturliebhabers, zeugt es doch von jener Wertschätzung jenseits des Marktwerts, die unsere Kulturschätze verdienen. Deshalb freut es mich, dass auch der Bund immer wieder dazu beitragen konnte und kann: Der Ankauf der geraubten Teile des Domschatzes für Quedlinburg Anfang der 90er Jahre war die erste Erwerbung in Zusammenarbeit mit der KSL–Kulturstiftung der Länder. Ebenso spektakulär waren die Ankäufe der Ottheinrich-Bibel und des Schott Musikarchivs für die Staatsbibliotheken in München und Berlin und nicht zuletzt die Südamerika Reisetagebücher Alexander von Humboldts für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz – um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Die von der KSL–Kulturstiftung der Länder in einem weit verzweigten und höchst effizienten Netzwerk aus privaten Stiftungen, Unternehmen und Mäzenen kultivierte Form der staatlich-privaten Zusammenarbeit beim Abwanderungsschutz erwies sich dabei immer wieder als echtes Erfolgsmodell -zumal die Stiftung ja nicht nur als Geldgeber unterstützt, sondern Museen, Archiven und Bibliotheken auch beratend, koordinierend und moderierend bei deren Ankäufen zur Seite steht. So war die KSL–Kulturstiftung der Länder als Kulturgutschutzgemeinschaft und als Schmiede von Kulturgutschutzkoalitionen für die BKM–Beauftragte für Kultur und Medien denn auch ein starker, glaubwürdiger – und enorm wichtiger! – Partner bei der Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes. Für Ihre Unterstützung mit Rat und Tat und die Rückendeckung in der hitzigen öffentlichen Debatte bin ich Ihnen, liebe Isabel Pfeiffer-Poensgen, die Sie damals noch Generalsekretärin der Stiftung waren, bis heute ganz besonders dankbar. Sehr hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch das Vorhaben der KSL–Kulturstiftung der Länder, „Kulturgut nationalen Ranges“ zu definieren und den Kriterienkatalog für die Erwerbsförderungen zu präzisieren. Dass die KSL–Kulturstiftung der Länder längst über die griffige Bezeichnung „Einkaufsgemeinschaft der Länder“ hinausgewachsen ist und sich über die Jahre zu einer kulturpolitischen „Interessengemeinschaft der Länder“ und zu einer Stütze des kooperativen Kulturföderalismus entwickelt hat, zeigen zahlreiche weitere Beispiele der erfreulich guten Zusammenarbeit zwischen BKM–Beauftragte für Kultur und Medien und KSL–Kulturstiftung der Länder, von denen ich zumindest drei herausstellen möchte. Erstens, die Zusammenarbeit bei der systematischen Erforschung von Raubkunst aus der NS-Zeit in deutschen Museen, Bibliotheken und Archiven: Die KSL–Kulturstiftung der Länder hat zunächst die bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz angesiedelte Geschäftsstelle der Arbeitsstelle für Provenienzforschung finanziert. Als dann 2015 auf meine Initiative hin von Bund, Ländern und kommunalen Spitzen-verbänden das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste gegründet wurde, in dem die Arbeitsstelle aufging, hatte ich die KSL–Kulturstiftung der Länder an meiner Seite. Für die tatkräftige Unterstützung bei der Errichtung des Zentrums und im Kuratorium bin ich sehr dankbar! Es ist gut und wichtig, bei der Umsetzung der Washingtoner Prinzipien und der Gemeinsamen Erklärung in Deutschland auch auf Ihre Fachkompetenz und Expertise zählen zu können, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der KSL–Kulturstiftung der Länder. Übrigens war – das wissen vermutlich nur wenige – der erste Anstoß zur Gründung der sogenannten Limbach-Kommission eine Idee der früheren Generalsekretärin der KSL–Kulturstiftung der Länder, Frau Prof. von Welck, die ich bei dieser Gelegenheit ebenfalls herzlich begrüße. Ein zweites Beispiel für den Schulterschluss zwischen BKM–Beauftragte für Kultur und Medien und KSL–Kulturstiftung der Länder ist der 2005 durch die Stiftung mit initiierte Deutsch-Russische Museumsdialog zur Erforschung von Kulturgutverlusten, genauer: zur Erforschung der Kriegsverluste in deutschen und russischen Sammlungen. Dieser Dialog hat nicht nur die Kontakte und Beziehungen der Museen untereinander intensiviert – ein schöner und auch gewollter Nebeneffekt; er hat sich über die Jahre auch zu einem wichtigen Fundament der deutsch-russischen Kulturbeziehungen entwickelt. Es freut mich sehr, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus beiden Ländern hier vertrauensvoll zusammenarbeiten, nicht zuletzt deshalb, weil diese Forschungsarbeit in den vergangenen Jahren immer wieder auch Rückgaben aus Deutschland an russische Museen ermöglicht hat. Für die guten und vertrauensvollen Beziehungen des Bundes zur Kulturstiftung der Länder stehen – um noch ein drittes Beispiel zu nennen – auch die gemeinsamen Förderungen für den Deutschen Übersetzerfonds, die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die Jahrestagung des Deutschen Museumsbundes, das deutsche Zentrum des Internationalen Theaterinstituts, die Internationale Gesellschaft der Bildenden Künste, den Deutschen Musikrat sowie die Koordinierungsstelle zum Erhalt schriftlichen Kulturgutes – KEK. Bewährt hat sich im Übrigen auch die Kooperation von KSL–Kulturstiftung der Länder und Kulturstiftung des Bundes. Diese Kooperation wie auch die Beziehungen beider Stiftungen zum Bund bzw. zu den Ländern darf man wohl getrost als Herz des kooperativen Kulturföderalismus bezeichnen – auch weil die KSL–Kulturstiftung der Länder immer wieder eine moderierende und koordinierende Rolle bei der Bewältigung der gemeinsamen kulturpolitischen Herausforderungen von Bund und Ländern übernimmt. Die regelmäßige Teilnahme der Kulturstiftungen der Länder und des Bundes an den regelmäßigen kulturpolitischen Spitzengesprächen ist Ausdruck unserer Wertschätzung für die Arbeit beider Stiftungen, und ich freue mich sehr, dass wir die enge Zusammenarbeit mit der KSL–Kulturstiftung der Länder fortsetzen werden – mit neuen Impulsen beispielsweise in der kulturellen Bildung, wie es der Koalitionsvertrag vorsieht. So sind wir beispielsweise im guten Gespräch miteinander zu der Frage, ob wir den BKM–Beauftragte für Kultur und Medien-Preis für kulturelle Bildung“ und den KSL–Kulturstiftung der Länder-Preis „Kinder zum Olymp“ künftig verbinden können. Ganz besonders wichtig ist mir die Unterstützung der KSL–Kulturstiftung der Länder bei einem Thema, das mir sehr am Herzen liegt und das uns noch lange beschäftigen wird: bei der kulturpolitischen Aufarbeitung der Kolonialzeit. Hier stehen wir noch ganz am Anfang, und ich freue mich sehr über Ihr Versprechen, lieber Herr Hilgert, dass die KSL–Kulturstiftung der Länder sich hier einmal mehr auch als „kulturpolitisches Ideenlabor“ einbringen wird. Fest steht, meine Damen und Herren: Die Bewahrung des nationalen Kulturerbes und die Förderung und Vermittlung von Kunst und Kultur bleiben auch weiterhin eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern, und so wird die KSL–Kulturstiftung der Länder auch in Zukunft dringend gebraucht. Wo auch immer wir kulturpolitisch „gemeinsame Sache“ machen: Ich hoffe, wir tun dies im Konsens, dass Kulturgüter nicht nur einen Preis, sondern auch einen Wert haben und dass Kunst keine Ware und Geldanlage ist wie jede andere. Denn wo die Preise, die sich mit Kunst erzielen lassen, höher bewertet werden als ihr Wert, wird sie irgendwann zum dekorativen Luxus, den wir uns nur in guten Zeiten leisten und den wir in schlechten Zeiten zur Disposition stellen. Wenn wir eine solche „Kulturpolitik nach Kassenlage“ ablehnen, wenn wir uns in Deutschland stattdessen weiterhin eine auskömmliche Kulturfinanzierung leisten wollen, dann aus dem Konsens heraus, dass Kunst von unschätzbarem Wert ist für eine humane Gesellschaft und Kräfte entfalten kann, die jene der Politik und des Geldes bisweilen übersteigen. Diese Kräfte brauchen wir angesichts der zunehmenden Polarisierung, ja: Spaltung unserer Gesellschaft und angesichts der gewaltigen Herausforderungen im Zusammenhang mit Migration und Integration mehr denn je. Deshalb freue ich mich sehr, lieber Herr Hilgert, dass Sie die Kulturstiftung der Länder als neuer Generalsekretär noch stärker politisch ausrichten und in den großen gesellschaftlichen Debatten positionieren wollen. Ich wünsche Ihnen und uns allen, dass es Ihnen dabei nicht so geht wie einst dem bayerischen König Ludwig I.: Als er 1827 die Sammlung Boisseree, die 216 altniederländische und altdeutsche Tafelbilder umfasste, für 240.000 Gulden erwarb, soll er seine Umgebung auf Stillschweigen eingeschworen haben, ich zitiere: „Nur wünsche ich, daß nichts davon in die Zeitungen komme und besonders, daß man den Preis nicht erfahre. Wenn man das Geld im Spiel verliert oder für Pferde ausgibt, meinen die Leute, es wäre recht, es müsse so sein. Wenn man es aber für Kunst verwendet, sprechen sie von Verschwendung.“ Von „Verschwendung“ spricht heute zum Glück niemand mehr, so dass so manches Bundesland sich im Kulturetat ruhig noch etwas großzügiger zeigen könnte … . Das gesellschaftliche Bewusstsein jedenfalls, dass Kunst nicht nur einen Preis, sondern auch einen (ideellen) Wert hat und dass die sorgfältige Unterscheidung zwischen beidem nicht nur eine semantische Spitzfindigkeit ist, steht einer Kulturnation gut zu Gesicht, und in diesem Sinne wünsche ich der Kulturstiftung der Länder weiterhin viel Erfolg beim Einwerben von Finanzmitteln und eine glückliche Hand beim Ausgeben dieser Mittel. Auf viele weitere erfolgreiche Jahre! Herzlichen Glückwunsch zum 30-jährigen Jubiläum!
In den vergangenen drei Jahrzehnten habe sich die Kulturstiftung der Länder als „‚Kulturgutschutzgemeinschaft‘ und damit auch als eine der wichtigsten Institutionen der Kulturnation Deutschlands etabliert“, erklärte Kulturstaatsministerin Grütters bei dem Festakt zum 30. Jubiläum der Stiftung in Berlin. Besonders bei der kulturpolitischen Aufarbeitung der Kolonialzeit sei die Unterstützung der KSL–Kulturstiftung der Länder wichtig, die sich hierbei „einmal mehr auch als ‚kulturpolitisches Ideenlabor‘ einbringen wird“, hob Grütters hervor.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters beim Festakt zur Schlüsselübergabe für die James-Simon-Galerie
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-beim-festakt-zur-schluesseluebergabe-fuer-die-james-simon-galerie-1562278
Thu, 13 Dec 2018 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Für einen guten ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance: Das lehren eine alte Lebensweisheit und die persönliche Erfahrung, und das gilt nicht nur für Vorstellungsgespräche oder das Kennenlernen der Schwiegermutter in spe. Nein, auch Städte, Institutionen und Bauwerke hinterlassen einen gewichtigen ersten Eindruck in der Art und Weise, wie sie sich dem Besucher, der Besucherin beim Empfang präsentieren. Die Museumsinsel – das kann man seit heute mit Gewissheit sagen – nimmt ihre Besucher schon mit dem ersten Eindruck für sich ein: mit einem ebenso einladenden wie beeindruckenden Eingangsgebäude – mit der James-Simon-Galerie, die mit einer imposanten Freitreppe und der Fortführung der Stülerschen Kolonnaden ein würdiges Entrée für die Begegnung mit Kunst und Kultur aus mehreren tausend Jahren Menschheitsgeschichte formt. Ich heiße Sie herzlich willkommen, sich umzuschauen, und bin gespannt auf Ihre ersten Eindrücke! Vor allem aber freue ich mich, dass wir diesen verheißungsvollen Zugang zum Unesco–United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization-Welterbe heute nach fünfjähriger Bauzeit an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übergeben können und damit auch einen architektonischen und funktionalen Schlusspunkt in der beinahe 200-jährigen Entwicklungsgeschichte der Museumsinsel setzen. Was hier 1830 mit der Fertigstellung des Alten Museums begonnen hat, findet heute mit der Schlüsselübergabe für die James-Simon-Galerie einen wahrhaft krönenden Abschluss. Das ist nicht nur eine architektonische, sondern auch eine logistische und organisatorische Meisterleistung: Seit 1999 werden auf der Museumsinsel die einzigartigen Solitäre aus den Jahren 1843 bis 1930 aufwändig saniert und instandgesetzt – wohlgemerkt bei laufendem Betrieb und Publikumsverkehr auf der Insel. Die Alte Nationalgalerie, das Neue Museum und das Bode-Museum sind fertig, und zwar allesamt im Zeit- und Kostenrahmen. So darf man den zugrunde liegenden Masterplan Museumsinsel aus dem Jahr 1999 heute getrost als Erfolgsgeschichte bezeichnen. Wer auf dem Bau oder in der Politik aktiv ist, weiß nur zu gut, dass das nicht jedem Plan vergönnt ist… Dass sämtliche Sanierungs- und Instandhaltungsmaßnahmen auf der Museumsinsel bei laufendem Betrieb stattfinden müssen, macht den Masterplan Museumsinsel nicht nur für die Bauherrin – die SPK–Stiftung Preußischer Kulturbesitz -, sondern auch für die beteiligten Architekten, Planer und Handwerker zu einer enormen Herausforderung. Umso größer ist mein Respekt für ihre Leistung. Herzlichen Dank der SPK–Stiftung Preußischer Kulturbesitz und ihrer Bauabteilung, aber auch dem Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, David Chipperfield Architects und allen am Bau Beteiligten für die kompetente Umsetzung dieses anspruchsvollen Bauprogramms! Die Kosten dafür sind hoch, weil wir die jahrzehntelange Vernachlässigung des Erbes während der DDR-Zeit kompensieren müssen. Doch die einzigartigen Sammlungen wie auch die großartige architektonische Wirkung der Einzelbauten und die Strahlkraft des Ensembles begründen die Bedeutung der Museumsinsel als Unesco–United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization-Weltkulturerbe, deren Pracht wir für künftige Generationen pflegen und bewahren wollen. Wieviel die Museumsinsel darüber hinaus auch und insbesondere großzügigen privaten Stiftern und Sammlern verdankt, erschließt sich möglicherweise nicht mit dem ersten Eindruck und verdient es deshalb umso mehr, in Wort und Tat gewürdigt zu werden. Schon die Gründung und Errichtung einer Nationalgalerie war seinerzeit nur möglich, weil der Berliner Bankier Johann Heinrich Wilhelm Wagener seine Sammlung zeitgenössischer deutscher und internationaler Kunst dem preußischen Staat vermachte. Und insbesondere James Simon, dessen Schenkungen – insgesamt mehr als 10.000 Objekte – sich heute auf sieben Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin verteilen, hat als einer der bedeutendsten und großzügigsten Kunstmäzene seiner Zeit maßgeblich zum ungeheuren Reichtum und zur Strahlkraft der Museumsinsel beigetragen, nicht zuletzt durch die Schenkung der Nofretete-Büste. Sie ist längst zu einem Wahrzeichen der Staatlichen Museen zu Berlin avanciert; sein Name dagegen, der Name ihres Stifters, geriet nach seinem Tod 1932 in Vergessenheit. Denn die Nationalsozialisten setzten nicht nur alles daran, jüdische Kunstsammler zu enteignen und jüdische Künstlerinnen und Künstler zu vertreiben – genauso wie jene legendären jüdischen Galeristen, die Berlin in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zum Nabel der Kunstwelt gemacht hatten, man denke nur an Paul Cassirer oder Alfred Flechtheim. Die Nationalsozialisten taten auch alles, um die Erinnerung an prominente Juden und ihre Verdienste auszulöschen – so auch die Erinnerung an James Simon, der der Museumsinsel einen beträchtlichen Teil seines Vermögens vermacht hatte. Es ist bitter und beschämend, dass es tatsächlich zunächst gelungen ist, seinen Namen aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen. Dank des jetzt nach ihm benannten Eingangsgebäudes führt aber nun künftig im wahrsten Sinne des Wortes kein Weg auf die Museumsinsel mehr an ihm vorbei. Der Zugang über die James-Simon-Galerie ist eine angemessene Wertschätzung und eine überfällige Würdigung seines großzügigen Mäzenatentums, aber heute auch ein Appell, dem Antisemitismus die Stirn zu bieten – ob im Parlament oder auf der Konzertbühne, ob auf dem Schulhof oder auf Facebook. Ich jedenfalls hoffe, meine Damen und Herren, dass die James-Simon-Galerie als Tor zur Schatzinsel und als Denkmal ihres bedeutendsten Mäzens mehr als einen vielversprechenden ersten Eindruck vom Unesco–United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization-Weltkulturerbe Museumsinsel vermittelt! Ich hoffe, dass sie auch einen bleibenden Eindruck von jener Weltläufigkeit und Weltoffenheit hinterlässt, die wahres Mäzenatentum und wahren kulturellen Reichtum gleichermaßen auszeichnen. In diesem Sinne: Auf viele begeisterte Besucherinnen und Besucher!
„Das ist nicht nur eine architektonische, sondern auch eine logistische und organisatorische Meisterleistung“, würdigte die Kulturstaatsministerin die Fertigstellung der James-Simon-Galerie auf der Museumsinsel in ihrer Rede. Grundlage des Neubaus ist der 1999 beschlossene Masterplan Museumsinsel zum Erhalt der Unesco-Welterbestätte. Ihn könne man heute „getrost als Erfolgsgeschichte bezeichnen“, auch wenn er die Stiftung Preußischer Kulturbesitz aufgrund des laufenden Betriebs während der Restaurierungsarbeiten vor große Herausforderungen stellt.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Festakt zum 40-jährigen Bestehen des Amtes der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-festakt-zum-40-jaehrigen-bestehen-des-amtes-der-beauftragten-der-bundesregierung-fuer-migration-fluechtlinge-und-integration-1560794
Wed, 12 Dec 2018 11:50:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrte Frau Staatsministerin, liebe Annette Widmann-Mauz, liebe Frau Berger, Frau Schmalz-Jacobsen, Frau Beck, Maria Böhmer, Frau Özoğuz, werte Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und den Parlamenten, meine Damen und Herren, damit nichts Falsches berichtet wird: Es war mein Großvater, der Kazmierczak hieß; und mein Vater hatte dann schon den eingedeutschten Namen Kasner. Aber nichtsdestotrotz bleibt es ein Migrationshintergrund. Seit 40 Jahren gibt es nun das Amt der Integrationsbeauftragten. Sieben Frauen und ein Mann haben in diesen vier Jahrzehnten das Amt ausgefüllt. Und ich freue mich außerordentlich, dass die allermeisten heute hier sind. Sehr schön. Wir hatten hier ein reines Frauenbild, obwohl wir gar nicht das Frauenwahlrechtsjubiläum feiern. Das gibt es also auch noch woanders. Sich für Chancen für alle und ein respektvolles Miteinander stark zu machen – das ist ja, wie wir wissen, eine wirklich umfassende Aufgabe. Marieluise Beck hatte Recht, als sie damals forderte, Integration nicht als Minderheitenpolitik, sondern als Gesellschaftspolitik und als Querschnittsaufgabe zu verstehen. Deswegen habe ich 2005, als ich Bundeskanzlerin wurde, das Amt im Bundeskanzleramt angesiedelt. Und deshalb haben wir heute einen schlag- und tatkräftigen Stab der Integrationsbeauftragten mit rund 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Heinz Kühn hatte als erster Ausländerbeauftragter 1978 gerade einmal zwei Mitarbeiter. Man kann also sagen: Das Amt wächst auch mit und an der Aufgabe. Nun haben sich in den vergangenen vier Jahrzehnten unser Land und unser Kontinent stark verändert – vor allem durch die Überwindung der Ost-West-Konfrontation und natürlich auch durch die fortschreitende Globalisierung. Dem wiedervereinigten Deutschland und dem zusammengewachsenen Europa kommen sehr viel mehr Verantwortung zu – in der Außenpolitik, in der Welt. Unsere Gesellschaft, aber auch unser Blick auf die Welt haben sich deutlich gewandelt. Wir dürfen mit Stolz sagen, dass Deutschland weltoffener geworden ist. Und das zeigt sich eben auch am Umgang mit Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen. Wir haben lange gebraucht – ich stehe hier für eine Partei, die besonders lange gebraucht hat –, um anzuerkennen, dass wir ein Einwanderungsland sind, auch wenn sich noch immer viele schwer damit tun, auch und gerade im Kontext der Globalisierung gesellschaftliche Vielfalt als Stärke zu verstehen. Das liegt allerdings auch daran – dabei war wiederum die Partei, der ich angehöre, etwas vorneweg –, dass wir sehr lange gebraucht haben, offen und mit der nötigen Selbstkritik auch über Integration zu reden. Auch das ist notwendig, wenn ich zum Beispiel daran denke, dass wir lange von „Gastarbeitern“ gesprochen haben. Maria Böhmer war die Erste im Amt, die Menschen, die einst als Gastarbeiter in unser Land gekommen sind, in das Kanzleramt eingeladen hat. Es war eine unglaubliche Freude, gemeinsam mit ihnen darüber zu diskutieren, welchen Beitrag diese Menschen aus anderen Ländern für den Wohlstand hier bei uns in Deutschland geleistet haben. Es war immer wichtig, dass die jeweiligen Amtsinhaber und Beauftragten den Diskurs zum Thema Integration vorangebracht haben; das gilt für alle. Aber ich vermute auch: diejenigen, die in diesem Amt gearbeitet haben, hatten oft den Eindruck, dass sie gegen Windmühlen anrennen und dass es viel Arbeit braucht, um überhaupt voranzukommen. Deshalb ist es auch an einem Tag wie heute wichtig zu betonen, dass sich nicht nur die Beauftragte oder der Beauftragte im Kabinett als Vertreter der Integration und der Belange der Menschen mit Migrationshintergrund versteht, sondern dass das im Grunde die Arbeitsbeschreibung für jeden Minister und jede Ministerin und natürlich auch für die Bundeskanzlerin ist. Ausdauer und langen Atem zu haben, war und ist wohl eine Eigenschaft, die in der Stellenbeschreibung der Integrationsbeauftragten nicht fehlen darf. Ich vermute, da heute auch viele aus den Ländern und Kommunen hier sind, dass das nicht nur auf der Bundesebene so ist, sondern dass das für Sie alle gilt. Deshalb ein herzliches Dankeschön für Ihre Arbeit. Wenn man über Ausdauer und langen Atem spricht, dann trifft es sehr häufig auf Frauen zu, dass sie das haben. Deshalb lag dieses Amt vielleicht auch nicht von ungefähr 38 Jahre von diesen 40 Jahren in Frauenhand. Beharrlichkeit als weibliche Eigenschaft zeigt sich ja gerade auch in diesem Jahr – ich habe es schon angedeutet –, in dem wir auch an 100 Jahre Frauenwahlrecht erinnern. Es hat lange gedauert, ehe dieses Grundrecht erkämpft wurde. Es zeigt sich, dass Frauen nicht nur in diesem Amt häufig vertreten sind, sondern auch in der ehrenamtlichen Arbeit vieles erledigen. Wenn ich einmal an die Flüchtlingshilfe und an die Integrationsbeauftragten insgesamt denke, an soziale Berufe und an Lehrkräfte, dann sehe ich, dass das sehr häufig eine Domäne von Frauen ist. Frauen spielen auch unter Einwanderern und Flüchtlingen selbst eine entscheidende Rolle. Denn vor allem sie sind es ja, die in den Familien Sprachkenntnisse weitergeben, Werte und Erfahrungen an ihre Kinder weitergeben. Frauen und Mütter tragen viel dazu bei, dass ihre Familien in unserer Gesellschaft und auch in unserer Kultur ankommen. Das heißt also, Investitionen in Bildung und Integration von Frauen haben insofern Multiplikatoreneffekte. Daher ist es geradezu ein Gebot der Vernunft, Frauen aus Zuwandererfamilien und Frauen, die als Geflüchtete zu uns kommen, gezielt anzusprechen. Ich sage das, weil die jetzige Beauftragte für Integration auch eine lange politische Geschichte in der Förderung von Frauen hat. Deshalb achtest Du darauf, dass Verbände oder Vereine, mit denen Du Dich triffst, mit mindestens einer Frau vertreten sind. Das ist richtig und wichtig. Jetzt will ich aber die Männer nicht etwa aus der Verantwortung entlassen. Vor allem Väter haben eine riesige Verantwortung. Und ich werde später im Zusammenhang mit dem Ehrenamt natürlich auch noch einmal darauf zu sprechen kommen, dass Männer im Ehrenamt genauso wichtig wie Frauen sind. Wir dürfen jedenfalls nicht darüber hinwegsehen, dass die Zahl weiblicher Flüchtlinge und Einwanderer gestiegen ist. Ihre Situation kann man nicht immer mit der Situation männlicher Flüchtlinge und Einwanderer gleichsetzen. Denn als Menschen mit Migrationshintergrund und eben auch als Frauen kämpfen sie nicht selten in doppelter Hinsicht gegen Ausgrenzung an. Das hat insbesondere auch damit zu tun, dass die Verantwortung für die Familien- und Hausarbeit in der Regel vor allem auf Frauen lastet. Dadurch ist es für sie oft schwieriger, zum Beispiel Integrationskurse zu besuchen und sich beruflich zu bilden. Und deshalb müssen wir darauf ein ganz besonderes Augenmerk legen. Deshalb ist auch die Frage der Kinderbetreuung, die auch schon immer – gerade auch von Frau Özoğuz und jetzt auch von Annette Widmann-Mauz – in den Mittelpunkt gestellt wurde, ganz wichtig. Es geht natürlich um die Kinder, um ihre Förderung und ihre Perspektiven, aber es geht gleichzeitig – wie wir es ja auch aus der Realität derjenigen kennen, die schon sehr lange in Deutschland leben – eben auch immer um berufliche Chancen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die wir nur dann verbessern können, wenn auch Väter ihre Familienverantwortung verstärkt wahrnehmen. Meine Damen und Herren, es geht also bei Integration im Grunde um Fragen der Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft – nicht mehr und nicht weniger. Das ist eine Frage der gesellschaftlichen Vernunft. Das ist auch eine Frage, die Auswirkungen auf unseren Wohlstand hat. Wir wissen, wenn es um unsere wirtschaftlichen Perspektiven geht, dass jedes Talent zählt und dass wir auch Fachkräfte aus dem Ausland brauchen. Wir arbeiten derzeit an einem Fachkräfteeinwanderungsgesetz – wir haben lange darüber gesprochen, ob wir es Zuwanderungs- oder Einwanderungsgesetz nennen; wir nennen es jetzt Einwanderungsgesetz –, da wirtschaftliche Prosperität für Deutschland eben auch mit ausländischen Fachkräften zusammenhängt, meine Damen und Herren. Eigentlich ist es etwas ganz Einfaches und auch etwas ganz Selbstverständliches: Diversität ist etwas, das uns stark macht; und zwar mit Blick auf die Geschlechter, mit Blick auf die Altersgruppen und mit Blick auf Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Wir brauchen neben Diversität auch Parität, was die Geschlechter anbelangt. Wenn wir das immer besser schaffen, dann werden wir in der Bundesrepublik Deutschland auch noch stärker sein. Wir wissen aber, dass wir davon in den Vorstandsetagen der Wirtschaftsunternehmen, aber auch im öffentlichen Dienst leider noch sehr weit entfernt sind. Aydan Özoğuz hat immer wieder gemahnt, dass eine vielfältige Gesellschaft gleiche Chancen auf Teilhabe braucht. Jede Frau und jeder Mann soll bei uns ihren oder seinen Weg gehen können. Da müssen wir ehrlich sein und sagen, dass wir das noch nicht in gleichem Maße geschafft haben. Das ist unabhängig von der Integrationsfrage ein Sachverhalt, der sich zum Beispiel auch schon bei der Berufsauswahl widerspiegelt. Wir werben als Bundesregierung dafür, dass mehr Mädchen und Frauen in die sogenannten MINT-Berufe gehen – also Mathematik, Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften und Technik. Dazu haben wir zum Beispiel den Girls‘ Day. Auch im Bereich Integration müssen wir einfach sagen: Teilhabe hängt sehr viel mit Bildung zusammen; und da müssen wir früh ansetzen. Deshalb gibt es den Kita-Ausbau und das Recht auf Betreuung für unter Dreijährige. Diese Woche geht es im Deutschen Bundestag um das Gute-Kita-Gesetz. Es freut mich, dass uns die UNESCO in ihrem jüngsten Weltbildungsbericht bescheinigt, dass junge Menschen aus Flüchtlings- und Einwandererfamilien in deutschen Kindergärten, Schulen und Universitäten überdurchschnittlich gut unterstützt werden. Die Studie hebt zum Beispiel hervor, dass unsere Investitionen in die Sprachförderung gut sind, dass die Anerkennung beruflicher Qualifikationen etwas ist, das wir gut auf den Weg gebracht haben, und dass wir auch eine Vielzahl positiver Unterstützungsprogramme haben. Wir haben vieles auf den Weg gebracht. Aber das darf den Blick nicht vor der Tatsache verschließen, dass es immer noch viel zu tun gibt. So hat sich Annette Widmann-Mauz mit ganzer Kraft für eine Qualitätsoffensive bei der Integration eingesetzt – sei es mit der Stärkung der Integrationskurse, beim Fachkräfteeinwanderungsgesetz, bei dem Du Deine Handschrift hinterlassen hast, oder eben auch beim Nationalen Aktionsplan Integration. Wir können als Regierung helfen, den schwierigen Weg der Integration zu ebnen. Aber natürlich muss jeder Einzelne selbst diesen Weg gehen. Das muss aber keineswegs heißen, dass Menschen auf sich allein gestellt sind. Wir können unterstützen. Integration ist eine Gemeinschaftsleistung – eine Gemeinschaftsleistung von denen, die zu uns gekommen sind, und denen, die schon länger oder immer hier sind. Es ist eine Gemeinschaftsleistung von Familienangehörigen, von Freunden, von Arbeitskollegen, Vereinskameraden, Lehrern und auch von Behördenmitarbeitern. Integration braucht und bedeutet Gemeinsinn statt Eigensinn, Weitblick statt Scheuklappendenken, Offenheit füreinander statt Abgrenzung voneinander. Deshalb möchte ich sagen: Es ist ein großes Glück – und darauf können wir wirklich stolz sein –, dass sich in unserem Land so viele Menschen ehrenamtlich engagieren. Sie übernehmen Patenschaften für Flüchtlingskinder, bieten Kurse an, sammeln Kleidung, organisieren Veranstaltungen. Sie schaffen Raum für Begegnung, für gegenseitiges Kennen-, Verstehen- und Schätzenlernen. Das sind Millionen von Menschen, ob im Sport oder in anderen Bereichen. Deshalb kann ich nur sagen: Danke all denen, die ehrenamtlich tätig sind und die so vieles leisten. Meine Damen und Herren, die Aufgabe der Integrationsbeauftragten wird weiterhin wichtig sein für unser Land. Sie wird sich auch in den nächsten 40 Jahren verändern. Aber – Annette Widmann-Mauz hat sozusagen schon auf das 50. Jubiläum hingewiesen – wir müssen auch vorankommen. Es gibt immer noch Unterschiede in den Bildungsabschlüssen. Wir können immer noch sagen, dass Namen bei Berufsbewerbungen leider eine Rolle spielen. Deshalb heißt es an einem solchen Jubiläumstag nicht etwa, die Hände in den Schoß zu legen, sondern die Ärmel hochzukrempeln und weiterzumachen, damit wir alle ein noch besseres Deutschland werden – zusammen. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Empfang für Angehörige von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sowie Polizistinnen und Polizisten im Auslandseinsatz am 11. Dezember 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-empfang-fuer-angehoerige-von-soldatinnen-und-soldaten-der-bundeswehr-sowie-polizistinnen-und-polizisten-im-auslandseinsatz-am-11-dezember-2018-1560162
Tue, 11 Dec 2018 11:30:00 +0100
Berlin
Inneres
Sehr geehrte Damen und Herren und vor allem liebe Kinder, ich heiße Sie ganz herzlich willkommen – auch im Namen von Horst Seehofer, unserem Innenminister, Ursula von der Leyen, der Verteidigungsministerin, und dem Generalinspekteur, Herrn Zorn – und setze gern einen Brauch fort, den wir seit vielen Jahren haben, nämlich Angehörige von Soldatinnen und Soldaten sowie Polizistinnen und Polizisten in der Vorweihnachtszeit einzuladen, weil dies ja auch für Sie eine sehr besondere Zeit ist. Wenn alle anderen mit der Familie zusammen sind, sind Ihre Angehörigen im Einsatz. Dabei leisten nicht nur diejenigen, die im Ausland im Einsatz sind, Großartiges, sondern dahinter stehen auch immer Familien, die sich einsetzen, die aber auch ohne ihre Väter, Mütter oder Kinder auskommen müssen. Darüber denken wir nicht nur nach, sondern wir laden Sie ein, um von Ihnen zu hören, was Sie beschwert, was Sie vielleicht an Wünschen haben und was vielleicht auch gut gelingt, und versuchen so, mit Ihnen, stellvertretend für viele andere, die natürlich nicht alle eingeladen werden können, auch einen kleinen weihnachtlichen Beitrag zu leisten. So haben wir Sie heute wieder eingeladen und wollen gleich miteinander reden und hören, was Sie bewegt, was Sie uns vorschlagen und wie wir mit Ihnen weiter in Kontakt sein können. Morgen werde ich eine Videoschaltung in die verschiedenen Einsatzorte haben. Manchmal passiert es, dass einer dabei ist, der dann weiß, dass seine Angehörigen heute hier waren. Aber meistens überlappt sich das natürlich nicht. So versuchen wir einfach, einen Kontakt herzustellen und danke zu sagen auch für Ihren Einsatz in Fragen, die für uns alle in Deutschland wichtig sind, weil wir glauben, durch die Einsätze, die Ihre Angehörigen ausführen, unsere Sicherheit in Deutschland besser gewährleisten zu können. Das ist etwas sehr Wichtiges. Denn ohne Sicherheit lebt es sich auch in Deutschland nicht gut. In diesem Sinne: ein ganz herzliches Willkommen. Ihr Kinder dürft ruhig ein bisschen lebendig sein; ihr müsst nicht zu artig sein. Wir gehen gleich hinunter und kommen miteinander ins Gespräch. Vorher machen wir miteinander noch ein Foto. Herzlich willkommen.
Im Bundeskanzleramt
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Internationalen Konferenz zur Annahme des Globalen Pakts für sichere, geordnete und reguläre Migration am 10. Dezember 2018 in Marrakesch
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-internationalen-konferenz-zur-annahme-des-globalen-pakts-fuer-sichere-geordnete-und-regulaere-migration-am-10-dezember-2018-in-marrakesch-1559050
Mon, 10 Dec 2018 11:05:00 +0100
Marrakesch
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Präsident der Konferenz, Herr Außenminister Bourita, sehr geehrter Herr Generalsekretär, sehr geehrte Frau Präsidentin der Generalversammlung Maria Espinosa, sehr geehrte Frau Sonderbeauftragte für internationale Migration Louise Arbour, sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Kollegen, Exzellenzen, meine Damen und Herren, es ist mir eine große Freude, heute hier bei Ihnen in Marrakesch zu sein. Ich möchte den marokkanischen Gastgebern ganz herzlich danken, genauso wie den Vereinten Nationen und allen anderen, die diese Konferenz ermöglicht haben. Heute ist ein sehr bedeutender Tag. Denn wir treffen erstmals auf globaler Ebene eine umfassende politische Vereinbarung zur Migration. Es war richtig, dass sich die Generalversammlung der Vereinten Nationen 2016 mit zwei Themen beschäftigt hat – auf der einen Seite mit dem Thema Flucht, dessen rechtliche Grundlage ja die Genfer Flüchtlingskonvention ist, und auf der anderen Seite mit dem Thema Migration, das ein millionenfaches Thema unserer Welt ist. Es ist auch klar zwischen Flucht und Migration unterschieden worden, was besonders wichtig ist. Deshalb sind daraus zwei Pakte entstanden. Und beide werden noch im Dezember von der Vollversammlung angenommen. Gerade heute, am 70. Jahrestag der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen, ist es ein gutes Zeichen, dass wir uns auch mit dem Schicksal der vielen Millionen Migranten auf der Welt beschäftigen und noch einmal festhalten, dass die universellen Menschenrechte für jeden Menschen in jedem Land auf unserer Erde gelten. Meine Damen und Herren, heute verabschieden wir diesen Pakt, der ausdrücklich besagt, dass es um sichere, geordnete und reguläre Migration geht. Das heißt, dieser Pakt beschreibt schon in seinem Titel sein Ziel ganz klar. Es zeigt sich und ist auch ganz natürlich, dass dieses Ziel nur durch multilaterale Zusammenarbeit erreicht werden kann. Deshalb kann man eigentlich sagen, dass es höchste Zeit ist, dass wir uns 70 Jahre nach Verabschiedung der Menschenrechtscharta nun endlich auch gemeinsam mit dem Thema Migration beschäftigen. Migration ist etwas, das ganz natürlich und immer wieder vorkommt und das, wenn es legal geschieht, auch gut ist. Deutschland ist ein Mitgliedstaat der Europäischen Union. Wir kennen innerhalb der Europäischen Union die Freizügigkeit zum Zwecke der Aufnahme von Arbeit. Das ist ein Teil unseres Binnenmarkts; und das schafft uns mehr Wohlstand. Deshalb ist die Arbeitsmigration innerhalb der Europäischen Union klar geregelt, auch entsprechend den Prinzipien dieses Pakts. Es geht um gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit. Es geht um vernünftige Standards. Das alles ist also für uns innerhalb der Europäischen Union selbstverständlich. Deutschland ist ein Land, das aufgrund seiner demografischen Entwicklung auch in Zukunft vermehrt Fachkräfte, auch vermehrt aus Ländern außerhalb der Europäischen Union, brauchen wird. Also haben wir ein Interesse an legaler Migration. Und es unterliegt der souveränen Selbstbestimmung, was in unserem Interesse liegt. Das besagt der Pakt ausdrücklich: Die Mitgliedstaaten bestimmen souverän ihre Politik. Gleichzeitig ist er auch rechtlich nicht bindend. Wir werden also im Fachkräftebereich auf legale Migration angewiesen sein und mit anderen Ländern darüber sprechen, was in unserem Interesse liegt. Allerdings wissen wir, dass auch im Rahmen der legalen Migration, wie sie heute auf der Welt vorkommt, Menschen zum Teil ausgesprochen unfairen Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind. Kinderarbeit ist heute immer noch Realität. Schlechteste Arbeitsbedingungen sind Realität. Dagegen geht der Pakt vor. Und das ist auch richtig so. Der Pakt sagt auch der illegalen Migration ganz klar den Kampf an. Er bekennt sich zum Grenzschutz. Er bekennt sich zur Bekämpfung von Schleusern. Er spricht sich dafür aus, dass alle Menschen mit vernünftigen Personaldokumenten ausgestattet sein müssen. Und er redet über die Rückübernahme von Staatsangehörigen, die sich illegal in einem anderen Staat aufhalten. Wir alle wissen doch, welchen Gefahren sich Menschen aussetzen, wenn sie in die Hände von Schleppern und Schleusern geraten. Ich möchte an dieser Stelle der Internationalen Organisation für Migration, die ja auch eine große Aufgabe im Zusammenhang mit der Umsetzung dieses Pakts haben wird, für ihre Arbeit danken, die sie in vielen Ländern leistet und damit Schlimmeres für Menschen verhindert. Wir Staaten können doch nicht akzeptieren, dass über die Frage, ob jemand von einem Land in ein anderes kommt, Schlepper und Schleuser entscheiden. Dabei werden armen Menschen Gelder abgepresst. Dabei werden diese Gelder zum Schluss auch für den Schmuggel von Drogen oder den Kauf von Waffen eingesetzt, was die Unsicherheit in den Ländern erhöht. Es muss doch unser Anspruch sein, dass wir unter den Staaten Fragen der Migration legal regeln. Es ist zum Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger wichtig, illegale Migration gemeinsam zu bekämpfen. Jedem ist doch klar, dass nationale Alleingänge dieses Problem nicht lösen werden, sondern dass dies nur durch multilaterale Kooperation geht und dies der einzige Weg ist. Ich möchte mich ausdrücklich beim Königreich Marokko dafür bedanken, dass es innerhalb der Afrikanischen Union eine große Verantwortung für Fragen der Migration übernommen hat. Denn gerade auch die Partnerschaft zwischen Europa und Afrika ist von großer Bedeutung bei der Umsetzung der Ziele dieses Pakts. Wir alle wissen: Illegale Migration werden wir nur bekämpfen können, wenn alle Staaten auf der Welt Entwicklungschancen haben. Deshalb steht dieser Pakt unmittelbar im Zusammenhang mit der Umsetzung der Agenda 2030. Es ist hier heute schon gesagt worden: Wenn die Ziele etwa zu Bildung, Gesundheit, Sicherheit und Ernährung nicht erreicht werden, dann wird es auch nicht gelingen, der illegalen Migration Herr zu werden und sie wirklich zu stoppen. Das heißt, Entwicklung und Umsetzung dieses Pakts und seiner Inhalte gehören untrennbar zusammen. Das heißt, um Globalisierung menschlich zu gestalten, müssen alle Länder auf der Welt faire Entwicklungschancen haben. Nun wissen wir alle, dass illegale Migration wegen der unterschiedlichen Entwicklungschancen auf der Welt in unseren Ländern zum Teil sehr große Ängste verursacht. Diese Ängste werden von den Gegnern dieses Pakts benutzt, um Falschmeldungen in Umlauf zu bringen. Aber im Kern geht es bei der Auseinandersetzung um diesen Pakt und seine Richtigkeit um das Prinzip der multilateralen Zusammenarbeit. Meine Damen und Herren, es lohnt sich, sich noch einmal daran zu erinnern, dass die Vereinten Nationen als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs gegründet wurden. Als deutsche Bundeskanzlerin stehe ich hier als Repräsentantin eines Landes vor Ihnen, das durch den Nationalsozialismus unendliches Leid über die Menschheit gebracht hat. Die Antwort auf puren Nationalismus war die Gründung der Vereinten Nationen und das Bekenntnis zur gemeinsamen Lösung der Fragen, die uns bewegen. Bei der Auseinandersetzung um diesen Pakt – und deshalb bin ich heute auch sehr bewusst nach Marokko gekommen – geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die Grundlagen unserer internationalen Zusammenarbeit. Deshalb lohnt es sich, um diesen Pakt zu kämpfen – einmal wegen der vielen Menschen, die dadurch ein besseres Leben bekommen können, zum anderen auch wegen des klaren Bekenntnisses zum Multilateralismus. Nur durch den werden wir unseren Planeten besser machen können. Dem fühlt sich Deutschland verpflichtet. Wir haben eine umfassende Diskussion in unserem Parlament geführt. Es gab eine große Mehrheit im Parlament, diesen Pakt zu unterstützen. Deutschland wird sich auch in seiner weiteren Umsetzung einbringen zum Wohle der Menschen auf unserem Planeten. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Digital-Gipfel am 4. Dezember 2018 in Nürnberg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-digital-gipfel-am-4-dezember-2018-in-nuernberg-1557288
Tue, 04 Dec 2018 14:52:00 +0100
Nürnberg
Alle Themen
Meine Damen und Herren, lieber Herr Berg, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett, vor allem auch lieber Ministerpräsident Markus Söder, hier Gastgeber, ich freue mich, dass ich auch dieses Jahr wieder beim Digital-Gipfel dabei sein kann und dass Sie alle dabei sind. Wir hatten eben ein Mittagessen, bei dem wir Revue haben passieren lassen, was zwischen zwei Digital-Gipfeln geleistet worden ist und welche Art von Arbeit stattgefunden hat. Ich darf Ihnen als Erstes berichten, dass wir im 70. Jahr der Sozialen Marktwirtschaft fest davon überzeugt sind, dass auch die digitale Wirtschaft und das Zeitalter der Digitalisierung dem Menschen zu dienen haben und nicht umgekehrt. Das Ganze ist kein Selbstzweck. Wir haben heute auf unseren BPA-Twitteraccount oder, besser gesagt, auf den seibertschen Twitteraccount, also den des Regierungssprechers – ich mache jetzt einen kleinen Werbeblock –, ein kleines Stück gestellt, das sich auch mit Künstlicher Intelligenz befasst. Darin sagt das Mitglied des Digitalrates, Herr Boos, dass wir durch Künstliche Intelligenz vor allen Dingen Lebenszeit einsparen, nämlich Zeit für stupide oder sich wiederholende Algorithmen, und dass wir damit mehr Zeit für Kreativität haben; also eine gute Nachricht, jedenfalls für alle, die nicht denkfaul sind. Die Frage, wie wir die Gesellschaft im Zeitalter der Digitalisierung gestalten, treibt uns umfassend um. Das stellt sich auch in den Plattformen dar, die über das Jahr hinweg arbeiten – immer in einer Mischung aus Industrievertretern, Wirtschaftsvertretern und Vertretern der Politik. Damit haben wir in den letzten Jahren auch eine Arbeits- und Lernmethode für uns in der Politik entwickelt, wobei sehr deutlich geworden ist, dass wir alle uns sozusagen in einer Sphäre befinden, in der wir uns noch nicht so gut auskennen. Ich habe früher dazu einmal „Neuland“ gesagt. Das hat mir einen großen Shitstorm eingebracht. Deshalb will ich das jetzt nicht einfach wiederholen. Jedenfalls ist es aber in gewisser Weise noch nicht durchschrittenes Terrain. Das Ganze ist im Grunde eine revolutionäre Phase. Wir alle haben uns ja auch angewöhnt, das Wort „disruptiv“ relativ flüssig über unsere Lippen zu bringen. Diese disruptive Phase bedeutet natürlich Erschütterungen. Ich stimme Ihnen völlig zu, Herr Berg, dass vieles, was wir heute an gesellschaftlichen Phänomenen, an Diskussionskultur und auch an Sorgen und Ängsten erleben, indirekt mit dem rasanten technologischen Wandel zu tun hat und dass es, um das Ganze nicht in eine Diskussion abgleiten zu lassen, in der ein Teil der Gesellschaft als Elite bezeichnet wird und ein anderer als zurückgelassen, uns darauf ankommen muss, dass das eine Erfolgsgeschichte wird, wie es im Grunde auch die Soziale Marktwirtschaft ist. Wohlstand für alle – das muss auch die Zukunftsmelodie im Zeitalter der Digitalisierung sein. Das heißt, dass wir natürlich erst einmal die infrastrukturellen Voraussetzungen brauchen, um neue technologische Möglichkeiten nutzen zu können. Dabei geht es eben um die digitalen Netze. Ich habe jetzt auch mit einigem Erstaunen die lebendige Diskussion über 5G mitverfolgt. Vielleicht ist sie deshalb so lebendig, weil zum allerersten Mal in aller Breite zu den Menschen dringt, dass wir Frequenzbereiche haben und dass der Zugang zu dieser Technologie nur über Versteigerung möglich wird. Ich wage einmal die Aussage: Wenn wir keine Funklöcher mehr hätten, wäre das Interesse an 5G nicht so groß. Im Grunde führen wir eine Ersatzdiskussion. 5G tritt an die Stelle all der Wünsche von Menschen, die heute kaum ein Telefonat führen, geschweige denn bewegte Bilder sehen können, wenn sie auf irgendeiner Wiese oder an irgendeinem Strand sitzen. Noch vor wenigen Jahren haben wir gedacht, dass wir die Schlacht gewonnen haben, wenn wir jeden Haushalt anschließen. Aber die Erwartungen wachsen eben in rasantem Maße, weshalb es wichtig sein wird, zu sagen: Nicht überall braucht man die Tonqualität der Berliner Philharmonie, aber überall sollte man irgendwie Töne hören können. Das ist es, was im Grunde jetzt bei der Infrastrukturdiskussion zu leisten ist. Dann wird man auch zufrieden sein. Zum wirtschaftlichen Bereich. Was jetzt stattfindet – das ist ein ganz entscheidender Punkt für ein Industrieland wie Deutschland, in dem ein großer Teil der Wertschöpfung noch über die industrielle Fertigung stattfindet –, ist die Digitalisierung der Herstellungsprozesse und die Digitalisierung der Prozesse zwischen Unternehmen und Kunden. Hierbei sind wir, denke ich, in einigen Bereichen sehr, sehr gut. Wir haben weltweite Champions. Aber wir haben vielleicht die Durchdringung in die Masse der mittelständischen Unternehmen noch nicht so weit vorangebracht, wie es sein sollte. Da wir ja ein Land sind, von dem wir mit Stolz immer wieder gesagt haben, dass der Mittelstand das Rückgrat unserer industriellen Wertschöpfung ist, müssen wir wirklich sehen, dass die großen Frontrunners die anderen sozusagen mitnehmen. Das ist auch eine Aufgabe für Handwerkskammern, für Industrie- und Handelskammern. Es ist im Grunde eine Bildungsaufgabe, die wir leisten müssen. Ich denke, auch die Bundesregierung ist bereit, ihren Beitrag dazu zu leisten. Für diese wirtschaftliche Wertschöpfung haben wir den Begriff Industrie 4.0 geprägt. Er dürfte auf einem der IT-Gipfel gefallen sein und hat sich dann ganz gut weltweit verbreitet. Wir haben heute noch einmal darüber gesprochen, dass wir, auch was die Standardisierung der Prozesse anbelangt, sehr, sehr gut mit dabei sind. Man kann selbst in Asien und anderswo von Industrie 4.0 hören. Hier sind wir also durchaus Trendsetter. Jetzt machen wir uns – glücklicherweise, wie ich finde; dafür möchte ich mich gerade auch bei den Gewerkschaften sehr bedanken, insbesondere bei der IG Metall – auch Gedanken darüber, was das für unsere Arbeitswelt bedeutet und wie sich unsere Arbeitswelt verändern wird. Herr Hofmann hat heute sehr deutlich gemacht, dass man im Grunde, was die Berufsbilder und die Qualifikationen anbelangt, noch sehr viel mehr in die Zukunft schauen müsste, um die richtigen Qualifikationen gerade auch jüngeren Menschen an die Hand zu geben, aber auch um Umschulungs- und Weiterqualifizierungsinitiativen zu starten. Die Bundesregierung hat sich in dieser Legislaturperiode eben nicht nur den Fragen verschrieben, wie wir zur Infrastruktur kommen, wie wir die industriellen Prozesse begleiten können und wie wir die wissenschaftliche Position stärken können, sondern eben auch den Fragen der Qualifizierung und Weiterbildung. Ich halte das für sehr, sehr wichtig – im Übrigen nicht nur im akademischen Bereich, sondern vor allen Dingen auch im Berufsbildungsbereich. Ich glaube, die zweite Säule unseres Bildungssystems, die berufliche Bildung, kann und wird eine Zukunft haben. Es bedarf aber einer sehr schnellen Erarbeitung neuer Berufsbilder oder zumindest einer Erneuerung der bestehenden Berufsbilder. Dabei ist der Faktor Zeit natürlich auch eine entscheidende Sache. Das ist überhaupt das Entscheidende – dass wir in einer Welt leben, in der sich die Dinge plötzlich sehr beschleunigen, weil es eben völlig neue Technologien gibt. Die Frage ist: Sind wir in Deutschland schnell genug, um das auch wirklich alles durchzusetzen? Damit komme ich zu einer Plattform, die sich mit der Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung beschäftigt. Wir haben – noch in der vergangenen Legislaturperiode – das Onlinezugangsgesetz verabschiedet. Wir haben in einem handstreichartigen Verfahren seitens der Bundesregierung, nämlich im Zusammenhang mit den Bund-Länder-Finanzverhandlungen, eine Grundgesetzänderung durchgesetzt, die es uns erlaubt, mit den Ländern und Kommunen ein gemeinsames Portal zu betreiben. Die Bundesländer waren damals im Wesentlichen am Geld interessiert und haben gesagt: Na gut, wenn die jetzt noch irgendwie eine Grundgesetzänderung machen, aber dafür gut zahlen, dann sollen sie das bekommen. Das versetzt uns in die Lage, die 575 Dienstleistungen, die der Staat mit seinen Bürgern abwickelt, bis Ende 2022 über ein einheitliches Bürgerportal für den einzelnen Bürger abrufbar zu machen. Die Kunst besteht jetzt darin – Staatssekretär Vitt aus dem Bundesinnenministerium, der dafür zuständig ist, hat sozusagen gleich am Anfang diese allerentscheidendste Aufgabe –, dem Bürger einen Zugang zu ermöglichen, der nicht so kompliziert ist, dass er immer noch zwei Geräte in der Tasche haben muss, in die er irgendetwas hineinsteckt, sondern dass man leicht darankommt. Das ist mein herzlicher Wunsch, was das Bürgerportal anbelangt. Dann werden wir das auch zu einem Erfolg machen. Ich verspreche mir von diesem Bürgerportal nicht nur ein Zusammenwachsen der Republik – es wird nämlich ein tolles Gefühl sein, wenn der Bürger in Vorpommern genauso schnell an seine Amtskontakte herankommt wie der Bürger in der City von München; unter dem Motto „gleichwertige Lebensverhältnisse“ ist das ein Riesenschritt, den wir mit diesem Online-Bürgerportal machen können –, sondern es wird auch das Verständnis für die Digitalisierung erheblich erhöhen, das wir ja brauchen, um überhaupt eine gesellschaftliche Akzeptanz für all die vielen Regeln und Gesetze zu bekommen, die wir neu einführen müssen. Nun gibt es noch die Frage der Bildung. Herr Berg hat eben sehr abfällig über die Kulturhoheit der Länder gesprochen. Das fordert mich als Bundeskanzlerin dazu heraus, die Länder einmal in Schutz zu nehmen. Sie haben recht: Wenn man das Richtige nur an manchen Stellen in Deutschland lernt und an anderen weniger, dann ist das nicht gut. Wenn aber etwas Falsches gelehrt wird, dann ist es manchmal ganz gut, dass das nicht gleich alle Kinder in Deutschland betrifft, sondern nur manche. So erkläre ich mir immer die in der Tat sehr schwierige Kulturhoheit und die Frage, warum wir im Bund nicht über die Schulen sprechen sollen. Ich glaube also, das Problem besteht nicht so sehr darin, dass man den Digitalpakt Schule schlecht findet. Wir wollen die Schulen ja gar nicht alleine mit Computern ausstatten, sondern wir wollen zum Beispiel eine gemeinsame Lehr-Cloud anbieten, aus der sich dann jedes Bundesland und jede Schule das herausnehmen kann, was jedes Bundesland und jede Schule will. Wir wollen uns um die Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer kümmern. Wir wollen über eine Sonderausschreibung für den Breitbandanschluss jeder Schule sorgen. Das sind, glaube ich, alles sehr willkommene Dinge. Die Frage beim Digitalpakt war nur: Soll die Kostenaufteilung 90 zu 10 – 90 der Bund, 10 die Länder – sein? So weit, so gut. Aber bei allen weiteren, zusätzlichen Dingen soll die Aufteilung 50 zu 50 sein; und das gefällt den Ländern nicht so richtig. Da liegt der Hase im Pfeffer, glaube ich. Was Bayern angeht, ist es ganz anders; die haben immer Geld. Wir werden aber sicherlich mit dem Digitalpakt Schule vorankommen. Wir haben auch erhebliche Fortschritte erreicht, was das ganze Thema Cybersicherheit angeht. Wir haben hier auch darüber schon des Öfteren gesprochen. Ich glaube, die Wichtigkeit dessen, wie entscheidend das für unser Betreiben der Infrastruktur ist, ist jetzt auch in der deutschen Wirtschaft weitestgehend anerkannt. Wir werden hierbei noch erhebliche Aufgaben vor uns haben, aber ich denke, mit unserem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik haben wir eine wirklich sehr, sehr gute zivile Institution, die zum Schutz für unsere Wirtschaft, aber eben auch für unsere öffentliche Infrastruktur da ist. Ich habe zwei Plattformen noch nicht erwähnt. Die eine ist – Herr Doetz hat uns darauf hingewiesen, dass das Urheberrecht und der Content nicht immer identisch sind –, dass es auf jeden Fall wichtig ist, dass wir Content, also Inhalt, schützen und dass ein erarbeiteter Inhalt weiterhin seinen Wert behält. Die Idee, man könnte sozusagen eine digitale Welt schaffen, in der alles genau andersherum als in der realen ist, wird nicht aufgehen. Bestimmte Grundprinzipien müssen auch in der digitalen Welt durchgesetzt werden. Und dazu gehört natürlich auch die Bepreisung von Kreativität. Ansonsten werden wir eine fürchterliche Verflachung von Inhalten bekommen, die wir nicht akzeptieren können. Hierbei haben wir noch viel zu tun. Dann hatten wir – last, but not least – das Thema Datensouveränität, Datenschutz, Datensicherheit und damit Verbraucherschutz. Da komme ich zu meinem Anfangspunkt zurück: 70 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 70 Jahre Wirtschaft im Dienste des Menschen – das bedeutet natürlich auch, dass der Mensch nicht hinterrücks ausgebeutet werden darf, indem er sozusagen ein kostenloser Datenlieferant wird und anschließend keinerlei Hoheit mehr über diese Daten hat. Das bedeutet nämlich, in der Endkonsequenz gedacht, sozusagen die Vernichtung der Individualität. Das kann und darf nicht unser Ziel sein. Deshalb müssen wir versuchen, das rechte Maß zu finden. Aber Chancen und Risiken liegen natürlich eng beieinander. Es gibt ein hohes Maß an Datenzugriff durch private Unternehmen in den Vereinigten Staaten von Amerika. Es gibt ein hohes Maß an Datenzugriff durch den Staat in China. Das sind zwei Extrempositionen, die wir beide nicht wollen und die auch dem Wesen der Sozialen Marktwirtschaft nicht entsprechen. Soziale Marktwirtschaft ist niemals reiner Kapitalismus oder so etwas. Deshalb ist es jetzt eben unsere Aufgabe, den richtigen Weg zu finden. Wenn man einmal sieht, wie unterschiedlich die Rezeption der Datenschutz-Grundverordnung ist – zum Beispiel innerhalb der CDU, in der man wegen der Datenschutz-Grundverordnung nicht mehr weiß, ob man seinen Nachbarkreisverband noch anschreiben darf, oder aber in der Welt, in der man sagt: Das ist der erste Versuch, einmal vernünftig mit Daten umzugehen und dem Individuum wieder die Hoheit zu geben –, dann sind wir da schon auf dem richtigen Weg. Und ich glaube, dass wir daraus eines Tages auch wirklich großen Profit ziehen können. (Ein Handy im Saal klingelt.) – Klingelt es bei mir oder bei einem anderen? Da bin ich jetzt nicht ganz sicher. Ich glaube, ich bin es nicht; ich kann Sie beruhigen. Es braucht keiner nachzuforschen, wer der Schuldige ist. Der Ton ist aber meinem nämlich sehr ähnlich. Meine Damen und Herren, ich glaube, es war wieder ein wichtiger Digital-Gipfel – einer, der danach ruft, die Arbeit fortzusetzen. Wir sind mitten in der Arbeit. Normalerweise müsste ich jetzt sagen, wo der nächste Gipfel stattfinden wird. Das kann ich nicht, weil dieses Terrain hart umkämpft ist. Der Bundeswirtschaftsminister hat zugesagt, baldmöglichst zu entscheiden – und dann gleich für zwei aufeinanderfolgende Jahre. Warten Sie also gespannt auf das, was kommt. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 3. Deutsch-Ukrainischen Wirtschaftsforum am 29. November 2018 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-3-deutsch-ukrainischen-wirtschaftsforum-am-29-november-2018-in-berlin-1555732
Thu, 29 Nov 2018 10:21:00 +0100
Berlin
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Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Hroisman, sehr geehrter Herr Schweitzer, Frau Finanzministerin, Herr Botschafter, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, werte Gäste, meine Damen und Herren, es war in der Tat vor drei Jahren, als wir hier an dieser Stelle die Gelegenheit hatten, das erste Deutsch-Ukrainische Wirtschaftsforum zu eröffnen. Damals ist in diesem Umfeld auch die Entscheidung gefallen, dass es eine Außenhandelskammer in Kiew geben wird. Der DIHK hat das umgesetzt. Herzlichen Dank, Herr Schweitzer. Herzlichen Dank dafür, dass Sie das dort führen. Ich denke, diese Entscheidung hat sich als absolut richtig herausgestellt. Wenn wir heute mit dem ukrainischen Ministerpräsidenten Hroisman zusammen sind, dann haben wir nicht nur einen Plan, sondern wir haben schon sehr, sehr gute Ergebnisse, wie uns ja auch der Film eben gezeigt hat. Die deutsche Wirtschaft hat ein großes Interesse an der Zusammenarbeit mit ukrainischen Partnern. Die Ukraine präsentiert sich als offenes Land und hat dieses Interesse sehr gut aufgenommen – unter durchaus nicht einfachen Bedingungen. Wenn man daran denkt, dass noch vor wenigen Jahren die Handelsströme sehr stark auf den Handel mit Russland ausgerichtet waren und beide Volkswirtschaften sehr eng miteinander verflochten waren, dann sieht man, dass im Grunde nun eine Schubumkehr und eine Orientierung in Richtung der Europäischen Union und damit auch in Richtung Deutschland stattfinden. Es war absolut richtig, dass wir mit vollem Elan für das Assoziierungsabkommen und das Freihandelsabkommen DCFTA gekämpft haben, die sozusagen die Grundlage für die wirtschaftliche Zusammenarbeit heute sind. Die Europäische Union wurde zum weitaus wichtigsten Handelspartner der Ukraine. 2013 gingen noch rund 24 Prozent der ukrainischen Exporte in die Europäische Union. Heute sind es bereits über 40 Prozent. Man sieht also, dass sich unglaublich viel getan hat. Der Handel wird vor allem dadurch belebt, dass Industriebranchen wie der Maschinen- und Flugzeugbau sowie die Agrarwirtschaft, die in der Ukraine traditionell sehr stark sind, den Anschluss in Richtung Westen geschafft haben. Das ist eine sehr gute Nachricht. Die Ukraine wird mittlerweile – das haben wir hier ja gesehen – auch als Investitionsstandort geschätzt. Also nicht nur Handelsströme, sondern auch Investitionen fließen in die Ukraine. 2.500 aktive deutsche Unternehmen sowie Unternehmensrepräsentanzen sind in der Ukraine. Ich möchte ihnen allen danken. Denn, ehrlich gesagt, bei aller Hoffnung auf die Ukraine ist ein neues Investment in einem Land, das auch politisch in schwierigem Fahrwasser ist, durchaus eine beachtliche Entscheidung für einen Unternehmer. Deshalb war und ist es so wichtig, dass es viele Beispiele dafür gibt – ich habe mich gerade mit Herrn Schweitzer darüber unterhalten –, dass Unternehmer sagen: Das hat sich gelohnt, unser Einsatz ist belohnt worden; wir haben eine gute Perspektive, wir haben gute Fachkräfte, wir haben auch gute Bedingungen, obwohl Themen wie Korruptionsbekämpfung weiter auf der Tagesordnung sind. – Das spricht sich herum. Da Deutschland einen starken Mittelstand hat, ist es unglaublich wichtig, mit dem Kapital des Vertrauens sorgsam umzugehen. Denn wenn es zwei, drei, fünf schlechte Erfahrungen gibt, dann spricht sich das gleich bei Hunderten von Unternehmern herum und man sagt: Da hältst du dich lieber heraus; davon lässt du die Finger. Genau das ist nicht passiert, sondern es ist das Gegenteil passiert. Und das ist sehr wichtig. Die Industrie- und Handelskammer ist so etwas wie ein Motor unserer bilateralen Wirtschaftsbeziehungen. Sie zählt jetzt immerhin schon 120 Mitglieder. Auch das ist eine gute Sache, aber ich glaube, Sie nehmen auch noch weitere Mitglieder auf. Insofern ist das vielleicht eine Einladung, dass man auch noch mitmachen kann. Beratung und Information sind wichtig. Und natürlich stellt sich vor allen Dingen die Frage, welche Rahmenbedingungen man vor Ort vorfindet. Deshalb möchte ich die Gelegenheit nutzen, die Ukraine noch einmal dazu zu ermuntern, auf Reformkurs zu bleiben und ihn weiter fortzusetzen. Das sagt sich aber recht leicht. Ich war vor wenigen Tagen in Kiew. Wenn man vor Ort sieht, mit welchen Widrigkeiten man sich auseinanderzusetzen hat, dann versteht man, dass das nicht ganz einfach ist. Besonders wichtig ist, dass der Kampf gegen Korruption weitergeht. Die Vollendung des Hohen Antikorruptionsgerichts und natürlich auch ein verlässlicher Schutz von Aktivisten der Zivilgesellschaft sind dabei besonders wichtig. Wir hatten sehr traurige Ereignisse in diesem Zusammenhang. Es muss möglich sein, dass Aktivisten der Zivilgesellschaft, die natürlich manchmal den Finger in die Wunde legen und nicht immer nur bequem sind, keine Angst haben müssen – ich habe mich in Kiew mit NGOs unterhalten –, sondern dass sie wissen, dass die Regierung ihre Arbeit unterstützt, weil das sozusagen die Transparenz bringt, die notwendig ist. Ich habe mich davon überzeugt, dass das Projekt der Dezentralisierung vorangeht. Der ehemalige Ministerpräsident Sachsens, Herr Milbradt, macht mit vielen engagierten ukrainischen Vertretern aus einzelnen Regionen dieses Dezentralisierungsprojekt, denke ich, schrittweise zu einem Erfolg. 800 Gemeinden haben sich zusammengeschlossen, um mehr politische und finanzielle Verantwortung zu übernehmen. Ich denke, die Idee der Regierung, das erst einmal auf freiwilliger Basis zu machen und dafür auch bestimmte Anreize zu setzen, ist richtig. Irgendwann wird man natürlich fragen müssen, ob das immer freiwillig weitergeht. Aber erst einmal haben sich viele Freiwillige gefunden. Wir hier können uns das ja gar nicht vorstellen. Für uns ist es ganz normal, dass wir eine kommunale Selbstverwaltung, die Länder und die Bundesregierung haben. Aber wenn man Verantwortung sozusagen von einer Zentrale nach unten delegieren muss, ist das natürlich ein sehr spannender und abenteuerlicher Prozess, bei dem niemand genau weiß, was einen erwartet. Das aber ist gelebte Freiheit – Freiheit, vor Ort Verantwortung zu übernehmen und für die eigenen Belange einzustehen. Deshalb möchte ich Ihnen, Herr Ministerpräsident, auch dafür danken, dass Sie sich so dafür einsetzen. Wir alle sagen: Ja, natürlich müssen die Finanzen in Ordnung kommen und natürlich muss das Budget in Ordnung sein. Wir erinnern uns vielleicht noch an die Zeit vor vier Jahren oder etwas mehr, als die Inflation galoppierte, als die Währungsreserven dahinschmolzen und die Gesamtsituation der Ukraine wirklich sehr fragil war. Die Ukraine hat sich dann notwendigerweise mit dem IWF zusammengetan. Und der IWF hat der Ukraine ein sehr hartes Programm auferlegt. Wir wissen ja, wie es mit Preiserhöhungen und Steuererhöhungen so ist, vor allem wenn man die Gaspreise in einem Jahr vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen um 23 Prozent erhöhen muss; und zwar für eine Bevölkerung, die alles andere als reich ist. Das jährliche Durchschnittseinkommen pro Kopf in der Ukraine liegt deutlich unter 5.000 Euro. Das ist also kein reiches Land. Wenn die Gaspreise kurz vor Beginn des Winters um 23 Prozent steigen und man eine Opposition hat, die das natürlich ausschlachtet, dann ist das wirklich eine Herausforderung für eine Regierung. Ich möchte Ihnen, Herr Ministerpräsident, und Ihnen, Frau Finanzministerin, dafür danken, dass Sie es unter diesen Bedingungen geschafft haben, vor einer Woche den Haushalt im Parlament durchzusetzen. Das ist eine tolle Leistung. Wir wissen, dass das viele, viele Schmerzen bedeutet. Aber wir wissen auch, dass sich das eines Tages auszahlen wird. Deshalb: Danke schön dafür. Denn das stärkt das Vertrauen in die Ukraine. Deshalb ist das eine Botschaft an uns, dass wir Ihren Reformweg weiter unterstützen werden. Ich habe, als ich in Kiew war, 85 Millionen Euro an zusätzlichen Finanzmitteln angekündigt, um die soziale und gesundheitliche Basisinfrastruktur sowie die berufliche Bildung zu stärken. Wir haben auch den Wissenschaftsbereich in den Blick genommen und wollen Exzellenzcluster fördern. Denn es ist ja eine Spirale: Wenn die Bedingungen für Forschung nicht gut sind, dann gehen die Forscher in andere Länder auf der Welt und dann leidet wiederum das gesamte Exzellenzsystem des Landes. Wir wollen, dass dort die gute fachliche Qualifikation durch gute Wissenschaft untermauert werden kann. Insofern ist das, denke ich, schon richtig. Jetzt reden wir heute hier über ein Land, das einen schwierigen Reformweg geht. Das ist schon schwierig genug, aber das ist ja nicht alles. Gerade auch bei der Bekämpfung der Korruption sind wir noch nicht am Ende angelangt. Aber parallel dazu spielt sich noch anderes ab, wenn wir auf die Ostukraine blicken. Da gibt es täglich Verletzungen des Waffenstillstands, da verliert fast jeden Tag ein Soldat sein Leben. Und hinzu kommt auch noch der Vorfall am Asowschen Meer. Sie haben nicht nur, wie wir es zum Beispiel auch aus den Anfangszeiten der Deutschen Einheit in den neuen Bundesländern kennen, eine ganz schwierige wirtschaftliche Phase, in der alles neu aufgebaut werden muss, in der Menschen arbeitslos werden und nicht gleich wieder irgendwo anfangen können, sondern daneben gibt es immer auch die Angst um Frieden und die Angst vor weiteren Aggressionen. Das Minsk-Abkommen hat zwar dazu geführt, dass wir über eine längere Zeit hinweg nicht permanente, weitere Eskalationen gesehen haben. Aber es hat mitnichten dazu geführt, dass wir einer politischen Lösung nähergekommen sind und die Ukraine wieder Zugang zu ihren eigentlichen Grenzen hat. Nun weiß ich, dass auch in Deutschland viele Herzen in einer Brust schlagen. Viele Wirtschaftsvertreter wünschen sich natürlich auch gute Beziehungen zu Russland und reden über die Sanktionen. Aber, meine Damen und Herren, es geht hier um etwas sehr Prinzipielles. Wir machen die Sanktionen ja nicht um der Sanktionen willen, sondern wir machen diese Sanktionen, um deutlich zu machen, dass Länder, auch wenn sie geografisch in der Nähe Russlands liegen, das Recht auf eine eigene Entwicklung haben müssen. Das sind Grundsätze des internationalen Völkerrechts. Das ist im Fall der Ukraine – ich muss das noch einmal sagen, weil es immer wieder vergessen wird – ja besonders prägnant gewesen. Denn die Ukraine hat sich per Referendum entschieden, nach dem Zerfall der Sowjetunion selbständig zu sein. Die Krim hat an diesem Referendum teilgenommen; und die Krim selbst hatte sich auch dazu entschieden, zur Ukraine zu gehören. Die Ukraine hat dann die Atomwaffen abgegeben, die sie aus der Zeit der Sowjetunion hatte, um deutlich zu machen: Wir wollen nicht Teil eines Problems sein, sondern wir wollen Teil der Lösung sein. Man hat der Ukraine damals im Gegenzug im Budapester Memorandum versprochen, dass es eine territoriale Integrität gibt – also die Sicherheit, in den eigenen Grenzen zu leben. Die Garantiemächte waren Großbritannien, die Vereinigten Staaten von Amerika und eben auch Russland. Deshalb stehen wir in einer Pflicht. Wir können es schon nur schlecht genug sichern, aber wir haben die Pflicht, zu dem zu stehen, was wir einmal versprochen haben. Es hat sich eine weitere Erschwernis ergeben, weil Russland eine Brücke vom kontinentalen Teil zur Krim gebaut hat. Da ist bei Kertsch diese Brücke entstanden, die die Zufahrt zum Asowschen Meer noch mehr zu einer Meeresenge macht. Wenn man sich die Landkarte anschaut, sieht man, dass eben der eine Teil der Küste des Asowschen Meeres ukrainisches Territorium und der andere Teil russisches Territorium ist. Städte wie zum Beispiel Mariupol sind darauf angewiesen, mit der Außenwelt verbunden zu sein. Als ich in Kiew war, sah man das Thema ja schon sehr deutlich. Und das geht nun voll auf die Kosten des russischen Präsidenten: Seitdem diese Brücke im Mai dieses Jahres eingeweiht worden ist, haben sich die Schifffahrtbedingungen verschlechtert, obwohl es einen russisch-ukrainischen Vertrag aus dem Jahr 2003, der auch noch einmal bestätigt wurde, darüber gibt, dass freie Schifffahrt für alle Beteiligten in dieser Region möglich sein muss. Nun bin ich dafür, dass wir die Fakten dessen, was passiert ist, auf den Tisch legen – dass vor allen Dingen die Soldaten freigelassen werden und dass man auch nicht Geständnisse erpresst, wie wir das jetzt im Fernsehen gesehen haben. Ich bin auch dafür, dass wir versuchen, die Dinge ruhig zu halten. Aber wir müssen uns dafür einsetzen, dass eine Stadt wie Mariupol, die auf eine freie Meereszufahrt angewiesen ist – fragen Sie einmal Hafenarbeiter in Mariupol, was da los ist, wenn dort keine Schiffe mehr anlanden können –, nicht einfach abgeschnitten wird und damit indirekt weitere Teile der Ukraine nicht frei erreichbar sind. Ich werde das Thema auch gegenüber dem russischen Präsidenten beim G20-Gipfel ansprechen. Wir werden dafür sorgen. Wir haben trotzdem die Bitte, auch auf ukrainischer Seite klug zu sein, denn wir wissen, dass wir die Dinge ja auch nur vernünftig und nur im Gespräch miteinander lösen können, weil es keine militärischen Lösungen all dieser Auseinandersetzungen gibt. Das muss auch gesagt werden. Deutschland und Frankreich sind also auch weiterhin bereit, im Rahmen des Normandie-Formats zu arbeiten, auch wenn die Erfolge leider sehr gering sind. Ich sage das in dieser Ausführlichkeit vor der deutschen Wirtschaft, weil Sie ja manchmal sagen: Nun können die doch endlich einmal wieder mit Russland zusammenkommen. – Das möchte ich auch gerne; und das möchte auch die Ukraine. Das wäre für uns alle einfacher. Aber wir müssen auch aufpassen, dass solche Beispiele nicht Schule machen. Wenn Sie sich einmal Russlands Umgebung anschauen, sehen Sie: In Georgien gibt es Südossetien und Abchasien, in Moldau gibt es Transnistrien, in Aserbaidschan und Armenien gibt es noch Nagorny Karabach, in der Ukraine gibt es die Ostukraine. Das heißt, es gibt einen Gürtel von Ländern, die sich nicht so entwickeln können, wie sie es möchten. Und davor können auch wir als Deutsche nicht die Augen verschließen. Deshalb ist natürlich jedes Engagement von Ihnen ein ganz wichtiges Engagement. Falls jemand in der Region um Mariupol engagiert sein sollte, verlieren Sie nicht gleich die Geduld. Wir werden versuchen, dass diese Region auch weiterhin gut erreichbar sein wird. Wir haben zusätzlich zur wirtschaftlichen Kooperation eine Vielzahl humanitärer Hilfsaktionen und Aktionen der Entwicklungszusammenarbeit mit der Ukraine durchgeführt. Wir haben der Ukraine einen ungebundenen Finanzkredit in Höhe von 500 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Das Geld ist so, wie ich mich jetzt einsetzen konnte, gut angelegt. Dann haben wir ein Thema, um das ich auch nicht herumreden will: das ist Nord Stream 2. Das Projekt wird von der Ukraine natürlich überhaupt nicht unterstützt, weil die Ukraine Sorge hat, als Transitland für Erdgas nicht mehr wichtig zu sein und damit strategisch angreifbarer zu werden. Dazu muss ich sagen, dass Nord Stream 1 auch noch nicht dazu geführt hat, dass die Ukraine abgeschnitten wurde, und dass es neben Nord Stream 2 auch noch TurkStream gibt. Das ist im Grunde wieder russisches Erdgas, das aber über die Türkei und Italien nach Europa kommt. Die Antwort muss aus meiner Sicht darin liegen, dass wir sicherstellen, dass die Ukraine auch weiterhin ein wichtiges Transitland bleibt. Dazu unterstützt Deutschland die europäischen Bemühungen von Kommissar Šefčovič. Ich hoffe, dass bald wieder Gespräche stattfinden werden, da der Transitvertrag nächstes Jahr auslaufen wird. Wir müssen alles daransetzen, dass dieser Transitvertrag wieder mit Leben erfüllt wird. Das ist nicht einfach. Die Emotionen schlagen da manchmal auch hoch. Ich will jetzt hier nicht in alle Details gehen, aber Sie dürfen davon ausgehen, dass wir trotz der unterschiedlichen Einschätzungen zu Nord Stream 2 mit voller Kraft für die Ukraine als Gastransporteur eintreten. Sie müssen auch wissen, dass wir auf europäischem Hoheitsgebiet durch das dritte Energiebinnenmarktpaket Möglichkeiten haben, steuernd einzugreifen, wenn es darum geht, wie viel Gas überhaupt ankommt. Sie wissen, dass wir die Gasleitung OPAL in der Zeit der Sanktionen zum Teil dazu genutzt hatten, den Zufluss zu drosseln. Wir werden also sehr sorgsam darauf achten, dass sich die politische Situation der Ukraine nicht verschlechtert. Meine Damen und Herren, ich danke jedem Einzelnen, der sich unternehmerisch in die Ukraine aufgemacht hat – ein tolles Land, ein großes Land und sicherlich ein Land, das sich noch vor vielen Schwierigkeiten stehen sieht. Vor allen Dingen müssen die Menschen spüren, dass es ihnen besser geht. Demokratie ist etwas sehr Wichtiges, aber wenn es einem, was den Lebensstandard angeht, immer schlechter geht, dann ist auch in Deutschland die Demokratie schnell infrage gestellt. Deshalb wollen wir, dass die Ukraine eine prosperierende Ukraine wird. Und dazu trägt der heutige Tag bei. Herzlichen Dank dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag, herzlichen Dank der Außenhandelskammer in Kiew, herzlichen Dank Ihnen allen.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Verleihung des Deutschen Kurzfilmpreises 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-verleihung-des-deutschen-kurzfilmpreises-2018-1557532
Wed, 28 Nov 2018 19:00:00 +0100
Im Wortlaut
Potsdam
Kulturstaatsministerin
[Anrede] am Anfang war der Kurzfilm. Damit ging es los, seinerzeit im Paris der Brüder Lumière, in Max und Emil Skladanowskys Berliner Wintergarten, in New Jersey, wo Edwin Porter 1903 „The Great Train Robbery“, den ersten Western, drehte: 12 Minuten Action pur. Inzwischen ist allerlei dazu gekommen: Langfilme und Superlangfilme, Fortsetzungen, Reihen, Sequels und Prequels, Ultrakurzfilme, Werbespots, Musikvideos, Serien. Aber den Kurzfilm, den gibt es immer noch. Und er ist so lebendig wie eh und je. Meine Damen und Herren, seit 1956 verleiht die Bundesregierung den Deutschen Kurzfilmpreis, und seit nun 20 Jahren ist die BKM–Beauftragte für Kultur und Medien dafür zuständig. Wer mich kennt, weiß: Für mich ist dies einer der liebsten Termine im Kalender. Und besonders freue ich mich, dass wir heute – wenn auch aus anderem Anlass – wieder hier im Waschhaus in Potsdam feiern können. Ich danke Ihnen, liebe Frau Stürmer, dass Ihr Haus zum fünften Mal dieses Ereignis ausrichtet. Die Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf steht für den Spirit dieses Abends: Geistesgegenwart, Forscherdrang, Geschichtsbewusstsein, politische Präsenz und ästhetischer Mut. Danke, für unsere schon traditionsreiche Kooperation. Wie Sie wissen, fördern wir den deutschen Kurzfilm auf verschiedenen Ebenen. Wir unterstützen die AG Kurzfilm, also den Bundesverband Deutscher Kurzfilm, mit ihrer Servicestelle, mit der Kurz.Film.Tour und dem Kurzfilmtag. Wir fördern auch die KurzFilmAgentur Hamburg, die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen und das Filmfest Dresden. Dafür haben wir allein 2018 266.000 Euro gegeben – nicht zu vergessen die 137.500 Euro, die wir im Rahmen des Kinoprogrammpreises für die besten Kurzfilmprogramme vergeben haben. Unser Engagement für den deutschen Kurzfilm schlägt mit mehr als 400.000 Euro zu Buche. Hinzu kommen natürlich die Mittel des Kurzfilmpreises, den wir heute verleihen. Und wofür das alles? Ich sage es mal so: für ein unbequemes Format. Der künstlerisch anspruchsvolle Kurzfilm passt weder ins 45-90-Minuten-Schema des Fernsehens noch zur Ökonomie des Werbefilms, und auch unter den für mobile Endverbraucher aufbereiteten Häppchenfilmen findet er keinen Platz. Als bloßer Zeitvertreib ist er zu lang, für die Abendbetäubung zu kurz. Und auch als ein Lebensabschnittsbegleitformat, wie es uns die Serien bieten, taugt der Kurzfilm nur bedingt. Wenn wir uns aber die Zeit nehmen, Kurzfilme anzusehen, ahnen wir, worin ihr Geheimnis liegen könnte: Kurzfilme probieren eine Vision aus, einen Entwurf, eine Alternative, sie skizzieren Geschichten und Situationen, sie entdecken einen Ausschnitt der Welt; wenn sie wollen, bedienen sie sich eines Genres. Und oft verändern sie es. Meist vergleicht man den Kurzfilm mit der Kurzgeschichte, der kleinen Form neben dem nachtfüllenden Roman. Mir persönlich dagegen drängt sich ein anderer Vergleich auf: Viele Kurzfilme haben etwas von einem Essay an sich, in ihrer Kürze wirken sie leicht, skizzenhaft, experimentell. Auf jeden Fall vermeiden sie jene „Leere an Empfindungen“, als die Immanuel Kant die Langeweile definierte. Ob nun überraschend, radikal oder einfach lustig: Kurzfilme laden dazu ein, die Welt anders zu sehen, einen Ausschnitt als Entwurf zu begreifen, die eigene Sicht in Frage zu stellen. Dabei können sie die Konventionen, an denen sich der Mainstream orientiert, ohne weiteres ignorieren. Kurzfilme stehen für das hohe Gut der ästhetischen Freiheit. Diese Freiheit, die das Wesen jeder Kunst ausmacht, ist alles andere als ein Luxus. Sie ist überlebenswichtig, gerade mit Blick auf das Publikum, von dem und für das Kino letztlich lebt. Roland Zag, Vorstand des Verbands für Film- und Fernsehdramaturgie, hat der deutschen Medienindustrie kürzlich bescheinigt, sie befände sich „in einer Art Wachkoma voll latenter Angst“ und habe daher den Draht zu ihrem Publikum verloren. Man muss seine Analyse nicht in allen Punkten teilen, aber eines möchte ich doch festhalten: Wenn wir Experimente vermeiden, wenn wir uns an ästhetische Gewohnheiten klammern, verliert das Kino den Kontakt zu denen, die es tragen: seinen Zuschauerinnen und Zuschauern. Ich glaube, dass der Kurzfilm ein entscheidender Schlüssel ist zu diesen notwendigen Innovationen. Wo sonst sollen wir das Ungesehene, Ungedachte, Unerwartete ausprobieren? „Etwas Kurz-Gesagtes“, meinte Friedrich Nietzsche, „kann die Frucht und Ernte von vielem Lang-Gedachten sein“. Kurzfilme sind Einladungen zum Gespräch. Sie belassen uns genügend Zeit und Kraft, über sie nachzudenken und zu diskutieren, und das heißt immer auch: über uns selber. Auch in diesem Sinne freue ich mich, heute Abend bei Ihnen zu sein. Im Zentrum aber stehen Sie, liebe Nominierte, liebe Preisträgerinnen und Preisträger. Ihre Werke erfinden die Welt neu oder dokumentieren sie auf höchstem Niveau – ob nun als Realfilm, animiert oder in hybrider Form. Dafür wurden Sie für den bedeutendsten und mit insgesamt 275.000 Euro höchstdotierten Kurzfilmpreis Deutschlands nominiert. Und, liebe Nominierte, Sie sollen wissen: Auch wer heute nicht die goldene Lola und die 30.000-Euro-Prämie mit nach Hause nehmen kann, erhält mehr als warme Worte. Ihr Können zeichnet Sie aus, weshalb wir Ihnen bereits für die Nominierung den Weg zu einem weiteren Film mit 15.000 Euro erleichtern wollen. Ihnen allen, liebe Nominierte, gratuliere ich ganz herzlich! Es ist eine wirklich erfreuliche Nachricht, dass wir auch in diesem Jahr wieder den mit 20.000 Euro dotierten Sonderpreis vergeben können. Doch geht es um viel mehr als bloß ums Geld: Welches Renommee der Deutsche Kurzfilmpreis international hat, zeigt sich daran, dass sich fast alle Siegerfilme automatisch für das Auswahlverfahren der Oscars qualifizieren. Wie wir alle wissen, hat es ein widerständiges, anspruchsvolles und unangepasstes Format wie der Kurzfilm hierzulande schwer, kommerziell ausgewertet zu werden. Eine Refinanzierung ist in der Regel kaum zu erwarten. Kleine Budgets machen kreativ, doch ich erinnere daran, dass alle diese Projekte für die Leinwand gemacht sind und natürlich eine sichere und ausreichende Finanzierung benötigen. Die Bundesregierung unterstützt die Herstellung künstlerischer Kurzfilme seit 50 Jahren! Immer wieder wurden die Fördermittel angepasst, so dass wir, neben den Preisgeldern, im Rahmen der Produktionsförderung 2018 pro Kurzfilm bis zu 15.000 Euro an Fördermitteln auf der Grundlage einer Juryentscheidung vergeben können. Insgesamt beträgt unser jährliches Fördervolumen bisher rund 250.000 Euro. Meine Damen und Herren, ich wünsche mir von Herzen, dass wir auch in Zukunft hochwertige deutsche Kurzfilme sehen dürfen, die unter fairen, auch fairen finanziellen Bedingungen hergestellt wurden. Daher habe ich entschieden, 2019 unsere Produktionsförderung für Kurzfilme auf bis zu 500.000 Euro zu verdoppeln! Zugleich verdoppeln wir auch die Förderhöchstbeträge für die jeweilige Produktion auf bis zu 30.000 Euro! Auch in der Zukunft gilt: Der Kurzfilm lebt! Und darauf kommt es an! Herzlichen Dank Ihnen allen – Dank vor allem an die Mitglieder der Jurys: Sie haben mit viel Zeit, Expertise und Leidenschaft Ihre Arbeit gemacht und wunderbare Preisträger ermittelt! Ich wünsche uns allen einen wunderbaren Abend mit unseren Kurzfilmen des Jahres.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Festveranstaltung der CDU/CSU-Fraktion zum 100. Jubiläum des Frauenwahlrechts am 28. November 2018 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-festveranstaltung-der-cdu-csu-fraktion-zum-100-jubilaeum-des-frauenwahlrechts-am-28-november-2018-in-berlin-1555628
Wed, 28 Nov 2018 19:03:00 +0100
Berlin
keine Themen
Lieber Ralph Brinkhaus, liebe Frau Magwas, liebe Rita Süssmuth – ich begrüße hier jetzt nicht jeden mit Titel –, liebe Gäste, liebe Podiumsteilnehmer, auch ich wollte darauf eingehen, dass wir zwei Geburtstage feiern. Den einen, den von Frau Magwas, haben wir schon gewürdigt. Über den anderen kann man gar nicht genug sprechen. Vor 100 Jahren – am 30. November 1918 – trat das Frauenwahlrecht in Kraft, nachdem nur wenige Tage zuvor – wir haben uns ja auch im Deutschen Bundestag daran erinnert – die Republik ausgerufen worden war und dann am 12. November der Rat der Volksbeauftragten als eine der ersten Entscheidungen das allgemeine Wahlrecht proklamiert hatte. Dem war in der Tat ein langer Kampf vorausgegangen. Wir haben neulich von der neuseeländischen Premierministerin bei einer anderen Veranstaltung gehört, dass Neuseeland auf das 125. Jubiläum zusteuert. Deutschland gehörte also nicht zu den Ersten, glücklicherweise aber auch nicht zu den Letzten. Unser Nachbarland Frankreich war sehr viel später dran; man mag sich das gar nicht vorstellen. Dem war damals ein wirklich langer Kampf vorausgegangen. Eine derer, die daran mitgewirkt hatten, war Helene Lange. Sie vertrat die Ansicht: „Wenn das Endziel der Frauenbewegung einmal erreicht ist, so wird es kein führendes Geschlecht mehr geben, sondern nur noch führende Persönlichkeiten.“ Damit hat Helene Lange im Grunde schon vor mehr als 100 Jahren das Ziel einer echten Gleichstellung ausgegeben – ein Ziel, das erst 1994 auch als staatlicher Auftrag festgeschrieben wurde. In Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes heißt es: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Eine derjenigen, die damals vehement daran mitgearbeitet haben, war Rita Süssmuth. Rita, danke für deinen langjährigen Einsatz, der ja damals noch schwieriger als heute war. Gleichberechtigung von Frauen und Männern ist nichts weiter als eine elementare Frage der Gerechtigkeit. Sie ist ein Indikator dafür, wie menschengerecht eine Gesellschaft ist und wie es eine Gesellschaft mit der Würde des einzelnen Menschen hält; so hart muss man das formulieren. Gleichberechtigung ist auch eine elementare Frage der Demokratie. Die gleichberechtigte Teilhabe und Verantwortung von Frauen in unserer und für unsere Gesellschaft ist unverzichtbar, damit sie eine wirklich reichhaltige, umfassend demokratische Gesellschaft ist, und zwar in allen Bereichen und auf allen Ebenen, natürlich gerade auch in den Parlamenten. Das Bundespresseamt hat anlässlich des 100. Jahrestags der Einführung des Frauenwahlrechts interessante Umfragedaten erhoben, die man jetzt so oder so interpretieren kann. Manch einer würde sagen „Na, siehste“ bei der Antwort auf die Frage nach der Bereitschaft von Frauen und Männern, in einer politischen Partei mitzuarbeiten. 37 Prozent der Männer und nur 20 Prozent der Frauen sagen Ja. Dazu, sich für ein Amt in einer Gemeinde oder anderswo zu bewerben, sagen 27 Prozent der Männer und 19 Prozent der Frauen Ja. Den oberflächlichen Schluss aus dieser Sache zu ziehen, dass Frauen sich nicht allzu sehr für Politik interessieren, sollte uns nicht in den Kopf kommen – mir ist das in den Kopf gekommen, aber ich verwerfe das gleich und sofort wieder –, sondern das kann uns nur dazu ermuntern, die politische Arbeit etwas attraktiver, interessanter und spannender zu machen, nicht nur für Männer, sondern eben auch für Frauen. Oh Wunder, oh Wunder – es könnte dann passieren, dass sogar insgesamt wieder mehr Menschen an der Politik interessiert sein würden. Auch das wäre ein schöner Nebeneffekt. Nun war es ja, nachdem Gleichberechtigung 1949 in der Verfassung verankert worden war, auch eine lange Geschichte, bis einmal eine Ministerin als Bundesministerin auftrat. Da mussten die Frauen fast wieder so vormarschieren, wie es einst gewesen war. Damals war natürlich eines der ersten der anzusteuernden Ämter das der Familienministerin; so weit reichte es dann noch. Ich will nur kurz aus der Zeit berichten, als Helmut Kohl die Aufgabe hatte, nach der deutschen Wiedervereinigung irgendwie Frauen in seine Bundesregierung zu kriegen. Er kam auf eine ganz besonders effiziente Methode. Er nahm nämlich das Amt von Rita Süssmuth und später von Ursula Lehr und teilte es in drei Teile – damit hat er aus einem Ministerium für eine Frau drei für drei Frauen gemacht –, weil man der Meinung war, und die kann man auch vertreten, dass Gesundheitspolitik eines eigenen Ministeriums bedurfte. Ministerin wurde damals Gerda Hasselfeldt. Damals war man auch der Meinung, dass man die Themen Familie und Senioren ganz gut vom Thema Jugend und Frauen trennen konnte. Das ereilte dann Hannelore Rönsch und mich. Ich erhielt als Ostdeutsche selbstverständlich nicht etwa gleich das Ressort Familie – das war zu heikel –, sondern Frauen und Jugend. Damit war also Unglaubliches gelungen. Ich war damals noch vergleichsweise jung für die Politik, gut 35 Jahre alt, kam aus dem Osten, war eine Frau – erfüllte also drei notwendige, in der Regierung zu berücksichtigende Komponenten. Das war also ein sehr effizienter Einsatz. Ich habe geschlagene vier Jahre lang mit Hannelore Rönsch alle Gebietsüberschneidungen tapfer – sozusagen integrativ – bearbeitet. Wir haben vier Jahre lang im Doppel erklärt, dass diese Teilung der Bereiche so sinnvoll wie sonst überhaupt gar nichts sei, um nach vier Jahren zu erleben, als ich Umweltministerin wurde, dass das Ganze wieder zusammengelegt wurde. So etwas gab es also. Diese Geschichte ist reich an Details. Es ist aber ganz wichtig, dass Frauen etwa nicht nur das Familienministerium erhalten, sondern in allen Themenbereichen dabei sind. Und dem sind wir doch ein ganzes Stück nähergekommen. Wir brauchen Frauen auch etwa in der Wirtschafts-, Finanz-, Sozial-, Innen- und Gesellschaftspolitik, in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ich möchte allen in den verschiedensten Bereichen danken. Wir haben aber noch eine weite Wegstrecke bis zu echter Gleichstellung vor uns. Der Global Gender Gap Report 2017 des Weltwirtschaftsforums hat errechnet, dass, wenn es weltweit beim aktuellen Reformtempo bleibt, erst in 217 Jahren Männer und Frauen, was wirtschaftliche Teilhabe und Chancen anbelangt, gleichgestellt sein würden. 217 Jahre – ich glaube, so lange können wir nicht warten und wollen wir nicht warten. Wir haben ja die Erfahrung gemacht, dass Engagement durchaus Veränderungen hervorruft. Deshalb ist es wichtig und richtig, immer wieder dieser Vorkämpferinnen zu gedenken. Sie sind vielerlei Diffamierungen ausgesetzt gewesen und sie mussten sich wehren. Auch heute gibt es ja viele subtile Formen dessen, weshalb es Frauen durchaus gar nicht so einfach haben, sich durchzuboxen. Wir haben vielleicht ein paar Vorteile, aber auch ein paar Nachteile. Die hohe Stimme ist etwas, das sozusagen strukturell benachteiligt, und auch die manchmal kleinere Körpergröße. Als ich mit Günter Rexrodt als Umweltministerin die Gespräche über den Energiekonsens zu führen hatte, habe ich eifrig darauf geachtet, dass er hinter mir stand. Dann konnte er aber immer noch über mich hinwegblicken; und der Reporter hielt mir dann meistens das Mikrofon vor die Hand, damit er Günter Rexrodt besser kriegen konnte. Wir sind aber gewappnet; und wir haben ja auch vieles getan. Ich glaube, das Grundverständnis der Gleichberechtigung muss ja sein, dass auf der einen Seite Frauen vorankommen, aber dass wir nicht an eine Gesellschaft denken, in der sich für Männer derweil nichts ändert, sondern es muss natürlich in den verschiedenen Arbeits- und Lebensbereichen des Menschen auch faire Aufteilungen geben. Ansonsten muss die Frau sozusagen ein Superwesen sein, das immer ausgeruht und fröhlich, nachdem die Hausarbeit verrichtet ist, bei der Arbeit erscheint, niemals müde, kulturell interessiert und dann noch ehrenamtlich tätig ist. Das kann ja keiner schaffen. Das heißt also, unsere Politik muss darauf ausgerichtet sein, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in umfassendem Sinne besser hinzubekommen. Da ist in den letzten Jahren viel passiert: der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, 2013 der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz, Elterngeld, Elternzeit, Partnermonate und ElterngeldPlus. Das ist eine wirklich interessante Erfindung. Ursula von der Leyen hat das damals vorgeschlagen. Es ist wirklich eine interessante Sache, wie aus dem Wickelvolontariat, wie es einer unserer Kollegen nannte, doch inzwischen eine allseits anerkannte Maßnahme geworden ist, die übrigens in Bayern am meisten genutzt wird. Der Kollege kam nämlich aus Bayern. Alle Bundesländer haben offensichtlich daran teil. Diese und viele andere Maßnahmen wirken. Ich freue mich, dass seit 2005, seitdem ich Bundeskanzlerin bin, die Frauenerwerbstätigkeit um zwölf Prozentpunkte gestiegen ist – von 59,5 Prozent auf 71,5 Prozent. Dennoch gibt es auch in der Erwerbstätigkeit strukturelle Unterschiede. Die Teilzeitarbeit ist eine Arbeit, die von Frauen sehr viel stärker genutzt wird, eben wegen ihrer vielseitigen Pflichten. Daran, glaube ich, wird sich aber in Zukunft auch etwas ändern. Auch mehr Männer werden Familienzeit und Arbeitszeit als wichtige Faktoren im Auge haben. Wir hören immer wieder aus großen und auch aus kleinen Unternehmen, dass Zeit und Verfügbarkeit heute für Männer und Frauen gleichermaßen ganz wichtige Punkte sind. Es gibt die Verdienstfrage, die zwei Komponenten hat: zum einen die Frage der gleichen Arbeit an gleicher Stelle – da gibt es gerade auch in den Führungsetagen noch viel Unterschiedlichkeit – und zum anderen die Bewertung der Berufe, die ein Riesenproblem darstellt. Wir merken ja vor allem bei sozialen Berufen, dass wir nicht mehr genug Nachwuchs finden, wenn dort nicht auch vernünftige Bedingungen herrschen. Ich werde nie vergessen, als ich hier in Berlin eine Kita besucht habe und ein Erzieher – die gibt es ja inzwischen erfreulicherweise auch, was, glaube ich, auch sehr gut ist – sagte, dass er sozusagen als Verdiener einer Familie, als der sich der Mann ja sozusagen aus der alten Zeit heraus noch empfindet, eigentlich nicht nach Hause kommen kann und einfach keine gute Partie ist, wenn er Erzieher ist. Das nimmt überhand, weshalb wir an dieser Stelle sehr, sehr viel tun müssen. Da das oft Berufe sind, die entweder aus Beitragsmitteln oder aus Steuermitteln finanziert werden, wird das natürlich auch Prioritätenverschiebungen in den öffentlichen Budgets sowie bei der Frage der Lohnzusatzkosten mit sich bringen. Damit müssen wir uns aber beschäftigen, sonst werden wir für diese Berufe keine Menschen mehr finden. Wir haben auch – die Union war dabei nicht gerade der Treiber, würde ich einmal sagen – das Brückenteilzeitgesetz verabschiedet. Ich denke, dass es seinen Sinn hat, auch wenn man natürlich aufpassen muss, die Unternehmen nicht mit immer mehr Bürokratie zu belasten. Aber es ist einfach so, dass Menschen, die nur in Teilzeit arbeiten, in den langfristigen Karriereplanungen der Unternehmen keinen Platz haben. Deshalb ist die Möglichkeit, aus der Teilzeit wieder in die Vollzeit zurückzukehren und darauf auch einen Anspruch zu haben, vielleicht auch ein Einstieg, dass auch für zeitweise Teilzeitbeschäftigte bei der Führungsplanung wirklich mitgedacht wird. Man wird auch mehr erleben, dass manche Führungspositionen doppelt ausgefüllt werden können. Es gibt jetzt auch die ersten Doppel-Referatsleiterbesetzungen innerhalb der Bundesregierung. All diese Dinge funktionieren sehr viel besser, als man dachte. Dazu will ich noch einmal eine Geschichte erzählen, die vielleicht manchem schon bekannt ist. Als ich Bundeskanzlerin wurde, fiel mir auf, dass im Kanzleramt eigentlich nie schwangere Frauen auftauchten. Der Kanzleramtsminister Thomas de Maizière hat damals herausgefunden, dass jeder Mitarbeiter des Kanzleramts ein sogenanntes Mutterhaus – Bildungsministerium, Wirtschaftsministerium, Verteidigungsministerium – haben sollte, aus dem er herkommt, und dass in dem Moment, in dem Frauen schwanger wurden, sie sofort in ihr Mutterhaus geschickt wurden, weil man der Meinung war, dass volle Leistungsfähigkeit im Kanzleramt notwendig ist und es da zu viele Unsicherheitsfaktoren gibt. Ich kann Ihnen sagen: Es ist wunderbar, wenn die Mütter oder die Väter mit ihren Babys in das Kanzleramt kommen. Wir brauchen keine Referentinnen – das galt nur ab der Referentenebene – mehr wegzuschicken. Ein weiteres Thema ist das der sogenannten gläsernen Decke. Da geht es um sehr komplexe Zusammenhänge, die auch mit der Frage der Berufswahl zu tun haben. Darauf – das sage ich Ihnen ganz ehrlich – habe ich auch noch keine abschließende Antwort. Wir tun heute sehr viel in Kitas und in Kindergärten, um schon kleine Mädchen auch für naturwissenschaftliche, technische Fragen zu begeistern. Aber wenn sie später aus der Entwicklungsphase der Pubertät herauskommen, interessieren sich viele eben doch sehr viel mehr für Berufe, die man klassischerweise für Frauenberufe hält. Es gibt den Girls‘ Day, an dem ich das jedes Mal abchecke. Wir haben etwa bei Informatikstudiengängen oder bei Programmierer-Ausbildungsgängen nie mehr als 27, 28 oder 29 Prozent weibliche Teilnehmer. Das ist schade. Wir müssen uns überlegen, wie wir das verbessern können. Meine Damen und Herren, das ist also eine ganze Reihe von Themen. Was die politische Situation betrifft, so ist ja hier schon über das Drama gesprochen worden: 20 Prozent Frauen. Ich habe eben gesagt: Für jeden ausscheidenden Mann, der eine gute Perspektive bekommt, kommt irgendwie eine Frau von der Liste hinterher. Wir sollten also fast alle im Bundestag befindlichen Männer vielleicht mit guten Positionen außerhalb der Politik versorgen; dann könnten wir hier vielleicht weiter vorankommen. Aber das kann es eigentlich auch nicht sein, denn dahinter stehen natürlich immer Wahlkreise, die dann doch etwas enttäuscht sind, wenn der direkt gewählte Bundestagsabgeordnete nicht mehr zur Verfügung steht. Deshalb steht die CDU – und die CSU genauso – vor einer Frage, die sich anderen Parteien so nicht stellt: Wie schaffen wir es, in die Direktwahlkreise auch Frauen hineinzubringen? Da sehe ich Paul Ziemiak, den Vorsitzenden der Jungen Union, der sich heute zu uns trauen kann, denn seit letzter Woche gibt es zwei weibliche Landesvorsitzende. Beide sind gekommen – wunderbar. Im Bundesvorstand der CDU war man völlig außer Rand und Band. Mindestens eine von beiden musste sich in einer scharfen Gegenkandidatur (Zuruf: Birte Glißmann ist leider nicht da.) – Sie sind also gar nicht die Vorsitzende? Sie sind einfach zu zweit gekommen und haben gedacht, ich merke es nicht. Das ist aber grandios schiefgelaufen. Okay, stellen wir uns einfach vor, da säße die zweite Landesvorsitzende. Alles gut. Grüßen Sie sie herzlich. Wir haben jedenfalls noch sehr viel Arbeit vor uns. Das wird auch mit einer Wahlrechtsreform sicherlich nicht einfach zu lösen sein. Das heißt, wir müssen daran arbeiten, Frauen von Anfang an stärker einzubeziehen, um potenzielle Kandidatinnen zu haben. Ein weiteres Thema, das ich ansprechen muss, ist ein tieftrauriges: das Thema Gewalt gegen Frauen. Man muss einfach sagen – wir haben in letzter Zeit intensiv darüber gesprochen –, dass es erschütternd ist, wie häufig Tötungsdelikte in Partnerschaften und auch in anderen Situationen vorkommen, ebenso Vergewaltigungen und Körperverletzungen. Der Kampf gegen Gewalt gegen Frauen ist ein Riesenthema. Da sind natürlich auch Länder und Kommunen gefordert, aber ich glaube, es ist richtig – wir machen so viele Dinge, für die der Bund eigentlich nicht zuständig ist –, dass wir uns auch beim Bund in diesem Bereich engagieren und über das Thema diskutieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste, Vorbilder wie Helene Lange, Marie Juchacz, Helene Weber und viele andere haben uns gezeigt, dass sich unter viel, viel widrigeren Umständen als heute vieles bewegen lässt – mit Klugheit, mit Entschlossenheit, mit Mut und auch gemeinsam. Deshalb war es auch eine wunderbare Sache, dass 82,3 Prozent der Frauen an der Wahl am 19. Januar 1919 teilgenommen haben. Da sieht man, dass für etwas gekämpft wurde, bei dem die Frauen natürlich längst dachten, dass sie dazu bereit sind. Allerdings waren dann nur 8,7 Prozent der Abgeordneten Frauen. Es hat noch fast 70 Jahre gedauert, bis der Frauenanteil im Deutschen Bundestag zweistellig wurde. Dann ging es aber langsam voran, der Anteil stieg, um in dieser Legislaturperiode wieder zu sinken. Aber das werden wir aufhalten und wieder rückgängig machen. Meine Damen und Herren, Sie sehen also, auch 100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts bietet das Thema genügend Anlass, darüber zu sprechen und zu sagen, dass unsere Gesellschaft längst noch nicht gerecht ist. Sie ist erst gerecht, wenn Parität auf allen Ebenen durchgesetzt wird. Wir wollen das im Bereich des Bundes 2025 erreicht haben – in allen Gremien und Bereichen. Für das Kanzleramt darf ich sagen: Wir haben eine Bundeskanzlerin, einen Chef des Kanzleramts, vier Staatsminister – drei Frauen, ein Mann – und unter den B9-Stellen, die wir haben, sind vier von Frauen und vier von Männern besetzt. Darauf bin ich auch ein bisschen stolz, denn das war schon einmal anders. Ich möchte zum Abschluss noch Hedwig Dohm zitieren. Sie verlangte von den Gegnern des Frauenwahlrechts eine Begründung. „Warum soll ich erst beweisen, daß ich ein Recht dazu habe?“ – So schrieb und fragte sie bereits 1876. Ich ergänze heute, 142 Jahre später: Warum sollten wir erst beweisen, dass gleiche Teilhabe ein Gebot der Gerechtigkeit ist? 100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts sollte das endlich selbstverständlich werden. Weil es das aber nicht ist, müssen wir weiter mit ganzer Kraft kämpfen. Ich danke allen, die dabei sind. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Fachkonferenz „20 Jahre Washingtoner Prinzipien: Wege in die Zukunft“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-fachkonferenz-20-jahre-washingtoner-prinzipien-wege-in-die-zukunft–1557530
Mon, 26 Nov 2018 10:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Im Jahr 1903 erwarb der jüdische Kunstsammler Albert Martin Wolffson eine Handzeichnung Adolph von Menzels mit dem Titel „Inneres einer gotischen Kirche“ – eines von 32 Blatt, für die er insgesamt 50.000 Reichsmark bezahlte. Im Jahr 1938 musste seine Tochter Elsa Cohen diese Zeichnung verkaufen, um ihre Flucht vor den Nationalsozialisten in die USA finanzieren zu können. Der Käufer war Hildebrand Gurlitt. Sein Geschäftsbuch verzeichnet einen Preis von 150 Reichsmark – eine dem damaligen Wert einer Menzel-Handzeichnung ganz sicher nicht angemessene Summe. Im Jahr 2017 endlich bekam die Familie Wolffson ihr Eigentum zurück: Dank der Arbeit der Taskforce „Schwabinger Kunstfund“ konnte ich die Zeichnung im Februar 2017 an die Erben Elsa Cohens übergeben. Mit ihrer Biographie steht Elsa Cohen beispielhaft für die Opferschicksale, denen auch die derzeit nur gut zwei Kilometer von hier (im Martin-Gropius-Bau) gezeigte Ausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt: Ein Kunsthändler im Nationalsozialismus“ gewidmet ist. Die Aufarbeitung des „Kunstfunds Gurlitt“ ist ein anschauliches Beispiel für die Erfolge, die in diesem Bereich aus internationaler wissenschaftlicher Zusammenarbeit erwachsen können; der deutsch-jüdischen Zusammenarbeit kommt hier nicht nur aus historischen Gründen eine ganz eigene, eine besondere Bedeutung zu. Und so ist es nur folgerichtig, dass die Ausstellung – in erneut überarbeiteter Form – auch Station in Israel machen wird. Zuvor war sie bereits in Bonn, Bern und Berlin zu sehen. Berlin! In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Nabel der europäischen Kunstwelt, wozu nicht zuletzt legendäre Kunsthändler wie Alfred Flechtheim oder Paul Cassirer mit ihrer Begeisterung für die künstlerische Avantgarde und ihrem weit verzweigten Netzwerk beigetragen haben. Unzählige dieser, meist jüdischen, Sammler von Kunst- und Kulturgütern verloren während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ihr Eigentum: Sie wurden von den Nationalsozialisten verfolgt, sie wurden beraubt, sie wurden enteignet. Andere mussten ihren Besitz, wie Elsa Cohen, weit unter Wert veräußern oder bei Flucht und Emigration zurücklassen. Dieses Leid, dieses Unrecht lässt sich nie wieder gutmachen. Dennoch habe ich es als wichtige und bedeutsame Geste empfunden, mit der Rückgabe der Menzel-Zeichnung an die Erben Elsa Cohens wenigstens ein Stück weit zu historischer Gerechtigkeit beitragen zu können. Das hat mich auch persönlich sehr bewegt, denn es wurde einmal mehr greifbar, dass hinter jedem entzogenen, geraubten Kunstwerk das individuelle Schicksal eines Menschen steht: Dies anzuerkennen und die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, sind wir den Opfern der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und deren Nachfahren schuldig. Ich bin dankbar, dass einige von Ihnen heute erneut den Weg nach Deutschland gegangen sind und begrüße Sie sehr herzlich. Sie sind es, die mit Ihren Geschichten eine Annäherung an das Unfassbare möglich machen. Wenn Sie erzählen, bleibt der Zivilisationsbruch des Holocaust kein Kapitel im Geschichtsbuch, sondern wird zur Konfrontation mit der Unmenschlichkeit, zu der Menschen imstande sind und die daher jeden Menschen immer auch persönlich angeht. Diese Einsicht brauchen wir, um unserer immerwährenden Verantwortung für die Erinnerung an die Opfer gerecht zu werden, die das von Deutschen verschuldete, unermessliche Leid und Unrecht uns auferlegt. An uns liegt es auch, den NS-Kunstraub, der wesentlicher Bestandteil der NS-Verfolgungsmaschinerie war, weiter zu erforschen, die Geschichte einzelner Werke so weit wie möglich aufzuklären und gerechte und faire Lösungen mit den früheren Besitzern oder deren Nachfahren zu befördern. Dafür steht die Washingtoner Konferenz, die vor 20 Jahren im Dezember 1998 stattfand, dafür stehen die „Washingtoner Prinzipien“ und dafür steht die „Gemeinsame Erklärung“, in der sich die Bundesregierung, die Länder und die kommunalen Spitzenverbände zur Umsetzung der Washingtoner Prinzipien bekennen. Nach wie vor stellen diese Prinzipien die Leitlinie für unser Handeln dar – dies werde ich heute (gemeinsam mit dem AA–Auswärtigen Amt) durch die Unterzeichnung eines Joint Agreement mit Stuart Eizenstat und Thomas Yazdgerdi, dem US-Sondergesandten für Holocaust-Fragen, auf US-amerikanischer Seite erneut bekräftigen. Lieber Herr Eizenstat, die von Ihnen vor 20 Jahren initiierte Washingtoner Konferenz und die von Ihnen verhandelten Washingtoner Prinzipien mit ihrer Formulierung der „gerechten und fairen“ Lösungen haben weltweit Maßstäbe gesetzt. An diesen müssen und wollen wir uns auch in Zukunft messen lassen. Wir können hier, um an die Worte der damaligen US-Außenministerin Madeleine Albright, selbst übrigens Nachfahrin von Holocaust-Opfern, bei der Eröffnung der Washingtoner Konferenz 1998 zu erinnern, keine Wunder bewirken, aber wir können alles in unserer Macht stehende tun, um Dunkelheit durch Licht, Ungerechtigkeit durch Fairness, Konflikt durch Konsens und Unwahrheit durch Wahrheit zu ersetzen. Das ist das Wenigste, was wir tun müssen. Wie mühsam, langwierig und ungeheuer schwierig es aber ist, die Herkunft eines Kulturguts über Jahrzehnte zurück zu verfolgen und zweifelsfrei zu klären, auch dafür sensibilisiert die Geschichte der Familie Wolffson / Cohen, die ich eingangs geschildert habe. Dieser schwierigen Aufgabe widmet sich die Provenienzforschung. Ich begrüße die aus aller Welt angereisten Provenienzforscherinnen und Provenienzforscher, darunter viele ausgewiesene Experten ihres Fachs. Nicht zuletzt mit der Einrichtung spezieller Lehrstühle und Juniorprofessuren in Bonn, Hamburg, München und künftig auch Berlin haben wir in Deutschland der Bedeutung einer festen Verankerung der Provenienzforschung in der Wissenschaft Rechnung getragen und machen hier gute Fortschritte. Seien Sie versichert, dass ich Ihre Arbeit, meine Damen und Herren, auch weiterhin mit großem Interesse und Anteilnahme verfolgen werde. Ich unterstütze sie bereits seit Beginn meiner Amtszeit nach Kräften – nicht zuletzt auch deshalb, weil ja auch ich als Kunsthistorikerin und jahrelang für einschlägige Ausstellungen im Max Liebermann-Haus Verantwortliche in meiner Berufspraxis oft mit diesen Themen und Fällen konfrontiert war. Denn unmittelbar nach meinem Amtsantritt 2013 entwickelte das Thema durch den sogenannten „Kunstfund Gurlitt“ eine neue, eine zusätzliche Dynamik, die in der Wissenschaft, der Öffentlichkeit und auch bei den Opfern der NS-Verfolgung auf großes Interesse stieß und ein beherztes Handeln erforderte. Nicht erst seitdem sind mir die Aufarbeitung des NS-Kunstraubes und die Provenienzforschung ein politisch wichtiges und ein echtes Herzensanliegen. Deshalb habe ich die Mittel für Provenienzforschung in meinem Kulturetat seitdem fast vervierfacht (von 2 auf 7,4 Millionen Euro). Und auch die Strukturen zur Aufarbeitung des NS-Kunstraubs in Deutschland haben wir verbessert und die Gründung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste zügig auf den Weg gebracht. Deutschland hat damit nun einen zentralen Ansprechpartner bei der Umsetzung der Washingtoner Prinzipien – und ich werte es zugleich als Vertrauensbeweis wie auch als stete Aufforderung, nicht nachzulassen, dass gerade das DZK–Deutsches Zentrum Kulturgutverluste Veranstalter der heutigen internationalen Fachkonferenz aus Anlass des 20. Jahrestages der Washingtoner Prinzipien ist. Herrn Prof. Lupfer, Herrn Hütte und ihrem Team danke ich an dieser Stelle für ihr großes Engagement – ebenso wie den Kooperationspartnern der Konferenz, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der Kulturstiftung der Länder! Und ich versichere Ihnen: Auch wenn wir die Aufgaben des DZK–Deutsches Zentrum Kulturgutverluste künftig erweitern und einen Arbeitsbereich zur Erforschung von Kulturgut aus kolonialen Kontexten einrichten wollen, bleibt es dabei, dass die Aufarbeitung des NS-Kulturgutraubs unveränderter Schwerpunkt und Kernaufgabe des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste ist. Entscheidende Grundlagen der Provenienzrecherche sind Transparenz und Vernetzung. Die öffentliche Dokumentation von Such- und Fundmeldungen in der vom DZK–Deutsches Zentrum Kulturgutverluste betriebenen Lost-Art-Datenbank ist bereits heute eine zentrale Quelle für die Verwirklichung der Washingtoner Prinzipien. Künftig wird eine Forschungsdatenbank, die im Januar 2020 ihren Regelbetrieb aufnehmen soll, die vorliegenden Erkenntnisse weltweit zugänglich machen. Perspektivisch kann das DZK–Deutsches Zentrum Kulturgutverluste so eine zentrale Plattform für den Austausch relevanter Daten der Provenienzforschung bieten. Auch viele Kultureinrichtungen, allen voran die großen bundesgeförderten Museen, sind sich ihrer Verantwortung bewusst und stellen sich der Aufgabe mit großem Einsatz, nicht zuletzt durch zusätzliches Personal im Bereich der Provenienzforschung. Und auch hier ist Transparenz von größter Bedeutung, Datenbanken zu den jeweiligen Beständen müssen, können aber auch bereits online eingesehen werden. Um nur einige Beispiele zu nennen: Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz – deren Präsident, Herrn Prof. Parzinger, ich herzlich begrüßen darf – hat zum Beispiel bereits über 12 Millionen Bestandsnachweise aus ihren Einrichtungen unter „SPK–Stiftung Preußischer Kulturbesitz digital“ veröffentlich; das Deutsche Historische Museum hat über 700.000 Objekte digitalisiert, 600.000 davon online veröffentlicht – um nur zwei der Bundeseinrichtungen zu nennen. Da Kultureinrichtungen in Deutschland ja ganz überwiegend von den Ländern und Kommunen getragen werden, habe ich auch meine Kolleginnen und Kollegen in den Ländern gebeten, ihre Einrichtungen zur Digitalisierung und Veröffentlichung der jeweiligen Bestände anzuhalten – was viele längst tun. Die stetige Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Erforschung und Rückgabe von NS-Raubkunst in Deutschland – anhand der genannten Maßnahmen nur beispielhaft erläutert – zeigt Wirkung. Wir sehen dies nicht zuletzt an der steigenden Zahl von Restitutionen. Seit Erklärung der Washingtoner Prinzipien 1998 wurden bis September 2018 in Deutschland – soweit überhaupt bekannt – mehr als 5.700 Kulturgüter restituiert. Hinzu kommen weit mehr als 11.000 Bücher und anderes Bibliotheksgut. Und dabei können wir natürlich nur die Fälle nennen, von denen wir wissen. Durch föderale Zuständigkeiten und weil Restitutionen leider nicht zentral erfasst werden, sind diese Zahlen leider unvollständig. Fest steht aber: Viele Institutionen in Deutschland nehmen ihre Verantwortung umfangreich wahr. Vor diesem Hintergrund kann ich die gelegentliche Kritik an der Arbeit der Beratenden Kommission und insbesondere an der eher geringen Zahl verhandelter Fälle – 15 seit Bestehen – nicht teilen. Dies zeigt doch vielmehr, dass viele Kultureinrichtungen zum Glück auch ohne Vermittlung Außenstehender zu „gerechten und fairen Lösungen“ bereit sind. Denn die Beratende Kommission ist ja ein Hilfsangebot, wenn eine Verständigung sonst eben nicht erreichbar ist. Dass die Verständigung offensichtlich in einer Vielzahl von Fällen ohne eine solche Unterstützung erreichbar ist, darf Mut machen. Sehr viele derartige Verhandlungen finden – auch zum Schutz der Betroffenen und Beteiligten – in großer Diskretion statt. Auch die von mir initiierte Reform der Kommission im November 2016, bei der insbesondere zwei jüdische Mitglieder, Raphael Gross und Gary Smith, berufen wurden, hat die Arbeitsweise gestärkt und verbessert. Grund zur Zufriedenheit besteht trotz des Erreichten freilich nicht. Es ist unerlässlich, sich immer weiter und vertieft mit den Auswirkungen totalitärer Herrschaft auseinanderzusetzen und in der Aufarbeitung nicht nachzulassen. Daran erinnert uns nicht zuletzt mahnend, dass wir in Deutschland auch heute wieder antisemitische Übergriffe und extremistische Tendenzen erleben. Deshalb werde ich den Bereich der Aufarbeitung des NS-Kunstraubs und der Provenienzforschung weiterhin stärken und wichtige Weichen für die Zukunft stellen. Ich befinde mich hierzu im stetigen und fruchtbaren Austausch mit einigen von Ihnen. Den Präsidenten des World Jewish Congresses, Herrn Ronald Lauder, möchte ich hier besonders hervorheben und herzlich begrüßen. Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung, aber auch für Ihre Offenheit und (gelegentliche) Kritik, lieber Ronald Lauder. Dies sind die Verbesserungen im einzelnen: 1. Es ist mir auch ganz persönlich ein Anliegen, in unseren Anstrengungen zur Rückgabe von NS-Raubkunst an die Berechtigten nicht nachzulassen. So habe ich keinerlei Verständnis dafür, dass sich auch heute noch manche aus öffentlichen Mitteln getragenen Einrichtungen der Anrufung der Beratenden Kommission verweigern. Ich werde daher alle mit Bundesmitteln geförderten Museen und anderen Kultureinrichtungen ab dem kommenden Jahr verpflichten, auch einseitigen Wünschen auf Anrufung der Beratenden Kommission von Seiten potentieller Anspruchsteller selbstverständlich nachzukommen. An private Besitzer, Sammler und Einrichtungen appelliere ich, sich ebenfalls nicht zu verschließen und im Sinne der Washingtoner Prinzipien zu handeln. Denn die historische und moralische Verantwortung für die Aufarbeitung des NS-Kunstraubes liegt nicht allein beim Staat und seinen Institutionen. Auch von privaten Kunstsammlerinnen und Kunstsammlern und nicht zuletzt vom Kunsthandel kann und darf man meines Erachtens deutlich mehr Engagement verlangen. 2. Mitunter wird die (unbegründete) Sorge geäußert, dass unsere Kultureinrichtungen haushaltsrechtlich gehindert sein könnten, NS-Raubkunst zurückzugeben. Vor diesem Hintergrund habe ich mit dem Bundesministerium der Finanzen abgesprochen: wir stellen dies auf Bundesebene klar und regeln, dass es für Museen und andere kulturgutbewahrende Einrichtungen, auf welche die Bundeshaushaltsordnung Anwendung findet, keine haushaltsrechtlichen Gründe gibt, die Restitutionen NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts entgegenstehen. 3. Viele potentielle Restitutionsfälle sind kompliziert. Das beginnt teilweise schon damit, dass Opfer des NS-Regimes, ihre Angehörigen oder Nachfahren auf Sprachbarrieren stoßen oder ihre liebe Mühe mit dem alles andere als übersichtlichen deutschen Föderalismus haben. Auch die deutsche Museumslandschaft ist divers, und Ansprechpartner müssen erst einmal ausfindig gemacht werden. Um hier bestmöglich zu helfen, werde ich ein „Help Desk“ einrichten, eine zentrale Anlaufstelle für Anspruchsteller, die Orientierung und Unterstützung bietet. Denn ich möchte, dass die Menschen, denen selbst oder deren Vorfahren bereits unvorstellbares Leid von deutscher Hand wiederfahren ist, zumindest hier nicht noch auf weitere Hürden stoßen, dass sie sich verstanden fühlen, dass ihnen geholfen wird. 4. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen der potentielle Anspruchsteller gar nichts von seinem Anspruch weiß. Die Provenienzforschung ist hier auf eine – je nach Einzelfall mehr oder weniger schwierige – Suche nach möglichen Erben angewiesen. Das DZK–Deutsches Zentrum Kulturgutverluste stellt auf seinen Internetseiten bereits jetzt hilfreiche Informationen hierfür zur Verfügung. Dennoch kann die Suche nach unter Umständen in alle Welt verstreuten Familienmitgliedern oft aufwändig und teuer für Museen, Sammlungen und auch Privatleute sein. Auch hier wollen wir helfen und werden über das DZK–Deutsches Zentrum Kulturgutverluste ab dem kommenden Jahr auch materielle Unterstützung bei der Erbensuche geben. Meine Damen und Herren, Sie sehen, auch ein so großes, ein so bedeutendes Ereignis wie „20 Jahre Washingtoner Prinzipien“ kann kein Schlusspunkt der Aufarbeitung sein, ganz im Gegenteil: Es ist ein Ausgangspunkt, von dem aus noch mehr Forschende als bisher mit noch besserem Rüstzeug als bisher der Wahrheit auf den Grund gehen können. Auch dies ist Ziel der heutigen Konferenz, für deren Verlauf ich Ihnen einen regen Austausch wünsche, hier, an diesem Ort, der einst als US-amerikanischer Beitrag zur internationalen Bauaustellung Interbau 1957 die Freiheit des Gedankenaustauschs verkörpern sollte. Was für eine passende Überschrift auch für unsere Konferenz, die – so hoffe ich – neue Perspektiven auf die Umsetzung unseres gemeinsamen Anliegens eröffnet. Mag Wiedergutmachung auch jenseits unserer Möglichkeiten liegen, so verdient die Aufarbeitung des NS-Kunstraubs doch auf jeden Fall jede nur mögliche Anstrengung. Denn jedes einzelne Werk, dessen Provenienz geklärt und das vielleicht sogar restituiert werden kann, ist ein Mosaikstein des immer noch unvollständigen Bilds von der Geschichte. Es – wo immer möglich – zu ergänzen und die Wahrheit anzuerkennen, das sind und bleiben wir den ihres Eigentums und ihrer Rechte beraubten, von den Nationalsozialisten verfolgten und vielfach ermordeten Menschen schuldig. Und so mahnt uns diese Konferenz, so mahnen uns die Erinnerung an – und die Aufarbeitung all der furchtbaren Facetten der Nazi-Diktatur: Deutschland darf nie wieder ein Land sein, in dem Hass, Hetze und Gewalt gegen Minderheiten auf eine schweigende Mehrheit treffen – weder auf Schulhöfen noch auf öffentlichen Plätzen, weder auf Demonstrationen noch in Moscheen, Parteien oder Konzerthallen! Der Erinnerung und Aufklärung an die Zeit Raum zu geben, in der das nationalsozialistische Deutschland Millionen Menschen – wie auch die Würde des Menschen – der Verachtung und Vernichtung preisgab, kann aufklären über die Folgen totalitärer Ideologien. Die Erinnerung an diese Zeit kann auch sensibilisieren für die unterschätzten Wegbereiter totalitärer Ideologien: für die Verrohung der Sprache beispielsweise, für die Verharmlosung der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen, für Fehlinformationen, die Vorurteile nähren, und für das Schweigen aus Gleichgültigkeit oder Feigheit. Die Bundesregierung arbeitet und handelt im Bewusstsein der immerwährenden historischen Verantwortung Deutschlands, die von den Nationalsozialisten verübten Menschheitsverbrechen aufzuarbeiten, die Erinnerung an die Opfer wach zu halten, und aus dem Bewusstsein dieser Verantwortung heraus mit aller Kraft gegen Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Diskriminierung vorzugehen. In diesem Bewusstsein werden wir auch die Aufarbeitung des NS-Kunstraubs in Deutschland vorantreiben, und auch in diesem Sinne wünsche ich Ihrer wichtigen Konferenz viel Erfolg!
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Veranstaltung „20 Jahre Bundeskulturpolitik – Bilanz und Perspektiven“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-veranstaltung-20-jahre-bundeskulturpolitik-bilanz-und-perspektiven–1557534
Fri, 23 Nov 2018 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Bonn
Kulturstaatsministerin
Als „Schützengraben-Bücherei“ wurden im Ersten Weltkrieg – dessen Ende sich in diesem November gerade zum 100. Mal gejährt hat – mit Büchern befüllte Kisten genannt, die bis an die vorderste Front gebracht wurden und den dort in den Schützengräben ausharrenden Soldaten nicht nur zum Zeitvertreib, sondern vor allem auch als „geistige“ Nahrung dienen sollten. So gab es sogar gesonderte Feldausgaben beliebter Werke und Reihen wie die „Bücherei für Schützengraben und Lazarett“ oder „Lamms jüdische Feldbücherei für deutsche Soldaten jüdischen Glaubens“. Viele Soldaten schrieben und dichteten auch selbst, nicht zuletzt um das erlebte Elend zu verarbeiten. Und viele dieser sogenannten „Kriegspoeten“ kostete der Krieg auch das Leben. Denn natürlich kann Literatur, kann Kultur nicht vor existentiellen Gefahren und Nöten bewahren – aber Kultur kann Sinn stiften und Halt gegeben, Trost spenden, Mut machen und Freude bereiten. Und das war schon immer so. Welche große Rolle Kultur im menschlichen Dasein spielt, das zeigt auch das Rheinische Landesmuseum in seiner Dauerausstellung, die die kulturelle Entwicklung der Region von der Steinzeit bis in die Gegenwart erzählt und dabei zeigt, wie Kultur das Leben der Menschen seit jeher bereichert hat. Ein wunderbarer Ort also, um heute über die Entwicklung der Bundeskulturpolitik, über „20 Jahre Bundeskulturpolitik“ zu sprechen. Ich freue mich sehr, Sie alle hier in der schönen Bundesstadt Bonn willkommen zu heißen! In diesem Jahr gibt es die oder den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien seit zwanzig Jahren. Und vor kurzem erst haben wir diesen runden Geburtstag mit einem Festakt im Humboldt Forum gebührend gefeiert. Ich will mich nicht zu vielen schönen Anekdoten verführen lassen – zum Beispiel von der Rede der Bundeskanzlerin oder dem Konzert von Max Raabe – sondern über die wesentlichen Entwicklungen der vergangenen zwanzig Jahre der Kulturpolitik des Bundes sprechen. Denn auch hier gibt es viel Schönes zu berichten. Dabei möchte ich natürlich auch ein Schlaglicht auf die aktuellen und künftigen kulturpolitischen Herausforderungen werfen. Denn 20 Jahre alt zu werden, das bedeutet auch, dass noch vieles vor uns liegt – viel mehr als das, was schon geschafft ist. Aber lassen Sie uns erst einmal auf die schöne Entwicklung der BKM–Beauftragte für Kultur und Medien zurück blicken: Als fünfte Amtsinhaberin kann ich diese selbstverständlich nicht für mich alleine reklamieren. Meine vier Amtsvorgänger – und darunter eine Amtsvorgängerin – haben in den Anfangsjahren mit enger Anbindung an das Bundeskanzleramt wichtige Akzente in der noch jungen Bundeskulturpolitik gesetzt. Wir verdanken meinen Vorgängern zahlreiche Meilensteine – wie etwa die Schaffung und Finanzierung des Hauptstadtkulturfonds, der unzählige innovative Kulturprojekte in und um Berlin ermöglicht hat, oder die Gründung der Kulturstiftung des Bundes, deren Aktivitäten das kulturelle Leben in Deutschland seit 2002 entscheidend bereichern. Mit dem Hauptstadtkulturvertrag haben wir bedeutende Kultureinrichtungen in die Zuständigkeit des Bundes überführt und damit zugleich Verantwortung für die Hauptstadtkultur übernommen. Ein Meilenstein war auch die Einweihung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Und schließlich haben wir mittlerweile eine Filmförderung vorzuweisen, die den deutschen Film und den Produktionsstandort Deutschland fraglos international konkurrenzfähig machte. Die BKM–Beauftragte für Kultur und Medien ist eine Erfolgsgeschichte, deren noch immer junge Bilanz sich sehen lassen kann. Bedenkt man die anfängliche Skepsis, die unserer Behörde bei ihrer Gründung entgegenschlug, war diese Entwicklung keinesfalls so abzusehen! Pessimisten attestierten dem Amt keine lange Bestandsdauer. Bekannte Stichworte: „so überflüssig wie ein Marineminister für die Schweiz“. Ein Blick auf die nackten Zahlen zeigt, welch beeindruckende Entwicklung die Behörde genommen hat: Anknüpfend an die Erfolge meiner Vorgänger hat sich der Etat der BKM–Beauftragte für Kultur und Medien in meiner nunmehr zweiten Amtszeit auf 1,9 Milliarden Euro erhöht. Allein seit meinem Amtsantritt haben sich die finanziellen Mittel, die der BKM–Beauftragte für Kultur und Medien zur Verfügung stehen, um rund 48 Prozent erhöht. Damit steht fast doppelt so viel Geld bereit wie in den Anfangsjahren. Auch die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat sich von gut 150 Mitarbeitern auf über 300 verdoppelt, weiterer Personalzuwachs ist vorgesehen. Darin drückt sich zugleich die hohe Wertschätzung aus, die das Parlament und die Bundesregierung unserer vielfältigen Kultur- und Medienlandschaft entgegenbringen. Mir ist vor allem wichtig, dass wir uns in zwei Jahrzehnten im Verhältnis zu den anderen Kulturakteuren Respekt, hohes Ansehen und großen Kredit erarbeitet haben. Das betrifft zum einen das Verhältnis zu den anderen Bundesressorts, mit denen wir hin und wieder schon mal in einem freundschaftlichen Clinch geraten, wenn es darum geht, einem Vorhaben der Bundesregierung eine kultur- und medienpolitische Handschrift zu geben. In vielen Bereichen ist uns das in den vergangenen Jahren auch geglückt: etwa im Urheberrecht oder jüngst auf europäischer Ebene durch die Aufnahme elektronischer Publikationen in den Katalog der reduzierten Mehrwertsteuersätze. Betonen möchte ich an dieser Stelle natürlich auch das gute, partnerschaftliche Verhältnis zu den Ländern und Kommunen. Aus der anfänglichen Konfrontation ist eine in jeder Hinsicht fruchtbare Zusammenarbeit im Sinne eines kooperativen Kulturföderalismus erwachsen, wie sich an den unzähligen kofinanzierten Einrichtungen bundesweit zeigt. Buchstäblich kultiviert haben wir unsere Form der Zusammenarbeit im Kulturpolitischen Spitzengespräch, in dem sich Bund, Länder und Kommunen seit einigen Jahren eng miteinander abstimmen. Gemeinsam gewährleisten wir, dass das Kulturpolitische Spitzengespräch künftig noch stärker dazu genutzt wird, inhaltliche Linien für ganz Deutschland zu entwickeln und diese in die kulturpolitische Praxis umzusetzen. Daher begrüße ich es sehr, dass die Länder vor kurzem eine eigene Kulturministerkonferenz ins Leben gerufen haben, die innerhalb der Kultusministerkonferenz ausschließlich die Kulturthemen behandeln wird. Damit nehmen die Länder nicht nur ihre Verantwortung für die Kultur noch stärker wahr, sondern sie reagieren selbstbewusst auf 20 Jahre BKM–Beauftragte für Kultur und Medien. Zu dieser Initiative gratuliere ich auch an dieser Stelle sehr herzlich. Ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit! In meiner bisherigen Amtszeit habe ich auch eigene kulturpolitische Schwerpunkte und Akzente gesetzt: Eine wichtige Botschaft war etwa der Aufbau der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste – ein Meilenstein auf dem Weg der Aufarbeitung des staatlich organisierten Kulturgutraubs während der NS-Terrorherrschaft. Als großen Erfolg dürfen wir getrost die Weiterentwicklung der Filmförderung verbuchen, durch die Novellierung des Filmförderungsgesetzes, den Ausbau der kulturellen Filmförderung und die Aufstockungen des Deutschen Filmförderfonds sowie des German Motion Picture Funds, der 2018 in die Zuständigkeit der BKM–Beauftragte für Kultur und Medien übergegangen ist – eine Filmpolitik, die der Bedeutung des Films als Kulturgut wie als Wirtschaftsgut gleichermaßen Rechnung trägt. Erfolgreich sind auch die neuen Kulturförderpreise, die wir gemeinsam ins Leben gerufen haben: dazu gehören der Deutsche Buchhandlungspreis und der Theaterpreis des Bundes – künftig wird es eine ähnliche Unterstützung kleiner unabhängiger Verlage geben. Solche Preise tragen dazu bei, dass es in Deutschland weiterhin auch fern der Metropolregionen ein reiches kulturelles Angebot, ein dichtes Netz unserer berühmten „geistigen Tankstellen“ in der gesamten Republik gibt. Last but not least: Mit der Initiative „Kultur öffnet Welten“ tragen wir zur kulturellen Integration der Menschen bei, die zu Hunderttausenden Zuflucht in Deutschland gesucht haben. Und auch, wenn Sie das nicht erwarten: Zu den Erfolgen zähle ich sehr wohl die von harten Auseinandersetzungen begleitete, aber ohne Gegenstimme im Deutschen Bundestag verabschiedete Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes, mit der die Kulturnation Deutschland nach vier Jahrzehnten endlich eine UNESCO–United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization-Konvention umgesetzt hat, die den illegalen Handel mit sensiblen Kulturgütern bekämpft. Das großzügige und langfristige Bundesengagement für die Kultur der Hauptstadt schließlich setzt der Abschluss des neuen Hauptstadtfinanzierungsvertrages fort. Es freut mich sehr, dass wir nicht nur mit einmaligen Leistungen helfen, sondern strukturell fördern können – neuerdings mit einem starken Akzent in der Musik. Stolz sein können wir darüber hinaus auf die Neukonzeption der Kulturförderung nach § 96 Bundesvertriebenengesetz, auf die allseits gelobte Vorbereitung des Reformationsjubiläums oder auch auf die erfolgreiche Arbeit (im Co-Vorsitz gemeinsam mit der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer) in der Bund-Länder-Kommission zur Medienkonvergenz. Ein wichtiger, ein notwendiger Fortschritt, auch für unsere demokratischen Grundüberzeugungen, ist die überaus positive Entwicklung, die die Deutsche Welle (mein größter Zuwendungsempfänger) genommen hat. Die stetige und deutliche Erhöhung unseres Zuschusses wird deutlich sichtbar in der Qualität und Vielfalt des Programms und auch an den deutlich gestiegenen weltweiten Nutzerzahlen. All‘ diese schönen Erfolge haben unserem Haus kurz vor der Bundestagswahl im vergangenen Jahr ein fast durchweg positives Presse-Echo beschert. Und auch in diesem Jahr wird eine solche Entwicklung doch sehr freundlich und dankbar begleitet – selbst wenn manchen Herren (im Süden) „mächtige Frauen“ nicht behagen… Meine Damen und Herren, Sie sehen, auf das in 20 Jahren Kulturpolitik des Bundes gemeinsam Erreichte können wir zurecht stolz sein. Und doch gibt es keinen Grund, sich auf den Lorbeeren auszuruhen. Eine Reihe weiterer kultureller Großbaustellen – im wörtlichen, aber auch im übertragenen Sinne, erfordern unseren vollen Einsatz, in den kommenden Jahren und auch darüber hinaus. Auf dem zentralen Platz in der Mitte Berlins entsteht im wiederaufgebauten Berliner Schloss das Humboldt Forum als einzigartiger Ort der Begegnung mit der Welt. Es ist unsere kulturelle Antwort auf die Globalisierung. Ganz im Humboldtschen Sinn steht es für die Tradition der Aufklärung, für die Idee eines selbstbewussten, gleichberechtigten transnationalen Dialogs und für das Ideal eines friedlichen Austauschs der Völker trotz aller Unterschiede. Und es steht für die Erkenntnis, dass uns Menschen überall auf der Erde viel mehr verbindet als uns trennt. Es ist eine Einladung, Weltbürger zu sein. Eine andere Großbaustelle, auf der hoffentlich bald schon die ersten Bagger rollen werden, ist das Museum des 20. Jahrhunderts. Mit dem Neubau auf dem Areal des Kulturforums am Potsdamer Platz werden wir nicht nur eine jahrzehntelang brachliegende Fläche im Herzen Berlins schließen, sondern der spektakulären Sammlung der Nationalgalerie endlich ein standesgemäßes Zuhause verschaffen. Ein weiteres Großprojekt meiner zweiten Amtszeit wird die strukturelle Modernisierung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz darstellen. Mehr als sechzig Jahre nach ihrer Errichtung ist es an der Zeit, der größten deutschen Kultureinrichtung zeitgemäße Strukturen zu geben. Das Freiheits- und Einheitsdenkmal kann jetzt endlich errichtet werden, denn die Zeit drängt! Unglaublich, aber wahr: Die ersten Überlegungen für ein solches Vorhaben reichen bis in das Jahr unserer eigenen Gründung zurück…! Daher bin ich froh, dass mit der Freigabe der Mittel für den Bau jetzt die Voraussetzungen dafür geschaffen sind, dass das Vorhaben Gestalt annehmen kann. Über diese einzelnen Großvorhaben hinaus zeigen die massiven technologischen, gesellschaftlichen und politischen Umwälzungsprozesse, die derzeit im Gange sind, dass eine Kulturpolitik, die sich zurecht als Gesellschaftspolitik versteht, auch auf anderen Ebenen mehr denn je gefordert ist. Das betrifft natürlich vor allem die Digitalisierung, der im Koalitionsvertrag nicht umsonst ein hervorgehobener Stellenwert eingeräumt ist. Mein Haus ist hier zunächst einmal durch Aspekte betroffen, die klassische Kulturthemen sind: Digitalisierung von Kulturgut, die gerechte Vergütung von Kreativität im Internet und natürlich die kulturpolitische Handschrift beim Schutz des Urheberrechts. Auch den Themenbereichen Vermittlung, digitale Produktion und Forschung kommt eine zentrale Bedeutung zu. Ich bin davon überzeugt, dass Kultur und Medien eine eigenständige Rolle bei der Gestaltung des digitalen Wandels zukommt. Denn Kultur und Medien erschließen die gesellschaftlichen Folgen technischer Innovationen. Ich verstehe mein Ressort immer auch als Impulsgeber für die dringend notwendige rechtliche und ethische Debatte über Rahmenbedingungen und Grenzen des technisch und ökonomisch Machbaren. Technologie darf uns nicht diktieren, wie wir leben wollen. Umgekehrt: Technologie muss sich an unseren Werten orientieren. Gleichzeitig kann sie aber natürlich auch ein großartiges Instrument zur Inspiration im kreativen Schaffensprozess sein und neue Wege der Kunst- und Kulturvermittlung ermöglichen. Eine Herausforderung ähnlicher Dimension wie die Digitalisierung sind die weltweiten Migrationsbewegungen, die in den vergangenen Jahren völlig neue Dimensionen angenommen haben. Damit rückt auch das Thema kulturelle Integration auf der politischen Agenda weit nach oben. Mit der Initiative Kulturelle Integration hat der Deutsche Kulturrat deshalb im vergangenen Jahr, von mir nachdrücklich gefördert und für die Bundesregierung federführend intensiv begleitet durch die BKM–Beauftragte für Kultur und Medien, fünfzehn Thesen erarbeitet. Die „15 Thesen“, die wir im vergangenen Jahr an die Bundeskanzlerin übergeben haben, formulieren eine gemeinsame Position zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer pluralen, weltoffenen Gesellschaft. Sie können als Gesprächsgrundlage für die Frage dienen, wie der „Zusammenhalt in Vielfalt“ gelingen kann. Nicht zuletzt ist es mein Ziel, in dieser Legislaturperiode auch die Erinnerungskultur, die seit Jahren im Zentrum meiner Arbeit steht, weiter zu stärken und auch die Aufarbeitung der Provenienzen von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten voranzubringen. Ein erster wichtiger Schritt war die von meinem Haus geförderte Entwicklung von Leitfäden durch den Deutschen Museumsbund zum Umgang mit menschlichen Überresten sowie zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Beide liegen mehrsprachig vor und dienen als Hilfestellung für Museen. Sie werden im Gespräch mit Experten aus den Herkunftsgesellschaften fortentwickelt. Zur Stärkung der Aufarbeitung ist geplant, ab 2019 die Provenienzforschung zu Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten über das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste zu unterstützen – über Projektförderung, wie auch bei der Forschung zu Nazi-Raubkunst. Dieser Aufgabe sollten, ja müssen wir uns mit Aufrichtigkeit und Nachdruck stellen. Viel zu lange war die Kolonialzeit ein blinder Fleck in unserer Erinnerung. Viel zu lange war die in dieser Zeit geschehene Ungerechtigkeit vergessen und verdrängt. Dies endlich ans Licht zu holen, ist Teil unserer historischen Verantwortung gegenüber den Herkunftsstaaten und -gesellschaften und Voraussetzung für Versöhnung und Verständigung. Und nicht nur nebenbei, sondern wie ein ständiger Begleiter beschäftigt mich die Situation von Frauen in Kultur und Medien. Der Kulturrat hat für uns die Studie über Frauen in Kultur und Medien erstellt, ich habe die verschiedenen Branchen zu Runden Tischen eingeladen, ich habe ein Frauen-Projektbüro beim Kulturrat eingerichtet, wir führen Mentoring-Programme durch und lassen Datenreporte und Netzwerkslisten erstellen und so weiter. Ein Großteil unserer BKM–Beauftragte für Kultur und Medien-Gremien ist inzwischen paritätisch besetzt und insgesamt haben wir bei der BKM–Beauftragte für Kultur und Medien einen Frauenanteil von über 50 Prozent, auf der Führungsebene sogar über 60 Prozent. Wir arbeiten also an einem Bewusstseinswandel! Zu guter Letzt, das große Thema Nachhaltigkeit. Wir alle tragen gemeinsam Verantwortung dafür, auch zukünftigen Generationen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen. Daher setze ich mich innerhalb der Bundesregierung seit längerem für mehr nachhaltige Entwicklung, für entsprechende Standards in unseren Kultureinrichtungen ein. Und daher ist es sehr verdienstvoll, dass sich auch die Kulturpolitische Gesellschaft des Themas „Kultur und Nachhaltigkeit“ bereits seit vielen Jahren engagiert annimmt. Nicht nur das Thema „Kultur und Nachhaltigkeit“, die gesamte Entwicklung der Bundeskulturpolitik in den vergangenen 20 Jahren ist sehr wohl auch geprägt durch das wichtige Engagement der Kulturpolitischen Gesellschaft. Ein besonderer Dank geht an diesem Abend an Sie, lieber Herr Prof. Scheytt: Sie haben das Wirken der KuPoGe–Kulturpolitische Gesellschaft über einen Zeitraum von 21 Jahren als Präsident maßgeblich mitgestaltet und geprägt und stehen nun kurz vor dem Abschied aus diesem Amt. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen allen sehr herzlich dafür, dass die Gesellschaft über die Jahre selbst zu einem unverzichtbaren Zugpferd in der Kulturpolitik avanciert. Und so ist es auch Ihr Verdienst, dass die Kultur integrative Kraft in einer zunehmend pluralistischen – und zunehmend polarisierten – Gesellschaft ist. Denn: Kultur ist Modus gesellschaftlicher Selbstverständigung – gerade dort, wo die Klüfte tief und die Fronten verhärtet sind, wo unterschiedliche Lebensvorstellungen und Weltanschauungen sich unversöhnlich gegenüberstehen und die Kraft des besseren Arguments gegen Mauern aus Ressentiments und Vorurteilen stößt. Ob Literatur, Theater, bildende Kunst, Musik, Tanz oder Film, ob in Museen und Gedenkstätten, Projekten und Initiativen: Kultur kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht, Kultur kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Kulturelle Vielfalt, in der sich auch sperrige, unbequeme, provozierende und irritierende Positionen in Freiheit entfalten können, ist deshalb das Beste, was wir populistischer Einfalt entgegensetzen können. Und zweifellos brauchen wir, um unsere demokratische Kultur der Verständigung gegen ihre Verächter zu verteidigen, die Lehren aus der Aufarbeitung unserer Vergangenheit, die Vielstimmigkeit unabhängiger Medien, die Ideen der Kultur- und Kreativwirtschaft, die Phantasie und auch den Widerspruchsgeist der Kunst – und eine Kultur- und Medienpolitik, die dafür Raum und Rahmenbedingungen schafft. Im demokratischen Tagesgeschäft ist es meist der Streit um Kleinteiliges, das Ringen um Kompromisse, der Pragmatismus des kleinsten gemeinsamen Nenners, der das Miteinander wie auch die Schlagzeilen beherrscht. Das mag langweilig, anstrengend, bisweilen auch aufreibend sein; doch gerade die nüchterne Distanz zu Utopien und Weltanschauungen schützt die Freiheit des Einzelnen. Nicht minder wichtig aber ist, als Gesellschaft im Gespräch, in der Verständigung über die „großen Fragen“ zu bleiben. Dazu brauchen wir Kultur und Medien, und dazu kann und soll Bundeskultur- und medienpolitik auch in Zukunft beitragen. In diesem Sinne: Auf viele weitere erfolgreiche Jahre! Auf eine inspirierende Diskussion!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutschen Arbeitgebertag am 22. November 2018 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-deutschen-arbeitgebertag-am-22-november-2018-in-berlin-1553454
Thu, 22 Nov 2018 10:34:00 +0100
Berlin
Arbeit und Soziales
Sehr geehrter Herr Kramer, sehr geehrter Herr Ehrenpräsident, lieber Herr Hundt, sehr geehrter, lieber Steffen Kampeter, meine Damen und Herren, ich bin heute sehr gern wieder bei Ihnen mit dabei. Sie feiern ja im Grunde zwei Jubiläen. Zum 20. Mal tagt der Deutsche Arbeitgebertag. Er ist zu einer der wichtigsten wirtschafts- und sozialpolitischen Veranstaltungen hierzulande geworden. Zu dem anderen Jubiläum können wir uns alle gratulieren – Sie haben es auch schon angedeutet –: Vor 100 Jahren ist nicht nur die Republik ausgerufen worden; bald danach entstand auch die Sozialpartnerschaft – wenige Tage nach Ende des Ersten Weltkriegs in einer sehr unsicheren wirtschaftlichen Situation –, als sich am 15. November 1918 Arbeitgeber und Gewerkschaften auf das Stinnes-Legien-Abkommen einigten. Das war ein Meilenstein; und ich stimme Ihnen zu: ein Meilenstein auf dem Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Es verhinderte damals die Vergesellschaftung privater Produktionsmittel; die Novemberrevolution war ja erst einmal vergleichsweise links ausgerichtet. Deshalb war es wichtig, die Gewerkschaften als gleichberechtigte Vertragspartner der Arbeitgeber anzuerkennen. Es wurden Schlichtungsverfahren eingeführt, um Tarifstreitigkeiten zu lösen. Die Tarifautonomie wurde vereinbart. Sie wurde ja dann später in der Bundesrepublik Deutschland auch im Grundgesetz verankert. Sie ermöglichte den Sozialpartnern, Arbeitsbedingungen eigenständig und ohne staatliche Interventionen zu vereinbaren. Das heißt also: Das Stinnes-Legien-Abkommen schaffte eine völlig neue, bis dahin nicht bekannte Partnerschaft. Ich persönlich bin der Meinung, dass die Tarifautonomie auch auf Dauer zu den Kernelementen der Sozialen Marktwirtschaft gehört. Aber dazu gehört natürlich auch, dass dieses Kernelement weiter sichtbar bleibt. Wenn heute nur noch knapp 30 Prozent der Betriebe unmittelbar an einen Tarifvertrag gebunden sind, dann ist das eine rückläufige und eine auch schon, wie ich finde, bedrohliche Situation. Sie, Herr Kramer, haben darüber gesprochen, woran das liegt und wer seinen Beitrag dazu leistet; und ich kann darüber auch sehr viel erzählen. Gerade auch in der Zeit nach der Wiederherstellung der Deutschen Einheit hat es im Bereich des Metallgewerbes Entwicklungen gegeben, die diesen Prozess sicherlich beschleunigt haben. Tatsache ist jedenfalls: Wenn dieser Anteil nicht wieder steigt, sondern weiter sinkt – und wenn Tarifautonomie hundertmal im Grundgesetz verbürgt wäre; und wenn wir noch so oft sagen, das sei ein Kernelement der Sozialen Marktwirtschaft –, dann wird das im realen Leben dazu führen, dass der Druck auf die Politik immer größer wird. Das ist im Grunde dann ein Druck, der gar nicht mehr durch Vereinigungen gebündelt ist, sondern ein individueller Druck, bei dem die Gefahr besteht, dass sich dann immer nur der Stärkere durchsetzt und dass nicht das gesellschaftliche Wohl insgesamt im Auge behalten werden kann. Deshalb freut es mich, dass Sie gesagt haben: Wir wollen Gespräche aufnehmen, um gemeinsam mit den Gewerkschaften zu erörtern, wie wir es erreichen können – durch welche Instrumente auch immer –, die Tarifbindung wieder attraktiver zu machen. Wir beide, Herr Kramer und ich, haben darüber schon viel gesprochen. Ich glaube, angesichts der Herausforderungen der Digitalisierung, auf die ich später noch zurückkommen werde, und auch vieler Unternehmensgründungen mit teils ganz neuen Strukturen wird es nicht trivial sein, die Tarifbindung wieder zu erhöhen. Was natürlich auch wichtig ist, ist, dass man sozusagen auch alle Teile des gewerkschaftlichen Daseins im Auge behält. Denn die klassische deutsche Industrie hat sich ihre Tarifbindung zum Teil sozusagen auch dadurch erhalten, dass man alles, was nicht direkt mit dem industriellen Wertschöpfungsprozess zu tun hatte, outgesourct und anderen Bereichen überlassen hat. Wenn man sozusagen als Gewerkschaftschef Dienstleistungen zu verantworten hat, dann sieht man, dass es in Deutschland durchaus sehr unterschiedliche Lebenssituationen gibt – einerseits im Automobilbau, im Maschinenbau oder in Chemieunternehmen der klassischen Art und andererseits, wenn man sich ansieht, wie der Kantinenbetrieb, der Reinigungsservice und viele andere Dienstleistungen bewertet werden. Das, lieber Herr Kramer, ist auch einer der Gründe, die dazu führen, dass es eine gewisse Tendenz gibt, immer wieder mehr sozialen Wohlstand zu verteilen, als das wirtschaftliche Wachstum hergibt, was ich grundsätzlich auch für besorgniserregend halte, wenn das zu lange gemacht wird, weil sozusagen die Lücke zwischen dem Dienstleistungsbereich und dem Bereich der industriellen Wertschöpfung nach meiner Empfindung eher größer wird und bei Verteilungskämpfen die einen immer sagen „Wir haben nachzuholen“ und die anderen sagen „Wir müssen auch unsere Beschäftigten am Wohlstand teilhaben lassen“. Dann wird das, was verfügbar ist, im Grunde zweimal verteilt. Das ist das Problem, hinsichtlich dessen ich Sie bitte, das auch wieder zusammenzuführen, in Ihren Unternehmen ganzheitlich zu denken und nicht zu denken „Ja, wenn ich nur mit einem Betriebsrat zu tun habe, der sich dem Kerngeschäft widmet, brauche ich mich um alles darum herum nicht zu kümmern“, sondern das Drumherum auch mit zu sehen. Sonst führt das zu einem tiefen Ungerechtigkeitsgefühl, wird zu einem politischen Thema und landet dann also bei uns. Meine Damen und Herren, es ist dennoch so, dass wir nun im neunten Jahr in Folge wirtschaftlichen Erfolg haben. Das ist die längste Wachstumsperiode seit den Fünfzigerjahren. Wie es aber mit dem Erfolg so ist: Er treibt sozusagen Fantasien an, was man noch alles tun könnte. Das ist ja gerade das Schwierige. Theoretisch müssten diese guten Zeiten genutzt werden, um die Weichen für die Zukunft zu stellen. Politpraktisch aber ist sozusagen die Versuchung, von dem Vorhandenen noch einmal etwas zu verteilen, natürlich größer. Fast machen sich Reformen in wirtschaftlich schlechten Zeiten besser, obwohl der Preis, den man dann zu zahlen hat, größer ist. Das ist das, mit dem wir uns herumzuschlagen haben. Aber wir können darauf stolz sein, heute so viele Beschäftigte zu haben wie noch nie. Wir haben auch die Entwicklung – das wird meiner Meinung nach zu selten gesagt –, dass Armut und soziale Ausgrenzung gesunken sind und dass die Tatsache, dass so viele Menschen wie nie auch sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse haben, natürlich ein Faktor ist, der zur Armutsbekämpfung beiträgt und auf die Bildung von Kindern hoffen lässt, die eben in Familien aufwachsen, in denen Menschen nicht arbeitslos sind. Ich meine: Als ich Bundeskanzlerin geworden bin, hatten wir fünf Millionen Arbeitslose. Ich weiß noch, wie im März 2006 die Zeitung, die immer besonders groß titelt, titelte: „Frau Merkel, das sind jetzt Ihre Arbeitslosen“. Da waren es mehr als fünf Millionen gewesen. Da können wir heute schon zufrieden sein, dass wir 2,4 Millionen oder 2,3 Millionen Arbeitslose haben. Wir haben uns auch dazu bekannt, dass wir die Lohnzusatzkosten unter 40 Prozent halten. Lieber Herr Kramer, ich erinnere mich an meine ersten Jahre im Deutschen Bundestag. Damals lagen sie häufig über 40 Prozent. Da war das das Topthema. Aber ich verstehe auch, dass Sie mit einer gewissen Sorge auf bestimmte Entwicklungen schauen. Auch da – ich sollte ja heute hier auch ein wenig über den Zusammenhalt in der Gesellschaft sprechen – gibt es natürlich auch für Politiker bestimmte Dinge, die Sorgen machen. Der ganze Bereich der Pflege – dieser wird in einer Gesellschaft, die sich demografisch so wie unsere verändert, natürlich noch gewichtiger werden – ist mit Fragen verbunden, die die Menschen unglaublich beunruhigen. Wenn Sie sich da einmal die Beschäftigtensituationen anschauen, dann sehen Sie, dass die Arbeitszeiten zum Teil dramatisch unsicher sind. Oft gibt es lange, lange Strecken ohne einen freien Tag. Die Tarifbindung ist nicht besonders gut. Die Auszubildenden zahlen heute immer noch Schulgeld – ein Umstand, der auf der Bundesebene viele Jahre lang gar nicht wahrgenommen wurde, weil das eigentlich eine Ländersache ist; ein Paradoxon. Wenn Sie heute in einem Umfeld, in dem Sie überall Fachkräfte suchen, auch für diese Berufe junge Menschen begeistern wollen, dann ist doch klar, dass Sie an dieser Ausbildung etwas ändern müssen. Wir müssen uns um diese Dinge kümmern. Und da stehen wir bei der Gestaltung des deutschen Sozialsystems vor der Frage: Wie machen wir das, um auf der einen Seite bessere Pflegeleistungen anzubieten und solche Berufe attraktiver zu machen und auf der anderen Seite die Lohnzusatzkosten unter 40 Prozent zu halten? Als Alternative kommen dann immer nur Steuermittel infrage; und davon fließt schon sehr, sehr viel zum Beispiel in die Rente. Deshalb stehen wir hierbei schon unter Druck, der in den nächsten Jahren sicherlich nicht geringer werden wird. Wenn wir über den Zusammenhalt in der Gesellschaft sprechen: Wir haben als Bundesregierung eine der kompliziertesten Kommissionen eingesetzt – die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“. Schauen Sie sich einmal an, wie unterschiedlich die Lebensverhältnisse und die Sorgen der Menschen in Deutschland inzwischen geworden sind. In München etwa gibt es nicht genügend Wohnungen oder die Mieten sind derartig hoch, dass Facharbeiter sie sich kaum noch leisten können. Eigentlich müssen Betriebe und der Staat für sich und die Beschäftigten Wohnungen bauen. Uns fehlen einerseits weit mehr als eine Million Wohnungen und auf der anderen Seite stehen mehr als eine Million Wohnungen leer. Da sitzen Menschen in den ländlichen Regionen, wo auch ich meinen Wahlkreis habe, die ihr ganzes Leben für ihr Häuschen gearbeitet, getan, gemacht haben, die dann erleben müssen, dass ihre Kinder nach Stuttgart, nach München oder sonst wohin ziehen, dass sie auf ihrer Immobilie, die ja nun wirklich nicht wie ihre Kinder mobil ist, sitzenbleiben und dass das Lebenswerk an Wert verliert. Wenn Sie heute als älterer Mensch in ein Pflegeheim gehen und eine Immobilie in Freiburg und eine Immobilie in Höxter besitzen, dann reicht das, was Sie aus der Immobilie ihres alten Hauses in Höxter erlösen – obwohl Sie das Gleiche in Ihrem Leben getan haben, aufgewendet haben, gemacht haben –, vielleicht nur noch für ein Fünftel dessen, was in Freiburg an Wert entsteht. Menschen empfinden das als ungerecht. Das ist ja auch nicht erstaunlich. Aber wir haben darauf keine komplette Antwort. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir uns gemeinsam darum bemühen, die wirtschaftliche Entwicklung in allen Teilen Deutschlands vernünftig stattfinden zu lassen. Zum Beispiel in Bayern geht das, weil man da einen guten Kern hat. Aber in allen neuen Bundesländern hat kein einziges DAX-Unternehmen seinen Hauptsitz. Dabei, die DAX-Unternehmen davon zu überzeugen, dass sie sich nun bitte schön auch noch in den neuen Ländern, die sich sozusagen deindustrialisieren, engagieren sollen, helfen selbst super Verkehrsverbindungen nicht. Das bedeutet, dass dann eben die jungen Leute weggehen. Und in dem Moment, in dem die jungen Leute weggehen, sind die älteren total verunsichert. Denn die Tatsache, dass sie ihre Enkel nicht aufwachsen sehen, dass die Kinder weit weg in München leben und in einer klitzekleinen Wohnung wohnen, in der sie dreimal die Augen verdrehen, wenn Oma auch am zweiten Tag noch zu Besuch ist – ja, da ist das Gästezimmer nicht im Mietpreis drin –, das treibt die Menschen um. Das hat alles mit der Tatsache, dass 45 Millionen Menschen einen Arbeitsplatz haben, nichts zu tun, aber es treibt sie eben um. Und damit müssen wir uns auseinandersetzen. Dazu kommt, dass wir auch ordnungspolitisch vernünftige Antworten finden müssen. Ich gehöre nicht zu denen, die glauben, dass durch die fünfte Mietpreisbremse mehr Wohnungen entstehen, sondern ich glaube, dass man Wohnungsmangel nur mit Wohnungsbau bekämpft; das gehört auch dazu. Allerdings muss ich an dieser Stelle auch sagen, auch wenn ich hier keinen persönlich ansprechen möchte: Wenn man in einem Stadtteil wohnt, in dem es noch ein Stück Grünfläche gibt, hält sich das Interesse daran, dass auch dort neue Wohnungen gebaut werden sollen, vor Ort auch sehr in Grenzen. Man kann heute in München leichter Wahlkreise gewinnen, wenn man „Keine neue Bebauung“ sagt. Ich glaube, der Generalsekretär der CSU wird nachher noch kommen. Er hat in Trudering gewonnen, weil er „Keine neue Bebauung“ gesagt hat. Das verstehe ich, weil sozusagen die Packungsdichte in der Stadt ja schon groß ist. Aber wir stehen eben auch vor der Frage: Wo bekommen wir Bauland her? Wie bauen wir systemischer, damit das schneller geht und nicht jeder alles neu erfindet? Das sind auch Fragen, vor denen wir stehen. Was übrigens die Frage der DAX-Unternehmen und deren Engagement in den neuen Bundesländern angeht, möchte ich auch danke sagen, weil ich zum Beispiel Herrn Kaeser hier gerade in der ersten Reihe sitzen sehe. Denn Görlitz ist so ein Fall, in dem Menschen fragen, was aus ihnen wird. Da sind dann doch auch hoffnungsvolle Antworten gefunden worden. Nun gibt es auch Verunsicherung angesichts kaum greifbarer Herausforderungen der Digitalisierung. Ich finde es sehr gut, dass Sie heute die Vorsitzende des Digitalrats, Frau Suder, eingeladen haben. Herzlichen Dank dafür. Dieser Digitalrat macht uns als Bundesregierung nämlich wirklich Beine, wenn ich das einmal so sagen darf, weil er uns in einer sehr komprimierten Art und Weise an die Herausforderungen der Digitalisierung heranführt. Da ist das Erste, und darüber sprechen wir in Deutschland viel, die Infrastruktur. Okay, deren Ausbau müsste schneller gehen. Aber ich glaube, da sind wir jetzt auf einem guten Weg. Ende 2019 werden wir 98 Prozent der Haushalte an Breitband angeschlossen haben. Ende 2021 werden wir 99 Prozent angeschlossen haben. Den Rest müssen wir dann sozusagen mit staatlichen Hilfen machen. Wir müssen schon jetzt staatliche Hilfen einsetzen, aber um den allerletzten Haushalt dann noch anzuschließen, werden wir das fast nur staatlich machen müssen. Wir haben im Übrigen folgende Situation: Jetzt bauen wir großflächig das Breitband aus, aber wir haben einen Flaschenhals bei Tiefbaufirmen, die überhaupt noch zur Verfügung stehen. Die Preise steigen naturgemäß. Jetzt sind die Anschlüsse da. Jetzt gehen Sie einmal in ein vorpommersches Dorf oder ein Dorf in der Eifel und gehen Sie der Frage nach: Wer will denn eigentlich von diesem schönen Glasfaserkabel profitieren? Die Leute sitzen mit DSL zu Hause; viele sind damit ganz glücklich, die Älteren allemal. Dann stellt sich die große Frage: Wie bekommen wir die Refinanzierung der Investitionen hin? Denn es gibt ja keinen Anschlusszwang wie bei Wasser und Abwasser. Wenn man die Leute fragen würde, ob sie einen Abwasseranschlusszwang haben wollen, würden viele Nein sagen. Wir sind durch die private Gestaltung dieser zukünftigen Daseinsvorsorge in einer Situation, in der vielleicht nur 50 Prozent oder 60 Prozent in den ländlichen Räumen überhaupt von den tollen neuen Angeboten Gebrauch machen – natürlich in den Gewerbegebieten, natürlich die Mittelständler, natürlich die Schulen und Krankenhäuser; alles klar. Aber es gibt noch viele andere. Und wie wir damit umgehen, wird eines Tages noch einmal eine sehr spannende Frage werden. Zweitens geht es uns um flächendeckendes Internet. Das ist auch eine der Aufgaben der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“. Denn der Mensch will ja nicht nur zu Hause einen Internetzugang haben, sondern er möchte vielleicht auch, wenn er auf der Wiese sitzt und sich ausruht, mit seiner Familie kurze Videos austauschen können. Das heißt, wir brauchen eine flächendeckende Abdeckung. Das verursacht ein etwas größeres Problem. Dazu brauchen wir noch mindestens 10.000 neue Funkmasten. Die Versorgung muss noch nicht unbedingt auf dem Niveau von 5G sein, aber das weiß hier jeder, sondern man wäre schon froh, wenn man permanent 3G hätte. Das wird noch einmal eine große Herausforderung. Es geht dann aber auch um 5G-Anwendungen – ich sehe Herrn Lutz – entlang der Bahnlinien, entlang der Bundesstraßen, entlang der Autobahnen, entlang der Landstraßen. Da werden wir dann die Möglichkeit der Datenübertragung in Echtzeit haben, zumindest nahezu. Es wird also geringste Latenzzeiten geben. Die 5G-Anwendungen kommen also noch. Sie sind aber natürlich heute noch nicht in umfassendem Maße da. Das heißt, wir brauchen jetzt nicht das ganze Land sofort mit 5G auszubauen, sondern dafür haben wir schon noch ein bisschen Zeit. Das heißt, dabei sind fünf Jahre kein Drama. Aber die, die Echtzeit-Anwendungen brauchen, müssen an diese Anschlüsse kommen. Und das wollen wir auch in diese Richtung bringen. Aber es gibt auch einen Teil der Digitalisierung, der unser Leben so tiefgreifend verändern wird, dass ich nicht weiß, ob wir alle schon wissen, was auf uns zukommt, oder dass ich weiß, dass wir es nicht wissen. Wie geht man mit so einer Situation um, wenn man Menschen Sicherheit geben will? Man darf ihnen natürlich nichts Falsches versprechen, sondern man muss versuchen, sie auf einem Weg mitzunehmen. Das tun Sie in den Unternehmen. Ich habe Unternehmen besucht, in denen Möglichkeiten der Digitalisierung durch permanente Weiterbildung wirklich hervorragend genutzt werden. Aber das passiert noch längst nicht in allen Bereichen. Die Disruptivität unseres Arbeitsprozesses haben wir, glaube ich, noch nicht vollständig erfasst. Deshalb lautet meine Bitte auch an Sie: Lassen Sie sich auch auf ein völlig neues Denken ein – auch darauf, weniger in hierarchischen Systemen zu denken. Frau Suder kann Ihnen das besser erklären als ich. Nehmen wir einmal an, unsere große staatliche Herausforderung ist, auf der Grundlage des Onlinezugangsgesetzes das sogenannte Bürgerportal zu schaffen. Das heißt, wir müssen mehr als 500 Funktionen, die der Bürger mit seinem Staat abwickelt – Elterngeld beantragen, Kindergeld beantragen, Umzug melden, Kraftfahrzeug anmelden usw. –, mit einem einzigen Zugang für den Bürger öffnen und ihm die Möglichkeit geben, all diese Dinge digital abzuwickeln. Das führt erst einmal dazu, dass wir völlig anders denken müssen. Wir müssen uns nämlich zuerst in den Bürger hineinversetzen und nicht erst das ganze System aufbauen und dann schauen, ob das Ganze zweckmäßig ist. Wir denken heute, wenn wir etwas planen, nicht unbedingt vom Bürger her. Wir denken vielmehr: 575 Funktionen – die musst du jetzt alle irgendwie planen; und wenn du die fertig hast, dann schaust du einmal, wie der Bürger das dann in Anspruch nimmt. Das neue Arbeiten aber sollte so verlaufen, dass ich mir eine Funktion nehme und erst einmal daran arbeite und ausprobiere, ob sie im Sinne des Bürgers zweckdienlich ist. Dann nehme ich mir eine zweite Funktion hinzu. Und so baue ich das Stück für Stück auf. Vielleicht machen Sie das alles in Ihren Unternehmen schon. Aber der Berliner Flughafen wäre besser gelungen, wenn man diese Form von Processing gleich angewendet hätte; so viel ist sicher. Dann komme ich zum Thema Künstliche Intelligenz – ein Punkt, bei dem wir erkennbar nicht vorne liegen. Wir haben sozusagen Inseln, die gute Beiträge leisten können, aber die gesamte Breite wird nicht ausreichend abgebildet. Unser Vorteil ist, dass wir eine starke Industriesäule haben. Mit Industrie 4.0 wird es uns gelingen, gute Anwendungen hinzubekommen. Wir haben aber einen unglaublichen Kampf um die besten Fachkräfte auf der Welt mit sehr flexiblen Bezahlmöglichkeiten überall. Insofern wird man sich sicherlich auch in Deutschland an Max-Planck-Instituten und außeruniversitären Forschungs-einrichtungen noch einiges überlegen müssen. Wir wollen 100 neue Professuren einrichten. Wir haben zwölf Zentren identifiziert, die miteinander vernetzt werden und die auch mit Frankreich vernetzt werden. Wir werden unsere Agentur für disruptive Innovationen, die wir sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene haben, sich auch sehr stark im KI-Bereich engagieren lassen. Wir werden unserem Bundesrechnungshof sagen: Seid ganz ruhig, denn wir werden zwangsläufig mehr Geld versenken, bevor einmal eine große Innovation herauskommt. Das alles fordert ein völliges Umdenken. Wir erleben im Augenblick in unserer Verwaltung – ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist –, dass wir, wenn wir digitale Projekte auf die Schiene setzen wollen, sehr lange brauchen, bis wir das durch haben. Wenn wir uns hingegen 50 junge Leute von irgendeiner Universität holen und sie bitten, zwei Themen zu bearbeiten, dann haben wir nach zwei Monaten eine Antwort. Das heißt, wir werden auch mehr outsourcen müssen, mehr junge Menschen heranziehen müssen. Aber das sind natürlich auch alles Menschen, die nicht als erstes an einen Tarifvertrag denken – um zu unserem Ausgangspunkt zurückzukommen. Das dann zusammenzubringen, ist natürlich schwierig. Zum Thema Fachkräfte: Ja, wir haben jetzt ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Ich bitte Sie, nachdem wir nun das Wort „Einwanderung“ als CDU-Mitglieder in den Mund nehmen, das Gesetz nicht wieder „Zuwanderungsgesetz“ zu nennen. Es ist ein Einwanderungsgesetz. Ich weiß nicht, ob Sie die Tiefen und Feinheiten solcher Diskussionen genau verfolgen können; aber egal. Jedenfalls haben wir wichtige Weichen gestellt und versuchen auch, das möglichst unbürokratisch zu machen. Bei der Umsetzung werden wir das in den Auslandsvertretungen nicht alleine wuppen können, sondern wir brauchen die Unterstützung der Wirtschaft. Ich bedanke mich dafür, dass diese Bereitschaft vorhanden ist. Wir werden auch bei der Vergleichbarkeit der Abschlüsse darauf setzen müssen, dass wir mit Ihnen in Form einer Clearingstelle oder ähnlichem zusammenarbeiten, um zu versuchen, unbürokratisch vorzugehen. Es geht letztendlich ja um die Fähigkeiten und Fertigkeiten und nicht um die formalen Abschlüsse. Aus Ihrem Blickwinkel sind wir an mancher Stelle zu zögerlich, weil wir sagen: Der heute gebrauchte Arbeitnehmer ist nach einem Jahr, spätestens nach eineinhalb Jahren, jemand, der auf Dauer in Deutschland Anspruch auf Sozialleistungen hat; zumindest gilt das für viele davon. Das ist unser Problem; und deshalb sind wir so vorsichtig. Denn wir wissen: Wir stehen vor disruptiven Umbrüchen. Kein Mensch kann ganz genau voraussagen, wie sich die Bedürfnisse in den nächsten Jahren entwickeln. In diesem Jahr haben wir 1,24 Millionen offene Stellen, die wir besetzen müssen. Dafür brauchen wir Fachkräfte. Aber wenn wir einmal ganz ehrlich sind, brauchen wir sehr unterschiedliche Fachkräfte. Wir brauchen an der einen Stelle den Spezialisten für Digitalisierung und KI und an anderer Stelle brauchen wir – wenn ich einmal in meinen Wahlkreis gucke – auch hundert Bäcker und hundert Köche in den Hotels. Die Frage ist also: Wie wird sich das entwickeln und was bedeutet das? Diese Herausforderung können wir nicht so bewältigen, dass wir dann, wenn jemand arbeitslos wird, anschließend von Ihnen wieder kritische Bemerkungen bekommen, warum dauernd die Lohnzusatzkosten steigen. Deshalb haben wir das einfach im Blick. Wir müssen vor allen Dingen auch darauf achten, dass unsere eigenen Arbeitskräfte in vernünftiger Weise weitergebildet werden. Das ist auch eines der großen Themen, denen sich die Bundesregierung verschrieben hat. Hier sind wir auf Sie angewiesen. Wir dürfen nicht zu sehr eine theoretische Weiterbildung machen, die allein von der Bundesagentur ausgesucht wird, sondern wir müssen, wo immer möglich, Weiterbildung im Betrieb vornehmen. Ich glaube aber, die Möglichkeit, von der Bundesagentur Zuschüsse zu bekommen, wenn aus Gründen der Digitalisierung eine betriebliche Weiterbildung angeboten wird, könnte insbesondere für mittelständische Unternehmen sehr zielführend sein. Da mischen wir uns nicht in die Inhalte ein, sondern bezuschussen das. Ich glaube, das ist eine vernünftige Sache. Dann haben wir natürlich den Punkt der Flexibilität des Arbeitsrechts. Hier würde ich persönlich an manchen Stellen weitergehen. Mein Kampf darum – auch wenn ich heute 13 Jahre im Amt bin –, das europäische Arbeitszeitgesetz eins zu eins in Deutschland umzusetzen und wenigstens die darin vorhandenen Flexibilitäten auszuschöpfen, ist bisher weitgehend erfolglos geblieben. Da, wo es Tarifverträge und Vereinbarungen mit dem Betriebsrat gibt, haben wir Öffnungsmöglichkeiten innerhalb der Experimentierklauseln. Nutzen Sie das, damit wir da gute Erfahrungen sammeln. Aber wir haben ein Arbeitszeitgesetz, das für Start-ups und für junge Unternehmen, die im Digitalisierungsbereich leben, sehr wenig geeignet ist. Wir brauchen deshalb Flexibilitätsinstrumente wie zum Beispiel Zeitarbeit; das ist ganz wichtig. Ich weiß, dass wir Ihnen auch noch einiges zumuten werden, wenn wir erst an die sachgrundlose Befristung herangehen. Frau Nahles kommt heute ja noch; sie kann darüber vielleicht berichten. Ich muss Ihnen aber sagen: Es gibt auch unglaubliche Dinge. Wenn man liest, dass im öffentlichen Dienst zum Teil 17 Mal befristet wird und dann wieder Leuten gekündigt wird, dann wundert man sich. So etwas gibt es auch im Dienstleistungsbereich; machen Sie sich da keine Illusionen. Insofern kann ich immer wieder nur bitten: Je verantwortlicher Sie mit Ihrer Freiheit umgehen, umso weniger müssen wir uns als Staat in die Dinge einmischen. Abschließend noch etwas zu Europa. Danke für Ihr klares Bekenntnis zu Europa. Europa ist eine Quelle unseres Wohlstands; das ist vollkommen klar. Wer sich eine solche Quelle erhalten will, muss in sie auch etwas einbringen. Wir können aber nicht davon ausgehen, dass die Perspektive, auf die Welt zu blicken, in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union die gleiche ist. Deshalb brauchen wir ein bestimmtes Maß an Regeln; auch das ist vollkommen klar. Wir müssen uns aber auch auf die Wünsche und die Vorstellungen anderer ein Stück weit einlassen. Für uns ist ein starkes Frankreich konstitutiv, um Europa voranzubringen. Deshalb haben ich und die ganze Bundesregierung ein maximales Interesse am Erfolg des französischen Präsidenten Emmanuel Macron mit seinen Reformen, die im Übrigen zum Teil sehr mutig sind und zum Teil, etwa im Bereich der Berufsausbildung, auch sehr von deutschen Erfahrungen profitieren. Diesen Erfolg wollen wir wirklich unterstützen. Wir wissen um die Herausforderungen gerade auch in Handelsfragen. Ich will einmal sagen: Wenn man sich vorstellt, Deutschland wäre den Betrachtungen der Vereinigten Staaten von Amerika in Handelsfragen und insbesondere in Zollfragen alleine ausgesetzt, dann hätten wir sehr viel schlechtere Karten. Die Tatsache, dass Jean-Claude Juncker und die Kommission für uns alle in der Europäischen Union die Handelsfragen bearbeiten, ist natürlich manchmal mühselig, weil man immer ein Mandat von 28 – in Zukunft 27 – Staaten braucht. Es führt aber auch dazu, dass wir geschützter sind, weil es immer um die ganze Europäische Union geht. Das war in den letzten Monaten jedenfalls eine ganz wichtige Sache, um Gespräche mit den Vereinigten Staaten von Amerika über Handelsfragen zu führen. Da wir als große Volkswirtschaft, als Volkswirtschaft mit einem hohen Handelsbilanzüberschuss, natürlich besonders im Fokus sind, wollen wir mit den Vereinigten Staaten von Amerika auch bilateral sprechen und deutlich machen, dass wir – gerade auch für amerikanische mittelständische Firmen –, ein Land mit offenen Märkten sind. Bei uns wird niemand abgewiesen, wenn er zu uns exportieren will. Vielleicht ist manches auch noch nicht ausreichend bekannt. Insofern bemühen wir uns, maximale Transparenz zu zeigen und das auch deutlich zu machen, da wir ein Interesse daran haben, dass es keine Verunsicherung gibt. Wir spüren, dass durch die Handelskonflikte zwischen Amerika und China viel Verunsicherung auch für deutsche Unternehmen entsteht. Alles, was wir tun können, um eine offene Ordnung zu schützen und wieder praktikabel zu machen, ist von großer Wichtigkeit. Für eine weitere Verunsicherung sorgt natürlich auch die Frage des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union. Großbritannien soll Partner bleiben, soll Freund bleiben, Großbritannien soll engste Wirtschaftsbeziehungen zu uns haben. Großbritannien bestimmt selbst darüber. Wir sind uns ja im Kern einig, dass am Ende des Weges ein sehr umfassendes Freihandelsabkommen stehen wird, wobei wir – das muss man ehrlich sagen – im Dienstleistungsbereich nicht sehr viele Erfahrungen mit internationalen Abkommen haben. Das wollen wir aber als zukünftige Beziehung sehen. Der Austritt Großbritanniens gestaltet sich schwieriger als ein fiktiver Austritt irgendeines anderen Mitgliedslandes, und zwar wegen der innerbritischen Situation mit Blick auf Irland. Die Tatsache, dass durch das „Good Friday Agreement“ Nordirland und die Republik Irland im Grunde wie ein Binnenmarkt miteinander verbunden sind und dass diese beiden Gebilde nun voneinander getrennt werden, aber trotzdem keine Grenze entstehen soll, stellt uns vor große – sagen wir einmal, geistige – Herausforderungen, weil es dabei um die Frage geht: Wie soll man erreichen, dass da, wo keine Grenze sein soll, der Binnenmarkt trotzdem endet? Darum rankt sich im Grunde die gesamte Diskussion, die wir führen. Wenn es ein solches Problem nicht gäbe, dann hätten wir das Austrittsabkommen bereits bewerkstelligt. Ich darf Ihnen sagen: Ich werde alles daransetzen, dass wir ein Abkommen hinbekommen. Ein ungeordneter Austritt ist sowohl für die Wirtschaft als auch für die mentale Situation unseres zukünftigen Verhältnisses der schlechtestmögliche Weg. Wir sind schon ein Stück vorangekommen, aber es bedarf sicherlich noch vieler Diskussionen, insbesondere auch in Großbritannien. Wir können als 27 Mitgliedstaaten nur zwei Dinge tun: Erstens Großbritannien partnerschaftlich und freundschaftlich begegnen und zweitens als 27 Mitgliedstaaten zusammenhalten und nicht noch unter uns Unruhe aufkommen lassen. Beides ist bis jetzt gelungen. Und so werden wir auch weitermachen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede der Kulturstaatsministerin bei der 6. Urheberrechtskonferenz
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-bei-der-6-urheberrechtskonferenz-1552862
Mon, 19 Nov 2018 11:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
In zwei Wochen wird uns der erste Advent wieder einmal daran erinnern, dass wir unsere Weihnachtsgeschenke eigentlich viel früher hätten besorgen wollen. Weil diesen schönen Vorsatz fast jeder hegt, aber fast niemand einlöst, boomt pünktlich zum Fest der Einzelhandel – und auch für die Kultur herrscht dann Hochkonjunktur: Denn Bücher, CDs, DVDs und Karten für Kulturevents, für Konzerte, Theater etc.–etcetera, gehören hierzulande – Internet hin, Streaming her – immer noch zu den beliebtesten Weihnachtsgeschenken; der Buchhandel erzielt gar rund ein Viertel seines Jahresumsatzes im Weihnachtsgeschäft. Dass die kulturelle Vielfalt unterm Weihnachtsbaum kein Geschenk des Himmels ist, sondern alle Jahre wieder die reiche Ernte eines gut bestellten Feldes, gerät leider nicht nur im vorweihnachtlichen Konsumrausch in Vergessenheit. Kunst und Kultur brauchen Raum, brauchen Freiheit zur Entfaltung – einen Nährboden, auf dem schöpferische Leistungen gedeihen können, und dazu gehört ein Urheberrecht, das es Künstlern und Kreativen ermöglicht, von geistiger Arbeit zu leben und nicht nur knapp zu überleben. Dafür werbe, dafür streite und dafür kämpfe ich – gerne auch hier, im Rahmen der heutigen 6. Urheberrechtskonferenz, und es freut mich, diese hochkarätige Tagung mit Mitteln aus meinem Kulturetat finanziell unterstützen zu können. Ich danke Ihnen und Ihrem Team, lieber Herr Prof.–Professor Pfennig, ich danke der Initiative Urheberrecht und allen Kooperationspartnern, dass Sie die unterschiedlichen Positionen zu diesem ebenso wichtigen wie komplexen Thema an einen Tisch – oder besser: auf ein gemeinsames Podium – bringen. Der fachliche Austausch ist die Voraussetzung für den notwendigen Ausgleich zwischen unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Interessen, die für die digitale Welt im Allgemeinen – und für „Perspektiven des Urheberrechts im Informationszeitalter“ im Besonderen – zwischen Urhebern, Nutzern und Verwertern geistiger Leistungen zu verhandeln sind. Dabei sind sowohl Forderungen nach Erweiterung wie auch nach Begrenzung dieses Zugangs berechtigt. Wer außerhalb der großen Städte lebt – wie übrigens die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland -, Kilometer vom nächsten Kino, vom nächsten Theater, von der nächsten Buchhandlung entfernt, wird den digitalen Zugang zu Kultur als Sicherung der kulturellen Grundversorgung zu schätzen wissen. Hier braucht es zweifellos Erweiterungen oder Erleichterungen des digitalen Zugangs. Wer aber jahrelang an einem Roman, einem Drehbuch, einem Musikalbum arbeitet, wer als Verleger oder Produzent für die Verbreitung geistiger Güter sorgt, wer mit einer guten Idee ein Start-up in der Kultur- und Kreativwirtschaft gründet und dafür auf die Sicherheit des Angestelltendaseins verzichtet, braucht die Gewissheit, die Früchte kreativer Arbeit und der damit verbundenen zeitlichen und finanziellen Investitionen ernten zu können. Das erfordert Beschränkungen des digitalen Zugangs oder zumindest angemessene Kompensation. Als Kultur- und Medienpolitikerin bin ich diesen beiden, auf den ersten Blick so widersprüchlichen Zielen gleichermaßen verpflichtet: einerseits der Öffnung digitaler Zugänge zu Kultur, denn damit öffnen sich auch neue Wege kultureller Teilhabe; andererseits der Begrenzung des digitalen Zugangs, denn sie schützt den Freiraum, den Kunst und Kultur brauchen, um in Vielfalt gedeihen zu können. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns auch bei der Fortentwicklung des Urheberrechts. Zweifellos hat nicht zuletzt der technologische Wandel, der Aufbruch ins digitale Zeitalter, eine Demokratisierung der Kultur ermöglicht, die lange als utopisch galt. Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht noch, als der kürzlich verstorbene Hilmar Hoffmann – er war 20 Jahre Kulturdezernent in Frankfurt am Main und neun Jahre lang Präsident des Goethe-Instituts – in den 1970er Jahren mit seinem Schlachtruf „Kultur für alle“ in den Kampf gegen einen elitären Kulturbegriff zog. Kultur galt in Deutschland bis dato als Leidenschaft der Bessergebildeten und Besserverdienenden. Diesem exklusiven, auf Abgrenzung und Ausgrenzung zielenden Kulturverständnis setzte Hoffmann seine Auffassung von Kultur als „langfristiger Beitrag zur Selbstfindung des Menschen“ entgegen. Der digitale Zugang zu Kultur ist dafür der Schlüssel: Es ist ein einladender Zugang für die jüngere Generation der „digital natives“, die dem kulturellen Angebot mit völlig anderen Hör- und Sehgewohnheiten begegnen. Vor allem aber ist es ein barrierefreier, niedrigschwelliger Zugang für all jene, die den Tempeln der Hochkultur bisher aus welchen Gründen auch immer fern bleiben. Und er steht auch in ländlichen Regionen offen, also dort, wo Menschen sich abgehängt fühlen, weil nicht nur das nächste Krankenhaus, sondern eben auch das nächste Kino, die nächste Bibliothek, das nächste Museum kilometerweit entfernt sind. Deshalb unterstützt mein Haus Kultureinrichtungen bei der Erweiterung ihres digitalen Zugangs – beispielsweise im Rahmen des Projekts „museum4punkt0“, das mit insgesamt 15 Millionen Euro aus meinem Kulturetat gefördert wird. Die beteiligten Museen entwickeln unter Federführung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz digitale Strategien für das Museum der Zukunft und haben vor drei Wochen eine sehr beeindruckende Zwischenbilanz präsentiert: Apps und digitale Erzählformate, Cyberbrillen und Virtual Reality Labs haben auch mich begeistert, die ich Bilder und Exponate eigentlich gerne – ganz altmodisch – analog bewundere. Als Kulturvermittler wie auch als „Kultur-Verführer“ sind diese digitalen Zugangs-Erweiterer jedenfalls jeden Fördercent wert. Für die Erweiterung des digitalen Zugangs zu Kultur steht auch die Deutsche Digitale Bibliothek (DDB), das von Bund und Ländern gemeinsam betriebene und finanzierte staatliche Zugangsportal zu digitalen Objekten aus Kultur und Wissenschaft in Deutschland, das langfristig bis zu 30.000 Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen aller Sparten und Disziplinen, also Bibliotheken, Archive, Museen, Mediatheken und wissenschaftliche Institute vernetzen soll. Aktuell sind in der DDB–Deutsche Digitale Bibliothek mehr als 4.300 Einrichtungen für eine Zusammenarbeit registriert, deutlich mehr als 400 davon stellen aktiv Daten bereit. 24 Millionen Objekte sind kostenfrei für jedermann verfügbar – kulturelle Schätze wie Handschriften, alte Filme in voller Länge, Einspielungen klassischer Musikstücke, aber auch digitalisierte Bücher. Die Bestände werden permanent erweitert, und die Zahl der kooperierenden Einrichtungen steigt kontinuierlich. Die DDB–Deutsche Digitale Bibliothek ist Deutschlands Beitrag zur Europäischen Digitalen Bibliothek EUROPEANA. Hier wie dort geht es – über den hehren Anspruch „Kultur für alle“ hinaus – auch darum, Schritt zu halten mit privatwirtschaftlichen Aktivitäten zur Digitalisierung von Kulturgut; man denke nur an das hoch umstrittene Projekt „Google Books“. Wenn wir dieses Feld den Internetgiganten überlassen, entwickeln sich Informationsmonopole, die zu Deutungsmonopolen werden können – und damit zu einer Gefahr für die Demokratie, die von kultureller Vielfalt und Pluralismus lebt. Deshalb sollte auch nicht allein die ökonomische Logik der Klickzahlen über das digital verfügbare Angebot entscheiden. Bei der DDB–Deutsche Digitale Bibliothek und bei der EUROPEANA zählen – weil nicht der Massengeschmack, sondern die Expertise unzähliger Wissenschaftler das Angebot bestimmt – allein Qualität und Relevanz. Ziel ist es, allen Bürgerinnen und Bürgern im Netz einen umfassenden Zugang zu unserem kulturellen Erbe zu eröffnen. Das ist im Übrigen auch eine gewaltige Herausforderung für unsere Museen, die dabei noch ganz am Anfang stehen. Vielerorts bedarf es noch stärkerer Anstrengungen für die notwendige personelle, finanzielle und technische Ausstattung. Hier sind insbesondere die Museumsträger gefragt. Als schwierig erweist sich die Verwirklichung eines umfangreichen digitalen Zugangs vielfach auch bei urheberrechtlich geschützten Werken in Archiven, Bibliotheken und Museen. Ich kann mir vorstellen, dass Vereinigungen der Urheber und Rechteinhaber (oder auch Sie selbst, meine Damen und Herren, als Urheber oder Wissenschaftler) sich dabei noch stärker einbringen können, um Ihr Fachwissen mit Kultureinrichtungen zu teilen. In meinem Haushalt stehen allein für das Haushaltsjahr 2019 fünf Millionen Euro für eine Digitalisierungsstrategie des Bundes zur Verfügung. Das genaue Konzept wird im Moment noch erarbeitet. Sie sehen also, meine Damen und Herren, dass sowohl die Bundeskulturpolitik wie auch die vom Bund geförderten Kultureinrichtungen sich durchaus als Türöffner verstehen, wo immer es darum geht, mehr kulturelle Teilhabe durch digitale Zugänge zu ermöglichen. „Kultur für alle!“ heißt aber noch lange nicht: „Kultur umsonst für alle!“ Mir kommt, wenn ich an die im Netz leider immer noch weit verbreitete Gratismentalität denke, gelegentlich der Kulturpessimismus des Medienkritikers Karl Kraus in den Sinn, der – lange bevor es Facebook und Twitter gab – zum Niveau des öffentlichen Diskurses einmal lakonisch bemerkte: „Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken.“ So ähnlich ist es auch mit dem Anspruch auf Zugangsfreiheit, mit dem freien Zugriff auf geistige und schöpferische Leistungen: Freier Zugang ist das eine – aber wo führt er hin, wenn gute Gedanken, gute Ideen, gute Inhalte im Rausch des technisch Machbaren auf der Strecke bleiben, weil Tüftler, Künstler und Kreative von ihrer Arbeit nicht leben können? Ohne Grenzen und Schranken führt der digitale Zugang zu Kultur gewiss nicht ins 21. Jahrhundert, sondern zurück ins Mittelalter, zurück in eine Zeit, als Dichter und Denker, Maler und Musiker von Geld und Gunst ihrer Gönner abhängig waren. Die Emanzipation von Staat und Kirche – die Befreiung vom Zwang, den Mächtigen gefallen zu müssen, die Freiheit, kritisch und unbequem sein zu dürfen – brachte erst das Urheberrecht: In seiner heutigen Form atmet es auch den Geist der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die vor ziemlich genau 70 Jahren von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris verabschiedet wurde. Artikel 27 regelt dort nicht nur die Teilhabe an der Kultur; es heißt darin auch, ich zitiere: „Jeder Mensch hat das Recht auf Schutz der geistigen und materiellen Interessen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen.“ Dieses Recht preiszugeben, mag ein Staat sich leisten können, dessen Wirtschaftskraft auf Bodenschätzen oder billigen Arbeitskräften gründet. Ein Land wie Deutschland aber, dessen wirtschaftlicher Trumpf die Geisteskraft ist – die Ideen seiner klugen und kreativen Köpfe und eine prosperierende Kultur- und Kreativwirtschaft -, kann sich das nicht leisten. Und was wäre unsere Demokratie ohne ein Urheberrecht, das mit dem Freiraum für kreative Leistungen die Vielfalt der Kultur und der Medien und damit auch die Vielstimmigkeit des demokratischen Diskurses sichert und so das Suchen, das Fragen, den Widerspruch genauso wie das Bemühen um Verständigung kultiviert? Deshalb gibt es trotz der zahlreichen technologischen Innovationen in den vergangenen 20 Jahren mehrere kulturpolitische Grundkonstanten im Urheberrecht, die auch im Informationszeitalter unverändert Geltung beanspruchen. Dazu zählen die angemessene Vergütung von Urhebern genauso wie der Schutz freier geistiger Auseinandersetzung im Rahmen der Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit. Diese Errungenschaften sollten wir auch im digitalen Umfeld bewahren und verteidigen. Ich bin sehr froh, dass wir in diesem Sinne bei der Anpassung des europäischen Rechtsrahmens an die veränderten Rahmenbedingungen des digitalen Zeitalters – an neue kulturelle und mediale Angebote, an die veränderte Rolle von Intermediären und Plattformen, an neue Vertriebswege, Erlösstrukturen und Nutzererwartungen – voran kommen. In den vergangenen Monaten hat die geplante EU-Urheberrechtsreform allerdings leider nicht nur sachliche Debatten, sondern auch viel Verunsicherung provoziert. In der Kritik steht insbesondere Artikel 13: Er nimmt Plattformbetreiber in die urheberrechtliche Verantwortung. Diese sollen entweder freiwillig Lizenzvereinbarungen schließen oder angemessene Maßnahmen ergreifen, um Urheberrechtsverletzungen zu verhindern. Ein maßvoller Zuschnitt der Regelung stellt sicher, dass zahlreiche nicht profitorientierte Angebote, beispielsweise Wikipedia, davon ausgenommen sind. Und weil Debatten Teil eines lebendigen Kulturlebens sind, muss die Auseinandersetzung mit Inhalten, beispielsweise mit Hilfe von Zitaten oder auch Parodien, natürlich weiterhin zulässig sein. Ziel der Regelung ist eine bessere Vergütung von Kreativen – von Autoren, Musikern, Filmschaffenden –, die jahrelang mitansehen mussten, wie andere von der Nutzung ihrer Werke kommerziell profitierten, während sie selbst leer ausgingen. Dass nun in der öffentlichen Diskussion vielfach der Eindruck erweckt wird, diese Regelung bedrohe die Existenz unzähliger kleinerer Kanäle, gehört in die Rubrik „Panikmache“ und trifft schlicht nicht zu. Ich kann nur appellieren, zu einer sachlichen Diskussion zurückzukommen. Die relevanten Akteure sollten sich vergegenwärtigen, was eigentlich ihr Geschäftsmodell ist. Dass ausgerechnet eine große Plattform, die jahrelang von der Nutzung künstlerischer Werke kommerziell profitiert hat, nun von einer „Bedrohung der Kreativwirtschaft“ spricht, entbehrt nicht einer gewissen Ironie… Da Plattformen zukünftig nicht nur ein Tor zur Kultur, sondern DER Zugang zu den Medien sein werden, treten sie auf allen Ebenen in den Fokus der Medienpolitik. Der heutige Nachmittag widmet sich deshalb aus gutem Grund der Digitalisierung und zukünftigen Medienordnung. In diesem Zusammenhang auch noch eine Klarstellung zum Leistungsschutzrecht für Presseverleger: Es ist wichtig, dass wir uns auf europäischer Ebene noch stärker als bisher für die Unabhängigkeit der Presse und für mediale Vielfalt einsetzen, nicht zuletzt in Anbetracht der Gefahren, die Desinformation für die Demokratie darstellt – um nichts weniger geht es! Zur Finanzierung journalistischer Qualität unter den Bedingungen der Digitalisierung hilft ein eigenes Leistungsschutzrecht Presseverlegern bei der praktischen Durchsetzung ihrer Rechte. Sie können ihre Inhalte auf der Grundlage des Exklusivrechts lizenzieren und unberechtigte Nutzungen ihrer Inhalte verhindern. Deshalb begrüße ich, dass nach dem Rat auch das Europäische Parlament nach zähem Ringen für eine Einführung eines Leistungsschutzrechts für Presseverleger votiert hat! Ich kann Ihnen versichern, dass sich Deutschland weiterhin auf europäischer Ebene aktiv dafür einsetzt, dass in der Richtlinie zum Urheberrecht im Digitalen Binnenmarkt ein Leistungsschutzrecht für Presseverleger nach deutschem Vorbild verankert wird. Die deutsche Position dazu hat sich nicht geändert: Die in den vergangenen Tagen entstandene Unsicherheit war unbegründet. Unser Ziel bleibt es, durch eine gestärkte Rechtsposition der Verleger dazu beizutragen, dass die für die Demokratie unverzichtbaren Leistungen der Presse auch im digitalen Zeitalter refinanzierbar bleiben. Dafür setze auch ich mich nach wie vor mit aller Kraft ein! Lassen Sie mich zum Schluss auf dem weiten Feld der Urheberrechtsreform noch eine weitere Regelung heraus greifen, die zwar in der aktuellen politischen Diskussion nicht im Vordergrund steht, aber viele Kultureinrichtungen betrifft – nämlich die Regelung zu vergriffenen Werken. Sie wird es vielen Gedächtniseinrichtungen erleichtern, einen digitalen Zugang zu schaffen. Doch auch wenn die Rechteklärung künftig mit weniger Aufwand verbunden ist, müssen wir uns natürlich im Klaren sein, dass die Sichtbarmachung von Beständen nicht kostenlos zu haben sein wird. Ja, auch im digitalen Zeitalter steckt der Teufel ganz offensichtlich im Detail, meine Damen und Herren. Doch mögen die Debatten auch hitzig, die Konflikte vertrackt und die Verhandlungen zäh sein: Es sind Debatten, Konflikte und Verhandlungen, denen wir uns stellen müssen, um mit einer fairen Vergütung der Urheber und aller, die die Verbreitung geistiger Leistungen wirtschaftlich und strukturell absichern, die kulturelle und journalistische Vielfalt zu bewahren und die geistige Auseinandersetzung zu ermöglichen. Ich bin überzeugt: Es ist diese Vielfalt, die Demokratien vor der Einfalt der Populisten schützt. Ende Oktober haben wir das 20jährige Bestehen der BKM – der bzw. des Beauftragten für Kultur und Medien – gefeiert, und es ist vielleicht kein Zufall, dass die Bundeskultur- und -medienpolitik in den vergangenen 20 Jahren so sehr an Bedeutung gewonnen hat – parallel zur wachsenden Bedeutung des Internets, zur Entstehung und Entwicklung des digitalen Zugangs zu Kultur. Auch dank dieser Entwicklungen ist Kultur heute nicht mehr nur Liebhaberei für Schöngeister, sondern integrative Kraft in einer zunehmend pluralistischen – und zunehmend polarisierten – Gesellschaft. Kultur ist Modus gesellschaftlicher Selbstverständigung, gerade dort, wo die Klüfte tief und die Fronten verhärtet sind, wo unterschiedliche Lebensvorstellungen und Weltanschauungen sich unversöhnlich gegenüberstehen und die Kraft des besseren Arguments gegen Mauern aus Ressentiments und Vorurteilen stößt. Ob Literatur, Theater, bildende Kunst, Musik, Tanz oder Film: Kultur kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht, Kultur kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Kulturelle Vielfalt, in der sich auch sperrige, unbequeme, provozierende und irritierende Positionen in Freiheit entfalten können, ist deshalb das Beste, was wir populistischer Einfalt entgegensetzen können. Und zweifellos brauchen wir, um unsere demokratische Kultur der Verständigung gegen ihre Verächter zu verteidigen, die die Vielstimmigkeit unabhängiger Medien, die Ideen der Kultur- und Kreativwirtschaft, die Phantasie und auch den Widerspruchsgeist der Kunst – und eine Kultur- und Medienpolitik, die dafür Raum und Rahmenbedingungen schafft. Das Urheberrecht ist dafür auch im digitalen Zeitalter unverzichtbar. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam dafür sorgen, dass man auch in Zukunft von geistiger Arbeit leben kann und Investitionen in kreative Werke sich weiterhin lohnen. In diesem Sinne: auf eine erkenntnisreiche Urheberrechtskonferenz!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Wirtschaftsgipfel der „Süddeutschen Zeitung“ am 13. November 2018 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-wirtschaftsgipfel-der-sueddeutschen-zeitung-am-13-november-2018-in-berlin-1549620
Wed, 14 Nov 2018 21:04:00 +0100
Berlin
Inneres,Finanzen
Lieber Herr Kister, lieber Herr Krach, aber vor allem liebe Kolleginnen, denn angesichts von fünf Prozent Frauen, die führende politische Funktionen auf der Welt haben, ist es ja ein seltenes Zusammentreffen, dass die kroatische Präsidentin, die isländische Ministerpräsidentin, die serbische Ministerpräsidentin und ich sozusagen als vier Individuen heute Abend hier versammelt sind. Ich glaube, das ist sozusagen der Tribut der „Süddeutschen Zeitung“ an das gestern stattgefundene Ereignis hier im Saal, in dem an die Einführung des Frauenwahlrechts vor 100 Jahren erinnert wurde. Nun bin ich hier heute Abend in einer ziemlich schwierigen Rolle, weil Sie sich überlegt haben, dass Sie nach mindestens eineinhalb Tagen permanenter Vorträge noch eine Dinner Speech und dann auch noch eine Diskussion brauchen, um dann morgen frohgemut mit weiteren Vorträgen weiterzumachen. Deshalb will ich jetzt auch nicht absolut ins Grundsätzliche und in Zahlendetails gehen, sondern nur ein wenig das betrachten, worüber Sie diskutieren. Ich habe mich gefreut, dass eine Zeitung das Motto „Vertrauen schaffen!“ gewählt hat. Denn manchmal denkt man sich beim Zeitunglesen, dass mehr mit Misstrauen beobachtet wird; aber das muss sich ja nicht ausschließen. Ich finde dieses Motto jedenfalls sehr richtig und wichtig – wenn ich das sagen darf – für unsere heutige Zeit. Warum? Weil ich glaube, dass wir immer noch ein bisschen im Glück der 90er Jahre verhaftet sind, als wir uns zur Europäischen Union vereint haben, der Kalte Krieg ein Ende gefunden hat und eine demokratische Europäische Union geschaffen wurde. Veränderung hatte damals etwas Gutes bedeutet. Und wir hatten gedacht, dass es doch weniger Probleme gibt als vorher. Dieses Vertrauen, das wir damals hatten – jetzt einmal aus der deutschen Perspektive und auch aus der Perspektive der deutschen Wiedervereinigung gesprochen –, ist dann aber doch gewichen; Vertrauen ist verlorengegangen. Deshalb ist es richtig, wieder Vertrauen schaffen zu wollen. Wir haben einige Dinge durchlebt, die in unsere relativ heile Welt hineingebrochen sind: die Finanzkrise, die Eurokrise, die Ereignisse von Flucht und Migration, der islamistische Terrorismus, die Herausforderungen einer multipolaren statt einer wie im Kalten Krieg sehr klar aufgeteilten Welt und neuerdings auch die doch sehr vehementen Angriffe auf den Multilateralismus – eine Ordnung, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffen wurde und auf die wir vertraut haben, über die es keine großen Diskussionen gab, selbst wenn sie unvollkommen war, und die jetzt wieder verteidigt werden muss, da sie eben von manchen als nicht mehr existent oder als etwas, das zu vernichten ist, bezeichnet wird. Deshalb ist das Motto „Vertrauen schaffen!“ so wichtig. Mich als Politikerin erinnert es daran, dass wir einen konstruktiven Gestaltungsauftrag haben – jedenfalls wenn wir in der Regierung sind –, und keinen Auftrag haben, davon zu leben, dass es einen Raum gibt, in dem sich Misstrauen ausbreiten kann. Ich verstehe sehr wohl, dass verlorengegangenes Vertrauen weitere Räume geschaffen hat, in denen Misstrauen gedeiht. Aber jetzt müssen wir sie wieder konstruktiv füllen. Da haben wir das Thema „Was können wir national tun?“ Und da stellt sich die große Frage: Wie sieht das Erfolgsmodell Deutschlands, nämlich die Soziale Marktwirtschaft, im 21. Jahrhundert aus? Können wir das Wohlstandsversprechen, das ziemlich eng – ich würde sogar sagen: sehr eng – mit der Ordnung der Demokratie verbunden ist, weiter halten? Und was fordert uns dabei heraus? Da sind wir im Gespräch am Tisch soeben sofort auf die Digitalisierung gekommen, die bei Ihnen hier heute sicherlich schon häufig Thema war. Jeder lebt ein Stück weit in einer digitalen Welt – schon allein mit seinem Smartphone und seinem Kommunikationsverhalten. Aber was das für unsere Gesellschaften, was das für das Arbeiten, für die Bildung, für die Presse, für sämtliche Prozesse in unserer Gesellschaft bedeutet, das haben wir alle, glaube ich, noch nicht durchdrungen. Jedenfalls habe ich es noch nicht vollständig durchdrungen. Deshalb müssen wir daran arbeiten – ich spreche jetzt als Politikerin –, wieder in eine Situation zu kommen, in der wir die Prozesse erfassen können, da wir ja die Leitplanken für unsere Ordnung schaffen müssen. Wenn ich aber nicht verstanden habe, was vor sich geht, dann kann ich auch keine Leitplanken schaffen. Also haben wir jetzt eigentlich eine Zeit engster Zusammenarbeit von Menschen, die Technologien entwickeln, von Menschen, die jünger sind, aber meist noch nicht in politischer oder in wirtschaftlicher Verantwortung sind, und von Menschen, die Gesellschaften beobachten und gesellschaftliche Prozesse kennen. Aus der Erfahrungswelt der Sozialen Marktwirtschaft würde ich sagen: Unser Grundansatz muss doch sein, dass auch mit neuen Technologien der Mensch der Maßstab dessen sein muss, das wir entwickeln. In Artikel 1 unseres Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Der Staat hat sie zu schützen. Das bedeutet: wir müssen vom einzelnen Menschen aus denken, was ja gerade auch die große Erfolgsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft ausmachte. Man hat nicht in Gruppen gedacht, man hat nicht in Klassen gedacht, man hat nicht eine Gruppe gegen die andere gestellt, sondern man hat vom Individuum her gedacht. Damit bin ich beim Thema: Was suchen die Menschen? Die Bürgerinnen und Bürger spüren ja, dass sich etwas Gewaltiges tut. Sie wollen erst einmal Sicherheit in der Disruption. Es gibt disruptive Erneuerungen; und in dieser Situation wollen sie Sicherheit. Wie gibt man als Politiker Sicherheit, wenn von einem erwartet wird, dass man eigentlich auf jede Frage eine Antwort hat, aber plötzlich in einer Zeit lebt, in der man ehrlicherweise nicht immer sagen kann, auf Fragen schon Antworten zu haben? Denn ich bin ja auch selbst Lernende. Ich glaube, die beste Art und Weise der Kommunikation zwischen den politisch Mächtigen, also den Entscheidern, und den Bürgerinnen und Bürgern ist, dass wir ihnen wieder etwas zutrauen – dass wir ihnen nämlich zutrauen, dass sie aushalten, wenn wir ihnen sagen: Wir haben diese und jene Prinzipien zum Wohle des Menschen, aber wir wissen nicht bereits um die Auswirkungen jeder neuen technischen Einzelheit; wir werden immer wieder Schritte vorwärts und Schritte rückwärts machen müssen. Das was wir gewöhnt sind, nämlich ein Gesetz für 10, 20, 30 Jahre zu machen, wird vielleicht für die nächsten 10 oder 20 Jahre nicht mehr richtig sein. Wir müssen vielmehr etwas erproben und dann versuchen, daraus die Lehren zu ziehen. Wir hören auf euch, die Bürgerinnen und Bürger, und auf das, was ihr uns zurückmeldet, und sind dann auch bereit, etwas schnell zu ändern. Das ist eine vollkommen neue Herangehensweise, mit der wir in der Politik arbeiten müssen – aber auch so wie jeder, ob in der Fabrik, in der Verwaltung oder wo auch immer, neu arbeiten muss. Deshalb ist es eigentlich eine schöne Zeit für eine Demokratie, weil man plötzlich an jedem und seinen jeweiligen Erfahrungen interessiert sein muss. Wir hatten uns ja in der Realität voneinander entfernt. Der eine schreibt Zeitungen, der andere arbeitet in einem Unternehmen, der Dritte macht Politik. Wir hatten uns die Arbeitsteilung gut geregelt. Der eine ist Lobbyist und versucht so lange auf die Politik einzureden, bis das Gesetz so aussieht, wie er es will. Der Bürger weiß auch, wie er sich wehren kann. Und das tut er dann ja auch in Wahlen. Wir hatten also vollkommen klare Strukturen. Diese kommen jetzt aber völlig durcheinander. Deshalb erfordert diese Aufgabe, in einer neuen Zeit wieder Vertrauen zu schaffen, von uns Politikern, dass wir deutlich machen, dass auch wir neu denken, dass wir wahrscheinlich in viel flacheren Hierarchien arbeiten müssen, dass wir Gruppen brauchen, zu denen wir Kontakt haben, und dass wir auch zugeben, dass wir Ratgeber brauchen; und diese finden wir nicht immer in unserer Verwaltung. Da sei mir eine kleine Anmerkung erlaubt: Jedes Mal, wenn wir uns Berater von irgendwoher holen, heißt es: Die Regierung hat wieder outgesourct und hat sich irgendwie von der Wirtschaft abhängig gemacht. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir werden es nicht anders machen können. Ansonsten sind wir Ignoranten. Wir brauchen Weiterbildung durch Menschen, die in der Digitalisierung arbeiten und die neue Erkenntnisse haben. Denn wir finden in unserer eigenen Verwaltung niemanden mit diesen Erkenntnissen; und das ist auch natürlich. Also müssen wir sozusagen einen Merger machen, so wie das etwa bei der Firma Bosch gemacht wird. Da bekommt jede ältere Führungskraft einen jungen Nerd zur Seite, um zu lernen, was Sache ist. Wenn man diese Offenheit nicht hat, wird man in der neuen Zeit nicht überleben. – Jetzt will ich hier aber nicht zu ausführlich werden. Die schlechte Nachricht für uns in Deutschland und in Europa ist: Wir sind nicht mehr, was wir vor 100 Jahren noch ziemlich häufig waren: die Technologietreiber. Vielmehr erreichen heute uns Technologien. Wir können keine Batteriezelle produzieren. Wir machen noch die Maschinen, die Chips produzieren, aber die Chipfabriken sind weitestgehend außerhalb Europas. Wir sind beim Quantencomputer sicherlich nicht vorne mit dabei. Aber bei der Künstlichen Intelligenz sind wir aufgewacht. Wir werden morgen eine Digitalisierungsklausur unserer Regierung haben. Das ist das erste Mal, dass wir für zwei Tage ganz konzentriert an Fragen zur Digitalisierung arbeiten werden. Digitale Erfindungen kommen derzeit vor allem aus Asien und aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Das darf uns nun aber nicht gleich pessimistisch machen. Manchmal leben wir ja sozusagen digital in der Art und Weise, dass wir dual leben – also null oder eins, betrübt oder euphorisiert, aber nichts dazwischen. Wir müssen vielmehr einfach eine realistische Analyse machen und uns fragen: Wo stehen wir? Wir haben meiner Meinung nach mit unserer industriellen Grundlage, mit unserer industriellen Stärke zumindest eine sehr gute Ausgangsposition bei dem, was man auf Plattformen B2B nennt. Bei B2C findet jetzt aber die eigentliche Schlacht statt. Gewinnt der, der die Customer in der Hand hat, oder gewinnt der, der die industrielle Produktion in der Hand hat? Da findet im Augenblick zum Beispiel in der Automobilindustrie weltweit eine scharfe Auseinandersetzung statt. Diese Herausforderungen werden wir – Deutschland oder irgendein anderes europäisches Land – gegen Länder wie China oder die Vereinigten Staaten von Amerika nicht alleine gewinnen. Das heißt, wir müssen uns in Europa zusammenraufen. Dabei wird eine kulturelle Komponente eine Rolle spielen, die wieder mit der Sozialen Marktwirtschaft zu tun hat. In den Vereinigten Staaten von Amerika geht der technische Fortschritt sehr schnell voran, aber mit der Tendenz, dass die Daten, die dabei aggregiert werden, im Grunde in privater Hand sind und dass erst dann reguliert wird – wenn überhaupt – oder entschieden wird: Was passiert damit? In China – wir haben uns hier über alles schon offen ausgetauscht – ist es so, dass die Daten auf scheinbar natürliche Weise dem Staat gehören. Mit keinem der beiden Modelle wird Europa glücklich werden, eben weil wir aus der Tradition einer Sozialen Marktwirtschaft kommen. Deshalb müssen wir einen eigenen Weg finden. Ich sage dazu: Die Datenschutz-Grundverordnung war eine gute Entscheidung, auch wenn sie uns in einzelnen Fällen in den Wahnsinn treiben kann. Wenn ich meine eigenen CDU-Mitglieder nicht mehr einladen darf, weil sie erst eine Einwilligung geben müssen, dass sie wieder von mir eingeladen werden wollen, dann fragt man sich natürlich, ob wir noch alle Tassen im Schrank haben. Aber das können wir in einem Lernprozess dann wieder neu regulieren. Dass wir ein level playing field, ein gleiches Niveau in allen europäischen Ländern haben und dass es eine Souveränität für den Bürger gibt, zu wissen, was mit seinen Daten passiert, kann ein Zukunftsmodell sein. Die Schlacht ist aber noch nicht geschlagen. Nach dem Ende des Kalten Krieges dachten wir ja auch, die Demokratie habe gesiegt und dagegen werde sich nichts mehr aufstellen. Das ist aber nicht so; und da sind wir herausgefordert. Deshalb ist ohne die europäische Dimension jeder von uns im Gebiet der Europäischen Union verloren, wenn er glaubt, er könnte das alleine schaffen. Deshalb müssen wir uns zusammenraufen – und nicht nur, weil ich heute in Straßburg eine Rede gehalten habe. Mein letzter Punkt: Nun gerät etwas ins Wanken, worüber auch ich erstaunt bin und ich mich frage, wie das passieren kann. Wir haben kürzlich des 100. Jahrestags des Endes des Ersten Weltkrieges gedacht. Wenige Jahre später ist der Zweite Weltkrieg entstanden. Im Grunde wissen wir, warum das passiert ist, nämlich weil nach dem Ersten Weltkrieg Völker einander nicht respektiert haben, sondern einander weiter gedemütigt haben, und weil das, was der damalige amerikanische Präsident Wilson initiiert hat – die Bildung einer Gemeinschaft der Völker, die dann im Rahmen des Völkerbunds entstanden ist –, gescheitert ist. Zusammen mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist daraus ein Krieg entstanden, den die Deutschen zu verantworten haben. – Ich will nichts relativieren; damit das nicht falsch ankommt. – Aber die Lehre, die daraus gezogen wurde – mit dem Marshallplan, mit der Gründung der Europäischen Union und vor allen Dingen mit der Gründung der UNO –, war eindeutig: Nur dann, wenn wir als Völker zusammenarbeiten und uns auf gemeinsame Wertegrundlagen einigen, werden wir die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus hinter uns lassen. Dass ausgerechnet in der jetzigen Zeit, in der die Zeitzeugen immer weniger werden, die die Schrecken des Zweiten Weltkriegs noch erlebt haben, starke Strömungen aufkommen mit der Botschaft „Leute, lasst das alles sein; unser eigenes Land ist uns doch am wichtigsten“, macht mich sehr unruhig. Das fordert uns heraus. Denn aus meiner Sicht – das sage ich jetzt zu Deutschland – ist jetzt und in den nächsten wenigen Jahren die Stunde da, zu zeigen, ob wir etwas aus der Geschichte gelernt haben oder ob wir doch wieder nichts aus der Geschichte gelernt haben. Wenn ich jetzt manchmal sehe, wie verächtlich über die Vereinten Nationen geschrieben wird, muss ich sagen: Ich kann Ihnen viele Sachen sagen, die komplett unvollkommen sind, aber die Frage ist doch nicht „Wie unvollkommen sind die?“, sondern die Frage ist: Warum ist es 1948 gelungen, die Charta der Menschenrechte zu vereinbaren; und könnte so etwas heute wieder gelingen oder fühlen wir gar keine Notwendigkeit, uns auf so etwas einzulassen? Deshalb sage ich: Zerstört ist schnell, aufgebaut ist langsam. Deshalb heißt „Vertrauen schaffen!“ für mich: Das, was wir uns nach den Schrecknissen der Weltgeschichte geschaffen haben, nicht zerstören, sondern geduldig fortentwickeln – aber niemals vergessen, was der Welt passiert ist, als man das alles nicht hatte. Dann wird es uns auch wieder gelingen. In diesem Sinne freue ich mich jetzt auf die Diskussion mit Herrn Kister.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel vor dem Europäischen Parlament am 13. November 2018 in Straßburg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-vor-dem-europaeischen-parlament-am-13-november-2018-in-strassburg-1549538
Tue, 13 Nov 2018 15:07:00 +0100
Straßburg
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Präsident des Europäischen Parlaments, lieber Antonio Tajani, sehr geehrter Herr Präsident der Europäischen Kommission, lieber Jean-Claude Juncker, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, liebe Kommissare, meine Damen und Herren, vor fast 50 Jahren nannte der ehemalige deutsche Kommissionspräsident Walter Hallstein die europäische Einigung eine „beispiellose Kühnheit“. Das war 1969, zehn Jahre vor der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament. Damals steckte die Europäische Gemeinschaft noch in den Kinderschuhen. Viele unserer größten Errungenschaften – Schengen, der Binnenmarkt, eine gemeinsame Währung – waren noch visionäre Projekte. Aber der Grundstein war gelegt. Und mit ihm bestand nach Jahrhunderten der Kriege und Diktaturen für die Bürgerinnen und Bürger Europas erstmals die Aussicht auf eine dauerhafte, friedliche und stabile Zukunft. Heute stehe ich mit Freude und auch mit Dankbarkeit vor dem größten demokratischen Parlament der Welt. Sie, die 751 Abgeordneten aus 28 Staaten, vertreten gemeinsam über 500 Millionen Menschen. Das sind nahezu sieben Prozent der Bevölkerung der Welt. Wir spüren in Ihrem Haus den Herzschlag der europäischen Demokratie. Das zeigen die Debatten, die in 24 Sprachen geführt werden. Und das zeigt auch etwas, das Europa ausmacht, nämlich Vielfalt. Es ist eine der großen Stärken von uns Europäern, dass wir uns immer wieder, bei aller Vielfalt, vom Willen zur Einigung, vom Willen zum Kompromiss haben leiten lassen und dass wir trotz unterschiedlicher Herkunft und trotz unterschiedlicher Haltungen bislang immer zu einem Ergebnis zum Wohl der Gemeinschaft gekommen sind. Es ist über elf Jahre her, dass ich zum ersten Mal vor diesem Haus geredet habe. Deutschland hatte seinerzeit, 2007, die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Ich habe damals von der Vielfalt gesprochen, die uns eint und nicht teilt, und von der Freiheit, die immer wieder neu verteidigt werden muss und die Europa wie der Mensch die Luft zum Atmen braucht. Ich habe damals von einem grundlegenden Wert gesprochen, der Europa auszeichnet – von einem Wert, der Freiheit und Vielfalt in Europa miteinander verbindet. Ich habe von der Toleranz gesprochen. Ich habe davon gesprochen, dass die Toleranz die Seele Europas und damit ein unverzichtbarer Grundwert der europäischen Idee ist. In den vergangenen elf Jahren haben wir jedoch auch erlebt, wie sehr sich die Welt verändert hat und wie damit einhergehend die Seele Europas, wenn man so will, strapaziert wurde. Die globalen politischen, wirtschaftlichen und technologischen Herausforderungen entwickelten sich immer schneller und immer tiefgreifender. Wir haben eine große Staatsschuldenkrise durchlebt. Der internationale Terrorismus hat vor der Europäischen Union nicht haltgemacht. Kriege und bewaffnete Konflikte finden nur wenige Flugstunden entfernt vor unserer Haustür statt. Weltweite Flucht- und Migrationsbewegungen betreffen auch uns Europäer ganz konkret. Der digitale Fortschritt verändert unsere Lebensweise in atemberaubendem Tempo. Wir spüren die Folgen des Klimawandels. Alte Verbündete stellen bewährte Allianzen infrage. Mit Großbritannien wird erstmals ein Land die Europäische Union wieder verlassen. Wie tief dieser Einschnitt sein wird, fühlen wir in diesen Tagen intensiver Verhandlungen so sehr wie noch nie. – Ich möchte Michel Barnier ganz herzlich für seine Arbeit danken. Liebe Mitglieder dieses Hohen Hauses, warum sage ich das? Wir alle spüren: Es ist schwieriger geworden, Entwicklungen vorauszusagen. Aber wir spüren noch etwas anderes. Es ist immer weniger erfolgversprechend, Interessen auf der globalen Bühne alleine durchzusetzen. Das bedeutet umgekehrt, dass es immer wichtiger wird, dass wir Europäer zusammenstehen. Dafür benötigen wir innerhalb der Europäischen Union mehr denn je die Achtung des anderen und seiner Interessen. Wir brauchen mehr denn je das Verständnis, dass Toleranz die Seele Europas ist, dass sie ein ganz wesentlicher Bestandteil dessen ist, was uns Europäer ausmacht, und dass wir nur mit ihr die Bereitschaft entwickeln können, die Interessen und Bedürfnisse des anderen auch als die eigenen Bedürfnisse zu verstehen. Das führt uns zum Kern der europäischen Solidarität, ohne die erfolgreiches Handeln nicht denkbar ist. Diese Solidarität gründet auf der Toleranz. Sie macht unsere Stärke, die es nirgendwo sonst gibt, als Europäer aus, und zwar aus drei Gründen. Erstens: Solidarität ist ein universeller Wert. Sich füreinander einzusetzen, ist eine Grundvoraussetzung für jede funktionierende Gemeinschaft. Das gilt für die Familie, das gilt für die Dorfgemeinschaft, für den Sportverein und gleichermaßen für eine Gemeinschaft wie die Europäische Union. Solidarität ist ein fester Bestandteil der europäischen Verträge. Sie ist ein zentraler Teil unseres Wertekanons. Solidarität ist ein Teil der europäischen DNA. Wir unterstützen Länder und Regionen in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung oder beim Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit. Wir helfen einander bei Naturkatastrophen. Wir stehen uns im Fall von Terroranschlägen oder Reaktorunfällen gegenseitig bei. Wir haben in der europäischen Staatsschuldenkrise sogenannte Rettungsschirme aufgespannt, um betroffenen Ländern zu helfen, ihre wirtschaftlichen und finanziellen Probleme lösen zu können. Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und mit ihnen die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union in schwierigen Zeiten und Notlagen eben nicht alleine dastehen. Diese wenigen Beispiele zeigen umgekehrt aber auch, dass individuelle nationale Entscheidungen immer auch Auswirkungen auf die ganze Gemeinschaft haben. Deshalb gilt zweitens: Solidarität geht immer auch mit Verantwortung für die Gemeinschaft aller einher. Konkret heißt das: Wer rechtsstaatliche Prinzipien in seinem Land aushöhlt, wer die Rechte der Opposition und der Zivilgesellschaft beschneidet, wer die Pressefreiheit einschränkt, der gefährdet nicht nur die Rechtsstaatlichkeit in seinem eigenen Land, sondern der gefährdet die Rechtsstaatlichkeit von uns allen in ganz Europa. Denn Europa kann als Rechtsgemeinschaft natürlich nur dann funktionieren, wenn das Recht überall gleichermaßen gilt und geachtet wird. Wer darauf setzt, Probleme allein durch neue Schulden zu lösen, und eingegangene Verpflichtungen missachtet, der stellt die Grundlagen für die Stärke und die Stabilität des Euroraums infrage. Denn unsere gemeinsame Währung kann nur funktionieren, wenn jedes einzelne Mitglied seine Verantwortung für tragfähige Finanzen zu Hause erfüllt. Wer die Geschlossenheit Europas gegenüber Dritten infrage stellt – zum Beispiel bei vereinbarten Sanktionen oder in Fragen der Menschenrechtspolitik –, der untergräbt die Glaubwürdigkeit der gesamten europäischen Außenpolitik. Denn Europa kann seiner Stimme in der Welt nur dann Gehör verschaffen, wenn es geeint auftritt. Das heißt, dass Solidarität immer auch bedeutet, nationale Egoismen zu überwinden. Dabei weiß ich sehr wohl, dass sich auch Deutschland nicht immer tadellos verhalten hat bzw. sich in den Augen mancher nicht immer tadellos verhält. Zum Beispiel haben wir in den Jahren vor 2015 viel zu lange gebraucht, um auch in Deutschland die Flüchtlingsfrage als eine Frage für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union anzunehmen und zu verstehen, dass sie eben eine gesamteuropäische Aufgabe ist. Daraus folgt drittens: Die Solidarität zum Nutzen aller bedeutet im Ergebnis auch, im wohlverstandenen eigenen Interesse zu handeln. Respekt und Unterstützung für andere und die Vertretung eigener Interessen sind kein Widerspruch – ganz im Gegenteil. Ein Beispiel hierfür ist unsere Zusammenarbeit mit afrikanischen Herkunftsländern beim Thema Flucht und Migration. – Der Präsident hat gerade darauf hingewiesen. – Diese Zusammenarbeit hilft Europa, weil sie Flucht und Migration nach Europa ordnet, steuert und reduziert. Sie dient gleichermaßen den Menschen vor Ort, indem dort ihre Lebenssituation verbessert wird und wir sie davor bewahren können, eine oft lebensgefährliche Reise nach Europa anzutreten. Ein weiteres Beispiel ist das europäische Engagement im weltweiten Klimaschutz, das ökologisch wie ökonomisch und sozial zwingend notwendig ist für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und damit für uns. Es nutzt Europa, wenn Industrie- und Schwellenländer insgesamt weniger Treibhausgase produzieren und unsere Wirtschaftssysteme insgesamt grüner werden. Es nutzt darüber hinaus auch allen Europäern, wenn sich auch die Eurozone frei von Verwerfungen entwickelt und ein Hort von Stärke und Stabilität wird. Es nutzt allen Europäern, wenn sich jeder am europäischen Katastrophenschutz beteiligt. Es nutzt allen Europäern, wenn wir jenen helfen, die von Flucht und Migration besonders betroffen sind. Die Toleranz gebietet zu respektieren, dass die Frage der Aufnahme von Flüchtlingen in verschiedenen Mitgliedstaaten aufgrund ihrer eigenen Geschichte oder aufgrund ihrer demografischen Entwicklung unterschiedliche Reaktionen auslöst. Die Solidarität gebietet, dass wir zugleich alles daransetzen, einen gemeinsamen Weg zu finden, auf dem wir diese wie auch alle weiteren Herausforderungen als Gemeinschaft meistern. Das also macht Europa aus: Solidarität als universeller Grundwert, Solidarität als Verantwortung für die Gemeinschaft und Solidarität als wohlverstandenes Eigeninteresse. Meine Damen und Herren, Einheit und Geschlossenheit sind für Europas Erfolg unverzichtbar. Ich möchte deshalb drei Bereiche hervorheben, auf die es aus meiner Sicht besonders ankommen wird. Erstens: die Außen- und Sicherheitspolitik. Wir merken doch schon jetzt, dass wir als Europäer unsere Interessen überall dort viel besser verteidigen können, wo wir gemeinsam auftreten. Nur geschlossen ist Europa stark genug, um auf der globalen Bühne gehört zu werden und seine Werte und Interessen verteidigen zu können. Die Zeiten, in denen wir uns vorbehaltlos auf andere verlassen konnten, sind eben vorbei. Das heißt nichts anderes, als dass wir Europäer unser Schicksal stärker in unsere eigene Hand nehmen müssen, wenn wir als Gemeinschaft überleben wollen. Das bedeutet, dass Europa langfristig außenpolitisch handlungsfähiger werden muss. Deshalb müssen wir bereit sein, unsere Entscheidungswege zu überdenken und verstärkt dort auf Einstimmigkeit zu verzichten, wo die Verträge dies möglich machen und wo immer es möglich ist. Ich habe vorgeschlagen, dass wir einen europäischen Sicherheitsrat mit wechselnden, rotierenden Besetzungen der Mitgliedstaaten einrichten, in dem wichtige Beschlüsse schneller vorbereitet werden können. Wir müssen eine europäische Eingreiftruppe schaffen, mit der Europa auch am Ort des Geschehens handeln kann. Wir haben große Fortschritte bei der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im militärischen Bereich erreicht. Das ist gut und wird ja auch hier weitestgehend unterstützt. Aber wir sollten – das sage ich aufgrund der Entwicklung der letzten Jahre sehr bewusst – an der Vision arbeiten, eines Tages auch eine echte europäische Armee zu schaffen. Ja, so ist es. Jean-Claude Juncker hat schon vor vier Jahren gesagt: „Eine gemeinsame europäische Armee würde der Welt zeigen, dass es zwischen den europäischen Ländern nie wieder Krieg geben wird.“ Das ist ja keine Armee gegen die NATO – ich bitte Sie –, sondern das kann eine gute Ergänzung der NATO sein. Kein Mensch möchte klassische Verbindungen infrage stellen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre doch viel einfacher, mit uns zusammenzuarbeiten. Wenn wir heute mehr als 160 Verteidigungssysteme bzw. Waffensysteme und die Vereinigten Staaten von Amerika nur 50 oder 60 haben, wenn wir für alles eine eigene Verwaltung, Betreuung und Ausbildung brauchen, dann sind wir doch kein effizienter Partner. Wenn wir unser Geld effizient einsetzen wollen und doch für viel Gleiches kämpfen, dann können wir doch in der NATO mit einer europäischen Armee gemeinsam auftreten. Darin sehe ich überhaupt keinen Widerspruch. Das schließt dann natürlich ‑ ‑ ‑ (Zwischenrufe aus dem Plenum) – Ach, ich freue mich darüber. Ich lasse mich doch nicht irritieren. Ich komme auch aus dem Parlament. – Dazu gehört im Übrigen auch die gemeinsame Entwicklung von Waffensystemen innerhalb Europas. Und dazu gehört auch – das ist eine schwere Aufgabe; auch für die Bundesrepublik Deutschland –, dass wir eine gemeinsame Rüstungsexportpolitik entwickeln, weil wir sonst nicht einheitlich auf der Welt auftreten können. Zweitens, meine Damen und Herren, kommt es auf den wirtschaftlichen Erfolg Europas an. Er bildet die Grundlage unserer Stärke und ist die Voraussetzung dafür, dass wir in der Welt überhaupt gehört werden. Wenn wir wirtschaftlich nicht stark sind, dann werden wir auch politisch nicht einflussreich sein. Ich freue mich sehr, dass das Programm von Jean-Claude Juncker, der Investitionsfonds, in den letzten Jahren ja doch erhebliche Auswirkungen gehabt hat und wir von den Investitionen in Höhe von 500 Milliarden Euro bis zum Jahr 2020 bereits 340 Milliarden oder 350 Milliarden Euro auf den Weg gebracht haben. Das ist ein gutes Programm für mehr Investitionen. Ich weiß, wie oft gerade aus Ihrem Hause die Forderung nach mehr Investitionen gekommen ist. Das ist jetzt auf dem Weg. Darüber sollten wir dann aber auch einmal sprechen. Denn 340 Milliarden Euro sind kein Pappenstiel, sondern wirklich ein Beitrag zu mehr Prosperität in Europa, meine Damen und Herren. Natürlich gehört zu einem stabilen Wohlstandseuropa auch eine stabile Wirtschafts- und Währungsunion. Wir wollen den Europäischen Stabilitätsmechanismus weiterentwickeln. Wir arbeiten an der Bankenunion. Wir arbeiten an einem Eurozonenhaushalt; Deutschland und Frankreich haben sich dafür ausgesprochen. Ich glaube, man sollte das sehr eng mit der mittelfristigen finanziellen Vorausschau verbinden. Wir treten auch dafür ein, dass Haftung und Kontrolle zusammengehören. Das heißt, eine Bankenunion und später auch ein europäisches Einlagensicherungssystem bedingen, dass Risiken in den Nationalstaaten zuvor reduziert wurden. Das geht zusammen. Europäische Solidarität und Eigenverantwortung sind immer zwei Seiten ein und derselben Medaille. Wir werden als Europäischer Rat – jedenfalls tritt Deutschland gemeinsam mit Frankreich dafür ein – bis Dezember sehr wohl sichtbare Erfolge vorweisen. Wir werden auch bei einem Thema, das in diesen Tagen sehr intensiv diskutiert wird und an dem Sie auch sehr beteiligt sind, nämlich bei der digitalen Besteuerung, Fortschritte erzielen. Deutschland hat nicht die Frage, ob wir digitale Besteuerung durchführen müssen – im Zeitalter der Digitalisierung ist das selbstverständlich –, sondern wir haben die Frage, wie wir das machen. Es gehört, denke ich, zu den demokratischen Gepflogenheiten, dass man die Vorschläge der Kommission zur Kenntnis nimmt, aber dass man auch noch etwas hinzufügen kann. Wir glauben, das Beste wäre, in einem internationalen Zusammenhang auch eine internationale Lösung zu finden. Dabei setzen wir auf Minimalbesteuerung. Wenn das aber nicht klappt, dann können wir nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten, sondern dann müssen wir europäisch handeln. Und dafür setzt sich Deutschland ein, meine Damen und Herren. Wenn wir ehrlich sind, in die Zukunft schauen und uns über unseren Wohlstand Gedanken machen, dann müssen wir akzeptieren, dass es heute nicht mehr so ist, dass die großen Innovationen, wie es vor 100 Jahren und vor 130 Jahren der Fall war, immer oder zumeist aus Europa kommen, sondern es ist heute so, dass sehr viele der grundlegenden Innovationen aus Asien und aus den Vereinigten Staaten von Amerika kommen. Deshalb ist die Frage natürlich: Werden wir auf dem Kontinent, auf dem das Auto einst erfunden wurde, auch die Mobilität der Zukunft bestimmen? Da macht es mich unruhig, dass wir zum Beispiel keine Batteriezellen fertigen können. Dass chinesische Unternehmen jetzt in Deutschland investieren, ist okay. Aber ich finde, wir sollten eine große Kraftanstrengung unternehmen, um auch in Europa in der Lage zu sein, eine Antriebstechnologie der Zukunft zu beherrschen, und auch hier bei uns die Batteriezellenproduktion möglich zu machen. Wir haben dafür die europäischen Instrumente. Wir haben das alles in der Hand – so, wie wir das bei den Chips heute schon machen. Wir müssen bei den Quantencomputern vorne mit dabei sein. Wir müssen eine gemeinsame Strategie für Künstliche Intelligenz entwickeln. All das ist noch möglich, weil wir eine starke industrielle Grundlage in Europa haben. Darauf können wir aufbauen; und das müssen wir jetzt auch nutzen. Insofern sind Forschung und Innovation zentrale Punkte für unseren zukünftigen Wohlstand. Der dritte Bereich, liebe Kolleginnen und Kollegen, den ich aufrufen möchte, ist das Thema Flucht und Migration. In der Euro-Krise hatten wir schon viele Hürden zu überwinden, um zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen, aber es ist uns gelungen. Aber in der Frage von Flucht und Migration ist Europa noch nicht so geeint, wie ich mir das wünschen würde. Da dies ein zentrales Thema ist, bei dem es um unsere Beziehungen zu unserer Nachbarschaft geht, müssen wir hier gemeinsame Wege finden. Dabei haben wir Fortschritte gemacht. Wir sind uns alle einig, dass wir einen gemeinsamen europäischen Grenzschutz brauchen. Im Rückblick war es sicherlich etwas leichtfertig, sage ich einmal, dass man einen Schengen-Raum der Freizügigkeit geschaffen hat, aber erst jetzt daran arbeitet, ein Ein- und Ausreiseregister zu bekommen, um zu wissen, wer bei uns ist und wer uns wieder verlässt. Dennoch ist es richtig, dass wir es jetzt tun. Es ist richtig, dass wir Frontex entwickeln. Die Kommissionsvorschläge sind meiner Meinung nach gut. Auch hierbei geht es darum: Wenn jeder seine nationale Zuständigkeit behalten will und keiner der europäischen Grenzschutztruppe irgendwelche Zuständigkeiten geben will, dann kann die noch so groß und noch so gut sein, dann wird sie ihre Arbeit nicht erfüllen können. Auch hierbei müssen wir ein Stück weit auf nationale Kompetenzen verzichten und gemeinsam handeln. Wir müssen uns auch überlegen: Wie können wir uns die Arbeit der Entwicklungshilfe, der Entwicklungszusammenarbeit und der wirtschaftlichen Entwicklung Afrikas gut teilen? Es gibt inzwischen hervorragende Ergebnisse – das wäre vor zwei, drei Jahren nicht möglich gewesen –, wenn es darum geht, dass einzelne Mitgliedstaaten gemeinsam mit der Kommission in einzelnen afrikanischen Staaten arbeiten und damit einen Mehrwert im Vergleich dazu erzielen, dass wir dort alle einzeln auftauchen würden. Hierbei können wir aber noch sehr viel mehr lernen. Aber ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Es geht auch darum, dass wir ein gemeinsames europäisches Asylverfahren entwickeln. Wenn jeder seine Entscheidungen unterschiedlich trifft, dann wissen das auch die Menschen und dann braucht man sich nicht zu wundern, dass im Raum der Freizügigkeit Sekundärmigration stattfindet. Wir müssen uns durchaus der Mühe unterziehen, so, wie wir für den Binnenmarkt ein gemeinsames „level playing field“ entwickeln, auch in solch sensitiven Fragen wie denen des Asylrechts und der humanitären Verantwortung gemeinsame Maßstäbe zu entwickeln. Sonst wird es uns nicht gelingen, mit der Aufgabe, vor die uns Flucht und Migration stellen, klarzukommen. Meine Damen und Herren, das waren drei Beispiele von vielen. Dass ich den Kern getroffen habe, zeigt sich an dem Protest. Das ist schön und ehrenvoll. Ich glaube, dass sich die Menschen wünschen, dass Europa genau diese Probleme angeht, die ihnen auf den Nägeln brennen. Die Menschen wünschen sich ein Europa, das Antworten auf die Fragen gibt, die sie bedrücken. Das bedeutet nicht, dass Europa sozusagen überall sein muss. Es gilt unverändert, dass nicht jedes Problem in Europa ein Problem für Europa ist. Solidarität bedeutet nicht Allgegenwärtigkeit. Aber Solidarität bedeutet, dass Europa da handelt, wo es gebraucht wird, und dass es da dann stark, entschieden und wirksam handeln kann. Ich bin überzeugt davon, dass Europa unsere beste Chance auf dauerhaften Frieden, auf dauerhaften Wohlstand und auf eine sichere Zukunft ist. Unser Zusammentreffen in Paris auf Einladung des französischen Präsidenten, um an das Grauen des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren zu erinnern, sollte uns noch einmal bewusst gemacht haben, was passiert, wenn Nationen voreinander nicht Respekt haben, und was passiert, wenn Gemeinschaften wie der Völkerbund, der damals als Folge des Ersten Weltkriegs gegründet wurde, scheitern. Es kam das noch größere Grauen. Deshalb dürfen wir diese europäische Chance nicht vertun. Das sind wir uns selbst schuldig, das sind wir der vergangenen Generation schuldig und das sind wir den kommenden Generationen schuldig. Das bedeutet, Nationalismus und Egoismus dürfen nie wieder eine Chance in Europa haben, sondern Toleranz und Solidarität sind unsere gemeinsame Zukunft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es lohnt sich allemal, sich dafür zu mühen. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Tagung „1918-2018. Das Ende des Großen Krieges und das östliche Europa“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-tagung-1918-2018-das-ende-des-grossen-krieges-und-das-oestliche-europa–1551706
Tue, 13 Nov 2018 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Ein „zürnender Gott“, „vergossenes Blut“ und „schwarze Verwesung“: Das Elend, das der österreichische Dichter Georg Trakl als Sanitärleutnant in der Schlacht bei Gródek in der heutigen Ukraine im Jahr 1914 erleben musste, fasste er in seinem berühmt gewordenen Gedicht „Grodek“ in Worte. Das Erlebte traumatisierte ihn derart, dass er einen Nervenzusammenbruch erlitt und noch im selben Jahr in einem Militärkrankenhaus starb. So war Georg Trakl eines der unzähligen Opfer, die der Erste Weltkrieg schon zu seinem Beginn forderte – und zwar nicht nur in Westeuropa. 100 Jahre nach Kriegsende ist es wahrlich an der Zeit, den Blick des Gedenkens zu weiten, sich unterschiedlicher Perspektiven bewusst zu werden und ihnen in der Erinnerungskultur Raum zu geben. Deshalb bin ich dankbar, dass die heutige Tagung sich der osteuropäischen Perspektive auf den Ersten Weltkrieg annimmt! Ich freue mich, Sie alle hier in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung begrüßen zu dürfen! Wenn wir in Deutschland über den Ersten Weltkrieg und sein Ende sprechen, so assoziieren damit die Allermeisten den jahrelangen Stellungskrieg an der Westfront. Während die Schlacht von Verdun Eingang ins kollektive Gedächtnis der Deutschen gefunden hat, sind die Schlachten in den Karpaten nur Fachleuten bekannt. Doch „schwarze Verwesung“ und „vergossenes Blut“ brachte der Erste Weltkrieg auch ins östliche Europa, ins ostgalizische Gródek oder ins serbische Cer. Osteuropa war ein Hauptschauplatz der Kriegshandlungen der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn mit Russland. Das Kriegsgebiet umfasste große Teile Osteuropas vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer. Und auch überall dort hinterließ der Erste Weltkrieg Elend, Not und Chaos. Dass den Millionen Toten in den Schützengräben des Westens an den Ostfronten annähernd genauso viele militärische und noch mehr zivile Opfer gegenüber stehen, ist jedoch wenig bekannt. Ja, „Das Ende des Großen Krieges und das östliche Europa“ ist ein bis heute unterbelichtetes Thema – und zwar eines, das zu erörtern sich nicht nur für die Historikerzunft lohnt. Es verdient auch deshalb öffentliche Aufmerksamkeit, weil aus der Perspektive unserer östlichen Nachbarn auf den Ersten Weltkrieg heraus – aus unterschiedlichen Geschichtsbildern heraus – auch unterschiedliche politische Positionen auf europäischer Ebene verständlich werden. So war das Ende des Ersten Weltkriegs im östlichen Europa mit dem Aufstieg neuer Nationalstaaten verbunden, und viele der im östlichen Europa seit Jahrhunderten lebenden Deutschen wurden zu Minderheiten. Und weil östlich von Königsberg oder Breslau der Krieg nach 1918 zum Teil noch jahrelang weitergeführt wurde, steht das Jahr 1918 für das östliche Europa weniger im Zeichen des Friedens als dies im Westen der Fall ist. Dort steht es eher für die Geburt einer neuen Staatenlandschaft. Für Ungarn bedeutet die Erinnerung an das Ende des Ersten Weltkriegs etwa den Verlust von zwei Dritteln seines Staatsterritoriums. In Polen hingegen erinnert man sich feierlich an die Wiedererrichtung des polnischen Staates, nachdem er über ein Jahrhundert lang nicht mehr auf der europäischen Landkarte existiert hatte. In Rumänien steht das Jahr 1918 für die „Große Vereinigung“ zwischen dem Königreich Rumänien und Siebenbürgen, der Bukowina sowie Bessarabien, also für die Vollendung des rumänischen Nationalstaates. Und auch im kollektiven Gedächtnis der deutschen Minderheiten im östlichen Europa spielt der Erste Weltkrieg eine große Rolle: Die Wolgadeutschen haben nach dem Krieg erstmals innerhalb der Sowjetstaaten eine eigene Republik gründen können, die allerdings kaum 23 Jahre später mit Verschleppung und Deportation der Russlanddeutschen ihr bitteres Ende nahm. Die Siebenbürger Sachsen wechselten als nationale Minderheit vom habsburgischen Königreich Ungarn ins Hohenzollern-Königreich Rumänien, und die Deutschen aus Westpreußen gehörten nicht mehr der Mehrheitsbevölkerung an, sondern emigrierten in das Deutsche Reich oder wurden als sogenannte „Grenzland-Deutsche“ polnische Staatsbürger… Auch diese spezifischen Erfahrungen der Deutschen in Mittel- und Osteuropa verdienen einen prominenten Platz in der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg – und zwar in ganz Europa. Es ist ein großes Verdienst dieser Tagung, wie auch anderer Projekte unseres Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, die verschiedenen Interpretationen und sehr unterschiedlichen geschichtlichen Erfahrungen in Ost und West zusammenzubringen und zu beleuchten. Dabei arbeitet das Bundesinstitut eng mit Partnern im östlichen Europa zusammen, vor allem auch im Rahmen des „Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität“, in dessen Lenkungsausschuss mich Herr Weber vertritt. Die Vielstimmigkeit des Erinnerns zu würdigen, ja dazu beizutragen, das in Westeuropa vorherrschende – teilweise einseitige – Bild zu erweitern ist Ziel dieser Tagung. Ich finde es auch wunderbar, dass eine Französin – Sie, liebe Frau Professor Horel – heute unseren Blick auf Ostmitteleuropa weitet! Diese Art der grenzübergreifenden Geschichtsaufarbeitung ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Sich gegenseitig die „eigene“ Geschichte zu erzählen und diese gemeinsam zu diskutieren, ist so anstrengend wie gewinnbringend – gerade mit Blick auf die nachwachsenden Generationen. Ich danke Ihnen, liebe Frau Neubert und Ihrem Team, für die Organisation und die Gastfreundschaft, und natürlich danke ich auch Ihnen, lieber Herr Professor Weber, stellvertretend für das gesamte Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, für Ihre wichtige Arbeit. Ihr Engagement ist für ein geeintes Europa, für den Geist des Zusammenhalts in Vielfalt unverzichtbar. Denn Zusammenhalt in Vielfalt setzt Verständigung über Unterschiede voraus: den Austausch der Europäer über unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven. Unterschiedlichen Erinnerungen an unsere gemeinsame Vergangenheit Raum zu geben, ist eine Voraussetzung für Verstehen und Verständnis in einem geeinten Europa heute und damit für das Gelingen und Bestehen der europäischen Gemeinschaft – auch in Zukunft. In Deutschland tun wir bereits viel dafür: So hat mein Haus die Aufgabe, das gemeinsame kulturelle Erbe, das uns Deutsche mit unseren östlichen Nachbarn verbindet, zu sichern und im Bewusstsein der Menschen lebendig zu halten. So sieht es Paragraph 96 des Bundesvertriebenengesetzes seit 1953 vor. Auf dieser Grundlage unterstützen wir Archive, Museen, Forschungsinstitute Bibliotheken oder Juniorprofessuren. Und wir finanzieren eine Vielzahl von Projekten mit Partnern gerade aus dem östlichen Europa. Die BKM hat die Förderkonzeption im Jahr 2016 mit dem Ziel verstärkter europäischer Integration weiterentwickelt. Diese trägt dem langsamen Verschwinden der Erlebnisgeneration und der zentralen Bedeutung der Digitalisierung in Kultur und Wissenschaft Rechnung. Auch Spätaussiedler und deutsche Minderheiten werden in der Konzeption ausdrücklich gewürdigt. Im aktuellen Koalitionsvertrag haben die Regierungsparteien noch einmal unterstrichen, welch große Bedeutung sie der Kulturförderung auf der Basis des Bundesvertriebenengesetzes beimessen: Das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität mit den derzeitigen Mitgliedern Deutschland, Polen, Ungarn, Slowakei und Rumänien ist europaweit eine der wenigen Initiativen, die sich durch wissenschaftliche Veranstaltungen, mit Jugend- und Vermittlungsprojekten und Publikationen um eine gemeinsame Sicht auf die unterschiedlichen Geschichtserfahrungen des 20. Jahrhunderts bemüht. Dazu gehören ganz prominent natürlich auch die unterschiedlichen Interpretationen der Folgen des Ersten Weltkriegs. Dies ist von besonderer Bedeutung in Zeiten, in denen eine verengt nationalistische Sicht auf die eigene Geschichte auch den Nährboden für Populismus und Ausgrenzung schafft. Die Bundesregierung wird die Arbeit des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität, wie im Koalitionsvertrag festgelegt, deshalb weiter stärken und die deutsche Förderung dafür im nächsten Jahr deutlich erhöhen, um unter anderem eine deutsche Mitarbeiterin an das Sekretariat nach Warschau zu entsenden. Als zentrales erinnerungspolitisches Vorhaben der Bundesregierung fördert die BKM die Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Mit dem Stiftungsauftrag, „im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wachzuhalten“, entsteht in Berlin ein modernes Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrum. Durch ihre Auseinandersetzung mit der Vergangenheit im europäischen Rahmen und mit ihrem Eintreten für Respekt gegenüber der Perspektive der Anderen legt die Stiftung ihren Fokus explizit auf die Aussöhnung und Verständigung mit den östlichen Nachbarn. Aussöhnung und dass endlich Friede werde – das waren wohl die sehnlichsten Wünsche, die die Menschen vor 100 Jahren in Mittel- und Osteuropa wie auch in Westeuropa bewegten. Georg Trakl war 1914 schon kriegsmüde. Sein Gedicht „Grodek“ schickte er aus dem Krankenhaus an seinen Freund, den österreichischen Verleger Ludwig von Ficker. Er fühle sich „fast schon jenseits der Welt“, schrieb er dazu. Wer sich mit der Geschichte des Ersten Weltkriegs befasst, der versteht, warum es sich „fast schon jenseits der Welt“ angefühlt haben muss, als dieser Große Krieg, diese humanitäre Katastrophe, Europa in einem zuvor nie dagewesenen Maße erschütterte. Heute kann ein umfassender und empathischer Blick auf die Geschichte, kann die Beschäftigung mit dem vielgestaltigen kulturellen Erbe des ethnisch bunten östlichen Europa Zusammenhalt stiften, gerade heute, da die europäische Idee neu justiert werden muss, um wieder an Überzeugungskraft zu gewinnen. Wir können im Europäischen Netzwerk, mit Initiativen wie der heutigen Tagung, mit wissenschaftlichen Anstrengungen und Begegnungen aller Art Verbindendes sichtbar machen, wo sonst das Trennende die Wahrnehmung beherrscht. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, meine Damen und Herren, einen anregenden und den Blick erweiternden Austausch!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Festveranstaltung „100 Jahre Frauenwahlrecht“ am 12. November 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-festveranstaltung-100-jahre-frauenwahlrecht-am-12-november-2018-1548938
Mon, 12 Nov 2018 11:56:00 +0100
Berlin
keine Themen
Sehr geehrte, liebe Frau Bundesministerin Giffey, liebe Frau Ministerpräsidentin, liebe ehemalige Frauen- und Familienministerinnen, liebe Parlamentarische Staatssekretärinnen und -sekretäre, liebe beamtete Staatssekretäre, liebe Oberbürgermeisterinnen, meine Damen und Herren, als Marie Juchacz im Februar 1919 als erste Abgeordnete in der Nationalversammlung ans Pult trat – wir haben heute schon von ihr gehört –, begann sie ihre Rede mit „Meine Herren und Damen“. Allein diese Anrede sorgte für Heiterkeit. Dass Frauen sich ihren Platz in der Politik eroberten, verlangte, wie wir gehört haben, viel Mut, denn noch 1902 erklärte der preußische Innenminister – Neuseeland hatte damals schon das Frauenwahlrecht –, Frauen hätten in der Politik nichts zu suchen. Zur Jahrhundertwende waren Frauen rund um den Globus in den Kampf um ihre eigenen Rechte gezogen. Sie haben sich vernetzt, haben sich gegenseitig unterstützt. Und man muss sagen: es war ein mühseliger, kräftezehrender, aber am Schluss erfolgreicher Kampf. Am 12. November 1918, heute vor 100 Jahren, war es dann soweit: Frauen waren endlich auch in der deutschen Politik angekommen. – Eine Sternstunde in der Geschichte der Demokratie. Ich werde nie vergessen: Als ich mit dem früheren saudischen König – er ist bereits verstorben – über die Frage der Gleichberechtigung in Saudi-Arabien sprach, stellte er mir als erstes die Frage, seit wann eigentlich Frauen in Deutschland schon wählen dürfen. Und als ich sagte, seit weniger als 100 Jahren, guckte er mich ziemlich mitleidig an und meinte, wir hätten aber auch sehr, sehr lange gebraucht. Und Recht hatte er. Daher freue ich mich über die zahlreichen Jubiläumsveranstaltungen, die es jetzt gibt. Und ich freue mich über die Würdigung von Frauen wie Marie Juchacz und Hedwig Dohm, die wirklich viel Mut bewiesen haben. Wir wissen: Der Blick in die Geschichte gibt auch immer wieder Kraft, Zukunft zu gestalten. Deshalb ist diese Rückbetrachtung sehr, sehr wichtig. Diese Frauen haben ja nicht etwa nur für das Recht einer Gruppe, einer bestimmten Klientel gekämpft, sondern sie haben für ein Menschenrecht gekämpft. Es ging und es geht immer wieder um die Gleichwertigkeit eines jeden Menschen. Nur eine Gesellschaft, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern lebt, kann eine gerechte Gesellschaft sein. Deshalb steht es uns wirklich gut zu Gesicht, unseren Wahlrechtskämpferinnen ein ehrendes Gedenken zu bewahren. Sie haben viel auf sich genommen und mussten viel ertragen, bis ihnen der Durchbruch gelang. Eine umso größere Ehre ist es mir als deutsche Bundeskanzlerin, die Festrede zu 100 Jahren Frauenwahlrecht zu halten. Denn das Wahlrecht war ja nur ein Anfang, wenn natürlich auch ein sehr wichtiger. Fortschritte für Gleichberechtigung, Gleichstellung und Gleichbehandlung ließen und lassen oft lange auf sich warten – zu lange. Aus heutiger Sicht ist ja kaum noch zu glauben, dass erst seit 1977 eine Frau nicht mehr das Einverständnis ihres Ehemanns einholen muss, wenn sie arbeiten möchte. Und Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 strafbar. In den letzten Jahrzehnten haben sich gesellschaftliche Vorstellungen deutlich gewandelt. Vorbilder wie Sie, Frau Peschel-Gutzeit, oder auch wie Rita Süssmuth, Frau Lehr und Frau Bergmann, die Sie alle heute hier bei uns sind, haben viel nach vorn gebracht. Niemand lacht ein junges Mädchen heute mehr aus, wenn es sagt, dass es später einmal Ministerin oder sogar Bundeskanzlerin werden will. Es soll sogar schon Fragen geben, ob es auch ein Mann werden darf, wie mir manchmal berichtet wird; das habe ich mir nicht ausgedacht. Ende letzten Jahres waren in Deutschland über 71 Prozent der Frauen erwerbstätig – zwölf Prozent mehr als 2005. Elternzeit, Elterngeld, der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz erleichtern es den Müttern, wieder in den Beruf einzusteigen. Und es sind eben auch, wie ich schon sagte, Regelungen für Männer hinzugekommen, denn Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen wird nur, wenn beide ihr Rollenverhalten ändern, überhaupt möglich sein. Aber wir haben noch viel zu tun. Die gleiche Bezahlung ist eine der Fragen, die in der Tat im Raum stehen. Hierbei gibt es zwei Sorten von Fragen. Die eine Frage ist: Wie werden welche Berufsgruppen bezahlt; und was bedeutet das, wenn es typische Frauen- und typische Männerberufe gibt? Und die andere ist, dass es immer noch – insbesondere im außertariflichen Bereich – verdeckte Ungleichbezahlungen gibt. Deshalb fand ich es ganz toll, dass Frau Rein darauf hingewiesen hat, dass in ihrem Unternehmen absolute Transparenz geübt wird. Das ist ganz wichtig. Wir müssen natürlich auch noch viele Rahmenbedingungen verbessern. Das „Gute-KiTa-Gesetz“ haben wir jüngst auf den Weg gebracht. Wir wollen bis 2022 noch einmal 5,5 Milliarden Euro in die Qualität der Kinderbetreuung investieren. Wir brauchen sehr variable und flexible Strukturen, um eben möglichst jeder Frau und jedem Mann eine echte Wahlmöglichkeit zu geben. Wir können Gerechtigkeit und Fairness in unserer Gesellschaft nur miteinander und nicht gegeneinander erreichen. Jede Frau in Deutschland soll ihren Weg gehen können – ob mit oder ohne Kinder, ob alleinerziehend oder in einer Partnerschaft, ob in Vollzeit oder Teilzeit arbeitend – und auch wieder zurückkehren können; Frau Peschel-Gutzeit hat recht –, ob als Mechanikerin oder Managerin, ob als Lehrerin oder Krankenschwester. Frauen und Männer sollen die gleichen Chancen haben, ihre Talente zu entfalten. Natürlich haben wir schon einiges erreicht seit Marie Juchacz, aber wir haben eben auch noch sehr viel zu tun. Vor allen Dingen dürfen wir keine Rückschritte hinnehmen. Und dabei spielt Politik natürlich eine zentrale Rolle. Deshalb ist der Bundestag in dieser Legislaturperiode kein Ruhmesblatt; ich habe eben darüber gesprochen. In der letzten Legislaturperiode waren noch 36,5 Prozent der Abgeordneten Frauen, jetzt sind es 30,9 Prozent. Das ist fast genau der Frauenanteil, den auch der Sudan in seinem Parlament hat. Ich glaube, dass wir uns damit wirklich nicht zufriedengeben können. Jetzt will ich nicht nur von Ruanda reden, bei denen immerhin 61 Prozent Frauen im Parlament sind, sondern vor allen Dingen eine strukturelle Sache hervorheben, die die Kommission der Afrikanischen Union betrifft. In dieser Kommission sind die Regionalbereiche Afrikas vertreten; und zwar jeweils mit einer Frau und einem Mann, so dass die Kommission qua Festlegung paritätisch besetzt ist, was ich für eine wirklich sehr gute Sache halte. Wir müssen aufpassen, dass wir in unserer manchmal fast überheblichen Art in Europa nicht immer denken, dass es woanders vielleicht noch nicht so gut ist. Die Frauen in Afrika spielen zum Beispiel eine ziemlich große Rolle. Und es ist auch richtig, dass wir sie über Entwicklungspolitik fördern. Nun brauchen wir nicht nur in den Bundestag zu gucken – in manchen Landtagen ist auch nur etwa ein Viertel der Abgeordneten weiblich; und das bei mehr als 50 Prozent Frauen in der Bevölkerung. Ich glaube, dass der Frauenanteil in den Parlamenten eine elementare Frage unserer Demokratie betrifft. Wir werden eben auch hier neue Wege beschreiten müssen. Ich bin, ehrlich gesagt, auch noch schockiert über die Zahl der Oberbürgermeisterinnen; das war mir gar nicht so präsent. Es ist auch wichtig, dass wir uns das noch einmal vor Augen führen. Umso schöner ist es, dass Frau Reker aus Köln heute bei uns ist. Vieles deutet also darauf hin, dass wir auch über neue Formen der Politik nachdenken müssen. Wir brauchen Formate, die in unser Jahrhundert passen. Und ich bin mir gar nicht so sicher, dass bei den Ortsvereinsversammlungen auch die Männer immer so glücklich sind, wenn alles samstagvormittags stattfindet. Also auch da brauchen wir uns ja nicht zu wundern. Wenn ich mir allein das Durchschnittsalter der Mitglieder meiner Partei vor Augen führe, dann schaue ich natürlich sehnsüchtig zu den Grünen. Bei uns sind die Mitglieder durchschnittlich über 60 Jahre alt, bei den Grünen 48,7. Aber selbst das liegt noch über dem Durchschnitt der deutschen Bevölkerung; und die hat schon mit das höchste Durchschnittsalter der ganzen Welt. Insofern: die Jugend muss ran. Und daher müssen auch jugendgemäße Formate gefunden werden. Und diese passen dann vielleicht sogar etwas besser mit den frauengemäßen Formaten zusammen. Es müssen also alle die Möglichkeit haben, sich zu beteiligen. Und man darf doch nicht darum herumreden: Die Quoten waren wichtig, aber das Ziel muss Parität sein – Parität überall, ob in der Politik, in der Wirtschaft, in der Verwaltung und eben auch in der Wissenschaft und im Übrigen auch im kulturellen Bereich. Wir haben neulich der 20 Jahre BKM – des Amtes der Kulturstaatsministerin – gedacht. Wenn Sie sich einmal anschauen, wie viele Dirigentinnen es gibt, wie viele namhafte Malerinnen und Frauen im künstlerischen Bereich, dann müssen Sie sich doch fragen, dass es doch nicht sein kann, dass Frauen da weniger talentiert sind. Auch da müssen wir ihnen durch gezielte Förderung Durchbruch verschaffen und Bekanntheit verschaffen, um voranzukommen. Das gilt wirklich für alle gesellschaftlichen Bereiche. Für den öffentlichen Dienst hat sich die Regierungskoalition zum Ziel gesetzt, bis 2025 eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in allen Führungspositionen zu erreichen. Wir sind davon zum Teil noch sehr weit entfernt, wissen aber auch um die Vorbildfunktion des öffentlichen Dienstes. Deshalb ist es, finde ich, eine gute Nachricht, dass im Bundeskanzleramt Frauen inzwischen vier von acht Stellen im Rang einer Abteilungsleitung innehaben. Darauf bin ich ein bisschen stolz. Bei uns in der Wirtschaft liegt immer noch vieles im Argen. In den USA sind in immerhin 90 Prozent der größten Börsenunternehmen mindestens zwei Frauen im Vorstand. In Großbritannien und Frankreich sind es rund 50 Prozent, in Deutschland dagegen nur magere 16,7 Prozent. Auch in der Wirtschaft sind wir also weit davon entfernt, vorhandene Fähigkeiten und Talente wirklich zu nutzen. Und das sollten und dürfen wir uns aber – auch mit Blick auf die demografische Entwicklung – wirklich nicht länger leisten. Es war ein richtiger Ansatz – Frau Giffey hat darüber berichtet –, mit dem Gesetz für mehr Frauen in Führungspositionen auch bei den Aufsichtsräten einen Schritt zu machen. Es ist in der Tat so, dass inzwischen niemand mehr behauptet, dass es keine Frauen für solche Positionen gäbe. Wir haben noch große Probleme bei mittelständischen Unternehmen; da müssen wir weitermachen. Und sollte es einmal dazu kommen, dass eine Frau an der Spitze eines DAX-Konzerns steht, dann sollte das doch keine Besonderheit sein, sondern der erste Schritt zur Normalität. Auch das müssen wir immer wieder sagen. Ich wünsche mir, dass es selbstverständlich wird, dass Frauen und Männer Erwerbs-, Erziehungs- und Hausarbeit gleichberechtigt aufteilen und niemand aufgrund seines Geschlechts in eine bestimmte Rolle oder Aufgabenverteilung gedrängt wird. Und ich wünsche mir, dass das alles nicht weitere 100 Jahre auf sich warten lässt. Denn die Gleichstellung von Frau und Mann ist ein wichtiger Indikator dafür, ob und wie gerecht eine Gesellschaft ist. Und wir sind, glaube ich, alle davon überzeugt, dass von der Gerechtigkeit in der Gesellschaft auch ihre Zukunftsfähigkeit abhängt. Und deshalb liegt diese gleichermaßen in den Händen von Frauen und Männern oder Männern und Frauen. Herzlichen Dank und danke dafür, dass wir hier zusammen sein können.
in Berlin
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung des „Forum de Paris sur la Paix“ am 11. November 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-eroeffnung-des-forum-de-paris-sur-la-paix-am-11-november-2018-1548456
Sun, 11 Nov 2018 16:09:00 +0100
Auswärtiges
Gedenken
Sehr geehrte Damen und Herren Präsidenten, lieber Emmanuel Macron, sehr geehrte Damen und Herren Ministerpräsidenten, Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herren, wir haben heute Morgen – und ich glaube, ich sage das im Namen aller – in einer bewegenden Zeremonie der Tatsache gedacht, dass am 11. November gegen 11 Uhr morgens vor genau 100 Jahren die Nachricht von einem Waffenstillstand an der Westfront die Runde machte. Meldereiter mit Trompeten haben damals den Waffenstillstand verkündet, Soldaten feierten. Wir haben vorhin noch einmal einen Rückblick auf die Gefühle erhalten. Für diesen Krieg musste damals ein neuer Begriff geschaffen werden. Das war der Begriff des Weltkriegs. In Frankreich und Großbritannien sagt man: der Große Krieg. Er sprengte alles, was sich die Menschheit bis dahin angetan hatte. Euphorie, Hurrarufe, die Propaganda vom schnellen Sieg standen am Anfang des Krieges. An seinem Ende standen 17 Millionen Tote. Wie konnte so etwas in fortgeschrittenen Staaten – in Staaten, die für sich von Aufklärung sprachen – eigentlich geschehen? Der technische Fortschritt wurde damals missbraucht. Massenvernichtungswaffen, Gas, Bomben, U-Boote wurden ohne jede Rücksicht auf Verluste eingesetzt. Zivilisatorische Grundsätze wurden komplett ignoriert. „Deutschland wurde geschlagen, wir alle haben verloren.“ – So drückte es General de Gaulle aus. Dieser Krieg mit seinem sinnlosen Blutvergießen zeigt, wohin nationale Selbstherrlichkeit und militärische Überheblichkeit führen können. Und er macht bewusst, welche verheerenden Folgen Sprachlosigkeit und Kompromisslosigkeit in Politik und Diplomatie haben können. Wir schauen heute, 100 Jahre später, zurück auf diesen Krieg. Wir gedenken der Opfer, der Frauen, Männer und Kinder. Wir gedenken der Soldaten, die an der Front ihr Leben ließen. Aber – und deshalb, lieber Emmanuel, bin ich dir so dankbar – dabei können wir nicht stehenbleiben, sondern wir müssen uns fragen: Was bedeutet das für uns heute? Wir alle hier wurden gebeten, ein Buch zur Bibliothek des Friedens beizusteuern. Ich habe Käthe Kollwitz’ Buch „Briefe an den Sohn“ ausgewählt. Eine große Künstlerin aus Deutschland schreibt über ihre beiden Söhne – über den einen Sohn, der in Belgien ganz früh in diesem Krieg gefallen ist, und ihr flehentliches Hoffen, dass der andere Sohn, ein Sanitäter, überleben möge. „Das Herz ist einem so entsetzlich schwer“ – schreibt sie. „Warum, warum bloß das Sterben dieser allerschönsten Jugend und das Lebenbleiben der Alten?“ Dass ich heute hier als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland stehe, ist eine Ehre für mich. Ich danke Emmanuel Macron auch für das, was wir gestern erleben konnten. Bis vor Kurzem stand in Compiègne, wo der Waffenstillstand vor fast 100 Jahren geschlossen wurde, „die Arroganz der Deutschen“ geschrieben; und an sie wurde erinnert. Diese Zeilen wurden jetzt durch „die Freundschaft“, durch „die Partnerschaft“ von uns ersetzt. Das ist ein großartiges Zeichen. Aber das ist natürlich auch Verpflichtung. Denn das ist heute alles andere als selbstverständlich, insbesondere nach dem Leid, das die Deutschen in zwei Weltkriegen über ihre Nachbarn, über Europa und die Welt gebracht haben. Es ist eine großherzige Einladung unter Freunden. Der Friede, den wir heute haben, den wir zum Teil schon als allzu selbstverständlich wahrnehmen, ist alles andere als selbstverständlich, sondern dafür müssen wir arbeiten. Deshalb möchte ich auch von meinen Sorgen sprechen, die sich für mich in unser heutiges Gedenken mischen – die Sorge etwa, dass sich wieder nationales Scheuklappendenken ausbreitet, dass wieder so gehandelt werden könnte, als könne man unsere wechselseitigen Abhängigkeiten, Beziehungen und Verflechtungen einfach ignorieren. Wir sehen doch, dass internationale Zusammenarbeit, friedlicher Interessenausgleich, ja, selbst das europäische Friedensprojekt wieder infrage gestellt werden. Wir sehen die Bereitschaft, Eigeninteressen schlimmstenfalls auch mit Gewalt durchzusetzen. Letztes Jahr wurden, Herr Generalsekretär der Vereinten Nationen, 222 gewaltsam ausgetragene Konflikte auf der Welt gezählt. – 222! Laut UNHCR waren weltweit 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht – mehr als zum Beispiel Frankreich Einwohner hat. Noch bedrückender werden diese Zahlen, wenn wir uns ansehen, wen die Konflikte am härtesten treffen. Mehr als eine Milliarde Kinder sind von aktuellen Konflikten betroffen. Kinder machen 52 Prozent der Flüchtlinge aus. Schätzungen zufolge werden bis zu 250.000 Mädchen und Jungen als Kindersoldaten missbraucht. Angesichts dessen, was wir erlebt haben, und angesichts der Tatsache, dass wir eigentlich denken, dass wir daraus Lehren gezogen haben, muss uns das fassungslos machen – genauso wie die Bilder aus Syrien und aus dem Jemen. Aber sie dürfen uns nicht sprachlos machen; und vor allem dürfen sie uns nicht tatenlos machen. Auch das ist doch eine Lehre aus der Geschichte. Wir dürfen uns nicht einfach mit den bewaffneten Konflikten abfinden – egal, wie nah oder fern von Europa sie ausgetragen werden. Kein Staat, keine Religion, keine Bevölkerungsgruppe und kein einzelner Mensch darf von uns abgeschrieben werden. Das heißt, wir müssen für eine politische Lösung in Syrien arbeiten. Verschiedene Gruppen tun dies, aber sie haben den Weg zueinander noch nicht gefunden. Wir, Emmanuel Macron und ich, haben uns neulich mit dem russischen Präsidenten und dem türkischen Präsidenten in Istanbul getroffen, um die verschiedenen Aktivitäten zusammenzubringen. Ich möchte Herrn de Mistura und den Vereinten Nationen für alles danken, was unternommen wird. Aber es bleibt noch ein steiniger Weg. Aber wir dürfen das Ziel nicht aufgeben. Während wir hier miteinander arbeiten und gedenken, müssen wir wissen, dass sich im Jemen die wahrscheinlich größte humanitäre Katastrophe abspielt, die im Augenblick auf der Welt stattfindet. Und nur die Tatsache, dass wir nur wenige Bilder sehen, hält uns davon ab, erschrocken zu sein. Aber die Abwesenheit von Bildern darf nicht zu Tatenlosigkeit führen. Deshalb hat hier am Rande – und ich bin dafür sehr dankbar – in vielen Gesprächen das Thema Jemen eine Rolle gespielt. Ich glaube, die Welt muss handeln, um hier zu einem Waffenstillstand und humanitärer Versorgung zu kommen. Liebe Freunde, mangelnde Bereitschaft und mangelnde Fähigkeit zum Dialog – genau daraus haben sich das Misstrauen und die Kriegslogik genährt, die 1914 eine ungeheure Gewaltmaschinerie in Gang gesetzt haben. Die Sprachlosigkeit – es gibt ein Buch über den Ersten Weltkrieg, das von „Schlafwandlern“ spricht –, war im Wesentlichen der Grund des kollektiven Versagens, das in die Krise und Katastrophe führte. Genau diesen Schluss hat damals der amerikanische Präsident Wilson gezogen. Mit seinen berühmten vierzehn Punkten sprach er sich unter anderem für einen allgemeinen Verbund von Nationen aus. Ein institutionalisierter Dialog sollte heilsamen Druck erzeugen, um künftigen Konflikten vorzubeugen. Wir alle wissen: Der Völkerbund wurde gegründet – und er scheiterte. Die Welt erlebte, wie Deutschland den Zweiten Weltkrieg entfesselte, den Zivilisationsbruch der Shoa verübte und den Glauben an die Menschlichkeit erschütterte. Danach war nichts mehr wie vorher. Es konnte und durfte ja auch nicht so sein. Die Antwort war die Gründung der Vereinten Nationen. Die Staatengemeinschaft schuf eine Rechtsordnung, einen Rahmen für internationale Zusammenarbeit. Beides wurde untermauert von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die die UN-Generalversammlung vor 70 Jahren verkündete. Ich frage mich oft: Stellen Sie sich einmal vor, wir müssten als heutige Staatengemeinschaft wieder so eine Erklärung für die Menschenrechte verabschieden; würden wir das schaffen? – Ich fürchte, nein. Deshalb sollten wir das, was damals nach dem unmittelbaren Erleben des Schreckens geschaffen wurde, hüten, schützen und fortentwickeln. Ich weiß auch, dass es schwer ist, rechtlich bindende Beschlüsse zu fassen. Aber es ist immerhin gelungen, das umfassende Gewaltverbot der UN-Charta, das Gewaltmonopol des UN-Sicherheitsrates zu schaffen, auch wenn dieser Sicherheitsrat leider häufig blockiert ist. Ich lese und spüre ja, dass viele sagen: Was leisten die Vereinten Nationen? Natürlich bleiben sie im Alltag – sie müssen es – hinter den Idealen zurück. Aber ist das ein Grund dafür, zu sagen, ohne die Vereinten Nationen würden wir besser leben? – Ich sage ein völlig klares Nein. Zerstören kann man Institutionen schnell, Wiederaufbauen ist unglaublich schwierig. Wir alle wissen doch: Was uns heute herausfordert, was uns gefährdet, das können wir in den allermeisten Fällen eben nicht national, sondern nur noch gemeinsam lösen. Deshalb müssen wir uns zu dieser Gemeinsamkeit bekennen. Daher verdienen Sie, sehr geehrter Herr Generalsekretär, lieber Antonio Guterres, jede Unterstützung – jede Unterstützung für das, das Sie alltäglich tun, genauso wie für die Reform der Vereinten Nationen. Wir müssen den Präventionsgedanken nach vorne stellen. Wir müssen verhindern, dass Konflikte entstehen. Dafür ist die Agenda 2030 mit den 17 globalen Nachhaltigkeitszielen ein guter Wegweiser. Wir wissen, dass wir Armut und Hunger bekämpfen müssen, wenn wir Frieden wollen. Wir wissen, dass wir Zugang zu Bildung schaffen müssen, dass wir die Natur schützen müssen und dass wir wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit stärken müssen. Wir wissen in Deutschland um diese Herausforderungen und freuen uns, zwei Jahre lang als nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats an dieser Agenda mitarbeiten zu können. Der Erste Weltkrieg hat uns gezeigt, in welches Verderben Isolationismus führen kann. Und wenn Abschottung vor 100 Jahren schon keine Lösung war, wie könnte sie es heute sein – in einer vielfach vernetzten Welt mit fünfmal so vielen Menschen auf der Welt wie damals? Deshalb haben wir für unsere G20-Präsidentschaft im vergangenen Jahr das Motto gewählt „Eine vernetzte Welt gestalten“. Wir werden auch eng mit der französischen G7-Präsidentschaft zusammenarbeiten, um diesen Gedanken voranzubringen. Eine enge internationale Zusammenarbeit auf der Grundlage gemeinsamer Werte, wie sie uns die UN-Charta vorgibt – das ist die einzige Möglichkeit, die Schrecken der Vergangenheit zu überwinden und eine vernünftige Zukunft zu gestalten. Meine Damen und Herren, liebe Freunde, wir Deutsche haben nach den Schrecken, die wir vor allen Dingen mit dem Zweiten Weltkrieg angerichtet haben, erlebt, dass uns die Hand zur Versöhnung gereicht wurde, dass man der jungen Bundesrepublik viel Vertrauen entgegenbrachte. Nur so wurde unser Weg in die Weltgemeinschaft überhaupt möglich. Und ein Kern davon wurde die deutsch-französische Freundschaft. Das haben wir vorausschauenden, mutigen Frauen und Männern wie Robert Schuman, Jean Monnet und Konrad Adenauer zu verdanken. Sie haben den Weg dazu geebnet, alte Rivalitäten hinter sich zu lassen und auf friedlichen Ausgleich und Zusammenarbeit zu setzen. Es erfordert Mut, wenn man politische Verantwortung trägt, zu den Menschen zu gehen und zu sagen: Ich muss einen Kompromiss machen. Aber Kompromisslosigkeit ist der sichere Weg in einen großen Unfrieden. Auch andere Nachbarn haben menschliche Größe und Mut zur Versöhnung gezeigt. Ich möchte an Władysław Bartoszewski aus Polen erinnern, der sich schon vor Kriegsende 1945 über eine künftige Verständigung zwischen Polen und Deutschen Gedanken gemacht hat. Heute sind wenige Vertreter aus Polen unter uns, weil Polen heute den 100. Jahrestag seiner Unabhängigkeit oder – mit dem Ende des Ersten Weltkriegs – eher die Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit feiert, weil es weit über 100 Jahre lang zwischen Deutschland und Russland geteilt war. Viel zu lang konnten viele Menschen in Europa am Friedensprojekt nicht teilhaben. Der Kalte Krieg hatte sie getrennt. Aber es ist so, dass wir in Europa die Erfahrung gemacht haben, auch wieder zusammenzukommen – wir Deutsche ganz besonders. Ich möchte Emmanuel Macron und den Initiatoren dieses Friedensforums dafür danken, dass es nicht nur Politiker sind, die hier mitmachen, sondern auch Nichtregierungsorganisationen, Verbände, Vereinigungen, Forscher, Bürgerinnen und Bürger. Denn Frieden kann kein Projekt nur von Politik sein, Frieden muss von den Menschen in unseren Ländern erarbeitet werden. Deshalb ist Friedensarbeit so vielfältig. Deshalb hoffe ich aus ganzem Herzen, dass dies keine Eintagsfliege ist, wie wir in Deutschland sagen würden, sondern dass daraus ein Prozess wird, dass aus diesem 100. Jahrestag des Waffenstillstands nach dem Ersten Weltkrieg ein Prozess für mehr Frieden wird. Ich mache mir keine Illusionen, dass dies ein komplizierter Weg ist. Aber wenn wir alle daran glauben, dass wir es gemeinsam anpacken müssen, dann haben wir eine Chance, eine bessere Welt zu gestalten. Und diese Chance müssen wir nach dem, was wir erlebt haben, nutzen. Herzlichen Dank.
in Paris
Rede der Kulturstaatsministerin bei der Verleihung des Preises der Deutschen Gesellschaft für Verdienste um die deutsche und europäische Verständigung
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-bei-der-verleihung-des-preises-der-deutschen-gesellschaft-fuer-verdienste-um-die-deutsche-und-europaeische-verstaendigung-1551704
Fri, 09 Nov 2018 12:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Vor wenigen Monaten habe ich in Jerusalem zusammen mit meiner israelischen Amtskollegin Miri Regev den deutsch-hebräischen Übersetzerpreis verliehen – eine gemeinsame Initiative unserer beiden Länder im Sinne der Verständigung: zur Würdigung der Verdienste jener Wortkünstler, die nicht nur Grenzen der Sprache, sondern auch Mauern aus Schuld und Schmerz überwinden helfen. „Kommt ein Pferd in die Bar“ heißt das Buch, dessen Übersetzung aus dem Hebräischen ins Deutsche ausgezeichnet wurde. Es ist der jüngste Roman des großen israelischen Schriftstellers David Grossman, kongenial übersetzt von Anne Birkenhauer. Darin geht es um schmerzende Erinnerungen und verdrängtes Leid, um die Einsamkeit in der Abschottung und das Ringen um eine Sprache der Wahrhaftigkeit, die Verständigung ermöglicht – um Leitmotive also, die sich wie ein roter Faden auch durch das Leben der drei beeindruckenden Persönlichkeiten ziehen, die wir heute mit dem Preis für deutsche und europäische Verständigung auszeichnen. Lassen Sie mich deshalb kurz von Dovele Grinstein erzählen, dem traurigen Clown in David Grossmans Roman „Kommt ein Pferd in die Bar“. Dovele hat zu seiner letzten Vorstellung als Stand-up-Comedian einen Jugendfreund eingeladen, einen pensionierten Richter, zu dem er seit Jahrzehnten keinen Kontakt hatte. „Ich möchte, dass Du mich siehst“, bittet er ihn. „Dass Du mich ganz genau anschaust, und dann sagst Du mir […], was Du gesehen hast.“ Ich möchte, dass Du mich siehst: Es ist eine urmenschliche Sehnsucht, die Dovele Grinstein da äußert – und doch hat er sein ganzes Leben lang nichts anderes getan, als sich in einer vom Trauma der Shoa geprägten und von Krieg und Terror gezeichneten Gesellschaft hinter der Grimasse des Komikers und den Zoten des Zynikers zu verbergen. Umso erschütternder ist die unerwartete Wende, die seine letzte Vorstellung unter den Augen des Jugendfreundes nimmt: Dovele fällt aus seiner Rolle. Die Fassade bröckelt. Zum Vorschein kommen lange verdrängte Kindheitserinnerungen und Narben, die er als Sohn zweier traumatisierter Holocaust-Überlebender davongetragen hat. Wer dieses Buch gelesen hat, meine Damen und Herren, der ahnt, welche Verheerungen das Trauma der Shoa in den Seelen und Familien der Überlebenden hinterlassen hat, und wieviel Kraft, Mut und Überwindung es kostet, in die Hölle der eigenen Erinnerungen zu schauen. Esther Bejarano, Margot Friedländer und Walter Frankenstein haben – wie Dovele Grinstein – irgendwann entschieden, die eigene Geschichte zu erzählen statt sie zu verdrängen, die schmerzenden Narben zu zeigen statt sie zu verbergen. Zu den traumatisierenden Erfahrungen, tief eingebrannt auch ins kollektive Gedächtnis jüdischer Menschen auf der ganzen Welt, gehören die Schikanen und Torturen der Pogromnacht heute vor genau 80 Jahren. Diese staatlich organisierten, verübten und befeuerten Gewaltverbrechen gegen Juden im gesamten damaligen Reichsgebiet haben sich im Rückblick als moralischer Dammbruch, als Übergang von Diskriminierung und Entrechtung zur systematischen Verfolgung und Ermordung – und damit als Fanal des Holocausts – erwiesen. Dabei war es das stille Einverständnis all derer, die gleichgültig blieben, feige wegsahen oder gar wohlwollend zusahen und sich beteiligten, das die Grenzen des Sagbaren und des Machbaren verschob – das stille Einverständnis der schweigenden Mehrheit, die zuließ und hinnahm, dass Freunde, Bekannte, Nachbarn, Geschäftspartner grausam und niederträchtig misshandelt wurden. Als „das schmerzhafte Ende aller Illusionen“ hat Margot Friedländer den 9. November in ihrer Autobiographie deshalb bezeichnet und in einem Interview dazu gesagt, ich zitiere: „Die Pogrome waren für uns der Anfang vom Ende (…). Nach der »Reichskristallnacht« wurde uns unmissverständlich klar: Niemand würde uns helfen. Hitler verschwindet nicht. Wir sind es, die gehen müssen. Die Zeit des Selbstbetrugs war vorbei.“ Margot Friedländer hat erlebt, wie ihr Vater – Inhaber eines Knopfgeschäfts in Berlin – wegen der Novemberpogrome zunächst untertauchte und wenige Monate später allein nach Belgien floh; ihrer Mutter gelang es nicht, Deutschland mit den beiden Kindern,mit Margot und ihrem Bruder Ralph, rechtzeitig zu verlassen. Esther Bejarano wurde nach den Novemberpogromen 1938 von ihren Eltern in ein Vorbereitungslager für die Emigration nach Palästina geschickt, zu der es wegen des Kriegsausbruchs 1939 nicht mehr kam. Walter Frankenstein sah die in ganz Berlin aufflammenden Brände in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 vom Dach des Waisenhauses, in dem er Zuflucht gefunden hatte. Zusammen mit anderen Jugendlichen stellte er sich brandschatzenden SA–Sturmabteilungs-Männern entgegen, die sich Zutritt verschafft hatten. Alle drei überlebten in den Jahren danach wie durch ein Wunder den barbarischen, antijüdischen Vernichtungsfeldzug der Nationalsozialisten. Alle drei mussten ertragen, dass die Nazis ihnen alles nahmen bis auf die nackte Existenz: Besitz, Heimat, Hoffnung, Würde, geliebte Angehörige und Freunde. Walter Frankenstein tauchte 1943 mit seiner jungen Frau und dem damals gerade einmal fünf Wochen alten Sohn unter und schaffte es, im Untergrund Hunger, Kälte und Verfolgung zu überleben – dank vieler glücklicher Zufälle, aber auch dank der Solidarität anderer Menschen, dank Hilfe und Unterstützung guter Freunde, aber auch völlig Fremder, die bereit waren, ihr Leben zu riskieren. Margot Friedländer entging, nachdem ihre Mutter und ihr Bruder 1943 nach Auschwitz deportiert worden waren, nur durch Zufall ihrer Verhaftung. Auch sie konnte sich dank einiger weniger couragierter Helferinnen und Helfer mehr als ein Jahr lang in Berlin verstecken, die letzten Worte ihrer Mutter im Ohr, die diese ihr über eine Nachbarin hatte ausrichten lassen. „Versuche, Dein Leben zu machen.“ Mit dem festen Willen, sich dieses Leben und das Vermächtnis ihrer Mutter nicht nehmen lassen, überstand sie das Konzentrationslager Theresienstadt. Esther Bejarano wurde 1943 in einem Viehwaggon nach Auschwitz deportiert und verdankt ihr Überleben einer Mischung aus Talent und Chuzpe: Als in Auschwitz ein Mädchenorchester gegründet und eine Akkordeonspielerin gesucht wurde, behauptete sie, die gut Klavier spielen und singen konnte, aber nie zuvor ein Akkordeon in der Hand hatte, auch Akkordeon spielen zu können. Im Orchester machte sie sich damit so unentbehrlich, dass sie, als sie an Typhus erkrankte, medizinisch versorgt statt vergast wurde. „Wir haben unsere Geschichte. Die in der Tat fürchterlich ist“, hat David Grossman über Dovele Grinstein, den vom Leben im Schutz der Komiker-Maske gezeichneten Protagonisten seines Romans, einmal gesagt, und ich zitiere weiter: „Sie (diese Geschichte) ist tragisch und ungeheuerlich. Aber vielleicht gibt es ja einen Zeitpunkt, an dem du auf deine Geschichte schauen kannst und nicht mehr das Opfer dieser Geschichte bist. Du kannst dich noch immer identifizieren mit dem Schmerz, dem Leid, der ganzen Tragik – aber du solltest dich nicht davon lähmen lassen.“ In Ihrem Leben, liebe Esther Bejarano, liebe Margot Friedländer, lieber Walter Frankenstein, gab es diesen Zeitpunkt, an dem Sie auf Ihre Geschichte schauen konnten und nicht mehr das Opfer dieser Geschichte waren. An dem Sie sich entschieden, diese Geschichte selbst in die Hand zu nehmen, statt sie zu verdrängen. Sie alle haben Deutschland – dem Land, das Ihnen alles genommen hatte – zunächst für Jahre, Jahrzehnte gar, den Rücken gekehrt. Sie alle kamen schließlich – sei es dauerhaft, sei es vorübergehend – zurück ins Land Ihres Leidens. Sie alle stellten sich dem Schmerz des Erinnerns. Sie alle übernahmen Verantwortung dafür, dass die schrecklichen Folgen des nationalsozialistischen Rassenwahns und die grauenhaften Auswüchse eines totalitären Staates nicht in Vergessenheit gerieten. Und Sie alle fanden Worte, die aus der Einsamkeit des Schweigens herausführten in das Miteinander der Verständigung. Du, liebe Margot, bist nach dem Tod Deines Mannes, der – nur allzu verständlich – Zeit seines Lebens keinen Fuß mehr auf deutschen Boden setzen wollte, in hohem Alter wieder heimisch geworden in der Heimat Deiner Kindheitsjahre und seit vielen Jahren als Zeitzeugin unermüdlich in ganz Deutschland unterwegs. Mit Deiner Kraft, Deiner Größe und Deiner Herzenswärme schaffst Du es, jungen Leuten das Engagement für Demokratie ans Herz zu legen. „Versuche, Dein Leben zu machen“, diese Worte Deiner Mutter klingen heute all jenen im Ohr, die Dir aufmerksam zugehört haben. Du machst nicht nur Dein Leben, Du machst, Du prägst auch unser Zusammenleben in einem demokratischen Deutschland, liebe Margot! Wie stolz wäre Deine Mutter auf Dich, die Du gerade Deinen 97. Geburtstag gefeiert hast! Ich gratuliere Dir noch einmal von Herzen! Auch Sie, lieber Walter Frankenstein, empfinden es heute als Ihre Pflicht gegenüber den Menschen, die Ihnen einst geholfen haben, mit jungen Leuten über Ihre Erinnerungen ins Gespräch zu kommen. Seit vielen Jahren nehmen Sie, obwohl auch Sie mittlerweile weit über 90 sind, die Strapazen des Reisens auf sich, um aus Schweden nach Deutschland zu kommen und Ihre Zuhörerinnen und Zuhörer davor zu warnen, was passieren kann, wenn man gleichgültig wegschaut, wenn man nicht wählen geht, wenn man nicht selbst denkt, sondern einem Führer glaubt und es sich als Teil der schweigenden Mehrheit bequem macht. Dass Sie Ihr Bundesverdienstkreuz, mit dem Deutschland Sie geehrt hat, in derselben Schatulle aufbewahren wie Ihren „Judenstern“, mit dem Deutschland Sie stigmatisiert hat, ist ein schönes Symbol der Hoffnung: ein Symbol der Hoffnung, dass es – im Sinne David Grossmans – möglich ist, die eigene Geschichte, wie leidvoll sie auch sein mag, selbst in die Hand zu nehmen. Dafür, liebe Esther Bejarano, haben Sie Ihre ganz eigene Sprache gefunden: die Sprache der Musik – jene Sprache, die Ihnen in Auschwitz das Leben rettete, weil sie (so unbegreiflich dieses Nebeneinander von Barbarei und Kultur auch ist!) selbst die Herzen der grausamsten Peiniger erreichte… . Seit mehr als 30 Jahren engagieren Sie sich als Kämpferin gegen das Vergessen und erheben Ihre Stimme nicht nur erzählend, sondern auch singend: Sie rappen, sie begeistern mit jiddischem Liedgut genauso wie mit Partisanenliedern und Liedern von Bertolt Brecht, Sie stehen sogar mit einer Hip-Hop-Band, der „Microphone Mafia“, auf der Bühne. Mit über 90 Jahren absolvieren Sie immer noch rund 90 Auftritte pro Jahr, und ich bin sicher: Ihre kraftvolle und ausdrucksstarke Stimme bleibt selbst jenen im Ohr, die mit bloßen Worten und Argumenten nur schwer erreichbar sind. Ich hoffe und bin zuversichtlich, dass Ihr Vermächtnis, verehrte Preisträgerinnen, verehrter Preisträger, in den Köpfen und Herzen Ihrer Zuhörerinnen und Zuhörer fortlebt – im Bewusstsein, dass es im Kampf gegen Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus, gegen Ausgrenzung und Diskriminierung der Stimme jedes und jeder einzelnen bedarf. Sie hatten die Größe, den Menschen im Land der Täter die Hand zur Verständigung zu reichen. Wir alle stehen damit in der Pflicht, Ihre Erinnerungen wach zu halten – in der Verständigung miteinander, in der Verständigung darüber, welches Land wir sein und wie wir als Gemeinschaft zusammenleben wollen. Dass dieser über viele Jahre gefestigte Grundkonsens heute bröckelt, dass rechtspopulistische Politiker öffentlichkeitswirksam eine „erinnerungspolitische Wende um 180-Grad“ (Bernd Höcke) fordern, dass nationalsozialistische Verbrechen relativiert und nationalsozialistisches Vokabular reanimiert wird, dass antisemitische und rassistische Ressentiments immer ungenierter öffentlich kundgetan werden, empfinde ich als ebenso beängstigend wie beschämend. Dieser Saat darf unsere Gesellschaft keinen Nährboden bieten! Esther Bejarano hat es so formuliert, ich zitiere: „Ihr habt keine Schuld an dieser Zeit. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über diese Zeit wissen wollt.“ Deshalb bin ich der Deutschen Gesellschaft sehr dankbar, lieber Herr Müntefering, dass sie mit ihrem Preis für Verdienste um deutsche und europäische Verständigung in diesem Jahr das Engagement dreier Stimmen gegen das Vergessen – stellvertretend für die wenigen, noch lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen – würdigt und damit der Geschichtsvergessenheit der Populisten und Nationalisten in Deutschland und Europa den Glauben an die Kraft des Erinnerns entgegen setzt. In Ihren Erinnerungen, in Ihrem Erzählen, liebe Margot Friedländer, liebe Esther Bejarano, lieber Walter Frankenstein, haben wir über Ihre bewundernswerte Kraft hinaus etwas sehen und erkennen dürfen, was aus meiner Sicht ebenso wichtig und bedeutsam ist wie die Lehren aus der Geschichte. Ich will es in den Worten sagen, die dem Jugendfreund Dovele Griensteins in David Grossmanns Roman als Zuschauer seiner letzten Vorstellung durch den Kopf gehen. Was wir sehen und erkennen durften ist, ich zitiere: „Die Ausstrahlung der Persönlichkeit (…), das innere Leuchten. Oder das innere Dunkel. Dieses Geheimnis, dieses Beben der Einmaligkeit. Alles, was jenseits der Worte liegt, die einen Menschen beschreiben, was auch tiefer geht als die Dinge, die ihm im Leben widerfahren (…) sind.“ Oder anders ausgedrückt: Wenn wir Sie anschauen und Ihnen zuhören, sehen wir all das, was die Nationalsozialisten Ihnen nehmen wollten, aber nicht nehmen konnten. „Dieses Geheimnis, dieses Beben der Einmaligkeit“ in jedem Menschen zu suchen und den einzelnen Menschen anzuschauen, genau das macht eine humane Gesellschaft aus. Ich danke Ihnen, liebe Esther Bejarano, liebe Margot Friedländer, lieber Walter Frankenstein, dass Sie uns mit Ihrem Engagement und Ihrem „inneren Leuchten“ daran erinnern. Herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung mit dem Preis für Verdienste um deutsche und europäische Verständigung!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel auf der Zentralen Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-auf-der-zentralen-gedenkveranstaltung-zum-80-jahrestag-der-reichspogromnacht-am-9-november-2018-1548196
Fri, 09 Nov 2018 11:43:00 +0100
keine Themen
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrter Herr Präsident des Bundestags, sehr geehrter Herr Präsident des Bundesrats, sehr geehrter Herr Schuster, Exzellenzen, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett, der Bundesregierung und den Landtagen, sehr geehrte Ehrengäste, 80 Jahre Pogromnacht – warum, meine sehr geehrten Damen und Herren, rede ich heute zu Ihnen über dieses Thema? Die erste offensichtliche Antwort ist die einfache Tatsache, dass die Pogromnacht heute 80 Jahre in der Vergangenheit liegt und es schon der Anstand gebietet, die Geschehnisse an einem Gedenktag auch durch die Bundeskanzlerin einzuordnen. Die Ereignisse der Novemberpogrome 1938 waren eine wichtige Wegmarke zum Zivilisationsbruch der Shoa. Die Folge waren sechs Millionen ermordete Juden und unsägliches Leid vieler weiterer Millionen Menschen. All dieses Leid kann man gar nicht benennen. Es fehlen mir hier die Worte. Deshalb rede ich heute vor allem aus einem anderen Grund zu Ihnen. Ich rede zu Ihnen, weil diese geschichtlichen Ereignisse – der Zivilisationsbruch der Shoa – einzigartig, singulär waren, also noch nie da gewesen in ihrer Form mit allen abscheulichen Facetten, endend in – wenn wir es zynisch formulieren – Fabriken für einen industrialisierten Massenmord oder – präzise gesagt – in Konzentrationslagern und Todeslagern. Ich möchte heute diesen Tag und diese Gelegenheit deshalb dazu nutzen, gemeinsam mit Ihnen über drei Aspekte nachzudenken: Wie kam es dazu? Wie hat die Mehrheit der Bevölkerung reagiert? Was können wir daraus lernen? Meine Damen und Herren, der 9. November 1938 war ein Tag in einer Reihe von Tagen und Nächten, in denen der Nationalsozialismus sein furchtbares Gesicht zeigte. Etwa 1.400 Synagogen, Gebetsräume und jüdische Versammlungsstätten wurden geplündert, zerstört und in Brand gesetzt. 7.500 Geschäfte von Juden wurden demoliert und ausgeraubt. Aus Nachbarn wurden Täter und Verbrecher. Viele bereicherten sich, hießen die Gewalt gut oder wurden selbst gewalttätig. Seit 1933 war der Antisemitismus an der Macht. Die neuen politischen Rahmenbedingungen ermöglichten vielen Deutschen das Ausleben lange gehegter Ressentiments, das Ausleben von Hass und Gewalt. Es blieb nicht bei der Zerstörung jüdischer Gotteshäuser, Geschäfte und Existenzen. Im November 1938 wurden etwa 400 Menschen ermordet oder in den Suizid getrieben. 30.000 Juden wurden in Konzentrationslagern inhaftiert, Hunderte von ihnen ermordet. Mit den Novemberpogromen war der Weg in den Holocaust vorgezeichnet. Wir Menschen, meine Damen und Herren, neigen an wichtigen Gedenktagen dazu, die Erinnerung ausschließlich auf diese Tage zu konzentrieren, und übersehen zu leicht, dass sie in der Regel nicht für sich stehen, sondern Teil eines Prozesses sind. Auch der 9. November stand nicht für sich. Wir alle wissen, was danach geschah – der Zivilisationsbruch der Shoa. Doch der Pogromnacht am 9. November 1938 ging auch etwas voraus, ohne dass sie nicht möglich gewesen wäre. Um das zu verstehen, lohnt ein Blick zurück in die Geschichte. Er kann im Rahmen einer solchen Rede selbstverständlich nur sehr kursorisch sein. Hass auf die Juden gab es in Europa seit dem Mittelalter. Bis weit in das 19. Jahrhundert wurde dieser Hass vornehmlich religiös begründet. Ende des 19. Jahrhunderts wurden mit der industriellen Revolution die sozialen Fragen drängend, die säkularen Nationalstaaten gewannen an Bedeutung. In diesem Zusammenhang entstand der, wie es hieß, rassisch motivierte Antisemitismus. Er zielt auf rassistische Ausgrenzung, auf Vertreibung und in letzter Konsequenz auf Vernichtung. In der Weimarer Republik durften Juden seit 1919 erstmals in höchste Staatsämter aufsteigen. Dennoch blieb Antisemitismus auf der Tagesordnung – besonders bei denen, die der Demokratie feindlich gegenüberstanden. Schon im Jahr 1920 veröffentlichte die NSDAP ihre sogenannten Lehr- und Grundsätze des Antisemitismus. Mit ihnen sollten die Juden davon ausgeschlossen werden, Staatsbürger zu sein. In den 20er Jahren, in denen die NSDAP diese Forderungen formulierte, standen viele Ereignisse für einen zunehmenden Antisemitismus – und zwar in Worten und Taten –, wie die Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau 1922 oder die Angriffe auf Juden im Berliner Scheunenviertel 1923. Wir sehen also schon an diesem knappen historischen Abriss, dass das Unheil des Nationalsozialismus wahrlich nicht über Nacht kam, sondern stetig heranwuchs. Meine Damen und Herren, warum spreche ich so ausführlich über all das, was vor dem 9. November 1938 geschah, also vor 85, 90 und 95 Jahren? Weil ich davon überzeugt bin, dass wir nur dann die richtigen Lehren für uns heute und in Zukunft ziehen können, wenn wir die Novemberpogrome 1938 als Teil eines Prozesses verstehen, dem mit der Shoa ein schreckliches Danach folgte, dem aber eben auch ein Davor vorausging. Weil wir so sehen können, wohin es führt, wenn – wie im Nationalsozialismus – ein zuvor strafbares Verhalten erst geduldet und schließlich zum erwünschten Verhalten erklärt wird. Vorher beziehungsweise immer schon gehegte Vorurteile konnten nun ungestraft in offene Gewalt umschlagen. Begleitet wurde dies von dem Wegschauen, dem Schweigen, der Gleichgültigkeit, vor allem aber auch dem Mitlaufen einer großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Mit der Befreiung Deutschlands im Mai 1945 und dem anschließenden Neubeginn änderten sich die politischen Rahmenbedingungen. Die normative Abgrenzung von Rassismus und Antisemitismus war fundamental. Aber Rassismus, Antisemitismus und Vorurteile verschwanden nicht einfach. Wenn wir heute – 80 Jahre nach den Novemberpogromen und fast 70 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland – die Lage betrachten, dann bietet sich uns ein zwiespältiges Bild. Es gibt in Deutschland wieder blühendes jüdisches Leben – ein unerwartetes Geschenk nach dem Zivilisationsbruch der Shoa. Doch zugleich erleben wir einen besorgniserregenden Antisemitismus, der jüdisches Leben in unserem Land und anderen sicher geglaubten Orten der Welt bedroht. Dieser Antisemitismus entlädt sich zunehmend offen in einer teils ungehemmten Hetze im Internet wie auch ganz allgemein im öffentlichen Raum. Leider haben wir uns beinahe schon daran gewöhnt, dass jede jüdische Einrichtung von der Polizei bewacht oder besonders geschützt werden muss – Synagoge, Schule, Kindergarten, Restaurant, Friedhof. Aber wir erschrecken uns über Angriffe auf Menschen, die eine Kippa tragen, und stehen fassungslos vor dem rechtsradikal motivierten Angriff auf ein jüdisches Restaurant im August dieses Jahres in Chemnitz. Das ist eine Form antisemitischer Straftaten, die schlimme Erinnerungen an den Beginn der Judenverfolgungen in den 30er Jahren wachruft. Aber solche Vorfälle müssen nicht nur die Überlebenden der Shoa alarmieren – sie sind furchtbar für uns alle. Doch unser Erschrecken und unsere Fassungslosigkeit reichen nicht aus. Auch mit der Einsetzung eines Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus – so richtig und nachvollziehbar das ist – ist es nicht getan. Denn wir müssen zwei bohrende Fragen beantworten. Erstens: Was haben wir wirklich aus dem Zivilisationsbruch der Shoa gelernt? Zweitens – damit verbunden –: Sind unsere demokratischen Institutionen stark genug, um ein weiteres Erstarken oder gar eine Mehrheitsfähigkeit des Antisemitismus in Zukunft zu verhindern? Vielleicht stellen wir uns für einen Moment vor, wie Menschen aus einer fernen Zukunft – sagen wir, im nächsten Jahrhundert – auf unsere heutige Welt schauen; auf eine Welt, die wieder bedroht ist, das Gemeinwohl aus dem Auge zu verlieren, weil sie Menschen aufgrund ihres Glaubens, ihrer Herkunft, ihres Andersseins ausgrenzt, ihnen einen Platz streitig machen will und sie bedroht. Wie also könnte in einer fernen Zukunft auf uns heute geschaut werden, wo sich der Umgang miteinander auf vielen Ebenen wieder deutlich verschärft? Wahrscheinlich mit völligem Unverständnis; und vielleicht auch mit Bedauern für uns heute, dass wir immer noch und wieder in der Gefahr stehen, schreckliche Fehler zu wiederholen und erfahren zu müssen, wohin die Spaltungsversuche einiger weniger führen können. Unser Grundgesetz zieht die Lehre aus dem Grauen des Nationalsozialismus und dem Scheitern der Weimarer Republik, indem es in Artikel 1, Absatz 1 feststellt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das muss unbedingt die Richtschnur unseres Handelns sein; und zwar sowohl politisch als auch gesamtgesellschaftlich. Was bedeutet das konkret? Erstens. Jeder Mensch ist einzigartig. Niemals dürfen Gruppen pauschal qualifiziert und unsere Gesellschaft in „Wir“ und „Ihr“, „Wir“ und „die Anderen“ unterteilt werden. Jeder hat das Recht und den Anspruch, von den staatlichen Institutionen als Individuum wahrgenommen und behandelt zu werden. Zweitens. Die Demokratie ist die beste aller denkbaren gesellschaftlichen Ordnungen, auch wenn das Leben in ihr manchmal kompliziert ist. Die Demokratie ist mehr als die Absicherung von Mehrheiten. Sie setzt auf Balance und Ausgleich von Mehrheit und Minderheit, Regierung und Opposition. Sie setzt auf die Teilung der Gewalten und braucht die Freiheit von Presse, Meinung und Kunst wie der Mensch die Luft zum Atmen. Die Demokratie schützt Minderheiten. Das bedeutet, dass bestmögliche Teilhabe aller am gesellschaftlichen Leben gewährleistet werden muss. Drittens. Der Staat muss entschlossen und konsequent gegen Verunglimpfung, Ausgrenzung, Antisemitismus, Rassismus und Rechtsradikalismus vorgehen. Ebenso muss der Staat konsequent handeln, wenn Hass auf Juden und Hass auf Israel verbal und nonverbal von in unserem Lande lebenden Menschen ausgeht, die von einem anderen religiösen und kulturellen Hintergrund geprägt worden sind. Konkret: So wie es niemals einen Generalverdacht gegen muslimische Menschen geben darf, wenn im Namen ihrer Religion Gewalt verübt wird, so ist zugleich klar, dass sich jeder, der in unserem Land lebt, zu den Werten unseres Grundgesetzes bekennen muss. Viertens. Bildungsarbeit hat den Auftrag, heutige antisemitische Angriffe und Ausschreitungen immer auch in einen historischen Zusammenhang zu stellen. Dazu ist geschichtliches Wissen, ist ein kritisches Geschichtsbewusstsein unverzichtbar. Ich zitiere den Historiker Professor Norbert Frei: „Denn das hat man nicht, sondern das erarbeitet man sich immer wieder neu. In diesem Sinne muss sich auch jede Generation aufs Neue um ein kritisch-aufgeklärtes Verhältnis zu unserer Vergangenheit bemühen. Wo dies geschieht,“ – so Norbert Frei weiter – „wird historisches Gedenken kein leeres Ritual. Sondern die Geschichte bleibt bedeutungsvoll, und es können sogar neue Fragen und Perspektiven entstehen.“ Fünftens. In diesem Zusammenhang kommt der Erinnerungsarbeit eine grundsätzliche Bedeutung zu. Bei der Verleihung des diesjährigen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat das mit dem Preis ausgezeichnete Forscherehepaar Jan und Aleida Assmann auf die Bedeutung unseres kulturellen, unseres nationalen Gedächtnisses hingewiesen. Unsere Nation wird von ihnen beschrieben als „ein Verbund von Menschen, die sich auch an beschämende Episoden ihrer Geschichte erinnern und Verantwortung übernehmen für die ungeheuren Verbrechen, die in ihrem Namen begangen wurden“. An Tagen wie heute innezuhalten und uns gemeinsam zu erinnern, ist deshalb wichtig. Ebenso, dass das Gedenken Orte braucht, die davon erzählen, was geschehen ist, und Orte, die an die Opfer erinnern und die Täter klar benennen – zum Beispiel das Denkmal für die ermordeten Juden Europas im Zentrum unserer Hauptstadt. Der unterirdische Ort der Information versucht, die Dimension der Shoa deutlich zu machen. Deshalb werden dort viele einzelne Namen genannt, um so – ich zitiere – „die unfassbare Zahl von sechs Millionen getöteten Juden in ihrer Abstraktion aufzulösen und die Opfer aus ihrer Anonymität zu befreien“. Denn es geht um Menschen. Jeder einzelne von ihnen hatte einen Namen, eine einzigartige Würde und Identität. An diese Identität und Würde zu erinnern, hilft, nicht im Verlust stehenzubleiben. Es hilft, die Erinnerung nicht vom gegenwärtigen Leben abzukoppeln, sondern in unserem gegenwärtigen Leben immer wieder die Verbindung zur Vergangenheit herzustellen und darauf gründend die Zukunft zu gestalten – eine Zukunft, in der wir in jedem Menschen einen Menschen erkennen und uns von Mensch zu Mensch begegnen. Meine Damen und Herren, heute leben wir einmal mehr in einer Zeit tiefgreifender Veränderungen. Rasante technologische Umbrüche machen Menschen Sorgen. Durch die Beschleunigung der Globalisierung und den digitalen Fortschritt fühlen sich nicht wenige zurückgelassen. In solchen Zeiten ist die Gefahr immer besonders groß, dass diejenigen Zulauf bekommen, die mit vermeintlich einfachen Antworten auf die Schwierigkeiten und Folgen der Umbrüche reagieren – einfache Antworten, die zu häufig auch mit einer Verrohung der Sprache auf den Straßen wie auch im Netz einhergehen. Das ist der Anfang, dem wir ganz entschieden entgegentreten müssen. Deshalb gedenken wir heute mit dem Versprechen, dass wir uns den Angriffen auf unsere offene und plurale Gesellschaft entschlossen entgegenstellen. Wir gedenken mit dem Wissen, dass Grenzüberschreitungen und Verbrechen zuzuschauen in letzter Konsequenz bedeuten, mitzumachen. Wir gedenken in der Überzeugung, dass die demokratische Mehrheit wachsam bleiben muss. Es braucht normative Grenzziehungen. Der Rechtsstaat darf keine Toleranz zeigen, wenn Menschen aufgrund ihres Glaubens oder aufgrund ihrer Hautfarbe angegriffen werden. Meine Damen und Herren, diese Schlüsse zu ziehen, ist unsere Aufgabe nicht allein an einem solchen Gedenktag. Wir sollten jeden Tag darüber nachdenken. Lassen Sie uns alle jeden Tag mit dem Verständnis von heute daran arbeiten, dass so etwas wie vor 80 Jahren nie wieder passiert. Das ist die Botschaft und die Essenz unseres heutigen Gedenkens. Herzlichen Dank.
in Berlin
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Verleihung des Deutschen Buchhandlungspreises 2018 in Kassel
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-verleihung-des-deutschen-buchhandlungspreises-2018-in-kassel-1547586
Wed, 31 Oct 2018 19:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Streichen Sie mich aus Ihrem Verlag und aus Ihrem Gedächtnis. Ich war sicher einer der unkompliziertesten Autoren, die Sie jemals gehabt haben“, erzürnte sich der Schriftsteller Thomas Bernhard in einem Brief aus dem Jahr 1988 an seinen Verleger Siegfried Unseld. Es war das Ende einer komplizierten Beziehung, die der Schriftsteller einmal sogar als „gegenseitige Hassliebe“ beschrieb. Bekanntermaßen ist die Beziehung zwischen Autoren und ihren Verlegern wirklich nicht immer die einfachste – vor allem dann, wenn es um Geld und um Verkaufszahlen geht. Weit unkomplizierter, ja geradezu harmonisch, ist das Verhältnis der Schriftsteller in der Regel zu den Buchhändlern. Vermutlich pflegt fast jede Autorin, fast jeder Autor enge, oft freundschaftlichen Kontakt mit (mindestens) einer Buchhändlerin oder einem Buchhändler – und das nicht nur, weil Schreibende meist auch selbst leidenschaftliche Leserinnen und Leser sind, sondern auch weil sie sie lieben für ihre Lesereisen und Signierstunden und für die kulturelle Vermittlungsleistung der Buchhandlungen. Diese Leistung wollen wir heute einmal mehr würdigen. Ich heiße Sie alle herzlich willkommen zur Verleihung des Deutschen Buchhandlungspreises. Für die Gastfreundschaft hier in der herrlich gelegenen Stadt an der Fulda danke ich Ihnen, liebe Kasseler, ganz herzlich. Als Kunstliebhaberin komme ich immer wieder gerne in die „documenta-Stadt“, die alle fünf Jahre ihre Türen für die weltweit bedeutendste Messe für zeitgenössische Kunst öffnet. Als ich im vergangenen Jahr die documenta besuchte, hat mich vor allem der „Parthenon der Bücher“ der argentinischen Konzeptkünstlerin Marta Minujin beeindruckt. Sie errichtet ihre Installation aus Büchern, die weltweit auf den Zensurlisten diverser Regime standen – oder immer noch stehen – und setzt so ein Zeichen gegen Zensur und Verfolgung. Mitten auf dem Friedrichsplatz, auf dem die Nazis 1933 Bücher verbrannten, war dieses großartige Kunstwerk, dessen Bilder um die Welt gingen, nicht zuletzt auch ein Zeichen dafür, dass Kassel nicht „nur“ eine Stadt der Kunst, sondern eben auch eine Stadt der Bücher ist. Heute prägen das Bild der Kulturstadt Kassel – und auch darüber hinaus – zahlreiche Bibliotheken, Archive und Buchhandlungen mit ihrem wunderbar vielseitigen Angebot, mit exzellenter Beratung und mit interessanten Veranstaltungen. Und eine davon gehört auch zu den diesjährigen Preisträgern! Ob in Kassel, in Konstanz oder in Köthen: Landauf, landab verschaffen die unabhängigen, inhabergeführten Buchhandlungen Büchern Resonanz und machen sich damit nicht nur um die Lesekultur, sondern auch um die literarische und kulturelle Vielfalt verdient. Um ihnen den Rücken zu stärken, würdigen wir mit dem Deutschen Buchhandlungspreis Buchhändlerinnen und Buchhändler, die dem Online-Handel mit originellen Geschäftsideen begegnen. Der Deutsche Buchhandlungspreis ist mit insgesamt einer Million Euro ausgestattet. In diesem Jahr zeichnen wir bundesweit 118 Buchhandlungen in vier Kategorien aus, die Gewinner dürfen sich über Prämien in Höhe von jeweils 25.000 Euro, 15.000 und 7.000 Euro sowie die Verleihung eines Gütesiegels freuen. Auch in diesem Jahr haben wir dafür eine unabhängige Jury, bestehend aus kompetenten Experten aus dem Verlags- und Medienwesen, Mitgliedern des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels sowie Schriftstellern berufen. Mit großem zeitlichen und ideellen Engagement ist es dieser gelungen, aus der Fülle hervorragender Bewerbungen eine herausragende Auswahl zu treffen – liebe Frau Kegel, liebe Jury – herzlichen Dank für diese Leistung, aber auch für Ihre Hingabe an das Buch und für Ihr ehrenamtliches Engagement! Danken möchte ich natürlich auch unseren hilfsbereiten und zuverlässigen Partnern des Deutschen Buchhandlungspreises: der Kurt Wolff Stiftung und dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V.: Ich bin froh, dass wir alle miteinander an einem Strang ziehen, um die inhabergeführte Buchhandlungen zu stärken und das deutschlandweite Netz „geistiger Tankstellen“ zu erhalten. Ihr Selbstverständnis, liebe Buchhändlerinnen und Buchhändler, hat eine der ersten weiblichen Buchhändlerinnen der USA – Madge Jenison – zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr schön beschrieben. Jenison schuf damals eine noch neue Art Buchhandlung, in der Lesungen stattfanden und Menschen zusammenkamen, um sich über Literatur und Kultur auszutauschen. Ihre Buchhandlung beschrieb sie als einen, ich zitiere: „magischen Ort, der sich von anderen abhob und in dem schon der Kauf eines Buches zu einem aufregenden Erlebnis wurde.“ Ja, man könnte auch sagen: Ihre Buchhandlung war ihre ganz spezielle Liebeserklärung an die Welt der Bücher. Aufregende Erlebnisse an magischen Orten – liebe Buchhändlerinnen und Buchhändler, diese verdanken zahlreiche Leserinnen und Leser in Deutschland auch Ihrer großartigen Arbeit, Ihren persönlichen Liebeserklärungen an die Welt der Bücher! Sie, die Sie den Kanon der Weltliteratur ebenso wie bedeutende Neuerscheinungen kennen, verführen zum Lesen und geben mit Ihren Empfehlungen Orientierung in der Fülle des vorhandenen Lesestoffs. Dafür danke ich Ihnen allen von Herzen – sowohl von Amts wegen, als Kulturstaatsministerin, aber auch als leidenschaftliche Leserin. Danke, dass Sie Flagge zeigen für das Kulturgut Buch! Sie, die Buchhändlerinnen und Buchhändler, sind es, die dafür sorgen, dass es auch abseits der Bestsellerlisten Aufmerksamkeit gibt für lesenswerte Bücher: für außergewöhnliche Geschichten, für ungehörte – und unerhörte – Stimmen, für neue Perspektiven. Bei Ihnen sind Bücher eben nicht nur bloße Handelsware und Konsumgut, sondern Liebhaberstücke und Kulturgut. Flagge zeigen will auch die Kulturpolitik des Bundes – Flagge zeigen für eine vielfältige, prosperierende Buch- und Verlagsbranche. Deshalb setzen wir uns beispielsweise im Rahmen der Urheberrechtsreform auf europäischer Ebene dafür ein, dass Autoren und Verleger von den Früchten ihrer Arbeit auskömmlich leben können – gerade auch im digitalen Zeitalter. Bereits erfolgreich waren wir im Bemühen um die reduzierte Mehrwertsteuer, die jetzt auch für elektronische Publikationen möglich werden soll! Das hat der EU-Finanzministerrat Anfang Oktober beschlossen. Und wir verteidigen die Buchpreisbindung – als eines der erfolgreichsten Instrumente zur Sicherung der kulturellen Vielfalt im Buch- und Verlagswesen. Sie ist unerlässlich, und ich werde weiterhin mit Nachdruck für ihren Erhalt eintreten. Schön ist, dass wir vor zwei Jahren gesetzlich klarstellen konnten, dass auch E-Books der Buchpreisbindung unterliegen. Vielleicht beeindruckt das eines Tages auch die Monopolkommission… Darüber hinaus wird es in naher Zukunft noch ein weiteres Instrument geben, das unabhängige Verleger und Buchhändler gleichermaßen unterstützen soll: Ich werde – ermutigt durch den Erfolg unseres Deutschen Buchhandlungspreises und nach dessen Vorbild – einen Deutschen Verlagspreis ausloben. Er soll die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung der unabhängigen Verlage, ihr Profil, ihr Engagement und ihre Rolle für unsere demokratische Debattenkultur würdigen. Dass ein Buch weit mehr ist als eine Handelsware, dass es weit mehr ist, als bedrucktes Papier in einem festen Einband – das wissen all jene, die ihr Smartphone oder ihren Laptop abends auf dem Sofa oder morgens auf dem Balkon zur Abwechslung einmal zur Seite legen und sich stattdessen auf die Ruhe, auf die wohltuende Langsamkeit und auf die kontemplative Kultur des Bücher-Lesens einlassen. „Das Glück stellt sich für einen Menschen, der Leser ist, beim Lesen ein. Wenn er dann ein Buch zu Ende gelesen hat, ist er wie auf einem Nachhauseweg, und das glücklich gelesene Buch wird diesen Menschen von nun an in ein neues Leben begleiten“, hat der Schriftsteller Arnold Stadler einmal geschrieben. Es ist mir eine große Freude, dass wir mehr als hundert Buchhändlerinnen und Buchhändler in diesem Jahr auszeichnen dürfen. Auf dass der Preis Sie weiterhin dazu motiviert, denen, die bereits Leser sind, oder denen, die es dank Ihrer überzeugenden Vermittlung erst werden, ebensolche Glücksmomente und literarische Lebensbegleiter zu schenken. Herzlichen Glückwunsch zum Deutschen Buchhandlungspreis!
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der Sonderausstellung „,Kristallnacht‘ – Antijüdischer Terror 1938“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-sonderausstellung-kristallnacht-antijuedischer-terror-1938–1548880
Tue, 06 Nov 2018 10:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Gedenken
Vor fünf Jahren erlangte ein Sauna-Wellnesspark im thüringischen Bad Klosterlausnitz für ein paar Tage bittere Berühmtheit: „(G)enießen Sie die Abendstunden im romantischen Licht der Kerzen und entspannen Sie bei heißen Aufgüssen“, hieß es auf seiner Website. Eingeladen wurde zu einer „lange(n) romantische(n) Kristall-Nacht“: ein geschichtsvergessenes Wortspiel mit dem Firmennamen „Kristalltherme“, ausgerechnet am 75. Jahrestag der Novemberpogrome. Dass die Veranstalter sich angesichts einer Welle öffentlicher Empörung in aller Form entschuldigten, das Fehlen böser Absicht beteuerten und sich reuig und zerknirscht zeigten, macht den Sachverhalt nicht erträglicher. Denn beschämend und inakzeptabel ist nicht nur das absichtsvolle Verhöhnen, sondern auch das absichtslose Vergessen der Opfer des 9. November 1938. Auch das Vergessen verlangt entschiedenes Dagegenhalten in Wort und Tat. Ein Beitrag zur Erinnerung, ein Beitrag gegen das Vergessen ist die Ausstellung „,Kristallnacht‘ – Antijüdischer Terror 1938“, die wir heute anlässlich des 80. Jahrestages der sogenannten Reichspogromnacht eröffnen: Die gemeinsam von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Stiftung Topographie des Terrors erarbeitete Sonderausstellung vergegenwärtigt die Schikanen und Torturen, der die jüdische Bevölkerung in jenen Novembertagen des Jahres 1938 ausgesetzt war. Sie erinnert an die von den Nationalsozialisten organisierten, verübten und befeuerten Gewaltverbrechen gegen Juden im gesamten damaligen Reichsgebiet, die sich im Rückblick als moralischer Dammbruch, als Übergang von Diskriminierung und Entrechtung zur systematischen Verfolgung und Ermordung – und damit als Fanal des Holocausts – erwiesen haben. Sie schärft damit auch das Bewusstsein für die Rolle der schweigenden Mehrheit, die zuließ und hinnahm, dass Freunde, Bekannte, Nachbarn, Geschäftspartner grausam und niederträchtig misshandelt wurden – obwohl es, auch das zeigt die Ausstellung, durchaus Raum für Zivilcourage gab. Das stille Einverständnis all derer, die gleichgültig blieben, feige wegsahen oder gar wohlwollend zusahen und sich beteiligten, dieses Einverständnis verschob die Grenzen des Sagbaren und des Machbaren, mit allen schrecklichen Konsequenzen … . So lehrreich wie die historischen Fotoserien, die schlaglichtartig einzelne Verbrechen dokumentieren, so aufschlussreich fand ich bei meinem Rundgang auch den zweiten Schwerpunkt der Ausstellung: die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Gedenkens an die Reichspogromnacht zunächst in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR, später im wiedervereinigten Deutschland. Die innere Verfasstheit einer Gesellschaft zeigt sich ja nicht nur in der Kette historischer Ereignisse, die sich im kollektiven Gedächtnis zu dem formen, was wir unsere Geschichte nennen. Sie offenbart sich auch in der Form und Perspektive des Erinnerns, ja selbst in den Begriffen, in der Art und Weise des Sprechens über vergangene Ereignisse. Dass der bis dato etablierte Begriff „Kristallnacht“ in den 1970er Jahren zunehmend als verharmlosend empfunden und durch die Bezeichnungen „Reichspogromnacht“, später „Novemberpogrome“ abgelöst wurde (mittlerweile ist auch von „November-Terror“ die Rede), ist keine semantische Petitesse, die nur Historiker etwas angeht, sondern Ausdruck des erinnerungspolitischen Ringens um die richtigen Lehren aus der Vergangenheit. Dabei war die öffentliche Debatte – wie übrigens auch die Arbeit deutscher Parlamente – über Jahrzehnte von einem stabilen erinnerungspolitischen Grundkonsens geprägt: vom Bewusstsein der immerwährenden historischen Verantwortung Deutschlands, die von den Nationalsozialisten verübten Menschheitsverbrechen aufzuarbeiten, die Erinnerung an die Opfer wach zu halten und aus dem Bewusstsein dieser Verantwortung heraus mit aller Kraft gegen Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Diskriminierung vorzugehen. Dass dieser Grundkonsens heute bröckelt, dass rechts-populistische Politiker öffentlichkeitswirksam eine „erinnerungspolitische Wende um 180-Grad“ fordern, dass nationalsozialistische Verbrechen relativiert und nationalsozialistisches Vokabular reanimiert wird, dass antisemitische und rassistische Ressentiments immer ungenierter öffentlich kundgetan werden, empfinde ich als ebenso beängstigend wie beschämend. Dieser Saat darf unsere Gesellschaft keinen Nährboden bieten! Deshalb bleibt die Arbeit der Gedenkstätten und Dokumentationszentren, die über die Ursachen und Folgen der nationalsozialistischen Terrorherrschaft informieren und ihre Relevanz für die Gegenwart vermitteln, von immenser Bedeutung. Der Erinnerung an die Zeit Raum zu geben, in der das nationalsozialistische Deutschland Millionen Menschen – wie auch die Würde des Menschen – der Verachtung und Vernichtung preisgab, kann aufklären über die Folgen totalitärer Ideologien. Die Erinnerung an diese Zeit kann auch sensibilisieren für die unterschätzten Wegbereiter totalitärer Ideologien: für die Verrohung der Sprache beispielsweise, für die Verharmlosung der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen, für Fehlinformationen, die Vorurteile nähren, und für das Schweigen aus Gleichgültigkeit oder Feigheit. Deshalb fördert die Bundesregierung bundesweit Gedenkstätten und Erinnerungsorte und wird dieses Engagement weiter verstärken, um noch mehr als bisher vor allem die junge Generation zu erreichen. Mit dem im Koalitionsvertrag vereinbarten Programm „Jugend erinnert“, für das in der Anlaufphase im kommenden Jahr zwei Millionen Euro in meinem Etat bereitstehen, wollen wir Jugendlichen und jungen Erwachsenen einprägsame und damit dauerhaft wirksame Lernerfahrungen ermöglichen: mit der Unterstützung und Erweiterung qualifizierter Formate historisch-politischer Bildung der Gedenkstätten und Erinnerungsorte, die es ermöglichen, in kleinen Gruppen für mindestens einen Tag intensiv mit den jungen Leuten zu arbeiten. Außerdem konnte ich im Regierungsentwurf für den Haushalt 2019 insgesamt 22 neue Pädagogenstellen für die Gedenkstätten durchsetzen – eine substantielle Unterstützung ihrer wertvollen pädagogischen Arbeit und ein weiterer Beitrag gegen das Vergessen. „Wir schritten durch eine schweigende Stadt“, schrieb der ehemalige Rabbi in Bremen, Felix Aber, über den antijüdischen Terror im November 1938 in einem 1958 veröffentlichten Erfahrungsbericht. Er beschreibt darin den Marsch von 178 Männern, die in der Nacht zum 10. November 1938 in Bremen festgenommen und durch die Stadt ins Zuchthaus Oslebshausen getrieben wurden. „Schweigende Städte“ bei antijüdischem Terror darf es in Deutschland nie wieder geben. Deutschland darf nie wieder ein Land sein, in dem Hass und Hetze gegen Minderheiten auf eine schweigende Mehrheit treffen – weder auf Schulhöfen noch auf öffentlichen Plätzen, weder auf Demonstrationen noch in Moscheen, Parteien oder Konzerthallen. Die Ausstellung „,Kristallnacht‘ – Antijüdischer Terror 1938“ führt uns vor Augen, wohin Antisemitismus gepaart mit Gleichgültigkeit führen kann. Ich wünsche ihr viele interessierte Besucherinnen und Besucher, die sich von ihr zum Aufstehen gegen Hass und Ausgrenzung, zum couragierten Eintreten für Mitmenschlichkeit und Solidarität aufgerufen und ermutigt fühlen!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung der Goldenen Victoria im Rahmen der Publishers‘ Night am 5. November 2018 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verleihung-der-goldenen-victoria-im-rahmen-der-publishers-night-am-5-november-2018-in-berlin-1546144
Mon, 05 Nov 2018 20:58:00 +0100
Berlin
Auswärtiges
Majestät, Exzellenzen, sehr geehrter Herr Thiemann, liebe Frau Guillaume-Grabisch, liebe Angehörige von Ján Kuciak und Daphne Caruana Galizia, sehr geehrte Damen und Herren, ich durfte ja schon einige Male bei der Publishers‘ Night dabei sein, heute Abend aber bin ich ganz besonders gern hier bei Ihnen. – Ich habe eben den Bundespräsidenten a.D. vergessen. Das darf eigentlich nicht geschehen, daher begrüße ich ihn, der im Übrigen mehr als richtigerweise auch ein Inhaber der Goldenen Victoria ist, nun ganz besonders. Es ist mir eine große Ehre, die Goldene Victoria des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger zu erhalten. Und es ist mir eine große Freude, dass dies mit Worten geschieht, wie Sie sie gefunden haben, liebe Königin Rania. Haben Sie ganz, ganz herzlichen Dank dafür – auch dafür, dass Sie sich auf die Reise von Jordanien nach Berlin gemacht haben. Majestät, erst vor wenigen Monaten war ich wieder in Ihrem Land Jordanien zu Besuch. Ich verfolge sehr aufmerksam, welche Entwicklung Ihr Land nimmt. Wir sehen auch, wie sehr Ihnen ganz persönlich Bildung und Menschenrechte am Herzen liegen und wie sehr Sie sich gegen Extremismus und für Toleranz stark machen. Ihr Land Jordanien leistet gerade auch bei der Aufnahme von Flüchtlingen vor allem aus Syrien oder auch dem Irak Beeindruckendes – vor allem wenn man sich das Verhältnis der Zahl der Flüchtlinge zur Zahl der einheimischen Bevölkerung vor Augen führt; Sie haben es eben noch einmal gesagt. Es stünde uns in Europa gut zu Gesicht, wenn wir diese Leistung noch sehr viel stärker würdigen würden. Meine Damen und Herren, die Victoria ist eine Siegesgöttin, aber sie ist nicht zwangsläufig auch immer eine Siegesgarantin. Das gilt auch mit Blick auf die Werte, die hier heute Abend besonders gewürdigt werden: die Werte der Meinungs- und Pressefreiheit. Wir wissen nur zu gut, dass Werte, die einem gedeihlichen und friedlichen Zusammenleben zugrunde liegen, stets und immer wieder aufs Neue verteidigt werden müssen. Wir wissen um die Werte, die eine demokratische Gesellschaft auszeichnen. Und diese Werte verteidigen wir in der Politik, in der Gesellschaft und in den Medien. Medien dienen der Information und Kommunikation, aber nicht allein. Sie sind keine Ware wie jede andere, denn die Entwicklung freiheitlicher demokratischer Gesellschaften einerseits und die freie, unabhängige Medienarbeit andererseits bedingen einander. Natürlich lässt sich auch über die Qualität von Medien trefflich streiten. Mir gefällt auch nicht immer, was ich sehe, höre oder lese. Unstrittig aber ist, was der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Albert Camus einmal mit folgendem Satz feststellte: „Eine freie Presse kann gut oder schlecht sein, aber eine Presse ohne Freiheit kann nur schlecht sein.“ Dass Journalisten frei arbeiten können, bedeutet auch, dass sie frei von Angst, frei von Bedrohung und Gewalt arbeiten können. Es ist traurig, das betonen zu müssen. Aber genau das müssen wir wieder und wieder. Denn es sind ja vor allem Freiheitsverächter, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Daher ist es ein gutes, ein wichtiges, ein starkes Zeichen, dass der VDZ heute die beiden ermordeten Journalisten Daphne Caruana Galizia aus Malta und Ján Kuciak aus der Slowakei posthum mit der Goldenen Victoria für Pressefreiheit auszeichnet. Jeder von uns, der sich demokratischen Werten und den Menschenrechten verpflichtet fühlt, kann und darf nicht akzeptieren, dass Journalisten beschimpft, bedroht oder angegriffen werden. Wir können und dürfen es nicht hinnehmen, wenn eine vielfältige Medienlandschaft infrage gestellt und als Lügenpresse hingestellt wird. Mangelnder Respekt äußert sich schon in der Wortwahl. Und der Schritt von einer herabwürdigenden, aggressiven Sprache hin zu Gewalt ist leider oft nicht allzu groß. Ich danke deshalb allen, die Zivilcourage zeigen und ihre Stimme erheben, wenn die Pressefreiheit bedroht wird. Ich danke allen, die sich für einen respektvollen Dialog einsetzen – hierzulande wie auch anderswo. Und ich danke dem Verband Deutscher Zeitschriftenverleger, der sich unermüdlich für die Pressefreiheit einsetzt – so auch und besonders am heutigen Abend. Aber am besten verleihe ich meinem Dank wohl vor allem dadurch Ausdruck, dass ich die Goldene Victoria und Ihre Worte, Majestät, als Ansporn nehme – als Ansporn, mich weiter für eine gute deutsch-jordanische Partnerschaft und für Presse- und Meinungsfreiheit weltweit einzusetzen. Mich auch zu freuen, wenn die Zeitung von morgen nicht so gut ist wie die Laudatio eben hier – dabei hilft mir die Goldene Victoria sicherlich in besonderer Weise. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Vorstellung des Verlags Nicolai Publishing & Intelligence
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-vorstellung-des-verlags-nicolai-publishing-intelligence-1545860
Tue, 23 Oct 2018 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Nichts bewundern. Nichts befürchten“: Zu Lebzeiten Friedrich Nicolais, der Blütezeit der europäischen Salonkultur, hätte eine kulturaffine Frau die Autoren des Nicolai-Verlags vermutlich in ihrem literarischen Salon versammelt, um dem „Nicolai-Prinzip“ folgend das „öffentliche Nachdenken und den vorurteilsfreien Diskurs“ zu pflegen. Heute kauft sie, statt Querdenker und Freigeister zum Tee oder zur Soiree zu laden, lieber gleich den Verlag. Wie gut, dass eine „Lebedame des Geistes“, wie Du es bist, liebe Christiane zu Salm, sich heute nicht mehr auf die Rolle der inspirierenden Gastgeberin beschränken muss wie einst die berühmten Berliner Salonièren, sondern sich mit der Neuerfindung des ältesten und traditionsreichsten deutschen Sachbuchverlags um eine aufgeklärte, demokratische Kultur verdient machen kann! Ich freue mich sehr mit Dir und Deinem kleinen Team, dass wir heute die Vorstellung des neuen Nicolai-Verlags feiern können. Das erste Verlagsprogramm mit Titeln zu „Diskursen, die wir führen müssen“ und Debattenbeiträgen zu „Tugenden des 21. Jahrhunderts“ und „Ökonomien der Zukunft“ zeigt nicht nur, dass die publizistische Speerspitze der Aufklärung gut 300 Jahre nach Verlagsgründung, in den Händen einer Frau – und erst recht in den Händen einer ebenso erfolg- wie geistreichen Unternehmerin – bestens aufgehoben ist! Seine Autorinnen und Autoren, die mit pointiert und differenziert formulierten Positionen die üblichen Denkroutinen und Diskussionsreflexe überwinden statt sie – weil es sich gut verkauft – mit reißerischen Thesen weiter zu verstärken, machen darüber hinaus auch Lust, sich auf das Wagnis des Wissens einzulassen: auf den Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, auf das Abenteuer des Denkens auf den ungesicherten Pfaden des Fragens und Zweifelns. Auf ein Wagnis hast auch Du Dich mit Deinem Einstieg ins Buchgeschäft eingelassen, liebe Christiane. Es zeugt schon von Chuzpe, all den Klagen über den angeblichen Niedergang der Lesekultur im Fast-Food-Medienkonsum, all den kulturpessimistischen Abgesängen auf das Kulturgut Buch zum Trotz gut gelaunt in einen kleinen Verlag zu investieren und dem Hype um Netflix-Serien und virtuelle Welten den Glauben an die Kraft des gedruckten Wortes entgegen zu setzen – und das in Zeiten, in denen öffentlichkeitswirksame Botschaften scheinbar häufiger in fernsehtauglichen eineinhalb Minuten oder twitterkompatiblen 280 Zeichen als in Buchform daher kommen. Seriöse Anlageberater und wohlmeinende Freunde haben Dir von diesem Investment sicherlich abgeraten… . Doch wenn es zutrifft, was Ralf Dahrendorf einmal geschrieben hat, wenn es zutrifft, dass normale Zeiten schlechte Zeiten für Intellektuelle sind, dann sehen wir einer Hochkonjunktur der Geisteskraft entgegen. Denn die Polarisierung unserer Gesellschaft, der teils fanatische Hass, die Rückkehr eines längst überwunden geglaubten Nationalismus, der Verlust an Verständigungsfähigkeit und eine Demokratieverdrossenheit, die Populisten Zulauf beschert – all das ist alles andere als normal. Ein Verlag, der antritt, mit aufklärerischem Anspruch die demokratische Debattenkultur zu fördern, steht also in Zeiten, die eben diese Kultur einer harten Bewährungsprobe unterziehen, mindestens gesellschaftspolitisch hoch im Kurs – und ich wünsche Dir und Deinem Team, liebe Christiane, dass diese Konjunkturprognose sich auch ganz profan in der Bilanz niederschlägt. Wie Du – und wie zahlreiche andere Verlegerinnen und Verleger in Deutschland – will auch ich mich nicht damit abfinden, dass die Zahl der Follower sich zum wichtigsten Maßstab für Relevanz im öffentlichen Diskurs entwickelt und die Antworten auf die Fragen einer immer komplexer werdenden Welt, dem Social Media-Stakkato entsprechend, immer kürzer ausfallen. Eine aufgeklärte, demokratische Kultur braucht Weitblick und Expertise, die sich in einem Buch anders entfalten kann als in einem Post oder auch einem Zeitungsartikel. Sie braucht Querdenker und Freigeister, deren Werke wir in den Programmen unabhängiger Verlage finden. Und nicht zuletzt braucht eine demokratische Kultur der Verständigung auch Verlegerinnen und Verleger, die sich als Wegbereiter für die Kraft des besseren Arguments und als Anstifter zum Perspektivenwechsel verstehen: zum Beispiel im Sinne einer Ökonomie des Glücks, die Stefan Klein in seinem gleichnamigen Buch entfaltet, das zum ersten Verlagsprogramm des neuen Nicolai-Verlags gehört – im Sinne eines Plädoyers, auch in der Politik die Frage nach dem guten Leben wieder zu entdecken und nicht allein Wachstum und Wohlstand, sondern auch das Wohlbefinden zum politischen Maßstab zu machen. Ganz gewiss jedenfalls wird es „(f)ür die demokratische Gesellschaft (…) entscheidend sein, (…) Resilienzen gegen Vereinfachungen, Feindseligkeit und Hass zu entwickeln“, wie Nicolai-Autorin Jasmin Siri in ihrem ebenfalls heute erschienenen Buch Kampfzone Gender. Über die Politisierung wissenschaftlicher Expertise schreibt. Zu diesen Resilienzen tragen unabhängige Verlage mit ihrem anspruchsvollen Verlagsprogramm bei. Deshalb setze ich mich mit allem kulturpolitischen Nachdruck für rechtliche Rahmenbedingungen ein, unter denen die verlegerische und literarische Vielfalt auch in Zukunft gedeihen kann – insbesondere für die Verteidigung des Urheberrechts und der Buchpreisbindung. Darüber hinaus werde ich nach dem Vorbild des sehr erfolgreichen Deutschen Buchhandlungspreises künftig auch einen Deutschen Verlagspreis ausloben. Er soll die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung der unabhängigen Verlage und den Mut zum verlegerischen Risiko würdigen. Ich möchte diesen Preis aber nicht nur als Liebeserklärung, sondern durchaus auch als öffentliche Kampfansage verstanden wissen. Denn wir wenden uns damit auch gegen die Degradierung des Kulturguts Buch zur bloßen Handelsware, gegen die Bewirtschaftung einer geistigen Monokultur, in der nur überlebt, was hohe Verkaufszahlen garantiert. Ich wünsche unserer Demokratie, dass es auch in Zukunft Verlegerpersönlichkeiten gibt, die mit Freude und Leidenschaft ihr Ding machen und ihre Unabhängigkeit mit unternehmerischem Sachverstand und verlegerischem Herzblut verteidigen: vor ökonomischen Abhängigkeiten, vor falschen Kompromissen aus vermeintlichen Sachzwängen heraus und nicht zuletzt vor der Versuchung, sich allzu bereitwillig dem Diktat der Verkaufszahlen zu unterwerfen. Deshalb wünsche ich Nicolai Publishing & Intelligence, seinen Autorinnen und Autoren und Dir persönlich, liebe Christiane, viel Erfolg und eine breite Leserschaft, die sich auf intellektuelle Wagnisse nach dem Motto „Nichts bewundern. Nichts befürchten“ einlässt. Ich jedenfalls bin dabei – und nach den ersten Leseproben sehr gespannt, was wir ab morgen aus dem Hause Nicolai lesen werden. Herzlichen Glückwunsch zur erfolgreichen Neugründung!
Rede der Kulturstaatsministerin zur Neueröffnung der Dauerausstellung des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-zur-neueroeffnung-der-dauerausstellung-des-zeitgeschichtlichen-forums-leipzig-1547588
Mon, 05 Nov 2018 12:00:00 +0100
Im Wortlaut
Leipzig
Kulturstaatsministerin
„Sind wir hier im Westen?“ Es ist eine wahrlich anrührende Szene des Films „Ballon“, in der die Antwort „Wir sind hier in Oberfranken“ auf diese bange Frage freudetrunkenen Jubel auslöst. Der Film, der seit ein paar Wochen in den deutschen Kinos zu sehen ist, erzählt die Geschichte der Familien Strelzyk und Wetzel aus dem thüringischen Pößneck, die 1979 mit einem selbstgebauten Heißluftballon die waghalsige Flucht aus der DDR in die Bundesrepublik wagten. Dass dieser Stoff nun schon zum zweiten Mal in einem Spielfilm aufgegriffen wird, zeigt, wie intensiv Geschichten aus und um die DDR die Menschen bis heute beschäftigen. Auch in der Wissenschaft ebbt das Interesse an der DDR nicht ab: Wachsende Erkenntnisse weiten den Blick und ergänzen, präzisieren das Bild, das wir von der DDR haben. Gerade Geschichts-Museen tragen Verantwortung, neuen Perspektiven und Erzählungen in ihrer Vermittlungsarbeit Raum zu geben. In diesem Sinne hat sich auch das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig daran gemacht, seine Dauerausstellung zu aktualisieren. Ich freue mich sehr, Sie heute zu deren Eröffnung zu begrüßen! In Rekordzeit – gerade einmal neun Monate sind seit der Schließung der alten Dauerausstellung vergangen – hat sich das Zeitgeschichtliche Forum dabei hochkonzentriert nicht nur der neuesten Forschungsergebnisse, sondern auch der im digitalen Zeitalter durchaus veränderten Seh- und Lernweisen seiner Besucherinnen und Besucher angenommen und all dies in einem neuen Konzept aufgegriffen. Herausgekommen ist dabei eine bemerkenswert vielschichtige, eine beeindruckende neue Dauerausstellung. Zahlreiche neue Objekte, Fotos und Filme erzählen noch eindrücklicher als zuvor die Geschichte der DDR und die Zeit seit der deutschen Einheit und machen die wesentlichen historischen Wegmarken für die Besucherinnen und Besucher auf spannende Weise erlebbar: von der Etablierung der SED-Diktatur im Zuge der sowjetischen Besatzung nach 1945, über den gescheiterten Volksaufstand vom 17. Juni 1953, den Mauerbau, über die Friedliche Revolution von 1989, den Mauerfall und die Wiedervereinigung, und schließlich bis zum neuen Miteinander von Ost und West. Erfreulich ist auch der stärkere Bezug zur Gegenwart: Die neue Ausstellung widmet der Zeit seit 1989 mehr Aufmerksamkeit als bisher – und dabei vor allem auch jenen Problemen und Herausforderungen, die unsere Gesellschaft seither bewegen. Sie stellt damit vor allem auch die Frage nach dem Wert der Freiheit heute. So ist die neue Dauerausstellung auch die Quintessenz nach fast zwei Jahrzehnten grundlegender historisch-politischer Bildungsarbeit des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig. Denn seit 1999 arbeitet dieses akribisch daran, zu vermitteln, was ein Leben unter der SED-Diktatur bedeutete: staatliche Indoktrination und Repression, Anpassung oder Rückzug, Selbstbehauptung und – ganz zentral -eine große Sehnsucht nach Freiheit. Seit nun also fast zwanzig Jahren trägt es mit seinen Ausstellungen zur Geschichte und kulturellen Veranstaltungen wesentlich dazu bei, die Geschichte der DDR wachzuhalten und dabei insbesondere Opposition und Widerstand umfassend zu würdigen. Das Gespräch mit den Menschen zu suchen und Diskussionen anzustoßen, ist für die das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig tragende Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland geübte Praxis. Denn an all ihren Standorten – in Leipzig, Bonn und Berlin – werden die Ausstellungen in regelmäßigen Abständen kritisch beleuchtet und neu konzipiert. Und das ist auch notwendig: Schnell schreitet unsere Zeit voran, schnell schreitet die Forschung voran, schnell ändern sich die Perspektiven auf unsere Vergangenheit – nicht zuletzt auch die Perspektiven der Zeitgenossen selbst. Meine Damen und Herren, ich danke allen, die an der neuen Dauerausstellung des Zeitgeschichtlichen Forums mitgewirkt haben: allen voran natürlich Ihnen, lieber Herr Professor Hütter und Ihnen, lieber Herr Dr. Reiche und Ihrem Team. Ihre großartige Arbeit entspricht Ihrer Maxime, sich der Geschichte besucherfreundlich und erlebnisorientiert anzunähern und zugleich zu einer kritischen Auseinandersetzung anzuregen. Und natürlich danke ich auch allen engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung, die diese in Ihrem umfassenden Wirken zu dem gemacht haben, was sie heute ist: eine hochgeschätzte Akteurin in der historischen Vermittlungsarbeit, in Deutschland und darüber hinaus. Last but not least danke ich auch allen ehrenamtlichen Mitgliedern der Stiftungsgremien sowie den Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die die Stiftung in ihrer Arbeit tatkräftig unterstützen. Gerade weil die Stiftung eine so wesentliche Akteurin in der historischen Vermittlungsarbeit ist, habe ich sehr gerne mit Mitteln aus meinem Kulturetat zur Verwirklichung der neuen Dauerausstellung beigetragen. Denn das Unrecht der SED-Diktatur zu erforschen, sichtbar zu machen und klar zu benennen, sind wir nicht nur denjenigen schuldig, die Unterdrückung und Verfolgung am eigenen Leibe schmerzhaft erfahren mussten. Wir stehen auch gegenüber der jungen Generation in der Pflicht zu vermitteln, wie hart errungen unsere demokratischen Freiheitsrechte sind und welche Gefahren für Demokratie und Menschenrechte von totalitären Ideologien ausgehen, in welchem Gewand auch immer sie daherkommen. Hervorragende historische Vermittlungsarbeit leistet auch das von der Bundesregierung finanzierte „koordinierende Zeitzeugenbüro“, das Menschen, die hinter Mauer und Stacheldraht den Repressalien und Schikanen der SED und der Stasi ausgesetzt waren, als Gesprächspartner an Schulen und auch an außerschulische Bildungseinrichtungen vermittelt. Darüber hinaus fördert der Bund die Gedenkstätten in den einstigen Gefängnissen Berlin-Hohenschönhausen, Bautzen oder auch Cottbus als Lernorte: Was wir an diesen Orten sehen und hören, entlarvt die DDR, die im Stadtbild Berlins oft bagatellisiert in Gestalt von Trabi-Safaris, VoPo–Volkspolizei-Mützen und anderen Nostalgie-Souvenirs daher kommt, als das, was sie war: ein Unrechtsstaat, der seine Gegner schikanierte und jedes Infragestellen staatlicher Autorität im Keim erstickte, der seine Bürgerinnen und Bürger dazu bis in die intimsten Bereiche ihres Lebens hinein bespitzelte, und der sich dafür mit Hilfe eines Netzes aus Denunzianten in das Beziehungsgefüge einer ganzen Gesellschaft, in Freundschaften und Familien und damit in das Leben jedes einzelnen Bürgers fraß. Zwar hat es der irische Schriftsteller Oscar Wilde einmal als die „einzige Pflicht“ der Geschichte gegenüber beschrieben, diese umzuschreiben. Belletristische Freiheiten des Romanciers haben Historiker und hat die Politik natürlich nicht. Wir können und wollen heute die Geschichte, wie sie war, nicht umschreiben. Aber wir können – so wie es das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig mit seiner neuen Dauerausstellung schafft – im Zuge der Zeit die Geschichtsbücher, die Gedenkstätten und historischen Museen um neue Erkenntnisse erweitern und so der historischen Realität ein Stück näher rücken. Und wir können, ja wir müssen, all jener gedenken, die es damals gewagt haben, der Geschichte eine neue Richtung zu geben: der Menschen, die für Freiheit und Einheit, für Demokratie und Menschenrechte gekämpft haben, die auf die Straße gingen und dafür mutig ihre Freiheit, ja ihr Leben riskierten. Meine Damen und Herren, im kommenden Jahr feiern wir den 70. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik. Zugleich jähren sich zum 30. Mal die Ereignisse, die im Herbst 1989 die Überwindung der SED-Diktatur ermöglicht und maßgeblich zur Überwindung der deutschen Teilung beigetragen haben. Dass wir in Berlin ein Freiheits- und Einheitsdenkmal errichten – selbst wenn es zum 30. Jubiläum des Mauerfalls eventuell nicht fertig sein sollte – ist nicht nur ein wichtiges Zeichen, es ist sogar unsere Pflicht. So umstritten einzelne Aspekte dieses Denkmals sein mögen, so breit ist doch der gesellschaftliche Konsens, der Friedlichen Revolution von 1989 als solcher angemessen öffentlich zu gedenken. Ich bin jedenfalls sehr froh, dass all jene Bürgerinnen und Bürger, die sich in der DDR mit den herrschenden Verhältnissen nicht abfinden wollen und wagten, der Geschichte eine Wandlung zu geben, nun tatsächlich in Berlin in einem Freiheits- und Einheitsdenkmal ihre wohlverdiente Würdigung erfahren werden. Umso bedauerlicher ist es, dass ausgerechnet hier in Leipzig, an dem Ort, an dem am 9. Oktober 1989 die Macht von SED und Stasi durch ein friedlich aufbegehrendes Volk gebrochen wurde, immer noch nicht angemessen und sichtbar an dieses herausragende Ereignis erinnert… Deshalb appelliere ich an Sie, meine Damen und Herren, sich mit Beharrlichkeit, Einfallsreichtum und Kreativität weiter dafür einzusetzen, dass auch die „Heldenstadt“ von 1989 endlich „ihr“ Denkmal bekommt. Und wer weiß, vielleicht vermag es ja auch die neue Dauerausstellung, die verbliebenen Zweifler zu überzeugen! Ich wünsche unserer Ausstellung viele begeisterte Besucherinnen und Besucher!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Konferenz zum G20 Compact with Africa am 30. Oktober 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-konferenz-zum-g20-compact-with-africa-am-30-oktober-2018-1543866
Tue, 30 Oct 2018 16:06:00 +0100
Berlin
Alle Themen
Sehr geehrter Herr Präsident der Afrikanischen Union, lieber Herr Kagame, sehr geehrte Präsidenten und Ministerpräsidenten aus Afrika, sehr geehrter Herr Bundeskanzler Kurz für die Präsidentschaft Österreichs in der Europäischen Union, sehr geehrte Christine Lagarde, lieber Herr Präsident Kim, sehr geehrter Herr Vorsitzender der AU-Kommission, Herr Faki, sehr geehrter Herr Präsident Adesina, meine Damen und Herren und liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett, ich möchte Sie ganz herzlich willkommen heißen. Das hier ist kein Routinetreffen, sondern es ist etwas Besonderes. Ich darf sagen, dass es aus deutscher Perspektive – bei Frankreich wäre das ganz anders – das größte Treffen von Staats- und Regierungschefs mit afrikanischen Präsidenten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist. Die Tatsache, dass wir hier in so großer Runde zusammenkommen, zeigt die Wichtigkeit. Die Runde knüpft an das an, was vergangenes Jahr war. Damals hatten wir nämlich die G20-Präsidentschaft. Eine Idee des damaligen Bundesfinanzministers Schäuble war es, eine Partnerschaft mit Afrika im Sinne eines Compact with Africa einzugehen. Hinzu kommt die Idee des Entwicklungsministers, auch bestimmte Entwicklungspartnerschaften zu entwickeln. Deshalb begrüße ich auch in ganz besonderer Weise den heutigen Minister der Finanzen und den Entwicklungsminister, die hier vorn mit dabeisitzen. Wir haben uns also insgesamt das Thema Partnerschaft mit Afrika auf die Fahnen geschrieben. Warum ist uns Afrika so wichtig? Afrika ist uns wichtig, weil wir Nachbarn sind, wie man auf der Weltkarte sieht, und weil wir deshalb ein elementares Interesse daran haben, dass es nicht nur uns in Europa gut geht, sondern dass es auch dem gesamten afrikanischen Kontinent gut geht. Afrika ist in bestimmter Hinsicht ein sehr reicher Kontinent. Denken wir etwa an die Rohstoffe, aber vor allem auch an das, wovon Europa weniger hat, nämlich die Jugend. Afrika hat auch eine reiche Geschichte und eine wunderbare Kultur. Aus kaufmännischer Sicht kann man, denke ich, sagen, dass Afrika der Kontinent ist, der noch das größte Entwicklungspotenzial vor sich hat. Das heißt also, wer sich wirtschaftlich engagieren will, sollte frühzeitig in Afrika mit dabei sein. Aber ich will die Dinge auch nicht schönreden. Afrika ist auch ein Kontinent, auf dem es in vielen Ländern Probleme gibt, in denen die Menschen sehr arm sind, in denen nicht jeder Zugang zu Elektrizität, zu Wasser und zur Befriedigung grundlegender Bedürfnisse hat. Sie alle haben einen großen Druck an Erwartungen der jungen Menschen in Ihren Ländern. Deshalb ist es wichtig, dass wir über die Probleme, über die Fortschritte und über die Möglichkeiten unserer Kooperation offen und ehrlich reden. Die Compact-with-Africa-Initiative setzt auch daran an, dass es zum Teil Vorurteile bei Unternehmen gibt, wenn es darum geht, in Afrika zu investieren, weil man sich oft nicht auskennt und nicht weiß: Wie komme ich an Kredite, mit welcher Rechtssicherheit kann ich rechnen, wie groß ist die Bürokratie, inwieweit muss ich mich vielleicht mit Korruption auseinandersetzen? Diese und viele andere Fragen lassen einige Unternehmer zögern, ob sie sich in Afrika, in Ihren Ländern, engagieren sollen. Deshalb haben wir uns gedacht, dass das Thema Compact with Africa dazu führen soll, dass auf der einen Seite gerade auch Ihre Finanzbereiche transparenter und qualitativ besser werden und dass wir dafür im Gegenzug bessere Investitionsbedingungen für unsere Unternehmen anbieten. Ich habe Ihnen schon heute Vormittag beim Investitionsforum gesagt: Wir haben in dieser Legislaturperiode einen Fonds von einer Milliarde Euro aufgelegt, mit dem mittelständische Unternehmen aus Deutschland oder Afrika unterstützt werden können. Bei den Bürgschaften kann es im Hinblick auf die Länder, die bessere und transparentere Voraussetzungen mitbringen, günstigere Konditionen geben. Das wird dann auch zu höheren Investitionen führen. Nicht durch Zufall sind in den Compact-with-Africa-Ländern die Direktinvestitionen höher als in anderen afrikanischen Ländern. Wir hoffen, dass sich das noch weiter auszahlt. Nun hat man die G20-Präsidentschaft ja immer nur ein Jahr lang inne. Danach besteht die Gefahr, dass alles in Vergessenheit gerät. Deshalb bin ich dem IWF, der Weltbank und auch der Afrikanischen Entwicklungsbank sehr dankbar dafür, dass sie gesagt haben: Wir übernehmen auch weiterhin Verantwortung in dieser Initiative. Denn man kann sich ja leicht vorstellen, dass die damit verbundenen Fragen nicht innerhalb eines Jahres gelöst werden können, sondern kontinuierlich weiterverfolgt werden müssen. Deshalb begrüße ich das, was diese Institutionen tun, in ganz besonderer Weise. Im nächsten Jahr wird Japan die G20-Präsidentschaft übernehmen. Und auch Japan wird diese Dinge weiterverfolgen. Ich habe Bundeskanzler Sebastian Kurz aus Österreich eingeladen, weil Österreich in seiner Präsidentschaft der Europäischen Union sich auch das Thema Afrika besonders auf die Fahnen geschrieben hat und dazu im Dezember eine Konferenz abhalten wird. Wir wollen eng zusammenarbeiten, denn wir sollten ja nicht alles doppelt und dreifach machen, sondern einer soll vom anderen wissen, was nun eigentlich wirklich passiert. Je attraktiver Ihre Standorte sind, umso besser ist das natürlich für Investitionen und Handel, für Bildung und Ausbildung. Etwas, das uns sehr beschäftigt und worüber wir in den letzten Jahren sehr viel gelernt haben, ist, wie moderne Entwicklungspolitik aussehen kann. Sehr lange haben wir Entwicklungspolitik in Deutschland ausschließlich mit NGOs gestaltet. Das reicht nicht aus. Da geht es zwar um lokale und sehr gute Projekte, aber sie führen in den seltensten Fällen zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung. Der Erste, der mich vor vielen Jahren darauf aufmerksam gemacht hat, war Kofi Annan, der gesagt hat: Wir müssen mehr auf mittelständische Unternehmen und auf wirtschaftliche Investitionen setzen, dann natürlich auch im Sinne der Nachhaltigkeit. Dann haben wir in Deutschland die GIZ weiterentwickelt. Inzwischen arbeiten die Ministerien – vom Auswärtigen Amt über das Wirtschaftsministerium, das Umweltministerium und das Entwicklungsministerium bis hin zum Finanzministerium – sehr eng zusammen und versuchen, die Pakete so zu schnüren, wie es notwendig ist. Wir haben – das will ich auch ganz offen sagen – uns natürlich auch angeschaut, was China tut. China kommt mit sehr kompakten Investitionsangeboten in Ihre Länder. Und da sagen Sie natürlich: Wenn wir uns bei Euch in Europa immer erst unsere Finanzierung zusammensuchen müssen, dann gehen wir lieber auf andere Angebote ein. Insofern haben wir davon auch gelernt, zumal China ja auch ein Land ist, das in den letzten Jahren eine sehr beachtliche Entwicklung durchgemacht hat, also auch sehr gut weiß, wie man aus Armut in eine Situation kommt, in der sich Wohlstand entwickelt. Ich will nicht das wiederholen, was ich heute Morgen gesagt habe, ich möchte Sie nur alle darum bitten, wann immer Sie mit dem Finanzministerium Doppelbesteuerungsabkommen aushandeln: Lassen Sie uns versuchen, das zu beschleunigen. Das ist für beide Seiten gut und schafft für unsere Unternehmen in besonderer Weise Sicherheit. Abschließend möchte ich Sie nur noch bitten, in Ihren Redebeiträgen natürlich auf das einzugehen, was Ihnen wichtig ist, und Sie darauf hinweisen, dass die Kameras dies auch live streamen, sodass das auch öffentlich verfügbar ist. Das heißt aber nicht, dass Sie nicht auch kritische Bemerkungen machen können. Wir wollen hier voneinander lernen. Wir wollen uns nicht einfach nur schöne Worte sagen, sondern wenn wir so viel Zeit miteinander verbringen, dann muss das ja auch etwas sein, aus dem wir miteinander einen Mehrwert ziehen. Das ist das, was ich Ihnen zur Begrüßung sagen wollte. Nun würde ich darum bitten, dass als Erstes Präsident Kagame für die Afrikanische Union das Wort ergreift und anschließend Sebastian Kurz als österreichischer Bundeskanzler einen Ausblick auf sein High-Level Forum Africa-Europe im Dezember gibt.
in Berlin
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim „G20 Investment Summit – German Business and the Compact with Africa Countries“ am 30. Oktober 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-g20-investment-summit-german-business-and-the-compact-with-africa-countries-am-30-oktober-2018-1543662
Tue, 30 Oct 2018 11:13:00 +0100
Berlin
Auswärtiges
Sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Premierminister und Minister, Exzellenzen, sehr geehrter Kollege Gerd Müller, sehr geehrter Herr Professor Große, sehr geehrter Herr Liebing, meine Damen und Herren, es freut mich, Sie alle heute hier als Mitglieder der Compact-with-Africa-Initiative begrüßen zu können. Ich sage Ihnen allen ein herzliches Willkommen in Berlin. Und ich sage ein herzliches Dankeschön den Veranstaltern dieser Konferenz: dem Afrika-Verein der deutschen Wirtschaft sowie der Subsahara-Afrika Initiative der Deutschen Wirtschaft. Wir wollen hier heute gemeinsam ein deutliches Signal setzen, dass uns an einer guten und gewinnbringenden Nachbarschaft zwischen Afrika und Europa gelegen ist. Wir sind Nachbarn, wir sind Partner – wir als Europäer haben ein großes Interesse daran, dass die Staaten Afrikas gute wirtschaftliche Perspektiven haben. Dazu bedarf es staatlicher, aber vor allem eben auch privater Investitionen. Wie wir von staatlicher Hilfe hin zu privaten Investitionen kommen, das ist die große Aufgabe – das ist auch moderne Entwicklungspolitik, wie sie unser Minister Gerd Müller entwickelt. Natürlich werden unternehmerische Chancen und Risiken immer gegeneinander abgewogen. Um die Entscheidung für ein Engagement zu erleichtern, braucht man bessere Investitionsbedingungen – für afrikanische Unternehmen genauso wie für europäische. Neben der Stärkung des Investitionsstandorts Afrika geht es auch um faire Handelsbeziehungen zwischen Europa und Afrika. Gemeinsam die Voraussetzungen für Investitionen und Handel zu verbessern, das ist die Kernidee des Compact with Africa und der Reformpartnerschaften, die wir 2017 während der deutschen G20-Präsidentschaft geschlossen haben. Uns ging es eben nicht nur darum, über Afrika zu reden, sondern darum, mit Afrika zu reden. Das ist auch eine zentrale Lehre, die wir aus der klassischen Entwicklungshilfe ziehen, die oft nicht die Erfolge brachte, die wir uns wünschten. Deshalb müssen wir mit Ihnen sprechen. Die Compact-Initiative verfolgt einen anderen, einen neuen Ansatz. Es geht um neue Formen einer gleichberechtigten und einer auf Dauer ausgerichteten Partnerschaft, die allen Beteiligten gleichermaßen zugutekommt. Natürlich hat jedes Land in Europa wie auch jedes Land in Afrika seine Besonderheiten und eigenen Standorteigenschaften. Daher kommt es darauf an, dass einerseits jedes Compact-Land durch eigenverantwortliche Reformmaßnahmen sein Investitionsklima verbessert. Andererseits soll jedes Teilnehmerland auch seine Erwartungen äußern, wie es unterstützt werden möchte, welche konkrete Unterstützung es auf dem Weg zu Reformen braucht. IWF, Weltbank und Afrikanische Entwicklungsbank sind in diesen Prozess eingebunden – ob es darum geht, jeweils geeignete Reformmaßnahmen zusammenzustellen, oder darum, die Umsetzung der Verpflichtungen der Compact- und der Partnerländer zu überprüfen. Auch Deutschland bringt sich über Reformpartnerschaften mit verschiedenen Ländern ein. Über diese Zusammenarbeit konnte ich mich jüngst auch auf meiner Afrikareise informieren und mir ein Bild davon machen. Ich darf sagen, dass sich schon erste Auswirkungen zeigen. Ausländische Direktinvestitionen in Afrika insgesamt sind zwar in den letzten Jahren zurückgegangen, aber in den Compact-with-Africa-Ländern sind sie gestiegen. Ich weiß, dass Ihnen allen Zeit sehr wichtig ist. Sie müssen schnell etwas schaffen, denn Ihre Bevölkerung erwartet schnelle Antworten und schnelle Resultate; das wissen wir. Deshalb bemühen wir uns auch, selbst schneller zu werden. Vertrauen von Investoren ist genau da zu erwarten, wo Compact-with-Africa-Länder Reformen durchgeführt haben. Das zeigt sich schon, wie ich sagte, an der Höhe der Direktinvestitionen. Ich möchte deshalb ein herzliches Dankeschön an Unternehmen und Investoren richten, die heute ihre Investitionsprojekte vorstellen werden. Sie tragen zur wirtschaftlichen Entwicklung Afrikas bei. Und Sie sind ein Beispiel für andere, sich diesen Kontinent mit seinen 54 Ländern und seinen riesigen Wachstumspotenzialen vielleicht auch ein bisschen näher anzuschauen. Über viele Jahre hinweg waren wir sehr auf Asien konzentriert. Ich denke, in Zukunft muss sich der Blick mehr nach Afrika wenden. Wir als Bundesregierung wollen dabei Unterstützung leisten. Was zum Beispiel den Handel mit Ghana und dem Senegal anbelangt, so erfolgten da drei grundsätzliche Deckungszusagen für Exportkredite in Höhe von insgesamt 160 Millionen Euro. Wir als Bundesregierung haben uns überlegt, wie wir weitere Maßnahmen auf den Weg bringen können. Wir werden einen Entwicklungsinvestitionsfonds für kleine und mittlere Unternehmen gründen; und zwar für europäische und afrikanische Firmen. Damit sollen Beteiligungen und Darlehen finanziert werden können, um zum Beispiel auch neue Markteintritte zu ermöglichen. Wir wollen Exporte und Investitionen deutscher Unternehmen in den Compact-with-Africa-Ländern leichter gegen politische Risiken bzw. gegen Zahlungsrisiken absichern. Unsere Maßnahmen sind natürlich immer auch von den Reformfortschritten und der Schuldentragfähigkeit des jeweiligen Landes abhängig. Eine vollständige Risikoübernahme – das sage ich auch – wird der Staat nicht machen können. Aber wir wollen mehr Angebote machen, als wir in der Vergangenheit hatten. So können wir zum Beispiel vermeiden, dass Unternehmen bzw. Investoren doppelt besteuert werden. Deshalb legen wir viel Wert auf die Doppelbesteuerungsabkommen, die wir bereits mit fünf Compact-with-Africa-Ländern haben. Mit drei weiteren verhandeln wir. Ich wünsche mir, dass es noch mehr werden. Und ich sage auch zu, dass wir von unserer Seite alles daransetzen, dass diese Verhandlungen schnell stattfinden. Darüber hinaus wollen wir neue Arbeits- und Ausbildungspartnerschaften mit Unternehmen und Institutionen in Afrika eingehen. Uns geht es um die Entwicklung bestimmter Branchen an geeigneten Standorten, indem wir zum Beispiel die Einrichtung von regionalen Gewerbe- und Industrieparks fördern. Nicht zuletzt streben wir neue bilaterale Reformpartnerschaften mit dem Senegal, mit Marokko und Äthiopien an. Das sind also zentrale Elemente unseres Maßnahmenpakets, das wir auf den Weg bringen. Wir verstehen das als Ergänzung zur Weiterführung und Fortentwicklung der Compact-with-Africa-Initiative. Diese Konferenz hier ist Ausdruck dessen, dass wir partnerschaftliche Zusammenarbeit leben und beleben wollen. Dazu gehört ganz wesentlich die Verbesserung der Investitionsbedingungen. Das ist unser gemeinsames Interesse. Ich bedanke mich nochmals dafür, dass Sie alle hierhergekommen sind, und freue mich jetzt auf das, was ich auf diesem Wirtschaftsforum sehen und erleben kann. Herzlichen Dank.
in Berlin
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum 20-jährigen Bestehen des Amtes der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) am 29. Oktober 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-20-jaehrigen-bestehen-des-amtes-der-beauftragten-der-bundesregierung-fuer-kultur-und-medien-bkm-am-29-oktober-2018-1543444
Mon, 29 Oct 2018 19:38:00 +0100
Berlin
Kulturstaatsministerin
Exzellenzen, sehr geehrte Frau Staatsministerin, liebe Monika Grütters, liebe Vorgängerinnen und Vorgänger, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett und dem Deutschen Bundestag, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern und Kommunen, liebe Anwesende der Festversammlung, vor zehn Jahren haben wir das erste runde Jubiläum einer außergewöhnlichen und erfolgreichen Idee des Bundeskanzlers Gerhard Schröder gefeiert: zehn Jahre BKM. Damals, im Herbst 2008, nahm die internationale Finanzkrise ihren Lauf. Sie ging mit erheblichen Turbulenzen auf den Finanzmärkten einher. Das Wirtschaftswachstum auch in unserem Land brach massiv ein. Nur mit vereinten Kräften, national und international, konnten wir noch Schlimmeres verhindern. Trotzdem haben wir uns damals die Zeit genommen, die Vielfalt der deutschen Kultur- und Medienlandschaft und den Anteil des Bundes daran zu feiern. Wir haben den Etat – damals noch des, später dann der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien – immer wieder erhöht; und das trotz aller Mühen zur Konsolidierung des Bundeshaushalts. Zu Recht verstehen wir uns in Deutschland als historisch gewachsene europäische Kulturnation. Wir brauchen auch weiterhin die von der Kultur ausgehenden geistigen und kreativen Impulse – um es einmal in den Worten einer ehemaligen Physikerin etwas platt zu sagen. Denn solche Impulse sind grundlegende Voraussetzung für die Innovationskraft und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Das heißt, Kultur und Medien sind für uns sozusagen systemrelevant – um ein finanzpolitisches Wort aus der damaligen Zeit zu benutzen. Ohne Kultur keine Tradition und kein Fortschritt; und ohne freie Medien keine lebendige Demokratie. Entsprechend hoch ist der Stellenwert, den wir in der Bundesregierung der Kultur- und Medienpolitik einräumen. Sinnbildlich dafür steht das Büro der Staatsministerin, das im Bundeskanzleramt beheimatet ist. 2008 haben wir nicht nur über Finanzkrisen und Jubiläen gesprochen, sondern zum Beispiel auch über das ehrgeizige Projekt des Humboldt Forums. Was damals noch Zukunftsmusik war, hat inzwischen deutlich Form und Gestalt angenommen. Ich konnte bereits im Frühjahr dieses Jahres den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron hierher einladen. Und nun bietet das Forum auch Raum für Veranstaltungen wie zum Beispiel diese Jubiläumsfeier. Auch auf Berliner Großbaustellen kann es also vorangehen – das muss an diesem Tag noch einmal betont werden. An dieser Stelle heißt es immer: Ich soll nicht vergessen, dass auch der Bund an anderen Großbaustellen beteiligt ist. Das möchte ich daher ausdrücklich erwähnen. Ende des nächsten Jahres wird das Forum offiziell eröffnet – und damit rechtzeitig im Alexander-von-Humboldt-Jahr, das wir zu seinem 250. Geburtstag begehen werden. Alexander von Humboldt, eine der für mich beeindruckendsten Persönlichkeiten, war Universalgelehrter und Weltbürger. Jahrelang reiste er durch Amerika und Asien. Er stieg auf Vulkane und durchquerte entlegene Täler. Er widmete sich der Botanik und betrieb ethnologische Studien und anderes mehr. Neugier trieb Alexander von Humboldt an. Und er selbst wiederum weckte Neugier. Unzählige Menschen strömten zu seinen Vorträgen und verschlangen seine Bücher. Wo hatte man vorher schon einmal von derartigen Abenteuern gehört und gelesen? Gerne wäre ich bei einem dieser Vorträge dabei gewesen. Ich bin immer wieder berührt: Wenn man, auf den Spuren Alexander von Humboldts, nach Lateinamerika kommt, dann merkt man, dass dort über ihn gesprochen wird, als hätte er erst vorgestern dieses Kaffeehaus verlassen oder wäre in jener Straße spaziert. Er wirkt dort noch so lebendig, als hätte er nicht vor 250 Jahren gelebt, sondern erst jüngst. Alexander von Humboldt wurde und wird als zweiter Entdecker Südamerikas gefeiert; und das nicht von ungefähr. Denn er wollte jede Kultur, so weit möglich, aus sich heraus verstehen. Diese Maxime spiegelt sich im Konzept des Humboldt Forums wider. Es will Einblicke in außereuropäische Kulturen vermitteln. Das Humboldt Forum weckt Neugier, wie sein Namensgeber es getan hat. Neugier auf andere Kulturen und das Bewusstsein für die eigene Kultur gehören unmittelbar zusammen. Je besser wir unsere eigenen kulturellen Hintergründe kennen, umso besser können wir auch die Kulturen anderer Länder und Völker begreifen, Gemeinsamkeiten sehen und Unterschiede verstehen – und umso besser lassen sich auch Wege zu einem friedlichen und gedeihlichen Miteinander auf unserer Welt finden. Nur wer sich auf den Dialog der Kulturen einlässt, wer sich selbstbewusst weltoffen zeigt und sich nicht abschottet, kann auch die Erfahrung einer gegenseitigen kulturellen Bereicherung machen. Schon Alexander von Humboldt gelangte zu der grundlegenden Erkenntnis – ich zitiere aus seinem Reisetagebuch in Mexiko –: „Alles ist Wechselwirkung.“ Sich Wechselwirkungen vor Augen zu führen, verschiedenste Facetten der Globalisierung in den Blick zu nehmen, das eigene Weltbild zu erweitern – das ist es, wozu uns das Humboldt Forum einladen will; und zwar nicht nur diejenigen, die ohnehin schon viel von der Welt gesehen haben, sondern eben alle. Deshalb ist es wunderbar, dass die Dauerausstellung ohne Eintritt zugänglich sein wird. Kultur hat die Kraft, Bewegung in gesellschaftliche Debatten zu bringen. Dies betrifft auch den Umgang mit unserer Geschichte. Nehmen wir als Beispiel den Kunstfund aus dem Nachlass des Kunsthändlers Gurlitt. Dieser spektakuläre Fall löste vor fünf Jahren eine breite Debatte aus, die vor allem eines deutlich machte: Fragen zur sogenannten NS-Raubkunst erforderten bessere Antworten als die bis dahin gegebenen. So entstand unter anderem das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste. Derzeit machen wir uns intensive Gedanken darüber, wie wir Kulturgüter aus kolonialen Kontexten angemessen behandeln. Ich hoffe auf ein gutes Miteinander der beiden Staatsministerinnen sowohl im Kanzleramt als auch im Auswärtigen Amt und bin sehr interessiert daran, bei Gelegenheit von den gemeinsamen Erarbeitungen zu hören. – Das war keine lustige Bemerkung, sondern ein ehrliches Interesse. Ich halte es für eines der komplizierteren Dinge, sich mit Kolonialkontexten auseinanderzusetzen. Auch in diesem Zusammenhang zeigt sich, wie wichtig die Auseinandersetzung mit und die Aufarbeitung von Geschichte ist. Das betrifft die Erforschung ebenso wie die Vermittlung der Ergebnisse und die Rückschlüsse, die daraus für die Gegenwart und die Zukunft zu ziehen sind – eine im wahrsten Sinn des Wortes zeitlose Aufgabe. Museen, Gedenkstätten, Dokumentationszentren und Archive sind das Gedächtnis unserer Nation. Das ist auch etwas, worum sich die Bundeskulturbeauftragte verdient macht. Die Zahl der Zeitzeugen und Überlebenden, die wir zu der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland, zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust noch persönlich befragen können, ist nur noch sehr gering. – Ich messe dieser Übergangszeit vom Wissen der Zeitzeugen hin zum Wissen über die Zeitzeugen eine sehr, sehr große Bedeutung für die Entwicklung unserer Gesellschaft bei. – Es beginnt also ein neues Kapitel in der Aufarbeitung dieser furchtbaren Zeit. Allen, die in unserem Land leben, gilt es die immerwährende Verantwortung Deutschlands für den Zivilisationsbruch der Shoa zu vermitteln. Unsere Werteordnung basiert auf dieser Verantwortung. Dazu gehört das klare und entschiedene Eintreten gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung. Dazu gehört unser Einsatz für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Frieden; und zwar nicht nur hierzulande, sondern überall auf der Welt. Meine Damen und Herren, mit zunehmender zeitlicher Distanz ergeben sich auch neue Herausforderungen für die Aufarbeitung der SED-Diktatur in der DDR. Mittlerweile ist eine Generation herangewachsen, die die Berliner Mauer nur noch aus Geschichtsbüchern und Erzählungen kennt. Ich sage: Zum Glück ist das so. Und zum Glück scheint für sie Demokratie selbstverständlich zu sein. Aber sie haben das Glücksgefühl 1989 selbst nicht erlebt, die eigene Meinung endlich frei äußern zu können, freie Medien nutzen zu können und freie Entscheidungen treffen zu können, ohne staatliche Repressionen – womöglich sogar für die ganze Familie – befürchten zu müssen. Aber verspüren auch ältere Generationen dieses Glückgefühl noch? Gehen wir in unserer Gesellschaft insgesamt mit den Errungenschaften der Demokratie nicht manchmal etwas zu leichtfertig um? Ich finde, es sollte uns sehr zu denken geben, dass wir verstärkt Angriffe auf so hohe Güter wie die Pressefreiheit erleben. Nicht selten werden Tatsachen bewusst verdreht und Falschmeldungen in die Welt gesetzt, um gezielt Vorurteile und Ressentiments zu schüren. Ich rechne es unseren Kultur- und Medieninstitutionen hoch an, dass sie sich eine besondere Sensibilität für Gefahren bewahren, die unsere Werteordnung bedrohen könnten. Sie spüren den Ursachen nach und spornen zum Nachdenken an. Sie bieten ein breites Kontrastprogramm zum ideologischen Scheuklappendenken. Genau das braucht und belebt Demokratie. Das gilt für unser Land ebenso wie für alle anderen. Daher will ich auch ausdrücklich würdigen, dass unsere Kultur- und Medieninstitutionen oft auch als Botschafter eines freien und offenen Miteinanders in der Welt wirken. Hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang die Deutsche Welle. Sie leistet unverzichtbare Arbeit in Ländern, in denen der freie Zugang zu unabhängigen Medien oft sehr schwer ist. Auch die Kunst muss viel zu oft um ihre Freiheit kämpfen. Wir sollten nie vergessen, dass die Kunstfreiheit eine der wichtigsten demokratischen Errungenschaften ist – ein Wert an sich. Kunst lebt vom Experimentieren, vom Infragestellen alter Gewissheiten, um sich weiterzuentwickeln. Das war schon bei den Klassikern so. Johann Wolfgang von Goethe musste sich von Zeitgenossen unter anderem als „überwitziger Halbgelehrter“ und „wahnsinniger Religionsverächter“ bezeichnen lassen. Der Literaturhistoriker Heinrich Düntzer hatte dies im 19. Jahrhundert in seinen biografischen Studien über Goethe festgehalten. Dennoch gelang es Goethe, ein umfassendes Werk von Weltruhm zu schaffen. Kunst ist also definitiv nicht immer und für jeden etwas, das gefällt. Das kann – das unterstreiche ich ganz besonders heute – gar nicht oft genug gesagt werden. Doch ungeachtet dessen wollen und müssen Künstler und Kreative von ihrer Arbeit natürlich auch leben können. Das ist deshalb auch ein Anliegen, das die Bundesregierung sehr ernst nimmt. Schon Alexander von Humboldt machte die Erfahrung, mit seinen Büchern und Artikeln nicht das zu verdienen, was ihm zustünde, weil immer wieder auch Raubdrucke seiner Texte im Umlauf waren. Im digitalen Zeitalter stellt sich nun ganz besonders dringlich die Frage, wer mit einem Werk welche Einnahmen erzielt. Wir wissen, dass nationale Antworten da nicht reichen. Wir brauchen europäische Lösungen, um auch international etwas bewegen zu können. Tatsache ist, dass die Vielfalt der Kunst auch vom Verdienst in der Kunst abhängt. Wem an Vielfalt gelegen ist, der kann – auch das sei heute gesagt – auch nicht hinnehmen, dass Frauen immer noch deutlich weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen. – Geschlechterübergreifender Applaus. – Am Talent allein kann das nicht liegen. Auch mangelt es sicherlich nicht am Interesse von Frauen, im Kunst- und Kulturbereich tätig zu sein. Aber fragen wir uns doch einmal: Wie viele Intendantinnen kennen wir eigentlich? Wie viele Dirigentinnen haben wir schon erlebt? Wie viele Frauen zählen wir zur Riege der Topseller in der Malerei? Die Antworten fallen wohl oder übel eher ernüchternd aus. Das heißt, auch im Kunst- und Kulturbereich brauchen wir eine echte Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern. Ein erster Schritt ist, Gremien wie Jurys paritätisch zu besetzen. Das kann helfen, dass die Unterrepräsentation von Frauen und deren Perspektiven bei Förderentscheidungen stärker berücksichtigt werden. Die BKM-Filmförderung bietet hierfür gelungene Anschauungsbeispiele. Ohnehin fließt in die Filmförderung bewusst viel Geld. In den zurückliegenden zehn Jahren hat allein der Deutsche Filmförderfonds weit über 1.000 deutsche und deutsch koproduzierte Werke mit mehr als 650 Millionen Euro unterstützt. Die Folge-Investitionen in Deutschland beliefen sich auf 3,8 Milliarden Euro. Dazu kommen noch die sogenannten weichen Effekte wie der Imagegewinn für Drehorte wie etwa Görlitz. Da zeigt sich einmal mehr die Bedeutung von Kunst und Kultur auch als wichtiger Wirtschaftsfaktor. Meine Damen und Herren, an der Literatur, am Film, am Theater, an der Musik oder Malerei, an der Kunst insgesamt wie auch an den Medien können wir ablesen, wie zukunftsfähig eine Nation ist. Die Vielfalt der Kultur- und Medienlandschaft regt den Geist an, weckt Neugier, provoziert und bereichert Debatten. Diese Vielfalt ist Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklungen und zugleich Treiber des Fortschritts. Wer sich dessen bewusst ist, weiß also, warum es das Amt der bzw. des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gibt; und der weiß auch, dass es dieses Amt weiterhin geben muss. So findet das kultur- und medienpolitische Engagement der Länder und Kommunen eine überaus hilfreiche Ergänzung durch den Bund. Und so stärken wir gemeinsam unsere Kulturnation in all ihren Facetten. Allen, die daran mitgewirkt haben oder mitwirken, bin ich sehr dankbar – insbesondere auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Bei dieser Jubiläumsfeier gilt mein Dank ganz besonders Ihnen, liebe Monika Grütters. Und natürlich beziehe ich auch jeden Ihrer Vorgänger im Amt mit ein. Ihnen allen ein herzliches Dankeschön. Kulturpolitik ist ein schöner Teil deutscher Politik. Herzlichen Dank.
in Berlin
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum Festakt „20 Jahre BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-festakt-20-jahre-bkm-beauftragte-der-bundesregierung-fuer-kultur-und-medien–1545854
Mon, 29 Oct 2018 19:00:00 +0100
Berlin
Kulturstaatsministerin
Herzlich willkommen im Humboldt Forum! Sie alle als amtierende Staatsministerin für Kultur und Medien zum Festakt „20 Jahre BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien“ begrüßen zu dürfen, wäre wahrlich schon Freude und Ehre genug! Geradezu euphorisch aber stimmt mich, dass die Musik heute im Humboldt Forum spielt – und das nicht nur dank Max Raabe und seinem großartigen Palast-Orchester! Vielen Dank für diesen wunderbaren musikalischen Auftakt! Ich gebe zu: Es war nicht ganz ohne Risiko, rund 600 kultur- und medienpolitische Mitstreiterinnen und Mitstreiter der vergangenen 20 Jahre ausgerechnet hierher zum Feiern einzuladen. Schließlich durfte man sich auf Deutschlands größter Kulturbaustelle bis vor ein paar Monaten auch als Besucher nur in Schutzkleidung blicken lassen. Und eine Festgarderobe aus orangem Bauarbeiterhelm, neonfarbiger Reflektorenweste und stahlkappenverstärktem Schuhwerk wollten wir Ihnen bei aller Liebe zur Bundeskulturpolitik dann doch nicht zumuten … . Trotzdem hat dieser Ort sich als Bühne und Kulisse – neudeutsch: als Location – unserer Jubiläumsfeier geradezu aufgedrängt, und ich danke unseren Gastgebern – Ihnen und Ihrem Team, lieber Herr Prof. Dorgerloh –, dass wir heute hier feiern dürfen. Denn das Humboldt Forum steht als ambitioniertestes Kulturvorhaben unseres Landes in vielerlei Hinsicht exemplarisch für die ebenso erfreuliche wie erfolgreiche Entwicklung der Bundeskulturpolitik in den vergangenen 20 Jahren: Zum einen, weil das Humboldt Forum – wie ja auch die Bundeskulturpolitik – viele geistige Mütter und Väter hat, die heute zahlreich hier vertreten sind. Zum anderen, weil die Geburt der im Fachsprech „BKM–Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien“ genannten Institution – so wie auch die Entstehung des Humboldt Forums – von heftigen Kontroversen begleitet war. Stichwort: „so überflüssig wie ein Marineministerium für die Schweiz“ (- eine selbstbewusste Einlassung aus dem Bundesland, das heute ebenso selbstbewusst den ersten Heimatminister auf Bundesebene stellt). Exemplarisch für die Bundeskulturpolitik steht das Humboldt Forum aber vor allem als Forum der Verständigung – als Museum der Weltkulturen, das zur Reflexion des eigenen Standpunkts wie auch zum Perspektivenwechsel einlädt. Dass wir im Herzen der deutschen Hauptstadt nicht uns selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern das Eigene im Austausch mit dem Anderen definieren, offenbart das Selbstverständnis der Kulturnation Deutschland im 21. Jahrhundert. Es zeigt, dass wir gelernt haben, mit den tiefen Abgründen und Brüchen in unserer Geschichte umzugehen – und deshalb freue ich mich heute ganz besonders, dass zahlreiche Botschafter, darunter auch der Botschafter des Staates Israel, uns zur Jubiläumsfeier die Ehre erweisen. Statt in reiner Selbstbezüglichkeit zu verharren, empfiehlt Deutschland sich heute als Partner in der Welt: als treibende Kraft einer Verständigung der Völker, eines Dialogs der Weltkulturen, und zwar unter dem Symbol des Christentums, unter dem Kreuz auf der Kuppel des Berliner Schlosses. Denn Dialogfähigkeit bedeutet nicht Standpunktlosigkeit, im Gegenteil: Verständigung braucht Haltung. Und unsere Haltung der Offenheit, der Freiheit und auch der Barmherzigkeit, der Solidarität hat ihre Wurzeln auch und insbesondere in unserem christlichen Menschenbild. Die kontroverse Debatte, die das Humboldt Forum mit dem Kreuz auf der Kuppel schon vor der Eröffnung ausgelöst hat, darf man im Übrigen getrost als gutes Vorzeichen für ein Museum neuen Typs sehen, das sich künftig als Katalysator öffentlicher Meinungsbildung profilieren soll. So wird im Humboldt Forum sichtbar, meine Damen und Herren, was auch die Entwicklung der Bundeskulturpolitik in den vergangenen 20 Jahren bestimmt hat: Kultur ist nicht mehr nur Liebhaberei für Schöngeister und Besserverdiener, sondern integrative Kraft in einer zunehmend pluralistischen – und zunehmend polarisierten – Gesellschaft. Kultur ist Modus gesellschaftlicher Selbstverständigung – gerade dort, wo die Klüfte tief und die Fronten verhärtet sind, wo unterschiedliche Lebensvorstellungen und Weltanschauungen sich unversöhnlich gegenüberstehen und die Kraft des besseren Arguments gegen Mauern aus Ressentiments und Vorurteilen stößt. Ob Literatur, Theater, bildende Kunst, Musik, Tanz oder Film, ob in Museen und Gedenkstätten, Projekten und Initiativen: Kultur kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht, Kultur kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Kulturelle Vielfalt, in der sich auch sperrige, unbequeme, provozierende und irritierende Positionen in Freiheit entfalten können, ist deshalb das Beste, was wir populistischer Einfalt entgegensetzen können. Und zweifellos brauchen wir, um unsere demokratische Kultur der Verständigung gegen ihre Verächter zu verteidigen, die Lehren aus der Aufarbeitung unserer Vergangenheit, die Vielstimmigkeit unabhängiger Medien, die Ideen der Kultur- und Kreativwirtschaft, die Phantasie und auch den Widerspruchsgeist der Kunst – und eine Kultur- und Medienpolitik, die dafür Raum und Rahmenbedingungen schafft. In diesem Sinne hat BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sich in den vergangenen 20 Jahren hohes Ansehen und breites Vertrauen erarbeitet. Das ist auch und insbesondere das Verdienst meiner Vorgängerin und meiner Vorgänger im Amt: Michael Naumann hat die notwendige, mit der ketzerischen Überschrift „Verfassungsfolklore“ versehene Grundsatzdebatte über die Rolle des Bundes im Rahmen der Kulturhoheit der Länder geführt. Julian Nida-Rümelin hat die Bundeskulturstiftung gegründet und damit der Förderung der künstlerischen Avantgarde – neben der Kulturerbeförderung und der Institutionenbetreuung – den Weg geebnet. Christina Weiss war es, die mit dem Hauptstadtfinanzierungsvertrag die Akademie der Künste und die Kinemathek zum Bund geholt (und damit an seine Pflichten für die Hauptstadtkultur erinnert) hat. Bernd Neumann wiederum verdanken wir insbesondere die Neuaufstellung der Filmförderung und Denkmalschutzsonderprogramme, die im ganzen Land bedeutende Kulturdenkmäler erhalten helfen. Auf eine bundeskulturpolitische Erfolgsgeschichte zurückschauen können wir heute nicht zuletzt auch dank allzeit verlässlicher Rückendeckung aus dem Kanzleramt – dank Ihrer verlässlichen Rückendeckung, verehrte Frau Bundeskanzlerin -, dank parteiübergreifender Unterstützung aus dem Deutschen Bundestag, dank einer konstruktiven Zusammenarbeit mit den Ländern und Kommunen im Rahmen des kooperativen Kulturföderalismus, den wir künftig mit einer eigenen Kulturministerkonferenz weiter stärken wollen, und natürlich insbesondere dank der bei BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien versammelten Fachkompetenz, die mich immer wieder beeindruckt: dank engagierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die für „ihre“ kultur- und medienpolitischen Themen brennen. Mittlerweile ist die BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien damit übrigens endlich auch auf Twitter und Instagram vertreten, und ich darf Ihnen heute verraten, dass unter den Vorschlägen, die es hausintern für den Namen unseres Accounts gab, nicht nur @BundesKultur hoch im Kurs stand. Durchaus Anklang fand auch ein zweiter Vorschlag – nämlich: @KultBehoerde. Wir kamen dann aber überein, dass BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien für den Kultstatus noch zu jung und für den Behörden-Status zu agil ist – und dass Selbstironie in den sozialen Netzwerken nicht unbedingt als solche erkannt, geschweige denn geschätzt wird. Jedenfalls denken wir bei BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien nicht daran, uns auf den Lorbeeren der vergangenen 20 Jahre auszuruhen: Wir bleiben Verteidiger der Vielfalt und Hüter der Freiheit für Kultur und Medien – in der Hoffnung, dass es im Deutschland des 21. Jahrhunderts niemals so weit kommen möge, für derlei demokratische Grundüberzeugungen Kult- (und damit Ausnahme)status reklamieren zu dürfen… . Im demokratischen Tagesgeschäft ist es meist der Streit um Kleinteiliges, das Ringen um Kompromisse, der Pragmatismus des kleinsten gemeinsamen Nenners, der das Miteinander wie auch die Schlagzeilen beherrscht. Das mag langweilig, anstrengend, bisweilen auch aufreibend sein; doch gerade die nüchterne Distanz zu Utopien und Weltanschauungen schützt die Freiheit des Einzelnen. Nicht minder wichtig aber ist, als Gesellschaft im Gespräch, in der Verständigung über die „großen Fragen“ zu bleiben. Dazu brauchen wir Kultur und Medien, und dazu kann und soll Bundeskultur- und -medienpolitik auch in Zukunft beitragen. In diesem Sinne: Auf viele weitere erfolgreiche Jahre!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung des Nationalen Integrationspreises am 29. Oktober 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verleihung-des-nationalen-integrationspreises-am-29-oktober-2018-1543314
Mon, 29 Oct 2018 16:43:00 +0100
Bundeskanzleramt
keine Themen
Sehr geehrte Frau Staatsministerin, liebe Annette Widmann-Mauz, sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüße Sie alle ganz herzlich hier im Bundeskanzleramt zur Verleihung des Nationalen Integrationspreises. Integration ist eine doppelte Herausforderung: für die, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind, und für diejenigen, die diese Menschen hier aufnehmen. Integration ist ein Weg, der beide also zueinander führt. Dieser Weg ist manchmal lang, mitunter steinig. Aber es ist auch ein Weg, auf dem sich Begleiter finden, die Mut zusprechen, die die Richtung weisen und die Hand reichen, um Hindernisse zu überwinden. Wir möchten diese Helfer und Wegbegleiter auch öffentlich würdigen. Denn zum einen hilft ihre Arbeit dem einzelnen Menschen, der zu uns gekommen ist. Sie hilft dabei, sich zurechtzufinden und sich etwas aufzubauen. Zum anderen ist der Einsatz dieser Helfer für unsere Gesellschaft insgesamt von Bedeutung. Denn dadurch werden Toleranz und Zusammenhalt gefördert. Das geschieht oft ehrenamtlich und auf vielerlei Weise. Und das verdient wahrlich Auszeichnungen. Es freut mich, dass wir heute zum zweiten Mal den Nationalen Integrationspreis verleihen. Ich möchte den vielen Institutionen, die Projekte nominiert haben, ganz herzlich danken. Die Projekte sind vielfältig, sie sind kreativ. Nach Deutschland geflohene Menschen schreiben zum Beispiel Zeitungstexte über ihre Erfahrungen; und zwar auf Deutsch. Es gibt Schwimmunterricht für geflüchtete Frauen und Wohngemeinschaften von jungen Deutschen und jungen Flüchtlingen und vieles andere mehr. Aus all diesen bemerkenswerten Initiativen einen Preisträger zu bestimmen, ist alles andere als einfach. Deshalb freuen wir uns, dass wir eine Jury haben, die sich dieser komplizierten Aufgabe widmet. Herr Weise, Frau Roth, Herr Mansour, Frau Professor Foroutan und Herr Khedira haben sich dieser Aufgabe als Jury auch in diesem Jahr wieder gestellt. Der Weg der Integration hat viele große und kleine Etappen: die Sprache zu lernen, einen Ausbildungsplatz zu finden, einen Arbeitsvertrag zu unterschreiben, Freunde zu gewinnen, an deutschen Festen teilzunehmen; und ich mag mir angesichts unserer Bürokratie gar nicht vorstellen, was alles man da verstehen muss. Selbst uns fällt wahrscheinlich auf, wie viel einfacher man manches machen könnte. Über all diese Etappen hinweg kommt vor allem eines zum Tragen: das sind Werte und Grundüberzeugungen, die wir in unserem Land teilen und auf denen unser friedliches Zusammenleben hier beruht. Wertevermittlung war der Schwerpunkt der diesjährigen Preisträgerwahl. In den nominierten Projekten wird vorgelebt, dass für alle Menschen in unserem Land dieselbe Grundlage gilt, nämlich unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. – Annette Widmann-Mauz hat das eben auch schon gesagt. – Dazu gehören ein respektvoller, selbstverständlich auch gewaltfreier Umgang miteinander, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Meinungs- und Glaubensfreiheit. Wenn Kinder auf dem Schulhof als Juden beschimpft werden, muss die Schule sofort reagieren. Wenn Frauen mit Kopftuch oder Männer mit Kippa angepöbelt oder angegriffen werden, muss unser Rechtsstaat mit aller Konsequenz einschreiten. Vor allem aber gilt, dass wir Männer und Frauen mit Zivilcourage brauchen. Dazu gehört auch, klar zu widersprechen, wenn Muslime oder Flüchtlinge pauschal unter Antisemitismusverdacht gestellt werden. Ja, von Einwanderern und Flüchtlingen muss die Einhaltung von Recht und Gesetz und die Beachtung unserer Werte verlangt werden. Umgekehrt haben sie aber auch den berechtigten Anspruch, respektvoll behandelt zu werden und die Chance zu bekommen, sich ein neues, menschenwürdiges Leben aufzubauen. In dieser Verantwortung stehen wir als aufnehmende Gesellschaft. Um den Stellenwert des Engagements in diesem Bereich zu unterstreichen, haben wir 2016 den Nationalen Integrationspreis ins Leben gerufen. Damals hat die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen viele Kräfte gebunden. Viele Menschen und Organisationen haben dabei Unglaubliches geleistet. Wir haben damals mit der Meseberger Erklärung zur Integration ein Paket geschnürt, das auf dem Grundsatz „Fördern und Fordern“ beruht. Dabei war das Integrationsgesetz ein wichtiger Baustein. Wir wollten vor allen Dingen erreichen, dass Flüchtlinge schneller in Integrationskurse und Sprachkurse und schneller in Ausbildung und Arbeit kommen. An einigen Stellen sind wir – das muss man sagen – schon beträchtlich vorangekommen. Wir haben neulich im Gespräch mit Verbänden, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren, feststellen können, dass jetzt schon 300.000 Flüchtlinge in Arbeit sind; viele in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Das ist sehr, sehr gut. Zudem wollen wir gesellschaftliches Engagement unterstützen und würdigen und haben deshalb im vergangenen Jahr die Stadt Altena für ihr Leitbild „Vom Flüchtling zum Altenaer Mitbürger“ ausgezeichnet. Der Einsatz für Integration und Wertevermittlung ist sicher nicht immer leicht. Der Ton ist auch etwas gereizter geworden. Aber gerade deshalb sind Vorbilder so wichtig. Wir haben heute viele Vorbilder hier: Menschen, die Integration unterstützen, und Menschen, die selbst den Weg der Integration gegangen sind. Deutschland wäre um vieles ärmer ohne seine Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund. In diesem Bewusstsein dürfen wir bei der Integration und ihrem Gelingen nicht nachlassen. Im Übrigen ist immer wieder die Frage interessant: Wie lange integriert man sich, wann ist man integriert? Ich würde sagen, wenn man ganz normal teilhat, Teilhabe geschafft hat, dann ist Integration gelungen. Aber das ist immer wieder eine spannende Diskussion im Zusammenhang mit Integration. Wenn wir heute den Preis vergeben, wollen wir auch ein Zeichen setzen, dass es sich lohnt, im Bereich der Integration zu arbeiten, und dass dies ein Gewinn für alle ist. Natürlich soll ein solcher Preis auch ein Ansporn für noch mehr sein, sich in diesem Gebiet zu tummeln. Ich danke Ihnen hier nochmals herzlich für Ihren Einsatz. Ich bin neugierig darauf, mehr über die Projekte zu erfahren, freue mich auf das Podiumsgespräch und übergebe das Wort wieder an Linda Zervakis. Herzlichen Dank.
im Bundeskanzleramt
Rede der Kulturstaatsministerin zur Verleihung des Internationalen Brückepreises 2018 an Daniel Libeskind
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-zur-verleihung-des-internationalen-brueckepreises-2018-an-daniel-libeskind-1545856
Fri, 26 Oct 2018 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Görlitz
Kulturstaatsministerin
Den Internationalen Brückepreis an einen Architekten zu verleihen, liegt ziemlich nahe: Schließlich wirken Architekten am Brückenbau im wörtlichen Sinne mit. Und doch erhält mit Ihnen, lieber Herr Professor Libeskind, erstmals ein Architekt diesen Preis. Ja, Brücken aus Stein und Stahl bauen – das können viele – aber offensichtlich verstehen nur wenige sich so vortrefflich wie Sie auf das Brückenbauen auch im übertragenen Sinne. Dabei denke ich natürlich zuallererst an das Jüdische Museum Berlin: Denn da ist es Ihnen gelungen, eine Brücke über den furchtbaren Abgrund der Menschheitsgeschichte zu bauen, den die Shoah gerissen hat. Dieser Abgrund tut sich unter uns auf, wenn wir Ihre Brücke – das Gebäude des Jüdischen Museums Berlin – begehen, wir erhalten einen erschütternden Einblick in die Dimension und die Folgen der grausamen Verbrechen, die unter nationalsozialistischer Herrschaft von Deutschland ausgingen. Jeder, der schon einmal von einer hohen Brücke in eine tiefe Schlucht geschaut hat, weiß, dass der Eindruck von dort in der Regel noch gewaltiger und nahegehender ist als vom Rand der Schlucht aus. „Wie kann man eine Vergangenheit einfangen, die einerseits so lebendig und vielfältig ist und andererseits so hässlich und schmerzhaft? Wie kann man – nur mit Hilfe von Mörtel, Glas und Stahl – eine turbulente Vergangenheit und eine unvorhersehbare Zukunft zugleich einfangen?“. So haben Sie die Herausforderung formuliert, der Sie sich Ende der 80er Jahre stellten, als Sie beschlossen, sich an der Ausschreibung für den Erweiterungsbau des Berlin Museums zu beteiligen. Mit Ihrem Entwurf „Between the lines“ haben Sie eine spektakuläre Antwort auf diese Fragen formuliert. Sie thematisierten die Vielfalt jüdischen Lebens als lebendigen Bestandteil des Berliner Stadtlebens, in dem Sie auf einem Stadtplan Linien zogen – von den Adressen jüdischer und nichtjüdischer Persönlichkeiten, die Ihnen viel bedeuten. Dies führte zum verzerrten Davidstern als Grundriss. Sie ließen sich von Walter Benjamins „Einbahnstraße“ und Arnold Schönbergs Oper „Moses und Aron“ inspirieren. Sie schufen Raum für die Ausstellung, integrierten aber leere Räume – Voids -, die uns vor Augen führen, dass hier vieles für immer ausgelöscht ist. Sie ergänzten den Bau um den Holocaust-Turm und den Garten des Exils, der seinen Gästen das Gefühl vermitteln soll, wie es ist, „völlig orientierungslos in einem neuen unbekannten Land angeschwemmt zu werden“- so Ihre Worte. Sie wecken mit Ihrer Architektur Emotionen. Darin liegt ein Schlüssel, warum wir, wenn wir das Jüdische Museum betreten, so viel mehr von dem Abgrund sehen, der wie eine eigene Tiefenschicht unsere Geschichte prägt. Zugleich eröffnet Ihr Bau unerwartete Sichtachsen. Dies macht neugierig auf das, was es zu entdecken gibt. Sie entwarfen vom Hier und Jetzt ausgehend über den Abgrund der Shoah eine Brücke in das reiche jüdische Leben in Deutschland vor der Katastrophe. Sie schufen aber auch schmale Fenster – mal senkrecht, mal waagerecht, mal schräg -, die Ausblicke auf die Welt ringsherum ermöglichen. Sie verbinden die historische Erinnerung mit dem Neuanfang und dem Gestaltungsauftrag: das ist wahre Brückenbaukunst, mit der Sie auch persönlich in Ihrem Leben eine Brücke nach Berlin und in ein neues Kapitel Ihrer beeindruckenden Karriere schlugen. Der beste Beleg für die Ausdrucksstärke Ihrer Architektur ist, dass nach der Eröffnung des noch leeren Gebäudes etliche Besucherinnen und Besucher meinten, es bedürfe gar keiner Ausstellung mehr. Der Bau spreche für sich. Es kamen dann doch Vitrinen und Exponate hinein, die die Geschichte der Juden in Deutschland erzählen, nicht mehr nur die der jüdischen Bevölkerung Berlins – auch dies ein Brückenschlag nach vielen Jahren des Ringens um diese Inhalte. Das Jüdische Museum Berlin gehört zu den Kulturinstitutionen, die der Bund finanziert. Als Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien bin ich zuständig, weil das Jüdische Museum Berlin von bundesweiter Relevanz ist. Das hängt eben nicht zuletzt mit dem einzigartigen Gebäude zusammen, das vor wenigen Jahren mit der Akademie eine zukunftsweisende Ergänzung erhielt. Das Jüdische Museum Berlin gilt zu Recht als Ihr großer Durchbruch, lieber Daniel Libeskind. Doch der erste Bau von Ihnen, der fertiggestellt wurde, war das Felix-Nussbaum-Museum in Osnabrück. Ich muss auch unbedingt das Militärhistorische Museum in Dresden erwähnen – nicht nur weil wir in Sachsen sind. Der Keil mitten durch das klassizistische Gebäude des Zeughauses aus dem 19. Jahrhundert lässt sich als Symbol für die Brutalität lesen, mit der Krieg und Gewalt ins Leben der Menschen einschlagen. Ihr feines Gespür dafür, wie sich immer wieder die Abgründe der Menschheitsgeschichte durch Architektur vermitteln lassen, und Ihr unbändiger Wille, aus dem Erinnern eine Botschaft zu entwickeln – die Botschaft, Trennendes zu überwinden, ohne geschehenes Unrecht zu überdecken – dies macht Ihre große Kunst aus, für die Sie weltweit eine so hohe Anerkennung genießen. Für diesen Ansatz stehen auch das nach Ihren Entwürfen gebaute Imperial War Museum in Manchester oder Ihre klugen Ideen, die in die Neugestaltung von Ground Zero in New York eingeflossen sind. Er spiegelt sich in unzähligen weiteren Gebäuden rund um den Globus, die Ihre unverkennbare Handschrift tragen. In all Ihren Entwürfen finden sich Hinweise auf Schlüsselwörter oder -ereignisse, die Sie mit dem geplanten Bauwerk verbinden. Zugleich lassen Sie grundlegende Überlegungen zu nachhaltiger Lebensgestaltung, sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Bürgerbeteiligung einfließen. „Alchemist unter den Architekten“ oder „Philosoph der Baukunst“ lauten Ihre Ehrentitel. Ich nehme Sie aber auch als politischen Architekten wahr: Sie vermitteln den Betrachtern und Nutzern Ihrer Gebäude eine Botschaft, die da lautet: Auf Dich kommt es an, wann immer Menschlichkeit gefährdet ist! Als Architekt, der den Brückenbau zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat, werden Sie an der Europastadt Görlitz-Zgorzelec sicher Gefallen finden. Görlitz ist natürlich schon als baugeschichtliche Perle etwas Besonderes. In den Gebäuden der Stadt spiegelt sich der Glanz vergangener Jahrhunderte. So genießt die Stadt auch ihren ganz eigenen Stellenwert in der Denkmalförderung des Bundes: sie reicht von der Dreifaltigkeitskirche am Obermarkt über die ehemalige Synagoge Görlitz bis hin zur Jugendstil-Stadthalle, die ich mir eben noch einmal angeschaut habe. Vor allem aber ist es hier gelungen, über das Trennende das Verbindende zu stellen: Nach dem Ende des Kommunismus, der selbst zwischen sogenannten Bruderländern schwer überwindbare Grenzen zog, näherten sich Görlitz auf deutscher und Zgorzelec auf polnischer Seite wieder einander an. Vor zwanzig Jahren unterschrieben die Bürgermeister eine Proklamation der Zusammengehörigkeit. Darin heißt es: „Mit ihrer gelebten Partnerschaft wollen beide Städte ein Zeichen für die zunehmende Bedeutung eines vereinigten Europas der Regionen setzen.“ Dies war 1998, also vor Polens EU-Beitritt und damit ein echtes Versprechen für eine gemeinsame europäische Zukunft. Liebe Vertreterinnen und Vertreter der Europastadt, Sie haben selbst immer wieder Brücken gebaut – sogar im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Das Miteinander beider Städte und ihrer Bewohner ist so über die Jahre viel selbstverständlicher geworden. Das ist eine gute Entwicklung, die der politischen Großwetterlage mit ihren derzeitigen Dämpfern im gegenseitigen Verständnis trotzen kann. Und auch wenn die Feier schon ein paar Monate zurückliegt, gratuliere ich von Herzen zum Jubiläum „20 Jahre Europastadt Görlitz-Zgorzelec“. Diese Zusammenarbeit hat Ausstrahlungskraft auf die gesamte Region, die sich über drei Länder verteilt und auf eine lange gemeinsame Tradition zurückschaut. Über Jahrhunderte war die Oder-Neiße-Region ein Raum, in dem sehr unterschiedliche kulturelle Einflüsse sich kreuzten und befruchteten. Der Freistaat Sachsen und die BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien fördern zum Beispiel gemeinsam das Schlesische Museum, das nach neuen Wegen zu dieser alten Kulturlandschaft sucht und dabei auf zahlreichen Ebenen als grenzüberschreitender Brückenbauer wirkt. Diese Projekte sind wichtig, weil sie nicht nur zurückblicken, sondern nach vorn denken. So fördert mein Haus zum Beispiel seit einem Jahr die EuropaChorAkademie, die professionellen Nachwuchs für Chöre qualifiziert. Allerdings müssen wir klar sehen und offen ansprechen, dass die Brücken, die hier wie auch an vielen anderen Orten in Europa gebaut wurden, Risse im Fundament bekommen haben. Die Egoismen des Nationalismus finden wieder verstärkt Anklang. Hinzu kommt die falsche Annahme, das Beharren auf den eigenen Standpunkt sei erfolgreicher als das zähe Ringen um gemeinsame Lösungen. Populisten in ganz Europa schlagen Kapital daraus und scheuen sich dabei nicht, zentrale Freiheitsrechte und demokratische Prinzipien in Frage zu stellen: die Presse- und Meinungsfreiheit, die Unabhängigkeit der Justiz oder auch die Kunstfreiheit. Zu ihrem gängigen Repertoire gehört zudem die Forderung, die historische Aufarbeitung ad acta zu legen, auch und gerade wenn es um die dunklen Kapitel in der eigenen Geschichte geht. Besorgniserregend sind Ausgrenzung, offener Rassismus und die unverhohlene antisemitische Hetze auf unseren Straßen und in Sozialen Medien – befeuert von rechtspopulistischen Ideologen und ihren Anhängern. Hass und Hetze einer Minderheit dürfen in Deutschland nie wieder auf eine schweigende Mehrheit treffen, meine Damen und Herren, sie gefährden unsere Demokratie. Die Auseinandersetzung mit den Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten und das breite gesellschaftliche Bewusstsein für die Verantwortung, die daraus erwächst, gehören zu den hart erkämpften, moralischen Errungenschaften in unseren Gesellschaften. Deshalb bin ich allen dankbar, die gegen populistische Tendenzen Zeichen setzen und die damit denjenigen entgegentreten, die die Brücken eines toleranten Miteinanders bewusst zu beschädigen versuchen. Lieber Herr Libeskind, Sie haben in Ihrem Buch „Entwürfe meines Lebens“ geschrieben: „Die Demokratie selbst stellt eines der größten Risiken dar – als ständiges Experiment, bei dem viel von der Mitwirkung des Einzelnen abhängt.“ Ja: Es kommt auf jeden Einzelnen und jede Einzelne an: Deshalb bin ich dankbar für alle, die am vergangenen Sonntag in Dresden gegen Pegida auf die Straße gegangen sind, allen voran der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer. Ich bin dankbar für alle, die sich Zeit nehmen, um Hasskommentaren im Internet etwas entgegenzusetzen: vor allem Fakten und Argumente. Da gibt es engagierte Initiativen, die durchaus Wirkung entfalten. Ich bin dankbar für Projekte, die Menschen mit sehr unterschiedlichen politischen Positionen dazu bringen, miteinander zu reden. Vor allem das scheint mir in den vergangenen Jahren zu kurz gekommen zu sein. Eben das ist auch eine Aufgabe für uns in der Politik: Wir müssen Haltung zeigen und zu unseren Grundüberzeugungen stehen! Wir müssen hörbar, sichtbar und spürbar machen, was uns Europäer verbindet und welche Kraft im Gemeinsamen steckt. Lieber Daniel Libeskind, Ihr Sohn und Sie brechen die Errungenschaften eines in Vielfalt geeinten Europas in einem gemeinsamen Interview auch auf Ihre eigene Familiengeschichte herunter. Da sagen Sie als Vater: „Ich war der erste in meiner Familie, der eine akademische Bildung erhielt.“ Und Ihr Sohn, der Astrophysiker Noam Libeskind fügt hinzu: „Es ist Wahnsinn, was sich innerhalb einer Generation verändert hat. Meine Frau bekam, als unsere Kinder hier in Deutschland geboren wurden, Bluttests und Ultraschalluntersuchungen. Mein Vater wurde in einem Flüchtlingscamp geboren.“ Auch das: Sie schlagen heute auch eine Brücke zu den Wurzeln Ihrer Familie – in ein verändertes Polen, das einst kommunistisch und Heimat Ihrer Kindheitsjahre war und das heute Teil einer großartigen europäischen Entwicklung ist, einer Entwicklung, die unsere Generation verteidigen muss. Die Kunst und ihre Kraft, zu berühren, sind uns dabei hervorragende Begleiterinnen – auch in Form einer Architektur, wie Sie sie erschaffen. Deshalb, lieber Daniel Libeskind, bin ich dankbar für Ihre Unermüdlichkeit als grandioser Brückenbauer und gratuliere Ihnen von Herzen zur Verleihung des Internationalen Brückepreises 2018.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Verleihung der Kinoprogramm- und Verleiherpreise 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-verleihung-der-kinoprogramm-und-verleiherpreise-2018-1545858
Thu, 25 Oct 2018 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kassel
Kulturstaatsministerin
„Mütter Amerikas, lasst eure Kinder ins Kino gehen!/ Scheucht sie aus dem Haus“, schrieb der Lyriker Frank O’Hara. Und weiter heißt es: „Es ist wahr, dass frische Luft gut für den Körper ist/ doch wo bleibt die Seele?“ Meine Damen und Herren, „let your kids go to the movies!“ fordert der Dichter. Völlig zu Recht. Auch für mich ist das Kino ein Seelen-Ort, ein Zuhause der Imagination und der Phantasie. Deshalb bin ich sehr froh, heute hier bei Ihnen im Jovel bei mir zu Hause in meiner Heimatstadt Münster sein zu können, um die Kinoprogramm- und Verleiherpreise zu vergeben. Wer Kino sagt, meint Kultur. Das gilt jedenfalls für die Programmkinos, die wir heute auszeichnen, und für die Filmverleiher, deren Leistung bei der Verbreitung künstlerisch herausragender Filme wir heute würdigen. Wir alle wissen, dass Ihre Kinos alles andere sind als anonyme Abspielstätten medien-industrieller Massenware: Sie sind vielfältige Podien der Begegnung und des Austauschs, Erfahrungsräume des öffentlichen Lebens. Das zugleich ganz privat ist: Im Dunkel des Kinos wird geguckt und gelacht, geredet und geweint, geträumt und geküsst. Das behagliche Gefühl, in der Menge aufgehoben zu sein, lässt sich mit nichts vergleichen. Dafür, dass Sie all‘ dies möglich machen, kann man Ihnen gar nicht genug danken. Und all dies – kollektive Narrationen, intensive Diskurse, auratische Erfahrungen – bieten Sie, meine Damen und Herren, Tag für Tag allen, die zu Ihnen kommen, im Kiez der Großstädte, in kleineren und kleinen Städten und in ländlichen Regionen. Denn damit machen Sie mehr als nur Ihre Arbeit: In vielen Gegenden ist das Kino – neben der Buchhandlung – der letzte Kulturort überhaupt. Mit Ihrem Engagement und Ihrem Mut zum Wagnis tragen Sie dazu bei, dass der Kinofilm eine Zukunft als Kulturgut hat – und nicht nur als Ware. Sie sorgen dafür, dass Gesellschaft ganz konkret als Gemeinschaft erfahren wird. Dazu gehört auch, dass sich viele unter Ihnen, etwa nach den skandalösen Vorfällen in Chemnitz, an Initiativen für eine offene Gesellschaft beteiligen, dass Sie sich immer wieder, persönlich und als Institution, gegen Ausgrenzung und Gewalt positionieren. Kino, das sind wir alle! Auch dafür danke ich Ihnen von Herzen. Kinos sind Kulturorte, Foren der Reflexion, Erfahrungsräume. Das sagt man gerne, und es sagt sich leicht. Aber für Sie, die Sie diese Orte und Räume schaffen, ist Kino auch eine Hochrisiko-Zone. Die aktuellen Zahlen sind deutlich: Bis zum Ende des dritten Quartals dieses Jahres verzeichnet die Branche allgemein rund 18 Prozent weniger Besucher und Umsatz als im Vorjahresdurchschnitt. Den Filmkunsttheatern geht es da zum Glück etwas besser: laut der Halbjahresbilanz der AG Kino-Gilde müssen sie „nur“ rund 8 Prozent Einbußen gegenüber dem Vorjahr verkraften. Das bezieht sich, wie gesagt, auf die erste Jahreshälfte. Der Jahrhundertsommer und die K.o.-Phase der Fußball-WM sind da noch nicht eingepreist – Sport und Sonne, die Fressfeinde des Kinos! Ja, die Lage verändert sich rasant. Gerade eben gab Netflix bekannt, in den vergangenen drei Monaten fast sieben Millionen neue Abonnenten hinzugewonnen zu haben. Aufwind für die Streamer und ihre Shareholder: Seit Jahresbeginn stieg die Netflix-Aktie um 80 Prozent, das Unternehmen ist inzwischen mehr wert als Disney. Im Streit um das Filmfestival von Cannes und anderer sogenannter A-Festivals konnten wir sehen, dass diese Macht imstande ist, den Filmort „Kino“ zu zerstören. Dem müssen wir uns alle stellen. Mit unserem „Zukunftsprogramm Kino“ bekennen wir uns deshalb im Koalitionsvertrag ausdrücklich dazu, den Kulturort Kino und den anspruchsvollen Kinofilm zu erhalten und zu stärken, gerade auch außerhalb der Ballungsgebiete. Damit stützen wir Sie, die Kinobetreiber und Filmkunstverleiher. Und zugleich schützen wir von sozialen, ökonomischen und demographischen Problemen besonders betroffene Gebiete. Denn: Kino bedeutet auch Infrastruktur. Solche Strukturen kann auch der Bund nicht alleine schaffen – weshalb der Koalitionsvertrag ausdrücklich ein kofinanziertes Programm vorsieht. Das heißt: Wir wollen die Branche, die FFA–Filmförderungsanstalt sowie Länder und Kommunen mit an Bord holen. Ich kann Ihnen versichern, dass unsere Gespräche mit der Branche und den anderen Partnern auf einem guten Weg sind. Schon 2019 wollen wir das Konzept konkretisieren und mit der Umsetzung beginnen. Der Schwerpunkt Kino steht ja schon lange auf unserer Tagesordnung: Seit ich 2013 das Amt der Kulturstaatsministerin übernahm, konnten wir die Mittel für die Filmförderung deutlich erhöhen. Seit 2016 stehen zum Beispiel jährlich zusätzlich 15 Millionen Euro für die kulturelle Filmförderung zur Verfügung, das heißt, dass wir jedes Jahr künstlerisch anspruchsvolle Filmprojekte mit rund 28 Millionen Euro fördern – von der Stoffentwicklung bis zur Auswertung, von der Skizze auf dem Papier bis zur Premiere im Programmkino. Doch wer anspruchsvolle Filme produzieren und vertreiben will, braucht mehr als Geld. Wir arbeiten gezielt daran, gute Rahmenbedingungen für Kinos und Verleiher zu gewährleisten. Wir haben die Sperrfristen beibehalten, die Filmabgabesätze für die kleinen und mittleren Kinos deutlich gesenkt, wir haben auch dafür gekämpft, das Territorialitätsprinzip zum Schutz der Kinowirtschaft zu bewahren. Und last but not least konnten wir 2016 den Etat der Kinoprogrammpreise von 1,5 Millionen Euro um satte 20 Prozent auf 1,8 Millionen erhöhen. Soviel zur Politik, soviel zur Ökonomie. Und wo bleibt sie nun, die Seele? Keine Frage: im Kino! Wo sonst? Und zwar nicht in irgendeinem, sondern in einem echten Ort der Filmkunst, wie hier zum Beispiel im Cinema und Kurbelkiste. Als Münsteranerin freue ich mich natürlich besonders, dass wir unsere Preise heute hier in meiner Heimatstadt vergeben. Lieber Herr Behm, lieber Herr Schneiderheinze, es ist Ihrer Kreativität zu verdanken, dass Ihr Kino im vergangenen Jahr den Spitzenpreis erhielt – übrigens schon zum zweiten Mal nach 2001. Deswegen sind wir heute hier in Münster. Wo wir 2019 feiern werden, das erfahren wir gleich. Liebe Gäste, wenn Sie alle morgen zum Frühstück ins echte „Cinema“ gehen, werden Sie spüren, dass dort Kinokultur gelebt wird. Ich weiß, wovon ich spreche: Bei meinem Besuch im Cinema im vergangenen Dezember habe ich Ruben Östlunds „Square“ – den Gewinner der Goldenen Palme 2017 – gesehen, und 2014, anlässlich des 25. Jahrestages des Mauerfalls, konnte ich im Cinema an einer großen Schulkinoveranstaltung zum Film „Wir können auch anders“ teilnehmen, gemeinsam mit Joachim Król und Detlev Buck. Das Cinema lebt, es bringt Kunst und Politik, Film und Gesellschaft zusammen, es bietet Sondervorführungen, Seniorenkino, Vätertreffen, Lesungen und vieles mehr, und es hat sogar das große Stadtteilfest ins Leben gerufen. Wie reich ist eine Stadt, die solch ein Kino hat! Lieber Thomas Behm, lieber Jens Schneiderheinze: Ohne Ihr Engagement könnte Ihr Haus in diesem Jahr kaum seinen 50. Geburtstag feiern! Herzlichen Glückwunsch, liebes Cinema-Team, und vielen Dank, dass Sie diese wunderbare Preisverleihung für uns alle gestaltet haben! Danken möchte ich ausdrücklich auch denen, die mit viel Sachverstand, Zeit und Hingabe die heutigen Preisträger ausgewählt haben: Christian Schmalz und der Jury des Verleiherpreises, die aus 21 Anträgen drei Preisträger kürte. Und natürlich auch Miriam Pfeiffer und der Jury des Kinoprogrammpreises, die aus 280 Anträgen die heutigen 222 Kinoprogrammpreisträger ermittelte. Herzlichen Dank Ihnen, liebe Frau Pfeiffer und lieber Herr Schmalz, und allen Jurymitgliedern für Ihr großartiges ehrenamtliches Engagement! „Es hat gar keinen Sinn, darum herumzureden“, schrieb Michael Althen: „Das Fernsehen ist womöglich eine ganz gute Schule des Sehens, aber wer erwachsen werden will, muss ins Kino gehen. Es ist ein dunkler Kontinent, der erobert werden will, und das gelingt nur dem, der sich dafür entscheidet, dieses Wagnis auch einzugehen.“ Es ist Ihr Verdienst, liebe Programmkinobetreiber, liebe Filmverleiher, dass wir diesen Kontinent immer wieder neu entdecken dürfen. Herzlichen Glückwunsch allen Preisträgerinnen und Preisträgern der Kinoprogramm- und Verleiherpreise!
Grußwort von Kulturstaatsministerin Grütters beim Festakt zum 20-jährigen Bestehen der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/grusswort-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-festakt-zum-20-jaehrigen-bestehen-der-bundesstiftung-zur-aufarbeitung-der-sed-diktatur-1540878
Wed, 17 Oct 2018 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
[Anrede] Der Regisseur Andreas Dresen wurde jüngst gefragt, warum die Arbeit an seinem Film über den Liedermacher Gerhard Gundermann 10 Jahre beansprucht habe. Dresen antwortete in dem Interview – ich zitiere: „Ich habe die Zeit gebraucht, um eine Dramaturgie für die Widersprüche zu finden.“ Wer den Film anschaut, der ist in der Tat hin und her gerissen: zwischen der Sympathie für den unangepassten Kumpel Gundermann mit seinen poetischen Liedern einerseits und der Irritation über seinen fast naiven Umgang mit der Stasi bzw. seiner IM–Informeller Mitarbeiter-Vergangenheit andererseits. Diese Spannung bleibt oder wie Andreas Dresen sagt: „Es gibt keine Absolution, Punkt.“ Wenn ein Film über eine einzige Person und ihre DDR-Vergangenheit zehn Jahre braucht und wir mit Blick auf diese eine Person die Widersprüche aushalten müssen, wen wundert es dann, dass wir auch nach 20 Jahren Stiftung Aufarbeitung zu der Erkenntnis kommen: Es liegt noch immer sehr viel Arbeit vor uns. So zeichnen wir in unseren Gedenkeinrichtungen und Museen wie 2015 im Deutschen Historischen Museum mit der Ausstellung „Alltag Einheit“ das Porträt einer Übergangsgesellschaft, in der es nostalgisch verklärte Trabi-Safaris ebenso gibt wie die nach wie vor hohe Zahl der Anträge auf Akteneinsicht bei der Stasi-Unterlagenbehörde – jeder Antrag eine individuelle „Entscheidung gegen das Vergessen“, wie Marianne Birthler es einmal formuliert hat. All diese Bilder zusammen ergeben einen wichtigen Mosaikstein im Rückblick auf knapp 30 Jahre Deutsche Einheit. Sie tragen aber auch zum besseren Verständnis der Verunsicherung, der Ängste und der Konflikte bei, die sich auf beiden Seiten – in Ost und West – einstellten, nachdem die erste Euphorie des Mauerfalls verflogen war. Sie laden ein zur Verständigung über unterschiedliche Erfahrungen, Wahrnehmungen und Perspektiven auf die vergangenen 28 Jahre und fördern damit eine gesamtdeutsche Erinnerungskultur, die für unsere Zukunft unverzichtbar ist. Geschichte vergeht ja nicht einfach – die Art und Weise, wie wir sie erzählend vergegenwärtigen, prägt unsere Sicht auf die Gegenwart und damit auch unser Bild von uns selbst und unsere Zukunft. Deshalb kommt der Erinnerungskultur innerhalb der Kulturpolitik eine Sonderrolle zu, und zwar insofern, als die Politik sich hier nicht allein auf die Verantwortung nur für die Rahmenbedingungen zurückziehen darf, sondern den Gegenstand selbst prägt. Nationales Erinnern und Gedenken lassen sich nicht amtlich verordnen, sie sind aber auch nicht rein bürgerschaftlich zu bewältigen. Sie sind immer auch eine öffentliche Angelegenheit – und das heißt in staatlicher Gesamtverantwortung. Wir formulieren den Anspruch, auch moralisch angemessen mit der eigenen Geschichte umzugehen und nicht zuletzt dadurch ein Fundament für die Gegenwart und Zukunft zu legen. Dabei kann man die Reife einer Demokratie auch daran erkennen, wie weit sie die Entwicklung von Geschichtsbildern dem öffentlichen Diskurs anvertraut. Unter anderem aus diesen Überlegungen heraus hat der Deutsche Bundestag vor 20 Jahren die Bundesstiftung Aufarbeitung ins Leben gerufen und mit der Aufgabe betraut, deutschlandweit die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur und der deutschen und europäischen Teilung zu fördern. Die Gründung dieser Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur mitten im Bundestagswahlkampf vor 20 Jahren war ohne Frage wegweisend. Ihre unermüdliche Arbeit seither ist Schrittmacherin der Aufklärung über Diktatur und Widerstand – ganz gleich, ob es darum geht, Dokumente des Widerstands gegen das SED-Regime zu bewahren, Opfer des damaligen Unrechts zu beraten oder die gesellschaftliche Aufarbeitung voranzutreiben. 3.300 Projekte konnten durch die Stiftung in 20 Jahren mit rund 48 Millionen Euro realisiert werden. Ich danke allen, die an ihrer Arbeit mitwirken. Ich danke den engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die die Stiftung zu dem gemacht haben, was sie ist: hochgeschätzt in der Aufarbeitung des Unrechts in der DDR, aber auch in der Auseinandersetzung mit den Strukturen der kommunistischen Diktaturen und mit der lange daraus resultierenden europäischen Teilung. Mein Dank gilt den ehrenamtlichen Mitgliedern der Stiftungsgremien sowie den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, die die Stiftung immer wieder und nachhaltig unterstützen. Der Blick auf die DDR-Vergangenheit ist und bleibt widersprüchlich: Viele, die diese Zeit miterlebt haben, erinnern sich auch an Gutes: das sind zu Recht die ganz privaten Erlebnisse guter Freundschaft oder familiärer Freuden wie die Geburt eines Kindes; das können aber auch gesellschaftliche Anlässe sein wie das Faschingsfest im Plattenbaukeller oder ein Theater- oder Konzertgenuss. Diese Erinnerungen leben in Fotoalben und Erzählungen fort, so dass sie auch die jüngeren nachwachsenden Generationen wie von selbst übernehmen und – auch das gehört dazu – zum Teil nostalgisch verklären. Doch zur Wahrheit gehört eben auch: – dass manch erstklassiger Musiker oder Schauspieler plötzlich von der Bühne verschwand, weil er Auftrittsverbot erhielt, – dass die Stasi über den politischen Witz des Nachbarn beim Fasching erfuhr, – dass Familien und Freundschaften gezielt zerstört wurden, um Angst zu säen. Und genau darum geht es bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur: darum, die staatliche Willkür offenzulegen. Die DDR war ein Staat, der seine Gegner schikanierte und jedes Infragestellen staatlicher Autorität im Keim erstickte, der seine Bürgerinnen und Bürger dazu bis in die intimsten Bereiche ihres Lebens hinein bespitzelte, und der sich dafür mit Hilfe eines Netzes aus Denunzianten in das Beziehunggefüge einer ganzen Gesellschaft, in Freundschaften und Familien und damit in das Leben jedes einzelnen Bürgers fraß. Wenn Zeitzeugen über ihr Schicksal berichten, dann wird aus diesem Befund lebendige Geschichte. Daher hat die Stiftung Aufarbeitung – finanziert durch die Bundesregierung und gemeinsam mit den Stiftungen Berliner Mauer und Hohenschönhausen – ein koordinierendes Zeitzeugenbüro auf die Beine gestellt, das Gesprächspartner an Schulen und andere Bildungseinrichtungen vermittelt. Darüber hinaus fördert der Bund Gedenkstätten zum Beispiel in einstigen Gefängnissen. Vor allem entlarven sie die DDR (, die im Stadtbild Berlins oft bagatellisiert in Gestalt von VoPo–Volkspolizei-Mützen und anderen Nostalgie-Souvenirs daherkommt,) als das, was sie war: ein Unrechtsstaat. Deshalb gehört zu jedem Familienalbum, in dem Schwarz-Weiß-Fotografien die DDR-Vergangenheit rosarot malen, das Wissen, dass es andere Familien gibt, deren Alben sich düster einfärbten. Es braucht die Erkenntnis, dass es jeden treffen konnte und vor allem diejenigen traf, die für das Aller-Selbstverständlichste eintraten: für Freiheit. Auch historische Expertisen führen nur selten zu klaren Schwarz-Weiß-Bildern. Oppositionelle, die gegenüber der SED-Diktatur Mut bewiesen haben, waren und sind nicht per se Engel und für alle Zeit vor Anfechtungen gefeit. Genau wie gute und engagierte Historiker mit unbestrittenen Verdiensten um die Aufarbeitung der SED-Diktatur an anderer Stelle Fehler machen können. Dann sind manchmal Konsequenzen nötig – und wenn sie noch so schwerfallen. Wir erleben nach wie vor, wie schwierig es ist, Vergangenheit aufzuarbeiten und dabei unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen, unterschiedlichen historischen Erzählungen wie auch unterschiedlichen persönlichen Geschichten Raum zu geben. Die Kenntnisse über die Trennlinien zwischen Diktatur und Demokratie sind zum Teil auch verwischt. Deshalb müssen wir uns den Fragen stellen: Wie gehen wir knapp 30 Jahre nach dem Mauerfall damit um? Wie reagieren wir auf Demonstranten, die eine Säule der Demokratie wie die Pressefreiheit ablehnen und angreifen? Was haben wir der erstarkten Sehnsucht nach autoritären Strukturen entgegenzusetzen? Wie schon eingangs bemerkt: Da liegt noch viel Arbeit vor uns. Der deutsche Soziologe Max Weber hat moderne Nationen als „Erinnerungsgemeinschaften“ bezeichnet. Ja, die Stiftung Aufarbeitung ist eine wichtige und notwendige Stimme dabei. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede der Kulturstaatsministerin bei der Villa Aurora & Thomas Mann House Nacht
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-bei-der-villa-aurora-thomas-mann-house-nacht-1540526
Mon, 08 Oct 2018 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Als im vergangenen Juni das Thomas Mann House seine Eröffnung feierte, erinnerten manche Zeitungsartikel fast schon an die Broschüre eines auf malerische Destinationen spezialisierten Reiseveranstalters: so war vielfach die Rede von einem „versteckten Kleinod zwischen Zitronenhainen und Palmen“, „gelegen an der kalifornischen Riviera“, „im Garten Eukalyptus- Bäume und Oleander-Büsche“. Jedenfalls verstand man schnell: bei dem Haus am San Remo Drive in Pacific Pallisades muss es sich um einen wunderbaren Ort handeln. Obwohl wir nun nicht unter kalifornischen Palmen stehen, so ist es doch auch ein wunderbarer Anlass, zu dem wir heute zusammenkommen. Ich freue mich, Sie alle – Interessierte, Stipendiaten, Fellows, Gremienmitglieder oder Mitarbeiter der beiden Einrichtungen Villa Aurora und Thomas Mann House – zu Gespräch und Austausch hier in der Komischen Oper zu begrüßen. In diesem Sinne fügt sich der heutige Abend auch in das vor wenigen Tagen gestartete Deutschlandjahr in den USA: Unter dem Motto „wunderbar together“ will dieses mit Amerikanerinnen und Amerikanern ins Gespräch darüber kommen, was die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern und Kontinenten ausmacht, und was wir daraus machen können. Ein Forum für Gespräche, ein bedeutender Ort des Kulturaustauschs mit den USA, das ist seit vielen Jahren die Villa Aurora. Seit wenigen Monaten schließt sich ihr nun das Thomas Mann House an – von Eingeweihten auch nur das „House“ genannt. Als Debattenort für „grundlegende Gegenwarts- und Zukunftsthemen beiderseits des Atlantiks, konnten wir das ehemalige Anwesen Thomas Manns, in dem dieser eine Dekade seines Lebens im Exil lebte und arbeitete, bevor er 1952 nach Europa zurückkehrte, nach umfassender Renovierung am 18. Juni dieses Jahres eröffnen. Es war ein echter Glücksfall, dass – durch die gemeinsame Initiative des Auswärtigen Amtes und der BKM–Beauftragten für Kultur und Medien – das ehemalige Anwesen Thomas Manns, einem der symbolträchtigsten Orte des deutschen Exils, von der Bundesrepublik aus privater Hand erworben werden konnte. Das Auswärtige Amt und mein Haus haben hier eine Allianz für die Kultur geschmiedet – das kommt nicht alle Tage vor, aber Frank-Walter Steinmeier und ich waren und schnell einig – und darüber bin ich sehr froh. Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Auswärtigen Amt! Ich danke allen anderen Beteiligten hier in Deutschland und in den USA, den Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, die das Vorhaben mit Nachdruck unterstützt haben, allen großzügigen Förderinnen und Fördern, der Berthold Leibinger Stiftung, der Robert Bosch Stiftung und der Alfred Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung. Und natürlich danke ich dem gesamten Team der Villa Aurora für Ihre großartige Arbeit! Und auch Ihnen, lieber Herr Dr. Klimmer, stellvertretend für den Verein Villa Aurora und Thomas Mann House e.V. danke ich herzlich – was Sie leisten, ist vorbildliches zivilgesellschaftliches Engagement. Machen Sie weiter so, dafür wünsche auch Ihnen, liebe Frau Mertens, alles Gute für Ihre neue Aufgabe als Geschäftsführerin des Vereins. In diesem Zuge danke ich auch Ihrer Vorgängerin Annette Rupp für ihren maßgeblichen Beitrag zur Realisierung des Thomas Mann House! In Zeiten, in denen das Fundament der europäisch-amerikanischen Beziehungen stellenweise Risse aufweist, in denen erprobte und erfolgreiche politische Partnerschaften und Handelsbeziehungen zunehmend in Frage gestellt werden, brauchen wir in der transatlantischen Gemeinschaft mehr denn je Stimmen der Vernunft. Gerade der Dialog und Gedankenaustausch herausragender Intellektueller, Wissenschaftler, Publizisten und Kulturschaffender mit den amerikanischen Partnern, der nachhaltige Kontakt in den meinungsbildenden Milieus beider Staaten erscheinen auf diesem Hintergrund von besonders großer Bedeutung. So zählen die Villa Aurora und das Thomas Mann House nicht nur zu den symbolträchtigsten Orten des deutschen Exils, sondern haben darüber hinaus den Auftrag, einen Austausch von Ideen und Gedanken zu ermöglichen, der getragen wird von den Werten, die Europa zu dem gemacht haben, was es ist, einer Einheit in Vielfalt, und die Europa so anziehend für Menschen aus aller Welt machen. Denen, die nach 1933 Deutschland verlassen mussten oder verlassen wollten, darunter zahllose Künstlerinnen und Künstler, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Intellektuelle, ging es zunächst natürlich ums physische Überleben, aber es ging auch um die Rettung der Werte, die die Nationalsozialisten verachteten, mit Füßen traten, einschränkten und letztlich abschafften. Deshalb war es mein Anliegen, nach dem geglückten Coup des Erwerbs der ehemaligen Villa Thomas Manns, die Stimmen der Vernunft und der Kultur, die einst in seinem Hause zum Erklingen kamen, heute wieder vernehmbar zu machen. Wie viele Geistesgrößen gingen ein und aus in der Villa Aurora, dem Haus Lion Feuchtwangers und der Villa Thomas Manns! Bertolt Brecht, Albert Einstein, Theodor Adorno, Ernst Kantorowicz, Alfred Döblin oder Bruno Walter – und noch viele mehr. Sie alle arbeiteten fern der Heimat und ihrer Wurzeln auf sehr unterschiedliche Weise nicht zuletzt am Bild eines neuen, eines demokratischen und humanistisch gesinnten Deutschlands und waren so Brückenbauer zwischen den Kontinenten. Die Freiheit der Kunst, die Freiheit des Wortes zu schützen und zu verteidigen, ist heute oberster Grundsatz und vornehmste Pflicht unserer Kulturpolitik. Deshalb finanziert die Bundesregierung aus dem Etat meines Hauses das „Writers in Exile“-Programm, das wir gemeinsam mit dem deutschen PEN–poets, essayists and novelists 1999 ins Leben gerufen haben. Es gewährt verfolgten Schriftstellerinnen und Schriftstellern vorübergehend Zuflucht und eröffnet ihnen künstlerische Freiheiten, die es in ihren Heimatländern nie gab oder nicht mehr gibt. Denn leider lassen die politischen Entwicklungen weltweit auch heute wenig Anlass zur Hoffnung geben, dass Demokratie und Kunstfreiheit einen globalen Siegeszug antreten. Ganz im Gegenteil… Um die Freiheit des Wortes muss man sich ja selbst mancherorts in Europa wieder Sorge machen… Wo die Freiheit des Wortes beschnitten wird, wo unbequeme Künstlerinnen und Künstler verfolgt werden, wo Kunst zur Erfüllungsgehilfin der Herrschenden degradiert wird, da büßt eine Gesellschaft ihre Humanität ein! Deshalb reicht es aber auch nicht, verfolgten Künstlerinnen und Künstlern Zuflucht zu gewähren. Die Wertegemeinschaft Europa verliert an Glaubwürdigkeit und Kraft, wenn wir nicht bereit sind, für diese unsere Werte auch offen und entschieden einzustehen. Im Koalitionsvertrag haben wir deshalb vereinbart, „eine Initiative für die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Presse- und Meinungsfreiheit, auch im Hinblick auf Exilerfahrungen“ zu unterstützen. „Macht ist nicht alles“, so beschloss Thomas Mann nicht ohne das ihm eigene Pathos am 10. Mai 1945 die 55. und letzte Folge seiner „Radioansprachen an Deutsche Hörer“. „Macht ist nicht einmal die Hauptsache, und nie war deutsche Würde eine Sache der Macht. Deutsch war es einmal und mag es wieder werden, der Macht Achtung und Bewunderung abzugewinnen durch den menschlichen Beitrag, den freien Geist“. Mit dem kulturellen Austausch, den internationalen Begegnungen und Programmen, mit den Stipendien und Fellowships der Villa Aurora und des Thomas Mann House bekennt sich Deutschland einmal mehr zu jenem „freien Geist“, den Thomas Mann in seiner Radioansprache anmahnt, und jenen Werten, die auch in den Häusern Thomas Manns und Lion Feuchtwangers Totalitarismus und Barbarei überlebten und – nicht nur von dort aber eben auch – ab 1945 nach Europa und nach Deutschland zurückkehrten und zum Fundament der neuen Republik wurden. Und wir setzen ein kulturelles Zeichen für die transatlantischen Beziehungen, die sich in ihrer langen Geschichte mehr als einmal als belastbar und stabil erwiesen haben. Als überzeugte Transatlantikerin hoffe und glaube ich, dass das Wertebündnis für Freiheit und Demokratie, das infolge des Zweiten Weltkriegs zwischen Deutschen und Amerikanern geschmiedet wurde, auch eine Präsidentschaft unter dem Motto „America first“ überdauert… . „Wunderbar together“ bleibt also unser Motto: für die transatlantischen Beziehungen und für den heutigen Abend. In diesem Sinne: Auf wunderbare Begegnungen und anregende Gespräche!
In der Komischen Oper in der Berlin würdigte Kulturstaatsministerin Grütters das zivilgesellschaftliche Engagement des Villa Aurora und Thomas Mann House e.V. für den deutsch-amerikanischen Kulturaustausch. Gerade in diesen Zeiten „brauchen wir in der transatlantischen Gemeinschaft mehr denn je Stimmen der Vernunft“, erklärte Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim World Health Summit und Grand Challenges Meeting am 16. Oktober 2018 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-world-health-summit-und-grand-challenges-meeting-am-16-oktober-2018-in-berlin-1539114
Tue, 16 Oct 2018 18:47:00 +0200
keine Themen
Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Erna Solberg, sehr geehrter Herr Generaldirektor Tedros, sehr geehrter, lieber Bill Gates, sehr geehrter Herr Professor Ganten, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, lieber Kollege Gerd Müller, meine Damen und Herren, Gesundheit – wer wünscht sich das nicht? Kaum ein anderes Thema bewegt uns Menschen mehr, eben weil es jeden von uns betrifft und weil es auch darüber entscheidet, ob wir unsere Lebenspläne verwirklichen können oder nicht. Gesund bleiben oder gesund werden, ist aber nicht nur ein individuelles Thema. Es liegt nicht nur in der Verantwortung des Einzelnen. Gesundheit ist auch eine Gemeinschaftsaufgabe, eine globale Aufgabe. Wir alle wissen, welch verheerende Folgen vor allem übertragbare Krankheiten haben können – zuallererst in menschlicher Hinsicht, aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Denn Krankheiten und Epidemien machen nicht vor Ländergrenzen halt, sie stellen nicht nur einzelne Gesundheitssysteme auf die Probe, sondern können die Sicherheit und Entwicklung ganzer Regionen gefährden. Deshalb ist hier mit Recht auch darauf hingewiesen worden, welchen Einfluss das dritte Ziel der Agenda 2030 auf viele der anderen Ziele hat. Aus dieser Tatsache ergibt sich, dass auch die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung nicht an Landesgrenzen haltmacht, sondern eine gemeinsame Verantwortung ist. Sie, die Sie heute Abend hier sind, stehen ja genau dafür, diese Verantwortung wahrnehmen zu wollen. Aber wie machen wir das richtig? Das ist die zentrale Frage, der sich sowohl der Welt-Gesundheitsgipfel als auch das Grand Challenges Meeting der Bill & Melinda Gates Stiftung widmen. Dafür, dass es gelungen ist, beide Foren miteinander zu verbinden, bin ich sehr dankbar, denn das stärkt die Schlagkraft der globalen Gesundheitspolitik. Dies ist schon der zehnte Welt-Gesundheitsgipfel, der hier in Berlin stattfindet. Lieber Herr Professor Ganten, Sie haben den Gipfel 2009 ins Leben gerufen, und zwar anlässlich des 300. Jahrestags der Gründung der Berliner Charité. Der Name Charité – Barmherzigkeit – gibt die gemeinwohlorientierte Leitlinie vor, der öffentlichen Gesundheit zu dienen. Der Welt-Gesundheitsgipfel knüpft an diese Tradition an. Er führt Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zusammen, um gemeinsame und in sich schlüssige Strategien für die Welt zu entwickeln. Ich persönlich habe das von Anfang an für eine großartige Idee gehalten und bin deshalb gerne Schirmherrin dieser Gipfeltreffen geworden. Weil globale Fragen globale Antworten erfordern – von reicheren Ländern ebenso wie von weniger wohlhabenden Ländern –, müssen wir alle gemeinsam daran arbeiten, wirksame Medikamente und Impfstoffe zu entwickeln. Wir haben davon heute Abend schon gehört. Wir brauchen effiziente Gesundheits- und Versorgungssysteme. Wir müssen Pandemien genauso wie Resistenzen gegenüber Antibiotika vorbeugen. Wir müssen insgesamt eine gesunde Umwelt fördern – saubere Luft, sauberes Wasser – und auf eine ausreichende Ernährung hinwirken. Das heißt also: Es braucht Zusammenarbeit. Lieber Bill Gates, Sie leben das seit vielen Jahren vor. Sie suchen den Schulterschluss mit Regierungen und Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation oder mit Stiftungen wie dem Wellcome Trust. Ich danke Ihnen herzlich dafür. Sie kämpfen unermüdlich für ein besseres Leben der ärmsten Menschen. Wir in Deutschland fühlen uns ebenfalls diesem Ziel verpflichtet. Wir haben unser Engagement unter anderem in der Forschung für globale Gesundheit erheblich gesteigert – und das nicht nur finanziell: Wir haben dieses wichtige Thema auch immer wieder auf die internationale Tagesordnung gebracht – sei es etwa im Format der G7 oder der G20; und zwar ganz besonders dann, als Deutschland Gastgeber des G7-Treffens wie auch des G20-Treffens sein durfte. Ein besonderes Anliegen ist mir auch das gemeinsame Vorgehen gegen vernachlässigte und armutsassoziierte Krankheiten. Wir müssen gemeinsam gegen die großen Drei kämpfen – also gegen HIV, Malaria und Tuberkulose. Dass das gelingt, wurde hier ja schon anhand praktischer Beispiele dargelegt. Impfstoffe müssen entwickelt werden, um Epidemien vorbeugen zu können. Und wir müssen Resistenzen gegen Antibiotika eindämmen, da wir nicht einfach darauf hoffen können, dass überall immer wieder neue Antibiotika entwickelt werden. Deutschland wird zur Erreichung dieser Ziele unter anderem seine Mittel für die Antibiotika-Forschung auf 500 Millionen Euro für die nächsten zehn Jahre steigern. Ich glaube, dass auch andere Länder ihr Engagement verstärken werden. Dabei kommt es aber auch darauf an, dass wir vernetzt arbeiten und wirklich darauf achten, dass nicht alle die gleichen Schwerpunkte setzen, sondern dass wir das gesamte Feld abdecken. Um die Erforschung antimikrobieller Resistenzen voranzutreiben, haben wir mit vielen G20-Partnern, der Bill & Melinda Gates Stiftung und dem Wellcome Trust den Global AMR Research and Development Hub ins Leben gerufen. Lieber Herr Tedros, die WHO hat die Arbeit des Hubs beratend und richtungsweisend begleitet. Ganz herzlichen Dank dafür. Wir alle spüren aber, dass im Augenblick das Prinzip des Multilateralismus verstärkt auf dem Prüfstand und unter Druck steht. Doch gerade auch in Gesundheitsfragen zeigt sich der Wert der multilateralen Zusammenarbeit. Deshalb wünsche ich mir, dass dies hier nicht nur ein Forum von Spezialisten ist, sondern dass hier auch ein kräftiges Signal dafür ausgesendet wird, dass Multilateralismus eine Win-win-Situation für alle auf der Welt bedeutet. Wir haben es ja 2014 bei der Ebola-Epidemie gesehen. Damals starben über 11.000 Menschen in Westafrika. Weder die nationalen noch die internationalen Systeme waren auf einen solchen Krisenfall ausreichend vorbereitet. Wir haben das als Weckruf verstanden; und es war ein Weckruf. Heute können wir sagen, dass es beachtliche Fortschritte gibt. So konnte der Ebola-Ausbruch in der Demokratischen Republik Kongo im Frühjahr relativ schnell eingedämmt werden – auch und gerade, weil die Abläufe innerhalb der WHO sehr viel besser koordiniert waren. Ich hoffe, das gilt auch bei den jetzt noch anstehenden Aufgaben. Die neuen Mechanismen haben gegriffen. Dabei hat der Contingency Fund for Emergencies, den auch Deutschland unterstützt, seine Wirksamkeit unter Beweis gestellt. Genauso sollte das auch beim Ausbruch neuer Krankheitsfälle sein. Ich möchte daher an alle, die in der Region Verantwortung tragen, appellieren, dass den Hilfskräften ungehinderter Zugang gewährt wird, damit sich Krankheiten nicht weiter ausbreiten, und dass Strukturen geschaffen werden, die zu Transparenz ermutigen. Es nützt im Falle eines Krankheitsausbruchs nichts, etwas zu verschweigen. Vielmehr brauchen wir volle Transparenz. Deshalb möchte ich noch einmal WHO-Generaldirektor Tedros für seine Reformanstrengungen und den Aufbau klarer Notfallstrukturen ganz herzlich danken. Sie sorgen hierfür auch aus eigener Erfahrung Ihrer früheren Tätigkeit. Danke dafür. Wir werden Sie auf Ihrem Weg begleiten. Meine Damen und Herren, es ist schon sehr viel gewonnen, wenn wir Epidemien eindämmen können. Aber begnügen dürfen wir uns damit natürlich nicht. Gesundheit insgesamt ist wesentliche Voraussetzung für Wohlergehen, Wohlstand und ein würdevolles Leben – kurzum: für all das, worauf die Agenda 2030 mit ihren 17 Agenda-Zielen ausgerichtet ist. Jede Investition in das Gesundheitssystem ist eine Investition in die Menschen, in eine stabile Bevölkerungsentwicklung und in eine Perspektive für Menschen. Ich freue mich, dass ich gemeinsam mit Erna Solberg und mit dem Staatspräsidenten Ghanas, Nana Akufo-Addo, Erfolg hatte, als wir Generaldirektor Tedros gebeten haben, gemeinsam mit allen relevanten Akteuren einen Aktionsplan zur Umsetzung des Agenda-Ziels Gesundheit zu entwickeln. Die erste Version liegt auf dem Tisch; schon allein für die letzte Seite mit den zehn Unterschriften bedurfte es einer Kraftanstrengung. Dank an alle für die Zusammenarbeit. Wir werden nun Indikatoren für eine Bestandsaufnahme im Jahr 2023 entwickeln. Wir werden die Zivilgesellschaften einbinden. Deutschland wirbt dafür, dass sich Organisationen, verschiedene Akteure und auch Staaten klar zum Fahrplan bekennen und bei der Umsetzung zusammenarbeiten. Denn die Zeit drängt. Meine Damen und Herren, „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet“ – so heißt es in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen. Ein gesundes Leben darf eben nicht vom jeweiligen Geburts- oder Wohnort abhängen. Wo auch immer auf der Welt – es ist eine Frage der Menschlichkeit, sich auf ein funktionierendes Gesundheitssystem verlassen zu können. Das ist eine fordernde Menschheitsaufgabe. Es ist allerhöchste Zeit, dass wir uns der Lösung dieser Menschheitsaufgabe aus der Menschenrechtserklärung zielgerichtet widmen. Diese Tagung – davon bin ich überzeugt – wird ihren Beitrag dazu leisten, dass es vorangeht. Es gibt noch viel zu tun, aber wenn wir alle anpacken, dann haben wir eine gute Chance, das Agenda-Ziel bis 2030 zu erreichen. Herzlichen Dank.
Rede der Kulturstaatsministerin zum 10-jährigen Bestehen der Initiative Musik
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-zum-10-jaehrigen-bestehen-der-initiative-musik-1540424
Wed, 17 Oct 2018 12:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
[Anrede] Sie haben einen wunderbar symbolischen Ort für die Jubiläumsfeier gewählt. An den Meistersaal knüpfen sich Erinnerungen, die nach wie vor elektrisieren. In diesen Räumen haben Musikgrößen wie Udo Jürgens und Nina Hagen, wie U2 und Iggy Pop sowie – unvergessen – David Bowie ihre Platten aufgenommen. Dies verschafft dem Ort eine geradezu sentimentale Aura. Von hier aus gingen große Songs um die Welt – ein perfektes Omen für die Projekte der Initiative Musik. Zugleich spiegelt sich an diesem Ort, wie rasant sich Dinge ändern können. Den Meistersaal gibt es noch, aber ob David Bowie ihn wiederfinden würde, wenn er noch lebte – wer weiß… Kaum ein Ort sonst hat sich so stark nach dem Mauerfall verändert wie der Potsdamer Platz. Um dieses Haus herum ist aus dem Nichts ein neues Viertel gewachsen: Gebäude und Institutionen, nicht zuletzt der Bürokomplex schräg gegenüber, in dem sich fleißige Menschen um die Bundeskultur – natürlich auch um die Musik – kümmern. Ein Teil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Beauftragten für Kultur und Medien arbeitet in der Köthener Straße. Mein Amt gibt es schließlich auch erst seit zwanzig Jahren. Mehr als zehn davon sind wir nun Partner der Initiative Musik. Der institutionelle Schulterschluss zur Förderung der deutschen Musikwirtschaft vor nunmehr einem Jahrzehnt war das Ergebnis eines Lernprozesses, aus dem sich vor allem eines klar ergab: Auch Rock, Pop und Jazz benötigen Kontinuität in der Förderung. Die Schnittmengen zur profitablen Wirtschaft mögen größer sein als bei klassischer und zeitgenössischer Musik. Aber Kern des Erfolgs ist und bleibt auch hier die künstlerische Kreativität. Die Initiative Musik setzt genau an dieser Stelle an: Sie unterstützt die Talente von heute dabei, ihren Weg zu gehen, neue Ideen umzusetzen und mit ihrem Können den Durchbruch am Markt zu schaffen oder gar die Stars von morgen zu werden. Zu diesem Ziel ist ein Bündnis sehr verschiedener Partner in der Initiative Musik entstanden – das ist schon ein Wert an sich. Da sind leidenschaftlich-kontroverse Debatten vorprogrammiert. Mit der öffentlichen Hand zusammenzuarbeiten – das heißt ihre Regularien und Vorschriften zu beachten – bringt noch zusätzlichen Abstimmungsbedarf auf jede Tagesordnung. Aber am Ende zählt für alle Seiten der Erfolg. Die Initiative Musik hat sich als „Jungbrunnen der Musikszene“ erwiesen. Die Liste der Namen, die im Laufe der zehn Jahre im Förderprogramm der Initiative standen und heute zu den anerkannten Acts gehören, ist lang. Am Donnerstag wird der Preis der Popkultur verliehen. Die Shortlist der Nominierten liest sich fast wie eine Pressemitteilung der Initiative Musik zu ihren Erfolgen: Denn mehr als die Hälfte der nominierten Künstlerinnen und Künstler haben eine Förderung durch die Initiative erhalten. Sei es Kat Frankie, Dillon und Mine in der Kategorie „Lieblingssolokünstlerin“ oder bei den „Lieblingssolokünstlern“ Drangsal, Get Well Soon oder Trettmann – um nur einige Beispiele zu nennen. Also: Die Jury bei der Initiative Musik hat den richtigen Riecher. Sie ist übrigens eine reine Fachjury, und wie auch bei allen anderen Jurys oder Gremien legen wir auch hier großen Wert darauf, dass Frauen und Männer gleichermaßen vertreten sind. Aber dass ich die paritätische Besetzung überhaupt erwähnen muss, spricht Bände. Sie ist leider auch im Jahr 2018 keine Selbstverständlichkeit, das fällt mir schwer zu verstehen. Der Anteil von Frauen an der Rock-, Pop- und Jazzmusik, insbesondere in den vordersten Reihen, ist immer noch beklagenswert niedrig. Da sollten sich doch alle einmal fragen, „warum“ und mithelfen, die gläserne Decke zu durchstoßen. Umso mehr freue ich mich über Fortschritte: Bei der GEMA–Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte zum Beispiel sind inzwischen deutlich mehr weibliche Mitglieder in den GEMA–Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte-Unterausschüssen vertreten und – Kompliment, lieber Herr Dr. Heker! – die GEMA–Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte hat sich selbst verpflichtet, Jurys künftig paritätisch zu besetzen. Das ist der richtige Schritt, damit die kreative Arbeit und Leistung unserer Frauen besser zum Zuge kommt. Bei der Initiative Musik lag in der letzten Runde zur Künstler- und Infrastrukturförderung der Anteil an geförderten Projekten, an denen Frauen beteiligt sind, bei immerhin 35 Prozent (22 von 62 Projekten). Der Jury war das Thema so wichtig, dass sie verschiedene Infrastrukturprojekte, die die Gleichstellung auf der Agenda haben, zur Förderung empfohlen haben. Last but not least hat sich die APPLAUS–Auszeichnung der Programmplanung unabhängiger Spielstätten-Jury entschieden – soviel darf ich vor der Verleihung in einem Monat verraten -, Sonderpreise unter anderem auch für sichtbar großes Engagement im Bereich Gleichstellung zu vergeben. Damit bin ich bei einem weiteren Schwerpunkt der Initiative Musik: der Förderung der Livemusik, denn auch im digitalen Zeitalter gilt: Direkt vor Ort gespielte Musik gemeinsam mit anderen zu genießen, ist eben doch ein ganz eigenes Erlebnis – ein anderes als die digitale Filterkammer. Für mich jedenfalls gilt: Ohne das Liveerlebnis keine wahre Liebe zur Musik. Der APPLAUS–Auszeichnung der Programmplanung unabhängiger Spielstätten unterstützt eine breite Clublandschaft in Deutschland. Die Spielstätten müssen in der Lage sein, vernünftige Arbeitsbedingungen zu bieten und Künstlerinnen und Künstler angemessen zu bezahlen. Etliche Veranstalter nutzen die Preisgelder des APPLAUS–Auszeichnung der Programmplanung unabhängiger Spielstätten auch genau zu diesem Zwecke. Damit schließt sich dann der Kreis zur Künstlerförderung. An dieser Stelle danke ich LiveKomm und der Bundeskonferenz Jazz, ohne die es die Livesektor-Förderung der Initiative Musik in dieser Form gar nicht gäbe. Ich danke allen, die die Initiative Musik unterstützen oder unterstützt haben: – den Pionieren der ersten Stunde, von denen einige im Saal sind – bis auf Frank Dostal, den viele schmerzlich vermissen (war Aufsichtsratsmitglied und ist 2017 gestorben). – Ich danke den Gesellschaftern der Initiative Musik, der GVL–Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten mit beschränkter Haftung und dem Deutschen Musikrat, sowie der GEMA–Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte. GEMA–Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte und GVL–Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten mit beschränkter Haftung halten der Initiative Musik als Förderinnen der Geschäftsstelle auch finanziell die Treue – mit beachtlichen Erhöhungen Ihrer Zuschüsse. Fühlen Sie sich ermutigt, diesen Pfad beizubehalten. – Die BKM–Beauftragte für Kultur und Medien-Mittel für die Initiative Musik sind seit den Anfängen ganz beträchtlich gestiegen: Angefangen haben wir vor zehn Jahren mit einer Million jährlich. Dieses Jahr sind es knapp zehn Millionen. Das kommt nicht von allein. – Großer Dank geht an die Mitglieder des Aufsichtsrats sowie der Fachjurys. – Und natürlich gebührt ein herzliches Dankeschön Frau Kessler und ihrem sehr engagierten Team, das entscheidend zum Erfolg der Initiative Musik beiträgt. All Ihr Engagement dient der Unterstützung der musikkulturellen Vielfalt, indem es dem Druck der Verkaufszahlen – der Logik der Klick-Ökonomie auf Streaming-Plattformen – die Ermutigung zum künstlerischen Experiment jenseits des Mainstreams entgegensetzt. Auf diese Weise kann die Kulturpolitik dazu beitragen, dass Musik nicht nur als Wirtschaftsprodukt, sondern auch als Kulturgut eine Zukunft hat. Wir wenden uns damit gegen die Degradierung von Kulturgütern zur bloßen Handelsware und gegen die Bewirtschaftung einer geistigen und ästhetischen Monokultur, in der nur das überlebt, was sich gut verkauft. In diesem Sinne, meine Damen und Herren, kann ich das Aus für den Musikpreis ECHO nur begrüßen – wenn ich es auch sehr bedaure, dass es einer Welle berechtigter öffentlicher Empörung angesichts der Auszeichnung von Songs mit teils menschenverachtenden, herabwürdigenden Texten bedurfte, um die Fragwürdigkeit eines Preises zu offenbaren, der das Klingeln der Kassen zum alleinigen Maßstab künstlerischer Preiswürdigkeit gemacht hat. Gerade die ECHO-Debatte hat uns allen gezeigt, dass auch die Musikwirtschaft zu ihrer gesellschaftlichen Mitverantwortung und ihrer Haltung gegenüber Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Rassismus und Gewaltverherrlichung Stellung nehmen muss – und zur Frage, was aus einer Gesellschaft wird, in der Verrohung als preiswürdig und damit salonfähig und „Schulhof-kompatibel“ gilt. Ich ermutige Sie alle, sich als Branche mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ideen wie ein freiwilliger Ethikkodex der Musikwirtschaft verdienen es, diskutiert zu werden, und ich bin gerne bereit, sinnvolle Initiativen der Branche öffentlichkeitswirksam zu unterstützen. Der Zuwachs an Aufgaben in den vergangenen Jahren zeigt, wieviel Musik in der Initiative selbst steckt. Sie beschleunigt den Takt der Kreativität, der Innovation und damit des Zuwachs an musikalischer Vielfalt in Deutschland. Die nächsten Baustellen sind bereits ins Auge gefasst: Beim Musikwirtschaftsgipfel haben wir über die Notwendigkeit der Regulierung von Internetplattformen gesprochen, aber auch die neuen Chancen der digitalen Welt beleuchtet. Gerade auch das Urheberrecht ist und bleibt hier eine der großen Herausforderungen. Aber nach dem Europäischen Rat hat nun auch das Europäische Parlament das Mandat für den Trilog erteilt. Damit ist der Weg für die weiteren Verhandlungen frei. Die bestehende Förderung lässt sich weiter stärken. Die Exportaktivitäten nehmen wir zusätzlich in den Blick, aber auch andere Galaxien des „Musikuniversums“ – diesen Begriff hat der Verband der unabhängigen Musikunternehmen ins Spiel gebracht. Mir gefällt er, denn das Universum hat sich vom Urknall an immer weiterentwickelt und ausdifferenziert. Und auch die Musik. Sie verleiht jeder Zeit ihren eigenen Klang. Den Hit „Heroes“, den David Bowie Ende der 70er hier in den Studios aufnahm, haben viele von uns noch im Ohr. Er ist vor allem ein Liebeslied, aber er vermittelt auch den bedrückenden Eindruck von diesem Ort zu Zeiten der Deutschen Teilung – ich zitiere: „I can remember/ standing by the wall/ and the guns shot above our heads/ and we kissed/ as though nothing could fall.“ Das waren die 70er. Auch wenn wir an die 80er, 90er usw. zurückdenken, dann haben wir sofort Texte und Melodien dazu im Ohr. Ich bin gespannt, was aus dem aktuellen Jahrzehnt bleibt und was im nächsten Jahrzehnt entsteht. Um das künstlerische Potential zu heben, damit in Deutschland Songs des 21. Jahrhunderts entstehen, gibt es die Initiative Musik. Vielen Dank.
Bei der Festveranstaltung im Meistersaal in Berlin würdigte Kulturstaatsministerin Grütters die Initiative Musik als „Jungbrunnen der Musikszene“, indem sie Talenten von heute dabei helfe, mit ihrem Können den Durchbruch am Markt zu schaffen oder gar die Stars von morgen zu werden.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Unternehmertag des Bundesverbands Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen e.V.
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-unternehmertag-des-bundesverbands-grosshandel-aussenhandel-dienstleistungen-e-v–1538478
Mon, 15 Oct 2018 14:37:00 +0200
Berlin
Wirtschaft und Energie
Meine Damen und Herren, sehr geehrter Herr Bingmann, erst einmal herzlichen Dank für die Einladung. Zum Zweiten: Herzlichen Glückwunsch zu dem ja schon beängstigend einmütigen Wahlergebnis und alles Gute nun für die erste ganze Amtszeit als Präsident des Bundesverbands Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen. Ihre heutige Tagung findet in einem Umfeld statt, in dem wir auf sehr gute Wirtschaftsdaten und eine sehr gute Beschäftigungslage verweisen können. Das gilt für alle Teile der Bundesrepublik, ganz besonders auch für das Bundesland Bayern. Gestatten Sie mir eine Bemerkung zum gestrigen Wahltag dort. Er hat nämlich gezeigt, dass selbst beste Wirtschaftsdaten und eine Beinahe-Vollbeschäftigung in fast allen Teilen Bayerns für die Menschen noch nicht ausreichen, wenn etwas nicht da ist, das aber sehr wichtig ist: nämlich Vertrauen – Vertrauen in die politischen Akteure. Im Rückblick auf die Regierungsbildung und die letzten zwölf Monate müssen wir feststellen, dass viel Vertrauen verloren gegangen ist. Das gilt auch für die Unionsparteien, von denen man erwartet, dass sie gemeinsam agieren. Es ist der Großen Koalition bislang nicht gelungen, das, was sie getan hat, wirklich deutlich zu machen. Deshalb ist meine Lehre aus dem gestrigen Tag, dass ich auch als Bundeskanzlerin dieser Großen Koalition stärker dafür Sorge tragen muss, dass Vertrauen da ist und die Resultate unserer Arbeit sichtbarer werden. Das werde ich mit allem Nachdruck tun. Der heutige Tag ist im Übrigen ein sehr guter Tag, um über Vertrauen zu sprechen. Denn heute vor zehn Jahren, am 15. Oktober 2008, rutschte der Dow-Jones-Aktienindex so stark ab, wie seit dem sogenannten Schwarzen Montag im Jahr 1987 nicht mehr. Der Deutsche Aktienindex schwenkte auch ins Minus. Im Bundestag wurde an jenem Tag intensiv über das Finanzmarktstabilisierungsgesetz diskutiert. Ich habe damals deutlich gemacht, dass die vorgesehenen Maßnahmen – außerordentliche, aber unglaublich wichtige Maßnahmen – nicht dazu dienten, einzelnen Finanzinstituten zu helfen, sondern dass es uns um den Schutz unserer gesamten Wirtschaft und den Schutz der Bürgerinnen und Bürger ging, auf den sie ein Anrecht haben. Es war damals eine gewaltige Rettungsoperation, die notwendig war. Beim Europäischen Rat, nur wenige Stunden später am selben Tag, standen dann auch Fragen wie diese im Mittelpunkt: Wie lassen sich die Kapitalmärkte und die Wirtschaft insgesamt stabilisieren? Wie können wir möglichst viele Arbeitsplätze sichern? Wie schützen wir die Sparer? Das war eine einzigartige Bewährungsprobe für uns in Deutschland, für Europa und weltweit. Daher hat erstmals ein G20-Treffen auch auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs stattgefunden. Bis dahin gab es diese Treffen nur auf der Ebene der Finanzminister. Wir haben uns damals vorgenommen, dass wir nie wieder in eine Lage kommen, in der sozusagen Risiken in einzelnen Ländern letztlich die globale Wirtschaft in Turbulenzen bringen können. Wir haben eine Menge gelernt. Ich hoffe, dass wir auch genug gelernt haben. Vor allen Dingen ist eine dieser Lehren gewesen, dass nationale Alleingänge uns nicht weiterhelfen. Nur durch gemeinsames und aufeinander abgestimmtes Handeln – global, europäisch und national – haben wir überhaupt den Weg aus der Krise gefunden. Ich sage das, weil mit einem Abstand von zehn Jahren die Gefahr zu wachsen droht, dass man diese Lehren wieder vergisst. Heute zeichnen sich auch wieder außenwirtschaftliche Turbulenzen ab. Zwar wurde eine ganze Reihe neuer Handelsabkommen geschlossen. Und ich freue mich, dass Sie es genauso sehen wie wir, dass das wichtig und richtig war, obwohl dem ja auch teils dramatische gesellschaftliche Diskussionen vorangingen. Aber wir sehen, dass der protektionistische Gedanke eine Renaissance erlebt. Dass gerade auch die Vereinigten Staaten von Amerika, ein globaler Wirtschaftsakteur, an verschiedenen Stellen den Multilateralismus infrage stellen, ist durchaus ein Punkt großer Sorge aus politischer Sicht und, wie ich glaube, auch aus Ihrer Perspektive in der Wirtschaft. Denken wir an den Handelsstreit zwischen den USA und China, den beiden größten Volkswirtschaften. Aus diesem Streit können auch wir Deutsche uns nicht heraushalten, weil wir miteinander vernetzt sind. Wir sind eben keine unbeteiligten Dritten. Denn über internationale Wertschöpfungsketten – das zeigt sich immer mehr – sind wir so eng miteinander verbunden, dass, wenn an einer Stelle Vertrauen fehlt oder infrage gestellt wird, sich dies auch an allen anderen Stellen zeigen kann. Wir werden zudem – das wurde von Ihnen eben auch schon erwähnt, Herr Bingmann – innerhalb der Europäischen Union ein großes, wichtiges Mitgliedsland verlieren. Dass ich das bedauere und dass Sie alle hier in diesem Raum das bedauern, ist klar. Aber wir müssen damit umgehen. Es gibt also einige Unsicherheitsfaktoren, die für den Welthandel und die Weltwirtschaft von Bedeutung sind. Gewisse Ausläufer spüren wir ja auch schon bei uns. Unser Land ist so stark in die internationale Wirtschaft eingebunden, dass wir natürlich besonders sensibilisiert hinschauen. Die Außenhandelsquote bei uns ist hoch. Exporte und Importe von Waren und Dienstleistungen zusammen beliefen sich 2017 auf fast 87 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts. Das heißt, dass wir viele politische Diskussionen über Verteilung nicht zu führen brauchen, wenn sich an dieser Stelle Unsicherheiten ergeben. Das heißt, dass die Außenwirtschaft für Wachstum, Beschäftigung und soziale Sicherheit – kurz: für den Wohlstand in unserem Land – außerordentlich bedeutsam ist. Deshalb versteht es sich von selbst, dass wir nicht nachlassen dürfen, uns immer wieder für einen Abbau von Handelsbarrieren stark zu machen und immer wieder dafür einzutreten, friedliche Lösungen und Verhandlungslösungen für Konflikte zu finden und natürlich auch die Welthandelsorganisation zu stärken. Denn das ist im Grunde das Fundament, auf dem wir arbeiten. Bilaterale Handelsabkommen sind notwendig, sie sind ergänzend, aber eigentlich sind sie nur Ausdruck der Tatsache, dass wir in den multilateralen Handelsbeziehungen nicht so richtig weitergekommen sind. Das WTO-System muss also weiterentwickelt werden. Wir wollen den multilateralen Ansatz stärken. Eigentlich ist es ein wenig traurig, dass man das betonen muss. Aber ich freue mich, dass wir dabei am gleichen Strick ziehen – und dann auch noch in die gleiche Richtung. Das ist ja nicht immer der Fall. Sie haben selbst davon gesprochen, wie es mit dem Vertrauen ist. Auch das ist natürlich wichtig mit Blick auf einige Wirtschaftszweige. Damals waren es die Banken. Und man muss sagen, dass verlorengegangenes Vertrauen in den vergangenen zehn Jahren nicht im selben Maße wieder zurückgekehrt ist. Was wir in den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren mit der Automobilindustrie erlebt haben, hat auch viel Vertrauen zerstört. Deshalb meine herzliche Bitte gerade auch an die vielen mittelständischen Unternehmen: Seien Sie das, was man unter der Philosophie des ehrbaren Kaufmanns versteht; leben Sie das, was man unter Sozialer Marktwirtschaft versteht. Das ist so unendlich wichtig für die Akzeptanz der Wirtschaft in unserem Land. Aber es ist viel, viel mehr: Wenn man über gesellschaftlichen Zusammenhalt spricht, dann erwartet man einfach, dass nicht betrogen wird, sondern dass Vertrauen geschaffen wird. Ich habe von dem G20-Format gesprochen, das es seit 2008 gibt. Der nächste G20-Gipfel wird in Buenos Aires stattfinden. Ich hoffe, dass wir dort ein Signal – jedenfalls arbeiten wir dafür – für eine Modernisierung und Weiterentwicklung der Welthandelsorganisation setzen können. Denn angesichts der dramatischen Weiterentwicklung der Wirtschaft mit Blick auf die Digitalisierung brauchen wir ja auch in diesen Bereichen ein – wie man so schön sagt – „level playing field“, das aber bei einem Stillstand in einer solchen multilateralen Organisation nie geschaffen werden würde, was dann große Gefahren von Verzerrungen im internationalen Handel mit sich bringen würde. Wir denken natürlich weiter. Wir wissen, dass wir international und multilateral nicht immer so, wie gewünscht, vorangekommen sind. Deshalb haben wir uns sehr für CETA eingesetzt. Das ist jetzt unter Dach und Fach – mehr oder weniger; es wird vorläufig angewandt. Und ich hoffe, die Ratifizierung gelingt. Das Handelsabkommen mit Japan ist unterzeichnet. Es laufen Verhandlungen mit Australien. Das alles sind gute Punkte, aber wir sehen auch, wie schwierig Fortschritte sind – zum Beispiel mit Blick auf Mercosur. Wir haben da also noch sehr viel zu tun. Wir haben uns auch immer wieder dafür eingesetzt, dass es Gespräche zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika gibt. Diese finden zurzeit zum Glück statt. Und ich hoffe, dass sie auch erfolgreich sein werden. Zusätzlich haben wir seitens der Bundesregierung – auch stark vorangebracht durch das Kanzleramt – einen bilateralen Wirtschaftsdialog mit den Vereinigten Staaten von Amerika aufgenommen, weil wir im Handel ja in besonderer Weise exponiert sind. Wir wollen deutlich machen, dass wir ein fairer und offener Handelspartner sind und auch alles tun werden, um dem amerikanischen Mittelstand vielleicht noch mehr Zugang zu unseren Märkten zu geben. Ich bin mir im Übrigen nicht ganz sicher, ob alles, was wir an Freiheit und Offenheit im Handel haben, schon überall auf der Welt bekannt ist. Nach den Krisenjahren zeigt sich auch, wie wichtig es ist, dass wir in der Europäischen Union ein gemeinsames Vorgehen haben. Zum Beispiel werden die Mandate für die Handelsabkommen immer von der Europäischen Kommission nach Rücksprache mit den Mitgliedstaaten vertreten. Das heißt, man kann Europa nicht auseinanderbrechen. Das ist gerade auch mit Blick auf die Stabilität unserer gemeinsamen Währung, des Euro, sehr wichtig. Wir haben aber auch noch eine große Aufgabe vor uns, nämlich diese Währungsunion weiterzuentwickeln, um sie stabiler und fester zu machen. Nach den Jahren, in denen wir für einige Mitgliedstaaten des Euroraums sehr harte Programme hatten, kann man sagen, dass diese Programme im Grundsatz sehr erfolgreich waren. Irland steht heute sehr gut da. Spanien steht nach seinem Bankenprogramm sehr gut da. In Portugal läuft die Wirtschaft besser. Und auch in Griechenland haben wir – auch wenn dort sicherlich noch ein langer Weg zu gehen ist – Stabilität wiederhergestellt. Es zeigt sich, dass es gut war, auf die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu setzen und notwendige Reformen in diesen Ländern durchzuführen. Das ist auch deshalb so wichtig, weil wir eine Situation haben, in der sich die Art des Wirtschaftens durch die Digitalisierung dramatisch weiterentwickelt. Ich werde nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es für uns darauf ankommt, die digitale Zukunft mitzugestalten. Da heißt es, die digitale Infrastruktur auszubauen – ein Sorgenpunkt von vielen von Ihnen. Da sind wir jetzt aber sehr entschieden dabei. Da heißt es, mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung zu tätigen, gerade auch im Bereich der Künstlichen Intelligenz. Wir werden im November eine Digitalklausur der Bundesregierung haben, auf der wir auch eine Strategie für die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz vorstellen werden. Wir wissen natürlich, dass sich auch die Arbeitswelt durch Digitalisierung dramatisch verändert. Das heißt, wir werden auch die Auswirkungen auf unser Ausbildungs- und Bildungssystem weiter im Blick haben. Wir haben jetzt schon festgelegt, dass jeder Arbeitnehmer Zugang zu einer Beratung bei der Bundesagentur für Arbeit zur Frage hat, was Digitalisierung für das jeweilige Arbeitsumfeld bedeutet. Es wird auch Zuschüsse geben. Das ist sozusagen ein Paradigmenwechsel für Unternehmen, wenn sie ihre Mitarbeiterschaft mit Blick auf Digitalisierung fortbilden; denn dafür werden sie Zuschüsse bekommen können. Wir wollen also nicht erst warten, bis Arbeitslosigkeit entsteht, sondern wir wollen präventiv handeln. Ich hoffe, dass das von den Unternehmen auch wahrgenommen wird. Wir müssen die Wirtschafts- und Währungsunion weiterentwickeln. Wir können bei dem jetzigen Zustand nicht stehenbleiben. Hier will ich vor allen Dingen die Bankenunion nennen. Diese ist in Deutschland mit zum Teil sehr kontroversen Debatten verbunden. Natürlich müssen wir erst eine Risikoreduzierung haben, bevor wir dann in eine Bankenunion einsteigen. Aber dass eine Währungsunion auch durch eine Bankenunion untermauert sein muss, genauso wie durch eine Kapitalmarktunion, versteht sich eigentlich von selbst. Was die Kapitalmarktunion anbelangt, so bin ich manchmal ein bisschen erschrocken, muss ich ganz ehrlich sagen, weil viele sagen: Ach, wir brauchen doch eigentlich gar keine Zugangsmöglichkeit zu Krediten in anderen Ländern; das können wir doch bei uns zu Hause regeln. Ich glaube aber, eine Währungsunion wird auf Dauer nur dann Akzeptanz finden, wenn man auch da ein Wettbewerbsfeld und Zugangsmöglichkeiten zu verschiedenen Kapitalmärkten hat. Wir wollen einen Europäischen Währungsfonds entwickeln, um den Euroraum besser für Notfälle zu rüsten. Außerdem müssen wir – das ist uns auf deutscher Seite immer sehr wichtig – innerhalb der Europäischen Union stärker am Thema Wettbewerbsfähigkeit arbeiten; und zwar nicht so, dass wir uns irgendwo in der Mitte treffen, sondern so, dass wir uns wirklich mit den Ambitioniertesten auf der Welt messen. Natürlich ist eine Unternehmensteuerreform wie die in den Vereinigten Staaten von Amerika nichts, das wir einfach ignorieren könnten. Vielmehr sehen wir natürlich, dass dort verstärkt Investitionen stattfinden. Das fordert uns heraus. Deshalb haben wir mit Frankreich eine gemeinsame Bemessungsgrundlage für das Unternehmensteuersystem entwickelt. Und wir werden versuchen, daran anknüpfend dann auch mit Blick auf die ganze Europäische Union Schritt für Schritt voranzugehen. Nächstes Thema: Großbritannien. Ich hatte das schon erwähnt. Wir werden uns in dieser Woche beim Europäischen Rat noch einmal damit beschäftigen. Wir werden sozusagen zwei Abkommen haben: ein Austrittsabkommen und ein Abkommen über die zukünftigen Beziehungen der Europäischen Union zu Großbritannien. Wir waren eigentlich sehr hoffnungsfroh, dass uns der Abschluss eines Austrittsabkommens bald gelingen könnte. Im Augenblick sieht es eher wieder etwas schwieriger aus, weil sich im Grunde die Probleme immer an der Irland-Frage – Republik Irland und Nordirland – treffen. Wir alle wollen, dass das sogenannte Good Friday Agreement, also das Leben ohne Grenzkontrollen zwischen den beiden irischen Entitäten, auch in Zukunft erhalten bleibt. Dann stellen sich verschiedene Fragen – zum Beispiel: Wie sieht es mit dem Binnenmarkt aus? Wie können wir das vernünftig regeln? Ich bin sehr froh, Herr Bingmann, dass Sie gesagt haben: Wir wollen ein geordnetes Verlassen der EU durch Großbritannien, aber nicht um jeden Preis. Wir dürfen uns unseren Binnenmarkt, der wirklich ein Wettbewerbsvorteil ist, durch einen Austritt nicht zerstören lassen. Das erfordert sehr viel Fingerspitzengefühl. Und wenn es in dieser Woche nichts wird, dann müssen wir eben weiterverhandeln; das ist klar. Aber die Zeit drängt. Denn der Austritt soll ja am 31. März 2019 stattfinden. Was die zukünftigen Beziehungen anbelangt, so wollen wir natürlich so eng wie möglich zusammenarbeiten. Wir müssen aber auf die Vorgaben Großbritanniens schauen – darauf, wie Großbritannien sich das vorstellt. Eines ist für mich sicher: Wir wollen die Fragen der wirtschaftlichen Verflechtungen möglichst unbürokratisch lösen und enge Beziehungen erhalten, wo immer das möglich ist. Wir werden auch in Bereichen wie der Außenpolitik, der Verteidigungspolitik, der inneren Sicherheit und der Terrorismusbekämpfung alles daransetzen, sehr, sehr eng miteinander verbunden zu bleiben. Premierministerin Theresa May sagte richtigerweise: „Wir bleiben Europäer, auch wenn wir die Europäische Union verlassen.“ Wir haben eben auch gemeinsame europäische strategische Interessen, die wir natürlich auch weiterverfolgen wollen. Wir haben also 90 Prozent des Austrittsabkommens fertiggestellt, aber nur bei 100 Prozent ist es ein schönes Abkommen; und deshalb ist noch Arbeit zu leisten. Wir Deutsche haben natürlich auch ein großes Interesse an weiterhin guten Beziehungen. Großbritannien ist weltweit unser fünfgrößter Handelspartner. Das Handelsvolumen belief sich 2017 auf weit über 121 Milliarden Euro. Das ist ein Riesenbatzen. Deshalb müssen wir einerseits sagen: Wer nicht EU-Mitglied ist, kann nicht Teil des Binnenmarkts sein; das kann nicht die gleichen Vorteile und die gleichen Rechte mit sich bringen. Aber auf der anderen Seite wollen wir eben auch möglichst unbürokratische Beziehungen. Deshalb müssen wir uns im Augenblick neben einem geordneten Austritt leider noch auf verschiedenste Szenarien vorbereiten. Wir dürfen den Kopf nicht in den Sand stecken und sagen, es wird schon werden. Vielmehr müssen wir uns auch mit Alternativen beschäftigen. Europa hat sehr starke Wirtschaftsbeziehungen auch in den asiatischen Raum entwickelt; das wissen Sie alle. Aber ich möchte die Gelegenheit nutzen, um den Fokus nochmals auf einen anderen Kontinent zu legen, nämlich auf Afrika, weil ich glaube, dass da im Außenhandel noch eine ganze Menge zu tun und zu entwickeln ist. Wir sind ein Land mit über 80 Millionen Menschen. Afrika hat weit mehr als eine Milliarde Einwohner. 2050 wird Afrika voraussichtlich zwei Milliarden Einwohner haben. Afrika wird zu großen Teilen eine sehr dynamische Entwicklung durchlaufen. Ich bin fest davon überzeugt: Wer sich heute für Afrika interessiert, wer heute Partnerschaften in Afrika entwickelt, der kann morgen einen großen Vorteil haben. Wir sehen, mit welcher strategischen Akribie sich China um Afrika kümmert. Wir sehen, mit welcher Akribie sich auch die Türkei kümmert. Deshalb steht es uns Europäern, gerade auch Deutschland, gut an, noch etwas weiter voranzugehen. Wir hatten während unserer G20-Präsidentschaft im letzten Jahr einen sogenannten „Compact with Africa“ entwickelt, der jetzt auch von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds betreut wird. Der Compact with Africa – darauf hatte Wolfgang Schäuble als Finanzminister geachtet – hat die Philosophie: Je transparenter die Strukturen sind, je transparenter die Vorgehensweisen gerade auch mit Blick auf die Budgets und auf die Kapitalmärkte in den afrikanischen Ländern sind, umso besser sollen die Investitionsbedingungen sein. Das heißt, wir haben bezüglich einiger afrikanischer Länder, die bei diesem Compact mitmachen, zum Beispiel Ghana, sozusagen schon die Risikostufe abgesenkt und gesagt: Hier gibt es so viel Transparenz, wofür diese Länder auch belohnt werden sollen. Das bedeutet dann eben auch, dass die Wirtschaft bessere Absicherungen und gegebenenfalls Bürgschaften hat. Was wir allerdings nicht tun können, ist, jedes Afrika-Geschäft zu 100 Prozent bürgschaftlich abzusichern. Das wäre schön, aber das wird es natürlich nicht geben. Das unternehmerische Risiko wird bestehen bleiben. Aber auf jeden Fall wäre es schön, wenn auch Sie sich engagieren würden. Es werden Ende Oktober zehn Präsidenten aus Afrika nach Deutschland kommen. Wir versuchen auch zusammen mit dem Afrika-Verein der deutschen Wirtschaft und den Entwicklungsbanken vernünftige Investitionsprojekte vorzubereiten, sodass diese Länder sehen: Gute Regierungsführung erhöht auch die Chancen auf Investitionen. Investitionen sind notwendig, auch weil eines ganz klar ist: Wir werden Afrika mit reiner Entwicklungshilfe nicht entwickeln können. Entwicklung im Sinne von Wohlstand findet nur statt, wenn es auch privatwirtschaftliches Engagement gibt. Wir sehen, dass die Menschen, die Entwicklungschancen haben, dann auch in ihren Ländern bleiben. Diejenigen, die zwar noch irgendwo eine gute Ausbildung erhalten, vielleicht über die Entwicklungshilfe, aber anschließend sehen, dass sie in ihrem eigenen Land keinerlei privatwirtschaftliche Resonanz finden, sagen: Jetzt wissen wir, wie schön es sein könnte; also müssen wir uns lieber auf den Weg machen. Insofern gilt es, die wirtschaftliche Dynamik besser in Gang zu bringen. Und wenn sich der Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen daran beteiligt, dann wären wir an dieser Stelle sehr, sehr dankbar. In diesem Zusammenhang will ich auch darauf aufmerksam machen, dass wir Eckpunkte für ein Fachkräfte-Zuwanderungsgesetz beschlossen haben und dass ich weiß, dass das Thema Fachkräfte zurzeit das vielleicht brennendste auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist. Unser Ziel muss eben sein, Fachkräfte zu gewinnen, die uns helfen, unsere Engpässe zu beseitigen. Es muss aber auch zu legalen Formen des Austauschs kommen. Wir dürfen es nicht Schleppern und Schleusern überlassen, wer nach Europa kommt, sondern das muss geordnet sein. Es gibt humanitäre Gründe; und diese müssen deutlich von denen des Fachkräftebedarfs unterschieden werden. Aber an dieser Stelle müssen wir sowohl unser Außenbild verbessern als auch schneller und besser werden. Ich glaube, damit setzen wir sehr gute Eckpunkte. Die politische Sorge aber, die wir auch haben, ist: Was passiert in einer konjunkturellen Flaute? Haben wir dann sozusagen die Sozialsysteme, die stärker belastet werden können? Deshalb muss man hier eine vernünftige Balance finden. Aber ich glaube, das haben wir auch geschafft. Meine Damen und Herren, das sind Punkte, mit denen wir uns beschäftigen. Wir ziehen, wie gesagt, am gleichen Strang in die gleiche Richtung, wenn es darum geht, Ihnen ein vernünftiges internationales Umfeld zu schaffen. Aber ich habe hier schon in Jahren gestanden, in denen das hoffnungsvoller erschien, in denen die Weltlage sehr viel stärker auf Multilateralismus ausgerichtet zu sein schien. Ich bin trotzdem der festen Überzeugung: Es lohnt sich für uns in Deutschland, Vorkämpfer für Multilateralismus zu sein. Und das mit Ihnen gemeinsam zu sein, macht Spaß. Danke schön.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Übergabe des Jahresberichts 2018 des Normenkontrollrats am 11. Oktober 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-uebergabe-des-jahresberichts-2018-des-normenkontrollrats-am-11-oktober-2018-1536996
Thu, 11 Oct 2018 15:08:00 +0200
Berlin
keine Themen
Lieber Herr Ludewig, liebe Mitglieder des Normenkontrollrats und auch liebe Mitglieder des Sekretariats, gleich vorneweg möchte ich mich für Ihre Arbeit bedanken und ausdrücklich würdigen, was Sie wieder einmal, so muss ich sagen, geleistet haben. Der Schriftsteller Carl Zuckmayer hat einmal geschrieben: „Erst kommt der Mensch, dann die Menschenordnung.“ Und mit dieser befassen Sie sich. Insofern achten Sie darauf, dass möglichst viel gesunder Menschenverstand in der Menschenordnung noch wiedererkennbar ist. Das ist ein sehr nützliches Werk. Dabei haben wir auch schon eine Menge erreicht. Als Sie sagten, wir seien nun die Besten bei der Messung des Aufwands in Europa, habe ich eben schon gesagt: Wenn wir etwas machen, dann machen wir es gut und sehr gut. Manchmal dauert es, bis wir etwas machen. Aber wenn wir einmal dran sind, dann sind wir relativ präzise. Ein wichtiger Punkt war die Einführung der Regelung „One in, one out“. Wir haben ausführlich darüber gesprochen. Und die Umsetzung hat sich auch gut entwickelt. Aber wir sehen, dass auch das noch nicht vollkommen ist, weil es in der Tat auf die nationale Gesetzgebung beschränkt ist. Sie haben festgestellt, dass von 2015 bis 2017 die Umsetzung von EU-Richtlinien mit einem zusätzlichen Erfüllungsaufwand von 800 Millionen Euro verbunden war. Das können wir in die „One in, one out“-Regelung noch nicht einbeziehen. Deshalb wird das ein Thema sein, das Sie heute im Staatssekretärsausschuss gern diskutieren dürfen. Wenn Sie danach mit diesem Thema nicht wiederkommen, bin ich glücklich. Ich bin mir aber nicht sicher, dass Sie nicht wiederkommen. Aber ich habe mich mit der Frage schon befasst und weiß, wovon ich spreche. Wir haben Sie immer wieder als kompetenten und kritischen Wegbegleiter erlebt. Kritisch müssen Sie sein; das ist Ihre Aufgabe. Dass Sie kompetent sind, ist umso erfreulicher. Man hat eben an Ihren Ausführungen zum Bürgerportal schon gemerkt, dass Sie die Erarbeitung des Mechanismus der Digitalisierungsaufgabe sorgfältig verfolgen. Die Tatsache, dass Sie dort nicht so sehr auf Sparsamkeit achten, sondern sich durchaus vorstellen können, dass noch ein fünfter Mensch damit zu tun hat, ermuntert mich. Ich habe gerade eben mit Vertretern des Bayerischen Landkreistags gesprochen und dabei auch auf die Wichtigkeit dieses Vorhabens hingewiesen. Wir werden das nicht nur in Begegnungen mit den Ministerpräsidenten der Länder tun, sondern vor allen Dingen auch in der Kommunikation mit den kommunalen Spitzenverbänden. Denn auf deren Akzeptanz wird es wesentlich ankommen. Ich denke, dass dies ein sehr, sehr wichtiges Projekt ist, das zur Verwaltungsvereinfachung und zur besseren Zeitnutzung beitragen kann. Auch ich glaube, dass wir noch weiter dafür werben müssen, dass es als ein Projekt verstanden wird, für das man sich begeistern muss, damit auch etwas daraus wird. Das ist aber auch dringend notwendig, denn es gibt auf der Welt bereits genügend Länder, die hierbei weiter sind als wir. Der Föderalismus darf uns nicht davon abhalten, die Digitalisierung bürgerfreundlich durchzusetzen und umzusetzen. Deshalb ist auch mir dieses Gesetz sehr, sehr wichtig. Wir haben einiges vorangebracht, jetzt auch mit der Konzentrierung der IT-Strukturen. Die gesamte IT des Bundes wird jetzt von hier aus, vom Kanzleramt aus, gesteuert. Dabei haben wir erhebliche Fortschritte gemacht. Sie haben zwar erstmal zu einer Erhöhung der veranschlagten Kosten geführt. Aber ich glaube, dass wir damit auch zum ersten Mal eine realistische Vorstellung haben. Heute ist parallel zu Ihrem Bericht auch der Bericht des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik vorgestellt worden, dem wir auch entnehmen können, wie wichtig das Thema Cybersicherheit und Sicherheit unserer IT-Infrastrukturen ist. Ich danke Ihnen noch einmal ganz herzlich und werde mir den Bericht auch sehr gern persönlich anschauen. Ich danke denen, die ihn erstellt haben, und wünsche uns weiterhin eine kritisch-konstruktive Zusammenarbeit.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Parlamentarischen Abend der Amateurmusik
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-parlamentarischen-abend-der-amateurmusik-1540470
Tue, 09 Oct 2018 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Schenkt man dem berühmten US-amerikanischen Komponisten Elliott Carter Glauben, dann hat die Musik keine politischen Konsequenzen, sondern macht die Menschen einfach nur „glücklich mit sich selbst“. Ob das nun so stimmt oder nicht, unbestreitbar ist, dass umgekehrt die Politik großen Einfluss auf die Musikszene, auf ihre Rahmenbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten hat. Und deshalb ist es natürlich wichtig, dass Politikerinnen und Politiker sich mit Musikerinnen und Musikern austauschen. Genau dafür kommen heute Abend Musik und Politik hier in der Bayerischen Landesvertretung beim Bund zusammen. Vielen Dank, lieber Herr Dr. Jungk, dass Sie uns in Ihren schönen Räumlichkeiten so herzlich empfangen! Die Lobby-Arbeit der Interessengruppen bei der Politik wird in der Öffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit und oft auch einer gewissen Skepsis verfolgt. Doch auch anders herum wird Politikerinnen und Politikern immer wieder unterstellt, sie würden bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder Branchen für ihre Zwecke vereinnahmen. Aber lassen Sie mich ein paar Gedanken über den Sinn und Zweck unserer Bundeskulturförderung mit Ihnen teilen. Für unsere Kulturpolitik in Deutschland gilt natürlich der im Grundgesetz verankerte Kulturföderalismus. Die Länder und Kommunen sind die Hauptträger der Kultur in den Kommunen und Gemeinden. Sie tragen die finanzielle Hauptlast und damit einhergehend auch die Hauptverantwortung, unser kulturelles Erbe zu bewahren, allen Menschen von Kindheit an einen Zugang zu Kultur und Kunst zu ermöglichen und die freie Entfaltung der Kunst zu fördern. Aber auch der Bund ist tüchtig tätig. Kunst und Kultur zu fördern ist Teil unseres Selbstverständnisses als Kulturnation. Die Freiheit der Kultur ist fundamental für unsere Demokratie, und wirklich „frei“ kann die Kultur nur sein, wenn der Staat sie von anderen Interessen finanziell unabhängig macht. Denn: wohin es führt, wenn Kunst und Kultur ideologisch vereinnahmt werden, haben wir in zwei Diktaturen erleben müssen. Wir haben – Gott sei Dank – aus unserer Geschichte gelernt: heute ist die Kunstfreiheit in Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert. Diese große Freiheit der Kunst verteidige ich auch immer. Aber: auch für die Kunst gibt es bei aller Freiheit Grenzen – ich erinnere an die Diskussion um den ECHO – nämlich dort wo nach der Verfassung schützenwerte Rechte anderer Menschen verletzt werden und wo etwa Holocaust-Opfer verhöhnt werden. Eine freie Kunst, die den Zugang zu den Menschen nicht findet, kann ihre innovative Kraft allerdings auch nicht entfalten. Daher bleibt es eine zentrale, ja geradezu eine Schlüsselaufgabe, in kulturelle Bildung zu investieren und für alle, unabhängig von Geschlecht oder sozialer Situation, zugänglich zu machen. Auch der Bund leistet hier im Rahmen seiner Möglichkeiten einen wichtigen Beitrag. Dabei ist es wichtig, dass wir Gewohntes hinterfragen, die Veränderungen in den Lebenswelten der Menschen wahrnehmen, um sie auch zu erreichen. Denn die Bevölkerung wird immer älter, in vielen ländlichen Regionen leben weniger, dafür in großen Städten immer mehr Menschen, wir haben in unserer Gesellschaft viele Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund – all das führt auch dazu, dass sich die Interessen der Menschen im Vergleich zu früheren Jahrzehnten verändern. Auch Veränderungen in der Arbeitswelt, dem Schulwesen und natürlich auch die Digitalisierung verändern die Bedürfnisse der Menschen und ihr Freizeitverhalten. In einer aktuellen Studie der Universität Hamburg zur „Zukunft der Musiknutzung“ gaben rund 7 Prozent der Befragten an, in einem Chor zu singen oder in einem Ensemble zu musizieren. Das entspricht etwa den Zahlen, die wir aus den Erhebungen des Deutschen Musikrates kennen. Interessant und für mich neu ist aber die Aussage, dass 27 Prozent der Befragten wöchentlich selbst Musik machen, außerhalb fester Ensembles. Es gibt also viele Menschen, die sich musikalisch ausdrücken möchten, sich aber nicht in festen Formationen zu binden. Auch das hat natürlich etwas mit veränderten Lebensverhältnissen zu tun. Und genau das müssen wir in unseren Bemühungen um einen Zugang zur kulturellen Bildung für alle Menschen berücksichtigen. Vorbildlich nehmen sich die Dachverbände der Amateurmusik dieser Fragen und der Herausforderungen unserer Zeit an. Ihnen gelingt es, die Szene zusammenzubringen, ihr eine Stimme für die gemeinsamen Interessen zu geben, relevante Themen aufzugreifen und so auch kulturpolitische Akzente zu setzen. Ich bin sehr froh darüber, meine Damen und Herren, dass die Bundesvereinigung Deutscher Musikverbände und die Bundesvereinigung der Orchesterverbände und mein Haus auch in vielen dieser Bereiche seit Jahren vertrauensvoll und offen zusammenarbeiten! Die Bundesvereinigung Deutscher Musikverbände und die Bundesvereinigung der Orchesterverbände tun nicht nur eine ganze Menge für ihr Mitglieder, sie sind auch der beste Beweis dafür, wie wichtig Singen und Musizieren für den Einzelnen, für das Publikum, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes sind. Dabei sprechen sie für etwa 3 Millionen Mitglieder, die in zahlreichen Regionalverbänden und Spartenverbänden aktiv sind. Sie alle vereint die Liebe zur Musik und der Wunsch, die Musik in der Gemeinschaft zu erleben. Und sie alle bereichern unsere Kulturlandschaft, machen unsere Gesellschaft vielfältiger und halten sie zusammen. Mit ihrer gemeinschaftsbildenden Kraft ist und bleibt die Amateurmusik ein Bindeglied unserer Gesellschaft – gerade in ländlichen Regionen. Aber auch in kleineren und mittleren Städten stellt sie so etwas wie die „kulturelle Grundversorgung“ dar. Die Amateurmusik stärkt Gemeinschaften, weil sie Menschen über Generationen und soziale Grenzen hinweg zusammen bringt: In den Amateurorchestern, -chören und -ensembles unseres Landes spielen ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, die eines gemeinsam haben: Sie alle wollen ihrer Kreativität und ihren persönlichen Fähigkeiten Raum geben, sich aktiv mit Musik auseinandersetzen, sich künstlerisch ausdrücken, ausprobieren und entwickeln: Im Alltag sind sie Bäcker oder Banker, Lehrerin oder Lackierer – auf der Bühne sind sie alle leidenschaftliche Musikerinnen und Musiker. Chöre, Orchester, Musikensembles aller Art sind für viele Menschen eine Art „Heimat“, die sie nicht nur für sich selbst, sondern auch für nachkommende Generationen bewahren wollen. Denn mit dem Singen im Kirchenchor, dem Musizieren im Posaunenchor oder der Feuerwehrkappelle werden auch kulturelle Werte und Traditionen weiter getragen. Die Amateurmusik braucht jede helfende Hand und jede kräftige Stimme – und sie braucht, um dauerhaft auf hohem Niveau und in der breiten Fläche arbeiten zu können, finanzielle Unterstützung. Der Bund hat in erster Linie die Verantwortung für die Rahmenbedingungen der Amateurmusik, die zu einem großen Teil durch ehrenamtliches Engagement getragen wird. Dazu gehören steuerliche und vereinsrechtliche Regelungen, aber zum Beispiel auch die Datenschutzgrundverordnung, deren Bestimmungen aus dem EU-Recht folgen und die auch Auswirkungen auf das Vereinsleben hat. Darüber hinaus ist es unsere politische Verantwortung, die Bedeutung der Amateurmusik in das öffentliche und politische Bewusstsein zu bringen. Das leisten Veranstaltungen wie heute Abend oder etwa Debatten im Deutschen Bundestag. Aber auch die Anerkennung geleisteter Arbeit durch die Verleihung der Zelter- und der PRO MUSICA-Plaketten des Bundespräsidenten im Rahmen der Tage der Chor- und Orchester-Musik ist ein Ereignis, das der Amateurmusik eine prominente Bühne verschafft. Mein Haus arbeitet eng mit den Dachverbänden der Amateurmusik zusammen und unterstützt die Finanzierung ihrer Geschäftsstellen, damit diese ihre Rolle als Ansprechpartnerinnen für Politik und Verwaltung, beim Verhandeln von Rahmenverträgen (zum Beispiel mit der GEMA– Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte) für die Szene, als Zugpferd für Weiterbildung und Qualifizierung wahrnehmen können. Und wir unterstützen einzelne Projekte, die sich zum Beispiel dem zunehmenden Bedürfnis einer älter werdenden Gesellschaft nach musikalischer Betätigung widmen. Und nicht zuletzt unterstützen wir die bundesweiten Musikfeste, so zum Beispiel das Deutsche Musikfest der Bundesvereinigung Deutscher Musikverbände, das im nächsten Jahr in Osnabrück stattfinden wird und das Deutsche Chorfest „ChorCom“. Beide Feste sind mit ihren jeweils mehr als 15.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern herausragende Treffpunkte der Musikszene mit einer bundesweiten Strahlkraft. Ich darf Ihnen, lieber Paul Lehrieder und Ihnen, liebe Petra Merkel, heute die freudige Nachricht überbringen, dass mein Haus die Zuwendung für das Deutsche Musikfest und die ChorCom – zunächst einmalig – um jeweils 100.000 Euro erhöhen wird. Nicht unerwähnt lassen will ich zudem, dass auch der Deutsche Musikrat mit dem Deutschen Chorwettbewerb und dem Deutschen Orchesterwettbewerb, der 2020 aus Anlass des Beethoven-Jubiläums in Bonn stattfinden wird, wichtige Projekte veranstaltet, die deutschlandweit für die Amateurmusik begeistern und zu bereichernden Begegnungen einladen. Auch diese Wettbewerbe werden aus dem Etat meines Hauses finanziert. Zum Schluss möchte ich noch auf zwei Punkte zu sprechen kommen. Ich habe vorhin das Problem des Struktur- und demografischen Wandels in einigen Regionen angesprochen. Die Kultur in den ländlichen Regionen ist ein kulturpolitischer Schwerpunkt im Koalitionsvertrag dieser Legislaturperiode. Ein wichtiges Kultur-Instrument, mit dem wir auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen in der Fläche reagieren, ist die Kulturstiftung des Bundes mit ihren Projekten. Etwa mit dem „TRAFO“-Projekt, das gerade in eine zweite Runde geht, versucht die Kulturstiftung, ausgewählte Regionen darin zu unterstützen, ihre Kulturangebote für die Herausforderungen unserer Zeit zu wappnen. Dabei arbeitet die Stiftung eng mit Partnern, Musikschulen, Bibliotheken und Vereinen vor Ort zusammen. Darüber hinaus ist mein Haus gerade dabei, ein eigenes Programm zu entwickeln, das in die Fläche wirken soll. Zu guter Letzt möchte ich Sie alle, die Sie mit Ihrem Engagement Ihre Lanze für die Amateurmusik brechen, dazu ermutigen, in Ihren Verbänden stärker zusammenzuarbeiten, um sich so in der Politik und in der Gesellschaft noch mehr Gehör zu verschaffen. Der Austritt des Deutschen Chorverbandes aus dem gemeinsamen Interessenverband hat die Szene nicht gestärkt, sondern Kräfte gelähmt. Die gemeinsamen Herausforderungen an die instrumentale und vokale Amateurmusik sind so groß, die Themenfelder oft so identisch, dass eine stärkere Zusammenarbeit der Verbände sicherlich gewinnbringend für Sie alle ist. Gerne stehe ich Ihnen dabei unterstützend zur Seite. Denn die Amateurmusik ist mir ein Herzensanliegen, nicht zuletzt da sie es schafft, so viele unterschiedliche Menschen zusammenzubringen und diese, frei nach dem Komponisten Elliot Carter, gemeinsam und „mit sich selbst glücklich“ zu machen. In diesem Sinne: Auf einen schönen Abend und einen bereichernden Austausch von Musik und Politik!
In der Bayerischen Landesvertretung in Berlin hat Kulturstaatsministerin auf die Bedeutung des gemeinsamen Musizierens und Singens für den gesellschaftlichen Zusammenhalt hingewiesen. Den Dachverbänden der Amateurmusik dankte sie für deren Bemühen um einen Zugang zu kultureller Bildung für alle Menschen.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Ausstellungseröffnung „London 1938. Mit Kandinsky Liebermann und Nolde gegen Hitler“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-ausstellungseroeffnung-london-1938-mit-kandinsky-liebermann-und-nolde-gegen-hitler–1536336
Sun, 07 Oct 2018 14:30:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Kultur
„Art is about sharing“, beschrieb der berühmte britische Künstler David Hockney einmal das Ansinnen seiner Kunst, mit der er den Menschen etwas näher bringen möchte. Vermutlich würden manche Künstlerinnen und Künstler ihr Selbstverständnis anders formulieren, denn was sie uns nahe bringen und mit uns teilen wollen, ihre Beweggründe, Anliegen und Botschaften sind so individuell und so vielfältig wie sie selbst und wie auch ihre Kunst. Dass ihnen in ihren Ausdrucksformen dabei keine Grenzen gesetzt werden, gehört zu den bedeutendsten Errungenschaften unserer demokratischen Grundordnung im heutigen Deutschland. Doch nicht immer war die Kunst so frei – daran erinnert uns die Ausstellung „London 1938. Mit Kandinsky, Liebermann und Nolde gegen Hitler“. Ich freue mich, dass wir heute deren Eröffnung hier in der wunderbaren, mir sehr vertrauten Liebermann-Villa am Wannsee feiern! Die Ausstellung ist die Rekonstruktion einer Kunstschau, die im Sommer 1938 großes Aufsehen erregte: Unter dem Titel „Twentieth Century German Art“ zeigte die Londoner New Burlington Gallery rund 300 Kunstwerke, deren Schöpferinnen und Schöpfer von den Nationalsozialisten verfemt und verfolgt wurden, deren Kunst als „entartet“ diffamiert worden war. So war die Londoner Schau eine großartige Ehrenrettung dieser deutschen Künstlerinnen und Künstler, deren Namen das gesamte Spektrum der Kunst des 20. Jahrhunderts repräsentierten. Und sie war noch weit mehr als eine Ehrenrettung; die Schau, die ursprünglich den Titel „Banned Art“ tragen sollte, war ein Licht der Hoffnung in der dunkelsten Zeit der europäischen Geschichte. Sie war ein ermutigendes Bekenntnis zur Freiheit der Kunst und ein Akt der Solidarität über Ländergrenzen hinweg. Als unmittelbare und international größte Antwort auf die unsägliche Propagandaschau des NS-Regimes unter der verächtlichen Bezeichnung „Entartete Kunst“ setzte sie dieser als ausdrückliche Protestaktion eine Würdigung der deutschen Moderne in der Kunst entgegen. Nicht nur die Ausstellung als solche, auch ihre Initiatoren und Kuratoren verkörperten einen Akt der Solidarität über Ländergrenzen hinweg: so war es eine internationale Gruppe aus Kunsthistorikern, Kritikern und Galeristen – viele davon Emigranten – die die logistische Meisterleistung vollbrachten, Werke, die in ganz Europa verstreut waren, zusammenzuführen. Max Liebermann war mit 22 Werken einer der prominentesten unter den ausgestellten 64 Künstlern. Es ist das Verdienst der Wiener Library in London – in der im Sommer bereits eine Dokumentation der historischen Ausstellung zu sehen war – sowie der Liebermann-Villa am Wannsee, die nach 80 Jahren nahezu verblasste Erinnerung an die historische Ausstellung wieder zu erwecken und deren nachhaltige Bedeutung zu würdigen. Dieses Verdienst ist umso höher zu bewerten, wenn man bedenkt, dass Unterhalt und Betrieb dieses Liebermann-Hauses ausschließlich durch bürgerschaftliches Engagement der Max-Liebermann-Gesellschaft ermöglicht werden. Ich danke allen Beteiligten, die diese wunderbare und wichtige, in deutsch-britischer Zusammenarbeit entstandene Rekonstruktion, ermöglicht haben! Stellvertretend für alle Beteiligten der Wiener Library und der Liebermann-Villa, danke ich Ihnen, lieber Herr Dr. Fass und Ihnen, lieber Herr Barkow, sehr herzlich für Ihre großartige Arbeit, mit der sie nicht zuletzt auch eine Lücke der deutsch-britischen Kunstgeschichte schließen. Vor allem aber danke ich Ihnen, liebe Frau Wasensteiner, als ausgewiesene Expertin des Themas sind Sie für die Ausstellung ein echter Glücksfall! Ich freue mich, dass die mit Mitteln aus meinem Kulturetat finanzierte Kulturstiftung des Bundes maßgeblich zur Realisierung dieser Ausstellung beitragen konnte. Und ich bin sicher: Viele Kunstliebhaber werden die Freude teilen, die ich eben beim Rundgang durch die Ausstellung, beim Anblick großartiger Werke von Wassily Kandinsky, Max Liebermann, Emil Nolde oder Paula Modersohn-Becker empfunden habe. In einer seiner berüchtigten, demagogischen Hetzreden bei der Jahrestagung der Reichskulturkammer 1937 in Berlin forderte der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels den Ausschluss der Juden aus dem deutschen Kulturleben. Er sprach in diesem Zusammenhang auch über die Ausstellung „Entartete Kunst“, die einige Monate zuvor in München eröffnet worden war. „Bedeutet das nun“, so Goebbels’ rhetorische Frage, „eine Einengung der so viel beredeten künstlerischen Freiheit? Doch nur dann“, fuhr er fort, „wenn der Künstler das Recht hätte, sich der Zeit und ihrer Forderungen zu entziehen und außerhalb der Gemeinschaft seines Volkes ein eigenbrötlerisches Sonderleben zu führen. Das aber kann und darf nicht der Fall sein. (…) die Kunst ist nicht ein Lebensbezirk für sich, in den einzudringen dem Volke verwehrt sein müsste. Sie ist eine Funktion des Volkslebens und der Künstler ihr begnadeter Sinngeber.“ Eine der berühmtesten Stellungnahmen gegen diese ideologische Vereinnahmung und Kulturbarbarei der Nationalsozialisten ist der Vortrag „Über meine Malerei“ von Max Beckmann, den er 1938 im Rahmen der Ausstellung „Twentieth Century German Art“ in der New Burlington Gallery hielt. Der Kollektivismus sei die „größte Gefahr, die uns Menschen allen droht“, erklärte er darin, und ich zitiere weiter: „Überall wird versucht, das Glück oder die Lebensmöglichkeiten der Menschen auf das Niveau eines Termitenstaates herabzuschrauben. Dem widersetze ich mich mit der ganzen Kraft meiner Seele.“ Diese Kraft, meine Damen und Herren, wünsche ich auch unseren Demokratien. Gott sei Dank haben wir in Deutschland aus unserer Geschichte gelernt. Aus zwei Diktaturen in einem Jahrhundert – der Nazi-und der DDR-Zeit – haben wir eine Lehre gezogen: In Artikel 5 unseres Grundgesetzes, mit einem hohen, noblen Verfassungsrang also heißt es: „Kultur und Wissenschaft sind frei.“ Wir wissen, dass wir die Künstler, die Kreativen, die Vor- und Querdenker als kritisches Korrektiv unserer Gesellschaft brauchen, als Stachel im Fleisch der Demokratie. Sie sind es, die Grenzen ausloten, die provozieren, die hinterfragen und die damit verhindern, dass intellektuelle Trägheit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Die Freiheit und Vielfalt der Kunst und Kultur zu sichern und so jedem neuerlichen Totalitarismus vorzubeugen, das ist deshalb oberster Grundsatz unserer Kulturpolitik. Meine Damen und Herren, diese zivilisatorische Errungenschaft unserer so freiheitlichen Verfassung, die sich nicht zuletzt in der Kunstfreiheit ausdrückt, haben wir auch Großbritannien zu verdanken. Auch Großbritannien half, dass das politisch und wirtschaftlich zerstörte und auch geistig und moralisch verwüstete Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf die Beine kam. Das werden wir Ihnen, den Briten, niemals vergessen! Heute sieht sich Deutschland als Partner in Europa und der Welt. Die bittere Entscheidung des britischen Volkes, die Europäische Union verlassen zu wollen, müssen wir wohl respektieren; umso mehr hoffen wir doch, dass unsere guten Verbindungen im Kultur- und Medienbereich nicht abreißen werden und Ihr Land mit seiner langen Tradition der Demokratie und der Freiheit den Kulturraum Europa auch künftig bereichert. In diesem Sinne setzt die Ausstellung „London 1938. Mit Kandinsky Liebermann und Nolde gegen Hitler“ nicht nur ein Zeichen für den Wert der Kunstfreiheit, sondern erinnert auch an die verbindende Kraft der Kultur in Europa. Sie steht exemplarisch für die zahlreichen exzellenten Kulturkooperationen, die Großbritannien und Deutschland – zum Glück! – auch in diesen heutigen nicht einfachen Zeiten des Umbruchs in der Europäischen Union verbinden. „Art is about sharing.“ Und so lässt uns Kunst auf das blicken, was wir teilen und nicht auf das, was uns trennt. Sie ermöglicht uns Lernerfahrungen, die ein friedliches Miteinander unterschiedlicher Lebensweisen, Traditionen und Weltanschauungen immer wieder aufs Neue erfordert. Möge die Ausstellung all ihren Besucherinnen und Besuchern nahe bringen, wie kostbar die Kunstfreiheit, wie kostbar die Solidarität in Europa ist!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Begegnung mit dem Präsidenten des Staates Israel, Reuven Rivlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-begegnung-mit-dem-praesidenten-des-staates-israel-reuven-rivlin-1533970
Thu, 04 Oct 2018 13:02:00 +0200
Jerusalem
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Reuven Rivlin, sehr geehrte Gäste, im Namen unserer ganzen Delegation, den Regierungsmitgliedern, aber auch den Mitgliedern der Wirtschaftsdelegation möchte ich mich bedanken, dass Sie uns heute hier zu einem Essen eingeladen haben und so berühmte, bekannte und interessante Gäste dazu geladen haben. Danke dafür, dass Sie dabei sind. Denn das Kostbarste, was man einander in der heutigen Zeit, die so schnelllebig ist, schenken kann, ist die Zeit, die man miteinander verbringt. Deshalb danke dafür, dass Sie da sind. Wir sind im 70. Jahr des Bestehens des Staates Israel zu Ihnen gekommen und gratulieren natürlich noch einmal zu diesem Jubiläum. Wir sind im zehnten Jahr der Existenz unserer Regierungskonsultationen zu Ihnen gekommen. Das sind jetzt die siebenten Regierungskonsultationen, die dazu geführt haben, dass wir eine Zusammenarbeit in einer ganz großen Breite haben. Aber wir haben unseren Besuch bei Ihnen in Israel heute Morgen mit einem Besuch in Yad Vashem begonnen. Das hat uns in unglaublich bewegender Art und Weise noch einmal deutlich gemacht, wie der Zivilisationsbruch der Schoah und die Erinnerung daran für uns Verpflichtung einer immerwährenden Verantwortung dafür sind, dass sich so etwas nicht nur nicht wiederholt, sondern dass wir für die grundsätzlichen Werte der Menschen eintreten, gegen Antisemitismus, gegen Hass, gegen jede Form von Diskriminierung von Minderheiten. Dieser Besuch heute Morgen ‑ ich möchte mich sehr herzlich bei dem Direktor von Yad Vashem bedanken ‑ hat auf der einen Seite deutlich gemacht, mit welcher Schuld Deutschland natürlich beladen ist, aber auf der anderen Seite auch, wie daraus eine Verpflichtung erwächst, die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Dass wir hier miteinander sitzen, ist alles andere als selbstverständlich. Es hat des Mutes vieler Menschen, vieler Juden, bedurft, nach dem Zweiten Weltkrieg diesen Schritt zu gehen. Aber ich denke, inzwischen ist auch eine gute Partnerschaft entstanden, die durchaus auch kritische Diskussionen aushält, die aber auch ein hohes Maß an Gemeinsamkeit umfasst. Wir wissen um die Verantwortung für die Existenz und die Sicherheit Israels. Deshalb habe ich das auch immer als Teil unserer Staatsraison bezeichnet. Und deshalb müssen wir natürlich auch über Themen sprechen, die Sie eben angesprochen haben, nämlich zum Beispiel das Verhältnis zum Iran. Ich möchte für die deutsche Seite hervorheben, dass uns das gleiche Ziel eint: Es muss alles unternommen werden, um eine nukleare Bewaffnung des Irans zu verhindern. ‑ Daran darf es überhaupt keinen Zweifel geben. Die Frage, über die wir im Augenblick diskutieren ist nur die: Was ist der richtigere, erfolgversprechendere Weg? Kann man den Iran mit Hilfe eines Abkommens eindämmen? Kann man besser mit ihm über all die Unzulänglichkeiten dieses Abkommens verhandeln, oder muss man noch härter vorgehen und allein auf Sanktionen setzen? Ich denke, diese Diskussionen werden wir weiterführen, aber im Geiste der Freundschaft und mit dem gleichen Ziel. Die nukleare Bewaffnung des Irans muss verhindert werden. Dem fühlt sich Deutschland verpflichtet. Genauso ist es bei der Frage, wie Sie in Sicherheit und Frieden leben können. Wir wissen, welche Herausforderungen Sie hier in der Region sehen. Wir glauben, dass eine Zwei-Staaten-Lösung ‑ ein jüdischer Staat Israel und ein Staat für die Palästinenser ‑ eine Antwort sein könnte. Wir kennen und sehen aber auch die großen Schwierigkeiten, die sich auf diesem Wege ergeben. Deshalb ist die Position Deutschlands, auch gerade in der europäischen Arbeit, in der internationalen Arbeit immer auch die Interessen Israels ganz nach vorne zu stellen, weil wir wissen, dass Sie auf der einen Seite aus der Geschichte entstanden sind, aber auf der anderen Seite hier in der Region die einzige Demokratie sind. Uns einen die gemeinsamen Werte, für die wir arbeiten. Das bestimmt auch unsere heutige Zusammenarbeit unserer Regierungen. Wir sind mit einem breiten Fundament von programmatischen Punkten hierhergekommen. Das beginnt mit der Zusammenarbeit im Wissenschaftsbereich, der Zusammenarbeit im Wirtschaftsbereich, der Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich, wo wir sehr gute Erfolge sehen können, aber auch im kulturellen Bereich. Aus diesen Regierungskonsultationen wünschen wir uns als Startpunkt für die Zukunft, dass wir ein deutsch-israelisches Jugendwerk gründen können, weil wir glauben, dass es in einer Zeit, in der die Zeitzeugen des schrecklichen Holocausts in wenigen Jahren nicht mehr unter uns sein werden, wichtig ist, dass unsere Jugend in ganz engem Kontakt steht und sich austauscht, und dass dies ein weiteres wichtiges Element unserer zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit sein könnte. Ich möchte mich bei Ihnen allen bedanken, weil Sie ja auch die Vielfalt der israelischen Diskussionen wiederspiegeln. Auch bei Ihnen im Land geht es ja nicht nur harmonisch zu. Das verfolgen wir auch. Ganz wichtig ist, dass sich lebendige Demokratien durch Meinungsstreit auszeichnen. Noch wichtiger ist in Zeiten der Digitalisierung, dass man diesem Diskurs Raum gibt und sich nicht jeder in seine Ecke zurückzieht und in seiner kleinen digitalen Blase liegt, sondern dass diese Dinge ausgetragen werden. Deshalb, sehr geehrter Herr Präsident, herzlichen Dank, dass wir bei diesem Mittagessen Ihr Gast sein dürfen.
unkorrigierte Fassung
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Haifa am 4. Oktober 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-verleihung-der-ehrendoktorwuerde-der-universitaet-haifa-am-4-oktober-2018-1533948
Thu, 04 Oct 2018 09:42:00 +0200
Jerusalem
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Präsident, Professor Robin, sehr geehrter Herr Rektor, Professor Mesch, sehr geehrter Herr Professor Lahnstein, sehr geehrte Frau Botschafterin, sehr geehrte Damen und Herren Professoren und Studierende, es ist mir eine große Ehre, die hohe Auszeichnung Ihrer Universität entgegennehmen zu dürfen. Ich empfinde diese Ehrendoktorwürde als einen Vertrauensbeweis; und zwar einen Vertrauensbeweis, der mir auch stellvertretend – für mein Land, das ich vertreten darf – zuteilwird. Dass das hier passiert, ist alles andere als selbstverständlich. Denn das Vertrauen, das ich hier erfahre, gleicht ja einem Wunder. Ich komme gerade von einem Besuch in Yad Vashem, wo wir mit unserer ganzen Regierungsdelegation waren. Das Wunder ist, dass es vor dem Hintergrund des Zivilisationsbruchs der Shoa, vor dem Hintergrund der von Deutschland begangenen Menschheitsverbrechen heute möglich ist, hier an dieser Stelle mit Ihnen zusammen zu sein und über die Gegenwart und die Zukunft zu diskutieren. Wir kennen unsere immerwährende Verantwortung, die uns aus der Shoa erwachsen ist. Die Verantwortung für uns in Deutschland ist natürlich besonders groß, sich für Freiheit, für Menschenrechte und für demokratische und rechtsstaatliche Werte immer einzusetzen. Aber diese Werte werden, wie wir heute Morgen schon gehört haben, allzu oft auch in unserer Gegenwart immer wieder infrage gestellt – von innen und von außen. Da stimme ich Ihnen vollkommen zu, Herr Professor Robin. Ich finde es ganz beachtlich und bedeutend, dass Sie darauf achten, dass an Ihrer Universität immer auch Allgemeinbildung neben der Spezialbildung vermittelt wird, weil wir so unsere gesellschaftlichen Entwicklungen besser verstehen können. Wir müssen in unserer Zeit, denke ich, besonders aufmerksam sein. Wir müssen dabei immer wieder auch unsere Werte ohne Kompromisse vertreten. Wir in der Bundesregierung wenden uns zum Beispiel gegen Antisemitismus – ganz gleich, von wo er ausgeht und in welcher Form er sich äußert. Unsere neue Regierung hat deshalb auch einen Beauftragten für den Kampf gegen Antisemitismus, aber auch für das jüdische Leben in Deutschland berufen. Er ist heute in unserer Delegation mit dabei. Wir haben heute – das ist auch ein Wunder – blühendes jüdisches Leben in Deutschland. Das ist alles andere als selbstverständlich. Es ist jetzt aber Teil der Identität Deutschlands und damit auch dessen, was wir mit dem Begriff „Heimat“ in unserem Land beschreiben. In Sicherheit, in Frieden, in Freiheit zu leben, Heimat zu finden – darum ging es auch den Gründern und Pionieren des Staates Israel vor 70 Jahren; um einen Ort, an dem sich Juden sicher fühlen können und keine Angst vor Verfolgung haben müssen, an dem sie ihren Glauben leben können, ihr Leben aufbauen können und ihre Kinder aufwachsen sehen. Ich gratuliere noch einmal ganz herzlich zum 70. Jahrestag der Gründung des Staates Israel. Dass uns heute freundschaftliche Bande verbinden, ist ein unschätzbares Geschenk; und es ist ein unwahrscheinliches Geschenk vor dem Hintergrund unserer Geschichte. Aber es ist ein Geschenk, das wahr geworden ist – dank vieler jüdischer Frauen und Männer, die versucht haben, Deutschland mit Vertrauen zu begegnen und dabei erfolgreich waren. Dieses Vertrauen zeigt sich heute in vielen Facetten: im privaten und persönlichen Umgang miteinander, in der Zusammenarbeit in Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft. Gerade auch die wissenschaftliche Zusammenarbeit ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Gemeinsamkeiten. Es kann in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug geschätzt werden, dass wir uns jetzt schon zum siebten Mal zu Regierungskonsultationen mit der israelischen Regierung treffen. Ich kann sagen, dass gerade auch die Regierungskonsultationen es ermöglicht haben, in einer bis dahin nicht gekannten Breite zusammenzuarbeiten und damit eine einzigartige Beziehung immer wieder neu mit Leben zu erfüllen. Deshalb danke ich für das entgegengebrachte Vertrauen und verspreche, eines Tages auch nach Haifa zu kommen. Ich bin mir der Unzulänglichkeit bewusst und bedanke mich, dass Sie so tolerant waren und auf die Reise gegangen sind. Ich darf Ihnen versichern, dass ich diese Ehrendoktorwürde als eine sehr, sehr große Ehre empfinde und das auch nach Deutschland weitertragen werde. Der Botschafter des Staates Israel in Deutschland wird genau beobachten, wie wir uns verhalten. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Symposium „10 Jahre Elektromobilität – Zukunft wird Gegenwart“ der Mennekes GmbH & Co. KG am 27. September 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-symposium-10-jahre-elektromobilitaet-zukunft-wird-gegenwart-der-mennekes-gmbh-co-kg-am-27-september-2018-1533260
Thu, 27 Sep 2018 11:27:00 +0200
Berlin
Verkehr und digitale Infrastruktur
Sehr geehrter Herr Mennekes, sehr geehrter Herr Professor Kagermann, sehr geehrter Herr Wollseifer, liebe Familie Mennekes, sehr geehrter Kollege, lieber Paul Ziemiak, lieber Hartmut Schauerte, liebe Anwesende bei diesem Symposium, ich möchte mich für die Einladung ganz herzlich bedanken. Ich finde, Herr Kagermann hat einen Sonderapplaus verdient, weil er uns über die Jahre begleitet und das Ganze immer voll im Blick gehabt hat. Lieben Dank, Herr Kagermann, für das, was Sie geschafft haben. Unser Gastgeber heute ist das Traditionsunternehmen Mennekes. Sie eröffnen auf diesem Innovationscampus Ihre Hauptstadtrepräsentanz und das Schulungszentrum. Das Sauerland in allen Ehren, aber ein bisschen Sichtbarkeit in Berlin kann auch nicht schaden. Das ist so, wie der zugehörige Bundestagsabgeordnete auch weiß: Die Heimat und die Basis sind wichtig, aber sich ab und zu einmal in einer Großstadt zu zeigen, hilft auch. Insofern begrüßen wir Sie natürlich sehr. Ihre Ladestationen und Ihre Stecker sind legendär. Wir beide haben dabei eine gewisse gemeinsame Geschichte, da mich Herr Mennekes schon früh auf seine Wunderwerke hingewiesen hat. Das zentrale Thema ist natürlich, solche Dinge auch auf den Markt zu bringen. Dann kommen Standards ins Spiel. Wenn man bei der Standardsetzung nicht der Gewinner ist, dann kommt man mit der Verbreitung des Produkts nicht so richtig voran, auch wenn die Erfindung noch so schön sein mag. Deshalb gab es ein hartes europäisches Ringen, insbesondere mit unserem geliebten und mit uns eng verbundenen Partner Frankreich. Zum Schluss hat, das will ich sagen, die Qualität überzeugt. Aber damit Qualität wirklich überzeugen kann, muss man manchmal noch ein bisschen mehr dafür arbeiten. Die zuständigen Stellen der Europäischen Kommission haben das auch verstanden und die richtige Entscheidung getroffen. Vor zehn Jahren – Herr Kagermann hat es gesagt – hat die Elektromobilität noch einen sehr visionären Charakter gehabt. Heute wird sie schrittweise und mehr und mehr Realität. Deshalb ist das Motto dieses Symposiums natürlich wunderbar gewählt: „Zukunft wird Gegenwart“. Herr Kagermann hat uns schon über die Fortschritte berichtet. Ich finde, das Ganze ist ein interessantes Beispiel dafür, dass man sich auch in einer freien Wirtschaft unter den Gegebenheiten der Sozialen Marktwirtschaft durchaus langfristige Ziele setzen muss. Einfach nur zu hoffen, dass das alles schon irgendwie etwas werden wird, das klappt heute nicht mehr. Deshalb waren diese – so will ich es einmal sagen – lockere Liaison von Wirtschaft und Politik und das Zusammenbringen aller Akteure von zentraler Bedeutung. Man kann heute, wenn man auf zehn Jahre zurückblickt, sagen, dass die Gründung der Plattform Elektromobilität ein wichtiger und richtiger Schritt war. Ich weiß noch, als unsere erste Sitzung begann, waren keine Elektrochemielehrstühle mehr an deutschen Universitäten vorhanden. Deutschland, Anfang des 20. Jahrhunderts das Land der Elektrochemie – nun aber ersetzt durch – ich weiß nicht – Biogenetik oder sonstige Lehrstühle, die auch wichtig sind. Aber es gibt eben kein Entweder-oder. Ich weiß noch, wie wir mit verschiedenen Akteuren der Automobilindustrie über Bosch bis zu Mittelständlern und der Energiewirtschaft versucht haben, die Dinge zu ordnen. Das ist ihnen auch sehr gut gelungen. Nun haben wir als Deutsche – das macht sicherlich auch unseren Erfahrungshorizont und unseren Erfolg aus – immer die Tendenz, das, was noch nicht gelungen ist, sehr in den Vordergrund zu stellen. Das kann helfen. Im Europäischen Rat geht mir das auch oft so: Wenn alle schon alle Fragen gestellt haben, habe ich immer noch fünf, weil ich finde, dass an der einen Stelle noch eine Lücke ist, und weil ich an einer anderen Stelle nicht genau weiß, wie etwas geht usw. Aber wir dürfen uns durch eine kritische Betrachtung nicht den Mut und die Kraft nehmen lassen, nach vorne zu denken. Wir haben uns, nachdem wir die Elektromobilitätsplattform gegründet hatten, für das Eine-Million-Ziel bis 2020 entschieden. Das war noch im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Wir werden es nun nicht bis 2020 schaffen, aber 2022. Da muss ich ehrlich sagen: Wenn ich mir anschaue, wie die Zielerreichungen sonst so sind – zum Beispiel bei der Pünktlichkeit der Deutsche Bahn AG oder bei GPS-Voraussagen, wann ich mit meinem Auto wo ankomme, wenn ich eine längere Strecke fahre; ich will jetzt gar keinen an den Pranger stellen –, dann würde ich sagen: Um zwei Jahre auf elf oder zwölf Jahre – das ist nicht so ein Drama. Das heißt, wir sind auf dem richtigen Pfad. Und es ist einfach auch so – ich versuche das immer wieder klarzumachen –, dass die Markteinführung von bestimmten Produkten teilweise exponentiellen Kurven folgt. Das geht irgendwann natürlich wieder in eine Sättigungskurve über, das ist klar, aber die Exponentialität muss man verstanden haben, um zu wissen, dass fast nie Linearität der Punkt ist. Insofern haben wir die Sache in der Frage „Wie muss ich die Ladeinfrastruktur voranbringen, wie muss ich die Herstellung von Elektroautos voranbringen, wie muss ich die Förderkulisse strukturieren?“ geschickt vorangebracht. Es ist einfach so, dass man bei der Förderkulisse sehr viele Hürden überwinden musste. – Ich schaue als Vertreter des Deutschen Bundestags und meiner Bundestagsfraktion einmal Paul Ziemiak an. – Die Häme, die ich erleiden musste und heute immer noch erleiden muss, weil immer noch nicht alle Fördermittel abgeflossen sind, ist schon dramatisch, aber ich habe mir damals gedacht: Wenn die Automobilindustrie das so will und wenn ich weiß, dass alle anderen Länder – Niederlande, Norwegen usw. – bestimmte Subventionierungen aufgegeben haben, was kann uns dann jetzt passieren? Entweder ist das Geld schnell weg – dann hat es gewirkt. Oder es tritt das ein, was viele Bundestagsabgeordnete gesagt haben: Es fließt nicht ab; es bleibt liegen – auch kein Schaden. Insofern war das Risiko eigentlich sehr überschaubar. Ludwig Erhard – wir sind ja gerade im 70. Jahr der Sozialen Marktwirtschaft – sagte: 50 Prozent sind Psychologie. Die, die es machen, müssen sagen: Gebt uns einen Anreiz. Wenn wir sagen: „Nein, das machen wir nicht, es wird sowieso nicht abfließen“, dann können wir das Risiko genauso gut auch eingehen. Wir sind es eingegangen; und jetzt wird schon über eine Verlängerung gesprochen. Das ist richtig und wichtig, auch wenn man natürlich weitersehen muss; denn das darf nicht in eine Dauersubvention übergehen. Jetzt sind wir aber in einer Phase, in der man trotzdem aufpassen muss. Wir haben nun auch den Plug-in-Hybriden zum Elektroauto erklärt. Das ist für die Zwischenphase, glaube ich, auch richtig. Ich sage einmal: Unter Gesichtspunkten der Energiebilanz ist der Plug-in-Hybrid wahrscheinlich nicht das Optimum dessen, was man tun kann, weil man ja beides zusammenpackt und weil selbst die Elektromobilität heute noch unter relativ schweren Batterien leidet. Deshalb müssen wir auch aufpassen, dass wir klug vorgehen. Wir haben bei der Solarenergie erlebt, wie wir plötzlich einen wahnsinnig starken Durchbruch erzielt haben, als wir ihren Ausbau sehr forciert haben. Das hat aber dazu geführt, dass die Preise so wahnsinnig schnell nach unten gegangen sind, so dass in Deutschland keiner mehr produzieren konnte und alle Solarpanelhersteller nach China gegangen sind. Da haben wir viel, viel Lehrgeld gezahlt. Das heißt, es bedarf einer sorgsamen Einführung. Sicherlich wird durch die Massenproduktion auch die Batteriefertigung besser werden. Die Batterien werden auch leichter werden. Gleichzeitig müssen wir den Energieausbaupfad im Auge haben; denn Strom aus Kohlekraftwerken ist für das Laden der Batterien noch nicht der Durchbruch. Im Grunde müssen also drei Prozesse koordiniert werden: die Entwicklung von Elektrofahrzeugen oder Fahrzeugen mit alternativen Antrieben, der Umstieg auf erneuerbare Energien in großem Maße – die erneuerbaren Energien sind jetzt schon die tragende Säule unserer Energieversorgung, aber eben noch längst nicht alleine – plus der Aufbau der Infrastruktur. Was den Aufbau der Infrastruktur betrifft, so freue ich mich, dass Sie das hier in diesem Schulungszentrum ganz massiv vorantreiben. Ich glaube aber, wir müssen noch eine kommunale Großaktion durchführen, damit sich auch wirklich alle kommunalen Verantwortungsträger dafür interessieren. Das ist nicht nur eine Frage, die sich den Großstädten stellt, sondern das ist auch eine Frage, die sich den mittelgroßen Städten stellt. Das ist eine Frage an die Arbeitgeber ebenso wie an die Parkhausbetreiber. Es muss das Vertrauen der Menschen wachsen. Ich kenne viele, die sagen: Ich würde mir schon heute ein Elektroauto kaufen, wenn ich wüsste, dass ich nicht irgendwo stehenbleibe und dann nicht richtig weiterweiß. Es muss sich also Vertrauen entwickeln. Sie haben die Bereiche genannt, die das betrifft – zum Beispiel die Autobahninfrastruktur. Auch hier in Berlin passiert vielleicht mehr, als man denkt. Als ich eben hierhergegangen bin, habe ich Start-up-Leute getroffen, die daran arbeiten, an Laternen Ladestationen hinzubekommen. Aber wenn man sich die Straßen in Berlin anschaut, dann muss man durchaus feststellen: Wenn da nachts alle laden wollen, dann ist erstens noch lange nicht die Möglichkeit dazu gegeben, und zweitens ist auch die Stromversorgung noch nicht darauf eingestellt. Wir müssen in den nächsten zehn Jahren also noch vieles voranbringen. Ein Wort zu dem seit dem ersten Tag der Plattform Elektromobilität bestehenden Thema „Batteriezellfertigung – ja oder nein“: Jemanden wie mich, die ich einmal Physik studiert habe, stimmt es unglaublich traurig, dass wir im Land der Gründerväter der Elektrochemie keine Batteriezellen fertigen können und auch ganz Europa das nicht kann. Als Politikerin stimmt es mich unruhig, weil ich nicht weiß, wie intelligent so eine Batteriezelle eines Tages wird. Ich habe darüber keine Sachkenntnis, aber ich bin mir nicht sicher, ob es gut ist, wenn wir nicht wissen, was in dieser Zelle stattfindet. Deshalb werde ich jedenfalls da, wo ich kann, anregen, dass wir daraus eine strategische europäische Entwicklung machen – so, wie wir jetzt noch einmal die Chipentwicklung als strategisches Entwicklungsprojekt für Europa verfolgen. Deutschland wird bereit sein, sich daran zu beteiligen. Dafür brauchen wir noch andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union, aber wir sollten es versuchen. Ich höre: Selbst wenn wir dort einstiegen, bräuchten wir immer noch einen Partner. Aber sich nur in chinesische oder asiatische Abhängigkeiten zu begeben – da bin ich unsicher, ob das so gut ist. Nun kommen wir dahin, dass Elektromobilität – das haben wir vor zehn Jahren noch nicht so absehen können – ja nicht nur eine neue Antriebstechnologie ist, sondern letztlich sozusagen symbiotisch zur Geschichte des autonomen Fahrens dazugehört. Insoweit ist der jetzige Umstieg von der Plattform Elektromobilität auf die allgemeine Mobilitätsplattform, deren Lenkungskreis Herr Kagermann auch betreut und leitet, eine notwendige weitere Verzahnung, weil sich eben die Rolle des Autos je nach Wohnort sehr viel stärker in ein Element einer allgemeinen Mobilität verwandeln wird. Fragen dazu lauten: Wo benutze ich das Auto? Wie viele Autos sind im persönlichen Besitz usw.? Das wird im ländlichen Raum anders sein als in Ballungsgebieten; aber so wird es kommen. Der alternative Antrieb wird eben sozusagen auch die Voraussetzung für ein vernünftiges autonomes Fahren sein. Es ist nicht notwendig, aber es wird in vielen, vielen Fällen so gemacht werden. Wenn wir uns die urbanen Zentren dieser Erde ansehen, dann wissen wir, dass die schon allein aus Emissionsgründen unbedingt auf alternative Antriebe umstellen müssen. Das Auto wird in Zukunft ja im Grunde ein rollendes digitales Wesen sein, bei dem man nicht mehr ganz genau unterscheiden kann, ob das nun ein großer Computer mit einer Batterie ist, das einen vorwärtsbewegt, oder ein gut ausgestattetes Wohnzimmer oder was auch immer. Jedenfalls wird sich die klassische Rolle des Autos verschieben. Wir haben schon jetzt die Definition des Autos geändert. Wir haben die Straßenverkehrsordnung geändert. Der nächste Wettbewerb ist ja schon losgegangen: So, wie wir uns langsam dazu hochgerobbt haben, Leitanbieter zu werden, und so, wie wir vielleicht langsam zu den Leitmärkten aufschließen, so ist jetzt auch der Wettlauf um das autonome Fahren entbrannt. Die deutsche Herangehensweise ist eine evolutionäre Herangehensweise – Stufe 1 bis 5, ganz langsam. Andere gehen sehr viel rabiater heran und sagen: Das Ding muss gleich ohne alles fahren können. Und dann wird daraus ein Learning by Doing. Ich vermute, dass das Hineinwachsen in die Autonomie den Ansprüchen des deutschen Kunden entspricht – oder auch nicht; ich sehe hier gerade jemanden den Kopf schütteln –, aber wir müssen aufpassen, dass wir das nicht zu langsam angehen, sondern dabei auch schon schnell vorangehen. Im Übrigen kommt zu der einen noch eine zweite Abhängigkeit. Wir können also die Batteriezelle heute noch nicht in Europa fertigen; und wir haben eigentlich kaum jemanden, der die gesamte digitale Infrastruktur bieten kann. Damit sind zwei wesentliche Wertschöpfungsmerkmale des zukünftigen Autos schon nicht mehr in alleiniger deutscher Hand. Das heißt, eine geschlossene Wertschöpfungskette ist im Augenblick nicht vorhanden. Ich bin sehr froh, dass sich die Automobilfirmen wenigstens im Zusammenhang mit den HERE-Karten, die eine essenzielle Bedeutung gewinnen werden, zusammengeschlossen haben. Ich muss sagen – ich wäre sehr dafür, obwohl ich das eigentlich nicht darf; das ist wie bei der Justiz –: Auch die kartellrechtlichen Vorschriften müssen sich weiterentwickeln. Bestimmte Dinge der Entwicklung sind ohne Absprachen unter den Herstellern überhaupt nicht möglich; und das kann nicht permanent in einer Grauzone stattfinden. Deshalb müssen wir auch daran weiterarbeiten. Ich habe auch immer wieder den Chef der Kartellbehörde eingeladen. Auch das europäische Kartellrecht bzw. Wettbewerbsrecht hat sicherlich noch einige Lernkurven vor sich. Allein die Unabhängigkeit von der Politik rechtfertigt nicht, sich nicht auch mit dem Gang der technischen Entwicklungen zu beschäftigen. Alles in allem, Herr Mennekes: Ein Stecker kann viel auslösen. Jedenfalls hat Ihr Stecker sehr dazu beigetragen, dass wir wenigstens auf diesem Gebiet eine Normung haben. Ich habe mich gar nicht bei Ihnen erkundigt, was jetzt eigentlich bei den Ladesäulen los ist. Da gab es ja am Anfang mit dem Bezahlsystem, den Kosten usw. auch viel Tohuwabohu, aber das wird sich schon alles in die richtige Richtung entwickeln. – „Seien Sie sicher“, sagt Herr Mennekes. – Wenn Sie sozusagen ordnende Hände der Standardisierung brauchen, dann dürfen Sie sich wieder vertrauensvoll an mich wenden. Ich glaube, dass wir recht gut vorangekommen sind. Ich bedanke mich bei allen, die dafür ein Herz haben. Man muss auch ein bisschen Leidenschaft leben und an weitere Fortschritte glauben. Deshalb: Machen Sie weiter. Das, woran Sie arbeiten, ist ein ganz wichtiges Stück eines zukünftigen Deutschlands und seiner Wertschöpfungsmöglichkeiten. Deshalb alles Gute und herzlichen Dank an alle, die sich dafür engagieren.
in Berlin
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung des Usedomer Musikfestivals am 22. September 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-eroeffnung-des-usedomer-musikfestivals-am-22-september-2018-1523832
Sat, 22 Sep 2018 20:26:00 +0200
Peenemünde
Exzellenzen, liebe Frau Ministerpräsidentin Schwesig, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, sehr geehrter Herr Hummel, sehr geehrter Herr Gericke, vor allem liebe Musikerinnen und Musiker, liebe Gäste dieses Abends, wer Usedom kennt, weiß es – und wer Usedom noch nicht kennt, sollte es wissen: die Ostseeinsel ist immer eine Reise wert. Und das sage ich, obwohl zu meinem Wahlkreis die Insel Rügen und der Darß gehören. Aber Gutes kann immer noch besser werden. Das haben sich vor 25 Jahren viele gedacht, die sich dieser Insel sehr verbunden fühlen. Sie haben sich mit Hoteliers und Geschäftsleuten zusammengetan, um ein Musikfest ins Leben zu rufen. Das Usedomer Musikfestival bringt nicht nur die Insel, sondern eine ganze Region zum Klingen. Denn die Festival-Macher haben von Anfang an Kunst und Kultur der Ostsee-Anrainerstaaten in den Blick genommen. In der Tat ist die Kulturinsel Usedom Teil einer großen Familie, die das Baltische Meer eben nicht trennt, sondern verbindet. Das verkörpert auch und besonders das Baltic Sea Philharmonic. Mit seiner Gründung vor zehn Jahren wurde ein wunderbares neues Kapitel der Musikgeschichte aufgeschlagen. Zu verdanken haben wir das Ihnen, lieber Herr Hummel und lieber Herr Järvi. Sie haben junge Dänen und Deutsche, junge Esten, Finnen, Letten und Litauer, junge Norweger, Polen, Russen und Schweden zum gemeinsamen Musizieren eingeladen. Das Ergebnis hat Tiefe und Eleganz. Damit hat die Kultur im Ostseeraum einen neuen Klang gewonnen und das Orchester über die Jahre hinweg viel Anklang gefunden. Davon zeugen die Erfolge zahlreicher Auftritte nicht nur hier, sondern in Europa. Erst kürzlich hat das Orchester sogar im Mittelmeerraum, in Italien, gastiert. Dem Baltic Sea Philharmonic gratuliere ich herzlich zum zehnjährigen Bestehen. Ich freue mich auf das heutige Eröffnungskonzert. Die Mitglieder des Orchesters leben internationale Verständigung. Sie bedienen sich der Musik als einer zeitlosen Sprache, die über Grenzen hinweg jeder verstehen kann. So ist es geradezu folgerichtig, dass das heutige Konzertprogramm durch ein weiteres Jubiläum inspiriert ist, indem es an die Erlangung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland sowie Finnlands und Polens vor rund 100 Jahren erinnert – konkret zwischen Dezember 2017 und November 2018. Diese Ereignisse waren eine Folge des Ersten Weltkriegs, dessen Endes wir in diesen Monaten in Europa gedenken. Wer die Geschichte kennt, weiß jedoch auch, dass keines der fünf Länder seine Unabhängigkeit frei entwickeln durfte. Denn der Völkergemeinschaft war es damals, nach dem Ersten Weltkrieg, nicht gelungen, die Grundlagen für eine dauerhafte Friedensordnung zu schaffen. Im Gegenteil, es sollten der von Deutschland begangene Zivilisationsbruch der Shoa und der von Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg folgen. Unser Gedenken dieser Schrecken, unser Gedenken auch des Endes des Ersten Weltkriegs und des Erlangens der staatlichen Unabhängigkeit kann und darf daher nicht sich selbst genügen. Damit verbunden ist auch die Verpflichtung, dass wir uns immer wieder für unsere Friedensordnung, für Zusammenhalt und für Verständigung stark machen. Frieden gibt es nicht einfach so, sondern Frieden braucht festen Boden, um aufeinander zugehen zu können. Diesen festen Boden unter unseren Füßen bilden gemeinsame Werte. Sie zu bewahren, zeichnet erst eine Gemeinschaft aus, die auf gegenseitiges Wohl bedacht ist. Diese Werteorientierung brauchen wir in unserem Land, in Europa und in unseren internationalen Beziehungen. Wir wissen ja aus der Geschichte, wie wertvoll, aber auch wie wenig selbstverständlich, ja, wie zerbrechlich Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind. Sich für diese Werte stark zu machen – das ist eine Aufgabe, deren Notwendigkeit uns auch über Gedenk- und Jahrestage hinaus bewusst sein muss. Daher freut es mich, dass während des Usedomer Musikfestivals auch das anklingt, was Europa letztlich geeint hat: nämlich die Toleranz, die Offenheit füreinander und der Respekt voreinander. Ein stärkeres Kontrastprogramm zu dem, was einst hier, in der ehemaligen Heeresversuchsanstalt Peenemünde, geschah, kann man sich kaum wünschen. Hier wurden einst Waffen entwickelt, um Tod und Schrecken zu verbreiten. Heute aber kommen hier Menschen aus verschiedenen Nationen zusammen, um die Gemeinschaft stiftende Wirkung der Musik zu erleben – durch gemeinsames Musizieren ebenso wie durch gemeinsames Zuhören. Kultur verbindet – das zeigt sich auch daran, dass der polnische Teil Usedoms ganz selbstverständlich seinen Platz im Veranstaltungsprogramm hat. Seit 25 Jahren nun geht von diesem Festival eine musikalische Botschaft für eine friedliche und gedeihliche Nachbarschaft in der gesamten Ostseeregion aus. Das sind 25 wirklich gute Gründe dafür, dass ich sehr gerne die Schirmherrschaft über das Jubiläumskonzert übernommen habe. Ich danke den Künstlerinnen und Künstlern. Ich danke allen sehr herzlich, die dieses Festival organisiert haben, und allen, die es auf verschiedenste Weise unterstützen. Ich weiß, hier waren und sind unglaublich viele hilfreiche Geister am Werk. Sie alle zusammen tragen zum Gelingen bei – auch dadurch, dass sie neben dem kulturellen Wohl auch für das leibliche Wohl sorgen. Sie alle pflegen Musikkultur und eine Kultur des Miteinanders. Sie setzen sich für ihr Usedom ein. Sie öffnen sich und sie öffnen damit ihre Heimat für neue Begegnungen. Was könnte ein Festival Schöneres bewirken? Daher: herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum – und auf weitere 25 Jahre, in denen das Usedomer Musikfestival viele Kulturfreunde aus nah und fern zusammenführt und begeistert. Aber warum zeitlich in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Freuen wir uns erst einmal auf das heutige Eröffnungskonzert. Ich wünsche Ihnen und uns allen einen wunderbaren Abend. Herzlichen Dank.
in Peenemünde
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Festakt zur Eröffnung des Prüf- und Technologiezentrums (PTZ) der Daimler AG am 19. September 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-festakt-zur-eroeffnung-des-pruef-und-technologiezentrums-ptz-der-daimler-ag-am-19-september-2018-1523226
Wed, 19 Sep 2018 15:22:00 +0200
Immendingen
Sehr geehrter Herr Zetsche, Herr Källenius, lieber Thomas Strobl, lieber Volker Kauder, sehr geehrte Landräte, Oberbürgermeister und werte Gäste, ich danke sehr für die Einladung. Ich muss zugeben, Immendingen war mir erstmalig aufgefallen, als Volker Kauder fürchterlich darüber schimpfte, dass die deutsch-französische Brigade von hier abgezogen wurde. Dann habe ich ewig nichts gehört; und irgendwann bekam ich eine Einladung. Wenn wir heute das Prüf- und Technologiezentrum der Daimler AG eröffnen, dann öffnen wir damit auch eine Tür in die Zukunft. Wie sieht das Auto der Zukunft aus? Wie bleiben wir hochmobil und schonen Klima und Umwelt? Und wie bleibt die deutsche Automobilindustrie Weltspitze? Diese Fragen treiben uns alle um. Hier in Immendingen bündelt Daimler Kompetenzen mit dem Ziel, neue Technologien und Fahrzeuge an einem Standort entwickeln und testen zu können. Besonders das autonome Fahren wird hier mehr und mehr im wahrsten Sinn des Wortes erfahrbar gemacht. Ich freue mich auf die Praxisdemonstration nachher. Außerdem war schon der Anflug mit dem Hubschrauber eine perfekte Gelegenheit, das ganze Gelände zu sehen. Das ist schon beeindruckend. Es ist ja auch ein exzellentes Beispiel für Strukturwandel. Daran hatte – darauf wurde heute noch nicht hingewiesen – auch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben einen Anteil. Denn das Konversionsgelände kam von der Bundeswehr. Mit dem Aufbau eines hochmodernen Technologiezentrums hat Immendingen eine völlig neue wirtschaftliche Perspektive gewonnen. Es wurde schon gesagt: 300 neue Arbeitsplätze in perfekter geografischer Lage. Bei einem solch großen neuen Projekt geht es aber natürlich auch um Akzeptanz. Es muss sich in die Umgebung einfügen. Es scheint mir dank herausragender, mutiger Kommunalpolitiker und sensibler Vertreter der Daimler AG in der Tat gelungen zu sein, dass eine gute Kommunikation zustande gekommen ist und die Bevölkerung dieses Projekt gut angenommen hat. Alle wurden einbezogen, natürlich auch Naturschutzorganisationen. Die Anliegen wurden gehört. Es wurden ökologische Ausgleichsprojekte realisiert. Der Wildtierkorridor ist schon erwähnt worden. Dieses Projekt spiegelt auch die Bedeutung wider, die die Automobilindustrie in Deutschland insgesamt hat. Es steht sozusagen stellvertretend dafür. Mehr als 800.000 Beschäftigte, ein Jahresumsatz von über 425 Milliarden Euro – schon allein diese Kennzahlen zeigen, dass die Automobilindustrie eine Schlüsselindustrie für die Bundesrepublik Deutschland ist. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass in dieser Branche pro Jahr fast 22 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung fließen. Das zeigt, mit welcher Entschlossenheit der Wandel angegangen wird. Ich sage das auch im Hinblick auf die Enttäuschungen, die wir in letzter Zeit erlebt haben. Aber ich denke, dass ein Projekt wie dieses auch zeigt, dass verlorengegangenes Vertrauen wiedergewonnen werden kann. Wir wollen die Automobilindustrie auf diesem Weg unterstützen. Denn wir sind uns der Bedeutung dieser Industrie bewusst. Aber wir sind uns auch des großen Aufgabenspektrums bewusst. Denn das, was zum Schluss herauskommt, ist schon etwas ziemlich anderes – außer dass es die individuelle Freiheit weiter erhält – als das, was Bertha Benz ihrerzeit so mutig erprobt hat. Die Mobilität für den Einzelnen und seine freie Lebensgestaltung werden – das ist unsere gemeinsame Überzeugung – auch in Zukunft wichtig bleiben. Jeder zweite Deutsche besitzt heute ein Auto. Über 46 Millionen Pkw sind in Deutschland angemeldet. Natürlich hat das Auswirkungen auf die Umwelt und auf das Klima. Deshalb sind die Diskussionen über technische Verbesserungen permanent auf der Tagesordnung. Wir haben erlebt, dass wir immer wieder bessere technische Werte hatten, auch Umwelt- und Emissionswerte, dass aber ein höheres Verkehrsaufkommen all das wieder sozusagen aufgesogen hat. Deshalb ist es auch angesichts der Notwendigkeit des Klimaschutzes unabdingbar, dass hieran immer weiter gearbeitet und die Mobilität auf völlig neue Grundlagen gestellt wird, zumal die deutsche Automobilindustrie ja nicht nur in Deutschland eine große Rolle spielt, sondern auch stark vom Export und von anderen Produktionsstandorten lebt. Das heißt also, dass Mobilität langfristig emissionsfrei werden muss. Wir haben einen Klimaschutzplan erarbeitet. Damit wollen wir die Treibhausgasemissionen bis 2050 um 80 Prozent bis 95 Prozent – wobei die beiden Zahlen einen gewissen Unterschied verdeutlichen; denn die letzten Prozente werden immer schwieriger zu realisieren sein – gegenüber 1990 reduzieren. Auch der Verkehrssektor wird hierzu seinen Beitrag leisten müssen, wobei ich mit Freude höre, dass die Modelle schrittweise auf E-Mobilität oder alternative Antriebe – wir sollten ja technologieoffen an die Dinge herangehen – umgestellt werden. Wir verhandeln im Augenblick auf EU-Ebene wieder über CO2-Standards. Wir wissen, dass wir mit Blick auf die Wechselwirkungen von NOx und CO2 ambitionierte, aber realisierbare Ziele anstreben müssen. Die Abstimmungen dazu in der Bundesregierung laufen. Aber ich denke, dass mit dem Vorschlag der Kommission eine gute Grundlage auf dem Tisch liegt. Wie die Verkehrswende, die insgesamt angestrebt werden muss, gelingen kann, ist die zentrale Frage, mit der sich die Nationale Plattform „Zukunft der Mobilität“ befassen wird, deren Einsetzung wir – passend zur Eröffnung hier – heute im Kabinett beschlossen haben. Zudem wurde heute der Abschlussbericht der „Nationalen Plattform Elektromobilität“ von Herrn Kagermann übergeben – acht Jahre Arbeit, die uns vielleicht nicht ganz so schnell nach vorn gebracht haben, wie wir dachten, in denen wir aber Bedeutendes bewegt haben. Wenn ich gerade so viele neugierige, aufgeschlossene Bürgermeister vor mir sehe, dann kann ich Sie nur bitten: Wir haben ein Förderprogramm für Ladestationen für E-Mobile. Aber Sie haben die Lokalkenntnis: Wie muss man das angehen – wie viele private Anschlüsse werden gebraucht, wo muss man für öffentliche Anschlüsse sorgen? Das wird eine wichtige Aufgabe sein – natürlich noch wichtiger für größere Städte. Wir müssen Vertrauen schaffen. Denn die besten Angebote der E-Mobilität nützen nichts, wenn die Menschen den Eindruck haben: Ich könnte irgendwo stehenbleiben; die Antriebstechnologie ist vielleicht doch nicht so sicher. Wir werden sehr bald an allen Autobahntankstellen Lademöglichkeiten haben. Damit ist das Autobahnnetz dann relativ gut bestückt. Wenn Sie hier bei der Ladeinfrastruktur Vorreiter sein wollen, wenn Sie schon so eine tolle Teststrecke haben, dann komme ich gern einmal wieder, wenn hier alles sozusagen e-mobilfähig gemacht ist. Es geht um verschiedene, aber vernetzte Fragestellungen, die wir uns anschauen müssen. Es geht ja nicht nur um Antriebstechnologien, sondern es gibt im Grunde ja eine Vielfach-Wende. Wir kommen auf dem Weg des autonomen Fahrens voran. Wir kommen bei den Antriebstechnologien voran. Wir werden in Teilen der Bevölkerung, was sozusagen das Besitzverhalten anbelangt, wahrscheinlich eine große Veränderung erleben. Mobilität nimmt man sich; und Mobilität wird vernetzt gedacht. Das heißt zum Beispiel: Wenn ich ein Auto brauche, nehme ich nur zu diesem Zeitpunkt ein Auto, und wenn ich etwas im öffentlichen Verkehrsbereich brauche, dann nutze ich eben das oder kombiniere beides. Mobilität werden wir vielfach neu denken müssen. Mir haben kürzlich die deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen wieder einmal gezeigt, dass der Rest der Welt nicht schläft. China ist sehr aktiv. Auch Japan versucht gerade auch mit Blick auf seine Olympischen Spiele 2020 sich stark im autonomen Fahren zu präsentieren. Dass die Vereinigten Staaten von Amerika nicht schlafen, das wissen wir alle. Insofern geht es bei der Frage, wie wir uns dem autonomen Fahren nähern, auch um prinzipielle Herangehensweisen. Worauf setzen wir? Wir Deutsche setzen eher auf eine stufenweise Herangehensweise. Wir brauchen natürlich auch einen geeigneten rechtlichen Rahmen. Hierzu haben wir, denke ich, bereits wichtige Schritte mit Ihnen gemeinsam getan. Wir sind auch führend bei der Behandlung der Frage ethischer Implikationen. Ich denke, wir müssen uns auch seitens der Politik mit diesen Fragen zum autonomen Fahren sehr intensiv befassen. Die Todesfälle im Verkehr, die Thomas Strobl soeben angesprochen hat, sind erschütternd. Aber über das erste Unfallopfer des autonomen Fahrens wird in der Gesellschaft sicherlich noch anders diskutiert werden als sozusagen über ein Opfer im herkömmlichen Sinne. Denn wir sind ja auf dem Weg, die Zahl der Todesfälle im Verkehr insgesamt glücklicherweise reduzieren zu können. Es steht jedenfalls eine Menge Arbeit vor uns, auf die sich – das ist mein Eindruck –, wie dieses Projekt ja zeigt, alle freuen. Es wird mit Leidenschaft angegangen. Ich finde, bei all den kritischen Diskussionen, die wir auch oft führen, kann man auch einmal sagen, dass hier eine Branche einfach fröhlich für die Zukunft arbeitet, was in der lokalen Community auch wirklich akzeptiert ist. Deshalb ist mir das eine große Freude. Der hier ansässige Bundestagsabgeordnete wird sicherlich seinen Beitrag zum Gelingen dieses Projekts geleistet haben, so wie ich ihn kenne. Ich sage danke dafür, dass ich heute dabei sein kann, wünsche Ihnen gute Testfahrten auf einem wunderschönen Gelände und gute Erfolge dabei. Und jetzt freue ich mich auf die Demonstration. Herzlichen Dank.
in Immendingen
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der Ausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt:
Ein Kunsthändler im Nationalsozialismus“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-ausstellung-bestandsaufnahme-gurlitt-ein-kunsthaendler-im-nationalsozialismus–1522968
Thu, 13 Sep 2018 18:30:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Bonn, Bern und nun Berlin: Ich bin froh und dankbar, dass wir ab heute auch in der deutschen Hauptstadt eine „Bestandsaufnahme Gurlitt“ präsentieren können – aktualisiert und um neue Erkenntnisse ergänzt. Denn natürlich gehört diese Ausstellung unbedingt auch nach Berlin, in die Hauptstadt. Berlin war in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Nabel der europäischen Kunstwelt; dazu haben nicht zuletzt legendäre (vor allem jüdische) Kunsthändler wie etwa Alfred Flechtheim oder Paul Cassirer mit ihrer Begeisterung für die künstlerische Avantgarde und ihrem weit verzweigten Netzwerk beigetragen. Berlin war aber auch der Ort, an dem Joseph Goebbels vor gut 80 Jahren bei der Jahrestagung der Reichskulturkammer in einer seiner berüchtigten Hetzreden den Ausschluss der Juden aus dem deutschen Kulturleben propagierte. Er sprach in diesem Zusammenhang auch über die Ausstellung „Entartete Kunst“, die einige Monate zuvor in München eröffnet worden war. „[…] die Kunst“, dozierte Goebbels in diesem Zusammenhang, „die Kunst ist nicht ein Lebensbezirk für sich, in den einzudringen dem Volke verwehrt sein müsste. Sie ist eine Funktion des Volkslebens und der Künstler ihr begnadeter Sinngeber.“ Vor dem Hintergrund dieser, für ein autoritäres System so typischen wie für eine freiheitliche Demokratie erschütternden, Indienstnahme der Künste für eine Ideologie ist auch die Biographie Hildebrand Gurlitts zu bewerten. Hildebrand Gurlitt war nicht nur irgend „ein Kunsthändler im Nationalsozialismus“. Er war einer der vier Kunsthändler, die die Nationalsozialisten mit der Verwertung der als „entartet“ eingezogenen Werke betrauten: ein Mensch, der sich einst als leidenschaftlicher Kunstliebhaber und mutiger Museumsmann einen Namen gemacht und noch im Mai 1933 das Hissen der Hakenkreuzflagge verweigert hatte – und dennoch wohl aus einer Mischung aus Gier, Angst und Opportunismus zu einer der Schlüsselfiguren der NS-Kunstpolitik und der Aktion „Entartete Kunst“ wurde. Vor fast genau vier Jahren, am 24.November 2014, haben sich die Bundesregierung, der Freistaat Bayern und das Kunstmuseum Bern als Erbe Cornelius Gurlitts gemeinsam verpflichtet, Verantwortung für das Vermächtnis Hildebrand Gurlitts zu übernehmen: Verantwortung für den so genannten „Schwabinger Kunstfund“, für die Werke aus dem ehemaligen Kunstbestand, den er seinem Sohn Cornelius hinterließ. Wir tragen Verantwortung für die Aufarbeitung der Herkunft, der Provenienz dieser Werke; wir haben die moralische Pflicht, den menschlichen Schicksalen hinter den geraubten und entzogenen Kunstwerken gerecht zu werden. Das Kunstmuseum Bern als private schweizerische Einrichtung hat nach Antritt des Erbes zusammen mit der Bundesrepublik Deutschland und dem Freistaat Bayern an einem Strang gezogen und damit die Aufarbeitung des Kunstfunds Gurlitt möglich gemacht. Dafür noch einmal vielen Dank, liebe Frau Dr. Zimmer, lieber Herr Dr. Brülhart. Wie schon die Ausstellungen in Bern und Bonn ist auch diese dritte Ausstellung in der Reihe „Bestandsaufnahme Gurlitt“ eine aktuelle Momentaufnahme unseres Bemühens um Aufklärung und Transparenz. Sie präsentiert Werke aus beiden bisherigen Ausstellungsteilen und zeichnet auf diese Weise ein eindringliches Bild von der NS-Kunstpolitik wie auch vor allem von den Schicksalen der Opfer. Sie erzählt vom Tod der Kunstfreiheit, von der Verhöhnung, Verfolgung und Entrechtung der Künstlerinnen und Künstler, die sich eben nicht – wie von Goebbels propagiert – für die nationalsozialistische Ideologie in Dienst nehmen ließen. Sie dokumentiert, wie unzählige, meist jüdische Sammler von Kunst- und Kulturgütern durch die Nationalsozialisten beraubt, enteignet und verfolgt wurden, in Konzentrationslagern ermordet, in den Tod getrieben oder – mittellos – zur Emigration gezwungen wurden. Sie offenbart, dass hinter jedem entzogenen, geraubten Kunstwerk das individuelle Schicksal eines Menschen steht, das anzuerkennen wir den Opfern der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und deren Nachfahren schuldig sind. Sie sensibilisiert aber auch dafür, wie mühsam, langwierig und ungeheuer schwierig es ist, die Herkunft eines Kulturguts über Jahrzehnte zurück zu verfolgen und zweifelsfrei zu klären. Die insbesondere mit Blick auf die noch lebenden, hochbetagten Opfer und ihre Nachkommen nur allzu verständliche öffentliche Erwartung, dass sich 70 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Terrorherrschaft die Geschichte dieser knapp 1.600 Werke unklarer Provenienz innerhalb kürzester Zeit zurückverfolgen lässt, erwies sich eben deshalb aus wissenschaftlicher Sicht leider als unerfüllbare Hoffnung. Ich will kurz auf die wesentlichen bisherigen Erkenntnisse eingehen. Knapp 900 Werke konnten dem Familienbesitz Gurlitts oder der sogenannten „Entarteten Kunst“ zugeordnet werden, bei denen in der Regel nicht von Raubkunst auszugehen ist. Rund 700 Werke wurden unter möglichem Raubkunstverdacht in den Fokus genommen. Zu all diesen rund 700 Werken liegen mittlerweile Berichte vor. Über die Hälfte der Ergebnisse konnte bereits von den internationalen Experten bestätigt werden, nur noch knapp 100 Berichte müssen die Prüfung durch diese Experten durchlaufen. Wir gehen davon aus, dass die Reviewarbeiten Ende dieses Jahres abgeschlossen sein werden. Ein Großteil der Werkprovenienzen ist auch nach akribischer Forschungsarbeit wohl nicht aufklärbar. Trotz Ausschöpfung aller Quellen bleiben zu große Lücken in der Provenienz, als dass ein verfolgungsbedingter Entzug mit ausreichender Wahrscheinlichkeit bejaht oder ausgeschlossen werden könnte. Gründe dafür sind beispielsweise im Krieg verlorengegangene Dokumente, unzugängliche Privatarchive – auch zum Teil die des Kunsthandels – oder Schwierigkeiten bei der Identifikation eines Werks, weil keine Stempel oder Aufschriften angebracht wurden. Vier Bilder aus dem Konvolut Cornelius Gurlitts konnten bisher an Nachkommen von Opfern des Nationalsozialismus zurückgegeben werden. Bei zwei weiteren Werken, die ebenfalls eindeutig als NS-verfolgungsbedingt entzogen identifiziert wurden, stehen wir mit den Nachkommen der Opfer in Kontakt. Von 18 Werken, die ebenso wie die bei Cornelius Gurlitt aufgefundenen Bilder aus dem Bestand Hildebrand Gurlitts stammen und in die Erforschung aufgenommen werden konnten, weil sich der derzeitige Eigentümer den Washingtoner Prinzipien verpflichtet sieht, wurden kürzlich vier als NS-Raubkunst bestätigt. Es freut mich, dass diese Bilder hier in Berlin gezeigt werden und wir dem Schicksal der jüdischen Familie Deutsch de la Meurthe, der die Werke entzogen wurden, damit angemessen Respekt zollen können. Und es bewegt mich sehr, dass heute auch Nachkommen Henry Deutsch de la Meurthes unter uns sind: Ich begrüße Sie herzlich, verehrter Herr Gradis, verehrte Frau Gradis, und danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit für den weiten Weg nach Berlin genommen haben. Ein herzliches „Danke“ auch an Sie, liebe Frau Dr. Rosenthal, dass Sie der Ausstellung im Herzen Berlins Raum geben. Lieber Herr Wolfs, liebe Frau Dr. Lulinska: Ihnen und Ihrem Team gebührt größter Dank für die gelungene Umsetzung der Berliner Ausstellung, mit der Sie die Schicksale der Opfer noch weiter ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit rücken. Zur „Bestandsaufnahme Gurlitt“, meine Damen und Herren, gehören aber nicht nur die Ergebnisse der Untersuchung des „Kunstfunds Gurlitt“, die wir Ihnen in der Ausstellung präsentieren, sondern auch und insbesondere die weit über dessen Aufklärung hinausgehenden Fortschritte bei der Aufarbeitung des NS-Kunstraubs. Die Taskforce hat dabei großartige Pionierarbeit geleistet: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter anderem aus Israel, den USA, Polen, Österreich und Frankreich haben mitgeholfen, den Kunstfund Gurlitt zu erforschen – bei allen Abstimmungsproblemen ist dies ein großer Fortschritt in der internationalen Zusammenarbeit bei der Provenienzforschung. Ein enormer Fortschritt ist es deshalb, dass die Taskforce international einheitliche Darstellungsformen für die Provenienzforschung und deren Ergebnisse geschaffen hat. All das gab es zuvor so nicht. Ich danke allen beteiligten Provenienzforscherinnen und -forschern, für ihre ebenso akribische wie engagierte Arbeit. Als Erfolg dürfen wir außerdem werten, dass die Aufarbeitung des „Kunstfunds Gurlitt“ das öffentliche Bewusstsein für die Bedeutung der Provenienz-forschung nochmals deutlich gestärkt hat. Mit dem auf meine Initiative gegründeten Deutschen Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg gibt es nun einen zentralen Ansprechpartner für Provenienzforschung. Die Bundes-Mittel dafür konnte ich in meinem Kulturetat von 2 auf inzwischen mehr als 6,5 Millionen Euro erhöhen. Auch viele Museen engagieren sich inzwischen viel stärker als bisher – sie wissen, dass sie nicht mehr nur an ihrer Ankaufs- und Ausstellungspolitik gemessen werden, sondern auch daran, wie sie ihre Geschichte und die ihrer Sammlungen aufarbeiten. Ich werde die öffentlichen Einrichtungen auch weiterhin, wo immer sich die Gelegenheit bietet, an ihre Verantwortung erinnern. Und ich appelliere auch von dieser Stelle aus einmal mehr an private Kunstsammler und an den Handel, ihre Bestände zu untersuchen und – den Washingtoner Prinzipien folgend – zu gerechten und fairen Lösungen beizutragen. Last but not least hat die Arbeit der Taskforce und des Projektteams beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste eine Fülle an Erkenntnissen zum Umgang mit Kunst in der NS-Zeit zutage gefördert, von der die künftige Forschung profitieren wird. So ist die „Bestandsaufnahme Gurlitt“ denn auch kein Schlusspunkt der Aufarbeitung, sondern ganz im Gegenteil: ein Ausgangspunkt, von dem aus mehr Forschende als bisher mit besserem Rüstzeug als bisher der Wahrheit auf den Grund gehen können. Ich danke all jenen, deren unermüdliches Engagement dazu beigetragen hat – sei es im Rahmen der Aufklärung des „Kunstfunds Gurlitt“, sei es im Rahmen der Vorbereitung der Ausstellung, die wir heute eröffnen. Mag Wiedergutmachung auch jenseits unserer Möglichkeiten liegen, so verdient doch auf jeden Fall die Aufarbeitung des NS-Kunstraubs jede nur mögliche Anstrengung. Darüber hinaus wünsche ich gerade jenen Meisterwerken der Moderne, denen eine breite öffentliche Wertschätzung nach ihrer Verunglimpfung durch den nationalsozialistischen Kampfbegriff „entartete Kunst“ noch über viele Jahrzehnte verwehrt blieb, heute ganz besonders das Licht der Öffentlichkeit und die Begeisterung im Auge ihrer Betrachter. Mit ihrer wechselvollen Geschichte erzählen sie nicht nur von der ideologischen Vereinnahmung und Degradierung der Kunst und von der Ausgrenzung und Entrechtung zahlreicher Künstlerinnen und Künstler; sie appellieren auch an unseren demokratischen Widerstandsgeist, wenn heute wieder nationalistische und rassistische Parolen skandiert werden. Deutschland darf nie wieder ein Ort sein, an dem Hass und Hetze mehr Beifall als Widerspruch provozieren! Nicht zuletzt kann uns die „Bestandsaufnahme Gurlitt“ auch die künstlerische Freiheit einmal mehr schätzen und gegen jede Form der Vereinnahmung im Dienste eines Kollektivs (wie einst Joseph Goebbels es forderte) verteidigen lehren – ganz im Sinne des berühmten Expressionisten Max Beckmann, der 1938 in seinem eindringlichen Vortrag „Über meine Malerei“ Stellung gegen die Kulturbarbarei der Nationalsozialisten bezog. Der Kollektivismus sei die „größte Gefahr, die uns Menschen allen droht“, erklärte er, und ich zitiere weiter: „Überall wird versucht, das Glück oder die Lebensmöglichkeiten der Menschen auf das Niveau eines Termitenstaates herabzuschrauben. Dem widersetze ich mich mit der ganzen Kraft meiner Seele.“ Diese Kraft, meine Damen und Herren, wünsche ich auch unseren Demokratien. Möge die „Bestandsaufnahme Gurlitt“ auch dazu beitragen!
Rede der Kulturstaatsministerin bei der Eröffnung des Deutsche Bank Forums
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-bei-der-eroeffnung-des-deutsche-bank-forums-1526272
Wed, 12 Sep 2018 10:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Von Mark Twain, dem berühmten US-amerikanischen Schriftsteller, stammt der Satz „Kultur ist das, was übrig bleibt, wenn der letzte Dollar ausgegeben ist.“ Nein, keine Sorge, ich bin ja nicht als Kundin hier, die die letzten ausgegebenen Dollars ihrer Bank beklagt, und die Kunst, die wir hier erleben, würde ich auch nicht als letzte Überbleibsel beschreiben… Aber: Mark Twain hatte doch recht, als er der Kultur einen eben unschätzbaren und die wechselvollen Zeiten überdauernden Wert zuschrieb. Nicht nur als Kundin, sondern vor allem als Kulturpolitikerin ist es mir daher eine Freude, heute hier mit Ihnen diesen eleganten privaten Ort hoch professioneller Kunst-Ausstellungen in der Mitte Berlins mit eröffnen und mich einmal mehr über den oben genannten Wert der Kunst mit Ihnen austauschen zu können – zumal an einem Ort, an dem gewöhnlich der Preis dafür die Wahrnehmung beherrscht. Folgen wir Mark Twain, ist es nur konsequent, dass sich das größte deutsche Kreditinstitut neben Vermögensmanagement und Bausparfinanzierungen so hingebungsvoll der Kunst und Kultur widmet. Dass sich diese kulturelle Investition tatsächlich auszahlt, können wir ab heute hier im Prinzessinnenpalais erleben. Mit ihrem neusten Coup, ein Zentrum für Kunst, Kultur und Sport im Herzen Berlins zu schaffen, bereichert die Deutsche Bank nicht zuletzt die neue alte Mitte der Hauptstadt, die als Schauplatz für Kunst und Kultur auch unser Selbstverständnis als Kulturnation repräsentiert. Dabei befindet sich das Deutsche Bank Forum nicht nur in Sichtweite großer Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen von nationalem Rang wie den Staatlichen Museen zu Berlin oder dem neuen Humboldt Forum, sondern begegnet ihnen auch selbstbewusst auf Augenhöhe. Dafür steht bereits die herausragende Eröffnungsausstellung „The world on paper“. Lieber Thorsten Strauß und lieber Friedhelm Hütte, herzlichen Dank für Ihr jahrzehntelanges und unerlässliches Engagement als Leiter der Kunstsammlung der Deutschen Bank, einer Kunstsammlung, die sich schon immer dem Prinzip der Arbeiten auf Papier, diesem sinnlichen Material, und der Kunstszene, aus der Ihr Name heute nicht mehr wegzudenken ist, verpflichtet fühlt. Und ich danke natürlich auch Ihnen, liebe Frau von Reichenbach und Ihrem Team, für Ihre jahrelange, großartige Arbeit hier in Berlin, deren Ergebnis wir unter anderem auch heute bewundern dürfen. Die Ausstellung mit rund 300 Highlights und Neuentdeckungen aus der Sammlung Deutsche Bank illustriert die globale Ausrichtung und internationale Bedeutung einer Sammlung, die (sage und schreibe) 133 Künstlerinnen und Künstler aus 34 Ländern umfasst und die für die Kunst nach 1945 auf Papier zu den bedeutendsten Kollektionen weltweit zählt. So ist „The world on paper“ ein stolzes Zeugnis einer mehr als 30-jährigen Zeit des Sammelns und Kuratierens, in denen sich die Sammlung Deutsche Bank als Schrittmacherin auf dem Feld der Unternehmersammlungen früh einen großen Namen erarbeitet hat. Denn: In den späten 1970er Jahren war die Bank eines der ersten Unternehmen, das mit eigenem kuratorischen Ehrgeiz begann, Kunst zu sammeln. Maßgeblich unterstützte diesen Ehrgeiz der langjährige Vorstandssprecher und Aufsichtsratsvorsitzende Hermann Josef Abs, der selbst ein bedeutender Mäzen und Kulturförderer in der alten Bundesrepublik war. Heute spielt die Kunstsammlung der Deutschen Bank in der ersten Liga vergleichbarer Sammlungen und verwirklicht immer wieder spektakuläre Ausstellungen. Selbstbewusst präsentiert sie sich auch mit rund 1.500 Werken in den Räumlichkeiten der Bankzentrale in Frankfurt sowie in allen großen Niederlassungen weltweit. Dank zuverlässig fließender Ankaufsmittel übertrifft die Sammlung etliche der großen staatlichen oder kommunalen Sammlungen, die wegen knapper Ankaufetats deutlich bescheidener wachsen. Doch das Renommee der Sammlung begründet sich nicht in erster Linie aus ihrem beeindruckenden Umfang, sondern insbesondere aus ihrer überragenden Qualität vielleicht – weil sie dem vorbildlichen Anspruch folgt, dass die Kunst für sich stehen muss und nicht etwa für unternehmerische Zwecke instrumentalisiert werden darf, eben dass sie einen Wert hat, nicht nur einen Preis. Wir beobachten regelmäßig Versuche namhafter Unternehmen, sich von Kunstwerken zu trennen, um die eigenen Bilanzen aufzufrischen. Die ebenso regelmäßig laut werdende öffentliche Kritik, ja Empörung, wenn der Preis für die Kunst ihren gesellschaftlichen Wert zu überblenden droht, zeigt die hohe Sensibilität in der Bevölkerung für das, was in den Unternehmen unter der Überschrift „corporate social responsibility“ als Selbstverpflichtung propagiert wird. Vorbildlich und wegweisend ist hier tatsächlich das Engagement der Deutschen Bank auch über die Kunst hinaus. So unterstützt sie die Nachwuchsförderung des Musikgymnasiums Schloss Belvedere in Weimar sowie der Jungen Deutschen Philharmonie, fördert das Bundesjazzorchester, das Deutsche Romantikmuseum und das English theatre in Frankfurt. Und ich freue mich natürlich sehr über Ihre großzügige Unterstützung der Berliner Philharmoniker, in deren Stiftungsrat wir ganz wunderbar zusammenarbeiten! All das beweist, meine Damen und Herren: die Deutsche Bank ist nicht nur am Finanzmarkt, sondern auch in der Kunst- und Kulturszene ein echter (Kultur-) Faktor. Sie nimmt gesellschaftliche Verantwortung wahr. Sie erbringen so im besten Sinne „Leistung aus Leidenschaft.“ In diesem Sinne freue ich mich, dass das Forum Deutsche Bank den überdauernden Wert von Kunst und Kultur für unsere Gesellschaft einmal mehr hochhält und wünsche dem Forum zahlreiche begeisterte Besucherinnen und Besucher!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Deutschen Bundestag
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-deutschen-bundestag-1670090
Wed, 11 Sep 2019 00:00:00 +0200
Berlin
Finanzen
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Haushaltsdebatte 2019 findet in Zeiten weltweiter großer Veränderungen und Kräfteverschiebungen statt. Die Europäische Union erlebt in wenigen Monaten den Austritt eines wichtigen Mitgliedstaates, den Austritt Großbritanniens. Wir haben nach wie vor nach meiner festen Überzeugung alle Chancen, ihn geordnet hinzubekommen. Die Bundesregierung wird sich auch bis zum letzten Tag dafür einsetzen, dass das möglich ist. Aber ich sage auch: Wir sind auch auf einen ungeordneten Austritt vorbereitet. – Es bleibt aber dabei: Nach dem Austritt Großbritanniens haben wir einen wirtschaftlichen Wettbewerber vor unserer eigenen Haustür, auch wenn wir enge außen- und sicherheitspolitische Kooperationen beibehalten wollen, auch wenn wir freundschaftlich verbunden sein wollen. 70 Jahre Bundesrepublik, 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges zeigen sich global völlig neue Muster der Kräfteaufteilung. Es gibt auf der einen Seite eine nach wie vor starke Macht – man kann sagen: eine Supermacht USA -, ökonomisch und militärisch. Europa ist dieser Supermacht im Wertesystem verbunden, und trotz aller Meinungsverschiedenheiten gibt es eine tiefe Gemeinsamkeit. Aber es gibt keinen Automatismus mehr wie im Kalten Krieg, dass die Vereinigten Staaten von Amerika schon die Beschützerrolle für uns Europäer übernehmen werden. Europas Beitrag wird hier stärker gefordert. Wir haben auf der anderen Seite China mit einem anderen politischen System, mit einem rasanten ökonomischen Aufstieg, mit wachsenden militärischen Kräften, nicht eingebunden in irgendwelche Abrüstungsregime. Ich konnte mich letzte Woche bei meinem Besuch in China wieder davon überzeugen, mit welch unglaublicher Dynamik und Entschlossenheit dort die Entwicklung voranschreitet. Damit ist natürlich klar – das habe ich auch in China deutlich gemacht -, dass China auch für die globale, multilaterale Ordnung eine zunehmende Verantwortung hat. Deutschland tut gut daran, mit China in allen Bereichen Kontakte zu pflegen, wirtschaftlich, aber auch in den verschiedenen Dialogformaten, die wir haben – Rechtsstaatsdialog, Menschenrechtsdialog -, in denen wir auch unterschiedliche Meinungen austragen können. Ich habe bei meinem Besuch auch wieder darauf hingewiesen, dass die Einhaltung der Menschenrechte für uns unabdingbar ist. Das gilt insgesamt, und das gilt auch im Blick auf die Situation in Hongkong, wo wir das Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ weiter für richtig halten. Meine Damen und Herren, die wachsende Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und China, gleichzeitig auch das geostrategische Wiedererstarken Russlands haben natürlich tiefgreifende Folgen für uns in Europa. Wir als Europäer stehen einerseits durch den Austritt Großbritanniens geschwächt da – man muss das so aussprechen -; auf der anderen Seite ist es aber auch genau die Stunde, neue Stärke zu entwickeln. Ich finde, das, was Ursula von der Leyen gestern mit ihrer Vorstellung der neuen EU-Kommission geleistet hat, weist genau in diese Richtung: eine global ausgerichtete Kommission, die Europas Rolle in der Welt festigen will und die richtigen Themen angehen will. Ich glaube, das kann ein sehr guter Start sein. Europa ist als multilaterales Projekt gegründet, als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg, und Europa muss sich für den Erhalt des Multilateralismus auf der Welt einsetzen, auch wenn er noch so unter Druck steht. Das ist unsere Verpflichtung, und Deutschland muss hierbei eine herausragende Rolle spielen. Kein Land auf der Welt kann seine Probleme alleine lösen, und wenn wir alle gegeneinander arbeiten, dann werden wir nicht gewinnen. Ich glaube an die Win-win-Situation, wenn wir zusammenarbeiten, und das muss das Credo sein. Das bedeutet natürlich, dass wir das transatlantische Bündnis stärken müssen, und deshalb ist es wichtig, unserer Verpflichtung nachzukommen und auch im militärischen Bereich unsere Versprechen einzuhalten. Wir wollen uns in Richtung des Ziels bewegen, 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das Militär auszugeben – wie alle NATO-Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Gleichzeitig wollen wir einen eigenen Pfeiler der Verteidigung mit der gemeinsamen Verteidigungspolitik im Rahmen von PESCO aufbauen, indem wir gemeinsam Rüstungsprojekte entwickeln und unsere Anstrengungen bündeln. Europa muss für eine Handelspolitik eintreten, die einen freien, regelbasierten und auf Standards setzenden Handel unterstützt. Europa muss sich für die Reform der Welthandelsorganisation einsetzen. Europa muss in Zukunft nicht nur an einem Freihandelsabkommen mit Großbritannien arbeiten, sondern auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir müssen beim Investitionsschutzabkommen mit China endlich zum Abschluss kommen, und Europa muss Vorreiter in der Klimapolitik und Motor bei der Umsetzung des Pariser Abkommens sein. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen vor allen Dingen technologisch wieder in allen Bereichen auf die Höhe der Zeit, auf das, was Weltmaßstab ist, kommen. Wir sind das nicht mehr, wir müssen uns das eingestehen, und wir müssen in diese Richtung arbeiten. Das bedeutet, dass wir die Digitalisierung im Geiste der sozialen Marktwirtschaft gestalten. Das bedeutet, dass wir überall da, wo wir technologische Rückstände haben, durch Bündelung der europäischen Anstrengungen auch wirklich vorankommen. Ob es die Herstellung von Chips ist, ob es die Plattformwirtschaft ist, ob es das Datenmanagement ist – Stichwort „Hyperscaler“ -, ob es Batteriezellenproduktion ist: Überall muss Europa wieder Souveränität entwickeln und auch in der Datenwirtschaft einen eigenen Weg gehen, den Weg der sozialen Marktwirtschaft mit der Souveränität über die eigenen Daten. Europa muss einen Fußabdruck, wie man heute vielleicht sagt, hinterlassen bei der Konfliktlösung in der Welt. Wir haben uns als Europäer – auch Großbritannien verfolgt weiter diese Position – entschieden, weiter zu dem Nuklearabkommen mit dem Iran zu stehen; das ist richtig. Wir werden Schritt für Schritt versuchen, auch hier immer wieder mit dem Iran Lösungen zu finden, die eine Eskalation der Spannungen in einer für die Welt sensitiven Region verhindern. Das ist europäische Aufgabe. Wir müssen sichtbarer werden bei der Lösung der Situation in Syrien. Es muss jetzt endlich ein politischer Prozess in Gang kommen, damit die Menschen, die außerhalb Syriens leben, oder die Menschen, die in Syrien Flüchtlinge sind, wieder eine Chance haben, in ihrem Heimatland eine politische Ordnung zu finden, die nicht von Diktatur bestimmt ist. Europa hat hier eine Verantwortung. Wir haben die Verantwortung zur Lösung der Spannungen zwischen Russland und der Ukraine. Es gibt erste kleine Fortschritte jetzt in den letzten Wochen, seit Präsident Selenskyj im Amt ist, um die Minsker Vereinbarung vielleicht voranzutreiben. Wir arbeiten auf ein Gipfeltreffen im N4-Format in wenigen Wochen hin, um dann auch deutliche Fortschritte zu machen. Meine Damen und Herren, in Libyen entwickelt sich eine Situation, die ähnliche Ausmaße annehmen kann, wie wir das in Syrien gesehen haben, nämlich ein Stellvertreterkrieg. Es ist von entscheidender Bedeutung – Deutschland wird hier auch seinen Beitrag leisten -, dass wir alles daransetzen, diesen Konflikt in Libyen nicht zu einem solchen Stellvertreterkrieg eskalieren zu lassen, sondern zu versuchen, wieder Staatlichkeit in Libyen herzustellen, so schwer das auch immer ist; denn die gesamte Region in Afrika wird destabilisiert, wenn Libyen nicht stabilisiert wird. Und deshalb ist das unsere Aufgabe. Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit habe ich versucht, den Rahmen aufzuzeigen, in dem unsere Haushaltsdebatte stattfindet, in dem auch sichtbar wird, was die Erwartungen an uns sind. Deutschland ist die größte Volkswirtschaft in Europa. Wir müssen für diese Europäische Union einen wichtigen Beitrag leisten. Wir werden im zweiten Halbjahr des nächsten Jahres die Präsidentschaft in der Europäischen Union innehaben. Hier müssen wir Beiträge leisten, um voranzukommen. Deshalb sage ich ganz deutlich: Deutschland wird sich dieser Verantwortung stellen. So sagt es unser Koalitionsvertrag, und so werden wir es auch tun. Ich hoffe nur eines – bei allen Aufgaben, die wir gern in der deutschen Präsidentschaft übernehmen -: dass die mittelfristige finanzielle Vorausschau, die Finanzplanung für die nächsten Jahre, vielleicht doch von den vorherigen finnischen und kroatischen Präsidentschaften gelöst wird. Es ist ja wichtig, dass Europa nicht erst auf den letzten Drücker Klarheit über die finanzielle Situation in den nächsten Jahren hat; denn sonst würden viele Programme eine ganze Zeit lang nicht laufen können. Also: Wir werden alles tun, um Finnland und Kroatien zu unterstützen, damit dieses Thema vor Beginn unserer Präsidentschaft gelöst ist. Ich glaube, trotz aller Schwierigkeiten, die wir sehen – – Wir haben international Unsicherheit, durch den US-amerikanisch-chinesischen Handelskonflikt zum Beispiel, und das wirkt sich natürlich auf eine Exportnation wie Deutschland aus. Und der Grund dafür, dass bestimmte Exporte zurückgehen, liegt ganz wesentlich nicht darin, dass die deutschen Produkte nicht mehr gut sind, sondern liegt darin, dass Unsicherheit darüber da ist, wie sich die Weltkonjunktur entwickeln wird. Deshalb ist es so wichtig, für die Abkommen zu kämpfen. Aber auch unser Haushalt gibt Antworten auf die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Es zeigt sich, dass unsere Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik mit wachsenden Etats ausgestattet sind, dass wir zu unseren internationalen Verpflichtungen stehen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, was Deutschland geleistet hat in den letzten Jahren, war, internationale Konflikte immer in einem vernetzten Ansatz lösen zu wollen. Dazu gehört Entwicklungspolitik, dazu gehört Sicherheitspolitik, und dazu gehört, wenn notwendig, auch die Bereitschaft zum militärischen Einsatz. Man kann die Dinge von daher nicht voneinander trennen. Deshalb ist es wichtig, dass wir zu unseren internationalen Verpflichtungen stehen. Es wird von uns erwartet, dass wir nicht nur eine wirtschaftlich starke Nation sind, sondern dass wir auch für die Sicherheit und für den Frieden auf der Welt unseren Beitrag leisten, in allen Bereichen. Ich glaube, da ist die Koalition jetzt auch auf einem guten Weg. Und dann gibt es die Aufgabe, so wie ich es für Europa dargestellt habe, natürlich auch für Deutschland die Zukunftsfähigkeit zu sichern. Da, glaube ich, stehen wir vor zwei großen Herausforderungen, die im Übrigen auch mit der Schwerpunktsetzung von Ursula von der Leyen und der neuen Kommission übereinstimmen: Das ist auf der einen Seite die Bewältigung der Digitalisierung, die unser Arbeiten, Leben völlig verändert, und das ist auf der anderen Seite die große Herausforderung des Klimaschutzes. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kommt jetzt darauf an, wie wir die Aufgabe des Klimaschutzes einordnen. Ich ordne sie so ein – und das tut auch die Bundesregierung -, dass ich den Klimaschutz als eine Menschheitsherausforderung begreife. Es geht darum, ob wir als Industriestaaten angesichts des Abdrucks an Ressourcenverbrauch, den wir hinterlassen haben, bereit sind, an vorderer Front etwas dafür zu tun, damit wir diesen Fußabdruck überwinden und den Temperaturanstieg stoppen oder zurückdrehen. Das ist unsere Verantwortung, weil wir sehr viel CO2 und andere klimaschädliche Gase bereits emittiert haben. Wer der Meinung ist, dass, weil wir nur 2 Prozent der Emissionen verursachen, diejenigen Länder, die die übrigen 98 Prozent der Emissionen verursachen, sich darum kümmern sollen, der irrt meiner Meinung nach. Aber diese Grundentscheidung, ob wir diese Verantwortung haben oder ob wir sie nicht haben, müssen wir miteinander treffen. Wir müssen auch die Grundentscheidung treffen, ob wir das Risiko eingehen wollen, zu sagen: „Der Klimawandel ist gar nicht menschengemacht, vielleicht vergeht das alles“, oder ob wir der Meinung sind: Es gibt so viel Evidenz dafür, dass der Mensch mit dem Klimawandel etwas zu tun hat, dass wir verpflichtet sind, mit Blick auf die zukünftigen Generationen auch zu handeln. Das ist die Herausforderung. Dabei setzen wir auf Innovation, auf Forschung, auf unser Zutrauen, dass wir, wie wir es immer getan haben, gute technische Lösungen finden, und dabei setzen wir auf die Mechanismen der sozialen Marktwirtschaft. Wir haben vieles in Gang gebracht: Wir haben die Energiewende begonnen, wir haben im Industriebereich den Zertifikatehandel. Wir haben unsere Klimaziele 2010 eingehalten. Aber wir müssen sagen: Die selbstgesetzten Ziele für 2020 werden wir nach menschlichem Ermessen nicht einhalten. Deshalb müssen wir Vorsorge treffen, dass wir verlässlich unsere Ziele für 2030 einhalten. Was ist das Erfolgsrezept gewesen, um Innovation und menschliche Antriebskraft, menschliche Kreativität, menschlichen Forschergeist zu inzentivieren? Das waren immer die Mechanismen der sozialen Marktwirtschaft. Deshalb ist das Thema der Bepreisung nicht irgendeine Auflage auf irgendetwas drauf, sondern ein Mechanismus, der mit größter Wahrscheinlichkeit Innovation und Forschung auch dort stattfinden lässt, wo wir als Politiker uns das gar nicht ausdenken können. Deshalb ist es ein richtiger Angang, über die Bepreisung und die Mengensteuerung von CO2-Emissionen Lösungen zu finden und gleichzeitig unterstützend tätig zu sein, um die Menschen in die Lage zu versetzen, den Umstieg zu schaffen. Das heißt nicht, dass der Staat Geld einnehmen soll, sondern er soll dieses Geld den Bürgerinnen und Bürgern so zurückgeben, dass sie diesen Umstieg mit uns gemeinsam schaffen. Das ist ein gewaltiger Kraftakt, bei dem – das merke ich – Teile der deutschen Wirtschaft zum Teil weiter sind als manche in diesem Hause. Unternehmen denken sehr wohl darüber nach, wie sie CO2-frei produzieren können. Wenn ich mir den Ausbaupfad für erneuerbare Energien anschaue und die Zahl der Unternehmen, die ihre Zulieferer nur noch klimaneutral zuliefern lassen wollen oder nur noch grünen Strom verwenden wollen, dann frage ich mich, ob wir genug grünen Strom haben werden, um überhaupt die Anforderungen in diesem Bereich zu bestehen. Wir müssen – der Wirtschaftsminister tut das – den Ausbau der erneuerbaren Energien aber so machen, dass er auch Akzeptanz bei der Bevölkerung findet. Deshalb vermute ich, dass der Ausbau der Offshorewindenergie eher zunehmen wird. Dann müssen aber auch alle bereit sein, sich für neue Leitungen einzusetzen, und wir müssen auch bereit sein, Gerichtsverfahren und Einsprüche zu verkürzen, um da wirklich voranzukommen. Wir müssen natürlich auch im Auge haben, dass die Windkraftanlagen im Allgemeinen nicht in den Großstädten aufgebaut werden, sondern in den ländlichen Regionen. Wir müssen verhindern, dass es eine Art – ich sage es jetzt mal etwas mutig – Arroganz derjenigen, die in der Stadt leben, gegenüber denjenigen, die auf dem Land leben, gibt. Wir müssen ein neues Bündnis von Stadt und Land schaffen und vor allen Dingen – erste Ansätze gibt es ja jetzt – die Kommunen, in deren Nähe Windkraftanlagen gebaut werden, auch an dem Gewinn, der daraus entsteht, beteiligen, um Anreize zu bieten. Hierfür werden wir Vorschläge machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine der großen Herausforderungen ist das Thema des Verkehrs. Unsere Automobilindustrie hat in wirklich beeindruckender Weise immer effizientere Technologien entwickelt. Aber es hat bislang keine Entkopplung der Verkehrsemissionen von dem Wirtschaftswachstum gegeben. Mit dem Wirtschaftswachstum hat die Menge an Verkehr zugenommen und alle Effizienzgewinne sozusagen wieder aufgefressen, was dazu geführt hat, dass wir seit 1990 im Verkehrsbereich keinerlei Reduktion der Emissionen haben. Deshalb müssen wir hier mit aller Kraft alternative Antriebe voranbringen. Und ja – das haben wir bei den erneuerbaren Energien gesehen -, das wird am Anfang sicherlich auch unterstützende Leistungen erfordern, zum Beispiel bei dem Aufbau der Ladeinfrastruktur. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie sich heute mal die Ausschreibeverfahren für die erneuerbaren Energien an. Wir sind fast bei Kostendeckung; wir sind fast bei null Subventionen. Das heißt, wir haben als Industrienation die Pflicht, Vorbild zu sein, um diesen Umstieg auch in der Mobilität zu erreichen, und wir haben auch die Pflicht, die Menschen in die Lage zu versetzen, daran teilzunehmen und ihre individuelle Mobilität zu sichern. Das sind alles keine einfachen Aufgaben; aber ich glaube, es lohnt sich, in diese Aufgaben zu investieren. Deshalb werden wir zu unseren Zielen stehen. Wir werden auch zu unserem Ausbauziel bei den erneuerbaren Energien stehen; wir werden am 20. September Vorschläge machen. Deshalb hat der Bundesfinanzminister auch noch keinen Vorschlag für den EKF, den Klimafonds, gemacht; aber das wird zeitnah erfolgen. Es ist ja sinnvoll, die Klimabeschlüsse und die Besetzung des Energie- und Klimafonds gemeinsam zu behandeln. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Augenblick ein besonderes Problem im Wald. Der Wald kann uns nicht alleine die Klimaprobleme lösen. Aber eine Zerstörung oder ein großer Schaden des Waldes würde uns beim Klimaschutz gerade in die falsche Richtung bringen. Deshalb unterstütze ich die Bundeslandwirtschaftsministerin bei ihren Bemühungen, gerade auch diejenigen, die nachhaltige Forstwirtschaft betreiben, in die Lage zu versetzen, unseren Wald zu retten und so weiter auf einen guten Pfad zu bringen. Dem müssen wir uns verpflichtet fühlen. Und natürlich – um das auch noch hinzuzufügen – sollten wir nicht den nationalen Klimaschutz gegen den internationalen Klimaschutz ausspielen. Natürlich wird der Entwicklungsminister, wird das Außenministerium, wird das Umweltministerium, werden wir alles tun, um auch international Technologietransfer zu betreiben, Länder in die Lage zu versetzen, Klimaschutz zu machen oder zumindest die notwendigen Anpassungen an die Klimaveränderung vorzunehmen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, das erspart uns eben nicht die eigene häusliche Anstrengung. Das eine muss getan werden – und das andere auch. Eines muss man, wenn dann wieder die Kostenrechnungen gemacht werden, bei all dem noch bedenken: Wenn wir den Klimaschutz vorantreiben, wird es Geld kosten, und dieses Geld ist gut eingesetzt. Wenn wir ihn ignorieren, wird es uns nach meiner Überzeugung mehr Geld kosten, als wenn wir etwas tun. Das ist die Wahrheit. Nichtstun ist nicht die Alternative, sondern Tatsache ist, dass wir dann mehr bezahlen werden. – Man möchte darauf antworten – die meisten werden es nicht verstanden haben -; aber ich möchte dem Rufer nicht noch mehr Ehre geben, weil es einfach nicht stimmte. – Hatte er nicht, Frau Haßelmann. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die zweite große Herausforderung, vor der wir stehen, ist die Frage, wie wir die Digitalisierung meistern. Die Bundesregierung hat eine Umsetzungsstrategie Digitalisierung. Natürlich beginnt alles mit dem Ausbau der Infrastruktur. Es ist sehr erfreulich, dass letzte Woche mit den Mobilfunkunternehmen jetzt abschließend vereinbart werden konnte – der Verkehrs- und Infrastrukturminister hat das gemacht -, dass bis Ende 2020 mindestens 99 Prozent der Haushalte mit Mobilfunk versorgt sind. Die Mobilfunkunternehmen sind hier in der Pflicht, die Auflagen und Vereinbarungen zu erfüllen, und wir haben auch bei der 5G-Versteigerung die Versorgungsauflagen sehr hart gefasst, um eben auch wirklich flächendeckend Mobilfunk zu bekommen und 5G möglichst schnell auszurollen. Es ist auch gut und richtig, dass wir der Industrie eine Tranche der Frequenzen zur freien Verfügung gegeben haben. Das wird unsere Wirtschaft in die Lage versetzen, sehr schnell auch 5G-Technologien anzuwenden. Und wir müssen natürlich eine Strategie entwickeln, wie wir flächendeckend, also auch den Landwirten und vielen anderen, Zugang zum Mobilfunk ermöglichen. Das werden wir bis zum Jahresende tun. Wir werden des Weiteren als Staat mit der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes 575 Leistungen bis 2022 digitalisieren. Das ist eine große Herausforderung. Der Bundesinnenminister hat sich ihr gestellt, und ich denke, dass wir das auch hinbekommen. Und, meine Damen und Herren, wir müssen vor allen Dingen im Bereich der künstlichen Intelligenz besser und schneller werden und den Anschluss behalten. Wir haben dazu eine Strategie entwickelt und werden auch international anerkannte Professoren nach Deutschland einladen, hier bei uns zu arbeiten. Was mir aber Sorgen macht und wo wir weiter dranbleiben müssen – der Wirtschaftsminister tut das -, ist, dass die Wirtschaft, gerade der Mittelstand und die kleineren Unternehmen, die Herausforderungen der Zeit erkennen und das Datenmanagement verbessern. Sie müssen verstehen, dass die zukünftigen Produkte aus Daten entstehen werden und dass die Produktion von Gütern nicht mehr der Hauptpunkt bei der Wertschöpfung ist. Hier sind wir im Rückstand, und hier wird die Bundesregierung unterstützend tätig sein, um Unternehmen das Cloud-Computing und Ähnliches auf europäischer Ebene sicher zu ermöglichen. Aber hierzu brauchen wir auch – das sage ich ganz offen; die Wirtschaft sagt es uns ja auch – eine Anstrengung des deutschen Mittelstandes. Hier gibt es angesichts der gut gefüllten Auftragsbücher der letzten Jahre – ich sage es einmal so – vielleicht eine kleine Verzögerung. Da sich die konjunkturelle Lage verändert und es offensichtlich ist, dass wir wieder neuen Anlauf nehmen müssen, brauchen wir dieses Bündnis von Mittelstand und Bundesregierung. Wir sind dazu bereit; denn wir wollen die Digitalisierung auf europäische Art und Weise gestalten. Das heißt, dass die Daten weder den privaten Unternehmen noch dem Staat gehören, sondern dass wir uns für Lösungen einsetzen, die die Datensouveränität der Bürgerinnen und Bürger sicherstellen, und das bedeutet, dass wir in Europa all diese Technologien haben müssen; denn sonst werden wir in Abhängigkeit von Ländern geraten, wo man das genau anders sieht. Für mich ist das ein wesentlicher Teil der sozialen Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert. Die soziale Marktwirtschaft hat uns stark gemacht. Ludwig Erhard hat sie eingeführt – gegen viele Widerstände. Aber sie bekommt heute, im 21. Jahrhundert, neue Dimensionen. Das, was ohne Digitalisierung galt, muss auf die Digitalisierung jetzt umgestellt werden. Das ist eine neue Dimension. Das, was den Ressourcenverbrauch noch nicht ausreichend im Blick hatte, muss auch in Richtung dieser Dimension umgestellt werden. Aber das System der sozialen Marktwirtschaft, die Herangehensweise, die Überzeugung, dass der Mensch kreativ ist, dass der Staat Rahmenbedingungen schafft, aber nicht dirigiert, das muss bleiben, und das wird uns wieder stark machen, meine Damen und Herren. Ich habe jetzt so lange über die Fragen von Klimaschutz und Digitalisierung gesprochen, weil ich glaube, dass die Bewältigung dieser beiden Herausforderungen die entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass wir auch in Zukunft in Wohlstand und Prosperität leben können. Auch in der Gesellschaft der Zukunft wollen wir alles tun, um Menschen zu helfen, die in schwierigen Situationen sind, um soziale Absicherung zu leisten. All das werden wir aber nur leisten können, wenn wir mit den Herausforderungen der Zukunft technologisch gut umgehen und an der Weltspitze mit dabei sind. Deshalb ist die Frage, wie wir die richtigen Antworten bei der Digitalisierung und dem Klimaschutz finden, die entscheidende Voraussetzung dafür, dass wir auch in Zukunft in Wohlstand leben. In unserem Land leben über 83 Millionen Menschen. Sie alle haben Hoffnungen, Vorstellungen, Sorgen, Probleme. Die Bundesregierung hat in der Koalitionsvereinbarung versprochen, dass wir für Wohlstand und gutes Leben sorgen wollen. Und wir haben in den letzten 18 Monaten vieles gemacht, was manchmal in Vergessenheit gerät: Die Familien sind um 10 Milliarden Euro entlastet worden, die kalte Progression ist ausgeglichen. Wir haben den Mindestlohn – – – Ja, das ist so. Das ist nun unstreitig. Selbst der Bund der Steuerzahler hat das gestern gesagt, Herr Lindner; da waren Sie doch dabei. Ich bitte Sie. Das ist wirklich komisch. Sie sagen doch sonst nichts Gutes über uns; aber bei der kalten Progression waren Sie dabei. Der Mindestlohn konnte gesteigert werden, weil die Gesamtlöhne steigen. Wir haben bei der Krankenversicherung die Menschen entlastet. Wir haben den Abbau des Solis jetzt im Kabinett beschlossen. Für 96,5 Prozent der Steuerzahler wird es Entlastungen geben. Wir haben die Kitabetreuung verbessert. Die Bundesfamilienministerin schließt jetzt mit den Ländern die entsprechenden Abkommen. Wir haben die Stabilisierung und Stärkung der Rente mit den Haltelinien eingeführt. Die Verbesserung der Mütterrente und die Verbesserung der Erwerbsminderungsrente sind zu nennen. Das alles sollten wir mal nicht vergessen. Das ist aber alles nur möglich, weil wir eine gute Wirtschaftslage haben, und das können wir aus dem Haushalt leisten. Ich finde es nur wirklich abenteuerlich, wenn es hier in diesem Hause Menschen gibt, die behaupten, dass diese Ausgaben von Steuergeldern Ausgaben wären, die an Verschwendung grenzen. Das sind Ausgaben für Menschen, die sich darüber freuen, die entlastet werden, die belohnt werden für ihre Leistung, die Sicherheit bekommen. Und darauf sind wir stolz, meine Damen und Herren und liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir haben die Konzertierte Aktion Pflege abgeschlossen. Wir entlasten Kinder von pflegebedürftigen Menschen, die ein Jahreseinkommen von weniger als 100 000 Euro haben. Auch das ist ein großer Beitrag zu mehr Sicherheit für viele junge Familien, die vor ganz anderen Aufgaben stehen. Aber richtig ist auch: Vor uns stehen weitere große Aufgaben. Wir müssen damit rechnen – angesichts der jetzigen konjunkturellen Lage -, dass gegenüber dem Finanzplan die Steuereinnahmen sinken könnten. Deshalb muss alles getan werden, um auch für die Zukunft die Weichen zu stellen. Da geht es vor allen Dingen um Investitionen. Bei den Investitionen – das ist gestern schon in der Rede des Bundesfinanzministers angeklungen – ist es im Augenblick nicht der Mangel an Geld. Wir haben Hunderttausende geplante Wohnungen, die gebaut werden könnten. Wir haben Straßen, wir haben digitale Infrastruktur geplant. Der Investitionshaushalt hat einen Höhepunkt erreicht. Aber wir haben nicht ausreichend Planungskapazität, wir haben nicht ausreichend Beschleunigung. Deshalb müssen wir da ansetzen, dass erst mal das Geld ausgegeben werden kann. Und obwohl wir schon Planungsbeschleunigungsgesetze gemacht haben, sollten wir als Koalition noch mal überlegen: Wo können wir weitergehen, wo können wir schneller werden? Und wir sollten weiter Bürokratie abbauen, die die Unternehmen so sehr hindert. Auch dafür haben wir Pläne. Meine Damen und Herren, wir sind jetzt etwa ein Jahr nach dem Wohngipfel im vergangenen Jahr, und wir können sagen: Es ist viel passiert. Wir haben eine Baulandkommission gehabt. Das wird jetzt ins eingearbeitet. Dann werden die Investitionsbedingungen hoffentlich noch einmal verbessert. Wir haben den sozialen Wohnungsbau fortgesetzt. Wir als Bund werden da auch weiter Verantwortung übernehmen. Wir haben glücklicherweise durch den Bundesrat die Sonderabschreibung für mehr Wohnungsbau bekommen. Das ist der Anreiz, den man braucht, um mehr Wohnungen zu bauen. Ich meine, wir haben Mietpreisbremsen und alles beschlossen, aber wenn zu wenige Wohnungen da sind, müssen neue entstehen. Das ist die ganz einfache Weisheit. Daran wird uns keine Mietpreisbremse vorbeiführen, sondern das muss geschafft werden. Wir haben eine Entwicklungsbremse hoffentlich gelöst; das muss jetzt noch umgesetzt werden. Das ist die Verabschiedung – das ist historisch, will ich mal sagen – eines Fachkräfteeinwanderungsgesetzes für Deutschland. Wir wissen, dass wir Fachkräftemangel haben. Und wir wissen auch – ich fand das neulich bei dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer sehr interessant, dass er es für die neuen Länder gesagt hat -, dass wir gerade in den neuen Ländern wahrscheinlich Fachkräfte brauchen werden, weil wir dort eine ganz andere demografische Situation haben. Deshalb fühlt sich die Bundesregierung verpflichtet – wir haben da auch unsere Pläne entwickelt -, dass wir dieses Fachkräfteeinwanderungsgesetz nicht nur auf dem Papier haben, sondern dass es dann auch operabel wird, dass wir wirklich vorankommen, es schnell umsetzen und Menschen als entsprechende Fachkräfte nach Deutschland bringen. Meine Damen und Herren, ein letztes Projekt möchte ich zum Abschluss erwähnen, das vielleicht das überwölbende Projekt für diese Koalition ist, was die Innenpolitik anbelangt. Das ist die Frage mit Blick auf die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“. Wir wissen, dass in Deutschland Menschen Sorgen haben, dass sich Menschen abgehängt fühlen, dass die Entwicklungen völlig unterschiedlich sind zwischen Stadt und Land. Die einen können die Wohnungen nicht bezahlen, die anderen wissen nicht, wie sie ihr Haus verkaufen sollen. Darauf müssen wir Antworten finden. Der erste Punkt sind die Handlungsempfehlungen für die Erzeugung gleichwertiger Lebensverhältnisse, die wir im Kabinett im Juli verabschiedet haben. Natürlich trägt alles, was ich vorher gesagt habe, zum Beispiel die Frage des Breitbandausbaus oder die Frage der Pflegeallianz – die Frage der ärztlichen Versorgung habe ich jetzt nicht erwähnt – zu gleichwertigen Lebensverhältnissen bei. Ich will drei Dinge aus den Handlungsempfehlungen nennen, die mir besonders wichtig erscheinen, für ein Projekt, das weit über diese Legislaturperiode hinausgehen wird. Das Erste ist die Umstellung der regionalen Wirtschaftsförderung unter Berücksichtigung des Demografiefaktors. Das ist ein Meilenstein, weil wir zum ersten Mal bei der regionalen Wirtschaftsförderung auch fragen: Wie sieht die Situation der Bevölkerung aus? Wenn wir wissen, dass in Städten wie Hoyerswerda zum Beispiel das Durchschnittsalter ungefähr acht Jahre über dem Bundesdurchschnitt liegt, dann ist das ein wichtiger Punkt. Das Zweite betrifft die Gemeinschaftsaufgabe Agrar, nämlich die neuen Methoden der Förderung der ländlichen Räume über die einfache Agrar- und Küstenschutzförderung hinaus. Hier werden wir uns noch viele Gedanken machen müssen, wie wir das genau machen; es ist aber richtig. Das Dritte ist vielleicht nur Pars pro Toto; aber es ist mir sehr wichtig: die Stärkung des Ehrenamts. Wir haben lange in der Koalition darum gerungen, in welcher Form wir das tun wollen. Wir haben uns zum Schluss für eine bestimmte Form der Ehrenamtsstiftung entschieden. Und das ist viel mehr als nur die Frage: Wie viele Millionen geben wir da hinein? Und es ist auch mehr als die Frage: Wie viele Millionen gehen in die Demokratieförderung? – Denn es sagt etwas sehr Grundsätzliches aus. Wenn wir hier debattieren, dann reden wir über das, was der Staat leisten muss. Und der Staat muss viel leisten. Aber der demokratische Rechtsstaat lebt von dem Willen, von der Haltung seiner Bürgerinnen und Bürger. Deshalb ist es so wichtig, dass wir deutlich machen, dass wir diese Haltung, diesen Willen dahin gehend fördern wollen, dass Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sich zum Grundgesetz bekennen. Unser Grundgesetz ist 70 Jahre alt geworden. Unser Grundgesetz hat sich bewährt, und es hat diesen wunderbaren Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das, was wir täglich erleben, Angriffe auf Juden, Angriffe auf Ausländer, Gewalt und auch verhasste Sprache, müssen wir bekämpfen. Denn wir können noch so viel an Steuermitteln in verschiedene und wichtige Projekte verteilen: Wenn nicht klar ist, dass es in diesem Lande null Toleranz gegen Rassismus, Hass und Abneigung gegen andere Menschen gibt, dann wird das Zusammenleben nicht gelingen. Und deshalb fühlen wir uns dem genauso verpflichtet, und dafür steht auch diese Ehrenamtsstiftung Pars pro Toto für vieles andere, was wir tun. Herzlichen Dank.
in Berlin vor dem Deutschen Bundestag (Protokoll des Deutschen Bundestages)
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Deutschen Bundestag
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-deutschen-bundestag-1525370
Wed, 12 Sep 2018 09:25:00 +0200
Berlin
Finanzen
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mehrheit der Menschen in Deutschland lebt und arbeitet für ein gutes und tolerantes Miteinander; davon bin ich zutiefst überzeugt. Ich sehe es als meine Aufgabe und die Aufgabe aller politisch Verantwortlichen an, all diejenigen zu unterstützen, die unser Land jeden Tag durch ihre Arbeit und durch ihr Leben voranbringen. Die Zahlen belegen es im Übrigen auch: Deutschland gehört zu den sichersten Ländern der Welt, und Deutschland gehört zu den wohlhabendsten Ländern der Welt. Und dennoch: Viele Menschen in unserem Land sorgen sich in diesen Tagen um den Zusammenhalt von uns allen. Ich bin auch ganz sicher, dass die Bürgerinnen und Bürger sehr genau beobachten, in welcher Art und Weise wir den politischen Dialog führen – im Land wie auch hier im Deutschen Bundestag. Da haben wir alle eine große Verantwortung. Besonders aufgewühlt haben uns in den letzten Wochen schwere Straftaten, bei denen die mutmaßlichen Täter Asylsuchende waren, die zu uns nach Deutschland gekommen sind. Solche Taten machen mich betroffen und machen uns alle betroffen. Wir trauern mit den Angehörigen, wir sind empört über die Straftaten. Solche Taten müssen aufgeklärt, die Täter vor Gericht gestellt und mit der Härte des Gesetzes bestraft werden. Genau so sieht es unser Rechtsstaat vor. Viele Bürgerinnen und Bürger, die durch Demonstrationen gezeigt haben, wie aufgewühlt sie sind, haben dabei ihr verfassungsrechtlich verbrieftes Recht genutzt, und wir als Politiker sind verpflichtet, ihre Anliegen ernst zu nehmen und Missstände zu beheben. Ich kann jeden verstehen, der darüber empört ist, wenn sich nach Tötungsdelikten einmal mehr herausstellt, dass die Straftäter sind, die schon mehrere Vorstrafen haben, oder Menschen, die vollziehbar ausreisepflichtig sind. Hier haben wir eine Aufgabe zu lösen. An dieser Aufgabe arbeiten wir in aller Entschiedenheit gemeinsam mit den Bundesländern und der Bundesregierung. Der Bundesinnenminister hat dazu weitere Maßnahmen vorgelegt, und wir sind uns unserer Verantwortung dafür bewusst, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sosehr ich die Empörung und das Unverständnis verstehe und teile, lasse ich nicht gelten, dass dies eine Entschuldigung für menschenverachtende Demonstrationen ist. Nein, es gibt keine Entschuldigung und Begründung für Hetze, zum Teil Anwendung von Gewalt, Naziparolen, Anfeindungen von Menschen, die anders aussehen, die ein jüdisches Restaurant besitzen, Angriffe auf Polizisten. Und begriffliche Auseinandersetzungen darüber, ob es nun Hetze oder Hetzjagd ist, helfen uns dabei wirklich nicht weiter, meine Damen und Herren. Das kann doch nur eines heißen: Dem stellen wir uns entschieden entgegen, und zwar ganz im Geiste von Artikel 1 unseres Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Artikel 1 gilt für jeden Menschen, und wer dagegen verstößt, der legt die Axt an die Wurzel unseres Zusammenlebens. Wer dagegen verstößt, stellt sich gegen unsere Werte von Einigkeit und Recht und Freiheit. Die aber sind unseres Glückes Unterpfand. Deshalb darf es bei der Achtung der Menschenwürde auch keinen Rabatt geben – für niemanden –, und deshalb führen Relativierungen in die Irre. Deshalb ist der Rechtsstaat hier in seinem Kern gefordert – mit den Sicherheitskräften, mit unabhängigen Gerichten, mit allen Institutionen einer lebendigen Demokratie und einer wehrhaften Zivilgesellschaft. Ich danke allen, die dafür arbeiten: den Polizistinnen und Polizisten und allen Sicherheitskräften, den Richtern, den Staatsanwälten und auch den Beschäftigten an den Gerichten, genauso denen, die in unseren Haftanstalten ihren Dienst tun, was alles andere als einfach ist, meine Damen und Herren. Ich danke den Haupt- und Ehrenamtlichen in unseren demokratischen Institutionen und Verbänden. Überall gibt es glücklicherweise viele von ihnen, überall in unserem Land. Deshalb sind auch Pauschalurteile über ganze Gruppen oder Landstriche wie Sachsen oder die neuen Bundesländer falsch und völlig unangebracht. Das gilt genauso für die vielen Flüchtlinge, die hier friedlich mit uns leben. Ich danke an einem solchen Tag ganz besonders auch den vielen haupt- und ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern in der Flüchtlingsarbeit, die es alles andere als leicht haben in diesen gesellschaftlichen Diskussionen. Wir werden nicht zulassen, dass klammheimlich ganze Gruppen in unserer Gesellschaft ausgegrenzt werden: Juden, Muslime gehören genauso wie Christen und Atheisten zu unserer Gesellschaft, in unsere Schulen, in unsere Parteien, in unser gesellschaftliches Leben. Ich bin dankbar für jeden, der sich für unsere Demokratie engagiert, meine Damen und Herren. Die Frage, ob wir darüber Konsens haben, entscheidet über unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dann, wenn wir da ein gemeinsames Fundament haben, können wir über all die anderen wichtigen Fragen sprechen, die die Menschen in unserem Land bewegen. Es gelten bei uns Regeln. Und diese Regeln können nicht durch Emotionen ersetzt werden. Das ist das Wesen des Rechtsstaates. Weil wir uns bewusst sind, dass dieser Rechtsstaat herausgefordert ist, haben wir in unserer Koalitionsvereinbarung einen Pakt für den Rechtsstaat vereinbart. Dieser Bundeshaushalt zeigt erste Maßnahmen. Noch einmal 3 000 neue Stellen für Sicherheitsbehörden, knapp 50 Millionen Euro mehr für die Ausstattung und Ausrüstung der Bundespolizei, 85 Millionen Euro für die Digitalisierung der Polizeiarbeit, Investitionen in die Cybersicherheit. Das sind wichtige, richtige Signale. Und wir werden mit den Bundesländern auch über die Ausstattung von Gerichten und anderen Justizbehörden weiter intensiv sprechen. Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht auf einen funktionierenden Rechtsstaat, auch in der täglichen Praxis, meine Damen und Herren. Wir beraten heute über den Haushalt für das Jahr 2019. Dahinterliegende Aufgaben gehen natürlich weit über das nächste Jahr hinaus. Teil dieser Beratungen ist auch die mittelfristige Finanzplanung. Wir haben uns daran gewöhnt, aber ich will es trotzdem noch einmal sagen: Es ist der fünfte Haushalt in Folge ohne neue Schulden. Das ist ein Hinweis und eine gute Nachricht für die junge Generation. Wir haben ein steigendes Bruttoinlandsprodukt seit über 13 Quartalen. Die Unternehmensinsolvenzen sind auf dem niedrigsten Stand seit Einführung der neuen Insolvenzordnung. Im Herbst dieses Jahres werden voraussichtlich erstmals über 45 Millionen Menschen erwerbstätig sein. Wir können alle gemeinsam stolz auf diese Bilanz sein. Unsere grundsätzlichen Ziele bleiben. Seit Bestehen der Bundesrepublik arbeiten wir unverändert für Frieden, für Freiheit und für Wohlstand; und das jetzt schon im 70. Jahr der sozialen Marktwirtschaft. Heute wissen wir: Unser Wohlstand entscheidet sich nicht mehr alleine durch uns und unsere Arbeit in Deutschland, sondern wir sind verbunden im Rahmen des Binnenmarktes der Europäischen Union. Wir sind verbunden mit anderen Ländern. Das heißt, sich um andere zu kümmern, mit anderen zusammenzuarbeiten, auf ein multinationales funktionierendes System zu setzen, ist in unserem ureigenen Interesse. Wenn wir auf zehn Jahre Weltwirtschaftskrise und Finanzkrise zurückblicken, wie es der Bundesfinanzminister gestern gemacht hat, wird uns das noch einmal bewusst. Weil das so ist, stellt sich die Frage: Wie viel investieren wir im eigenen Land, und wie viel setzen wir für Entwicklungszusammenarbeit ein? Das sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, in der es um Wohlstand für unser Land geht. Auch die Freiheit muss immer wieder erarbeitet werden, und durch die Digitalisierung ist sie herausgefordert. In einer digitalen Gesellschaft geht es um große Datenmengen, um Datensicherheit, um Datenschutz – völlig neue Anfragen an unsere Freiheit. Deshalb ist die Datenethikkommission, die wir eingerichtet haben, genau die richtige Antwort darauf. Auch um Frieden zu sichern, brauchen wir völlig neue Instrumente. Wir selbst müssen uns dafür stärker einsetzen. Allein mit der Haltung, dass wir uns überall heraushalten, wird es nicht gehen. Unsere Maxime zur Friedenssicherung heißt immer: Vornean stehen die politischen Bemühungen. Deshalb setzen wir uns natürlich in Syrien dafür ein, und zwar in der Small Group zusammen mit der Astana-Group unter der Federführung der Vereinten Nationen. Aber einfach zu sagen, wir könnten wegsehen, wenn irgendwo Chemiewaffen eingesetzt werden und eine internationale Konvention nicht eingehalten wird, kann auch nicht die Antwort sein. Alle Antworten, die wir geben, werden immer auf der Ebene des Grundgesetzes und im Rahmen unserer parlamentarischen Verpflichtung sein. Das ist doch vollkommen klar. Aber von vornherein einfach Nein zu sagen, egal was auf der Welt passiert, kann nicht die deutsche Haltung sein, liebe Freundinnen und Freunde. Wohlstand, Freiheit, Frieden – das ist das, was die Menschen von uns erwarten, und sie haben alle einen ganz speziellen Blickwinkel. Deshalb hat dieser Haushalt auch so viele Facetten. Da ist zuerst einmal der Wunsch nach Stabilität, nach vergleichbaren Lebensbedingungen und nach Entlastungen, wo immer das möglich ist, damit die Menschen ihr Leben eigenständig gestalten können. Da haben wir gute Nachrichten in diesem Haushalt: Familien und Berufstätige werden entlastet. Wir erhöhen das Kindergeld, wir erhöhen die entsprechenden Steuerfreibeträge, wir bereinigen die Einkommensteuer um die kalte Progression. Das sind in 2019 und 2020 insgesamt Entlastungen von 10 Milliarden Euro. Für alle Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung wird die Parität wieder eingeführt. Das ist eine Entlastung von 8,3 Milliarden Euro für die Beitragszahler pro Jahr. Wir werden – so ist das in der mittelfristigen Finanzplanung dargelegt – den Solidaritätszuschlag ab 2021 für 90 Prozent der Zahler des Solidaritätszuschlages abschaffen. Das ist noch einmal eine Entlastung von 10 Milliarden Euro. Natürlich sagen manche: Ihr schafft auch Mehrbelastungen, zum Beispiel in der Pflege. – Aber da haben wir eine gute Nachricht: Durch die sehr gute Beschäftigungssituation können wir den Arbeitslosenversicherungsbeitrag zum 1. Januar 2019 um 0,5 Prozentpunkte senken, was dann die Mehraufwendungen in der Pflege kompensiert. Diese Mehraufwendungen sind wichtige Aufwendungen für die Bürgerinnen und Bürger; denn die Fragen: „Wie geht es mir im Alter?“ und „Wie behandeln wir diejenigen, die pflegen?“ gehören zu den zentralen Fragen hinsichtlich Gerechtigkeit in unserem Land. In der nächsten Woche haben wir eine ganz wichtige Veranstaltung, bei der es um Lebensbedingungen geht: den Wohngipfel. Dort werden wir ein Paket für das Wohnen und rund um das Wohnen vorstellen, das seinesgleichen sucht. Wir wissen, dass das Thema Wohnen insbesondere in den Ballungsgebieten eine riesige Herausforderung für Millionen von Menschen ist. Bezahlbare Mieten – das ist die berechtigte Erwartung, weil das auch etwas mit Sicherheit im Leben zu tun hat. Uns geht es auf der einen Seite darum, Mieterinnen und Mieter zu schützen und ihnen auch Rechte einzuräumen, auf der anderen Seite geht es aber vor allen Dingen darum, dass bezahlbarer Wohnraum geschaffen wird. Da haben wir gute Nachrichten: Zum Ersten wird der soziale Wohnungsbau verstärkt. Der Bund beteiligt sich mehr, als er sich das eigentlich vorgenommen hatte. Zum Zweiten wird eine Sonder-AfA eingeführt, die dafür sorgt, dass die, die investieren wollen, auch investieren können. Zum Dritten ist die Nachricht für die Familien, dass wir das Baukindergeld einführen, ein ganz wichtiges Mittel, um ihnen Wohneigentum zu ermöglichen. Das alles sind Beiträge dazu, dass wir sagen können: Wir werden in dieser Legislaturperiode die Voraussetzungen dafür schaffen, dass 1,5 Millionen neue Wohnungen gebaut werden können. Dazu gehören auch Verfahrenserleichterungen, schnellere Baulandbereitstellung und Ähnliches. Genau das werden wir am 21. September besprechen. Das ist eine gute Nachricht für viele, viele Menschen in unserem Land. Wir wissen, dass die Alterssicherung eine der großen Herausforderungen ist, und zwar sowohl angesichts der demografischen Veränderungen als auch angesichts der Erwartungen der Menschen, wie ihr Leben nach der Erwerbstätigkeit aussieht. Wir haben eine Kommission eingesetzt, die sich mit der Rente nach der Zeit von 2025 beschäftigen wird. Wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht, der in Kürze hier beraten werden wird, mit einem konstanten Rentenniveau bis 2025, mit einer verbesserten Erwerbsunfähigkeitsrente und mit einer verbesserten Mütterrente. Das sind drei Botschaften von großer Bedeutung für Millionen von Menschen. Hier haben wir Wort gehalten, und im Haushalt ist genau das abgebildet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema Pflege – das spüren wir alle – beschäftigt fast jede Familie im Land. Ich selber habe in den letzten Monaten Pflegeheime besucht, und ich weiß, welche herausragende Arbeit dort geleistet wird. Vieles liegt noch im Argen, und daran arbeiten wir. Aber eine Botschaft, die diejenigen, die in der Pflege arbeiten, mir gegenüber immer wieder geäußert haben, war: Bitte redet doch auch einmal darüber, dass unser Beruf ein schöner Beruf ist, ein anspruchsvoller Beruf ist, ein Beruf ist, in dem die älteren Menschen uns auch etwas geben! Ihr redet darüber immer nur, als sei das eine Arbeit, die man doch eigentlich fast gar nicht machen kann. Tut etwas für das Berufsbild derer, die pflegen! – Ich finde, dafür gibt es allen Grund, und genau das wollen wir auch tun. Jetzt kommt natürlich die Frage der Bezahlung; aber ich sage Ihnen: Meine Gespräche haben ergeben: Die Bezahlung ist ein wichtiger Punkt, die Arbeitszeit ist ein mindestens genauso wichtiger Punkt, die Frage, ob man eine Ausbildungsvergütung kriegt, ist ein solcher Punkt – das haben wir jetzt alles angepackt –, aber genauso wichtig ist die Achtung und Beachtung dieses Berufs. Das ist mir im Übrigen auch neulich im Gespräch mit Lehrerinnen und Lehrern so gegangen; das gilt für Pflegekräfte in den Krankenhäusern. Das sind Menschen, die eine tolle Arbeit machen, die aber auch einen tollen Beruf haben, und das sollten wir vielleicht stärker herausstellen, meine Damen und Herren. Wir nehmen natürlich auch den Blickwinkel derer ein, die von Auswirkungen der Digitalisierung betroffen sind. Hier werden wir in Kürze eine Weiterbildungsstrategie verabschieden. Wir werden uns fragen: Was bedeutet dieser Umschwung für diejenigen, die heute Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind? Wir müssen uns um die Infrastruktur kümmern. Wir müssen uns mit den Gefahren und dem Thema der Cybersicherheit auseinandersetzen. Aber wir müssen vor allen Dingen ab und zu auch mal den Blick über unseren Tellerrand hinaus wagen. Heute gab es gerade eine Statistik zu lesen, nach der wir bei den digitalen Dienstleistungen in der öffentlichen Verwaltung in Europa laut Mitteilung der Kommission auf Platz 21 sind. Das kann uns nicht zufriedenstellen. Deshalb ist die Schaffung eines Bürgerportals von Bund, Ländern und Kommunen eine der zentralen Aufgaben dieser Legislaturperiode. Es reicht nicht, nur die Infrastruktur auszubauen – das werden wir tun –, sondern genau da muss auch weitergearbeitet werden. Wenn man in China ist, dann sieht man, dass wir nicht das wollen, was dort stattfindet: eine totale Überwachung, eine soziale Beobachtung – das möchte ich auf gar keinen Fall. Auch Digitalisierung kennt Werte. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, in welcher Form dort Plattformen genutzt werden, in welcher Form dort Start-ups entstehen, in welcher Geschwindigkeit sie entstehen, das kann uns nicht kaltlassen, weil das über unsere Wettbewerbsfähigkeit der Zukunft entscheidet. Deshalb müssen wir bei der Digitalisierung auch Tempo machen, und genau das macht die Bundesregierung mit dem Digitalrat, mit den neuen Strukturen, bei der IT des Bundes. Und ja, wenn man sich die Dinge anguckt, dann erkennt man, dass es erst einmal komplizierter und die Aufgabe vielleicht größer wird; aber wir gehen diese Aufgabe an, damit wir in unserem Lande ein modernes Dienstleistungssystem haben, das dem digitalen Zeitalter auch wirklich entspricht, meine Damen und Herren. Hier werden wir im Übrigen nur erfolgreich sein können, wenn wir dies auch zusammen in Europa machen. Deshalb investieren wir gemeinsam in Forschung und Entwicklung. Deshalb haben Deutschland und Frankreich gesagt: Wir brauchen eine Agentur, die sich auch mit vollkommen ungewöhnlichen Erfindungen, disruptiven Innovationen, beschäftigt. – Das haben wir auch auf der Bundesebene gemacht. Da gibt es dann auch viele Diskussionen: Was soll denn das wieder? Wir müssen offen sein für alle Möglichkeiten, neue Wege zu gehen, weil das die Voraussetzung dafür ist, dass unsere heutige industrielle Stärke morgen noch unsere Stärke ist, die Arbeitsplätze für die Menschen in unserem Lande schafft. In diesem Zusammenhang werden wir auch weiter auf internationale Fachkräfte angewiesen sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist von zentraler Bedeutung, und deshalb freue ich mich, dass wir in Kürze die Eckpunkte für ein Fachkräftezuwanderungsgesetz beschließen werden und bis Jahresende ein solches Gesetz vorlegen; denn zum Teil sind die Diskussionen unserer Unternehmerinnen und Unternehmer im Lande stärker darauf ausgerichtet, ob wir Fachkräfte bekommen, als dass es um Steuererleichterungen geht. Es darf nicht sein, dass Unternehmen unser Land deshalb verlassen, weil sie keine Beschäftigten mehr finden. Hier müssen wir etwas tun, und die Koalition hat sich genau dazu entschlossen, meine Damen und Herren. Und dann haben wir eine Vielzahl von Problemen zu lösen. Wir haben es mit der Zukunft Deutschlands in der Europäischen Union zu tun. Zur Stunde hält Jean-Claude Juncker, der Präsident der Europäischen Kommission, im Europäischen Parlament seine Ansprache an die „Union“, wie es so schön heißt, also an die Europäische Union. Meine Damen und Herren, ich bin zutiefst überzeugt: Deutschlands Zukunft wird nur dann eine gute sein, wenn auch Europa einen guten Weg geht. Das hört sich so trivial an, das ist es aber nicht. Olaf Scholz hat gestern dargelegt, welchen Weg wir in der internationalen Finanzkrise und später in der Euro-Krise gegangen sind. Das war ein Weg, der durchaus umstritten war: Sollen wir Banken retten? Wir haben es getan, um für die Bürgerinnen und Bürger den Zahlungsverkehr und um für unsere Unternehmen die Finanzierung aufrechtzuerhalten. Sollen wir anderen Euro-Staaten helfen? Geht uns das etwas an? Wir haben uns nach harten Diskussionen immer wieder entschieden: Ja, wir tun es, weil der Euro-Raum für uns gemeinsam ein Mehrwert ist und weil die Zusammenarbeit in Europa uns stärker macht, auch im internationalen Gefüge. Zu den Vorwürfen gegenüber Deutschland wegen unseres Außenhandelsüberschusses und vielem anderen mehr muss ich sagen: Ich bin dankbar, dass wir ein Teil Europas sind und dass Handelsgespräche durch die Europäische Kommission für alle europäischen Länder zusammen geführt werden, dass wir eine gemeinsame Währung haben und dass man im Euro-Raum nicht gegen eine einzelne Währung spekulieren kann. Das macht uns stärker, und das ist auch zum Nutzen Deutschlands. Zu der These, wir würden anderen dauernd etwas geben: Es ist in unserem Interesse, für ein starkes Europa zu sorgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Bei der Frage des Euro geht es um Geld, um Prinzipien – wichtig! –, aber noch intensiver stellt sich die Frage: Wie wollen wir die Probleme der Migration, der illegalen Migration und der Flüchtlinge lösen? Für den Zusammenhalt der Europäischen Union scheint mir dies eine weitaus größere Herausforderung zu sein als das, was wir in der Euro-Krise erlebt haben. Es ist im Grunde – Wolfgang Schäuble hat es gestern gesagt – wieder ein „Rendezvous mit der Globalisierung“. Schon die Euro-Krise war ein Rendezvous mit der Globalisierung. Jetzt sind die Herausforderungen noch größer, und die Frage ist: Wie reagieren wir darauf? Gelingt es, Europa in einer solchen Situation zu zerstören, zu fragmentieren, jeden wieder auf sich selbst zurückfallen zu lassen, oder gelingt das nicht? Im Mai 2019 steht die Europawahl an, bei der genau diese Frage zur Debatte stehen wird. Bei dieser Europawahl wird es um die Frage gehen: Wo und wie lösen wir die Probleme, und schaffen wir das zusammen? Dabei ist ganz klar: Wenn Europa einfach sagt: „Wir schotten uns ab, und wir kümmern uns nicht um das, was in unserer Nachbarschaft passiert“, dann wird das schiefgehen. Das ist schon im Zusammenhang mit Syrien und Irak und den vielen Flüchtlingen, die zu uns kamen, schiefgegangen. Denn es hat sich auch dort gezeigt: Wenn du dich vor Ort nicht darum kümmerst, dass es den Menschen gut geht, dann machen sie sich auf den Weg. Das gilt ebenso mit Blick auf Afrika, unseren Nachbarkontinent. Es geht um ein dauerhaftes und langfristiges Vorgehen. Und da ist es eine gute Nachricht, dass wir mehr für Entwicklungszusammenarbeit ausgeben. Ich möchte dem Entwicklungsminister ausdrücklich für die vielen Aktivitäten danken. Ich war jüngst in Afrika und eines ist spürbar: Entwicklungszusammenarbeit ist Schritt Nummer eins, aber es ist nicht mit der Arbeit getan, wenn die jungen Menschen ein tolles Training bekommen, aber anschließend keinen Arbeitsplatz haben. Sie sind dann super in der Landwirtschaft ausgebildet, aber leider gibt es kein wirtschaftliches Rückgrat dieser Länder. Deshalb werden wir uns verstärkt – und die Bundesregierung tut das ja auch – damit auseinandersetzen müssen: Wie machen wir aus klassischer Entwicklungszusammenarbeit wirtschaftliche Entwicklung? Da muss man leider sagen, dass andere einen sehr klaren Weg gehen. Auf dem letzten China-Afrika-Gipfel wurden 60 Milliarden Dollar in den nächsten drei Jahren für Investitionen in die afrikanische Infrastruktur vereinbart. Das ist eine Hausnummer. Jedes afrikanische Land sagt uns: Ihr braucht überhaupt nicht mehr mit einem interessierten Unternehmen zu kommen, wenn ihr uns nicht ein Finanzierungskonzept mitbringt. – Diese Finanzierungskonzepte müssen wir erarbeiten. Wir müssen uns überlegen: Wo können wir Zinszuschüsse geben, wo können wir vielleicht Krediterleichterungen geben, wie können wir das mit Entwicklungszusammenarbeit verbinden? Dazu haben wir die KfW, sie hat die entsprechende Entwicklungsbank. All das werden wir verstärken. Dazu arbeitet die Bundesregierung mit allen Ressorts zusammen. Das ist wirklich dringend notwendig, um Entwicklung in Afrika auf den Weg zu bringen. Ende Oktober – Wolfgang Schäuble hat es während unserer G-20-Präsidentschaft begonnen; das setzen wir fort, obwohl wir nicht mehr allein verantwortlich sind, sondern wir machen das mit Weltbank und Internationalem Währungsfonds – werden wir die Länder, die einen Compact with Africa, also eine Reformpartnerschaft, eingegangen sind – das sind etwa zehn afrikanische Länder –, zu uns zu einem großen Wirtschaftsforum einladen, um für Investitionen zu werben. Wir werden die deutsche Wirtschaft aufrufen, zu investieren; denn die Unternehmen haben zum Teil immer noch den Eindruck – das soll kein Pauschalurteil sein –: Das Afrika des heutigen Tages ist so wie das Afrika vor 30 Jahren. – Das ist es nicht mehr. Afrika ist ein toller Kontinent, ein junger Kontinent, ein Kontinent mit den zukünftigen Märkten. Ich kann die deutsche Wirtschaft nur einladen, sich mehr für Afrika zu interessieren. Wir werden versuchen, dem im Oktober einen Schub zu geben. Kampf gegen illegale Migration bedeutet natürlich auch, dass wir den Außengrenzenschutz stärken. Jean-Claude Juncker wird dazu Vorschläge machen. Er hat schon Vorschläge gemacht: Verstärkung von Frontex. Das bedeutet aber auch – dafür trete ich zumindest ein –, dass die Staaten, die an der Außengrenze liegen, nationale Kompetenzen abgeben, um Frontex wirklich mit umfassenden Kompetenzen auszustatten. Und das bedeutet eben auch ein Maß an Solidarität, wenn es darum geht, dass Menschen zu uns kommen, oder wenn wir Verpflichtungen haben, zum Beispiel legale Migration zu ermöglichen oder den Ländern zu helfen, die wirklich in Not sind. Das, meine Damen und Herren, bleibt der wunde Punkt der Europäischen Union. Dafür haben wir noch keine Lösung gefunden. Deutschland ist bereit, sich in diese Solidarität einzureihen. Auch das wird während der österreichischen Präsidentschaft ein weiteres Thema sein. So kann man sagen, dass wir insgesamt vor riesigen Herausforderungen stehen, aber auch, dass wir mit diesem Bundeshaushalt diese Herausforderungen ganz bewusst angehen, was Rente, Pflege, Krankenversicherung anbelangt, was Entlastungen anbelangt, was Investitionen in Forschung anbelangt, was Investitionen in Infrastruktur anbelangt. Der Bundesverkehrsminister hat gestern mit Ihrer aller Hilfe die Infrastrukturgesellschaft für die deutschen Autobahnen gegründet. Meine Damen und Herren, das ist ein großes Projekt, das uns in die Lage versetzen wird, das Geld, das wir haben, schneller auszugeben. Das ist ein Schritt, der absolut gewürdigt werden muss. Wir müssen – das glaube ich zutiefst – ab und zu auch über das sprechen, was uns gelingt. Wir können immer kritisch sein, wenn es um das geht, was uns alles nicht gelingt; aber wenn wir den Menschen nicht sagen, was gelingt, dann werden sie auch nicht verstehen, wo wir besser werden. Deshalb wird es eine gemeinsame Aufgabe sein – zumindest derjenigen, die gemeinsam für dieses Land kämpfen –, zu sagen: Ja, wir wissen, dass vieles noch nicht erreicht ist, wir wissen, dass es noch viele Mängel gibt; aber wir stellen uns den Herausforderungen, und wir kommen Schritt für Schritt voran. – Das ist unser Auftrag, unser Anspruch, und das werden wir auch einlösen. Herzlichen Dank.
in Berlin vor dem Deutschen Bundestag (Protokoll des Deutschen Bundestages)
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum 100. Geburtstag des Filmproduzenten Artur Brauner
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-100-geburtstag-des-filmproduzenten-artur-brauner-1524788
Sat, 08 Sep 2018 20:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Man sagt Dir nach, Du verstündest nicht, wie man auf einem Stuhl sitzen kann, ohne zu arbeiten. Wenigstens für heute Abend dürfen wir dabei hoffentlich mit Deiner Nachsicht rechnen. Es sind ja keine profanen Stühle, sondern Kinosessel, auf denen wir sitzen und nicht arbeiten. Außerdem hast Du für voll besetzte Kinoreihen nun wirklich lange genug – vermutlich so lange wie auf der ganzen Welt niemand sonst – gearbeitet: mit heißem Herzen, wachem Geist, eiserner Disziplin und jener Begeisterung für den Film, die Dich mit 100 Jahren immer noch davon abhält, Dich untätig auf einen Stuhl, geschweige denn zur Ruhe zu setzen. Da darfst Du Dich heute Abend ruhig einmal zurücklehnen und Dich feiern lassen statt die Drehbücher zu lesen, die sich in Deinem Arbeitszimmer stapeln! Auch auf die Gefahr hin, an Deinem Ruf als unermüdlich im Dienst des nächsten Filmprojekts befindlicher Traumfabrikant zu kratzen, lieber Artur: Ich erinnere mich gut und gerne daran, dass wir beide miteinander schon so manchen Abend auf Stühlen – insbesondere auf Restaurantstühlen – sitzend verbracht haben, ohne hart zu arbeiten. Wobei natürlich auch die Tischgespräche mit Dir immer „großes Kino“ waren… .Damit meine ich keineswegs Geschichten von Glanz und Glamour auf roten Teppichen oder Stories über Stars, die sich bei CCC–Central Cinema Company-Film und bei Dir zuhause in der Königsallee die Klinke in die Hand gaben – obwohl Du damit zweifellos ganze (Dreh-)Bücher füllen könntest. Viel bewegender, viel beeindruckender ist Dein eigenes Leben: Was Du an gelebter Geschichte zu erzählen weißt, was Du, dem Holocaust nur knapp entronnen, für Dich und für Deutschland erarbeitet hast, ist allenfalls vergleichbar mit jenen Filmen, nach denen man noch eine Weile aufgewühlt im dunklen Kino sitzen bleibt und mit einem neuen Blick auf die Welt nach Hause geht – mit jenen Filmen gegen das Verdrängen und Vergessen zum Beispiel, mit denen Du Maßstäbe in der filmischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust gesetzt und die Deutschen mit ihrer Verantwortung für das unermessliche Leid der Opfer konfrontiert hast. Jedenfalls war ich, Dir gegenübersitzend, immer auch mal gerne stille Zuhörerin – und wer mich kennt, weiß, dass das nicht jedem meiner Gesprächspartner vergönnt ist. Ja, ich schätze mich glücklich, lieber Artur, Dich zu meinen Freunden zählen zu dürfen! Dass Du kaum auf einem Stuhl sitzen kannst, ohne zu arbeiten, verzeiht man Dir gern. Denn Du tust Deine Arbeit mit Haltung, mit Charakter, mit Überzeugungen, für die Du alles auf eine Karte zu setzen und notfalls auch bis aufs Blut zu streiten bereit bist – dabei aber immer mit Charisma und Grandezza… und manchmal (Gentleman, der Du bist!) auch mit einem opulenten Blumenstrauß. Nicht zuletzt darüber habe ich mich oft sehr gefreut. So gehörst Du mit mehr als 300 Kinofilmproduktionen in sieben Geschäftsjahrzehnten – mit kommerziell erfolgreichem Unterhaltungskino wie auch mit künstlerisch herausragendem Erinnerungskino – unter den ganz Großen des Filmgeschäfts zu den ganz wenigen, die ihre Nobilitierung zur „Filmlegende“ selbst erleben durften. Ja, Du hast es sogar fertiggebracht, Größen des deutschen Exilkinos wie etwa Fritz Lang aus Hollywood zurück nach Berlin zu holen. Dabei hättest Du selbst wahrlich allen Grund gehabt, Deutschland auf immer den Rücken zu kehren. Stattdessen bist Du bist im Land Deiner Peiniger geblieben, um aufzustehen für ein besseres Deutschland: für Versöhnung und Verständigung zwischen Juden und Christen, für das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Religionen. „Ich habe mein Leben retten dürfen, damit ich etwas bewirke“, hast Du einmal gesagt. Mit Deiner Arbeit, mit Deinen Filmen, mit Deiner Stiftung, mit Deiner Persönlichkeit, ja mit Deinem ganzen Leben hast Du das Versprechen mehr als eingelöst, das ganz am Anfang Deiner Karriere stand: das Versprechen, einem toten 12jährigen Jungen, von den Nazis um sein junges Leben gebracht, ein Denkmal zu setzen. So stärkt, was Du bewirkt hast, auch das Vertrauen in die Wirkmacht der Filmkunst, in ihr Vermögen, Menschen die Augen zu öffnen und damit die Welt zu verändern. Herzlichen Glückwunsch – Mazal tov, lieber Artur! Deine geliebte (Ehefrau) Maria wäre heute einmal mehr stolz auf Dich. Lehn Dich in Deinem Stuhl zurück und lass Dir von Herzen danken! Du hast es verdient!
Rund 700 Gäste aus der Filmwelt sowie Politik und Kultur haben im Berliner Zoo-Palast das Jubiläum von Artur Brauner gefeiert. In ihrer Laudatio würdigte die Kulturstaatsministerin das Lebenswerk des Filmtycoons, mit dem er „Maßstäbe in der filmischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust“ gesetzt habe.
Rede der Kulturstaatsministerin beim Besuch der Marienschule in Münster
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-beim-besuch-der-marienschule-in-muenster-1524804
Fri, 07 Sep 2018 11:30:00 +0200
Im Wortlaut
Münster
Kulturstaatsministerin
Mit Eurer Schule verbinden mich viele schöne Erinnerungen, denn sie war, wir Ihr sicherlich wisst, vor vielen Jahren auch meine Schule. Deshalb ist es mir eine ganz besondere Freude, Euch einen Besuch abzustatten, die vertraute Umgebung meiner Jugendjahre wiederzusehen und diese ganz eigene „Marienschulluft“ zu schnuppern… – es riecht hier tatsächlich noch ganz genauso wie früher. Da werden viele Erinnerungen wach, und vielleicht finden wir nachher Gelegenheit, auch ein wenig über den Schulalltag früher und heute zu plaudern. Um Erinnerungskultur soll es aber erst einmal gehen, das war der ausdrückliche Wunsch Eures Schulleiters, den ich gerne erfülle – nicht nur, weil ich als Kulturstaatsministerin politisch mitverantwortlich bin für Erinnerungskultur, für das Gedenken an die und die öffentliche Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. Sondern auch, weil ich es wichtig finde, dass gerade Ihr jungen Leute Euch dafür interessiert. „Geschichte wiederholt sich nicht, aber wir können aus ihr lernen.“ Mit diesem Satz beginnt ein schmales Büchlein „Über Tyrannei“, das ich Euch zur Lektüre nur ans Herz legen kann. Darin entwickelt der renommierte amerikanische Historiker Timothy Snyder aus den Erfahrungen mit der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts – aus dem Scheitern der Demokratie in den 1920er, 1930er und 1940er Jahren – „20 Lektionen für den Widerstand“ gegen Populisten, Nationalisten und Autokraten. Es ist ein flammendes Plädoyer für eine wehrhafte Zivilgesellschaft, gerichtet an Bürgerinnen und Bürger, die das weltweite Erstarken der Demokratieverächter mit Sorge beobachten. „Die Geschichte“, heißt es darin, „ermöglicht es uns, Muster zu erkennen und Urteile zu fällen. (…) Geschichte erlaubt uns, verantwortlich zu sein: nicht für alles, aber für etwas.“ Ja, es sind es vor allem die bitteren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die für ein „Wehret den Anfängen!“ gleichermaßen praktische Anleitung wie überzeugende Argumente liefern und uns auf diese Weise helfen, demokratische Errungenschaften wie die Pressefreiheit und die Kunstfreiheit zu verteidigen. Wie wichtig dies wieder geworden ist, müssen wir täglich – nicht nur im Blick auf manche Nachbarländer – erfahren. Wenn wir sehen, wie schwer es unabhängige Journalistinnen und Journalisten in Ungarn haben, wenn wir die zunehmende Einschränkung der Medienfreiheit in Polen durch das neue Mediengesetz mit ansehen müssen, wenn wir lesen, wie Liu Xia, die Witwe des Schriftstellers Liu Xiaobo, in China leiden muss oder wie viele Journalistinnen und Journalisten, Künstlerinnen und Künstler in der Türkei immer noch im Gefängnis sitzen, und wenn wir auch hierzulande mit Vorwürfen wie „Lügenpresse“ konfrontiert werden – spätestens dann wird doch immer wieder klar, wie wichtig und wie notwendig es ist, aus der Vergangenheit zu lernen: „Muster zu erkennen“, „Urteile zu fällen“, „verantwortlich zu sein“, wie Timothy Snyder schreibt, sich der Folgen totalitärer Ideologien bewusst zu werden und sensibel zu sein für deren unterschätzte Wegbereiter: für die Verrohung der Sprache beispielsweise, für Fehlinformationen, die Vorurteile nähren, und für das Schweigen aus Gleichgültigkeit oder Feigheit. Ihr wisst es sicher aus dem Geschichtsunterricht: Die Erinnerung an den systematischen Völkermord an den europäischen Juden als Menschheitsverbrechen bisher nicht gekannten Ausmaßes und an die Schrecken und Gräuel, die unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in deutschem Namen geschehen sind – diese Erinnerung ist für uns Deutsche als immerwährende Verantwortung allgegenwärtig und sie muss es auch in Zukunft bleiben. Deshalb bauen und finanzieren wir Mahnmale, die im Herzen der Hauptstadt Berlin Zeugnis ablegen von den Verbrechen der Nationalsozialisten; ich nenne hier nur das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Deshalb fördern wir – der Bund gemeinsam mit den Ländern – den Erhalt der ehemaligen Konzentrationslager, damit auch sie vom Geschehenen erzählen – und zwar auch dann noch, wenn die Stimmen der Zeitzeugen irgendwann nur noch in Büchern und Filmdokumenten vernehmbar sein werden. Und deshalb widersprechen wir mit aller Entschiedenheit, wenn neue politische Kräfte in unserem Land unsere Erinnerungskultur, an der unsere Gesellschaft und unsere Demokratie gereift sind, für parteipolitische Zwecke missbrauchen und aus der Hetze gegen den Umgang Deutschlands mit seiner Geschichte politischen Profit für ihre nationalistische Ideologie zu schlagen versuchen. Weil es 73 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gibt, die darüber berichten können, werden Lernorte wie die ehemaligen Konzentrationslager immer wichtiger, gerade für Euch, die junge Generation. Deshalb haben wir – CDU, CSU und SPD – im Koalitionsvertrag vereinbart, ein Programm „Jugend erinnert“ ins Leben zu rufen und die Gedenkeinrichtungen noch mehr als bisher personell und finanziell bei der pädagogischen Arbeit zu unterstützen. Diese Vereinbarungen sind mir sehr wichtig, und ich werde mein Möglichstes dafür tun, dass wir sie bald umsetzen können. Mir ist wichtig, dass die Erinnerung in der jungen Generation und in den nachfolgenden Generationen fortlebt. Mir ist wichtig, dass auch junge Leute verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass Moral, Mitgefühl und Menschlichkeit der Barbarei anheimfielen. Denn was wir niemals wieder zulassen dürfen, ist ein Erstarken des Rassismus, des Antisemitismus und anderer Formen der Diskriminierung. Deutschland darf nie wieder ein Land sein, in dem Hass und Hetze gegen Minderheiten auf eine schweigende Mehrheit treffen – weder auf Schulhöfen noch auf öffentlichen Plätzen, weder auf Demonstrationen noch in Moscheen oder Parteien, und auch nicht bei der Verleihung eines Musikpreises … Dabei seid auch Ihr gefragt, liebe Schülerinnen und Schüler! Setzt Euch mit unserer Vergangenheit auseinander, wo immer Ihr die Gelegenheit dazu habt! Besucht unsere Gedenkorte, unsere Museen! Informiert Euch nicht nur über die historischen Fakten, sondern auch über die Lebenswege und Schicksale einzelner Menschen! Hört den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu: Noch sind einige von ihnen unter uns, die an Leib und Seele erlebt haben, was es bedeutet hat, im Dritten Reich Jude oder Jüdin in Deutschland zu sein. Vor allem aber: Steht auf gegen Antisemitismus und Rassismus, wo immer Ihr ihn erlebt! Zieht Euch niemals zurück auf die ebenso bequeme wie verantwortungslose Haltung, dass es auf Eure Stimme, auf Euer Handeln nicht ankommt! Das Gegenteil ist richtig: Auf jeden einzelnen von Euch kommt es an! Vergesst nicht: Millionen Menschen haben einst zugelassen, dass ihre jüdischen Freunde, Nachbarn und Bekannten erst beschimpft und gedemütigt, dann Schritt für Schritt ihrer Rechte beraubt und aus dem gesellschaftlichen Leben gedrängt wurden, bis man sie schließlich in den Tod schickte. Das Schweigen der Mehrheit machte das möglich – das beherzte Engagement einiger weniger dagegen hat Leben gerettet und in einem geistig und moralisch verwüsteten Land Inseln der Menschlichkeit bewahrt. Auseinandersetzen solltet Ihr Euch auch mit der kommunistischen Diktatur in der ehemaligen DDR. In Berlin erinnert neben der Gedenkstätte Hohenschönhausen, der ehemaligen Haftanstalt vor allem für politische Gefangene, die Gedenkstätte Normannenstraße in der einstigen Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit an politische Verfolgung und Unterdrückung in der kommunistischen Diktatur. Was wir an diesen Orten sehen, entlarvt die DDR, die im Stadtbild Berlins oft bagatellisiert in Gestalt von Trabi-Safaris, VoPo–Volkspolizei-Mützen und anderen Nostalgie-Souvenirs daher kommt, als das, was sie war: ein Unrechtsstaat. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953, von dem Ihr vielleicht schon einmal gehört habt, steht – genauso wie die Montagsdemonstrationen insbesondere in Leipzig, die 1989 zum Fall der Mauer führten – für den Freiheitswillen der Menschen und ihr mutiges Aufbegehren gegen Unterdrückung und für Demokratie. Auch daran zu erinnern, ist wichtig, denn was uns „erlaubt, verantwortlich zu sein“ – um noch einmal auf Timothy Synder zurück zu kommen – was uns erlaubt, Handlungsspielräume zu erkennen und Gefühle der Ohnmacht zu überwinden, ist vielleicht gerade die Erinnerung an Menschen, die der Diktatur mutig die Stirn geboten und dem Sieg der Demokratie den Weg bereitet haben. Bevor wir darüber diskutieren, liebe Schülerinnen und Schüler, will ich noch auf eine der wichtigsten Lehren eingehen, die wir in Deutschland und Europa aus der Geschichte gezogen haben – nämlich auf die Europäische Union. Europa steht für eine zivilisatorische Errungenschaft, die sich nach dem unfassbaren Leid zweier Weltkriege und nach dem Grauen der nationalsozialistischen Barbarei vermutlich nicht einmal Visionäre hätten träumen lassen. Wir Europäerinnen und Europäer haben es geschafft, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen und eben dadurch unterschiedlichen Kulturen und Religionen, Traditionen und Träumen, Lebensentwürfen und Weltanschauungen eine Heimat zu bieten. Diese Offenheit für Vielfalt macht Europa im Kern aus; ihr verdanken wir Freiheit, Frieden und Wohlstand. Sie – und nicht der Euro oder der Binnenmarkt – macht Europa zu einem Sehnsuchtsort, für den Menschen außerhalb der EU unter europäischer Flagge auf die Barrikaden gehen, wie zum Beispiel 2013 und 2014 auf dem Kiewer Majdan, während man Europa innerhalb der EU oft auf die Regulierung der Gurkenkrümmung und ergebnislose Krisensitzungen reduziert. Europas Puls schlägt aber nur dort laut und kräftig, wo die Herzen der Europäer für Europa schlagen. Ich bin überzeugt: Es ist unsere gemeinsame Kultur, die Herzen höher schlagen lässt – das, was Europa im Kern ausmacht: eine Kultur, zu der die großen humanistischen Traditionen von der Antike bis zur Aufklärung ebenso gehören wie das Christen- und Judentum und auch die gemeinsamen, leidvollen Erfahrungen von Krieg und Grausamkeit in der Geschichte der europäischen Staaten. Darauf wollen wir im Europäischen Kulturerbe-Jahr aufmerksam machen, das wir 2018 unter dem Motto „Sharing Heritage“ europaweit feiern. Es bietet mit einer Vielzahl an Projekten in ganz Europa Gelegenheiten, das gemeinsame europäische Kulturerbe neu zu entdecken – hier in Münster zum Beispiel in der großartigen (aus meinem Kulturetat geförderten) Ausstellung „Frieden. Von der Antike bis heute“ im LWL–Landschaftsverband Westfalen-Lippe-Museum, die ich im April mit Oberbürgermeister Markus Lewe eröffnen durfte. Mit solchen Erinnerungsprojekten können wir dem wieder aufkeimenden Nationalismus den Stolz auf die vielfältige, im Austausch mit anderen Kulturen gewachsene europäische Kultur entgegensetzen. Ich bin überzeugt: Gerade in politischen Krisenzeiten kann die Beschäftigung mit dem gemeinsamen kulturellen Erbe Zusammenhalt stiften. Denn eine Gemeinschaft, die sich ihrer gemeinsamen Wurzeln – ihrer Heimat – sicher ist und sich ihrer immer wieder neu vergewissert, kann Unterschieden Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen. Das Europäische Kulturerbe-Jahr 2018 erinnert uns – 400 Jahre nach Beginn des 30jährigen Krieges und 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges – nicht zuletzt auch daran, wie schwer wir uns in Europa über Jahrhunderte mit religiöser und kultureller Vielfalt getan haben, wie hart errungen – mit viel Krieg, Leid und Gewalt bezahlt – Demokratie, Toleranz und Freiheit doch sind. Es erinnert uns daran, dass unsere demokratischen Werte wie auch die Fähigkeit, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen und Vielfalt als Freiheitsgewinn zu begreifen, letztlich Lernerfahrungen sind. Zu solchen Lernerfahrungen, die ein friedliches Miteinander unterschiedlicher Lebensweisen, Traditionen und Weltanschauungen immer wieder aufs Neue erfordert, können gerade Kunst und Kultur in besonderer Weise beitragen. Ob Poesie, ob Malerei, ob Film oder Musik, Theater oder Tanz: Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren. Kunst kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Kunst kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht. Kunst kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Darüber hinaus sind unsere Kultureinrichtungen – Museen, Gedenkstätten, Theater – auch Orte öffentlicher Debatten, die die Gesellschaft nie nur abbilden, sondern immer auch mitformen. Wie sehr wir diese Orte der Verständigung brauchen, erleben wir gerade dort, wo eine lautstark pöbelnde Minderheit Ressentiments gegen anders Denkende, anders Glaubende, anders Aussehende, anders Lebende schürt und Stimmung macht gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Vielfalt und Freiheit – und damit letztlich gegen alles, was Europa ausmacht. Unsere Kultureinrichtungen können auf Ressentiments gebaute Weltbilder ins Wanken bringen und uns helfen zu verstehen, wer wir sind – als Individuen, als Deutsche, als Europäer. Sie können demokratischen Werten auch jenseits argumentativer Auseinandersetzung Gehör verschaffen. So viel zu den Lehren, die Deutschland aus seiner Geschichte, aus seiner Erinnerungskultur gezogen hat, liebe Schülerinnen und Schüler. Deutschland verdankt seine heutige Identität und sein mittlerweile wieder hohes Ansehen in der Welt nicht zuletzt dieser Erinnerungskultur. Der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani hat es in seiner Rede zum 65. Geburtstag unseres Grundgesetzes 2014 im Deutschen Bundestag so formuliert: „Sie [die Bundesrepublik Deutschland] ist das Deutschland, das ich liebe, (…) eine Nation, die über ihre Geschichte verzweifelt, die bis hin zur Selbstanklage mit sich ringt und hadert, zugleich am eigenen Versagen gereift ist, die nie mehr den Prunk benötigt, ihre Verfassung bescheiden ,Grundgesetz‘ nennt und dem Fremden lieber eine Spur zu freundlich, zu arglos begegnet, als jemals wieder der Fremdenfeindlichkeit, der Überheblichkeit zu verfallen.“ Ja, Geschichte vergeht nicht einfach. Die Art und Weise, wie wir sie vergegenwärtigen, prägt unser Bild von uns selbst, sie prägt unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Auch deshalb lohnt es sich, im Geschichtsunterricht gut aufzupassen – und es wäre schön, wenn Ihr Euch von unserer Diskussion vielleicht sogar motiviert fühlt, auch auf eigene Faust Erinnerungsorte und Museen zu besuchen und Bücher über deutsche und europäische Geschichte zu lesen. Ich freue mich auf die Diskussion mit Euch!
Im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern über die Erinnerungskultur in Deutschland hat Kulturstaatsministerin dazu aufgerufen, sich mit den Lehren aus der deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen, um „Vielfalt als Freiheitsgewinn zu begreifen.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel auf dem Deutsch-Katarischen Wirtschafts- und Investitionsforum am 7. September 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-auf-dem-deutsch-katarischen-wirtschafts-und-investitionsforum-am-7-september-2018-1529536
Fri, 07 Sep 2018 10:21:00 +0200
Berlin
Hoheit, Herr Regierender Bürgermeister, sehr geehrte Damen und Herren, herzlich willkommen. Ich freue mich sehr, dass Katar sein Wirtschafts- und Investitionsforum erneut in Berlin ausrichtet. Katar unterstreicht damit die Bedeutung, die es der Zusammenarbeit mit Deutschland und mit der deutschen Wirtschaft beimisst. Katar, in geografischer Hinsicht klein, ist in wirtschaftlicher Hinsicht groß. Bei meinem Besuch 2010 konnte ich selbst vor Ort einen Eindruck von der dynamisch wachsenden Volkswirtschaft gewinnen. Darüber hinaus hatte ich die Gelegenheit, mir im Museum für Islamische Kunst in Doha vom Kulturreichtum des Landes und von seinem Anspruch, auch die Kultur anderer zu zeigen, ein Bild zu machen. Die jüngere Geschichte des Landes ist mit einem tiefgreifenden Wandel verbunden. Seit der Unabhängigkeitserklärung 1971 hat sich Katar zu einem der wohlhabendsten Staaten der Welt entwickelt. So sind auch die Wirtschaftsbeziehungen zwischen unseren beiden Ländern gewachsen. Deutschland ist nach den USA und China der wichtigste Handelspartner Katars weltweit. Und Katar ist einer der wichtigsten Handelspartner Deutschlands in der Golfregion. Unser bilaterales Handelsvolumen beläuft sich auf über 2,5 Milliarden Euro. Aber uns ist nicht nur an guten Handelsbeziehungen gelegen. Es freut mich, dass Katar auch zunehmend Interesse an Investitionen am Standort Deutschland zeigt. Ich denke, dieses Interesse – das darf ich als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik vielleicht sagen – kommt nicht von ungefähr. Denn Deutschland ist ein attraktiver Investitionsstandort. Das liegt nicht in erster Linie an der Politik, sondern selbstverständlich an unseren Unternehmen. Deutsche Firmen genießen auf den Weltmärkten einen hervorragenden Ruf. Das gilt etwa für den Maschinenbau, die Automobilindustrie, die chemische Industrie und auch für Umwelt- oder Medizintechnologien und, wie der Regierende Bürgermeister eben sagte, mit Blick auf Start-ups zunehmend auch für den gesamten digitalen Sektor. Gerade auch viele mittelständische Unternehmen aus Deutschland behaupten sich an der Weltspitze – die sogenannten „hidden champions“, von denen wir glücklicherweise viele haben. Sie prägen die deutsche Wirtschaft in besonderem Maße und sind in einer großen Bereichsbreite tätig. Die vielen kleinen und mittleren Unternehmen sind als Arbeitgeber und Ausbilder in unserem Wirtschaftssystem unverzichtbar. Ich denke, die hohe Qualität unserer mittelständischen Industrie und das deutsche Ausbildungswesen, die duale Berufsausbildung, bedingen einander in hohem Maße. Gerade auch diese mittelständischen Unternehmen sind es, die mit ihrem Ideenreichtum, ihrer Innovationskraft und auch ihrer Fähigkeit zur schnellen Anpassung an neue Entwicklungen unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit bestimmen und hoffentlich auch in der Zukunft sichern. Deswegen freue ich mich, dass die Bedeutung des deutschen Mittelstands auch auf dieser Konferenz gewürdigt wird. Hier sind viele Mittelständler anwesend. Natürlich braucht Wirtschaft verlässliche Rahmenbedingungen. Wir wissen, dass auch in unserer Sozialen Marktwirtschaft, die sich mittlerweile seit 70 Jahren bewährt, Wirtschaft und Politik einander bedingen. Verlässliche Rahmenbedingungen und die exzellente wirtschaftliche Lage sind aus unserer Sicht gute Argumente für Kooperationen und Investitionen in Deutschland. Seit der internationalen Finanzkrise haben wir nun das neunte Wachstumsjahr in Folge. Die Investitionsneigung unserer Unternehmen ist hoch, auch im Ausland. Die gute Stimmung in der Wirtschaft macht sich auch auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar. Wir haben derzeit so viele Erwerbstätige wie nie zuvor. Eigentlich ist die Frage „Woher bekomme ich Fachkräfte?“ im Augenblick dominanter als die Frage der Arbeitslosigkeit. Wir haben als Bundesregierung versucht, stabile Finanzen zu einem Markenzeichen zu machen. Wir werden auch in diesem Jahr und damit zum fünften Mal in Folge keine neuen Schulden aufnehmen, sondern wir können den Schuldenstand sogar weiter abbauen und werden wohl im nächsten Jahr die Marke für die Verschuldung in Höhe von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die in den Maastricht-Kriterien vorgeschrieben ist, wieder erreichen. Aber wir sparen nicht um des Sparens willen, sondern wir wollen uns finanzielle Spielräume und Freiräume sichern. Diese nutzen wir dann auch verstärkt für staatliche Investitionen. Wir setzen auf ein gutes Miteinander von privaten und staatlichen Investitionen – ganz im Geiste der Sozialen Marktwirtschaft. Ein wichtiges Prinzip, das der Sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegt, ist das Prinzip der offenen Märkte und des fairen Wettbewerbs. Die Offenheit unserer Märkte für unsere Partner wird auch weiterhin ein bestimmendes Merkmal unserer Wirtschaftspolitik sein. Deshalb freue ich mich, Hoheit, über das Interesse, das Katar an Deutschland zeigt, und darüber, dass Katar seine Investitionen in Deutschland über das bestehende Maß hinaus ausweiten möchte. Sie haben die Zahl von zehn Milliarden Euro in den nächsten fünf Jahren genannt. Das freut uns sehr. Ich darf Ihnen sagen, dass Ihre Investitionen in unserem Land sehr willkommen sind. Sie finden hier kompetente Partner und verlässliche Rahmenbedingungen. Unsere Wirtschaftsbeziehungen verlaufen natürlich nicht auf einer Einbahnstraße. Denn Katar bietet seinerseits auch deutschen Unternehmen viele Möglichkeiten. Deutsche Unternehmen zeichnen sich mit ihrem Know-how, ihrer Verlässlichkeit und ihrer internationalen Erfahrung aus. Das sind auch wichtige Voraussetzungen für den weiteren Ausbau der Infrastrukturen und der Industrie Ihres Landes, Hoheit. Besonders der Energiebereich birgt aus meiner Sicht noch erhebliches Potenzial für den Ausbau unserer Wirtschaftsbeziehungen. Katar ist heute der weltweit größte Exporteur von Flüssiggas. Das Land plant, seine Produktionskapazitäten in den nächsten Jahren noch auszuweiten. Flüssiggas hat in den letzten Jahren in der Tat an Bedeutung gewonnen. Es trägt zur Diversifizierung der Gasbezugsquellen bei. Damit dient es auch der Versorgungssicherheit. Das deutsche Gasnetz ist bereits an die Importterminals unserer europäischen Nachbarländer – die Niederlande, Belgien und Polen – angebunden. In der Bundesregierung arbeiten wir aber auch daran, die Flüssiggasinfrastruktur in Deutschland selbst weiter voranzubringen. Es gibt bereits Überlegungen und Projekte von Unternehmen zum Bau eines Importterminals auch in Deutschland. Deutsche Unternehmen entscheiden über ihren Gasbezug natürlich nach wirtschaftlichen Kriterien, womit natürlich auch Flüssiggasimporte aus Katar ins Spiel kommen können. Meine Damen und Herren, insgesamt bieten sich also viele Chancen für den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen unserer beiden Länder. Diese Chancen sollten wir nutzen, gerade auch vor dem Hintergrund der politisch angespannten Lage in der Golfregion, die auch – Sie haben es gesagt, Hoheit – den Handel zwischen den Golfstaaten in Mitleidenschaft zieht. Wir in Deutschland bedauern diese Krise. Deutschland ist keine Partei in diesem Konflikt. Aber wir unterstützen alle konstruktiven Beiträge zur Streitbeilegung wie zum Beispiel die früheren Verhandlungsbemühungen Kuwaits. Aus meiner Sicht bedarf es einer anerkannten und verlässlichen Sicherheitsarchitektur am Golf, um Krisen zu lösen und neue Krisen möglichst erst gar nicht entstehen zu lassen. Die aktuelle Krise zeigt, wie wichtig ein funktionierender Golfkooperationsrat aus deutscher Sicht ist. Denn Sicherheit und Stabilität sind auch wesentliche Voraussetzungen für wirtschaftliche Prosperität. Das gilt für Katar, das gilt für Deutschland und das gilt für alle Staaten auf der Welt. Tatsache ist ebenfalls, dass Deutschland Interesse an einer noch engeren Zusammenarbeit mit Katar hat. Das zeigt ja auch die große Resonanz, die dieses Wirtschafts- und Investitionsforum erfährt. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag und seine katarische Partnerorganisation Qatari Businessmen Association werden anschließend eine Vereinbarung zur Zusammenarbeit abschließen. Das halte ich für ein wichtiges strukturelles Signal für die Zukunft. Dieses Forum bietet also einen hervorragenden Rahmen, um unsere Partnerschaft mit noch mehr Leben zu erfüllen, um bestehende Kontakte zu festigen, neue Kontakte zu knüpfen und gemeinsame Projekte in Angriff zu nehmen. In diesem Sinne wünsche ich allen Beteiligten eine gewinnbringende Konferenz und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
in Berlin
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Empfang der Preisträgerinnen und Preisträger des 53. Bundeswettbewerbs „Jugend forscht“ am 6. September 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-empfang-der-preistraegerinnen-und-preistraeger-des-53-bundeswettbewerbs-jugend-forscht-am-6-september-2018-1528778
Thu, 06 Sep 2018 10:59:00 +0200
Berlin
Bildung und Forschung
Meine Damen und Herren, liebe Anja Karliczek, lieber Herr Baszio, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, heute haben wir einen ganz besonderen Gast. Das ist Herr Wörner von der European Space Agency. Das zeigt schon, dass die Sache in diesem Jahr etwas anders verläuft als sonst; und das ist ja vielleicht auch ein kleiner Preis für die Preisträger, nämlich dass wir, wenn alles gut läuft – man weiß das nie ganz genau –, dann auch gleich eine Schaltung zu unserem Astronauten Alexander Gerst in der ISS haben werden. Ich möchte mich bei Herrn Wörner herzlich bedanken. Herr Gerst ist natürlich ein gefragter Gesprächsgast; und daher muss man auch gute Kontakte haben. Ich glaube, Herr Wörner ist einer, der das Forschen und Nach-vorne-Schauen aus seinem eigenen Leben ausreichend kennt und Sie deshalb genauso dafür bewundert wie wir, dass Sie einen großen Wettbewerb als Preisträgerinnen und Preisträger abgeschlossen haben. Dazu gratuliere ich Ihnen ganz herzlich, denn ich weiß, wie viel Arbeit dahintersteckt. Deshalb ist es toll, dass Sie nicht aufgegeben haben, sondern weitergemacht haben und sogar zu einem Preis gekommen sind. Isaac Asimov, ein russisch-amerikanischer Science-Fiction-Autor und Biochemiker, war der Meinung: „Der aufregendste Satz, den man in der Wissenschaft hören kann, (…) ist nicht ‚Heureka!‘ “ – ich habe es gefunden –, „sondern ‚Das ist ja komisch‘ “. Dieser Satz „Das ist ja komisch“ bringt zum Ausdruck, dass man auf dem Weg zu etwas Neuem ist, das man nicht erwartet und gar nicht vermutet hat. Das ist dann ein Moment, an dem, glaube ich, auch viele von Ihnen ein richtig gutes Gefühl haben. Denn meistens kommt dann auch noch heraus – das weiß ich aus meiner eigenen Zeit als Wissenschaftlerin –, dass das, was einem so schwierig erschien, plötzlich einfach wird. Aber man brauchte eben eine lange Zeit, um es vom Schwierigen und Komplizierten zum Einfachen zu bringen. Entdecken und Forschen – das bedeutet zu staunen, in neue Gebiete vorzudringen und unbekanntes Terrain zu erobern. Deshalb ist das Motto dieses Jahres auch wunderbar gewählt: „Spring!“ Das heißt: Habe den Mut, dich auf etwas Neues einzulassen. Sie haben ja mit Ihrem Sprung nicht nur die Jury überzeugt, sondern vielleicht auch viele andere dazu ermuntert, es auch einmal zu versuchen. Sie sind ja hier sozusagen nur die Spitze – nicht eines Eisbergs, aber einer großen Zahl von jungen Menschen, die mitgemacht haben. 12.069 junge Forscherinnen und Forscher waren an der jüngsten Wettbewerbsrunde beteiligt. Das ist die drittbeste Zahl. Insgesamt haben seit 1966 schon mehr als 270.000 junge Forscherinnen und Forscher diese Erfolgsgeschichte mitgeschrieben. Ich möchte nicht nur den Teilnehmerinnen und Teilnehmern in diesem Jahr danken, sondern auch den vielen, die geholfen und den Wettbewerb erst ermöglicht haben. Vorher aber noch eine statistische Zahl: 37,7 Prozent der Wettbewerbsteilnehmer waren Mädchen. Das könnte noch verbessert werden, könnte aber auch schlechter sein, muss ich sagen, weil der Anteil von Berufsanfängerinnen etwa in Software- oder in Ingenieurbereichen oft bei weniger als 30 Prozent liegt. Aber die 50-Prozent-Marke sollte unser Ziel sein. Und deshalb ermuntern Sie doch die jungen Mädchen, die sich vielleicht noch nicht trauen, bei so etwas mitzumachen, dass dabei alles mit ganz normalen Dingen zugeht, dass da nichts Besonderes dahinter ist, das Mädchen nicht auch könnten. Wir werben ja sehr dafür – Anja Karliczek und das Bundesministerium für Bildung und Forschung –, dass noch mehr Mädchen MINT-Fächer studieren. Forschen macht Spaß, macht Freude; und deshalb soll das eine Ermunterung sein. „Jugend forscht“ ist, wie ich schon sagte, nicht nur eine große Leistung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sondern wird von einem Netzwerk aus Schulen, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Medien getragen und vorbereitet. Es gibt 5.000 Projektbetreuer, 3.000 Juroren und 250 Unternehmen, die sich mit einbringen. Ein besonderer Dank gilt in diesem Jahr dem Unternehmen Merck. Der Konzern hat zum dritten Mal die Bundespatenschaft übernommen. Bei Merck weiß man natürlich auch, wie wichtig Wissenschaft und Neuerung sind. Mit Neugier und Talent kann man sich immer wieder neue Welten und Dimensionen erschließen – gerade auch in der Raumfahrt. Die Raumfahrt erweitert unser Wissen um ein Vielfaches. Sie liefert uns mit neuen Möglichkeiten der Erdbeobachtung, Kommunikation und Navigation Antworten auf wichtige Fragen, die uns alle umtreiben, wie etwa Klimawandel, Sicherheit und Mobilität. Da ist es natürlich auch so, dass man bei Experimenten vorher nicht immer ganz genau weiß, was dann hinten herauskommt. Navigationsgeräte, Handys oder der praktische Klettverschluss – das und vieles andere sind Ergebnisse, die wir der Raumfahrt verdanken. Auch Teflon, glaube ich … (Zuruf: Teflon ist die einzige Ausnahme.) – Ja, Teflon kommt, glaube ich, aus der Militärforschung. Die Raumfahrt beansprucht also nicht Teflon, sondern den Klettverschluss; auch gut. Natürlich sind wir sehr stolz darauf, dass Alexander Gerst in der ISS im Augenblick wieder die Erde umrundet. Ich frage einmal: Wer hat die ISS an diesen schönen Abenden im Sommer einmal am Himmel gesehen? Sehr interessant, finde ich; und auch sehr erhebend; 400 Kilometer Höhe – man kann doch weit sehen – und 28.000 Stundenkilometer. Alexander Gerst hat ja bereits zum zweiten Mal die Ehre, einen Raumflug zu unternehmen. Und ich hoffe, dass wir gleich mit ihm sprechen können. Nun sind wir, glaube ich, immer noch ein bisschen zu schnell. Ich mache jetzt einfach mit meiner Rede weiter, aber ich bin jede Minute und Sekunde abrufbereit. Die Erde schützen, den Alltag verbessern, Probleme lösen – das schreiben sich nicht nur die Weltraumfahrer auf ihre Fahnen, sondern es gibt eben auch unglaublich gute Projekte aus Ihren Reihen: Von der Messmaschine für Regentropfen – damit kann man den Verlauf von Hurrikans vorhersagen – über Öko-Akkus bis hin zu einem Gentest auf Rosenkohl-Intoleranz. Mein Gott, über die Ideenvielfalt kann man nur staunen. Das muss wohl jemand gewesen sein, der selbst intolerant gegenüber Rosenkohl ist, sonst kommt man ja gar nicht auf die Idee mit dem Rosenkohl. Wir suchen uns ja jedes Mal besondere Preisträger aus. Und das sind dieses Mal – das verkünde ich jetzt schon, bevor wir dann hoffentlich unser Gespräch mit Alexander Gerst führen werden – Anna und Adrian Fleck aus Fulda. Wo sind Sie? – Sehr gut. Die Geschwister haben eine Art von Protektoren entwickelt, also Schutzdinge. Inline-Skater oder Motorradfahrer brauchen solche Protektoren. Seid Ihr Inline-Skater oder Motorradfahrer? – Gut, aber Forscher. Meistens sind die Schoner, die man anlegen muss, unbequem und schränken einen in der Beweglichkeit ein. Dabei kann auch die hochfunktionale und smarte Kleidung nicht immer alles übertünchen. Aber Sie haben eine ganz tolle Idee gehabt, nämlich einen Protektor aus Silikon mit einer stärkehaltigen Flüssigkeit zu entwickeln. Diese Flüssigkeit verhärtet sich bei Krafteinwirkung durch einen Sturz oder Ähnliches. Das werden wir uns dann gleich anschauen. Aber damit beginnen wir jetzt nicht mehr, sondern wir schauen erst einmal, ob wir etwas von der ISS hören und sehen.
im Bundeskanzleramt
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Gespräch mit Lehrkräften am 5. September 2018 im Bundeskanzleramt zum Thema schulische Integration
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-gespraech-mit-lehrkraeften-am-5-september-2018-im-bundeskanzleramt-zum-thema-schulische-integration-1528582
Wed, 05 Sep 2018 15:05:00 +0200
Berlin
Bildung und Forschung
Bildung
Meine Damen und Herren, ich begrüße die Minister und die Senatoren, ich begrüße die Ministerinnen, Frau Giffey und Frau Karliczek, und die Staatsministerin Annette Widmann-Mauz. Ich begrüße vor allem Sie, liebe Frau König, und alle anderen Pädagoginnen und Pädagogen, Lehrerinnen und Lehrer ganz herzlich heute bei uns. Frau König hat den Anstoß für das gegeben, was wir heute hier miteinander machen. Denn sie war vor der Wahl zu Gast in der ZDF-Sendung „Klartext“, in der es ja um Themen ging, die uns bedrücken und zu denen ich Stellung nehmen sollte. Dabei kam auch das Thema zur Sprache, wie unterschiedlich die Situation in den Klassen oftmals ist, wie unterschiedlich die Möglichkeiten sind, die Sprachkenntnisse überhaupt auf ein Niveau zu heben. Wenn man die Frage der kulturellen Unterschiedlichkeit, auch die Frage des Zugangs zu den Schülerinnen und Schülern offen anspricht, dann kann es schnell dazu kommen, dass es heißt: du hast irgendetwas gegen diejenigen, die nicht so gut mitkommen. Ich habe erst einmal deutlich gemacht, dass ich es gut fand, dass Sie in der Sendung das Thema aufgeworfen haben, denn damit haben Sie, glaube ich, vielen aus dem Herzen gesprochen. Daher habe ich versprochen, dass wir das noch einmal in einem größeren Kreis aufnehmen werden. Das ist heute nunmehr der Fall. Es ist so, dass wir hier sehr wohl weiter Klartext reden können. Sie haben das eben auch schon im Vorgespräch mit den Ministerinnen Giffey und Karliczek sowie der Staatsministerin Widmann-Mauz gemacht, aber das wollen wir jetzt auch miteinander weiter machen. Dabei geht es nicht darum, dass man irgendwen und irgendetwas an den Pranger stellt, aber man muss ja eine ordentliche Analyse der Realität vornehmen, um überhaupt Lösungswege aufzeigen zu können. Dabei kann man die Dinge auch nicht unter den Tisch kehren, sondern man muss sie so beschreiben, wie sie sind. Da kann man auch versuchen, voneinander zu lernen und Best-Practice-Methoden anzuwenden. Aber man muss auch oft etwas an den Rahmenbedingungen ändern. Wenn nämlich die Klassen zu groß und die Zahl der Lehrer zu gering ist, dann lassen sich Probleme eben auch schwerer lösen, als wenn man andere personelle oder schulische Möglichkeiten hat. Trotzdem lässt sich auch dann noch nicht immer alles lösen, weil natürlich auch vieles davon abhängt, dass derjenige Schüler oder diejenige Schülerin mitmachen möchte. Und dabei spielt das Elternhaus eine große Rolle. Beim Zugang zu Eltern sind Lehrerinnen und Lehrer darauf angewiesen, dass Eltern auch Interesse zeigen. Es geht um die Frage, wie man da Verbindungen aufbauen kann. Das soll heute hier auch besprochen werden. Wir reden mit Ihnen, die Sie mitten im Leben stehen, in dem Geist, dass wir da, wo wir helfen können, helfen wollen. Deshalb haben wir das hier nicht als eine Berliner Bundesveranstaltung organisiert, ohne etwa unsere Landeskollegen mit einzuladen. Das ist ja auch vollkommen klar, denn wir wissen, wofür wir zuständig sind und wofür nicht. Aber ich glaube, für uns in Berlin ist es auch wichtig, dass wir die Probleme insgesamt kennen. Denn jeder, der auf Landesebene oder auf Bundesebene tätig ist – egal ob als Bürgermeister oder im Stadtrat oder in einem kleinen Ort –, wird immer mit Problemen der Menschen konfrontiert. Da können wir nicht sagen: Passt einmal auf, dafür sind wir leider nicht zuständig; und wir konnten uns auch noch nie mit jemandem unterhalten, der sachkundig ist. Nein, wir müssen Probleme angehen. Aber wir wollen das eben nicht gegeneinander machen, sondern miteinander. Deshalb freue ich mich jetzt auf die Diskussion und heiße Sie alle nochmals herzlich willkommen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel auf einer Veranstaltung der Deutsche Börse AG zur Zukunft des Finanzstandortes Deutschland in Europa am 4. September 2018 in Frankfurt am Main
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-auf-einer-veranstaltung-der-deutsche-boerse-ag-zur-zukunft-des-finanzstandortes-deutschland-in-europa-am-4-september-2018-in-frankfurt-am-main-1528610
Tue, 04 Sep 2018 19:23:00 +0200
Frankfurt/Main
Sehr geehrter Herr Weimer, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Volker Bouffier, sehr geehrte Mitglieder der hessischen Landesregierung, sehr geehrter Herr Staatssekretär, sehr geehrte Damen und Herren, ich könnte scherzhaft beginnen und zu Volker Bouffier sagen: nachhaltiges Engagement, selbst bei der Eintracht, zahlt sich aus. Ich habe schon hessische Ministerpräsidenten gesehen, die schwierige Stunden mit der Eintracht hatten. Ich freue mich mit Frankfurt, dass es jetzt besser läuft. Ich möchte mich, lieber Herr Weimer, für die Einladung ganz herzlich bedanken. Dass dies ein historischer Ort ist, der heute europäische Stärke ausstrahlt, hat ja auch Symbolcharakter. Vor 70 Jahren ist in der Tat die sehr mutige Entscheidung gefallen, Mangel mit Freiheit zu bekämpfen, um daraus Wohlstand zu machen. Ich lese immer wieder gerne die Geschichte, wie perplex die Alliierten damals waren; wir wollen jetzt aber nicht weiter in die Tiefe gehen. Wenn man sieht, was aus der Entscheidung geworden ist, dann macht das Mut. Allerdings dürfen wir 70 Jahre danach die Dinge nicht allzu sehr verklären, denn es gab zwischendurch auch ganz schön große Demonstrationen. Nicht alle im deutschen Volk waren davon überzeugt, dass das der eingeschlagene Weg der richtige ist. Politik hat damals aber auch Durchhaltefähigkeit gezeigt, weil man eben von den richtigen Ideen überzeugt war; und das hat sich ausgezahlt. Dass hier in Frankfurt heute der Geist Europas zu spüren ist, hat auch etwas zu tun mit Frankfurt als Finanzplatz und mit der Deutschen Börse, die Teil dieses Finanzplatzes ist. Frankfurt hat immer wieder erlebt, dass mit der europäischen Integration auch die Anziehungskraft für Investoren aus aller Welt gewachsen ist. Frankfurt ist wirklich eine internationale Metropole. Und davon profitiert ganz Deutschland; das will ich ausdrücklich sagen. Deshalb, lieber Volker Bouffier: Keine Sorge, wir in Berlin wissen schon, dass das noch nicht alles ist; und wir wissen auch, dass manches an Wertschöpfung – um nicht zu sagen: sehr viel an Wertschöpfung – außerhalb Berlins stattfindet. Wir kennen uns nach langen Gesprächen auch mit dem Bund-Länder-Finanzausgleich ganz gut aus. Insofern wissen wir, dass in Hessen viel vom deutschen Bruttosozialprodukt erwirtschaftet wird; und das eben auch im internationalen Kontext. Wir können – und da stimme ich dem Ministerpräsidenten völlig zu – unsere Situation in Deutschland nicht entkoppeln von der Situation in Europa. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Deutschland wird es auf Dauer nur gutgehen, wenn es auch Europa gutgeht. Insofern liegt die europäische Prosperität im ureigensten deutschen Interesse. Natürlich profitiert auch Europa von einem prosperierenden Deutschland. Das bedingt sich gegenseitig. Deshalb sind wir im Augenblick – ich betone: im Augenblick – ja auch recht zufrieden damit, dass alle EU-Mitgliedstaaten auf Wachstumskurs sind. Wir werden in Deutschland 2018 unser neuntes Wachstumsjahr in Folge haben. Es spricht manches dafür, dass sich auch im nächsten Jahr der Aufschwung ähnlich fortsetzt. Wenn man noch einmal zurückdenkt an die internationale Finanzkrise vor zehn Jahren, an die Haushaltsaufstellungen in den Jahren 2008/2009 und an unsere Befürchtung, mit 80 Milliarden Euro Neuverschuldung in die nächste Legislaturperiode gehen zu müssen, dann sieht man, dass wir damals richtig gehandelt haben. Und dann sieht man auch, dass sich die Soziale Marktwirtschaft in einer schweren Stunde bewährt hat. Wir haben damals eines gemacht – der heutige Finanzminister war damals Arbeitsminister –: Wir haben damals die Ordnungsfunktion des Staates sehr interventionistisch wahrgenommen. Wir haben uns gefragt: Was ist unser größtes Gut? Wir haben gesagt: Das sind die Arbeitsplätze für die Menschen in unserem Land. Mit der Entscheidung für eine Ausweitung der Kurzarbeit und auch der Weiterbildungsmöglichkeiten haben wir im Grunde unseren Schatz über eine schwierige Situation hinweg gerettet. Das hat sich bewährt. Heute investieren Unternehmen verstärkt in die Zukunft. 2017 waren die Unternehmensinsolvenzen auf dem niedrigsten Stand seit 1999. Der Aufschwung schlägt sich nicht nur in den Auftragsbüchern nieder, sondern er kommt vor allen Dingen auch auf dem Arbeitsmarkt an. Wir haben in diesem Herbst die Chance, erstmals über 45 Millionen Erwerbstätige zu haben. Wir haben die bislang höchste Zahl an sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Und wir haben in vielen Teilen Deutschlands – nicht überall – das, was man Vollbeschäftigung nennt. Wir haben im Augenblick aber auch die Klage, dass uns hinten und vorne Fachkräfte fehlen. Das könnte sozusagen der größte Bottleneck sein. Wir haben schon Zeiten gehabt, in denen wir unentwegt über Steuerreformen diskutiert haben. Das tun wir heute auch noch; aber die Frage, woher die Fachkräfte kommen, ist sehr dominierend. Nun ist es natürlich schön, wenn man Wohlstand verwalten und verteilen kann, aber – und ich sage: das ist ein deutliches „Aber“ – wir müssen uns Wohlstand immer wieder neu erarbeiten. Das, was heute Realität ist, ist für morgen natürlich nicht gesichert. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir die Chance dazu haben, aber wir müssen eben das internationale Tempo der Innovationen mitgehen. Wenn wir uns anschauen, wie schnell die Vereinigten Staaten auf vieles reagieren und wie in Asien und vor allen Dingen in China heute agiert wird, dann wissen wir, dass die Wettbewerber mehr werden und nicht weniger. Die internationale Konkurrenz schläft also nicht. Und gerade auch unsere exportorientierte Wirtschaft braucht moderne, regionale und internationale Finanzdienstleistungen; das geht Hand in Hand. Deshalb ist Frankfurt auch von so großer Bedeutung. Ich sage es einmal so: Unsere Fähigkeit zu Finanzdienstleistungen in umfassendem Sinne kann durchaus noch wachsen, damit sie sozusagen auch eine gute Balance und ein gutes Gemeinsames mit der Realwirtschaft darstellt. Finanzdienstleistungen helfen natürlich nicht nur Unternehmen auf die Sprünge, sondern sie kommen auch allen Bürgerinnen und Bürgern zugute. Ob bei der Altersvorsorge, beim Sparen, bei Investitionen jeglicher Art – immer spielt auch der Finanzsektor eine Rolle. Was funktionierende Banken und Finanzinstitutionen wert sind, haben wir ja ganz besonders vor zehn Jahren erlebt. Daraus haben wir gelernt. Im Zuge der internationalen Finanzkrise ist nicht nur das G20-Format auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs entstanden. Damals ist auch eine umfangreiche Regulierung auf den Weg gebracht worden, denn wir wollten, dass der Steuerzahler eben nicht mehr für die Risiken dieses Sektors aufkommt. Ich glaube im Übrigen, dass die Finanzmärkte die erste Welle der globalen Digitalisierung durchgemacht haben. Wir haben inzwischen sehr viel darüber gelernt, wie man auch globale Regulierung aufsetzen muss. Allerdings haben wir auch immer wieder Sorgen, ob das sogenannte „level playing field“ auf Dauer hält oder ob nicht immer wieder einer auf der Welt versucht, auszubüxen, was dann natürlich, wie wir wissen, Nachteile für alle anderen mit sich bringt. Wir sind uns aber einig: Risiko und Haftung müssen Hand in Hand gehen. Das ist für die langfristige Stabilität der Finanzmärkte zwar vielleicht noch nicht hinreichend, aber sicherlich notwendig. Wir müssen die Regulierungsmaßnahmen natürlich auch immer fortentwickeln. Wir müssen an manchen Stellen auch fragen, ob alle, die Kleinen wie die Großen, mit der gleichen Regulierung bedacht werden, denn da machen wir Unterschiede. Wir haben jedenfalls gelernt: Ohne Ordnungsrahmen geht es im Finanzmarkt mit Sicherheit nicht. Wie sich der Finanzstandort Deutschland entwickelt, hängt von vielen Dingen ab. Ich möchte mich auf zwei konzentrieren, die heute schon angesprochen wurden. Das eine ist die Entscheidung Großbritanniens, die Europäische Union zu verlassen – eine bedauerliche Entscheidung, mit der wir aber umgehen müssen. Zum anderen muss der Finanzmarktbereich wie jeder andere Wirtschaftssektor auch – und zwar vielleicht sogar mindestens so sehr wie jeder andere Wirtschaftssektor – die Digitalisierung für sich nutzen; und zwar möglichst zum Wohle dieses Sektors. Zunächst zum Brexit. Wir haben das Ziel, eine Verständigung mit Großbritannien zu erreichen. Die britische Regierung hat spezifische Vorschläge unterbreitet. Darüber wird im Augenblick gesprochen. Es ist aber natürlich wichtig, dass dieses Ziel unter der Maßgabe erreicht wird und dass klar ist, dass ein Nichtmitglied der Europäischen Union nicht die gleichen Rechte und Pflichten haben kann wie ein Mitglied der Europäischen Union. Der Prozess des Zusammenwachsens in der Europäischen Union ist ja manchmal nicht ganz einfach. Aber jetzt merkt man: Der Trennungsprozess ist noch schwieriger. Man merkt, was alles schon reguliert ist, auch was das alltägliche Leben betrifft, und über was wir alles neu nachdenken müssen. Man sagt zum Beispiel immer sehr schnell, dass die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden absolut notwendig ist, auch konstitutiv. Wir arbeiten ja mit den Briten und der Europäischen Union sehr eng zusammen. Aber ein Austritt bedeutet eben auch einen Austritt aus Europol. Und dann muss man erst einmal gucken: Was machen wir mit Blick auf die britischen Daten? Man kann dann wieder alles zusammenfügen, aber man muss völlig neue Regelungen treffen. Und so gibt es davon Tausende und Abertausende. Wenn wir davon ausgehen, dass wir eine enge Partnerschaft haben wollen, aber eben mit einem Drittland, dann kommt es natürlich sehr darauf an, dass die Briten uns sagen, wie sie sich das vorstellen. Der Vorschlag von Chequers ist ja die Grundlage für die derzeitigen Gespräche. Wenn Sie mich früher gefragt hätten, hätte ich vielleicht vermutet, dass eher im Bereich der Finanzdienstleistungen ein Vorschlag gekommen wäre, da ganz eng zusammenzubleiben; das ist jetzt aber ein anderer Vorschlag. Das hat natürlich auch wieder Auswirkungen auf Frankfurt als Finanzplatz. Wir wollen nicht, dass die Verhandlungen scheitern. Wir können es aber auch nicht vollkommen ausschließen. Wir haben noch kein Ergebnis. Ich sage Ihnen aber zu: Wir werden mit aller Kraft und mit aller Kreativität an einem Ergebnis arbeiten. Dennoch müssen wir davon ausgehen, dass Großbritannien ein Drittstaat sein wird, dass also so etwas wie ein umfassendes Freihandelsabkommen die Grundlage unserer zukünftigen Beziehungen sein kann. Vom Ablauf her wird es jetzt so sein, dass wir im Herbst – ich lasse das einmal bewusst offen – nicht nur die Frage „Wie wird die Trennung rechtlich ausgestaltet?“ abschließen müssen, sondern dass wir auch schon die Frage „Wie sehen die zukünftigen Beziehungen aus?“ möglichst klar beantworten müssen, weil sich ja insbesondere Investoren und die Wirtschaft darauf einstellen wollen. Unser Interesse sollte sein, möglichst viel Klarheit in die politischen Grundsätze der zukünftigen Beziehungen zu bekommen, denn wenn diese zu allgemein formuliert sind, dann entsteht für beide Seiten, also sowohl für die Briten als auch für die verbleibenden Mitgliedstaaten der Europäischen Union, weniger Investitionssicherheit, als möglich wäre. Von den Veränderungen erfasst ist natürlich auch der Finanzmarktbereich; und das in einer Situation, in der ein großer Teil der Finanzdienstleistungen in der EU bisher in London erbracht wurde. Einige Akteure – das ist hier schon angesprochen worden – haben sich bereits entschieden, ihr Geschäft zum Beispiel nach Frankfurt zu verlagern. Es gibt diesbezüglich einen innereuropäischen Wettbewerb; das wundert uns nicht. Aber, lieber Volker Bouffier, lieber Herr Weimer, liebe Frankfurter, ich glaube, dass wir dem gewachsen sind. Unsere Methoden innerhalb Europas unterscheiden sich, aber ein bisschen etwas verstehen auch wir von der Materie. Wir werden alles tun, um Hessen dabei zu unterstützen, attraktive Rahmenbedingungen am Finanzstandort Deutschland zu ermöglichen. Dafür brauchen wir bestimmte Grundaussagen, zum Beispiel, Steuererhöhungen auszuschließen und die digitale Infrastruktur weiter zu stärken. Ein sehr interessanter Sachverhalt ist die Frage des Kündigungsschutzes für eine bestimmte Gruppe von Menschen, die nicht mehr, sondern weniger Kündigungsschutz haben will. Auch dem werden wir entsprechen – damit hier keine Missverständnisse aufkommen: in diesem partiellen Bereich. An dieser Regelung wird auch bereits gearbeitet. Für uns gewinnt auch das Projekt der Kapitalmarktunion noch mehr an Bedeutung. Wir wollen die Integration der nationalen Kapitalmärkte voranbringen, weil wir glauben, dass das eine stabilitätsfördernde Wirkung hat. Ich glaube, das wird manchmal unterschätzt. Ich habe die Worte zum Euro-Clearing gehört. Ich habe den Staatssekretär aus dem Bundesfinanzministerium sicherheitshalber noch einmal gefragt. Ich sage einmal: Wir denken konstruktiv mit. Wir müssen uns noch einmal mit den Kosten beschäftigen. Aber insgesamt leuchtet die Aussage ja ein, dass das Clearing für den Euroraum nicht sozusagen ganz woanders stattfinden sollte. Insofern würde man sagen: Die Logik spricht nicht dagegen; und den Rest machen die Fachleute. Politisch erklären kann ich aber jedem, dass das Euro-Clearing in der Eurozone stattfinden sollte. Und dann ist Frankfurt hierfür natürlich der herausragende Ort. Ich will noch etwas zu Großbritannien und der EU sagen. Wenn wir uns anschauen, wie die Welt im Augenblick aussieht, wie Dinge, die uns selbstverständlich erschienen – etwa der Multilateralismus und der Glaube an Win-win-Situationen – in Gefahr oder unter Druck geraten, dann können wir feststellen, dass der Austritt Großbritanniens, eines Landes, das sich immer zu einem freien Welthandel und zu den multilateralen Institutionen bekannt hat, natürlich schon ein Schlag für uns ist. Deshalb ist es im europäischen Interesse, im Interesse der verbleibenden Europäischen Union, mit Großbritannien wirklich gute Beziehungen aufzubauen; ich bin davon zutiefst überzeugt. Wenn ich zum Beispiel auch an die sicherheitspolitische Zusammenarbeit denke, dann stelle ich fest, dass Großbritannien ja ähnliche Herausforderungen zu bewältigen hat. Vieles von dem, was heute die Welt unsicher macht, findet vor der europäischen Haustür statt. Da kann man natürlich sagen: Wer eine Insel ist, ist in einer anderen strategischen Position. Aber angesichts dessen, was sich etwa in Syrien abspielt, was sich im Irak abspielt, was in Teilen Afrikas vor sich geht, sehen wir uns ja in unseren Herausforderungen und unserer Verantwortung geeint. Theresa May hat es immer wieder gesagt: Großbritannien tritt zwar aus der Europäischen Union aus, bleibt aber Teil Europas. Es ist natürlich vollkommen klar: Die europäische Verantwortung in umfassendem Sinne für das, was auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten vor unserer Haustür passiert, wird sicherlich steigen. Denn wir können nicht einfach davon ausgehen, dass andere uns hierbei zur Seite stehen. Diese Diskussion haben wir ja auch in der NATO oder wo auch immer. Wenn man sich die Herausforderungen im pazifischen Raum und das Erstarken Chinas ansieht, dann sagt man nichts Falsches, wenn man sagt: Amerika wird sich stark auf den pazifischen Raum konzentrieren. Das hat im Übrigen schon unter Präsident Obama begonnen; das ist keine neue Orientierung. Auch vor diesem Hintergrund müssen wir also in Europa unsere Kräfte bündeln. Und mir liegt unglaublich viel daran, dass wir das atmosphärisch und in der Sache gut mit Großbritannien hinbekommen, weil wir einander brauchen. Natürlich wird uns im Europäischen Rat auch der „native speaker“ fehlen, auch wenn wir noch die Iren haben, die wir nicht vergessen wollen. Bei mancher Formulierungsfeinheit ist jedenfalls die Frage an die Muttersprachler immer sehr wichtig; und da müssen wir in Zukunft dann eben in der Downing Street anrufen. – Na gut. Als zweites Thema habe ich die Digitalisierung genannt. Unser künftiger Wohlstand hat sehr viel mit der Frage zu tun, wie Deutschland hier aufgestellt ist. Da erleben wir etwas, das uns, den Deutschen und den Europäern, lange so nicht bekannt war, nämlich dass ziemlich viele Produkte von anderswo herkommen und nicht aus der Europäischen Union. Früher hatte man wenigstens noch Handys von Nokia, heute kommen sie entweder aus dem asiatischen oder aus dem amerikanischen Raum. Das heißt, der digitale Konsumgüterbereich ist schon sehr stark aus Europa abgewandert. Die Notwendigkeit besteht für uns im Augenblick darin, wenigstens in den Business-to-business-Beziehungen wieder Land zu gewinnen; und zwar mit der Industrie 4.0 und mit den Möglichkeiten, Plattformen zu errichten. Wir haben alle Hände voll zu tun – um es vorsichtig zu sagen –, denn wir erleben, dass es Regionen der Welt gibt – gerade auch in Asien –, in denen die Neugier, sich mit neuen Technologien zu befassen, deutlich stärker ausgeprägt ist als bei uns in unserer schon relativ gesättigten und relativ guten Verwaltungssituation. Deshalb stehen wir vor unglaublichen Herausforderungen. Das, was wir bei der Gesundheitskarte erlebt haben, nämlich dass in zehn Jahren eigentlich kein deutlicher Fortschritt zu erzielen war, dürfen wir bei den Dingen, die wir uns jetzt vorgenommen haben, nicht wieder erleben. Für uns als Staat ist es besonders wichtig, ein Bürgerportal zu schaffen. Wir müssen natürlich auch die digitale Infrastruktur ausbauen. Für Sie hier vor Ort ist auch wichtig, dass die Dinge im FinTech-Bereich schnell vorangehen. Es gibt einen FinTechRat, der das Bundesfinanzministerium berät. Wir wollen die Chancen der Digitalisierung jetzt in der neuen Bundesregierung sehr viel umfassender nutzen. Wir haben dazu auch strukturelle Veränderungen vorgenommen. Die Künstliche Intelligenz gewinnt an Bedeutung. Aber da ist es wieder ein bisschen so, wie es oft in Deutschland ist: Wir haben seit Jahrzehnten die besten Experten, aber dann gibt es bei solchen Technologien wie der Künstlichen Intelligenz einen Moment, in dem verschiedene Dinge zusammenkommen – bessere Rechenkapazitäten und damit ein besseres Management von großen Datenmengen und ein qualitativer Schub, so dass plötzlich ganz neue Produkte hergestellt werden können. Bei dieser Entwicklung, die sich durch eine Exponentialkurve beschreiben lässt, besteht die Gefahr, dass wir den exponentiellen Anstieg nicht ganz so schnell mitbekommen, wie andere das tun. Aber wir müssen dranbleiben. Das ist dann so ähnlich wie bei den Akteuren der Finanzbranche. Die Leute, die Künstliche Intelligenz entwickeln, die Algorithmen entwickeln, sind heute hoch umworbene Leute überall auf der Welt. Zu starre Regelungen – von der Entlohnung bis sonst wohin – können da schnell ein Nachteil sein. Deshalb hatte ich neulich ein großes Hearing mit Akteuren der Künstlichen Intelligenz in Deutschland, die im Bereich der Anwendung oder im Bereich der Grundlagenforschung tätig sind. Wir haben kürzlich einen Digitalrat gegründet. Und wir werden eine Strategie für die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz entwickeln. Ich habe, lieber Volker, kürzlich einen Brief von dir bekommen, in dem du mir das mitgeteilt hast, was du heute Abend auch dem Auditorium mitgeteilt hast. Ich empfinde das als Bereicherung für uns, weil das hier ein gutes Testfeld sein wird. Für die Schaffung intelligenter Finanzprodukte und ein gutes Kundenmanagement gibt es bei den Algorithmen ja eigentlich gar keine natürliche Begrenzung. Das heißt: Holt die Fachleute her, intensiviert das Thema in euren Universitäten, schafft Cluster – und wir werden euch unterstützen und damit hoffentlich zum Ruhme Frankfurts, Deutschlands und Europas beitragen. Wir müssen aber auch schauen – auch diese Diskussion wünsche ich mir am Finanzplatz Frankfurt in breiter Form –, wie wir sozusagen eine vernünftige Balance von Datenschutz und Datenfreiheit bekommen. Ich glaube, dass wir mit unserem Denken, das ja sehr aus der Sozialen Marktwirtschaft heraus entwickelt ist, gute Voraussetzungen haben, sowohl die Wertschöpfung mithilfe von Daten voranzutreiben als auch dafür Sorge zu tragen, dass es kein beliebiges Eigentum bzw. keine beliebige Nutzung von Daten geben kann, sondern dass es so etwas wie eine Souveränität gibt. Da ist noch viel an intelligenten Ansätzen möglich. Das wird auch ein Lernprozess sein. Vielen von Ihnen geht jetzt wahrscheinlich durch den Kopf: Was erzählt die Frau da; hat sie uns gerade die Datenschutzgrundverordnung nahegebracht? Ich wundere mich aber auch, wenn ich als CDU-Vorsitzende kein CDU-Nichtmitglied mehr einladen darf, bevor es mir die Erlaubnis dazu gegeben hat. Ich weiß aber gar nicht, wie ich es anschreiben soll und wie es mir die Erlaubnis geben soll, wenn ich es gar nicht kennen darf. Solche komplizierten Dinge begegnen Ihnen allen wahrscheinlich auch. Trotzdem ist der Grundgedanke, ein gemeinsames „level playing field“ in der Europäischen Union zu haben, von der deutschen Wirtschaft gefordert worden; und das ist, glaube ich, auch richtig. So werden wir aber immer wieder lernen müssen. Und die Frage, ob wir erfolgreich in der Welt bleiben werden, wird sehr von der Geschwindigkeit des Lernens abhängen. Deshalb sollten wir uns auch darauf einstellen, dass nicht jedes Gesetz für die Ewigkeit ist, sondern dass man immer wieder neu abwägen und ausbalancieren muss. Das gilt für die Finanzmarktregulierung ebenso wie für digitale Dinge – und dazu sind wir dann auch im Rahmen der Rechtsetzung bereit. Das Thema IT-Sicherheit wird uns noch vor große Herausforderungen stellen. Daran arbeiten wir auch; wir entwickeln Cybersicherheitsstrategien. Wir haben zwei Agenturen für disruptive Innovationen sowohl für den zivilen Bereich als auch für den Sicherheitsbereich gegründet. Es sind aber auch große Herausforderungen für den Bundesrechnungshof, wenn man ihm sagt: Sie können gleich einmal davon ausgehen, dass 95 Prozent des Geldes versenkt werden, aber aus den übrigen fünf Prozent kann etwas ganz Tolles werden; da müssen Sie vielleicht fünf oder zehn Jahre lang warten, dann wird sich das erst erweisen. Aber wenn wir da nicht herangehen, dann werden wir eben nicht erfolgreich sein; so ist das. Meine Damen und Herren, Frankfurt hat alle Möglichkeiten, sich als ein moderner, innovativer, schneller Standort zu präsentieren. Ich traue das Frankfurt zu, denn die Standortvorteile sind schon heute unübersehbar: eine der führenden Börsen, wichtige Aufsichtsbehörden wie die BaFin – also die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht –, die Deutsche Bundesbank, die Europäische Zentralbank, die Europäische Versicherungsaufsicht EIOPA – wir hätten gern noch etwas gehabt, aber egal; darüber sehen wir jetzt hinweg –, wissenschaftliche Einrichtungen und nicht zuletzt eine agile Finanz-Community, die sich sehr für die Fortentwicklung des Finanzplatzes einsetzt. Da ist in den letzten Jahren vieles passiert. Was sozusagen das intellektuelle Selbstbewusstsein der Finanzakteure und der Professorenschaft und das alles, was darum herum gewachsen ist, betrifft, scheint mir viel in Bewegung geraten zu sein. Deshalb kann ich nur sagen: Machen Sie weiter so – wir unterstützen, wo immer wir können. Herzlichen Dank.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Ausstellungseröffnung „Ein weites Feld. Der Flughafen Tempelhof und seine Geschichte“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-ausstellungseroeffnung-ein-weites-feld-der-flughafen-tempelhof-und-seine-geschichte–1529592
Tue, 04 Sep 2018 12:00:26 +0200
Im Wortlaut
Berlin-Tempelhof
Kulturstaatsministerin
Wer einmal mit wachem Blick die weitläufigen Hallen und Gänge eines Flughafens durchstreift hat – nicht das nächste Reiseziel oder die bevorstehende Ankunft anderer Reisender vor Augen, sondern allein aus Interesse an diesem pulsierenden Ort -, wer sich für die Geschichte (und die Geschichten) dieser in alle Welt hinaus offenen Kathedralen globaler Verbindungen interessiert, wird möglicherweise ähnliche Eindrücke gesammelt haben wie der Schweizer Philosoph Alain de Botton vor einigen Jahren. Als „writer in residence“ verbrachte er 2009 eine Woche auf dem Flughafen Heathrow an einem Schreibtisch mitten in der Abflughalle. Aus seinen Beobachtungen entstand das lesenswerte Büchlein „Airport“: eine Collage, die diesen Ort als Miniaturbild menschlicher Existenz zeichnet – mit den Leitmotiven des Flughafenalltags, die auch Leitmotive des Lebens sind: Abschied und Ankunft, Aufbruch und Heimkehr, Warten und Transit. Obwohl er längst stillgelegt und alle Geschäftigkeit Vergangenheit ist, kann man auch den Flughafen Tempelhof als eine Art Miniaturbild für etwas viel Größeres sehen – als Kristallisationspunkt deutscher, europäischer, ja globaler Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts mit all ihren Brüchen, Umbrüchen und Aufbrüchen. Die Ausstellung „Ein weites Feld“, die wir heute eröffnen, zeigt die unterschiedlichen Gesichter dieses Monumentalbaus im Spiegel ihrer Zeit. Sie ist allein schon deshalb sehenswert, weil die Bandbreite der Wandlungen, die dieser Ort über die Jahrzehnte erfahren hat, größer kaum sein könnte: Die Nationalsozialisten nutzten ihn als Ort politischer Machtdemonstration und Propaganda. Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus 17 Nationen, die während des Zweiten Weltkriegs auf dem Flughafengelände Rüstungsgüter produzieren mussten, erlebten ihn als Ort unermesslicher Qualen. Für viele Berlinerinnen und Berliner, die sich noch an die Nachkriegszeit erinnern, hat Tempelhof als zentraler Flughafen der Luftbrücke und schließlich als „Tor zur freien Welt“ eine hohe emotionale Bedeutung. Und weil mit der Luftbrücke die Freiheit West-Berlins verteidigt wurde, die sich später als historische Voraussetzung der Wiedervereinigung Deutschlands und der Beseitigung des „Eisernen Vorhangs“ in Europa erwies, gilt Tempelhof bis heute als Symbol für den Sieg der Freiheit über Diktatur und Unterdrückung. Die Ausstellung zeigt die Vielschichtigkeit dieses Erinnerungsortes mit beeindruckender historischer Tiefenschärfe. Das ist das Verdienst der Stiftung Topografie des Terrors: Ich danke Ihnen, lieber Herr Prof. Nachama, liebe Frau Dr. Burkhardt, und Ihrem Team für diesen wichtigen Beitrag zur (bisher nur sehr unzureichenden) Aufarbeitung insbesondere der NS-Zwangsarbeit, aber auch zur öffentlichen Auseinandersetzung mit der wechselvollen Geschichte Deutschlands und Europas im Europäischen Kulturerbejahr. Dieses aktuelle Europäische Themenjahr soll 400 Jahre nach Beginn des 30jährigen Krieges und 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges insbesondere für die jüngere Generation erfahrbar machen, worauf Europa im wahrsten Sinne gebaut ist. Es lädt dazu ein, der Seele Europas in den allgegenwärtigen Zeugnissen vergangener Epochen nachzuspüren und führt uns vor Augen, wie hart errungen, mit wie viel Krieg, Leid und Gewalt bezahlt Demokratie, Toleranz und Freiheit in Europa doch sind. Es sind nicht zuletzt Erinnerungsorte wie der Flughafen Tempelhof, es sind die in der Ausstellung dokumentierten Spuren fruchtbaren Miteinanders und leidvollen Gegeneinanders, die eindringlich vermitteln, wie sehr die Bürgerinnen und Bürger Europas einander über nationale Grenzen hinweg verbunden sind. Und gerade angesichts des Erstarkens populistischer, europafeindlicher Strömungen auch hierzulande braucht es die eindringlichen Botschaften authentischer Erinnerungsorte, um Europa vor dem Rückfall in eine von Abschottung und Unfreiheit geprägte Vergangenheit zu bewahren. Deshalb freue ich mich, dass der Bund im Rahmen des Kulturerbejahres bisher mehr als 60 bundesbedeutsame Projekte mit Mitteln aus meinem Kulturetat ermöglichen konnte, und dass dazu auch die Ausstellung „Ein weites Feld“ samt Begleitprogramm und einer mehrsprachigen App gehört. Sie erinnert uns im Übrigen nicht zuletzt auch daran, was Deutschland den Westalliierten und insbesondere den USA zu verdanken hat – man denke nur an die „Rosinenbomber“, die Westberlin über ein Jahr lang versorgten: mit 2,1 Millionen Tonnen Gütern jeder erdenklichen Art, vor allem natürlich mit Lebensmitteln und Kohle, verteilt auf rund 280.000 Flüge! Als überzeugte Transatlantikerin hoffe und glaube ich, dass das Wertebündnis für Freiheit und Demokratie, das in dieser Zeit zwischen Deutschen und Amerikanern geschmiedet wurde, auch eine Präsidentschaft unter dem Motto „America first“ überdauert … . Ausdruck der Wertschätzung, die der Flughafen Tempelhof als Schlüsselort europäischer Freiheitsgeschichte und transatlantischer Freundschaft verdient, ist auch die geplante Neuansiedlung des vom Bund finanzierten Alliierten-Museums in Hangar 7 des Flughafengebäudes. Von seinem neuen Standort aus soll es internationale Strahlkraft entwickeln und als Lernort noch präsenter in unserer Erinnerungskultur werden. Über die Ausgestaltung der Mietverträge verhandeln wir gerade mit dem Land Berlin, und ich will dazu heute in Anspielung auf den Titel der Ausstellung mit Theodor Fontane nur eines sagen: „Es ist ein weites Feld…“ Dass es sich lohnt, dieses – räumlich und zeitlich – „weite Feld“ gemeinsam zu vermessen und nicht nur als Naherholungsraum, sondern auch als Erinnerungsort zugänglich zu machen, wird die Ausstellung im Rahmen des Europäischen Kulturerbejahres sicherlich einmal mehr unterstreichen. Ich wünsche ihr jedenfalls zahlreiche interessierte Besucherinnen und Besucher aus dem In- und Ausland, die aus dem baukulturellen Vermächtnis europäischer Geschichte nicht nur theoretische Lehren ziehen, sondern sich davon auch zum Engagement für ein in Frieden und Freiheit geeintes, demokratisches Europas anregen lassen.
Zur Ausstellungseröffnung im Rahmen des Europäischen Kulturerbejahres betonte Monika Grütters: „Obwohl er längst stillgelegt und alle Geschäftigkeit Vergangenheit ist, kann man den Flughafen Tempelhof als eine Art Miniaturbild für etwas viel Größeres sehen – als Kristallisationspunkt deutscher, europäischer, ja globaler Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts mit all ihren Brüchen, Umbrüchen und Aufbrüchen.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Wirtschafts-Round-Table am 30. August 2018 in Accra/ Ghana
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-wirtschafts-round-table-am-30-august-2018-in-accra-ghana-1528000
Thu, 30 Aug 2018 16:02:00 +0200
Accra
Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Sehr geehrter Herr Vizepräsident, meine Damen und Herren, ich freue mich, dass wir heute zu diesem Round Table zusammengekommen sind. Ich sage das auch im Namen der deutschen Delegation und der deutschen Wirtschaftsvertreter. Herr Vizepräsident, Sie hatten ja schon ein Gespräch mit unserer Wirtschaftsdelegation, aber jetzt sind wir hier in einem noch etwas umfangreicheren Kreis zusammen. Ich will deutlich machen: Ghana ist einer unserer wichtigsten Handelspartner in Subsahara-Afrika. Aber wir wissen, dass es noch sehr viel Entwicklungspotenzial gibt. Die deutsche Wirtschaft hat ein großes Interesse sowohl am Handel als auch an Investitionen hier in Ghana. Wir sehen das auch an der großen Zahl an industriellen Vertretern, die heute hier sind. Aber Ihr Präsident – ich sehe das genauso – sagt natürlich: Worte alleine zählen nicht, es müssen auch Taten folgen. Deshalb zählt im Grunde nur das, was auch realisiert wird. Das wissen auch die Menschen in Ghana. Wenn wir uns anschauen, wie jung die Bevölkerung ist, dann wissen wir, dass es eben keine Zeit zum Warten gibt. Deshalb ist es wichtig, dass wir hier einen offenen Gedankenaustausch innerhalb der uns zur Verfügung stehenden Zeit führen. Wir haben uns im vergangenen Jahr im Rahmen unserer G20-Präsidentschaft als eine Initiative das Thema „Compact with Africa“ auf die Fahnen geschrieben. Uns ist das „with“ sehr wichtig, also dass es nicht „für“ irgendjemanden ist, sondern „mit“ jemandem. Ich glaube, das ist der Geist, in dem wir zusammenarbeiten müssen. Wir bedanken uns bei den internationalen Finanzinstitutionen – sowohl dem IWF als auch der Weltbank und der Afrikanischen Entwicklungsbank – dafür, dass sie sich dieser Idee mit verschrieben haben. Ich bedanke mich auch bei allen, die in den Partnerländern und in Ghana mitmachen. Ich bedanke mich bei den deutschen Botschaften; denn wir müssen das ja alles zusammenhalten. Auch wenn Deutschland die G20-Präsidentschaft jetzt nicht mehr innehat, wollen wir dieses Projekt nicht aus den Augen verlieren. Wir versuchen – deshalb sind der Minister für Entwicklungszusammenarbeit und der Staatssekretär aus dem Wirtschaftsministerium, Herr Nussbaum, heute auch hier –, eine intelligente Verknüpfung von Entwicklungszusammenarbeit und Wirtschaft zu haben. Denn es bedarf einer Anfangsfinanzierung, aber dann muss es auch langsam in ein sich selbst tragendes Finanzierungssystem übergehen und dann natürlich auch Gewinne erbringen; sonst gibt es keine wirtschaftliche Tätigkeit. Wir möchten uns bei Ghana dafür bedanken, Herr Vizepräsident, dass Sie ein so engagiertes Mitglied dieser Initiative sind. Letztlich geht es ja um Verbesserungen des internen Rahmens, um Investitionen zu erleichtern. Es heißt: „The proof of the pudding is in the eating.“ Das heißt, der Beweis dessen, dass es geklappt hat, ist natürlich, dass es dann auch zu Investitionen kommt. Wenn es nicht zu Investitionen kommt, haben wir etwas falsch gemacht. Wir brauchen den Privatsektor. Deshalb möchte ich mich bei den Unternehmen bedanken, die heute da sind – bei den deutschen wie auch bei den ghanaischen. Viele Dinge gehen nur in der Kooperation. Es wird Ende Oktober, am 30. Oktober, ein weiteres Treffen mit den Ländern des „Compact with Africa“ geben. Ich habe mit dem Präsidenten und auch mit dem Vizepräsidenten besprochen, dass wir dann wieder einen deutlichen Schritt weiter sein wollen, damit wir dann auch sagen können: Es lohnt sich, sich hier zu engagieren. Danke schön, Herr Vizepräsident. Danke schön Ihnen allen. Ich freue mich jetzt auf die Diskussion, aber vorher möchte ich natürlich dem Vizepräsidenten das Wort geben.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der c/o pop 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-c-o-pop-2018-1526880
Wed, 29 Aug 2018 17:30:00 +0200
Im Wortlaut
Köln
Kulturstaatsministerin
Ziemlich genau 30 Jahre ist es her: Im Juni 1988 gab Michael Jackson im damals noch geteilten Berlin ein bis heute legendäres Konzert direkt an der Mauer Sein Auftritt versetzte Fans in West und Ost in Begeisterung – und die Stasi in Unruhe: Schon Wochen vor dem Konzert wurde eine Akte angelegt; darin dokumentiert ist die Sorge um die sozialistische Ordnung, etwa in der hellsichtigen Einschätzung, dass (ich zitiere) „Jugendliche unter allen Umständen versuchen werden, dieses Konzert vom Bereich Brandenburger Tor aus zu erleben. Genannte Jugendliche kalkulieren dabei eine Konfrontation mit der Volkspolizei ein.“ Ja, die mitreißende Begeisterung für Pop-Musik macht selbst vor einer Mauer und der Autorität eines Volkspolizisten nicht Halt. Das wusste auch die Stasi. Mit emotionaler Wucht, Enthusiasmus und Experimentierfreude geht Pop-Musik nicht nur unter die Haut, sondern auch über Verbote und Grenzen hinweg. Was für ein schöner Zufall also, dass die 15. Ausgabe der c/o pop ausgerechnet am heutigen 60. Geburtstag des „King of Pop“ beginnt! Auch wenn die Latte damit ziemlich hoch hängt, und auch wenn Sie, liebe Künstlerinnen und Künstler, in den Charts (noch) nicht den Ton angeben – zumindest in einer Hinsicht brauchen Sie den Vergleich ganz gewiss nicht zu scheuen: Denn auch Sie setzen sich vom musikalischen Mainstream ab, lassen aufhorchen mit neuen Sounds und Beats, bringen die Vielfalt der Pop-Musik zum Klingen – und auch Sie haben damit das Zeug, die Pop-Kultur aufzumischen! Die c/o pop als „Entdeckerfestival“ bietet dafür eine weithin sichtbare Bühne – und eine bewährte Startrampe für Musikkarrieren: Man muss sich nur die Liste der Bands anschauen, die hier in Köln erstmals einem breiteren Publikum bekannt geworden sind – national wie international. Ich denke zum Beispiel an Jan Delay, der hier 2006 als Solist auftrat. Nicht zuletzt mit solchen Erfolgsgeschichten hat sich die c/o pop seit ihrer Gründung 2004 als Trendschmiede und Türöffnerin für Talente einen Namen gemacht – und Kölns Ruf als Musikstadt alle Ehre. Und um noch ein Wort mit „T“ zu bemühen: Man bezeichnet die Macher der c/o pop gerne auch als „Trüffelschweine“ der Popmusik, und das ist als Ausdruck hoher Wertschätzung zu verstehen. Ich danke Ihnen, lieber Herr Oberhaus und lieber Herr Christoph, und auch Ihrem Team herzlich für Ihr Engagement, mit dem Sie immer wieder Gespür für Trends und Begabungen beweisen. Das verdient Anerkennung und Unterstützung: Deshalb hat der Bund im Zuge der deutlichen Erhöhung seiner Pop-, Rock- und Jazz-Förderung 2018 auch die Fördermittel für die c/o pop aufgestockt, und ich freue mich, Ihnen mitzuteilen, dass wir dieses Plus auch im Regierungsentwurf für den Haushalt 2019 vorgesehen haben. Schön, dass sich das – maßgeblich aus der Bundesförderung 2018 realisierte – music hub germany, das den popmusikalischen Nachwuchs mit Multiplikatoren der Musikbranche zusammenbringt, als eigenständiger Programmstrang zur gezielten Förderung von Künstlerinnen und Künstlern aus Deutschland etablieren konnte! Denn bei aller Wertschätzung für die Inspiration durch Weltoffenheit und internationalen Austausch, wie sie auf der c/o pop großgeschrieben wird: Natürlich will die Bundesregierung mit der massiven Aufstockung der Musikförderung auch und vor allem vielversprechenden Talenten aus Deutschland Gehör im globalen Musikgeschäft verschaffen. Vor allem aber wollen wir Künstlerinnen und Künstler ermutigen, sich vom Mainstream abzuheben und innovative, mutige und experimentelle Projekte zu realisieren. Schließlich wollen wir nicht nur hören, dass die Kassen klingeln – und was die Kassen klingeln lässt -, sondern vor allem auch bisher Ungehörtes, ja unerhörte musikalische Wagnisse. Wenn dann irgendwann künstlerischer und wirtschaftlicher Erfolg zusammenkommen (man denke nur an den „King of Pop“ …) – umso besser! Das Motto kann jedenfalls nicht heißen: „Wirtschaftlicher Erfolg ist alles“. So fördert das Aus für den Musikpreis ECHO, der das Klingeln der Kassen zum alleinigen Maßstab künstlerischer Preiswürdigkeit gemacht hat, hoffentlich auch in der Branche selbst die Auseinandersetzung mit den eigenen Erfolgskriterien. Für mich als Kulturpolitikerin gilt, dass die Freiheit der Kunst, die zu schützen ich für die vornehmste Pflicht demokratischer Kulturpolitik halte, dort ihre Grenze hat, wo Holocaust-Opfer verhöhnt werden. Ich hoffe, dass die Musikbranche die Diskussion um den ECHO zum Anlass nimmt, sich einer offensichtlich überfälligen Debatte über ihre gesellschaftliche Mitverantwortung und ihre Haltung gegenüber Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Rassismus und Gewaltverherrlichung zu stellen. Und wenn ich den „Machern“ der c/o pop, die seit 15 Jahren erfolgreich die künstlerische Vielfalt in der Pop-Kultur zum Klingen bringen, darüber hinaus zu diesem schönen Jubiläum noch einen Glück- und Erfolgswunsch für die Zukunft mit auf den Weg geben darf, dann wäre es der Wunsch, dass diese künstlerische Vielfalt mit mehr weiblicher Beteiligung als bisher weiter wächst und gedeiht. Die aus meinem Etat geförderte Studie „Frauen in Kultur und Medien“ des Deutschen Kulturrats hat vor zwei Jahren offenbart, dass die Sparte Musik, was faire Chancen für Frauen angeht, im Vergleich zu anderen Kunstsparten besonderen Nachholbedarf aufweist. Ich bin überzeugt: In der Frauenförderung ist Musik drin – auch dafür lohnt es sich, kreativ zu sein! Kreativ sein – das hat Andy Warhol, dessen Ausstellung hier im Museum für Angewandte Kunst übermorgen eröffnet wird, einmal so definiert: „Kreativität ist der Spaß, den man als Arbeit verkaufen kann.“ Genau das spürt – und hört! – man bei der c/o pop, und in diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Musikerinnen und Musiker, inspirierende Festivaltage, die Ihnen nicht nur viel Beifall und Anerkennung, sondern auch jede Menge Spaß bescheren!
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Wiedereröffnung des Ostpreußischen Landesmuseums in Lüneburg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-wiedereroeffnung-des-ostpreussischen-landesmuseums-in-lueneburg-1526418
Sat, 25 Aug 2018 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Lüneburg
Kulturstaatsministerin
„Komm morgen wieder“ lautet der Name eines im Baltikum sehr beliebten, deftigen Gerichts: Pfannkuchen gefüllt mit Fleisch, Zwiebeln und Schmand. Woher der ungewöhnliche Name rührt, ist ungewiss; man weiß aber, dass das Gericht eine Leibspeise Heinz Erhardts war, der aus einer einflussreichen deutschbaltischen Familie in Riga stammte. Der für seinen wortwitzigen und charmanten Humor berühmte Unterhaltungskünstler widmete seiner Heimatstadt sogar eine Klavierkomposition – den Foxtrott „Riga“. Wer sich auf dem Tanzparkett nur unsicher bewegt, dem sei versichert: Bekanntschaft mit dem kulturellen Erbe der Deutschbalten lässt sich auch anderweitig machen, nämlich hier im Ostpreußischen Landesmuseum Lüneburg. Ich freue mich sehr, dass wir heute dessen Wiedereröffnung mit einer umfassenden Schau auf Kultur und Geschichte des wunderschönen Ostpreußens feiern können und dass das Museum in der neu konzipierten Dauerausstellung nun auch die Geschichte der Deutschbalten erzählt. Das eröffnet weitere Perspektiven auf unsere (gesamt-)deutsche Kultur und Identität, in denen das kulturelle Erbe der Deutschen im Östlichen Europa weiterlebt, und die es erlauben, ein vielfältiges Bild vom gewachsenen Kulturraum Europa zu zeichnen. Heute gehört das historische Ostpreußen zu Litauen, Polen und Russland; die Deutschbalten lebten auf den Gebieten der heutigen Republiken Estland und Lettland. Zu den Kultureinrichtungen dieser Länder pflegt das Ostpreußische Landesmuseum einen intensiven Austausch, realisiert mit ihnen gemeinsame Projekte und Veranstaltungen und schärft auf diese Weise – international ausgerichtet und europäisch vernetzt – sein Profil als europäischer Kulturbotschafter. Davon durfte ich mich beim Rundgang durch die beeindruckende neue Dauerausstellung vorhin überzeugen, und es freut mich sehr, dass ich das Museum bei der Neukonzeption mit Mitteln aus dem Etat meines Hauses unterstützen konnte. Für die überregionale Bedeutung des Museums spricht nicht zuletzt, dass zur heutigen Wiedereröffnung gleich drei Botschafter angereist sind: sehr geehrter Herr Dr. Laanemäe, sehr geehrte Frau Skujina, sehr geehrter Herr Semaska, schön, dass Sie hier sind! Ebenso herzlich begrüße ich alle Ostpreußen und Deutsch-Balten, die mit uns diese Wiedereröffnung feiern. Dass das Erbe der Deutschen im östlichen Europa heute noch in vielen Bereichen unserer Gesellschaft so lebendig ist, das liegt vor allem auch an der ebenso vielfältigen wie engagierten Kultur- und Brauchtumspflege der Landsmannschaften, Ritterschaften und anderer Verbände, die Hand in Hand mit der Erinnerungsarbeit in Museen wie dem Ostpreußischen Landesmuseum geht. Vor allem aber danke ich Ihnen, lieber Herr Dr. Mähnert, und Ihrem Team herzlich für Ihre großartige Arbeit! Damit füllen Sie den Paragraphen 96 des Bundesvertriebenengesetzes mit Leben: Sein Auftrag, die Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln, ist bei Ihnen ganz offensichtlich in sehr guten Händen. Auch die Bundesregierung nimmt diesen Auftrag sehr ernst. Wir konnten die dafür vorgesehenen Mittel immer wieder deutlich erhöhen. Durch die 2016 verabschiedete Neukonzeption der Kulturförderung nach Paragraph 96 Bundesvertriebenengesetz tragen wir unter anderem dazu bei, europäische Kooperationen zu stärken und insbesondere jüngeren Menschen das kulturelle Erbe zu vermitteln. Denn gerade junge Generationen können durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte lernen, wie wertvoll die Pflege unserer vielfältigen, im Austausch mit anderen Kulturen gewachsenen europäischen Kultur für den Zusammenhalt Europas ist. 2024 feiern wir den 300. Geburtstag des Königsberger Philosophen Immanuel Kant, dessen Schrift „Zum ewigen Frieden“ schon zu einer Zeit für eine friedliche Koexistenz der Staaten warb, als der Zusammenhalt Europas noch ferne Utopie war. Der Bund unterstützt das Ostpreußische Landesmuseum mit 5,6 Millionen Euro bei seinem nächsten schönen Vorhaben, sich in einem Erweiterungsbau des Museums der Geschichte der ostpreußischen Provinzhauptstadt Königsberg und ihres bedeutendsten Sohnes zu widmen. Das wäre ein Grund mehr, heute – mit Heinz Erhards Leibspeise – zu sagen: „Komm morgen wieder.“ Ich bin überzeugt: Gerade die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kulturerbe in Mittel-, Ost- und Nordosteuropa und die Besinnung auf unsere gemeinsame Geschichte können dabei helfen, die Krisen und Konflikte besser zu verstehen, in deren Angesicht sich Europa immer wieder neu bewähren muss. Es geht um Themen, die Deutschland und Europa heute mehr denn je beschäftigen: Um Fragen des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen und Religionen, um Fragen der wechselseitigen Wahrnehmung und Anerkennung. Das verleiht der Dauerausstellung, die ostpreußische und deutschbaltische Geschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart erzählt, zeitlose Aktualität. Museen machen Erinnerungen sichtbar und erfahrbar. Sie sind gemeinsame Bezugspunkte einer Gesellschaft, die Verständigung – Grundlage einer jeden Demokratie – möglich machen. Heinz Erhardt schrieb einmal: „Frieden auf Erden – hoffentlich wird es keinen Zaun mehr geben, von dem man einen Streit brechen kann.“ In diesem Sinne wünsche ich mir, dass unsere Haltung europäisch bleibt – offen, tolerant und mutig in dem Bemühen, Zäune und Grenzen zu überwinden. Das Ostpreußische Landesmuseum trägt dazu bei – unterstützen Sie es, ja „kommen Sie (morgen) wieder!“
Zur Wiedereröffnung des Ostpreußischen Landesmuseums in Lüneburg zeigte sich Kulturstaatsministerin Grütters erfreut über die neu konzipierte „umfassenden Schau auf Kultur und Geschichte des wunderschönen Ostpreußens“. Erweitert um die Geschichte der Balten eröffne das Haus weitere Perspektiven auf unsere (gesamt-)deutsche Kultur und Identität, in denen das kulturelle Erbe der Deutschen im Östlichen Europa weiterlebt. Das Museum zeichne ein vielfältiges Bild Europas als gewachsenen Kulturraum.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Besuch des Unternehmens TRUMPF Sachsen GmbH am 16. August 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-besuch-des-unternehmens-trumpf-sachsen-gmbh-am-16-august-2018-1514614
Thu, 16 Aug 2018 15:12:00 +0200
Neukirch/Lausitz
Sehr geehrte Frau Leibinger-Kammüller, Herr Kammüller, Herr Kluth, Herr Thonig, lieber Herr Ministerpräsident, lieber Michael Kretschmer, aber vor allem Sie, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und natürlich auch Sie, Herr Bürgermeister, denn das Ganze findet ja hier in Neukirch statt, ich möchte mich für die Einladung bedanken. Mir war es wichtig, dass wir, wenn ich nach Sachsen komme – ich habe mit Michael Kretschmer darüber gesprochen –, dann auch Kontakt zu den Menschen suchen, die hier in diesem wunderbaren Betrieb arbeiten. Ich kenne die Firma TRUMPF seit längerem in dem Gebiet, in dem sie ihren Stammsitz hat. Aber ich habe heute gelernt, dass die Wiege des Maschinenbaus vielleicht doch in Sachsen liegt. Das möchte ich mir in Stuttgart oder in der Nähe von Stuttgart noch einmal anhören. Jedenfalls hat Frau Leibinger-Kammüller TRUMPF einmal als ein Gesamtkunstwerk bezeichnet. Und der Standort Neukirch ist ein wichtiger Teil dieses Gesamtkunstwerks. Das ist vor allen Dingen auch ein Gesamtkunstwerk mit Zukunft. Ich habe mir eben sagen lassen, dass es 31 Auszubildende gibt. Einer von ihnen hat gesagt, Mathematik und Physik waren beim Eignungstest gar nicht das Allerwichtigste; es ging vor allen Dingen auch um Teamfähigkeit, um die Möglichkeit, sich einzuordnen und zuzuhören – also Dinge, die ein gutes Team ausmachen und im Leben insgesamt natürlich auch wichtig sind. Die Geschichte der Firma TRUMPF ist, wie man vielleicht sagen kann, eine sehr typische deutsche Geschichte, die auch darstellt, wo unsere Stärken liegen. Im Augenblick diskutieren wir in der Politik sehr viel darüber, was nicht so richtig läuft, woran gedacht werden muss und wie wir die Weichen für die Zukunft richtig stellen. Wir haben als Bundesregierung eine Kommission für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse eingesetzt. Wir spüren, dass die Probleme natürlich völlig unterschiedlich sind, je nachdem, ob man in Leipzig oder in einer eher ländlichen Region lebt, ob man in München und Stuttgart oder, wie ich, in Vorpommern lebt. Die Frage der Daseinsvorsorge, die Frage des öffentlichen Personennahverkehrs oder die Frage der medizinischen Versorgung und der Schulen stellt sich in den ländlich geprägten Regionen ganz anders als in den Ballungsgebieten. Das gilt auch für die Frage nach den Mieten – danach, ob sich eine Familie überhaupt eine Wohnung leisten kann. So muss Politik eben vielfältige Antworten geben; und das versuchen wir zusammen mit den Bundesländern, in diesem Falle mit Sachsen, auch zu tun. Wenn wir uns überlegen, wie wir das, was wir erarbeitet haben, verteilen, zeigt sich an einer Firma wie TRUMPF ja auch, woher das zu Verteilende eigentlich kommt. Frau Leibinger-Kammüller hat gesagt, sie zahle gerne Steuern. Sie findet das jedenfalls richtig. Dass Steuern gezahlt werden, ist eben auch wichtig, um überhaupt politisch handeln zu können. Wir wissen, wir leben in einer Welt im Umbruch. Jede Ihrer hier produzierten Maschinen geht an eine andere Stelle. Sie sind international tätig. Sie wissen, dass die Welt nicht schläft, dass uns die Leute zwar für das, was wir tun, achten und ehren, aber dass viele auch genauso gut wie wir sein wollen. Also müssen wir immer wieder erfinderisch sein. Da bin ich mir nun ganz sicher: das sind Sie hier in Neukirch ganz gewiss. Als die Wende kam, als jeder anpacken wollte, hatte aber nicht jeder die Chance anzupacken, auch weil vieles kaputtgegangen war. Die Beharrlichkeit der damals Verantwortlichen und die Tatsache, dass es schon gute Kontakte gab, haben letztlich dazu geführt, dass eine tolle Partnerschaft entstanden ist. Das ist ein Beispiel dafür, wie etwas gelingen kann. Es gab aber auch enttäuschte Menschen; da sind Dinge nicht wahr geworden. Wer sich in der Textilindustrie in dieser Region auskennt, der weiß, wie viele Menschen keine Chance bekommen haben. Das dürfen wir nicht vergessen. Aber das sollte uns vor allem dazu anspornen, immer darauf zu achten, dass wir auch morgen so gut wie heute oder noch ein Stück besser sind. Deshalb finde ich es toll, dass die Firma TRUMPF immer auch darauf achtet, Beziehungen zu Schulen und Hochschulen zu haben, und auf die Ausbildung Wert legt. Das Wichtigste sind die Menschen, die aber auch immer wieder Kreativität, Einfälle und Ideenreichtum einbringen müssen. Ich glaube, das hier ist eine Firma, in der sich auch jeder einbringen kann. Und damit wird die Stärke Deutschlands auch durch diesen Standort ein Stück weit gesichert. Ich freue mich jetzt auf die Diskussion mit Ihnen. Frau Leibinger-Kammüller hat den Ton vorgegeben. Sie dürfen alles fragen. Jede Frage ist eine gute Frage. Wir geben uns alle Mühe, lieber Michael Kretschmer, die Dinge zu beantworten. Meine Lokalkenntnis über den Ausbau der A 4 ist nicht so ausgeprägt wie die über den Ausbau der A 20 – da, mit dem großen Autobahnloch in meinem Wahlkreis, kenne ich mich aus. Aber abschließend sei gesagt: Sie sind immer herzlich willkommen auf der Insel Rügen und auf dem Darß. Das ist nämlich meine politische Heimat. Heute freue ich mich, in der politischen Heimat von Michael Kretschmer zu sein. Herzlichen Dank.
Rede der Kulturstaatsministerin zur Eröffnung der Ausstellung „Kurfürsten von Sachsen – Großfürsten von Litauen. Hofkultur und Hofkunst unter August II. und August III“ in Wilna
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-zur-eroeffnung-der-ausstellung-kurfuersten-von-sachsen-grossfuersten-von-litauen-hofkultur-und-hofkunst-unter-august-ii-und-august-iii-in-wilna-1513544
Fri, 06 Jul 2018 15:00:00 +0200
Im Wortlaut
Wina
Kulturstaatsministerin
Schwarz auf weiß, so stehen die Grundlagen eines geeinten Europas in den Europäischen Verträgen. Live und in Farbe erlebt man das Fundament eines geeinten Europas in seinen Institutionen. Worauf Europa aber im wahrsten Sinne des Wortes gebaut ist, das offenbart sich weder zwischen den Zeilen des Vertrags von Maastricht, noch auf den Fluren des Europäischen Parlaments. Es ist unser gemeinsames, europäisches Kulturerbe, es sind Bauwerke und Denkmäler, lebendige Bräuche und Traditionen, es sind die Zeugnisse der europäischen Geschichte, in denen sinnlich erfahrbar wird, was uns in Europa verbindet –so wie in der Ausstellung „Kurfürsten von Sachsen – Großfürsten von Litauen“. Ich freue mich sehr, diese heute gemeinsam mit Ihnen, verehrter Herr Premierminister, im Zuge der Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Unabhängigkeit Litauens, zu eröffnen. Vor allem aber freue ich mich, erneut Gast in Litauen zu sein – in diesem wunderschönen Land, dessen kultureller Reichtum mich bereits 2016 bei der Eröffnung des Thomas-Mann-Festivals in Nidden sehr beeindruckt hat. Die gemeinsame Schirmherrschaft des deutschen Bundespräsidenten und der litauischen Staatspräsidentin zeugt von der Bedeutung der Ausstellung, die wir heute eröffnen, für die enge Partnerschaft unserer beiden Länder, und ich danke allen Beteiligten, die an ihrer Entstehung mitgewirkt haben! Sie ist die Krönung eines langjährigen kulturellen Austauschs: Das Palastmuseum Wilna und die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden haben eng zusammengearbeitet, um Verbindendes in der Geschichte unserer beiden Länder zu veranschaulichen. Ihre Einladung, liebe Frau Professor Ackermann, habe ich auch deshalb gerne angenommen, um einmal mehr deutlich zu machen, wie wichtig mir das Engagement für das europäische Kulturerbe und die länderübergreifende Zusammenarbeit zwischen unseren Kultureinrichtungen sind. Ein sehr herzliches Dankeschön gilt deshalb auch Ihnen, verehrter Herr Dr. Dolinskas, und Ihrem Team. Ich bin mir sicher, dass Sie mit dieser Ausstellung zahlreiche kunst- und geschichtsinteressierte Menschen begeistern werden. Denn sie zeigt nicht nur Preziosen der litauisch-sächsischen Hofkultur. Sie erzählt auch von der Vergangenheit Litauens, das in diesem Jahr mit dem hundertjährigen Jubiläum seiner Unabhängigkeit einen besonders schönen Anlass hat, sich seiner Geschichte und Identität zu vergewissern. Dabei offenbaren zahlreiche Exponate, dass Kunst in Europa schon zu einer Zeit keine Grenzen kannte, als der europäische Gedanke, wie wir ihn heute leben, noch nicht einmal als Utopie am politischen Horizont erkennbar war. Wir Europäer können uns – gerade angesichts der wechselvollen Geschichte Europas im 20. Jahrhundert – glücklich schätzen, derzeit in Frieden, Freiheit und kultureller Vielfalt leben zu können. Aber nicht zuletzt das hundertjährige Jubiläum der Unabhängigkeit Litauens mahnt uns, diesen Schatz beständig zu hüten. Es ist deshalb schön, dass Litauen dieses Jubiläum ausgerechnet im Europäischen Kulturerbejahr feiern kann. Das aktuelle Europäische Kulturerbejahr 2018 lädt dazu ein, der Seele Europas wie auch der Identität der einzelnen europäischen Staaten nachzuspüren – übrigens auch im immateriellen Kulturerbe, in gewachsenen Traditionen und Bräuchen. Deshalb freue ich mich sehr, heute Abend das Liederfestival im Vingis-Park zu besuchen. Es hat eine lange Tradition, es erinnert uns aber auch an die „Singende Revolution“ an das Wunder eines friedlichen Verlaufs der Freiheitsbewegungen in dieser Zeit. Sie sind Teil einer europäischen Demokratiebewegung, auf die Bürgerinnen und Bürger aller europäischen Länder stolz sein können. „Die Erschaffung unseres Kontinents und unserer Zivilisation war immer Aufgabe, Ungewissheit und Risiko. Ich weiß nicht, ob es einen Ort in Europa gibt, der dieser Unabgeschlossenheit besser entspricht als Vilnius“, schrieb einmal der litauische Dichter Tomas Venclova. Ich bin überzeugt: Gerade in Zeiten wie diesen, in denen schwelende Konflikte Europas Einheit bedrohen, kann die Vergegenwärtigung des Verbindenden, kann das kulturelle Erbe Zusammenhalt stiften. Dafür steht im Sinne Venclovas insbesondere auch Litauen mit seiner wechselvollen Geschichte. Gerade junge Generationen können durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte lernen, wie wertvoll unsere vielfältige, im Austausch mit anderen Kulturen gewachsene europäische Kultur ist. So bietet die Ausstellung nicht nur einen Blick in die Vergangenheit, sondern setzt auch ein Zeichen für die Zukunft, ja sie ist ein Appell an junge Menschen, den völkerverbindenden Charakter der Kultur zu wertschätzen und zu bewahren. Meine herzlichen Glückwünsche zum Unabhängigkeitsjubiläum verbinde ich also mit der Hoffnung, dass wir „Aufgabe, Ungewissheit und Risiko“, vor die uns die Erschaffung eines geeinten Europas stellt, nicht nur mit der Kunst der Diplomatie, sondern auch mit der Diplomatie der Kunst und Kultur bewältigen. Dabei helfen uns engagierte Botschafterinnen und Botschafter der Kultur und des kulturellen Erbes, insbesondere all jene Kultureinrichtungen, die über Grenzen hinweg die Zusammenarbeit pflegen. Ein weiteres wunderbares Beispiel einer solchen Zusammenarbeit ist die schöne Idee, die heutige Ausstellung gemeinsam mit einer Schau über Florenz in der Renaissance und im Barock zu eröffnen. Beiden Ausstellungen wünsche ich zahlreiche begeisterte Besucherinnen und Besucher, die sich davon auch zur Auseinandersetzung mit Europas Wurzeln und Werten anregen lassen. Herzlichen Glückwunsch, Litauen, zu 100. Jahren Unabhängigkeit!
Im Zuge der einhundertjährigen Unabhängigkeit Litauens hat Kulturstaatsministerin Grütters in der Hauptstadt Wilna die Bedeutung des gemeinsamen kulturellen Erbes Europas gewürdigt. Erst die Zeugnisse der europäischen Geschichte machten das Vebindende erfahrbar, die Ausstellung „Kurfürsten von Sachsen – Großfürsten von Litauen“ sei dafür ein gutes Beispiel. „Die Exponate offenbaren, dass Kunst in Europa schon zu einer Zeit keine Grenzen kannte, als der europäische Gedanke noch nicht einmal als Utopie erkennbar war.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 9. Deutsch-Chinesischen Forum für wirtschaftliche und technologische Zusammenarbeit am 9. Juli 2018 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-9-deutsch-chinesischen-forum-fuer-wirtschaftliche-und-technologische-zusammenarbeit-am-9-juli-2018-in-berlin-1512632
Mon, 09 Jul 2018 17:44:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Vorsitzender der Nationalen Reform- und Entwicklungskommission, lieber Herr Kollege Peter Altmaier, vor allem Sie, liebe Damen und Herren, hier in diesem Raum und im Nachbarraum, wir haben heute die fünften deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen durchgeführt. Da hat es sich angeboten, parallel dazu auch ein deutsch-chinesisches Forum für wirtschaftliche und technologische Zusammenarbeit zu veranstalten – immerhin schon das neunte. Dieses Forum findet zu einer Zeit statt, in der wir spüren, dass die wirtschaftliche, die technologische und die Innovationsdynamik weiter zugenommen haben. Wir haben ein deutsch-chinesisches Wirtschaftsforum schon in Zeiten der Eurokrise und der damit verbundenen großen Herausforderungen durchgeführt. Damals ging es darum, gemeinsam Handel, Wandel, Forschung zu treiben, um krisenhaften Entwicklungen entgegenzuwirken. Heute ist die Weltwirtschaft im Grunde in einem relativ guten Zustand. Auch die gesamte Europäische Union verzeichnet wie auch der Euroraum wirtschaftliches Wachstum. China hatte sich positiv für einen stabilen Euro eingesetzt und dafür gearbeitet. Das wie auch die chinesischen Konjunkturprogramme während der großen Weltfinanzkrise im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts haben dazu beigetragen, dass wir in Europa heute wieder auf einem guten Kurs sind. Hier haben sich Vertreter verschiedenster Wirtschaftsbereiche versammelt. Ich glaube, Sie spüren auch, dass sich die Art und Weise der deutsch-chinesischen Zusammenarbeit verändert hat. Ministerpräsident Li Keqiang sagt zwar oft immer noch „Wir sind ein Entwicklungsland“. Das stimmt in gewisser Weise auch; wir wissen um die großen Herausforderungen, vor denen Sie stehen, wenn es um die Entwicklung des Westens in China geht. Sie sind einerseits ein Entwicklungsland, andererseits für uns aber auch ein ganz schön harter Wettbewerber, der große Ambitionen hat. Ihre Agenda 2025, die strategischen Sektoren, in denen Sie sich viel vorgenommen haben und in denen auch Investitionen in Deutschland stattfinden, und die Aussage, dass Sie bis 2030 zu den führenden Anbietern von künstlicher Intelligenz in der Welt gehören möchten und werden – das alles hören wir wohl und das alles finden wir auch richtig, denn wir wollen ja auch gut sein. Warum sollen also andere nicht auch gut sein wollen? Ich meine, wenn Mao Tse-tung hier oben ist, dann ist das schön, aber Deng Xiaoping gebührt vielleicht auch ein Ort hier, wenn wir über Marktwirtschaft sprechen, denn unter ihm ist vor Jahrzehnten die entscheidende wirtschaftliche Öffnung der Volksrepublik China erfolgt, an der man heute sehen kann, wozu das geführt hat. Industrie 4.0, künstliche Intelligenz, Internet der Dinge, Revolution in der Mobilität – das sind die Herausforderungen, vor denen wir stehen, und die Gebiete, auf denen wir Entwicklung gemeinsam betreiben können. Es geht nicht mehr einfach nur um einen Austausch von Waren oder eine Produktion von Dingen. Vielmehr hat sich die Art und Weise der Produktion sehr verändert; und sie wird sich weiter sehr verändern. Deshalb müssen wir eigentlich zwei Dimensionen zusammendenken. Das Eine ist die Dimension der weiteren Kooperation bei dem, was man Realwirtschaft oder Industrie nennt. Das Zweite ist die Kooperation beim Austausch von Daten und beim Umgang mit Daten. Wir sehen, dass unsere Gesellschaften völlig verschiedene rechtliche Rahmensetzungen haben, wenn es um den Umgang mit Daten geht. Diese verschiedenen Voraussetzungen müssen jetzt so zusammengebracht werden, dass eine gute wirtschaftliche Kooperation auch im Zeitalter von Industrie 4.0 und des Internets der Dinge möglich ist. Das bedeutet eben, dass wir trotz unterschiedlicher datenschutzrechtlicher Vorschriften in der Lage sein müssen, einen sicheren Datenaustausch zwischen Unternehmen einerseits in Europa und in Deutschland und andererseits in China zu erreichen, weil heute die Produktionsprozesse über alle Erdteile hinweg nachvollzogen werden müssen und auch weil Wartung von einem zentralen Standort aus für alle anderen Standorte stattfindet. Daher haben wir heute im Rahmen der deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen sehr intensiv über die Frage gesprochen: Wie können wir sozusagen mit dem chinesischen Cybergesetz und der europäischen Datenschutzgrundverordnung ein „level playing field“ schaffen, auf dem sich die Wirtschaft entwickeln kann? Es geht also um mehr als um den Schutz geistigen Eigentums oder das, worüber wir früher im Zusammenhang mit Patenten diskutiert haben. Deshalb müssen wir diesbezüglich auch innerhalb unserer Regierungskonsultationen, innerhalb unserer bilateralen Zusammenarbeit die richtigen Verantwortlichen zusammenbringen. Ich glaube, da sind wir heute einen Schritt weitergekommen. Herr Ministerpräsident Li Keqiang, Sie haben am Samstag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in einem Grundsatzbeitrag die chinesische Sichtweise des Bekenntnisses zum Multilateralismus und zur zunehmenden Marktöffnung dargestellt und auch Fragen der Gleichbehandlung angesprochen. Sie haben diesen Beitrag zu einer Zeit geschrieben, in der sich die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen gut entwickelt haben. Wir haben ein Handelsvolumen in Höhe von über 186 Milliarden Euro; das ist viel. Wir haben gegenüber China noch ein Handelsbilanzdefizit, aber wir holen auf und werden daran auch weiter arbeiten. Wir wollen unsere Wirtschaftspartnerschaft weiter ausbauen. Ich konnte mich von Ihren strategischen Ansätzen vor sechs Wochen auch in der Praxis überzeugen, als ich in China war und mir in Shenzhen Start-ups anschaute. Da spürte ich auch diese Dynamik, von der ich eben sprach. Heute haben wir Wirtschaftsabkommen abgeschlossen, die eine neue Qualität haben – und zwar auch mit Blick auf chinesische Direktinvestitionen. Hier hat sich ein ganz neues Kapitel entwickelt. Früher haben wir nicht oder kaum über chinesische Direktinvestitionen gesprochen. Dann haben wir angefangen, darüber zu reden, dass Sie Schritt für Schritt mittelständische Unternehmen gekauft haben und von der Erfahrung des deutschen Mittelstands profitiert haben. Der Kauf von KUKA war für uns alle erst einmal eine kulturelle Herausforderung; das haben wir jetzt überwunden. Wir glauben, dass sich KUKA trotzdem gut weiterentwickeln kann. Aber wir beobachten das genau. Und jetzt nähern wir uns natürlich auch der Frage: Wo sind kernstrategische Sicherheitsinteressen in Deutschland betroffen? Da befinden wir uns im Augenblick in einem Meinungsbildungsprozess innerhalb der Bundesregierung. Aber ich habe Ihnen heute auch gesagt, dass Sie ein Anrecht auf eine klare und transparente Antwort auf die Frage haben, was möglich und was nicht möglich ist. Aber das Grundbekenntnis, dass wir chinesische Investoren auf dem deutschen Markt willkommen heißen, bleibt bestehen. Dazu haben wir uns immer bekannt. Und jetzt, da es mehr Realität wird, werden wir uns auch weiter dazu bekennen. Heute haben wir eine Neuheit erlebt: Es wird eine Investition eines chinesischen Unternehmens in Thüringen geben, um dort Batteriezellen zu bauen. Damit wird zum ersten Mal – jedenfalls soweit mir bekannt ist – eine Technologie nach Europa und in diesem Falle nach Deutschland kommen, die wir in Europa noch nicht beherrschen. Das zeigt eben auch die neue Herausforderung. Ich habe dem Ministerpräsidenten gesagt: So, wie China seinen Westen entwickeln muss, müssen wir unseren Osten entwickeln. Und deshalb ist Thüringen ein guter Standort für diese Investition. Ich glaube, es wird auch eine enge Zusammenarbeit mit der deutschen Automobilindustrie geben. Aber auch für den umgekehrten Fall haben wir heute neue Vereinbarungen unterschrieben: Wir haben zum ersten Mal eine 100-Prozent-Investition im Bereich der Chemie in der Provinz Guangdong; wir haben im Automobilbereich höhere Beteiligungen als 50 Prozent – auch 75 Prozent. Das sind praktische Beispiele der Marktöffnung Chinas. Wir haben auch ein Abkommen zur Zusammenarbeit bei der Entwicklung des autonomen Fahrens unterschrieben. Wir werden uns dazu morgen auf dem ehemaligen Flughafengelände in Tempelhof praktische Beispiele anschauen. Alle diese Kooperationen zeigen eine neue Dimension. Deutsche Unternehmen werden Ihnen heute gesagt haben, dass sie natürlich auch in China gut behandelt werden wollen, dass sie gerne Zugang zu öffentlichen Aufträgen haben würden, dass sie auf Lizenzen warten und sich die Öffnung bestimmter Dienstleistungssektoren vorstellen können. Ich will die Öffnung des Finanzmarktsegments, bei der auch deutsche Investoren gute Rahmenbedingungen bekommen, ausdrücklich positiv bewerten. Darüber hinaus geht es natürlich immer wieder auch um Fragen der allgemeinen Rahmenbedingungen. Das heißt, wir verfolgen Ihre Ansätze mit großer Neugier. Wir machen immer wieder den Praxistest, eben weil es so enge wirtschaftliche Beziehungen gibt. Wir haben durchaus gegenseitige Achtung vor dem jeweiligen Entwicklungspotenzial. Und natürlich ist es so: 1,4 Milliarden Menschen in China und 80 Millionen in Deutschland – dieses Größenverhältnis ist natürlich eine Herausforderung mit Blick auf das, was wir an menschlicher Leistung erbringen können. Hinter 1,4 Milliarden Menschen steckt natürlich eine unglaubliche Forschungspower, die wir durchaus sehen und verstehen. Wir wissen, dass wir nicht allein sind auf der Welt und dass Sie auch andere Partner haben, die sich um gute Beziehungen zu China bemühen. Ich glaube aber, was uns auch auszeichnet, ist eine schon recht lange Erfahrungsgeschichte und ein hohes Maß an Verlässlichkeit. In den Deutschen haben Sie immer ehrliche und offene Partner, die die Dinge auf den Punkt bringen und die versuchen, die Dinge voranzubringen. Das hat heute auch unsere Regierungskonsultationen gekennzeichnet. Ich hoffe, dass der kommende EU-China-Gipfel in China weitere Fortschritte bringt, zum Beispiel beim Investitionsschutzabkommen. Denn in der Bundesrepublik Deutschland arbeiten wir eben immer im europäischen Umfeld, innerhalb des europäischen Rahmenwerks. Ich hoffe auch, dass China und Deutschland einen Beitrag dazu leisten können, dass wir weltweit nicht in eine Spirale von Handelskonflikten geraten. Wir sehen ja, dass die Interaktionen vieldimensional sind. Es geht ja nicht um bilaterale Beziehungen, sondern letztlich sind alle davon betroffen, wenn Multilateralismus infrage gestellt wird. Deshalb müssen wir unsere Überzeugungen weiter ruhig und deutlich zum Ausdruck bringen und ansonsten auf einen guten gegenseitigen Zugang zu unseren Märkten achten. Sie alle tragen dazu bei, dass sich die Beziehungen nicht nur im politischen Bereich gut entwickeln, sondern eben auch praktisch in der wirtschaftlichen Kooperation. Dafür herzlichen Dank. Alles Gute und danke auch dafür, dass Sie heute die Diskussion geführt haben, die wir brauchen, um wirklich voranzukommen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Jahresempfang für das Diplomatische Corps am 6. Juli 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-jahresempfang-fuer-das-diplomatische-corps-am-6-juli-2018-1512148
Fri, 06 Jul 2018 17:00:00 +0200
Im Wortlaut
Meseberg
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Nuntius, sehr geehrte Exzellenzen, meine Damen und Herren, ich möchte Sie im Namen der Bundesregierung sehr herzlich hier auf Schloss Meseberg begrüßen. Manche von Ihnen waren schon hier. Für das Auswärtige Amt sind heute Frau Staatsministerin Müntefering und Herr Staatssekretär Lindner dabei. Natürlich ist auch das Kanzleramt vertreten – mit dem Chef des Kanzleramts, Herrn Staatsminister Hoppenstedt und Frau Staatsministerin Widmann-Mauz. Ich sehe auch die Frau Parlamentarische Staatssekretärin Flachsbarth, den Regierungssprecher, Staatssekretär Seibert, und die stellvertretenden Regierungssprecher. Sie haben nachher also viele Gesprächspartner aus verschiedenen Bereichen. Ich heiße Sie herzlich willkommen. Genießen Sie die etwas freiere Atmosphäre hier. Sie werden sich in den vergangenen Monaten und insbesondere in den vergangenen Wochen manchmal gefragt haben: Wo steuern Deutschland und seine Regierung hin? Wir haben in der Tat schwierige Tage hinter uns. Ich glaube aber, wir haben jetzt eine gute Basis gefunden, um weiterzuarbeiten. Und das ist ja das, was die Menschen in Deutschland und viele von Ihnen, die Sie Ihre Länder repräsentieren, auch erwarten. In der Debatte in Deutschland spiegelt sich manches wider, was wir auch weltweit sehen. Es sind turbulente Zeiten; manche Gewissheit ist in den letzten Jahren infrage gestellt worden. Umso mehr kommt es darauf an, dass wir als Staaten gut zusammenarbeiten und versuchen, in ständigem Kontakt zu stehen. Genau dem dient ja auch dieser Empfang hier. Miteinander und nicht gegeneinander zu arbeiten – das erfordert immer wieder die Bereitschaft zum Kompromiss. Vielleicht lohnt ja auch ein Blick in die Geschichte, um zu sehen, wie insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg die Menschheit angesichts größter Schrecken, die sie erfahren hatte, zu großen Kompromissen bereit war. Auch in unserer heutigen Zeit müssen wir Kompromisse möglich machen. Nun ist es natürlich so, dass vielfältige Zusammenarbeit, der Multilateralismus, kein Altruismus ist. Vielmehr muss jedes Land seine Interessen vertreten und in der Weltgemeinschaft so zusammenarbeiten, dass das, was das eigene Volk, das eigene Land ausmacht, auch zur Geltung kommt. Aber angesichts vieler Herausforderungen spüren wir doch, dass wir als globale Gemeinschaft eine Schicksalsgemeinschaft sind. Deshalb werden wir uns auch weiter in die weltweite, gemeinsame, multilaterale Zusammenarbeit einbringen und versuchen, sie zu stärken, wo immer wir das können. Das werden wir in den nächsten beiden Jahren besonders gut tun können, denn wir sind für die Jahre 2019 und 2020 als nichtständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat gewählt worden. Ich möchte mich bei den vielen herzlich bedanken, die uns unterstützt haben. Das bietet uns eine breite Basis für unsere Arbeit. Wir wollen besonders präventiv arbeiten, Krisenprävention und Friedenssicherung in den Mittelpunkt stellen. Wir werden auch Elemente in den Blick nehmen, die die Fragen zu Sicherheit und Klimawandel miteinander verbinden. Wir wissen, dass gerade auch auf dem afrikanischen Kontinent das Thema Sicherheit und das Thema Sicherung der Lebensgrundlagen, die durch den Klimawandel zum Teil infrage gestellt werden, sehr eng zusammenhängen. Wir verfolgen die internationale Zusammenarbeit natürlich auf verschiedenen Wegen. Wir tun das nicht nur im UN-Sicherheitsrat, sondern wir bringen uns etwa auch in die G20-Zusammenarbeit ein. Argentinien wird der nächste Gipfel-Gastgeber sein. Wir haben Unterstützung zugesagt, auch weil wir die verschiedenen Themen unserer G20-Präsidentschaft im vergangenen Jahr noch sehr gut kennen – ob es zum Beispiel um freien Handel geht, um die Umsetzung des Klimaabkommens von Paris oder um die Partnerschaft mit Afrika. Die Partnerschaft Europas mit unserem Nachbarkontinent Afrika liegt mir persönlich ganz besonders am Herzen. Ich lade deshalb im Oktober auch noch einmal zu einer G20-Afrika-Konferenz ein. Denn wir wollen über das, was wir im vergangenen Jahr vorangebracht haben, nämlich die „Compacts with Africa“, weiter beraten und das nicht einfach aus den Augen verlieren, sondern weiter schauen, dass wir gemeinsame Ergebnisse erzielen können. Die Bevölkerung des afrikanischen Kontinents ist jung. Sie erwartet Perspektiven für ihr Leben. Ich freue mich, dass die Afrikanische Union mit der Agenda 2063 eigene Vorstellungen entwickelt hat. Und ich glaube, wir, die Deutschen, aber auch die Europäer, sind verpflichtet, entlang dieser Vorstellungen mit Afrika zusammenzuarbeiten. Dabei geht es etwa um Zugang zu Bildung und zu Arbeitsplätzen. Und ich sage es ganz offen: Die klassische Entwicklungshilfe allein reicht nicht mehr aus. Sie ist notwendig, aber wir müssen vor allen Dingen schauen, wie wir private Investitionen, wie wir Selbständigkeit unterstützen können, wie wir kleinen Unternehmen helfen können, damit sich ein selbsttragender Aufschwung entwickelt. Dafür ist die Agenda 2063 eine gute Grundlage. Wir versuchen uns auch dafür einzusetzen, dass Frieden erreicht werden kann und dass der Kampf gegen Terrorismus gewonnen werden kann. Deshalb hat sich Deutschland mit Frankreich und anderen auch sehr darum bemüht, eine G5-Einsatztruppe der fünf Sahelstaaten Burkina Faso, Mali, Mauretanien, Niger und Tschad zu unterstützen. Wir stehen ihnen im schwierigen Kampf gegen Terrorismus zur Seite. Die Vereinten Nationen, die Europäische Union, viele Staaten und, wie ich sagte, auch Deutschland und Frankreich beteiligen sich hierbei. Die Sicherheitskräfte dort brauchen natürlich nicht nur Ausbildung und Ausrüstung, sondern vor allem auch das Vertrauen der jeweiligen Bevölkerungen. Wir wünschen bei den anstehenden Wahlen in Mali oder auch in der Demokratischen Republik Kongo guten Erfolg, denn beide Wahlen sind für Frieden und Entwicklung beider Regionen von allergrößter Bedeutung. Wir verfolgen mit Interesse auch die Entwicklung in Äthiopien. Wir wissen, wie viel Mut Premierminister Abiy Ahmed zeigt. Ich hoffe, dass der eingeschlagene Kurs auch mit Blick auf Eritrea zu Erfolgen führt. Auch das ist sehr gewünscht. Meine Damen und Herren, wir sind – darüber haben wir auch auf dem letzten Europäischen Rat diskutiert – nach wie vor besorgt über die Lage in Libyen. Wir wissen, dass dort das Staatswesen noch weiter ausgebaut werden kann und muss. Auch hier hoffen wir auf Wahlen noch in diesem Jahr. Wir wissen, dass Libyen auch deshalb vor großen Herausforderungen steht, weil viele Migranten in Libyen sind. Deshalb möchte ich an dieser Stelle den internationalen Organisationen – vor allem dem UNHCR und auch der Internationalen Organisation für Migration – ganz herzlich danken. Unter schwierigsten Umständen versuchen sie dort, Humanität ein wenig lebbarer zu machen. Wir wissen aber, wie viel wir da noch zu tun haben. Der wiederholte Einsatz von Chemiewaffen in Syrien hat uns noch einmal vor Augen geführt, wie schwierig die Situation dort ist. Frankreich, die USA und Großbritannien haben ihre besondere Verantwortung als ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats wahrgenommen und haben deutlich gemacht, dass die Chemiewaffenkonvention umgesetzt werden muss und dass es keine Ausnahmen geben darf. Ich begrüße sehr, dass die Organisation für das Verbot chemischer Waffen künftig nicht nur der Frage nachgehen kann, ob ein Chemiewaffeneinsatz stattgefunden hat, sondern dass sie auch die Verantwortlichen hierfür ermitteln kann. Es ist nur folgerichtig und gerecht, wenn schwerste Verbrechen nicht mehr straflos bleiben. Wir verfolgen im Augenblick mit Sorge die Offensive des syrischen Regimes in Südwestsyrien. Sie ist sicher kein Beitrag zur Deeskalation. Frauen und Kinder werden in die Flucht getrieben. Es muss alles getan werden, um dies so schnell wie möglich zu beenden. Wir dürfen natürlich nicht aus den Augen lassen, dass wir einen politischen Prozess in Syrien brauchen, da kein Konflikt allein militärisch gelöst werden kann. Deshalb sind wir hierüber mit verschiedenen Verantwortlichen im Gespräch. Ich habe dazu vor wenigen Wochen Präsident Putin in Sotschi besucht. Wir wünschen dem UN-Beauftragten, Herrn de Mistura, alles Gute. Wir werden auf europäischer Seite zusammen mit den Vereinigten Staaten von Amerika alles daransetzen, voranzukommen. Ich appelliere an den Iran, hier auch seiner Verantwortung gerecht zu werden, und auch mit Blick auf die Türkei, dass wir trotz unterschiedlicher Interessen diese schreckliche Situation überwinden können. Es ist ein schrecklicher Krieg, der nun schon viele Jahre anhält. Fast die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist inzwischen vertrieben worden. Deshalb müssen wir alle politischen Anstrengungen aufbringen. Meine Damen und Herren, ich habe vor wenigen Tagen Jordanien und Libanon besucht. Ich habe gesehen, wie sehr diese beiden Länder sich einsetzen, um Flüchtlingen nahe der Heimat eine Perspektive zu geben, wie sehr diese beiden Länder davon beeinflusst sind und dass natürlich auch die eigene Bevölkerung berechtigte Erwartungen hat. Deutschland versucht diesen Ländern ein guter Partner zu sein. Wir sind auch um die Sicherheit im Nahen und Mittleren Osten insgesamt besorgt. Wir haben uns gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien entschieden, am Nuklearabkommen mit dem Iran festzuhalten. Aber wir sagen auch ganz deutlich: Sowohl die regionalen Aktivitäten gegen Israel als auch im Jemen sowie das ballistische Raketenprogramm sind Grund zu großer Sorge. Deshalb muss auch hierüber gesprochen werden. Wir freuen uns, dass es gelungen ist, zusammen mit Präsident Trump und dem südkoreanischen Präsidenten auf der koreanischen Halbinsel deutliche Fortschritte im Hinblick auf eine Denuklearisierung zu erreichen. Jetzt kommt es natürlich darauf an, dass Nordkorea die Dinge einlöst, die in Aussicht gestellt wurden. Eine Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel ist absolut notwendig. Wenn wir Fortschritte sehen, dann kann man auch über Lockerungen von Sanktionen sprechen. Meine Damen und Herren, wir werden uns nächste Woche auf dem NATO-Gipfel in Brüssel treffen und über verschiedene Aufgaben unseres Verteidigungsbündnisses sprechen. In Deutschland haben wir in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, um unseren Verteidigungshaushalt zu erhöhen. Darüber gibt es eine durchaus strittige Diskussion in der Bundesrepublik. Aber wir verstehen, dass wir zunehmend Verantwortung übernehmen müssen. Wir stehen zu den Zielen und Verpflichtungen der NATO. Sie sind für unser transatlantisches Bündnis von allergrößter Bedeutung. Wir freuen uns, dass wir auch neue Aufgaben übernehmen können. Weitere Entscheidungen, unter anderem zur NATO-Kommandostruktur, zu Bereitschaftsgraden der Truppen und zu einer Trainingsmission im Irak müssen getroffen werden. Wir wollen die Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Europäischen Union intensivieren. Mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union kann wirklich ein Fortschritt erzielt werden – auch mit Blick auf die Stärkung der NATO. Wir haben allein in Europa über 170 Waffensysteme. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben weniger als 50. Sie können sich vorstellen, wie ineffizient die militärische Zusammenarbeit innerhalb Europas ist, wenn jedes Waffensystem eigene Wartung, eigene Trainingseinheiten und eigenes Personal braucht. Das heißt, wir müssen effizienter werden; und wir müssen auch bereit sein, in die Verteidigung mehr zu investieren. Wenn ich über die NATO und über die Europäische Union rede, dann möchte ich auch über den europäischen Nachbarn Russland sprechen. Im NATO-Russland-Rat sehen wir die Möglichkeit zu permanenten Gesprächen, die auch verstärkt werden sollten. Wir hoffen, dass wir auch die Umsetzung des Minsker Abkommens mit der Ukraine und Russland weiter voranbringen können. Frankreich und Deutschland haben hierfür seit vielen Jahren Verantwortung übernommen. Wir sind betrübt, dass es nach wie vor keinen Tag gibt, an dem der Waffenstillstand nicht verletzt wird. Aber wir geben die Hoffnung nicht auf. Wir wissen, dass das Verhältnis zu Russland auch wieder deutlich verbessert werden könnte, was etwas ist, das gerade auch Deutschland in besonderer Weise anstrebt. Unsere transatlantischen Beziehungen, gerade auch mit Blick auf die Vereinigten Staaten von Amerika, sollen und werden stark sein. Vor zwei Tagen, am 4. Juli, begingen die Vereinigten Staaten von Amerika ihren Nationalfeiertag. Was Freiheit und Unabhängigkeit bedeuten, das haben wir Deutsche vor allem von den Vereinigten Staaten von Amerika gelernt. Ich erinnere nur daran, dass vor 70 Jahren die Berliner Luftbrücke eingerichtet wurde. Damals versorgten die Alliierten das abgeriegelte West-Berlin mit lebensnotwendigen Gütern. Viele ältere Berliner erinnern sich noch gut an die sogenannten Rosinenbomber und daran, wie sehr sie sich als Kinder über kleine Fallschirme freuten, an denen Süßigkeiten hingen. Solidarität, Gemeinsamkeit und die Tatsache, dass aus ehemaligen Kriegsgegnern Unterstützer, Verbündete, Partner und Freunde wurden, waren absolut notwendig, um schließlich auch die Deutsche Einheit in Frieden und Freiheit möglich zu machen. Ich als jemand, der in der ehemaligen DDR aufgewachsen ist, bin noch heute über die neuen Möglichkeiten glücklich, die uns dieses gemeinsame Deutschland gibt. Wir vergessen dies alles nicht und wollen das auch in die heutigen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika einbringen. In der Diskussion sind im Augenblick Wirtschaftsfragen, insbesondere Zölle. Ich kann nur hoffen – wir werden versuchen, unseren Teil dazu beizutragen –, dass wir nicht in eine Spirale von Handelskonflikten geraten, sondern dass es uns gelingt, gute und für beide Seiten fruchtbare Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika zu haben. Wir profitieren von den jeweiligen Stärken. Deshalb brauchen wir die transatlantische Partnerschaft. Meine Damen und Herren, wir freuen uns auf die deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen in den nächsten Tagen. Deutschland hat außerhalb der Europäischen Union solche Regierungskonsultationen auch mit Israel. Sie werden im Herbst dieses Jahres stattfinden. Wir haben sie auch mit Indien, die wir auch demnächst fortführen werden. Wir wollen gerade auch die Beziehungen zu China auf der Basis von Reziprozität intensivieren. Da haben wir Wünsche. China erinnert uns daran, dass es auch in Zukunft gern in Europa investieren möchte. Auch das müssen wir ernst nehmen. Darüber sollten wir in aller Offenheit sprechen. Meine Damen und Herren, vor wenigen Tagen war hier der französische Präsident zu Gast. Wir haben hier die sogenannte Meseberger Erklärung verabschiedet. Sie wissen, dass deutsch-französische oder französisch-deutsche Impulse für die Fortentwicklung der Europäischen Union immer wieder wichtig sind. Wir wissen, dass nicht alles von den anderen akzeptiert werden kann; das ist klar. Aber wenn sich Deutschland und Frankreich nicht vertragen, dann geht auch in Europa meistens nicht viel voran. Vor 55 Jahren wurde der Élysée-Vertrag unterzeichnet. Damit wurde ein grundlegend neues Kapitel unserer Beziehungen eröffnet. Wir haben uns vorgenommen, dass wir den Élysée-Vertrag unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts neu fassen. Das werden wir bis zum Ende des Jahres auch schaffen. Gemeinsam erinnern wir uns in diesem Jahr an das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Der französische Präsident hat zu einer Gedenkveranstaltung eingeladen. Nach vielen Jahrhunderten der Auseinandersetzung und nach zwei schrecklichen Weltkriegen gleicht es immer noch einem Wunder, dass wir heute in Europa friedlich zusammenleben können. Von Deutschland und Frankreich hat man lange Zeit als Erbfeinde gesprochen. Das gehört glücklicherweise der Geschichte an. Dass wir alle innerhalb der Europäischen Union friedlich zusammenleben können, das ist nicht nur ein Wunder, sondern das ist auch der Grund, warum wir uns manchmal auch in mühseligen Verhandlungen ganze Nächte durch dafür einsetzen, dass die Europäische Union stärker wird. Wir haben uns in der Bundesrepublik Deutschland 2014 zum Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs einen Prozess überlegt, der in die Zukunft weisen soll, nämlich eine Kooperation mit den Staaten des westlichen Balkans, die eine europäische Perspektive haben, aber noch einen langen Weg zurückzulegen haben. Die nächste Konferenz des Berliner Prozesses wird kommende Woche in London stattfinden. Ich freue mich, dass London Gastgeber dieser Konferenz ist. Ich bin nach wie vor betrübt darüber, dass wir uns mit Fragen des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union beschäftigen müssen. Die britische Premierministerin war gestern da. Ich sage ganz deutlich: Wir wollen auch nach dem Austritt aus der Europäischen Union gute, enge, engste Beziehungen zum Vereinigten Königreich. Ich glaube, gerade auch während dieser Verhandlungen spüren wir, wie viel uns verbindet. Ich freue mich ganz besonders, dass es Griechenland und Mazedonien oder Nord-Mazedonien – das sage ich einfach einmal mit Blick in die Zukunft – gelungen ist, einen Schritt vorwärtszugehen. Ich wünsche dem mazedonischen Premierminister, Herrn Zaev, alles Gute und danke allen, die bei diesem Prozess mitgeholfen haben. Wir werden nächste Woche beim NATO-Gipfel auch sehen, ob jetzt wirklich ein Fortschritt erzielt wurde. Ich hoffe, er kann zu einem guten Ende geführt werden. Exzellenzen, nicht jedes Land konnte ich erwähnen. Diejenigen, die nicht erwähnt worden sind, mögen sich bitte nicht benachteiligt fühlen. Wir wollen mit Ihnen allen gut zusammenarbeiten. Wir wollen offen und ehrlich mit Ihnen zusammenarbeiten. Wenn es Konflikte gibt, dann muss man darüber sprechen – aber immer in dem Geist, dass wir Zukunft vertrauensvoll gestalten wollen. Denn jeder ist ein Teil einer globalen Gemeinschaft; nur wenn alle Teile gut funktionieren, dann wird auch ein gutes Ganzes daraus. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit – und uns jetzt noch eine schöne Zeit.
in Meseberg
Rede von Bundeskanzlerin Merkel
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-1512672
Wed, 04 Jul 2018 09:15:00 +0200
Berlin
Finanzen
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Haushalt für das Jahr 2018. Ich möchte als Erstes den Abgeordneten, insbesondere den Mitgliedern des Haushaltsausschusses, ein herzliches Dankeschön sagen; denn diese Arbeit fand unter hohem Zeitdruck statt. Aber es ist gut für das ganze Land, dass dieser Haushalt jetzt verabschiedet werden kann. Herzlichen Dank also dafür! Diese Haushaltsberatungen finden in Zeiten kontroverser, zum Teil auch sehr emotionaler gesellschaftlicher Debatten statt. Nicht umsonst haben wir uns in der Koalitionsvereinbarung vorgenommen, den Zusammenhalt unserer Gesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen. Diese kontroversen gesellschaftlichen Debatten müssen auch geführt werden; denn es geht um unsere Zukunft, um Deutschlands Zukunft, um die Zukunft Europas. Es geht um die Zukunft Deutschlands und Europas als Agierende in der Welt. Da die Welt im Umbruch ist, ist es auch richtig, dass wir sehr grundsätzliche Fragen debattieren. „Die Welt ist schon zu integriert, ist zu sehr miteinander verflochten, als dass irgendein Land für sich sein eigenes Schicksal gestalten kann.“ Das sagte Ludwig Erhard schon vor 55 Jahren, also fast 30 Jahre vor den Maastrichter Verträgen, als an eine Europäische Union von 28 – im Augenblick noch 28 – Mitgliedstaaten gar nicht zu denken war. Es war ein weitblickender Satz, und heute, über fünf Jahrzehnte später, ist die Welt in noch viel tieferem Maße miteinander verflochten in Bereichen des Klimas, der Wirtschaft, der Umwelt. Menschen, Institutionen und Staaten können das Schicksal ihrer eigenen Länder nur gemeinsam mit anderen gestalten. Das bedeutet erstens, dass Deutschlands Zukunft eng verbunden ist mit Europas Zukunft in Schicksalsfragen, zweitens, dass Deutschlands Zukunft aufs Engste verbunden ist mit der Zukunft der globalen Ordnung in Bereichen von Wirtschaft, Handel, Sicherheit und Verteidigung und drittens, dass Deutschlands Zukunft aufs Engste verbunden ist mit der Frage, wie wir die Digitalisierung gestalten, die große technische Revolution unserer Zeit, die vieles völlig verändern wird. Das sind drei sehr konkrete, aber eben auch grundsätzliche Fragen, und es geht um Richtungsentscheidungen in diesen Jahren. Wir müssen auf der Grundlage unserer Wertebasis, unseres Grundgesetzes, unseres Verständnisses vom Menschen die richtigen Antworten für diese neuen Zeiten finden. Lassen Sie mich mit Europa beginnen. Europa war seit der Gründung und noch mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg ein Versprechen für Frieden und ein Versprechen für Wohlstand. Glücklicherweise hat die Europäische Union dieses Friedensversprechen bis heute einhalten können, und wir tun natürlich alles dafür, dass es auch so bleibt. Aber um uns herum findet dennoch eine Vielzahl von gewalttätigen Auseinandersetzungen, von Bürgerkriegen, von Kriegen statt, teilweise auch von großen regionalen Auseinandersetzungen, und das Wohlstandsversprechen gilt für viele Menschen bei uns in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Mitgliedstaaten als nicht mehr so einfach erfüllbar. Wir haben das ja im Zusammenhang mit der Euro-Krise erlebt. Deshalb haben diese Themen, über die ich eben sprach, natürlich auch die Sitzung des Europäischen Rates, auf die ich Sie ja letzte Woche vorbereitet habe, bestimmt. Da standen eben Fragen der Außenbeziehungen, der Sicherheit, der Verteidigung, der Wettbewerbsfähigkeit und des Handels, des Digitalen, der Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion und des Brexits auf der Tagesordnung. Aber im Kern haben wir uns mit der großen Herausforderung der Europäischen Union beschäftigt, die uns ja auch hier zu Hause so in Bann hält. Das ist das Thema der Migration. Die Interessenlage in der Europäischen Union bezüglich der Fragen der Migration ist unterschiedlich. Aber – und das war der eigentliche Wert dieses Rates – wir haben uns dazu verständigt, dass es eben nicht nur die Frage für einzelne Mitgliedstaaten ist, die diese Mitgliedstaaten herausfordert, sondern dass es eine Aufgabe ist, die alle angeht. Eigentlich trivial, eigentlich selbstverständlich und dennoch Gegenstand von vielen Stunden von Diskussionen, weil natürlich jeder fragt: Was bedeutet das jetzt für mich als Mitgliedstaat, wenn ich akzeptiere, dass das eine Herausforderung für alle ist? Weil aber nach meiner tiefen Überzeugung und nach der tiefen Überzeugung vieler anderer der Umgang mit dieser Migrationsfrage darüber entscheiden wird, ob Europa Bestand haben kann, weil es eine so bewegende Frage ist, war es wichtig, dass wir zu dieser Einigung gekommen sind. Wir brauchen jetzt natürlich Antworten, die unseren Werten entsprechen und die davon ausgehen, dass die Würde jedes einzelnen Menschen unveräußerlich ist. Wir brauchen rechtlich konsistente Antworten, die dem Völkerrecht entsprechen, dem europäischen Recht und dem nationalen Recht. Wir brauchen solidarische Antworten in Europa, und wir brauchen vor allen Dingen realistische Antworten, die Gesellschaften nicht überfordern, sondern die im Alltag für alle auch lebbar sind. Wir haben seit 2015 schon eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen, die auch dazu geführt haben, dass zum Beispiel über die Mittelmeerrouten 95 Prozent weniger Flüchtlinge kommen als 2015. Wir haben beim Europäischen Rat über zwei Themen diskutiert, über das eine sehr ausführlich. Das ist das große Thema des Außengrenzenschutzes. Die österreichische Präsidentschaft mit Sebastian Kurz als Bundeskanzler hat sich genau dieses Thema als zentrales Thema vorgenommen. Wie können wir unsere Außengrenzen schützen? Da ist auf der einen Seite das Thema Frontex: besser ausgestattet, erweitertes Mandat. Die Kommission hat jetzt deutlich gemacht, dass wir bis 2020 10 000 Polizisten bei Frontex brauchen. Das ist mit Sicherheit nicht zu viel. Aber wenn wir wissen, wie gefordert unsere Polizei auch in Deutschland ist, dann können wir uns vorstellen, dass es nicht so einfach ist, 10 000 Polizisten für den Außengrenzenschutz abzustellen. Aber Deutschland wird seinen Beitrag hier leisten. Wir haben uns mit der Situation in den Transit- und Herkunftsländern beschäftigt. Ich will hier nur an Libyen erinnern. Die europäische Mission Sophia, die eine Rettungsmission ist, hat jetzt sehr viel mehr Kraft darauf verwendet, die libysche Küstenwache aufzubauen und zu trainieren. Hier war einer der wichtigen Punkte, den wir noch einmal deutlich gemacht haben: Wenn es jetzt eine libysche Küstenwache gibt, die immer besser agieren kann, dann muss das internationale Recht auch eingehalten werden von allen, die dort im Seegebiet operieren. Das gilt auch für die Nichtregierungsorganisationen. Das war gerade dem maltesischen Premierminister und dem italienischen sehr wichtig. Wir haben über das EU-Türkei-Abkommen gesprochen und haben endlich die 3 Milliarden Euro als zweite Tranche, die nicht der Türkei zugutekommen, sondern den 3,9 Millionen Flüchtlingen, die die Türkei beherbergt, verabschiedet. Wir haben viel zu kritisieren an der Türkei. Aber das, was die Türkei für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge leistet, ist ein Riesenbeitrag, und das verdient die Anerkennung aller. Wir haben dann 500 Millionen Euro in den EU-Afrika- Trust-Fund gegeben, weil natürlich ein Land wie Italien sagt: Okay, die eine Route über die Türkei ist wichtig. Aber aus der Perspektive Italiens ist vor allem die Entwicklung Nordafrikas wichtig. – Deshalb war das auch ein sehr sinnvoller Beitrag. Wir haben dann sehr lange über das Wortungetüm von regionalen Ausschiffungsplattformen – man möchte das gar nicht in den Mund nehmen – gesprochen. Worum geht es? Es geht eigentlich um die Frage: Kann man mit afrikanischen Ländern Vereinbarungen darüber treffen, dass Flüchtlinge sich nicht erst auf den Weg durch die Sahara machen, dass Flüchtlinge nicht erst in eine menschliche Lage kommen, die völlig inakzeptabel ist, sodass es dann schwierig ist, in Libyen mit dem UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration überhaupt zusammenzuarbeiten? Wir haben über dieses Thema sehr intensiv diskutiert. Ich habe deutlich gemacht: Das alles wird nur gehen, wenn wir nicht über die Köpfe anderer Länder in Afrika hinweg sprechen, sondern wenn wir mit den Ländern sprechen. Deshalb brauchen wir einen neuen Pakt mit Afrika. Deshalb ist das Thema von Gerd Müller als Entwicklungsminister – Marshallplan für Afrika – wichtig. Sie werden vielleicht gelesen haben: Bei der letzten Tagung hat die Afrikanische Union zum ersten Mal ein Migrationskonzept aus der Perspektive Afrikas entwickelt. Sie wird eine Koordinierungsstelle für Migrationsfragen in Marokko einrichten. Die kann Ansprechpartner für die Europäische Union sein. So muss die partnerschaftliche Zusammenarbeit auch sein. Denn wir dürfen nicht vergessen: Die Migrationsfrage ist für uns wichtig. Aber 85 Prozent – oder mehr – aller Migranten auf der Welt sind nicht in Europa, sondern woanders und leben zum Teil in bitterarmen Verhältnissen. Das heißt, Migration ist mitnichten ein europäisches Problem allein. Es ist ein globales Problem, und es erfordert eine globale Antwort. Wir haben natürlich auch über Rückkehrmechanismen für Menschen gesprochen, die keine Anerkennung hier in Europa finden; die Afrikanische Union ihrerseits hat darüber gesprochen, dass es dann auch legale Möglichkeiten für Studienplätze, für Arbeitsplätze geben muss. Und in dem Zusammenhang ist aus unserer Sicht natürlich auch wieder ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz wichtig. Wo sind unsere Interessen, und wie können wir daraus Win-win-Situationen auch im Verhältnis zu Herkunftsländern mit heute illegaler Migration machen, meine Damen und Herren? Anders, wenn wir nicht solche Mechanismen finden, werden wir die Schlepper und Schleuser nicht bekämpfen können. Wir haben dann über das Thema der sogenannten Sekundärmigration gesprochen, das heißt also der Wanderungsbewegungen innerhalb der Europäischen Union. Wir sind uns alle bewusst, dass die Vorteile von Schengen, nämlich die Freizügigkeit innerhalb des Schengen- Raums, in Gefahr geraten kann, wenn wir dieses Thema nicht wirklich bearbeiten. Deshalb ist die Aussage – um die Freizügigkeit zu erhalten, die Vorteile des Schengen-Raums zu erhalten –, dass Mitgliedstaaten interne Maßnahmen ergreifen müssen und sollen, aber eben auch partnerschaftlich zusammenarbeiten sollen. Genau auf dieser Grundlage habe ich meine Gespräche geführt: dass nicht einseitige Maßnahmen, nicht unabgestimmte Maßnahmen, nicht Maßnahmen zulasten Dritter stattfinden, sondern dass wir „partnerschaftlich“, wie es im Beschluss heißt, zusammenarbeiten. Beim Thema Sekundärmigration sind wir uns, glaube ich, alle einig, dass Flüchtlinge sich nicht einfach aussuchen können, in welchem europäischen Land sie ein Asylverfahren durchlaufen. Auf der anderen Seite wissen wir – da wir noch keine solidarischen Verteilungsmechanismen haben –, dass es schwierig ist und dass wir auch die Außengrenzenstaaten natürlich immer wieder entlasten müssen. Aber es kann nicht sein, dass die Flüchtlinge bestimmen, wo der Asylantrag bearbeitet wird. Auf dieser Grundlage habe ich mit Griechenland Gespräche geführt, dass sozusagen im grenznahen Bereich, wenn man davon ausgeht, dass noch gar keine Einreise stattgefunden hat – das kennen wir ja auch aus dem Flughafenbereich –, Flüchtlinge direkt wieder nach Griechenland zurückgeführt werden und dort das Asylverfahren bearbeitet wird. Im Gegenzug hat Griechenland darauf hingewiesen, dass eine Vielzahl von Flüchtlingen in Griechenland ist, die Anrechte auf Familiennachzug hat und dass wir auch dies Schritt für Schritt abarbeiten. Da wir jetzt ja beschlossen haben, beim subsidiären Familiennachzug pro Monat 1 000 Menschen aufzunehmen, können wir genau in diesem Bereich auch handeln. Meine Damen und Herren, wir haben dann vereinbart – jetzt in den letzten Tagen –, dass wir ähnliche Abmachungen, Verwaltungsvereinbarungen, auch mit anderen Herkunftsländern treffen. Der Bundesinnenminister, Horst Seehofer, wird dazu jetzt die Gespräche führen, und ich werde das natürlich auch weitermachen. Wir haben dann eine zweite Gruppe von Fragen. Das sind all die Bereiche in Deutschland, in denen keine permanenten Grenzkontrollen durchgeführt werden. Grenzkontrollen werden ja nur an der deutsch-österreichischen Grenze durchgeführt. Hier haben wir die Situation, dass die Dublin-Rücküberstellungsverfahren – das heißt, wenn Deutschland nicht zuständig ist für das Asylverfahren – sehr lange dauern und sehr ineffizient sind. Genau darüber habe ich mit etlichen Ländern gesprochen, weil selbst in unseren Nachbarländern, also gar nicht in den Hauptherkunftsländern, die Erfolgsquote von solchen Rücküberstellungen bei 15 Prozent liegt. Damit kann man sich nicht abfinden, und das wollen wir beschleunigen. Darüber haben wir auch gestern in der Koalition gesprochen, und das ist richtig. Es muss mehr Ordnung in alle Arten der Migration kommen, damit Menschen den Eindruck haben: Recht und Ordnung werden durchgesetzt. Das sind unser Auftrag und unser Anliegen. Meine Damen und Herren, deshalb können wir sagen: Wir haben im Bereich der Migration schon etliches geschafft. Der Bundesinnenminister wird seinen Masterplan vorstellen, wodurch in allen Bereichen noch einmal geguckt wird: Wo müssen wir effizienter werden? Wo müssen wir besser werden? Wo müssen wir schneller werden? – Wir werden natürlich auch das Thema der Integration für diejenigen, die Bleibeperspektiven haben, weiter in den Mittelpunkt stellen. Hier zeigt der Haushalt, dass der Bund Verantwortung übernimmt, weiter die Frage der Integration als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sieht. Diese gesamtgesellschaftliche oder gesamtstaatliche Aufgabe spiegelt sich auch im Haushalt wider; denn der Bund beteiligt sich erheblich an den Integrationskosten. Die Verhandlungen für die nächsten Jahre wird der Bundesfinanzminister im Sommer noch weiterführen. Das wird nicht ganz einfach; aber natürlich wollen wir auch da unseren Anteil leisten. Meine Damen und Herren, wir haben insofern eine wirklich drängende Aufgabe vor uns, an der wir auch intensiv weiterarbeiten werden, über die es kontroverse Debatten auch in Zukunft geben wird, die uns bewegen, die uns wirklich auch fordern. Aber ich glaube, es ist richtig, sich mit dieser Frage intensiv zu beschäftigen und unser Wertegerüst hier auf diese neue Aufgabe auszurichten und außen- und innenpolitisch vernünftig zu handeln. Der zweite Bereich – neben Europa – ist die globale Ordnung. Ich will, bei allen Problemen, die wir weltweit haben, noch mal darauf hinweisen, dass wir in den letzten Jahrzehnten auch vieles erreicht haben: 1981 lebten noch 42 Prozent der Weltbevölkerung in absoluter Armut, also mit einem Einkommen von weniger als 2 Dollar pro Tag. Heute sind es 10 Prozent der Weltbevölkerung – bei viel mehr Menschen, aber 10 Prozent der Weltbevölkerung. Der Anteil der Analphabeten in den 50er-Jahren war 64 Prozent der Weltbevölkerung; heute sind es weniger als 14 Prozent. Der Anteil der weltweiten Militärausgaben war 1960 noch bei 6 Prozent des Welt-Bruttoinlandsprodukts; heute ist er bei 2,2 Prozent weltweit. Es gibt Krankheiten wie zum Beispiel die Pocken, die völlig ausgerottet sind. Das heißt, wir sollten nicht immer so tun, als ob alle Probleme unlösbar sind, sondern wir sollten zeigen, dass wir mithilfe von Entwicklungshilfe, internationalem Einsatz vieles auch gelöst haben. Und wir sind natürlich nicht am Ende. Das sollte uns Mut machen, auch die Entwicklungsziele für 2030 jetzt umzusetzen und einfach weiterzuarbeiten für eine bessere Welt. Aber zurzeit gerät etwas ins Wanken, was wir als fast unveränderlich gesehen haben, nämlich die Rolle multilateraler Organisationen. Wir haben jetzt die Zölle auf Aluminium und Stahl, und wir haben eine Diskussion, die weitaus schwerwiegender ist: Sollen – mit Blick auf die Importe in die USA – auch noch Zölle auf Autos erhoben werden? Meine Damen und Herren, das hat dann schon Züge eines Handelskonflikts – ich will jetzt mal noch nicht weitere Worte sagen –, und es lohnt sich alle Mühe, diesen Konflikt, damit er nicht zu einem wirklichen Krieg wird, zu entschärfen zu versuchen. Aber dazu gehören natürlich zwei Seiten. Jean-Claude Juncker wird jetzt in die Vereinigten Staaten von Amerika fahren. Jean-Claude Juncker wird Vorschläge unterbreiten: Was können wir tun? Aber ich hoffe, dass wir das vermeiden können; denn das gute Funktionieren der Weltwirtschaft hängt davon ab, dass wir partnerschaftlich auch hier miteinander zusammen- arbeiten. Die internationale Finanzkrise, die dazu geführt hat, dass wir jetzt immer im Format der G 20 tagen, wäre niemals so schnell behoben worden – es war trotzdem noch schmerzhaft –, wenn wir nicht international und kameradschaftlich und multilateral zusammengearbeitet hätten, und dies muss auch weiter geschehen. Deutschland wird sich jedenfalls dafür einsetzen – und die gesamte Europäische Union. Deshalb müssen wir unsere Verpflichtungen aus dem Klimaabkommen erfüllen. Deshalb werden wir uns für eine Stärkung der Welthandelsorganisation einsetzen. Deshalb werden wir in den Formaten G 7 und G 20 weiter intensiv miteinander zusammenarbeiten, und deshalb setzen wir natürlich auch auf Bündnisse wie zum Beispiel die NATO. Nächste Woche findet der NATO-Gipfel in Brüssel statt, und es gibt kritische Anmerkungen, gerade der Vereinigten Staaten von Amerika, dass Deutschland nicht genug im Verteidigungsbereich ausgibt. Ich bin sehr dankbar, dass wir im Haushalt Steigerungen unseres Verteidigungsetats haben – genauso wie wir Steigerungen des Entwicklungsetats haben. Aber gemessen an dem, was andere bezogen auf ihr Bruttoinlandsprodukt tun, ist das längst nicht ausreichend, und deshalb haben wir uns auch verpflichtet, bis 2024 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts dafür auszugeben. Ich habe über die Effizienzverbesserungen innerhalb der europäischen Zusammenarbeit hier gesprochen; ich will das nicht wiederholen. Ich will nur noch einmal deutlich machen: Deutschland ist ein verlässlicher Partner in der NATO – wir sind der zweitgrößte Truppensteller; wir sind an vielen Missionen beteiligt –, und Deutschland wird auch ein verlässlicher Partner der NATO bleiben, meine Damen und Herren. Man kann auch nicht so tun, als wenn das Thema Verteidigung nicht ein drängendes in unserer heutigen Zeit ist. Wir alle haben uns gewünscht, dass nach dem Ende des Kalten Krieges die Welt friedlicher wird. Aber vor unserer Haustür toben die Kriege: der Bürgerkrieg in Syrien, der IS im Irak, der Gott sei Dank einigermaßen besiegt ist, aber uns immer noch in Atem halten wird. Die Situation in Afghanistan ist nicht befriedet. Die Krim ist annektiert. In der Ostukraine haben wir eine schwierige Situation. Sich nicht auf Bündnisverteidigung vorzubereiten, wäre fahrlässig, meine Damen und Herren, und deshalb sind wir das schuldig und müssen wir hier weiterarbeiten. Es gibt die dritte große Herausforderung, die uns umtreibt und die uns in der Bundesregierung in vielen Facetten beschäftigt: Das ist die Digitalisierung. Sie verändert unsere Art zu leben, sie verändert unsere Art zu arbeiten. Die neue Bundesregierung hat strukturell auf diese Frage geantwortet: Wir hatten jetzt die erste Sitzung unseres Digitalkabinetts. Wir haben eine Staatsministerin für Digitalisierung. Wir haben die Strukturen so angepasst, dass wir intensiv in den Fragen zusammenarbeiten. Wir werden vor allen Dingen nicht nur auf die technischen Entwicklungen Wert legen; die sind wichtig, Stichwort: Infrastrukturausbau. Der Bundesverkehrsminister hat hier ein Riesenaufgabenpaket: Förderung des Glasfaserausbaus, Versteigerung von Frequenzen, 5G ausrollen, und zwar nicht nur in den Städten, sondern auch in den ländlichen Regionen. Das ist Daseinsvorsorge für die Menschen in unserem Land. Bis 2025 wollen wir, dass das für jeden erreichbar und zu erhalten ist. Das ist Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt von gleichwertigen Lebensverhältnissen sprechen können. Meine Damen und Herren, es geht dann aber auch um Datenschutz und den Umgang mit Daten, um Datenbewertung. Deshalb messe ich der Arbeit der Datenethikkommission eine sehr große Bedeutung bei. Es geht um neue Technologien. Hier erarbeiten wir jetzt eine Strategie zur künstlichen Intelligenz. Wir drohen, da zurückzufallen – nicht, weil wir nicht die besten Fachleute haben. Wir haben dazu eine Anhörung gemacht; Deutschland hat herausragende Köpfe. Aber wir müssen das einbinden in eine Gesamtstrategie, von der Forschung bis hin zur Anwendung, damit uns nicht das passiert, was uns früher passiert ist: Wir haben den MP3-Player erfunden, aber niemals vermarktet. Jetzt muss es lauten: von der Forschung hin zur Anwendung in der Wirtschaft – gerade mit Blick auf unsere Stärke, nämlich die Industrie, das Internet der Dinge, Industrie 4.0. Das ist eine Prägung aus Deutschland, und die muss jetzt mit der Entwicklung der künstlichen Intelligenz zusammengebracht werden – eine ganz wichtige Aufgabe für die nächsten Jahre, meine Damen und Herren. Aber damit nicht genug, sondern wir werden uns natürlich anschauen – der Bundesgesundheitsminister tut das beispielsweise –: Wie kann die Digitalisierung Einzug halten? Die Landwirtschaftspolitik und die gesamte Landwirtschaft werden sich in der digitalen Welt völlig anders aufstellen. Das führt zu viel besserem und effizienterem Einsatz zum Beispiel von Düngemitteln, zu besseren Möglichkeiten der Tierzucht. Es ist überhaupt noch nicht absehbar, welche neuen Bereiche wir da haben. Trotzdem ist die Digitalisierung auch ein Gebiet, das Menschen Sorge macht, das Menschen Angst macht, weil damit natürlich völlige Veränderungen der Arbeitswelt verbunden sind. Der Bundesarbeitsminister wird sich zusammen mit der Bildungsministerin genau mit diesem Thema beschäftigen – Stichworte: Berufsbildungspakt, Nationale Weiterbildungsstrategie, Recht auf Weiterbildungsberatung, alles Dinge, die notwendig sind, damit Menschen diesen digitalen Wandel auch wirklich durchstehen können. Und wir werden die Fragen der Besteuerung völlig neu zu besprechen haben. Deutschland setzt hier nicht auf eine schnelle Interimslösung. Aber dass es nicht sein kann, dass große Internetkonzerne in Deutschland keine Steuern zahlen, sehen wir ja auch ein. Deshalb hoffen wir, dass die OECD ihre Arbeiten schnell umsetzen kann. Meine Damen und Herren, wenn es um Handelsbilanzen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika geht, dann ist festzustellen, dass diese Handelsbilanzen, wenn sie einen großen Handelsüberschuss von Europa zeigen, immer zur Basis haben, dass es nur um den Austausch von Waren geht; darin sind Dienstleistungen überhaupt nicht enthalten. Wenn Sie die Dienstleistungen inklusive der digitalen Dienstleistungen hinzunehmen, dann haben Sie eine völlig andere Handelsbilanz, bei der es eher einen Überschuss der Vereinigten Staaten von Amerika gegenüber Europa gibt als umgekehrt. Das muss man auch einmal sagen. Es ist sozusagen fast altmodisch, nur die Waren zu rechnen und nicht die Dienstleistungen mit hineinzunehmen. Meine Damen und Herren, wir sind jetzt etwas mehr als 100 Tage als Regierung im Amt. Wir haben vieles bereits vorangebracht. Nicht nur, dass wir jetzt einen Haushalt für das Jahr 2018 haben. Wir haben Arbeitslosenzahlen, die uns wirklich hoffnungsvoll stimmen, die niedrigste Arbeitslosigkeit seit der deutschen Einheit – im Juni 5 Prozent, meine Damen und Herren –, viele Regionen haben Vollbeschäftigung. Nicht nur, dass viele Menschen Arbeit haben, sondern – das ist ja das eigentlich Wichtige – es hat in den letzten Jahren auch zu besseren Lohnentwicklungen geführt. Diese Lohnentwicklungen zeigen sich jetzt auch in der Steigerung des Mindestlohns. Das heißt, wir konnten jetzt wieder sagen: Der Mindestlohn wird angehoben. Das sagt im Übrigen eine Kommission, die sehr reibungsfrei und reibungslos arbeitet. Den 21 Millionen Rentnerinnen und Rentnern können wir sagen: Die Renten steigen zum achten Mal hintereinander sehr deutlich. Das ist ein Riesenbeitrag dazu, dass gerade ältere Menschen besser leben können; denn bei den geringen Inflationsraten ist das ein Mehr an Geld im Portemonnaie. Wir haben beschlossen, dass wir die Bürgerinnen und Bürger durch einen höheren Grundfreibetrag für Erwachsene und den Abbau der kalten Progression als Korrektur am Einkommensteuertarif entlasten. Wir entlasten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, indem wir zurückkehren zur paritätischen Beitragsfinanzierung. Wir stärken Familien durch ein höheres Kindergeld und die Anpassung des steuerlichen Freibetrages für Kinder. Wir haben das Baukindergeld beschlossen. Wir haben steuerliche Anreize für den Wohnungsbau beschlossen. Wir tun mehr für den sozialen Wohnungsbau. Immer wieder ist hier gesagt worden: Wohnen ist die zentrale Herausforderung. – Hier hat die Bundesregierung bereits gehandelt. Ich danke allen dafür, die das auf den Weg gebracht haben. Wir haben mit Blick auf den Strukturwandel in den Braunkohlegebieten eine Kommission eingesetzt, die mit dem Arbeiten begonnen hat und die nicht als Erstes fragt: „Wann steigen wir aus der Braunkohle aus?“, sondern die als Erstes fragt: „Wie können wir Menschen Perspektiven und Zukunft geben?“, und genau das ist die richtige Frage. Ich glaube, diese Kommission wird gute Antworten finden. Wir haben einen Haushalt, mit dem wir keine neuen Schulden machen und der ein Riesenschritt dahin ist, damit wir wieder alle Maastricht-Kriterien erfüllen. Das ist ein Beitrag für die zukünftigen Generationen, meine Damen und Herren. Wir haben im Übrigen sogar eines der schwierigsten Themen, nämlich Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit, auf den Weg gebracht. Das hat uns lange beschäftigt; jetzt ist es auf den Weg gebracht. Also: Diese Bundesregierung arbeitet. Sie ist sich bewusst, dass sie viel zu tun hat. Sie wird die gesellschaftlichen Fragen so versuchen zu lösen, dass es zu einem besseren Zusammenhalt in der Gesellschaft kommt. Herzlichen Dank für Ihre Unterstützung dabei.
in Berlin vor dem Deutschen Bundestag (Protokoll des Deutschen Bundestages)
Rede der Kulturstaatsministerin bei der Konferenz „Kulturelles Erbe in Europa: Die Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-bei-der-konferenz-kulturelles-erbe-in-europa-die-verbindung-zwischen-vergangenheit-und-zukunft–1147214
Tue, 26 Jun 2018 10:00:00 +0200
Brüssel
Kulturstaatsministerin
Schwarz auf weiß, so stehen die Grundlagen eines geeinten Europas in den Europäischen Verträgen. Live und in Farbe erlebt man das Fundament eines geeinten Europas in seinen Institutionen, so wie hier in Brüssel. Worauf Europa aber im wahrsten Sinne des Wortes gebaut ist, offenbart sich weder zwischen den Zeilen des Vertrags von Maastricht noch auf den Fluren des Europäischen Parlaments. Vielmehr ist es unser gemeinsames, europäisches Kulturerbe, sind es Bauwerke und Denkmäler, lebendige Bräuche und Traditionen, sind es materielle und immaterielle Schätze aus über 2.000 Jahren Geschichte, in denen sinnlich erfahrbar wird, was uns in Europa verbindet – so wie auch in der Musik, mit der das European Union Youth Orchestra das europäische Kulturerbe heute für uns im wahrsten Sinne des Wortes zum Klingen bringt. Hörbar und sichtbar, spürbar und erfahrbar zu machen, was uns Europäer verbindet, ist vielleicht wichtiger denn je in diesen Zeiten, in denen sich die Europäische Union angesichts des Erstarkens nationalistischer Kräfte und auch angesichts nur schwer überwindbarer Interessengegensätze – etwa im zähen Ringen um eine europäische Asylpolitik – neu bewähren muss. Deshalb will ich mit meiner Reise nach Brüssel zur heutigen Konferenz „Europäisches Erbe in Europa“ einmal mehr unterstreichen, wie sehr das breite gesellschaftliche Engagement für das gemeinsame Kulturerbe und wie sehr der Zusammenhalt der Europäischen Union mir am Herzen liegen. Vielen Dank für die Einladung, verehrter Herr Präsident. Gerade das aktuelle Europäische Kulturerbejahr 2018, meine Damen und Herren, lädt ja dazu ein, der Seele Europas in den allgegenwärtigen Zeugnissen vergangener Epochen nachzuspüren. Dafür haben wir in den vergangenen Jahren in den Brüsseler Gremien und in zahlreichen Gesprächen mit meinen Amtskolleginnen und Amtskollegen intensiv geworben, und ich bin dankbar, dass die Europäische Kommission, das Parlament und alle europäischen Mitgliedsstaaten diese gemeinsame Initiative in großer Einigkeit unterstützen. Zu den glanzvollen Höhepunkten dieses Jahres gehört sicherlich der European Cultural Heritage Summit, der rund 70 Identität und Zusammenhalt stiftende Projekte und Veranstaltungen von mehr als 100 Institutionen aus ganz Europa vereint und zu dem ich vergangene Woche etwa 400 Teilnehmende aus ganz Europa in Berlin begrüßen durfte. Dort haben wir unter anderem betont, wie wichtig ein gutes, wirksames Urheberrecht ist, um sicher zu stellen, dass Künstlerinnen und Künstler auch künftig von ihrer Leistung leben können. Und wir haben nach Antworten auf die Frage gesucht, wie wir Werte und Tugenden, die wir im analogen Leben mühsam erarbeitet haben, in die digitale Welt retten können. Das Zusammenwirken von Staat und Zivilgesellschaft ermöglicht es uns, das Europäische Kulturerbejahr als eine Art Bürgerfest der Verständigung über unsere europäischen Wurzeln und Werte zu feiern. Unzählige Initiativen und Projekte zeigen, dass die Europäische Union viel mehr ist als eine Freihandelszone oder ein Zweckbündnis zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen. Vor allem aber setzen sie dem vielerorts – leider auch in Deutschland – wieder aufkeimenden Nationalismus den Stolz auf die vielfältige, im Austausch mit anderen Kulturen gewachsene europäische Kultur entgegen. Ich bin überzeugt: Gerade in diesen Zeiten, in denen schwelende Konflikte Europas Einheit bedrohen, kann die Vergegenwärtigung des gemeinsamen kulturellen Erbes Zusammenhalt stiften. Die Meisterwerke der Kunst und Architektur und die darin sichtbaren Spuren bereichernden Austauschs wie auch die darin eingebrannten Narben leidvoller Kriege führen uns eindringlich vor Augen, dass Europa für eine zivilisatorische Errungenschaft steht, die sich nach dem unfassbaren Leid zweier Weltkriege und nach dem Grauen der nationalsozialistischen Barbarei vermutlich nicht einmal die visionären Unterzeichner der Römischen Verträge hätten träumen lassen. Wir Europäerinnen und Europäer haben es geschafft, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen und eben dadurch unterschiedlichen Kulturen und Religionen, Lebensentwürfen und Weltanschauungen eine Heimat zu bieten. Diese Einheit in Vielfalt durch Verständigung macht Europa – und den Frieden im Europa – im Kern aus. Deshalb muss allen, die politisch Verantwortung tragen, klar sein: Wer in Konfliktsituationen den Glauben an die Möglichkeit gemeinsamer europäischer Lösungen preisgibt, katapultiert Europa zurück in eine Zeit, in der das Recht des Stärkeren regierte – und ignoriert die Zeugnisse jener Jahrhunderte, in der dieses Prinzip brutale europäische Realität war. Einheit in Vielfalt durch Verständigung: Das ist nicht das Ergebnis unseres wirtschaftlichen Wohlstandes; es ist vielmehr dessen Voraussetzung. Vor allem aber ist die Bereitschaft, der Verständigung Vorzug vor der Macht des Stärkeren zu geben, Ausdruck von Humanität. Daran zu erinnern und in der Vergegenwärtigung leidvollen Scheiterns wie auch hoffnungsvoll stimmender Erfolge europäischer Verständigung Ankerpunkte des Erinnerns sichtbar zu machen, auf die sich Menschen aus allen europäischen Ländern gemeinsam beziehen können, ist das Beste, was wir für ein starkes, demokratisches Europa und für starke Demokratien in Europa tun können. Als Inspiration mag uns das Orchester dienen, das diese Konferenz musikalisch begleitet. Hier gelingt, was wir uns für Europa wie auch für Europas Rolle in der Welt wünschen: das Zuhören und Einfühlen, das Lauschen auf andere Stimmen, auf Takt und Tonart, auf laut und leise, das Miteinander des Unterschiedlichen. In diesem Sinne, meine Damen und Herren, hoffe ich, dass das European Union Youth Orchestra heute nicht nur musikalisch den Takt vorgibt. Ich wünsche Ihnen eine erkenntnisreiche Konferenz, die das gemeinsame Engagement für ein geeintes, demokratisches Europa stärkt – ein Engagement, das Europa Frieden, Freiheit und Wohlstand geschenkt hat und auf das Europa seine Zukunft bauen kann!
In ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament hat Kulturstaatsministerin dazu aufgerufen, das Europäische Kulturerbjahr als „Bürgerfest der Verständigung über unsere europäischen Wurzeln und Werte zu feiern.“ Unzählige Initiativen und Projekte würden zeigen, dass die Europäische Union viel mehr sei als ein Zweckbündnis zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen, so Grütters.
Rede der Kulturstaatsministerin bei der Eröffnung der „European Policy Debate“ anlässlich des Kulturerbegipfels
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-bei-der-eroeffnung-der-european-policy-debate-anlaesslich-des-kulturerbegipfels-1147216
Fri, 22 Jun 2018 09:30:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Der Krieg dauert schon so lange, dass die meisten, die heute leben, keinen Frieden gesehen haben. Dass nur die Alten sich noch an Frieden erinnern.“ Diese Worte über den 30jährigen Krieg – den europäischen Glaubenskrieg, der vor 400 Jahren begann und unermessliches Leid über Europa brachte – diese Worte über den 30jährigen Krieg hat der international gefeierte, deutsche Schriftsteller Daniel Kehlmann in seinem neuen Roman Tyll dem Botschafter des Kaisers in den Mund gelegt – in einem Gespräch am Rande eines Gesandtenkongresses, der den Krieg beenden soll. „Ich und meine Kollegen“, fährt der Botschafter fort, „sind die Einzigen die ihn beenden können. Jeder will Gebiete, die der andere auf keinen Fall hergeben möchte, jeder verlangt Subsidien, jeder will, dass Beistandsverträge gekündigt werden, die andere für unkündbar halten, damit stattdessen neue Verträge zustande kommen, von denen andere meinen, sie seien unannehmbar. Das hier geht über die Fähigkeiten jedes Menschen weit hinaus. Und dennoch müssen wir es schaffen.“ Im Europa unserer Zeit, meine Damen und Herren, dauert der Frieden schon so lange, dass die meisten, die heute leben, keinen Krieg gesehen haben. Dass nur wenige sich noch an Krieg erinnern: an Schlachtfelder, an in Schutt und Asche liegende Städte, an zügellose Gewalt, an Menschen auf der Flucht und Leichen auf den Straßen – an all die Verheerungen und Verwüstungen, die Kriege über Jahrhunderte immer wieder im Antlitz Europas und in den Seelen der Europäer hinterlassen haben. Ja, der Frieden ist hierzulande so selbstverständlich geworden, dass beinahe in Vergessenheit geraten ist, wie sehr – wie weit „über die Fähigkeiten jedes Menschen (…) hinaus“– auch heute immer wieder um Verständigung gerungen werden muss. Die Europäische Union befindet sich in einer schwierigen Lage– erschüttert vom „Brexit““ Großbritanniens und vom Erstarken nationalistischer Strömungen, bedroht durch die Erosion demokratischer Grundwerte wie der Presse- und Kunstfreiheit in manchen europäischen Ländern und unter dem Eindruck zähen Ringens um gemeinsame Lösungen für globale Probleme, etwa um eine europäische Asylpolitik. So war es in der Geschichte der Europäischen Union vielleicht noch nie so wichtig wie heute zu vergegenwärtigen, worauf die europäische Einheit in Vielfalt gebaut ist. In diesem Sinne heiße ich sie im Namen der deutschen Bundesregierung herzlich zum European Cultural Heritage Summit willkommen, zu einem der glanzvollen Höhepunkte des europäischen Kulturerbejahres, das wir – dank Ihrer Initiativen und Projekte, meine Damen und Herren – europaweit als Jahr der Verständigung über unsere europäischen Wurzeln und Werte feiern. Ich freue mich sehr, so viele leidenschaftliche Europäerinnen und Europäer aus Politik und Zivilgesellschaft in Berlin begrüßen zu dürfen – einen vielstimmigen und vielsprachigen Chor aus Europa-Enthusiasten, der Menschen mit der Kraft unseres europäischen Kulturerbes für unsere gemeinsame geistige Heimat, für unsere Heimat Europa begeistert! Zu den rund 40 Projekten hier in Deutschland, die die Bundesregierung bisher aus meinem Kulturetat finanziell unterstützt, zählt die Ausstellung „Frieden. Von der Antike bis heute“ in Münster. Sie erzählt vom Ringen um Frieden in Europa, und ich erwähne sie nicht nur deshalb beispielhaft, weil Münster meine Heimatstadt ist, sondern auch weil Münster als Schauplatz des Westfälischen Friedens Zeugnis ablegt von der Kraft Europas zur Verständigung. In Münster haben erbitterte Feinde sich 1648 die Hand gereicht. In Münster ist am Verhandlungstisch nach 30 Jahren Krieg eine europäische Einigung gelungen, die beinahe unmöglich schien – aus jenem „Und dennoch müssen wir es schaffen“ heraus, das Daniel Kehlmann in seinem Roman Tyll einem Vertreter der Kriegsparteien in den Mund gelegt hat. Der European Cultural Heritage Summit vereint rund 70 solche Identität und Zusammenhalt stiftenden Projekte und Veranstaltungen von über 100 Institutionen aus ganz Europa. Sie alle zeigen, dass die Europäische Union viel mehr ist als eine Freihandelszone oder ein Zweckbündnis zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen. Sie alle setzen dem vielerorts – auch in Deutschland – wieder aufkeimenden Nationalismus den Stolz auf die vielfältige, im Austausch mit anderen Kulturen gewachsene europäische Kultur entgegen. Und deshalb bin ich sicher: Der Austausch im Rahmen der Konferenz inspiriert Sie sicherlich in Ihrem Engagement für den Schutz und die Vermittlung des Kulturerbes, meine Damen und Herren, und beflügelt die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg – und damit jene Kultur der Verständigung, die wir uns für Europa wünschen! Gerade in diesen Zeiten, in denen Konflikte Europas Einheit bedrohen, kann die Vergegenwärtigung des gemeinsamen kulturellen Erbes Zusammenhalt stiften. Es sind die Meisterwerke der Kunst und Architektur und die darin sichtbaren Spuren bereichernden Austauschs wie auch die darin eingebrannten Narben leidvoller Konflikte zwischen Nationen und Kulturräumen, die eindringlich vermitteln, wie sehr die Bürgerinnen und Bürger Europas einander über nationale Grenzen hinweg verbunden sind. Vor allem aber führt uns das Europäische Kulturerbejahr vor Augen, dass Europa für eine zivilisatorische Errungenschaft steht, die sich nach dem unfassbaren Leid zweier Weltkriege und nach dem Grauen der nationalsozialistischen Barbarei vermutlich nicht einmal die visionären Unterzeichner der Römischen Verträge hätten träumen lassen. Wir Europäerinnen und Europäer haben es geschafft, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen und eben dadurch unterschiedlichen Kulturen und Religionen, Lebensentwürfen und Weltanschauungen eine Heimat zu bieten. Diese Einheit in Vielfalt durch Verständigung macht Europa – und den Frieden im Europa – im Kern aus. Und deshalb muss allen, die politisch Verantwortung tragen, klar sein: Wer in Konfliktsituationen den Glauben an die Möglichkeit gemeinsamer europäischer Lösungen preisgibt, katapultiert Europa zurück in eine Zeit, in der das Recht des Stärkeren regierte – und ignoriert die Zeugnisse jener Jahrhunderte, in der dieses Prinzip brutale europäische Realität war. Einheit in Vielfalt durch Verständigung: Das ist nicht das Ergebnis unseres wirtschaftlichen Wohlstandes; es ist vielmehr dessen Voraussetzung. Vor allem aber ist die Bereitschaft, der Verständigung Vorzug vor der Macht des Stärkeren zu geben, Ausdruck von Humanität. Daran zu erinnern und in der Vergegenwärtigung leidvollen Scheiterns wie auch hoffnungsvoll stimmender Erfolge europäischer Verständigung Ankerpunkte des Erinnerns sichtbar zu machen, auf die sich Menschen aus allen europäischen Ländern gemeinsam beziehen können, ist das Beste, was wir für ein starkes, demokratisches Europa und für starke Demokratien in Europa tun können. Zur Verständigung, die ein friedliches Miteinander in der Vielfalt unterschiedlicher Interessen, Lebensweisen, Traditionen und Weltanschauungen in einem geeinten Europa und in einer globalisierten Welt immer wieder aufs Neue erfordert, können heute – neben den baukulturellen Vermächtnissen europäischer Geschichte – nicht zuletzt auch Kunst und Kultur beitragen. Gerade die Kultur birgt ja die große Chance, Räume für kontroverse Debatten zu eröffnen und Orte zu schaffen, an denen das Unmögliche gedacht werden kann, um dann das Mögliche zu tun. Ob Poesie, ob Malerei, ob Film oder Musik, Theater oder Tanz: Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren. Kunst kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Kunst kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht. Kunst kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Verständigung in Europa und in der Welt braucht deshalb nicht nur die Kunst der Diplomatie, sondern auch die Diplomatie der Kunst und Kultur. Eine Kulturpolitik, die neben der Auseinandersetzung mit der eigenen Identität auch die künstlerische Avantgarde und den kulturellen Austausch fördert, und engagierte Botschafterinnen und Botschafter des kulturellen Erbes – so wie Sie, meine Damen und Herren –, sind Wegbereiter europäischer Verständigung. Wege der Verständigung über die tiefe Kluft zwischen gegensätzlichen Interessen und Perspektiven zu finden, das geht vielleicht (um die eingangs zitierten Worte aus Daniel Kehlmanns Roman Tyll noch einmal aufzugreifen) auch heute „über die Fähigkeiten jedes Menschen weit hinaus. Und dennoch müssen wir es schaffen.“ – In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine inspirierende Konferenz und uns allen ein weiterhin erfolgreiches Europäisches Kulturerbejahr. Möge es über 2018 hinaus die Hoffnungen der Europäerinnen und Europäer auf ein in Vielfalt geeintes, demokratisches Europa beflügeln – eine Hoffnung, die Europa Frieden, Freiheit und Wohlstand geschenkt hat und auf die Europa seine Zukunft bauen kann!
Unter dem Motto „Sharing Heritage–Sharing Values“ haben Vertreter aus Politik und Kultur aus ganz Europa über den Wert des Kulturerbes für den Zusammenhalt diskutiert. Staatsministerin Grütters stellte in ihrer Rede klar: „Gerade in diesen Zeiten, in denen Konflikte Europas Einheit bedrohen, kann die Vergegenwärtigung des gemeinsamen kulturellen Erbes Zusammenhalt stiften.“ Zudem warnte Sie davor, in Konfliktsituationen den Glauben an europäische Lösungen preiszugeben. Wer das tut, „katapultiert Europa zurück in eine Zeit, in der das Recht des Stärkeren regiert.“
Rede der Kulturstaatsministerin auf dem Open Heritage Evening im Rahmen des European Cultural Heritage Summit
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-auf-dem-open-heritage-evening-im-rahmen-des-european-cultural-heritage-summit-1147212
Thu, 21 Jun 2018 20:10:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Herzlich willkommen in Berlin, herzlich willkommen am vermutlich einzigen öffentlichen Ort der deutschen Hauptstadt, der es während der Fußball-WM in puncto Anziehungskraft mit der Fan-Meile am Brandenburger Tor aufnehmen kann. Umgeben von Kunst und Kultur aus mehreren tausend Jahren Menschheitsgeschichte – so feiert man schließlich nicht alle Tage! Für den Willkommensempfang zum „Cultural Heritage Summit“ gibt es wohl kaum eine bessere Kulisse: Denn hier auf der Museumsinsel, die zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, braucht es gar keine großen Worte, um die Strahlkraft des europäischen Kulturerbes zu beschwören. Die großartigen Bauwerke mit den einzigartigen Sammlungen, die sie beherbergen, sprechen für sich. Auf würdigende Worte für Ihr Engagement im Rahmen des europäischen Kulturerbejahres möchte ich aber keinesfalls verzichten, meine Damen und Herren. Denn es sind Ihre Ideen und Initiativen, die dieses europäische Themenjahr mit Leben füllen und die so viele Menschen – allein im ersten Quartal waren es europaweit eine Million! – dazu bewegen, der Seele Europas in den Zeugnissen vergangener Epochen nachzuspüren. Es ist Ihr Engagement, dass es uns ermöglicht, das Europäische Kulturerbejahr als Bürgerfest der Verständigung über unsere europäischen Wurzeln und Werte zu feiern! Dafür danke ich Ihnen von Herzen! Dankbar bin ich auch, dass die Europäische Kommission, das Parlament und alle europäischen Mitgliedsstaaten das Kulturerbejahr in großer Einigkeit unterstützen – ebenso wie Bund, Länder und Zivilgesellschaft hier in Deutschland. Aus dem Bundeskulturetat konnte ich bisher in enger Zusammenarbeit mit Ländern und Kommunen rund 40 bundesbedeutsame Projekte fördern, weitere werden bald folgen. Dass Deutschland darüber hinaus auch Gastgeber für den European Cultural Summit – und damit für eine der zentralen europäischen Veranstaltungen des Europäischen Kulturerbejahres – sein darf, freut mich natürlich ganz besonders! Die Strahlkraft unseres gemeinsamen kulturellen Erbes können wir zum Auftakt dieses Gipfels heute Abend auf der Museumsinsel nicht nur sehen, meine Damen und Herren. Wir können sie auch hören: Hier draußen begleitet uns das international besetzte Sharing Heritage Love Tree Ensemble mit europäischer Folkmusik durch den Abend. Und in verschiedenen Räumen des Neuen Museums, das heute den ganzen Abend exklusiv für Sie geöffnet hat, spielen Musikerinnen und Musiker des European Union Youth Orchestra für uns auf – unter anderem Beethovens Cavatina aus dem Streichquartett opus 130, die es (wie auf Wikipedia nachzulesen ist) zur Kulturbotschafterin der Erde im Weltall gebracht hat: Als eines von mehreren Musikstücken befindet sie sich auf der „Voyager Golden Record“ an der 1977 gestarteten NASA-Raumsonde Voyager 2. Sollte es außerirdisches Leben geben, machen wir damit – so viel ist sicher! – bestimmt einen guten ersten Eindruck! Bis es soweit ist, mag uns die Musik, mag uns die Kultur als irdische Botschafterin dienen und Zusammenhalt in Vielfalt stiften. Ich bin jedenfalls überzeugt, dass wir für Verständnis und Verständigung nicht nur die Kunst der Diplomatie, sondern auch die Diplomatie der Kunst brauchen – ihre Kraft, Verbindendes sichtbar zu machen und zu Verständnis und Verständigung beizutragen. Das European Union Youth Orchestra mit seinen rund 140 Musikerinnen und Musikern aus allen EU-Mitgliedsstaaten steht dafür beispielhaft, ist es doch seit mehr 40 Jahren Symbol des europäischen Prinzips der Einheit in Vielfalt. Deshalb bin ich froh, dass es dank gemeinsamer Anstrengungen gelungen ist, seine Finanzierung auch für die Zukunft zu sichern. In einem solchen Orchester gelingt, was wir uns auch für Europa wünschen: das Zuhören und Einfühlen, das Lauschen auf andere Stimmen, auf Takt und Tonart, auf laut und leise, das Miteinander des Unterschiedlichen. Was darüber hinaus die Auseinandersetzung mit unserem kulturellen Erbe zu Einheit in Vielfalt, zu Verständigung und Zusammenhalt in Europa beitragen kann, werden wir morgen im Rahmen des European Cultural Heritage Summit diskutieren. Berlin ist dafür eine geradezu prädestinierte Bühne: nicht nur als Ort der Erinnerung an die jahrzehntelange Spaltung Europas in Freiheit und Unfreiheit und an ihre glücklichen Überwindung vor 28 Jahren; nicht nur als Ort des UNESCO-Weltkulturerbes und des Kulturgenusses in zahlreichen Museen, Opern, Konzerthäusern und Theatern; sondern auch als Sehnsuchtsort der künstlerischen Avantgarde und junger Menschen auf der ganzen Welt, die sich ganz besonders von der Vielfalt Berlins angezogen und inspiriert fühlen, und als Stadt, die enorm davon profitiert, der Vielfalt eine Heimat zu sein, weil damit auch Pioniergeist, Experimentierfreude und Innovationskraft Einzug halten. Ich freue mich, dass wir im Rahmen des Summits erfahren werden, wie die Kraft der Kultur auch viele andere europäische Städte und Regionen, ja ganz Europa zum Strahlen bringt. Und ich bin überzeugt: Europas Puls schlägt laut und kräftig, wo die Herzen der Europäer für Europa schlagen. Sorgen wir also – nicht nur, aber ganz besonders in diesem Europäischen Kulturerbejahr – dafür, dass der kulturelle Reichtum Europas, dass unser gemeinsames Kulturerbe die Herzen höher schlagen lässt! In diesem Sinne: auf einen erfolgreichen Gipfel und auf einen schönen Abend in Gesellschaft überzeugter Europäer und europäischer Kulturschätze!
Am Vorabend des „Cultural Heritage Summit“ hat Kulturstaatsministerin Grütters das Engagement für das europäische Kulturerbe gerade im Themenjahr gewürdigt. Sie hoffe auch bei dem Gipfel auf interessante Diskussionen um die Auseinandersetzung des kulturellen Erbes. „Europas Puls schlägt laut und kräftig, wo die Herzen der Europäer für Europa schlagen. Sorgen wir also – nicht nur, aber ganz besonders in diesem Europäischen Kulturerbejahr – dafür, dass der kulturelle Reichtum Europas, dass unser gemeinsames Kulturerbe die Herzen höher schlagen lässt!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2018 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-gedenktag-fuer-die-opfer-von-flucht-und-vertreibung-am-20-juni-2018-in-berlin-1140660
Wed, 20 Jun 2018 13:37:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident, lieber Horst Seehofer, liebe Julia Klöckner, lieber Ministerpräsident Woidke, sehr geehrter Herr Weihbischof, sehr geehrter Herr Fabritius, Exzellenzen, liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestags und der Landtage, sehr verehrte Staatsminister, sehr verehrte Staatssekretäre, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie alle ganz herzlich. Lieber Herr Arunagirinathan, das war eben eine berührende Rede. Und ich will Ihnen sagen: Unter den vielen Eichen, Tannen und Fichten freuen wir uns über den Mangobaum mit seinen Wurzeln. Wir merken ja alle: Es sind diese persönlichen Geschichten, die verdeutlichen, dass Flucht eben nichts Abstraktes ist, dass dahinter menschliche Schicksale stehen – leider allzu oft auch solche, die nicht gut enden. Flucht und Vertreibung sind Erfahrungen, die sowohl unsere Vergangenheit als auch unsere Gegenwart prägen. Vor vier Jahren haben wir im Bundeskabinett entschieden, den Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung einzuführen – und zwar am 20. Juni, dem Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen. Es war und ist uns wichtig, an diesem Tag die Stimme der deutschen Heimatvertriebenen der Kriegs- und Nachkriegszeit – so wie wir sie hier auch authentisch von Ihnen gehört haben, Herr Weihbischof – und die Stimme der Menschen, die heute auf der Flucht sind, gleichermaßen zu hören. Mehr als 70 Jahre liegt der Zweite Weltkrieg nun zurück – eine Zeitdauer von zwei bis drei Generationen. Doch die Katastrophen des Krieges, des Holocaust und der Vertreibung wirken bis in die heutigen Tage nach. Das kann angesichts des Ausmaßes an Leid, Verbrechen und Vernichtung auch nicht verwundern. Es sind auch und gerade die Erfahrungen und Lehren dieser Katastrophen, die die Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland gelegt haben. Sie verpflichten und verändern auch das heutige Deutschland auf seinem weiteren Weg in Europa und in der Weltgemeinschaft. Ende 2017 waren 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht – eine schier unvorstellbare Zahl; die höchste seit dem Zweiten Weltkrieg. UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi sagte dazu völlig zu Recht: „Welchen Maßstab man auch nimmt, diese Zahl ist nicht zu akzeptieren.“ Besonders bedrückend ist, dass unter den Fliehenden ungefähr die Hälfte Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind. Diese Mädchen und Jungen sollten spielen, sie sollten in die Schule gehen und sich in ihrem Zuhause sicher fühlen können. Sie sollten nicht die Leiden und Ängste einer Flucht durchmachen müssen, die sie durchmachen. Die erschreckenden Zahlen machen deutlich, dass Flucht eine zentrale globale Frage unserer Zeit ist; eine Frage, die wir in Europa lange Zeit nicht so wahrgenommen, teils auch verdrängt haben – ich habe das auch in meiner Regierungserklärung zu Beginn dieser Legislaturperiode gesagt –, und eine Frage, die uns vielleicht auch gerade deshalb jetzt vor besondere Herausforderungen stellt. Ich möchte noch einmal betonen: Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Deutschland steht sowohl zu seiner humanitären Verantwortung, Menschen zu schützen, die vor Krieg und Terror geflüchtet sind, als auch zu seiner Verantwortung für den Zusammenhalt in Europa. Beides gehört zusammen. Denn wie man es dreht und wendet: Migration ist eine europäische Herausforderung; im Augenblick vielleicht unsere größte Herausforderung. Es geht um den Zusammenhalt der Europäischen Union. Wir müssen Migration steuern und ordnen. Migration muss nach klaren Regeln erfolgen. Und wir müssen festlegen – möglichst mit gemeinsamen Standards in der Europäischen Union –, wer zu uns kommen und wer bei uns bleiben darf; und wer nicht. Es liegt im tiefsten Interesse unserer Länder, Europa zusammenzuhalten. Aus ureigenem Interesse gilt es, die großen Fragen der Außen-, der Flüchtlings- und Migrationspolitik gemeinsam zu beantworten. Es wäre nicht gut, wenn das jeder zulasten des Anderen täte. Eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik hat nicht nur eine innereuropäische, sondern auch eine außereuropäische Dimension. Wir müssen die Wurzeln von Flucht und illegaler Migration angehen. Das heißt, Menschen sollten sich gar nicht erst zur Flucht gezwungen sehen. Sie sollten für sich und ihre Familien in ihrer Heimat Perspektiven sehen. Daran zu arbeiten, ist eine der schwierigen, langwierigen, aber unglaublich wichtigen Aufgaben. Man muss keine prophetische Gabe haben, wenn man sagt: Das wird Europa noch die nächsten Jahrzehnte beschäftigen, insbesondere mit Blick auf unseren Nachbarkontinent, den afrikanischen Kontinent. Deshalb investieren wir in die Förderung von Frieden und Stabilität ausgewählter Herkunfts- und Transitstaaten. Wir fördern Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Bildung und Beschäftigung. Und wir befassen uns – jetzt auch während unseres zweijährigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat – mit den Fragen der Flucht und Vertreibung, die durch Klimawandel und Naturkatastrophen hervorgerufen werden. Kaum eine Krise oder ein Konflikt kann allein mit militärischen Mitteln beseitigt werden. Humanitäre, entwicklungspolitische, wirtschaftspolitische, diplomatische, polizeiliche und manchmal auch militärische Maßnahmen müssen Hand in Hand gehen. Das ist unsere Überzeugung: Es gibt keine Entwicklung ohne Sicherheit – und keine Sicherheit ohne Entwicklung. Das gilt auch für Syrien, wo immer noch eine dramatische Situation herrscht. Viele Syrer sind in Nachbarländer geflohen. Auch dort müssen wir ihre Lage verbessern. Ich werde heute Nachmittag nach Jordanien und in den Libanon reisen – zwei Länder, die eine große Zahl von Flüchtlingen aufgenommen haben, obwohl die Situation in ihren Ländern schon sehr anspruchsvoll und fragil ist. Glücklicherweise haben wir jetzt endlich die Bedeutung erkannt, heimatnah die Lager für Flüchtlinge und Bildungsmöglichkeiten für Kinder zu unterstützen. Viele aber haben aus purer Existenznot keinen anderen Weg gesehen, als ihr Heil in der Flucht nach Europa, auch nach Deutschland, zu suchen, selbst auf die Gefahr, dabei ums Leben zu kommen. Uns hilft zum Beispiel die EU-Türkei-Vereinbarung. Die Türkei hat immerhin über drei Millionen Menschen aufgenommen und damit dazu beigetragen, dass nicht noch mehr Menschen auf der Ägäis ihr Leben verloren haben. Wir verhandeln derzeit die Umsetzung der New Yorker Erklärung vom September 2016 zu einem globalen Flüchtlingsabkommen und einer globalen Vereinbarung zu sicherer, geordneter und regulärer Migration. Ziel ist es, die Erstaufnahmestaaten zu entlasten und Lösungen in Drittstaaten zu ermöglichen. Es geht immer darum, Verantwortung zu teilen. Wir wissen, dass dabei noch unendlich viel zu tun ist. Aber bei allem dürfen wir nie vergessen – und das haben Sie beide uns eben so eindrücklich geschildert –, dass es immer um Menschen geht; um Menschen, die sehr häufig unverschuldet in Not geraten sind. Deshalb ist unser Gedenktag bewusst den Opfern von Flucht und Vertreibung gewidmet – den Opfern, denn die allermeisten Fliehenden sind Opfer. Die deutschen Heimatvertriebenen und ihre Angehörigen wissen nur allzu genau um die Tragweite dieses Begriffs. Die Heimatvertriebenen waren Opfer, die bitteres Unrecht erlitten haben. Aber wir verkennen auch nicht Ursache und Wirkung. Vertreibung und Flucht der Deutschen waren eine unmittelbare Folge des von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkriegs und der unsäglichen Verbrechen während der nationalsozialistischen Diktatur. Doch das ändert nichts daran, dass es für Vertreibung weder eine moralische noch eine politische Rechtfertigung gab. Die Lebensgeschichten der deutschen Heimatvertriebenen gehören zur deutschen Geschichte, zu unserem kollektiven Gedächtnis. Erinnern und Gedenken haben mit Wahrhaftigkeit zu tun und mit der Kraft, die eigene Geschichte auch anzunehmen. Annehmen – das bedeutet auch für die jungen Generationen, das Geschehen ein Stück weit zur eigenen Erfahrung werden zu lassen, es sich dadurch zu eigen zu machen. Weihbischof Pieschl hat darauf hingewiesen: Es muss weitergetragen werden. Diese Aneignung historischer Erfahrung kann helfen, sich auch heutigen Fragen von Flucht und Vertreibung offen zuzuwenden. Auch deshalb ist es so wichtig, den Erfahrungsschatz der deutschen Heimatvertriebenen zu bewahren. Zweifellos – das will ich ganz deutlich sagen – kann man die heutige Flucht aus Syrien oder Afghanistan aus vielerlei Gründen nicht mit der damaligen Vertreibung, etwa aus Ostpreußen oder Schlesien, gleichsetzen. Sicher nicht – aber die Fluchterlebnisse, der Heimatverlust, die Gefahren und Angstgefühle, sie ähneln sich. Ab Herbst 1944 zogen lange Flüchtlingstrecks aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Richtung Westen. Auch viele Deutsche, die in anderen Ländern Ost- und Südosteuropas lebten, mussten ihre Heimat verlassen. Millionen von Menschen, vor allem Frauen, Kinder und Ältere, machten sich auf den beschwerlichen Weg ins Ungewisse. Sie mussten nicht nur Wind und Wetter trotzen, sie waren auch An- und Übergriffen schutzlos ausgeliefert. Bis zu zwei Millionen Menschen sind infolge von Flucht und Vertreibung ums Leben gekommen. Und bei denen, die es in den Westen schafften, haben Hunger, Erschöpfung, Plünderung und Vergewaltigung oft lebenslange Traumata hinterlassen. Die Neuankömmlinge hatten fast alles verloren: Familie und Freunde, Arbeit und Ansehen, Haus und Heimat. Ein derartiger Verlust lässt sich nicht vergessen und kaum überwinden. Der Dichter und Denker Johann Gottfried von Herder war der Ansicht: „Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss.“ Flüchtlinge und Vertriebene kommen erst einmal als Fremde; sie müssen sich erklären. Von ihnen wird Anpassung erwartet. Auch hiervon können deutsche Heimatvertriebene berichten. Es war ja nicht so, dass die Deutschen im Westen nur auf sie gewartet und sie überall mit offenen Armen empfangen hätten. In den Nachkriegsjahren fühlten sich viele schon allein durch die große Zahl der Neuankömmlinge bedroht. Durch den Zuzug der Vertriebenen wuchs die Gesellschaft um knapp 20 Prozent; man muss sich das einmal vorstellen. Wohin mit all diesen Menschen? Wohnraum war in den ausgebombten Städten sowieso schon zu knapp. Viele wurden in Privathäusern, oft auch zwangsweise, einquartiert. Keine einfachen Voraussetzungen für Integration. In der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR fürchteten die Machthaber, dass Vertriebene das Verhältnis zu den sozialistischen Nachbarstaaten belasten könnten. Viele Vertriebene hatten erst nach 1989 die Möglichkeit, offen über das Erlittene zu sprechen. Hier hat der Bund der Vertriebenen mit seinen neu gegründeten Landesverbänden unglaublich wichtige Arbeit geleistet, für die ich ganz herzlich danken möchte. Dass letztendlich in beiden Teilen Deutschlands Integration trotz aller Widrigkeiten gelang, war vor allem ein Verdienst der Vertriebenen selbst. Entwurzelt zu werden, aber in der Ferne einen Neuanfang zu wagen, mit anzupacken und Deutschland hüben wie drüben wiederaufzubauen – das ist eine persönliche, kulturelle und gesellschaftliche Leistung, die zu den großen Erfolgsgeschichten unseres ganzen Landes gehört. Und so möchte ich Johann Gottfried von Herder antworten: Auch da, wo man sich erklären muss, kann man eine neue Heimat finden. Wer aber Flucht und Vertreibung nicht selbst durchmachen musste, kann kaum ermessen, was diese Erfahrungen bedeuten. Aber wir können versuchen, sie zu begreifen. Wir können zuhören und lernen, auch damit kein neues Leid durch Leugnung, Verdrängung und Nichtbeachtung entsteht. Auch deswegen ist es uns als Bundesregierung wichtig, Erinnerungskultur zu stärken. Deswegen bin ich auch froh, dass wir die Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung haben. Und ich bin froh, dass wir der Eröffnung des Dokumentationszentrums deutlich nähergekommen sind, auch wenn sich die Zeit hinzieht. Im letzten Jahr wurde nämlich das Konzept zur Dauerausstellung verabschiedet. Wir wollen auch die Erinnerung an die deutsche Kultur- und Siedlungsgeschichte im östlichen Europa wachhalten. Deshalb haben wir die Fördermittel für ihre Erforschung und Vermittlung erhöht. Seit 2017 steht jährlich eine Million Euro zusätzlich zur Verfügung. Für uns steht der Gedanke von Versöhnung, Verständigung und Verstehen im Mittelpunkt. Indem wir die vor Ort lebenden deutschen Minderheiten unterstützen, schärfen wir zugleich den Blick dafür, wie viel uns in Europa miteinander verbindet. Der Versöhnungsgedanke leitet uns auch bei der Anerkennung des individuellen Schicksals durch die Gesellschaft. Allerdings hat es sehr lange gedauert, bis wir 2016 eine Anerkennungsleistung für ehemalige zivile deutsche Zwangsarbeiter beschlossen haben. Über 46.000 Personen, die nach dem Krieg in den ehemaligen Ostgebieten Zwangsarbeit leisten mussten, haben daraufhin einen Antrag auf Entschädigung gestellt. Ich bin froh, dass so viele dieses Angebot angenommen haben. Verantwortung tragen wir auch für die Aufnahme und Integration von Spätaussiedlern. Mehrere Tausend von ihnen kommen weiterhin jedes Jahr nach Deutschland. Seit 1950 hat die Bundesrepublik etwa fünf Millionen Aussiedler, Spätaussiedler und Familienangehörige aufgenommen. Meine Damen und Herren, Flucht und Vertreibung gehören zu unserer deutschen und europäischen Geschichte. Wir wollen die Erfahrungen der Geflüchteten, der Vertriebenen und der deutschen Minderheiten hören, ihre Kultur und ihre Erinnerung pflegen. Wir wollen daraus lernen. Denn Flucht mit all ihren Facetten und Folgen gehört auch zur deutschen und europäischen Gegenwart. Migration und Integration sind drängende Fragen unserer Zeit. Wir brauchen konstruktive, humane und europäische Antworten. Das alles ist leichter gesagt als getan. Aber es geht um Menschenleben. Es geht um Perspektiven in den Herkunftsländern. Es geht um den Kampf gegen die menschenverachtenden Machenschaften von Schleppern und Schleusern. Es geht um die Bekämpfung von illegaler Migration. Es geht um eine geordnete und gesteuerte, legale Zuwanderung. Es geht um gelungene Integration. Und es geht um Zusammenhalt. Kurzum: Es geht um sehr viel, für das es sich lohnt, sich einzusetzen, und an das uns auch dieser Gedenktag mahnt. Ich möchte mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit bedanken. Die Entscheidung vor vier Jahren war eine ganz wichtige. Dieser Gedenktag zeigt auch, was wir in der Vergangenheit bewältigt haben, wie Vertriebene dazu beigetragen haben, diese Bundesrepublik Deutschland zu formen, und wie wir unsere Verantwortung auch in Zukunft leben müssen. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung des startsocial-Sonderpreises am 20. Juni 2018 im Bundeskanzleramt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verleihung-des-startsocial-sonderpreises-am-20-juni-2018-im-bundeskanzleramt-1141824
Wed, 20 Jun 2018 11:49:00 +0200
Berlin
Liebe Wettbewerbsteilnehmerinnen und Wettbewerbsteilnehmer, erst einmal meinen Glückwunsch an alle, die schon ausgezeichnet wurden. Die anderen bitte ich nicht traurig zu sein. Denn jeder, der heute dabei ist, ist schon ein bisschen ausgezeichnet. Ich bin jetzt mit der Verleihung des Sonderpreises dran und will vorher noch einmal sagen: Viele engagieren sich ehrenamtlich; es wird etwas aufgebaut, man hilft im Sport, viele helfen im Naturschutz. Es gibt viele Motivationen und Motive dafür, sich einzubringen. Dennoch hat mich ganz besonders eine Initiative berührt, die hilft, bei anderen Leid zu lindern, das man auch selbst erfahren hat – das Leid des persönlichen Verlusts eines lieben, nahestehenden Menschen. Hier Beistand zu leisten, ist ja alles andere als einfach. Initiativen, die Menschen mit ihrer Trauer nicht alleine lassen, sind sehr wichtig, aber auch schwierig. Deshalb gibt es diesmal den startsocial-Sonderpreis für eine solche Initiative. Zum Engagement des Vereins gehört nicht nur ein immenses Einfühlungsvermögen, sondern auch Mut – Mut, sich dem zu stellen, was einem eigentlich unüberwindbar erscheint; auch Mut, auf andere zuzugehen, die mit ihrem Leid sehr beschäftigt sind und vielleicht manchmal auch harte Reaktionen zeigen. Ich darf nun verraten: Der startsocial-Sonderpreis 2018 geht an den Verein „Wolfsträne“ aus Leipzig. Er kümmert sich nämlich um trauernde Kinder und Jugendliche. Er steht ihnen zur Seite bei der Bewältigung dessen, was man eigentlich nicht in Worte fassen kann; und das ist eben der Verlust eines nahen Angehörigen, vielleicht von Mutter oder Vater oder eines Geschwisters. Liebe Frau Gärtner, liebe Frau Enoch, für Ihr wunderbares Engagement danke ich Ihnen und allen, die mitwirken, und bitte Sie, nach vorne zu kommen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Begrüßung bei der Preisverleihung des 14. Wettbewerbs startsocial am 20. Juni 2018 im Bundeskanzleramt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-begruessung-bei-der-preisverleihung-des-14-wettbewerbs-startsocial-am-20-juni-2018-im-bundeskanzleramt-1141820
Wed, 20 Jun 2018 11:12:00 +0200
Berlin
Ich möchte Sie alle ganz herzlich hier begrüßen – die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Wettbewerbs startsocial und Herrn Düsedau. Er ist ja gewissermaßen Stammgast hier im Haus. Natürlich begrüße ich auch die Sponsoren, die Coaches und alle anderen Gäste. Ganz besonders heiße ich den Verein HEIMATSUCHER aus Düsseldorf willkommen – den Sonderpreisträger des Jahres 2016. Herzlichen Dank für die Präsentation Ihres Vereins und seiner Arbeit. Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren Einsatz, die Erinnerung an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte wachzuhalten. Wir dürfen unter dieses Kapitel deutscher Geschichte eben gerade keinen Schlussstrich ziehen. Denn das unsägliche Leid, das Millionen von Opfern widerfahren ist, bleibt uns stete Mahnung, gegen jegliche Form von Extremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit immer wieder vorzugehen. Wenn sich im November dieses Jahres zum 80. Mal die Pogromnacht von 1938 jährt, dann werden wir uns noch einmal daran erinnern, wie damals Läden boykottiert, Scheiben eingeworfen und Synagogen in Brand gesteckt wurden. Menschen wurden angepöbelt, geschlagen und deportiert. Das waren zwar nicht die ersten Verbrechen an der jüdischen Gemeinschaft, aber es waren die Vorzeichen für den millionenfachen Mord, der danach noch folgen sollte. Deshalb ist es unbegreiflich, wenn heute Stimmen laut werden, die die nationalsozialistische Diktatur zu verharmlosen versuchen. Ob Geschichtsvergessenheit oder Geschichtsklitterung – beidem müssen wir entgegenwirken, um extremistisches Gedankengut nicht weiter aufkeimen zu lassen. Deshalb ist und bleibt Ihr Engagement, liebe Heimatsucher, so wichtig. Sie sind ein leuchtendes Beispiel für ehrenamtliches Engagement. Aber Sie sind zum Glück auch nicht das einzige leuchtende Beispiel, sondern wir haben hier weitere 25 Vorzeigebeispiele. Und diese sind auch wiederum nur wenige Beispiele für die vielen, die es noch gibt und an die wir heute auch ein bisschen denken wollen. Sie alle repräsentieren vielfältig gelebtes Ehrenamt. Sie stehen für ein Land, in dem es den allermeisten Menschen nicht egal ist, wer in der Nachbarschaft lebt und wie er lebt. Sie legen los und packen an, wenn Not am Mann oder Not an der Frau ist. Das ist die Einstellung für ein Miteinander, wie wir es in unserer Gesellschaft brauchen. Das stärkt den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Das kann man nicht von irgendeiner politischen Bühne aus befehlen, sondern das ist gelebte Solidarität. Politik allein kann das überhaupt nicht leisten. Aber wir können das Ehrenamt fördern und sollten dies auch tun. Wir können den Ehrenamtlichen das Wirken leichter machen. Wir haben uns vorgenommen, in dieser Legislaturperiode den rechtlichen Rahmen für das Ehrenamt zu verbessern und bürokratische Hürden abzubauen. Wir wollen das Gemeinnützigkeitsrecht verbessern und ebenso das Stiftungsrecht. Wir wollen auch die steuerliche Entlastung von Ehrenamtlichen ausbauen. Und wir wollen unsere bundeseigenen Angebote weiter stärken – zum Beispiel die Mehrgenerationenhäuser, von denen es bereits über 500 im ganzen Land gibt. Wir planen auch ganz konkrete Unterstützungsmaßnahmen. Wir wollen eine Einrichtung schaffen, die ehrenamtlich Engagierte bei organisatorischen und bei digitalen Fragen unterstützt. Wir wollen ehrenamtliche und gemeinnützige Organisationen in ihrer Start- und Wachstumsphase fördern. Das ist im Grunde ein ähnliches Modell, wie Sie es in privater Initiative bei startsocial praktizieren. Gerade in den ersten Anfängen einer Initiative, in denen es noch an Erfahrung fehlt, kann professionelle Hilfe Gold wert sein. Oft reicht ja Herzblut allein nicht aus. Das braucht man, aber das ist nicht das Einzige. Es kann auch der Punkt kommen, an dem man sagt: So geht das nicht mehr weiter; wie können wir wesentlich mehr erreichen? Das ist dann der Punkt, an dem startsocial so wichtig für Sie alle ist. Denn dann kommen Sie mit Menschen zusammen, die einfach wissen, wie man etwas gut auf den Weg bringen kann. Die Coaches durchleuchten die Projekte und schauen nach Schwachstellen. Ich stelle mir das nicht immer einfach vor, wenn man entscheidet, dass jemand das eigene Projekt anguckt, um dann vielleicht daran herumzumosern und zu fragen: Hast du überhaupt eine Ahnung? Aber irgendwie scheint es ja zu klappen, denn sonst säßen Sie und Herr Düsedau und die Sponsoren ja nicht hier. Deshalb haben Sie alle gelernt, dass man von anderen lernen kann, dass selbst gut gemeint noch nicht immer gut gemacht ist, dass man das, was Sie sich vorgenommen haben, gut machen kann und dass dann das gut Gemeinte noch viel besser zum Vorschein kommt. Das ist ja das Tolle. Das führt auch dazu, dass ich jedes Jahr wieder mit denen, die am Wettbewerb teilnehmen, gern zusammenkomme. Das kann ich mir nicht bei allen guten Initiativen in Deutschland leisten. Aber diese Initiative finde ich so speziell, weil auch die Wirtschaftsvertreter Einblicke in Dinge bekommen, die sie vorher so nicht gesehen und gekannt haben. Das heißt, die Initiative bereichert beide Seiten. Das ist auch in diesem Jahr so. Ich begrüße Sie noch einmal ganz herzlich und wünsche uns eine schöne Veranstaltung.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim IX. Petersberger Klimadialog am 19. Juni 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-ix-petersberger-klimadialog-am-19-juni-2018-1140578
Tue, 19 Jun 2018 10:04:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Kollege Morawiecki, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Bainimarama, liebe Frau Bundesministerin Schulze, sehr geehrte Damen und Herren aus nah und fern, ich möchte Sie seitens der gesamten Bundesregierung nochmals hier in Berlin herzlich willkommen heißen. Einen ganz besonderen Dank möchte ich an meinen Kollegen, Ministerpräsident Morawiecki, senden. Denn es ist nicht selbstverständlich, dass wir hier bei diesem Klimadialog gemeinsam auftreten können. Dieses Treffen dient der Vorbereitung der nächsten UN-Klimakonferenz. Deshalb deutet auch durch die Anwesenheit des Ministerpräsidenten alles darauf hin, dass Polen Gastgeber sein wird. Polen wird bereits zum vierten Mal Gastgeber der Klimakonferenz sein. Deshalb ganz herzlichen Dank dafür, dass Sie Kattowitz für die Veranstaltung ausgesucht haben. Denn Kattowitz steht im Grunde für das, was auch uns in Deutschland beschäftigt, nämlich für den Strukturwandel in Regionen, die durch Schwerindustrie und Bergbau gekennzeichnet sind und in denen der Wandel im Sinne des Klimaschutzes gestaltet werden muss. Das ist alles andere als eine einfache Sache. Da wird das Thema Klimaschutz auch sehr konkret. Im vergangenen Jahr hatte mit der Republik Fidschi erstmals ein vom Klimawandel besonders betroffener Inselstaat die Präsidentschaft der Klimakonferenz inne. Daraus entstand der Talanoa-Dialog. Mit diesem klangvollen Namen verbindet sich ein bestimmtes Verfahren, wie es im pazifischen Raum angewandt wird. Es geht darum, statt sich in Interessengegensätzen zu verlieren, Gemeinsamkeiten herauszustellen. Das erleichtert, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. So kann man sich mit frischem Ehrgeiz daranmachen, das Pariser Klimaschutzabkommen einmal mit einer anderen Methodik umzusetzen. Es tut uns Europäern, die wir die Gegensätze gern sehr hart ausfechten, gut, auch einmal Herangehensweisen aus anderen Regionen kennenzulernen. Ich möchte deshalb dem Ministerpräsidenten der Republik Fidschi ganz herzlich für das danken, was Sie für das Klimaschutzabkommen getan haben. Wir haben uns als Weltgemeinschaft sowohl auf das Abkommen von Paris als auch auf die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verständigt. Beides war ein großartiger Erfolg. Um daraus einen historischen Erfolg zu machen, geht es natürlich nun darum, das Vereinbarte auch wirklich umzusetzen. Das muss ja die Aufgabe sein. Deshalb möchte ich sagen: Die Bundesregierung steht voll und ganz zum Klimaabkommen von Paris. Denn eine ambitionierte Klimaschutzpolitik hilft nicht nur die schlimmsten Folgen des Klimawandels einzudämmen, sondern bietet auch neue Chancen für Innovationen und damit für Wachstum und Wohlstand weltweit. Das Abkommen ist jetzt von 178 Staaten ratifiziert. Alle, die dabei sind, eint die Überzeugung, dass globale Probleme auch nur gemeinsam gelöst werden können. Natürlich ist es sehr bedauerlich, dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika aus diesem Abkommen zurückziehen wollen. Daran hat sich leider auch nach dem jüngsten G7-Gipfel nichts geändert. Deshalb ist es wichtig, dass wir mit den anderen G7-Staaten weiter ein klares Bekenntnis zum Pariser Abkommen gesendet haben, genauso wie wir es letztes Jahr in Deutschland beim G20-Treffen getan haben. Wir sind davon überzeugt, dass wir die multilaterale Zusammenarbeit stärken müssen und eine Schwächung nicht zulassen dürfen. In diesem Jahr, in dem der multilaterale Ansatz unter Druck steht, gilt es auch im Bereich des Klimaschutzes Nägel mit Köpfen zu machen. Wir wollen, dass bis zum Ende des Jahres bei der COP24 ein verbindliches Regelwerk beschlossen wird. Ich denke, wir brauchen gemeinsame Regeln für unser Handeln. Das ist ja auch das Signal, das von diesem Petersberger Klimadialog ausgehen soll und sicherlich auch ausgehen wird. Ich habe mir sagen lassen, dass die Beratungen erfolgreich verlaufen. Dafür möchte ich allen danken, die daran mitwirken. Es gibt viele Gedanken und Vorschläge, wie man konkret handeln kann. Viele Länder, Städte, Unternehmen und Bürger sind in den Bereichen Hausbau, Verkehr, Stadterneuerung, Stadtgestaltung und in vielen anderen Bereichen engagiert. Daran sollten wir weiter anknüpfen. Es muss eine Bewegung aus der Gesellschaft heraus sein. Denn wir wissen ja: Die Ziele von Paris sind ambitioniert; aber das, was bisher auf dem Tisch liegt, reicht noch nicht aus, um das 2-Grad-Ziel wirklich zu erreichen. Wenn, wie wir zur Kenntnis nehmen müssen, die energiebedingten CO2-Emissionen im vergangenen Jahr wieder zugenommen haben, dann ist das natürlich eine Bewegung in die falsche Richtung. Daran muss deshalb intensiv gearbeitet werden. Es gibt aber auch Lichtblicke; das muss man sagen. Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht sowohl weltweit als auch in Deutschland voran. Seit dem ersten Petersberger Dialog 2010 hat sich der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttostromverbrauch in Deutschland weit mehr als verdoppelt. Er hat sich also in acht Jahren weit mehr als verdoppelt. Die erneuerbaren Energien sind inzwischen unsere wichtigste Stromquelle in Deutschland. Leider kommen wir mit dem Leitungsausbau nicht ganz so schnell hinterher, sodass wir eine große Zahl von Kilowattstunden nicht nutzen können. Deshalb ist der Leitungsausbau für uns jetzt ganz besonders wichtig. Weil wir im Norden gute Bedingungen für Windenergie haben und im Süden viele wirtschaftliche Zentren liegen, muss Strom dorthin transportiert werden können. Für den Ausbau klimafreundlicher Dinge – erneuerbare Energien und andere Investitionen – ist es sehr wichtig, Planbarkeit zu haben. Wir haben zum Beispiel in Deutschland vor mehr als zehn Jahren den Ausstieg aus der Steinkohleproduktion beschlossen. Dieser Ausstiegsprozess wird dieses Jahr abgeschlossen sein. Aber wir haben mehr als eine Dekade gebraucht, um diesen Wandel so zu gestalten, dass er nicht zulasten der Menschen und nicht zulasten der Arbeitsplätze geht, sondern dass er vertretbar und verkraftbar ist. Die Bundesumweltministerin hat zusammen mit dem Wirtschaftsminister und anderen jetzt die ehrenvolle Aufgabe, auch den Strukturwandel im Bereich der Braunkohle so zu gestalten, dass wir den Menschen, die in den betreffenden Regionen leben, sagen: Passt auf, es wird sich etwas ändern, aber wir denken zuerst an euch und nicht nur an die CO2-Emissionen. Denn wenn die Menschen den Eindruck hätten, wir dächten nur an die CO2-Emissionen und nicht an die Menschen selbst, dann würde das als gesellschaftliches Projekt nicht gut funktionieren. Das wird eine der großen Aufgaben sein, die wir in dieser Legislaturperiode miteinander lösen wollen. Wenn wir verbindliche Regelungen haben, um unsere Klimaschutzziele zu erreichen, dann erhöht das auch die Marktchancen für klimagerechte Produkte. Also: Langfristige Planungssicherheit ist sehr wichtig. Wir in Deutschland müssen zugeben, dass wir wieder besser werden müssen. Wir haben uns sehr ambitionierte Ziele gesetzt. Wir hatten uns eine Reduktion um 20 Prozent von 1990 bis 2010 vorgenommen. Dann haben wir gesagt: In zehn Jahren, ohne noch einmal Sondereffekte der deutschen Wiedervereinigung zu haben, wollen wir Emissionen ein weiteres Mal um 20 Prozent reduziert haben. Das war eine ambitionierte Vorgabe. Deshalb haben wir jetzt alle Hände voll zu tun, damit wir die Lücke, die sich jetzt ergibt, wirklich schließen können. Deshalb ist die Kommission, die ich vorhin ansprach, auch so wichtig. Wir wissen, dass wir verbindlicher werden müssen. Deshalb hat die Umweltministerin Svenja Schulze nicht nur die Aufgabe, in der Strukturwandelkommission zu arbeiten, sondern sie hat auch die Aufgabe, ein Klimaschutzgesetz zu entwerfen, was – das darf ich Ihnen heute schon verraten – sicherlich keine einfache Sache werden wird, weil die Interessenlagen sehr unterschiedlich sind und weil es dann natürlich auch verbindlich wird. Das heißt, wir müssen schauen, wie wir im Bereich der Braunkohle vorankommen. Wir müssen aber auch andere Bereiche in den Blick nehmen. Unser großes Sorgenkind in Deutschland ist der Verkehr – das muss man sagen. Wir haben auch durch unsere geografische Lage viel Transitverkehr. Insofern wird alles, was durch modernere Technologien eingespart wird, durch mehr Verkehr kompensiert. Deshalb ist das für uns eine der großen Herausforderungen. Ich komme auf die konsensorientierte Vorgehensweise zurück, von der wir in der Tat auch in Deutschland eine Menge lernen könnten. Das Motto Ihres Petersberger Klimadialogs „Changing together for a just transition“ spiegelt ja auch genau wider, wie wir vorgehen müssen; und zwar auch auf der europäischen Ebene. Das EU-Ziel für 2030, die Treibhausgase gegenüber 1990 um mindestens 40 Prozent zu reduzieren, ist für uns natürlich wichtig. Wir haben den Emissionshandel reformiert und das EU-Ziel unter den Mitgliedstaaten auch für die Bereiche aufgeteilt, die nicht vom Emissionshandel erfasst sind. Das heißt, Europa hat einen verbindlichen Rechtsrahmen, um den EU-Beitrag zur Umsetzung des Pariser Abkommens gewährleisten zu können. Damit sind wir schon ein ganzes Stück vorangekommen. Aber die Arbeit ist damit noch nicht getan. Denn die Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission arbeiten jetzt an Instrumenten und Maßnahmen, um zum Beispiel erneuerbare Energien und Energieeffizienz weiter voranzutreiben. Was man zugeben muss, ist, dass wir in Europa leider nicht alle Bereiche in den Emissionshandel einbezogen haben. So haben wir also eine Mischung aus marktorientierten Instrumenten, zum Teil steuerlichen Maßnahmen und dann das Ordnungsrecht. Zum Beispiel ist im Verkehrsbereich das Ordnungsrecht ganz vorne; und im industriellen Bereich ist der Handel ganz weit vorne. Das ist sicherlich noch nicht das Nonplusultra einer kohärenten Instrumentensammlung, aber wir müssen erst einmal mit dem arbeiten, was wir jetzt haben. Eine langfristige Klimaschutzstrategie wird stark davon abhängen, wie die mittelfristige Finanzielle Vorausschau für die Europäische Union aussieht. Die Kommission hat vorgeschlagen, dass 25 Prozent aller Mittel des EU-Haushalts für Klimaschutzausgaben vorzusehen sind. Das ist ein ambitionierter und guter Einstieg. Wir müssen aber auch darauf achten, dass neben dem Einsatz öffentlicher Gelder vor allen Dingen auch private Investitionen in den Klimaschutz gefördert werden. Wir haben zum Beispiel in Deutschland eine Art politischen Dauerbrenner, wie man sagen muss, nämlich die steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung. Wir haben einen großen Altbaubestand. Der ist nach wie vor der schlafende Riese der Möglichkeiten, den CO2-Ausstoß zu mindern. Aber das ist auch eines der Projekte der neuen Regierung. Wir müssen zur Umsetzung des Pariser Abkommens auch über die Europäische Union hinaus weltweit die Finanzflüsse mit einer möglichst klimagerechten Entwicklung in Einklang bringen. Dafür müssen wir uns auf allen Ebenen einsetzen. Ich möchte mich ganz besonders bei der Weltbank bedanken. Sie hat mit der vereinbarten Kapitalerhöhung auch zugesagt, ihr Engagement bei der Klimafinanzierung zu verstärken und auszuweiten. Für Deutschland kann ich sagen: Wir stehen zum gemeinsamen Ziel der Industrieländer, ab 2020 jährlich 100 Milliarden US-Dollar für Entwicklungsländer zu mobilisieren, denen selbst die Mittel fehlen, die aber in besonderer Weise vom Klimawandel betroffen sind. Deshalb stehen wir auch zu unserer Zusage, dass wir die öffentliche Klimafinanzierung bis 2020, bezogen auf das Jahr 2014, verdoppeln wollen. Ich erinnere mich noch daran, dass ich zum ersten Mal Ihrer Vorgängerin auch hier an diesem Ort zugesagt habe, dass auch ich hinter diesem Ziel stehe. Wir werben für eine substanzielle Wiederauffüllung des Grünen Klimafonds. Das unterstreichen wir auch durch unseren eigenen Beitrag. Wir glauben, dass dieser Fonds von zentraler Bedeutung für den Erfolg des Pariser Abkommens ist. Denn dessen Ziele können wir nur gemeinsam mit den Entwicklungsländern erreichen. Gemeinsamkeit demonstrieren wir ja auch in der NDC-Partnerschaft – Sie sind hier alle Kenner der Materie; aber für andere sei gesagt, dass es hierbei um national bestimmte Beiträge geht –, die mittlerweile auf 89 Länder angewachsen ist. Wir unterstützen die Umsetzung nationaler Beiträge, zum Beispiel in Marokko, Indien oder Brasilien, wo wir Investitionen in Solarthermie fördern, sowie in Indonesien und Kolumbien, wo wir mithelfen, klimafreundliche Verkehrssysteme zu entwickeln. Ich glaube, von solchen Beispielen kann man gar nicht genug haben. Mit jedem Schritt, den wir auf dem Weg der ökologischen Modernisierung der Wirtschaft und Infrastruktur vorankommen, verbessert sich zumeist auch die Kostensituation. Und das erleichtert wiederum nachhaltige Investitionen. Zum Beispiel sind die Kosten für Strom aus Photovoltaik seit 2014 um fast 50 Prozent gesunken. Das führt dazu, dass man dann in diese Technologie wieder mehr investieren kann. Das ist wirklich sehr interessant, weil man sich zu der Zeit, als ich Umweltministerin war – von 1994 bis 1998; das ist lange her –, noch überhaupt nicht vorstellen konnte, dass die Solarenergie und ihre Kosten einmal die heutige Größenordnung erreichen würden. Man hat dann aber gemerkt: Mit einem gewissen Masseneffekt sind die Preise eben dramatisch gesunken. Deshalb ist das auch eines der Beispiele dafür – wir können das über die Windenergie genauso sagen –, dass es sich lohnt, neue Technologien an die Marktnähe heranzuführen. Ohne Unterstützung wären diese Technologien nie wirtschaftlich geworden, aber mit Unterstützung können sie wirtschaftlich und unabhängig von Subventionen werden. Das ist die eigentliche Botschaft. Wir wissen: Klimawandel ist keine Glaubensfrage – ich glaube, in diesem Raum weiß das jeder –, sondern er ist eine Tatsache. 2015, 2016 und 2017 sind die drei wärmsten jemals gemessenen Jahre gewesen. Extreme Wetterereignisse nehmen auch in Deutschland zu. Es fallen wegen Naturkatastrophen jährlich viele Millionen Menschen in Entwicklungsländern wieder in Armut zurück. Die volkswirtschaftlichen Kosten des Nichtstuns lassen sich kaum beziffern, aber sie sind gewaltig. Das muss man in der Diskussion immer wieder sagen, weil viele Menschen sagen: Jetzt haben wir nicht das Geld. Aber den Preis zahlen wir trotzdem, wenn wir nichts tun. Deshalb ist die Frage der Anpassung an den bereits eingetretenen Klimawandel natürlich eine Frage, die wir noch sehr viel stärker angehen müssen. Wir dürfen nicht vergessen, dass schon heute Inselstaaten akut in ihrer Existenz bedroht sind. Svenja Schulze hat mir eben, als ich hier ankam, noch einmal gesagt, dass der Vertreter der Marshall Islands hier eindrücklich aufgezeigt hat, was passiert und wie das im wahrsten Sinne des Wortes existenzbedrohend ist. Deshalb glauben wir, dass auch Klimarisikofinanzierung und -versicherungen zwei Themen sind, die wir nicht nur im Kreis der G7 und der G20 in den Blick genommen haben, sondern an denen wir weiter arbeiten sollen. Wir wollen eine globale Fazilität ins Leben rufen. Das soll auf der Jahrestagung der Weltbank im Oktober auf Bali geschehen. Hierfür haben wir von deutscher Seite schon 90 Millionen Euro zugesagt. Klimaschutz ist kein Luxus, den wir uns nebenbei leisten, sondern Klimaschutz ist eine Frage der ökologischen Notwendigkeit, aber eben auch der ökonomischen Vernunft. Klimaschutz und Anpassung sind Investitionen in die Zukunft. Es sind nämlich auch Investitionen in Frieden und Stabilität. Eine erfolgreiche Friedenspolitik der Vereinten Nationen ist ohne anspruchsvolle Klimapolitik undenkbar. Deshalb wird Deutschland, das jetzt dankenswerterweise mit vielen Stimmen in den UN-Sicherheitsrat gewählt wurde, das Thema Klimaschutz und Sicherheitsaspekte des Klimawandels auch als Schwerpunktthema während seines zweijährigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat nutzen. Ich finde, das ist eine gute Plattform, in deren Rahmen wir weiterarbeiten können und ergänzend zum Petersberger Dialog und zu den UN-Konferenzen versuchen können, auch mit vielen von Ihnen als Partner zusammenzuarbeiten. Meine Damen und Herren, die Chancen einer kohlenstoffarmen Entwicklung sind inzwischen offensichtlich. Wachstum und Wohlstand lassen sich auf Dauer nur noch erreichen, wenn das Ganze auch nachhaltig ist. Wir wissen, dass das einen langen Atem braucht, aber es geht um ein gemeinsames Ziel. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen auch weiterhin einen gewinnbringenden Austausch bei diesem Treffen. Sie haben ja schon intensiv diskutiert. Tun Sie es weiter in einem Geiste des Konsenses, aber auch im Geiste der Dringlichkeit und der Nachhaltigkeit. Wie gesagt: Ich kenne mich als Regierungschefin inzwischen auch damit aus, welche Widersprüche man überwinden muss. Es geht nicht nur um schöne Worte, sondern es geht auch immer um praktische Taten. Wir müssen den Weg der Nachhaltigkeit gehen; und dem fühlt sich Deutschland verpflichtet. Herzlichen Dank.
in Berlin
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Gedenkveranstaltung der Bundesregierung zum 65. Jahrestag des Volksaufstands in der DDR vom 17. Juni 1953
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-gedenkveranstaltung-der-bundesregierung-zum-65-jahrestag-des-volksaufstands-in-der-ddr-vom-17-juni-1953-1141766
Sun, 17 Jun 2018 15:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Es sind nur wenige Namen, die hier auf dem Friedhof Seestraße auf den Grabsteinen stehen und hinter dem historischen Ereignis des Volksaufstands am 17. Juni 1953 die einzelnen Schicksale hervortreten lassen – stellvertretend für jene Menschen, die seine blutige Niederschlagung mit dem Leben bezahlten. Schier unüberschaubar groß jedoch ist die Zahl derer, die zwar nicht ums Leben, aber mit Gewalt um ihr Leben gebracht wurden – um die Verwirklichung ihrer Vorstellungen von einem guten Leben: sei es, weil sie für ihr mutiges Aufbegehren gegen die SED-Diktatur in den berüchtigten Gefängnissen Berlin-Hohenschönhausen, Cottbus oder Bautzen gelitten haben; sei es, weil sie die Repressalien zu spüren bekamen, mit denen das SED-Regime in den Folgejahren und -jahrzehnten jeden Keim solcher Erhebungen erstickte. Gerade weil wir uns heute glücklich schätzen, in einem freien und geeinten Deutschland zu leben, dürfen und werden wir jene nicht vergessen, die am 17. Juni 1953 nicht zuletzt auch für Freiheit und Demokratie zu Hunderttausenden auf die Straße gingen. Ich bin dankbar, dass an diesem 65. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR auch zahlreiche Zeitzeugen und Angehörige von Opfern zur Gedenkstunde der Bundesregierung gekommen sind – darunter zum Beispiel Frau Edith Fiedler, eine der wenigen Frauen, damals 18 Jahre alt und Maurerlehrling. Seien Sie alle herzlich willkommen! Was Sie, meine Damen und Herren, und was vermutlich viele Menschen bewegt, deren Lebensgeschichte untrennbar mit den Ereignissen und Folgen des 17. Juni 1953 verwoben ist, kommt möglicherweise in den bewegenden Zeilen zum Ausdruck, die ein heute 84jähriger Zeitzeuge – Herr Günther Dilling, damals als junger Tischler und Streikführer unter den Demonstranten, er ist heute eigens mit seiner Frau aus Wolfenbüttel angereist – mir vor einigen Tagen geschrieben hat. Ich möchte sie vorlesen, weil seine Stimme, stellvertretend für viele andere Leidtragende, Gehör verdient: „Wir, ein nunmehr kleines Häufchen ehemaliger Demonstranten und Streikführer des 17. Juni 1953 (…), sehen mit Wehmut auf die sich immer mehr verkleinernde Zahl unserer Kameraden. Viele von uns sind krank, zerbrochen, voller Verachtung gegen unsere damaligen Peiniger in den Haftanstalten der Ex-DDR und doch voller Stolz für das Gelingen der deutschen Wiedervereinigung. (…) Für meine Kameraden und auch für mich bitte ich Sie in Ihrer Tätigkeit in der Bundesregierung für ein entschiedenes Eintreten für die Aufarbeitung des DDR-Unrechts. Es geht nicht um mehr Haftentschädigungen, die sowieso mager genug ausfallen; es geht um die klare Benennung der DDR als Unrechtsstaat.“ Das Unrecht der SED-Diktatur sichtbar zu machen und klar zu benennen, sind wir nicht nur denjenigen schuldig, deren Hoffnungen auf ein Leben in Freiheit und Demokratie am 17. Juni 1953 von sowjetischen Panzern zermahlen wurden. Wir stehen auch gegenüber der jungen Generation in der Pflicht zu vermitteln, wie hart errungen unsere demokratischen Freiheitsrechte sind und welche Gefahren für Demokratie und Menschenrechte von totalitären Ideologien ausgehen, in welchem Gewand auch immer sie daherkommen. Deshalb ist der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 Gegenstand der Dauerausstellungen des vom Bund getragenen Deutschen Historischen Museums und des Hauses der Geschichte in Bonn, Berlin und Leipzig, und deshalb hat die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in den vergangenen Jahren eine Fülle von Projekten gefördert, die zur Auseinandersetzung mit dem Volksaufstand von 1953 einladen. Hervorragende Arbeit leistet auch das von der Bundesregierung finanzierte „koordinierende Zeitzeugenbüro“, das Menschen, die hinter Mauer und Stacheldraht den Repressalien und Schikanen der SED und der Stasi ausgesetzt waren, als Gesprächspartner an Schulen und auch an außerschulische Bildungseinrichtungen vermittelt. Darüber hinaus fördert der Bund die Gedenkstätten in den einstigen Gefängnissen Berlin-Hohenschönhausen, Bautzen oder auch Cottbus als Lernorte: Was wir an diesen Orten sehen und – bei Führungen durch ehemalige Häftlinge – auch hören, entlarvt die DDR, die im Stadtbild Berlins oft bagatellisiert in Gestalt von Trabi-Safaris, VoPo–Volkspolizei-Mützen und anderen Nostalgie-Souvenirs daher kommt, als das, was sie war: ein Unrechtsstaat, der seine Gegner schikanierte und jedes Infragestellen staatlicher Autorität im Keim erstickte, der seine Bürgerinnen und Bürger dazu bis in die intimsten Bereiche ihres Lebens hinein bespitzelte, und der sich dafür mit Hilfe eines Netzes aus Denunzianten in das Beziehungsgefüge einer ganzen Gesellschaft, in Freundschaften und Familien und damit in das Leben jedes einzelnen Bürgers fraß. Umso mehr Freude und Dankbarkeit verdient es, dass die Sehnsucht nach Freiheit, die am 17. Juni 1953 Hunderttausende auf die Straßen trieb, 1989 den Sieg über Macht und Gewalt ihrer Unterdrücker davontrug! Umso mehr Anerkennung und Wertschätzung verdient es, dass der Mut ostdeutscher Freiheitskämpferinnen und Freiheitskämpfer die Mauern der Unterdrückung zum Einsturz brachte! Und deshalb verdienen Freude und Dankbarkeit, Anerkennung und Wertschätzung – und ja: auch Stolz auf die deutschen und europäischen Freiheitstraditionen, in die sich der Volksaufstand des 17. Juni 1953 einreihen lässt – Raum in unserer Erinnerungskultur. Zu den Freiheitstraditionen Europas im 20. Jahrhundert gehören neben dem Volksaufstand des 17. Juni 1953 beispielsweise auch die Aufstände 1956 in Ungarn und Polen, 1968 in Prag wie auch die Überwindung der Diktaturen im Süden Europas, in Griechenland, Spanien, Portugal. Auf diese Freiheitstraditionen können Menschen aus allen europäischen Ländern sich gemeinsam beziehen, und ich bin überzeugt: Es stiftet nicht nur Identität und Zusammenhalt, es stärkt auch die Kräfte der Zivilgesellschaft und damit die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie, wenn das Bewusstsein der eigenen Freiheitstraditionen die Überzeugung nährt, dass es sich lohnt, für Freiheit und Demokratie einzustehen. In seinem „Vers zur Jahrtausendwende“ hat Reiner Kunze die Haltung formuliert, mit der er selbst dem SED-Regime standhielt: „Wir haben immer eine Wahl, / und sei’s, uns denen nicht zu beugen, / die sie uns nahmen.“ Ja, wir haben immer eine Wahl: Die Zivilcourage der Aufständischen vom 17. Juni 1953, die den Machthabern im Streben nach Freiheit und Demokratie die Stirn boten, kann und sollte uns lehren, uns als Wählende, als für die Demokratie Verantwortliche zu begreifen.
Zum Jahrestag des Aufstands hat Staatsministerin Grütters all derjenigen gedacht, die vor 65 Jahren bei dem Volkaufstand am 17. Juni ums Leben kamen. „Das Unrecht der SED-Diktatur sichtbar zu machen und klar zu benennen, sind wir nicht nur denjenigen schuldig, deren Hoffnungen auf ein Leben in Freiheit und Demokratie von sowjetischen Panzern zermahlen wurden. Wir stehen auch gegenüber der jungen Generation in der Pflicht zu vermitteln, wie hart errungen unsere demokratischen Freiheitsrechte sind und welche Gefahren für Demokratie und Menschenrechte von totalitären Ideologien ausgehen“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung der Alexander-Rüstow-Plakette der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft am 15. Juni 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verleihung-der-alexander-ruestow-plakette-der-aktionsgemeinschaft-soziale-marktwirtschaft-am-15-juni-2018-1147330
Fri, 15 Jun 2018 16:03:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Professor Goldschmidt, ich möchte Ihnen und der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft ganz herzlich dafür danken, dass Sie mir die Alexander-Rüstow-Plakette überreichen. Ich freue mich, sie noch dazu in einem Jubiläumsjahr der Sozialen Marktwirtschaft entgegenzunehmen. Sie haben ja schon darauf verwiesen, dass wir heute im Wirtschaftsministerium einen entsprechenden Festakt hatten. Der große Veranstaltungsraum im Wirtschaftsministerium heißt übrigens von nun an Ludwig-Erhard-Saal. 1953 wurde Ihre Aktionsgemeinschaft gegründet, also nicht lange nach der Geburtsstunde der Sozialen Marktwirtschaft. Sie haben sich sozusagen zum Wächter der Sozialen Marktwirtschaft gemacht – in der Zeit ihrer Entstehung, aber auch jetzt in Zeiten völlig veränderter ordnungspolitischer Gegebenheiten in der Welt. Der von Ludwig Erhard selbst angestellte Vergleich mit dem Fußball ist sehr richtig. In der Sozialen Marktwirtschaft werden die Leitplanken, innerhalb derer sich die Teilnehmer des Marktes frei entfalten können, durch den Staat gesetzt. Er muss auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Verteilungsmöglichkeiten bestehen, ohne auf Pump oder auf Schuldenbasis zu leben. Mit Alexander Rüstow hatte die Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft einen besonderen Botschafter. Er war Mitgründer und langjähriger Vorsitzender der Gemeinschaft; und er war sozusagen ein Universalgelehrter par excellence. Er studierte Mathematik, Physik, Philosophie, klassische Philologie, Jura und Nationalökonomie. Heutzutage würde manch einer sein ganzes Leben lang nicht fertig werden, das alles zu studieren. Aber er scheint auch noch etwas anderes gemacht zu haben. Er forderte eine – ich zitiere – „Wirtschafts- und Sozialpolitik, (…) die bewusst die Frage stellt, was getan werden kann, um den einzelnen Menschen glücklich und zufrieden zu machen“ – also eine sehr umfassende Frage. Das bleibt natürlich zeitloser Anspruch jedweder Politik. Aber Rüstow und mit ihm Erhard, Eucken, Röpke, Müller-Armack, Böhm und andere Verfechter der Idee einer Sozialen Marktwirtschaft trafen bei ihren Versuchen, das durchzusetzen, immer wieder auf erhebliche Widerstände. Ich habe darauf auch heute Morgen hingewiesen. In der geschichtlichen Verklärung sieht alles ganz einfach aus, aber in der Stunde der Entscheidung ist einfach sehr viel Mut notwendig gewesen. Ludwig Erhard musste bestimmte Entscheidungen sicherlich auch ziemlich alleine fällen. Heute sind die großen neuen Herausforderungen die Globalisierung, getrieben durch die Digitalisierung, sowie die demografische Veränderung unseres Landes. Das heißt, wir müssen Soziale Marktwirtschaft zum Teil auch neu denken. Dazu ist eine Aktionsgemeinschaft wie die Ihre wichtiger Impulsgeber. Dafür möchte ich Ihnen danken. Es ist mir eine Ehre, die Alexander-Rüstow-Plakette verliehen zu bekommen. Ich darf Ihnen verraten: Die Tatsache, dass ich in die Politik gegangen bin, hatte viel mit der Sozialen Marktwirtschaft zu tun. Damals aus meiner Perspektive in der DDR war das ein faszinierendes, aber sehr realistisches Konzept. Es gab viele Utopien; an die glaube ich nach der Zeit in der DDR nicht mehr so richtig. Die Soziale Marktwirtschaft aber hatte den Praxistest in der Bundesrepublik Deutschland bestanden. Insofern ist mir das heute eine große Ehre und auch eine große Freude. Danke schön.
in Berlin
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Festveranstaltung „70 Jahre Soziale Marktwirtschaft“ am 15. Juni 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-festveranstaltung-70-jahre-soziale-marktwirtschaft-am-15-juni-2018-1141992
Fri, 15 Jun 2018 11:09:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Kollege Altmaier, sehr geehrter Herr Kollege Scholz, sehr geehrte Präsidenten, sehr geehrte ehemalige Wirtschaftsminister Glos und Brüderle, Parlamentarische Staatssekretäre, Staatssekretäre, Abgeordnete, Gäste, meine Damen und Herren, 70 Jahre Soziale Marktwirtschaft – das ist ein bedeutendes Jubiläum. Ich bin sehr gern in dieses geschichtsträchtige Haus gekommen, das schon zur Kaiserzeit, während der Weimarer Republik und zu Zeiten der DDR staatliche Einrichtungen beheimatet hat. Aber heute wird hier nicht mehr über Planwirtschaft, sondern über Marktwirtschaft nachgedacht. Dass dieser Saal hier von heute an „Ludwig-Erhard-Saal“ heißt, ist gut. Das Präsidiumszimmer der CDU heißt schon lange so. Es wurde also Zeit, dass das auch einmal im Wirtschaftsministerium einzieht. So sehr wir uns an die Erfolge der Sozialen Marktwirtschaft gewöhnt haben, so wenig war das zunächst zu erwarten. Denn Ludwig Erhard musste gegen erhebliche Widerstände kämpfen. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es noch keinen Konsens über die künftige wirtschaftspolitische Grundausrichtung. Klar war nur, dass sehr existentielle Probleme zu lösen waren. Wohnungen, Nahrung und vieles andere, was man zum Leben braucht, waren knapp. Da lag es nahe, der staatlichen Lenkung das Wort zu reden. Wer, wenn nicht der Staat, sollte die zu knappen Güter gerecht verteilen? – So dachten viele. Die Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft hingegen setzten auf Wettbewerb, auf Leistungswillen und einen Staat, der Freiheit schützt und gleichzeitig für sozialen Ausgleich sorgt. Ich halte diese Grundentscheidung nach wie vor für eine sehr, sehr mutige, wenn ich mir die damalige Situation Deutschlands vorstelle. Auch den Alliierten gefiel das am Anfang ja überhaupt nicht, weil sie sich das alles auch nicht richtig vorstellen konnten. Über neun Millionen Arbeiter in der damaligen amerikanischen und britischen Zone beteiligten sich im November 1948 am Generalstreik gegen die Marktwirtschaft, gegen Preiserhöhungen und für die Wiedereinführung der Preisvorschriften, die Erhard wagemutig abgeschafft hatte. Ich denke, angesichts dessen, was damals los war, ist selbst der DGB heute neidisch. Auch die Industrieverbände und Großunternehmen sparten nicht mit Kritik, wenn auch aus anderen Gründen. Denn ihnen war der vehemente Einsatz Erhards für Wettbewerb und gegen Kartelle ein Dorn im Auge. Aber heute wissen wir: Das war die Grundlage dafür, dass wir viele mittelständische Unternehmen haben, die unsere Marktwirtschaft bereichern. Der damalige Wirtschaftsminister sah sich in seiner Richtungsentscheidung bestätigt angesichts des wirtschaftlichen Aufschwungs, den er selbst übrigens nicht als Wunder ansah, sondern als ein Ergebnis rationaler Wirtschaftspolitik. In dem Wort „Wirtschaftswunder“ reflektiert sich also eigentlich das Erstaunen auch derer, die dagegen waren, darüber, was herauskam. Autos, Waschmaschinen, Italienurlaub und vieles mehr bedeuteten, dass „Wohlstand für alle“ kein Theoriekonzept, sondern praktisch erfahrbar war. Es ging ja auch von Jahr zu Jahr besser. Deshalb kann man heute sagen: Die Soziale Marktwirtschaft ist das Fundament des wirtschaftlichen Erfolgs unseres Landes. Ich denke, wir sollten uns auch immer wieder vergegenwärtigen, welches die konstitutiven Prinzipien sind, die unmittelbarer und fester Bestandteil unserer demokratischen Ordnung sind. Wenn wir heute in Europa über Demokratie diskutieren, dann scheint es manchmal so zu sein, als ob die einfache Gewinnung von Mehrheiten schon Demokratie bedeutete. Aber zu einer demokratischen Gesellschaft in umfassendem Sinne gehört sehr viel mehr. Die Prinzipien wurden im Wesentlichen von Walter Eucken gestaltet. Sie dienten im Grunde dem Schaffen und Erhalten einer Wettbewerbsordnung. Ein funktionsfähiger Wettbewerb ist das zentrale Element der Sozialen Marktwirtschaft. Er setzt die Kräfte frei, um stetiges Wachstum zu ermöglichen. In diesem Sinne setzt Soziale Marktwirtschaft Freiheit voraus. Sie bedeutet aber kein Laissez-faire-Prinzip und keinen bedingungslosen Wettbewerb ohne staatlichen Eingriff. Denn Wettbewerb neigt stets auch dazu, sich selbst zu beschränken. Deshalb haben wir auch ein Kartellamt, wenngleich ich deutlich sagen will, dass wir heute auch neue Herausforderungen haben. Ich komme darauf noch einmal zu sprechen. Freiheit, Wettbewerb und Anerkennung persönlicher Leistungen – dazu gehören aber immer auch Solidarität und soziale Gerechtigkeit. In diesem Sinne verlangt Gerechtigkeit, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, also etwas anderes als Gleichmacherei. Es geht um Chancengerechtigkeit, die auf den Einzelnen abstellt und nicht auf das Kollektiv. Sie soll jedem die Möglichkeit geben, sich in gleicher Freiheit nach jeweiligen Neigungen und Fähigkeiten entfalten zu können – eigenverantwortlich, aber eben auch immer verantwortlich gegenüber anderen. Die Orientierung an diesen Werten – an Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit – macht in der Summe uns als Gemeinschaft und als Land stark. Da wir aber nicht davon ausgehen können, dass sich alle zu jeder Zeit an diesen Werten orientieren, brauchen wir einen Rechtsstaat für eine funktionierende Soziale Marktwirtschaft – einen Rechtsstaat, der verlässliche Rahmenbedingungen gewährleistet; also einen Staat als Hüter der Ordnung. Aber wir wissen auch, dass der Staat wirklich nicht der bessere Unternehmer ist. Wir sind uns auch bewusst, dass die Sozialpartner – deshalb finde ich es geradezu notwendig, dass hier eine Diskussionsrunde stattgefunden hat – passgenauere Antworten im Wirtschafts- und Arbeitsleben finden können, als das dem Gesetzgeber mit pauschalen Regelungen möglich ist. Deshalb will ich ausdrücklich sagen: Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass sozusagen ein ganzer Sektor des Wirtschaftens, der aus der Digitalisierung herauswächst, vielleicht nie Teil dieser Sozialpartnerschaft wird. Ich kann ja noch damit leben, dass es nicht gleich der erste Gedanke nach einer Unternehmensgründung ist, sich mit der Frage der Sozialpartnerschaft zu beschäftigen. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob es noch automatisch so funktioniert, Herr Kramer, dass man nach einer Weile, wenn einem das alles zu viel wird, die Aufgaben der Betreuung dann doch lieber der BDA überlässt. Darauf müssen Sie auch achten. Insofern müsste es dann vielleicht auch eine der feinen Kooperationen zwischen BDI und BDA sein, dass sie den Wirtschaftsverbänden aus dem Bereich der digitalen Wirtschaft nahelegen, dass es neben dem BDI auch noch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände gibt. Darüber müssten wir bei einem der Sozialpartnergespräche einmal sprechen. Jedenfalls danke ich für die Arbeit, die Sie im Rahmen der Sozialpartnerschaft und damit auch für die Wirkungsweise der Sozialen Marktwirtschaft leisten. Nun gibt es – darüber ist heute ja schon gesprochen worden – keinen Automatismus, dass die Soziale Marktwirtschaft auch in Zukunft einfach so funktioniert. Denn das Thema „Wohlstand für alle“ ist heute nicht mehr so selbstverständlich. Der Gradient ist kleiner geworden, wenn er überhaupt noch in die richtige Richtung zeigt. Menschen leben sehr stark davon, dass sich etwas in eine positive Richtung verändert. Das aber kann heute in Anlehnung an den klassischen, engen Wachstumsbegriff einfach nicht mehr jedem versprochen werden. Insofern ist es, wie wir in dem Film gesehen haben, richtig und wichtig, dass auch zum Beispiel Bildung ein Beitrag zu Wohlstand und vielleicht auch von zunehmender Bedeutung ist. Wenn wir uns anschauen, in welcher Weise sich Berufsbilder heute durch die Digitalisierung ändern, wenn wir sehen, wie stark sich die Wettbewerbsbedingungen durch die Globalisierung ändern, dann wissen wir, dass wir handeln müssen, dass wir auf der einen Seite offen sein, aber auf der anderen Seite immer wieder die Balance, die über viele Zeiten der klassischen Industriegesellschaft geherrscht hat, auch während der Zeit der Industrie 4.0 bewahren müssen. Es ist nicht vorgegeben, dass wir in Zeiten der Digitalisierung bei den Innovationen immer auch vorn mit dabei sind. Das hat natürlich Rückwirkungen auf das Wohlstandsversprechen der Sozialen Marktwirtschaft. Als wir neulich in der Bundesregierung mit Vertretern der Branche über die Strategie zur künstlichen Intelligenz gesprochen haben, ist durchaus deutlich geworden, dass wir im Augenblick, weiß Gott, nicht an der Spitze der Bewegung sind und dass wir aufpassen müssen, dass Talente aus Deutschland nicht wegziehen. Wir müssen auch sehen – das ist keine Kritik am Bundesverfassungsgericht; die steht mir nicht zu –, dass das Prinzip der Datensparsamkeit, das sozusagen in einen Verfassungsrang erhoben wurde, in Zeiten von Big Data jedenfalls intelligent ausbuchstabiert werden muss. Da wir uns im Augenblick mit der Datenschutz-Grundverordnung herumplagen, ist die Frage, wie wir mit Daten umgehen und wie wir auf der einen Seite ein „level playing field“ schaffen, aber auf der anderen Seite die Bürokratie nicht übertreiben, eine der großen, spannenden Fragen der Sozialen Marktwirtschaft. Ich will mich jetzt nicht weiter dazu einlassen, aber ich denke, was die Rolle der Daten in der Sozialen Marktwirtschaft und ihre Bewertung angeht, so liegt noch ein großes Stück Arbeit vor uns, wobei auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eingeladen sind, darüber noch weiter nachzudenken. Denn, etwas vereinfachend gesprochen, weder die chinesische Antwort, dass der Staat Zugriff auf alle Daten hat, noch die eher amerikanische, dass alles im privaten Besitz ist, kann eine Antwort der Sozialen Marktwirtschaft sein. Die Soziale Marktwirtschaft muss andere Antworten geben. Meine Damen und Herren, deshalb sehen wir uns auch mit Blick auf die Wettbewerbsordnung vor große Herausforderungen gestellt. Wir hatten neben dem Gespräch mit Vertretern der Branche der künstlichen Intelligenz neulich auch ein Gespräch über Plattformwirtschaft – auch ein Riesenproblem, das unsere und die europäischen Wettbewerbsbehörden herausfordert. Im Grunde ruft auch die Konzentration der großen Plattformen aus den Vereinigten Staaten von Amerika die Frage auf, ob hier im Sinne der Wettbewerbsordnung der Sozialen Marktwirtschaft eigentlich einmal eingeschritten werden müsste. Der Zeitablauf der Verfahren, die die Europäische Union in diesem Zusammenhang führt, ist so langsam, dass man einfach Angst haben muss, dass die Schnelligkeit der faktischen Entwicklung unser Schwert des Wettbewerbsrechts in Europa stumpf macht. Auch darüber muss man nachdenken. Auch in der europäischen Wirtschaftsordnung finden sich Elemente der Sozialen Marktwirtschaft. Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank mit ihrem Fokus auf Preisniveaustabilität ist ein solches Element, ebenfalls die europäische Wettbewerbsbehörde, wie eben dargestellt, und der Einsatz der Europäischen Union für freien und fairen Handel. Wie bei der Sozialen Marktwirtschaft gehören auch in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion Eigenverantwortung und Solidarität untrennbar zusammen. Diese Frage beschäftigt uns gerade auch in diesen Tagen wieder, wenn wir den deutsch-französischen Ministerrat vorbereiten. Wir wollen, dass der ESM in Richtung eines Europäischen Währungsfonds fortentwickelt wird. Aber die Frage, wie viel gemeinsame Haftung und wie viel Eigenverantwortung wir brauchen, treibt natürlich Politiker in ihren Diskussionen um. Wir denken, dass die Eigenverantwortung von großer Bedeutung ist, dass wir aber für die Erhaltung des gemeinsamen Ganzen auch Elemente der Gesamtverantwortung brauchen. Meine Damen und Herren, wir werden den ESM – als Symbol der Solidarität intergouvernemental in einer Krisensituation der Währung gegründet –, wie ich schon sagte, zu einem langfristigen Instrument fortentwickeln. Das bringt sowohl für den Bundesfinanzminister als auch für mich als Bundeskanzlerin eine Vielzahl von Verhandlungsaufgaben mit sich. Aber ich hoffe, dass wir am Dienstag doch ein kleines Stück vorankommen und damit auch die Eurozone insgesamt weiterentwickeln können. Meine Damen und Herren, Ludwig Erhard hat immer auch über Deutschland und Europa hinaus auf die Welt geschaut. Ich möchte ihn zitieren: „Die Welt ist schon zu integriert, ist zu sehr miteinander verflochten, als dass irgendein Land für sich sein eigenes Schicksal gestalten kann.“ – Das ist ein sehr kluger Satz für die heutige Zeit, weil wir ja jeden Tag etwas darüber hören, wie sich der Multilateralismus fortentwickeln wird oder nicht. – Ludwig Erhard hat das 1963 gesagt; in einer Zeit, in der noch nicht so viel über Globalisierung gesprochen wurde. Aber heute spüren und sehen wir, dass wir das vermehrt tun. Wir brauchen multilaterale Zusammenarbeit; und wir brauchen im Grunde – davon bin ich zutiefst überzeugt – eine globale Ordnungspolitik. Deren Gestaltung geht allerdings nur sehr langsam voran. Aber wir brauchen Garantien eines fairen Wettbewerbs. Die Welthandelsorganisation ist die Institution dafür. Sie entwickelt sich aber zurzeit nicht so gut weiter, wie wir es uns wünschen. Wir brauchen Möglichkeiten der Durchsetzung des Rechts. Und wir brauchen auch Möglichkeiten der Berücksichtigung sozialer und ökologischer Anliegen. Seit geraumer Zeit zeigen sich aber Schwierigkeiten. Das konnten wir auch auf dem letzten G7-Gipfel in Kanada wieder sehen. Unilaterale Maßnahmen scheinen schneller möglich zu sein. Sie erfordern dann wieder Gegenreaktionen. Natürlich kann man sagen: In Zeiten disruptiver Veränderungen gehen wir einfach mit einer völlig neuen Methodik vor. Ich denke nur, dass der Ausgang dieser Vorgehensweise zu ungewiss ist und dass zu viel auf dem Spiel steht, als dass man sich nicht der Mühe multilateraler Absprachen unterziehen sollte. Meine Damen und Herren, deshalb wird auch der Bundeswirtschaftsminister sehr konkret nicht nur mit Zöllen auf Stahl und Aluminium und den entsprechenden Gegenmaßnahmen der Europäischen Union zu tun haben, sondern auch mit den Fragen, die jetzt im Raum stehen, was die strategische Bedeutung der Automobilindustrie für die Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika ausmacht. Ich rate uns, dass wir auch über die strategische Bedeutung der Automobilindustrie für die Europäische Union in gleicher Weise nachdenken, damit wir uns auf einen Austausch mit den Vereinigten Staaten von Amerika vorbereiten können. Die Soziale Marktwirtschaft ist also alles andere als eine statische Sache, alles andere als ein Geburtstagskind, das wir in den Sessel setzen können und dem wir dann gratulieren, sondern sie ist ein Auftrag für die tägliche Arbeit. Alle die, die hier sind, haben, denke ich, Lust, daran mitzuwirken. Deshalb herzlichen Glückwunsch und alles Gute für die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft.
in Berlin
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Tagesspiegel-Konferenz „Agenda Spezial – Der Musikwirtschaftsgipfel“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-tagesspiegel-konferenz-agenda-spezial-der-musikwirtschaftsgipfel–1141958
Thu, 14 Jun 2018 10:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Eine Tagung auf die Beine zu stellen, ist in gewisser Hinsicht ein bisschen wie einen Popsong komponieren: Damit ein Hit daraus wird, der die Zuhörer von den Stühlen reißt, braucht es eine harmonische Struktur, die für Wohlgefühl und gute Stimmung sorgt, eine Melodie, die leicht ins Ohr geht, und einen pulsierenden Rhythmus, der das Bewegungszentrum im Gehirn anregt. Genau das verspricht der heutige Musikwirtschaftsgipfel: Als gemeinsame Branchenveranstaltung versammelt er sämtliche Teilsektoren der heterogenen Musikwirtschaft – bei allen Dissonanzen, die es angesichts unterschiedlicher Interessen gibt, ein beeindruckendes und kulturpolitisch erfreuliches Signal der Harmonie im gemeinsamen Bemühen, die Vielfalt der deutschen Musiklandschaft nicht nur zu erhalten, sondern sie auch weiter zu entwickeln! Darüber freue ich mich! Als Forum der Verständigung bündelt und verbindet er unterschiedliche Positionen zu einer eingängigen Melodie, (die Sie, Herr Turner, gerade auch in Ihrer Rede angestimmt haben): nämlich zur berechtigten Forderung nach angemessenen politischen Rahmenbedingungen für das digitale Zeitalter. Durchgetaktet in vier Sessions und ausgelegt auf Publikumsbeteiligung schließlich regt das interaktive Konferenzformat wie ein lebhafter Rhythmus zur Bewegung im Geiste an: zum Mitdenken und Mitdiskutieren. All das verspricht eine interessante und inspirierende Konferenz, die ich über die Initiative Musik gerne mit Mitteln aus meinem Kulturetat unterstützt habe und von der ich mir insbesondere Erkenntnisse erhoffe, was die Bundesregierung aus Ihrer Sicht, meine Damen und Herren, auf dem Feld der Kulturpolitik noch mehr als bisher zu einer florierenden Musikwirtschaft auch im Zeitalter der Digitalisierung beitragen kann. Vielen Dank für die Einladung, lieber Herr Turner, und vielen Dank auch an Frau Knoll und Frau Möller für ihre engagierte Arbeit! Ich nutze gerne die Gelegenheit, auf die Anliegen aus den unterschiedlichen Branchen der Musikwirtschaft einzugehen, meine Damen und Herren, und – soweit mein Ressort, die Kulturpolitik angesprochen ist – die Position und die Pläne der Bundesregierung dazu zu erläutern. Wo es um die Zuständigkeiten des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz geht, werden Sie nachher sicherlich von Frau Staatssekretärin Wirtz (BMJV) mehr dazu hören. Aus kulturpolitischer Sicht geht es vor allem um die Frage, wie die Vielfalt des musikalischen Schaffens und des musikalischen Angebots in Deutschland sich erhalten lässt, während neue technische Möglichkeiten die Finanzierung dieses Schaffens und dieses Angebots radikal verändern. Das liegt daran, dass die Musik längst im digitalen Raum spielt. Man kann das nicht nur an den erhellenden Zahlen und Statistiken ablesen, die der Bundesverband Musikindustrie regelmäßig in seinem Jahrbuch „Musikindustrie in Zahlen“ veröffentlicht. Die Veränderungen im Zuge der Digitalisierungen gehen auch – im wahrsten Sinne des Wortes – direkt ins Ohr. So widmete sich ein amerikanischer Journalist vor einiger Zeit (2017) im Online-Magazin Pitchfork der Frage, wie Spotify den Popsong verändert, oder allgemeiner formuliert: was es für das musikalische Angebot bedeutet, wenn die Nachfrage sich zunehmend auf das Audio-Streaming verlagert. Im Zeitalter des digitalen Streamings, so seine These, klingen – genauer: beginnen Popsongs anders als früher. Sie nehmen sich weniger Zeit, sie wagen weniger Experimente, sie beginnen direkt mit „catchy bits“, mit akustischen Appetizern gleich in den ersten 20, 30 Sekunden – wie beispielsweise der Hit „Despacito“, Top 2 in den deutschen Single-Charts 2017. Den Grund muss ich hier vermutlich gar nicht weiter erläutern. Sie alle, ob Künstlerinnen und Künstler, ob Produzentinnen und Produzenten – können ja selbst ein Lied davon singen: Der streamende Hörer ist ein ungeduldiger Hörer. Er skippt weiter, wenn ein Song nicht gleich ins Ohr geht. Für die Pop-Charts zählen aber nur diejenigen Spotify-Klicks, die einem Song mindestens 30 Sekunden Abspielzeit bescheren. Die erste halbe Musikminute ist also im Wettbewerb um Aufmerksamkeit so wichtig wie nie zuvor, und deshalb braucht es möglichst früh jene „catchy bits“, jene akustischen Appetizer, die einen Song im besten Fall noch vor dem Refrain zum Ohrwurm machen. Die Digitalisierung betrifft also längst nicht nur Fragen der Finanzierbarkeit von Inhalten, sondern auch die Inhalte selbst. Sie hat nicht nur den Musikmarkt, sondern auch die Musik selbst erfasst, meine Damen und Herren. Ja, nach zwei Jahrzehnten massiven Strukturwandels, der die Musikindustrie noch mehr als viele andere Branchen unter Druck gesetzt und bisherige Geschäftsmodelle ins Wanken gebracht hat, ist das Zusammenschrumpfen des musikkulturellen Angebots auf den gut konsumierbaren Mainstream – und damit auf Kosten der künstlerischen Vielfalt – keineswegs Zukunftsmusik, sondern längst Realität. Ein Titel wie „Locomotive breath“ von Jethro Tull mit seiner genialen 44-Sekunden-Einleitung hätte heute wohl weniger Hit-Potential… . Eine Frage, die sich daraus ableitet, ist: Was kann die Musikwirtschaft, was kann aber auch die Kulturpolitik dafür tun, dass Kreativität, künstlerische Originalität und damit Vielfalt eine Chance haben? Nicht zuletzt aus den Diskussionen um die Teilnahmebedingungen für den APPLAUS, unseren Preis für Livemusik-Clubs, weiß ich, was die veränderten Rahmenbedingungen insbesondere für Künstlerinnen und Künstler bedeuten. Viele können inzwischen nicht mehr wie früher vom Verkauf ihrer Alben leben, und zu Lasten der Kreativen geht auch, dass Musikclubs das finanzielle Risiko eines Auftritts noch unbekannter Musikerinnen und Musiker heute vielfach nicht mehr alleine stemmen können und die Auftretenden selbst daran beteiligen müssen. Angesichts des unfairen, kultur- wie wirtschaftspolitisch absolut inakzeptablen Ungleichgewichts zwischen den Erträgen digitaler Plattformen einerseits und denen der Künstler und Kreativen andererseits ist es überfällig, bei der Regulierung von Plattformen andere Saiten aufzuziehen. Dafür habe ich mich schon in meiner ersten Amtszeit eingesetzt, und deshalb freue ich mich, dass wir – Union und SPD – das nun auch im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Plattformen sollen nicht die Möglichkeit haben, ihre Geschäftsmodelle auf Kosten der Urheber und Rechtsinhaber zu verfolgen; sie sollen die Urheber angemessen beteiligen und bei der Verhinderung von Rechtsverletzungen aktiv mitarbeiten müssen. Das Ringen um ein modernes Urheberrecht auf europäischer Ebene bietet die Chance einer klaren gesetzlichen Regelung, die einen rechtssicheren Rahmen für die Kultur- und Kreativwirtschaft wie auch für die Internetwirtschaft definiert, und ich freue mich, dass wir diesem Ziel am 25. Mai in Brüssel mit der Erteilung des Mandats für die Aufnahme von Trilog-Verhandlungen ein Stückchen näher gekommen sind. Auch wenn bei der Vielzahl unterschiedlicher Interessen nicht alles durchsetzbar war, was aus kulturpolitischer Sicht wünschenswert wäre, ist diese auf Botschafterebene erzielte Position mit Blick auf die gut eineinhalbjährigen Verhandlungen eine gute Basis für die weiteren Verhandlungen. Ich bin sicher: Da ist für alle Beteiligten Musik drin! Bei der Mitberatung im Urheberrecht behalten wir gegenüber dem federführenden Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz weiterhin die „kulturpolitische Brille“ auf. Ich werde mich dafür einsetzen, im Rahmen der laufenden Reform des Urheberrechts für die Künstlerinnen und Künstler und für die Kultur- und Kreativwirtschaft das Bestmögliche heraus zu holen. Das gilt natürlich nicht nur für die Regulierung von Plattformen, dem ersten Themenfeld, dem Sie sich heute widmen werden, meine Damen und Herren, sondern auch für die Gestaltung von Steuern und Abgaben, um die es in Session 2 geht. Auch hier kann die Politik durch geeignete Rahmenbedingungen Freiraum für Künstler und Kreative schaffen. Dafür steht als große kulturpolitische Errungenschaft die Künstlersozialversicherung, die es selbständigen Künstlern und Kreativen ermöglicht, sich weitgehend wie Angestellte zu versichern: mit hälftiger Finanzierung von Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung durch die (ihre Leistungen verwertenden) Auftraggeber und durch den Staat. Das hat sich kulturpolitisch bewährt, doch auch hier erfordert die Digitalisierung wie auch die steigende Zahl der Versicherten Nachjustierungen. Im Koalitionsvertrag bekennen Union und SPD sich ausdrücklich zur Künstlersozialversicherung. Eine Herausforderung wird dabei die Frage sein, wie wir künftig den digitalen Verwertungsformen in der Kultur- und Kreativwirtschaft und ihren Auswirkungen auf die Künstlersozialversicherung Rechnung tragen. Mit Blick auf das Ziel, die Künstlersozialversicherung zukunftsfest zu machen, sind wir in der vergangenen Legislaturperiode schon ein gutes Stück vorangekommen: Wie Sie sicherlich wissen, liegt der Abgabesatz mit 4,2% aktuell einen Prozentpunkt unter dem Satz von 2016 – dank des Gesetzes zur Stabilisierung des Künstlersozialabgabesatzes. Dass das Künstlersozialversicherungsgesetz in der praktischen Handhabung nicht immer einfach ist und insbesondere den Abgabepflichtigen Verwaltungsaufwand beschert, ist mir bewusst. Soweit ich informiert bin, hat sich der Beirat der Künstlersozialversicherung bereits mit entsprechenden Vorschlägen an das federführende Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gewandt. Ein offenes Ohr für solche Schwierigkeiten können Sie selbstverständlich aber auch immer von mir und meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwarten. Auch wenn die Kulturpolitik bei der Gestaltung von Steuern und Abgaben nicht die erste Geige spielt, kann ich Ihnen zumindest versprechen, dass ich ins selbe Horn wie die Künstler und Kreativen stoße, wo immer es darum geht, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Auch mit Blick darauf wird die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode einen Bericht zur sozialen und wirtschaftlichen Situation der Künstlerinnen und Künstler und der Kreativen im Kultur- und Medienbereich vorlegen. Den Ton angeben kann die BKM–Beauftragten für Kultur und Medien zwar nicht im Hinblick auf Steuern und Abgaben, aber zumindest in der Musikförderung. Damit bin ich beim dritten Themenfeld dieses Musikwirtschaftsgipfels. In den vergangenen Jahren habe ich – mit großer Unterstützung der Kultur- und Haushaltspolitikerinnen und -politiker im Deutschen Bundestag – die Musikförderung meines Hauses kräftig ausgebaut. Wir haben unter anderem den Musikfonds gegründet, ein neues Orchesterprogramm aufgelegt und die Beteiligung an verschiedenen Musikfestivals in Deutschland erweitert. Ein Ziel ist dabei, junge Bands zu promoten und genreübergreifende künstlerische Kollaborationen zu ermöglichen. Außerdem haben wir bestehende Förderungen finanziell massiv gestärkt, darunter den Bereich der Initiative Musik, die zu ihrem zehnjährigen Jubiläum in diesem Jahr mit einer beeindruckenden Erfolgsbilanz aufwarten kann, nämlich insgesamt mit sage und schreibe 2.812 geförderten Projekten, für die mein Haus insgesamt rund 28 Millionen Euro zur Verfügung gestellt hat. Sie kamen in erster Linie der Künstlerförderung, der Förderung des professionellen Nachwuchses – dem Kerngeschäft der Initiative Musik – zugute, aber auch der musikkulturellen Infrastruktur, einem weiteren Förderschwerpunkt der Initiative. Ein wunderbares Beispiel für ein Projekt aus diesem Bereich ist der heutige Musikwirtschaftsgipfel, bei dem die Initiative Musik nicht nur finanziell, sondern auch personell stark engagiert ist. Ein herzliches Dankeschön deshalb an den Aufsichtsrat der Initiative Musik, insbesondere an Prof. Jens Michow – Initiator und Ideengeber für diese Veranstaltung – sowie an die Geschäftsführerin Ina Kessler und ihr Team. Für die Verdienste der Initiative Musik um die musikkulturelle Vielfalt in Deutschland steht nicht zuletzt auch die Unterstützung der kleinen und mittleren Musikclubs. Angefangen haben wir damit 2013 zunächst mit dem bereits erwähnten APPLAUS – einem Preis, der Clubs dafür belohnen und dazu ermutigen soll, auch jenseits des wirtschaftlich erfolgreichen Mainstreams künstlerisch herausragende Musikerinnen und Musiker ins Programm zu nehmen. Seit 2015 gibt es darüber hinaus zwei weitere Förderprogramme; das eine unterstützt Musikclubs bei der Digitalisierung der Aufführungstechnik und wurde in diesem Jahr erneut aufgelegt, das andere lief im letzten Jahr und diente ganz allgemein der technischen Erneuerung und Sanierung – übrigens auch (so viel zum vierten Schwerpunktthema des heutigen Tages: Umwelt und Infrastruktur!) in den Bereichen Schallschutz und Energieeffizienz. Im Zusammenhang mit unserer Musikförderung verdient last but not least auch die Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft Erwähnung, die wir vor gut zehn Jahren zusammen mit dem Bundeswirtschaftsministerium aus der Taufe gehoben haben, um Künstler und Kreative zu fördern, die mit ihren Ideen die Innovationsfähigkeit unserer Gesellschaft beflügeln – so wie die Preisträgerinnen und Preisträger des Wettbewerbs Kultur- und Kreativpiloten, der zur Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft gehört. Im vergangenen Jahr waren aus der Musikbranche unter anderem das Projekt „Rap for Refugees“ (Rap-Workshops für geflüchtete Jugendliche und Straßenkinder und gemeinsame Veranstaltungen mit bekannten Künstler/innen) und das „Berlin Living Orchestra“ (Konzerte, die ein breiteres Publikum für die Klassische Musik begeistern wollen) vertreten. Bewerbungsschluss für den diesjährigen Wettbewerb ist der 1. Juli, und ich lade Kreative und junge Unternehmerinnen und Unternehmer aus der Musikbranche hiermit noch einmal ganz herzlich ein, sich zu beteiligen. Die Gewinnerinnen und Gewinner bekommen neben öffentlicher Aufmerksamkeit ein Jahr lang ein Coaching, das ihnen dabei hilft, ihre Ideen am Markt zu etablieren. All diese Förderinstrumente dienen der Förderung der musikkulturellen Vielfalt, indem sie dem Druck der Verkaufszahlen –der Logik der Klick-Ökonomie auf Streaming-Plattformen – die Ermutigung zum künstlerischen Experiment jenseits des Mainstreams entgegensetzen. Auf diese Weise kann die Kulturpolitik dazu beitragen, dass Musik nicht nur als Wirtschaftsgut, sondern auch als Kulturgut eine Zukunft hat. Wir wenden uns damit gegen die Degradierung von Kulturgütern zur bloßen Handelsware und gegen die Bewirtschaftung einer geistigen und ästhetischen Monokultur, in der nur das überlebt, was sich gut verkauft. In diesem Sinne, meine Damen und Herren, kann ich das Aus für den Musikpreis ECHO leider nur begrüßen – wenn ich es auch sehr bedaure, dass es einer Welle berechtigter öffentlicher Empörung angesichts der Auszeichnung von Songs mit teils menschenverachtenden, herabwürdigenden Texten bedurfte, um die Fragwürdigkeit eines Preises zu offenbaren, der das Klingeln der Kassen zum alleinigen Maßstab künstlerischer Preiswürdigkeit gemacht hat. Wir sind uns sicher einig, dass Deutschland allein schon aufgrund seiner Vergangenheit nie wieder ein Land sein darf, in dem Hass und Hetze gegen Minderheiten auf eine schweigende oder gar applaudierende Mehrheit treffen und menschenverachtende Parolen unwidersprochen bleiben. Deshalb hat die Freiheit der Kunst, die zu schützen ich für die vornehmste Pflicht demokratischer Kulturpolitik halte, dort ihre Grenze, wo Holocaust-Opfer verhöhnt werden, und ich hoffe, dass die Branche die Diskussion um den ECHO zum Anlass nimmt, sich einer offensichtlich überfälligen Debatte über ihre gesellschaftliche Mitverantwortung und ihre Haltung gegenüber Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Rassismus und Gewaltverherrlichung zu stellen – und der Frage, was aus einer Gesellschaft wird, in der Verrohung als preiswürdig und damit salonfähig und „Schulhof-kompatibel“ gilt. Mit Thomas Rabe, dem Vorstandsvorsitzenden von Bertelsmann und Hartwig Masuch, CEO von BMG–Bertelsmann Music Group, der heute auch hier ist, hatte ich dazu im Mai ein, wie ich finde, gutes Gespräch. Mein Eindruck war, dass Bertelsmann als Konsequenz aus dem Skandal um Kollegah und Farid Bang eine Reihe wirksamer Maßnahmen ergriffen hat, um solche Ausfälle künftig nicht mehr zu vermarkten. Darüber hinaus kann ich die Musikwirtschaft nur ermutigen, sich als Branche mit dem Thema auseinander zu setzen. Ideen wie ein freiwilliger Ethikkodex der Musikwirtschaft verdienen es, diskutiert zu werden, und ich wäre grundsätzlich gerne bereit, sinnvolle Initiativen der Branche öffentlichkeitswirksam zu unterstützen. Zumindest gegen abstoßend frauenfeindliche Texte wäre sicherlich – dieser Hinweis sei erlaubt – schon einiges gewonnen, wenn mehr Frauen als bisher in verantwortlichen Positionen vertreten wären. Faire Chancen für Frauen in der Musikwirtschaft wären darüber hinaus auch ein Gewinn für jene Vielfalt in der Musikkultur, die zu schützen und zu fördern unser gemeinsames Anliegen ist, meine Damen und Herren. Die aus meinem Etat geförderte Studie „Frauen in Kultur und Medien“ des Deutschen Kulturrats hat vor zwei Jahren offenbart, dass die Sparte Musik, was faire Chancen für Frauen angeht, im Vergleich zu anderen Kunstsparten besonderen Nachholbedarf aufweist. Das betrifft insbesondere Führungspositionen in der Musikwirtschaft und in Musikverbänden. Aber auch bei der Verleihung von Musikpreisen sind Frauen nach wie vor stark unterrepräsentiert. Das sollte eine Branche, die sich in einer gesellschaftlichen „Vorreiterrolle“ sieht – wie es im Jahresbericht „Musikindustrie in Zahlen 2017″ heißt –, nicht ohne Resonanz bleiben. Dass unter den MentorInnen und Mentees des Mentoring-Programms für Künstlerinnen und weibliche Kreative (- eine der zentralen Aufgaben des von mir geförderten Projektbüros „Frauen in Kultur und Medien“ beim Deutschen Kulturrat -), auch die Musikbranche vertreten ist, ist schon einmal ein guter Anfang. Ich jedenfalls hoffe, dass es beim heutigen Musikwirtschaftsgipfel nicht nur um die Frage der politischen Verantwortung für die Musikwirtschaft geht, sondern auch um die gesellschaftliche Verantwortung der Musikwirtschaft. Allein dass dieser Gipfel stattfindet und ein Forum der Verständigung über Fragen schafft, die die ganze Branche betreffen, ist schon ein großartiger Erfolg, und ich danke den beteiligten Verbänden, der Initiative Musik, der GEMA–Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte und der GVL–Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten mbH für diese Gemeinschaftsaktion. Gerade die Musik ist ja eine Sprache, die mehr als jede andere des Zuhörens und Einfühlens bedarf, des Lauschens auf andere Stimmen, auf Takt und Tonart, auf laut und leise – und so steht es der Musikbranche gut zu Gesicht, diese Kultur der Verständigung auch im Rahmen eines Branchentreffens zu pflegen. So wünsche ich Ihnen, dass Sie heute Abend nicht in einer Stimmung auseinander gehen, wie Heinrich Heine sie einmal nach dem Erklimmen eines Gipfels zu Papier gebracht hat, nämlich als er dem Brocken, dem höchsten Berg Norddeutschlands, Folgendes im Gipfelbuch hinterließ: „Große Steine, müde Beine, saure Weine, Aussicht keine. – Heinrich Heine.“ Um „große Steine“ werden Sie heute sicherlich nicht herum kommen, meine Damen und Herren, und auch wenn sich Müdigkeit breit macht, wenn die Aussicht bisweilen nicht gerade atemberaubend ist und wenn statt Wein zumindest bis zum abendlichen Get-Together nur Kaffee auf den Tisch kommt, bin ich doch überzeugt, dass es sich lohnt, gemeinsam nach Wegen zu suchen, wie wir die Vielfalt der Musikkultur in Deutschland auch im 21. Jahrhundert erhalten können. In diesem Sinne: auf inspirierende Diskussionen und einen ertragreichen Musikwirtschaftsgipfel!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum 10. Integrationsgipfel am 13. Juni 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-10-integrationsgipfel-am-13-juni-2018-1147322
Wed, 13 Jun 2018 12:37:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie im Namen von Annette Widmann-Mauz und der anderen Vertreter der Bundesregierung sehr herzlich zum neuen Integrationsgipfel einer neuen Bundesregierung. Wir haben heute zwei Geburtstagskinder unter uns, wie ich eben gelernt habe. Das eine kannte ich schon; das ist nämlich Annette Widmann-Mauz, die ziemlich viel mit der Organisation dieses Integrationsgipfels zu tun hat. Herzlichen Glückwunsch, alles Gute. Auch unsere Soldatin, Frau Hammouti-Reinke, hat heute Geburtstag. Auch ihr einen herzlichen Glückwunsch und alles, alles Gute. Ich begrüße neben den Vertretern der Bundesregierung auch die Vertreter des Deutschen Bundestags sowie natürlich Sie alle sehr herzlich. Ich habe vergessen, die Länder zu begrüßen, die traditionell auch vertreten sind. Ich begrüße Ministerpräsident Hans aus dem Saarland und den Landesinnenminister bzw. Staatsminister Herrmann aus Bayern. Wer ist noch von den Ländern da? Noch jemand? – Nein. Gut; nicht, dass ich irgendjemanden vergesse. – Ich begrüße auch die Teilnehmer der Integrationsministerkonferenz. – Wenn man einmal anfängt, zu begrüßen, findet sich immer irgendjemand, den man vergisst. Es geht heute bei unserem Integrationsgipfel um Grundlagen des Zusammenlebens. Dies ist schon der zehnte Integrationsgipfel, also inzwischen wirklich eine Tradition. Das Thema Migration und Integration ist eines, das uns täglich beschäftigt. Aber wir haben bereits weit vor der Zeit, als wir über Flüchtlinge in dem Maße gesprochen haben, in dem wir es heute tun, mit diesen Integrationsgipfeln begonnen, weil es uns im Wesentlichen auch um die geht, die hier geboren sind oder schon in jungen Jahren hierhergekommen sind. Immerhin haben in Deutschland inzwischen rund 20 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund. Wir haben bei den vergangenen Integrationsgipfeln immer wieder über das Thema gesprochen, wie lange man sich eigentlich integrieren muss und ob man jemals aus dem Integrationsprozess herauskommt. Wer vielleicht nicht ganz so aussieht wie die, deren Familien schon seit Jahrhunderten in Deutschland leben, hat das zusätzliche Problem, einfach schon äußerlich den Eindruck zu vermitteln, dass es sich vielleicht um jemanden handelt, der nicht so gut integriert ist. Ich finde, auch deshalb ist es sehr wichtig, dass wir im Laufe der Veranstaltungen zu der Frage gekommen sind: Wie steht es eigentlich um Teilhabe? Gesellschaftliche Teilhabe war Ihnen von den Verbänden der Migrantinnen und Migranten auch immer sehr wichtig. Die zentrale Frage im Zusammenhang mit Teilhabe lautet: Was sind eigentlich die Grundlagen unseres Zusammenlebens? Da gibt es Werte, die für uns nicht verhandelbar sind. Diese sind vorgegeben durch das Grundgesetz. Diese sind vorgegeben durch unsere Gesetze. Es gibt eine gewachsene Wirtschafts-, Gesellschafts- und Sozialordnung, in die sich jeder einbringen soll. Bezüglich der Werte, die einzuhalten sind, ist natürlich Artikel 1 unseres Grundgesetzes, dass die Würde jedes einzelnen Menschen unantastbar ist, das zentrale Leitbild. Das bedeutet: Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus dürfen in unserer Gesellschaft keinen Platz haben. Leider aber sind sie Realität. Und deshalb müssen wir uns gemeinsam mit diesen Erscheinungen auseinandersetzen. Das ist sehr wichtig. Eine weitere unverhandelbare Position ist die Gleichberechtigung von Männern und Frauen oder Frauen und Männern. Da, wie man der Wahrheit halber sagen muss, hat die Gesellschaft insgesamt noch eine ganze Menge zu tun. Wenn ich Frau Giffey anschaue, denke ich daran, dass wir gerade heute im Kabinett ein wichtiges Gesetz verabschiedet haben, das die Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit behandelt, was sicherlich gerade auch ein Problem von Frauen in der Arbeitswelt ist. Wir brauchen außerdem gleiche Bildungschancen, gleiche Aufstiegschancen. Das heißt, Chancengerechtigkeit ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir wollen wie auch in den vergangenen Legislaturperioden hier nicht einfach nur sprechen, sondern wir wollen das Besprochene auch in einen Nationalen Aktionsplan münden lassen, der weiterentwickelt werden soll. Der letzte stammt aus dem Jahr 2012. Seitdem ist viel passiert. Wir wollen die Phasen von Ankommen, Zuwanderung bis hin zum Zusammenleben besser aufschlüsseln. Das heißt, es geht um Erstintegration, es geht um Eingliederung, um Zugang zu Bildung, Ausbildung, Arbeitsmarkt, Sport, Kultur, Medien, um Partizipation insgesamt und eben auch um Maßnahmen der Antidiskriminierung. Staatsministerin Annette Widmann-Mauz wird nachher noch mehr zum Nationalen Aktionsplan sagen. Wir alle, die wir hier sitzen, wissen – das zeigt ja auch die Vielfalt der Gruppen, aus denen Sie kommen –, dass es sich bei der ganzen Frage der Integration und Teilhabe um eine Querschnittsaufgabe handelt. Nicht umsonst ist deshalb nicht nur der Bund hier vertreten, sondern es sind auch die Länder; und natürlich sind auch Sie alle aus verschiedenen Nichtregierungsorganisationen hier mit dabei. Ich freue mich auf unseren Gedankenaustausch und möchte das Wort jetzt erst einmal an unsere Staatsministerin Annette Widmann-Mauz übergeben, bevor ich dann zur Strukturierung unseres Dialogs noch mehr sagen werde. Noch einmal herzlich willkommen.
in Berlin
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Verabschiedung von Prof. Arnold Nesselrath als Direktor der Abteilung für byzantinische, mittelalterliche und moderne Kunst der Vatikanischen Museen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-verabschiedung-von-prof-arnold-nesselrath-als-direktor-der-abteilung-fuer-byzantinische-mittelalterliche-und-moderne-kunst-der-vatikanischen-museen-1147318
Thu, 24 May 2018 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Rom
Kulturstaatsministerin
Schwer zu schätzen, wie viele Kilometer Sie, lieber Herr Professor Nesselrath, in mehr als 20 Jahren im Dienste der Vatikanischen Museen und der Berliner Humboldt Universität zurückgelegt haben. Schwer zu beurteilen, wie viele ausländische Gäste Sie empfangen, wie viele Vorträge Sie vor internationalem Publikum gehalten und wie viele Gespräche Sie zum interkulturellen Dialog beigetragen haben. Doch fest steht: Gäbe es die Auszeichnung „Botschafter des europäischen Kulturerbes“ – Sie dürften sie sich zweifellos ans Revers heften. Ich selbst habe zwei Führungen mit Ihnen in bester Erinnerung, in denen ich Sie als begeisterten und begeisternden Kulturerbebotschafter Europas erlebt habe. Natürlich kannte ich die Vatikanischen Museen schon vorher, aber die berührendsten Momente dort verdanke ich Ihnen. Sie waren es, der mir einen exklusiven Blick auf Raffaels Fresken in den berühmten Stanzen ermöglicht hat – zum Anfassen nah von einem Gerüst aus, das gerade für Restaurierungs-arbeiten aufgebaut war. Und Sie waren es auch, der (nicht nur) mich außerhalb der Öffnungszeiten mit in die Sixtinische Kapelle genommen hat. Was für ein Geschenk, die Fresken Michelangelos und die geheimnisvolle Atmosphäre dieses Ortes in Andacht und Stille erleben zu dürfen! Vergleichsweise profan war dagegen der Anblick der päpstlichen „Schlappen“ und der Nebelmaschine, die den weltberühmten schwarzen und weißen Rauch produziert; aber auch diese exklusiven Einblicke erwähne ich jedes Mal, wenn ich jemandem von Ihren Führungen durch die Vatikanischen Museen vorschwärme. Allein schon wegen dieser einmaligen Führungen habe ich der Bitte Annette Schavans um eine Festrede zu Ihren Ehren gerne entsprochen. Es ist mir eine Freude, heute meinerseits gewissermaßen zu einer kleinen Führung einzuladen und die Gäste dieses schönen Abendempfangs durch die Zeit Ihres verdienstvollen Wirkens in Rom und Berlin zu geleiten. Auch bei dieser Führung Ihren Karriereweg entlang empfiehlt es sich, wie bei einem Rundgang durch die Vatikanischen Museen vorab genau festzulegen, was man sehen und worauf man sich konzentrieren möchte. Zu groß ist ansonsten die Gefahr, sich auf dem Weg in der Fülle interessanter Details zu verlieren! Ihre Biographie und Ihre akademische und berufliche Laufbahn bieten zweifellos eine Menge solch beeindruckender Details: Ihre Meriten in Forschung und Wissenschaft; Ihr immenses, weit über Ihre kunsthistorischen Fachgebiete hinausgehendes Wissen; Ihre beeindruckende Fähigkeit, über viele Jahre zwei gleichermaßen anspruchsvollen, aber doch auch sehr unterschiedlichen Rollen als Hochschulprofessor und als Direktor an einem der weltweit bedeutendsten Museen mit Bravour gerecht zu werden und dabei über all die Jahre auch noch ein internationales Forschungsprojekt („Census of antique works known to the Renaissance“) zu leiten, aus dem sich ein einmaliges Archiv zum Nachleben antiker Kunst in der Renaissance entwickelt hat. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Sie zur mittlerweile beachtlich großen Zahl deutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehören, die an der Spitze weltberühmter Museen stehen, so wie beispielsweise auch Eike Schmidt (Uffizien / Florenz), Cecilia Hollberg (Galleria dell’Accademia / Florenz), Hartwig Fischer (British Museum), der leider viel zu früh verstorbene Martin Roth (Victoria and Albert Museum / London), Max Hollein (Metropolitan Museum of Art / New York) oder bis vor kurzem Thomas Gaethgens (Getty Research Institute / Los Angeles). Leider denkt man ja in Deutschland immer zuallererst an Fußball, Autos und Ingenieure, wenn es einen Anspruch auf Weltmeisterschaft zu erheben gilt. Dass auch unserer Kunsthistoriker und Archäologen „Exportschlager“ sind und an der Spitze weltweit bedeutender Museen die internationale Museumslandschaft prägen, ist dagegen, wenn überhaupt, allenfalls regelmäßigen Feuilletonlesern bekannt. Deshalb verdient es besondere Erwähnung, dass Sie, lieber Herr Professor Nesselrath, vor gut 20 Jahren einer der ersten Kunsthistoriker waren, denen ein museales Spitzenamt im Ausland angedient wurde – noch dazu dieses in den berühmten Vatikanischen Museen, einer der wichtigsten und größten Sammlungen der Welt. Last but not least gehört auch Ihre besondere Beziehung zu Rom zu den interessanten Details, die wir nur im Vorbeigehen streifen können, obwohl sie eine nähere Betrachtung lohnten: nicht nur, weil diese Beziehung Ihnen mit Ihrer Geburt in Aachen – in der Stadt Karls des Großen, der sich in Rom zum Kaiser krönen ließ – quasi mit in die Wiege gelegt wurde, sondern auch, weil Sie sich damit in bester Gesellschaft befinden: All die deutschen und europäischen Geistesgrößen, die seit dem 18. Jahrhundert nach Rom gepilgert sind, haben zur Kultivierung eines geistigen Heimatgefühls in Rom beigetragen, und mit Blick auf diese Tradition kann man wohl getrost behaupten, lieber Herr Professor Nesselrath, dass Sie sich allein schon durch die Wahl Ihres Lebensmittelpunktes um die Pflege unseres immateriellen Kulturerbes verdient gemacht haben. Jedenfalls haben Sie als bekennender Romliebhaber wie auch in Ihrer Doppelrolle als Museumsmann und Universitätsprofessor immer wieder eindrucksvoll vermitteln können, dass alle Wege nach Rom führen – oder dass zumindest an Rom kein Weg vorbei führt – , wenn man Europas Identität auf die Spur kommen und Europas Zukunft auf die Sprünge helfen will. Damit, meine Damen und Herren, sind wir beim Schwerpunkt meiner Führung durch eine außergewöhnliche Wissenschaftlerkarriere angelangt: bei Professor Nesselraths Verdiensten als Botschafter des europäischen Kulturerbes. Zu diesen seinen Verdiensten gehört es, die Wirkmacht der Antike in der abendländischen Kunstentwicklung deutlicher als je zuvor sichtbar gemacht zu haben. Dass die Kunst der Antike über Jahrhunderte und teilweise bis in die Gegenwart hinein ein Fundus war und ist, aus dem sich die Kunst Europas in all ihrer Vielfalt entfaltet hat, dürfte jedem einigermaßen kunst- und kulturinteressierten Menschen bekannt sein. Schlüsselwerke antiker Kunst wie etwa der Laokoon, der Dornauszieher oder der so genannte Torso des Belvedere haben eine breite Spur in der europäischen Kunst hinterlassen, bilden also gewissermaßen eine Klammer und zugleich auch einen Kanon ästhetischer Werte. Die antike Kunst ist ein Teil der kulturellen Identität Europas – und Professor Nesselrath war von Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn an ihr Spurenleser. Der bereits erwähnte Census – das internationale Forschungsprojekt, das er mit an die Humboldt Universität zu Berlin gebracht hat – ist im Kern ein Bildarchiv, das diese Verbindungen für die Epoche der Renaissance nachweist und erforscht. Die Verbindung seiner beiden Positionen (der Position des Direktors der größten Abteilung der Vatikanischen Museen in Rom und der Professur für mittlere und neuere Kunstgeschichte an der Humboldt Universität Berlin) – ermöglicht durch eine in dieser Form vermutlich bisher einmalige Kooperation zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vatikanstaat -, hat nicht nur die Berliner Kunsthistorikerausbildung enorm bereichert. Die einzigartige Anbindung dieser Spitzenposition in den Vatikanischen Museen an eine renommierte deutsche Universität hat darüber hinaus reiche Früchte auch für die internationale Museumszusammenarbeit getragen: So haben in den vergangenen 20 Jahren zahlreiche gemeinsame Veranstaltungen stattgefunden, in die wiederum auch wichtige Museumsleute und Wissenschaftler etwa aus Großbritannien, Frankreich, Spanien und den USA eingebunden waren – ein Beitrag zur kulturellen Diplomatie, deren Bedeutung ja oft gerade dann sichtbar wird, wenn die politische Diplomatie an ihre Grenzen stößt. Unabhängig davon hat Deutschland von dieser Konstellation immer wieder sehr profitiert: Dank Arnold Nesselrath gelang es beispielsweise, zahlreiche große und wichtige Ausstellungen im Inland mit hochkarätigen Leihgaben aus den Vatikanischen Museen zu bestücken. Außerdem vermittelte er immer wieder wichtige Leihgaben auch für Ausstellungen anderer deutscher Museen. Auf diese Weise hat Arnold Nesselrath zur notwendigen, angesichts aktueller politischer Entwicklungen mehr denn je überlebenswichtigen Auseinandersetzung mit Europas Geschichte und Identität beigetragen. Denn solche exzellenten Kulturkooperationen ermöglichen es, dem wieder aufkeimenden Nationalismus den Stolz auf die vielfältige, im Austausch mit anderen Kulturen gewachsene europäische Kultur entgegen zu setzen. Diese gemeinsame europäische Kultur – das, was Europa im Kern ausmacht – ist eine Kultur der Offenheit für Vielfalt, eine Kultur, zu der die großen humanistischen Traditionen von der Antike bis zur Aufklärung ebenso gehören wie das Christen- und Judentum und auch die gemeinsamen, leidvollen Erfahrungen von Krieg und Grausamkeit in der Geschichte der europäischen Staaten. Diese Kultur der Offenheit für Vielfalt ist nicht das Ergebnis unseres wirtschaftlichen Wohlstandes; sie ist vielmehr dessen Voraussetzung. Sie ist nicht allein und auch nicht primär ein Standortfaktor, sondern sie ist vor allem eines: Sie ist Ausdruck von Humanität. Sie als „geistige Heimat“ zu verstehen und zu verteidigen ist das Beste, was wir für ein starkes Europa tun können. Europa als geistige Heimat zu erleben und zu verteidigen, ist zum Glück nicht nur dort möglich, wo einst die Wiegen der europäischen Kultur standen – in Italien und Griechenland -, sondern überall in Europa. Ob in Berlin oder Prag, ob in Spanien oder Schweden: Die gemeinsame, bewegte Geschichte Europas ist allgegenwärtig im baukulturellen Erbe. Darauf wollen wir im – von meinem Haus geförderten – Europäischen Kulturerbe-Jahr aufmerksam machen, das wir in diesem Jahr unter dem Motto „Sharing Heritage“ europaweit feiern. Es bietet mit einer Vielzahl an Projekten in ganz Europa Gelegenheiten, das gemeinsame europäische Kulturerbe neu zu entdecken. Gerade in politischen Krisenzeiten kann die Beschäftigung mit dem gemeinsamen kulturellen Erbe Zusammenhalt stiften. Denn eine Gemeinschaft, die sich ihrer gemeinsamen Wurzeln – ihrer Heimat – sicher ist und sich ihrer immer wieder neu vergewissert, kann Unterschieden Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen. Das Europäische Kulturerbe-Jahr erinnert uns – 400 Jahre nach Beginn des 30jährigen Krieges und 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges – nicht zuletzt auch daran, wie schwer wir uns in Europa über Jahrhunderte mit religiöser und kultureller Vielfalt getan haben, wie hart errungen – mit viel Krieg, Leid und Gewalt bezahlt – Demokratie, Toleranz und Freiheit doch sind. Es erinnert uns daran, dass unsere demokratischen Werte wie auch die Fähigkeit, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen und Vielfalt als Freiheitsgewinn zu begreifen, letztlich bittere Lernerfahrungen sind. Zu solchen Lernerfahrungen, die ein friedliches Miteinander unterschiedlicher Lebensweisen, Traditionen und Weltanschauungen immer wieder aufs Neue erfordert, können heute gerade Kunst und Kultur in besonderer Weise beitragen. Ob Poesie, ob Malerei, ob Film oder Musik, Theater oder Tanz: Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren. Kunst kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Kunst kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht. Kunst kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Darüber hinaus sind unsere Museen, unsere Kultureinrichtungen auch Orte öffentlicher Debatten, die die Gesellschaft nie nur abbilden, sondern immer auch mitformen. Sie können auf Ressentiments gebaute Weltbilder ins Wanken bringen und uns helfen zu verstehen, wer wir sind – als Individuen, als Deutsche, als Europäer. Sie können demokratischen Werten auch jenseits argumentativer Auseinandersetzung Gehör verschaffen. „Ohne Kunst keine Identität“, so hat Arnold Nesselrath es selbst einmal formuliert – in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung, in dem er mit Verve und kunsthistorischem Sachverstand meinen damals insbesondere bei Kunsthändlern hoch umstrittenen Entwurf eines neuen Kulturgutschutzgesetzes verteidigte, so wie auch bei einer Expertenanhörung dazu im Bundestagskulturausschusses. Für Ihre sachkundige Unterstützung, lieber Herr Prof. Nesselrath, bin ich bis heute sehr dankbar! In einer von Polemik und Panikmache einer lautstarken Minderheit aufgeheizten Debatte haben Sie als Fürsprecher des Kulturgutschutzes nicht nur Sachkenntnis, sondern auch Haltung bewiesen – die Haltung eines wahren Kulturerbe-Botschafters. Die Bedeutung solcher Kulturerbe-Botschafter, meine Damen und Herren, kann man vielleicht in gewisser Hinsicht mit der Rolle jenes Mannes vergleichen, ohne den in den Vatikanischen Museen gar nichts geht – mit der Bedeutung des so genannten „Clavigero“. So nennt man dort den Hüter der Schlüssel – den Herrn über 3.000 Museumsschlüssel, mit denen morgens alle Portale und Türen in den Vatikanischen Museen auf- und abends wieder abgeschlossen werden. Ohne diese Schlüssel und ohne die „Clavigeri“ (insgesamt sind es 11) keinen Zugang zu den päpstlichen Kunstsammlungen – und ohne Kenntnis unseres Kulturerbes, ohne das Wirken seiner Vermittler kein Zugang zur europäischen Identität, zum europäischen Selbstverständnis. Das gemeinsame europäische Kulturerbe ist der Schlüssel für den Zusammenhalt und damit die Zukunft Europas. Es sind nicht zuletzt die Meisterwerke der Kunst und Architektur, die eindringlich vermitteln, wie sehr die Bürgerinnen und Bürger Europas einander über nationale Grenzen hinweg verbunden sind. In dieser Weise zu vergegenwärtigen, worauf Europa gebaut ist und was uns ausmacht als Europäerinnen und Europäer, das ist wichtiger denn je angesichts der vielerorts zu beobachtenden Erosion der Gründungsideen der Europäischen Union – angesichts des Brexits in Großbritannien, angesichts der Einschränkungen demokratischer Grundrechte in manchen EU-Ländern, angesichts des Erstarkens populistischer, europafeindlicher Strömungen auch hierzulande. Sie, lieber Herr Professor Nesselrath, haben – so stand es vor einem Jahr in einem Artikel zum Jahrestag der Römischen Verträge – gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Ihre Überzeugung formuliert, ich zitiere, „dass die Politik unser Kulturerbe für eine friedliche Zukunft nutzen muss“ – und Sie haben für sich selbst den Anspruch bekundet, ich zitiere, „durch den Dialog über Kulturgüter einen Beitrag für unsere Zukunft zu leisten“. So waren und sind Sie als Botschafter, als Vermittler des kulturellen Erbes auch ein „Clavigero“ der Seele Europas – mit dem Unterschied, dass Sie, anders als die Kollegen in den Vatikanischen Museen, nur Türen öffnen, aber keine verschließen. Dafür danke ich Ihnen von Herzen und hoffe, dass Sie sich dieser Aufgabe und Berufung auch weiterhin widmen werden – wenn auch künftig vielleicht mit anderen Schlüsseln…In diesem Sinne: Alles Gute für Ihre Zukunft!
Rede der Kulturstaatsministerin zur Eröffnung des Symposiums „Die Säule von Cape Cross – Koloniale Objekte und historische Gerechtigkeit“ im Deutschen Historischen Museum
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-zur-eroeffnung-des-symposiums-die-saeule-von-cape-cross-koloniale-objekte-und-historische-gerechtigkeit-im-deutschen-historischen-museum-1147320
Thu, 07 Jun 2018 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Black Box“ heißt ein Kunstwerk des Südafrikaners William Kentridge, das 2005 unweit von hier, auf der anderen Seite der Berliner Prachtstraße Unter den Linden, in der wegen ihres Umzugs in die Nachbarschaft geschlossenen Kunsthalle „Deutsche Guggenheim“ zu sehen war. Damit thematisierte der international renommierte Künstler die Geschichte des deutschen Kolonialismus, insbesondere der von den Deutschen verübten Gräueltaten an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. „Black Box“: Damit kann in der Umgangssprache beispielsweise ein Flugdatenschreiber gemeint sein, der nach einem Absturz Auskunft über die Ursachen geben soll. In der Wissenschaft bezeichnet der Begriff ein Objekt oder ein System, dessen inneren Aufbau und dessen Funktionsweise man nicht kennt. So zielt der Künstler William Kentridge mit seinem Kunstwerk „Black Box“ auf die Vielschichtigkeit des Themas Erinnerung und Aufarbeitung, auf die ungeheure Schwierigkeit, Vergangenes zu vergegenwärtigen und geschehenem Leid und Unrecht in der Rückschau gerecht zu werden. Ja, es sind enorme moralische, politische und juristische Herausforderungen, mit denen uns die Erinnerung an die deutsche und europäische Kolonialgeschichte konfrontiert. Gerade deshalb müssen wir uns dieser Erinnerungsarbeit mit Aufrichtigkeit und Nachdruck, aber auch mit größtmöglicher Sensibilität stellen und dabei unterschiedlichen Stimmen Gehör verschaffen. Viel zu lange war die Kolonialzeit ein blinder Fleck in unserer Erinnerungskultur. Viel zu lange war die in dieser Zeit geschehene Ungerechtigkeit vergessen und verdrängt. Dies endlich ans Licht zu holen, ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber den ehemaligen Kolonien – und Voraussetzung für Versöhnung und Verständigung mit den dort lebenden Menschen. Das heutige Symposium ist ein richtiger und notwendiger Schritt auf unserem Weg, Licht ins Dunkel der „Black Box“ unserer Kolonialgeschichte zu bringen. Ich freue mich sehr, Sie alle hier im Deutschen Historischen Museum willkommen zu heißen! Ganz besonders freue ich mich, Expertinnen und Experten aus Afrika, die eigens für dieses Treffen nach Berlin angereist sind, unter den Teilnehmenden zu wissen. Ihnen gilt mein besonderer Dank, denn es ist der Dialog, es ist das Lauschen auf die Stimmen aus Afrika und auch aus Asien, es ist der gemeinsame Blick auf die leidvolle Vergangenheit, der uns Deutschen, uns Europäern im Ringen um den richtigen Umgang mit den Vermächtnissen dieser Zeit unverzichtbare Erkenntnis- und Verständnishilfe ist. Deshalb bin ich Ihnen, lieber Herr Professor Gross, und Ihrem Team sehr dankbar für die Initiative, die Säule vom Cape Cross und die deutsch-namibische Kolonialgeschichte zum Ausgangspunkt einer Debatte über „koloniale Objekte und historische Gerechtigkeit“ zu machen, dabei unterschiedlichen Perspektiven Raum zu geben und so unsere historische Urteilskraft zu schärfen. Das Deutsche Historische Museum etabliert mit diesem Symposium eine neue Veranstaltungsreihe, die – anhand eines konkreten Einzelfalls, aber weit über diesen Einzelfall hinaus – Aufklärung und Aufarbeitung voranbringen soll. So verortet sich gerade das DHM–Deutsche Historische Museum als historisches Museum einmal mehr da, wo es hingehört: in der Mitte Berlins, in der Mitte der aktuellen Debatten. Seit seiner Gründung hat sich das DHM–Deutsche Historische Museum bereits in mehreren Ausstellungen der deutschen Kolonialgeschichte gewidmet, zuletzt mit der sehr erfolgreichen Schau „Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“ im Jahr 2016. Damit stellt sich das DHM–Deutsche Historische Museum seiner Verantwortung im Umgang mit juristisch, historisch, politisch und auch moralisch schwierigen Frage der Aufarbeitung im Dialog mit der Öffentlichkeit – und ich hoffe, dass sich viele Museen ein Beispiel daran nehmen werden! Dabei möchte und werde ich die Museen unterstützen. Mein Beitrag zur Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte ist, in dieser Legislaturperiode die Aufarbeitung von und den Umgang mit Beständen aus Kolonialen Kontexten in Sammlungen und Museen voranzubringen. Die Bundesregierung hat sich mit dem Koalitionsvertrag sehr klar zur Aufarbeitung unserer kolonialen Vergangenheit bekannt. Dabei hilft uns möglicherweise, dass wir in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten lernen mussten, Verantwortung für historisches Leid und Unrecht zu tragen. So haben wir auch gelernt, dass Aufklärung und Aufarbeitung nur im Dialog, im vielstimmigen Austausch möglich sind und deshalb Zeit brauchen. Aufbauend auf diesem Erfahrungsschatz stellen wir uns unserer kolonialen Vergangenheit und wollen gemeinsam – im Dialog mit den Herkunftsstaaten und Herkunftsgesellschaften – konstruktive Wege suchen und finden. Für den Umgang mit Kulturgut aus kolonialen Kontexten sind Leitlinien nötig. Es ist wichtig, dass wir uns darauf verständigen, wie wir gemeinsam Verantwortung übernehmen, Teilhabe ermöglichen und Zusammenarbeit auf Augenhöhe erreichen wollen. Deshalb hat der Deutsche Museumsbund – der Dachverband der deutschen Museen – in intensiver Arbeit und mit Unterstützung aus meinem Kulturetat einen „Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ erarbeitet, den wir im Mai in Berlin öffentlich vorgestellt haben und der demnächst auch auf Englisch und Französisch im Netz verfügbar ist. Er soll unseren Museen helfen, dem anspruchsvollen und vielschichtigen Thema gerecht zu werden und, angepasst an die Umstände des Einzelfalls, zu Lösungen für den Umgang mit den kolonialen Kulturgütern beitragen – und damit zum Fortschritt in der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte Deutschlands und Europas. Im Herbst wird mit finanzieller Unterstützung meines Hauses ein international besetzter Experten-Workshop in Berlin dazu stattfinden, so dass dann im Frühjahr 2019 anhand erster Rückmeldungen – auch und gerade von Vertreterinnen und Vertretern der Herkunftsgesellschaften – eine weiterentwickelte Fassung vorliegt, die 2019 veröffentlicht wird. Darüber hinaus, und dies ist mir ein großes Anliegen, arbeiten wir mit Hochdruck daran, die Provenienzforschung zukünftig bundesweit auszubauen. Damit Museen in ganz Deutschland Unterstützung bei dieser komplexen Aufgabe erhalten und bei der Erforschung von Provenienzen auch Vertreterinnen und Vertreter der jeweiligen Herkunftsgesellschaften einbeziehen können, wird beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste ein Förderprogramm zur Erforschung von Sammlungsbeständen aus kolonialen Kontexten aufgelegt. Nicht zuletzt erhält das Thema auch mit dem Bau des Humboldt Forums die Aufmerksamkeit, die es braucht und verdient. Gerade die Kultur birgt ja die große Chance, Denkräume für kontroverse Debatten zu eröffnen und Orte zu schaffen, an denen das Unmögliche zunächst gedacht werden soll, um dann das Mögliche zu tun. Deshalb widmet Deutschland den zentralen Platz im Herzen der Hauptstadt Berlins der Weltkultur: und zwar nicht nur der eigenen Kultur, sondern auch den außereuropäischen Kulturen. Bei der Präsentation der außereuropäischen Objekte berät uns ein internationales Expertenteam, und die einzelnen Ausstellungsmodule werden in Teams mit Kollegen aus den Herkunftsgesellschaften vorbereitet. Das Humboldt Forum soll Basislager für eine Weltreise sein: Auf 41.000 Quadratmetern wollen wir mit Exponaten aus aller Welt, vor allem mit Kulturgütern außerhalb Europas, die großen Themen der Menschheitsgeschichte erzählen. Es geht um Leben und Tod, um Anfang und Ende des Lebens, um den Umgang der Generationen miteinander, um das große Menschheitsthema Migration, um die Rolle der Religionen – und am Ende eines Besuches des Humboldt Forums soll die Erkenntnis stehen, dass uns Menschen überall auf der Welt mehr verbindet als uns trennt. Für dieses bedeutendste Kulturprojekt Deutschlands investieren wir 600 Millionen Euro. Denn heute, meine Damen und Herren, denn heute – im 21. Jahrhundert – gehört es zum Selbstverständnis Deutschlands, treibende Kraft interkultureller Verständigung zu sein. Voraussetzung dafür ist die Auseinandersetzung mit der historischen Wahrheit, die Aufarbeitung von Leid und Schuld. Darin hat mich einmal mehr die Konferenz der UNESCO–United Nations Educational Scientific Cultural Organization in Paris vergangene Woche bestärkt, auf der ich mit Regierungs- und Nichtregierungsvertretern aus Herkunftsstaaten sowie mit Expertinnen und Experten aus aller Welt über den Umgang mit unserer kolonialen Vergangenheit und Kulturgütern aus kolonialen Kontexten diskutieren konnte. Es freut mich, dass der bereits erwähnte Leitfaden des Museumsbundes dort großen Zuspruch fand und auch die Zuständigkeit des Deutschen Zentrums für Kulturgutverluste mit seiner internationalen Ausrichtung von meinen internationalen Kolleginnen und Kollegen begrüßt wurde. Auch hier zeigte sich, wie wichtig der direkte Austausch für die Aufarbeitung der kolonialen Geschichte ist, und ich kann deshalb nur nochmals unterstreichen, wie dankbar ich bin, dass das Deutsche Historische Museum diesem Austausch ein Forum gibt. Ich freue mich auf den Austausch mit Ihnen, meine Damen und Herren – auf dass die Kolonialgeschichte keine „Deutsche Historische Museum“ bleibt, sondern ein Licht auf die Zukunft wirft: auf die Voraussetzungen für Versöhnung und Verständigung und auf die Bedingungen und Möglichkeiten eines partnerschaftlichen Miteinanders zwischen Afrika, Asien und Europa.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich des Lyrikabends „Unmögliche Liebe“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-des-lyrikabends-unmoegliche-liebe–1147308
Tue, 05 Jun 2018 18:29:00 +0200
Im Wortlaut
Bundeskanzleramt
Kulturstaatsministerin
[Anrede], wenn Sie glauben, meine Damen und Herren, heute Abend einer Premiere beizuwohnen, muss ich Sie leider enttäuschen: Treffen unter dem Motto „Unmögliche Liebe“ gibt es im Bundeskanzleramt öfter. Sie heißen hier allerdings üblicherweise „Koalitionsausschuss“ oder „Kabinettsitzung“. Und alle Beteiligten wissen, dass aus dem Happy End bei den Koalitionsverhandlungen niemals eine Liebesheirat wird – was einer konstruktiven Zusammenarbeit in einer politischen Lebensabschnittspartnerschaft ja durchaus zuträglich sein kann …Keine Premiere für die „unmögliche Liebe“ also … Was ich Ihnen aber für den heutigen Abend versprechen kann, verehrte Gäste, ist eine Hauptrolle für die Poesie, wo sonst Politik und Diplomatie regieren. In diesem Sinne: Herzlich willkommen zum Lyrikabend im Bundeskanzleramt! Die Idee, der Dichtkunst hin und wieder Raum zu geben im prosaischen Alltag des politischen Tagesgeschäfts, habe ich in meiner ersten Amtszeit als Kulturstaatsministerin mit in dieses Haus gebracht. Mit meiner zweiten Amtszeit – und dem dritten Lyrikabend – wird daraus nun hoffentlich eine Kanzleramtstradition. Natürlich kann man, wenn man eine Auszeit von der pragmatischen Zweckrationalität politischer Kompromisse und vom schwerfälligen Amtsdeutsch politischer Verlautbarungen braucht, auch einfach abends zu einer Lesung oder ins Theater gehen oder sich zwischendurch mal ein paar Minuten mit einem Gedichtband gönnen. Einige meiner Lieblingsgedichte habe ich für solche Momente auf Post-its und Karteikarten unter meiner Schreibtisch-Unterlage. Mir geht es aber um mehr. Wenn das Bundeskanzleramt der Lyrik wie einem Staatsgast den roten Teppich ausrollt und ihr im Bankettsaal einen festlichen Empfang bereitet, ist dies Würdigung und Wertschätzung für eine Kunstform, die leider meist nur literarische Connaisseurs zu schätzen wissen, obwohl sie Gehör weit über diesen Kreis hinaus verdiente. Denn die Poesie sprengt mit den Regeln und Grenzen der Alltagssprache auch die Routinen und Gewohnheiten des Denkens und Wahrnehmens. Jenseits der üblichen Muster und Schablonen eröffnet sich ein Kosmos an Eindrücken und Empfindungen, die das eigene, kleine Leben mit zeitlosen Wahrheiten verbinden. Poesie sei und bleibe, so hat es der Schriftsteller Ralf Rothmann einmal formuliert, „eine unserer besten Möglichkeiten; sie kann uns das Empfinden schärfen dafür, dass jede Realität bloß ein Notbehelf des Wunderbaren ist“. In jedem Fall führt die poetische Sprache in die Tiefe, wo die Alltagssprache an der Oberfläche bleibt. So auch bei der „unmöglichen Liebe“: Manch internet-sozialisierter Mensch des 21. Jahrhunderts hat dafür ja nur drei Wörter: „Es ist kompliziert“, die Bezeichnung des „Beziehungsstatus“ auf Facebook für Menschen, die zusammen sind, aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht zueinander finden. „Beziehungsstatus“ – schon das Wort ist wie aus Plastik. Wie sinnlich und betörend ist dagegen die Fülle der Beschwörungen „unmöglicher Liebe“ in der Dichtkunst: vom Minnesang des Mittelalters bis zur zeitgenössischen „Jungen Lyrik“; vom eher kargen, bisweilen auch deftigen Deutsch eines Bertolt Brecht bis zur orientalisch üppigen Sprache einer Else Lasker-Schüler; von der unerwiderten Liebe, der flüchtigen, vergänglichen Liebe oder auch der tragischen Liebe (man denke an die Liebesbeziehung Ingeborg Bachmanns und Paul Celans) bis zur homosexuellen Liebe, die ja lange eine verbotene und deshalb nicht leb-bare Liebe war. Ihr hat August von Platen im Jahr 1821 ein literarisches Denkmal gesetzt, das als kleiner Vorgeschmack auf diesen Abend dienen soll: Wem Leben Leiden ist und Leiden Leben, Der mag nach mir, was ich empfand, empfinden; Wer jedes Glück sah augenblicks verschwinden, Sobald er nur begann, darnach zu streben; Wer je sich in ein Labyrinth begeben, Aus dem der Ausweg nimmermehr zu finden, Wen Liebe darum nur gesucht zu binden, Um der Verzweiflung dann ihn hinzugeben; Wer jeden Blitz beschwor, ihn zu zerstören, Und jeden Strom, dass er hinweg ihn spüle Mit allen Qualen, die sein Herz empören; Und wer den Toten ihre harten Pfühle Mißgönnt, wo Liebe nicht mehr kann betören: Der kennt mich ganz und fühlet, was ich fühle. Ja, meine Damen und Herren, die Sprache der Poesie lässt fühlen, was ein anderer fühlt – umso mehr, wenn professionelle Schauspieler sie zum Klingen bringen! Ich danke Kathleen Morgeneyer und Alexander Khuon vom Deutschen Theater Berlin, die uns heute Abend eine kleine Auswahl literarischer Zeugnisse unmöglicher Liebe vortragen werden – eine Auswahl, die Anika Steinhoff mit ihrer Kompetenz als Dramaturgin in bewährter Weise für uns zusammengestellt und zusammen mit den Schauspielern inszeniert hat. Auch Ihnen herzlichen Dank, liebe Frau Steinhoff! Das Motto dieses Abends wiederum ist einer beiläufigen Buchmessenplauderei zu verdanken: Auf meinem Rundgang über die letztjährige Frankfurter Buchmesse kam ich mit Jo Lendle vom Hanser Verlag ins Gespräch. Er schwärmte von seinem Lieblingsbuch im aktuellen Verlagsprogramm, herausgegeben von Jan Wagner und Tristan Marquardt: 68 Dichterinnen und Dichter waren aufgefordert, mittelhochdeutsche Gedichte in zeitgenössisches Deutsch zu übersetzen. Der Buchtitel „Unmögliche Liebe“ ist hier die griffige Formel für das bekannte Minneparadox – das bittersüße Glück der unerfüllten und unerfüllbaren Liebe. Damit war die Idee für unseren heutigen Lyrikabend geboren. Er freue sich schon, sagte Jo Lendle damals beim Abschied, „das Kanzleramt in ein Liebesnest zu verwandeln.“ Ich darf heute hinzufügen: Was die Große Koalition nicht schafft, das schaffen große Dichterinnen und Dichter! Freuen Sie sich also mit mir auf einen Abend ganz im Zeichen großer Gefühle, meine Damen und Herren, auf einen Abend, den wir später bei einem Glas Wein und kleinen kulinarischen Köstlichkeiten ausklingen lassen – schließlich geht Liebe bekanntlich durch den Magen. Um bei dieser Gelegenheit dann auch endlich aufzuräumen mit dem Vorurteil, Lyrik sei schwer verdauliche Kost, lassen wir Ihnen nachher auf der Terrasse aphrodisierendes Fingerfood servieren. Rosenblätter, Vanille, Granatapfelkerne, Spargel, Erdbeeren und Feigen tun ihr Bestes, um kulinarisch das Niveau dieses Abends im Zeichen der Liebe zu halten. Die literarische Patenschaft haben hier Oscar Wilde und Virgina Woolf übernommen: „Allem kann ich widerstehen, nur der Versuchung nicht“, sagte ER einmal. „Man kann nicht gut denken, gut lieben, gut schlafen, wenn man nicht gut gegessen hat“, sagte SIE einmal. Für gutes Essen ist gesorgt, und widerstehen muss hier niemand. Nun aber genug geredet: Bühne frei für die Dichtkunst! Bühne frei für Kathleen Morgeneyer und Alexander Khoun vom Deutschen Theater!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Jubiläumsveranstaltung „65 Jahre Deutsche Welle“ am 5. Juni 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-jubilaeumsveranstaltung-65-jahre-deutsche-welle-am-5-juni-2018-1147292
Tue, 05 Jun 2018 12:35:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Limbourg, sehr geehrte Frau Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, sehr geehrte Staatsministerinnen Grütters und Müntefering, sehr geehrte Frau Budde, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, sehr geehrter Herr Parlamentarischer Staatssekretär beim Entwicklungsministerium, vor allem auch liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Deutschen Welle, die uns jetzt zuschauen und die Feierlichkeiten zum 65. Jahrestag überall auf der Welt verfolgen können, „Hier ist die Deutsche Welle“ – so hieß es vor 65 Jahren via Kurzwelle. Hier ist die Deutsche Welle immer noch – so heißt es heute über die verschiedensten Kanäle. Und das ist wirklich ein Grund zum Feiern. Bei all dem, was ich mir an den Ständen soeben anschauen konnte, hat man nicht den Eindruck, dass Sie in die Jahre gekommen sind, sondern dass es mit jedem Jahr moderner, attraktiver und auch weltumspannender wird, was Sie tun. Und so begehen wir heute feierlich ein gutes Stück Mediengeschichte. Ich begrüße auch Herrn Bettermann und andere, die früher mitgewirkt haben. 1953, nur acht Jahre nach Kriegsende, brachte sich die noch junge Bundesrepublik Deutschland in der Welt zu Gehör als ein Land, das freiheitlich, rechtsstaatlich und demokratisch ist. Damals begrüßte Bundespräsident Theodor Heuss die Hörerinnen und Hörer der ersten Sendung. Wenn man sich überlegt, in welchem Zustand Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war, dann muss man sagen: Das war ein mutiger und selbstbewusster Schritt. Seitdem begleitet die Deutsche Welle die Geschichte der Bundesrepublik und wurde selbst Teil ihrer Geschichte. Im Laufe der Geschichte wandelte sie sich vom Kurzwellensender zum digitalen Medienunternehmen. Die Deutsche Welle ist eine Erfolgsgeschichte, zu der ich – das sage ich im Namen der gesamten Bundesregierung – einen herzlichen Glückwunsch ausspreche. Nicht rasten, nicht ruh‘n, sondern weitertun – aber trotzdem heute auch ein bisschen feiern. Die Aussage, dass die Welt vor 65 Jahren eine andere war, ist relativ trivial, aber sie stimmt. 1953 war ein Jahr, in dem das Wirtschaftswunder den westlichen Teil Deutschlands belebte und in dem auf der anderen Seite, im Osten Deutschlands, am 17. Juni der Volksaufstand niedergeschlagen wurde, was die Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen und freie Wahlen zerstörte. In den folgenden Jahrzehnten war die Deutsche Welle stets am Puls der Zeit – von der europäischen Integration, den gesellschaftlichen Veränderungen nach 1968 über den Mauerfall und die Wiedervereinigung bis hin zu Globalisierung und Digitalisierung. Immer war die Deutsche Welle – Herr Limbourg hat es vorhin gesagt – Stimme der Heimat und vor allem Stimme der Freiheit. Denn ganz besonders gab und gibt sie jenen eine Stimme, die aufgrund der Unfreiheit in ihrer Heimat sonst zu verstummen drohen. In Zeiten des Kalten Krieges war die Deutsche Welle östlich des Eisernen Vorhangs eine Informationsquelle mit Seltenheitswert, weil sie unzensierte Nachrichten über das politische Geschehen brachte. Damit war sie der sowjetischen Staatsführung wie auch den SED-Machthabern ein Dorn im Auge. Die Ausstrahlung der Programme wurde daher massiv gestört. Die Rolle der freien Medien für die friedliche Revolution in der DDR wie in ganz Mittel- und Osteuropa ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Ich denke, das hat Ihre Arbeit bis heute geprägt. Dafür herzlichen Dank. Denn die Deutsche Welle ist eben auch heute noch für viele ein Stachel. Die Arbeit wird behindert; mal mehr, mal weniger subtil. – Sie haben es erwähnt; immer wieder kommen wir auch bei unseren Auslandsbesuchen darauf zurück. – Die Deutsche Welle ist als unabhängige Stimme der Freiheit eben nicht nur gelitten, sondern wird auch bekämpft. Presse- und Meinungsfreiheit – dafür steht die Deutsche Welle seit 65 Jahren. Ein Großteil der Menschen weltweit – das erleben Sie täglich in Ihrer Arbeit – lebt unter Umständen, die alles andere als so sind, dass man auf freie Medien setzen kann. Deshalb versuchen Sie, Informationslücken zu schließen, die lokale Medien eben nicht füllen können, sei es aufgrund staatlicher Repression oder – auch das muss man sagen – zum Teil auch aufgrund wirtschaftlicher Not. Daher wird unser Auslandssender gebraucht und gehört – aber nicht nur deshalb. Wir spüren ein wachsendes Interesse an Deutschland und an Europa. Deutschland wird im Allgemeinen als verlässlicher Partner in der Welt geschätzt. Viele wollen wissen, was wir in Deutschland und Europa denken, was bei uns passiert und wie man hier lebt. Europäische Sichtweisen auf das weltweite Geschehen aufzuzeigen, ist, denke ich, eine Aufgabe, die nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union noch wichtiger sein wird, als es ohnehin schon ist. Deshalb kann ich neben der Kooperation mit ARD, ZDF und Deutschlandradio auch die Zusammenarbeit mit den französischen Auslandssendern nur begrüßen, die ein guter Beitrag zur deutsch-französischen Kooperation insgesamt ist, über die wir in diesen Tagen viel sprechen. Ich möchte an dieser Stelle auch Frau Saragosse von France Médias Monde ganz herzlich willkommen heißen. Auslandskommunikation hat in einer zunehmend vernetzten Welt einen eigenen Stellenwert. Jetzt, in Zeiten eines rasanten digitalen Wandels, werden die entscheidenden Weichen dafür gestellt, wie unsere Welt in 40 oder 50 Jahren aussehen wird. Es ist deshalb kein Zufall, dass einige Länder ihre Auslandssender massiv ausbauen. Man schaue nach Russland oder China. Das, was ich bei Handelsfragen mit Blick auf China immer wieder sage, nämlich dass wir Reziprozität haben wollen, gilt eben auch für Auslandssender. Wir wollen sie auch für die Deutsche Welle genauso wie für chinesische Sender bei uns. Die Deutsche Welle steht für seriösen Journalismus, zuverlässige Informationen und objektive Berichterstattung. Ich denke, es zeichnet sie auch das aus, was Sie, Herr Limbourg, sagten: Sollte einmal ein Fehler unterlaufen, so wird er hinterher korrigiert. Damit hebt sie sich in einer multimedialen Welt wohltuend von der Versuchung ab, ohne Entrüstung, Übertreibung und Zuspitzung nicht mehr auskommen zu können. Allerdings hat uns das kurze Video gezeigt: Leidenschaft ist doch noch dabei; und das ist auch gut so. Dass die Zuschauer der Deutschen Welle ein Bundesligaspiel live verfolgen können, ohne dafür zu zahlen – (Zuruf) – Zuhörer nur! Oje. (Heiterkeit) Aber zuhören ist auch schön. Ich wollte nämlich schon sagen: Ansonsten müssten wir mal schauen, wie wir auch das für Deutschland einführen. Aber zuhören, das schaffen wir auch noch. Also: Würden sich die Übertreibung, die Entrüstung und all das, was man an Fake News zu verbreiten versucht – Sie haben es hier angesprochen –, tatsächlich durchsetzen, wäre der Weg nicht mehr weit, dass das Verschweigen oder Verdrehen von Tatsachen insgesamt immer mehr für opportun gehalten wird und dass das Erfinden angeblicher Fakten als politisches Mittel systematisch eingesetzt wird und durch Desinformation und Propaganda Meinungen einfach manipuliert werden können. Deshalb ist Medienvielfalt unabdingbar und deshalb möchte ich ausdrücklich würdigen, was Sie tun, um aufzuklären. Mündige Bürgerinnen und Bürger wollen selbst entscheiden, was sie hören, lesen oder sehen, und sie müssen sich auch eine Meinung darüber bilden können. Die Deutsche Welle versucht deshalb, auch Medienkompetenz zu fördern. Die Deutsche Welle Akademie – auch hier mit einem Stand vertreten – zeigt eben auch, wo Propaganda beginnt und wo tatsächlich die Realität dargestellt wird. Das ist wirklich Arbeit für die Freiheit, für die Demokratie am Einzelfall. Ich glaube, das kann man gar nicht hoch genug würdigen. Sie vermitteln freiheitliche und demokratische Werte über alle Kanäle – Radio, Fernsehen, Online, Mobil, Social Media. Deshalb erreichen Sie hoffentlich gleichermaßen ältere und jüngere Mediennutzer, was ja heutzutage gar nicht mehr so einfach ist. 1994 hatten Sie als erster öffentlich-rechtlicher Sender ein Internetangebot freigeschaltet – da muss Ihnen aber jemand einen guten Tipp gegeben haben –; also zu Zeiten, als die meisten Haushalte in Deutschland noch nicht über einen Internetanschluss verfügten. Seitdem haben Sie Ihr Angebot immer weiter ausgebaut. Wir erleben auf der Welt ja sowieso, dass bestimmte Technologien übersprungen werden und dass es sehr wichtig ist – gerade auch in weiten Teilen Afrikas oder in anderen Entwicklungsregionen –, gleich mit der neuesten Technologie zu beginnen. Eine der großen Sorgen, die ich manchmal habe, ist, dass wir nicht ganz mitbekommen, wie sich die Welt schon bestimmter neuer Medien bedient, wir aber denken, wir seien ganz vorne mit dabei. Insofern wäre es gut, ab und zu mal einen Blick auf den Rest der Welt zu werfen. Sie vernachlässigen auch das Fernsehen nicht. Ob linear oder nichtlinear, ob auf Flachbildschirmen, Tablets oder Smartphones – Fernsehen bleibt ein Leitmedium; Bilder sind ja schwer zu ersetzen. Unabhängig davon, wie sich Technologien und Übertragungswege weiterentwickeln, gilt: um Menschen anzusprechen, muss man auch ihre Sprache sprechen. Deshalb: Bengalisch, Hindi und Urdu, Amharisch – alles vertreten. Neben Deutsch sind es insgesamt 30 Sprachen, in denen die Deutsche Welle weltweit zu hören ist. Sie spricht zudem auch ganz gezielt diejenigen an, die Deutsch als Fremdsprache schätzen und gerne lernen möchten. Die Förderung der deutschen Sprache ist uns ein großes Anliegen. In einer Zeit, in der Englisch sehr stark um sich greift, sind wir froh über jeden, der Deutsch lernt. Deshalb freuen wir uns, dass Sie Deutschlernende aus aller Welt immer wieder im virtuellen Klassenzimmer zusammenführen. Sprachwissen, sich verständigen und verstehen zu können – das ist von grundlegender Bedeutung für persönliche Chancen von Menschen und für ein gutes Miteinander von Menschen. Das erfahren wir ja auch ganz konkret im Zusammenleben mit Menschen, die eingewandert oder zu uns geflohen sind. Auch hierbei hat sich die Deutsche Welle als wichtiger Partner erwiesen. Mit ihrer Hilfe können Menschen im In- und Ausland sich gezielt informieren, lernen und ein Bild vom Leben in Deutschland gewinnen. Meine Damen und Herren, 65 Jahre nach der ersten Sendung ist die Deutsche Welle gefragter denn je. Dessen ist sich auch die neue Regierungskoalition bewusst. Auch in der vergangenen Legislaturperiode haben wir Einiges gemacht. Daher sehen wir auch wieder eine Stärkung des Senders vor. Wir wissen und haben jetzt auch von Herrn Limbourg wieder gelernt, was das eigentlich Wichtige dabei ist: Das sind die Zahlen, die dann im Budget stehen. Deshalb sind Sie klugerweise auch gleich ins Paul-Löbe-Haus gegangen; denn hier tagt auch der Haushaltausschuss, der dabei ist, wenn die Letztentscheidungen über die finanzielle Ausstattung getroffen werden. Ich darf Ihnen sagen: Die Zahl Ihrer Fans im Deutschen Bundestag hat sich erhöht. Denn wir alle erleben, wie wichtig eine solche Stimme in einer Zeit ist, in der wir Verfälschungen in einer Weise kennenlernen, wie wir sie uns nicht hätten träumen lassen. Ich erinnere mich noch sehr gut an unsere Diskussionen damals nach der Annexion der Krim und den Ereignissen in der Ostukraine. Ich glaube, inzwischen ist vielen, die die Deutsche Welle sonst ein bisschen unter „ferner liefen“ haben laufen lassen, bewusst geworden, wie wichtig es ist, nicht nur ein Bild von uns hierzulande zu vermitteln, sondern auch Informationen von und für Menschen überall auf der Welt zu senden. Dafür sage ich ganz herzlich danke. Das heißt, Sie können darauf setzen, dass Sie auch weiterhin politische Unterstützung bekommen; und zwar sowohl aus der Bundesregierung als auch aus dem Parlament, für das ich hier nur indirekt sprechen kann. Aber ich bin immerhin noch Bundestagsabgeordnete und somit eine Stimme von vielen. Ich möchte noch darauf verweisen, dass nicht nur deutsche Journalisten dabei sind, sondern auch sehr viele ausländische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Nachdem ich vorhin das Video gesehen hatte, muss ich sagen: Ein bisschen beneide ich Sie dafür, dass Sie jeden Tag in so einer Welt der Vielfalt arbeiten können – zum Teil natürlich unter Bedingungen, die sich von unseren Arbeitsbedingungen unterscheiden, aber trotzdem mit Lust, mit Laune, mit viel Elan – und dass Sie so viele interessante Sachen erfahren. Ich finde es auch wunderbar, dass Sie ein Umweltmagazin aus Afrika produzieren, das die afrikanische Sicht auf die Dinge zeigt, und dass Sie diese Sicht damit auch uns ein bisschen nahebringen können. Denn es muss ja nicht immer nur eine Einbahnstraße sein, sondern es kann ja auch ein Hin und Her sein. Deshalb, lieber Herr Limbourg, danke ich Ihnen, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie allen Mistreitern, auch denen aus dem gesellschaftlichen Bereich, die der Deutschen Welle immer die Stange halten. Wir sind daran interessiert, dass Sie noch stärker werden, dass Sie noch mehr Menschen erreichen, sodass, bevor wir in irgendein Land reisen, alle schon wissen, was Sache ist und daher fast nicht mehr reden müssen. Also: Alles Gute, auf gute Zusammenarbeit – im Rahmen der journalistischen Distanz und Unabhängigkeit – und auf vielfältige Berichterstattung. Herzlichen Dank.
Festrede der Kulturstaatministerin zur Verleihung des Wächterpreises der Tageszeitungen 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/festrede-der-kulturstaatministerin-zur-verleihung-des-waechterpreises-der-tageszeitungen-2018-1147296
Sun, 04 Jun 2000 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
[Anrede], Flora und Fauna liegen in der Regel jenseits des Wahrnehmungsradars deutscher Tageszeitungen, und selbst aus der Reihe der Alphatiere finden hier allenfalls Leithammel, Schlachtrösser und Silberrücken aus Politik und Wirtschaft Beachtung. Trotzdem – oder auch gerade deshalb – lohnt sich zu Beginn einer Festrede über die Zukunft des kritischen Journalismus ein kurzer Ausflug in dieses journalistisch unterbelichtete Gebiet. Genauer: ein Ausflug in die farbenprächtigen Korallenriffe tropischer Ozeane. Dort lebt der Fangschreckenkrebs, Haptosquilla trispinosa, unter Wissenschaftsjournalisten bestens beleumundet als, ich zitiere, „Durchblicker vom Meeresgrund“ … – und damit in gewisser Weise ein Artgenosse jener „Durchblicker“ im Haifischbecken der Politik, zu denen auch die heutige Preisträgerin und die heutigen Preisträger zählen. Zwar hat der Fangschreckenkrebs, evolutionsgeschichtlich betrachtet, schon ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel als die freie, unabhängige und kritische Presse in Deutschland. Doch bei allen offensichtlichen Unterschieden zwischen den „Durchblickern vom Meeresgrund“ und den „Durchblickern im demokratischen Diskurs“ gibt es doch auch ein paar Gemeinsamkeiten: So scheinen sich im Habitat tropischer Meeresgründe dieselben Überlebensstrategien bewährt zu haben, die auch eine Tageszeitung braucht, um sich im scharfen medialen Wettbewerb zu behaupten. Was den Fangschreckenkrebs nämlich in besonderer Weise auszeichnet, sind seine beiden in alle Richtungen beweglichen Sehorgane, bestehend aus jeweils bis zu 10.000 Einzelaugen. Damit scannt er Objekte und nimmt bis zu 100.000 Farbschattierungen wahr. Und wenn Sie, verehrte Journalistinnen und Journalisten, diesen Winzling nun darum beneiden, dass er mit seinem konkurrenzlosen Sehvermögen erkennen kann, was für andere Augen unsichtbar ist, dann haben Sie noch nichts von seiner Schlaggeschwindigkeit gehört: In nur 2,7 Millisekunden beschleunigt sein Schmetterarm auf sage und schreibe 82 Stundenkilometer ( – das ist 40 mal schneller als ein Wimpernschlag): Die Opfer sind schon von den dabei entstehenden Gasbläschen betäubt. Von diesem Tempo, das selbst einen im Tweet-Stakkato befeuerten Shitstorm auf Twitter wie ein laues Lüftchen erscheinen lässt, können Journalistinnen und Journalisten beim Aufdecken von Missständen und Machtmissbrauch nur träumen: Der Wahrheit auf den Grund zu gehen und zum Schlag auszuholen gegen Schweigekartelle oder „alternative Fakten“, braucht Zeit für gründliche Recherche. Der 360 Grad-Rundumblick aber und die fein nuancierte Wahrnehmung der Wirklichkeit in all ihren Farben und Farbschattierungen zeichnen jenen kritischen Journalismus aus, der mit Recht für sich in Anspruch nimmt, schlagkräftige Schutzmacht der Demokratie zu sein und den Schönfärbern, den Vereinfachern, den Zerrbildzeichnern – all jenen also, die eine aufgeklärte, kritische Öffentlichkeit im Interesse persönlichen Profits oder aus Bequemlichkeit verhindern wollen – die Macht der Wahrheit entgegen zu setzen. Dafür steht der Wächterpreis als Anerkennung journalistischer Wachsamkeit, Dafür stehen die Journalistinnen und Journalisten, die diese renommierte Auszeichnung für ihre Arbeit erhalten. Dafür steht der diesjährige Siegerbeitrag von Till Krause und Hannes Grassegger [„Im Netz des Bösen“] im SZ-Magazin über die psychischen Belastungen der euphemistisch als „Content-Moderatoren“ bezeichneten Menschen, die im Auftrag von Facebook die „digitale Drecksarbeit“ leisten, das heißt: abscheuliche Bilder und Beiträge voller Hass und Gewalt aus den sozialen Netzwerken filtern. Und dafür stehen auch der Beitrag von Christiane Mühlbauer im Tölzer Kurier über das eklatante Missmanagement in einer kommunalen Kläranlage und der Beitrag von Frank Lahme im Westfälischen Anzeiger über Polizeibeamte, die nach Schädigungen im Einsatz systematisch im Stich gelassen wurden, wenn der Täter schuldunfähig oder mittellos war. Sie zeugen nicht nur von einem klaren, differenzierten Blick auf die Wirklichkeit, sondern auch von der Schlagkraft, die kritischer Journalismus entwickeln kann. So hat der Gemeindeverbund in Ostbayern für Veränderungen im Management der Kläranlage gesorgt, nachdem Missstände zu Lasten der Bürgerinnen und Bürger in den betroffenen Gemeinden ans Licht kamen; deren Abwassergebühren wurden wieder gesenkt. Frank Lahmes Bericht über staatliche Versäumnisse im Umgang mit Polizistinnen und Polizisten wiederum hat in Nordrhein-Westfalen zu einer Gesetzesänderung geführt. Und dank Till Krauses und Hannes Grasseggers Enthüllungen über die Arbeitsbedingungen der Löscharbeiterinnen und Löscharbeiter „im Netz des Bösen“ (Titel des Beitrags) und den darauf folgenden Untersuchungen der Arbeitsschutzbehörden wurden zumindest die allergröbsten Missstände beseitigt. So gibt es jetzt etwa einen zusätzlichen Psychologen und Rückzugsräume für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das zeigt, was Journalistinnen und Journalisten als „Wächter“ der Demokratie zu leisten imstande sind: Sie decken nicht nur Missstände und Fehlentwicklungen auf und sorgen dafür, dass darüber diskutiert und gestritten wird, sondern mobilisieren auch Kräfte zur Veränderung – die Selbstheilungskräfte der Demokratie gewissermaßen. Leuchtende Beispiele verantwortungsvoller „Wächterarbeit“ sichtbar zu machen, stärkt das Vertrauen in die Presse, in die Medien. So ist auch der Wächterpreis selbst – als Scheinwerfer auf freien, unabhängigen und kritischen Journalismus – von unschätzbarem Wert für unsere Demokratie, gerade in Zeiten, in denen populistische Vereinfacher mit ihren aggressiven Parolen (Stichwort „Lügenpresse“, Stichwort „Staatsfunk“) – danach trachten, Menschen zu verunsichern und das Vertrauen in die Medien zu erschüttern. Ich danke der Stiftung Freiheit für die Presse, ich danke Ihnen, lieber Herr Ohnesorge, dem gesamten Vorstand und allen Beteiligten für Ihr Engagement für einen unabhängigen, couragierten Journalismus, der sein Selbstverständnis als Schutzmacht der Demokratie selbstbewusst verteidigt. So zeugt es von ausgeprägtem journalistischem Selbstbewusstsein, die Rolle der Festrednerin ausgerechnet mit einer Politikerin zu besetzen: mit einer aus der Reihe derjenigen also, denen Sie, verehrte Journalistinnen und Journalisten als Wächterinnen und Wächter – zum Glück! – erfolgreich unbequem sind, die zu Ihrer Arbeit aber eben deshalb von Berufs wegen ein … nun ja: sagen wir: ambivalentes Verhältnis hat. Selbiges lässt sich frei nach Voltaire wie folgt auf den Punkt bringen: Mag ich auch verdammen, was Sie schreiben, ich werde alles in meiner Macht stehende dafür tun, dass Sie es schreiben dürfen – in der festen Überzeugung, dass eine Demokratie gegen autoritäre und totalitäre Anwandlungen gewappnet ist, solange die „Suchmaschine für die Wahrheit“ – wie ein Kolumnist der New York Times die Meinungsfreiheit einmal bezeichnet hat – nur zuverlässig funktioniert. Ich habe die Rolle der Festrednerin gerne über- und Ihre freundliche Einladung mit Freude angenommen, lieber Herr Dr. Rudolph, und zwar auch deshalb, weil ich mir die seltene Chance nicht entgehen lassen wollte, den Spieß einmal umzudrehen und als Politikerin den Anspruch einzulösen, den sich sonst üblicherweise wachsame Journalistinnen und Journalisten auf die Fahnen schreiben – nämlich dort nachzuhaken, wo es unbequem wird. Denn bei aller Wertschätzung für journalistische Glanzstücke wie die der Wächterpreisträger: Nicht alles, was man als Zeitungsleserin, als Zeitungsleser täglich zu lesen bekommt, verdiente einen Platz auf der „Longlist“ für den Wächterpreis, und deshalb will auch ich als Festrednerin weder weichzeichnen noch schön färben, sondern auf die ein oder andere Fehlentwicklung hinweisen. Zu den unangenehmen Wahrheiten, mit denen wir Politiker, aber auch Sie, verehrte Journalistinnen und Journalisten sich selbstkritisch auseinandersetzen müssen, gehört die Tatsache, dass es offenbar eine wachsende Zahl von Menschen gibt, die ihre Lebenswirklichkeit in den politischen Debatten und der medialen Berichterstattung nicht angemessen repräsentiert sehen: die also der Meinung sind, es fehle dem öffentlichen Diskurs an den Farbschattierungen und Kontrasten, die man angesichts des Interessens- und Meinungsspektrums in einer pluralistischen Demokratie erwartet. Textmaterial, das diesen gefühlten Vertrauensverlust als Tatsache ausweist, haben viele Zeitungen bestimmt in ihren Archiven – seien es Bilder aufgebrachter Demonstranten, die „Lügenpresse“-Schilder in die Kamera halten, seien es Screenshots digitaler Hetze gegen die vermeintlichen „Mainstream-Medien“, seien es Interviews oder auch Leserbriefe, in denen der angebliche Konformismus medialer Berichterstattung und die vermeintliche Einhegung öffentlicher Debatten auf das scharf bewachte Gebiet des politisch Korrekten beklagt werden. Auch wenn einschlägige Untersuchungen insbesondere den Tageszeitungen nach wie vor hohe Glaubwürdigkeit bescheinigen Es braucht kein Investigativ-Team, um festzustellen, dass es – bedingt insbesondere durch die digitale Konkurrenz – Entwicklungen gibt, die die wünschenswerte Wiedergabe der Wirklichkeit in all ihren Farben und Schattierungen in den traditionellen Medien erschweren. Seit dem Aufkommen sozialer Medien und digitaler Verbreitungswege ist Berichterstattung ungefiltert und in Echtzeit für Jedermann möglich. Das erhöht den Druck auf die Medienhäuser, ihre journalistische Arbeit und redaktionellen Abläufe immer weiter zu beschleunigen. Neugier, Sorgfalt, Unvoreingenommenheit, die Trennung von Bericht und Meinung, Ausgewogenheit und Differenziertheit – solche journalistischen Kardinaltugenden bleiben aber auf der Strecke, wenn traditionelle Medien sich am rasanten Takt der Liveticker ausrichten, sich also dem Wettbewerb in Kategorien stellen, in denen sie nur verlieren können. Qualitätsjournalismus gibt es weder zum Nulltarif noch in Echtzeit – und Journalismus, der nichts kosten darf, macht sich selbst überflüssig. Statt der im Netz verbreiteten Gratismentalität nachzugeben, sollten Medienunternehmen ihre Leserinnen und Leser deshalb auch im Internet selbstbewusst zur Kasse bitten. Natürlich können Verleger alternativ auch an der Kostenschraube drehen, das heißt: Stellen streichen, das Korrespondentennetz verkleinern Print- und Onlineredaktionen zusammenlegen und auf aufwändige Geschichten verzichten. Wenn Redaktionen dann aber irgendwann journalistischen Legebatterien gleichen, in denen geistige Fließbandarbeiter ihren Bürostuhl nicht mehr verlassen und unter höchstem Zeitdruck nur noch Themen und Texte aus dem Ticker bearbeiten, dann darf man sich auch nicht wundern, dass einem die Leserinnen und Leser abhanden kommen. Herbert Riehl-Heyse, dessen großer Name für journalistische Unabhängigkeit und einen freien Geist steht, hatte recht, als er davor gewarnt hat, auf Kosten der Qualität Punkte im Wettbewerb machen zu wollen: „Auf kurze Sicht kann man sehr gut verdienen mit Produkten, deren Verbraucher keine Nebensätze schätzen und denen überhaupt immer weniger gedankliche Anstrengung zugemutet wird. Auf lange Sicht könnte es sein, dass man sich so ein Publikum und die nächste Generation eines Publikums erzieht, das nicht mehr weiß, was eine anspruchsvolle Tageszeitung sein könnte.“ Apropos Publikum: Selbiges begegnet Journalisten heute längst nicht mehr nur in Gestalt beflissener Leserbriefschreiber. Das journalistische Deutungsmonopol, Teil des Selbstverständnisses eines selbstbewussten Berufsstandes, hat mit der Internetöffentlichkeit lautstarke und vielstimmige Konkurrenz bekommen. Diese Konkurrenz tritt in Gestalt von Bloggern und Netzaktivisten in Erscheinung, wird von den einen als Schwarmintelligenz gefeiert und von den anderen als digitaler Mob gefürchtet. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spricht von der „5. Gewalt“. Das wird nicht jedem Journalisten gefallen, zumal die „5. Gewalt“ ja nicht immer konstruktiv daherkommt, sondern auch in Form von pauschalen Beschimpfungen und medienverdrossenen Verunglimpfungen. Angesichts der Meinungsmacht, die im Internet ihre eigenen Wege und Ventile findet, sind Journalisten aber gut beraten, ihren Lesern auf Augenhöhe zu begegnen: durch Transparenz, was warum wie ins Blatt kommt, durch die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Lesermeinungen, und wenn nötig auch durch Reflexion eigenen Fehlverhaltens. Das stärkt die journalistische Glaubwürdigkeit und das Vertrauen der Leserinnen und Leser in Zeiten, in denen alternative Wahrheiten, Erklärungen, Meinungen und Urteile immer nur einen Mausklick entfernt sind. Glaubwürdigkeit und Vertrauen leiden dagegen, wenn im Wettbewerb um Aufmerksamkeit skandalisiert statt differenziert wird, und wenn Themen nach Popularität statt nach Relevanz ausgewählt werden. Der bereits erwähnte Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen warnt zu Recht vor dem Verlust der Verständigungsfähigkeit in der – ich zitiere – „Empörungsdemokratie des digitalen Zeitalters“, in der mediale Wellen heute Hysterie verbreiten, um morgen in Schweigen zu verebben. Das untergräbt auf Dauer die Glaubwürdigkeit der Medien. Etwas rustikaler ausgedrückt: Journalistisches Rudelverhalten schadet nicht nur der Sau, die gerade durchs Dorf getrieben wird, sondern auch ihren Verfolgern. Aus persönlicher Erfahrung kann ich nur sagen: Als Politikerin gewöhnt man sich irgendwann an, Hypes öffentlicher Erregung einfach über sich ergehen zu lassen – insbesondere dann, wenn die Berichterstattung allzu schematisch immer in dieselbe Richtung geht. Deshalb gehören floskelhafte Sätze wie „Minister XY war nicht zu erreichen“ oder „Das zuständige Ministerium war nicht zu einer Stellungnahme bereit“ mittlerweile leider vielfach zum Refrain investigativer Beiträge insbesondere im Fernsehen – was den Verdacht nahelegt, dass es etwas zu verbergen gibt, wo man schlicht und einfach befürchtet, dass an einer alternativen Sicht der Dinge beim Redaktionsteam gar kein Interesse besteht: dass gar keine Zeit ist, schwierige politische Entscheidungen zu erklären und ein kurzer O-Ton sowieso nur zur Bestätigung eines bereits feststehenden Urteils ausgeschlachtet werden soll. So nähren Politik und Medien unbeabsichtigt und unfreiwillig eben jene Demokratieverdrossenheit, die wir als überzeugte Demokraten wortreich beklagen und aus der Populisten erfolgreich Profit schlagen. Glaubwürdigkeit und Vertrauen aber sind unverzichtbar, um Populisten Paroli bieten zu können. Für einen interessanten Vorschlag, wie man dieses journalistische Grundkapital stärken könnte, werben seit 2013 Reporter der New York Times, die ein „Netzwerk für lösungsorientierten Journalismus“ gegründet haben] Es habe sich, so wurde einer der beiden Gründer in einer deutschen Tageszeitung zitiert, die Erkenntnis breitgemacht, dass zu viel über Probleme und zu wenig über Lösungen berichtet werde – eine Erkenntnis, die auch von einer repräsentativen Emnid-Umfrage in Deutschland gedeckt ist, derzufolge 76 Prozent der Befragten eben dies für eines der größten Defizite der Nachrichtenmedien hält. [Quelle: dpa vom 2.5.2016] Die Mitglieder des „Netzwerks für lösungsorientierten Journalismus“ haben es sich deshalb zur Mission gemacht, einen Recherche-Schritt weiterzugehen: statt Missstände nur anzuprangern auch zu fragen „Wer macht es besser?“. Nicht um Wohlfühlstories geht es dabei, das unterstreichen die Gründer des Netzwerks sehr deutlich, sondern ganz im Gegenteil darum, Druck auf die Verantwortlichen aufzubauen mit dem Nachweis, dass es Menschen, Städte oder Länder gibt, die ein Problem bewältigt haben, vor dem andere versagen. So bleibt – bei aller berechtigten Kritik – auch das Vertrauen, dass eine bessere Welt nicht nur denkbar, sondern auch machbar ist. Und so lässt sich vielleicht verhindern, dass Kritik an gesellschaftlichen Missständen Ohnmachtsgefühle und Hoffnungslosigkeit nährt – und dass aus Ohnmachtsgefühlen und Hoffnungslosigkeit Wasser auf den Mühlen populistischer Hetzer wird. Um Populisten Paroli zu bieten und zu verhindern, dass das Misstrauen, das sie säen, auf fruchtbaren Boden fällt, gewinnt – davon bin ich überzeugt – neben „lösungsorientiertem“ Journalismus auch der lokale Journalismus an Bedeutung. Nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten stellte man ja in so mancher Redaktion selbstkritisch fest, dass man mit dem Rückzug aus den Regionen, mit dem Verzicht auf eigene Lokalreporter, mit der Konzentration auf die Metropolen und auf die Themen, die in urbanen Milieus diskutiert werden, auch das Gespür für die Sorgen und Nöte verloren hatte, die die Mehrheit der Bevölkerung bewegen. Diese Mehrheit lebt nicht in Großstädten – auch in Deutschland nicht. Für diese Mehrheit sind Lokalzeitungen ein Stück Heimat, weil sie nah dran sind an den Themen, die Menschen in ihrem Alltag bewegen, und an den Auswirkungen, die Entscheidungen in Berlin oder in Brüssel auf das tägliche Leben haben – und weil sie dafür sorgen, dass diese Themen im öffentlichen Diskurs eine Rolle spielen und damit politisch relevant werden. Der Wächterpreis unterstreicht mit der Würdigung herausragender Beiträge auch in kleinen, regionalen Tageszeitungen deren Bedeutung für die Medienvielfalt und für einen lebendigen, von unterschiedlichen Stimmen und Perspektiven geprägten öffentlichen Diskurs, und ich freue mich immer wieder, wenn ich lese, dass auch überregionale Zeitungen sich verstärkt in den Regionen engagieren und dabei Debatten-Formate entwickeln, um vor Ort mit ihren Leserinnen und Lesern ins Gespräch zu kommen. „Lokaler“ und „lösungsorientierter“ werden – das sind zwei mögliche Antworten auf die Herausforderungen für investigativen Journalismus in Zeiten der Medien- und Politikverdrossenheit, meine Damen und Herren. Mit diesen Anregungen verbinde ich die Hoffnung, dass auch ich mich bei der Betrachtung von Fehlentwicklungen nicht auf das beckmesserische Beklagen von Defiziten beschränke, sondern – im Sinne einer „lösungsorientierten Festtagsrhetorik“ zum Schärfen des journalistischen Rundum-Blicks und der nuancenreiche Wahrnehmung der Wirklichkeit beitrage. Darüber hinaus braucht es selbstverständlich auch faire Rahmen- und Wettbewerbsbedingungen, um Qualitätsjournalismus erhalten und finanzieren zu können. Dazu gehört beispielsweise eine Anpassung des Urheberrechts an das digitale Zeitalter. Hier setze ich mich unter anderem weiterhin für ein Leistungsschutzrecht für Presseverleger auch auf europäischer Ebene ein. Mit Nachdruck verfolgt die Bundesregierung auch eine zügige Regelung der Verlegerbeteiligung bei den Verwertungsgesellschaften. Außerdem machen wir uns auf europäischer Ebene weiterhin für die Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auch auf elektronische Publikationen einschließlich e-Papers stark (vgl. KoaV, S.170). Und nicht zuletzt setzen wir uns für einen möglichst großen Schutz für Journalistinnen und Journalisten und ihre Quellen ein, unter anderem im Rahmen des aktuellen Richtlinienvorschlags der Europäischen Kommission zum Schutz von Whistleblowern. Wie wichtig es wieder geworden ist, demokratische Errungenschaften wie die Pressefreiheit aktiv zu verteidigen, müssen wir täglich – nicht nur im Blick auf manche Nachbarländer – erfahren. Immerhin darf Hajo Seppelt jetzt doch zur Fußball-WM nach Russland einreisen. Aber wenn wir sehen, wie schwer es unabhängige Journalistinnen und Journalisten in Ungarn haben, wenn wir die zunehmende Einschränkung der Medienfreiheit in Polen durch das neue Mediengesetz mit ansehen müssen, wenn wir lesen, wie Liu Xia, die Witwe des Schriftstellers Liu Xiaobo, in China leiden muss oder wie viele Journalistinnen und Journalisten, Künstlerinnen und Künstler in der Türkei immer noch im Gefängnis sitzen, und wenn wir auch hierzulande mit Vorwürfen wie „Lügenpresse“ konfrontiert werden – spätestens dann wird doch immer wieder klar, wie wichtig und wie notwendig es ist, die Freiheit und Unabhängigkeit der Presse zu verteidigen, in Deutschland und in der Welt. Der Wächterpreis hilft dabei, diese demokratischen Errungenschaften ins digitale Zeitalter zu retten. Und so hoffe ich, dass diese Auszeichnung Journalistinnen und Journalisten auch weiterhin darin bestärkt, „ohne Rücksicht auf Namen und bestehende Verhältnisse Missstände schonungslos aufzudecken“, wie es als sein Ziel formuliert ist. Bleiben Sie also, verehrte Preisträgerin, verehrte Preisträger, Ihrem Anspruch treu, den Mächtigen unbequem zu sein und den Dingen auf den Grund zu gehen, schauen Sie dabei wenn möglich nicht nur denen auf die Finger, die Probleme vertuschen oder bei ihrer Lösung versagen, sondern hin und wieder auch denen, die sie anpacken und es besser machen, und bewahren Sie sich jene kontrastreiche Wahrnehmung der Wirklichkeit, die Sie – so wie den eingangs erwähnten Fangschreckenkrebs – zu gefürchteten „Durchblickern“ macht. Nur auf eines sollten Sie besser verzichten, nämlich auf eigene Investigativrecherchen zur Prüfung, ob mein gewagter Vergleich auch tatsächlich trägt: Denn Fangschreckenkrebse sind, wie Taucher wissen, ohne weiteres in der Lage, mit einem Schlag die Frontscheibe einer Unterwasserkamera zu zertrümmern. Da sind Sie uns Politikern doch deutlich willkommener. Denn zumindest unter Demokraten herrscht die Überzeugung, dass eine freie Presse, eine vielfältige Medienlandschaft, eine kritische, informierte Öffentlichkeit und ein lebendiger Diskurs Wächter und Garanten sind für eine funktionierende und lebendige Demokratie. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung mit dem Wächterpreis, liebe Frau Mühlbauer, lieber Herr Grassegger, lieber Herr Dr. Krause, lieber Herr Lahme!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur 18. Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung am 4. Juni 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-18-jahreskonferenz-des-rates-fuer-nachhaltige-entwicklung-am-4-juni-2018-1141186
Mon, 04 Jun 2018 13:30:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrte Helen Clark, sehr geehrte Frau Thieme, sehr geehrte Ratsmitglieder, meine sehr geehrten Damen und Herren, die Sie in bisher nie gekannter Zahl hierhergekommen sind und damit eine breite Unterstützung für das Gesamtanliegen geben, „Wenn Deutschland es nicht schafft, wer dann?“ – das fragen die Expertinnen und Experten im Peer Review, also in ihrem Gutachten zur Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Sie ergänzen zwar, es sei – ich zitiere – „noch viel zu tun, um einen erfolgreichen deutschen Weg hin zu Nachhaltigkeit zu gestalten.“ Doch ebenso klar ist, dass sie meinen, dass unsere Voraussetzungen dafür gut sind. Nachhaltigkeit hat ihren Weg in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gefunden. Immer mehr Menschen stellen sich der Frage in der gesamten Breite, wie sie nachhaltig arbeiten können, wie sie nachhaltig konsumieren können. Und immer mehr Bürgerinnen und Bürger fordern auch Nachhaltigkeit von der Politik ein. Zu diesem Bewusstseinswandel hat auch der Nachhaltigkeitsrat beigetragen. Und deswegen möchte ich Ihnen ganz herzlich für Ihre Arbeit danke sagen. „Wenn Deutschland es nicht schafft, wer dann?“ – diese Frage aus dem Gutachten zur Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie drückt auch aus, wie hoch die Erwartungen der Welt an uns sind. Helen Clark hat mit einer Expertengruppe dankenswerterweise den Peer Review erarbeitet. Es ist schön zu hören, dass unsere Strategie weltweit geschätzt wird. Also ist das Gutachten durchaus Bestätigung, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Aber ich sage ausdrücklich – Frau Thieme hat es ja in ihrer höflichen Art auch gesagt –: Es geht nun auch darum, den Weg konsequent weiterzugehen. Deshalb werden wir uns – das darf ich versprechen – mit den Empfehlungen intensiv auseinandersetzen. Schon morgen wird der Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung unter Leitung des Kanzleramtsministers Helge Braun gemeinsam mit Frau Clark und weiteren Peers über das Gutachten intensiv diskutieren. Deshalb nochmals herzlichen Dank, liebe Frau Clark, liebe Helen, dass Sie sich dieser Mühe unterzogen haben. Wir werden versuchen, unseren Beitrag dazu zu leisten, dass das nicht nur Papier bleibt. Meine Damen und Herren, Sie wissen, dass 2015 ein entscheidendes Jahr für die globale Nachhaltigkeitspolitik war. Es wurden die Agenda 2030 und zum ersten Mal Ziele für die ganze Welt verabschiedet. 17 Nachhaltigkeitsziele hat die Weltgemeinschaft beschlossen. Alle Staaten haben sich zur gemeinsamen Verantwortung bekannt, rund um den Globus für gute Lebensperspektiven zu sorgen – gerade auch mit Blick auf die jüngere Generation. 2030 – das klingt einerseits weit weg, aber es sind nur noch zwölf Jahre bis zum Zieldatum. Vor zwölf Jahren habe ich zum ersten Mal in meiner Rede vor einer Jahreskonferenz des Rates darüber gesprochen, dass wir noch immer von der Substanz leben. Das, so muss man konstatieren, hat sich bis heute nicht entscheidend geändert, obwohl es – das will ich nicht verkennen – Verbesserungen gibt. Doch wir müssen den Gedanken der Nachhaltigkeit noch konsequenter zum Maßstab des Regierungshandelns machen, und zwar in allen Politikfeldern. Darauf hat sich auch die neue Bundesregierung im Grundsatz verständigt. In diesem Sinne wollen wir die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie weiterentwickeln. Deutschland wird sich auch international weiter für Nachhaltigkeit einsetzen. Das ist notwendiger denn je, weil wir ja auch sehen, dass internationale Vereinbarungen zum Teil infrage gestellt werden, dass die Einsicht, globale Herausforderungen können nur global gelöst werden, unter Druck gerät, und dass wir durch den Austritt der Vereinigten Staaten von Amerika aus dem Pariser Abkommen einen Rückschlag erlitten haben. Man hat manchmal den Eindruck, dass die globale Ordnung ein wenig auseinanderdriftet und das nationale Eigeninteresse überwiegt oder an Bedeutung gewinnt. Deshalb möchte ich António Guterres zitieren, der als UN-Generalsekretär gesagt hat: „Der beste Weg, Konflikte zu vermeiden und Frieden zu sichern, ist nachhaltige und integrative Entwicklung.“ In diesem Zusammenhang will ich nochmals daran erinnern, dass die Vereinten Nationen mit Blick auf die Schrecken des Zweiten Weltkriegs gegründet wurden. Die Staatengemeinschaft leitete die Einsicht, dass multilaterales Handeln notwendig ist. Deshalb gestatten Sie mir – weil es auch um das Fundament für unsere deutsche Arbeit geht –, an dieser Stelle aus aktuellem Anlass einige Worte zu Europa zu sagen, da es von entscheidender Bedeutung ist, dass sich Deutschland in ein Europa als globalen Akteur einbringt. Wir alle sehen, dass sich die Welt neu ordnet und dass diese Entwicklung von zwei Strängen gespeist wird. Der eine hat mit der Verarbeitung der Schrecken des Zweiten Weltkriegs zu tun, des Nationalsozialismus und der Schrecken, die Deutschland über die Welt gebracht hat. In diesem Zusammenhang sind in der Nachkriegszeit unglaubliche Leistungen vollbracht worden: die Gründung der Vereinten Nationen, die Verabschiedung der Charta der Menschenrechte und im Grunde auch die Gründung der Europäischen Union. Und wir spüren alle: ein Menschenleben später muss sich die Kraft dieser Institutionen wieder völlig neu beweisen. Wir sehen auch, dass sich 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs die Ordnung der Bipolarität zu einer multipolaren Welt mit der Supermacht USA und einem dynamisch wachsenden China entwickelt hat. In dieser Welt muss Europa, in dem Deutschland fest eingebettet ist, seine Rolle neu finden. Zahlreiche Herausforderungen sind ja globaler Natur: Terrorismus, Klimawandel, digitaler Wandel, globaler Handel, Migration. Die Dimension dieser Herausforderungen macht heute auch in Deutschland vielen Menschen Angst. Die Angst, dass man diesen Herausforderungen vielleicht nicht gerecht werden kann, führt dazu, dass einfache Lösungen plötzlich als richtige Lösungen erscheinen. Einfache Lösungen scheinen der Rückzug ins Nationale, Abschottung und Protektionismus zu sein. Wer dies verhindern will, muss eben auch eine überzeugende europäische Antwort geben. Es bedarf wirklich einer Kraftanstrengung, einer europäischen Kraftanstrengung, um die Europäische Union in der globalen Ordnung des 21. Jahrhunderts zu verankern und wieder ein umfassendes Sicherheitsversprechen zu geben. Die Europäische Union war immer ein Wohlstandsversprechen und ein Friedensversprechen. Dieses umfassende Sicherheitsversprechen muss neu geschaffen werden. Deshalb müssen wir Mut aufbringen, wir müssen wirtschaftliche Dynamik entfalten und offen sein für Innovationen, wir müssen im Sinne der Nachhaltigkeit neu denken – Europa muss hierbei ein Beispiel geben –, wir müssen auf solide Finanzen setzen. Wir brauchen Institutionen in der Europäischen Union, die unsere Vorstellungen auch global umsetzen können. Europa kann das schaffen, aber nur, wenn es seine Interessen in der Welt auch wirklich geschlossen und entschlossen zu Gehör bringt. Und dann muss man einfach sagen: Wenn Europa ein globaler Akteur werden möchte, dann muss sich Europa auch wie ein globaler Akteur verhalten. Das heißt, dass sowohl die Nationalstaaten dazu bereit sein und den europäischen Institutionen dazu die Möglichkeit geben müssen als auch die europäischen Institutionen handlungsfähig sein müssen. Was meine ich mit einem „umfassenden Sicherheitsversprechen“? Das betrifft erstens eine gemeinsame Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, zweitens eine gemeinsame Entwicklungs-, Migrations- und Asylpolitik, drittens eine gemeinsame Wissenschafts-, Wirtschafts- und Währungsunion, viertens eine gemeinsame Union der Bildung, der kulturellen Vielfalt und der Bewahrung der Schöpfung und fünftens eine Europäische Union, die handlungsfähiger als heute ist. Die gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist mir sehr wichtig, weil wir unsere – auch die deutschen – Interessen nur dann wirklich vertreten können, wenn wir als Europäer gemeinschaftlich auftreten. Deshalb ist mein Vorschlag, dass wir unsere nichtständigen Sitze – Deutschland wird in dieser Woche hoffentlich auch wieder einen im UN-Sicherheitsrat bekommen – in Zukunft als europäische Sitze wahrnehmen, dass wir gemeinsam agieren, dass wir innerhalb der Europäischen Union einen aus weniger Mitgliedern bestehenden Europäischen Sicherheitsrat schaffen, in dem die Mitgliedschaften rotieren und die Mitgliedstaaten schneller agieren können, auch was Empfehlungen an den UN-Sicherheitsrat anbelangt, sodass wir ein kohärentes europäisches Auftreten haben, dass wir ein Europäisches Weißbuch über Sicherheitspolitik und Sicherheitsherausforderungen haben, dass wir also die Herausforderungen gemeinsam definieren, dass wir im Bereich der Verteidigung und vor allen Dingen auch im Bereich der Entwicklungspolitik zusammenarbeiten. Heute machen viele von uns ihre eigenen Sachen, die Europäische Union macht ihre. Aber eine konsistente Strategie, bei der die Empfängerländer auch wirklich diejenigen sind, die davon profitieren, und die nicht mit übermäßig viel Arbeit mit 28 Mitgliedstaaten verbunden ist – das muss unser Ziel sein. Das schließt auch eine Koordinierung der Arbeit mit Blick auf terroristische Herausforderungen, organisierte Kriminalität und illegale Migration mit ein. Damit bin ich bei einem großen Punkt, der, glaube ich, im Augenblick die größte Gefahr für die Zukunft der Europäischen Union ist, nämlich bei der Frage: Wie reagieren wir auf Migration und illegale Migration? Wie schaffen wir ein Asylsystem und wie schaffen wir eine Entwicklungsagenda, die wirklich dem Ziel des Wohlstands für alle und zu Nachhaltigkeit nicht nur bei uns führt? Hierfür brauchen wir auch ein gemeinsames europäisches Asylsystem. Wir brauchen eine europäische Grenzpolizei. Wir brauchen ein System der flexiblen Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Und wir brauchen – das ist für diesen Kreis hier von besonderer Wichtigkeit – eine konsequente Bekämpfung von Fluchtursachen mithilfe eines neuen Pakts mit Afrika, eines Marshallplans mit Afrika. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Amerikaner verstanden, dass dauerhafte Sicherheit und Stabilität in Europa nur durch Entwicklung und Wohlstand möglich sind. Genau diese Erfahrung müssen wir auf den afrikanischen Kontinent übertragen, um dort Entwicklungsperspektiven zu eröffnen, denn nur das wird den Migrationsdruck der vielen jungen Menschen mindern. Darin sehe ich eine der großen Herausforderungen für Europa. Und wir brauchen auch einen vernetzten Ansatz von Entwicklungs-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die Soziale Marktwirtschaft – und damit das Wohlstandsversprechen – ist im 21. Jahrhundert unter Druck geraten. Viele Menschen glauben an dieses Wohlstandsversprechen nicht mehr. Die Digitalisierung ist eine der großen Herausforderungen. Deshalb schlage ich vor, dass wir unsere Forschungsanstrengungen konsequent verstärken, unsere Forschungsausgaben auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhen und damit in die Zukunft investieren, dass wir in Europa gemeinsame Netzwerke exzellenter Lehr- und Forschungseinrichtungen aufbauen, dass wir uns um die Herausforderungen der Künstlichen Intelligenz und der verschiedenen Bereiche der Digitalisierung kümmern, aber in einer ethisch verantwortlichen Art und Weise, und dass wir unsere Wirtschafts- und Währungsunion weiterentwickeln, ganz besonders die Eurozone. Dazu bedarf es meiner Meinung nach innerhalb Europas einer größeren Unabhängigkeit vom Internationalen Währungsfonds. Wir sollten unseren eigenen Europäischen Währungsfonds haben, mit dem wir für alle Krisenfälle Vorsorge treffen. Und wir müssen uns bemühen, dass die Konvergenz der wirtschaftlichen Stärke und der Lebenssituation innerhalb der Eurozone wächst, denn eine gemeinsame Währung mit völlig unterschiedlichen sozialen Gegebenheiten und Wohlstandssituationen in den einzelnen Mitgliedsländern ist nicht gut. Deshalb schlage ich ein Investitionsbudget vor, mit dem man diejenigen stärkt, die heute zwar noch schwächer sind, aber auch exzellent sein wollen. Und wir müssen uns natürlich für multilaterale Handelsabkommen einsetzen, die WTO stärken – wir können und dürfen nicht alle internationale Organisationen für handlungsunfähig erklären – und in Ergänzung dazu auch faire bilaterale Handelsabkommen schließen. Wir brauchen eine gemeinsame Union der Bildung, der kulturellen Vielfalt und der Bewahrung der Schöpfung. Ich glaube, ein europäisches Jugendwerk könnte uns helfen – wir haben gute Erfahrungen mit dem deutsch-französischen Jugendwerk –, diese Themen jungen Menschen nahezubringen. Wir brauchen eine Ausweitung der Austauschprogramme – nicht nur für Studenten, sondern auch für die, die in der Berufsausbildung sind. Wir brauchen gemeinsame Berufsabschlüsse, nicht nur die Bologna-Abschlüsse für die Studierenden, sondern auch für die neuen Berufe. Wir müssen uns in Europa damit auseinandersetzen: Wo gelingt Integration am besten, wie können wir uns vergleichen? Wir müssen gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus entschlossen und gemeinsam vorgehen. Europa muss Vorreiter bei der Umsetzung des Pariser Abkommens und mit Blick auf die Ziele der Agenda 2030 sein. Das heißt also, wir brauchen eine handlungsstärkere, auch handlungsschnellere Europäische Union, wobei ich glaube, dass wir eine Verkleinerung der Kommission nicht zum Tabu erklären dürfen, sondern auch sagen müssen: Dann kann auch ein großes Land mal keinen Kommissar stellen. Da können wir Länder, die weiter voran sind – ich nenne für den digitalen Bereich die baltischen Länder – auch einmal zu Lead-Ländern erklären und dürfen nicht immer nur glauben, wir selber könnten es am besten. Da könnten wir die Arbeit eines Europäischen Parlaments auch mal auf einen Standort konzentrieren und dann auch konzentriert arbeiten und im Gegenzug auch immer wieder in den Ländern tagen, die gerade die Präsidentschaft haben. Ich habe das hier an dieser Stelle gesagt, weil im Augenblick Diskussionen im Gange sind und ich das Gefühl habe, dass Europa am Scheideweg steht. Wenn wir stehen bleiben, werden wir in den großen globalen Strukturen zerrieben. Oder wir entscheiden uns, in einer politischen Einheit ganz besonderer Art – das wird Europa immer bleiben – unsere gemeinsamen Interessen, Werte und Überzeugungen im globalen Alltag konsequent und im Sinne von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie durchzusetzen. Ich glaube, dass Europa Letzteres wirklich schaffen kann, dass es Sicherheit in umfassendem Sinne gewährleisten kann, nicht nur heute, sondern auch morgen. Wir in Europa können ein Beispiel multilateraler Zusammenarbeit sein. – Wir sind schon 28, bald nur noch 27, aber mit den Staaten des westlichen Balkans eines Tages über 30. – Wenn wir das aber nicht hinbekommen, wenn wir zerfallen, dann werden wir schwerlich eine überzeugende Stimme in der Welt sein. Deshalb ist es so wichtig, dass wir mit eigenem Beispiel gut vorangehen, um anderen zu sagen: Das globale Zusammenleben ist kein Nullsummenspiel, sondern kann eine Win-win-Situation für alle sein. Genau das ist auch der Grund, weshalb Deutschland und Europa internationale Organisationen wie zum Beispiel die Welthandelsorganisation, die UN-Programme zur Entwicklung, Umwelt und Welternährung unterstützen. Deshalb wollen wir uns in die Umsetzung der Agenda 2030 einbringen. Wir wollen nicht nur hehre Ziele bekräftigen, sondern die 17 Ziele der Agenda auch tatsächlich erreichen. Deshalb engagieren wir uns auch im Hochrangigen Politischen Forum der Vereinten Nationen zur Umsetzung der Agenda. Wir sind dabei in guter Gesellschaft. Wir sind bereits 112 Staaten, die über ihre Art der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategien berichtet haben – darunter immerhin 24 der 28 EU-Mitgliedstaaten. Ich will Ihnen ein Beispiel für eine konkrete Umsetzung nennen, die wir ins Auge gefasst haben. Der Präsident von Ghana, Nana Akufo-Addo, die Ministerpräsidentin von Norwegen, Erna Solberg, und ich haben den Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation gebeten, bis Mitte Oktober einen globalen Aktionsplan zur Umsetzung der Gesundheitsziele der Agenda 2030 zu erstellen. Wir brauchen Zwischenziele, um daran ablesen zu können, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Und wir brauchen ein koordiniertes Vorgehen. Gesundheit und Wohlergehen – das ist das dritte Nachhaltigkeitsziel. Keine Armut und kein Hunger – das sind die ersten beiden Ziele. Die Agenda 2030 wird vor allem von den schwächsten Menschen der Welt als eine Agenda gesehen, die neue Perspektiven schafft. Sie ist deshalb auch von zentraler Bedeutung für die von mir bereits erwähnte Entwicklungszusammenarbeit. Das Entwicklungsprogramm der UNO, UNDP, wurde vor Achim Steiner von Helen Clark geleitet. Das UNDP ist bei den Ländern unabhängig vom jeweiligen Entwicklungsstand als Partner gefragt. Anfang Mai haben sich die Mitgliedstaaten auf eine Reform geeinigt. Deutschland hat sich intensiv für diese Reform eingesetzt. Ich darf den ehemaligen Bundesumweltminister Klaus Töpfer hervorheben, der als Co-Vorsitzender eines Beratungsteams wichtige Ideen in diese Reform eingebracht hat. Unter anderem sollen die Länderkoordinatoren gestärkt werden und die Finanzierung langfristiger erfolgen. Ich glaube, das ist richtig. Nachhaltigkeit braucht das Zusammenspiel aller und lässt sich nun wirklich nicht im Alleingang umsetzen. Deshalb betont das Ziel 17 der Agenda ja ganz ausdrücklich die Bedeutung von Partnerschaften zur Erreichung der Ziele. Wir haben das letztes Jahr während der G20-Präsidentschaft und beim Gipfel in Hamburg aufzugreifen versucht und einen sogenannten „Voluntary Peer Learning Mechanism“ eingeführt. Ich freue mich, dass die argentinische Präsidentschaft in diesem Jahr die Nutzung des Erfahrungsschatzes zur Umsetzung der Agenda 2030 fortsetzt. Einen umfassenden strategischen Rahmen zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele brauchen wir auch auf EU-Ebene. Wir sind gerade in der Europäischen Nachhaltigkeitswoche, die jedes Jahr stattfindet. Sie dauert noch bis morgen und umfasst mehr als 5.400 Initiativen in insgesamt 33 Ländern – allein in Deutschland über 2.000 Aktionen. Das ist eine bemerkenswerte Bilanz der Zivilgesellschaft. Ob Handysammelaktionen, Kleidertauschbörsen oder Insektenschutz – es mangelt nicht an spannenden Ideen. Wir haben diese Aktionswoche gemeinsam mit Frankreich und Österreich entwickelt. Ich möchte mich bei beiden Ländern für die Zusammenarbeit bedanken. Wir haben in Deutschland Anfang 2017 eine neue umfassende Nachhaltigkeitsstrategie beschlossen. Es kommt darauf an, Nachhaltigkeit in allen Politikfeldern mitzudenken und die verschiedensten Wechselwirkungen in den Blick zu nehmen. Denn so, wie sich zum Beispiel Umweltschutz, Wirtschaftswachstum und soziale Sicherheit gegenseitig bedingen, so sind auch die 17 Nachhaltigkeitsziele als Einheit zu sehen. Deshalb müssen wir auch jeden technologischen Fortschritt dahingehend überprüfen, ob er im Sinne von Nachhaltigkeit auch tatsächlich Mehrwert mit sich bringt. Industrie, Innovation und Infrastruktur – die drei „I“ – bilden deshalb auch das neunte Ziel der Agenda 2030. In diesem Zusammenhang kann der digitale Fortschritt nachhaltige Entwicklung voranbringen, weil wir effizienter wirtschaften können, Ressourcen sparen und schonen können. Von der Telemedizin zum Beispiel können ländliche Regionen profitieren, vernetzte Mobilität und mobiles Arbeiten können das Verkehrsaufkommen und damit Umweltbelastungen verringern. Auch Künstliche Intelligenz kann in der Wertschöpfung neue nachhaltige Möglichkeiten eröffnen. In Deutschland haben wir mit unserem hohen Industrieanteil und hohen Forschungsniveau im Grunde eine gute Ausgangsbasis. Deshalb möchten wir in Zukunft auch auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz „Made in Germany“ als ein Qualitätsmerkmal im Sinne der Nachhaltigkeit etablieren. Ich erwähne Qualität in dem Zusammenhang, dass auch digitaler Fortschritt nicht nur eine Frage der technischen Machbarkeit ist, sondern im Sinne von Nachhaltigkeit wünschenswert, wenn er auch ethisch verantwortlich vorangetrieben wird. Die rechtlich-ethischen Fragen, die sich stellen, müssen wir vernünftig beantworten. Deshalb haben wir in der neuen Koalitionsvereinbarung die Einsetzung einer Daten-Ethikkommission vorgesehen. Auch wenn das vordergründig vielleicht kein Nachhaltigkeitsziel betrifft, geht es im Grunde doch auch um Nachhaltigkeit. Dabei wünsche ich mir, dass wir den digitalen Wandel nicht als Bedrohung empfinden, sondern neugierig auf Innovationen bleiben und sie als Bereicherung verstehen – in wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht gleichermaßen. Viel zu lange waren Innovation und Wachstum mit einem steigenden Ressourcenverbrauch und mit zunehmenden Schadstoffemissionen verbunden. Das können und dürfen wir uns nicht länger leisten. Dabei müssen die Industrieländer mit gutem Beispiel vorangehen. Wir sehen ja auch, dass Entwicklungsländer bestimmte technologische Stufen gleich überspringen können. Beispielsweise kann die Energieversorgung in vielen afrikanischen Ländern mit Solarenergie erfolgen und nicht mit Kohlekraftwerken. In der Telekommunikation nutzt man statt eines Festnetzanschlusses das Mobiltelefon oder Smartphone. Das heißt, es geht nicht nur um althergebrachte Technologien, die wir exportieren, sondern wir müssen die modernsten Technologien in die Entwicklungspartnerschaft einbringen. Die sicherlich größte Herausforderung, vor der wir im Zusammenhang mit den Entwicklungszielen stehen, ist das Ziel der globalen Treibhausgasneutralität in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts. Natürlich verursachen wir in den Industriestaaten nur einen Teil der weltweiten Emissionen, aber wir sind die technologisch Führenden und müssen deshalb mit gutem Beispiel vorangehen. Den wirtschaftlich stärksten Staaten kommt eine besonders große Bedeutung zu, auch wenn wir wissen, dass wir alle nur gemeinsam das Ziel erreichen können. Deshalb will ich ganz offen darüber sprechen, dass wir uns in den intensiven Verhandlungen über eine neue Bundesregierung – da hatten wir zwei Runden; Frau Thieme hat schon gesagt, dass es etwas lange gedauert hat – auch mit unseren Zielsetzungen im Klimaschutz beschäftigt und festgestellt haben, dass wir eine erhebliche Lücke bei der Umsetzung der Klimaziele bis 2020 haben. Das hat dazu geführt, dass wir erstens gesagt haben: Wir werden alles daransetzen, diese Lücke so klein wie möglich zu halten, sie möglichst zu schließen und vor allen Dingen unsere Ziele bis 2030 zu erreichen. Wir haben uns deshalb auf ein Klimaschutzgesetz verständigt; aber das wird noch einer harter Kampf. Nun haben Sie gesagt: „Verlassen Sie die Komfortzone, gehen Sie rein in den Kampf.“ Aber es wird ein harter Kampf. Ein Beispiel ist die Kommission, die wir wahrscheinlich morgen einsetzen werden, die sich mit dem Strukturwandel gerade auch in den Braunkohlegebieten befassen wird. „Die Komfortzone verlassen“ – das ist leicht gesagt, aber die Menschen, die es betrifft, in der Lausitz zum Beispiel oder in Nordrhein-Westfalen, die heute noch keine Perspektive für sich in anderen Berufsfeldern sehen, müssen wir mitnehmen. Nachhaltigkeit gegen große Teile der Gesellschaft geht nicht. Damit sage ich nicht, dass alles immer Friede, Freude, Eierkuchen ist. Aber wenn ich Ihnen sage, dass wir in Deutschland nach vielen Wirren und schwierigen Erfahrungen – wenn ich zum Beispiel an Fukushima denke – zum Schluss doch zu einem gesamtgesellschaftlichen Konsens zur Kernenergie gekommen sind, inklusive der Frage bzw. parteiübergreifenden Vereinbarung, wie wir mit den Altlasten umgehen werden, dann ist dies bei allem, was noch nicht geschafft wurde, ein gutes Beispiel aus der vergangenen Legislaturperiode. Wenn ich Ihnen sage, dass in diesem Dezember die letzte Steinkohlezeche schließen wird – die Voraussetzungen dafür haben wir vor mehr als zehn Jahren geschaffen; wir haben Schritt für Schritt alle Zwischenziele eingehalten –, dann sage ich auch, dass wir eine gute Chance haben, den schrittweisen Ausstieg aus der Braunkohle ebenfalls zu schaffen und gleichzeitig den Menschen in den Regionen Perspektiven zu eröffnen. (Zuruf: Das geht nicht schnell genug.) – Ja, darüber wird es immer Streit geben, aber zum Schluss werden wir eine Lösung finden. Ich verstehe ja auch die Ungeduld; diese brauchen wir vielleicht auch manchmal, damit wir überhaupt zu Potte kommen. Aber allein die klare Zusage, dass wir neben den Perspektiven für die Menschen auch ein Datum benennen wollen, an dem wir den Braunkohletagebau in Deutschland beenden, ist schon eine qualitativ neue Perspektive, die wir so parteiübergreifend noch nicht eingenommen hatten. Wir wissen, dass Nachhaltigkeit auch bedeutet, dass alle in der Gesellschaft vergleichbare Chancen haben, dass also Bildung und Qualifizierung dazugehören. Hierbei ist eine der großen Reserven, die Deutschland noch nicht gehoben hat, das Talent vieler Frauen. Hierbei ist eine ganze Reihe von Gesetzen, die wir auch in dieser Legislaturperiode umsetzen werden, oder von Maßnahmen zur besseren Kinderbetreuung zu nennen. Auch ein Rechtsanspruch auf Betreuung von Kindern in der Grundschule ist ein Beitrag dazu, eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft voranzubringen. Der nächste Punkt, den ich auch immer wieder anführe und der auch wichtig ist, ist, dass Nachhaltigkeit auch etwas mit soliden Finanzen zu tun hat. Wir lagen in unserer Gesamtverschuldung schon einmal bei über 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – angesichts unserer demografischen Entwicklung eine schwere Bürde für zukünftige Generationen. Deshalb freue ich mich, dass wir nicht nur einen ausgeglichenen Haushalt auch für 2018 und 2019 vorlegen werden. Durch die Tatsache, dass trotzdem Wachstum stattfindet, wird auch die Gesamtverschuldung vielleicht schon im nächsten, spätestens im übernächsten Jahr die 60-Prozent-Marke unterschreiten. Das ist nicht irgendeine Zahlenspielerei, sondern eine gute Nachricht für zukünftige Generationen. Meine Damen und Herren, wir haben ansonsten noch in zwei Bereichen viel zu tun. Das ist einmal der Bereich Artenvielfalt. Ich bin sehr froh, dass wir uns entschieden haben, jetzt ein Aktionsprogramm Insektenschutz aufzulegen. Auch da könnte man wieder sagen: das ist nicht schnell genug. Wie viele Bienen und Insekten müssen eigentlich erst nicht mehr da sein, bevor wir handeln? Manch einer findet, dass wir da sehr langsam sind. Aber wir haben uns vorgenommen, hier etwas zu tun. Ackerbaustrategie, vernünftigere Tierhaltung, Label dafür, auch mehr Konsumentenaufklärung – das und vieles andere ist sehr wichtig. Sarah Wiener war ja eben hier und hat gesagt, was man aus Produkten machen soll. Das Zweite ist die Frage des Flächenverbrauchs, wobei auch wir in Deutschland unsere Ziele noch nicht erreicht haben. Die Hektarverbrauchszahlen sind heute deutlich niedriger im Vergleich zu der Zeit, in der ich Umweltministerin war. Aber wir wollten längst noch weniger Flächenverbrauch haben. Deshalb müssen wir auch hier noch weiterarbeiten. Meine Damen und Herren, wir haben 2017 die neue Nachhaltigkeitsstrategie aufgelegt und planen für 2020 die nächste große Weiterentwicklung. Jetzt heißt es erst einmal, die Zwischenziele zu erreichen. Da wird auch die Frage im Raum stehen – und hierbei bitten wir Sie natürlich um Mithilfe –, ob wir weitere Indikatoren brauchen, ob die Indikatorenbasis ausreicht. Deshalb wird die Bundesregierung schon sehr bald zur Diskussion über ein Strategie-Update einladen. Wir müssen uns natürlich auch fragen: Wie werden wir noch kohärenter? Ich widerspreche ausdrücklich der Aussage, dass der jetzige Koalitionsvertrag nicht auf Nachhaltigkeit ausgerichtet ist. Wir haben vielleicht nicht so markige Worte, aber in den Kennzahlenbereichen, die ich genannt habe – Klimaschutzgesetz, Einhaltung der Ziele 2030, auch das, was jetzt in der EU zur Debatte steht –, werden wir schon eine ganze Menge an großen Aufgaben haben. Ich habe das auch am Beispiel der Braunkohlestrategie und der dazu gebildeten Kommission erwähnt. Im Übrigen: Ein Thema, das mit Nachhaltigkeit sehr viel zu tun hat, ist das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse. Wir haben vielleicht zu lange gedacht, das wird sich schon von alleine in die richtige Richtung entwickeln. Wir sehen heute, dass es in den großen Städten völlig andere Probleme gibt – Wohnungsknappheit, hohe Mieten – als in den ländlichen Regionen, wo es schwierig ist, ein Haus zu verkaufen, wo Angst vor Altersarmut besteht, wo man schlecht an die Verkehrsinfrastruktur angebunden ist. Eine nachhaltige Entwicklung bedeutet auch gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland, trotz unterschiedlicher Gegebenheiten. Ich schließe mit Immanuel Kant – Wer kann ihm wiedersprechen? Niemand. – Ich zitiere: „Der Ziellose erleidet sein Schicksal, der Zielbewusste gestaltet es.“ Helfen Sie uns, wann immer Sie der Meinung sind, dass wir dabei Schwung brauchen. Das tun Sie ja auch. Es wäre nicht gut, wenn wir stets sozusagen in einem Wohlfühlbecken zusammenlebten. Wir brauchen schon auch ein bisschen Push. Ich glaube, wir sind bei der Frage, wie wir Globalisierung entwickeln, einer Meinung, nämlich dass wir auf multilaterale Strukturen setzen. Wir sind, glaube ich, auch einig, dass Europa gemeinsam agieren muss. Ein bisschen unterschiedlicher Meinung sind wir manchmal über das Tempo, wie wir national agieren. Aber wir haben uns einiges vorgenommen. Ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit, wünsche Ihnen alles Gute und danke jedem Einzelnen, der heute hier ist und sich auch mit seiner Anwesenheit den großen Zielen verpflichtet hat. Politik wird letztlich für die Menschen und mit den Menschen gemacht; und je mehr dabei sind, umso leichter fällt uns in der Politik die Arbeit. Herzlichen Dank.
in Berlin
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters im Rahmen des Abendessens zu Ehren des Ordens pour le mérite
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-im-rahmen-des-abendessens-zu-ehren-des-ordens-pour-le-m%C3%A9rite-1147306
Sat, 02 Jun 2018 20:12:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
herzlich willkommen zu einem Abendessen vor unvergleichlicher Kulisse – mit rund 1.500 Jahren Kunstgeschichte im Rücken, von Kostbarkeiten aus den Schatzkammern preußischer Könige umgeben und in Gesellschaft wahrer Meisterwerke von zeitloser Strahlkraft, die sich hier mit der Architektur des Gebäudes und seiner 64 Säle zu einer „Symphonie der Schönheit“ vereinen (um die treffende Formulierung eines Kulturmagazins aufzugreifen). Im Vergleich dazu scheint ein Abendessen – ja, selbst ein wohlkomponiertes Menu, wie es auf unserer Speisekarte steht – vergleichsweise profan. Doch auch Kunstgenuss ist Sinnenfreude, und wie die Kunstgeschichte spiegelt die Geschichte der Esskultur Zeitgeist, Werte und Machtverhältnisse unterschiedlicher Epochen. So sind kulinarischer und Kunstgenuss in mancherlei Hinsicht durchaus vergleichbar. Ich freue mich jedenfalls, Sie zum Abendessen in einer von meinem Haus geförderten Kultureinrichtung zu begrüßen und Ihnen auf diese Weise ganz nebenbei vor Augen zu führen, in welch illustrer Gesellschaft sich der Orden pour le mérite bei BKM befindet. Dass Herr Chapuis einigen von Ihnen eben mit der Ausstellung „Unvergleichlich“ – der Gegenüberstellung afrikanischer und europäischer Bilderwelten – ein neues, ein weiteres Glanzstück des Bode-Museums präsentiert hat, gibt mir außerdem Gelegenheit zu einem kurzen Ausblick auf meine zweite Amtszeit als Kulturstaatsministerin, genauer gesagt auf zwei Schwerpunkte meiner zweiten Amtszeit: den Umgang mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten und das Humboldt Forum. Bestimmt erinnern Sie sich an das Figurenpaar am Eingang zur Basilika des Museums: Da steht ein Putto von Donatello aus dem Jahr 1429 der 300 Jahre jüngeren Bronze-Statuette einer Prinzessin (oder Göttin) gegenüber, die sich einst auf einem Altar des Königs von Benin befand. Die Donatello-Bronze kam 1902 nach Berlin und trägt ihre Inventarnummer dezent auf der Unterseite; die Benin-Bronze dagegen, 1900 nach Berlin verbracht, bekam ihre Inventarnummer deutlich sichtbar – einer Brandmarkung gleich – auf den Rücken, weil man sie nicht als Kunst betrachtete, ja weil man Afrikaner für nicht in der Lage hielt, Kunst zu schaffen. So anschaulich hat man den Anspruch auf Deutungshoheit wohl selten zuvor gesehen: In der Definition, was Kunst ist und was „primitiv“, offenbart sich die Erhebung Europas gegenüber Afrika, die mittlerweile zunehmend kritisch reflektiert wird. Viel zu lange allerdings war die Kolonialzeit ein blinder Fleck in unserer Erinnerungskultur. Viel zu lange war das in dieser Zeit geschehene Unrecht vergessen und verdrängt. Es endlich ans Licht zu holen, ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber den ehemaligen Kolonien – und Voraussetzung für Versöhnung und Verständigung mit den dort lebenden Menschen. Deshalb ist es mein Ziel, in dieser Legislaturperiode die Aufarbeitung von und den Umgang mit Beständen aus kolonialen Kontexten in Sammlungen und Museen voranzubringen. Der Ethnologe und Afrika-Experte Fritz Kramer hat kürzlich in einem Gastbeitrag unter Berufung auf Adolf Bastian, den Gründer des Ethnologischen Museums Berlin, skizziert, worum es dabei geht: Ethnographica kann man seiner Auffassung nach verstehen als – ich zitiere – „Ausdruck von ,Völkergedanken‘, die zu retten und aufbewahren seien, um in Zukunft im ‚Interesse der Wissenschaft vom Menschen‘ analysiert und ,hermeneutisch ausgedeutet‘ zu werden.“ Raubkunst – auch hier schließe ich mich Fritz Kramers Auffassung an – ist selbstverständlich zu restituieren. Unabhängig aber von diesen sehr komplexen und weit über die Kulturpolitik hinausgehenden Fragen ist meine Wahrnehmung – auch nach sehr vielen Gesprächen mit Experten – aber die, dass in unseren Museen ein hohes Ethos der Verantwortung für das Menschheitskulturerbe gilt. Internationale Museumsfachleute, auch und gerade bei uns, denken und arbeiten schon lang nicht mehr in Kategorien wie „Besitz“ oder „Eigentum“, sondern unter der Maßgabe der Fürsorge für die ihnen anvertrauten Kulturgüter. Um Museen dabei zu unterstützen, dieses Ethos der Fürsorge zur Grundlage der Museumsarbeit zu machen, hat der Deutsche Museumsbund, gefördert von meinem Haus, einen Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten erarbeitet: Er soll den Museen helfen, dem anspruchsvollen und vielschichtigen Thema gerecht zu werden und, angepasst an die Umstände des Einzelfalls, zu Lösungen für den Umgang mit den kolonialen Kulturgütern beitragen – und damit zum Fortschritt in der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte Deutschlands und Europas. Darüber hinaus stocke ich die Mittel für Provenienzforschung in meinem Haushalt in diesem Jahr und – so ist es geplant – auch im kommenden Jahr noch einmal deutlich auf. Die Ausstellung „Unvergleichlich“, die Sie eben gesehen haben, schärft aber (mit der ausführlichen Darlegung der Objektgeschichte im Katalog und in einer App) nicht nur den Blick für das Unrecht der Kolonialzeit. Mit experimentellen Gegenüberstellungen und Gruppierungen zu existentiellen Themen des Menschseins öffnet sie uns auch die Augen für das Vertraute im Fremden. Damit überwindet sie die klassische museale Sortierung nach Kontinenten und Kulturräumen und verweist auf ein zweites bedeutendes kulturpolitisches Projekt: auf das Humboldt Forum. 2019 soll dieses Museum der Weltkulturen seine Pforten öffnen– pünktlich zum 250. Geburtstag Alexander von Humboldts, des ersten Ordenskanzlers des Ordens pour le mérite. Ein Gedicht sei immer die Frage nach dem Ich, hat Gottfried Benn einmal gesagt – und man könnte ergänzen: Ein Museum ist immer die Frage nach dem Wir. Museen machen gemeinsame Erinnerungen, Werte, Perspektiven auf die Welt sichtbar und erfahrbar und stiften damit Identität. In diesem Sinne ist das Humboldt Forum eine ganz neue Art, die „Frage nach dem Wir“ zu stellen und zu beantworten. Die außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die wir hier präsentieren wollen, bieten in Verbindung mit der Museumsinsel und deren Kulturschätzen aus Europa und dem Nahen Osten einmalige Einblicke in das kulturelle Erbe der Menschheit. Sie vermitteln, was uns als Menschen ausmacht. Sie offenbaren, dass es ein „Wir“ auch jenseits kultureller und nationaler Grenzen gibt. Zukunftsweisend ist das Humboldt Forum aber vor allem als Ort der Verständigung: Wir wollen die Sammlungen in ihrer Bedeutung für die großen Fragen des 21. Jahrhunderts zum Sprechen bringen. Deshalb soll beispielsweise das Thema Religion eigenständigen Raum bekommen – mit Blick auf die Krisen im Nahen und Mittleren Osten und auch mit Blick auf die Angst, die Terroristen im Namen des religiösen Fundamentalismus verbreiten. Auf diese Weise kann und soll im Humboldt Forum ein lebendiger Ort möglichst breiter öffentlicher Debatten entstehen: ein Museum, das die Gesellschaft nicht nur abbildet, sondern auch mitformt – ein Museum, das die „Frage nach dem Wir“ auch als Aufgabe interpretiert, Verstehen, Verständnis und Verständigung zu fördern. Ich denke, es sagt viel über das Selbstverständnis der Kulturnation Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts aus, dass wir im Herzen unserer deutschen Hauptstadt nicht uns selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern der Welt in Berlin ein Zuhause geben. Statt in reiner Selbstbezüglichkeit zu verharren, empfiehlt sich Deutschland damit als Partner in der Welt, als im besten Sinne treibende Kraft einer Kultur der Verständigung der Völker. Das Humboldt Forum lädt dazu ein, Weltbürger zu sein. Ich freue mich, dass wir diese Einladung dank des Koalitionsvertrags mit freiem Eintritt für die Dauerausstellung bekräftigen – ganz im Sinne der Humboldtschen Vision, dass Museen und Bildungseinrichtungen für alle zugänglich sein sollten. Bei dieser Gelegenheit danke ich noch einmal ausdrücklich den Ordensmitgliedern Horst Bredekamp und Hermann Parzinger, die bisher an der Seite Neil MacGregors den inhaltlichen Feinschliff vorgenommen haben. Das Humboldt Forum ist damit gut gerüstet für die Übergabe an den neuen Generalintendanten Hartmut Dorgerloh, der es nun auf die baldige Eröffnung als „Freistätte für Kunst und Wissenschaft“ (wie er es formuliert hat) vorbereiten wird. Eine „Freistätte für Kunst und Wissenschaft“, ein Forum interdisziplinärer und interkultureller Verständigung ist auch der Orden pour le mérite. Wie kaum eine andere Institution bezeugt diese traditionsreiche Vereinigung der geistigen Elite mit den herausragenden Verdiensten ihrer Mitglieder, dass Wissenschaft und Kunst vor allem in Freiheit und Weltoffenheit, im Austausch und in wechselseitiger Inspiration gedeihen. Es freut mich sehr, in diesem Jahr vier neue Mitglieder willkommen heißen zu dürfen, deren Arbeiten einen enormen Gewinn für diesen Austausch versprechen: Jürgen Osterhammel und Karl Schlögel gehören zu den profiliertesten deutschen Historikern ihrer Generation: So bringt Jürgen Osterhammel uns in seinen Publikationen besonders eindringlich die Geschichte der weltweiten interkulturellen Beziehungen und des Kolonialismus nahe – als Kolonialgeschichte auch und besonders aus der Sicht der Beteiligten und Betroffenen vor Ort. Karl Schlögel wiederum zählt zu den prominentesten Autoren auf dem Gebiet der Osteuropaforschung und hat die ehemalige Sowjetunion mit seinen Arbeiten zur „Archäologie einer untergegangenen Welt“ – so der Untertitel seines Buchs über „Das sowjetische Jahrhundert“ – aus der Peripherie unserer Wahrnehmung wieder in die Mitte Europas gerückt. Da die Zuständigkeit sowohl für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa als auch für den Umgang mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten bei der BKM liegt, verfolge ich beider publizistische Tätigkeit allein schon deshalb mit großem Interesse. Rebecca Horn wiederum, die leider heute nicht hier sein kann, zählt zu den bedeutendsten Künstlerinnen der Gegenwart, die international für ihr vielgestaltiges Werk, vor allem für ihre raumgreifenden Installationen bekannt ist. Mich persönlich fasziniert und begeistert immer wieder die äußerst suggestive Kraft, mit der ihre Arbeiten uns an die Extreme des Lebens und an die Grenzen des Körperlichen heranführen: Es gibt keinen Stillstand, auch die winzigste Bewegung verändert das Ganze. Als viertes Neumitglied schließlich begrüße ich die französische, in Berlin lebende und arbeitende Mikrobiologin, Genetikerin und Biochemikerin Emmanuelle Charpentier. Das von ihr entdeckte gentechnische Verfahren („CRISPR / Cas9“) – laiensprachlich als „Genschere“ bezeichnet – ermöglicht das gezielte Abändern des Erbguts und eröffnet damit völlig neue Möglichkeiten der genetischen Manipulation in der biologischen Grundlagenforschung, der Pflanzenzüchtung und der medizinischen Forschung. Verehrte Madame Charpentier, lieber Herr Schlögel, lieber Herr Osterhammel: Herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung mit dem Orden pour le mérite! Möge der Austausch in diesem exklusiven Kreise der klügsten und kreativsten Köpfe Sie in Ihrer Schaffenskraft weiter beflügeln! Diesem Austausch, meine Damen und Herren, soll auch der heutige Abend gewidmet sein. Regional und saisonal bleiben wir dabei nur in kulinarischer Hinsicht: mit Spargel und Erdbeeren auf der Speisekarte, so wie es sich in Deutschland für ein frühsommerliches Menu gehört. Thematisch dagegen können wir alle heute Abend über den eigenen Tellerrand hinaus schauen: Wann hat man schon die Gelegenheit, mit Vor- und Querdenkern ganz unterschiedlicher fachlicher Provenienz ins Gespräch zu kommen? Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen mit Ihren Tischnachbarn nicht so geht wie dem Bruder des ersten Ordenskanzlers, Wilhelm von Humboldt, bei einem Ritt auf den französischen Mont Salève in Begleitung eines Naturforschers, über den er schrieb, ich zitiere: „Unglücklicherweise treibt er Botanik und Mineralogie. Nun hatte ich mir einmal von ohngefähr verlauten lassen, dass ich etwas von den Linnéischen Klassen wüsste. Noch nie ist meine Eitelkeit so grausam bestraft worden. Denn nun blieb er auf dem fußtiefbeschneiten Salève viertelstundenlang stehen, kratzte mir unter dem Schnee Pflanzen hervor und zergliederte und klassifizierte sie mir in der grimmigen Kälte.“ Zwischendurch, so Wilhelm von Humboldt, habe sein Begleiter auch noch über griechische Grammatik diskutieren wollen. „Wahrscheinlich sind wir die ersten Menschen, die auf dem Salève im tiefen Schnee den griechischen Artikel dekliniert haben.“ Worüber auch immer Sie heute Abend diskutieren, meine Damen und Herren: Wenigstens haben wir es warm und bequem! Ich wünsche Ihnen darüber hinaus natürlich auch inspirierende Gespräche und interessante Diskussionen! Auf einen schönen und erkenntnisreichen Abend!
In ihrer Rede ging Kulturstaatsministerin Grütters unter anderem auf das Thema Kulturgüter aus kolonialem Kontext ein. „Viel zu lange war die Kolonialzeit ein blinder Fleck in unserer Erinnerungskultur. Viel zu lange war das in dieser Zeit geschehene Unrecht vergessen und verdrängt. Es endlich ans Licht zu holen, ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber den ehemaligen Kolonien – und Voraussetzung für Versöhnung und Verständigung mit den dort lebenden Menschen.“
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der Verleihung des deutsch-französischen Franz-Hessel-Preises für Literatur
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-der-verleihung-des-deutsch-franzoesischen-franz-hessel-preises-fuer-literatur-1147294
Fri, 01 Jun 2018 13:00:00 +0200
Im Wortlaut
Paris
Kulturstaatsministerin
auf den heutigen Tag genau vor 35 Jahren starb die deutsch-jüdische Schriftstellerin Anna Seghers, die 1933 vor den Nationalsozialisten nach Paris geflohen war. Auf ihre Initiative hin und organisiert von französischen Schriftstellern fand hier in Paris im Juni 1935 der „Internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur“ statt. Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden politischen Gefahr des Faschismus kam die geistige Elite zusammen, um – wie Bertolt Brecht es formulierte – „heute die Kultur zu retten“ und ein Zeichen des Protests, aber auch der Hoffnung zu setzen. Für die Hoffnung auf die verbindende Kraft der Kultur und für die – alle politischen Gräben überbrückende – Kulturfreundschaft zwischen Deutschland und Frankreich steht auch der Schriftsteller Franz Hessel. Wie Anna Seghers floh auch er vor den Nazis ins französische Exil. Und auch er steht mit seinem Vermächtnis als großer literarischer Mittler zwischen Deutschland und Frankreich für die Räume des Verstehens und der Verständigung, die sich in der Literatur eröffnen. Der nach ihm benannte Franz-Hessel-Preis soll in diesem Sinne den literarischen Dialog zwischen Frankreich und Deutschland und damit Offenheit und Austausch fördern. Wenn wir den Preis in diesem Jahr an Fatma Aydemir und Michel Jullien verleihen, dann zeichnen wir damit zwei Autoren aus, die ihren Leserinnen und Lesern auf besonders eindringliche Weise unbekannte Lebens- und Erfahrungswelten vertraut machen. Fatma Aydemir nimmt uns mit in das Leben einer jungen Deutschtürkin auf der Suche nach Heimat und Identität zwischen Berlin und Istanbul. Michel Jullien lädt uns ein auf eine Wanderung über den Mont Ventoux, den 1336 auch schon der Dichter Francesco Petrarca erklomm. Während Petrarca als einer der ersten Dichter überhaupt das Naturerlebnis feierte, erfahren wir bei Jullien Erstaunliches über das Verhältnis zwischen Mensch und Hund. Mit der Kraft ihrer Worte erweitern beide die Grenzen unseres Vorstellungs- und Einfühlungsvermögens, und deshalb soll die Auszeichnung mit dem Franz-Hessel-Preis ihren Worten über Sprachgrenzen hinweg Gehör verschaffen – auf dass sich damit neue Räume des Verstehens und der Verständigung auch zwischen Deutschland und Frankreich eröffnen! Ich bin mir sicher: auch mit unserer diesjährigen Auswahl wird uns das wieder ganz wunderbar gelingen – dafür spricht nicht zuletzt die bemerkenswerte Qualität und Treffsicherheit der Juryentscheidungen der vergangenen Jahre! Um nur zwei schöne Beispiel zu nennen: Der 2012 mit dem Hessel-Preis ausgezeichnete Éric Vuillard, der zudem in Ihrem Verlag Actes Sud verlegt wird, liebe Ministerin Nyssen, erhielt vergangenes Jahr den renommierten Prix Goncourt, Thomas Melle, den wir 2011 für „Sickster“ auszeichneten, feiert mit der Theateradaption seines Roman „Die Welt im Rücken“ große Erfolge. Frankreich und Deutschland verbindet das Selbstverständnis als große Kulturnationen. Aus diesem Selbstverständnis heraus betrachten wir das Buch als Kulturgut – und eben nicht allein als Ware und Wirtschaftsgut – und fördern gemeinsam die literarische und verlegerische Vielfalt in Europa. Der Gastlandauftritt Frankreichs bei der Frankfurter Buchmesse im letzten Herbst hat dies einmal mehr als eindrucksvoll bewiesen. Ich bin sehr dankbar und freue mich, verehrte Frau Ministerin Nyssen, mit Ihnen eine bekennende Literaturliebhaberin und ausgewiesene Kennerin der Branche an meiner Seite zu wissen, wo immer es darum geht, die verbindende Kraft der Literatur zu stärken. Wie bitter nötig dies auch heute wieder ist, offenbart der tägliche Blick in die Nachrichten. Die politische Lage mag uns heute auch nicht so düster und bedrohlich scheinen wie den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die 1935 in Paris zusammenkamen. Doch auch heute ziehen Rechtspopulisten gegen kulturelle Vielfalt zu Felde und schüren den Hass gegen alles Fremde. So ist das Anliegen deutscher und französischer Schriftsteller, als Grenzgänger zwischen unterschiedlichen Welten Verbindendes sichtbar zu machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht, heute nicht minder aktuell als im Jahr 1935. In einem vergangene Woche in einer deutschen Tageszeitung erschienenen Gastbeitrag betonte der französische Außenminister Le Drian, einer Radikalisierung des Denkens müsse man mit der Kraft der Kultur begegnen. Er schrieb: „Mit der Kultur bekräftigen wir unsere Identität als Europäer und unsere Werte: Mehrsprachigkeit, Verteidigung von Kulturschaffenden, demokratische Vitalität der Zivilgesellschaften. (…) Kurzum: Kultur ist ein wichtiger Trumpf Europas.“ Möge der Franz-Hessel-Preis dazu auch in Zukunft beitragen!
Der nach Franz Hessel benannte Preis soll den literarischen Dialog zwischen Frankreich und Deutschland und damit Offenheit und Austausch fördern. Bei der diesjährigen Verleihung würdigte Kulturstaatsministerin Grütters die beiden Preisträger Fatma Aydemir und Michel Jullien. Beide machten ihre Leserinnen und Leser auf besonders eindringliche Weise mit unbekannten Lebens- und Erfahrungswelten vertraut.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung des BOSCH Entwicklungs- und Technologiezentrums am 30. Mai 2018 in Braga, Portugal
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-eroeffnung-des-bosch-entwicklungs-und-technologiezentrums-am-30-mai-2018-in-braga-portugal-1143266
Wed, 30 May 2018 16:42:00 +0200
Im Wortlaut
Braga
Sehr geehrter Herr Premierminister, lieber António, sehr geehrter Herr Bürgermeister, Exzellenzen, liebe Vertreter von BOSCH, ich freue mich, dass ich heute hier bei der Einweihung des BOSCH Forschungs- und Technologiezentrums dabei sein kann. Das ist ein guter Tag für BOSCH, ein guter Tag für Braga und ein guter Tag für die deutsch-portugiesische Zusammenarbeit. Was wir hier heute sehen konnten, das zeigt, dass wirklich vernetzt gearbeitet wird, dass an der Zukunft gearbeitet wird und dass die Menschen, die das tun, begeistert sind und die Zukunft mit großer Freude gestalten. Wir wissen ja, dass unser Wohlstand letztlich davon abhängt, ob wir in unseren Ländern – ob das Deutschland ist, ob das Portugal ist – innovativ sind. Wir wissen, dass der Rest der Welt nicht schläft. Deshalb bin ich sehr froh, dass hier ein gutes Stück europäischer Zukunftsgestaltung zwischen zwei Ländern stattfindet, die ja räumlich doch etwas voneinander entfernt sind. Aber auch mithilfe der Chatbots können wir uns über weite Strecken gut unterhalten. Es macht jedenfalls große Freude, sich das hier anzuschauen. Ich kann Sie, Herr Bürgermeister, und alle an der Universität eigentlich nur bitten: Begeistern Sie schon die Schülerinnen und Schüler für neue Technologien. Dahinter stehen wirklich Zukunftsberufe. Wir wissen, dass die Arbeitslosigkeit gerade auch hier in Portugal ein großes Problem war und trotz Verringerung immer noch ist. Aber wenn es um die Frage geht „Was lerne ich, damit ich auch im 21. Jahrhundert eine gute Arbeit habe?“, dann zeigen die beeindruckenden Zahlen, die eben gerade auch von Herrn Hoheisel vorgestellt wurden, wo Zukunft liegen kann und wo man wirklich gute Arbeitsplätze bekommt. Der Streit um die Talente, der Streit um Fachkräfte wird eine der großen europäischen Herausforderungen sein. Deshalb freue ich mich von Herzen, hier ein gutes Stück deutsch-portugiesischer Kooperation und auch ein gutes Stück gelungener Innovationspolitik der portugiesischen Regierung zu sehen. Wir erleben, wie wichtig sozusagen die Ökosysteme dafür sind, um von der Grundlagenforschung und der angewandten Forschung bis zur Anwendung in der Wirtschaft zu kommen. Es bleibt mir nun nichts weiter zu tun, als allen hier viel Freude, viel Erfolg und uns weiterhin eine gute Zusammenarbeit zu wünschen. Herzlichen Dank, dass ich dabei sein konnte.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 25. Jahrestag des Brandanschlags in Solingen am 29. Mai 2018 in Düsseldorf
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-anlaesslich-der-gedenkveranstaltung-zum-25-jahrestag-des-brandanschlags-in-solingen-am-29-mai-2018-in-duesseldorf-1141126
Tue, 29 May 2018 13:35:00 +0200
Düsseldorf
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Armin Laschet, sehr geehrter Herr Außenminister Çavuşoğlu, sehr geehrter Herr Botschafter, Frau Staatsministerin, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der nordrhein-westfälischen Landesregierung und aus den Parlamenten, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Damen und Herren und vor allem natürlich: liebe Familie Genç, vor 25 Jahren hat uns der Brandanschlag auf Ihr Wohnhaus in Solingen bis ins Mark erschüttert. Fünf junge Mädchen und Frauen wurden ermordet, weitere Familienmitglieder wurden schwer verletzt und kämpfen zum Teil immer noch mit den Folgen der Verletzungen. Liebe Frau Genç, es gibt nichts, was über den Verlust Ihrer Töchter Gürsün und Hatice, Ihrer Enkelinnen Hülya und Saime und Ihrer Nichte Gülistan tatsächlich hinwegtrösten kann. 25 Jahre seit der Tat sind eine lange Zeit. Aber die Lücke in der Familie und der Schmerz – sie bleiben; für immer. Deshalb möchte ich Ihnen und allen Angehörigen mein tiefempfundenes Beileid auch am heutigen Tage aussprechen. Wir fühlen mit Ihnen. Wie kann man nach dem Verlust der eigenen Kinder und Kindeskinder weitermachen? Wie schafft man es, nicht aufzugeben? Wie schafft man es, mit der Trauer zu leben? Wie die Kraft aufbringen, nicht in Wut und Rachegedanken zu versinken? Liebe Frau Genç, diese Fragen wurden Ihnen oft gestellt. Sie wurden auch gefragt, wie Sie nach dem, was geschehen ist, in Deutschland bleiben konnten. Ihre Antworten auf diese Fragen machen Sie zum Vorbild – zu einem Vorbild an Humanität, an Menschlichkeit. Sie haben keine Rachegefühle gehegt. Ganz im Gegenteil: Sie haben sich für Versöhnung und Verständigung ausgesprochen. Auf eine unmenschliche Tat haben Sie mit menschlicher Größe reagiert. Dafür bewundern wir Sie. Und dafür danken wir Ihnen. Der Brandanschlag auf Ihr Haus in Solingen hat unser ganzes Land erschüttert und auch aufgerüttelt. Er war keine Einzeltat, sondern der entsetzliche Tiefpunkt einer langen Reihe menschenverachtender rechtsextremistischer Verbrechen Anfang der 90er Jahre. Ich erinnere mich noch deutlich an die Ausschreitungen im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Nicht Einzelne, sondern Hunderte beteiligten sich an Angriffen auf ein Asylbewerberheim – auf eine Unterkunft von Menschen, die Schutz suchten, denen aber Hass und Gewalt entgegenschlugen. Geradezu fassungslos macht es mich heute noch, dass damals tausende Menschen den Tätern zuschauten, sie sogar anfeuerten und ihnen applaudierten. Ich erinnere mich auch an den furchtbaren Brandanschlag in Mölln im November 1992, bei dem drei türkische Mitbürgerinnen qualvoll starben. Auch in Berlin, Hamburg, Eberswalde, Friedrichshafen, Saarlouis, Hoyerswerda und in vielen anderen großen und kleinen Städten landauf und landab wurden Ausländer gequält, verletzt oder gar ermordet. Die Liste ist erschreckend lang. 2011 wurde die Mordserie des selbst ernannten Nationalsozialistischen Untergrunds aufgedeckt. Mitten unter uns konnte diese Terrorgruppe über viele Jahre hinweg ihr Unwesen treiben. Auch den Opfern und Hinterbliebenen all dieser Taten gelten heute unser Gedenken und unsere Anteilnahme. Wir werden sie und das, was ihnen in unserem Land angetan wurde, nicht vergessen. Das können wir nicht – und das dürfen wir nicht. Denn Rechtsextremismus gehört keineswegs der Vergangenheit an. Auch heute werden Menschen in unserem Land angefeindet und angegriffen, weil sie Asylbewerber oder Flüchtlinge sind – oder weil sie wegen ihres Aussehens, ihrer Hautfarbe dafür gehalten werden, egal wie lange sie schon bei uns leben. Solche Gewalttaten sind beschämend. Sie sind eine Schande für unser Land. Damit dürfen und werden wir uns nicht abfinden, wenn uns unser Land, unser Rechtsstaat und vor allem die Würde des Menschen tatsächlich etwas wert sind. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus dürfen in Deutschland wie auch anderswo auf der Welt keinen Platz haben. Unserem Land aber kommt eine zusätzliche Verantwortung zu, die uns aus dem Zivilisationsbruch der Shoa in Deutschland während des Nationalsozialismus erwachsen ist. Dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit – ja, gegen die Menschheit – verpflichtet uns tagtäglich, uns für ein menschenwürdiges Zusammenleben einzusetzen. Das ist keine abstrakte Mahnung. Denn rechtspopulistisches und rechtsextremes Gedankengut findet auch heute Verbreitung. Zu oft werden die Grenzen der Meinungsfreiheit sehr kalkuliert ausgetestet und Tabubrüche leichtfertig als politisches Instrument eingesetzt. Das aber ist kein Geplänkel, sondern ein Spiel mit dem Feuer. Denn wer mit Worten Gewalt sät, nimmt zumindest billigend in Kauf, dass auch Gewalt geerntet wird. Und daher kann ich nur wiederholen: Die Würde des Menschen, und zwar jedes einzelnen, ist unantastbar. So ist es im Artikel 1 unseres Grundgesetzes festgehalten. Dieser richtet sich an uns alle – natürlich auch und gerade an politisch Verantwortliche. Denn wir müssen uns ganz besonders schützend vor die Menschen stellen, die Ziel von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus sind, weil der Staat eine besondere Verantwortung trägt. Das ist uns sehr bewusst. Deshalb ist es unverzichtbar, dass die deutschen Sicherheitsbehörden alles unternehmen, was in ihrer Macht steht, um rechtsextremistische Verbrechen zu verhindern und aufzuklären. Wir wissen – und dieses Wissen schmerzt –, dass auch unseren Behörden zum Teil gravierende Fehler und Versäumnisse unterlaufen. Dafür kann ich und können wir als Bundesregierung nur um Verzeihung bitten. Und zugleich müssen wir alles daransetzen, dass wir die Sicherheitsbehörden stärken und die Zusammenarbeit zwischen den Verfassungsschützern von Bund und Ländern verbessern. Und das haben wir auch getan. Wir investieren außerdem in politische Bildung und in Prävention. Wir fördern Projekte gegen Rechtsextremismus – vor allem in strukturschwachen Regionen. Die Mittel hierfür haben wir in der vergangenen Zeit erhöht, sogar verdreifacht. Dies alles dient einem Ziel: dem Ziel, respektvoll und friedlich in unserem Land zusammenzuleben. Dazu trägt jede und jeder Einzelne bei. Dazu tragen die bei, die gegen Hass und Gewalt ein deutliches Zeichen setzen – so wie das viele Menschen in Solingen und anderen deutschen Städten mit Lichterketten getan haben. Dazu tragen die bei, die Neuankommenden oder auch schon länger bei uns Lebenden gegenüber offen sind. Kein Mittel räumt schneller mit Vorurteilen und Menschenfeindlichkeit auf als die persönliche Begegnung. Mit Offenheit füreinander gelingt auch das Miteinander. Offenheit hat viele Facetten. Sie bedeutet beispielsweise, dass es einerseits Integrationsangebote gibt und dass andererseits diese Angebote angenommen werden – dass es einerseits Zugang zu Bildung und Möglichkeiten der Teilhabe am beruflichen und gesellschaftlichen Leben gibt und dass andererseits unsere deutsche Sprache gelernt, unsere Werte akzeptiert und Berufschancen ergriffen werden. Ich wünsche mir, dass diejenigen, die bei uns bleiben, sich hier willkommen und geschätzt fühlen, dass sie sich sicher fühlen und dass sie Deutschland zu ihrer Heimat machen können – so wie Sie, liebe Frau Genç. Sie haben in einem Interview vor fünf Jahren dazu gesagt – ich möchte Sie zitieren –: „Solingen ist meine Heimat, genau wie die Türkei. (…) In Solingen kenne ich jede Straße. (…) Heimat ist da, wo man seine Familie und seine Freunde hat, da, wo man die Straßen kennt, und weiß, wer nebenan wohnt. Die schmerzliche und die schöne Seite gehören dazu.“ Ja, es liegt mir am Herzen, dass Sie und Ihre ganze Familie sich in Deutschland sicher und wohl fühlen, dass Sie sich hier heimisch fühlen, liebe Frau Genç, liebe Familie Genç. Vielen Dank, dass ich heute zu Ihnen sprechen durfte.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Festakt zum 20-jährigen Bestehen der Bundesnetzagentur am 29. Mai 2018 in Bonn
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-festakt-zum-20-jaehrigen-bestehen-der-bundesnetzagentur-am-29-mai-2018-in-bonn-1141088
Tue, 29 May 2018 11:28:00 +0200
Bonn
Sehr geehrter Herr Präsident Homann, sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesnetzagentur, sehr geehrter Kollege Peter Altmaier, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und aus den Parlamenten, liebe ehemalige Kollegen, die sozusagen auch die Geschichte der Entstehung des heutigen Jubilars präsentieren, meine Damen und Herren, ich möchte an einen ehemaligen Kollegen erinnern, der heute nicht dabei sein kann: Das ist Wolfgang Bötsch. Er war derjenige, der das Ministerium in die Behörde überführen musste. Es passiert ja auch nicht alle Tage, dass ein Ministerium verschwindet. Aber so können wir heute bereits das 20. Jubiläum der Bundesnetzagentur feiern. Ich war schon beim zehnten Jubiläum dabei und bin heute sehr gerne wiedergekommen. Denn die Bundesnetzagentur hat in ihrer Breite an Bedeutung gewonnen – und damit nicht nur Freuden, sondern, glaube ich, auch manches Problem auf die Agenda bekommen. Ich bin auch deshalb so gerne hier, weil Infrastrukturen und Vernetztheit in verschiedenen Bereichen für uns von zentraler Bedeutung sind und weil sich in dieser Bundesnetzagentur auch wirtschaftspolitisch etwas sehr Interessantes widerspiegelt, nämlich dass wir von Staatsmonopolen – wenn man das so sagen darf – zu Wettbewerb gekommen sind. Diese Aufgabe war und ist schon schwierig genug. Selbst nach 20 Jahren gibt es immer noch Schlachten, die manchmal in Bonn und manchmal in Brüssel ausgetragen werden. Wir müssen jetzt aber auch bei neuen Infrastrukturen, wie zum Beispiel beim Breitbandausbau, lernen, wie wir bei Dingen, die wir als Daseinsvorsorge bezeichnen – und die beispielsweise in Form der Elektrizitätsanbindung jedes Haushalts selbstverständlich waren –, nun über privatwirtschaftliches Tun mit klugen Anreizen wieder ein flächendeckendes Netz der Daseinsvorsorge schaffen. Diese Schlacht ist ungefähr so kompliziert wie der Wandel vom Staatsmonopol hin zu Wettbewerb. Die Bundesnetzagentur hat mit beiden Bewegungen in der ganzen Breite zu tun. Dass sie neue Aufgabenfelder – vom Breitband bis zur Bahn und anderes – dazubekommen hat, zeigt auch, dass es sich anbietet, hier eine konsistente ordnungspolitische Herangehensweise anzulegen. Das ist allerdings im täglichen Geschäft um Einflüsse und mit Blick auf einzelne Akteure sicherlich nicht immer ganz einfach. Ich vermute, dass Herr Homann für allgemeine Betrachtungen nicht viel Zeit hat, aber das Thema eignet sich sicherlich für manche Promotion. Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post – mit diesem etwas sperrigen Namen wurde die neue Einrichtung vor 20 Jahren aus der Taufe gehoben. Dann wurde daraus eine Agentur. Der Name wurde schlanker, das Aufgabenspektrum aber eher breiter. Ich sagte es schon: Sie befassen sich eigentlich mit allem, was unser tägliches Leben betrifft – Telekommunikation, Post, Schienenverkehr, Strom und Gas. Wer kann sich unser Leben und unsere Wirtschaft ohne diese Infrastrukturen vorstellen? – Niemand. Dass Strom aus der Steckdose kommt, dass Briefe und Pakete zugestellt werden und dass das Schienennetz genutzt werden kann – das alles scheint selbstverständlich zu sein, muss aber organisiert werden. Deshalb sind Sie dafür verantwortlich, Daseinsvorsorge in umfassendem Sinne zusammen mit den Anbietern sicherzustellen. Sie tragen damit eine für die Funktionsweise unserer Wirtschaft extrem hohe Verantwortung. Dafür, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Verantwortung stellen, möchte ich jedem Einzelnen ganz herzlich danken und zum Geburtstag der Bundesnetzagentur gratulieren. Bei meinem einzigen Besuch, der kein Jubiläumsbesuch war, ging es um Stromleitungen, um Vernetzung und Schaltstellen zur verlässlichen Stromversorgung. Angesichts der dramatischen Veränderungen – ich komme noch darauf zu sprechen – ist hier unglaublich schnelles Handeln und auch die Bereitschaft, schnell zu agieren, von absoluter Notwendigkeit. Leistungsfähige Infrastrukturen bestimmen die Attraktivität unseres Wirtschaftsstandorts und für die Nutzer nicht nur die Qualität, sondern auch den Preis. Die Frage, wie hoch dieser sein darf, ist sozusagen Ihr Kerngeschäft. Da müssen Sie natürlich vieles bedenken: Sie müssen es Unternehmen, zum Beispiel Post- und Bahndienstleistern oder Energieanbietern, ermöglichen, mit diesen Preisen vernünftig wirtschaften zu können. Die Leistungen müssen verlässlich sein. Spielräume für Investitionen müssen da sein. Die sogenannten Altlasten derjenigen, die früher staatliche Monopole waren, müssen – insbesondere auch mit Blick auf den Personalkörper – gerecht bedacht werden, ohne dass die neuen Wettbewerber benachteiligt werden. Außerdem möchten die Verbraucher Dienstleistungen zu möglichst niedrigen Preisen in Anspruch nehmen. Das ist ein wirklich umfassendes und sehr komplexes Aufgabenfeld. Zwischen den Anbietern und den Nachfragern stehen also die Regulierer der Bundesnetzagentur. Dass Sie es in diesem Gestrüpp von Interessen nicht permanent allen recht machen können, liegt auf der Hand. Aber wir können immer auf die unabhängige Tätigkeit dieser Agentur verweisen; und das ist ein schönes Gefühl. Mithilfe der Bundesnetzagentur sind also aus Staatsunternehmen mit teils verkrusteten Strukturen inzwischen doch sehr effiziente Dienstleister geworden. Wir sind von den einstigen Monopolen weggekommen. Sie sind nebenbei auch noch eine große Verbraucherschutzagentur, wie sich an der Entwicklung der Telekommunikationsmärkte zeigt. Wenn wir einmal schauen, wie Verbraucher vom Wettbewerb profitiert haben, dann können wir sagen: Man möchte sich mit den Telefonpreisen von vor 20 Jahren eigentlich nicht mehr befassen. „Flatrate“ war damals noch ein Fremdwort. Breitbandanschlüsse kannte man auch nicht. Da sind wir vorangekommen. Allerdings tobt da noch eine Schlacht, die wir wirklich noch schlagen müssen – insbesondere im Zusammenhang mit unserem Koalitionsvertrag. Jeder weiß, was los war, als wir gesagt haben: Bis 2025 möchten wir wirklich die Garantie – wie auch immer das zu erreichen ist –, dass jeder Standort in Deutschland, jedes Haus auch im ländlichen Bereich, eine Anschlussmöglichkeit bekommt. Allerdings muss man auch sagen: Kaum gibt es die Anschlüsse, hat man dann schon wieder damit zu tun, dass der Kunde sie auch in Anspruch nimmt. Denn diejenigen, die investiert haben, hoffen natürlich, dass für den Breitbandanschluss dann auch die entsprechenden Gebühren gezahlt werden, was im ländlichen Bereich aber gar nicht bei allen der Fall ist. Ich will hier jetzt nicht über Anschlusszwänge reden. Aber flächendeckende Netze haben zu wollen, sich dann aber die Freiheit erlauben zu können, sich doch nicht daran zu beteiligen – das ist durchaus eine große Kunstaufgabe. Für Unternehmen oder auch für Privathaushalte darf es aber nach unserer Meinung, wenn es um Gleichwertigkeit und Vergleichbarkeit der Lebensverhältnisse geht, keinen Unterschied machen, ob man in Hamburg, in der Lüneburger Heide, in München oder im Bayerischen Wald zu Hause ist. Deshalb brauchen wir eine flächendeckende Infrastruktur. Der Glasfaserausbau verlangt die vereinten Kräfte von Staat und Privatwirtschaft. Dabei kommt auch die Bundesnetzagentur ins Spiel. Auch die Kabelanbieter wollen wir in diesen Tagen nicht vergessen. Wir stärken durch Regulierungsanreize den privatwirtschaftlichen Glasfaserausbau. Es geht aber auch darum, die Kooperation zwischen den Wettbewerbern zu fördern und Förderprogramme so zu gestalten, dass sie wirklich das Richtige bewirken. Das müssen wir auch seitens des Bundes – der Bundeswirtschaftsminister und auch der Bundesverkehrsminister haben da noch große Aufgaben vor sich – so machen, dass der Landrat oder Bürgermeister vor Ort dann auch in der Lage ist, mit diesen Förderprogrammen vernünftig umzugehen, und dafür nicht erst ein neues Hochschulstudium absolvieren muss. Wir wollen in dieser Legislaturperiode einen Gigabit-Investitionsfonds auflegen, der ausschließlich Glasfaserprojekten dienen wird und der aus den Erlösen der Frequenzversteigerung für die nächste Mobilfunkgeneration 5G gespeist werden soll. Da gibt es hinsichtlich der Zeitlinie, also der Frage, wann und wie das stattfinden soll, bereits erste Diskussionen. Sicherlich muss es gründlich vorbereitet werden, aber irgendwann muss es auch stattfinden. – Herr Homann nickt; und ich bin voller Hoffnung. Wir müssen schauen, dass wir dann auch wirklich in die Gänge kommen. Bei 5G geht es ja nicht einfach nur darum, Funklöcher zu schließen. Vielmehr können wir mit einer modernen, verlässlichen und lückenlosen und dann auch in Echtzeit stattfindenden Mobilfunkversorgung die Anwendungen der Industrie 4.0 überhaupt erst Realität werden lassen. Das gilt für die Industrie, das gilt für die Künstliche Intelligenz, das gilt für das autonome Fahren, das gilt für die Telemedizin und anderes mehr. Gerade auch in ländlichen Regionen ist das von allergrößter Bedeutung. Es geht also darum, die Innovations- und Wachstumspotenziale des digitalen Fortschritts zu nutzen. Wir haben in Deutschland den Anspruch, nicht nur Anwender, sondern auch selbst Wertschöpfer zu sein, weil wir auch im digitalen Zeitalter Arbeitsplätze sichern und schaffen wollen. Ich glaube, eine Sache, die die Bundesnetzagentur und auch uns in der Politik immer wieder betrifft und die auch ambitioniert ist, ist die Vernetzung mit der europäischen Rechtsetzung. Die einzelnen Rechtsetzungen müssen natürlich zueinander passen. Wir haben gerade auch im digitalen Bereich viele Fragen politisch zu klären: Wie sieht die Arbeit der Zukunft aus? Wie garantieren wir digitale Teilhabe im beruflichen und öffentlichen Leben? Wie bepreisen – damit sind wir erst am Anfang – wir Daten? Was bedeutet das für unser Steuersystem? Was bedeutet das für unsere sozialen Sicherungssysteme in der Zukunft? Wie steht es um die Rechte, Daten zu erheben und zu verwenden? Wir führen derzeit eine umfassende Diskussion über die Datenschutz-Grundverordnung. Sicherlich ist sie ein Einstieg, aber sie führt im Augenblick auch zu erstaunlichen Dingen, die erst einmal aufgearbeitet werden müssen. Trotz aller Beschwerlichkeiten über die Umsetzung der Verordnung, über die wir mit den Datenschutzbeauftragten auch noch einmal reden müssen – sie sind unabhängig, das weiß ich; aber man kann ja trotzdem mit ihnen sprechen –, haben wir in Europa nun zum ersten Mal ein „level playing field“, das von unserer Wirtschaft bei der Erarbeitung dieser Datenschutz-Grundverordnung herausgestellt wurde und weswegen die Wirtschaft in breiter Front dafür war, dass diese Datenschutz-Grundverordnung möglichst schnell verabschiedet wird. Wir haben viele Sorgen vor dem digitalen Wandel. Deshalb will ich deutlich sagen: Wir sollten vor allen Dingen die Chancen sehen und uns mit den Risiken konstruktiv befassen. Wir brauchen intelligente Geschäftsmodelle, aber auch eine intelligente Regulierung. Deshalb sind Sie in den nächsten Jahren mindestens genauso gefragt wie bisher. Intelligente Lösungen revolutionieren auch unsere Energieversorgung. Moderne Technologien – „smart grid“ – erleichtern die Steuerung unserer Netze. Stromverbrauch oder Heizungswärme lassen sich sehr viel besser steuern und sehr viel besser einsetzen. Neue Technologien, neue Geschäftsmodelle, mehr Wettbewerb sorgen auch dafür, dass Verbraucher in Deutschland schon seit geraumer Zeit zwischen zahlreichen Strom- und Gasanbietern wählen können. Das ist auch ein Erfolg der Bundesnetzagentur und auch ein Erfolg der europäischen Regulierung und bei uns von besonderer Bedeutung, weil wir uns mit der Energiewende ein sehr ambitioniertes Ziel gesetzt haben. Ich denke, einen Meilenstein haben wir in der vergangenen Legislaturperiode gesetzt, indem wir Ausschreibungen für erneuerbare Energien verpflichtend gemacht haben. Viele haben diesen Paradigmenwechsel noch gar nicht realisiert. Schon die ersten Ausschreibungen aber weisen darauf hin, dass die Kosteneffizienz in diesem Zusammenhang sehr, sehr viel besser sein wird. Wenn man sich anschaut, wie wir beim Ausbau der erneuerbaren Energien vorangekommen sind, dann darf ich daran erinnern, dass der Anteil beim zehnten Geburtstag der Bundesnetzagentur bei 15 Prozent lag. Beim 20. Geburtstag liegt er bei über 36 Prozent. Daran sieht man also, dass etwas passiert ist. Aber mit diesem Ausbau konnte der Ausbau der Netze leider nicht Schritt halten. Wenn ich Herrn Homann in Ministerkonferenzen treffe, dann geht es meistens um den Ausbau der Netze, der Hochleistungsnetze. Leider sind wir bei den ersten Netzen noch gar nicht so weit, dass wir die zweite Stufe, die nächste Generation, schon erreicht hätten. Da ist in der Tat Eile geboten. Da stellt sich natürlich auch die Frage der Akzeptanz in der Gesellschaft, die wir erhöht haben, indem wir uns relativ risikofreudig für viele Leitungen unter der Erde entschlossen haben. Ob sich das langfristig so bewährt, wie wir es uns erhoffen, werden wir sehen. Denn die technischen Erfahrungen damit sind noch sehr begrenzt. Die Hauptsache jedenfalls ist, die Netze werden ausgebaut. Denn viel Strom aus erneuerbaren Energien, der aber nicht genutzt wird, und Strommangel im Süden, wenn die Kernkraftwerke vom Netz gehen – das wäre ein Desaster inklusive der europäischen Drohungen, uns nicht mehr als einen Strommarkt zu sehen, was für Deutschland natürlich auch nicht gut wäre. Insofern haben Sie hier noch alle Hände voll zu tun neben den anderen Dingen, die ich schon nannte. Die Post ist natürlich auch in besonderer Weise vom digitalen Wandel betroffen. Auf der einen Seite der Paketmarkt, der besonders vom Internethandel betroffen ist, und auf der anderen Seite der Unwille der Menschen, heute überhaupt noch einen Brief in einen Umschlag zu stecken und dann zum Briefkasten zu bringen – das beschäftigt Sie im Augenblick ja auch. Ich denke, wir müssen gemeinsam für das Verständnis werben, dass flächendeckende Versorgung bei geringer Nutzung und vielen alternativen Nutzungsmöglichkeiten schlechterdings kaum billiger werden kann, wenn es nicht um Quersubventionierungen gehen soll. Deshalb werden Sie schon die richtigen Entscheidungen treffen. Die Regulierung auf den klassischen Postdienstleistungsmärkten muss mit den Entwicklungen natürlich Schritt halten. Hier haben wir wieder das Thema, das ich schon im Zusammenhang mit Internetanbindungen angesprochen habe: einerseits flächendeckende Grundversorgung – irgendjemand soll sie garantieren – und andererseits die Zulassung von Wettbewerb. Das zusammenzubringen, ist natürlich nicht ganz einfach. Wir freuen uns, dass es eine Deutsche Post DHL Group gibt, mit der Deutschland wirklich einen Global Player hat: über eine halbe Million Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weltweit. – Ich sehe gerade Herrn Appel und kann gratulieren. – Es gibt zwei Institutionen, bei denen man fast nicht mehr weiß, dass sie zu Deutschland gehören. Das sind die GIZ und die DHL. Sie sind fast wie eigene staatliche Gebilde; und man fragt: „Ach, die DHL gehört zu Ihnen? Das ist ja interessant.“ Auch die GIZ hat als Unternehmen der Entwicklungszusammenarbeit etwas mit der Bundesregierung zu tun. Das spricht ja eigentlich nur für die Institutionen. Das Unternehmen Post DHL ist auf unserem Heimatmarkt eine große Größe. Auf dem Briefmarkt – das darf ich vielleicht auch in Erinnerung rufen – tummeln sich inzwischen 600 vorwiegend kleine und mittlere Unternehmen. Das gelbe Postauto ist also bei weitem nicht mehr das einzige, das unterwegs ist. Die Liberalisierung im Postbereich hat also für mehr Wettbewerb gesorgt und gleichzeitig die ehemalige Bundespost zu einem weltweit führenden Logistikunternehmen gemacht. Man kann Ähnliches auch von der Deutschen Bahn sagen. Seit der Bahnreform 1994 ist aus der Staatsbahn ein Dienstleistungsunternehmen geworden, das inzwischen in über 130 Ländern aktiv ist. Allein in Deutschland bringt die DB AG täglich mehr als zwölf Millionen Menschen an ihre Zielorte. Wir begrüßen, dass sie sich auch weiter mit der Pünktlichkeitsoffensive beschäftigt, und hoffen, dass die Bahnverbindungen nicht nur an den großen Knoten betrieben werden. Denn die Themen Anbindung der ländlichen Räume und vernetzte Mobilität sind von allergrößter Wichtigkeit. Da das Kartellamt wahrscheinlich hier vertreten ist, sage ich nur als eine Nebenbemerkung: Vernetzte Mobilität oder Inanspruchnahme vernetzter Dienstleistungen, heutzutage meistens über Plattformen abgewickelt, bringen auch völlig neue Herausforderungen mit sich, wenn es darum geht, einerseits Wettbewerb zu ermöglichen, aber andererseits nicht bei jeder Vernetzung sofort zu argwöhnen, dass hintenherum falsche Absprachen getroffen werden. Ohne miteinander zu reden, wird man keine vernünftigen Mobilitätsplattformen hinbekommen. Deshalb stellt sich sicherlich nicht nur der Bundesnetzagentur, sondern auch dem Bundeskartellamt eine neue große Aufgabe. Wir wollen am integrierten Konzern Deutsche Bahn festhalten. Wir wollen einwandfreie Transportdienstleistungen, eine starke Infrastruktur und mehr Wettbewerb auf der Schiene, aber – so die heutige Situation – keine Privatisierung des Schienennetzes. Das ist kein Widerspruch, wie wir ja an den vielen Anbietern auf der Schiene sehen. Aber die Trassenentgelte beschäftigen Sie natürlich ungefähr so wie die letzte Meile vor dem Eintritt der Internetverbindungen. Der Wettbewerbsrahmen lässt sich sicherlich noch verbessern. Deshalb werden wir das Eisenbahnregulierungsrecht weiter überprüfen. Denn dieses Recht setzt ja den Rahmen, in dem Sie die Preise letztlich regulieren können. Sie sehen also: Wir brauchen alle zehn Jahre die Bundesnetzagentur mehr als in den zehn Jahren davor. Mir fallen im Augenblick nicht allzu viele völlig neue Infrastrukturdinge ein, aber wer weiß, was alles noch erfunden wird und noch dazukommen kann. Aber ich denke, Sie sind auch mit dem, das Sie im Augenblick haben, gut ausgelastet. Wir versprechen Ihnen, dass wir im Sinne des Wettbewerbs versuchen, auch die Rechtsetzung in Brüssel immer vernünftig zu begleiten. Ich denke, das ist auch sehr wichtig, um in dem Interessengeflecht und auch unter dem Interessendruck und der Spannung zwischen den Ansprüchen der Verbraucher und den Notwendigkeiten der Investoren immer auch auf eine nachhaltige Nutzung unserer Netze zu setzen. Zu guter Letzt: Herzlichen Glückwunsch. Wohl dem Geburtstagskind, das sich seine eigene Musik machen kann. Das ist gut und zeigt auch, dass Sie nicht nur auf Regulierungsfähigkeiten, sondern auch auf Kreativität setzen, was der Arbeit indirekt sicherlich zugutekommt. Danke dafür, dass ich dabei sein konnte. Glückwunsch und alles Gute für die Zukunft.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Jahrestagung der Initiative Kulturelle Integration
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-jahrestagung-der-initiative-kulturelle-integration-1147286
Tue, 29 May 2018 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
An meinen letzten offiziellen Termin hier im Jüdischen Museum erinnere ich mich gerne: Im vergangenen Dezember durfte ich die aktuelle Ausstellung „Welcome to Jerusalem“ eröffnen, die mich sehr beeindruckt hat und die ich Ihnen wärmstens ans Herz legen kann: Sie hilft, die Konflikte im Nahen Osten besser zu verstehen, ist aber auch eine mahnende Erinnerung daran, welch kostbare Errungenschaft es ist, in religiöser Vielfalt friedlich zusammenzuleben. Um „Zusammenhalt in Vielfalt“ geht es auch bei der heutigen Jahrestagung der Initiative Kulturelle Integration, zu der ich Sie (als Schirmherrin der Initiative) herzlich begrüße. Als Ort, der nicht nur der jüdischen Kultur und Geschichte, sondern auch dem Nachdenken über Verständigung und Toleranz gewidmet ist, bietet das Jüdische Museum einen wunderbaren Rahmen, um zu sagen „Gib mir ein Zeichen“. Dass diesem Aufruf des Deutschen Kulturrats für die gleichnamige Mitmachaktion sage und schreibe 780 Bürgerinnen und Bürger gefolgt sind, freut mich sehr! Ihnen allen danke ich für ihre tollen Ideen – und mein herzlicher Dank gilt auch dem Deutschen Kulturrat, der Jury und den Mitgliedern der Initiative Kulturelle Integration, die sich unermüdlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt engagieren, getragen von der Überzeugung, dass dieser nur durch kulturelle Integration gelingen kann. Es ist mir daher auch sehr wichtig, dass ich die Initiative weiterhin mit Mitteln aus meinem Etat unterstützen kann. Mit ihren im vergangenen Jahr veröffentlichten 15 Thesen zur kulturellen Integration hat die Initiative einen gesellschaftspolitischen Meilenstein gesetzt. Bemerkenswert ist nicht nur ihr Inhalt – eine Reflexion grundlegender Prinzipien, Werte und Gepflogenheiten -, sondern auch ihre Existenz als solche. Denn die Verständigung darauf ist bei so unterschiedlichen Gesprächspartnern wahrlich keine Selbstverständlichkeit. Staat, Religionsgemeinschaften, Medien, Sozialpartner, Migrantenverbände – sie alle stimmen, so unterschiedlich ihre Haltung ansonsten sein mag, in diesen 15 Thesen überein und übernehmen Verantwortung dafür, sie mit Leben zu füllen. Darüber ins Gespräch zu kommen, welche Identitätsmerkmale wir als Gesellschaft vertreten und vermitteln wollen, ist und bleibt dringend notwendig – allein schon deshalb, weil die Konfrontation mit fremden Lebensweisen und Weltanschauungen vielerorts diffuse Ängste auslöst. Diese Ängste und auch das weit verbreitete Bedürfnis nach Selbstvergewisserung sollten wir nicht den Populisten und Nationalisten überlassen. Über gemeinsame Werte und für alle verbindliche Regeln zu diskutieren, ist und bleibt aber auch deshalb notwendig, weil die in vielerlei Hinsicht bereichernde Vielfalt einer weltoffenen Gesellschaft eben nicht in jeder Hinsicht unproblematisch ist – zum Beispiel wenn Menschen, die hier heimisch werden wollen, von einem in ihren Herkunftsländern weit verbreiteten Antisemitismus geprägt sind, oder wenn Menschen, die hier heimisch sind, die sicher geglaubten Standards unseres Zusammenlebens durch ihre Fremdenfeindlichkeit mit Füßen treten. Diese Standards unseres Zusammenlebens in 15 Thesen zu formulieren, war der erste Schritt – und der zweite war der Aufruf „Gib mir ein Zeichen“, die Suche nach einem Zeichen, das unser gemeinsames Anliegen „Zusammenhalt in Vielfalt“ auf den Punkt bringt. Darüber hinaus wollen wir in der Initiative Kulturelle Integration aber nicht nur Worte und Zeichen für sich sprechen lassen, sondern diese Worte und Zeichen auch mit Leben füllen. Kulturelle Projekte und Kultureinrichtungen können, davon bin ich überzeugt, unseren demokratischen Werten auch jenseits argumentativer Auseinander-setzung Gehör verschaffen und Überzeugungskraft verleihen. Das bestätigt die gerade veröffentlichte Studie der Deutschen UNESCO-Kommission und der Bertelsmann Stiftung „Kunst in der Einwanderungsgesellschaft“, über die Sie vielleicht auch in der Zeitung gelesen haben. Im Vorwort zur Studie wird übrigens auch unsere Initiative Kulturelle Integration gewürdigt. Vor allem bestätigt sie, dass gerade interkulturelle Kunst-, Film-, Theater- und Literaturprojekte das wechselseitige Verständnis und die Bereitschaft zur Verständigung sehr erfolgreich fördern – und dass die Möglichkeiten dafür bei weitem noch nicht ausgeschöpft sind. Deshalb möchte ich mit meiner Kulturpolitik dazu beitragen, die Kraft der Kultur noch mehr als bisher für Verständigung und Zusammenhalt fruchtbar zu machen – sei es mit den Projekten, die wir im Rahmen des aktuellen Europäischen Kulturerbejahres fördern, sei es mit dem Preis für Kulturelle Bildung, den mein Haus einmal jährlich verleiht, sei es mit meinem Förderprogramm „Vermittlung und Integration“ zur Öffnung von Kultureinrichtungen. Last but not least wird 2019 das Humboldt Forum seine Pforten öffnen – das größte und bedeutendste Kulturvorhaben des Bundes, ein Museum der Weltkulturen und ein Forum der Verständigung über kulturelle Grenzen hinweg. Darüber hinaus braucht Zusammenhalt in Vielfalt aber auch Ihr Engagement, meine Damen und Herren. Deshalb bitte ich Sie: Nutzen auch Sie die Kraft der Kultur! Gemeinsam können wir der Vielfalt in Deutschland eine Heimat geben. Kulturelle Integration braucht beides: einerseits die Frage nach Heimat, nach identitätsstiftenden Merkmalen; andererseits den Blick über den Tellerrand hinaus, die Offenheit für das Andere, noch Fremde. Die Journalistin Susanne Beyer hat es kürzlich in einem Artikel im SPIEGEL schön auf den Punkt gebracht: „Vertrautes schafft Orientierung“, schreibt sie. Wenn Menschen (…) etwas fremd ist, dann zeigt sich darin erst einmal eine normale Reaktion: nämlich, dass ihnen etwas neu ist. Wenn Menschen mit dem Neuen ihre Erfahrungen gemacht haben, gute und schlechte, dann ist mit der Zeit das Neue jedenfalls nicht mehr fremd. Irgendwann wird es vielleicht sogar vertraut sein.“ Kulturelle Integration heißt, Orientierung im Vertrauten zu schaffen und Offenheit für das Neue zu wecken. In diesem Sinne: Mögen die Thesen der Initiative Kulturelle Integration mit dem Titel „Zusammenhalt in Vielfalt“ zu den kulturellen Lernerfahrungen beitragen, die eine pluralistische Gesellschaft ebenso sehr braucht wie klare und für alle verbindliche Regeln! Ich freue mich auf einen anregenden Austausch mit Ihnen!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim T20 Global Solution Summit
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-t20-global-solution-summit-1147262
Mon, 28 May 2018 15:13:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Bildung und Forschung
Sehr geehrter Herr Professor Snower, meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, lieber Herr Professor Snower, heute bei diesem T20 Global Solutions Summit mit dabei zu sein. Dass von Solutions, also von Lösungen, die Rede ist, zeugt von einem gewissen Optimismus, den wir auch brauchen, wenn wir die großen globalen Herausforderungen unserer Zeit angehen und bewältigen wollen. Dass globale Fragen letztlich nur global gelöst werden können, ist unsere Überzeugung – auch meine –, die derzeit aber, wie wir alle erleben, nicht von allen geteilt wird. Ohne jeden Zweifel ist der so wichtige Ansatz multilateralen Handelns gegenwärtig sehr unter Druck bzw. in der Krise. Er wird von protektionistischem und abschottendem Denken und Handeln herausgefordert, um dies noch recht zurückhaltend zu formulieren. Umso wichtiger bleiben Formate wie die G20, die die Vertreter der weltweit stärksten Wirtschaftsnationen zusammenbringen. Umso wichtiger bleiben auch Treffen wie dieses, die ihrerseits im Vorfeld und Umfeld Bürgerinnen und Bürger sowie Experten aus allen Bereichen zusammenbringen. „Eine vernetzte Welt gestalten“ – dieses Motto unserer deutschen G20-Präsidentschaft im letzten Jahr hat klar zum Ausdruck gebracht, dass wir die globale Zusammenarbeit voranbringen wollen. Das ist uns – allen Widrigkeiten und Anfechtungen zum Trotz – in einigen Bereichen sogar gelungen. Beispielsweise haben wir Fortschritte bei der globalen Kooperation im Gesundheitsbereich erreicht, ebenso bei der Partnerschaft mit Afrika. Wir haben uns für ein regelbasiertes Welthandelssystem mit offenen Märkten ausgesprochen. Wir haben Fortschritte im globalen Stahlforum erzielt und uns darauf geeinigt, gegen globale Überkapazitäten vorzugehen. Gemeinsam stehen wir zu den Zielen der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung. Bei der Menschheitsherausforderung des Klimawandels – ich möchte auch meine Kollegin, die Bundesumweltministerin, ganz herzlich begrüßen – konnten wir zwar keine Einigkeit erzielen, aber mit Ausnahme der Vereinigten Staaten von Amerika sind alle anderen G20-Partner entschlossen, das Pariser Klimaschutzabkommen umzusetzen. Der deutschen G20-Präsidentschaft war es sehr wichtig, einen breiten Dialog mit Vertretern aus verschiedensten Bereichen der Zivilgesellschaft zu führen. So konnten wir unsere Themen aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachten. Vor diesem Hintergrund ist auch die Bedeutung zu sehen, die ein so großer Thinktank wie T20 für die politische Diskussion haben kann. Hier werden die Expertisen und Erfahrungen vieler kluger Köpfe gebündelt. Das ist eine echte Bereicherung im Prozess der politischen Meinungsbildung und Lösungsfindung. Dafür möchte ich Ihnen, lieber Herr Professor Snower, ganz herzlichen Dank sagen. Sie geben uns zudem klar zu verstehen, dass es nicht beim Austausch bleiben sollte, sondern dass es um das Gestalten geht – darum, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen; kurz: um Global Governance. Die Chancen der Globalisierung zu nutzen und ihre Risiken zu mindern – gemeinsam könnten wir das am besten erreichen. Stattdessen aber sehen wir, wie sehr multilaterale Ansätze oft infrage gestellt werden. Internationale Abkommen und Institutionen werden geschwächt, bereits gefundene Lösungen nicht mehr unterstützt und zum Teil Alleingänge gestartet. Das ist besorgniserregend. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass unsere multilaterale Ordnung eine wichtige Lehre aus den beiden verheerenden Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts ist. Ein enges Geflecht internationaler Zusammenarbeit sollte Frieden sichern. Wie leicht es aber ist, Frieden zu verlieren, und wie schwer es ist, ihn zurückzugewinnen – dies erleben wir Europäer gegenwärtig in unserer Nachbarschaft: in der Ukraine, in Syrien oder in Libyen. Ihrer Lebensperspektiven beraubt sahen sich Millionen von Menschen vor allem aus Syrien zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen. So bekamen auch wir in Europa – damit hatten wir nicht gerechnet – die Folgen von Krisen und Konflikten unmittelbar zu spüren. Weltweit sind derzeit über 65 Millionen Menschen auf der Flucht – so viele wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Ist also der multilaterale Weg, den wir bisher eingeschlagen haben, eine Sackgasse? Etwa weil die Abstimmungen zu langwierig sind? Weil Vereinbarungen nur mit dem vermeintlich kleinsten gemeinsamen Nenner getroffen werden? Oder weil es multilateralen Institutionen an Handlungsfähigkeit und Durchschlagskraft fehlt? Das Klimaabkommen von Paris und die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung sind prominente Beispiele dafür, dass die internationale Staatengemeinschaft sehr wohl zu weitreichenden Beschlüssen fähig ist. Diese und andere Abkommen gilt es aber auch umzusetzen. Dazu müssen sich die Vereinten Nationen institutionell und strukturell noch stärker an den globalen Nachhaltigkeitszielen ausrichten. UN-Generalsekretär António Guterres arbeitet deshalb auch daran, generell mehr Effizienz und eine bessere Koordination ins UN-System zu bringen. Deutschland ist bereit, ihn dabei tatkräftig zu unterstützen. Reformbedarf gibt es nicht nur in institutioneller Hinsicht. Ob es zum Beispiel um die UN-Flüchtlingshilfe geht oder um das Welternährungsprogramm – die Handlungsfähigkeit internationaler Organisationen leidet auch unter mangelnder politischer Unterstützung und infolgedessen auch unter Finanzmittelknappheit. So kamen lange Zeit in den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Libanon viel weniger Hilfen für syrische Flüchtlinge an, als international zugesagt waren. Dass sich auch deswegen Menschen auf den durchaus sehr gefährlichen Weg nach Europa gemacht hatten, um zu überleben, sollte uns eigentlich nicht wundern. Doch bei allen Mängeln und Defiziten – es sind und bleiben die Vereinten Nationen, die bei der Beseitigung von Fluchtursachen eine entscheidende Rolle spielen; sei es im Hinblick auf die humanitäre Versorgung von Notleidenden oder bei der Stabilisierung von Krisengebieten. Ohne die Vereinten Nationen und ihre Hilfsorganisationen wäre die Welt noch weit unsicherer, wäre die Zahl der Flüchtenden noch höher, wären die Brutstätten des Terrors noch zahlreicher. Die finanzielle, materielle und personelle Unterstützung der Vereinten Nationen ist eine Investition in die Perspektiven unzähliger Menschen. Außerdem sind einzelne Staaten alleine – ganz gleich, wie groß und wie stark sie sind – globalen Herausforderungen kaum oder gar nicht gewachsen. Wirkliche Lösungen brauchen den internationalen Schulterschluss. Es steht außer Frage – ich könnte dazu noch viele Beispiele aus meinem Leben erzählen –, dass der Multilateralismus manchmal sehr zermürbend und zäh sein kann. Er verspricht keine einfachen Lösungen, er eignet sich schlecht für Stimmungsmache und Stimmenfang. Aber: Es gibt nichts Besseres als den multilateralen Ansatz, um die Gestaltung der Globalisierung, die uns alle betrifft, nicht Akteuren zu überlassen, die ausschließlich ihre eigenen Interessen und nicht das Gemeinwohl im Sinn haben. Aus der Einsicht in die Notwendigkeit des Interessenausgleichs leitet sich unmittelbar die Bedeutung gemeinsamer Strukturen ab: der Europäischen oder der Afrikanischen Union, der NATO, der internationalen Organisationen WTO, IWF, Weltbank oder ILO – und allen voran der Vereinten Nationen. Deutschlands Bewerbung um einen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen steht für unser Bekenntnis zur internationalen Ordnung – und dafür, dass wir bereit sind, Mitverantwortung zu tragen. Deshalb suchen wir gemeinsam mit anderen Partnern weiterhin nach einer politischen Lösung in Syrien und sind entschlossen, am Iran-Abkommen festzuhalten, sofern auch der Iran seine Verpflichtungen einhält. Deshalb übernehmen wir Mitverantwortung für Sicherheit und Stabilität auch in afrikanischen Ländern. Das muss Hilfe zur Selbsthilfe sein. Letztlich muss Afrika selbst Fähigkeiten zur Krisenintervention und Konfliktlösung aufbauen. Aber das geschieht ja auch Schritt für Schritt. Frieden ist die wichtigste Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben – dafür, dass sich niemand zur Flucht gezwungen sieht und dass daher auch illegale Migration, an der nur Schlepper gewinnen und durch die viel zu viele Menschen in Gefahr gebracht werden, abnimmt. Afrika ist jung, seine Bevölkerung wächst rasant. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Afrika ist jünger als 25 Jahre. Es ist immer interessant, wenn man sich das jeweilige Durchschnittsalter der Menschen in den Ländern anschaut: Beim Durchschnittsalter in Deutschland landet man bei ungefähr 45 Jahren; und beim Durchschnittsalter in Niger oder in Mali bei 15 oder 16 Jahren. Daran kann man den Unterschied zwischen beiden Ländern sehen. Die Jugend Afrikas braucht Perspektiven. Das heißt, Afrika braucht mehr Investitionen in Bildung, Ausbildung und Beschäftigung. Ich bin sehr froh, dass die Afrikanische Union mit ihrer Agenda 2063 einen eigenen Plan hat, um zu sagen, was ihr wichtig ist. So können wir auch besser kooperieren. Gerade auch Frauen brauchen Perspektiven und müssen insgesamt besser am wirtschaftlichen Leben teilhaben. Das ist ja nur dann der Fall, wenn sie auch mitgestalten können. Eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung bezieht alle mit ein. Sie lebt von verlässlichen Rahmenbedingungen, von einer funktionierenden Grundinfrastruktur und natürlich von einer guten Regierungsführung. Unter diesen Voraussetzungen lassen sich dann auch private Investoren finden, ohne die eine Entwicklung nicht stattfinden wird. Allein mit öffentlichen Entwicklungsgeldern lässt sich kein nachhaltiges Wirtschaftswachstum erzielen. Deshalb gibt es unter anderem eine Initiative, die wir während unserer G20-Präsidentschaft eingeleitet haben: Die sogenannten „Compacts with Africa“. Diese dienen dazu, privatwirtschaftliches Engagement voranzubringen und mit den Regierungen über die Rahmenbedingungen dafür zu sprechen. Wir beziehen dabei auch multilaterale Akteure wie den IWF, die Weltbank und die Afrikanische Entwicklungsbank ein und nutzen damit alle Möglichkeiten, um Investitionen zu mobilisieren. Es geht auch darum, die regionale Integration von Märkten zu unterstützen. Wir wollen Technologie- und Wissenstransfer voranbringen. Darüber hinaus geht es auch um eine bessere Integration der Länder Afrikas in die gesamte Weltwirtschaft. Wir in Deutschland zum Beispiel wissen, dass wir einen großen Teil unseres Wohlstands der erfolgreichen Einbindung in die globalen Märkte verdanken. Aus Erfahrung und Überzeugung bekennen wir uns deshalb zu offenen Märkten und zum multilateralen, regelgebundenen Handelssystem – und das mit einer starken Welthandelsorganisation im Zentrum. Das multilaterale Regelwerk schafft Rechtssicherheit und damit auch Planbarkeit für Unternehmen, die außenwirtschaftlich aktiv sind oder sein wollen. Freier und fairer Handel ist ein zentraler Motor für wirtschaftlichen Fortschritt für alle Beteiligten. Daher war es ein großer Erfolg der G20, protektionistischen Maßnahmen im Nachgang der internationalen Finanzkrise eine Absage zu erteilen. Aber – leider, sage ich – mit zunehmendem zeitlichen Abstand zur Finanzkrise nimmt die Neigung zu, protektionistische Maßnahmen wieder in Erwägung zu ziehen. Außerdem sehen wir, dass Wohlstandsgewinne den einen mehr, den anderen weniger und manchen so gut wie überhaupt nicht zugutekommen. Deshalb sind wir dazu aufgerufen, unsere Wirtschafts-, Handels- und Finanzpolitik mehr auf inklusives Wachstum auszurichten. Was das bedeutet, haben wir bereits am Beispiel Afrika gesehen. Es geht darum, wirtschaftlich schwächere Länder besser in die internationale Arbeitsteilung einzubinden, ihnen bessere Marktzugänge zu bieten und vor Ort mitzuhelfen, Anreize zu unternehmerischem Engagement zu erhöhen. Eine bessere Einbindung in die Weltwirtschaft kann viel Gutes bewirken, wie etwa das Millennium-Entwicklungsziel aus dem Jahr 2000, extreme Armut bis 2015 zu halbieren, gezeigt hat. Das ist gelungen; wir haben dieses Ziel erreicht. Und das ist vor allem dem wirtschaftlichen Aufschwung in Asien zu verdanken. Mit diesem wirtschaftlichen Aufschwung in Asien haben sich auch die Gewichte auf der Welt verschoben. China steht beispielhaft dafür. Mit dem beeindruckenden Wirtschaftswachstum des Landes ist zugleich seine internationale Verantwortung gewachsen. Ob sich eine so große Volkswirtschaft wie China an den Regeln der globalen Wirtschaft orientiert und sich an sie hält, ist von großer Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung weltweit. Immer – wahrlich nicht nur auf China bezogen – geht es darum, deutlich zu machen, dass die Regeleinhaltung sowohl in globalem als auch in eigenem Interesse liegt – ob es nun um den Abbau von Handels- und Investitionshindernissen geht, um die Gleichbehandlung in- und ausländischer Unternehmen auf dem eigenen Markt oder um die Einhaltung von Schutzstandards für Umwelt, Arbeitnehmer und Verbraucher. Globalisierung findet statt und betrifft unser aller Leben. Wir müssen deshalb die Frage beantworten, ob wir uns von der Globalisierung treiben lassen oder sie nach unseren Vorstellungen mitgestalten wollen – wirtschaftlich, sozial, ökologisch und humanitär. Deutschland hat von der Globalisierung bis heute außerordentlich profitiert. Aber wir haben keine Gewähr und erst recht keinen Anspruch darauf, dass das auch künftig der Fall sein wird. Deshalb ist es so wichtig, dass wir auch weiterhin Überzeugungsarbeit für unseren Ansatz der Offenheit leisten – und zwar gemeinsam mit unseren Partnern. Da zeigt sich der besondere Wert der Europäischen Union. Wenn wir Europäer mit einer Stimme sprechen, dann findet diese Stimme in der Welt mehr Gehör als die eines einzelnen Landes. Wir Europäer müssen in der Außen-, Entwicklungs- und Verteidigungspolitik und auch in der Wirtschaftspolitik noch enger zusammenarbeiten. Dann können wir uns auch in der Welt intensiver, glaubwürdiger, überzeugender und damit wirksamer für fairen und freien Handel ebenso wie für die Schaffung neuer Perspektiven für Menschen einsetzen, die bislang keine Perspektiven haben und deshalb ihre Heimat verlassen. Meine Damen und Herren, es mangelt nicht an globalen Herausforderungen. Aber es mangelt eben auch nicht an guten Ideen. Das ist ja angesichts Ihres Summit, bei dem Sie sich um Lösungen kümmern, unverkennbar. Deshalb freue ich mich, nicht nur zu Ihnen zu sprechen, sondern auch mit Ihnen zu sprechen und Ihre Fragen zu beantworten. Ich wünsche Ihnen noch einen sehr, sehr guten Verlauf der Tagung. Ich begrüße ganz besonders die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Argentinien. Wir freuen uns in diesem Jahr schon sehr darauf, in Lateinamerika, in Argentinien, zu Gast zu sein. Ich weiß aus meinen Gesprächen mit Präsident Macri, dass auch er sich den Zielen der gestalteten Globalisierung verbunden fühlt. Herzlichen Dank.
in Berlin
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters zu „100 Jahre Berliner Pressekonferenz“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zu-100-jahre-berliner-pressekonferenz–1147302
Mon, 28 May 2018 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Deutschland zur Spargelzeit: Das ist kulinarischer Ausnahmezustand. Jedenfalls gibt es kein anderes Gemüse, das sich derart intensiver Medienberichterstattung erfreut, das imstande ist, ein Schnitzel zur Beilage zu degradieren, und das sich – je nach persönlichen Interessen und Präferenzen – als „deutsches Kultgemüse“, als „gesunder Schlankmacher“, als „harntreibende Heilpflanze“, als „natürliches Aphrodisiakum“ und ja: sogar als religiöser Lackmustest empfiehlt. Denn angeblich lässt sich ja beim Verzehr von Spargel erkennen, ob jemand katholisch oder protestantisch ist: Katholiken essen die Spargelspitzen zuerst; Protestanten heben sie sich bis zum Schluss auf. Der Spargel hat also eine in jeder Hinsicht glänzende Reputation, und das, obwohl er hauptsächlich aus Wasser besteht und allein nicht mal satt macht. Das nennt man gute PR. Genau die, verehrte Journalistinnen und Journalisten, würden Sie uns Politikern um keinen Preis durchgehen lassen! Schonend gegart zu werden, das ist im Kreise der Berliner Pressekonferenz nur dem Spargel vergönnt …! Wir Politiker werden dagegen auch gerne mal „gegrillt“: mit kritischen Nachfragen, mit schonungslosem Abklopfen von Begriffen und Botschaften und natürlich in der Konfrontation mit den Ergebnissen gründlicher Recherche. Genau das zeichnet jenen kritischen Journalismus aus, der mit Recht für sich in Anspruch nimmt, schlagkräftige Schutzmacht der Demokratie zu sein – und das bedeutet eben auch, den Mächtigen auf den Zahn zu fühlen und über die einzelne Perspektive hinaus die Wirklichkeit in all ihren Facetten sichtbar zu machen, auf dass Schönfärber, Vereinfacher und Zerrbildzeichner keine Deutungshoheit beanspruchen können. Dabei hat sich bewährt, was die Berliner Pressekonferenz – mit erzwungener Unterbrechung durch die nationalsozialistische Diktatur – über stolze 100 Jahre hinweg kultiviert hat: die journalistische Selbstorganisation, die es ihren Mitgliedern ermöglicht, Wortführer aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft zur Rede zu stellen und dabei selbst Regie zu führen. Dieses – im internationalen Vergleich einmalige – Format der Pressekonferenz in journalistischer Eigenregie hat sich längst bundesweit etabliert, und doch hat die Berliner Pressekonferenz gegenüber den Landespressekonferenzen ein Alleinstellungsmerkmal: Als Pressekonferenz in der Hauptstadt bietet sie sowohl landes- wie auch bundespolitischen Themen ein Forum, erweitert damit das Spektrum öffentlich diskutierter Informationen und Meinungen und stärkt auf diese Weise auch die journalistische Vielfalt. Gerade in Zeiten, in denen populistische Vereinfacher mit „Fake News“ und aggressiven Parolen – Stichwort „Lügenpresse“, Stichwort „Staatsfunk“ – danach trachten, Menschen zu verunsichern und das Vertrauen in die Medien zu erschüttern, ist das staatsferne Format der von Journalisten selbst organisierten Pressekonferenzen als Schaufenster freier, unabhängiger und kritischer Medien von unschätzbarem Wert für unsere Demokratie. Die Berliner Pressekonferenz darf sich dabei – das zeigt ihre 100jährige Geschichte mit Stolz und Selbstbewusstsein als Vorreiterin und Wegbereiterin bezeichnen. So zeugt es denn auch von ausgeprägtem journalistischem Selbstbewusstsein, sich zur Feier dieses schönen Jubiläums auch Redner aus der Politik auf die Bühne zu holen: Redner aus der Reihe derjenigen also, denen Sie, verehrte Journalistinnen und Journalisten – zum Glück! – erfolgreich unbequem sind und die zu Ihrer Arbeit eben deshalb von Berufs wegen ein … nun ja: sagen wir: ambivalentes Verhältnis haben. Selbiges lässt sich frei nach Voltaire wie folgt auf den Punkt bringen: Mögen wir auch verdammen, was Sie schreiben, wir werden alles in unserer Macht Stehende dafür tun, dass Sie es schreiben dürfen- in der festen Überzeugung, dass eine Demokratie gegen autoritäre und totalitäre Anwandlungen gewappnet ist, solange die „Suchmaschine für die Wahrheit“ – wie ein Kolumnist der New York Times die Meinungsfreiheit einmal bezeichnet hat – nur zuverlässig funktioniert. Wie wichtig es wieder geworden ist, demokratische Errungenschaften wie die Pressefreiheit, die Kunstfreiheit und die Meinungsfreiheit aktiv zu verteidigen, müssen wir täglich – nicht nur im Blick auf manche Nachbarländer – erfahren. Immerhin darf Hajo Seppelt jetzt doch zur Fußball-WM nach Russland einreisen – aber wenn wir auf den Theatermacher Serebrennikow dort schauen, der nicht zum Theatertreffen reisen durfte, wenn wir sehen, wie schwer es unabhängige Journalistinnen und Journalisten in Ungarn haben, wenn wir die zunehmende Einschränkung der Medienfreiheit in Polen durch das neue Mediengesetz mit ansehen müssen, wenn wir lesen, wie Liu Xia, die Witwe des Schriftstellers Liu Xiaobo, in China leiden muss oder wie viele Journalistinnen und Journalisten, Künstlerinnen und Künstler in der Türkei immer noch im Gefängnis sitzen, und wenn wir auch hierzulande mit Vorwürfen wie „Lügenpresse“ konfrontiert werden – spätestens dann wird doch immer wieder klar, wie wichtig und wie notwendig es ist, die Freiheit und Unabhängigkeit der Presse zu verteidigen, in Deutschland und in der Welt. Dazu gehört nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit den Folgen der Digitalisierung, die nicht nur die Finanzierung des medialen Angebots, sondern auch die Spielregeln des öffentlichen Diskurses radikal verändert. Auch wenn einschlägige Untersuchungen insbesondere den Tageszeitungen und dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen nach wie vor hohe Glaubwürdigkeit bescheinigen, braucht es kein Investigativ-Team, um festzustellen, dass es – bedingt insbesondere durch die digitale Konkurrenz – Entwicklungen gibt, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit in all ihren Farben und Schattierungen in den traditionellen Medien erschweren. Seit dem Aufkommen sozialer Medien und digitaler Verbreitungswege ist Berichterstattung ungefiltert und in Echtzeit für Jedermann möglich. Das erhöht den Druck auf die Medienhäuser, ihre journalistische Arbeit und redaktionellen Abläufe immer weiter zu beschleunigen. Auch unter diesen Bedingungen gilt es aber, journalistische Standards – Sorgfalt, Unvoreingenommenheit, Ausgewogenheit und Differenziertheit, die Trennung von Bericht und Meinung – einzuhalten. Das ist sicher alles andere als einfach. Trotzdem sollten Journalistinnen und Journalisten nicht der Versuchung erliegen, sich allein am rasanten Takt der Liveticker auszurichten. Hintergründe zu beleuchten, Sachinformationen in größere Zusammenhänge einzuordnen, die Grautöne zwischen Schwarz und Weiß sichtbar zu machen – das bleiben Stärken, mit denen Journalismus auch weiterhin punkten kann. Jedenfalls ist nicht nur die Politik gefordert, wenn es darum geht, die Unabhängigkeit und Vielfalt der Medien zu sichern. Karl Kraus hat das in seiner unnachahmlichen Art schon treffend auf den Punkt gebracht, als die Berliner Pressekonferenz noch in ihren Kinderschuhen steckte: „Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken.“ Eben dafür – für die Gedanken – brauchen wir Ihre Fragen, verehrte Journalistinnen und Journalisten: das kritische Hinterfragen genauso wie das hartnäckige Nachfragen. Schnelle Antworten gibt es im Internet genug; Journalismus dagegen beginnt mit Fragen. Die Berliner Pressekonferenz gehört zu den Garanten einer solchen Kultur des kritischen und hartnäckigen Fragens – vielleicht nicht unbedingt, was Legenden und Mythen rund um die Spargelstange betrifft, aber doch sehr erfolgreich überall dort, wo es für die öffentliche Meinungsbildung notwendig ist. Bleiben Sie, verehrte Journalistinnen und Journalisten, deshalb Ihrem Anspruch treu, unbequeme Fragen zu stellen – nach Ihren eigenen Regeln, in Ihrer eigenen Regie. Herzlichen Glückwunsch zu 100 Jahren Berliner Pressekonferenz!
Zum 100jährigen Bestehen der Berliner Pressekonferenz hat Kulturstaatsministerin Grütters betont, wie wichtig das „staatsferne Format der von Journalisten selbst organisierte Pressekonferenzen“ sei. „Gerade in Zeiten, in denen populistische „Fake News“ und aggressiven Parolen die Menschen zu verunsichern und das Vertrauen in die Medien erschüttern wollten, ist die Berliner Pressekonferenz als Schaufenster freier, unabhängiger und kritischer Medien von unschätzbarem Wert für unsere Demokratie.“
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Beratung des Zweiten Regierungsentwurfs zum Bundeshaushalt 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-beratung-des-zweiten-regierungsentwurfs-zum-bundeshaushalt-2018-1008040
Wed, 16 May 2018 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Herr Präsident, Frau Präsidentin, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Von Jean Sibelius, dem berühmten finnischen Komponisten, stammt das Bonmot, über Musik könne man am besten mit Bankdirektoren reden; Künstler redeten ja nur übers Geld… Zumindest die erste Behauptung, den Kunstsinn der Kassenhüter betreffend, deckt sich auch mit meinen persönlichen Erfahrungen: Nicht nur mit Bankdirektoren, auch mit Haushalts- und Finanzpolitikern kann man ganz hervorragend über Kultur reden – und das macht sich in Euro und Cent bezahlt, was wiederum Künstler und Kreative wie auch Kulturpolitiker freut. Ich bin jedenfalls sehr zufrieden mit dem Ausgang der Gespräche zum Kultur- und Medienhaushalt 2018, denn erneut konnte die Kulturfinanzierung des Bundes gesteigert werden – zum Wohle zahlreicher kultureller Einrichtungen und Projekte im ganzen Land. Lassen Sie mich kurz auf die wesentlichen Veränderungen eingehen. Wie bereits im März in der Generaldebatte hier im Deutschen Bundestag angekündigt, ist es mein Ziel, in dieser Legislaturperiode die Aufarbeitung von und den Umgang mit Beständen aus kolonialen Kontexten in Sammlungen und Museen voranzubringen. Deshalb stocke ich mit dem Haushalt 2018 die Mittel für Provenienzforschung ein weiteres Mal auf – um mehr als eine halbe Million Euro gegenüber dem Ersten Regierungsentwurf. Für den Regierungsentwurf 2019, den wir derzeit erarbeiten, beabsichtige ich weitere Erhöhungen. Ein erster wichtiger Schritt war die Unterstützung des Deutschen Museumsbundes bei der Erarbeitung eines Leitfadens zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, der sowohl den Museen wie auch der Politik hilft, dem anspruchsvollen und vielschichtigen Thema gerecht zu werden. Dieser Aufgabe sollten, ja müssen wir uns mit Aufrichtigkeit und Nachdruck stellen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Viel zu lange war die Kolonialzeit ein blinder Fleck in unserer Erinnerungskultur. Viel zu lange war das in dieser Zeit geschehene Unrecht vergessen und verdrängt. Es endlich ans Licht zu holen, ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber den ehemaligen Kolonien – und Voraussetzung für Versöhnung und Verständigung mit den dort lebenden Menschen. Deshalb ist es gut, dass diese Fragen auch mit dem Baufortschritt beim Humboldt Forum ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt sind. Im Humboldt Forum ist das freilich nur ein Schwerpunkt unter anderen. Dort haben wir gestern einstimmig, mit allen in den Stiftungsrat entsandten Partei-Vertretern, Hartmut Dorgerloh zum Generalintendanten gewählt. Dass wir diesen großen wichtigen Schritt in dieser Einmütigkeit getan haben, freut mich sehr – zeigt es doch, wie wirksam eine Kultur der Verständigung sein kann. Dorgerloh wird diese – so beschreibt er selbst das Humboldt Forum- „Freistätte für Kunst und Wissenschaft“ der Allgemeinheit erschließen. Ich danke an dieser Stelle ausdrückliche Neil MacGregor, der bislang gemeinsam mit Horst Bredekamp und Hermann Parzinger den inhaltlichen Feinschliff am Großprojekt Humboldt Forum vorgenommen hat. Es ist damit gut gerüstet für die letzten Monate bis zur Eröffnung Ende 2019. Mit dem neuen Haushalt werde ich die Zuständigkeit für die Stiftung Humboldt Forum übernehmen. Ich danke Herrn Staatssekretär Pronold, der bisher von Seiten des Bundesbauministeriums für die Stiftung verantwortlich war. Die Bundesregierung führt die Zuständigkeiten nun in einer Hand bei BKM – in meiner Hand – zusammen. So stellen wir sicher, dass das Humboldt Forum in den wichtigen Monaten vor der Eröffnung sein Profil als Museum schärft, das die Debatten über drängende Fragen der Zeit beflügelt. Im Humboldt Forum, in dieser „Freistätte“, laden wir die Besucher ein, Weltbürger zu sein. Wie wichtig es wieder geworden ist, demokratische Errungenschaften wie die Kunstfreiheit, die Pressefreiheit und die Meinungsfreiheit aktiv zu verteidigen, müssen wir täglich – nicht nur im Blick auf manche Nachbarländer – erfahren. Immerhin darf Hajo Seppelt jetzt doch nach Russland einreisen – aber wenn wir auf den Theatermacher Serebrennikow dort schauen, der nicht zum Theatertreffen reisen durfte, wenn wir sehen, wie schwer es unabhängige Journalisten in Ungarn haben und wenn wir die zunehmende Einschränkung der Medienfreiheit in Polen durch das neue Mediengesetz mit ansehen müssen, wie Liu Xia, die Witwe des Schriftstellers Liu Xiaobo in China leiden muss oder wie viele Künstler und Intellektuelle in der Türkei immer noch im Gefängnis sitzen – und wenn wir auch hierzulande mit Vorwürfen wie „Lügenpresse“ konfrontiert werden – spätestens dann wird klar, wie wichtig und wie notwendig, hier bei uns, wirksame Programme sind, die die Bürger, vor allem junge Menschen, sensibilisieren für den Wert der Freiheit. Im Austausch mit Experten erarbeiten wir dazu weitere neue, vertiefende Projekte zur Erinnerungskultur, zur Integration und zur Medienkompetenz. Das hierfür bereitgestellte Geld ist bestens investiert. Zum Schluss, meine Damen und Herren, zur größten einzelnen Veränderung in meinem Haushalt für 2018: Ebenso wie die Zuständigkeit für die Stiftung Humboldt Forum wird der German Motion Picture Fund und damit die Bundesförderung von High-End-Serien in meine Zuständigkeit wechseln. Zusammen mit dem Deutschen Filmförderfonds I und II ergibt sich daraus eine noch effektivere Filmförderung aus einem Guss. Ich freue mich, dass ich bereits in den laufenden Haushalt 2018 zusätzliche zehn Millionen Euro für den German Motion Picture Fund einstellen und den Produktionsstandort Deutschland auf diese Weise weiter stärken konnte. Diese Steigerung des Kulturetats, meine Damen und Herren, ist vor allem eins: Sie ist Ausdruck der Wertschätzung für Kultur und Medien in ihrer Bedeutung für eine offene, demokratische Gesellschaft, für Verständnis und Verständigung, für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Integration. Warum Künstler und Kreative Förderung und Unterstützung verdienen, hat der kürzlich verstorbene Kardinal Lehmann, der heute – an diesem 16. Mai – seinen 82. Geburtstag gefeiert hätte, einmal so formuliert, ich zitiere: „Weil wir in einem Zeitalter leben, das häufig vom Nutzenkalkül regiert wird, stellen wir in vielen Lebensbereichen nur Fragen, die wir auch knapp und effizient beantworten können – nennen wir sie einmal die kleinen Fragen. (…) Deshalb sind Menschen wichtig, die uns lehren, an den großen Fragen festzuhalten: Und da rangieren die Künstler sicherlich mit an vorderer Stelle. Sie stellen unser oft eindimensional fest zementiertes Weltbild immer wieder heilsam in Frage.“ Auch hier im Deutschen Bundestag können wir oft nur die „kleinen Fragen“ beantworten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Umso wichtiger ist es, dafür Sorge zu tragen, dass unsere Gesellschaft im Gespräch, in Verständigung über die „großen Fragen“ bleibt. In diesem Sinne bitte ich Sie um Unterstützung meines Haushaltsentwurfs für Kultur und Medien in den anstehenden parlamentarischen Beratungen.
In ihrer zweiten Amtszeit wird sich Kulturstaatsministerin Grütters einen Schwerpunkt auf die Aufarbeitung der Kolonialzeit in der Erinnerungskultur setzen. „Dieser Aufgabe müssen wir uns mit Nachdruck stellen“, so Grütters ihn der Haushaltsdebatte im Bundestag. Im Haushalt sind dafür erneut mehr Mittel eingestellt. Mit dem neuen Haushalt ist die Kulturstaatsministerin allein für das Humboldt Forum zuständig. So wird die Freistätte für Kunst und Wissenschaft ihr Profil schärfen können.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Deutschen Bundestag
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-deutschen-bundestag-1526392
Wed, 16 May 2018 09:15:00 +0200
Berlin
Finanzen
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, guten Morgen! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist für jedermann erkennbar, dass der Haushalt 2018 und die dazugehörige mittelfristige Finanzplanung wieder sehr gute Daten aufweisen. Das ist außerordentlich erfreulich. Es wird inzwischen manchmal schon für selbstverständlich gehalten. Aber dass wir die höchste Beschäftigung seit der Wiedervereinigung haben, dass wir seit 2014 keine neuen Schulden machen, das ist alles andere als selbstverständlich. Wir werden im nächsten Jahr erstmals seit 2002 mit der Gesamtverschuldung wieder dort liegen, wohin der Europäische Stabilitätspakt uns verweist, nämlich unterhalb von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 2012, nach der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise, lag die Gesamtverschuldung bei knapp 80 Prozent. Dass wir das schaffen, das ist nichts anderes als Generationengerechtigkeit pur und das Denken an die Menschen, die nach uns leben werden. Deshalb ist das gut. Der Internationale Währungsfonds hat in seinen gerade abgeschlossenen Artikel-IV-Konsultationen, die er mit Deutschland geführt hat, die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft als – ich zitiere – „beeindruckend“ bezeichnet. Fiskalische Spielräume sollten genutzt werden, um das Wachstumspotenzial zu erhöhen, staatliche Investitionen in die Infrastruktur sollten getätigt werden, Investitionen in Bildung sollten gestärkt werden, Verfahren sollten beschleunigt werden. Das ist genau das, was wir in unserem Koalitionsvertrag niedergelegt haben und was sich auch in diesem Haushalt widerspiegelt. Das findet also auch international durchaus Unterstützung. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, unabhängig von diesen guten Zahlen und Werten erreichen uns täglich beunruhigende Nachrichten aus allen Teilen der Welt, leider auch aus Teilen, die sehr nah an der Europäischen Union liegen: die schrecklichen Bilder aus Syrien inklusive der Bilder von Giftgasangriffen in jüngster Zeit, die Kündigung des Atomabkommens mit dem Iran durch die Vereinigten Staaten von Amerika, die Bombardierung von Stellungen auf den Golanhöhen durch den Iran, ein drohender Handelsstreit zwischen den USA und der Europäischen Union, tägliche Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie in der Ukraine, Terroropfer, auch am letzten Wochenende wieder in Paris und in Indonesien; 70 Jahre Israel, das war ein Tag zum Feiern, und trotzdem 59 tote Palästinenser und viele, viele Verwundete. Wir verfolgen diese Schlagzeilen täglich, die uns vor Augen führen, in welch unruhiger und auch unübersichtlicher Welt wir leben. Wir wissen inzwischen, dass wir uns von diesen Ereignissen nicht abkoppeln können. Nach dem Arabischen Frühling, der von vielen auch als arabisches Beben bezeichnet wird, ist die Region vor unserer Haustür unruhig geworden: der Bürgerkrieg in Syrien seit 2011, der Sturz von Gaddafi in Libyen mit dem Zerfall der staatlichen Ordnung, 2014 die Annexion der Krim, die Probleme in der Ostukraine, 2014 der IS in Syrien und im Irak, der Völkermord an den Jesiden im Irak und die in Rakka, geplanten Attentate, die Paris – „Charlie Hebdo“ – so erschüttert haben. Die sicherheitspolitische Situation in unserer Nachbarschaft hat sich gravierend verändert. Das hat tiefgreifende Auswirkungen, auch auf uns. Sie zeigen uns einmal mehr: Ein Land alleine kann mit Sicherheit Sicherheit nicht garantieren. Deshalb ist uns bewusst geworden, was wir vielleicht oft fast schon stereotyp gesagt haben: Unsere Sicherheit hängt unauflösbar mit der unserer Nachbarschaft zusammen; Deutschland braucht für seine eigene Sicherheit eine Einbindung in Bündnisse als Mitglied der Europäischen Union und als Mitglied der NATO. Trotz aller Schwierigkeiten, die wir in diesen Tagen haben, sind und bleiben die transatlantischen Beziehungen deshalb von herausragender Bedeutung. Das bleibt eine Konstante. Aber diese transatlantischen Beziehungen müssen Meinungsunterschiede aushalten, auch gerade in diesen Tagen. Das zeigt sich insbesondere an der Kündigung des Nuklearabkommens mit dem Iran durch die Vereinigten Staaten von Amerika. Wir haben über ein Jahrzehnt verhandelt, um dieses Abkommen zustande zu bringen. Dieses Abkommen ist alles andere als ideal; aber der Iran hält sich nach allen Erkenntnissen der Internationalen Atomenergiebehörde an die Verpflichtungen aus diesem Abkommen. Dieses Abkommen ist einstimmig vom UN-Sicherheitsrat indossiert worden. Deshalb glauben wir, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, aber mit uns auch die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, dass es nicht richtig ist, dieses Abkommen jetzt, in dieser Situation zu kündigen. Das bedeutet nicht etwa, dass wir mit dem, was der Iran ansonsten tut, zufrieden sein können. Wir müssen über mehr sprechen: über das ballistische Raketenprogramm, über den Einfluss, den der Iran und die Hisbollah in Syrien ausüben und über andere Fragen. Die Frage, die wir zu beantworten haben und die wir so anders beantwortet haben als die Vereinigten Staaten von Amerika, lautet aber: Kann man besser sprechen, wenn man dieses Abkommen kündigt, oder kann man besser sprechen, wenn man in diesem Abkommen bleibt? Wir glauben, dass man besser miteinander weiterreden kann und muss – ich sage das ausdrücklich, weil das ballistische Raketenprogramm auch und gerade eine Gefährdung der Sicherheit Israels ist –, wenn man in diesem Abkommen bleibt. Genau in diesem Sinne hat der Bundesaußenminister gerade gestern Abend wieder Gespräche geführt. Wir wissen auch – das zeigt sich jeden Tag drängender –, dass wir natürlich eine politische Lösung in Syrien brauchen, dass das Leben der Menschen in Syrien unter einem unglaublichen Schrecknis abläuft. Die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger Syriens ist inzwischen auf der Flucht: ein großer Teil innerhalb Syriens, ein anderer Teil außerhalb Syriens. Beim Kampf gegen den IS sind wir vorangekommen. Deutschland hat sich an der Anti-IS-Koalition und an den Operationen gegen Daesh beteiligt, durch Ausbildung der Peschmerga im Irak und durch Luftüberwachung. Aber inzwischen ist aus dem Bürgerkrieg in Syrien, dem Kampf gegen den islamistischen Terrorismus, ein Regionalkonflikt gigantischen Ausmaßes geworden, der ohne Russland, ohne die Türkei, ohne den Iran, ohne Saudi-Arabien, ohne Jordanien und im Grunde auch ohne Europa nicht zu lösen ist. Aber wahr ist auch – der Schriftsteller Mathias Énard, der gerade den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung bekommen hat, hat das beklemmend zu Papier gebracht –: Europa ist immanent betroffen und hat gleichzeitig zur politischen Lösung dieses Konflikts bisher nicht ausreichend beigetragen; ich sage das auch selbstkritisch. Deshalb sind wir froh, dass wir jetzt der sogenannten Small Group angehören, in der Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Jordanien, Saudi-Arabien und die USA gemeinsam nach Lösungen suchen. Natürlich muss aber auch die sogenannte Astana-Gruppe – Türkei, Iran und Russland – mit in die Gespräche einbezogen werden. Das kann bedeuten, dass wir endlich auch die Arbeit des UN-Vermittlers de Mistura besser unterstützen können. Ich glaube, es ist aller Mühe wert – obwohl ich mir keine Illusionen hinsichtlich der Kompliziertheit dieses Konflikts mache –, dass wir uns politisch stärker engagieren. Das wird die Bundesregierung tun. Auch für einen anderen Konflikt in unserer Umgebung, mit dem wir uns schon viel beschäftigt haben, dem zwischen Russland und der Ukraine, gibt es nur eine politische Lösung; militärisch ist er nicht zu lösen. Wir tun das im Normandie-Format. Wir versuchen, das Abkommen von Minsk wiederzubeleben, obwohl es schon deprimierend ist, dass es jede Nacht zu Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie kommt und dass es immer wieder Behinderungen der OSZE-Beobachter gibt, denen ich im Übrigen von dieser Stelle aus einmal herzlichen danken möchte. Jahre über Jahre dort diese Arbeit zu tun, das sind wirklich friedenssichernde Maßnahmen. Deutschland hat immer den vernetzten Ansatz befürwortet. Die neue Bundesregierung wird dies verstärkt tun. Wir wissen: Wir können solche Probleme nur lösen, indem wir Entwicklung betreiben, indem wir politische Lösungen suchen und indem wir als Ultima Ratio auch militärische Gewalt einsetzen. Aber militärische Gewalt alleine wird das Problem nicht lösen. Wir haben – sozusagen symptomatisch dafür – in unserem Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir die Entwicklungsausgaben und die Verteidigungsausgaben eins zu eins erhöhen, um deutlich zu machen, dass uns dieser vernetzte Ansatz nicht irgendein, sondern ein zentrales Anliegen ist. Aber wir müssen Verpflichtungen auf allen Seiten einhalten; das heißt, die ODA-Quote, die wir noch nicht erreicht haben, auf der einen Seite und die Ziele von Wales bzw. der NATO auf der anderen Seite. Diesen Zielen fühlen wir uns verpflichtet. Das haben wir auch im Koalitionsvertrag niedergelegt. Der Bundesfinanzminister hat gestern gesagt – mit seiner Erlaubnis darf ich ihn zitieren –: „Ein verteidigungspolitisches Konzept wird nicht schon dadurch gut, dass es teuer ist.“ Das stimmt; das ist unbestritten. Aber die Frage lautet ja anders. Die Frage lautet: Was brauchen wir für eine Bundeswehr, damit sie den heutigen Anforderungen Rechnung trägt? Ich möchte an dieser Stelle auf das Weißbuch 2006, das wir auch in einer Großen Koalition verabschiedet haben, hinweisen. In diesem Weißbuch haben wir uns voll auf die Auslandseinsätze konzentriert. Damals galt der Satz von Peter Struck, den er richtigerweise gesagt hat: „Die Sicherheit Deutschland wird auch am Hindukusch“ – „Hindukusch“ steht pars pro toto – „verteidigt.“ Das war absolut richtig. Aufgrund der Ereignisse im Jahre 2014 und aufgrund dessen, was vor unserer Haustür passiert – zum Beispiel auch im Raum Syrien –, hat die NATO 2014 beschlossen – das haben wir im Übrigen im Weißbuch 2016 nachvollzogen –, dass neben den Auslandseinsätzen auch die Landes- und Bündnisverteidigung wieder von größerer Bedeutung sind. Genau an diesem Punkt sind wir bei den Herausforderungen, vor denen die Bundeswehr und natürlich auch die Bundesregierung gestellt sind. Wir müssen unsere Soldatinnen und Soldaten nicht nur in den Auslandseinsätzen so ausrüsten und ausstatten, dass sie ihre Einsätze gut absolvieren können, sondern wegen der Landes- und Bündnisverteidigung müssen sie gleichermaßen auch zu Hause in viel größerer Breite Material und Ausrüstung zur Verfügung gestellt bekommen, um die zusätzlichen Aufgaben, die wir heute haben, bewerkstelligen zu können: die Luftraumüberwachung im Baltikum, die Rückversicherung für Polen und die drei baltischen Staaten – dafür sind wir als Rahmennation in Litauen tätig –, die Verstärkung des Korps in Stettin und die Engagements in Rumänien und Bulgarien. Dafür muss man schneller Truppen verlegen können und nicht nur jeden hundertsten Soldaten vernünftig ausstatten – diese Zahl habe ich einfach mal herausgegriffen; ich bin keine Expertin –, während alle anderen mit wenig Übungsgerät auskommen müssen. Um diese Aufgaben schultern zu können, muss in großer Breite entsprechende Ausrüstung zur Verfügung gestellt werden. Das ist eine Aufgabe, vor der die Bundeswehr steht. Die zweite Aufgabe ist, die große Herausforderung der Digitalisierung zu bewältigen. Hier geht es zum einen um die Digitalisierung der Strukturen der Bundeswehr, zum anderen aber auch um völlig neue Fähigkeiten, zum Beispiel die Cyberfähigkeit. Es war richtig, ein Cyberkommando einzurichten; denn die hybride Kriegsführung ist zum Beispiel Teil der Militärdoktrin Russlands – ganz offiziell beschrieben. Darin sind sie gut; und hier müssen wir natürlich wehrhaft sein können. Ansonsten werden wir keine Chance haben. Es geht nicht um Aufrüstung, sondern ganz einfach um Ausrüstung. Ich finde, darüber sollten wir einen ruhigen Dialog führen, zum Beispiel auch mit dem Wehrbeauftragten, der das alles wunderbar ausdrücken kann – insbesondere in seinen Berichten. Wir sollten einfach helfen, dass auch der Wehrbeauftragte wieder positive Berichte schreiben kann. Meine Damen und Herren, daran zeigt sich, dass wir unsere Außenpolitik natürlich auf Multilateralismus ausrichten. Der Multilateralismus steht im Augenblick unter großem Druck. Wir wissen: Weil der Multilateralismus unter so großem Druck steht, muss Europa sein eigenes Schicksal stärker in die eigenen Hände nehmen, als das bislang der Fall war. Deshalb brauchen wir europäische Antworten. Es war eine gute Nachricht, dass wir in sehr kurzer Zeit nach dem Schock, den wir hatten, als Großbritannien beschlossen hat, aus der Europäischen Union auszutreten, als Erstes ein jahrzehntelang ruhendes Projekt auf die Beine gebracht haben, nämlich eine europäische Verteidigungsunion, eine strukturierte Zusammenarbeit. Im Rahmen dieser strukturierten Zusammenarbeit gibt es jetzt erste Projekte. Bei einigen dieser Projekte übernimmt Deutschland im Übrigen auch Verantwortung. Die wichtige Botschaft ist aber eigentlich eine andere: Wenn Sie sich die Zahl der Waffensysteme der Mitgliedstaaten der Europäischen Union anschauen, dann sehen Sie, dass wir auf stolze 178 kommen. Wenn Sie sich die Zahl der Waffensysteme der Vereinigten Staaten von Amerika ansehen, dann sehen Sie, dass sie auf 30 kommen. Die Vereinigten Staaten geben rund 3,5 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aus, die Europäische Union liegt im Mittel unter 2 Prozent. Mit 178 Waffensystemen kann man überhaupt nicht effizient sein. Das heißt, eine große Aufgabe wird darin bestehen, dahin zu kommen, dass wir mit einheitlichen Systemen viel effizienter und in der Ausbildung auch viel einfacher miteinander agieren können. Daraus werden wir auf lange Zeit einen großen Nutzen ziehen können. Das ist allemal richtig und ein Riesenfortschritt, der zu einem neuen Pfeiler in der europäischen Zusammenarbeit führt. Die dritte große Aufgabe, die Europa zu schultern hat, ist die Beantwortung der Frage, wie wir die Migration regeln und steuern. Das wird ein Thema sein, das uns über Jahre – ich sage: Jahrzehnte – beschäftigen wird, mit der Nachbarschaft Syriens, aber vor allen Dingen dann auch mit der Nachbarschaft Afrikas. Deshalb ist es richtig, dass wir an einem gemeinsamen europäischen Asylsystem arbeiten. Deshalb war es richtig, Frontex einzuführen. Aber mit knapp 1 400 Polizisten bei Frontex werden Sie die Außengrenzen der Europäischen Union mit Sicherheit nicht schützen können. Deshalb ist eine der großen Aufgaben der Zukunft, Frontex zu stärken und vernünftig auszurüsten, und Deutschland wird dazu seinen Beitrag leisten, meine Damen und Herren. Wir wissen auch: Abschottung alleine wird nicht helfen, wenn wir nicht auch Ursachen von Flucht und Vertreibung bekämpfen. Ich habe über die politische Lösung in Syrien und über den Kampf gegen den IS im Irak gesprochen. Und die große Aufgabe – Gerd Müller würde jetzt den Marshallplan mit Afrika nennen, was ich unterstütze – heißt hier, auch wieder in einer gemeinsamen europäischen Kraftanstrengung – denn unsere europäische Entwicklungspolitik ist nicht immer effizient – wirklich zur Entwicklung von Afrika beizutragen. Das hat zwei Komponenten. Die eine Komponente ist die humanitäre Hilfe. Wir haben das erlebt. Als die Flüchtlinge in Jordanien und Libanon kein Geld mehr hatten, um Lebensmittel zu kaufen und ihre Kinder zu beschulen, war der Druck, zu fliehen, ins Unermessliche gewachsen. Aber wenn Sie sich heute die Budgets der UN-Hilfsorganisationen anschauen, dann ist die Wahrheit: Obwohl wir ein Vielfaches mehr tun, ist international längst nicht so viel getan worden, wie getan worden sein müsste. Alle Budgets, ob UNHCR, ob Welternährungsprogramm, sind dramatisch defizitär, und wir müssen unsere Stimme, wo immer es geht, erheben und natürlich auch unseren Beitrag für diese humanitären Fragen leisten. Aber es darf natürlich jetzt auch nicht so sein, dass wir den gesamten Entwicklungsetat sozusagen für humanitäre Hilfe umwidmen. Denn Entwicklung findet ja nicht ausreichend statt. Dann ist es auch richtig, dass wir uns fragen: Sind unsere Mittel und Methoden der Entwicklungshilfe eigentlich ausreichend? Ich sage, nein. Die klassische Entwicklungshilfe alleine reicht nicht aus. Wir müssen überlegen, wie wir wirtschaftlichen Schwung in die Dinge bringen, wie wir auch mit Kreditinstrumenten, mit Hermes und vielem anderen mehr, noch mehr Investitionen in Afrika möglich machen, aber natürlich auch durch das, was Wolfgang Schäuble in der G-20-Präsidentschaft gemacht hat: durch bessere Rahmenbedingungen – Compact with Africa – ein gutes Investitionsumfeld schaffen. Anders wird wirtschaftliche Entwicklung dort nicht in Gang kommen. Nur mit staatlichen Geldern wird das nicht klappen, meine Damen und Herren. Natürlich brauchen wir viertens in Europa eine Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion. Wir sind durch die Krisen gekommen. Wir haben heute eine Situation, in der alle europäischen Mitgliedstaaten, die den Euro haben, wieder wachsen. Die Beschäftigung steigt. Aber das kann uns nicht zufriedenstellen, weil wir natürlich wissen, dass im Augenblick die Europäische Zentralbank eine Politik fährt, die nicht auf Dauer so weitergehen wird. Deshalb ist die Aufgabe, die Euro-Zone nachhaltig zu stärken und krisenfest zu machen, ferner, dass es darüber intensive Diskussionen gibt und dass wir darüber sprechen, was die nationale Verantwortlichkeit ist. Viele der Politiken in Europa sind nicht vergemeinschaftet. Wir können alleine kein Handelsabkommen mehr abschließen, aber wir können natürlich alleine Arbeitsmarktpolitik machen. Jeder hat das in nationaler Verantwortung. Die Budgethoheit ist in nationaler Verantwortung. Die Frage der Wettbewerbsfähigkeit bzw. der Genehmigungen ist in vielen Bereichen – nicht in allen; vieles ist auch europäisch geregelt – in nationaler Verantwortung. Deshalb liegt die Aufgabe zuallererst zu Hause, in den einzelnen Mitgliedstaaten, dazu beizutragen, dass die Wettbewerbsfähigkeit besser wird, und zwar nicht besser gegenüber unserem europäischen Durchschnitt, sondern besser gegenüber dem, was global notwendig ist. Die globale Sicht auf eine gemeinsame Währungsunion ist so, dass man sagt: Ihr müsst auch irgendwo Letztverantwortung haben. Wir wollen wissen, ob ihr alle gemeinsam zum Euro steht. Deshalb ist es richtig und gut, den ESM weiterzuentwickeln, ihm auch Aufgaben zu geben in Richtung eines internationalen Währungsfonds. Das können wir alleine. Und deshalb stimme ich auch zu, dass, wenn der Risikoabbau national weit vorangegangen ist, wir einen Common Backstop haben und dieser Common Backstop auch beim ESM angesiedelt sein könnte, so wie der Bundesfinanzminister das gestern gesagt hat. Dann haben wir die Aufgabe, zu überlegen: Wie können wir die Konvergenz der Euro-Zone und die Stabilität der Euro-Zone sicherstellen? Da finden im Augenblick Gespräche statt. Wir haben im Augenblick zwei Projekte. Das eine Projekt ist die Euro-Zone, auch die finanzielle Ausstattung, meinetwegen ein Investitionshaushalt oder Ähnliches, wie wir es in unserer Koalitionsvereinbarung geschrieben haben. Aber gleichzeitig haben wir die Beratungen zur mittelfristigen finanziellen Vorausschau in Europa. Jetzt sage ich mal: Der Finanzminister ist großzügig, aber irgendwie gelten auch für ihn die Grundrechenarten. Das heißt, deutlich mehr in den europäischen Haushalt und noch deutlich mehr in den Euro-Zonen-Haushalt geben und trotzdem die Stabilitätskriterien einhalten, das ist natürlich nicht ganz einfach. Deshalb werden wir mit Frankreich genau über die Wechselwirkungen sprechen: Was müssen wir in den Haushalt packen? Nach dem Austritt Großbritanniens sind 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Europäischen Union in der Euro-Zone. Weitere Frage: Was müssen wir speziell als Absicherung gegebenenfalls noch im Euro-Haushalt machen? Diese Gespräche finden statt, und wir werden bis zum Juni-Rat darüber Einvernehmen erzielen. Das ist im Übrigen die einzige noch richtig offene Frage – unter all den Vorschlägen, die gemacht wurden. Ich glaube, dass wir schon ganz schön weit vorangekommen sind. Dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht es natürlich auch um die Erweiterung. Hier geht es im Wesentlichen um die Frage: Wie geht es weiter mit dem westlichen Balkan? Ich werde heute nach Sofia fliegen. Wir werden uns morgen mit Vertretern der Mitgliedstaaten des westlichen Balkans treffen. Dass sie die europäische Perspektive haben, ist unbestritten. Jetzt ist die Frage: Wie und unter welchen Bedingungen können wir das machen? Aber ich kann nur sagen: Der westliche Balkan und die Situation dort entscheiden über Krieg und Frieden in unserer absoluten Nachbarschaft. Schauen Sie nur, wie schnell dort die Funken hochschlagen zwischen Serbien und Kosovo, innerhalb von Bosnien und Herzegowina, wie schwierig es ist, die Namensfrage von Mazedonien zu klären, wie man um Grenzabkommen ringt. Kosovo hat nun endlich mit Montenegro ein Grenzabkommen geschlossen – ein Riesenerfolg, wenn man sich vor Augen führt, dass selbst heute noch keine Klarheit zwischen Slowenien und Kroatien über den Seezugang herrscht, obwohl Kroatien und Slowenien Mitglieder der Europäischen Union sind. Im Übrigen ist das wieder ein Grund, zu sagen: Bevor Grenzfragen nicht geklärt sind, niemals Beitritt eines Landes! Das muss ich im Rückblick sagen. Es ist immens wichtig, dass wir uns um diese Fragen kümmern und zur wirtschaftlichen Stärkung beitragen. Das alles ist wichtig für Europa. Um unser Wohlstandsversprechen in Europa einzuhalten, geht es jetzt auch um die Schaffung eines digitalen Binnenmarktes. Wir haben eine Unzahl von Verordnungen, die wir umsetzen oder noch verhandeln müssen. Hier geht es sehr stark um die Wettbewerbsfähigkeit Europas, und deshalb geht es auch sehr stark um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe das schon oft gesagt und sage das heute wieder: Vielleicht ist das ambitionierteste Projekt – weil wir zum Teil ganz neu denken müssen – die Frage: Wie gestalten wir diesen umfassenden gesellschaftlichen Wandel, der mit der Digitalisierung verbunden ist? Es geht nicht nur darum, dass wir die Infrastruktur ausbauen müssen; das müssen wir auch. Und da können wir auch besser werden. Eines Tages muss es möglich sein, die App wieder abzuschaffen, mit der man die Funklöcher der Bundesnetzagentur mitteilt. Allerdings zu glauben, dass es reicht, dies den Telekommunikationsanbietern mitzuteilen, ist nicht sehr erfolgversprechend, weil damit die Funklöcher noch nicht weg sind. Die Anbieter brauchen manchmal Druck. Natürlich müssen wir nach der Tatsache, dass wir uns auf den 50-Megabit-pro-Sekunde-Ausbau konzentriert haben, in Zukunft nur noch Breitbandanschlüsse, also Glasfaser oder Kabel, fördern; das ist klar. Dazu haben wir die entsprechenden Programme, dazu haben wir die Vorhaben. Der Bundesfinanzminister hat gesagt, dass zusätzliche Mittel in einen Digitalfonds kommen, damit wir anfangen können und nicht wieder zwei Jahre warten müssen, bevor es endlich losgeht. Die Ausschreibungen müssen so sein, dass die Leute vor Ort die Mittel auch nutzen können und nicht in Bürokratie ersticken; auch das haben wir gelernt. Daran werden wir arbeiten. Aber das geht ja weiter. Es geht um Forschung und Entwicklung. Wir zählen zu den fünf Ländern, die am meisten für Forschung und Entwicklung ausgeben. Aber es ist richtig, dass wir uns vorgenommen haben, den Anteil, der heute bei 2,94 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt, auf 3,5 Prozent im Jahre 2025 zu erhöhen, weil es heute Länder gibt, die bereits diese 3,5 Prozent erreicht haben. Da ist es natürlich von entscheidender Bedeutung, dass wir im industriellen Bereich, insbesondere im Mobilitätsbereich bei der Digitalisierung vorne mit dabei sind. Bei der Digitalisierung im Konsumentenbereich haben wir den Anschluss ja verloren. Da nutzen wir alle asiatische oder amerikanische Geräte; daran haben wir uns gewöhnt – okay. Das werden wir auch so schnell nicht aufholen. Aber jetzt, wo es um unsere industriellen Grundlagen geht, um das Internet der Dinge – wir sind ein Land, das noch eine hohe industrielle Wertschöpfung hat –, da müssen wir vorne mit dabei sein. Da reichen Platz fünf, Platz sechs oder sonst was nicht aus; sonst werden wir kein führendes Industrieland mehr sein. Ich fange bei der Mobilität an. Die Mobilität wird sich dramatisch verändern. Deshalb ist es natürlich nicht nur zu kritisieren, sondern eigentlich auch unfassbar, sage ich mal, welches Vertrauen die deutsche Automobilindustrie im Zusammenhang mit dem Dieselskandal verspielt hat. Es ist jetzt unsere Aufgabe, der Industrie zu sagen: Ihr müsst verlorengegangenes Vertrauen selber wiedergutmachen; das ist nicht die Aufgabe der Politik. Aber ich sage auch: Es kann auch nicht in unserem Interesse sein, dass wir durch politische Maßnahmen die Automobilindustrie so schwächen, dass sie keine Kraft mehr für die eigentlichen Zukunftsinvestitionen hat. Das ist die Auseinandersetzung, die wir jetzt führen, zum Beispiel um Hardwarenachrüstung. Die Gutachten liegen jetzt auf dem Tisch. Sie müssen bewertet werden. Dann werden wir auch die Kommunen wieder einladen. Dann wird das Forum Diesel tagen. Aber, meine Damen und Herren, Tausende von Euro – egal ob es 2 000, 3 000 oder 5 000 sind – und zwei bis drei Jahre Beschäftigung zahlreicher Ingenieure mit der Frage, wie man die Typenzulassung kriegt, weil man an dem Motor etwas geändert hat: Ist das die richtige Beschäftigung für die Automobilindustrie? Oder müssen wir nicht alle Kräfte zusammennehmen und der Automobilindustrie sagen: „Ihr müsst jetzt in die Mobilität der Zukunft investieren, ins autonome Fahren, in alternative Antriebe; dabei unterstützen wir euch“? Da gibt es für mich einen Punkt, der mich seit Jahren umtreibt. Ich bin froh, dass da bei der Wirtschaft jetzt ein Umdenken stattfindet: die Tatsache, dass behauptet wird, die Batteriezellproduktion könnten wir in Europa nicht mehr haben. Ich sage Ihnen: Die Batterie macht rund 40 Prozent der Wertschöpfung eines Autos der Zukunft aus – jetzt nehmen wir mal an, die Elektromobilität ist die Antriebstechnologie der Zukunft, was nicht sicher ist –, und dazu kommt noch 20 bis 30 Prozent digitale Wertschöpfung. Der eine Teil kommt dann aus Amerika oder Asien; der andere Teil, die Batterie, kommt auch, definitiv, aus Asien. Was ist dann noch die Wertschöpfung, die wir hier in Europa haben? Deshalb sage ich: Wir brauchen eine strukturierte Förderung. Die Europäische Kommission sieht solche Möglichkeiten vor. Wir machen das jetzt schon bei Chips, wo wir eine Kraftanstrengung vornehmen, um auch in die Zellproduktion einzusteigen. Nur, ohne wirtschaftlichen Druck und ohne wirtschaftliche Mitmacher geht das natürlich nicht; das können wir nicht als Staat machen. Deshalb bin ich dankbar, dass einige in der Automobilindustrie da umdenken. Wir werden das unterstützen. Wir brauchen die konsequente Digitalisierung von Verwaltung, was im Übrigen kompatibel mit der Gesundheitskarte sein sollte. Das sage ich dem Geburtstagskind Jens Spahn heute mal. Er hat heute Geburtstag. Wir brauchen einen Zugang der Bürgerinnen und Bürger für alle Verwaltungsleistungen. Das zu schaffen, wird natürliche eine große Kraftanstrengung sein. Und wir brauchen eine nationale Bildungsoffensive, sowohl durch den DigitalPakt Schule als auch im Bereich der Weiterbildung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Denn die Veränderungen, die jetzt im technischen Bereich stattfinden, haben natürlich massive Auswirkungen auf das, was in Zukunft gebraucht wird. Wir haben heute schon einen großen Fachkräftebedarf, den wir befriedigen müssen. Deshalb ist es richtig, dass wir ein Fachkräftezuwanderungsgesetz auf den Weg bringen werden; denn wir wollen die Wirtschaft stärken. Das Ganze hängt im Augenblick gar nicht mehr an den hohen Sozialabgaben oder an der Steuerfrage; es hängt daran, dass man in Deutschland einfach niemanden mehr findet. Da müssen wir helfen, dass die Wirtschaft in Deutschland bleiben kann und hier Wertschöpfung betreibt und dass sie nicht irgendwohin weggehen muss, weil sie hier keine Fachkräfte findet. Deshalb ist das die richtige Antwort. Meine Damen und Herren, für uns wird das noch eine Riesenanstrengung sein. Ich bin im Übrigen sehr dankbar, dass die Koalitionsfraktionen sich entschieden haben, zwei Enquete-Kommissionen, die im Zusammenhang mit der Digitalisierung stehen, zu beschließen. Eine dieser Kommissionen beschäftigt sich mit der künstlichen Intelligenz. Wir sind seit 20, 30 Jahren relativ gut dabei, was künstliche Intelligenz anbelangt. Aber jetzt sind wir in einer Situation, in der wir den Anschluss vielleicht schon ein bisschen verloren haben oder zu verlieren drohen. Warum? Weil plötzlich zwei Entwicklungen zusammenkommen: die Entwicklung der künstlichen Intelligenz – Algorithmen und Ähnliches – als solche plus die Fähigkeit, riesige Mengen an Daten zu verarbeiten. Jetzt ist es bei der künstlichen Intelligenz so: Sie entwickelt sich nur gut, wenn sie viele große Datenmengen verarbeiten kann. Bei den Datenmengen ist natürlich die Frage – wir reden gerade über die Umsetzung der Datenschutz-Grundverordnung –: Wie hantieren wir mit den Daten, und wie stellen wir viele – im Übrigen: oft anonymisierte – Daten zur Verfügung? Aber zu glauben, wir könnten bei der künstlichen Intelligenz vorne sein und bei den Daten so restriktiv wie möglich sein, ist genauso, wie wenn man Kühe züchten will und ihnen kein Futter gibt; das ist einfach so. Deshalb ist die Kommission „Ethik der Daten“ wichtig, aber sie darf nicht so enden, dass Daten sozusagen zum raren Gut gemacht werden. Aus Daten kann man nämlich neue Produkte entwickeln. – Es wird regelmäßig ein bisschen unruhig, wenn ich über so etwas spreche. Aber ich meine das ziemlich ernst. Die Tatsache, dass Daten zu einem wichtigen Faktor in der sozialen Marktwirtschaft werden, bedeutet im Grunde, dass wir neu denken müssen: vom Steuersystem bis zu den sozialen Sicherungssystemen. Wir erleben das ja bei Folgendem: Natürlich ist es nicht in Ordnung, dass Google, Amazon, Facebook – und wie sie alle heißen; „GAFA“, wie man so schön sagt – keine Steuern in Europa zahlen. Aber zu sagen: „Passt mal auf, jetzt erfinden wir mal einfach eine virtuelle Betriebsstätte, und die besteuern wir, als wäre es eine richtige Betriebsstätte“ – wozu wird das führen? Wir sind eine der großen Exportnationen. Die Unternehmen, die deutschen Unternehmen haben Betriebsstätten irgendwo in China oder sonst wo. Dann werden die Heimatländer sagen: Okay, das sind richtige Betriebsstätten. Jetzt besteuern wir die auch. – Deshalb sind wir zögerlich in Bezug auf bestimmte Vorschläge, die gemacht werden. Wir sind es nicht deshalb, weil wir nicht finden, dass man Steuern zahlen muss. Aber wenn wir hier ein Unternehmensteuerrecht dergestalt haben, dass wir ein altes Körperschaftsteuerrecht und da die Besteuerung der Internetkonzerne haben, und wenn wir anschließend nicht mehr wissen, ob ein Auto ein rollendes Internet ist oder ob ein Auto noch in die alte Körperschaftsteuerkategorie gehört: Da müssen wir Steuersysteme finden, die miteinander kompatibel sind. Deshalb sind die Arbeiten der OECD so wichtig. Und deshalb können wir da jetzt nicht einfach mal so einen Schlag machen und sagen: „Für zwei Jahre probieren wir mal was aus“, sondern wir müssen es vernünftig durchdenken. Das heißt aber nicht, dass wir nichts tun. Ähnlich wird es damit sein, dass Daten auch einen Wert haben wie Arbeit oder anderes. Darüber müssen wir dringend diskutieren. Vielleicht können wir dabei auch die entsprechenden Fachleute einbinden. Meine Damen und Herren, ich habe so lange über Digitalisierung gesprochen, weil ich glaube, dass davon der Wohlstand, die Einlösung des Wohlstandsversprechens, abhängt. Wenn wir uns unsere Koalitionsvereinbarung anschauen – das spiegelt sich alles im Haushalt wider –, dann können wir feststellen: Wir sind in dieser Richtung wirklich gut vorangegangen. Wir haben jetzt ein Digitalkabinett; das wird vor der Sommerpause tagen. Wir werden einen Digitalrat einrichten, der uns ganz spezifisch bei Dingen berät, die wir noch nicht so wissen, über Entwicklungen, die wir haben. Wir haben die digitale Kooperation zwischen den Ressorts der Bundesregierung verbessert, auch durch die Staatsministerin für Digitalisierung im Kanzleramt. Bei dem Digitalkabinett kommt übrigens heraus: Jeder Minister ist heute in bestimmter Weise ein Digitalminister. Das durchzieht alle Bereiche der Gesellschaft. Deshalb werden wir da zusammenarbeiten. Ich werde demnächst auch zu einer Anhörung zur künstlichen Intelligenz einladen, damit wir feststellen: „Wo stehen wir?“ und damit wir vor allen Dingen auch sagen können, was fehlt und wo wir besser zusammenarbeiten müssen. Im Übrigen ist das ein klassischer Gegenstand der deutsch-französischen Kooperation. So haben wir es auch in unserer Koalitionsvereinbarung verabredet. Frankreich und Deutschland werden heute in Sofia beim Abendessen, bei dem wir über Innovation sprechen, einen Vorschlag machen, wie wir mit disruptiven Innovationen in Europa umgehen; Stichwort „DARPA“. So etwas braucht auch Europa, und das muss gemeinsam gemacht werden. Nun, meine Damen und Herren, haben wir unsere Koalitionsvereinbarung aber auch in einer Stimmung verabschiedet, die uns sagt – – – Die Stimmung war nicht schlecht. Sie war der Lage entsprechend. Sie war der Ernsthaftigkeit der Lage geschuldet, sagen wir es mal so. Wir konnten auch auf gewissen Vorarbeiten aufbauen, obwohl wir uns das nie eingestanden haben; egal. – Jedenfalls hat uns umgetrieben, dass die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland das Leben aus der Perspektive betrachten „Wie stellt sich das für mich dar?“ und nicht aus der Perspektive betrachten: Wer ist gerade für was zuständig? Deshalb sind wir an einigen Stellen über uns hinausgewachsen, so sage ich es mal als CDU-Mitglied. Wir haben jetzt die Möglichkeit, Schulen nicht nur in finanzschwachen Kommunen zu fördern. – Wir arbeiten daran und hoffen auf tätige Mithilfe. Wir wissen auch, dass wir diese Mithilfe brauchen. – Wir haben uns entschlossen, mehr für den sozialen Wohnungsbau zu tun. Wir haben uns entschlossen, mehr für die Gemeindeverkehrsfinanzierung zu tun – all das ist mit Grundgesetzänderungen verbunden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist für den Bund in der Kombination mit dem Bund-Länder-Finanzausgleich nicht so eine triviale Entscheidung; denn durch den neuen Bund-Länder-Finanzausgleich, der in dieser Legislaturperiode, nämlich im Jahr 2020, in Kraft tritt, schwächt der Bund auch seine finanziellen Möglichkeiten. Olaf Scholz hat gestern richtigerweise darauf hingewiesen: Wenn wir die Verantwortung für den sozialen Wohnungsbau den Ländern geben, wenn der Bund mehr in den Bund-Länder-Finanzausgleich gibt, wenn beim Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz der Schwerpunkt bei den Ländern liegt und sich in der Folge die Investitionssumme des Bundes um die entsprechenden Anteile verringert, dann darf man nicht sagen: Der Bund investiert nicht mehr. – So kann man das nicht machen. Wir haben gesagt: Wir geben das Geld dahin, wo am besten damit gearbeitet werden kann. Das darf man dann aber nicht als Erstes 14 Tage später wieder vergessen. Trotzdem investieren wir ja mehr. Wir investieren übrigens nicht nur Steuergelder, sondern wir haben auch die Erlöse aus der Versteigerung der 5G-Frequenzen; wir werden daraus etwas machen. Unser Problem ist im Augenblick nicht, dass wir zu wenig Geld für Investitionen haben; unser Problem ist, eine Baufirma zu finden und Genehmigungen zu erhalten. Deshalb müssen wir die Verfahren im Genehmigungsrecht beschleunigen und versuchen, für mehr Gründungen zu sorgen, damit wir da vorankommen. Im Wohnungsbaubereich ist es außerdem richtig und wichtig, die AfA und das Baukindergeld einzuführen. Das alles sind Incentives, wie man heute so sagt, also Anreize, um besser zu leben. – Ja, die letzten Jahre haben wir schon viel gemacht, aber noch nicht genug. So ist das Leben, Herr Bartsch. Ansonsten müssten wir ja irgendwann aufhören, Abgeordnete zu sein. Politik wird immer wieder neue Aufgaben haben. Das ist das Schöne und Spannende. Meine Damen und Herren, der Riesenbereich der Sicherheit ist für uns wichtig. Auch hier werden wir Kooperationen eingehen. Der Pakt für den Rechtsstaat ist überhaupt nicht denkbar, wenn man nicht mit Kommunen und Ländern zusammenarbeitet. Das heißt, die ganze Koalition ist auf ein sehr kooperatives Verhalten des gesamten föderalen Systems angelegt. Ich setze darauf, dass das, was wir an Geldern für bestimmte Zwecke ausgeben, von den Ländern und Kommunen dann auch wirklich für diese Zwecke verwendet wird. Da werden wir schon sehr darauf achten, dass das nicht irgendwo verschwindet. Meine Damen und Herren, ein Riesenbereich neben der Sicherheit ist natürlich auch die Steuerung und Ordnung der Migration im Innern. Deshalb haben wir uns für die AnKER-Zentren entschieden. Ich finde, jetzt sollten auch alle dazu stehen. Die Vorschläge des Bundesinnenministers an dieser Stelle sind wirklich sehr praxisorientiert. Mit Verlaub: Wenn man am 19. April, wo wir noch nicht einmal 100 Tage im Amt waren, aufgrund von Missständen im BAMF, die Missstände sind, sagt, der Minister habe die Sache nicht im Griff, muss ich dazu ehrlich sagen: Das ist etwas komisch. – Unter Koalitionsfreunden wollte ich das noch einmal angemerkt haben. Wir orientieren die sozialen Sicherungssysteme auf die Zukunft. Gestern wurde die Rentenkommission eingesetzt; das wird ein hartes Stück Arbeit. Wir werden natürlich in Pflege und Gesundheit Riesenkraftanstrengungen machen müssen. Wir brauchen mehr Fachkräfte; auch hier gibt es ein Riesenproblem. Ich glaube, wir alle sind uns im Übrigen einig – das fällt ja in weiten Teilen in die Kompetenz der Länder –: Dass man in den Pflegeausbildungsberufen bis vor kurzem Schulgeld bezahlt hat und keine Ausbildungsvergütung bekam, gehört zu den Anachronismen der Bundesrepublik Deutschland. Dass man das, kurz bevor die Republik 70 wird, noch abschafft, dafür bin ich sehr dankbar, liebe Freunde. Es geht auch darum, die natürlichen Lebensgrundlagen zu sichern. Ich nenne das Stichwort „Klimaschutz“. Wir werden eine Kommission einsetzen, die sich mit dem Ausstieg aus der Braunkohle befasst. Sie erinnern sich: Vor mehr als zehn Jahren haben wir uns mit dem Ausstieg aus der Steinkohle befasst. Wir haben es so hinbekommen, dass dieses Jahr die letzte Grube schließt, aber die Menschen, die dort gearbeitet haben, diesen Wechsel auch verkraften konnten und er mit ihnen gestaltet wurde. So muss es auch bei der Braunkohle sein: erst fragen, was aus der Region wird, dann aussteigen, und nicht erst Aussteigedaten festlegen und sich dann überlegen, was aus den Menschen wird. Nur so wird ein Schuh daraus. Wir werden auch auf eine lebenswerte Umwelt achten: mehr Tierwohl, mehr vernünftige Landwirtschaft. Ich hoffe nur, dass die Europäische Union in der Lage ist, die Entbürokratisierung der zweiten Säule, die sich diesem Thema widmet, hinzubekommen. Ansonsten werden wir es nicht schaffen. Ich will mit etwas schließen, was vielleicht manch einem ein bisschen klein vorkommt, was aber ein großes Thema ist: Am 20. Mai, nächste Woche, wird zum ersten Mal der Weltbienentag stattfinden – im Übrigen eine Initiative von slowenischen Imkern. Die Bienen stehen inzwischen pars pro poto für das, was wir unter Artenvielfalt, unter Natur, darunter, wie sie funktionieren muss und soll und wie wir sie schützen müssen, verstehen. Deshalb sollten wir an diesem Tag an die Artenvielfalt denken und etwas Gutes für die Bienen tun. Deutschland, Julia Klöckner, und der slowenische Agrarminister haben hierzu eine Vereinbarung geschlossen, wie wir auf diesem Feld mit Slowenien zusammenarbeiten wollen – ein kleines Teilchen eines guten, ganz präzisen und konkreten Einsatzes. Meine Damen und Herren, Sie sehen: Wir haben viel Arbeit. Wir wollen das auch tun. Die Bundesregierung wird mit Nachdruck arbeiten. Herzlichen Dank. Alles Gute.
in Berlin vor dem Deutschen Bundestag (Protokoll des Deutschen Bundestages)
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 21. Ordentlichen DGB-Bundeskongress am 15. Mai 2018 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-21-ordentlichen-dgb-bundeskongress-am-15-mai-2018-in-berlin-1008658
Tue, 15 May 2018 15:07:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Hoffmann, sehr geehrtes Präsidium, sehr geehrte Delegierte, meine Damen und Herren, in einem Monat beginnt bekanntlich die Fußball-Weltmeisterschaft. Wie die Weltmeisterschaft findet auch Ihr DGB-Bundeskongress alle vier Jahre statt. Ob im Fußball oder in der Gewerkschaft – es kommt immer auf ein gutes Team an. Jedes Team hat einen Kapitän. Deshalb möchte ich Ihnen, Herr Hoffmann, sehr herzlich zur Wiederwahl gratulieren. Das Wahlergebnis war Gegenstand von Diskussionen. Wir haben uns im Sinne der Einheitsgewerkschaft gefreut, dass Elke Hannack ein paar Stimmen mehr hatte als Sie; aber das sei mir als CDU-Vorsitzenden gegönnt. Überhaupt haben die Frauen relativ gut abgeschnitten und jedenfalls in der Summe ein besseres Durchschnittsergebnis als die beiden Männer erzielt. Aber allen einen herzlichen Glückwunsch. Ich sage erst einmal: Auf gute Zusammenarbeit. Zweitens möchte ich noch ein Wort zu Reiner Hoffmann sagen. Er hat sich in einer Zeit, als manches noch nicht entschieden war, entschieden dafür ausgesprochen, dass Deutschland eine stabile Regierung braucht. Ich möchte ihm dafür Dank sagen, weil wir schon wenige Tage, nachdem wir diese Regierung gebildet hatten, angesichts der internationalen Lage und angesichts der Entscheidungsnotwendigkeiten in Europa spürten, wie wichtig es ist, dass eine Regierung auch handeln kann. Wenn wir für jede außenpolitische Stellungnahme – sei es zum Iran-Abkommen, sei es zu Fragen in Bezug auf Syrien, sei es zum Nahost-Friedensprozess, sei es zur Zukunft der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, sei es zur gemeinsamen europäischen Asylpolitik – bei immer wieder wechselnden Mehrheiten als Minderheitenregierung eine Meinung im Parlament einholen müssten, würde viel Zeit verloren gehen. Viele reden in diesen Tagen von den mutigen Projekten, die der französische Präsident in seinem Land in Gang setzt, und davon, welche außenpolitischen Initiativen er ergreift. Nach der Ordnung Frankreichs darf der Präsident das Parlament gar nicht betreten, weshalb er natürlich auch für Dinge Zeit hat, für die ich keine Zeit habe, weil ich das Parlament nicht nur betreten darf, sondern ich betrete es auch gerne; ich bin Bundestagsabgeordnete. Aber, meine Damen und Herren, ganze Tage und Nächte nur mit der Mehrheitssuche für jede einzelne Entscheidung zu verbringen? Von den innenpolitischen Entscheidungen rede ich erst gar nicht. Diese Woche haben wir Haushaltswoche. Wir können für den Haushalt 2018 und 2019 alles ganz ruhig beschließen. Aber wissen Sie, wie schwierig es wäre, nur mit einer vorläufigen Haushaltsführung voranzukommen, wenn man für jedes Projekt eine Einzelgenehmigung bräuchte? Deshalb sage ich einfach: Danke für den Mut, sich für die Regierungsbildung eingesetzt zu haben. Wir werden versuchen, die Erwartungen auch einigermaßen – von meiner Seite aus geht es nur einigermaßen – zu befriedigen. Deshalb sage ich einfach: Auf gute Zusammenarbeit. Die Zeiten sind fordernd. Deshalb ist es besonders wichtig, dass wir auch in die Zukunft schauen. Das tun Sie hier mit Ihrem „Parlament der Arbeit“, wie Sie es nennen; das tun wir in der Bundesregierung; und das tun die Unternehmen in Deutschland. Wir haben glücklicherweise nach wie vor eine relativ gute Situation. Ich weiß, dass Sie nicht ganz so begeistert wie ich und wie wir in der Bundesregierung darüber sind, dass wir ohne neue Schulden auskommen. Aber ich glaube, wenn wir einmal die demografische Entwicklung, die Veränderung unseres Altersaufbaus in den nächsten Jahrzehnten in den Blick nehmen, dann wissen wir, dass es im Augenblick gut ist, die Gesamtverschuldung Deutschlands zu senken, damit wir in der Zukunft Spielräume haben, um die Aufgaben der Zukunft stemmen zu können. Nun haben wir die höchste Zahl von Erwerbstätigen, wir haben solide Finanzen; und wir wissen, dass trotzdem nicht alles zufriedenstellend ist für die Menschen im Land und dass wir viel zu arbeiten haben – innenpolitisch und außenpolitisch. Sie spüren ja auch, dass außenpolitisch vieles im Wandel ist. China ist sehr viel selbstbewusster geworden. Viele der hier anwesenden Betriebsräte wissen auch, wie in China die Zukunft gestaltet wird und wie das Selbstbewusstsein wächst, wenn ich nur an das Projekt „Neue Seidenstraße“ denke. Ich werde in wenigen Tagen nach China fahren, damit sich die wirtschaftlichen Beziehungen und die Kooperationsbeziehungen gut weiterentwickeln. Aber China hat sich zum Maßstab genommen, im Jahr 2030 das Land auf der Welt zu sein, das bei der Künstlichen Intelligenz den Platz Nummer eins einnimmt. Das fordert uns natürlich. Da müssen wir uns überlegen: Wie können wir da mithalten? Wenn sich China etwas vornimmt, dann wird das – das haben wir jedenfalls in der Vergangenheit oft erlebt – auch relativ gut eingehalten. Das heißt für uns: wir dürfen uns nicht auf dem ausruhen, was wir haben. Wir haben jetzt zum Beispiel einen Einschnitt in den deutsch-amerikanischen, in den europäisch-amerikanischen Beziehungen erlebt. Großbritannien, Frankreich und Deutschland sind der Meinung: das Abkommen gegen die atomare Aufrüstung des Iran ist ein Abkommen, das sicherlich Schwächen hat, aber ein Abkommen, zu dem wir stehen sollten. Der amerikanische Präsident hat das anders gesehen. Wir sind ja auch nicht dahingehend blind, dass wir nicht sehen, dass der Iran gerade auch mit seinem Engagement in Syrien eine Bedrohung zum Beispiel für Israel darstellt. Israel hat gestern seinen 70. Geburtstag gefeiert. Das Existenzrecht Israels und die Sicherheit Israels gehören zur deutschen Staatsräson. Aber wir glauben trotzdem, dass wir mit dem Abkommen bessere Voraussetzungen dafür haben, mit dem Iran über weitere Abkommen zu sprechen, als wenn man ein Abkommen kündigt, das einstimmig im UN-Sicherheitsrat indossiert und beschlossen wurde. Wir wissen, dass Konflikte – Syrien ist ein Nachbar von Zypern, die Ukraine ist ein Nachbar von Polen – inzwischen vor unserer europäischen Haustür stattfinden. Deshalb müssen wir europäisch stark sein. In Europa müssen wir uns auf das konzentrieren, was uns mit Blick auf die Lösung der großen Probleme voranbringt. Jeder weiß, dass wir eine geregelte Zuwanderung brauchen. Auf der einen Seite hat sich die Regierung jetzt vorgenommen, ein Fachkräftezuwanderungsgesetz zu verabschieden. Das ist eine gute Nachricht, da es inzwischen Hunderttausende unbesetzter Arbeitsplätze gibt. Auf der anderen Seite müssen wir die illegale Migration stoppen, damit wir uns auf das, was wir wollen, nämlich humanitär zu helfen, wirklich konzentrieren können. Dafür brauchen wir auch eine gemeinsame europäische Asylpolitik. Dabei kann nicht jeder machen, was er will. Auch Deutschland war jahrelang der Meinung: wir sind ja irgendwo in der Mitte Europas; lassen wir die Länder an den Rändern Europas sich mit diesen Fragen beschäftigen. Das war keine richtige Einstellung. Wir haben gelernt: wir brauchen einen gemeinsamen europäischen Grenzschutz, wir brauchen eine gemeinsame Politik gegenüber Afrika, wir brauchen eine Bekämpfung von Fluchtursachen, was, auf Deutsch gesagt, heißt: mehr wirtschaftliche und entwicklungspolitische und humanitäre Unterstützung für die Länder, denen es heute nicht so gut geht, die Bürgerkriege und vieles andere mehr erleiden. Wir wissen inzwischen auch, dass wir uns von den Ereignissen um uns herum nicht abkoppeln können. Der terroristische Anschlag, der Paris, der Frankreich so erschüttert hat, ist in Rakka in Syrien geplant worden. Die Tatsache, dass wir heute mit unserer Bundeswehr in Mali sind, beruht darauf, dass Frankreich, weil die Franzosen mehr Kraft für den inneren Schutz ihres Landes brauchten, uns Deutsche gebeten hat, ihnen dabei helfen, den Terrorismus in Mali zu bekämpfen. Wir als Bundesregierung wissen aber auch: militärisches Handeln allein reicht nicht aus. Wir brauchen politische Lösungen. Und hierfür brauchen wir ein starkes Europa – ein Europa, das eine einheitliche Außenpolitik hat. Europa hat bis jetzt zu wenige Impulse gesetzt. Ich hoffe, dass wir als neue Bundesregierung zusammen mit Präsident Macron und auch mit Premierministerin Theresa May in der Lage sind, eine noch bessere, eine stärkere Rolle bei der Befriedung Syriens zu spielen. Dieser Bürgerkrieg, begonnen 2011, hat inzwischen mehr Opfer gekostet als der ganze israelisch-palästinensische Konflikt über Jahrzehnte hinweg. Ein Land ist zur Hälfte auf der Flucht. Von mehr als 20 Millionen Menschen sind mehr als zehn Millionen auf der Flucht – entweder im Land oder in der Türkei, in Jordanien, im Libanon oder in europäischen Ländern. Wir müssen mit ansehen, dass dieser Bürgerkrieg immer mehr zu einem großen regionalen Konflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran unter Mitwirkung von Russland und der Türkei wird. Daran sehen wir in Europa und müssen auch lernen, dass wir noch nicht stark genug sind. Wir müssen daran arbeiten, dass wir zur Lösung solcher Konflikte in unserer unmittelbaren Nachbarschaft einen Beitrag leisten können. Wenn Sie jetzt fragen „Warum erzählt die Frau uns das? Will sie nicht über die Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit sprechen?“, dann sage ich: Doch, das will ich auch. Aber ich glaube, damit wir solche Fragen in Ruhe bearbeiten können, brauchen wir auch erst einmal Sicherheit um uns herum. Wir können uns eben nicht abkoppeln. Wir sind keine Insel, sondern wir sind Teil dieser Welt. Deshalb ist mehr Europa – ein Europa, das die großen Probleme unserer Zeit tatkräftig angeht – ein ganz besonders wichtiges Anliegen. Ich bedanke mich beim DGB für ein durchgängig pro-europäisches Engagement – danke dafür auch in all den Krisenzeiten, die wir hatten. Auf eine weiterhin gute Zusammenarbeit. Unsere gute wirtschaftliche Lage erlaubt uns vieles zu tun, auf das die Menschen ja auch warten. Wir haben eine gute wirtschaftliche Entwicklung, aber Sie spüren hautnah – wenn ich schon allein die Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften hier sitzen sehe –, dass die Probleme, die Sie in Ihren Unternehmen haben, sehr, sehr unterschiedlich sind. Da gibt es die chemische Industrie. Da, würde ich sagen, geht es vergleichsweise geordnet zu – hohe Tarifbindung, gute Entwicklung. Aber wenn ich Herrn Bsirske sehe, dann sieht das schon manchmal ein wenig anders aus, weil er sozusagen als einer der Ersten auch die Gefahren oder die negativen Seiten der Digitalisierung und der – wie Sie sagen – prekären Arbeitsverhältnisse mitbekommt. Daran muss natürlich gearbeitet werden, damit Soziale Marktwirtschaft nicht nur etwas Gutes zu Zeiten von Ludwig Erhard war und heute ist, sondern damit sie das auch in Zukunft sein wird. Wir haben uns einige Dinge vorgenommen, die außerordentlich wichtig sind. Das eine ist, dass wir uns mit der Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen beschäftigen, weil wir erleben, dass die Lebensverhältnisse in Deutschland mehr und mehr auseinanderfallen. Es gibt immer weniger bezahlbare Mieten in den Ballungszentren und, weil die Kinder wegziehen, weniger verkaufbare Häuser in ländlichen Räumen. Es gibt schlechten Verkehrsanschluss, schlechte Breitbandanbindung, Angst um medizinische Dienste – und gleichzeitig andere Sorgen in den Großstädten. Das heißt, mit einer Lösung für alle können wir die Probleme in Deutschland gar nicht lösen. Deshalb werden Bund, Länder und Kommunen gemeinsam in einer Kommission „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ versuchen – Bund, Länder und Kommunen können das nur zusammen machen –, Antworten darauf zu geben. Wissen Sie, es gibt auf Bundesebene schon eine Diskussion. Von den 46 Milliarden Euro, die wir an Spielräumen für diese Legislaturperiode bis Ende 2021 identifiziert haben, geben wir einen ziemlich großen Teil in die Hände der Länder und Kommunen, weil wir der Meinung sind: das Leben findet dort statt. Aber bitte unterstützen Sie uns dann auch dabei, dass das Geld tatsächlich für die Zwecke ausgegeben wird, für die wir es den Ländern und Kommunen geben. Wir hatten mit den Entscheidungen zum Bund-Länder-Finanzausgleich auch vereinbart, dass der soziale Wohnungsbau in Zukunft von den Ländern getragen wird. Dann haben die Länder das Geld genommen; okay. Dann haben wir in den Koalitionsverhandlungen gesagt: die Wohnungsnot ist so groß und auch bezahlbarer Wohnraum ist so knapp, dass wir vonseiten des Bundes noch einmal – dafür ändern wir extra wieder das Grundgesetz – Geld geben, um noch mehr im sozialen Wohnungsbau zu machen. Das ist richtig; aber wir erwarten auch, dass dieses Geld für den sozialen Wohnungsbau und für nichts anderes ausgegeben wird. Ich bin sehr froh, dass das Erste, das die geschäftsführenden Vorstände unserer Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und SPD geschaffen haben, ein Paket für das Wohnen gewesen ist. Baukindergeld, Abschreibungen, sozialer Wohnungsbau – das sind die Dinge, an denen wir arbeiten müssen. Wir müssen natürlich auch noch schauen: Wie kriegen wir mehr Bauland? Wie bekommen wir die Eigentümer von Flächen, die als Bauland ausgewiesen sind, dazu, tatsächlich zu bauen? – Auch das ist ein Punkt. Wenn immer mehr Menschen keinen Zugang zu erschwinglichem Wohnraum haben, dann wird der Druck auf den sozialen Wohnungsbau natürlich auch größer. Wir haben ein zweites Riesenproblem, das wir anpacken wollen – und das vielleicht für eine Große Koalition wie gemalt ist. Das ist die Frage, wie es auf der einen Seite mit dem Klimaschutz weitergeht und auf der anderen Seite mit den Chancen und Perspektiven von Menschen, die heute zum Beispiel im Braunkohlebergbau tätig sind. Ende dieses Jahres werden wir ein großartiges Projekt abschließen können, nämlich den Ausstieg aus der Steinkohle. „Großartig“ ist falsch; das war für die Betroffenen natürlich nicht großartig. Aber wir haben den Ausstieg so gestaltet, dass er für alle vertretbar war und wir die Weichen in Richtung Zukunft gestellt haben. Das war ein Prozess, der jetzt schon länger als zehn Jahre lang gedauert hat. Sie können Strukturwandel nicht übers Knie brechen; wenn Sie das müssen, dann gibt es immer riesige Friktionen. Ein ähnliches Vorgehen schwebt uns jetzt für den Bereich der Braunkohle vor: Nicht zuerst aussteigen und dann erst fragen, was aus den Menschen werden soll, sondern von Anfang an über die Zukunftschancen der Menschen reden und das verbinden mit dem, was wir für den Klimaschutz tun müssen, nämlich eines Tages auch den Braunkohletagebau beenden. Das ist die richtige Reihenfolge. Ich glaube, auch das werden wir hinbekommen, zumal der Ausstieg aus der Steinkohle für uns eine wichtige Erfahrung ist, auf der wir auch hierbei aufbauen können. Meine Damen und Herren, wir haben uns natürlich sehr intensiv mit der Zukunft der sozialen Sicherungssysteme beschäftigt. Heute – Frau Buntenbach wird die Ehre haben, mitzuwirken – haben wir im Kabinett die Einsetzung der Rentenreformkommission beschlossen, die die Frage beantworten muss: Wie geht es mit der Alterssicherung nach 2025 weiter? Das wird vielleicht eines der schwierigsten Werkstücke dieser Legislaturperiode. Ich glaube, auch Frau Buntenbach weiß, dass sie keine ganz leichte Sache angenommen hat. Vielleicht hat sie klare Vorstellungen. Aber ob alle diese teilen, weiß man auch noch nicht. Jedenfalls muss es zum Schluss ein gemeinsames Ergebnis geben – ein Ergebnis, bei dem die gesetzliche Rentenversicherung ein zentraler Pfeiler bleibt. Wir müssen uns aber auch über die privaten Versicherungen, die Zusatzversicherungen austauschen. Denn eines ist auch richtig – bzw. ich finde das richtig; Sie finden das nicht richtig –: die Einführung der Riester-Rente war ein richtiger Schritt. Aber sie hat längst nicht das gebracht, was wir uns erwartet haben. Denn im Grunde ist man davon ausgegangen, dass die Menschen auch eine private Vorsorge etwa in Höhe von vier Prozent ihres Einkommens betreiben werden. Das ist nicht der Fall, weshalb daran gearbeitet werden muss. Ich würde trotzdem nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und sagen: überhaupt keine private Vorsorge mehr. Das wird nicht gehen. Wir haben in den letzten vier Jahren in einer gemeinsamen Anstrengung die Betriebsrenten gestärkt. Aber auch da werden wir weiterarbeiten müssen. Die Zukunft der Rente ist für uns also ein zentrales Projekt. Ähnliches gilt auch für die Pflege; und es gilt, wenn auch in anderer Weise, auch für die Arbeitslosenversicherung. Bei Gesundheit und Pflege – ich habe es ja eben auch beim Hereinkommen gesehen – gibt es berechtigte Erwartungen. Wir haben zwar für die zu Pflegenden in der letzten Legislaturperiode, in den letzten vier Jahren, viele Verbesserungen durchgeführt haben – die Einführung eines neuen Pflegebegriffs, die Erhöhung der Leistungen sowohl für ambulante als auch für stationäre Pflege. Aber die, die pflegen, sind nicht in gleichem Maße berücksichtigt worden. Sagen wir es einmal so: Dass die Bundesrepublik Deutschland so alt werden musste, bis man einmal auf den Gedanken gekommen ist, dass das Schulgeld bei der Ausbildung von Pflegekräften vielleicht nicht die richtige Antwort auf die Attraktivität dieses Berufs ist, gehört zu den erstaunlichen Dingen. Man fragt sich, warum in unserer Republik, die bald 70 Jahre alt wird, nicht schon mal jemand darauf gekommen ist. Das hat auch mit einem Rollenverständnis zu tun. Und – mit Verlaub – auch die Gewerkschaften mussten im Verlauf ihrer Geschichte lernen, Männer und Frauen im Erwerbsleben gleichermaßen zu berücksichtigen, ihre Arbeit gleichermaßen zu bewerten und mit gleicher Verve für die Anliegen in Frauenberufen zu kämpfen wie für die Anliegen in Männerberufen. Als ich von 1990 bis 1994 Frauenministerin war und wir wahnsinnig tiefgreifende Strukturbrüche in allen Teilen der ehemaligen DDR hatten, habe ich mich gewundert: Es gab mindestens so viele entlassene Textilarbeiterinnen wie Arbeitnehmer – meistens Männer – in den metallverarbeitenden Berufen, zum Beispiel im Maschinenbau, aber bei den Frauen gab es nicht so einen Aufstand und die Strukturbrüche verliefen relativ still. Dazu hat man mir gesagt: Tja, wenn die IG Metall niest, hat der ganze DGB Schnupfen; bei den Frauen in Gewerkschaften ist das nicht so. Ich glaube, das hat sich geändert, aber so war es einmal; und so war es auch einmal in der Politik. Deshalb müssen wir auf dem richtigen Weg weitergehen. Im Übrigen darf ich Ihnen sagen – und das sage ich auch an die Gewerkschaftsjugend gerichtet –: Je mehr junge Männer die Berufe des Erziehers, des Pflegers und ähnliche Berufe ergreifen, umso schneller wird sich auch die Verbesserung der Gehälter ergeben. Wir brauchen Diversität. Wir brauchen nicht nur Förderung von Frauen, sondern wir brauchen eine gleiche Arbeitsteilung und eine ähnliche Berufsaufteilung zwischen Männern und Frauen. Mehr Softwareingenieurinnen und mehr Erzieher – das ist, glaube ich, gut für unser Land insgesamt. Jetzt komme ich zu einem Thema, das Sie hier sehr beschäftigt und das uns alle umtreibt, wobei ich aber glaube, dass es Deutschland immer noch nicht genug umtreibt: Das sind die tiefgreifenden Veränderungen, die sich aus der Digitalisierung ergeben. Ich glaube, wir sehen diese immer noch sehr sektoriell. Jedenfalls hat sich die gesamte Gesellschaft in den letzten zehn Jahren, also seit es das iPhone und die Smartphones gibt, schon verändert. Vielleicht werden wir alle in zehn Jahren – ich werde dann nicht mehr als Bundeskanzlerin hier sein; aber egal – keine Smartphones mehr haben, sondern irgendwie mit unserer Kleidung kommunizieren, irgendetwas im Ohr haben oder alle eine digitale Brille aufhaben. Ich hoffe, wir gucken uns dann trotzdem noch an. Digitalisierung hat unser privates Leben jedenfalls schon massiv verändert. Im Arbeitsleben hat sie auch zu Veränderungen geführt. Aber die großen Veränderungen werden noch kommen. Jetzt haben wir die Aufgabe – und das haben wir in den letzten vier Jahren mit „Industrie 4.0“ schon begonnen –, unsere große Stärke, die industrielle Wertschöpfung, auch in die Zeit der Digitalisierung einzubringen. Das ist nicht trivial. Die IG Metall beschäftigt sich nicht ohne Grund sehr, sehr viel damit. Jetzt entscheidet es sich nämlich, ob wir eine verlängerte Werkbank für diejenigen werden, die mit den Konsumenten heute schon digital im Kontakt sind – also ob die großen Internetplattformen die Hersteller von Maschinen, von Autos, von Gegenständen aller Art zu ihren Zulieferern machen –, oder ob es uns gelingt – und das muss uns gemeinsam gelingen –, dass wir diejenigen sind, die das Internet der Dinge, das eben auch Maschinen, Werkzeuge, Produkte usw. umfasst – für uns nutzbar machen und damit auch Zugang zu den Konsumenten finden. Dann haben wir den Hauptteil der Wertschöpfung. Diese Aufgabe, diese Schlacht, ist noch nicht entschieden. Hinzu kommt, dass wir jetzt in einer Phase sind, in der sich die Künstliche Intelligenz dynamisch entwickelt. Ich werde in den nächsten Wochen auch Treffen haben, um darüber zu sprechen, auch mit Fachleuten aus Frankreich. Bei diesem Thema müssen wir aufpassen. Deutschland ist ja oft am Anfang einer technischen Entwicklung der Erste und gut dabei. Wir haben zum Beispiel den ersten Computer gebaut bzw. Konrad Zuse hat das getan – jetzt gibt es noch ein Institut, das nach ihm benannt ist, aber sonst erinnert sich kaum noch jemand auf der Welt daran. Wir haben die MP3-Player gebaut, vielfach diskutiert – die große Marktverbreitung erfolgte dann aber von anderswo aus. Bei der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz ist es ähnlich: Wir sind seit 20, 30 Jahren gut dabei, aber die Entwicklung erfolgt jetzt geradezu explosiv; man sagt ja manchmal auch „disruptiv“. Es geht im Grunde um einen Skalenfaktor, mit dem sich das Ganze beschleunigt. Und bei dieser Beschleunigung müssen wir mitmachen. Warum beschleunigt sich die Entwicklung? Sie beschleunigt sich, weil wir plötzlich ganz andere Rechenleistungen haben und weil man mit viel, viel größeren Datenmengen umgehen kann. Jetzt ist meine Bitte: Haben Sie keine Angst vor Daten. Wer Angst vor Daten hat, wird bei der Künstlichen Intelligenz nicht mitmachen können. Denn Künstliche Intelligenz ohne Daten ist so wie Kühe ohne Futter: Sie erreichen keinen Zuchterfolg. Das heißt, wir müssen mit Daten umgehen, aber im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft die Datensouveränität ordentlich definieren. Darüber müssen wir reden: Was sind eigentlich die Werte, was muss besteuert werden, was muss materialisiert werden? Wenn ich als Kunde meine Daten zur Verfügung stelle, dann tue ich eigentlich etwas, um anderen bei ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zu helfen. Und dafür muss ich nach den Regeln der Marktwirtschaft auch etwas bekommen. Wir haben das aber noch nicht materialisiert, wir sind immer noch einem sehr alten Denken verhaftet. Ich sage Ihnen auch: Ich habe nicht die endgültige Antwort. Ich weiß nur: Wenn da nichts geschieht, dann wird es eine ausbeuterische Struktur geben. Wenn es eine Struktur der Sozialen Marktwirtschaft bleiben soll, dann müssen wir uns überlegen, welchen Wert in unseren ganzen Systemen – vom Steuersystem bis zum Arbeitssystem – Daten haben. Hinzu kommt das, was Herr Hoffmann als „digitale Tagelöhner“ bezeichnet hat. Diese wollen wir natürlich nicht – weder wollen wir weltweite digitale Monopole noch wollen wir digitale Tagelöhner. Aber dass diese Worte überhaupt wieder fallen, zeigt ja, dass wir wieder am Anfang einer grundlegenden Entwicklung sind wie zu Beginn der Industrialisierung. Seit damals ist es in mühevollen Kämpfen gelungen, die Wirtschaftsordnung so zu zähmen, dass sie einigermaßen als gerecht empfunden wird – und darum geht es ja eigentlich auch in unserem täglichen Kampf und unserer täglichen Diskussion. Jetzt sind wir also wieder in so einer entscheidenden Phase. Und da sage ich jetzt etwas, das Ihnen nicht gefallen wird; aber ich sage es Ihnen einfach: Der Kampf um die letzte Facette des Arbeitszeitgesetzes wird diese Schlacht nicht entscheiden. Die Frage, ob wir nicht doch vielleicht einmal die EU-Arbeitszeitrichtlinie eins zu eins umsetzen könnten, ist für Sie unglaublich wichtig; ich nehme das ja auch zur Kenntnis. Wir müssen aber aufpassen, dass zum Schluss nicht lauter Start-ups da sind – auch wenn ich kein Start-up verdächtigen will –, die sicherlich nicht alle immer zu 100 Prozent die Arbeitszeitrichtlinie einhalten können. Wenn einer abends um 22 Uhr einen Fehler sucht, dann sucht er einfach weiter, um morgens früh um 6 Uhr nicht wieder neu anfangen zu müssen, weil er vielleicht über Nacht alles vergessen haben könnte; und wenn er am nächsten Tag ein Kundengespräch hat, dann wird er trotzdem zur Arbeit gehen. Wenn das dazu führt, dass die Leute zum Schluss Scheinselbständige werden, weil sie sich aus Angst vor Arbeitszeitkontrollen keinen Angestellten mehr leisten können, dann haben wir auch nichts gewonnen; denn dann haben wir ja diese Scheinselbständigkeit, die Sie nicht wollen. Deshalb muss ich Ihnen – Sie geben mir ja auch dauernd Themen, die mir nicht passen – einfach sagen: Das Thema werden wir weiter auf der Tagesordnung behalten müssen. Jetzt kommt der Punkt Datenschutz. Wir haben kürzlich die Datenschutz-Grundverordnung beschlossen. Das wird wahrscheinlich auch in Ihren Unternehmen eine Rolle spielen. Die Betriebsräte werden alle ihre Listen ja wahrscheinlich auch verifizieren und ordentlich archivieren müssen und die Daten, die sie über ihre Gewerkschafter und Betriebsräte haben, auch noch einmal genau angucken. Da sage ich Ihnen: Klagen Sie nicht; 95 Prozent von dem, das Sie jetzt machen müssen, hätten Sie schon früher machen müssen. Aber es kommt noch ein bisschen was dazu. Aber wenn wir das für die Großen wollen, für Facebook und andere, dann müssen wir den Umgang mit Daten natürlich auch allgemein ernst nehmen. Ich meine, das kann man auch damit vergleichen, dass wir uns auf einem Umzug vom Land in die Stadt befinden. Auf dem Land braucht man seine Haustür nicht abzuschließen. Das ist unglaublich bequem. In der Stadt merkt man plötzlich, in einem Achtfamilienhaus ist es vielleicht doch nicht so toll, wenn die Tür immer offensteht. Also muss man sich ein Türschloss besorgen. – Wir haben im Übrigen die Wohnungseinbrüche um 25 Prozent auch dadurch senken können, dass wir Anreize für bessere Haussicherungen geschaffen haben; das hat sich sofort gelohnt. – So ähnlich ist es beim Datenschutz. Ohne Aufwand bekomme ich nichts, aber mit etwas Aufwand gewinne ich Klarheit darüber, wer meine Daten wo und wie verwendet. Das muss unser Ziel sein. Meine Damen und Herren, natürlich stellt auch die Frage der Bildung – neben der Frage des Breitbandausbaus. Übrigens machen sich viele darüber lustig, dass wir eine App einführen wollen, um hierüber melden zu können, wo es Funklöcher gibt. Neulich hat jemand geschrieben, das könne man auch machen, indem man die Telekommunikationsunternehmen fragt. Aber das hilft nicht. Die verraten einem das nie. Dazu braucht man schon die Nutzer, die einem das mitteilen. Das wird die Bundesnetzagentur angehen. Aber jetzt zur Bildung. Da haben wir zwei Dinge getan, die aus meiner Sicht extrem wichtig sind, nämlich auf der einen Seite zusammen mit den Ländern den Digitalpakt Schule und auf der anderen Seite die Nationale Weiterbildungsstrategie ins Leben gerufen zu haben. Ich denke, darüber werden wir auch noch eine Reihe kontroverser Diskussionen führen. Aber dass es einen Anspruch auf Weiterbildungsberatung bei der Bundesagentur für Arbeit gibt, dass Weiterbildung eine Sache ist, die auch bei den Betriebsräten verankert ist – aus Ihrer Sicht vielleicht nicht ausreichend –, das sind erste Schritte. Das Thema lebenslanges Lernen und Weiterbildung wird uns natürlich in großem Maße beschäftigen. Ich bitte auch die Verantwortlichen in der Erziehung: Helfen Sie uns, damit wir bei der Lehrerweiterbildung mehr machen können. Wir müssen unsere Lehrer in die Lage versetzen, unsere Kinder ordentlich zu unterrichten. Wer vor 20 oder 30 Jahren studiert hat, kennt heute vielleicht die digitalen Dinge nicht so gut, die aber für den Unterricht von Relevanz sind. Die Kinder müssen in das digitale Zeitalter hineinwachsen. Das können sie sich nicht unbedingt selbst beibringen. Auch da haben wir noch ein hartes Stück Weg vor uns. Meine Damen und Herren, wir haben uns noch etwas Ambitioniertes vorgenommen: Vollbeschäftigung bis 2025. Wenn Sie eine Meinungsumfrage zum Wort „Vollbeschäftigung“ machen, stellen Sie interessanterweise fest: Die Menschen mögen das nicht. Sie denken nämlich, sie müssen so viel arbeiten, wie wir als Staat wollen. Darum geht es aber nicht, sondern es geht darum, dass die, die arbeiten möchten, eine vernünftige Arbeit bekommen. Wir haben entschieden – und dem stimme ich zu –, dass wir einen sozialen Arbeitsmarkt brauchen, weil wir Langzeitarbeitslose haben, die wir ohne Unterstützung nie wieder in den ersten Arbeitsmarkt hineinbringen werden. Dass sich daraus gleich eine Diskussion über Grundeinkommen usw. entsponnen hat, hat mich ein bisschen verwundert. Denn wir wollten ja eigentlich alle in Arbeit bringen und erst einmal darüber sprechen. Aber egal, das Ziel wird, denke ich, von Ihnen geteilt. Jetzt müssen wir aber auch wieder Erfahrungen sammeln, wie wir damit klarkommen und wie wir am besten vorankommen. Wir werden uns auch in Bereichen stark engagieren, über die man früher gesagt hat: Was geht das den Bund an? Das ist Ländersache. – Wir sind längst dabei. Wir ändern das Grundgesetz. Wir werden Schulen nicht nur in finanzschwachen Kommunen renovieren können, sondern auch woanders. Wir werden bei der Weiterbildung der Lehrer mitmachen. Wir werden eine Bildungs-Cloud zur Verfügung stellen. Wir werden uns auch bei der Ganztagsbetreuung engagieren. Es ist ja auch ein Anachronismus, dass wir jetzt zwar einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz und einen Kindergartenplatz haben, dass es aber, wenn die Kinder in die Grundschule kommen, plötzlich heißt: 12 Uhr, Mama oder Papa, ich muss nach Hause. Das ist ja auch nicht unbedingt in Ordnung. Deshalb: Rechtsanspruch auf Betreuung in der Grundschule – eine wichtige, notwendige Ergänzung. Dabei geht es natürlich auch um Qualitätsmerkmale. Wir werden nicht alles auf einmal schaffen, aber es wird auch insgesamt um die Fragen einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie und um flexiblere Öffnungszeiten gehen – ganz wichtig, gerade auch für Frauen. Damit bin ich bei einem Thema, das die Gemüter im Augenblick immer noch umtreibt: Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit. Ich dachte, alles wäre gelöst, aber es ist doch nicht alles gelöst. Aber ich will das nicht problematisieren. Wir lösen das. Das ist unsere Pflicht. Zwei Anläufe reichen dann. Wir werden auch beim Entgeltgleichheitsgesetz noch einmal genau hingucken, das evaluieren und auch der Frage der Repräsentanz von Frauen in Vorständen weiter nachgehen. Durch die Quote in den Aufsichtsräten ist doch ein bisschen Bewegung in die Sache gekommen. Es gibt auch etwas Bewegung bei den Vorständen, aber längst nicht genug. Vielleicht schaffen wir ja auch einmal etwas, ohne wieder rechtliche Regelungen zu machen. Aber das kann ich heute noch nicht sagen. Meine Damen und Herren, es gibt viel zu tun. Die Erwartungen sind groß. Die Nöte, die Ängste, die Sorgen vieler Menschen sind teils auch sehr elementar. Deshalb würde ich sagen: Wir leben in einem Land, das lebenswert ist, aber wir können uns auf gar keinen Fall hinsetzen und ausruhen, sondern wir haben viel zu tun. Ich glaube, wir alle gemeinsam sind daran interessiert, dass wir für die Fragen, die für das individuelle Leben jedes Menschen so wichtig sind, genügend Zeit haben. Es lohnt sich, an einer etwas sichereren Weltordnung als heute mitzuarbeiten und mit zu weben. Das, woran wir glauben, ist ja im Grunde eine geteilte Verantwortung, eine multipolare Verantwortung – ob sie nun Arbeitgeber und Arbeitnehmer betrifft, den Föderalismus mit Aufgaben für Bund, Länder und Kommunen oder den Interessenausgleich in Europa, den wir immer wieder suchen und von dem wir glauben, dass eine Win-win-Situation für alle möglich ist, die dabei sind. Aber wir erleben, dass sich wieder verstärkt Tendenzen ergeben, die nicht einer multilateralen Herangehensweise folgen, sondern der Ansicht, dass, wenn es dem einen gut gehe, dann gehe es dem anderen schlechter, weshalb man gucken müsse, dass es einem öfter gut gehe – Tendenzen, die der Ansicht folgen, dass einer die Dinge bestimmen müsse und dass man sich nicht mehr an Regeln halten müsse. Das finden wir überall. Diesen Tendenzen müssen wir aber entgegenwirken. Ich denke, darüber gibt es – bei allem, was uns auseinanderbringt – eine große Einigkeit in Deutschland, die wir auch pflegen und hegen sollten, weil sie uns Frieden, Sicherheit und im Großen und Ganzen auch Wohlstand in den letzten Jahrzehnten gebracht hat. Deshalb wird die gesamte Bundesregierung diesen Weg national und auch international weitergehen. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Bundeswehrtagung am 14. Mai 2018 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-bundeswehrtagung-am-14-mai-2018-in-berlin-1008722
Mon, 14 May 2018 14:30:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrte Frau Bundesministerin, liebe Ursula von der Leyen, sehr geehrter Herr Generalinspekteur, sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, liebe Parlamentarische Staatssekretäre! Ich grüße alle Anwesenden sehr herzlich, die sich heute und morgen mit der Lage der Bundeswehr beschäftigen werden! Es ist mir eine sehr große Ehre, dass ich nach 2012, als ich in Strausberg war, heute wieder dabei sein darf. Ich möchte durch meine Anwesenheit auch meine Wertschätzung für die Arbeit der Bundeswehr zum Ausdruck bringen – in einem alles andere als einfachen Umfeld und in einer diskussionsfreudigen Zeit, in der die gesellschaftlichen Debatten lebendig sind und manchmal auch die Debatten innerhalb der Bundeswehr. Das zeigt, dass die Bundeswehr ein Teil unserer Gesellschaft ist; und das ist auch richtig so. Meine Wertschätzung möchte ich auch zum Ausdruck bringen, weil ich der Meinung bin, dass Sie einen großartigen Beitrag dazu leisten, dass unsere Bürgerinnen und Bürger in Deutschland in Sicherheit leben können – einen großartigen Beitrag dazu, dass unser Land als ein verlässlicher Partner anerkannt ist. Die Veränderungen unserer Welt sind immer wieder auch als Herausforderung und als Aufgabe der Bundeswehr anzuerkennen. Ich möchte allen Soldatinnen und Soldaten ebenso wie den zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr danken. Und ich möchte an dieser Stelle auch an die Soldaten erinnern, die im Dienst ihr Leben gelassen haben, die gefallen sind. Wir werden sie und den schmerzlichen Verlust, den ihre Familien und Freunde erlitten haben, nicht vergessen. Wir wissen, dass es eben ein ganz besonderer Beruf ist, Soldat zu sein. Und das muss sich auch in der Anerkennung der gesamten Gesellschaft widerspiegeln. 2012 scheint, wenn man sich die Herausforderungen anschaut, fast eine Ewigkeit her zu sein. Die Bundeswehr sieht sich aber schon seit dem Ende des Kalten Krieges einem permanenten Veränderungsprozess ausgesetzt. Diejenigen, die seit dieser Zeit dabei sind, können inzwischen wahrscheinlich schon ein vielbändiges Werk über Reformen veröffentlichen. Es zeigt sich darin fast schon ein Stück Geschichte. Man dachte damals, nun sei es mit der ganz großen Konfrontation vorbei und man habe die Möglichkeit, auf eine Zeit zu blicken, die konfliktfreier ist. Stattdessen muss man konstatieren, dass die Welt ziemlich schnell unübersichtlicher wurde und alles andere als konfliktfrei ist. Die Bipolarität des Kalten Krieges scheint im Rückblick zwar eine extrem schwierige Phase, aber auch eine relativ übersichtliche Phase gewesen zu sein. Im Vergleich dazu erscheint – wobei das einem manchmal nicht so leicht über die Lippen geht – der Multilateralismus eigentlich auch als etwas Schönes. Aber eine Welt mit unklaren Kräfteverhältnissen ist auch eine sehr komplizierte Welt. Auf diese Welt müssen wir uns einstellen. Man hat damals, nach dem Ende des Kalten Krieges, richtigerweise umstrukturiert. Man hat auch gesagt, dass wir eine sogenannte Friedensdividende haben. Es ist heute durchaus wichtig, den Menschen zu sagen und auch im Parlament darüber zu diskutieren: Zu Zeiten des Kalten Krieges hat man – ich war nicht dabei, sondern saß auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs oder der Mauer – klaglos in der bundesdeutschen Gesellschaft über 2,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben bereitgestellt. Das war einem die Sicherheit wert. Deshalb liegt die Forderung, dass wir irgendwann wieder zwei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts in einer auch sehr gefährlichen Welt aufwenden müssen, nicht völlig außerhalb jedes Vorstellungsvermögens. Wir haben unter ganz anderen Bedingungen schon einmal über 2,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgegeben. Um zu zeigen, wie die Dinge sich verändert haben: Wir sind 2015 bei 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gelandet und dachten, dass wir damit ganz gut auskommen. Dem waren viele Dinge vorausgegangen. Alle in Europa haben nach dem Ende des Kalten Krieges ihre Verteidigungsausgaben zurückgefahren. Dann kam die große internationale Finanz- und Wirtschaftskrise. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Haushalte mit vielen Milliarden Euro Neuverschuldung. Von der schwarzen Null waren wir weit entfernt. Ich erinnere mich auch noch sehr gut daran, dass wir sagten: Den großen Personalaufwuchs nach Wiederherstellung der Deutschen Einheit müssen wir abbauen. Heute wissen wir, dass die Bundeswehr einen Riesenbeitrag dazu geleistet hat. Eine Dekade lang wurde so gut wie kein neues Personal im zivilen Bereich eingestellt. Es gab also große Einschnitte. Hinzu kam die Entscheidung, die Wehrpflicht auszusetzen; eine tiefgreifende Entscheidung, die – ich durfte darüber auch neulich mit führenden Vertretern der Bundeswehr diskutieren –Türen für eine neue Herangehensweise in einer modernen Armee öffnete, die aber auch die Personalgewinnung der Bundeswehr vor völlig neue Herausforderungen stellte. Auch in den nächsten Jahren müssen wir darauf achten, dass die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber bleibt – und das in einem Wettbewerb um junge Menschen, der angesichts unserer demografischen Veränderungen und angesichts vieler anderer attraktiver Berufsfelder wirklich hart ist. Deshalb war es richtig, dass die Ministerin, als sie vor mehr als vier Jahren ins Amt kam, auch auf ein attraktives Berufsumfeld sehr stark Wert gelegt hat. Wenn man weiß, welche Rolle heute die Work-Life-Balance in der Planung vieler Familien spielt – die Bundeswehr will ja ein Teil der Gesellschaft sein –, dann muss sich das auch in ihr widerspiegeln. 2011 fanden auch noch andere Dinge auf der Welt statt – beispielsweise das, was wir den Arabischen Frühling nennen, der anschließend zu massiven Problemen führte, wenn wir uns an die Entwicklungen in Libyen erinnern. Einerseits ist es gut, dass es Diktator Gaddafi in Libyen nicht mehr gibt. Andererseits mussten wir auch lernen, dass die Abwesenheit von Diktatoren allein noch zu keiner stabilen Gesellschaft führt. Das haben wir schon im Irak erlebt. Das erleben wir heute noch in Libyen. Es folgte der Bürgerkrieg in Syrien, in dem es auch um die Frage ging, wie man Assad als tyrannisch empfundenen Diktator loswerden kann. Der Krieg hat sich seit 2011 inzwischen zu einem der ganz großen Konflikte entwickelt. Uns ist erst langsam bewusst geworden, dass Auseinandersetzungen nicht irgendwo auf der Welt stattfinden, sondern direkt vor der europäischen Haustür und dass diese nicht in jedem Fall sofort zu mehr Demokratie führen. Wir haben gesehen, dass sich während des Bürgerkriegs der IS in Syrien und im Irak ausgebreitet hat. Inzwischen ist es ein religiöser Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten – und ein Konflikt um Einflusssphären in einer strategisch extrem wichtigen Region, in den die Türkei, der Iran, Russland und natürlich auch Saudi-Arabien, die USA und an irgendeiner Stelle auch Europa involviert sind. Wenn wir dachten, uns von diesen Ereignissen abkoppeln zu können, dann hat uns spätestens die Flüchtlingsbewegung im Jahre 2015 eines Besseren belehrt. Wir haben uns nicht ausreichend um die Situation in den Flüchtlingslagern gekümmert. In Syrien herrscht ein unglaubliches Desaster. Die Hälfte des Landes – über zehn Millionen Menschen – befindet sich auf der Flucht entweder innerhalb des Landes oder in die Umgebungsländer, etwa in die Türkei – oder auch zu uns, allerdings nicht in allergrößtem Maße. Aber das hat uns vor riesige Aufgaben gestellt. Lassen Sie mich an dieser Stelle der Bundeswehr ein herzliches Dankeschön sagen – was sowohl die Rettung von Flüchtlingen auf See anbelangt als auch das, was die Bundeswehr im Innern geleistet hat, als Not am Mann oder an der Frau war. Das sucht seinesgleichen. Herzlichen Dank dafür, dass Sie so schnell und unbürokratisch geholfen haben. – Ich habe meine Gespräche darüber mit Ursula von der Leyen oder auch mit Staatssekretär Hoofe noch in guter Erinnerung. – Das war eine große Sache; danke schön dafür. Mit all dem nicht genug: Im Irak und in Syrien breitete sich der IS aus. Hinzu kamen im März 2014 die Besetzung der Krim und danach die Auseinandersetzung in der östlichen Ukraine und ihre Destabilisierung hinzu, sodass sich im September 2014, als wir die NATO-Tagung in Wales hatten, die Welt verändert hatte. Plötzlich fanden die Konflikte wieder vor unserer Haustür statt. Nicht wir in der Mitte des territorialen Europas, aber diejenigen, die geografisch an den Rändern liegen, standen plötzlich vor völlig neuen Aufgaben und auch vor völlig neuen Ängsten und Befürchtungen. Damit war die Situation eine völlig andere als 2006, als das vorletzte Weißbuch geschrieben wurde. Man fand sich sozusagen damit ab, dass es eine Menge Auslandseinsätze geben würde, zum Beispiel in Afghanistan und im Kosovo. Es war seit den 90er Jahren ein Riesenentwicklungsweg für die Bundesregierung, dass wir nicht mehr – wie beim ersten Irak-Krieg – 20 Milliarden DM zahlen, sondern selber einen aktiven Beitrag leisten. Damals schien sich alles auf Auslandseinsätze zu fokussieren. Und plötzlich rückte die zweite Säule, die nach dem Ende des Kalten Krieges eigentlich keine herausragende Rolle mehr gespielt hatte – die Landes- und Bündnisverteidigung – wieder voll in den Blick. Das fand dann auch seinen Niederschlag im Beschluss von Wales, demnach sich die Verteidigungsausgaben in den nächsten zehn Jahren in Richtung zwei Prozent entwickeln sollen. Dieser Beschluss wurde von uns allen gefasst. Und da stellt sich auch die Frage: Wie sieht es mit der Glaubwürdigkeit Deutschlands aus? Diese Frage wird nicht nur der Bundesverteidigungsministerin gestellt, sondern die bekomme auch ich aufs Butterbrot geschmiert. Wir müssen uns also damit auseinandersetzen. Es ist jetzt eine Diskussion entstanden, bei der wir alle miteinander – ich wende mich jetzt auch an alle Parlamentarier – ein bisschen aufpassen müssen, dass die Entwicklung hin zu zwei Prozent nicht womöglich als eine Militarisierung Deutschlands interpretiert wird. Diejenigen, die sich mit den Sachverhalten auskennen – und das sind ja alle hier im Raum –, wissen, dass diese zwei Prozent kein Fetisch sind, sondern dass die Erfüllung der Aufgaben – internationale Einsätze plus Bündnis- und Landesverteidigung – diesen Wert notwendig macht. Das heißt, eine funktionierende Bundeswehr, eine Bundeswehr, bei der man nicht jeden Tag irgendwelche Hiobsbotschaften bekommt, erfordert mehr Ausstattung. Das ist einfach die Wahrheit. Ich habe auch nicht von Anfang an gewusst, sage ich ganz offen, sondern mir erst mit tätiger Hilfe von Leuten, die mehr von Verteidigung verstehen als ich, erarbeitet, dass zur Erfüllung der Aufgaben eines Auslandseinsatzes schon für einen kleinen Teil der Truppe eine sehr, sehr gute, präzise und sichere Ausrüstung und Ausstattung erforderlich sind, aber die Fragen der Landes- und Bündnisverteidigung viel, viel breiter angelegt sind, weshalb auch in der Breite der Truppe eine sehr viel bessere Ausstattung in allen Bereichen gebraucht wird. Da gibt es Schlagworte, von denen wir uns ganz schön weit entfernt hatten: zum Beispiel die sogenannte Vollausstattung. Als Laie stellt man sich ja vor, dass jeder, der dient, sein Päckchen mit Ausrüstung und Ausstattung für das hat, wofür er eingesetzt werden könnte. Von dieser Vorstellung war man ganz schön weit weggekommen. Jetzt braucht man erst einmal eine auftragsgerechte Ausstattung. Und die ist in der Landes- und Bündnisverteidigung eben so, wie sie ist. Wenn man schnell verlegen muss, wenn man all die neuen Aufgaben wahrnehmen muss, dann muss man mehr üben, muss man mehr Dinge gemeinsam tun. Das bedeutet eben auch, dass man in der Breite sehr viel mehr Material und Ausrüstung braucht. Ich glaube, das kann man gar nicht oft genug sagen. Ich erzähle das nicht, weil ich glaube, dass Sie das nicht wissen, sondern weil meine Rede natürlich auch an die Öffentlichkeit gerichtet ist. Die Beschlüsse von Wales, in denen die Landes- und Bündnisverteidigung wieder eine größere Rolle spielt, haben auch in unser Weißbuch 2016 Eingang gefunden, das die Bundesregierung beschlossen hat. Sie haben vor allen Dingen Eingang in ganz praktische Maßnahmen gefunden, an denen wir uns aktiv beteiligen, nämlich an der Luftraumüberwachung im Baltikum zum Beispiel, an der Rückversicherung Polens und der drei baltischen Staaten. Wir leiten die verstärkte Vornepräsenz und arbeiten als Rahmennation in Litauen. Das ist ein großer Beitrag. Und wir haben auch unser Engagement im Multinationalen Korps Nordost in Stettin verstärkt. Wir sind in Rumänien und Bulgarien engagiert – also immer auch an den Rändern, wo es um die Bündnisverteidigung geht. Das alles ist eine große Kraftanstrengung. Dafür herzlichen Dank. Ich will noch etwas anderes hervorheben, weil das schon ein sehr langer Einsatz ist – er passt noch in die Philosophie von 2006 –: den Einsatz in Afghanistan. Da zeigt sich etwas, worauf Deutschland stolz sein kann. Manche sagen, es dauert ja ewig, ehe ihr euch mal entscheidet, wo ihr hingeht. Ja, manchmal dauert es vielleicht ein bisschen länger als bei anderen. Aber wenn wir einmal da sind, bleiben wir auch so lange wie nötig. Wir haben uns dafür entschieden – ich habe politisch sehr dafür gekämpft; auch bei Präsident Obama –, dass man keinen überschnellen Abzug aus Afghanistan vornimmt – Afghanistan hat das einmal im Zusammenhang mit der Sowjetunion erlebt –, dass wir diesen Fehler also nicht wiederholen – denn das wäre gerade auch aus der Perspektive Russlands genau das gewesen, was man sich vielleicht gewünscht hätte –, sondern dort bleiben. Unsere Arbeit im Norden Afghanistans kann ohne die Vereinigten Staaten von Amerika nicht ablaufen; das ist richtig. Aber wir sind dort auch die Rahmennation von rund 20 Nationen, mit denen wir sehr, sehr gut und verlässlich zusammenarbeiten. Auch dafür ein herzliches Dankeschön. Dort zeigt sich ja deutlich die Veränderung der Philosophie, auf die ich später noch einmal zu sprechen komme, nämlich dass wir uns auch um die Ausbildung kümmern, sodass die afghanischen Truppen ihr Schicksal in ihre eigenen Hände nehmen können. Aber ohne unsere Unterstützung, ohne unsere Hilfe werden sie das nicht schaffen. Wir haben auch nach wie vor Soldaten im Kosovo. Wir haben es gerade auch in den letzten Tagen wieder erlebt: Man denkt, es ist ruhig und es passiert eigentlich nichts; und plötzlich wird wieder einer verhaftet und die Wellen schlagen hoch. Ich hatte kürzlich sowohl den kosovarischen Präsidenten als auch den serbischen Präsidenten bei mir zu Gast, um dringend anzumahnen, Maßnahmen zur Stabilisierung voranzubringen. – Christian Schmidt ist hier; gerade auch er weiß, mit wie viel Liebe und Detailversessenheit man dort immer wieder versuchen muss, kleine Konflikte kleinzuhalten, damit sie nicht groß werden und es nicht wieder zum Ausbruch von Gewalt kommt. Ich will Ihnen ein Motiv nennen, das mich in der gesamten Flüchtlingsfrage sehr beschäftigt hat. Dass Griechenland allein mit vielen Flüchtlingen nicht klarkommen konnte, war klar. Aber es bestand auch die Gefahr, dass der ganze westliche Balkan destabilisiert wird, wenn wir das Problem nicht gemeinsam mit der Türkei angehen. Diese Gefahr war immer da. Und deshalb war das EU-Türkei-Abkommen absolut notwendig. Es war notwendig, die Türkei in ihrer Betreuung von drei Millionen Flüchtlingen zu unterstützen. Nun hat sich in der Zwischenzeit auch die Situation in Syrien weiter verschärft. Wir sind Teil der Koalition im Kampf gegen den IS mit all den Beiträgen, die wir sowohl dort als auch im Irak leisten. Dafür herzlichen Dank. Das war auch mit einem Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland verbunden, weil wir bis dahin immer gesagt haben: Wir gehen nicht direkt in Spannungsgebiete. Diesmal aber haben wir die Peschmerga in ihrem Kampf unterstützt, um die Jesiden zu retten. Und wir sind bei der Luftraumüberwachung tätig – erst in der Türkei, jetzt in Jordanien. Es zeigt sich aber, dass es gerade auch in Syrien – wir können auch Afghanistan oder Libyen als Beispiele nehmen – immer noch anderer Anstrengungen bedarf. Rein militärisch kann ein Konflikt nicht gelöst werden. Sie sind darauf angewiesen, dass wir auch politisch agieren. Die Lösungsuche des Konflikts in Syrien hat inzwischen Ausmaße angenommen, dass ein Vergleich mit dem Dreißigjährigen Krieg in Europa fast schon nicht mehr vermessen ist, da es eben ein tiefer Regionalkonflikt um Einflusssphären geworden ist. Um eine politische Lösung zu finden, werden Russland, Türkei, Iran, Saudi-Arabien, die USA, Jordanien, Frankreich, Großbritannien und auch Deutschland gebraucht. Im Augenblick existieren zwei Gruppen – zum einen die sogenannte Small Group, die Frankreich, Großbritannien, Deutschland, die USA, Jordanien und Saudi-Arabien umfasst. Zum anderen gibt es die sogenannte Astana-Gruppe, die Iran, Türkei und Russland umfasst. All das sind Akteure, mit denen gearbeitet werden muss. Aus Syrien allein wird es keine politische Lösung geben. Und erst dann, wenn eine Lösung gefunden ist, werden wir in dieser Region wieder etwas Stabilität haben. Da sich in diesem Jahr der Beginn des Dreißigjährigen Krieges zum 400. Mal jährt, will ich eingedenk dessen nur darauf hinweisen, dass der Westfälische Frieden auch nicht in zwei Monaten geschaffen wurde. Es waren Jahre, lange Jahre, in denen manche Parteien nie miteinander gesprochen haben. Auch wenn sie an einem Ort – in Münster – waren, durfte nicht jeder mit jedem sprechen. Daraus kann man Lehren ziehen, wie man Konflikte lösen kann. Dieses Wissen werden wir auch brauchen. In der Zwischenzeit hat sich über Libyen auch unser Augenmerk noch einmal stark auf Afrika gerichtet. Die Einheitsregierung in Libyen ist schwach; sie hat keinen Zugang zum gesamten Territorium. Daher hat sich der Konflikt auch weiter nach Afrika verlagert: durch sehr viele Waffen, durch die Stärkung zahlreicher terroristischer Attacken. Deshalb sind wir inzwischen auch in Mali engagiert. Ich kann mich noch gut erinnern: Kurz nachdem ich Bundeskanzlerin geworden war, fragte mich Präsident Chirac, ob wir bereit seien, die Wahlen im Kongo abzusichern. – Es sind bestimmt Menschen hier, die sich auch noch genau daran erinnern. – Damals war mir ganz schön blümerant, sage ich ganz offen, denn der Kongo war ja nicht das Feld, auf dem wir uns ganz besonders gut auskannten. Die Bundeswehr hat aber den Einsatz dort wunderbar gemanagt. Wir haben dann aber auch zugesehen, dass wir nach Hause kamen, nachdem die Wahlen vorbei waren. Und das war auch nicht falsch. Man sieht an unserem Mali-Einsatz, insbesondere am MINUSMA-Einsatz, aber auch an dem Ausbildungseinsatz, wie die Dinge laufen. Terroristische Attacken, geplant vom IS in Syrien, schädigen Frankreich – wie der Anschlag auf „Charlie Hebdo“ und andere terroristische Anschläge. Frankreich rief zum ersten Mal in Europa eine Art Bündnisfall aus und bat uns mitzuhelfen. Und plötzlich sind wir in Afrika und damit wieder mit einer ganz neuen Herausforderung konfrontiert. Dieser Einsatz ist ja alles andere als einfach. Er muss mit großem Bedacht erfolgen. Die Verteidigungsministerin weist mich immer wieder darauf hin, dass die Aufklärungsdrohnen dort fehlerfrei und stabil fliegen. Man kann bei all den Schreckensnachrichten auch einmal etwas Gutes sagen; deshalb bin ich da sehr beruhigt, weil das der MINUSMA sicherlich hilft. Derzeit insgesamt 12 Auslandseinsätze, 7.100 Soldatinnen und Soldaten, dazu einsatzgleiche Aufgaben mit etwa 13.000 Soldaten – die Bundeswehr leistet also permanent Wichtiges in der Landes- und Bündnisverteidigung ebenso wie auch weiterhin in Auslandseinsätzen. Ich glaube, angesichts der Ereignisse, von denen wir auch in den letzten Tagen gehört haben, zum Beispiel von der Kündigung des Iran-Abkommens durch die Vereinigten Staaten von Amerika, kommt es jetzt darauf an, dass wir Kurs halten und verlässlich in unserer Haltung und unseren Überzeugungen sind. Was heißt das? Einmal, dass wir die Beschlüsse von 2014 nicht so behandeln, als seien sie nie gefasst worden. Das heißt aber auch, dass wir politisch unser Bekenntnis zu Bündnissen festigen und bekräftigen sollten, ein verlässlicher Bündnispartner zu sein, und dass wir auch sagen: Ja, wir sind ein Land, das politisch dazu steht, dass Multilateralismus die beste Form ist, um Konflikte auf der Welt zu lösen. Das ist heute nicht mehr so klar. Russland hat sich beschwert gefühlt durch die Auslegung des UN-Sicherheitsratsbeschlusses zu Syrien, der zum Kampfeinsatz in Syrien geführt hat. Das Iran-Abkommen war im UN-Sicherheitsrat indossiert, einstimmig im UN-Sicherheitsrat angenommen, aber es wird nun einseitig aufgekündigt. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind auch aus der Klimarahmenkonvention ausgetreten. In den Handelskonflikten sehen wir eine Zunahme an Protektionismus; das bedeutet eine Schwächung der Welthandelsorganisation. Wir stehen jetzt vor der Frage: Sollen wir das alles aufgeben, weil es jetzt gerade schwieriger geworden ist oder sollen wir weiter dazu stehen? Ich plädiere dafür, auch wenn es krisenhafte Erscheinungen im Multilateralismus gibt, zum Multilateralismus zu stehen. Das bedeutet aber, dass wir umso mehr in dem, was wir versprechen, auch verlässlich sein müssen. Denn es gibt in den Vereinigten Staaten von Amerika die Sichtweise: Wir geben 3,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aus; wir helfen euch, euch zu schützen, euch Sicherheit zu geben; ihr habt einen riesigen Handelsüberschuss uns gegenüber und seid damit auch auf einer wirtschaftlich guten Seite. Ist das aus der amerikanischen Perspektive eigentlich gerecht? Mit diesen Fragen müssen wir uns auseinandersetzen. Deshalb bin ich auch nicht abgeneigt zu sagen – das letzte große Handelsabkommen ist 1994 geschlossen worden; seitdem war die internationale Gemeinschaft nicht mehr in der Lage, überhaupt über neue Zölle zu verhandeln –: Warum sollen wir nur mit Kanada, Singapur, Japan und Südkorea über Handelsfragen verhandeln? Wir können natürlich auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika verhandeln; und darüber reden wir ja auch in der Europäischen Union. Aber wir sind unter Druck und müssen selbst auch konsistent sein. Das ist die Aufgabe, vor der wir im Augenblick stehen. Verlässliche Bündnispartnerschaft betrifft natürlich vor allen Dingen die NATO. Deutschlands feste Verankerung in der NATO ist unabdingbar. Ich glaube, davon brauche ich hier niemanden zu überzeugen. Auch wenn es Meinungsverschiedenheiten über bestimmte Fragen gibt – diejenigen über das Iran-Abkommen sind keine Kleinigkeit –, muss unsere feste Überzeugung sein, dass die transatlantische Freundschaft eine der wesentlichen Grundlagen unserer Sicherheit ist und bleibt. Das gilt für die militärische Sicherheit. Ich kann das genauso für das Gebiet der Nachrichtendienste sagen; auch da gilt das in entsprechender Weise. Unser ganzer Kampf gegen Terrorismus wäre extrem geschwächt, wenn es die transatlantische Verbindung nicht gäbe. Deshalb danke ich auch allen hier ganz herzlich, die durch tägliches Tun, durch Einwebung in die Strukturen des Bündnisses ihren Beitrag leisten, um in der NATO ein guter Partner zu sein. Die Entscheidung der Briten, aus der EU auszutreten, ist zwar sehr bedauerlich. Dennoch bin ich sehr froh, dass es – manchmal bedarf es ja negativer Ereignisse – doch zu einem gewissen Schub gekommen ist und wir auch einmal ein paar Dinge anpacken, die wir in Europa bislang nicht hinbekommen haben. Eine bessere Verteidigungszusammenarbeit in Form der Permanenten Strukturierten Kooperation ist eine wichtige, notwendige, lange überfällige Ausfüllung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union. Ich möchte mich bei Ursula von der Leyen und allen, die daran mitgearbeitet haben, ganz, ganz herzlich bedanken. Das ist in kurzer Zeit – Deutschland und Frankreich waren hierbei Taktgeber – als ein offenes Projekt für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union angelegt worden. Und da sind schon erhebliche Dinge erreicht worden. Dass Deutschland für vier der siebzehn Projekte, die bis jetzt vereinbart wurden, verantwortlich ist, zeigt ja auch, dass wir uns einbringen. Vielleicht sind unsere Fähigkeiten nicht immer ausreichend, aber das, was wir haben, teilen wir gern im Bündnis. Und deshalb sind wir auch der zweitgrößte Truppensteller, wenn ich das richtig verstanden habe, und auch immer recht aktiv dabei, wenn etwas gebraucht wird, und sind zuverlässig. Diese europäische Kooperation ist nicht ausgelegt, um die NATO in irgendeiner Weise infrage zu stellen oder zu schwächen. Sie ist aber notwendig. Und wenn Ursula von der Leyen davon berichtet, mit wie vielen Waffensystemen wir uns auf europäischer Seite in das Bündnis einbringen, dann zeigt das, dass da große Ineffizienzen bestehen und man das Geld besser ausgeben und auch neue Waffensysteme gemeinsam entwickeln könnte. Das ist absolut richtig und wichtig. Und wenn Sie als Bundeskanzlerin überall auf der Welt für den Eurofighter kämpfen, aber vor ihnen immer schon einer da war, der von Rafale gesprochen hat, dann ist das manchmal fast anachronistisch. Also, falls es gelingen sollte – was man auf der ILA in Schönefeld fast schon gerochen hat –, dass man demnächst eine gemeinsame Entwicklung haben wird, dann würde das der Reputation Europas in der Welt sicherlich nicht schaden, sondern uns kräftiger machen. So sollten wir auch miteinander operieren. Was man manchmal nicht so ganz versteht, ist, dass die Entwicklung von Waffensystemen eine ziemlich lange, fast generationenübergreifende Geschichte ist. Und so wie die Schutzweste vielleicht etwas schneller angeschafft werden sollte, muss man halt den langen Atem und auch die Berechenbarkeit in der finanziellen Ausstattung haben, wenn man sich auf neue Projekte einlässt. Es hat mir wirklich eingeleuchtet, was Ursula von der Leyen in den letzten Tagen immer wieder gesagt hat: Wenn man langen internationalen Gemeinschaftsprojekten verpflichtet ist und die vielleicht auch noch eine eigene preisliche Entwicklung nehmen, was wir in Zukunft natürlich verhindern wollen, dann muss wieder – die Bundeswehr hat so ein schönes Wort dafür – herunterpriorisiert werden. Das ist eigentlich ein Anachronismus, weil dann also sozusagen alles, was man noch ein halbes Jahr warten lassen kann, wieder nach hinten geschoben wird; und das ist natürlich nicht gut. Deshalb muss Verlässlichkeit in die gesamte Planung hineinkommen, um beide Dinge zu schaffen: die täglichen Dinge und die langfristigen Dinge. Hinzu kommt, wie überall in unserer Gesellschaft, die Digitalisierung als zusätzlicher Treiber von Veränderungen innerhalb der Bundeswehr. Jeder, der sich in seinem Ministerium einmal mit der Vereinheitlichung der Datenverarbeitungsstruktur beschäftigt hat, kann sich vorstellen, was das für so eine große Organisation bedeutet. Ich sage mal: Der Deutsche Bundestag ist ja auch nicht uneingeschränkter Front-Runner bei allen Erneuerungen; und dabei ist er ja noch ein kleines Gebilde im Vergleich zur Bundeswehr. Da muss man natürlich auch verlässlich arbeiten können. Hinzu kommt noch eine neue Säule, die sich auch in einem neuen Kommando niederschlägt, nämlich die Auseinandersetzung mit Cybersicherheitsfragen, von der wir wissen, dass andere Länder, die in ihrer Militärdoktrin die hybride Kriegsführung offensichtlich dabeihaben, sehr, sehr aktiv sind. Da können wir nicht warten, sondern müssen, um verteidigungsfähig zu sein, ebenfalls im Bereich der Cybersicherheit dabei sein. Ich will die Bundeswehr beglückwünschen, dass sie da in den letzten Jahren vieles auf die Reihe gebracht hat, was absolut notwendig ist. Wir müssen also treue Bündnispartner sein. Wir sind Freunde des vernetzten Ansatzes. Auch deshalb ist die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik so wichtig, weil wir mit ihr die militärische Komponente, die Entwicklungskomponente, die Komponente der guten Regierungsführung besser miteinander verbinden können. Wir wissen: Mali, Afghanistan, Syrien – all diese Länder können militärisch sozusagen in einer Sicherheit, wenn auch nur in einer fragilen Sicherheit gehalten werden; aber eine dauerhafte Sicherheit entsteht erst, wenn Entwicklung möglich ist. Sicherheit und Entwicklung bedingen einander. Deshalb ist in unserem Koalitionsvertrag für diese Regierung die 1:1-Kopplung von ODA- und Verteidigungsausgaben nicht nur mal eine schöne Sache – damit man weiß, wer wie viel Geld erhält –, sondern dahinter steht auch die Philosophie, dass Sicherheit und Entwicklung aufs Engste miteinander verbunden sind. Und deshalb halte ich diese Festlegung für sehr, sehr wichtig. Ein Bereich, der auch viele Diskussionen hervorgerufen hat, aber im Augenblick vielleicht gar nicht so im Fokus steht, der mir aber auch sehr wichtig ist: die Befähigung anderer. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass deutsche Soldaten in Mali gut sind, aber am allerbesten, wenn sie zur Ausbildung malischer Soldaten eingesetzt werden, und dass wir in Afghanistan besser vorangekommen sind, seit wir dort die Soldaten selbst ertüchtigen, und dass wir für unser Engagement auf Dauer keine Akzeptanz genießen werden, wenn nicht die Länder selbst befähigt werden. Deshalb wünsche ich mir sehr, dass auch Europa Ertüchtigungsinitiativen sehr viel stärker akzeptiert – und dass wir uns an dieser Stelle auch ein bisschen mehr ehrlich machen. Wenn in Mali Soldaten ausgebildet werden, von uns Schuhe bekommen, von uns einen Transport-Lkw bekommen, dann stellt sich aber auch die Frage: Bekommen sie von uns auch Gewehre? Soldaten auszubilden, die den Gegnern, gegen die sie kämpfen müssen – in diesem Fall sehr häufig Terroristen –, nichts an Bewaffnung entgegenzusetzen haben, und dann zu sagen, dass das vielleicht Frankreich für uns erledigen wird, ist keine ganz ehrliche Herangehensweise. Ich glaube, diese Diskussion müssen wir weiter miteinander führen. Natürlich müssen wir auch Sicherheiten einbauen, damit zum Beispiel die Peschmerga ihre „Milane“ nicht weiterverkaufen oder sie den Feinden nicht in die Hände fallen. Das führt auch wieder hin zum Entwicklungsaspekt, denn wenn man sicherstellt, dass die Soldaten ordentlichen Sold erhalten, dass sie so bezahlt werden, dass ihre Familien davon leben können, dass sie praktisch nicht gezwungen sind, illegale Geschäfte zu machen, um ihre eigene Lebensgrundlage zu sichern, dann kann man auch darauf bestehen, dass die Waffensysteme dort bleiben, wo sie sind. Deshalb sind wir jetzt auch mit Frankreich und auch vielen anderen dabei, die Soldatinnen und Soldaten in den G5-Sahel-Staaten im Kampf gegen Terrorismus zu unterstützen. Sie sagen: Guckt mal, MINUSMA hat ein Mandat, das nicht ausreichend ist; das ist zwar Kapitel 5, aber es ist nicht Kapitel 7. Ihrer Meinung nach braucht man ein Kapitel-7-Mandat; das haben sie von der UN noch nicht bekommen. Aber sie wollen jetzt eine Anti-Terror-Truppe aufstellen. Bei dieser Anti-Terror-Truppe müssen wir und wollen wir ihnen auch helfen mit dem, was wir an Know-how beibringen können. Im Grundsatz ist das richtig. Aber wenn Sie dann mit dem Staatspräsidenten eines der ärmsten Länder der Welt – Niger – sprechen, sagt der: Passt mal auf, ihr gebt mir Entwicklungshilfe, ihr – die Weltbank, Europa, Deutschland – gebt mir alles, aber niemand gibt mir etwas für die Sicherheit meines Landes; ich muss Sicherheit bewahren und auch Terrorismus bekämpfen können, wofür ich aber nur sehr wenig finanzielle Unterstützung bekomme. Deshalb gehört das Sammeln von finanzieller Unterstützung auch zu der von Europa geführten Initiative, damit die Soldaten überhaupt bezahlt werden und ihre Gerätschaft finanziert wird, damit sie dort Terroristen bekämpfen können. Und ich glaube ihnen, dass die Menschen aus den afrikanischen Staaten – ich will jetzt niemanden beleidigen – mindestens so gut wie die Soldaten der MINUSMA sind, die im Übrigen auch gar nicht den Auftrag dazu haben. Das ist also auch ein ganz wichtiger Teil, der meiner Meinung nach an Bedeutung gewinnen wird und bei dem Deutschland ja auch sehr, sehr stark engagiert ist. Meine Damen und Herren, Sie bringen das Ganze permanent zum Laufen. Wir haben viel Arbeit vor uns. Sie werden das alles diskutieren. Aber ich glaube, man muss jetzt darauf aufpassen – dazu will ich meinen Beitrag leisten und dazu will die ganze Bundesregierung ihren Beitrag leisten –, dass wir die Stärken und Schwächen der Bundeswehr in einem ausgewogenen und vernünftigen Diskurs miteinander bereden und nicht sozusagen von Schreckensmeldung zu Schreckensmeldung eilen. Das bedeutet, dass es eine mittel- und langfristige Verlässlichkeit gibt. Sie dürfen davon ausgehen, dass die Bundesregierung nicht allein auf die Bundeswehr setzt. Natürlich sind wir stolz darauf, sie zu haben, aber wir setzen auch darauf, über politische Beiträge Konflikte abzubauen und damit Einsätze überflüssig zu machen. Das steht auch hinter der Kandidatur für einen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat 2019/20, bei der wir, glaube ich, recht gute Chancen haben. Ich möchte Ihnen sagen: Sie genießen Anerkennung. Natürlich sind Sie gefordert. Seien Sie guten Mutes. Ich halte das Prinzip der inneren Führung auch im 21. Jahrhundert für ein tolles Prinzip. Sie haben junge Leute, die sehr motiviert sind. Und wir wissen, dass Sie ein attraktiver Arbeitgeber sein müssen. In diesem Sinne wünsche ich Ihrer Tagung viel Erfolg und uns weiter eine gute Zusammenarbeit. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung der „Lampe des Friedens“ am 12. Mai in Assisi
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verleihung-der-lampe-des-friedens-am-12-mai-in-assisi-1122404
Sat, 12 May 2018 11:45:00 +0200
Assisi
Auswärtiges
Ehrwürdiger Pater Kustos, Eminenzen, sehr geehrter Herr Präsident Santos, Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren, es freut und bewegt mich sehr, heute hier bei Ihnen in Assisi zu sein. Die Basilika, in der wir uns befinden, gebietet Ehrfurcht und Staunen – schon allein weil sie zu den wunderbarsten Bauwerken der italienischen Kunstgeschichte zählt. Die Fresken der Franziskuslegende, die wir hier sehen, faszinieren Gläubige seit Hunderten von Jahren. Aber es ist nicht nur die Lebendigkeit der bildlichen Darstellungen, die die Menschen in den Bann zieht. Es ist vor allem der Inhalt, die Botschaft, die uns seit jeher anspricht. Die Überzeugungen des Heiligen Franziskus – oder auch Franz von Assisi, wie wir ihn in Deutschland gern nennen – leuchten uns bis heute den Weg. Der Mensch auf seinem unsicheren Weg durch die Zeit braucht Licht und Orientierung. Daran hat sich auch 800 Jahre nach Franziskus und 700 Jahre nach dem Renaissance-Maler Giotto di Bondone nichts, aber auch gar nichts, für die Menschen geändert. Daran erinnert die „Lampe des Friedens“. Deshalb ist es mir eine große Ehre, dieses Symbol des Friedens zu empfangen. Ich darf Ihnen sagen, dass mir diese Auszeichnung sehr viel bedeutet. Denn die Suche nach Frieden und Versöhnung ist – unabhängig von Glauben, Weltanschauung oder Nicht-Glauben – eine wesentliche, eine universelle, um nicht zu sagen, die vornehmste Aufgabe der Politik. Es gibt so viele aktuelle Entwicklungen, die uns vor Augen führen, dass Frieden alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Die jüngsten Eskalationen in Syrien und bei den Nachbarn zeigen das ganz deutlich. Der Weg zu Frieden und Versöhnung ist zumeist nur mit großer Anstrengung und viel Ausdauer begehbar. Ganz selten liegt er schon hell erleuchtet vor uns. Wäre dem so, würden die Menschen nicht permanent wieder von diesem Weg abkommen. Einer, der diesen Weg gegangen ist und immer noch geht, ist Präsident Juan Manuel Santos. In Kolumbien haben Sie, Herr Präsident, nach Jahrzehnten des blutigen Bürgerkriegs im September 2016 Frieden mit der FARC-Guerilla erreicht. Wenige Monate später haben die Kämpfer der FARC ihre Waffen niedergelegt. Und vor kurzem, im März, hat das kolumbianische Volk ein neues Parlament gewählt – zum ersten Mal seit dem Friedensschluss und zum ersten Mal ohne gewaltsame Zwischenfälle. Es war eine friedliche Wahl. Es lässt sich jetzt schon sagen, Herr Präsident, dass Ihre Präsidentschaft in die Geschichte Kolumbiens als Wendepunkt eingehen wird, an dem der Friedensschluss einen lang ersehnten Weg zur Versöhnung eröffnete. Herzlichen Dank für das, was Sie geleistet haben. Deshalb ist es mir einerseits Ehre, aber andererseits auch Verpflichtung, von Ihnen die „Lampe des Friedens“ übernehmen zu dürfen. Sie ist der Öllampe nachempfunden, die am Grab des Heiligen Franziskus brennt, das wir vorhin gemeinsam besuchen durften. Franziskus‘ Leben, Wirken und Botschaft der Barmherzigkeit berühren Gläubige in aller Welt. Franziskus ist vielleicht der berühmteste Heilige der katholischen Kirche – wenn ich das als evangelische Christin überhaupt sagen darf. Er stammte aus wohlhabenden Verhältnissen und verstand es als junger Mann, Feste zu feiern. Doch es gab den Moment, an dem er radikal mit seinem alten Leben brach, um in Armut und Demut Christus nachzufolgen. Er lebte Nächstenliebe – bedingungslos und den Menschen zugewandt, ohne Ansehen ihres Standes und ihrer Herkunft. Er brach mit gesellschaftlichen Tabus, als er sich der Leiden der Aussätzigen annahm. Er umarmte sie – damals etwas, das absolut verpönt war. Er machte mit dieser Umarmung von Aussätzigen deutlich, dass er Grenzen überschreiten wollte. Er begründete damit die große franziskanische Tradition, von der wir heute sagen dürfen, dass sie Europa und die Welt verändert hat. Gut, dass wenigstens im zweiten Anlauf die franziskanischen Brüder Deutschland erreicht haben und dort geblieben sind. Es gilt damals wie heute: Frieden ist ohne Teilhabe, Solidarität und Gerechtigkeit kaum denkbar. Frieden gibt es nicht umsonst. Frieden verlangt Arbeit. Frieden gleicht dem Licht einer Lampe, das uns immer nur so lange leuchtet, wie wir Öl nachfüllen. Das Sinnbild der Lampe ist uns allen Erinnerung und Mahnung, uns einem friedlichen Zusammenleben – im Kleinen wie im Großen – unablässig zu widmen. Es ist wahr: Ein einzigartiges Beispiel für ein friedliches Zusammenleben der Völker ist die Europäische Union. Italien gehörte zu den sechs Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Auch aus diesem Grund ist Assisi ein wunderbarer Ort, um Frieden zu feiern, ihn aber auch immer wieder einzufordern oder zu stiften. Dass die europäische Integration ein Friedensprojekt ist – in der Geschichte im Übrigen von seiner Dauer her ein einmaliges –, ist uns vielleicht nicht täglich präsent. Doch wenn wir uns die wechselvolle Geschichte unseres Kontinents vor Augen führen, dann erahnen wir, welches Glück wir heute haben. Vor 400 Jahren – 1618 – begann der 30-jährige Krieg. 1648 also war er erst zu Ende. Es bedurfte des Westfälischen Friedens, einer Anstrengung über viele Jahre hinweg, um Europa endlich wieder zur Ruhe kommen zu lassen. Gestern war ich beim Deutschen Katholikentag in Münster, wo wir auch über diesen Friedensvertrag gesprochen haben. „Suche Frieden“ – so lautet das Motto der deutschen Katholiken, über das sie in diesen Tagen miteinander diskutieren. Für mich ist es eine schöne Fügung, dass ich an zwei Tagen hintereinander – erst in Münster und heute in Assisi – über so etwas Grundsätzliches wie Frieden sprechen kann. Ich glaube, dass Frieden hier wie dort thematisiert wird, sagt viel über uns in Europa aus. Wer von Westfalen nach Umbrien reist, dem offenbart sich Europa als ein Kontinent der Vielfalt. Diese Vielfalt ist es einerseits, die es uns erleichtert, sich mit unserem Kontinent zu identifizieren. Ihre Akzeptanz ist auch die Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben. Aber vielleicht ist in der heutigen Zeit auch manchmal die Sehnsucht nach gegenseitigem Respekt vor der Vielfalt größer als die gelebte Akzeptanz der Vielfalt. Vielfalt ist Stärke. Das sollten wir uns immer wieder sagen – gerade auch in Zeiten, in denen Globalisierung so vieles gleichförmig erscheinen lässt. Vielfalt zu akzeptieren – dazu braucht es Respekt. Ud diesen können wir nur gewinnen, wenn wir bereit sind, über den jeweiligen nationalen Tellerrand hinaus zu schauen. Auch das müssen wir uns in der Europäischen Union immer wieder vor Augen führen. Trotz aller Vielfalt können wir uns im Dom zu Münster genauso geborgen fühlen wie hier in der Basilika zu Assisi. Das hat eben auch viel mit unseren gemeinsamen Prägungen zu tun, mit unserer Geschichte, die vom christlichen Glauben geprägt ist. Aber nicht immer, wenn wir über Verordnungen und Direktiven und Richtlinien in Europa diskutieren, haben wir im Blick, wie wichtig unsere gemeinsamen Werte und Grundüberzeugungen sind. Jacques Delors, der langjährige Präsident der Europäischen Kommission – ich begrüße Romano Prodi ganz herzlich heute unter uns –, gab einmal sogar zu bedenken – ich zitiere: „Wenn es uns nicht gelingt, Europa […] eine Seele, eine Spiritualität, eine Bedeutung zu verschaffen, werden wir das Spiel verloren haben.“ Seele, Spiritualität und Bedeutung müssen uns immer gegenwärtig sein bei unserem Tun. Alcide de Gasperi, Robert Schuman und Konrad Adenauer waren davon überzeugt, dass nach zwei verheerenden Weltkriegen eine friedliche Zukunft für Europa nur möglich sein werde, wenn man in einer engen Gemeinschaft zusammenarbeiten will. Diesen Willen brauchen wir heute auch. Danke für Ihre Worte, Pater Kustos. Wir wissen aber auch: Lange, ja, viel zu lange blieb Europa nach den Gründungsstunden des europäischen Projekts noch geteilt. Der Eiserne Vorhang, der Kalte Krieg, teilte unser Europa. Deshalb möchte ich an die mutigen Frauen und Männer der polnischen Solidarność erinnern. Ich erinnere mich noch gut daran, dass auch für viele in der ehemaligen DDR die polnische Gewerkschaftsbewegung eine Hoffnung war. Natürlich mischte sich auch Bangen in diese Hoffnung. Schließlich blieben die Niederschlagung des Volksaufstands in der DDR 1953 und der Prager Frühling 1968 unvergessen. Doch allen Schikanen und Repressionen zum Trotz: Der Drang nach Freiheit und besseren Lebensverhältnissen ließ sich nicht aufhalten. Woher nahmen die Polen diesen Mut? Woraus schöpften sie ihre Hoffnung? Was hat sie bewogen, nicht aufzugeben? „Habt keine Angst!“ rief Papst Johannes Paul II. den Gläubigen auf dem Petersplatz zu Beginn seines Pontifikats im Oktober 1978 zu. Wenige Monate später reiste der polnische Papst durch sein Heimatland. Diese Reise ist bis heute tief im Bewusstsein der Polen geblieben. Michail Gorbatschow zeigte sich später überzeugt, dass der Papst maßgebenden Anteil am Erstarken des polnischen Freiheitswillens hatte. Ich fühle mich heute auch deshalb durch die Auszeichnung besonders geehrt, weil Papst Johannes Paul II. und Lech Wałęsa ebenfalls die „Lampe des Friedens“ überreicht wurde. Aber wer dachte, dass mit Ende des Kalten Krieges endlich Frieden in Europa eingekehrt sei, sah sich schnell eines anderen belehrt. Die Länder des westlichen Balkans wurden in den 90er Jahren von entsetzlichen Kriegen und Menschenrechtsverletzungen heimgesucht. Das Massaker von Srebrenica war das größte Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. 8.000 muslimische Jungen und Männer wurden ermordet. All diese Opfer mahnen uns, wie zerbrechlich Frieden sein kann. Sie nehmen uns in die Pflicht, uns immer wieder aufs Neue für Frieden einzusetzen. Wir werden uns in der nächsten Woche auf Einladung des bulgarischen Ministerpräsidenten mit den Ländern des westlichen Balkans treffen. Noch heute sind deutsche und andere Soldaten im Kosovo. Wir wissen, wie zerbrechlich dieser Friede dort ist. Europa lebt auch heute nicht in Frieden und Sicherheit. Die Annexion der Krim war ein schwerer Einschnitt. Der andauernde Konflikt in der Ost-Ukraine beschäftigt uns. Wir mühen uns, Deutschland und Frankreich, im Normandie-Format gemeinsam die Vereinbarungen von Minsk, die mit der Ukraine und Russland getroffen wurden, umzusetzen. Aber in jeder Nacht gibt es Waffenstillstandsverletzungen. Fast jeden Tag kommen Menschen um. Die Ukrainer sind mit ihrer Sehnsucht nach Frieden natürlich nicht allein, sondern wir müssen in unserer Nachbarschaft den Blick auf andere grausame Konfliktherde werfen. In unserer unmittelbaren Nachbarschaft, in Syrien, findet eine der großen humanitären Tragödien unserer Zeit statt. Sieben Jahre schon tobt dort ein Krieg. Von den über 20 Millionen Einwohnern Syriens ist die Hälfte auf der Flucht – davon die Hälfte innerhalb des Landes, die andere Hälfte außerhalb: in der Türkei, im Libanon, in Jordanien und in Mitgliedstaaten der Europäischen Union, auch in Deutschland. Diese Menschen brauchen ein Licht der Hoffnung, das im Augenblick noch nicht zu sehen ist. Wir werden uns politisch sehr anstrengen müssen. Herr Präsident Santos, Ihr Beispiel, scheinbar Unmögliches zu erreichen, ist für uns ein Beispiel, es immer und immer wieder zu versuchen. Inzwischen ist dieser Konflikt ein Konflikt der regionalen Interessen geworden – ein Konflikt der Religionen. Um die Menschen in Syrien geht es vielleicht manchmal überhaupt nicht mehr. Deshalb mahnt die heutige Auszeichnung mich und viele andere europäische Staats- und Regierungschefs, uns stärker in die Lösung dieses Konflikts einzubringen. Durch die Kündigung des Nuklearabkommens durch die Vereinigten Staaten von Amerika ist die Situation noch angespannter geworden. Wir verfolgen die Ereignisse zwischen Iran und Israel. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Sicherheit Israels für Deutschland zur Staatsräson gehört, mahnt uns das einmal mehr, uns in die Lösung dieses Konflikts stark und mit großer Überzeugung einzubringen. Meine Damen und Herren, all das werden wir nur schaffen, wenn wir bereit sind, die Europäische Union weiterzuentwickeln. Ein Land in Europa allein wird nicht ausreichend handeln können. Deshalb müssen wir zusammenarbeiten. Ich freue mich über die sehr gute Zusammenarbeit auch mit unseren Freunden und Kollegen in Italien. Italien findet sich in einer entscheidenden politischen Phase, zu der ich natürlich nicht Stellung nehmen werde. Aber ich möchte sagen: Wir, die Bundesrepublik Deutschland, wollen mit Ihnen gemeinsam die großen Probleme unserer Zeit lösen. Italien hat als Nachbarn Libyen. Italien hat die Herausforderung afrikanischer Flüchtlinge. Deshalb wissen wir: Wenn wir Frieden schaffen wollen in Europa, aber auch in unserer Nachbarschaft, dann müssen wir nicht nur an unseren eigenen Wohlstand denken, sondern dann müssen wir die Ursachen von Flucht und Vertreibung mutig bekämpfen. Nie seit dem Zweiten Weltkrieg gab es so viele Flüchtlinge wie heute, die allermeisten im Übrigen innerhalb des afrikanischen Kontinents. Wir Europäer schauen immer sehr auf uns – darauf, was wir erleben. Deshalb wird es eine große Aufgabe sein, wenn wir in Frieden weiterleben wollen, uns mit unseren Nachbarn und ihren Problemen zu beschäftigen und sie auch zu lösen. Meine Damen und Herren, Papst Franziskus hat uns angesichts des Jubiläums der Römischen Verträge im vergangenen Jahr noch einmal ins Stammbuch geschrieben, dass uns nur Zuversicht helfen wird, unsere Probleme zu lösen. Er hat – für mich etwas betrüblich – vorher im Europäischen Parlament die Europäische Union mit einer Großmutter verglichen. Es ist wichtig, daran zu denken, dass Großmütter Enkel haben, dass die Hoffnung in der Jugend liegt und dass die Jugend uns Zuversicht geben muss, aber wir auch der Jugend Zuversicht geben müssen. Deshalb freue ich mich besonders, dass heute auch junge Menschen da sind, mit denen wir nachher diskutieren werden. Papst Franziskus hat kürzlich ein Buch mit dem Titel „Gott ist jung“ veröffentlicht. Er beruft eine Jugendsynode ein. Er hat den Jugendlichen gesagt, sie sollen sich nicht zum Schweigen bringen lassen. Das sind ganz wesentliche Botschaften, die wir uns auch in der Politik zu Herzen nehmen sollen. Meine Damen und Herren, die Lampe ist Inspiration für mich, für viele, denen ich von dieser Lampe erzählen werde und für viele, die sie schon bekommen hatten. Herr Präsident Santos, ich übernehme Ihren Vorschlag, sie auf meinem Schreibtisch aufzustellen, sodass sie nicht in Vergessenheit geraten kann. Lassen wir uns von dem Vorbild und der gelebten Nächstenliebe des Heiligen Franz von Assisi immer wieder inspirieren. Lassen wir uns die „Lampe des Friedens“ eine Mahnung sein, über eigene Interessen hinweg die Bedürfnisse anderer nicht zu übersehen und über das Klein-Klein des Alltags das große Ganze des friedlichen Zusammenlebens nicht aus den Augen zu verlieren. Papst Franziskus hatte 2016 hier in Assisi am Weltgebetstag für den Frieden gesagt – ich möchte ihn abschließend zitieren: „Der Friede ist ein Geschenk Gottes und unsere Aufgabe ist es, um ihn zu bitten, ihn zu empfangen und ihn jeden Tag mit seiner Hilfe aufzubauen.“ Lassen wir uns von diesen ermutigenden Worten anstecken. Lassen wir uns in unserem täglichen Tun davon inspirieren. Das sage ich Ihnen zu im Rahmen meiner Kräfte. Aber darum bitte ich auch alle Anwesenden hier und alle, die uns heute zuhören. Die Kraft, Frieden zu schaffen, kann die Welt gar nicht genug gebrauchen. Herzlichen Dank für die Ehre, dass ich heute hier sein darf.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 101. Deutschen Katholikentag am 11. Mai 2018 in Münster
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-101-deutschen-katholikentag-am-11-mai-2018-in-muenster-1122406
Fri, 11 May 2018 11:12:00 +0200
Münster
Sehr geehrter Herr Kardinal Turkson, sehr geehrter Herr Professor Brück, sehr geehrter Herr Professor Sternberg, danke für die Einführung, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren, danke für die Begrüßung in Ihrer wunderbaren Stadt. Es ist mir eine große Freude, heute bei Ihnen in Münster zu sein. Der Deutsche Katholikentag findet hier zum vierten Mal statt. Allerdings mussten Münster und die Münsteraner 88 Jahre warten, bis es zur diesjährigen Neuauflage kam. Umso wunderbarer zeigt sich die Stadt als Gastgeber. Dazu herzlichen Glückwunsch. Die Stadt Münster wurde im Jahr 2004 als lebenswerteste Stadt der Welt ausgezeichnet. Ich glaube, das Lebensgefühl dieser Stadt hat auch sehr viel mit Haltung zu tun. Am 7. April, in den traurigen und bangen Stunden nach der Todesfahrt am Spiekerhof, haben die Münsteraner uns alle in Deutschland mit ihrer Haltung, mit ihrer Besonnenheit und Hilfsbereitschaft sehr beeindruckt. Ich möchte auch heute nochmals die Gelegenheit nutzen, um den Angehörigen der Opfer und den Verletzten mein tiefempfundenes Mitgefühl auszudrücken und danke zu sagen für das Bild, das die Stadt in diesen schweren Stunden abgegeben hat. Ich glaube, man kann sagen, dass Hilfsbereitschaft, Zusammenhalt und das positive Lebensgefühl auch etwas mit dem Katholizismus zu tun haben, der in dieser Stadt wirklich gelebt wird – und das nicht nur während des Katholikentags. Meine Damen und Herren, das Motto „Suche Frieden“ ist in der Tat hellseherisch gewählt. Wenn man in Münster ist, dann muss man aber auch über Frieden sprechen. Das ist ja auch als Aufgabe für mich und unsere Diskussionsrunde heute gestellt. Ich will einige einführende Worte sagen. Der 30-jährige Krieg – daran denken wir in diesem Jahr 2018 – hat vor 400 Jahren begonnen. Wir wissen, er hat unendlich viele Verwüstungen angerichtet. Im Jahr 1648 wurde nach langem und zähem Ringen der Westfälische Frieden von Münster und Osnabrück geschlossen. Es hat Jahre gedauert, Frieden zu finden. Bei uns heute ist es ja manchmal so: Wenn man bei irgendeinem Konfliktherd nach einem halben oder einem Jahr noch keinen richtigen Fortschritt erzielt hat, dann sagt man: Das wird nie etwas. Die Beendigung des 30-jährigen Krieges war jedenfalls eine äußerst lange und langwierige Angelegenheit. Seit Jahrhunderten und nicht erst beginnend mit dem 30-jährigen Krieg treibt die Suche nach Frieden Menschen um. Es wurden immer wieder Erfolge erzielt. Und es waren aber auch immer wieder Rückschläge zu verzeichnen. Wir brauchen Frieden. Jeder Einzelne braucht Frieden, um sich entfalten zu können. Wir brauchen Frieden innerhalb unserer Gesellschaften, wir brauchen Frieden zwischen den Staaten. Martin Luther King, der vor 50 Jahren ermordet wurde, hat einmal gesagt: „Wahrer Friede bedeutet nicht lediglich die Abwesenheit von Konflikten, sondern die Gegenwart von Gerechtigkeit.“ Das ist etwas, was uns noch weiter beschäftigen wird. Bei der Friedenssicherung geht es immer um die Würde des einzelnen Menschen. In unserem Grundgesetz gibt es den Artikel 1, der von dieser Würde als einer unantastbaren Würde berichtet – im Übrigen nicht nur bezogen auf die, die in Deutschland, im Geltungsbereich des Grundgesetzes, leben. Dies ist eine universale Überzeugung, die wir teilen. Wir dürfen, wenn wir über Krieg und Frieden sprechen, nie vergessen, dass das nicht etwas Anonymes ist, sondern dass dahinter immer menschliche Schicksale stehen. Angesichts der vielen Bilder von Menschen heutzutage, die in Konflikten leben, deren Würde mit Füßen getreten wird, ist es vielleicht eine unserer größten Aufgaben, nicht abzustumpfen. Wenn wir es nicht schaffen, dies emotional zu erfassen, kann Abstumpfung entstehen. Dem müssen wir vorbeugen. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns auf diesem Katholikentag mit diesen Themen beschäftigen. Europa kann sich über eine jahrzehntelange Zeit des Friedens, einzigartig in der Geschichte, freuen. Aber wir sind der Schrecknisse des Zweiten Weltkriegs immer noch gewärtig. Wir müssen aber auch daran denken, dass wir in einer sehr sensiblen Zeit leben, weil die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs jetzt etwa die Zeit eines Menschenlebens ist und jene, die den Zweiten Weltkrieg noch selbst erlebt haben, bald nicht mehr unter uns sein werden. Das ist so, als wenn man seine Eltern verliert. Plötzlich sind die Kinder wirklich erwachsen. Dann kann man sich nicht mehr darauf berufen, dass einem noch jemand aus eigener Erfahrung von dieser Zeit erzählt. Entweder haben wir etwas aus der Geschichte gelernt oder wir haben nichts gelernt. Manchmal denke ich darüber nach, dass wir überzeugt davon sind, wir hätten alles gelernt und dass so etwas nicht wieder passieren könnte. Ganz sicher bin ich mir nicht. Daher müssen wir uns immer wieder vergewissern, ob wir tatsächlich die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen haben. Nach dem Ende des Kalten Kriegs hatten wir gedacht, dass die Zeit der großen Auseinandersetzungen vorbei sei. Wir wurden am Beispiel der Kriege auf dem Westlichen Balkan sehr schnell eines anderen belehrt. Noch heute ist es eine unserer außenpolitischen Aufgaben – damit habe ich gerade auch in dieser Woche wieder viel Zeit verbracht –, dort die Friedensordnung zu sichern. Sie ist sehr fragil. Ob man sich Kosovo, Serbien, Bosnien und Herzegowina anschaut, ob man sich den Namensstreit um Mazedonien anschaut – Grenzkonflikte hier und dort. Selbst Slowenien und Kroatien reden noch über ihre Grenze. All diese Probleme müssen wir lösen, damit nicht permanent eine gewisse Spannung vorhanden ist, die sich jederzeit wieder entladen kann. Wir haben innerhalb der Europäischen Union, einer erweiterten Union, eigentlich keine Konflikte mehr, bei denen es um Krieg und Frieden geht. Aber wenn wir uns den Raum der Freizügigkeit, den sogenannten Schengenraum und dessen Außengrenzen anschauen, dann merken wir, dass viele Konflikte dieser Welt direkt an unseren Außengrenzen stattfinden. Mit Blick auf die Ukraine setzen wir uns mit der Annexion der Krim und der Besetzung der Ostukraine auseinander, um zu versuchen, Lösungen zu finden. Ich sage gleich noch etwas dazu. An den Schengenraum grenzt auch die Türkei, ein Nachbar von Griechenland. Was viele sich gar nicht vergegenwärtigen: Syrien ist ein Nachbar von Zypern; und Zypern gehört zu dem Raum, in den wir gerne in den Urlaub fahren und bei dem wir sagen: Gut, dass wir keinen Pass vorzeigen müssen. Aber direkt daneben ist eben Syrien. Daran grenzen Israel und Jordanien an. Gegenüber Italien liegt Libyen. Wenn Sie von Ägypten nach Tunesien fliegen und über das Mittelmeer schauen, dann sehen Sie auch Sizilien und Malta. Sie sehen, dass das alles überhaupt nicht weit entfernt voneinander liegt. Das alles liegt direkt vor unserer Haustür. Dass uns Entwicklungen in der Nachbarschaft beeinflussen, dass wir uns davon nicht einfach abkoppeln können, haben wir am Beispiel der Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind, gesehen. Flüchtlinge haben Syrien verlassen, weil dort erst ein Bürgerkrieg war, dann Terrorismus in Form des Islamischen Staats eingefallen ist, den wir bekämpfen mussten, und inzwischen ein Regionalkonflikt herrscht, in dem auch mehrere große Länder ihre Interessen vertreten: Russland, die Türkei, Saudi-Arabien, Iran. Die Bürger dieses Landes spielen an vielen Stellen nur noch eine untergeordnete Rolle. In Syrien ist es so gekommen, dass die Hälfte der Bevölkerung inzwischen auf der Flucht ist. Syrien hatte mehr als 20 Millionen Einwohner. Über zehn Millionen sind auf der Flucht – die eine Hälfte außerhalb des Landes, die andere Hälfte im Land. In diesem Konflikt sind schon mehr Menschen umgekommen als im gesamten israelisch-palästinensischen Konflikt. Es ist dringlich an einer politischen Lösung zu arbeiten. Auch Deutschland und die neue Bundesregierung haben sich entschieden, sich dort stärker zu engagieren. Das wird ein langer Prozess sein. Dabei erinnert vieles an die Konflikte des 30-jährigen Kriegs, an die verschiedenen Interessen. Da spielen Religionen eine Rolle, da spielt Bürgerkrieg eine Rolle, da spielen politische Ordnungen eine Rolle, aber eben auch die Einflusssphären großer Interessenvertreter dieser Welt. Meine Damen und Herren, zurück zur Ukraine. Wir haben mit Frankreich gemeinsam im Normandie-Format Verantwortung übernommen. Wir haben das Minsker Abkommen geschlossen. Das Ergebnis ist, was die Umsetzung anbelangt, sehr bedrückend, muss ich sagen. Man kann es positiv sehen und sagen, wir haben eine Eskalation dieses Konflikts verhindert. Aber wir haben noch an keinem Tag wirklich Waffenruhe gehabt. Fast jede Nacht kommen dort Soldaten der Ukraine um. Deshalb heißt es, weiterzuarbeiten und weiter im Gespräch zu bleiben. Ohnehin glaube ich, dass Reden eines der wichtigen Instrumente ist, auch wenn es manchmal nicht sofort Erfolge bringt. Man muss versuchen, im Gespräch zu bleiben. Das ist allemal besser, als gegeneinander Krieg zu führen. Zurück zum großen Konfliktherd Syrien und Iran. Dabei ist auch das Existenzrecht Israels betroffen. Wir unterstützen das Existenzrecht Israels. Ich habe gesagt, die Sicherheit Israels gehört zur Staatsraison aufgrund unserer Geschichte, der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Daher ist die Kündigung des Atomabkommens mit dem Iran ein Grund für große Sorge, auch ein Grund für Bedauern. Dieses Abkommen ist in zwölfjähriger Arbeit erarbeitet worden; es war ein langer diplomatischer Prozess und verlief sicherlich alles andere als ideal. Ich stimme auch zu, dass es in Bezug auf den Iran viele andere Themen gibt, die große Sorge bereiten: der Kampf gegen Israel, das ballistische Raketenprogramm, die Rolle, die der Iran in Syrien spielt. Trotzdem glaube ich, dass es nicht richtig ist, ein Abkommen, das verabredet wurde, über das man dann im UN-Sicherheitsrat abgestimmt hat, das man einstimmig gebilligt hat, einseitig aufzukündigen. Das verletzt das Vertrauen in die internationale Ordnung. Wir Europäer haben an unseren Außengrenzen im Grunde alle Probleme der Nachbarschaft mit dem eigentlich fantastischen Kontinent Afrika vor uns. In Libyen gibt es keine oder nur eine sehr schwache staatliche Ordnung. Wir unterstützen die leisen Anzeichen für eine Ordnung. In Libyen geht es Flüchtlingen, die aus afrikanischen Ländern kommen, richtig schlecht. Die Menschenwürde wird mit Füßen getreten. Ich möchte dem UNHCR, der Internationalen Organisation für Migration, all jenen, die sich engagieren, um das Leben der Flüchtlinge zu verbessern, ein herzliches Dankeschön sagen. Wie im Brennglas zeigt sich hier die ganze Aufgabe, vor der wir stehen, weil völlig klar ist: Wenn wir davon sprechen, die Ursachen von Flucht und Vertreibung zu bekämpfen, dann heißt das nicht nur, Konflikte, kriegerische Konflikte, Bürgerkriege einzudämmen, sondern dann heißt das eben auch, Entwicklungschancen zu eröffnen. Deshalb ist das Thema „Marshallplan für Afrika“, über das Sie gestern auf dem Katholikentag mit Gerd Müller, dem Entwicklungsminister, gesprochen haben, deshalb sind unsere Kontakte mit der Afrikanischen Union so wichtig. Und deshalb bin ich so dankbar dafür, dass wir nachher mit Kardinal Turkson darüber diskutieren können, wie sich dieser Kontinent besser entwickeln kann. Und ich bin dankbar dafür, dass die Afrikanische Union nach vielen, vielen Jahren einen Entwicklungsplan bis 2063 aufgestellt hat, um zu sagen, wie sie sich die Entwicklung Afrikas vorstellt. Denn es kann nicht immer so weitergehen, dass wir sagen, was für Afrika gut ist. Afrika muss vielmehr selbst sagen, was gut für Afrika ist. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nur noch zwei Aspekte nennen. – Ich muss mich kurzfassen. Wir können nachher weitersprechen. Der eine Aspekt, der unter Christen eine große Rolle spielt, ist die Frage: Welche Rolle hat in der Friedenssicherung das Militärische? Militärischer Einsatz ist die Ultima Ratio. Aber ich habe intensive Gespräche mit Präsidenten afrikanischer Staaten geführt, zum Beispiel mit dem nigrischen Präsidenten Issoufou, der mir bittere Vorwürfe gemacht und gesagt hat: „Frau Merkel, was soll ich machen? Mein Land ist eines der ärmsten Länder in Afrika. Durch das, was in Libyen entstanden ist, ist unsere Region voll von Waffen. Es gibt terroristische Bedrängnisse von Boko Haram von Süden her; wir haben sie von Norden her durch Terroristen, die aus Libyen kommen. Ich habe kein Geld, um meine eigene Bevölkerung zu verteidigen. Ich bekomme von niemandem einen Kredit – nicht von der Weltbank, nicht von der Entwicklungspolitik der Europäischen Union. Kein Land gibt uns Hilfe. Aber ohne Sicherheit kann ich keine Entwicklung betreiben.“ Wir haben uns entschieden, zu unterstützen, weil er mir gesagt hat: „Sie haben im Rahmen der Mission MINUSMA Blauhelmtruppen nach Mali geschickt. Darunter sind viele Menschen aus Bangladesch. Die kennen sich bei uns nicht aus. Meine Soldaten könnten die Terroristen besser bekämpfen, aber ich kann diese Truppen nicht finanzieren.“ Wir haben uns entschieden, die Eingreiftruppe gegen Terrorismus in den fünf Staaten der Sahelzone Mauretanien, Burkina Faso, Niger, Mali und Tschad zu unterstützen, ihr mit unserem Know-how über militärische Operationen zu helfen und auch den Staaten zu helfen, ihre Soldaten zu bezahlen. Denn Soldaten, die nicht bezahlt werden, werden auch nicht gegen Terroristen kämpfen. Auch das ist ein Thema, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Wir können nicht überall unsere Soldaten hinschicken. Aber Soldaten zu befähigen, gegen die Feinde der Demokratie und der Entwicklung in den jeweiligen Ländern aufzutreten, ist unsere Pflicht, obwohl wir wissen, dass militärische Mittel die Ultima Ratio sind, und wir in Deutschland der Meinung sind, dass Konfliktlösung immer zuerst politische Anstrengung und Anstrengung zur Entwicklung bedeutet, aber eben auch Herstellung von Sicherheit. Der letzte Aspekt, den ich ansprechen möchte, ist: Nach dem Zweiten Weltkrieg, der durch Deutschland angezettelt wurde, und nach dem Holocaust war die Weltgemeinschaft zu unglaublichen Taten fähig. Im Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg, im Oktober war der Grundstein für die Vereinten Nationen gelegt. Man hat eine Charta der Menschenrechte entworfen, wie wir sie heute wahrscheinlich nicht zustände bekämen. Damit hat etwas, ähnlich wie nach dem Westfälischen Frieden – dieses Mal global –, stattgefunden, bei dem die Menschheit gesagt hat: Wir müssen miteinander, multilateral, eine Ordnung schaffen, auf die Verlass ist und die globalen Frieden und Sicherheit schützen kann. Der UN-Sicherheitsrat zum Beispiel, die UN-Vollversammlung, all die Organisationen der Vereinten Nationen – das funktioniert, auch wenn man dazu viel Kritisches sagen kann; einmal so und einmal so. Aber was ich mit Sorge sehe, ist, dass im Augenblick – das ist vielleicht das, was uns am meisten beunruhigen muss – der Multilateralismus wirklich in einer Krise ist. Ich habe das am Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika und des Iran-Abkommens gesagt. Ich kann das genauso hinsichtlich des Klimaabkommens und einiger Fragen zum WTO-Abkommen sagen. Wenn wir immer, wenn es uns einmal nicht passt und wir international keine neue Ordnung hinbekommen, sagen: „Dann macht eben jeder, worauf er Lust hat“, dann ist das eine schlechte Nachricht für die Welt. Insoweit müssen wir uns entscheiden. Für Deutschland, jedenfalls für die Bundesregierung, kann ich sagen: Wir entscheiden uns auch in schweren Zeiten für eine Stärkung des Multilateralismus, weil wir glauben, dass dies bei aller Unbeholfenheit, bei aller Unfertigkeit der beste Ansatz ist, Win-win-Situationen zu schaffen, Situationen zu schaffen, in denen sich alle einbringen können, um dann hoffentlich auch akzeptable Ergebnisse zu erzielen. Das ist die Aufgabe, die jetzt drängender denn je vor uns steht. Dies ist auch deshalb eine so heikle Zeit, weil diejenigen, die die Schrecken des Zweiten Weltkriegs noch erlebt haben, nicht mehr unter uns sind oder bald nicht mehr unter uns sein werden. Ich habe mich auch einmal mit dem Augsburger Religionsfrieden befasst. Er wurde 1555 geschlossen. Und dann dauerte es auch nur ungefähr ein Lebensalter, bis 1618 lauter neue Akteure am Werk waren, die gedacht haben: Hier kann ich noch eine kleine Forderung mehr stellen, und da kann ich noch ein bisschen härter herangehen. Und schwupp – schon war die ganze Ordnung im Eimer und der 30-jährige Krieg brach aus. Die Lehre daraus ist, dass in der Zeit, in der wir jetzt leben, wir unsere Schritte gut überlegen, dass wir besonnen agieren, dass wir in der Sprache klar sind. Meine Antwort heißt: weiterhin ein Bekenntnis zum Multilateralismus. Da wir auf einem Katholikentag sind, wage ich, mit einem Bibelwort zu enden. Der Prophet Jesaja hat gesagt: „Das Werk der Gerechtigkeit wird Friede sein und der Ertrag der Gerechtigkeit sind Ruhe und Sicherheit für immer.“ So muss die Reihenfolge lauten, wenn wir Frieden schaffen wollen. Ich freue mich jetzt auf die Diskussion.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Festveranstaltung zum 60. Stiftungsjubiläum der Friedrich-Naumann-Stiftung am 10. Mai 2018 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-festveranstaltung-zum-60-stiftungsjubilaeum-der-friedrich-naumann-stiftung-am-10-mai-2018-in-berlin-1122396
Thu, 10 May 2018 19:12:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck, sehr geehrter Herr Prof. Morlok, sehr geehrter Herr Gerhardt, sehr geehrter Herr Prof. Paqué, lieber Norbert Lammert, lieber Christian Lindner, lieber Taavi Rõivas, liebe ehemalige und heutige Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und den Landtagen, sehr geehrte Damen und Herren! Ich bedanke mich, lieber Wolfgang Gerhardt, für diese Einladung. Ich bin gerne hierhergekommen. Trotz Meinungsverschiedenheiten gehört so etwas zu den vornehmen Tugenden der Demokratie. Und um auf das kleine Gedankenexperiment von Christian Lindner einzugehen, ob ich froh oder nicht froh bin, dass ich Alexander Dobrindts konservative Revolution nicht Jürgen Trittin erklären muss, würde ich sagen: Im Fall der Fälle hätte Christian Lindner das charmant, gerne und sehr präzise übernommen. – Meine Damen und Herren, ein bisschen Spaß muss sein. Jetzt wird es aber seriös. Eine Stiftung für die Freiheit – das ist in der Tat ein großes Versprechen. Die Friedrich-Naumann-Stiftung hält, was sie verspricht – und das nicht erst seit der Ergänzung des Stiftungsnamens vor elf Jahren. Die Stiftung und ihr Wirken zu würdigen – dafür gibt es mehr als genügend Gründe. Einer davon ist gewiss auch, dass Fürsprecher der Freiheit nicht immer einen leichten Stand haben. Denn Freiheit gleicht gewissermaßen der Gesundheit: Erst wenn es an ihr mangelt, dann weiß man sie zu schätzen. Wir leben heute in einem geeinten Europa, in einem freiheitlichen, demokratischen rechtsstaatlichen Deutschland. Alles in allem leben wir in einem Wohlstand, um den uns viele auf der Welt beneiden. Und da kann es schon passieren, dass der Wert der Freiheit ein bisschen in den Hintergrund tritt. Da ist einem vielleicht nicht immer bewusst, welch zutiefst menschliches Bedürfnis Freiheit ist und was Freiheit deshalb auch zu bewegen vermag. Max Weber beschrieb dieses Phänomen vor über 120 Jahren vor dem Hintergrund der Abwanderung von Tagelöhnern, die der Knechtschaft auf preußischen Landgütern entkommen wollten, und zog das Resümee: „Wer es nicht zu entziffern vermag, der kennt den Zauber der Freiheit nicht.“ Wo könnte man heute den Zauber der Freiheit besser spüren als hier in Berlin – der einst geteilten Stadt, die heute für ein vereintes Deutschland und ein geeintes Europa steht? Mittlerweile ist eine Generation herangewachsen, die die Mauer, Gott sei Dank, nur noch aus Geschichtsbüchern kennt. Nächstes Jahr wird sich der Mauerfall bereits zum 30. Mal jähren. Und ich sage es ganz ehrlich: Vor 30 Jahren schien für mich Bonn, wo die Naumann-Stiftung gegründet wurde, ebenso unerreichbar zu sein wie New York – und der Besuch einer Jubiläumsfeier einer Einrichtung, die liberalen Werten verpflichtet ist, ebenso unwahrscheinlich wie die Deutsche Einheit. Aber ich – und mit mir viele, viele andere – durfte die Erfahrung machen: Nichts muss so bleiben, wie es ist. Die DDR-Parteiführung mochte zwar eine ganze Bevölkerung ummauert haben – in wörtlichem wie in übertragenem Sinne –, doch den menschlichen Freiheitsdrang, den Wunsch, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, konnte letztlich auch keine Mauer aufhalten. Sonst wären wir heute auch nicht hier: in einer ungeteilten Stadt, in einem wiedervereinten Staat, der demokratisch ist und sich nicht nur demokratisch nennt. Ja, den Zauber der Freiheit, von dem Max Weber einst sprach, können wir heute verspüren wie wohl nie zuvor in unserer Geschichte. Wer hätte das für möglich gehalten, als das zerstörte Deutschland am Ende des Zweiten Weltkriegs, den es selbst entfesselt hatte, am Boden lag – staatlich, wirtschaftlich und moralisch? Nichts, was Deutschland heute auszeichnet, war damals zu erwarten: weder Demokratie noch Rechtsstaat, weder wirtschaftliche Stärke und erst recht keine Partnerschaft auf Augenhöhe in Europa und der Welt. Dennoch dauerte es keine zehn Jahre, bis das sogenannte Wirtschaftswunder in der noch jungen Bundesrepublik seinen Lauf nahm. 1957 wurden die Römischen Verträge unterzeichnet – ein Bravourstück weitsichtiger Europäer, die nur in einer zusammenwachsenden europäischen Gemeinschaft eine dauerhafte Friedensgarantie sahen. Doch zunächst waren Jahre voller Entbehrungen zu durchleben. Infolge der Kriegszerstörungen herrschte große Wohnungsnot. Millionen von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen aus vormals deutschen Gebieten und Übersiedler aus der DDR suchten ihren Platz in der westdeutschen Gesellschaft. In den 50er Jahren verfestigte sich die Blockkonfrontation. Deutschland und Europa waren geteilt. Das Verhältnis zu den europäischen Nachbarn war angespannt und von Misstrauen geprägt. Die Niederschlagung des Volksaufstands in der DDR am 17. Juni 1953 hatte Hoffnungen auf mehr Freiheit und Selbstbestimmung zunichte gemacht. Die junge westdeutsche Demokratie musste sich selbst und ihre Institutionen auch erst festigen. Die Westalliierten hatten erst im Mai 1955 das Besatzungsstatut für die Bundesrepublik Deutschland aufgehoben. Wenn wir in das zeitliche Umfeld der Stiftungsgründung vor 60 Jahren zurückblicken, dann sehen wir, dass viele Deutsche vor allem die beschämende Vergangenheit und die materiellen Entbehrungen der Nachkriegszeit hinter sich lassen wollten. Sie wollten nach vorn blicken und ein Leben in Normalität führen. Doch wie genau sollte dieses Leben aussehen? Die meisten Deutschen waren mit demokratischen Gedanken wenig vertraut. Auch mit der Weimarer Republik verbanden viele eher negative Erfahrungen. Die Deutschen hatten lange in einem totalitären Regime gelebt oder waren darin aufgewachsen. Demokratie musste erst gelernt und geübt werden. Auch die Partei des Liberalismus in der Bundesrepublik, die FDP, musste erst Schritt für Schritt zu sich finden. Nach Abspaltung und Austritten von Bundesministern und Abgeordneten ging die Bundes-FDP 1956 in die Opposition. Und dort blieb sie auch nach der Bundestagswahl 1957, während Konrad Adenauer mit absoluter Mehrheit von CDU und CSU zum dritten Mal zum Bundeskanzler gewählt wurde. In dieser Zeit, in der sich die FDP in schwierigem Fahrwasser befand, nahm die Idee einer Stiftung des Liberalismus Formen an. Sie zielte zum einen darauf ab, den organisierten Liberalismus zu modernisieren, um für die FDP neue Wählergruppen zu gewinnen. Das gelang auch ziemlich schnell, wie wir heute wissen. Denn 1961 erzielte die FDP ihr bis dahin bestes Ergebnis, das sie erst 2009 übertreffen sollte. Zum anderen ging es den Stiftungsgründern um mehr als Programmatik. Es ging ihnen auch und vor allem um politische Bildung – darum, die Ideen und Wertvorstellungen des Liberalismus zu vermitteln. So wollten sie mehr Bürger zu politischem Engagement ermutigen und befähigen. Die parteipolitische Krise als Chance zu sehen, um neue Kräfte zu mobilisieren – dieser Gedanke verdiene Unterstützung, wie der erste FDP-Bundesvorsitzende und erste Bundespräsident Theodor Heuss befand; im Übrigen ein Gedanke, den wir zum Beispiel auch nach 1998 in der CDU sehr stark durchlebt haben. Theodor Heuss jedenfalls – auch bekannt für seine höfliche Zurückhaltung – wollte die neue Stiftung nicht nach sich benannt wissen. Sein akademischer und politischer Lehrer, Friedrich Naumann, sollte der Namenspatron werden. Tatsächlich passte die Namenswahl gut zu den Stiftungszielen, auch wenn Friedrich Naumann neben seinem Reichstagsmandat in seinem Leben nie ein herausgehobenes politisches Amt übernahm. Doch er wusste mit einer bemerkenswerten politischen Schaffenskraft zu beeindrucken. Als Publizist, als Redner und im Kreise politisch Gleichgesinnter entwickelte er viele Ideen, die später in die Strukturen der deutschen Demokratie Eingang finden sollten. Naumann war ein leidenschaftlicher Zeitgenosse des Kaiserreichs, der sich aber in seinem Denken und Wirken nicht in verfestigten Strukturen verfing. Nein, im Laufe seines öffentlichen Wirkens blieb er am Puls der Zeit: als Pfarrer und später als freier Schriftsteller, als Gründer des Nationalsozialen Vereins und später als Mitglied der Freisinnigen Vereinigung, als Mitbegründer des Deutschen Werkbunds und später der Deutschen Demokratischen Partei, als Mitglied des Reichstags und später als Mitglied der Weimarer Nationalversammlung. Naumann ließ sich von festen Überzeugungen leiten, zeigte sich aber weniger idealistisch als vielmehr pragmatisch. In einem Nachruf zu seinem Tode 1919 heißt es entsprechend: „Als Gewissen seines Volkes hat er aber auch sofort alles Neue realpolitisch unter den Gesichtspunkt der Möglichkeiten gerückt und ist stets ein erklärter Gegner aller Ideologien gewesen, die die Erprobung an der Wirklichkeit scheuten; das kleinste Stückchen wirklich gestaltetes Gute wog ihm schwerer als ein ganzer Sack erhabener Gedanken.“ Ja, als Mann der Tat war Naumann der Überzeugung, dass der Mensch fähig ist, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Und er sah es als gesellschaftliche Aufgabe an, den Menschen dazu zu befähigen. Daher setzte sich Naumann für Mitbestimmungsrechte von Fabrikarbeitern ein. Er wollte keine schlichten Sozialleistungen, er machte sich für die Beteiligung der Besitzlosen an der industriellen Macht stark. Die betriebliche Mitbestimmung ist heute ein Eckpfeiler der sozialen Stabilität in Deutschland. Ebenso entschieden forderte Naumann das Recht der Frauen auf politische Teilhabe ein. Wir erinnern in diesem Jahr an die Einführung des Frauenwahlrechts vor 100 Jahren. Das war vielen engagierten Frauen zu verdanken – zum Glück aber auch männlichen Unterstützern dieser Freiheitsbewegung. Und wenn wir an die Beteiligung der Frauen denken – ich gucke mal Nicola Beer an; sie war als Gast dabei, als wir kürzlich 70 Jahre Frauenunion feierlich begangen haben –: Da haben sowohl CDU als auch FDP noch einiges zu tun. Friedrich Naumann war sich bewusst, dass eine Gesellschaft nicht auf die Teilhabe der Hälfte ihrer Mitglieder verzichten darf – im Übrigen ebenso wenig wie die Wirtschaft, die auf Fähigkeiten von Frauen nicht leichtfertig verzichten sollte. Dieses Postulat gewann auch dadurch Gewicht, dass während des Ersten Weltkriegs zunehmend Frauen in den Fabriken die Lücken schlossen, die die Männer hinterließen, die in den Krieg gezogen waren. In jedem Fall aber war Friedrich Naumann niemand, der es bei bloßen Forderungen beließ. Er dachte die praktischen Seiten immer mit. Gegen Ende des Weltkriegs und des Kaiserreichs entwickelte er den Plan einer freien deutschen Hochschule für Politik; davon war heute schon die Rede. Als eine Staatsbürgerschule sollte sie zur Demokratie erziehen. Daraus entstand letztlich das Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin. 1958 war es dann soweit: Die Friedrich-Naumann-Stiftung wurde ins Leben gerufen. Mit der Namensgebung bekannten sich die Gründer wie einst Naumann zu der Pflicht, möglichst viele Menschen als mündige Bürger zu unterstützen, die sich vom Staat nicht bevormunden lassen, sondern ihre Freiheit nutzen, um ihren Staat mitzugestalten. Das sagt sich so leicht. Aber im Grunde bedeutet Freiheit ja auch Zumutung – die Zumutung, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen, für sich und für andere. Diese Zumutung äußert sich vor allem, wenn von der Qual der Wahl die Rede ist. Schließlich will man sich ja richtig entscheiden. Das erfordert eine Überprüfung der Alternativen. Das mag manchmal unbequem erscheinen. Außerdem: Kennt man denn überhaupt alle Alternativen? Und selbst dann: Kann man sie überhaupt in all ihren Folgewirkungen richtig einschätzen? So kommt also zur Unsicherheit vielleicht auch die Furcht, falsch zu entscheiden und damit Unannehmlichkeiten auf sich zu ziehen. Und wie einfach ist es doch dann, Entscheidungen anderen zu überlassen. Wie einfach ist es doch, sich darauf zu verlassen, dass sich andere um das Gemeinwohl kümmern. Sollte sich deren Entscheidung dann als richtig erweisen, werden die wohltuenden Folgen gerne und selbstverständlich hingenommen. Sollten sich die Entscheidungen als falsch erweisen, wie einfach ist es doch dann, über die Fehler anderer zu schimpfen – hinterher ist man ja sowieso oft klüger. Deshalb braucht es Mut, Entscheidungen zu treffen – auch und gerade, wenn deren Folgen nicht zweifelsfrei absehbar sind. Es braucht Mut, für seine Entscheidungen geradezustehen und im Zweifelsfall auch Kritik auf sich zu ziehen. Ja, solcher Mut hat etwas mit Zumutung zu tun. Freiheit ist die Zumutung, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und für sein Tun und Lassen auch Verantwortung zu übernehmen. Aber ein Gemeinwesen kann eben nur mit Menschen bestehen, die solchen Mut haben – Menschen, denen bewusst ist, dass es ein Wert an sich ist, überhaupt zwischen Alternativen wählen zu können; Menschen, die den Wert der Entscheidungsfreiheit nicht erst dann erkennen, wenn man keine Wahl mehr hat, wenn eine Gruppe, eine Partei oder ein Regime den unmäßigen Anspruch erhebt, allein zu wissen, wie die Menschen zu leben haben. Die Politik eines totalitären Systems entmündigt den Menschen, beschneidet die Entscheidungsfreiheit. Das lässt das System erstarren. Es ist zumindest – davon bin ich überzeugt – auf Dauer nicht in der Lage, neuen Entwicklungen und Herausforderungen gerecht zu werden. Und daran sind letztlich auch die Staaten des sogenannten Ostblocks gescheitert. Andererseits kann aber auch ein Gesellschaftsmodell keine Zukunft haben, demnach Freiheit als Bindungslosigkeit und Grenzenlosigkeit, als Freiheit von allem begriffen wird. Das leuchtet unmittelbar ein. Denn so werden Starke immer stärker zulasten der Schwachen, die immer schwächer werden. Und das zerreißt eine Gesellschaft. Die Lehre daraus ist: Wer persönliche Entfaltungsmöglichkeiten erwartet und einfordert, muss zugleich selbst bereit sein, im Interesse des Gemeinwohls zu denken und zu handeln. Und hier knüpft die Naumann-Stiftung an, indem sie seit sechs Jahrzehnten Bürgerinnen und Bürger fortbildet und zu Engagement in und für Staat und Gesellschaft ermutigt. So lädt die Stiftung auch jetzt, im Mai, wieder zu zahlreichen Vorträgen, Diskussionen, Lesungen und Schülerveranstaltungen ein. Die Themenpalette reicht von der Schule der Zukunft bis zur Zukunft der Europäischen Union, von der Meinungsfreiheit im Netz bis zur Pressefreiheit in der Türkei. Allein diese wenigen Beispiele zeigen: Die Naumann-Stiftung scheut sich nicht vor schwierigen Themen. Sie mischt sich in aktuelle Debatten ein. Sie zeigt, was liberale Ideen heute bedeuten. Friedrich-Naumann-Stiftung – das bedeutet auch Stipendien für begabte und engagierte Studierende. Viele könnten ohne Stipendium gar nicht studieren. In jedem Fall bietet die Stiftung ihren Stipendiaten neben einem breit gefächerten Programm auch ein Netzwerk. Das garantiert interessante Begegnungen. Das hilft, den eigenen Horizont zu erweitern. Das schließt geradezu wörtlich den Blick über Landesgrenzen hinaus mit ein. Es werden also auch ausländische Studierende und Promovierende gefördert. Diese profitieren von den Möglichkeiten der wissenschaftlichen Arbeit hierzulande. Umgekehrt profitieren wir vom Austausch mit klugen Köpfen aus aller Welt. International denkt und agiert die Friedrich-Naumann-Stiftung schon lange. Seit den 60er Jahren hat sie ein weltweites Netz von Regional- und Länderbüros aufgebaut. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kooperieren mit lokalen Partnerorganisationen, die sich wie sie den Werten von Freiheit und Demokratie verbunden und verpflichtet sehen. Nicht immer ist das Umfeld für einen offenen Gedankenaustausch, für die Förderung eines lebendigen demokratischen Miteinanders ideal. Deshalb verdient das Engagement umso mehr Wertschätzung. – Ich grüße alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Naumann-Stiftung wie auch der anderen Stiftungen, die in einem teils wirklich schwierigen Umfeld herausragende Arbeit leisten. Die Friedrich-Naumann-Stiftung ist mit ihrem Auslandsengagement auch ein wichtiger Partner für unsere Botschaften und Konsulate. Wie auch andere deutsche politische Stiftungen wirbt sie weltweit für ein plurales Gesellschaftsmodell. Es ist eine drängende Aufgabe, für bürgerliche Rechte und Freiheiten einzutreten. Wir sehen aber, dass auf Menschen, die dies tun, an vielen Orten der Welt Restriktionen und Repressionen einwirken. Nichtregierungsorganisationen werden, teils auch per Gesetz, in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt, manchmal gar nicht zugelassen. Im schlimmsten Falle werden engagierte Bürgerinnen und Bürger persönlich drangsaliert oder verfolgt. Die deutschen politischen Stiftungen können diese Entwicklung nicht distanziert verfolgen. Es geht um ihre Partner. Und es betrifft sie oft selbst. Die Bundesregierung setzt sich daher bei den Regierungen anderer Staaten – wo auch immer es erforderlich ist – für eine sichere Arbeitsgrundlage politischer Stiftungen ein. Die Stiftungen sind nicht an das staatliche Neutralitätsgebot gebunden. Sie arbeiten nach dem Maßstab ihrer Überzeugungen. Damit bilden sie die Vielfalt unseres politischen demokratischen Systems ab. Es ist richtig, die politischen Stiftungen und die Parteien organisatorisch zu trennen. Doch es geht gewiss nicht darum, die Nähe zu einer bestimmten politischen Strömung bzw. Partei zu verleugnen. Die weltanschauliche Überzeugung einer politischen Stiftung darf und soll sogar deutlich werden. Es sollte nicht gleichgültig sein, ob eine Veranstaltung von der Friedrich-Naumann-Stiftung oder der Konrad-Adenauer-Stiftung konzipiert wird, ob ein Verein oder eine Initiative von der Hanns-Seidel- oder der Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert wird. Denn in der Arbeit der Stiftungen spiegelt sich in besonderer Weise die Lebendigkeit unserer Demokratie und die Vielfalt unserer Diskussionskultur wider – und das unabhängig vom Stimmungshoch oder -tief der jeweiligen politischen Parteien, die ihnen nahestehen. Ihre politische Bildungsarbeit ist und bleibt nach Wahlen genauso wichtig wie vor Wahlen. Viele der Freiheiten, die Naumann wortgewandt einforderte und pragmatisch vertrat, haben wir heute erreicht: Deutschland ist ein Rechtsstaat, eine gefestigte Demokratie. Die Bürgerinnen und Bürger genießen politische Teilhabe. Wir können uns glücklich schätzen, eine offene Gesellschaft zu sein, die auf Dialog setzt. Dialog macht auch einen wesentlichen Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur aus. Nur über Dialog kann Politik Menschen erreichen und sie auf dem Weg auch mühsamer, aber eben chancenreicher Entscheidungen mitnehmen. Politik sollte aber keinesfalls so tun, als sei alles möglich. Damit wäre einerseits Enttäuschung vorprogrammiert. Andererseits würde sie nur einer Haltung Vorschub leisten, in der bürgerliche oder gar mitmenschliche Verantwortung einfachheitshalber an den Staat delegiert wird. Das fängt schon bei kleinen Dingen an – und wenn es nur weggeworfener Müll im Park ist; dafür gibt es doch eine Stadtreinigung. Oder für die Erziehung und Bildung der Kinder gibt es doch Kindergärten und Schulen; warum sollte ich mich denn noch extra um die Hausaufgaben meines Kindes kümmern? Und für unsere pflegebedürftigen Angehörigen suchen wir uns ein Heim – wofür zahlen wir denn Pflegeversicherungsbeiträge? Natürlich ist es aus verschiedensten Gründen nicht jedem möglich, diese oder jene soziale oder gesellschaftliche Verantwortung zu schultern; das ist auch nicht mein Punkt. Anlass zur Sorge besteht vielmehr dann, wenn Verantwortung mehr oder weniger schleichend abgeschoben wird, obwohl eine eigenständige Übernahme möglich und zumutbar ist. Denn wir sollten uns stets bewusst sein: Freiheit birgt in sich die Gefahr, sich selbst zu beschränken – sei es aus Bequemlichkeit, Desinteresse oder Eigennutz. Das gilt auch mit Blick auf die wirtschaftliche Freiheit, die durch Wettbewerb bewahrt wird bzw. bewahrt werden sollte. Wir brauchen einen funktionstüchtigen Wettbewerb, der uns anstachelt, immer wieder Innovationen zu schaffen, die letztlich unseren Wohlstand in einer globalisierten Welt sichern. Lange bevor Ludwig Erhard um ein Kartellgesetz kämpfte, sprach sich schon Naumann dafür aus, dass – ich zitiere – „alle demokratischen Kräfte an der Umgrenzung der Übermacht der Kartelle arbeiten müssen.“ Er erkannte also die demokratische und soziale Dimension eines funktionierenden Wettbewerbs, der Chancen für viele eröffnet, statt Privilegien für wenige zu festigen. Für uns heute bildet die Soziale Marktwirtschaft den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Rahmen, der die Ziele „Wachstum“ und „soziale Gerechtigkeit“ miteinander versöhnt. Wir wissen: Wirtschaftlicher Erfolg beruht auf vielen Faktoren. Sozialer Friede und gesellschaftlicher Zusammenhalt gehören dazu. Aber ebenso wissen wir: Nur ein freiheitlicher Staat, der Luft zum Atmen lässt und bürgerliches Engagement unterstützt, kann ein gerechter und damit menschlicher Staat sein. Meine Damen und Herren, was wir nicht wissen, ist, ob Friedrich Naumann mit der Namenswahl der Stiftung einverstanden gewesen wäre. Aber ich glaube, er wäre stolz auf das, was in den vergangenen 60 Jahren in seinem Namen erreicht worden ist. Er wäre stolz auf die vielen engagierten Mitstreiter, die in Deutschland und der Welt die Ideen der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der freien Entfaltung des Individuums vermitteln. Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit – sie wird auch in Zukunft gebraucht, um Menschen zu befähigen, sich mit politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit bewusst auseinanderzusetzen. Weltanschauliche und politische Überzeugungen gibt es viele. Aber in einer Demokratie sollte es immer auch einen Grundkonsens geben. Dieser Konsens sieht den Menschen und seine individuelle Würde im Zentrum allen politischen Tuns und Lassens. Nur dann kann der Zauber der Freiheit seine segensreiche Wirkung entfalten. Die Friedrich-Naumann-Stiftung hält das Erbe ihres Namensgebers in Ehren. Sie hält es in Ehren, indem sie mit ihrem Engagement dem Namenszusatz „für die Freiheit“ alle Ehre macht. Dafür bin ich sehr dankbar. Und dafür wünsche ich Ihnen auch in Zukunft eine glückliche Hand. Herzlichen Glückwunsch zum 60. Geburtstag. Und herzlichen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der Verleihung des Karlspreises am 10. Mai in Aachen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-angela-merkel-anlaesslich-der-verleihung-des-karlspreises-am-10-mai-in-aachen-1008452
Thu, 10 May 2018 11:45:00 +0200
Im Wortlaut
Aachen
Sehr geehrter Herr Staatspräsident, lieber Emmanuel Macron, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Trägerinnen und Träger des Karlspreises, sehr geehrtes Karlspreiskomitee, Exzellenzen, meine Damen und Herren, ein geeintes Europa – dafür setzt die Stadt Aachen mit der Verleihung des Karlspreises Jahr für Jahr ein besonderes Zeichen. Denn so, wie es Europa verdient, gefeiert zu werden, verdienen es auch Menschen, die an dieses Europa nicht nur glauben, sondern die es durch eigene Taten mit Leben erfüllen, geehrt zu werden. Der Namensgeber dieses Preises, Karl der Große, der bereits zu Lebzeiten „Vater Europas“ genannt wurde, machte Ende des 8. Jahrhunderts Aachen zu seiner Lieblingspfalz. Er versammelte hier Gelehrte aus ganz Europa. Die Impulse, die damals für Wissenschaft und Kultur von Aachen ausgingen, wirken bis heute nach. In diesem Rathaus, in der Nähe des Aachener Doms, spüren wir die kulturellen Wurzeln auf Schritt und Tritt. Wir spüren auch das Auf und Ab europäischer Geschichte. 2018 jährt sich das Ende des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal. Der heutige Preisträger, Emmanuel Macron, stammt aus Amiens, einer Stadt, vor deren Toren einst eine ganze europäische Generation in den Schützengräben verblutete. Wer vor den Gräbern der vielen jungen Menschen steht, die um ihr Leben betrogen wurden, weil nationale Engstirnigkeit und Verblendung unseren Kontinent an den Abgrund geführt haben, weiß um den Wert der europäischen Einigung. Sie hat uns Frieden und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gebracht. Nur die europäische Einigkeit ist es, die uns diese Errungenschaften auch für die Zukunft sichert. Wer einen Blick auf die Liste der Karlspreisträger seit 1950 wirft, sieht darin ein Spiegelbild der jüngeren europäischen Geschichte. Von der Montanunion über die Gründung der Europäischen Union bis zur Euro-Einführung und der großen Osterweiterung – es waren immer Persönlichkeiten, couragierte Frauen und Männer, die Europa ein Gesicht gegeben haben; und alle eint ihre Leidenschaft für die europäische Sache. Ja, Europa braucht Leidenschaft und lebt von Leidenschaft – eine Leidenschaft, mit der auch unser heutiger Preisträger, der Präsident der Französischen Republik, Emmanuel Macron, seine Aufgabe wahrnimmt. Emmanuel Macron ist 1977 geboren. Er war elf, zwölf Jahre alt, als der Kalte Krieg zu Ende ging. Mit Emmanuel Macron hat ein junger, dynamischer Politiker die europäische Bühne betreten, für den die europäische Integration, für den die gemeinsame Währung eine Selbstverständlichkeit ist – ein Politiker, der aber auch spürt, dass diese Selbstverständlichkeit das größte Risiko für die europäische Integration, für das europäische Modell darstellt. Vielleicht ist das auch deshalb so, weil es immer weniger Menschen gibt, die uns als Zeitzeugen von den Anfängen Europas berichten können, von dem notwendigen Mut und den notwendigen Kompromissen. Emmanuel Macron weiß, dass die heutige Generation mit eigener Inspiration Europa weiter gestalten muss. Er hat verstanden – es auch wiederholt ausgesprochen; zuletzt am 17. April vor dem Europäischen Parlament in Straßburg –, dass es angesichts der unterschiedlichen Herausforderungen im Inneren der EU wie im Äußeren auf die heutige Generation ankommt. Ihre historische Verantwortung ist es, die europäische Demokratie, die europäische Werteordnung, das europäische Sozialmodell, die Würde jedes einzelnen Menschen, kurz: alles, was die europäische Identität ausmacht, engagiert zu verteidigen, zu festigen und, wo erforderlich, auf eine neue Grundlage zu stellen. Lieber Emmanuel, das heutige Datum, der 10. Mai, mahnt uns. 1933 haben an diesem Tag Nationalsozialisten in Berlin und anderen deutschen Universitätsstädten Bücher zahlreicher ihnen missliebiger Autoren verbrannt, Werke von Heinrich Heine und Sigmund Freud, von Heinrich und Thomas Mann, Karl Marx und Kurt Tucholsky. Heute, 85 Jahre beziehungsweise ein Menschenleben später, müssen wir daran erinnern, dass Freiheitswerte ein zerbrechliches Gut sind, das wir immer wieder schützen und verteidigen müssen. Dabei geht es heute wieder verstärkt darum – so hast du es wiederholt ausgeführt –, den engstirnigen, rückwärtsgewandten Nationalismen und den autoritären Versuchungen entgegenzutreten. In Straßburg hast du von der Autorität der Demokratie gesprochen, die stärker sein muss als die autoritären Versuchungen. Was zeichnet Emmanuel Macron aus, dass er zu Recht bereits heute, ein Jahr nach seiner Amtsübernahme, den Karlspreis erhält? Lassen Sie mich drei Aspekte in den Vordergrund stellen. Erstens: Emmanuel Macron weiß, was Europa im Innersten zusammenhält. Zweitens: Emmanuel Macron hat klare Vorstellungen davon, wo und wie sich Europa weiterentwickeln sollte. Drittens: Emmanuel Macron bringt seine Begeisterungsfähigkeit für Europa ein. Diese Begeisterungsfähigkeit motiviert die, die sich für Europa engagieren, aber vor allem vermag sie auch Zögernde und Zaudernde zu gewinnen; und sie ist entscheidend, um sich den Ewiggestrigen entgegenzustellen. Emmanuel Macron hat es sowohl im Wahlkampf als auch im politischen Alltag verstanden, bei allem, was er tut, diese Begeisterungsfähigkeit zu verkörpern. Daraus speist sich der Aufbruch, der von seiner Wahl zum französischen Präsidenten ausgegangen ist. Emmanuel Macron weiß, dass nur ein selbstbewusstes Frankreich der europäischen Idee Schwung geben kann. Deshalb arbeitet er nicht nur konsequent an der Umsetzung seiner Reformagenda, sondern er reaktiviert auch die geistigen, philosophischen und kulturellen Wurzeln seines Vaterlands. Emmanuel Macron weist immer wieder auf die Bedeutung der Bewahrung und Stärkung der europäischen Demokratie hin – von seinen Ausführungen in Athen, am Fuße der Akropolis, am 7. September des vergangenen Jahres bis hin zu seiner Rede vor dem Europäischen Parlament. Eine funktionierende Demokratie und ein funktionierender Rechtsstaat auf nationaler und europäischer Ebene sind entscheidende Voraussetzungen dafür, dass sich die Europäer entfalten können, dass die Grund- und Menschenrechte geachtet werden, dass fair und frei um die besten Lösungen für ein Gemeinwesen gerungen werden kann, auch wenn dies manchmal etwas mehr Zeit in Anspruch nimmt, als dem einen oder anderen lieb ist. Und mehr noch: Emmanuel Macron spricht immer wieder davon, wie unsere kulturelle und historische Zusammengehörigkeit über Jahrhunderte gewachsen ist, im Guten wie im Bösen. Ich denke besonders an seine Rede in Frankfurt am Main im Oktober 2017 aus Anlass der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse. Emmanuel Macron hat darin Zeugnis von seinem Verständnis der kulturellen Identität Europas abgelegt. Es ist wichtig, dass in einer Zeit, in der oft mehr auf den letzten Paragrafen einzelner Richtlinien und Verordnungen geschaut wird, diese Dimension immer wieder in den Blick genommen wird. In der Philosophie, in der Literatur, in unseren Sprachen, auch in der Musik, in der Malerei oder in der Architektur haben sich alle europäischen Nationen seit Jahrhunderten ausgetauscht und gegenseitig befruchtet. – Lieber Herr Bischof, danke für Ihre Predigt, die uns die Dimension der Religion, des Christentums, bei der Inspiration all dessen nochmals vor Augen geführt hat. Nicht umsonst hat Emmanuel Macron seine Europarede an der Sorbonne gehalten. Das Europa der Gelehrten, das Europa der Wissenschaft ist älter als die Römischen Verträge. Über die Gelehrtenwelt hinaus haben aber auch Händler, auf Wanderschaft gehende Gesellen oder Pilger zu einem ständigen Austausch auf unserem Kontinent beigetragen. Ohne diese gemeinsame Basis hätte sich die europäische Integration in Politik und Wirtschaft nie entfalten können. Unterschiede trennen uns nicht, sondern führen uns immer wieder zusammen – in der Neugier auf den anderen, im Bemühen, zu verstehen. Gerade auch Deutsche und Franzosen wissen das. Wir haben unterschiedliche politische Kulturen, wir nähern uns den Themen Europas oft aus unterschiedlichen Richtungen, wir sprechen, wir hören einander zu – und wir finden schließlich auch gemeinsame Wege. Das sind die Herausforderungen und der Zauber Europas, wie ich ihn, wenn ich das persönlich sagen darf, gerade in der Zusammenarbeit mit dir in diesem Jahr immer wieder erlebt habe, lieber Emmanuel Macron. Ein Rückzug ins Nationale führt in die Irre. Uns Europäer verbindet mehr als nur der gemeinsame Markt oder die gemeinsame Währung. Europa muss auch immer mehr sein als die gemeinsame Geschichte, als die Überwindung früherer Gegensätze und Kriege auf unserem Kontinent. Heute geht es darum, dass Europa das entscheidende Zukunftsprojekt unseres Kontinents ist. Papst Franziskus hat in seiner Grußbotschaft zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge uns, den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, zugerufen: „Europa findet wieder Hoffnung, wenn es sich der Zukunft öffnet.“ Er hat dies gesagt, nachdem er im Europäischen Parlament von Europa als einer Großmutter gesprochen hat. Es ist zwar auch etwas Schönes, Großmutter zu sein. Aber dass der Papst davon spricht, dass wir wieder Hoffnung finden, wenn wir uns der Zukunft öffnen, spricht Bände. Angesichts der großen globalen Herausforderungen sind wir Europäer nur zusammen in der Lage, unseren Einfluss geltend zu machen. Nur gemeinsam gewinnen oder erhalten wir unsere Handlungsfähigkeit – Emmanuel Macron würde sagen: unsere Souveränität. Eine der spannenden Debatten zwischen Deutschland und Frankreich über die Souveränität betrifft immer wieder die Frage: Wie weit muss dieses zukünftige Europa schützen; und wie viel Offenheit brauchen wir als Europäer dafür? Wie finden wir in diesem Spannungsfeld die richtige Balance? Diese Frage durchzieht alle unsere Diskussionen – beim Handel, bei der Gestaltung des digitalen Binnenmarkts oder bei der Gestaltung einer gemeinsamen Außenpolitik. Worum geht es? Europa muss zeigen, dass es in einer globalisierten Welt nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung ist. Das ist die zentrale Frage, die Emmanuel Macron dazu veranlasst hat, mit seiner Rede an der Sorbonne die Erneuerung der Europäischen Union in den Mittelpunkt seiner Politik zu stellen. Das ist auch der Grund, warum wir in Deutschland das Kapitel zur Fortentwicklung der Europäischen Union an den Anfang unseres Koalitionsvertrags gestellt haben. Das ist der Grund, warum wir gemeinsam mit Frankreich überzeugt sind, dass wir einen neuen Aufbruch in Europa brauchen. Gemeinsam müssen wir auf die großen Fragen der Gegenwart und der Zukunft auf europäischer Ebene sehr konkrete Antworten geben. Lassen Sie mich vier Bereiche nennen. Erstens: eine europäische Innovations- und Investitionsstrategie zur wirtschaftlichen Stärkung in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung. Europa war immer ein Wohlstandsversprechen. Aber angesichts der gewaltigen Herausforderungen der technologischen Transformation ist es nicht mehr sicher, dass wir diejenigen sind, die den Gang der Welt bestimmen. Um ehrlich zu sein: Wir tun dies an vielen Stellen heute nicht. Wir müssen den Anspruch haben, hier wieder aufzuschließen – ob es dabei um Künstliche Intelligenz geht, bei der Deutschland und Frankreich eng zusammenarbeiten werden, oder ob es um die Frage geht, wie wir mit disruptiven Innovationen umgehen. Deutschland und Frankreich werden nächste Woche in Sofia, wenn wir uns mit den europäischen Staats- und Regierungschefs treffen, einen Vorschlag für eine neue institutionelle Zusammenarbeit in Europa machen. Ich unterstütze den Vorschlag von Präsident Macron, europäische Universitäten zu schaffen, um die Bildungs- und Forschungslandschaft in Europa voranzubringen. Die Unterzeichnung einer gemeinsamen Erklärung am 12. April dieses Jahres in Straßburg durch die Verantwortlichen in Baden-Württemberg und in der französischen Region Grand Est ist der erste konkrete Schritt in diese Richtung. Damit werden die fünf regionalen Universitäten am Oberrhein zu einer beispielhaften Wissenschaftsregion zusammengeführt. Dies brauchen wir auch dringend. Denn wir, die wir in Europa zum Beispiel die ersten Autos gebaut haben, sind heute auf Batterien aus Asien und auf digitale Zulieferung aus Amerika angewiesen. Das kann nicht unser Anspruch in der Sozialen Marktwirtschaft sein. Wir sind den Menschen verpflichtet, vorn mit dabei zu sein. Das ist nur mit einer großen europäischen Kraftanstrengung möglich. Zweitens: die europäische Asyl- und Migrationspolitik. Die Freizügigkeit ist sozusagen die Grundlage des Binnenmarkts. Aber wir können diese Freizügigkeit nur erhalten, wenn wir unsere Asylsysteme reformieren, wenn wir sie zu einem gemeinsamen System entwickeln. Dieses muss solidarisch sein, es muss fair sein, es muss krisenfest sein. Zum Erhalt der Freizügigkeit gehört unabdingbar auch der Schutz der europäischen Außengrenzen. Aber wir wissen, dass Mauern nicht helfen werden, das Problem zu lösen. Vielmehr brauchen wir eine gemeinsame Afrikapolitik. Allein in dem Jahr, in dem Emmanuel Macron in der Verantwortung als Präsident ist, haben wir zum Beispiel in der Sahelzone bereits beispielhafte Kooperationen, eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit erreicht; und wir werden diese fortentwickeln. Drittens: Meine Damen und Herren, natürlich brauchen wir die Wirtschafts- und Währungsunion, die nachhaltig gestaltet sein will. Viele Diskussionen drehen sich in diesen Tagen genau um diesen einen Punkt. Ich darf Ihnen verraten: Ja, es sind schwierige Diskussionen, die wir mit verschiedenen kulturellen Perspektiven führen. Aber wir werden Fortschritte bei der Bankenunion machen, wir werden Fortschritte bei der Kapitalmarktunion machen, wir werden die Eurozone kräftigen, wir werden sie wettbewerbsfähiger machen. Wir haben uns vorgenommen, Lösungen dafür bis Juni zu präsentieren. Und das wird auch geschehen. Viertens: die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Europas Beitrag zu Frieden und Stabilität hängt von unseren Fähigkeiten ab, gemeinsam zu handeln und international mit einer Stimme zu sprechen. Nach Jahrzehnten ist es uns in den letzten Monaten gelungen, eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigungspolitik zu erreichen. Das ist ein Riesenschritt, den es lange nicht gab. Aber seien wir ehrlich: Bezüglich der gemeinsamen Außenpolitik steckt Europa noch in den Kinderschuhen. Diese wird aber existenziell notwendig sein. Denn die Art der Konflikte hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges vollständig verschoben. Sehr viele große globale Konflikte finden vor der Haustür Europas statt. Und es ist nicht mehr so, dass die Vereinigten Staaten von Amerika uns einfach schützen werden, sondern Europa muss sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Das ist die Aufgabe der Zukunft. Beispielhaft für das, was vor unserer Haustür stattfindet, nenne ich die Länder des westlichen Balkans. Ich möchte dem heute anwesenden Vorsitzenden im Rat der Europäischen Union, Boyko Borisov, dafür danken, dass er bereit ist, in der nächsten Woche die Länder des westlichen Balkans und die EU-Staats- und Regierungschefs nach Sofia einzuladen. Wir haben hier eine Verpflichtung, die über Krieg und Frieden auf unserem Kontinent entscheidet; und dieser Verpflichtung müssen wir nachkommen. Einen wichtigen Schritt sind Deutschland und Frankreich im Zusammenhang mit dem Konflikt in der Ukraine gegangen. Ich freue mich, dass Petro Poroschenko heute unter uns ist. Wir haben zwar noch nicht die Erfolge im Normandie-Format erreicht, die wir erreichen wollten, aber wir wissen: Zur Lösung von Konflikten braucht man oft einen langen Atem. Den werden wir auch weiter aufbringen, damit die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine gesichert werden kann. Gemeinsam haben wir – ganz besonders Großbritannien, Frankreich und Deutschland – unsere Haltung zum Iran-Nuklearabkommen verteidigt. Wir wissen, dass wir hier vor einer extrem komplizierten Situation stehen. Die Eskalationen der vergangenen Stunden zeigen uns, dass es wahrlich um Krieg oder Frieden geht. Ich kann nur alle Beteiligten aufrufen, Zurückhaltung zu üben. Wir brauchen eine politische Lösung in der gesamten Region vor unserer Haustür. Syrien ist nicht irgendwo, sondern grenzt an Mitgliedstaaten der Europäischen Union wie zum Beispiel Zypern. Deshalb wird es darauf ankommen, in den nächsten Wochen und Monaten sehr viel stärker daran zu arbeiten – ich sage auch für Deutschland, dass wir uns stärker einbringen müssen –, eine politische Lösung für alles, was mit Syrien zusammenhängt, zu finden. Denn wir sehen ja in Deutschland an den vielen Flüchtlingen, die zu uns gekommen sind, dass wir nicht einfach wegschauen können, sondern dass wir daran arbeiten müssen, dass es auch in dieser Region wieder friedlicher wird. Meine Damen und Herren, die europäische Entwicklung befindet sich zweifellos in einer entscheidenden Phase. Jeder spürt das. Die Gründerväter haben Europa als Lehre aus den schrecklichen Kriegen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschaffen. Europa ist und bleibt ein Friedensprojekt. Die historische Verantwortung unserer Generation besteht darin, Europa dauerhaft als das positive Zukunftsprojekt unseres Kontinents zu verankern und in der globalen Weltordnung zu verorten. Dafür werden alle Staats- und Regierungschefs zusammen mit der Europäischen Kommission weiter intensiv arbeiten, jeder Einzelne von uns mit ganzer Kraft, auch – mit der ihm eigenen Leidenschaft – unser heutiger Preisträger, Emmanuel Macron. Lieber Emmanuel, ich gratuliere dir von Herzen. Deine Begeisterung, dein Einsatz, deine Courage reißen andere mit. Du sprühst vor Ideen und hast die europapolitische Debatte mit Vorschlägen neu belebt. Die heutige Auszeichnung soll nicht nur Bestätigung sein, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, sondern auch Bestärkung und Ansporn, diesen Weg zuversichtlich weiterzugehen. Ich freue mich, auf diesem Weg mit dir gemeinsam arbeiten zu können. Herzlichen Dank und herzlichen Glückwunsch.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Verabschiedung des Präsidenten von acatech ‑ Deutsche Akademie der Technikwissenschaften e. V.,
Herrn Prof. Henning Kagermann am 8. Mai 2018 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-verabschiedung-des-praesidenten-von-acatech-deutsche-akademie-der-technikwissenschaften-e-v-herrn-prof-henning-kagermann-am-8-mai-2018-in-berlin-1008240
Tue, 08 May 2018 17:37:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Bundespräsident Köhler, sehr geehrter Herr Prof. Spath, sehr geehrter Herr Leukert, liebe Frau Kollegin Karliczek, liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestags, sehr geehrte Damen und Herren und vor allem natürlich Sie, lieber Herr Prof. Kagermann, ich bin sehr gern hierhergekommen, nicht wissend, dass noch solch ein origineller musikalischer Beitrag erfolgt. Was will man da eigentlich noch reden, wenn man schon einen so schönen musikalischen Beitrag gehört hat? Aber ich bin gern hergekommen, um danke zu sagen. Mit der acatech haben wir seit 2008 eine nationale Akademie von internationalem Rang. Ich weiß noch, wie Herr Milberg zu mir kam und sagte: Wir brauchen so etwas. Dann haben wir ewig diskutiert, wie wir eine nationale Akademie hinbekommen – was später auch stattfand. Aber dass es die acatech schon vorher gab, hat ein bisschen dabei geholfen, die Leopoldina auf dem grundlagenwissenschaftlichen Gebiet als nationale Akademie zu krönen. Insofern war die acatech nicht nur international, sondern auch national ein Vorreiter. Bei aller Liebe zum Föderalismus kann man nationale Bündelungen vielleicht doch ab und an ganz gut brauchen. Nun haben Sie, Herr Prof. Kagermann, fast neun Jahre als Ko-Präsident die Akademie geleitet. Sie haben sich als Stimme und als Förderer der Technikwissenschaften so etabliert, dass Ihre Meinung gar nicht mehr wegzudenken ist. Deshalb hat die Verabschiedung auch etwas Seltsames an sich. Aber Satzungen haben ja auch ihr Gutes. Ich mache mir auch keine Sorgen, dass Ihnen nicht irgendetwas einfällt, was Sie sonst noch tun können. Wenn man es sich überlegt, dann stellt man fest, dass neun Jahre bei der heutigen Innovationsdynamik eine ewige Zeitspanne sind. Vor neun Jahren hatten nur etwa sechs Millionen Deutsche ein Smartphone. Heute sind es 60 Millionen. Jeder Dritte in Deutschland kann sich inzwischen ein Leben ohne soziale Netzwerke gar nicht mehr vorstellen. In den letzten neun Jahren hat sich zum Beispiel der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttostromverbrauch mehr als verdoppelt. Wir gehen jetzt auf 40 Prozent zu. Das zeigt, dass wir in unserem Land, um vorn mit dabei zu sein, eine enge Verzahnung von Wissenschaft und Wirtschaft brauchen, um die Potentiale Deutschlands als Forschungs- und Hightech-Standort bestmöglich zu nutzen. Wir brauchen die Expertise beider Seiten. Deshalb möchte ich auch das Thema Elektromobilität erwähnen, das Sie, Herr Prof. Kagermann, immer wieder koordinierend vorangebracht haben. Die Elektromobilitätsplattform ist vielleicht noch nicht ausreichend gewürdigt worden, weil mancher fragt: Wo bleibt die eine Million Elektrofahrzeuge? Aber die, die mit der Art und Weise der Wirkung exponentieller Verläufe vertraut sind, wissen, dass sich so etwas von einer Anfangsphase sehr schnell in eine dynamische entwickeln kann. Insofern sind wir, denke ich, auf einem guten Pfad. Wir haben erlebt, wie verschiedene Bereiche zusammenkommen mussten. Wir hatten nach der großen Tradition der Elektrochemie die elektrochemischen Lehrstühle deutschlandweit doch weitgehend eliminiert. Das wurde wieder umgekehrt. Wir wissen heute um die große infrastrukturelle Herausforderung, auch was das Zusammenbringen von technischem Know-how für die Elektromobilität und Ladeinfrastruktur anbelangt. Darüber habe ich gerade auch heute mit einem der Automobilbauer intensiv gesprochen. Ich freue mich, Herr Kagermann, dass Sie gesagt haben: Wir brauchen eine Batteriezellenproduktion in Europa. Selten habe ich ein Beispiel dafür erlebt, dass man der Wirtschaft das, von dem man glaubt, dass sie es braucht, sozusagen so sehr nahebringen muss. Ich entdecke jetzt ein gewisses Umdenken bei den Automobilherstellern. Denn wenn man sich überlegt, dass eines Tages 40 bis 50 Prozent der Wertschöpfung eines Elektromobils in Form der Batterie erfolgen wird und dann noch 20 Prozent bis 30 Prozent durch digitale Komponenten und dass das eine vielleicht aus Asien und das andere aus Amerika kommt, dann sieht man, dass für die deutsche Wertschöpfung nicht mehr viel übrigbleibt. Vielleicht schaffen wir es jetzt, im Rahmen der strategischen Initiativen mit den europäischen Automobilbauern, die wir in Europa haben können, doch etwas hinzubekommen. Ich werde mich sehr dafür einsetzen. Aber ganz ohne mitarbeitende Wirtschaft geht es natürlich nicht. Es reicht nicht, wenn die Politik jeden Tag sagt: Ihr braucht aber Batteriezellen, glaubt’s mir nur. Die Nationale Plattform Elektromobilität lag bei Prof. Kagermann in besten Händen. Wir werden sie jetzt in eine umfassende Mobilitätsplattform fortentwickeln. Es ist sehr gut, dass Sie auch im Ethikrat mitgearbeitet haben, der sehr schnell zu konsistenten Ergebnissen gekommen ist, die wir jetzt nur noch umsetzen müssen, um dann Anweisungen für die Programmierung der Algorithmen zu geben. Das wird noch ein hartes Stück Arbeit. Das Schlagwort „Industrie 4.0“ ist wesentlich auch durch Sie entstanden. Es ist inzwischen in der Tat ein Wort, das, wie mir Herr Prof. Spath gerade zuflüsterte, selbst in China am Ende mit „ie“ geschrieben wird. Man weiß also um die deutsche Herkunft. Hoffentlich wird das beim Patentschutz und beim geistigen Eigentum genauso beachtet. Wir brauchen im Bereich Innovation und Technik neben den technischen Entwicklungen natürlich auch immer die Akzeptanz. Bundespräsident Roman Herzog, einst auch Senatsvorsitzender der Akademie, hat einmal zu bedenken gegeben: „Innovationsfähigkeit fängt im Kopf an, bei unserer Einstellung zu neuen Techniken, zu neuen Arbeits- und Ausbildungsformen, bei unserer Haltung zur Veränderung schlechthin.“ Er zog dann das Resümee: „Die Fähigkeit zur Innovation entscheidet über unser Schicksal.“ acatech hat – unter Ihrer Ko-Präsidentschaft auch ganz besonders – immer wieder diese Frage des Schicksals in die Hände genommen, hat für Veränderung geworben, hat über technologische und wissenschaftliche Entwicklungen informiert und auch immer wieder Empfehlungen erarbeitet. Das war das Schöne, dass aus der Mixtur Ihrer universitären Karriere plus der Tätigkeit in der Wirtschaft herauskam: Nichts verlor sich im Nirwana, sondern alles, das Sie anpackten, endete in bestimmten Schlussfolgerungen und Aufgaben. Deshalb war es eine unglaublich spannende Zeit. Und ich würde mich freuen, wenn wir die noch einmal verlängern könnten. Wir bei der Bundesregierung haben nämlich keine Satzung mit begrenzten Amtszeiten, wenn es darum geht, im Innovationsdialog mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Es ist ja gar nicht so einfach, dass Politiker, zu denen abends eine Gruppe von 20 oder 25 Leuten kommt, leicht erschöpft und ermattet vom täglichen Tun und immer noch auf das Handy schauend sich dann noch über neue technische Entwicklungen belehren und informieren lassen wollen. Herr Prof. Kagermann hat aber immer durch perfekte Vorbereitung überzeugt. Ich möchte auch dem Team, das dahinter steht, und allen, die mitgemacht haben, ein herzliches Dankeschön sagen. Er hatte immer gut präparierte Materialien, die auch lesbar waren, und konnte die Inhalte in kürzester Zeit zusammenfassen. Dass ich von Sprunginnovationen gehört habe, kommt von dieser Form der Beschäftigung. Tiefere Einsichten in Biotechnologien und in Fragen der Mensch-Maschine-Interaktion – das alles ist diesem Innovationsdialog zu verdanken. Ich glaube, wir sollten ihn wirklich fortsetzen. Denn wir haben Fortschritt ja nicht gepachtet. Wir erleben im Augenblick am Beispiel der Künstlichen Intelligenz, wie sehr man nach einer Situation, in der man in der vorderen Gruppe dabei war, plötzlich auch Rückstände aufholen muss, wenn es in die Breite der Implementierung geht. Da es bei der Künstlichen Intelligenz so ist, dass man sie nur richtig gut entwickeln kann, wenn man ein positives Grundverhältnis zu großen Datenmengen hat, tun wir Deutschen uns ein wenig schwer, hier sozusagen die Fütterung mit Substanz richtig vorzunehmen. Mir hat neulich einmal jemand gesagt: „Künstliche Intelligenz ohne Daten zu entwickeln, ist wie Kühe ohne Futter zu züchten.“ Insofern ist das also eine Aufgabe, bei der wir unser Verhältnis zu Daten noch gesellschaftlich fortentwickeln müssen. Wir wollen die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Anja Karliczek setzt sich als neue Forschungsministerin für eine steuerliche Forschungsförderung und vor allem für den Aufwuchs der Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ein, die zu einem Drittel von der staatlichen Seite und zu zwei Dritteln seitens der Wirtschaft vorgenommen werden. Damit komme ich auch wieder zum schon erwähnten Bereich der Automobilindustrie, da sie einer der forschungsintensivsten Bereiche ist. Wenn alles, was da zu erforschen ist, außerhalb von Deutschland stattfinden würde, dann würden wir es selbst bei allen staatlichen Maßnahmen sehr schwer haben, den Anteil von 3,5 Prozent wirklich zu erreichen. Meine Damen und Herren, wir sind heute zusammengekommen, weil sich Herr Prof. Kagermann von einem Lebensabschnitt verabschiedet. Er hat als Wanderer zwischen verschiedenen Welten immer wieder Experten und Interessenten zusammengeführt. Dafür auch von meiner Seite einen ganz herzlichen Dank. Als Sie 2009 bei Ihrem Abschied von SAP einmal auf das Thema Wehmut angesprochen wurden, gaben Sie zu verstehen: „Wehmut entsteht unter zwei Voraussetzungen“ – so präzise muss man das erst einmal definieren können –: „Entweder du glaubst, du hättest etwas verpasst und müsstest das jetzt nachholen. Oder du glaubst, das Leben kann dir nichts mehr geben. Beides trifft bei mir nicht zu.“ Ich vermute, es geht Ihnen heute ähnlich wie beim Abschied von SAP. Und deshalb werden wir Sie in Anspruch nehmen, wann immer es möglich ist, wann immer Sie einen Ratschlag haben und eben auch, wenn Sie mitmachen, im neuen Innovationsdialog in dieser Legislaturperiode. Da der Weg der Innovation ja keine Sackgasse ist, geht die Reise weiter. Ich freue mich, dass wir Karl-Heinz Streibich als neuen acatech-Präsidenten begrüßen dürfen. Dass es an Themen und Herausforderungen nicht mangelt, ist ihm aus seiner bisherigen Tätigkeit schon bekannt. Deshalb auf gute Zusammenarbeit auch in der Funktion als Präsident. Und nochmals herzlichen Dank, Herr Kagermann.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel auf der Festveranstaltung zum 350-jährigen Bestehen des Unternehmens Merck
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-auf-der-festveranstaltung-zum-350-jaehrigen-bestehen-des-unternehmens-merck-1008184
Thu, 03 May 2018 11:51:00 +0200
Im Wortlaut
Darmstadt
Sehr geehrter Herr Spangenberg-Haverkamp, sehr geehrter Herr Oschmann, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Volker Bouffier, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Partsch, Exzellenz, meine Damen und Herren und vor allem: liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Merck, die dieses Ereignis von verschiedenen Stellen aus verfolgen, 350 Jahre sind eine stolze Zahl. Es fällt uns heute gar nicht so leicht, uns in die damalige Zeit zu versetzen. Es wird in diesen Tagen viel über den 400. Jahrestag des Beginns des Dreißigjährigen Krieges gesprochen, an dessen Ende ein verwüstetes Europa, ein verwüstetes Deutschland stand. Nur 20 Jahre nach Ende dieses Krieges begann die Geschichte des Unternehmens, die schließlich zu einer jahrhundertelangen Firmengeschichte wurde. Umgekehrt konnte man sich damals noch viel weniger vorstellen bzw. konnte man es sich überhaupt nicht vorstellen, dass aus dem Unternehmen ein großer und global aktiver Konzern werden könnte. Auch als Konzern liegt das Unternehmen immer noch in den Händen der Gründerfamilie. Ich kann natürlich nur vermuten, was Sie als Familie seit Generationen unermüdlich antreibt. Es scheint aber so, dass die Familie Merck mit Wissen, Willen und Können reich gesegnet ist. Genau das macht das Traditionsunternehmen ja auch zu einem guten Stück gelebter Sozialer Marktwirtschaft, auf das nicht nur das Bundesland Hessen stolz ist, sondern die Bundesrepublik Deutschland insgesamt. Deshalb bin ich sehr gern wieder zu Ihnen gekommen – ich sage „wieder“, denn 2010 war ich zur Eröffnung des Materialforschungszentrums schon einmal hier. Heute bin ich hier, wenn das neue Innovationszentrum eröffnet wird, das Experten und Start-ups zusammenbringt und verschiedene Kompetenzen bündelt. Forschung und Innovation – das hat Merck immer ausgezeichnet. Konsequenterweise steht Ihr Jubiläum unter dem Motto – das wäre zu Beginn wahrscheinlich etwas anders gewesen; damals wurden Deutsch und Englisch nicht so vermischt –: „Imagine. Immer neugierig auch in den nächsten 350 Jahren“ – „Celebrate Curiosity“. Es wäre interessant zu hören, in welcher Sprache dann in 350 Jahren gefeiert wird. Aber vergessen Sie das Deutsche nicht. Neugier und Zukunftsorientierung haben Ihr Unternehmen also von Anfang an geleitet. Vor 350 Jahren machte sich der gelernte Apotheker Friedrich Jacob Merck auf den Weg, um sich eine Zukunft als eigenständiger Apotheker aufzubauen. Sein Weg führte ihn nach Darmstadt, wo er eine Apotheke erwarb – die spätere Engel-Apotheke, die noch heute existiert. Die Neugier auf Neues aber ließ ihn wie später auch seine Erben nicht los. Sie forschten. Sie kreierten immer wieder neue Medikamente aus pflanzlichen Naturstoffen. Sie entwickelten Reinheitsstandards. Es ging ihnen um verbindliche Qualität, auf die sich Kunden und Patienten verlassen konnten. Das ist auch so etwas wie der Grundstein dessen, was wir heute „Made in Germany“ nennen. Das Konzept wurde deshalb auch zum Erfolgsrezept. Schließlich wurde 1850 ein Gemeinschaftsunternehmen gegründet, das weit über den eigenen Bedarf hinaus produzierte. Das war im Grunde der Beginn der industriellen Produktion. Das Unternehmen hat im Wandel der Zeiten natürlich Höhen und Tiefen erlebt. Eine bittere Kriegsfolge für Merck war die Enteignung der US-Niederlassung im Jahre 1917, die selbständig und nie wieder Teil des deutschen Unternehmens werden sollte. Zur Firmengeschichte gehört auch, dass während des Zweiten Weltkriegs zahlreiche Zwangsarbeiter herangezogen wurden, um unter schrecklichen Bedingungen die Produktion am Laufen zu halten. Es bleibt unser aller Pflicht – und dieser Pflicht hat sich Merck gestellt –, immer wieder an das Leid zu erinnern, das Zwangsarbeitern in Deutschland im Nationalsozialismus angetan wurde. Die vielen Initiativen, die die Erinnerung an das dunkle Kapitel der deutschen Geschichte wachgehalten haben, sind von größter Bedeutung. Ich möchte hier nur an die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ erinnern. Es ist unverzichtbar, dass sich Merck dieser Verantwortung gestellt hat und beispielsweise das Apothekenprojekt Belarus zur kostenfreien Versorgung mit Arzneimitteln betreibt, weil sich darin auch das Bewusstsein für unsere immerwährende Verantwortung für die Schrecken des Holocausts und des Zweiten Weltkriegs widerspiegelt. Merck konnte in seiner langen Geschichte sehr viele Erfolge erzielen: von der Isolierung von Wirkstoffen bis zur Entwicklung und Produktion hochkomplexer Medikamente, die das Leben erleichtern, verbessern oder gar erhalten. Als Merck 1968 auch mit der Flüssigkristallforschung begann, wusste noch niemand, wohin die Reise geht; so ist das eben in der Forschung. Andere Unternehmen zeigten nicht so viel Ausdauer wie die Darmstädter Forscher. Ihre Beharrlichkeit machte sich aber wahrlich bezahlt, denn heute kommt kein moderner Monitor oder Flachbildschirm ohne Flüssigkristalle aus. Merck ist unangefochtener Weltmarktführer in der LC-Technologie, für die sich immer wieder völlig neue Anwendungsgebiete finden. Ich nenne zum Beispiel die sogenannten Smart Windows an Gebäuden. Mit ihnen lässt sich die Lichtdurchlässigkeit steuern und die Energieeffizienz erhöhen. Fortschrittliche Entwicklungen, die für jeden und jede spürbar werden – nach dieser Maxime handeln, arbeiten und forschen weltweit 52.000 Merck-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter in 66 Ländern, von denen uns viele jetzt hier zuhören. Ihnen sei auch vonseiten der Bundesregierung ein ganz herzliches Dankeschön gesagt. Merck hat immer wieder beispielhaft gezeigt, dass Forschung und Entwicklung keine Grenzen kennen. Das gilt genauso für einen großen Teil der deutschen Forschungslandschaft. Wir haben gerade auch mit unserer Pharma- und Biotechnologiebranche einen echten Trumpf, denn Gesundheit und Gesundheitsversorgung sind Themen, die uns alle weltweit bewegen. Es kommt natürlich auch auf eine gute internationale und interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Forschung und Entwicklung neuer Mittel und Methoden an. Dabei stehen Industrieländer wie Deutschland in besonderer Verantwortung, denn wir haben viele Forschungsmöglichkeiten, die ärmeren Ländern fehlen. Wir haben im Rahmen unserer G20-Präsidentschaft im letzten Jahr sehr viel im internationalen Gesundheitsbereich vorangebracht. Ich möchte der Firma Merck herzlich dafür danken, dass sie sich immer wieder an diesen Aktivitäten beteiligt. Wir nutzen natürlich auch zu Hause unsere Möglichkeiten. Seit 2009 hat die Bundesregierung sechs Deutsche Zentren der Gesundheitsforschung aufgebaut. Wir wollen Deutschland als Standort für Gesundheitsforschung zukunftsorientiert gestalten, und zwar mit konkreten Initiativen: etwa mit der E-Health-Initiative, um digitale Anwendungen besser zu nutzen, oder mit unserem Strategieprozess, um Innovationen in der Medizintechnik weiter voranzubringen. Herr Oschmann hat uns eben auf die vielfältigen Herausforderungen hingewiesen. Die Verschmelzung von Digitalisierung und klassischer Entwicklung und die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz werden uns vor sehr viele Herausforderungen stellen. Ich möchte ein ganz herzliches Dankeschön sagen, dass hier bei Merck nicht nur technisch geforscht wird, sondern auch die ethische Komponente immer im Blick behalten wird. Denn nur wenn diejenigen, die über das technische Know-how verfügen, auch die ethische Diskussion begleiten, werden wir wirklich vorankommen und verantwortungsvolle Produkte entwickeln können. Wir werden auch den Pharma-Dialog zwischen Politik, Wissenschaft und Wirtschaft fortführen. Denn die Herausforderungen werden nicht weniger. Vielmehr ist die Versorgung mit hochwertigen und bezahlbaren Arzneimitteln eine Daueraufgabe. Natürlich sind wir Deutsche stolz darauf, ein Pharmastandort zu sein. Aber manchmal gerät aus dem Blick, wie hart die Konkurrenz, wie hart der Wettbewerb ist. Deshalb geht es darum, sachgerechte Lösungen für die Patienten, die Versicherten zu finden, aber eben auch mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit des Forschungsstandorts. Dazu gehört zum Beispiel, das Arzt-Informationssystem zu verbessern. Außerdem müssen die Fälschungssicherheit und die Therapiesicherheit von Arzneimitteln weiter vorangetrieben werden. Es gibt auch immer wieder ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen EU-Verordnungen und nationalen Erwartungen. Dazu gibt es aktuell sehr viele Diskussionen. Herr Oschmann hat darauf hingewiesen, dass der Ministerpräsident des Landes immer gut aufpasst, was in Brüssel geschieht. Wir versuchen, das auch auf der Bundesseite zu tun, da wir glauben, dass wir manches auch national gut regeln können und nicht alles in Europa geregelt werden muss. Meine Damen und Herren, Ihr Jubiläumsmotto „Imagine. Immer neugierig“ zeigt auch: Trotz aller Digitalisierung und Automatisierung – die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens hängt immer noch vom Menschen und seiner Neugier ab. Diese menschliche Eigenschaft scheint bei Merck eine Konstante über die 350 Jahre zu sein. Man muss nicht viel Prognosefähigkeit haben, um zu sagen: Das wird auch in den nächsten 350 Jahren für Merck und alle anderen unerlässlich sein. Vielleicht spielt hierbei auch die Tatsache eine Rolle, dass Darmstadt der konstante Heimatstandort der Firma Merck ist. Darmstadt hat sich sukzessive zu einer Wissenschaftsstadt entwickelt. Neben der Technischen Universität und den beiden Hochschulen gibt es hier zahlreiche Institute und forschende Unternehmen – darunter eben auch und besonders Merck –, in denen sich geballtes Wissen, Erfahrung und vielversprechende Nachwuchstalente finden. Wir alle wissen: Es reicht nicht aus, sich auf dem einmal Erreichten auszuruhen. Wir stehen vor riesigen Herausforderungen, die für jeden Einzelnen gelten, der in einem solchen Unternehmen tätig ist. Lebenslanges Lernen, Weiterbildung, berufsbegleitende Qualifizierung – all das ist entscheidend, um unseren Standort innovativ und damit auch wettbewerbsfähig zu halten. Es geht aber auch für jeden Einzelnen darum, ein Leben lang gute berufliche Aussichten zu behalten. Lernen hängt auch von Motivation ab. Deshalb setzen wir darauf – auch politisch –, immer wieder die Chancen auf berufliche Veränderung und Aufstieg in den Blick zu nehmen. Deshalb wollen wir in der Bundesregierung auch eine Nationale Weiterbildungsstrategie entwickeln. Hierbei wollen Bund und Länder sehr eng zusammenarbeiten. Wir wollen allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein Recht auf Weiterbildungsberatung geben, damit sie sich besser orientieren können. Natürlich kommt es auf möglichst betriebsspezifische Angebote an. Ich bin mir sicher, dass die Firma Merck auch hierzu vieles sagen kann und wir von der Firma Merck vieles lernen können, wenn es um die Frage geht, wie der technische Wandel organisiert wird. Wie der Ministerpräsident schon gesagt hat: Wenn der letzte Streik 1971 war, dann muss es hier eine gute Sozialpartnerschaft geben, die auch Garant dafür sein kann, technisch revolutionäre Zeiten gut zu durchleben. Natürlich wird sich auch die Arbeitsorganisation ändern. Fragen der Flexibilität spielen dabei eine herausragende Rolle. Wie sieht gute, sichere und gesunde Arbeit künftig aus? Wie lassen sich Arbeitszeiten so regeln, dass sie den Belangen von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Familien gleichermaßen Rechnung tragen? All das sind große Herausforderungen. Ich glaube, dass die Firma Merck sie gut lösen wird. Meine Damen und Herren, aller guten Dinge sind bekanntlich drei. Im Fall von Merck sind das Healthcare, Life Science und Performance Materials. Welche Fragen auch immer sich hierbei in Zukunft stellen – Merck wird immer daran arbeiten, die Antworten vorwegzunehmen. Der Innovation verpflichtet und der Tradition verbunden – so hat das Familienunternehmen über Generationen hinweg echten Mehrwert für viele, viele Menschen geschaffen; und zwar sowohl im Unternehmen als auch außerhalb des Unternehmens. Sie denken nicht nur an heute, sondern immer auch an morgen und übermorgen – getreu Ihrem Jubiläumsmotto: „Imagine. Immer neugierig auch in den nächsten 350 Jahren“. Wir werden zwar Schwierigkeiten haben, mitzuverfolgen, ob Sie sich Ihre Neugier auch weiter jahrhundertelang bewahren; das ist den heute Anwesenden nicht vergönnt. Wir dürfen Sie aber mit einem guten Stück gesunden Optimismus begleiten. Ihre Weitsicht nährt die Zuversicht auf künftige Erfolge. Diese wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen. Ich bedanke mich, dass ich heute hier dabei sein durfte.
in Darmstadt
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Eröffnung der Ausstellung „Frieden. Von der Antike bis heute“ im Rahmen des Europäischen Kulturerbejahres EYCH
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-eroeffnung-der-ausstellung-frieden-von-der-antike-bis-heute-im-rahmen-des-europaeischen-kulturerbejahres-eych-1007784
Sat, 28 Apr 2018 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Münster
Kulturstaatsministerin
„Der Krieg dauert schon so lange, dass die meisten, die heute leben, keinen Frieden gesehen haben. Dass nur die Alten sich noch an Frieden erinnern.“ Diese Worte über den 30jährigen Krieg hat Daniel Kehlmann in seinem hochgelobten Roman Tyll dem Botschafter des Kaisers, Johann von Lamberg, in den Mund gelegt – in einem Gespräch am Rande eines Gesandtenkongresses in Osnabrück, der den Krieg beenden soll. „Ich und meine Kollegen“, fährt Lamberg fort, „sind die Einzigen die ihn (den Krieg) beenden können. Jeder will Gebiete, die der andere auf keinen Fall hergeben möchte, jeder verlangt Subsidien, jeder will, dass Beistandsverträge gekündigt werden, die andere für unkündbar halten, damit stattdessen neue Verträge zustande kommen, von denen andere meinen, sie seien unannehmbar. Das hier geht über die Fähigkeiten jedes Menschen weit hinaus. Und dennoch müssen wir es schaffen.“ Im Deutschland unserer Zeit, meine Damen und Herren, dauert der Frieden schon so lange, dass die meisten, die heute leben, keinen Krieg gesehen haben.Dass nur die Alten sich noch an Krieg erinnern: an Schlachtfelder, an in Schutt und Asche liegende Städte, an zügellose Gewalt, an Menschen auf der Flucht und Leichen auf den Straßen – an all die Verheerungen und Verwüstungen, die Kriege über Jahrhunderte immer wieder im Antlitz Europas und in den Seelen der Europäer hinterlassen haben. Ja, der Frieden ist hierzulande so selbstverständlich geworden, dass beinahe in Vergessenheit geraten ist, wie weit „über die Fähigkeiten jedes Menschen (…) hinaus“ immer wieder darum gerungen werden musste. Die Ausstellungskooperation „Frieden. Von der Antike bis heute“ im LWL Museum Münster und an den anderen Standorten in der Stadt führt uns dieses Ringen um Frieden eindrucksvoll vor Augen: mit archäologischen Objekten aus der römischen Kaiserzeit, mit Exponaten, in denen sich Friedensutopien und christliche Ideen vom Frieden spiegeln, mit Werken großer Künstlerinnen und Künstler, die sich der Auseinandersetzung mit Krieg und Frieden gewidmet haben, und natürlich – das darf gerade in Münster nicht fehlen! – mit Dokumenten zur Rezeptionsgeschichte des Westfälischen Friedens. Entstanden ist (so viel kann ich nach meinem Rundgang durch die Ausstellung schon einmal verraten) eine beeindruckende Dokumentation der Friedenssehnsucht und damit auch eine bewegende Hommage an das Glück, in Frieden zu leben – ein Glück, das man hier einmal mehr zu schätzen lernt. Ich freue mich, dass ich diese beeindruckende Ausstellung im Rahmen des Europäischen Kulturerbejahres mit Mitteln aus meinem Kulturetat unterstützen konnte, und danke all jenen, die Exponate zur Verfügung gestellt haben, für ihr Engagement im gemeinsamen Bemühen, dem Frieden 400 Jahre nach Ausbruch des 30jährigen Krieges auf diese Weise ein Denkmal zu setzen: den Partnern der Ausstellungskooperation im Archäologischen Museum der Universität Münster, im Kunstmuseum Pablo Picasso Münster, im Stadt-museum Münster, beim Bistum Münster und nicht zuletzt natürlich dem Team des LWL-Museums Münster, das den Zeugnissen des Friedens im wahrsten Sinne des Wortes Raum gibt, um zu wirken. Es wäre wohl nicht ganz passend, im Zusammenhang mit einer Friedensausstellung von einem „Startschuss“ für das Europäische Kulturerbejahr zu sprechen … . Gleichwohl gehört diese Ausstellung zu den Initiativen, mit denen Städte in ganz Europa sich am Kulturerbejahr beteiligen und mit denen Münster offiziell ins Kulturerbejahr startet. Gerade von Münster und Osnabrück kann und soll 2018 ein starkes Friedenssignal ausgehen. Denn die Schauplätze des 30jährigen Krieges und des Westfälischen Friedens sind unverzichtbare europäische Erinnerungs- und Lernorte: Hier haben erbitterte Feinde sich die Hand gereicht. Hier ist am Verhandlungstisch eine europäische Einigung gelungen, die beinahe unmöglich schien – aus jenem „Und dennoch müssen wir es schaffen“ heraus, das Daniel Kehlmann in seinem Roman Tyll einem Vertreter der Kriegsparteien in den Mund gelegt hat. Es freut mich sehr, lieber Markus Lewe, dass Du Dich als Münsteraner Oberbürgermeister wie auch als Präsident des Deutschen Städtetages früh mit der Initiative des Europäischen Kulturerbejahres identifiziert hast. Schön, dass wir dieses Kulturerbejahr als Bürgerfest der Verständigung über unsere europäischen Wurzeln und Werte nach vielen Monaten intensiver Vorarbeit heute gemeinsam auch in Münster eröffnen können! Projekte wie diese Ausstellung sind es, meine Damen und Herren, die das europäische Themenjahr mit Leben füllen und die gerade auch der jungen Generation vergegenwärtigen, dass die Europäische Union viel mehr ist als eine Freihandelszone. Zum Glück nehmen junge Europäerinnen und Europäer heute ganz selbstverständlich die europäische Reisefreiheit in Anspruch, und der interkulturelle Austausch gehört für viele zu Ausbildung und Studium. Europa als Heimat zu erleben, ist aber auch zuhause, im eigenen Lebensumfeld, möglich. Denn ob in Berlin oder Münster, ob in Deutschland, Spanien, Frankreich oder Schweden: Die gemeinsame, wechselvolle Geschichte Europas ist überall sichtbar im (bau)kulturellen Erbe – hier in Münster zum Beispiel prominent im Friedenssaal im historischen Rathaus. Darauf wollen wir im Europäischen Kulturerbe-Jahr aufmerksam machen. Es bietet mit einer Vielzahl an Projekten Gelegenheiten, das gemeinsame europäische Kulturerbe neu zu entdecken. Damit können wir dem wieder aufkeimenden Nationalismus den Stolz auf die vielfältige, im Austausch mit anderen Kulturen gewachsene europäische Kultur entgegensetzen – und der national abgeschotteten Heimat der Nationalisten die europäische Heimat der Vielfalt. Ich bin überzeugt, dass diese Beschäftigung mit dem gemeinsamen kulturellen Erbe Zusammenhalt stiften kann. Denn eine Gemeinschaft, die sich ihrer gemeinsamen Wurzeln sicher ist, kann Unterschieden Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen. Es sind die Meisterwerke der Kunst und Architektur und die darin sichtbaren Spuren bereichernden Austauschs wie auch die darin eingebrannten Narben leidvoller Konflikte zwischen Nationen und Kulturräumen, die eindringlich vermitteln, wie sehr die Bürgerinnen und Bürger Europas einander über nationale Grenzen hinweg verbunden sind. In dieser Weise zu vergegenwärtigen, worauf Europa gebaut ist und was uns ausmacht als Europäerinnen und Europäer, das ist wichtiger denn je angesichts der vielerorts zu beobachtenden Erosion der Gründungsideen der Europäischen Union – angesichts des Brexits in Großbritannien, angesichts der Einschränkungen demokratischer Grundrechte in manchen EU-Ländern, angesichts des Erstarkens populistischer, europafeindlicher Strömungen auch hierzulande. Das Europäische Kulturerbejahr führt uns – 400 Jahre nach Beginn des 30jährigen Krieges und 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges – vor Augen, dass Europa für eine zivilisatorische Errungenschaft steht, die sich nach dem unfassbaren Leid zweier Weltkriege und nach dem Grauen der nationalsozialistischen Barbarei vermutlich nicht einmal die visionären Unterzeichner der Römischen Verträge hätten träumen lassen. Wir Europäerinnen und Europäer haben es geschafft, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen und eben dadurch unterschiedlichen Kulturen und Religionen, Traditionen und Träumen, Lebensentwürfen und Weltanschauungen eine Heimat zu bieten. Diese Offenheit für Vielfalt macht Europa – und den Frieden im Europa – im Kern aus. Und so vermittelt unsere Vergangenheit auch Lehren für die Zukunft: Gerade weil unsere Geschichte uns vor Augen führt, wie schwer wir uns in Europa über Jahrhunderte insbesondere mit religiöser Vielfalt getan haben, gerade weil wir uns erinnern, wie hart errungen – mit viel Krieg, Leid und Gewalt bezahlt – Demokratie, Toleranz und Freiheit doch sind, gerade weil wir wissen, dass unsere demokratischen Werte Lernerfahrungen sind, gerade deshalb sollten wir uns in aktuellen Diskussionen über Integration nicht auf die ebenso überhebliche wie demotivierende Behauptung zurück ziehen, Islam und Demokratie passten nicht zusammen. Wenn die Vergangenheit uns für die Zukunft eines lehrt, dann die Bereitschaft, uns und auch anderen Kulturen und Religionen eine gewisse Beweglichkeit und Lernfähigkeit zuzugestehen – und dazu beizutragen, dass dieser Lernprozess diesmal nicht jahrhundertelang dauert. Für die Lernerfahrungen, die ein friedliches Miteinander in Vielfalt erfordert, ist die Ausstellung „Frieden. Von der Antike bis heute“ zweifellos ein großer Gewinn. Vielfalt auszuhalten und Wege der Verständigung über gegensätzliche Weltanschauungen, Meinungen und Interessen zu finden, das geht vielleicht (um die eingangs zitierten Worte aus Daniel Kehlmanns Roman Tyll noch einmal aufzugreifen) auch heute „über die Fähigkeiten jedes Menschen weit hinaus. Und dennoch müssen wir es schaffen.“ In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein erfolgreiches Europäisches Kulturerbejahr. Möge es über 2018 hinaus die Hoffnungen der Europäerinnen und Europäer auf ein in Vielfalt geeintes, demokratisches Europa beflügeln – eine Hoffnung, die Europa Frieden, Freiheit und Wohlstand geschenkt hat und auf die Europa seine Zukunft bauen kann.
Mit einer großen Ausstellung zum Thema „Frieden“ ist Münster offiziell ins Europäische Kulturerbejahr gestartet. Das Themenjahr führe 400 Jahre nach Beginn des 30jährigen Krieges vor Augen, dass Europa unterschiedlichen Kulturen und Religionen, Traditionen und Träumen, Lebensentwürfen und Weltanschauungen eine Heimat biete, so Grütters. Projekte wie diese „Hommage an den Frieden“, so Kulturstaatsministerin Grütters, „füllen das Themenjahr mit Leben“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung der ILA Berlin Air Show 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-eroeffnung-der-ila-berlin-air-show-2018-1007354
Wed, 25 Apr 2018 13:15:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Richter, schön, dass Sie schon so gut eingeführt haben und mit Zukunftshoffnung in die ILA gestartet sind. Sehr geehrter Herr Göke, sehr geehrte Frau Staatssekretärin Gény-Stephann aus dem französischen Wirtschaftsministerium, sehr geehrte Frau Botschafterin, Frau Generalsekretärin Liu, Herr Ministerpräsident Woidke, lieber Kollege Scheuer, lieber Kollege Jarzombek, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Parlament, meine Damen und Herren, der französische Schriftsteller Jules Verne schrieb im 19. Jahrhundert – ich zitiere ihn –: „Alles, was ein Mensch sich vorzustellen vermag, werden andere Menschen verwirklichen können.“ Aus diesen wenigen Worten spricht viel Zutrauen in die Gestaltungskraft des Menschen. Und in der Tat: Vieles, was früher utopisch erschien, ist heute Realität. Fantastisch und faszinierend – so lässt sich auch das beschreiben, was die ILA regelmäßig präsentiert: Die neuesten Trends und Innovationen aus der Luft- und Raumfahrt. Mehr noch: Die ILA 2018 ist nicht nur eine Innovationsschau, sie ist auch eine Kooperationsschau. Sie ist die erste deutsch-französische Luft- und Raumfahrtmesse. Sie steht geradezu als Symbol für die enge und erfolgreiche Kooperation mit dem Partnerland Frankreich. Die Partnerschaft unserer beiden Länder wuchs aus schwierigsten Anfängen heraus mit der Zeit immer mehr. Dafür steht wie wenig anderes der Élysée-Vertrag, dessen 55. Jahrestag der Unterzeichnung wir in diesem Jahr begehen. Dieser historische Vertrag legte den Grundstein für eine umfassende politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit unserer beiden Länder. Manches Ergebnis dieser Zusammenarbeit konnte ich eben schon bewundern. Die ILA zeigt, dass und auch wie wir gemeinsam in der Luft- und Raumfahrt neue Maßstäbe setzen können. Im Verteidigungsbereich ist das offensichtlich. Wir beschaffen gemeinsam Luftfahrzeuge, wir bilden gemeinsame Staffeln, wir führen gemeinsame Auslandsmissionen durch. Daher ist es nur konsequent, wenn wir auch Ausbildung und Betrieb gemeinsam gestalten. Die deutsch-französische Partnerschaft beflügelt auch die europäische Kooperation. So erfüllen wir auch die Idee der Europäischen Verteidigungsunion mehr und mehr mit Leben. Die beiden Verteidigungsminister werden ja auch hierher zur ILA kommen. Auch die Zivilluftfahrt verspricht in diesem Jahr viel. Hier am Industriestandort Deutschland spielt auch die Zulieferindustrie eine wichtige Rolle. Gerade auch sie zeigt auf der ILA ihre Fähigkeit zur Innovation – bei alternativen Treibstoffen, bei effizienten Triebwerkstechniken und auch bei digitalen Elementen wie zum Beispiel 3D-Druck. Dass Luft- und Raumfahrt verbindet, zeigt sich auch daran, dass wir mit der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation ICAO und der Europäischen Weltraumorganisation ESA zwei internationale Organisationen mit ihren Vertretern für die ILA gewinnen konnten. Die Raumfahrt strahlt eine ganz eigene Faszination aus. Diese Faszination vermittelt und verkörpert in Deutschland besonders unser Astronaut Alexander Gerst. Er hatte schon vor vier Jahren als Bordingenieur einen anspruchsvollen Einsatz auf der Internationalen Raumstation absolviert. Wenn der Regierende Bürgermeister von Berlin hier wäre, dann könnte man sagen, es lohnt sich für ihn nun langsam, die ISS als Zweitwohnsitz anzumelden. Denn in Kürze wird er dort sogar das Kommando übernehmen – eine Herausforderung und Auszeichnung zugleich. Deshalb möchte ich ihm von der ILA aus viel Erfolg für seine Mission wünschen. Neue Erkenntnisse in der Raumfahrt und durch die Weltraumforschung, technologische Fortschritte in der Luftfahrt – das fällt ja nicht vom Himmel. Dazu brauchen wir kluge Köpfe – heute und auch morgen. Darum werde ich auch weiter dafür werben, junge Männer und Frauen für Berufe zu gewinnen, die mit Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik zu tun haben. Morgen ist wieder Girls‘ Day; also nochmals ein ganz besonderer Ruf in Richtung Frauen. Es freut mich, dass auf der ILA Nachwuchsgewinnung ein zentrales Thema ist. Meine Damen und Herren, „Hightech made in Germany“ macht uns zu guten und gefragten Kooperationspartnern in Europa und in der Welt. Daher spricht vieles für den Erfolg der ILA auch in diesem Jahr. Ob Besucher oder Veranstalter und Aussteller – den einen wünsche ich anregende und aufregende Luftschautage, den anderen wünsche ich gelungene und gewinnbringende Messetage. Ich freue mich auf den Besuch einiger Höhepunkte der ILA und darf die ILA nun gemeinsam mit Ihnen eröffnen.
in Berlin
Rede von Bundeskanzlerin Merkel auf der Auftaktveranstaltung zum Girls’ Day 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-auf-der-auftaktveranstaltung-zum-girls-day-2018-1007364
Wed, 25 Apr 2018 11:12:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Schwaderer, meine Damen und Herren, natürlich vor allem: liebe Schülerinnen, morgen findet bundesweit der mittlerweile 18. Girls‘ Day statt. Unternehmen und Forschungsinstitute, Verwaltungen, Verbände und Einrichtungen in ganz Deutschland werden ihre Türen für Schülerinnen öffnen. Den Auftakt machen wir heute hier im Bundeskanzleramt. Das ist ja schon eine gute Tradition. Seien Sie herzlich willkommen. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich viele von Euch, liebe Schülerinnen und Schüler, wichtige Zukunftsfragen stellen, zum Beispiel was Ihr einmal werden möchtet, was Euch Spaß macht, welche Talente Ihr habt. Der Mädchen-Zukunftstag – es gibt im Übrigen auch einen für Jungen, die auch in Berufsbilder eingeführt werden, wo sie nicht so häufig vertreten sind – ist eine gute Gelegenheit, genau auf diese Fragen Antworten zu finden. Denn es ist ja manchmal gar nicht so einfach herauszufinden, was einem wirklich liegt, was man machen möchte. Deshalb stellen wir an diesem Tag spannende und aussichtsreiche Tätigkeiten in den Mittelpunkt. Wir hoffen, dass sich Euer Blick auf die Dinge dadurch erweitert und Ihr eines Tages besser entscheiden könnt. Um möglichst viele Berufe kennenzulernen, haben auch in diesem Jahr wieder viele Unternehmen und Einrichtungen mit großem Engagement in der ganzen Bundesrepublik über 10.000 Angebote auf die Beine gestellt, an denen etwa 100.000 Schülerinnen teilnehmen können. Seit Bestehen des Girls’ Day haben bereits rund 1,9 Millionen Mädchen teilgenommen. Die Rückmeldungen der Mädchen wie auch der Unternehmen zum Girls‘ Day sind für uns immer wieder sehr positiv, denn viele Mädchen haben über den Girls‘ Day zu ihrem zukünftigen Beruf gefunden oder arbeiten in einem Unternehmen, das sie an diesem Tag kennengelernt haben. Der Erfolg des Girls’ Day ist ohne das Engagement sehr, sehr vieler nicht denkbar. Ich möchte deshalb allen danken, die diesen Tag in Deutschland möglich machen – stellvertretend und ganz besonders Ihnen, lieber Herr Schwaderer, als Präsident der Initiative D21. Ich danke natürlich auch allen Unternehmen, die bei dieser Initiative mitmachen. Das wesentliche Ziel des Girls‘ Day ist es, Mädchen für Berufe zu gewinnen, die nicht zu typischen Mädchenberufen zählen. Das ist wichtiger denn je. Der aktuelle Berufsbildungsbericht der Bundesregierung für den Zeitraum Oktober 2016 bis Oktober 2017 zeigt, dass in Berufen, in denen Frauen traditionell unterrepräsentiert sind, bei den neuen Ausbildungsverträgen wieder ein kleiner Rückgang zu verzeichnen war, und zwar in Höhe von 3,2 Prozent – also: Bewegung in die falsche Richtung. Dies ist deshalb so bedauerlich, weil gerade auch Berufe im naturwissenschaftlich-technischen Bereich neue und spannungsreiche Berufsfelder mit guten Verdienstmöglichkeiten und mit sehr guten Karriereaussichten bieten. Und die Chancen auf eine gute Ausbildung sind in Deutschland hoch. Das Thema Bildung wird auch einer der Schwerpunkte der neuen Bundesregierung sein, ganz besonders im Hinblick auf den Bereich Digitalisierung. Wir werden das Grundgesetz ändern, also unsere Verfassung, damit der Bund auch beim Ausbau der Bildungsinfrastruktur Hilfen leisten kann. Die Bundesregierung wird den Ländern und Kommunen insgesamt fünf Milliarden Euro zur Verfügung stellen, davon 3,5 Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode. Wir werden auch einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in den Grundschulen einführen und den Ausbau von Ganztagsschulen und Ganztagsbetreuung fortsetzen. Wir glauben, dass es eine Verantwortungsgemeinschaft von Bund und Ländern gibt, um bestmögliche Bildung auch wirklich durchzusetzen. Jetzt kommen wir zu dem Teil, bei dem es um die Preisfrage geht. Die Schülerin mit der annähernd richtigen Antwort gewinnt mit ihren Mitschülerinnen einen Besuch im DLR- – das heißt: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt – -School-Lab Berlin. Dort wartet zum Beispiel ein virtueller 3D-Flug über unseren roten Nachbarplaneten Mars auf Euch. Die Preisfrage lautete: Im Wintersemester 2016/2017 haben 1.078.747 junge Menschen ein MINT-Fach studiert, also ein Fach im Bereich Mathematik Ingenieurwissenschaft, Naturwissenschaften oder Technik. Wie viel Prozent davon waren Studentinnen, waren weiblich? Die richtige Antwort lautet: 29,87 Prozent, also 322.274. Gewonnen hat Roksana Zlobikowska. Sie hatte auf 27,8 Prozent getippt; und das war am nächsten dran. Herzlichen Glückwunsch Ihnen und den Mitschülerinnen Ihrer Klasse und viel Spaß im DLR-School-Lab! Nun möchte ich Herrn Schwaderer bitten, zu uns einige Worte zu sagen. Vorher darf ich aber noch den Preis überreichen. Ich wünsche allen einen erfolgreichen Tag.
im Bundeskanzleramt
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim German-Mexican Business Summit am 23. April 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-german-mexican-business-summit-am-23-april-2018-1122330
Mon, 23 Apr 2018 12:12:00 +0200
Im Wortlaut
Hannover
Herr Staatspräsident, lieber Enrique Peña Nieto, sehr geehrter Herr Castañón, sehr geehrter Herr Professor Kempf, meine Damen und Herren, dass eine Veranstaltung gelungen ist, zeigt sich auch daran, dass man sie wiederholt. Herr Staatspräsident, mir ist es eine ganz besonders große Freude, gemeinsam mit Ihnen wieder ein deutsch-mexikanisches Wirtschaftsforum zu eröffnen. Vor nicht einmal einem Jahr – im Juni letzten Jahres war es – hatten wir schon einmal die Gelegenheit, damals in Mexiko-Stadt, im Museo Interactivo de Economia. Wie auch in dieser Woche auf der Hannover Messe zeigte sich die mexikanische Wirtschaft von ihrer besten Seite. Ich möchte alle mexikanischen Unternehmer begrüßen, vor allem auch die Vertreter der Staaten, die Gouverneure, die so zahlreich gekommen sind. Dies ist für uns eine sehr große Ehre. Mexiko hat sich mittlerweile zur zwölftgrößten Industrienation der Welt entwickelt und glänzt insbesondere mit einer hochinnovativen Kfz-Branche. Schätzungen zufolge wird sich Mexiko in diesem Jahr mit rund vier Millionen produzierten Pkw zum siebtgrößten Autobauer hocharbeiten; und die Tendenz ist weiter steigend. Ich darf Sie, lieber Herr Staatspräsident, stellvertretend für die vielen Menschen, die dazu beitragen, herzlich beglückwünschen – auch zu den verbesserten Rahmenbedingungen. Mexiko ist ein verlässlicher Investitionspartner. Das ist besonders auch den Reformen zu verdanken, die während Ihrer Amtszeit durchgeführt wurden. Die deutsche Wirtschaft hat mit ihrem Engagement in Mexiko diese Entwicklung seit vielen Jahrzehnten begleitet. Wer denkt dabei nicht auch an den legendären VW-Käfer? Schon in den 1960er Jahren rollten in Puebla Volkswagen vom Band. – Sie werden heute Nachmittag das Unternehmen in Wolfsburg besuchen. – Aber das Engagement reicht über deutsche Automobilhersteller und zulieferer weit hinaus. Maschinenbau, Chemie und Pharma sind ebenso wie Transport und Logistik weitere Branchenschwerpunkte der deutschen Wirtschaft in Mexiko. Die Tatsache, dass in Ihrem Land rund 2.000 deutsche Unternehmen vertreten sind, dass bislang rund 35 Milliarden US-Doller investiert wurden, zeigt, von welchem Stellenwert diese Kooperation ist. Diese Investitionen machen sich in erster Linie für die 130.000 Menschen bezahlt, die als Mitarbeiter der deutschen Wirtschaft vor Ort in Mexiko tätig sind. Aber wir wollen nicht nur im Export und in den Direktinvestitionen gut sein, sondern wir wollen auch selbst ein Land sein, das Investoren mit offenen Armen empfängt. Das ist die Bewährungsprobe für den freien Handel. Wenn man irgendwo hinwill, sagt man ja: Ich will gute Bedingungen. Aber ist man bereit, in reziproker Art und Weise auch Unternehmen aus anderen Ländern willkommen zu heißen? Wir freuen uns, dass sich mexikanische Unternehmen auch hier bei uns in Deutschland, zum Beispiel in der Kfz-Zuliefererindustrie oder im Softwarebereich und bei IT-Dienstleistungen, engagieren. Ich sage allerdings: Hier gibt es noch viel Spielraum. Ich möchte die mexikanische Wirtschaft ermuntern, den Investitionsstandort Deutschland noch mehr für sich zu entdecken. Diese Hannover Messe sollte ein gutes Beispiel dafür sein, dass eine solche Entdeckungsreise stattfinden kann. Es bieten sich nämlich ziemlich viele Möglichkeiten einer verstärkten Zusammenarbeit: durch Digitalisierung und Industrie 4.0, insbesondere auch bei Energie- und Umwelttechnologien. Es ist gut, dass unsere beiden Länder bereits eine Energiepartnerschaft eint, die wir aber auch noch weiter ausbauen können. Natürlich ist es das eine, über Hightech zu sprechen, etwas anderes ist es, Hightech auch wirklich zu schaffen und dann auch anwenden zu können. Das ist natürlich eine Frage der Fähigkeiten und Fertigkeiten der Menschen. Wir haben in Deutschland mit unserem dualen Berufsausbildungssystem seit langer Zeit ein aus unserer Sicht sehr bewährtes Modell zur Sicherung unserer Fachkräftebasis. Wir freuen uns sehr, dass Mexiko dieses Modell in vielen Facetten, natürlich angewandt auf die eigene Situation, übernommen hat. Ich habe mich bei meinem Besuch in Mexiko selbst davon überzeugen können. Das große Interesse Mexikos an den Möglichkeiten einer praxisnahen Ausbildung freut uns sehr. Wir sind auch bereit – das haben wir heute mit der Unterzeichnung der Partnerschaftsabkommen deutlich gemacht –, dieses Thema weiter zu vertiefen. Denn ich habe mir sagen lassen, auch in Mexiko, in einem Land, in dem es ja so viele junge Menschen gibt, ist die Nachfrage nach Fachkräften, nach denen, die wirklich auf den Punkt ausgebildet sind, sehr groß. Nichts ist schlimmer für Investoren, als kein Personal zu finden. Wir haben uns heute zwar im Wesentlichen mit Robotern bzw. mit Cobotern beschäftigt, aber irgendwo müssen doch noch Menschen sein, die über notwendige Fähigkeiten verfügen. Wir haben eben schon darüber gescherzt, was denn Roboter und Maschinen in Zukunft wohl anstelle des Urlaubs machen werden und wie das alles weitergehen wird. Fachliches Know-how ist und bleibt also wesentliche Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung. Das gilt für Wirtschaftsnationen wie unsere beiden Länder, die sich die Chancen der Globalisierung ausdrücklich zunutze machen wollen. Wir wissen, dass es in unseren Ländern viele kontroverse Diskussionen über Chancen und Risiken der Globalisierung gibt. Aber in Deutschland ist glücklicherweise die Meinung noch weit verbreitet, dass Globalisierung mehr Chancen als Risiken enthält. Das bedeutet natürlich auch, dass wir bereit sind, uns dem internationalen Wettbewerb zu stellen. Insofern ist das Thema Handel ein zentrales Thema. Beide Länder – ich habe es gestern schon gesagt – sind dem freien und fairen Handel verpflichtet. Es geht uns jetzt um ein modernisiertes Handelsabkommen. Ich bin sehr froh, dass mit der EU jetzt doch ein Durchbruch erzielt werden konnte. Ich hoffe, die technischen Feinarbeiten – das hört sich so einfach an, kann aber auch jahrelang dauern – gehen jetzt zügig voran. Denn für Unternehmen zählt, dass ein erneuertes Abkommen in Kraft ist, und nicht, ob der Durchbruch im Prinzip geschafft wurde. Wir müssen also weiter ein Auge darauf haben. Wir verfolgen natürlich auch mit Interesse Ihre NAFTA-Verhandlungen. Wir haben gestern Abend sehr ausführlich darüber diskutiert. Wir wissen, dass Mexiko nach wie vor sehr stark vom amerikanischen Markt abhängig ist. Das erklärt sich auch geografisch. Aber wir sind natürlich daran interessiert, dass Mexiko bei der Diversifizierung ebenfalls erfolgreich ist. Wir haben auch die Verabschiedung des Handelsabkommens in der Pazifik-Region sehr aufmerksam verfolgt und sind sehr froh, dass es der Europäischen Union gelungen ist, Fortschritte bei den Handelsabkommen mit Japan und mit Singapur zu erreichen. Das sind ebenfalls Projekte, über die jahrelang verhandelt wurde und bei denen wir endlich Durchbrüche verzeichnen konnten. Wir wissen, dass wir bei all den bilateralen Handelsabkommen auch die Welthandelsorganisation als solche stärken müssen. Dass es so viele bilaterale Handelsabkommen gibt, ist ja letztendlich der Tatsache geschuldet, dass man sich nach 1994 zu keiner großen Handelsrunde mehr international verständigen konnte. Angesichts des jeweiligen technischen Fortschritts allein zwischen zwei Hannover Messen scheint 1994 schon eine Ewigkeit zurückzuliegen. Deshalb müsste es im allgemeinen Interesse sein, auch wenn man heute dafür belächelt wird, zu sagen: Wir brauchen wieder ein multilaterales Handelsabkommen. Denn man sieht ja jetzt an all den Diskussionen, dass etwas ins Wanken geraten ist und dass die Lage sehr schwierig ist. Deshalb geht es darum, ein verlässliches gemeinsames Regelwerk zu schaffen und Mechanismen zur Streitbeilegung zu haben, die von allen akzeptiert werden – mit einem Wort: überall Rechtssicherheit zu erreichen. Mit der Modernisierung des EU-Mexiko-Abkommens wird es große Fortschritte geben. Für den deutsch-mexikanischen Handel verspreche ich mir weiteren Schwung. Ein Handelsvolumen von 20 Milliarden Euro im letzten Jahr ist schon nicht schlecht. Dahinter steht zum einen ein deutsches Plus bei den Exporten von rund 16 Prozent. Zum anderen sind die mexikanischen Exporte nach Deutschland um 44 Prozent gewachsen. Das ist genau die Richtung, um Schritt für Schritt zu ausgeglichenen Leistungsbilanzen zu kommen, an denen wir durchaus ein Interesse haben. Ich freue mich über die guten Beziehungen. Ich glaube, unsere Beziehungen haben sich in den letzten Jahren insgesamt sehr intensiviert. Es besteht auch ein hohes Maß an Sympathie gegenüber dem jeweils anderen Land, zwischen unseren Ländern. Da wir von Ludwig Erhard, dem Vater der Sozialen Marktwirtschaft, gelernt haben, dass Wirtschaft immer auch zu 50 Prozent Psychologie ist, ist es gut, dass wir auch als Staats- und Regierungschefs heute hier dabei sein können, um Ihnen ein bisschen psychologischen Antrieb zu geben und Ihnen zu versprechen, dass wir an der Verbesserung der Rahmenbedingungen beständig arbeiten werden. Herzlichen Dank, lieber Herr Präsident, herzlichen Dank den Gouverneuren und Unternehmern aus Mexiko. Wir wissen, dass die Reise weit ist, aber wenn Sie einmal hier sind, dann können Sie auch sehen, dass Deutschland auch sehr schön ist. Genießen Sie also nicht nur die Messehallen, sondern ein bisschen auch Hannover und vielleicht auch die Umgebung. Deutschland hat viel zu bieten. Sie sind immer herzlich eingeladen. Herzlichen Dank.
in Hannover
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung der Hannover Messe am 22. April 2018
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-eroeffnung-der-hannover-messe-am-22-april-2018-1007284
Sun, 22 Apr 2018 19:17:00 +0200
Im Wortlaut
Hannover
Sehr geehrter Herr Präsident Peña Nieto, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Kommissare, lieber Günther Oettinger, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundeskabinett und aus den anderen Kabinetten, sehr geehrter Herr Welcker, Herr Professor Wahlster, liebe Ausstellerinnen und Aussteller, meine Damen und Herren, wir wissen es: die Hannover Messe ist die weltgrößte Industriemesse. Sie schafft es auch nach über sieben Jahrzehnten ihres Bestehens, Aufbruch und Aufschwung zu verkörpern. Sie setzt Maßstäbe und gewährt jedes Mal wieder neue Einblicke in die technologische Zukunft. Hier präsentiert sich nicht nur die deutsche Industrie vor aller Welt. Es kommen auch Hightech-Unternehmen aus aller Welt hinzu. Man kann sagen, hier versammelt sich, was in der Industrie Rang und Namen hat. Das diesjährige Leitthema der Messe lautet: „Integrated Industry – Connect and Collaborate“. Verbinden und Zusammenarbeiten – das sind geradezu Wesensmerkmale der Industriegeschichte. Ein bisschen scherzhaft muss man sagen: Hoffentlich können die Menschen immer noch etwas besser zusammenarbeiten als die Maschinen. Das wünsche ich mir für die Zukunft. Wenn wir auf die Welt blicken, haben wir noch viel zu tun. Wenn wir einmal zurückschauen: Als Alexander von Humboldt Mexiko bereiste, gab es die Industrie 1.0., die erste industrielle Revolution. Antriebstechniken waren Wasser und Dampfkraft. Es folgten die Industrie 2.0, die die Automatisierung kannte, mit der Entdeckung der Elektrizität und mit der Entdeckung der Mobilität zunehmend in Form von Autos und neuen Eisenbahnen, und die Industrie 3.0 in den 1970er Jahren, anknüpfend an den ersten Computer, der schon vorher von Konrad Zuse erfunden wurde, mit der Automatisierung durch Elektronik und Informationstechnologie. Und jetzt reden wir angesichts der digitalen Entwicklung und Möglichkeiten des Internets der Dinge, der Just-in-time-Möglichkeiten und der individuellen Produktion von der Industrie 4.0. Immer wieder waren Veränderungen erfolgt – gravierende Veränderungen, wenn wir uns einmal überlegen, dass bis zum Entstehen der Industrie 1.0 die übergroße Mehrheit der Menschen in Deutschland in der Landwirtschaft gearbeitet hat und dass heute nur noch 1 bis 1,5 Prozent der Menschen in der Landwirtschaft arbeiten. Aber immer haben wir es geschafft, Wandel zu gestalten. Im Übrigen ging das zwar auch mit schwierigen Kämpfen einher, wenn ich nur an den Aufstand der Weber denke. Letztlich aber verlief die industrielle Revolution immer so, dass sie zum Wohle der Menschen war. Das muss auch unser Anspruch angesichts von Industrie 4.0 sein, meine Damen und Herren. Einhergegangen mit der Industrialisierung in ihren verschiedenen Etappen sind immer auch Internationalisierung und Globalisierung. Dies spiegelt auch die Hannover Messe wider. In diesem Jahr sind mehr als 5.000 Aussteller aus 75 Ländern nach Hannover gekommen. Ganz besonders freuen wir uns natürlich über Mexiko als Partnerland. Lieber Herr Präsident, lieber Enrique Peña Nieto, es ist schön, Sie hier begrüßen zu können. Die Aussteller aus Mexiko heiße ich alle ganz herzlich willkommen, genauso wie die Institutionen, die sich hier präsentieren werden. Wir wissen, dass Ihr Land der Globalisierung offen gegenübersteht. Wir arbeiten im Format der G20 eng zusammen. Deutschland und Mexiko hatten 2016 und 2017 das Mexikojahr in Deutschland und das Deutschlandjahr in Mexiko. Bei der Hannover Messe ist es natürlich insbesondere die Frage der industriellen, der wirtschaftlichen Kooperation, die im Mittelpunkt steht. Mexiko ist Deutschlands wichtigster Handelspartner in Lateinamerika. Das bilaterale Handelsvolumen ist im letzten Jahr auf über 20 Milliarden Euro angewachsen. Das ist ein Plus von 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Wir sind nicht nur gute Handelspartner, sondern wir sind auch gute Investitionspartner. Gute Infrastrukturen, der große Binnenmarkt des Landes und die enge Einbindung in die Weltwirtschaft machen Mexiko zu einem wichtigen und guten internationalen Standort für die deutsche Wirtschaft, vor allem für die Automobilindustrie. Aber auch in den Branchen Pharma, Chemie, Transport und Logistik haben deutsche Unternehmen intensiv investiert. Morgen findet ein deutsch-mexikanisches Wirtschaftsforum statt, das der BDI und sein mexikanischer Partnerverband organisiert haben. Das ist eine hervorragende Gelegenheit, unsere bilateralen Wirtschaftsbeziehungen weiter zu vertiefen. Wir werden morgen auch eine Kooperationsvereinbarung zwischen Mexiko und Deutschland zur Industrie 4.0 unterzeichnen. Das ist eine gute Nachricht für alle, denen der Ausbau unserer Zusammenarbeit auch in den nächsten Jahren am Herzen liegt. Die deutsch-mexikanische Wirtschaftspartnerschaft lebt auch davon, dass unsere Länder mehr verbindet, als die geografische Entfernung auf den ersten Blick vielleicht vermuten lässt. Uns verbinden Werte und Überzeugungen. Die Amerika-Reise des Naturforschers Alexander von Humboldt führte ihn 1803 auch nach Mexiko. Er soll einmal gesagt haben – ich möchte ihn zitieren –: „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.“ Deshalb ist es wichtig, auch in Zeiten der Globalisierung hinzuschauen. Mexikaner und Deutsche wissen sehr gut, wie wichtig es ist, auf die Welt zu schauen. Wir wissen um viele gemeinsame Herausforderungen. Und wir glauben daran, dass multilaterale Zusammenarbeit ein Mehrwert für alle sein kann. Deshalb treten wir für einen möglichst freien Welthandel ein, der auf gemeinsamen Regeln basiert. Wir glauben, dass das Welthandelssystem der Welthandelsorganisation WTO hierfür den richtigen Rahmen bietet und dass bilaterale Handelsabkommen eine gute Ergänzung sein können. Es kommt also auf einvernehmliche Verhandlungslösungen an. Ich möchte ausdrücklich würdigen, dass es gelungen ist, kurz vor der Hannover Messe – bestimmt hat sie noch ein bisschen Antrieb gegeben – eine Erneuerung, eine Weiterentwicklung unseres Handelsabkommens im Grundsatz zu beschließen. Ein herzliches Dankeschön daher an die Europäische Kommission, an Kommissarin Malmström, die in diesen Tagen wirklich herausragende Arbeit leistet, und an die mexikanischen Partner. Die technischen Arbeiten sollten jetzt zügig verlaufen. Das ist eine wirklich gute Nachricht für Deutschland, für Europa und für Mexiko. Meine Damen und Herren, die Welt entwickelt sich rasant weiter. Deshalb gibt es auch für Deutschland immer wieder große Herausforderungen. Wir haben im Augenblick eine sehr gute wirtschaftliche Situation. Die Arbeitslosigkeit ist so gering wie nie seit der Wiedervereinigung. Dennoch: Herr Welcker, ich weiß schon, dass die Momentaufnahme von heute noch nicht die Prognose für die Zukunft ist. Deshalb ist es entscheidend, dass wir unsere Innovationsfähigkeit weiter stärken. Nicht umsonst hat die Bundesbildungs- und -forschungsministerin, Anja Karliczek, heute den „HERMES Award“ verliehen. Dass der Preis bereits zum 15. Mal verliehen wurde, zeigt, dass gerade auch mittelständische Unternehmen in Deutschland Treiber der Innovation sind, ohne dass ich die Leistung der größeren schmälern möchte. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um Herrn Professor Wahlster auch noch einmal ganz herzlich danke zu sagen. Der „HERMES Award“ war eine gute Idee, ist eine gute Institution und wird sicherlich weiterhin bestehen bleiben. Das Prädikat „Made in Germany“ soll auch in Zukunft für wegweisende Innovationen stehen. Deshalb sind wir froh, dass wir das Drei-Prozent-Ziel bei den Ausgaben für Wissenschaft, Forschung und Entwicklung erreicht haben – zwei Drittel durch die Wirtschaft, ein Drittel durch staatliche Institutionen. Ein solches Ziel stellt uns bei hohem Wirtschaftswachstum mit Blick auf den Bundeshaushalt immer wieder vor große Herausforderungen. Aber wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, dass wir bis 2025 sogar 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichen. Denn mit drei Prozent stehen wir in Europa zwar nicht schlecht da. Allerdings wissen wir, dass Länder wie Südkorea und Israel deutlich mehr für Innovation ausgeben. Das muss unser Maßstab sein. Wir wissen, dass sowohl in den großen als auch in den mittleren und kleinen Unternehmen viel Innovationspotential steckt. Gerade für die letztgenannten wollen wir eine steuerliche Forschungsförderung umsetzen. Ich denke, dieses Mal müssen wir es schaffen. Wir sprechen schon mehrere Jahre davon, um es einmal vorsichtig zu sagen. Jetzt muss es auch etwas werden. Meine Damen und Herren, ich erinnere mich noch gut, als ich den von Herrn Wahlster geprägten Begriff Industrie 4.0 hier zum ersten Mal ausgesprochen habe. Damals ging er uns – jedenfalls mir – noch nicht so leicht von der Hand. Wir konnten auch noch nicht so schön von Cobotern sprechen, sondern man hatte gerade einmal etwas von Robotern gehört. Man sieht, wie rasant sich die Dinge doch weiterentwickeln. Auf dieser Messe wird das Thema Künstliche Intelligenz eine zentrale Rolle spielen. Herr Ministerpräsident Weil und ich haben uns eben ein bisschen ausgetauscht; er meinte auch: „Es muss für Sie doch eine wirklich gute Sache sein, dass, da Sie seit Jahren und Jahrzehnten für die Künstliche Intelligenz und ihre Entwicklung sprechen, diese jetzt so einen Quantensprung – ‚so kann man es bezeichnen‘ – gemacht hat.“ Aber wie das so mit Quantensprüngen ist: Sie finden ja nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo statt. Ich glaube aber, dass wir – im Zusammenhang mit dem Bruttoinlandsprodukt – mit unserem sehr hohen Industrieanteil an der Wertschöpfung eine sehr gute Ausgangsbasis haben. Das zeigt sich ja auch hier auf der Hannover Messe. Aber wir wissen, dass wir in anderen Bereichen wie zum Beispiel der Plattformwirtschaft längst nicht so gut sind wie andere Länder. Man muss sich vor Augen halten, dass sowohl in den Vereinigten Staaten von Amerika als auch in China mit großem Nachdruck daran gearbeitet wird. China hat das Ziel ausgegeben, 2030 der führende globale Anbieter für Künstliche Intelligenz zu sein. Darauf kann China hinarbeiten. Wir sind faire Partner. Aber ich sage: Auch wir wollen im Wettbewerb bestehen und vorn mit dabei sein. Deshalb wird die Bundesregierung hinsichtlich der Künstlichen Intelligenz eine Bündelung aller Kapazitäten vornehmen – an den Universitäten, bei Herrn Wahlster im Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, in der Fraunhofer-Gesellschaft – und die Vernetzung mit der Wirtschaft durch Exzellenz-Cluster und durch geeignete Fördermethoden noch besser strukturieren. Wir haben eine gute Ausgangsposition, aber die sechs Monate Regierungsbildung dürfen nicht der Maßstab für die Geschwindigkeit sein, in der wir weiterarbeiten. Früher, in meinem Physikstudium, hätte ich gesagt, es muss umgekehrt proportional verlaufen, also genau andersherum und schneller. Angesichts unserer demografischen Herausforderung ist für uns die Fachkräftestrategie besonders wichtig. Jedes Talent zählt. Deshalb wird das Thema auch hier auf der Hannover Messe eine Rolle spielen. Der „Engineer Powerwoman Award“ wird verliehen. – Toll. Da bin ich ja mit dem Girls‘ Day nächste Woche sprachlich noch relativ einfach, aber auch schon englisch dran. Nun ja, auf jeden Fall wollen wir, dass sich auch Mädchen und Frauen noch mehr engagieren und technische Berufe, mathematisch-ingenieurwissenschaftliche Berufe ergreifen. Wir müssen natürlich auch günstige Rahmenbedingungen schaffen. Alle Statistiken zeigen, dass Deutschland hierbei nicht überall an führender Stelle ist. Breitbandausbau und digitale Infrastruktur sind natürlich von allergrößter Bedeutung. Wir müssen sowohl das Glasfasernetz ausbauen als auch das 5G-Netz aufbauen. Hierbei werden wir systematisch und gemeinsam mit den Ländern vorgehen. Wir brauchen auch die Beispielwirkung der öffentlichen Verwaltung. Hier ist unser großes Projekt für die nächsten vier Jahre das Thema Bürgerportal und E-Government. Auch hier drängt die Zeit. Meine Damen und Herren, die Hannover Messe wird uns zeigen, dass die Industrie vieles schon durchgesetzt hat, woran wir im staatlichen Bereich noch arbeiten. Deshalb freue ich mich auf morgen – erstens auf den Rundgang, um mexikanische Unternehmen und deutsche Unternehmen zu treffen, die in Mexiko Partner sind, und zweitens auf die Unterzeichnung von Abkommen. Und ich freue mich natürlich auf den Rundgang insgesamt. Ich bin mir sicher, dass die Besucher wieder auf ihre Kosten kommen, dass gute Kontakte geknüpft werden, dass sich der Ausflug in die Industrie 4.0 in neuen Erkenntnissen zeigt. Damit das alles auch passieren kann, darf ich jetzt sagen: Die Hannover Messe 2018 ist eröffnet. Herzlichen Dank.
in Hannover
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Gedenkveranstaltung zum 73. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Sachsenhausen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-gedenkveranstaltung-zum-73-jahrestag-der-befreiung-des-konzentrationslagers-sachsenhausen-1122326
Sun, 22 Apr 2018 15:30:00 +0200
Im Wortlaut
Oranienburg
Kulturstaatsministerin
Mehr als 200.000 Menschen gingen zwischen 1936 und 1945 im Konzentrationslager Sachsenhausen durch die Hölle: Juden, Homosexuelle, Sinti, Roma, geistig Behinderte, Zeugen Jehovas, außerdem politische Gegner des NS–Nationalsozialismus-Regimes und Bürgerinnen und Bürger der besetzten Staaten Europas. Einer der wenigen aus diesen 200.000, einer der wenigen, der Hunger, Epidemien, Zwangsarbeit, Misshandlungen und systematische Vernichtungs-aktionen überlebt hat, einer dieser wenigen ist der Sinto Walter Winter. „Ich glaube, ein Körper hält mehr aus als eine Seele“, hat er vor einigen Jahren einmal gesagt, und ich zitiere weiter: „An der Seele sind alle verletzt, die im KZ–Konzentrationslager waren, die Narben bleiben ein Leben lang. Und wie bei Narben auf der Haut gibt es Zeiten, da schmerzen die seelischen Narben, und das Erlebte steht einem wieder vor Augen. Man kann dann nicht schlafen, man möchte davon sprechen. Aber wer mag das nach über 60 Jahren noch hören? Wer kann es verstehen? Man redet und redet und ist doch allein mit seinen Erinnerungen.“ Mittlerweile sind 73 Jahre vergangen, seit sowjetische und polnische Soldaten in Sachsenhausen etwa 3.000 körperlich und seelisch ausgezehrte Menschen befreiten. Und doch wollen und werden wir nicht vergessen. Wir wollen die wenigen noch lebenden Zeugen dieses unbegreiflichen Zivilisationsbruchs nicht allein lassen mit ihren Erinnerungen. Wir wollen hören, was sie – und Millionen andere – in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nationalsozialisten erleiden mussten. Wir wollen, dass hinter den unfassbaren Opferzahlen der einzelne Mensch sichtbar wird. Wir wollen verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass Moral, Mitgefühl und Menschlichkeit der Barbarei anheimfielen. Und wir wollen auch, dass die Erinnerung in der jungen Generation und in den nachfolgenden Generationen fortlebt. Denn was wir nicht wollen und niemals wieder zulassen dürfen, ist ein Erstarken jener unmenschlichen Ideologie, die mit der Abwertung des Anderen Diskriminierung und Rassismus, Gewalt und Unterdrückung nährt. So bleibt es unsere immerwährende Verantwortung, daran zu erinnern, welch unermessliches Leid diese Ideologie von Deutschland aus über ganz Europa brachte. Wir sind dies den Leidtragenden von damals schuldig, und wir schulden es auch all jenen, die heute von Gewalt und Ausgrenzung, von Antisemitismus, Rassismus, Homophobie oder Antiziganismus bedroht sind. Deutschland darf nie wieder ein Land sein, in dem Hass und Hetze gegen Minderheiten auf eine schweigende Mehrheit treffen – weder auf Schulhöfen noch auf öffentlichen Plätzen, weder auf Demonstrationen noch in Moscheen oder Parteien. Empathie, Verantwortungsbewusstsein und Zivilcourage lassen sich natürlich nicht per Dekret verordnen. Doch der Erinnerung an die Zeit Raum zu geben, in der Deutschland die Würde des Menschen der millionenfachen Vernichtung preisgab, kann aufklären über die Folgen totalitärer Ideologien und sensibilisieren für deren unterschätzte Wegbereiter: für die Verrohung der Sprache beispielsweise, für Fehlinformationen, die Vorurteile nähren, und für das Schweigen aus Gleichgültigkeit oder Feigheit. Überlebende der Konzentrationslager, die wie Walter Winter die Kraft gefunden haben, ihre Erinnerungen zu teilen, haben in den vergangenen Jahrzehnten zur schonungslosen Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch des Holocaust beigetragen – und damit zu einer Erinnerungskultur, an der unsere Demokratie und unsere Gesellschaft gereift sind. Es berührt mich sehr, dass zahlreiche hochbetagte Zeitzeugen heute mit ihren Angehörigen an den Ort ihrer Qualen zurückgekehrt sind, um gemeinsam mit uns, den Nachgeborenen, der Befreiung des Konzentrationslagers Sachsenhausen zu gedenken. Der Bund fördert gemeinsam mit den Ländern den Erhalt der ehemaligen Konzentrationslager, damit auch sie vom Geschehenen erzählen – und zwar auch dann noch, wenn die Stimmen der Zeitzeugen irgendwann nur noch in Büchern und Filmdokumenten vernehmbar sein werden. Insgesamt fließen aus meinem Kulturetat in diesem Jahr rund 20 Millionen Euro als institutionelle Förderung an NS–Nationalsozialismus-Gedenkstätten und Erinnerungsorte – eine Steigerung um 18 Prozent seit meinem Amtsantritt. Nicht nur die stetig steigenden Besucherzahlen unterstreichen, dass diese Mittel Wirkung zeigen. Wer einmal erlebt hat, wie nachdenklich selbst junge Leute, die mit der Haltung „Was geht mich das an?“ in eine KZ–Konzentrationslager-Gedenkstätte kommen, vor den stummen Zeugnissen der an diesem Ort verübten Verbrechen stehen, wer einmal erlebt hat, wie lebhaft im Angesicht des Leids über Schuld und Verantwortung diskutiert wird, ja, wer einmal erlebt, wie hier aus unbeteiligten Betrachtern persönlich Betroffene wurden, der weiß um die Bedeutung der Gedenkstättenarbeit für den Fortbestand jener Verantwortungsgemeinschaft, die sich aus der Auseinandersetzung mit den Gräueltaten der Nationalsozialisten entwickelt hat. Zur Stärkung dieser Verantwortungsgemeinschaft trägt auch die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten bei, die seit 1993 im Dienste der Aufarbeitung steht. Vor drei Tagen (am Donnerstag) haben Sie, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, das 25-jährige Bestehen der Stiftung begangen, und dies nehme ich gerne zum Anlass, Ihnen allen, die Sie den Auftrag der Stiftung Tag für Tag mit Leben füllen, herzlich für Ihr Engagement, für Ihre von Fachkompetenz, Sorgfalt und Einfühlungsvermögen getragene Arbeit zu danken. Sie, lieber Herr Professor Morsch, prägen diese Arbeit wie auch die deutsche Kultur des Erinnerns an die nationalsozialistische Terrorherrschaft seit mehr als 20 Jahren als Direktor der Stiftung und Leiter der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen. Für Ihren unermüdlichen Einsatz in Wort und Tat danke ich Ihnen von Herzen, und ich hoffe sehr, dass Sie sich mit Ihrem Wissen und Ihrer Expertise auch nach Ihrem Rückzug von diesen Ämtern kritisch-konstruktiv in die öffentlichen Debatten über die Zukunft des Erinnerns einbringen werden. Wie sieht diese Zukunft aus? Wie erreicht man Menschen, die sich – weil im wiedervereinten Deutschland aufgewachsen oder nach Deutschland eingewandert – persönlich nicht betroffen wähnen? Wie wird man Besuchergruppen gerecht, in denen sich die religiöse, ethnische und kulturelle Vielfalt der Einwanderungsgesellschaft spiegelt – und damit auch der Sozialisierung geschuldete Vorurteile gegenüber Andersgläubigen, Andersdenkenden und Anderslebenden? Fest steht: In der Anerkennung der Lehren, die Deutschland aus der verbrecherischen Herrschaft der Nationalsozialisten gezogen hat, darf es keine „Vielfalt“ und auch keine „Wende“ geben – keine Gnade der „fernen Geburt“ wie auch keine „Gnade der späten Geburt“. Die Aufarbeitung des Holocaust ist Teil unseres Selbstverständnisses und nicht verhandelbar. Das müssen wir allen vermitteln, die in Deutschland heimisch sind und die in Deutschland heimisch werden wollen. Je größer die Distanz zur NS–Nationalsozialismus-Terrorherrschaft, desto wichtiger wird dafür die pädagogische Arbeit der KZ–Konzentrationslager-Gedenkstätten. Deshalb haben wir – CDU–Christlich Demokratische Union Deutschlands, CSU–Christlich-Soziale Union in Bayern und SPD–Sozialdemokratische Partei Deutschlands – im Koalitionsvertrag vereinbart, ein Programm „Jugend erinnert“ ins Leben zu rufen und die Gedenkeinrichtungen noch mehr als bisher personell und finanziell bei der pädagogischen Arbeit zu unterstützen. Diese Vereinbarungen sind mir sehr wichtig, und ich werde mein Möglichstes dafür tun, dass wir sie bald umsetzen können. „Mit meiner Erinnerungsarbeit möchte ich Menschen (…) klar machen, wohin Diskriminierung und Ausgrenzung führen [können]. (…) Wir müssen uns einmischen, wir dürfen nicht schweigen, wenn Menschen Unrecht getan wird.“ So hat es Walter Winter formuliert, der als Sinto das Todeslager Auschwitz, die Konzentrationslager Ravensbrück und Sachsenhausen und einen Zwangseinsatz als Soldat in den letzten drei Kriegswochen überlebt hat. Wie so viele Holocaust-Überlebende hat er trotz schmerzender Narben an Körper und Seele nie den Glauben verloren, dass seine Erinnerungsarbeit jede nur mögliche Anstrengung wert ist. Dieses Vermächtnis verdient Erben, die es weitertragen! Ja, auch die Größe, die Kraft und die Herzenswärme, mit der Walter Winter und viele Überlebende sich nach dem Zweiten Weltkrieg für den moralischen Wiederaufbau eines demokratischen Deutschlands engagiert haben, verpflichten uns, die Erinnerung wach und lebendig zu halten – nicht nur an Gedenktagen und in Gedenkstätten, sondern auch und gerade in der Auseinandersetzung mit Diskriminierung und Ausgrenzung in unserer heutigen Gesellschaft. Schweigen wir also nicht, meine Damen und Herren, wenn neue politische Kräfte in unserem Land dieses Vermächtnis mit Füßen treten! Mischen wir uns ein! Tun wir unser Möglichstes, dass die Keime menschen-verachtender Ideologien in Deutschland nie wieder einen Nährboden finden. Ich danke Ihnen.
Die Aufarbeitung des Holocaust bleibe notwendig, hob Kulturstaatsministerin Grütters in ihrer Rede hervor. „Deutschland darf nie wieder ein Land sein, in dem Hass und Hetze gegen Minderheiten auf eine schweigende Mehrheit treffen – weder auf Schulhöfen noch auf öffentlichen Plätzen, weder auf Demonstrationen noch in Moscheen oder Parteien. Auch künftig bleibe es wichtig, Gedenkeinrichtungen bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Grütters dankte dem scheidenden Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Günter Morsch für sein jahrzehntelanges Engagement.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen am 17. April 2018 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-jahresempfang-des-bundes-der-vertriebenen-am-17-april-2018-in-berlin-1122308
Tue, 17 Apr 2018 18:29:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Präsident, lieber Herr Fabritius, sehr geehrte Frau Staatsministerin Grütters, sehr geehrter Herr Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesinnenministerium – der Minister verhandelt ziemlich erfolgreich, wie man liest; und von ihm grüßen wir natürlich –, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, Exzellenzen, liebe Gäste, insbesondere aus Korea, meine Damen und Herren, meine Teilnahme gehört fast schon als Tradition zum Jahresempfang, zu dem ich immer wieder sehr gern komme, weil es mir auch ein sehr persönliches Anliegen ist. Mir liegt sehr daran, immer wieder deutlich zu machen, dass der Bund der Vertriebenen bei der Bundesregierung ein offenes Ohr findet und dass das auch in dieser Legislaturperiode genauso sein wird. Damit man uns das glaubt, haben wir das auch im Koalitionsvertrag bekräftigt. Jede Bundesregierung hat eine besondere Verantwortung gegenüber deutschen Heimatvertriebenen und gegenüber den deutschen Heimatverbliebenen, die als deutsche Minderheiten in ihren Heimatregionen leben. Deren Anliegen zu einem Anliegen der Bundesregierung zu machen, und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern ganz praktisch: Wer könnte das besser als der BdV-Präsident selbst? Deshalb bin froh, dass wir Sie, lieber Bernd Fabritius, für das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten gewonnen haben. Ich gratuliere Ihnen zu diesem Amt. Aber wir können uns auch alle selbst dazu gratulieren und sind froh, dass Sie diese Aufgabe übernommen haben. Ich möchte noch einen herzlichen Dank an den Parlamentarischen Staatssekretär Günter Krings richten. Zunächst hatte er den Staffelstab von Hartmut Koschyk übernommen. – Man würde diese Sache gar nicht erwähnen, wenn die Phase zwischen Bundestagswahl und Regierungsbildung nicht doch erhebliche Zeit gedauert hätte. – So war für Kontinuität gesorgt. Das Schicksal von Vertriebenen braucht besondere Aufmerksamkeit. Ihre Lebensleistung und ihr kulturelles Erbe verdienen besondere Wertschätzung. Wertschätzung kommt nicht von ungefähr. Sie setzt Erinnerung voraus. Erinnerung aber läuft Gefahr, mit der Zeit zu verblassen – erst recht, wenn wir immer weniger Zeitzeugen in unserer Mitte haben. Deshalb braucht Erinnerung konsequente Förderung. Daher ist und bleibt es der Bundesregierung wichtig, dass die „Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ihrem Auftrag gerecht werden kann. Ich begrüße die Chefin dieser Stiftung ganz besonders. Ich darf mit Erleichterung sagen, dass im vergangenen Jahr das Konzept zur Dauerausstellung verabschiedet wurde. Wir sind damit einen großen Schritt zur Eröffnung des Dokumentationszentrums vorangekommen. Jetzt kommt Alexander Dobrindt, der schon begrüßt wurde. Ich darf sagen, dass er jetzt auch wirklich hier ist. Herzlich willkommen, lieber Alexander Dobrindt. Wir haben mehr Fördermittel für die Erforschung und Bewahrung, für die Präsentation und Vermittlung der Kultur und Geschichte der Deutschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa bereitgestellt. Seit 2017 stehen jährlich eine Million Euro zusätzlich zur Verfügung. Neben der besseren Ausstattung dieses Förderbereichs ging und geht es uns auch um eine stärkere europäische Ausrichtung. Ohne Zweifel ist das deutsche Kulturerbe ein bedeutender Teil unserer gesamten europäischen Kultur. Es ist auch ein wichtiger Bezugspunkt für eine gemeinsame europäische Entwicklung. Wir sehen ja, welch integrierende Kraft das kulturelle Erbe auch vor Ort entfalten kann. Die deutschen Minderheiten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa haben solide Brücken des zivilgesellschaftlichen Austauschs errichtet. Sie stärken damit auch immer wieder unsere zwischenstaatlichen Beziehungen. Auch deshalb habe ich gleich nach meiner Wiederwahl bei meinem jüngsten Besuch in Warschau dafür geworben, wieder am Runden Tisch zusammenzukommen. Ich würde das sehr begrüßen. Denn dieser Runde Tisch soll über, wie es wörtlich heißt, „Fragen der Förderung sowohl der deutschen Minderheit in Polen als auch der polnischstämmigen Bürger und Polen in Deutschland“ beraten. Das liegt mir und uns sehr am Herzen. Unabhängig von Fragen der Förderung heißt Erinnerung natürlich vor allem auch, individuelle Schicksale in den Blick zu nehmen. Das gilt nicht zuletzt für die zivilen deutschen Zwangsarbeiter. Ihre leidvollen Erfahrungen als besondere Kriegsfolgenschicksale zu würdigen und mit einer Anerkennungsleistung zu verbinden, darauf mussten die Überlebenden lange – man kann auch sagen: allzu lange – warten. Aber immerhin – Herr Fabritius hat es gesagt –: Mehr als erwartet, nämlich über 46.000 Personen, haben bis Ende des vergangenen Jahres einen Antrag gestellt. Es freut mich, dass so viele diese Anerkennung annehmen wollen. Die Bundesregierung – das darf ich Ihnen versichern – wird alles dafür tun, dass so rasch wie möglich über die Anträge entschieden wird. Aus der Erinnerung erwächst immer auch Verantwortung für die Zukunft. Dieser Verantwortung will sich die Bundesregierung weiter stellen; und zwar auch ganz konkret. Ich denke zum Beispiel an die Alterssicherung für Spätaussiedler. Mit dem neuen Koalitionsvertrag haben wir uns darauf verständigt, durch eine Fondslösung einen Ausgleich für Härtefälle zu ermöglichen. Ich bin zuversichtlich, dass wir eine gute Lösung finden werden. So wichtig das Thema Alterssicherung auch ist, so steht es doch nur beispielhaft für den Dialog mit Vertriebenen und Spätaussiedlern insgesamt – und zwar für einen Dialog, den wir unbedingt pflegen müssen, den wir pflegen wollen und der täglich gepflegt wird. Denn diese Menschen verfügen über einen ganz besonderen Erfahrungsschatz. Für sie spielen Werte und Begriffe wie Familie und Gemeinschaft, Tradition und Glaube häufig eine zentrale Rolle. Es sind Werte, die auch mit dem Begriff Heimat eng verbunden sind. Heimatbewusstsein ist uns auch deshalb so wichtig, weil es etwas mit Selbstbewusstsein zu tun hat. Heimat ist Teil persönlicher Identität. Heimat ist zugleich Zugehörigkeit. Sie bedeutet Zusammenleben und Zusammenhalt in einer Gemeinschaft, die sich gleichen Werten verpflichtet sieht. In diesem Sinne sind unter Heimat nicht nur bestimmte Orte und Landschaften zu verstehen. Es geht auch und vor allem um Menschen und ihre Gemeinschaft, um ihre Sehnsucht nach einem friedlichen und gedeihlichen Miteinander. Das ließ auch Papst Franziskus in seiner Grußbotschaft zum Tag der Heimat 2017 anklingen – ich möchte ihn zitieren –: „Der Sehnsucht der Menschen nach Heimat, nach Geborgenheit und Überschaubarkeit Raum zu geben, ist eine Grundaufgabe jeder Politik.“ In den Räumen der Katholischen Akademie ist das, denke ich, auch passend. Papst Franziskus schreibt uns diese politische Aufgabe zu einer Zeit ins Stammbuch, in der weltweit so viele Menschen auf der Flucht sind wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Niemand gibt seine Heimat leichtfertig auf. Auch zu uns nach Deutschland sind viele geflohen, oft unter Todesgefahr, weil sie sich in ihrer Heimat ihrer Zukunft beraubt sahen. Diejenigen, die deshalb länger oder für immer bei uns bleiben werden, sollen bei uns auch ein neues Zuhause finden können. Ein Bleiberecht ist natürlich die formale Voraussetzung dafür. Aber es braucht auch Offenheit auf beiden Seiten: bei den Flüchtlingen wie auch in der deutschen Gesellschaft. Offenheit, die Bereitschaft zur Verständigung und die Einhaltung von Recht und Ordnung – das sind wesentliche Voraussetzungen dafür, dass Verbundenheit überhaupt wachsen kann. Wir alle wissen, dass die Fluchtbewegungen heute und Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg nur sehr bedingt vergleichbar sind. Aber es gibt auch Übereinstimmungen. Denn Vertriebene wissen aus ihrer eigenen Geschichte, wie wichtig Heimat für den Menschen ist. Sie wissen, was es bedeutet, seine Heimat zu verlieren, und wie schwierig es sein kann, sich ein neues Zuhause aufzubauen. Ihre Erinnerung an die Vergangenheit prägt in besonderer Weise auch ihr Verantwortungsbewusstsein für die Gestaltung der Zukunft. Das sage ich nicht einfach nur so dahin. Wir sehen ja, dass sich ihre Erfahrung und ihr Wertebewusstsein in einem vielfältigen Engagement als Brückenbauer in unseren Ländern und auch zwischen Ländern widerspiegeln. Das macht Vertriebene und Spätaussiedler zu Partnern einer Politik, die nicht abgrenzt, die nicht ausgrenzt, sondern auf gesellschaftlichen Zusammenhalt und ein gutes Zusammenleben in Europa abzielt – und das seit Jahrzehnten auf der Grundlage ihrer Charta, einem wirklich historischen Dokument. Ich bin für ein solches Engagement sehr dankbar, und möchte jedem Einzelnen von Ihnen danken. Wenn man miteinander im Gespräch steht, dann weiß man, was Sie an Arbeit, an ganz spezifischer Arbeit für jede Gruppe, leisten, was Sie auf die Beine stellen und was Sie immer wieder bewegen, das für viele Menschen wichtig ist. Deshalb freue ich mich von ganzem Herzen auf unsere Zusammenarbeit in dieser Legislaturperiode mit den Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag, mit der Bundesregierung, mit der Staatsministerin, mit den Staatssekretären und natürlich mit dem Beauftragten. Meine Damen und Herren, herzlichen Dank dafür, dass ich heute wieder mit dabei sein darf.
in Berlin
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der Ausstellung „Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930“ im Haus der Kulturen der Welt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-ausstellung-neolithische-kindheit-kunst-in-einer-falschen-gegenwart-ca-1930-im-haus-der-kulturen-der-welt-1006818
Thu, 12 Apr 2018 19:15:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Manchmal streift es uns, wenn auf Facebook und Twitter zwischen Werbung und Entertainment Bilder aus den Höllen der Kriege unserer Zeit, Aufnahmen von Terroranschlägen oder Eindrücke vom Elend in Flüchtlingslagern am Rande Europas an uns vorbeirauschen: das Gefühl, in einer falschen Gegenwart zu leben. Ja, dieses Lebensgefühl, das die neue Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt ca. 1930 verortet, ist ganz gewiss keines, das man nur aus Ausstellungen oder Büchern über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kennt – allein schon deshalb, weil das weltweite Erstarken der Populisten und Nationalisten wie auch die Verrohung öffentlicher Debatten fatal an jene Zeit erinnert, als in Europa das Totenglöckchen für die Demokratie läutete und Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus sich ausbreiteten. So macht das Haus der Kulturen der Welt seinem Ruf als treibende Kraft gesellschaftlicher Diskurse mit der Ausstellung „Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930“ einmal mehr alle Ehre: Es ist auch und gerade mit Blick auf unsere Gegenwart aufschlussreich zu sehen, wie Künstlerinnen und Künstler in den Umbruchs- und Krisenjahren zwischen zwei Weltkriegen mit radikal neuen Vorstellungen des Möglichen auf die Zumutungen des Wirklichen reagierten und dabei revolutionäre Erkenntnisse der Naturwissenschaften, der Psychologie, der Ethnologie und der Philosophie nutzten, um neue geistig-künstlerische Räume zu erschließen. 180 Kunstwerke und 600 Archivalien erwarten die Besucherinnen und Besucher – darunter Werke von Hans Arp, Georges Braque, Hannah Höch oder Paul Klee. Sie alle beleuchten die herausragende Rolle der Kunst zwischen 1920 und 1940, und sie zeigen, dass gerade die Kunst in unsicheren Zeiten Zufluchtsorte jenseits einer „falschen Gegenwart“ schaffen kann: Utopien, die eine Gesellschaft braucht, um sich ihrer Defizite und Widersprüche bewusst zu werden. Die Ausstellung und die dazugehörige, im Mai stattfindende Konferenz sind wunderbare Früchte der beiden durch mein Haus geförderten Großprojekte „100 Jahre Gegenwart“ und „Kanon-Fragen“, die den Blick für die Lehren aus dem wechselvollen 20. Jahrhundert schärfen und von den Entwicklungen der Kunst- und Philosophiegeschichte des letzten Jahrhunderts eine Brücke in die Gegenwart schlagen. So lässt uns die Ausstellung teilhaben an den damaligen Umbrüchen und Entwicklungen – durch die Augen kritischer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Zu ihnen zählt der Kunsthistoriker und Schriftsteller Carl Einstein, dessen Essay „Neolithische Kindheit“ aus dem Jahr 1930 titelgebend für diese Ausstellung ist. In diesem Zusammenhang darf ich übrigens erwähnen, dass das Carl-Einstein-Archiv gerade in Kooperation mit der ebenfalls von meinem Haus geförderten Akademie der Künste digitalisiert wurde – ein schöner Beleg dafür, wie produktiv die Vernetzung unserer (nicht nur Berliner) Kultur-Einrichtungen sein kann, erst recht, wenn alle an einem Strang ziehen. Allen Beteiligten ein herzliches Dankeschön! Vor allem gilt mein Dank heute aber Ihnen und Ihrem Team, lieber Herr Professor Scherer! Unter Ihrer Leitung hat sich das HKW–Haus der Kulturen der Welt in den vergangenen Jahren immer wieder an der Schnittstelle zwischen Kultur und Wissenschaft profiliert und sich zu einer Institution entwickelt, die weltweit Themen setzt und mit originellen Perspektiven weit über die Grenzen Berlins hinaus Debatten voran treibt. Ich schätze Ihre Arbeit und die Ihres Teams sehr, lieber Herr Professor Scherer, und es freut mich zu sehen, dass die mehr als 30 Millionen Euro aus dem Kulturetat, die seit meinem Amtsantritt zusätzlich in die Programmarbeit des HKW–Haus der Kulturen der Welt geflossen sind bzw. noch fließen werden, ganz offensichtlich bestens angelegt sind. Gut angelegt – damit meine ich auch und vor allem: gewinnbringend für notwendige öffentliche Debatten, für die gesellschaftliche Selbstverständigung über drängende Fragen unserer Gegenwart. Es sind Fragen, die – das sehen wir in der Ausstellung „Neolithische Kindheit“ – nicht weit entfernt sind von denjenigen, die Künstlerinnen und Künstler „ca. 1930“ bewegt haben. Gerade weil wir um das unermessliche Leid und die barbarischen Verbrechen wissen, die damals aus „einer falschen Gegenwart“ folgten, verdient diese Ausstellung große Aufmerksamkeit. Als ich mich vergangene Woche in Paris mit der Generaldirektorin der UNESCO–United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization Audrey Azoulay getroffen habe, meine Damen und Herren, fand ich in der Vorbereitung einen Satz aus der UNESCO–United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization-Erklärung zur Weltkonferenz der Kulturpolitik aus dem Jahr 1982, der prägnant zusammenfasst, wie Kunst und Kultur mit ihren Fragen, Zweifeln und Utopien für eine „falsche Gegenwart“ sensibilisieren. Ich zitiere: „Erst durch die Kultur drückt sich der Mensch aus, wird sich seiner selbst bewusst, erkennt seine Unvollkommenheit, stellt seine eigenen Errungenschaften in Frage, sucht unermüdlich nach neuen Sinngehalten und schafft Werke, durch die er seine Begrenztheit überschreitet.“ Viele Künstlerinnen und Künstler, die sich um 1930 in dieser Weise verdient gemacht haben, wurden wenig später von den Nationalsozialisten verfolgt und ihre Werke mit dem Kampfbegriff „entartete Kunst“ verunglimpft. So konnte die „Kunst in einer falschen Gegenwart“ damals ihre revolutionären Kräfte nicht entfalten. Auch deshalb ist heute demokratischer Widerstandsgeist gefragt, wenn Künstler und Kulturschaffende von Populisten und Nationalisten gemaßregelt und aufgefordert werden, – ich zitiere aus einem einschlägigen Wahlprogramm – „zur Identifikation mit unserem Land anzuregen“. Denn eine Kunst, die sich festlegen ließe auf die Grenzen des politisch Wünschenswerten, eine Kunst, die einer Ideologie oder Weltanschauung, einer bestimmten Moral oder Politik diente –eine solchermaßen begrenzte oder domestizierte Kunst würde sich nicht nur ihrer Möglichkeiten, sondern auch ihres Wertes berauben. Deshalb hoffe ich, meine Damen und Herren, dass die Schau „Neolithische Kindheit“ ihre Besucherinnen und Besucher die künstlerische Freiheit einmal mehr schätzen und gegen jede Form der politischen, religiösen oder weltanschaulichen Vereinnahmung zu verteidigen lehrt. Denn nur eine freie Kunst kann über eine „falsche Gegenwart“ hinausweisen und Kräfte der Veränderung mobilisieren. In diesem Sinne: Viel Erfolg für die neue Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt!
Bei der Ausstellungseröffnung hat Kulturstaatsministerin Grütters betont, wie wichtig eine Kunst unabhängig von Ideologien oder bestimmten Politik ist. „Es ist auch und gerade mit Blick auf unsere Gegenwart aufschlussreich zu sehen, wie Künstlerinnen und Künstler in den Umbruchs- und Krisenjahren zwischen zwei Weltkriegen mit radikal neuen Vorstellungen des Möglichen auf die Zumutungen des Wirklichen reagierten,“ so Grütters.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Eröffnung der Ausstellung „Die Dänen! Schenkung Christoph Müller“ im Pommerschen Landesmuseum
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-eroeffnung-der-ausstellung-die-daenen-schenkung-christoph-mueller-im-pommerschen-landesmuseum-845372
Sun, 25 Mar 2018 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Greifswald
Kulturstaatsministerin
Vor genau fünf Tagen, am 20. März 2018, wurde doch tatsächlich zum ersten Mal der „Welttag der Romantik“ gefeiert. Diesen Tag erfand und schenkte der Fernsehsender Romance TV sich und der Welt zu seinem zehnjährigen Bestehen. Er reiht sich ein in den Reigen schräger Feier- und Gedenktage: Allein am 20. März wird neben dem neu-erfundenen „Welttag der Romantik“ beispielsweise auch noch der „Tag der Ravioli“ oder der „Welttag des Sperlings“ begangen… Ob die Welt nun wirklich einen Tag braucht, der eine sentimentale, nun ja: nennen wir es „Rosamunde-Pilcher-Romantik“ verherrlicht, sei dahingestellt… Der Romantik als einer bedeutenden Epoche Tribut zu zollen, könnte hingegen kaum wichtiger sein. Schließlich handelt es sich um eine Schlüsselepoche der deutschen Geistesgeschichte: Das Romantische verkörpert gerade im Ausland die deutsche Kultur schlechthin, und die künstlerischen Werke und Zeugnisse aus dieser Epoche gelten zu Recht als Schlüssel zum Verständnis der „deutschen Seele“. Deshalb freut es mich sehr, dass wir heute, hier im romantisch-angehauchten Greifswald, die Eröffnung der Sonderausstellung „Die Dänen! Sammlung Christoph Müller“ feiern. Mit dieser Ausstellung bedeutender Werke der Dänischen Romantik des 19. und 20. Jahrhunderts erzählt das Pommersche Landesmuseum ein maßgebliches Stück Kunstgeschichte und damit auch gemeinsamer deutsch-dänischer Geschichte. Unsere beiden Länder verbinden seit langem enge und intensive Beziehungen – gerade auch im Bereich der Kultur. Im vergangenen Juni, lieber Herr Botschafter Petersen, Sie werden sich sicher erinnern, hat mich die dänische Kulturministerin Mette Bock im Bundeskanzleramt besucht, wir haben uns intensiv ausgetauscht, zum Beispiel über unser gemeinsames europäisches Projekt, das Kulturerbejahr „Echy“ 2018, aber auch über das Reformationsjubiläum im vergangenen Jahr. Wir sprachen auch über den 100. Jahrestag der Volksabstimmung zum Grenzverlauf in Dänemark, der im Jahr 2020 ansteht. Dass dieser Tag gemeinsam in einem europäischen Geist begangen wird, ist für mich ein schöner Beleg für die Qualität unserer Beziehungen. Wie fruchtbar auch der Austausch in der Kunst der Romantik zwischen Dänemark und Deutschland ist, dafür steht diese Ausstellung: Die Kopenhagener Malerschule galt einst als modernste Kunstschule Europas, auch Caspar David Friedrich lernte hier sein Handwerk. Der Kunsthistoriker Philipp Demandt meint sogar: „Was heute als die ‚deutsche Romantik‘ weltweit ein Begriff ist, das kam in Dänemark zur Welt.“ Den großen Einfluss und die große Bedeutung der dänischen Romantiker können wir ab heute hier in Greifwald bestaunen und dass dies möglich ist, ist einzig und allein der großherzigen Schenkung eines Berliner Kunstsammlers zu verdanken – der Großzügigkeit Christoph Müllers. Sage und schreibe 380 Werke umfasst seine Sammlung bedeutender Werke der Romantik – eine der größten zusammenhängenden Sammlungen dänischer Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Was für ein Geschenk, lieber Herr Müller! Wir alle sind zutiefst dankbar, dass diese bedeutende Sammlung künftig hier im Pommerschen Landesmuseum zu sehen ist! Wunderbare Räume sind zu sehen, einer heißt „Herz und Heimat“: Ich finde es großartig, dass unser „museales Netz geistiger Tankstellen“ von Ihnen gestärkt wird – nicht nur die Metropolen. Damit sind Sie, nebenbei bemerkt, sowohl Wiederholungs- als auch Überzeugungstäter: „Wiederholungstäter“ deshalb, weil von Ihren großzügigen Schenkungen in der Vergangenheit schon das Kupferstichkabinett Berlin profitierte. Und auch das Land Mecklenburg-Vorpommern erhielt von Ihnen früher schon einmal einen wunderbaren Schatz: Niederländische Werke aus dem 16.-18. Jahrhundert. „Überzeugungstäter“ sind Sie, weil Sie – so haben Sie es einmal in einem Interview gesagt – der Meinung sind, dass es für reiche Leute nur „eine einzige anständige Art Geld auszugeben“ gebe: nämlich „für Museen zu sammeln.“ Das ist eine noble Haltung – zumal Sie in unserem heutigen „Fall“ nicht nur Kunstwerke für Museen sammeln, sondern auch persönlich mit den Werken und mit dem Pommerschen Landesmuseum verbunden sind. Die Ausstellung „Die Dänen!“ ist auch dank Ihrer ehrenamtlichen Vermittlungsarbeit, Führungen und Vorträge etwas ganz Besonderes, etwas sehr Lebendiges. Dank Ihrer Großzügigkeit, Ihres Engagements und Ihrer visionären Kraft gibt es darüber hinaus einen langfristigen Plan: Die dem Land Mecklenburg-Vorpommern geschenkten Werke werden dem Pommerschen Landesmuseum als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt und bilden so, gemeinsam mit Werken aus dem Bestand der Gemäldegalerie des Museums, das Fundament der neuen „Galerie der Romantik“. Mit der Umwandlung einer bisher „namenlosen“ Bildersammlung zur „Galerie der Romantik“ schafft das Pommersche Landesmuseum einen weiteren attraktiven Anreiz zur Auseinandersetzung mit der pommerschen Kultur und ihren nordeuropäischen Bezügen. Caspar David Friedrich, der große Sohn der Stadt Greifswald, prägte wie kein anderer die Vorstellung von der norddeutschen Romantik. In der Verantwortung für das große Erbe dieses international beachteten Romantikers wird das Museum künftig also noch deutlicher die historisch-kulturelle Bedeutung des Nordens in all ihren Facetten zum Leuchten bringen. Ich freue mich, dass der Bund – neben dem Land Mecklenburg-Vorpommern und der Stadt Greifswald – das Pommersche Landesmuseum seit über zwei Jahrzehnten institutionell fördert und dass ich nun auch die geplante „Galerie der Romantik“ mit fünf Millionen Euro aus meinem Kulturetat unterstützen kann! Greifswald befindet sich dabei übrigens in bester Gesellschaft: In Frankfurt am Main entsteht gegenwärtig das Deutsche Romantik-Museum; der Bund engagiert sich auch hier finanziell in hohem Maße. Nach meinem Rundgang eben bin ich überzeugt: Die neue „Galerie der Romantik“ wird ganz bestimmt ein Publikumsmagnet, der Menschen aus der Region, aber auch aus der Ferne, aus den Nachbarländern Dänemark und Polen sowie aus anderen Ländern anzieht. Auch für die museale Fachwelt entwickelt Greifswald mit diesem künstlerischen Schwerpunkt noch mehr als bislang internationale Ausstrahlung – das Pommersche Landesmuseum ist mit seiner umfassenden Sammlung romantischer Kunst schon jetzt ein attraktiver Partner für Ausstellungsvorhaben in ganz Europa! Nicht zuletzt zeigt die Sammlung mit ihren wunderbaren zuweilen beinahe mystisch anmutenden Kunstwerken auf beeindruckende Weise, dass es gerade die Romantik ist, die wie kaum eine andere Zeit für Empfindsamkeit und für die Hinwendung zum Gefühlvollen steht. Dass der Begriff „Romantik“ heute auch manchmal für Kitsch herhalten muss, nimmt der Epoche der Romantik nichts an Strahlkraft. Doch wenn der eingangs erwähnte Fernsehsender Romance TV sein Programm mit dem Slogan „Das Beste, was Romantik zu bieten hat!“ bewirbt, möchte man dann doch widersprechen: Denn das wirklich Beste, was Romantik zu bieten hat – oder zumindest vieles vom Besten aus dieser Epoche – findet sich hier in Greifswald! In diesem Sinne wünsche ich der Ausstellung und dem ganzen Haus viele begeisterte Besucherinnen und Besucher aus Deutschland, aus Dänemark und aus ganz Europa!
Bei Eröffnung der Ausstellung „Die Dänen“ hat Kulturstaatsministerin Grütters dem Kunstsammler Christoph Müller herzlich gedankt. Mit dessen Schenkung von 380 Werken der dänischen Romantik „erzählt das Pommersche Landesmuseum ein maßgebliches Stück Kunstgeschichte wie deutsch-dänischer Geschichte. Die geplante „Galerie der Romantik“ werde die historisch-kulturelle Bedeutung des Nordens in all ihren Facetten zum leuchten bringen“, so Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters vor dem Deutschen Bundestag
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-vor-dem-deutschen-bundestag-1122418
Wed, 21 Mar 2018 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Als auf den Tag genau vor 147 Jahren, am 21. März 1871, um 13 Uhr, der erste gesamtdeutsche Reichstag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkam, gab es weder das Reichstagsgebäude noch eine parlamentarische Demokratie, wie wir sie heute kennen. Und doch verdient, meine ich, dieser Jahrestag in der heutigen Generaldebatte Erwähnung, nicht zuletzt als Meilenstein in der Entwicklung einer demokratischen Kultur, einer demokratischen Debattenkultur. Um diese Debattenkultur ist es aktuell nicht immer zum Besten bestellt. Wir erleben es täglich: Der Ton – auch die Frau Bundeskanzlerin hat das gesagt – ist rauer geworden. Umso wichtiger ist es, in der Kultur- und Medienpolitik den Nährboden demokratischer Verständigung zu pflegen: die Freiheit der Kunst, die Lebendigkeit der Kultureinrichtungen, die Vielfalt und Unabhängigkeit der Medien. Auch deshalb haben wir den Haushalt des Bundes für Kultur und Medien trotz notwendiger Einsparbemühungen in den vergangenen Jahren stetig erhöht. Deshalb unterstreicht der Koalitionsvertrag mit zahlreichen Vorhaben, zum Beispiel zur Förderung der kulturellen Angebote in ländlichen und strukturschwachen Regionen, einmal mehr, dass Union und SPD der Kultur- und Medienpolitik eine große, eine immense Bedeutung für die Demokratie und für die Verständigung beimessen. Dafür steht auch […] das Humboldt Forum, Deutschlands größtes Kulturprojekt. Die außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die wir hier präsentieren wollen, bieten in Verbindung mit der benachbarten Museumsinsel und den dort verorteten Kulturschätzen des Mittelmeerraums – also Europa und Naher Osten – einmalige Einblicke in das kulturelle Erbe der ganzen Menschheit. Sie offenbaren, dass es ein Wir nicht nur innerhalb, sondern auch jenseits kultureller und nationaler Grenzen gibt. Ich denke, verehrte Kolleginnen und Kollegen, es sagt auch viel über das Selbstverständnis der Kulturnation Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts aus, dass wir im Herzen unserer deutschen Hauptstadt nicht uns selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern der Welt in Berlin ein Zuhause geben. Das heißt: das Eigene im Austausch mit dem Anderen definieren. Vor allem zeigt es, dass wir gelernt haben, mit den Abgründen unserer Geschichte, auch mit den Brüchen unserer Demokratie umzugehen. Statt also in reiner Selbstbezüglichkeit zu verharren, empfiehlt sich hier einmal mehr Deutschland als Partner in der Welt, als im besten Sinne treibende Kraft einer Kultur der Verständigung der Völker. Das Humboldt Forum lädt dazu ein – das ist unsere Idee -, Weltbürger zu sein. Ich bin dankbar, dass wir diese Einladung dank des Koalitionsvertrags und eines großzügigen Finanzministers mit freiem Eintritt für die Dauerausstellung bekräftigen, so wie es im Sinne der kulturellen Bildung und Vermittlung auch immer unser gemeinsames Anliegen war. Als künftigen Intendanten – Sie haben heute die Zeitung gelesen – werde ich dem Stiftungsrat der Stiftung Humboldt Forum den bisherigen Generaldirektor der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, den Kunsthistoriker Hartmut Dorgerloh, vorschlagen. Er ist einerseits Intellektueller, andererseits auch Umsetzer, ein richtig großer, erfolgreicher Praktiker mit hoher Vermittlungskompetenz, und er ist bestens vernetzt. Er begleitet das Projekt übrigens seit vielen Jahren und weiß also, worauf er sich einlässt. Ich bin überzeugt, er ist der Richtige, um das Humboldt Forum zu einem pulsierenden und strahlenden Veranstaltungsort mitten in Berlin zu machen. Die letzten Monate haben wir im Übrigen genutzt, um die künftige Leitungsstruktur verbindlich, einvernehmlich und, wie ich finde, auch sehr gut zu regeln. Die größte Herausforderung steht uns allerdings noch bevor. Mit der Eröffnung des Forums 2019 und dem Umzug vor allen Dingen der ethnologischen Sammlungen von Dahlem nach Mitte rücken auch viel zu lange verdrängte Vorgänge und auch das Unrecht der Kolonialzeit ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit. Das Ziel, Grundsätze für den Umgang mit diesem kolonialen Erbe in Sammlungen und Museen zu erarbeiten, hat deshalb in meiner zweiten Amtszeit als Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien höchste Priorität, auch verstanden als konsequente Fortsetzung einer Erinnerungspolitik, die großen Anteil am mittlerweile wieder hohen Ansehen Deutschlands in der Welt hat und die ich in meiner ersten Amtszeit auch mit der massiven Stärkung der Provenienzforschungsmittel zur Aufarbeitung des nationalsozialistischen Kunstraubs vorangetrieben habe. Das heißt, wir können auf eine gute Politik aufbauen und sollten das jetzt mit der klaren Orientierung auch auf den Umgang mit dem kolonialen Erbe fortentwickeln. [Präsident] Macron hat auf Twitter geschrieben: „Das afrikanische Erbe darf kein Gefangener europäischer Museen sein.“ Anknüpfend an seine denkwürdige Rede in Burkina Faso hoffe ich auf eine enge deutsch-französische Kooperation bzw. auf eine Art deutsch-französischen Motor bei diesem wichtigen Thema. Deshalb will ich meiner französischen Amtskollegin Françoise Nyssen bei einem Treffen in der Woche nach Ostern vorschlagen, gemeinsam eine internationale Expertenkonferenz einzuberufen. Ihre Impulse könnten der erste Schritt sein, um – abhängig von den Umständen des Einzelfalls – Lösungen für den Umgang mit diesem kolonialen Erbe zu finden. Auch das braucht, glaube ich, eine breite europäische Basis. Denn die Aufarbeitung der historischen Wahrheit ist immer die Voraussetzung für Versöhnung und Verständigung. Weil sich eine demokratische Kultur der Verständigung nicht nur in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, sondern natürlich auch in der Gestaltung der Zukunft bewähren muss, noch eine abschließende Bemerkung zum Zukunftsthema Digitalisierung – auch wenn gleich Dorothee Bär noch dazu reden wird, es betrifft ja uns alle: Auch im Internet müssen Regeln gelten, die eine demokratische Debattenkultur schützen und fördern. Dazu gehört nicht zuletzt die Kunstfreiheit. Eine demokratische Errungenschaft, das geistige Eigentum, ist ein zivilisatorischer Gewinn, der gerade bei uns in Deutschland aus gutem Grund Verfassungsrang genießt. Künstlerinnen und Künstler müssen jetzt und auch künftig von ihrer Arbeit leben können. Deshalb werde ich mich weiterhin für den Schutz des geistigen Eigentums durch ein starkes Urheberrecht einsetzen. Eine letzte Bemerkung: Im 21. Jahrhundert sollte es außerdem eine Selbstverständlichkeit sein, dass Frauen und Männer in Kultur und Medien gleichermaßen Wertschätzung für ihre Leistung erfahren. Dabei geht es nicht allein um Gleichberechtigung, sondern auch um künstlerische Vielfalt und um einen Gewinn an Perspektiven und Potenzialen. Lassen Sie uns deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, alles in unserer Möglichkeit Stehende tun, um die Gleichstellung in Kultur und Medien ebenso kontinuierlich zu verbessern, wie wir den Kulturetat in den vergangenen Jahren erhöht haben. Auch so stärken wir Verständigung und Zusammenhalt. Ich danke Ihnen.
Die Kulturstaatsministerin gibt einen Ausblick auf die Schwerpunkte der Bundeskulturpolitik in der aktuellen Legislaturperiode. Im Fokus stehen die Förderung der kulturellen Bildung und Teilhabe, das Humboldt Forum und der Umgang mit dem kolonialen Erbe.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Verleihung des 10. Musikautorenpreises der GEMA–Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-verleihung-des-10-musikautorenpreises-der-gema-gesellschaft-fuer-musikalische-auffuehrungs-und-mechanische-vervielfaeltigungsrechte-862386
Thu, 15 Mar 2018 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Auf den ersten Blick scheinen die französische Chansonnière Mireille Mathieu und der verstorbene britische Rockstar David Bowie nur wenige Gemeinsamkeiten zu haben. Aber wer sich ihre musikalische Karriere genauer ansieht, wird feststellen, dass beide nur wenige Meter von hier entfernt, in den legendären Hansa-Studios in der Köthener Straße, einige ihrer großen Hits aufgenommen haben. „Meine Welt ist die Musik! (…) Wunderbar ist die Musik! Wunder wahr macht die Musik!“, heißt es in einem der größten Hits von Mathieu. Ob David Bowie eine heimliche Leidenschaft für Chansons hatte, sei dahingestellt. Jedenfalls war die Musik auch für ihn etwas Wunder-volles, wie viele seiner Liedtexte und seine künstlerische Vielseitigkeit zeigen. David Bowie schrieb seine Songs meist selbst – und zählte übrigens auch Edith Piaf zu denen, die ihm das Songwriting beigebracht haben. Mathieu hingegen besang die Musik auf unzähligen Bühnen als „ihre Welt“, doch geschrieben hat diesen Song ein anderer, und seinen Namen kennt die breite Öffentlichkeit nicht. Es mag vielleicht nicht Ihr Genre sein, liebe Musikautorinnen und Musikautoren, aber auch Sie können vermutlich ein Lied davon singen: Im Rampenlicht stehen meist nur die Interpreten. Von Ihrer Arbeit dagegen, von Ihren Leistungen als Urheber, nehmen nur wenige Notiz. Doch mag die öffentliche Aufmerksamkeit sich auch auf andere richten, mag ein Hit auch in erster Linie als Werk der Interpretin oder des Interpreten gepriesen werden – einzig die Musikautorinnen und Musikautoren können von sich behaupten, Schöpfer des Stoffs zu sein, aus dem er entstanden ist. Die Musik lebt von ihrer Fantasie, von ihrer Inspiration, von ihrem Talent, von ihrem Gespür für Melodien und Worte. Es sind Ihre Ideen, die viele Menschen berühren und bewegen, liebe Musikautorinnen und Musikautoren. Und weil Sie für Ihre großartige künstlerische Arbeit viel mehr Anerkennung und Applaus verdienen, als Ihnen im Musikgeschäft vergönnt ist, freue ich mich sehr, dass die GEMA–Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte die Komponisten und Songtexter mit dem Musikautorenpreis aus dem Schatten der Interpreten ins Rampenlicht holt. Dafür habe ich gerne auch in diesem Jahr die Schirmherrschaft übernommen. Der Musikautorenpreis ist fester Bestandteil des Veranstaltungskalenders der Branche und findet heute sowohl in der Fach- als auch Gesellschaftspresse Beachtung. Außergewöhnlich macht diesen Preis vor allem, dass es Autorinnen und Autoren sind, die einander ehren – was sicherlich eine besonders schöne Form der Anerkennung ist! Manch ein Juror reist dafür extra aus Los Angeles an… Das nenne ich echtes kollegiales Engagement und ein dickes Kompliment für den Preis und für jene, die ihn bekommen! Ich freue mich, lieber Herr Dr. Heker, lieber Herr Dr. Weigand, dass der Preis in diesem Jahr sein zehntes Jubiläum feiert: Herzlichen Glückwunsch und vielen Dank Ihnen, Ihrem Team und allen, die am Erfolg des Preises Anteil haben – allen voran den Jurymitgliedern –, für Ihr Engagement! Aufmerksamkeit und Wertschätzung sind die eine, wichtige Seite der Medaille. Mindestens genauso wichtig, wenn nicht noch wichtiger, ist die Freiheit, die künstlerisches Arbeiten überhaupt erst möglich macht. Künstlerinnen und Künstler müssen von ihrer Arbeit leben können – und nicht nur knapp überleben! Sie verdienen einen fairen und angemessenen Anteil am Ertrag aus Ihrer Leistung. In den Koalitionsverhandlungen habe ich mich deshalb einmal mehr für eine bessere soziale Absicherung von Künstlerinnen und Künstlern und ein starkes Urheberrecht zum Schutz des geistigen Eigentums stark gemacht, das die Rechte der Urheberinnen und Urheber im digitalen Umfeld besser schützt. Und ich kann Ihnen – gerade gestern frisch als Kulturstaatsministerin ernannt – zumindest schon einmal eines versichern: nämlich dass ich mich weiterhin dafür einsetzen werde, dass Plattformen, die mit der Verwertung urheberrechtlich geschützter Werke Geld verdienen, mit den Rechteinhabern künftig Lizenzverträge schließen müssen. Die Frage des sogenannten „Value Gap“ wird derzeit noch intensiv im Europäischen Rat diskutiert; hier müssen wir uns noch auf harte Verhandlungen einstellen. Ich bin aber guten Mutes, dass wir uns auf eine urheberrechtsspezifische Haftungsregelung einigen können, die Verantwortlichkeiten klar benennt und den Interessen der Rechteinhaber an einer fairen Vergütung Rechnung trägt. Wichtig ist und bleibt natürlich auch das Engagement der GEMA–Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte, die als nationale und internationale Stimme der Musikurheberinnen und Musikurheber die Interessen ihrer Mitglieder auf allen politischen Ebenen vertritt; nicht zuletzt in der laufenden EU-Urheberrechtsreform. Und auch im kulturellen Bereich engagiert sich die GEMA–Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte: Die Initiative Musik zum Beispiel ist ein gelungenes „Gemeinschaftswerk“, und ich danke der GEMA–Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte herzlich für ihr Engagement bei der Mitfinanzierung der Geschäftsstelle! Der Erfolg der Initiative spricht für sich, das können wir auch heute Abend sehen. Denn so viel darf ich schon verraten: Auch einige der heutigen Preisträgerinnen und Preisträger wurden schon durch die Initiative Musik gefördert. Dabei sollte es selbstverständlich sein, dass unser gemeinsames Engagement in der Musikförderung der ganzen Vielfalt der Musik gilt. Vielfalt heißt nicht zuletzt, dass auch gleichermaßen Männer und Frauen vertreten sind. Wenn man sich allerdings den Frauenanteil in der Musikbranche ansieht, könnte man fast meinen, es müsse – ganz nach Madame Mathieu – noch ein Wunder geschehen, damit Frauen und Männer hier endlich auch einmal gleichauf sind… Obwohl die Musikbranche ungeheuer vielfältig ist und obwohl man(n) dort gerne mit einem coolen, progressiven Image glänzt, offenbart der Realitätscheck ein ernüchterndes Bild, was den Anteil von Frauen in den entscheidenden Positionen betrifft. Von „progressiv“ kann hier ganz und gar keine Rede sein. Das gilt nicht zuletzt auch für die Musikschöpfer: Laut einer Datenanalyse, die die GEMA–Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte gemeinsam mit dem Jugendkanal PULS veröffentlicht hat, wurden zwischen 2001 und 2015 gerade einmal 11 lächerliche Prozent der Chart-platzierten Songs von Frauen geschrieben. Umso bedauerlicher, dass in der Jury des diesjährigen Musikautorenpreises keine einzige Frau über die Auswahl der Nominierten mitentscheiden konnte – und dass es gerade einmal eine einzige Frau unter die Nominierten geschafft hat. Bei allem Respekt vor der Entscheidung der Jury, die selbstverständlich allein künstlerische Kriterien gelten lassen darf: Frauen verdienen auch in der Musikbranche mehr Anerkennung und Gewicht, und zwar nicht nur aus Gründen der Fairness, sondern auch und noch viel mehr mit Blick auf die künstlerische Vielfalt, von der auch die Musikwirtschaft nur profitieren kann! Dafür braucht es keine Wunder. Es braucht nur den Willen und den Mut zur Veränderung. Deshalb habe ich 2016den Runden Tisch „Frauen und Kultur und Medien“ ins Leben gerufen: Zu den Handlungsempfehlungen und Selbstverpflichtungen der Beteiligten, die dort auf der Basis einer sehr ernüchternden Bestandsaufnahme (Sie erinnern sich vielleicht an die Studie „Frauen in Kultur und Medien“ des Deutschen Kulturrats, finanziert aus meinem Kulturetat) entstanden sind, gehört deshalb beispielsweise der naheliegende Rat, bei der Besetzung von Gremien und Jurys auf einen angemessenen Frauenanteil zu achten, damit bei Förderentscheidungen und Preisen die künstlerischen Leistungen von Frauen überhaupt erst einmal stärker ins Blickfeld rücken. Und nachdem wir das für unsere Filmfördergremien hinbekommen haben, lieber Herr Dr. Heker und lieber Herr Dr. Weigand, bin ich zuversichtlich, dass das mit Willen zur Veränderung auch für die Jury des Musikautorenpreises möglich ist… Auf der ganzen Welt haben sich Menschen im Zuge der #Me-Too-Bewegung in den vergangenen Wochen solidarisiert, denn das Thema betrifft Menschen ungleich ihrer Herkunft oder Hautfarbe. Doch zum Glück sind es nicht nur solche Erfahrungen, die über Grenzen hinweg verbinden… Die Chansonsängerin Mireille Mathieu und der Rockstar David Bowie haben noch etwas gemeinsam: Beide wurden und werden auf der ganzen Welt für ihre Musik gefeiert. Die Begeisterung für ihre Musik kennt im wahrsten Sinne des Wortes keine Grenzen. Ihre Musik verbindet Menschen auf der ganzen Welt, über kulturelle und soziale Unterschiede hinweg. Und eben das ist vielleicht das größte Wunder der Musik – und nicht zuletzt auch Ihre große Leistung, liebe Musikautorinnen und -autoren. Mit Ihren Melodien und Texten berühren Sie die Menschen unmittelbar. In diesem Sinne: Machen Sie weiterhin so wunderbare Musik! Allen Nominierten und Preisträgern: Herzlichen Glückwunsch!
Bei der Verleihung des GEMA–Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte-Musikautorenpreis hat Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat in Berlin die Arbeit der Komponisten und Songtexter im gewürdigt. „Die Musik lebt von ihrer Fantasie, ihrer Inspiration und ihrem Talent“, so Grütters, obgleich die Schöpfer des Stoffs oft im Schatten der Interpreten stünden. Sie werde sich für die Kreativen auch in ihrer neuen Amtszeit einsetzen: bei deren Vergütung, sozialen Absicherung wie auch beim digitalen Urheberrecht.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der Dauerausstellung „Exil. Erfahrung und Zeugnis 1933-1945“ im Deutschen Exilarchiv
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-dauerausstellung-exil-erfahrung-und-zeugnis-1933-1945-im-deutschen-exilarchiv-847654
Thu, 08 Mar 2018 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Frankfurt am Main
Kulturstaatsministerin
„Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wussten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder noch ein paar Wochen oder Jahre oder unser ganzes Leben“. So beschreibt Anna Seghers in ihrem berühmten, autobiographisch geprägten Roman „Transit“ anhand zahlreicher Einzelschicksale die Wochen und Monate des Wartens auf Transitpapiere und Einreisegenehmigungen am Hafen von Marseille – jener Stadt, in der 1940 nach der Besetzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten tausende Flüchtlinge versuchten, auf einem Schiff ins rettende Exil zu gelangen. Bis heute gehört ihr Roman zu den bewegendsten Zeugnissen der Existenzbedingungen im Exil: Er zeigt, wie sehr der Weg der Emigration vom Gefühl der Verlorenheit geprägt ist – nicht nur bedingt durch Angst und Verzweiflung, durch emotionale Entwurzelung, sprachliche Barrieren und materielle Verluste. Anna Seghers erzählt, wie auch Würde und Menschlichkeit auf dem Weg ins Exil verloren gingen, wenn Menschen sich gezwungen sahen, um des ersehnten Stempels oder um der nötigen Papiere willen Angehörige und Freunde im Stich zu lassen. Wer es ins Exil schaffte, hatte oftmals nicht mehr gerettet als die eigene, nackte Existenz. Etwa 500.000 Menschen waren es, die zwischen 1933 und 1945 aus dem Machtbereich der NS-Diktatur ins Exil gezwungen wurden und – wie Anna Seghers – Zuflucht in der Fremde suchen mussten. Gut 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs leben nur noch wenige von ihnen. So droht mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten, welche Verwüstungen der Verlust der Heimat und das Leben im Exil in unzähligen Lebenswegen, in familiären und freundschaftlichen Beziehungen, im gesellschaftlichen Miteinander hinterließen. Die Erinnerung daran lebendig zu halten, ist Teil unserer historischen Verantwortung, Lehren aus der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Barbarei zu ziehen. Dafür werden mit dem allmählichen Abschied von den Zeugen des deutschsprachigen Exils die Zeugnisse des deutschsprachigen Exils immer wichtiger: Sie verdienen – über die wissenschaftliche Auseinandersetzung hinaus – mehr Raum in unserer Erinnerungskultur, mehr Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Deshalb freue ich mich, dass das Deutsche Exilarchiv heute erstmals in seiner über 60jährigen Geschichte eine Dauerausstellung eröffnet, die Exilerfahrungen anhand von mehr als 250 Originalen aus Nachlässen und mehr als 300 Publikationen ganz unterschiedliche Perspektiven auf das Thema ermöglicht. Die Exponate stehen für individuelle Exilerfahrungen in den Jahren 1933 bis 1945: für Bruch und Verlust, Leid und Schmerz, aber auch für Neuanfang und Hoffnungen auf ein besseres Leben. Gerade die letzten Habseligkeiten, die ein Mensch aus der Heimat in die Fremde gerettet hat, erzählen ja viel über Halt und Herkunft, über Werte und Wurzeln. Allein schon deshalb hat man, wenn man mit wachem Blick durch die Ausstellungen geht, den Eindruck, den Menschen sehr nahe zu kommen, die sich einst in den Häfen von Marseille und anderen Transitstädten ihren Weg ins Exil erkämpften. Bewegend finde ich auch die acht Lebensgeschichten, deren Spuren die Besucherinnen und Besucher anhand besonders hervorgehobener Sammlungsgegenständen folgen können: Ich bin jedenfalls nach meinem Rundgang überzeugt, dass die neue Dauerausstellung des Deutschen Exilarchivs wegweisend sein wird für die Vermittlung solcher Exilerfahrungen. Es ist aber natürlich keineswegs die einzige Möglichkeit, sich diesem – unsere Geschichte und Identität prägenden – Thema anzunähern. In zahlreichen, von der BKM–Beauftragte für Kultur und Medien finanzierten bzw. mitfinanzierten Einrichtungen nimmt es breiten Raum ein, etwa in der Berliner Akademie der Künste, die über 300 Nachlässe emigrierter Künstlerinnen und Künstler beherbergt, oder in der Stiftung Deutsche Kinemathek, die einen ganzen Abschnitt ihrer ständigen Ausstellung dem Wirken deutscher Filmschaffender im Exil widmet, oder auch im Literaturarchiv Marbach: Hier ist Exilliteratur ein eigener Sammelschwerpunkt. Die BKM–Beauftragte für Kultur und Medien unterstützt über Stipendien auch bedeutende Erinnerungsorte des Exils im Ausland – wie die ehemaligen Wohnhäuser Lion Feuchtwangers und Thomas Manns. Darüber hinaus hat der Bund 2012 den Aufbau eines virtuellen Museum „Künste im Exil“ bei der Deutschen Nationalbibliothek angestoßen und dafür Mittel aus meinem Kulturetat bereitgestellt. Mehr als 30 Forschungseinrichtungen, Archive, Ausstellungshäuser und Initiativen im In- und Ausland haben unter der Federführung des Deutschen Exilarchivs gemeinsam die unter www.kuenste-im-exil.de abrufbare Ausstellung entwickelt. Sie bietet Einblicke in das Leben und Werk exilierter Künstler, damit möglichst viele – auch und gerade junge – Menschen verstehen, was es bedeutet, zur Heimatlosigkeit verurteilt zu sein. Auch diese virtuelle Ausstellung profitiert enorm von der hervorragenden Expertise der Deutschen Nationalbibliothek, die die prägenden Erfahrungen des Exils und der Emigration in den Jahren 1933 bis 1945 mit dem Deutschen Exilarchiv schon seit der frühen Nachkriegszeit vor dem Vergessen bewahrt. In Zukunft wird dazu auch das im Aufbau befindliche, unter der Schirmherrschaft der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller stehende Exilmuseum in Berlin beitragen. Das freut mich sehr – und ich bin beeindruckt vom bürgerschaftlichen Engagement der Stiftung Exilmuseum. Jeder Beitrag, der das Erinnern fördert und zum Nachdenken über Emigration und Exil anregt, ist willkommen – auch und gerade in Kooperation mit den bereits bestehenden Institutionen und Initiativen, wie sie das Exilmuseum offenbar anstrebt. Denn es braucht eine Menge Expertise und gute Ideen, um den – zum Glück! – in Frieden und Wohlstand aufgewachsenen Nachkriegsgenerationen zu vermitteln, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, eine Heimat zu haben. Die Exilerfahrungen hunderttausender Menschen verdienen einen festen Platz in unserem Erinnern an die nationalsozialistische Schreckensherrschaft, aber auch in der Auseinandersetzung mit Emigration und Exil in der Gegenwart. Sie verdienen breite öffentliche Aufmerksamkeit in einem Land, das einst so viele Menschen ins Exil trieb und das heute selbst Exilland für Menschen geworden ist, die in Diktaturen, in autoritär regierten Staaten, in Kriegs- und Krisengebieten politisch verfolgt werden. Gerade mit Blick auf unsere Geschichte und die Exilerfahrungen deutscher Dichter und Denker stehen wir besonders in der Pflicht, verfolgten Künstlern und Intellektuellen Schutz zu gewähren. So finanziert mein Haus beispielsweise das Programm „Writers in Exile“ des Deutschen PEN–Poets, Essayists, Novelists-Zentrums, das verfolgten Schriftstellerinnen und Schriftstellern bis zu zwei Jahre lang eine sichere Bleibe und Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland bietet. Im Koalitionsvertrag, dessen Umsetzung wir nun endlich angehen können, haben wir außerdem vereinbart, „eine Initiative für die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Presse- und Meinungsfreiheit, auch im Hinblick auf Exilerfahrungen“ zu unterstützen. Solche Exilerfahrungen hat der Regisseur Christian Petzold im Übrigen gerade erst auf die Leinwand gebracht und damit gezeigt, wie bestürzend nah und aktuell die Emigration der NS-Zeit immer bleiben wird: Sein bewegender Film „Transit“, der im Februar auf der Berlinale Premiere feierte und im April in die Kinos kommt, holt den eingangs zitierten, gleichnamigen Roman von Anna Seghers ins Marseille der Gegenwart – und das Irritierendste daran ist, dass diese Vergegenwärtigung des längst Vergangenen eben nicht irritiert: dass es nicht schwer fällt, sich auszumalen, was Menschen, insbesondere Künstler und Andersdenkende, heute aus Deutschland ins Exil treiben würde – und dass Anna Seghers‘ Worte und Dialoge aus dem Jahr 1940 auch in die heutige Zeit passen, ja, etwas Allgemeingültiges haben. So betrachtet, scheint es plötzlich ganz und gar nicht mehr selbstverständlich, im Deutschland des 21. Jahrhunderts eine sichere Heimat zu haben, verwurzelt zu sein an einem Ort, in einer Sprache, in einem Geflecht aus stabilen Beziehungen. Ja, Heimat scheint plötzlich nichts mehr zu sein, was man einfach „hat“. Alles, was die Freiheit der Meinung, der Kunst und der Presse gefährdet, kann auch einen Schritt ins Elend des Exils bedeuten – und sei es auch nur ins Verstummen und Beschweigen, denn Exil beginnt fast immer in der Sprache. Genau diesen Perspektivenwechsel, mit dem die Relevanz der Vergangenheit für die Gegenwart sichtbar wird, wünsche ich auch den hoffentlich zahlreichen Besucherinnen und Besuchern der neuen Dauerausstellung des Deutschen Exilarchivs, meine Damen und Herren. Möge die intensive Auseinandersetzung mit Deutschland prägenden Exilerfahrungen dazu motivieren, die Freiheit der Meinung, der Kunst und der Presse gegen ihre Feinde zu verteidigen! Das ist ein hehres Ziel für eine Ausstellung – aber wir schulden es den Menschen, von deren Heimatverlust die Exponate des Deutschen Exilarchivs erzählen.
Die neue Dauerausstellung des Deutschen Exilarchivs sei wegweisend für die Vermittlung von Exilerfahrungen, hob die Kulturstaatsministerin in ihrer Eröffnungsrede hervor. Sie ermögliche einen „Perspektivenwechsel, mit dem die Relevanz der Vergangenheit für die Gegenwart sichtbar wird.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung der Internationalen Tourismus-Börse
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-eroeffnung-der-internationalen-tourismus-boerse-846984
Tue, 06 Mar 2018 19:18:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Frau Schwesig, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, lieber Herr Müller, sehr geehrter Herr Generalsekretär Pololikashvili, Generalsekretär der Welttourismusorganisation, sehr geehrter Herr Frenzel, sehr geehrter Herr Göke, meine Damen und Herren, ich bin sehr gerne hier mit dabei, bei der Eröffnung der ITB – der weltweit größten Tourismusmesse. Ich bin heute ganz besonders gerne hier, weil das Partnerland, das hier vorgestellt wird, auch meine politische Heimat ist. Ich darf Ihnen verraten: In Mecklenburg-Vorpommern wird gearbeitet, auch wenn wir das ab und zu nicht so sichtbar machen, sondern so, dass sich Gäste gut erholen können. Ich komme aus dem vorpommerschen Teil. Es gibt noch viel über die Unterschiede zwischen Mecklenburg und Vorpommern zu sagen. Zumindest haben sie zwei verschiedene Hymnen. Aber nun will ich nicht weiter über meine politische Heimat sprechen, sondern mich doch wieder der Welt zuwenden. Denn die weltweit größte Reisemesse hält, was sie selbst mit ihrem Satz „An einem Tag um die ganze Welt“ verspricht: Hier rückt die Welt tatsächlich zusammen. Der Schriftsteller Victor Hugo hatte schon im 19. Jahrhundert ähnliche Erfahrungen gemacht, als er bemerkte: „Die Entfernungen nehmen ab, die Menschen kommen sich näher.“ Heute ist es natürlich einfacher als zu Hugos Lebzeiten, auch weit entfernte Winkel unserer Erde aufzuspüren. In der Tat ist es und bleibt es so: Menschen kommen einander näher. Der frühere Tourismusbeauftragte der Bundesregierung Ernst Hinsken war der Ansicht, dass Tourismus gar die beste Außenpolitik sei. Herr Frenzel, ich kann Sie beruhigen: Nicht nur, dass die Parlamentarische Staatssekretärin der geschäftsführenden Bundesregierung, verantwortlich für Tourismus, Frau Gleicke, heute hier ist; es wird auch wieder einen Tourismusbeauftragten oder eine Tourismusbeauftragte geben. Ansonsten würden wir uns gar nicht in Ihre Nähe trauen. Meine Damen und Herren, Tourismus ist in der Tat ein ausgezeichnetes Beispiel für die Chancen der Globalisierung. Wir sprechen so oft über Sorgen, aber hier sehen wir wirklich auch Chancen. Tourismus bringt nicht nur Menschen einander näher. Er schafft auch Arbeitsplätze und Existenzgrundlagen. Er ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Es ist hier schon gesagt worden; man mag es kaum glauben: Zehn Prozent der globalen Wirtschaftsleistung entfallen auf den Tourismus. Es gab im Vorjahr weltweit mehr als 1,3 Milliarden Reiseankünfte im internationalen Tourismus. Das zeigt, wie viele Menschen sich auf der Welt begegnen. Dort arbeiten, wo andere Urlaub machen – diese ökonomische Chance nutzen ja nicht nur wir in Mecklenburg-Vorpommern, in Berlin oder in Deutschland insgesamt, sondern auch immer mehr Entwicklungs- und Schwellenländer. Diese Länder bieten mehr als Sonne, Sand und Strand – eines muss man nämlich sagen: es regnet manchmal in Mecklenburg-Vorpommern – und locken auch mit kulturellen Reichtümern, Traditionen und einzigartigen Naturräumen. Allein aus Deutschland reisen jährlich mehr als elf Millionen Menschen in diese Länder. In der Hälfte der weltweit ärmsten Länder erwirtschaftet die Reisebranche mehr als 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Tourismus hilft also, wirtschaftliche Perspektiven zu eröffnen. Diese Chance muss im Sinne der Nachhaltigkeit klug genutzt werden. Denn zunehmenden Energie- und Wasserverbrauch, höhere Klimabelastung, Gefahren für die Ökosysteme und die Nichteinhaltung arbeitsrechtlicher Standards dürfen wir nicht aus dem Blick lassen, sondern wir müssen uns um nachhaltige Ziele bemühen. Das ist etwas, worum sich auch die Bundesregierung sehr bemüht. Uns ist die Agenda 2030 eine Verpflichtung – eine Verpflichtung zu nachhaltiger Entwicklung überall auf der Welt. Es geht auch darum, Menschen und Unternehmen vor Ort in den Tourismus einzubinden und viele Investitionen in das Umfeld der dort das ganze Jahr über lebenden Menschen zu tätigen – in die Landschaftspflege, in touristische Infrastrukturen, in Ausbildung und Beschäftigung. Ich darf Ihnen – wieder auch am Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns – sagen: Ohne Tourismus wäre es kaum möglich, kulturelle Reichtümer zu erhalten, zu entwickeln und zu gestalten. Das heißt, hier gehen Tradition und Moderne eng miteinander einher. Meine Damen und Herren, das Tourismusgewerbe in Deutschland verbucht seit einigen Jahren einen Rekord nach dem anderen. Noch nie gab es so viele Übernachtungen in- und ausländischer Gäste wie im Jahr 2017: Es waren 460 Millionen. Für ein Land mit etwas mehr als 80 Millionen Einwohnern ist das eine stolze Bilanz. Das kommt nicht von ungefähr. Denn wir bemühen uns um serviceorientierte Hotellerie und Gastronomie. Unser Land kann sich damit, denke ich, sehen lassen. Unser Land ist vielfältig von Nord bis Süd. Es ist sehr bemerkenswert, wie kreativ die Tourismusbranche ihre Angebote entwickelt und sich auf die verschiedenen Reisewünsche der Menschen einstellt. Deutschland ist auch als Tagungs-, Kongress- und Messestandort internationale Spitze. Das sehen wir ja auch an dieser ITB. Der Tourismus in all seiner Vielfalt erweist sich also auch bei uns als ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, der Arbeitsplätze schafft und sichert. Knapp drei Millionen Menschen sind im deutschen Gastgewerbe tätig. Sie erwirtschaften einen Jahresumsatz in Höhe von rund 290 Milliarden Euro. Im Umsatzplus der Branche spiegelt sich auch unsere insgesamt gute gesamtwirtschaftliche Lage wider. Wir hoffen, dass unsere Wirtschaft im Jahr 2018 das neunte Jahr in Folge wächst. Noch nie waren so viele Menschen in Deutschland erwerbstätig. Es gibt aber viele offene Stellen; auch das muss man sagen. Trotzdem können wir sagen: Die Arbeitslosenzahl ist auf dem tiefsten Stand seit der Wiedervereinigung. Das hat natürlich viele positive Auswirkungen, obwohl wir auch noch eine Vielzahl von Problemen zu lösen haben. Herr Frenzel hat ordentliche Arbeits- und Rahmenbedingungen eingefordert. Wir haben mit der Koalitionsvereinbarung für die nächste große Koalition in der Tat versucht, diesen Erwartungen Rechnung zu tragen und gleichzeitig – das will ich auch sagen – den Menschen zu helfen, die zum Teil geringe Löhne haben. Auskömmliche und gute Arbeitsplätze zu schaffen – auch das ist eine Aufgabe der Tourismusbranche. Für diese Anstrengungen möchte ich mich bei der Branche bedanken. Meine Damen und Herren, gerade auch strukturschwache Regionen müssen wir in den Blick nehmen, dort den Tourismus entwickeln und Schönheiten erkennbar machen. Wo Strände sind, ist das relativ einfach. Aber auch tiefer im Land, gerade auch in Mecklenburg-Vorpommern, gelingt das zunehmend besser. Wir versuchen auch in das Innere des Landes Mecklenburg-Vorpommern mit seinen wunderbaren Schlössen, Guts- und Herrenhäusern zu investieren. Konzerte gehören zur Tagesordnung. Das alles ist natürlich wunderbar. Und ich finde es wunderbar, dass sich Mecklenburg-Vorpommern auf dieser ITB vorstellen darf. Ich möchte mich dafür bedanken und denke, dass die Frau Ministerpräsidentin auch gleich die Aussteller begrüßen wird. Ich werde auch noch kurz dort vorbeischauen, wo sich Mecklenburg-Vorpommern präsentiert. Aber auch diese Präsentation hier ist schon sehr beeindruckend. Meine Damen und Herren, Tourismus lebt von Weltoffenheit und er belebt Weltoffenheit. Deshalb sind all diejenigen, die im Tourismus engagiert sind, auch Botschafter der Weltoffenheit. Um es mit Oscar Wilde zu sagen: „Reisen veredelt den Geist und räumt mit unseren Vorurteilen auf.“ Davon gibt es leider so viele auf der Welt, sodass wir nur sagen können und sodass ich sagen möchte: Möge diese ITB dazu beitragen, dass es weniger Vorurteile und mehr gute Urteile über die vielen schönen Plätze auf der Welt gibt. In diesem Sinne erkläre ich die ITB 2018 für eröffnet.
in Berlin
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum 50. Jubiläum der Filmförderungsanstalt (FFA)
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-50-jubilaeum-der-filmfoerderungsanstalt-ffa–862400
Tue, 06 Mar 2018 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Ob Filmpremiere, Filmpreis oder Filmfestspiele: Wenn Filmförderer und Filmschaffende sich zum Feiern treffen, sind die Rollen üblicherweise klar verteilt. Applaus und Anerkennung, Scheinwerferlicht und Schulterklopfen gebühren den Künstlerinnen und Künstlern; die Geldgeber bekommen die Rechnung und einen Platz im Abspann. Heute dagegen darf die Filmförderungsanstalt einmal die Hauptrolle spielen und sich feiern lassen: In den 50 Jahren ihres Bestehens gab es schließlich – wir haben es eben im Filmeinspieler gesehen – nicht nur große Filmerfolge: Filme, die Filmgeschichte geschrieben haben und die ohne die Filmförderungsanstalt so nicht entstanden wären. Nein, es gab auch wahrhaft filmreife Momente, die die FFA–Filmförderungsanstalt heute Abend in Wort, Bild und Musik Revue passieren lassen wird. Filmreif war schon die Gründung am 6. März 1968. Wenn es zutrifft, dass eine gute Geschichte, ein filmreifer Plot unerwartete Wendungen und dramatische Zuspitzungen braucht, dann könnte diese Episode glatt aus der Feder eines Drehbuchautors stammen: Dramatisch schlecht bestellt war es damals um den deutschen Film, der 1968 – von wenigen Ausnahmen abgesehen – vorsichtig formuliert als rückständig galt. Und das Kino steckte nach dem Siegeszug des Fernsehens in den 1960er Jahren in einer existenzbedrohenden Krise. So dramatisch die Lage, so unerwartet der Befreiungsschlag: Die Bundespolitik, nicht immer und nicht unbedingt bekannt als Avantgarde der Experimentierfreude, bewies hier Mut zum Risiko. Mit der Errichtung der Filmförderungsanstalt – geregelt im ersten Filmförderungsgesetz, das am 1. Januar 1968 in Kraft getreten war – wagte man ein filmpolitisches Experiment, das die Welt noch nicht gesehen hatte: Die FFA–Filmförderungsanstalt war die erste abgabefinanzierte, vom Solidargedanken getragene Filmförderungsanstalt weltweit, und bis heute ist sie die einzige Filmförderung geblieben, die auf einem echten Miteinander gebaut ist. Dass der solidarische Konsens über unterschiedliche Interessen hinweg seit so vielen Jahren hält, ist – da trete ich Ihnen gewiss nicht zu nahe, meine Damen und Herren – natürlich nicht allein altruistischen Motiven geschuldet. Nein, Solidarität zahlt sich ganz offensichtlich für alle aus: So hat sich der deutsche Marktanteil in den vergangenen Jahren bei über 20 Prozent stabilisiert. Seit vier Jahren steigt außerdem die Zahl der Kinoleinwände langsam wieder an. Und auch auf den angesehensten Festivals im In- und Ausland feiert der deutsche Film Erfolge. Unerwartete Wendungen und dramatische Zuspitzungen gab es aber auch nach der Gründung der FFA–Filmförderungsanstalt immer mal wieder: In diesem Sinne filmreif war – um noch ein zweites Beispiel aus der FFA–Filmförderungsanstalt-Geschichte zu nennen – der Triumph vor dem Bundesverfassungsgericht in einem Verfahren, das eine große Kinokette (Sie erinnern sich bestimmt …) gegen die Filmabgabe angestrengt hatte. Das Urteil bestätigte nicht nur ausdrücklich die Verfassungsmäßigkeit der Filmabgabe – und damit die FFA–Filmförderungsanstalt und ihren kulturellen Auftrag. Das Bundesverfassungsgericht unterstrich ausdrücklich auch, dass der Bund im Rahmen seiner Kompetenz für die Wirtschaftsförderung auch kulturpolitische Ziele verfolgen darf, und gab der Bundeskulturpolitik damit robuste Rückendeckung. So konnte sich die Filmförderungsanstalt, angetreten mit dem gesetzlichen Auftrag, die Qualität wie auch die Wirtschaftlichkeit des deutschen Films zu verbessern, als Spitzenförderung des kulturell anspruchsvollen und des wirtschaftlich erfolgreichen deutschen Films etablieren – als Spitzenförderung, die nicht allein das Klingeln der Kinokassen, sondern auch den künstlerischen Mut zum Experiment zum Maßstab ihrer Förderentscheidungen macht. Wer könnte das Gelingen dieser „Mission Impossible“ glaubwürdiger bezeugen als die vom Publikum geliebten, vielfach mit Preisen bedachten, teils auch auf Festivals gefeierten Filme, die über all die Jahre mit Hilfe der FFA–Filmförderungsanstalt entstanden sind? Schön, dass wir ihre beeindruckende Vielfalt, begleitet von Gesprächen mit ihren Schöpfern und Protagonisten, heute Abend auf einer Reise durch ein halbes Jahrhundert deutsche Filmgeschichte erleben können! Neben der langen Liste FFA–Filmförderungsanstalt-geförderter Filme mit klangvollen Titeln, die die Herzen der Filmliebhaber höher schlagen lassen („Das Boot“ „Die Blechtrommel“, „Lola rennt“, „Deutschland. Ein Sommermärchen“, „Good bye, Lenin“, „Das Leben der Anderen“ … um nur einige wenige zu nennen) wirkt die Bilanz der Zusammenarbeit zwischen der FFA–Filmförderungsanstalt und der BKM–Beauftragte für Kultur und Medien vielleicht ein bisschen weniger glamourös, aber doch nicht weniger eindrucksvoll. Deshalb sollten wir uns auch darauf einen Blick gönnen – ich nenne ein paar Beispiele: Mit Unterstützung der BKM–Beauftragte für Kultur und Medien und der FFA–Filmförderungsanstalt verschafft German Films den deutschen Filmen ein internationales Publikum in Kinos und auf Festivals. Mit Unterstützung der FFA–Filmförderungsanstalt und den Ländern werden wir das Förderkonzept zur Digitalisierung des nationalen Filmerbes zügig umsetzen. Mit Unterstützung der FFA–Filmförderungsanstalt wurde mit Vision Kino eines der erfolgreichsten Medienbildungsprojekte Deutschlands aus der Taufe gehoben, das junge Zuschauer heute für den Film begeistert und damit für Publikumserfolge auch morgen sorgt. Mit Unterstützung der FFA–Filmförderungsanstalt fördern wir über den Minitraité gemeinsam mit den französischen Partnern von der CNC–Centre National du Cinéma, lieber Herrn Tardieu, deutsch-französische Koproduktionen und leisten damit einen wichtigen Beitrag für die kulturelle Zusammenarbeit unserer beiden Länder. Filmreif aber war in den Jahren der Zusammenarbeit zwischen FFA–Filmförderungsanstalt und BKM–Beauftragte für Kultur und Medien vor allem die Rettung der Kinos im Rahmen der Kinodigitalisierungsförderung. Gemeinsam haben BKM–Beauftragte für Kultur und Medien, FFA–Filmförderungsanstalt und die Länder dafür gesorgt, dass alle Kinos den Sprung in die digitale Ära schaffen – eine bedeutende Investition in die Zukunftsfähigkeit des Kulturguts Film. Und nicht zu vergessen natürlich: Mit ihrer Expertise wickelt die FFA–Filmförderungsanstalt die mittlerweile bundesweit größte Filmförderung ab, die es jemals in Deutschland gab – mit voraussichtlich bald mit 125 Millionen Euro Förderung des DFFF–Deutscher Filmförderfonds und dem massiven Aufwuchs, den ich 2016 für die kulturelle Filmförderung erreichen konnte. Rechnet man sämtliche Fördermaßnahmen zusammen, stehen nun jährlich rund 150 Millionen Euro allein für die Produktionsförderung aus meinem Haus zur Verfügung. Ja, lieber Bernd Neumann, liebe Mitglieder des Verwaltungsrats, lieber Herr Dinges, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der FFA–Filmförderungsanstalt: Gemeinsam haben wir filmpolitisch eine Menge bewegt. Applaus und Anerkennung, Scheinwerferlicht und Schulterklopfen gebühren deshalb heute Abend ausnahmsweise nicht erster Linie den Filmkünstlerinnen und Filmkünstlern, sondern ganz besonders Ihnen – und unserer deutschen Filmförderung! Der Kinofilm, meine Damen und Herren, ist eine der wirkmächtigsten künstlerischen Ausdrucksformen unserer Gesellschaft – und das Kino ist zum Glück, allen Veränderungen in den vergangenen 50 Jahren zum Trotz, immer noch ein Kulturort, der Menschen zum Perspektivenwechsel anregt und aus ihren digitalen Echokammern und Filterblasen holt. So stärkt der Film, so stärkt gerade das kreativ-künstlerische Filmexperiment die Fähigkeit einer Gesellschaft zur Reflexion und Verständigung – und damit gewissermaßen auch die gesellschaftliche Immunabwehr gegen populistische Vereinfacher. Mit der Filmförderungsanstalt als Partner, der diese besondere Bedeutung des Mediums Kinofilm stets mit im Auge hat, lässt sich Kultur- und Filmpolitik gestalten, die wirtschaftliche Interessen und künstlerische Ambitionen in Einklang bringt. Ja, es ist gerade die stetige künstlerische Erneuerung des deutschen Films, die seine gezielte Förderung über die Filmförderungsanstalt rechtfertigt. Die FFA–Filmförderungsanstalt hat in den vergangenen 50 Jahren filmkünstlerische Geschichte wie auch filmpolitische Geschichte geschrieben. Sie hat sich hohes Ansehen in der Branche erworben und ist zu einem unverzichtbaren Partner für die Filmpolitik geworden. Und natürlich wird Sie ein unverzichtbarer Partner bleiben, wenn wir uns jetzt – nach Monaten des Sondierens und Verhandelns – endlich an die Arbeit machen und die im Koalitionsvertrag vereinbarten Vorhaben umsetzen können! Ich freue mich darauf! Was nun die filmreifen Episoden in der Geschichte der FFA–Filmförderungsanstalt betrifft, die wir heute auf der Leinwand zu Gesicht bekommen und mit denen die Filmförderer gewissermaßen unter die Filmemacher gegangen sind: Da hat man es bei der FFA–Filmförderungsanstalt offenbar mit Loriot gehalten, der über seine späte Berufung zum Filmemacher einmal gesagt hat: „Wenn ein Jungfilmer im Rentenalter ist, sollte er Buch, Hauptrolle und Regie übernehmen, um zeitraubende Diskussionen während der Dreharbeiten zu vermeiden.“ Vom Rentenalter ist die FFA–Filmförderungsanstalt mit ihren flotten 50 Jahren noch weit entfernt, aber dass sie Buch, Hauptrolle und Regie stets selbst in der Hand behalten hat, tut ganz offensichtlich nicht nur den Jubiläumsfilmeinspielern heute Abend gut, sondern auch der Filmförderung in Deutschland und dem deutschen Film. Herzlichen Glückwunsch zum 50jährigen Bestehen – auf viele weitere erfolgreiche Jahre!
„Die FFA hat in den vergangenen 50 Jahren filmkünstlerische Geschichte wie auch filmpolitische Geschichte geschrieben“, erklärte die Staatsministerin bei der Jubiläumsfeier zum 50. Geburtstag der weltweit ersten abgabefinanzierten Filmfördereinrichtung. Im Ergebnis liege der deutsche Filmanteil in den Kinos heute bei 20 Prozent.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der 68. Internationalen Filmfestspiele Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-68-internationalen-filmfestspiele-berlin-317386
Thu, 15 Feb 2018 19:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Wenn Berlin ausgerechnet hier am Marlene-Dietrich-Platz den roten Teppich für die Filmkunst ausrollt, ist dies alle Jahre wieder auch eine Hommage an eine Berlinerin, die 1930 in Männerkleidern Filmgeschichte geschrieben hat: an die erste Frau, die im Anzug Karriere machte – und das auch noch in Hollywood! Mit ihrem heute legendären, damals skandalösen Hosen-Auftritt im Spielfilm „Marokko“ schenkte Marlene Dietrich weiblicher Emanzipation und Unabhängigkeit ein unwiderstehlich schönes Gesicht – und ihrer Zeit ein revolutionär neues Frauenbild. Ja, auch das kann Kino: Rollenbilder – und Weltbilder – ins Wanken bringen. Umso bitterer, dass Frauen im Filmgeschäft vielfach bis heute in eine Rolle gedrängt werden, die sie nicht spielen wollen – und dass wir deshalb seit Wochen mehr über Männer reden, die nur einen Bademantel anhaben, als über Frauen, die die Hosen anhaben. Time’s up! Die Zeit ist um! Wir rollen deshalb auch für MeToo den roten Teppich aus: für Frauen, die sich zur Wehr setzen gegen Machtmissbrauch hinter den Kulissen und für Männer, die Manns genug sind, für Gleichberechtigung einzustehen – und das heißt auch: für die Anerkennung von Künstlerinnen, ob sie nun Anzug, Jeans oder Abendkleid tragen. Wertschätzung und Respekt lassen sich natürlich nicht per Dekret verordnen. Da braucht es einen Kulturwandel, an dem Sie alle mitwirken, meine Damen und Herren. Ad hoc einrichten lässt sich aber zumindest eine Anlaufstelle, an die Missbrauchsopfer sich vertrauensvoll wenden können. Dafür habe ich politische und vor allem auch finanzielle Unterstützung zugesichert. Macht und Angst waren viel zu lange stille Komplizen. Die Zeit des Schweigens muss vorbei sein! Regeln lässt sich auch eine ausgewogene Beteiligung von Frauen und Männern in den Fördergremien, die über die öffentliche Filmförderung entscheiden. Das war mir ein filmpolitisches Herzensanliegen, und das ist hier in Deutschland seit einem Jahr Gesetz. Ich hoffe, dass sich damit mehr von Frauen geprägte Projekte durchsetzen können, und ich freue mich, dass Frauen und Männer auch in der Jury des Berlinale-Wettbewerbs in gleicher Zahl vertreten sind. Vor allem aber ist es die Filmkunst selbst, meine Damen und Herren, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit zu schärfen und den Horizont des Möglichen zu erweitern vermag – und die damit das Denken und Fühlen Vieler verändert. Nicht immer reicht dafür der Auftritt einer Frau in Männerkleidern … Aber in jedem Fall lohnt es sich, dafür die Freiheit der Kunst zu verteidigen – und ihre Fähigkeit, Debatten zu provozieren. Die Freiheit der Kunst darf nicht unter denen leiden, die im Namen der Kunst Macht missbrauchen! Die Berlinale war und ist bis heute ein beeindruckendes Schaufenster der Kunstfreiheit. Als dezidiert politisches Festival bietet sie der künstlerischen Auseinandersetzung mit den drängenden Fragen unserer Zeit eine Bühne – und sie erreicht, sie begeistert damit ein riesiges Publikum. Dafür stehen ein roter Schal und ein schwarzer Hut: Vielen Dank, lieber Dieter Kosslick, vielen Dank Dir und Deinem ganzen Team für den Filmrausch, in den die Berlinale einmal mehr ganz Berlin versetzt! An Marlene Dietrich erinnert dabei nicht nur der nach ihr benannte Platz, an dem die Filmpremieren stattfinden. An Marlene Dietrich erinnern auch viele großartige Filmkünstlerinnen, die auf dem roten Teppich genauso wie am Filmset zeigen, dass Frauen längst nicht mehr unbedingt Hosen tragen müssen, um die Hosen anzuhaben und ihr Ding zu machen. Diese künstlerischen Leistungen, meine Damen und Herren, verdienen ebenso viel Aufmerksamkeit wie die künstlerischen Leistungen von Männern (- und wie der Hashtag MeToo). In diesem Sinne: auf die Vielfalt in der Filmkunst, auf die Vielfalt der Berlinale!
Die Freiheit der Kunst dürfe nicht unter denen leiden, die im Namen der Kunst Macht missbrauchen, erklärte Kulturstaatsministerin Grütters in ihrer Rede zur Eröffnung der diesjährigen Berlinale.
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich des Produzententages zur 68. Berlinale
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-des-produzententages-zur-68-berlinale-317420
Thu, 15 Feb 2018 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Es wird nach einem happy end / im Film jewöhnlich abjeblendt.“ So beginnt ein wunderbares Gedicht mit dem Titel „Danach“, in dem Kurt Tucholsky in schnoddriger Berliner Schnauze die klassische Liebesgeschichte aus dem Kino weitererzählt: Auf ein glorreiches Happy End folgt der graue Ehealltag. „Und darum wird beim happy end / im Film jewöhnlich abjeblendt.“ Zumindest, was politische Ehen – oder sagen wir besser: politische Lebensabschnittspartnerschaften – betrifft, wird nach dem Happy End aber gewöhnlich nicht abgeblendet, ganz im Gegenteil. Nach dem späten Happy End der Koalitionsverhandlungen erwarten Medien und Öffentlichkeit gespannt den Beginn des Beziehungsalltags, und nicht nur die Produzentenallianz fragt, wie es nun weiter geht, wenn die Verbindung zwischen Union und SPD–Sozialdemokratische Partei Deutschlands denn, in Gottes Namen, auch den Segen der SPD–Sozialdemokratische Partei Deutschlands -Mitglieder bekommt…. Im Internetsprech gibt es für einen derartigen Beziehungsstatus eine prägnante Beschreibung: „Es ist kompliziert.“ Eben das schränkt mich in meinem Vortrag zu „aktuellen filmpolitischen Entwicklungen“, mit dem ich in Ihrem Tagungsprogramm angekündigt bin, natürlich etwas ein. Ich kann Ihnen, solange ich nur geschäftsführend im Amt und nicht für eine zweite Amtsperiode ernannt bin, leider keinen über den Koalitionsvertrag hinausgehenden, detaillierten Ausblick auf die Filmpolitik der kommenden Jahre geben. In Aussicht stellen kann ich aber schon jetzt, dass wir „die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Film- und Medienstandortes Deutschland in seiner thematischen und regionalen Vielfalt nachhaltig sicherstellen“ und „die kulturelle und wirtschaftliche Filmförderung mindestens auf dem aktuellen Niveau fortsetzen“ wollen. So steht es wortwörtlich im Koalitionsvertrag, konkretisiert durch die Ankündigung, die bestehenden Förderinstrumente – ich zitiere weiter – „besser aufeinander ab(zu)stimmen“ und „eine umfassende Förderung audiovisueller Inhalte (Kino, Serien, High-End-TV, VFX, Animation, Virtual Reality) ein(zu)führen“. Für die damit avisierte, weitere Stärkung der deutschen Film- und Medienwirtschaft und des Produktionsstandortes Deutschland habe ich mich in den Verhandlungen stark gemacht. Als ich vor einem Jahr hier bei Ihnen zu Gast war, konnte ich eine beachtliche Aufstockung der Fördermittel ankündigen. Heute kann ich sagen, dass der DFFF–Deutscher Filmförderfonds 2018 wahrscheinlich so gut gefüllt sein wird wie nie zuvor – aller Voraussicht mit 125 Millionen Euro. Hinzu kommt der massive Aufwuchs, den ich 2016 für die kulturelle Filmförderung erreichen konnte. Sie liegt mir – wie Sie wissen – als filmpolitische Ermutigung zum Experiment besonders am Herzen. Rechnet man alle Fördermaßnahmen zusammen, stehen jährlich rund 150 Millionen Euro allein für die Produktionsförderung bei der BKM zur Verfügung. Damit ist Deutschland im internationalen Standortwettbewerb ganz vorne mit dabei. Der DFFF–Deutscher Filmförderfonds hat entscheidend zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Filmstandorts Deutschland beigetragen. Seit seinem Start in 2007 bis Ende Dezember 2017 wurden 1.187 Filme mit rund 651 Millionen Euro gefördert. Allein in Deutschland sorgten diese Fördergelder für Folgeinvestitionen in Höhe von rund 3,8 Milliarden Euro. Die Erweiterung des DFFF–Deutscher Filmförderfonds, die ich 2017 gemeinsam mit dem damaligen Bundesfinanzminister Schäuble erreicht habe, macht den Filmstandort Deutschland noch attraktiver und soll der deutschen Filmbranche mehr große nationale und internationale Aufträge bescheren – nicht zuletzt, damit unsere hervorragend ausgebildeten Filmkünstler in Deutschland eine Zukunft haben und ihre Kreativität der Filmkunst „made in Germany“ widmen, wie wir sie auf der diesjährigen Berlinale mit gleich vier deutschen Filmen im Wettbewerb (alle vier von der BKM gefördert!) in Top-Form erleben. Außerdem haben wir den DFFF–Deutscher Filmförderfonds I damit um konkurrierende Großproduktionen entlastet, so dass wir weiterhin auch kleine und mittlere Produktions-unternehmen bedienen können. Die erste DFFF–Deutscher Filmförderfonds II-Produktion haben wir übrigens bereits 2017 gefördert. Das möchten wir 2018 fortsetzen, und ich kann Ihnen versichern: Trotz der langwierigen Regierungsbildung und der aktuell immer noch vorläufigen Haushaltsführung können Anträge gestellt und sukzessive bewilligt werden. Erlauben Sie mir – über die aktuellen filmpolitischen Entwicklungen hinaus – in diesem Zusammenhang noch eine Bemerkung zu den aktuellen filmpolitischen Forderungen in der Pressemitteilung der Produzentenallianz zu den Koalitionsverhandlungen Ende Januar: Auch in der Erfolgsgeschichte des DFFF–Deutscher Filmförderfonds ist ein „Happy End“ keine jederzeit wiederholbare Selbstverständlichkeit. Wenn eine Branche derart massiv mit Steuergeld unterstützt wird wie die Filmbranche, dann ist das alles andere als ein Selbstläufer. Um die politische, aber auch gesellschaftliche Akzeptanz dieser Förderung müssen wir immer wieder werben, und mit „wir“ meine ich nicht nur die Politik, sondern auch Sie, verehrte Produzentinnen und Produzenten, und insbesondere die Produzentenallianz, lieber Herr Thies. Bei aller Aufgeschlossenheit für Ihre Belange: Ob es im Hinblick auf Vertrauen und Akzeptanz sonderlich hilfreich ist, unmittelbar nach den Gesprächen zum DFFF–Deutscher Filmförderfonds II via Pressemitteilung erneut das Lied des Untergangs der deutschen Filmwirtschaft anzustimmen, sollte die Förderung nicht auf 35% des German Spend aufgestockt werden, wage ich zu bezweifeln – zumal durch die Kumulation mit Länderförderung, FFA–Filmförderungsanstalt-Förderung und ggf. der kulturellen Filmförderung häufig Förderquoten von 40% und mehr erreicht werden. Da wünscht man sich dann doch ein wenig mehr „kurt-tucholsky-hafte“ Zurückhaltung in der Lautstärke Ihrer Lobbyarbeit – nach dem Motto: „Es wird nach einem happy end / im Film jewöhnlich abjeblendt“ … Ich kann Ihnen aber auf jeden Fall versprechen, dass es auch nach dem „Happy End“ des vergangenen Jahres mit guten Nachrichten weitergeht, nämlich mit weiteren Verbesserungen des DFFF–Deutscher Filmförderfonds II. Wir beabsichtigen insbesondere, in beschränktem Umfang Auslandsdreharbeiten als zuwendungsfähig anzuerkennen und die Einstiegsschwelle für deutsche Herstellungskosten für animierte Filme zu senken. Gerade letzteres ist allerdings nicht ganz leicht, denn die EU–Europäische Union-Kommission muss davon erst noch überzeugt werden. Ich bin aber optimistisch, dass wir die Zustimmung für eine Lösung bekommen, um den Produktionsstandort Deutschland nachhaltig und dauerhaft international wettbewerbsfähig zu halten. Um auch den nichtstaatlichen Teil der Finanzierung zu sichern, werde ich mich außerdem, sollte ich im Amt bleiben, auf europäischer Ebene weiterhin mit aller Kraft dafür einsetzen, dass die territoriale Vergabe von Lizenzen und ein hohes Niveau beim Urheberrechtsschutz im digitalen Binnenmarkt bestehen bleiben. Auf dem filmpolitischen „Schirm“ haben wir natürlich auch die Entwicklungen des digitalen Zeitalters mit seinen neuen Erzählformen und -möglichkeiten. Spätestens seit große und international anerkannte deutschsprachige Regisseure und Autoren damit Zuschauer- oder Festivalerfolge feiern, sind solche neuen Formate, sind Serien, auch kulturpolitisch relevant. Ein filmwirtschaftlicher Flickenteppich wird uns in diesem Bereich aber nicht weiterbringen. Denn damit bleibt auch die Förderung Flickwerk. Für eine nachhaltige Förderung brauchen wir eine kohärente Strategie. Im Koalitionsvertrag haben wir uns deshalb, wie eingangs schon erwähnt, deutlich positioniert: Wir wollen die bestehenden Förderinstrumente mindestens auf ihrem aktuell hohen Niveau fortführen und die Serienförderung (Stichwort GMPF) ausbauen. Dabei wollen wir einen kohärenten Ansatz verfolgen. Eine umfassende Förderung audiovisueller Inhalte – also auch von Serien und High End TV – und die bestehenden Förderinstrumente sollen besser aufeinander abgestimmt, im Idealfall also zusammengeführt werden. Nicht zuletzt erleichtert eine Filmförderung aus einer Hand auch den bedarfsgerechten Einsatz der Haushaltsmittel. Und um es ganz klar zu sagen: Die Zuständigkeit innerhalb der Bundesregierung für diese ambitionierten medienpolitischen und filmwirtschaftlichen Fragen liegt bei der BKM. Klarstellen will ich in diesem Zusammenhang aber auch: Das Engagement der BKM für die wunderbaren Kinos und die große Leinwand bleibt davon unberührt. Kulturstätten sind gerade in sehr kleinen Städten dünn gesät, und vielfach ist das Kino der einzige Ort, der Menschen aus ihren digitalen Echokammern und Filterblasen holt und zum Perspektivenwechsel anregt. Filmtheater, die Kino als Gemeinschaftserlebnis, als sinnlichere Alternative zum einsamen Serienkonsum auf der heimischen Couch attraktiv machen, die filmbegleitende Veranstaltungen anbieten, die sich in der Kinder- und Jugendarbeit engagieren, sich für das Filmerbe einsetzen und den „Perlen“ einer vielfältigen Filmkunst landauf landab ein Publikum verschaffen – solche Filmtheater stärken die Fähigkeit einer Gesellschaft zur Reflexion und Verständigung – und damit gewissermaßen auch die gesellschaftliche Immunabwehr gegen populistische Vereinfacher. Deshalb wollen wir – auch hier zitiere ich gern noch einmal den Koalitionsvertrag – „den Kulturort Kino auch außerhalb von Ballungsgebieten durch ein kofinanziertes ,Zukunftsprogramm Kino‘ stärken und erhalten.“ Zum Schluss, meine Damen und Herren, noch ein Wort zur aktuellen Debatte über sexuelle Belästigung und Gewalt in der Filmbranche, aber auch in anderen Kultursparten. Was da in den vergangenen Wochen und Monaten ans Licht kam – die schweren Fälle von Machtmissbrauch und Demütigungen einerseits, die Mischung aus (verständlicher) Scham der Opfer und nicht entschuldbarem Schweigen der teilweise vorhandenen Mitwisser andererseits -, was da Erschütterndes ans Licht kam, erlaubt kein Weiter so nach dem Motto „The Show must go on.“ Die Einrichtung einer solchen Anlaufstelle, an die Betroffene sich vertrauensvoll wenden können, ist das Mindeste, was Opfer sexueller Gewalt oder Belästigung in der Film- und Kulturbranche erwarten dürfen! Ich bin deshalb gerne bereit, dabei zu helfen, eine zentrale und unabhängige Anlaufstelle nicht nur für den Filmbereich, sondern für den gesamten Kulturbereich zu etablieren. Konkret: Ich werde die Aufbauphase einer solchen Anlaufstelle kurzfristig bereits mit bis zu 100.000 Euro aus meinem Etat finanzieren und damit quasi in Vorleistung gehen. Ich sehe hier aber ganz klar auch und vor allem die Filmwirtschaft in der Pflicht und Verantwortung. Die Mittel aus meinem Etat sind als Impuls gedacht, damit möglichst schnell ein Hilfsangebot für Betroffene im Kulturbereich entsteht. Langfristig aber stehen die Arbeitgeber in der Pflicht – gesetzlich, im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht, aber auch moralisch. Sie haben primär dafür Sorge zu tragen, dass Opfer sexueller Belästigung schnell und unkompliziert Hilfe bekommen. Die ARD hat vergangene Woche nach Gesprächen zwischen dem ARD-Vorsitzenden Ulrich Wilhelm und mir ebenfalls finanzielle Unterstützung zugesagt, und ich erwarte, dass sich auch die Produzentenallianz und die FFA–Filmförderungsanstalt an der Finanzierung der Anlaufstelle beteiligen. Es liegt ja in unser aller Interesse, dafür zu sorgen, dass das völlig inakzeptable Verhalten einzelner nicht eine ganze Branche in Verruf bringt. All die Filmschaffenden, die ihren Karriereweg mit Anstand und Integrität bestreiten, verdienen es, dass ihre Erfolge ungetrübt glänzen, wenn vom deutschen Film die Rede ist – gerade nach einem Filmjahr wie 2017, in dem der Marktanteil des deutschen Films in Deutschland (vor allem dank Kassenschlagern wie „Fack ju Göhte 3“) erfreulicherweise gestiegen ist und in dem es auch international viel Anerkennung gab: zum Beispiel für „Aus dem Nichts“ von Fatih Akin oder für „Western“ von Valeska Griesebach. Und mit vier deutschen Wettbewerbsbeiträgen und insgesamt 82 deutschen bzw. deutsch-koproduzierten Filmen lässt die Berlinale auch auf ein glänzendes Filmjahr 2018 hoffen. Sicherlich wird auch hier der eine oder andere Beitrag Kurt Tucholsky recht geben: „Es wird nach einem happy end / im Film jewöhnlich abjeblendt“. Für die erfolgreiche Entwicklung des deutschen Films insgesamt ist allerdings weit und breit kein „Happy End“ in Sicht (mal abgesehen von Michael Hanekes „Happy End“, einer französisch-deutsch-österreichischen Koproduktion, die gerade im Kino zu sehen war). Das macht aber nichts, denn es gibt etwas, was noch viel besser ist, als ein Filmerfolg mit „Happy End“: Filmerfolge ohne Ende. Im Vertrauen auf die unerschöpfliche Fantasie der Filmschaffenden, auf den unternehmerischen Mut der Filmwirtschaft und auf die Verlässlichkeit der Filmförderung ist das eine durchaus realistische Zukunftsprognose! Sie können sich jedenfalls darauf verlassen, meine Damen und Herren, dass die BKM für Filmerfolge ohne Ende auch weiterhin fest an der Seite der deutschen Filmbranche steht! In diesem Sinne: Auf die 68. Berlinale und auf ein erfolgreiches Jahr für den deutschen Film!
Auf dem Produzententag zur Berlinale hat Kulturstaatsministerin Grütters der Branche auch weiterhin Hilfe in Aussicht gestellt, damit der Film- und Medienstandort Deutschland wettbewerbsfähig bleibt. Bei aller erfreulichen filmpolitischen Entwicklung sei die Erfolgsgeschichte der Fonds nicht ständig fortzuschreiben, betonte Grüters. „Insbesondere die Produzentenallianz muss für die gesellschaftliche Akzeptanz der Förderung immer wieder werben.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Übergabe der 2-Euro-Gedenkmünzen „Berlin“ und „100. Geburtstag Helmut Schmidt“ am 2. Februar 2018 im Bundeskanzleramt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-uebergabe-der-2-euro-gedenkmuenzen-berlin-und-100-geburtstag-helmut-schmidt-am-2-februar-2018-im-bundeskanzleramt-316744
Fri, 02 Feb 2018 11:26:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident, lieber Herr Müller, sehr geehrter Herr Bundesminister, lieber Peter Altmaier, sehr geehrter Herr Steinbrück, sehr geehrter Herr Broschat, meine Damen und Herren, dieses Jahr ist mir die Übergabe der 2-Euro-Gedenkmünze ein doppeltes Vergnügen. Wir haben heute nämlich, wie wir hier schon sehen, zwei Münzen vorzustellen. Die erste Münze ist Teil der Bundesländer-Serie, die im Jahr 2006 gestartet ist. Es ist also die 13. Gedenkmünze – wir sind jetzt bald durch mit den Bundesländern –, die wir heute in den Händen halten dürfen. Sie ist Berlin gewidmet, weil Berlin die Bundesratspräsidentschaft innehat. Sie würdigt den Föderalismus, denn wir sind der Überzeugung, dass der Föderalismus Gewicht und Stimme unserer Bundesländer stärkt, die Besonderheiten jedes Bundeslandes hervorhebt und gleichzeitig auf gute Weise dem Zusammenhalt des ganzen Landes dient. Wie vielfältig unsere deutsche Kultur ist, spiegelt sich in diesen Münzen auf beeindruckende Weise wider. Dieses Mal ist nicht das Brandenburger Tor abgebildet, sondern das Schloss Charlottenburg. Der Prachtbau ist ein Paradebeispiel preußischen Erbes. Das Schloss ist nach der ersten preußischen Königin Sophie Charlotte benannt – ganz wegweisend, denn wir befassen uns ja heute auch mit Gleichberechtigungsfragen. Die Königin zeigte sich damals als gebildete, kunstsinnige und weltoffene Gastgeberin, die ihr Sommerschloss zu einem Hort der Muse, der Philosophie und des gepflegten Diskurses machte. – Herr Müller, Sie müssen daran arbeiten, dass das auch im 21. Jahrhundert so bleibt – Das Motiv ist also auch deshalb ausgewählt worden. Ich freue mich, dass der Entwurf aus einer Berliner Werkstatt stammt, nämlich von Herrn Bodo Broschat. Ihm haben wir auch die Gestaltung der zweiten Gedenkmünze zu verdanken. Mit ihr ehren wir Helmut Schmidt, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Ich freue mich, dass wir des ehemaligen Bundeskanzlers gerade auch hier im Bundeskanzleramt gedenken können. Er ist auch in der Galerie der ehemaligen Bundeskanzler verewigt. Helmut Schmidt war – das wissen wir alle noch sehr gut – eine herausragende Persönlichkeit, die nicht nur in den Jahren als Bundeskanzler unser Land mitgeprägt hat, sondern auch danach als Politiker und dann auch als Publizist. Er war wahrlich eine Größe – intellektuell und auch rhetorisch. Und er war ein Vorbild – in seiner vernunftgeleiteten Entschlossenheit. Helmut Schmidt selbst gab in seiner Abschiedsrede im Deutschen Bundestag 1986 zu bekennen: „Keine Begeisterung sollte größer sein als die nüchterne Leidenschaft zur praktischen Vernunft.“ Diese praktische Vernunft bewies Helmut Schmidt ein ums andere Mal – unter anderem hinsichtlich der Einführung des Europäischen Währungssystems EWS. Daraus ging später die Währungsunion mit dem Euro als Gemeinschaftswährung hervor. Das ist natürlich ein besonders naheliegender, wenn auch nur einer der vielen Gründe, warum Helmut Schmidt mit einer Euro-Gedenkmünze geehrt wird. Bevor wir nun beide Münzen übergeben, übergebe ich erst einmal das Wort an den geschäftsführenden Bundesfinanzminister, Peter Altmaier.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Jahrestreffen des World Economic Forum am 24. Januar 2018 in Davos
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-jahrestreffen-des-world-economic-forum-am-24-januar-2018-in-davos-455460
Wed, 24 Jan 2018 14:26:00 +0100
Im Wortlaut
Davos
Sehr geehrter Herr Professor Schwab, liebe Kollegen, meine Damen und Herren, ich freue mich, wieder in Davos dabei zu sein – in diesem Jahr in einer ganz speziellen Situation; aber darauf komme ich noch. Ich will an diesem Tag, an dem Europa ja sehr im Zentrum der Diskussionen dieses Davoser Forums steht, daran erinnern, dass 1918, vor hundert Jahren, der Erste Weltkrieg endete. Er wird auch als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Ihm folgten noch schlimmere Katastrophen. Schlafwandlerisch sind damals die politischen Akteure in eine schreckliche Situation hineingeraten. Wir müssen uns heute, hundert Jahre später, nachdem auch die Zeitzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg immer weniger werden, fragen: Haben wir aus der Geschichte wirklich gelernt oder haben wir es nicht? Ich denke, die Generationen derer, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, wird beweisen müssen, ob sie wirklich etwas gelernt haben. Die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg war die Gründung der Vereinten Nationen. Das war eine multilaterale Antwort, eine Antwort der Kooperation. Wir haben vor gut einem Vierteljahrhundert das Ende des Kalten Krieges und der Aufteilung der Welt in zwei Blöcke erlebt und damit zum ersten Mal die Chance, dass sich Multilateralismus und Kooperation wirklich entwickeln können. Auf die große Herausforderung 2007 und 2008, die internationale Finanzkrise, gab es eine multilaterale Antwort, um diese Krise zu lösen. Als Antwort gab es Treffen der Staats- und Regierungschefs der G20, in der Argentinien in diesem Jahr die Präsidentschaft hat. Wir hatten die Präsidentschaft im vergangenen Jahr; wir hatten als deutsche Präsidentschaft das Motto: „Eine vernetzte Welt gestalten“. Wir haben versucht, globale Kooperationen in einer nicht ganz einfachen Zeit voranzubringen. Wir haben Fortschritte bei der globalen Kooperation im Gesundheitsbereich, bei der Partnerschaft mit Afrika und beim weltweiten Stahlforum, bei dem es um Dumping und fairen Handel geht, gemacht. Wir haben versucht, die Rolle der multilateralen Organisationen zu stärken, und uns für ein offenes Welthandelssystem eingesetzt. Bei der großen Menschheitsherausforderung, dem Klimaschutz, haben wir – leider ohne die Vereinigten Staaten von Amerika – unsere Schlussfolgerungen ziehen müssen. Trotzdem bleibt der Klimawandel eine große Gefahr. Wir sehen, dass es nationale Egoismen gibt. Wir sehen, dass es Populismus gibt. Wir sehen, dass in vielen Staaten eine polarisierende Atmosphäre herrscht. Vielleicht gibt es an vielen Stellen auch die Sorge, ob multilaterale Kooperation wirklich in der Lage ist, die Probleme der Menschen ehrlich und fair zu lösen, und ob es angesichts der großen technologischen Herausforderungen der Digitalisierung und der disruptiven Veränderungen gelingt, alle Menschen mitzunehmen. Daran gibt es in allen Ländern Zweifel. Deshalb finde ich, Herr Professor Schwab, dass „Creating a Shared Future in a Fractured World“ genau das richtige Motto für das Jahr 2018 ist. Ehrlich gesagt, hat auch das Land, aus dem ich komme und in dem ich Bundeskanzlerin bin, Schwierigkeiten und erlebt eine Polarisierung, wie wir sie seit Jahrzehnten nicht hatten – herausgefordert durch zwei Ereignisse, die im Grunde auch Ausdruck der Globalisierung sind: zum einen durch die Eurokrise, die wir inzwischen gut bewältigt haben, und zum anderen durch die Migration in den letzten Jahren. Aber ich darf Ihnen sagen: Deutschland will – das haben auch die Gespräche, die ich zur Bildung einer Regierung geführt habe und die ich jetzt führe, immer wieder gezeigt – ein Land sein, das auch in Zukunft seinen Beitrag leistet, um gemeinsam in der Welt die Probleme der Zukunft zu lösen. Wir glauben, dass uns Abschottung nicht weiterführt. Wir glauben, dass wir kooperieren müssen, dass Protektionismus nicht die richtige Antwort ist. Und wir glauben, dass wir dann, wenn wir der Meinung sind, dass untereinander die Dinge nicht fair zugehen und dass die Mechanismen nicht reziprok sind, multilaterale Lösungswege suchen sollten und nicht unilaterale, die letztlich Abschottung und Protektionismus nur fördern. Deshalb ist es so nötig, dass Deutschland schnell eine Regierung bildet. Ich hoffe, dass uns das gelingt. In den Gesprächen, die wir führen, sind zwei Leitgedanken wichtig. Der erste ist: Wie können wir für unser Land, für die Menschen in Deutschland, Wohlstand sichern? Wir sind in Deutschland momentan in einer Situation, in der wir sagen können: Uns geht es gut, uns geht es sehr gut. Aller Voraussicht nach könnten wir 2020 dann elf Wachstumsjahre in Folge hinter uns haben. Das gab es zuletzt in den 50er Jahren. Wir haben mehr Menschen in Arbeit als jemals zuvor. Wir haben eine solide Finanzsituation. Wir haben gute Fortschritte bei der Digitalisierung unserer Wirtschaft mit der Industrie 4.0 gemacht. Aber – ich will das hier ganz offen ansprechen – wir sind nicht führend in anderen Bereichen der Digitalisierung, wenn es um die Gesellschaft geht, wenn es um den Staat geht. Für die nächsten vier Jahre heißt die Aufgabe daher, Digitalisierung in unser Bildungssystem zu bringen, den Staat digital auszurichten, den Bürgern eine Möglichkeit zu geben, mit ihrem Staat im Zeitalter der Digitalisierung digital zu kommunizieren, und ein besseres Ökosystem für Start-ups zu schaffen, damit wir weiter ein Ort der Innovation sind. Ich nehme diese Herausforderung sehr, sehr ernst. Wir haben keine Zeit zu verlieren, denn wir wissen, dass sich andere Teile der Welt hierbei sehr schnell entwickeln. Wir sehen auch, dass Länder wie zum Beispiel Estland, das gerade die europäische Ratspräsidentschaft innehatte, weit fortgeschritten sind gegenüber einem Land wie Deutschland, das in seinem Handeln hierbei nicht an der Spitze Europas liegt. Wir wissen, dass die Digitalisierung bedeutet: Wir müssen uns mit lebenslangem Lernen beschäftigen und wir müssen uns mit völlig neuen Lösungsmöglichkeiten beschäftigen, was unsere sozialen Systeme anbelangt. Das heißt, die Erkenntnis ist und muss sein: Disruptive technologische Veränderungen verändern unsere Gesellschaften. Die Bereitschaft gerade in einem alternden Land wie Deutschland, hierauf wirklich Bezug zu nehmen und sich hierauf einzulassen, ist – um es einmal vorsichtig zu sagen – nicht überausgeprägt. Das heißt, die Frage „Was kann ich jetzt noch verteilen?“ und die Frage „Was investiere ich in die Zukunft?“ beschäftigen uns sehr in unseren Gesprächen. Wir wissen: Wenn wir das Wohlstandsversprechen für alle in der Zeit der Digitalisierung einlösen wollen – auch für unsere Menschen in Deutschland –, dann bedeutet das: Wir brauchen eine Soziale Marktwirtschaft 4.0, nicht nur eine Industrie 4.0. Das heißt, wir müssen uns auch mit der Frage beschäftigen: Wie nehmen wir alle mit? Ich glaube, das ist eine der drängenden Fragen. Denn Länder, die in sich gespalten sind, sind viel weniger fähig, multilateral zu agieren, kooperativ zu agieren. Vielmehr ist die Gefahr, dass sie sich in sich zurückziehen, sehr groß. All diese Fragen sind national nicht zu lösen. Deshalb ist mit der Frage „Wie geht es in Deutschland weiter?“ untrennbar die Frage verbunden: Wie geht es in Europa weiter? Viele Probleme sind mit Blick auf große Länder wie China und Indien überhaupt nur in einer europäischen Kooperation, in der Europäischen Union, zu lösen. Interessanterweise kann man sagen: So bedauerlich die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens war, die EU zu verlassen, so sehr hat sie uns doch auch Mut gegeben, uns auf die wirklich großen Aufgaben zu konzentrieren. Ich sage ausdrücklich: Mit der Wahl des französischen Präsidenten Emmanuel Macron ist noch einmal zusätzlich Schwung in die Europäische Union gekommen; und das wird uns stärken. Was müssen wir leisten? In einer Zeit, in der nicht alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sagen „Eine ‚ever closer union‘ ist genau das, was wir uns vorstellen“, müssen wir lernen, auf die großen Fragen in Europa Antworten zu finden und die Fragen, die vor Ort zu lösen sind, die Menschen vor Ort lösen zu lassen. Ansonsten gibt es kein gutes Klima in Europa. Wir müssen vor allen Dingen auch unsere ökonomische Stärke entwickeln. Das heißt, nachdem wir die Eurokrise relativ gut überwunden haben und jetzt wieder alle Mitgliedstaaten des Euroraums wachsen und die Beschäftigung zunimmt, müssen wir uns auf die Zukunft ausrichten. Da ist für mich der wesentliche Punkt, den digitalen Binnenmarkt auszubauen. Hierbei stehen wir in der Europäischen Union nach meiner Auffassung unter einem doppelten Druck. Erstens. Es gibt große amerikanische Unternehmen, die Zugriff auf Daten haben – Daten sind der Rohstoff des 21. Jahrhunderts. Die Antwort auf die Frage „Wem gehören diese Daten?“ wird letztendlich darüber entscheiden, ob Demokratie, Partizipation, Souveränität im Digitalen und wirtschaftlicher Erfolg zusammengehen. Auf der anderen Seite gibt es Länder – beispielsweise China –, in denen es eine sehr enge Kooperation von staatlichen Autoritäten mit den Sammlern von Daten gibt, in denen es fast eine Einheit von beidem gibt. Die Europäer haben sich noch nicht richtig entschieden, wie sie mit Daten umgehen wollen. Die Gefahr, dass wir zu langsam sind, dass die Welt über uns hinwegrollt, derweil wir philosophisch über die Frage der Datensouveränität debattieren, ist groß. Das heißt, es muss Aktion erfolgen. Ich glaube, mit unserem europäischen Modell der Sozialen Marktwirtschaft haben wir auch eine Chance, einen Beitrag zu einem gerechten digitalen Zeitalter zu leisten, in dem eben nicht die Privatisierung aller Daten über die Persönlichkeit die Normalität ist, aber in dem wir akzeptieren und annehmen, dass, um das Beste für die Menschen daraus machen, Daten die Rohstoffe des 21. Jahrhunderts sind. Zweitens: Wir müssen unsere Eurozone festigen. Das heißt, wir brauchen eine Kapitalmarktunion – im Kapitalmarkt sind wir immer noch zersplittert. Wir müssen die Bankenunion vollenden. Wir müssen uns überlegen, wie wir uns auf zukünftige Krisen, die von außen auf uns einstürzen, so wappnen, dass nicht auf der einen Seite das Risiko einfach vergemeinschaftet wird und die Haftung bei allen liegt, obwohl jeder Einzelne seine Risiken managen müsste. Und wir müssen andererseits auch schauen, dass wir ein interessanter Investitionsstandort sind. Wir dürfen uns deshalb auch nicht abschotten, sondern wir müssen mit den Besten der Welt Schritt halten und wir müssen für unseren multilateralen Ansatz werben. Wir haben, wenn wir als Europäer ernst genommen werden wollen, eine weitere große Aufgabe, nämlich im Bereich der Außenpolitik zusammenzuarbeiten. Die einheitliche europäische Außenpolitik ist noch nicht ausreichend entwickelt. Wenn Europa mit seinen zukünftig 27 Mitgliedstaaten nicht in der Lage sein wird, ein einheitliches Signal an große Länder wie China, Indien, die Vereinigten Staaten von Amerika oder Russland zu senden, sondern wenn Außenpolitik national gemacht und so versucht wird, ein Player in der Welt zu sein, dann wird das misslingen. Hierbei haben wir noch ein großes Stück Arbeit vor uns, weil wir untereinander noch nicht sicher sein können, ob wir uns wirklich aufeinander verlassen können. Dabei gibt es einen großen Fortschritt – und ich freue mich, dass die deutsche Verteidigungsministerin hier ist –: Nach Jahrzehnten europäischer Diskussionen ist es uns angesichts der Herausforderungen, die wir sehen, gelungen, eine europäische Verteidigungszusammenarbeit auf die Beine zu stellen. Dabei ist zweierlei sehr wichtig. Erstens ist dies keine Zusammenarbeit, die gegen die NATO gerichtet ist, sondern wir sind sehr froh, dass der NATO-Generalsekretär bei der Gründung der gemeinsamen Verteidigungspolitik dabei war und ausdrücklich gesagt hat, er verstehe das als eine Ergänzung. Zweitens sind wir in der Lage, einen politischen Ansatz in Bezug auf dritte Länder durchzusetzen, der uns sehr wichtig ist: nämlich einen gemeinsamen Ansatz von sicherheitspolitischen Fragen, von Fragen der Entwicklungskooperation und von Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung. Damit können wir ein Signal für ein kohärentes Modell gerade auch im Hinblick auf Afrika aussenden, was sehr wichtig ist. Warum sind die gemeinsame Außenpolitik, die gemeinsame Verteidigungspolitik und die gemeinsame Entwicklungspolitik von so großem Interesse? Wenn Sie sich die Umgebung Europas anschauen, dann wissen Sie, dass vor unserer Haustür ein Großteil der globalen Konflikte stattfindet. Wir haben es 2015 erlebt: Da ist im Grunde die Globalisierung nach Europa gekommen in Form von Menschen, von Flüchtlingen, als wir uns eben nicht um den Bürgerkrieg in Syrien gekümmert haben, als wir uns nicht um den IS im Irak gekümmert haben. Mein Kollege aus Italien hat hier gerade sicherlich über die Herausforderungen mit Blick auf die Migration aus Afrika berichtet. Wir haben im Grunde die sunnitisch-schiitischen Konflikte vor unserer Haustür. Wir haben den IS vor unserer Haustür. Unser Nachbar ist Afrika, nur wenige Kilometer von den südlichen Teilen Europas getrennt. Syrien ist der Nachbar von Zypern. Das heißt, die Tatsache, dass Europa außenpolitisch nicht der aktivste Kontinent war, sondern wir uns oft auf die Vereinigten Staaten von Amerika verlassen haben, die sich jetzt aber auch mehr auf sich konzentrieren, muss uns dazu bringen, dass wir sagen: Wir müssen mehr Verantwortung übernehmen; wir müssen unser Schicksal mehr in die eigene Hand nehmen. Das tun wir, indem wir eben eine gemeinsame Verteidigungspolitik gegründet haben und indem wir auch eine gemeinsame Anstrengung im Hinblick auf die Herausforderung der Migration entwickelt haben, obwohl es hierbei auch noch viele Widersprüche innerhalb der Europäischen Union gibt. Wir sind uns inzwischen darüber klar, dass wir unsere Außengrenzen schützen müssen. Aber was bedeutet das? Europa ist ja ein interessanter Kontinent oder ein interessantes Gebilde. Wir haben uns eine einheitliche Währung gegeben, haben uns aber nie Gedanken darüber gemacht, was denn passiert, wenn diese Währung einmal in eine Krise gerät. Jetzt arbeiten wir nach und schaffen im Grunde das Fundament, auf dem wir das hätten aufbauen müssen. Wir waren unglaublich stolz, Freizügigkeit zu haben. Sie müssen nirgends einen Pass vorzeigen, wenn Sie im Schengen-Raum umherreisen. Aber wir haben uns keine Gedanken darüber gemacht, wie wir unsere Außengrenzen schützen, ob wir wissen, wer bei uns reinkommt und wer bei uns rausgeht. Wenn man das im Rückblick betrachtet, dann fragt man sich: Wie kann man so etwas tun, wie kann man darüber nicht nachdenken? – Aber wir haben uns einfach sicher gefühlt. Jetzt arbeiten wir an einem Ein- und Ausreisesystem. Wir haben eine gemeinsame Grenzschutzagentur gegründet. Aber eines ist auch richtig: Die Geschichte seit dem Römischen Reich und dem Bau der Chinesischen Mauer lehrt uns, dass reine Abschottung nicht hilft, Grenzen zu schützen. Ich brauche vielmehr auch immer ein gutes Miteinander mit meinen Nachbarn, ich brauche Abkommen, ich brauche staatliche Verträge, um zu wissen, wie ich die Herausforderung auch der illegalen Migration in den Griff bekomme. Genau das haben wir gelernt. Das zeigen das EU-Türkei-Abkommen und unsere Migrationspartnerschaften mit Afrika. Aber natürlich haben wir noch viel zu tun. Wenn man darüber nachdenkt, weiß man: Wir sind mitverantwortlich. Wenn die Wohlstandsunterschiede unendlich groß werden, wird es nicht klappen, in einer offenen Welt Verträge miteinander zu schließen. Wir sind mitverantwortlich für die Entwicklung des afrikanischen Kontinents. Wir sind mitverantwortlich bei der Frage, wie es im Irak weitergeht. Wir sind mitverantwortlich bei der Frage, wie es in Libyen weitergeht. Hierbei sind wir zögerlich, aber doch in den letzten Jahren schon an vielen Stellen auch erfolgreich gewesen. Aber es liegt noch sehr, sehr viel Arbeit vor uns. Darüber gibt es auch eine große Einigkeit innerhalb der Europäischen Union; und zwar sehr viel mehr Einigkeit als in der Frage, wie wir Flüchtlinge, die bei uns angekommen sind, untereinander verteilen. Darüber gibt es leider noch keine Einigkeit. Aber bei den anderen Fragen stehen wir besser da. Wir haben natürlich auch die Herausforderung, Kooperationen mit Afrika einzugehen. Nur wenn wir selbst wirtschaftlich stark sind, werden wir dafür die Kraft haben. Dieses Miteinander mit Afrika ist mir persönlich sehr, sehr wichtig. Denn erstens haben wir Europäer eine tiefe Schuld gegenüber dem afrikanischen Kontinent aus den Zeiten der Kolonialisierung. Und zweitens haben wir ein tiefes Interesse daran, dass sich Afrika vernünftig entwickelt. Afrika ist ja ein Schlagwort. Das sind aber mehr als 50 verschiedene Staaten in ganz unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Es wird jetzt darauf ankommen, mit Afrika – deswegen haben wir unsere Initiative „Compact with Africa“ genannt, nicht „for“; es ist keine paternalistische Partnerschaft, sondern eine auf Augenhöhe – daran zu arbeiten, dass auch Afrika an der Wohlstandsentwicklung teilhat. Das heißt, in Bildung zu investieren, damit das Wirtschaftswachstum nicht geringer als das Bevölkerungswachstum ist. Das heißt, vor allen Dingen ein völlig neues Modell von Entwicklungshilfe anzuwenden, das auf eine umfassende Entwicklung abstellt und eben auch die wirtschaftliche Entwicklung beinhaltet. Hier werden wir weitermachen. Wir haben ein Problem, auf das ich mit Blick auf Europa noch zurückkommen will. Wir bedauern natürlich alle sehr, dass Großbritannien nicht mehr Teil dieser Europäischen Union sein wird. Morgen wird unsere Kollegin Theresa May hier sein. Ich will für Deutschland, aber auch für andere sagen: Wir wollen auch in Zukunft eine gute Partnerschaft mit Großbritannien. Wir werden aber auch klarmachen, dass die Frage des Zugangs zum Binnenmarkt an die Freizügigkeiten gebunden ist. Dabei können wir keine Kompromisse machen. Aber wir wissen, dass wir durch Werte, Überzeugungen und außenpolitische Interessen mit Großbritannien eng verbunden sind. Großbritannien hat es in der Hand, uns zu sagen, wie eng es die Partnerschaft haben will. Wir stehen für jede Form von Partnerschaft zur Verfügung. Meine Damen und Herren, ich habe versucht, Ihnen deutlich zu machen, was aus meiner Sicht in einer „fractured world“ getan werden kann. Ich glaube, es beginnt immer zu Hause. Je besser es uns zu Hause in unseren Ländern gelingt, Spaltungen zu überwinden, umso freier werden wir sein, uns der Gemeinsamkeit, der Kooperation, dem Multilateralismus zuzuwenden. Die Lösungsmethoden sind im Grunde immer wieder ähnlich: Wir dürfen niemanden zurücklassen. Gerade in der Zeit riesiger disruptiver Herausforderungen der Digitalisierung ist das Verhindern der Spaltung vielleicht eine der größten Aufgaben. Ich freue mich sehr, Herr Schwab – wir haben im Vorgespräch darüber gesprochen –, dass Sie Netzwerke unterstützen, die die Diskussion zwischen Politik und Wirtschaft in Gang bringen: Was ist eine ethische Form des Managements disruptiver Entwicklungen? Wenn uns das nicht gelingt, wird es wie im frühen Kapitalismus kommen; dann werden wir eine Art Maschinenstürmer haben, wie es sie damals gab. Die Aufgabe heißt jetzt – und das ist meine abschließende Bitte auch an die Vertreter der Wirtschaft; Sie leben auch in Ihrem Investitionsumfeld von Voraussetzungen, die Sie selbst nicht geschaffen haben und die aus einer anderen Zeit kommen –: Bitte arbeiten Sie mit daran, dass wir diese Voraussetzungen in eine neue Zeit überführen. Wir liegen falsch, wenn wir glauben, dass die Begeisterung von 20 oder 30 Prozent eines Landes, sozusagen eine Mega-Begeisterung, für disruptive Entwicklungen ausreicht, um ein ganzes Land mitzunehmen. Das reicht nicht aus. Es kommt auf lebenslanges Lernen an und auf vieles andere. Ich glaube, viele Menschen werden dazu auch bereit sein. Aber viele müssen auch eingeladen werden, weil sie dem wahnsinnigen Tempo nicht sofort folgen können. Es wäre mein Wunsch an dieses Davoser Form, für diese Fragen eine Plattform zu bieten, weil es viele Menschen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zusammenbringt. Dann kann uns das gelingen. Dann können wir verhindern, dass sich die Fehler des 20. Jahrhunderts in irgendeiner Form wiederholen. Wir wissen, dass die Möglichkeiten, mit disruptiven digitalen Entwicklungen großen Schaden anzurichten und Gesellschaften zu verwirren, ganz anderer Natur sind, als wir sie aus dem 20. Jahrhundert kennen. Sie sind aber mindestens so schädlich. Deshalb geht es darum, auch hierbei wirklich eine Soziale Marktwirtschaft, wie wir in Deutschland sagen würden, hinzubekommen. Dann wird auch die weltweite Zusammenarbeit klappen. Deutschland möchte sich auch in Zukunft dafür einsetzen. Wenn Sie mir noch die Daumen drücken, dass wir auch eine Regierung bekommen, dann wird das noch besser gehen. Herzlichen Dank.
Rede von Staatsministerin Grütters zum 50-jährigen Jubiläum des ARD-Politikmagazins „Kontraste“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-gruetters-zum-50-jaehrigen-jubilaeum-des-ard-politikmagazins-kontraste–450772
Fri, 19 Jan 2018 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Flora und Fauna liegen in der Regel jenseits des Wahrnehmungsradars eines investigativen Politikmagazins, und selbst aus der Reihe der Alphatiere finden hier allenfalls Leithammel, Schlachtrösser und Silberrücken aus Politik und Wirtschaft Beachtung. Trotzdem – oder auch gerade deshalb – lohnt es sich, heute zur Feier des Tages mal eine Ausnahme zu machen … und einen kurzen Ausflug in ein von der Kontraste-Redaktion journalistisch unterbelichtetes Gebiet: einen Ausflug in die farbenprächtigen Korallenriffe tropischer Ozeane. Dort lebt der Fangschreckenkrebs, Haptosquilla trispinosa, unter Wissenschaftsjournalisten bestens beleumundet als, ich zitiere, „Durchblicker vom Meeresgrund“ – und damit in gewisser Weise ein Artgenosse jener „Durchblicker“ im Haifischbecken der deutschen Hauptstadt, zu denen auch das Magazin Kontraste zählt. Zwar hat der Fangschreckenkrebs, evolutionsgeschichtlich betrachtet, schon ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel als die bewegten 50, die der ebenso amüsante wie beeindruckende Film eben Revue passieren ließ. Doch bei allen offensichtlichen Unterschieden zwischen Krustentier und Kontraste-Team gibt es doch ein paar Gemeinsamkeiten: So scheinen sich im Habitat tropischer Meeresgründe dieselben Überlebensstrategien bewährt zu haben, die auch ein investigatives Politikmagazin braucht, um sich über fünf Jahrzehnte im scharfen medialen Wettbewerb zu behaupten und zwischen Quotendruck und Qualitätsanspruch zu bestehen. Was den Fangschreckenkrebs nämlich in besonderer Weise auszeichnet, sind seine beiden in alle Richtungen beweglichen Sehorgane, bestehend aus jeweils bis zu 10.000 Einzelaugen. Damit scannt er Objekte und nimmt bis zu 100.000 Farbschattierungen wahr. Und wenn Sie, verehrte Journalistinnen und Journalisten, diesen Winzling nun darum beneiden, dass er mit seinem konkurrenzlosen Sehvermögen erkennen kann, was für andere Augen unsichtbar ist, dann haben Sie noch nichts von seiner Schlaggeschwindigkeit gehört: In nur 2,7 Millisekunden beschleunigt sein Schmetterarm auf sage und schreibe 82 Stundenkilometer – das ist 40mal schneller als ein Wimpernschlag: Die Opfer sind schon von den dabei entstehenden Gasbläschen betäubt. Von diesem Tempo, das selbst einen im Tweet-Stakkato befeuerten Shitstorm auf Twitter wie ein laues Lüftchen erscheinen lässt, können Investigativjournalisten beim Aufdecken von Missständen und Machtmissbrauch nur träumen: Der Wahrheit auf den Grund zu gehen und zum Schlag auszuholen gegen Schweigekartelle oder „alternative Fakten“, braucht Zeit für gründliche Recherche. Der 360 Grad-Rundumblick aber und die fein nuancierte Wahrnehmung der Wirklichkeit in all ihren Farben und Farbschattierungen zeichnen jenen kritischen Journalismus aus, der mit Recht für sich in Anspruch nimmt, schlagkräftige Schutzmacht der Demokratie zu sein und den Schönfärbern, den Vereinfachern, den Zerrbildzeichnern – all jenen also, die eine aufgeklärte, kritische Öffentlichkeit im Interesse persönlichen Profits oder aus Bequemlichkeit verhindern wollen – die Macht der Wahrheit entgegen zu setzen. Dafür steht das Politikmagazin Kontraste; dafür stehen erhellende Berichte, tiefschürfende Reportagen, aufschlussreiche Dokumentationen und bewegende Geschichten in 618 regulären Sendungen aus fünf Jahrzehnten. Schon in den Anfangsjahren als „Ost-West-Magazin“ – in Zeiten des Kalten Krieges, als nicht nur die Fernsehbilder, sondern auch die Weltbilder vielfach schwarz-weiß waren – sorgte die kleine Redaktion mit dem Anspruch ideologiefreier Berichterstattung für farblich differenzierte Bilder von den Ereignissen hinter dem Eisernen Vorhang, der Europa trennte. Von der Schlagkraft, die investigativer Journalismus entwickeln kann, zeugen insbesondere die 1970er und -80er Jahre, als das westdeutsche Magazin nicht nur Geschichten vom ostdeutschen Alltag erzählte und SED-Propaganda entlarvte, sondern auch gesamtdeutsche Geschichte schrieb: So waren es nicht zuletzt heimliche Aufnahmen von den Massendemonstrationen in Leipzig im Oktober 1989, die – weil sie ihren Weg sowohl um die Welt als auch in ostdeutsche Wohnzimmer fanden – die Autorität des Regimes entscheidend schwächten. Im Nachhinein dürfte sich deshalb so mancher rote SED-Genosse schwarz geärgert haben, einen Dissidenten namens Roland Jahn, heute Bundes-beauftragter für die Stasi-Unterlagen, in den Westen abgeschoben zu haben, wo er als Mitarbeiter der Kontraste-Redaktion den Schmuggel der dazu nötigen technischen Ausstattung über die Grenze organisierte… „Das Gras zu mähen, das über etwas zu wachsen droht“ – diese journalistische Aufgabe, wie der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar sie einst formuliert hat, übernahm das Magazin im wiedervereinten Deutschland: mit Beiträgen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur wie auch zur Auseinandersetzung mit Versäumnissen bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Kontraste konfrontierte die Deutschen aber auch mit unterbelichteten Winkeln gesamtdeutscher Wirklichkeit, als sonst noch kaum jemand darüber sprach: mit alltäglichem Rassismus beispielsweise, mit Tricksereien der Automobilkonzerne bei den Abgaswerten (und zwar schon 2003!), und wenn die Redaktion ihren investigativen Rundum-Blick auf die „dicken Fische“ in der Hauptstadt scharf stellt, kommt meine eigene Partei sowieso nie gut weg … mal ganz davon abgesehen, dass Sie vermutlich in ganz Berlin keinen Politiker finden werden, der gesteigerten Wert darauf legte, eine prominente Rolle in einem Kontraste-Beitrag zu spielen (- was im Zweifel natürlich eher für die journalistische Arbeit der Redaktion spricht als gegen sie …). So zeugt es von ausgeprägtem journalistischem Selbstbewusstsein, die Rolle der Festrednerin zum 50jährigen Kontraste-Jubiläum ausgerechnet mit einer Politikerin zu besetzen: mit einer aus der Reihe derjenigen also, denen Sie, verehrte Journalistinnen und Journalisten – zum Glück! – erfolgreich unbequem sind, die zu Ihrer Arbeit aber eben deshalb von Berufs wegen ein … nun ja: sagen wir: ambivalentes Verhältnis hat. Selbiges lässt sich frei nach Voltaire wie folgt auf den Punkt bringen: Mag ich auch verdammen, was Sie senden, ich werde alles in meiner Macht stehende dafür tun, dass Sie es senden dürfen- in der festen Überzeugung, dass eine Demokratie gegen autoritäre und totalitäre Anwandlungen gewappnet ist, solange die „Suchmaschine für die Wahrheit“ – wie Anthony Lewis, einst Kolumnist bei der New York Times, die Meinungsfreiheit einmal bezeichnet hat – nur zuverlässig funktioniert. Ich habe die Rolle der Festrednerin also gerne über- und Ihre freundliche Einladung mit Freude angenommen, liebe Frau Schlesinger, und zwar auch deshalb, weil ich mir die seltene Chance nicht entgehen lassen wollte, den Spieß einmal umzudrehen und als Politikerin den Anspruch einzulösen, den Kontraste sich auf die Fahnen geschrieben hat – nämlich dort nachzuhaken, wo es unbequem wird. Zu den unangenehmen Wahrheiten, mit denen nicht nur Politiker, sondern auch Journalisten sich selbstkritisch auseinandersetzen müssen, gehört die Tatsache, dass es offenbar eine wachsende Zahl von Menschen gibt, die ihre Lebenswirklichkeit in den politischen Debatten und der medialen Berichterstattung nicht angemessen repräsentiert sehen: die also der Meinung sind, es fehle dem öffentlichen Diskurs an eben jenen „Kontrasten“, die ein Politikmagazin dieses Namens verspricht und die man vom Meinungsspektrum in einer pluralistischen Demokratie erwartet. Bildmaterial, das diesen gefühlten Vertrauensverlust als Tatsache ausweist, hat der RBB bestimmt in seinen Archiven – seien es Aufnahmen aufgebrachter Pegida-Demonstranten, die „Lügenpresse“-Schilder in die Kamera halten oder auf Fernsehteams losgehen, seien es Screenshots digitaler Hetze gegen vermeintlich vom Staat gelenkte Medien, seien es Interviews, in denen der angebliche Konformismus medialer Berichterstattung und die vermeintliche Einhegung öffentlicher Debatten auf das scharf bewachte Gebiet des politisch Korrekten beklagt werden. Auch wenn einschlägige Untersuchungen insbesondere den Tageszeitungen und dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen nach wie vor hohe Glaubwürdigkeit bescheinigen, auch wenn das Fernsehen einer Studie der Landesmedienanstalten zufolge nach wie vor das Medium mit dem höchsten Meinungsbildungsgewicht ist, braucht es kein Investigativ-Team, um festzustellen, dass es – bedingt insbesondere durch die digitale Konkurrenz – Entwicklungen gibt, die die wünschenswerte Wahrnehmung der Wirklichkeit in all ihren Farben und Schattierungen in den traditionellen Medien erschweren. Sorgfalt, Unvoreingenommenheit, die Trennung von Bericht und Meinung, Ausgewogenheit und Differenziertheit – journalistische Kardinaltugenden, mit denen Qualitätsmedien sich vom so genannten „User generated content“ abheben können – bleiben auf der Strecke, wenn traditionelle Medien sich am rasanten Takt der Liveticker ausrichten, sich also dem Wettbewerb in Kategorien stellen, in denen sie nur verlieren können. Und wo aus Kostengründen auch noch an Recherchekapazitäten – an Auslands-korrespondenten, an Lokalreportern, an Investigativteams – gespart wird, reicht es irgendwann nur noch für Informations-Fastfood – frei von Zutaten, die die informationelle Grundversorgung einer aufgeklärten Öffentlichkeit sicherstellen. Zum Zeit- und Kostendruck gesellt sich der Quotendruck: Im verschärften Wettbewerb um Aufmerksamkeit ist die Versuchung groß, zu skandalisieren statt zu differenzieren und Themen nach Popularität statt nach Relevanz auszuwählen. Denn Skandalgeschrei ist das Glutamat im Informations-Fastfood: Wie ein Geschmacksverstärker verleiht es faden Fertiggerichten Würze. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spricht von einer „Erregungs-industrie“ und warnt zu Recht vor dem Verlust der Verständigungsfähigkeit in der – ich zitiere ihn noch einmal – „Empörungs-demokratie des digitalen Zeitalters“, in der mediale Wellen heute Hysterie verbreiten, um morgen in Schweigen zu verebben. Auch das untergräbt auf Dauer die Glaubwürdigkeit der Medien. Etwas rustikaler ausgedrückt: Journalistisches Rudelverhalten schadet nicht nur der Sau, die gerade durchs Dorf getrieben wird, sondern auch ihren Verfolgern. Aus persönlicher Erfahrung kann ich nur sagen: Als Politikerin gewöhnt man sich irgendwann an, solche Hypes öffentlicher Erregung einfach über sich ergehen zu lassen – insbesondere dann, wenn die Berichterstattung allzu schematisch immer in dieselbe Richtung geht. Deshalb gehören floskelhafte Sätze wie „Minister XY war nicht zu erreichen“ oder „Das zuständige Ministerium war nicht zu einer Stellungnahme bereit“ mittlerweile leider vielfach zum Refrain investigativer Beiträge – was den Verdacht nahelegt, dass es etwas zu verbergen gibt, wo man schlicht und einfach befürchtet, dass an einer alternativen Sicht der Dinge kein Interesse besteht: dass gar keine Zeit ist, schwierige politische Entscheidungen zu erklären und ein kurzer O-Ton sowieso nur zur Bestätigung eines bereits feststehenden Urteils ausgeschlachtet werden soll. So nähren Politik und Medien unbeabsichtigt und unfreiwillig eben jene Demokratieverdrossenheit, die wir als überzeugte Demokraten wortreich beklagen und aus der Populisten erfolgreich Profit schlagen. Für einen Vorschlag, wie es besser, wie es „kontrast-reicher“ gehen könnte, werben seit 2013 Reporter der New York Times, die dazu das „Netzwerk für lösungsorientierten Journalismus“ gegründet haben. Es habe sich, so wurde einer der beiden Gründer kürzlich in einer deutschen Tageszeitung zitiert, die Erkenntnis breitgemacht, dass zu viel über Probleme und zu wenig über Lösungen berichtet werde – eine Erkenntnis, die auch von einer repräsentativen Emnid-Umfrage in Deutschland gedeckt ist, derzufolge 76 Prozent der Befragten eben dies für eines der größten Defizite der Nachrichtenmedien hält. Die Mitglieder des „Netzwerks für lösungsorientierten Journalismus“ haben es sich deshalb zur Mission gemacht, einen Recherche-Schritt weiterzugehen: statt nur anzuprangern auch zu fragen „Wer macht es besser?“ Nicht um Wohlfühlstories geht es dabei, das unterstreichen die Gründer des Netzwerks immer wieder, sondern ganz im Gegenteil darum, Druck auf die Verantwortlichen aufzubauen mit dem Nachweis, dass es Menschen, Städte oder Länder gibt, die ein Problem bewältigt haben, vor dem andere versagen. So bleibt – bei aller berechtigten Kritik – auch das Vertrauen, dass eine bessere Welt nicht nur möglich, sondern auch realistisch ist. Und so lässt sich vielleicht verhindern, dass Kritik an gesellschaftlichen Missständen Ohnmachtsgefühle und Hoffnungslosigkeit nährt – und dass aus Ohnmachtsgefühlen und Hoffnungslosigkeit Wasser auf den Mühlen populistischer Hetzer wird. So viel zu den Herausforderungen für investigativen Journalismus in Zeiten der Medien- und Politikverdrossenheit, meine Damen und Herren – auf dass auch ich mich heute Abend bei der Betrachtung unbequemer Wahrheiten nicht auf das beckmesserische Beklagen von Defiziten beschränke, sondern Ihnen im Sinne einer „lösungsorientierten Festtagsrhetorik“ Anregungen für das Schärfen des Rundum-Blicks und der nuancenreiche Wahrnehmung der Wirklichkeit liefere, die man insbesondere vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu Recht erwartet. Mag die Versuchung, mediale Inhalte an leicht kommerzialisierbaren Unterhaltungsinteressen auszurichten, im digitalen Zeitalter auch größer sein denn je: Leser, Hörer und Zuschauer sind nicht nur Konsumenten auf einem Markt, auf dem die Nachfrage das Angebot bestimmt, sondern Bürgerinnen und Bürger, die einen Anspruch haben auf das, was Qualitätsmedien zu leisten imstande sind. Deshalb brauchen wir auch in Zukunft einen starken, beitragsfinanzierten und politisch wie wirtschaftlich unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Und bei allem Respekt vor der schwierigen Gratwanderung zwischen Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags einerseits und dem in Quoten gemessenen Publikumserfolg andererseits: Die Öffentlich-rechtlichen dürften ruhig noch etwas mutiger sein, wenn es darum geht, sich dem Diktat der Quote zu widersetzen! Für Fußball oder Helene Fischer beispielsweise sollte ein Politikmagazin nicht von seinem Sendeplatz weichen müssen … Man kann es nicht oft genug sagen: Die Sonderbehandlung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in unserem dualen Rundfunksystem, das sich über viele Jahre bewährt hat, ist nur solange gerechtfertigt, wie die Sender das Qualitätsversprechen einlösen, das an das Privileg der Beitragsfinanzierung geknüpft ist. Investigative Politikmagazine auf guten Sendeplätzen tragen erheblich dazu, dieses Versprechen einzulösen. Bleiben Sie deshalb – liebe Redakteurinnen und Redakteure – Ihrem Anspruch treu, den Mächtigen unbequem zu sein und den Dingen auf den Grund zu gehen, schauen Sie dabei wenn möglich nicht nur denen auf die Finger, die Probleme vertuschen oder bei ihrer Lösung versagen, sondern hin und wieder auch denen, die sie anpacken und es besser machen, und bewahren Sie sich jenen Rundumblick und die kontrastreiche Wahrnehmung der Wirklichkeit, die auch den Fangschreckenkrebs zu einem gefürchteten „Durchblicker“ im Korallenriff macht. Nur auf eines sollten Sie verzichten, nämlich auf eigene Investigativrecherchen zur Prüfung, ob dieser gewagte Vergleich mit Flora und Fauna auch tatsächlich trägt: Denn Fangschreckenkrebse sind, wie Taucher wissen, ohne weiteres in der Lage, mit einem Schlag die Frontscheibe einer Unterwasserkamera zu zertrümmern. Da sind Sie in Berlin doch deutlich willkommener, meine Damen und Herren. Denn hier herrscht die Überzeugung, dass eine freie Presse, eine vielfältige Medienlandschaft, eine kritische, informierte Öffentlichkeit und ein lebendiger Diskurs die stärksten Garanten sind für eine funktionierende und lebendige Demokratie. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch zu 50 Jahren Kontraste, herzlichen Glückwunsch allen ehemaligen und aktuellen Redaktionsmitgliedern zu fünf Jahrzehnten erfolgreichem Investigativjournalismus.
Das Politikmagazin Kontraste stehe seit fünf Jahrzehnten für erhellende Berichte, tiefschürfende Reportagen, aufschlussreiche Dokumentationen und bewegende Geschichten, erklärte Kulturstaatsministerin Grütters in ihrer Festrede zu 50 Jahre Kontraste.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters beim Auftakt des Europäischen Kulturerbejahres
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-beim-auftakt-des-europaeischen-kulturerbejahres-431624
Mon, 08 Jan 2018 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Hamburg
Kulturstaatsministerin
Schwarz auf weiß, so stehen die Grundlagen eines geeinten Europas in den Europäischen Verträgen. Live und in Farbe erlebt man das Fundament eines geeinten Europas in seinen Institutionen, in Brüssel, in Straßburg, in Luxemburg (EuGH–Europäischer Gerichtshof oder Frankfurt (EZB–Europäische Zenralbank). Worauf Europa aber im wahrsten Sinne des Wortes gebaut ist, offenbart sich weder zwischen den Zeilen des Vertrags von Maastricht noch auf den Fluren des Europäischen Parlaments. Es ist unser gemeinsames, europäisches Kulturerbe, es sind Bauwerke und Denkmäler, lebendige Bräuche und Traditionen, es sind materielle und immaterielle Schätze aus über 2.000 Jahren Geschichte, in denen sinnlich erfahrbar wird, was uns in Europa verbindet. Ob in Deutschland oder Dänemark, Polen oder Portugal, Spanien oder Schweden: Die gemeinsame, bewegte Geschichte Europas ist überall sichtbar, gerade im baukulturellen Erbe. Das Europäische Kulturerbejahr lädt dazu ein, der Seele Europas in den allgegenwärtigen Zeugnissen vergangener Epochen nachzuspüren. Ich freue mich sehr, dass wir dieses Jahr der Verständigung über unsere europäischen Wurzeln und Werte nach vielen Monaten intensiver Vorarbeit heute in Deutschland eröffnen können! Dafür habe ich in den vergangenen Jahren in den Brüsseler Gremien und in zahlreichen Gesprächen mit meinen Amtskolleginnen und Amtskollegen intensiv geworben, und ich bin dankbar, dass die Europäische Kommission, das Parlament und europäische Mitgliedsstaaten diese gemeinsame Initiative in großer Einigkeit unterstützen. Einige von ihnen sind heute ebenso vertreten wie zahlreiche Mitwirkende aus Bund, Ländern und Zivilgesellschaft in Deutschland – darunter insbesondere die Geschäftsstelle des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, die eine Koordinierungsaufgabe übernommen hat und mit Unterstützung des Bundes und der Länder finanziell und personell gut für das Europäische Kulturerbejahr gerüstet ist. Vielen Dank, lieber Herr Dr. Koch, Ihnen und Ihrem Team für Ihr großes Engagement! Wie schön, dass auch viele Projektträger bundesgeförderter Vorhaben heute mitfeiern, deren Ideen und Initiativen dieses europäische Themenjahr mit Leben füllen – auch Ihnen ein herzliches Willkommen und ein ebenso herzliches Dankeschön! Fast 40 bundesbedeutsame Projekte werden bislang aus unserem Kulturetat gefördert und tragen zu einem ebenso vielfältigen wie eindrucksvollen Programm bei. Ihre Einladung, in historischen Stadtkernen, in Schlössern, Burgen, Klöstern und Kirchen, in Museen und Gedenkorten, Theatern und Bibliotheken, sowie rund um Baudenkmäler aller Epochen der verbindenden Kraft des europäischen Kulturerbes nachzuspüren, wird nicht nur die Herzen bekennender Kunst- und Kulturliebhaber höher schlagen lassen. Über das klassische Kulturpublikum hinaus wollen wir möglichst viele und insbesondere junge Menschen zur Auseinandersetzung mit der Geschichte einladen. Sie sollen erfahren und erspüren, dass die historischen Kaufhäuser der Hansestadt Lübeck, die Silhouette der Kaiserpfalz in Ingelheim, die Hallenhäuser an der Via Regia oder auch die Zeugnisse der Nachkriegsmoderne im Ruhrgebiet viel mehr sind als eindrucksvolle Kulissen für Selfies oder für Fotos zum Hashtag „Sonnenuntergang“ auf Instagram. In den vielversprechenden Angeboten, die das DNK–Deutsches Nationalkomitee für Denkmalsschutz auf seiner Internet-Plattform SHARING HERITAGE präsentiert (www.sharing-heritage.de), begegnet uns Europa nicht als bürgerferne Brüsseler EU–Europäische Union-Zentrale, sondern als eine gewachsene Gemeinschaft mit einer gemeinsamen, wechselvollen Geschichte. Es sind die Meisterwerke der Kunst und Architektur und die darin sichtbaren Spuren bereichernden Austauschs wie auch die darin eingebrannten Narben leidvoller Konflikte, die eindringlich vermitteln, wie sehr die Bürgerinnen und Bürger Europas einander über nationale Grenzen hinweg verbunden sind. In dieser Weise zu vergegenwärtigen, worauf Europa gebaut ist und was uns ausmacht als Europäerinnen und Europäer, das ist wichtiger denn je angesichts der vielerorts zu beobachtenden Erosion der Europäischen Einigung – angesichts des Brexits in Großbritannien, angesichts der Einschränkungen demokratischer Grundrechte in manchen EU–Europäische Union-Ländern, angesichts des Erstarkens populistischer, europafeindlicher Strömungen auch hierzulande. Weder allein als florierende Freihandelszone noch als reines Zweckbündnis für Frieden und Sicherheit aber weckt das europäische Projekt jenen Enthusiasmus der Bürgerinnen und Bürger, der Europa vor dem Rückfall in eine von Abschottung, Gewalt und Unfreiheit geprägte Vergangenheit bewahren kann. Nur als Wertegemeinschaft hat die Europäische Union eine Zukunft. Nur als Wertegemeinschaft ist Europa ein Sehnsuchtsort, für den Menschen außerhalb der Europäischen Union unter europäischer Flagge auf die Barrikaden gehen, wie zum Beispiel 2013 und 2014 auf dem Kiewer Majdan. Das Europäische Kulturerbejahr führt uns – 400 Jahre nach Beginn des 30jährigen Krieges und 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges – vor Augen, wie hart errungen, mit wie viel Krieg, Leid und Gewalt bezahlt Demokratie, Toleranz und Freiheit in Europa doch sind. Es erinnert uns daran, dass Europa für eine zivilisatorische Errungenschaft steht, die sich nach dem unfassbaren Leid zweier Weltkriege und nach dem Grauen der nationalsozialistischen Barbarei vermutlich nicht einmal die visionären Unterzeichner der Römischen Verträge hätten träumen lassen. Wir Europäerinnen und Europäer haben es geschafft, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen und eben dadurch unterschiedlichen Kulturen und Religionen, Traditionen und Träumen, Lebensentwürfen und Weltanschauungen eine Heimat zu bieten. Diese Offenheit für Vielfalt, die ja gerade in der Hansestadt Hamburg besonders augenfällig ist und mit der Hamburg sich als perfekte Bühne für den Auftakt des Kulturerbejahres erweist, macht die Wertegemeinschaft Europa im Kern aus: Sie ist nicht das Ergebnis unseres wirtschaftlichen Wohlstandes; sie ist vielmehr dessen Voraussetzung. Sie ist nicht allein und auch nicht primär ein Standortfaktor, sondern sie ist vor allem eines: Sie ist Ausdruck von Humanität. Dieses Europa mit seiner Offenheit für Vielfalt zu verteidigen und dem wieder aufkeimenden Nationalismus den Stolz auf die vielfältige, im kulturellen Austausch gewachsene europäische Kultur entgegenzusetzen, ist das Beste, was wir für ein starkes, demokratisches Europa tun können. Denn Europas Puls schlägt laut und kräftig, wo die Herzen für Europa schlagen. Und das wird letztlich nicht von der Höhe der Agrarsubventionen abhängen, und auch nicht allein von der Ausgestaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Es ist vielmehr unsere gemeinsame Kultur, die Herzen höher schlagen lässt – eine Kultur, zu der die großen humanistischen Traditionen von der Antike bis zur Aufklärung ebenso gehören wie das Christen- und Judentum und auch die gemeinsamen, leidvollen Erfahrungen von Krieg und Grausamkeit in der Geschichte der europäischen Staaten. „Hoffnung sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfassbare und erzielt das Unerklärbare“, hat der polnische Ordensmann Maximilian Kolbe einmal gesagt, der während des Zweiten Weltkriegs Flüchtlingen Zuflucht in seinem Kloster bot, der 1941 in Auschwitz sein Leben gab, um einen Familienvater vor dem Tod zu bewahren, und der heute seinen 124. Geburtstag feiern würde. „Hoffnung sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfassbare und erzielt das Unerklärbare“: In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein erfolgreiches Europäisches Kulturerbejahr. Möge es über 2018 hinaus die Hoffnungen der Europäerinnen und Europäer auf ein in Vielfalt geeintes, demokratisches Europa beflügeln – eine Hoffnung, die Europa Frieden, Freiheit und Wohlstand geschenkt hat und auf die Europa seine Zukunft bauen kann.
Zum Startschuss des Europäischen Kulturerbejahres in Deutschland hat Kulturstaatsministerin Grütters ein Europa der gemeinsamen Werte und Wurzeln betont. „Es ist unser gemeinsames, europäisches Kulturerbe, es sind Bauwerke und Denkmäler, lebendige Bräuche und Traditionen, es sind materielle und immaterielle Schätze aus über 2.000 Jahren Geschichte, in denen sinnlich erfahrbar wird, was uns in Europa verbindet.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Empfang der Sternsinger am 8. Januar 2018 im Bundeskanzleramt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-empfang-der-sternsinger-am-8-januar-2018-im-bundeskanzleramt-469604
Mon, 08 Jan 2018 13:58:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Prälat Krämer, sehr geehrter Herr Pfarrer Bingener, vor allem ihr, liebe Sternsingerinnen und Sternsinger, auch in diesem Jahr wieder ein herzliches Willkommen im Bundeskanzleramt. Ich freue mich immer, wenn ich königlichen Besuch bekomme. Ihr kommt aus allen Himmelsrichtungen – Nord und Süd, Ost und West. Dass die Aktion Dreikönigssingen zum 60. Mal stattfindet, ist natürlich einen ganz besonderen Gruß wert. Was ihr mitbringt, das ist Gottes Segen. Dafür möchte ich euch von ganzem Herzen danken. Es ist ja so, dass der Weihnachtsgeschichte nach die drei Weisen aus dem Morgenland einem Stern folgten, der Licht und Hoffnung für die Menschheit versprach. Ihr wollt als Sternsinger selbst Lichtblick und Hoffnungsschimmer sein. „Licht und Hoffnung woll‘n wir geben“ – so habt ihr ja gerade gesungen. Und das singt ihr nicht nur, das tut ihr auch. Dieses Jahr engagiert ihr euch wieder für Kinderprojekte, dieses Mal „gemeinsam gegen Kinderarbeit – in Indien und weltweit“. Es gibt leider gute Gründe, dass ihr euch dafür engagieren müsst. Denn Kinderarbeit ist zwar im Grundsatz geächtet. Es sollte sie eigentlich nicht geben. Trotzdem können viele Kinder auf der Welt nicht zur Schule gehen und nicht spielen. – Ihr Drei habt das eben ganz treffend am Beispiel Indiens, Afrikas und Lateinamerikas gesagt. – Von Schule und Freizeit, wie wir sie in Deutschland kennen, können viele, viele Kinder nur träumen, weil sie eben jeden Tag arbeiten müssen. Dabei geht es nicht darum, dass man einmal sein Zimmer aufräumen oder beim Einkaufen helfen muss, sondern es geht um richtig schwere Arbeit – Arbeit, die gefährlich ist, die krank macht. Ein harter Arbeitstag ist leider für viele Kinder auf der Welt Normalität. Ihr habt das ja eben auch deutlich vorgespielt. Experten schätzen, dass es auf der Welt 152 Millionen Kinder zwischen 5 und 17 Jahren gibt, die hart arbeiten müssen. 152 Millionen Kinder – das sind fast doppelt so viele, wie in Deutschland Menschen leben. Das ist eine erschreckend hohe Zahl. Das hat damit zu tun, dass Armut weit verbreitet ist. Allein in Indien leben 400 Millionen sehr arme Menschen. Das sind nicht ganz so viele, aber fast so viele Menschen, wie in Europa wohnen, und fast fünf Mal so viele Menschen, wie in Deutschland leben. Indien ist ein Riesenland und hat über eine Milliarde Einwohner. Das sind mehr Menschen als fast in jedem anderen Land. Was heißt „sehr arm“? „Sehr arm“ heißt, weniger als 1,60 Euro pro Tag zur Verfügung zu haben. Ihr könnt euch vorstellen: das reicht kaum zum Essen. Die Familien sehen oft keine andere Möglichkeit, als ihre Kinder zur Arbeit zu schicken. Sie können nichts Vernünftiges lernen, keinen Beruf finden. Es ist ganz schwierig, aus diesem Teufelskreis überhaupt wieder herauszukommen. Wenn die Kinder dann selbst Eltern werden, haben sie nichts gelernt; und dann geht das so weiter. Ihr habt das genau im Blick und habt euch dieses Mal vor allem mit einer Gruppe beschäftigt, nämlich mit Kindern der Dalits im Süden Indiens. Die Dalits sind sogenannte „Unberührbare“. Sie finden in der Gesellschaft Indiens kaum Anerkennung. Sie werden diskriminiert und ausgegrenzt. Viele, viele sind bitterarm. Deshalb müssen die Kinder in Steinbrüchen und Fabriken arbeiten. Sie müssen schuften, um ein bisschen Geld für die ganze Familie zu verdienen. Deshalb habt ihr euch überlegt, dass ihr Licht und Hoffnung bringen wollt, dass neben einer Mahlzeit pro Tag auch kostenfreie ärztliche Untersuchungen möglich sind, dass es Unterricht in Abendschulen und Hausaufgabenhilfe gibt, sodass diese Kinder etwas lernen und damit auch Hoffnung schöpfen können und in ihrem Leben wieder ein bisschen mehr Licht sehen. Mehr Hoffnung und Licht sind dringend nötig, denn leider hat sich, obwohl wir in vielen Bereichen der Entwicklungshilfe Erfolge haben, die Zahl der arbeitenden Kinder so gut wie nicht verändert. Ich weiß, dass sich diese Botschaft nicht allgemein irgendwohin richtet, sondern natürlich auch an uns als Politikerinnen und Politiker. Die Vereinten Nationen – es gehören fast alle Länder der Welt dazu – haben sich verpflichtet, Kinderarbeit bis 2025 abzuschaffen. Ehrlich gesagt: Wenn ich heute Kind wäre, dann könnte ich natürlich noch warten, aber dann wäre meine Kindheit vielleicht schon vorbei. Deshalb ist es richtig, dass ihr heute noch einmal den Finger in die Wunde legt. Der Kampf gegen Kinderarbeit ist natürlich nicht nur ein Kampf, der für sich allein geführt werden kann, sondern dazu gehören etwa auch Bildungsangebote und die Möglichkeit, ausreichend Nahrungsmittel und Zugang zur Gesundheitsversorgung zu haben. Dafür muss es eine ordentliche Wirtschaft geben. Für viele Kinder heißt das auch: es muss in ihrem Land erst einmal Frieden geben und darf nicht noch kriegerische Auseinandersetzungen geben. Ihr könnt daran sehen, wie viele Baustellen es für uns als Politiker gibt, wenn wir uns mit einem Land mit Kinderarbeit beschäftigen. Es gibt ja viele solcher Länder auf der Welt. Deshalb darf ich euch sagen: Wir kämpfen ganz besonders gegen ausbeuterische und gefährliche Formen der Kinderarbeit. Wir passen auf, dass weltweit allgemein gültige Regelungen zum Kinderschutz eingehalten werden. Denn es reicht natürlich nicht, eine Regel zum Beispiel durch die Vereinten Nationen zu erlassen, sondern man muss auch überprüfen, ob sie eingehalten wird. Es gibt zum Beispiel ein Programm zur Abschaffung von Kinderarbeit, das die Internationale Organisation für Arbeit, die ILO, aufgestellt hat. Wir haben als deutsche Regierung daran mitgearbeitet und haben dieses Programm mit 73 Millionen US-Dollar unterstützt. Wir haben als Bundesregierung im letzten Jahr einen Aktionsplan beschlossen, mit dem wir Kinder- und Jugendrechte in unserer Entwicklungszusammenarbeit mit den Partnerländern – also da, wo wir Entwicklungshilfe leisten – in den Mittelpunkt stellen. Wir müssen aber immer weiter am Ball bleiben. Deshalb finde ich es toll, dass ihr euch in diesem Jahr diesem Thema gewidmet habt und damit Kindern in Indien, aber auch generell einen Lichtblick gebt. Das Projekt ist so gut, dass ich hoffe, dass ihr da, wo ihr als Sternsinger schon wart, auch wirklich Unterstützung bekommen habt – ich weiß nicht, ob ihr noch ein bisschen herumzieht –, dass Menschen ihr Herz öffnen und sagen: Jawohl, zwar haben auch wir hier zu Hause viele Probleme – sie haben recht; wenn wir darum ringen, ob wir eine neue Regierung bilden können, dann stehen Kinderrechte auch in Deutschland ganz oben auf der Tagesordnung –, aber ein Blick hinaus in die Welt zeigt, dass wir nicht nur an uns denken dürfen, sondern auch anderen Kindern helfen müssen. Deshalb noch einmal: Herzlich willkommen, ganz herzlichen Dank und auch Dank dafür, dass ihr mit eurer Anwesenheit diesem Haus, in dem ja viele Menschen arbeiten, Segen gebt. Wir glauben, dass dieser Segen uns anspornt, noch mehr zu tun, damit die Welt ein bisschen besser wird, auch wenn sie viele, viele Probleme hat. Danke und herzlich willkommen.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Amtseinführung von Gesa Jeuthe als Junior-Professorin für Provenienzforschung
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-amtseinfuehrung-von-gesa-jeuthe-als-junior-professorin-fuer-provenienzforschung-803810
Sun, 08 Jan 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Hamburg
Kulturstaatsministerin
Wenn es noch einer Bestätigung bedurft hätte, dass die Provenienzforschung in den vergangenen Jahren einen enormen Zuwachs an Bedeutung wie auch an öffentlicher Aufmerksamkeit erfahren hat – die Documenta 2017 wäre dafür der beste Beweis. Gleich drei Künstlerinnen und Künstler haben sich in ihren Arbeiten den Themen Restitution und Raubkunst gewidmet, darunter die Berliner Konzeptkünstlerin Maria Eichhorn: Sie gründete ein eigenes Institut, das während der Documenta in der Neuen Galerie in Kassel untergebracht war, und rief Bürgerinnen und Bürger dazu auf, in privatem Besitz befindliche Kulturgüter zu melden, bei denen es sich möglicherweise um Raubkunst handeln könnte. Das Ziel: ein Bewusstsein für die Vergangenheit dubioser Erbstücke zu schaffen. „Wer die zähe Materie der Provenienzforschung auch nur in Ansätzen kennt, kann diesen Wunsch (…) bloß fromm‘ nennen“ war dazu treffend in der Presse zu lesen. Aber immerhin: Dass Künstlerinnen und Künstler sich dieses Themas annehmen, ist für sich genommen schon ein Zeichen eines breiteren gesellschaftlichen Bewusstseins für die Bedeutung von Provenienzforschung – und unterstreicht einmal mehr, wie wichtig es ist, dieses Thema als integralen Bestandteil des Fachs Kunstgeschichte in Forschung und Lehre zu verankern. Ein Meilenstein auf diesem Weg ist die Einrichtung der „Liebelt-Stiftungsprofessur für Provenienzforschung in Geschichte und Gegenwart“ an der Universität Hamburg, und ich freue mich sehr, dass ich Ihnen, liebe Frau Jeuthe, heute persönlich zur Amtseinführung gratulieren und Ihrer Antrittsvorlesung lauschen kann. Zuvor nutze ich gerne die Gelegenheit zu erläutern, wie wir politisch mit den Herausforderungen und Erwartungen im Spannungsfeld „Raubkunst und Restitution“ umgehen. Viel zu lange fragte bekanntlich niemand nach der Herkunft von Kunstwerken – auch beim Erwerb für öffentliche Sammlungen nicht. Erst mit der Washingtoner Erklärung aus dem Jahr 1998 hat sich das allmählich geändert. Heute, 20 Jahre später, ist es zum Glück weitgehend gesellschaftlicher Konsens, dass die rückhaltlose Aufarbeitung des nationalsozialistischen Kunstraubs eine immense Bedeutung hat. Hinter einem entzogenen, geraubten Kunstwerk steht immer auch das individuelle Schicksal eines Menschen. Diesen menschlichen Schicksalen wollen wir nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch gerecht werden. Es geht um die Anerkennung der Opferbiografien, um die Anerkennung des Leids und des Unrechts, dem Verfolgte des NS–Nationalsozialismus-Regimes, insbesondere jüdische Menschen, unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ausgesetzt waren. Deshalb fördert der Bund die Provenienzforschung. Die Mittel aus unserem Kulturetat für die dezentrale Suche nach NS–Nationalsozialismus-Raubkunst wurden in den vergangenen Jahren immer wieder erhöht. Ich habe das zur Verfügung stehende Budget mehr als verdreifacht gegenüber dem Haushaltsansatz bei meinem Amtsantritt. Wichtig war mir außerdem, die Rahmenbedingungen für Provenienzforschung und Restitution zu verbessern. Spätestens mit dem „Schwabinger Kunstfund“ vor vier Jahren war klar: Wir brauchen für die rückhaltlose Aufarbeitung des nationalsozialistischen Kunstraubs einen zentralen Ansprechpartner – eine Institution, die die Aktivitäten zur Suche nach NS–Nationalsozialismus-Raubkunst bündelt und koordiniert. Im Februar 2014 habe ich deshalb die Gründung eines Deutschen Zentrums Kulturgutverluste vorgeschlagen, das wir – Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände – in weniger als einem Jahr aufgebaut haben. Die Suche nach NS–Nationalsozialismus-Raubgut in Museen, Bibliotheken und Archiven und die Aufarbeitung des in seiner Systematik, in seinen Zielen und Auswirkungen einzigartigen NS–Nationalsozialismus-Kunstraubs zu unterstützen – das sind die Kernaufgaben des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste (DZK). Den wissenschaftlichen Hochschulen kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, und deshalb war die Verankerung der Provenienzforschung in Forschung und Ausbildung von Anfang an ein wesentlicher Gesichtspunkt, der Niederschlag in der Satzung des DZK gefunden hat. Denn ohne Ihre Expertise, meine Damen und Herren, ohne wissenschaftliches Know-how ist es unmöglich, die Herkunft eines Kunstwerks über Jahrzehnte zurück zu verfolgen und zweifelsfrei zu klären. Gerade weil es um so viel geht – auch um geschichtliche Aufarbeitung und Menschenwürde -, bedarf es der Standards der Wissenschaft. Provenienzrecherche ist eben in aller Regel viel mehr als Handwerk. Wissenschaftliches Know-how brauchen wir aber nicht nur an den Universitäten, sondern auch in der Praxis: in Museen, Archiven, Bibliotheken, im Umgang mit privaten und öffentlichen Sammlungen und auch im Kunsthandel. Deshalb müssen das erforderliche Wissen und die Sensibilität für die Aufgabe schon im Rahmen der wissenschaftlichen Ausbildung vermittelt werden. Nur so stärken wir die Provenienzforschung nachhaltig. Die Einrichtung von Professuren auf diesem Gebiet ist eine höchst erfreuliche Entwicklung, gerade weil der Bedarf an qualifizierten Forscherinnen und Forschern groß ist und für lange Zeit groß bleiben wird. Dabei darf Provenienzrecherche, auch wenn hier der Schwerpunkt liegt, sich nicht auf die Jahre 1933 bis 1945 beschränken, sondern muss auch die Zeit der Sowjetischen Besatzungszone und der ehemaligen DDR–Deutsche Demokratische Republik sowie die Kolonialzeit mit einschließen. Gerade in Bezug auf die Forderungen indigener Völker stehen wir noch ganz am Anfang der wissenschaftlichen und der politischen Diskussion. Das gilt auch für die Kulturgutverluste in der einstigen Sowjetischen Besatzungszone und der ehemaligen DDR–Deutsche Demokratische Republik. Deshalb bin ich froh und dankbar, dass die neu geschaffene Juniorprofessur in Hamburg ausdrücklich dem Ziel dient, „epochenunabhängige Provenienzforschung“ im Kanon der kunsthistorischen Forschung und Lehre zu verankern. Vor allem aber freue ich mich sehr, dass diese anspruchsvolle Aufgabe an der Universität Hamburg mit Ihrem Amtsantritt, liebe Frau Jeuthe, in den Händen einer engagierten und renommierten Wissenschaftlerin liegt, die gleichermaßen über Erfahrung in der Forschung wie in der Praxis der Provenienzrecherche verfügt und so optimale Voraussetzungen für die Verzahnung von Theorie und Praxis mitbringt – und die insbesondere dank ihres früheren verdienstvollen Engagements bei der Arbeitsstelle für Provenienzforschung, einer Vorläufereinrichtung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste, eine besondere Verbindung zur Arbeit der Stiftung hat. Das Zentrum soll ja seinem Auftrag entsprechend ein enger Kooperationspartner der neu entstehenden Stiftungsprofessuren und darüber hinaus der ganzen akademischen Welt sein und die Kommunikation, die Zusammenarbeit sowie die Auswertung und Dokumentation wissenschaftlicher Erkenntnisse verbessern. Die dadurch mögliche, stärkere Vernetzung des Wissens stärkt die Provenienzforschung insgesamt. Meine Hoffnung ist es daher, dass sich eine fruchtbare Zusammenarbeit der neuen Professuren mit Schwerpunkt Provenienzforschung in Deutschland sowohl untereinander als auch mit dem Zentrum entwickeln wird. Ob es um die Entwicklung internationaler Standards geht, um die Vernetzung von Wissen oder um Kulturgutverluste in unterschiedlichen historischen Zusammenhängen: Bei alledem sind Hochschulen oftmals auf Drittmittelfinanzierung und bürgerschaftliches Engagement angewiesen. Was für ein Glücksfall deshalb, dass Michael und Susanne Liebelt mit ihrer Stiftung die Einrichtung einer Juniorprofessur an der Universität Hamburg möglich machen! Was für ein ermutigendes Signal auch für die Zukunft der Provenienzforschung und für die damit bereits befassten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler! Und was für eine großartige Unterstützung insbesondere bei der Aufarbeitung des NS–Nationalsozialismus-Kunstraubs! Für Ihr Engagement danke ich Ihnen von Herzen, liebe Frau Liebelt, lieber Herr Liebelt! Mein besonderer Dank gilt auch der Universität Hamburg und insbesondere Ihnen, Herr Prof. Fleckner, für Ihren ganz wesentlichen Anteil bei der Einrichtung dieser Juniorprofessur und Ihre freundliche Einladung zu dieser Amtseinführung! Ein herzliches Dankeschön auch Ihnen, lieber Herr Professor Schneede, lieber Herr Professor Lupfer! Ohne Ihr unermüdliches Wirken und Werben und Ihren Einsatz für das Zentrum wären wir mit der Verankerung der Provenienzforschung in der Hochschulwelt im Allgemeinen und der Einrichtung von Stiftungsprofessuren im Besonderen längst nicht so weit, wie wir jetzt sind. Nicht zuletzt danke ich all jenen unter Ihnen, meine Damen und Herren, die als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mithelfen, der Provenienzforschung den ihrer rechtlichen und moralischen Bedeutung angemessenen Platz in der wissenschaftlichen Lehre und Forschung zu verschaffen. Es liegt jenseits unserer Möglichkeiten, das furchtbare Unrecht des NS–Nationalsozialismus-Regimes ungeschehen zu machen. Möglich ist aber die Aufarbeitung des NS–Nationalsozialismus-Kunstraubs – und sie verdient jede nur erdenkliche Anstrengung! Denn jedes einzelne Werk, dessen Provenienz geklärt und das vielleicht sogar restituiert werden kann, ist ein Mosaikstein unseres immer noch unvollständigen Bilds von der historischen Wahrheit. Es – wo immer möglich – zu ergänzen und die Wahrheit anzuerkennen, das sind und bleiben wir den ihres Eigentums und ihrer Rechte beraubten, von den Nationalsozialisten verfolgten und vielfach ermordeten Menschen schuldig – zumal in Zeiten, in denen der demokratische Konsens über unsere moralische Pflicht zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus von populistischen Hetzern öffentlich in Frage gestellt wird. Wir brauchen den unverstellten Blick auf die Wahrheit, um der immerwährenden Verantwortung für die Erinnerung an die Opfer gerecht zu werden, die das von Deutschen verschuldete, unermessliche Leid und Unrecht uns auferlegt. Ich bin sicher, die Stiftungsprofessur für Provenienzforschung wird dazu beitragen, und ich wünsche Ihnen, liebe Frau Jeuthe, dass Sie die mit dieser verantwortungsvollen Aufgabe verbundenen Hoffnungen und Erwartungen nicht als Last, sondern als Ansporn empfinden. Herzlichen Glückwunsch zum Amtsantritt als erste Juniorprofessorin für Provenienzforschung in Deutschland und viel Erfolg für Ihre Arbeit!
Es sei wichtig, die Thema Provenienzforschnug in Forschung und Lehre zu verankern, betonte Kulturstaatsministeirn Grütters bei der Einführung von Frau Professorin Juthe ikn ihr Amt. „Gerade weil es um so viel geht – auch um geschichtliche Aufarbeitung und Menschenwürde – bedarf es wissenschaftlicher Standards“, so Grütters, schon im Rahmen der Ausbildung. Die Einrichtung der Professur sei „ein Meilenstein“. Grütters dankte auch dem Ehepaar Liebelt als Stifter der Professur.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Empfang für Angehörige von Soldaten der Bundeswehr sowie von Polizisten im Auslandseinsatz am 12. Dezember 2017 im Bundeskanzleramt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-empfang-fuer-angehoerige-von-soldaten-der-bundeswehr-sowie-von-polizisten-im-auslandseinsatz-am-12-dezember-2017-im-bundeskanzleramt-319316
Tue, 12 Dec 2017 11:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Ich möchte Sie, liebe Angehörige von Soldatinnen und Soldaten, von Polizistinnen und Polizisten, und vor allem euch, liebe Kinder, ganz herzlich im Namen der ganzen Bundesregierung begrüßen. Der Bundesinnenminister, Thomas de Maizière, ist da; der Generalinspekteur, Herr Wieker, ist da. Die Verteidigungsministerin habe ich gebeten, im Parlament zu bleiben, weil am heutigen Tag über Mandate für Auslandseinsätze abgestimmt wird. Wir haben gegenüber dem Parlament gesagt, dass ich Sie als Angehörige heute empfange. Ich bin gebeten worden, Ihnen ganz herzliche Grüße vom Bundestag zu übermitteln, zumindest von denen, die mit „Ja“ stimmen und diese Mandate unterstützen. Das möchte ich auch gleich als Erstes tun. Heute ist ein geradezu symbolträchtiger Tag, weil jede halbe Stunde über etwas anderes abgestimmt wird. Dieser Empfang ist inzwischen eine Tradition. Wir wissen, dass gerade auch in der Vorweihnachtszeit die Familie natürlich eine Riesenrolle spielt und dass es für Sie natürlich auch eine besondere Zeit ist, wenn die Väter oder die Söhne oder Töchter, zu denen ja eine besonders enge Verbindung besteht, nicht da sein können. Da trifft es sich gut, dass ich heute Nachmittag eine Videoschaltung in alle Einsatzorte haben werde, also mit Vertretern aller Soldatinnen und Soldaten sprechen werde, die in Auslandseinsätzen sind. Wir wollen einfach deutlich machen, dass wir wissen, dass die einen auf der einen Seite einen besonderen Dienst leisten und sie auf der anderen Seite eben auch die Unterstützung ihrer Familien haben. Wir wissen, dass das sehr viel wert ist, dass das wichtig ist und dass Sie als Familien auch irgendwie am Dienst teilnehmen, weil der Einsatz natürlich auch auf Ihr Leben sich auswirkt und Sie bewegt. Deshalb ist es im Gespräch für mich immer wieder eine sehr gute Erfahrung, zu hören, wie der Einsatz aus Ihrer Perspektive wahrgenommen wird, was man besser machen kann, was man verändern muss. Wir haben dazu schon eine ganze Menge auf den Weg gebracht. Ich denke, General Wieker ist ein Generalinspekteur, der die Belange nicht nur der Soldaten, sondern auch der Familien sehr ernst nimmt. Ich möchte einfach die Gelegenheit hier nutzen, auch vor der Presse danke zu sagen – danke dafür, dass Sie Ihre Angehörigen unterstützen, dass Sie damit auch einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass viele, viele Menschen in Deutschland sicher leben können. Wir wissen, wie eng Sicherheit bei uns und Sicherheit im Ausland miteinander verknüpft sind. Sie hören auch vieles über das Elend in der Welt, darüber, wie die Lebensbedingungen anderswo sind und wie viel wir noch zu tun haben. Dann wird uns manchmal bei aller Kritik, die wir an Deutschland haben, vielleicht auch bewusst, dass wir hier schon noch ein relativ sicheres und vernünftiges Eckchen haben, wo wir uns manches aufbauen konnten, aber natürlich auch immer wieder dafür arbeiten müssen, dass das so bleibt. Ich sage also danke aus vollem Herzen und freue mich, dass wir jetzt miteinander ins Gespräch kommen. Seien Sie versichert – Sie stehen hier ja für viele Tausende von Angehörigen –, dass Sie auch deren Botschafter sind und dass das, was Sie heute vorbringen, natürlich stellvertretend für viele andere gesagt wird. Herzlichen Dank dafür, dass Sie gekommen sind, und vor allem dafür, dass Sie Ihre Angehörigen unterstützen.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Eröffnung der Ausstellung „Welcome to Jerusalem“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-eroeffnung-der-ausstellung-welcome-to-jerusalem–431414
Sun, 10 Dec 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Leschana haba’ah BeJeruschalaim!“ Nächstes Jahr in Jerusalem! So lautet der traditionelle Wunsch am Sederabend, dem Auftakt des jüdischen Pessachfestes, das an den Auszug der Israeliten aus Ägypten erinnert. Es ist eine große Sehnsucht nach Freiheit, die in diesem Festtagswunsch zum Ausdruck kommt: Jerusalem als Ort der Erlösung von Sklaverei und von den Strapazen der Flucht aus ägyptischer Knechtschaft. Doch gibt es nicht nur dieses eine Jerusalem, das als jüdische Heimstätte, als Zentrum des alten Königreichs Juda und Ort des Tempels eine fundamentale Rolle in der jüdischen Tradition spielt. Auch das Christentum und der Islam haben sich über Jahrhunderte auf eindringlichste Weise mit ihrem jeweiligen Jerusalem befasst: Muslime nennen Jerusalem Al Quds,die Heilige: Es ist die drittheiligste Stadt im Islam nach Mekka und Medina. Von hier aus soll Mohammed laut islamischer Überlieferung für einen Tag in den Himmel geritten sein, um den Koran in Empfang zu nehmen. Für Christen wiederum ist Jerusalem die Stadt der Passion Jesu, und das himmlische Jerusalem, als Sehnsuchtsort in der Offenbarung des Johannes beschrieben, ist seit jeher Motiv in der christlichen Kunst und Theologie: In nahezu jeder christlichen Kirche findet man eine Darstellung des himmlischen Jerusalems etwa in der Gestaltung von Tabernakeln oder Fenstern, aber auch als Bild oder Mosaik, und zu den Künstlern, die sich diesem Motiv gewidmet haben, zählt unter vielen nicht zuletzt ein Meister wie Albrecht Dürer. Ja, Jerusalem ist ein, wenn nicht der identitätsstiftende Sehnsuchtsort für Gläubige der drei abrahamitischen Religionen und damit für Menschen auf der ganzen Welt – auch für Menschen hier in Berlin, der Stadt der religiösen und kulturellen Vielfalt, wo Christen, Muslime und heute zum Glück auch wieder viele Juden friedlich zusammenleben. Es ist deshalb eine großartige Idee, die „Heilige Stadt“ mit einem warmen „Welcome to Jerusalem“ an die Spree zu bringen und damit die bevorstehende Umbauphase des Libeskind-Baus zu überbrücken. Denn das Jüdische Museum Berlin steht vor großen Herausforderungen: Für die 18 Monate währende Schließzeit, in der die bisherige, publikumsstarke Dauerausstellung von einer neuen, den heutigen Sehgewohnheiten angepassten Dauerausstellung abgelöst wird, braucht es attraktive Angebote, die Besucherinnen und Besucher auch weiterhin in das Museum zu locken. Mein Haus unterstützt das Jüdische Museum Berlin mit einer Sonderförderung in Höhe von immerhin rund 22 Millionen Euro für die Gestaltung einer neuen Dauerausstellung, für den Bau eines Kindermuseums in der ehemaligen Blumengroßmarkthalle und für die Sonderausstellung, die wir eben heute eröffnen. Nach einem ersten Rundgang durch die Ausstellung bin ich mir sicher: Wer sich für Geschichte und Kultur interessiert, der wird auch während der Zeit des Umbaus sehr viel geboten bekommen! „Welcome to Jerusalem“ ist eine spannende und lehrreiche Annäherung an die komplexe Geschichte, an das vielförmige Wesen Jerusalems: an eine Stadt, in der Geschichte und Gegenwart, Religion und Politik unauflöslich miteinander verflochten sind; an eine Stadt, die gerade deshalb im Mittelpunkt des ebenso leidvollen wie langwierigen Nahostkonflikts steht, der seit Jahrzehnten (und auch in den vergangenen Tagen wieder) die Schlagzeilen beherrscht. Gerade den Einblick in die heutige Lebenswirklichkeit der Stadt, den die Ausstellung etwa mit Szenen aus der Echtzeit-Videoinstallation „24h Jerusalem“ der Filmemacher Volker Heise und Thomas Kufus gewährt, finde ich sehr beeindruckend. Sie führt uns vor Augen, wie vielschichtig die – einander häufig ausschließenden – kulturellen Bezüge, die politischen Ansprüche und die gewaltsamen Konflikte in und um Jerusalem tatsächlich sind. Die Ausstellung ist damit auch ein erhellender Beitrag für ein besseres Verständnis der Konflikte im Nahen Osten – und eine mahnende Erinnerung daran, welch kostbare Errungenschaft es ist, in religiöser Vielfalt friedlich zusammenleben zu können. Obwohl die tagespolitische Bestandsaufnahme eher düster scheint, spiegelt die Ausstellung dennoch den Glanz und die besondere Bedeutung Jerusalems. Ab April des kommenden Jahres erwartet die Museumsbesucher außerdem ein weiterer, buchstäblich strahlender Höhepunkt: Das Lichtkunstwerk „Aural“ des bedeutenden Künstlers James Turrell, das seinen Platz in einem temporären Bau im Garten des Museums finden soll. Turrell macht das Licht zum zentralen Thema und reflektiert so auch die jüdische Vorstellung von der Schöpfung, die ja mit der Erschaffung des Lichts begann. In der Literatur wird für die Beschreibung Israels und auch Jerusalems oft die Metapher des Kaleidoskops herangezogen. Ein schönes und passendes Bild, wie ich finde: Denn Jerusalem, mit all seiner Geschichte, Kultur und seinen Konflikten, mag dem durch das Kaleidoskop gen Nahost blickenden Auge zunächst als undurchdringbare und zugleich faszinierende Ansammlung vielfältiger Kristalle erscheinen. Ja, es gibt vielleicht kaum eine andere Stadt auf der Welt, die so viele Gefühle auslöst, bedingt durch religiöse, kulturelle und politische Ansprüche. Wenn Sie, verehrte Damen und Herren, nun durch das sinnbildhafte Kaleidoskop des Jüdischen Museums Berlin nach Jerusalem blicken, werden sich Ihnen gewiss neue Welten auftun, werden sich Ihnen Zusammenhänge zu einem funkelnden und facettenreichen Bild erschließen. In diesem Sinne: Leschana haba’ah Bamuseion Hajehudi BeBerlin! Nächstes Jahr im Jüdischen Museum Berlin! Bleiben Sie dem Haus und seinem bemerkenswerten Angebot auch während der Umbauphase treu!
Bei der Eröffnung der Ausstellung „Welcome to Jerusalem“ hat Kulturstaatsministerin Grütters hervorgehoben, welch großen Stellenwert die Stadt für Juden, Christen und Muslime hat. Die Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin „ist eine spannende und lehrreiche Annäherung an die komplexe Geschichte, an das vielförmige Wesen Jerusalems“, so Grütters, „ein erhellender Beitrag für ein besseres Verständnis der Konflikte im Nahen Osten.“
Speech by Minister of State Monika Grütters, Federal Government Commissioner for Culture and the Media, for the 30th anniversary of the European Film Awards
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/speech-by-minister-of-state-monika-gruetters-federal-government-commissioner-for-culture-and-the-media-for-the-30th-anniversary-of-the-european-film-awards-797086
Sat, 09 Dec 2017 00:00:00 +0100
Berlin
Kulturstaatsministerin
„I can’t find Potsdamer Platz. No, I think it was here … But this can’t be it!“ These are the words of Homer, the aged poet in Wim Wender’s masterpiece “Wings of Desire”, as he wanders along the Berlin Wall across the wasteland of Potsdamer Platz in search of the legendary Café Josty, where artists and bohemians gathered in 1920s Berlin. For his role as Homer, the great actor Curt Bois won the award for Best Supporting Actor – at the first European Film Awards 30 years ago, at the Theater des Westens here in Berlin, at a time when almost no one dared to hope that the Berlin Wall would fall only a few years later. The way the German capital has developed since then is an example of the diversity, including artistic diversity, which can flourish in freedom and openness to the world. So it is very fitting that we are celebrating the 30th anniversary of the European Film Awards again in Berlin! Thirty years ago, German, Italian, Soviet, Polish and film-makers from a few other European countries wanted to express their faith in the power of art and courage to transgress boundaries, and so they founded the European Film Academy. Their project was an enormous success: The European Film Academy today has more than 3,000 members all over Europe and reflects Europe’s unique unity in diversity. The European Film Awards are known throughout the world for this diversity in cinema art. Again today, we need the courage and enthusiasm of art – especially at a time when Europe is facing serious political challenges and must prove itself again able to overcome them. Culture is the most important builder of bridges in Europe. Cultural policy and the framework it defines should, indeed must, express this. So I consider it a major triumph that the European Parliament’s Committee on Legal Affairs last month came round to our position on territorial exclusivity, as the European Commission’s proposed regulation would have threatened the financial viability of the audiovisual sector. This is a clear vote in favour of giving producers and creators greater freedom to act, and as we know, they are the ones who guarantee the diversity of media and culture in Europe. That is what the enormous artistic range of the European co-productions nominated today stands for. With their diversity of themes and stories, they convincingly convey the European idea to the rest of the world. So I am grateful to the visionary founders and enthusiastic supporters of the European Film Academy, who more than 30 years ago cast their eyes beyond the “heavens over Berlin” to the “heavens over Europe”. For more than three decades, the European Film Awards have not only created many stars. The founding of these awards during the Cold War, their anticipation of European unification continues to inspire us to reach for the stars – and to dare, with the power of art, what seems impossible. Congratulations on this 30th anniversary!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung der Schnellfahrstrecke München-Berlin am 8. Dezember 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-eroeffnung-der-schnellfahrstrecke-muenchen-berlin-am-8-dezember-2017-in-berlin-426092
Fri, 08 Dec 2017 16:55:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Verkehr und digitale Infrastruktur
Lieber Herr Lutz, sehr geehrte Vorstände der Bahn, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, sehr geehrte Herren Ministerpräsidenten, Minister, Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, den Landtagen und dem Europäischen Parlament, sehr geehrte Damen und Herren, vor allem liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahn sowie diejenigen, die als Bauleute mitgewirkt und auch zum Erfolg beigetragen haben, ich bin natürlich froh, ein weiteres Verkehrsprojekt Deutsche Einheit einweihen zu können. Als jemand, der aus Mecklenburg-Vorpommern kommt, brauche ich auch Erfolgserlebnisse, denn wir haben mit unserem Verkehrsprojekt Deutsche Einheit im Augenblick ein paar Probleme. Ich freue mich natürlich, dass auch Bayern von den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit schön profitieren kann. Alles in allem wissen wir: Die Bahn verbindet. Die heutige Einweihung ist ein Beispiel dafür. In der Tat feiern wir heute den Abschluss eines bahnbrechenden Verkehrsprojekts, das seinesgleichen sucht: 230 Kilometer Neubaustrecke, 270 Kilometer Ausbaustrecke, 27 Tunnel, 37 Talbrücken, 4.500 Mitarbeiter. Ich durfte Herrn Drescher kurz kennenlernen. Ich sage danke dafür, dass Sie die zehn Milliarden Euro gut in etwas umgesetzt haben, das Menschen in Zukunft im wahrsten Sinne des Wortes wirklich besser miteinander verbindet. Dank modernster Technologie ist es jetzt möglich, mit einer Geschwindigkeit bis zu 300 km/h in vier statt bisher sechs Stunden von Berlin nach München zu fahren. In Konfliktfällen sind wir also schnell beieinander, aber natürlich auch, wenn wir nacheinander Sehnsucht haben. Das kann es ja auch einmal geben. Der irische Mathematiker Dionysius Lardner vertrat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch die Ansicht: „Das Reisen mit der Eisenbahn bei hoher Geschwindigkeit ist nicht möglich, da Passagiere, unfähig zu atmen, ersticken würden.“ So kann man sich täuschen. Ihm würde allenfalls die Luft wegbleiben, wenn er sehen könnte, was heute eben doch möglich ist. Es ist aber wirklich atemberaubend, was mit diesem Verkehrsprojekt Deutsche Einheit geschaffen wurde. Es geht um mehr als nur um Daten und Zahlen. VDE 8 – der Projektname ist kurz, der Etappenschritt zu moderner Mobilität aber groß. Unter dem Stichwort „modern“ kann man sich vieles vorstellen. Im Verkehrsbereich erweist sich das als modern, das vor allem drei Herausforderungen gerecht wird: dem rasanten Wachstum des Verkehrsaufkommens, der Digitalisierung und – Herr Lutz hat es eben schon gesagt – dem Klimaschutz. Zum ersten Punkt: Die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas brachte vieles in Bewegung – in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und natürlich auch im Verkehr. Mit der neu gewonnenen Bewegungsfreiheit und dem wirtschaftlichen Auf- und Umbau in den neuen Ländern ging ein starkes Verkehrswachstum einher. (Windböen kommen auf) – War nicht ein sturmfreier Tag heute vorausgesagt? Na gut, schauen wir einmal, dass ich fertig werde. – Unser Land – das kann man ja wirklich sehen – ist nach und nach zusammengewachsen; eben auch durch neue Verkehrsprojekte, insbesondere durch die insgesamt 17 Verkehrsprojekte Deutsche Einheit mit Planungsbeschleunigungen und einer wirklich guten Umsetzung. Ein Ende des Verkehrswachstums ist überhaupt nicht in Sicht. Mobilität ist ja Ausdruck einer prosperierenden Entwicklung unseres Landes; und sie ist zugleich eine wesentliche Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg. Deutschland verfügt über eines der dichtesten und besten Verkehrsnetze weltweit. Aber wir wissen: dieses müssen wir modernisieren und bedarfsgerecht weiterentwickeln, auch weil wir mit einer günstigen Lage in der Mitte Europas als Verkehrsdrehscheibe vieler anderer Länder gefragt sind. Hierbei ist der Schienenverkehr in einer Schlüsselposition. Wir brauchen einen leistungsfähigen Schienenverkehr. Die Schnellfahrstrecke, die wir heute eröffnen, ist enorm leistungsfähig – und damit eben auch konkurrenzfähig zum Verkehrsträger Flugzeug und allemal zum Verkehrsträger Straße. Aber auch ein modernes, gut ausgebautes Schienennetz wird den Verkehr auf der Straße, in der Luft oder zu Wasser natürlich nicht ersetzen können. Deshalb ist die Verkehrspolitik der Bundesregierung auf alle Bereiche ausgerichtet. Wir haben die Investitionsmittel aufgestockt. Wir haben im Augenblick eher Planungsnadelöhre als zu wenig Geld, um Mobilität besser zu realisieren. Wir unterstützen natürlich auch die regionalen Verkehrsverbünde, zum Beispiel den regionalen Schienenverkehr. Der zweite Punkt, den ich erwähnte, ist die Digitalisierung. Hierbei leistet diese Strecke Pionierleistungen, auch wenn man die Chancen der Digitalisierung beim Start des VDE 8 vor über einem Vierteljahrhundert ja noch gar nicht sehen konnte. Die Digitalisierung ist sozusagen in der Projektentwicklung mit gewachsen. Dafür bin ich sehr, sehr dankbar. Diese Strecke ist jetzt sozusagen eine Pilotstrecke, um zu zeigen, wie Verkehr in Zukunft ablaufen kann. Sich smarte Logistik einmal näher anzuschauen und sich damit vertraut zu machen, ist sicherlich eine sehr, sehr spannende Sache. Vielen aber macht es heute noch Angst, wenn man von autonomen Systemen oder selbstfahrenden Lokomotiven spricht, wenn man sagt, es gebe keine Signalstruktur klassischer Art mehr. Natürlich wird es auch Veränderungen in den Berufsbildern geben. Aber ich glaube, die Bahn zeigt, wie sie die Menschen auch im Hinblick auf neue Technologien Schritt für Schritt mitnimmt. Das bietet viele neue Chancen. Mobilität ist im Grunde auch eine Leistung, die man auf Plattformen anbietet und die vernetzt ist. Es gibt nicht den einen Verkehrsträger, sondern das Spannende an Mobilität ist, dass man sich sozusagen seine eigene Mobilität, wenn man von A nach B möchte, selbst zusammenstellen kann. Apps und Sharing-Angebote werden nicht nur von der Deutschen Bahn aufgenommen, sondern natürlich auch von anderen. Ich weiß nicht, ob der Wettbewerbskommissar oder jemand von der Wettbewerbsdirektion der Europäischen Union hier ist, aber wir werden noch manche kartellrechtliche Frage miteinander zu klären haben. Die Deutsche Bahn hat im bayerischen Bad Birnbach vor wenigen Wochen den deutschlandweit ersten autonom fahrenden Pendelbus im öffentlichen Verkehr in Betrieb genommen. Ich bin mir sicher: solche Projekte werden auch in Zukunft Furore machen. Die Deutsche Bahn hat jetzt auch ein weibliches Vorstandsmitglied: Frau Jeschke. Ich weiß nicht, ob sie noch hier ist oder schon weiter digitalisiert. Sie ist jedenfalls Expertin für künstliche Intelligenz und das Internet der Dinge. Ich halte diese Besetzung für strategisch absolut richtig und glaube, dass sie eine wichtige Weichenstellung in umfassendem Sinne ist. Um die Chancen der Digitalisierung im Verkehr nutzen zu können, gehört natürlich auch, dass wir den Breitbandausbau ordentlich realisieren und auch gesetzgeberisch Schritt halten. Ich weiß, dass der frühere Verkehrsminister Alexander Dobrindt, der ja heute auch da ist, sehr viel in moderne Formen der Mobilität investiert hat. Zum Klimaschutz. Herr Lutz hat es gesagt: die Bahn fühlt sich dem Klimaschutz verpflichtet. Der Verkehrsträger Schiene ist bereits relativ umweltfreundlich. Die Bahn versucht nun auch deutlich zu machen, dass sich die Umweltfreundlichkeit auch aus regenerativen Energien speisen sollte. Ich bin sehr dankbar dafür, dass der Personenfernverkehr ab 2018 CO2-frei erfolgen soll. Natürlich brauchen wir all diese Neuerungen auch beim Güterverkehr. Das neue Streckenangebot erleichtert die Verlagerung auf die Schiene. Auch deshalb ist das ein wichtiger Schritt. Natürlich gab es auch Kritik an diesem Projekt. Prominente Kritiker sind auch hier heute unter uns. Viele fragten sich, ob der Aufwand, die hohen Kosten und die lange Bauzeit angemessen sind. Natürlich gab es dann auch immer wieder eine Generaldebatte über große Infrastrukturprojekte. Ich glaube, dass diese Debatte auch öffentlich geführt werden muss. Aber ich glaube auch, dass wir in der Lage sein müssen, im 21. Jahrhundert neue Großprojekte zu realisieren, wenn wir mit der Zeit Schritt halten wollen. Insofern sage ich: dies ist heute ein guter Tag für die Menschen, die diese Strecke nutzen werden – auch für die Möglichkeit, Güter zu transportieren. Sie ist ein Pilotprojekt für neue Technologien – siehe Digitalisierung – und auch ein Beitrag zum Umweltschutz. Deshalb Gratulation an alle: vor allem an die, die die Brücken gebaut haben, die die Tunnel gebaut haben, die die Schienen bei Wind und Wetter verlegt haben. Das war harte Arbeit, das war tolle Arbeit. Danke dafür, dass wir heute mit Ihnen feiern können. Herzlichen Dank.
Dankesrede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Auszeichnung mit dem Julius-Campe-Preis
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/dankesrede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-auszeichnung-mit-dem-julius-campe-preis-431398
Thu, 07 Dec 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Im Kulturressort hat man zwar bedauerlicherweise nicht den größten Etat und nicht die üppigste Personalausstattung – aber auf alle Fälle die schönsten dienstlichen Termine. Da kommt im Kabinett manchmal gar ein wenig Neid auf unter den Kolleginnen und Kollegen… Wer würde nicht lieber die Buchmesse besuchen als eine Industriemesse? Wer würde nicht lieber eine Kleist-Ausstellung eröffnen als einen neuen Autobahnabschnitt? Wer würde nicht lieber mit Preisen zur Förderung der literarischen Vielfalt glänzen als mit der Forderung, Wortschöpfungen wie „vegane Currywurst“ aus dem Marketing für Fleischersatzprodukte zu verbannen? Und wer würde nicht lieber mit dem Julius-Campe-Preis ausgezeichnet statt mit dem Prädikat „Sprachpanscher des Jahres“ (wie eine Kabinettskollegin für ihre guten, aber unnötig häufig auf Englisch gehaltenen Reden)? Kurz und gut: Mein Amt ist – zumindest aus meiner Sicht – das schönste, das im Bundeskabinett zu besetzen ist, und ich könnte mir, Kunst- und Kulturliebhaberin die ich bin und immer war, keine angenehmeren Pflichten vorstellen als die der Staatsministerin für Kultur und Medien. Eben deshalb hatte ich zunächst Hemmungen, die besondere, die ehrenvolle Auszeichnung anzunehmen, die der Hoffmann und Campe-Verlag mir zugedacht hat: Denn sie gilt dem Engagement in der Literaturvermittlung im Allgemeinen und der Einführung des Deutschen Buchhandlungspreises im Besonderen, sie gilt also meinen Amtspflichten – und gerade als Politikerin, als Politiker muss man nun wahrlich keinen Preis dafür bekommen, dass man schlicht und einfach seinen Job macht … einerseits. Andererseits lehnt man die Lorbeeren eines renommierten Verlags, die schon viele illustre Häupter geschmückt haben und die selbst der ewig nörgelnde Preis-Verächter Thomas Bernhard mit für ihn eher untypischer Freude angenommen hat, nicht einfach ab. Erst recht nicht dann, wenn damit auch diejenigen ins Rampenlicht rücken, die diese Lorbeeren für herausragende Verdienste in der Literaturvermittlung nun wahrlich und viel mehr als ich verdient haben: die Buchhändlerinnen und Buchhändler in den kleinen, inhabergeführten Buchhandlungen, die zweifellos zu den wackersten Literaturvermittlern in unserem Land gehören. Stellvertretend für sie alle nehme ich den Julius-Campe-Preis für die Einführung des Deutschen Buchhandlungspreises heute mit großer Freude an und danke Ihnen herzlich für diese Auszeichnung – lieber Herr Kampa, liebe Frau Schmitz – und für Ihre würdigenden Worte, lieber Herr Riethmüller. Und eben jenen Buchhändlerinnen und Buchhändlern, die sich in Zeiten digitaler Konkurrenz mehr denn je ins Zeug legen müssen, um sich als Unternehmen ebenso wie als Kulturorte behaupten zu können, sei auch meine Dankesrede gewidmet – anknüpfend an den Deutschen Buchhandlungspreis, den ich vor drei Jahren ins Leben gerufen habe: als öffentlicher Ausdruck der Wertschätzung für inhabergeführte Buchhandlungen, aber auch als öffentliche Kampfansage gegen die Degradierung eines Kulturguts zur bloßen Handelsware, gegen die Bewirtschaftung einer geistigen Monokultur, in der nur noch das überlebt, was hohe Verkaufszahlen garantiert. Auf die Verdienste der Buchhandlungen um die literarische und verlegerische Vielfalt in Deutschland mit einem Buchhandlungspreis aufmerksam zu machen, war eine jener Ideen, bei denen man sich hinterher fragt, warum man darauf eigentlich nicht schon viel früher gekommen ist. Schon als ich ins Amt kam, gab es ja etliche Bundeskulturpreise für Theater, Kinos, Musikclubs – als Unterstützung und Ermutigung für die zahlreichen Kleinkultur-Einrichtungen, in denen wahre Liebhaber am Werk sind und mit viel Herzblut und persönlichem Einsatz dafür sorgen, dass es in Deutschland auch fern der Metropolen ein großartiges Kulturangebot auf hohem professionellen Niveau für alle Bürgerinnen und Bürger gibt. In dieser Reihe der für preiswürdig befundenen Kulturorte habe ich die inhabergeführten Buchhandlungen schmerzlich vermisst: Denn ich persönlich habe in meiner Wahlheimat Berlin, in meiner Heimatstadt Münster und an meinem Urlaubsort in Bayern meine „Stamm-Buchhandlungen“, wo ich mir als unersättliche Leserin steten Nachschub an Lesestoff besorge. Und meistens ist es so, dass ich, wenn ich ein Buch kaufen will, mit dreien wieder raus komme. Zu diesem „literarischen Beifang“ gehörte beispielsweise einmal das Buch „Die souveräne Leserin“ des britischen Autors Alan Bennett, das Inka Selle-Cordes mir vor Jahren empfohlen hat – eine Buchhändlerin mit Leib und Seele, die ihre kleine Einzimmer-Buchhandlung „Die Biographische“ direkt neben meinem Wohnhaus in Berlin-Wilmersdorf mittlerweile leider aus Altersgründen aufgeben musste. „Die souveräne Leserin“ – viele von Ihnen kennen dieses Buch bestimmt – erzählt von einer Frau, die in hohem Alter das Lesen für sich entdeckt, was insofern besonders charmant ist, als es sich dabei um die Queen handelt, deren Leseexpeditionen nicht nur sie selbst verändern, sondern zunehmend auch die Konventionen der Monarchie sprengen. Ihrem irritierten Privatsekretär erklärt sie den Unterschied zwischen Information und Lektüre, ich zitiere: „Informieren ist nicht gleich Lesen. Es ist im Grunde sogar der Gegenpol des Lesens. Information ist kurz, bündig und sachlich. Lesen ist ungeordnet, diskursiv und eine ständige Einladung. Information schließt ein Thema ab, Lesen eröffnet es.“ Damit ist ziemlich präzise zusammengefasst, warum Bücher nicht trotz, sondern gerade wegen der täglich über uns hereinbrechenden digitalen Informationsfluten Raum und Zeit in unserem Leben verdienen, warum es so wichtig ist, Menschen fürs Lesen begeistern und die Lesekultur fördern – und warum es höchste Zeit wurde, diejenigen, die das tun, mit einem Bundeskulturpreis zu ehren. Die Buchhändlerinnen und Buchhändler, die wir in den vergangenen Jahren mit dem Deutschen Buchhandlungspreis ausgezeichnet haben, sorgen dafür, dass es „souveräne Leserinnen“ – und souveräne Leser – gibt, die sich auf die Einladung zum „ungeordneten“ Lesen einlassen, die Information und Lektüre unterscheiden können und die das eine wie das andere – die informativen Antworten genauso wie die beim Bücherlesen aufkommenden Fragen – zu schätzen wissen. Die von uns ausgezeichneten Buchhändler sind „Überzeugungstäter“ aus Liebe zum Buch: missionarisch im besten Sinne, als Fürsprecher auch unbekannter Autorinnen und Autoren, als Botschafter unabhängiger Verlage. Sie sind dabei mit Freude am Werk statt mit teils kuriosen Produktempfehlungen nach dem Motto „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch …“ Und sie verfügen über die Leseerfahrung, die es braucht, um jenseits des überschaubaren, von Bestsellerlisten abgesteckten Lese-Terrains verlässliche Lotsen auf geistigem Neuland zu sein. Ihre Läden sind sorgsam gehegte, geistige Schatzkammern, in denen man beim Stöbern die Zeit vergisst, Lieblingsautorinnen und -autoren bei Lesungen neu kennenlernt und sich gerne zu literarischen Lustkäufen verführen lässt – geistige Schatzkammern, die der literarischen und verlegerischen Vielfalt Raum geben. Deshalb freue ich mich sehr, dass der Deutsche Buchhandlungspreis so viel Zuspruch bekommt – sei es in Form der engagierten Bewerbungen, die jedes Jahr eingehen, sei es in Form der Berichterstattung in regionalen, aber auch überregionalen Medien, sei es in Form des Julius-Campe-Preises, dessen Glanz auch die Strahlkraft des Buchhandlungspreises mehrt, denn welcher Preis kann schon von sich behaupten, seinerseits mit einem Preis bedacht worden zu sein? Nicht zuletzt, meine Damen und Herren, bedeutet dieser Preis mir persönlich auch deshalb viel, weil er der im wahrsten Sinne des Wortes Welt-bewegenden Kraft der Literatur ein wunderbares Denkmal setzt. Ein beglückendes Gedicht, einen geistreich funkelnden Essay oder einen fantastischen Roman zu lesen, hat etwas Wohltuendes, ja beinahe Tröstliches in einer Zeit, in der die dunkle Macht dumpfer Worte Köpfe, Herzen und den öffentlichen Raum zu erobern scheint: in den Parolen pöbelnder Horden vor Flüchtlingsunterkünften; in den Tiraden geistiger Brandstifter im Internet; in einer öffentlichen Rede- und Debattenkultur, in der Verständigung zwischen verhärteten Fronten kaum noch möglich scheint. In ihrem souveränen Umgang mit dem unerschöpflichen Reservoir sprachlicher Möglichkeiten sind es wortmächtige Dichter und Denker, die Zweifel säen können an marktschreierischer Sprache und verkrusteten Weltbildern – und die damit zur freien Meinungsbildung und zu einer aufgeklärten, kritischen Öffentlichkeit beitragen. Demokratie – so hat einer der mein Leben prägenden Autoren, Jean Paul, das schon vor 200 Jahren so treffend formuliert – „Demokratie ohne ein paar hundert Widersprechkünstler ist undenkbar.“ Literatur kann denen eine Stimme geben, die sonst kein Gehör finden. Sie kann uns nötigen, die Perspektive zu wechseln und die Welt aus anderen Augen zu sehen. Deshalb bleibt es mir – in welcher künftigen Funktion auch immer – ein Herzensanliegen, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Verlage wie für die Autoren stimmen – dass wir einen fruchtbaren Boden haben, in dem verlegerische Vielfalt und literarische Freiheit auch in Zukunft gedeihen können. Der bis heute unabhängige Hoffmann und Campe-Verlag steht mit seiner Tradition und nicht zuletzt auch mit vielen großen Namen deutscher Literaturgeschichte beispielhaft für die Bedeutung literarischer Freiheit und verlegerischer Vielfalt in einer Demokratie. Zu den Autoren, die Julius Campe „entdeckt“ – heute würde man wohl sagen „groß rausgebracht“ – hat, als er den Verlag im Vormärz zu einem Zentrum liberaler, oppositioneller Literatur ausbaute, zu diesen Autoren gehört Heinrich Heine. Heinrich Heine hat nicht nur die Welt der Bücher zutreffend beschrieben als die gewaltigste aller Welten, die der Mensch erschaffen hat. Er hat uns in dieser gewaltigen Welt der Bücher – dank Julius Campe – auch ein beeindruckendes Lebenswerk hinterlassen und darüber hinaus eine Notiz, die sich im Lichte der aktuellen politischen Verhältnisse wie eine hellsichtige Analyse des zähen Verhandlungs-marathons und der politischen Gipfelgespräche der vergangenen Wochen liest und die mir auch in schwierigen kulturpolitischen Debatten und Verhandlungen schon öfter in den Sinn kam. Nach einem offenbar etwas frustrierenden Ausflug im Harz nämlich schrieb er ins Gipfelbuch des Brocken: „Große Steine, müde Beine, saure Weine, Aussicht keine. – Heinrich Heine“. Wie auch immer es nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen weiter geht, meine Damen und Herren, fest steht: Um „große Steine“ werden wir weiterhin nicht herum kommen, und auch wenn sich manchmal eine gewisse Müdigkeit breit macht, wenn die Aussicht bisweilen nicht gerade atemberaubend ist und wenn statt Wein wieder mal nur Kaffee auf den Tisch kommt, bin ich doch überzeugt, dass es sich lohnt, die steilen und steinigen Wege der politischen Verständigung zu gehen – und dabei auf die Kraft der Worte zu vertrauen. Die Auszeichnung des Julius-Campe-Preis ist mir dafür gleichermaßen Bestätigung und Ansporn. Und auch wenn ich die 99 Flaschen Wein, die mich als materieller Teil des Preises für so manche „sauren Weine“ im politischen Tagesgeschäft mehr als entschädigt hätten, nicht annehmen kann, freue ich mich, heute mit Ihnen anzustoßen auf eine Kultur- und Medienpolitik, die auch in Zukunft die Liebe zum Buch pflegt und die literarische Vielfalt fördert. Es ist mir eine große Ehre, mich zu den Trägerinnen und Trägern dieses Preises zählen zu dürfen. Herzlichen Dank!
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum Auftakt der Podiumsdiskussion „Filmfestivals heute“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-auftakt-der-podiumsdiskussion-filmfestivals-heute–425890
Mon, 04 Dec 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort.- „Wenn der Postmann zweimal klingelt“, wird es spannend. Das gilt ganz offensichtlich nicht nur im Kino …. Und wer wüsste besser als die Crème de la crème des deutschen Filmschaffens, wie man mit der dramaturgischen Wirkung der Briefbotschaft noch mehr Schwung in eine Handlung bringt …?! Dieser Schwung und die damit üblicherweise einhergehende, gesteigerte Aufmerksamkeit des interessierten Publikums kann auch der Debatte über Filmfestivals im Allgemeinen und über die Zukunft der Berlinale im Besonderen nur nutzen – jedenfalls dann, wenn diese Diskussion konstruktiv geführt wird. Dazu gehört zunächst einmal, nicht nur die „Soll“-Seite einzubeziehen, sondern auch zu schauen, was wir auf der „Haben“-Seite verzeichnen können. Auch deshalb habe ich – übrigens schon bevor der Postmann mit dem Berlinale-Brief deutscher Filmschaffender zum zweiten Mal klingelte – bereits im September zum Gespräch ins Kanzleramt und auch zur heutigen Diskussion ins Haus der Kulturen der Welt eingeladen. Ich freue mich, dass mit Hilfe hochkarätiger Expertinnen und Experten auf dem Podium unterschiedliche Perspektiven und Positionen zur Sprache kommen. Herzlichen Dank den Diskutierenden, herzlichen Dank … Christiane Peitz, der Leiterin des Kulturressorts beim Tagesspiegel dem Regisseur Christoph Hochhäusler, dem Produzenten Thomas Kufus dem Regisseur Volker Schlöndorff und ein besonderes Dankeschön an Bettina Reitz, der Präsidentin der Filmhochschule München: Sie hat spontan zugesagt, auf dem Podium mitzudiskutieren, stellvertretend für Kirsten Niehuus (Medienboard Berlin-Brandenburg), die heute leider kurzfristig aus familiären Gründen absagen musste. Ihnen allen, meine Damen und Herren, die Sie anschließend zum Weiterdiskutieren bei einem Glas Wein eingeladen sind, ein herzliches Willkommen! Lassen Sie mich kurz Bilanz ziehen, wie die Berlinale derzeit auf dem Wettbewerbsfeld der internationalen A-Festivals positioniert ist und was sie gegenüber anderen großen Filmfestivals auszeichnet, bevor ich meine Überlegungen zu den Verfahrens- und Strukturfragen erläutere, die uns alle zur Zeit umtreiben. Die Berlinale ist das größte Publikumsfestival der Welt, das Filmfestival mit den meisten Zuschauern: Wir reden hier von rund einer halben Million Besuchern bei zuletzt rund 335.000 verkauften Karten; wir reden von einem Kulturereignis mit enormer internationaler Strahlkraft, dessen Weltoffenheit der Filmkunst wie auch Berlin und ganz Deutschland gut tut – und das nicht nur in ökonomischer Hinsicht. Die Berlinale war und ist, bedingt auch durch ihre Geschichte, durch ihre Anfänge als „Schaufenster der freien Welt“ zu Zeiten des Kalten Krieges, nach wie vor das politischste Festival unter den renommierten A-Festivals – ein Anspruch, der sich natürlich vor allem in der Filmauswahl, darüber hinaus aber auch im Bekenntnis zur gesellschaftspolitischen Mitverantwortung der Filmschaffenden spiegelt. So bietet das Festival sowohl der künstlerischen Auseinandersetzung mit den drängenden Fragen unserer Zeit als auch dem gesellschaftspolitischen Engagement eine Bühne, beispielsweise als weltweit einziges umweltzertifizierte Festival und als Kulturereignis, das nicht nur für Stars den roten Teppich ausrollt, sondern seit 2016 auch für geflüchtete Menschen. Und wer behauptet, solch ein Engagement sei irrelevant für das Profil eines A-Filmfestivals, möge sich umgehend „The Square“ im Kino ansehen, ausgezeichnet mit der Goldenen Palme 2017 in Cannes: eine Satire auf einen Kunstbetrieb, in dem die gesellschaftskritische Haltung der Kunst zum Glamourfaktor für eine Elite verkommt, die sich moralisch auf der richtigen Seite weiß (oder wähnt …), aber blind ist für die Bettler auf der Straße. Ich jedenfalls bin der Meinung, dass es der Berlinale auch weiterhin gut zu Gesicht steht, im unternehmerischen Handeln wie in der Programmgestaltung Haltung zu zeigen und sich als dezidiert politisches „Filmvolksfest“ zu profilieren. Genau dafür stehen ein roter Schal und ein schwarzer Hut – und der Name Dieter Kosslick. Es ist Dieter Kosslicks Verdienst, dass die Berlinale heute ein größeres Publikum denn je erreicht und sich auch im 21. Jahrhundert als weltweit hoch angesehenes A-Festival behauptet. Es war Dieter Kosslick, der die Berlinale vor 16 Jahren mit Mut und Einfallsreichtum umgekrempelt und damit sowohl das Festival als auch den Filmstandort Deutschland aufgewertet hat, der dem Festival bis heute immer wieder neue Impulse verleiht – und der nebenbei übrigens auch den Karrieren zahlreicher deutscher Filmkünstlerinnen und Filmkünstler einen gewaltigen Schub gegeben hat. Dank Dieter Kosslick hat sich der European Filmmarket etabliert – als einer der bedeutendsten Filmrechtemärkte weltweit, mit dem die Berlinale international Maßstäbe setzt. Aber auch andere Initiativen, die Dieter Kosslick ins Leben gerufen hat, zum Beispiel die Berlinale Talents und der World Cinema Fund, tragen zu einem zukunftssicher aufgestellten Filmfestival bei. Und Dieter Kosslick war es auch, der durch neue Formate wie „Berlinale goes Kiez“ dafür gesorgt hat, dass der Glanz der Berlinale weit über das Festivalzentrum hinausstrahlt und auch im digitalen Zeitalter ein breites Publikum für das Gemeinschaftserlebnis Kino, diese sinnlichere Alternative zum einsamen Serienkonsum auf der heimischen Couch, begeistert. Kurz und gut: Wir alle, die wir Strahlkraft und Stellenwert der Berlinale im Wettbewerbsfeld der internationalen A-Festivals sichern wollen, haben allen Grund, Dieter Kosslick dankbar zu sein für im besten Sinne prägende Berlinale-Jahre. Über Veränderungen nachzudenken, ist nach so langen Jahren dennoch gleichermaßen notwendig wie legitim – zumal nicht nur die Berlinale, sondern Filmfestivals im Allgemeinen sich angesichts neuer Sehgewohnheiten des Publikums im digitalen Zeitalter neu profilieren müssen. Als Beitrag zu dieser Debatte verstehe ich jedenfalls den offenen Brief der Regisseurinnen und Regisseure – als Beitrag zu einer Debatte, die es verdient, offen, sachlich und konstruktiv geführt zu werden, und zwar miteinander, nicht übereinander. Deshalb freue ich mich, dass wir heute Abend volles Haus haben. Herzlichen Dank für Ihre Gastfreundschaft, lieber Herr Professor Scherer! Angesichts der sehr unterschiedlichen Deutungen bis hin zu offenbar gravierenden Missverständnisse, die in den vergangenen Tagen im Zusammenhang mit dem offenen Brief zur Zukunft der Berlinale durch die Feuilletons geisterten, liegt mir ein Klassiker aus der Reihe berühmter Filmzitate auf der Zunge, der da lautet: „Es ist nicht so, wie Du denkst.“ Frei nach diesem Motto haben einige Unterzeichner richtiggestellt, wie sie ihren Aufruf verstanden wissen wollten, und frei nach diesem Motto will auch ich klarstellen, welche Überlegungen zur Nachfolge Dieter Kosslicks mein Handeln als dafür verantwortliche Kulturpolitikerin leiten – und welche nicht. Falsch ist das Gerücht, gesucht werde eine deutsche Frau. Richtig ist: Es gibt keinerlei Vorfestlegung auf eine weibliche oder deutsche Nachfolge. Falsch ist auch das Gerücht, wonach der Name Dieter Kosslick für eine Schlüsselposition nach 2019 gesetzt ist. Richtig ist: Es gibt keinerlei Vorfestlegung auf bestimmte Personen, in welcher künftigen Führungsstruktur auch immer. Missverstanden schließlich wurde ganz offensichtlich die Ankündigung, dass Herr Kosslick dem Aufsichtsrat der KBB ein Konzept für die Zeit nach 2019 vorstellt. Deshalb auch dazu eine Klarstellung: Es handelt sich bei diesem Konzept um einen Diskussionsbeitrag unter mehreren. Dass es sinnvoll ist, vorhandenen Sachverstand mit einzubinden, wird hoffentlich niemand bestreiten. Wie also geht es jetzt weiter? – Wie Sie vielleicht wissen, ist die Berlinale Teil der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH (KBB), genau wie die Berliner Festspiele oder das Haus der Kulturen der Welt. Morgen findet eine Sitzung des Aufsichtsrats der KBB statt, dem Vertreterinnen und Vertreter der BKM, des Bundesfinanzministeriums, des Auswärtigen Amtes wie auch des Landes Berlin und sachverständige Persönlichkeiten des kulturellen Lebens angehören. Dessen Geschäftsordnung legt fest, dass der Aufsichtsrat das Auswahlverfahren für die Geschäftsführung – und damit für die Nachfolge Dieter Kosslicks – durchführt. Wie in vergleichbaren Fällen wird der Aufsichtsrat dazu eine Findungskommission mit Mitgliedern aus seinem Kreis einrichten. Außerdem – und das ist mir in diesem Fall besonders wichtig – möchte ich externen Sachverstand einbinden und werde dem Aufsichtsrat deshalb morgen vorschlagen, Expertinnen und Experten aus der Filmbranche beratend hinzuzuziehen. Sie sollen den KBB-Aufsichtsratsmitgliedern auf der Grundlage der bisherigen Diskussionsbeiträge – dazu gehören das Papier Dieter Kosslicks ebenso wie die Ergebnisse der heutigen Diskussionsveranstaltung – Vorschläge für eine künftige Struktur und die damit verbundenen Personalentscheidungen unterbreiten. Auf dieser Grundlage wird der KBB-Aufsichtsrat im kommenden Jahr unter meiner Leitung eine Entscheidung treffen – früh genug, um dem neuen Leiter oder der neuen Leiterin ausreichend Zeit zur Vorbereitung auf die Berlinale 2020 zu geben. Ich selbst führe (nebenbei bemerkt) seit Monaten Gespräche mit einschlägigen Persönlichkeiten – übrigens auch international. Bei allem Respekt vor dem Wunsch nach größtmöglicher Transparenz bitte ich um Verständnis für die notwendige Diskretion, was vor allem die Namen möglicher Kandidatinnen und Kandidaten betrifft. Das Auswahlverfahren soll niemanden beschädigen. Soweit meine Überlegungen, wie wir der Berlinale unter sich verändernden Bedingungen des Filmschaffens den Platz in der Champions League der Filmfestivals sichern können, den wir alle ihr – und dem Filmstandort Deutschland – weiterhin, so wie bisher, wünschen. Mir ist, so wie Ihnen, sehr daran gelegen, dass wir in Deutschland auch in Zukunft ein Filmfestival präsentieren, das den künstlerischen Experimenten der Avantgarde eine Bühne bietet, den State of the Art des Weltkinos spiegelt und Visionen für die Zukunft des Kinos als Kulturort entwickelt – und ich will mich auch weiterhin dafür einsetzen, dass vor allem der deutsche Film dabei eine tragende Rolle spielt: mit einer Filmförderung, die auch und insbesondere die künstlerische Freiheit stärkt. Es kommt natürlich immer wieder auf die kuratorische Leistung der Festivalleitung an, gerade das künstlerisch-experimentelle Moment zu stärken. Wie Sie wissen, liegt mir das besonders am Herzen. Das beherzte Eintreten für die künstlerische Freiheit und für bedrohte und verfolgte Filmemacherinnen und Filmemacher gehört jedenfalls zu jenem politischen Engagement, dem die Berlinale ihr hohes Ansehen weltweit verdankt. Der ein oder andere von Ihnen erinnert sich sicherlich an „Taxi“, den Film des mit Berufsverbot belegten iranischen Regisseurs Jafar Panahi, der auf der Berlinale 2015 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde: Es gibt darin eine Szene, in der Hana Saedi ihrem Onkel die Regeln für einen „zeigbaren“ Film im Iran vorliest, die ihre Lehrerin der Klasse für ein schulisches Filmprojekt mit auf den Weg gegeben hat. Zu diesen Regeln gehören skurrile Spitzfindigkeiten – die Guten dürfen niemals Krawatte tragen – ebenso wie selbstwidersprüchlich anmutende Vorschriften: Filme sollen die Realität zeigen, aber nicht, wenn sie hässlich ist, denn dann ist es „Schwarzmalerei“. Als Bühne auch für Filme, die sich solchen Kriterien des „Zeigbaren“ nicht nur widersetzen, sondern sie als Werkzeug der Mächtigen entlarven, liefert die Berlinale selbst die überzeugendsten Argumente dafür, ihre Zukunft als weithin wahrnehmbares „Schaufenster der freien Welt“ zu sichern. Das ist mir ein Herzensanliegen, und ich bin dankbar für und gespannt auf Ihre Ideen und Anregungen!
Zum Auftakt einer Podiumsdiskussion hat Staatsministerin Grütters die Strahlkraft und den Stellenwert der Berlinale im Wettbewerbsfeld der internationalen A-Festivals gewürdigt. Nachdem der Vertrag von Festival-Leiter Kosslick 2019 endet, sei es notwendig und legitim über Veränderungen nachzudenken.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Wiedereröffnung des Erweiterungsbaus des Saarlandmuseums
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-wiedereroeffnung-des-erweiterungsbaus-des-saarlandmuseums-440116
Thu, 16 Nov 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Saarbrücken
Kulturstaatsministerin
„Der blaue Reiter ist gefallen, ein Großbiblischer, an dem der Duft Edens hing. Über die Landschaft warf er einen blauen Schatten.“ Diese bewegenden Worte stammen aus dem Nachruf der Dichterin Else Lasker-Schüler auf ihren Freund Franz Marc. Nur 36 Jahre war er alt, als er im Ersten Weltkrieg – im März 1916 – bei Verdun ums Leben kam, und nur wenige Jahre waren ihm vergönnt als Protagonist der Klassischen Moderne. „In meinen ungemalten Bildern steckt mein ganzer Lebenswille“, schrieb er kurz vor seinem Tod. Ja, „der blaue Reiter ist gefallen“ und seinen „ungemalten Bildern“ blieb die schöpferische Kraft des großen Künstlers verwehrt. Doch sein „Blaues Pferdchen“ ist weltberühmt geworden. Es hat seinen Platz hier in der Modernen Galerie des Saarlandmuseums und im Kanon der europäischen Kunst gefunden, wie zum Glück auch andere bedeutsame Werke von Künstlern, die im Ersten Weltkrieg ihr Leben – und ihr Talent – lassen mussten, darunter auch ein Saarländer: Albert Weisgerber, gefallen im Mai 1915 und nach seinem frühen Tod zunächst in Vergessenheit geraten. So erzählt das Saarlandmuseum mit seiner herausragenden Sammlung der Kunst der klassischen Moderne und der Gegenwart nicht nur ein bedeutendes Stück Kunstgeschichte. Es birgt mit den Werken von Künstlern, deren Schaffen im Krieg ein jähes Ende fand, auch Erinnerungen an die schrecklichen Folgen des Nationalismus in Europa. Und es vermittelt mit seiner Fülle an Werken des 20. und 21. Jahrhunderts gleichzeitig ein facettenreiches Bild vom kulturellen Reichtum Europas, gewachsen – und nach zwei verheerenden Kriegen wieder aufgeblüht – im künstlerischen Austausch, in gegenseitiger Inspiration über Grenzen hinweg. So verwundert es nicht, dass dieses Haus längst zu den führenden Kunstmuseen Westdeutschlands zählt, und ich freue mich sehr, dass es mit dem Erweiterungsbau der Modernen Galerie, mit mehr Platz für die bisher in den Depots befindlichen Schätze, nun endgültig zur Adresse ersten Ranges vor allem für die Kunst der klassischen Moderne und der zeitgenössischen Kunst avanciert. Die neuen, großzügigen und lichten Räume, vor allem der 14 Meter hohe „Kathedralenraum“, bringen die Strahlkraft der Kunstwerke zur Entfaltung – die großartige Eröffnungsausstellung bietet dafür wunderbare Beispiele …darunter eine Leihgabe aus der durch mein Haus betreuten Sammlung zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland, nämlich das Aquarell: „Ohne Titel“ (tête grotesque) des deutsch-französischen Künstlers WOLS, und eine eindrucksvolle Netz-Installation der kalifornischen Künstlerin Pae White vertreten, an deren Installation im historischen Stadtzentrum meiner Heimatstadt Münster im Rahmen der „Skulptur Projekte Münster 2007“ ich mich noch gut erinnere. Toll, dass der Erweiterungsbau selbst komplexere, raumgreifende Installationen und Präsentationen zeitgenössischer Kunst wie diejenige Pae Whites ermöglicht! Nicht viele Museen in Deutschland können so etwas zeigen. Auch der neue Sonderausstellungsbereich zur Provenienzforschung, die das Saarlandmuseum – durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste gefördert – intensiv betreibt, ist vorbildlich und eine enorme Bereicherung, werden Museen doch zum Glück mittlerweile endlich und nicht zuletzt daran gemessen, wie sie ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Sammlung aufarbeiten. Noch mehr als bisher jedenfalls wird Saarbrücken – da bin ich nach unserem Rundgang ganz sicher, lieber Herr Dr. Mönig – zu einem „Mekka“ der Kunstliebhaber aus Nah und Fern, und das sicherlich nicht nur wegen des neuen „Kathedralenraums“! Was für eine Freude also, die Eröffnung dieses architektonischen Meisterwerks des Architektenteams Kuehn / Malvezzi mit Ihnen zu feiern, dessen Fassade der Künstler Michael Riedel so wunderbar gestaltet hat! Zumal wir nach all den Schwierigkeiten und Krisen, die seine Realisierung begleitet haben, nun auch einmal mehr wissen, was Karl Valentin gemeint hat, als er einst sagte: „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“. Ja, ohne viel Arbeit, ohne unermüdliches Engagement aller Beteiligten, ohne die Tatkraft vor allem auch des Landes und der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz, könnten wir der Strahlkraft der Kunst nicht diese repräsentative Bühne bieten. Ich freue mich, dass wir dazu auch mit Mitteln des Bundes, mit 7,5 Millionen Euro aus meinem Kulturetat, einen Beitrag leisten konnten – nicht zuletzt auch deshalb, weil es mir wichtig ist, wo immer möglich darauf aufmerksam zu machen, dass es überall in Deutschland auch abseits der einschlägigen Metropolen großartige Kulturschätze zu entdecken gibt. Saarbrücken ist dafür ein wunderbares Beispiel: Das Saarlandmuseum mit der neuen Modernen Galerie braucht den Vergleich mit anderen Häusern nicht zu scheuen. Es agiert auf Augenhöhe mit den großen Museen der klassischen Moderne. Mit der grenzübergreifenden Vielfalt der Kunst aus den Epochen, die Europas Geschichte so sehr geprägt haben, kann es darüber hinaus noch mehr als bisher ein Ort des kulturellen Austausches in Europa sein – in einer Region, die über lange Zeit immer wieder Austragungsort und Gegenstand erbitterter Konflikte war und die heute umso eindrucksvoller die deutsch-französische Freundschaft und das Zusammenwachsen Europas repräsentiert. Das Saarland hat sich, so der saarländischen Schriftsteller Ludwig Harig, vom „Zankapfel zwischen Deutschland und Frankreich“ zu einer „Keimzelle“ eines größeren und schöneren Europa“ entwickelt. Diese Entwicklung führt uns das Saarlandmuseum vor Augen – mit Werken bedeutender Künstler wie Franz Marc und Albert Weisgerber, deren persönliche Schicksale für die dunkelsten Zeiten Europas stehen, aber auch mit seiner herausragenden Sammlung moderner und zeitgenössischer Kunst, deren Vielfalt für ein „größeres und schöneres Europa“ steht. Europa braucht die Weltoffenheit, die Neugier, den Enthusiasmus und die weiten Horizonte der Kunst. Lassen wir uns im Saarlandmuseum davon begeistern! Ich wünsche der Eröffnungsausstellung und dem ganzen Haus viele Besucherinnen und Besucher aus Deutschland, Frankreich und ganz Europa, die nicht nur ein Auge für die Kunstwerke, sondern auch ein Ohr für die Geschichten haben, die sie über Europa erzählen.
Bei der Wiedereröffnung des Saarlandmuseums zeigte sich Kulturstaatsministerin Grütters von der Erweiterung des Kunstmuseums beeindruckt. In den neuen, großzügigen wie lichten Räumen vermittle die Fülle an Werken des 20. und 21. Jahrhunderts ein facettenreiches Bild vom kulturellen Reichtum Europas, so Grütters. In einer europäischen und lange umkämpften Grenzregion gelegen, „kann es noch mehr als bisher ein Ort des kulturellen Austauschs in Europa sein.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen der UN-Klimakonferenz COP 23 am 15. November 2017 in Bonn
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-der-un-klimakonferenz-cop-23-am-15-november-2017-in-bonn-445896
Wed, 15 Nov 2017 16:00:00 +0100
Im Wortlaut
Bonn
Umwelt Naturschutz Bau und Reaktorsicherheit
Sehr geehrter Herr Vorsitzender, sehr geehrter Herr Generalsekretär der Vereinten Nationen, sehr geehrter Herr Präsident, lieber Emmanuel Macron, sehr geehrte Minister, Gäste, Exzellenzen, ich möchte Sie alle ganz herzlich hier in Bonn – und damit in der Bundesrepublik Deutschland – willkommen heißen. Wir sind sehr stolz darauf, dass der Sitz des UN-Klimasekretariats hier in Bonn ist. Wir sind hier zusammengekommen, weil wir vor einer, wenn nicht sogar vor der zentralen Herausforderung der Menschheit stehen. Der Klimawandel – alle, die hier im Raum sind, wissen das; aber ich rufe dies auch allen anderen zu – ist für unsere Welt eine Schicksalsfrage. Sie entscheidet über das Wohlergehen von uns allen. Sie entscheidet ganz konkret darüber, ob Menschen auch in Zukunft noch zum Beispiel auf den Pazifikinseln leben können. Es hat also eine ganz besondere Aussagekraft, dass die Republik Fidschi als Inselstaat die Präsidentschaft der COP 23 übernommen hat. Es ist uns in Deutschland eine Ehre, die Republik Fidschi hierbei zu unterstützen – das sage ich im Namen der ganzen Bundesregierung. Unsere gemeinsame Botschaft lautet: Wir wollen unsere Welt schützen. Daher stehen wir zum Pariser Klimaabkommen. Daher – das ist jetzt die Aufgabe nach dem großen Erfolg, dass dieses Abkommen überhaupt zustande gekommen ist – müssen wir es jetzt gemeinsam umsetzen. Hierfür brauchen wir ein geeignetes Regelwerk. Genau daran wird ja auf dieser Konferenz gearbeitet. Es geht um Vertrauen und es geht um Verlässlichkeit in dem gemeinsamen Bemühen um dringend notwendige Fortschritte im Klimaschutz. Dazu soll auch der „Talanoa Dialog“ dienen. Wir in Europa wissen um unsere Verantwortung. Das europäische Ziel, das Ziel der Europäischen Union, die Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um mindestens 40 Prozent bis 2030 zu senken, setzen wir in der Europäischen Union rechtsverbindlich um. Jeder Mitgliedstaat der Europäischen Union muss dazu seinen Beitrag leisten. Für Europa bedeutet das, dass wir dazu die entsprechenden Regeln setzen müssen, zum Beispiel im Emissionshandel. Hierbei haben wir in der letzten Woche eine wichtige Einigung erreicht. Das Instrument wird auf das Ziel der Europäischen Union ausgerichtet. Dabei werden jetzt vor allen Dingen Zertifikate aus dem Handel herausgenommen, um den Preis zu einem wirksamen Signal entwickeln zu können. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich auf die Aufteilung des gemeinsamen Ziels geeinigt. Jeder weiß, welchen Beitrag er zu leisten hat. Mit dem Klimaschutzplan 2050 hat Deutschland seine mittel- und langfristige Strategie festgelegt. Wir wollen bis Mitte des Jahrhunderts weitgehende Treibhausgasneutralität erreichen und zwischen 80 und 95 Prozent der CO₂-Emissionen einsparen. Der nächste Schritt ist, diese Strategie mit konkreten Maßnahmen auszufüllen. Ich will hier ganz offen sprechen: Das ist auch in Deutschland nicht einfach. Wir haben uns Ziele für 2020, 2030 und eben auch 2050 vorgenommen. Unser Ziel für 2020 ist ein ehrgeiziges Ziel, nämlich eine Reduktion um 40 Prozent bezogen auf 1990. Jetzt, gegen Ende des Jahres 2017, wissen wir, dass uns dahin noch ein ganzes Stück fehlt. Gerade auch in den Gesprächen zur Bildung einer neuen Regierung spielt diese Frage in diesen Tagen eine zentrale Rolle. Dabei geht es auf der einen Seite um die Erfüllung dessen, was wir uns vorgenommen haben. Dabei geht es auf der anderen Seite aber auch um soziale Fragen und Arbeitsplätze zum Beispiel im Zusammenhang mit der Frage der Reduktion der Kohle. Dabei geht es auch um Wirtschaftlichkeit; das heißt, um die Bezahlbarkeit von Energie. Ich will Ihnen nur sagen, dass auch in einem reichen Land, wie wir es sind, natürlich erhebliche Konflikte in der Gesellschaft vorhanden sind, die wir vernünftig und verlässlich lösen müssen. Es sind harte Diskussionen. Wir wissen, dass Deutschland als ein Land, das noch in hohem Maße Kohle, insbesondere Braunkohle, verwendet, natürlich einen wesentlichen Beitrag leisten muss, um die Ziele zu erfüllen. Aber wie genau, darüber werden wir in den nächsten Tagen miteinander präzise diskutieren müssen. Wir haben während der deutschen G7-Präsidentschaft 2015 den gemeinsamen Willen bekräftigt, als Industriestaaten insgesamt den Weg der Dekarbonisierung zu gehen. Ich bin davon überzeugt, dass die Industriestaaten einen sehr speziellen und großen Beitrag leisten müssen, weil sie die Fähigkeit zu den notwendigen technologischen Entwicklungen haben, die Maßstäbe setzen können, aber natürlich auch, weil sie eine historische Verantwortung haben und zum CO₂-Anstieg weltweit wesentlich beigetragen haben. In diesem Jahr haben wir in unserer G20-Präsidentschaft den G20-Aktionsplan zu Klima und Energie für ein nachhaltigeres Wirtschaftswachstum beschlossen. Auch die OECD hat deutlich gemacht, worum es geht: Nur wenn wir die umfangreichen Investitionen auch klimafreundlich ausrichten, können wir unseren Wohlstand in Zukunft sichern. Deshalb sind wir der Überzeugung, dass Klimapolitik auch zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik ist. Denn die Bewahrung unserer Lebensgrundlagen ist ja die Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt erfolgreich wirtschaften können. Vor diesem Hintergrund hat sich auch in den Vereinigten Staaten von Amerika ein breites Bündnis aus zahlreichen Staaten, Städten und Unternehmen formiert, das die Verpflichtung „America´s Pledge“ vorgelegt hat. Ich möchte das sehr begrüßen, denn es unterstreicht die Bedeutung des Klimaschutzes in weiten Teilen der USA, ungeachtet der Entscheidung von Präsident Trump, aus dem Klimaabkommen von Paris auszusteigen. Dies alles geschieht ja auch in der Überzeugung, dass die Transformation hin zu einer emissionsarmen Wirtschaftsweise – richtig angelegt – große Wachstumschancen bietet. Erneuerbare Energien, ressourcen- und kostensparende Effizienztechnologien, klimaschonende Neuerungen im Gebäudebereich und im Verkehr – das und anderes mehr wird auf den Märkten weltweit an Bedeutung gewinnen. Ich darf Ihnen sagen, dass in Deutschland erneuerbare Energien bereits die stärkste Säule der Energieversorgung ist und dass wir erleben, dass in einem relativ schnellen Tempo die Unterstützung für erneuerbare Energien steigt und deren Marktreife immer schneller erreicht wird. Die Innovationschancen sollen selbstverständlich möglichst allen Ländern auf der Welt zugutekommen, gerade auch den ärmeren. Daher steht Deutschland gemeinsam mit den anderen Industrieländern zu der Zusage, Entwicklungsländer ab 2020 jährlich mit 100 Milliarden US-Dollar an öffentlichem und privatem Kapital zu unterstützen. Das ist auch der Grund dafür, warum wir in Deutschland eine Verdoppelung der öffentlichen Klimafinanzierung bis 2020 vorgesehen haben. Aber es kommt neben öffentlichen Investitionen gerade auch auf private Investitionen an. Wir alle gemeinsam sind gefordert, die geeigneten Rahmenbedingungen zu schaffen, um auch wirklich Privatkapital für die Klimafinanzierung zu mobilisieren. In diesem Zusammenhang spielen natürlich die Entwicklungsbanken und die Weltbank eine wichtige Rolle. Wir alle als Mitgliedstaaten sollten diese Rolle stärken. Daher kann ich es nur begrüßen, dass Staatspräsident Macron gemeinsam mit dem UN-Generalsekretär und dem Präsidenten der Weltbank zu einem Gipfel mit dem Schwerpunkt Klimafinanzierung in Paris am 12. Dezember eingeladen hat. Wir alle wissen, dass der 12. Dezember für Paris und den Klimaschutz ein ganz spezielles, magisches Datum ist. Auch deshalb sollte diese Konferenz ein Erfolg werden. Bei der Konferenz hier in Bonn stehen die drohenden Risiken und die Anpassung an den Klimawandel im Mittelpunkt. Wir haben auf der einen Seite schmelzende Gletscher, steigende Meeresspiegel und Überschwemmungen und auf der anderen Seite Stürme, unerträgliche Hitze, Dürrekatastrophen. Niemand – ich sage: niemand – darf und kann das ignorieren. Wenn wir uns zudem die wachsende Weltbevölkerung vor Augen führen, wissen wir: Zunehmende Konflikte um natürliche Ressourcen sind geradezu vorprogrammiert, wenn wir beim Klimaschutz nichts tun. Deutschland hat sich deshalb auch im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen stets dafür ausgesprochen, Sicherheitsaspekte des Klimawandels viel stärker in den Blick zu nehmen. In diesem Sinne wird sich Deutschland auch weiter engagieren. Um Entwicklungsländer zu unterstützen, damit sie sich an nicht mehr vermeidbare Folgen des Klimawandels anpassen können, hat Deutschland im Jahr 2016 1,4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Wir bringen dieses Jahr zusätzlich noch 100 Millionen Euro für den Anpassungsfonds auf, damit wir den am wenigsten entwickelten Ländern bei dieser schwierigen Aufgabe helfen können. Es freut mich, dass wir gestern mit der Weltbank eine globale Partnerschaft für Klimarisikoversicherungen in Entwicklungsländern als eine gemeinsame Initiative der G20 und der vom Klimawandel besonders betroffenen Länder gegründet haben. In dieser Vereinbarung spiegeln sich zwei Dinge wider: Auf der einen Seite, dass Versicherungslösungen eine verlässliche, dauerhafte, gute Möglichkeit sein können, um Risiken abzufedern; auf der anderen Seite ist es für uns wichtig, dass wir dies gemeinsam mit den betroffenen Ländern vereinbart haben, denn es geht darum, dass wir auf Augenhöhe miteinander arbeiten und unsere Erfahrungen gegenseitig immer wieder mit einbringen. Eine gute Nachricht ist auch, dass die von Marokko und Deutschland initiierte „Nationally Determined Contributions“-Partnerschaft mittlerweile auf über 70 Länder angewachsen ist. Meine Damen und Herren, vor zwei Jahren ist etwas gelungen, das wir uns in Kopenhagen noch nicht vorstellen konnten. Aber wir wissen: Das Pariser Abkommen ist ein Ausgangspunkt. Wir wissen auch: Mit den heutigen nationalen Verpflichtungen werden wir das 2-Grad- oder das 1,5-Grad-Anstiegsziel nicht einhalten können. Deshalb ist jeder einzelne Beitrag unglaublich wichtig. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns gegenseitig offen zeigen, dass wir unsere Beiträge vergleichbar machen. Deshalb muss von dieser Konferenz ein Signal der Ernsthaftigkeit ausgehen, dass wir das Pariser Abkommen als Anfang sehen und dass die Arbeit damit erst richtig losgegangen ist. Die täglichen Wetterereignisse und Klimakatastrophen auf der Welt zeigen uns, wie drängend die Sache ist. Daher heißt es jetzt, unseren Worten auch Taten folgen zu lassen. Wir in Deutschland werden uns bemühen, auch wenn das viele Kontroversen hervorruft. Deshalb bin ich auch nicht leichtfertig, wenn ich anderen sage: Tut etwas. Ich weiß, wie schwer es auch im eigenen Land ist, das zu erkämpfen. Daher wünsche ich allen, die sich für den Klimaschutz engagieren – sei es, dass Sie als Vertretung Ihrer Staaten hier sind, sei es, dass Sie sich als Nichtregierungsorganisationen für dieses Ziel stark machen –, guten Mut, guten Willen und viel Tatkraft. Vielen Dank.
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters zum zehnjährigen Jubiläums von fragFINNRede der Kulturstaatsministerin Grütters zum zehnjährigen Jubiläums von fragFINN
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-zehnjaehrigen-jubilaeums-von-fragfinnrede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-zehnjaehrigen-jubilaeums-von-fragfinn-437438
Mon, 13 Nov 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Jeder von Euch, liebe Kinder, kennt das Märchen von Hänsel und Gretel – den Geschwistern, die sich im Wald verirren und schließlich auf ein ganz besonderes Haus stoßen: ein Häuschen, ganz aus Lebkuchen gebaut. Zum Glück sind die Kinder schlauer als die Hexe, die darin wohnt … Deshalb geht die Geschichte gut aus. Wären Hänsel und Gretel heute im digitalen Wald des Internets unterwegs, sie würden sich ganz bestimmt auch verirren – und vielleicht auch auf Angebote stoßen, die man besser nicht probiert. Und nur im Märchen gehen solche Geschichten immer gut aus –stimmt’s, liebe Kinder? Ja, im schier endlosen Dickicht des Internets findet man sich nicht so leicht zurecht. Deswegen haben beherzte Streiterinnen und Streiter für den Kinder- und Jugendschutz im Internet 2007 die Initiative „Ein Netz für Kinder“ ins Leben gerufen. Mit großem Engagement meines Hauses, des Bundesfamilienministeriums, verschiedener Institutionen des Jugendmedienschutzes und der Wirtschaft war ein klares Ziel formuliert: nämlich die Anzahl kindgerechter Internetangebote zu erhöhen und ihre Qualität und Auffindbarkeit zu verbessern. Heute, zehn Jahre später, können wir mit Stolz und Freude feststellen: Dieses Ziel ist erreicht! Die beiden Säulen der Initiative „Ein Netz für Kinder“ – die Kindersuchmaschine fragFINN und die Förderung meines Hauses – haben dazu beigetragen, im digitalen Dickicht sichere Wege für Kinder anzulegen und junge User mit einem bunten, vielfältigen Angebot in den geschützten Raum des Kinderinternets zu holen. Das „Netz für Kinder“ ist darüber hinaus auch ein vorbildliches Beispiel für die Zusammenarbeit von Politik und Wirtschaft, für eine fruchtbare und von viel Enthusiasmus auf allen Seiten getragene Partnerschaft. Zehn Jahre fragFINN, das ist eine im besten Sinne „märchenhafte“, weil wahre Erfolgsgeschichte! Zu dieser Erfolgsgeschichte tragen auch die Kinderreporter von fragFINN einen wichtigen Teil bei: Ich erinnere mich sehr gerne an das schöne Interview, das die beiden aufgeweckten Nachwuchsjournalisten Clara und Lauen im Mai mit mir geführt haben. Hallo, liebe Clara und lieber Lauen! Und ein herzliches Willkommen an alle Kinderreporter, die heute auch noch mit dabei sind! Ihr macht tolle Arbeit – weiter so! Solche Angebote sind es, meine Damen und Herren, die Kinder nicht nur einen sicheren Raum für die ersten Surf-Abenteuer eröffnen, sondern die auch fit machen für spätere Expeditionen, wenn es auf eigene Faust hinaus geht ins World Wide Web. Dafür braucht es Medienkompetenz – und die sollte heute so selbstverständlich sein wie das Beherrschen des Alphabets, allein schon deshalb, weil mittlerweile 98 Prozent der deutschen Haushalte, in denen Kinder aufwachsen, über einen Internetanschluss verfügen. Vor allem aber spielt Medienkompetenz auch für die Fähigkeit, zwischen Fakten und „Fake News“ unterscheiden zu können, und damit für die demokratische Meinungsbildung eine Schlüsselrolle. Das zeigen Studien wie die eines Wissenschaftlers an der Universität Stanford, der Highschool-Schülern vergangenes Jahr zwei Artikel über den Klimawandel vorlegte: einer der Artikel war von einem Wissenschaftsjournalisten verfasst, der andere vom Mineralölkonzern Shell gesponsert. Fast 70 Prozent der Schüler empfanden den PR-Beitrag als glaubwürdiger. In Deutschland sieht es in Sachen Urteilsvermögen vermutlich auch nicht besser aus. Das zeigt: Auch „digital natives“ brauchen Rüstzeug fürs Netz, und ich hoffe, dass Politik und Wirtschaft dabei auch in Zukunft an einem Strang ziehen. Und deswegen ist es ganz toll, was ihr macht, liebe Kinderreporter! Denn ihr lernt schon jetzt, den Dingen auf den Grund zu gehen und genau nachzufragen! Zum Schluss bleibt mir nur noch, der Raupe Finn von Herzen zu ihrem zehnten Geburtstag zu gratulieren! Ich danke dem Vorstand wie auch dem Team von fragFINN und allen Mitgliedsunternehmen und -verbänden für das große Engagement! Bleiben Sie alle miteinander am Ball, um Kindern sicheres Geleit durchs Internet zu geben. Mit der Kindersuchmaschine leisten Sie einen wertvollen und substantiellen Beitrag für den Jugendmedienschutz. Ich freue mich auf die weitere fruchtbare Zusammenarbeit. Unser Ziel muss es weiterhin sein, dass die ersten Ausflüge ins Internet nicht dem Grimm’schen Märchen von Hänsel und Gretel gleichen, in denen Kinder sich im Wald verlaufen. „Es war einmal eine Raupe namens Finn…“: So sollten Geschichten über Streifzüge im digitalen „Wald“ beginnen! In diesem Sinne würde ich mich freuen, wenn uns auch die Unternehmen, die noch keine Vereinsmitglieder bei fragFINN sind, dabei unterstützten, die kleine Raupe FINN groß rauszubringen und diese märchenhafte Erfolgsgeschichte weiter zu erzählen!
Zum zehnjährigen Bestehen von fragFINN hat Kulturstaatsministerin Grütters das vielfältige, unbedenklichen Angebot der auf Kinder angepassten Suchmaschine als „substantiellen Beitrag zum Jugendmedienschutz“ gelobt. „Solche Angebote sind es, die fit machen für spätere Expeditionen im Netz.“ Medienkompetenz spiele gerade heute für die demokratische Meinungsbildung eine Schlüsselrolle.
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters bei der Verleihung des Deutschen Lesepreises
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-verleihung-des-deutschen-lesepreises-798362
Thu, 09 Nov 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Die Romantherapie für Kinder. 233 Bücher, die Kinder glücklich, gesund und schlau machen“: So heißt ein kürzlich erschienenes Buch für Erwachsene, die auf der Suche nach passendem Lesestoff für Kinder und Jugendliche sind: Die Autorinnen bezeichnen sich selbst als „Bibliotherapeutinnen“ und setzen ganz auf die tröstende und heilsame Wirkung der Literatur. Für Sorgen und Nöte aller Altersgruppen gibt es geeignete Lektüreempfehlungen, sei es zu den Stichworten „Monster unterm Bett“ oder „Omas küssen müssen“, sei es zu den Themen „Sich wie ein Versager fühlen“ oder „Erste große Liebe“. So versammelt dieses Buch eine Menge Bücher, die Kinder und Jugendliche beim Aufwachsen begleiten können wie gute Freunde. Und es vermittelt mit seinen inspirierenden Empfehlungen zur Lektüreauswahl auf ganz bezaubernde Weise, dass Bücher trösten können, indem sie von Menschen erzählen, denen es ähnlich geht – und dass Bücher Mut machen können, indem sie andere Perspektiven auf das Leben und die Welt eröffnen. Das sind Erfahrungen, die allen Kindern und Jugendlichen vergönnt sein sollten – nicht nur denjenigen, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen und in deren Familien die abendliche Gute-Nacht-Geschichte, die Zeitungslektüre am Frühstückstisch und das Diskutieren über Bücher zu den schönen Alltagsritualen gehört. Viele Kinder und Jugendliche habe keine Vorbilder, an denen sie ihr Leseverhalten orientieren können – und erst recht keine „Bibliotherapeuten und -therapeutinnen“, die im richtigen Augenblick das richtige Buch aus der literarischen „Apotheke“ holen. Wie gut also, dass es Lesepatinnen und Lesepaten gibt – und viele andere Menschen, die sich in der Leseförderung engagieren: sei es im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit, sei es ehrenamtlich oder bei wissenschaftlichen Untersuchungen. Sie alle tragen dazu bei, dass möglichst viele Kinder und Jugendliche möglichst früh Zugang zu Bildungsangeboten und Teilhabechancen bekommen. Deshalb habe ich gerne auch in diesem Jahr die Schirmherrschaft für den Deutschen Lesepreis übernommen und freue mich, dass wir heute einmal mehr Menschen auszeichnen, die sich auf vorbildliche Weise für die Leseförderung einsetzen und dafür besonders innovative Konzepte entwickelt haben. Dieser Preis schafft ein öffentliches Bewusstsein für die Notwendigkeit der Leseförderung und pflegt eine Lesekultur, die auch im digitalen Zeitalter wichtig ist, damit Menschen sich ein Bild von der Gesellschaft und der Welt machen können, in der sie leben. Dazu gehört nicht zuletzt – an einem für Deutschland so geschichtsträchtigen und prägenden Tag wie dem 9. November sticht das besonders ins Auge – die Kenntnis unserer Geschichte. Sich mit identitätsstiftenden Ereignissen unserer Geschichte, mit Licht und Dunkel unserer Vergangenheit auseinander zu setzen, Zusammenhänge zu reflektieren und eine Haltung zu entwickeln, das geht ebenso wenig ohne Lektüre wie die Meinungsbildung über aktuelle Ereignisse. Lesekompetenz ist der Kompass in einer komplexen Welt; sie ist der Schlüssel zu Informationen, Wissen und demokratischer Teilhabe. „Es fängt mit Lesen an“ – das Motto der Stiftung Lesen – könnte deshalb treffender nicht sein. Die Stiftung ist seit Jahrzehnten eine unermüdliche Botschafterin der Lese- und Sprachkultur in Deutschland. Dabei setzt sie vor allem bei Kindern und Jugendlichen an. Mit ihrem bundesweiten Kooperationsnetzwerk, mit ihrer direkten Anbindung an die Schulen erreicht sie ganz unterschiedliche Zielgruppen und inspiriert auch andere zur Nachahmung. Dafür danke ich den Verantwortlichen der Stiftung Lesen und der Commerzbank-Stiftung herzlich. Und auch allen weiteren Förderinnen und Förderern, allen Partnerinnen und Partnern der Stiftung ein herzliches Dankeschön! Wie wichtig Ihr Engagement ist, erlebe ich immer wieder bei meiner Arbeit als Abgeordnete des Wahlkreises Marzahn-Hellersdorf. Da gibt es zwar einerseits – viele wissen das gar nicht – innovative Unternehmen und großartige Kulturangebote. Andererseits leben dort aber auch – wie leider vielerorts in Deutschland – zahlreiche Familien, in denen kein oder kaum Deutsch gesprochen wird, in denen die Kinder die einzigen sind, die morgens das Haus verlassen, in denen sich niemand dafür interessiert, ob sie gut in der Schule sind – ja, ob sie überhaupt in der Schule sind; Familien, in denen Kinder keine Zukunftsträume und Perspektiven haben, weil sie die Welt jenseits von Hartz IV schlicht nicht kennen. Damit darf eine Gesellschaft, damit dürfen wir uns nicht abfinden! Deshalb liegt mir die kulturelle Bildung sehr am Herzen. Mein Haus fördert Bildungs- und Teilhabechancen – beispielsweise mit unserem BKM-Preis „Kulturelle Bildung“, „mit dem ich als Kulturstaatsministerin einmal im Jahr besonders originelle Ansätze der kulturellen Bildungsvermittlung auszeichnen darf. Dabei beeindruckt mich immer wieder, wie viel Großes sich im Kleinen – nicht zuletzt dank bürgerschaftlichen Engagements – bewegen lässt. Dafür steht auch die Stiftung Lesen, dafür stehen auch unsere heutigen Preisträgerinnen und Preisträger mit ihrem Einsatz für die Leseförderung. Lesekompetenz ermöglicht Orientierung in der eigenen Welt wie auch Reisen in fremde Welten. Und ich bin überzeugt: Wer als Kind die Erfahrung gemacht hat, dass sich in der Lektüre, in der Literatur, in der Fantasie beinahe alle Grenzen überwinden lassen, bleibt treuer Leser, treue Leserin ein Leben lang. Ich selbst habe in meiner Kindheit die Bücher von Karl May geradezu verschlungen – und ich hüte sie noch heute wie einen Schatz, weil ihre Helden mich ein Stück meines Lebensweges begleitet haben. „Geschichten (…) helfen uns, das Leben zu genießen – und es auszuhalten“, hat der britische Schriftsteller Philip Pullman einmal gesagt. „Nach Nahrung, Obdach und menschlicher Gesellschaft sind sie das, was wir in dieser Welt am dringendsten brauchen.“ So steht es in der „Romantherapie für Kinder“, die ich eingangs erwähnt habe – und in diesem Sinne gratuliere ich unseren heutigen Preisträgerinnen und Preisträgern, den Wegbereitern in die Welt der Bücher, die sich für ein solches geistiges und kulturelles „Existenzminimum“ einsetzen, auf das jeder Mensch Anspruch hat. Von Herzen Danke dafür – und viel Erfolg auch für die Zukunft, auf dass die Geschichten, die jeder Mensch und die die Welt so dringend braucht, möglichst viele Leserinnen und Leser finden!
Als Schirmherrin des Deutschen Lesepreises hat Kulturstaatsministerin Grütters allen gedankt, die das Lesen fördern, allen voran den Lesepatinnen und -paten, die sich für eine Lesekultur einsetzen. Dies bleibe wichtig, um sich ein Bild von der Gesellschaft und der Welt machen zu können. „Lesekompetenz ist der Schlüssel zu Informationen, Wissen und demokratischer Teilhabe“, so Grütters und verwies auch auf die Förderung kultureller Bildungsprojekte, die Teilhabechancen eröffneten, wie etwa der Preis „Kulturelle Bildung“.
Speech by Minister of State Monika Grütters, Federal Government Commissioner for Culture and the Media, at the closing dinner of the 2017 Falling Walls Conference
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/speech-by-minister-of-state-monika-gruetters-federal-government-commissioner-for-culture-and-the-media-at-the-closing-dinner-of-the-2017-falling-walls-conference-798356
Thu, 09 Nov 2017 00:00:00 +0100
Berlin
Kulturstaatsministerin
Top researchers, unconventional thinkers and creatives from all over the world, who can talk about anything – just not for more than 15 minutes: As I understand it, this is the only strict rule of the Falling Walls Conference. I am very impressed – not only that everyone seems to obey it (for politicians, that would never work), but also that, after a long day full of highly intellectual presentations, you are still capable of listening to yet another speech. Especially since German politicians are not exactly known for their rhetorical skills. You may have heard the old joke that is often told at international conferences: Three politicians – a Frenchman, an Englishman and a German – are sentenced to death and can make one final request. The Frenchman requests a fancy meal with the best dishes and wines – rather like our meal this evening. The German asks to be allowed to give an important speech. And the Englishman’s last wish? “Please shoot me before the German starts speaking.” To rescue the honour of my fellow Germans, instead of hard-to-digest rhetorical fare, I promise you a taste of cultural policy to whet your appetite for experiences with which culture and the arts can break down walls. And Berlin is certainly the ideal place for that: not only as a place for remembering decades in which the world was divided into free and not free, and for remembering how that division was peacefully overcome 28 years ago; not only as a place to enjoy culture, in its numerous museums, opera houses, concert halls and theatres; but also as a place which attracts young people from all over the world, especially those in the avant garde of the arts. During the wild years just after the Berlin Wall fell, between anarchy and new beginnings, this city became an ideal environment for experiments and enthusiasm in the arts. And even though gentrification and rising rents have started to threaten this environment, artistic diversity has blossomed here for many years. Berlin has become what New York once was for artists: a melting pot of ideas, laboratory for experiments, sounding board for debates, the place to be for creatives. Inspiration from a generation of young artists shaped by European and non-European traditions is a boon to cultural life in Germany and for Germany’s image in the world. Who would have dared to hope this could happen, after World War II in a morally and intellectually devastated Germany? Who could have imagined it, during the Cold War decades in a divided Berlin? The Humboldt Forum, which is going up just across the street and is scheduled to open its doors in 2019, stands for the power of culture and for Germany’s understanding of itself as an open-minded, welcoming country. Next to the cultural treasures from Europe and the Middle East displayed on Museum Island, the non-European collections of the Prussian Cultural Heritage Foundation we plan to present in the Humboldt Forum will offer unique insights into the cultural heritage of humankind. They show us what we all have in common, across cultural and national boundaries. But what makes the Humboldt Forum so innovative is its role as a place for fostering understanding. We want the collections to be able to express their significance for the 21st century. This is why the theme of religion, for example, should have its own space – in view of the crises in the Middle East and Gulf region and also in view of the fear spread by terrorists in the name of religious fundamentalism. In this way, the Humboldt Forum can and should become a place for lively and broad-based public debates: a museum which not only reflects society, but also helps shape it. I am convinced that providing such a global forum is all the more important at a time when populists are calling for a return to old notions of the nation-state and are building walls to keep others out. Ladies and gentlemen, culture and the arts also show us that Europe is much more than just a free-trade zone. Europe symbolizes an achievement of civilization which not even the visionary signers of the Treaty of Rome could have dreamed of, after the suffering caused by two world wars and the barbarity of the Nazi regime. We Europeans have succeeded in putting what we have in common ahead of what divides us, and by doing so, we can offer a home to all sorts of different cultures and religions, lifestyles and ways of looking at the world. This openness to diversity is what Europe is all about. It has brought us freedom, peace and prosperity. This – not the euro or the Single Market – is what makes Europe an object of desire, an ideal for which people outside the EU are willing to mount the barricades under the European flag, as they did at Kiev’s Maidan Square in 2013 and 2014, while many within the EU only see it as a talking shop for bureaucrats mostly interested in regulating the shape of cucumbers. Precisely culture and the arts can help create the kind of understanding necessary for different interests, lifestyles, traditions and belief systems to coexist peacefully in a united Europe and a globalized world. Whether poetry, painting, film, music, theatre or dance: Where different words lead to silence or confusion, the arts can be a common language. Where different origins create barriers and exclusion, the arts can offer shared experiences. Where divisions rule our perceptions, the arts can show us what we have in common. The arts can change our points of view and expand our imaginations – and the bounds of our empathy. And last but not least, the arts can prepare the ground for the seeds of political reconciliation, as at the Barenboim-Said Academy, also just across the street, where young people from Israel and the Arab world can study music together. I am very pleased that I was able to provide 20 million euros from my culture budget for its construction, and that since this year, my budget has covered its operating costs. There is nothing else like it in the world: a place far from the daily experience of war and conflict, where musicians from the Middle East can learn, work and play music together – a place of hope. After all, music is a language which, more than any other, requires listening to and understanding each other – paying attention to other voices, whether loud or soft, staying with the beat and staying in tune. Such experience sometimes makes the diplomacy of the arts seem more effective than the art of diplomacy when it comes to tearing down walls. Ladies and gentlemen, it was Joseph Beuys who said, “Work only if you feel it will start a revolution.” Although this may seem like a rather radical attitude towards work, it can also be understood as describing the kind of conviction that motivates artists and creatives as well as those who fund culture and make cultural policy. It doesn’t always have to be a world revolution. The small revolutions in thought, in perception, in feeling and consciousness precede all major social change. In this way, culture and the arts always carry the seeds of revolution – in the most positive sense. When these seeds are allowed to grow, when they find fertile soil and a favourable climate to take root and flourish – that is what makes a vital democracy. That is why it is always worthwhile to invest time, money and energy in this fertile soil and to work to ensure the freedom of the arts and generous public support for culture. I am convinced that where culture and the arts are free to exert their powers, no walls will long remain standing. And that is another reason to celebrate 28 years after the fall of the Berlin Wall. I look forward this evening to inspiring conversations about “the next walls to fall”. Thank you very much for your invitation, Professor Mlynek and Ms König!
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters beim Abschlussdinner der Falling Walls Conference 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-abschlussdinner-der-falling-walls-conference-2017-798366
Thu, 09 Nov 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Spitzenforscher, Querdenker und Kreative aus aller Welt, die über alles reden dürfen – nur nicht über 15 Minuten: Wenn ich es richtig verstanden habe, ist dies die eiserne Grundregel der Falling Walls Conference- und beeindruckend finde ich nicht nur, dass offenbar alle sich daran halten (unter Politikern würde das ja nie funktionieren …). Beeindruckend finde ich auch, dass Sie nach einem prall mit anspruchsvollen Vorträgen gefüllten Konferenztag noch in der geistigen Verfassung sind, einer weiteren Rede zu lauschen – zumal die Rhetorik deutscher Politiker ja nicht den allerbesten Ruf genießt. Sie kennen den bösen Witz vielleicht, den man sich gerne auf internationalen Rhetorik-Tagungen erzählt: Drei Politiker – ein Franzose, ein Brite und ein Deutscher – werden zum Tode verurteilt und haben vor der Hinrichtung einen letzten Wunsch frei. Der Franzose bittet um ein Festmahl mit feinsten Speisen und Weinen – der heutige Abend wäre bestimmt ganz nach seinem Geschmack. Der Deutsche äußert den Wunsch, noch einmal eine große Rede halten zu dürfen. Und der letzte Wunsch des Briten? „Bitte erschießen Sie mich, bevor der Deutsche anfängt zu reden.“ Zur Ehrenrettung der Deutschen verspreche ich Ihnen statt schwer verdaulicher rhetorischer Kost ein kulturpolitisches amuse gueule, das Appetit macht auf Erfahrungen und Erlebnisse, mit denen Kunst und Kultur Mauern zum Einstürzen bringen können. Gerade Berlin bietet dafür ja die besten Voraussetzungen: nicht nur als Ort der Erinnerung an die jahrzehntelange Spaltung der Welt in Freiheit und Unfreiheit und an ihre glücklichen Überwindung vor 28 Jahren; nicht nur als Ort des Kulturgenusses unter anderem in zahlreichen Museen, Opern, Konzerthäusern und Theatern; sondern auch als Sehnsuchtsort junger Menschen auf der ganzen Welt, als Sehnsuchtsort insbesondere der künstlerischen Avantgarde. In den wilden Jahren nach dem Fall der Mauer entstand zwischen Anarchie und Aufbruch ein Biotop für Experimente und Enthusiasmus in der Kunst, und auch wenn Gentrifizierung und steigende Mieten diesem Biotop mittlerweile gefährlich zusetzen, erleben wir seit vielen Jahren ein Aufblühen der künstlerischen Vielfalt. Was in einer Künstlerbiografie früher New York war, das ist heute Berlin: Schmelztiegel der Ideen, Labor für Experimente, Resonanzraum für Diskurse, „the place to be“ für Kreative. Die Inspiration durch eine sowohl von europäischen als auch außereuropäischen Traditionen geprägte, junge Künstlergeneration ist ein Gewinn für das kulturelle Leben in Deutschland und für Deutschlands Ansehen in der Welt. Wer hätte das nach Ende des Zweiten Weltkriegs in einem auch geistig und moralisch zerstörten Deutschland auch nur zu hoffen gewagt? Wer hätte daran in den Jahrzehnten des Kalten Krieges im geteilten Berlin auch nur zu denken gewagt?! Für die Kraft der Kultur wie auch für das Selbstverständnis eines weltoffenen Deutschlands steht insbesondere das Humboldt Forum, das hier in unmittelbarer Nachbarschaft auf der anderen Straßenseite entsteht und 2019 seine Pforten öffnen soll. Die außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die wir dort präsentieren wollen, bieten in Verbindung mit der benachbarten Museumsinsel und deren Kulturschätzen aus Europa und dem Nahen Osten einmalige Einblicke in das kulturelle Erbe der Menschheit. Sie offenbaren, dass es ein „Wir“ auch jenseits kultureller und nationaler Grenzen gibt. Zukunftsweisend ist das Humboldt Forum aber vor allem als Ort der Verständigung: Wir wollen die Sammlungen in ihrer Bedeutung für das 21. Jahrhundert zum Sprechen bringen. Deshalb soll beispielsweise das Thema Religion eigenständigen Raum bekommen – mit Blick auf die Krisen im Nahen und Mittleren Osten und auch mit Blick auf die Angst, die Terroristen im Namen des religiösen Fundamentalismus verbreiten. Auf diese Weise kann und soll im Humboldt Forum ein lebendiger Ort möglichst breiter öffentlicher Debatten entstehen: ein Museum, das die Gesellschaft nicht nur abbildet, sondern auch mitformt. Ich bin überzeugt: Der Weltoffenheit eine solche Bühne zu geben, ist umso wichtiger in Zeiten, in denen Populisten vielerorts die Rückkehr zum Nationalstaat alter Prägung beschwören und Mauern zur Abschottung errichten wollen. Kunst und Kultur sind es auch, meine Damen und Herren, die sichtbar machen, dass Europa viel mehr ist als eine Freihandelszone. Europa steht für eine zivilisatorische Errungenschaft, die sich nach dem unfassbaren Leid zweier Weltkriege und nach dem Grauen der nationalsozialistischen Barbarei vermutlich nicht einmal die visionären Unterzeichner der Römischen Verträge hätten träumen lassen. Wir Europäer haben es geschafft, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen und eben dadurch unterschiedlichen Kulturen und Religionen, Lebensentwürfen und Weltanschauungen eine Heimat zu bieten. Diese Offenheit für Vielfalt macht Europa im Kern aus; ihr verdanken wir Freiheit, Frieden und Wohlstand. Sie macht Europa zu einem Sehnsuchtsort, für den Menschen außerhalb der EU– Europäische Union unter europäischer Flagge auf die Barrikaden gehen, wie zum Beispiel 2013 und 2014 auf dem Kiewer Majdan, während man Europa innerhalb der EU– Europäische Union leider oft auf die Regulierung der Gurkenkrümmung und ergebnislose Krisensitzungen reduziert. Zur Verständigung, die ein friedliches Miteinander unterschiedlicher Interessen, Lebensweisen, Traditionen und Weltanschauungen in einem geeinten Europa und in einer globalisierten Welt immer wieder aufs Neue erfordert, können gerade Kunst und Kultur beitragen. Ob Poesie, ob Malerei, ob Film oder Musik, Theater oder Tanz: Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren. Kunst kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Kunst kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht. Kunst kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Und last but not least kann Kunst auch den Boden bereiten, in dem die politische Saat der Versöhnung aufgehen kann – so wie beispielsweise in der Barenboim-Said-Akademie, ebenfalls hier in unmittelbarer Nachbarschaft, in der junge Menschen aus der arabischen Welt und aus Israelunterrichtet werden. Ich freue mich sehr, dass ich für den Bau 20 Millionen Euro aus meinem Kulturetat zur Verfügung stellen konnte – und seit 2017 auch die Mittel für die Betriebskosten. Es gibt auf der ganzen Welt nichts Vergleichbares: ein Ort fern des Kriegs- und Krisenalltags, an dem Künstlerinnen und Künstler aus dem Nahen Osten gemeinsam musizieren, lernen und arbeiten – ein Ort der Hoffnung. Denn gerade die Musik ist ja eine Sprache, die mehr als jede andere des Zuhörens und Einfühlens bedarf – des Lauschens auf andere Stimmen, auf Takt und Tonart, auf laut und leise. Solche Erfahrungen sind es, die die Diplomatie der Kunst gelegentlich wirkmächtiger erscheinen lassen als die Kunst der Diplomatie, wo immer es darum geht, Mauern zum Einsturz zu bringen. Meine Damen und Herren, von Joseph Beuys stammt der schöne Satz: „Arbeite nur, wenn Du das Gefühl hast, es löst eine Revolution aus.“ Diese auf den ersten Blick etwas ungesund anmutende Arbeitseinstellung kann man durchaus auch als pointierte Beschreibung der Überzeugungen verstehen, die Künstler und Kreative, aber auch Kulturförderer und Kulturpolitiker motiviert. Es muss ja nicht immer gleich die Weltrevolution sein. Die kleinen Revolutionen im Denken, im Wahrnehmen, im Empfinden, im Bewusstsein sind es, die jeder kleinen und großen gesellschaftlichen Veränderung vorausgehen, und in diesem Sinne tragen Kunst und Kultur immer den Keim des – im besten Sinne – Revolutionären in sich. Dass aus diesen Keimen etwas wachsen darf, dass es einen fruchtbaren Nährboden dafür gibt und ein wachstumsförderndes Klima – das macht eine vitale Demokratie aus. Deshalb lohnt es sich immer, Geld, Zeit und Energie in diesen fruchtbaren Nährboden zu investieren und sich für die Freiheit der Kunst ebenso wie für eine großzügige öffentliche Kulturförderung einzusetzen. Ich bin überzeugt: Wo die Kräfte der Kunst und Kultur zur Entfaltung kommen, ist keine Mauer vor dem Einsturz sicher…. Auch das ist Grund zum Feiern 28 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer. Ich freue mich heute Abend auf inspirierende Gespräche über die „next walls to fall“. Vielen Dank für die Einladung, lieber Herr Professor Mlynek und liebe Frau König!
In Berlin hat Kulturstaatsministerin Grütters die Kunst und Kultur als wesentlichen Beitrag für ein friedliches Miteinander unterschiedlicher Weltanschauungen gewürdigt. Gerade Berlin sei 28 Jahre nach dem Mauerfall „the place to be“ für Kreative. Die Inspiration durch Künstlerinnen und Künstler, ob durch europäische oder außereuropäische Traditionen geprägt, sei ein Gewinn für Deutschland und dessen Ansehen in der Welt. „Wo die Kräfte der Kunst und Kultur zur Entfaltung kommen, ist keine Mauer vor dem Einsturz sicher“, so Grütters mit Blick auf nationalstaatliche Tendenzen in Europa.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Reformationsjubiläum 2017 in der Potsdamer Oberlinkirche
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-reformationsjubilaeum-2017-in-der-potsdamer-oberlinkirche-479388
Wed, 08 Nov 2017 19:05:00 +0100
Im Wortlaut
Potsdam
Sehr geehrter Herr Pfarrer Fichtmülller, Herr Koch, Herr Professor Weber, Herr Pfarrer Vogel, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Stolpe, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Oberlinhauses, meine Damen und Herren, ich möchte mich ganz herzlich für die Einladung bedanken, der ich sehr gern gefolgt bin. Wie Sie, Herr Fichtmüller, schon angedeutet haben, bin ich der Diakonie auch dahingehend verbunden, dass sie mich von Kindesbeinen an geprägt hat. Mein Vater hat als Pfarrer in Templin den sogenannten „Waldhof“ geleitet; ich freue mich, dass sein Kollege Peter Freybe heute hier unter uns ist. Auf diesem Waldhof lebten und arbeiteten junge Menschen mit geistiger Behinderung. Und so freut es mich natürlich, dass ich wieder einmal in einer diakonischen Einrichtung zu Gast sein darf. Ich kann ungefähr nachvollziehen, wie viel Einsatz, Leidenschaft und sicher auch Geduld hier für den Nächsten aufgebracht wird. Deshalb möchte ich mit einem herzlichen Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Oberlinhauses für ihre engagierte Arbeit beginnen. Es ist großartig, wie Sie hier wirken und was Sie hier bewirken – und das für über 30.000 Menschen. Herzlichen Dank dafür. Das Oberlinhaus hat wie jede diakonische Einrichtung sein eigenes Profil. Und doch verbindet sie alle, dass immer der Mensch im Mittelpunkt steht – der Mensch als Geschöpf Gottes mit seiner unantastbaren Würde; der Mensch als Individuum, das für sich selbst verantwortlich und zugleich ein soziales Wesen ist, eingebunden in eine Gemeinschaft und daher auch immer mitverantwortlich für diese Gemeinschaft. Solche Verantwortlichkeit setzt vor allem eines voraus: Freiheit. Damit bin ich bei einem zentralen Begriff der Reformation. Es ist gerade erst eine Woche her, als wir in Wittenberg an den Thesenanschlag vor 500 Jahren erinnerten. Aus der Kritik Martin Luthers am Ablasshandel der Kirche sprach die Haltung eines Menschen, der seiner Überzeugung und seinem Gewissen verpflichtet war. Seiner selbst bewusst, wenn auch sicher nicht aller Folgen bewusst, die er auslöste, läutete Luther eine geistige Zeitenwende ein. Sie war geprägt von einem neuen Verständnis vom Menschen; und zwar vom Menschen, der mündig und zur Freiheit berufen ist. Dies ermutigt zum selbstbewussten Vertrauen in die Zukunft – eine Zukunft, die gestaltbar ist und nicht einfach ein Schicksal, in das wir Menschen uns zu fügen haben. Wir Christen sind also berufen, an unserem jeweiligen Platz dem Wohl der Gemeinschaft zu dienen. Um Luther zu zitieren: „Ein Schuster, ein Schmied, ein Bauer, ein jeglicher hat seines Handwerks Amt und Werk, und doch sind alle gleich geweihte Priester und Bischöfe. Und ein jeglicher soll mit seinem Amt oder Werk den anderen nützlich und dienstbar sein, so dass vielerlei Werke alle auf eine Gemeinde gerichtet sind, Leib und Seele zu fördern, gleich wie die Gliedmaßen des Körpers alle eines dem andern dienen.“ Dieser Perspektivenwechsel eines vermehrt der Welt zugewandten Glaubens bedeutete eine Säkularisierung ganz eigener Art. Denn sie verbannte nicht die Religion aus der Welt, sondern machte sie zu einer Triebkraft in der Welt. Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist das Wirken des Theologen und Sozialreformers Johann Friedrich Oberlin. Als er die Pfarrstelle in Steintal, einer abgeschiedenen Region in den Vogesen, antrat, begegnete er dort Menschen, die weitgehend isoliert von der Außenwelt ohne jegliche Bildungsmöglichkeit in bitterer Armut lebten. Oberlin machte die Verbesserung ihrer Verhältnisse zu seiner Lebensaufgabe. Den Schlüssel dazu sah er in der Bildung in umfassendem Sinne. Er machte sich daran, ein Schulsystem zu erarbeiten und ein Schulhaus aufzubauen. Er dachte auch an die Kinder im, wie wir heute sagen, Vorschulalter. Für sie schuf er die Gelegenheit, auf spielerische Weise erste Einblicke in die Pflanzen-, Tier- und Erdkunde zu gewinnen. Und so war Oberlin als Wegbereiter der frühkindlichen Bildung seiner Zeit weit voraus. Es sollte bis 1871 dauern, bis der Oberlinverein in Berlin genau mit dem Ziel gegründet wurde, die Betreuung und Bildung von Kleinkindern zu fördern. Ältere Kinder bzw. Jugendliche schickte Oberlin zur Handwerksausbildung in umliegende Ortschaften. Nach ihrer Rückkehr kam das Fachwissen, das sie sich angeeignet hatten, auch den Steintalern zugute. Und damit nicht genug: Oberlin half beim Aufbau von Betrieben, setzte Verbesserungen in der Landwirtschaft durch, er war Lehrer in Ackerbau und Viehzucht, in Hygiene und praktischer Medizin. Sogar für den Wege- und Brückenbau sorgte er. Zum Lebenswerk Oberlins hieß es vor gut zehn Jahren in einem Artikel der „Zeit“ sehr treffend, dass man daran auch sehen könne – ich zitiere –, „wie der Glaube eines Menschen wenn nicht Berge, so doch ein Tal voller bettelarm vegetierender Menschen in ein besseres Leben versetzen kann – materiell, sozial, geistig.“ Heute leben wir in Deutschland und Europa in deutlich besseren Verhältnissen als zu Zeiten Oberlins. Zugleich aber erfährt unsere Art zu leben und zu arbeiten in unserer schnelllebigen Zeit tiefgreifende Umbrüche. Wolfgang Schäuble hat das – ich möchte ihn zitieren – als „Rendezvous mit der Globalisierung“ bezeichnet. Wir erleben, dass Krisen und Konflikte in anderen Erdteilen auch Auswirkungen auf uns hierzulande haben. Weltweit sind so viele Menschen auf der Flucht wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Auch zu uns nach Deutschland sind viele geflohen, um Krieg, Verfolgung und Perspektivlosigkeit hinter sich zu lassen. Wir stehen jetzt vor der großen Aufgabe, diejenigen, die über längere Zeit oder dauerhaft bei uns bleiben, in unsere Gesellschaft zu integrieren. Meist aber denken wir beim Begriff Globalisierung an zunehmende wirtschaftliche Verflechtungen. Wir profitieren als Exportnation natürlich auch davon. Globalisierung wird vor allem angetrieben durch neue Möglichkeiten der Information und Kommunikation. Dabei spielen Entfernungen kaum noch eine Rolle. Damit gehen auf der einen Seite große Chancen in allen Lebens- und Arbeitsbereichen einher. Auf der anderen Seite müssen wir uns auch in einem Meer an Informationen sowie mit völlig neuen Technologien zurechtfinden. Das heißt, die Anforderungen an die Medienkompetenzen im Allgemeinen und an die Ausbildung und Qualifizierung in der Arbeitswelt im Besonderen werden sich weiter verändern. Einerseits werden bestimmte Tätigkeiten künftig von Maschinen mit künstlicher Intelligenz übernommen, andererseits entstehen neue Arbeitsfelder. Auch die Lebensläufe und Arbeitszeiten ändern sich. Die Anforderungen nehmen zu, flexibler zwischen Familienzeit, Berufstätigkeit und Qualifizierung zu wechseln. Dabei lernen die einen, neue Freiräume zu schätzen, und andere leiden darunter, dass einstige Bindungen in Familie, Gemeinde und Beruf an Beständigkeit und Verlässlichkeit verlieren. Kurzum: Der digitale und technische Fortschritt wie auch der demografische Wandel bringen grundlegende Veränderungen mit sich. Veränderungen nehmen die einen eher als Chance und andere eher als Bedrohung wahr. In jedem Fall bedeutet Veränderung die Herausforderung, sie so zu gestalten, dass diese Veränderung allen zugutekommen kann. Wir dürfen keinen zurücklassen, der sich verunsichert fühlt, weil wir auch für die Zukunft alles daransetzen müssen, dass es in unserer Gesellschaft gerecht zugeht. Dies ist Voraussetzung für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Wir alle wissen, dass ohne Gerechtigkeit und Sicherheit der Zusammenhalt einer Gesellschaft bedroht ist. Politik trägt natürlich eine besondere Verantwortung – einerseits für die Möglichkeit der freien Entfaltung des einzelnen Menschen, andererseits auch für die staatliche Ordnung und das Rechtssystem insgesamt. Der Staat ist nach unserem Verständnis zur Humanität und damit zur Fürsorge verpflichtet. Dies entbindet jeden von uns natürlich nicht davon, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten auch selbst Vorsorge für die Zukunft zu treffen. Umso wichtiger ist es, bereits die Startchancen für ein selbstbestimmtes Leben in den Blick zu nehmen. Wir dürfen uns eben nicht damit abfinden, dass Unterschiede durch soziale oder familiäre Herkunft die Zukunftsperspektiven maßgeblich bestimmen. Daher gehört es zu den vorrangigen Aufgaben, gute Bildung für alle zu gewährleisten – ob mit oder ohne Migrationshintergrund, ob mit oder ohne Behinderung. Alles beginnt zunächst in der Familie. Sie ist der erste und wichtigste Ort der Zuwendung und des Vertrauens. Diese Erfahrung machen zu können, ist für viele das wichtigste Startkapital. Die Familie gibt Kindern Halt, sie bedeutet Orientierung, sie stärkt das soziale Verhalten, sie lebt vor, was Verantwortung und Rücksichtnahme, Gerechtigkeit und Solidarität heißen. In diesem Sinne ist die Familie für Kinder auch der erste Bildungsort. Deshalb gehört die Aufgabe, Familie zu stärken, in das Zentrum von Politik, die dem zur Freiheit und Verantwortung berufenen Menschen dienen will. Dazu müssen wir die Herausforderungen sehen, vor denen Familien stehen, und ihnen tatsächlich Wahlmöglichkeiten, also Freiräume, schaffen. Es hat sich in dieser Hinsicht in den letzten Jahren einiges bewegt. Beispiele will ich hier nur stichwortartig nennen: Verbesserungen bei Elternzeit und Elterngeld, bessere Unterstützung von Alleinerziehenden, bessere Angebote zur Kinderbetreuung. All das hat auch Auswirkungen darauf, inwieweit sich die Familie als Bildungsort bewähren kann. Die Politik muss natürlich das gesamte Bildungssystem in den Blick nehmen – also vom Kindergarten über die Schule bis zur beruflichen Bildung bzw. zum Studium sowie zur Fort- und Weiterbildung. Hierfür tragen Bund, Länder und Kommunen gemeinsam Verantwortung. Denn was zählt und was die Menschen interessiert, das sind natürlich nicht die Zuständigkeiten, sondern die Bildungschancen. Daher war es ein wichtiger Schritt, dass wir das Grundgesetz geändert haben, um zum Beispiel den Kommunen, die finanziell schwächer sind, gerade auch bei der Sanierung von Schulen zu helfen. Als Bund haben wir auch beim Ausbau der Ganztagsbetreuung mitgeholfen. Sicherlich müssen wir auch daran arbeiten, Bildungssysteme durchlässiger und anschlussfähiger zu machen. Das heißt vor allem, berufliche und akademische Bildung noch besser als bislang kombinieren zu können. Das bedeutet, nicht nur die Durchlässigkeit von der beruflichen Bildung hin zur akademischen zu verbessern, sondern auch denjenigen, die das Studium abbrechen, die Rückkehr in eine gute berufliche Ausbildung zu ermöglichen. Jeder in unserem Land sollte seine Fähigkeiten und Talente bestmöglich entfalten können. Das hat auch Einfluss auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben insgesamt. Der Zusammenhalt einer Gesellschaft zeigt sich insbesondere, ja fast exemplarisch daran, wie sehr gerade auch Menschen mit Behinderungen mit ihren Anliegen ebenso wie mit ihrem Wissen und Können wahrgenommen, respektiert und beteiligt werden. Ich habe erwähnt, dass ich meine Kindheit auf dem Waldhof verbracht habe, wo es auch eine diakonische Einrichtung gab. Es war damals bitter zu sehen, wie wenig Unterstützung in der DDR Menschen vor allem mit geistiger Behinderung erhielten. Kirchliche Einrichtungen haben damals getan, was mit ihren beschränkten Möglichkeiten und Mitteln möglich war. Vom Staat kam, wenn ein Kind als nicht bildungsfähig eingestuft war, sehr, sehr wenig. Wer in der DDR als nicht bildungs- und förderungsfähig bezeichnet wurde, hatte weder Anspruch auf Schulbildung noch auf gute pädagogische Förderung. In der alten Bundesrepublik gab es bis 1990 zwar ein differenziertes Sondersystem, das verschiedene Lebensbereiche von Menschen mit Behinderungen umfasste. Aber dieses System war stark auf die Behinderung selbst ausgerichtet und zu wenig auf Teilhabe. Es hat lange gedauert, bis wir einen neuen Ansatz verfolgt haben – auch getrieben durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009. Damit ist Inklusion Teil unserer Arbeit geworden. Wir haben in diesem Geiste in der vergangenen Legislaturperiode das Bundesteilhabegesetz entwickelt. Wir haben es nach einem langen und breiten Beteiligungsprozess verabschiedet. Ich weiß, wie viel Unzufriedenheit bleibt, und glaube trotzdem, dass wir einiges erreicht haben. Manche fürchten, dass für die, die für die Leistungen aufkommen, wieder eine neue Kostendynamik entstehen könnte. Auf der anderen Seite können sich Menschen, die mit einer Behinderung leben und ihren Alltag meistern, noch erheblich weiterreichende Leistungsverbesserungen vorstellen. So ist auch die Diskussion geprägt, wenn man mit Bürgermeistern oder Vertretern von Behindertenverbänden spricht. Wir als Politiker haben dann die Aufgabe, einen Kompromiss zu finden. Ich glaube, dass wir einen tragfähigen Kompromiss gefunden haben. Es wird zwei weitere Reformstufen – 2018 und 2020 – geben. Und wir werden genau hinschauen, wie sich das Gesetz in der Praxis auswirkt und welche Erfahrungen Menschen mit Behinderungen konkret machen. Ich werde auch selbst weiter das Gespräch dazu suchen. Dann müssen wir natürlich Schlussfolgerungen ziehen, wenn wir sehen, dass es an manchen Stellen nicht so funktioniert, wie wir es uns erhofft haben. Ich bin überzeugt, dass wir letztlich beides brauchen: sowohl Inklusion als auch die Fördereinrichtungen, die seit Jahrzehnten hervorragende Arbeit leisten. Aber auch darüber findet derzeit eine sehr konträre Diskussion statt. Viele Menschen mit Behinderungen wollen und können auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten. Das sogenannte Budget für Arbeit kann hierbei den Einstieg erleichtern. Andere wiederum arbeiten lieber in einer geschützten Werkstatt oder versuchen es in einem Integrationsbetrieb. Manche Kinder mit Behinderungen können in einer Inklusionsschule, manche in einer Förderschule gute Ergebnisse erzielen. Aber wo immer es möglich ist, sollten Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen sein. Davon profitieren alle. Jeder lernt vom anderen. Das oberste Kriterium muss sein: Was will und was braucht der einzelne Mensch? Das ist die Kernfrage, der sich auch das Oberlinhaus seit seinen ersten Anfängen stellt. Offensichtlich haben Sie hier überzeugende Antworten gefunden, denn aus dem einst kleinen Verein ist ein großes diakonisches Unternehmen geworden. In Ihren verschieden Einrichtungen bilden, begleiten und behandeln Sie Menschen. Darauf konzentrieren Sie sich voll und ganz und machen damit, so glaube ich, Ihrem Namensgeber Oberlin alle Ehre, der seiner Überzeugung gefolgt ist: „Lernen muss man mit dem ganzen Körper.“ Das ist für uns alle gut zu wissen. Oft wird ja leiblichen Genüssen Vorrang eingeräumt, bevor man anfängt, den Kopf zu gebrauchen und zu lernen. Das kennt ja jeder: Noch ein paar „Ersatztätigkeiten“, bevor es wirklich losgeht. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen eine glückliche Hand auch für Ihr weiteres Engagement. Es ist abzusehen, dass es dieses Engagements im 21. Jahrhundert auch weiterhin bedarf – eines Engagements, das aus christlicher Verantwortung darauf ausgerichtet ist, eine wirklich inklusive Gesellschaft, eine Gesellschaft des Zusammenhalts, zu gestalten. Herzlichen Dank.
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters beim Publishers‘ Summit 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-publishers-summit-2017-806586
Mon, 06 Nov 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Publishing 2020“, „Werbung 2020“, „Journalismus der Zukunft“ und sein Wert „im Spannungsfeld mit Gratisinformationen“: Ein ambitioniertes Programm haben Sie da heute und morgen vor sich! Wären wir im Sport, diese Agenda wäre kein Spaziergang, kein Marathon, kein Triathlon – sondern eher ein Ironman, die Triathlon-Langdistanz. Die schaffen bekanntlich nur Extremsportler – und selbst die deutschen Athleten, die zuletzt auf Hawaii sehr erfolgreich waren, schaffen sie nicht in weniger als acht Stunden. Falls also der Verband der Zeitschriftenverleger seine freundliche Einladung, den Blick in die Zukunft um die politische Perspektive zu ergänzen, mit der Hoffnung oder gar mit der Erwartung verbunden hat, die für Kultur und Medien zuständige Staatsministerin könnte das sozusagen im Sprint erledigen, und zwar in einer Weise, die das Themaerschöpft, nicht aber die Rednerin oder gar die Zuhörer, dann muss ich Sie leider enttäuschen. Das weite Feld der „(Medien)Politik nach der Bundestagswahl“ lässt sich in 20 Minuten nur aus der Helikopterperspektive vermessen. Hinzu kommt, dass wir von „Jamaika“ aus starten – und da müssen wir ja erstmal hin … .Ich beschränke mich deshalb auf grundsätzliche Überlegungen zu einigen großen medienpolitischen Herausforderungen der kommenden Jahre. Vordergründig geht es in medienpolitischen Debatten vor allem darum, angesichts der technischen Möglichkeiten im digitalen Zeitalter den Ausgleich zwischen unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Interessen neu zu verhandeln: in der Urheberrechtsdebatte beispielsweise sind es die Interessen der Künstler und Kreativen, die von geistiger Arbeit leben, die Interessen der Verwerter, die für die Verbreitung geistiger Güter sorgen und oftmals ein hohes Investitionsrisiko tragen, und schließlich die Interessen der Nutzer, denen das Internet nicht nur freien, sondern teilweise sogar kostenfreien Zugang zur Vielfalt kreativer Leistungen eröffnet. Dabei geraten oft auch grundlegende Werte miteinander in Konflikt: So berufen sich beispielsweise in der Debatte um Hate Speech Opfer verbaler Angriffe auf den Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte, während von Hass und Hetze unbehelligte Internetnutzer die Meinungsfreiheit hochhalten. Solche berechtigten Ansprüche brauchen einen fairen Ausgleich. Interessen sind verhandelbar, über Werte kann man sich verständigen, und beides sollte in einer Demokratie selbstverständlich sein. Und doch stößt eben dies – der Versuch demokratischer Verständigung über den Umgang mit neuen technologischen Entwicklungen – vielfach auf reflexhafte Ablehnung: ganz so, als träte der Mensch im Internet nur als User in Erscheinung, nicht aber als Bürger; ganz so, als sei der Anspruch, die Welt mit demokratischen Mitteln politisch zu gestalten, nur im analogen Leben legitim, nicht aber für das Internet. Deshalb scheint mir der einleitende Hinweis durchaus angebracht, dass wir im Rausch des technisch Möglichen den politischen Gestaltungsanspruch nicht zur Disposition stellen sollten. Der Schutz der Menschenwürde, grundlegende Freiheitsrechte, Medienvielfalt und fairer Wettbewerb – das sind Errungenschaften, für die es sich zu streiten lohnt! Und was wir in der analogen Welt aus guten Gründen verteidigen, verdient auch im Netz Schutz und Anerkennung. Bleiben wir gleich beim Beispiel „Urheberrecht“: Schutz und Anerkennung verdient die Freiheit, die geistige und künstlerische Spitzenleistungen überhaupt erst möglich macht. Diese Spitzenleistungen entstehen vor allem dort, wo man von geistiger, von kreativer Arbeit leben kann. Der Schutz geistiger Schöpfungen ist dafür eine notwendige Voraussetzung. Es ist dieser Schutz, der Künstlern und Intellektuellen – Schriftstellern zum Beispiel, aber auch Journalisten – den Lebensunterhalt sichert. Es ist dieser Schutz, der unsere kulturelle Vielfalt nährt und unseren wirtschaftlichen Wohlstand fördert. Weil die Nutzung und Verbreitung urheberrechtlich geschützter Inhalte im digitalen Zeitalter nicht an Ländergrenzen haltmacht, ist es sinnvoll, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sich auf gemeinsame Regelungen verständigen. In diesen Diskussionen brauchen die Kultur- und auch die Medienschaffenden weiterhin eine starke politische Stimme. Wichtig ist mir, dass die bewährten Standards im Verhältnis von Urhebern, Verwertern und Nutzern nicht einseitig zu Lasten der Kreativen und der Kreativwirtschaft gesenkt werden. Dass die auf europäischer Ebene geführten Debatten zugleich ein Spiegelbild grundsätzlicher und brandaktueller Herausforderungen der privaten Medienanbieter sind, wissen Sie hier am allerbesten. Ob in der Diskussion über die Einführung eines Europäischen Leistungsschutzrechts für Presseverleger, über die Möglichkeit der Verlegerbeteiligung oder auch über die von der EU–Europäische Union-Kommission geplante ePrivacy-Verordnung: Wir reden über die Frage, wie wir bewährte Finanzierungsmodelle der privaten Medien auch zukünftig in der digitalen Welt absichern können. Dabei geht es nicht darum, überholte Geschäftsmodelle einer angeblich innovationsarmen Branche am Leben zu halten, wie es manchmal zu Unrecht behauptet wird. Es geht vielmehr um die ganz grundsätzliche Frage, ob wir weiterhin private Medienangebote als Beitrag zu Medienpluralismus und Meinungsfreiheit ermöglichen wollen. Und dazu werden Sie von mir immer ein ganz klares „Ja!“ hören. Die Angebote privater Medien – sei es die Presse, sei es der private Rundfunk – stützen unsere fein austarierte Medienordnung und sind auch in Zukunft unverzichtbar. Und deshalb kann beispielsweise die ePrivacy Verordnung aus meiner Sicht nicht so bleiben wie sie sich im aktuellen Entwurfsstatus darstellt. Gleichzeitig müssen sich die verschiedenen Akteure ihrer Verantwortung bewusst sein. Beispielhaft will ich hier nur die großen Plattformen nennen, die nicht die Möglichkeit haben sollten, ihre Geschäftsmodelle auf Kosten der Urheber und Rechtsinhaber zu verfolgen, sondern diese angemessen beteiligen und bei der Verhinderung von Rechtsverletzungen aktiv mitarbeiten müssen. Auch dafür setze ich mich auf europäischer Ebene im Rahmen der Urheberrechtsreform ein. Auch für die Medienpolitik einer zukünftigen Bundesregierung wird der Schutz der Medienvielfalt und der Meinungs- und Pressefreiheit also eine zentrale Rolle spielen. Dass politisch unerwünschte Meinungen in vielen Ländern unterdrückt werden, dass Journalisten in ihrer Arbeit behindert, verfolgt, verhaftet, gar ermordet werden – von 930 getöteten Journalistinnen und Journalisten weltweit in den letzten zehn Jahren wurde jüngst berichtet -, dass populistische Politiker sich mit ideologischen Kampfbegriffen wie „Lügenpresse“ munitionieren, um Misstrauen zu schüren gegen unabhängige Berichterstattung … – all das ist ebenso entlarvend wie Besorgnis erregend. Entlarvend deshalb, weil all das die Furcht vor der Freiheit des Wortes offenbart! Entlarvend deshalb, weil die Unterdrückung dieser Freiheit das Eingeständnis bedeutet, dass journalistische Vielfalt stärker ist als populistische Einfalt – und die Kraft klarer und wahrer Worte stärker als autoritäre Macht! Gerade dieses Eingeständnis sollte für Demokraten überall auf der Welt Ansporn sein, sich im Sinne Voltaires, des geistigen Führers der europäischen Aufklärung, für unabhängige Journalistinnen und Journalisten stark zu machen: Wir mögen verdammen, was sie schreiben, aber wir werden alles dafür tun, dass sie es schreiben können und dürfen. Nicht zuletzt ist die Hartnäckigkeit, mit der Journalistinnen und Journalisten hinter die Fassaden schauen, den Fakten auf den Grund gehen, unbequeme Fragen stellen und unterbelichtete Winkel ausleuchten, ja auch das wirksamste Mittel gegen Fake News. Umso wichtiger ist die Entwicklung tragfähiger Geschäftsmodelle für den Journalismus des 21. Jahrhunderts. Eine der digitalen Herausforderungen für Meinungsvielfalt und Pressefreiheit ist die Tatsache, dass der Weg zur Website einer Zeitung heute vielfach über Intermediäre, über soziale Netzwerke führt. Was sie dort zu sehen bekommen, sind die Ergebnisse eines Algorithmus – die Ergebnisse automatisierter Entscheidungen, ausgerichtet auf die Präferenzen des jeweiligen Nutzers und seiner Freunde, programmiert mit dem Ziel, möglichst viel „Traffic“ zu generieren – für Facebook, versteht sich. Das nährt die Filterblasen, in denen nicht zuletzt rassistische Hetze, Falschmeldungen und Verschwörungstheorien besonders gut gedeihen. Und es führt dazu, dass nur ein Bruchteil der Inhalte, die eine Redaktion auf Facebook veröffentlicht, den Nutzern auch angezeigt wird. Das heißt: Ein Großteil fällt durchs Raster. Als treue Abonnentin einer großen deutschen Tageszeitung – ja, ich gehöre noch zu der offenbar aussterbenden Spezies von Menschen, die den Tag mit der Lektüre einer Tageszeitung beginnen! – bin ich davon nicht direkt persönlich betroffen. Aber ein paar grundsätzliche Fragen drängen sich ganz unabhängig davon geradezu auf: Was bedeutet es für eine Demokratie, wenn Journalisten im Hinterkopf haben, dass ihre Texte möglichst hohe Klickzahlen generieren müssen? Wollen wir die Meinungsbildung in unserer Demokratie der Marktlogik der Klick-Ökonomie überlassen? Wollen wir zulassen, dass Internetgiganten wie Facebook Datenmonopole zu Deutungsmonopolen und Deutungsmonopole zu Meinungsmonopolen ausbauen? Wollen wir hinnehmen, dass Algorithmen auf diese Weise die Vielfalt unabhängiger Medien und die journalistische Freiheit aushebeln? Diese Fragen, mit denen die Digitalisierung uns konfrontiert, erfordern politische Antworten, nicht nur technologische und ökonomische – und mit politischen Antworten meine ich nicht „Antworten von Politikern“, sondern politische Entscheidungen auf der Grundlage öffentlicher wie auch fachlicher Debatten. Deshalb bin ich froh, dass der Verband der Zeitschriftenverleger diesen Debatten – unter anderem mit dem Publishers‘ Summit – ein Forum bietet, um gemeinsam medienpolitische Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft zu entwickeln. Im Bericht der Bund-Länder-Kommission Medienkonvergenz zum Regelungsumfeld von Online-Plattformen haben Bund und Länder 2016 unter anderem bereits gefordert, Inhalteanbietern einen diskriminierungsfreien Zugang zu meinungsrelevanten Plattformen zu gewährleisten. Außerdem treten wir für Transparenz und für Wahlfreiheit für Nutzerinnen und Nutzer bei der strukturellen Gestaltung des Angebotes ein. Sie müssen in der Lage sein, meinungsbildungsrelevante Angebote einfach zu finden. Internetnutzer sollten außerdem leicht erkennen können, dass Algorithmen Anwendung finden – und eben keine Redaktion Nachrichten nach journalistischen Kriterien aussucht. Damit klarer wird, welche zentralen Kriterien insbesondere bei Such- und Empfehlungsfunktionen verwendet werden, halte ich konkrete Transparenzvorschriften – auch auf europäischer Ebene – für wünschenswert. Auch und gerade die Förderung von Medienkompetenz gewinnt in diesem Zusammenhang noch weiter an Bedeutung. Denn alle Transparenz nützt nichts, wenn die Nutzerinnen und Nutzer daraus nicht die richtigen Schlüsse für ihr Verhalten im Netz und für die Einordnung von Informationen ziehen. Deshalb wird mein Haus – so wie hoffentlich auch die Medienbranche – die Anstrengungen in diesem Bereich noch einmal verstärken. In der Medienpolitik, meine Damen und Herren, verhandeln wir immer wieder auch über den Kern unseres demokratischen Selbstverständnisses. Für die Politik, die letztlich den medienpolitischen Ordnungsrahmen gestaltet und verantwortet, ist es deshalb wichtig, die Entwicklungen in der Medienwelt sehr aufmerksam zu verfolgen. Selten waren die Umwälzungen so rasant wie heute. Demokratische Meinungsbildungsprozesse verändern sich, weil zum Beispiel die Grenzen zwischen klassischem Rundfunk und Internet zunehmend verschwinden, der professionelle Journalismus heute neue Wettbewerber um die Aufmerksamkeit des Publikums hat und sich das Verhältnis zum Publikum ändert. Als Folge einer technischen Konvergenz erleben wir derzeit zunehmend auch eine Konvergenz der Mediengattungen. Presse und Rundfunk sind als Kategorien für unsere Regulierungsansätze von hoher Relevanz – für den Rezipienten hat dies oftmals keinerlei Bedeutung mehr. Er baut sich sein eigenes Medienangebot aus der Vielzahl der Angebote zusammen, die er im Netz findet. Ich muss gestehen, dass ich Ihnen heute nicht ad hoc das Patentrezept für eine zukünftige Medienordnung präsentieren kann. Überlegungen laufen ja schon seit Jahren, und die Diskussionen um die Strukturreform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder auch zum Umfang und zu den Grenzen öffentlich-rechtlicher Telemedienangebote haben jüngst zu einem gewissen Temperaturanstieg in der öffentlichen Auseinandersetzung, zu bisweilen sehr hitzigen Debatten geführt. Ich habe eingangs gesagt, dass ich die privaten Medien für unverzichtbar halte und ihnen auch unter veränderten Bedingungen eine Finanzierung ihres Angebots möglich sein muss. Zugleich halte ich aber wenig davon, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in die Nähe eines „Staatsfunks“ zu rücken. Wir haben in Deutschland mit die vielfältigste Medienlandschaft und die unabhängigsten Medien weltweit. Dazu tragen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ebenso bei wie die Privaten. Wir sollten angesichts der aktuellen Debatte auch nicht aus dem Blick verlieren, dass die wirkliche Herausforderung weniger das Telemedienangebot des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist, sondern der Umgang mit globalen Plattformen und Intermediären, die zu einer massiven Veränderung der Mediennutzung und der Bedingungen führen, wie Inhalte den Menschen erreichen. Dass es nicht unmöglich ist, auch dafür europäische Regelungen aufzustellen, zeigt derzeit die Verhandlung der AVMD-Richtlinie in Brüssel. Im Trilog aus EU–Europäische Union-Kommission, Rat und Parlament befindet sie sich auf der Zielgeraden der europäischen Gesetzgebung. Hier ist es uns gelungen, auch audiovisuelle Angebote von sozialen Netzwerken mit einzubeziehen. Ich weiß zugleich, liebe Verlegerinnen und Verleger, dass Sie insbesondere mit den Vorschlägen zur Deregulierung der Werbung in der AVMD-Richtlinie nicht zufrieden sind, obwohl die Vorgaben für Werbezeiten nicht völlig abgeschafft werden sollen und für die Prime-Time zeitliche Vorgaben Bestand haben werden. Auch dabei handelt es sich um einen Kompromiss, der unter dem Eindruck neuer Wettbewerber auf dem Markt um Aufmerksamkeit und Werbekunden entstanden ist. Es wird auch eine Frage der Umsetzung der AVMD-Richtlinie in nationales Recht mit Augenmaß sein. Dazu sollten wir gemeinsam den Dialog mit den mitverantwortlichen Ländern nochmal aufnehmen. Die gemeinsame Arbeit von Bund und Ländern hat eines allerdings jetzt schon sehr deutlich werden lassen: Wenn wir auf europäischer Ebene mitgestalten wollen, dürfen wir uns nicht in kleinteiligen Föderalismusdebatten verlieren. Wir müssen den Schulterschluss suchen, um auf europäischer Ebene Verbesserungen zu erreichen. Diesen Weg sollten wir zusammen weitergehen – auch mit Unterstützung durch den Verband der Zeitschriftenverleger. Mit Blick auf die Uhr und den „Iron Man“, den Langdistanztriathlon an Themen, der Ihnen noch bevorsteht, will ich es bei diesen Beispielen bewenden lassen. Medienfreiheit und Medienvielfalt brauchen politischen Gestaltungswillen – und ich bin zuversichtlich, dass dieser medienpolitische Gestaltungswille auch im Koalitionsvertrag Niederschlag finden wird. Auf dem Spiel steht nicht weniger als unsere Demokratie – und das sagt nicht nur eine analog sozialisierte Kulturpolitikerin. So warnte der Informatiker Sandro Gaycken, einst Aktivist im Chaos Computer Club, in einem Zeitungsbeitrag vor einiger Zeit eindringlich vor einer schleichenden Deformierung der politischen Kommunikation: „Die neuen, hoch granularen, zentralisierten Möglichkeiten der gezielten und vollkommen unsichtbaren, unkontrollierten Manipulation sind (…) eine diabolische Verrenkung demokratischer Meinungsbildung. Die Demokratie und ihre Institutionen müssen dagegen angehen. (…) Sonst verlieren wir Kernelemente der Demokratie an das unsichtbare Böse dieser Maschine.“ Das sind markige Worte. Aber offenbar braucht es solche Worte, um die Bedeutung der notwendigen, medienpolitischen Weichenstellungen zu unterstreichen und auch die Netzöffentlichkeit dafür zu sensibilisieren. In diesem Sinne hoffe ich, meine Damen und Herren, dass wir unsere fein austarierte Medienordnung und unsere grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechte mit markigen Worten und ebensolchen Regulierungs-vorschlägen gemeinsam verteidigen. Der Publishers‘ Summit kann dazu bestimmt Inspiration und Impulse beitragen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und einen konstruktiven Austausch!
Mit Blick auf die digitale und globale Realität der Medien- und Informationsangebote hat Kulturstaatsministern Grütters auf dem Jahreskongress der Deutschen Zeitungsverleger zugesagt, sich auch künftig für die Verleger stark zu machen; so etwa beim Urheberrecht, bei den Online-Angeboten wie auch bei den Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene. „Die Angebote privater Medien sind auch in Zukunft in Presse wie beim Rundfunk ein unverzichtbarer Beitrag zu Medienpluralismus und Meinungsfreiheit.“
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich des 10-jährigen Jubiläums des Theaterfeuilletons nachtkritik.de
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-des-10-jaehrigen-jubilaeums-des-theaterfeuilletons-nachtkritik-de-806318
Sat, 04 Nov 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Es kommt nicht alle Tage vor, dass „Herren im Bad“ deutsche Kulturgeschichte schreiben: Unstrittig gelungen ist dies vermutlich einzig Herrn Müller-Lüdenscheidt und Herrn Dr. Klöbner, die Loriot in einer Hotelbadewanne aufeinandertreffen ließ, wo sie sich als „durchaus in der Lage“ erwiesen, „auch mal ein Wannenbad ohne Wasser zu nehmen“ – und sich mit Sätzen wie „Die Ente bleibt draußen“ im kulturellen Gedächtnis der Nation zu verewigen. Weniger bekannt, doch nicht minder kulturprägend, lieber Nikolaus Merck, ist der große Badezimmermoment Ihres Lebens: Die bestechende Idee, Theaterkritiken über Nacht zu schreiben und im Internet zu veröffentlichen, soll Sie ja der Legende nach im Sommer 2006 unter der Dusche heimgesucht haben – ebenso überfallartig wie Herr Dr. Klöbner einst Herrn Müller-Lüdenscheidt. Doch während bis heute ungeklärt ist, ob – wer in einer „Fremdwanne“ sitzt – eine „Ente zu Wasser lassen darf“, haben Sie das unter fließendem Wasser ersonnene nachtkritik-Versprechen „Sie schlafen, wir schreiben“ ohne Zweifel eingelöst, was dem Ruf des Badezimmers als Ort der Ideen wie auch dem Ruf des Theaters als Ort gesellschaftlicher Selbstverständigung gleichermaßen gutgetan hat. Dem fünfköpfigen Gründungsteam, meine Damen und Herren, bestehend aus Nikolaus Merck, Esther Slevogt, Petra Kohse, Dirk Pilz und Konrad von Homeyer … diesem fünfköpfigen Gründungsteam, den aktuell zehn Redakteurinnen und Redakteuren und den mittlerweile mehr als 60 nachtkritik-Autorinnen und Autoren verdankt der Theaterliebhaber zunächst einmal den Luxus, morgens schon bei der ersten Tasse Kaffee zu erfahren, was man am Vorabend etwa im Berliner Maxim Gorki Theater, auf Kampnagel in Hamburg, im Basler Schauspielhaus, im Theater Chemnitz oder im Stadttheater Aalen verpasst hat – oder auch nicht. Der geneigte Leser ist auf nachtkritik.de darüber hinaus aber auch zur Kommentierung eingeladen: Er darf den Kritikerinnen und Kritikern, die sich regelmäßig die Nacht um die Ohren schlagen, um selbige auch ihre Elogen oder Verrisse hauen. Diese nicht gerade feinsinnige Formulierung ist insofern angebracht, meine Damen und Herren, als es in der prominent platzierten Kommentarspalte seit jeher deutlich heftiger und deftiger zur Sache geht als zwischen Loriots kultiviert streitenden „Herren im Bad“. Auf das Privileg des letzten Wortes müssen die „Nachtkritikerinnen“ und „Nachtkritiker“ dabei verzichten. Dafür dürfen sie sich mit Fug und Recht als Avantgarde der Theaterkritik bezeichnen, und das nicht nur, weil sie damit morgens als erste am Start sind. Ihr Verdienst ist es, im Internet jenen Resonanzraum für das deutschsprachige Theater geschaffen zu haben, der im Zeitungsfeuilleton keinen Platz hat, dem allgegenwärtigen Spardruck wie auch dem Selbstverständnis grauer Kritikereminenzen geschuldet, deren Urteile dem Leser im analogen Zeitalter als letztinstanzlich präsentiert wurden – ganz nach dem Loriotschen, Herrn Müller-Lüdenscheidt in den Mund gelegten Motto: „Ich (…) bin Ihnen in meiner Badewanne keine Rechenschaft schuldig.“ Mit der Entscheidung, „die Einbahnstraße der Kritik für den Gegenverkehr zu öffnen“, wie es die Gründer einst so treffend formulierten, haben die „Nachtkritiker“ sich vielleicht nicht gerade um das Wohlbefinden der Kritikerzunft, dafür aber umso mehr um das Wohl der deutschen Theaterlandschaft verdient gemacht. Als Unruhestifter im besten Sinne, als Orte demokratischer Öffentlichkeit, an denen eine Gesellschaft ihre Konflikte verhandelt, als Orte gesellschaftlicher Selbstverständigung haben Theater ja nur eine Zukunft, wenn sie ins Gespräch kommen und im Gespräch bleiben. Das habe ich nicht zuletzt auf meinen Theaterreisen zu kleinen Bühnen nach Westdeutschland und Ostdeutschland erlebt, die Nikolaus Merck, Wolfgang Behrens und Hartmut Krug dankenswerterweise begleitet haben. Und das ist ja auch der Grund, warum ich den Theaterpreis des Bundes ins Leben gerufen habe, der gerade den kleineren Bühnen zu mehr Sichtbarkeit und öffentlicher Aufmerksamkeit verhelfen soll. Ich bin sehr dankbar, dass die Nachtkritik-Redaktion mit Anne Peter und nachfolgend Georg Kasch in der Jury vertreten war und wir von ihrer Expertise profitieren konnten. Die vielen Theater, die im deutschsprachigen Raum auch abseits der Metropolen auf hohem künstlerischen Niveau zur flächendeckenden kulturellen Grundversorgung beitragen, erreichen mit ihren Inszenierungen auf nachtkritik.de nicht nur Aufmerksamkeit über den Zuschauerraum hinaus, sondern auch die Resonanz, die ihren Wert jenseits ökonomischer Nutzenerwägungen offenbart. Mag das Niveau so mancher anonymer Kommentare dabei gelegentlich auch Zweifel an der geistigen Zurechnungsfähigkeit des Verfassers aufkommen lassen – Nachtkritik ist Kritik im besten aufklärerischen Sinne: als Einladung und Ermutigung, sich (frei nach Immanuel Kant) in der Auseinandersetzung mit den Themen, die Theater auf die Bühne holen, des eigenen Verstandes zu bedienen; aber auch als Anspruch, die demokratische Streit- und Debattenkultur hoch zu halten, erst recht, wenn einzelne diese Kultur mit Füßen treten, so wie wir das ja, nebenbei bemerkt, leider auch in der politischen Auseinandersetzung erleben. Lassen Sie sich, lassen wir uns diesen hohen Anspruch nicht von Hass und Hetze kaputt machen. Er ist es wert, gelebt und verteidigt zu werden! In diesem Sinne, liebe Redakteurinnen und Redakteure, liebe Autorinnen und Autoren, ein herzliches Dankeschön für 10 Jahre Nachtkritik, für unzählige Nachtschichten, für Reisen an abgelegene Bühnen, für Einladungen zum Streit und Widerspruch, fürs Aushalten der Zumutungen, die damit verbunden sind – kurz: Ein herzliches Dankeschön für Ihre großartige Arbeit an vorderster Debattenfront!
Zum 10-jährigen Jubiläum von nachtkritik.de hat Kulturstaatsministerin Grütters Redaktion, Autorinnen und Autoren des unabhängige Internet-Theaterportal für die „großartige Arbeit an vorderster Debattenfront“ gedankt. „Sie dürfen sich mit Fug und Recht als Avantgarde der Theaterkritik bezeichnen, so Grütters. „Ihr Verdienst ist es, im Internet jenen Resonanzraum für das deutschsprachige Theater geschaffen zu haben, der im Zeitungsfeuilleton keinen Platz hat.“
Rede der Kulturstaatsministerin bei der Eröffnung der Ausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt: Der NS-Kunstraub und die Folgen“ in Bonn
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-bei-der-eroeffnung-der-ausstellung-bestandsaufnahme-gurlitt-der-ns-kunstraub-und-die-folgen-in-bonn-463274
Thu, 02 Nov 2017 18:00:00 +0100
Sendesperrfrist, 2. November 2017, 19:00 Uhr – Es gilt das gesprochene Wort !
Bonn
Kulturstaatsministerin
Anrede, im Jahr 1903 erwarb der jüdische Kunstsammler Albert Martin Wolffson eine Handzeichnung Adolph von Menzels mit dem Titel „Inneres einer gotischen Kirche“ – eines von 32 Blättern, für die er insgesamt 50.000 Reichsmark bezahlte. 35 Jahre später, im Jahr 1938 musste seine Tochter Elsa Cohen diese Zeichnung verkaufen, um ihre Flucht vor den Nationalsozialisten in die USA–United States of America finanzieren zu können. Der Käufer war Hildebrand Gurlitt. Sein Geschäftsbuch verzeichnet einen Preis von 150 Reichsmark – eine dem damaligen Wert einer Menzel-Handzeichnung absolut nicht angemessene Summe. Knapp 80 Jahre später, im Jahr 2017 endlich bekam die Familie Wolffson ihr Eigentum zurück: Dank der Arbeit der Taskforce „Schwabinger Kunstfund“ konnte ich die Zeichnung im Februar an die Erben Elsa Cohens übergeben. Mit ihrer Biographie steht Elsa Cohen beispielhaft für eben die Opferschicksale, denen die Ausstellung „Der NS-Kunstraub und die Folgen“ gewidmet ist. Gestern haben wir in Bern den Teil der Ausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt“ eröffnet, der die so genannte „Entartete Kunst“ betrifft. Die Aktion „Entartete Kunst“, die uns das Kunstmuseum Bern mit rund 200, größtenteils in den 1930er Jahren in deutschen Museen und Sammlungen beschlagnahmten Werken aus dem „Kunstfund Gurlitt“ vor Augen führt, steht für die Verhöhnung, Verfolgung und Entrechtung der Künstlerinnen und Künstler, die sich nicht für die nationalsozialistische Ideologie in Dienst nehmen ließen. Sie steht damit auch für den Tod der Kunstfreiheit, ablesbar schon auf der Titelseite des Katalogs zur Diffamierungsausstellung Entartete „Kunst“: Es war die Kunst, die hier in Anführungszeichen stand, um der diktatorischen Definitions- und Deutungshoheit Ausdruck zu verleihen. Die Aufarbeitung dieses Teils der schändlichen Kunstpolitik der National-sozialisten sowie des beispiellosen Kunstraubs, verübt an meist jüdischen Kunsthändlern und -sammlern, ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands. Bei der Raubkunst geht es vor allem um die Anerkennung der Opferbiographien, des unermesslichen Leids unzähliger Menschen – insbesondere jüdischer Bürger in Deutschland und den besetzten Gebieten – unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Deshalb hat der Umgang mit dem Kunstbestand Gurlitts nicht nur eine rechtliche, sondern vor allem auch eine moralische Dimension. Den menschlichen Schicksalen gerecht zu werden, die hinter den geraubten und entzogenen Kunstwerken stehen, dazu haben wir – die Bundesregierung, der Freistaat Bayern und das Kunstmuseum Bern als Erbe der Sammlung – uns vor drei Jahren gemeinsam verpflichtet. Unzählige, meist jüdische Sammler von Kunst- und Kulturgütern haben während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ihr Eigentum verloren: Sie wurden von den Nationalsozialisten verfolgt, sie wurden beraubt, sie wurden enteignet. Andere mussten ihren Besitz, wie Elsa Cohen, weit unter Wert veräußern oder bei Flucht und Emigration zurücklassen. Dieses Leid, dieses Unrecht lässt sich nicht wieder gutmachen. Dennoch – oder gerade deshalb – habe ich es als wichtige und bedeutsame Geste empfunden, mit der Rückgabe der Menzel-Zeichnung an die Erben Elsa Cohens wenigstens ein wenig zu historischer Gerechtigkeit beitragen zu können. Das hat mich auch persönlich sehr bewegt. Ich danke Ihnen und Ihrer Familie herzlich, verehrter Herr Wolffson, dass Sie als Vertreter der in den USA–United States of America lebenden Erben der Bundeskunsthalle die Zeichnung für den „Bonner Teil“ der Doppelausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt“ zur Verfügung gestellt haben und heute auch hier sind. Die Ausstellung zeigt einmal mehr, dass hinter jedem entzogenen, geraubten Kunstwerk das individuelle Schicksal eines Menschen steht: Dies anzuerkennen und die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, sind wir den Opfern der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und deren Nachfahren schuldig. Die Ausstellung sensibilisiert aber auch dafür, wie mühsam, langwierig und ungeheuer schwierig es ist, die Herkunft eines Kulturguts über Jahrzehnte zurück zu verfolgen und zweifelsfrei zu klären. Die insbesondere mit Blick auf die noch lebenden, hochbetagten Opfer und ihre Nachkommen nur allzu verständliche Erwartung, dass sich 70 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Terrorherrschaft die Geschichte der knapp 1.600 Werke unklarer Provenienz im Gurlitt-Konvolut innerhalb kürzester Zeit zurück verfolgen lässt, erwies sich deshalb aus wissenschaftlicher Sicht leider als unerfüllbare Hoffnung. Zu den Zahlen: Knapp 900 Werke konnten nach erster Forschung dem Familienbesitz Gurlitts oder der sogenannten „Entarteten Kunst“ zugeordnet werden, bei denen in der Regel nicht von Raubkunst auszugehen ist. Daher wurden rund 700 Werke unter möglichem Raubkunstverdacht in den Fokus genommen: Deren Vergangenheit und die von Unrecht und Krieg geprägten Umstände ihrer Besitzerwechsel wurden in akribischer Arbeit erforscht. Nur ein geringer Teil ließ sich hier eindeutig als Raubkunst oder als unbelastet identifizieren. Trotz Ausschöpfung aller Quellen besteht aktuell bei über 100 Werken nach wie vor ein gesteigerter Raubkunstverdacht. Bei zwei Werken, bei denen die Forschungsergebnisse gegenwärtig von den internationalen Experten im Reviewverfahren überprüft werden, ist damit zu rechnen, dass sich ein Raubkunstverdacht bestätigen wird. Gründe dafür, dass nur ein geringer Teil sich eindeutig als Raubkunst oder als unbelastet identifizieren ließ, sind beispielsweise im Krieg ja oft ebenfalls verlorengegangene Dokumente, unzugängliche Privatarchive – auch zum Teil die des Kunsthandels – oder Schwierigkeiten bei der Identifikation eines Werks, weil keine Stempel oder Aufschriften angebracht wurden. Angesichts dieser Probleme ist die Ausschöpfung aller Forschungsmöglichkeiten zur Provenienzklärung das Bestmögliche, was wir erreichen können – und in diesem Sinne sind wir durch die Arbeit der Taskforce und des so genannten „Projekts Provenienzrecherche Gurlitt“ schon ziemlich weit gekommen. Zur „Bestandsaufnahme Gurlitt“ gehören aber nicht nur die Ergebnisse der Untersuchung des „Kunstfunds Gurlitt“, sondern auch und insbesondere die weit über dessen Aufklärung hinausgehenden Fortschritte bei der Aufarbeitung des NS-Kunstraubs. Ein großer Fortschritt ist allein schon, dass die Taskforce international einheitliche Standards und Darstellungsformen für die Provenienzforschung und deren Ergebnisse geschaffen hat. All das gab es zuvor nicht! Das ist auch einer der Gründe, warum die Veröffentlichung der Zwischenergebnisse sich so mühsam hinzog. Hier hat die Taskforce dann am Ende großartige Pionierarbeit geleistet. Ein großer Fortschritt ist zweitens die Stärkung der internationalen Zusammenarbeit, die die Provenienzforschung mit der Aufarbeitung des „Kunstfunds Gurlitt“ erfahren hat. Als ich im Dezember 2013 mit dem Amt der Kulturstaatsministerin gewissermaßen auch den Fall Gurlitt „übernommen“ habe, war mir vor allem eines wichtig: ein politisches Signal der Transparenz gegenüber den Nachkommen der Opfer zu setzen. Mir war deshalb sehr daran gelegen, dass die Taskforce mit internationalen Experten besetzt wurde, die nicht zuletzt auch Anerkennung bei jüdischen Organisationen und in Israel finden konnten. Ihre Beiträge erwiesen sich fachlich als außerordentlich wertvoll und halfen auch dabei, die Perspektive der Leidtragenden im Blick zu behalten. Deshalb bedeutet mir der regelmäßige, hilfreiche Austausch mit Herrn Lauder, der heute leider nicht anwesend sein kann, sehr viel. Wir haben einander mehrmals besucht – in Berlin und New York. Als Erfolg dürfen wir drittens auch werten, dass die Aufarbeitung des „Kunstfunds Gurlitt“ das öffentliche Bewusstsein für die Bedeutung der Provenienzforschung deutlich gestärkt hat. Mit dem auf meine Initiative gegründeten Deutschen Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg gibt es nun einen zentralen Ansprechpartner für Provenienzforschung. Die Bundesmittel für Provenienzforschung konnte ich in meinem Kulturetat von 2 auf 6,5 Millionen Euro erhöhen. Auch viele Museen engagieren sich inzwischen viel stärker als bisher. Sie werden eben nicht mehr nur an ihrer Ankaufs- und Ausstellungspolitik gemessen, sondern auch und vor allem daran, wie sie ihre Geschichte und die ihrer Sammlungen aufarbeiten. Ich werde die öffentlichen Einrichtungen auch weiterhin, wo immer sich die Gelegenheit bietet, an ihre Verantwortung erinnern und appelliere immer wieder auch an private Kunstsammler (davon wird es ja einige unter uns geben) und auch an den Kunsthandel, ihre Bestände zu untersuchen und – den Washingtoner Prinzipien folgend – zu gerechten und fairen Lösungen beizutragen. Last but not least hat eben die Arbeit der Taskforce und des jetzigen Projektteams beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste eine Fülle an Erkenntnissen zum Umgang mit Kunst in der NS–Nationalsozialismus-Zeit zutage gefördert, von der die künftige Forschung profitieren wird. Und auch diese Ausstellung eröffnet mit der Präsentation vieler Werke ungeklärter Herkunft Chancen auf neue Erkenntnisse durch neue Hinweise. So ist die „Bestandsaufnahme Gurlitt“ denn auch kein Schlusspunkt der Aufarbeitung, sondern ganz im Gegenteil: ein Ausgangspunkt, von dem aus mehr Forschende als bisher mit besserem Rüstzeug als bisher der Wahrheit auf den Grund gehen können. Ich danke all jenen, deren unermüdliches Engagement dazu beigetragen hat – sei es im Rahmen der Aufklärung des „Kunstfunds Gurlitt“, sei es im Rahmen der Vorbereitung der Ausstellung, die wir heute eröffnen. Mag Wiedergutmachung auch jenseits unserer Möglichkeiten liegen, meine Damen und Herren, so verdient doch auf jeden Fall die Aufarbeitung des NS-Kunstraubs jede nur mögliche Anstrengung. Denn jedes einzelne Werk, dessen Provenienz geklärt und das vielleicht sogar restituiert werden kann, ist ein Mosaikstein des immer noch unvollständigen Bilds von der historischen Wahrheit. Es – wo immer möglich – zu ergänzen und die Wahrheit anzuerkennen, das sind und bleiben wir den ihres Eigentums und ihrer Rechte beraubten, von den Nationalsozialisten verfolgten und vielfach ermordeten Menschen schuldig – und ich bin froh und dankbar, dass die Ausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt“ eben dies sehr eindringlich vermittelt. Ich wünsche ihr deshalb ein aufmerksames Publikum – auf dass Schicksale wie das Elsa Cohens die Beachtung erfahren, die ihnen viel zu lange verwehrt blieb! -Bitte Sendesperrfrist beachten! Es gilt das gesprochene Wort.-
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters bei der Eröffnung der Ausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt:,Entartete Kunst‘ – Beschlagnahmt und verkauft“ in Bern
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-eroeffnung-der-ausstellung-bestandsaufnahme-gurlitt-entartete-kunst-beschlagnahmt-und-verkauft-in-bern-466636
Wed, 01 Nov 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Bern
Kulturstaatsministerin
Vor ziemlich genau 80 Jahren – am 26. November 1937 – propagierte Joseph Goebbels bei der Jahrestagung der Reichskulturkammer in Berlin in einer seiner berüchtigten, demagogischen Hetzreden den Ausschluss der Juden aus dem deutschen Kulturleben. Er sprach in diesem Zusammenhang auch über die Ausstellung „Entartete Kunst“, die einige Monate zuvor in München eröffnet worden war. „Bedeutet das nun“, so Goebbels’ rhetorische Frage, „eine Einengung der so viel beredeten künstlerischen Freiheit? Doch nur dann“, fuhr er fort, „wenn der Künstler das Recht hätte, sich der Zeit und ihrer Forderungen zu entziehen und außerhalb der Gemeinschaft seines Volkes ein eigenbrötlerisches Sonderleben zu führen. Das aber kann und darf nicht der Fall sein. (…) die Kunst ist nicht ein Lebensbezirk für sich, in den einzudringen dem Volke verwehrt sein müsste. Sie ist eine Funktion des Volkslebens und der Künstler ihr begnadeter Sinngeber.“ Die Aktion „Entartete Kunst“, die uns das Kunstmuseum Bern mit rund 200, größtenteils in den 1930er Jahren in deutschen Museen und Sammlungen beschlagnahmten Werken aus dem „Kunstfund Gurlitt“ vor Augen führt, steht für die Verhöhnung, Verfolgung und Entrechtung der Künstlerinnen und Künstler, die sich nicht, wie von Goebbels propagiert, als „begnadete Sinngeber“ für die „Funktion des Volkslebens“ und damit für die nationalsozialistische Ideologie in Dienst nehmen ließen. Sie steht damit auch für den Tod der Kunstfreiheit, ablesbar schon auf der Titelseite des Katalogs zur Diffamierungsausstellung Entartete „Kunst“: Es war die Kunst, die hier in Anführungszeichen stand, um der diktatorischen Definitions- und Deutungshoheit Ausdruck zu verleihen. Die Aufarbeitung dieses Teils der schändlichen Kunstpolitik der Nationalsozialisten sowie des beispiellosen Kunstraubs, verübt an meist jüdischen Kunsthändlern und -sammlern, ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands. Bei der Raubkunst geht es vor allem um die Anerkennung der Opferbiographien, des unermesslichen Leids unzähliger Menschen – insbesondere jüdischer Bürger in Deutschland und den besetzten Gebieten – unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Deshalb hat der Umgang mit dem Kunstbestand Gurlitts nicht nur eine rechtliche, sondern vor allem auch eine moralische Dimension. Den menschlichen Schicksalen gerecht zu werden, die hinter den geraubten und entzogenen Kunstwerken stehen, dazu haben wir – die Bundesregierung, der Freistaat Bayern und das Kunstmuseum Bern als Erbe der Sammlung – uns vor drei Jahren gemeinsam verpflichtet. Ich bin sehr dankbar, liebe Frau Dr. Zimmer, lieber Herr Dr. Brülhart, dass sich das Kunstmuseum Bern zur Übernahme der Erbschaft bereit erklärt und die damit verbundene, große Verantwortung angenommen hat – zum einen im Bekenntnis zu den Washingtoner Prinzipien, den verantwortungsbewussten Umgang mit NS–Nationalsozalismus-Raubkunst betreffend, zum anderen in der Bereitschaft zur engen Zusammenarbeit bei der aufklärenden Erforschung des Kunstfundes Gurlitt. Die Ausstellung, die wir heute eröffnen, ist Teil unseres gemeinsamen Bemühens um Aufklärung und Transparenz. Mir war von Anfang an sehr daran gelegen, auch bei den Werken des Kunstfundes Gurlitt, die von den Nationalsozialisten als „entartet“ verunglimpft und aus öffentlichen Sammlungen und Museen entfernt wurden, zu Lösungen zu kommen, die den Interessen aller Beteiligten gerecht werden – insbesondere den Interessen der Museen, aus denen die Werke einst herausgerissen wurden. Das Kunstmuseum Bern hat sich deshalb bereit erklärt, Leihanfragen derjenigen Museen, die bis zur NS–Nationalsozalismus-Aktion „Entartete Kunst“ Besitzer der angefragten Werke waren, prioritär zu behandeln und diesen nach Möglichkeit zu entsprechen. Auch dafür danke ich Ihnen, liebe Frau Dr. Zimmer, lieber Herr Dr. Brülhart, und allen Verantwortlichen. Mein herzlicher Dank gilt darüber hinaus den deutschen und schweizerischen Museumsfachleuten für die hervorragende, in der Provenienzforschung unerlässliche und deshalb wegweisende Zusammenarbeit bei der Vorbereitung der Ausstellung. Als Kunsthistorikerin weiß ich nur zu gut, wie mühsam, langwierig und ungeheuer schwierig es häufig ist, die Herkunft eines Kulturguts über Jahrzehnte zurück zu verfolgen und zweifelsfrei zu klären. Das gelingt nur mit Hilfe eines internationalen Netzwerks, mit einem länderübergreifenden wissenschaftlichen und politischen Schulterschluss. Deshalb freue ich mich auch sehr, dass die schweizerische Bundesregierung seit 2016 Museen und Sammlungen mit insgesamt zwei Millionen Franken bei der Provenienzforschung unterstützt. Ganz offensichtlich hat die gemeinsame Übernahme der Verantwortung für den „Schwabinger Kunstfund“ das Bewusstsein für die Bedeutung der Provenienzforschung deutlich gestärkt. Auch das gehört heute zur „Bestandsaufnahme Gurlitt“, ebenso wie die Präsentation des aktuellen Forschungsstandes. Jenseits dieser – der Transparenz, Aufklärung und Aufarbeitung gewidmeten – Bestandsaufnahme verdienen die Meisterwerke der Moderne, denen eine breite öffentliche Wertschätzung noch über viele Jahrzehnte nach ihrer Stigmatisierung und Verunglimpfung durch den nationalsozialistischen Kampfbegriff „entartete Kunst“ verwehrt blieb, aber auch schlicht und einfach das Licht der Öffentlichkeit und die leuchtende Begeisterung im Auge ihrer heutigen Betrachter. Ich bin sicher: Viele Kunstliebhaber werden die Freude teilen, die ich eben beim Rundgang durch die Ausstellung, beim Anblick großartiger Werke beispielsweise von Ernst Ludwig Kirchner, Franz Marc und Otto Dix empfunden habe. Mit ihrer wechselvollen Geschichte erzählen diese Meisterwerke im Übrigen nicht nur von der ideologischen Vereinnahmung und Degradierung der Kunst und von der Ausgrenzung und Entrechtung zahlreicher Künstlerinnen und Künstler; sie mahnen auch zum Widerspruch, wenn Kunst in Anführungszeichen geschrieben wird, und sie appellieren an unseren demokratischen Widerstandsgeist, wenn Künstler und Kulturschaffende von Populisten und Nationalisten aufgefordert werden, – ich zitiere aus einem einschlägigen Wahlprogramm – „einen positiven Bezug zur eigenen Heimat zu fördern“ oder „zur Identifikation mit unserem Land an(zu)regen.“ Denn eine Kunst, die sich festlegen ließe auf die Grenzen des politisch Wünschenswerten, eine Kunst, die den Absolutheitsanspruch einer Ideologie oder Weltanschauung respektierte, die gar einer bestimmten Moral oder Politik diente – eine solchermaßen begrenzte oder domestizierte Kunst würde sich nicht nur ihrer Möglichkeiten, sondern auch ihres Wertes berauben. So kann uns der „Berner Teil“ der Doppelausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt“ nicht zuletzt auch die künstlerische Freiheit einmal mehr schätzen und gegen jede Form der staatlichen, der politischen, der weltanschaulichen Vereinnahmung im Dienste eines Kollektivs verteidigen lehren – ganz im Sinne des berühmten Expressionisten Max Beckmann (- einst ebenfalls in der Diffamierungsschau „Entartete Kunst“ vertreten -), der 1938 in seinem berühmten Vortrag „Über meine Malerei“ Stellung gegen die Kulturbarbarei der Nationalsozialisten bezog. Der Kollektivismus sei die „größte Gefahr, die uns Menschen allen droht“, erklärte er, und ich zitiere weiter: „Überall wird versucht, das Glück oder die Lebensmöglichkeiten der Menschen auf das Niveau eines Termitenstaates herabzuschrauben. Dem widersetze ich mich mit der ganzen Kraft meiner Seele.“ Diese Kraft, meine Damen und Herren, wünsche ich auch unseren Demokratien. Möge diese Ausstellung, mögen die Lehren aus der Aufarbeitung der nationalistischen Kunstpolitik genau dazu beitragen!
Das Kunstmuseum Bern zeigt aus dem Kunstfund Gurlitt rund 200 Werke, die die Nationalsozialsten als „Entartete Kunst“ diffamierten. Für Kulturstaatsministerin Grütters ist die Ausstellung Schau „Teil unseres gemeinsamen Bemühens um Aufklärung und Transparenz. Die Aufarbeitung dieses beispiellosen Kunstraubs ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands.“
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich des staatlichen Festakts zum Reformationsjubiläums
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-des-staatlichen-festakts-zum-reformationsjubilaeums-466642
Tue, 31 Oct 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Wittenberg
Kulturstaatsministerin
Herzlich willkommen zur Feier des 500. Reformationsjubiläums, herzlich willkommen zum festlichen Höhepunkt und würdigen Ausklang eines Jahres im Zeichen des gemeinsamen Erinnerns! Ein solches Volksfest der Verständigung hätte Martin Luther sich gewiss nicht im Entferntesten träumen lassen, als er am 31. Oktober 1517 hier in Wittenberg mit 95 theologischen Thesen eine Debatte anstoßen wollte. Schwer zu sagen, was ihn – wäre er als zeitgereister Ehrengast unter uns – mehr überraschen würde: der Schulterschluss zwischen Katholiken und Protestanten in der Bereitschaft, das Verbindende über das Trennende zu stellen die von zahlreichen Ehrengästen aus dem Ausland bezeugte, wahrhaft weltbewegende Resonanz auf seine reformatorische Kirchenkritik oder die Konfrontation mit der kulturellen Vielfalt einer pluralistischen Demokratie – eine Vielfalt, die heute dank der zahlreichen Repräsentanten verschiedener Religionsgemeinschaften und zivilgesellschaftlicher Gruppen auch die voll besetzten Reihen dieses Festsaales prägt. Wir dürfen jedenfalls davon ausgehen, dass dem Ehrengast aus dem 16. Jahrhundert das ungläubige Staunen ins Gesicht geschrieben wäre angesichts der politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Folgen seines Ringens um Gott und seines Drängens auf Erneuerung der Kirche. Um die Reformation als Teil eines gewaltigen gesellschaftlichen Umbruchs zu würdigen, hat der Bund sich bei den Vorbereitungen zum Reformationsjubiläum finanziell wie organisatorisch außerordentlich engagiert, und ich freue mich, die – insbesondere in den Besucherzahlen sichtbare – Erfolgsbilanz in einem einzigen Satz zusammenfassen zu können: Wohl selten zuvor haben sich so viele Menschen mit einem prägenden Ereignis der frühen Neuzeit und vor allem mit der Suche nach unseren Wurzeln und Werten befasst. Die Ausstellungen und Veranstaltungen, die kulturellen Beiträge, die wissenschaftlichen und publizistischen Wortmeldungen des Jubiläumsjahres haben nicht nur der Vielstimmigkeit des Erinnerns an Licht und Schatten der Reformationsgeschichte Raum gegeben, sondern auch der kulturellen Selbstvergewisserung: der Auseinandersetzung mit prägenden Lernerfahrungen, aus denen heraus sich nicht zuletzt auch unsere demokratischen Werte entwickelt haben. Ich danke allen Mitwirkenden der Kirchen und der Zivilgesellschaft, der Länder und der Kommunen, die dazu mit Tatkraft, Ideen, Begeisterung und – ganz im Sinne Martin Luthers – auch mit inspirierender Debattier- und Streitlust beigetragen haben. Gerade mit seiner Streitbarkeit – mit seinem verwegenen Mut, als kleiner Mönch mächtigen Autoritäten entgegen zu treten – hat Martin Luther den Weg in unser heutiges Gemeinwesen geebnet, auch wenn er selbst demokratische Werte wie Toleranz und Religionsfreiheit im heutigen Sinne weder predigte noch praktizierte. Und so wäre die persönliche Botschaft dieses sperrigen, störrischen Kirchenrebellen – unseres fiktiven Ehrengastes – heute vielleicht gerade die Aufforderung, das Suchen und das Zweifeln zu üben. Als Zweifelnder, der sich auf dem Wormser Reichstag 1521 allein auf die Heilige Schrift und sein Gewissen berief, setzte er der weltlichen wie auch der geistlichen Macht Grenzen – was ihn und viele Mitstreiter und Erben freilich nicht davor bewahrte, die eigenen Überzeugungen mit bisweilen fundamentalistischem Wahrheitsfuror zu verteidigen. Als Suchender rang er um klare Worte und starke Bilder und eröffnete so mit seiner Bibelübersetzung allen Menschen Zugang zum Wort Gottes – während manche seiner ebenso sprach-gewaltigen Schriften Hass und Ausgrenzung propagierten. In dieser Ambivalenz blieb Luther, auch wenn er seiner Zeit in vielerlei Hinsicht voraus war, seiner Zeit auch verhaftet. Doch gerade, weil er als Zweifelnder und Suchender auch auf Irrwege geraten ist, gerade weil er uns die Möglichkeit der Fehlbarkeit tiefster Überzeugungen erkennen lässt, lehrt er uns, Fragende zu bleiben und nicht nur den Glauben, sondern auch den Zweifel Raum zu geben. Um es mit den Worten eines bekennenden Liebhabers des Christentums und eines streitbaren Intellektuellen muslimischen Glaubens zu sagen – in den Worten Navid Kermanis: „Die Liebe zum Eigenen – ob es nun die eigene Kultur, Religion oder auch die eigene Person ist – erweist sich in der Kritik.“ In diesem Sinne hoffe ich, meine Damen und Herren, dass der heutige Tag nicht als Schlusspunkt der Auseinandersetzung mit der Reformation in Erinnerung bleibt, sondern als Einladung: als Einladung, in der kritischen Auseinandersetzung – im Zweifeln, im Suchen, im Fragen – die Liebe zum Eigenen zu pflegen.
Beim Festakt in Wittenberg zog Kulturstaatsministerin Grütters eine positive Bilanz. Das breite Angebot habe Raum gegeben: zum einen einem vielstimmigen Erinnern an eine Reformationsgeschichte mit Licht und Schatten, zum anderen „der kulturellen Selbstvergewisserung. Wohl selten zuvor haben sich so viele Menschen mit einem prägenden Ereignis der frühen Neuzeit und vor allem mit der Suche nach unseren Wurzeln und Werten befasst.“
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters bei der Eröffnung der 60. Ausgabe des DOK Leipzig Filmfestivals
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-eroeffnung-der-60-ausgabe-des-dok-leipzig-filmfestivals-467390
Mon, 30 Oct 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Leipzig
Kulturstaatsministerin
„Nach der Angst“: Das diesjährige Motto des internationalen Dokumentar- und Animationsfilm-Festivals wäre zweifellos auch ein vielversprechender Titel für einen fesselnden Dokumentarfilm über den Mut zum Aufbruch. Schließlich versammelt DOK Leipzig alles, was man dafür braucht: erstens, einen passenden Schauplatz: Wir feiern heute an einem Ort, an dem im Januar 1989 allen Ängsten zum Trotz einer der wirkmächtigsten Protestmärsche der Mutigen und Entschlossenen gegen Unterdrückung und Terror durch die DDR–Deutsche Demokratische Republik-Diktatur begann; zweitens, eine passende Veranstaltung: DOK Leipzig hat Geschichte geschrieben im beherzten Bemühen, selbst zwischen den ideologisch verhärteten Fronten des geteilten Deutschlands Freiräume für filmische Experimente und den länderübergreifenden Austausch zu schaffen; drittens, passende Protagonisten: nämlich Sie, die Filmkünstlerinnen und Filmkünstler. Sie zeigen mit künstlerisch anspruchsvollen Dokumentations- und Animationsfilmen politisch Haltung und scheuen in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit weder Konfrontation und noch Konflikte. Ja, der Glaube an die Veränderbarkeit der Welt prägte Leipzig und prägte dieses Festival, und die revolutionäre Kraft der Kunst hat sich dabei immer wieder als stärker erwiesen als die lähmenden Fesseln der Angst. Das macht Mut in Zeiten, in denen Populisten Ängste schüren und in denen demokratische Vielfalt einmal mehr wirkmächtiger Kräfte bedarf! Deshalb freue ich mich sehr, heute zur Feier des 60. Jubiläums das DOK Leipzig Festival 2017 gemeinsam mit Ihnen zu eröffnen, liebe Frau Pasanen und begrüße auch alle bisherigen Festivaldirektoren. „Nach der Angst“…, das ist immer auch „nach der Auseinandersetzung“ mit diffusen Ängsten. Der Dokumentarfilm verleitet in diesem Sinne dazu, genau hinzuschauen: Er bringt Verborgenes ans Licht und verleiht unserer Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit Tiefenschärfe. Er setzt dem Heischen um Aufmerksamkeit das Ringen um Wahrheit und Erkenntnis entgegen. Und gerade heute, im Zeitalter digitaler Informationsfluten, die unseren Augen mehr zumuten als unser Kopf an Verstand aufzubringen und unser Herz an Empathie zu empfinden vermag, gerade heute braucht es die aufwändige Recherche, die Erzählkunst und die atmosphärisch starken Bilder, die den Dokumentarfilm auszeichnen, um Relevantes sichtbar und Wirklichkeit in ihrer Vielschichtigkeit erfassbar zu machen. Eben das ist seine große Stärke – und es ist eine Stärke auch für die demokratische Debattenkultur, die von der Bereitschaft lebt, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen statt einfach nur vorbei zu scrollen. Deshalb verdient der Dokumentarfilm – im Fernsehen genauso wie auf der Leinwand – mehr Wahrnehmung, mehr Wertschätzung und mehr Publikum. Man kann es nicht oft genug sagen, und ich sage es immer wieder und auch heute: Dokumentarfilme verdienen mehr Raum zu zuschauerfreundlichen (!) Sendezeiten in unseren öffentlich-rechtlichen Sendern! Wertschätzung für zeit- und rechercheintensive Filmformate ist nicht zuletzt auch eine Frage des Geldes. Die 15 Millionen Euro, die für die kulturelle Filmförderung meines Hauses seit 2016 zusätzlich zur Verfügung stehen, sollen auch Ihnen, den Filmemacherinnen und Filmemacher im Dokumentarfilm-bereich, mehr künstlerischen Spielraum und damit größtmögliche Unabhängigkeit eröffnen: So haben wir die Fördermöglichkeiten für die einzelnen Filmproduktionen deutlich erhöht und für den Dokumentarfilm eine Stoffentwicklungsförderung neu eingeführt. Außerdem haben wir das Höchstbudget der antragsberechtigten Filme von 2,5 Millionen Euro auf 5 Millionen Euro angehoben, den zulässigen Anteil der BKM-Fördersumme deutlich erhöht und die Juryarbeit gestärkt – mit eigenständigen Jurys für den Spielfilm- und den Dokumentarfilmbereich. Darüber hinaus haben wir auch die Verleihförderung und die Kinoprogrammpreisprämien erhöht, damit Ihre Filme ein möglichst großes Publikum erreichen. Diese Fördermöglichkeiten sollen künstlerisch herausragenden Filmprojekten zum Erfolg verhelfen, und es freut mich sehr, dass im diesjährigen Wettbewerb des DOK Leipzig Festivals auch „Früchte“ der BKM-Produktionsförderung vertreten sind. Die Förderung meines Hauses soll Sie, meine Damen und Herren, aber auch in Ihrer couragierten Suche nach Klarheit und Wahrheit bestärken. Stellungen zu halten, die von anderen aufgegeben wurden und sich vorwärts zu bewegen, ohne vor Geschützdonner zurück zu schrecken: So hat Werner Herzog, einer der berühmtesten Grenzgänger zwischen Spielfilm und Dokumentarfilm, einmal sein Selbstverständnis beschrieben. Das mag etwas zu martialisch klingen für eine Kunst, die uns auch immer wieder mit der Poesie ihrer Bilder in Bann zieht. Doch der Wahrheit ein Stück näher kommen zu wollen, geht meistens nicht, ohne vermintes Gelände zu betreten, zwischen die Fronten zu geraten oder Abwehrfeuer zu provozieren – gerade wenn es um aktuelle politische und gesellschaftliche Fragen geht. Es sind jene, die sich vorwärts bewegen, „ohne vor Geschützdonner zurück zu schrecken“, die verhindern, dass Denkfaulheit und Lethargie die Demokratie einschläfern. Um das Festivalmotto noch einmal aufzugreifen: „Nach der Angst“ ist vor der Veränderung! Das macht eine lebendige Demokratie aus, und dafür haben Sie auch weiterhin meine kulturpolitische Rückendeckung! Herzlichen Glückwunsch zum 60. Geburtstag, DOK Leipzig! Auf eine gute Zukunft für den Dokumentarfilm!
Zur 60. Auflage des Dokumentarfilmfestivals Leipzig hat Kulturstaatsministerin Grütters den Machern des Genres auch künftig Unterstützung zugesichert. Der Dokumentarfilm mache mit seiner Erzählkunst und seinen atmosphärisch starken Bildern die vielschichtige Wirklichkeit erfassbar. „Deshalb verdient er mehr Wahrnehmung und Wertschätzung – im Fernsehen wie auf der Leinwand. Und in den öffentlich-rechtlichen Sendern mehr Raum zu zuschauerfreundlichen Sendezeiten.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des 500. Jahrestages der Reformation am 31. Oktober 2017 in der Lutherstadt Wittenberg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-des-500-jahrestages-der-reformation-am-31-oktober-2017-in-der-lutherstadt-wittenberg-466600
Tue, 31 Oct 2017 17:42:00 +0100
Lutherstadt Wittenberg
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Herren Präsidenten, liebe Festgemeinde, Exzellenzen, meine Damen und Herren, wir erinnern heute an den Beginn der Reformation vor 500 Jahren – daran, dass der streitbare Augustinermönch Martin Luther sich damals entschloss, seine Überzeugungen in 95 Thesen öffentlich zur Diskussion zu stellen. Martin Luther redete vielen Menschen ins Gewissen – Menschen, denen bis dahin vielleicht der eigene Mut oder auch die eigenen Worte gefehlt hatten, um Zweifel und Unbehagen gegenüber geltenden dogmatischen Regeln zum Ausdruck zu bringen. Ob sich der Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg historisch tatsächlich genau so zugetragen hat, wie es überliefert ist, wissen wir nicht mit ganzer Sicherheit. Gewiss aber ist: Mit seinen Thesen brachte Martin Luther einen Stein ins Rollen, der sich nicht mehr aufhalten ließ und die Welt für immer verändern sollte. Ob Politik und Recht, ob Sprache und Soziales, ob Kunst und Kultur – kaum ein Lebensbereich blieb von der von Martin Luther ausgelösten Reformation unberührt, und zwar weit über Deutschland und Europa hinaus. Nicht von ungefähr wird die Reformation deshalb auch eine „Weltbürgerin“ genannt. Dennoch war die Reformation primär zunächst eine religiöse Erneuerungsbewegung, die auf eine grundlegende Neubestimmung der Beziehung des Menschen zu Gott, zu sich selbst und zu den Mitmenschen zielte. In den Mittelpunkt rückte die befreiende Botschaft, wonach allein aus Gnade und durch Glauben der Mensch vor Gott gerecht wird. Er kann sich die Gnade Gottes nicht erkaufen oder durch Leistung erwirken, sie wird ihm als Glaubenden geschenkt. Mit dieser Überzeugung sahen sich die Reformatoren befreit von der Bevormundung kirchlicher Obrigkeiten und in der Folge auch weltlicher Hierarchien. So entwickelte sich ein Verständnis vom Menschen, das die Neuzeit entscheidend prägen sollte: das Verständnis des zur Freiheit berufenen mündigen Menschen, der für sich und für andere Verantwortung trägt. Das kommt in wunderbarer Weise in dem Lied zum Ausdruck, das wir heute gesungen haben – „Ein feste Burg ist unser Gott“ –, das von Luther mit Bezug auf Psalm 46 geschrieben wurde. Die Kernaussage – Gott soll und kann unsere Festung sein – ist der Grund dafür, dass dieses zu einem protestantischen Bekenntnislied avancierte und von Heine 1834 als „Marseiller Hymne der Reformation“ bezeichnet wurde. Auf diesem Verständnis vom Menschen baut im Grunde jegliche demokratische Ordnung auf. Auch wenn natürlich keine direkte Linie von der Reformation zur Demokratie und zu einem Verfassungsstaat, wie wir ihn heute kennen, gezogen werden kann, erwies sich die Reformation mit dem ihr zugrunde liegenden Freiheitsverständnis als treibende Kraft im fortwährenden Prozess gesellschaftlicher und politischer Erneuerung. Daher gilt es, ihr geistesgeschichtliches, kulturelles und religiöses Erbe wachzuhalten – zumal die Reformation auch im 21. Jahrhundert aus dem Glauben heraus wichtige Anstöße für die Gestaltung des gesellschaftlichen Miteinanders bietet. Genau deshalb ist es auch so wichtig, das Jubiläum zum Anlass für eine intensive gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Reformation zu nehmen. Die Vielzahl und die Vielfalt der Veranstaltungen im ganzen Land, die ein sehr reges Interesse gefunden haben, gaben und geben davon Ausdruck. Sie waren und sind beeindruckend. Ich danke allen, die sich hier eingebracht haben, oft auch mit großer Leidenschaft. In besonderer Erinnerung ist mir der Versöhnungsgottesdienst in Hildesheim – ein besonderes Zeichen der Ökumene, ungeachtet all dessen, was Katholiken und Protestanten auch heute noch trennt. Danke auch noch einmal für die heutige Übergabe des Kreuzes. Neben den Kirchen, Ländern, Kommunen und unzähligen zivilgesellschaftlichen Akteuren hat auch die Bundesregierung verschiedenste Kultur- und Bildungsprojekte unterstützt. Die Beteiligung an der Vorbereitung und Durchführung des Reformationsjubiläums war und ist Ausdruck unseres Bestrebens, über dieses Jubiläum hinaus auch allgemein ein reiches und lebendiges religiöses Leben in Deutschland zu ermöglichen. Dabei gilt der verfassungsrechtliche Schutz der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit sowie der ungestörten Religionsausübung für alle Gläubigen und jede Religionsgemeinschaft. So wie Glaubensfreiheit stets vor religiösem Fanatismus geschützt werden muss, so erfordert Glaubensfreiheit umgekehrt zugleich, Religionen vor Geringschätzung zu schützen. Ich halte den Einsatz für Religionsfreiheit – hierzulande wie auch weltweit – für eine gemeinsame Aufgabe von Politik und Kirchen. Das widerspricht keineswegs der nach unserem Staatsverständnis notwendigen Trennung von Politik und Kirchen; im Gegenteil. Denn auch wenn unser Staat ohne jeden Zweifel der religiösen oder weltanschaulichen Neutralität verpflichtet ist, so kann und darf sich Politik von ihrer Verantwortung nicht freimachen, ein gemeinsames Wertefundament zu schützen und zu bewahren, das unerlässlich für ein gedeihliches und friedliches Miteinander ist – innerhalb eines Landes genauso wie zwischen Nationen. Unser Staat ist dem universellen Auftrag verpflichtet, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Daraus leitet sich neben anderen Freiheitsrechten unseres Grundgesetzes auch der Auftrag ab, Religionsfreiheit zu achten und zu schützen. In Deutschland leben und arbeiten Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Weltanschauungen. Dass sie einander offen begegnen, füreinander da sind und miteinander Verantwortung für ihr Gemeinwesen übernehmen, ist wesentliche Voraussetzung dafür, als Gesellschaft insgesamt eine gute Entwicklung zu nehmen –und das heißt, dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu dienen. Dies klingt beinahe banal, aber das ist es nicht. Es ist vielmehr das Ergebnis eines Jahrhunderte währenden und zum Teil sehr leidvollen Lernprozesses. Wir haben ja nicht vergessen, dass die Reformation nicht der Auftakt zu einer identitätsstiftenden Friedens- und Freiheitsgeschichte war, sondern dass ihr zunächst eine lange Konfliktgeschichte folgte, in der die Konfessionskriege furchtbares Leid über Europa brachten. Gleichwohl zwangen diese Auseinandersetzungen schließlich auch dazu, nach tragfähigen, also nach menschlichen Lösungen und Regulierungsansätzen für das Zusammenleben der verschiedenen Konfessionen zu suchen. Die Reformation hat also mittelbar dazu geführt, Glaubensfragen in einer säkularen Ordnung als staatlich garantierte Rechtsverhältnisse zu fassen. Wir wissen, dass die reformatorische Entdeckung der Freiheit eines Christenmenschen erst einmal nicht die Glaubensfreiheit gemeint und diese schon gar nicht akzeptiert hatte. Es war für die Reformatoren unvorstellbar, dass unterschiedliche Glaubens- und Wahrheitsvorstellungen nebeneinander bestehen könnten. Die Reformatoren blieben hier insofern dem Mittelalter verhaftet. Luthers Ausfälle gegen Andersdenkende und Andersglaubende, insbesondere gegen Juden, sind dafür ein ebenso beredtes wie beschämendes Zeugnis. Ich begrüße es deshalb sehr, dass das Reformationsgedenken die Auseinandersetzung auch damit gefördert hat. Es ist unverzichtbar, sich diese jahrhundertelange Lerngeschichte zu vergegenwärtigen, wenn wir heute in unseren offenen Gesellschaften, in einer globalisierten Welt über die Notwendigkeit von Toleranz sprechen. Wer Vielfalt bejaht, muss Toleranz üben. Das ist die historische Erfahrung unseres Kontinents. Mühevoll wurde gelernt, dass die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben in Europa die Toleranz ist. Wir haben also gelernt, dass Toleranz die Seele Europas ist. Sie ist das Grundprinzip jeder offenen Gesellschaft. Ohne Toleranz kann es keine offene Gesellschaft geben. Doch in der globalisierten Welt wird das Anerkennen von Pluralität, der Umgang mit Heterogenität und religiöser wie kultureller Vielfalt zu einer zentralen Herausforderung. Denn auch heute erleben wir, dass auf der Welt überall dort, wo es um Religionsfreiheit schlecht bestellt ist, auch die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt Schaden nimmt. So lehrt uns also die Geschichte, wie wichtig es ist, Religionsfreiheit und Toleranz stets zusammen zu denken. Das heißt konkret: Auch wenn Glaubensüberzeugungen eigenen Ansichten widersprechen, gilt es, sich bewusst zu machen, dass sie für andere von zentraler Bedeutung sind. Daher ist sicherzustellen, dass jeder nach seinen religiösen Überzeugungen leben kann, ohne dass er Diskriminierung befürchten muss. Aber – und das muss ebenso eindeutig klar sein – funktionieren kann das nur, wenn wir uns auf dem Boden allgemein anerkannter Regeln bewegen, die wechselseitig für alle gelten. Ganz einfach gesagt: Toleranz endet dort, wo unsere grundgesetzlich verbürgten Freiheitswerte und Menschenrechte missachtet oder gar mit Füßen getreten werden. Die Politik hat selbstverständlich eine große Verantwortung für ein gemeinsames Bewusstsein unserer grundlegenden Werte und Normen. Zugleich ist die Rolle der Kirchen hierfür von überragender Bedeutung. Mit ihrer hoffnungsfrohen, dem Menschen zugewandten Botschaft können sie den Blick für das Verbindende schärfen – gerade auch über Religionsgrenzen hinweg. Oft jedoch wissen wir zu wenig voneinander. Und gerade aus Unkenntnis drohen allzu leicht Vorurteile und Ressentiments zu erwachsen. Deshalb sind Gelegenheiten für Austausch und Begegnung gerade auch für einen interreligiösen Dialog so wichtig. Gelingen kann dieser interreligiöse Dialog, wenn man sich des eigenen Glaubens vergewissert, um sich auf dieser Grundlage umso selbstbewusster mit anderen Religionen zu befassen. Diesem Ziel kann religiöse Bildung dienen. Diesem Ziel haben die vielen Veranstaltungen im Jahr des Reformationsjubiläums und in den Jahren davor gedient, ganz besonders der Evangelische Kirchentag im Frühjahr dieses Jahres. Religiöse Bildung – sei es in der Familie, im Religionsunterricht oder im Theologiestudium – ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Sie stellt sich Kirchen und Religionsgemeinschaften, Regierungen und Bildungseinrichtungen sowie Medien und der Zivilgesellschaft. Religiöse Bildung – sie war auch ein Grundanliegen der Reformation. Mit der Bibelübersetzung Luthers und der Entwicklung einer einheitlichen deutschen Schriftsprache wurde die Heilige Schrift für die breite Bevölkerung überhaupt erst verstehbar. Ihr bot die Bibel dank der Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks auf einmal einen begreifbaren Zugang zu den Kernstücken des Glaubens. Im Sinne des Priestertums aller Gläubigen konnte und sollte jeder Christ und jede Christin mündig und urteilsfähig im Glaubensleben und in der Glaubensvermittlung werden. Aus diesem Gedanken entwickelte sich eine neue gesellschaftliche Bildungsverantwortung. Bildung wurde über theologische Fragen hinaus als wichtige Grundlage für alle Lebensbereiche erkannt. Philipp Melanchthon, der große Gelehrte und Mitstreiter Luthers, brachte dies mit seiner bekannten Feststellung wie folgt auf den Punkt: „Wenn auf eure Veranlassung hin eure Jugend gut ausgebildet ist, wird sie eurer Vaterstadt als Schutz dienen; denn für die Städte sind keine Bollwerke oder Mauern zuverlässigere Schutzwälle als Bürger, die sich durch Bildung, Klugheit und andere gute Eigenschaften auszeichnen.“ So setzte ein bis dahin nicht gekannter Bildungsaufbruch ein, beflügelt auch durch die Erfindung des Buchdrucks. Bevölkerungsschichten, für die das zuvor undenkbar gewesen war, bekamen von nun an Zugang zu Bildung. Völlig neue Perspektiven für die persönliche und die gesellschaftliche Entwicklung eröffneten sich. Chancengerechtigkeit, Bildung für alle und die Bedeutung von Bildung für das Gemeinwohl sind auch heute Gegenstand der öffentlichen Diskussion und von allergrößter Wichtigkeit. Dies beginnt bei Kindern in Kindergärten und Schulen. Jeder Junge und jedes Mädchen soll seine Chance bekommen, und zwar unabhängig von sozialer oder familiärer Herkunft. Um Fähigkeiten zu lernen und zu entfalten, muss manchen Kindern etwas mehr Unterstützung gegeben werden als anderen – zum Beispiel wenn der Rückhalt der Eltern fehlt. Auch gilt es, Kinder aus Flüchtlingsfamilien zu integrieren, die oft Furchtbares erlebt und durchgemacht haben. Nach der Schule stellen sich dann Fragen zur beruflichen und Hochschulausbildung und schließlich zu den Möglichkeiten der Fort- und Weiterbildung. Es kommt dabei nicht nur auf gute Angebote und Ausstattungen der Einrichtungen an, sondern auch auf Durchlässigkeit, damit etwa nach einer beruflichen Qualifikation auch ein Studium möglich ist oder umgekehrt. Seit jeher ist den Kirchen die Förderung von Bildung ein großes Anliegen. Dazu gehört auch für sie, offen für neue Entwicklungen zu sein, die nicht zuletzt der digitale Fortschritt mit sich bringt und bei denen die Förderung eigenständigen Denkens und kritischer Urteilsfähigkeit gefragt ist. Das, was wir heute mit der Digitalisierung erleben, ist genauso ein Durchbruch wie damals die Erfindung des Buchdrucks. Mit der schier unendlichen Vielfalt an Informationen wächst bei nicht wenigen Menschen zugleich der Wunsch nach Orientierung, nach Halt – bei einigen auch der Wunsch, sich abzuschotten oder sich auf nur sehr wenige Informationsquellen zu beschränken. Weil das aber die Gefahr birgt, die Welt nur noch sehr selektiv wahrzunehmen, reicht es nicht zu lernen, wie man Computer programmiert und bedient, wie man sich in der Smart Factory beruflich bewährt und sich im Smart Home heimisch fühlt. Vielmehr muss der Erwerb von Medienkompetenz hinzukommen. Das meint nichts anderes, als dass jeder und jede Einzelne so früh wie möglich lernen sollte, sich in der Vielfalt der Angebote zurechtzufinden, Wichtiges von weniger Wichtigem und Seriöses von Unseriösem zu unterscheiden. Genau das entspricht einmal mehr unserem Verständnis des zur Freiheit berufenen mündigen Menschen. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Mit diesen Worten beginnt Luthers Freiheitsschrift. So paradox beide Aussagen im ersten Augenblick auch klingen mögen, so überzeugend ist doch der Grundsatz, der diese Sätze Luthers verbindet. Es ist der Grundsatz, dass jeder und jede Einzelne das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit hat und dabei stets an die Verantwortung für sich und andere gebunden ist. Das ist Freiheit in Verantwortung. Sie ist ein unverzichtbarer Maßstab unseres Handelns. Freiheit in Verantwortung lässt uns nicht blindlings darauf vertrauen, dass sich schon andere finden werden, die sich um das Gemeinwohl kümmern. Freiheit in Verantwortung fordert uns heraus, selbst Ideen, Kreativität und Kraft einzubringen. Freiheit in Verantwortung ist Grundlage dafür, dass es in unserer Gesellschaft gerecht zugeht. Dabei vergessen wir nicht, dass bei allem Tun und Lassen der Mensch immer unvollkommen bleibt. Wir machen Fehler. Aber ich finde es sehr befreiend zu wissen, dass wir an unserer Unvollkommenheit nicht zerbrechen müssen, weil Gott uns seine Gnade und Liebe schenkt. Er schenkt uns seine Gnade und Liebe im täglichen und fortwährenden Bemühen um das, was uns zusammenhält und trägt. Rechtsstaatlichkeit, Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit – das sind hohe Güter, die uns tragen. Sie müssen Tag für Tag mit Leben gefüllt werden. Sie können Tag für Tag mit Leben gefüllt werden. Die reformatorische Haltung ermutigt uns dabei: Die Zukunft ist offen – nehmt Eure Verantwortung ernst. Veränderung zum Guten ist möglich. So bin ich auch dankbar für die großartige Chance, die uns das Reformationsjubiläum bietet, unsere christlichen Wurzeln im gesellschaftlichen Bewusstsein zu stärken. Diese Aufgabe wird auch nach dem Reformationsjahr und dem heutigen Jubiläum bleiben, vielleicht noch stärker als in der Vergangenheit. Daran sollten wir spätestens wieder denken, wenn wir in der kommenden Weihnachtszeit „Vom Himmel hoch, da komm ich her“, Luthers Lied mit seinen 15 Strophen, singen. Herzlichen Dank.
Grußwort der Kulturstaatsministerin Grütters auf dem staatlichen Festakt zum Reformationsjubiläum
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/grusswort-der-kulturstaatsministerin-gruetters-auf-dem-staatlichen-festakt-zum-reformationsjubilaeum-803178
Tue, 31 Oct 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Wittenberg
Kulturstaatsministerin
Herzlich willkommen zur Feier des 500. Reformationsjubiläums, herzlich willkommen zum festlichen Höhepunkt und würdigen Ausklang eines Jahres im Zeichen des gemeinsamen Erinnerns! Ein solches Volksfest der Verständigung hätte Martin Luther sich gewiss nicht im Entferntesten träumen lassen, als er am 31. Oktober 1517 hier in Wittenberg mit 95 theologischen Thesen eine universitäre Debatte anstoßen wollte. Schwer zu sagen, was ihn – wäre er als zeitgereister Ehrengast unter uns – mehr überraschen würde der Schulterschluss zwischen Katholiken und Protestanten in der Bereitschaft, das Verbindende über das Trennende zu stellen; die von zahlreichen Ehrengästen aus dem Ausland bezeugte, wahrhaft weltbewegende Resonanz auf seine reformatorische Kirchenkritik; oder die Konfrontation mit der kulturellen Vielfalt einer pluralistischen Demokratie – eine Vielfalt, die heute dank der zahlreichen Repräsentanten verschiedener Religionsgemeinschaften und zivilgesellschaftlicher Gruppen auch die voll besetzten Reihen dieses Festsaales prägt. Wir dürfen jedenfalls davon ausgehen, dass dem Ehrengast aus dem 16. Jahrhundert das ungläubige Staunen ins Gesicht geschrieben wäre angesichts der politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Folgen seines Ringens um Gott und seines Drängens auf Erneuerung der Kirche. Um die Reformation als Teil eines gewaltigen gesellschaftlichen Umbruchs zu würdigen, hat der Bund sich bei den Vorbereitungen zum Reformationsjubiläum finanziell wie organisatorisch in besonderem Maße engagiert, und ich freue mich, die – insbesondere in den Besucherzahlen sichtbare – Erfolgsbilanz in einem einzigen Satz zusammenfassen zu können: Wohl nie zuvor haben sich so viele Menschen mit einem prägenden Ereignis der frühen Neuzeit befasst. Die Ausstellungen und Veranstaltungen, die kulturellen Beiträge, die wissenschaftlichen und publizistischen Wortmeldungen des Jubiläumsjahres haben nicht nur der Vielstimmigkeit des Erinnerns an Licht und Schatten der Reformationsgeschichte Raum gegeben, sondern auch der kulturellen Selbstvergewisserung: der Auseinandersetzung mit prägenden Lernerfahrungen, aus denen heraus sich unsere demokratischen Werte entwickelt haben. Ich danke allen Mitwirkenden der Kirchen und der Zivilgesellschaft, der Länder und der Kommunen, die dazu mit Tatkraft, Ideen, Begeisterung und – ganz im Martin Luthers – auch mit inspirierender Debattier- und Streitlust beigetragen haben. Gerade mit seiner Streitbarkeit – mit seinem verwegenen Mut, als kleiner Mönch mächtigen Autoritäten entgegen zu treten – hat Martin Luther den Weg zur Demokratie geebnet, auch wenn er selbst demokratische Werte wie Toleranz und Religionsfreiheit im heutigen Sinne weder predigte noch praktizierte. Und so wäre die persönliche Botschaft dieses sperrigen, störrischen Kirchenrebells – unseres fiktiven Ehrengastes – heute vielleicht gerade die Aufforderung, das Suchen und das Zweifeln zu kultivieren. Als Zweifelnder, der sich auf dem Wormser Reichstag 1521 allein auf die Heilige Schrift und sein Gewissen berief, setzte er der weltlichen wie auch der geistlichen Macht Grenzen – was ihn und viele Mitstreiter und Erben freilich nicht davor bewahrte, die eigenen Überzeugungen mit bisweilen fundamentalistischem Wahrheitsfuror zu verteidigen. Als Suchender rang er um klare Worte und starke Bilder und eröffnete so mit seiner Bibelübersetzung allen Menschen Zugang zum Wort Gottes – während seine ebenso sprach-gewaltigen Hetzschriften Hass und Ausgrenzung propagierten. In dieser Ambivalenz blieb Luther, auch wenn er seiner Zeit in vielerlei Hinsicht voraus war, seiner Zeit verhaftet. Doch gerade, weil er als Zweifelnder und Suchender auch auf Irrwege geraten ist, gerade weil er uns die Möglichkeit der Fehlbarkeit tiefster Überzeugungen erkennen lässt, lehrt er uns, Fragende zu bleiben und nicht nur den Glauben, sondern auch den Zweifel zu kultivieren. Um es in den Worten eines bekennenden Liebhabers des Christentums und eines streitbaren Intellektuellen muslimischen Glaubens zu sagen – in den Worten Navid Kermanis: „Die Liebe zum Eigenen – ob es nun die eigene Kultur, Religion oder auch die eigene Person ist – erweist sich in der Kritik.“ In diesem Sinne hoffe ich, meine Damen und Herren, dass der heutige Tag nicht als Schlusspunkt der Auseinandersetzung mit der Reformation in Erinnerung bleibt, sondern als Einladung: als Einladung, in der kritischen Auseinandersetzung – im Zweifeln, im Suchen, im Fragen – die Liebe zum Eigenen zu pflegen.
Beim Festakt zum Abschluss des Reformationsjubiläums hat Kulturstaatsministerin eine positive Bilanz gezogen. „Wohl nie zuvor haben sich so viele Menschen mit einem prägenden Ereignis der frühen Neuzeit befasst.“
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Verleihung des Preises der Nationalgalerie für Junge Kunst 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-verleihung-des-preises-der-nationalgalerie-fuer-junge-kunst-2017-459240
Fri, 20 Oct 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Berlins Museen sind wahrlich reich an echten Blickfängern, aber wenn auf der Shortlist des renommiertesten Museumspreises für junge Kunst und der entsprechenden Ausstellungseinladung gleich vier Frauennamen stehen, dann ist das immer noch ein ganz besonderer Hingucker: Sie haben dieses ungewohnt weibliche Siegerquartett bestimmt auch mindestens mit besonderem Interesse zur Kenntnis genommen, meine Damen und Herren – weil es eben nicht so alltäglich ist, wie vier Männernamen auf einer Shortlist es vermutlich wären. Und das, obwohl inzwischen rund 100 Jahre vergangen sind, seit der Berliner Kunsthändler und Verleger Herwarth Walden als erster und einziger unter Berlins Avantgarde-Galeristen die Überzeugung vertrat, dass zum Aufbruch in eine neue Kunstepoche auch das Aufbrechen der Barrieren für weibliche Künstlerkarrieren gehöre …! In einer Zeit, als Blumenstillleben als angemessenes Motiv für Frauen galten – wenn sie sich denn schon künstlerisch betätigen mussten -, präsentierte er in seiner legendären Galerie DER STURM auch die weibliche Avantgarde – nämlich gut 30 Künstlerinnen, und damit deutlich mehr Frauen als alle seine Konkurrenten zusammen. Heute rückt die weibliche Avantgarde allmählich auch in die Tempel des kanonisierten Kunstverständnisses vor – so auch in der beeindruckenden Werkschau im Hamburger Bahnhof, die die Arbeiten der Künstlerinnen Sol Calero, Iman Issa, Jumana Manna und Agnieszka Polska präsentiert. Und gerade weil bei der Auswahl der Nominierten für den Preis der Nationalgalerie nicht das Geschlecht, sondern allein die künstlerische Qualität entscheidend ist, dürfen wir uns eine kleine Prise weibliche Genugtuung im freudigen Staunen über die raumgreifenden Installationen und raffinierten Inszenierungen gönnen, die wir hier erleben – zumal der Preisträgerin das Privileg einer Einzelausstellung in einem der Häuser der Nationalgalerie zuteil wird: eine weitere Chance, einem großen Publikum zu zeigen, welcher Gewinn an künstlerischer Vielfalt mit der Gleichberechtigung von Künstlerinnen und Künstlern verbunden ist. Dafür steht ja im Übrigen auch die eindrucksvolle Liste der bisher mit dem Preis der Nationalgalerie Ausgezeichneten – klingende Namen wie Olafur Eliasson, Tino Sehgal, Monica Bonvicini oder zuletzt Anne Imhof, die 2015 hier im Hamburger Bahnhof triumphierte und 2017 in Venedig, mit dem Goldenen Löwen für den besten Pavillon der Kunstbiennale. Kurz und gut: Herzlichen Dank Ihnen, liebe Frau Quandt, und dem Verein der Freunde der Nationalgalerie, dass Sie mit Ihren Spenden und Beiträgen nicht nur Ankäufe für die Nationalgalerie finanzieren – was für sich genommen schon ein großartiger Beitrag zum Glanz der Kunstmetropole Berlin ist! -, sondern sich darüber hinaus auch für herausragende, zeitgenössische Kunst engagieren und ihr die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit verschaffen! Schön, dass davon dank der Zusammenarbeit zwischen dem Verein der Freunde und der Deutschen Filmakademie, liebe Frau Berben, einmal mehr auch die Filmkunst profitiert! Ich habe schon Stoßseufzer vernommen, wenigstens der Preis für junge Filmkunst möge doch an einen Mann gehen, damit am Ende nicht noch eine Männerquote nötig wäre …. Wie auch immer: Wegen der fließenden Grenzen zwischen den Kunstsparten sind filmische Arbeiten längst Teil der großen Kunstausstellungen, und hier wie dort, im Film wie in der Bildenden Kunst, werden die Männer gewiss nicht auf der Strecke bleiben. Bemerkenswert an der heutigen Preisverleihung ist im Übrigen nicht nur die 100prozentige Frauenquote auf der Shortlist, sondern auch die Herkunft der Nominierten. Dass sie aus unterschiedlichen Winkeln der Welt kommen, aber alle in Berlin leben und arbeiten, zeigt einmal mehr, dass Berlin sich weltweit zum Sehnsuchtsort junger Menschen und insbesondere der künstlerischen Avantgarde entwickelt hat. Was in einer Künstlerbiografie früher New York war, das ist heute Berlin: Schmelztiegel der Ideen, Labor für Experimente, Resonanzraum für Diskurse, „the place to be“ für Kreative. Und auch wenn Gentrifizierung und steigende Mieten diesem Biotop mittlerweile gefährlich zusetzen, die Strahlkraft der Kunstmetropole Berlin ist ungebrochen: dank interessanter Lebens- und Arbeitsbedingungen, dank einer starken Galerieszene – und auch dank einer blühenden Kulturlandschaft, die mit dem Museum des 20. Jahrhunderts bald um eine Attraktion reicher sein wird. Dazu kann ich immerhin so viel sagen: Wir sind sehr gut vorankommen und streben den ersten Spatenstich für 2019 an – mit dem Entwurf des Schweizer Architekturbüros Herzog & de Meuron, der das Format hat, neben den Solitären von Stüler, Scharoun und Mies van der Rohe zu bestehen, der eine überzeugende Lösung für das städtebauliche Umfeld bietet, und der darüber hinaus die funktionalen Anforderungen eines modernen Museums erfüllt. Berlin wäre natürlich nicht Berlin, wenn so ein großer Wurf (wie auch der Umstand, dass sich auf dem Kulturforum nach Jahrzehnten des Stillstands endlich etwas bewegt) die verdiente Anerkennung bekäme… . So wurde ja auch die Neue Nationalgalerie zu ihrer Entstehungszeit verspottet – als „Tankstelle“ nämlich -, und doch haben wir sie heute genauso ins Herz geschlossen wie die „Schwangere Auster“ im Tiergarten. Allein schon deshalb werbe ich dafür, der „Scheune“ eine Chance zu geben. Herzog & de Meuron sind Architekten von Weltformat, da ist ein gewisses Maß an Vertrauen in die Qualität ihrer Arbeit ja durchaus angebracht. Der Siegerentwurf wird jetzt jedenfalls (zusammen mit der Bauherrin, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz) mit Rücksicht auch auf die St. Matthäuskirche weiterentwickelt und an die musealen Anforderungen angepasst. Im November sollen die Baugrunduntersuchungen beginnen. Die Kunst des 20. Jahrhunderts, dieses so bedeutenden deutschen Jahrhunderts in der Kunstgeschichte, hat bald die Bühne, die sie verdient – genauso wie die Sammlungen Pietzsch, Marx und Marzona. Heute Abend, meine Damen und Herren, gehört die Bühne aber allein der zeitgenössischen Kunst: Wie sehr wir Orte wie den Hamburger Bahnhof brauchen, die der künstlerischen Vielfalt der Gegenwart und damit auch der Neugier und Weltoffenheit Raum geben, führt uns das Erstarken der Rechtspopulisten in Deutschland und anderen europäischen Ländern gerade deutlich vor Augen. Museen können natürlich keine Wunder bewirken, wo Populisten Ängste, Hass und Vorurteile schüren. Zweifellos aber kann die Kunst Kräfte entfalten, die jene der Politik und der Wirtschaft bisweilen übersteigen. „Wo Sprache versagt, beginnt das Bild“ – so hat es einer der bedeutendsten deutschen Gegenwartskünstler, Günther Uecker, einmal in einem Interview formuliert. In welcher Weise Ihre Werke, liebe Nominierte, Gesprächsfäden aufnehmen, wo die Sprache versagt, und Fragen aufwerfen, die über den Horizont der Worte hinausgehen, überlasse ich der Einschätzung der zahlreichen Gäste dieser Preisverleihung und der hoffentlich zahlreichen Besucherinnen und Besucher der Ausstellung. Ich freue mich jedenfalls auf einen inspirierenden Abend, gratuliere Ihnen allen zur Nominierung und bin gespannt, wer die heute zu vergebenden Lorbeeren mit nach Hause nimmt.
Kulturstaatsministerin Grütters zeigte sich bei der Preisverleihung beeindruckt von der Werkschau der vier nominierten Künstlerinnen und freute sich in ihrer Eröffnungsrede über die „weibliche Avantgarde“ im Hamburger Bahnhof.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum 20. Jahrestag der Gründung des Deutschen Übersetzerfonds
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-20-jahrestag-der-gruendung-des-deutschen-uebersetzerfonds-459420
Thu, 19 Oct 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
9.882 übersetzte Bücher sind im vergangenen Jahr in Deutschland erschienen. 1.200 Mitglieder hat der Verband deutschsprachiger Übersetzer (VdÜ). 164 Preise und Stipendien für Übersetzer listet die Datenbank des Verbands. Und nicht zu vergessen: Hunderte Sprachbilder und Wortneuschöpfungen verdanken wir dem wohl berühmtesten literarischen Übersetzer – dem Bibelübersetzer Martin Luther. Diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache, und wenn es darüber hinaus noch weiterer Beweise bedürfte, dass Ihr Wort Gewicht hat, liebe Literaturübersetzerinnen und -übersetzer, dann könnte man zum Beispiel jenes geflügelte Wort zitieren, in dem die verdienten Lorbeeren für einen der bekanntesten Vertreter Ihrer Zunft eine wunderbare sprachliche Form gefunden haben – den schönen, von Karikaturisten ersonnenen Satz nämlich, man müsse das Buch in der Übersetzung Harry Rowohlt lesen, im Original gehe viel davon verloren. Ja, wenn Sie das Wort ergreifen, landet es nicht nur auf der Goldwaage: Sie bringen die Seele eines Textes in einem neuen Sprachkörper zum Klingen und haben mehr als nur ein Wörtchen mitzureden, wo immer Poesie oder Prosa über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg Gehör finden. Sie holen das Denken, Wahrnehmen und Empfinden aus fremden Welten ins Deutsche und bereichern damit auch unseren Wortschatz. Ob Klang, ob Rhythmus, ob Melodie eines Textes – als Übersetzer haben Sie das letzte Wort: Ihre Sprachgewandtheit, Ihr Einfühlungsvermögen, Ihre Interpretation und Ihre schöpferische Kraft entscheiden zu einem ganz wesentlichen Anteil darüber, welche Autorinnen und Autoren Weltliteraturgeschichte schreiben. So verdanken wir, die deutschsprachigen Leserinnen und Leser, Ihrer gefeierten Übersetzung des Romans „Das Phantom des Alexander Wolf“, liebe Frau Tietze, die späte Entdeckung Gaito Gasdanows, eines der bedeutendsten russischen Exilautoren des frühen 20. Jahrhunderts – und ich gehöre zur großen Schar der Literaturliebhaber, die Ihnen dafür außerordentlich dankbar sind. Weil Übersetzen eine eigene Sparte der Dichtkunst ist, brauchen und verdienen Übersetzerinnen und Übersetzer eine eigene Künstlerförderung: Als solche hat der Deutsche Übersetzerfonds sich in den vergangenen 20 Jahren etabliert und bewährt. Mit seinen (aus Mitteln des Bundes finanzierten) Stipendien hat er es vielen Übersetzerinnen und Übersetzern ermöglicht, ihre Zeit und ihre kreative Schaffenskraft ganz einem literarischen Werk zu widmen – ein Luxus, der keiner sein sollte, der es aber wegen der bis heute mageren Honorare de facto leider ist. Unverzichtbar ist der Deutsche Übersetzerfonds mit seinen Seminaren und Werkstätten, mit seinem „Hieronymus-Programm“ und seiner „Akademie der Übersetzungskunst“ längst auch in der Nachwuchsförderung und Weiterbildung. Und wo immer es darum geht, gewissermaßen als Lobby der literarischen Perlentaucher, Goldgräber und Juwelenschleifer ein gutes Wort einzulegen für die Übersetzungskunst und die Übersetzerzunft, verleiht er Ihnen, meine Damen und Herren, eine starke Stimme. Das ist zunächst einmal die Stimme eines engagierten und im besten Sinne umtriebigen Vorstands unter Ihrer Führung, lieber Herr Brovot, aber auch das Echo Ihres langjährigen Wirkens, liebe Frau Tietze: Sie sind, auf gut berlinerisch, „die Mutter von dit Janze“: treibende Kraft bei der Gründung und bis heute präsent nicht zuletzt im Selbstverständnis und im guten Ruf des Vereins. Ihr Beitrag zur literarischen Vielfalt in Deutschland und zum Verständnis fremder Welten, liebe Übersetzerinnen und Übersetzer, verdient jedenfalls mehr als nur warme Worte: Deshalb unterstützt die Bundesregierung Ihre Arbeit wie auch das Festprogramm zum 20jährigen Bestehen des DÜF mit Mitteln aus meinem Kulturetat – und ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich mich für eine Erhöhung der Mittel einsetze, so wie es im Regierungsentwurf 2018 auch vorgesehen ist, um die Stipendien aufzustocken, die Personalausstattung der Geschäftsstelle zu verbessern und auf diese Weise auch in Zukunft literarisches Schaffen aus aller Welt in Deutschland zur Sprache zu bringen. Wie sehr es auf die Wahl der Worte ankommt, meine Damen und Herren,zeigt sich übrigens nicht nur im literarischen, sondern ebenso im kulinarischen Schaffen, das für den weiteren Verlauf der heutigen Festveranstaltung ja auch nicht ganz unerheblich ist. So haben Psychologen der renommierten Stanford University unlängst herausgefunden, dass Mais eher den Weg vom Buffet auf die Teller findet, wenn er im sprachlichen Gewand des „gerösteten, verschwenderischen butterigen Süßmaises“ statt als „vitaminreicher Mais“ daherkommt – woraus man schloss, dass klangvolle Beschreibungen dem Verzehr von Gemüsegerichten zuträglich, explizite Hinweise auf deren gesundheitsfördernde Wirkung hingegen kontraproduktiv sind. Ja, angeblich leidet sogar das Sättigungsgefühl darunter, wenn der Mensch sprachlich als gesund Ausgewiesenes zu sich nimmt. Das verleiht der These „Das Auge isst mit“ eine völlig neue Dimension, und gleichzeitig ist damit auch bewiesen, dass aromatisch-wohlklingende Worte nicht nur Literaturliebhaber betören. Ein Grund mehr, die Wortkünstlerinnen und Wortkünstler zu feiern, deren Sprachbegabung unseren Wortschatz bereichert! Wie auch immer Sie uns das 20jährige Jubiläum des Deutschen Übersetzer-fonds schmackhaft machen, verehrtes Geschäftsstellenteam – lieber Herr Becker, liebe Frau Thielicke, liebe Frau Laderick – ob mit „geröstetem, verschwenderisch butterigem Süßmais“ oder anderen liebevoll zubereiteten Wort- und Küchenkreationen: Selbst ein hoher Vitamingehalt wird heute bestimmt niemanden vom genussvollen Feiern abhalten. 20 erfolgreiche Jahre – das ist eine nüchterne Bilanz, die sogar ohne lyrischen Glanz beeindruckt. Ihr Wort in Gottes Ohr, lieber Herr Brovot, dass diese Erfolgsgeschichte eine Fortsetzung findet! Herzlichen Glückwunsch dem Deutschen Übersetzerfonds zum 20jährigen Bestehen und viele klangvolle Worte für die kommenden Jahre!
Zum 20-jährigen Bestehen des Deutschen Übersetzerfonds hat Kulturstaatsministerin Grütters den Beitrag des Berufsstandes „zur literarischen Vielfalt in Deutschland und zum Verständnis fremder Welten“ hervorgehoben und für die Zukunft mehr Unterstützung zugesagt. „Weil Übersetzen eine eigene Sparte der Dichtkunst ist, brauchen und verdienen Übersetzerinnen und Übersetzer eine eigene Künstlerförderung“, so Grütters.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Verleihung der Kinoprogramm- und Verleiherpreise 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-verleihung-der-kinoprogramm-und-verleiherpreise-2017-452228
Wed, 18 Oct 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Potsdam
Kulturstaatsministerin
Am heutigen 18. Oktober hätte einer der berühmtesten Dichter Brandenburgs, nämlich Heinrich von Kleist, seinen 240. Geburtstag gefeiert. Das wäre an einem Abend, der herausragenden Programmkinos und Filmverleihern gehört, gewiss keiner Erwähnung wert – wenn Kleist nicht auf besonders dramatische und – nun ja: sagen wir – filmreife Weise Selbstmord begangen hätte, als er hier ganz in der Nähe, am Kleinen Wannsee, zunächst seine Freundin und dann sich selbst erschoss. Die Wiener Filmemacherin Jessica Hausner hat aus Kleists Suche nach einer suizidwilligen Seelenverwandten tatsächlich einen Film gemacht – „Amour fou“, der 2014 in Cannes uraufgeführt wurde und 2015 bei unseren heutigen Gastgebern, im Thalia Programmkino Babelsberg, seine Vorpremiere feierte. „Amour fou“ wurde in den Medien als „kleine Film-Perle“ gewürdigt – eine Perle, die vielen Film-Liebhabern vermutlich verborgen geblieben wäre, gäbe es in der Filmwelt nicht auch jene Filmkunstverleiher und Kinobetreiber, die sich ganz dem künstlerisch anspruchsvollen Film verschrieben haben. Solche Perlen, die in der Flut des Filmschaffens, in der Masse des Mainstreams allzu leicht untergehen, im Licht öffentlicher Aufmerksamkeit zum Strahlen zu bringen, ist das Verdienst der Filmkunstverleihe und der Programmkinos – und spätestens im Rückblick zeigt sich, wie sehr sie sich damit sowohl um die Filmkunst insgesamt als auch um den Ruf des deutschsprachigen Films verdient machen. So verdanken zahlreiche Regisseure, die heute in künstlerischer wie auch in kommerzieller Hinsicht für ganz großes deutsches Kino stehen (- man denke nur an Werner Herzog, Wim Wenders oder Rainer Werner Fassbinder -), ihren Kult-Status nicht zuletzt den im wahrsten Sinne des Wortes neu-gierigsten Förderern der Filmavantgarde: Ihnen, meine Damen und Herren, den Filmkunstverleihern und Programmkinobetreibern! Die Cineasten-Gemeinde, die Sie mit Ihrem künstlerisch ambitionierten Filmangebot begeistern, mag im Vergleich zu den Massen, die die Blockbuster in die Multiplex-Kinos locken, überschaubar sein. Doch kaum zu überschätzen ist Ihr Beitrag zur Verbreitung künstlerisch herausragender Filme. Wir brauchen Ihre Begeisterung für die „Perlen“ des Filmschaffens, Ihre kundige Programmarbeit und Ihren Mut zum ökonomischen Risiko, damit der Film auch als Kulturgut – und nicht allein als Wirtschaftsprodukt – eine Zukunft hat! Diese Begeisterung, diese Expertise und dieser Mut verdienen Anerkennung und Unterstützung. Deshalb freue ich mich, heute Abend die Kinoprogramm- und Verleiherpreise 2017 vergeben zu dürfen – einmal mehr dank der sorgfältigen Vorarbeit der beiden Jurys, deren Mitglieder viel Zeit und Energie in die Auswahl der Preisträger investiert haben. Herzlichen Dank Ihnen, liebe Frau Pfeiffer und lieber Herr Schmalz, und allen anderen Jurymitgliedern für das große Engagement, das man angesichts des damit verbundenen Arbeitsaufwands für sich genommen schon als Liebeserklärung an die Programmkinos und Filmkunstverleiher werten darf… . Die Preisgelder – in diesem Jahr sind es insgesamt 1,8 Millionen Euro für 214 Programmkinos und insgesamt 225.000 Euro für drei Verleiher – sind Teil der kulturellen Filmförderung meines Hauses, die mir, wie viele von Ihnen sicher wissen, ganz besonders am Herzen liegt. Deshalb habe ich im vergangenen Jahr die Verleihförderung aufgestockt und den Etat für den Kinoprogrammpreis um 20 Prozent erhöht, was sich für Sie insofern auszahlt, meine Damen und Herren, als die überwiegende Zahl der Preisträger deutlich höhere Prämien als noch 2015 erhalten wird. Darüber hinaus stehen seit 2016 zusätzlich 15 Millionen Euro jährlich für die kulturelle Filmförderung meines Hauses zur Verfügung, so dass wir künstlerisch anspruchsvolle Filmprojekte in wesentlich höherem Umfang als bisher (nämlich mit rund 28 Millionen Euro jährlich) unterstützen können. Sollte ich in der neuen Bundesregierung für Kultur und Medien verantwortlich bleiben, werde ich mich selbstverständlich dafür einsetzen, dass die zusätzlichen Mittel auch in den kommenden Jahren zur Verfügung stehen. Davon werden mittelfristig auch Sie, die Filmkunstverleiher und Programmkinobetreiber, profitieren, weil wir erwarten, dass die Erhöhung der Fördermittel neue „Filmperlen“ hervorbringt. Mit der Stoffentwicklungsförderung, den zusätzlichen Mitteln für die kulturelle Filmproduktionsförderung und der Aufstockung der Verleihförderung sowie der Kinoprogrammpreisprämien können wir ambitionierte und innovative Filmprojekte von der ersten Papierskizze bis zur Premiere im Programmkino effektiv unterstützen. Nicht weniger wichtig sind eine optimale Kinoauswertung und ein öffentliches Bewusstsein für die Bedeutung der Kinos als Kulturorte, gerade auch im ländlichen Raum. Der Schutz der Kinos als kulturelle Begegnungsstätten ist mir deshalb ein wichtiges Anliegen, und ich bin froh, dass es im Rahmen der FFG-Novelle gelungen ist, die bisher geltenden Sperrfristen zu erhalten – allen Forderungen nach einer Aufweichung zum Trotz – und insbesondere die kleinen und mittleren Kinos bei den Abgaben deutlich zu entlasten. Unterstützenswert sind auch Initiativen, die die Filmkunst stärker als bisher ins Rampenlicht rücken – so wie der vom Internationalen Verband der Arthouse-Kinos initiierte European Art Cinema Day, der am vergangenen Sonntag unter dem Motto „Europa geht ins Kino“ zum zweiten Mal als Feiertag der Vielfalt europäischer Filmkunst begangen wurde. Ich habe zusammen mit meiner französischen Amtskollegin Francoise Nyssen gerne die Schirmherrschaft übernommen. Denn ich bin überzeugt, dass wir Kinos als Kulturorte – als Orte öffentlicher Auseinandersetzung mit den großen Fragen des Menschseins und den welt-bewegenden Themen unserer Zeit – auch in Zukunft brauchen. Kulturstätten sind gerade in sehr kleinen Städten dünn gesät, und vielfach ist das Kino der einzige Ort, der Menschen aus ihren digitalen Echokammern und Filterblasen holt und zum Perspektivenwechsel anregt. Filmtheater, die Kino als Gemeinschaftserlebnis, als sinnlichere Alternative zum einsamen Serienkonsum auf der heimischen Couch attraktiv machen, die filmbegleitende Veranstaltungen anbieten, die sich in der Kinder- und Jugendarbeit engagieren, sich für das Filmerbe einsetzen und den „Perlen“ einer vielfältigen Filmkunst landauf landab ein Publikum verschaffen – solche Filmtheater stärken die Fähigkeit einer Gesellschaft zur Reflexion und Verständigung – und damit gewissermaßen auch die gesellschaftliche Immunabwehr gegen populistische Vereinfacher. Der 100. Geburtstag des traditionsreichen Thalia Programmkinos, das in seiner Geschichte fünf politische Systeme erlebt hat und allen widrigen Umständen durch Krieg und Diktatur zum Trotz insgesamt nur drei Jahre geschlossen war, darf uns jedenfalls zuversichtlich stimmen, dass das Kino als gleichermaßen in der Stadtgesellschaft verwurzelter wie dem Zeitgeschehen zugewandter Kulturort immer eine Zukunft hat. Ihnen und Ihrem Team herzlichen Glückwunsch zu diesem besonderen Jubiläum, liebe Frau Zuklic, lieber Herr Bastian! Heinrich von Kleist, dem Sie mit „Amour fou“ eine Premierenbühne geboten haben, hätte sich so etwas wie ein Kino vermutlich nicht einmal vorstellen können. Aber anlässlich seines 240. Geburtstags verdient er es dann doch, heute zu Wort zu kommen. Nirgends könne man, schrieb er einmal in einem Brief, „den Grad der Kultur einer Stadt und überhaupt den Geist ihres herrschenden Geschmacks schneller und doch zugleich richtiger kennenlernen als – in den Leihbibliotheken.“ Das war im Jahr 1800, als er diese Worte zu Papier brachte, sicherlich zutreffend. Ich trete dem Jubilar aber gewiss nicht zu nahe, wenn ich unterstelle, dass er heute, um „den Grad der Kultur einer Stadt“ und „den Geist ihres herrschenden Geschmacks“ schnell und richtig einzuschätzen, vermutlich zur Durchsicht ihres Kinoprogramms raten würde … . Es ist Ihr Verdienst, liebe Programmkinobetreiber, liebe Filmverleiher, wenn uns dabei um Kultur und Geist nicht bange werden muss. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch allen Preisträgerinnen und Preisträgern der Kinoprogramm- und Verleiherpreise!
Kulturstaatsministerin Grütters hat 214 Programmkinos und drei Verleiher für ihr künstlerisch ambitionierten Filmangebot ausgezeichnet. „Wir brauchen Ihre Begeisterung für die „Perlen“ des Filmschaffens, Ihre kundige Programmarbeit und Ihren Mut zum ökonomischen Risiko, damit der Film auch als Kulturgut – und nicht allein als Wirtschaftsprodukt – eine Zukunft hat!“.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Eröffnung der Ausstellung „1917. Revolution. Russland und Europa“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-eroeffnung-der-ausstellung-1917-revolution-russland-und-europa–356212
Tue, 17 Oct 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindungen meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe.“ Mit diesem Satz beginnt der Roman Das Phantom des Alexander Wolf – ein erst vor wenigen Jahren ins Deutsche übersetztes Meisterwerk des russischen Schriftstellers Gaito Gasdanow. Der Ich-Erzähler dieses Romans hat im blutigen Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution in Notwehr auf einen Soldaten geschossen. Er wähnt den Fremden tot, bis er viele Jahre später, in denen die quälende Erinnerung an den vermeintlichen Mord sein junges Leben verdüstert hat, im Pariser Exil auf das Buch eines gewissen Alexander Wolf stößt. Die Einzelheiten des Mordes, für den es keine Zeugen gab, sind darin bis ins Detail präzise beschrieben – ganz offensichtlich aus der Perspektive des vermeintlich Getöteten. Die sich daraus entspinnende Geschichte zweier entwurzelter Menschen erzählt von den seelischen Verwüstungen infolge der kommunistischen Revolution, die als Idee von einer besseren Gesellschaft begann und in Willkür und Tyrannei, in Gewalt und Grausamkeit endete. Solche Vernarbungen der Seele, solche für das Auge unsichtbaren Folgen einer Revolution mögen sich vergleichsweise unbedeutend ausnehmen angesichts der epochalen und im wahrsten Sinne des Wortes weltbewegenden Veränderungen, die die Russische Revolution nach sich zog und die uns das Deutsche Historische Museum mit seiner Sonderausstellung „1917. Revolution. Russland und Europa“ eindringlich vor Augen führt. Und doch ist es gerade die künstlerische, die literarische Perspektive, die uns die zeitlose Bedeutung der Russischen Revolution, die über ihre konkreten politischen und gesellschaftlichen Folgen hinausreichende Relevanz begreifen lässt. Allein die Folgen dieses Jahrhundertereignisses im Lichte unterschiedlicher Anschauungen zu vergegenwärtigen, ist ein gewaltiger Anspruch, und so verdienen die enormen wissenschaftlichen und kuratorischen Leistungen zur Vorbereitung dieser Schau höchste Anerkennung. Ich danke Ihnen, lieber Herr Professor Gross, liebe Kuratorinnen und Ihrem Team, herzlich für das außerordentliche Engagement, das nicht zuletzt für das deutsche Bild von der Russischen Revolution von großer Bedeutung ist. Jahrzehntelang hat ja der Kalte Krieg dieses Bild geprägt. In der DDR wurde die Russische Revolution zum Gründungsmythos des Systems, zur „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ – in der Bundesrepublik dagegen, ebenso einseitig, zum Inbegriff staatlichen Terrors. Das nationale Gedächtnis aber sollte auf historischen Fakten beruhen, nicht auf unzulässigen Vereinfachungen oder gar politischen Deutungsmonopolen. Unverzichtbar ist deshalb ein freier und kritischer Diskurs, in dem subjektive Erinnerungen genauso ihren Platz haben wie die ganze Bandbreite wissenschaftlicher Arbeiten und publizistischer Meinungsäußerungen. Es ist das große Verdienst dieser Ausstellung, zu einem solchen Diskurs beizutragen, indem sie sowohl der Fülle an Fakten und Zeitzeugnissen wie auch – wissenschaftlich eingeordnet – unterschiedlichen Deutungen und Sichtweisen Raum gibt. Gerade darin unterscheidet sie sich fundamental von der Präsentation der Revolutionsmythen, die zum gleichen Thema an diesem Ort bis zur Wiedervereinigung gezeigt wurden. Was also bleibt von der Russischen Revolution? Was bleibt von einer Initialzündung der Moderne, deren globales Echo selbst dann noch nachhallte, als die „Weltrevolution“ längst gescheitert und die hehre kommunistische Utopie im sozialistischen Alltag zu Grabe getragen worden war? In Gaito Gasdanows Roman Das Phantom des Alexander Wolf bleibt den beiden Männern, deren Leben ein einziger Pistolenschuss in den Wirren des russischen Bürgerkriegs für immer verändert hat, nur das unerträgliche Wissen, als Menschen zum Unmenschlichsten fähig zu sein: der quälende Schmerz des Verlusts der – ich zitiere – „normalen menschlichen Vorstellungen vom Wert des Lebens und von der Notwendigkeit der grundlegenden Moralgesetze.“ So bitter die Erkenntnis sein mag, dass revolutionäre Utopien in den totalitären Staat führen und im Kampf für das Große zuallererst das Menschliche stirbt: Eben diese Erkenntnis kann uns lehren, den Wert der Demokratie zu schätzen, die angesichts der Vielfalt der Werte und Weltanschauungen, der Lebens- und Gesellschaftsentwürfe allein der Verständigung und dem Kompromiss verpflichtet bleibt und uns damit vor Terror und Willkür im Namen großer Ideen schützt. Deshalb freue ich mich, dass die Ausstellung, die wir heute eröffnen, den Bogen vom Revolutionsjahr 1917 bis in die Gegenwart spannt, und wünsche ihr viele interessierte Besucherinnen und Besucher, die sich davon zum Nachdenken über Demokratie und Utopie inspirieren lassen.
Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat die Sonderausstellung „1917. Revolution. Russland und Europa“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin eröffnet. Die Schau gebe Fakten und Zeitzeugen genauso Raum wie wissenschaftlichen Perspektiven, lobte die Kulturstaatsministerin die historisch-kritische Aufarbeitung der Geschichte.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum 6. Ordentlichen Bundeskongress der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie am 12. Oktober 2017 in Hannover
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-6-ordentlichen-bundeskongress-der-industriegewerkschaft-bergbau-chemie-energie-am-12-oktober-2017-in-hannover-337674
Thu, 12 Oct 2017 15:13:00 +0200
Hannover
Sehr geehrter, lieber Herr Vassiliadis, sehr geehrtes Präsidium, Frau Tagungspräsidentin, sehr geehrte Delegierte, meine Damen und Herren, lieber Jürgen Trittin, aller guten Dinge sind bekanntlich drei. Und so finde ich es auch gar nicht so schlecht, dass ich nun schon zum dritten Mal bei Ihrem Bundeskongress mit dabei bin. Ich finde, bei insgesamt sechs Kongressen ist das eine gute Quote, die ich auf den Tisch lege. Aber das hat auch mit der guten Kooperation zu tun, die wir bei allen Meinungsunterschieden haben. Deshalb möchte ich Ihnen, Herr Vassiliadis, als Erstes ganz herzlich dazu gratulieren, dass die Delegierten Sie erneut als Vorsitzenden der IG BCE bestätigt haben. Sie haben soeben von der Verdreifachung Ihrer Gegenstimmen gesprochen. Ich wurde schon ganz traurig und fragte, was passiert sei, aber die Zahl war immer noch einstellig. Insofern mache ich mir keine Sorgen um den Zusammenhalt der IG BCE, gratuliere herzlich und freue mich auf die Zusammenarbeit. Ich gratuliere natürlich auch allen anderen gewählten Mitgliedern des Hauptvorstandes sowie der Kommissionen und Ausschüsse und sage ausdrücklich: Angesichts der großen Herausforderungen, die wir als Industrieland Deutschland in einer sich rasant entwickelnden Welt haben, wünsche ich mir eine starke IG BCE, die in der Sozialpartnerschaft die richtigen Lösungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hier in Deutschland findet, aber auch für gute Rahmenbedingungen in anderen Ländern der Welt sorgt, in denen Deutschland investiert, und damit einen Beitrag zu einer menschlichen Gestaltung der Globalisierung leistet. Als Zweites möchte ich Ihnen ganz herzlich zu Ihrem Jubiläum gratulieren. Die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie gibt es in dieser Form nunmehr 20 Jahre. Ich erinnere mich noch dunkel an die Geburtsstunde. Natürlich ist klar, dass die Wurzeln der einzelnen Komponenten der IG BCE weitaus weiter zurückliegen. Ich glaube, die IG BCE ist eine Gewerkschaft, in der sich der dramatische Wandel der Rahmenbedingungen gezeigt hat. Natürlich waren die Dinge zu Zeiten der Gründung der Gewerkschaft noch ganz anders. Arbeitsbedingungen, Arbeitszeiten, Verdienste – all das ließ sehr zu wünschen übrig. Sie haben über die Jahrzehnte hinweg immer wieder für bessere Bedingungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gestritten, haben aber als Gewerkschaft – und das zeichnet die IG BCE aus – immer darauf geachtet, dass auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von morgen weiterhin gute Bedingungen haben. Sie haben immer die Zukunft im Blick gehabt. Nun möchte ich deshalb sagen: Sie haben als IG BCE auch einen Anteil daran, dass Deutschland heute in der Momentaufnahme recht gut dasteht, wenn es um unsere wirtschaftliche Situation geht. Der Aufschwung – das sagen im Augenblick die Prognosen – hält weiter an. Wir alle haben aber in den letzten zehn, 15 Jahren gelernt, wie wenig man Prognosen glauben darf und wie schnell sie sich ändern können. Trotzdem sind solche Prognosen besser als andere. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse ist seit 2005 um fast 5,5 Millionen gestiegen. Was das für die betreffenden Menschen und Familien bedeutet, wissen Sie am besten. Die Zahl der Arbeitslosen hat sich halbiert. Für Jugendliche – das kennen Sie auch in Ihren Betrieben – ist es heute sehr viel leichter, einen Ausbildungsplatz zu finden. Manchmal ist es schon schwer, überhaupt genügend junge Menschen dafür zu begeistern, Ausbildungsplätze anzunehmen. Auch die Reallöhne sind in den letzten Jahren gewachsen. Wir haben in den letzten Jahren innerhalb der Großen Koalition neben den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auch einiges andere verbessern können, wenn ich zum Beispiel an die Verbesserung der Erwerbsminderungsrenten denke. Es war immer ein Anliegen gerade auch von Ihnen, dass für Menschen, die nach Jahrzehnten der Arbeit aus Gesundheitsgründen nicht mehr weiterarbeiten können, Rentenverbesserungen vorgenommen werden und dass die Abschläge nicht mehr so hoch sind. Das haben wir zweimal getan; und das wird sicherlich auch in den anstehenden Koalitionsverhandlungen wieder eine Rolle spielen. Aber wir haben im Wahlkampf auch gemerkt: 2,5 Millionen Arbeitslose sind 2,5 Millionen zu viel; auch viele Menschen, die Arbeit haben, sind mit den Bedingungen nicht zufrieden. Viele haben die Sorge, dass der verfassungsrechtlich gegebene Auftrag gleichwertiger Lebensbedingungen nicht in ausreichendem Maße erfüllt wird. Deshalb kann man keineswegs die Hände in den Schoß legen. Auf die nächste Bundesregierung warten viele, viele Aufgaben. Dazu gehört in der Tat auch der Zusammenhalt unserer Gesellschaft, für den die wirtschaftliche Situation eine Rolle spielt. Aber dies ist nicht die einzige Aufgabe, die wir im Auge behalten müssen. Nun wissen Sie, dass ich nicht groß darüber spekulieren kann – aufgrund der Anwesenheit von Herrn Trittin kann ich das hier schon gar nicht tun –, wie die Bildung einer neuen Regierung aussehen wird. Es wird in der nächsten Woche die ersten Sondierungen geben – erst bilateral und dann auch zu dritt oder zu viert, wenn man nach den Parteien CDU, CSU, FDP und Grüne geht. Es ist klar, dass eine Regierungsbildung nicht ganz einfach werden wird. Die Sozialdemokraten haben nach dem Wahlergebnis erklärt, dass sie für eine Regierungsbildung nicht zur Verfügung stehen. Diese Situation müssen wir jetzt so annehmen, wie sie ist. Ich gehe in die Sondierungsgespräche mit der klaren Haltung, dass Wählerinnen und Wähler uns diese Aufgabe gegeben haben. Ich habe einen hohen Respekt vor der Aussage der Wählerinnen und Wähler. Deshalb haben wir ja auch eine Verantwortung, zumindest das Mögliche zu versuchen, eine Regierung zusammenzubauen, die die Probleme Deutschlands nicht nur in den Blick nimmt, sondern sie vor allen Dingen auch löst. Ich bedanke mich dafür, dass auch Sie uns dazu auffordern, obwohl natürlich gerade auch die IG BCE weiß, welche Konfliktpunkte auf dem Weg warten. Aber wir wissen, dass ungewohnte Konstellationen natürlich auch die Chance bieten können, bisher scheinbar unlösbare Dinge ein Stück weit einer Lösung zuzuführen. Also müssen wir uns auf den Hosenboden setzen und schauen, was wir machen können. Ich habe mich sehr darüber gefreut, lieber Herr Vassiliadis, dass Sie in Ihrer Rede, die Sie gestern hier gehalten haben – bei Ihrem Konzert wäre ich auch gerne dabei gewesen; aber das hat sich nicht ergeben –, auch die globalen Entwicklungen sehr klar in den Blick genommen haben. Wir haben von deutscher Seite aus versucht, mit unserer G20-Präsidentschaft in nicht einfachen Zeiten hierzu auch einen Beitrag zu leisten. Leider konnten wir nicht alle 20 dafür gewinnen, das Pariser Abkommen über den Klimaschutz gemeinsam weiter zu unterstützen. Aber immerhin 19 von den 20 G20-Teilnehmern haben sich klar dazu bereit erklärt. Die nächste Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention wird auf deutschem Boden stattfinden, obgleich die Fidschi-Inseln die Ausrichter sein werden, die wir aber natürlich tatkräftig unterstützen werden. Ich bedanke mich insbesondere bei der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie dafür, dass sie Nachhaltigkeit und das Pariser Klimaschutzabkommen sehr unterstützt. Sie haben ein klares Bekenntnis zu Europa abgegeben. Auch das ist in diesen Zeiten von außerordentlicher Wichtigkeit. Auch das wird uns beschäftigen. Sie haben auch selbst über Ihre Beiträge dazu gesprochen, den deutsch-französischen Motor bei der Entwicklung in den Blick zu nehmen und hierbei durch gewerkschaftliche Kooperation ein unterstützendes Zeichen zu setzen. Lassen Sie mich noch einmal zu den globalen Herausforderungen kommen. Ich meine, die Dringlichkeit des Themas Nachhaltigkeit ist ja evident. Wir sehen an den Migrations- und Fluchtbewegungen, wir sehen an den schrecklichen Katastrophen, die es in der Karibik bis in die Vereinigten Staaten gibt, und wir sehen an den Entwicklungen auch in Europa, was das Wetter anbelangt, dass sich gravierende Veränderungen durch den Klimawandel ergeben. Sie haben, lieber Herr Vassiliadis, mit großer, starker Kritik auch auf das aus Ihrer Sicht ungeordnete Vorgehen im Zusammenhang mit der Energiewende hingewiesen. Darüber wird in den anstehenden Gesprächen sicherlich auch viel zu sprechen sein. Aber ich will doch darauf hinweisen, dass wir an einigen Stellen Erfolge erreicht haben. Ich kann mich noch daran erinnern, als wir gemeinsam über den Ausstieg aus dem Steinkohlebergbau gesprochen haben – sozusagen die große Subventionsquelle in Deutschland. Es war klug, den Ausstieg über viele Jahre hinweg gestaffelt zu haben. Wir haben das in einem großen gesellschaftlichen Einvernehmen getan und konnten manche Brüche vermeiden, wenngleich noch immer Wehmut spürbar ist und die strukturelle Entwicklung großer Teile der ehemaligen Steinkohlebergbaugebiete natürlich auch noch viele Aufgaben für uns übrig lässt. Wenn wir heute über das zweite Thema sprechen und natürlich auch Sie darüber sprechen – das entnehme ich der Frage „Wie geht es weiter mit der Braunkohle?“ –, dann empfehle ich uns, dies wirklich auch mit den Menschen vor Ort und mit den Vertretern der Beschäftigten zu tun. Die Frage, was an die Stelle von zum Teil monostrukturellen Gegebenheiten kommt – wenn ich zum Beispiel an die Lausitz denke –, kann und darf uns nicht kaltlassen, wenn ich wieder an die andere große Aufgabe denke, nämlich an den Zusammenhalt der Gesellschaft und an gleichwertige Lebensverhältnisse. – Ich glaube, ich sehe hier sogar auch ein Nicken von Herrn Trittin; das freut mich. – Da müssen wir unseren Kopf anstrengen. Da müssen wir überlegen, wie wir die Dinge so hinbekommen, dass sie auch wirklich für die Menschen erfassbar, verständlich, aber auch in die Zukunft gerichtet sind. Wir haben ambitionierte Klimaschutzziele. Auch darüber wird jetzt zu sprechen sein, da ja das Jahr 2020 in die nächste Legislaturperiode fällt. Es war ja immer klar, wenn ich das einmal so sagen darf, dass, wenn man von 1990 bis 2010 20 Prozent an CO2 einspart – dabei war das die Anfangszeit der Deutschen Einheit, in der viele industrielle Produktionsstätten der ehemaligen DDR wegfielen oder sehr viel effizienter gestaltet wurden –, man dann bei einigermaßen guter wirtschaftlicher Entwicklung von 2010 bis 2020 nicht allzu einfach weitere 20 Prozent CO2 einsparen kann. Das liegt auf der Hand. Das ist eine sehr ambitionierte Aufgabe. Ich will mich hier nicht von dem Ziel verabschieden, ich will nur sagen: Dass wir es nicht ganz ohne Anstrengungen erreichen, sondern viel Kraft reinlegen müssen, verwundert mich nicht. Deshalb wird das auch eine große Rolle in den anstehenden Gesprächen spielen. Für die Energiewende haben wir in den vergangenen Jahren wichtige Weichenstellungen vorgenommen, die auch für Sie gut und richtig sein müssten, zum Beispiel die Heranführung des jetzt größten Bereichs der Energieerzeugung, nämlich die erneuerbaren Energien, an die Bedingungen der Marktwirtschaft. Dadurch, dass wir den Ausbau erneuerbarer Energien ausschreiben werden, werden wir sehr viel mehr marktwirtschaftliche Bedingungen haben. Mit den sogenannten Energieausbaugebieten – hier in Niedersachsen gut bekannt – haben wir die Situation, dass wir nicht überall gleich schnell ausbauen, sondern den Ausbau zumindest in gewisser Weise an den Ausbau der Elektrizitätsleitungen koppeln. Auch das ist eine richtige und vernünftige Entscheidung. Deshalb glaube ich, dass wir schon ein ganzes Stück vorangekommen sind. Die ersten Tests bei den Ausschreibungen haben auch ergeben, dass wir bei den Preisen erheblich herunterkommen können und dass in etlichen Windenergieerzeugungsgebieten die Subventionen jetzt nahe Null sind. Ich erinnere mich noch gut an meine Zeiten als Umweltministerin von 1994 bis 1998. Was sowohl die Windenergiesubventionen – wie wir sie bislang herunterfahren konnten – als auch die Solarenergie anbelangt, erschien mir damals so etwas, das wir bis heute erreicht haben, vollkommen unvorstellbar. Es zeigt sich also, dass uns eine gewisse Starthilfe auch wirklich in marktwirtschaftliche Produktionsbedingungen hineinführen kann. Meine Damen und Herren, wir werden im Bereich der Energiewende natürlich weiter arbeiten. Skeptisch bin ich, wenn Sie sagen, dass die EEG-Umlage nunmehr auch durch steuerliche Maßnahmen gesenkt werden sollte. Wenn ich die gesamten steuerlichen Vorschläge aus Ihrer Rede zusammenaddiere, dann wird es mir himmelangst. Aber sei es drum, wir werden auf diesem Weg weitermachen; und die Energiewende ist sozusagen unaufhaltsam auf dem Wege. Ich will auch noch einmal – gerade, weil Herr Trittin hier sitzt – darauf hinweisen, dass wir Großartiges im Zusammenhang mit der Endlagerung und mit der Frage, wie wir mit dieser gesellschaftlichen Verantwortung umgehen, geschafft haben. Auch das war nur im Konsens möglich. Auch da erwies es sich wieder als eine große Stärke der Bundesrepublik Deutschland, komplizierte Probleme zum Schluss doch einigermaßen im Einvernehmen auch mit den Unternehmen – nicht ganz, aber fast – lösen zu können. Wir haben noch sehr viel zu tun, um all das, was beschlossen wurde, umzusetzen, aber ich finde, wir haben auch Lösungen gefunden, die uns die Arbeit mit den Hinterlassenschaften bestimmter Energiequellen doch sehr viel leichter machen. Meine Damen und Herren, ich komme zu einem weiteren Thema, das auch Sie zumindest indirekt beschäftigt: Das ist der gesamte Bereich der Mobilität. Chemie- und Automobilindustrie hängen aufs Engste zusammen. Die Automobilindustrie steht vor riesigen Herausforderungen. Sie kennen das auch von Ihren Kollegen der IG Metall. Die Dinge, die sich um den Diesel herum abspielen – ich drücke mich in Niedersachsen einmal etwas vorsichtig aus; aber man kann auch sagen: der Skandal, der sich da abspielt –, machen uns schon sehr zu schaffen. Da die Automobilindustrie insgesamt im Hinblick auf Digitalisierung und alternative Antriebe wie Elektromobilität in einer Phase des Umbruchs ist, müssen wir jetzt schauen, dass wir diesen wesentlichen Wirtschaftszweig auch gut in die Zukunft führen. Dazu muss die Politik natürlich Beiträge leisten, wenngleich wir unternehmerische Fehlentscheidungen nicht einfach durch politisches Handeln wiedergutmachen können; das sind schon unterschiedliche Verantwortungen. Man muss sagen, dass es in Deutschland über 800.000 Arbeitsplätze im Automobilbereich gibt, der um die 20 Prozent der industriellen Wertschöpfung auf sich vereint. Wenn dieser Wirtschaftszweig in seiner weltweiten Bedeutung zurückfällt, dann wäre das für uns alle hier direkt oder indirekt eine riesige Herausforderung. Deshalb wage ich vorauszusagen, dass uns das schon in den nächsten Wochen beschäftigen wird, zumal es eine riesengroße Herausforderung ist, eine Antwort auf die Frage „Wie können wir mit Blick auf die NOx-Belastung Fahrverbote vermeiden?“ zu finden. Wir werden in Europa auch neue CO2-Vorgaben für die Automobilindustrie bekommen. Auch das wird uns in intensive Diskussionen verstricken, sage ich einmal voraus. Im Zusammenhang mit der Frage der Nachhaltigkeit ist ein weiterer Bereich, der Sie auch betrifft, weil Sie im chemischen Bereich Dämmstoffe produzieren, der Wärmemarkt bei Gebäuden. Da haben wir bei den Altbauten längst noch nicht unser Potenzial ausgeschöpft. Hier kann man wirklich noch von niedrig hängenden Früchten sprechen, da man hier noch sehr einfach vieles erreichen könnte. Mir ist, nachdem wir in Deutschland schon so vieles hinbekommen haben, eigentlich ein Rätsel, warum es bis heute nicht gelungen ist, eine steuerliche Förderung der Wärmedämmung zu erreichen. Damit könnten wir aber aus meiner Sicht viele, viele Investitionen heben. Ich hoffe, dass die potenziellen Koalitionspartner vielleicht etwas aufgeschlossener sind, als das bisher der Fall war – wobei das selten an der Bundesebene lag, sondern zum Schluss eigentlich immer an der Situation in den Bundesländern. Hier müssen wir jedenfalls noch einmal einen neuen Anlauf nehmen. Nun haben wir neben der Herausforderung einer nachhaltigen klimafreundlichen Entwicklung für Deutschland eine weitere große Herausforderung, nämlich die Herausforderung der Digitalisierung. Wir haben mit unserer Digitalen Agenda in den letzten vier Jahren wichtige Schritte getan und gerade auch mit Blick auf die Industrie 4.0 gute Standards gesetzt; und zwar weit über Deutschland hinaus. Wir müssen feststellen, dass sich Deutschland im industriellen Bereich sicherlich der Digitalisierung geöffnet hat, dass wir aber in anderen Bereichen zum Teil noch am Anfang bzw. bestenfalls im Mittelfeld der Entwicklung stehen. Wir haben seitens der Europäischen Union unter der estnischen Ratspräsidentschaft einen Digitalgipfel in Tallinn gehabt und können sagen: Das Leben eines estnischen Staatsbürgers entscheidet sich gravierend vom Leben eines deutschen Staatsbürgers, da sämtliche Verwaltungsfragen über ein Bürgerportal digital abgewickelt werden können. Es gibt viele gute Argumente dafür, zumal die Vorgänge – ob es Gesundheitsakten oder andere Fragen betrifft – sehr viel sicherer und auch sehr viel unkomplizierter erledigt werden können. Auch was die Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Zeitersparnis betrifft, so läuft das dort sehr viel besser, als das bei uns der Fall ist. Wir haben in den schwierigen Gesprächen über die Bund-Länder-Finanzen eine Grundgesetzänderung vorgenommen, die wichtig und entscheidend dafür ist, dass Kommunen, Länder und Bund in den nächsten vier Jahren gemeinsam ein Bürgerportal entwickeln. Da sehe ich riesige Aufgaben auf uns zukommen. Und ich würde mich freuen, wenn uns die Gewerkschaften dabei unterstützen würden. (Beifall) – Sehr gut, fast schon die Mehrheit. Es geht um die Frage, dass jeder Bürger mit einem Portal Zugang zu allen staatlichen Ebenen hat. Denn die Bürgerinnen und Bürger interessiert eigentlich nicht, ob die Anmeldung beim Kindergarten in die kommunale Zuständigkeit, etwas Zweites in die Landeszuständigkeit, etwas Drittes in die Zuständigkeit des Kreises und etwas Viertes in die Zuständigkeit des Bundes fällt. Die Menschen wollen vielmehr ihre Kontakte mit dem Staat sozusagen über einen Eingang abwickeln. Da jede föderale Ebene in Deutschland natürlich stolz auf ihre Eigenständigkeit ist, müssen wir das miteinander besprechen, damit wir lernen, aus der Perspektive der Bürgerinnen und Bürger zu denken. Andere Länder haben uns das vorgemacht. Es ist wichtig, dass wir das auch in Deutschland hinbekommen. Deutschland ist natürlich ein Land mit einer ausgebauten Verwaltung; es läuft alles irgendwie – außer man versucht, in Berlin auf dem Bürgeramt einen Termin zu bekommen; aber sonst geht es irgendwie. Deshalb denkt man: Ach, das kann ja auch noch so weitergehen. Dann werden wir aber eines Tages aufwachen und erkennen, dass es in vielen anderen Ländern inzwischen ganz anders und viel schneller geht. Deshalb stellt sich hier aus meiner Sicht eine riesige Aufgabe. Darüber brauchen wir auch eine gesellschaftliche Diskussion, denn Datenschutz und Datensicherheit spielen dabei natürlich auch eine entscheidende Rolle. In Europa können wir ein riesiges Potenzial entwickeln, wenn wir einen digitalen Binnenmarkt schaffen. Daran arbeiten wir. Aber jede einzelne Aufgabe entwickelt sich auch wieder zu einer äußerst schwierigen Herausforderung. Es geht dabei zum Beispiel um das neue Echtzeitübertragungsnetz 5G. Die Mitgliedstaaten müssen zusammenarbeiten, damit man nicht überall, wenn man im Raum der Freizügigkeit eine nationale Grenze überquert, unterschiedliche Frequenzen hat. Es geht auch darum, dass wir eine elektronische Signatur haben, die nicht nur in einem Land, sondern in allen europäischen Ländern gültig ist. Deshalb werden wir – ich habe das gerade erst gestern mit Ratspräsident Tusk besprochen – die Digitale Agenda jetzt noch einmal richtig nach vorne bringen. Von Urheberschutz und solchen Fragen, in denen wir inzwischen fast entscheidungsunfähig geworden sind, will ich gar nicht sprechen. Das sind überhaupt keine parteipolitischen Fragen mehr, sondern das sind oft Fragen ganz unterschiedlicher Bewertung dessen, was auf der einen Seite digitaler Zugang bedeutet und was auf der anderen Seite zum Beispiel Schutz des geistigen Eigentums bedeutet. Das müssen wir aber zur Entscheidung bringen. In den nächsten vier Jahren sind also wichtige Weichen zu stellen. Ich weiß, dass sich die IG BCE schon immer sehr um die Frage der Qualifizierung und Weiterqualifizierung gekümmert hat. Diese Herausforderung wird in der digitalen Arbeitswelt ja noch zunehmen. Ich möchte hier ein Bekenntnis ablegen, von dem ich hoffe, dass wir das auch in unserem neuen Regierungsprogramm, falls denn eine Regierung zustande kommt, verankern können: Ich halte die Sozialpartnerschaft in dieser Zeit, im 21. Jahrhundert, in den jetzigen industriellen Umbrüchen für mindestens so wichtig, wie sie das in der Vergangenheit war. Deshalb werde ich jedenfalls alles dafür tun, die Tarifbindung in Deutschland wieder zu steigern und nicht noch weiter einzuschränken. Denn mit Blick auf Flexibilisierungen, die notwendig sein werden – was Arbeitszeit anbelangt, was Erreichbarkeit anbelangt –, werden wir sehr viel besser arbeiten können, wenn wir in den Betrieben Tarifpartner haben und wenn wir auch breite Tarifverträge haben. Deshalb ist das ein Ziel, das ich mir auch für die Zukunft gesetzt habe. Ich weiß, dass die IG BCE durch eine Vielzahl von Tarifverträgen gezeigt hat, wie verantwortlich man mit den unterschiedlichen Herausforderungen umgeht. Deshalb werde ich, wenn es zu einer neuen Regierung kommt, auch versuchen, die Koalitionspartner davon zu überzeugen, dass unsere regelmäßigen Dialoge in Meseberg gute und wichtige Dialoge waren. – Ich habe gelesen, dass Sie schon ein Thema haben, das Sie dort auf die Tagesordnung setzen wollen; nämlich den demografischen Wandel. – Solche Dialoge haben uns insgesamt vorangebracht und gerade auch mir persönlich viele Einblicke in Lebenswirklichkeiten und Herausforderungen in modernen industriellen Bereichen geboten. Meine Damen und Herren, wir werden über das Thema Fort- und Weiterbildung auch in staatlicher Verantwortung sprechen müssen. Ich will hier nur deutlich machen, dass ich auch sehr dafür werben werde, dass wir bei der digitalen Bildung frühzeitig anfangen. Ich sage zum einen, dass es zwischen Bund und Ländern klare Verantwortlichkeiten geben muss – Bildungspolitik für die Schule ist zuallererst die Verantwortlichkeit der Länder –, aber zum anderen sage ich auch, dass wir als Bund an bestimmten Stellen unterstützen müssen. Das fängt damit an, dass wir finanzschwachen Kommunen bei der Modernisierung und Sanierung von Schulen helfen. Wir haben dafür im Bundeshaushalt bereits 3,5 Milliarden Euro festgelegt. Uns geht es aber vor allen Dingen auch um digitale Bildung und damit um einen Anschluss der Schulen an das Breitbandinternet. Klar, das müssen wir vor allen Dingen in den ländlichen Regionen subventionieren. Ich nutze hier ausdrücklich das Wort „subventionieren“. Wir bekommen jedes Jahr Subventionsberichte; und dann gibt es immer eine allgemeine Empörung, was der Bund denn nun wieder alles subventioniert. Meine Damen und Herren, der Internetausbau in ländlichen Regionen ist Daseinsvorsorge – genauso wie der Zugang zu elektrischem Strom, Wasser und Abwasser. Wenn man dort keine wirtschaftlichen Anbieter findet, dann muss der Staat das eben mit Zuschüssen anreizen. Das ist keine Subvention im schlechten Sinne, sondern es geht um eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im guten Sinne; und das werden wir uns auch nicht ausreden lassen. Wir werden also die Schulen an das Breitbandinternet anschließen. Wir werden bereit sein, zusammen mit den Ländern digitale Lehrinhalte zur Verfügung zu stellen, aus denen sich die Länder und Schulen dann ihre Dinge heraussuchen können, und diese digitalen Lehrinhalte auch immer wieder zu pflegen. Der entscheidende Punkt – und da müssen wir auch mit Ihren Kollegen von der Erziehungsgewerkschaft sprechen – ist die Weiterbildung der Lehrer. Es ist heute natürlich eine ziemlich dramatische Situation, wenn die 12- bis 15-Jährigen zwar fröhlich in die Schulen kommen, auf ihren Smartphones und auf ihren Tablets klimpern, aber die Lehrerinnen und Lehrer, die vor zehn, 20 oder 30 Jahren studiert haben, nicht die notwendige Weiterbildung bekommen, um Schülerinnen und Schüler in Zukunftsfähigkeiten auszubilden. Ich sage voraus: Neben lesen, schreiben und rechnen – was man in Zukunft auch noch können muss, kommt heutzutage noch ein bisschen zu kurz – wird man auch programmieren müssen und die digitale Medienvielfalt verstehen müssen. Deshalb sind neue Bildungsinhalte gefragt. Da können wir die Länder nicht einfach allein lassen, denn das ist mindestens eine Jahrhundertherausforderung. Ich glaube, das, was bei der Digitalisierung mit unserer Gesellschaft passiert, hat ähnliche Dimensionen der Veränderung wie der Buchdruck zu Zeiten von Gutenberg. Es gibt völlig neue Zugangsmöglichkeiten zu Wissen, zu Erfahrungen, zum Austausch und damit auch eine völlig neue Organisation der Gesellschaft. Ich glaube, Sie merken das auch in Ihrem gewerkschaftlichen Arbeiten. Wir merken das auch in unserer Parteiarbeit, wir merken das in der Frage der Erreichbarkeit der Gesellschaft. Im Übrigen verändern sich auch die Wünsche der Menschen. Wir finden es toll, wenn wir uns alle paar Monate einmal an unsere Parteimitglieder wenden können, wenn wir ihre E-Mail-Adressen kennen. Menschen sind es heute gewöhnt, dass sie, nachdem sie irgendwo einkaufen waren, immer wieder einmal eine Botschaft mit allen neuen Angeboten bekommen. Auch die Arbeit aller gesellschaftlichen Organisationen wird sich massiv verändern. Es besteht aber auch die große Gefahr, dass man sich sozusagen in meinungsgleichen Gruppen wunderbar versammeln kann und zum Schluss denkt, alle würden so denken wie man selbst. Und dann ist man ganz erstaunt, wenn man einmal jemandem begegnet, der eine ganz andere Meinung hat. Meine Damen und Herren, mit all diesen Fragen werden wir uns beschäftigen müssen. Wir müssen natürlich aufpassen, dass wir sozusagen bei der Hardware, also bei dem, was wir produzieren, bei dem, was wir herstellen, bei dem, was wir verteilen, auch weiter vorne mit dabei sind. Die Frage „Wie können wir weiter Weltspitze sein?“ ist eine der zentralen Fragen. Wenn man sich anschaut, wie die Entwicklung auf der Welt verläuft, und wenn man sich dann anschaut, wie die Situation in Europa ist, dann sieht man, dass die typischen Entwicklungen Europas nicht immer den typischen Entwicklungen der Welt entsprechen. Die Weltbevölkerung wächst, die deutsche Bevölkerung schrumpft eher. Die europäische Bevölkerung wird jedenfalls im Durchschnitt älter. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Menschen im erwerbstätigen Alter wird sich zum Beispiel bis 2030 deutlich verringern. Das könnte – so hat es uns auch die Arbeitsministerin Andrea Nahles in einem Bericht gesagt – für die Umstellung auf die Digitalisierung durchaus auch hilfreich sein, weil manche Arbeitsplätze in der Zukunft vielleicht nicht mehr existieren. Aber die Tatsache, dass wir weniger junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben, wird natürlich auch eine große Herausforderung sein. Wir werden ohnehin nur Weltspitze bleiben können, wenn wir europäisch denken, wenn wir auch europaweit unsere Wettbewerbsfähigkeit verbessern – ich habe bereits den digitalen Binnenmarkt erwähnt – und wenn wir nicht nur in Deutschland darauf achten, dass wir innovativ sind. Wenn ich sehe, was in China in bestimmte Bereiche investiert wird, dann dürfen wir nicht nachlassen. Es ist gut, dass wir unsere Forschungsausgaben in den letzten Jahren mehr als verdoppelt haben. Viele Forscher sind aus dem Ausland zurückgekommen, weil sie bei uns verlässliche Rahmenbedingungen finden. Wir haben versucht, durch die Übernahme der BAföG-Leistungen die Universitäten, die ja im Wesentlichen von den Ländern finanziert werden, zu stärken. Darüber hinaus haben wir auch vieles getan, um Forschung besser mit der industriellen Entwicklung zusammenzubringen. Eines unserer Vorhaben – jedenfalls unionsseitig – ist, die steuerliche Forschungsförderung zumindest für kleine und mittlere Betriebe einzuführen, um diesen Unternehmen zu sagen: Ihr müsst in Innovationen investieren, denn sonst werden wir in Deutschland keine gute Arbeit haben, sonst werden wir nur eine verlängerte Werkbank sein. Die größte Herausforderung sehe ich dort, wo es um die zukünftigen Beziehungen der Unternehmen zu ihren Kunden geht, weil wir dabei in einem Wettlauf sind. Wir haben soziale Medien, wir haben große amerikanische und asiatische Anbieter, die sehr viele Daten über die Bürgerinnen und Bürger haben – seien es anonymisierte oder zum Teil auch personenbezogene Daten. Wir haben unsere klassische industrielle Produktionsweise, in der wir wirklich stark sind. Wir kommen mit der Digitalisierung innerhalb der Produktion auch sehr gut klar. Aber jetzt geht es um die Frage: Wie sieht in Zukunft die Verbindung des Kunden zu seinem Produzenten aus? Wer diese Schlacht gewinnt, wer also sagen kann, dass er die besten Beziehungen zu allen denkbaren Kunden hat, der wird reüssieren. Unser Anspruch muss sein, dass es die Produzenten sind und nicht diejenigen, die die Daten über die Individuen sammeln, denn sonst werden wir nämlich zur verlängerten Werkbank. Darüber möchte ich mit Ihnen, Herr Vassiliadis, im Gespräch bleiben. Ich bleibe natürlich auch mit Unternehmern im Gespräch. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob wir nicht zu klein denken. Das Denken in Plattformen zum Beispiel ist für die Bürgerinnen und Bürger ganz selbstverständlich. Bürgerinnen und Bürger werden in Zukunft nicht mehr fragen: Wo ist mein Auto? Wo ist meine Zugverbindung? Wo ist mein Fahrrad? Sondern sie werden sagen: Ich möchte von A nach B; bitte gib mir drei oder vier verschiedene Komplettangebote. Wir werden uns dabei um die Frage kümmern müssen, ob unser Wettbewerbsrecht dafür überhaupt geeignet ist. Oder heißt das nicht, dass hierbei dauernd Absprachen zwischen Leuten getroffen werden, die eigentlich keine Absprachen miteinander treffen dürfen? Plattformen müssen wir nicht nur national organisieren, wir müssen sie zum Teil auch europäisch organisieren. Insofern ist sehr viel zu tun, wenn wir über die Verbindung des Herstellers mit seinen Kunden sprechen. Ich hoffe, dass wir in Deutschland ein gutes Beispiel sind. Denn die industrielle Stärke haben wir. Unser Industrieanteil am Bruttoinlandsprodukt ist nach wie vor sehr hoch. Das wollen wir halten. Ich gebe hier ein klares Bekenntnis zu einer Industriegesellschaft, auch im 21. Jahrhundert, ab. Dienstleistungen sind wichtig, aber Industrie bleibt wichtig, meine Damen und Herren. Nun vermute ich einmal, dass Sie vieles von dem, was ich hier angesprochen habe, selbst sehr stark bewegt. Dazu gehört natürlich Ihr Brot-und-Butter-Geschäft: die Tarifverhandlungen – die Entwicklung der Löhne –, die aber längst nicht mehr nur zugespitzt auf das Thema Löhne sind, sondern auch in Bezug auf Weiterbildung, auf Rentenfragen usw. Wir haben im Wahlkampf einen Dissens über die Weiterentwicklung der Renten gehabt. Aber eines war immer klar: Keine der Parteien – hoffentlich sage ich nichts Falsches über die Grünen –, jedenfalls weder die SDP noch die Union, hat ein Rentenkonzept über das Jahr 2030 hinaus vorgelegt. Das wird aber auf jeden Fall eine der großen Aufgaben der nächsten Legislaturperiode sein, weil wir natürlich Sicherheit schaffen müssen. Dabei wird es eine Vielzahl von Aufgaben geben, gerade auch mit Blick auf die vielen Selbständigen, die heute keine oder keine nachprüfbare Altersvorsorge haben. Das betrifft nicht alle Selbständigen, aber viele. Insofern werden wir sicherlich auch in Zukunft durchaus kontroverse, aber, ich glaube, auch fruchtbringende Diskussionen haben. Ich freue mich, dass Sie mich hierher eingeladen haben. Ich darf Ihnen versichern, dass wir uns in jeder neuen Regierung dafür einsetzen werden, dass Deutschland nicht nur für die Menschen im eigenen Land stark ist, sondern dass Deutschland auch ein starker Partner in Europa ist. In Europa ist Leben zurückgekehrt – fatalerweise erst nach einer traurigen Entscheidung; nämlich der Entscheidung der Briten, die Europäische Union zu verlassen. Die Verhandlungen darüber sind wichtig. Wir werden sie führen, und zwar so führen, dass möglichst wenig Schaden für uns hier in Deutschland entsteht. Aber, meine Damen und Herren, die anderen 27 Mitgliedstaaten – das haben auch die Reden von Jean-Claude Juncker und von Emmanuel Macron gezeigt – sind wirklich entschlossen, Europa weiterzuentwickeln. Wir haben mit Blick auf die Migrations- und Flüchtlingspolitik viele Schritte gemacht, die jahre- und jahrzehntelang undenkbar waren. Wir haben jetzt einen gemeinsamen Außengrenzenschutz mit Frontex. Wir haben mit Blick auf eine gemeinsame Verteidigungspolitik innerhalb von anderthalb Jahren Schritte gemacht, die vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen wären. Insofern freuen wir uns, wenn Sie uns nicht nur anfeuern, etwas für die Menschen in Deutschland zu tun, sondern auch für ein einheitliches Europa und für eine menschliche Gestaltung der Globalisierung. Herzlichen Dank. Ihnen noch gute Kongresstage, intensive Beratungen und auf eine gute, kritische, aber konstruktive und manchmal auch einheitliche Zusammenarbeit. Herzlichen Dank.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Verleihung des deutsch-französischen Franz-Hessel-Preises für Literatur
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-verleihung-des-deutsch-franzoesischen-franz-hessel-preises-fuer-literatur-479638
Wed, 11 Oct 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Frankfurt am Main
Kulturstaatsministerin
Wenn Politiker das Wort ergreifen, kommen Freundinnen und Freunde der Poesie im Allgemeinen selten auf ihre Kosten – allein schon deshalb, weil Verständigung im prosaischen Alltag der Politik die nüchterne Sprache der Diplomatie erfordert. Wenn allerdings auf der Buchmesse gleich zwei Kulturpolitikerinnen das Wort ergreifen, dann darf das Publikum zumindest davon ausgehen, dass Sprachkunst und Poesie ein Wörtchen mitzureden haben – so wie heute in Gestalt Franz Hessels, an dessen Vermächtnis der Preis erinnert, den wir in diesem Jahr auf der Frankfurter Buchmesse verleihen. Die Sprache der Kunst, der Literatur, schafft Verbundenheit auch über Interessengegensätze hinweg – selbst dort, wo Politik und Diplomatie an ihre Grenzen stoßen. Dafür steht das Lebenswerk Franz Hessels: seine Übersetzungen literarischer Meisterwerke aus dem Französischen ins Deutsche wie auch sein eigenes, von der Liebe zu Paris und Berlin geprägtes literarisches Schaffen. Wenn wir heute den nach ihm benannten Preis an Christine Wunnicke und Philippe Forest, verleihen, dann würdigen wir zwei Sprachkünstler, die mit ihrer Fantasie und Experimentierfreude nicht nur die Grenzen dessen erweitern, was sich mit Worten ausdrücken und teilen lässt, sondern die damit auch zwischen unterschiedlichen Sprachwelten zu vermitteln vermögen. Die Auszeichnung soll dazu beitragen, dass ihre Worte in ihrem Heimatland wie auch im jeweiligen Nachbarland Aufmerksamkeit finden und Verbundenheit über nationale Grenzen hinweg schaffen. Mit der Kraft ihrer Worte sind Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Christine Wunnicke und Philippe Forest Hoffnungsträger: Denn gerade dort, wo Rechtspopulisten gegen Europa, gegen kulturelle Vielfalt und Weltoffenheit zu Felde ziehen und mit der Verrohung der Sprache den Boden für Hass und Hetze bereiten, gerade dort brauchen wir die Kraft jener Worte, die Denk- und Vorstellungsräume erweitern und die im Fremden das Vertraute, im Trennenden das Verbindende sichtbar machen – eben die Kraft der Literatur. Nicht zuletzt deshalb liegt mir – wie auch Ihnen, verehrte Frau Ministerin – die Förderung der literarischen und verlegerischen Vielfalt ganz besonders am Herzen. Ich bin dankbar, Frankreich an der Seite Deutschlands zu wissen, wo immer es darum geht, diese Vielfalt zu schützen – beispielsweise im Engagement für den Erhalt der Buchpreisbindung, die (in Deutschland) seit einem Jahr ausdrücklich auch für elektronische Bücher gilt. Die Bereitschaft Frankreichs, sich auf der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt schon zum zweiten Mal als Gastland zu präsentieren, unterstreicht die Wertschätzung Frankreichs für das Kulturgut Buch und stärkt den literarischen und verlegerischen Austausch zwischen unseren Ländern. Auch darüber freue ich mich sehr. Literarische Texte, die über nationale Grenzen hinweg gelesen und geliebt werden, schaffen Verbundenheit und machen ein Europa sichtbar und spürbar, das mehr ist als eine Freihandelszone. Dafür einzutreten, ist alle politische Anstrengung wert, und ich hoffe, dass dazu auch der deutsch-französische Franz-Hessel-Preis einen kleinen Beitrag leisten kann. Herzlichen Glückwunsch, Christine Wunnicke und Philippe Forest!
Bei der Verleihung des Franz-Hessel-Preises hat Kulturstaatsministerin Grütters die beiden ausgezeichneten Autoren Christine Wunnicke und Philippe Forest als Vermittler zwischen unterschiedlichen Sprachwelten gewürdigt. Die Kraft der Worte, die Denk- und Vorstellungsräume erweitern und das Vertraute im Fremden sichtbar machen, seien gerade dann nötig, wenn kulturelle Vielfalt und Weltoffenheit angegriffen würden.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse am 10. Oktober 2017 in Frankfurt am Main
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-eroeffnung-der-frankfurter-buchmesse-am-10-oktober-2017-in-frankfurt-am-main-479464
Tue, 10 Oct 2017 18:44:00 +0200
Frankfurt am Main
Sehr geehrter Herr Staatspräsident, lieber Emmanuel Macron, sehr geehrter Herr Boos, Herr Riethmüller, Herr Oberbürgermeister Feldmann, Exzellenzen, königliche Hoheiten, meine Damen und Herren, „Frankfurt auf Französisch“ – das diesjährige Motto der Buchmesse könnte das verbindende Element der Sprache kaum treffender ausdrücken. Denn seit jeher zeichnet sich die große und traditionsreiche französische Literatur durch vielfältige Verbindungslinien zwischen unseren Nationen diesseits und jenseits des Rheins aus. Nun kann ich leider kein Französisch, was ich permanent bedauere. Ich habe mich gefreut, dass in der Rede des Präsidenten das Russische als europäische Sprache vorkam; das verstehe ich wenigstens ein wenig. Aber – und ich bin sehr zufrieden, dass Goethe das genauso empfunden hat, wie ich heute gelernt habe – allein der elegante und melodische Klang lässt einem das Herz immer wieder aufgehen. Ich glaube, das geht Ihnen allen auch so. Es macht einfach Freude, dem Französischen zuzuhören. Literatur kann ihre verbindungsstiftende Funktion aber natürlich nur dann erfüllen, wenn Sprachbarrieren überwunden werden können. Insofern spricht es für die Verbundenheit unserer Nachbarländer, dass Französisch die Sprache ist, die in Deutschland am zweithäufigsten übersetzt wird. Entsprechend groß ist auch die Freude darüber, dass Frankreich in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse ist – besser noch: die Frankophonie; denn hier stellt sich eben nicht nur ein Land, sondern ein ganzer Sprachraum vor. Mehr als 130 Autoren aus Frankreich, der französischen Schweiz, Belgien und Luxemburg, ja sogar aus Kanada, vielen afrikanischen Ländern und Asien werden hier ihre Werke präsentieren und insofern auch einen großen Teil unserer Welt darstellen. Sie alle, die Sie uns hier Ihre Weltsprache nahebringen, möchte ich ganz herzlich begrüßen. Natürlich ist der Ehrengastauftritt Frankreichs ein besonderer Höhepunkt des französischen Kulturjahres 2017 in Deutschland. Schon seit Jahresbeginn wussten zahlreiche Autoren, Kreative und Kulturschaffende in verschiedenen Städten hierzulande viele, viele Menschen mit ihren Werken zu begeistern. Daran lässt sich ablesen: Nicht nur hier in Frankfurt und nicht nur an wenigen Tagen, sondern über das Jahr hinweg begegnen beide Nationen einander nicht sprachlos, sondern haben sich, ganz im Gegenteil, sehr viel zu sagen. Ohnehin haben der kulturelle Austausch und insbesondere auch Übersetzungen französischer Literatur eine sehr lange Tradition. Um wieviel ärmer wäre Deutschland über alle historischen Epochen hinweg ohne Einflüsse und Beiträge französischer Kultur? Und wie sähe das französische Geistesleben ohne Denkanstöße aus Deutschland aus? Die „République des lettres“ und das „Land der Dichter und Denker“ sehen sich seit Jahrhunderten in einem zuweilen durchaus kontroversen, aber stets bereichernden Austausch einander verbunden. Der deutsch-französische Dialog fand seit dem Mittelalter an der Pariser Sorbonne und an der Heidelberger Universität statt. Die französischen Hugenotten in Berlin und Heinrich Heine in Paris setzten ihn fort. Gelebt und belebt wurde der Dialog in der nicht immer einfachen Beziehung zwischen Voltaire und Friedrich dem Großen, aber auch in der Freundschaft zwischen Rilke und Rodin. In ihrem Selbstverständnis wissen die beiden großen europäischen Kulturnationen um den Wert des geschriebenen Wortes – des Buches als Gut unserer Kultur. Das Buch öffnet uns Türen zu Lebens- und Erfahrungswelten, die wir selber ohne Buch nie erleben würden. Es lädt uns zum Träumen ein, es regt zum Denken an, es erweitert unseren Horizont und hilft, Kulturen – auch die eigene – besser zu verstehen, Gemeinsamkeiten zu sehen und auch ein Gefühl für Unterschiede zu bekommen. Wir brauchen die von der Literatur ausgehenden geistigen und kreativen Impulse in allen Lebensbereichen. Sie fördern Weltoffenheit. Sie fördern Neugier. Sie spornen an, auch neue und ungewohnte Wege zu wagen. Da wir uns in einer Welt des Wandels behaupten wollen und müssen, müssen wir uns auch selber wandeln können. Und dabei kann Literatur helfen. Wir haben den Eindruck: der Wandel findet immer schneller statt. Deshalb sind wir dankbar, wenn uns Autoren mit ihrem jeweils eigenen Blick auf diese Welt zeigen, wie sie sie verstehen. Wir brauchen sie als Seismografen aktueller und denkbarer Entwicklungen. Wir brauchen sie als Ideengeber und auch als Brückenbauer in einer Welt, in der wir sehen, dass das Wohl einzelner Länder immer stärker voneinander abhängt, aber in der wir auch sehen, dass teilweise Menschen sich immer weiter in ihrem eigenen Land und ihrer eigenen Welt verkriechen. So ist auch für mich als Politikerin Literatur eine Mittlerin politischer Botschaften und gesellschaftlicher Werte. In der Literatur spiegelt sich gleichsam die Seele unserer freiheitlich verfassten Gesellschaft wider, in der die Freiheit des Geistes und der Meinungsäußerung einhergeht mit politischer Freiheit. Deshalb, Herr Riethmüller: Vielleicht ist es gut, immer wieder angespornt zu werden; aber ich glaube, sowohl der französische Staatspräsident als auch all unsere europäischen Kollegen und auch ich wissen, wie wichtig es ist, für das, was für uns selbstverständlich ist, überall in der Welt einzutreten. Deshalb werden wir das weiter tun. Denn Kunst und Kultur – das ist unsere tiefe Überzeugung – können sich in einer freiheitlichen Gesellschaft am besten entfalten. Aber gerade auch dann, wenn wir keine freiheitliche Gesellschaft haben, können Kunst und Kultur viel Inspiration bieten. Ich weiß, dass es vielen auf der Welt sehr viel schlechter ging als uns in der ehemaligen DDR. Aber einmal erlebt zu haben, dass man nicht jedes Buch lesen kann, das man lesen möchte, bringt einen dazu, lebenslang dafür zu kämpfen, dass möglichst alle Menschen alle Bücher lesen können, die sie lesen möchten. Literatur bildet also ein breites Spektrum an Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten im Zusammenleben ab – innerhalb eines Landes, aber eben auch in den Beziehungen zu anderen Nationen. So verwundert es wenig, dass sich unser gutes deutsch-französisches Miteinander auch im Bereich der Literatur äußert. Als ein Beispiel hierfür nenne ich den Franz-Hessel-Preis für zeitgenössische Literatur, der morgen vergeben wird – und mit dem gerade auch die Frage der Übersetzungen in den Blick genommen wird. Meine Damen und Herren, Übersetzungen von Literatur sind wirklich eine einmalige Sache, weil man ja sozusagen abhängig ist vom Übersetzer, um mit Blick darauf, was sich der Autor gedacht hat, das Richtige zu bekommen. Ich weiß von Dolmetschern, die unsere Sprache übersetzen, wie viel davon abhängt. Ob das Gefühl eines Gesprächs, die Emotion eines Gesprächs in der Politik in einer anderen Sprache gut wiedergegeben wird, kann ich nur erahnen. Aber ich kann auch ermessen, wie schwer es sein muss, Literatur zu übersetzen. Deshalb danke all denen, die das tun. Der Franz-Hessel-Preis dient also auch dazu, den Dialog zwischen unseren Ländern, zwischen Frankreich und Deutschland, immer wieder aufs Neue anzuregen. Dialog lebt natürlich auch von Begegnungen. Deshalb fördern wir gemeinsam mit Frankreich den Jugendaustausch und auch die Vermittlung von Sprachkompetenzen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Präsident Macron gleich als eine seiner ersten Maßnahmen die bilingualen Schulklassen wieder eingeführt hat. Das hilft gerade auch der Vermittlung von Deutschkenntnissen. Wir geloben, dass wir auch die französische Sprache so weit wie möglich in Deutschland verbreiten werden, meine Damen und Herren. Natürlich kommt der Bildungspolitik eine herausragende Rolle zu. Wir müssen auch die europäische Dimension mehr in den Blick nehmen und noch sehr viel mehr tun, um jungen Menschen die Freude an unserer Kultur, an unserer Bildung und an unserer Literatur zu vermitteln. Meine Damen und Herren, auch Kunst und Kultur brauchen Rahmenbedingungen, unter denen sie sich entfalten können. Das Thema hat ja heute hier auch schon eine Rolle gespielt. Das Kulturgut Buch, das unsere Weltsicht, unsere Haltungen und unsere Lebensentwürfe zu beeinflussen vermag, ist nicht irgendein Wirtschaftsgut wie jedes andere. Deshalb braucht es auch besondere Rahmenbedingungen. Daran arbeiten wir politisch auf europäischer Ebene und natürlich auch im nationalen Bereich: Buchpreisbindung, ermäßigter Umsatzsteuersatz auch für elektronische Bücher, die Frage der Erhaltung von Buchhandlungen – in diesem Zusammenhang haben wir den deutschen Buchhandlungspreis ausgelobt – und natürlich auch das Urheberrecht, das stark umstritten ist. Wieder muss ich mich an Herrn Riethmüller wenden, der unser letztes Gesetz mit großer Kritik bedacht hat. Dazu möchte ich nur wenige Worte sagen. Das Urheberrecht in der digitalen Welt hat im Augenblick einen ausgesprochen schwierigen Stand. Ich spreche mich hier ausdrücklich dafür aus, dass diejenigen, die im Kunst-, Kultur- und Literaturbereich tätig sind, hierfür ein angemessenes Entgelt erhalten müssen – und nicht nur müssen, sondern sollen, weil sich darin die Wertschätzung der Arbeit ausdrückt, die viele, viele andere überhaupt nicht leisten können. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Wir leben in einer Demokratie, aber ich habe in den letzten acht Jahren erlebt, dass es weder auf europäischer Ebene noch auf deutscher Ebene gelungen ist, eine umfassende Antwort auf die Rolle des Urheberrechts in der digitalen Welt zu finden, dass es zumindest nicht gelungen ist, dafür die aus meiner Sicht richtigen Mehrheiten zu finden. Ich muss Sie bitten, dass wir weiter gemeinsam dafür streiten, eine Versöhnung zwischen dem digitalen Zugang und der Wahrung und Achtung des Wertes der kulturellen, geistigen, schöpferischen Kraft zu schaffen. Das haben wir bis heute nicht geschafft. Wir haben ganze Legislaturperioden lang gar kein Gesetz zu dieser Thematik verabschiedet, was aber zu einer schleichenden Erosion dessen führt, was ich das Recht der Urheber nenne. Deshalb habe ich – ich gebe es zu, obwohl mir die Staatsministerin gesagt hat, ich solle lieber nicht darüber sprechen – in einer Art Last-minute-Entscheidung gesagt: Es kann nicht sein, dass wir jetzt auch im achten Jahr – zwei Legislaturperioden lang – gar nichts zu diesen Dingen sagen, weil sozusagen die Avantgardisten des Digitalen und die Schützer des geistigen Rechts anscheinend nie zusammenkommen und eine Lösung finden. Ich werde aber die Gelegenheit dieser Buchmesse dazu nutzen – Emmanuel Macron und ich werden gemeinsam darauf hinwirken –, europäische Lösungen zu finden. Aber wir brauchen dafür Ihre Unterstützung. Darum bitte ich. Meine Damen und Herren, damit bin ich beim Stichwort Europa. Emmanuel Macron hat vor wenigen Tagen eine wichtige, wegweisende Rede an der Sorbonne gehalten. Er hat sie in einer Zeit gehalten, in der Europa seine Identität in der Globalisierung neu definieren muss. Wir wissen, was Europa für uns bedeutet. Frankreich und Deutschland sind zwei EU-Gründungsstaaten. Sie wissen um ihre besondere Bedeutung in und für Europa. Auch heute gilt noch das, was schon Bundeskanzler Konrad Adenauer bei seinem Besuch in Paris 1962 gesagt hat: „Ein vereintes Europa, welche Form es auch immer annehmen mag, kann nicht bestehen ohne die engste Verbindung, Freundschaft und Solidarität der beiden Nachbarstaaten Frankreich und Deutschland.“ Die Geschichte sollte Adenauer recht geben. Die Erfahrung zeigt: Um Europa weiterzuentwickeln, kommt es immer wieder auch auf Impulse aus Frankreich und aus Deutschland an. Meine Damen und Herren, dabei können wir auch an das deutsch-französische Kulturabkommen anknüpfen, das bereits 1954 geschlossen wurde – und zwar „in der Überzeugung, dass eine fruchtbare Zusammenarbeit und ein gesteigerter Austausch zwischen dem deutschen und dem französischen Volk auf kulturellem Gebiet die Sache des Friedens und des vereinten Europa nur fördern können.“ Die Buchmesse, bei der Frankreich erstmals Gastland war, fand im Jahr 1989 statt. Damals war die Mauer noch nicht gefallen, die DDR existierte noch und Europa war ein anderes als das heutige Europa. Damals hatte sich Europa zu der Blüte entfaltet, die sich de Gaulle und Adenauer gewünscht haben. Europa war bis dahin überschaubarer, aber es war ein geteiltes Europa. Die europäische Einigung war die Lehre aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und folgte dem unbedingten Willen, sich zu versöhnen. Es gab so viele große Bürgerinnen und Bürger Frankreichs und Deutschlands, die nach den Schrecknissen von zwei Weltkriegen den Mut dazu aufgebracht haben. Heute haben wir immer weniger Zeitzeugen dieser Zeit der großen Kriege. Heute haben wir ein vereintes, aber auch größeres Europa. Heute haben wir mit der Digitalisierung eine technische Revolution, die mit derjenigen der Entstehung des Buchdrucks vergleichbar ist. – Wir werden nachher auf einer Gutenbergschen Buchdruckmaschine einen Druck der Deklaration der Menschenrechte vornehmen. – Die Digitalisierung wird unsere Welt vollkommen verändern. Sie wird uns völlig neue Möglichkeiten eröffnen. Aber wir werden auch darum kämpfen müssen, uns immer wieder unsere Wurzeln, unsere Verwurzelungen klarzumachen, um den richtigen Weg in dieser scheinbar unendlich vernetzten Welt zu finden. Wir dürfen nicht zu Getriebenen der Globalisierung und nicht zu Getriebenen der Digitalisierung werden, sondern wir müssen sie ordnen, steuern und gestalten. Dabei kann uns Literatur helfen. Auch wir, die Politikerinnen und Politiker, versuchen in diesen Zeiten rasanter technischer Entwicklungen – jede Einsicht und jede Empfindung von jedem Autor und jeder Autorin hier auf dieser Buchmesse werden ein Beitrag dazu sein –, die Globalisierung menschlich zu gestalten und unser Europa stärker zu machen. Auch dazu wünsche ich mir Impulse von dieser Buchmesse. Herzlichen Dank dafür, dass ich bei der Eröffnung dabei sein kann.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Wiedereröffnung der Staatsoper Unter den Linden
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-wiedereroeffnung-der-staatsoper-unter-den-linden-470578
Tue, 03 Oct 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Was macht ein gutes Opernhaus aus? Ist es eine ideale Nachhallzeit von 1,6 Sekunden? Sind es bequeme Sitze, die einen auch Wagners „Götterdämmerung“ ohne nennenswerte Probleme überstehen lassen? Ist es die automatisierte und digital gesteuerte Bühnenmaschinerie? Das alles gehört dazu. Entscheidender sind aber ein begnadeter Dirigent, ein inspiriertes Orchester und betörende Stimmen in begeisternden Inszenierungen. Fürs Inspirieren, Betören und Begeistern, lieber Jürgen Flimm, lieber Matthias Schulz, lieber Daniel Barenboim, sind Sie zuständig. Die Komplettsanierung inklusive Akustik, Zuschauerraum und Bühnentechnik haben Bund und Berlin mit jeweils 200 Millionen Euro gemeinsam finanziert. Und wir versprechen sicher nicht zu viel, wenn wir sagen: Wir bringen das Gesamtkunstwerk Oper in Berlins erstem und ältestem Opernhaus wieder aufs Schönste zum Klingen. Denn nach Abschluss der Sanierung gehört die Staatsoper Unten den Linden auch mit Blick auf Ausstattung und Technik tatsächlich wieder zu den führenden Opernhäusern der Welt. Ausdruck der Wertschätzung für dieses Schmuckstück im Herzen Berlins ist nicht nur das enorme finanzielle Engagement des Bundes für seinen Erhalt und eine zeitgemäße Ausstattung. Der Bund wird sich ab dem kommenden Jahr auch mit einem Zuschuss in Höhe von 10 Millionen Euro an der laufenden Finanzierung der Stiftung Oper in Berlin beteiligen. Denn die drei Berliner Opernhäuser und das Staatsballett stehen für die lange und vielfältige Tradition der Musikstadt Berlin, die Künstler und Kulturliebhaber aus aller Welt anzieht – und ganz Deutschland profitiert davon, dass Menschen die weltoffene Atmosphäre der Kulturmetropole Berlin als prägend für ihr Bild von Deutschland erleben. Wie sehr wir Orte brauchen, die dieser Weltoffenheit Raum geben, ist mit dem Einzug einer rechtspopulistischen Partei als drittstärkste Kraft in den Deutschen Bundestag gerade einmal mehr deutlich geworden. Ein Opernhaus kann natürlich keine Wunder bewirken, wo Populisten Ängste, Hass und Vorurteile schüren. Zweifellos aber kann die Kultur Kräfte entfalten, die jene der Politik und der Wirtschaft bisweilen übersteigen. Deshalb verdient die frisch sanierte Staatsoper Unten den Linden zum heutigen Premierenkonzert nicht nur ein Berlinerisches „ick freu‘ mir!“, sondern auch ein bundesdeutsches „Willkommen zurück!“: Willkommen zurück auf der großen Bühne der Hauptstadtkultur! Die in neuem Glanz erstrahlende Bühne der Staatsoper, liebe Musikerinnen und Musiker, gehört jetzt wieder Ihnen. Willkommen zurück! Auf den Enthusiasmus der Kunst, auf die verbindende Kraft der Musik, auf die Euphorie ihrer Liebhaber und vor allem: auf viele unvergessliche, musikalische Erlebnisse in der Staatsoper!
„Wir bringen das Gesamtkunstwerk Oper in Berlins erstem und ältestem Opernhaus wieder aufs Schönste zum Klingen“, freute sich Kulturstaatsministerin Grütters bei ihrer Eröffnungsrede. Sie hieß die Staatsoper Unter den Linden „willkommen zurück auf der großen Bühne der Hauptstadtkultur“.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Übergabe des Hauses Bastian an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-uebergabe-des-hauses-bastian-an-die-stiftung-preussischer-kulturbesitz-474186
Thu, 28 Sep 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
„Staatsgeschenke“, das sind – so steht es in Artikel 82 ff der Zollbefreiungs-verordnung – „Geschenke im Rahmen zwischenstaatlicher Beziehungen“. Staatsgeschenke, das sind in Vitrinen bewahrte Ausstellungsstücke, die man etwa im Foyer des Bundeskanzleramts bewundern kann. Staatsgeschenke, dazu gehören beispielsweise die Redevorlage mit den berühmten Worten „Ich bin ein Berliner“, die Barack Obama unserer Bundeskanzlerin 50 Jahre nach dem Besuch John F. Kennedys überreichte; oder auch die von Fidel Castro eigenhändig gefangene Languste, mit der Erich Honecker 1980 bedacht wurde und die dann präpariert im Naturkundemuseum landete. Doch trotz der offensichtlichen Bandbreite an Präsenten, die sich darunter subsumieren lassen, ist der Begriff „Staatsgeschenk“ im Grunde zu eng gefasst. Denn ein „Staatsgeschenk“ im weiteren Sinne, ein „Staatsgeschenk“ ganz besonderer Art ist auch das Haus Bastian, dessen Übergabe an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz wir heute bekannt geben dürfen. Mit dieser großzügigen Geste macht die Familie Bastian nicht nur der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, sondern auch der Stadt Berlin, und ja: auch der Kulturnation Deutschland ein wunderbares Geschenk. Denn was Sie uns damit schenken, verehrte Familie Bastian, ist nicht allein ein Haus von unschätzbarem Wert, ein echter Chipperfield-Bau im Herzen Berlins. Sie schenken uns vor allem die Chance, in einem Zentrum für kulturelle Bildung und Vermittlung, das hier entstehen soll, ein noch größeres und vielfältigeres Publikum an die kulturellen Schätze aus Europa und dem Nahen Osten heran zu führen, die auf der Museumsinsel zu bewundern sind. Die Stiftung wird hier, direkt gegenüber des neuen Eingangsgebäudes, neue Formen der Mitwirkung, der Kommunikation und Inklusion erproben können – eine zukunftsweisende Aufgabe, der sich nicht nur die Museen, sondern auch die Kulturpolitik noch stärker als bisher widmen muss und wird. Deshalb entsteht in unmittelbarer Nachbarschaft auf Deutschlands größter Kulturbaustelle ja auch das Humboldt Forum – kein Museum herkömmlichen Typs, sondern ein Bildungs- und Verständigungsangebot, das Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammen bringt. Kulturelle Bildungsarbeit ist eine ständige Einladung, die phantasievoll und in vielen Varianten gestaltet und ausgesprochen werden muss, um möglichst alle dauerhaft in unserem Land lebenden Menschen in ihrer jeweiligen Lebenswelt zu erreichen und für Kunst und Kultur zu begeistern. Das ist einerseits sehr anspruchsvoll, aber es ist andererseits das Mindeste, was Bürgerinnen und Bürger von der Kulturnation Deutschland erwarten können. Denn gesellschaftliche Teilhabe setzt kulturelle Teilhabe voraus. Als Speicher des kollektiven Gedächtnisses ermöglichen gerade Museen die Erfahrung, was uns ausmacht – als Deutsche, als Europäer, als Weltbürger. Sie spiegeln und prägen unser Selbstverständnis. Wie sehr wir solche Orte der Selbstvergewisserung wie auch der Weltoffenheit brauchen, ist mit dem Einzug einer rechtspopulistische Partei als drittstärkste Kraft in den Deutschen Bundestag einmal mehr deutlich geworden. Weit geöffnete Museumspforten und die Einladung zu kultureller Bildung können natürlich keine Wunder bewirken, wo Populisten Ängste, Hass und Vorurteile schüren. Zweifellos aber kann die Kultur Kräfte entfalten, die jene der Politik und der Wirtschaft bisweilen übersteigen. Dafür, dass Sie diese Kräfte mit Ihrer großzügigen Schenkung stärken, liebe Céline, lieber Heiner, lieber Aeneas Bastian, dafür, dass Sie uns helfen, die Neugierde zu wecken auf das, was die Museumsinsel an identitätsstiftender wie auch an Neugier weckenden Schätzen zu bieten hat, dafür danke ich Ihnen von Herzen! Es ist ein „Staatsgeschenk“, das Teilhabe und Verständigung fördert – ein Geschenk also, mit dem sich im wahrsten Sinne des Wortes „Staat machen“ lässt.
Die Familie des Kunstsammlers Heiner Bastian hat der Stiftung Preußischer Kulturbesitz das „Haus Bastian“ geschenkt. In dem Chipperfield-Bau soll ein Zentrum für kulturelle Bildung und Vermittlung entstehen. „Eine zukunftsweisenden Aufgabe, freute sich Kulturstaatsministerin Grütters über die großzügige Geste. Das Galeriehaus sei ein wunderbares Geschenk für die Kulturnation Deutschland.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Eröffnung der „State oft the Art Archives-Konferenz“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-eroeffnung-der-state-oft-the-art-archives-konferenz–803180
Thu, 21 Sep 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Die Suche nach dem verlorenen Archiv“: Mit dieser Zeile war in der FAZ vor einigen Jahren ein Artikel über eine umfangreiche Dokumentation der Geschichte des legendären Berliner Kunstsalons Cassirer überschrieben. Einige von Ihnen kennen die bisher erschienenen (zwei) Bände dieses Werks bestimmt, das in den Feuilletons als „Ereignis der Kunstgeschichtsschreibung“ gefeiert wurde. Das Besondere daran ist nicht nur ihr Inhalt, ist nicht nur die Fülle der 1.100 Farbabbildungen, die die Hauptwerke aus dem Galerieprogramm zeigen. Außergewöhnlich ist auch die Entstehungsgeschichte dieser Publikation: Ein Großteil des Firmenarchivs war nach 1933 verloren gegangen – Ausstellungskataloge genauso wie Geschäftsakten. Die Geschichte einer Galerie, die Anfang des 20. Jahrhunderts maßgeblich zur Entwicklung Berlins zur Kunstmetropole beigetragen hat, blieb deshalb Jahrzehnte lang ungeschrieben – bis der Kunsthändler Walter Feilchenfeldt und der Literaturwissenschaftler Bernhard Echte sich für ihre 2011 erschienene Dokumentation alternative Quellen suchten: In mühsamer Kleinarbeit durchforsteten sie zehn Jahre lang die Feuilletons damaliger Tageszeitungen nach Ausstellungskritiken und -beschreibungen, um die Cassirerschen Schauen zu rekonstruieren. So offenbart dieses Werk im Nachhinein auch noch einmal den immensen Verlust, der mit dem Verschwinden einschlägiger Geschäftsunterlagen nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten einherging: Unwiederbringlich verloren ist, was die in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Pionierarbeit von Berliner Kunsthändlern hätte anschaulich machen können, die Berlin vor 1933 zum Nabel der Kunstwelt machten und die damals „junge“ europäische Kunst in die deutsche Hauptstadt brachten (und übrigens nicht zuletzt auch Max Liebermann, dem einstigen Eigentümer dieses Hauses, ein Forum boten). Pionierarbeit für die Rezeption zeitgenössischer Kunst leisten Galerien und Kunsthändler als Vermittler zwischen Künstlern und Kunstliebhabern vielfach auch heute. Doch zum Glück braucht es heute keine „Suche nach dem verlorenen Archiv“, kein mühsames Zusammentragen von Zeitungsartikeln, um diese Pionierarbeit für die Nachwelt sichtbar zu machen. Denn die gegenwärtige und künftige kunsthistorische Forschung kann auf die Bestände von Kunstarchiven zugreifen: auf Ihre Arbeit, meine Damen und Herren, die uns vor eben solchen Verlusten bewahrt, von denen die Dokumentation über den Kunstsalon Cassirer erzählt. Als Gedächtnis des Kunstbetriebs bleiben Archive üblicherweise allerdings eher im Hintergrund, und allein schon deshalb freue ich mich sehr, dass die „State of the Art Archives“-Konferenz die Leistung deutscher und internationaler Kunstarchive zumindest für drei Tage ins Blickfeld der öffentlichen Aufmerksamkeit rückt. Vielen Dank für die Einladung, lieber Klaus-Gerrit Friese, und vielen Dank dem Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung (ZADIK the Art Archives“-Konferenz die Leistung deutscher und internationaler Kunstarchive zumindest für drei Tage ins Blickfeld der öffentlichen Aufmerksamkeit rückt. Vielen Dank für die Einladung, lieber Klaus-Gerrit Friese, und vielen Dank dem Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung (ZADIK) und seinen Kooperationspartnern – dem Kunsthistorischen Institut der Universität zu Köln, dem Institut für moderne Kunst Nürnberg sowie der basis wien, Dokumentationszentrum für zeitgenössische Kunst – für die Ausrichtung dieser Konferenz, die nationalen und internationalen Kunstarchiven ein Forum zur Präsentation ihrer Arbeitsschwerpunkte bietet! Was für ein schönes Geschenk zu einem gleich dreifachen Gründungsjubiläum, das die Veranstalter sich selbst und allen kunsthistorisch Forschenden, ja allen Kunstinteressierten damit machen! Denn nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Museen profitieren enorm davon, dass weltweit zahlreiche Kunstarchive den stummen Zeugen des künstlerischen Zeitgeschehens eine Bleibe bieten: dem Schriftverkehr zwischen Künstlerin, Galeristen, Museen und Sammlern, den Ausstellungsunterlagen, den Inventar- und Preislisten usw. – all den Materialien, die erzählen, wie zunächst unbekannte Künstler berühmt wurden, die in traditionellen kunsthistorischen Archiven und Bibliotheken aber keinen Platz finden und die deshalb ohne Ihr Engagement, meine Damen und Herren, für die Nachwelt möglicherweise verloren wären. All das aufzubewahren liegt nicht nur im Interesse von Kunsthistorikern. Wie ein Land mit seinem kulturellen Erbe und mit dem Vermächtnis derjenigen umgeht, die seine geistige und kulturelle Entwicklung prägen, sagt auch viel aus über die gesellschaftliche Wertschätzung für Kunst und Kultur und damit über die Verfasstheit einer Demokratie. Deshalb darf man es getrost als Ausweis gesellschaftlichen Fortschritts bezeichnen, dass in den vergangenen 25 Jahren weltweit so viele Kunstarchive neu entstanden sind, die sich als Vermittler zwischen Kunstbetrieb und Kunstwissenschaft etabliert haben. Beispielhaft dafür steht das ZADIK, das Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung – nicht nur, weil es vor exakt 25 Jahren gegründet wurde, sondern auch, weil es Maßstäbe hinsichtlich der Qualität der Bestände wie auch hinsichtlich der Professionalität ihrer Erschließung gesetzt hat, und weil es sich mit seinen Kooperationen internationales Renommee erworben hat. Der „Preis der Art Cologne“ 2017 für den Leiter des Archivs, Professor Günter Herzog, ist eine verdiente Anerkennung für die vorbildliche wissenschaftliche Arbeit. Schön, dass auch mein Haus das ZADIK in den vergangenen Jahren immer wieder fördern konnte: zunächst (bis 2002) mit Mitteln des so genannten Bonn-Berlin-Ausgleichs, später durch Beteiligung an konkreten Projekten: zum Beispiel 2017/2018 an der Erschließung des für die Fotografiegeschichte bedeutsamen Nachlasses Klaus Honnef. Zu Deinen großen Verdiensten, lieber Klaus Gerrit, gehört es, für die positive Entwicklung des ZADIK immer wieder die erforderlichen Mittel eingeworben zu haben. Die laufende Förderung solcher Archive ist ja in Deutschland Sache der Länder und Kommunen; es gibt hier keine „Kompetenz“ des Bundes. Deshalb muss das finanzielle Engagement meines Hauses für das Archiv für Künstlernachlässe der Stiftung Kunstfonds in Brauweiler bei Köln eine Ausnahme bleiben. Zumindest zwei kulturföderalistisch erlaubte Umwege gibt es in Deutschland aber, über die auch der Bund unterstützen kann: Mein Haus fördert sowohl die Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) als auch den Deutschen Museumsbund – und damit zwei Institutionen, deren Unterstützung sowohl bestehende als auch in Gründung befindliche Archive zur Sicherung dokumentarischer und künstlerischer Nachlässe in Anspruch nehmen können. Jenseits der Erkenntnisgewinne für Ihre Arbeitspraxis, meine Damen und Herren, die in den nächsten Tagen im Mittelpunkt stehen werden, wirft diese Konferenz auch ein Licht auf die Werte, die im Kunstbetrieb von Bedeutung sind. Denn Ihre Arbeit zeigt, dass es dort eben nicht nur um die erzielten Preise, sondern auch um die Bedeutung von Künstlerinnen und Künstlern und ihren Werken für eine bestimmte Zeit, für eine bestimmte Region, für ein bestimmtes Land und dessen Geschichte und Identität geht – um Werte, die über die Zeit hinaus Bestand haben. Zum Künstlerdasein gehört, frei nach Heinrich Böll gesprochen, immer auch „eine bestimmte Art verrückten Mutes – der Wunsch, diesem unendlichen Ozean von Vergänglichkeit einen freundlichen oder zornigen Fetzen Dauer zu entreißen“. In diesem Sinne hoffe ich, dass die „State of the Art Archives“-Konferenz zur Auseinandersetzung mit dem Wert der Kunst und der Bedeutung des kulturellen Erbes in einem „Ozean der Vergänglichkeit“ anregt, und all jenen, die mit den Vermächtnissen von Künstlern, Galeristen und Sammlern zu tun haben, dabei hilft, diesem Ozean der Vergänglichkeit „einen Fetzen Dauer“ abzutrotzen. Ich wünsche Ihnen dafür inspirierende Vorträge, Gespräche und Begegnungen!
Bei der Eröffnung der internationale Konferenz für Archive zur Dokumentation moderner und zeitgenössischer Kunst hat Kulturstaatsministerin Grütters deren Arbeit gewürdigt. Als „Gedächtnis des Kunstbetriebs“ seien sie wichtig für Kunsthistoriker, Museen und als Vermittler zwischen Kunstbetrieb und Kunstwissenschaft. Daneben sei die Arbeit auch Ausdruck für die große gesellschaftliche Wertschätzung für Kunst und Kultur.
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters zur Übergabe historischer Fotografien an das russische Museum „Schloss und Park Gatchina“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-uebergabe-historischer-fotografien-an-das-russische-museum-schloss-und-park-gatchina–802244
Wed, 20 Sep 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
September 1941: Die deutschen Truppen stehen vor Leningrad. Sechs Zarenschlösser in der Umgebung wecken das Interesse des Sonderkommandos Künsberg, das systematisch Kulturschätze aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten beschlagnahmt. Eines dieser sechs Schlösser, das die so genannten Kunstschutzoffiziere plündern, ist die ehemalige Zarenresidenz Gatchina. April 2017: Auf einer Online-Auktionsplattform bietet ein Berliner Antiquar 45 Original-Fotografien in schwarz-weiß an, entstanden teils vor 1917, teils nach der Russischen Revolution. Sie zeigen Räume, Interieurs und Einzelobjekte des historischen Zarenpalasts Gatchina. Wir wissen nicht genau, meine Damen und Herren, wann und wie diese Aufnahmen aus Russland nach Deutschland gelangt sind. Mangels belastbarer Indizien können wir nur vermuten, dass die Fotos im Zuge der Plünderungen durch das Sonderkommando Künsberg geraubt wurden. Die kyrillischen Stempel und die Inventarnummern auf den Rückseiten der Fotos belegen jedenfalls, dass sie Eigentum des Museums „Schloss und Park Gatchina“ sind, wo sie bisher als „Kriegsverluste“ verzeichnet waren. Deshalb bin ich Ihnen, lieber Herr Prof. Eichwede, sehr dankbar, dass Sie mein Haus auf die Online-Versteigerung aufmerksam gemacht und die Sicherung der Objekte gemeinsam mit der Osteuropa-Historikerin Frau Dr. Kuhr-Korolev eng begleitet haben. Ich begrüße Sie beide sehr herzlich und danke Ihnen für Ihre Expertise und Ihr Engagement, das es der Bundesregierung ermöglicht, sich ihrer Verantwortung für die Aufarbeitung der von Deutschen begangenen Verbrechen im von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg einmal mehr zu stellen. Zu diesen Verbrechen gehört auch der Raub von Kunst und Kulturgut, gehören die barbarischen Raubzüge der Nationalsozialisten und der Wehrmacht in russischen Museen, Bibliotheken, Archiven und historischen Gebäuden. Kulturgüter sind existentiell für Gemeinschaften und für Nationen. Sie sind Teil des kulturellen Gedächtnisses, sie spiegeln Geschichte und Identität. Ihr Verlust schmerzt – Russen genauso wie Deutsche. Deshalb vertreten wir die auch durch das Völkerrecht gestützte Auffassung, dass geraubte Kulturgüter an das jeweilige Herkunftsland zurück zu geben sind. Deutschland und Russland haben sich im deutsch-sowjetischen Nachbarschaftsvertrag von 1990 und im deutsch-russischen Kulturabkommen von 1992 völkerrechtlich verbindlich geeinigt, verschollene oder unrechtmäßig verbrachte Kunstschätze und Kulturgüter, die sich auf ihrem Territorium befinden, an den Eigentümer oder seinen Rechtsnachfolger zurückzugeben. Der deutsch-russische Museumsdialog ist uns dabei eine große Hilfe. Ich bin sehr dankbar, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus beiden Ländern hier seit mehr als zehn Jahren eng zusammenarbeiten, um zur Aufklärung über kriegsbedingt verbrachte Kulturgüter beizutragen. Die intensive, kooperative und vertrauensvolle Forschungszusammenarbeit ist ein wichtiges Fundament unserer deutsch-russischen Kulturbeziehungen. Dies lässt mich hoffen, dass auch Russland den Austausch zwischen Experten beider Länder wertschätzt und seine Weiterentwicklung unterstützt. Und es bestärkt mich in der Auffassung, dass wir auch den bilateralen Kulturgüterdialog in den deutsch-russischen Arbeitsgruppen fortsetzen und weiter gemeinsam an einvernehmlichen Lösungen arbeiten sollten. Unterschiedliche Standpunkte zum Umgang mit geraubten Kulturgütern sollten uns nicht daran hindern. Wichtig ist, dass wir im Gespräch bleiben, dass wir uns um Verständigung bemühen und auch auf diese Weise zur Aufarbeitung unserer wechselvollen gemeinsamen Geschichte beitragen. Dazu haben Russland und Deutschland diese Arbeitsgruppen 2004 gegründet, und in diesem Sinne würde ich mich sehr freuen, wenn sie möglichst bald ihre Arbeit wieder aufnähmen. Die Rückgabe geraubten Kulturguts ermöglicht es, Objekte wieder in den Kontext einzuordnen, in den sie gehören und in dem sie für die historische oder auch für die bau- und kunstgeschichtliche Forschung von Bedeutung sind – oder, wie im Falle der Archivalien aus Gatchina, für die Rekonstruktion eines Palastes und seiner kostbaren Innenausstattung. Wichtig ist die Rückgabe geraubten Kulturguts aber auch, damit Wunden heilen können, die der Krieg geschlagen hat. Deshalb freue ich mich, dass wir die Fotografien aus Gatchina heute an das Museum „Schloss und Park Gatchina“ übergeben können. Ein herzliches Dankeschön an alle, die das möglich gemacht haben: an die Historiker, die uns bei der Sicherung der Fotografien unterstützt haben; an die Beteiligten in Politik und Verwaltung, die geholfen haben, die Online-Versteigerung innerhalb kurzer Zeit anzuhalten; und nicht zuletzt an die privaten Anbieter für ihre Bereitschaft, sie an das Museum „Schloss und Park Gatchina“ zu übergeben. Ich hoffe sehr, dass sich daran auch andere Privatpersonen, die im Krieg geraubte Kulturgüter besitzen, ein Beispiel nehmen. Meine Damen und Herren, von einem großen Liebhaber der russischen Kultur, von Rainer Maria Rilke, stammt der schöne Satz: „Alle Kraft, die wir fortgeben, kommt erfahren und verwandelt wieder über uns“. Ich bin zuversichtlich, dass dies auch und ganz besonders für die Kraft gilt, die wir für Verständigung und Aussöhnung aufbringen. In diesem Sinne wünsche ich uns allen, dass die Übergabe der Fotografien aus Gatchina den deutsch-russischen Kulturgüterdialog wieder in Gang bringt und dazu beiträgt, dass die deutsch-russische Zusammenarbeit auch in politisch schwierigen Zeiten Bestand hat.
Bei der Rückgabe historischer Fotografien der ehemaligen Zarenresidenz Gatchina hat Kulturstaatsministern Grütters den deutsch-russischen Museumsdialog als große Hilfe bei der Aufklärung kriegsbedingt verbrachter Kulturgüter gewürdigt. „Die vertrauensvolle Forschungszusammenarbeit ist ein wichtiges Fundament der deutsch-russischen Kulturbeziehungen“. Wichtig sei die Rückgabe geraubten Kulturguts aber auch, damit Wunden heilen könne, die der Krieg geschlagen hat.
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters bei der Eröffnung des „Urban Nation Museum for Urban Contemporary Art“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-eroeffnung-des-urban-nation-museum-for-urban-contemporary-art–802280
Sat, 16 Sep 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Aufzubegehren gegen die Vergänglichkeit gehört zur Natur des Menschen: Davon lebt die Kosmetikindustrie, davon zeugen Literatur und Philosophie. Und davon erzählt auch ein künstlerischer Versuch, der flüchtigsten Form der Bildenden Kunst, der Straßenkunst, Bestand und Dauer zu verleihen: Im niederländischen Nijmegen hat der Künstler Paul De Graaf ein Stück Mauer aus der „Graffiti Hall of Fame“ herausgefräst, um im Querschnitt die übereinander gelagerten Farbschichten aus 30 Jahren urbaner Kunst sichtbar zu machen. So gelang es ihm, die vielen übersprayten und damit verlorenen Kunstwerke gewissermaßen als bunte Jahresringe des Großstadtlebens künstlerisch wieder zu beleben. Es gehört ja zum besonderen Nimbus der „Urban Art“, dass sie früher oder später aus dem öffentlichen Raum verschwunden sein wird – übermalt oder überwuchert, in der Sonne verblasst oder vom Regen verwaschen. Trotzdem – oder auch gerade deshalb – ist es höchste Zeit, dass diese facettenreiche Kunstform ihr eigenes Museum bekommt. Mag den Wandbildern auf Brandschutzwänden, den Collagen an den Fassaden, den Schriftzügen auf den Giebeln und erst recht all den kleinen Kunstwerken im Straßenbild, den Stickern und Kreidezeichnungen, den Plastiken und Paste-ups als Ausdruck des Zeitgeistes auch nur eine überschaubare Lebenszeit vergönnt sein: Die Kultur und Geschichte, für die sie stehen, verdienen es, dokumentiert und erzählt zu werden. Ich freue mich jedenfalls sehr, dass wir heute mit dem Urban Nation Museum eine weltweit einzigartige „Hall of Fame“ der urbanen Kunst eröffnen – ein Museum, das der Vergänglichkeit dieser Kunstform mit dem klassischen Anspruch des Sammelns, Bewahrens, Forschens und Vermittelns begegnet und sich gleichzeitig unter dem zukunftsweisenden Motto „Connect.Create.Care“ als Partner und Förderer der Straßenkünstlerinnen und -künstler versteht. Ich danke Ihnen herzlich für Ihr jahrelanges, leidenschaftliches und hartnäckiges Engagement, liebe Yasha Young, dem wir dieses neue, farbenprächtige und auch architektonisch beeindruckende Schmuckstück in der Hauptstadt verdanken. Und ich wage schon mal die Prognose, dass Ihnen damit etwas ganz Außerordentliches gelingt: nämlich bei meinen halbwüchsigen Neffen, die ansonsten nur ihrer Tante zuliebe mit ins Museum gehen, echte Begeisterung für einen Museumsbesuch zu wecken… Dieses Haus, meine Damen und Herren, ist weltweit einzigartig – und wo wäre es besser aufgehoben als in Berlin, der deutschen Hauptstadt der Straßenkunst, die sich darüber hinaus zum Sehnsuchtsort der künstlerischen Avantgarde auf der ganzen Welt entwickelt hat. In den wilden Jahren nach dem Fall der Mauer entstand hier zwischen Anarchie und Aufbruch ein Biotop für Experimente und Enthusiasmus in der Kunst, und auch wenn Gentrifizierung und steigende Mieten diesem Biotop mittlerweile gefährlich zusetzen, erleben wir seit vielen Jahren ein Aufblühen der künstlerischen Vielfalt. Was in einer Künstlerbiografie früher New York war, das ist heute Berlin: Schmelztiegel der Ideen, Labor für Experimente, Resonanzraum für Diskurse, „the place to be“ für Kreative. Man muss es nicht so sarkastisch sehen wie ein bekannter deutscher Illustrator, der, wie viele andere Künstler, nach Jahren in New York nun die deutsche Hauptstadt zur Wahlheimat auserkoren und festgestellt hat, Berlin sei, ich zitiere, „ein bisschen wie der laute Spaßvogel auf einer Party, der alle unterhält und nie ´ne Flasche Wein mitbringt, dessentwegen aber alle gern zu der Party kommen.“ Aber eines wird kaum jemand bestreiten: Berlin verdankt seine Anziehungskraft der Kunst und Kultur. Das enorme finanzielle Engagement des Bundes für die Hauptstadtkultur zeigt, welch hohe Bedeutung wir dieser Entwicklung beimessen: Im vergangenen Jahr hat Berlin aus meinem Kulturetat Mittel in Höhe von annähernd 600 Millionen Euro erhalten (- übrigens mehr, als das Land Berlin selbst im Jahr für Kultur ausgibt -), und das weckt anderswo auch durchaus Neid. Doch ganz Deutschland profitiert davon, dass Menschen aus aller Welt nach Berlin kommen und die junge und weltoffene Atmosphäre ebenso wie das Kulturangebot und die Orte des Erinnerns als prägend für ihr Bild von Deutschland erleben. Und so verdient das Urban Nation Museum, das internationale Künstlerinnen und Künstler der Street Art- und Graffiti-Szene nach Berlin holt, sowohl ein Berlinerisches „ick freu mir“ als auch ein bundesdeutsches „Herzlich willkommen!“. Die Werke der hier vertretenen Künstlerinnen und Künstler zeigen: Straßenkunst, Urban Art ist über die klandestine Untergrundkunst längst hinaus gewachsen, und das liegt nicht nur daran, dass es zum Glück mehr und mehr legale Wände und Flächen dafür gibt. Es liegt auch und vor allem an ihrer ganz eigenen Ästhetik, mit der sie Passanten zum Publikum macht. Als rebellische, subversive Intervention im öffentlichen Raum belebt sie das Gesicht einer Stadt und bringt „auf die Straße“, was Kunst auszeichnet: Sie zwingt zum Hinschauen, streut Sand ins Getriebe der Großstadt, stellt Alltägliches in Frage und verändert Blickwinkel und Perspektiven. Ihre Präsenz macht einen Unterschied: Die Mauer, die Berlin einst teilte, war nach Westen hin bekanntlich voller Graffiti, und vom Ostteil der Stadt aus gesehen trostlos und grau. Und bei aller Vergänglichkeit der Street Art: Graffiti war dann doch beständiger als Grau. Schon allein dafür hat die Straßenkunst ein Urban Nation Museum verdient! In diesem Sinne: Viel Erfolg für Ihr Haus, liebe Yasha Young! Auf viele begeisterte Besucherinnen und Besucher!
Straßenkunst sei wegen ihrer „ganz eigenen Ästhetik“ längst über die Untergrundkunst hinaus gewachsen, freute sich Kulturstaatsministerin Grütters, als sie das „Urban Nation Museum for Urban Contemporary Art“ eröffnete. Die weltweit einzigartige „Hall of Fame“ der urbanen Kunst sei nirgends besser aufgehoben als in Berlin, der deutschen Hauptstadt der Straßenkunst.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Verleihung des VBKI-Preises Berliner Galerien
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-verleihung-des-vbki-preises-berliner-galerien-791684
Fri, 15 Sep 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut: Grütters
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort.- Preise gehören zum Kunstbetrieb wie Vernissagen zum Galeriebetrieb: Um die 900 Auszeichnungen für Bildende Kunst gibt es angeblich in Deutschland, von A wie Alpirsbacher Malwettbewerbe für Kunststudenten bis Z wie Zonta Cologne Art Award, von unterschiedlich dotierten Arbeitsstipendien bis zum renommierten Preis der Nationalgalerie für Junge Kunst, der Künstlerinnen und Künstlern der Avantgarde eine Einzelausstellung in den Tempeln des kanonisierten Kunstverständnisses ermöglicht. Ebenfalls preiswürdig – doch deutlich weniger mit Auszeichnungen gesegnet – ist die hohe Kunst, Kunst zu verkaufen: das Engagement derjenigen, die die Avantgarde aus den Ateliers und Off-Räumen ins Licht der Öffentlichkeit holen, die die Kunstwerke auf den Markt – und ins Gespräch – bringen, und die als Vermittler zwischen Künstlern und Kunstliebhabern Pionierarbeit für die Rezeption zeitgenössischer Kunst leisten. Deshalb freue ich mich sehr über die Initiative des Vereins Berliner Kaufleute und Industriellen (VBKI), zusammen mit dem Landesverband Berliner Galerien einen Preis für junge Galerien in der Hauptstadt ins Leben zu rufen und damit über ein einzelnes, herausragendes Ausstellungsvorhaben hinaus auch den nicht unerheblichen Anteil einer starken Galerieszene am erneuten Aufstieg Berlins zu einer Kunstmetropole mit weltweiter Strahlkraft zu würdigen. Diesen Anteil kann man gar nicht hoch genug einschätzen, zumal mit Blick auf die Verdienste der namhaften Kunsthändler, die einst von Berlin aus Kunst- und Gesellschaftsgeschichte schrieben. Dafür steht, um nur ein Beispiel zu nennen, insbesondere der Galerist, Verleger und feinsinnige Intellektuelle Paul Cassirer, der Anfang des 20. Jahrhunderts die Impressionisten und van Gogh in seinem Kunstsalon Cassirer bekannt machte und über 2.300 Werke allein von Max Liebermann verkaufte – zu einer Zeit wohlgemerkt, als der Berliner Nationalgalerie keine Ankäufe, ja nicht einmal eine neue Hängung ohne Genehmigung Kaiser Wilhelms II. erlaubt waren. Wo der Kaiser den Impressionismus als „Rinnsteinkunst“ schmähte und sein Volk im drückenden Mief der Deutschtümelei gefangen hielt, rissen nicht nur die Künstler der Berliner Sezession, sondern auch Galeristen und Kunsthändler wie Paul Cassirer die Fenster zur Welt weit auf. Seine Galerie brachte, schrieb Lovis Corinth, „die schönsten modernen Werke nach Berlin, die man nur hier und sonst nirgends in Deutschlands zu sehen bekam.“ Mit der damals „jungen“ europäischen Kunst, mit kontroversen Debatten über Ausstellungen, Künstler und einzelne Werke hielten neue Weltsichten, geistige „Horizonterweiterer“ Einzug in Deutschland – eine Entwicklung, die 1933 mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Flucht vieler Künstler, Sammler und Kunsthändler bekanntlich ihr jähes Ende fand. Was die legendären, vor allem jüdischen Galeristen auszeichnete, die Berlin in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zum Nabel der Kunstwelt gemacht hatten, war nicht nur ihre Kunstfertigkeit im Verkauf von Kunst, waren nicht nur Geschäftstüchtigkeit und ein weit verzweigtes Netzwerk. Es waren vor allem ihr Kunstenthusiasmus, ihre Liebe zur künstlerischen Avantgarde. So beschrieb der Maler George Grosz den einflussreichsten deutschen Galeristen der Weimarer Republik, Alfred Flechtheim, einmal als einen der – ich zitiere – „letzten Überlebenden einer älteren, nun längst ausgestorbenen Kunsthändlergeneration, die in der Kunst nicht nur Ware sahen und sich oft überhaupt nicht wie Händler verhielten, sondern wie Mäzene.“ Diese Haltung, meine Damen und Herren, bringt die Kunst zum Blühen – und sie ist in Berlin zum Glück ganz und gar nicht ausgestorben. In den wilden Jahren nach dem Fall der Mauer entstand zwischen Anarchie und Aufbruch ein Biotop für Experimente und Enthusiasmus in der Kunst, und auch wenn Gentrifizierung und steigende Mieten diesem Biotop mittlerweile gefährlich zusetzen, erleben wir rund acht Jahrzehnte nach dem Niedergang des Kunststandorts Berlin unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft seit vielen Jahren ein Aufblühen der künstlerischen Vielfalt: eine Renaissance jenes Kunstenthusiasmus, der schon einmal Berlins Ruf als Metropole der Gegenwartskunst nährte. Heute bewegt er nicht zuletzt die vielfältige Berliner Galerienszene – vor allem die Galerien, die jungen, innovativen Künstlerinnen und Künstlern ein Forum bieten. Der VBKI-Preis BERLINER GALERIEN zeichnet den unternehmerischen Mut aus, den es braucht, um in künstlerischen Mut zu investieren – jenen unternehmerischen Mut, auf den weniger bekannte Künstlerinnen und Künstler ebenso angewiesen sind wie die Kunstmetropole Berlin, und zu dem ich die nominierten Galeristinnen und Galeristen – Nina und Jens Mentrup, Katharina Maria Raab und Jan Philipp Sexauer – herzlich beglückwünsche. Nicht nur, aber ganz besonders für den Kunststandort Berlin sind die kuratorischen Anstrengungen junger Galerien wie auch deren Förderung wichtig und zukunftsweisend. Berlin ist weder die Hauptstadt der Kunstmäzene noch der Reichen oder der Industriellen. Es wird als Kunsthandelsstandort in vielerlei Hinsicht nicht an die ganz großen Player wie London, Miami oder New York heran kommen. Was Berlins Sonderstellung auf dem Kunstmarkt ausmacht, sind die zuverlässigen und inspirierenden Arbeitsbedingungen für Künstlerinnen und Künstler, der hohe Anteil junger Galerien und die Vielfalt an Ausstellungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, wie sie in anderen Metropolen kaum noch zu finden sind – die art berlin (ich habe mir gestern einen Rundgang gegönnt) vermittelt davon aktuell ja ein beeindruckendes Bild. So sind heute viele international renommierte Künstlerinnen und Künstler Berliner „Gewächse“: fest verwurzelt in den Berliner Galerien, die ihrer Karriere den Boden bereitet haben. Was in einer Künstlerbiografie früher New York war, das ist heute Berlin: Schmelztiegel der Ideen, Labor für Experimente, Resonanzraum für Diskurse, „the place to be“ für Kreative. Diese Vielfalt ist das kulturelle Kapital Berlins, das Pfund, mit dem die Hauptstadt wuchern kann. Man muss es nicht so sarkastisch sehen wie ein bekannter deutscher Illustrator, der, wie viele andere Künstler, nach Jahren in New York nun die deutsche Hauptstadt zur Wahlheimat auserkoren und festgestellt hat, Berlin sei, ich zitiere, „ein bisschen wie der laute Spaßvogel auf einer Party, der alle unterhält und nie ´ne Flasche Wein mitbringt, dessentwegen aber alle gern zu der Party kommen.“ Eines jedenfalls wird kaum jemand bestreiten: Berlin verdankt seine Anziehungskraft der Kunst und Kultur. Es hat sich zum Sehnsuchtsort für junge Kreative entwickelt und steht heute für ein weltoffenes, vielfältiges Deutschland. Das ist auch Ihr Verdienst, meine Damen und Herren: das Verdienst der Galeristinnen und Galeristen, die mit unternehmerischem Mut künstlerische Freiheit und das Wagnis kreativen Experimentierens fördern. Eben deshalb – weil ich aus langen Berufsjahren in der Kultur und in der Kultur-politik natürlich um die enormen Verdienste und die Bedeutung der Galerien für eine lebendige Kunstszene weiß – eben deshalb bedaure ich es sehr, dass die hitzigen Debatten um die Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes unter Galeristen und Kunsthändlern für so große Verunsicherung gesorgt haben. Das hat mich in diesem Ausmaß zugegebenermaßen auch überrascht: zum einen, weil sich mit der Gesetzesnovelle für diejenigen, die nur mit zeitgenössischer Kunst handeln (wie vermutlich die meisten von Ihnen, meine Damen und Herren), überhaupt nichts ändert; zum anderen, weil ich nicht mit dieser Flut an nicht aus der Welt zu schaffenden Falschinformationen gerechnet hätte, die über viele Monate Panik geschürt haben. Mir war dieses Gesetz zunächst vor allem ein Herzensanliegen. Als Kulturpolitikerin habe ich mich seit Jahren dafür geschämt, dass Deutschland – die Nation, die weltweit das meiste staatliche Geld für Kultur ausgibt und die ihr mittlerweile wieder hohes Ansehen 70 Jahre nach dem Zivilisationsbruch des Holocaust zu einem großen Teil dem hartnäckigen Engagement für Kunst und Kultur verdankt – dass dieses Land sich allen Ernstes fast vier Jahrzehnte lang gesträubt hat, eine UNESCO-Konvention zum Schutz von Kulturgütern in nationales Recht umzusetzen. Es war überfällig, das zu korrigieren. Und ich bin froh, dass wir damit nun ein Kulturgutschutzgesetz haben, das einer Kulturnation würdig ist. Genauso froh bin ich aber auch, heute sagen zu können, dass die Befürchtungen des Kunsthandels insbesondere, was den Mehraufwand durch das Gesetz betrifft, sich zum Glück nicht bewahrheitet haben. Das belegen die Zahlen der Länder seit Inkrafttreten des Gesetzes vor gut einem Jahr. Die prophezeite „Antragsflut“ bei den Genehmigungen ist ausgeblieben; von unzumutbarem Verwaltungsaufwand kann keine Rede sein: So wurden bundesweit rund 1.000 Ausfuhrgenehmigungen in EU-Mitgliedsstaaten beantragt und erteilt. Das ist weit entfernt von den Befürchtungen des Kunsthandels, der von 10.000 bis 30.000 Ausfuhranträgen jährlich, einzelne Sammler sogar von bis über 130.000 ausgegangen waren. Ausfuhrgenehmigungen in Drittstaaten wie Schweiz und USA sind bereits seit 1993 aufgrund von EU-Recht erforderlich. Daran hat sich durch das neue Gesetz nichts geändert. Nur ein einziges Mal wurde bisher ein Kunstwerk in das Verzeichnis national wertvollen Kulturguts aufgenommen – und das auf Antrag des kirchlichen Eigentümers. Zum Vergleich: Einer der schärfsten Kritiker hatte 150 „Listungsverfahren“ pro Jahr prophezeit. Auch die befürchtete, erhebliche Schwächung des Kunsthandelsstandorts Deutschland ist bisher nicht ersichtlich: Schlagzeilen machen vielmehr die von den deutschen Auktionshäusern selbst veröffentlichten, sehr guten Ergebnisse für das laufende und das vergangene Geschäftsjahr. Wie Sie sicherlich wissen, werden wir den Verwaltungsaufwand, wie gesetzlich vorgesehen, zwei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes, also 2018, evaluieren. Eine Gesamtevaluierung steht fünf Jahre nach Inkrafttreten an. Mir war und ist wichtig, dass der Kunsthandel wie auch die Kunst – das bedingt sich ja wechselseitig – in Deutschland bestmögliche Zukunftsperspektiven haben. Deshalb bin ich sehr interessiert an Ihren Erfahrungen und versichere Ihnen, dass wir mit Vertretern des Kunsthandels intensiv im Gespräch sind und bleiben: So wird im Herbst der Gesprächskreis mit den Kunsthandelsverbänden und meinem Haus erneut tagen. Im Sinne bestmöglicher Zukunftsperspektiven für den Kunsthandel will ich mich – auch das sei in diesem Zusammenhang noch kurz erwähnt – weiterhin vehement für eine kulturverträglichen Anwendung der pauschalierten Margenbesteuerung einsetzen, sollte ich auch nach der Bundestagswahl Kulturstaatsministerin bleiben. Wir brauchen eine Lösung, die im gewerblichen Kunsthandel die Nachteile durch den Wegfall des ermäßigten Umsatzsteuer-satzes ausgleicht, und dafür werde ich mich sowohl gegenüber den Ländern als auch gegenüber dem Bundesfinanzministerium noch einmal stark machen. Bei diesen beiden „harten Brettern“, die kulturpolitisch zu bohren waren bzw. sind, will ich es in meinem kurzen Ausblick auf die Perspektiven des Kunsthandels angesichts der sicherlich mit Spannung erwarteten Preisverleihung bewenden lassen. Klar ist damit einmal mehr, was Karl Valentin gemeint hat, als er einst seufzte, Kunst sei schön, mache aber viel Arbeit. Nicht nur viel Arbeit, sondern auch viel Aufregung, darf man sicherlich ergänzen – aber ich glaube, dass die kontroverse Debatte um das Kulturgutschutzgesetz für die Zukunft des Kunsthandels in Deutschland wie auch für unser Selbstverständnis als Kulturnation gut und wichtig war. Sie war wichtig, weil es dabei nicht zuletzt auch um die Frage ging, welchen Wert wir der Kunst beimessen – und weil sie einmal mehr deutlich gemacht hat, warum es in Deutschland nicht nur einen Kunstmarkt, sondern auch eine vergleichsweise großzügige staatliche Kulturförderung gibt. Die Debatte ums Kulturgutschutzgesetz hat allerdings Positionsverschiebungen im Verhältnis von Wert und Preis der Kunst zu Tage gefördert, vor denen ich als Kulturpolitikerin nur warnen kann. Wir sind uns sicherlich einig, dass gerade die Kunst einen Wert und einen Preis hat und dass die sorgfältige Unterscheidung zwischen beidem keinesfalls nur eine semantische Spitzfindigkeit ist. Das ist allerdings leider weder banal noch selbstverständlich. „Wer etwas verkauft, möchte dafür einen möglichst hohen Preis erzielen“, begründete ein namhafter Kritiker des Kulturgutschutzgesetzes und Befürworter eines am besten völlig unregulierten Kunstmarkts seine Ablehnung – als wäre Kunst eine Ware wie jede andere. Und Sie erinnern sich vielleicht, dass die damalige rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen vor drei Jahren zwei Warhols verscherbelte, um mit dem Spekulationsgewinn Spielbanken zu sanieren bzw. zu bauen und Haushaltslöcher zu stopfen. Der zuständige Finanzminister erklärte dazu, ich zitiere: „Ein Kunstwerk hat einen Wert, wenn es zu veräußern ist.“ Es wäre fatal, wenn diese Gleichsetzung von Wert und Marktwert in der Politik und im Kunstbetrieb salonfähig würde. Denn das ist eine Haltung, die auf lange Sicht dem gesamten Kunstbetrieb schadet. Sie sägt an dem Ast, auf dem Künstler ebenso wie Kunsthändler sitzen. Sie zerstört den besonderen Nimbus der Kunst, auf dem doch die Leidenschaft der meisten Kunstsammler gründet. Und sie zerstört den Konsens, auf den wir Kulturpolitiker uns bisher verlassen konnten – den Konsens, dass Kunst ein Wert an sich ist, den zu schützen und zu verteidigen zu unseren vornehmsten Pflichten zählt; genau den Konsens also, der der deutschen Kulturförderung und der Kulturfinanzierung durch die öffentliche Hand zugrunde liegt – und nebenbei: auch den massiven Erhöhungen meines Kulturetats in den letzten Jahren. Wo die Preise, die sich mit Kunst erzielen lassen, politisch höher bewertet werden als ihr Wert, wird Kunstförderung zum dekorativen Luxus, den wir uns – siehe Nordrhein-Westfalen unter Rot-Grün – nur in guten Zeiten leisten und den wir in schlechten Zeiten zur Disposition stellen, um Haushaltslöcher zu stopfen. Und wo nicht mehr der Wert der Kunst Regeln und Grenzen begründet, sondern nur noch der Preis regiert, muss man für den Kunstmarkt wohl irgendwann konstatieren, was der Galerist Franz Teller mit Blick auf die dann tonangebenden, reichen Geschäftsleute feststellte: „… wir sind in die Epoche der Hofmalerei des Ancient Régime zurück gefallen.“ Der Galerist Franz Teller, der das gesagt hat, meine Damen und Herren, ist nur eine Figur in einem der bekanntesten zeitgenössischen Romane über den Kunstbetrieb – in Michel Houellebecqs Meisterwerk „Karte und Gebiet“. Ich kann es zur Lektüre nur wärmstens empfehlen. Man erinnert sich dann gern daran, dass es aus unserem Kunst- und Kulturverständnis heraus und auch vor dem Hintergrund unserer Geschichte gute Gründe gibt, Kunst nicht allein dem Markt, der Regulierung durch Angebot und Nachfrage zu überlassen. Kunst ist eben keine Ware und keine Geldanlage wie jede andere. In ihrem Bezug zu unserer kulturellen Identität darf die Kunst Förderung wie auch Schutz erwarten – und die Mitverantwortung aller, die mit dem Verkauf von Kunst Geld verdienen und für den Kauf von Kunst Geld ausgeben. Ich denke, wenn dieser Konsens auch in Zukunft erhalten bleibt, meine Damen und Herren, dann muss uns um die Zukunft des Kunststandorts Deutschland nicht bange sein.
Kulturstaatsministerin Grütters hat die Initiative des Vereins Berliner Kaufleute und Industriellen (VBKI) begrüßt, zusammen mit dem Landesverband Berliner Galerien einen Preis für junge Galerien in der Hauptstadt ins Leben zu rufen. Damit werde über ein einzelnes, herausragendes Ausstellungsvorhaben hinaus auch der nicht unerhebliche Anteil einer starken Galerieszene am erneuten Aufstieg Berlins zu einer Kunstmetropole mit weltweiter Strahlkraft gewürdigt, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung der 67. Internationalen Automobil-Ausstellung am 14. September 2017 in Frankfurt am Main
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-eroeffnung-der-67-internationalen-automobil-ausstellung-am-14-september-2017-in-frankfurt-am-main-326284
Thu, 14 Sep 2017 10:48:00 +0200
Im Wortlaut
Frankfurt am Main
Sehr geehrter Herr Wissmann, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Volker Bouffier, Herr Oberbürgermeister Feldmann, sehr geehrte Minister und Kommissare, meine Damen und Herren, liebe Violina, Deine Frage „Was heißt eigentlich Zukunft erleben?“ ist in der Tat spannend. Sie führt uns dazu, dass wir uns niemals mit dem zufriedengeben dürfen, was wir gerade geschafft haben, sondern dass wir uns immer wieder für neue Entwicklungen interessieren müssen. Deine Frage führt uns natürlich auch dazu, dass wir aus Fehlern lernen müssen, um sie in der Zukunft nicht zu wiederholen, und dass wir zugleich niemals den Kopf in den Sand stecken dürfen, auch wenn manche Probleme sehr, sehr groß zu werden drohen. Zukunft erleben heißt also, aus Fehlern genauso gelernt zu haben wie aus dem, was geschafft wurde, und sich darauf zu freuen, Neues zu gestalten. Und so, liebe Violina, führt uns Deine Frage direkt zu all den Themen, die im Moment die deutsche Automobilindustrie betreffen – auch hier bei der Internationalen Automobil-Ausstellung in Frankfurt. Mit jeder Internationalen Automobil-Ausstellung öffnet sich immer auch ein Fenster mit Blick in die Zukunft. Das war auch bei der letzten IAA vor zwei Jahren so. Aber damals hatten wohl die wenigsten erwartet, dass die Aussicht so schnell getrübt werden könnte. Denn kaum war die Ausstellung eröffnet, musste VW die Manipulation von Emissionstests erstmals öffentlich einräumen. Seither beherrschte die Diesel- und Abgasproblematik in unschöner Regelmäßigkeit die Schlagzeilen. Heute, zwei Jahre später, bleibt festzuhalten: Unternehmen der Automobilindustrie haben Regelungslücken exzessiv ausgenutzt. Sie haben damit nicht nur sich selbst Schaden zugefügt, sondern vor allem Verbraucher und Behörden getäuscht und enttäuscht. Auch wenn das nur eine Minderheit der Unternehmen in der Automobilbranche betrifft, so ist doch viel Vertrauen zerstört worden. Deshalb muss die Automobilindustrie alles daransetzen, Glaubwürdigkeit und Vertrauen so schnell wie möglich zurückzugewinnen – und zwar sowohl im eigenen Interesse und im Interesse ihrer Beschäftigten als auch im Interesse des gesamten Standortes Deutschland. Denn der volkswirtschaftliche Stellenwert, den diese Branche einnimmt, ist von außerordentlich großer Bedeutung. Gerade heute hat das Statistische Bundesamt die neuesten Zahlen präsentiert, die zeigen, dass es sich hierbei wirklich um eine Schlüsselindustrie handelt. Wenn die deutsche Automobilindustrie gut in Fahrt ist, dann bringt sie auch Schubkraft für unsere Gesamtwirtschaft. Über 870.000 Beschäftigte – so die neueste Aussage – erwirtschaften einen Jahresumsatz von weit über 400 Milliarden Euro. Sie ist also eine wichtige Säule der verarbeitenden Industrie – ein starker Konjunkturmotor nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa. Wenn man, wie ich es getan habe, sich mit den Betriebsräten der großen Automobilhersteller trifft, dann weiß man, dass die Beschäftigten sehr, sehr gute Arbeit leisten und alles tun wollen, damit dies eine erfolgreiche Branche bleibt. Meine Damen und Herren, die Automobilindustrie hat Anteil daran, dass nach der internationalen Finanzkrise unsere Wirtschaft nun schon im achten Jahr in Folge wächst. Die Zeichen stehen gut, dass auch 2018 ein weiteres Wachstumsjahr werden kann. Dieser langjährige Aufschwung zeigt sich nicht nur in den Auftragsbüchern. Er kommt auch als Reallohn-Plus bei den Beschäftigten an. Die Zahlen der Erwerbstätigen und der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erreichen regelmäßig neue Rekordwerte. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit 2005 halbiert. Wir glauben, dass es möglich ist, bis 2025 noch einmal eine Halbierung zu erreichen. Ob das gelingt, hängt natürlich nicht zuletzt auch davon ab, wie sich ein so wichtiger Wirtschaftszweig wie die Automobilindustrie weiterentwickelt. Wie in einem Brennglas zeigt sich in ihr, dass es jetzt – konkret: in der kommenden Legislaturperiode, in den nächsten Jahren – gilt, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass es Deutschland auch in 10 oder 15 Jahren gut geht. Es steht ja außer Frage, dass Deutschland derzeit gut dasteht. Das haben wir auch vorhin an der von mir dargestellten Bilanz gesehen. Aber ebenso außer Frage steht, dass wir uns auf unseren Erfolgen keinen Tag ausruhen dürfen. Vielmehr müssen wir heute die Weichen dafür stellen, dass es in 10 oder 15 Jahren neue gute Arbeitsplätze gibt, dass der digitale Fortschritt allen Menschen zugutekommt – Sheryl Sandberg hat uns ja eben darauf hingewiesen, was im Gange ist – und dass mit der deutschen Automobilindustrie und ihren Zulieferern einer Schlüsselbranche die Entwicklung hin zu einem modernen, emissionsfreien Verkehrssystem gelingt. Wir wissen, was unser Land an Ihrer Branche hat; das will ich ganz deutlich sagen. Jahrzehntelang hat die Automobilindustrie Millionen von Beschäftigten sichere und sehr gut bezahlte Arbeitsplätze geboten. Mit der Erfolgsgeschichte des Autos beschleunigte sich die individuelle Mobilität. Zu Zeiten der erstmaligen statistischen Erfassung des Pkw-Bestands im Jahr 1907 rollten rund 15.000 Autos durch Deutschland. Heute, 110 Jahre später, sind es fast 46 Millionen. Aber die höhere Pkw-Dichte hat unverkennbar auch eine Kehrseite; und das sind natürlich die Auswirkungen auf Umwelt und Klima. Die Motoren sind zwar immer effizienter geworden, aber der Effizienzfortschritt wird zum Teil durch den Zuwachs von Verkehr und auch durch größere Fahrzeuge nahezu ausgeglichen. Deshalb muss die Automobilindustrie bei den Antriebstechnologien den richtigen innovativen Schwerpunkt setzen. In diesem Zusammenhang freue ich mich schon auf den Rundgang und darauf, was dort alles zu sehen sein wird. Es sind Antworten mit neuen Antriebstechnologien zu geben, aber auch auf neue Entwicklungen wie das Car-Sharing, das autonome Fahren und auch die Vernetzung der Mobilität über Mobilitätsplattformen. Eine große Herausforderung für die Automobilindustrie weltweit ist natürlich die Urbanisierung. Es sind ja vor allem weiter wachsende Großstädte und Megacities, die von Schadstoffbelastungen besonders betroffen sind. Deshalb denken Länder wie China bereits laut über das Ende von Verbrennungsmotoren nach. Das muss natürlich gerade auch deutsche Exporteure aufhorchen lassen. Für Deutschland selbst und andere Industrieländer rechnen Verkehrsexperten künftig zwar mit einer Stagnation des Pkw-Bestands. Weltweit aber wird mit einer rasant wachsenden Bevölkerung das Verkehrsaufkommen weiter zunehmen. Wir stehen also vor der globalen Herausforderung, dem weiter steigenden Bedürfnis der Menschen nach individueller Mobilität gerecht zu werden, ohne unsere natürlichen Ressourcen Luft und Klima zu sehr zu beanspruchen. Wie also können wir den Klimawandel so begrenzen, dass künftige Generationen mit seinen Folgen einigermaßen zurechtkommen? Wir wissen, das ist nur dann der Fall, wenn es gelingt, die Erderwärmung unter zwei Grad, möglichst bei 1,5 Grad, zu halten. Genau darauf zielt das Pariser Klimaabkommen ab, auf das sich die internationale Staatengemeinschaft vor fast zwei Jahren verständigt hat. Damit ist der Rahmen gesetzt. Und damit sind alle Länder dazu aufgerufen, das beschlossene Ziel der Treibhausgasneutralität mit konkreten Strategien anzugehen. Wir wollen in Deutschland bis 2050 80 bis 95 Prozent der Treibhausgase gegenüber 1990 einsparen. Ich sage ausdrücklich: Das ist ein lernender Prozess, weil während dieses langen Zeitraums natürlich viel geschehen kann, das wir heute – und schon gar nicht politisch – vorhersehen können. Außer Zweifel steht dabei: Gerade auch im Verkehrsbereich führt kein Weg an Veränderungen vorbei. Uns muss der Wandel hin zu emissionsfreier Mobilität gelingen. Dazu müssen wir immer wieder auch Emissionsgrenzen definieren, wie wir das in Europa schon seit 2012 machen. Die Einhaltung solcher Grenzen muss natürlich auch überprüfbar sein. Es ist unverzichtbar, dass wir mittlerweile verlässlichere Testverfahren haben. Das gilt für die Messung des Ausstoßes von CO2 und – seit dem 1. September – nun auch von Stickoxiden unter realen Fahrbedingungen. Damit muss auch sichergestellt sein, dass Innovationskräfte – ich sage es einmal ganz vorsichtig – wirklich in die richtige Richtung, nämlich in die Zukunft, ausgelegt werden und nicht sozusagen an schon bestehende Gegebenheiten angepasst werden. Deshalb halte ich es für eine ausgesprochen gute Nachricht, dass im Bereich Elektromobilität und Hybridantrieb weltweit rund jedes dritte Patent aus Deutschland stammt. Das lässt auf weiter wachsende Marktanteile deutscher Hersteller hoffen. Wir sollten uns noch einmal vor Augen führen, dass der Marktanteil in den Ländern, in denen Elektromobilität schon stärker ausgeprägt ist als bei uns – zum Beispiel in Norwegen, Schweden und den Niederlanden –, 50 Prozent beträgt. Das ist ein guter und Hoffnung gebender Wert. Wir wollen diese Entwicklung als Bundesregierung ausdrücklich unterstützen. So haben wir die Erforschung und Entwicklung alternativer Antriebe in den letzten Jahren mit knapp zwei Milliarden Euro gefördert. Wir legen ein besonderes Augenmerk auf die Elektromobilität. Allerdings gehen wir technologieoffen, wie hier schon gesagt wurde, an die Dinge heran. Um die Elektromobilität attraktiver zu machen, gibt es eine Kaufprämie, das Programm zum Aufbau einer Ladeinfrastruktur – Verkehrsminister Alexander Dobrindt hat mir gesagt, dass die zweite Tranche gerade vergeben wird – und auch steuerliche Maßnahmen. Wir wollen zudem die Tankinfrastruktur für alternative Kraftstoffe voranbringen. Das heißt in einem Wort: Wir wollen, dass Deutschlands Automobilindustrie auch in 10 oder 15 Jahren innovativ und stark ist und ihren Beitrag dazu leistet, unsere Ziele beim Klimaschutz, bei der Luftreinhaltung und auch bei der Beschäftigung zu erreichen. Wir wissen mit Blick auf Dieselfahrzeuge natürlich um das bestehende Spannungsverhältnis zwischen der Reduzierung von CO2-Emissionen einerseits und Stickoxid-Emissionen andererseits. Ein Entweder-oder hilft hier jedoch gar nichts. Beides muss möglich werden. Es führt deshalb kein Weg daran vorbei, dass wir einerseits noch auf Jahrzehnte hinaus Verbrennungsmotoren brauchen werden – und zwar effiziente und sparsame – und andererseits mehr denn je in die Forschung und die Entwicklung neuer Antriebstechnologien investieren müssen. Mit dieser Doppelstrategie dienen wir dem Schutz unserer Umwelt genauso wie dem Automobilstandort Deutschland und zuallererst und vor allem den Menschen. So können wir es auch schaffen, Fahrverbote für Dieselfahrzeuge zu verhindern. Wir sehen ja an den neuen Euro-6d-Modellen, was technisch heutzutage möglich ist. Deshalb sage ich: In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass die von den Herstellern zugesagten Software-Updates zügig auf die Diesel-Pkw der Emissionsklassen Euro 5 und 6 aufgespielt werden. Außerdem können gezielte Kaufanreize, wie sie von Unternehmen vorgeschlagen wurden, dazu beitragen, ältere Fahrzeuge durch neuere mit besserer Technik zu ersetzen. Wenn also Hersteller Kaufprämien anbieten, sollten diese tatsächlich so genutzt werden, dass damit ältere Fahrzeuge weg von der Straße kommen und wir insgesamt zu einer deutlichen Verbesserung der Luftqualität kommen. Ich sage allerdings auch: Es sind nicht nur deutsche Hersteller für die Erhaltung und Verbesserung der Luftqualität verantwortlich. Über Deutschlands Straßen rollen auch über drei Millionen Dieselfahrzeuge ausländischer Hersteller. Das entspricht einem Anteil von immerhin einem Fünftel am Gesamtbestand der Diesel-Pkw in Deutschland. Deshalb glaube ich, dass es notwendig ist, dass auch ausländische Unternehmen einen substanziellen Beitrag zur Lösung der Probleme leisten. Meine Damen und Herren, so wichtig die Rolle der Hersteller ist, so wichtig ist zugleich – das weiß ich sehr wohl – eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen, um die verkehrsbedingte Emissionsbelastung vor allem in Ballungsräumen schnell und deutlich zu mindern. Ich hatte dazu – Herr Feldmann hat es angedeutet – ein Treffen mit Vertretern der Kommunen. Wir müssen, was Verkehrsleitsysteme und Ähnliches anbelangt, uns anstrengen und Kreativität zeigen, um Lösungen zu finden. Mein Treffen mit den Bürgermeistern und Ministerpräsidenten vor zehn Tagen im Bundeskanzleramt hat einige wichtige Fortschritte gebracht. Erstens: Den Kommunen steht eine Milliarde Euro zur Verfügung, um den Öffentlichen Personennahverkehr sowie die Verkehrsführung und Verkehrsleitung zu verbessern, um auf schadstoffärmere Fahrzeugflotten umzurüsten und um den Ausbau von Fahrrad- und Fußgängerwegen zu fördern. Es mag sein, Herr Feldmann, dass die eine Milliarde Euro nicht reicht. Aber wollen wir sie doch erst einmal ausgeben; dann finden sich auch wieder Möglichkeiten, weitere Gelder zu mobilisieren. Wir wären dann schon ein Stück weiter. Zweitens: Um Schadstoffemissionen weiter zu reduzieren, nehmen wir natürlich alle Emittenten ins Visier – also neben Pkw auch Lkw und Baumaschinen sowie in einigen Regionen Deutschlands auch Schiffe. Drittens: Wir wollen die öffentliche und private Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge ausbauen. Dazu können Wirtschaft und Staat 100.000 zusätzliche Ladepunkte bis 2020 verfügbar machen. Liebe Violina – nicht mehr zu sehen, aber vielleicht hört sie uns –, ich komme noch einmal zurück auf Deine Frage, was für mich „Zukunft erleben“ heißt. Oft hilft ja ein Blick zurück in die Vergangenheit, um besser einschätzen zu können, was in Zukunft zu tun sein wird. So sehen wir zum Beispiel, dass die deutsche Automobilindustrie es seit der Erfindung des Autos immer wieder verstand, neue Ideen in neue Produkte umzusetzen. Viele dieser Neuerungen haben Maßstäbe für eine sichere Mobilität gesetzt: Sicherheitsgurt, Knautschzone, ABS, ESP und Airbag – um nur einige zu nennen. Innovationen wie die automatische Einparkhilfe, Abstandssensoren und verschiedene Assistenzsysteme haben neben der Sicherheit auch den Fahrkomfort weiter erhöht. Ohne ständige Weiterentwicklungen hätte die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland 2016 nicht den niedrigsten Stand seit 60 Jahren erreicht. Jeder einzelne Mensch, der im Straßenverkehr sein Leben verliert, ist natürlich einer zu viel. Aber heute sind es immerhin 85 Prozent weniger Menschen als im Jahr 1970, die tödlich verunglücken – und das trotz des höheren Verkehrsaufkommens. Diese Entwicklung ist ermutigend und vor allen Dingen auch der technischen Weiterentwicklung der Autos geschuldet. Es spricht vieles dafür, dass der digitale Fortschritt, die Automatisierung und die Vernetzung die Mobilität der Zukunft noch sicherer und umweltfreundlicher machen können. Der technologische Fortschritt ist das eine. Hierfür müssen allerdings auch – das ist das andere – politisch die richtigen Leitplanken gesetzt werden. Diesbezüglich haben wir in dieser Legislaturperiode einiges auf den Weg gebracht; Alexander Dobrindt steht dafür. So haben wir mit der Änderung des Straßenverkehrsgesetzes die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Einsatz automatisierter Systeme angepasst. Das heißt natürlich nicht, dass damit schon sämtliche Rechts- und Haftungsfragen abschließend geklärt wären. Sehr interessant ist das Ergebnis der Ethikkommission, die von Alexander Dobrindt eingesetzt wurde und die deutlich sagt: Es ist geboten, die technologische Entwicklung voranzutreiben; und zwar nicht aus technologischen Gründen, sondern aus Gründen der Sicherheit für die Menschen. Deshalb hat die Bundesregierung einiges an praktischen Möglichkeiten eröffnet: Das Pilotprojekt „Digitales Testfeld Autobahn“ auf der A 9, um autonomes Fahren praktisch erproben zu können. Wir fördern mehrere städtische digitale Testfelder. Und nicht zuletzt fördern wir Forschung und Entwicklung. Eine Nebenbemerkung: Wenn ich zu Menschen, die nicht jeden Tag mit der Automobilindustrie zu tun haben, über das autonome Fahren spreche, dann erscheint ihnen das wie irgendeine Aussage über die nächsten 100 Jahre. Wenn man dann darauf hinweist, dass es schon solche Assistenzsysteme gibt, verbinden die Menschen noch nicht damit, dass daraus eines Tages nach vielen Schritten autonomes Fahren entstehen wird. Deshalb meine Bitte an all diejenigen, die Sie in der Automobilindustrie tätig sind: Bereiten Sie die Menschen auch mental auf diesen Punkt vor. Er erscheint immer noch sehr unglaubhaft. Deshalb müssen wir das gemeinsam voranbringen. Meine Damen und Herren, mit Blick auf die Mobilität von morgen werden Megabit-Netze nicht mehr reichen. Wir brauchen einen Ausbau von Gigabit-Netzen, verzögerungsfreien Mobilfunk und integrierte Mobilitätskonzepte. Dabei haben wir noch eine Menge zu tun. Der digitale Fortschritt jedenfalls gewinnt als Standortfaktor für unsere Wirtschaft – und damit für Arbeitsplätze und Wohlstand – immer weiter an Bedeutung. Meine Damen und Herren, auf der IAA erfahren wir, wie digitale und klassische Industriekompetenzen miteinander verschmelzen. Besonders deutlich machen das die vielen Unternehmen und Organisationen, die sich in diesem Jahr auf der „New Mobility World“ präsentieren. Zukunft denken und gestalten – das zeichnet die IAA seit jeher als Schaufenster der mobilen Evolution aus. Deshalb, das darf ich sagen, freue ich mich in diesem Jahr ganz besonders auf den Rundgang und auf neue Facetten der Mobilität der Zukunft. Allen Ausstellern und Besuchern wünsche ich erfolgreiche und interessante Messetage und darf jetzt die 67. Internationale Automobil-Ausstellung 2017 für eröffnet erklären. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Internationalen Friedenstreffen von Sant‘Egidio am 10. September in Münster
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-internationalen-friedenstreffen-von-sant-egidio-am-10-september-in-muenster-483148
Sun, 10 Sep 2017 16:38:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Professor Riccardi, sehr geehrter Herr Professor Impagliazzo, sehr geehrter Herr Bischof Bode, sehr geehrter Herr Bischof Genn, Eminenzen, Exzellenzen, sehr geehrte Repräsentanten von Kirchen und Religionen, sehr geehrter Herr Staatspräsident der Republik Niger, lieber Mahamadou Issoufou, sehr geehrter Herr Präsident des EU-Parlaments, lieber Antonio Tajani, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Lewe, meine Damen und Herren, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer, schon allein die Anrede – ich hätte sie noch viel länger machen können; weder habe ich Großimam al-Tayyeb noch Kardinal Kasper erwähnt; aber das tue ich jetzt noch – zeigt: Das hier ist nicht irgendein Treffen; das ist eine Institution. Es freut mich, dass ich nach 2011 in München nun wieder an einem Internationalen Friedenstreffen in Deutschland teilnehmen kann. Hier in Münster und in Osnabrück setzt sich nun die über 30-jährige Tradition fort, ein besonderes Zeichen der Versöhnung und des Friedens zu setzen. Die Botschaft heißt: Dialog zwischen verschiedenen Religionen ist möglich. Er ist aber auch nötig. Denn Verständigung, die Bereitschaft, ein offenes Ohr füreinander zu haben und die Welt auch einmal mit den Augen des anderen zu sehen – darauf kommt es an, um ein Verständnis zu entwickeln, das für ein gedeihliches Miteinander rund um den Globus wesentlich ist. Genau darum geht es ja: Religionen haben den Auftrag zum Frieden. Deshalb kann es keine Rechtfertigung von Krieg und Gewalt im Namen einer Religion geben. Es ist traurig, dass wir das betonen müssen. Aber wir wissen ja, dass Religion seit jeher immer wieder missbraucht wird, um Gewalttaten irgendeinen vermeintlichen Sinn zu geben. Daher sind vor allem die Religionsgemeinschaften selbst dazu aufgerufen, sich deutlich gegen die Vereinnahmung von Religion durch diejenigen zu wenden, die die Würde von Menschen mit Füßen treten. Gewiss, es wird immer verschiedene Glaubensüberzeugungen, Weltanschauungen und Wahrheitsansprüche geben. Aber die Frage ist, wie wir mit dieser Vielfalt, den Widersprüchen und Gegensätzlichkeiten umgehen. Wir können und dürfen sie nicht ignorieren, wenn wir uns als Teil einer Gemeinschaft ansehen, die den Menschen zugewandt ist. Interreligiöser Dialog ist sicherlich nie einfach. Schließlich berührt der Glaube das Innerste jedes einzelnen Menschen. Ja, wir könnten es uns einfach machen, uns sozusagen in Parallelwelten verschanzen und allenfalls übereinander statt miteinander reden. Dann aber wüssten wir viel weniger voneinander. Aus Unkenntnis wiederum erwächst nur allzu leicht die Gefahr von Vorurteilen und Ressentiments. Das kann nur ein Weg sein, der uns von einem friedlichen Miteinander wegführt. Im Gegensatz dazu zeigt sich das friedensstiftende Wirken einer Gemeinschaft wie Sant’Egidio. Sie setzt auf die Kraft des Wortes und des gemeinsamen Gebetes. Sie setzt auf Begegnung, auf Verständigung und Versöhnung. Im Dialog hält sie Türen offen, um aufeinander zugehen zu können. Sie tut dies in der Gewissheit – das ist in der Botschaft von Herrn Riccardi gerade wieder deutlich geworden –, dass Veränderung zum Guten möglich ist, auch wenn das oft viel Geduld und Mühe verlangt. Was vom Willen und der Fähigkeit zum Dialog abhängt, können wir ja auch an der Geschichte Europas ablesen. Das diesjährige Treffen findet statt in den historischen Städten des Westfälischen Friedens. In Münster und Osnabrück gelang es 1648, den unvorstellbaren Grausamkeiten des Dreißigjährigen Krieges endlich ein Ende zu setzen. Es waren 30 schreckliche Jahre der Vernichtung. Erstmals in der Geschichte fand ein gesamteuropäischer Friedenskongress statt. Er war getragen von der Einsicht, dass Friede nicht im Krieg, sondern am Verhandlungstisch gefunden wird. Er war getragen von der Erkenntnis, dass Krieg als Mittel zum Zweck der Verfolgung partikulärer Interessen letztlich nur Verlierer kennt. Gleichwohl löste auch der Westfälische Friede keineswegs alle Probleme seiner Zeit – und schon gar nicht auf Dauer. Es sollten weitere Jahrhunderte folgen, in denen sich die Völker in Europa auf das Schrecklichste bekriegten. 2018 wird sich das Ende des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal jähren. In den vier Kriegsjahren verblutete in den Schützengräben eine Generation junger Europäer. Doch selbst daraus wurden keine oder, wenn überhaupt, die falschen Lehren gezogen. Es sollte noch schlimmer kommen – mit dem von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg und dem Zivilisationsbruch der Shoa. Wie sollten nach all dem unsäglichen Leid die tiefen Gräben zwischen Europas Völkern und Nationen je überbrückt werden können? Und dennoch: Das schier Unmögliche gelang. Über die Jahrzehnte wuchs Europa mehr und mehr zusammen. Die Entwicklung von Hass und Feindschaft hin zu Versöhnung und Partnerschaft ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Sie war und ist nur möglich, weil sie von gemeinsam geteilten grundlegenden Werten getragen wird. Sie ist auf gemeinsame Ziele ausgerichtet; und sie zeigt sich in gemeinsamen Projekten. Wenn ich von Gemeinsamkeit spreche, dann heißt das nicht, dass die europäische Integration etwas mit Gleichmacherei zu tun hätte. Nein, Europa ist und bleibt ein Kontinent der Vielfalt. Unterschiede zwischen Menschen wie auch Staaten sind ja natürlich. Mit diesen Unterschieden lässt es sich gut zusammenleben, wenn wir auf einem gemeinsamen Grundverständnis von Menschenwürde, Freiheit und Verantwortung aufbauen. Wir Europäer durften die Erfahrung machen, dass sich Friede und Wohlstand gegenseitig bedingen. Wir haben gelernt, dass wir gemeinsame Herausforderungen gemeinsam besser lösen können als jeweils alleine. Diese Erfahrung zu machen – dafür müssen wir immer wieder werben; Antonio Tajani weiß, wovon ich spreche –, setzt nicht zuletzt die Fähigkeit zum Kompromiss voraus; und damit auch gegenseitiges Vertrauen. Diese Fähigkeit konnten wir schon oft unter Beweis stellen, wenn es darauf ankam. Aber – das sage ich sehr deutlich – wir werden immer wieder aufs Neue auf die Probe gestellt. Nicht immer finden wir einen gemeinsamen Nenner. Besonders hart traf uns der Vertrauensverlust einer Mehrheit der britischen Bevölkerung in die Europäische Union. Selbstverständlich wollen wir auch künftig nach dem EU-Austritt gute Beziehungen zu Großbritannien unterhalten, auch wenn unsere Partnerschaft zwangsläufig nicht mehr so eng sein wird wie bisher. Zugleich müssen die zukünftig 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union überzeugende Antworten auf die Fragen finden, wie es mit Europa weitergehen soll. Im Bemühen darum, Europa wettbewerbsstark, krisenfest und handlungsfähig zu gestalten, sollten wir uns sicherlich auf die Aufgaben konzentrieren, die auf europäischer Ebene tatsächlich besser zu lösen sind als auf nationaler. Ohnehin mangelt es nicht an Herausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen – ob es etwa um Klimaschutz geht oder um das Thema Flucht und Migration, ob es darum geht, wie sich das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell mit unseren hohen Standards im globalen Wettbewerb behaupten kann, oder um die Frage, wie wir Sicherheit und Frieden in Europa bewahren und insbesondere in unserer Nachbarschaft fördern können. Wir Europäer dürfen uns mit den vielen Krisen auf der Welt nicht abfinden und so tun, als ob sie uns nichts angingen. Nein, dagegen sprechen Werte und Grundrechte, auf die wir uns in unserem Zusammenleben berufen, aber deren Gültigkeit natürlich nicht an den Grenzen Europas endet. Ohnehin haben in unserer vielfältig vernetzten Welt Entwicklungen und Entscheidungen in anderen Regionen auch Auswirkungen auf unser Leben in Europa; umgekehrt gilt das genauso. Ob wir also wollen oder nicht – wir stehen in der Verantwortung, nicht allein in Europa für Sicherheit und Stabilität zu sorgen, sondern uns auch andernorts zur Unterstützung friedlicher Lösungen einzubringen. Zweifellos aber ist das leichter gesagt, als getan. Denken wir etwa nur an unser jahrelanges Engagement im Rahmen des Normandie-Formats zusammen mit Frankreich zur Stabilisierung der Lage in der Ostukraine. Denken wir an unsere Bemühungen, Nordkorea davon abzubringen, sein völkerrechtswidriges Raketen- und Nuklearprogramm weiterzuverfolgen. Oder denken wir an die andauernden Konflikte und Bürgerkriege – von Afghanistan über Irak und Syrien bis nach Libyen – und an den Kampf gegen den Terrorismus von Boko Haram in der Region um den Tschadsee oder gegen den Terrorismus andernorts, zum Beispiel in Mali. Auch wir in Europa bekommen die Folgen von Krisen und Konflikten zu spüren. Das unterstreicht aber nur die Mahnung, dass wir die Krisenländer nicht allein lassen dürfen. Papst Franziskus brachte dies auf den Punkt, als er beim Weltgebetstreffen für den Frieden vor einem Jahr in Assisi sagte – ich möchte ihn zitieren –: „Friede heißt Zusammenarbeit, lebendiger und konkreter Austausch mit dem anderen, der ein Geschenk und kein Problem ist.“ Denn – ich zitiere weiter –: „Unsere Zukunft ist das Zusammenleben.“ In der Tat sollten und müssen wir uns noch stärker als Weltgemeinschaft begreifen und zusammenarbeiten. Ich möchte Professor Riccardi danken für seine Worte darüber, dass auch die Globalisierung eine Seele braucht. Globale Fragen lassen sich nur mit globalen Antworten lösen. Diese Überzeugung hat uns auch in der deutschen G20-Präsidentschaft in diesem Jahr geleitet. Nur in gegenseitigem Einverständnis kann es gelingen, Globalisierung so zu gestalten, dass sie nicht nur einigen, sondern allen Ländern zugutekommt. Wir werden keine gute Entwicklung der Welt haben, wenn nicht alle an einer nachhaltigen Entwicklung teilhaben können. Mit der Agenda 2030 der Vereinten Nationen haben sich alle Nationen dazu verpflichtet, sich gemeinsam rund um den Globus für gute Lebensperspektiven einzusetzen. Dabei sehen wir uns als Völker Europas vor allem in der Verantwortung, uns für unseren Nachbarkontinent Afrika stärker als bisher zu engagieren – und zwar als Partner. Klassische Entwicklungshilfe allein reicht ganz offensichtlich nicht. Daher arbeiten wir nun mit unseren Partnerländern auch daran, die Rahmenbedingungen für private Investitionen und damit die Beschäftigungssituation in afrikanischen Ländern zu verbessern. Aber selbst die besten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen würden wenig helfen, wenn sie nicht genutzt werden könnten. Das heißt, Bildung und Qualifizierung sind und bleiben ein zentraler Schlüssel zur wirtschaftlichen Entwicklung. Mehr noch: Der Bildungsgrad entscheidet auch über politische Teilhabe und die demokratische Entwicklung einer Gesellschaft. Ich habe mit Präsident Issoufou über seine Anstrengungen dafür diskutiert, dass beispielsweise alle Kinder seines Landes eine Schulausbildung bekommen. Gerade auch die Entwicklung von Mädchen entscheidet sich wesentlich in dieser Frage, auch die demografische Entwicklung eines Landes wie Niger insgesamt. Meine Damen und Herren, dass die Jugend die Zukunft eines Landes ist, gilt in Afrika in ganz besonderer Weise, da hier weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung jünger als 25 Jahre ist. Ihr widmen wir als G20-Staaten besondere Aufmerksamkeit, indem wir gerade auch im ländlichen Raum in Schulen und Ausbildungsstätten investieren und den Zugang zu digitalen Technologien fördern. Wir sehen aber auch, dass es vielerorts an Sicherheit mangelt – aufgrund von fragiler Staatlichkeit, von Konflikten, Terrorismus oder humanitären Katastrophen. Zu Recht heißt es in der Präambel der Agenda 2030 – ich zitiere –: „Ohne Frieden kann es keine nachhaltige Entwicklung geben und ohne nachhaltige Entwicklung keinen Frieden.“ In der Tat ist das eine ohne das andere nicht denkbar. Daher geht es in unserer Partnerschaft mit Afrika auch darum, Sicherheit und Stabilität zu fördern – also darum, menschliches Leid zu lindern und zugleich die wesentlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, überhaupt erst wirtschaftlich tätig werden zu können. Wir wissen, dass langfristige Entwicklung immer auch Eigenverantwortung voraussetzt. Daher unterstützt Deutschland regionale Organisationen, insbesondere die Afrikanische Union, beim Aufbau einer eigenständigen afrikanischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur. Dabei geht es unter anderem um Unterstützung der Kapazitäten zur Mediation und Krisenprävention. Hervorheben möchte ich die „Allianz für den Sahel“, die Deutschland, Frankreich und die Europäische Union initiiert haben. Ziel ist eine bessere Koordinierung von Entwicklungs- und Stabilisierungsmaßnahmen in der Sahel-Region. Wenn es an Sicherheit und wirtschaftlichen Perspektiven mangelt, wenn Hoffnungslosigkeit herrscht, dann suchen sich Menschen woanders ein neues Leben. Hierfür nehmen sie in ihrer Not und Verzweiflung auch gefährlichste Wege auf sich und liefern sich mitunter Schlepperbanden und Menschenhändlern aus. Das heißt, in dem Maße, in dem wir afrikanische Partnerländer entwicklungs- und sicherheitspolitisch stärken, können wir auch denen das Handwerk legen, die aus dem Schicksal von Menschen skrupellos Profit schlagen. Wir müssen die vom Schleuserunwesen getriebene illegale Migration nach Europa, die schon Tausende das Leben gekostet hat, eindämmen. Zugleich gilt es, sichere und legale Zugangsmöglichkeiten für schutzbedürftige Personen zu schaffen. Dass das möglich ist, hat ja die EU-Türkei-Vereinbarung gezeigt. Mit ihr konnten wir kriminellen Schleppern die Geschäftsgrundlage weitgehend entziehen. Damit ist auch die Zahl der Todesfälle in der Ägäis sehr deutlich zurückgegangen. Nun arbeiten wir auch mit Blick auf das zentrale Mittelmeer daran, illegale Migration, die vor allem über Libyen erfolgt, zu unterbinden. Hierzu habe ich mich Ende August in Paris mit meinen Kollegen aus Frankreich, Italien und Spanien sowie aus Niger, Tschad und Libyen getroffen. Lassen Sie mich kurz die Punkte umreißen, auf die wir uns verständigt haben. Erstens wollen wir illegale Migration nach Libyen eindämmen. Hierfür gilt es, auch mit Herkunfts- und Transitländern besser zusammenzuarbeiten, um Fluchtursachen soweit wie möglich zu beseitigen. Zweitens unterstützen wir die Bemühungen Italiens und der EU zur Stärkung der libyschen Küstenwache bei der Rettung von Migranten. Die libysche Küstenwache hat in diesem Jahr bereits über 12.000 Personen das Leben gerettet. Ihr verstärkter Einsatz hat auch dazu beigetragen, dass die Zahl der Migranten auf der zentralen Mittelmeerroute deutlich gesunken ist. Mit abnehmender Zahl illegaler Überfahrten ging glücklicherweise auch die Zahl der Todesfälle erheblich zurück. Drittens müssen wir uns auch um das Wohlergehen der leidgeprüften Menschen kümmern, die in Libyen gestrandet sind. Die menschenrechtlichen Bedingungen sind teilweise katastrophal. Umso wichtiger ist es, mit den libyschen Behörden zusammenzuarbeiten und Zugang zu den Lagern zu erhalten. Zudem helfen wir gemeinsam mit der Internationalen Organisation für Migration und der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR beim Aufbau einer humanitären Infrastruktur für Flüchtlinge und Migranten in Libyen. Besonders Schutzbedürftige werden mithilfe des UNHCR aus Libyen in den Niger evakuiert. Dort wird der UNHCR dann Resettlement-Möglichkeiten suchen. Ich sage ausdrücklich, dass wir in Deutschland bereit sind, uns hieran zu beteiligen; und ich glaube, auch viele andere europäische Länder. Das bedeutet viertens auch, dass die humanitäre Aufnahme besonders Schutzbedürftiger ein wichtiges Instrument unserer Flüchtlingspolitik ist und bleibt. Kurz zusammengefasst geht es uns also um zweierlei: zum einen um die Bekämpfung von Fluchtursachen; zum anderen um legale Migration statt Migration auf illegalen Wegen, auf denen schon viel zu viele den Tod fanden. In diesem Zusammenhang möchte ich den Einsatz der Gemeinschaft Sant’Egidio zur Schaffung humanitärer Korridore hervorheben. Sie helfen, Flüchtlinge davor zu bewahren, in die Fänge von Menschenhändlern zu geraten und lebensgefährliche Fahrten über das Mittelmeer zu wagen. Dafür bin ich von Herzen dankbar. Sie geben damit auch ein wunderbares Beispiel für die Rolle, die die zivile Gesellschaft allgemein übernehmen kann und auch soll, um der Welt ein menschliches Gesicht zu verleihen. Es sind ja gerade auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften, die sich durch eine humane Gestaltungskraft auszeichnen, an der es der Politik in verschiedenen Teilen der Welt leider allzu oft mangelt. Ob es zum Beispiel um Bildung oder Gesundheitsversorgung in armen Ländern geht – hier und bei vielem anderen mehr erweisen sie sich als unersetzliche Partner in der Entwicklungszusammenarbeit und als unermüdliche Wegbereiter für ein friedliches Miteinander. Herzlichen Dank. Meine Damen und Herren, beim Friedensgebet 1986 in Assisi sagte Papst Johannes Paul II. – ich zitiere –: „Der Friede ist eine Werkstatt, die allen offensteht, nicht nur Fachleuten, Gebildeten und Strategen. Der Friede ist eine universale Verantwortung: Er verwirklicht sich durch Tausende kleiner Handlungen im täglichen Leben. Durch die Art ihres täglichen Zusammenlebens mit anderen entscheiden sich die Menschen für oder gegen den Frieden.“ Ja, die Wege zum Frieden – im Großen wie im Kleinen – sind vielfältig. Darauf deutet auch Ihr diesjähriges Motto „Wege des Friedens“ hin. Für Religionen sind es oft andere Wege als für die Politik. Aber wir stehen gemeinsam in der Verantwortung für Frieden in der Welt. Das Internationale Friedenstreffen der Gemeinschaft Sant’Egidio unterstreicht diese Verantwortung. Möge es Ihnen und allen Teilnehmern viel Ansporn spenden und Anregung bieten für Ihr weiteres friedensstiftendes Engagement. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen von Herzen interessante Begegnungen, gute Gespräche und gewinnbringende Tage in Münster und Osnabrück. Herzlichen Dank für das großartige Zeichen des Friedens, das Sie von hier aus in alle Welt senden. Ich bin mir sicher, die Stadtoberhäupter von Osnabrück und Münster werden das Ihrige tun, damit Sie sich hier wohlfühlen.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum Jubiläumsfest „275 Jahre Buchhandlung Schropp Land & Karte“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-jubilaeumsfest-275-jahre-buchhandlung-schropp-land-karte–783122
Thu, 07 Sep 2017 19:00:00 +0200
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Die Karte ist interessanter als das Gebiet“: Unter diesem Titel präsentierte der Maler Jed Martin einst seine ersten künstlerischen Arbeiten, die ihn über Nacht berühmt machten – fotografierte Karten im Maßstab 1:150.000, in der digitalen Bearbeitung mit Satellitenfotos kombiniert, um Gipfel und Täler, Flüsse und Straßen hervorzuheben. Ein Bild aus dieser Serie für Schropp Land & Karte – das wäre doch ein wunderbares Geschenk zum Jubiläum einer Buchhandlung, die vor 275 Jahren als „Kartographie-Anstalt“ gegründet wurde und deren großer Name bis heute mit der Vermessung der Welt verbunden wird! Schade also, dass es den Maler Jed Martin nie gegeben hat. Es handelt sich um eine Romanfigur, genauer: um den Protagonisten des Künstlerromans „Karte und Gebiet“ von Michel Houellebecq. Wenn ich aber schon kein Bild zur gewagten These „Die Karte ist interessanter als das Gebiet“ auftreiben kann, meine Damen und Herren, so darf ich zumindest unterstellen, dass Houellebecq seinem kartenbegeisterten Helden, wäre er statt in Paris in Berlin zuhause, sicherlich einen Besuch bei Ihnen, liebe Frau Kiepert, und Ihren kundigen Mitarbeiterinnen gegönnt hätte. Denn wo, wenn nicht hier – in der Buchhandlung Schropp, in der jeder Winkel der Erde kartographiert im Regal zu finden ist und das Angebotsspektrum eine „Eisenbahnkarte von Russland 1898“ genauso einschließt wie eine Übersicht der Dinosaurier-Fundorte in der südlichen Mongolei, einen digitalen „Tour Explorer Deutschland“ mit GPS oder auch jene Berlin-Karte mit vier Stadtplänen aus vier Jahrhunderten – wo, wenn nicht hier, erscheinen Karten bisweilen tatsächlich „interessanter als das Gebiet“? Wo, wenn nicht hier, offenbart sich die Ordnung der Welt in den Straßen und Wegen, Ortsnamen und Grenzverläufen, Standpunkten und Reiserouten ihrer Zeit? Das anhaltende Interesse einer treuen Kundschaft ist freilich nicht nur einem einzigartigen Sortiment an Karten, Atlanten und Globen geschuldet, die bei Schropp seit 275 Jahren über die Ladentheke gehen – begleitet von Reiseführern, Bildbänden, geographischer Fachliteratur und regionalen Kochbüchern, die über die notwendige Orientierung rund ums Reisen hinaus auch noch den Genuss der Vorfreude und der Erinnerung steigern. Nein, die wahren Helden der Schropp’schen Erfolgsgeschichte – heute sind es ja vor allem Heldinnen! – sind all die erd-kundigen und welt-gewandten Entdecker, die unternehmerisch immer wieder Neuland erschlossen haben und die beratend dafür sorgen, dass hier seit jeher und bis heute jeder Kunde genau die Karten und die Literatur bekommt, die zu seinem persönlichen Ziel führen – egal, ob dieses Ziel nun in der eigenen Vergangenheit liegt oder in einem kanadischen Sumpfgebiet. Ja, ich bin sicher: Nimmt man das Weltwissen der weitgereisten Geographin und Inhaberin Regine Kiepert, die Fachkenntnisse und Erfahrung der zum Teil seit über 20 Jahren zum Team gehörenden Mitarbeiterinnen und die Vielzahl der Weltbilder auf Karten und in Büchern zusammen, lässt Schropp bei so mancher Suchanfrage selbst Google ziemlich alt aussehen. Und das können nun wahrlich nicht viele Unternehmen von sich behaupten. Mich jedenfalls beeindruckt sehr, was Ihre Mitarbeiterinnen und Sie, liebe Frau Kiepert, hier seit vielen Jahren leisten und mit wie viel Pioniergeist Sie sich dabei immer wieder auf eine sich wandelnde Welt eingestellt haben! Deshalb bin ich stolz, die Buchhandlung Schropp Land & Karte zu den Gewinnern des Deutschen Buchhandlungspreises [2016] zählen zu dürfen, den ich vor drei Jahren ins Leben gerufen habe – als öffentlichkeitswirksame Liebeserklärung an leidenschaftliche Buchhändler und ihre geistigen Schatzkammern, aber auch als öffentliche Kampfansage gegen die Degradierung des Kulturguts Buch zur bloßen Handelsware, gegen die Bewirtschaftung einer geistigen Monokultur, in der nur noch das überlebt, was hohe Verkaufszahlen garantiert. Es sind traditionsreiche, vom Geist ihrer Gründer und Inhaber geprägte Buchhandlungen wie Schropp Land & Karte, die mit viel Idealismus dafür sorgen, dass man in Deutschland abseits des von Bestsellern abgesteckten Terrains immer wieder Neuland entdecken kann! Für die Zukunft, liebe Frau Kiepert, wünsche ich Ihnen und Ihrer Buchhandlung deshalb weiterhin vor allem eines: Neugier, und zwar sowohl in Gestalt reisefreudiger Kundinnen und Kunden also auch in Form unternehmerischer Aufbruchsstimmung und Weltoffenheit, für die der Name „Schropp“ seit so vielen Jahrzehnten steht! Denn bis heute stimmt, was einer der ersten und berühmtesten „Weltvermesser“, nämlich Alexander von Humboldt, einmal gesagt haben soll: „Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derjenigen, die die Welt nicht angeschaut haben.“ In diesem Sinne: Bleiben Sie auch in der Welt des 21. Jahrhunderts unterwegs – als Partner und Begleiter der Reisenden und Entdeckungsfreudigen, die mit Fernweh oder vielleicht auch mit Heimweh, mit einem nahen oder fernen Reiseziel vor Augen nach Orientierung suchen! Herzlichen Glückwunsch zu einem Etappenziel, auf das Sie stolz sein können – herzlichen Glückwunsch zum 275. Jubiläum!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel vor dem Deutschen Bundestag am 5. September 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-vor-dem-deutschen-bundestag-am-5-september-2017-794120
Tue, 05 Sep 2017 09:40:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie, lieber Herr Präsident, dass ich Ihnen zu Beginn im Namen der Bundesregierung meinen herzlichen Dank übermittle; das ist mit dem Vizekanzler abgestimmt. Wir haben Ihre Arbeit immer geschätzt. Wenn nötig, haben Sie uns den im Grundgesetz festgelegten Platz zugewiesen, und wir haben nach bestem Wissen und Gewissen versucht, uns daran zu halten. Ich erinnere mich in den letzten drei Legislaturperioden an dramatische Situationen, etwa in der weltweiten Finanzkrise, in der Euro-Krise und in der Flüchtlingskrise, als viele Flüchtlinge zu uns kamen. In diesen Krisen ist es Regierung und Parlament trotz großer Zeitnot und trotz drängendster Entscheidungen immer gelungen, in einem guten Einvernehmen und bei einer schrittweisen Stärkung der Rolle des Parlaments Lösungen zu finden, die, glaube ich, für uns als Bundesrepublik Deutschland richtig und gut waren, aber auch Lösungen zu finden, die uns als verlässlichen Partner in Europa und in der Welt dargestellt haben. Dafür möchte ich von Herzen danken. Für mich war eine der emotionalsten Situationen, als wir vor kurzem über den Bund-Länder-Finanzausgleich abgestimmt haben; im Gegensatz zum heutigen Tag war auch die Bundesratsbank gut besetzt. Das waren wirklich schwierigste Verhandlungen, in denen es um die Fragen ging: Welche Rolle spielt der Bund? Welche Rolle spielen die Länder? Dass dies trotz aller Kontroversen in einer so guten Atmosphäre verhandelt werden konnte, spricht für unser Land. Daran haben Sie, lieber Herr Lammert, lieber Norbert, einen ganz entscheidenden Anteil. Danke dafür! Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, wir haben in den letzten vier Jahren vieles erreicht. Unbestritten geht es Deutschland in vielen Bereichen gut. Aber wir dürfen uns auf diesen Erfolgen keinesfalls ausruhen. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass wir an der Schwelle zu einer neuen Entwicklungsetappe stehen. Wir müssen jetzt die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Deutschland auch in 10 oder 15 Jahren wirtschaftlich erfolgreich und sozial gerecht ist und noch mehr Menschen eine gute und sichere Arbeit haben. Wir haben eben den Blick auf die Zeit der deutschen Einheit zurückschweifen lassen. Seitdem sind 27 Jahre vergangen. Deutschland hatte Anfang der 90er-Jahre die Kraft, die deutsche Einheit gut zu bewältigen. Ein Jahrzehnt später waren wir der kranke Mann Europas. Es ist uns dann gelungen – ganz wesentlich mit der Agenda 2010, die wir von CDU/CSU immer unterstützt haben –, wieder die Kraft zu finden, aufzuholen. Wir sind heute Wachstumsmotor. Wir sind heute ein Land mit der höchsten Beschäftigungsquote, die wir jemals hatten, und in Europa erfahren wir dafür sehr viel Anerkennung. Aber ich habe das Gefühl, dass wir wieder an einer Schwelle zu einer neuen Etappe stehen. Diese hat ganz wesentlich mit dem Treiber unserer heutigen Entwicklung zu tun: mit dem digitalen Fortschritt. Das, was wir zurzeit in der Automobilindustrie erleben, zeigt – wie in einem Brennglas – die Summe der neuen Herausforderungen. Die Automobilindustrie ist eine der Säulen des deutschen wirtschaftlichen Erfolgs. Die deutsche Automobilindustrie ist weltweit anerkannt. Die Produkte der deutschen Automobilindustrie verkörpern das, was weltweit unter „Made in Germany“ verstanden wird. In der Automobilindustrie haben im Übrigen 800 000 Menschen und mehr ihren Arbeitsplatz. Diese Menschen haben sich nichts zuschulden kommen lassen; sie haben gut, sehr gut oder gar hervorragend gearbeitet. Aber sie sind jetzt in der Gefahr, dass das, was an Vertrauensverlust durch die Führung von Automobilkonzernen entstanden ist, auf sie zurückschlägt. Wir haben hier eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Fehler beim Namen zu nennen, aber auch gleichzeitig die Zukunft der deutschen Automobilindustrie sichern zu helfen. Deshalb müssen wir dafür Sorge tragen – durch vernünftige Rahmenbedingungen, wie wir das auch mit der Industrie 4.0 in unserer Digitalen Agenda getan haben –, dass die Voraussetzungen für den Übergang der Produktion in ein digitales Zeitalter geschaffen werden, in dem nicht nur die Menschen durch Smartphones vernetzt sind, sondern in dem alle Gegenstände miteinander vernetzt werden – das ist das Internet der Dinge –, damit die Produktion auch weiter erfolgreich erfolgen kann. Wir werden noch auf Jahre und Jahrzehnte Verbrennungsmotoren brauchen, und trotzdem werden wir gleichzeitig den Weg in eine neue Mobilität mit neuen Antrieben gehen müssen. Wir von der Christlich-Demokratischen Union und von der CSU sagen: Wir arbeiten nicht mit Verboten, sondern wir wollen solche Übergänge vernünftig ermöglichen, mit Blick auf die Beschäftigten und auf den technologischen Wandel. Ich bin überzeugt, dass dies auch der Ansatz der gesamten Bundesregierung ist. Meine Damen und Herren, wir haben gestern seitens der Bundesregierung ein Gespräch mit den Kommunen gehabt, die unter Grenzwertüberschreitungen leiden und die von Fahrverboten bedroht sind. Ich sage ausdrücklich für die ganze Regierung: Wir werden alle Kraft darauf lenken, dass es zu solchen Verboten nicht kommt. Wir müssen den Menschen, die sich im Übrigen im guten Glauben und von uns auch ermuntert Dieselautos gekauft haben, die Möglichkeit geben, dass sie diese Autos auch nutzen können. Im Übrigen ist es so, dass wir den Kauf von Dieselautos – davon gibt es etwa 15 Millionen in Deutschland – deshalb empfohlen haben, weil dadurch CO2-Emissionen eingespart wurden. Gegen den Diesel vorzugehen, bedeutet gleichermaßen auch, gegen die CO2-Ziele, die wir uns gesetzt haben, vorzugehen. Und das darf nicht passieren. Deshalb brauchen wir saubere Dieselautos, und wir brauchen den Übergang zu einer modernen Mobilität. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das macht nicht wieder gut, dass in der Automobilindustrie unverzeihliche Fehler vorgefallen sind. Deshalb können wir auch nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Aber das berechtigt uns nicht, sozusagen die gesamte Branche ihrer Zukunft zu berauben. Jetzt geht es darum, mit Maß und Mitte die richtigen Wege zu finden. Und dafür steht diese Bundesregierung, meine Damen und Herren, mit Blick auf die Beschäftigten und die Wirtschaftskraft Deutschlands. Beim Thema Auto zeigen sich die großen Herausforderungen, denen wir entgegensehen. Ich nenne stichwortartig nur die Bereiche „autonomes Fahren“ und „neue Antriebe“, die wir technologieoffen fördern sollten. Gleichzeitig gibt es große Herausforderungen hinsichtlich des Klimaschutzes. Wir werden dies alles natürlich auch mit Blick auf das Pariser Klimaschutzabkommen vom Dezember 2015 umzusetzen haben. Deshalb hat die Bundesregierung einen Klimaschutzplan vorgelegt. Es ist schon absehbar, dass in der nächsten Legislaturperiode, gleich im Jahre 2018, dieser Klimaschutzplan spezifiziert werden muss. Wieder wollen wir das nicht gegen die Betroffenen machen, sondern im Gespräch mit den Betroffenen. Wenn wir zum Beispiel über Braunkohlegebiete sprechen und den Ausstieg fordern, ohne den Menschen in irgendeiner Weise eine Perspektive zu geben, dann fördert das nicht die Bereitschaft, sich für den Klimaschutz einzusetzen, sondern verhindert sie. Deshalb sind wir dafür, mit den Betroffenen Alternativen zu erarbeiten und erst dann Entscheidungen zu treffen. Ich finde, das sind wir den Menschen schuldig. So haben wir es im Übrigen auch bei der Steinkohle gemacht, um es einmal ganz klar zu sagen. Wir haben mit der Digitalen Agenda vieles vorangebracht. Wir werden in der nächsten Legislaturperiode da ansetzen müssen und manches noch beschleunigen und straffen müssen. Wir sind nicht in allen Bereichen Spitze weltweit, was den digitalen Fortschritt und die Einführung entsprechender Maßnahmen anbelangt. Wir haben im Bereich der Wirtschaft vieles erreicht, insbesondere bei den großen Unternehmen. Die Bundesregierung hat mittelständischen Unternehmen viel Hilfestellung gegeben. Sie hat in dieser Legislaturperiode die Start-ups gefördert, sodass wir sagen können: Wir stehen deutlich besser da als vor vier Jahren. Aber die Welt schläft nicht. Die Welt entwickelt sich in rasantem Tempo. Deshalb wird es notwendig sein, hier weiterzuarbeiten. Wir haben früher das MP3-Format erfunden. Wir haben den ersten Computer gebaut. Aber wir wollen als Deutschland nicht im Technikmuseum enden, sondern wir wollen vorne dabei sein, wenn es um die Entwicklung neuer Güter und neuer Produktionsmöglichkeiten geht. Da haben wir viel zu tun. Das bedeutet auch, dass wir seitens des Staates und seitens der Verwaltung vorangehen müssen. Ich bin sehr dankbar, dass es im Rahmen der Verhandlungen zu den Bund-Länder-Finanzbeziehungen möglich war, sich zu einigen und das Grundgesetz so zu ändern, dass Bund, Länder und Kommunen ein gemeinsames Bürgerportal erarbeiten werden. Die gesetzlichen Voraussetzungen, um das umzusetzen, sind von der Bundesregierung geschaffen worden. Wir haben uns einen Zeitraum von fünf Jahren vorgenommen, in dem wir das erreichen wollen. Wenn es zum Ende der nächsten Legislaturperiode geschafft ist, wäre es noch besser. Die Bürgerinnen und Bürger müssen spüren, dass auch ihre Beziehung zum Staat endlich dem digitalen Fortschritt entspricht. Da haben wir gemeinsam noch sehr viel vor uns. – Die geschaffenen rechtlichen Voraussetzungen sind gut; Herr Heil, das wissen Sie auch. Wenn wir Hochtechnologieland bleiben wollen, haben wir die Aufgabe, Forschung und Entwicklung weiter zu fördern. Die europäischen Staaten haben sich noch in der Zeit von Bundeskanzler Schröder im Jahr 2000 vorgenommen, dass jedes europäische Land 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung ausgibt. – Das heißt nicht, dass man für Bildung nichts ausgibt. Das heißt einfach, dass man für Forschung und Entwicklung 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgibt, und das ist auch richtig so. Wir freuen uns, dass wir 17 Jahre später dies erreicht haben und eines der wenigen Länder in der Europäischen Union sind, die das geschafft haben. Allerdings müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, dass es skandinavische Länder gibt, die bereits 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung ausgeben, genauso wie Südkorea und Israel. Deshalb dürfen wir uns auch hier nicht ausruhen, sondern müssen das weiterentwickeln. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass der Bund – die Bundesregierung und das Parlament haben dem zugestimmt – die BAföG-Zahlungen voll übernimmt. – Herr Heil, ich achte sehr wohl die Zahl der Abgeordneten Ihrer Fraktion. Aber gegen meinen Willen und den Willen der Unionsfraktion konnten Sie in diesem Parlament echt nichts durchsetzen. Das muss man jetzt einfach akzeptieren. Vielleicht, Herr Heil, waren Ihre Argumente so gut, dass sie mich überzeugt haben. Oder besser gesagt: Es waren die Argumente des Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz, die mich schlussendlich überzeugt haben. Daran sehen Sie, wie gut ich zuhören kann, wie ich auf gute Argumente eingehen kann. Insofern ist es ein guter, gemeinsamer Erfolg von uns allen. Hier haben wir viel Wert darauf gelegt, dass möglichst alle Länder die freiwerdenden Mittel anschließend wieder für Bildung in den Hochschulen eingesetzt haben. Da waren wir nicht vollständig erfolgreich. Aber für die unionsregierten Länder kann ich sagen: Da hat es so stattgefunden, und darauf sind wir stolz. Meine Damen und Herren, wir haben durch gute Wirtschaftspolitik, auch durch die Tatsache, dass wir vier Jahre lang keine Schulden gemacht haben, zeigen können, dass solide Haushaltspolitik und Wirtschaftswachstum Hand in Hand gehen können, dass dadurch nachhaltiges Wirtschaftswachstum entstehen kann. Die letzten vier Jahre sind dadurch gekennzeichnet, dass der Wachstumsmotor in Deutschland nicht mehr der Export ist, sondern der Binnenkonsum. Das sieht man auch an den Lohnsteigerungen. – Erstens sind Sie nachher noch an der Reihe. Und zweitens: Freuen Sie sich doch mit uns oder mit mir. Ich kann überhaupt nicht verstehen, was Sie hier machen. Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten gar nichts gemacht in dieser Regierung. Das wäre auch nicht schön gewesen. Wir haben gemeinsam eine Regierung gestellt. Wir haben uns im letzten Wahlkampf eine Lohnuntergrenze vorgenommen. Sie haben den einheitlichen Mindestlohn angestrebt. Wir haben uns zum Schluss darauf geeinigt, dass wir den einheitlichen Mindestlohn einführen. Millionen von Menschen haben heute mehr in der Tasche, und darüber können wir uns alle freuen. Auch die Facharbeiterinnen und Facharbeiter haben mehr. Die Reallöhne sind gestiegen; das drückt sich auch in der Steigerung der Renten aus. Ich glaube, darüber freuen sich viele Menschen in unserem Land. Meine Damen und Herren, die vernetzte Welt, die sich im digitalen Fortschritt zeigt, spiegelt sich natürlich auch in der Außenpolitik wider. Die Grenzen von Wirtschafts-, Finanz-, Handels- und Sicherheitspolitik verschwimmen immer mehr; das sehen wir an vielen Krisenherden dieser Welt. Deshalb beschäftigt uns im Augenblick leider natürlich in ganz besonderer Weise die Situation im asiatischen Raum, wo die Nukleartests Nordkoreas eine flagrante Verletzung aller internationalen Gegebenheiten sind. Es ist richtig, dass der UN-Sicherheitsrat klare Positionen bezieht. Ich sage ausdrücklich, auch im Namen der ganzen Bundesregierung: Hier kann es nur eine friedliche diplomatische Lösung geben, für die wir allerdings mit allen Kräften eintreten müssen. Deshalb, meine Damen und Herren, habe ich am Sonntag mit dem französischen Präsidenten telefoniert. Der Bundesaußenminister ist im Kontakt mit seinem Kollegen. Es wird am Wochenende ein Außenministertreffen in Gymnich geben, wo wir über weitere Sanktionen von europäischer Seite gegenüber Nordkorea beraten werden; das ist auch dringend erforderlich. Ich habe darüber gestern mit dem südkoreanischen Präsidenten und auch mit dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump gesprochen. Beide unterstützen diese europäischen Bemühungen außerordentlich. Die Tatsache, dass Nordkorea eine gewisse Entfernung zu uns hat, sollte uns nicht davon abhalten, mit aller Entschiedenheit hier für eine diplomatische Lösung einzutreten. Europa hat eine wichtige Stimme in der Welt und muss diese Stimme in dieser Situation nutzen. Meine Damen und Herren, uns beschäftigt aus traurigem Anlass – zwölf deutsche Staatsbürger befinden sich aus politischen Gründen in der Türkei in Haft – die Entwicklung in der Türkei in ganz besonderer Weise. Diese Entwicklung ist mehr als besorgniserregend. Die Türkei verlässt immer mehr den Weg der Rechtsstaatlichkeit, und das zum Teil in einem sehr schnellen Tempo. Wir haben die Aufgabe – das Auswärtige Amt und wir alle tun alles dafür –, die deutschen Staatsbürger freizubekommen. Ich will exemplarisch Frau Tolu nennen, die mit einem zweijährigen Kind im Gefängnis sitzt; auch ihr Mann befindet sich in Untersuchungshaft. Ich kann genauso Deniz Yücel und Herrn Steudtner und andere nennen. Erstens sollten wir niemanden von ihnen vergessen. Zweitens sollten wir allen die bestmögliche Betreuung zukommen lassen. Drittens sollten wir auf allen Ebenen alles in unserer Macht Stehende versuchen – und zwar Tag für Tag –, um diese Menschen, die nach unserer Überzeugung unschuldig in Untersuchungshaft sitzen, freizubekommen. Ich glaube, das ist unser aller Anliegen. Dieser Umgang mit deutschen Staatsbürgern, aber auch die Gesamtsituation in der Türkei veranlassen uns natürlich, darüber nachzudenken, wie wir die Beziehungen zur Türkei neu ordnen. Die Bundesregierung hat erste Schritte unternommen; das hat der Bundesaußenminister anlässlich der Verhaftung von Herrn Steudtner ausführlich dargelegt. Wir haben die estnische Präsidentschaft gebeten, in den nächsten Monaten, solange die Situation so ist, keinerlei Verhandlungen über eine Erweiterung der Zollunion auf die Tagesordnung zu setzen; das schließt sich aus. Wir werden auch über die zukünftigen Beziehungen zur Türkei beraten – ich werde dazu vorschlagen, dass das im Oktober auf dem Europäischen Rat stattfindet –, eingeschlossen auch die Frage, die Verhandlungen zu suspendieren oder zu beenden. Hierzu braucht man Mehrheiten in Europa. Dies ist ein Vorgang, der natürlich entschieden, aber auch wohlbedacht durchgeführt werden sollte. Die Beziehungen zur Türkei sind strategischer Natur. Wenige Tage bevor ich Bundeskanzlerin wurde, am 3./4. Oktober 2005, sind durch meinen Vorgänger Gerhard Schröder die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen worden. Dem ging ein langer Diskussionsprozess voraus; die Grundentscheidung war schon Ende 2004 gefallen. Wir von der Unionsfraktion waren immer skeptisch oder dagegen, diese Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Ich habe dennoch im Sinne einer großen außenpolitischen Kontinuität – pacta sunt servanda – immer diese Verhandlungen geführt. Wir haben Kapitel eröffnet. Wir haben seit langem keine Kapitel mehr geschlossen. Die Beziehungen zur Türkei sind von großer Bedeutung. Deshalb werde ich mich dafür einsetzen, dass wir entschieden vorgehen, dass wir aber mit unseren europäischen Partnern vorgehen und darüber sprechen; denn nichts wäre erstaunlicher, als wenn wir uns in Europa über die Frage des zukünftigen Umgangs mit der Türkei vor den Augen des Präsidenten Erdogan öffentlich zerstreiten. Das würde Europas Position dramatisch schwächen. Davon kann ich uns nur abraten. Die gleiche Entschiedenheit, die wir im Umgang mit der türkischen Regierung, mit dem Präsidenten haben, müssen wir auch haben, wenn es darum geht, den Blick auf die vielen zu haben, die in der Türkei mit der augenblicklichen politischen Entwicklung nicht zufrieden sind. Wir müssen den Blick auch auf die vielen türkischstämmigen Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland haben, weil es unsere Bürgerinnen und Bürger sind, auch auf diejenigen, die mit türkischer Staatsbürgerschaft seit langem hier leben. Sie tragen zum Wohlstand unseres Landes bei. Wir dürfen sie nicht vor den Kopf stoßen. Wir müssen auch mit ihnen das Gespräch über die weiteren Entwicklungen führen; denn sie sind Teil unseres Landes, und das sollten wir ihnen auch deutlich machen. Insofern ist es eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, die vor uns liegt und der wir uns natürlich stellen werden. Meine Damen und Herren, ein Weiteres, in dem sich auch wieder symbolhaft die Situation, die globalen Herausforderungen spiegeln, das ist die Lage der Flüchtlinge weltweit. Hier haben wir vieles unternommen. Ich will darauf heute im Einzelfall nicht eingehen, will allerdings sagen, dass mir die Partnerschaft mit Afrika besonders wichtig ist. Wir haben jüngst mit dem italienischen und dem spanischen Premierminister sowie dem französischen Präsidenten über die Partnerschaft mit der Einheitsregierung in Libyen, über die Partnerschaft mit Niger, über die Zusammenarbeit mit Tschad und anderen afrikanischen Ländern gesprochen. – Ich habe nicht behauptet, dass es sich um eine Demokratie nach unserem Vorbild handelt. Trotzdem müssen wir mit diesen Ländern reden. Es hat keinen Sinn, zu glauben, dass durch simple Verurteilung im Deutschen Bundestag die Welt sich zum Besseren ändert, sondern wir müssen Menschen im Blick haben: Menschen, die durch die Sahara fliehen, Menschen, die durch Niger gehen, Menschen, die nach Libyen kommen. All diese Länder sind sicherlich nicht Demokratien, wie wir sie uns vorstellen, und trotzdem müssen wir mit diesen Ländern reden und Partnerschaft mit ihnen aufbauen. Meine Damen und Herren, wir werden am Jahresende einen EU-Afrika-Gipfel haben, und auf diesem EU-Afrika-Gipfel werden die Weichen für mehr fairen Handel mit Afrika und für mehr wirtschaftliche Entwicklung in Afrika gestellt werden müssen – so wie Wolfgang Schäuble das mit seinem Compact with Africa im Rahmen der G-20-Präsidentschaft vorgeschlagen hat; darauf zielen auch viele Initiativen der Wirtschaftsministerin und anderer Minister, die von uns eingeleitet wurden. Insofern gibt es in der gesamten Bundesregierung eine sehr vernetzte Zusammenarbeit, um diesen afrikanischen Ländern zu helfen. Meine Damen und Herren, wenn es um Sicherheit in der Welt geht, dann spielt natürlich auch das Thema Verteidigung eine Rolle. Wir hatten hierzu heute Morgen ja schon eine bemerkenswerte Diskussion. Deshalb möchte ich dazu auch etwas sagen. Im Jahre 2002 hat die NATO beschlossen, dass neue Mitgliedstaaten nur dann in die NATO aufgenommen werden, wenn sie sich vorher verpflichten, bereits im Zuge des Membership Action Plans, also vor dem eigentlichen Beitritt, 2 Prozent ihres Budgets für die Verteidigung auszugeben. Dies blieb natürlich nicht ohne Folgen für die Diskussion über die Höhe der Verteidigungsausgaben der bereits langjährig der NATO angehörenden Mitgliedstaaten. Deshalb haben die Verteidigungsminister 2006 diesen Beschluss wiederholt, deshalb spielt es seitdem eine zentrale Rolle. Und in der gesamten Amtszeit des amerikanischen Präsidenten Barack Obama gab es ein immer wiederkehrendes Thema, und das hieß: Ihr Deutsche könnt nicht davon ausgehen, dass auf Dauer andere für euch ein Stück Sicherheit schaffen, ohne dass ihr den Anstrengungen, zu denen wir uns gemeinsam verpflichtet haben, folgt. Daraufhin hat man sich dann in Wales – auch sehr stark unter dem Eindruck des Ukraine-Konflikts – entschieden, zu sagen – und diese Position hat die Bundesregierung gemeinsam getragen –: Auch die Länder, die das 2-Prozent-Ziel heute noch nicht einhalten – die neuen Mitgliedstaaten tun das ja weitestgehend –, sollen den Richtwert 2 Prozent in Betracht ziehen und sollen sich deshalb bis 2024 in Richtung von Verteidigungsausgaben in Höhe von 2 Prozent des Budgets entwickeln. Dieses wiederum spiegelt sich wider in dem Weißbuch, das von der gesamten Bundesregierung verabschiedet wurde, und zwar im Juli 2016. Das sind alles Beschlüsse, die vor der Wahl in den USA gefasst wurden, in der Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde. Meine Damen und Herren, wir haben dann moderate Erhöhungen des Verteidigungsetats vorgenommen, regelmäßig begleitet von Kommentaren unserer Verteidigungsexperten sowohl aus der Fraktion der CDU/CSU als auch aus der Fraktion der SPD, dass dies dringendst notwendige Erhöhungen seien, allerdings immer noch nicht ausreichende Erhöhungen, weil uns alleine schon die Ausrüstung der Bundeswehr in vielerlei Hinsicht fordert. Da rede ich noch gar nicht über Blauhelmeinsätze und Hilfe für andere Länder, zum Beispiel bei der Ausrüstung und beim Training von Soldatinnen und Soldaten. Dann habe ich zu meiner Nicht-Freude gehört, dass dieses Ziel nicht mehr akzeptiert wird. Dann habe ich, diesmal zu meiner Freude, gehört, dass der Kanzlerkandidat der Sozialdemokratischen Partei sich bei seinen Experten für Verteidigung Rat gesucht hat, zum Beispiel bei Rainer Arnold, und dass der ihm empfohlen hat, dass man pro Jahr 3 bis 5 Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr einsetzen sollte. Da habe ich meine mathematischen Fähigkeiten zusammengenommen und habe mir gedacht: Wenn es 3 Milliarden sind, bewegen wir uns schnell in Richtung 2-Prozent-Ziel. Wenn es 5 Milliarden sind, haben wir das 2-Prozent-Ziel wahrscheinlich 2024 erreicht. – Also: kein Problem, kein Dissens. Ich bin froh und hoffe, dass das Wort des Kanzlerkandidaten Martin Schulz gilt. Um die Quelle zu nennen, Herr Heil: Es war beim Forum von Deutschlandfunk und Phoenix. – Da wurde darüber hinaus noch behauptet, ich wolle 30 Milliarden Euro mehr einsetzen, was von einem Jahr aufs andere ergeben hätte, dass wir das 2-Prozent-Ziel erfüllt hätten, was ja nun – – Nur, damit alles klar ist. Meine Damen und Herren, jetzt möchte ich nur noch kurz darauf hinweisen, weil meine Zeit nämlich so gut wie vorbei ist, dass wir – – Ich meine meine Redezeit hier. Mein Gott, wie weit sind wir jetzt eigentlich schon gekommen? Leute, kommt, es sind noch wenige Tage bis zur Wahl! Lassen Sie uns diese erfolgreiche Regierungsarbeit wenigstens am heutigen Tage einigermaßen gelten lassen! Wir haben nämlich wirklich eine Menge miteinander erreicht. Wir haben eine Menge Unterschiede; das ist überhaupt keine Frage. Diese zeigen sich auch in den Regierungsprogrammen; das ist auch keine Frage. Aber das, was wir geschafft haben, sollten wir den Menschen schon sagen. Und damit schließe ich. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
in Berlin
Sonderpreis des Deutschen Buchhandlungspreises: Laudatio der Kulturstaatsministerin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/sonderpreis-des-deutschen-buchhandlungspreises-laudatio-der-kulturstaatsministerin-407096
Thu, 31 Aug 2017 11:00:00 +0200
Im Wortlaut: Grütters
Hannover
Kulturstaatsministerin
Wenn ältere Damen literarisch in Erscheinung treten, kann es durchaus auch mal ungemütlich werden. Die Queen als „souveräne Leserin“ in Alan Bennetts gleichnamigem Roman mischt auf ihre alten Tage den Buckingham Palast auf. In Friedrich Dürrenmatts Besuch der alten Dame bringt eine exaltierte Milliardärin die Fassaden bürgerlicher Moral zum Einsturz. Und wo Agatha Christies ebenso scharfsinnige wie schrullige Miss Marple mit ihrem Strickzeug auftaucht, müssen Mörder sich warm anziehen. Auch einer Ihrer Lieblingsautoren, liebe Frau Weyhe, nämlich Theodor Fontane, hatte eine Vorliebe für lebenserfahrene, weibliche Heldinnen. Die Begründung liefert eine seiner Romanfiguren: „Ich sehe nicht ein“, sagt Ebba Rosenberg in Unwiederbringlich, „warum wir uns immer um die Männer oder gar um ihre Schlachten kümmern sollen; die Geschichte der Frauen ist meist viel interessanter.“ Dafür, meine Damen und Herren, stehen nicht nur berühmte Frauenfiguren der Literaturgeschichte. Dafür steht mit 94 Jahren Lebenserfahrung und über 70 Jahren Berufserfahrung auch Deutschlands älteste, aktive Buchhändlerin: und zwar auf den knarrenden Holzdielen in einer fast 140 Jahre alten Buchhandlung in Salzwedel. Natürlich ist es aufschlussreich, sieben Jahrzehnte bewegte deutsche Geschichte am Beispiel berühmter Männer und ihrer „Schlachten“ nachzuvollziehen – und bestimmt könnte Helga Weyhe mit ihrem besonderen Interesse für Geschichte und ihrer Vorliebe für „Biographien von vernünftigen Leuten“ uns dafür die besten Bücher empfehlen. Doch nicht minder interessant ist die Geschichte einer Buchhändlerin, die es geschafft hat, sich selbst und ihrer Liebe zum Buch in diesen bewegten Zeiten beständig treu zu bleiben: in der Nachkriegszeit, als Brot den meisten Menschen wichtiger war als Bücher; in der DDR, als die Diktatur, die Mauer und die Konkurrenz durch staatsnahe Volksbuchhandlungen der persönlichen und unternehmerischen Entfaltung Grenzen setzte; nach der Wiedervereinigung, als auch in Sachsen-Anhalt die Marktwirtschaft Einzug hielt und mit ihr der raue Wind der Globalisierung … bis ins 21. Jahrhundert, als so mancher Kassandrarufer den Niedergang des gedruckten Buchs und des traditionellen Buchhandels beschwor. Helga Weyhe blieb ihren persönlichen Vorstellungen von einem interessanten Buchsortiment und lesenswerten Büchern über all die Jahre treu. Und treu blieben auch die Kunden, die es zu schätzen wissen, dass Helga Weyhe jedes Buch in ihrem Laden zumindest quer gelesen hat – und dass sie bestellte Bücher statt mit dem Paketdienst gern auch mal höchstpersönlich mit ihrem Gehstock ausliefert. Schade, dass noch niemand einen Roman geschrieben hat über eine resolute alte Dame, die sich in ihrer Leidenschaft für Bücher weder von Amazon noch vom gesetzlichen Renteneintrittsalter bremsen lässt…! Es wäre mit seiner eigensinnigen Heldin ganz bestimmt ein Stück Literatur, das es verdiente, in Ihr kleines, aber feines Buchsortiment aufgenommen zu werden, liebe Frau Weyhe! Bescheiden und bodenständig wie Sie sind, wäre es Ihnen bestimmt einen Hauch zu dick aufgetragen, wenn ich Sie als „Grande Dame“ des deutschen Buchhandels bezeichnete. Verdient haben Sie es trotzdem, weil Sie mit Ihrer Lebensleistung in dieser Branche Maßstäbe gesetzt und dem Kulturgut Buch über sieben Jahrzehnte geschenkt haben, was ihm gebührt: Liebe, Leidenschaft und Wertschätzung. Dafür verleihe ich Ihnen den Ehrenpreis des Deutschen Buchhandlungspreises 2017 und wünsche Ihnen, dass die Freude am Lesen Ihnen und Ihrem Buchladen noch viele erfolgreiche Jahre beschert! Herzlichen Glückwunsch und alles Gute!
Die 94-jährige Helga Weyhe hat den Sonderpreis des Deutschen Buchhandlungspreises erhalten. Die älteste, aktive Buchhändlerin in Deutschland habe als Buchhändlerin dem Kulturgut Buch 70 Jahre lang viel Aufmerksamkeit geschenkt und sei daher ein Maßstab für die Buchbranche, so die Kulturstaatsministerin.
Rede der Kulturstaatsministerin bei der Verleihung des Deutschen Buchhandlungspreises 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-bei-der-verleihung-des-deutschen-buchhandlungspreises-2017-407094
Thu, 31 Aug 2017 11:00:00 +0200
Im Wortlaut: Grütters
Hannover
Kulturstaatsministerin
Navid Kermani war im vergangenen Jahr vielfach in den Medien präsent: als Schriftsteller mit seinem neuen Roman, als Reporter mit einem mehrteiligen Bericht von einer Reise durch Osteuropa, als Essayist, Redner und gefragter Gesprächspartner, als möglicher Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten … – und auch als leidenschaftlicher Leser: mit einer rührenden Liebeserklärung an den Mann, bei dem er 28 Jahre lang seine Bücher kaufte, und der seine Buchbestellungen immer wieder, hunderte Male, mit drei Worten quittierte: „Morgen ist da“. „Herr Ömer“, der etwas schrullige türkische Buchhändler aus Köln-Eigelstein, ist 2016 gestorben, und Navid Kermani hat ihm in einem kurzen Text ein literarisches Denkmal gesetzt. „Rüde scheuchte er alle Kunden weg, deren Nase ihm nicht gefiel“, erinnert sich Kermani, „[er] regte sich über jeden Krimikäufer auf – lautstark, sogar wenn der Krimikäufer im Laden stand. […] Einmal wurde mir am Bücherregal ganz anders, als ich hörte, wie er zwei Frauen fragte, was sie hier täten. Ach, nur schauen, sagten die Frauen. Schauen Sie, und dann gehen Sie, sagte Herr Ömer, […] – dabei hatten sie wahrscheinlich nur nach den falschen Büchern geschaut.“ Die meisten von Ihnen, liebe Buchhändlerinnen und Buchhändler, artikulieren Ihr Urteil in solchen Fällen vermutlich etwas diplomatischer – zum Beispiel in Form einer alternativen Lektüreempfehlung. Aber genau wie „Herr Ömer“ sind Sie alle „Überzeugungstäter“ aus Liebe zum Buch: missionarisch im besten Sinne, als Fürsprecher auch unbekannter Autorinnen und Autoren, als Botschafter unabhängiger Verlage – und dabei ausgestattet mit der Leseerfahrung und dem Eigensinn, den es braucht, um jenseits des überschaubaren, von Bestsellerlisten abgesteckten Lese-Terrains verlässliche Lotsen auf geistigem Neuland zu sein. Genau dafür lieben Sie Ihre Kunden, deshalb kommen Sie in Ihre Läden: weil sie darin – im ländlichen Raum genauso wie in großen Städten – sorgsam gehegte, geistige Schatzkammern vorfinden, in denen man beim Stöbern die Zeit vergisst, Lieblingsautorinnen und -autoren bei Lesungen neu kennenlernt und sich gerne zu literarischen Lustkäufen verführen lässt. Den wenigsten Buchhändlern ist dafür die öffentliche Liebeserklärung eines über drei Jahrzehnte lang treuen und dazu noch prominenten Stammkunden vergönnt. Umso mehr hoffe ich, dass Sie alle auch den Deutschen Buchhandlungspreis, mit dem wir Sie heute auszeichnen, als „öffentliche Liebeserklärung“ empfinden – denn genau in diesem Sinne habe ich ihn vor drei Jahren ins Leben gerufen. Ich möchte diesen Preis aber nicht nur als Liebeserklärung, sondern durchaus auch als öffentliche Kampfansage verstanden wissen. Denn wir würdigen damit nicht nur den Beitrag kleiner, inhabergeführter Buchläden zum Schutz der literarischen, der verlegerischen, der kulturellen Vielfalt in Deutschland. Wir wenden uns damit auch gegen die Degradierung eines Kulturguts zur bloßen Handelsware, gegen die Bewirtschaftung einer geistigen Monokultur, in der nur noch das überlebt, was hohe Verkaufszahlen garantiert. Dazu brauchen wir die Buchpreisbindung, die seit genau einem Jahr ausdrücklich auch für elektronische Bücher gilt. Dazu brauchen wir aber auch die Garanten der Mischkultur: die Buchläden „um die Ecke“, die Kiez-Buchhandlungen, die Buchhändler, die mit Freude am Werk sind statt mit teils kuriosen Produktempfehlungen nach dem Motto „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch …“. Die Preise im Wert von insgesamt 850.000 Euro, mit denen wir in diesem Jahr insgesamt 117 Buchhandlungen auszeichnen, sollen Ihnen – ebenso wie die undotierten Gütesiegel – Aufmerksamkeit verschaffen: öffentliche Aufmerksamkeit, die Ihnen auch dabei hilft, Online-Kunden mit innovativen Geschäftsmodelle in Ihre Läden zu holen bzw. zurück zu holen. Das alles wäre nicht möglich ohne eine Jury, die mit Fleiß und Hingabe jede einzelne Bewerbung prüft. Allein das ist, wie ich finde, schon eine Liebeserklärung an die kleinen Buchläden. Denn ohne Enthusiasmus ist es kaum möglich, dafür die Mühe, Zeit und Kraft aufzubringen. Herzlichen Dank, liebe Frau Radisch, herzlichen Dank allen Jury-Mitgliedern für die engagierte Arbeit! Auch ich persönlich habe natürlich – in meiner Wahlheimat Berlin, in meiner Heimatstadt Münster und an meinem Urlaubsort in Bayern – meine „Stamm-Buchhandlungen“, wo ich mir als unersättliche Leserin steten Nachschub an Lesestoff besorge. Und meistens ist es so, dass ich, wenn ich ein Buch bestellen will, mit dreien wieder raus komme. Zu diesem „literarischen Beifang“ gehört das Buch „Die souveräne Leserin“ des britischen Autors Alan Bennett, das Inka Selle-Cordes mir vor Jahren empfohlen hat – eine Buchhändlerin mit Leib und Seele, die ihre kleine Einzimmer-Buchhandlung „Die Biographische“ direkt neben meinem Wohnhaus in Berlin-Wilmersdorf mittlerweile leider aus Altersgründen aufgeben musste. „Die souveräne Leserin“ – viele von Ihnen kennen dieses Buch bestimmt – erzählt von einer Frau, die in hohem Alter das Lesen für sich entdeckt, was insofern besonders charmant ist, als es sich dabei um die Queen handelt, deren Leseexpeditionen nicht nur sie selbst verändern, sondern zunehmend auch die Konventionen der Monarchie sprengen. Ihrem irritierten Privatsekretär erklärt sie den Unterschied zwischen Information und Lektüre: „Informieren ist nicht gleich Lesen. Es ist im Grunde sogar der Gegenpol des Lesens. Information ist kurz, bündig und sachlich. Lesen ist ungeordnet, diskursiv und eine ständige Einladung. Information schließt ein Thema ab, Lesen eröffnet es.“ Damit, meine Damen und Herren, ist ziemlich präzise zusammengefasst, warum Bücher nicht trotz, sondern gerade wegen der täglich über uns hereinbrechenden digitalen Informationsfluten Raum und Zeit in unserem Leben verdienen. Deshalb danke ich Ihnen, dass Sie Menschen fürs Lesen begeistern und die Lesekultur fördern! Es muss ja auch nicht gleich die Queen sein …, aber ich bitte Sie: Sorgen Sie mit Ihrem Angebot weiterhin dafür, dass es „souveräne Leserinnen“ – und souveräne Leser – gibt, die sich auf die Einladung zum „ungeordneten“ Lesen einlassen, die Information und Lektüre unterscheiden können und die das eine wie das andere – die informativen Antworten genauso wie die beim Bücherlesen aufkommenden Fragen – zu schätzen wissen. Auf eine gute Zukunft für das Buch und seine Liebhaber!
Kulturstaatsministerin Grütters hat bei der Preisverleihung die Bedeutsamkeit kleiner, inhabergeführten Buchläden für die kulturelle Vielfalt in Deutschland betont. Sie sprach sich in einer „öffentlichen Kampfansage“ dagegen aus, das Kulturgut Buch zur bloßen Handelsware zu degradieren.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung des „Pop-Kultur“ Festivals 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-des-pop-kultur-festivals-2017-792054
Wed, 23 Aug 2017 19:00:00 +0200
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Anrede – „Pop-Kultur in der Kulturbrauerei: Da trifft zusammen, was zusammengehört – schließlich zählt dieses Areal, früher Standort eines der größten Braubetriebe Europas, seit vielen Jahren zu den bekanntesten und beliebtesten Orten der Berliner Clubszene. Ihrem Namen macht die Kulturbrauerei neuerdings aber auch wieder mit Braukunst alle Ehre: Unter dem Motto „HANDGEMACHT. Junges Brauen trifft Straßenküche“ präsentierten sich hier vor gut einem Jahr innovative und kreative Braukünstler, die mit ihrem „Craft Beer“ die 500 Jahre alte Braukultur aufmischen. 500 Jahre hat die Pop-Kultur zwar bei weitem noch nicht auf dem Buckel – aber auch sie profitiert enorm von den „jungen Wilden“, die mit Enthusiasmus, Fantasie und Experimentierfreude eine ganze Branche aufmischen und um neue (in diesem Fall musikalische) Geschmackserlebnisse bereichern – von Ihnen also, liebe Künstlerinnen und Künstler! Genau wie die „Craft Beer“-Brauer sind Sie die sympathischen Rebellen der Branche: Mit Ihren innovativen Werken – „handgemacht“, nicht industriell gefertigt – heben Sie sich ab vom musikalischen Mainstream. „Craft Pop“, wenn man so will: mit unterschiedlichsten Stimmen, Sounds und Genres eine Bereicherung für die musikalische und kulturelle Vielfalt. Das Pop-Kultur-Festival bietet diesem „Craft Pop“ eine Bühne – und das schon fast mit Tradition: Denn heute eröffnen wir, liebe Frau Lucker, gemeinsam die dritte Ausgabe Ihres Festivals, das sich innerhalb kurzer Zeit zum Schmelztiegel verschiedener kreativer Szenen entwickelt hat und den interdisziplinären künstlerischen Austausch fördert. Es ist damit selbst zu einer „Kulturbrauerei“ im wahrsten Sinne des Wortes geworden, denn hier entstehen auch neue, vielversprechende künstlerische Formate. Besonders freut mich, dass die Organisatoren sich so erfolgreich um eine angemessene weibliche Beteiligung bemühen – ein Anliegen, das ich mit Nachdruck unterstütze und das ich in meinem Verantwortungsbereich als Kulturpolitikerin (mit dem Runden Tisch „Frauen in Kultur und Medien“) selbst auch vorantreibe. Den Anspruch jedenfalls, die Pop-Kultur aufzumischen und künstlerisch zu erneuern, löst das diesjährige Festival mit einem breit gefächerten Musik-Angebot, mit Ausstellungen, Filmen, Lesungen und Gesprächen zu aktuellen künstlerischen Tendenzen zweifellos ein. Bereits der Blick auf das Programm verspricht eine große Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen – und ein Blick ins Publikum verrät, wie sehr es eben diese musikalische Vielfalt vermag, Menschen zu begeistern und zusammen zu bringen. Dabei zeigt übrigens leider gerade die diffamierende und absolut inakzeptable Boykott-Kampagne der vergangenen Tage, wie sehr wir die verbindende Kraft der Musik brauchen. Ich finde es schlimm, dass die anti-israelische Hetze im Vorfeld des Festivals einige Künstler aus arabischen Ländern veranlasst hat, ihre Teilnahme abzusagen – umso mehr, als die Musik ja gerade dort gemeinsame Sprache sein kann, wo Worte als Mittel der Verständigung versagen. Ein Beispiel dafür ist die aus meinem Kulturetat geförderte Barenboim-Said-Akademie, in der junge Menschen aus der arabischen Welt und aus Israel gemeinsam musizieren und lernen und sich auf diese Weise auch Möglichkeiten für Verständnis und Verständigung erarbeiten. Das sind Erlebnisse und Erfahrungen, die ich auch den Teilnehmenden des „Pop-Kultur“-Festivals wünsche. Nicht zuletzt deshalb freue ich mich, dass ich das Festival fördern und unterstützen kann: Mit 500.000 Euro aus dem Kulturetat des Bundes werden die „commissioned works“ realisiert – „Auftragswerke“, die eigens für das Festival entstanden sind. Diese Produktionen loten die Verbindungen zwischen Popmusik und Literatur, Lichtdesign, Mode, bildender und darstellender Kunst aus – und machen Pop als „Gesamtkunstwerk“ erlebbar. Mit der Förderung wollen wir Künstlerinnen und Künstlern die finanzielle Freiheit geben, innovative, mutige und experimentelle Projekte unabhängig von Erwartungen an den ökonomischen Erfolg ihres Werkes zu realisieren. Künstlerische Freiheit finden Künstlerinnen und Künstler zurzeit wohl nirgends mehr als hier in Berlin; die Stadt ist Sehnsuchtsort vieler Kreativer aus aller Welt. Begeisterte Anhänger und Fürsprecher hat die Pop-Musik aber erfreulicherweise auch in anderen Regionen Deutschlands: Deshalb hat der Bund in diesem Jahr seine Pop-, Rock- und Jazz-Förderung um insgesamt 4,2 Millionen Euro erheblich erhöht. Darüber hinaus steht in diesem Jahr unter anderem auch für den Spielstättenprogrammpreis „APPLAUS“ mehr Geld zur Verfügung, den ich an Clubs und Spielstätten mit künstlerisch herausragendem Live-Programm verleihe. Ich hoffe, dass die Fördermittel des Bundes dazu beitragen, dass Künstlerinnen und Künstler auch jenseits des musikalischen Mainstreams Erfolg haben – und dass sie darüber hinaus Mut zum Experiment machen. Schließlich dürfte es nur wenige musikalische Erfolge geben, die so entstanden sind wie das legendäre Gitarrenriff im Rolling Stones-Hit „I can’t get no satisfaction“: Es überkam Keith Richards gewissermaßen – so steht es in einem Buch über berühmte Songzeilen und ihre Geschichten -, als er nachts im Hotel völlig ermüdet auf der Gitarre herum improvisierte. Er nickte dabei ein und fand beim Aufwachen – ich zitiere – „ein Band mit zwei Minuten Gitarrenspiel und 40 Minuten Schnarchen“. Wie auch immer Ihre Werke entstehen, liebe Künstlerinnen und Künstler: Ich wünsche Ihnen, dass drei im besten Sinne „berauschende“ Festivaltage Sie inspirieren und motivieren! Vor allem aber wünsche ich Ihnen allen, liebe Gäste, ein klangvolles Fest der Pop-Kultur!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung der gamescom am 22. August 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-eroeffnung-der-gamescom-am-22-august-2017-392398
Tue, 22 Aug 2017 13:15:00 +0200
Köln
Sehr geehrter Herr Falk, Herr Böse, Frau Oberbürgermeisterin, liebe Frau Reker, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Armin Laschet, mit dir die Vertreter der Landesregierung, die ich natürlich ganz herzlich begrüße, den stellvertretenden Ministerpräsidenten, die Schulministerin, ich grüße die Staatssekretäre und auch Herrn Casey aus Kanada und Sie alle, meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit der Mensch denkt, spielt er auch. Friedrich von Schiller ging sogar so weit zu sagen: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Spielen gehört also seit jeher zum Leben dazu. Wir lernen auch spielerisch. Wir bringen Phantasie spielerisch ein, wir bringen Geschicklichkeit ein, wir erlernen logisches Denken, wir erlernen auch Schnelligkeit – und das über jedes Alter hinweg. Nun konnte Schiller von der digitalen Dimension noch nicht viel erahnen, aber durch Digitalisierung und Vernetzung haben sich im wahrsten Sinne des Wortes völlig neue Spiele-Dimensionen erschlossen. Nun wissen wir ja, dass die Digitalisierung in all ihren Facetten unser Leben mehr und mehr durchdringt. Vor diesem Hintergrund zeigt sich die Bedeutung des digitalen Spielens, nämlich dass die digitale Evolution und Revolution wirklich vorangetrieben wird; und zwar im wahrsten Sinne des Wortes spielerisch. Mit mehr als 500 Unternehmen ist die Games-Branche ein starker Pfeiler des Innovationsstandortes Deutschland. Rund 29.000 Beschäftigte haben einen Umsatz erwirtschaftet, der im ersten Halbjahr 2017 bereits die Milliardengrenze überschritten hat. Das ist gegenüber dem Vorjahreszeitraum immerhin ein Plus von elf Prozent. Aber es wurde ja schon gesagt: Das eine sind unsere Zahlen, das andere ist die Gesamtdimension. Immerhin haben wir seit längerem auch deutlich gemacht: Computer- und Videospiele sind als Kulturgut, als Innovationsmotor und als Wirtschaftsfaktor von allergrößter Bedeutung. Deshalb bin ich heute sehr gerne nach Köln gekommen, um dieser sich entwickelnden Branche auch meine Reverenz zu erweisen. In diesem Jahr ist Kanada unser Partnerland. Die enge Kooperation mit unseren Freunden aus Nordamerika hat auch für die gamescom geradezu Tradition, denn Kanada gehört zur weltweiten Spitze der Branchenstandorte. Deshalb möchte ich alle Gäste aus Kanada ganz besonders herzlich begrüßen! Meine Damen und Herren, Computer- und Videospiele sind aus dem Alltag längst nicht mehr wegzudenken. Sie dienen der Unterhaltung. Aber sie können genauso Begeisterung für Wissenschaft und Technik entfachen. Das eine muss das andere ja nicht ausschließen – ganz im Gegenteil. Es gibt noch sehr viel Potenzial für spielebasiertes Lernen. Nicht umsonst ist heute ja die Schulministerin aus Nordrhein-Westfalen hier. Ich empfinde es als eine gute Nachricht, wenn Lehrer geeignete Computerspiele auch im Unterricht einsetzen. Damit wird der Umgang mit dem Medium und der Technologie trainiert sowie vernetztes Denken gefördert. Wir wollen in einer gemeinsamen Aktion mit den Ländern gerade auch die Inhalte digitalen Lernens seitens des Bundes zur Verfügung stellen. Länder können sich dann – natürlich in ihrer eigenen Kultusministerhoheit – geeignete Inhalte aussuchen. Eine Cloud, in der auch didaktisch sinnvolle Spiele mit dabei sind, könnte, glaube ich, eine gute Bereicherung für alle sein. Es kommt auf pädagogisches Geschick an, Kinder und Jugendliche auch auf ihrem Weg als Grenzgänger zwischen realer und virtueller Welt zu begleiten. Ich glaube, das wird eine immer forderndere Aufgabe in den Schulen werden. Denn wir wissen: Gut zwei Drittel der jungen Leute beschäftigen sich regelmäßig mit digitalen Spielen. Das Smartphone ist dabei das am häufigsten genutzte Gerät. Es ist natürlich klar, dass wir auch hier ein hohes Niveau des Schutzes von Kindern und Jugendlichen brauchen. Wir müssen darauf achten, dass auch Spiele-Apps den Anforderungen des Datenschutzes genügen. Aber wir können sagen, dass die Stiftung Warentest und das Kompetenzzentrum von Bund und Ländern für den Jugendschutz im Internet auch immer wieder Schwachstellen aufzeigen. – Ich begrüße ganz herzlich Herrn Billen, der seitens der Bundesregierung für die Seite des Verbraucherschutzes hier anwesend ist. – Ich bitte Sie daher, auch dabei mitzuhelfen, die Apps, wenn nötig, immer wieder zu verbessern. Wir haben bei der Alterskennzeichnung schon sehr gute Fortschritte gemacht. Nun gibt es natürlich auch immer wieder Diskussionen darüber, ob und inwieweit etwa Gewaltspiele schädlichen Einfluss auf die Entwicklung junger Menschen nehmen können. Außer Frage steht dabei für mich, dass es eine zweifelsfreie pauschale Antwort darauf nicht geben kann, dass die Sorgen und Bedenken aber auch immer wieder ernst genommen werden sollten. Denn ein verantwortungsbewusster Umgang mit Spielen ist von allergrößter Bedeutung. Wir müssen alle dafür sensibilisieren. Es ist klar, dass es zwischen Medienkompetenzen und Sozialkompetenzen Berührungspunkte gibt und dass wir das auch weiterhin im Blick haben müssen. Genauso müssen wir einen Blick darauf haben, dass wir nicht sozusagen einseitig orientierte junge Menschen haben. Das heißt also, dass Suchtverhalten vermieden werden muss. Deshalb hat die Bundesregierung mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geeignete Präventionsaktivitäten für Jugendliche genauso wie für Eltern entwickelt. Ob Jung oder Alt, in der Schule, in der Arbeit oder Freizeit – wir alle brauchen Informationen und Medienkompetenzen, um uns in der digitalen Welt, die sich ja jeden Tag ändert, zurechtzufinden. Wir müssen bei der digitalen Bildung insgesamt einen Sprung nach vorn machen. Dafür gibt es im Übrigen auch keine Altersbegrenzung. Da geht es um lebenslanges Lernen im wahrsten Sinne des Wortes, wobei das den Jungen leichter fällt als den Älteren. Wir alle lernen nicht aus. Aber das muss natürlich bereits Einfluss auf die gesamte Schulbildung haben, die unsere Kinder durchlaufen. Das heißt also, digitale Bildung zu stärken, zählt zu den Handlungsfeldern, die wir uns innerhalb der Bundesregierung mit unserer Digitalen Agenda vorgenommen haben. Dabei geht es um die wichtigste Ressource unseres Landes: das Wissen und das Können von Leistungsträgern unserer Wirtschaft. Um die Digitalisierung der Wirtschaft weiter voranzubringen, bedarf es natürlich immer wieder branchenübergreifender Kooperationen. Dafür haben wir auch die „Plattform Industrie 4.0“ eingesetzt. Hier gibt es auch wieder Verbindungen zum Innovationstreiber Computerspiele. 3D, Augmented Reality, Virtual Reality, Künstliche Intelligenz – das sind High-Tech-Beispiele aus Ihrer Branche, die auch in der Industrie zunehmend an Bedeutung gewinnen. Wer also heute Entwickler in der Spielebranche ist, kann morgen vielleicht seine Kenntnisse auch in neue Anwendungen und Geschäftsfelder der Industrie einbringen. Es gibt also eine Vielzahl von Synergien zwischen den einzelnen Branchen. Diese gilt es zu nutzen, um den Standort Deutschland insgesamt zu kräftigen. Deshalb liegt uns sehr daran, in Deutschland nicht nur talentierte Spieler, sondern auch erfolgreiche Spieleentwickler und Unternehmensgründer zu haben. Wir wissen, dass Start-ups frischen Wind in das gesamte Innovationsgeschehen bringen. Wir bringen für Start-ups insgesamt schon eine ganze Reihe von Förderprogrammen seitens der Bundesregierung zum Einsatz – etwa KfW-Gründerkredite und das EXIST-Förderprogramm. Wir haben die Finanzierungsmöglichkeiten für Start-ups steuerlich verbessert – eine Sisyphosaufgabe in Abstimmung mit der Europäischen Kommission; das muss man sagen. Diese Angebote können Sie als Spieleentwickler natürlich auch nutzen. Aber konkret auf Ihre Branche zugeschnitten ist die Förderung, die wir mit dem Deutschen Computerspielpreis geben, den die beiden Branchenverbände und die Bundesregierung ausloben. Aber – ich habe es ja schon gehört – damit sind wir als Bundesregierung sozusagen nicht Spitzenreiter bezüglich der Förderung der digitalen Spiele im weltweiten Vergleich. Deshalb werden wir uns sehr genau anschauen, was Kanada, Frankreich oder auch Polen tun. Gerade auch die europäischen Player zeigen uns, dass das alles mit dem europäischen Beihilferecht offensichtlich gut vereinbar ist. Deshalb ist mir der Wunsch Ihrer Branche nach weiteren Förderungsmöglichkeiten sehr wohl klar. Durch solch einen Besuch lernt man ja auch dazu. Das heißt, ich denke, dass wir in der nächsten Legislaturperiode alle Akteure zusammenbringen müssen, um uns gemeinsam sehr genau anzuschauen, was andere Länder tun und wie wir zu einem, wie man heute sagt, „level playing field“ kommen, um auch den deutschen kreativen Entwicklern vernünftige Möglichkeiten zu geben. Manchmal denkt man ja, dass wir, wenn wir so toll und so kreativ sind, auch ohne Förderung auskommen können. Aber ein bisschen scheint ein gleichrangiger Ausgangspunkt doch eine Rolle zu spielen. Es ist sicherlich nicht nur eine Frage von Geld und Know-how, bei digitalen Spielen in neue Dimensionen vorzustoßen. Technisch anspruchsvolle Onlinespiele setzen natürlich einen entsprechend leistungsfähigen Internetzugang voraus. Das heißt also, wir haben auf der einen Seite eine Förderung der Spieleentwickler, aber sie brauchen eben auch ein geeignetes Umfeld, da ihre Spiele komplex sind. Mit 50 Megabit pro Sekunde kommt man wahrscheinlich noch nicht so weit, wie man bei ihren Spielen eigentlich sollte. Nichts ist dramatischer – das kann ich gut verstehen –, als beim Spielen nicht voranzukommen; nicht, weil man es nicht kann, sondern einfach weil die Daten nicht durch die Leitung kommen. Das verstehe ich gut. Deshalb ist eine unserer großen Prioritäten der Breitbandausbau, und zwar nicht nur bis 50 Megabit pro Sekunde, sondern in den Gigabitbereich hinein. Das wird in den nächsten Jahren auch erfolgen. Ich denke, Köln ist dabei nicht der dramatischste Ort; da wird das schon ganz gut gehen. Aber wenn man im ländlichen Raum zu Hause ist und sich dann vielleicht noch mit seinen Eltern den Internetzugang teilen muss, dann kann man als junger Mensch, denke ich, schon einmal verzweifeln. Deshalb werden wir da noch vieles tun müssen. Der Ausbau von Glasfaser parallel zu Verkehrsinfrastrukturen und eben auch der Einsatz unserer Fördermittel im ländlichen Bereich, die wir aus den Frequenzversteigerungen gewinnen, werden uns ein Stück weit voranbringen. In den nächsten Jahren ist natürlich die Möglichkeit der Echtzeitübertragung in vielen Bereichen eine entscheidende Voraussetzung. Meine Damen und Herren, wir wollen auch das digitale Europa entwickeln. Der digitale Binnenmarkt in Europa ist von allergrößter Bedeutung. Wir können mit ihm dann vielleicht auch Kooperationsprojekte bei den Anwendungen leichter hinbekommen. Wir in der Bundesrepublik Deutschland wissen natürlich, dass wir nicht nur bei der Förderung von Entwicklern digitaler Spiele, sondern insgesamt in der digitalen Welt noch nicht an der Spitze sind. Dahin müssen wir aber wollen. Deshalb bin ich auch Armin Laschet sehr dankbar dafür, dass er für das Land Nordrhein-Westfalen, das ja wirklich ein großes Bundesland ist, Initiativen ergreift. Im Augenblick hat Estland die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union inne. In diesem Land funktioniert schon sehr vieles digital, was bei uns noch analog läuft, wie etwa an den vielen Besuchen bei den Ämtern zu sehen ist, die die Bürgerinnen und Bürger durchlaufen müssen. Das heißt, wir werden mit der estnischen Präsidentschaft versuchen, den digitalen Binnenmarkt in Europa ein ganzes Stück weit voranzubringen. Wir haben in den Bund-Länder-Finanzverhandlungen etwas Unglaubliches erreicht. Wir haben nämlich eine Grundgesetzänderung vorgenommen, nach der Bund und Länder und damit auch Kommunen bei der Entwicklung eines digitalen Bürgerportals zusammenarbeiten, mit dem der Bürger dann die Chance hat, alle Dienstleistungen – egal ob sie kommunale, Länder- oder Bundesleistungen sind – digital abzurufen. Ich denke, das hilft der Gesamteinstellung zur Digitalisierung. Nun hat mir Herr Falk gesagt, nicht nur zwei Drittel der jungen Menschen, sondern jeder zweite Bundesbürger spielt bereits digital. Dann sollte er auch seine Dienstleistungen mit dem Staat gern digital abwickeln können. Die andere Hälfte müssen wir noch gewinnen, damit sie neugierig ist und sich auf diese neuen Entwicklungen freut. Auch deshalb ist die gamescom sicherlich ein herausragender Ort, um zu zeigen, welche spielerischen und welche kreativen Möglichkeiten wir haben, die Welt zu entdecken. Vor rund 200 Jahren vertrat der Pädagoge und Naturwissenschaftler Friedrich Fröbel die Ansicht: „Die Quelle alles Guten liegt im Spiel.“ Wenn dem auch heute noch so ist – ich habe keinen Zweifel daran –, dann sollten die Quellen der gamescom besonders gut sprudeln. Das wünsche ich für die nächsten Tage – viele zufriedene Besucher, viele zufriedene Entwickler und vielleicht auch einen Innovationsschub für Deutschland! Herzlichen Dank dafür, dass ich dabei sein kann! Ich werde die Entwicklung sehr aufmerksam weiter verfolgen und vielleicht – sehen wir einmal, was passiert – auch weiter mitgestalten können. Herzlichen Dank!
in Köln
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung des Young Euro Classic Festivals 2017
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Fri, 18 Aug 2017 19:00:00 +0200
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Anrede – In den Reihen der Ehrengäste fehlt er, und doch ist er heute Abend, knapp 27 Jahre nach seinem Tod (14.10.1990), allgegenwärtig: Leonard Bernstein – der große Dirigent und Komponist, der inspirierende Musikvermittler und Pionier der kulturellen Bildung – hat nicht nur zu Berlin und zum Konzerthaus am Gendarmenmarkt eine ganz besondere Beziehung, sondern auch zum Programm und zu den Protagonisten dieses Eröffnungsabends. Er war es, der 1949 mit dem Boston Symphony Orchestra die grandiose Turangalîla -Sinfonie des französischen Komponisten Olivier Messiaen zur Uraufführung brachte, die wir heute hören werden. Er war es, der vor 30 Jahren das Schleswig-Holstein Festival Orchester gründete: ein Ensemble, das zum Vorbild weiterer international besetzter Jugendorchester wurde – und das dem Renommee des Young Euro Classic Festivals als Treffpunkt der jungen musikalischen Elite aus der ganzen Welt heute sicher einmal mehr alle Ehre machen wird. Und Bernstein war es auch, der das Credo „Let’s make music as friends“ prägte – ein Motto, das ihn gewissermaßen zu einem der geistigen Väter des Young Euro Classic Festivals macht. Von den förderungswürdigen Qualitäten junger Musikerinnen und Musiker war Leonard Bernstein jedenfalls nicht nur in musikalischer Hinsicht begeistert. Zu den Persönlichkeiten, die ihn am meisten beeinflusst haben, zählte er – ich zitiere aus einem Interview – „Laotse, Moses, Jesus, Thomas Mann, Nabokov, Baudelaire, T. S. Eliot, Shakespeare, Rabelais … aber vor allem meine Studenten.“ Schöner und charmanter kann man kaum formulieren, dass die Wirkmacht eines Orchesters weit über die Musikwelt hinaus reicht. Musik kann gemeinsame Sprache sein, kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Musik öffnet unbekannte Welten und weckt die Neugier auf andere Kulturen. Nicht umsonst verdanken wir den kulturellen Reichtum, auf den wir in Deutschland und Europa so stolz sind, auch der Weltoffenheit so mancher Musiker, die schon zu einer Zeit Inspiration im interkulturellen Austausch fanden, als der europäische Gedanke, wie wir ihn heute kennen, noch nicht einmal als Utopie am politischen Horizont erkennbar war. Daran kann man angesichts des vielerorts wieder aufkeimenden Nationalismus nicht oft genug erinnern. Was für eine Ehre und Freude also, junge Musikerinnen und Musiker aus aller Welt in der deutschen Hauptstadt willkommen zu heißen! Herzlichen Dank Ihnen allen, die Sie in den nächsten zwei Wochen im Konzerthaus am Gendarmenmarkt zu sehen und zu hören sein werden! Herzlichen Dank auch Ihnen, liebe Frau Dr. Minz, lieber Herr Dr. Steul: Mit Young Euro Classic bringen Sie unser aller Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft in einem geeinten Europa – im wahrsten Sinne des Wortes – zum Klingen. Dazu tragen hinter den Kulissen ein engagiertes Team, ein tatkräftiger Trägerverein und auch eine großzügige Förderung des aus meinem Kulturetat finanzierten Hauptstadtkulturfonds bei. Letztere ist eine Anerkennung des Bundes für den Erfolg dieses wunderbaren Festivals, das ganz bestimmt auch Leonard Bernstein begeistert hätte – denn schließlich war er es ja, der dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs, der Europa trennte, 1989 genau hier in diesem Konzertsaal ein musikalisches Denkmal gesetzt hat. Am ersten Weihnachtsfeiertag dirigierte er Beethovens Neunte Symphonie, endend mit einer „Ode an die Freiheit“, einer der Euphorie des Augenblicks geschuldeten Verwandlung der Schillerschen „Ode an die Freude“, gespielt von Musikern aus beiden Teilen Deutschlands und aus den Ländern der alliierten Kriegsmächte gegen Hitler-Deutschland. Orchester als Friedensbotschafter, Orchestermusik als Zukunftsmusik – damit begeisterte Leonard Bernstein, und damit begeistert immer wieder auch das Young Euro Classic Festival. Freuen wir uns also auf mitreißende Konzerterlebnisse, freuen wir uns auf einen wunderbaren Konzertabend!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Sommerfest des Bundesleistungszentrums Kienbaum am 18. Juli 2017 in Grünheide
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-sommerfest-des-bundesleistungszentrums-kienbaum-am-18-juli-2017-in-gruenheide-433130
Tue, 18 Jul 2017 18:00:00 +0200
Grünheide
Sehr geehrter Herr Präsident Hörmann, sehr geehrte Präsidenten, Trainer, Sportlerinnen, Sportler und Gäste, lieber Herr Nowack, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesleistungszentrums, meine Damen und Herren, gestatten Sie mir, dass ich aus aktuellem Anlass, bevor ich auf Kienbaum zu sprechen komme, noch ein paar Worte zu einem sehr traurigen Sachverhalt sage. Herr Peter Steudtner, ein deutscher Menschenrechtler, ist zusammen mit anderen bei einem Menschenrechtsseminar in der Türkei vor einigen Tagen verhaftet worden. Die Untersuchungshaft ist jetzt vom Untersuchungsrichter bestätigt worden. Wir sind der festen Überzeugung, dass diese Verhaftung absolut ungerechtfertigt ist. Wir als Bundesregierung verurteilen sie. Wir erklären uns mit ihm und den anderen Verhafteten solidarisch, und wir werden seitens der Bundesregierung auf allen Ebenen alles tun, um seine Freilassung zu erwirken. Das ist leider ein weiterer Fall, in dem aus unserer Sicht unbescholtene Menschen in die Mühlen der Justiz und damit auch in Haft kommen, und deshalb ist das ein Grund zu allergrößter Sorge. Wir werden alles in unseren Mitteln Stehende tun, um diesen Menschen und in diesem Fall Peter Steudtner zu helfen. Ich bedanke mich, dass Sie das auch so begleiten. Denn auf der einen Seite ist Sport gerade etwas, das friedliches Zusammenleben voranbringt, und auf der anderen Seite erleben wir rund um uns herum so schreckliche Dinge, wodurch Menschen ihr freiheitliches Leben nicht führen können. Deshalb bin ich heute auch sehr gerne hier, um ein wunderbares Stück deutscher Sportförderung zu besuchen. Dies ist mein zweiter Besuch. Der letzte Besuch liegt sieben Jahre zurück. Bei der Rundfahrt über das Gelände, Kienbaum 1 und Kienbaum 2, konnte ich mich darüber informieren, dass es auch sehr stark vorangegangen ist. Wer ganz vorne mit dabei sein will – das gilt für viele Bereiche, aber das gilt eben für den Sport in ganz besonderer Weise –, der braucht optimale Rahmenbedingungen, und das Bundesleistungszentrum arbeitet daran kontinuierlich, auch mit Unterstützung des Staates. Wenn ich mir das hier ansehe, dann kann ich mir Fug und Recht sagen: Die Gelder sind gut investiert. In vielen Bereichen ist Kienbaum eines der modernsten Trainingszentren der Welt. Ich habe mir gerade die Turnhalle angeschaut und den Atem angehalten bei dem, was ich gesehen habe. Ich habe die Werfer gesehen. Ich habe aber auch gehört, dass es Pläne gibt, was man sonst noch machen müsste. Es geht also auch weiter. Aber das ist hier ein Platz, von dem man sagen kann: Hier ist gelungene Sportförderung sichtbar. Die Anlage hat sich verändert. Aber jetzt ändert sich auch noch der Name. Ab jetzt heißt es „Kienbaum – Olympisches und Paralympisches Trainingszentrum für Deutschland“. Darin spiegelt sich natürlich ein erweiterter Anspruch wider. Denn es geht um gelungene Einheit im Sport. Da gibt es die Einheit zwischen Sportlerinnen und Sportler mit und ohne Behinderung. Sie trainieren hier auf Augenhöhe. Ich konnte mir das eben anschauen, auch mit den paralympischen Sportlern. Oh, hinter mir fällt der Vorhang, und der neue Name erscheint. Das können wir jetzt also erst einmal beklatschen. Es ist ein Ort für viele Disziplinen. Hier trainiert der Kanufahrer neben dem Leichtathleten, die Volleyballerin neben der Judokämpferin. Weil Sie hier so viel Zeit verbringen und weil es so schön abgeschieden ist, lernen Sie sich natürlich auch kennen. Ich denke, dass auch der Austausch zwischen den verschiedenen Sportdisziplinen durchaus etwas bringen kann, dass man voneinander lernen kann, weil die Spezialisierungen natürlich wichtig sind, aber viele mentale Fragen und anderes ja auch sehr vergleichbar sind. Deshalb ist es sicherlich spannend, mit anderen zu sprechen. Es gibt hier also vieles, was Spitzensportler brauchen. Aber wir sehen hier auch bereits den Nachwuchs trainieren. Ich habe in der Turnhalle acht-, neun-, elfjährige Jungen gesehen, die natürlich mit leuchtenden Augen auf ihre Idole, die Spitzensportler, schauen. Viele von Ihnen bereiten sich jetzt auf die nächsten Meisterschaften vor. Wir haben über die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in London und nächstes Jahr dann auch in Deutschland gesprochen. Ich darf Ihnen sagen, dass ich allen, die jetzt trainieren, die Daumen drücke, dass sie die Resultate erreichen können, die sie erreichen möchten, dass sie verletzungsfrei durch die Wettkämpfe dieses Jahres kommen und vielleicht an mancher Stelle auch sogar ein Stück über sich hinauswachsen. Man muss ja immer auf den Tag genau fit sein. Das ist auch eine große Kunst. Ich möchte noch einmal ein Dankeschön an all die hilfreichen Menschen um Sie herum sagen, die Sie betreuen, die hier für Ihre Nahrung sorgen, die für das Pflegen dieser Anlage sorgen, die für Ihre Physiotherapie und Ihre sonstige Betreuung sorgen. Dankeschön an jeden, der bei der Erfolgsgeschichte Sport in Deutschland ein Stück mitmacht, aufbauend auf einer guten Breitenförderung. Ich war beim Turnfest und war begeistert, wie viele Millionen Menschen sich allein mit dem Turnen beschäftigen. Die Sportbegeisterung in Deutschland mit all den vielen Trainern und Menschen, die sich einbringen, ist etwas ganz Besonderes, das unser Land ausmacht. Da sind die Spitzensportler natürlich diejenigen, an denen sich viele ausrichten. Ganze Sportarten haben sich anhand des Beispiels erfolgreicher Sportler entwickelt. Deshalb freue ich mich, heute Abend hier bei Ihrem Sommerfest dabei zu sein. Alles Gute! Alles Gute, lieber Herr Nowack, Ihrem Kienbaumer Sportzentrum, das Sie so hegen und pflegen. In diesem Sinne noch einen schönen Abend. Danke, dass ich dabei sein kann.
Rede der Kulturstaatsministerin bei der Abschlussveranstaltung des Runden Tisches „Frauen in Kultur und Medien“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-bei-der-abschlussveranstaltung-des-runden-tisches-frauen-in-kultur-und-medien–393242
Mon, 17 Jul 2017 17:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Herzlich willkommen im Bundeskanzleramt zu einem Abend, der hoffentlich nicht nur wegen des einprägsamen Datums – 17.7.17 – in Erinnerung bleiben wird, sondern auch als krönender Abschluss einer überaus erfolgreichen Zusammenarbeit und als Auftakt einer Chancenoffensive für Frauen in Kultur und Medien. Das ist vollmundig gesprochen, aber wir Frauen haben ja – das bestätigen wissenschaftlichen Studien – gegenüber Männern auch noch einiges aufzuholen, was die hohe Kunst des Selbstlobs betrifft. Als einer der legendären Großmeister in dieser Disziplin gilt beispielsweise Ernest Hemingway, der diese Woche seinen 118. Geburtstag feiern würde und über den Marcel Reich-Ranicki einmal gesagt hat: „Was immer er vollbracht hatte, er musste es selber ausgiebig preisen (…). Ein Leben lang bestanden Hemingways Briefe zum großen Teil aus baren Erfolgsmeldungen. Er brüstete sich mit seinem Mut und seiner Männlichkeit, er verwies stolz auf die von ihm erlegten Tiere und geangelten Fische, auf die Zahl ebenso seiner Kriegsverwundungen wie der Worte, die er an einem Tag geschrieben hatte.“ Was wir, meine Damen und Herren, mit dem Runden Tisch „Frauen in Kultur und Medien“ in den vergangenen Monaten vollbracht haben – innerhalb nur eines Jahres nach der Vorstellung der ernüchternden Studie des Deutschen Kulturrats -, das verdiente ohne Zweifel selbstgebundene Lorbeerkränze nach Hemingway’schem Vorbild, und zwar sowohl mit Blick auf die Ergebnisse, als auch mit Blick auf den persönlichen Einsatz. All die Arbeitstreffen und die dafür notwendigen Vorbereitungen waren für die Beteiligten ja neben ihrer beruflichen Tätigkeit zu bewältigen, und ich vermute, nebenbei bemerkt, dass so manche Teilnehmerin mit Blick auf den eigenen Werdegang ebenfalls von höchstpersönlich „erlegten Tieren“, „geangelten Fischen“ und vielleicht gar von der einen oder anderen „Kriegsverwundung“ hätte erzählen können. Am Runden Tisch wurde aber ganz nüchtern und sachlich diskutiert, wurden Best-Practice-Beispiele erörtert und Vorschläge erarbeitet – so dass ich heute in aller (weiblichen) Bescheidenheit sagen kann: Die Arbeitsergebnisse sprechen für sich. Ein herzliches Dankeschön zum einen an die Akademie der Künste, die die Arbeitsphase rund um den zweiten Runden Tisch im März so kompetent begleitet hat und ihre Expertise sicher auch weiterhin einbringen wird. Ein herzliches Dankeschön zum anderen all jenen, die mit am „Runden Tisch“ saßen und diese Initiative zu einem erfolgreichen Abschluss geführt haben. Ihr konstruktives Miteinander und Ihr großes Engagement, meine Damen und Herren, waren für mich wie auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines Hauses ein gewaltiges Stück zusätzliche Motivation. So haben wir auf der Basis der Auswertung Ihrer Empfehlungen schon zur heutigen Abschlussveranstaltung erste konkrete, in meinem Zuständigkeitsbereich umsetzbare Maßnahmen für mehr Geschlechtergerechtigkeit entwickelt. Dazu gehört, erstens, die paritätische Besetzung von Gremien, Jurys und Auswahlkommissionen in meinem Zuständigkeitsbereich. Wer mit dem Finger auf andere zeigt, sollte natürlich selbst Vorbild sein, und deshalb freue ich mich, Ihnen mitteilen zu können, dass sich das Verhältnis von Frauen und Männern in meinem eigenen Haus auf den beiden obersten Führungsebenen (Abteilungsleitung und Gruppenleitung) seit meinem Amtsantritt komplett umgekehrt hat: von mageren 20 Prozent Frauenanteil auf stolze zwei Drittel, was einem Ressort mit knapp 55 Prozent Frauen unter allen Beschäftigten gut zu Gesicht steht. Ab kommendem Jahr werden wir dann die nächste Stufe des Bundesgremienbesetzungsgesetzes erklimmen, das bisher einen Mindestanteil von 30 Prozent Frauen bei der Besetzung von Aufsichtsgremien vorsieht und die Zielvorgabe ab 1. Januar auf 50 Prozent erhöht. Das haben wir bei den anstehenden Neuberufungen natürlich auf dem Schirm. Im Rahmen der Novellierung des Filmförderungsgesetzes habe ich im Übrigen schon im vergangenen Jahr dafür gesorgt, dass (in den FFA-Gremien) mehr Frauen an den Förderentscheidungen beteiligt sind. Ich hoffe, dass sich damit auch mehr von Frauen geprägte Projekte durchsetzen können. Zu den Maßnahmen meines Hauses gehört, zweitens, die Einrichtung eines „Projektbüros Frauen in Kultur und Medien“ mit dem Arbeitsschwerpunkt Geschlechtergerechtigkeit in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Diese langatmige Formulierung müssen Sie sich nicht merken – merken Sie sich einfach, dass es künftig eine Anlauf- und Beratungsstelle für Kulturfrauen geben wird, kurz: ein „Kulturfrauen-Zimmer“. Wenn Sie dabei, wie es sich für kulturaffine Feingeister gehört, spontan an einen Klassiker der deutschen Literaturgeschichte denken, dann ist das eine ganz passende Assoziation …: In Lessings Minna von Barnhelm kann Major von Tellheim es nicht mit seinem männlichen Ehrgefühl vereinbaren, ich zitiere, „sein ganzes Glück einem Frauenzimmer zu verdanken“, doch eben jenes Frauenzimmer, Minna von Barnhelm, bekommt mit Charme, Eigensinn und Selbstbewusstsein am Ende doch, was sie will … . Auch unser „Kulturfrauen-Zimmer“, das beim Deutschen Kulturrat angesiedelt sein wird und das ich aus meinem Kulturetat über einen Zeitraum von drei Jahren fördern werde, soll dafür sorgen, dass Kulturfrauen am Ende bekommen, was sie wollen – und was der „Runde Tisch“ zu Recht als Forderungen formuliert hat, nämlich bessere Aufstiegschancen, mehr Mitsprache in Gremien und Jurys, faire Bezahlung und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Auf amtsdeutsch: Das Projektbüro ist der organisatorische Rahmen, um die Ergebnisse des „Runden Tisches“ in operative Maßnahmen zu überführen. Eine Aufgabe, die wir künftig beim „Kulturfrauen-Zimmer“ andocken wollen, ist die Pflege einer soliden Datenbasis als Grundlage politischer Entscheidungen. Egal, ob es um Führungspositionen, um Stipendien, um Preise oder Honorare geht: Wir kommen nur voran, wenn wir Defizite klar benennen und durch harte Fakten untermauern können. „Frauen zählen. Frauen zählen. Frauen zählen“: So hat es bei einer Sitzung des „Runden Tischs“ jemand auf den Punkt gebracht. Das Projektbüro wird den soliden Datenbestand, der uns dank der Studie des Deutschen Kulturrats zur Verfügung steht, aktualisieren und dazu Datenberichte erstellen. Auch die Studie zu Frauenbildern im Fernsehen, die Sie, liebe Maria Furtwängler, vergangene Woche vorgestellt haben, ist ein aufschlussreicher Beitrag zur Verbesserung der Datenlage und schärft die Wahrnehmung. Das stärkt unser gemeinsames Anliegen – vielen Dank dafür! Neben der paritätischen Besetzung von Gremien und Jurys, der Einrichtung des „Kulturfrauen-Zimmers“ und einer Datenaktualisierung kann ich noch eine weitere Maßnahme ankündigen: Schon beim zweiten „Runden Tisch“ im März hatte ich ja versprochen, ein spartenübergreifendes Mentoring-Programm für Künstlerinnen und Kreative ins Leben zu rufen. Mittlerweile ist das Konzept so weit gediehen, dass das Projektbüro die Betreuung des Programms übernehmen kann. Dazu gehören insbesondere das Rekrutieren geeigneter Mentorinnen und Mentoren, die Auswahl der Mentees und die Zusammenführung der Tandems. Es wäre eine große Freude und Bereicherung, meine Damen und Herren, wenn einige von Ihnen bereit wären, Mentorin oder Mentor zu werden. Ab dem 1. August rennen Sie damit beim Deutschen Kulturrat im wahrsten Sinne des Wortes offene Türen ein, denn an diesem Tag öffnet das Kulturfrauen-Zimmer seine Pforten. Und für den Fall, dass der oder die eine oder andere von Ihnen heute Abend nach den Gründen für so viel Engagement im Dienste der Gleichberechtigung gefragt wird, haben wir die Antwort schon mal dick auf die Einladung gedruckt: Weil es 2017 ist! Das ist eine Antwort frei nach Justin Trudeau, dem kanadischen Premierminister, der vor zwei Jahren bei der Regierungsbildung allen Ernstes gefragt wurde, warum er in seinem Kabinett so viel Wert auf ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis lege, und dazu lapidar zu Protokoll gab „Weil es 2015 ist“. Mehr braucht man zur Begründung im dritten Jahrtausend wirklich nicht zu sagen, auf den Tag genau 37 Jahre, nachdem Deutschland die UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) unterzeichnet hat, die jede Form der Diskriminierung der Frau verbietet. Mehr muss man aber immer noch zur Umsetzung sagen und vor allem: konkret beitragen! Deshalb freue ich mich, dass wir für unser Anliegen, die Geschlechtergerechtigkeit in Kultur und Medien zu fördern, prominente Mitstreiterinnen und Mitstreiter gewinnen konnten – 20 Frauen und 17 Männer, die sich unter dem Motto „Weil es 2017 ist“ zu ganz persönlichen Selbstverpflichtungen bereit erklärt haben. Bevor ich dafür die Bühne frei gebe, sei noch eine letzte Maßnahme angekündigt, den weiteren Verlauf des Abends betreffend. Diese Maßnahme lautet: „Empfang vor der Kanzlergalerie und im Garten des Kanzleramts“. Denn wer es ganz nach oben schaffen will, sollte ein Motto beherzigen, das in Hollywood – und sicher nicht nur dort – für gut besuchte Empfänge sorgt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Hin und wieder braucht er auch einen Drink“. Das nennt man Networking, und mittlerweile haben wir Frauen auch in dieser Disziplin aufgeholt: Beim Wein Kontakte knüpfen und Deals an der Bar machen, das können wir auch! Mit Vergnügen sogar! Und das wird heute einmal mehr geübt! In diesem Sinne freue ich mich, wenn wir nachher persönlich miteinander ins Gespräch kommen, und wünsche Ihnen allen einen erfolgreichen und inspirierenden Abend!
Zum Abschluss des Runden Tisches „Frauen in Kultur und Medien“ dankte Kulturstaatsministerin Grütters allen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, die die Initiative für mehr Chancengleichheit für Frauen im Kultur- und Medienbereich konstruktiv und engagiert gestaltet haben. Als konkrete Maßnahmen kündigte Grütters ein Projektbüro mit Schwerpunkt Geschlechtergerechtigkeit in der Kultur- und Kreativwirtschaft und ein spartenübergreifendes Mentoringprogramm für Künstlerinnen an. Zudem werde sie in ihrem Zuständigkeitsbereich „Gremien, Jurys und Auswahlkommissionen paritätisch besetzen“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Sommerempfang der IHK zu Rostock am 17. Juli 2017 in Stralsund
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-sommerempfang-der-ihk-zu-rostock-am-17-juli-2017-in-stralsund-434740
Mon, 17 Jul 2017 12:43:00 +0200
Stralsund
Sehr geehrter Herr Madsen, sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Frau Schwesig, liebe Mitglieder der Landesregierung, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrter Herr Landrat – stellvertretend für alle anwesenden Kommunalpolitiker, sehr geehrte Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, sehr geehrte Kollegen aus dem Europäischen Parlament – ich freue mich sehr, dass die Mitglieder des Fischereiausschusses heute hier sind, sehr geehrte Kollegen aus dem Landtag, allen voran Frau Vizepräsidentin Schlupp, meine Damen und Herren, ich bin heute sehr gerne hier. Herr Madsen hat lange mit mir gesprochen und immer wieder gesagt, er würde sich freuen, wenn ich heute hier bin. Er hat dann auch gleich einmal die Veranstaltung nach Stralsund gelegt, weil er dachte, damit habe er vielleicht bessere Chancen. Ich war aber auch schon in Rostock-Laage bei ihm. Insofern kann man das nicht sagen. Aber natürlich bin ich auch sehr gerne hier bei den Brüdern Nordmann in der Störtebeker Brauerei. Ich habe dann geguckt, und in der Tat ist mein Büro so nett, mir den Geburtstag lange freizuhalten, sodass sich im Terminplan noch Lücken auftaten. Ich habe mir dann gedacht, bei so einem netten Angebot kannst du nicht nein sagen, also bin ich heute hierhergekommen. Ich habe das gerne gemacht, weil die Wirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern Herausragendes leistet und auch weiter leisten wird. Ich weiß, dass dieses Bundesland es manchmal etwas schwerer hat als andere, und trotzdem ist in den letzten Jahren sehr viel entstanden. Das ist auch gerade der Wirtschaft zu verdanken. Dafür ein herzliches Dankeschön! Wir sind heute an einem sehr traditionsreichen Ort, nämlich der Störtebeker Braumanufaktur. Sie ist ein Aushängeschild der Region, und Jahr für Jahr werden die Erfolge immer mehr. In diesem Jahr kann die Störtebeker Braumanufaktur aber neben vielen Preisen und Auszeichnungen, die sie immer verzeichnet, noch etwas anderes feiern, nämlich ihr 190-jähriges Bestehen. Die Wurzeln gehen bis in das Jahr 1827 zurück. Damals wurde nämlich die Stralsunder Vereinsbrauerei gegründet. Die Geschichte des Brauereigewerbes reicht natürlich noch viel länger zurück. Bier war auch hier bereits im Mittelalter sehr beliebt, und da die Wasserqualität damals noch nicht der heutigen entsprach, war es wohl auch gesünder, Bier zu trinken, als Wasser zu trinken. Die Hansestädte trieben auch regen Handel mit Bier. Stralsund verdankt einen Teil seines Wohlstands diesem Getränk. Das Wichtigste aber war damals schon, Dinge überhaupt von A nach B zu liefern. Die schöne Altstadt von Stralsund zeigt uns ja eindrücklich, wie Wohlstand und freier Handel ganz eng zusammenhängen. Ich erwähne das, weil in unseren Zeiten plötzlich wieder Abschottungstendenzen und nationale Denkmuster an Einfluss gewinnen. Deshalb hat das Thema freier Handel natürlich auch in der Freien und Hansestadt Hamburg beim G20-Gipfel eine große Rolle gespielt. Ich bin sehr froh, dass sich die 20 führenden Industrienationen nach harten Debatten dann doch darauf geeinigt haben, dass multilaterale Zusammenarbeit für uns alle von viel mehr Nutzen ist und dass jeder dadurch gewinnen kann. Wir haben daher in unserer Präambel verankert, dass wir gemeinsam mehr schaffen, als jeder für sich alleine. Das Motto der deutschen G20-Präsidentschaft war: „Eine vernetzte Welt gestalten“. Wir hatten als Symbol einen Kreuzknoten ausgesucht, der den maritim Verbundenen hier natürlich bekannt ist. Damit wollten wir andeuten, dass unterschiedliche Stränge immer wieder zu verbinden sind und damit dann auch hohe Zugkraft ausgehalten werden kann. Es ist wichtig, dass wir uns heute wieder des Konzepts der freien, offenen Systeme annehmen und damit auch erfolgreich sein wollen. Das ist daher mein erster Punkt: Offene Märkte sind gerade für die Exportnation Deutschland von dringender Bedeutung. Und natürlich sind auch hier im Ostseeraum Handel und Wandel von allergrößter Bedeutung. Wer internationale Wertschöpfungsketten behindert oder gar durchtrennt, der schadet letztlich allen Beteiligten. Ein zweites Thema, das beim G20-Gipfel von großer Bedeutung war, ist das Thema Klimapolitik. Hier haben wir erreicht, dass sich nach dem bedauerlichen Beschluss der Vereinigten Staaten von Amerika, aus dem Pariser Rahmenabkommen auszuscheiden, alle anderen Beteiligten klar zu diesem Abkommen bekannt haben, es als irreversibel bezeichnet haben und sich auch verpflichtet haben, einen Aktionsplan, den wir vorgelegt haben und zusammen mit unserem Umweltministerium in der Bundesregierung verhandelt haben, auch durchzusetzen. Meine Damen und Herren, das dritte große Thema war auch auf dem G20-Gipfel das Thema Digitalisierung. Es hat auch zum ersten Mal ein Treffen der Digitalminister gegeben. Es wird nicht nur wichtig sein, neue Geschäftsmodelle, Plattformen und den Umgang mit Daten völlig neu zu lernen und zu nutzen. Vielmehr werden wir, davon bin ich fest überzeugt, ähnlich wie auf den internationalen Finanzmärkten Schritt für Schritt auch Leitplanken für den Umgang mit der Digitalisierung brauchen. Ansonsten haben wir nämlich völlig unterschiedliche Regionen mit unterschiedlichen Rechtssetzungen, die uns auf Dauer behindern werden. Oder wir haben überhaupt keine Gesetze, und das wird auf Dauer auch zu nichts Gutem führen. Deshalb ist hier als Erstes auch Europa gefragt. Eines der großen Projekte, die jetzt unter der estnischen Präsidentschaft nach vorne gebracht werden, ist die Schaffung eines digitalen Binnenmarkts. Ich habe mit Frau Schwesig schon kurz über die Datenschutz-Grundverordnung gesprochen, die nach langen Debatten in den europäischen Gremien verabschiedet wurde und im Mai nächsten Jahres in Kraft treten wird. Ich möchte die Industrie- und Handelskammern im Land und auch die IHK Rostock bitten, dass wir darauf jetzt sehr zügig Augenmerk setzen. Denn diese Datenschutz-Grundverordnung, die wir als Bundesregierung auch schon in nationales Recht umgesetzt haben, wird viele neue Standards mit sich bringen, die zum Teil durch unbestimmte Rechtsbegriffe nicht so klar sind, wie es wahrscheinlich Mittelständler gerne hätten. Deshalb haben wir beim deutsch-französischen Ministerrat mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron darüber gesprochen, und ich werde das auch mit Frau Zypries, unserer Wirtschaftsministerin, weiterführen, dass wir Musteranwendungen für bestimmte Bereiche festlegen. Gerade für den Mittelstand wird das von allergrößter Bedeutung sein. Denn wir spüren schon, wie sich Anwaltskanzleien mit der Frage beschäftigen, ob Sie vielleicht prozessieren können. Aber wir wollen ja keine Prozesslawine auslösen, sondern wir wollen, dass mehr und besser und sicherer mit Daten gearbeitet werden kann. Deshalb müssen wir uns dem widmen, damit wir ab nächstem Frühjahr nicht in die Anwendung dieser Standards hineinstolpern. Meine Damen und Herren, ich bin beim digitalen Binnenmarkt dann auch bei etwas, was für diese Region von größter Bedeutung ist, nämlich bei der Frage der Zukunft Europas. Wir werden uns jetzt ziemlich intensiv mit den Austrittsverhandlungen Großbritanniens beschäftigen. Denn wir wollen auch nach dem Austritt weiter gute Beziehungen mit Großbritannien haben. Wir dürfen uns aber auf keinen Fall nur auf diese Austrittsverhandlungen konzentrieren. Vielmehr müssen sich die 27 übrigen Mitgliedstaaten auch mit ihrer eigenen Zukunft beschäftigen. Da ist der digitale Binnenmarkt nur eines der Themen. Da ich nun gerade das Glück habe, Mitglieder des Fischereiausschusses vor mir sitzen zu haben, und da es nun zwar nicht gerade der Kernbereich der IHK Rostock ist, sich mit der Fischerei zu beschäftigen, dieses Thema die Region aber sehr berührt, habe ich eine Bitte: Versuchen Sie, Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung auch mit dem Leben der Fischer zusammenzubringen. Sie wissen, da Sie im Fischereiausschuss sind, aus eigener Erfahrung, dass sich manches gerade für die kleinen Fischer sehr schnell zu einer unglaublichen Bürokratie entwickelt. Manch einer versteht die Welt kaum noch und fragt sich, warum man bestimmte Fischereimethoden, die man jahrhundertelang angewandt hat, heute nicht mehr anwenden können soll. Gerade für Menschen, die als Urlauber hierherkommen, ist die Verbundenheit mit den regionalen Produkten, mit den regionalen Traditionen wichtig. Deshalb setze ich in Ihren Besuch sehr große Hoffnung. Den Rest hat Ihnen Werner Kuhn sicherlich schon erzählt. Wenn ich schon dabei bin, dann will ich auch sagen: Auch die zweite Säule der gemeinsamen Agrarpolitik kann sicherlich noch entbürokratisiert werden. Ich denke, das kann man sagen, wenn man sich einmal anschaut, was da heute alles nachzuweisen ist. Es ist wahrscheinlich fast gar nicht mehr notwendig, dass jedes Elternteil einen Entschuldigungszettel für ein Kind in der Schule schreibt. Frau Schwesig sagt: Doch, im Grundsatz ja. Aber inzwischen muss man auch Entschuldigungszettel für Kühe schreiben, die an einem bestimmten Tag nicht auf die Weide gehen. Das hat mir neulich einer der Bauern erklärt. Nun aber komme ich zu den wirtschaftlichen Fragen. Sie wissen, dass die deutsche Wirtschaft im Augenblick recht gut dasteht. Das ist eine Momentaufnahme, aber eine positive. Wir haben die Zahl der Arbeitslosen seit 2005 halbieren können. In Mecklenburg-Vorpommern ist das sogar noch besser gelungen. Die Erwerbstätigenquote hier im Lande ist in den vergangenen zehn Jahren von rund 60 auf etwa 70 Prozent gestiegen. Wir können Schritt für Schritt darauf hinarbeiten, dass noch mehr Menschen Arbeit bekommen. Ich halte auch das Ziel der Vollbeschäftigung bis 2025 für möglich. Dazu müssen wir drei Dinge tun: Wir müssen auf der einen Seite versuchen, die Langzeitarbeitslosen zu aktivieren, wo immer das möglich ist. Wir müssen zweitens die Fachkräftebasis stärken, wo immer das möglich ist. Wir müssen drittens die Vereinbarkeit von Beruf und Familie noch weiter verbessern, damit wir an dieser Stelle auch die Wünsche der Frauen, die gerne erwerbstätig sein wollen und das heute vielleicht noch nicht im ausreichende Maße sind, umsetzen können. Wir brauchen natürlich auch die richtigen Rahmenbedingungen. Diese Rahmenbedingungen heißen einmal Verkehrsinfrastruktur, wozu Frau Schwesig schon einiges gesagt hat. Es stehen in diesem Jahr vonseiten der Bundesregierung 12,8 Milliarden Euro bereit, 2018 sogar 14 Milliarden Euro. Wir haben im Augenblick an manchen Stellen eher das Problem, dass es keine baureifen Vorhaben gibt, weil die Planungsvorgänge relativ kompliziert sind. Mecklenburg-Vorpommern ist gut mit dabei. In die Bundesfernstraßen des Landes werden dieses Jahr 191 Millionen Euro investiert. Hier ist einmal die A14 von Magdeburg nach Schwerin zu erwähnen. Aber für uns hier in der Region ist die B96 auf Rügen natürlich ein wichtiger Investitionsschwerpunkt. Wir hoffen, dass alles nach Plan und natürlich im Rahmen des Finanzplans läuft. Der zweite große Punkt ist die digitale Infrastruktur. Hier wurde schon gesagt, dass wir durch die Arbeit der Landesregierung und Herrn Minister Pegel, aber auf der anderen Seite auch der Landräte, die sehr schnell Anträge gestellt haben, zeitweise sogar schon einmal die Hälfte aller Fördermittel unter unsere Fittiche gebracht haben, wenn ich hier als Bundestagsabgeordnete aus der Region sprechen darf. Mit 820 Millionen Euro sind wir mit einem Drittel der ausgereichten Fördermittel immer noch sehr, sehr gut dabei. Dafür spricht natürlich auch, dass es bei uns viele ländliche Regionen gibt. Zwischen Köln und Düsseldorf ist sozusagen keine staatliche Bezuschussung notwendig, wenn man den Breitbandausbau fördern will. Wenn man in Vorpommern oder in einigen Regionen Mecklenburgs ist, dann sieht das ganz anders aus. Wir wissen aber, dass Infrastruktur allein noch kein Selbstzweck ist. Deshalb habe ich auch, Herr Madsen, sehr aufmerksam zugehört, was die Vorstellungen angeht, die Sie haben, und was auch die Ansatzpunkte angeht, die wir mit Forschungsinstitutionen hier im Lande haben, um wirklich die Digitalisierung und ihre Anwendungen voranzubringen. Sowohl die Robotik als auch die Fragen der künstlichen Intelligenz werden auf Jahre hinaus zentral sein. Es wird dabei auch nicht darauf ankommen, wo das Forschungsinstitut steht, sondern es wird darauf ankommen, dass man vorne mit dabei ist. Wir können vieles hier in den Regionen modellhaft voranbringen. Ich weiß, dass sich einige Landräte für neue Formen des Öffentlichen Personennahverkehrs interessieren, was für die ländlichen Regionen von allergrößter Bedeutung ist, um kundenbezogen und kosteneffizient Transportmöglichen zu eröffnen. Wir werden im Bereich E-Health, also zum Beispiel im Bereich der Telemedizin, alle Voraussetzungen erfüllen, um das umsetzen zu können. Wir können hier im Lande auch sehr gut Testfelder für autonomes Fahren entwickeln. Das muss nicht nur auf der A9 auf bayerischem Territorium sein, sondern das kann sehr gut auch in den ländlichen Regionen ausgetestet werden. Alle Tore stehen noch offen, Frau Ministerpräsidentin, wenn es um Vorreiter bei den Fragen der Anwendung des Bürgerportals geht. Wir haben in der Bundesregierung dafür gesorgt, dass wir zusammen mit den Ländern unser Grundgesetz verändert haben. Wir haben damit die Möglichkeit eines einheitlichen Zugangs für jeden Bürger zu digitalen Dienstleistungen, sicherlich inklusive der Nutzung der Möglichkeiten der sozialen Sicherungssysteme. Wir werden hierbei sehr eng mit den kommunalen Spitzenverbänden zusammenarbeiten müssen. Wir haben das sogenannte Internetzugangsbeschleunigungsgesetz schon sowohl in der Bundesregierung als auch im Bundestag verabschiedet. Ich denke, der Bundesrat stimmt dem auch zu. Damit werden wir alle rechtlichen Voraussetzungen haben, um dieses Bürgerportal einzurichten. Dann werden bestimmte Grundentscheidungen getroffen werden müssen. Davon wird abhängen, ob vieles zum Schluss dann auch funktioniert. Auf jeden Fall soll der Bürger nicht mehr zwischen kommunaler Dienstleistung, Landesdienstleistung oder Bundesdienstleistung unterscheiden müssen, sondern er soll alles von einem Zugang aus machen können. Das Interessante ist, dass das nicht zu mehr Datenaufwand führen wird, sondern zu Datensparsamkeit, wie es im Übrigen auch im Grundgesetz vorgegeben ist, weil ich nicht bei jedem Antrag wieder angeben muss, wie viele Kinder ich habe, wie mein Familienstand ist usw., sondern dass das einmal festgelegt wird und von da an der einheitliche Zugang vorhanden ist. Ich habe die Bitte an Sie, die Vertreter der Wirtschaft, dass Sie nicht nur die Möglichkeiten der digitalen Wirtschaft in Ihren eigenen Unternehmen nutzen, sondern dass wir uns in umfassender Weise den neuen Möglichkeiten stellen. Hier sehe ich, wenn ich über die Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft spreche, noch am allerstärksten die Frage, dass wir schnell genug unsere Beziehungen seitens der Wirtschaft zu den Kunden neu ordnen. Ansonsten werden die großen Internetplattformen, meist in nicht-deutscher Hand, kommen und werden uns sozusagen als verlängerte Werkbank benutzen. Das wäre sehr misslich. Das heißt, deutsche und auch europäische Unternehmen müssen sich zu Plattformangeboten zusammenschließen. Es wird nicht mehr die Autowelt, die Bahnwelt und die Fahrradwelt geben, sondern es wird eine Mobilitätswelt geben. Der Mensch wird sagen: Ich will von A nach B, wie geht das am schnellsten? Dazu müssen sich alle zusammenschließen. Einen Punkt, den wir uns unbedingt in der neuen Legislaturperiode anschauen müssen, ist unser Kartellrecht. Unser Kartellrecht ist nicht darauf ausgerichtet, dass alle Anbieter gemeinsam eine Plattform gründen und miteinander Absprachen treffen. Sondern unser Kartellrecht aus der Zeit von Ludwig Erhard ist darauf ausgerichtet, dass es möglichst segmentierte Angebote gibt. Dazu, wie wir in geschickter Weise Plattformwirtschaft und die Stärkung des Mittelstandes zusammenbringen, brauche ich auch von Ihrer Seite Hinweise. Ansonsten werden wir das, wenn wir mit Ihnen nicht die Erfahrungswelt teilen können, rechtlich nur sehr, sehr schwer herausbekommen. Richtig ist, dass die 50 Megabit pro Sekunde sozusagen ein Zwischenschritt sind. Wir wollen die Gigabit-Gesellschaft, und das nicht nur in der Anbindung des Haushalts oder der Schule oder des Gewerbegebiets, sondern möglichst entlang aller Autobahnen, um dann auch entlang aller Krankenhäuser und vieler anderen Dinge autonom fahren zu können. Das heißt also, hier stehen uns in den nächsten Jahren noch riesige Investitionen ins Haus. Wir müssen den 5G-Standard ausrollen, was auch eine europäische Aufgabe ist. Die Bundesregierung hat in der letzten Woche bereits die 5G-Strategie entwickelt. Wir werden die entsprechenden Frequenzen versteigern, und daraus werden wieder Fördermöglichkeiten entstehen, mit denen wir auch die ländlichen Räume entwickeln können. Mecklenburg-Vorpommern kann sich schon einmal auf die nächste Ausschreibungswelle vorbereiten. Sie haben jetzt ja schon sehr gut gelernt. Meine Damen und Herren, natürlich ist Mecklenburg-Vorpommern ein maritimer Standort. Deshalb ist die maritime Wirtschaft von zentraler Bedeutung. Stellvertretend für viele andere möchte ich neben der Landesregierung auch meinem Kollegen Eckhardt Rehberg ganz herzlich danken, der viel getan hat, um die maritime Dimension in den letzten Jahren auch wirklich weiterzuentwickeln. Wir stellen 64 Millionen Euro bereit, um Häfen mit innovativer Technik auszustatten. Es gibt ein Nationales Hafenkonzept, zu dem die Werftstruktur natürlich auch beiträgt. Wir freuen uns, dass in Mecklenburg-Vorpommern in den letzten Jahren, Minister Harry Glawe sei Dank, nach schwierigsten Zeiten viel vorangekommen ist. Ich hoffe, dass sich alles auch weiter gut entwickelt. Dann ist natürlich der Tourismus zu erwähnen. Die Tourismuswirtschaft ist nicht das einzige, aber natürlich ein sehr wichtiges Standbein der Wertschöpfung in Mecklenburg-Vorpommern. Die Branche erwirtschaftet zwölf Prozent der gesamten Wertschöpfung im Bundesland. Man sieht daran, dass das ein wichtiges Standbein ist, aber auch wirklich nicht das einzige. Angesichts von vielerlei Turbulenzen außerhalb der Europäischen Union profitiert natürlich auch der Tourismusstandort Deutschland. Unsere Hotel- und Gaststättenbetreiber haben sich darauf eingerichtet und freuen sich auch. Ich war in der letzten Woche in Kühlungsborn und Zingst, aber auch in den schleswig-holsteinischen und niedersächsischen Gebieten. Man hört keine Klagen, und das will ja in Deutschland schon was heißen. Insofern glaube ich einmal, dass es dort recht gut geht. Aber auch hier sind natürlich die Breitbandanbindung, moderne Technologien und vieles andere von großer Bedeutung. Die Innovationskraft ist auch hier gefordert. Denn die Touristen werden eher anspruchsvoller. Deshalb ist die Kombination aus Hinterland- und Küstenangeboten sehr, sehr wichtig. Lieber Herr Madsen, ich will noch ein Wort zum Thema Bürokratieabbau sagen. Wir haben uns in der Bundesregierung die „One in, One out“-Regel vorgenommen. Für jedes Gesetz, das Berichtspflichten für die Wirtschaft erfordert, wird auch wieder etwas abgeschafft. Das haben wir bis jetzt recht gut durchgehalten. Für Sie sind berechenbare Rahmenbedingungen von Bedeutung. Es ist klar, dass in den Wahlkampfzeiten die Angebote der unterschiedlichen Parteien auf dem Tisch liegen. Ich persönlich sage: Wir haben gewisse Spielräume für Entlastungen. Ich glaube nicht, dass es richtig ist, Menschen zusätzlich zu belasten, weil letztlich manchmal übersehen wird, dass ein hochqualifizierter Ingenieur oder Unternehmensleiter mehrere einfache Arbeitsplätze schafft. Das heißt, wir müssen schauen, dass wir niemanden im Elan beschneiden und möglichst vielen Menschen Entfaltungsmöglichkeiten geben. Dass wir schrittweise den Solidaritätszuschlag abschaffen wollen, ist 27 Jahre nach der deutschen Einheit auch richtig und wichtig. Wir haben also einiges zu tun. Ich will als letzten Punkt noch einmal die Energiewirtschaft nennen. Mecklenburg-Vorpommern profitiert massiv von der Energiewende. Wir haben es nicht nur geschafft zu regeln, dass wir schrittweise die Ost-West-Renten angleichen –auch eine lange Aufgabe, mit der wir uns viel beschäftigt haben –, sondern wir werden auch bundesweit die Netzentgelte umwälzen. Das war noch einmal ein großer Kraftakt, weil natürlich die neuen Länder und auch einige alte Länder gesagt haben: Das muss jetzt endlich passieren, weil wir völlig unterschiedliche Rahmenbedingungen haben. Auf der anderen Seite waren aber diejenigen, die jahrelang von den niedrigeren Netzentgelten profitiert haben und wenig Lust verspürt haben zu akzeptieren, dass auch sie solidarisch etwas mittragen. Wir haben das Ganze jetzt so geregelt, dass es über Stufen erfolgt und damit für alle vertretbar ist. Eines ist auch richtig: Die Mehrzahl der energieintensiven Industrien befindet sich nicht in Mecklenburg-Vorpommern. Trotzdem ist diese Angleichung von allergrößter Bedeutung. Was wir jetzt brauchen, sind Stromleitungen. Was das angeht, ist Mecklenburg-Vorpommern eigentlich schon durch die Verbindung Schwerin Richtung Hamburg relativ gut dabei. Es gibt gerade in den westlichen Teilen Deutschlands von Nord nach Süd noch viel zu wenige Leitungen. Wenn die kommen und das der Fall ist, wird auch die Wirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern weiter davon profitieren können. Wir reden ja oft darüber, dass uns in Bezug auf Europa etwas nicht gefällt. Aber ohne die Europäische Kommission wären wir wahrscheinlich in Deutschland nicht zu den Ausschreibungsmodellen übergegangen, was die erneuerbaren Energien angeht. Wir haben jetzt die ersten Ausschreibungen vorgenommen, und wir sehen, dass wir bei der Offshore-Windenergie zum Teil keinerlei Subventionen mehr brauchen, dass es riesige Preissenkungen durch diese Ausschreibungen gab, genauso wie auch im Bereich der Solarenergie. Eigentlich dachte man, dass Ausschreibungen hierbei gar nichts bringen werden. Sie haben aber dann doch einiges gebracht. Meine Damen und Herren, wir haben also manches hinbekommen oder geschafft. Aber vieles liegt noch vor uns. Ich sage einmal: Für ein Land wie Mecklenburg-Vorpommern, für eine IHK wie die IHK Rostock ergeben sich da, wo alle wieder mit den gleichen Startbedingungen beginnen und sich Neues erobern müssen, natürlich gute Voraussetzungen. Wenn Sie neugierig sind, wenn Sie offen für Neues sind, wie Sie das in Bezug auf die Fördermittel im Zusammenhang mit dem Breitbandausbau waren, dann kann das eine Riesenchance für ein Bundesland wie Mecklenburg-Vorpommern sein. Deshalb lade ich alle Unternehmerinnen und Unternehmer ein: Machen Sie sich auf den Weg. Der Mittelstand ist hier natürlich die tragende Säule. Deshalb sind wir vonseiten der Bundesregierung und sicherlich auch vonseiten der Wirtschaft bereit, Ihnen alles, was noch im Zusammenhang mit der Digitalisierung zu erfahren und zu erlernen ist, zur Verfügung zu stellen und auch berechenbare Rahmenbedingungen zu bieten. Dabei freue ich mich auf die Zusammenarbeit. Ich will noch einmal zurück zum Bier. Wir begehen dieses Jahr das Reformationsjubiläum. Deshalb möchte ich an einen Spruch von Martin Luther – nicht ganz Mecklenburg-Vorpommern, aber immerhin neue Bundesländer – erinnern: „Ich sitze hier und trinke mein gutes Wittenbergisch Bier und das Reich Gottes kommt von ganz alleine.“ Wenn Sie also gleich beim Störtebeker-Empfang sind und oben auf der Dachterrasse noch ein Bierchen trinken, dann denken Sie daran, dass wir erst einmal selbst für das Reich auf Erden verantwortlich sind, dass wir das gut formen können, dass das Land Mecklenburg-Vorpommern, der Bereich der IHK Rostock, ein wunderschönes Stück Erde ist und dass wir das Beste für die Menschen daraus machen wollen. In diesem Sinne alles Gute und herzlichen Dank, dass Sie mich eingeladen haben.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Jahresempfang für das Diplomatische Corps am 13. Juli 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-jahresempfang-fuer-das-diplomatische-corps-am-13-juli-2017-429500
Thu, 13 Jul 2017 18:36:00 +0200
Meseberg
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Nuntius, sehr geehrte Exzellenzen, meine Damen und Herren, ich möchte Sie ganz herzlich auf dem Schloss Meseberg willkommen heißen. Wir wa-ren uns nicht ganz sicher, ob wir es wagen können. Aber der Einsatz hat sich gelohnt. Denn es ist trocken und sogar noch ein bisschen sonnig. Der Ort hier bietet unserer Meinung nach genau die richtige Atmosphäre für einen Empfang, mit dem wir Ihnen Danke sagen möchten dafür, dass Sie die Kontakte zu unserem Land pflegen. Natürlich bietet ein solcher Empfang auch Gelegenheit für Gespräche. Wir, das sage ich für die ganze Bundesregierung, brauchen Ihre Arbeit. Wir brauchen sie, um einander besser zu verstehen. Wir brauchen eine Zusammen-arbeit zwischen den Staaten. Denn je vernetzter die Welt ist, desto wichtiger ist es, im Schulterschluss zu handeln. Ich komme gerade aus Paris, wo der deutsch-französische Ministerrat stattgefunden hat. In diesem Rahmen haben wir eine Reihe von Projekten und Initiativen vereinbart, mit denen wir unsere traditionell sehr enge Zusammenarbeit weiter vertiefen, im Dienste unserer Bürgerinnen und Bürger und genauso im Dienste der Bürgerinnen und Bürger Europas. Als der deutsch-französische Ministerrat 2003 gegründet wurde, hieß es in einer Er-klärung: „Deutschland und Frankreich sind in einer Schicksalsgemeinschaft verbun-den. Unsere gemeinsame Zukunft ist von der einer vertieften und erweiterten Europä-ischen Union nicht zu trennen.“ Und genau so ist es: Das geeinte Europa hat uns Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht. Es ist zugleich die Voraussetzung, Frieden, Freiheit und Wohlstand auch für die Zukunft zu erhalten. Der französische Präsident Emmanuel Macron und ich sind uns einig, dass wir alle noch mehr tun müssen für ein starkes Europa. Wir sind uns bewusst, dass unsere beiden Länder in einer gemeinsamen Verantwortung dafür stehen. Wir alle in Europa haben gelernt, dass Isolationismus und Protektionismus nicht der richtige Weg sind. Nur gemeinsam können wir bei uns für Sicherheit und Wohlstand sorgen. Nur ge-meinsam können wir die großen globalen Fragen angehen und internationale Krisen bewältigen. Das heißt erstens, dass wir weiter an der Einheit Europas arbeiten, und zwar so, dass die Bürgerinnen und Bürger den Mehrwert Europas spüren. Gestern fand in Triest die Westbalkan-Konferenz statt, die neue Fortschritte gebracht hat, etwa mit Blick auf die Verkehrs- und Energieinfrastruktur wie auch für den wis-senschaftlichen und wirtschaftlichen Austausch der Region und den Austausch der jungen Menschen. Zweitens müssen wir noch weiter über den Tellerrand hinausschauen und in unserer Nachbarschaft Verantwortung übernehmen. Das gehört auch zu einem offenen und verlässlichen Europa. Ich denke dabei an unser Engagement im Rahmen des Nor-mandie-Formats zur Stabilisierung der Lage in der Ostukraine. Wir arbeiten weiter daran, die Vereinbarungen von Minsk konsequent umzusetzen, auch wenn es alles andere als einfach ist. Außerdem müssen wir Europäer uns stärker als bislang für unseren europäischen Nachbarkontinent Afrika engagieren. Auf dem für Ende November in Abidjan geplan-ten EU-Afrika-Gipfel sollen wichtige Eckpunkte für die Beziehungen beider Kontinente beraten werden. Denken wir alleine an die große Herausforderung, Fluchtursachen zu beseitigen und dazu besser mit Herkunfts- und Transitländern zusammenzuarbeiten. Afrika zu unterstützen, ist also sowohl menschliches Gebot als auch im eigenen Inte-resse Europas. Das wird ganz besonders an der überaus schwierigen Lage in Libyen deutlich. Die Vereinten Nationen setzen dort alles daran, einen staatlichen Neuaufbau des Landes zu unterstützen. Dazu braucht es einen politischen Kompromiss und eine handlungs-fähige Einheitsregierung. Nur dann kann Libyen die großen Herausforderungen lösen, vor denen es steht. Das sind die Not der Bevölkerung, die Bedrohung durch Terror-banden und die illegale Migration. Viel zu viele Menschen haben vor der libyschen Küste bereits ihr Leben verloren, weil dort Menschenhändler ihr übles Werk treiben. Die Bevölkerung Afrikas wächst rasant. Die Menschen dort brauchen Perspektiven. Doch noch immer gibt es zu viele Krisen und Konflikte in Afrika. Frieden, Stabilität und Sicherheit zu schaffen, ist zentrales Thema. Für die EU-Afrika-Zusammenarbeit braucht es deshalb einen umfassenden Ansatz. Denn Sicherheit ohne Entwicklung funktioniert genauso wenig wie Entwicklung ohne Sicherheit. Beides gehört auf das allerengste zusammen. Deshalb unterstützt Europa die Afrikanische Union und andere regionale Organisatio-nen beim Aufbau einer Friedens- und Sicherheitsarchitektur. Wir helfen zum Beispiel der G5 Sahel, hinter der die Länder Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad stehen, Terrorismus und Kriminalität besser zu bekämpfen. So können wir Ansätze unterstützen, die unsere Partner in Afrika selbst und eigenverantwortlich entwickelt haben, wie zum Beispiel die Agenda 2063 der Afrikanischen Union. Ein Schwerpunkt dabei liegt darauf, junge Menschen und vor allem Frauen zu stärken, die bessere berufliche Perspektiven brauchen. Das fängt mit Bildung an und führt bis hin zur Unterstützung bei der Gründung eines Unternehmens. Wir haben darüber Ende vergangener Woche auch beim G20-Gipfel gesprochen. Denn die Afrika-Partnerschaft ist ein wichtiger Schwerpunkt der deutschen G20-Präsidentschaft. Bereits auf der G20-Afrika-Konferenz in Berlin haben wir konkrete Vereinbarungen geschlossen, sogenannte Compacts. Diese Compacts sind eine her-vorragende Grundlage für eine neue Art der Zusammenarbeit, denn sie zielen auf bessere Rahmenbedingungen für private Investitionen und nachhaltige Infrastruktur, um Wachstum und Wohlstand zu fördern. „Business investment“ statt „business as usual“, das ist das Gebot der Stunde. Auf dem G20-Gipfel haben wir diese Zielrich-tung bekräftigt. Dabei die Privatwirtschaft einzubeziehen, ist unerlässlich. Dies haben wir auch schon betont, als die internationale Staatengemeinschaft 2015 die Agenda 2030 der Verein-ten Nationen verabschiedet hat. Nur wenn wir mit vereinten Kräften auf die vereinbar-ten Ziele hinwirken, können wir diese Ziele auch erreichen. Dies bezieht alle gesell-schaftlichen Ebenen mit ein. Dies bezieht alle Staaten ein. Wir haben uns auf dem G20-Gipfel klar zu diesem Ansatz bekannt. In der Präambel der Abschlusserklärung heißt es: „Durch gemeinsames Handeln können wir mehr er-reichen als allein.“ Das ist also ein Bekenntnis zum Multilateralismus, und das durch-zieht die breite Palette der Beschlüsse, die wir gefasst haben, sei es zur Umsetzung der Agenda 2030, sei es zur Digitalisierung, zum freien Handel oder zum Klimaschutz oder zum Kampf gegen den Terrorismus. Im Rahmen unserer deutschen G20-Präsidentschaft haben wir insbesondere die zivil-gesellschaftlichen Zweige von G20 gestärkt: etwa die „Civil20“, die „Labour20“, die „Business20“, die „Women20“ und viele andere. Die Zukunft multilateraler Foren liegt im engen Zusammenspiel von Staaten und den sie tragenden Gesellschaften. So ma-chen wir den Mehrwert von Diplomatie und internationaler Zusammenarbeit deutlich. Denn Staaten wie Gesellschaften müssen über globale Fragen im globalen Rahmen sprechen und globale Antworten entwickeln. Daran führt kein Weg vorbei, gerade weil sich zu viele noch von den Vorteilen der Globalisierung ausgeschlossen fühlen oder diese übersehen. Das müssen wir ernst nehmen. Deshalb liegt der Schlüssel nicht in irgendeinem Wachstum, sondern der Schlüssel liegt in einem inklusiven und nachhaltigen Wachstum, wie es genauso beim G20-Gipfel Thema war. Wir brauchen eine wirtschaftliche Entwicklung, die alle zu Gewin-nern macht und mit der wir die planetaren Grenzen beachten. Deshalb ist es auch in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzen, dass außer den USA alle übrigen G20-Staaten in der Abschlusserklärung die Vereinbarun-gen des Pariser Klimaabkommens und ihre entschlossene Umsetzung bekräftigt ha-ben. Inklusives und nachhaltiges Wachstum zu schaffen, das leitet Deutschland auch im Austausch mit unseren Partnern in Asien. Dieser Austausch ist politisch und wirt-schaftlich so eng wie niemals zuvor. So war Japan dieses Jahr Partnerland der Ce-BIT, der Messe für Neues aus der Informations- und Kommunikationstechnologie. Mit Indien hatten wir im Mai Regierungskonsultationen. Es folgten der Besuch des chine-sischen Ministerpräsidenten und des chinesischen Präsidenten in Deutschland. Auch mit Korea verbindet uns ein enger Austausch. Wir kennen die schmerzhafte Er-fahrung einer geteilten Nation. Was für uns in Deutschland Vergangenheit ist, das ist für Korea leider bittere Gegenwart. Große Sorgen bereitet uns allen – das hat sich in allen Gesprächen, die ich geführt habe, gezeigt – das aggressive Verhalten Nordko-reas. Das Regime in Pjöngjang treibt sein völkerrechtswidriges Raketen- und Nuklear-programm weiter voran. Der jüngste Test ist eine weitere Provokation und eine ernst-hafte Bedrohung des Friedens in der Region und weit darüber hinaus. Die internatio-nale Gemeinschaft hat die Pflicht, fest zusammenzustehen und den Druck auf Nord-korea zu erhöhen. Ebenso muss die internationale Staatengemeinschaft alles dafür tun, um endlich die Tragödie in Syrien zu beenden. Der Krieg dort dauert nunmehr seit sechs Jahren an. Hunderttausende Menschen sind gestorben, viele verletzt und jeglicher Lebensper-spektive beraubt worden. Der wiederholte Einsatz von Giftgas steht symbolisch für die Menschenverachtung in dieser Auseinandersetzung. Millionen Syrer mussten ihre Heimat verlassen, um entweder woanders im eigenen Land oder in den Nachbarstaa-ten Syriens und in Europa Schutz zu finden. Deutschland unterstützt allen voran Jor-danien, den Libanon und die Türkei, die Lasten zu bewältigen. Was gerade diese Länder zusammen mit dem UNHCR bei der Aufnahme von Flüchtlingen leisten, ver-dient unsere Anerkennung und unseren Respekt. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen leistet segensreiche Arbeit. Er ist auch unser unverzichtbarer Ansprechpartner, um die Flüchtlingslage auf der mediterranen Route in den Griff zu bekommen, gemeinsam mit der Internationalen Migrationsorganisation. Deutschland setzt sich darüber hinaus ganz grundsätzlich dafür ein, die Vereinten Nationen insgesamt zu stärken. Wir unterstützen zum Beispiel die entsprechende Re-formagenda von UN-Generalsekretär António Guterres. Die Vereinten Nationen sind die einzige wirklich universelle Organisation. Deutschland steht auch bereit, im Herz der Vereinten Nationen, dem UN-Sicherheitsrat, Verantwortung zu übernehmen. Deshalb bewerben wir uns um einen Sitz als nichtständiges Mitglied in den Jahren 2019 und 2020, um Frieden und Sicher-heit in der Welt voranzubringen. Meine Damen und Herren, der Besitzer von Schloss Meseberg vor 100 Jahren hieß Gotthold Ephraim Lessing. Das war aber nicht der berühmte Schriftsteller gleichen Namens. Denn der lebte bereits im 18. Jahrhundert. Aber es ist die gleiche Familie. Der Hausherr dieses Schlosses teilte nicht nur den Namen mit dem bekannten Dich-ter. Er erinnerte auch gern an die Toleranzidee seines berühmten Verwandten. Sein Haus stand vielen Gästen aus Berlin und anderswo offen. Es gab eine lebendige Ge-sprächskultur. Daran können wir heute anknüpfen. Eines der bekanntesten Werke Lessings ist „Nathan der Weise“. Viel zitiert ist die Ringparabel daraus. Ich will auf einen etwas weniger bekannten Satz dieses Dramas Bezug nehmen. Eine Person, der Klosterbruder, sagt dort nach einer Begegnung: „Ich geh, und geh vergnügter, als ich kam.“ Dies mache ich gern zum Leitspruch für unse-ren heutigen Empfang. Ich wünsche mir, dass Sie noch „vergnügter“ gehen, als Sie gekommen sind. Ich weiß, dass einige von Ihnen unser Land verlassen werden. Denen möchte ich be-sonders für Ihre Arbeit danken. Ich möchte zum Schluss einen verabschieden, der eben das Defilee geleitet hat. Das ist Herr Mertens. Jürgen Mertens ist Ihnen sicherlich allen bekannt. Er hat über Jahre als Protokollchef gearbeitet. Wir danken ihm. Ich möchte ihm auch ganz persönlich danken, denn so eine Vorbereitung eines G20-Gipfels ist sozusagen die Krönung der protokollarischen Arbeit. Deshalb ganz, ganz herzlichen Dank Ihnen, aber auch Ihrer Frau, die sicherlich oft in den letzten Wochen auf ihren Mann verzichten musste. Ihnen alles Gute auf dem nächsten Posten.
in Meseberg
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Übergabe des Jahresberichts 2017 des Nationalen Normenkontrollrats „Bürokratieabbau. Bessere Rechtssetzung. Digitalisierung. Erfolge ausbauen – Rückstand aufholen“ am 12. Juli 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-uebergabe-des-jahresberichts-2017-des-nationalen-normenkontrollrats-buerokratieabbau-bessere-rechtssetzung-digitalisierung-erfolge-ausbauen-rueckstand-aufholen-am-12-juli-2017-in-berlin-426132
Wed, 12 Jul 2017 10:40:00 +0200
Berlin
Normenkontrollrat
Danke schön, Herr Ludewig, danke schön, liebe Mitglieder des Normenkontrollrats, ich möchte auch mit einem Dank beginnen für Ihre Arbeit, die unermüdlich und durchaus fordernd an uns ist, aber von unserer Seite auch immer mit einer positiven Response oder einer positiven Begleitung stattfindet. Aus diesem gemeinsamen Handeln entsteht dann auch das, was Herr Ludewig eben vorgetragen hat. Die kritischste Zeit in unserer Zusammenarbeit in dieser Legislaturperiode war sicherlich die Zeit von „One in, one out“. Das haben wir aber auch politisch sinnvoll und gut gemeistert. Wenn es dann einmal in Kraft ist, finden sich erstaunlicherweise auch immer Möglichkeiten der Realisierung. Jedenfalls ist das bisher gelungen. Der Titel des Jahresberichts beschreibt die Dinge absolut richtig, wenn ich das so sagen darf. Wir haben bestimmte Erfolge erreicht. Es ist auch inzwischen ein eingespieltes Verfahren, dass der Normenkontrollrat auf Gesetze schaut und dadurch sich manche Gesetzgebung gleich ganz anders abspielt, weil sich spätestens zumindest das Parlament auf das Votum des Normenkontrollrats beruft und dann sagt, was vielleicht noch verbessert werden kann. Sie haben mit dem Begriff „Digitalisierung“ als dritten Bestandteil des Titels das Thema analysiert und identifiziert, das für uns in der nächsten Legislaturperiode von großer Bedeutung sein wird, eben auch in der Verwaltung. Es war eine gute Sache, dass es diese schwierigen Bund-Länder-Finanzverhandlungen gab, in denen es möglich war, eine entsprechende Grundgesetzänderung durchzubringen. Ich weiß nicht, ob das sonst gelungen wäre. Wir haben jetzt sozusagen ein Problembewusstsein. Wir haben das Instrumentarium zur Verfügung. Aber wir haben natürlich noch viel Arbeit vor uns. Ich habe bei meinen Auftritten insbesondere bei den kommunalen Spitzenverbänden, beim Deutschen Städtetag und beim Städte- und Gemeindebund, bereits darauf hingewiesen, dass wir vor allen Dingen auf der kommunalen Ebene, natürlich mit den Ländern gemeinsam, zusammenarbeiten müssen. Denn viel von dem, was die Bürgerinnen und Bürger beschäftigt, spielt sich auf der kommunalen Ebene ab. Wenn wir dort nicht die Bereitschaft zur Zusammenarbeit finden, wenn dort jeder seinen Weg alleine geht, dann bekommen wir zum Schluss einen unguten Flickenteppich im digitalen Bürgerverhältnis. Das wollen wir auf gar keinen Fall. Und deshalb werden wir hier mit Hochdruck arbeiten. Der Rechtsrahmen dafür ist vorhanden. Aber die Umsetzung wird noch viel Kraft, viel Mühe fordern. Vor allen Dingen ist es bei den digitalen Fragen immer so: Wenn sie es nicht richtig einstielen, dann entfalten sich später viele Schwachstellen. Das heißt, es kommt sehr darauf an, einen guten Ansatz zu finden. Da ist nun wiederum die gute Nachricht: Es gibt inzwischen eine Reihe Länder um uns herum, die diesbezüglich schon weiter sind und von deren Erfahrungen wir lernen können und auch lernen sollten. Insgesamt also herzlichen Dank für Ihre Mühe und für unser konstruktives Miteinander. Der Blick auf die EU-Ebene ist auch richtig, und ich werde das auch noch politisch aufnehmen. Die Europäische Union hat ja im Prinzip eine solche Einheit. Hierbei wäre es nur gut, wenn man bezüglich der Verfahrenswege und Verfahren, die dort angewandt werden, versucht, immer wieder eine möglichst kohärente Vorgehensweise anzuwenden und auch die Erfahrungen der Mitgliedstaaten in das einfließen können, was man auf der europäischen Ebene „Impact Assessment“ nennt. In der Tat ist es so: Für die Bürgerinnen und Bürger ist es völlig egal, ob es sich um eine europäische Rechtssetzung oder eine originär deutsche handelt. Sie haben sich entschieden, in diesem Gremium mitzuarbeiten. Dafür danke ich. Das kann man nicht verordnen. Das ist viel Arbeit im Einzelnen. Ich möchte diesen Dank auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Normenkontrollrats weitergeben, die ja auch hier anwesend sind. Sie sind täglich bei der Arbeit dabei. Alles Gute. Wir werden nach der Wahl schauen, wie die Konstellationen sind. Aber ich glaube, dass es keiner wagen wird zu sagen: Den Normenkontrollrat brauchen wir nicht mehr. Insofern gibt es auch eine Berufungsfrist, die etwas anders ist als die Wahlfristen, sodass eine Überlappung garantiert ist. Dafür, dass Sie weiterhin etwas zu tun haben, werden die Wirklichkeit und auch unsere politische Arbeit sorgen. Danke schön nochmals.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Veranstaltung des Politischen Forums Ruhr zum Thema „Wohlstand für alle. Soziale Marktwirtschaft“ am 11. Juli 2017 in Essen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-veranstaltung-des-politischen-forums-ruhr-zum-thema-wohlstand-fuer-alle-soziale-marktwirtschaft-am-11-juli-2017-in-essen-796734
Tue, 11 Jul 2017 19:44:00 +0200
Essen
Sehr geehrter Herr Minister Holthoff-Pförtner, im Sinne der Ausgeglichenheit in der Koalition nenne ich einen zweiten Minister, alle anderen sind dann mitbegrüßt: sehr geehrter Herr Minister Pinkwart, liebe Mitglieder der Landesregierung, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Kufen und damit auch alle anwesenden Kommunalpolitiker, ich freue mich, wieder einmal in Essen zu sein. Ich begrüße Sie, meine Damen und Herren, die Sie in diesem wunderschönen Saal Platz genommen haben. Ich freue mich, dass Sie so zahlreich gekommen sind. Im vergangenen Jahr haben wir 70 Jahre Nordrhein-Westfalen gefeiert. Auch heute ist ein wichtiger Jahrestag für das Bundesland Nordrhein-Westfalen. Denn auf den Tag genau vor 67 Jahren trat die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen in Kraft. Der Abschnitt zu Arbeit, Wirtschaft und Umwelt beginnt mit den Worten – ich möchte das zitieren: „Im Mittelpunkt des Wirtschaftslebens steht das Wohl des Menschen.“ Damit war die richtige Richtung für die Entwicklung des Bundeslandes vorgegeben, des Bundeslandes mit seinen großen industriellen Ballungsgebieten, das zum wirtschaftlichen Motor der jungen Bundesrepublik wurde. Ohne die Montanindustrie an Rhein und Ruhr wäre das deutsche Wirtschaftswunder undenkbar gewesen. Die Beschäftigten in den Bergwerken, in der Kohleverarbeitung oder in den Stahlhütten haben Unglaubliches geleistet. Mit ihrer Arbeit halfen sie Deutschland, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen. Sie sorgten für Wachstum, und sie schufen Wohlstand. Wachstum und Wohlstand sind immer wieder aufs Neue zu erarbeiten. Dies bedeutet auch, immer wieder die Frage zu beantworten, welchen Verfahren, Produkten und Dienstleistungen die Zukunft gehört. Und es bedeutet, sich danach dann auch wirtschaftlich auszurichten. Dies bringt Veränderungen mit sich. Wie tiefgreifend diese Veränderungen sein können, das wissen Sie in Nordrhein-Westfalen besonders gut. Sie haben einen beispiellosen Strukturwandel erlebt. Kohle und Stahl sind mehr und mehr in den Hintergrund gerückt. An ihre Stelle sind neue Branchen getreten: Logistik, Medien, Dienstleistungen. Nur rund zwölf Kilometer von unserem Veranstaltungsort entfernt liegt die Zeche Prosper-Haniel in Bottrop. Sie ist neben Ibbenbüren das letzte aktive Steinkohlebergwerk in Nordrhein-Westfalen. In gut 150 Jahren wurden dort über 300 Millionen Tonnen Steinkohle gewonnen. Viele Tausend Menschen haben dort seit Beginn der Förderung gearbeitet. Ende des nächsten Jahres werden in Bottrop ebenso wie in Ibbenbüren das letzte Mal Bergleute unter Tage fahren. Damit endet dann eine Ära, die die Region geprägt hat. Der Prozess des sozialverträglichen Ausstiegs aus dem Steinkohlebergbau wird dann weitgehend abgeschlossen sein. Das war ein harter und anstrengender Weg. Alle Beteiligten können stolz sein auf das, was sie geleistet haben. Denn Strukturwandel, das wissen Sie auch, ist nicht abstrakt. Mit ihm gehen ganz konkrete Veränderungen für jeden einzelnen Betroffenen einher. Beschäftigte mussten und müssen umlernen. Viele fangen in neuen Berufen noch einmal von vorn an. Manch einer ist dafür umgezogen. All dies hat Einfluss auf die Familie und auf ganze Regionen. Daher gilt: Wenn wir vom gelungenen Strukturwandel sprechen, dann müssen wir über diejenigen reden, die sich persönlich auf Neues eingelassen haben, auf eine neue Qualifikation, auf eine neue Arbeit, auf ein neues Lebensumfeld. Wenn wir vom gelungenen Strukturwandel sprechen, dann sind wir auch genau bei den Stärken der Sozialen Marktwirtschaft. Sie sorgt dafür, dass die Voraussetzungen für Wachstum erhalten bleiben. Das sind vor allem wirtschaftliche Freiheit und Wettbewerbsfähigkeit. Aber sie berücksichtigt dabei zugleich immer auch den sozialen Zusammenhalt. Länder und Kommunen, aber auch der Bund geben viel Geld aus, um soziale Härten abzufangen und neue Perspektiven zu eröffnen. In Deutschland werden Regionen, die vom Wandel betroffen sind, nicht einfach sich selbst überlassen, sondern wir stehen zusammen. Zentrales Element der Sozialen Marktwirtschaft ist die Sozialpartnerschaft. Sie garantiert, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam Verantwortung für das Gemeinwohl übernehmen. Sie schafft damit die Basis für eine breite Beteiligung am wirtschaftlichen Fortschritt. Und sie ermöglicht dadurch Zusammenhalt. Die Soziale Marktwirtschaft macht uns sozusagen widerstands- und anpassungsfähig. Wir können wirtschaftliche Herausforderungen meistern. Ich erinnere nur an die globale Finanz- und Wirtschaftskrise vor fast zehn Jahren, die wir in Deutschland besser als manch anderes Land überstanden haben. Die Soziale Marktwirtschaft ermöglicht uns zudem, die Chancen des technologischen Fortschritts zu nutzen. Darin liegt der Schlüssel zu Innovationen, Wachstum und Beschäftigung. Der Strukturwandel in Nordrhein-Westfalen ist Teil einer Gesamtentwicklung. Das Schließen der letzten Zechen ist ein untrügliches Zeichen dafür, wie sich die wirtschaftliche Basis unseres Landes verändert. Gut ist, dass nach vorn gedacht wird. So gibt es für die Zeche Prosper-Haniel Pläne, sie zu einem unterirdischen Pumpspeicherkraftwerk umzubauen. Sie würde dadurch gleichsam zu so etwas wie einem Vorratskeller für Strom aus Wind und Sonne. Denn auch wenn wir noch Kohlekraftwerke brauchen, die Zukunft gehört den erneuerbaren Energien. Mit der Energiewende fördern wir ein ressourcenschonendes und klimafreundliches Wirtschaften bei uns in Deutschland. Auch andere Länder setzen verstärkt auf Wasser, Wind und Sonne in der Energiegewinnung. Es geht auch gar nicht anders. Der Klimawandel zeigt exemplarisch: Wir stoßen längst an Grenzen und müssen den CO2-Ausstoß weltweit reduzieren. Heute ist der Weltbevölkerungstag. Wir wissen, welche Bevölkerungsentwicklung bis 2050 und bis zum Ende dieses Jahrhunderts zu erwarten ist. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, dass jeder Einzelne sich eine gute Lebensperspektive erwarten kann. Es geht im Grunde heute auch aufgrund der vernetzten Welt um eine globale Dimension von Wohlstand für alle. Wohlstand für alle – dieses Ziel ist untrennbar mit dem Namen Ludwig Erhards verbunden. Als Bundeswirtschaftsminister veröffentlichte er vor 60 Jahren sein berühmtes Buch unter diesem Titel. Darin beschreibt er im Übrigen in einfachen und verständlichen Worten seine wirtschaftspolitischen Grundsätze, die ihn mit Blick auf Deutschland leiteten. Anschaulich verweist er auf die Bedeutung von Wachstum, wenn es um Wohlstand für alle geht. Ich zitiere ihn: „Es ist sehr viel leichter, jedem Einzelnen aus einem immer größer werdenden Kuchen ein größeres Stück zu gewähren, als einen Gewinn aus einer Auseinandersetzung um die Verteilung eines kleinen Kuchens ziehen zu wollen, weil auf solche Weise jeder Vorteil mit einem Nachteil bezahlt werden muss.“ Dies lässt sich von der nationalen auch auf die globale Ebene übertragen und ist dann plötzlich ganz aktuell. Wir brauchen in der Welt von heute Ansätze, die nicht in der Kategorie von einem Gewinner und vielen Verlierern denken, sondern die alle zu Gewinnern machen. Daher brauchen wir Wachstum, und zwar ein Wachstum, das inklusiv und das nachhaltig ist. Damit bin ich beim Kernthema der G20. Sie konnten in den vergangenen Wochen und Monaten und nicht erst beim Gipfel in der letzten Woche verfolgen, wie schwierig die Beratungen der G20 waren. Dennoch oder aus meiner Sicht gerade deshalb sind Foren wie die G20 wichtig. Wenn wir uns in diesem Kreis austauschen, in bestimmten Punkten annähern und auf eine gemeinsame Agenda verständigen, in anderen Punkten auch Dissens festschreiben und so verhindern, hinter Erreichtem zurückzufallen, dann bringt dies neue Dynamik in die internationale Zusammenarbeit. Die Bedeutung der G20 für eine kooperative und regelbasierte globale Wirtschaft kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Denn Dialog und politische Zusammenarbeit sind wichtiger denn je. Was ein einzelnes Land tut oder was ein einzelnes Land unterlässt, wirkt sich oft auch auf andere Regionen aus. Wir sind auf vielen Ebenen eng verbunden, besonders natürlich wirtschaftlich. Daher haben wir auch für die deutsche G20-Präsidentschaft das Motto „Eine vernetzte Welt gestalten“ gewählt. Als Symbol haben wir den Kreuzknoten ausgesucht. Er schafft es, unterschiedliche Stränge zu verbinden, und ermöglicht auch eine hohe Zugkraft. Wir haben beim Gipfel über diverse Aspekte eines nachhaltigen und inklusiven Wachstums gesprochen und an einer gemeinsamen Position gearbeitet. Beim Klimaschutz haben die Vereinigten Staaten von Amerika beschlossen, aus dem internationalen Klimaschutzabkommen von Paris auszusteigen. Das ist bedauerlich, aber das macht uns umso entschlossener, dieses Abkommen umzusetzen. Die übrigen 19 Staats- und Regierungschefs haben dies in der Hamburger Abschlusserklärung bekräftigt. Sie haben gesagt: Das Pariser Abkommen ist unumkehrbar. Bei anderen Themen haben wir eine gemeinsame Haltung gefunden. Das reicht vom Kampf gegen den Terrorismus über die Stärkung von Frauen und bessere Perspektiven für Afrika bis hin zu freiem Handel und offenen Märkten. Mir war wichtig, dass von Hamburg ein Zeichen gegen Abschottung und Handelsbeschränkungen ausgeht. Natürlich muss der Handel nicht nur frei, sondern auch fair sein. Die internationalen Regeln sind einzuhalten. Deshalb reformiert die Europäische Union zurzeit auch ihre handelspolitischen Schutzinstrumente. Deshalb drängen wir zum Beispiel China, Überkapazitäten insbesondere beim Stahl abzubauen. Darüber haben wir auch in Hamburg gesprochen. Aber das ändert nichts am Prinzip. Angesichts des hohen Grades der internationalen Arbeitsteilung und globaler Wertschöpfungsketten brauchen wir offene Märkte. Die deutsche Wirtschaft ist das beste Beispiel dafür, wie eng die Vernetzung und Einbindung weltweit sein kann. Daher setze ich mich weiter für das multilaterale Handelssystem der Welthandelsorganisation ein, das eben genau auf gemeinsamen Regeln beruht, und ergänzend unterstütze ich bilaterale oder regionale Abkommen. Dazu komme ich noch einmal auf Ludwig Erhard zurück. Er schreibt in seinem Buch „Wohlstand für alle“ – ich zitiere ihn noch einmal: „Es ist eine ökonomische Binsenweisheit, dass es dem einen Partner nur gut gehen kann, wenn auch seine Mitspieler wirtschaftlich gedeihen.“ Diese Binsenweisheit gilt auch 60 Jahre später, auch wenn sie nicht jeder annehmen möchte. Ein freier und fairer Handel ist ein gutes Beispiel für einen Ansatz, der alle Beteiligten zu Gewinnern macht. Freihandelsabkommen sind der richtige Weg, um Wachstum und Wohlstand zu stärken. In der vergangenen Woche haben sich die Vertreter der Europäischen Union und Japan politisch auf die Grundzüge eines Freihandelsabkommens geeinigt. Auch mit anderen Staaten und Regionen Asiens und Lateinamerikas laufen solche Gespräche. Das begrüße ich sehr. Freihandel bleibt auch mit Blick auf die USA ein Thema. Das Land ist einer unserer wichtigsten Handelspartner in der Welt. Die Potenziale eines Abkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten wären ohne jeden Zweifel groß. Wir könnten dadurch unsere wirtschaftlichen Beziehungen ausbauen und vertiefen. Und zugleich könnten wir hohe Standards im ökologischen Bereich, im sozialen Bereich vereinbaren und so weltweit Standards prägen. Auch in Europa selbst haben wir gezeigt, wie sehr es sich für alle Beteiligten lohnt, Grenzen zu überwinden, besonders mit Blick auf Frieden und Freiheit, aber auch mit Blick auf Wachstum und Wohlstand. Der gemeinsame Binnenmarkt, der freie Warenverkehr, der freie Kapitalverkehr, Personen- und Dienstleistungsverkehr bringt große Vorteile. Die werden auch von den Unternehmen genutzt. Aber sie nutzen eben auch den Verbrauchern. Sie machen vieles in unserem Alltag einfacher und bequemer. Es freut mich, dass das Bewusstsein für die Errungenschaften Europas bei vielen da ist, dass Menschen sogar wieder für Europa demonstrieren statt dagegen, dass auch auf politischer Ebene wieder ein stärkerer Zusammenhalt zu spüren ist. Wir müssen tatsächlich jede Chance nutzen, den Mehrwert gemeinsamen europäischen Handelns zu verdeutlichen, ganz besonders nach der britischen Entscheidung für den Austritt aus der Europäischen Union. Inzwischen haben die Verhandlungen mit Großbritannien begonnen. Dabei stehen die zukünftig 27 EU-Mitgliedstaaten eng zusammen. Wir wollen die Gespräche konstruktiv führen. Und wir wollen gute Ergebnisse erzielen. Das bedeutet, schnellstmöglich Rechtssicherheit für alle Bürger und Unternehmen zu schaffen, die vom Brexit unmittelbar betroffen sind. Und wir brauchen eine verlässliche Basis für die weitere Zusammenarbeit. Großbritannien und Deutschland bzw. die Europäische Union werden enge Partner bleiben. Zugleich richten wir aber auch den Blick nach vorn, Brexit hin oder her. Die Bürgerinnen und Bürger müssen insgesamt spüren können, wie viel ihnen das geeinte Europa bringt. Dazu gehört auf jeden Fall, unseren Binnenmarkt für das digitale Zeitalter fit zu machen. Einiges Praktische hat sich ja bereits getan: Die Roaminggebühren sind weggefallen, Online-Abos lassen sich jetzt EU-weit nutzen. Ein großer Fortschritt für Rechtssicherheit ist auch die sogenannte Datenschutz-Grundverordnung. Sie sorgt dafür, in Europa ein modernes einheitliches Niveau im Umgang mit Daten zu schaffen. Wir brauchen ein positives Verhältnis zum Verarbeiten großer Datenmengen, um die digitalen Chancen in Europa und auch in Deutschland nutzen zu können. Natürlich muss dafür auch die entsprechende Infrastruktur vorhanden sein. In Deutschland haben wir das Ziel, dass bis Ende 2018 für jeden Haushalt ein Anschluss mit mindestens 50 Megabit pro Sekunde zur Verfügung steht. Nordrhein-Westfalen geht da mit gutem Beispiel voran. Bei der Verfügbarkeit von Breitbandanschlüssen liegt Ihr Bundesland auf Platz eins der Flächenländer. Viele Technologien erfordern aber nicht nur Megabyte-, sondern Gigabyte-Standard. Wenn wir autonomes Fahren, Telemedizin, das Internet der Dinge ernsthaft umsetzen wollen, dann brauchen wir die wirklich schnellen Verbindungen. Und dies bedeutet, den Breitbandausbau in den nächsten Jahren erheblich voranzubringen und den 5G-Standard schnell zu erreichen. Die Unternehmen haben natürlich die Digitalisierung längst im Blick. Insbesondere bei der Industrie 4.0 haben wir uns eine gute Ausgangsposition geschaffen. Ich denke an Sensorik, Robotik, künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen. Mehrere Unternehmen in Nordrhein-Westfalen sind führend bei den genannten Technologien. Einige davon sind im Spitzencluster für Intelligente Technische Systeme in Ostwestfalen-Lippe vertreten. Allerdings machen zum Beispiel Umfragen des Digitalverbandes Bitkom auch deutlich, dass die Kenntnisse über diese Form des Wirtschaftens noch verbessert werden müssen. Wenn es um Plattformwirtschaft geht, dann sagen immerhin noch mehr als die Hälfte der Geschäftsführer und Vorstände, dass sie davon noch nicht viel gehört haben. Das müssen wir ändern, weil die Plattformen sozusagen die Grundlage werden. Vielleicht müssen wir uns dann auch noch einmal mit Ludwig Erhard und dem Kartellrecht auseinandersetzen, weil die Plattformen eine ganz andere Form von Interaktion bewirken. Aber ich will hier jetzt keine Unruhe stiften. Ich bin überzeugt: Wir können in Deutschland auch die Plattformwirtschaft, wir können auch Big Data, wir können auch Echtzeitübertragung. Wir müssen uns nur noch stärker darauf einlassen. Denn wer all das nicht beherrscht, der läuft Gefahr, am Ende nur noch verlängerte Werkbank zu sein. Das wollen wir natürlich nicht. Natürlich muss sich auch der Staat vermehrt auf die digitalen Möglichkeiten einlassen. Dies war auch Thema bei den Bund-Länder-Finanzverhandlungen. Wir haben dort vereinbart, auch das staatliche Online-Angebot stark zu verbessern. Es soll künftig einen Portalverbund geben, sodass jede verfügbare Dienstleistung oder Information unserer Behörden mit wenigen Klicks erreichbar ist. Den Bürger interessiert es nämlich nicht, ob es eine kommunale Dienstleistung, eine Landesdienstleistung oder eine Bundesdienstleistung ist. Es ist eine Dienstleistung für sein Leben, und die möchte er über ein einheitliches Portal erreichen können. Meine Damen und Herren, wir sind im Grunde in Deutschland für Veränderungen gut gerüstet. Die Soziale Marktwirtschaft lehrt uns, was nötig ist: ein guter Ordnungsrahmen, Offenheit für neue Technologien, Investitionen und soziale Verträglichkeit. Auch unsere wirtschaftliche Ausgangslage ist gut. Die Wirtschaft wächst solide. Der Aufschwung geht weiter. Die Zahl der Arbeitslosen ist so niedrig wie seit über 25 Jahren nicht mehr. Sie lag im Juni bei unter 2,5 Millionen. Das ist knapp die Hälfte im Vergleich zu 2005. Auch in Nordrhein-Westfalen sind es von damals bis jetzt 300.000 Arbeitslose weniger geworden. Worüber ich besonders froh bin, das ist die geringe Jugendarbeitslosigkeit. Wir haben die niedrigste Quote in Europa. Die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze übersteigt regelmäßig die Zahl der Bewerber. Die Zahl der Erwerbstätigen ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Sie liegt jetzt auf einem Rekordwert von über 44 Millionen. Und die Zahl der offenen Stellen wächst auch. Das sind gute Nachrichten. Denn Arbeit zu haben, sei es als Arbeitnehmer oder auch als Selbstständiger, ist ein wesentlicher Schlüssel im Leben. Arbeit ermöglicht Teilhabe, sie schafft Wohlstand. Deshalb bleibt völlig klar: Jeder Arbeitslose ist ein Arbeitsloser zu viel, und deshalb ist mein Ziel die Vollbeschäftigung bis 2025. Natürlich sind die vielen guten Jobs auch das Rückgrat unserer sozialen Sicherheit. Der Sozialstaat ist Teil unseres Wohlstands. Das sollten wir auch immer im Bewusstsein haben. Wenn es uns wirtschaftlich weiter so gut gehen soll, dann dürfen wir uns natürlich nicht auf den heutigen Erfolgen ausruhen. Innovationen und wirtschaftlicher Erfolg stehen in einem direkten Zusammenhang. Wenn wir dauerhaft Wohlstand für alle sichern wollen, dann brauchen wir Fortschritt für alle. Dieser Fortschritt umfasst Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen, und er muss immer auch den sozialen Ausgleich berücksichtigen. Ein wesentlicher Treiber von Fortschritt sind Bildung und Forschung. Dies ist auch der Grund, warum wir auf Bundesebene unsere Ausgaben dafür kontinuierlich erhöht haben. Auch 2017 verzeichnet der Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ein Plus von über sieben Prozent gegenüber dem Vorjahr. Er umfasst 17,6 Milliarden Euro. Es stand noch nie so viel Geld für Bildung und Forschung zur Verfügung. Daran müssen wir auch in der kommenden Legislaturperiode anknüpfen, denn wir haben jetzt den drei-Prozent-Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt erreicht, wozu die staatlichen Stellen ein Drittel und die Wirtschaft zwei Drittel beisteuern. Aber wir müssen weitergehen, denn Länder wie Südkorea oder Israel haben deutlich höhere Forschungsausgaben. Wir wollen 3,5 Prozent bis 2025 erreichen. Und wir wollen vor allen Dingen, dass alle Bereiche gleichermaßen forschen und entwickeln. Wir stellen fest, dass im Mittelstand die Forschungsfreudigkeit in einigen Bereichen nachgelassen hat. Deshalb ist nach unserer Meinung in der kommenden Legislaturperiode das Instrument der steuerlichen Forschungsförderung einzuführen. Wir können steuerpolitisch auch noch mehr tun, gerade bei der Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen, ohne aber gleichzeitig andere zu belasten. Und wir müssen den Solidaritätszuschlag abbauen, natürlich für alle. Wir wollen zudem insbesondere Familien stärken. Die Pläne gehen unter anderem dahin, auch den Bau oder den Erwerb einer Wohnung oder eines Hauses zu unterstützen. Ich lehne Steuerverschärfungen, Verschlechterungen bei der Erbschaftsteuer und die Wiederbelebung der Vermögensteuer ab. Dies zerstört Leistungsbereitschaft und wirtschaftliches Wachstum. Meine Damen und Herren, wir können uns glücklich schätzen, dass wir mit der Sozialen Marktwirtschaft ein bewährtes Leitbild haben. Die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft sind nach meiner Auffassung zeitlos. Wir sind sehr gut beraten, uns immer wieder auf diese Prinzipien zu besinnen. Ein erfolgreiches Modell wie die Soziale Marktwirtschaft bietet Halt und Orientierung, gerade auch in Zeiten der Globalisierung und der Digitalisierung. Lieber Herr Minister Holthoff-Pförtner, jetzt ist es Zeit für die Diskussion. Sie haben einmal gesagt – ich zitiere: „Beim Politischen Forum Ruhr tauscht sich im Auditorium der Wissenschaftler mit dem Sportler, der Medienmacher mit dem Ingenieur, der Ökonom mit dem Künstler, der Dichter mit dem Computerfreak, der Biotechniker mit dem Diplomaten und der Handwerksmeister mit dem Musiker im Ambiente einer modernen, weltoffenen Bürgergesellschaft aus.“ Vielleicht lässt sich in der Aufzählung noch die Bundeskanzlerin ergänzen, die sich dann gleich mit einem Journalisten austauscht. Aber es werden ja auch Fragen aus dem Auditorium gestellt. Als Sie vor über 25 Jahren das Forum gründeten, konnten Sie noch nicht wissen, wie sich die Gesprächskultur weiterentwickeln würde, wie sich etwa durch die sozialen Medien und ihre Schnelligkeit die Kommunikation verändert. Doch auch im digitalen Zeitalter bleibt der intensive Austausch von Meinungen und Erfahrungen im direkten Gespräch wichtig, sozusagen ganz analog und ohne Zeichenbegrenzung. Daher freue ich mich jetzt auf die Gesprächsrunde. Es gibt nur eine Zeitbegrenzung. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung der neuen Brainlab-Firmenzentrale am 11. Juli 2017 in München
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-eroeffnung-der-neuen-brainlab-firmenzentrale-am-11-juli-2017-in-muenchen-430158
Tue, 11 Jul 2017 16:30:00 +0200
München
Sehr geehrter Herr Vilsmeier, sehr geehrte Frau Ministerin, liebe Ilse Aigner, liebe Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und dem Landtag, werte Gäste, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Brainlab, dies ist natürlich ein guter Tag. Herr Professor Schramm hat das eben schon aus der Perspektive der Nutzer gesagt. Sie weihen heute ganz offiziell Ihr neues Gebäude ein, und das ist in vielerlei Hinsicht ein Fortschritt und Ausdruck eines innovativen Unternehmens. Herr Vilsmeier, Sie haben uns gezeigt, was Sie alles geschaffen haben, wie Sie sich entwickelt haben. Sie haben schon fast eine kleine Museumsstrecke aufbauen können, auf der man auf einem Zeitstrang von 1989 bis heute sehen kann, wer wann amerikanischer Präsident war oder wann Lady Di gestorben ist und wie sich gleichzeitig Ihre Entwicklung dargestellt hat. Da ist also wirklich etwas entstanden. Darauf werden die Eltern auch stolz sein. Wenn Sie heute 1.300 Menschen beschäftigen und in vielen Ländern dieser Erde aktiv sind, dann zeigt das, dass Sie ein guter Botschafter eines innovativen Deutschlands sind. Dass Sie es gleichzeitig noch geschafft haben, museale Gegenstände wie diesen Flughafentower in ein hochmodernes Unternehmen zu integrieren, ist vielleicht bayerisches „Laptop und Lederhosen“ in Realisierung, so wie das der Erfinder dieses Spruches immer gewünscht hat. Mit dem waren Sie ja auch auf Reisen, wie ich gehört habe. Wir konnten uns davon überzeugen, was Sie geschaffen haben, was Sie jeden Tag entwickeln und wie Sie Ihre Kunden betreuen. Dann fragt man sich natürlich: Wozu braucht es dann noch die Politik? Offensichtlich hat man Ihnen nicht zu viele Steine in den Weg geworfen und gestellt. Sie haben das, was Sie erreichen wollten, erreicht. Wir machen dauernd Gesetze und quälen uns mit Datenschutz-Grundverordnungen herum. Wir haben gar nicht darüber gesprochen, wie Sie das befördert oder behindert. Das müsste man dann in einem zweiten Gespräch machen. Tatsache ist aber, dass wir jetzt Ihre Möglichkeiten der Behandlung in den verschiedenen Bereichen der Chirurgie haben. Auf der anderen Seite haben wir die Krankenhäuser in Deutschland und weltweit, die diese Technologien anwenden können. Als ich mich auf die Reise hierher vorbereitet habe, habe ich mir gedacht, dass ich das einmal in meinem Videopodcast anspreche, den ich jede Woche mache. Dazu kam ein Chirurg von der Charité, der mir dann lauter schwierige Fragen gestellt hat: wie lange es dauert, bis man so etwas anwenden kann, dass es woanders schneller geht, die Zulassung zu bekommen, und ähnliches. Das heißt also: Wir brauchen Unternehmen wie Sie, die etwas entwickeln, aber wir brauchen natürlich auch die Rahmenbedingungen, damit der deutsche Markt nicht etwa verkümmert, sondern sich genauso gut entwickelt wie andere Märkte dieser Welt. Wir sind mit einigen unserer Gesetze sehr zufrieden. Auf unserem letzten IT-Gipfel bzw. Digital-Gipfel, wie er jetzt heißt, hatten wir das Thema E-Health auf der Tagesordnung. Wir haben dazu auch ein Gesetz gemacht. Wir müssen über die Frage sprechen, das ist vielleicht nicht Ihre Hauptanwendung: Was machen wir mit all den Daten, die jetzt anfallen? Denn durch diese Daten in anonymisierter Form können wir vieles über die Patienten lernen. Wir könnten natürlich auch vollkommen neue Prognosen für Krankheitsentwicklungen, Präventivmaßnahmen und Ähnliches erhalten. Die Wertschöpfung wird auf der einen Seite in der Weiterentwicklung Ihrer Technologien liegen, auf der anderen Seite aber auch in der Nutzung dieser unglaublichen Datenmengen zum Zwecke qualitativ besserer Gesundheitsversorgung und qualifizierter Voraussage von Krankheitsbildern. Deutschland ist von der Hardwareentwicklung und auch von der Softwareentwicklung her in diesen Anwendungsbereichen relativ gut, auch weil wir eine sehr ausgeprägte Medizintechnik haben, auf die sozusagen die Digitalisierung aufgesetzt hat, und weil wir in der Kombination herausragend arbeiten. Wir müssen aber eben auch bei der Frage der verschiedenen Applikationen aufpassen, dass uns da nicht andere weit voraus sind und uns den Markt streitig machen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir in Deutschland, aber auch in Europa insgesamt den entsprechenden Rahmen schaffen. Dazu dient die sogenannte Datenschutz-Grundverordnung, die im Mai nächsten Jahres in Kraft tritt. Ich werde mich nach diesem Besuch noch einmal besonders danach erkundigen, welche Wirkungen sie im Gesundheitsbereich entfacht. Denn es gibt im Zusammenhang mit dieser Verordnung noch eine ganze Reihe von unbestimmten Rechtsbegriffen, die erst einmal ausgefüllt werden müssen. Ich habe gehört, dass Sie auch einen Juristen brauchen. Es ist aber vielleicht gut, wenn wir nicht jeden unbestimmten Rechtsbegriff erst durch alle Instanzen durchklagen müssen, sondern in Europa gleich vernünftige Auslegungsvorschriften finden können. Das ist für die Anwendung sehr wichtig. Wir waren ja die Gastgeber des G20-Gipfels, wie Sie hören und sehen konnten. Wir haben in der Vorbereitung des Treffens auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs zum ersten Mal unter den 20 führenden Industrienationen ein Treffen der Digitalminister und zum ersten Mal ein Treffen der Gesundheitsminister gehabt. Die Gesundheitsminister haben sich noch nicht mit den Digitalministern vereinigt, sondern sie haben jeweils etwas unterschiedliche Dinge bearbeitet. Die Digitalminister müssen ein weltweites „level playing field“ finden, um den Umgang mit der Digitalisierung etwas zu ordnen. Denn ansonsten kann es zu Entwicklungen kommen, wie wir sie bei den Finanzmärkten hatten, wo wir überhaupt keine Ordnung hatten und jeder gemacht hat, was er wollte, was auf Dauer dann eben doch zu Fehlentwicklungen führen kann. Die Gesundheitsminister haben sich mehr mit der Ausbreitung von Pandemien und Ähnlichem beschäftigt. Das ist ein anderes Feld. Für uns in Deutschland sind jetzt eigentlich zwei bis drei Dinge wichtig. Die Marktchancen können wir am besten im europäischen Binnenmarkt entwickeln. Es war für mich sehr interessiert, hier die Mitarbeiter zu besuchen, die mit der Zulassung zu tun haben, und zu sehen: Es gibt eine Zulassung für ganz Europa. Das ist wirklich wegweisend. Denn dann erreicht man in Zukunft einen Markt von 440 Millionen Menschen. An dieser Stelle zeigt sich aber auch die Sinnhaftigkeit von Handelsabkommen, durch die Zulassungen einfach übertragen werden können, sodass sie nicht doppelt und dreifach erreicht werden müssen. Wahrscheinlich müssen dann auch Softwareentwicklungen nicht adaptiert werden, sondern es kann mit einer Software gearbeitet werden. Wir brauchen natürlich die entsprechende Infrastruktur. Denn es wird auf der einen Seite wichtig sein, dass wir Gesundheitszentren haben, an denen diese herausragenden Operationstechnologien auch genutzt werden. Das Thema Telemedizin ist aber auch für die gleichwertige Gesundheitsversorgung der Bevölkerung wichtig, wenn es darum geht, Ratschläge von Spezialisten für Ärzte in normalen Versorgungskrankenhäusern zu bekommen. Darüber hinaus brauchen wir auch immer mehr die Möglichkeit der Echtzeit-Datenübertragung. In dieser Hinsicht hat Deutschland, was die Infrastruktur anbelangt, noch sehr viel zu tun. Das ist für Sie, die Sie stationär arbeiten, nicht ganz so dramatisch. Aber wir müssen hier noch an vielen Stellen vorangehen. 1989 sind Sie ein Start-up gewesen und haben sich ohne all die Sachen, über die wir jeden Tag sprechen, dass wir die Bedingungen für solche Unternehmen verbessern müssen etc., irgendwie durchgekämpft. Das ist erfreulich, aber der Markt hat sich jetzt sehr intensiviert. Deshalb ist es für uns wichtig, für Start-ups Venture Capital und all diese Dinge hinzubekommen. Die Frage, wie wir gerade mit dem sehr dynamischen amerikanischen Umfeld klarkommen, steht immer wieder im Raum, genauso wie die Frage von strategischen Entwicklungen. Sie haben es geschafft, Marktführer zu werden. Viele andere sind bereits in einer früheren Phase, in der sie noch kleiner waren, in anderen großen Unternehmen außerhalb Deutschlands aufgegangen. Deshalb bin ich heute sehr gerne hier, um zu zeigen: Man kann es hinbekommen, man kann es schaffen, und man kann seine Innovationsfähigkeit auch unter den Bedingungen in Deutschland gut einsetzen. Neben der Infrastruktur ist ein weiteres großes Thema das der Fachkräfte. Ich mache mir sehr viele Gedanken darüber, wie wir eigentlich in Deutschland junge Menschen davon überzeugen können, doch mehr in den Bereichen, die zum Beispiel bei Ihnen eine Rolle spielen, in die Ausbildung zu gehen. Es gibt hier ja ganz verschiedene Ausbildungsgänge: Ingenieure, Informatiker, Designer. Die Frage „Wie können wir den jungen Menschen von heute deutlich machen, wie in einer relativ disruptiven Zeit die Berufsbilder von morgen aussehen?“ wird eine ganz wichtige sein, genauso wie es von großer Wichtigkeit sein wird, Ausbildungsgänge zu modernisieren. Professor Schramm hat hier dargestellt, wie sich sein Leben in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert hat. Ausbildung immer wieder auf neuestem Stand durchzuführen, ist ziemlich schwierig. Wir haben deshalb in unserer politischen Arbeit verschiedene Dinge gemacht. Wir haben durch Kombination und durch eine Grundgesetzänderung eine Verbindung zwischen den außeruniversitären Forschungseinrichtungen und den Universitäten geschaffen, einfach auch, um die Universitäten an den Forschungsergebnissen gut teilhaben zu lassen. Wir haben dadurch, dass der Bund die BAföG-Leistungen übernommen hat, den Ländern mehr Spielraum für die Universitäten gegeben, um im Forschungsbereich und auch in der Lehre besser zu sein. Wir müssen jetzt aber gerade auch im Schulbereich die Segnung der Digitalisierung schnell unter die Kinder bringen. Neulich waren die Preisträger von „Jugend forscht“ bei mir zu Gast. Ich habe sie gefragt, wer mit der Digitalausbildung in seiner Schule zufrieden ist. Da gingen von 90 Anwesenden drei Hände hoch: einer kam aus Baden-Württemberg, zwei kamen aus Bayern. Es war eine sehr überschaubare Zahl derer, die anwesend waren. Wir müssen daher überlegen, wie wir die Lehrer für die Digitalisierung begeistern, damit sie das auch den Kindern beibringen. Denn diese sind der Nachwuchs von morgen für Sie. An all dem arbeiten wir gerade auch im Deutschen Bundestag mit den verschiedensten Programmen. Deshalb ist, nachdem ich Ihr schönes Haus und Ihre tollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, jedenfalls einige, besuchen konnte und mich im Kurzdurchgang informieren konnte, was hier bei Ihnen alles los ist, mein Wunsch und meine Bitte: Wenn Sie Ideen haben, wie wir gerade in den Bereichen Bildung und Rechtsetzung besser und schneller sein können, dann scheuen Sie sich nicht, uns das zum Beispiel über Ilse Aigner oder die Bundestagsabgeordneten wissen zu lassen. Denn wir sind ja mit der täglichen Politik beschäftigt, die nicht nur Digitales umfasst, sondern manchmal auch ein bisschen Außenpolitik oder Finanzpolitik oder so etwas. Wir müssen in dieser rasanten Entwicklung mitlernen und versuchen, das zu verstehen, wenn wir innovativ bleiben wollen. Deshalb ist es mir sehr wichtig, dass man diesen Austausch hat. Wir haben mit unseren Digital-Gipfeln jedes Jahr im Grunde eine gute Zusammenarbeit etabliert, auch mit der Wirtschaft. Wir versuchen, die Industrie 4.0 unter die Menschen zu bringen und auch den kleinen und mittelständischen Unternehmen nahezulegen. Sie alle, die Sie hier sind, wissen das. Deshalb predigt man hier in der falschen Kirche. Aber nicht jeder ist schon so weit, wie Sie es sind. Deshalb bleibt mir zum Schluss nur, danke schön zu sagen, danke schön auch für das Vorleben eines Unternehmens mit wahrscheinlich vergleichsweise flachen Hierarchien und guten Kommunikationsmöglichkeiten. Auch das muss ja im deutschen Mittelstand nach Jahrzehnten relativ hierarchischer Arbeit erst einmal gelernt werden. Die Tatsache, dass die Jungen den Alten etwas beibringen und es manchmal aufgrund von Lebenserfahrung sicherlich auch in die andere Richtung geht und die ganze Art und Weise der Kontaktpflege sind schon interessante, auch interaktive menschliche Erfahrungen, die Sie hier ermöglichen. Deshalb hoffe ich einmal, dass es Ihnen so viel Spaß macht, wie Sie eben gezeigt haben. Es gibt sicherlich auch Grübelstunden. Und manchmal ist bestimmt auch Druck da, wenn ein Produkt fertig werden muss. Ich vermute einmal, so ganz von alleine und mit einer kleinen Yogastunde kommt der Erfolg auch nicht. Vielmehr bedarf es wohl auch viel Anstrengung und auch viel Willens. Ich glaube aber, der Ort ist motivierend. Deshalb wünsche ich Ihnen allen, dass Sie sich an diesem neuen Ort wohlfühlen, weiter Erfolg haben und ein guter Botschafter Deutschlands sind. Herzlichen Dank, dass ich heute hier dabei sein konnte.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des Bayerischen Wirtschaftsgesprächs der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft am 11. Juli 2017 in München
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-des-bayerischen-wirtschaftsgespraechs-der-vereinigung-der-bayerischen-wirtschaft-am-11-juli-2017-in-muenchen-425804
Tue, 11 Jul 2017 14:15:00 +0200
München
Sehr geehrter Herr Gaffal, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Horst Seehofer, sehr geehrte Frau Ministerin, liebe Ilse Aigner, lieber Theo Waigel – ich grüße hiermit auch alle anderen, die aus dem politischen Umfeld gekommen sind, lieber Herr Kramer, meine Damen und Herren, ich bin in der Tat beeindruckt von der Größe dieses Saals und der Zahl der besetzten Sessel. Das ist schon beeindruckend und deutet auf die prosperierende bayerische Wirtschaft hin. Ich möchte mich deshalb ganz herzlich dafür bedanken, dass Sie mich zum heutigen 39. Bayerischen Wirtschaftsgespräch eingeladen haben. Vorweg will ich Ihnen gleich Dank sagen. Sie haben eben angesprochen, was Sie gerade auch im Bereich der Integration von Flüchtlingen geleistet haben. Das kann sich sehen lassen. Das ist sehr pragmatisch. Das ist, denke ich, auch gut abgestimmt zwischen der Staatsregierung und der bayerischen Wirtschaft. Danke schön dafür. Natürlich weiß auch ich, dass die Integration der Flüchtlinge ein langer Weg ist, den man kontinuierlich weitergehen muss. Aber gerade weil die bayerische Wirtschaft gut dasteht, ist es den Versuch wert, hierbei Hand anzulegen und etwas zu tun. Ihre Vereinigung vertritt die Interessen von 133 bayerischen Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden. Die Mitgliedsverbände zeichnen für etwa 4,7 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte verantwortlich. Das sind in der Tat beeindruckende Zahlen. Die Entwicklung der bayerischen Wirtschaft ist genauso beeindruckend. Der Zuwachs der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung war hier seit 2005 höher als in allen anderen Ländern. Die Arbeitslosigkeit hat sich mehr als halbiert. Deutschlandweit haben wir fast eine Halbierung geschafft, aber Bayern zieht hier sozusagen vornweg. In vier von zehn bayerischen Kreisen und kreisfreien Städten liegt die Arbeitslosenquote heute auf einem Niveau, das wir als Vollbeschäftigung ansehen können. Sie wissen, dass wir von der Union uns vorgenommen haben, dieses Ziel bis 2025 für ganz Deutschland zu erreichen. All das ist nur möglich, weil viel Unternehmergeist da ist, der den bayerischen Wirtschaftsmotor antreibt, und auch eine bayerische Staatsregierung, die alles dafür tut, dass sich die Wirtschaft in Bayern wohlfühlt. Es ist viel Innovationsstärke, die hier unter der, an manchen Stellen mehr wörtlichen als sprichwörtlichen, Motorhaube steckt. Sie haben viele Unternehmenslenker, die gut und gern investieren. Damit Sie auf der Erfolgsspur bleiben, muss auch für die Zukunft immer wieder vorgesorgt werden. Was zeichnet die bayerische Wirtschaft besonders aus? – Dass sich viele Unternehmer den heimischen Standorten sehr stark verbunden fühlen, es aber gleichzeitig auch verstehen, die Welt als Markt zu sehen und sich an ihr auszurichten. Diese globale Ausrichtung ist sowohl Erfolgsrezept als auch permanente Herausforderung. Wir wissen, dass die Konkurrenz und der Wettbewerb groß sind und dass die Entwicklung sehr dynamisch, rasant und, wie man heutzutage sagt, an vielen Stellen auch disruptiv ist. Das alles verändert unseren Alltag, unsere Arbeitswelt, unsere Produktion, den Handel, unseren Umgang mit Daten und Informationen. Die Welt ist vernetzter geworden und wird es täglich mehr. Sie wird damit auch unübersichtlicher und komplizierter. Deshalb kann ich sehr gut nachvollziehen, dass sich viele Menschen fragen, ob es das, was sie heute als sicheren Arbeitsplatz erleben, morgen noch gibt, und dass auch viele Unternehmen diesen Veränderungsdruck spüren. Deshalb ist es wichtig, dass wir diese Sorgen ernstnehmen und die richtigen Antworten finden. Entweder folgt man dem spontanen Schutzreflex und schottet sich ab, oder aber, das ist die Alternative, man nimmt die Herausforderung an und gestaltet den Wandel mit. Vor diesen Optionen stehen wir. Ob wir es wollen oder nicht: Die Globalisierung ist Tatsache. Entweder wir gestalten sie mit, oder wir überlassen anderen das Feld und nehmen damit in Kauf, dass das nicht unseren Werten und auch nicht unseren Interessen entspricht. Deshalb bin ich zutiefst überzeugt, dass demjenigen, der sich auf die Globalisierung einlässt, auch Chancen offenstehen. Kein Land allein kann die Globalisierung gestalten. Kein Land allein kann die Potenziale der Digitalisierung nutzen, die sich in einer vernetzten Welt bieten. Kein Land allein kann die Ursachen von Flucht und Migration oder den Klimawandel erfolgreich bekämpfen. Deshalb kann gar nicht oft genug betont werden: Globale Aufgaben erfordern globale Antworten. Eine vernetzte Welt braucht gemeinsame Ansätze. Das hat uns auch auf dem G20-Gipfel, der am Wochenende in Hamburg stattgefunden hat, geleitet. Neben den G20-Ländern waren alle zentralen internationalen Institutionen und Organisationen vertreten und auch Vertreter von Regionalorganisationen anwesend, zum Beispiel der Regionalorganisationen Afrikas, also der Afrikanischen Union, und Asiens in Form der APEC. Der G20-Gipfel hat unter sehr schwierigen Ausgangsbedingungen stattgefunden. Denken Sie etwa an die Neupositionierung der Vereinigten Staaten von Amerika, bei der doch auch ein Stück Skepsis hinsichtlich der Frage durchscheint, wie die Globalisierung in den letzten Jahren verlaufen ist, wie viele Menschen davon profitieren konnten und wie viele nicht. Aber diese Erscheinung, die wir in den Vereinigten Staaten von Amerika sehen, gibt es in vielen Ländern, sodass wir bei G20 auch nicht mehr einfach nur über Wachstum sprechen, sondern über inklusives Wachstum. Herr Gaffal, Sie haben es gesagt: Die Soziale Marktwirtschaft bietet uns eigentlich eine gute Ausgangsposition, um zu sagen, dass Globalisierung Chancen für alle bedeuten kann und dass es keine Verliererposition sein kann, wenn an anderer Stelle etwas gewonnen wird. Das heißt: Wir haben uns bemüht, gemeinsame Antworten zu finden, aber den Dissens, wo er offensichtlich war, nicht zu übertünchen. Bei diesem G20-Treffen ist es gelungen, das spiegelt sich schon in der Präambel wieder, deutlich zu machen, dass wir alle miteinander davon überzeugt sind, dass wir gemeinsam mehr erreichen können als jeder von uns allein. Ich möchte drei Themen herausgreifen. Erstens das von Ihnen schon genannte Thema der Digitalisierung. Wir haben unsere G20-Präsidentschaft unter das Motto gestellt: „Eine vernetzte Welt gestalten“. Wir wissen, dass sich in der digitalen Ökonomie viele, fast unendlich viele neue Geschäftsmodelle entwickeln. Wir müssen diese Innovationspotenziale erkennen und nutzen. Das bedeutet vor allen Dingen, dass wir lernen müssen, mit großen Mengen an Daten umzugehen und aus ihnen neue Produkte zu machen, natürlich unter Berücksichtigung des gleichzeitigen Bedürfnisses nach hohem Datenschutz und nach hoher Datensicherheit. Wir haben im Rahmen der G20 zum ersten Mal ein Treffen der Digitalminister gehabt. Wir wollen in Europa einen digitalen Binnenmarkt schaffen. Wir haben im Rahmen der G20 einen Fahrplan festgelegt, der die Richtung für die gemeinsame Arbeit vorgibt. Denn bis zu internationalen Regelungen im Bereich der Digitalisierung ist es noch ein weiter Weg. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass Digitalisierung genau solche Leitplanken braucht, was wir in anderen Bereichen der Rechtsetzung, zum Beispiel mit Blick auf die Finanzmärkte, erst bitterlich lernen mussten. Besonders spannend war das auch im Zusammenhang mit der Diskussion über den internationalen Terrorismus, bei dem gerade die Frage der Internetplattformen, der sozialen Medien, eine zentrale Rolle spielt. Die Frage, wie man dabei auch eine Verantwortlichkeit der Anbieter solcher sozialer Medien herbeiführt, wird uns in der G20 noch eine ganze Weile beschäftigen. Zweitens haben wir uns während der deutschen G20-Präsidentschaft mit der Klima- und Energiepolitik beschäftigt. Ich bedauere unverändert, dass sich die amerikanische Administration für den Ausstieg aus dem Pariser Abkommen entschieden hat. Umso wichtiger ist es, dass sich die 19 anderen G20-Partner in der gemeinsamen Abschlusserklärung zur historischen Klimaschutzvereinbarung von 2015 bekannt haben. Wir haben deutlich gemacht, dass das Pariser Abkommen unumkehrbar ist. In Deutschland setzen wir auf Ressourcen- und Energieeffizienz und auf den Ausbau erneuerbarer Energien. Wir wollen das aber auch als Exportfaktor einsetzen, zum Beispiel in den afrikanischen Ländern. Wir müssen darauf achten, dass wir ökologische und ökonomische Interessen so zusammenbringen, dass Deutschland als Innovationsstandort weiterhin ein weltweit gefragter Partner ist. Das dritte Thema, das ich im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel nennen möchte, ist das Thema Außenhandel. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass offene Märkte wirtschaftlichen Fortschritt mit sich bringen, und zwar für alle Handelspartner. Wir können gerade in Asien sehr viele Beispiele dafür finden, wie sich durch eine bessere Einbindung in die Weltwirtschaft Armut verringern und Wohlstand aufbauen lässt. Wir haben bei der G20 sagen können, dass wir eine Präferenz für offene Märkte und einen freien und fairen Handel haben und dass wir gegen protektionistische Maßnahmen vorgehen wollen. Internationale Wertschöpfungsketten dürfen nicht behindert werden. Sie dürfen auch nicht durchtrennt werden. Wer dies tut, schadet letztlich allen Beteiligten, auch sich selbst. Deshalb setzen wir uns für ein multilaterales Handelssystem ein, das auf den Regeln der Welthandelsorganisation beruht. Das kann natürlich durch bilaterale und regionale Handelsabkommen ergänzt werden. Über ein solches Handelsabkommen verhandeln wir in Europa gerade mit den MERCOSUR-Staaten. Die Europäische Union hat auch kurz vor dem G20-Gipfel die Grundsatzeinigung zum EU-Japan-Abkommen geschafft. Darüber hinaus werden wir jetzt das Abkommen mit Singapur voranbringen. So sind wir gerade bei den bilateralen Abkommen auf einem guten Weg. Auch ein transatlantisches Abkommen bleibt für mich auf der Tagesordnung. Dass die Verhandlungen im Augenblick nicht weitergehen, bedeutet nicht, dass es nicht von großem Nutzen für uns alle sein könnte. Die neue Administration ist zu solchen Verhandlungen durchaus bereit. Gerade weil wir in solche Handelsabkommen, siehe CETA – das Abkommen mit Kanada, verstärkt soziale und ökologische Standards mit hineinnehmen können, können sie weltweit Standards setzen. Deshalb ist das aus meiner Sicht eine gute Sache. Wenn man sich allein die bayerischen Unternehmen anschaut, dann sieht man, dass sie im vergangenen Jahr Waren im Wert von über 20 Milliarden Euro in die USA exportiert haben. Das ist ungefähr ein Neuntel der gesamten Exporte aus Bayern, also schon eine relevante Größe. Wenn man allerdings einen Blick auf den europäischen Markt wirft, dann zeigt sich, dass mehr als die Hälfte der bayerischen Exporte in die Märkte der Europäischen Union geht. Das entspricht auch dem Anteil bei den gesamtdeutschen Ausfuhren insgesamt. Daran zeigt sich, welche Vorteile ein einheitlicher Binnenmarkt mit sich bringt. Deshalb ist es wichtig, dass wir Europa fit machen. Sie haben es gesagt. Wir haben jetzt durch eine gemeinsame Kraftanstrengung den Weg heraus aus der Staatsschuldenkrise einiger Euro-Länder genommen. Allerdings sind wir mit Blick auf die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank noch nicht da, wohin wir eines Tages wieder kommen wollen. Aber die gute Nachricht heißt: Alle Mitgliedsstaaten des Euroraums haben im Augenblick wieder Wachstum. Millionen neuer Arbeitsplätze sind entstanden. Das gibt zumindest Mut und zeigt, dass wir auf einem richtigen Weg sind. Meine Damen und Herren, wir alle spüren, das ist in den letzten Monaten noch einmal sehr deutlich geworden, welchen Wert Europa für uns alle hat. Um das zum Ausdruck zu bringen, haben wir uns im März dieses Jahres in der italienischen Hauptstadt Rom aus Anlass der Verabschiedung der Römischen Verträge vor 60 Jahren noch einmal versammelt und eine gemeinsame Agenda beschlossen. Dabei sind wir uns auch noch einmal darüber klar geworden, dass Europa natürlich viel, viel mehr ist als nur ein Wirtschaftsprojekt. Europa hat unmittelbar mit Krieg und Frieden zu tun. Unsere Werte werden wir nur bewahren können, wenn wir schrittweise auch in einem gemeinsamen außenpolitischen Auftritt gemeinsame Interessen vertreten. Gerade beim letzten Europäischen Rat, aber auch bei dem ersten europäischen Trauerakt für den europäischen Ehrenbürger und früheren Bundeskanzler Helmut Kohl am 1. Juli wurde spürbar, wie bedeutend der europäische Einigungsprozess für unser tägliches Leben und für unsere Zukunft ist. Meine Damen und Herren, daran wird auch der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union nichts ändern. Man kann fast sagen, dass das Gegenteil der Fall ist. Denn das hat uns noch einmal Schwung gegeben, als verbleibende 27 Mitgliedstaaten darüber nachzudenken, wie wir nicht nur Austrittsverhandlungen führen, sondern wie wir auch unseren Weg beschreiben, den wir in den nächsten Jahren gehen wollen. Das heißt, dass wir auf der einen Seite eine enge Partnerschaft mit Großbritannien anstreben. Großbritannien selbst muss definieren, wie es sein zukünftiges Verhältnis mit der Europäischen Union gestalten will. Denn Großbritannien hat ja auch die Entscheidung getroffen. Aber die Mitteilung von Premierministerin Theresa May an die anderen 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die lautete: „Wir treten aus der Europäischen Union aus, aber nicht aus Europa“, war für uns schon eine wichtige Botschaft, dass alle weiterhin ein enges Verhältnis wollen. Wir 27 müssen neben den wahrscheinlich noch sehr mühevollen, weil sehr detaillierten Verhandlungen mit Großbritannien über den Austritt natürlich auch nach vorn schauen und überlegen, wie wir die europäische Integration weiter gestalten. Deshalb sollten wir uns als Deutsche immer bewusst sein, dass es auch Deutschland auf Dauer nur dann gut geht, wenn es Europa gut geht. Europa zu stärken heißt deshalb auch, Deutschland zu stärken. Dass dabei viel von den deutsch-französischen Beziehungen abhängt, ist nicht neu. Sie sind in der ganzen Geschichte der Europäischen Union von zentraler Bedeutung gewesen, wenn es darum ging, europäische Gedanken wirklich in Taten umzusetzen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und ich haben deshalb zum Beispiel vereinbart, einen Fahrplan zu entwickeln, der der Vertiefung der Europäischen Union dient, insbesondere mit Blick auf den Euroraum. Deutschland nimmt seine Verantwortung wahr. Die Voraussetzungen dafür sind so gut wie lange nicht. Wir haben nach relativ rascher Überwindung der internationalen Finanzkrise seit 2010 ein stetiges Wirtschaftswachstum. Die hier vertretenen Unternehmen vertreten einen guten Teil davon. Der Trend abnehmender Unternehmensinsolvenzen hat sich fortgesetzt. Im Augenblick gibt es so wenige Insolvenzen wie noch nie, seit die Insolvenzordnung 1999 in Kraft trat. Die Zahl der Erwerbstätigen liegt in Deutschland über der 44-Millionen-Grenze. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten hat sich seit 2005 um immerhin 5,5 Millionen Menschen erhöht. Man muss sich vorstellen, für wie viele Menschen das eine völlig veränderte Lebenslage bedeutet. Die Arbeitslosenzahl liegt mittlerweile unter 2,5 Millionen. Sie hat sich fast halbiert. Wir wollen, dass sie sich bis 2025 noch einmal halbiert, sodass wir das Ziel der Vollbeschäftigung erreichen können. Im Hinblick auf die Finanzen stehen wir gut da. Der Bundeshaushalt schreibt seit einigen Jahren schwarze Zahlen. Es gibt keine Neuverschuldung mehr. Das bedeutet gerade mit Blick auf den demografischen Wandel natürlich auch ein Stück Generationengerechtigkeit. Wir sind davon überzeugt, dass diese solide Finanzpolitik zum Vertrauen der Konsumenten beiträgt, das Konsumentenverhalten also auch verbessert. Nicht umsonst ist das Wachstum im Augenblick im Wesentlichen vom Binnenkonsum getrieben. Deutschland kann sich also sehen lassen. Aber wie Sie es schon gesagt haben, Herr Gaffal: Wir haben die schwarzen Zahlen und die guten Zahlen nicht gepachtet. Das heißt: Wir müssen immer wieder über gute Rahmenbedingungen nachdenken. Wir haben die Verkehrsinvestitionen in den vergangenen Jahren deutlich erhöht. Für 2018 haben wir eine Rekordsumme von rund 14,2 Milliarden Euro vorgesehen. Ein beträchtlicher Teil davon fließt nach Bayern. Das kommt auch einer besseren Anbindung von Wirtschaftsstandorten an den Fernverkehr zugute. Bei den Autobahnen A 3, A 6 und A 8 sowie Schienenprojekten wie der Nord-Süd-Hochgeschwindigkeitsachse zeigt sich: Bayern ist bei den komplizierten Planungsbedingungen immer noch eines der schnelleren, um nicht zu sagen das schnellste Bundesland. So fließen dann auch die Mittel hierher. Denn wir stellen fest, dass die Investitionen im Augenblick nicht eine Frage des zur Verfügung gestellten Geldes, sondern eine Frage der verfügbaren Planungskapazität sind. Deshalb wollen wir in der nächsten Legislaturperiode schauen, wo wir Planungsvorgänge vereinfachen können. Das ist auch eine Aufgabe für die europäische Ebene. Wir investieren natürlich auch in Zukunftstechnologien, insbesondere in Zukunftstechnologien der Mobilität. Das Testfeld für automatisiertes und vernetztes Fahren auf der A 9 ist dafür ein interessantes Beispiel. Bei der digitalen Infrastruktur sind wir dem Ziel näher gekommen, dass 2018 ein Anschluss mit mindestens 50 Megabit pro Sekunde für möglichst alle zur Verfügung steht. Ende 2016 verfügten immerhin 75 Prozent der Haushalte über einen Zugang mit entsprechenden Bandbreiten. Wir haben jetzt vier Milliarden Euro bereitgestellt, um diese Anbindung auch in den ländlichen Räumen, wo es sich wirtschaftlich nicht rechnet, zu erreichen. Die bayerischen Kommunen wissen diese Chance zu nutzen, allerdings auch die mecklenburg-vorpommerischen. Wir sind nur nicht so groß. Jedenfalls kommt knapp die Hälfte aller Förderanträge aus Bayern. Sie haben schon so nett von 100 Megabit gesprochen. Ich denke, wir sollten von 50 nicht auf 100 gehen, sondern dann gleich das Gigabitzeitalter ins Auge fassen. Wir werden insgesamt 100 Milliarden Euro investieren müssen, um bis 2025 ein entsprechendes Hochleistungsnetz zu schaffen. Das wird als Standortfaktor von erheblicher Bedeutung sein. Bundesminister Alexander Dobrindt hat dazu die Netzallianz gegründet. Wir wollen vor allen Dingen auch den 5G-Standard möglichst schnell herbeiführen, und haben die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür geschaffen. Morgen werden wir im Kabinett die 5G-Strategie verabschieden. Es wird dabei um die Versteigerung der entsprechenden Frequenzen gehen. Nach dieser Versteigerung werden wir dann auch die finanziellen Mittel haben, um staatlicherseits den Ausbau in denjenigen Gebieten zu fördern, in denen dies ansonsten nicht wirtschaftlich ist. Dann wird natürlich wiederum eine große Investitionswelle beginnen. Wir wissen, dass wir auch in Forschung und Entwicklung investieren müssen. Wir haben jetzt das Drei-Prozent-Ziel einigermaßen erreicht, also drei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt werden in Deutschland für Forschung und Entwicklung ausgegeben. Wir wollen bis 2025 mit Blick auf Südkorea oder auf Israel auf 3,5 Prozent kommen. Das bedeutet zweierlei: Das bedeutet auf der einen Seite, das Drittel, das von den staatlichen Institutionen getragen wird, also unsere Forschungsausgaben im Haushalt, noch einmal zu erhöhen. Das bedeutet auf der anderen Seite aber auch, ein Investitionsumfeld zu schaffen, in dem die deutschen Unternehmen dann auch in Forschung und Entwicklung investieren. Weil wir sehen, dass es zwar Branchen gibt, in denen sehr hohe Investitionen getätigt werden, ich nenne beispielhaft die Automobilbranche, dass aber auf der anderen Seite kleinere und mittlere Unternehmen in den letzten Jahren eher weniger in Forschung investiert haben, haben wir uns jetzt entschieden, zu sagen: Wir wollen die steuerliche Förderung der Forschungsleistungen einführen. Das heißt, einen steuerlichen Anreiz für Forschungsausgaben zu schaffen. Das ist ein wichtiger und notwendiger Schritt, besonders auch nachdem ich Sie gehört habe. Ebenso wollen wir bei der Gebäudesanierung noch einmal einen Anlauf nehmen. Wir sind insgesamt in einer Situation, in der wir steuerliche Entlastungen in einem begrenzen Umfang ankündigen können. Das bedeutet, dass wir insbesondere für kleine und mittlere Einkommen Vereinfachungen und Reduktionen vornehmen wollen. Wir haben uns aber auch entschieden, niemanden im Einkommenssteuerbereich stärker zu belasten. Denn wir wissen, das ist meine Hauptargumentation, dass gerade sehr qualifizierte Arbeitskräfte, etwa Ingenieure oder Meister, sozusagen zur Leistung aufgefordert bleiben müssen, weil durch sie wiederum einfache Arbeitsplätze geschaffen werden. Das heißt, der Glaube, man würde allein dadurch, dass man die Kleinen entlastet, sofort mehr Arbeitsplätze schaffen, wird nicht aufgehen. Deshalb spalten wir das Land nicht, sondern sagen: Wir wollen allen einen gerechten und fairen Anteil an den Entlastungen geben. Ich brauche gar nicht zu sagen, dass wir keine Wiederbelebung der Vermögenssteuer wollen. Ehrlich gesagt: Nach den Anstrengungen um die Neuregelung der Erbschaftssteuer entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts muss man fast schon masochistisch veranlagt sein, wenn man sagt, dass man in der nächsten Legislaturperiode mit der Erbschaftssteuer wieder anfangen will. Wir werden das nicht tun. Das will ich klar sagen. Wir wollen den Solidaritätszuschlag schrittweise abbauen – möglichst schnell, das ist richtig, aber vor allen Dingen für alle und nicht wieder getrennt, also zuerst für die einen und dann vielleicht für die anderen. Das werden wir nicht tun, meine Damen und Herren. Angesichts der demografischen Herausforderungen, die wir sehen, brauchen wir gerade auch Entlastungen im Bereich von Familien mit Kindern, sei es das Baukindergeld, sei es die Angleichung des Freibetrages für Kinder an den der Erwachsenen und die damit verbundene Erhöhung des Kindergeldes. Wir sagen auch: Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist ein wichtiges Thema. Wir haben den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz. Wir haben den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Was jetzt logisch wirklich noch fehlt, ist der Rechtsanspruch auf eine Nachmittagsbetreuung in der Grundschule. Dafür setzen wir uns ein. Das wird vielen helfen. Meine Damen und Herren, wir sehen also, dass wir vor großen Herausforderungen stehen. Mit der Digitalisierung beginnt an vielen Stellen ein qualitativ neuer Zeitabschnitt, der von uns große Anstrengungen erfordert. Ich bin mir, wenn ich das so sagen darf, aber noch nicht hundertprozentig sicher, ob die Wirtschaft in ihrer Gesamtheit den revolutionären Geist schon voll erfasst hat. Ich glaube, dass jeder verstanden hat, dass die Digitalisierung im eigenen Unternehmen Einzug hält, und dass das, was wir mit Industrie 4.0 beschreiben, gut bewältigt wird, auch bis tief hinein in den Mittelstand. Ich bin mir aber noch nicht ganz sicher, ob sich die dramatische Veränderung, die sich durch die Möglichkeiten der Digitalisierung in den Geschäftsmodellen ergibt, schon überall abschließend verstanden wurde. Denn letztendlich werden sich die Beziehungen der Unternehmen zu ihren Kunden völlig verändern. Wir werden gleich zu Beginn der nächsten Legislaturperiode sehr klar hinschauen müssen, ob das, was man heute unter Plattformwirtschaft versteht, in Deutschland überhaupt mit den kartellrechtlichen Rahmenbedingungen gelebt werden kann. Die Menschen werden ja nicht mehr nur Beziehungen zum Beispiel zu einem Automobilanbieter oder zu einer Bahngesellschaft haben, sondern sie werden sich nach Mobilität erkundigen. Sie werden eine Mobilitätsplattform erwarten. Das, was jahrelang als deutsche Stärke gesehen wurde, nämlich eine hohe Fragmentierung, die auch dem Mittelstand mit seinen Angeboten eine Chance gegeben hat, muss heute auf einer völlig neuen Ebene wiederhergestellt werden. Vielleicht muss man drei Mobilitätsplattformen haben, aber mit Sicherheit wird nicht jeder einzelne Mobilitätsanbieter für sich seine Kundenbeziehungen klären können. Die Frage, wie die Interaktion der deutschen Unternehmen dabei gut gestaltet werden kann und wie wir dafür die rechtlichen Rahmenbedingungen setzen können, bereitet mir noch ziemlich viel Kopfzerbrechen. Darüber müssen wir gemeinsam diskutieren. Denn anderswo entwickelt sich das in ziemlich rasanter Geschwindigkeit. Eines ist auch klar: Um das alles zu verwirklichen, brauchen wir den europäischen digitalen Binnenmarkt. Denn ansonsten sind wir mit unseren rund 80 Millionen Einwohnern verglichen mit Ländern wie China, das mit über 1,3 Milliarden Einwohnern natürlich auch in solchen Plattformwirtschaften eine ganz andere Marktmacht entwickelt, viel zu klein. Es gibt also viel zu tun. Wir alle müssen daran arbeiten, dass wir in vier Jahren wieder genauso gut wie heute oder besser als heute dastehen. Das ist alles andere als gegeben. Aber das können wir hinbekommen.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Verleihung des Theaterpreises des Bundes
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-verleihung-des-theaterpreises-des-bundes-417458
Thu, 06 Jul 2017 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Ist es nicht kurios? – Kein Mensch muss heute noch ins Theater gehen, um sich unterhalten, berühren, inspirieren zu lassen oder vielleicht gar im Sinne des guten, alten Aristoteles eine kathartische Läuterung zu durchlaufen. Niveauvolle Unterhaltung, große Emotionen, inspirierende Nachdenklichkeit – all das findet man (mit einiger Sorgfalt bei der Auswahl) auch im Fernsehen, im Kino und bei Netflix, und dank YouTube kann man sich sogar eine Shakespeare-Inszenierung zuhause auf der Couch ansehen. Und doch scheint die Anziehungskraft des Theaters ungebrochen: Konstant um die 21 Millionen Menschen zieht es Jahr für Jahr in öffentlich finanzierte Theater. Und die Zahl der Inszenierungen an öffentlichen Bühnen ist in den vergangenen 25 Jahren um sage und schreibe rund 50 Prozent gestiegen. Kein Wunder! Denn bei aller medialen Konkurrenz bleibt das Theater doch einzigartig als Ort gesellschaftlicher Selbstreflexion und Selbstverständigung. Ins Theater geht man, um sich gemeinsam mit anderen mit allen Sinnen auf eine lebendige Bühnenwirklichkeit einzulassen – auf ein Gespräch, von dem, wenn sich der Vorhang schließt, ein vielstimmiges Echo bleibt. Mit dem Theaterpreis des Bundes würdigen wir dieses „Kontrastprogramm zur digitalen Einsamkeit“, wie die ehemalige Präsidentin des Deutschen Bühnenvereins, Barbara Kisseler, das Angebot der Theater einmal sehr treffend bezeichnet hat. Genauer gesagt: Wir würdigen die kleinen und mittleren Theater, die mit besonderen künstlerischen Leistungen landauf landab dafür sorgen, dass ein solches „Kontrastprogramm zur digitalen Einsamkeit“ in unserem Land überall zur kulturellen Grundversorgung gehört, zu einem Angebot, das allen Bürgerinnen und Bürgern offen steht. Denn als Einladung in einen gemeinsamen Denk- und Diskursraum sind Theater unverzichtbar für Austausch und Verständigung in der konfliktträchtigen Vielfalt einer Stadtgesellschaft. Theater reflektieren, was Menschen bewegt und umtreibt; sie verhandeln Konflikte, die in der Gesellschaft gären und die zwischen verhärteten Fronten argumentativ oft nicht mehr zu bewältigen sind. Was gerade die kleineren Bühnen, was gerade Theater fernab der Metropolen in diesem Sinne leisten, erfährt allerdings leider viel zu wenig Würdigung und Wertschätzung. Aus vielen Gesprächen mit Theaterschaffenden, aber auch aus den Erfahrungen meiner jüngsten Theaterreise, die mich im vergangenen Herbst nach Chemnitz, Halle, Jena und Senftenberg geführt hat, weiß ich, wie sehr viele Häuser angesichts der angespannten Finanzlage in den Kommunen einerseits um Anerkennung, insbesondere um auskömmliche finanzielle Zuwendungen, kämpfen müssen – und wie verheerend es andererseits wäre, wenn wir ausgerechnet auf unsere Theater verzichten müssten in der Auseinandersetzung mit Populismus, Rassismus und Nationalismus, oder allgemein gesprochen: mit Themen, die unsere Gesellschaft zu spalten drohen. Erst vor ein paar Tagen war ja in der Zeitung zu lesen, dass jetzt auf der Roten Liste der bedrohten Kultureinrichtungen des Deutschen Kulturrats drei weitere Theater stehen: das Bremer Musical Theater, die „Bühne der Kulturen“ in Köln und „Das Theater der Keller“, Kölns älteste Privatbühne. Der Bund hat, wie Sie wissen, aus verfassungsrechtlichen Gründen keine Möglichkeit, einzelne Bühnen institutionell zu fördern. Aber selbst wenn wir strukturelle Probleme auf Bundesebene nicht lösen können, so können wir doch ein Zeichen der Wertschätzung setzen und das Bewusstsein dafür schärfen, welche herausragende Bedeutung Theater als Orte künstlerischer Intervention und gesellschaftlicher Selbstverständigung haben. Darum geht es mir, das liegt mir sehr am Herzen, und deshalb freue ich mich, dass der Theaterpreis nicht nur als finanzielle Unterstützung, sondern vor allem als eben jener „Ermutigungspreis“ Wirkung zeigt und Anklang findet, als der er von Anfang an gedacht war. So schrieben mir Kay Kuntze und Volker Arnold stellvertretend für einen der Theaterpreisträger 2017, nämlich das vereinigte Fünf-Sparten-Theater „Bühnen der Stadt Gera / Landestheater Altenburg“: „Die Auszeichnung mit dem Theaterpreis des Bundes 2017 bedeutet uns sehr viel.“ Der Preis komme genau zu rechten Zeit, und ich zitiere weiter: „Nach einer Spielzeit nämlich, die von skandalisierenden Berichterstattungen über Fremdenfeindlichkeit gegenüber Ensemblemitgliedern und einem Theaterboykottaufruf eines ,Bürgerforums‘ begleitet wurde. In der Dynamik und Tonlage dieser permanenten medialen Öffentlichkeit war es eine besondere Herausforderung, die Aufgaben des Theateralltags stets mit der notwendigen Konzentration im Blick zu behalten. (…) Der Theaterpreis erfüllt nicht nur unsere dreihundertköpfige Belegschaft mit Stolz, sondern ist darüber [hinaus] ein wichtiges Signal in die strukturschwache Region Ostthüringen – und das mit dem Preis verbundene Geld öffnet uns weitere künstlerische Spielräume.“ Theater zu ermutigen, auch gegen politische Widerstände ihren künstlerischen Anspruch und ihr gesellschaftliches Selbstverständnis zu verteidigen – das ist das Beste, was wir uns für den Theaterpreis nur wünschen können, meine Damen und Herren! Deshalb hoffe ich, dass bei der nächsten Preisverleihung 2019 – die erneute Vergabe ist bereits im Haushalt meines Hauses abgesichert – auch Theater zum Zug kommen, die es diesmal aus der großen Gruppe der mehr als 130 Bewerbungen nicht in den kleinen Kreis der acht Preisträger geschafft haben. Sie alle lade ich herzlich ein, sich für den Theaterpreis 2019 erneut zu bewerben – zumal wir die Ausschreibungskriterien im Lichte der bisherigen Erfahrungen sicher noch einmal mit Fachleuten beraten und anpassen werden. Dem einen oder anderen wird ja beispielsweise aufgefallen sein, dass die Mehrheit der Preisträger in diesem Jahr doch aus Großstädten stammt. Dabei handelt es sich natürlich nicht um Dickschiffe des Theaterbetriebs, sondern – um im Bild zu bleiben – um überschaubar dimensionierte Forschungsschiffe, die nicht allzu üppig mit Treibstoff ausgestattet sind, aber in einzelnen, nicht gerade von öffentlicher Aufmerksamkeit verwöhnten Sparten wie dem Figurentheater oder dem Theater für Kinder und Jugendliche Wegweisendes leisten. Das ist großartig, das ist preiswürdig – und doch werden wir beraten müssen, wie wir noch mehr Theater in kleinen und mittleren Städten ins Rampenlicht holen können: auch als ermutigende Vorbilder für andere Häuser, die fernab vom Wahrnehmungsradar des überregionalen Feuilletons um ihre Zukunft kämpfen. So zeigt zum Beispiel das Theater Naumburg – Deutschlands kleinstes Stadttheater und Preisträger 2017 –, dass eine Theaterneugründung eine Alternative zur drohenden Schließung sein kann. Und das E.T.A. Hofmann Theater Bamberg hat vorgemacht, wie die Öffnung eines Hauses für ein größeres Publikum durch ungewöhnliche Repertoire-Arbeit und neue Kooperationen gelingen kann. Angesichts der beeindruckenden, schier überwältigenden Vielfalt an Theater- und Veranstaltungsformen, an ästhetischen Experimenten und Grenzüberschreitungen, an zukunftsweisenden Programmüberlegungen und innovativen künstlerischen wie auch pädagogischen Konzepten kann ich mir vorstellen, wie schwer es der Jury gefallen ist, aus vielen preiswürdigen die acht preiswürdigsten Bewerbungen auszuwählen. Liebe Frau Eilers, lieber Herr Kasch, liebe Mitglieder der Jury – ich danke Ihnen herzlich für das Durcharbeiten des dicken Ordners mit den Bewerbungsunterlagen und für Ihre Sorgfalt bei der Auswahl der Preisträger! Ein herzliches Dankeschön verdient auch das Zentrum Bundesrepublik Deutschland des Internationalen Theaterinstituts (ITI), dessen hohes Ansehen in der Welt vor allem mit der darin vertretenen, geballten Kompetenz deutscher Theaterschaffender aller Sparten und Formen zu tun hat. Damit war es uns einmal mehr eine außerordentlich wertvolle Unterstützung. Lieber Herr Dr. Engel, lieber Herr Freundt, liebe Frau Lautenschläger: Vielen Dank für die sachkundige Begleitung der Ausschreibung, die Aufarbeitung der Unterlagen und die Unterstützung bei der Vorbereitung der Preisverleihung und des Symposiums „Theater als soziale Räume der Öffentlichkeit“, das heute Nachmittag stattgefunden hat. Es freut mich sehr, dass dabei auch Preisträger des Jahres 2015 zu Wort kamen. Vor allem aber freue ich mich auf die Preisträgerinnen und Preisträger 2017 und bin gespannt, was wir gleich von Ihrer Arbeit erfahren werden! Ohne den Laudatoren vorgreifen zu wollen, darf ich schon einmal ankündigen, dass wir heute Abend auf dieser wunderbaren Bühne im Theater der Altmark „Überzeugungstäter“ im besten Sinne erleben werden: Künstlerinnen und Künstler, die mit Phantasie, Herzblut und Zivilcourage, mit viel Idealismus und hohem persönlichen Einsatz generationenübergreifend das wechselseitige Zuhören und Hinschauen über kulturelle, sprachliche, soziale, religiöse Grenzen hinweg kultivieren – und damit die wichtigsten demokratischen Tugenden überhaupt. Das verdient Aufmerksamkeit, Anerkennung und Applaus – ganz im Sinne des irischen Dramatikers George Bernard Shaw, der einmal gesagt hat: „Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“ Herzlichen Dank Ihnen allen: den „verrückten Leuten“ in den Theatern, die „den Normalen“ den Spiegel vorhalten! Herzlichen Glückwunsch, liebe Preisträger, zu Ihrer Auszeichnung mit dem Theaterpreis des Bundes 2017!
Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat acht kleine und mittlere Bühnen mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet. „Theater zu ermutigen, auch gegen politische Widerstände ihren künstlerischen Anspruch und ihr gesellschaftliches Selbstverständnis zu verteidigen – das ist das Beste, was wir uns für den Theaterpreis nur wünschen können“, erklärte Grütters bei der Preisverleihung in Stendal.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Übergabe zweier Pandabären an den Berliner Zoo am 5. Juli 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-uebergabe-zweier-pandabaeren-an-den-berliner-zoo-am-5-juli-2017-413906
Wed, 05 Jul 2017 15:45:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident Xi Jinping, sehr geehrte Frau Peng, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister Müller, sehr geehrter Herr Bruckmann, Herr Knieriem, sehr geehrter Herr Minister, Exzellenzen, meine Damen und Herren, Berliner haben ein ganz besonderes Verhältnis zu Bären und auch ein großes Herz für sie. Schließlich ist der Bär das Wappentier der Stadt. So verwundert es wenig, dass der Berliner Zoo berühmte Bärengeschichten geschrieben hat. Ein besonders schönes Kapitel und ein besonders langes Kapitel haben wir dem Panda Bao Bao zu verdanken. Er war 1980 aus China nach Berlin gekommen. Er erfreute unzählige Zoobesucher, bis er vor fünf Jahren starb – in hohem Alter. Er galt als weltweit ältester Pandabär in einem Zoo. Sie können sich sicherlich vorstellen, dass bald Wünsche laut wurden, wieder einen Panda zu beherbergen. Seit sich herauskristallisierte, dass sich der Wunsch erfüllen könnte, sind viele Zoofreunde im Pandafieber. Jiao Qing und Meng Meng werden sehnsüchtig von den Berlinerinnen und Berlinern erwartet. Ich durfte gerade eben einen Blick auf die Zuchturkunde werfen. Meng Meng und Jiao Qing haben bei der Geburt fast das Gleiche gewogen, einer 105 Gramm, einer 108 Gramm. Das Männchen Jiao Qing ist jetzt 112 Kilogramm schwer, das Weibchen 88 Kilogramm schwer. Das Weibchen ist vier Jahre jünger als das Männchen, das sieben Jahre alt ist. Jetzt wissen Sie alles. Die Ankunft in Berlin war bereits ein großes Ereignis. Aber heute, wenn wir nun die Möglichkeit haben, das neue Zuhause zu eröffnen, ist der Höhepunkt. Ich glaube, es wurde alles getan, damit sich die beiden hier wirklich wohlfühlen können. Schön ist, dass wir auch von den Pandabären in der freien Wildbahn bessere Nachrichten hören. Ich möchte allen, die sich bei der Zucht der Pandabären und auch bei ihrem Erhalt in der Wildnis engagieren, ein herzliches Dankeschön sagen. Denn die Weltnaturschutzunion konnte die Pandabären jetzt aus der Kategorie „vom Aussterben bedroht“ nehmen. Sie sind weiterhin gefährdet, aber immerhin haben wir doch einen Fortschritt erzielt. Dieses heutige Ereignis steht symbolisch für die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern. Wir haben mit Herrn Präsidenten Xi Jinping sehr intensive und auch die gesamte Breite der Probleme umfassende Gespräche geführt. Gerade auch im Rahmen von G20 haben wir vom letzten Jahr bis zu diesem Jahr sehr eng zusammengearbeitet. Voriges Jahr gab es den G20-Gipfel in Hangzhou, dieses Jahr die Veranstaltung in Hamburg, in Deutschland. Ich möchte mich auch dafür bedanken, dass China in letzter Zeit viel getan hat, um das Naturerbe zu erhalten, gegen den Wildtierhandel einzutreten, und zum Beispiel die chinesischen Märkte für Elfenbeinhandel geschlossen hat. Das heißt also, wir haben in diesen Fragen, aber auch in den wirtschaftlichen Fragen, den gesellschaftlichen Fragen und den Kontakten der Menschen zueinander vieles erreicht, und wir arbeiten weiter daran. Nun haben wir zwei sehr sympathische Diplomaten hier, nämlich die beiden Pandabären. Jiao Qing und Meng Meng werden Sonderbotschafter unserer beiden Länder sein und hoffentlich viele, viele Menschen erfreuen. Alles Gute für die beiden. Herzlichen Dank allen, die an der Ankunft und an der Vorbereitung mitgewirkt haben. Ich glaube, ich darf im Namen derjenigen, die im Berliner Zoo Verantwortung tragen, sagen: Sie werden alles tun, damit sich die beiden hier in Deutschland wohlfühlen. Herzlichen Dank!
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Vorstellung des Zeitzeugenportals der Stiftung Haus der Geschichte
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-vorstellung-des-zeitzeugenportals-der-stiftung-haus-der-geschichte-446874
Tue, 04 Jul 2017 18:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
„Don’t ever tell anybody anything. If you do, you start missing everybody.” Am 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, kann eine Rede der deutschen Kulturstaatsministerin schon mal mit einem Satz auf Englisch beginnen – zumal, wenn dieser aus der Feder eines berühmten amerikanischen Schriftstellers stammt: „Man sollte nie jemand etwas erzählen. Sonst fangen sie alle an, einem zu fehlen.“ Mit diesen, von Heinrich Böll übersetzten Worten endet der einzige Roman Jerome David (J. D.) Salingers, „Der Fänger im Roggen“. Jemandem etwas von sich zu erzählen, so liest man zwischen den Zeilen, schafft eine Verbindung – oder setzt sie voraus. Ihre persönlichsten Erlebnisse und Erinnerungen, Gedanken und Gefühle vertrauen die meisten Menschen deshalb auch nur engen Freunden und Familienangehörigen an. Es gibt aber auch Menschen, die persönliche Geschichten völlig Fremden erzählen; Menschen, die zudem Unfassbares – unfassbar Grausames, unfassbar Schmerzliches, oder auch unfassbar glückliche Momente – erlebt haben. Diese Frauen und Männer sind bemerkenswerte Persönlichkeiten, sie sind herausragende Zeitgenossen – und sie sind: wichtige Zeitzeugen. So wie das Erzählen einschneidender Erlebnisse Menschen miteinander verbindet, können Zeitzeugenberichte eine Verbindung zur Vergangenheit herstellen: Mitreißende, emotionale Zeitzeugengeschichten vermögen es, historische Ereignisse aus einer fernen, fremden Welt in die gegenwärtige Lebensrealität zu überführen. Wo gesammelte Zahlen und Fakten den Leser bei der Lektüre dicker Geschichtsbücher oft überfordern, lassen Zeitzeugenberichte die Zuhörinnen und Zuhörer meist nicht mehr los: sie berühren unmittelbar, können verstören und erschüttern, aber auch ermutigen und versöhnen. Die Begegnung mit einer Zeitzeugin oder einem Zeitzeugen kann das Interesse für die Geschichte unseres Landes wecken oder Anlass sein, sich detaillierter mit ihr zu beschäftigen. Zeitzeugen sind in diesem Sinne die Schlüsselfiguren in der Geschichtsvermittlung und sie vervollständigen das Geschichtsverständnis, weil ihre individuelle Sichtweise die (kollektive) historische Wahrnehmung bereichert. Nicht zuletzt, weil sie auch „unsichtbare“ Geschichte sichtbar machen, weil sie Alltagserlebnisse schildern und sich an vermeintlich Nebensächliches erinnern, das in Geschichtsbüchern und wissenschaftlichen Berichten selten Platz findet, sind Zeitzeugen von unschätzbarem Wert und ein unverzichtbarer Teil der Erinnerungskultur in unserem Land. Besonders die bewegenden Berichte vieler Holocaust-Überlebender prägen unsere Erinnerungs- und Gedenkkultur – und angesichts der immer kleiner werdenden Erlebnisgeneration müssen wir uns den Fragen nach der Sicherung dieser wertvollen Quelle stellen: Im vergangenen Jahr sind große Zeugen der NS–Nationalsozialismus-Schreckensherrschaft wie Imre Kertész, Elie Wiesel und Max Mannheimer gestorben. „Menschen wie Mannheimer“, schreibt der Historiker Norbert Frei, „denen Deutschland zum Zeitpunkt ihrer Befreiung 1945 nur verhasst sein konnte, haben mit ihrer engagierten Zeugenschaft zur Aufklärung unserer Gesellschaft und damit zu ihrer humanen Ausgestaltung maßgeblich beigetragen.“ Eine dieser „engagierten Zeitzeugen“ war auch Simone Veil, die als Jugendliche die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hatte und die am vergangenen Freitag gestorben ist: Die französische Politikerin und Publizistin hat nicht nur ihr Land maßgeblich mitgestaltet, sondern sich in besonderer Weise um die europäische Einigung verdient gemacht. „Demokratie und Weitergabe der Erinnerung“, sagte sie in ihrer bewegenden Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Januar 2004, seien „die beiden komplementären Voraussetzungen, die das befriedete Europa mit seiner zerrissenen Vergangenheit verbinden.“ Wir sind es den mutigen und hoffnungsvollen Menschen wie Simone Veil und Max Mannheimer schuldig, ihre Stimmen nie verstummen zu lassen; und uns stets daran zu erinnern, wie groß unsere Verantwortung für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte ist. Viele Geschichten von Zeitzeugen wie Max Mannheimer und Elie Wiesel wurden in den vergangenen Jahrzehnten aufgezeichnet, seitdem die „Oral History“ – die erzählte Geschichte – fester Bestandteil in der Vermittlung historischen Wissens ist. Allein in den von meinem Haus geförderten oder finanzierten Einrichtungen sind mehr als 12.000 Zeitzeugenberichte vorhanden, von Holocaust-Überlebenden, aber auch von Menschen, die über ihr Schicksal in der SED–Sozialistische Einheitspartei Deutschlands-Diktatur berichten, von herausragenden Politikerinnen und Politiker, die in etwa in den Nachkriegsjahren die Bundesrepublik mit aufgebaut haben oder von jenen, die die Wiedervereinigung mitgestaltet haben. So vielfältig die Erlebnisse und Geschichten der Zeitzeugen sind, so vielfältig sind die Herausforderungen ihre Erinnerungen zu bewahren: Die Berichte müssen gesichert, inhaltlich erschlossen, technisch aufbereitet und systematisiert werden, damit sie optimal und dauerhaft genutzt werden können. Zudem droht in vielen Fällen bereits jetzt der physische Verfall, sodass die Audio- und Videoaufnahmen aufwändig digitalisiert werden müssen, um sie zu retten. Dass diese anspruchsvollen Aufgaben nicht in jedem Museum, jeder Gedenkstätte und jeder Bildungseinrichtung eigenständig geleistet werden können, ist verständlich und war schließlich auch das Ergebnis eines auf meine Initiative im Jahr 2015 durchgeführten Workshops im Deutschen Historischen Museum. Wir haben in den vergangenen zwei Jahren also darüber nachgedacht, wie wir das Wissen über die Arbeit mit Zeitzeugen bündeln und das Ton- und Video-Material bereits vorhandener Zeitzeugenberichte bewahren können. In diesem Zusammenhang hat sich auch die Gelegenheit geboten, die Bestände der Zeitzeugenberichte des Vereins „Gedächtnis der Nation“ zu übernehmen und in die institutionelle Förderung meines Hauses zu überführen. Den Initiatoren und Mitarbeitern des „Gedächtnis der Nation“ danke ich für diesen wichtigen Input und das Vertrauen in unser neues Zeitzeugenportal. Mit dem Zeitzeugenportal haben wir nun eine zentrale Anlauf- und Beratungsstelle für Museen und Gedenkstätten, für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geschaffen, bei der zudem Audio- und audiovisuelle Zeitzeugenberichte (technisch) gesichert, inhaltlich erschlossen und zentral erfasst werden sollen. Die Chancen dieser Einrichtung liegen auf der Hand: Historiker haben nun einen erfahrenen, anerkannten Ansprechpartner, um anhand von Zeitzeugenberichten zu forschen. Museen, Gedenkstätten und Erinnerungsorte werden von den Experten der neuen Zeitzeugenstelle im Haus der Geschichte unterstützt und entlastet. Das Haus der Geschichte kann mit dem Zeitzeugenportal ein neues, bedeutsames Betätigungsfeld aufbauen, und schließlich werden Bürgerinnen und Bürger zukünftig auf viele der gesammelten Zeitzeugenberichte unmittelbar zugreifen können oder aber darüber informiert, in welchen Einrichtungen sie welche Materialien finden. Ich freue mich sehr, dass ich aus meinem Kulturetat die Mittel und Stellen für den dauerhaften Betrieb des Zeitzeugenportals zur Verfügung stellen konnte und danke Ihnen, lieber Herr Prof. Hütter – ganz besonders dafür, dass Sie das Projekt so beherzt angegangen sind. Bei den erfahrenen und kompetenten Kolleginnen und Kollegen in Ihrem Haus ist diese herausfordernde neue Aufgabe bestens aufgehoben. Meine Damen und Herren, liebe Einrichtungsleiterinnen und Einrichtungsleiter, liebe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Sie sind herzlich dazu eingeladen, sich am Aufbau und Betrieb des Zeitzeugenportals zu beteiligen und die Kolleginnen und Kollegen des Hauses der Geschichte zu unterstützen. Am meisten aber freuen wir uns, wenn Sie das Angebot, das wir Ihnen mit dem Zeitzeugenportal machen, für Ihre tägliche Arbeit nutzen! „Geschichte schreiben heißt Jahreszahlen ihre Physiognomie geben.“ – so hat es Walter Benjamin einmal formuliert, der am 15. Juli seinen 125. Geburtstag feiern würde. Menschen schreiben Geschichte, indem sie etwas Herausragendes vollbringen – etwas entdecken, erfinden oder erschaffen. Ihr Wirken gibt ihrer Zeit eine sichtbare Gestalt – in wissenschaftlicher, technischer oder intellektueller Hinsicht; oftmals sind Errungenschaften, Maschinen oder Kunstwerke das Abbild einer Epoche. Andere Menschen schreiben Geschichte, indem sie ihre Zeit auf eine eigene, besonders sensible Weise wahrnehmen, indem sie in ihren Erzählungen ausdrücken, was ein Ereignis jenseits historischer Fakten ausmacht und wie die Geschichte unseres Landes ihr Leben geprägt hat. Es sind auch jene „engagierten Zeitzeugen“, die den Jahreszahlen eine sichtbare Gestalt verleihen, ihnen „ihre Physiognomie geben“. Das Vermächtnis dieser Persönlichkeiten zu bewahren, ihre Zeitzeugenberichte zu schützen und möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, gehört deshalb zu den wichtigen kultur- und erinnerungspolitischen Aufgaben. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, lieber Herr Prof. Hütter und Ihrem Team, einen erfolgreichen Start des Zeitzeugenportals und weiterhin viele bereichernde Momente beim Ergründen der „Physiognomie“ unserer Geschichte!
Im neuen Online-Portal www.zeitzeugen-portal.de werden Zeitzeugen-Interviews technisch wie inhaltlich zusammengeführt. „Damit kann das Haus der Geschichte ein neues, bedeutsames Betätigungsfeld aufbauen“, erklärte Kulturstaatsministerin Grütters bei der Präsentation. Die Dateien werden gesichert, erfasst, erschlossen und zugänglich gemacht. „Das Vermächtnis dieser Persönlichkeiten zu bewahren, ihre Zeitzeugenberichte zu schützen und möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, gehört zu den wichtigen kultur- und erinnerungspolitischen Aufgaben“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Europäischen Trauerakt zu Ehren von Bundeskanzler a.D. Dr. Helmut Kohl am 1. Juli 2017 in Straßburg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-europaeischen-trauerakt-zu-ehren-von-bundeskanzler-a-d-dr-helmut-kohl-am-1-juli-2017-in-strassburg-793108
Sat, 01 Jul 2017 12:30:00 +0200
Straßburg
Auswärtiges
Sehr geehrte Präsidenten und Ministerpräsidenten, Exzellenzen, sehr geehrte Abgeordnete, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Frau Kohl-Richter, liebe Familie Kohl, wir nehmen heute Abschied von Helmut Kohl, dem Kanzler der Deutschen Einheit, Karlspreisträger und Ehrenbürger Europas. Er, der einst als junger Mann Geschichte studierte, hat jetzt selbst einen Platz in den Geschichtsbüchern eingenommen. Helmut Kohl verkörpert eine Epoche. Er hat mit seiner Innen- und Außenpolitik Pflöcke eingeschlagen, die bis heute Halt bieten. Seine Bundeskanzlerschaft ist verbunden mit vielen Jahren wirtschaftlicher Prosperität. Doch bei all dem verlor er nie den Blick für das große Ganze über Deutschland hinaus. Er dachte über den Tag hinaus. So hat Helmut Kohl Umbrüche mitgestaltet und entscheidend das Deutschland und das Europa mitgeschaffen, in dem wir alle heute leben. Vieles, was für uns selbstverständlich ist, geht auf ihn zurück. Dass Ost- und Westeuropa vereint sind, dass wir einen gemeinsamen Markt haben, dass es keine Grenzkontrollen zwischen EU-Staaten gibt, dass die meisten dieser Staaten über eine gemeinsame Währung verfügen, dass es die Europäische Union in ihrer heutigen Form überhaupt gibt, all das ist und bleibt ganz wesentlich mit dem Namen Helmut Kohl verbunden. Er hat eine ganze Generation geprägt. So manche Geister schieden sich an ihm. Nicht wenige haben sich an ihm abgearbeitet und gerieben. Viele von uns, auch ich, können davon erzählen. Doch das tritt zurück hinter dem überragenden Lebenswerk. Genau deshalb zollen ihm auch politische Kontrahenten Respekt. Wie lässt sich das erklären? Was mir persönlich an Helmut Kohl besonders imponierte, das waren sein ausgeprägtes und feines Gespür für das politisch Machbare wie auch, und das ist eben kein Widerspruch, seine unerschütterlichen Überzeugungen, die ihn in seinen Entscheidungen leiteten. Auf Helmut Kohl war Verlass. Von Anfang an holte er auch Menschen in seine Mannschaft, mit denen er manche in seiner Partei überraschte. Seinen Kabinettsmitgliedern ließ er durchaus weitgehend freie Hand, jedenfalls erheblich mehr, als Außenstehende denken mochten. Dies konnte ich auch erfahren. Natürlich war es nicht immer leicht, mit eigenen Argumenten durchzudringen. Manchmal schien es sogar schier unmöglich. Aber er ließ es sich nie nehmen, seinen Kabinettsmitgliedern mit Rat und manchmal auch mit Tat beiseitezustehen, und zwar in ganz konkreten Lebenssituationen. Mir zum Beispiel half er 1992 nach einem schweren Beinbruch monatelang, ärztliche Behandlung mit meinem Ministeramt noch vereinbaren zu können. Ja, Helmut Kohl ging auf Menschen zu. Er interessierte sich für sie. Er suchte und pflegte enge Kontakte. So gelang es ihm, in Deutschland, in Europa und in der Welt verlässliche Beziehungen zu knüpfen, Vertrauen aufzubauen und Freundschaften zu schließen. Er war ein den Menschen zugewandter Weltpolitiker. Als Helmut Kohl 1982 Bundeskanzler wurde, fuhr er als Erstes nach Paris. Ein Berater von Präsident François Mitterand berichtete später, dass sich die französische Seite zunächst in großer Zurückhaltung geübt habe, aber dann – ich zitiere: „waren wir sofort Feuer und Flamme“. Das persönliche, herzliche Verhältnis prägte und spiegelte zugleich das freundschaftliche deutsch-französische Verhältnis wider. Tief in das Gedächtnis unserer Nationen eingeschrieben ist das Bild beider Staatsmänner, die Hand in Hand vor den Gräbern von Verdun standen. Diese Geste der Versöhnung und Verbundenheit markierte ein neues Kapitel gemeinsamer Geschichte. Helmut Kohl verstand es, Brücken zu bauen. Sie reichten nach Paris und Warschau, nach Washington und Moskau. Unermüdlich arbeitete er an einem guten Miteinander Deutschlands mit seinen Nachbarn und Partnern in der Welt. Er hatte als Kind und Jugendlicher noch selbst den Zweiten Weltkrieg erlebt, das unermesslich große Leid, das Deutschland im Nationalsozialismus über Europa und die Welt gebracht hatte, und auch die Ängste in Bombennächten. Es waren gerade diese Erfahrungen, die ihn antrieben, sich schon in jungen Jahren in der neu gegründeten Christlich Demokratischen Union zu engagieren. Es waren diese Erfahrungen, in denen schließlich auch seine außenpolitische Maxime gründete, die unmissverständlich lautete: Wir müssen uns für ein Europa starkmachen, in dem es nie wieder Krieg gibt. Dieses Denken in geschichtlichen Zusammenhängen prägte sein politisches Wirken. Zugleich bewahrte sich Helmut Kohl seine Bodenhaftung. Er blieb seiner Heimat, der Pfalz, ein Leben lang aufs Engste verbunden. Fest verwurzelt, wie er in dieser Region inmitten Europas war, hatte er auch einen besonderen Sinn für die Sicht und die Gefühle in unserer Nachbarschaft, und das kam immer von Herzen. Das spürten seine Gesprächspartner. Sie wussten, dass sie sich auf ihn verlassen konnten. Was er sagte oder zusagte, dazu stand er ohne Wenn und Aber. Als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, waren Deutschland und Europa geteilt. Eine bewaffnete Konfrontation auf europäischem Boden war stets ein präsentes Schreckensszenario. Am Ende seiner Amtszeit war Deutschland vereint und zum ersten Mal in seiner Geschichte mit allen seinen Nachbarstaaten in Frieden, Freiheit und Freundschaft verbunden. Der Weg zur Erweiterung der Europäischen Union und der NATO nach Mittel- und Osteuropa war bereits weitgehend geebnet. Die Einführung des Euros als gemeinsamer Währung war beschlossen. Als Helmut Kohl 1982 Bundeskanzler wurde, habe ich in der DDR gelebt. Ich habe seine Tischrede beim Besuch Erich Honeckers 1987 in Bonn im Fernsehen gehört und gesehen, als er Honecker vor laufenden Kameras sagte – ich zitiere: „Die Menschen in Deutschland leiden unter der Trennung. Sie leiden an einer Mauer, die ihnen buchstäblich im Wege steht und die sie abstößt. Wenn wir abbauen, was Menschen trennt, tragen wir dem unüberhörbaren Verlangen der Deutschen Rechnung. Sie wollen zueinander kommen können, weil sie zueinander gehören.“ Diese Worte des Bundeskanzlers Helmut Kohl gaben uns in der DDR Kraft. Die Bürgerrechtsbewegung in Polen und anderen Staaten des einstigen Ostblocks sowie der neue Wind, der damals aus Moskau wehte, machten uns in der DDR Mut. Hunderttausende wagten sich auf die Straße, demonstrierten für Freiheit und brachten die Mauer zu Fall. Helmut Kohl war es, der die Einheit wollte, als andere noch zögerten oder gar abwinkten. Er machte sich daran, den Weg zur Einheit zu ebnen und hatte dabei stets die Interessen unserer Nachbarn und Partner im Blick. Seine tiefe europäische Überzeugung und das Vertrauen, das er weltweit genoss, halfen ihm, Sorgen und Bedenken gegenüber einem vereinten Deutschland zu zerstreuen. Das wird für immer die alles überragende einmalige historische Leistung Helmut Kohls bleiben. Gemeinsam mit seinen Partnern bettete er die deutsche Einheit in die europäische Einigung ein. Ein Werk des Friedens, ein Werk der Freiheit und ein Werk der Einheit. Damit knüpfte er an Konrad Adenauer, Jean Monnet, Robert Schuman und andere große Europäer an. Europa ist das Werk von Generationen. Jede davon steht vor neuen Herausforderungen. Jede muss ihre eigenen Antworten finden, wie sie Europa zukunftsfest macht. Immer wieder kommt es dabei auf das an, was Helmut Kohl in besonderer Weise auszeichnete: auf das Wissen um die Geschichte, auf die Weitsicht, in langen Zeitlinien zu denken, auf die Nähe zu den Menschen, auf den Blick für das Machbare und das Zumutbare. Heute gibt es eine Todesanzeige des Förderkreises „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ für Helmut Kohl. Darin wird daran erinnert, was Helmut Kohl für dieses Denkmal in der Mitte Berlins geleistet hat. Es steht stellvertretend für sein Handeln. Er wird darin mit folgenden Worten zitiert, die er fand, als das Denkmal gegen heftigen Widerstand durchgesetzt werden musste: „Nicht die nächste Generation, sondern unsere muss es bauen. Wir, jetzt, heute, hier und nicht irgendwann.“ Und so wurde es dann beschlossen im Deutschen Bundestag mit Zweidrittelmehrheit. Meine Damen und Herren, wir werden Helmut Kohl nachher nach Deutschland zurückbegleiten. Sein Weg wird noch einmal durch seine Heimatstadt Ludwigshafen führen. Hier war er zu Hause, lange Jahre zusammen mit seiner ersten Frau Hannelore, die ihm in guten wie in schlechten Zeiten stets zur Seite stand. Wir gedenken auch ihrer in Dankbarkeit. Liebe Frau Kohl-Richter, Sie haben Ihren Ehemann Helmut Kohl in all den letzten Jahren voller Hingebung und Liebe begleitet, bis zuletzt. Ihnen gehört mein Mitgefühl. Mein Mitgefühl gehört allen, die in Helmut Kohls Familie um ihn trauern. Den Schlusspunkt finden die Trauerfeierlichkeiten heute in Speyer. Damit schlagen wir noch einmal den Bogen von Frankreich nach Deutschland, in die Heimat, in die Pfalz, vom Ehrenbürger Europas zum Kanzler der Einheit, als den wir Deutsche und viele andere ihn auf immer im Gedächtnis behalten werden. Ohne Helmut Kohl wäre das Leben von Millionen Menschen, die bis 1990 hinter der Mauer lebten, völlig anders verlaufen, natürlich auch meines. Lieber Bundeskanzler Helmut Kohl, dass ich hier stehe, daran haben Sie entscheidenden Anteil. Danke für die Chancen, die Sie mir gegeben haben. Danke für die Chancen, die Sie vielen anderen eröffnet haben. Danke für die Chancen, die wir als Deutsche und Europäer durch Sie erhalten haben. Sie haben unendlich viel erreicht. Mögen Sie in Frieden ruhen. Jetzt ist es an uns, Ihr Vermächtnis zu bewahren. Ich verneige mich vor Ihnen und Ihrem Angedenken in Dankbarkeit und Demut.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der 150-Jahr-Feier „Schweizer Vertretung in Berlin“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-der-150-jahr-feier-schweizer-vertretung-in-berlin–796606
Fri, 30 Jun 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Gerade mal ein paar Meter Luftlinie trennen mein Büro im Bundeskanzleramt von der schweizerischen Botschaft: Da ist es natürlich nicht nur politische Amtspflicht, sondern auch eine persönliche Geste nachbarschaftlicher Freundschaft, eine besondere Freude und Ehre, heute Abend mit Ihnen, verehrte Frau Botschafterin, und Ihren Gästen auf 150 Jahre „Schweizer Vertretung in Berlin“ anzustoßen. Vielen Dank für die freundliche Einladung, auch im Namen von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, von der ich Ihnen herzliche Grüße übermitteln soll! Mit der Botschaft in unmittelbarer Nachbarschaft des Kanzleramts ist die Schweiz ohne Zweifel prominent in Berlin vertreten. Prominent vertreten ist sie allerdings nicht nur in Berlin. Versuchen Sie mal, mit dem Auto durch Deutschland zu fahren und dabei nicht durch eine Schweiz zu kommen. Das wird schwierig. Es gibt in ganz Deutschland nämlich über 100 Regionen, die sich „Schweiz“ nennen: von der Saarländischen Schweiz im Süden bis zur Holsteinischen Schweiz im Norden, von der unbekannten „Nippeser Schweiz“ im Westen (dabei handelt es sich, kein Scherz, um eine Grünanlage in Köln) bis zur berühmten Sächsischen Schweiz oder auch der Märkischen Schweiz im Osten. Die beiden letztgenannten „Schweizen“ verdanken ihren Namen übrigens Schweizer Künstlern bzw. Kunststudenten, die sich dort an ihre Heimat erinnert fühlten. Kurz und gut – man kann sagen: Schweiz ist, erstens, wo es schön ist in Deutschland. Und an der Schweiz führt in Deutschland, zweitens, kein Weg vorbei. Damit, meine Damen und Herren, ist auch über die in vielerlei Hinsicht besondere deutsch-schweizerische Freundschaft schon Einiges gesagt: über die gegenseitige Wertschätzung, aber auch über die gute Zusammenarbeit und die vielfältigen wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen, die sich in den vergangenen, wechselvollen 150 Jahren entwickelt haben. Für unsere enge Partnerschaft stehen heute beispielsweise die trilaterale Zusammenarbeit der Schweiz, Frankreichs und Deutschlands bei der Erarbeitung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung in den Vereinten Nationen, aber auch unsere vertrauensvolle Kooperation im Rahmen der OSZE. Ein Vorbild ist die Schweiz für uns Deutsche darüber hinaus seit langem auch in der internationalen Friedensmediation, in ihrer klassischen Rolle als friedliche Streitschlichterin und Hüterin des humanitären Völkerrechts. Die Bundesregierung hat sich deshalb erfolgreich für den Ausbau unserer Zusammenarbeit im Bereich Mediation eingesetzt. Und zugegeben: Insbesondere wir Berliner schauen natürlich auch deshalb mit respektvoller Bewunderung auf das Nachbarland im Süden, weil man es dort tatsächlich geschafft hat, ein verkehrspolitisches Jahrhundert-Projekt – nämlich den Gotthard-Basis-Tunnel – pünktlich fertig zu stellen, während es über unser verkehrspolitisches Jahrhundertprojekt mittlerweile heißt: „Niemand hat die Absicht, einen Flughafen zu eröffnen.“ (Walter Ulbricht, der just am heutigen Tage seinen 124. Geburtstag feiern würde, lässt freundlich grüßen!). Als Kulturstaatsministerin liegen mir natürlich auch und ganz besonders der kulturelle Austausch und die kulturpolitische Zusammenarbeit am Herzen. Dafür schließt man üblicherweise bilaterale Kulturabkommen – nicht aber mit der Schweiz. Denn das kulturpolitische Miteinander funktioniert mit der Schweiz in jeder Hinsicht so wunderbar, dass für Verträge schlicht kein Bedarf besteht. Kronzeugen enger kulturpolitischer Kooperation sind auch die Leiter namhafter Kultureinrichtungen: Julien Chapuis im Bodemuseum, Samuel Wittwer bei der SPSG, Raphael Gross im DHM – alles Schweizer! Und nebenbei: Auch die Architekten für das geplante Museum des 20. Jahrhunderts – Jacques Herzog und Pierre de Meuron – kommen aus der Schweiz. Ganz besonders verbunden bin ich als deutsche Kulturstaatsministerin aber dem Kunstmuseum Bern, mit dem wir nach dem Kunstfund „Gurlitt“ im Jahr 2013 – Sie erinnern sich bestimmt – historische Verantwortung übernehmen. Die rückhaltlose Aufarbeitung nationalsozialistischen Kunstraubs hat eine Bedeutung, die weit über die rechtliche Dimension hinaus reicht. Hinter jedem entzogenen, geraubten Kunstwerk steht immer auch und vor allem das individuelle Schicksal eines Menschen. Deshalb war die Annahme der Erbschaft von Cornelius Gurlitt alles andere als selbstverständlich. Es freut mich sehr, dass unsere Bundeskunsthalle und das Kunstmuseum Bern ab November dieses Jahres eine Doppelausstellung zeigen, in der Opferschicksale in Bonn gewürdigt werden und sogenannte „Entartete Kunst“ in Bern gezeigt wird. Ob Kultur, ob Wirtschaft, ob internationales Krisenmanagement: Angesichts der über viele Jahre und Jahrzehnte bewährten Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Schweiz ist es kein Wunder, dass die Flagge mit dem weißen Kreuz auf rotem Grund schon so lange zu Berlin Mitte gehört – und dabei allgemein mindestens auf freundliches Wohlwollen stößt (… was hier in Berlin ja nun wahrlich nicht jedem Kreuz vergönnt ist …). Die hohe Wertschätzung mag auch mit der Verlässlichkeit, ja Beharrlichkeit der Schweizer zu tun haben, für die das Botschaftsgebäude mit seiner bewegten Geschichte geradezu sinnbildlich steht. Es überdauerte die größenwahnsinnigen Baupläne des Architekten und späteren NS-Rüstungsministers Albert Speer für Hitlers Welthauptstadt „Germania“. Es überstand wie durch ein Wunder unversehrt die Bombardements des Zweiten Weltkriegs. Es überlebte den Kalten Krieg im Niemandsland an der Berliner Mauer. Es widerstand attraktiven finanziellen Angeboten und Avancen, als die Entscheidung für Berlin als Hauptstadt des wiedervereinten Deutschlands das Gebäude mitten hinein ins künftige Parlaments- und Regierungsviertel katapultierte. So ist vom ehemaligen Alsenviertel allein die Schweizerische Botschaft übrig geblieben, die alle Zeitstürme überstanden hat. Hier zeigt sich die Schweiz als Überlebenskünstlerin: als Vorbild an Stabilität und Kontinuität. Und gerade hier, in diesem „mit historischem Gift imprägnierten Gelände“ – um eine Formulierung des Berliner Architekten Axel Schultes aufzugreifen -, gerade vor dem Hintergrund der wechselvollen Geschichte des ehemaligen Alsenviertels zeigt sich, was das heute demokratische und wiedervereinte Deutschland seinen Freunden und Partnern in der Welt – darunter auch der Schweiz – verdankt. Deshalb habe ich als Geschenk, verehrte Frau Botschafterin, ein kleines Büchlein dabei, das die Geschichte dieses Ortes beleuchtet, an dem wir heute in nachbarschaftlicher Freundschaft verbunden sind. Einen überzeugenden Botschafter hat die Schweiz übrigens – das darf ich zum Schluss noch kurz erwähnen – auch in meinem Neffen: Als 10jähriger wünschte er sich von seiner Patentante Moni für sein Survival-Trainig ein Tarnzelt vom Militär. Bekommt man ja zum Glück alles im Internet. Erschwerend kam allerdings hinzu, dass es nicht irgendein Tarnzelt sein durfte – nein, für das Survival-Camp musste es eines aus der Schweizer Armee sein. Unter einem Schweizer Zelt überlebt es sich offenbar besser … . Nicht nur gut überleben, sondern gut leben und auch gut feiern kann man in der Schweiz bekanntermaßen allemal. Glücklich also, wer Gast unter einem Schweizer Dach sein darf! Ich jedenfalls freue mich auf den Abend mit Ihnen unter diesem altehrwürdigen Schweizer Dach und gratuliere herzlich zu 150 Jahren Schweizer Vertretung in Berlin!
Bei der 150-Jahr-Feier der Schweizer Vertretung in Berlin, in unmittelbarer Nähe zu ihrem Amtssitz, hat Kulturstaatsministerin Grütters die gute kulturpolitische Zusammenarbeit beider Länder hervorgehoben. Das funktioniere so wunderbar auch ohne bilaterales Abkommen. Grütters dankte ausdrücklich dem Kunstmuseum Bern, „mit dem wir nach dem Kunstfund „Gurlitt“ historische Verantwortung übernehmen“. Sie freue sich auf die Doppelausstellung mit der Bundeskunsthalle.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verabschiedung des Präsidenten des Deutschen Raiffeisenverband e.V., Herrn Manfred Nüssel, am 30. Juni 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verabschiedung-des-praesidenten-des-deutschen-raiffeisenverband-e-v-herrn-manfred-nuessel-am-30-juni-2017-in-berlin-793428
Fri, 30 Jun 2017 11:29:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident Nüssel, sehr geehrte Familie Nüssel, liebe Bundesminister Christian Schmidt und Gerd Müller, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag – allen voran darf ich Gerda Hasselfeldt begrüßen –, sehr geehrter Herr Bockelmann, sehr geehrter Herr Kirsch, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Weggefährten des scheidenden Präsidenten, ich war noch nicht Bundeskanzlerin, als ich erstmals bei einer Mitgliederversammlung des Raiffeisenverbands zu Gast war. Das ist 14 Jahre her. Lieber Herr Präsident Nüssel, damals waren Sie bereits seit vier Jahren im Amt. Daraus sind inzwischen fast 18 Jahre geworden. Und heute feiern Sie Ihren Abschied. Für den Raiffeisenverband geht also eine Ära zu Ende. Ein bisschen gilt das natürlich auch für alle außerhalb des Verbands, deren Wege sich mit Ihren kreuzten. Was mich anbelangt, so erinnere ich mich gerne an unsere Begegnungen und Gespräche, die wir seit unserem ersten Zusammentreffen hatten. Sie haben sich mit ganzer Kraft den Genossenschaften in der Agrarwirtschaft gewidmet. Fachlich konnte Ihnen als Kenner der Materie kaum einer etwas vormachen. Begonnen hat Ihr Lebensweg in Bad Berneck in Oberfranken. Es war Ihnen quasi in die Wiege gelegt, weit über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen – angesichts eines Vaters, der viele Jahre lang Staatssekretär und schließlich Landwirtschaftsminister in Bayern war. Sie haben sich in jungen Jahren nicht nur um den elterlichen Betrieb gekümmert, sondern sich auch in der Bayerischen Jungbauernschaft engagiert. Sie wurden deren Landesvorsitzender mit Mitte 20. Um alles aufzuzählen, was dann an Stationen Ihres vielfältigen Wirkens folgte, wäre ein Buch geeigneter als hier mein kurzer Beitrag. Aber zusammenfassend lässt sich festhalten: Für Sie ist Verantwortung etwas, das Sie nicht scheuen, sondern – im Gegenteil – tatkräftig übernehmen. Sie wollten immer etwas bewirken. Sie wollten die Landwirtschaft voranbringen. Das ist Ihnen in den verschiedensten Ämtern und Funktionen auch gelungen. Sehr viele haben Ihnen daher auch sehr vieles zu verdanken. – Das ist ja hier in den Beiträgen auch angeklungen. – Ich möchte mich diesem Dank ausdrücklich anschließen. Als ich 2003 bei Ihnen zu Gast war, ging es natürlich auch schon um die Frage, wie wir die Wettbewerbsfähigkeit kleiner wie auch großer Betriebe stärken können. Damals aber stellte sich diese Frage in ganz besonderer Weise angesichts schwieriger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Deutschland stand damals ganz anders da als heute. Wir waren weit davon entfernt, als wettbewerbsfähigstes Land der Europäischen Union zu gelten. Wir hatten zwar Wachstum – aber nicht beim Bruttoinlandsprodukt, sondern beim Schuldenberg. Wir haben damals sogar gegen das Defizitkriterium des europäischen Stabilitätspakts verstoßen. Aber das ist Geschichte. Doch manchmal hilft der Vergleich, um sich vor Augen zu führen, was wir in den vergangenen Jahren erreicht haben. Deutschlands Wirtschaft steht im europäischen und internationalen Vergleich inzwischen sehr gut da. Heute gilt Deutschland nicht mehr als kranker Mann, sondern als Stabilitätsanker in Europa. Aber dass wir das auch morgen sein werden, das ist nicht naturgegeben. Um die Wettbewerbsfähigkeit müssen wir uns weiter und permanent Gedanken machen. Das ist eine Daueraufgabe. Das gilt für alle Branchen – und natürlich auch für die Agrar- und Ernährungswirtschaft. Meine Damen und Herren, mit Ihren vielen genossenschaftlichen Unternehmen kennen Sie die wirtschaftlichen Realitäten. Sie wissen um die Herausforderungen, aber Sie wissen auch um Ihre Stärke. Der Raiffeisenverband schreibt über sich – ich zitiere: „Gemeinsam mehr erreichen, so lautet das einfache und überaus erfolgreiche Prinzip kooperativen Handelns.“ – Zitatende. Dieses Prinzip überzeugt, seit Friedrich Wilhelm Raiffeisen vor über 150 Jahren in Heddesdorf den sogenannten „Darlehnskassen-Verein“ gründete. Die genossenschaftliche Idee überzeugt nicht nur hierzulande, sondern auch weltweit. Es gibt rund 800 Millionen Genossenschaftsmitglieder in über 100 Ländern. Die Genossenschaftsidee überzeugte auch die UNESCO, die sie Ende vergangenen Jahres in die Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufnahm. An diesem Erfolg haben natürlich auch die Genossenschaften des Deutschen Raiffeisenverbands einen großen Anteil, auch weil sie auf vertrauensvolle Zusammenarbeit und Offenheit für Neues setzen. Und das macht sich bezahlt. Die rund 82.000 Beschäftigten haben 2016 einen Jahresumsatz von rund 60 Milliarden Euro erzielt. Das kommt eben nicht von ungefähr. Um nur einige Beispiele zu nennen: Rund die Hälfte der Marktfrüchte in Deutschland geht durch die Hände in Raiffeisen-Genossenschaften. Ein Drittel der Exporte von tierischen Erzeugnissen geht auf ihr Konto. Auch etwa 30 Prozent des deutschen Weins stammen aus Genossenschaften. All das zusammen ergibt eine Bilanz, die sich durchaus sehen lassen kann. Lieber Herr Nüssel, das ist ganz besonders auch Ihr Verdienst. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Sie sich in der Agrarwirtschaft dafür stark gemacht haben, über nationale Grenzen hinaus zu denken. Mit Ihnen haben die Raiffeisen-Genossenschaften den Export verstärkt ins Blickfeld genommen. Das ging mit einem Konzentrationsprozess und Strukturwandel einher, der gewiss nicht einfach war. Aber so konnten die genossenschaftlichen Unternehmen den Anforderungen des Weltmarkts gerecht werden. Solche Prozesse erfordern Kraft, sie erfordern Zeit. Das haben wir vor allem auch in den gewaltigen Umbrüchen der Landwirtschaft in den ostdeutschen Bundesländern nach der Wiedervereinigung erlebt. Bei allen Schwierigkeiten können wir heute sagen: Der Transformationsprozess ist eine Erfolgsgeschichte – natürlich nicht nur, aber eben auch für den Deutschen Raiffeisenverband. Längst haben Sie neue Herausforderungen in den Blick genommen. Dazu zählen auch der Klimaschutz und die globale Ernährungssicherheit. Sie haben dazu geschrieben, Herr Nüssel – ich zitiere Sie –: „Die Antworten der Branche auf Bevölkerungswachstum und Klimawandel sind ein freier internationaler Agrarhandel und eine neue ‚Grüne Revolution‘ in der Pflanzenproduktion.“ – Zitatende. Ihrer Analyse kann ich nur zustimmen. Wie alle anderen Branchen muss auch der Agrarsektor seinen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Wir hatten das in dieser Woche ja auch schon auf dem Bauerntag als Thema. Ohnehin hat der Klimawandel auch direkte Folgen für die Landwirtschaft und ihre Hauptaufgabe: die Produktion von Lebensmitteln. In nationaler Hinsicht sage ich: Ein Land wie Deutschland muss sich selbst mit Lebensmitteln versorgen können. Auf globaler Ebene müssen wir uns fragen, wie auch die weiter rasant wachsende Weltbevölkerung ernährt werden kann. Der Schlüssel liegt in offenen Märkten, im Abbau von Handelshemmnissen und in der Forschung bzw. innovativen Technik. Dafür bietet insbesondere auch die Digitalisierung neue Chancen – zum Beispiel um genau zu bestimmen, wann und wo wieviel Saatgut oder welcher Dünger auszubringen ist. Das Stichwort hierzu lautet: Präzisionslandwirtschaft. Der biologisch-technische Fortschritt insgesamt ermöglicht uns eine hocheffiziente Landwirtschaft, die Ressourcen, das Klima und die natürlichen Lebensgrundlagen schont. Das ist auch im Sinne der globalen Abkommen, die die Staatengemeinschaft 2015 verabschiedet hat: das Klimaabkommen in Paris und die Agenda 2030. Für uns Europäer bietet der Binnenmarkt hervorragende Bedingungen für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung. Im Konzert der globalen Marktkräfte müssen wir zusammenspielen – nicht nur um in der Welt hörbar, sondern auch möglichst besser als andere zu sein. Dabei spielt natürlich die Gemeinsame Agrarpolitik für unsere Landwirte eine zentrale Rolle. Aber diese – darüber werden wir in den nächsten Jahren ja auch reden – muss vereinfacht werden. Ich habe an anderer Stelle schon ausführlicher dazu Stellung bezogen. Auch international ist bessere Zusammenarbeit gefragt, was Handel und Standards anbelangt. Leider sehen wir derzeit in der Welt wieder eine Tendenz zur Abschottung. Dies steht im Grunde auch im Widerspruch zur Genossenschaftsidee. „Gemeinsam mehr erreichen“ – das ist ein Motto, das genauso gut über der globalen Agenda stehen könnte. Wie ein solches Motto mit Leben erfüllt werden kann, das zeigen die vielen Genossenschaften vom Einkauf über Vermarktung bis hin zu den genossenschaftlichen Banken. Dabei kommt es aber – im Kleinen wie im Großen – immer wieder auch auf hartnäckige Überzeugungsarbeit an. Lieber Herr Nüssel, Sie haben sich in Ihrer Amtszeit für große Richtungsentscheidungen eingesetzt. Sie sind dabei natürlich auch auf Widerstände gestoßen. Aber diese konnten gar nicht so hoch sein, dass sie Ihnen den Blick auf die Interessen und das Wohlergehen der Mitglieder verstellt hätten. Schließlich hat Ihre Arbeit viel Anerkennung gefunden. Es kommt nicht von ungefähr, dass die genossenschaftlichen Unternehmen und der Raiffeisenverband das sind, was sie sind: Ernstzunehmende Größen auf den nationalen und internationalen Agrarmärkten sowie gefragte Gesprächspartner für die Politik auf allen Ebenen. Deshalb sage ich Ihnen aufrichtig ganz herzlichen Dank für Ihre Verdienste. Ich wünsche Ihnen für die kommende Zeit alles Gute. Ich schließe in den Dank auch Ihre Frau mit ein. Ich vermute einmal, sie hat so manche Stunde manches allein machen dürfen; nicht nur im Betrieb. Deshalb ein ganz herzliches Dankeschön auch an Sie, an Ihre Frau und die ganze Familie. Lieber Herr Holzenkamp, Sie übernehmen den Staffelstab von Herrn Nüssel. Ehrlich gesagt, hatte ich mich neulich kurzfristig gewundert, warum Sie als Abgeordneter aufhören; aber jetzt ist mir alles klar. Sie treten an die Spitze des Raiffeisenverbands. Sie bringen viel Erfahrung mit – sowohl als landwirtschaftlicher Unternehmer als auch als Politiker. Seit zwölf Jahren sind Sie Mitglied des Deutschen Bundestags. Dass Sie überzeugen können, zeigen Ihr Direktmandat und auch manche Diskussion in der Fraktion. Ich wünsche Ihnen viel Freude an der neuen spannenden Aufgabe, natürlich auch eine glückliche Hand und interessante Begegnungen. Meine Damen und Herren, der Deutsche Raiffeisenverband und der genossenschaftliche Verbund schauen bereits auf das Jubiläumsjahr 2018, in dem sich der Geburtstag von Friedrich Wilhelm Raiffeisen zum 200. Mal jährt. Das ist eine schöne Gelegenheit noch einmal zu betonen: Die Genossenschaftsidee hat Geschichte und – davon bin ich überzeugt – sie hat Zukunft. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen weiterhin viel Erfolg.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim CDU/CSU-Fraktionskongress „Vergewaltigung ist eine Kriegswaffe – Schweigen beenden, Überlebende stark machen“ am 29. Juni 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-cdu-csu-fraktionskongress-vergewaltigung-ist-eine-kriegswaffe-schweigen-beenden-ueberlebende-stark-machen-am-29-juni-2017-in-berlin-798710
Thu, 29 Jun 2017 17:35:00 +0200
Berlin
Liebe Frau Tekkal, lieber Kollege aus dem Bundeskabinett Gerd Müller, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste, danke dafür, dass Sie alle gekommen sind, um sich mit diesem so wichtigen Thema auseinanderzusetzen. Ganz besonders begrüße ich die UN-Sonderbeauftragte Frau Patten. Die Vereinten Nationen spielen eine herausgehobene Rolle, wenn es darum geht, Frauen und Mädchen zu stärken, sexualisierte Gewalt nicht zu ignorieren, sondern beim Namen zu nennen; und das heißt, sie als Verbrechen beim Namen zu nennen, zu bekämpfen und möglichst auch zu verhindern. Das ist wirklich eine schwierige und verantwortungsreiche Aufgabe, der Sie sich, Frau Patten, nun als UN-Sonderbeauftragte annehmen. Deutschland unterstützt Sie gern dabei. Wir pflegen eine lange, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Ihrem Büro, die wir auch fortsetzen wollen. Das möchte ich sozusagen gleich als Eingangsstatement für das, was unsere Arbeit auch nach diesem Kongress leiten wird, anmerken. Meine Damen und Herren, derzeit hören wir von sexualisierter Gewalt vor allem in Regionen, in denen Terrormilizen ihr menschenverachtendes Unwesen treiben: in Syrien, im Irak, in einigen Staaten Afrikas. Ich möchte an die über 200 Schülerinnen erinnern, die 2014 in Nigeria entführt wurden. Auch wenn inzwischen viele freikamen, befinden sich doch Etliche noch immer in der Hand ihrer Peiniger. Und bei denen, die freigekommen sind, hat die erfahrene Gewalt Spuren für ihr ganzes Leben hinterlassen. In Konflikten und Krisengebieten werden Mädchen und Frauen immer wieder zur Zielscheibe sexualisierter Gewalt. Sie werden systematisch vergewaltigt und terrorisiert, verschleppt, gefoltert und misshandelt. Jeder einzelne Fall – man kann es nicht anders sagen – ist widerwärtig; jeder einzelne Fall ist eine menschliche Tragödie. Doch leider ist das Thema nicht neu. Bereits im Zweiten Weltkrieg gab es derartige systematische Übergriffe. In den 90er Jahren kam es – ich erinnere mich noch; ich war damals Frauenministerin – zu Massenvergewaltigungen während des Bosnienkriegs. Und in Ruanda waren sie grausame Begleiterscheinungen des Völkermords. Daher lässt sich mit Fug und Recht von einer Kriegswaffe sprechen. Denn der systematische Einsatz sexualisierter Gewalt geht über die physische Kontrolle und Erniedrigung der betroffenen Frauen und Mädchen hinaus. Er zielt auch auf deren psychische und soziale Vernichtung. Die Folgen sind verheerend. Zu den körperlichen Verletzungen und dem seelischen Trauma kommt häufig die gesellschaftliche Stigmatisierung hinzu. Dadurch erleiden die Betroffenen doppelte Gewalt, an der sie oft ein Leben lang schwer tragen. Was kann man tun? Ich glaube, das Allerwichtigste ist, das Schweigen zu beenden, wie es ja auch im Titel dieses Kongresses heißt. Das zu fordern, fällt leicht. Das als Betroffene zu tun, erfordert aber unglaublich viel Kraft und Überwindung. Deshalb möchte ich den Teilnehmerinnen des ersten Podiums dafür danken, dass sie von ihren persönlichen Erfahrungen berichtet haben. Das ist alles andere als selbstverständlich. Aber es ist außerordentlich wichtig, zu erfahren: Sexualisierte Gewalt ist nicht irgendein abstraktes Thema, sondern ganz konkrete Realität. Sie berührt die Würde des Menschen; und deshalb geht sie alle etwas an. Es geht darum, offen zu benennen, was geschehen ist. Es geht darum, Überlebenden zu helfen. Es geht zugleich darum, Täter zur Verantwortung zu ziehen. Denn dies ist – davon bin ich überzeugt – eine zentrale Voraussetzung für die Befriedung und Stabilität einer Gesellschaft und damit für den Wiederaufbau eines Staatswesens, das dann auch wirklich Zukunft haben kann. Deutschland engagiert sich seit langem für die strafrechtliche Verfolgung sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt in bewaffneten Konflikten. Wir müssen das Völkerrecht durchsetzen – um der Gerechtigkeit willen; und auch, um die Glaubwürdigkeit der internationalen Gemeinschaft zu bewahren. Daher unterstützt Deutschland die internationalen Strafgerichte personell und finanziell – zum Beispiel die Tribunale für die völkerrechtliche Aufarbeitung der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda. Das Jugoslawien-Tribunal wertete erstmals die systematischen Vergewaltigungen im Zuge des Krieges als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auf dieser Grundlage wurden dann auch die Urteile gefällt. Die Bundesregierung beteiligt sich auch am Aufbau des sogenannten „Triple I-M“ – des „International, Impartial and Independent Mechanism“. Er soll dazu dienen, schwerste Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die seit 2011 in Syrien geschehen sind, strafrechtlich verfolgen zu können. Auch deutsche Institutionen sind beteiligt. Seit 2014 führt der Generalbundesanwalt Ermittlungen durch gegen unbekannte Mitglieder der islamistischen Terrormilizen. Ein Schwerpunkt sind die Übergriffe auf Jesidinnen im Nordirak. Die jesidische Gemeinschaft hat in den vergangenen Jahren unglaubliches Leid erfahren. Im Herbst vergangenen Jahres habe ich mich mit UN-Sonderbotschafterin Nadia Murad getroffen. Sie war selber in die Fänge von Terrormilizen geraten. Heute bringt sie die Kraft auf, von ihrer Lebens- und Leidensgeschichte zu erzählen. Mit gleicher Kraft setzt sie sich für Mädchen und Frauen ein, denen ein ähnliches Schicksal widerfahren ist oder droht. Nadia Murad ist übrigens über ein Sonderprogramm nach Deutschland gekommen. Insgesamt haben wir über tausend traumatisierte Personen der jesidischen Gemeinschaft aus dem Nordirak aufgenommen. Vor allem möchte ich einen Dank an Baden-Württemberg richten, weil dieses Bundesland hier einen Schwerpunkt gesetzt hat. Die Bundesregierung fördert auch medizinische und psychologische Hilfe für Überlebende von sexualisierter Gewalt in der Region selbst – unter anderem in Flüchtlingscamps im irakischen Ninive. Ich vermute, dass Sie mit Gerd Müller gerade darüber gesprochen haben. Frauen und Mädchen, die Gewalt erfahren haben, sollen, so gut es geht, zurück ins Leben finden. Wir müssen verhindern, dass sie als Opfer stigmatisiert werden und dadurch Opfer bleiben. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Die Voraussetzung dafür ist, ein neues Selbstbewusstsein aufzubauen, um dann überhaupt wieder ein eigenes, selbstbestimmtes Leben führen zu können. Nach dem humanitären Weltgipfel vor rund einem Jahr ist Deutschland einer Kampagne beigetreten, die der Förderung von Projekten zur Selbstbehauptung und zum Selbstschutz von Frauen und Mädchen in Notsituationen dient. Wir haben auch diejenigen Personen im Blick, die zu uns nach Deutschland geflüchtet und besonders hilfsbedürftig sind. Die Bundesregierung hat ein Sonderprogramm in Höhe von 200 Millionen Euro aufgelegt. Damit sollen Flüchtlingsunterkünfte baulich so verbessert werden, dass Frauen und Kinder sicher untergebracht sind. Wir setzen uns zudem für Schutzkonzepte in den einzelnen Aufnahmeeinrichtungen ein. Wir haben auch ein kostenloses Hilfetelefon für Frauen eingerichtet, die bedroht sind oder Gewalt erfahren. Ausgebildete Fachkräfte bieten Beratung an; und zwar in 17 Sprachen. Das ist im Übrigen ein Angebot für alle Frauen, die in Deutschland leben. Denn Gewalt gegen Frauen kommt ja auch bei uns leider immer noch zu oft vor. Dabei geht es zumeist auch um Übergriffe im eigenen Zuhause. In jedem Fall gilt aber natürlich, dass es am besten ist, wenn es gar nicht erst so weit kommt, dass Frauen oder Mädchen Gewalt erfahren. Deshalb brauchen wir wirksame Prävention – überall auf der Welt. Das heißt, wir müssen Frauen stärken. Denn dass sie zur Zielscheibe von Aggression werden, nur weil sie Frauen sind, ist auch Ausdruck mangelnder Gleichberechtigung. Im Herbst 2015 hat die Weltgemeinschaft einen globalen Fahrplan zur nachhaltigen Entwicklung verabschiedet. Ziel fünf der Agenda 2030 lautet: „Geschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen“. Daran zu arbeiten, ist Gewaltprävention im besten Sinne des Wortes; und es ist noch mehr. Frauen und Mädchen zu stärken, darin liegt ein zentraler Schlüssel zur erfolgreichen Umsetzung der gesamten Agenda 2030. Im Agendatext selbst ist festgehalten – ich möchte daraus nochmals zitieren –: „Die Verwirklichung der Geschlechtergleichstellung und die Befähigung von Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung werden einen entscheidenden Beitrag zu Fortschritten bei allen Zielen und Zielvorgaben leisten.“ Das reicht auch bis hin zur Konfliktüberwindung und zum Friedenserhalt. Wenn es keinen Krieg gibt, kommt es auch nicht zum Einsatz grausamer Waffen – also auch nicht zu systematischen Vergewaltigungen. Auf diesen Zusammenhang machte bereits die UN-Resolution 1325 aufmerksam. Mit ihr widmeten sich die Vereinten Nationen im Jahr 2000 erstmals dem Themenfeld „Frauen, Frieden, Sicherheit“. Zum einen macht die Resolution deutlich, dass sich bewaffnete Konflikte auf Frauen und Mädchen unverhältnismäßig stark auswirken. Zum anderen hebt sie hervor, wie wichtig es ist, dass Frauen an der Arbeit für Frieden, Sicherheit und Stabilität aktiv mitwirken. Ihre gleichberechtigte Beteiligung kann für stabilen Frieden und wirksame Prävention nur dienlich sein. Ich könnte auch sagen: Sie ist unabdingbar. Die UN-Resolution 1325 hat natürlich auch Eingang in die deutsche Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Gleichstellungspolitik gefunden. Wir haben Anfang des Jahres den zweiten Aktionsplan verabschiedet, um der Intention der Resolution so weit wie möglich gerecht zu werden. Die Stärkung der Frauen ist ein facettenreiches Thema, das wir immer wieder aufgreifen. Das war bei unserer G7-Präsidentschaft vor zwei Jahren der Fall; und auch während unserer G20-Präsidentschaft nimmt das Thema breiten Raum ein. Dabei sind mir zwei Aspekte besonders wichtig: Das sind Bildung und Arbeit. Beides hängt eng zusammen. Je länger Mädchen zur Schule gehen, je besser sie ausgebildet sind, desto größer sind ihre Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben. Ich bin sehr froh – über meine Kontakte in afrikanischen Ländern weiß ich das –, dass viele Staatspräsidenten diesen Mechanismus zumindest erkannt haben. Ich bin aber immer wieder sehr bedrückt, wenn ich sehe, dass man gar nicht all das auf einmal tun kann, was man tun müsste, nämlich Mädchen länger als bis zum 11. oder 12. Lebensjahr in die Schule gehen zu lassen. Jedes zusätzliche Jahr aber hat unglaubliche Wirkung darauf, später dann auch wirklich ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Es gibt immerhin viele positive Beispiele dafür, wie dies gefördert werden kann. Beispielsweise hat Ruanda das heiratsfähige Alter von Mädchen heraufgesetzt. Das hat dazu geführt, dass Mädchen später Kinder bekommen und eine längere Ausbildung genießen können. Ich kann auch die ganze Afrikanische Union nur ermuntern, dies immer wieder zu thematisieren. Ich sehe da durchaus erste Fortschritte. Bessere Bildung und Ausbildung erhöhen wiederum die Chancen auf wirtschaftliche Teilhabe. Neben Wissen und Können braucht es aber auch finanzielle Starthilfen, um sich eine wirtschaftliche Existenz aufbauen und auf eigenen Füßen stehen zu können. Dabei hat sich in vielen Ländern die Institution der Mikrokredite sehr gut bewährt. Daran lässt sich weiter anknüpfen. Deshalb wollen wir auf dem G20-Gipfel, der nächste Woche in Hamburg stattfinden wird, auch den sogenannten „Women’s Entrepreneur Fund“ beschließen, der junge Unternehmerinnen in Entwicklungsländern unterstützen soll und von der Weltbank geleitet wird. Meine Damen und Herren, starke Frauen, die sicher vor Gewalt ihre Talente entfalten, zur Geltung bringen und ihren Weg gehen können – das ist gut für die jeweilige Person; das ist gut für die jeweilige Familie; und das ist gut für die jeweilige Gesellschaft. Denn diese baut dann auf den Potenzialen nicht nur der einen Hälfte der Gesellschaft, sondern der gesamten Bevölkerung auf. Ich bin felsenfest davon überzeugt: Gleichberechtigung und Gleichstellung fördern und festigen den Zusammenhalt in unseren Gesellschaften. Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist unabdingbar für die Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisen und Konflikten. Er ist im Übrigen auch Voraussetzung dafür, Streitfragen friedlich und demokratisch zu klären, was uns wiederum zum Ausgangspunkt zurückführt. Ein herzliches Dankeschön an alle, die die Idee zu diesem Kongress hatten und dessen Durchführung ermöglicht hatten. Ich weiß, Frau Tekkal, dass Sie da auch gebohrt haben – mit Recht. Ich möchte mich bei Frau Maag und bei vielen anderen aus der Fraktion ganz herzlich bedanken. Aber mein allergrößter Dank gilt denen, die bereit waren, zu uns zu kommen, um über das Leid zu sprechen, das sie erfahren haben, und die sich dafür engagieren, dass es weniger Leid gibt. Ein ganz, ganz herzliches Dankeschön dafür. Engagement kann man nicht erzwingen, aber gerade deshalb kann man dankbar dafür sein, dass es Sie gibt. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutschen Bauerntag am 28. Juni 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-deutschen-bauerntag-am-28-juni-2017-in-berlin-442990
Wed, 28 Jun 2017 14:34:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident Rukwied, sehr geehrte, liebe Ehrenpräsidenten, sehr geehrte Frau Präsidentin Scherb – wo ist sie eigentlich? Ich habe sie noch nicht gesehen. – Nicht da? Na, das ist ja ein Ding. Ist was vorgefallen mit den Landfrauen? – Ich achte die Landfrauen sehr. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren, ich will mit einem Satz beginnen, der uns, glaube ich, immer wieder in Erinnerung gerufen werden muss: Wir haben unseren Landwirtinnen und Landwirten außerordentlich viel zu verdanken. Denn sie sind maßgeblich daran beteiligt, dass wir alle unser tägliches Brot – im weiteren Sinne – auf dem Tisch haben. Mir ist es ein besonderes Anliegen, Ihnen klar und unmissverständlich die Botschaft zu überbringen – das tue ich auch im Namen unseres Landwirtschaftsministers, der hier ja noch seinen eigenen Auftritt haben wird –: Wir stehen zu Ihnen. Warum? Ich glaube, dass wir uns glücklich schätzen können, dass es in unserem Land an einer breiten Palette qualitativ hochwertiger landwirtschaftlicher Produkte – und das heißt ja auch: Lebensmittel – nicht mangelt. Jeder Gang in einen Supermarkt oder über einen Wochenmarkt genügt, um sich von der Vielfalt und der Frische der Erzeugnisse zu überzeugen. Ich kann hinzufügen: Auch Ökomärkte sind natürlich mit eingeschlossen. Ich habe immer die Politik verfolgt, die verschiedenen Arten der Produktion nicht gegeneinander auszuspielen. Für viele sind das breite Angebot und die Auswählmöglichkeit eine Selbstverständlichkeit. Aber ein Blick auf die Kette der Produktion zeigt, wie viel Arbeit dahintersteckt. Dafür stehen Sie, die Delegierten, heute stellvertretend für viele, viele andere. Deshalb möchte ich mich, Herr Rukwied, dafür bedanken, dass ich hier auf Ihrem Bauerntag sprechen kann. Wenn wir uns auf der Welt umschauen, wissen wir ja, dass die Frage der Ernährung immer auch eine Frage des Wohlstands ist. In Deutschland geben die Menschen mit zehn Prozent im internationalen Vergleich einen relativ geringen Teil ihres Einkommens für Lebensmittel aus. In vielen anderen Ländern, auch in Europa, ist dieser Anteil höher. Es ist gut – das ist die gute Botschaft –, dass sich die allermeisten Menschen in unserem Land ihre Nahrungsmittel leisten können und niemand Hunger leiden muss. Wir wissen allerdings auch, dass es die Tafeln und anderes gibt, dass es also Menschen gibt, die Unterstützung brauchen. Bezahlbares Essen und Trinken heißt natürlich, dass Geld auch noch für anderes bleiben kann. Ich sage aber auch: Niedrige Preise dürfen nicht dazu führen, dass die Produkte zum Schluss nicht mehr geschätzt werden und damit auch die dahinter stehende Arbeit. Die eigene Erfahrung mit zwei Tomatenpflanzen oder einer Reihe Kartoffeln im eigenen Garten zeigt ja, dass man lange arbeiten muss, um so marktfähig zu werden, dass man damit auch noch etwas verdienen kann. Das ist eben Spezialisierung. Ich glaube, dass es richtig war, dass wir als Bundesregierung vor fünf Jahren einmal haben untersuchen lassen, wie viele Lebensmittel in Deutschland im Müll landen. In der Summe sind es pro Jahr rund elf Millionen Tonnen. Das heißt, jeder von uns wirft im Jahr 82 Kilogramm Brot, Obst und anderes weg. Ein Schluss daraus war die Kampagne „Zu gut für die Tonne!“. Das ist ein Beitrag dazu, das Bewusstsein für den Wert von Lebensmitteln zu schärfen und dafür, wie viel Arbeit dahinter steckt. Es gibt sogar einen Bundespreis für gute Ideen dazu. Das ist sehr unterstützenswert. Auf internationaler Ebene haben sich die Vereinten Nationen vor eineinhalb Jahren mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung ein eigenes Ziel zur Nahrungsmittelverschwendung gesetzt, die weltweit bis 2030 halbiert werden soll. An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Agenda 2030 wirklich eine globale Agenda für mehr Nachhaltigkeit ist. Wir setzen als Bundesregierung, weil wir ja selber unsere Umsetzungspläne machen müssen, auf Sensibilisierung und Information. Denn viele Menschen wissen wenig darüber, wie moderne Landwirtschaft aussieht und welchen Aufwand es bedeutet und welche Vorarbeiten notwendig sind, dass nicht nur ausreichendes, sondern auch gesundes Essen auf den Tellern landen kann. Die Erwartungen der Verbraucher sind allerdings eindeutig. Die Größe der Ställe und die Nutztierhaltung insgesamt wird hinterfragt. Lebensmittel sollen umwelt- und ressourcenschonend erzeugt werden. Der Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung soll sinken. Natürlich sind diese Erwartungen nachvollziehbar. Aber ich sage ganz deutlich: Das ist null Komma null eine Rechtfertigung dafür, den bäuerlichen Berufsstand insgesamt an den Pranger zu stellen. Wir wehren uns absolut gegen unsachliche und pauschale Kritik, die sogar noch die Möglichkeit versperrt, über manches Thema in Ruhe miteinander zu sprechen. Denn eines ist ja auch klar: Die Landwirtschaft – jeder von Ihnen, der einen Betrieb hat, weiß das – steht wie andere Branchen auch vor großen Herausforderungen und Veränderungen. Der Berufsstand muss sich wie auch andere Berufsstände immer wieder dieser Realität stellen. Aber wenn ich mir die Erwartungen an durchschnittliche Arbeitszeiten heute anschaue, dann ist das, was zum Beispiel die Tierhaltung anbelangt, natürlich etwas, das eine Verfügbarkeit das ganz Jahr über morgens und abends und an jedem Tag voraussetzt. Wenn man sich mit jungen Menschen unterhält, die landwirtschaftliche Berufe erlernen, dann merkt man, was für eine Liebe und ein Enthusiasmus dazu gehören, um diese Arbeit zu machen. Das muss von der Gesellschaft geachtet werden. Die Ausrichtung der Tierhaltung ist ein Punkt, der uns natürlich weiter beschäftigen wird. Die Nutztierhaltung ist in Deutschland eine Hauptquelle für die Einkünfte in der Landwirtschaft. Fast 70 Prozent der Betriebe halten Vieh. Damit der Absatz weiter stimmt, brauchen wir Formen der Haltung, die akzeptiert werden. Dabei geht es insbesondere um Fragen des Tierwohls und des Tierschutzes. Um über diese Fragen zu diskutieren und um Sie zu unterstützen, hat die Bundesregierung die Initiative „Eine Frage der Haltung – Neue Wege für mehr Tierwohl“ gestartet, über die Bundesminister Schmidt morgen ja auch berichten wird. Ziel ist es, über alle Lebensphasen der Tiere hinweg für bessere Haltungsbedingungen zu sorgen und das Verbrauchervertrauen zu stärken. Ein staatliches Tierwohl-Label soll helfen, tierschutzgerecht erzeugte Produkte zu erkennen, um Kaufentscheidungen auch bewusst treffen zu können. Dieses Beispiel zeigt, dass wir alle miteinander gefordert sind, wenn wir etwas verändern oder verbessern wollen. Landwirtschaft, Politik und Konsumenten müssen zusammen an einem Strang ziehen. Die Last der Veränderung allein einem Berufsstand aufzubürden, ist nicht in Ordnung. Deshalb finde ich Ihr Motto „Gemeinsam Zukunft gestalten“ absolut richtig. Ich betone das Wort „gemeinsam“. Das spricht auch mich, das spricht auch die Bundesregierung an. Wir müssen mehr miteinander statt übereinander reden. Wir brauchen einen breiten Dialog darüber, wie die Landwirtschaft von morgen aussehen soll. Wenn ich „wir“ sage, dann meine ich als Erstes natürlich Sie als Landwirte, als diejenigen, die auch das entsprechende Wissen und die Kenntnisse haben. Ich kann Sie nur immer wieder ermuntern, ein modernes und realistisches Bild von der Produktion auf den Feldern und in den Ställen zu zeichnen – so wie Sie es auch bereits an vielen Stellen tun. Sie können glaubwürdig und sachkundig zeigen, wie Ihre Arbeit aussieht und wie Sie mit Herausforderungen umgehen. Sie haben überhaupt keinen Grund, sich zu verstecken, sondern können selbstbewusst zeigen, was Sie können und leisten. Das ist zum Beispiel auch an der Tierhaltung zu sehen, bei der Sie verstärkt auf das Tierwohl schauen. Ställe ändern sich. Etwa drei Viertel der Milchkühe sind inzwischen so untergebracht, dass sie sich frei bewegen können. Antibiotika kommen seltener als früher zum Einsatz. Die Gesamtmenge hat sich zwischen 2011 und 2015 mehr als halbiert. Das zeigt: Sie als Landwirtinnen und Landwirte greifen die Minimierungsstrategie der Bundesregierung auf und setzen sie auch praktisch um. Das kommt Mensch und Tier oder Tier und Mensch gleichermaßen zugute; und deshalb sprechen wir auch von einem One-Health-Ansatz. Diesen Ansatz gilt es natürlich nicht nur in Deutschland zu verfolgen. Deshalb bedanke ich mich auch ganz herzlich beim Landwirtschaftsminister, der im Rahmen unserer G20-Präsidentschaft – wir haben das auch im Rahmen der G7-Präsidentschaft gemacht – Pflöcke eingeschlagen hat. Die Agrarminister der G20-Staaten haben eine Erklärung verabschiedet, mit der sich die 20 führenden Industrie- und Schwellenländer zu einem verantwortlichen Umgang mit Antibiotika in der Landwirtschaft verpflichten. Das ist ein Riesenfortschritt, denn durch einen reduzierten Einsatz verringern sich auch das Entstehen und Ausbreiten von Antibiotika-Resistenzen. Wir müssen sagen, dass das durchaus eine der großen Herausforderungen für die Menschheit ist. Damit bin ich bei der zweiten Gruppe, der Politik, die ja auch hinter dem „wir“ steckt. „Wir“ – das sind die Landwirte auf der einen Seite und auf der anderen Seite auch die Politik. Wir wollen gemeinsam Verantwortung tragen und gemeinsam gestalten. Eine besondere Herausforderung für Sie – Herr Rukwied hat es am Anfang gesagt – war der Preisverfall 2016, der Milchbauern und auch Schweinezüchter besonders stark betroffen hat. Die Politik reagierte schnell. Wir – ganz besonders natürlich der Bundeslandwirtschaftsminister – haben versucht, Ihnen mit zwei Hilfspaketen unter die Arme zu greifen. Einiges davon lief auf europäischer Ebene, einiges auf nationaler Ebene. Die finanzielle Unterstützung für die deutsche Landwirtschaft in den Jahren 2016 und 2017 belief sich auf fast 600 Millionen Euro. Ich glaube, das kann sich sehen lassen. Aber ich weiß aus meinem eigenen Wahlkreis und aus Gesprächen mit vielen Bauern, was für eine Sorge und was für ein Druck mit Preis- und Marktentwicklungen verbunden sind. Es geht ja auch darum, dass man ganze Phasen lang Verluste macht und dass es Jahre dauert, diese wieder auszugleichen. Leider haben auch einige aufgeben müssen; auch das dürfen wir an einem solchen Tag nicht vergessen. Aber wir haben versucht, hilfreich zu sein. Wir versuchen auch, Rahmenbedingungen verlässlich zu gestalten. Das betrifft zum Beispiel auch die Besteuerung von Agrardiesel. Wir halten an der Ermäßigung fest. Das bedeutet natürlich auch Rechtssicherheit für die landwirtschaftlichen Betriebe. Es gilt, auch im Rahmen der Bereiche Umwelt und Klimaschutz möglichst viel Verlässlichkeit hinzubekommen. Die Landwirtschaft wirkt sich unmittelbar auf die Natur und das Landschaftsbild aus. Es ist ja auch ihre ureigene Aufgabe, Lebensmittel zu produzieren. Dazu werden Böden genutzt, Wasser, Energie, Dünger und anderes eingesetzt. Dabei treffen zwangsläufig verschiedene Ansprüche und Erwartungen aufeinander. Da gilt es, Produktivität und Qualität, Einkommensicherung und niedrige Preise sowie Umwelt-, Natur- und Klimaschutz immer wieder zusammenzubringen. Da gibt es natürlich auch Zielkonflikte – darum muss man gar nicht herumreden –, aber sie dürfen eben nicht einseitig zulasten einer Gruppe gelöst werden. Meine Damen und Herren, es stellt sich auch die Frage, wie wir global den Herausforderungen begegnen können, wie wir nicht nur zu Hause Ernährung sichern, sondern auch weltweit Ernährungssicherheit schaffen können. Die Erdbevölkerung wächst rasant weiter. Mit der Agenda für nachhaltige Entwicklung 2030, die ich schon genannt habe, haben wir uns ehrgeizige Ziele gesetzt. Sie sehen auch an der Entwicklung und dem Druck der Migration aus afrikanischen Ländern, wie eng Ernährungssicherung und unser eigener Wohlstand miteinander verwoben sind. Wir sehen furchtbare Hungerkrisen. Ganze Landstriche in Afrika oder zum Beispiel auch im Jemen werden davon heimgesucht. Wir als Bundesrepublik Deutschland versuchen als guter Partner unseren Beitrag zur Bekämpfung der humanitären Not zu leisten. Aber wir müssen vor allen Dingen auch den strukturellen Ursachen von Hunger und Armut begegnen. Wir müssen unsere Entwicklungshilfe sehr viel mehr als bisher auch als Zusammenarbeit für die wirtschaftliche Entwicklung in unterentwickelten Ländern sehen. Das heißt, wir müssen die Rahmenbedingungen für private Investitionen verbessern. Der Entwicklungsminister spricht von einem Marshallplan. Wolfgang Schäuble, unser Finanzminister, hat einen „Compact with Africa“ aufgelegt. Gerade auch unser Landwirtschaftsminister fühlt sich nicht nur der Landwirtschaft hierzulande verpflichtet, sondern auch woanders. Wir müssen natürlich auch für faire Handels- und Rahmenbedingungen eintreten. Arme Länder oder Länder, die aufsteigen, brauchen gute und auch für sie hilfreiche Handelsabkommen. Darüber wird in den nächsten Monaten zwischen der Europäischen Union und Afrika auch nochmals gesprochen werden. Unser eigener Klimaschutzplan 2050 setzt uns ehrgeizige Ziele. Wir wissen: Wir müssen den Klimawandel bekämpfen. Aber die Klimaschutzpläne bei uns zu Hause sind auch schwer erstritten. Wir wollen sie auch im Dialog mit Ihnen weiterentwickeln, denn wir wissen, dass auch in der Landwirtschaft große Herausforderungen zu bewältigen sind. Eine große Chance bergen moderne Technologien. Digitalisierung hält bei Ihnen Einzug. Die Landwirtschaft 4.0 eröffnet völlig neue Möglichkeiten, Umwelt- und Tierschutz sowie Wirtschaftlichkeit besser miteinander zu verbinden. Jeder von Ihnen weiß, wie weit die Digitalisierung bei Ihnen schon Einzug gehalten hat. Es gibt Melkroboter und Fütterungsautomaten. Die verschiedensten Daten der Tiere lassen sich individuell erfassen und auswerten. Auch das kann im Übrigen dem Tierwohl sehr gut dienen. Durch die sogenannte Präzisionslandwirtschaft und die Nutzung von GPS-Daten lässt sich zum Beispiel der Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln optimieren. Wie wichtig das ist, zeigt sich ja auch in der Diskussion über die Belastung der Böden und des Grundwassers. Es gilt natürlich, die Einträge von Stickstoffverbindungen zu reduzieren. Die Grundwasserqualität ist nicht überall gleich; sie ist zum Teil beeinträchtigt. Wir haben lange um das Düngepaket gestritten und gerungen, aber der Landwirtschaftsminister war ein guter Anwalt Ihrer Interessen. Ich glaube, wir haben jetzt gute Dinge auf den Weg gebracht. Vor allen Dingen will ich die neuen Regeln für die gute fachliche Praxis beim Düngen nennen. Die Änderungen helfen, dass die Nitratbelastung künftig unter den Grenzwerten bleibt. Danke dafür, dass Sie dabei auch mitgemacht haben. Wenn man jetzt über die weitere Entwicklung der Landwirtschaft nachdenkt, dann fragen Sie sicherlich: Was wird mit Glyphosat? Da will ich Ihnen nur nochmals die Unionsposition nennen. Die Kommission hat ja jetzt eine Verlängerung vorgenommen. Ich weiß, dass diese Verlängerung nicht ewig ist. Wir werden uns dafür einsetzen, dass Sie diesen Stoff da, wo es notwendig ist, auch weiterhin anwenden können. Ich will das hier noch einmal ausdrücklich sagen. Wir sehen, dass auch die Gemeinsame Agrarpolitik nach 2020 auf der Tagesordnung steht. Günther Oettinger wird glücklicherweise morgen zu Ihnen sprechen und Ihnen seine Vorstellungen darlegen. Die Planung des Haushalts, die Finanzielle Vorausschau für die Zeit nach 2020, wird durch den Austritt Großbritanniens so etwas wie die Quadratur des Kreises – auch durch neue Herausforderungen für den EU-Haushalt zum Beispiel im Bereich Entwicklungszusammenarbeit, Migrationspartnerschaften und auch Sicherheit. Aber wir kennen Ihre Erwartungen. Ich will sagen, dass natürlich Umwelt-, Natur- und Klimaschutz, die Ressourceneffizienz und gesellschaftliche Akzeptanz wichtig sind. Aber wir stehen auch zu beiden Säulen der Gemeinsamen Agrarpolitik – zur ersten Säule und zur zweiten Säule. Aus den Gesprächen, die ich jüngst in meinem Wahlkreis geführt habe, weiß ich, dass die zweite Säule dringend der Entbürokratisierung bedarf. Was da zu leisten ist und erfasst werden muss, ist schon beachtlich. Sie alle kennen Beispiele. Man muss sich davon wirklich berichten lassen, damit man weiß, wovon die Rede ist. Das muss auch anders gehen. Deshalb: Bringen Sie sich weiterhin aktiv in die Debatte ein. Ich begrüße, dass nicht nur der Deutsche Bauernverband, sondern auch viele Landwirtinnen und Landwirte die Chance genutzt haben, sich am Konsultationsprozess zu beteiligen. In der Debatte um die Zukunft der Gemeinsamen Agrarpolitik ist, wie ich eben schon sagte, der Brexit natürlich ein Thema. Dass Großbritannien die EU verlassen will, wirkt sich auf die Finanzplanungen aus. Es hat aber auch viele andere Implikationen. Wer sich zum Beispiel mit dem Fischereigewerbe befasst, der weiß, dass mit dem Austritt Großbritanniens auch viele Fischereigebiete wahrscheinlich nicht mehr zum Binnenmarkt gehören werden. Aber ich will Ihnen zu unserer Philosophie Folgendes sagen: Wir werden, soweit möglich, in freundschaftlicher Atmosphäre mit den Briten über den Austritt aus der Europäischen Union verhandeln. Aber wir müssen auch darauf achten, dass sich die 27 um ihre Zukunft kümmern. Denn so wie Ihre Branche der Transformation, den vielen Herausforderungen und Veränderungen ausgesetzt ist, so gilt das für alle Wirtschaftsbereiche. Es wäre fatal, wenn wir vor lauter Austrittsverhandlungen mit Großbritannien die Zukunft der 27 und ihre Gemeinsamkeiten aus dem Auge verlieren würden. Deshalb habe ich beim jüngsten Europäischen Rat gesagt: Das hat erst einmal Vorrang für uns; und das andere machen wir. Das ist aber keine Wunschveranstaltung. Das ist eine Entscheidung der Briten. Das werden wir so tun, dass wir hinterher in guter Partnerschaft miteinander leben können. Das andere ist unsere eigene Zukunft; und darum müssen wir uns kümmern, meine Damen und Herren. In diesem Sinne bitte ich Sie auch, dass Sie sich in diese Diskussion einbringen. Sie sind sozusagen der Nukleus dessen, was wir gemeinhin die ländlichen Räume nennen. Wir werden im Prozess der Erarbeitung unseres Regierungsprogramms für die nächsten vier Jahre nochmals daran erinnern, dass es einen Passus in unserem Grundgesetz gibt, der von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland spricht. Allein mit dem Hinweis, dass es schön ist, wenn man abends den Sonnenuntergang verfolgen kann und morgens den Sonnenaufgang, ist die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse noch nicht hergestellt – wenngleich ich in der Stadt solche Erlebnisse manchmal vermisse. Aber es gehört mehr dazu. Daseinsvorsorge ist eben auch für die ländlichen Räume notwendig. Deshalb sind das Leitbild der Bundesregierung ländliche Räume, die überall in Deutschland gleichwertige Lebensverhältnisse bieten. Das bedeutet, dass wir zum Beispiel die sogenannte „Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz“ zur „Gemeinschaftsaufgabe Ländliche Entwicklung“ fortentwickelt haben. Wir werden strukturschwachen Gebieten verstärkt Infrastrukturinvestitionen ermöglichen und auch Kleinstbetriebe außerhalb der Landwirtschaft unterstützen. Das erstreckt sich im Grunde von den Einkaufsmöglichkeiten über die ärztliche Versorgung und Schulversorgung bis zu einer anständigen Breitbandversorgung. Minister Dobrindt hat für letzteres vier Milliarden Euro zur Verfügung. Die Gelder sind auch vergeben. Das Bundesland, in dem mein Wahlkreis liegt, Mecklenburg-Vorpommern, hat gleich sehr zugeschlagen – darauf bin ich stolz – und viele Mittel gebunden. Aber ich weiß, dass auch hierbei die Ausschreibungsfristen – europaweit; technologieneutral – ziemlich lang sind. Das heißt, zwischen der Vergabe des Fördermittelbescheids und der Erfahrung, ans schnelle Internet angebunden zu sein, vergeht ein Stückchen Zeit. Aber wir werden unser Ziel erreichen, 2018 jeden Haushalt mit 50 Megabit pro Sekunde angeschlossen zu haben. Wir werden auch die Gewerbegebiete in den ländlichen Räumen anschließen. In der nächsten Legislaturperiode werden wir die Schulen anschließen. Ich höre ja schon das Grummeln. Ich habe die Telekom und alle Netzanbieter neulich auch scharf befragt, ob wir das wirklich schaffen. Wir werden bis 2023/2025 100 Milliarden Euro in diesen Bereich investieren und dann auch in den Gigabitbereich vorrücken, was für die Telemedizin und andere Anwendungen natürlich dringend erforderlich ist. Aber da ich öfter einmal durch die Uckermark fahre, weiß ich auch, wie schön es ist, dort irgendwo auf der Landstraße telefonieren zu können. Ich kenne mich also in der Realität auch aus; keine Sorge. Wir haben auch das Bundesprogramm „Ländliche Entwicklung“ mit 55 Millionen Euro aufgelegt. Heimat – das kann eine Stadt sein, aber das kann – und das ist es für mindestens die Hälfte der Menschen in Deutschland – auch der ländliche Raum sein. Selbst im ländlichen Raum unterscheiden sich die Bedingungen heute teils sehr stark – sei es in Vorpommern oder im Sauerland. Auch da können wir nicht alles über einen Leisten schlagen. Bei den einen herrscht Fachkräftemangel, bei den anderen Ärztemangel. Wir haben es mit ganz unterschiedliche Gegebenheiten zu tun. Wir wollen uns dem stellen. Allerdings ist der ländliche Raum ohne landwirtschaftliche Betriebe, ohne landwirtschaftliche Wertschöpfung für mich schlechterdings nicht vorstellbar. Ich denke auch, dass es keine ehrliche Diskussion wäre, auf der einen Seite zu sagen, regionale Lebensmittel haben zu wollen, und auf der anderen Seite überall da, wo sie produziert werden, Fragezeichen anzubringen. So kann man nicht miteinander zusammenleben. Deshalb finde ich Ihre Strategie, dass wir diese Herausforderung gemeinsam annehmen, absolut richtig. Grüßen Sie bitte ganz herzlich all diejenigen, die an diesem Bauerntag nicht teilnehmen können. Es ist ja eigentlich auch nicht die bauerntagfreundlichste Jahreszeit. Aber irgendwie werden Sie es schon hinbekommen haben. In diesem Sinne: Alles Gute und auf weitere gute Zusammenarbeit.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Kongress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion „Deutschland 4.0“ am 28. Juni 2017 im Deutschen Bundestag
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-kongress-der-cdu-csu-bundestagsfraktion-deutschland-4-0-am-28-juni-2017-im-deutschen-bundestag-443080
Wed, 28 Jun 2017 13:30:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Fraktionsvorsitzender, lieber Volker Kauder, lieber Michael Fuchs, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste dieses Kongresses, wenn ich zum Schluss auftauche, dann ist meistens schon alles gesagt – noch dazu von Fachkundigeren als ich es sein kann. Also ist meine Anwesenheit im Wesentlichen so zu verstehen, dass ich dadurch auch zeige, dass die Frage, die auch den Wohlstand von morgen mitbestimmt, nämlich wie wir mit der Digitalisierung umgehen, Chefsache ist. Dieser Frage haben wir uns als Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen, in diesem Fall die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, wirklich als großes Schwerpunktthema in dieser Legislaturperiode angenommen. Das Thema wird auch die nächste Legislaturperiode bestimmen. Seit Jahren ist das Kürzel „4.0“ mit dem Begriff Industrie verbunden. Aber ich finde es sehr gut, lieber Michael Fuchs, dass dieser Kongress darauf ausgerichtet ist, „Deutschland 4.0“ in den Mittelpunkt zu stellen. Das sagt nichts anderes, als dass die Digitalisierung alle Lebensbereiche durchdringt und Veränderungen nach sich zieht, die man alle im Rahmen eines solchen Kongresses natürlich gar nicht diskutieren kann. Es gibt eine Vielzahl gesellschaftlicher Veränderungen in unserem gesamten Kommunikationsverhalten. Man muss sich nur mal Menschen um einen Esstisch herum anschauen: Diese gucken auf den Teller, sprechen ab und zu auch mit dem, der neben ihnen sitzt, aber vieles geschieht auch noch mit Dritten, die nicht am Tisch sitzen. Das ist nur eine kleine Facette dessen, was sich abspielt. Ich erinnere mich noch ganz gut, als wir die „Plattform Industrie 4.0“ ins Leben gerufen haben. Das war auf der Hannover Messe 2015. Indien war unser Partnerland. Damals war schon die Rede von der Kampagne „Digital India“, mit der die digitale Transformation in Indien vorangetrieben wurde. Wir haben an vielen Stellen in den letzten Jahren aufgeholt. Wir haben dazu einen Arbeitsprozess installiert. Das sind die sogenannten IT-Gipfel, inzwischen Digitalgipfel genannt, die wir jedes Jahr durchführen. In verschiedenen Arbeitsgruppen werden zusammen mit der Wirtschaft anstehende Probleme identifiziert und Lösungswege hierfür erarbeitet. Das ist im Übrigen eine Form der Kooperation, die wir aus dem klassischen Miteinander von Verbänden und Politik so nicht kennen. Normalerweise gehen wir als Politiker zu großen Kongressen, wo uns gesagt wird, was man erwartet, und wir der Wirtschaft sagen, was wir von ihr erwarten. Aber hier – ich darf das Wort „Neuland“ nicht mehr verwenden – dringen wir sozusagen in Unbekanntes vor. Wir entwickeln gemeinsam Lösungen. Dabei ist jeder darauf angewiesen, dass der andere mitzieht, weil auf der einen Seite Leitplanken gebraucht werden, aber auf der anderen Seite natürlich auch nicht alles verbarrikadiert werden darf. Beim diesjährigen Digitalgipfel haben wir das Thema E-Health, also Gesundheit und Digitalisierung, als Schwerpunkt im Blick gehabt. Der Gesundheitsminister verspricht mir und sagt mir immer wieder, dass wir jetzt den Durchbruch mit der Gesundheitskarte erleben. Also werde ich nicht mehr darüber sprechen, wie lange es gedauert hat. Ich glaube aber, dass sich im Gesundheitswesen schon sehr, sehr viel verändert hat. Die Chancen sind ersichtlich, die mit der Telemedizin für die Versorgung ländlicher Räume einhergehen. Die medizinische Behandlung wird sehr viel präziser werden, weil der Zugriff zu Datenmaterial schneller und leichter und die Konsultation von Spezialisten viel einfacher möglich sein wird. Die Operationstechniken sind inzwischen hochgradig mit der Digitalisierung verbunden. Wenn man sich endoskopische Eingriffe anschaut, weiß man, dass da auch das Thema künstliche Intelligenz eine Riesenrolle spielen wird. Es gibt also eine große Dynamik in diesem Bereich. Wir müssen uns als Erstes mit der digitalen Infrastruktur befassen, denn wo diese nicht ist, kann man auch keine Chancen im Bereich der Digitalisierung nutzen. Wir sind gut vorangekommen, schneiden aber in manchen Statistiken nicht besonders gut ab, weil unsere Glasfaserverkabelung noch vergleichsweise gering ausfällt. Dennoch werden wir unser Ziel, jeden Haushalt in Deutschland mit 50 Megabit pro Sekunde im nächsten Jahr angeschlossen zu haben, erreichen. Wir haben ein Programm zum gezielten Breitbandausbau in den ländlichen Räumen; also da, wo wir davon ausgehen, dass die Erschließung nicht wirtschaftlich ist. Denn wir haben immerhin den grundgesetzlichen Auftrag, für gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu sorgen, den man auch an dieser Stelle ernstnehmen muss. Wir werden zwischen 2018 und 2023 bis 2025 die Verfügbarkeit von Gigabit-Breitband überall gewährleisten müssen. Von heute aus betrachtet, ist das noch eine riesige Aufgabe. Es geht ja nicht nur um Wohnungen, sondern es geht auch um Gewerbegebiete. Hierzu hat der Infrastrukturminister Alexander Dobrindt jetzt auch Zusagen gemacht. Es wird in der nächsten Legislaturperiode auch verstärkt um den Anschluss von Schulen gehen. Hier wurde schon das Stichwort „Bildung“ genannt; ich will das gleich nochmals aufnehmen. Es wird auch darum gehen, entlang bestehender Infrastrukturen für die Verfügbarkeit von großen Bandbreiten zu sorgen, wenn wir an Anwendungen wie zum Beispiel das autonome Fahren denken. Vier Milliarden Euro werden derzeit für den Breitbandausbau zur Verfügung gestellt. Dieses Geld fließt gut ab. Es mussten neue Verpflichtungsermächtigungen gegeben werden. Es gibt eine hohe Bereitschaft der Verantwortlichen vor Ort in den Kommunen, in den Kreisen, sich dieses Themas anzunehmen, weil alle spüren: Breitbandanschluss ist ein Standortfaktor, der über vieles entscheiden wird. Alexander Dobrindt hat als Minister die „Netzallianz Digitales Deutschland“ gegründet. Wir werden die „Zukunftsoffensive Gigabit-Deutschland“ auf den Weg bringen, so wie ich es schon gesagt habe. Dabei spielt der technische Standard 5G eine entscheidende Rolle. Hierbei wird es auch darum gehen, einen digitalen Binnenmarkt in Europa zu schaffen und grenzüberschreitend digitale Bandbreiten zur Verfügung zu haben, wenn man zum Beispiel mit dem autonomen Fahren vorankommen und nicht an jedem Grenzübergang Schiffbruch erleiden will. Die Netzallianz sieht für den gesamten Zeitraum von 2014 bis 2023 100 Milliarden Euro an Investitionen vor. Wir müssen jetzt schauen, dass unsere Planungskapazitäten und Baukapazitäten nicht völlig überhitzt werden, weil das sonst Preissteigerungen mit sich bringt, die wir nicht brauchen können. Auch insofern ist die Frage der Planungsnotwendigkeiten und der Planungskapazitäten in vielen Investitionsbereichen also eine sehr entscheidende. Wir brauchen den 5G-Standard und wir brauchen die Gigabit-Verfügbarkeit, weil wir Echtzeitverfügbarkeit brauchen. Es werden sich nicht nur die Menschen vernetzen – das ist ja bis heute schon einigermaßen geschehen –, sondern auch Dinge werden sich immer mehr miteinander vernetzen. Deshalb sprechen wir vom „Internet der Dinge“. Dinge werden miteinander kommunizieren – etwa in der Produktion, in der Logistik und möglichst in Echtzeit beim autonomen Fahren. Wir gehen eigentlich schon jetzt auf die nächste Stufe. „Industrie 4.0“ ist das eine – die digitale Fertigung, die digitale Entwicklung. Auf der nächsten Stufe geht es verstärkt darum, was durch Robotik ersetzt werden oder in Kooperation mit den Menschen gemacht werden kann. Die Frage, wie intelligent Roboter werden können – also das Thema künstliche Intelligenz –, dürfte die nächste Zeit prägen. Mit Blick auf Konsumentenanwendungen stellt sich bereits die Frage: Muss ich irgendwann überhaupt noch schreiben oder kann eigentlich schon erkannt werden, wenn ich denke, was ich will. Da gibt es ganz interessante Dinge. Konzentriertes Denken kann heute schon zu Reaktionen von digital entities, sage ich jetzt mal, werden. Die kriegen manchmal Menschennamen und reagieren auch darauf. Da spielt sich sehr vieles ab. Neben automatischen Übersetzungsprogrammen gibt es also auch logische Aneinanderreihungen von bestimmten Befehlen und dann auch die Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen. Das alles sind Dinge, die nicht nur beim Schachautomaten inzwischen eine Rolle spielen, sondern die weit darüber hinausgehen. Für uns ist es angesichts eines Wertschöpfungsanteils der Industrie von über 20 Prozent von entscheidender Bedeutung, dass wir die digitale Entwicklung in die realwirtschaftliche Wertschöpfung integrieren. Deshalb auch diese Kraftanstrengung im Zusammenhang mit Industrie 4.0. Die entscheidende Schnittstelle wird immer mehr diejenige zwischen dem Produzenten und dem Konsumenten, also dem Kunden, sein: B2C oder C2B – Kunde zu Business. Da treffen sozusagen die Innovationsführer aus dem Konsumentenbereich auf die Innovationsführer im Produktionsbereich. Alle deutschen Industrieunternehmen müssen verstehen, dass sich ihre Beziehung zum Kunden völlig verändern wird. Wer in Internetunternehmen über den Kunden und seine Wünsche alles weiß, ist dann auch in der Lage, individuelle Angebote von irgendwoher einzuholen, was unsere Industrieunternehmen zu einer verlängerten Werkbank machen könnte. Eine verlängerte Werkbank aber kennt viel weniger Wertschöpfungserträge als derjenige, der die gesamte Kette im Griff hat. Das bedeutet, ich muss meine Kunden kennen, ich muss mit dem Verbraucherverhalten meiner Kunden etwas machen und ich muss meinen Kunden spannende, gute Angebote machen. Die spannenden, guten Angebote werden nicht allein etwa ein toller Autotyp oder ein tolles Eisenbahngefährt sein. Kunden werden vielmehr fragen: Ich möchte von A nach B; wer hat die Plattform, die mir den Weg eröffnet, effizient und gut von A nach B zu kommen, und über die meine Sonderwünsche berücksichtigt werden, wenn ich zum Beispiel ein Stück auf der Autobahn mit dem Auto fahren will und vielleicht ein Stück mit dem Fahrrad. Es geht also darum, sozusagen alles an Möglichkeiten der Mobilität mit anzubieten. Ich vermute, dass es bestimmte Plattformen geben wird, die neben Mobilitätsmöglichkeiten auch noch Geschenke für die zu besuchenden Verwandten und gleich noch die Verwaltung meines Kontos anbieten. Ist die deutsche Wirtschaft bereit, aus der Perspektive des Kunden zu denken, solche Plattformen zu schaffen und sich so miteinander zu vernetzen, dass man inklusive Angebote machen kann? Eine Frage, auf die ich erst seit kurzer Zeit gekommen bin, ist: Ist unser Kartellrecht eigentlich darauf eingestellt, dass wir das dürfen? Ich glaube, das wird eine der drängendsten Fragen sein, da sie auch Absprachen betrifft, die eigentlich im klassischen Sinne des deutschen Kartellrechts rechtswidrig sind. Es lohnt sich – für die Wirtschaftspolitiker vielleicht auch eine Anregung für die kommende parlamentsfreie Zeit –, mal zu gucken, was für Fälle das Kartellamt inzwischen hat, in denen es um solche Absprachen geht. Ich glaube, wir müssen da über Neues nachdenken. Also, für die deutsche Wirtschaft – Maschinenbau, Automobil- und Chemieindustrie, um nur drei Schlagworte zu nennen – steht sehr viel auf dem Spiel. In der Automobilbranche haben wir ja die Situation, dass wir im Grunde drei Revolutionen auf einmal haben, die miteinander verwoben sind: In dem Moment, in dem das autonome Fahren relevanter wird, werden zumindest im Großstadtverkehr auch die Frage des Besitzes eines Autos und auch die Frage des Antriebsmotors eine neue Qualität bekommen. Denn beim autonomen Fahren ist zum Beispiel die Frage, ob ich als erster von der Kreuzung wegkomme und ob die Beschleunigung besonders hoch ist, nicht mehr ganz so relevant. Es stellt sich vielmehr die Optimierungsfrage, wie ich insgesamt am schnellsten und am sichersten von A nach B komme, und nicht mehr die Frage, wer am schnellsten über Kreuzung eins, zwei oder drei kommt. Das heißt, die Prämissen werden sich vollkommen ändern. Daher müssen wir diese drei Revolutionen gut miteinander verknüpfen. Vor allen Dingen müssen wir als Bevölkerung neugierig auf diese Revolutionen sein; auch das ist ein Punkt. Denn wer mit guten Produkten sozusagen in einer fortgeschrittenen Sättigungskurve lebt, bei dem besteht immer auch die Gefahr, dass er nicht neugierig auf Qualitätssprünge ist. Deshalb müssen wir sehr genau beobachten, was woanders passiert und wie wir Anschluss an neue Entwicklungen halten. Wir müssen nicht nur dem klassischen Mittelstand ein gutes Produktionsumfeld bieten, sondern mit Blick auf Innovationen auch für Start-ups ein Umfeld schaffen, die oft mit einer ganz anderen Philosophie an die Dinge herangehen. Wir haben in dieser Legislaturperiode in harten Kämpfen eine ganze Menge erreicht. Die steuerliche Verlustverrechnung ist ein Thema, bei dem man es nicht fassen kann, wie viele Menschen wie viele Stunden damit verbracht haben, bis eine Abgrenzung zum klassischen mittelständischen Unternehmen gefunden wurde. Ich glaube aber, dass wir nun mit besseren Finanzierungsmöglichkeiten Signale gesetzt haben, um die Start-up-Kultur voranzubringen und auch Risiken einzugehen. Sie haben ja eben auch über die Kultur des Scheiterns gesprochen. Ich weiß nicht, Herr Pfeiffer, ob man das Scheitern nun gleich steuerlich begünstigen muss, aber man darf es auf gar keinen Fall kulturell bestrafen, sondern es muss sozusagen Gründerkredite für mehrere Anläufe geben. Man darf nicht mit einem Mal sein gesamtes Schicksal verwirkt haben. Das ist auf jeden Fall klar. Wir müssen sicherlich auch nochmals strategische Gebiete definieren, in denen wir uns die Chancen der Digitalisierung dauerhaft bewahren können. In der Europäischen Union haben wir sozusagen strategische Sektoren, in denen wir nicht verpflichtet sind, alle Beihilferegeln einzuhalten. Das haben wir jetzt zum ersten Mal im Bereich der Mikroelektronik ausprobiert, weil wir nahezu keine Chipproduktion mehr in Europa haben, aber weit über 50 Prozent der Maschinen, die Chips produzieren, in den asiatischen Raum geliefert haben, wo also Chips mit europäischen Maschinen produziert werden. Man kann sich ausrechnen, dass diejenigen, die Chips produzieren, nach einer Dekade oder sonst irgendwann auch die Maschinen dazu produzieren können. Dann wäre also unser gesamtes Know-how weg. Deshalb haben wir uns zusammen mit den Niederlanden und Frankreich und auch mit Hilfe von EU-Geld strategische Investitionen vorgenommen. Das hat zum Beispiel zu Investitionen von Bosch in Dresden geführt. Auch Globalfoundries wäre nicht mehr so in Dresden aktiv, wenn man das nicht sehr entschieden und strategisch vorangebracht hätte. Die Frage, vor der wir stehen, ist: Sollen wir das auch für die Batterie- und Zellfertigung in Erwägung ziehen; brauchen wir das auch im Bereich der künstlichen Intelligenz? Ich beantworte die Frage zur künstlichen Intelligenz mit einem klaren Ja. Daran müssen wir arbeiten. Bei der Zellfertigung bin ich mir nicht sicher. Die heimische Automobilindustrie hat sich jedenfalls nicht entschieden, das von uns einzufordern. Und gegen wirtschaftliche Wünsche irgendwie etwas politisch aufzuoktroyieren, wäre ja auch eine komische Sache. Da bräuchten wir schon Signale aus der Wirtschaft, um in diesem Bereich dann auch wirklich voranzukommen. Ich habe das Thema Bildung schon kurz gestreift. Da ist natürlich sehr, sehr viel zu tun. Das gilt zunächst mit Blick auf die Bildung derer, die jung sind und in die Schule gehen. Ich habe neulich die Gruppe der Preisträger von „Jugend forscht“ bei mir zu Besuch gehabt. Die Frage, wer zufrieden ist mit der Digitalausstattung in der eigenen Schule, wird von zwei Prozent mit Ja beantwortet, aber 98 Prozent der Anwesenden sagen Nein. Da muss etwas passieren. Das vielleicht Komplizierteste dabei ist, dass wir die Weiterbildung der Lehrer schnell voranbringen, auch die Weiterbildung der Berufsschullehrer, um überhaupt digitalen Unterricht anbieten zu können. Der Bund kann eine Cloud für Lehrinhalte anbieten. Der Bund kann die Schulen anschließen. Die Länder können Tablets verteilen. Das alles ist nicht unbedingt das Problem. Das Problem ist, dass auch bei den Lehrkräften der entsprechende Wille, das entsprechende Selbstbewusstsein und auch die entsprechende Tatkraft da sind, um das wirklich nach vorne zu treiben. Auch Universitäten und Fachhochschulen werden sich mehr öffnen müssen. Wir brauchen auch noch eine gezieltere Berufsberatung. Wir müssen zudem im dualen Ausbildungsbereich Berufe entwickeln, die dem digitalen Zeitalter entsprechen. Ich muss sagen, der Fachkräftemangel droht besonders im IT-Bereich dramatisch zu werden. Deshalb muss ganz gezielt Werbung für solche Berufe gemacht werden, denn wir können auch IT-Aufgaben nicht beliebig auslagern. Die Sicherheitsinteressen mittelständischer Unternehmen werden dazu führen, dass man im Betrieb Fachkräfte haben muss und nicht anderen irgendwo auf der Welt IT-Sicherheitsaufgaben überlassen kann. Deshalb liegt da auch ein sehr großer Schwerpunkt. Es stellt sich auch die Frage nach Veränderungen der Berufstätigkeit – zum Beispiel aus der Perspektive eines Mitarbeiters bei DHL, bei der Deutschen Post: Sehen die Segnungen der Bestellmöglichkeiten bei Amazon und sonst wo so aus, dass das Schicksal heißt, in der dritten Spur zu parken, schnell drei Treppen rauf, drei Treppen runter, Leute antreffen, Leute nicht antreffen? Da herrscht schon ein großer Druck. Die Frage, wie wir Menschen mitnehmen können, wird eine sehr, sehr große Aufgabe sein. Diese wird sich dahingehend entscheiden, inwieweit es gelingen wird, für wegfallende Arbeitsplätze in bestimmten Bereichen andere, neue Arbeitsplätze in ausreichendem Maße in Europa und in Deutschland zu schaffen. Ich glaube – und das besagen auch Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei der Bundesagentur –, im Grundsatz wird die Zahl der Beschäftigten nicht abnehmen, aber die Art der Beschäftigung wird sich verändern. Wir müssen nun ein neues Umfeld für den Umgang mit großen Datenmengen schaffen. Wir brauchen ein geeignetes Regelwerk, damit das nicht ausgelagert wird. Nach langen Diskussionen haben wir mit der Datenschutz-Grundverordnung einen ersten Anlauf gemacht. Es bleibt aber zu hoffen, dass angesichts der Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe diese nicht alle erst durch Rechtsverfahren geklärt werden. Deshalb haben wir beim letzten Digital-Gipfel in Ludwigshafen überlegt, ob man in Deutschland für bestimmte Branchen Musteranwendungen dieser Datenschutz-Grundverordnung ausarbeiten kann – zusammen mit den Unternehmen und vielleicht auch als deutsch-französisches Projekt, um sozusagen schon mal ein level playing field für Europa zu definieren, sodass sich dann vielleicht auch Gerichte dieser Auslegung ein Stück weit anschließen. Also, als Erstes geht es um die Bereitschaft, Kreativität und Möglichkeiten, aus großen Datenmengen neue Anwendungen zu machen. Das wird dann auch darüber entscheiden, ob wir Kundenbeziehungen halten. Als Zweites geht es darum, Fachkräfte, die heute zum Beispiel mit der Zerspanungstechnologie arbeiten, fitzumachen für ganz andere Aufgaben in diesem Bereich. Dafür die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen, ohne das zu zentralistisch und zu starr zu machen, das wird eine der großen Aufgaben sein. Wenn ich jetzt einfach sage, jeder hat einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung, dann muss das nicht unbedingt in die richtige Richtung gehen. Ich habe das im Zuge der Deutschen Einheit erlebt. Wir hatten zum Schluss schier unendlich viele Floristinnen, aber kaum Leute, die die Kaufkraft hatten, Blumen zu kaufen. Das muss also vernünftig zusammengehen. Das wird eine der großen Aufgaben sein, bei deren Lösung auch die Sozialpartnerschaft eine Rolle spielen kann. Ich habe das Stichwort Arbeitszeit gehört. Das ist ein sehr sensibles Stichwort. Wir dürfen natürlich nicht lauter Einzelselbständige haben, die an keinerlei Arbeitszeiten gebunden sind, sondern wir müssen auch vernünftige Arbeitszeitregelungen im Rahmen dessen haben, was digitale Wertschöpfung verlangt. Ich persönlich werbe dafür, das mit den Sozialpartnern zu besprechen und möglichst viel Wert darauf zu legen, dass nicht die gesamte Digitalwirtschaft eine Wirtschaft ohne Sozialpartnerschaft ist. Das würde uns ansonsten das politische Leben relativ schwer machen. Ich werde, wenn die Wahlen so ausgehen, wie ich es mir wünsche oder wir es uns wünschen, sehr schnell das Gespräch suchen mit den betreffenden Wirtschaftsverbänden, um zu eruieren, wie bereit man dort ist, entsprechende Formen der Sozialpartnerschaft zu entwickeln, weil wir ansonsten eine schwierige Zeit vor uns haben werden. Wir haben aber keine Zeit, große Kontroversen auszufechten, sondern wir müssen ja vorankommen. Meine Damen und Herren, damit habe ich mich sozusagen doch sehr im Wirtschaftlichen aufgehalten und weniger gesamtgesellschaftliche Fragen angesprochen. Alle, die jetzt Wahlkampf machen, wissen, wie lokalisiert inzwischen die Angebote von Facebook und anderen sind, und wie man hierüber auf individuelle Wünsche der Bürgerinnen und Bürger eingehen kann. Dass wir als Volkspartei natürlich vor riesigen Herausforderungen stehen, das ist auch klar. Mit einer Gesamtansprache, mit Sitzungen und Treffen, auf denen der gesamte Strauß aller Probleme diskutiert wird, kommen wir nicht mehr bei den jungen Menschen an. Sie wollen individuelle Ansprachen zu den Themen, die sie interessieren. Daran müssen wir uns gewöhnen. Das Zweite ist: Wenn Wähler wie Kunden überall ihre individuellen Wünsche äußern, wie bereit ist man dann eigentlich noch, Konsens zu finden? Das wird zunehmend schwieriger. Der nächste Parteitag liegt oft noch in weiter Ferne, wenn eine sehr zeitnahe Entscheidung gefragt ist. Die dritte Herausforderung für uns in der politischen Arbeit ist, im Grunde nicht mehr sagen zu können: Danke für die Nachfrage, aber in 14 Tagen habe ich meine nächste Sitzungswoche; dann gehe ich mal zu meinen Kollegen und dann diskutieren wir in diesem Raum; dann gebe ich Ihnen eine Rückmeldung, wie ich zu dieser und jener Frage stehe. Das gibt es auch nicht mehr. Es wird also schnell geantwortet. Das wiederum ist digital verfügbar, versickert nie. Dann gibt es fast keine Möglichkeit mehr, aus einem gegebenen Versprechen herauszukommen. Wie sollen Abgeordnete ihren Wählern erklären, dass sie auch mal ihre Meinung geändert haben? Für die gesamte politische Meinungsbildung sind das durchaus Herausforderungen, die wir noch miteinander besprechen müssen. Ich finde, insgesamt darf man dankbar sein, dass man in so einer spannenden Zeit lebt. Aber man muss eben auch seinen Kopf anstrengen und vernünftige Lösungen finden – ausgehend von einem festen Wertefundament, das wir auch mit der Sozialen Marktwirtschaft haben. Es ist nicht so, dass die Grundwerte, nach denen wir entscheiden, einfach wechseln und alles ganz neu ist. Es ist auch nicht so, dass wir nicht den Anspruch haben sollten, dass der Mensch die Richtung bestimmt, in die er gehen will. Aber wir haben da noch sehr viel zu tun, insbesondere auch in der internationalen Abgleichung der Regelung im level playing field. Insofern: Danke dafür, dass Sie diesen Kongress durchgeführt haben. Schade, dass ich nicht alles hören konnte. Aber danke dafür, dass Sie mir zugehört haben.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters beim Symposium des Deutschen Medienrats zum Thema „Kultur braucht Freiheit und Schutz – Mediengrundrechte im Internet“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-beim-symposium-des-deutschen-medienrats-zum-thema-kultur-braucht-freiheit-und-schutz-mediengrundrechte-im-internet–798584
Tue, 27 Jun 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Eigentumsrechte, Freiheitsrechte, Persönlichkeitsrechte im Internet: Ein ambitioniertes Programm haben Sie da heute vor sich! Wären wir im Sport, diese Agenda wäre kein Spaziergang, kein Marathon, kein Triathlon – sondern ein Ironman, die Triathlon-Langdistanz, und die schaffen bekanntlich nur wenige in acht Stunden. Falls also der Deutsche Medienrat seine freundliche Einladung, das heutige Symposium mit einem Grußwort zu eröffnen, mit der Hoffnung oder gar mit der Erwartung verbunden hat, die für Kultur und Medien zuständige Staatsministerin könnte diese Themen sozusagen im Sprint – nämlich im üblichen Grußwort-Zeitfenster von etwa 15 Minuten – abhandeln, und zwar (frei nach Winston Churchill) möglichst in einer Weise, die das Thema erschöpft, nicht aber die Rednerin oder gar die Zuhörer, dann muss ich Sie leider enttäuschen. Dieses weite Feld lässt sich in einem Grußwort nur aus der Helikopterperspektive vermessen. Ich beschränke mich deshalb auf grundsätzliche Überlegungen, verbunden mit einigen Bemerkungen zu aktuellen medienpolitischen Entwicklungen. Vordergründig geht es in medienpolitischen Debatten vor allem darum, angesichts der neuen technischen Möglichkeiten im digitalen Zeitalter den Ausgleich zwischen unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Interessen neu zu verhandeln: in der Urheberrechtsdebatte beispielsweise sind es die Interessen der Künstler und Kreativen, die von geistiger Arbeit leben, die Interessen der Verwerter, die für die Verbreitung geistiger Güter sorgen und oftmals ein hohes Investitionsrisiko tragen, und schließlich die Interessen der Nutzer, denen das Internet nicht nur freien, sondern teilweise sogar kostenfreien Zugang zur Vielfalt kreativer Leistungen eröffnet. Dabei geraten oft auch grundlegende Werte miteinander in Konflikt: So berufen sich in der Debatte zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz Opfer verbaler Angriffe auf den Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte, während von Hass und Hetze unbehelligte Internetnutzer die Meinungsfreiheit hoch halten. Solche berechtigten Ansprüche brauchen einen fairen Ausgleich. Interessen sind verhandelbar, über Werte kann man sich verständigen, und beides sollte in einer Demokratie selbstverständlich sein. Und doch stößt eben dies – der Versuch demokratischer Verständigung über den Umgang mit neuen technologischen Entwicklungen – vielfach auf reflexhafte Ablehnung: ganz so, als träte der Menschen im Internet nur als User in Erscheinung, nicht aber als Bürger; ganz so, als sei der Anspruch, die Welt mit demokratischen Mitteln politisch zu gestalten, nur im analogen Leben legitim, nicht aber für das Internet. Deshalb scheint mir der Hinweis durchaus angebracht, dass wir im Rausch des technisch Möglichen den politischen Gestaltungsanspruch nicht zur Disposition stellen sollten. Der Schutz der Menschenwürde, grundlegende Freiheitsrechte, Medienvielfalt und fairer Wettbewerb – das sind Errungenschaften, für die es sich zu streiten lohnt! Und was wir in der analogen Welt aus guten Gründen verteidigen, verdient auch im Netz Schutz und Anerkennung. Beispiel „Urheberrecht“: Schutz und Anerkennung verdient die Freiheit, die geistige und künstlerische Spitzenleistungen überhaupt erst möglich macht. Diese Spitzenleistungen entstehen vor allem dort, wo man von geistiger, von kreativer Arbeit leben kann. Der Schutz geistiger Schöpfungen ist dafür eine notwendige Voraussetzung. Es ist dieser Schutz, der Künstlern und Intellektuellen – Schriftstellern, Musikern, Drehbuchautoren, Journalisten – den Lebensunterhalt sichert. Es ist dieser Schutz, der unsere kulturelle Vielfalt nährt und unseren wirtschaftlichen Wohlstand fördert. Weil die Nutzung und Verbreitung urheberrechtlich geschützter Inhalte im digitalen Zeitalter nicht an Ländergrenzen halt macht, ist es sinnvoll, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sich auf gemeinsame Regelungen verständigen. In diese Diskussionen bringe ich mich im Sinne der Kultur- und Medienschaffenden ein. Wichtig ist mir, dass die bewährten Standards im Verhältnis von Urhebern, Verwertern und Nutzern nicht einseitig zu Lasten der Kreativen und der Kreativwirtschaft gesenkt werden. So habe ich mich beispielsweise von Beginn an gegen Überlegungen eingesetzt, Lizenzen für urheberrechtlich geschützte Inhalte verpflichtend europaweit auszugestalten und Geoblocking vollständig zu verbieten. Dies würde der Finanzierung kultureller und medialer Inhalte – zum Beispiel im Filmbereich – den Boden entziehen. Bei der Geoblocking- und bei der Portabilitäts-Verordnung hat sich inzwischen eine differenziertere Sichtweise durchgesetzt. Die Diskussionen zur Territorialität in der sogenannten SatKab-Online-Verordnung hingegen verfolge ich mit großer Sorge. Der Entwurf der EU–Europäische Union-Kommission würde bestehende und bewährte Auswertungs- und Lizenzsysteme gefährden, die für die Finanzierung der Filmproduktion von großer Bedeutung sind. Viele wichtige europäische Filme, auch ein „Toni Erdmann“, würden wegen mangelnder Finanzierung dann wohl gar nicht entstehen. Aus meiner Sicht steht der erwartete Nutzen hier in keinem Verhältnis zum potentiellen Schaden für die – nicht zuletzt auch mit der Filmförderung aus meinem Hause – aufgebaute einzigartige europäische Filmlandschaft. Die Europäische Kommission hat im Mai zur Hälfte ihrer Amtszeit die Halbzeitbewertung ihrer Strategie für einen digitalen Binnenmarkt veröffentlicht. Darin heißt es: „Die Achtung der Rechte des geistigen Eigentums ist von zentraler Bedeutung für die Förderung von Kreativität und Innovation sowie für das Vertrauen in den Markt.“ Das kann ich nur unterstreichen, und dementsprechend beziehe ich Position im Rahmen der aktuellen Regulierungsvorhaben auf europäischer Ebene – nicht nur bei der geplanten Geoblocking-Verordnung, sondern beispielsweise auch bei der EU–Europäische Union-Richtlinie zum Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt oder bei der so genannten Sat/Kab-Verordnung, die die grenzüberschreitende Online-Übertragung der Angebote von Rundfunkveranstaltern betrifft. Eine weitere Herausforderung ist der Schutz der Medienvielfalt und der Pressefreiheit. Dass politisch unerwünschte Meinungen in vielen Ländern unterdrückt werden, dass Journalisten in ihrer Arbeit behindert, verfolgt, verhaftet, gar ermordet werden, dass Politiker sich mit ideologischen Kampfbegriffen wie „Lügenpresse“ munitionieren, um Misstrauen zu schüren gegen unabhängige Berichterstattung … – all das ist ebenso entlarvend wie Besorgnis erregend. Es ist das Eingeständnis, dass journalistische Vielfalt stärker ist als populistische Einfalt – und die Kraft klarer und wahrer Worte stärker als autoritäre Macht. Gerade dieses Eingeständnis sollte für Demokraten überall auf der Welt Ansporn sein, sich im Sinne Voltaires, des geistigen Führers der europäischen Aufklärung, für unabhängige Journalistinnen und Journalisten stark zu machen: Wir mögen verdammen, was sie schreiben, aber wir werden alles dafür tun, dass sie es schreiben können und dürfen. Nicht zuletzt ist die Hartnäckigkeit, mit der Journalistinnen und Journalisten hinter die Fassaden schauen, den Fakten auf den Grund gehen, unbequeme Fragen stellen und unterbelichtete Winkel ausleuchten, ja auch das wirksamste Mittel gegen Fake News. Umso wichtiger ist die Entwicklung tragfähiger Geschäftsmodelle für den Journalismus des 21. Jahrhunderts. Eine der digitalen Herausforderungen für Meinungsvielfalt und Pressefreiheit ist die Tatsache, dass der Weg zur Website einer Zeitung heute vielfach über Intermediäre, über soziale Netzwerke führt. Eine Studie des renommierten Pew Research Centers hat ergeben, dass Facebook für rund die Hälfte aller US–United States-Bürger unter 35 (und für rund ein Drittel der über 35-jährigen) wichtigste oder wichtige Nachrichtenquelle ist. Was sie dort zu sehen bekommen, sind die Ergebnisse eines Algorithmus – die Ergebnisse automatisierter Entscheidungen, ausgerichtet auf die Präferenzen des jeweiligen Nutzers und seiner Freunde, programmiert mit dem Ziel, möglichst viel „Traffic“ zu generieren – für Facebook, versteht sich. Dass dadurch Filterblasen entstehen können, in denen nicht zuletzt auch rassistische Hetze, Falschmeldungen und Verschwörungstheorien besonders gut gedeihen, ist bekannt. Weniger bekannt sind die konkreten Auswirkungen auf die klassischen Medien. Der Facebook-Algorithmus führt dazu, dass nur ein Bruchteil der Inhalte, die eine Redaktion auf Facebook veröffentlicht, den Nutzern auch angezeigt wird. Das heißt: Ein Großteil fällt durchs Raster. Als treue FAZ–Frankfurter Allgemeine Zeitung-Abonnentin – ja, ich gehöre noch zu der offenbar aussterbenden Spezies von Menschen, die den Tag mit der Lektüre einer Tageszeitung beginnen! – bin ich davon nicht direkt persönlich betroffen. Aber ein paar grundsätzliche Fragen drängen sich ganz unabhängig davon geradezu auf: · Was bedeutet es für eine Demokratie, wenn Journalisten im Hinterkopf haben, dass ihre Texte möglichst hohe Klickzahlen generieren müssen? · Wollen wir die Meinungsbildung in unserer Demokratie der Marktlogik der Klick-Ökonomie überlassen? · Wollen wir zulassen, dass Internetgiganten wie Facebook Datenmonopole zu Deutungsmonopolen und Deutungsmonopole zu Meinungsmonopolen ausbauen? · Wollen wir hinnehmen, dass Algorithmen auf diese Weise die Vielfalt unabhängiger Medien und die journalistische Freiheit aushebeln? Diese Fragen, mit denen die Digitalisierung uns konfrontiert, erfordern politische Antworten, nicht nur technologische und ökonomische – und mit „politischen Antworten“ meine ich nicht „Antworten von Politikern“, sondern politische Entscheidungen auf der Grundlage öffentlicher wie auch fachlicher Debatten. Deshalb bin ich froh, dass mit dem Deutschen Medienrat unter dem Dach des deutschen Kulturrats ein Forum entstanden ist, um gemeinsam kultur- und medienpolitische Antworten auf die Fragen zu entwickeln, mit denen die Digitalisierung uns konfrontiert. Im Bericht der Bund-Länder-Kommission Medienkonvergenz zum Regelungsumfeld von Online-Plattformen haben Bund und Länder 2016 unter anderem bereits gefordert, Inhalteanbietern einen diskriminierungsfreien Zugang zu meinungsrelevanten Plattformen zu gewährleisten. Außerdem treten wir für Transparenz und für Wahlfreiheit für Nutzerinnen und Nutzer bei der strukturellen Gestaltung des Angebotes ein. Sie müssen in der Lage sein, meinungsbildungsrelevante Angebote einfach zu finden. Internetnutzer sollten außerdem leicht erkennen können, dass Algorithmen Anwendung finden – und eben keine Redaktion Nachrichten nach journalistischen Kriterien aussucht. Damit klarer wird, welche zentralen Kriterien insbesondere bei Such- und Empfehlungsfunktionen verwendet werden, halte ich konkrete Transparenzvorschriften – auch auf europäischer Ebene – für wünschenswert. Auch und gerade die Förderung von Medienkompetenz gewinnt in diesem Zusammenhang noch weiter an Bedeutung. Denn alle Transparenz nützt nichts, wenn die Nutzerinnen und Nutzer daraus nicht die richtigen Schlüsse für ihr Verhalten im Netz und für die Einordnung von Informationen ziehen. Deshalb wird mein Haus – so wie hoffentlich auch die Medienbranche – die Anstrengungen in diesem Bereich noch einmal verstärken. Dass wir in der Medienpolitik immer wieder auch über den Kern unseres demokratischen Selbstverständnisses verhandeln, zeigt sich – um noch kurz auf den medienpolitischen Ordnungsrahmen einzugehen – auch im Zusammenhang mit den Entwicklungen, für die sich der Begriff „Medienkonvergenz“ etabliert hat. Das gestern von meinem Haus veröffentlichte Gutachten des Hans-Bredow-Instituts für Medienforschung zum Medien- und Kommunikations-bericht der Bundesregierung gibt einen umfassenden Überblick über neue Wertschöpfungsketten, Unternehmensstrukturen und eine sich verändernde Mediennutzung im digitalen Zeitalter und bietet ein solides Fundament, um die Diskussion um eine zukunftsfähige Medienregulierung fortzuführen. Es verdeutlicht einmal mehr, dass sich demokratische Meinungsbildungsprozesse verändern, weil die Grenzen zwischen Rundfunk und Internet verschwinden, der professionelle Journalismus heute neue Wettbewerber um die Aufmerksamkeit des Publikums hat und sich das Verhältnis zum Publikum ändert. Letzteres wird immer häufiger auch selbst aktiv. In der Bund-Länder-Kommission Medienkonvergenz haben Bund und Länder deshalb Leitlinien für die Weiterentwicklung der Medienordnung entwickelt. Dabei geht es um Regelungen in allen relevanten Bereichen: um die Richtlinie Audiovisuelle Mediendienste, um Plattformregulierung, um Kartellrecht und Vielfaltsicherung, um Jugendmedienschutz und Intermediäre. Die jeweiligen Vorschläge werden nun Schritt für Schritt umgesetzt, vom Bund etwa im Rahmen der 9. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), die am 9. Juni in Kraft getreten ist und unter anderem eine verbesserte Koordination von Bundeskartellamt und der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich bei Fusionen im Fernsehbereich vorsieht. Die gemeinsame Arbeit hat eines schon sehr deutlich werden lassen: Wenn wir auf europäischer Ebene mitgestalten wollen, dürfen wir uns nicht in kleinteiligen Föderalismusdebatten verlieren. Die Bund-Länder-Kommission hatte deshalb auch die Aufgabe, die Medienregulierung von Bund und Ländern besser aufeinander abzustimmen, sie besser zu verzahnen, damit wir auch in Europa mit starker Stimme sprechen können – im Sinne fairer Wettbewerbsbedingungen für alle Medienanbieter und guter rechtlicher Rahmenbedingungen für die Kultur- und Medienschaffenden. Das haben wir geschafft – zum Beispiel bei der Novellierung der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-Richtlinie). Hier ist es kürzlich gelungen, im Medienministerrat eine allgemeine Ausrichtung zu beschließen. Der vom Rat im Trilog mit der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament weiter zu verhandelnde Entwurf bezieht soziale Netzwerke, die auch als Videosharingplattformen genutzt werden, ausdrücklich mit ein. Das war auf Bundesebene stets ein Anliegen der BKM. Damit ist es wahrscheinlicher geworden, dass wir auch auf europäischer Ebene zu einer Präzisierung der Rollendefinition solcher Informationsintermediäre kommen werden. Solche Erfolge zeigen, dass es sich lohnt, den Schulterschluss zu suchen, um auf europäischer Ebene Verbesserungen zu erreichen. Diesen Weg sollten wir zusammen weitergehen – hoffentlich auch mit Unterstützung durch den Deutschen Medienrat. Mit Blick auf die Uhr und den „Iron Man“, den Langdistanztriathlon an Themen, der Ihnen heute noch bevorsteht, will ich es bei diesen Beispielen bewenden lassen. „Kultur braucht Freiheit und Schutz!“ – darin sind wir uns einig, und ich bin froh, dafür mit dem Deutschen Medienrat und seiner Dachorganisation, dem Deutschen Kulturrat, starke und kompetente Sparringspartner an meiner Seite zu haben. Auf dem Spiel steht nicht weniger als unsere Demokratie. So warnte der Informatiker Sandro Gaycken, einst Aktivist im Chaos Computer Club, in einem Zeitungsbeitrag vor einigen Monaten eindringlich vor einer schleichenden Deformierung der politischen Kommunikation: „Die neuen, hoch granularen, zentralisierten Möglichkeiten der gezielten und vollkommen unsichtbaren, unkontrollierten Manipulation sind (…) eine diabolische Verrenkung demokratischer Meinungsbildung. Die Demokratie und ihre Institutionen müssen dagegen angehen. (…) Sonst verlieren wir Kernelemente der Demokratie an das unsichtbare Böse dieser Maschine.“ Das sind markige Worte. Aber offenbar braucht es solche Worte, um die Bedeutung der notwendigen, medienpolitischen Weichenstellungen zu unterstreichen. In diesem Sinne hoffe ich, meine Damen und Herren, dass wir unsere fein austarierte Medienordnung und unsere grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechte mit markigen Worten und ebensolchen Regulierungsvorschlägen gemeinsam verteidigen. Das heutige Symposium kann dazu bestimmt Inspiration und Impulse beitragen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und einen konstruktiven Austausch!
Bei der Eröffnung des Symposiums des Deutschen Medienrats zum Thema der Mediengrundrechte im Internet hat Kulturstaatsministerin Monika Grütters dazu aufgerufen, Grundrechte wie die Menschenwürde, Freiheitsrechte, Medienvielfalt und den fairen Wettbewerb auch im Internet zu schützen. „Was wir in der analogen Welt aus guten Gründen verteidigen, verdient auch im Netz Schutz und Anerkennung“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Kardinal-Höffner-Kreis am 26. Juni 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-kardinal-hoeffner-kreis-am-26-juni-2017-in-berlin-798068
Mon, 26 Jun 2017 17:50:00 +0200
Berlin
Lieber Karl Schiewerling, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin gern heute hierhergekommen. Die ersten beiden Male – 2009 und vier Jahre später, 2013, zum 20. Jubiläum des Kardinal-Höffner-Kreises – war es auch gegen Ende der Legislaturperiode; da bestand jedes Mal Gesprächsbedarf. In Köln, wo Kardinal Höffner fast zwei Jahrzehnte Erzbischof war, gilt: Was zweimal stattgefunden hat, ist eine Tradition; ab dem dritten Mal ist es Brauchtum. Insofern nähern wir uns jetzt also dem Brauchtum. Wenn wir einmal die Zeit vor acht und vor vier Jahren mit heute vergleichen, so sehen wir, dass sich doch vieles geändert hat, was auch Sie umtreibt. Ich verstehe den Kardinal-Höffner-Kreis als einen, der immer wieder bohrende Fragen nach der Wertegebundenheit unserer Politik stellt. Dafür gibt es ja eine Vielzahl von Ansatzpunkten, die wir in unserer täglichen Arbeit finden. Ich will gleich zu Beginn sagen, dass ich sehr dankbar dafür bin, dass Sie nicht einfach in den Tag hineinleben, sondern, auf einem festen Wertegerüst aufbauend, sagen: Die opportune Lösung muss nicht immer die beste Lösung sein. Es gibt viele Fragen, bei denen wir durchaus noch einmal nachdenken müssen. Dazu zählt insbesondere auch die Frage, sich um die Christen auf der Welt zu kümmern; Karl Schiewerling hat gerade eine Bemerkung dazu gemacht. Diese Frage ist oft mit sehr betrüblichen Erfahrungen verbunden, weil wir sehen, dass an so vielen Stellen auf der Welt Christen ihren Glauben nicht frei ausüben können. Umso wichtiger ist es, dass wir das, was auch in unserem Grundgesetz steht, nämlich die Religionsfreiheit in unserem Land, natürlich auf der Basis des Grundgesetzes leben, anderen vorleben, mit gutem Beispiel vorleben. Das wirft wiederum eine Vielzahl von Fragen auf, zum Beispiel – auch wenn das nicht in dieser Legislaturperiode war – die Beschneidungsdiskussion mit Blick auf das Judentum. Oder: Wo sind die Grenzen einer Religionsausübung mit Blick auf den Islam? Wo beginnen salafistische Tendenzen? An welchen Stellen sind diese mit Religionsfreiheit nicht vereinbar? All das sind Fragen, die uns umtreiben. Wir sind eingebettet in etwas, das jahrzehntelang als selbstverständlich galt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Einbettung Deutschlands in Europa ganz selbstverständlich. Helmut Kohl, an den wir in diesen Tagen besonders viel denken, hat immer gesagt: Deutsche Einigung und europäische Einigung sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Heute stellen wir fest, dass wir doch auch wieder für eine Europäische Union kämpfen müssen – angesichts der Tatsache, dass Großbritannien aus der Europäischen Union austreten will; angesichts der Tatsache, dass wir in Frankreich und in den Niederlanden Wahlen hatten, bei denen wir große Sorge hatten, dass Menschen oder Parteien die Oberhand gewinnen könnten, die dezidiert gegen die europäische Einigung auftreten. Deshalb will ich sagen, dass es für mich sehr bewegend war, dass im Rahmen des 60. Jahrestags der Unterzeichnung der Römischen Verträge, den wir in Rom begangen haben, der Papst bereit war, zu den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zu sprechen. Er hat uns auch einiges ins Stammbuch geschrieben. Er hat sich sehr klar zu Europa bekannt; ich zitiere ihn: „Die Gründerväter erinnern uns daran, dass Europa nicht eine Summe von einzuhaltenden Regeln, nicht ein Handbuch von zu befolgenden Protokollen und Verfahrensweisen ist. Es ist ein Leben; eine Art, den Menschen ausgehend von seiner transzendenten und unveräußerlichen Würde zu begreifen.“ Es hat sich also einmal mehr herausgestellt, welch starken Wert und welche starke Bedeutung Papst Franziskus der Würde des einzelnen Menschen beimisst. Er beobachtet unter dieser Maßgabe auch die Flüchtlingspolitik und die Fragen der Migration, die uns in den letzten Jahren und sicherlich auch Sie im Kardinal-Höffner-Kreis sehr stark beschäftigt haben. Auf der einen Seite ist die Würde jedes einzelnen Menschen zu achten, der in Not ist; der Papst hat auch sehr harte Worte über den Umgang mit Flüchtlingen an manchen Stellen gefunden. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, was wir gemeinsam leisten können und wie wir gegen illegale Migration und gegen Schleusertum vorgehen können, das im Grunde auf dem Rücken der Menschen, die in Not sind, ausgetragen wird. Ich bin der tiefen und festen Überzeugung, dass illegale Migration bekämpft werden muss und wir zu legalen Mechanismen kommen müssen. Wenn wir sehen, wie viele Menschen im Mittelmeer und auch in der Ägäis ihr Leben verlieren, wird klar, dass das allemal wichtig ist. Aber wir wissen auch, wie uns das zum Teil großen Zerreißproben aussetzt. Ist das EU-Türkei-Abkommen nun besser als eine Situation mit illegaler Migration? Diese Frage ist oft und lange gestellt worden. Begeben wir uns in Abhängigkeiten oder nicht? Ich glaube nach wie vor, dass das EU-Türkei-Abkommen ein Schritt ist, den wir auch mit Ländern Nordafrikas noch nachzuvollziehen versuchen müssen. Aber all diese Fragen berühren auch die Grundfesten unserer Überzeugung und bringen uns in schwierige Entscheidungssituationen, die Sie sicherlich hier auch schon alle durchlebt und die uns in dieser Legislaturperiode sehr beschäftigt haben. Ich glaube, wir sind uns einig, dass ein Eintreten für ein einheitliches Europa die richtige Antwort ist. Wir müssen aber auch feststellen: Die Freizügigkeit haben wir uns gegeben, ohne nachzudenken, wie man denn den Außengrenzenschutz gewährleistet. Im Rückblick erscheint das ein bisschen leichtfertig, wenn man heute die Bedrohungen und Gefahren sieht. Wir hatten auch während der Euro-Krise erlebt: Auch den Währungsraum, den wir ja richtig finden, hatten wir genauso wie den Raum der Freizügigkeit noch nicht auf ein ausreichend festes Fundament gebaut. An diesen Fundamenten arbeiten wir jetzt. Deshalb wird die europäische Idee nicht etwa falsch, aber ich sage Ihnen auch: Ich mache Druck, dass wir ein europäisches Einreise- und Ausreiseregister bekommen, sodass wir wissen, wer sich bei uns aufhält. Ich habe auch alles darangesetzt, dass wir schnell eine europäische Grenzschutzpolizei bekommen. Auch dabei sind Sie sehr unterstützend tätig gewesen. Uns stellt sich auch eine Vielzahl wirtschaftlicher Fragen, die uns in den nächsten Jahren im Zusammenhang mit der Digitalisierung beschäftigen werden, die die zukünftige Arbeitswelt betreffen und die Frage, welche Rolle der Mensch in dieser Welt spielen wird. Globalisierung und Digitalisierung erwecken zum Teil – ähnlich wie die Finanzmarktentwicklung während der großen Finanzkrise – den Eindruck, dass nicht mehr der Mensch die wirtschaftlichen Dinge beherrscht; dass die katholische Soziallehre gar nicht mehr zur Anwendung kommt im Sinne der Würde des einzelnen Menschen. Es muss absolut unser Ansinnen sein – und ich kann Sie da immer nur ermutigen –, die katholische Soziallehre weiterzuentwickeln, aber immer zu sagen: Die Wirtschaft ist für die Menschen da; sie sollen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bestimmen. Auch in einer globalisierten Welt, so schwierig das ist, muss das der Fall sein. Dieses Thema zieht sich sozusagen auch durch die Sozialenzykliken der Päpste; beginnend Ende des 19. Jahrhunderts, als die ersten Enzykliken über die Würde des arbeitenden Menschen geschrieben wurden. Diese Würde ist nicht irgendeine Utopie, sondern etwas, wofür wir Tag für Tag kämpfen müssen und wofür wir auch unbekannte Gebiete erobern und dann wieder Leitplanken setzen müssen. Die internationale Finanzkrise hat mir sehr klar vor Augen geführt: Wenn man die wirtschaftlichen Mächte einfach agieren lässt, ohne Leitplanken zu setzen, werden einige davon profitieren und viele darunter leiden. Insofern ist für mich die katholische Soziallehre aktueller denn je; das will ich ausdrücklich sagen. Karl Schiewerling macht ja genau aus diesem Ethos heraus Politik. Wo immer er in dieser Legislaturperiode seine Handschrift in der Sozialpolitik hinterlassen hat, so finde ich, hat ihn das angetrieben. Karl-Josef Laumann ist auch jemand, der sozusagen die Dinge immer nach den Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft abwägt. Und das ist aus meiner Sicht sehr, sehr wichtig. Wir haben mit unserer G20-Präsidentschaft jetzt die Möglichkeit, bei all den Schwierigkeiten, die wir mit Teilnehmern aus unterschiedlichen politischen Systemen haben, auch ein wenig zu zeigen: Gemeinsam kann Globalisierung besser gelingen. Die G20 auf Staats- und Regierungschefebene tagt erst seit der internationalen Finanzkrise. Bis dahin gab es nur Finanzministertreffen. Wir haben damals gesagt: Diese Krise ist so elementar, dass wir aus dieser Krise nur herauskommen, wenn wir gemeinsam versuchen, Rahmenbedingungen zu setzen: für Banken, für Schattenbanken und für mehr Transparenz der Steuersysteme, was unter dem Wort „BEPS“ bekannt ist – ein Projekt, bei dem wir Fortschritte erzielt haben. Mag es so langsam gehen, wie es geht, aber es sind erhebliche Fortschritte erzielt worden. Im Zusammenhang mit der Digitalisierung beschäftigen wir uns insbesondere auch mit den sozialen Medien. Bei Fragen wie „Was ist erlaubt? Was ist nicht erlaubt? Wie müssen wir was verbieten? Welche Mechanismen müssen wir anwenden?“ sind wir wieder auf der Suche nach globalen Regeln. Dabei kann man als Land ein Stück weit vorangehen; dabei kann man gemeinsam als Europa einen Aufschlag machen. Aber zum Schluss muss man eine globale Verständigung finden, auch wenn das sehr schwierig ist. Ich will als Letztes nur noch, weil ich das jetzt nicht in aller Breite ausführen kann, eine Diskussion über die vielen ethischen Fragen, vor denen wir stehen, anstoßen. Die Möglichkeiten der Digitalisierung oder auch die Möglichkeiten der Biomedizin stellen uns vor Herausforderungen, über die wir in den nächsten Jahren noch sehr intensiv diskutieren werden müssen – ähnlich wie bei PID, wie bei der Sterbehilfe oder wie auch im Zusammenhang mit der Organtransplantation. Die Diskussion über all diese Themen wird mit den neuen technologischen Möglichkeiten noch massiv zunehmen – was zum Beispiel das Züchten von Organen anbelangt oder das bessere Verstehen von Hirnfunktionen. Da stellt sich die Frage: Wo sind die ethischen Grenzen – was kann man machen, was darf man nicht machen? Ich kann Sie nur ermutigen, sich immer wieder in diese Diskussion einzubringen. Das heißt also: Überall steht die Würde des Menschen im Zentrum der Diskussion. Das hat mit sehr, sehr vielen Gesetzen, die wir machen, unmittelbar zu tun. Deshalb möchte ich auch mit einem Wort von Kardinal Höffner schließen, weil wir eben nicht tatenlos zusehen dürfen, wenn die Würde eines Menschen missachtet und mit Füßen getreten wird, wenn sie am Anfang des Lebens oder am Ende des Lebens in Gefahr gerät. Er sagte einmal: „Der Christ darf nicht mürrisch am Zaun der Welt von heute stehen und ärgerlich zusehen, was da drinnen geschieht. Er muss über den Zaun steigen und handelnd und helfend mitten in der Welt von heute gegenwärtig sein, als Salz und Sauerteig.“ Mit diesem schönen Zitat von Kardinal Höffner wissen wir, was wir zu tun haben, wenn auch noch nicht im Detail. Ich bedanke mich für die Einladung und freue mich jetzt auf die Diskussion.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Verleihung des Deutsch-Italienischen Übersetzerpreises
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-verleihung-des-deutsch-italienischen-uebersetzerpreises-430402
Mon, 26 Jun 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Die Skulpturensammlung im Bode Museum ist das Zuhause vieler schöner Italienerinnen, die Besucherinnen und Besucher aus aller Welt verzaubern. Millionen Menschen kommen hierher, um beispielsweise die Tänzerin mit Zimbeln von Antonio Canova aus nächster Nähe zu bewundern. Ihre Anmut und Perfektion überwältigen unmittelbar, berühren Franzosen und Spanier ebenso wie Chinesen und Brasilianer. Denn man muss nicht aus Italien kommen, um Canovas Skulpturen zu lieben, Caravaggios Gemälde zu verehren und Puccinis Opern zu genießen. Aber man müsste sehr wohl der italienischen Sprache mächtig sein, um Werke Giorgio Vasaris, Roberto Calassos oder Luigi Pirandellos zu lesen – wenn es nicht begnadete Vermittlerinnen und Vermittler gäbe, die sie Menschen aus anderen Sprach- und Kulturräumen zugänglich machen. Jene Übersetzerinnen und Übersetzer, die es deutschen Leserinnen und Lesern ermöglichen, sich auch von italienischer Lyrik und Prosa überwältigen zu lassen, zeichnen wir heute mit dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis aus. Mit unserem Preis, den wir bereits zum zehnten Mal vergeben, wollen wir ihnen zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen und ihrer eigenständigen künstlerischen Leistung die hoch verdiente Anerkennung verschaffen. Vielleicht hatte der deutsche Arzt und Übersetzer Carl Bertrand Schönheiten wie die Tänzerin Canovas im Sinn, als er – im Vorwort seiner Übersetzung von Dantes „Göttlicher Komödie“ – feststellte: „Übersetzungen gleichen den Frauen: sind sie treu, so sind sie nicht schön, und sind sie schön, so sind sie nicht treu.“ Das komplexe, das ambivalente Wesen des weiblichen Geschlechts kommt dabei zwar kaum in all seinen Facetten zum Ausdruck, aber die Aussage trifft doch den Kern der herausfordernden Aufgabe der Übersetzerinnen und Übersetzer: Dem Inhalt eines Textes treu zu bleiben, dabei aber gleichzeitig dem ästhetischen Anspruch der Literatur gerecht zu werden, der Sprache also ebenso zu folgen wie der Sprachmelodie, den poetischen Stilmitteln eines Textes. Dieser Spagat ist im wahrsten Wortsinn ein Kunststück, das weit mehr erfordert als perfekte Grammatik-Kenntnisse und einen umfassenden, flexiblen Wortschatz in beiden Sprachen. Übersetzen ist eine eigene Sparte der Dichtkunst und für Ihre großartigen Übersetzungsleistungen verleihen wir Ihnen, liebe Frau Lorini, lieber Herr Klein, lieber Herr Hallmannsecker, den deutsch-italienischen Übersetzerpreis. Ein herzliches Dankeschön den Mitgliedern der Jury, die sich der schwierigen Auswahl der schönen und treuen Übersetzungen mit so viel Engagement gewidmet haben; ein herzliches Dankeschön auch dem Auswärtigen Amt für die gute Zusammenarbeit unserer Häuser in Vorbereitung der heutigen Preisverleihung. Es sind aber nicht nur Schriftsteller und Literaturliebhaber, die Übersetzerinnen und Übersetzer glücklich machen. Jenseits des ästhetischen Genusses ist ihre Arbeit auch von großer politischer Bedeutung: Der Deutsch-Italienische Übersetzerpreis ist Ausdruck der gemeinsamen Überzeugung Deutschlands und Italiens, dass Literatur, dass Kultur Brücken zu bauen vermag, wo Politik und Diplomatie an ihre Grenzen stoßen. Ich bin sehr froh, verehrte Frau Staatssekretärin Borletti Buitoni, dass unsere beiden Länder aus ihrem Selbstverständnis als europäische Kulturnationen heraus den traditionell starken, vielfältigen kulturellen Austausch lebendig halten und dass Gespräche über eine Verstetigung des Preises über 2018 hinaus laufen. „Treu und schön“ – kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe bringt auch dieses – nennen wir es „Übersetzer-Dilemma“ auf folgende Formel: „Was man auch von der Unzulänglichkeit des Übersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eins der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltwesen.“ In diesem Sinne lassen literarische Übersetzungen zuvor fremde Gedankenwelten Teil unserer Sprachwelt werden. Übersetzungen eröffnen Räume der Verständigung und des Verstehens. Der Deutsch-Italienische Übersetzerpreis ist nicht nur eine Würdigung der herausragenden künstlerischen Leistungen ausgezeichneter Übersetzerinnen und Übersetzer, er ist zugleich Zeugnis langjähriger inspirierender und fruchtbarer interkultureller Beziehungen zwischen Deutschland und Italien. Herzlichen Glückwunsch den Preisträgerinnen und Preisträgern: Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Freude und geistigen Genuss bei einem der „würdigsten Geschäfte im Weltwesen“!
Kulturstaatsministerin Grütters hat Victoria Lorini, Reimar Klein und Martin Hallmannsecker mit dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis ausgezeichnet „Dieser Preis ist Zeugnis langjähriger und fruchtbarer interkultureller Beziehungen zwischen Deutschland und Italien“, würdigte Grütters die großartigen Übersetzungsleistungen. „Literarische Übersetzungen eröffnen inspirierende Räume der Verständigung und des Verstehens.“
Laudatio der Kulturstaatsministerin Grütters auf Sir Simon Rattle anlässlich der Verleihung der GEMA-Ehrennadel
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/laudatio-der-kulturstaatsministerin-gruetters-auf-sir-simon-rattle-anlaesslich-der-verleihung-der-gema-ehrennadel-798022
Fri, 23 Jun 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Klassische Konzerthäuser gelten als Tempel der Hochkultur, als Kathedralen des Klangs, als Pilgerstätten des Bildungsbürgertums – und für Musikliebhaber, die wie ich ein Konzert-Abo der Berliner Philharmoniker ihr Eigen nennen und dieses Orchester geradezu vergöttern, gehört die Philharmonie vermutlich zum Olymp. Das ehrt die Musikerinnen und Musiker und ihren Dirigenten. Doch gerade der Ruf der Exzellenz – der damit verbundene Ruch des Elitären – entrückt die klassische Musik der Lebenswelt breiter Bevölkerungsschichten. Denn er hebt die Hemmschwelle, Kultstätten klassischer Musik zu betreten – vor allem für Menschen, die weit davon entfernt leben und aufgewachsen sind. Zum Glück, meine Damen und Herren, kultiviert man unter den Hohepriestern der Kulturtempel und den Göttern im Musik-Olymp heute nicht mehr nur die Pflege unseres musikalischen Erbes, sondern nährt mehr und mehr auch die Liebe zur klassischen Musik, und zwar in allen gesellschaftlichen Schichten. Musik sei kein Luxus, sondern ein Grundbedürfnis – und Menschen zusammen zu bringen, sei das wichtigste, was Musik leisten könne: So haben Sie es einmal formuliert, lieber Sir Simon. Deshalb haben Sie mit Ihrem Education-Programm die Mauern, Hürden und Barrieren eingerissen, von denen Kulturtempel leider – zumindest gefühlt – oft umgeben sind. Sie haben die Türen der Philharmonie und den Zugang zur klassischen Musik für Menschen geöffnet, die zuvor nichts oder wenig wussten von ihrer Kraft und Schönheit oder die es sich schlicht nicht leisten können, ein Konzert der Berliner Philharmoniker zu besuchen. Wollte man im Olymp der griechischen Mythologie einen Bruder im Geiste für Sie finden, dann wäre es der listige, menschenfreundliche Titan Prometheus: So wie Prometheus den Menschen das Licht, die Wärme und die Kraft des Feuers brachte, so haben Sie – auch fern des Musik-Olymps – die Liebe zur Musik erblühen lassen und über die Jahre tausenden Menschen aller Altersgruppen, aller Bildungsniveaus und sozialen Schichten unvergessliche Eindrücke von der Kraft der Musik geschenkt. Das dokumentiert eindrucksvoll und bewegend der Film Rhythm is it über das allererste Tanzprojekt der Berliner Philharmoniker mit 150 Kindern und Jugendlichen und Strawinskys Sacre du printemps. Und so wie Prometheus, übersetzt: „der Vordenker“, der kulturellen Entwicklung des Menschen den Weg ebnete, haben Sie sich als Pionier in der kulturellen Bildung hervor getan. Dafür stehen die Familienkonzerte unter dem Motto „Meet the Orchestra“, dafür stehen die kostenfreien Lunchkonzerte; dafür stehen die „Kofferkonzerte“ – Auftritte der Philharmoniker in Schulen; dafür stehen Konzert- , Tanz- und Chorprojekte, mehrwöchige Workshops mit Kindern und Jugendlichen oder auch das Schulorchestertreffen. Das klangvolle Versprechen der Musik, Menschen zusammen zu bringen, haben Sie damit mehr als eingelöst. Mit Musik öffnen Sie Augen, Ohren und Herzen. Mit Musik eröffnen Sie gemeinsame Erfahrungswelten, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Mit Musik verbinden Sie Menschen über alle Grenzen hinweg. Dafür sind wir Ihnen dankbar – und auch allen Musikerinnen und Musikern, die das Education-Programm mit bewundernswertem Engagement zu einem gemeinsamen Anliegen gemacht haben! Zumindest eines also, lieber Sir Simon, unterscheidet Sie zum Glück von Prometheus: Sie werden für Ihre Verdienste um die kulturelle Bildung und Entwicklung nicht vom Olymp verstoßen, sondern umso mehr geschätzt – nicht weniger jedenfalls als für Ihre künstlerischen Erfolge als Chefdirigent, und das will etwas heißen. Denn Ihre mitreißenden, tief bewegenden Aufführungen mit einem Orchester von Weltruf, das die besten Musikerinnen und Musiker in wunderbarer, ja geradezu himmlischer Harmonie vereint (und das deshalb zu meiner großen Freude künftig aus meinem Kulturetat gefördert wird), bringen Musikliebhaber immer wieder aufs Neue zum Schwärmen. So schwelgte kürzlich ein Journalist der WELT in seinen Eindrücken von Ihrem grandiosen Auftritt mit Bruckners monumentaler 8. Sinfonie in der Elbphilharmonie, ich zitiere: „Der Mythos von der imposanten wie weihrauchumnebelten Klangkathedrale wird ganz galant zertrümmert (…). Statt im weltfernen Nebel der Transzendenz zu schwelgen, verortet Sir Simon die Sinfonie in der Immanenz des Hier und Jetzt. Nicht vom Himmel hoch, sondern konkret aus diesem Musikempfinden der Menschenfreundlichkeit heraus entspringt gleichwohl ein hauchfeiner, oboenumflorter Götterfunke.“ Mit diesem Musikempfinden der Menschenfreundlichkeit und mit Ihrer Fähigkeit, „weihrauchumnebelte Klangkathedralen“ elegant zu zertrümmern, um die Musik ins Hier und Jetzt – und in die Herzen möglichst vieler Menschen – zu bringen, haben Sie Ihr Publikum, haben Sie Berlin, haben Sie die Kulturnation Deutschland um ein Vielfaches reicher gemacht. Dabei haben Sie sich nicht damit begnügt, die Philharmoniker auf künstlerisch höchstem Niveau zu halten – was ja nun wahrlich anspruchsvoll genug ist. Sie haben die Philharmoniker zu einem Orchester gemacht, dessen Wirkung im besten Sinne die Grenzen jedes Konzertsaals sprengt. Ihre Erfolge machen Hoffnung, dass mit kultureller Bildung auch in unserer Gesellschaft gelingen kann, was in einem Orchester selbstverständlich ist: das Zuhören und Einfühlen, das Lauschen auf andere Stimmen, auf Takt und Tonart, auf laut und leise. Es ist mir deshalb eine Ehre, lieber Sir Simon, Ihnen dafür heute zur Auszeichnung mit der GEMA-Ehrennadel gratulieren zu dürfen – wenn auch mit einem lachenden und einem weinenden Auge: Wir werden Sie schmerzlich vermissen, wenn Sie die Berliner Philharmoniker als Chefdirigent zum Ende der Spielzeit 2017/2018 verlassen. Trotzdem: Herzlichen Glückwunsch und weiterhin viel Erfolg! Schön, dass Sie der deutschen Hauptstadt verbunden bleiben und mehr als noch einen Koffer in Berlin behalten!
In ihrer Lobrede würdigte Kulturstaatsministerin Grütters Sir Simon Rattle als Türöffner der klassischen Musik für alle Gesellschaftsschichten. Rattle verbinde mit Musik Menschen über alle Grenzen hinweg. „Sie werden für Ihre Verdienste um kulturelle Bildung und Entwicklung genauso geschätzt wie für Ihre künstlerischen Erfolge als Chefdirigent – und das will was heißen“.
Was hätte uns Luther heute zu sagen?
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/was-haette-uns-luther-heute-zu-sagen–796768
Wed, 21 Jun 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut: Grütters
Hannover
Kulturstaatsministerin
Reformationsjubilaeum
Was würde Martin Luther wohl dazu sagen …? Eine katholische Kulturfrau als Hauptrednerin zur Zukunft der Reformation – eingeladen von einer evangelischen Kirchenfrau mit Führungsverantwortung für 550.000 Gläubige in 222 Gemeinden mit 444 Pastoren … Schwer zu sagen, was ihn, einen Mann des 16. Jahrhunderts, als zeit-gereisten Ehrengast des heutigen Sommerempfangs mehr überraschen, ja vielleicht sogar schockieren würde: die geballte Frauenpower am Rednerpult, der damit einmal mehr dokumentierte Schulterschluss zwischen Katholiken und Protestanten zum 500. Reformationsjubiläum, oder ganz allgemein: die Konfrontation mit den politischen und gesellschaftlichen Folgen seines Vermächtnisses, die er sich ja in seinem Ringen um Gott und in seiner Hoffnung auf die Erneuerung der Kirche nicht im Entferntesten hätte träumen lassen. Fest steht, dass ihn – wie die meisten Männer – zumindest die Aussicht auf ein kühles Bier in gute Stimmung versetzt hätte. So schrieb er 1534 in einem Brief an seine Frau: „Gestern musste ich daran denken, dass ich ein sehr gutes Bier daheim habe und dazu eine schöne Frau … .“ (Man beachte die Reihenfolge!) Seine Ehe mit der nicht nur schönen, sondern ebenso eigenwilligen wie gebildeten Katharina von Bora lässt darüber hinaus auch darauf schließen, liebe Petra, dass er einer streitbaren „Theologin aus Leidenschaft“, wie Du es bist, einer Theologin mit einer ausgewiesenen Vorliebe für „spitze Sätze, scharfe Argumente und gute Wortwechsel“ – und dazu noch einem Faible für Kultur – ganz bestimmt nicht nur auf Twitter gefolgt wäre. Der Glaube an Gott, der Glaube an die Wirkmacht der Worte und der Glaube an die Kraft der Kultur sind auch Überzeugungen, die uns beide verbinden – und die nicht nur zu einer guten Freundschaft, sondern auch zu interessanten Parallelen in unser beider Lebensläufen geführt haben. Beide wurden wir in gewisser Weise Mittlerinnen und Grenzgängerinnen zwischen Kultur und Kirche: Du als erste und langjährige [2006-2014] Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche, ich als Kulturpolitikerin im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken. In der Überzeugung, dass der Glaube, ebenso wie die Kunst, den Keim im besten Sinne Revolutionären in sich trägt, sind wir – um es mit Luther, dem Sprachschöpfer, zu sagen – „ein Herz und eine Seele“. Dass Du die Größe hast, das Rednerpult und die Auseinandersetzung mit dem revolutionären Vermächtnis Martin Luthers bei Deinem ersten Sommer-empfang im neuen Amt der Landessuperintendentin ausgerechnet Deiner katholischen Freundin zu überlassen, empfinde ich gleichwohl ganz und gar nicht als selbstverständlich. Ich freue mich sehr über dieses wunderbare Beispiel für gelebte Ökumene. Herzlichen Dank für die Einladung, zur Auseinandersetzung mit den reformatorischen Herausforderungen unserer Zeit einige Gedanken beizusteuern – ohne Anspruch auf Vollständigkeit freilich, ohne Anspruch, dem Lutherschen Vermächtnis umfassend gerecht zu werden, denn zeitlos gültig (und erst recht bei bestem Sommerwetter unbedingt zu beherzigen!) ist zweifellos die Luther zugeschriebene Empfehlung „Tritt fest auf, mach’s Maul auf, hör bald auf“. Was also hätte Martin Luther uns heute zu sagen? Welche Glaubensfragen würden sein Gewissen herausfordern? Wogegen würde er wortgewaltig zu Felde ziehen? Würde er uns als gefürchteter Debattenredner, als gefeierter Autor, als gern gesehener Gast in Talkshows begegnen? Wie viele Follower hätte er mit seinen deftigen Formulierungen bei Twitter? Fest steht: Martin Luther irritiert, provoziert und fordert uns heraus – bis heute. Man kann ihn bewundern als Wegbereiter einer einheitlichen und einigenden deutschen Schriftsprache, als – wenn auch unfreiwilligen – Geburtshelfer des mündigen Bürgers und der pluralistischen Gesellschaft. Man kann ihn verachten wegen seiner Tiraden gegen Andersdenkende und Andersglaubende und wegen seiner abstoßenden antijüdischen Äußerungen. Ignorieren jedoch kann man ihn nicht. Man kann nicht bestreiten, dass seine 95 Thesen vom kleinen Wittenberg aus im wahrsten Sinne des Wortes welt-bewegende Kraft weit über Kirche und Religion hinaus entfaltet haben. Und deshalb kommt man nicht an ihm vorbei, wenn man die Entwicklung unserer bürgerlichen Ideale und demokratischen Werte verstehen will. Mit seinem streitbaren Vermächtnis widersetzt er sich der Musealisierung ebenso wie der politischen Vereinnahmung. Er nötigt uns, Licht wie auch Schatten der Reformationsgeschichte zu erkunden und dem reformatorischen Geist der Veränderung durch die Jahrhunderte nachzuspüren. Um die Reformation als Teil eines gewaltigen gesellschaftlichen Umbruchs und Lernprozesses zu würdigen, hat auch der Bund sich bei den Vorbereitungen zum Reformationsjubiläum– finanziell wie organisatorisch – in besonderem Maße engagiert. Dass es dabei nicht darum gehen kann, Luther gewissermaßen einzugemeinden ins 21. Jahrhundert und ihn zum Kronzeugen und Vorkämpfer einer freiheitlichen Verfassung und demokratischer Grundrechte zu machen, wie wir sie heute kennen, versteht sich von selbst. Ebenso wenig aber kann man die Reformation – angesichts der Erfahrungen aus 500 Jahren Reformationsgeschichte und angesichts der reformatorischen Herausforderungen unserer Zeit – als etwas Abgeschlossenes betrachten. Relevant bleibt zum Beispiel die Frage des Umgangs mit religiöser Vielfalt, der Martin Luther den Weg geebnet hat, auch wenn er selbst Toleranz und Religionsfreiheit – im heutigen, pluralistisch verstandenen Sinne – weder predigte noch praktizierte. Die von ihm ausgelöste protestantische Bewegung erlaubte es den Landesfürsten und den freien Reichsstädten, sich von der katholischen Zentralmacht Roms und der Habsburger Kaiser abzugrenzen und eine größere Eigenständigkeit zu entwickeln. Der Grundsatz „cuius regio, eius religio“ im Augsburger Religionsfrieden von 1555 markierte einen historischen Wendepunkt: weg von der Idee eines universalen christlichen Kaisertums, hin zu einzelnen Landesherrschaften mit jeweils unterschiedlichen Kirchen-ordnungen. Das führte unter anderem zu religiös begründeten Migrations-bewegungen. Nicht mehr allein wirtschaftliche und soziale Überlegungen waren entscheidend für die Wahl des Wohnortes, sondern auch Glaubensüberzeugungen. Der damit verbundene Gewinn an Freiheit für den einzelnen gab der Entwicklung religiöser und kultureller Vielfalt Raum – einer Vielfalt, die sich bis heute immer wieder als ebenso inspirierend und bereichernd wie manchmal auch als beängstigend und verstörend erweist. Einerseits ist es faszinierend zu sehen, wie viele unterschiedliche Kulturen und Religionen, Traditionen und Träume, Lebensentwürfe und Weltanschauungen in Deutschland eine Heimat gefunden haben – und wie sehr unser Land davon profitiert hat, weil mit Menschen, die auf unterschiedliche Weise ihr Glück suchten und ihre Träume verwirklichen wollten, auch Ehrgeiz, Pioniergeist, Experimentierfreude und Innovationskraft Einzug hielten. Andererseits erhitzen öffentliche Debatten über Symbole und Rituale religiöser Minderheiten die Gemüter – und religiöse Konflikte wie auch religiöser Fundamentalismus verbreiten weltweit Angst und Schrecken. Ein Gewinn ist der Blick zurück auf die Entwicklung des Zusammenlebens unterschiedlicher Konfessionen in den vergangenen 500 Jahren deshalb nicht nur für das Verständnis der Reformation und ihrer Folgen. Aufschlussreich ist die Auseinandersetzung mit der Reformationsgeschichte, weil sie uns mit Erfahrungen konfrontiert, aus denen wir Lehren für unsere Gegenwart und Zukunft ziehen können. Zu diesen Lehren gehört die Einsicht, dass Religionsfreiheit und Toleranz für den sozialen Frieden in einer pluralistischen Gesellschaft unverzichtbar sind. Im kommenden Jahr, das wir als Europäisches Kulturerbe-Jahr feiern, jährt sich der Beginn des 30-jährigen Krieges zum 400. Mal und das Ende des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal. Es erinnert uns daran, dass es eine der wichtigsten demokratischen, ja geradezu eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften überhaupt ist, das Gemeinsame über das Trennende stellen zu können – das Menschliche über die Unterscheidung zwischen gläubig und ungläubig, zwischen deutsch und nicht-deutsch, zwischen muslimisch und christlich. Gerade jetzt, da so viele Menschen anderer kultureller Herkunft Zuflucht in Deutschland suchen, gerade mit Blick auf die kommenden Jahre und Jahrzehnte, in denen zusammenwachsen soll, was bisher nicht zusammen gehört – wie Bundespräsident Gauck es am 25. Jahrestag der Deutschen Einheit so treffend formuliert hat -, gerade in diesen Zeiten muss sich demokratische Kultur in Deutschland und Europa in diesem Sinne neu bewähren. Die christliche Religion und der christliche Glaube sollten, ja müssen dabei weiterhin ihren Platz im öffentlichen Leben haben. Denn Kirche schafft kulturelle Identität weit über den Kreis ihrer Mitgliedschaft hinaus – mit einer Prägekraft wie keine zweite Institution sie je entwickelt hat. Und nur eine Gesellschaft, die mit ihren Werten und Wurzeln ihre eigene Identität pflegt, kann auch dem Anderen, dem Fremden Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen. Ein weiterer Punkt ist mir wichtig: Gerade weil uns die Reformationsgeschichte vor Augen führt, wie schwer wir uns in Deutschland und Europa über Jahrhunderte mit religiöser Vielfalt getan haben, gerade weil wir uns erinnern, wie hart errungen – mit viel Krieg, Leid und Gewalt bezahlt – Demokratie, Säkularismus und Religionsfreiheit doch sind, gerade weil wir wissen, dass unsere demokratischen Werte geronnene Lernerfahrungen sind, sollten wir uns in aktuellen Diskussionen über Integration nicht auf die ebenso überhebliche wie demotivierende Behauptung zurück ziehen, Islam und Demokratie passten nicht zusammen. Wenn das Reformationsgedenken uns für die Zukunft eines lehrt, dann die Bereitschaft, auch anderen Religionen eine gewisse Beweglichkeit und Lernfähigkeit zuzugestehen – und unseren Teil dazu beizutragen, dass dieser Lernprozess diesmal nicht jahrhundertelang dauert. In Berlin beispielsweise hat die muslimische Frauenrechtlerin Seyran Ates zusammen mit anderen liberalen Muslimen gerade eine Moschee gegründet, in der Frauen predigen dürfen und Homosexuelle ebenso willkommen sind wie Andersgläubige und Atheisten – gedacht als religiöse Heimat für jene Frauen und Männer, die sich einen Islam wünschen, der Demokratie, Toleranz, Gewaltfreiheit und Geschlechter-gerechtigkeit bejaht. So kann reformatorischer Aufbruch im 21. Jahrhundert aussehen – und Reformatoren wie Seyran Ates, die wie einst Martin Luther den eigenen Glauben kritisch reflektieren, die wie einst Martin Luther zu ihren Zweifeln stehen, die wie einst Martin Luther unbequem sind, die wie einst Martin Luther dem religiösen Dogmatismus mutig den Kampf ansagen und Wege der Erneuerung suchen, -… sie verdienen unsere Unterstützung! Ja, ich glaube sogar, meine Damen und Herren, dass gerade dies – die Aufforderung, das Suchen und Zweifeln, das Infragestellen von Wahrheiten und Autoritäten zu kultivieren – die vielleicht wichtigste persönliche Botschaft ist, die Martin Luther, dieser sperrige, störrische, streitbare Charakter, uns mitzuteilen hat: als Zweifelnder und Suchender, als Erneuerer, aber auch als Irrender. Martin Luther steht für Gewissensfreiheit, Urteilskraft und Zivilcourage. Als er sich auf dem Wormser Reichstag 1521 dem Diktat von Kaiser und Papst widersetztem, berief er sich auf die Heilige Schrift und sein Gewissen und setzte damit der weltlichen wie auch der geistlichen Macht Grenzen – was ihn und seine Mitstreiter und Erben allerdings vielfach nicht davor bewahrte, die eigenen Überzeugungen dogmatisch und mit bisweilen fundamentalistischem Wahrheitsfuror zu verteidigen. Martin Luther steht – ein weiteres Beispiel – für die ambivalente Kraft klarer Worte und starker Bilder. Seine Bibelübersetzung eröffnete allen Menschen Zugang zum Wort Gottes. Seine lebensnahe Sprache wurde stilbildend und förderte maßgeblich die Entwicklung einer einheitlichen deutschen Schrift-sprache – Kern gemeinsamer Identität, Grundlage demokratischer Verständigung und gemeinschaftsstiftend bis heute. Seine ebenso sprach-gewaltigen Hetzschriften allerdings schürten Hass und Vorurteile und trugen zur Spaltung der Gesellschaft, zu Ausgrenzung und verhärteten Fronten bei. So blieb Luther, auch wenn er seiner Zeit in vielerlei Hinsicht voraus war, seiner Zeit verhaftet – wie übrigens auch andere Größen der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte. Doch gerade, weil er als Suchender auch auf Irrwege geraten ist, gerade weil er uns die Möglichkeit der Fehlbarkeit tiefster Überzeugungen erkennen lässt, lehrt er uns Misstrauen gegenüber jenen, die behaupten, die Wahrheit gefunden zu haben – und dazu Demut statt Hybris, Zweifel statt Gewissheit auch in der Bewertung unserer eigenen Überzeugungen. Er lehrt uns, Suchende, Fragende zu bleiben und das Ringen um Antworten auf letzte Fragen apodiktischen Wahrheitsansprüchen vorzuziehen. Er lehrt uns, nicht nur den Glauben, sondern auch den Zweifel zu kultivieren. Den Zweifel kultivieren: Das ist auch eine Lehre aus der Geschichte des 20 Jahrhunderts. Deutschland musste sich die Demokratie in einem von der nationalsozialistischen Barbarei geistig und moralisch verwüsteten Land mühsam erarbeiten und hat die Kunstfreiheit und damit die Kultivierung des Zweifels dabei aus gutem Grund in den Verfassungsrang erhoben. Die Kunstfreiheit – das ist die Lehre, die wir aus zwei Diktaturen gezogen haben – ist konstitutiv für eine Demokratie. Künstler und Kreative gehören zum Korrektiv einer Gesellschaft. Mit ihren Fragen, ihren Zweifeln, ihren Provokationen beleben sie den demokratischen Diskurs und sind so imstande, unsere Gesellschaft vor gefährlicher Lethargie und damit auch vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu bewahren. Sie verhindern, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Die Freiheit der Kunst zu schützen, ist deshalb heute oberster Grundsatz, vornehmste Pflicht der Kulturpolitik. Dabei lässt sich natürlich nicht leugnen, dass eben diese Freiheit es Menschen ermöglicht, andere zu verletzen und zu kränken. Als religiöser Mensch fühle ich mich beispielsweise tief getroffen, wenn – legitimiert durch die Kunstfreiheit – mein Glaube verhöhnt wird. Doch eine Kunst, die sich festlegen ließe auf die Grenzen des politisch Wünschens-werten, eine Kunst, die den Anspruch religiöser Wahrheiten respektierte, die das überall lauernde Risiko verletzter Gefühle scheute, die gar einer bestimmten Moral oder Weltanschauung diente – eine solchermaßen begrenzte oder domestizierte Kunst würde sich nicht nur ihrer Möglichkeiten, sondern auch ihres Wertes berauben. Deshalb müssen wir die Spannungen aushalten zwischen der Freiheit der Kunst und verletzten (religiösen) Gefühlen. Wenn uns das gelingt, dann können beide Milieus – Kultur und Religion, Künstler und Gläubige – dazu beitragen, das Zweifeln zu kultivieren. Diese beiden Milieus jedenfalls sind es, die um Antworten auf letzte Fragen ringen und den Blick über Vordergründiges hinaus lenken und die damit gerade auch den Suchenden und Zweifelnden eine geistige und spirituelle Heimat bieten. Und gerade die Zweifler sind es wiederum, die die Kirche davor bewahren, sich allzu behaglich einzurichten unter dem Dach religiöser Wahrheiten. Die Kirche dürfe nicht nur bei sich selber bleiben, so hast Du es einmal formuliert, liebe Petra, und Dir deshalb für Dein neues Amt insbesondere den Dialog mit den Zweifelnden auf die Fahnen geschrieben. Denn – ich darf Dich zitieren: „Wer die Kirche im Dorf lassen will, ohne sie in ein Museum zu verwandeln, sollte ihre Türen weit öffnen.“ Kirche muss sich – das ist auch meine persönliche Auffassung als gläubige Christin – immer auch in der Begegnung mit der Lebenswirklichkeit bewähren und die Sorgen und Nöte derer ernst nehmen, die ihr begegnen. Dann findet sie über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus auch Gehör in gesellschaftlichen Debatten. Eine solche Kirche brauchen wir heute als starke Stimme in der demokratischen Öffentlichkeit mehr denn je. Als gesellschaftliches Großereignis kann und soll das Reformationsjubiläum für möglichst viele Menschen gleich welchen Glaubens Anlass sein, die reformatorischen Herausforderungen unserer Zeit öffentlich zu reflektieren: beispielsweise die Verteidigung der hohen moralischen Standards, der Werte eines geeinten Europas im Angesicht des Leids so vieler Menschen aus Kriegs- und Krisenregionen, oder auch die Notwendigkeit, zu einer gemeinsamen Sprache zurück zu finden, wo die Fronten zwischen gesellschaftlichen Gruppen verhärtet sind. Es macht jedenfalls Hoffnung, dass das 500. Reformations-jubiläum Verständigung und Versöhnung in den Mittelpunkt stellt und die beiden christlichen Kirchen im Sinne der Ökumene für ein Miteinander in der Vielfalt einstehen. Wer darüber hinaus ein Stück religiöse Vielfalt im ganz alltäglichen Miteinander erleben will, dem rate ich zu geschärfter Aufmerksamkeit in der bald zu Ende gehenden Spargelsaison. Denn angeblich lässt sich ja beim Verzehr von Spargel erkennen, ob jemand katholisch oder protestantisch ist: Katholiken essen die Spargelspitzen zuerst; Protestanten heben sie sich bis zum Schluss auf… Wie auch immer Sie Ihren Spargel essen, meine Damen und Herren: Hauptsache, gegessen wird gemeinsam an einem großen Tisch! In diesem Sinne wünsche ich uns allen, dass das Reformationsjubiläum zum Volksfest der Verständigung über unsere Wurzeln und Werte wird und dass wir dabei, ganz im Sinne Martin Luthers, auch etwas lernen über die revolutionäre Kraft des Glaubens und des Zweifelns und ihre Bedeutung für eine Demokratie, für unsere Demokratie.
Kulturstaatsministerin Grütters hat beim Empfang der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover die Bezugspunkte der Reformation zur Gegenwart hervorgehoben. „Wenn man die Entwicklung unserer bürgerliche Ideale und demokratischen Werte verstehen will, kommt man nicht an ihm vorbei“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Tag der Immobilienwirtschaft am 21. Juni 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-tag-der-immobilienwirtschaft-am-21-juni-2017-in-berlin-427410
Wed, 21 Jun 2017 17:40:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident Mattner, sehr geehrte Vizepräsidenten, lieber Herr Lindner, meine Damen und Herren, nochmals vielen Dank für die Einladung, der ich sehr gerne gefolgt bin. – Herr Lindner hat mir schon gesagt: unten sieht man eigentlich besser als von hier oben, dass das hier eine richtige Theaterszenerie ist. – Sie sind ja wirklich zahlreich gekommen. Ich bin heute auch deshalb hier, weil die Immobilienwirtschaft einen beträchtlichen Anteil an der Wertschöpfung, an Wachstum und Beschäftigung in unserem Land hat. Herr Mattner hat das eben noch einmal eindrücklich geschildert. Wir reden ja sehr viel über Investitionen; vor allem über private Investitionen. Rund die Hälfte aller Bruttoanlageinvestitionen sind Bauinvestitionen. Dahinter stehen natürlich die unterschiedlichsten Entscheidungen der Immobilienwirtschaft, neu zu bauen, den Bestand zu sanieren oder aufzuwerten. Mit neuen Büros und Gewerbeimmobilien schafft sie den geeigneten Raum dafür, dass sich unter anderem Dienstleistungsunternehmen, Start-ups und Betriebe der Kreativwirtschaft entwickeln können. Auch die Nachfrage nach Wohneigentum gerade in größeren Städten entwickelt sich weiter auf hohem Niveau. Zudem entscheiden sich viele Bürgerinnen und Bürger, die eigenen vier Wände zu sanieren oder zu modernisieren. Dies zeigt auch, dass viele in ihre berufliche und persönliche Zukunft Vertrauen haben. Ich glaube, dafür gibt es auch Gründe. Die Erwerbstätigkeit liegt auf neuem Rekordniveau. In Deutschland sind im Augenblick weit mehr als 43 Millionen Menschen erwerbstätig. Wir haben im Vergleich zu 2005 derzeit fast sechs Millionen mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Das ist auch die entscheidende Voraussetzung dafür, dass wir heute zum Beispiel sagen können, dass das deutsche Rentensystem mit den Reformen der Bundesregierung der vergangenen Jahre bis 2030 stabil und finanziell solide aufgestellt ist. Die für diesen langen Zeitraum geltenden Eckpfeiler können sich auch in der Zeit danach bewähren. Die Reallöhne sind gestiegen. Und das alles ging mit einem robusten Wirtschaftswachstum einher, dessen besonderer Treiber im Übrigen der private Konsum ist. Und die Konjunkturaussichten – so wird uns zumindest gesagt – bleiben gut. Das ist das Ergebnis eines erfolgreichen Zusammenspiels von Arbeitnehmern und Arbeitgebern und einer Politik, die für vernünftige Rahmenbedingungen sorgt. Das heißt insbesondere – Herr Bundesminister Schäuble war ja heute auch bei Ihnen –, dass wir auf solide öffentliche Finanzen achten und zugleich wachstumsfreundlich agieren. Denn nicht trotz, sondern wegen konsequenter Konsolidierung haben wir Spielräume für Investitionen. Wir haben darüber hinaus Spielräume auch für Steuerentlastungen in einem von Finanzminister Schäuble angesetzten Umfang von rund 15 Milliarden Euro und auch für eine schrittweise Abschaffung des Solidaritätszuschlags – natürlich für alle – ab 2020. Konsolidieren, investieren, entlasten – das gehört für mich untrennbar zusammen. Damit sind wir in den vergangenen Jahren – gerade auch im internationalen Vergleich – sehr gut gefahren. Und so wollen wir auch das Motto beherzigen, mit dem Ihr Tag der Immobilienwirtschaft überschrieben ist: „Kurs halten in global unruhigen Zeiten“. Natürlich – und wir spüren das ja – müssen wir ständig neue Herausforderungen in den Blick nehmen, die ein vielfältiger Wandel mit sich bringt – auf globaler Ebene, auf europäischer Ebene, auf nationaler Ebene. Beispielsweise lag 1950 der Anteil der Stadtbevölkerung weltweit noch bei ca. 30 Prozent. Inzwischen leben längst mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Dieser Trend wird sich aller Voraussicht nach fortsetzen. Nach Schätzung der Vereinten Nationen werden 2050 rund neun Milliarden Menschen auf unserem Planeten leben – und rund 70 Prozent davon in Städten. Auch in Deutschland ziehen große Städte und Ballungszentren sehr viele Menschen an. Sie wollen in Metropolen wohnen, lernen und arbeiten, zumal sie hier auch ein breites Infrastrukturangebot nutzen können. Das ist mit vielfältigen Herausforderungen verbunden – sowohl für die Entwicklung der Städte als auch für die Immobilienwirtschaft. In vielen innerstädtischen und stadtnahen Wohnlagen stehen derzeit zu wenige Wohnungen zur Verfügung. Dies führt zu hohen Baupreisen und Mieten, was für die Bezieher relativ geringer Einkommen natürlich bitter ist. Unabhängig davon, welche Wohnung man sich leisten kann: Teures Wohnen verengt in jedem Fall Spielräume für andere Ausgaben, die aber genauso wichtig sind. Denken wir nur an den Konsum von Alltagsgütern, die Nutzung von Bildungs- und Kulturangeboten oder die private Altersvorsorge. In vielen ländlich oder kleinstädtisch geprägten Räumen hingegen stagniert oder sinkt die Einwohnerzahl. Dort sind weniger Wohnkosten nicht das herausragend wichtige Thema, sondern dort richtet sich das Augenmerk auf die Frage, wie sich die lokale Infrastruktur und Daseinsvorsorge aufrechterhalten lassen. Wie ist es um den Anschluss an den öffentlichen Personennahverkehr bestellt? Wie weit ist die nächste Schule entfernt? Gibt es kulturelle und soziale Einrichtungen? Welche Antworten auf diese und viele andere Fragen gefunden werden, entscheidet mit über berufliche und gesellschaftliche Teilhabe, über Bildungschancen und Lebensqualität und somit letztlich auch darüber, ob Familien bleiben oder ob sie wegziehen. Als Bundesregierung wollen und müssen wir ländliche Räume und Ballungszentren gleichermaßen in den Blick nehmen. Das tun wir auch. Ich will an dieser Stelle nochmals an das Gebot aus der Verfassung, aus unserem Grundgesetz, erinnern, dass wir für gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Regionen Deutschlands zu sorgen haben. Und dass die Bundesregierung das tut, sehen Sie etwa am „Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen“. Der Name ist Programm für Bund, Länder, Kommunen und zahlreiche Akteure der Immobilien- und Bauwirtschaft, die sich in dieses Bündnis mit einbringen. Auch der Zentrale Immobilien Ausschuss ist mit dabei. Recht herzlichen Dank dafür. Wir haben eine Wohnungsbauoffensive mit zehn Schwerpunkten beschlossen. Dazu zählt unter anderem, dass wir verbilligtes Bauland aus der öffentlichen Hand bereitstellen – die BImA zum Beispiel ist hier in Person von Herrn Gehb anwesend –, dass wir die soziale Wohnraumförderung und das genossenschaftliche Wohnen stärken und die Nachverdichtung von Wohnsiedlungen erleichtern wollen. Seit diesem Jahr gibt es die neue Baugebietskategorie „Urbanes Gebiet“, mit der wir Ihren Wünschen und denen der Kommunen entgegengekommen sind, um für Planungserleichterung zu sorgen. Zukünftig lassen sich Wohnungen und Gewerbeeinheiten besser miteinander verbinden. Das eine schließt das andere an den betreffenden Standorten nicht aus. Dadurch steigen die Chancen auf neue Wohnungen in stark nachgefragten Innenstadtlagen. Ein besseres Nebeneinander von Wohnungen, Gewerberäumen und kulturellen Einrichtungen verkürzt dann auch die Wege im Alltag. Außerdem haben wir die Planung von Wohnungen in bestimmten Außenbereichen erleichtert. Da geht es um Flächen, die direkt an bestehende Siedlungsbereiche anschließen. Ich weiß allerdings, dass wir in diesem Zusammenhang – gerade auch um diejenigen zu motivieren, die ihr Land sozusagen zur Verfügung stellen sollen – noch über einiges nachdenken und etwas tun müssen. Wir haben nicht nur rechtliche Vorgaben verbessert. Der Bund engagiert sich auch finanziell. In den vergangenen Jahren wurden die finanziellen Mittel verdreifacht, die wir den Ländern zur Verfügung stellen, damit es mehr sozialen Wohnraum gibt. Dieses Jahr sind das immerhin 1,5 Milliarden Euro. In die Städtebauförderung kommen 2017 nochmals 790 Millionen Euro obendrauf. Der Bund hilft den Städten und Gemeinden auch, die soziale Infrastruktur auszubauen und zu erneuern. Dafür sind jedes Jahr noch einmal 200 Millionen Euro vorgesehen. Zusätzlich werden Investitionen in Einrichtungen für Sport, Kultur und die Jugend gefördert; dafür stehen von 2016 bis 2020 insgesamt 240 Millionen Euro bereit. Es gibt noch eine Reihe weiterer Programme – zum Beispiel das Programm „Stadtumbau Ost“, „Stadtumbau West“, „Soziale Stadt“, „Kleine Städte und Gemeinden“. All diese Programme dienen vorrangig dazu, kleine und ländliche Kommunen zu stabilisieren und zu attraktiven Lebens- und Arbeitsstandorten zu entwickeln. Dazu gehört auch, dass Einwohner eines Ortes möglichst rasch in die nächstgrößere Stadt gelangen können. Dieser Aspekt hat sogar Eingang in unsere Nachhaltigkeitsstrategie gefunden. Das heißt, wir wollen die durchschnittliche Reisezeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum nächsten Mittel- oder Oberzentrum weiter verringern. So lassen sich also zwei Ziele miteinander verbinden: sowohl die Attraktivität ländlicher Räume zu erhöhen als auch umweltfreundliche Mobilität zu fördern. Ohnehin gibt es zwischen Bauen und Wohnen sowie Umwelt- und Klimaschutz viele Berührungspunkte; Herr Mattner hat darauf schon hingewiesen. Der Hauptpunkt ist sicherlich, dass Gebäude rund 35 Prozent der Endenergie verbrauchen. Sie verursachen in Deutschland bis zu 30 Prozent der Treibhausgasemissionen. Das ist kaum verwunderlich – und da liegt der Hase nach wie vor im Pfeffer –, denn über 60 Prozent des Wohngebäudebestands wurden noch vor der ersten Wärmeschutzverordnung von 1977 errichtet. Weil wir aber unsere Energie- und Klimaziele erreichen wollen, kommen wir um eine deutliche Effizienzsteigerung im Gebäudebereich nicht herum. Unsere „Effizienzstrategie Gebäude“ zeichnet den Weg zu einem nahezu klimaneutralen Bestand im Jahr 2050 vor. Ich weiß, dass dieser Weg anspruchsvoll ist. Und ich bin auch dafür, dass wir ihn gemeinsam gehen, insbesondere wenn es um die Klimaschutzstrategie geht, deren einzelne Maßnahmen wir ja noch ausdiskutieren müssen. Ich persönlich bin auch dafür, auf weitere Anreize zu setzen. Deshalb plädiere ich dafür, einen weiteren Anlauf zu nehmen, um in der nächsten Legislaturperiode endlich die allgemein geforderte steuerliche Förderung der Gebäudesanierung hinzubekommen – eine Sache, die sich ganz sicher rechnet und bei der der seltene Fall eintritt, dass angefangen von den Gewerkschaften über das Handwerk bis zur Immobilienwirtschaft und den Umweltverbänden alle der Meinung sind, dass man das tun sollte. Stattdessen müssen wir uns bis jetzt noch mit anderen Programmen behelfen; ich komme gleich noch dazu. Ich will auch sagen, dass wir auf Technologieoffenheit setzen. Die Digitalisierung bietet neue Möglichkeiten, etwa was das intelligente Steuern von Heizungen anbelangt und vieles andere. Das sogenannte Smart Home wird die Zukunft sein. Hierbei kann man noch vieles tun. Es kommt aber auch auf innovative Quartierslösungen an – auf optimierte Energiekonzepte, die den zunehmenden Einsatz erneuerbarer Energien einbeziehen und für hinreichend Flexibilität zwischen Energiegewinnung und -nutzung sorgen. Energiesparen und entsprechende Kosteneinsparungen sind immer auch Impulse für neue Technologien. Das dient dem Klimaschutz und ist auch noch gut für unser Wirtschaftswachstum. Deshalb gibt es den „Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz“. Diesen haben wir über die ursprünglichen Planungen hinaus nochmals erheblich unterfüttert, indem wir zum Beispiel die KfW-Programme zum energieeffizienten Neubau und zur energetischen Sanierung um 200 Millionen Euro aufgestockt haben. Damit stehen hierfür pro Jahr zwei Milliarden Euro bereit. Auch das Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien haben wir verbessert, damit die erneuerbaren Energien verstärkt für Wärme- und Warmwasserproduktion genutzt werden. Außerdem setzen wir verstärkt auf Energieberatung. Es gibt ja inzwischen auch Softwareangebote, mit deren Hilfe sich verständlich darstellen lässt, welche Sanierungen an einem Haus empfehlenswert sind. So lassen sich auch individuelle Fahrpläne erstellen, die die Bedürfnisse von Eigentümern und Mietern mit dem Klimaschutz verbinden. Für Neubauten gelten seit 2016 ohnehin neue Anforderungen an den Primärenergiebedarf und die Mindestwärmedämmung. Denn so wichtig es ist, die Neubaurate zu steigern und die Baukosten im Rahmen zu halten, so wichtig ist es auch, in Qualität zu investieren, um die Klimaziele zu erreichen. Ich sage trotzdem, dass ich das große Potenzial im Altbaubestand sehe und deshalb glaube, dass wir vor allen Dingen auch hier Anreize setzen müssen. Dass wir im Bedarfsfall schnell vorankommen können, hat sich bei den Flüchtlingsunterkünften gezeigt. Durch Änderungen des Baurechts ist es gelungen, in kürzester Zeit sehr viele Erstaufnahmeeinrichtungen zur Verfügung zu stellen. Ich will mich ausdrücklich für Ihre Mitarbeit auch am Runden Tisch für die Flüchtlingspolitik bedanken. Es hat uns allen sehr geholfen, in einer kooperativen, lösungsorientierten Gesprächsrunde in einem Klima, in dem wir aufeinander gehört haben, eben auch schnell Lösungen zu finden. Und ich stimme Ihnen zu: Dieses kooperative Klima sollte unser Handeln weiter bestimmen. Auch die Anzahl der fertiggestellten Wohnungen kann sich durchaus sehen lassen. Wir werden in dieser Legislaturperiode voraussichtlich mehr als eine Million Wohnungen fertigstellen. Auch die Zahl der Baugenehmigungen ist auf sehr hohem Niveau. Allerdings wollten wir eigentlich 400.000 neue Wohnungen pro Jahr bauen. Dieses Ziel haben wir noch nicht erreicht. Die Frage, wie wir da vorankommen, schließt natürlich auch und vor allem die Frage nach bezahlbarem Wohnraum mit ein. Es spricht vieles dafür – das will ich drei Mal unterstreichen –, dass sich in Ballungszentren die Miethöhen auf Dauer nur dann erfolgreich dämpfen lassen, wenn das Angebot an Wohnungen steigt. Das heißt, die vorrangige Priorität muss darauf ausgerichtet sein, dass Investitionen sinnvoll sind und sich lohnen. Das dürfen wir nie vergessen. Denn bei allem, was wir tun können, kommt es zum Schluss immer auf die private Investitionsentscheidung an; es wird natürlich nicht alles staatlich bezahlt werden können. Die Diskussionen um die Mietpreisbremse zeigen, dass es nicht einfach ist, dem Problem hoher Mieten durch Vorgaben für die Preisbildung zu begegnen. Viel hängt natürlich von den Baukosten ab. Allerdings zeigen die Erfahrungen: Baukosten sind das eine, Marktpreise das andere. Daher gibt es in Bund, Ländern und Kommunen Überlegungen, preisgünstiges Bauland und andere Formen der Förderung zukünftig noch konsequenter an die Höhe der späteren Miet- und Kaufpreise zu koppeln. Ziel bleibt jedenfalls, Wohneigentum zu fördern, was auch ein wichtiger Aspekt der Altersvorsorge sein kann. Das heißt, auf Eigentum zu setzen, ist für uns durchaus eine Priorität. Sicherlich gilt es auch genau hinzuschauen, wo gebaut wird. Wenn wir in bestimmten ländlichen Regionen mehr Flächenverbrauch und zugleich mehr Leerstände haben, macht das einfach keinen Sinn. In städtischen Räumen müssen wir darauf achten, dass Platz bleibt für unterschiedliche Lebensstile, Biografien und Berufe. Das belebt die soziale Teilhabe und das kulturelle Leben ebenso wie die verschiedenen Geschäftstätigkeiten. Wo wir bauen – ob zentrumsnah oder weiter draußen –, bestimmt natürlich auch, welche Wege zurückzulegen sind, um zur Arbeit zu kommen oder um die Kinder zur Schule zu bringen. Das wiederum hat Einfluss auf den Verkehr, auf den Energieverbrauch, auf den CO2-Ausstoß, der auch dadurch bestimmt wird, wie wir bauen. Heute entscheidet es sich, ob wir das Ziel eines klimaneutralen Gebäudebestands bis 2050 erreichen werden. Was wir heute bauen, bestimmt das Aussehen unserer Ortschaften – und das nicht nur für ein oder zwei Jahre, sondern für die nächsten Jahrzehnte. Kurzum: Wo, wie und was wir bauen, entscheidet wesentlich darüber, wie wir morgen leben. Fehlentwicklungen später zu korrigieren, ist schwieriger und teurer, als von Beginn an in die richtige Richtung zu steuern. Vor diesem Hintergrund – und auch wenn es um Wachstum in unserer Gesellschaft geht – zeigt sich die besondere Verantwortung der Immobilienwirtschaft. Dass Sie hierbei auf einen breiten Dialog setzen, spricht für Sie und Ihre Verantwortungsbereitschaft. Sie wollen echten Mehrwert schaffen. In diesem Sinne freue ich mich auf weitere konstruktive Diskussionen im kooperativen Charakter. Wir müssen sinnvolle Lösungen finden. Ich glaube, es gehört mit zu den schönsten Aufgaben – insofern sind Sie alle mit etwas sehr Spannendem, Interessantem befasst –, ein Zuhause für Menschen mitzugestalten. Deshalb danke für Ihre Arbeit, für Ihre Ideen, für Ihre Kreativität. Und auf weitere gute Zusammenarbeit.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Empfang der Preisträgerinnen und Preisträger des 52. Bundeswettbewerbs „Jugend forscht“ am 21. Juni 2017 im Bundeskanzleramt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-empfang-der-preistraegerinnen-und-preistraeger-des-52-bundeswettbewerbs-jugend-forscht-am-21-juni-2017-im-bundeskanzleramt-796742
Wed, 21 Jun 2017 14:36:00 +0200
Berlin
Liebe Frau Bundesministerin Wanka, lieber Herr Baszio, meine Damen und Herren; und natürlich: liebe Preisträgerinnen und Preisträger von „Jugend forscht“, da Sie hier sind, dann haben Sie es auch geschafft: Sie sind Preisträger von „Jugend forscht“ geworden. Dafür herzlichen Glückwunsch und ein ebenso herzliches Willkommen im Bundeskanzleramt. Die entscheidende Frage ist natürlich: Wie haben Sie es geschafft? So unterschiedlich die Forschungsprojekte auch sind – Sie alle eint, dass Sie, wenn Sie etwas angefangen haben, immer auch an Ihre eigene Idee geglaubt haben. Eleanor Roosevelt, der Frau des früheren amerikanischen Präsidenten Franklin Roosevelt, wird der Satz zugeschrieben: „Die Zukunft gehört denen, die an die Schönheit ihrer Träume glauben.“ Ob die Träume auch in der Wissenschaft immer schön sind, sei dahingestellt. Aber unabhängig davon gilt: Schön ist, was begeistert. Wofür Sie sich begeistert haben, das hat dann offensichtlich auch die Jury begeistert. Deshalb sind Sie ja als Preisträger hier. Ihr Motto war: „Zukunft – ich gestalte sie!“ Ich finde, das ist ein sehr schönes Motto. Das sagt ja nichts anderes, als dass wir es zum Teil selbst in der Hand haben, wie die Welt von morgen aussieht. Das verbindet in gewisser Weise auch Forschung und Politik. Denn auch unsere Arbeit ist darauf ausgerichtet, zu gestalten, vorzusorgen, einen Rahmen zu schaffen, in dem sich Zukunft vernünftig entwickeln kann. Das heißt, wir müssen in den Blick nehmen, wo es Probleme gibt und wie eine Lösung aussehen könnte. Von unseren Antworten heute hängt auch ab, wie Generationen nach uns leben werden. Von unseren Entscheidungen hängt ab, ob wir große Herausforderungen wie zum Beispiel den Klimawandel auch wirklich meistern können. Ich glaube, an diesem Beispiel lässt sich auch gut zeigen, warum Forschung und Innovation eine so große Rolle spielen. Die Politik kann zwar Ziele vorgeben, aber wie man diese Ziele erreicht, das müssen dann andere herausfinden – durch Innovation. Wir können also sagen: Wir wollen die Treibhausgas-, die CO2-Emissionen reduzieren. Aber wir müssen dann darauf warten, dass auch technische Möglichkeiten gefunden werden, CO2-Emissionen zu reduzieren. Wir können dafür Anreize setzen. Manchmal wundert man sich, was alles möglich ist, wenn man steuerliche Anreize setzt, das ohne steuerliche Anreize scheinbar nicht möglich war. Aber die Denkaufgabe, wie man das dann technisch umsetzt, muss schon an anderer Stelle geschafft werden. Das heißt, Technologien müssen erdacht, entwickelt und marktreif gemacht werden. Da sind die Wissenschaft, die Ingenieurkunst und vieles andere gefragt. Deshalb brauchen wir immer wieder junge Leute, die schon früh anfangen, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen. Und da kommt eben „Jugend forscht“ ins Spiel. Es ist über Jahrzehnte hinweg immer wieder gelungen, junge Talente zu entdecken und zu motivieren. „Jugend forscht“ hat es geschafft, die Faszination für Mathematik, für Informatik, für Naturwissenschaft und Technik zu stärken. In über 50 Jahren haben sich insgesamt mehr als 260.000 junge Forscher beteiligt; darunter auch immer mehr Forscherinnen. Ich habe meinen Blick hier schon schweifen lassen; zu viele Forscherinnen sind es hier aber nicht, um das einmal vorsichtig zu sagen. In diesem Jahr ist der Anteil von Mädchen und jungen Frauen, die mitgemacht haben, aber immerhin auf knapp 39 Prozent angewachsen. Wenn man bedenkt, dass der Anteil in den Anfangsjahren von „Jugend forscht“ manchmal noch unter zehn Prozent lag, dann können wir sagen: Es geht durchaus voran; aber bei den Preisen müssen wir vielleicht noch weiter rackern. Es lohnt sich also, für die sogenannten MINT-Fächer zu werben. Wer bei „Jugend forscht“ mitgemacht hat und erfolgreich war, hat dann auch oft einen Berufsweg in den Bereichen Mathematik, Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften oder Technik eingeschlagen. Für viele hat dieses Mitmachen bei „Jugend forscht“ eben auch den Ausschlag für ihre Berufswahl gegeben. Hinter „Jugend forscht“ steht ein breites Netzwerk aus Schulen, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Medien. 5.000 Lehrer betreuen die Projekte. Es gibt 3.000 Juroren. 250 Partner aus Wirtschaft und Wissenschaft unterstützen „Jugend forscht“. Dazu kommen noch die zuständigen Ministerien der Länder und des Bundes. Es gibt also ein Riesennetzwerk. Deshalb möchte ich all denen, die jenseits derer, die forschen, auch mithelfen, dass dieser Wettbewerb überhaupt durchgeführt werden kann, ein herzliches Dankeschön sagen. Ein besonderer Dank gilt dieses Jahr dem Paten-Unternehmen des Bundeswettbewerbs, der Siemens AG. Aller guten Dinge sind drei, denn sie war nach 1976 und 1997 nun schon zum dritten Mal dabei. Wie Siemens haben natürlich auch viele andere Unternehmen großes Interesse daran, cleveren Nachwuchs zu finden und talentierte Menschen schon frühzeitig kennenzulernen. Das heißt natürlich für Sie nichts anderes, als dass Sie neben der Freude an der Arbeit bei „Jugend forscht“ auch gute Chancen haben, nach einer guten Ausbildung eines Tages dann etwas Vernünftiges auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Die Bundesregierung unterstützt diesen Trend. Bildung und Forschung haben für uns höchste Priorität. Dies soll auch so bleiben. Die Anstrengung lohnt sich. Das zeigt sich gerade bei „Jugend forscht“. Sie wissen es vielleicht schon: Ich vergebe nicht die allgemeinen Preise, aber es gibt immer einen Sonderpreis. Diesen zu vergeben, das ist die Aufgabe, die ich habe. Die Preisträger dieses Jahres sind Johannes Greiner und Stephan Wagner – Sie können sich schon einmal bereit machen – vom Simpert-Kraemer-Gymnasium im bayerischen Krumbach. Herzlichen Glückwunsch zum Sonderpreis. Gott sei Dank habe ich nur Physik studiert und kenne die Liesegangschen Ringe noch gar nicht. Darüber werde ich aber jetzt gleich etwas lernen. Sie haben umfangreiche Messreihen zu diesen Liesegangschen Ringen in Gelatine-Gelen durchgeführt. Das erscheint mir ziemlich kompliziert, Ihnen wahrscheinlich inzwischen ziemlich einfach. Ich freue mich jetzt auf die Präsentation. Und erst danach gibt es den Preis. Man soll ja nicht für umsonst etwas bekommen. Aber erst einmal freue ich mich und höre Ihnen zu.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Festveranstaltung „70 Jahre Marshall Plan“ am 21. Juni 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-festveranstaltung-70-jahre-marshall-plan-am-21-juni-2017-in-berlin-317034
Wed, 21 Jun 2017 11:26:00 +0200
Berlin
Meine Damen und Herren, sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Karen Donfried, lieber Herr Goldman, lieber Herr Kissinger, ich freue mich sehr, dass Sie hierhergekommen sind und zu uns gesprochen haben. Mit dem Satz, Sie verfügen über einen außerordentlichen Erfahrungsschatz, ist das, was Sie darstellen, noch schwach umschrieben. Alle, die Vertreter der Bundesregierung, die Abgeordneten, die heute hier sind, wissen es sehr zu schätzen, dass Sie uns etwas von Ihrem Erfahrungsschatz wiedergegeben haben. Das Eingangszitat am Anfang Ihrer Rede hat ja schon die Zeitzeugenqualität gezeigt. Sie können die Geschehnisse unserer Zeit wie nur wenige andere einordnen. Sie können helfen zu verstehen, worin gravierende Unterschiede zu früheren Jahrzehnten bestehen und wo es Gemeinsamkeiten oder Übereinstimmungen gibt. Verstehen können ist eine entscheidende Voraussetzung für richtiges Handeln. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir uns heute versammeln und daran denken, was vor 70 Jahren passiert ist. Verstehen können und Schlussfolgerungen für richtiges Handeln für uns heute und für die Zukunft zu ziehen – beides sollten wir versuchen, wenn wir in diesem Rahmen auf die Rede des ehemaligen amerikanischen Außenministers Georg C. Marshall am 5. Juni 1947 zurückblicken. Er stellte mit dieser Rede seinen Plan für einen Wiederaufbau Europas vor; und das kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Versuchen wir, uns einmal vor Augen zu führen, welche Strahlkraft eine einzige historische Sternstunde wie diese Rede Marshalls über Jahre und Jahrzehnte hinaus entwickeln konnte. Marshalls Rede und sein Plan beruhten auf den Schlüssen, die er aus den verheerenden Erfahrungen der Vergangenheit mit den Folgen hoher Reparationen, mit staatlicher Isolation und Nationalismus gezogen hatte. Aus diesen Schlüssen entstand seine Überzeugung, es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ganz anders zu machen. Das Ergebnis war ein Plan, der alte Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen sollte. Es war ein Plan, der auf dauerhaften Frieden und Wohlstand zielte. Es war ein Plan, ohne den Deutschland, Europa und die transatlantische Partnerschaft heute völlig anders aussähen, als wir sie kennen. Diesen Plan stellte der damalige US-Außenminister am 5. Juni 1947 an der Harvard-Universität vor. – Henry Kissinger hat uns gesagt, wie das vor sich ging. Drei wegweisende Überzeugungen leiteten sein Denken und lagen seinem Plan zugrunde. Erstens. Deutschland sollte die Chance bekommen, sich in die westliche Staatengemeinschaft zu integrieren. Das war ein Schritt, der alles andere als selbstverständlich war. Denn von Deutschland war im Nationalsozialismus mit dem Zivilisationsbruch der Shoa und dem Zweiten Weltkrieg unermessliches Leid über Europa und die Welt gebracht worden. Umso bemerkenswerter, ja umso kühner war der Gedanke, uns Deutschen die Hand zur Aussöhnung zu reichen. Doch das war kein altruistisches Ansinnen, sondern eines, das im besten Sinne zeigt, wie Politik auf der Grundlage eigener Werte und Interessen verstanden werden kann und dass sie dann auch zum Wohle aller gelingt. Um also die volle Tragweite dieses Ansatzes erfassen zu können, müssen wir die Umstände seiner Zeit, des Jahres 1947, in den Blick nehmen. Dann verstehen wir, dass Marshalls Plan untrennbar mit der Frage verbunden war, wie die Vereinigten Staaten von Amerika mit der Bedrohung durch die Sowjetunion und den Kommunismus umgehen sollten, der sie sich ausgesetzt sahen. Marshalls Antwort darauf bestand darin, eine völlig neue Form transatlantischer Kooperation zu entwickeln – einer Kooperation, die sogar Deutschland offenstehen sollte; einer Kooperation, die diesseits und jenseits des Atlantiks auf gemeinsamen Werten und Interessen beruhte. Diese Werte und Interessen umfassten die Freiheit des Individuums, die Herrschaft des Rechts, den Schutz der Würde des einzelnen Menschen sowie eine marktwirtschaftliche Ordnung, in Deutschland schließlich die Soziale Marktwirtschaft. Dieses gemeinsame Fundament sollte sich als Schlüssel zum Erfolg erweisen. Es ist und bleibt auch heute unser Schlüssel zum Erfolg der transatlantischen Partnerschaft. Das ist ein Denken und Handeln, das den Erfolg nicht in den Kategorien von Gewinnern und Verlierern sieht, was ohnehin bestenfalls nur kurzfristigen Gewinn verspricht, sondern im Ausgleich von Interessen, im Schaffen von – um es Neudeutsch zu sagen – Win-win-Situationen. Das ist ein Denken und Handeln, bei dem alle Partner gewinnen sollen und auch gewinnen können. Unserem gemeinsamen Eintreten für unsere gemeinsamen Werte und Interessen verdanken wir auf beiden Seiten des Atlantiks seit über 70 Jahren – und in ganz Europa seit über einem Vierteljahrhundert – Frieden in Freiheit und Wohlstand. Wesentlichen Anteil an diesem gemeinsamen Erfolg hat die Gründung der Nordatlantischen Allianz, deren Mitglied die Bundesrepublik 1955 wurde. Die Einbindung Deutschlands in die westliche Wertegemeinschaft war, ist und bleibt Eckpfeiler unserer Außen- und Sicherheitspolitik – mögen sich europäische und transatlantische Herausforderungen nach dem Ende des Kalten Krieges und in Zeiten asymmetrischer Bedrohung auch noch so tiefgreifend verändert haben und weiter verändern. Die NATO muss sich in der Lage zeigen, ihre Werte und Interessen immer wieder neu zu behaupten. Spätestens seit dem letzten NATO-Gipfel im Mai sollten wir wissen, dass wir in Europa mehr denn je gefordert sind zu erkennen, dass wir unser Schicksal ein Stück weit selbst in der Hand haben und auch in die Hand nehmen müssen. Dies müssen wir bei Weitem nicht nur außen- und sicherheitspolitisch, sondern das müssen wir auch handels- und wirtschaftspolitisch erkennen. Das führt mich zur zweiten Überzeugung, die dem Plan von Außenminister Marshall zugrunde lag. Marshall war ein Verfechter offener Märkte. Er wollte das kriegszerstörte Europa durch engere Wirtschaftsbeziehungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika wieder auf die Beine kommen lassen. Damit verband er die Hoffnung, dass ein produktiver Aufschwung und neuer Wohlstand Stabilität bringen und Frieden sichern. Natürlich war auch das kein altruistischer Ansatz, sondern diente ebenfalls im besten Sinne dazu, Eigeninteressen der USA zu vertreten. Denn die Staaten Europas sollten als Handels- und Geschäftspartner der USA aufgebaut werden. Davon versprach sich George C. Marshall positive Impulse auch für die heimische Wirtschaft. Er war davon überzeugt, dass ein reger Handel allen Beteiligten zugutekommt. Wie richtig das ist, sollten wir auch heute nicht vergessen. Dies lässt sich an vielen praktischen Beispielen belegen, zum Beispiel an den verschiedenen Abkommen der Europäischen Union. Protektionismus und Abschottung hingegen wirken innovationshemmend. Sie bringen auf Dauer Nachteile für alle – auch und gerade für diejenigen, die auf Abschottung setzten, auch wenn sie es in andere Worte kleiden mögen. Ich werbe für offene Märkte. Der Weg dahin führt über ein multilaterales Handelssystem der Welthandelsorganisation, das auf gemeinsamen Regeln beruht. In Ergänzung dazu stehen bilaterale und regionale Abkommen, die jeweils Handelsbarrieren abbauen und Schutzstandards zum Wohle der Partnerländer festschreiben. Die wirtschaftliche Verflechtung nimmt dadurch weltweit zu. Eine solche Entwicklung hatte auch schon Außenminister Marshall mit Blick auf die Gestaltung Nachkriegseuropas vor Augen. Denn seine dritte Überzeugung zielte darauf, alte Feindschaften zwischen den europäischen Staaten durch enge Wirtschaftskontakte zu überwinden. 1948 entstand aus diesem Anliegen heraus die Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit. Sie hatte die Aufgabe, die Wirtschaftshilfe aus den USA gesamteuropäisch zu verwalten. Später ging daraus die OECD hervor. Zu Recht gilt George C. Marshall mit seinem Werben um europäische Kooperation deshalb auch als ein Wegbereiter der europäischen Integration. Zehn Jahre nach seiner Rede unterzeichneten die Repräsentanten aus sechs europäischen Staaten die Römischen Verträge. Daran haben wir, die EU-Staats- und Regierungschefs, im März, am 60. Jahrestag, in der italienischen Hauptstadt erinnert. Die Europäische Union hat uns Jahrzehnte des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands in bislang nie gekanntem Maße gebracht. Sie ist auch in Zukunft wesentlicher Garant dafür, dass uns Frieden, Freiheit und Wohlstand erhalten bleiben. Das sollten wir nie und unter keinen Umständen vergessen. Denn das ist – wir brauchen nur an die vielen Konflikte, Kriege und Tragödien in unserer europäischen Nachbarschaft zu denken – alles andere als selbstverständlich. Lieber Henry Kissinger, Sie haben darauf hingewiesen, dass die Rede von Außenminister Marshall ein Aufbruch in eine neue Ära der amerikanischen Außenpolitik war. Die Vereinigten Staaten wollten vermeiden, dass sich die Schrecken des Kriegs in Europa jemals wiederholen. Zu hoch war auch der eigene Blutzoll während des Zweiten Weltkriegs gewesen. Daher wählten die USA Mittel und Wege wie den Plan, der in die Geschichte als Marshallplan eingehen sollte und der den europäischen Staaten und besonders Deutschland den Weg zu Frieden, Freiheit und Wohlstand ebnete. Der Wert dieser Unterstützung kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Der Marshallplan ist deshalb als Glücksfall unserer Geschichte fest in unserem nationalen Gedächtnis verankert. Als Zeichen des Danks beschloss Deutschland 25 Jahre nach der Marshall-Rede, eine unabhängige Institution ins Leben zu rufen: den German Marshall Fund of the United States. Mit dieser Festveranstaltung feiern wir auch sein Jubiläum. Lieber Herr Goldman, Sie haben den German Marshall Fund mit aus der Taufe gehoben. Ich danke Ihnen für Ihr außerordentliches Engagement damals und in den Jahrzehnten danach. Sie haben sich um die deutsch-amerikanischen Beziehungen größte Verdienste erworben. Herzlichen Dank dafür. Seit nunmehr 45 Jahren steht der German Marshall Fund im Dienste des transatlantischen Austauschs. Er bringt Menschen zusammen, er fördert Verständigung und Verständnis. Er erklärt unterschiedliche Positionen und findet Wege, die zu gemeinsamen Ergebnissen führen können. Der German Marshall Fund wirkt also wie eine Art Übersetzer sowohl in die eine als auch in die andere Richtung. Uns Deutschen vermittelt er dabei die Lebendigkeit, Diskussionsfreude und Innovationskraft, die die amerikanische Gesellschaft auszeichnen und so faszinierend machen. Umgekehrt hilft der German Marshall Fund, das Bild von uns Deutschen in den USA zu schärfen. Er unterstreicht die Bedeutung enger und vielfältiger Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern. Der German Marshall Fund hat entscheidend dazu beigetragen, dass die transatlantischen Beziehungen auf breiter, solider Basis stehen. Ich danke Ihnen allen, die Sie sich im und für den German Marshall Fund engagieren, von ganzem Herzen. Und ich wünsche Ihnen alles Gute für die weitere Arbeit. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutschen Kommunalkongress des Deutschen Städte- und Gemeindebundes am 20. Juni 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-deutschen-kommunalkongress-des-deutschen-staedte-und-gemeindebundes-am-20-juni-2017-in-berlin-424012
Tue, 20 Jun 2017 11:28:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident Schäfer, sehr geehrtes Präsidium des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, sehr geehrter Herr Landsberg, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren, das ist hier eine beeindruckende Versammlung von kommunalen Vertretern. Deshalb bin ich heute sehr gerne bei Ihnen. Der Kommunalkongress im Jahr 2013 stand unter einem ganz anderen Vorzeichen. Damals hatten wir das schreckliche Hochwasser, mit dem viele Regionen unseres Landes zu kämpfen hatten. Das erforderte unsere ganze Aufmerksamkeit. Ich musste Ihnen kurzfristig absagen. Es dürften wahrscheinlich auch einige Vertreter der kommunalen Ebene gefehlt haben, weil sie vor Ort viel dringender gebraucht wurden. Ich glaube, wir haben damals – auch in einer Vorwahlzeit – eine gute Lösung zwischen Bund und Ländern gefunden, um die verheerenden Schäden wieder gutmachen zu können. Das ist etwas, das sich auch in dieser Legislaturperiode gezeigt hat, nämlich dass Deutschland in herausfordernden Situationen doch schnell, substanziell und über Parteigrenzen hinweg handlungsfähig ist. Dazu tragen auch die kommunalen Spitzenverbände immer wieder bei. Deshalb möchte ich Ihnen dafür ein herzliches Dankeschön sagen. Wir wissen, dass Sie sich als Vertreter der Kommunen mit den Menschen vor Ort identifizieren. Sie wissen, welche Sorgen die Menschen haben, wo es gut läuft und wo es besser laufen sollte. Das ist im Grunde gelebte Heimatverbundenheit. Ich sage des Öfteren, wenn ich Sie vor Ort als Bundeskanzlerin besuche, dass ich vielleicht auch noch einmal irgendwann viele Jahre später zu Ihnen kommen werde. Sie hingegen stehen morgens auf, gehen abends ins Bett – und zwischendurch sind Sie den Bürgerinnen und Bürgern immer Rechenschaft schuldig. Sie können nicht weg, sondern Sie müssen vor Ort Verantwortung leben. Das macht auch die Stärke der kommunalen Ebene aus. Und deshalb arbeiten wir daran, dass der föderale Zusammenhalt auch in Zukunft wirklich weiter gut gelingt. Ich habe gerade meinen Kollegen Herrn Brinkhaus hier gesehen. Wahrscheinlich haben Sie auch schon über unser letztes großes Projekt gesprochen, nämlich die Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Die jetzige Regelung läuft 2019 aus; wir mussten uns also neu aufstellen. Wir haben in einem harten Ringen mit den Ländern eine gemeinsame Lösung für die Zeit ab 2020 vereinbart. Wir setzen darauf, dass auch die Kommunen in umfassendem Sinne Nutznießer dieser Regelungen werden. Wir wissen, dass die aktuelle Ausgangslage in den Gemeinden unterschiedlich, aber durchaus in manchem ermutigend ist. Die kommunalen Haushalte in ihrer Gesamtheit weisen seit Jahren Überschüsse auf. Diese fielen im letzten Jahr deutlich höher aus als erwartet – trotz der großen Aufgabe der Flüchtlingsversorgung, auf die ich später noch zu sprechen komme. Aber der Durchschnitt, wie man so schön sagt, sagt nichts darüber aus, wie es im Einzelfall aussieht. Es gibt eine Reihe finanzschwacher Kommunen, weshalb wir versucht haben, seitens des Bundes immer wieder zu helfen und zu unterstützen. Ich nenne als Beispiele den mehrfach erhöhten Anteil des Bundes an der Kostenübernahme für die Unterkunft und Heizung von Bedürftigen sowie die volle Übernahme der Kosten für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Mich bekümmert etwas – das sage ich ganz offen –, dass wir bei der Frage des Anteils an den Kosten der Unterkunft im Grunde an einem Schwellenwert angekommen sind. Dies ist das mir einzige bekannte uns zur Verfügung stehende Instrumentarium, um wirklich finanzschwachen Kommunen zu helfen, denn der Königsteiner Schlüssel bringt uns ehrlich gesagt bei dieser Frage überhaupt nicht weiter. Wir werden sicherlich darüber nachdenken müssen, wie wir in Zukunft im Bedarfsfall agieren. Wir haben bundesweit durch das Grundgesetz die Aufgabe, gleichwertige Lebensbedingungen für alle Regionen Deutschlands zu schaffen. Das können wir definitiv nicht mit dem Königsteiner Schlüssel schaffen. Und deshalb muss darüber weiter nachgedacht werden. Wir setzen uns also dafür ein, dass auch finanzschwache Kommunen handlungsfähig sind. Dem dient auch der Kommunalinvestitionsförderungsfonds des Bundes, den wir zunächst mit 3,5 Milliarden Euro aufgelegt haben und den wir jetzt noch einmal um 3,5 Milliarden Euro aufgestockt haben. Dieser ist darauf ausgerichtet, dass sich Kommunen zum Beispiel um ihre Schulen kümmern können. Wir wissen natürlich, dass alle Kommunen vom bereits jetzt erhöhten Gemeindeanteil am Umsatzsteueraufkommen profitieren. Ab 2018 soll sich die jährliche Entlastung insgesamt auf fünf Milliarden Euro belaufen. Ich bin immer noch dabei, zu hinterfragen – und habe es noch nicht voll durchdrungen –, wie sich unsere Veränderungen auf der Bundesebene in Richtung Länder zum Schluss in den Kommunen niederschlagen. Beim Umsatzsteueraufkommen sind sie natürlich direkt beteiligt. Ansonsten ist es gar nicht so einfach, herauszubekommen, ob wirklich alles bei den Kommunen ankommt, von dem wir glauben, dass es ankommen müsste. Ich will jetzt hier nichts gegen die Länder sagen; das will ich ausdrücklich betonen. Das hätte ja auch gar keinen Sinn, denn wir müssen mit den Ländern die Aufgaben gemeinsam lösen. Da aber die Länder-Kommunen-Finanzbeziehungen in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich sind, muss man eigentlich sechzehn Mal studieren, wie das alles ganz genau funktioniert. Das ist also ein weites Feld. Aber Sie dürfen davon ausgehen: Wir wissen, dass unsere Bundespolitik letztendlich nur wirksam ist, wenn vor Ort gehandelt werden kann. Zweitens wissen wir – das sage ich aus voller Überzeugung –, dass Kommunalpolitik nur stark sein kann, wenn sie nicht nur Mangel verwaltet, sondern auch gestalten kann, denn andernfalls wird auch das vielfältige Ehrenamt in Zukunft nicht mehr im bisherigen Maße zur Verfügung stehen. Die Finanzbeziehungen sind das eine Thema. Das andere ist: Wir leben in einer Zeit, in der wir alle eine Transformation durch die Digitalisierung erleben. Das wird unsere Beziehungen auch noch einmal verändern. Wir haben im Zusammenhang mit dem Bund-Länder-Finanzausgleich eine aus meiner Sicht revolutionäre Grundgesetzänderung durchgeführt. Wir haben uns mit den Ländern darauf verständigt, dass wir für die Bürgerinnen und Bürger Verwaltungsportale einrichten, damit der Umgang mit staatlichen Leistungen in Zukunft einheitlich und nicht für jede föderale Ebene unterschiedlich erfolgt. Das haben wir erst einmal mit den Ländern beschlossen. Wir wissen natürlich, dass die Vielzahl der Leistungen auf der kommunalen Ebene stattfindet. Das heißt, wir werden in der neuen Legislaturperiode mit Ihnen in einen Dialog darüber eintreten müssen, wie wir das vernünftig organisieren und gestalten. Wir sind bei der Frage des E-Government in Deutschland doch eher ein Entwicklungsland. Wir müssen jetzt verhindern, dass ein Wildwuchs an Vielfältigkeit entsteht, den die Bürgerinnen und Bürger zum Schluss nicht verstehen werden. Denn ihnen ist es im Allgemeinen relativ egal, wo auf welcher staatlichen Ebene die Verantwortlichkeit gerade angesiedelt ist. Sie wollen in Zukunft einen einfachen Zugang zu Verwaltungsdienstleistungen haben. Deshalb wollen wir mit Modellkommunen im Bereich E-Government starten. Wir haben dazu ja schon einige Ideen entwickelt und werden schauen, welche Erfahrungen wir machen und wie wir ein einheitliches gesamtstaatliches Vorgehen hinbekommen. Ich danke dafür, dass der Deutsche Städte- und Gemeindebund, der Deutsche Städtetag und der Deutsche Landkreistag an den bereits bestehenden Pilotprojekten mit dem Bund beteiligt sind. Gemeinsam mit den Modellkommunen Open-Government wollen wir zeigen, wie eine moderne Verwaltungskultur aussieht. Das ist eine gute Initiative. Lassen Sie uns mit Freude an die Aufgabe gehen und nicht zuerst sagen, was alles nicht geht, sondern wirklich schauen, wie es woanders auf der Welt auch geht, und uns zu einem modernen Land machen. Ich glaube, zum Schluss wird es uns allen Freude machen, wenn wir die Anfangsschwierigkeiten überwunden haben. Meine Damen und Herren, im Übrigen führt das auch zu der durch das Bundesverfassungsgericht verordneten Datensparsamkeit, weil der Bürger nicht überall fünf- oder zehnmal seine Daten hinterlegen muss, weil ja dann ein einheitlicher Zugang vorhanden ist. Das heißt natürlich, dass wir auch die Infrastruktur im digitalen Bereich ausbauen müssen. Hierfür haben wir in dieser Legislaturperiode doch erhebliche Förderungen angestoßen. Unser Ziel, 2018 alle Haushalte mit 50 Megabit pro Sekunde auszustatten, werden wir erreichen. Allerdings sind wir dann schon wieder an einem Punkt angelangt, an dem die Leute richtigerweise sagen, dass das überhaupt nicht mehr ausreicht. Deshalb müssen wir spätestens in den nächsten acht Jahren – eher früher – die Gigabitausrollung hinbekommen. Denn sowohl Telemedizin als auch autonomes Fahren und viele andere Dienstleistungen, vor allen Dingen auch das Internet der Dinge für den deutschen Mittelstand, werden sich nicht realisieren lassen, wenn wir nicht die entsprechende Infrastruktur haben. Ich habe von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse gesprochen, deren Herstellung uns grundgesetzlich aufgegeben ist. Wir wissen, dass das für uns sehr große Herausforderungen mit sich bringen wird, weil die Situationen in den Ballungsgebieten einerseits und in den ländlichen Räumen andererseits teils sehr unterschiedlich sind. Es gibt in einigen einen Zuwachs an Bevölkerung, weshalb dort solche Themen wie sozialer Wohnungsbau, die Verstärkung der Mittel für das Programm „Soziale Stadt“ sehr wichtig sind. Es gibt in anderen Gebieten der Bundesrepublik Deutschland große Verlustängste. Junge Menschen ziehen weg. Das Wohneigentum ist nicht mehr das wert, was es einmal wert war. Man hat Angst, dass bestimmte Dienstleistungen wie der öffentliche Personennahverkehr oder die medizinische Versorgung nicht mehr ausreichend vorhanden sein werden. Daher müssen wir unterschiedliche, differenzierte Lösungen finden. Ich bitte den Städte- und Gemeindebund, mit uns dabei sehr kreativ zu sein. Denn durch die Digitalisierung werden wir neue Möglichkeiten bekommen, um zum Beispiel den öffentlichen Personennahverkehr zu verändern. Wir wollen natürlich in die Straßeninfrastruktur investieren. Ich will auch an Ihren Fahrradaktionstag erinnern, der mir erst einmal vor Augen geführt hat, dass es ein Jubiläum gab, nämlich dass vor 200 Jahren Karl Drais mit einem Prototypen des Fahrrads zum ersten Mal durch Mannheim gefahren ist. Das habe ich erst jetzt in diesem Zusammenhang gelernt. Auf jeden Fall ist auch der Ausbau von Fahrradwegen wichtig und in der Mobilität heute ein Teil der sogenannten Smart Mobility. Die größten Veränderungen werden aber im individualisierten öffentlichen Personennahverkehr ermöglicht werden. Dazu gibt es auch hier in Berlin schon interessante Start-ups. Diesbezüglich werden wir miteinander auch darüber reden müssen, wie wir die klassischen Angebote schrittweise stärker auf die Bedürfnisse und auf die Regionen ausrichten. Durch das autonome Fahren eröffnen sich in den nächsten Jahren, wenn auch nicht sofort, bislang nie gekannte, völlig neue Möglichkeiten. Meine Damen und Herren, wir werden auf der Bundesebene vor allen Dingen dafür Sorge tragen müssen, dass das, was Sie mit den Menschen in Ihren Kommunen erleben, auch gut weitergeht oder sogar noch besser wird. Wir haben im Augenblick eine sehr gute Arbeitsmarktlage. Seit 2005 haben wir die Arbeitslosigkeit in etwa halbieren können. Wir haben jetzt unter 2,5 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Wir haben so viele Erwerbstätige wie noch nie zuvor. Allerdings war vor der Deutschen Einheit die Bundesrepublik ja kleiner. Wir wissen aber nicht bzw. haben keine Garantie dafür, dass das so weitergeht, wenn wir nicht auch auf die riesigen Veränderungen im Arbeitsbereich richtig reagieren. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns seitens der Bundesregierung darum kümmern, wirklich weiterzuarbeiten und die Wettbewerbsbedingungen weiter so zu halten, dass Deutschland ein attraktiver Arbeitsstandort, Wirtschaftsstandort, Investitionsstandort bleibt. Die Herausforderungen dabei sind vielzählig. Deshalb ist es wichtig, dass wir solide und nachhaltig wirtschaften. Wir konnten in dieser Legislaturperiode all das, was wir getan haben, ohne neue Schulden auf der Bundesebene realisieren. Das ist kein Fetischismus, was die schwarze Null anbelangt, wie uns manchmal nachgesagt wird, sondern das ist Generationengerechtigkeit. Schauen Sie sich die demografischen Herausforderungen an: Im Jahr 2030 werden wir voraussichtlich sechs Millionen weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland haben. Das heißt, wir müssen wirklich solide wirtschaften, wir dürfen keine Schulden mehr auf Kosten nachfolgender Generationen machen und wir müssen Verlässlichkeit ausstrahlen, damit der private Konsum auch weiterhin ein Motor unserer wirtschaftlichen Entwicklung sein kann. Das bedeutet also, dass wir keine Verunsicherung schaffen dürfen. Deshalb will ich hier, wenn ich auf die sozialen Sicherungssysteme schaue, ausdrücklich sagen: Wir haben eine sehr gute Situation in der Arbeitslosenversicherung. Wir werden in den nächsten Jahren vielleicht mehr in Richtung Weiterbildung tun müssen. Wir haben meiner Meinung nach noch keine sehr gute Situation beim Umgang mit Langzeitarbeitslosen; das sind zu viele. Wir haben zu viele junge Familien, in denen kein Elternteil erwerbstätig ist und in denen die Kinder eine Erwerbstätigkeit bei ihren Eltern gar nicht erleben. Gerade mit Blick auf jüngere Langzeitarbeitslose ist aus meiner Sicht die Kooperation mit den Jobcentern notwendig, um wirklich alles zu versuchen, Menschen in Arbeit zu bringen. Denn wir haben auf der einen Seite Fachkräftemangel und auf der anderen Seite eine sehr verfestigte Struktur von Langzeitarbeitslosen. Wir haben in dieser Legislaturperiode Erhebliches getan, um die Situation in der Pflegeversicherung zu verbessern. Ich weiß, dass damit die Herausforderung Pflege für die betroffenen Familien nicht bewältigt ist. Ich glaube aber schon, dass wir gerade auch durch die Einführung des neuen Pflegebegriffs und durch die besseren Leistungen sowohl in der ambulanten und häuslichen als auch in der stationären Pflege große Fortschritte gemacht haben. Es wird auch mit Blick auf die Rente darauf ankommen, weiter solide zu arbeiten. In diesem Zusammenhang will ich noch einmal darauf hinweisen, dass wir ein verabschiedetes Rentenkonzept bis 2030 haben. Die Rentenversicherung ist finanziell gut aufgestellt, der Beitragssatz kann trotz erfolgter Leistungsverbesserungen auf absehbare Zeit bei 18,7 Prozent bleiben. Deshalb sage ich, dass das deutsche Rentensystem mit dem Rentenkonzept und mit den Reformen der vergangenen Jahre bis 2030 stabil und finanziell solide aufgestellt ist. Das schafft Verlässlichkeit. Wir haben im Grunde in der Frage, wie sich das Rentenniveau entwickelt, durch die hohe Erwerbstätigkeit eine bessere Situation, als zuvor prognostiziert wurde. Ich kann uns für die nächste Legislaturperiode nur raten, alles dafür zu tun, dass die hohe Zahl an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erhalten bleibt oder sogar noch gesteigert wird. Denn dann ist auch die Rentenversicherung in vernünftigem Fahrwasser. Darauf sowie auf Zukunftsinvestitionen und Berechenbarkeit muss unsere gesamte Kraft gelenkt werden. Meine Damen und Herren, wir wissen, dass die demografische Entwicklung in den einzelnen Regionen unterschiedlich verläuft; ich habe es schon angesprochen. Wir haben deshalb versucht, ein vernünftiges Umfeld zu schaffen und dabei gerade auch ehrenamtliche Tätigkeit immer wieder zu unterstützen. Hierbei sind auch die Mehrgenerationenhäuser als ein Anlaufpunkt für ehrenamtliche Tätigkeiten zu einem festen Bestandteil geworden. Ich glaube, dass wir sehr stolz sein können auf das bürgerschaftliche Engagement, das wir erleben und das wir gerade auch im Jahr 2015 erlebt haben, als so viele Menschen als Flüchtlinge aus Gebieten, in denen Krieg und Verwüstung herrscht, zu uns kamen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle noch einmal allen kommunalen Verantwortlichen und den Ehrenamtlichen ein herzliches Dankeschön sagen. Das Engagement war alles andere als selbstverständlich. Sie haben angepackt, Sie haben nicht lamentiert, Sie haben nicht gesagt, was nicht geht, sondern haben jeden Tag alles darangesetzt, das zu tun, was geht. Danke schön dafür. In der der Tat, Herr Schäfer, haben wir in dieser Zeit eine ganz neue Form der Zusammenarbeit miteinander gefunden. Manches Gute wird ja sozusagen auch aus der Not geboren. Wir haben einen sehr beständigen, intensiven und praxisnahen Dialog, der sicherstellt, dass wir auch auf der Bundesebene wissen, wo der Schuh drückt und wo gehandelt werden muss. Daher haben Bund und Länder unter Mitwirkung der Kommunen einfach auch praktische und richtige Lösungen gefunden. Wir sind heute in einer ganz anderen Phase als 2015 und Anfang 2016; das ist ganz klar. Wir haben im Augenblick vor allen Dingen die Aufgabe, diejenigen, die eine längere Bleibeperspektive bei uns in Deutschland haben, zu integrieren. Hierfür haben wir die finanziellen Rahmenbedingungen ausgehandelt; ich weiß, dass sie 2018 auslaufen. Sie haben in Ihrer Argumentation die Bauern zu Hilfe genommen. Ich sage einmal: Wunschloses Leben wäre ja komisch. Ob alle Wünsche erfüllt werden, kann man nicht sagen. Aber zu sagen, alles sei wunderbar, weshalb wir uns in den nächsten zehn Jahren nicht mehr zu treffen bräuchten und das heute mein letzter Auftritt hier wäre, kann ja nicht das Thema sein. Das Thema muss vielmehr sein, zu schauen, wo die Notwendigkeiten sind. Denn natürlich wird die Integrationsaufgabe auch 2018 noch nicht abgeschlossen sein; das ist ganz klar. Deshalb haben wir auch weiter gemeinsam daran zu arbeiten. Wir haben auch in den Fragen des Wohnungsbaus weiterzuarbeiten, um praktikable Regelungen hinzubekommen. Auch hierbei gibt es wieder völlig unterschiedliche Situationen in Ballungsgebieten und in ländlichen Räumen. Wir haben des Weiteren bei der Aufgabe der Rückführung von Flüchtlingen noch sehr viel zu tun. Wir müssen diejenigen, die einen Aufenthaltsanspruch bei uns haben und denen wir aus humanitären Gründen helfen wollen, gut integrieren. Ich glaube aber, die Menschen erwarten von uns genauso, dass bei denjenigen, die keinen Aufenthaltsanspruch haben und deren Antrag nach rechtsstaatlichen Verfahren abgelehnt wurde, die Rückreise in die Heimat möglich gemacht wird – auch mit Starthilfen. All das soll durchaus passieren. Das gehört zum Rechtsstaat dazu. Ich bedanke mich dafür, dass Sie beim Nationalen Integrationspreis mitgemacht haben, den wir in diesem Jahr zum ersten Mal vergeben haben. Ich konnte diesen Preis dem Bürgermeister von Altena überreichen. Ich weiß nicht, ob Sie alle Altena kennen. Aber bestimmt kennen Sie es spätestens durch den Nationalen Integrationspreis. Ansonsten gucken Sie noch einmal nach, denn es ist toll, was dort in Sachen Integration gemacht wird. Das Konzept „Vom Flüchtling zum Altenaer Mitbürger“ hat uns also überzeugt. Seit vergangener Woche läuft der Wettbewerb „Zusammenleben Hand in Hand – Kommunen gestalten“. Die Bundesregierung ruft damit Städte und Gemeinden auf, sich zu bewerben und zu zeigen, wie das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft vor Ort gelingen kann. Ich bedanke mich dafür, dass Sie auch dabei unterstützend tätig sind. Meine Damen und Herren, insgesamt gibt es also ein breites Aufgabenspektrum, das uns vereint und in dem wir gemeinsam agieren – Sie vor Ort mit ganz spezifischer Kenntnis, was zu tun ist. Informationen hierüber sind für mich – ich sage das jetzt aus eigener Perspektive – unabdingbar. Ich habe meinen eigenen Wahlkreis und kenne mich im Vorpommerschen an der Ostseeküste ganz gut aus. Damit hat man aber die Situation in Deutschland weitestgehend nicht erfasst, sondern nur zu einem Teil – obwohl ich Ihnen sehr raten kann, die Region als Urlaubsgebiet zu nutzen und sich auch dort anzuschauen, was geschaffen wurde. Im Übrigen sind dort inzwischen auch Münsterländer Mittelständler, weil sie wegen des Fachkräftemangels in ihrer eigenen Region schon gar keine Mitarbeiter mehr bekommen. Auch für solche Zukunftsinvestitionen empfehle ich die Region sehr. Ich bin aber nicht hier, um für meine Heimat zu lobbyieren. Ich wollte nur sagen: Ich weiß, wie wichtig Heimatverbundenheit ist. Das leben Sie; für Ihre Heimat tragen Sie Verantwortung. Dafür ein herzliches Dankeschön – und auf weitere intensive und gute Diskussionen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Tag der Deutschen Industrie am 20. Juni 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-tag-der-deutschen-industrie-am-20-juni-2017-in-berlin-423606
Tue, 20 Jun 2017 10:33:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter, lieber Herr Kempf, meine Damen und Herren, ich freue mich, dass ich am heutigen Tag der Deutschen Industrie mit dabei sein darf. Sie haben eine sehr herausgehobene Wahl für den Tagungsort getroffen: das Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Es steht für Harmonie und Wohlklang. An diesem geschichtsträchtigen Ort lohnt es sich aber auch, dass wir uns für einen kurzen Moment fast 200 Jahre zurückversetzen – also in die Zeit, als das von Karl Friedrich Schinkel erbaute Gebäude als Königliches Schauspielhaus eröffnet wurde. Damals, 1821, lag der Wiener Kongress 1815 mit der Neuordnung Europas gerade erst ein paar Jahre zurück. Neue Länder waren entstanden und mit ihnen auch neue Grenzen. Im Zuge der Stein-Hardenberg’schen Reformen wurde der preußische Staat umfassend modernisiert. Persönliche Freiheiten wurden ausgebaut. Beispielsweise erwies sich die Aufhebung der Zunftordnung als ein wichtiger Schritt zur Liberalisierung der Wirtschaft und schließlich für die Industrialisierung. In Großbritannien veröffentlichte 1817 David Ricardo seine Theorie der komparativen Kostenvorteile. Er wollte damit zum Beispiel zeigen, dass Importzölle zum Nachteil und ein freier Handel dagegen zum Vorteil aller Handelspartner seien. 1819 wurde der Allgemeine Deutsche Handels- und Gewerbeverein gegründet. Er zielte auf die Abschaffung der Zölle innerhalb des Deutschen Bundes ab. Kurzum: Das damalige Europa befand sich in einem Zeitalter grundlegender Veränderungen, bei denen das Thema Handel auch schon eine wichtige Rolle spielte. Es folgten Jahre einer bis dahin beispiellosen wirtschaftlichen Entwicklung und internationalen Vernetzung. Heute sind grenzüberschreitende Wirtschaftsbeziehungen längst Normalität. Viele Unternehmen denken überhaupt nicht mehr allein in nationalen Räumen. Aber wir erleben auch gegenteilige Tendenzen. Plötzlich kommen wieder Denkmuster zum Vorschein, die wir eigentlich für überwunden gehalten hatten und in denen zum Beispiel um eines eigenen vermeintlichen Vorteils willen auf Abgrenzung gesetzt wird. Abschottung und Protektionismus mögen heimischen Unternehmen das Leben kurzfristig vielleicht ein wenig erleichtern, weil sie vorübergehend den internationalen Wettbewerb einfach ausblenden. Doch mittel- und langfristig werden die Innovationsfähigkeit und damit die Wettbewerbsfähigkeit leiden. Das ist meine Überzeugung; und es ist auch die der Bundesregierung. Ich freue mich, dass wir darin übereinstimmen. Das heißt also, wir müssen in der Debatte über die Globalisierung – das tun wir gerade auch während unseres G20-Vorsitzes – Überzeugungsarbeit leisten, indem wir immer wieder erläutern, warum offene Märkte vorteilhaft sind – für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Verbraucher ebenso wie für Unternehmen. Wir müssen verdeutlichen, wie wichtig es ist, dass wir Standards haben, dass wir für einen regelbasierten Welthandel arbeiten. Das ist ein sinnvolles Unterfangen sowohl mit Blick auf die ökonomische Situation als auch mit Blick auf die ökologische Vernunft sowie auf soziale Gerechtigkeit und Sicherheit. Offene Märkte, ein freier, fairer, nachhaltiger und inklusiver Handel – das ist deshalb auch ein Schwerpunktthema unserer G20-Präsidentschaft. Im Ergebnis kommt das allen zugute. Das heißt, das Thema ist zwar international angelegt, im Grunde aber im besten Sinne auch Innenpolitik für die Menschen im Lande. Wir alle sind ja überzeugt, dass Globalisierung nicht irgendein Schicksal ist, das über uns gekommen ist, sondern ein Prozess, den wir gestalten können – auf der Basis unserer Überzeugung von der Sozialen Marktwirtschaft. Wir werden alles daransetzen, eine möglichst breite Übereinkunft hierzu in Hamburg zu erreichen. Angesichts der neuen amerikanischen Administration ist das nicht einfach. Trotzdem müssen wir uns der Mühe unterziehen. Genau dafür waren und sind – dafür möchte ich danke sagen – die Ergebnisse des G20-Dialogs der Wirtschaft richtig und wichtig. Die Bundesregierung wird diese als Ansporn nehmen, sich für die Stärkung des multilateralen Handelssystems der Welthandelsorganisation einzusetzen und auch natürlich mit größerem Nachdruck darauf zu drängen, bilaterale Handelsabkommen zwischen der EU und anderen Partnern voranzubringen. Ich habe jüngst auf meiner Reise nach Argentinien und Mexiko gerade auch über solche Fragen gesprochen. Wir werden über ein EU-Mercosur-Abkommen verhandeln. Wir werden das EU-Handelsabkommen mit Mexiko erneuern und verbreitern. Wir stehen kurz vor dem Abschluss eines Handelsabkommens mit Japan. Auch bei meinem Treffen mit dem indischen Premierminister habe ich darüber gesprochen, dass wir jetzt Fahrt aufnehmen müssen, um mit Blick auf ein Abkommen voranzukommen. Wir wissen natürlich, dass internationale Regeln einzuhalten sind. Wenn das nicht der Fall ist, stellen sich auch Fragen handelspolitischer Schutzinstrumente, die wir eigentlich nicht einsetzen wollen. Aber wenn wir zum Beispiel an die Stahlindustrie denken, dann wissen wir, dass es wichtig ist, bei dem im letzten Jahr eingerichteten G20-Forum zur Frage der Überkapazitäten und des fairen Wettbewerbs im Stahlbereich voranzukommen. Wir werden darüber auch in Hamburg sprechen. Aber auch das gehört dazu: Es gibt nicht einfach einen Handel, sondern er muss regelbasiert, er muss fair sein. Das will ich ausdrücklich sagen. Meine Damen, und Herren, wir alle sind uns, denke ich, auch einig, dass es wünschenswert wäre, auch in den transatlantischen Handels- und Investitionsbeziehungen voranzukommen. Wir könnten ähnlich wie mit dem Abkommen mit Kanada Marktzugangshürden senken und gemeinsame Standards definieren, an denen auch andere auf der Welt nicht so leicht vorbeikämen. Denn ein Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika beträfe immerhin rund 30 Prozent des gesamten Welthandels. Ich werde mich also auch weiterhin dafür einsetzen, dass wir hierbei vorankommen und das Projekt nicht auf Eis legen, sondern versuchen, nächste Schritte zu gehen. Ich denke auch, wir sollten Exporte und Importe nicht jeweils isoliert betrachten. Auch bei uns in Deutschland stecken in vielen Exportprodukten auch erhebliche Vorleistungen anderer Partner insbesondere aus der Europäischen Union. Wir helfen also letztlich auch in anderen Ländern die Produktivität anzukurbeln. Wir müssen neben den Außenhandelsfragen auch die Direktinvestitionen in den Blick nehmen. Deutschland zeichnet sich zum Beispiel dadurch aus, dass unsere Direktinvestitionen in den Vereinigten Staaten von Amerika nahezu zehnmal so hoch sind wie die Direktinvestitionen amerikanischer Unternehmen in Deutschland. Davon hängen viele Arbeitsplätze in den Vereinigten Staaten von Amerika ab. Aber das ist auch ein Beitrag zum Welthandel, weil auch aus den Vereinigten Staaten von Amerika heraus natürlich exportiert wird. Dass die Vereinigten Staaten von Amerika aus dem Pariser Klimaprotokoll aussteigen, ist sehr bedauerlich. Aber ich denke, das ändert nichts an den Argumenten, die für dieses Protokoll sprechen. – Ich möchte mich auch ausdrücklich bei Ihnen, Herr Kempf, dafür bedanken, dass Sie das hier für die deutsche Industrie noch einmal deutlich gemacht haben. – Deshalb müssen wir weitermachen. Hierfür haben wir einen ehrgeizigen Pfad festgelegt. Da voranzukommen, ist jetzt erst einmal die wichtigste Aufgabe. Bei diesem Klimaabkommen handelt es sich ja nicht nur um ein ökologisches Muss, sondern es bringt uns auch unter Zugzwang, nachhaltig zu wirtschaften und bei einer wachsenden Weltbevölkerung den Verbrauch von Ressourcen und die Emissionen von Schadstoffen zu verringern. Deshalb spricht vieles dafür – gerade für ein Land, das immer wieder innovative Technologien nach vorn bringt –, Effizienztechnologien zu entwickeln, die sowohl ökonomisch als auch ökologisch sinnvoll sind. Damit bin ich beim Thema Energiewende, das die deutsche Wirtschaft natürlich mit Recht sehr stark beschäftigt. Die erneuerbaren Energien sind inzwischen zur wichtigsten Säule unserer Energieversorgung geworden. Aber das bedeutet auch, dass wir die Marktfähigkeit erneuerbarer Energien stark nach vorn bringen müssen. Das heißt, wir müssen erst einmal dafür Sorge tragen, dass der Strom, der aus erneuerbaren Energien erzeugt wird, auch wirklich dort hingelangt, wo er gebraucht wird. Deshalb hat in der nächsten Legislaturperiode der Netzausbau absolute Priorität. Wir hinken in allen Bereichen hinterher. Deshalb haben wir bei unserer letzten Novelle des EEG beschlossen, Netzausbaugebiete zu definieren. Das heißt auch, dass wir in bestimmten Gebieten weniger Kapazitäten erneuerbarer Energien neu errichten. Denn wir müssen Netzausbau und Ausbau der erneuerbaren Energien harmonisieren. Der eigentliche Paradigmenwechsel mit der letzten Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes liegt aber darin, dass wir nun Ausschreibungen vornehmen. Wir definieren die Volumina neuer Kapazitäten und schreiben sie aus. Damit bekommen wir sowohl eine Mengensteuerung als auch einen stärkeren Druck auf die Preise. Es ist sehr interessant, dass die ersten Erfahrungen bei den Ausschreibungen sowohl im Bereich der Photovoltaik als auch im Bereich der Offshore-Windparks gezeigt haben, dass wir erhebliche Kostenreduktionen bekommen – bei der Photovoltaik bisher fast 30 Prozent. Bei den Offshore-Windparks haben wir zum Teil Angebote, die sich ohne staatliche Subventionierung bzw. ohne weitere Erhöhung der EEG-Umlage realisieren lassen. Meine Damen und Herren, ich weiß, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien gerade auch für die energieintensive Industrie eine große Rolle spielt. Wir haben über die besondere Ausgleichsregelung für Industrieunternehmen und die Eigenstromregelungen sehr intensiv in Brüssel verhandelt – manchmal so intensiv, dass man sich gefragt hat, ob man seine Zeit nicht mit etwas anderem hätte verbringen können. Das lag aber nicht an Ihnen, sondern doch eher an einer sehr theoretischen Betrachtungsweise in manchen Teilen der Kommission. Egal, das Ergebnis kann sich jetzt einigermaßen sehen lassen. Wir müssen jetzt nur dafür Sorge tragen, dass das nachhaltig Bestand hat. Denn es nützt uns nichts, wenn wir eine Verlagerung der energieintensiven Industrie in andere Regionen haben, in denen sehr viel weniger ökologisch gewirtschaftet wird. Allerdings muss man auch sagen: Wir haben durchaus eine gewisse Zurückhaltung bei den Investitionen in energieintensive Unternehmen. Das müssen wir natürlich sehr sorgfältig betrachten. Bei dieser Gelegenheit will ich sagen: Es ist auch falsch, den gesamten Klimaschutz nur an der Frage festzumachen, wie es sich hierbei in der deutschen Wirtschaft verhält. Wir haben auch andere Bereiche – ich denke zum Beispiel an den Gebäudebereich oder auch an die Mobilität –, in denen wir natürlich auch handeln müssen. Gerade was den Gebäudebereich anbelangt, plädiere ich dafür, dass Bund und Länder noch einmal einen Anlauf unternehmen, um doch noch eine steuerliche Förderung der Gebäudesanierung hinzubekommen. Ein großer Teil unseres Gebäudebestandes ist vor 1980 erbaut worden. 60 Prozent davon sind nicht wärmegedämmt. Es ist eigentlich eine „low hanging fruit“, wie man sagen könnte. Für mehr Gebäudeeffizienz könnten wir noch sehr viel tun. Meine Damen und Herren, auch die Europäische Union ist natürlich gefordert, uns in diesen entscheidenden Bereichen voranzubringen. Ich will ausdrücklich sagen, dass wir den Paradigmenwechsel im Erneuerbare-Energien-Gesetz zur Ausschreibung ohne den europäischen Druck vielleicht nicht hinbekommen hätten. Es gibt also nicht nur Kritisches, sondern durchaus auch Positives. Deshalb ist es auch richtig und wichtig, einen Energiebinnenmarkt zu schaffen und die notwendigen Regelungen dafür vorzunehmen. Ein weiteres wichtiges Projekt ist natürlich der Kampf gegen illegale Migration und gegen Terrorismus. Wir wissen, dass wir unseren Nachbarkontinent Afrika in besonderer Weise im Blick haben müssen, und haben versucht, in unserer G20-Präsidentschaft einen Schwerpunkt auf die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas zu setzen. Ich bedanke mich bei all jenen in der deutschen Wirtschaft, die sich Investitionen in Afrika öffnen. Das ist kompliziert. Afrika besteht aus 55 Ländern mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Aber wir haben nun eine Agenda 2063 der Afrikanischen Union, die klar besagt, wo aus der Perspektive der Afrikaner die großen Entwicklungsprojekte liegen. Deshalb ist die Initiative „Compact with Africa“ – die Betonung liegt stark auf dem Wort „with“, also „mit“ und nicht „für“ Afrika – eine sehr gute. Wir haben die Investitionsbedingungen für die deutsche Wirtschaft noch einmal verbessert, ebenso auch die Absicherungsmöglichkeiten. Ich hoffe, dass wir gerade auch bei Investitionen in Afrika in den nächsten Jahren vorankommen. Meine Damen und Herren, die Europäische Union ist in einer komplizierten Situation. Wir freuen uns über den Ausgang der Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich und sehen darin auch eine Möglichkeit, Europa voranzubringen. Auf der anderen Seite beschwert uns die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens, aus der Europäischen Union auszutreten. Rund ein Jahr nach dem Entscheid darüber haben gestern die Austrittsverhandlungen begonnen. Wir haben oft darüber gesprochen. Ich möchte das hier nicht wiederholen. Lassen Sie uns während der Verhandlungen zusammenbleiben, lassen wir uns nicht auseinanderdividieren. Denn es geht nicht nur um den Austritt Großbritanniens, mit dem wir weiterhin befreundet bleiben und in guter Partnerschaft leben wollen, sondern es geht auch um die Zukunft der Europäischen Union. Die vier Grundfreiheiten, die uns der Binnenmarkt bringt, darf man nicht aufs Spiel setzen. Darum wird es bei den Austrittsverhandlungen gehen. Ich wünsche mir, dass sie in gutem Geist stattfinden. Wir werden in den nächsten Monaten sehen, wie sich Großbritannien in dieser Frage orientiert. Das, was Großbritannien angibt, werden wir umsetzen, aber auch so, dass die Interessen der 27 Mitgliedstaaten gewahrt bleiben. Meine Damen und Herren, die Gefahr bei den Austrittsverhandlungen mit Großbritannien besteht darin, dass wir uns nicht genug um unsere eigene Zukunft kümmern. Deshalb haben wir uns am 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge eine Zukunftsagenda für die 27 gegeben. Eigentlich müsste jeder in unserer Regierung ein Team haben, das sich mit dem Brexit beschäftigt, und ein anderes Team, das sich mit der Zukunft der Europäischen Union beschäftigt. Denn wir haben keine zwei Jahre Zeit, um zum Beispiel am digitalen Binnenmarkt oder an der Fortentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion zu arbeiten. Mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron haben wir vereinbart, an einem Fahrplan für eine Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion zu arbeiten. Ich begrüße es sehr, Herr Kempf, dass Sie nicht gesagt haben, was alles nicht geht, sondern dass Sie gesagt haben: Natürlich, es heißt Wirtschafts- und Währungsunion; aber die wirtschaftliche Kohäsion der Mitgliedstaaten der Eurozone lässt zu wünschen übrig. Das heißt, man kann sich sehr gut, wenn man so will, eine Wirtschaftsregierung vorstellen, in der stärker darüber nachgedacht wird: Was sind die „best practices“ in den Ländern? Wie kommt man voran? Wie sind Arbeitsplätze in anderen Ländern entstanden? Wer kann von wem lernen? Man kann natürlich über einen gemeinsamen Finanzminister nachdenken, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und wenn wir nicht an falscher Stelle vergemeinschaften, sondern Risiken, Entscheidungsmöglichkeiten und Haftungen immer vernünftig in einer Hand belassen. Man kann sehr wohl über ein Euro-Budget nachdenken, wenn klar ist, dass man damit auch wirklich Strukturen stärkt und sinnvolle Dinge macht. Wir sollten also nicht sagen, was nicht geht, sondern wir sollten einfach überlegen, was sinnvoll ist und geht. Die Frage, die uns die Menschen in Europa stellen, ist nämlich einzig und allein die, ob das, was wir tun, zu ihrem Wohlstand beiträgt oder nicht zu ihrem Wohlstand beiträgt. Das hängt für viele, gerade auch für junge Leute, davon ab, ob Arbeitsplätze entstehen. Neue Arbeitsplätze entstehen nur durch kluge Rahmenbedingungen, die private Investitionen in Zukunftstechnologien ermöglichen. Wenn wir uns Deutschland anschauen, dann können wir sagen: Unser Wirtschaftswachstum ist solide. Die Exporte laufen sehr gut. Der private Konsum ist längst ein wichtiger Wachstumstreiber. Darüber kann man viel Positives sagen. Man kann auch sagen, dass die Lohnerhöhungen auf Dauer sicherlich nicht immer über der Produktivitätsentwicklung liegen dürfen. Aber mit dem Konsum haben wir eben auch einen wichtigen Wachstumstreiber. Die Arbeitslosigkeit lag im Mai dieses Jahres erstmals seit 1991 wieder unter der Marke von 2,5 Millionen. Für mich ist für die nächste Legislaturperiode vor allen Dingen wichtig, sich mit der großen Zahl von Langzeitarbeitslosen zu beschäftigen. Wir geben jährlich mehr als 40 Milliarden Euro für Leistungen im sogenannten Hartz IV-System aus. Wir haben viel zu viele Alleinerziehende und Familien, in denen kein Elternteil mehr arbeitet, in denen die Kinder es nicht erleben, dass Eltern erwerbstätig sind. Und hiermit müssen wir uns ganz gezielt befassen. Die Bundesagentur für Arbeit selbst hat sich sehr effizient aufgestellt. Bei den Jobcentern müssen wir uns das aus meiner Sicht noch einmal anschauen. Wir müssen schauen, dass wir Menschen wieder in Arbeit bringen, insbesondere die unter 35-Jährigen. Auf der einen Seite haben wir einen riesigen Fachkräftebedarf, auf der anderen Seite eine hohe Zahl an Menschen, die über lange Zeit hinweg nicht am Arbeitsleben teilnehmen. Das darf uns nicht ruhen lassen. Dennoch haben wir derzeit die bislang höchste Zahl an Erwerbstätigen. Wir haben auch leistungsstarke soziale Sicherungssysteme, in denen wir vieles verändert haben, wenn ich nur an die Reform der Pflegeversicherung in dieser Legislaturperiode denke. Ein Wort zum Rentensystem: Ich bin der Meinung, unser Rentensystem kann von dieser anhaltend guten Lage auf dem Arbeitsmarkt profitieren. Das deutsche Rentensystem ist mit den Reformen der vergangenen Jahre bis 2030 stabil aufgestellt. Wir liegen wegen der hohen Erwerbstätigkeit über den erwarteten Rentenniveaus und beim Beitrag unter den schon erwarteten Beitragssteigerungen. Das heißt, es gibt aus unserer Sicht bis 2030 keine Notwendigkeit, das Rentensystem schon wieder zu verändern, sondern wir müssen die beschlossenen Dinge zur Stärkung der Säulen umsetzen. Deshalb erfolgt eine Stärkung der Betriebsrenten. Deshalb erfolgt eine neue Regelung, der zufolge private Vorsorge auch bei der Grundsicherung nicht vollständig angerechnet wird, sondern dass man einen gewissen Vorteil behält, wenn man privat vorgesorgt hat. Wir haben zwei Schritte zur Verbesserung der Erwerbsunfähigkeitsrente gemacht. Und wir müssen uns in der nächsten Legislaturperiode sicherlich noch einmal anschauen, wie wir die private Vorsorge besser standardisieren und auch transparenter machen. Aber was die gesetzliche Rente angeht, haben wir eigentlich die Reformschritte gemacht, die ich bis 2030 für notwendig erachte. Wir nehmen keine neuen Schulden auf. Das Verarbeitende Gewerbe hat in Deutschland nach wie vor einen hohen Anteil an der Wertschöpfung – 22,6 Prozent im letzten Jahr. Jetzt geht es auch darum, die deutsche Wirtschaft in der digitalen Transformation weiter wettbewerbsfähig zu halten. Wir haben hierfür mit der Digitalen Agenda seitens der Bundesregierung wichtige Leitplanken gesetzt. Wir haben auch strategische Grundentscheidungen vorangetrieben, wenn ich nur an das Instrument der Europäischen Union zur Förderung strategischer Bereiche außerhalb des klassischen Beihilferegimes denke. So konnten etwa im Bereich Mikroelektronik erhebliche Investitionen getätigt werden. Das zeigt sich zum Beispiel auch in Dresden an der Investition von Bosch, die vor dem Hintergrund des internationalen Wettbewerbs niemals im Raum Dresden realisierbar geworden wäre, wenn wir hierfür nicht auch die Möglichkeiten gezielter Förderung genutzt hätten. Ich will aber auch sehr deutlich sagen: Wir stehen in den nächsten vier Jahren vor riesigen Herausforderungen. Es gibt gute Vorbereitungen innerhalb der deutschen Wirtschaft, was die Digitalisierung ganzer Produktionsprozesse anbelangt. Ich glaube, bis hinein in den Mittelstand ist die Dringlichkeit inzwischen verstanden worden. Wo ich mir noch nicht ganz sicher bin, ist das, was der Chef von Alibaba neulich in einem deutsch-chinesischen Dialog angesprochen hat: die Kontakte zwischen Kunden und Business – C2B. Da müssen wir aufpassen, dass wir sozusagen bei der Schaffung der Plattformen den richtigen Weg gehen. Ich bitte die deutsche Wirtschaft, hierbei auch wirklich groß zu denken, weil es vielleicht eher nur Mobilitätsplattformen geben wird als Plattformen jedes einzelnen Herstellers oder jeder einzelnen Branche. Herr Kempf kennt sich in diesem Bereich aus; ich brauche Sie hier nicht in größerem Maße zu belehren. Ich sage nur: In mir ist eine gewisse Unruhe, ob wir schon da sind, wo wir hin müssen. Wenn zum Beispiel heute zu lesen ist, dass Amazon einen der größten Lebensmittelhersteller gekauft hat, dann sieht man, dass sozusagen Mergers zwischen Realwirtschaft und digitalen Anbietern in großem Tempo voranschreiten. Ich möchte halt, dass wir unsere eigenständigen Wertschöpfungsketten behalten und nicht zu einer verlängerten Werkbank werden. Und dafür müssen wir alle gemeinsam arbeiten. Dazu gehört die Schaffung eines digitalen Binnenmarkts, um die Vorteile unseres gemeinsamen Markts auch wirklich ausreizen zu können. Dazu gehört ein gutes Verhältnis zu Daten. Ich glaube, dass wir mit der Datenschutz-Grundverordnung eine gute Grundlage haben. Aber wir dürfen nicht übersehen, dass wir eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe haben. Deshalb ist auf dem Digitalgipfel in den letzten Tagen sehr intensiv darüber gesprochen worden, wie wir gerade auch für den Mittelstand die Anwendung dieser Datenschutz-Grundverordnung, die ab dem Frühjahr nächsten Jahres notwendig ist, so aufbereiten, dass daraus nicht mehr Unsicherheiten und mehr Rechtsverfahren als Klarheit entstehen. Deshalb ist es eine wichtige Aufgabe, dass wir uns vielleicht auch Musteranwendungen für bestimmte Branchen überlegen. Das könnten auch Deutschland und Frankreich zusammen machen, um damit in Europa sozusagen eine Interpretationsgewalt zu entfachen, die dann auch dort schnell Klarheit bringt, wo wir heute noch unbestimmte Rechtsbegriffe haben. Ich stimme Ihnen zu, dass es um Datensouveränität geht. Es geht auch um Datensicherheit. Die Bundesregierung hat eine neue Cyber-Sicherheitsstrategie ausgearbeitet. Es gibt, glaube ich, inzwischen auch eine gute Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsinstitutionen wie dem BSI und der deutschen Wirtschaft. Aber das Thema Cyber-Sicherheit wird in den nächsten Jahren weiter an Bedeutung gewinnen. Ich will auf einen Bereich zu sprechen kommen, in dem wir aber auch Datensparsamkeit leben können. Das betrifft die fast revolutionäre Grundgesetzänderung, die wir im Zusammenhang mit dem Bund-Länder-Finanzausgleich vorgenommen haben, damit Bund und Länder in der Frage der Schaffung von Bürgerportalen zusammenarbeiten können. Das heißt also, Bürgerinnen und Bürger können sich bezüglich der Dienstleistungen, die ihnen der Staat anbietet, dann auf ein Portal, das für sie existiert, stützen. Dann werden nicht dauernd alle relevanten Daten bei jeder Verwaltungsfrage erneut erhoben, sondern dann gibt es einen Zugriff pro Bürger. Bei der Digitalisierung der Verwaltung hinken wir aber anderen Ländern hinterher; das ist überhaupt keine Frage. Ich glaube, gerade für die innere Einstellung der Menschen dazu, was Digitalisierung bedeutet, ist das Aufholen des Staates bezüglich der digitalen Möglichkeiten dringend notwendig. Und deshalb bin ich hier sehr engagiert. Nun können Sie sagen: Das ist alles schön und recht, aber wenn nichts weitergeleitet wird, dann hilft das ganze Digitalisierungsgesetzeswerk nichts. 2018 soll es 50 Megabit pro Sekunde für jeden Haushalt geben. Das ist schön und gut; und das werden wir auch schaffen. Aber inzwischen müssen wir im Gigabitbereich denken – für das autonome Fahren, für die Telemedizin, für den Datenaustausch im Internet der Dinge. Das heißt also, wir müssen uns sputen. Wir wissen, dass wir den Breitbandausbau in den nächsten Jahren erheblich voranbringen müssen. Auf dem Digitalgipfel wurde von einem flächendeckenden Gigabit-Aufkommen in den Jahren 2023 bis 2025 gesprochen. Ich sage einmal: Da haben wir noch viel zu tun, aber es ist notwendig. Das heißt natürlich auch, dass wir den 5G-Standard schnell ausrollen müssen und dass wir das vor allen Dingen auch so tun müssen, dass nicht an jeder Landesgrenze in Europa erst einmal ein Totalausfall herrscht und von einer Echtzeit-Datenübertragung überhaupt nicht die Rede sein kann. Es wird natürlich auch in vielen Industriebereichen einen Riesenwandel geben. Ich bin heute nicht bei einem Tag der Automobilindustrie, will aber sagen, dass die Automobilindustrie sicherlich vor einer ihrer größten Revolutionen seit der Erfindung des Autos steht. Hierbei ist der Zeitfaktor halt auch sehr, sehr wichtig – mit Blick sowohl auf Antriebstechnologien und das autonome Fahren als auch auf die Frage des Carsharing. Das alles läuft zusammen. So kann man sagen, dass die nächsten Jahre auch sehr spannend werden. Beim Breitbandausbau gibt es einen interessanten Vorgang: Wir befinden uns beim Ausbau einer Daseinsvorsorge zum ersten Mal in einer Gemeinschaft von privaten Investitionen und staatlich ergänzenden Leistungen. Wir fördern in den ländlichen Regionen, wo die Wirtschaftlichkeit nicht gegeben ist, mit vier Milliarden Euro den Ausbau der Breitbandstrukturen, weil der Zugang zu Breitband so etwas wie eine Daseinsvorsorge ist. Insofern sind wir verpflichtet, hieran auch in Zukunft Hand in Hand zu arbeiten. Meine Damen und Herren, wir haben in dieser Legislaturperiode unsere Investitionen von 25 Milliarden Euro im Jahr 2014 auf mehr als 33 Milliarden Euro im Jahr 2016 gesteigert – also nicht nur im Breitbandausbau. Unser Problem ist im Augenblick, dass wir viele Gelder gar nicht verplant bekommen. Beispielsweise fehlt es sowohl beim Kita-Ausbau als auch beim Straßenausbau an Planungskapazitäten. Die Planungslängen sind natürlich sehr, sehr lang. Vom Netzausbau habe ich schon gesprochen. Das heißt also, wir müssen auch noch einmal auf europäischer Ebene überlegen, ob unsere Vorgänge nicht zu langsam vonstattengehen und ob man nicht irgendwelche Möglichkeiten der Beschleunigung findet – zumindest für bestimmte Projekte. Wir haben auch versucht, mit dem Prinzip „one in, one out“ die Rahmenbedingungen für private Investitionen zu verbessern, also bürokratische Lasten nicht ansteigen zu lassen, sondern sie durchaus abzusenken. Das funktioniert im Übrigen. Wir haben das jetzt über ein Jahr lang praktiziert. Wir haben mit jedem Gesetz, mit dem wir eine neue Berichtspflicht für die Wirtschaft eingeführt haben, auch Lasten in gleicher Höhe bei anderen Gesetzen abgeschafft. Wir haben auch beschlossen, den Schwellenwert zur sofortigen Abschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter von 410 Euro auf 800 Euro angehoben. Ich erwähne das, weil solche Dinge, wenn sie geschafft sind, schnell von der Gesprächsebene weg sind und verschwinden, weil man dann über das Nächste spricht. Aber eine Zeit lang schien das eines der drängendsten Probleme jedenfalls des Mittelstands zu sein. Es gibt jetzt auch eine breite Übereinstimmung, Forschung zumindest bei mittelständischen Unternehmen steuerlich zu fördern. Wir haben die steuerliche Verlustrechnung nach unendlichen Mühen europakonform verbessert und damit den Start-ups bessere Rahmenbedingungen gegeben. Wir werden im Bereich der Förderung von Start-ups auch noch ein weiteres KfW-Segment eröffnen. Das alles sind Beiträge bzw. Mosaiksteine, um ein gutes und vernünftiges Investitionsumfeld zu schaffen. Ja, natürlich ist hierfür die Steuerpolitik auch wichtig. Ich glaube, es ist für Sie von großer Bedeutung, dass sie berechenbar ist. Wir wollen Tarifentlastungen – jetzt spreche ich einmal als CDU-Vorsitzende; das genaue Konzept werden wir Ihnen noch vorstellen. Wir wollen ab 2020 den Solidaritätszuschlag schrittweise abschaffen; und zwar für alle. Das will ich hier auch noch einmal betonen. Wir halten eine Wiederbelebung der Vermögensteuer für das absolut falsche Signal. Auch an der Erbschaftsteuer wollen wir jetzt erst einmal nicht rühren. Das kann ich nicht empfehlen, denn es hat uns ohnehin viel Zeit und Kraft gekostet, das Verfassungsgerichtsurteil umzusetzen. Was den internationalen Steuerwettbewerb anbelangt, wäre es, glaube ich, ein sehr interessantes Projekt, doch noch einmal gemeinsam mit Frankreich zu versuchen, zumindest eine Harmonisierung der Bemessungsgrundlage hinzubekommen. Ich würde mich freuen, wenn die deutsche Wirtschaft daran konstruktiv mitarbeitet. Denn wir müssen etwas dagegensetzen, wenn es einen Steuerwettlauf nach unten gibt. Meine Damen und Herren, ich will nur noch darauf hinweisen, dass wir in den letzten zwölf Jahren seit 2005 die Ausgaben für Forschung und Entwicklung verdoppelt und den Etat der Forschungsministerin um 135 Prozent gesteigert haben, was uns als Forschungsstandort wieder sehr viel attraktiver macht, als das noch vor zehn oder zwölf Jahren der Fall war. Dies müssen wir weiterentwickeln – auch in Richtung eines 3,5-Prozent-Anteils der Forschungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt. Dazu muss ich allerdings sagen: Die Forschungsinvestitionen in mittelständischen Unternehmen in Deutschland sind zum Teil rückläufig. Aber auch die 3,5 Prozent bestünden zu zwei Dritteln aus Beiträgen der deutschen Wirtschaft und zu einem Drittel aus staatlichen Beiträgen. Das heißt, die steuerliche Forschungsförderung kann sich als ganz wichtiges Element erweisen. Meine Damen und Herren, alles in allem haben wir allen Grund, uns zu sputen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Welt ist in verschiedener Hinsicht im Umbruch. Wir wollen gemeinsam für Offenheit und für fairen Wettbewerb kämpfen. Wir wollen gemeinsam darum kämpfen, dass unsere Arbeitsmarktlage und unsere Lage des Wohlstands auch in fünf Jahren oder in zehn Jahren noch so gut wie heute sind. Das ist alles andere als naturgegeben. Und deshalb freue ich mich auf eine kritisch-konstruktive Zusammenarbeit auch in der Zukunft. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim G20-Dialogforum mit Nichtregierungsorganisationen (C20) am 19. Juni 2017 in Hamburg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-g20-dialogforum-mit-nichtregierungsorganisationen-c20-am-19-juni-2017-in-hamburg-407856
Mon, 19 Jun 2017 15:34:00 +0200
Hamburg
Liebe Vertreter der Stadt Hamburg, liebe Gastgeber, Herr Bornhorst, Herr Stolper, sehr geehrte Damen und Herren, die Sie heute die internationalen Nichtregierungsorganisationen vertreten, liebe Gäste, ich habe mich auf unser Gespräch sehr gefreut. Diese Veranstaltung der Zivilgesellschaft ist die einzige, die ich in Hamburg erlebe. Alle anderen haben in Berlin stattgefunden. Der G20-Gipfel rückt schon mit großen Schritten näher. In etwas mehr als zwei Wochen werden die Gipfelteilnehmer hier in Hamburg zusammenkommen. Ich glaube, dass wir gerade auch in schwierigen internationalen Zeiten und in einem schwierigen internationalen Umfeld wie in diesem Jahr die Chance nutzen sollten, gemeinsame Interessen zu finden und durch gemeinsames Handeln weiterzukommen. Das ist allemal besser, als seine Möglichkeiten in nationalen Alleingängen zu suchen. Das sollte der Anspruch sein, mit dem wir uns treffen, wenngleich ich schwierige Diskussionen voraussehe. Das können Sie sich sicherlich vorstellen. Für die Organisatoren, für die Sicherheitskräfte und nicht zuletzt für die Stadt und ihre Bürger wird dieses G20-Treffen eine Herausforderung sein. Das wissen wir. Deshalb will ich ausdrücklich sagen, dass ich dankbar dafür bin, dass so viele hart dafür arbeiten, dass es eine konstruktive, gute und sichere Veranstaltung wird. Ich weiß, dass die politische Agenda eines solchen Gipfels auch Kritiker hat. Das ist aus demokratischer Sicht – das will ich ausdrücklich sagen – auch gut so. Es versteht sich von selbst, dass friedliche Kritik grundgesetzlich geschützt ist. Aber ich betone: Es sollte auch friedliche Kritik sein. Dies als Vorbemerkung zu dem, was uns erwartet. – Sie dürfen klatschen; das ist nicht verboten. Das ist vielleicht auch eine Art Fächergeräusch, das an diesem warmen Tag auch gleich ein bisschen Kühlung mit sich bringt. Ich freue mich nun sehr auf das Gespräch mit Ihnen. Denn eine engagierte Zivilgesellschaft sorgt für Diskussion und ist im Ergebnis immer ein Gewinn. Das zeichnet eine lebendige demokratische Kultur aus. Sie haben in den letzten zwei Tagen einen wichtigen Beitrag dazu geleistet. Dafür möchte ich Ihnen schon jetzt, bevor Sie mir offiziell Ihre Stellungnahme übergeben, danken. Wir erleben in jüngerer Zeit in zu vielen Ländern wieder verstärkt Tendenzen, sich abzuschotten, kritischen Dialog zu erschweren, ihn gar nicht erst zuzulassen oder ihn gar zu unterdrücken. Opfer einer solchen Entwicklung sind Meinungsfreiheit und Pressefreiheit. Opfer einer solchen Entwicklung sind die kulturelle Vielfalt und letztlich die Gestaltungskraft der gesamten Zivilgesellschaft. Deshalb sage ich ganz deutlich: Wenn rechtsstaatliche Grundsätze missachtet werden, dann dürfen wir nicht darüber hinwegsehen. Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht, das in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verbrieft ist und natürlich auch zu unserem grundgesetzlichen Schutz gehört. Wir dürfen nicht ruhen, immer wieder deutlich zu machen, dass nur eine freie Zivilgesellschaft dauerhaftes Wohlergehen garantieren kann. Für diese Haltung werben wir auch während unserer G20-Präsidentschaft, die wir nun schon einige Monate innehaben. Sie sehen an unserem Gespräch hier und auch am gesamten Dialogprozess mit der Wirtschaft, mit der Wissenschaft, mit Gewerkschaften, mit Frauen, mit Jugendlichen, dass damit immer auch lebendige Diskussionen verbunden sind, aus denen wir vieles für unseren G20-Prozess übernehmen können. Natürlich läuft parallel dazu der Austausch auf der Ebene der G20-Sherpas – also der offiziellen Vertreter der Regierungen, die unsere Themen den ganzen Weg bis zum Gipfel im Auge behalten und mit Blick auf die letzte Nacht vor dem Gipfel sicherlich noch sehr anstrengende Verhandlungen vor sich haben werden. Auch die Vertreter der deutschen NGO-Dachverbände hatten bereits Gelegenheit, bei Sherpa-Treffen in der Vorbereitung ihre Akzente zu setzen. Ich darf sagen, dass der Dialogprozess insgesamt bereits für wichtige inhaltliche Impulse gesorgt hat, die wir im Kreis der Staats- und Regierungschefs aufnehmen sollten. In der G20 sind globale Wirtschaftsfragen immer das Kernthema. Im Mittelpunkt steht dabei nicht mehr, wie es früher landläufig der Fall war, einfach Wachstum, sondern es geht heute schon sehr viel stärker um nachhaltiges, inklusives Wachstum. Die Globalisierung ist ein Prozess, der für alle, die sich darauf einlassen, ein Gewinn sein kann. Das ist zumindest meine Haltung zur Globalisierung. Wir finden ja auch etliche Beispiele dafür, so in Asien, wo es gelungen ist, durch wirtschaftliche Öffnung und weltweiten Handel Armut zu verringern. So konnte auch das vormalige Millennium-Entwicklungsziel erreicht werden, das vorgesehen hatte, den Anteil der Menschen, die unter extremer Armut leiden, zu halbieren. Dieses Ziel haben wir nicht in Afrika erreicht, aber wir haben es durch die Entwicklung in Asien erreichen können. Die G20 muss also die Vorteile eines regen, grenzüberschreitenden und fairen Handels anstelle protektionistischen Vorgehens betonen. Denn wer internationale Wertschöpfungsketten behindert oder gar durchtrennt, schadet letztlich allen, die daran beteiligt sind – auch sich selbst. Wir haben bereits in der G7 die internationalen Wertschöpfungsketten unter die Lupe genommen, da sie nicht per se gut sind, sondern in allen ihren Phasen gut gemacht werden müssen. Insoweit haben wir in der G7 einiges erreicht. In der G20 ist die Arbeit daran natürlich noch sehr viel schwieriger. Das heißt also, wir erschließen uns nach unserer Überzeugung neue Perspektiven, wenn wir das multilaterale Handelssystem der Welthandelsorganisation unterstützen. Dieses multilaterale Handelssystem basiert auf gemeinsamen Regeln. Gemeinsame Regeln bedeuten, auch Standards für Arbeitnehmer- und Verbraucherschutz, für Klima- und Umweltschutz in den Blick zu nehmen und dementsprechend solche Regeln zu stärken. Das gilt für die G20-Staaten, aber auch für alle Partnerländer und für alle Standorte, wenn wir uns der Problematik der Gesamtlieferketten annehmen wollen. Ein besonderes Anliegen ist uns eine bessere Einbindung von Frauen in die Wirtschaftsprozesse und Unternehmertätigkeiten. Es geht vor allem um bessere Chancen der Teilhabe an der wirtschaftlichen Entwicklung, die dann auch die Akzeptanz gegenüber der Globalisierung erhöhen. Diese erhöhen zugleich die Akzeptanz von Foren wie der G20. Viele haben ja Sorge, dass all diese Themen dort keine Rolle spielen. Angesichts einer immer engeren weltweiten Vernetzung halte ich die Arbeit von solchen Foren für wichtiger denn je. Denn eines ist klar: Globalisierung ist kein Schicksal, dem man tatenlos zusehen muss, sondern Globalisierung ist gestaltbar. Dabei geht es darum, sich abzustimmen. Wenn wir versuchen, gemeinsame Ziele zu verfolgen, nutzt das allen. Deshalb setzt sich Deutschland dafür ein, die internationale Zusammenarbeit zu stärken. Wir haben das auch mit dem Symbol für unsere G20-Präsidentschaft deutlich gemacht. Wir haben hierfür den Kreuzknoten gewählt, der nicht nur einen Bezug zur maritimen Stadt Hamburg herstellt, sondern der sich besonders bewährt und fest hält, wenn die Zugkräfte höher werden. Es geht also darum, verschiedene Interessen zu bündeln, um Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit zu finden. Dazu gehört der Klimaschutz. Das Ziel lautet, so rasch wie möglich zu einem kohlenstoffarmen Wirtschaften überzugehen. Den Weg dorthin weisen uns das Pariser Abkommen und auch die Agenda 2030 – und ich sage: nach dem Ausstieg der USA aus dem Pariser Abkommen übrigens mehr denn je. Eine weitere große Entwicklung unserer Zeit, die sich grenzüberschreitend durchsetzt, ist die Digitalisierung. Wir sprechen darüber, wie sich die Digitalisierung auf unser Leben, auf die Wirtschaft, auf die Arbeit auswirkt, aber auch darüber, wie wir weltweit die Teilhabe am digitalen Wandel erhöhen können, wie wir für den Schutz der Privatsphäre, des geistigen Eigentums eintreten können und wie wir für Cybersicherheit sorgen können. Es gab zur Vorbereitung des Gipfeltreffens auch ein Treffen der Digitalminister. Wir stehen noch ganz am Anfang, aber ich bin fest davon überzeugt, dass auch für dieses Themenfeld globale Regeln gefunden werden müssen und dass es nicht ausreicht, wenn jedes Land für sich allein Regeln setzt. Ich denke, die Europäische Union ist mit ihrer Datenschutz-Grundverordnung einen wichtigen Schritt vorausgegangen. Wir haben ein Thema auf die Tagesordnung gesetzt, das mir auch sehr am Herzen liegt: die Frage, wie wir Gesundheitsrisiken besser vorbeugen, die unermessliches menschliches Leid auslösen und ganze Regionen wirtschaftlich zurückwerfen können. Dazu gehört es, die Gesundheitssysteme und die globale Gesundheitsarchitektur zu stärken. Dazu gehört auch, gegen Antibiotikaresistenzen vorzugehen. Wir werden uns auf dem Gipfel die Ergebnisse der ersten Gesundheitsministerkonferenz anschauen. Diese Konferenz der G20-Gesundheitsminister hat sich mit einem Reaktionssystem der Weltgemeinschaft auf entstehende Pandemien beschäftigt. Das ist eine sehr interessante Materie, bei der wir die multilateralen Organisationen, in diesem Fall die Weltgesundheitsorganisation und die Weltbank, stärken müssen. Ein großer Schwerpunkt unserer Präsidentschaft ist die Entwicklung Afrikas. Erst vor einer Woche hat dazu in Berlin die G20-Afrikakonferenz stattgefunden. Wir sehen, dass die afrikanische Bevölkerung – in vielen Teilen jedenfalls – noch nicht ausreichend an den Entwicklungen der Welt teilnimmt. Wir haben uns deshalb angeschaut: Wie können wir – nicht als Ersatz für Entwicklungshilfe, aber zusätzlich – mehr private Investitionen anreizen? Ich habe Ihr Kommuniqué gelesen. Wir kommen sicherlich in der Diskussion noch einmal darauf zu sprechen, dass Sie Befürchtungen artikuliert haben. Aber ich bin fest davon überzeugt: Wenn es heute, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Beendigung der Kolonialherrschaften, immer noch unzählige afrikanische Länder gibt, in denen die Stromversorgung der Bevölkerung nur bei 20 oder 25 Prozent liegt, dann können wir dort keine wirtschaftliche Entwicklung erwarten; dann können wir nicht erwarten, dass sich der Mittelstand dort entfalten kann. Deshalb müssen wir private Investitionen ermöglichen. Darüber nachzudenken, war uns wichtig. Daher haben wir das Thema Compact – man höre – „with“ Africa, nicht „for“ Africa, auf die Tagesordnung gesetzt. Ich bin sehr froh, dass die Afrikanische Union mit ihrem Konzept Agenda 2063 zum allerersten Mal in der Geschichte einen eigenen Entwicklungsplan aufgestellt hat, an den wir anknüpfen können und nicht paternalistisch irgendwelche Projekte vorschlagen, die Afrika selbst gar nicht wichtig sind. Insgesamt wollen wir also vom Gipfel in Hamburg das Signal aussenden, dass wir gemeinsam in der Lage sind, in globalen Dimensionen zu denken und im globalen Sinne zu handeln, damit alle etwas davon haben. Wir werden in den Bereichen Wirtschaft und Finanzmarktregulierung, den eigentlichen Kernthemen, allem entgegenarbeiten, das auf eine Veränderung im Sinne der Schwächung der Finanzmarktregulierung hinweist. Wir haben bezüglich der Regulierung der Schattenbanken noch einen ehrgeizigen Fahrplan abzuarbeiten. Das ist ein sehr wichtiges Thema. Auch darauf werden wir achten. Die Botschaft lautet kurzgefasst also: Die G20 übernimmt erstens Verantwortung für das Leben heute – in Partnerschaft mit Afrika, in der Bekämpfung von Fluchtursachen, im Kampf gegen Terrorismus und Korruption und im unablässigen Bemühen um Ernährungssicherung und Entwicklung. Die G20 übernimmt zweitens auch Verantwortung für die Welt von morgen und übermorgen – durch Klimaschutz, durch die Umsetzung der so wichtigen Agenda 2030, durch die Gestaltung der Digitalisierung und die Stärkung der globalen Gesundheit. Das sagt sich so leicht; das ist aber nicht ganz so einfach. Es gibt viele Widerstände, es gibt große Erwartungen. Oft läuft die Entwicklung in kleinsten Schritten. Manchmal müssen auch einige vorausgehen. Deshalb bin ich sehr dankbar dafür, dass wir eine starke Zivilgesellschaft hinter uns haben – manchmal auch konstruktiv gegen uns, damit wir nachdenken müssen. Aber ich glaube, mit Blick auf die großen Ziele sind wir uns doch einig in der Überzeugung, dass sich Globalisierung menschlich gestalten lässt und sie nicht zu mehr Ungerechtigkeit und Ungleichheit führen darf. Das wollte ich Ihnen zum Einstieg sagen. Nun freue ich mich auf die Diskussion, in der Sie mich auf Herz und Nieren prüfen können, wie ernst uns das ist. Herzlichen Dank.
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters zur Verleihung des Freedom of Speech Awards
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-verleihung-des-freedom-of-speech-awards-452624
Mon, 19 Jun 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Bonn
Kulturstaatsministerin
Wer den Film und das Theater liebt, schätzt außergewöhnliche Auftritte, bizarre Szenen und bemerkenswerte Inszenierungen. Wer allerdings glaubte, all das gäbe es nur auf der Kinoleinwand oder im Scheinwerferlicht einer Bühne, keinesfalls aber in den Amtsstuben einer altehrwürdigen Demokratie, sieht sich mittlerweile leider eines Besseren lehrt. Schauspieler haben, was die Präsentation „alternativer Fakten“ betrifft, mächtige Konkurrenz bekommen. Und Journalisten, verunglimpft als „Feinde des Volkes“, sehen sich mit einer Kriegserklärung konfrontiert. Umso mehr sollten wir zu schätzen wissen, was guten Journalismus auszeichnet, und deshalb bin ich froh und dankbar, lieber Herr Limbourg, dass die Deutsche Welle dem Qualitätsjournalismus nicht nur eine Heimat, sondern mit dem Global Media Forum und der Verleihung des Freedom of Speech Award auch eine Bühne bietet: eine Bühne für die unerschrockene Hartnäckigkeit, mit der Journalistinnen und Journalisten hinter die Fassaden schauen, den Fakten auf den Grund gehen, unbequeme Fragen stellen und unterbelichtete Winkel ausleuchten eine Bühne auch für das hohe journalistische Ethos, das hinter sorgfältigen Recherchen, ausgewogenen Analysen und kritischer Kontrolle steht – und das die Macht der Worte und Bilder statt in den Dienst von Auflage und Reichweite in den Dienst der freien Meinungsbildung und der demokratischen Verständigung stellt. Auf dieser Bühne spielt in diesem Jahr die White House Correspondents‘ Association eine Hauptrolle: Die Auszeichnung mit dem Freedom of Speech Award, verehrter Herr Mason, ist nicht nur eine hochverdiente Anerkennung für Journalistinnen und Journalisten, die das journalistische Ethos auch unter schwierigen Bedingungen hochhalten und sich dabei weder einschüchtern noch korrumpieren lassen. Sie ist auch Ausdruck der festen Überzeugung, dass eine Demokratie gegen autoritäre und totalitäre Anwandlungen gewappnet ist, solange die „Suchmaschine für die Wahrheit“ – wie Anthony Lewis, einst Kolumnist bei der New York Times, die Meinungsfreiheit einmal bezeichnet hat – nur zuverlässig funktioniert. Diese Überzeugung teilen ganz offensichtlich auch die Feinde der Presse- und Meinungsfreiheit. Dass politisch unerwünschte Meinungen in vielen Ländern unterdrückt werden, dass Journalisten in ihrer Arbeit behindert, verfolgt, verhaftet, gar ermordet werden, dass Politiker sich mit ideologischen Kampfbegriffen wie „Lügenpresse“ munitionieren um Misstrauen zu schüren gegen unabhängige Berichterstattung … – all das ist ja ebenso entlarvend wie Besorgnis erregend. Es ist das Eingeständnis, dass journalistische Vielfalt stärker ist als populistische Einfalt – und die Kraft klarer und wahrer Worte stärker als autoritäre Macht. Gerade dieses Eingeständnis sollte für Demokraten überall auf der Welt Ansporn sein, sich im Sinne Voltaires, des geistigen Führers der europäischen Aufklärung, für unabhängige Journalistinnen und Journalisten stark zu machen: Wir mögen verdammen, was sie schreiben, aber wir werden alles dafür tun, dass sie es schreiben dürfen. Die Freiheit des Wortes zu verteidigen scheint freilich wie ein Kampf gegen Windmühlen, wo Zensur, Drohungen und Waffengewalt kritische Stimmen zum Verstummen bringen und wo Gefängnismauern der Gedankenfreiheit Grenzen setzen. Doch Journalistinnen und Journalisten, die viel für ihre Arbeit riskieren, verdienen jede nur mögliche Form der Unterstützung – zumal das Bekenntnis zur Presse- und Meinungsfreiheit an Glaubwürdigkeit verliert, wenn wir nicht bereit sind, für diese Werte einzustehen. Deshalb dürfen wir nicht stumm und tatenlos zusehen, wenn enge Partner in und außerhalb der Europäischen Union reihenweise Journalisten, Künstler und Oppositionelle verhaften und mit Einschränkungen der Pressefreiheit die Totenglocke für die Demokratie läuten. Und deshalb setzt sich die deutsche Bundesregierung auf allen diplomatischen Ebenen auch für die Freilassung Ihres Kollegen Deniz Yüzel und anderer inhaftierter Journalisten ein, meine Damen und Herren. Eine überzeugende Botschafterin des freien Wortes ist auch die Deutsche Welle. Gerade in Krisenregionen und autoritär regierten Staaten sind europäische Auslandssender für viele Menschen die Verbindung in die freie Welt – vor allem für jene, die sich Veränderungen wünschen, so wie ein chinesischer Netzbürger, der seiner Sehnsucht nach Meinungsfreiheit in folgendem – vermutlich zügig zensierten – Stoßseufzer Ausdruck verlieh: „Ach, wenn doch die Zensoren von Filmen, Zeitungen und Büchern für die Lebensmittelsicherheit zuständig würden und die Verantwortlichen für die Lebensmittelsicherheit für die Zensur von Filmen, Zeitungen und Büchern. Dann hätten wir sowohl Lebensmittelsicherheit als auch Meinungsfreiheit.“ Die offenbar recht laxen Regelungen des chinesischen Lebensmittelrechts gegen die strengen Auflagen der chinesische Medienzensur zu tauschen, steht natürlich nicht in Ihrer Macht, lieber Herr Limbourg, liebe Journalistinnen und Journalisten. Doch als Leuchtturm der Freiheit sorgt die Deutsche Welle in autoritär regierten Staaten dafür, dass die Sehnsucht nach der Freiheit des Wortes an den eisernen Festungen der Zensur und der Unterdrückung nagt. Mit objektiven Informationen vermitteln Sie die Überzeugung, dass es sich für demokratische Freiheiten zu kämpfen lohnt. Auch deshalb haben wir den Bundeszuschuss für die Deutsche Welle substanziell erhöht. Die Freiheit des Wortes sollten Journalistinnen und Journalisten aber auch dafür nutzen, die eigene Arbeit immer wieder kritisch zu reflektieren: Was heißt es für eine Demokratie, wenn Journalisten im Hinterkopf haben, dass ihre Texte möglichst hohe Zugriffszahlen generieren müssen? Was bedeutet es für die Glaubwürdigkeit der Medien, wenn Erregungsjournalismus heute Hysterie verbreitet und morgen in Schweigen verebbt? Wollen wir die Verbreitung von Informationen und die Meinungsbildung in unserer Demokratie der Marktlogik der Klick-Ökonomie überlassen? Wie fördert man die Bereitschaft von Leserinnen und Leser, für Qualität zu bezahlen – und damit die Unabhängigkeit von großen Konzernen und Finanzinvestoren zu sichern? Diese Fragen, mit denen die Digitalisierung uns konfrontiert, erfordern politische Antworten, nicht nur technologische und ökonomische – und mit politischen Antworten meine ich nicht „Antworten von Politikern“, sondern politische Entscheidungen auf der Grundlage öffentlicher Debatten. Auch dafür brauchen wir unabhängige Medien als Orte gesellschaftlicher Reflexion und Verständigung, als Instanzen der Vermittlung zwischen unterschiedlichen Standpunkten. Das Global Media Forum setzt auch in diesem Sinne Impulse für die Auseinandersetzung mit der Zukunft des Journalismus und der Meinungsfreiheit im digitalen Zeitalter. Ich danke Ihnen, verehrte Damen und Herren, dass Sie sich dafür die Zeit nehmen, und ich wünsche Ihnen erkenntnisreiche und inspirierende Diskussionen, die Sie in der Überzeugung bestärken, dass die Suche nach der Wahrheit alle Anstrengung wert ist – und dass nur die Vielfalt der Meinungen und Perspektiven der Wahrheit zur Geltung verhilft.
Bei der Verleihung des Freedoom of Speech Awards der Deutschen Welle an die White House Correspondents’ Association“ hat Kulturstaatsministerin Monika Grütters den Wert der Meinung- und Pressefreiheit unterstrichen und die Deutsche Welle als überzeugende Botschafterin des freien Wortes gewürdigt. Die Auszeichnung sei „Ausdruck der festen Überzeugung, dass eine Demokratie gegen autoritäre und totalitäre Anwandlungen gewappnet“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutschen Verbrauchertag am 19. Juni 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-deutschen-verbrauchertag-am-19-juni-2017-in-berlin-423856
Mon, 19 Jun 2017 10:11:00 +0200
Berlin
Justiz und Verbraucherschutz
Meine Damen und Herren, sehr geehrte Frau von der Lühe, sehr geehrter Herr Müller, man kann die Genesis des vzbv gut nachvollziehen, wenngleich Sie sich vielleicht eines Tages einen noch geschmeidigeren Namen geben. Aber es war ja ein Schritt der Verbraucherzentralen und der Verbraucherverbände – ich gucke einmal den einen der beiden Parlamentarischen Staatssekretäre an und begrüße beide sowie die Kollegen aus den Parlamenten –, sich sozusagen erst einmal zu einer Kraft zu vereinen. Deshalb gratuliere ich dazu erst einmal. Und den Rest machen Sie dann irgendwann; das lege ich in Ihre Hand. Sie sind heute zu Ihrem Verbrauchertag in die Bolle-Säle gegangen. Das ist ein prima Ort – nicht nur, weil die klimatischen Verhältnisse hier für einen ganzen Tag Verbraucherschutz sehr erträglich sind, sondern weil Carl Bolle, auf dessen Namen der Saal hier sozusagen getauft wurde, im 19. Jahrhundert mit Frische und Qualität punktete. Seine Milchprodukte, die er hier vor Ort herstellte, vertrieb er mit eigenen Wagen, die quer durch Berlin fuhren. Sie gingen als Bolle-Wagen in die Geschichte ein, denn das Konzept überzeugte die Verbraucherinnen und Verbraucher. Diese verfügten damals aber noch nicht über so viele Informationen und waren bei ihren Kaufentscheidungen noch mehr auf sich gestellt als die Bürgerinnen und Bürger heute. Ob die Milchprodukte damals den Kriterien genügten, die wir heute an Milchprodukte anlegen, weiß ich nicht. Jedenfalls war Bolle eine Innovation. Zum Glück hat sich die Souveränität des Verbrauchers inzwischen deutlich verbessert. Sie machen hier deutlich: Verbraucher zählen. Das ist ein sehr schönes Motto. Sie zählen auf der einen Seite als wichtige Kunden und als Bürgerinnen und Bürger eines Landes, aber sie zählen eben auch mit und gucken und sind aufmerksam. Und was wir alle hoffen, das ist, dass alle die, die zählen, auch wählen. Denn an einer hohen Wahlbeteiligung ist uns in der Demokratie immer gelegen. Zu souveränen Bürgerentscheidungen gehört eben auch ein guter Verbraucherschutz. Die Tatsache, dass wir bei den Ressorts eine Veränderung vorgenommen haben, deutet auch darauf hin, dass Verbraucherschutz nicht mehr, wie zu Zeiten Bolles, nur eine Domäne des Landwirtschaftsministeriums sein kann. Dem heutigen Landwirtschaftsminister ist das nicht leicht gefallen. Das will ich nicht nur zu seiner Ehrenrettung sagen, sondern ich will auch anmerken, dass das aus seiner Überzeugung heraus ein schwieriger Schritt war. Die Verlagerung zum Justizminister hat natürlich deutlich gemacht, dass Verbraucherschutz heute viel breiter angelegt ist, als sich allein um Lebensmittelfragen und Fragen der gesunden Ernährung zu kümmern, wenngleich dies für viele Menschen nach wie vor ein ganz überragendes Thema ist. Ich möchte gleich zu Beginn einfach auch danke sagen – ich danke Frau von der Lühe und Herrn Müller und den vielen Mitstreitern in den Verbraucherzentralen und Verbraucherverbänden. Denn dass sie eine unglaublich wichtige Arbeit für die Menschen in unserem Lande leisten, ist unbestritten. Deshalb ist so ein Tag auch dafür da, danke für Ihre Arbeit zu sagen. Seien Sie ruhig an mancher Stelle auch ein bisschen widerborstig – das gehört dazu –, sonst werden wir in der Politik gar nicht ausreichend aufmerksam. Wir haben verbraucherpolitische Themen, die so vielfältig sind wie das Leben selbst. Sie haben hier drei Beispiele angeführt. Aber das Spektrum reicht von der Altersvorsorge über Digitalisierung und Energieversorgung bis zur Finanzanlage und zu Fragen rund ums Bauen und Wohnen und natürlich zur Ernährung. Natürlich wissen wir, dass jeder sichere und gute Lebensmittel haben und jeder gut leben will. Deshalb haben wir auch das neue Bundeszentrum für Ernährung geschaffen. Damit haben wir eine neue Anlaufstelle, um kompetente, neutrale und wissenschaftlich fundierte Informationen zu all den Fragen, die sich rund ums Essen und Trinken ranken, zu geben. Für uns ist es zunehmend wichtig, dass Waren auch nachhaltig produziert werden. Das heißt, Umwelt- und Sozialstandards spielen eine zunehmend wichtige Rolle und interessanterweise auch in der öffentlichen Diskussion über Handelsabkommen – also nicht nur bei uns im Lande –, die wir mit anderen schließen. Da haben wir ein sehr interessantes erstes Beispiel: das Freihandelsabkommen mit Kanada, in dem ungleich mehr als früher soziale Standards, Verbraucherstandards und ökologische Standards Berücksichtigung finden und in dem auch moderne Formen der Streitschlichtung verankert sind. Wir haben erlebt, dass die klassischen Freihandelsexperten natürlich ein bisschen sorgenvoll sind, wenn plötzlich alle mitsprechen und sagen: Ja, aber wir wollen uns auch einmischen. Meine Bitte an Sie ist nur – weil Sie jetzt ein Entree haben und auch bei Freihandelsabkommen mitreden –: Seien Sie nicht sozusagen fundamentalkritisch. Das gibt es ja auch in der Gesellschaft. Herr Müller sagt gerade, bei ihm ist das nicht der Fall; da bin ich ja zufrieden. Denn solche Handelsabkommen sind ungleich gerechter als Handelsabkommen, die nur Zollfragen betreffen. Das waren die Handelsabkommen alter Art. Aber gerade mit Ländern, die auch unsere Wertevorstellungen weitestgehend teilen – und das ist bei Kanada der Fall –, haben wir natürlich viel mehr Möglichkeiten, auch international Standards zu definieren, die dann bei vielen anderen bilateralen Handelsabkommen, die rund um die Welt geschlossen werden, Schule machen könnten. Einen zweiten Bereich möchte ich auch ganz offen ansprechen. Gerade auch im Umgang mit Afrika, mit unserem Nachbarkontinent, ist die Frage fairen Handels und fairer Handelsabkommen nach wie vor ein nicht ausreichend gelöstes Problem. Wir werden im Herbst einen EU-Afrika-Gipfel haben, auf dem die Zukunft der Handelsabkommen mit den Ländern Afrikas eine Rolle spielen wird. Wir haben zwar relativ gute Regelungen für die ärmsten Länder – das ist okay –, aber sobald ein afrikanisches Land in den mittleren Bereich aufrückt, das heißt, sich positiv entwickelt, sind die Handelsabkommen nicht so gerecht, wie sie sein sollten. Wir werden das Cotonou-Abkommen demnächst neu verhandeln müssen. Da müssen unsere neuen Erkenntnisse einfließen. Da muss Europa im Sinne der Tatsache, dass man auch Afrika eine gute Entwicklung gönnt, manchen Kompromissschritt gehen. Wir haben als Industrieländer eine besondere Verantwortung für nachhaltige Produkte, Produktionsbedingungen, Ressourcenverbrauch und globale Handelsketten – ein Thema, das wir beim G20-Treffen genauso auf die Tagesordnung gesetzt haben wie beim G7-Treffen, als Deutschland auch Gastgeber war. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr auch das Nationale Programm für nachhaltigen Konsum erarbeitet. Daran hat sich auch Ihr Bundesverband intensiv beteiligt. Und dafür möchte ich herzlich danken. Natürlich spielt das Thema auch in unserer Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie eine herausgehobene Rolle. Sie wissen, dass wir für die Umsetzung der Agenda 2030 alle Länder in die Pflicht genommen haben, jeweils Nachhaltigkeitsstrategien aufzulegen. Bei den Millenniumszielen waren es nur die Entwicklungsländer, die bestimmte Ziele erreichen sollten; wir haben das mit unserer Entwicklungshilfe unterstützt. Jetzt sind alle Länder auf die gleiche Ebene gesetzt. Ich finde das sehr schön, weil es zeigt, wo wir stehen, und weil auch wir als Industrieländer in die Pflicht genommen werden, zu berichten. Dabei spielt das Thema nachhaltiger Konsum eben auch eine zentrale Rolle. Und deshalb ist das Nationale Programm für nachhaltigen Konsum so wichtig. Ein zweiter großer Pfeiler ist der Umstieg auf erneuerbare Energien. Die Energiewende wird von der Mehrheit der Bevölkerung befürwortet; daran gibt es keinen Zweifel. Die erneuerbaren Energien sind inzwischen die zentrale Säule unserer Stromversorgung geworden. Der Verbraucher möchte auf der einen Seite eine umweltfreundliche, nachhaltige, auf der anderen Seite aber auch eine kostengünstige Energieversorgung. Die deutsche Wirtschaft möchte das auch, denn wir müssen ja wettbewerbsfähig bleiben. Das heißt, Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit bzw. Bezahlbarkeit sind die Zielpunkte. An diesem Zieldreieck dieses Riesenprojekts der Energiewende zerrt es natürlich hin und wieder sehr stark. Wir haben in dieser Legislaturperiode mit der Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes wesentliche Schritte unternommen. Die zweite Novelle ist sozusagen zum ersten Mal ein Paradigmenwechsel, denn wir müssen jetzt darauf achten, dass die erneuerbaren Energien Schritt für Schritt Marktfähigkeit erlangen. Es darf keine Subventionierungsmaßnahme auf Dauer sein. Die EEG-Umlage ist erheblich gestiegen. Sie wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern getragen, auch positiv gesehen; und trotzdem sagt man uns: Passt auf – ihr müsst eine Kohärenz von Leitungsausbau und Ausbau der erneuerbaren Energien haben und euch darum bemühen, dass es vernünftige Preise beim Ausbau der erneuerbaren Energien gibt. Wir haben mit dem Ausschreibungsmodell bereits erste Erfahrungen gesammelt. Manches, was befürchtet worden war, ist nicht eingetreten. Wir haben schon bei der Photovoltaik gesehen, dass durchaus Preisreduktionen erfolgten. Einer der Vorwürfe lautete ja: Wenn ihr Ausschreibungen macht, dann werdet ihr sehen, dass die Bürgerparks zum Beispiel bei der Windenergie hinten runterfallen. Das stimmt nicht, sie haben jetzt Zuschläge bekommen; und trotzdem haben wir Preisreduktionen. Es lohnt sich also, diesen Weg zu gehen, wobei wir natürlich immer aufpassen müssen, dass wir die Ausschreibungsbedingungen so definieren, dass sich möglichst alle daran beteiligen können. Wir haben des Weiteren das große Thema Energieeffizienz. Hierbei möchte ich darauf hinweisen, dass wir manches noch nicht so geschafft haben, wie ich es mir vorgestellt hatte. Wir haben in Deutschland schon so viele Steuermaßnahmen ergriffen, aber die steuerliche Förderung der Gebäudesanierung – ich werde dafür sorgen, dass meine Partei sie ins Programm schreibt – hat noch nicht gegriffen. Ich habe ehrlich gesagt überhaupt noch nie in der Bundesrepublik Deutschland erlebt, dass wir mit einem sich so offensichtlich rechnenden Steuerprogramm solche Schwierigkeiten haben. Ich habe auch noch nicht erlebt, dass Handwerks-, Wirtschafts-, Umwelt- sowie Verbraucherschutzverbände dafür sind und wir trotzdem noch keine Einigung mit den Bundesländern erzielt haben. Aber wir versuchen es noch einmal; ich verspreche es Ihnen. Stattdessen haben wir Kfw-Programme, die auch sehr, sehr wichtig und hilfreich sind, was die Gebäudesanierung anbelangt. Aber wenn man sich überlegt, dass der große Teil unserer Wohnungen vor der ersten Wärmeschutzverordnung 1977 gebaut worden ist und dementsprechend nicht hinreichend saniert ist, dann muss man ganz einfach sagen, dass das nach wie vor ein schlafender Riese ist, den wir wecken müssen, um Energieeffizienz deutlicher und schneller erhöhen zu können. Wir versuchen, die Digitalisierung mit der Energiewende zusammenzubringen. Das Stichwort Smart Home erscheint manch einem noch ein bisschen in die Zukunft weisend, aber ich möchte Sie an dieser Stelle ermuntern, sich den neuen Möglichkeiten zu öffnen. Das geht jetzt doch im Galopp. Ob man nun den eigenen Energieverbrauch besser regulieren kann, ob man sich besser vor Wohnungseinbruch schützen kann, ob pflegebedürftige Menschen viel länger eigenständig bleiben können – all das werden Möglichkeiten sein, die sich durch die Digitalisierung eröffnen. Da werden die Verbraucherzentralen auch wieder ein riesiges Aufgabenfeld sowohl bei der Produktbewertung als auch bei der Kundenunterrichtung bekommen, denn für manchen ist das noch ein Buch mit vielen Siegeln. Ich will ganz ehrlich zugeben: Auch ich bin noch nicht da angelangt, dass mir der Kühlschrank automatisch auf das Smartphone schreibt, welchen Füllstand er erreicht hat. Aber das kommt; und es wird eine junge Generation geben, die in diese Zeit hineinwächst und das dann ganz selbstverständlich nutzen wird, auch wenn meiner Altersklasse das heute als etwas Fernes erscheint. Das Gleiche wird mit dem smarten Auto passieren. Das autonome Fahren wird schneller kommen, als wir dachten. Wenn man sich vor Augen führt, dass sich in Ballungszentren 30 Prozent des Verkehrs nur um das Parken ranken, dann ist die Möglichkeit, mit Carsharing, autonomem Fahren und neuen Antriebstechnologien drei Quantensprünge in einem zu vereinen, ein Riesenschritt. Als wir uns 2013 getroffen haben, habe ich noch gedacht, das dauert bestimmt noch 15 Jahre. Wenn man die Dinge heute verfolgt, ahnt man, dass das sehr viel schneller gehen wird. Wir haben auf der A9 bereits ein Testfeld. Wir haben die Straßenverkehrsordnung in Deutschland geändert. Wir haben jetzt international definiert, dass ein Auto nicht mehr ein Konstrukt ist, bei dem ein Mensch hinter einem Steuerrad sitzen muss. Das ist jetzt neu definiert, sodass auch autonomes Fahren möglich ist. Manch einem wird das noch unwahrscheinlich erscheinen, aber man wird Freizeit gewinnen, weil man Zeitung lesen kann, während man durch Berlin schaukelt. Und das Ganze – ich will Sie jetzt nicht erregen – ist auch noch sicherer, als wenn Sie selber am Steuer sitzen. Deshalb werden sich auch für die Versicherungen interessante Fragestellungen ergeben, denn in zwei Jahrzehnten wird der Mensch als Autofahrer vermutlich als ziemlich hohes Versicherungsrisiko eingestuft werden, während man für das autonome Fahren bessere Versicherungsprämien bekommt. Das heißt also, schon aus Kostengründen können Sie dann auf das eigene Fahrzeuglenken verzichten. Aber es ist sicher noch vieles rechtlich zu lösen. Wir erwarten, dass sich auch die Verbraucherverbände da munter einmischen. Nun ist es in diesem Zusammenhang natürlich ganz besonders wichtig, dass die Politik einen Schwerpunkt auf Bildung legt, um all diese neuen Entwicklungen an die Menschen zu bringen. Das ist auch eine Frage der Lehrerausbildung. Und das ist auch eine Frage der digitalen Infrastruktur, an die nicht nur Wohnungen und Gewerbegebiete, sondern auch Schulen angeschlossen werden. Für den Breitbandausbau haben wir uns das Ziel gesetzt, bis 2018 jeden Haushalt mit 50 Megabit pro Sekunde zu versorgen. Das werden wir auch schaffen; aber wir schaffen es zu einem Zeitpunkt, an dem die allermeisten bereits sagen: Das reicht uns nicht; wir haben jetzt das Gigabit-Zeitalter. Deshalb haben wir auf dem letzten Digitalgipfel in Ludwigshafen darüber diskutiert, dass wir bis 2023/25 die Infrastruktur im Gigabitbereich schaffen müssen. Das wird etwa für alle Möglichkeiten der Telemedizin sehr wichtig sein, ebenso wie für das autonome Fahren. Da reicht es nicht, nur die Wohnung zu berücksichtigen, sondern es müssen auch entlang der Straßen vernünftige Bandbreiten verfügbar sein. Wir müssen die Digitalisierung im europäischen Kontext meistern. Die Entwicklung des digitalen Binnenmarktes ist von allergrößter Bedeutung. Hier haben wir auch schon etliche Erfolge zu verzeichnen. Ich glaube, das Ende der Roaming-Gebühren in der Europäischen Union wird auch von den Verbraucherverbänden gutgeheißen. – Sehr verhaltener Beifall. Aber spätestens beim Italienurlaub, oder wo auch immer Sie Urlaub machen, werden Sie noch einmal daran denken. Und auch die Möglichkeit, Onlineabonnements grenzüberschreitend zu nutzen, ist ein Fortschritt. Wir haben aber noch sehr, sehr viel, insbesondere im urheberrechtlichen Bereich, zu tun. Da sind wir im Augenblick in der Gesetzgebung sehr verhakt zwischen den Befürwortern der digitalen Welt und denen, die sich um den Inhalt des Urheberrechts kümmern. Und leider stehen wir im Bundestag wieder in einer Situation, in der nicht ganz klar ist, ob wir in dieser Legislaturperiode noch handlungsfähig sein werden. In Europa ist es nicht ganz anders. Und keine Regelung – wir hatten schon in der letzten Legislaturperiode im Urheberrecht nichts hinbekommen – über acht Jahre zu haben, ist nicht gut und richtig, weil dies sozusagen dem Wildwuchs ein bisschen das Feld öffnet. Deshalb müssen die Digitalfreaks und die berechtigten Anliegen der Content-Befürworter und derer, die sich um den Inhalt kümmern, besser zusammenkommen. Ich hoffe, dass wir das in den nächsten vierzehn Tagen noch schaffen – aber Herr Kelber guckt ungefähr so unsicher wie ich. Und jeder hat ja gute Argumente. Aber ich glaube, wir sind uns alle einig, dass wir den Schutz geistigen Eigentums und geistige Kreativität auch im Internet um des billigen Angebots willen nicht völlig unter den Tisch fallen lassen dürfen. Das will ich auch noch einmal hervorheben. Wir brauchen jetzt die Ausrollung von 5G – das ist die neue Breitbandmöglichkeit mit geringen Latenzzeiten –, damit wir dann auch mit einer Datenübertragung in Echtzeit zum Beispiel telemedizinische Angebote nutzen können oder autonomes Fahren ermöglichen. Das wird uns wahrscheinlich wieder neue Diskussionen über die Netzneutralität bringen. Aber die haben wir ja schon einmal ganz gut bewältigt; dann werden wir das auch das nächste Mal gut hinbekommen. Wir müssen uns natürlich auch mit der Frage der Datensicherheit beschäftigen – ein zentrales Thema im Verbraucherschutz. Hierbei ist der Europäischen Union mit der Datenschutz-Grundverordnung ein Meilenstein in der Rechtsetzung gelungen. Sie wird nächstes Frühjahr in Kraft treten. Deutschland hat sie bereits in nationales Recht umgesetzt; damit sind wir in Europa Vorreiter. Aber die Verordnung enthält eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe. Um diese unbestimmten Rechtsbegriffe wird jetzt sozusagen die Schlacht ausbrechen. Und wir müssen auf eines aufpassen: Auf dem Digitalgipfel war schon spürbar, dass insbesondere die mittelständischen Firmen, wenn sie nächstes Jahr die Datenschutz-Grundverordnung anwenden müssen, möglichst viel Klarheit brauchen. Ich habe den Vorschlag unterbreitet, dass wir vielleicht auf bestimmte Branchen bezogen Musterentwürfe der Nutzung erstellen, eventuell sogar mit Frankreich zusammen, sodass wir in Europa zumindest vorzeichnen können, wie wir uns das insgesamt vorstellen, damit wir nicht jedes einzelne mittelständische Unternehmen in eine schwierige Rechtsdiskussion hineinbringen. Das sollte kein Punkt sein, an dem sich Anwaltskanzleien sehr gut Klienten schaffen können und der deutsche Mittelstand davon abgehalten wird, auf einer klaren Rechtsgrundlage zu arbeiten. Ich würde auch Sie bitten, zwischen den Datenschützern und den Nutzern gute Vermittler zu sein, weil das ein sehr, sehr wichtiger Punkt ist. Wir werden solche Standards, wie wir sie mit der Datenschutz-Grundverordnung in Europa haben, auch international brauchen. Das ist noch ein weiter Weg, aber mit Sicherheit wichtig. Deshalb haben wir während unserer G20-Präsidentschaft das Thema Digitalisierung zum ersten Mal auf die Tagesordnung gesetzt und zum ersten Mal die Digital-Minister der zwanzig größten Industrie- und Schwellenländer eingeladen. Wir haben über Fragen der Cybersicherheit, über mögliche globale Regelungen zum Datenschutz gesprochen. Im März hat dazu auch ein G20 Consumer Summit stattgefunden – auch etwas, das wir nach vorn bringen wollen. Die G20 ist keine gesetzgebende Instanz, aber sie kann sehr wohl Bewusstsein schaffen und Vorbereitungen für internationale Regelungen treffen. Meine Damen und Herren, wir haben auch in Deutschland mit dem Bundesdatenschutzgesetz einen weiteren Schritt gemacht, um vor allem mehr Transparenz zu schaffen. Es ist ein Kompromiss zwischen Bund und Ländern. Es gibt damit eine umfangreiche Neuordnung der Informationspflichten für alle, die Daten verarbeiten. Ich glaube, das ist auch ein wichtiger Schritt in Richtung der Verbraucher. Wir haben im Übrigen im Zusammenhang mit dem Bund-Länder-Finanzausgleich – man sagt ja bei deutschen Mittelständlern manchmal, dass sie „hidden champions“ seien, weil sie eigentlich Weltmarktführer sind – eine „hidden Neuerung“, eine kaum bemerkte Neuerung, erreicht: Wir sind zwischen Bund und Ländern übereingekommen, ein einheitliches Bürgerportal zu schaffen, mit dem jeder Bürger, egal auf welcher Ebene er einsteigt – auf kommunaler, Landes- oder Bundesebene –, seine Kontakte mit dem Staat herstellen kann. Das heißt, die Bürger müssen sich nicht auf jeder Ebene neu anmelden, alle Daten neu eingeben. Das ist sogar ein Beitrag zur Datensparsamkeit, da es nicht zur permanenten Neuerhebung kommt. Das Vorhaben wollen wir in der nächsten Legislaturperiode in die Tat umsetzen. Wir haben mit den Verbraucherzentralen sozusagen Marktwächter für die digitale Welt und auch Marktwächter – das sind sie schon etwas länger – für die Finanzwelt. Sie beobachten das Marktgeschehen, werten es aus und machen auf Gefahren aus Verbrauchersicht aufmerksam. Das hilft dann auch der Politik, zu entscheiden. Finanzmarktwächter teilen ihre Erkenntnisse inzwischen auch direkt mit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht – das ist ungefähr so schwierig auszusprechen wie vzbv. Ich habe mir sagen lassen: Das Zusammenspiel funktioniert gut. Das finde ich richtig. Und auch Ihre Idee eines Vorsorgeprodukts in der Rente ist eine gute Idee. Wir haben uns kurz ausgetauscht. Die Deutschlandrente ist ein interessantes Produkt. Wir müssen nur auf eines aufpassen: Wir werden noch ein geändertes Betriebsrentengesetz verabschieden und dürfen nicht den Effekt erzielen, dass die Arbeitgeber denken: Ach, mit solch einem Vorsorgeprodukt entziehen wir uns unserer Pflicht, die Betriebsrentensäule zu stärken. – Das muss man sich gut angucken; die Ausgestaltung ist noch etwas schwierig. Aber Standardprodukte in der privaten Vorsorge zu entwickeln, halte ich für sehr wichtig. Ich will an dieser Stelle auch sagen: Wenn dieses Betriebsrentengesetz verabschiedet wird, dann ist darin auch etwas für die private Vorsorge enthalten, nämlich dass bei denjenigen, die privat vorgesorgt haben, in dem Falle, dass sie Grundsicherung bekommen, nicht mehr alles verrechnet wird, sondern ein wirklicher Anreiz besteht, auch wenn man das Grundsicherungsniveau in der Rente nicht erreicht. Das ist psychologisch eine sehr wichtige Maßnahme, weil sich sonst viele fragen: Warum nehme ich ein solches Vorsorgeprodukt überhaupt in Anspruch? Wir haben, um Kleinanleger zu schützen, die BaFin nun auch gesetzlich befugt, erforderlichenfalls zu intervenieren. Sie kann den Verkauf, den Vertrieb und die Vermarktung bestimmter Vermögensanlagen und Finanzinstrumente einschränken oder gar verbieten. Wir haben ihr also eine starke Stellung gegeben. Auch dem Bundeskartellamt haben wir erweiterte Kompetenzen eingeräumt. Bei Verdacht auf Verstöße gegen das Verbraucherrecht kann das Bundeskartellamt diesen Verstößen nachgehen. Wir haben jetzt also nicht nur sektorale Regelungen, sondern auch Regelungen getroffen, die die Eingreifmechanismen stark verbessern; und das befürworte ich sehr. Nun, das waren alles nur Ausschnitte aus der gesamten Breite dessen, was im Verbraucherschutz zu beachten ist. Aber ich glaube, es hat sich gezeigt, dass es in vielen Fragen eine Reaktion der Politik auf die Bedürfnisse und Herausforderungen gibt, die Sie vonseiten der Verbraucherzentralen und der Verbraucherverbände sehen. Wir werden in dieser konstruktiven, zum Teil auch kritischen Zusammenarbeit weitergehen. Wir freuen uns, dass Sie auch eine Vertrauensinstitution für die Bürgerinnen und Bürger sind. Im Vergleich zu den Zeiten Carl Bolles ist die Produktauswahl heute fast unübersehbar. Es gibt für nahezu alles alternative Produkte aus den verschiedensten Regionen. Und deshalb ist es so wichtig, dass man sich auf Organisationen verlassen kann, die prüfen, die öffentlich billigen oder öffentlich missbilligen. Es ist wichtig, sich auf unabhängige Informationen verlassen zu können. Das ist insbesondere in Zeiten des Internets wichtig. Zertifizierte Informationen bieten ein Stück Sicherheit. Ansonsten ist man zwischen Werbung und Information ziemlich schnell verlassen. Und es ist auch wichtig, sich auf rechtliche Vorgaben verlassen zu können. Mit diesem Dualismus will ich es für heute belassen und freue mich, bei Ihnen gewesen zu sein. Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag. Alles Gute und danke für Ihre Arbeit.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum Festakt „25 Jahre Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-festakt-25-jahre-kunst-und-ausstellungshalle-der-bundesrepublik-deutschland–796732
Mon, 12 Jun 2017 19:30:00 +0200
Bonn
Kulturstaatsministerin
„Zugegeben: Es ist schon etwas länger her, dass ich auf der Geburtstagsparty einer 25Jährigen eingeladen war. Doch dank enormer wissenschaftlicher Aktivität auf dem Gebiet der Jugend- und Generationenforschung findet man schnell heraus, wer die heute 25Jährigen sind und was sie umtreibt: Zwischen 1980 und der Jahrtausendwende geboren, sind die „Millennials“ – wie sie deshalb auch oft genannt werden – eine gut ausgebildete, weltoffene und technikaffine Generation, über die man ohne Probleme eine ganze Soziologie-Vorlesung halten könnte. Mich haben aber vor allem drei Dinge beeindruckt: ihr Drang zur Selbstreflexion, ihre Freiheitsliebe und ihr hoher Anspruch – an sich selbst und an andere. Die heute 25Jährigen gehören zur „Generation Y“ – und, meine Damen und Herren, die Bundeskunsthalle ist so gesehen eine ihrer typischen Vertreterinnen. Die „Generation Y“ – auf Deutsch: „Generation Warum“ – hinterfragt eigentlich alles. Und auch unsere Jubilarin, die Bundeskunsthalle ist das Ergebnis einer langen Selbstfindungsphase: Schon 1949 überlegten sich Bonner Künstler und Kulturschaffende, Bürger und Politiker, wie sich die junge Bundesrepublik als „Kulturstaat“ in der Hauptstadt präsentieren könnte und sollte. Richtig Fahrt nahm das „Unternehmen Bundeskunsthalle“ allerdings erst in den 1970er und frühen 1980er Jahren auf, als beispielsweise der Deutsche Künstlerbund in Bonn ein Kolloquium mit dem Titel „Brauchen wir eine Bundeskunsthalle?“ veranstaltete. Künstler wie Joseph Beuys, Christo, Rainer Fetting oder Jörg Immendorff unterstützten die Idee durch Plakate, die sie unentgeltlich entwarfen und als Werbung für die Kunsthalle verbreiteten. 1984 schließlich verständigten sich die Regierungschefs von Bund und Ländern darauf, dass in Bonn eine Kunst- und Ausstellungshalle des Bundes errichtet werden sollte, und auch die Länder an diesem Vorhaben mitwirken sollten. Heute kann man ohne Bedenken sagen: Die Grübelei, das Ringen um das richtige Konzept haben sich gelohnt! Die auf den Dialog zwischen Politik und Kultur ausgerichtete, für Wechselausstellungen und hochkarätige Veranstaltungen erbaute Kunst- und Ausstellungshalle bereichert seither das geistig-kulturelle Leben in Deutschland. Auch als nach dem Hauptstadtbeschluss und der Entscheidung für einen Regierungsumzug nach Berlin die kritischen Stimmen laut wurden und etwa der SPIEGEL monierte: „Sie sollte die Hauptstadt Bonn zieren (…) und jetzt ziert der pompöse Bau nur eine designierte Provinzstadt“, fand die KAH zu neuem Selbstverständnis. Das einzige, was heute provinziell anmutet, ist die Frage nach der Daseinsberechtigung einer Bundeskunsthalle in Bonn: Nicht nur Deutschland, sondern Europa ist mittlerweile zusammengewachsen – und mit Blick auf den geistig-kulturellen Austausch mit unseren Nachbarn und der Welt endet auch die Ausstrahlung der Bundeskunsthalle nicht an den Grenzen der Stadt, des Rheinlandes oder der Republik: Sie liegt im Herzen Europas und schlägt mit ihren Ausstellungen Brücken in die Welt. Grenzen, meine Damen und Herren, sind auch nicht die Sache der „Generation Y“; sie drängt vielmehr nach größtmöglicher Freiheit. Dieser Wunsch nach Selbstverwirklichung ohne Ende hat ihren Vertretern bisweilen sogar das Attribut „beziehungsunfähig“ eingebracht. Die Kehrseite ist die Experimentierfreude – und in diesem Sinne will auch die Bundeskunsthalle sich nicht auf ewig binden und festlegen: Sie ist weder Kunst- noch Geschichtsmuseum, weder technisches noch Naturkundemuseum – und doch ist sie alles auf einmal. Als ein Ort maximaler kultureller Freiheit ist die Bundeskunsthalle mit ihren disziplinübergreifenden Schauen und unkonventionellen Ausstellungkonzepten Ideenschmiede und Zukunftswerkstatt – was im Übrigen auch die aktuelle Iran-Ausstellung eindrücklich zeigt: Sie verspricht eine Reise in eine der ältesten und vielfältigsten Hochkulturen der Welt, die vor rund 10.000 Jahren auf dem Gebiet des heutigen Iran entstand, und erzählt vom Beitrag des Iran zu einer übernationalen Kulturgeschichte, die Menschen auf der ganzen Welt jenseits der heutigen kulturellen Unterschiede und Konflikte verbindet. Es ist großartig, dass die wertvollen Leihgaben so zahlreich und vielfach erstmalig in Deutschland gezeigt werden können und die Ausstellung damit zu einem Meilenstein in der Geschichte der deutsch-iranischen Kulturbeziehungen machen – zumal in derart schwierigen weltpolitischen Zeiten. Mit ihren – bisher 236 – Ausstellungen, die Besucherinnen und Besucher aus dem In- und Ausland anziehen, leistet die Bundeskunsthalle, für die Bundeskanzler Helmut Kohl am 17. Oktober 1989 den Grundstein legte, einen großen Beitrag zur künstlerischen und kulturellen Vielfalt in Deutschland: Selbstbewusst besetzt sie vielfältige gesellschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Themen – und ist dabei Vorbild und Beispiel für eine partizipative, diskursive, integrative und inklusive Kulturarbeit. Aktuell richtet etwa die Ausstellung „Touchdown“ erstmals aus kulturhistorischer Perspektive den Blick auf Menschen mit dem Down-Syndrom. Und noch eine Premiere ist derzeit zu sehen: „Comics! Mangas! Graphic Novels!“ ist die erste umfassende Schau in Deutschland zu den – nicht nur bei Jugendlichen beliebten – Genres. Am 7. November wird schließlich die lange erwartete Ausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt“ eine Auswahl von Kunstwerken aus dem Nachlass Cornelius Gurlitts präsentieren. Beispielhaft sind nicht nur die Ausstellungen, sondern auch die Öffnung des Hauses für die kulturelle Vermittlung, etwa für Schülerinnen und Schüler oder Menschen mit Behinderungen, denen der Zugang zu Kultur sonst oft verwehrt bleibt. Hier leistet die Bundeskunsthalle erstklassige Arbeit! Mit ebenso modernen wie mutigen Konzepten erreichen Sie, lieber Rein Wolfs und Ihr wunderbares Team, immer wieder auch neue Zielgruppen, aber auch das Bonner Stammpublikum. Herzlichen Glückwunsch auch Ihnen zum 25jährigen Jubiläum des Bundeskunsthalle – ich freue mich, dass Sie uns hier in Bonn auch in den kommenden Jahren als Intendant treu bleiben! Der selbstformulierte Anspruch der Bundeskunsthalle, vielfältig und interdisziplinär zu arbeiten, hochkarätige Ausstellungen zu realisieren, kulturell offen zu bleiben und auf gesellschaftliche Veränderungen einzugehen, im Ausstellungs- und Veranstaltungsbereich Maßstäbe zu setzen, immer wieder neue Blickwinkel einzunehmen und alle Menschen an kulturellen Angeboten teilhaben zu lassen, liest sich wie die „To-Do-Liste“ eines ambitionierten Mitzwanzigers der „Generation Y“. Dafür, dass es der Bundeskunsthalle weiterhin gelingt, ihre ehrgeizigen Ziele zu erreichen, schafft die Bundesregierung die Rahmenbedingungen – und ich freue mich, das Haus und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus meinem Kulturetat finanzieren zu können. Das ist seit 25 Jahren so und dabei bleibt es auch in Zukunft! Und weil wir wissen, dass auch andere Bonner „Millennials“ einen hohen Anspruch haben – zumal an ihre Freizeitgestaltung-, hat die Bundesregierung ein besonderes Kultur-Geschenk zum 25. Geburtstag der Bundeskunsthalle oder, man kann auch sagen: es ist ein Geschenk der Bundeskunsthalle an die „Generation Y“. 25 Monate lang zahlen alle unter 25 Jährigen jeweils dienstags und mittwochs von 18 bis 21 Uhr einen freiwilligen Beitrag in freigewählter Höhe als Eintritt in die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland – sie zahlen also genau das, was ihnen der Eintritt, was ihnen ihr Kunstbesuch wert ist. Es geht nicht darum, ihnen ein Eintrittsgeld zu ersparen, sondern der besondere Reiz dieser Variante liegt darin, junge Menschen zu ermutigen, darüber nachzudenken, was ihnen dieser Kunstgenuss, dieses Bildungserlebnis wert ist. Und durch die exklusiv für die jungen Leute reservierte Zeit hat das Ganze einen schönen Event-Charakter für unsere „Generation Y“. Denn gerade junge Menschen für Kunst und Kultur zu begeistern, ist nicht nur Auftrag einer Kulturnation, sondern auch mein persönliches Herzensanliegen. Und ihnen den Wert der Kultur, unabhängig von ihrem Preis, zu vermitteln, gehört auch dazu. Kultur öffnet Welten – in jedem Alter und an jedem Ort: Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren; sie kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Kunst kann uns aber auch nötigen, die Perspektive zu wechseln und die Welt aus anderen Augen zu sehen. Wie zwei junge Menschen mit der Sprache der Musik Welten öffnen, werden wir gleich hören, wenn das Duo „Grandbrothers“ mit dem Piano experimentiert und dabei einen Sound zwischen klassischem Piano, Perkussion und Electronic entstehen lässt. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen wunderbaren Abend und viele bereichernde Kulturmomente in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Werkserweiterung der Takeda GmbH am 16. Juni 2017 in Oranienburg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-werkserweiterung-der-takeda-gmbh-am-16-juni-2017-in-oranienburg-801066
Fri, 16 Jun 2017 11:35:00 +0200
Oranienburg
Sehr geehrter Herr Weber, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Herr Woidke, Herr Botschafter Yagi, Herr Landrat, Herr Innenminister und Landrat a.D., Herr Bürgermeister, liebe Abgeordnete von Bund und Land, vor allem: liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und liebe Auszubildende von Takeda, Deutschland hat – das haben wir schon oft gesagt, Herr Botschafter – großes Interesse am Ausbau der Zusammenarbeit mit Japan. Der Ausbau des Oranienburger Takeda-Werks zeigt nun, wie das praktisch geht. Es freut mich deshalb sehr, dass ich bei der Eröffnung des neuen Produktionsmoduls mit dabei sein kann. Beim Rundgang haben wir schon einige Einblicke in die Arbeit hier gewonnen. Wir haben eine hochmoderne Verpackungslinie gesehen und – das ist besonders spannend und gerade in der Entwicklung begriffen – einiges über die Möglichkeiten erfahren, die der 3-D-Druck auch im Bereich der Pharmazie bietet. Die Möglichkeit, heute die Ersatzteile selbst herzustellen oder auch Tabletten zu drucken, ist etwas, das wir vor zehn Jahren noch gar nicht so gesehen haben. Es ist auch hochinteressant, welche verschiedenen Eigenschaften die verschiedenen Materialien aufweisen. In der Gesundheitswirtschaft hält also die Digitalisierung genauso Einzug wie in anderen Bereichen. Deshalb trifft es sich gut, dass die Bundesregierung gerade erst in dieser Woche wieder einen Digital-Gipfel in Ludwigshafen in Rheinland-Pfalz durchgeführt hat. Dort war das Schwerpunktthema Gesundheitswirtschaft und Digitalisierung. Das hier ist eine Facette. Das Themenspektrum reicht von der Anwendung in Krankenhäusern, der Operationstechnik über die Telemedizin, die gerade auch für ländliche Regionen von größter Bedeutung ist, bis zur Einführung der Gesundheitskarte und zu Veränderungen in den Arztpraxen. Oranienburg ist ein moderner Standort für Takeda. Ich glaube, dass hier zu Recht von einem Kompetenzzentrum gesprochen wird. Es werden hier Arzneimittel produziert, die in alle Welt gehen; Herr Weber hat uns das dargestellt. Sie unterstützen von hier aus auch die Arbeit an anderen Standorten – ob es nun um neue Tablettenarten, neue Verpackungen oder Studien zur Haltbarkeit von Medikamenten geht. Die Investition in die Produktionserweiterung, die wir hier besichtigen können, beläuft sich auf 100 Millionen Euro. Das ist ein Bekenntnis Ihres Unternehmens zum Standort Oranienburg, gleichzeitig auch ein Bekenntnis des Landes Brandenburg zur industriellen Entwicklung an diesem Standort. Ich glaube, ein Grund für die Entscheidung, hier stärker zu investieren – wir konnten uns auch eben davon überzeugen –, ist die Fachkräftebasis. Daran zeigt sich einmal mehr, wie wichtig Ausbildung ist. Wir – Herr Ministerpräsident Woidke und ich – haben mit den Auszubildenden ja auch darüber gesprochen. Ich glaube, wir können in Deutschland durchaus stolz darauf sein, dass wir eine sehr enge Verzahnung von praktischer Ausbildung und theoretischer Ausbildung in verschiedenen Berufen haben. Wir sind auch fest entschlossen, die Berufsausbildung auch in der Transformation durch die Digitalisierung zu stärken. Digitale Veränderungen müssen auch in die Ausbildung der jungen Menschen einfließen, um junge Talente zu fördern. Die Sicherung der Fachkräftebasis in Deutschland ist natürlich eine Herausforderung. Wir werden in den nächsten Jahren weniger junge Menschen haben. Umso wichtiger ist es, dass jeder und jede eine gute Ausbildungsmöglichkeit bekommt. Wir müssen aber auch darauf achten, dass die Ausbildung in die richtigen Richtungen erfolgt. Uns fehlen viele Fachkräfte für IT-Technologien. Ich kann also alles, was im Zusammenhang mit der Digitalisierung an neuen Berufsbildern entsteht, jungen Menschen nur wärmstens empfehlen. Denn das hat Zukunft; da werden in Deutschland Fachkräfte gebraucht. Wir müssen unseren jungen Leuten aber eben auch hervorragende Ausbildungsmöglichkeiten bieten. Takeda geht hierbei mit gutem Beispiel voran, was essentiell für den Pharmastandort Deutschland ist. Sie wissen bei Takeda auch, dass man gar nicht früh genug mit der Nachwuchsgewinnung beginnen kann. Es geht oft schon darum, im Schulalter die ersten Weichen zu stellen. Sie haben deshalb in diesem Jahr auch den Takeda-Runge-Schülerpreis ins Leben gerufen. Ich finde, das ist eine interessante Sache, denn damit wird der Ehrgeiz von Jugendlichen angestachelt, sich in den Naturwissenschaften zu beweisen und Bestleistungen zu bringen. Der Namensgeber des Preises ist nicht nur Takeda als Unternehmen, sondern auch der Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge, dessen 150. Todestag gerade in dieses Jahr fällt. Er machte sich durch sein langjähriges Wirken in Oranienburg einen weithin bekannten Namen. So knüpfen Sie also auch mit dem Takeda-Runge-Schülerpreis an die Tradition dieser Stadt als Chemie- und Pharmastandort an. Der Grundstein für die hiesige Arzneimittelproduktion wurde schon vor 130 Jahren von Heinrich Byk gelegt, der damals sein Werk von Berlin nach Oranienburg verlegte. Ich weiß nicht, was die Gründe waren, aber er hat eine gute Wahl getroffen. Damit war auch der Boden bereitet, auf dem das Unternehmen Takeda heute aufbauen kann. In den Anfangszeiten der Deutschen Einheit wird es bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern manche Stunde der Ungewissheit gegeben haben. Aber immerhin hat sich die damalige Muttergesellschaft von Byk Gulden, die damals die Altana AG war, für den alten Stammsitz entschieden. Daraufhin entstand eines der modernsten Pharmawerke Europas. Nach verschiedenen Stationen führt nun Takeda das Werk. Als Gerhard Schröder als Bundeskanzler 2005 mit Matthias Platzeck zu einer Standorterweiterung kam, gehörte das Ganze noch zur Altana AG. Ich freue mich natürlich, dass es danach sehr gut weitergegangen ist und wir heute sagen können, dass die Belegschaft nach und nach auf heute mehr als 700 Beschäftigte angewachsen ist. Das ist für diesen Standort schon eine Größenordnung, die sich sehen lassen kann. Das sind ja nicht irgendwelche Arbeitsplätze, sondern wirklich gute und qualifizierte Arbeitsplätze. Man kann an diesem Standort auch sehen, wie viel davon abhängt, ob eine Entscheidung für oder gegen eine Investition fällt, und wie viele eigentlich daran mitarbeiten müssen, dass ein Standort sich auch über Jahre und Jahrzehnte – in diesem Falle mehr als 100 Jahre – entwickeln kann. Deshalb darf ich für die Bundesregierung, genauso wie das die brandenburgische Landesregierung oder die Landesregierungen anderer Bundesländer tun, sagen: Deutschland will – wir wissen auch, dass Deutschland das muss – für ausländische Investoren attraktiv bleiben. Wir stehen in einem globalen Wettbewerb. Wir wollen aus der Perspektive Deutschlands einen offenen, freien und fairen Wettbewerb. Wir glauben nicht an Abschottung, an Protektionismus. Wir glauben, dass das maximal kurzfristige Vorteile bringen kann, aber dass wir auf Dauer in einer gemeinsamen Win-win-Situation leben, wenn wir uns aufeinander einlassen und miteinander kooperieren. Diese Überzeugung teilen wir auch mit Japan. Japan ist ja auch zunehmend diesen Weg gegangen. Wir haben als Wirtschaftspartner ein gemeinsames Interesse an offenen Märkten – ob es um Direktinvestitionen oder um Handel geht. Nicht umsonst war Japan Partnerland der CeBIT und anderer großer deutscher Messen. Ich arbeite mit Premierminister Abe genau in diesem Geist zusammen. Nicht von ungefähr verhandelt die Europäische Union im Augenblick mit Japan über den Abschluss eines Handelsabkommens. Wir müssen und wollen das zu einem Abschluss bringen, denn unsere Erfahrung ist, dass solche Handelsabkommen die Intensität der Kooperation vergrößern können. Mit dem Handelsabkommen sind wir noch nicht fertig, Takeda aber ist schon einen Schritt weiter und hat in die Gesundheitswirtschaft am deutschen Standort investiert. Der Anteil der Gesundheitswirtschaft in Deutschland ist in den vergangenen fünf Jahren auf inzwischen 12 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts gestiegen. Man kann auch sagen, dass das eine Zukunftsbranche bleibt. Der pharmazeutische Anteil ist zwar nicht so dramatisch gestiegen – hier haben wir einen harten globalen Wettbewerb –, aber wir haben als Bundesregierung im Rahmen des Pharmadialogs mit der pharmazeutischen Industrie in Deutschland darüber gesprochen, wie wir die Rahmenbedingungen attraktiv halten können. Das, was ich von Herrn Weber gehört habe, war ja auch ermutigend. Wir schätzen die Innovationskraft. Wir können aber gar nicht oft genug sagen, wie lange es dauert, neue Medikamente zu entwickeln, weshalb es auch klarer rechtlicher Rahmenbedingungen bedarf, und dass wir in Innovationen insgesamt eben auch investieren müssen. Die Gesundheitsforschung ist einer der Schwerpunkte unserer Hightech-Strategie. Der Pharmadialog, von dem ich eben schon sprach, wird im Übrigen auch bewusst nicht nur mit der Wirtschaft und der Regierung, sondern, wie es der Tradition der Sozialen Marktwirtschaft entspricht, auch mit der zuständigen Gewerkschaft, der IG BCE, geführt. Die Dialogtradition in der Sozialen Marktwirtschaft hat insgesamt in Deutschland dazu geführt, dass sich die Fachkräfte gut entwickeln konnten und dass für Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer und Arbeitgeber sehr viele gute Entwicklungen erreicht werden konnten. Wir brauchen immer wieder neue Medikamente. Ein Schwerpunkt sind zum Beispiel die Entwicklungen von neuen Antibiotika. Das haben wir uns – wir haben in diesem Jahr ja die G20-Präsidentschaft inne und sind Gastgeber des G20-Gipfels – zusammen mit den Akademien der Wissenschaften und den Mitgliedstaaten der G20 auf die Fahnen geschrieben. Das, was viele Menschen heute manchmal als selbstverständlich betrachten, dass es immer wieder neue Medikamente geben wird, ist gerade im Falle von Antibiotika gar nicht so selbstverständlich, weil es eben sehr, sehr schwer ist, neue Antibiotika zu entwickeln. Deshalb ist es auch ganz wichtig – Herr Weber hat auch darauf hingewiesen –, dass wir insgesamt einen klaren und guten Rechtsrahmen für die Produktion von Arzneimitteln brauchen. Wir brauchen Verlässlichkeit und auch einen guten Schutz vor Fälschungen von Arzneimitteln. Deshalb müssen wir immer wieder an den Regeln für die Arzneimittelversorgung arbeiten, müssen immer wieder in Kontakt mit den Krankenkassen stehen und müssen Lieferengpässe vermeiden. Sie sehen ja hier, wie eng die Dinge getaktet sind, wie je nach Bedarf produziert werden kann und wie hoch automatisiert das Ganze ist. Insofern können und müssen wir den Erwartungen derer, die auf Medikamente angewiesen sind, gerecht werden. Meine Damen und Herren, an Produkten zu arbeiten, die dazu beitragen, dass Menschen gesund werden oder gesund bleiben, ist natürlich eine wichtige Aufgabe, bei der man auch sehr gut über den Nutzen und über das, was man jeden Tag tut, berichten kann. Deshalb verwundert es mich auch nicht, dass ich dort, wo ich einen kleinen Einblick erhalten konnte, hochmotivierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gesehen habe, denen ich viel Erfolg und auch viel Freude mit der neuen Produktionsstätte wünsche. Ich gratuliere der Unternehmensleitung zu dieser Investition. Ich sage dem Herrn Botschafter, dass ich das als ein gutes Omen für die deutsch-japanische Zusammenarbeit nehme. Ihnen alles Gute und viel Freude bei der Nutzung der neuen Möglichkeiten.
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung des 9. Kulturpolitischen Bundeskongresses
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-des-9-kulturpolitischen-bundeskongresses-800666
Thu, 15 Jun 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Welt. Kultur. Politik“: Zwei Punkte trennen diese drei Wörter im Tagungstitel des 9. Kulturpolitischen Bundeskongresses, und doch glaubt man, darin eine „Welt-kultur-politik“ anklingen zu hören. Was auch immer man darunter verstehen mag in einer von kulturellen Konflikten geprägten Zeit – ob realistisches Zukunftsszenario oder ferne Utopie, ob vielversprechende Verheißung oder drohende Verluste: Fest steht, erstens, dass das Institut für Kulturpolitik damit wieder einmal ein spannendes Tagungsprogramm mit sicherlich erhellenden Debatten auf die Beine gestellt hat – und dass es, zweitens, zumindest einen „Weltkulturminister“ auf absehbare Zeit nicht geben wird, so dass die Ehre, den Kulturpolitischen Bundeskongress zu eröffnen, hoffentlich bis auf Weiteres der amtierenden Kulturstaatsministerin vorbehalten bleibt. Ich freue mich jedenfalls, dass ich die Tagung nicht nur mit Mitteln aus meinem Kulturetat unterstützen, sondern auch einige Überlegungen, Beobachtungen und Erfahrungen zur Diskussion über Kulturpolitik im Zeitalter der globalen Vernetzung beisteuern kann. Zu den Besonderheiten dieses Zeitalters gehört es, dass man gar nicht erst in die Ferne schweifen muss, um die Begegnung – oder auch die Konfrontation – mit der Vielfalt der Welt zu erleben. Der große Weltentdecker Alexander von Humboldt nahm noch erhebliche Strapazen auf sich, um sich ein Bild von der Welt zu machen, und abenteuerlich war nicht nur seine fünfjährige Forschungsreise durch Südamerika vor gut 200 Jahren, sondern auch seine Ausrüstung. Statt atmungsaktiver Funktionsunterwäsche, robuster Bergschuhe und wind- und wasserresistenter Isolationskleidung, die in Deutschland heutzutage zur Ausstattung jedes Wochenendspaziergängers gehört, trug er selbst beim Erklimmen der höchsten Berggipfel schwarzen Frack mit weißer Halsbinde, Hut und dünne Rokoko-Stiefel. Heute ist die Welt gewissermaßen in Deutschland zuhause – und das nicht nur in Gestalt der Objekte, die Humboldt auf seinen Expeditionen mit deutscher Gründlichkeit gesammelt, beschrieben und per Segelschiff nach Europa geschickt hat, und auch nicht nur beim Karneval der Kulturen oder auf den diversen Speisekarten der Restaurants in jeder mittelgroßen deutschen Stadt. Ob hier in Berlin oder in anderen Städten und Regionen: Es ist faszinierend zu sehen, wie viele unterschiedliche Kulturen und Religionen, Traditionen und Zukunftsträume, Lebensentwürfe und Weltanschauungen in Deutschland eine Heimat gefunden haben – und wie sehr unser Land davon profitiert hat, weil mit Menschen, die auf unterschiedliche Weise ihr Glück suchten und ihre Träume verwirklichen wollten, immer wieder auch Ehrgeiz, Pioniergeist, Experimentierfreude und Innovationskraft Einzug hielten. Berlin beispielsweise ist ja immer schon eine Stadt der Zuwanderer gewesen. Hugenotten, Polen, Schlesier, Türken – ja sogar Schwaben: Alle haben hier eine Heimat gefunden, und jedes Jahr kommen fast 40.000 Menschen neu hierher. Gibt es eine schönere Bestätigung für eine Stadt, als die Sehnsucht junger Menschen aus der ganzen Welt, hier leben und arbeiten zu wollen? Doch die Vielfalt der Kulturen, Religionen, Lebensentwürfe und Weltanschauungen kann manchmal ebenso beängstigend und verstörend sein, wie sie zweifellos inspirierend und bereichernd ist. Vielfalt bleibt eine Herausforderung – für manche sogar eine Bedrohung. Allein die Menschen zu integrieren, die in den vergangenen Jahren Zuflucht in Deutschland gesucht haben und die für eine Zeitlang oder vielleicht sogar für immer bleiben werden, ist eine Aufgabe für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. „Welt-Kultur-Politik“ – um den Tagungstitel noch einmal aufzugreifen – „Weltkulturpolitik“ verstehe ich vor diesem Hintergrund als Kulturpolitik für eine weltoffene, pluralistische Gesellschaft. Mir geht es dabei vor allem um eine Kulturpolitik für eine Kultur der Verständigung. Verständigung erfordert einerseits ein Bewusstsein der eigenen Identität – Klarheit darüber, was uns ausmacht als Deutsche und als Europäer. Denn nur wer das Eigene kennt und wertschätzt, kann auch dem Fremden Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen, und nur, wer sich begründet abgrenzen kann, ist imstande, die eigenen (demokratischen) Werte zu verteidigen. Man muss in diesem Zusammenhang nicht den Begriff der Leitkultur bemühen, aber es wichtig, darüber zu diskutieren, was uns ausmacht – allein schon deshalb, weil wir das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung ansonsten den Nationalisten und ihrer Ideologie überlassen, die in der Abwertung des Anderen Rassismus nährt, Ausgrenzung fördert, und die einst unermessliches Leid über Deutschland und Europa gebracht hat. Im Übrigen kennen doch gerade Kulturliebhaber die Bedeutung von Leitmotiven. Ein Leitmotiv in einer Oper, in einem Film oder Roman sorgt nicht nur für Orientierung und Struktur, verknüpft nicht nur die Vielfalt an Themen, Personen und Motiven. Im Leit-motiv verdichtet sich auch, was ein Werk, ein Œuvre oder auch eine Epoche von anderen unterscheidet. Und selbstverständlich lassen sich in ähnlicher Weise auch Gemeinschaften anhand ihrer Leitmotive beschreiben. Wie sonst ließe sich eine Kirche von einem Unternehmen unterscheiden, ein Fußballverein von einer Theatergruppe oder die SPD von der FDP? Dass der Begriff der Leitkultur – der Versuch zu beschreiben, was uns als Deutsche ausmacht – immer wieder die Gemüter erregt, ist im Übrigen ein schönes Beispiel für ein Leitmotiv deutscher Debattenkultur. Aber das nur nebenbei. Verständigung erfordert jedenfalls einerseits Selbstbewusstsein und Selbstvergewisserung – das Einstehen für das Eigene. Verständigung erfordert andererseits aber auch, das Verbindende über das Trennende stellen zu können: das Menschliche über die Unterscheidung zwischen gläubig und ungläubig, zwischen deutsch und nicht-deutsch, zwischen weiblich und männlich, zwischen muslimisch und christlich. Das kommende Europäische Kulturerbe-Jahr 2018 erinnert uns – 400 Jahre nach Beginn des 30-jährigen Krieges und 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges – nicht zuletzt auch daran, wie schwer wir uns in Deutschland und Europa über Jahrhunderte eben damit getan haben: wie oft wir im Umgang mit religiöser und kultureller Vielfalt versagt haben, wie hart errungen – mit viel Krieg, Leid und Gewalt bezahlt – Demokratie, Toleranz und Freiheit doch sind. Es erinnert uns daran, dass unsere demokratischen Werte und die Fähigkeit, Vielfalt als Freiheitsgewinn zu begreifen, letztlich geronnene Lernerfahrungen sind. Zu solchen Lernerfahrungen, die ein friedliches Miteinander unterschiedlicher Lebensweisen, Traditionen und Weltanschauungen immer wieder aufs Neue erfordert, aber auch zur Selbstvergewisserung und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, können gerade Kunst, Kultur und auch die Medien in besonderer Weise beitragen. Nicht umsonst hat Deutschland, das sich diese zivilisatorischen Errungenschaften nach der nationalsozialistischen Barbarei mühsam wieder erarbeiten musste, die Freiheit der Kunst und der Presse in den Verfassungsrang erhoben. In diesem Sinne ist es mein wichtigstes Anliegen, mit meiner Politik eine Kultur der Verständigung zu fördern – in der Erinnerungspolitik und in der Medienpolitik ebenso wie beim Schutz des kulturellen Erbes und in der Förderung der künstlerischen Avantgarde. Dafür konnte ich in allen Haushaltsverhandlungen meiner bisherigen Amtszeit erreichen, dass der Bundeskulturhaushalt deutlich aufgestockt wird – für 2017 sogar um ganze 17% auf rund 1,63 Milliarden Euro. Das ist ein eindrucksvoller Beleg für die politische Wertschätzung der Kultur in diesen bewegten Zeiten. Lassen Sie mich anhand einiger Beispiele aus meiner bisherigen Amtszeit erläutern, was ich unter einer Kulturpolitik für eine Kultur der Verständigung verstehe, die gleichermaßen der Selbstvergewisserung wie auch dem interkulturellen Austausch dient. Für die Auseinandersetzung mit unserer Identität und das Lernen aus der eigenen Vergangenheit steht beispielsweise der Umgang mit unserer Geschichte – mit einer von Brüchen gezeichneten Freiheits- und Demokratiegeschichte und insbesondere mit dem Zivilisationsbruch des Holocaust. Zur offenen und schonungslosen Auseinandersetzung mit den Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten, aber auch mit der SED-Diktatur gehört es, Geschichte in Bezug zu setzen zur Gegenwart, sie auf ihre Lehren hin zu befragen und auf die Verantwortung, die daraus erwächst. Eben das macht eine lebendige Erinnerungskultur, das macht eine Kultur der Verständigung aus, die unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven Raum gibt. Es geht darum, einen „geschützten Raum für den Strom der Erzählungen“ zu schaffen, wie der Historiker Karl Schlögel es einmal formuliert hat. Das bedeutet, ich zitiere weiter: eine „Sphäre von Öffentlichkeit, die den Pressionen von außen, von gleich wem standhält, und sich die Freiheit bewahrt und die Zumutungen aushält, die in den Erzählungen präzedenzlosen Unglücks im Europa des 20. Jahrhunderts enthalten sind.“ Diesen „geschützten Raum für den Strom der Erzählungen“ zu schaffen und verteidigen, ist Teil der staatlichen Verantwortung für die Erinnerungskultur. Deshalb erhalten wir, was von den ehemaligen Konzentrationslagern noch sichtbar ist, und bringen sie als Zeitzeugnisse für künftige Generationen zum Sprechen. Wir bauen und finanzieren Mahnmale, die Zeugnis ablegen von den Verbrechen der Nationalsozialisten; ich nenne hier nur das Denkmal für die ermordeten Juden Europas im Herzen der deutschen Hauptstadt. Wir finanzieren Einrichtungen, die einer breiten Öffentlichkeit die gemeinsame deutsch-jüdische Geschichte nahe bringen: etwa die Stiftung Jüdisches Museum Berlin, außerdem Orte der jüdischer Kultur und Religion wie Synagogen und Friedhöfe. Wir fördern außerdem die Provenienzforschung zur Aufarbeitung des NS-Kunstraubs. Auch hier geht es um die Anerkennung des Leids und des Unrechts, dem Verfolgte des NS-Regimes, insbesondere Menschen jüdischen Glaubens, unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ausgesetzt waren. Ich habe das für Provenienzforschung zur Verfügung stehende Budget deshalb mittlerweile gegenüber dem Haushaltsansatz bei meinem Amtsantritt mehr als verdreifacht – von zwei auf jetzt 6,5 Millionen Euro jährlich – und gemeinsam mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden die Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste aufgebaut. Zu den Kernaufgaben des Zentrums gehören die Förderung der Suche nach NS-Raubkunst in Museen, Bibliotheken und Archiven sowie die Aufarbeitung des in seiner Systematik, in seinen Zielen und Auswirkungen einzigartigen NS-Kunstraubs. Darüber hinaus finanzieren und fördern wir den kulturellen Brückenbau zwischen Deutschland und Israel, etwa den deutsch-hebräischen Übersetzerpreis, den ich gemeinsam mit meiner israelischen Amtskollegin ins Leben gerufen habe. Meine zwei Reisen nach Israel habe ich genutzt, um die Kulturfreundschaft zwischen Deutschland und Israel zu vertiefen. Und last but not least: Wir widersprechen mit aller Entschiedenheit, wenn neue politische Kräfte in unserem Land unsere Erinnerungskultur, an der unsere Gesellschaft und unsere Demokratie gereift sind, für parteipolitische Zwecke missbrauchen und aus der Hetze gegen den Umgang Deutschlands mit seiner Geschichte politischen Profit für ihre nationalistische Ideologie zu schlagen versuchen. Genauso wenig dulden wir, dass Menschen, deren Wahrnehmung und Einstellungen von einem in ihren Herkunftsländern weit verbreiteten Antisemitismus geprägt sind, gegen Andersglaubende hetzen. Denn in der Frage der Anerkennung der Lehren, die Deutschland aus der verbrecherischen Herrschaft der Nationalsozialisten gezogen hat, darf es keine „Kultur der Vielfalt“ geben – hier gibt es nur eine einzige Haltung: Die Aufarbeitung des Holocaust und die Versöhnung mit den Juden sind Teil unseres Selbstverständnisses und nicht verhandelbar. Deutschland darf nie wieder ein Land sein, in dem Menschen wegen ihres Glaubens Gewalt und Diskriminierung von wem auch immer schutzlos ausgesetzt sind! Das müssen wir allen vermitteln, die in Deutschland leben wollen. Um zu vermitteln, wofür wir stehen, brauchen wir auch unsere Kultur-einrichtungen – beispielsweise die rund 6.700 Museen in Deutschland. Ein Gedicht sei immer die Frage nach dem Ich, hat Gottfried Benn einmal gesagt – und man könnte ergänzen: Ein Museum ist immer die Frage nach dem Wir. Museen sind kollektives Gedächtnis und Bewusstsein. Sie machen gemeinsame Erinnerungen, Werte, Perspektiven auf die Welt sichtbar und erfahrbar – und stiften damit Identität. Sie spiegeln und prägen unser Selbstverständnis. Eine ganz neue Art, die „Frage nach dem Wir“ zu stellen und zu beantworten, erwartet uns im Humboldt Forum, das 2019 seine Pforten öffnen soll. Die außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die wir hier präsentieren wollen, bieten in Verbindung mit der benachbarten Museumsinsel und deren Kulturschätzen aus Europa und dem Nahen Osten einmalige Einblicke in das kulturelle Erbe der Menschheit. Sie vermitteln, was uns als Menschen ausmacht. Sie offenbaren, dass es ein „Wir“ nicht nur innerhalb, sondern auch jenseits kultureller und nationaler Grenzen gibt. Zukunftsweisend ist das Humboldt Forum aber vor allem als Ort der Verständigung: Wir wollen die Sammlungen in ihrer Bedeutung für das 21. Jahrhundert zum Sprechen bringen. Deshalb soll beispielsweise das Thema Religion eigenständigen Raum bekommen – mit Blick auf die Krisen im Nahen und Mittleren Osten, mit Blick auf die damit verbundenen Flüchtlingsbewegungen und auch mit Blick auf die Angst, die Terroristen im Namen des religiösen Fundamentalismus verbreiten. Auf diese Weise kann und soll im Humboldt Forum ein lebendiger Ort möglichst breiter öffentlicher Debatten entstehen: ein Museum, das die Gesellschaft nicht nur abbildet, sondern auch mitformt – ein Museum, das die „Frage nach dem Wir“ auch als Aufgabe interpretiert, Verstehen, Verständnis und Verständigung zu fördern. Um zu erkennen, wie sehr wir solche Orte der Verständigung brauchen, reicht ein Blick in die Nachrichten: Die großen Herausforderungen unserer Zeit – vom Klimaschutz über Migration bis zur Friedenssicherung – erfordern mehr denn je die Bereitschaft, unterschiedliche Perspektiven einzubeziehen. Der Bund fördert deshalb aus meinem Kulturetat über das Humboldt Forum hinaus eine Reihe von Museen, Gedenkstätten und Ausstellungshäusern von gesamtstaatlicher Bedeutung, vergibt Zuwendungen und stellt Mittel für die Kulturstiftung des Bundes zur Verfügung, die wiederum Projekte von und für Museen finanziert. Darüber hinaus ist es mir wichtig, Aufmerksamkeit zu schaffen für das, was unsere Museen landauf landab für unsere Gesellschaft leisten – so wie etwa im Rahmen der Initiative „Kultur öffnet Welten“, die sichtbar macht, was Kultureinrichtungen zu Integration und Zusammenhalt beitragen. Mit Förderungen und Auszeichnungen besonderer Projekte würdigt der Bund auch das vielfältige, oft ehrenamtliche Engagement unendlich vieler Kulturschaffender, Künstler und Kreativer, die sich von Konstanz bis Kiel für die Integration von Menschen mit Migrationsgeschichte einsetzen. Im Sinne einer Kultur der Verständigung hat mein Haus außerdem gemeinsam mit dem Deutschen Kulturrat die „Initiative Kulturelle Integration“ ins Leben gerufen, die kürzlich 15 Thesen zur kulturellen Integration und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt vorgelegt hat. Diese Initiative, an der nicht nur Bund, Ländern und Kommunen, sondern auch Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft, der Sozialpartner, der Kirchen und Religionsgemeinschaften mitgewirkt haben, wollen wir mit Veranstaltungen und Aktionen fortsetzen. Ja, Kultur öffnet Welten – und vor allem die Kunst hat Einfluss darauf, wie kulturelle Vielfalt in Deutschland wahrgenommen wird. Ein Roman, eine Erzählung kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Ein Film kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht. Ein Theaterstück kann unseren Werten jenseits argumentativer Auseinandersetzung Gehör verschaffen. Mit ihrer Kraft, uns fremde Schicksale vertraut zu machen, sind Literatur, Theater und Film deshalb auch Hoffnungsträger: Wo Hass und Hetze gegen Anderslebende sich wie ein Virus verbreiten, können Künstler Köpfe und Herzen gegen dieses Virus immunisieren. Ich jedenfalls glaube an die Kraft der Kunst, und ich bin überzeugt: Künstlerische Vielfalt ist auf Dauer stärker als populistische Einfalt! Nicht zuletzt deshalb liegt mir die Förderung der künstlerischen Freiheit ganz besonders am Herzen. So habe ichbeispielsweise, damit Filmschaffende als Künstler ganz „ihr Ding“ machen können, die kulturelle Filmförderung deutlich aufgestockt. Wir können viel mehr als bisher in neue Drehbücher und die Stoffentwicklung für neue Dokumentarfilme wie auch in die Produktion künstlerisch anspruchsvoller und innovativer Spiel- und Dokumentarfilme investieren. Seit vergangenem Jahr stehen dafür 15 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung. Deutlich mehr Geld – nämlich 25 Millionen mehr in diesem Jahr, und voraussichtlich 75 Millionen mehr im nächsten Jahr – gibt es auch für den Deutschen Filmförderfonds. 2018 werden also aller Voraussicht nach 125 Millionen Euro an Fördermitteln zur Verfügung stehen. Das ist eine Menge Geld – und umso bitterer ist es, wenn ich auf meinen Reisen die Haushaltsnöte vieler Kultureinrichtungen erlebe, wie etwa auf meiner jüngsten Theaterreise durch Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg Ende vergangenen Jahres. Die Kommunen sind in Deutschland zweifellos die tüchtigsten Kulturförderer, doch vielerorts muss gespart werden, und vielerorts versucht man, den Haushalt auf Kosten der Kultur zu sanieren. Das trifft dann beispielsweise die Theater, denn Bühnen sind nun mal die größten Posten in jedem Kulturetat. Der Bund hat aus verfassungsrechtlichen Gründen keine Möglichkeit, einzelne Bühnen institutionell zu fördern, und das gilt auch für andere Einrichtungen. Er kann und er darf die Leistungen der Kommunen und der Länder nicht ersetzen oder gar ausbleibende Mittel kompensieren – und um es ganz klar zu sagen: Er ist auch nicht der Reparaturbetrieb der Länder, die ihre Pflichten zum Teil nur mittelmäßig erfüllen. Aber eines versuchen wir immerhin: nämlich durch etliche Bundeskulturpreise – für Theater, Kinos, Musikclubs, Buchhandlungen – das großartige Netz „geistiger Tankstellen“ aufrecht zu erhalten und kulturell herausragenden Kulturorten mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu verschaffen. Das soll auch Unterstützung und Ermutigung für die zahlreichen Kleinkultur-Einrichtungen sein, in denen wahre Liebhaber am Werk sind und mit viel Herzblut und persönlichem Einsatz dafür sorgen, dass es auch fern der Metropolen ein großartiges Kulturangebot auf hohem professionellen Niveau für alle Bürgerinnen und Bürger gibt. Last but least kann auch die Musik Teil einer Kultur der Verständigung sein. Gerade die Musik ist ja ein Nährboden, in dem die Saat der Versöhnung aufgehen kann: Denn Musik ist eine Sprache, die mehr als jede andere des Zuhörens und Einfühlens bedarf – des Lauschens auf andere Stimmen, auf Takt und Tonart, auf laut und leise. Solche Erfahrungen sind es, die die Diplomatie der Kunst gelegentlich wirkmächtiger erscheinen lassen als die Kunst der Diplomatie. Ein Beispiel dafür ist die Barenboim-Said-Akademie, in der junge Menschen aus der arabischen Welt und aus Israelunterrichtet werden. Es gibt auf der ganzen Welt nichts Vergleichbares: einen Ort fern des Kriegs- und Krisenalltags, an dem Künstlerinnen und Künstler aus dem Nahen Osten gemeinsam musizieren, lernen und arbeiten. Die Akademie ergänzt und bereichert damit das breite Spektrum der Musikförderung meines Hauses um interkulturelle Aspekte. Wenn nur einige Stipendiaten ihre Erfahrungen mit in ihre Heimatländer nehmen und dort weiter geben an andere, erreicht die Friedensbotschaft der Akademie ihren Bestimmungsort. Diese Erfahrungen, die allein die Musik zu schenken vermag, werden nicht mathematisch quantifizierbar sein, und sie werden in keiner Export-Statistik auftauchen. Aber sie sind es, die Verständigung und Verständnis ermöglichen und auf die es deshalb ganz besonders ankommt, wenn Politik und Diplomatie an ihre Grenzen stoßen. So darf die Unterstützung für die Barenboim-Said Akademie durchaus auch als Beitrag der Bundesrepublik zum Friedensprozess im Nahen Osten verstanden werden. Ich freue mich jedenfalls sehr, dass mein Haus für den Bau der Akademie 20 Millionen Euro zur Verfügung stellen konnte und seit 2017 die Betriebskosten trägt – und dass das Auswärtige Amt das Stipendienprogramm finanziert. Damit steht die Barenboim-Said Akademie auf einem tragfähigen finanziellen Fundament – in einer Stadt, die vielleicht noch mehr als andere prädestiniert dafür ist, Hoffnung auf Verständigung und Veränderung zu machen. Auch auf europäischer Ebene brauchen wir für Verständnis und Verständigung die Kraft der Kunst und Kultur. Deshalb habe ich – ein letztes Beispiel – im vergangenen Jahr alle Hebel in Bewegung gesetzt, um zu verhindern, dass die EU-Finanzierung des European Union Youth Orchestras ausläuft – seit 40 Jahren Symbol des europäischen Prinzips der Einheit in Vielfalt. Wenn es dieses europäische Jugendorchester noch nicht gäbe, müsste man es gerade jetzt gründen! Gemeinsam mit meinen europäischen Kollegen habe ich mich darum vehement und zum Glück erfolgreich für kurzfristige Finanzhilfen und eine weitere Finanzierung durch die Europäische Kommission eingesetzt. Das war mir ein echtes Herzensanliegen. Denn gerade in Krisenzeiten braucht Europa den Enthusiasmus der Kunst, und ich bin sicher, dass die 140 jungen Musikerinnen und Musiker aus allen EU-Mitgliedstaaten damit auch andere Menschen für die europäische Idee begeistern können – ganz nach dem Motto „Hier spielt die Zukunft!“. Alles in allem, meine Damen und Herren, können wir uns, wie ich finde, gerade mit Blick auf die gegenwärtigen Spannungen in unserer pluralistischen Gesellschaft und in unserer global vernetzten Welt glücklich schätzen, dass wir in Deutschland ein dicht geknüpftes Netz kultureller Angebote und Einrichtungen haben, und dazu eine Kulturförderung, die weltweit ihresgleichen sucht – beides übrigens Ergebnis unserer langen föderalen Geschichte und der vielfach gescholtenen „Kleinstaaterei“. Und auch, wenn der Bundestagswahlkampf allmählich Fahrt aufnimmt und ein Lob für einen Sozialdemokraten mir deshalb nicht ganz so leicht über die Lippen geht, muss ich unserem Altkanzler Gerhard Schröder doch eines zugute halten: Er hat Klugheit und Weitsicht bewiesen, als er der Bundeskulturpolitik vor knapp 20 Jahren mit dem Amt des Kulturstaatsministers im Kanzleramt zu mehr Gewicht und Eigenständigkeit verhalf. Denn Politik für eine Kultur der Verständigung in unserer Gesellschaft ist etwas anderes als Innenpolitik, als Wirtschaftspolitik oder auch als Außenpolitik und sollte sich deshalb auch nicht den Gepflogenheiten und Gesetzmäßigkeiten der Innen-, Wirtschafts- oder Außenpolitik unterordnen müssen. Was auch immer also die heutige Tagung an Erkenntnissen für Welt, Kultur und Politik – oder auch für eine Weltkulturpolitik – bringt, meine Damen und Herren: Ich glaube, wir tun gut daran, die Kirche – und gerne auch die Synagoge und die Moschee – im Dorf zu lassen. Globalisierung und Migration machen Grenzen und Nationalstaaten keinesfalls obsolet, ganz im Gegenteil: Sie definieren Rechtsräume und Zugehörigkeiten, die Voraussetzung für interkulturelle Verständigung sind. Im Übrigen sollten wir nicht unterschätzen, dass gerade dort, wo der scharfe Wind der Globalisierung weht und Bindungen an Stabilität verlieren, die Sehnsucht nach Heimat wächst – das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Verbindlichkeit, nach geistigen und kulturellen Wurzeln. Dieses Bedürfnis steht nicht im Widerspruch zu Weltoffenheit und Toleranz, so wenig wie das Deutsche im Widerspruch zum Europäischen steht – jedenfalls dann nicht, wenn wir immer wieder willens und in der Lage sind, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen. Die Kunst der Diplomatie braucht es dafür ebenso wie die Diplomatie der Kunst und Kultur, und deshalb lohnt es sich gewiss, in der Diskussion über Welt, Kultur und Politik auch den ein oder anderen Rat Otto von Bismarcks zu beherzigen, der sich als Außenpolitiker um den Erhalt des europäischen Friedens bemühte – und der uns ein paar eiserne Diplomaten-Regeln hinterlassen hat, unter anderem diese, ich zitiere: „Wenn man sagt, dass man einer Sache grundsätzlich zustimmt, so bedeutet dies, dass man nicht die geringste Absicht hat, sie in der Praxis durchzuführen.“ In diesem Sinne, meine Damen und Herren, wünsche ich Ihnen für Ihre Konferenz möglichst wenig „grundsätzliche Zustimmung“, dafür aber umso mehr kontroverse und erkenntnisreiche Diskussionen über die Möglichkeiten der Kulturpolitik, in Zeiten der Globalisierung zu gegenseitigem Verständnis und zu einer Kultur der Verständigung beizutragen!
Zur Eröffnung des 9. Kulturpolitische Bundeskongresses hat Kulturstaatsministerin Grütters betont, vor dem Hintergrund der vielen unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen, sei „Weltkulturpolitik“ – so der Tagungstitel – als Kulturpolitik für eine weltoffene, pluralistische Gesellschaft zu verstehen. „Mir geht es dabei vor allem um eine Kulturpolitik für eine Kultur der Verständigung“, so Grütters
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Jahresempfang der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag am 13. Juni 2017 in Erfurt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-jahresempfang-der-cdu-fraktion-im-thueringer-landtag-am-13-juni-2017-in-erfurt-799480
Tue, 13 Jun 2017 19:41:00 +0200
Erfurt
Sehr geehrter Herr Fraktionsvorsitzender, lieber Mike Mohring, lieber Dieter Althaus, liebe Christine Lieberknecht, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag – Manfred Grund –, liebe Birgit Diezel – und jetzt höre ich auf, weil ich die Begrüßung nicht so schön kann wie Mike Mohring. Aber ich grüße Sie alle, die Sie heute in so beeindruckender Zahl gekommen sind. Ich bin der Einladung zum Jahresempfang der Thüringer CDU-Fraktion sehr gern gefolgt und möchte mich für diese Einladung ganz herzlich bedanken. Mike Mohring hat eben dargestellt, dass Verantwortung vor Ort beginnt. Subsidiarität ist unser Prinzip – also so nahe wie möglich am und beim Menschen. Deshalb möchte ich auch allen, die sich haupt- und ehrenamtlich für dieses wunderschöne Land Thüringen engagieren, ganz herzlich danke sagen. Mir ist die Aufgabe zuteil geworden, nun über Deutschland und den Rest der Welt zu sprechen, was dann doch eine ganze Menge ist. Wir sind 80 Millionen; und die Zahl der Weltbürger liegt jetzt schon bei über sieben Milliarden. Wir müssen also auch immer wieder über unseren Tellerrand schauen. Wenn wir das tun, dann sehen wir, dass die Welt in Unruhe ist. Viele sagen sogar – ich habe es auch schon manchmal gesagt –, dass sie manchmal den Eindruck haben, die Welt sei aus den Fugen geraten. Wenn wir an all das denken, was sich in den letzten Jahren ereignet hat – die Annexion der Krim, die Lage in der Ostukraine, den islamistischen Terrorismus mit seiner menschenverachtenden Gewalt und die andauernden Krisen, Konflikte und Bürgerkriege von Afghanistan über den Irak und Syrien bis nach Libyen –, dann wissen wir, dass das alles viel Schrecken und viel Schlimmes für die Menschen in den betroffenen Regionen bedeutet. Aber wir haben erfahren, dass sich das auch unmittelbar auf uns und auf unsere Sicherheit auswirkt; auf das, was wir zu bewältigen haben und hatten. Krisen, Kriege und Konflikte zeigen uns im Grunde, dass die Globalisierung bei all ihren Chancen auch ihre Kehrseiten hat. Wir haben erlebt, dass sich unzählige Menschen nicht mehr anders zu helfen wussten, als vor Krieg und Verfolgung aus ihrer Heimat zu fliehen. Deshalb möchte ich bei all den Schwierigkeiten, die es mit sich gebracht hat, als 2014 und 2015 Hunderttausende zu uns gekommen sind, doch sagen: Im Rückblick können wir auch ein Stück weit stolz auf uns sein. So viele haben haupt- und ehrenamtlich mit angepackt und ein Stück von Deutschland gezeigt, das uns sicherlich gut zu Gesicht steht. Deshalb danke schön dafür. Aber wir wissen natürlich auch, dass wir jetzt große Aufgaben haben – jedenfalls für eine gewisse Zeit. Das ist die Aufgabe der Integration derjenigen, die bei uns bleiben können. Wir wissen, dass wir uns vor allen Dingen auch mit Gebieten der Welt stärker befassen müssen, auf die wir noch nicht ausreichend geschaut haben. So stellt sich besonders auch die Aufgabe, Fluchtursachen zu bekämpfen. Gerade erst gestern haben wir mit einer Vielzahl afrikanischer Staats- und Regierungschefs darüber gesprochen, wie unser Nachbarkontinent besser entwickelt werden kann. Denn wir werden nur dann dauerhaft in Frieden und Sicherheit leben, wenn es auch anderen auf der Welt gut geht und sie die Chance bekommen, sich zu entwickeln. Im vergangenen Jahr haben wir erlebt, dass zu den globalen Herausforderungen auch große Herausforderungen innerhalb Europas hinzukamen. Ich denke etwa an die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens, aus der Europäischen Union auszutreten. Ich denke, es ist wahr – das spüren wir –, dass unsere Art zu leben selten zuvor so herausgefordert wurde wie heute. Hier in Erfurt sind uns die Entwicklungen 1989 und 1990 noch vor Augen, als der Kalte Krieg ein Ende nahm und wir die friedliche Revolution hatten, als wir plötzlich der Meinung waren, der Siegeszug der Freiheit sei unaufhaltsam, und als wir auch das Glück der Deutschen Einheit erleben konnten. Trotzdem wissen wir, wie schwer es ist, dass Ähnliches auch anderswo auf der Welt Realität wird. Wir wissen, dass das Denken in geopolitischen Einflusszonen, das Denken in Form von Populismus und in Form von Abschottung überhaupt nicht vorbei ist, sondern dass unsere Vorstellung von der Würde jedes einzelnen Menschen und von einem Leben in Freiheit immer wieder erkämpft werden muss, dass immer wieder darum gestritten werden muss und dass das keine Selbstverständlichkeit ist. Ich halte es für falsch, wenn wir anfangen, wieder in geopolitischen Einflusszonen zu denken. Ich halte es für falsch, wenn wir glauben, auf schwierige Fragen einfache Antworten geben zu können. Ich halte es für falsch, zu glauben, einen Vorteil durch Abschottung erreichen zu können, wenn wir eigentlich daran arbeiten müssen, gemeinsam besser zu leben. Deshalb haben wir wieder eine große politische Aufgabe. Ich denke, dass gerade die Partei der Deutschen Einheit, die Partei, die mit Helmut Kohl zusammen die Deutsche Einheit maßgeblich gestaltet hat, diese Aufgabe annehmen sollte und dass wir uns nicht einfach zurücklehnen und sagen, vor einem Vierteljahrhundert hatten wir es gut, sondern dass wir jetzt wieder kämpfen müssen. Es geht also darum, dass Spaltung, Hass und Ausgrenzung nicht erfolgreich sind. Wir können und wollen zu unseren Werten und Interessen stehen. Ich glaube, wir werden damit erfolgreich sein. Diese Frage können wir als Deutsche sicherlich nicht allein entscheiden, regeln und lösen, sondern in Deutschland sollten wir uns auch immer als diejenigen begreifen, die nur dann erfolgreich sein können, wenn wir auch den Zusammenhalt in Europa in das Zentrum unseres Handelns stellen. Wir wissen, dass Deutschland zusammen mit Frankreich und anderen Partnern dafür Verantwortung übernehmen kann und muss. Ich möchte heute drei Aspekte in den Vordergrund stellen. Erstens: Welche Verantwortung haben wir Deutsche für Europa? Ich bin zutiefst davon überzeugt: Deutschland kann es auf Dauer nur dann gutgehen, wenn es auch Europa gutgeht. Das dürfen wir nie vergessen. Deshalb lohnt es sich, für ein einheitliches und wirtschaftlich starkes Europa einzutreten. Das, was uns die europäische Einigung an Frieden, Freiheit und auch Wohlstand gebracht hat, muss immer wieder erneut erkämpft und erarbeitet werden. Natürlich ist es eine Enttäuschung – ich sage das auch ganz persönlich –, dass Großbritannien aus der Europäischen Union ausscheiden will. Aber ich denke, das zeigt uns, dass wir – die 27 Mitgliedstaaten, die jetzt mit Großbritannien darüber verhandeln müssen – uns wieder vergewissern sollten, was uns Europa bringt, wie wir nach vorn schauen und was wir erreichen müssen. Für uns als Bundesregierung steht dabei im Vordergrund, den Zusammenhalt der Europäischen Union aufrechtzuerhalten, die Interessen unserer Bürgerinnen und Bürger zu wahren – Europa dient keinem Selbstzweck, sondern Europa ist für die Menschen da – und den Schaden zu begrenzen, den der Austritt Großbritanniens mit sich bringen wird. Aber wir sind entschlossen – das darf ich auch für meine Kollegen in den anderen 26 Mitgliedstaaten sagen –, uns als 27 nicht nur mit dem Austritt Großbritanniens zu beschäftigen, sondern vor allen Dingen auch zu überlegen, wo unser Platz in der Welt ist und was wir für die Menschen erreichen müssen. Das heißt, wir müssen insbesondere Wachstum und Beschäftigung fördern. Denn für viele Menschen ist die Europäische Union nicht mehr die Verheißung, dass man einen Arbeitsplatz hat. Wir müssen beim Umgang mit Flucht und Migration entschieden zusammenarbeiten. Wir müssen zusammenhalten, wenn es um den Kampf gegen Terrorismus geht. Wir müssen auch bei der Bewältigung der außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen zusammenarbeiten. Bei all dem geht es vor allen Dingen um die Chancen Europas. Wir als mit 80 Millionen Einwohnern größte Volkswirtschaft Europas meinen vielleicht, ein großes Land zu sein. Aber im Vergleich zu China und Indien, die jeweils weit über eine Milliarde Einwohner haben, sind wir ein kleines Land. Doch es gibt eine riesige Chance, mit einem gemeinsamen Binnenmarkt mit über 400 Millionen Menschen unsere Werte, unsere Vorstellungen und unsere Art zu wirtschaften besser durchzusetzen, als es jedem einzelnen europäischen Land allein je möglich wäre. Das heißt also, Europa muss da handlungsfähig sein, wo gesamteuropäisches Handeln einen Mehrwert mit sich bringt. Das bedeutet zum Beispiel, dass wir bei neuen technischen Entwicklungen, wenn es um die Digitalisierung geht, entschieden und gemeinsam für einen digitalen Binnenmarkt arbeiten müssen. Wir müssen versuchen, unsere kreativen Fähigkeiten zur Entfaltung kommen zu lassen. Wir müssen da, wo es notwendig ist, gegen Bürokratie kämpfen. Wir müssen gemeinsam mit Frankreich die Dinge in der Europäischen Union voranbringen. Ich denke, die Zusammenarbeit mit dem neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der in einem grandiosen Wahlkampf gegen Populismus gewonnen hat, bietet hierbei neue und gute Chancen. Dies führt mich zum zweiten Aspekt, bei dem wir gemeinsam Verantwortung übernehmen wollen, nämlich zur Frage der Sicherheit Europas. Der französische Präsident Emmanuel Macron und ich haben vereinbart, dass wir in der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mehr Zusammenarbeit und mehr konkrete Fortschritte brauchen. Die Europäische Union muss zur Regelung von Konflikten in ihrer Nachbarschaft in der Lage sein; und zwar nicht anstelle der NATO – das will ich ausdrücklich sagen –, sondern ergänzend zur und in Gemeinschaft mit der NATO. Deshalb wird es beim nächsten Europäischen Rat in der kommenden Woche darum gehen, dass wir die Planung und Entwicklung unserer militärischen Fähigkeiten besser aufeinander abstimmen und gemeinsame Vorhaben besser planen können. Unser Ziel muss es sein, gemeinsame, gesamteuropäische Fähigkeiten zu entwickeln. Angesichts der Vielzahl an Krisen und Konflikten in unserer Nachbarschaft sollten wir uns darum bemühen, dass die Partner in anderen Regionen der Welt jeweils auch in die Lage versetzt werden, sich stärker als bislang um ihre eigene Sicherheit zu kümmern. Wenn wir uns einfach noch einmal die Landkarte und die geopolitische Situation vor Augen führen, dann erkennen wir, dass viele Konflikte, über die wir reden, in unserer Nachbarschaft stattfinden. Wenn wir einmal die Außengrenzen des Schengenraums an uns vorbeiziehen lassen – vom Nordpol über Russland und den Nahen Osten am Mittelmeerraum bis Algerien und Marokko –, dann wissen wir, dass die Vielzahl der Konflikte, über die wir reden, Konflikte in der Nachbarschaft der Europäischen Union sind. Deshalb müssen wir als Europäer, wenn wir unser Schicksal in die Hand nehmen wollen, auch in der Lage sein, um Verbündete zu werben. Hier nenne ich die NATO. Wir müssen aber auch politisch aktiver sein, um Konflikte politisch lösen zu können. Deshalb ist die Stärkung Europas in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung alles andere als eine Abwendung von der NATO oder der Transatlantischen Allianz. Die transatlantischen Beziehungen bleiben von herausragender Bedeutung. Aber wir Europäer müssen eben auch eigene Verantwortung übernehmen. Dazu gehört für mich im Übrigen auch ganz wesentlich, dass wir nicht nur einen verengten Blick auf das Militärische und die Verteidigungsausgaben haben sollten. Die Bundesregierung verfolgt immer einen Gesamtansatz. Das heißt, militärische Maßnahmen sind immer eine Ultima Ratio und müssen in humanitäre, entwicklungspolitische und diplomatische Anstrengungen eingebettet sein. Es ist ein Gesamtpaket, das wir als Europäer verfolgen. Genau in diesem Sinne habe ich mich dafür eingesetzt, dass wir bei allen Diskussionen über Verteidigungsausgaben, wie wir sie beim NATO-Gipfel 2014 in Wales geführt haben, genauso im Blick haben müssen: Was geben wir für Entwicklungspolitik aus? Genauso müssen wir den Blick darauf lenken, wie viel Kraft wir für Krisenprävention einsetzen können, wie viele Anstrengungen wir bei der Bekämpfung von Fluchtursachen unternehmen. Das heißt, es muss immer ein Gesamtansatz sein, wie wir ihn jetzt zum Beispiel auch in Mali verfolgen. Einerseits sind unsere Soldaten dort, andererseits versuchen wir, mit UN-Friedenstruppen und mit politischen Mitteln langfristige Lösungen hinzubekommen. Wir sind mit Mali und Niger eine Migrationspartnerschaft eingegangen, um dort eben auch die Lebenssituation der Menschen zu verbessern. Das heißt also: Es geht immer darum, Frieden und nachhaltige Sicherheit zu schaffen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch noch einmal sagen, dass unsere Verantwortung als Europäer ganz wesentlich in der Stärkung der Möglichkeiten und Fähigkeiten der Vereinten Nationen liegt. Die Vereinten Nationen sind die Gemeinschaft der Staaten der Welt. Ohne die Vereinten Nationen, ohne ihre Hilfsorganisationen wäre die Welt um ein Vielfaches unsicherer, wäre die Zahl der Flüchtenden noch größer, wären die Brutstätten des Terrorismus noch zahlreicher, als das heute schon der Fall ist. Bei aller Kritik, wie langsam vieles geht, will ich den Vielen ein Dankeschön sagen, die sich im Rahmen der Vereinten Nationen weltweit für mehr Frieden und mehr Sicherheit einsetzen. Meine Damen und Herren, neben den Fragen zur Verantwortung in Europa und den Fragen zur Sicherheit ist der dritte Aspekt, bei dem unser Land Verantwortung übernehmen muss und übernimmt, die Bewältigung globaler Herausforderungen. Dazu gehört, uns für einen freien Welthandel und gegen Protektionismus einzusetzen. Ich bin zutiefst davon überzeugt – und wir spüren das ja auch als Exportnation –, dass offene Märkte helfen, bei uns zu Hause Arbeitsplätze zu schaffen und Wohlstand auch weltweit zu fördern. Sie kommen Menschen, Unternehmen und Verbrauchern zugute. Das heißt, offene Märkte sind Teil einer freien, zusammenwachsenden Welt. Wir setzen uns für einen Welthandel auf der Grundlage klarer Regeln und mit der WTO im Zentrum ein. Wir arbeiten für Freihandelsverträge, die Chancen für unsere Unternehmen, Verbraucher und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schaffen. Ich weiß – heute sind ja nicht nur CDU-Anhänger, sondern auch Vertreter anderer Parteien hier –, wie kontrovers diese Abkommen diskutiert werden. Wir haben das beim Freihandelsabkommen mit Kanada gesehen. Ich möchte aber für solche Abkommen werben. Denn wenn wir, die Europäer, mit Ländern, die unsere Wertebasis teilen, nicht in der Lage sind, gute Abkommen abzuschließen, werden andere auf der Welt Standards vorgeben, die nicht unbedingt unseren Verbraucherstandards, nicht unseren Umweltstandards und nicht unseren Sozialstandards entsprechen. Deshalb sollten wir die Chancen nutzen und sie nicht verstreichen lassen. Wir haben uns deshalb beim G7-Gipfel Ende Mai auf Sizilien auch für eine Stärkung des internationalen Handelssystems ausgesprochen. Wir wollen faire Handelsprinzipien und wollen unfaire Handelspraktiken bekämpfen. Eine weitere zentrale Herausforderung ist und bleibt die Bewältigung des Klimawandels. Hierbei ist für uns in Europa und in Deutschland klar: Das Pariser Abkommen bildet einen Eckpfeiler der Zusammenarbeit der Länder der Welt. Über dieses Abkommen ist lange verhandelt worden. Dessen Einhaltung bleibt auch unabdingbar für die Erfüllung der Ziele der Agenda 2030, also der Entwicklungsagenda für die gesamte Welt. Ich will hier noch einmal sagen: Eigentlich ist nahezu mein ganzes politisches Leben mit solchen Abkommen verbunden. Ich war von 1994 bis 1998 Umweltministerin. Damals gab es das Berliner Mandat; es gab das Kyoto-Protokoll. Wir mussten viele Kompromisse eingehen. Endlich ist es im Jahr 2015 gelungen, die Welt zu vereinen. Deshalb werde ich jedenfalls weiter für die Einhaltung des Pariser Abkommens kämpfen. Deshalb habe ich nach der Entscheidung der Vereinigten Staaten von Amerika, aus dem Pariser Abkommen auszutreten, auch gesagt: Diese Entscheidung der USA wird uns alle, die wir uns dem Schutz unserer Erde verpflichtet fühlen, nicht aufhalten. Ich glaube, dass wir entschlossener denn je in Deutschland und Europa alle Kräfte bündeln sollten, um gegen den Klimawandel anzukämpfen und uns für ein nachhaltiges Wirtschaften einzusetzen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass dies ein Weg ist, der zum Wohle aller Menschen ist und der im Übrigen auch eine gewaltige Dynamik für mehr Wohlstand und mehr Chancen auf der Welt entfalten wird. Das Pariser Abkommen ist ein Baustein dafür, dass wir unsere Schöpfung auf dieser Welt bewahren können. Meine Damen und Herren, wir haben in diesem Jahr die Präsidentschaft der G20, der 20 führenden Industrienationen der Welt, inne. Wir werden uns in wenigen Wochen in Hamburg unter dem Motto „Eine vernetzte Welt gestalten“ versammeln. Hier stellen wir uns ganz bewusst vor, die internationale Zusammenarbeit in den Mittelpunkt zu stellen und zu sagen: Nur miteinander, nur indem wir gute Win-win-Situationen für alle schaffen, wird es eine stabile und auch nachhaltige Entwicklung der Welt geben. Nur so kann eine internationale Ordnung gezielt gefördert werden, die nicht zu Lasten anderer aufgebaut wird, sondern die alle Menschen im Blick hat. Wir wollen in der G20 eine Diskussion zu den Chancen der Globalisierung anstoßen. Wir wollen über die Vorteile der Globalisierung sprechen. Wir wollen über die Nachteile von Abschottung sprechen. Gleichzeitig wollen wir natürlich nicht verschweigen, vor welch riesigen Herausforderungen wir stehen. Die G20 ist eines der wichtigsten Foren, um sich international auszutauschen. Ich freue mich, dass wir für die Staats- und Regierungschefs der vielen anderen Länder Gastgeber sein können. Wir Deutschen können selbstbewusste Gastgeber sein. Denn unser Land, das vor 15 Jahren noch als der sogenannte kranke Mann Europas galt, ist heute stark. Es ist inzwischen gelungen, die Arbeitslosenzahlen seit meinem Amtsantritt im Jahr 2005 zu halbieren. Es ist gelungen, Millionen neuer Arbeitsplätze zu schaffen. Wir haben noch nie so viele sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse gehabt wie heute. Wir haben noch nie so viele Erwerbstätige in Deutschland gehabt wie heute. Wir nehmen keine neuen Schulden auf, sondern haben nachhaltige Finanzen. Wir sparen nicht um des Sparens willen, sondern aus der Überzeugung heraus, dass es unsere Aufgabe ist, auch an die künftigen Generationen zu denken – und das allemal in einem Land, in dem wir weniger Kinder haben, als wir uns das vielleicht wünschen würden, und in dem wir Generationengerechtigkeit ganz groß schreiben. Wir haben seit 2005 unsere Investitionen in Bildung und Forschung mehr als verdoppelt. Wir haben in dieser Legislaturperiode die Pflegeversicherung und die sozialen Sicherungssysteme gestärkt. Wir haben mit all dem wichtige Schritte gemacht, ohne dass wir in irgendeiner Weise selbstgefällig werden dürfen, aber in denen sich doch das Ziel widerspiegelt, das Ludwig Erhard vor sechs Jahrzehnten ausgerufen hat: „Wohlstand für alle.“ Das muss unser Anspruch sein. Das heißt für mich nichts anderes, als dass wir uns für ein Deutschland einsetzen, in dem möglichst alle gut und gerne leben können. Das ist Politik zum Wohle der Menschen. Wir sind davon überzeugt, dass wir dies nicht gegen andere durchsetzen wollen, sondern mit anderen auf dieser Erde. Politik zum Wohle der Menschen – das ist das, was wir fortsetzen sollten. Ich darf darauf hinweisen, dass unter den Landesverbänden der politischen Parteien in Thüringen die CDU eine starke Kraft ist; Mike Mohring hat das dargestellt. Mit eigenen Erfahrungen – was kommunale Eigenständigkeit, Landespolitik, die Verschiedenheit der Regionen und die Vielfalt unserer Heimat anbelangt – sollten wir auch europäische Politik und globale Politik mitgestalten. Das alles gehört zusammen. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass ich heute eingeladen wurde. Herzlichen Dank dafür und Ihnen allen alles Gute.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Digital-Gipfel 2017 in Ludwigshafen am 13. Juni 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-digital-gipfel-2017-in-ludwigshafen-am-13-juni-2017-420482
Tue, 13 Jun 2017 14:47:00 +0200
Ludwigshafen
Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Frau Dreyer, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Herr Kretschmann, sehr geehrter Herr Dirks, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett und aus den Parlamenten, meine Damen und Herren, 2006 fand der erste IT-Gipfel statt. Das Format war damals noch deutlich kleiner. Inzwischen sind diese Veranstaltungen gewachsen. Es sind immer mehr Beteiligte, immer mehr Bereiche dazugekommen. Das liegt auch in der Natur der Sache, weil wir ja von einer Transformation der Gesellschaft sprechen – einer digitalen Transformation. Dieser heutige Digital-Gipfel ist im Grunde eine interessante Kooperation zwischen denen, die die Aufgabe haben, Leitplanken bzw. einen Rahmen zu setzen – meistens gesetzlicher Natur oder in Form von Standards –, und denen, die in der Wirtschaft die Dinge vorantreiben. Hier hat sich eine ganz besondere Art der Kooperation herausgebildet, weil wir eben gemeinsam in die Welt der digitalen Transformation hineingehen und versuchen, jeweils unseren Aufgaben und Rollen gerecht zu werden. Spannend ist das Ganze auch deshalb, weil wir eine digitale Infrastruktur, die eigentlich zur Daseinsvorsorge gehört, sozusagen privat entwickeln. Früher zählte Daseinsvorsorge zu klassischen öffentlichen Aufgaben. Heute finden wir beim Breitbandausbau eine Symbiose von wirtschaftlichen Initiativen und öffentlichen Förderkulissen, die dort notwendig sind, wo es sich wirtschaftlich nicht rechnet. Das heißt, es sind ganz neue Formen der Kooperation entstanden. Wir haben darüber hinaus dadurch, dass diese Gipfel an jeweils anderen Orten stattfinden, auch deutlich gemacht, wie sich die digitale Entwicklung in der Fläche und in der Breite darstellt. Wir freuen uns, dass wir heute in der Metropolregion Rhein-Neckar sind und deutlich machen können, dass Gemeinsamkeiten auch zu neuer Stärke verhelfen. Ich habe zwei Ministerpräsidenten begrüßt – die Metropolregion gehört aber zum Teil auch zum Land Hessen, das ich natürlich in meine Grüße einschließen möchte. Ich habe heute gelernt, dass diese Metropolregion die Region Deutschlands mit der größten Unternehmensdichte in der Softwareentwicklung ist; das war mir bislang noch gar nicht bewusst. Dass hier auch der digitale Hub für Chemieindustrie angesiedelt ist, wundert mich nicht so sehr; das liegt vielmehr nahezu auf der Hand. Deshalb sind wir ja auch in Ludwigshafen. Sie sehen daran auch, wie die Bundesregierung bei der Entwicklung der digitalen Transformation vorgegangen ist: Wir zentralisieren eben nicht nur, sondern wir versuchen, regionale Schwerpunkte zu setzen und damit die Durchdringung unserer gesamten Gesellschaft möglich zu machen. Der Ausbau der Infrastruktur ist, wie in jedem Jahr, auch heute ein zentrales Thema. Inzwischen sprechen wir über 5G. Wir sind sozusagen fast aus dem Megabitzeitalter heraus, obwohl das Ziel, jeden Haushalt mit 50 Megabit pro Sekunde anzubinden, erst im nächsten Jahr erreicht sein wird. Wir nehmen aber bereits die nächste Etappe in den Blick. Und das heißt: Die Gigabitanbindung wird notwendig sein, um neue Anwendungen – Telemedizin, autonomes Fahren und andere Anwendungen – überhaupt möglich zu machen. Wir reden vom Internet der Dinge, von der Vernetzung aller Dinge, die sich in den nächsten Jahren massiv weiterentwickeln wird. Dafür brauchen wir natürlich eine ganz neue Infrastruktur. Wir haben heute auch darüber gesprochen – interessanterweise haben wir darüber auch im Zusammenhang mit der Zukunft der Bund-Länder-Finanzen gesprochen –, wie wir denn als Regierungen, als öffentliche Verwaltungen, in der digitalen Transformation besser werden können. Hierbei ist Deutschland nicht an der Spitze der Entwicklung. Eine Reise nach Estland, nach Finnland oder auch Dänemark zeigt vielmehr, dass andere in Europa hierbei weiter sind. Wir haben im Zusammenhang mit dem Bund-Länder-Finanzausgleich dahingehend eine Weichenstellung vorgenommen, als das Grundgesetz so geändert wurde, dass wir in Zukunft für jeden Bürger sozusagen den Zugang zur öffentlichen Verwaltung – von der kommunalen Dienstleistung über Länderdienstleistungen hin zu Bundesdienstleistungen – über ein einheitliches Portal ermöglichen können. Das wird in gewisser Weise auch dem Grundsatz der Datensparsamkeit gerecht, weil der Bürger nicht für jede seiner Anwendungen alle seine Daten wieder neu angeben muss. Ich glaube, hier werden wir in den nächsten vier bis fünf Jahren noch einen Quantensprung erreichen. Ich denke, dass das auch vor dem Hintergrund wichtig ist, dass Deutschland bekanntermaßen eine demografische Entwicklung hat, die dazu führt, dass sich unser Durchschnittsalter eher nach oben bewegt. Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger mehr mit der digitalen Entwicklung vertraut machen. Und dabei kann der öffentliche Bereich aus meiner Sicht eine wesentliche Rolle spielen. Wir haben bei diesem Digital-Gipfel das Schwerpunktthema Gesundheit auf der Tagesordnung. Ich konnte mich heute beim Besuch von einzelnen Projekten auch davon überzeugen, wie sehr Digitalisierung auch im medizinischen Alltag bereits Einzug gehalten hat. Mit Blick auf die Durchsetzung gleichwertiger Lebensbedingungen in Deutschland, gerade auch was die gesundheitliche Versorgung anbelangt, wird die Digitalisierung sehr viel mehr Chancen als Risiken in sich bergen – wenngleich sich auch eine Vielzahl von ethischen Fragen stellen wird; auch das ist vollkommen klar. Wir haben inzwischen ein E-Health-Gesetz, auch um die Akteure des Gesundheitswesens miteinander vernetzen zu können. Wir haben nicht nur 70 Millionen gesetzlich Versicherte, sondern auch mehr als 200.000 Ärzte, 20.000 Apotheken und 2.000 Krankenhäuser in Deutschland. Diese können mithilfe der Digitalisierung noch sehr viel besser kooperieren, sehr viel besser bestimmte Daten auswerten und damit präziser Erkrankungen diagnostizieren und Therapien entwickeln. Damit bin ich bei einer Frage, die uns alle umtreibt und über die in Deutschland auch viel diskutiert wird, nämlich: Wie gehen wir mit den großen Datenmengen um, die wir zur Verfügung haben? Einerseits haben wir den Auftrag der Datensparsamkeit, andererseits gibt es die klare Entwicklung, dass wir mithilfe großer Datenmengen auch vollkommen neue Produkte entwickeln können. Wenn wir in Deutschland von den Möglichkeiten der Digitalisierung insgesamt und in der ganzen Breite Gebrauch machen wollen, dann dürfen wir nicht nur die bisher bekannten Wertschöpfungsketten digitalisieren, sondern dann müssen wir mit der Vielzahl von Daten auch neue Anwendungen und neue Produkte entwickeln. Das betrifft nicht nur separat den Bereich des Business, der Wirtschaft, oder den Bereich der Verbraucher, der Individuen, sondern auch die Beziehung der Akteure der Wirtschaft zu ihren Kunden, die sich völlig verändern wird. Ich kann immer nur darauf hinweisen, dass wir diese Perspektive nicht aus dem Blick verlieren sollten, weil da große neue Wertschöpfungsmöglichkeiten entstehen werden, die insbesondere auch vom deutschen Mittelstand klug, intensiv und schnell genutzt werden müssen. Ansonsten wird von der Seite der Plattformanbieter die Wertschöpfungskette angeknabbert. Und das könnte dann bei der Frage, wer denn wen in das neue Zeitalter führt, Entwicklungen mit sich bringen, die für Deutschland nicht von Nutzen sein würden. Meine Damen und Herren, natürlich ist bei großen Datenmengen sofort die Frage nach dem Datenschutz auf der Tagesordnung. Wir haben glücklicherweise die EU-Datenschutzgrundverordnung fertig verhandelt, die allerdings noch sehr viele unbestimmte Rechtsbegriffe enthält. Diese Datenschutzgrundverordnung wird im Frühjahr nächsten Jahres in Kraft treten und anzuwenden sein. Wir haben heute sehr intensiv darüber gesprochen, dass wir diesbezüglich noch eine Informationsoffensive brauchen, um deutlich zu machen, welcher neue Rechtsrahmen in Zukunft gelten wird. Wir haben im Zusammenhang mit der Digitalisierung auch grenzüberschreitende Vernetzungen und internationale Kooperationen. Deshalb hat Deutschland auch zum ersten Mal ein Treffen der Digitalminister während der G20-Präsidentschaft durchgeführt. Wir setzen uns auf der Ebene der Europäischen Union dafür ein, dass sich der digitale Binnenmarkt zügig entwickeln kann. Der digitale Binnenmarkt ist sozusagen die Plattform, von der aus wir unsere europäische Stärke entwickeln können. Und das bedeutet natürlich, dass wir bei den Standards europäische Schwerpunkte setzen. In diesem Zusammenhang darf ich sagen, dass Industrie 4.0 eine Erfolgsgeschichte ist. Damit haben wir die Möglichkeit, europaweit und durchaus auch weltweit Standards zu setzen. Ich möchte allen, die daran mitgearbeitet haben, ganz herzlich danken. Es ist auch ganz besonders wichtig, dass nicht nur die großen Unternehmen den Schritt in die Digitalisierung schaffen, sondern auch die kleinen und mittleren Unternehmen, die daher ausreichend Beratung und Hilfestellung bekommen sollen. Wir haben beim Thema Bildung und Digitalisierung noch viel Arbeit vor uns. Wir haben heute über eine Cloud für Bildungsinhalte gesprochen, die bundeseinheitlich für die Schulen angeboten werden könnte. Dazu finden bereits erste Entwicklungen im Bildungs- und Forschungsministerium statt. Wir haben auch darüber gesprochen, dass wir junge Menschen dafür begeistern müssen, sich bei der Berufsauswahl der digitalen Zukunftschancen bewusst zu werden. Es fehlen Zehntausende IT-Spezialisten. Ich kann daher nur allen, die Zugang zu jungen Menschen haben, die noch nicht wissen, was sie lernen und studieren sollen, sagen: Vergessen Sie die IT-Branche nicht; da finden sich sichere Beschäftigungsmöglichkeiten. Für unsere kleinen und mittelständischen Unternehmen ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir genügend Fachkräfte haben. Sie werden auch nicht alles outsourcen können. Wenn man seine eigene Sicherheitsstrategie, seine eigene Datenverwaltung haben will, dann brauchen auch Mittelständler, die heute vielleicht noch gar nicht an IT-Spezialisierung denken, eigene Beschäftigte, die dann aber auch zur Verfügung stehen müssen. Insofern ist das von allergrößter Bedeutung. Weil wir jedes Jahr einmal den Girls‘ Day haben, möchte ich ergänzen: Wenn man fragt, wie viele Ingenieursstudienplätze oder wie viele IT-Studienplätze pro Semester von Frauen in Anspruch genommen werden, dann bekommt man nach wie vor die Antwort, dass das immer zwischen 22 und 25 Prozent liegt. Zur Gleichstellung ist es da also noch weit. Ich glaube, so wie Frauen gut schreiben und rechnen können, so können sie auch gut programmieren. Meine Damen und Herren, Herr Dirks hat so etwas wie ein kleines Resümee dieser Legislaturperiode gezogen. Dazu gehört aus meiner Sicht auch, dass wir zur Verbesserung der Situation von Start-ups manches auf den Weg gebracht haben; und zwar sowohl in der Gründungsphase als auch in der Phase des Wachstums. Hier werden noch weitere Schritte zu gehen sein; manches ist auch schon angelegt. Darüber hinaus haben wir auch einen großen Fortschritt im gesamten Sicherheitsbereich gemacht. Es ist eine völlig neue Cybersicherheitsstrategie entwickelt worden. Auch hierbei sind wir also in den letzten Jahren deutlich vorangekommen. Eines ist klar: Die Welt schläft nicht; und sie wartet auch nicht auf Deutschland. Insofern ist der Druck groß, weiterzuarbeiten, nicht zu ruhen, nicht zu rasten und gute Beispiele in den Mittelpunkt zu stellen. Das führt mich dazu, dass ich Darmstadt dazu gratulieren möchte, dass es den Wettbewerb „Digitale Stadt“ gewonnen hat. Ich habe Frau Zypries, die dort ihren Wahlkreis hat, gefragt, ob sie bei der Vergabe dieses Preises mitgewirkt hat. Sie hat das entschieden von sich gewiesen. Umso mehr also mein Glückwunsch zu diesem Titel. Ich möchte abschließend den Gastgebern danken – ich sehe hier gerade die Oberbürgermeisterin von Ludwigshafen. Wir haben uns hier wohlgefühlt. Jedenfalls habe ich mich in der kurzen Zeit, die ich da war, wohlgefühlt; und ich habe den anderen nicht angesehen, dass sie sich nicht wohlgefühlt hätten. Insofern also: Danke schön für Ihre Gastgeberrolle. Weil nun das Ende der Legislaturperiode bevorsteht, können wir nicht sagen, wo der nächste Gipfel stattfinden wird. Ich habe mich aber informiert und erfahren, dass alle eigentlich dafür sind, dass es weiterhin solche Gipfel gibt. Man muss dann sicherlich darüber reden, ob man dieses oder jenes noch verändern und verbessern kann. Aber im Grundsatz hat sich diese Form der Kooperation bewährt. Deshalb ein herzliches Dankeschön Ihnen allen für das Mitmachen, für die lebendigen Diskussionen und für neue Einsichten. Ich kann für mich sagen: Jeder dieser Digital-Gipfel bzw. IT-Gipfel war für mich auch ein Tag des Lernens über das, was vor sich geht. Deshalb: Auf in eine weiter spannende Zukunft.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der G20-Afrika-Partnerschaftskonferenz „In eine gemeinsame Zukunft investieren“ am 12. Juni 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-g20-afrika-partnerschaftskonferenz-in-eine-gemeinsame-zukunft-investieren-am-12-juni-2017-in-berlin-414264
Mon, 12 Jun 2017 14:59:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrter Herr Premierminister Gentiloni, lieber Paolo, sehr geehrte Vertreter der internationalen Organisationen, der G20 und der Partnerländer, liebe Kollegen aus dem deutschen Kabinett, Wolfgang Schäuble und Gerd Müller, meine Damen und Herren, Sie haben zum Teil eine sehr lange Anreise auf sich genommen. Ich möchte Sie alle ganz herzlich willkommen heißen zu der Partnerschaftskonferenz mit dem Titel „In eine gemeinsame Zukunft investieren“. Wir wollen mit dieser Konferenz einen Beitrag dazu leisten, dass dies nicht einfach nur Stichworte auf dem Papier sind, sondern dass wir während dieser Konferenz auch wirklich arbeiten und Zusammenarbeit leben wollen. Unsere wirtschaftlichen Beziehungen bilden ein immer engmaschigeres Netz rund um den Globus. Durch das Internet wissen wir inzwischen viel mehr voneinander, als das früher der Fall war. Kontakte zu knüpfen und Kontakte zu pflegen – das ist kaum mehr eine Frage der Entfernung. In einer solchen Entwicklung stecken natürlich ungeheure Chancen. Das heißt aber auch: Wir müssen eine nachhaltige und inklusive wirtschaftliche Entwicklung für die gesamte Welt hinbekommen. Ein einzelner Staat allein kann da wenig bewirken. Aber Globalisierung ist kein Schicksal, dem wir uns tatenlos fügen müssen. Nein, wir brauchen partnerschaftliche Ansätze. Mit der Agenda 2030 ist uns etwas Großartiges gelungen, weil sich alle Länder dieser Erde auf einen gemeinsamen Entwicklungspfad verständigt haben. Anders, als es bei den Millenniumsentwicklungszielen der Fall war, mit denen man bestimmte Ziele für die Entwicklungsländer definiert hat, sind diesmal alle Länder – die entwickelten und die Entwicklungsländer – Teil dieser Agenda 2030. Auf dieser Grundlage haben wir für unsere G20-Präsidentschaft das Motto „Eine vernetzte Welt gestalten“ gewählt. Das G20-Treffen wird in Hamburg stattfinden. Wir haben dafür ein Symbol aus der Seefahrt genommen, nämlich den sogenannten Kreuzknoten. Je stärker die Kräfte an ihm ziehen, umso fester hält dieser Knoten. Er symbolisiert die Vernetzung unserer Länder. Wir wissen: Wir werden keine gute Entwicklung der Welt haben, wenn nicht alle Kontinente an einer solchen Entwicklung teilhaben. Das bedeutet vor allen Dingen auch, dass der afrikanische Kontinent in den nächsten Jahren auf seinem Entwicklungspfad vorankommen muss. Wir haben schon heute eine beachtliche wirtschaftliche Dynamik in einigen Ländern Afrikas. Zum Teil wird ein deutlich höheres Wachstum als in den Industrie- und Schwellenländern der G20 erreicht. Solche Erfolgsgeschichten sollen auch andere animieren. Sie zeigen, welches Potenzial in afrikanischen Staaten steckt – zum Beispiel auch im Bereich der erneuerbaren Energien oder auch der digitalen Entwicklungen. Es gibt viele gute Beispiele für dezentrale Energieversorgung und vieles andere mehr. Aber es ist eben auch noch sehr viel zu tun. Wir in den Industriestaaten müssen uns überlegen, ob wir mit der klassischen Entwicklungshilfe immer den richtigen Weg gegangen sind. Ich glaube, das haben wir nicht immer getan. Wir müssen uns stärker auf die jeweilige eigene wirtschaftliche Entwicklung der Länder fokussieren. Daraus ist die Idee entstanden – insbesondere unseres Finanzministers und auch unseres Entwicklungsministers –, zu sagen: Wir brauchen eine Initiative, mit der wir nicht über Afrika, sondern mit Afrika sprechen. Daraus ist die Initiative „Compact with Africa“ entstanden. Die afrikanischen Länder haben mit ihrer Agenda 2063 auch eigene Vorgaben und haben deutlich gemacht, wohin die Entwicklung gehen soll. Insofern heißt es eben nicht Compact for Africa, sondern Compact with Africa. Jedes Land soll in diese Initiative einbringen, was es als Entwicklungsnotwendigkeiten sieht und wie wir seiner Ansicht nach helfen und gemeinsam geeignete Instrumente zur Verfügung stellen können, damit betreffende Entwicklungsprojekte dann auch gelingen. Darüber werden Sie in den nächsten Stunden und Tagen intensiv sprechen. Wir wollen Sie unterstützen bei der regionalen Integration der Märkte, um auch den Technologie- und Wissenstransfer zu stärken. Wir wollen auch die Handelsströme zwischen Europa und den afrikanischen Ländern so ausrichten, dass diese wirklich zum Vorteil aller sind. Hierbei haben wir noch viel zu tun. Im November wird der nächste Gipfel der Europäischen Union und der Afrikanischen Union stattfinden. Auch zur Vorbereitung dieses Gipfels dient die heutige Tagung, die wir im Rahmen unserer G20-Präsidentschaft durchführen. Denn wir wissen: Die Ergebnisse, die wir in den letzten Jahren erreicht haben, sind noch nicht ausreichend. In vielen Ländern bleibt die Entwicklung hinter dem Niveau zurück, das angesichts des rasanten Bevölkerungswachstums notwendig wäre. Bis 2050 ist eine Verdopplung der Bevölkerung Afrikas zu erwarten. Wir wissen auch: Entwicklung ist nur möglich, wenn gleichzeitig Sicherheit gewährleistet ist. Sicherheit ist aber in vielen Teilen Afrikas nicht in ausreichender Weise gewährleistet – aufgrund von fragiler Staatlichkeit, von Konflikten, von Terrorismus oder auch humanitären Krisen. Vielzählige menschliche Tragödien spielen sich auch jetzt zu dieser Stunde ab. Daher steht die Frage der wirtschaftlichen Dynamik in einigen Ländern Afrikas gar nicht ganz oben auf der Tagesordnung, sondern dort hat erst einmal die Frage nach dem täglichen Überleben die größte Priorität. Das heißt also, es geht in der Partnerschaft mit Afrika auf der einen Seite um wirtschaftliche Entwicklung, auf der anderen Seite auch darum, Frieden, Stabilität und Sicherheit zu fördern – also darum, zunächst die grundlegenden Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wirtschaftliche Aktivitäten überhaupt erst erfolgen können. Da müssen wir auch neu denken lernen. Denn viele Jahre lang haben sich Entwicklungspolitiker nicht ausreichend mit Sicherheitsfragen beschäftigt. Viele Jahre lang haben wir uns gut gefühlt, wenn wir uns nicht mit militärischer Ausrüstung beschäftigt haben. Aber einige von Ihnen haben mir erklärt: Wir sollen auf der einen Seite gegen Terrorismus kämpfen, auf der anderen Seite bekommen wir aber genau dafür keine Unterstützung. Ich denke daher, wir müssen uns ehrlich machen und sagen: Nur dort, wo Sicherheit gewährleistet ist, kann überhaupt Entwicklung stattfinden. Ich finde es sehr mutig, dass einige Länder zum Beispiel im Kampf gegen Terrorismus in Mali und in der Nachbarschaft bereit sind, selbst Verantwortung zu übernehmen. In diesem Zusammenhang ersucht Frankreich um ein UN-Mandat im Sicherheitsrat. Ich kann nur sagen: Wir werden sie dabei auch von deutscher Seite unterstützen. Besondere Aufmerksamkeit – das wird auch in der Agenda 2063 deutlich – müssen wir der Jugend Afrikas widmen. Deutlich mehr als die Hälfte der Menschen ist jünger als 25 Jahre. Ich sage das in Deutschland immer wieder: Unser deutsches Durchschnittsalter beträgt 43 Jahre. Das Durchschnittsalter in Niger, in Mali, in anderen Ländern liegt bei wenig mehr als 15 Jahren. Daran sieht man, welche unterschiedlichen Situationen wir haben. Wenn wir der Jugend keine Perspektive geben, wenn wir nicht in Bildung und Qualifikation investieren, wenn wir gerade auch die Rolle von Mädchen und jungen Frauen nicht stärken, dann wird die Entwicklungsagenda keinen Erfolg haben. Das heißt also, wir werden im Rahmen unserer G20-Arbeit mit den Compacts with Africa sowie mit speziellen Initiativen zur Bildung von Frauen und zur Förderung des Unternehmertums von Frauen alles daransetzen, die Voraussetzungen dafür zu verbessern, dass Afrika die Entwicklung und Dynamik entfalten kann, die wir brauchen. Wenn es in Afrika zu viel Hoffnungslosigkeit gibt, dann sagen junge Menschen auch: Wir müssen uns woanders auf der Welt ein neues Leben suchen. Das heißt, indem wir gemeinsam mit Ihnen für Ihre Länder arbeiten, schaffen wir auch mehr Sicherheit für uns und können denen das Handwerk legen, die im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung aus dem Schicksal von Menschen illegal Profit schlagen. Durch illegalen Menschenschmuggel und -handel erleiden viele Flüchtlinge schreckliche Schicksale. Deshalb heißt es: Staaten müssen zusammenarbeiten. Wir müssen die Dinge legalisieren und dürfen nicht erlauben, dass einige mit dem Leid anderer Geld verdienen und davon profitieren. Meine Damen und Herren, diese Konferenz dient auch dazu – auch deshalb danke für Ihr Kommen –, die Aufmerksamkeit viel stärker auf die Verschiedenheiten Ihrer Länder, auf die Vielfalt der Herausforderungen in Afrika zu lenken. Viele in Deutschland wissen noch nicht so gut über die wunderbaren wie auch über die schwierigen Seiten Ihrer Länder Bescheid, wie wir uns das wünschen würden. „Eine vernetzte Welt gestalten“ – das heißt auch, sich besser kennenzulernen, voneinander zu wissen und auch gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Ich hoffe, dass diese Konferenz einen Beitrag dazu leistet. Deshalb bitte ich Sie alle, die Sie hier teilnehmen: Nehmen Sie kein Blatt vor den Mund; reden Sie Tacheles, wie wir in Deutschland sagen würden. Es nützt nichts, wenn wir nur nette Worte sagen. Wir müssen voneinander lernen. Und wir müssen Resultate erzielen. Dazu dient das hier. Ihnen allen ein herzliches Willkommen.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Tagung „Erinnerung bewahren – Zukunft gestalten. Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-tagung-erinnerung-bewahren-zukunft-gestalten-kultur-und-geschichte-der-deutschen-im-oestlichen-europa–795734
Mon, 12 Jun 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Wer ein Ohr hat für das, was Orte von der Vergangenheit erzählen, wird gerade in Mittel- und Osteuropa einen vielstimmigen Chor der Erinnerungen an das wechselvolle 20. Jahrhundert vernehmen. Hier liegen Orte der deutschen Geschichte, die gleichzeitig auch Orte der Geschichte Polens, Ungarns, Tschechiens, der baltischen Republiken oder auch der Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind. Es sind Orte, die unterschiedliche, gegensätzliche, ja vielfach sogar scheinbar widersprüchliche Geschichten erzählen: Geschichten unendlichen Leids, aber auch Geschichten von der inspirierenden Mischung unterschiedlicher Sprachen und Kulturen; Geschichten über Verwüstung, Flucht, Vertreibung, Unterdrückung, aber auch Geschichten vom gemeinsamen Ringen um ein freies, geeintes Europa; Geschichten vom Verlust der deutschen Kultur im Osten, aber auch Geschichten von der Lebendigkeit dieser Kultur bis in die Gegenwart; Geschichten, die unterschiedliche Perspektiven auf Europas Gegenwart und Zukunft beschreiben, Geschichten, die bisweilen um Geltung und Anerkennung konkurrieren, Geschichten jedenfalls, die zusammen kein homogenes Narrativ, kein gemeinsames Gedächtnis ergeben und die doch alle ihren Platz beanspruchen in einer europäischen Erinnerungskultur, in einem gemeinsamen Raum der Erzählungen. Der Vielstimmigkeit der Erinnerungen im östlichen Europa und an das östliche Europa mehr Gehör zu verschaffen, ist mir ein wichtiges Anliegen, meine Damen und Herren – zum einen natürlich, weil die reiche Kultur und die lange Geschichte der Deutschen im östlichen Europa Teil unserer Identität sind, zum anderen aber auch, weil ich überzeugt bin, dass eine europäische Erinnerungskultur im Sinne eines Erinnerungsaustauschs, einer gemeinsamen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, Voraussetzung ist für Versöhnung und Verständigung, ja für ein geeintes Europa. In diesem Sinne begrüße ich Sie alle herzlich zur Tagung „Erinnerung bewahren – Zukunft gestalten“. Ich freue mich, dass es uns gemeinsam mit unseren Partnern, der Katholischen Akademie und dem Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, gelungen ist, Rednerpult und Podien durchgehend nicht nur hochkarätig zu besetzen, sondern mit unterschiedlicher Herkunft und Hintergrund der Vortragenden auch die Vielstimmigkeit der Perspektiven abzubilden, die so charakteristisch ist für Mittel- und Osteuropa. Herzlichen Dank, lieber Herr Professor Weber, lieber Herr Hake, Ihnen und Ihren Teams für die gute Zusammenarbeit bei der Vorbereitung. Herzlichen Dank vor allem aber allen Rednerinnen und Rednern, allen Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmern, die uns heute sicherlich einen lebendigen Eindruck vom vielstimmigen Chor der Erinnerungen und der Perspektiven im und auf das östliche Europa vermitteln werden. Der Historiker und Osteuropa-Experte Karl Schlögel, der die Wiedergeburt dieser Region als Kultur- und Erinnerungsraum schon zu einer Zeit beschworen hat, als Westeuropa darin nur den „Ostblock“ sehen wollte, hat immer wieder auf die besonderen Herausforderungen dieses Erinnerns hingewiesen. „Das mittlere östliche Europa war im 20. Jahrhundert der ,Verschiebebahnhof der Völker‘ „, erklärte er einmal in einer Rede, und ich zitiere weiter: „Kein Ort, der nicht mehrmals besetzt und rückerobert, entvölkert und wiederbesiedelt worden ist. (…) Die Geschichte dieser Zone ist noch lange nicht erzählt. Gefragt und zugelassen waren im geteilten Europa immer nur halbe Wahrheiten, solche, die im ideologischen Kampf mit dem neuen Gegner zu gebrauchen waren. So kam es, dass erst das Ende der ganzen alten Konstellation 1989 es zuließ, alles zu erzählen, ohne Rücksichtnahmen, ohne Kalkül, ohne Rechthaberei.“ Alles zu erzählen, ohne Rücksichtnahmen, ohne Kalkül, ohne Rechthaberei – darum geht es beispielsweise im Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität, das gemeinsam getragen und finanziert wird von den für Kultur zuständigen Ministerien Polens, Rumäniens, der Slowakei, Ungarns und Deutschlands. Es soll dabei helfen, die Perspektive des Nachbarn zu verstehen; es soll die Geschichtserzählungen innerhalb der europäischen Nationen miteinander verbinden und ist damit ein schönes Beispiel für das gemeinsame Bemühen um eine europäische Erinnerungskultur, die zu Versöhnung und Verständigung beiträgt. Das Zusammenwachsen Europas hat aber auch der Förderung der deutschen Kultur und Geschichte im östlichen Europa neue Möglichkeiten eröffnet. Archive und Bibliotheken wurden geöffnet; grenzüberschreitende zivilgesellschaftliche Initiativen konnten sich entfalten. Immer mehr, auch junge Menschen beginnen seitdem, sich für ihre vielschichtige Familiengeschichte zu interessieren. Das kulturelle Erbe, das uns mit unseren östlichen Nachbarn verbindet, hat sich damit zu einer – deutsche wie auch europäische – Identität stiftenden Kraft entwickelt. Es lebendig zu halten – es zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln, so wie Paragraph 96 des Bundesvertriebenen-gesetzes es vorsieht -, ist ein wichtiges erinnerungspolitisches Anliegen der Bundesregierung. So unterstützen wir unter anderem Archive, Museen, Forschungsinstitute, Bibliotheken und Juniorprofessuren und finanzieren eine Vielzahl von Projekten mit Partnern aus dem östlichen Europa. Mit der Weiterentwicklung der Förderkonzeption aus dem Jahr 2000, die wir im Februar 2016 im Bundeskabinett beschlossen haben und für deren Umsetzung jährlich eine Million Euro zusätzlich zur Verfügung stehen, tragen wir den gewachsenen Bindungen Deutschlands in Europa wie auch dem demographischen Wandel Rechnung. Dabei geht es, erstens, darum, den Erinnerungstransfer von einer Generation zur nächsten sicher zu stellen: Je weniger Zeitzeugen es gibt, desto wichtiger wird eine professionelle und zeitgemäße Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Es geht, zweitens, darum, neue Partner zu finden und neue Zielgruppen zu erschließen: Neben Vertriebenen und Flüchtlingen sind die Aussiedler und Spätaussiedler eine starke gesellschaftliche Kraft, deren Erfahrungen Anknüpfungspunkte zum Beispiel für einen Dialog über die aktuellen Herausforderungen durch Migration und Integration sein können. Es geht, drittens, darum, europäische Kooperationen der bundesgeförderten Museen, Vermittlungs- und Forschungseinrichtungen zu stärken. Und schließlich geht es, viertens, darum, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen: Mit den zusätzlichen Mitteln können wir Forschung, museale Arbeit und Kulturvermittlung verstärkt fördern und auf diese Weise die internationale Sichtbarkeit des gesamten Förderbereichs erheblich verbessern – so etwa durch ein innovatives, beim Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung angesiedeltes Online-Portal „Kulturelles Erbe östliches Europa“, um nur ein Beispiel zu nennen. Im Übrigen freue ich mich, dass wir als ersten konkreten Schritt zur Umsetzung der neu justierten Förderkonzeption bereits die Kooperation mit Vertretern der deutschen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa intensiviert haben. Und ganz bestimmt helfen uns auch die Ergebnisse der heutigen Tagung dabei, die im europäischen Geist weiterentwickelte Förderkonzeption in den nächsten Jahren mit Leben zu füllen. In diesem Zusammenhang kann ich Ihnen, insbesondere den aus meinem Haushalt nach § 96 Bundesvertriebenengesetz geförderten Einrichtungen, eine weitere positive Nachricht überbringen: Für 2017 ist es gelungen, dem Deutschen Historischen Museum 12 Millionen Euro für die zweckgerichtete Erhöhung seines Ankaufsetats zur Verfügung zu stellen. Damit soll dem Museum ermöglicht werden, aus einem derzeit zum Verkauf stehenden Konvolut kunsthistorisch bedeutsamer Kunstwerke und Objekte des Kunsthandwerks aus Pommern, Schlesien, Ost- und Westpreußen sowie dem Baltikum wichtige Exponate zu erwerben. Gemeinsam mit den nach § 96 BVFG geförderten Museen hat das DHM eine Liste prioritär zu erwerbender Stücke zusammengestellt, die nun angekauft werden sollen, wenn und soweit die Provenienz hinreichend geklärt ist. Klar ist, dass diese Exponate zuvörderst auch den nach § 96 BVFG geförderten Museen als Leihgaben oder Dauerleihgaben zur Verfügung gestellt werden sollen. Die danach nicht verbrauchten – erwartungsgemäß nicht unbeträchtlichen – Mittel aus dem 12 Millionen-Etat sollen ebenfalls zum Ankauf von Exponaten zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa eingesetzt werden. Das Deutsche Historische Museum wird diesbezüglich auf die 96er Museen zukommen. Ziel ist ausdrücklich die Stärkung der nach § 96 BVFG geförderten Museen, die mit Blick auf ihre sehr schmalen Ankaufsetats die Möglichkeit erhalten sollen, zentral bedeutsame Exponate als Dauerleihgabe für ihre Ausstellungen zu erlangen. Meine Hoffnung ist, dass wir in der grenzüberschreitenden Auseinandersetzung mit dem deutschen Erbe im östlichen Europa nicht nur eine europäische Erinnerungskultur fördern, die der Vielstimmigkeit der Erzählungen Raum gibt, sondern dass wir darin auch Bezugspunkte finden für eine gemeinsame europäische Identität. So wie in der Nachzeichnung der Demokratisierungs- und Befreiungsbewegungen in Mittel- und Osteuropa – der Freiheitstraditionen Europas – Ankerpunkte des Erinnerns sichtbar werden, auf die sich Menschen in verschiedenen Ländern gemeinsam beziehen können, so kann die grenzüberschreitende Vergegenwärtigung des kulturellen Erbes des östlichen Europas das über Jahrzehnte versteinerte Denken im Ost-West-Gegensatz aufbrechen und überwinden helfen. Es kann Europa als gemeinsamen Kulturraum sichtbar und erfahrbar machen – so wie es uns andernorts ja längst geglückt ist. Nicht umsonst steht Europa heute für eine zivilisatorische Errungenschaft, die sich nach dem unfassbaren Leid zweier Weltkriege und nach dem Grauen der nationalsozialistischen Barbarei vermutlich nicht einmal die visionären Unterzeichner der Römischen Verträge hätten träumen lassen. Wir Europäerinnen und Europäer haben es geschafft, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen und eben dadurch unterschiedlichen Kulturen und Religionen, Traditionen und Träumen, Lebensentwürfen und Weltanschauungen eine Heimat zu bieten. Diese Offenheit für Vielfalt macht Europa im Kern aus; ihr verdanken wir Freiheit, Frieden und Wohlstand. Sie – und nicht der Euro oder der Binnenmarkt – macht Europa zu einem Sehnsuchtsort, für den Menschen außerhalb der Europäischen Union unter europäischer Flagge auf die Barrikaden gehen, wie zum Beispiel 2013 und 2014 auf dem Kiewer Majdan, während man Europa innerhalb der Europäischen Union oft auf die Regulierung der Gurkenkrümmung und ergebnislose Krisensitzungen reduziert. Gerade dort, wo populistische Kritik am Zusammenwachsen Europas sich wachsender Popularität erfreut, gerade dort, wo Rufe nach Abschottung und Ausgrenzung laut werden, braucht Europa die Strahlkraft des gemeinsamen Kulturraums. Die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kulturerbe in Mittel- und Osteuropa kann darüber hinaus auch helfen, nicht nur die Geschichte ganz Europas besser zu verstehen, sondern auch die Krisen und Konflikte, in deren Angesicht Europa sich heute neu bewähren muss. Dem wieder aufkeimenden Nationalismus können wir den Stolz auf die vielfältige, im Austausch mit anderen Kulturen gewachsene europäische Kultur entgegensetzen. Das Zusammenleben unterschiedlicher ethnischer Gruppen jedenfalls, die damit verbundenen Konfrontationen und Konflikte, aber auch die Kompromisse und die dann mögliche, wechselseitige Bereicherung lässt sich am Beispiel des östlichen Europas und seiner Geschichte gut nachvollziehen und entlarvt die von Nationalisten gepflegte Ideologie des Eigenen als Irrweg und Illusion. Vielleicht kennen Sie das schmale Büchlein „Über Tyrannei“ des renommierten Historikers und Osteuropa-Experten Timothy Snyder, meine Damen und Herren, das vor kurzem auf Deutsch erschienen ist. Es verdichtet die Erfahrungen aus der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts – aus dem Scheitern der Demokratie in den 1920er, 1930er und 1940er Jahren – zu „20 Lektionen für den Widerstand“ gegen Demagogen und Autokraten und richtet sich damit an Bürgerinnen und Bürger, die das Erstarken der Populisten, Nationalisten und Demokratieverächter mit Sorge beobachten. Es motiviert zu einem „Wehret den Anfängen!“, wo grundlegende Rechte wie die Freiheit der Presse und der Wissenschaft beschnitten werden – Freiheiten, die sich die Bürgerinnen und Bürger Mittel- und Osteuropas so hart erkämpft haben. „Geschichte ermöglicht es uns, Muster zu erkennen und Urteile zu fällen“, schreibt Snyder darin und wirbt dafür, auf diese Weise aus der Vergangenheit zu lernen. Denn: „Geschichte erlaubt uns, verantwortlich zu sein: nicht für alles, aber für etwas.“ So hängt die Zukunft Europas heute vielleicht weniger von der Höhe der Agrarsubventionen und von der Ausgestaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ab, als vielmehr von der Frage, ob wir willens und in der Lage sind, aus der Geschichte zu lernen und den Anfängen derjenigen Entwicklungen entgegen zu treten, die Europa im 20. Jahrhundert präzedenzloses Leid beschert und den einstigen Kulturraum Mitteleuropa über Jahrzehnte in feindliche Blöcke gespalten haben. In diesem Sinne verdient die europäische Geschichte gewiss nicht weniger Aufmerksamkeit als beispielsweise die gemeinsame europäische Währung. Ich freue mich jedenfalls, dass die heutige Tagung ganz offensichtlich große Resonanz findet, und hoffe, dass das geschärfte Bewusstsein für den Wert des deutschen Erbes im östlichen Europa uns allen dabei hilft, Europa als Kulturraum und Wertegemeinschaft zu verteidigen.
Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat zugesagt, die Forschung, die museale Arbeit und die Vermittlung deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa weiter zu unterstützen. „Meine Hoffnung ist es, dass wir in der Vielstimmigkeit der Erzählungen auch Bezugspunkte für eine gemeinsame europäische Identität finden.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Wirtschaftsveranstaltung „Deutschland und Mexiko – Partner auf dem Weg in die Industrie 4.0 und zur dualen Ausbildung 4.0“ am 10. Juni 2017 in Mexiko-Stadt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-wirtschaftsveranstaltung-deutschland-und-mexiko-partner-auf-dem-weg-in-die-industrie-4-0-und-zur-dualen-ausbildung-4-0-am-10-juni-2017-in-mexiko-stadt-605286
Sat, 10 Jun 2017 17:11:00 +0200
Mexiko-Stadt
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Enrique Peña Nieto, sehr geehrte Anwesende, sehr geehrtes Podium, ich freue mich, dass wir heute in diesem Museum eine Veranstaltung für die Zukunft durchführen können, über die zukünftigen Beziehungen der mexikanischen und der deutschen Wirtschaft sprechen können und uns auch einige Exponate anschauen können. Ich möchte Ihnen, Herr Präsident, und unseren mexikanischen Partnern sowie der deutschen Botschaft ganz herzlich für das danken, was Sie hier organisiert haben. Die wirtschaftliche Kooperation ist einer der wichtigsten Pfeiler unserer Brücke der Zusammenarbeit. Mexiko ist für Deutschland ein wichtiger Wirtschaftspartner. Mexiko und Deutschland fühlen sich den gleichen Prinzipien verpflichtet – denen eines offenen Handels, eines fairen Handels zum allseitigen Nutzen. Mexiko ist deshalb auch über die WTO und viele bilaterale Freihandelsabkommen in die Weltwirtschaft eingebunden. Offene Märkte und internationale Arbeitsteilung können zum Nutzen aller entwickelt werden. Und so haben sich die Europäische Union und Mexiko entschlossen, das Freihandelsabkommen, das uns heute schon verbindet, zu modernisieren. Wir haben gestern sehr ausführlich darüber gesprochen, dass wir dies zügig machen wollen. Deutschland wird sich dafür einsetzen, dass wir möglichst noch in diesem Jahr im Grundsatz fertig werden. Das Rahmenwerk kann durch die Politik gesetzt werden. Die eigentlichen Taten müssen dann durch Sie, die Unternehmerinnen und Unternehmer, geleistet werden. 1.900 Unternehmen aus Deutschland sind in Mexiko tätig. Viele mexikanische Unternehmen haben auch gute Erfahrungen mit Deutschland gemacht. Wir wollen ein guter Investitionspartner sein – zum gegenseitigen Nutzen. Die Investitionen deutscher Unternehmen schaffen immerhin 150.000 Arbeitsplätze in Mexiko. Es sind zum großen Teil hochwertige Arbeitsplätze mit gut ausgebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Hierbei ist auch das duale Ausbildungssystem zu erwähnen, das in Mexiko auf einen sehr fruchtbaren Boden gefallen ist. Wir sind gerne bereit, auch noch mehr in den Bereich der dualen Ausbildung zu investieren. Mexiko wird nächstes Jahr Partner der Hannover Messe sein, der größten Industriemesse der Welt. Ich lade Sie alle – kleinere und größere Unternehmen – ein: Kommen Sie nach Deutschland, präsentieren Sie sich dort. Die Hannover Messe zeigt auch den Sprung in eine neue Art der Fertigung, in die Industrie 4.0, wie wir das nennen, in der die Möglichkeiten der digitalen Welt aufgegriffen werden. Sie alle spüren ja schon heute: Neue Entwicklungen finden im Internet statt, es wird erst einmal virtuell vorgearbeitet und danach werden die realen Produkte hergestellt. Aber noch wichtiger an der Industrie 4.0 ist sicherlich, dass der Kunde in eine ganz andere Position rückt. Jedes Produkt kann im digitalen Zeitalter viel individueller hergestellt werden. Die Unternehmen müssen die Wünsche ihrer Kunden sehr viel besser kennen. Deshalb befinden wir uns auch in einem Wettlauf mit den Unternehmen, die die Kunden über Plattformen wie Google oder Amazon oder anderen gut kennen, die aufgrund des Konsumverhaltens der Kunden vieles über sie wissen und die den Kunden sozusagen die Wünsche vom Mund oder von ihrem digitalen Verhalten ablesen können. Wir, die wir die reale Industrie schätzen und wissen, dass Produkte natürlich auch in der Realität ankommen müssen, müssen aufpassen, dass wir nicht zu einer verlängerten Werkbank werden und einfach nur noch das produzieren, was andere – große Internetunternehmen – in Auftrag geben, sondern dass der große Teil der Wertschöpfung in der industriellen Produktion erhalten bleibt. Dieser Weg wird auch für Mexiko sehr, sehr wichtig sein, denn Sie wollen ja aus dem mittleren Einkommensbereich herauskommen und langsam auch immer mehr hochwertige Arbeitsplätze haben. Deshalb ist die duale Berufsausbildung wichtig. Deshalb ist es auch wichtig, dass wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben, die bereit sind, lebenslang weiter zu lernen. Denn sie merken, dass wir in Zeiten disruptiver Entwicklungen leben. Sie merken, dass die Jungen oft besser als die Älteren Bescheid wissen, weil diese nicht schon in dieser Internet-Welt groß geworden sind. Wenn wir diese revolutionäre Veränderung aufnehmen wollen, dann müssen wir unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Unternehmen sagen: Ihr müsst immer weiter lernen; dann wird euer Arbeitsplatz auch sicher sein. Das sind also neue Fragen – auch zum Arbeitsleben, nicht nur zur Produktion von Gütern. Wenn sich mexikanische Unternehmen mit deutschen Unternehmen darüber austauschen, so, glaube ich, ist das gut für unsere beiderseitige Zukunft. Herzlichen Dank.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Eröffnung der „Skulptur Projekte“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-eroeffnung-der-skulptur-projekte–795042
Sat, 10 Jun 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Münster
Kulturstaatsministerin
Mein Name ist Monika Grütters. Grütters mit „ü“, wie Münster – mit ü. Ich bin seit mehr als 25 Jahren Wahlberlinerin, aber hier ist meine Heimat. Monika bedeutet übrigens „Einsiedlerin“ – und trotzdem wurde der Name für ein vormodern-anmutendes Familien-Magazin mit dem Untertitel „Zeitschrift für katholische Mütter und Hausfrauen“ gewählt, das sich von 1869 sogar bis ins Jahr 2000 retten konnte. Würde ich Ihnen jetzt noch einen kuriosen Spitznamen verraten, wäre der Kanon der Selbstpräsentation perfekt: Denn glaubt man einem Internet-Karriereratgeber gibt es genau „7 Wege sich charmant vorzustellen“. Alle zielen darauf ab, in kürzester Zeit und in einer meist ungewohnten Situation eine Beziehung zum Gegenüber aufzubauen. Ich hoffe, das ist mir hiermit gelungen. Zeit, Ort und Körper spielen also nicht nur in der skulpturalen Kunst, sondern auch in der Kunst der Konversation eine große Rolle! Für die Einladung zur Eröffnung der fünften Skulptur Projekte danke ich Ihnen herzlich, verehrter Herr Oberbürgermeister Lewe, lieber Markus, verehrter Herr Löb, lieber Professor Kasper König! Meine Damen und Herren, verehrte Künstlerinnen und Künstler, liebe Kunstfreundinnen und Kunstfreunde! Den Allergrößten der Kunstwelt ist es schon passiert, und vielleicht adelt es daher den Avantgardisten sogar, wenn Kunst erstmal als solche verkannt und ein Werk unabsichtlich entfernt wird – oder besser: weggeschrubbt, wie etwa die berühmte „Fettecke“ von Joseph Beuys, weggesaugt, wie eine Installation im Museum für moderne und zeitgenössische Kunst in Bozen, oder: weggebaggert! Genau das passierte bei den Vorbereitungen der diesjährigen Skulptur Projekte: Christian Odzucks Kunstwerk sollte auf dem Gelände der alten Oberfinanzdirektion entstehen, die zuvor abgerissen worden war. Ein Baggerführer – von den Münsteranern flott „Bruno“ getauft – hat nach dem Abriss gewissenhaft aufgeräumt und Teile der Installation gleich mit weggebaggert. „Baggerführer Bruno“ verhalf dem Klassiker „Ist das Kunst oder kann das weg?“ zu einem schönen Revival – und dem Kunstwerk von Christian Odzuck – das übrigens mittlerweile wieder vollständig ist – schon vor Eröffnung der Ausstellung zu großer Publicity. „Ist das Kunst oder kann das weg?“: Diese Frage war in den 1970er und 1980er Jahren klar und schnell beantwortet: Die zeitgenössischen Werke, die im Rahmen der ersten Skulptur Projekte 1977 nach Münster kamen, sollten – Kunst hin oder her – am Besten gleich wieder verschwinden. Das Chaos der Kunst passte nicht ins katholisch-konservative Münster, nicht zu einer Stadt, in der – wie im SPIEGEL jüngst zu lesen, war: „… die Uhren vielleicht wirklich anders gehen, der Stadt der Fahrradfahrer, der Kirchtürme, des harmlosesten ‚Tatorts‘. Eine Stadt, in der die Wiederholung des Immerselben ganz bestimmt viel gilt.“ Das Chaos der Kunst passte nicht zu Münster? Genau: passte! Denn viele Kunstwerke sind geblieben und – das sage ich auch als Münsteranerin – nicht zuletzt deshalb gilt der alte Werbeslogan „Unter Deutschlands Schönen eine der Schönsten“ vielleicht heute mehr denn je. Die mittlerweile 35 Skulpturen haben nicht nur das Bild, sondern auch den Habitus der mittelalterlichen, historisch gewachsenen Stadt gründlich verändert. Münster hat sich mit dem Kunst-Chaos, das alle zehn Jahre kommt, nicht nur arrangiert, sondern identifiziert: Was früher maximale Herausforderung bedeutete, wird heute mit maximaler Vorfreude erwartet, und die einstigen Objekte der Provokation sind mittlerweile Postkartenmotive. Gerade ihre undogmatische, bodenständige Verwurzelung der Münsteranerinnen und Münsteraner ist – davon bin ich überzeugt – die Voraussetzung dafür, neue Kunst- und Kulturformen, neue Stadt-Ansichten und (-)Einsichten zulassen zu können. Denn wer mit seinen kulturellen, auch religiös begründeten Eigenheiten die eigene Identität pflegt, kann auch dem Anderen, dem Fremden Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen. Mit dieser Ambivalenz spielt beispielsweise auch die Künstlerin Ayşe Erkmen, der das aktuelle Kunstmagazin art bescheinigt, sie beschere als Türkin mit ihren Arbeiten, die mit dem Motiv des „Übers Wasser gehen“ spielen, „der katholischen Bistumsstadt wahrlich biblische Momente.“ Gelegentlich im Widerspruch zu dem, was sie vorfand, zugleich aber auch als dessen Bestätigung bleibt die Kunst hier Mahnung und Appell zur Selbstkritik. Mit Erfolg! Auch wenn Kasper König sagt, die Skulptur Projekte seien keine Ausstellung für die Welt, sondern für Münster: Ich meine, die Skulptur Projekte sind ein großer Gewinn für beide Seiten – für die Stadt und die (Kunst-)Welt. Die Ausstellungen haben Münster in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt, und die meisten der damaligen Teilnehmerinnen und Teilnehmer – beispielsweise Bruce Naumann, Claes Oldenburg, Rebecca Horn, Jenny Holzer oder Donald Judd – sind heute international renommierte Künstler. Nicht nur dank ihrer internationalen Ausstrahlung sind die Skulptur Projekte allemal ein kulturelles Ereignis von gesamtstaatlicher Bedeutung, das ich deshalb gerne mit den Mitteln aus meinem Kulturetat unterstütze. Lieber Kasper König, Sie haben vor vierzig Jahren, gemeinsam mit Prof. Klaus Bußmann, einen Versuch mit ungewissem Ausgang unternommen, haben mit Mut und Weitsicht die zeitgenössische Kunst in eine Stadt gebracht, die ihren Ruf eher ihrer Jahrhunderte alten Geschichte verdankt – auch wenn die Zeit deshalb noch lange nicht stehen geblieben ist. Den kostenlosen Zugang zur Ausstellung haben Sie immer als Garantie für die kuratorische Freiheit verstanden, die Sie auch vom Erwartungsdruck eines Publikumserfolgs befreite und der Sie sich noch immer verpflichtet fühlen. Wie erfolgreich dieses Rezept war und ist, zeigen die vielen begeisterten Besucherinnen und Besucher ebenso wie euphorische Kritikerstimmen, die oft genug sogar meinten, „die Skulptur Projekte in Münster stehlen der documenta mit Witz und Phantasie die Schau“. In diesem Jahr kompetent und kreativ begleitet von Ihren beiden Mit-Kuratorinnen Britta Peters und Marianne Wagner verwandeln die Skulptur Projekte Münster wieder in einen einzigartigen Kunstraum. Wo man früher fragte „Ist das Kunst oder kann das weg?“, ist man heute einfach nur „hin und weg“: von Kunstwerken, die herausfordern und neue Perspektiven eröffnen, die zur Selbstkritik einladen und Horizonte erweitern. In diesem Sinne wünsche ich den Skulptur Projekten auch im „Superkunstjahr“ 2017 einhundert erfolgreiche und inspirierende Tage!
Bei der Eröffnung der „Skulptur Projekte“ in Münster hat Kulturstaatsministerin Grütters die Ausstellung als „großen Gewinn für die Welt und für Münster“ gewürdigt. Die Stadt habe sich gerade wegen ihrer Bodenständigkeit mit „Kunst-Chaos“ identifiziert.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Besuch des Wissenschaftszentrums Polo Científico Tecnológico am 8. Juni 2017 in Buenos Aires
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-besuch-des-wissenschaftszentrums-polo-cient%C3%ADfico-tecnol%C3%B3gico-am-8-juni-2017-in-buenos-aires-605290
Thu, 08 Jun 2017 16:47:00 +0200
Buenos Aires
Sehr geehrter Herr Minister Barañao, sehr geehrter Herr Professor Arzt, meine Damen und Herren, liebe Studierende, ich möchte mich ganz herzlich für den Empfang bedanken. Die Gastfreundschaft Ihres Landes, mit der Sie mich hier so freundlich willkommen heißen, freut mich sehr. Es ist mein erster Besuch in Argentinien. Leider kann ich viel zu wenig von Ihrem Land sehen und erleben, aber schon der kurze Aufenthalt macht deutlich, was für ein spannendes Land Argentinien ist. Deutschland und Argentinien sind enge und wichtige Partner. Präsident Mauricio Macri hat dies mit seinem Besuch in Deutschland gleich im ersten Jahr seiner Amtszeit untermauert. Und umgekehrt wollen auch wir Deutschen sehr gerne noch viel enger als ohnehin schon mit Argentinien zusammenarbeiten. Das möchte ich mit meinem Besuch hier in Ihrem Land betonen. Der Minister hat es eben schon gesagt: Der Austausch zwischen Argentinien und Deutschland hat eine gute Tradition. Er nahm institutionalisierte Formen an, lange bevor es die Argentinische Republik und erst recht bevor es die Bundesrepublik Deutschland gab. Bereits im Jahre 1829 ernannten die deutschen Städte Hamburg und Frankfurt Honorarkonsuln hier in Buenos Aires. Darauf bauten weitere Kontakte auf. Damit nahmen auch Handel und Investitionen ihren Lauf. Als 1857 die erste Eisenbahnstrecke Argentiniens gebaut wurde, kamen die Zeigertelegraphen dafür aus Deutschland, nämlich von der Firma Siemens. Das Unternehmen errichtete 1914 seine erste Fabrik außerhalb Europas; und zwar hier in Buenos Aires. Wenig später nahm die deutsch-argentinische Auslandshandelskammer ihre Arbeit auf. Letztes Jahr hat sie ihr 100-jähriges Bestehen gefeiert. Damit zählt sie zu den ältesten deutschen Auslandshandelskammern. Heute sind etwa 200 deutsche Firmen in Argentinien aktiv. Mehr als 20.000 Arbeitsplätze sind damit verbunden. Damit trägt die deutsche Wirtschaft schon heute zur Entwicklung Argentiniens bei. Allerdings möchten wir – in meiner Delegation ist auch eine Gruppe von Unternehmern – das Potenzial unserer Zusammenarbeit gerne noch deutlich ausbauen. Ein Schlüssel für die Entwicklung jedes Landes sind Innovationen. Wir befinden uns hier ja in einem Wissenschafts- und Technologiezentrum. Unsere Max-Planck-Gesellschaft hat ein Partnerinstitut in diesem modernen Komplex. In Argentinien ist auch die deutsche Helmholtz-Gemeinschaft aktiv. Als Präsident Macri im letzten Jahr in Berlin war, wurde die Basis dafür gelegt, dass in Zukunft auch die Fraunhofer-Gesellschaft in Fragen nachhaltiger Stadtentwicklung mit Argentinien zusammenarbeiten wird. Wir haben auch sehr enge kulturelle Verbindungslinien. Allerdings ist damit auch das dunkelste Kapitel in der Geschichte meines Landes verbunden. Ich erinnere an die deutschen Einwanderer in Argentinien. So kamen nach 1933 40.000 Deutsche in Ihr Land – alles Menschen, die aus Deutschland fliehen mussten, nachdem ihnen als Juden während des Nationalsozialismus in Deutschland Verfolgung und Ermordung gedroht haben. Sie mussten ihrer Heimat den Rücken kehren, um dem von Deutschland begangenen Zivilisationsbruch der Shoa zu entgehen. Nach dem Ende dieses Schreckens und dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte Deutschland politisch, wirtschaftlich und moralisch wieder aufgebaut werden. Deutschland ist sich seiner immerwährenden Verantwortung für die Schrecken der Vergangenheit bewusst. Wir sind davon überzeugt: Nur so können wir auch eine gute Zukunft gestalten. Ich habe mich gefreut, heute Morgen gleich als Erstes die jüdische Gemeinde besuchen zu können. Wir haben gemeinsam die renovierte deutsche Walcker-Orgel eingeweiht. In diesem Zusammenhang haben wir auch der Opfer gedacht, die die Anschläge auf die jüdische Gemeinde in Buenos Aires vor 23 Jahren und auf die israelische Botschaft vor 25 Jahren gefordert haben. Die jüdische Gemeinde in Argentinien bildet eine Brücke zwischen unseren beiden Ländern. Sie macht zugleich deutlich, wie wichtig das Erinnern ist, um daraus die richtigen Lehren für heute und morgen zu ziehen und so eine gute Zukunft gestalten zu können. Ich war eben auch im Parque de la Memoria und muss sagen, dass es auch in Argentinien eine Notwendigkeit ist, sich an die dunklen Kapitel der eigenen Geschichte zu erinnern. Eine gute Zukunft – was heißt das? Das bedeutet zuallererst die Wahrung der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie. Deutschland und Argentinien setzen sich für diese Werte gemeinsam ein. Argentinien musste ebenfalls schmerzhaft erfahren, dass eine einmal errungene Demokratie alles andere als selbstverständlich ist. Demokratie kann verlorengehen, wenn ihr die bürgerschaftliche Unterstützung abhandenkommt und die Bereitschaft der Mehrheit fehlt, Demokratie entschlossen zu verteidigen. Das hat Argentinien in den Jahren nach dem Militärputsch 1976 erlebt. Wie ich schon sagte: Ich habe gerade, bevor ich hierher kam, den Erinnerungspark besucht. Es ist beeindruckend, wie sehr an diesem Ort zu spüren ist, dass nie wieder zugelassen werden soll, dass eine Regierung den Staat zur Verübung massiver Menschenrechtsverletzungen missbraucht. Für Deutschland war nach seinem dunkelsten Kapitel der Geschichte eines ganz wichtig, nämlich unsere Zukunft in einem geeinten Europa aufzubauen. Die Deutsche Einheit war nur möglich, weil der Prozess der europäischen Einigung möglich und erfolgreich war. Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl, ein Ehrenbürger Europas, hatte stets betont, dass die Deutsche Einheit und die europäische Einigung zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Die europäische Integration war, ist und bleibt ein einzigartiges Projekt der Annäherung und der Verflechtung von Ländern, die über Jahrhunderte hinweg verfeindet waren. Sie sichert uns Europäern Frieden, sie bringt uns Freiheit und sie beschert uns Wohlstand. Doch mit der Zeit beruht das Bewusstsein für diese Errungenschaften immer weniger auf der Erfahrung, wie es ohne das geeinte Europa war. Das bringt mit sich, dass wir es heute auch mit Skepsis zu tun haben, ob es mit Europa wirklich besser geht als ohne Europa. Diese Skepsis gipfelte vor einem Jahr in Großbritannien in der Entscheidung einer Mehrheit der Wählerinnen und Wähler für einen Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union. Für die Europäische Union ist diese Entscheidung zweifellos eine herbe Zäsur. Aber wir verstehen sie auch als einen Weckruf: Wir müssen und wir wollen den Wert Europas sichtbarer machen. Darin sind sich die zukünftig 27 Mitgliedstaaten der EU einig. Wir wollen verstärkt unter Beweis stellen, dass es allemal besser und erfolgreicher ist, mit vereinten Kräften statt jeweils alleine die großen globalen Herausforderungen anzunehmen: die Globalisierung, die Digitalisierung und den Klimawandel ebenso wie den Kampf gegen den internationalen Terrorismus und die Krisen in unserer europäischen Nachbarschaft. Ein geeintes Europa kann weltweit seine Werte und Interessen behaupten; und dabei suchen wir natürlich den engen Schulterschluss mit anderen Nationen in der Welt. Ich bin zutiefst davon überzeugt: In einer globalisierten Welt gilt es, Brücken zu bauen, und nicht, Zugbrücken hochzuziehen. Wer sich abschottet, wird von der weltweiten Entwicklung abgeschnitten. Wer sich jedoch auf die Globalisierung einlässt, dem eröffnen sich auch die Chancen der Globalisierung. Offen aufeinander zuzugehen und fair zusammenzuarbeiten – das ist ein Anliegen, das Deutschland mit Argentinien verbindet. Vom Austausch profitieren beide Seiten. Das reicht vom Handel über Wissenschaft und Kultur bis hin zu vielfältigen freundschaftlichen, persönlichen Kontakten. Es geht darum, alle zu Gewinnern der Entwicklung zu machen. Aber ich bin mir sehr wohl bewusst, vor welch großen wirtschaftlichen Herausforderungen Argentinien steht. Anspruchsvolle Reformen stehen bei Ihnen auf der Tagesordnung. Auf dem manchmal steinigen, letztlich aber lohnenden Weg hin zu mehr Wettbewerbsfähigkeit können natürlich auch deutsche Unternehmen helfen. Denn sie können mit viel Know-how überzeugen – zum Beispiel bei der Modernisierung der Infrastrukturen, bei effizienten Technologien oder beim Ausbau erneuerbarer Energien. In Deutschland erschien vor 60 Jahren das Buch „Wohlstand für alle“. Sein Autor war Ludwig Erhard. Er war damals deutscher Wirtschaftsminister, später Bundeskanzler. Er war der politische Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Diese Soziale Marktwirtschaft verknüpft unternehmerische Freiheiten und Erfolge mit sozialer Verantwortung. Die Soziale Marktwirtschaft steht für eine einzigartige wirtschaftliche und soziale Erfolgsgeschichte Deutschlands in den letzten Jahrzehnten. Das ist eine Erfolgsgeschichte, weil sie vom Gedanken geleitet wird, dass eine Teilhabe aller am Aufschwung den Zusammenhalt einer Gesellschaft stärkt. Sie wird von der Überzeugung getragen, dass Starke den Schwächeren helfen können und sollen und dass sozialer Friede möglich ist. Das ist ein überaus hohes Gut unserer Gesellschaft und damit auch unserer Demokratie. Das ermöglicht immer wieder neu eine friedliche Auseinandersetzung über den richtigen Weg zur Lösung von Problemen und Herausforderungen. Ich glaube, man kann auch in Lateinamerika Ähnliches feststellen. Es gibt ermutigende Beispiele dafür, wie selbst tiefe Zerrissenheit und gewaltsame Konflikte über demokratische Entwicklungsprozesse gelöst werden können. Denken wir zum Beispiel nur an Kolumbien. Der jüngste Friedensnobelpreis ging an den kolumbianischen Staatspräsidenten Juan Manuel Santos. Er wurde ausgezeichnet für sein Engagement, einen jahrzehntelangen blutigen Bürgerkrieg in seinem Land zu beenden. Die öffentliche Debatte über einen solchen Friedensschluss war ja alles andere als leicht. Es gab ein Referendum – ein Rückschlag; denn mit der Abstimmung war die Vereinbarung erst einmal hinfällig. Aber auf diese Weise konnte den Bedenken der Gegner noch besser Rechnung getragen werden. Und dies hat die Chancen auf einen anhaltenden Frieden erhöht. Wir alle haben jetzt die Hoffnung, dass der Verhandlungsfrieden vollständig umgesetzt wird und dass auch die Gespräche mit der ELN fruchten. Es gibt in Lateinamerika aber auch Beispiele dafür, was passiert, wenn Staaten den Spielraum der Opposition beschneiden, wenn sie das Interesse weniger über das Interesse einer breiten Mehrheit stellen und wenn am Ende der demokratische Rechtsstaat völlig ausgehöhlt wird. Dies müssen wir leider in Venezuela beobachten. Dort leiden viele Menschen unter einer katastrophalen Versorgungslage, obwohl das Land eigentlich reich an Rohstoffen ist. Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen sind bereits Dutzende Menschen ums Leben gekommen. Die Staaten der Region kann ich nur dazu ermuntern, dass sie nicht nachlassen, sich für eine friedliche Lösung der Lage in Venezuela einzusetzen. Es ist gut, wenn sie dabei im engen Schulterschluss handeln, wie zum Beispiel im Rahmen von Mercosur und UNASUR – beide derzeit unter argentinischem Vorsitz. Weltweit müssen wir leider immer wieder erleben, dass politische Kräfte wirken, die rigide auf Eigeninteressen zielen und vielfältige gegenseitige Wechselwirkungen ausblenden. Zum Glück erleben wir aber auch immer wieder, dass langwierige und scheinbar aussichtslose Unterfangen doch noch erfolgreich sein können – gerade auch deshalb, weil gemeinsame Interessen und nicht Partikularinteressen im Vordergrund stehen. Ich denke zum Beispiel an das historisch bedeutsame Klimaabkommen von Paris, dem sich heute die allermeisten Staaten verpflichtet sehen. Denn sie eint das Wissen darum, dass es beim Klimaschutz auch um eine wesentliche Voraussetzung dafür geht, überhaupt langfristig erfolgreich wirtschaften zu können. Aber genau das ist in immer mehr Regionen dieser Erde nur noch schwer möglich, weil sie immer öfter von Stürmen, Dürren oder Überschwemmungen heimgesucht werden. Um die Erderwärmung auf maximal zwei Grad zu begrenzen und damit wenigstens die schlimmsten Folgen des Klimawandels einzudämmen, muss der Ausstoß an Treibhausgasen deutlich reduziert werden. Das kann gelingen, wenn jedes Land seinen Beitrag leistet. Die Verpflichtung dazu, das war der große Erfolg in Paris. Das Abkommen ist in der überwältigenden Mehrheit der Staaten Lateinamerikas und der Karibik bereits in Kraft getreten. Es geht aber auch weltweit um eine entschlossene Umsetzung. Nach der Entscheidung der Vereinigten Staaten von Amerika, aus dem Klimaprotokoll von Paris auszusteigen, geht es darum mehr denn je. Es gilt, sich die Verantwortung für sich und für andere immer wieder bewusst zu machen und auch entsprechend zu handeln. Es gilt, Skeptiker daran zu erinnern, dass das Bemühen, die Erderwärmung zu begrenzen, mit dem Bemühen einhergeht, die Wirtschaft effizienter, wettbewerbsfähiger und innovativer zu machen. Ähnlich verhält es sich auch mit dem freien Handel. Es mag ja verführerisch sein, durch Abschottung heimischen Unternehmen kurzfristig das Leben erleichtern zu wollen. Doch mittel- und langfristig werden die Innovationsfähigkeit und damit auch die Wettbewerbsfähigkeit leiden. Dann werden sich negative Konsequenzen für Wohlstand, Arbeitsplätze und die soziale Sicherheit einstellen. Die vergangenen Jahrzehnte sind Jahrzehnte zunehmender internationaler Wirtschaftsbeziehungen gewesen, die unter dem Strich deutlichen Fortschritt und Wohlstandsgewinn mit sich gebracht haben. Auf die Globalisierung mit Protektionismus zu antworten, wäre deshalb nichts anderes als ein gravierender Rückschritt. Argentinien ist Gastgeber der diesjährigen Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation. Argentinien leistet damit seinen eigenen Beitrag, das regelbasierte multilaterale Handelssystem der WTO weiterzuentwickeln. Ich freue mich über diese Unterstützung, freie Handelswege als das zu sehen, was sie sind: nämlich nichts anderes als gemeinsame Lebensadern unserer Wirtschaft zum Wohle der Menschen. Wichtig sind natürlich auch bilaterale und regionale Abkommen. Daher freue ich mich, dass die Verhandlungen zwischen dem Mercosur und der EU über ein Assoziierungsabkommen mit einem umfassenden Freihandelsteil jetzt nach vielen Jahren wieder Fahrt aufgenommen haben. Das ist auch und besonders Argentinien zu verdanken. Ich hoffe, dass wir bald einen Durchbruch erzielen können und damit ein starkes Signal für einen freien und fairen Handel setzen können. Mit Chile und Mexiko verhandelt die EU darüber, die bestehenden Freihandelsabkommen zu erneuern. Mit Zentralamerika, mit Ecuador, Kolumbien und Peru haben wir in den vergangenen Jahren ebenfalls Vereinbarungen zur Liberalisierung des Handels abgeschlossen. Meine Damen und Herren, der Gewinn der Kooperation liegt um ein Vielfaches höher als der Reibungsverlust auf dem Weg dahin. Dies ist und bleibt ein Leitgedanke der Politik, die ich vertrete. Deshalb hat Deutschland die G20-Präsidentschaft, die wir derzeit innehaben, unter die Überschrift gestellt: „Eine vernetzte Welt gestalten.“ Am Ende dieses Jahres werden wir den Vorsitz der G20 an Argentinien übergeben. Das ist ein großartiges Symbol dafür, was Ihr Land und unser Land, was Lateinamerika und Europa füreinander sein können: Partner, die gemeinsam die Welt von morgen zum Wohle der Menschen gestalten. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Besuch der Synagoge „Templo de Libertad“ am 8. Juni 2017 in Buenos Aires
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-besuch-der-synagoge-templo-de-libertad-am-8-juni-2017-in-buenos-aires-605288
Thu, 08 Jun 2017 15:44:00 +0200
Buenos Aires
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Rabbi Moguilevsky, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, verehrte Mitglieder der Gemeinde, werte Gäste, ich freue mich, dass ich gleich als Erstes hier in Buenos Aires bei meinem ersten Besuch in Argentinien in Ihrer Synagoge zu Gast sein kann, und begrüße Sie alle deshalb ganz herzlich. Diese Synagoge ist ein beeindruckendes Symbol des jüdischen Lebens in dieser Stadt und in dieser großen, weltbekannten jüdischen Gemeinde. Auch viele Menschen jüdischen Glaubens, die vor den Verbrechen der Nationalsozialisten fliehen mussten, haben hier ein neues Zuhause, eine neue Heimat gefunden. Deshalb ist diese Synagoge auch eine Brücke zwischen Argentinien und Deutschland. Wir sind sehr dankbar dafür, dass damals jüdische Menschen in Argentinien Aufnahme gefunden haben. In starker und schmerzvoller Erinnerung sind uns auch die furchtbaren Anschläge geblieben – 1992 auf die israelische Botschaft und 1994 auf die argentinische jüdische Gemeinde –, denen so viele Menschen zum Opfer fielen. Ich darf Ihnen sagen, dass unsere deutsche Vergangenheit uns heute Mahnung ist, gegen Antisemitismus zu kämpfen, wo immer er auftritt, und für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit einzutreten. Dies hier sagen zu dürfen, ist mir besonders wichtig. Ein positives Beispiel für die Brücke nach Deutschland, die diese Synagoge darstellt, ist die Tatsache, dass es hier noch eine der wenigen erhaltenen Walcker-Orgeln gibt. Sämtliche in Deutschland erbauten Walcker-Orgeln in Synagogen sind während der Zeit des Nationalsozialismus zerstört worden. Auch deshalb war es uns ein Anliegen – der Botschafter hat sich ja auch darum gekümmert –, dass wir einen Beitrag zum Erhalt dieser Orgel in Ihrer Synagoge leisten konnten. Sie ist nun ein kleiner Teil des ja doch sehr vielfältigen Musiklebens in Buenos Aires und in Argentinien. Ich hoffe, dass wir uns gleich am Klang dieser Orgel erfreuen können. Ich möchte mich noch ganz herzlich für den freundlichen und freundschaftlichen Empfang bedanken.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung des startsocial-Sonderpreises am 7. Juni 2017 im Bundeskanzleramt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verleihung-des-startsocial-sonderpreises-am-7-juni-2017-im-bundeskanzleramt-439232
Wed, 07 Jun 2017 11:46:00 +0200
Berlin
Wir kommen jetzt zum startsocial-Sonderpreis. Es gibt ja viele Ideen, die spontan aus einer ganz bestimmten Situation heraus entstehen. Was aus der Not geboren wird, funktioniert oft überraschend gut. Wenn die Idee erst einmal in der Welt ist und das Engagement läuft, dann geht es oft auch weiter, auch wenn sich die Ausgangslage verbessert hat – einfach weil die Idee überzeugend ist. So wird dann die Initiative ausgebaut, neue Aufgabenfelder kommen hinzu, auch neue Verbündete. So entsteht aus Kleinem etwas Großes. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist sicherlich das Rote Kreuz. Es begann mit der Schlacht von Solferino im Jahr 1859. Henri Dunant, ein Kaufmann aus Genf, war eigentlich geschäftlich in Oberitalien unterwegs. Er sah die vielen verwundeten Soldaten, die schlecht oder gar nicht versorgt wurden. Wohl wissend, dass sich Solferino immer und überall wiederholen kann, beschloss er zu helfen. Er packte mit an, organisierte und legte den Grundstein für das Rote Kreuz. Nun will ich die Latte nicht zu hoch hängen, so als müsste der Sonderpreisträger wie die großen Wohlfahrtsverbände mit der Zeit Millionen Ehrenamtliche hervorbringen. Nein, es geht mir vielmehr um den Impuls: zu sehen, da ist Not am Mann und an der Frau; zu beschließen, die Lücke zu füllen, und daher eine Initiative zu starten, um Gutes zu bewirken. Einem solchen Impuls folgte auch der Preisträger. Im Jahr 2015 kamen hunderttausende Menschen zu uns, um vor Krieg und Verfolgung Schutz zu suchen. Viele Bürgerinnen und Bürger haben spontan geholfen, wo immer es ging: beim Austeilen von Essen, bei der Suche nach Unterkünften, bei der medizinischen Versorgung und bei Behördengängen. Etliche sind nach wie vor aktiv und haben sich untereinander vernetzt. In einigen Fällen sind sogar richtige Sozialunternehmen entstanden. So ist also wieder aus Kleinem etwas Großes geworden. Ein Musterbeispiel für einen solchen Prozess der Professionalisierung bietet der heutige Sonderpreisträger: „Hanseatic Help“. „Einfach machen“ – das war und ist das Motto der Initiatoren von „Hanseatic Help“. Sie haben Kleidung und andere Artikel des täglichen Bedarfs als Spenden gesammelt und an Flüchtlinge verteilt. Sie haben einfach angepackt, um anderen das Leben einfacher zu machen – und damit wiederum andere einfach zum Mitmachen angeregt. Die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, etwas von ihren Sachen abzugeben, war überwältigend. Die Stapel in der Kleiderkammer wurden höher und höher und waren kaum mehr zu überblicken. Dann aber fand sich die zündende Idee, eine IT-basierte Logistik-Kette von der Spendenannahme bis zur Spendenausgabe aufzubauen. Inzwischen versorgt „Hanseatic Help“ neben Geflüchteten auch andere Bedürftige. Die Spenden gehen an Obdachlose, Kinderheime und Frauenhäuser – in Hamburg und in anderen Bundesländern. „Hanseatic Help“ kooperiert dabei auch mit Akteuren wie den Johannitern, dem Arbeiter-Samariter-Bund und auch dem Roten Kreuz. Damit ist die Initiative auch an Hilfslieferungen in internationale Krisenregionen beteiligt. Fast fünf Millionen Sachspenden hat „Hanseatic Help“ inzwischen an Hilfsbedürftige gebracht – und das alles in nicht einmal zwei Jahren. Liebe Frau Alff und lieber Herr Boekhoff, zu diesem Erfolg gratuliere ich. Der startsocial-Sonderpreis geht an Ihren Verein „Hanseatic Help“. Herzlichen Glückwunsch und weiter viel Erfolg.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Begrüßung anlässlich der Preisverleihung des 13. Wettbewerbs startsocial am 7. Juni 2017 im Bundeskanzleramt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-begruessung-anlaesslich-der-preisverleihung-des-13-wettbewerbs-startsocial-am-7-juni-2017-im-bundeskanzleramt-439236
Wed, 07 Jun 2017 11:07:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Düsedau, liebe Unterstützer von startsocial, meine Damen und Herren und vor allem: herzlich willkommen liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Wettbewerbs, in einer ähnlichen Position wie Sie war vor 15 Jahren die „Aktion Zivilcourage“ aus Pirna in Sachsen. Sie war eine der Gewinnerinnen des Wettbewerbs 2002. Seitdem sind 15 Jahre vergangen – aber die Aktion wird nach wie vor ihrem Namen gerecht und macht sich mit viel Courage für eine lebendige und demokratische Kultur stark. Lieber Herr Reißig, liebe Frau Balutsch, vielen Dank für Ihr Engagement – und auch dafür, dass Sie und Ihre Mitstreiter immer wieder anderen Mut machen. startsocial hilft aktiv mit – und das sehr erfolgreich, wie viele ehemalige Wettbewerbsteilnehmer und -gewinner zeigen. In Deutschland gibt es eine breite Bereitschaft, sich freiwillig und unentgeltlich füreinander zu engagieren. Ungefähr die Hälfte unserer Bevölkerung ist ehrenamtlich aktiv – in Nachbarschaftshilfen und Sportvereinen, in Kirchengemeinden und Freiwilligen Feuerwehren. Viele packen auch einfach spontan mit an, wie wir zum Beispiel bei der Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen so eindrücklich gesehen haben. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, dass im Augenblick in Berlin das Internationale Deutsche Turnfest stattfindet. Bei dieser Gelegenheit habe ich gelernt, dass es fünf Millionen Turnerinnen und Turner in Deutschland gibt; wobei Turnsport etwa auch Beachvolleyball und Yoga umfasst. Das ist also eine breite Definition. Aber es gibt immerhin fünf Millionen. Als ich neulich bei einer Freiwilligen Feuerwehr zu Besuch war, habe ich gelernt – das fand ich auch sehr interessant –, dass von über 2.000 Städten nur 100 Städte in Deutschland eine Berufsfeuerwehr haben. Alle anderen Städte haben Freiwillige Feuerwehren. So etwas gibt es in dieser Größenordnung nirgendwo sonst auf der Welt. Ehrenamtliches Engagement ist also ein Markenzeichen von Deutschland. Es gibt Organisationen und Vereine, die seit Jahrzehnten existieren, manche sogar seit Jahrhunderten. Natürlich verändert sich die Welt; und das berührt auch das ehrenamtliche Engagement. Dann sind eben immer wieder neue Ideen gefragt. Dann sind Initiatoren wie Sie gefragt, die sich auch einmal auf unbekanntes Gebiet vorwagen, um etwas zu bewegen. Eine lebendige Gesellschaft braucht die Offenheit ihrer Bürgerinnen und Bürger, Verantwortung für diese Gesellschaft zu übernehmen – für sich, aber auch für andere. Das war auch zum Beispiel eine der zentralen Botschaften des Evangelischen Kirchentags, der vor wenigen Tagen hier in Berlin und in Wittenberg stattgefunden hat. Es war wirklich beeindruckend, zu sehen, wie viele, gerade auch junge Leute, daran teilgenommen haben, diverse Veranstaltungen mitgestaltet und sich inhaltlich eingebracht haben. Dabei haben sie sicher auch die Erfahrung gemacht, die Sie hier auch kennen: dass es einfach gut tut, etwas auf die Beine zu stellen, für etwas einzutreten und gemeinsam mit anderen etwas zu bewegen. Bürgerschaftliches Engagement macht unser Land erst richtig lebens- und liebenswert. Ich finde, das Interessante an bürgerschaftlichem Engagement ist, dass ich am Anfang für mich eine Entscheidung treffen muss. Es gibt ja so viel zu tun; unendlich viel, wenn ich mir die Lage anschaue. Man könnte fragen: Lohnt es sich eigentlich, irgendwo mit anzupacken? Ich weiß ja noch von tausend anderen Sachen, bei denen ich auch etwas tun müsste. Für sich die bewusste Entscheidung zu treffen, eine Sache anzupacken, an einer Sache fest dranzubleiben, um zu erleben, wie ich Schritt für Schritt etwas bewegen kann, ist eine ganz wichtige Entscheidung, die einen nicht ohnmächtig gegenüber all den Problemen sein lässt, denen wir täglich begegnen. Wenn eine Stadt oder eine Gemeinde attraktiv sein will, dann braucht sie natürlich nicht nur Arbeitsplätze, funktionierende Infrastrukturen und kulturelle Angebote, sondern eben auch eine vitale Zivilgesellschaft. Das ist nicht selbstverständlich, wie uns zum Beispiel in Regionen bewusst wird, die unter starker Abwanderung leiden, oder in Städten, in denen sich durch starken Zuzug soziale Brennpunkte entwickeln. Gerade dort ist es notwendig, dass ehrenamtliches Engagement gestärkt wird. Denn dort ist es viel schwieriger, etwas auf die Beine zu stellen, als dort, wo alles noch einigermaßen in Ordnung ist. Deshalb verstehen wir es auch als Aufgabe der Politik, Verantwortungsbereitschaft zu fördern und insgesamt gute Rahmenbedingungen für das Ehrenamt zu ermöglichen. Dabei stehen neben der Bundesregierung natürlich auch die Länder und Kommunen in der Pflicht. Ich bin sehr froh darüber, dass das alles in allem gelingt, wenngleich ich deutlich machen will, dass wir vor einer großen Aufgabe stehen. Im Grundgesetz ist das Postulat der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland verankert. Wenn Sie sich die Situation in München oder Stuttgart anschauen und mit der in Vorpommern oder in der Eifel vergleichen, dann stellen Sie fest, dass die Gegebenheiten sehr unterschiedlich sind. Der politische Auftrag an uns alle aber heißt: gleichwertige Lebensverhältnisse. Was sind gleichwertige Lebensverhältnisse, wenn etwa bei dem einen die Mieten immer weiter hinuntergehen und man seine Häuser nicht mehr verkaufen kann; und wenn bei dem anderen die Mieten immer weiter hinaufgehen, weil so viele Menschen zuziehen? Das stellt uns vor große Aufgaben. Bei der Frage nach den Rahmenbedingungen des Ehrenamts haben wir als Bund einen Hebel gefunden, nämlich die sogenannten Mehrgenerationenhäuser. Hunderte lokaler Anlaufstellen sind so geschaffen worden. Wir unterstützen auch sogenannte Freiwilligenagenturen, in denen wir Professionalität haben und bei denen sich Menschen, die ehrenamtlich tätig werden wollen, melden können. Aber wir müssen uns immer wieder fragen: Was können wir noch verbessern? Wie schaffen wir es, dass die Bereitschaft, sich zu engagieren, auf fruchtbaren Boden fällt? Wie kann man Initiativen stärken? Dabei kommt dann startsocial ins Spiel. Als Sie sich bei startsocial beworben haben, hatten Sie gewiss schon genau vor Augen, wohin Sie wollten, und zumindest eine Ahnung, wie Sie dahin kommen. Aber aus der Ahnung eine Gewissheit zu machen, genau das ist der große Mehrwert, den der Gewinn bei startsocial verspricht. Von 400 Bewerbungen um ein Beratungsstipendium waren 100 erfolgreich. Sie waren dabei, sonst wären Sie heute nicht hier. Ehrenamtliche Coaches mit großer Erfahrung haben Ihre Projekte auf Herz und Nieren geprüft. Sie haben Ihre Ziele, Ihre Motivation und Ihre Überzeugungen unter die Lupe genommen. Sie haben Stärken und Schwächen analysiert. Gemeinsam haben Sie geschaut, wo es sinnvoll wäre, nach- oder auch ein wenig umzusteuern. Natürlich erfordert ein solcher Prozess ein großes Maß an Offenheit auf beiden Seiten. Denn Sie unterwerfen das, was Sie sozusagen als Ihr Herzensprojekt identifiziert haben, einer schonungslosen Kritik von Menschen, die aus der ökonomischen Effizienzgesellschaft kommen. Der eigentliche Mehrwert besteht ja darin, dass sich diese zwei scheinbar getrennten Welten zu einem guten Zweck vereinen, um aus einer guten Idee noch etwas Besseres zu machen. Das heißt, Sie haben es geschafft, die Kritik im positiven Sinne zu nutzen. Sie haben an sich und Ihren Projekten gearbeitet. Sie waren dabei so erfolgreich, dass Ihre Projekte zu den 25 besten zählen. Damit war die Fahrkarte zur heutigen Preisverleihung gelöst. Sie alle sind als Endrundenteilnehmer Gewinner. Zugleich sind Sie mit Ihrem Engagement, Ihrem Organisationstalent und Ihrer Leidenschaft ein Gewinn für uns alle, für unser Land. Deshalb möchte ich Ihnen danken – auch stellvertretend für die vielen anderen, die mit ihren sozialen Initiativen unser Land bereichern. Ich möchte auch den Coaches, den Juroren, den Sponsoren und dem Team von startsocial danken. Sie haben die Bewerberinnen und Bewerber unterstützt, ausgewählt und alles bis ins Detail organisiert. Jetzt heißt es nur noch: Schreiten wir zur Tat und beginnen wir mit der Preisverleihung. Herzlichen Dank.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Präsentation der Ergebnisse des Forschungs- und Dokumentationsprojekts „Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-praesentation-der-ergebnisse-des-forschungs-und-dokumentationsprojekts-die-todesopfer-des-ddr-grenzregimes-an-der-innerdeutschen-grenze–793436
Wed, 07 Jun 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Das Titelbild der Publikation, das Sie hier an die Wand projiziert sehen, zeigt einen durchschossenen DDR-Sozialversicherungsausweis: Er gehörte dem 23-jährigen Fred Woitke, einem Straßenbauarbeiter, Vater zweier kleiner Töchter, getötet von neun Kugeln bei einem Fluchtversuch am Grenzübergang Marienborn am 21. April 1973. Es ist ein Bild, das von der Gnadenlosigkeit des Grenzregimes in der SED-Diktatur erzählt – so wie die Schicksale der Menschen, die an der innerdeutschen Grenze ihr Leben lassen mussten und deren Identität und Biographien der Forschungsverbund SED-Staat jetzt erstmals umfassend dokumentiert hat. Für Ihre jahrelange aufwändige Archivarbeit danke ich Ihnen und Ihrem Team herzlich, lieber Herr Prof. Schroeder, lieber Herr Dr. Staadt. Den beteiligten Ländern Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Hessen bin ich dankbar für die gute Zusammenarbeit bei der Projektfinanzierung. Unser gemeinsames Anliegen war es, den Todesopfern des DDR-Regimes an der innerdeutschen Grenze Namen und Gesicht wieder zu geben und ihrer auf diese Weise würdig gedenken zu können. Stellvertretend für sie alle will ich nur das jüngste und das älteste ermittelte Todesopfer erwähnen: Emanuel Holzheuer wurde nur sechs Monate alt. Er erstickte im Juli 1977 im Kofferraum eines Fluchtfahrzeugs. Ernst Wolter, ein 81jähriger Bauer aus Lüchow-Dannenberg, geriet im Juni 1967 versehentlich in ein Minenfeld. Landminen rissen ihm beide Beine ab. Er verblutete unter den Augen eines DDR-Regimentsarztes, der den verminten Grenzstreifen nicht zu betreten wagte. In solchem Leiden und Sterben an der innerdeutschen Grenze zeigte der real existierende Sozialismus der DDR sein wahres Gesicht: Wer es wagte, dem Traum von der Freiheit Worte und Taten folgen zu lassen, wurde zum Verbrecher gestempelt. Und wer gar den Versuch unternahm, Repression und Unfreiheit hinter sich zu lassen, war im wahrsten Sinne des Wortes zum Abschuss frei gegeben. Die Erinnerung an die Schrecken des Grenzregimes an der ehemaligen innerdeutschen Grenze aufrecht zu erhalten, ist ein zentrales Anliegen bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Wir sind es den Menschen schuldig, die für Freiheit und Selbstentfaltung ihr Leben ließen. Wir stehen aber auch in der Verantwortung für eine demokratische Zukunft. Denn die Freiheit braucht auch dort Verteidiger, wo die Selbstentfaltung nicht an Mauern, Stacheldraht und Minenfeldern endet. Spätestens seit Demagogen, Populisten und Nationalisten auch in Deutschland wieder Beifall für ihre Angriffe auf demokratische Institutionen und Errungenschaften bekommen, ist offensichtlich, wie wichtig die bitteren Erkenntnisse aus der Aufarbeitung von NS-Terrorherrschaft und SED-Diktatur sind. Das historische Wissen liefert für ein „Wehret den Anfängen“ überzeugende Argumente. Die Auseinandersetzung mit Einzelschicksalen – die Erinnerung an Menschen, deren Sehnsucht nach Freiheit größer war als die Angst vor den Unterdrückern der Freiheit – kann motivieren, persönliche Handlungsspielräume nicht nur zu erkennen, sondern auch zu nutzen. Deshalb fördern wir Gedenkorte, die entlang des früheren Verlaufs des „Eisernen Vorhangs“ an das DDR-Grenzregime erinnern: in Marienborn beispielsweise, einst der größte und bedeutendste Grenzübergang an der Autobahn von Berlin nach Hannover, oder auch in Mödlareuth, einem kleinen Ort, der – durch die Grenze auseinandergerissen – als „Little Berlin“ traurige Berühmtheit erlangte. Die institutionelle Bundesförderung der Gedenkstätte Deutsche Teilung in Marienborn und des Deutsch-Deutschen Museums in Mödlareuth trägt dazu bei, die Erinnerung an die Schrecken des Grenzregimes lebendig zu halten. Beide Einrichtungen werden mit finanzieller Unterstützung auch aus meinem Etat in naher Zukunft neue Dauerausstellungen bekommen, um gerade die jüngere Generation noch besser zu erreichen. Dabei hilft auch das aus dem BKM-Haushalt finanzierte Koordinierende Zeitzeugenbüro, das – als gemeinsame Servicestelle der Bundesstiftung Aufarbeitung, der Stiftung Berliner Mauer und der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen – im gesamten Bundesgebiet Zeitzeugengespräche vermittelt. Denn in der Auseinandersetzung mit einer Diktatur geht wohl nichts mehr unter die Haut, als einem Menschen zuzuhören, der ihre Repressionen selbst erlebt hat – zum Beispiel nach einem gescheiterten Fluchtversuch im Gefängnis. In eben diesem Sinne hoffe ich, meine Damen und Herren, dass möglichst vielen, gerade jungen Menschen auch die Schicksale der Todesopfer des DDR-Grenzregimes unter die Haut gehen. Fred Woitke, Ernst Wolter und all die anderen, die an der innerdeutschen Grenze ums Leben kamen, können nicht selbst davon erzählen. Aber (im übertragenen Sinne) „zuhören“ können wir ihnen trotzdem – dank der Publikation des Forschungsverbunds SED-Staat, die ihre Lebensgeschichten nachzeichnet. Mögen die darin dokumentierten Schicksale Gehör finden und vermitteln, wie hart erkämpft die Freiheit ist – und dass es sich immer wieder dafür zu kämpfen lohnt!
Bei der Vorstellung der Studie zu den Todesopfern an der innerdeutschen Grenze hat Kulturstaatsministerin Monika Grütters dazu aufgerufen, die Erinnerung an die Schrecken des Grenzregimes aufrecht zu erhalten. „Wir sind es den Menschen schuldig, die für Freiheit ihr Leben ließen“, so Grütters. Gleichzeitig stünden wir aber auch in der Verantwortung für eine demokratische Zukunft.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Internationalen Deutschen Turnfest am 6. Juni 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-internationalen-deutschen-turnfest-am-6-juni-2017-in-berlin-441960
Tue, 06 Jun 2017 20:15:00 +0200
Berlin
Liebe Turnfreunde, sehr geehrter Herr Hölzl, liebe Gäste aus nah und fern, ich heiße Sie ganz herzlich hier in Berlin willkommen. Die meisten von Ihnen sind schon eine Weile in der Stadt. Viele haben schon einige Wettkämpfe hinter sich. Dem Publikum wird hier wirklich etwas geboten. Ganz Berlin ist seit drei Tagen im Turnfieber. Bei echtem Fieber wünschen wir uns, dass es so schnell wie möglich vorbeigeht. Wen aber das Turnfieber gepackt hat, dem kann es gar nicht lang genug dauern. Zum Glück liegen noch drei Tage vor uns. Ich möchte Sie alle ermuntern: Lassen Sie sich anstecken und fiebern Sie bei den Wettkämpfen mit. Lassen Sie sich von der tollen Stimmung in der Turnstadt Berlin mitreißen. Lassen Sie sich darauf ein, einfach mitzumachen, und finden Sie heraus, was Sie können – auch was Sie, wenn Sie vielleicht dachten, dass Sie es nicht können, jetzt doch können, wenn so ein Turnfieber in der ganzen Stadt herrscht. Ich denke, es ist für jeden etwas dabei. Turnen ist vielseitig – Reck oder Rhönrad, Sportgymnastik oder Yoga; auch Mannschaftssportarten wie Beachvolleyball oder Prellball dürfen beim Turnfest nicht fehlen. Diese heutige Gala ist natürlich ein Höhepunkt. Hier präsentiert sich Berlin als kulturelle und sportbegeisterte, als internationale und weltoffene Metropole. Wir können mit Fug und Recht sagen: Berlin ist eine Turnstadt. Denn Berlin ist ein Ursprungsort der Turnbewegung. Vor über 200 Jahren gründete Friedrich Ludwig Jahn seinen Turnplatz in der Berliner Hasenheide. Als Turnvater Jahn ist er in die deutsche Geschichte eingegangen. Und Sie sind seine Nachkommen. Deshalb bin ich schon gespannt und freue mich auf die Veranstaltung heute Abend. Ich möchte vor allem die vielen Kinder grüßen, die sich lange auf ihren Auftritt vorbereitet haben. Ich wünsche Euch, dass heute Abend und auch in den nächsten Tagen alles klappt. Herzlichen Dank auch an Eure Eltern, an die Organisatoren, an die Trainer, an die vielen Helferinnen und Helfer. Ihnen allen hier im Olympiastadion rufe ich zu: Lassen Sie uns einen wunderbaren Abend und noch drei wundervolle Turntage in Berlin haben. Berlin freut sich – und ich freue mich auf das, was jetzt geboten wird. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Vollversammlung der IHK Nord am 6. Juni 2017 in Greifswald
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-vollversammlung-der-ihk-nord-am-6-juni-2017-in-greifswald-442092
Tue, 06 Jun 2017 13:17:00 +0200
Greifswald
Sehr geehrter Herr Blank, sehr geehrter Herr Vater, sehr geehrte Magnifizenz, liebe Frau Professor Weber, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrter Herr Kollege aus dem Landtag, lieber Herr Liskow, sehr geehrte Vertreter der Universität und vor allem der Industrie- und Handelskammern aus den norddeutschen Ländern, Sie haben mit der Universität Greifswald einen Veranstaltungsort gewählt, der auf große wissenschaftliche und geistesgeschichtliche Traditionen der Stadt Greifswald verweist, die zu meinem Wahlkreis gehört. Deshalb war es mir eine besondere Freude, hierherzukommen. Ich freue mich darüber, dass sich in diesem Teil des Nordens die Industrie- und Handelskammern aller norddeutschen Bundesländer treffen. Dass Sie diesen wunderbaren Ort gewählt haben – Frau Professor Weber hat dies schon dargestellt –, spricht für sich; denn es handelt sich um eine der ältesten akademischen Bildungsstätten Deutschlands. Vor 270 Jahren begann der Bau dieser barocken Aula. Die Gründung der Universität lag damals schon 290 Jahre zurück. Damit sind wir inmitten des 15. Jahrhunderts. Die Hanse und der Handel sind heute bereits genannt worden. Die Hanse hatte damals ihre größte Blütezeit schon hinter sich. Der rege Handel aber hatte den Wohlstand der beteiligten Städte kräftig gemehrt. Ein Greifswalder Bürgermeister nutzte die Gunst der Stunde, um die Wissenschaft zu fördern. An diesem Beispiel kann man sehen, dass sich strategische Investitionen als langlebig erweisen können. Die Universität wiederum förderte die weitere Entwicklung der Stadt – auch wirtschaftlich. Das heißt, Wirtschaft und Wissenschaft stehen hier in Greifswald in einer sehr produktiven Symbiose. Wir bemühen uns heute mit allen Kräften, dies für künftige Generationen weiterzuführen. Ich kann also zu der Ortswahl nicht nur wegen der Aula gratulieren. Vielmehr macht auch die Tatsache, dass die IHK Nord an diesem Ort tagt, deutlich, dass Ihnen Bildung ebenfalls etwas wert ist, dass sie wichtig ist, dass sie die Basis für Innovation ist. Ich fand die Ausführungen von Frau Professor Weber sehr interessant. Sie hat gesagt, dass auch die Zeit an der Universität, wenn man danach in eine berufliche Ausbildung übergeht, nicht per se verschwendet sein muss. Ich muss dazu sagen: Wir haben ein ziemlich geordnetes System, wenn man von der Schule an die Universität geht oder wenn man eine berufliche Ausbildung aufnimmt; wir haben aber noch relativ wenige Erfahrungen – allerdings gibt es schon erste Projekte –, wenn es darum geht, dass Studenten die Universität verlassen und dann in eine berufliche Ausbildung gehen. Es besteht die Gefahr, dass sie nach dem Verlassen der Universität keine berufliche Qualifizierung mehr machen und sie daher im Grunde genommen keinen richtigen Abschluss haben. Da gibt es zum Teil ziemlich große Probleme, weil man nicht ganz genau weiß, wann jemand die Universität verlässt. Ich glaube, bei diesem Thema könnte die Kooperation bundesweit noch verbessert werden, auch wenn die Hochschulgesetze in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich sind. Unser Ziel muss sein, dass jeder, auch wenn er einen Umweg gegangen ist, zum Schluss einen Berufs- oder einen Studienabschluss hat. Bildung, Forschung, Innovation und wirtschaftlicher Erfolg – das ist eine Kette, die dazu führt, dass wir in Deutschland auch in Zukunft gut leben können. Daher ist es auch gut, sagen zu können, dass sich die Universität Greifswald einer großen Beliebtheit erfreut. Natürlich gibt es auch Unzufriedenheit wie überall; das ist klar. Rund 10.500 Studierende lernen und forschen hier. Das ist eine leistungsstarke, forschungsstarke und international vernetzte Hochschule, die eher zu den kleineren bis mittleren Hochschulen zählt, dafür aber ein sehr intensives Betreuungs- und Lehrverhältnis hat. Leistungsstark, forschungsstark und international vernetzt – das sind Eigenschaften, die auch die norddeutsche Wirtschaft auszeichnen; genauer gesagt: die zwölf Kammerbezirke der IHK Nord. Hier sind zahlreiche Weltmarktführer beheimatet. Sie profitieren genauso wie alle anderen von der vergleichsweise guten wirtschaftlichen Lage. Allerdings haben sie auf einen Punkt aufmerksam gemacht, dem wir durchaus ins Auge sehen müssen: Die Unterschiede bezüglich der wirtschaftlichen Stärke nehmen im Augenblick nicht ab, sondern zu. Natürlich bestünde gerade in guten Zeiten die Möglichkeit, die strukturellen Bereiche, gerade auch im Norden, zu stärken. Das ist einer der Gründe, warum ich heute als Bundeskanzlerin hier bin; nämlich weil ich glaube, dass wir seitens der Politik durch die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen durchaus dazu beitragen können. Die Konjunktur hat in Deutschland zu Beginn des Jahres noch einmal an Schwung gewonnen. Die allermeisten Unternehmen schauen im Augenblick optimistisch nach vorne. Sie beweisen das auch durch eine gute Investitionstätigkeit. Wir sehen nach wie vor, dass der Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt ankommt. Das heißt, die Zahl der Beschäftigten steigt. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist seit dem Jahr 2005 um fast 5,5 Millionen gestiegen. Das ist schon eine unglaubliche Bilanz, wenn man sich einmal überlegt, wie dies die Lebenssituationen von vielen Menschen und Familien positiv verändert hat. Es gibt auch ein Lohnplus. Die Reallöhne wachsen seit 2014 stärker als in den Jahren zuvor, zum Teil auch stärker als die Produktivität. Das geht eine Weile gut, aber natürlich nicht auf Dauer. Aber nach den vielen Jahren eines nicht wachsenden Reallohnniveaus ist das schon eine gute Botschaft. Die Tatsache, dass die wirtschaftliche Lage ordentlich und gut ist, ist zuallererst den Betrieben, den Unternehmern, aber auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu verdanken. Ein Grund hierfür ist aber auch, dass wir vonseiten der Politik versucht haben, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vernünftig zu gestalten. Heute wurde das Segelsetzen schon erwähnt. Fangen wir einmal mit Handelsfragen an. Ich denke, für uns Deutsche als große Exportnation ist ein freier und fairer Handel von allergrößter Bedeutung. Deshalb widersetzen wir uns protektionistischen Tendenzen. Sie könnten vielleicht kurzfristig zu Erfolgen führen, aber mittel- und langfristig – davon sind wir fest überzeugt – sind sie schädlich. Deshalb sollten wir unsere Stärken im internationalen Handel auch wirklich ausspielen und unsere Spezialisierungen in die Exporte einbringen können. Da wir hier in einer Hansestadt sind, ist, denke ich, der Wert des freien Handels nicht lange zu begründen. Wir als Bundesrepublik Deutschland sind ein Beispiel, um zeigen zu können, dass Wohlstand und offene Märkte nicht gegeneinanderstehen, sondern sich gegenseitig bedingen. Das heißt, dass offene Märkte und freier Handel die Basis sind, um die gute wirtschaftliche Lage in Deutschland zu erhalten. Sie sind auch die Basis, um die wirtschaftliche Stärke Europas zu verbessern. Sie sind letztendlich auch die Basis für Wachstum und Beschäftigung weltweit. Deshalb wollen wir, genauso wie Sie es gesagt haben, auch das multilaterale Handelssystem der Welthandelsorganisation stärken. Es baut auf gemeinsamen Regeln auf. Wir werden schauen, inwieweit wir gerade auch bei dem in Kürze stattfindenden G20-Gipfel in Hamburg diese Prinzipien unter den 20 größten Industrienationen wieder verankern können. Wir hatten darüber auch eine sehr intensive Diskussion im Kreis der G7, in dem wir gewisse Fortschritte erreichen konnten. Aber die Frage des Kampfes gegen Protektionismus muss uns alle noch beschäftigen. Ergänzend arbeiten wir auf europäischer Seite an bilateralen und regionalen Handelsabkommen. Sie wissen, dass für uns die Europäische Union verhandelt. Wir haben das Abkommen mit Kanada abschließen können. Wir sind jetzt dabei, das Abkommen mit Japan voranzutreiben. Als der indische Premierminister in der vergangenen Woche in Deutschland war, haben wir noch einmal ein Bekenntnis dazu abgegeben, dass die Verhandlungen über ein bilaterales Handelsabkommen mit Indien beschleunigt werden sollen. Wir brauchen eine Investitionspartnerschaft mit China. Dabei sind wir auch noch nicht so weit, wie wir es gern wollen. Von unserer, von deutscher Seite aus sind wir auch offen dafür, die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika wieder aufzunehmen. Dabei geht es nicht darum, dass wir unsere Standards absenken, sondern es geht darum, dass wir Vereinbarungen treffen – das Abkommen mit Kanada hat es gezeigt –, die gerade auch soziale, ökologische und Verbraucherschutzstandards festigen können. Moderne Freihandelsabkommen sind längst nicht mehr nur Abkommen über Zollsenkungen, sondern es geht auch um eine Vielzahl von nichttarifären Fragen. Deshalb denke ich: Wenn wir für die großen Märkte – den europäischen und den amerikanischen Markt – miteinander ein solches Abkommen abschließen könnten, würde das auch standardsetzend für weitere Handelsabkommen weltweit wirken. Wir sprechen in diesem Zusammenhang oft auch über Handelsbilanzdefizite oder – von Deutschland aus gesehen – über Handelsbilanzüberschüsse. Ich denke, man muss als zusätzliche Größe auch die Direktinvestitionen der deutschen Wirtschaft sehen. Wir haben zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika bestimmt achtmal so viele Direktinvestitionen von deutscher Seite in Amerika wie von amerikanischer Seite in Deutschland. Damit tragen wir natürlich auch zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation eben zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika bei. Aber es geht natürlich nicht nur um Auslandsinvestitionen, sondern es geht auch um Investitionen in Deutschland. Was können wir tun, um die Standortbedingungen hier zu verbessern? Wir haben in dieser Legislaturperiode die Einkommensteuer nicht nur nicht erhöht, sondern wir haben durch Bekämpfung der kalten Progression für eine Entlastung bei der Einkommensteuer um etwa elf Milliarden Euro pro Jahr gesorgt. Wir haben die Regeln für die steuerliche Verlustverrechnung verbessert. Das hilft insbesondere den Start-ups, wenn sie wachsen wollen. Wir haben bürokratische Lasten unter die Lupe genommen und die Bürokratiebremse eingeführt. Das heißt, wir haben, wenn an einer Stelle Lasten durch neue Regeln entstehen, entsprechende Lasten an anderer Stelle abgebaut. Viele haben gesagt: Das werdet ihr gar nicht hinbekommen. Ich darf Ihnen jedoch sagen, dass das für die bundesweite Gesetzgebung seit zwei Jahren funktioniert und wir unser Versprechen eingehalten haben. Wir wollen auch dadurch entlasten, dass wir den Schwellenwert zur sofortigen Abschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter anheben; und zwar von 410 Euro auf 800 Euro ab dem 1. Januar 2018. Wir meinen, dass wir auch in der nächsten Legislaturperiode nicht nur grundsätzlich keine Steuern erhöhen wollen, sondern dass wir noch einmal einen Schritt zur Entlastung bei der Einkommensteuer gehen können. Auf der einen Seite wollen wir natürlich ein solides Steueraufkommen haben, um auch Investitionstätigkeiten zu ermöglichen. Auf der anderen Seite wissen wir, dass das, was Unternehmen an Erleichterungen erhalten, natürlich Investitionen privater Art fördert. Das alles findet im Rahmen einer soliden Haushaltspolitik statt. Beim Bund haben wir in dieser Legislaturperiode keine neuen Schulden gemacht. 2014 sind wir im Vollzug schuldenfrei herausgekommen. 2015, 2016 und 2017 haben wir Haushalte vorgelegt, die keine Neuverschuldung ausweisen. Das ist im Grunde auch eine Investition in die Zukunft. Denn wir verschulden uns nicht auf Kosten kommender Generationen. Sie wissen, dass das gerade auch angesichts des demografischen Wandels sehr wichtig ist. Wir müssen auch Investitionsspielräume für die Zukunft erhalten. Wir haben bei den Möglichkeiten staatlicher Investitionen sehr stark zugelegt. Wir sind im Augenblick in der Situation, dass gar nicht das gesamte Geld umgesetzt werden kann. Zum Beispiel sind wir beim Ausbau von Kitaplätzen nicht in der Lage, die Bundesgelder durch die Länder so in Anspruch nehmen zu lassen, dass sie abfließen. Es gibt dieses Phänomen an verschiedenen Stellen – auch im Hinblick auf die Straßen- und Verkehrsinfrastruktur. Das heißt, unser Nadelöhr sind im Augenblick die Planungskapazitäten, die in den Jahren der Investitionsschwäche abgebaut wurden und die jetzt fehlen. Die Planungsprozesse sind natürlich auch sehr, sehr kompliziert. Es geht also um Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur. Seit 2013 haben wir diese um mehr als drei Milliarden Euro auf jetzt fast 14 Milliarden Euro gesteigert. Da gibt es natürlich auch im Norden eine ganze Reihe von Projekten, die vorangetrieben werden können. Sie haben auch selbst angesprochen, dass die Anbindung an die Häfen natürlich von strategischer Bedeutung ist, weil sie unverzichtbare Drehscheiben des nationalen und internationalen Handels sind. Wenn wir an Hamburg denken, dann wissen wir, dass wir uns seit langem mit der Elbvertiefung quälen, sage ich einmal. Das Ganze sieht jetzt relativ positiv aus, aber ich habe schon viele Hinweise aus Panama bekommen, dass wir uns ein bisschen sputen sollen, denn der Ausbau des Panamakanals ist beendet. Wenn man dann noch beobachtet hat, wie schnell der Suezkanal modernisiert wurde, dann wird man doch ein bisschen nachdenklich in Bezug darauf, wie lange die gesamten Prozesse in Deutschland dauern. Die A 26 soll nach ihrer Fertigstellung die A 1 und die A 7 miteinander und mit dem Hamburger Hafen verbinden. Auch der Ausbau der A 7 geht weiter. Die Küstenautobahn A 20 soll am Ende von der polnischen Grenze durch Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Niedersachsen bis in Richtung Niederlande führen. Im Augenblick ist Bad Segeberg ein strategischer Punkt, wie ich im Landtagswahlkampf in Schleswig-Holstein lernen durfte. Ich habe dann immer gesagt: Wissen Sie, auf dem Teil der fertiggestellten A 20, den wir hier in Mecklenburg-Vorpommern haben, fährt es sich wunderbar; das darf ich Ihnen verraten. Wir wollen auch auf der Schiene vorankommen, insbesondere natürlich auch bei der Hinterlandanbindung der Seehäfen. Beispiele dafür sind der Aus- und Neubau von Strecken im Raum Hamburg, Bremen, Hannover sowie der Knotenpunkt Hamburg und die Ausbaustrecke Oldenburg-Wilhelmshaven. Dann sind wir bei den Seeverbindungen, beim Nord-Ostsee-Kanal. Hier haben wir uns ja auch mit jeder Schleuse einzeln befasst. Ich meine, der Nord-Ostsee-Kanal war vor 120 Jahren wirklich eine sehr, sehr strategische Investition; und er ist heute noch die weltweit am meisten befahrene künstliche Wasserstraße. Er ist zum Beispiel stärker als der Suezkanal befahren, was viele gar nicht wissen. Zum Thema Infrastruktur im klassischen Sinne kommt natürlich das Thema digitale Infrastruktur dazu. Wir haben mit dem DigiNetz-Gesetz den Ausbau beschleunigen können. Es geht dabei um Glasfaserkabel für die Zukunft. Wir haben mit dem Vectoring eine Technologie gewählt, die uns, was den Glasfaserausbau anbelangt, schlechter dastehen lässt, als die reale Situation ist. Dennoch sind die Ausbaumöglichkeiten durch das Vectoring begrenzt. Wir werden zwar die 50 Megabit pro Sekunde 2018 für jeden Haushalt erreicht haben, aber wir müssen vor allem in den Gewerbegebieten für die Unternehmen natürlich in die Gigabit-Zeit vorstoßen. Wir haben jetzt sehr gut die vier Milliarden Euro auf den Weg gebracht, die für den Ausbau der Breitbandverbindungen in den ländlichen Räumen vorhanden sind. Durch die Versteigerung der Frequenzen für den 5G-Bereich werden wir noch einmal Geld bekommen, mit dem wir den Gigabit-Ausbau in den nächsten Jahren erheblich vorantreiben können. Jetzt komme ich zum Thema „Infrastruktur und Stromnetze“. Dazu muss ich jetzt sagen: Wir sind hier ja sehr harmonisch vereint, aber dass Sie nun von einem Stein gesprochen haben, den wir mit dem EEG in den Weg gelegt hätten, fordert mich doch etwas heraus. Es gibt eine Garantie dafür, dass jeder, der erneuerbare Energien installiert, dafür auch eine Abnahme hat. Diese Garantie können wir natürlich nur geben, wenn der Leitungsausbau auch einigermaßen harmonisch mit dem Ausbau der Windenergie einhergeht. Das haben wir natürlich nicht in der Hand, weil wir – dankenswerterweise, werden die Eigentümer von Windkraftanlagen sagen – nicht jeden zwingen, auch gleich noch ein Stück Leitung dazu zu bauen. Aber vor dem Hintergrund der Tatsache, dass wir mit Blick auf das EnLAG, das Energieleitungsausbaugesetz, Jahre zurück liegen – zum Beispiel gerade auch bei den großen, im westlichen Bereich liegenden Trassen durch Niedersachsen –, kann die Politik natürlich nicht ohne jegliche Reaktion bleiben. Wir können doch, wenn der Strom von Windkraftanlagen auf See nicht in den Süden kommt, wo die Abnehmer sind, nicht sehenden Auges der deutschen Bevölkerung jedes Jahr weitere Umlagen zumuten, ohne dass irgendein Fortschritt zu sehen ist. Deshalb haben wir Gebiete definiert, in denen erst einmal Leitungen gebaut werden müssen, womit dann die Möglichkeit besteht, wieder die Kapazität für den Ausbau der Windenergie zu erhöhen. Die südlich gelegenen Bundesländer sagen nämlich: Wenn ihr im Norden dauernd Strom produziert, den ihr uns nicht zuleiten könnt, dafür aber die EEG-Umlage permanent steigt, dann wäre es sinnvoller, wir würden in den etwas windschlechteren Gebieten unsere eigenen Windkraftanlagen nahe an den Industriebetrieben bauen, weil das dann in der Summe billiger wäre als ein Ausbau, bei dem der Strom nicht transportiert werden kann. Deshalb kann ich nur sagen, wenn ich darum bitten darf: Sagen Sie nicht, dass wir Ihnen Steine in den Weg legen, sondern forcieren Sie bei Ihren Landesregierungen, dass diese EnLAG-Ausbaukapazitäten auch wirklich durchgesetzt werden. Auch seitens der Bundesregierung sprechen wir mit den Ministerpräsidenten darüber. Wir wissen, wie schwer es ist, wenn es Gerichtsverfahren gibt. Aber wir müssen auch wirklich gemeinsam sagen: Es müssen Leitungen gebaut werden. – Jetzt habe ich schon länger darüber gesprochen, als ich wollte. Ich bin dann auch bei den Netzentgelten. Da brauchten wir ja gar keinen Stein in den Weg zu legen; der liegt da seit 1990. Und der muss weggeräumt werden. Nebenbei noch einmal zurück zum neuen EEG: Dieses neue Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ein Paradigmenwechsel. Denn zum ersten Mal definieren wir Mengen. Diese Mengen werden dann ausgeschrieben. Und die billigsten Anbieter bekommen den Zuschlag – im Übrigen auch Bürgerparks, wie wir kürzlich erlebt haben. Am Anfang wurde gesagt: Das wird sich gar nicht auswirken. Wir haben plötzlich festgestellt, dass die Gebote deutlich unter den heute gezahlten Marktpreisen liegen. Das heißt, die Ausschreibungen erfüllen ihren Sinn. Wir haben auf See Anbieter, wobei man sagen kann: Da ist die Subventionierung fast weg; da könnte man sozusagen fast ohne Subventionen Windkraft erzeugen. Das sind sehr positive erste Impulse durch Ausschreibungen. Mit Ausschreibungsmengen werden wir in Zukunft natürlich auch sehr viel besser kontrollieren können, wie viel Erzeugung aus erneuerbaren Energien wir zubauen; und das ist natürlich wichtig für den Strompreis. Was die Netzentgelte betrifft, ist es in der Tat so, dass durch die verschiedenen Zonen, in denen die Netzentgelte erhoben werden, der Norden benachteiligt ist – insbesondere auch der Nordosten; aber nicht nur der Nordosten, sondern auch andere Bundesländer. Im Augenblick tobt ein schwieriger Kampf darüber, wie wir denn diese Umlage insgesamt, sozusagen gesamtdeutsch, am besten hinbekommen. Der Gesetzentwurf liegt noch im Deutschen Bundestag. Wir haben noch zwei Sitzungswochen Zeit, um uns eine Lösung zu überlegen. Das Problem besteht darin, dass die großen stromintensiven Industriebereiche zwar von der EEG-Umlage befreit sind, aber nicht von der Netzentgeltumlage. Das heißt, wenn ich von einem Tag auf den anderen sehr viel höhere Netzentgelte zum Beispiel hier aus dem Osten auf ganz Deutschland überwälze, dann habe ich in Nordrhein-Westfalen in allen Aluminiumhütten und in allen Stahlwerken plötzlich signifikant höhere Stromkosten. Das bedeutet dann natürlich eine Situation, die nicht ganz einfach ist. Trotzdem haben wir versprochen, mit den Ministerpräsidenten eine Einigung zu erreichen. Das wird sicherlich nicht von einem Tag auf den anderen gehen, aber wir werden jedenfalls versuchen, noch eine Lösung hinzubekommen. Dass Sie das beschwert, verstehe ich sehr gut. Es ist ein strategischer Nachteil des Nordens, gerade auch im Bereich energieintensiver Industrien. Meine Damen und Herren, jetzt komme ich zu einem Thema, das auch hier schon angesprochen wurde: Neben Infrastrukturen und neben Rahmenbedingungen für Investitionen geht es auch um die Frage des Zusammenspiels von Forschung und Wirtschaft. Wir haben die Forschungsausgaben seitens des Bundes seit 2005 mehr als verdoppelt, aber natürlich erbringt die Wirtschaft den größten Teil der Forschungsinvestitionen. Was wir hier mit Sorge betrachten – gerade auch angesichts der Digitalisierungsentwicklung; einer disruptiven Entwicklung, wie hier gesagt wurde –, ist, dass die Forschungsausgaben des Mittelstands in den letzten Jahren eher zurückfallen als ansteigen. Deshalb haben wir nach langer Diskussion jetzt doch, glaube ich, ein parteiübergreifendes Einvernehmen, dass wir für mittelständische und kleine Unternehmen eine steuerliche Forschungsförderung brauchen, weil das einfacher ist, als Anträge auf Forschungszuschüsse zu stellen, was bei großen Unternehmen funktioniert, aber nicht bei kleinen und mittleren. Wir haben in dieser Legislaturperiode sehr viel in die Frage investiert, wie wir die deutsche Wirtschaft bei der Umsetzung dessen, was wir Industrie 4.0 nennen – also bei der Digitalisierung der Wertschöpfungsketten –, unterstützen können. Hierfür haben wir unter anderem Kompetenzzentren für den Mittelstand eingerichtet, die von den Standards bis hin zum Thema Cybersicherheit fachliche Beratung geben. Ich hoffe, dass das auch vernünftig bei den Unternehmen ankommt. Ich glaube, dass in der deutschen Wirtschaft inzwischen klar geworden ist, wie wichtig digitale Fertigung, Entwicklung und Planung sind, und dass jeder weiß, dass sich Abläufe im Betrieb auf dramatische Weise verändern. Dennoch mache ich mir um einen Punkt Sorge. Sie haben mit etwas spitzer Zunge das Thema Datenschutzgrundverordnung genannt. Die deutsche Wirtschaft war, als diese beschlossen war, erst einmal der Meinung, dass das besser ist, als wenn wir überhaupt keinen Rechtsrahmen für das Management von großen Datenmengen haben. Dennoch hat sie viele Unzulänglichkeiten, viele unbestimmte Rechtsbegriffe. Wir müssen sehr darauf achten, dass wir das richtig auslegen. Wir müssen ein positives Verhältnis in Europa und insbesondere in Deutschland zum Verarbeiten großer Datenmengen entwickeln. Denn ich glaube fest daran, dass die Digitalisierung nicht dazu führt, dass wir per se weniger Arbeitsplätze haben werden. Wenn aber die Arbeitsplätze, die wegfallen, nicht durch neue Arbeitsplätze ersetzt werden, die aus dem Management großer Datenmengen entstehen, weil dafür die Rahmenbedingungen nicht gut sind, dann werden wir natürlich Probleme haben. Wenn wir künstliche Intelligenz oder das Big-Data-Management auf europäischem und auf deutschem Boden nicht vernünftig entwickeln können, dann haben wir ein Problem. Meine Sorgen bestehen darin, ob die Wirtschaft schon erkannt hat, dass die eine Disruption die ist, dass ich in der Wertschöpfungskette des Industriellen vieles digital abbilden kann, dass aber die vielleicht noch größere Disruption ist, dass sich meine Geschäftsbeziehungen mit dem Kunden völlig verändern. Der Kunde wird in der Zukunft mit keinem Produkt von der Stange mehr zufrieden sein. Vielmehr will der Kunde sein individualisiertes Produkt. Und am liebsten will er, dass schon bekannt ist, was er will, bevor er es überhaupt ausgesprochen hat. Die große Frage ist, ob die, die alles über uns wissen, also sozusagen die Internetanbieter, die deutsche Wirtschaft beim Schlafittchen packen und zum Schluss zu einer verlängerten Werkbank machen oder ob wir, die wir eigentlich die industrielle Hoheit haben, auch diejenigen sein werden, die das Produktdesign machen und die Kontakte zum Kunden aufbauen, die viel breiter, viel verwobener sein werden, als wir das heute in den Kundengeschäftskontakten kennen. Letzte Woche führten wir mit einer chinesischen Delegation ein Wirtschaftsgespräch. Daran hat auch der Chef von Alibaba teilgenommen; und der hat gesagt: C2B – Kunde zu Business; das wird die eigentliche Herausforderung sein; und wer diese Schlacht gewinnt, der wird sozusagen der Weltmarktführer in der Zukunft sein. Da mache ich mir doch ein bisschen Sorgen, ob wir das schon in der vollen Breite erkannt haben und ob wir das Werkzeug haben, das auch wirklich umzusetzen, oder ob wir uns doch wieder in die Abhängigkeit großer Internetunternehmen begeben müssen, die nicht in Deutschland und nicht in Europa lokalisiert sind. Ich wollte gar keine depressive Rede halten, aber es ist ja doch immer wieder wichtig, dass man die Herausforderungen definiert. Ich wollte Ihnen vielmehr sagen, dass wir insgesamt mit Weltoffenheit auf die Herausforderungen antworten wollen. Wir werden mit dem G20-Gipfel in Hamburg Gastgeber sein und haben uns das Motto gegeben: „Eine vernetzte Welt gestalten“. Wir haben uns dazu als Symbol einen Kreuzknoten aus der Schifffahrt genommen, der, je größer die Spannung bzw. die Zugkraft, die an ihm wirkt, ist, umso fester ist. In diesem Sinne wünsche ich dem Norden viel Erfolg bei seiner weiteren wirtschaftlichen Entwicklung – ob disruptiv oder nicht disruptiv, sei dahingestellt – und freue mich jetzt auf die Diskussion.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der Gründung der Arbeitsgemeinschaft „Orte der Demokratiegeschichte“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-der-gruendung-der-arbeitsgemeinschaft-orte-der-demokratiegeschichte–798292
Thu, 01 Jun 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Geschichte wiederholt sich nicht, aber wir können aus ihr lernen.“ Mit diesem Satz beginnt das schmale Büchlein „Über Tyrannei“, das gerade auf Deutsch erschienen ist. Sie kennen es vielleicht, auch wenn es sich mit seinen zugespitzten Formulierungen gerade nicht an Experten richtet, sondern an Bürgerinnen und Bürger, die das weltweite Erstarken der Populisten, Nationalisten und Demokratieverächter mit Sorge beobachten. Der renommierte amerikanische Historiker Timothy Snyder verdichtet die Erfahrungen aus der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts – aus dem Scheitern der Demokratie in den 1920er, 1930er und 1940er Jahren – darin zu „20 Lektionen für den Widerstand“ gegen Demagogen und Autokraten. „Die Geschichte“, heißt es darin, „ermöglicht es uns, Muster zu erkennen und Urteile zu fällen. (…) Geschichte erlaubt uns, verantwortlich zu sein: nicht für alles, aber für etwas.“ Zweifellos sind es vor allem die bitteren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die für ein „Wehret den Anfängen!“ gleichermaßen praktische Anleitung wie überzeugende Argumente liefern, indem sie es uns ermöglichen, Muster der Tyrannei zu erkennen. Doch was uns „erlaubt, verantwortlich zu sein“, was uns erlaubt, Handlungsspielräume zu erkennen und Gefühle der Ohnmacht zu überwinden -, ist auch und gerade die Erinnerung an demokratische Sternstunden und demokratische Hoffnungsträger: an Momente, in denen demokratische Werte den Sieg davon getragen haben, und an Menschen, deren Mut, Zuversicht und Weitsicht diesen Siegen den Weg bereitet haben. Deshalb begrüße ich Ihren Entschluss, meine Damen und Herren, den Einrichtungen und Orten, die an unsere Freiheits- und Demokratiegeschichte und an ihre Protagonisten erinnern, gemeinsam mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Vielen Dank für diese Initiative, vielen Dank für die Bereitschaft, die Kräfte Ihrer Einrichtungen zu vereinen, um im Sinne Ihres „Hambacher Manifests“ den Weg von der Wiege der deutschen Demokratie bis zu einem demokratischen, wiedervereinten Deutschland nachzuzeichnen. Es gehört zu den Besonderheiten der deutschen Geschichte, dass Deutschlands Entwicklung zu einem freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat angesichts zahlreicher Umwege und Irrwege, Brüche und Abgründe selbst im Rückblick schwer als durchgängiger Weg erkennbar ist. Ja, nach all dem Leid, das Deutschland im 20. Jahrhundert über Europa und die Welt gebracht hat, ist es geradezu undenkbar, die nationalsozialistische Diktatur schlicht als dunkles Kapitel in einer nationalen Demokratie- und Freiheitsgeschichte, als vorübergehende Abkehr vom rechten Weg zu betrachten – und die kommunistische Diktatur als Umweg in ein geeintes, demokratisches Deutschland. Mit einem solchen Geschichtsbild, in dem Gewalt und Grauen schlicht ihren Platz neben anderen Erinnerungen einnähmen, würden wir weder den Opfern der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und des kommunistischen Unrechtsregimes gerecht, noch der immerwährenden Verantwortung aller nachfolgenden Generationen, für die Gegenwart Lehren aus den beiden totalitären Systemen, aus ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten zu ziehen. Die doppelte Diktaturerfahrung Deutschlands im 20. Jahrhundert hat deshalb aus guten Gründen eine herausgehobene Bedeutung in der Erinnerungspolitik: Wir sind und bleiben dies den Opfern schuldig, und wir ziehen aus der doppelten Diktaturerfahrungen unsere Lehren, unsere „Lektionen für den Widerstand“ gegen totalitäre Ideologien – um Timothy Snyders Formulierung nochmals aufzugreifen. Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes soll in diesem Sinne dazu beitragen, das Vergangene als das wieder Mögliche zu erkennen: Sie soll den Blick schärfen für Entwicklungen, die einst zu Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung, zu Krieg und Vernichtung, zu Gewalt und Unterdrückung geführt haben. Dafür brauchen wir in besonderer Weise die Zeugnisse und die authentischen Gedenkorte aus dieser Zeit, um deren Erhalt sich Bund und Länder in Deutschland gemeinsam kümmern – ein Engagement, das wir im Rahmen der Gedenkstättenkonzeption stetig weiter entwickeln und an die Erfordernisse der Gegenwart anpassen: an den sukzessiven Abschied von den Zeitzeugen beispielsweise, der uns zwingt, neue Formen lebendiger Erinnerung und eindringlicher Vermittlung zu entwickeln, die ohne die Wirkmacht persönlicher Erfahrungen auskommen; aber auch an die wachsende Zahl von Menschen in unserem Land, die – weil zu jung oder nach Deutschland eingewandert – keine persönlichen Bezüge zu den totalitären Diktaturen im 20. Jahrhundert haben. Angesichts der besonderen Verantwortung und Herausforderungen, mit denen die nationalsozialistische Terrorherrschaft einerseits und das SED-Unrechtsregime andererseits die Erinnerungspolitik konfrontieren, ist mir sehr daran gelegen, dass die zweifellos wichtige und für unser Selbstverständnis unverzichtbare Erinnerung an unsere Demokratiegeschichte dazu weder tatsächlich noch gefühlt in ein Konkurrenzverhältnis tritt. Das kann auch nicht in Ihrem Sinne sein, meine Damen und Herren: Dem berechtigten und unterstützenswerten Anliegen, anhand der Orte deutscher Demokratie-geschichte die knapp 200-jährige Geschichte eines Kampfes um Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, wäre gewiss nicht gedient, wenn auch nur der Eindruck entstünde, dass damit das Gewicht des Gedenkens an den Holocaust und an die Opfer totalitärer Diktaturen relativiert werden soll oder relativiert werden könnte. Deshalb bin ich der Meinung, dass die Fördermittel im Rahmen der Gedenkstättenkonzeption des Bundes weiterhin der aufklärenden Erinnerung an Nationalsozialismus und SED-Herrschaft vorbehalten bleiben sollten – und dass wir auf diese Weise die besondere Bedeutung unterstreichen sollten, die wir der Aufarbeitung zweier totalitärer Diktaturen beimessen. Dennoch braucht ein würdiges, ihrer Bedeutung für unser Selbstverständnis angemessenes Gedenken an unsere Freiheits- und Demokratiegeschichte seinen Platz in unserer Erinnerungskultur – und hier leisten Sie alle, vielfach mit Unterstützung des Bundes, ja auch hervorragende Arbeit. Dass wir Deutschen gerade im Umgang mit prägenden freudigen und hoffnungsvollen historischen Ereignissen trotzdem durchaus noch Nachholbedarf haben, zeigen die Erfahrungen mit dem Freiheits- und Einheitsdenkmal. Glücklich, ja vielleicht sogar stolz und selbstbewusst zurückzuschauen auf die eigene Freiheits- und Demokratiegeschichte, das fällt uns offenbar besonders schwer. Immerhin hat der Beschluss, der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung ein Denkmal zu setzen, eine durchaus produktive, öffentliche Debatte über den Wert der hart erkämpften Freiheit und Einheit ausgelöst. Aber anders als beispielsweise – nach langen Jahren des Streitens – beim Holocaust-Mahnmal ist es (bisher) nicht gelungen, die gesellschaftliche Selbstverständigung in ein weithin sichtbares Wahrzeichen unseres Selbstverständnisses münden zu lassen – was sicherlich auch damit zu tun hat, dass die vielen ermutigenden Beispiele des Demokratie- und Freiheitskampfs vom Hambacher Fest über die März-Revolution, den Widerstand gegen die NS-Diktatur bis zur Friedlichen Revolution 1989 ihren angemessenen Platz in unserem Selbstverständnis eben tatsächlich noch nicht gefunden haben. Umso wichtiger ist und bleibt die Unterstützung von Museen und Gedenkstätten als „Orte der Demokratiegeschichte“. Und deshalb engagieren sich Bund und Länder hier ja bereits intensiv: Beispielhaft sei die von Bund und dem Land Rheinland-Pfalz gemeinsam geförderte Stiftung Hambacher Schloss genannt. Andere Beispiele sind die durch den Bund geförderten Politikergedenkstiftungen oder auch das Deutsche Historische Museum. 2018 wird das DHM der Weimarer Republik eine große Sonderausstellung widmen und dabei gewiss auch die Fragen, die Ihre AG bewegen, weiter vertiefen. Der Bund fördert aber auch Orte der Demokratiegeschichte, die bisher nicht in ihrer AG vertreten sind. So hat etwa die Robert-Havemann-Gesellschaft mit finanzieller Unterstützung von BKM an 18 Schauplätzen der Friedlichen Revolution in Berlin Erinnerungs- und Informationsstelen errichtet. Sie markieren Orte im Osten wie im Westen Berlins, die eng mit dem historischen Geschehen 1989/90 verbunden sind: Treffpunkte oppositioneller Gruppen, Orte der Konfrontation mit der SED-Diktatur und Gebäude, in denen Demokratiegeschichte geschrieben wurde. Ein vergleichbares Projekt gab es auch in Leipzig. Sie sehen, meine Damen und Herren, die „Orte der Demokratiegeschichte“ sind alles andere als ein „blinder Fleck“ auf der Landkarte der Erinnerungskultur, und ich darf Ihnen versichern, dass wir die von uns geförderten Einrichtungen auch weiterhin unterstützen werden, denn ich bin sicher: Es stärkt die Kräfte der Zivilgesellschaft und damit auch die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie, wenn wir die Chance haben, nicht nur am eigenen Versagen, am Ringen und Hadern mit der Vergangenheit zu reifen, sondern auch im Bewusstsein der eigenen Freiheitstraditionen zu wachsen. Zu einer lebendigen Erinnerungskultur gehören aber natürlich nicht nur die Blicke, sondern auch kontroverse Debatten. Was unsere Demokratie ausmacht, welche Erfahrungen aus der Vergangenheit uns heute helfen, die Demokratie zu verteidigen, wie wir diese Erfahrungen in geeigneter Weise vergegenwärtigen und Geschichte mit ihren „Lektionen für den Widerstand“ gegen Demagogen, Populisten und Autokraten als Erfahrungsschatz bewahren – darüber darf, kann und soll öffentlich diskutiert und auch gestritten werden. Nicht zuletzt in diesem Sinne wünsche ich der Arbeitsgemeinschaft „Orte der Demokratiegeschichte“ viel Erfolg und Ihren Einrichtungen damit noch mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Vielen Dank Ihnen allen für Ihr Engagement! Auf eine produktive konstituierende Arbeitsgruppensitzung!
34 Einrichtungen haben sich in Berlin zusammengeschlossen, um die deutsche Demokratie- und Freiheitsgeschichte lokal, regional und deutschlandweit zu fördern. Kulturstaatsministerin Grütters unterstützt dieses Ziel. „Ein würdiges und ihrer Bedeutung für unser Selbstverständnis angemessenes Gedenken an unsere Freiheits- und Demokratiegeschichte braucht seinen Platz in unserer Erinnerungskultur.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutsch-Chinesischen Forum „Innovation gemeinsam gestalten“ am 1. Juni 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-deutsch-chinesischen-forum-innovation-gemeinsam-gestalten-am-1-juni-2017-in-berlin-798098
Thu, 01 Jun 2017 11:34:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrte Frau Bundesministerin Wanka, sehr geehrter Herr Minister Wang, Exzellenzen, meine Damen und Herren, ich freue mich, dass es heute diese Veranstaltung gibt, auf der Ministerpräsident Li Keqiang und ich gemeinsam etwas zur Zukunft sagen können. In der Tat, am 1. Juni, dem internationalen Tag der Kinder, ist ein Blick in die Zukunft von besonderer Wichtigkeit. Wir werden unseren Wohlstand nur sichern können, wenn wir immer wieder in die Zukunft hinein arbeiten. Dazu ist das Thema gerade richtig gewählt: „Innovation Gemeinsam Gestalten“. Diese Veranstaltung greift damit den Titel des Aktionsplans auf, den der chinesische Ministerpräsident und ich 2014 miteinander vereinbart haben. Dieser Aktionsplan hat der Wissenschafts- und Forschungszusammenarbeit sehr viel Schwung verliehen. Jetzt ist es an der Zeit, über die nächsten Etappen nachzudenken. Wir haben heute mit den Vereinbarungen, bei deren Unterzeichnung wir dabei waren, ja schon Wegmarken gesetzt. Das gilt zum Beispiel in Bezug auf die Kooperation beim Thema künstliche Intelligenz. Das ist aus meiner Sicht ein Zukunftsthema, dem sich China und Deutschland gemeinsam widmen müssen. Deutschland und China sehen die Chancen der Veränderungen, die die Globalisierung und die Digitalisierung mit sich bringen. Wir sind überzeugt, dass wir diese Chancen gemeinsam nutzen und damit globalen Fortschritt mitgestalten können. Daraus erwächst für beide Länder, für Deutschland und China, aber auch eine besondere Verantwortung in globalen Fragen – zum Beispiel für den Klimaschutz, die Prävention gewaltsamer Konflikte oder in der internationalen Handelspolitik. Dies alles sind auch Themen, die wir auf unserem diesjährigen G20-Gipfel in Hamburg auf die Tagesordnung gesetzt haben und die eine wichtige Rolle spielen. Anfang Juli werden in der Hafenmetropole Hamburg die Staats- und Regierungschefs der zwanzig größten Industrie- und Schwellenländer zusammenkommen. China saß von Anfang an am Tisch der G20. Der Einfluss Chinas ist hier über die Jahre gewachsen. Ich freue mich, dass sich Deutschland und China gemeinsam für bestimmte Prinzipien einsetzen, zum Beispiel für freien Handel und offene Märkte. China ist seit Jahrtausenden eine traditionsreiche Handelsnation. Deshalb weiß China – und das hat der Ministerpräsident eben noch einmal gesagt –, dass freier Handel zum beiderseitigen und zum allseitigen Nutzen ist. Das Bekenntnis Chinas dazu, seine Einbindung in den freien Welthandel Schritt für Schritt auszubauen, ist insofern ein sehr wichtiges Bekenntnis. China ist dabei, hierzu auch eine Reihe nationaler Reformen anzugehen. Ich habe auch Verständnis dafür, dass solche Reformen nicht immer einfach sind. Wir erleben ja auch in Deutschland, wie viele Widerstandskräfte wir zu überwinden haben. Gerade im Zusammenhang mit der Digitalisierung könnte ich hier viele Beispiele nennen. Ich denke nur an die Einführung einer Gesundheitskarte, für die wir inzwischen schon eine Dekade brauchen, wobei wir immer noch nicht ganz am Ziel sind. Wir bitten aber auch darum, dass sich China noch stärker für ausländische Investoren und internationale Handelsbeziehungen öffnet. Die dynamische Entwicklung Chinas ist sehr beeindruckend. Das Land weist immer noch überdurchschnittliche Wachstumsraten auf. Die beeindruckende Entwicklung hin zu einer der größten Volkswirtschaften der Welt verfolgen wir in Deutschland mit allergrößter Aufmerksamkeit. Denn Entwicklungen in anderen Teilen der Welt – ganz besonders in einem so großen Land wie China – sind für eine so offene und global vernetzte Volkswirtschaft wie die deutsche von unmittelbarer Bedeutung. Das spiegelt sich auch im weiter angewachsenen bilateralen Handelsvolumen wider. Im vergangenen Jahr erreichte es fast 170 Milliarden Euro. China ist damit 2016 unser wichtigster Handelspartner geworden – noch vor Frankreich und vor den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir betreiben aber nicht nur regen Außenhandel, wir investieren auch viel. Über 2.000 deutsche Unternehmen sind in China tätig. Auch die Zahl der chinesischen Unternehmen in Deutschland steigt. Das zeugt von Wirtschaftsbeziehungen, die für beide Seiten gewinnbringend sind und die auch in beiden Ländern Arbeitsplätze garantieren. Wir hatten heute übrigens auch eine Absichtserklärung, die ausschließlich Chinesen unterschrieben haben, da das betreffende deutsche Unternehmen von einem chinesischen Staatsbürger geführt wird. Das war ein Novum, glaube ich; so etwas hatten wir noch nicht. Wir wollen also weiter anknüpfen an das, was bereits besteht. Um als Wirtschaftspartner im internationalen Wettbewerb attraktiv zu bleiben, müssen wir auch innovativ bleiben. Konsequenterweise liegt deshalb einer der Schwerpunkte unserer Zusammenarbeit im Bereich der Innovationszusammenarbeit. Ich glaube, wir sind uns einig, dass die größte Antriebskraft für Innovationen aus der Wirtschaft selbst kommen muss – und zwar dann, wenn sie sich in marktwirtschaftlichen Strukturen mit einer funktionierenden Wettbewerbsordnung behaupten muss. Denn wenn jeden Tag Unternehmer beweisen müssen, dass irgendjemand auf der Welt ihre Produkte kaufen will, dann zwingt das zur Innovation. Denn kaum gibt es ein besseres Angebot, ist man auch vom Markt verschwunden. Wir gehören heute zu den innovativsten Ländern der Welt. Ablesen lässt sich das an der Vielzahl weltmarktrelevanter Patente – und auch daran, dass wir weltweit mit am meisten in Forschung und Entwicklung investieren. Darauf ist Deutschland stolz. Seit 2005 haben wir mit Blick auf den Bundeshaushalt unsere Ausgaben für Forschung und Entwicklung mehr als verdoppelt. Wir haben 2015 zum ersten Mal das Drei-Prozent-Ziel – also das Ziel, drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben – erreicht. Mit 62,4 Milliarden Euro fällt dabei der größte Anteil auf die deutsche Wirtschaft selbst. Die maßgeblichen Treiber für Innovationen sind bei uns insbesondere die Unternehmen der Automobilbranche und die Unternehmen der Energiebranche. Wir wissen aber auch, dass das Rückgrat der deutschen Wirtschaft ganz wesentlich auch aus mittelständischen Unternehmen besteht. Hier sehen wir eine rückläufige Tendenz der Investitionen in Forschung und Entwicklung. Deshalb müssen wir Anreize setzen – und zwar richtige Anreize. Wir werden in der nächsten Legislaturperiode auch darüber nachdenken müssen, ob wir nicht für die kleineren und mittleren Unternehmen doch endlich einmal eine steuerliche Forschungsförderung einsetzen. An der Forschungsministerin liegt es nicht, dass wir das noch nicht geschafft haben, denn sie ist seit langem dafür. Wir setzen aber auch auf Anreize bei Schlüsseltechnologien – ich nenne als Stichworte die Digitalisierung, Industrie 4.0, autonomes Fahren und Biotechnologien. Wir fördern in Deutschland auch verbesserte Forschungsstrukturen durch Vernetzung von Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Denn kleine und mittlere Unternehmen haben oft nicht die nötigen Forschungskapazitäten. Das heißt, sie brauchen Partner. Wir erleichtern die Bereitstellung von Wagnis- und Wachstumskapital. Das ist ein Thema, das sich in Deutschland schwer entwickelt, weil die Erfahrung mit Investitionen in Wagnis- und Wachstumskapital nicht so ausgeprägt ist wie zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika. Aber wir haben hierbei Schritte nach vorne gemacht. Außerdem haben wir mit der Hightech-Strategie einen programmatischen Handlungsrahmen für Forschung, Entwicklung und Innovation insgesamt abgesteckt. Darin benennen wir die technologischen Schwerpunktbereiche, die aus unserer Sicht besonders zukunftsträchtig sind. Wir analysieren auch, wo wir im Weltmarkt stehen und wo wir besser werden müssen. Mit der Hightech-Strategie wollen wir auch Brücken von der Grundlagenforschung bis zur Anwendung schlagen. Ich glaube, diese Vorgehensweise ist der des chinesischen „National Medium- and Long-Term Program for Science and Technology Development“ sehr ähnlich. Insofern ergeben sich hieraus auch sehr gute Möglichkeiten der Kooperation. Innovation setzt immer wieder kluge Köpfe voraus. Deshalb ist es auch wichtig, für eine attraktive Wissenschaftslandschaft mit exzellenten Ausbildungs- und Forschungsbedingungen zu sorgen. Deutschland ist mit seinen Hochschulen und außeruniversitären Forschungsstätten ein Anziehungspunkt für Fachkräfte und Spitzenkräfte aus aller Welt. Wir wollen auch immer mehr junge Leute aus dem Ausland bei uns studieren lassen und freuen uns, dass der Zuspruch dazu vorhanden ist. Mit großem Abstand vorn liegen die Studierenden aus China. Auch unser duales System der beruflichen Bildung gilt international als ein Vorzeigemodell, um jungen Menschen gute Karriere- und Berufsaussichten zu bieten. Daher haben wir auch in diesem Bereich die Bildungskooperation unserer Länder vertieft. Zunehmend stehen dabei auch anwendungsorientierte Vorhaben im Vordergrund, an denen die Industrie verstärkt beteiligt ist. Ein konkretes Beispiel für unsere Zusammenarbeit ist die Chinesisch-Deutsche Hochschule für Angewandte Wissenschaften an der Tongji-Universität in Shanghai. Daran beteiligt sind 26 deutsche Fachhochschulen. Wir haben zum Beispiel auch schon in der Heimatstadt des Ministerpräsidenten, in Hefei, eine Kooperation von Hochschulen gesehen. Der Besuch in Hefei ist mir noch in ganz klarer Erinnerung. Aber damit ist unsere Innovationspartnerschaft natürlich noch nicht an ihre Grenzen gelangt. Wir wollen sie weiter ausbauen. Und dazu müssen wir uns auch immer wieder die Rahmenbedingungen anschauen. Wissenschaft muss sich frei entfalten können. Die Freiheit der Wissenschaft ist nicht nur ein wichtiger ideeller Wert, sondern ein fundamentales Menschenrecht. Sie ist Voraussetzung für Kreativität und Forschergeist. Zu den notwendigen Rahmenbedingungen für unsere Forschungs- und Innovationskooperation gehören natürlich die Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenrechte. Hier, genauso wie in unserer wirtschaftlichen Zusammenarbeit insgesamt, sind staatliche Institutionen zur Gewährleistung des „rule of law“ unabdingbar. Forschung, Wissenschaft und eine innovative Wirtschaft haben darüber hinaus eine wichtige gesellschaftliche Bedeutung. Wir setzen darauf, und meiner Ansicht nach geht es auch darum, dass alle gesellschaftlichen Gruppen am wissenschaftlichen und technischen Fortschritt beteiligt werden. Dies ist eine große Aufgabe, der wir uns auch in Deutschland immer wieder neu zu stellen haben. Wenn wir uns die Gruppen in unserer Bevölkerung anschauen – gerade auch zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund –, dann sehen wir, dass die Bildungschancen und die Beteiligung und der Anteil am Forschungssektor noch nicht so hoch sind, wie wir es wollen. Deshalb bin ich überzeugt, dass die aktive Einbeziehung von Minderheiten und ihre Gleichbehandlung auch zur Verhinderung von Radikalisierung die beste vorbeugende Politik ist. Wichtig für unsere Zusammenarbeit ist darüber hinaus die ungehinderte Arbeit der deutschen Förderer- und Mittlerorganisationen in China. Nachdem die Stiftungen in China unter dem neuen NGO-Gesetz neu registriert werden konnten, gilt es nun, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass auch sie – wie auch die Nichtregierungsorganisationen – ihre Tätigkeiten in vollem Umfang wieder aufnehmen können. Wir müssen auch noch einmal schauen, wie hoch der Aufwand für Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen ist, wenn man Partnerschaft leben will. Das Ganze muss sich in einem vertretbaren Ausmaß halten. Außerdem müssen Studienleistungen gegenseitig anerkannt werden, um es jungen Menschen leichter zu machen. All dies ist für eine stärkere Kooperation in Bildung und Wissenschaft sehr wichtig. Aber wir haben schon viele Schritte geschafft. Daher bin ich optimistisch, dass wir auch weitere Schritte schaffen werden. Auch in der Wirtschaft brauchen wir natürlich geeignete Grundlagen, um gemeinsame Innovationsprojekte in Angriff zu nehmen. Wir brauchen einen fairen Marktzugang. Der Ministerpräsident hat auch darüber gesprochen, wie sich die Negativliste immer wieder verändert und dass ein freier Zugang für viele inzwischen möglich ist. Ganz wichtig – auch das wurde vom Ministerpräsidenten angesprochen – ist der Schutz des geistigen Eigentums. Handels- und Geschäftsgeheimnisse müssen Bestand haben, auch wenn das in Zeiten der Cybermöglichkeiten manchmal gar nicht so einfach ist. Auf der Basis der vereinbarten Partnerschaft und unseres intensiven Dialogs sollte es uns möglich sein, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen. Dann können wir in Zukunft auch noch mehr erreichen, als wir heute schon geschafft haben. Wir sind uns dessen bewusst. Deswegen wollen wir die Deutsch-Chinesische Plattform Innovation weiterentwickeln. Wir arbeiten an gemeinsamen Fördermechanismen für bilaterale Kooperationsprojekte in Wissenschaft und Technologie. Deswegen schlagen wir vor, einen Deutsch-Chinesischen Forschungsfonds einzurichten. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung plant, hierfür bis zu vier Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung zu stellen. Das kann den Ausbau unserer Kooperation auf der Basis unserer jeweiligen Länderstrategien erleichtern. Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Li Keqiang, meine Damen und Herren, jeder Staat hat seine eigenen Interessen. Aber in einer immer enger vernetzten Welt überschneiden sich die nationalen Interessen mehr und mehr. Daher gilt auch mehr denn je: Im Gegeneinander binden wir unnötig Kräfte, im Miteinander aber bündeln wir unsere Kräfte. Genau darauf kommt es an. Gemeinsame Aufgaben sind auch gemeinsam anzugehen. Daher freue ich mich, wenn sich die deutsch-chinesischen Beziehungen weiter gut entwickeln. An gemeinsamen Herausforderungen für uns mangelt es ja nun wahrlich nicht. Deshalb sollte es für uns Ansporn sein, diese Herausforderungen auch gemeinsam anzunehmen. Ich wende mich an Sie, die Sie dies alles in vielen Facetten auch täglich tun und leben und sich dafür einsetzen. Danke dafür, dass Sie diese Arbeit zum Wohle unserer beiden Länder leisten. Auf weitere gute Erfolge in dieser Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Innovation. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur 73. Bankwirtschaftlichen Tagung des Bundesverbands der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken am 31. Mai 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-73-bankwirtschaftlichen-tagung-des-bundesverbands-der-deutschen-volksbanken-und-raiffeisenbanken-am-31-mai-2017-in-berlin-433972
Wed, 31 May 2017 16:10:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Fröhlich, sehr geehrte Vorstände – ich habe ja jetzt mitbekommen, wie selbständig Sie sind –, meine Damen und Herren, in der Tat ist es relativ schwierig, Sie zu erreichen. Sie haben zwar günstiger gelegene DZ-Banken, aber dorthin haben Sie sich nicht getraut. Insofern ist das durch die Sperrung der Straße des 17. Juni sehr schwierig. Wenn dann auch noch ein Staatsgast ankommt, der mich später besuchen will, dann ist es besonders schwierig. Deshalb muss ich schauen, dass die Straße nicht schon für den Staatsgast gesperrt ist, bevor ich von Ihnen wieder wegkomme. Vor dieser Aufgabe stehe ich. Die Bankwirtschaftliche Tagung ist so etwas wie das jährliche Familientreffen der Kreditinstitute, die im Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken zusammengeschlossen sind. Die Genossenschaftsidee macht Ihre Finanzinstitute zu etwas Besonderem. Ich sage das aus voller Überzeugung; deshalb bin ich hier. Weltweit gibt es über 800 Millionen Genossenschaftsmitglieder in über 100 Ländern. Deutschlandweit sind es immerhin 21 Millionen, davon über 18 Millionen bei Genossenschaftsbanken. Das muss man sich vor Augen führen, um zu wissen, um welche Dimension von Engagement es sich hierbei handelt. Deutschland hat vorgeschlagen, die Genossenschaftsidee auf die Liste für das immaterielle Kulturerbe der Menschheit zu setzen. Dem hat die UNESCO zugestimmt. Die Idee hat also nicht nur uns in Deutschland überzeugt, sondern auch weltweit. Die Urkunden wurden kürzlich überreicht. Die Genossenschaftsidee ist damit sozusagen der erste deutsche Eintrag auf dieser Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit. Ich denke, darauf können Sie stolz sein. – Vielleicht hilft uns das sozusagen auch bei den immateriellen Diskussionen, die wir über die zu erwartenden Regulierungen führen müssen. – Denn damit ist ja bewiesen, dass Sie etwas Besonderes sind und dass diese Besonderheit an einigen Stellen vielleicht auch in der Regulierung ihren Platz finden muss. Denn Sie tragen dazu bei, dass nicht nur in größeren Städten, sondern auch in der Fläche Bankdienstleistungen angeboten werden. Auf Ihnen lastet aber auch der Druck der Effizienzverbesserung. Trotzdem hoffe ich, dass Sie das Markenzeichen, dass Sie flächendeckend vertreten sind, weiter halten können. Sie sind ein wichtiger Ansprechpartner für investitionsfreudige Selbständige und mittelständische Unternehmen, für diejenigen, die sich für zusätzliche Altersvorsorge und Formen der Absicherung interessieren, für Familien, die ein Haus bauen oder eine Wohnung kaufen wollen. Man kann sagen, dass die Zahlen für sich sprechen. Denn rund jeder fünfte Euro der gesamten Firmenkundenfinanzierung kommt in Deutschland aus einer Genossenschaftsbank. Bei der Wohnungsbaufinanzierung ist es sogar noch mehr als jeder fünfte Euro. Das heißt, Sie sorgen dafür, dass aus einer Idee Realität werden kann. Die Stärke besteht sicherlich auch in der festen Verankerung in den Regionen und in der Tatsache, dass Sie deshalb vieles kennen, worüber Sie zu urteilen und zu richten haben. Dafür gibt es eben wenige fassbare Kriterien. Das macht uns aber im Hinblick auf internationale Abkommen die Arbeit nicht ganz einfach. Wir wissen, dass die globalen Finanzmärkte durch eine schwere Krise gegangen sind. Krisen solchen Ausmaßes kann natürlich kein Staat allein bewältigen, sondern wir müssen uns international abstimmen. Ich denke, darüber gibt es keine Meinungsunterschiede. Deshalb war die internationale Finanzkrise die Geburtsstunde der G20 auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs. Wir haben in diesem Kreis gleich von Anfang an Fragen der Reformen zur Finanzstabilität in Angriff genommen und damals gesagt: Jedes Produkt, jeder Ort und jeder Akteur auf den Finanzmärkten muss einer Regulierung unterworfen werden. Auch in diesem Jahr, in dem Deutschland die G20-Präsidentschaft hat, ist das Thema Finanzmarktregulierung nach wie vor ein Thema – vorrangig für die Finanzminister, aber eben auch für die Staats- und Regierungschefs. Hierbei geht es vor allen Dingen auch darum, nicht nur die Banken, sondern auch die Schattenbankenaktivitäten zu regulieren. Das ist sehr viel schwieriger, sehr viel weniger fassbar. Es gibt natürlich immer wieder Ausweichmanöver, weil man sich ja neue Produkte ausdenken kann. Das heißt, die staatliche Regulierung ist auf eine gute Kooperation mit denen angewiesen, die sich im Bankensektor auskennen. Aber Regulierung ist absolut notwendig. Dennoch sage ich Ihnen Unterstützung bei den anstehenden Verhandlungen zu – sowohl für die Basel-III-Nachfolge als auch für die europäischen Regulierungen. Wir wollen – das ist ein Thema bei G20 – unser gesamtes Wachstum inklusiver gestalten. Das heißt, man hat nach der Finanzmarktkrise durchaus erkannt, dass die Art des Wachstums, bei dem wenige die Gewinne machten, wobei diese sehr stark globalisiert wurden, während das Risiko auf der nationalen Ebene, in den einzelnen Nationen angesiedelt war, nicht ausreicht, um demokratische Stabilität zu erzeugen. Deshalb ist die Rückbesinnung auf den Gedanken der Sozialen Marktwirtschaft wichtig, der ja auch Ihr Leitgedanke ist. Wir versuchen, so auch unsere G20-Präsidentschaft anzulegen, und zwar unter dem Motto „Eine vernetzte Welt gestalten“. Unser Symbol hierfür ist ein Kreuzknoten. Diejenigen aus den nördlichen Bereichen wissen, welche Schifffahrtsknoten es gibt. Dieser Knoten hat auch unter großer Anspannung die Kraft, zu halten. Wir wollen also eine vernetzte Welt gestalten. Dieses Motto ist auch ein Stück weit von unserer Arbeit in Europa geprägt. Wir haben nach der internationalen Finanzkrise im Euroraum inzwischen erhebliche Fortschritte bei der Verbesserung der „Wetterfestigkeit“ gemacht, wenn ich das so sagen darf. Es gibt eine einheitliche Bankenaufsicht und einen einheitlichen Abwicklungsmechanismus. Es gibt harmonisierte Regeln zur Sanierung und Abwicklung von Instituten. Wir haben mehr Transparenz geschaffen. Und auch bei den Schattenbanken machen wir, wie ich schon sagte, Fortschritte. Wir erkennen allerdings, dass das auch nicht ganz einfach ist. Früher hat man gesagt, nie wieder den Steuerzahler an der Rettung von Banken zu beteiligen. Wir erleben allerdings in einigen europäischen Ländern, dass auch sozusagen die Eigner von Banken ganz normale Steuerzahler sein können. Das heißt, es ist nicht so einfach, den einfachen Mann und die einfache Frau, also sozusagen den Normalbürger, nicht zu beteiligen. Deshalb ist es so gut, dass wir in Bezug auf die Volks- und Raiffeisenbanken sagen können, dass sie durch diese Krise so gekommen sind, dass wir gar nicht groß über Rettungsmanöver sprechen mussten, sondern dass sie schon relativ krisenfest waren. In Deutschland sind wir dabei, die aktuelle EU-Richtlinie zur Geldwäsche umzusetzen. Es geht um ein Register der wirtschaftlich Berechtigten. Steuerbetrug, Geldwäsche und illegale Finanzströme werden erschwert. Auch hierbei gibt es heiße Diskussionen, weil natürlich die Eingriffstiefe erheblich ist. Dennoch glaube ich, dass all diese Stabilisierungsmaßnahmen, die ich genannt habe, wirklich wichtig sind. Wir müssen aber immer wieder prüfen, wie die Regeln angewandt werden. Wir haben so viel von dem sogenannten Level Playing Field gesprochen, also von einer gleichen Wettbewerbssituation für alle Akteure, und sehen dann doch, dass die Umsetzung international vereinbarter Standards sehr unterschiedlich erfolgt. Hierbei kann man, glaube ich, auch sagen, dass die Einschätzung, wer so systemrelevant ist, dass alle Regelungen auf ihn angewandt werden müssen, von Kontinent zu Kontinent doch recht unterschiedlich getroffen wird und wir in Europa aber sehr genau in Bezug auf diese Umsetzungen sind, was uns dann doch Schwierigkeiten macht. Darauf achten wir auch. Ich will hier noch einmal – ich glaube, das erwarten Sie auch – ein klares Bekenntnis zum Drei-Säulen-Modell aus Privatbanken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken abgeben. Es hat dazu beigetragen, dass wir recht gut durch die Finanzkrise gekommen sind. Wir glauben aber, dass es, auch geschichtlich bedingt, möglich sein muss, dass verschiedene Länder auch verschiedene Wege in Richtung auf ein Ziel gehen. Das ist ja auch genau der Kern, um den sich Ihre Diskussionen ranken. Es zeigt sich aber auch, dass wir besser reagieren können, wenn es in einem gemeinsamen Währungsraum gemeinsame Absicherungen gibt. Aber für die Bundesregierung ist bei allem, was wir tun, absolut wichtig, dass Haftung und gemeinschaftliche Hilfe immer redlich untereinander verteilt sind und dass nicht die eine Seite, die europäische Seite, die Risiken übernimmt und die anderen sich nicht an bestimmte Regeln halten müssen. Diese Proportionalität oder diese reziproke Herangehensweise ist sehr wichtig. Wir wissen, dass wir eine europäische Herangehensweise brauchen. Es gibt viele Herausforderungen, die wir nur gemeinsam oder gemeinsam sehr viel besser bestehen können. Ich will als Beispiele nur die Digitalisierung oder den Binnenmarkt insgesamt nennen sowie natürlich die Fragen von Frieden und gemeinsamen Grundwerten. All das sind Dinge, die wir als Europäer gemeinsam und klar in der Welt benennen sollten. Ich glaube, uns allen ist in den letzten Monaten ein wenig bewusst geworden, wie fragil der Schatz ist, der uns nach Jahrzehnten eines gemeinsamen Europas so selbstverständlich erschien. Dazu haben Ereignisse wie die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens beigetragen. Dazu haben aber auch Wahlen in Europa beigetragen, bei denen es sehr viel knapper zuging, als wir uns das jemals hätten vorstellen können. Insofern glaube ich, dass das Bewusstsein gewachsen ist, zu sagen: Die Tatsache, dass wir über Jahrzehnte in Frieden und Freiheit leben, ist ganz wesentlich mit der Tatsache verknüpft, dass wir ein vereintes Europa haben. Deshalb lohnt es sich – bei allem, um das man sozusagen im Kleinen kämpfen muss –, sich auch immer wieder für dieses gemeinsame Europa einzusetzen, das viel mehr als Euro und Cent oder Heller und Pfennig, wie wir früher gesagt hätten, wert ist. Ich weiß, dass die Volks- und Raiffeisenbanken das auch tun. Für Sie ist der Austritt Großbritanniens natürlich auch aus finanzwirtschaftlicher Sicht von Interesse. Auch wenn Sie eine eher lokal orientierte Bankengruppe sind, gibt es schon ein großes Interesse daran, wie sich das Ganze vollzieht. Dazu möchte ich Ihnen zwei Dinge sagen. Das eine ist: Großbritannien ist ein Partner, Großbritannien ist ein Freund. Die britische Premierministerin hat mehrfach gesagt: Wir treten aus der Europäischen Union aus, aber wir bleiben Teil Europas. In diesem Geist wollen wir auch die Verhandlungen führen. Auf der anderen Seite ist es so: Die Tatsache, dass wir in der Europäischen Union Grundfreiheiten haben – die Freiheit des Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital –, hat natürlich sozusagen auch ihre Rahmenbedingungen. Es kann nicht sein, dass man sich zu einer der Grundfreiheiten nicht mehr bekennt, aber ansonsten nichts merkt. Deshalb hat der Austritt einen Preis. Es wird also durch den Austritt Großbritanniens nicht durchgehend besser für irgendjemanden werden, jedenfalls aus der Perspektive derer, die die Vorzüge der gemeinsamen Europäischen Union genutzt haben. Man kann natürlich aus britischer Sicht sagen: Wenn wir manche Bindungen los sind, dann wird es für uns besser. Aber das wird eben auch Auswirkungen auf uns im Verhältnis zu Großbritannien haben. Da einen klugen politischen Weg zu finden, das wird die große Aufgabe sein. Dabei stehen wir erst ganz am Anfang der Verhandlungen. Wir werden uns jetzt erst einmal um die Rechte der nicht-britischen Bürgerinnen und Bürger aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Großbritannien kümmern genauso wie um die Rechte der in EU-Ländern lebenden britischen Bürgerinnen und Bürger, damit hier wenigstens eine gewisse Sicherheit eintritt. Dann wird es darum gehen, in ein unendlich kompliziertes Geflecht einzutreten und sozusagen Trennungslinien in einem ja sehr tief vernetzten Markt zu ziehen. Jean-Claude Juncker bringt immer das Beispiel, dass pro Jahr allein 250.000 Hunde und Katzen von Großbritannien nach Kontinentaleuropa und zurück transferiert werden, für die man dann Gesundheitspässe, Impfausweise und solche Dinge braucht. Das ist aber noch das Einfachste. Ich will nur wenige praktische Beispiele nennen: Es geht um Urlaubsversicherungen, Krankenkostenübernahmen und Verbraucherschutzanforderungen. Das alles ist ja am Tag eins nach dem Austritt Großbritanniens noch ganz einfach, aber nach fünf Jahren müssen wir ja auch sozusagen „safeguards“ eingebaut haben, damit sich das Wettbewerbsfeld nicht völlig verschiebt, wenn Großbritannien dann den Weg eigener regulatorischer Maßnahmen geht. Insofern ist auch ein Handelsabkommen zu verhandeln, wobei wir hierbei noch gar keine Erfahrung im Verhandeln von Dienstleistungen haben. Allerdings spielen natürlich gerade auch Dienstleistungen – siehe Londoner City – eine große Rolle. Deshalb ist das durchaus eine komplexe, große Aufgabe, die wir lösen müssen und bei der wir dann zum Schluss auch den politischen Überblick nicht verlieren dürfen. Ein kleiner Nebenaspekt ist, dass natürlich auch die EU-Agenturen umziehen werden. Die Europäische Arzneimittelbehörde zieht zum Beispiel um – eine sehr begehrte Institution, um die sich viele europäische Länder bewerben; natürlich genauso wie um die Europäische Bankenaufsichtsbehörde, für die wir uns auch sehr prädestiniert fühlen, weil wir ja mit Frankfurt doch ein ordentliches Zentrum haben. Neben Europa ist der zweite große Punkt, auf den ich noch etwas eingehen möchte, dass zurzeit schwierige Rahmenbedingungen herrschen. Wir kennen und achten die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank, aber die lang andauernde Niedrigzinsphase stellt Sie vor große Herausforderungen, gerade auch im Hinblick auf Ihre Produkte, wenn ich zum Beispiel an Wohnungseigentum denke. Eine weitere große Herausforderung ist natürlich die Digitalisierung, weil sie auch die Modelle Ihrer Kontakte mit den Kunden verändert und weil Sie jetzt im Grunde in einer Transformationszeit leben, in der Sie noch viele Kunden haben, die nicht in das Schema neuer digitaler Geschäftsmodelle passen im Gegensatz zum nachwachsenden jungen Kundenstamm. Es gibt auch neue Wettbewerber – ich denke dabei an die FinTechs – also die Finanztechnologieunternehmen –, die in der Regulierung und in Rechts- und Haftungsfragen noch nicht erfasst sind, aber Ihnen schon Konkurrenz machen. Deshalb haben Sie auch viele Schritte zu gehen, die noch ungewohnt sind und bei denen wir auch auf einen engen Austausch angewiesen sind. Hinzu kommt, dass wir Sicherheit im Internet und auch beim Banking im Internet brauchen. Sie sind genauso wie wir alle Angriffen im Cyberraum ausgesetzt und wissen, welche rufschädigende Wirkung es haben kann, wenn es zu tagelangen Ausfällen kommt. So bequem wie alles ist: Wenn es einmal nicht funktioniert, ist das dann natürlich noch viel dramatischer, als wir das aus der früheren nicht-digitalen Welt kennen. Deshalb sind auch ganz neue Berufsbilder und neue Kompetenzen gefragt. Ich möchte danke dafür sagen, dass Sie diesen Prozess sehr entschlossen angehen und nicht jammern und klagen, sondern einfach einerseits stolz auf das eigene Modell, aber andererseits auch offen für die neuen Zeiten sind. Nun haben wir ein gemeinsames Interesse daran, gerade auch unseren jungen Menschen den souveränen Umgang in der digitalen Welt beizubringen – Medienkompetenz, Schule, Ausbildung. Auch das sind große Herausforderungen, denn die deutschen Berufsschulen und die vielen Lehrer sind ja noch nicht alle auf diese völlig neuen Herausforderungen eingestellt. Die Arbeitswelt Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ändert sich natürlich auch permanent. Ich weiß jetzt nicht, mit welcher Freude da jeder Weiterbildungskurs in Angriff genommen wird oder ob Sie sehr viel Überzeugungsarbeit brauchen. Sie können sich als Chefs auch nicht mehr so richtig sicher sein, dass Sie noch das meiste wissen. Vielmehr sind die Jungen, die erst zu arbeiten anfangen, in digitalen Fragen besonders firm. Das geht uns ja allen so. Und ich finde es sehr interessant, dass einige große deutsche Industrieunternehmen – Bosch zum Beispiel – für alle Führungspositionen einen jungen Begleiter haben, sodass man sich sozusagen gegenseitig coacht, um einfach auch vollen Einblick in die neue Welt der Digitalisierung zu bekommen. Ich glaube, das ist auch in kultureller Hinsicht eine neue Zeit, in der man lebenslanges Lernen hautnah erfasst. Ich wollte damit aber keinen beleidigen. Wenn Sie das alles allein können, dann ist das ja gut. Meine Damen und Herren, ich glaube, dass auch das Thema Fachkräftesicherung ein großes Thema wird – vielleicht weniger bei den ganz großen Unternehmen, aber doch bei vielen mittleren und kleineren Unternehmen. Deshalb sind wir recht stolz, dass wir heute die Situation haben, sagen zu können: Die Arbeitslosigkeit hat sich gegenüber 2005 fast halbiert. Wir haben sehr viel mehr Menschen, die längere Lebensarbeitszeiten nutzen können, wir haben sehr viel mehr erwerbstätige Frauen und wir haben auch eine Vielzahl an europäischen Ausländern, die inzwischen in Deutschland tätig sind. Wir können auch sagen, dass die Situation der Unternehmen relativ gut ist. Das können Sie ja auch einschätzen. Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen lag 2016 auf dem niedrigsten Stand seit 1999. Auch im Hinblick auf die staatlichen Finanzen stehen wir ja sehr gut da, was letztlich wahrscheinlich auch mit Blick auf die Bereitschaft der Menschen, in Konsum zu investieren, ein beruhigendes Element ist. Der Wachstumstreiber ist derzeit vor allem der Binnenkonsum; und das war ja jahrelang nicht so. Das heißt, wir haben im Augenblick eine Situation, in der man sagen kann: Die gemeinsamen Kräfte, die in der Sozialen Marktwirtschaft wirken müssen, wirken relativ gut. Es gibt viele Schultern, auf denen Verantwortung ruht. Das ist eigentlich eine Zeit, in der Sie ganz besonders gut herauskommen. Denn das, was Sie machen, ist immer ein Gemeinschaftswerk von sehr vielen. Deshalb ist das eine Zeit, in der man, glaube ich, sagen kann, dass die Gründerväter des Genossenschaftswesens doch richtig gelegen haben und wir das viele Jahre später immer noch so sehen. Deshalb möchte ich auch zum Schluss Friedrich Wilhelm Raiffeisen zitieren: „Was dem Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele“. Hermann Schulze-Delitzsch hat hinzugefügt: „Mehrere kleine Kräfte vereint bilden eine große, und was man nicht allein durchsetzen kann, dazu soll man sich mit anderen verbinden.“ Das sollte Ihnen auch weiterhin Motto sein. Und das wiederum versuchen auch wir in unsere Arbeit einzubringen – insbesondere auch jetzt in der G20-Präsidentschaft. Dazu gehören immer viele Akteure. Deshalb noch einmal herzlich willkommen den 900 selbstbewussten Leitern, die sich in der Hauptstadt versammelt haben. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Tagung. Es hat mich gefreut, dass Sie mich eingeladen haben. Für die Verkehrsverhältnisse können Sie ja nichts. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Hauptversammlung des Deutschen Städtetages am 31. Mai 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-hauptversammlung-des-deutschen-staedtetages-am-31-mai-2017-433948
Wed, 31 May 2017 13:15:00 +0200
Nürnberg
Sehr geehrte Damen und Herren, Bund, Länder und Kommunen kümmern sich jeweils um die Fragen, die auf ihrer Ebene am besten zu lösen sind. Das nennen wir gelebte Subsidiarität in Deutschland. Das ist der Kern unseres föderalen Systems. Deshalb bin ich natürlich heute gerne bei Ihnen, denn Sie sind schon qua Definition sehr nahe am Menschen. Wenn ich sage „Sie“, dann meine ich die Vertreter der deutschen Städte und natürlich auch die Vertreter der anderen kommunalen Spitzenverbände, die ich ebenso begrüße wie die Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, die den Kommunen sehr verbunden sind. Es ist sehr wichtig, dass wir im Gespräch bleiben. Deshalb habe ich – Frau Lohse hat es schon erwähnt – auch in der herausfordernden Situation, als viele Flüchtlinge zu uns gekommen sind, sehr schnell gesagt, dass wir den direkten Kontakt zu den Kommunen brauchen, wohl wissend, dass nach dem Grundgesetz die Länder für die Kommunen da sind. Trotzdem gibt es Situationen, in denen der Informationsaustausch schnell erfolgen muss. Angesichts der vielen Interdependenzen, wie man so schön sagt, haben wir doch immer wieder auch die Frage zu beantworten, wer genau für was verantwortlich ist, und achten da zum Teil auch sehr darauf. Aber den Bürgerinnen und Bürgern ist das, ehrlich gesagt, ziemlich egal. Sie wollen wissen, wie die Dinge klappen. Dass ich Kommunalpolitik sehr achte, habe ich schon oft gesagt, gerade auch weil man vor Ort ja nicht weg kann, sondern tagtäglich mit den Anliegen vor Ort direkt konfrontiert wird. Das ist der große Unterschied. Ich komme mit Ausnahme der Stadt, in der ich lebe, überall mal so alle paar Jahre vorbei. Aber bei Ihnen gehen die Debatten schon morgens beim Bäcker los und enden abends in der Gaststätte und werden dazwischen auch noch an verschiedensten Stellen geführt. Das zeichnet kommunale Verantwortlichkeit aus. Manchmal sitzen Sie auch in der Amtsstube. Jedenfalls haben Sie einfach viel Bürgerkontakt. Das wollte ich sagen. Ich weiß, dass Sie auch sehr aufmerksam die Bundespolitik verfolgen – das, was wir in Berlin tun, und zwar nicht nur im Hinblick auf Ihre kommunale Herausforderung, sondern zum Beispiel auch im Hinblick auf die Europäische Union. Deshalb möchte ich damit beginnen, nochmals daran zu erinnern, dass wir im Frühjahr die Unterzeichnung der Römischen Verträge vor 60 Jahren gewürdigt haben. Wir wissen um den großen Wert, den die Europäische Union uns bringt. Wir leben in Frieden, Wohlstand und Stabilität. Deshalb hat es Sie wohl genauso betroffen gemacht wie uns in Berlin, dass in Großbritannien die Entscheidung gefallen ist, die Europäische Union zu verlassen. Wir werden die Trennungsverhandlungen natürlich auch in dem Geist führen, dass Großbritannien ein guter Partner bleibt. Aber wir müssen vor allen Dingen auch schauen, dass Europa seine Stärken stärkt und dass wir nicht nur mit Austrittsverhandlungen Großbritanniens beschäftigt sind, sondern dass wir auch mit den Fragen beschäftigt sind, die auf europäischer Ebene besser gelöst werden können als auf nationaler Ebene. An gemeinsamen Herausforderungen mangelt es nicht – denken wir an den Klimawandel, denken wir an den digitalen Binnenmarkt, denken wir an den Kampf gegen den Terrorismus, zu dem ich heute aus aktuellem Anlass etwas sagen musste. Denken wir an die Herausforderung von Flucht und Migration. Ich sage das auch, weil wir hier in einer Stadt sind, die ja sehr geprägt ist durch Geschichte und dadurch, dass, wie für die ganze Bundesrepublik Deutschland, die Gründung der Europäischen Union die Eröffnung eines neuen Kapitels der Geschichte bedeutete. Hier fanden nach dem Zweiten Weltkrieg die Nürnberger Prozesse statt. Die Nürnberger Prozesse und die Nürnberger Prinzipien wurden zu Grundsteinen des modernen Völkerstrafrechts. Dass die fränkische Metropole heute mit weltweit 14 Städten gute Partnerschaften pflegt, dass es eine Straße der Menschenrechte gibt, dass es den Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreis gibt – das alles spricht dafür, wie sich doch das Leben geändert hat. Ich glaube, es lohnt sich immer wieder, daran zu denken und auch dankbar dafür zu sein, welchen Schatz wir da in den Händen halten, der aber auch von Generation zu Generation weiterentwickelt werden muss. Natürlich werden Sie heute nicht nur auf den Spuren der Geschichte wandeln, wenn Sie heute Exkursionen vor Ort unternehmen, sondern sich auch mit dem breiten Spektrum praktischer kommunaler Herausforderungen am Beispiel Nürnbergs befassen. Ich glaube, der Oberbürgermeister kann Ihnen hier einiges vorzeigen, das die Stadt zu bieten hat. Aber vielleicht finden Sie auch Dinge, die bei Ihnen in Ihren Städten sogar noch besser sind. Jedenfalls freut es mich, dass Sie praktisch an die Sache herangehen. Wir treffen uns hier ja in einer Zeit, in der unglaubliche Veränderungen im Gange sind. Hierbei möchte ich mit digitalen Veränderungen und Herausforderungen beginnen. Wir werden morgen die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen im Deutschen Bundestag und am Freitag im Bundesrat beschließen. Ich hoffe, dass alles gut klappt. Ein Teil der Grundgesetzänderung könnte für die Menschen in Deutschland auch insofern von großer Bedeutung sein, als dieser die Bereitschaft von Bund und Ländern zur Zusammenarbeit betrifft, wenn es um die Einrichtung von Bürgerportalen geht. Die meisten Berührungspunkte der Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Staat finden natürlich auf der kommunalen Ebene statt. Deshalb werden wir in der nächsten Legislaturperiode mit den kommunalen Spitzenverbänden intensiv darüber sprechen müssen, wie wir diese Bürgerportale gestalten, so dass der Bürger dann einen einheitlichen Zugang zu allen staatlichen Leistungen hat. Mir ist auch ziemlich gewahr, dass das wahrscheinlich auch eine finanzielle Herausforderung sein wird. Auch darüber werden wir natürlich sprechen müssen. Denn in Sachen Verwaltung und Digitalisierung sind wir in Deutschland bestenfalls im unteren Mittelfeld anderer Länder. Wir sind nicht vorne mit dabei. Deshalb bitte ich einfach, dass wir auch da offen und intensiv an das Thema herangehen. Ich sehe gerade den Chef der Bundesagentur für Arbeit. Dabei fallen mir auch das BAMF und die neue Präsidentin, Frau Cordt, ein. Ich will nur sagen, im Augenblick haben wir in der Verwaltungspraxis eine Bevorzugung von Flüchtlingen, weil Flüchtlinge sozusagen in einem einheitlichen Kerndatensystem erfasst sind und weil von den Ausländerbehörden bis hin zur Zentrale über alle Ebenen hinweg die Daten zur Verfügung stehen. Ich warte auf den Tag, an dem die Bürgerinnen und Bürger sagen: Wir wollen auch nicht alles hundertmal angeben; ihr habt doch unsere Daten nun ein- oder zweimal, das muss doch mal reichen. Also, da liegt noch viel Arbeit vor uns. Im Zusammenhang mit der Digitalisierung sind wir natürlich auch verantwortlich, die Infrastruktur zu liefern. Ich glaube, dass die Breitbandanbindung für die Bürgerinnen und Bürger zur Daseinsvorsorge gehört. Aus diesem Grund müssen wir ländliche Gebiete genauso wie Ballungsgebiete gut anschließen. Beim Deutschen Städtetag ist das vielleicht nicht das zentrale Thema, weil Städte zumeist schon mit einem vernünftigen Anschluss bedacht wurden. Aber wir haben im Grundgesetz „die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ stehen. Das heißt, wir müssen ländliche Regionen unterstützen – auch deshalb, damit die Städte nicht völlig überfordert sind, wenn der Zuzug in die Städte immer weiter steigt, je unattraktiver die ländlichen Räume als Lebensräume werden. Das hängt natürlich auch miteinander zusammen. Wir werden bis 2018 unser Ziel erreichen: die Versorgung jedes Haushalts mit mindestens 50 Megabit pro Sekunde. Aber es zeigt sich, dass das nicht reichen wird. Wir brauchen Anschlüsse der Gewerbegebiete, wir brauchen Anschlüsse der Schulen, wir brauchen Anschlüsse natürlich auch der Verwaltung – und da müssen wir in das Gigabit-Zeitalter hineingehen. Wir brauchen eine einheitliche, möglichst auch europäisch einheitliche 5G-Technologie. Dazu wird es nochmal zur Versteigerung von Frequenzen kommen, aus denen wir wieder Mittel bekommen werden, mit denen wir dann die ländlichen Räume besser erschließen können. Wir haben eine große Diskussion über kostenloses WLAN und einen kostenlosen Zugang zu WLAN in möglichst allen deutschen Städten. Das ist natürlich auch ein Standortfaktor. Hierüber haben wir lange gerungen und mussten nochmals nachbessern. Aber ich glaube, wir sind auch hier ein Stück weit vorangekommen. Natürlich verändern sich durch Digitalisierung auch ganze Berufsbilder und Gewohnheiten. Sie alle wissen um die Veränderungen im Bereich des Einzelhandels. Wir haben immerhin rund drei Millionen Beschäftigte im Einzelhandel, die teils vor völlig neuen Herausforderungen stehen. Zum Beispiel wird im nächsten Jahr der neue Ausbildungsberuf Kaufmann bzw. Kauffrau im E-Commerce eingeführt. Sie sehen also auch daran, dass sich die Berufsbilder deutlich verändern. Wir sind, glaube ich, richtig dabei, wenn wir einen „Interministeriellen Arbeitskreis Nachhaltige Stadtentwicklung“ haben, der fragt, wie sich die Veränderungssituationen in den Städten darstellen. Und ich glaube, sagen zu können, dass diese Arbeit sehr gut funktioniert. Ich möchte mich auch bei den kommunalen Spitzenverbänden dafür bedanken, dass sie da so intensiv mitarbeiten und den Grundgedanken der Entwicklung im nachhaltigen Sinne teilen. Wir könnten vieles im Klimaschutz und mit den Strategien für einen effizienten Umgang mit Ressourcen überhaupt nicht realisieren, wenn wir nicht so viele Kommunen an unserer Seite hätten, die da mitarbeiten. Eines, über das wir immer wieder diskutiert haben im Zusammenhang mit den vielen Flüchtlingen, die zu uns gekommen sind, ist das Thema Wohnraum. In vielen zentralen, innerstädtischen Wohnlagen ist Wohnraum knapp. Das hat nicht nur Folgen für Baupreise und Mieten, sondern auch für kulturelle und soziale Strukturen. Aus diesem Grund hat die Bundesregierung ein besonderes Augenmerk auf das Thema Wohnungsbau und Stadtentwicklung gelegt. Wir haben das „Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen“ eingerichtet sowie eine Wohnungsbauoffensive mit verschiedenen Schwerpunkten beschlossen. Ich habe mit Freude auch den Chef der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben hier gesehen. Das deutet darauf hin, dass es bei Ihnen heute auch um Grundstücke geht. Wir wollen, dass wir Bauland aus öffentlicher Hand verbilligt zur Verfügung stellen. Ja, ich weiß schon, das ist nicht immer ideal. Ich kenne ja die Diskussion. Aber ich hoffe, es ist ein bisschen besser geworden; oder? Gut, also den Rest klären Sie noch mit Herrn Gehb. Wir stärken auch den sozialen Wohnungsbau. Wir haben die Mittel hierfür verdreifacht auf derzeit 1,5 Milliarden Euro jährlich. Trotzdem haben wir im Zusammenhang mit dem sozialen Wohnungsbau natürlich auch wieder konfliktreiche oder miteinander im Gegensatz stehende Tendenzen. Wir haben in der Koalition über neue Bauvorschriften intensiv diskutiert, was zum Beispiel die Wärmedämmung anbelangt. Solche Vorschriften machen dann aber auch die Herstellung von sozialem Wohnraum natürlich schwieriger. Wir müssen also eine Balance finden. Wir haben in diesem Jahr für die Städtebauförderung nochmals 790 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Wir haben rechtliche Vorgaben verbessert, die Nachverdichtung von Wohnsiedlungen erleichtert, das Planen von Bauvorhaben vereinfacht und hierfür die neue Baugebietskategorie „Urbanes Gebiet“ eingeführt. All das muss natürlich in einer Gemeinsamkeit mit den Ländern getan werden. Ich weiß auch um die komplexen Diskussionen, die Sie auszuhalten haben. Es ist ja bekannt, dass ich am Sonntag in Trudering war. Das erzähle ich jetzt nicht wegen der Rede, die ich dort gehalten habe, sondern weil ich mich mit diesem Besuch auch mit den Konflikten in so einem Stadtgebiet beschäftigt habe. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die seit langer Zeit dort wohnen und sich über jedes Stück Grünland freuen, das es noch gibt. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die Zuzug und dann höhere Häuser und eine verdichtete Wohnlage wollen. Diesen Konflikt gilt es auszuhalten und zu lösen. Also ich meine, auf dem Papier kann man das schön machen – urbanes Stadtentwicklungsgebiet; zack, fertig. Aber wenn das vor Ort umgesetzt werden muss, braucht man auch ein großes Geschick dafür, dass das dann auch auf Akzeptanz stößt. Wir werden in dieser Legislaturperiode voraussichtlich mehr als eine Million Wohnungen neu fertigstellen. Aber wenn man allein an die Zahl der zu uns gekommenen Flüchtlinge denkt und dann noch weiß, dass ein Teil unserer offenen Stellen nur dadurch gedeckt werden kann, dass auch ziemlich viele Menschen aus europäischen Ländern bei uns auf dem Arbeitsmarkt tätig sind, dann weiß man auch, wie ungleich auch die Wohnverhältnisse verteilt sind. Mein Wahlkreis in Vorpommern leidet eher darunter, dass Menschen wegziehen. In Deutschland haben wir also vollkommen unterschiedliche Gegebenheiten. In den einen Regionen sind die Klassen leer und die Schulen müssen geschlossen werden und in anderen Regionen sind die Klassen voll. Diese Unterschiedlichkeiten können wir halt auch nur ziemlich schwierig ausgleichen. Das ist auf die Schnelle nicht zu lösen. Aber ich sage mal, der hochverdiente Königsteiner Schlüssel ist nur bedingt geeignet, direkt zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland zu führen. Wir hatten sozusagen ein Ventil bei den Kosten der Unterkunft. Mit der Übernahme der Kosten der Unterkunft konnten wir den Schluss aus der Notwendigkeit ziehen, dass Kommunen, die sehr viele Menschen haben, die sozial schwächer sind, eben auch besonders gefördert werden sollten. Wir sind aber auch an einem Punkt angelangt, an dem wir im Grunde als Bundesauftragsverwaltung agieren könnten, was wir als Bund aber nicht wollen, weil wir glauben, dass dann die Verantwortlichkeit vor Ort etwas leidet, die wir natürlich dringend brauchen, weil Sie vor Ort natürlich die Lokalkenntnis haben. Wir brauchen im Grunde Verteilungsmechanismen, die die Bedürftigkeit und die Notwendigkeit eben auch klarmachen. Ihre Haushaltslage unterm Strich ist zwar gut: 5,4 Milliarden Euro Überschuss. Aber von Herrn Ude habe ich gelernt: Es nützt wenig, wenn es im Mittel eine ordentliche Temperatur gibt, aber wenn es bei dem einen ein tiefes Kühlfach und bei dem anderen ein heißer Ofen ist. Das habe ich mir gemerkt; das hatte mir auch umgehend eingeleuchtet. Wenn Sie sehen, welche Diskussionen wir über die Frage führen, wie sich die Mittel aus dem Kommunalinvestitionsförderungsfonds des Bundes, zweimal 3,5 Milliarden Euro, für die Sanierung von Schulen oder für kommunale Infrastrukturen verteilen, dann sehen Sie die Schwierigkeit, weil selbst unter denen, die finanziell schwächer sind und eigentlich Zulagen brauchen könnten, die Gegebenheiten völlig unterschiedlich sind. In Nordrhein-Westfalen haben wir Kassenkredite, ich glaube, in Rheinland-Pfalz auch, aber in vielen anderen Bundesländern gibt es sie nicht. Also kriegen plötzlich die, die die Möglichkeit des Kassenkredits haben, Geld und andere, die vielleicht sehr gespart haben und nicht solche Möglichkeiten haben, kriegen nichts davon ab. Also wird da heftig gerungen. Was sind die Maßstäbe? Vielleicht können wir mit den Ländern nochmals darüber reden, dass wir nicht alles immer nach dem Königsteiner Schlüssel ausgeben, weil das letztlich die Unterschiede immer weiter vergrößert als dass wir zu einer Annäherung kommen, die Sie unterm Strich, glaube ich, auch wollen. Wenn die kommunalen Spitzenverbände da konstruktiv mitarbeiten könnten, dann wäre das aus meiner Sicht sehr, sehr wichtig. Meine Damen und Herren, wir haben die Bund-Länder-Finanzbeziehung neu geordnet. Das war ein Kraftakt, um es mal ganz vorsichtig zu sagen. Die Einigung der Länder war möglich, weil der Bund mehr Verantwortung übernommen hat. Das haben wir gerne getan. Aber ich sage auch, wir tun es nur gerne, wenn zum Schluss auch irgendwas von den Bundesmitteln bei den Kommunen ankommt. Ich will mir hier jetzt nicht einen schlanken Fuß machen und in Abwesenheit der Länder auf die Länder schimpfen. Aber ich will, zumal ja viele Vertreter in den Landesparlamenten gleichzeitig in den Kreistagen oder in den Stadtverordnetenversammlungen sitzen, zumindest sagen, dass man erhebliche Kenntnisse braucht, um das Geflecht zu verstehen, in dem irgendetwas von dem, das beim Land ankommt, an die Kommunen weitergegeben wird. Denn der Finanzausgleich und die Finanzströme von Land zu Kommunen, die Umlagen usw. sind derart kompliziert, dass es selbst in Zeiten der Digitalisierung nicht einfach ist, herauszufinden, was denn nun genau bei wem ankommt und inwieweit die Länder vergleichbar sind. Ich glaube, der Deutsche Städtetag hat hier auf bohrende Nachfragen des Haushaltsausschusses schon einige Antworten zu geben versucht. Ich bitte Sie einfach um vollständige Transparenz. Es ist ja eine intellektuell spannende Aufgabe, herauszufinden, wie das funktioniert. Ich bin auch bei Mecklenburg-Vorpommern noch nicht ganz durch, aber das erarbeite ich mir noch. Ich bin mir aber hundertprozentig gewiss, dass es noch zwölf andere Methoden gibt, das alles zu errechnen. Deshalb ist es für uns als Bundestagsabgeordnete oft sehr enttäuschend, wenn zwar vom Bund zum Beispiel fünf Milliarden Euro im Zusammenhang mit der Neuordnung der Eingliederungshilfe gegeben werden, aber wenn man dann in einer Stadt nachfragt, was dort davon angekommen ist, und dann alles über die Städte aufaddiert und am Schluss den Eindruck gewinnt, dass da nicht fünf Milliarden Euro herauskommen. Erhöhte Transparenz ist notwendig. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern erklären können, wie die Finanzmechanismen funktionieren und nach welchem Muster sie funktionieren, weil wir sonst auch als Bundestagsabgeordnete selber unglaubwürdig werden. Wir erzählen, wie viel Geld irgendwo sein müsste, aber in der Summe ist es einfach nicht da. Wenn dann noch dazukommt, dass wir uns überlegen, was nach den Verteilungsmechanismen in den reicheren Städten und in den ärmeren Städten ankommt, dann muss man sich auch fragen, ob das sachgerecht ist. Also, wir haben da Riesenprobleme. Ich sage das auch deshalb, weil – wir haben das ja auch bei verschiedensten Wahlen gesehen – die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger in Zeiten der Digitalisierung sehr viel individualisierter abgefragt wird. Früher gab es sozusagen eine Größe – one size fits all; und dann ist das irgendwie akzeptiert worden. Heute, da die Menschen über das Internet auf sich zugeschneiderte Angebote in allem und jedem bekommen – von der Müsli-Bestellung bis zur Auto-Bestellung und individuellen Auswahl aller möglichen Konsumgüter –, wird auch von der Politik erwartet, dass fach- und sachgerechte und auf die jeweilige Lebenssituation zugeschnittene Angebote gemacht werden. Das wird sich auch nicht mehr zurückholen lassen. Mit nur einem Motto, mit vier Leitsätzen oder fünf Punkten in einem bundesweiten Wahlkampf oder in bundesweiten Argumentationen zu überzeugen – das geht nicht. Die Menschen leben vor Ort, sind stolz auf die Unterschiede zu anderen Regionen in Deutschland und wollen auf ihr jeweiliges Lebensumfeld zugeschnittene Antworten haben. Damit umzugehen, das hat etwas mit politischer Akzeptanz insgesamt zu tun. Also, wir haben in diesem Zusammenhang in den nächsten Jahren noch sehr viel zu tun. Ich weiß, dass Sie großen Investitionsbedarf haben und dass wir dafür Sorge tragen müssen, dass Investitionsmöglichkeiten auch da sind. Das können wir nicht ganz alleine machen. Auch Sie haben ja jetzt eine Zeit, in der Sie eher mehr Steuereinnahmen haben als weniger. Und ich sage mal, wenn ich sehe, was wir im Bund damit alles zusätzlich machen konnten, dann muss bei den Kommunen auch irgendetwas davon angekommen sein. Also, es kann nicht alles verschüttgegangen sein. Aber wir können nicht davon ausgehen, dass das so bleibt; es können auch wieder härtere Zeiten kommen. Umso besser wäre es, wir würden vernünftige Mechanismen haben, wie wir die Dinge verteilen. Abschließend will ich Ihnen danken. Ich will Ihnen danken für das, was Sie sowieso täglich tun. Aber ich will Ihnen auch dafür danken, dass Sie die Herausforderung, die wir im Jahr 2015 hatten, doch so mutig angegangen sind. Sie haben vor Ort praktische Aufgaben zu lösen gehabt. Ich weiß, dass Sie schlaflose Nächte hatten. Ich weiß, dass Sie Menschen in Ihren Verwaltungen hatten, die bis an den Rand der Belastbarkeit oder vielleicht darüber hinaus arbeiten mussten. Ich weiß, dass Sie unglaublich viele Ehrenamtler mit ermutigt haben durch Ihr Tun. Nur so ist es gelungen, diese riesige Herausforderung einigermaßen zu bewältigen. Wir wissen, dass jetzt, da weniger Flüchtlinge zu uns kommen, natürlich die Aufgabe nicht beendet ist. Ich glaube, Frau Lohse hat es auch gesagt, dass wir beim Thema Integration einen sehr langen Atem brauchen. Das Schlechteste wäre jetzt, wenn wir die Dinge einfach wieder vergessen und zur Tagesordnung zurückkehren würden. Aus diesem Grund respektiere ich nicht nur Ihren Wunsch, dass Sie wissen müssen, wie es nach 2018 mit den Finanzen weitergeht, sondern wir werden nach der Bundestagswahl bei der Haushaltsaufstellung für 2018 auch sofort darüber sprechen müssen. Das jetzt vor der Wahl zu machen, wäre verwegen. Davon könnten Sie sich auch letztlich nichts kaufen, weil wir die Mehrheiten nicht kennen, die den Haushalt festlegen werden. Aber ich sage Ihnen das, sobald ich was zu sagen habe, zu. Das muss ich ja sagen. Morgen ist Herr Gabriel hier; und der sagt dann, wie kann die Ihnen was zusagen. Also, er kann auch nur so etwas zusagen, wie ich es zusagen kann. Aber auf jeden Fall wissen wir darum, dass Integration einen langen Atem braucht. Danke für Ihre Arbeit – das sage ich aus voller Überzeugung. Eine gute Tagung, alles Gute und auf gute Zusammenarbeit.
in Nürnberg
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zum Festkonzert der Deutschen Stiftung Musikleben
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zum-festkonzert-der-deutschen-stiftung-musikleben-428290
Wed, 31 May 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Wer wie die Deutsche Stiftung Musikleben auf finanzielle Zuwendungen und damit auf die Großzügigkeit anderer Menschen angewiesen ist, tut möglicherweise gut daran, sich zur Erhöhung des Spendenaufkommens mit Erkenntnissen der Evolutionspsychologie zu befassen. Sie könnten sich damit, liebe Frau Schulte-Hillen, – sagen wir es mal so … – , gewisse Schwächen des männlichen Geschlechts zunutze machen. Britische Forscher haben nämlich herausgefunden, dass Männer mehr Geld spenden, wenn sie mitbekommen, dass andere Männer sich bereits großzügig gezeigt haben, und wenn gleichzeitig eine attraktive Frau als Spendensammlerin auftritt. Das mag politisch nicht korrekt sein, ist aber wissenschaftlich bewiesen. Jedenfalls hat eine große deutsche Tageszeitung entsprechende Erkenntnisse aus dem Fachjournal „Current Biology“ zitiert. Im Wettbewerb um den dicksten Geldbeutel will man(n) offenbar ganz vorne mit dabei sein. Biologen nennen das „kompetitives Balzverhalten“. Zur Ehrenrettung der Männer sei aber festgehalten, dass es ganz offensichtlich durchaus Alternativen zum evolutionsbiologischen Ansatz gibt: Man lade ein zu einem fulminanten Konzert und präsentiere ein exquisites Programm mit herausragenden Künstlerinnen und Künstlern. So kann man für die künstlerische Nachwuchsförderung Gewinn aus musikalischem Genuss ziehen. Jedenfalls wünsche ich genau das der Deutschen Stiftung Musikleben und habe deshalb gerne die Schirmherrschaft für den heutigen Abend übernommen. „Könner brauchen Gönner“, so fasst die Stiftung ihr Anliegen kurz und prägnant zusammen, und Könner und Gönner zusammen zu bringen, ist wiederum eine ganz eigene Kunst. Schließlich gibt es eine Menge Institutionen, die für gemeinnützige oder mildtätige Zwecke um Spendengelder konkurrieren. Ein unterstützenswertes Anliegen zu haben, reicht also nicht. Es braucht die Kreativität eines Komponisten, es braucht das Takt- und Fingerspitzengefühl eines Dirigenten, es braucht das Miteinander eines Orchesters, aber auch die Strahlkraft eines Solisten, und dazu die ganze Klaviatur der Kommunikation, um ein verlässliches Netzwerk aus Unterstützern aufzubauen und ein Umfeld zu schaffen, in dem junge Talente wachsen und gedeihen können. Die Deutsche Stiftung Musikleben hat es in dieser Kunst zu wahrer Meisterschaft gebracht: Dafür stehen nicht nur die rund 600 Mäzene und Förderer, deren großzügige finanzielle Zuwendungen neben den – bei Konzerten eingeworbenen – Spenden die Stiftung finanzieren und denen ich dafür von Herzen danke. Dafür steht auch und insbesondere die eindrucksvolle Reihe der über die Jahrzehnte geförderten Künstlerinnen und Künstler, deren Karriere die Deutsche Stiftung Musikleben begleitet und beflügelt hat – klingende Namen wie Tabea Zimmermann, Christoph Eschenbach, Sabine Mayer, Gerhard Oppitz, Julia Fischer und Igor Levit, der heute Abend mit dabei ist – zusammen mit zahlreichen anderen jungen und vielversprechenden Interpretinnen und Interpreten, auf deren Vortrag ich mich sehr freue. Sie alle profitieren als Stipendiaten der Deutschen Stiftung Musikleben von einem individuellen, ganz auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Angebot an Stipendien, Patenschaften, Preisen und Auftrittsmöglichkeiten – und darüber hinaus von einer Chance, von der jeder junge Musiker nur träumen kann: von der Möglichkeit nämlich, sich eines der überwiegend historischen Streichinstrumente aus dem Deutschen Musikinstrumentenfonds als Leihgabe zu erspielen und die eigene Ausdruckskraft mit den außergewöhnlichen Klangnuancen dieser charakterstarken Instrumente zu schärfen und weiter zu entfalten. Wir als Zuhörer, meine Damen und Herren, wir als stille Genießer können möglicherweise nur erahnen, welche neuen Welten, welche Entwicklungs-möglichkeiten sich für Künstlerinnen und Künstler mit einem Instrument auftun, das ihrem Potential entspricht. Aber man muss kein Profimusiker sein, um zu wissen, dass solche Instrumente für junge Musiker unerschwinglich sind. Deshalb bin ich schon von Amts wegen, als Kulturstaatsministerin, aber auch als leidenschaftliche Liebhaberin klassischer Musik, froh und dankbar, das sich aus dem kleinen, anfangs nur mit 16 Instrumenten ausgestatteten Deutschen Musikinstrumentenfonds, den die Bundesregierung und die Deutsche Stiftung Musikleben 1993 gemeinsam gegründet haben, längst einer der größten seiner Art in ganz Europa entwickelt hat – und damit nebenbei auch eines der erfolgreichsten Projekte privater und öffentlicher Partnerschaft. Denn es sind vielfach private Treugeberinnen und Treugeber, aus deren Besitz die heute rund 200 Instrumente im Deutschen Musikinstrumentenfonds stammen – Menschen, die ihre wertvollen Instrumente einerseits in besten Händen wissen wollen und andererseits Freude daran haben, mit dieser Leihgabe die Entwicklung junger Künstlerinnen und Künstler zu fördern. Das zeichnet Sie, verehrte anwesende Treugeberinnen und Treugeber, als wahre Liebhaber und damit auch als würdige Besitzer solcher Schätze aus, die ja leider mittlerweile als Spekulationsobjekte begehrt sind und für hohe Summen als Geldanlage gekauft werden, um dann, ihrer Stimme beraubt, in irgendeinem Tresor zu verstauben …. Ein herzliches Dankeschön Ihnen allen, die Sie den Wert eines klangvoll lebendigen Instruments höher schätzen als den Preis, der sich mit totem Kapital erzielen lässt! Ein herzliches Dankeschön auch allen Mäzenen, Paten und Spendern, allen engagierten ehrenamtlichen Mitstreitern, Mitarbeitern und Wettbewerbsjuroren, für die Chancen und Perspektiven, die Sie jungen Ausnahmetalenten mit Ihren Zuwendungen eröffnen – vor allem mit Ihrer wertschätzenden Zuwendung, die offenbar weit über die bloße Förderung mit Geld- und Sachwerten hinausgeht. Denn immer wieder höre ich, dieses einmalige Netzwerk aus Unterstützern sei wie eine große Familie, die zusammenhält und auf deren Hilfe man sich als Musiker, wo immer nötig, ebenso verlassen kann wie auf den nötigen Freiraum zur persönlichen Entfaltung. Was für ein schönes Kompliment! Diese außergewöhnliche, enge Verbundenheit zwischen Könnern und Gönnern ist der immaterielle Kapitalstock der Deutschen Stiftung Musikleben, und er ist vor allem Ergebnis Ihres unermüdlichen Engagements, liebe Frau Schulte-Hillen. Sie sind, auf gut berlinerisch, „Die Mutter von dit Janze“; oder hanseatisch vornehmer formuliert: treibende Kraft und geschickte Strippenzieherin. Und das ehrenamtlich, seit mehr als 25 Jahren! Zusammen mit dem ganzen Vorstand, mit Ihrer Geschäftsstellenleiterin Saskia Egger und dem Geschäftsstellenteam sind Sie mit Leib und Seele für „Ihre“ Stipendiaten da und leisten großartige Arbeit – mit einer Überzeugungskraft, die nur aus wahrer Leidenschaft erwächst und der man sich schlicht nicht widersetzen kann. Ich weiß das sehr zu schätzen und danke Ihnen herzlich für Ihr Engagement und für die gute Zusammenarbeit mit meinem Haus! Vor allem aber hoffe ich, dass auch wir – Ihre Partner in der Kulturpolitik – Teil der „Familie“ bleiben und unseren Teil zur musikalischen Nachwuchsförderung beitragen können – ganz nach dem Motto, unter dem der heutige Abend begann, ganz nach dem Motto „So klingt die Zukunft“. „So klingt die Zukunft“: Diese Worte, meine Damen und Herren, dürfen wir sicherlich nicht nur als musikalische Verheißung verstehen. Diese Worte eignen sich durchaus auch als gesellschaftspolitische Vision. Schließlich bringt die Deutsche Stiftung Musikleben nicht nur Könner und Gönner zusammen, sondern auch Könner und Könner: Musiker, die aus ganz Europa nach Deutschland kommen, weil es hier – nicht zuletzt dank einer Kulturförderung, die weltweit ihresgleichen sucht – exzellente Orchester, Konzerthäuser und Hochschulen gibt; aber auch Musiker, die von Deutschland aus mit ihrem Können die Welt erobern und in der Ferne das Interesse an Deutschland wecken. Ich bin überzeugt: Gerade in Krisenzeiten braucht Europa den Enthusiasmus der Kunst! Gerade in Krisenzeiten können junge Musikerinnen und Musiker auch andere Menschen für den interkulturellen Austausch begeistern. Musik kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren. Musik kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Musik verbindet über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg. Und im Übrigen verdanken wir den kulturellen Reichtum, auf den wir in Deutschland und Europa so stolz sind, nicht zuletzt der Neugier, der Weltoffenheit und dem weiten Horizont der Künstlerinnen und Künstler, die schon zu einer Zeit Inspiration im interkulturellen Austausch fanden, als der europäische Gedanke, wie wir ihn heute kennen und leben, noch nicht einmal als Utopie am politischen Horizont erkennbar war. Daran kann man angesichts des vielerorts wieder aufkeimenden Nationalismus nicht oft genug erinnern – und daran erinnert klangvoll auch das heutige Programm. Ja, so klingt Weltoffenheit, so klingt kulturelle Vielfalt – und so klingt auch die Zukunft, wenn die Deutsche Stiftung Musikleben bleibt, was sie ist: ein Kraftzentrum der Musikkultur, weit über Deutschland hinaus. Dafür verdient und dafür braucht sie unser aller Unterstützung, meine Damen und Herren! Lassen wir uns also heute Abend nicht nur vom musikalischen Können begeistern, sondern vielleicht auch zum großzügigen Gönnen verführen! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen viel Freude beim Zuhören und der Deutschen Stiftung Musikleben auch weiterhin zahlreiche Spender und Unterstützer!
Beim Festkonzert der Deutschen Stiftung Musikleben hat Kulturstaatsministerin Grütters den Verantwortlichen gedankt, dass sie junge Musiktalente auch über die bloße finanzielle Förderung hinaus so engagiert unterstützen, vor allem mit der Möglichkeit, auf historische Instrumenten musizieren zu können. Zwischen Könnern und Gönnern gebe es “ eine außergewöhnliche, enge Verbundenheit“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutsch-Indischen Wirtschaftsforum am 30. Mai 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-deutsch-indischen-wirtschaftsforum-am-30-mai-2017-420246
Tue, 30 May 2017 14:18:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Premierminister Modi, sehr geehrte Frau Kamineni, sehr geehrter Herr Patel, sehr geehrter Herr Lienhard, meine Damen und Herren, ich freue mich, heute mit dem indischen Premierminister beim Deutsch-Indischen Wirtschaftsforum mit dabei zu sein. Ich möchte mich zuallererst bei den indischen Wirtschaftsverbänden und dem Asien-Pazifik-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft bedanken, die diese Konferenz vorbereitet haben. Lieber Narendra Modi, sehr geehrter Herr Premierminister, ich möchte ganz ausdrücklich auch Ihnen danken. Sie haben dieses Treffen hochrangiger Vertreter der indischen und deutschen Wirtschaft unterstützt. Sie haben Wert darauf gelegt, dass wir nicht nur die Regierungskonsultationen durchführen, sondern auch die wirtschaftspolitischen Gespräche fortsetzen, vorhin beim Mittagessen und jetzt bei dieser Konferenz. Das unterstreicht noch einmal, dass Sie Wort halten, dass Sie zu dem stehen, was Sie vor drei Jahren angekündigt haben und was Sie auf der Hannover Messe 2015 uns Deutschen so eindrucksvoll gesagt haben. Wenn wir uns heute anschauen, wie Indien dasteht, dann kann man sagen: Es hat überdurchschnittliche Wachstumsraten, zuletzt wieder mit deutlich mehr als sieben Prozent. Wir als Bundesrepublik Deutschland – ich darf das, denke ich, auch im Namen der deutschen Wirtschaft sagen – wollen natürlich ein Teil dieser Erfolgsgeschichte sein, die Sie in Indien schreiben. Unser bilaterales Handelsvolumen hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdreifacht. Wir stehen mit einem Handelsvolumen von derzeit 17 Milliarden Euro ganz gut da. Aber wir haben auch noch Luft nach oben. Deutschland ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner Indiens in der EU. Aber wir wollen nicht nur handeln, sondern wir wollen auch investieren. Deutsche Unternehmen sind in Indien als Investoren gut vertreten. Mittlerweile sind es über 1.600 sowohl mittelständische Unternehmen als auch große Industriebetriebe. Damit verbunden sind 400.000 Arbeitsplätze vor Ort. Wir haben heute bei den Regierungskonsultationen – die Wirtschaftsministerin, der Energieminister, der Forschungsminister sind hier – noch einmal unterstrichen, wie wir in Politik und Wirtschaft sozusagen Hand in Hand gehen wollen, um unseren Rahmen für die Zusammenarbeit zu vergrößern. Dabei ist die Palette der Branchen breit. Sie reicht von der Automobilindustrie über den Luftverkehr bis hin zum pharmazeutischen Bereich. Deutsche Unternehmen können sich mit ihrem Know-how als wichtige Partner bei der Modernisierung der indischen Wirtschafts- und Infrastrukturen einbringen, sei es beim Verkehrsnetz, sei es beim Energiesystem oder allgemein bei der Stadtentwicklung. Wir haben heute sehr ausführlich darüber gesprochen, dass das alles auch eingebettet sein muss, damit die Menschen nicht über die Geschwindigkeit der Modernisierung erschrecken, sondern die Menschen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, mitgenommen werden. Die Bundesregierung unterstützt mit ihrer neuen Strategie zur Begleitung der deutschen Industrie gerade deren Möglichkeiten, bei wichtigen Großprojekten in Drittländern mitzumachen. Wir haben in vielen Gesprächen festgestellt, dass wir dazu international nicht ausreichend gut aufgestellt sind. Wir haben versucht, Verbesserungen vorzunehmen, und denken, dass wir dadurch voranschreiten können. Wir sind zum Beispiel im Bereich der Eisenbahnen dabei, unsere Machbarkeitsstudien voranzubringen. Ich bin mir mit Premierminister Modi darin einig, wie wichtig es ist, auch und gerade den Verkehrsträger Schiene zu erneuern. Man stelle sich die indischen Dimensionen vor. Dagegen ist Deutschland ja sozusagen nur ein Punkt auf der Landkarte. Wenn wir bei diesem Verkehrsträger die Weichen für eine neue Zusammenarbeit stellen könnten, dann wäre dies sicherlich fast ein symbolischer Akt. Wir wissen aber auch: Um ein gutes Klima zu schaffen, gehört es dazu, auch das Bildungswesen zu entwickeln. „Skill India“ ist einer der wesentlichen Pfeiler der Strategie des indischen Premierministers. Hierfür ist Deutschland mit seinem dualen Berufsausbildungssystem ein guter Partner. Wir können dies in den verschiedenen Formen von Unternehmen ausprobieren, auch im Bereich der Start-ups, also in dem Bereich, in dem Digitalisierung eine große Rolle spielt, die in Indien ja sehr hoch entwickelt ist. Wir haben Programme zur Managerweiterbildung, die auch indischen Managern Einsicht in unsere Möglichkeiten des dualen Berufsausbildungssystems geben. Gerade heute haben wir die Verlängerung dieses Programms wieder beschlossen. Im Hinblick auf die Digitalisierung sind die Informationstechnologien natürlich eine besondere Spezialität der indischen Wirtschaft. Nicht umsonst war ich bei meinem letzten Indien-Besuch zusammen mit dem Premierminister in Bangalore – eine sehr eindrucksvolle Reise. Gerade durch die Kombination Ihrer Fähigkeiten in Indien und der Fähigkeiten der deutschen Wirtschaft im Bereich der Industrie 4.0 lassen sich noch einmal große Mehrwerte für unsere beiden Länder erzielen. Wir haben heute viel über Standortbedingungen gesprochen. Deshalb verfolgen wir den Reformkurs von Indien natürlich sehr aufmerksam. Ich bin dankbar dafür, dass wir ein Fast-Track-Verfahren entwickelt haben, mit dem wir dort, wo es hakt, wo es Schwierigkeiten gibt, sofort einschreiten und die Probleme auch lösen können. Das hat jetzt in vielen Fällen schon sehr gut geklappt. Wir haben heute gelernt, dass es auch von indischer Seite Wünsche und Erwartungen an uns in Deutschland gibt. Auch hier wollen wir natürlich intensiv mit Ihnen zusammenarbeiten. Die Standortpolitik ist insgesamt sicherlich als Einladung an internationale Investoren zu werten. Ich kann nur sagen: Wir verfolgen diesen Weg der indischen Regierung sehr aufmerksam, und wir glauben, dass er auch zum Erfolg für Indien führen wird. Ein Thema, das wir heute immer wieder beschrieben haben – der Premierminister hat es eben in seiner Rede auch angesprochen –, ist das Thema der offenen Märkte, eines freien und fairen Handels. Wir sehen weltweit eine ganze Reihe von protektionistischen Tendenzen. Bei der tiefen Verquickung der internationalen Wertschöpfungsketten ist es notwendig, offen dafür zu sein, faire Handelsbedingungen zu schaffen. Deshalb legen wir auch Wert darauf, dass wir bei dem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien vorankommen. Deutschland wird sich in Brüssel massiv dafür einsetzen, dass diese Verhandlungen jetzt wieder voranschreiten und vielleicht auch schneller voranschreiten, als es in der Vergangenheit möglich war. Das war ein wichtiges Thema in unseren Unterhaltungen, das wir dann auch in die Tat umsetzen wollen. Wir haben heute auch eine ganze Reihe von Schwierigkeiten diskutiert, die im Rahmen eines solchen Handelsabkommens zwischen der EU und Indien überwunden werden könnten. Natürlich sind das harte Verhandlungen. Natürlich muss dabei jede Seite auch Interessen einbringen. Wir haben von bürokratischen Hürden der Europäischen Union gehört. Auch so etwas müssen wir zur Sprache bringen. Insofern sieht man also, dass es durchaus eine sehr offene und intensive Diskussion war. Offene und freie Märkte – das ist auch ein Thema unserer G20-Präsidentschaft. Ich möchte dem Premierminister dafür danken, dass er zweimal innerhalb weniger Wochen nach Deutschland kommt: einmal jetzt zu den deutsch-indischen Regierungskonsultationen und dann noch einmal zu dem G20-Treffen Anfang Juli. Ich möchte mich auch für die gute Zusammenarbeit mit Indien im Rahmen der Vorbereitungen bedanken. Die Anwesenheit der vielen Unternehmensvertreter hier macht deutlich, dass es ein großes Interesse an den deutsch-indischen Wirtschaftsbeziehungen gibt. Diese Wirtschaftsbeziehungen sind zwar wirtschaftliche Tätigkeiten, bei denen jede Seite etwas verdienen und etwas gewinnen will. Aber das ist eingebettet in eine gute politische Kooperation, in eine vertrauensvolle Kooperation, die sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Sehr geehrter Herr Premierminister, lieber Narendra Modi, dafür möchte ich mich ganz persönlich bedanken. Danke, dass Sie hier waren und sind. Danke den Vertretern der Wirtschaft aus Indien, dass sie zum Teil eine weite Reise auf sich genommen haben. Ich hoffe darauf, dass dies ein gutes Zeichen dafür ist, dass wir unsere Beziehungen weiter intensivieren werden – zum Wohle unser beiden Länder: zum Wohle Indiens, aber auch zum Wohle Deutschlands. Herzlichen Dank!
in Berlin
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zum 50-jährigen Jubiläum des Arbeitskreises selbständiger Kulturinstitute
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zum-50-jaehrigen-jubilaeum-des-arbeitskreises-selbstaendiger-kulturinstitute-798100
Tue, 30 May 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Nicht jeder Liebhaber ist ein Sammler, aber in jedem Sammler steckt ein Liebhaber – und einem solchen Liebhaber hat der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk in seinem wunderbaren Roman „Das Museum der Unschuld“ das schönste Denkmal gesetzt, das wohl je einem Sammler zuteil wurde. Gesammelt werden in diesem Roman Tausende private Erinnerungsstücke, darunter ein gelber Pumps, eine Quittenreibe und 4.213 Zigarettenkippen – Zeugnisse des Alltagslebens einer Gesellschaft im Umbruch, vor allem aber Andenken an ein unwiederbringlich verlorenes Glück, Devotionalien der unglücklichen Liebe eines Istanbuler Großbürgersohns, der über viele Jahre obsessiv nahezu alles aufbewahrt, was die Hände der geliebten Frau berührt haben. Nun sind nicht alle Sammler unglückliche Liebhaber – zum Glück, sonst gliche der Arbeitskreis selbständiger Kulturinstitute wohl einer Selbsthilfegruppe, und die Festrede zum 50. Jubiläum hätte dann wohl besser der Gesundheitsminister übernommen. Aber jede bedeutende Sammlung lebt nicht zuletzt auch von persönlicher Leidenschaft – von Liebhaberei, von einer Wertschätzung, die nicht dem Geldwert oder dem Gebrauchswert der Gegenstände gilt, sondern jener ganz besonderen Magie der Dinge, die aus den Erinnerungen erwächst, die sie aufbewahren, oder aus der Geschichte, die sie erzählen. Sammeln ist ein Sieg der Wertschätzung über Vergessen und Vergänglichkeit – und unter all den Meriten der im AsKI vereinten Institutionen verdient es nicht zuletzt dieser Sieg, gewürdigt und gefeiert zu werden. Deshalb, lieber Herr Dr. Trautwein, habe ich Ihre Einladung gerne angenommen, zu Ihrer heutigen Festveranstaltung einige Überlegungen zur Bedeutung des Sammelns aus kulturpolitischer Perspektive beizusteuern, zumal der Arbeitskreis selbständiger Kulturinstitute selbst die Bedeutung des Sammelns für das kulturelle Gedächtnis so eindrucksvoll repräsentiert wie wohl kaum ein anderes Netzwerk – und das im vergleichsweise zarten Alter von gerade mal 50 Jahren! Das ist ein Wimpernschlag, verglichen mit der Summe der Jahre, die die Sammlungen seiner Mitgliedsinstitutionen mit ihren Objekten abdecken. Dennoch ist es dem Arbeitskreis in diesen 50 Jahren gelungen, dem kulturellen Gedächtnis eine klar und kraftvoll vernehmbare Stimme zu geben und die Bedeutung des Sammelns und der privaten Kulturförderung für unsere Gesellschaft ins öffentliche Bewusstsein zu rücken: durch Ausstellungen, Veranstaltungen und Publikationen, in denen sich unterschiedliche Kompetenzen und Blickwinkel seiner Mitglieder auf inspirierende Weise verbinden, aber auch als Träger der Casa di Goethe in Rom, die in diesem Jahr ihr 20. Jubiläum feiert. Nirgendwo sonst findet man dank einer erlesenen Sammlung ein so authentisches Bild von der berühmtesten Italienreise in der deutschen Kulturgeschichte – dafür gilt Ihnen, liebe Frau Gazetti, ein besonderer Dank! Vielen Dank vor allem aber Ihnen, lieber Herr Dr. Trautwein, und all Ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern im Arbeitskreis selbständiger Kulturinstitute! Vielen Dank für Ihr großes Engagement als Vermittler kulturhistorischer Zusammenhänge und als Bewahrer von Kulturgut! Warum Kulturgut dieses Engagement braucht und verdient, hat uns vor einigen Monaten der Internationale Strafgerichtshof vor Augen geführt – ausgerechnet ein Gericht, das sich üblicherweise mit schwersten Menschenrechts-verletzungen, mit Völkermord und Kriegsverbrechen, mit Massakern und Massenvergewaltigungen befasst. Sie erinnern sich vielleicht: Islamisten aus Mali hatten 2012 eine Moschee und neun Mausoleen in der UNESCO-Weltkulturerbestadt Timbuktu zerstört. Einer von ihnen wurde nun in Den Haag zur Verantwortung gezogen. Der Gerichtshof stufte die vorsätzlichen Zerstörungen als Kriegsverbrechen ein und verhängte neun Jahre Freiheitsstrafe. Die Bedeutung dieses Urteils kann man gar nicht hoch genug einschätzen in Zeiten, in denen die Vernichtung von Kulturgütern zum Mittel psychologischer Kriegsführung geworden ist. Der Internationale Gerichtshof hat damit unmissverständlich und unüberhörbar klar gemacht: Kulturgüter sind keine Luxusgüter. Kulturgüter sind, wie die Tageszeitung DIE WELT die Anklage zutreffend kommentierte, „existentiell, für Gemeinschaften, Nationen, die Menschheit“; es geht dabei, ich zitiere, „um das Lebensrecht von Gedanken und Ideen.“ Die Überzeugung, dass Kulturgüter existentiell sind als Spiegel unserer Geschichte und unserer Identität, ist Teil unseres Selbstverständnisses als Kulturnation. Die Kraft, Kulturgüter dementsprechend zu bewahren und zu schützen, erwächst aus der staatlichen Kulturfinanzierung, aber auch aus wirksamen gesetzgeberischen Maßnahmen, verankert im neuen Kulturgutschutzgesetz – aus Maßnahmen gegen den illegalen Handel und die unrechtmäßige Ausfuhr einiger weniger, national wertvoller Kulturgüter. Doch ohne die lange Tradition des privaten und bürgerschaftlichen Engagements für Kunst und Kultur – ohne die Sammelleidenschaft ihrer Liebhaber und die Großzügigkeit ihrer Förderer – gäbe es wohl kaum jene Vielfalt an Kultureinrichtungen, die als „kulturelles Gedächtnis“ bezeichnet zu werden verdient. Für diese Tradition stehen die Stiftungen und Vereine, die sich im Arbeitskreis selbständiger Kultureinrichtungen zusammengeschlossen haben und die – so unterschiedlich ihre Arbeitsschwerpunkte auch sind – eines gemeinsam haben, nämlich dass sie ihre Existenz einer privaten Initiative und ihr Renommee nicht zuletzt auch der Großzügigkeit und dem Engagement einzelner Bürgerinnen und Bürger verdanken. Es ist ein schöner Zufall, dass zu den ersten prominenten Fürsprechern dieses privaten Engagements für das Sammeln und Bewahren ausgerechnet Johann Wolfgang von Goethe gehört, der im Arbeitskreis selbständiger Kulturinstitute gleich mehrfach präsent ist. Er beschäftigt die Klassik Stiftung Weimar, das Freie Deutsche Hochstift in Frankfurt und das Goethe Museum in Düsseldorf und bescherte dem Arbeitskreis selbständiger Kulturinstitute die besondere Ehre, mit der Verantwortung für die Casa di Goethe in Rom Träger des einzigen deutschen Museums im Ausland zu werden. Da passt es ins Bild, dass er auch selbst vom Wert des privaten Sammelns überzeugt war. Schon mit der für damalige Verhältnisse einzigartigen Vielfalt seiner eigenen Sammlungen steht Goethe ja gewissermaßen Pate für die sammelnden Institutionen, die unter dem Dach des AsKI vereint sind: In seinem Haus am Frauenplan in Weimar fanden sich nach seinem Tod neben unzähligen Manuskripten auch rund 18.000 Mineralien, über 9.000 Blätter Graphik, etwa 4.300 Handzeichnungen, eine 8.000 Bände umfassende Bibliothek, dazu zahlreiche Gemälde, Plastiken und naturwissenschaftliche Kollektionen – alles zusammengetragen „mit Plan und Absicht“, so Goethes eigene Worte, denn – ich zitiere weiter: „Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.“ Überliefert ist auch, dass Goethe in einem Reisebericht von einem Besuch bei Johann Friedrich Städel schwärmte. Goethe pries sowohl dessen Sammlung, die jeden Kunstfreund in Erstaunen versetze, als auch die Großzügigkeit des (ich zitiere) „vaterländisch denkenden, trefflichen Mannes“, der seine Kunstschätze der Öffentlichkeit zugänglich machte, wodurch (ich zitiere weiter) „Kunstfreude und Kunstsinn hier für ewige Zeiten die gewisseste Anregung und die sicherste Bildung hoffen können.“ Auch im Deutschland des 21. Jahrhunderts dürfen wir zum Glück auf solches Engagement zählen. Ich erlebe bei meinen zahlreichen Besuchen in Kultureinrichtungen in ganz Deutschland immer wieder, wie sehr so manche ehrwürdige Institution von einer jahrzehntelangen Tradition des bürgerschaftlichen Engagements und des Mäzenatentums profitiert. Viele Ankäufe wären ohne die Unterstützung privater Geldgeber nicht möglich. Viele Schätze aus unserem reichen kulturellen Erbe wären ohne privates Engagement nicht erhalten. Und so manches Kleinod, das zur Strahlkraft eines Museums beiträgt – das, „wohl beschaut, ein neues Organ in uns [aufschließt]“ um Goethes Worte aufzugreifen – wäre vermutlich im Tresorraum einer Bank dem Vergessen anheim gefallen, wenn sein Eigentümer, seine Eigentümerin nicht bereit gewesen wäre, die Freude daran zu teilen. Landauf landab gibt es zahlreiche Fördervereine – etwa die Freunde der Nationalgalerie hier in Berlin oder der Freundeskreis des Deutschen Literaturarchivs Marbach -, in denen die Liebe zur Kultur den Wunsch nährt, auch andere daran teilhaben zu lassen. Sie machen mit ihrer finanziellen wie persönlichen Unterstützung Sonderaus-stellungen möglich, erschließen mit Beiträgen zur kulturellen Bildung und Vermittlung neue Zielgruppen und unterstützen beim Ankauf zur Ergänzung und Erweiterung der Sammlungen – aus der Überzeugung heraus, dass Sammeln nicht nur einen Preis, sondern auch und insbesondere einen Wert für unsere Gesellschaft hat. Die Maecenas-Ehrung, mit der der Arbeitskreis selbständiger Kulturinstitute alle Jahre wieder herausragendes mäzenatisches Wirken auszeichnet, schafft dafür hochverdiente öffentliche Aufmerksamkeit – und hochverdient ist auch die Unterstützung dieser Ehrung aus meinem Kulturetat, auf die Sie sich selbstverständlich auch in Zukunft ebenso verlassen können, meine Damen und Herren, wie auf die institutionelle Förderung des Arbeitskreises. Denn gerade mit Blick auf die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen erweisen sich die Sammlungen der 36 Institute einmal mehr als unverzichtbare Erinnerungsspeicher und Identitätsstifter. Deutschland hat 2015 und 2016 über eine Million Flüchtlinge aufgenommen; sie zu integrieren, sie vertraut zu machen mit unserer Geschichte, mit unseren Werten und Gepflogenheiten, ist eine gewaltige Aufgabe, für die wir unsere Kultureinrichtungen brauchen. Gleichzeitig sind in vielen Ländern in und außerhalb Europas populistische Parteien auf dem Vormarsch und schüren Ängste vor der Übermacht des Fremden und vor dem Verlust des Eigenen. Mit ihren Sammlungen können Ihre Einrichtungen, meine Damen und Herren, unseren demokratischen Werten und unseren Lehren aus der Geschichte Überzeugungskraft verleihen und vermitteln, was uns ausmacht als Deutsche und Europäer. Man muss in diesem Zusammenhang nicht den Begriff der „Leitkultur“ bemühen, aber ich halte es für wichtig, dass wir bei interkulturellen Konflikten willens und in der Lage sind, klar zu benennen, was unser Selbstverständnis ausmacht. Solche Debatten zu führen, ist notwendig – allein schon deshalb, weil wir das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung ansonsten den Nationalisten und ihrer Ideologie des Eigenen überlassen, die in der Abwertung des Anderen Rassismus nährt, Ausgrenzung fördert, und die einst unermessliches Leid über Deutschland und Europa gebracht hat. Solche Debatten zu führen ist aber auch deshalb notwendig, weil die in vielerlei Hinsicht bereichernde Vielfalt eines weltoffenen Europas eben nicht in jeder Hinsicht unproblematisch ist – zum Beispiel, wenn Menschen, die hier heimisch werden wollen, von einem in ihren Herkunftsländern weit verbreiteten Antisemitismus geprägt sind, oder wenn Menschen, die hier heimisch sind, die sicher geglaubten Standards unseres Zusammenlebens durch ihre Fremdenfeindlichkeit mit Füßen treten. Um die Werte und Erfahrungen zu vermitteln, die unsere Verfassung wie auch unser Zusammenleben tragen, brauchen wir unsere Sammlungen – die Siege der Wertschätzung über Vergessen und Vergänglichkeit. Wir brauchen unsere Archive, die in Originaldokumenten unterschiedliche Facetten des Zeitgeschehens abbilden! Wir brauchen unsere Kunstmuseen, die nicht nur wahre Schatzkammern, sondern auch Spiegel individueller Erfahrungen sind! Wir brauchen die Einrichtungen, die sich der Zeitgeschichte und Kultur-geschichte widmen! Wir brauchen die authentischen Orte, die das Licht und Dunkel deutscher Vergangenheit vergegenwärtigen – jene, die das Vermächtnis großer Dichter und Denker erhalten, aber auch jene, die an die Unmenschlichkeit der nationalsozialistischen Diktatur und den moralischen Zusammenbruch unseres Landes erinnern! Und nicht zuletzt brauchen wir zur Vermittlung unserer Kultur auch die Einrichtungen, die sich unserer Sprache und damit unserer Art des Wahrnehmens und des Denkens widmen! Sie alle unterstützen mit ihren Sammlungen die Verständigung darüber, welches Land wir im 21. Jahrhundert sein wollen. Vielen Dank für dieses ebenso zukunftweisende wie vergangenheitserhellende Engagement! Nicht zuletzt, meine Damen und Herren, verdanken wir der Sorgfalt der Sammler im Übrigen auch die hin und wieder doch sehr beruhigende Erkenntnis, dass die von uns verehrten Dichter und Denker auch nur Menschen waren. Jean Paul zum Beispiel, der seit meinem Germanistik-Studium zu meinen liebsten deutschen Autoren gehört, bleibt uns dank des bis heute erhaltenen, riesigen Konvoluts persönlicher Briefe nicht nur als Literat, sondern auch als Liebhaber flüssiger Genussmittel im Gedächtnis. Er arbeitete nach der Devise „Entwirf bei Wein, exekutiere bei Kaffee“, und weil er viel auf Reisen war und ihm das Bier in Weimar, Berlin und im Ausland nicht mundete, orderte er regelmäßig Nachschub aus der oberfränkischen Heimat. An einen Freund schrieb er einmal, ich zitiere: „Sollte das Bier schon unterwegs sein – was Gott gebe – so bitt ich Sie herzlich, sogleich neues nachzusenden; weil der Transport vom Fass in mich viel schneller geht als von Bayreuth nach mir!“ Das wird uns heute Abend hoffentlich nicht passieren. Schließlich ist unser geselliges Beisammensein nicht nur Anlass für Festreden, sondern vor allem ein Grund zum Feiern, und da werden die Wege zum nächsten Kaltgetränk sicherlich kurz sein. Ich jedenfalls freue mich, mit Ihnen anzustoßen auf einen im besten Sinne wirkmächtigen Arbeitskreis, auf fünf erfolgreiche Jahrzehnte und auf die Sammelleidenschaft – den Sieg der Wertschätzung gegen Vergessen und Vergänglichkeit. Herzlichen Glückwunsch zum 50-jährigen Jubiläum, lieber Herr Dr. Trautwein, und viel Erfolg weiterhin – auf dass unser kulturelles Gedächtnis auch in Zukunft eine starke Stimme hat!
Kulturstaatsministerin Grütters hat den Mitgliedern des Arbeitskreises selbständiger Kulturinstitute für Ihr großes Engagement als Bewahrer von Kulturgut und Vermittler kulturhistorischer Zusammenhänge gedankt. Kulturgüter seien Spiegel unserer Geschichte und unserer Identität, „Sammeln ist ein Sieg der Wertschätzung über Vergessen und Vergänglichkeit“, so Grütters zum 50jährigen Bestehen des Vereins.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Auszeichnungsveranstaltung für die Neueinträge in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-auszeichnungsveranstaltung-fuer-die-neueintraege-in-das-bundesweite-verzeichnis-des-immateriellen-kulturerbes-798288
Mon, 29 May 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Nicht einmal zehn Minuten zu Fuß von hier entfernt, steht eines der wohl berühmtesten Hotels Deutschlands, dessen Erbauer Lorenz Adlon heute vor genau 168 Jahren geboren wurde. „Das Schicksal des Berliner Hotels Adlon spiegelt die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts wider“ schrieb der SPIEGEL vor einigen Jahren– und noch immer atmet das „Adlon“ den Geist der Geschichte; noch immer lebt das Traditions-Hotel von den Erinnerungen an ehemalige Gäste, aber auch von Mythen und Legenden. Den „Geist der Geschichte“ atmet auch unser Immaterielles Kulturerbe: In den Traditionen, die Menschen in allen Regionen Deutschlands an ihre Nachfahren weitergeben, sind Erkenntnisse und Erfahrungen unserer Vorfahren lebendig. Der Schutz unseres immateriellen Kulturerbes ist deshalb eine wichtige Ergänzung des Schutzes der Kulturdenkmäler und Bauten, die Zeugnis ablegen von unserer Vergangenheit. Denn auch die Kulturformen, die unser Leben und unser Zusammenleben prägen, bestimmen unsere Identität als Kulturnation. Mit den Eintragungen in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes dokumentieren wir unsere Absicht, Traditionen, gewachsene Bräuche, Rituale und handwerkliche bzw. künstlerische Fertigkeiten zu bewahren und an die nachfolgenden Generationen zu überliefern. Ich freue mich, dass in diesem Jahr 36 verschiedene und ganz unterschiedliche Lebensbereiche betreffende Traditionen in die Listen aufgenommen werden. Denn es ist schön, dass wir heutzutage nicht nur in jeder Lebenslage Coffee to go trinken können, sondern dass man – vor allem in Ostfriesland – auch mal eine ruhige Tasse Tee genießt. Es ist großartig, dass wir im Internet das gesammelte Wissen der Welt finden –und uns doch noch Märchen erzählen. Es ist gut, dass wir unsere Vorfahren medizinisch längst überholt haben – und dass es trotzdem noch immer Hebammen gibt, die werdenden Müttern geben, wozu Apparate (vermutlich) nie in der Lage sein werden: individuelle, einfühlsame Beratung. Gerade in Zeiten rasanter Veränderungen, bedingt durch Digitalisierung und Globalisierung, sind solche identitätsstiftenden Konstanten wichtiger denn je. Wie weit die Kultur in unser Alltagsleben hineinreicht, zeigen nicht nur die Ostfriesische Teekultur, das Märchenerzählen und das Hebammenwesen, sondern alle 36 Kulturformen und Projekte , die 2016 neu in das Bundesweite Verzeichnis bzw. in das Register guter Praxisbeispiele aufgenommen wurden. Vor allem beeindruckt auch die große Zahl der Bewerbungen, die anschaulich macht, wie viele Menschen sich in Deutschland gemeinschaftlich für die Pflege des immateriellen Kulturerbes engagieren. Für sie alle ist die – erstrebte oder bereits erreichte – Eintragung eine Anerkennung ihrer oftmals ehrenamtlichen Arbeit in den Vereinen, Landsmannschaften, Dorfgemeinschaften oder Berufsgruppen. Brauchtum und Tradition prägen das Gefühl von Heimat in besonderer Weise – das erfahren nicht nur Menschen, die sich für das Immaterielle Kulturerbe engagieren: Wir alle wissen, dass wir zuhause sind, wenn wir beispielsweise ein markantes Baudenkmal sehen, aber auch, wenn wir einen typischen Geruch wahrnehmen oder einen Dialekt hören. Landestypische und regionale Eigenheiten sind Ausdruck unserer Identität – als Schleswig-Holsteiner oder Sachsen ebenso wie als Deutsche. Das immaterielle Kulturerbe zu pflegen und zu schützen, ist deshalb ebenso wichtig wie die Weitergabe von Traditionen: an nachfolgende Generationen und an Menschen, die nach Deutschland kommen. Denn Traditionen, Rituale und regionale Gepflogenheiten machen – neben verbindlichen Werten und Grundsätzen – auch deutlich, welche Identitätsmerkmale wir als Gesellschaft vertreten und vermitteln wollen. Traditionen bereichern unser alltägliches Leben, sie verraten, wo wir herkommen und was uns wichtig ist. „Tradition gilt nicht wegen ihrer erwiesenen Richtigkeit, sondern wegen der Unmöglichkeit, ohne sie auszukommen“ – so hat es der Philosoph Hermann Lübbe einmal formuliert. Die bisher 68 Eintragungen in das Bundesweite Verzeichnis jedenfalls zeigen, dass es für viele Menschen in Deutschland eine „Unmöglichkeit [ist], ohne sie auszukommen“ –ein unsere Gesellschaft bereicherndes Unvermögen, und das gibt es ja auch nicht alle Tage. In diesem Sinne gratuliere ich allen Engagierten, die „ihre“ Kulturform auf die Liste gebracht haben: Sorgen Sie weiterhin dafür, dass es „unmöglich“ bleibt, ohne sie auszukommen!
Kulturstaatsministerin Grütters hat in Berlin betont, wie wichtig Pflege und Schutz des immateriellen Kulturerbe ist. „Traditionen, Rituale und regionale Gepflogenheiten machen – neben verbindlichen Werten und Grundsätzen – auch deutlich, welche Identitätsmerkmale wir als Gesellschaft vertreten und vermitteln wollen“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der 17. Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung am 29. Mai 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-17-jahreskonferenz-des-rates-fuer-nachhaltige-entwicklung-am-29-mai-2017-in-berlin-321118
Mon, 29 May 2017 15:18:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte, liebe Frau Thieme, liebe Ratsmitglieder, meine Damen und Herren, Frau Thieme hat es gesagt: Ihre Jahreskonferenz steht – leicht versteckt, aber immerhin doch erkennbar – unter dem Titel „wissen. wählen. wünschen.“ Das lässt natürlich Spielraum für Interpretationen. Eine davon könnte lauten: Wir wissen, dass dieses Jahr der Bundestag zu wählen ist; und es bleibt zu wünschen, dass Nachhaltigkeit auch in der nächsten Legislaturperiode Leitprinzip bleibt. – Ich glaube, damit habe ich als Kanzlerin einer großen Koalition nichts Falsches gesagt. – In dieser Hinsicht bin ich sehr zuversichtlich – schon allein, weil der Rat für Nachhaltige Entwicklung mit Argusaugen darüber wachen wird. Ich bin gerne wieder zu Ihnen gekommen. Es ist die erste Jahreskonferenz nach der Neuberufung des Rates im vergangenen Herbst. Ich möchte allen Mitgliedern dafür danken, dass sie ihre Zeit und Kraft in die Arbeit dieses Gremiums investieren. Erfolg ist natürlich der beste Lohn. Dank der vielfältigen Initiativen des Rates hat das Thema Nachhaltigkeit einen festen Platz im öffentlichen Diskurs und auch mehr und mehr im praktischen Lebensalltag. Die deutschen Beiträge zur Europäischen Nachhaltigkeitswoche zeigen das aus meiner Sicht sehr eindrucksvoll. Die diesjährige Aktionswoche beginnt ja morgen. Über 1.600 Aktivitäten sind allein in Deutschland geplant. In der Europäischen Union insgesamt sind es rund 3.000. Damit sind wir überproportional vertreten, denn normalerweise liegt unser Anteil bei etwa 20 bis 22 Prozent. Auch weltweit spielt Nachhaltigkeit eine wachsende Rolle. Im Herbst 2015 hat die internationale Staatengemeinschaft die Agenda 2030 verabschiedet. Sie umfasst 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung mit 169 Unterzielen. Mit ihnen verpflichten sich die Nationen, gemeinsam rund um den Globus auf gute Lebensperspektiven heutiger und künftiger Generationen hinzuwirken. Oder um es auch in den Worten aus der Präambel der Agenda 2030 auszudrücken, die ich zitieren möchte: „Wir sind entschlossen, die Menschheit von der Tyrannei der Armut und der Not zu befreien und unseren Planeten zu heilen und zu schützen.“ Dieser Beschluss der Weltgemeinschaft hat durchaus historische Bedeutung. In den Mühen des Alltags müssen wir nun natürlich beweisen, dass wir den Worten Taten folgen lassen. Noch ein kleiner Einschub: Wir haben ja vorher die Millenniumsentwicklungsziele gehabt. Mir fällt in den Diskussionen mit Präsidenten und politisch Verantwortlichen aus Asien und vor allen Dingen auch aus Afrika auf, wie wichtig der Paradigmenwechsel war, eine Agenda für alle zu beschließen und nicht immer nur Ziele für einige. Ich glaube, das wird die Diskussion sehr fördern und den gesamten Transformationsauftrag sehr viel klarer werden lassen. Ich meine, der Anspruch der Agenda 2030 ist allerdings ziemlich hoch. Er könnte kaum höher sein. Denn mit der Agenda verbunden ist ein umfassender Auftrag zur Transformation für alle Staaten und letztlich – das klang ja gerade schon bei Frau Thieme an – für jeden Einzelnen von uns. Wie wir produzieren und arbeiten, was und wie wir transportieren, wie wir selbst von A nach B gelangen, wie wir wohnen und konsumieren – bei all dem verlangt das Nachhaltigkeitsprinzip ein neues Denken und Handeln; es verlangt die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Wandel. An dieser Stelle erinnere ich an einen früheren amerikanischen Präsidenten, der heute auf den Tag genau vor 100 Jahren geboren wurde. Die Rede ist von John F. Kennedy. Er stand für die Hoffnung einer ganzen Generation auf Aufbruch und Fortschritt. Er gab zu verstehen – ich möchte ihn zitieren –: „Veränderung ist das Gesetz des Lebens. Diejenigen, die nur auf die Vergangenheit oder die Gegenwart blicken, werden die Zukunft verpassen.“ Kennedy sprach damit ein Phänomen an, das wir auch heute immer wieder beobachten. Mit Veränderungen gehen Unsicherheit, Skepsis – man hat ja noch keine Sicherheit, dass alles ein Erfolg wird – und auch nicht selten eine Verklärung einer vermeintlich guten alten Zeit einher. Gerade angesichts der Komplexität globaler Zusammenhänge macht sich der Wunsch nach einfachen Antworten breit. Doch wer sich nationale Scheuklappen aufsetzt und keinen Blick mehr für die Welt um sich herum hat, verläuft sich, davon bin ich überzeugt, letztlich ins Abseits. Denn – wir erleben es ja jeden Tag – die großen Herausforderungen unserer Zeit machen eben nicht vor Grenzen halt; und sie sind sehr vielschichtig. Die Globalisierung in all ihren Facetten findet statt, ob man es will oder nicht. Es stellt sich eigentlich nur die Frage: Gestalten wir sie mit oder überlassen wir das Heft des Handelns anderen und nehmen damit in Kauf, dass das nicht unbedingt unseren Werten und unseren Interessen entspricht? Tatsache ist: Um globale Aufgaben überhaupt lösen zu können, bedarf es differenzierter Antworten und auch enger Kooperationen über alle Grenzen hinweg – sei es mit Blick auf die Chancen auf ökonomischen, ökologischen und sozialen Fortschritt, sei es auch mit Blick auf Herausforderungen, die kein Land allein bewältigen kann; zum Beispiel Hungersnöte und Epidemien, Finanzkrisen und Klimawandel, Terrorismus und Krieg, Flucht und Migration. Natürlich sind als Erstes auf globaler Ebene die Vereinten Nationen gefragt. Sie müssen sich institutionell und strukturell noch stärker an den globalen Nachhaltigkeitszielen ausrichten. Der neue UN-Generalsekretär António Guterres hat seine Stellvertreterin Amina Mohammed damit betraut, Fortschritte im Sinne der Agenda 2030 voranzutreiben. Er hat auch angekündigt – ich unterstütze das ausdrücklich –, für mehr Effizienz und eine bessere Koordination im UN-System einzutreten. Deutschland ist gerne bereit, ihn dabei tatkräftig zu unterstützen. Auch während unserer G20-Präsidentschaft widmen wir uns drängenden Nachhaltigkeitsfragen. Auf unserer Tagesordnung stehen zum Beispiel Klimaschutz und Energie, globale Lieferketten und Handel, Gesundheit und Ernährungssicherung, Umwelt- und Meeresschutz ebenso wie Bildung und die wirtschaftliche Stärkung von Mädchen und Frauen. Gerade auch was Gesundheit und Ernährungssicherung anbelangt, hatten wir in diesem Jahr sehr interessante und spannende Konferenzen – so zum ersten Mal eine Konferenz der Gesundheitsminister aller G20-Staaten sowie auch eine Konferenz der Landwirtschaftsminister zu Beginn dieses Jahres. Es versteht sich von selbst, dass die führenden Industrie- und Schwellenländer, nämlich die, die die G20-Staaten bilden, Vorreiter sein sollten, wenn es darum geht, die Agenda 2030 mit Leben zu erfüllen. Die Länder sind unterschiedlich. So unterschiedlich sie sind, so unterschiedlich können natürlich auch die jeweiligen Wege aussehen, die national beschritten werden. Dennoch können wir sehr viel voneinander und auch miteinander lernen. Daher trete ich für einen „Peer Learning Mechanism“ ein; so etwas sagt man ja heute nur noch auf Englisch. Zu verstehen ist darunter – ich versuche, es einmal zu übersetzen – ein freiwilliger, aber systematischer Austausch unter G20-Partnern über die nationalen Aktivitäten und – jetzt kommt wieder ein englisches Wort – auch über so etwas wie „best practice“. Es gilt also herauszufinden, wer die besten Resultate erreicht. Innerhalb der G20 kommt wiederum der Europäischen Union eine besondere Rolle zu. Sie hatte sich ja mit Nachdruck für die Verabschiedung einer ehrgeizigen Agenda 2030 eingesetzt. Deshalb ist natürlich jetzt auch der Einsatz der Europäischen Union bei der Umsetzung der Agenda gefragt. Deshalb wirbt Deutschland für einen ambitionierten, aber auch realistischen strategischen Rahmen auf europäischer Ebene. Über die Eckpunkte sind wir uns mit unseren Partnern in Europa einig. Das haben wir auch im Rahmen des 60. Jahrestags der Unterzeichnung der Römischen Verträge bekräftigt und in der Erklärung von Rom dokumentiert. Ich möchte daraus kurz zitieren: „In den kommenden zehn Jahren wollen wir eine sichere und geschützte, wohlhabende, wettbewerbsfähige, nachhaltige und sozial verantwortungsvolle Union, die willens und in der Lage ist, eine entscheidende Rolle in der Welt zu spielen und die Globalisierung zu gestalten.“ Mit diesem Ziel vor Augen kann die Europäische Union wiederum Antrieb für das Engagement auf den jeweiligen nationalen Ebenen geben; und das sollte und das muss sie auch. Denn über den Umsetzungserfolg der Agenda 2030 entscheiden nicht nur strategische, sondern eben vor allem die konkreten Konzepte der einzelnen Staaten. Deutschland hat sich von Anfang an ehrgeizige Ziele gesetzt. Zu Ihrer letzten Jahreskonferenz lag der Entwurf der neuen Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie vor. Damals lag die Verabschiedung der Agenda 2030 erst ein gutes halbes Jahr zurück. Ihre Ziele wurden damals bereits mit unserer überarbeiteten Strategie auf nationaler Ebene aufgenommen. Viele von Ihnen hatten damals mitdiskutiert und sich in die Arbeit an der Strategie eingebracht. Dafür möchte ich noch einmal ganz herzlich danken. Sie haben dazu beigetragen, das klare Signal zu senden, dass wir unsere Verantwortung als Industrienation ernst nehmen. Anfang dieses Jahres hat die Bundesregierung die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie verabschiedet. Deutschland hat auch als einer der ersten Staaten über sein Vorgehen dem Hochrangigen Politischen Forum der Vereinten Nationen berichtet. Unser Land genießt einen guten Ruf für seine Expertise und Glaubwürdigkeit in Sachen Nachhaltigkeit. Wir stellen ein sehr großes internationales Interesse an unseren Erfahrungen fest. Die positiven Einschätzungen zur Strategie sind uns eine Bestätigung dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Sie sollten uns aber auch Ansporn sein, auf diesem Weg nun Schritt für Schritt voranzukommen. Sie haben es schon gesagt: Die 17 Ziele der Agenda 2030 spiegeln sich auch in unserer Nachhaltigkeitsstrategie wider. Zu jedem dieser Ziele gibt es mindestens einen Indikator und eine konkrete Absichtserklärung, was wir in Deutschland erreichen wollen. Wir zeigen mit Blick auf jedes Ziel, wie weit wir uns ihm genähert haben und welche Etappen noch vor uns liegen. Durch die verstärkte globale Perspektive sind mehrere Aspekte in der neuen Strategie hinzugekommen oder werden jetzt anders gewichtet. Dazu zählen Themen wie Armut, Wasser, Meere, Verteilungsgerechtigkeit, Konsum und gute Regierungsführung. Zu den neu beschlossenen nationalen Zielvorgaben zählt beispielsweise, dass mit deutscher Unterstützung jährlich zehn Millionen Menschen der Zugang zu Trinkwasser und Sanitäranlagen ermöglicht werden soll. Erstmals festgehalten ist ein Ziel für den Endenergieverbrauch im Güter- und Personenverkehr. Er soll bis 2030 um 15 bis 20 Prozent sinken. Das Bezugsjahr dafür ist das Jahr 2005. Neu ist auch ein Ziel zur Korruptionsbekämpfung. Maßstab ist der Wert im „Corruption Perception Index“ von Transparency International, was auch Entwicklungsvergleiche zwischen verschiedenen Staaten erleichtert. In Zeiten rasanten Wandels ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass einige Etappenziele von heute plötzlich hinfällige Ziele von gestern sind. Dann müssen wir nachsteuern. Auch dafür haben wir Vorsorge getroffen. Bis 2018 prüfen wir, ob und welche Änderungen an den Indikatoren und Zielen erfolgen sollen. Es wird auch einen neuen internationalen Peer Review geben. Dessen Ergebnisse können wir dann auch in die Weiterentwicklung der Strategie einfließen lassen. Der Nachhaltigkeitsrat wurde – wie schon 2009 und 2013 – wieder damit beauftragt, mit internationalen Experten ein solches Gutachten zu erstellen. Ich freue mich, dass Helen Clark die Leitung der Gruppe übernommen hat. Sie war bis vor kurzem Chefin des UN-Entwicklungsprogramms. Ihr Nachfolger bei den Vereinten Nationen ist übrigens ein Mitglied unseres Nachhaltigkeitsrats, nämlich Achim Steiner. Ich gratuliere ihm noch einmal zur Wahl und wünsche viel Erfolg in diesem verantwortungsreichen Amt. Der Indikatorenbericht des Statistischen Bundesamts trägt dazu bei, unsere Fortschritte zu überprüfen. Zur besseren Übersicht werden nun Wettersymbole vom Gewitter bis zur strahlenden Sonne verwendet. Diese lacht immerhin über mehr als 20 Indikatoren. Dazu zählt die Gesamtrohstoffproduktivität. Dabei geht es um das Verhältnis des Werts erzeugter Güter zu den für ihre Produktion eingesetzten Rohstoffen. Von 2000 bis 2015 nahm die Gesamtrohstoffproduktivität im Jahresdurchschnitt um 1,5 Prozent zu. Diesen Trend gilt es jetzt bis 2030 fortzuschreiben. Positiv haben sich auch die Staatsfinanzen entwickelt. Seit 2014 erzielen wir bei den öffentlichen Haushalten insgesamt einen Überschuss. Das EU-Defizitkriterium erfüllen wir durchgehend seit 2011. Übrigens merke ich an den Indikatoren und Zielen, die wir festgelegt haben, dass die Spielräume für meine Rede geschrumpft sind. Denn nun haben wir sozusagen ein festes Rahmenwerk, zu dem ich hier Rede und Antwort stehen muss. Das bedeutet, dass ich Ihnen auch sagen muss, dass wir bei 20 Indikatoren nur das Symbol einer Wolke erreichen und dass das Nachhaltigkeitsbarometer bei neun sogar auf Gewitter zeigt. Das heißt also: durchwachsene Wetterverhältnisse, die darauf hinweisen, dass wir auch in Deutschland längst nicht alles erreicht haben, um wirklich nachhaltig zu leben und zu wirtschaften. Das kann nichts anderes sein als ein klarer Handlungsauftrag. Ja, wir müssen sämtliche Entscheidungen daraufhin abklopfen, ob sie auch der Nachhaltigkeit dienen. Das gilt auch und gerade mit Blick auf eine so umfassende Querschnitts- und Daueraufgabe wie den Klimaschutz. Das Abkommen von Paris 2015 war wie die Agenda 2030 ein historischer Schritt. Aber zu einem historischen Erfolg haben wir noch einen langen Weg vor uns. Wie lang und wie steinig dieser Weg wird, das wurde gerade auch bei den Beratungen des G7-Gipfels am Wochenende deutlich, als es keine Einigung mit den Vereinigten Staaten von Amerika hierzu gab. Deshalb musste ich sagen, dass diese Beratungen sehr unzufriedenstellend waren. Aber ich denke, es war gut, dass wir die Differenzen nicht übertüncht haben. Es war unumgänglich, dass mit Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan und Kanada – ohne Vereinigte Staaten von Amerika – sechs der sieben Staaten des G7-Gipfels ihre feste Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht haben, das Pariser Klimaabkommen zu unterstützen und umzusetzen. Dazu gehörten beim Gipfel auch die Vertreter der Europäischen Union. Wir sind überzeugte Transatlantiker. Als überzeugte Transatlantiker wissen wir, dass die transatlantischen Beziehungen, die auf gemeinsamen Werten und Interessen beruhen, für uns alle von überragender Bedeutung sind – gerade auch, wenn wir wie jetzt in Zeiten tiefgreifender Herausforderungen leben. Die letzten Tage haben mir jedoch auch gezeigt, dass die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, ein Stück weit vorbei sind. Wir sind und bleiben enge Partner. Deutschland ist und bleibt ein enger Partner der Vereinigten Staaten von Amerika. Wir sind und bleiben überzeugte Transatlantiker. Aber wir wissen auch, dass wir Europäer unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen müssen, dass wir Europäer unser Schicksal auch in der eigenen Hand haben; und zwar gemeinsam – für Europa, für unsere Werte und Interessen. Wenn wir Europäer unsere Interessen präzise definieren, wenn wir unsere Werte ernst nehmen, dann können wir – davon bin ich überzeugt – jede Herausforderung meistern. Dass wir Europäer dazu in der Lage sein können, dass wir einig und geschlossen sein können, das haben wir in den letzten Monaten seit der Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger in Großbritannien bewiesen. Wir haben dies in der Vergangenheit gerade auch bei einem so überragend wichtigen Thema wie dem Klimawandel bewiesen – einer echten Menschheitsherausforderung, wie wir wissen. Immerhin, das Pariser Abkommen hat die Zielmarke festgelegt: Treibhausgasneutralität in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Das ist Voraussetzung dafür, dass die Folgen des Klimawandels für kommende Generationen beherrschbar bleiben. Das ist dann der Fall, wenn es gelingt, die Erderwärmung unter zwei Grad, möglichst bei 1,5 Grad zu halten. In Deutschland haben wir mit unserem Klimaschutzplan 2050 festgelegt, den Ausstoß an Treibhausgasen gegenüber 1990 um 80 bis 95 Prozent zu reduzieren. Der Klimaschutzplan beschreibt auch die Etappenziele bis 2050, die wir technologieoffen und kosteneffizient erreichen wollen. Aber wir haben bei der Verabschiedung dieses Plans auch gesehen, dass wir über den konkreten Weg noch viele, viele Diskussionen führen müssen. Deshalb haben wir das als lernenden Prozess angelegt, weil wir wissen, dass während des langen Zeitraums natürlich viel geschehen kann, was heute schwer vorhersehbar ist. Das heißt, wir müssen auch nachsteuern können. Ob es nun darum geht, auf internationaler und europäischer Ebene unseren Beitrag zu leisten oder unseren nationalen Zielen gerecht zu werden – wir haben auf Bundesebene einige Institutionen, die aufmerksam darüber wachen und sich auch nicht scheuen, uns zu sagen, was nicht so richtig klappt. Dazu zählt der Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung, den der Chef des Bundeskanzleramts leitet und in dem sich natürlich all die kontroversen Diskussionen widerspiegeln. Hinzu kommen der Parlamentarische Beirat im Deutschen Bundestag und der Nachhaltigkeitsrat als manchmal unbequemer, aber – das will ich ausdrücklich sagen – stets wertvoller Ideengeber und – das zeichnet Sie auch aus – wirklich engagierter Förderer des Dialogs. Trotz dieser bemerkenswerten Trias von Nachhaltigkeitsinstitutionen bleibt die Frage: Wie schaffen wir eine noch stärkere Kohärenz in der Politik; wie stellen wir sicher, dass wir wirklich am gleichen Strang ziehen und sich unsere Handlungsweisen in verschiedenen Bereichen nicht gegenseitig durchkreuzen? Daher hat die Bundesregierung beschlossen, in allen Ressorts Koordinatoren für Nachhaltigkeit zu benennen – möglichst auf Abteilungsleiterebene. Damit nimmt die Bundesregierung einen Vorschlag auf, den der Parlamentarische Beirat und der Nachhaltigkeitsrat im Dialog zur neuen Strategie gemacht haben. Dass mit der Benennung der Personen noch nicht alles geschafft ist, lässt sich leicht erahnen. Aber es müssen Persönlichkeiten sein, die Vollmachten haben. Jedenfalls müssen wir noch Erfahrungen sammeln, wie das in der Praxis läuft. Dieses Beispiel zeigt aber, dass ein reger Austausch zwischen den einzelnen Institutionen Früchte trägt. Deshalb ist es auch so wichtig, einen breiten Dialog zu führen und verschiedenste Akteure noch besser einzubeziehen. Natürlich brauchen wir – das haben wir zum Beispiel auch beim Klimaschutzplan gemerkt – auch die Länder für ein Vorankommen in Sachen Nachhaltigkeit. Daher bin ich froh, dass die Länder im Bundesrat vor gut zwei Wochen ihre Bereitschaft unterstrichen haben, bei der Umsetzung der Agenda 2030 zusammenzuarbeiten. Stärken wollen wir auch die Zusammenarbeit auf regionaler Ebene. Dem dient unter anderem ein interministerieller Arbeitskreis zu nachhaltiger Stadtentwicklung. Dieser wurde vor kurzem als Leuchtturmprojekt 2017 zur Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie ausgezeichnet – ich finde, zu Recht; denn dieser Arbeitskreis verknüpft nicht nur die Arbeiten der Ministerien, sondern er bezieht eben auch kommunale, wissenschaftliche und gesellschaftliche Akteure in das Engagement zur nachhaltigen Stadtentwicklung mit ein. Das ist ein Thema, das angesichts des anhaltenden Zuzugs in Ballungszentren weiter an Bedeutung gewinnt. Der Nachhaltigkeitsrat hat zudem regionale Netzstellen eingerichtet, um Initiativen auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene zu vernetzen. Natürlich braucht es auch über die staatlichen Ebenen hinaus ein breites Bewusstsein dafür, dass es um viel geht und dass Nachhaltigkeit jeden etwas angeht. Deshalb hat die Bundesregierung auch die Öffentlichkeit verstärkt in die Diskussion über die neue Strategie eingebunden. Künftig soll es regelmäßig Gespräche zwischen der Bundesregierung und Vertretern gesellschaftlicher Organisationen geben. Das erste „Forum Nachhaltigkeit“, wie wir dieses Diskussionsformat nennen wollen, wird in etwa zwei Wochen stattfinden. Bereits ihre Arbeit aufgenommen hat die „Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030“. Das ist ein Projekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, das dazu dient, die Stimme der Wissenschaft in der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie gebührend zu Gehör zu bringen. Selbstverständlich kommt auch der Wirtschaft eine wichtige Rolle zu. Dass das Thema in den Unternehmen angekommen ist, zeigt sich auch bei Veranstaltungen wie der Verleihung des Deutschen Nachhaltigkeitspreises. Erwähnen möchte ich auch den Deutschen Nachhaltigkeitskodex, der vom Nachhaltigkeitsrat entwickelt wurde. Mittlerweile sind es immerhin mehr als 200 Unternehmen, die sich entschieden haben, anhand von 20 Kriterien öffentlich und vergleichbar zu berichten, wie sie mehr Nachhaltigkeit bei sich umsetzen können. Ich bin gerne bereit, dafür zu werben, damit aus den 200 noch mehr werden. Dass das dann auch werbewirksam genutzt werden kann, ist durchaus gewollt; schließlich dürfen und sollen ja noch mehr Unternehmen mitmachen. Generell sollte Nachhaltigkeit als Ziel und als Ausweis verantwortlicher Arbeit ihren festen Platz in Geschäftsstrategien haben. Ich finde es interessant, dass sich jetzt sozusagen auch ein Annäherungsprozess abspielt, in dem zum Beispiel auch die OECD das Thema inklusives Wachstum sehr hoch auf die Tagesordnung geschrieben hat. Wir haben ja jahrelang – das war ja oft auch eine der großen Kritiken an der Arbeit der OECD – ein sehr schmaldimensionales Wachstumsverständnis gehabt. Dass Inklusion jetzt sowohl von der OECD als auch vom IWF als auch von der Weltbank als wichtig erachtet wird, ist im Sinne der Nachhaltigkeit eine gute Botschaft. Nun läuft parallel zu unseren Bemühungen eine Entwicklung der zunehmenden Digitalisierung ab. Ich glaube, dass Digitalisierung, gut gestaltet, und die Nachhaltigkeitsstrategien sehr fruchtbar zusammenwirken können. Big Data, das Internet der Dinge, künstliche Intelligenz, Robotik, Industrie 4.0 – das sind nur einige Schlagworte; das alles ermöglicht auf vielfältige Weise, effizienter zu wirtschaften und Ressourcen einzusparen. Meine Damen und Herren, letztlich geht es auch bei der Nachhaltigkeit darum, aus einer zukunftsweisenden Idee einen praktischen Erfolg zu machen – und das heißt auch, einen weltweiten Trend zu setzen. Trendsetter war unter anderem die Brundtland-Kommission, die vor 30 Jahren ihren Bericht mit ihrer wegweisenden Definition einer nachhaltigen Entwicklung veröffentlichte. Vor 25 Jahren legten die Vereinten Nationen mit der ersten Konferenz in Rio de Janeiro die Grundlagen für die internationale Nachhaltigkeitspolitik. Vor fünf Jahren tagte die Staatengemeinschaft erneut in Rio de Janeiro und beschloss, Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erarbeiten. Damals gab es viel Skepsis, ob dabei etwas Vernünftiges herauskommen werde. Ich glaube, mit der Agenda 2030 ist doch etwas herausgekommen, das sich sehen lassen kann. Allerdings: Bis 2030 sind es inzwischen weit weniger als 5.000 Tage. – Ich begrüße meinen Kollegen, den Entwicklungsminister Gerd Müller. – Das ist gemessen an dem Unterfangen für eine umfassende Transformation, die wir uns vorgenommen haben, natürlich ein sehr geringer Zeitraum. Deshalb darf man mit Fug und Recht sagen: Es zählt eigentlich jeder Tag. Mit dem Eintreten von Gerd Müller wird, glaube ich, auch klar, dass die Zeit drängt. Nein, nicht etwa für meine Rede – ich glaube, er hört mir noch drei Minuten zu –, sondern weil er ein Ressort verantwortet – Frau Wieczorek-Zeul ist ja auch hier und weiß, wovon ich rede –, in dem die Zeit nun wirklich drängt. Ich meine, wir sitzen hier und wir sprechen darüber, dass wir riesige Transformationsaufgaben haben – ich denke beispielsweise an die Ängste in den Braunkohleregionen und anderswo. Aber wenn Sie sehen, wie viele Menschen im Augenblick akut hungern – Somalia, Südsudan, Tschadsee-Region – und wie die Weltgemeinschaft auch zum Teil gleichgültig darauf reagiert, dann zeigt das umso mehr die Wichtigkeit meiner Aussage, dass jeder Tag zählt. Wenn man afrikanische Regierungschefs hört – der italienische Premierminister Paolo Gentiloni hatte auch einige nach Taormina eingeladen –, die berichten, dass man sehen kann, wie der Klimawandel die landwirtschaftlichen Bedingungen völlig verändert, wie der Raubbau an Ressourcen etwa auch die Möglichkeit verändert, Wasserwege schiffbar zu halten – ich denke da etwa an den Niger und daran, was für eine Katastrophe sich abspielen würde, wenn der Tschadsee völlig verschwinden würde –, dann stellt man fest: Viele glauben zwar nicht, dass wir durch unser heutiges Handeln daran etwas ändern können, aber Transformationen haben etwas miteinander zu tun. Hätten wir in Deutschland die Solarenergie nicht so sehr ausgebaut, dann wären wir heute nicht in der Lage, in Afrika zu sagen, dass man zu wirklich erschwinglichen Preisen und dezentral Solarenergie und damit Zugang zu Energie ermöglichen kann. Ich sage ganz offen: Ich habe nicht zu denen gehört, die geglaubt haben, dass man es innerhalb so weniger Jahre erreichen kann, aus der wirklich massiv subventionierten Solarenergie eine Energie zu machen, die in Afrika heute kostengerecht und wahrscheinlich als eine der billigeren Energieformen angewandt werden kann. Das sollte uns Mut machen. In diesen Sinne: Danke für Ihre Arbeit. Wenn es darum ginge, sämtliche Instrumentarien aufzuzählen, dann gäbe es wahrscheinlich wenige Bundesbürger, die das alles schlüssig vortragen könnten. Ich weiß nicht, wie viele Abiturprüfungen über so etwas gemacht werden. Aber wenn man sich die Beispiele anschaut, wo durch welche technische Entwicklung und durch welche Verhaltensänderung etwas angestoßen werden konnte, das dann auch für globalen Nutzen sorgt, dann kann man das auch praktisch erzählen. Ich danke Ihnen noch einmal. Ich wünsche Ihnen viel Mut. Seien Sie manchmal auch unbequem – natürlich nicht zu sehr, damit wir nicht bockig werden. Wir sind aber guten Willens, hinzuhören. Danke und alles Gute für Ihre Arbeit.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Einweihung des Berliner Mauerdenkmals am neuen NATO-Hauptquartier am 25. Mai 2017 in Brüssel
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-einweihung-des-berliner-mauerdenkmals-am-neuen-nato-hauptquartier-am-25-mai-2017-in-bruessel-795210
Thu, 25 May 2017 15:02:00 +0200
Brüssel
Eure Majestät, sehr geehrter Herr Generalsekretär, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, das neue Hauptquartier wird zukünftig der zentrale Bezugspunkt der NATO sein. Ein moderner Bau wie dieser weist in die Zukunft. Um überzeugende Antworten für die Zukunft zu finden, ist es auch gut zu wissen, was wir in der Vergangenheit erreicht haben und worauf wir aufbauen können. Mit diesem Stück Berliner Mauer haben wir die Geschichte vor Augen, die die NATO während des Kalten Krieges über viele Jahrzehnte geprägt hat. Mit diesem Stück Mauer haben wir auch etwas vor Augen, das mein Leben viele Jahre bestimmt hat – es endete nämlich an der östlichen Seite der Mauer. Es hat sich gezeigt, dass Standfestigkeit auf der einen Seite – ganz besonders auch der NATO – und Mut unserer Freunde in Mittel- und Osteuropa und der damaligen DDR auf der anderen Seite dazu geführt haben, dass es diese Mauer heute nicht mehr gibt und dass sie ein Erinnerungsstück ist. Unsere Allianz ist sich einig in dem Bewusstsein der Zusammenarbeit, des Bestehens auf Freiheit und des Vertrauens darauf, dass nicht Abschottung und nicht Mauern erfolgreich sind, sondern offene Gesellschaften, die auf gemeinsamen Werten aufgebaut sind. Meine Damen und Herren, mit dem Ende des Ost-West-Konflikts begann eine neue Zeit – eine neue Zeit mit neuen Herausforderungen. Geblieben ist, dass wir eine Allianz sind, die auf gemeinsame Werte baut und deren Mitglieder solidarisch zueinander sind. Deutschland wird nicht vergessen, welchen Beitrag die NATO dazu geleistet hat, dass unser Land wiedervereint ist. Deshalb werden wir auch unseren Beitrag zur Sicherheit und zur Solidarität im gemeinsamen Bündnis leisten.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des Festakts „100 Jahre Sozialverband Deutschland“ am 23. Mai 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-des-festakts-100-jahre-sozialverband-deutschland-am-23-mai-2017-in-berlin-418178
Tue, 23 May 2017 14:35:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Bauer, sehr geehrter Herr Professor Knopp, meine Damen und Herren, vor 100 Jahren wurde der Grundstein für den Sozialverband Deutschland gelegt: am 23. Mai – also dem Tag, den wir heute auch als Tag des Grundgesetzes kennen. Natürlich konnte 1917 niemand wissen, was über 30 Jahre später geschehen würde. Dass umgekehrt die Väter und Mütter des Grundgesetzes bei seinem Inkrafttreten genau vor Augen hatten, welche Rolle der 23. Mai auch in der Geschichte des Sozialverbandes gespielt hatte, darf angesichts der Umbrüche in der Nachkriegszeit bezweifelt werden. Trotzdem gibt es eine Verbindung. Der erste Artikel in unserem Grundgesetz beginnt mit den Worten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Es ist genau dieses Verständnis der menschlichen Würde, auf dem Ihre Arbeit, die Arbeit des Sozialverbandes, beruht. Es ist das Wissen um die Verletzlichkeit der menschlichen Würde, das das Gerechtigkeitsgefühl immer wieder herausfordert. 1917 war es das Schicksal der vielen Versehrten im noch nicht zu Ende gegangenen Ersten Weltkrieg, das zur Gründung des Vorläufers Ihres Verbandes führte. Für ihre Rechte einzutreten und ihnen zu helfen, allen Schwierigkeiten zum Trotz ein Leben in Würde führen zu können – das war ein zutiefst menschliches Anliegen. Der Vorläufer des Sozialverbandes Deutschland erreichte viel. Aber er war auch vor Tiefen nicht geschützt. Und so blieb ihm 1933 nach Widerständen gegen das nationalsozialistische Regime nur die Selbstauflösung. Doch die Idee, sich für Hilfsbedürftige einzusetzen, blieb. Es war deshalb nur folgerichtig, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg der Verband neu gründete. Im Laufe der Jahre haben sich die Herausforderungen und mit ihnen auch Ihr Verbandsname geändert. Unverändert aber zeichnet sich der Sozialverband durch unermüdliches Engagement für Frieden, für Freiheit und für Gerechtigkeit aus. Unser heutiges Leben ist mit dem vor 100 oder vor 70 Jahren kaum noch zu vergleichen. Wir leben heute in einem geeinten Europa. Nach Jahrhunderten des Blutvergießens sind wir Europäer einander in Freundschaft verbunden und – wie wir zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge gesagt haben – „zu unserem Glück vereint“. Das erschien zu den Anfangszeiten des Sozialverbandes gerade auch bei Deutschen und Franzosen, den einstigen sogenannten Erbfeinden, völlig undenkbar. Heute aber brauchen wir uns nur in der Welt umzuschauen, um zu wissen, welchen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt uns die europäische Integration überhaupt erst ermöglicht hat. Unsere Art in Europa zu leben und zu arbeiten, ist keineswegs selbstverständlich; wir müssen uns stets aufs Neue behaupten. Dies hat uns auch der Ausgang des Referendums über den EU-Austritt Großbritanniens gezeigt. Selbstverständlich wollen wir mit Großbritannien auch künftig gut zusammenarbeiten. Gerade an einem solchen Tag wie heute, an dem wir der Opfer von Manchester gedenken, wird uns deutlich, wie eng wir miteinander verbunden sind. Es versteht sich aber von selbst, dass wir in den anstehenden Verhandlungen mit Großbritannien auch unsere Eigeninteressen vertreten müssen. Besonderes Augenmerk verdienen natürlich die Bürgerinnen und Bürger aus Deutschland und anderen EU-Staaten, die in Großbritannien leben. Wir wollen, dass die Folgen für diese Menschen so gering wie möglich ausfallen. Doch Brexit hin oder her, es stehen auch andere Aufgaben auf der europäischen Agenda, die wir sehr intensiv verfolgen müssen. Dazu gehört auch die Grundsatzfrage des angewandten Subsidiaritätsprinzips. Wir sollten uns in Europa auf die Aufgaben konzentrieren, die sich uns wirklich gemeinsam stellen. Denn genau darin zeigt sich der Mehrwert eines geeinten Europas. Mit vereinten Kräften können wir mehr bewegen, als es jedem einzelnen Land alleine möglich wäre. Viele dieser Aufgaben betreffen den äußeren Frieden. Das Spektrum reicht von der Außen- und Sicherheitspolitik – einschließlich des Schutzes der EU-Außengrenzen – bis hin zur Entwicklungshilfe, wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Flüchtlingspolitik. Das ist die eine Seite: der äußere Frieden. Die andere ist unser innerer Frieden. Damit bin ich auch bei Fragen des sozialen Zusammenhalts. Die EU-Staaten haben vielfältige Mechanismen der sozialen Verantwortung. Insgesamt können wir mit Blick auf andere Teile der Welt sagen: Wir haben ein geradezu einzigartiges Sozialmodell. Aber natürlich haben auch wir Probleme, die wir – und ich sage: endlich – lösen müssen. Das gilt nicht zuletzt mit Blick auf die Perspektiven junger Menschen. Wer in Europa aufwächst und lebt, muss die Chance haben, seine Fähigkeiten zu entwickeln und zu entfalten. Dazu gehört ein guter Start in die Arbeitswelt. Deshalb ist die Förderung der Berufsausbildung, der Jugendbeschäftigung und der Mobilität ein zentrales Thema, um das wir uns auch auf europäischer Ebene schon verstärkt gekümmert haben, aber noch stärker kümmern müssen. Deshalb wird das sicherlich auch Thema in der Debatte zur sozialen Dimension Europas sein, die die EU-Kommission angestoßen hat. Dabei wollen wir uns mit unseren nationalen Standards – zum Beispiel im Arbeitsschutz oder bei der sozialen Sicherheit – nicht nur behaupten, sondern sie auch stärken, da wir glauben, dass das die besseren Lösungen sind. Daher müssen wir genau hinschauen, bei welchen Themen ein gemeinsames europäisches Handeln Sinn macht und bei welchen Themen weniger. Denn die wichtigsten Akteure in der Sozialpolitik sind und bleiben die Mitgliedstaaten. Die europäische Sozialpolitik kann und soll diese Strukturen nicht ersetzen, wohl aber ergänzen. Wo aber setzt Sozialpolitik sinnvollerweise an? Eine Antwort findet sich schon in den Anfängen Ihres Sozialverbands. Ein zentrales Anliegen war damals, dass Arbeitsplätze auch für Kriegsversehrte entstehen. Damals wie heute ermöglicht Arbeit, den Lebensunterhalt eigenständig zu finanzieren. Arbeit wirkt zudem sinn- und identitätsstiftend. Daher ist es auch sozialpolitisch höchst bedeutsam, für gute wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu sorgen; denn es sind nun einmal die Unternehmen, die Beschäftigung schaffen. Wirtschafts- und Sozialfragen – das ist auch die Philosophie der Sozialen Marktwirtschaft – bedingen einander; sie müssen immer zusammen gedacht werden. Dies ist uns in den vergangenen Jahren alles in allem – zumindest an vielen Stellen – recht gut gelungen. Die Zahl der Erwerbstätigen ist Jahr für Jahr gestiegen. Seit 2005 ist allein die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um über fünf Millionen gestiegen. Im selben Zeitraum hat sich die Arbeitslosenquote in Deutschland fast halbiert. Das sind gute Zahlen. Aber wir dürfen uns auf guten Statistiken nicht etwa ausruhen, sondern müssen immer und immer wieder für gute und bessere Arbeitsmarktchancen sorgen. Sehr viele Menschen können durch den hohen Beschäftigungsstand am Wohlstandsgewinn teilhaben. Nicht nur die Nominal-, sondern auch die Reallöhne sind deutlich gewachsen. Das spiegelt sich auch in den gestiegenen Konsumausgaben wider. Ich weiß jedoch sehr wohl, dass sich von denjenigen, die heute Arbeit haben, nicht wenige fragen, was sich zum Beispiel durch den digitalen Wandel für sie ändern wird und ob sie auch den neuen Anforderungen im Beruf entsprechen können. Diese Sorgen nehme ich und nimmt die Bundesregierung ernst. Natürlich sind technologische Veränderungen und damit auch Veränderungen in der Arbeitswelt immer auch mit Unsicherheit verbunden. Sicher hingegen wäre: würden wir uns nicht auf diese Veränderungen einlassen, um sie im Sinne der Menschen zu gestalten, dann würden wir mit dem Stillstand in jedem Fall Wohlstandsverluste in Kauf nehmen. Das kann nicht unser Anspruch sein. Deshalb wollen wir Veränderungen aktiv mitgestalten – entsprechend unseren Werten und unseren Interessen. Das heißt, wir brauchen auch Antworten für diejenigen, denen es trotz guter Wirtschaftslage auch heute noch schwerfällt, eine Arbeit zu finden. Schon Kinder starten zu häufig mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen ins Leben. Dass jedes Kind seinen Weg gehen kann – genau das ist auch der Anspruch unserer Sozialen Marktwirtschaft als Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die allen, nicht nur den meisten, eine Teilhabe am Wohlstand ermöglicht. Das A und O dabei ist Bildung. Das fängt in den Kitas an, führt über die Kindergärten, die Schulen, unser duales Ausbildungssystem und die Hochschulen bis hin zur Fort- und Weiterbildung und zum Thema lebenslanges Lernen. Neben jeweils guten Angeboten und Ausstattungen ist eine hohe Durchlässigkeit wichtig, damit nach einer beruflichen Qualifikation auch ein Studium möglich ist, damit man auch gleiche Chancen an den Schulen hat und damit auch für diejenigen, die ein Studium nicht erfolgreich beenden, eine Berufsausbildung möglich wird. Diese Durchlässigkeit herzustellen, ist nach wie vor ein Problem. Manches ist besser geworden, anderes ist nach wie vor schwierig. Jeder und jede soll aber seine Chance bekommen; und dies nicht nur einmal im Verlauf des gesamten Bildungswegs. Damit bin ich bei einem Kernanliegen des Sozialverbands Deutschland. Lieber Herr Bauer, Ihnen liegt vor allem auch daran, diejenigen, die es aufgrund einer Behinderung deutlich schwerer in der Arbeitswelt haben, nicht aus dem Blick zu verlieren, sondern sich für sie einzusetzen. Es gilt, sie über alle Bildungsetappen so gut wie möglich zu fördern. Dies ist das gemeinsame Ziel von Bund, Ländern und Kommunen. Das Leitbild ist dabei das der Inklusion, wie es auch in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben ist. Menschen mit Behinderungen sollen in allen Bereichen des Lebens selbstverständlich dazugehören. Die Fortschritte, die wir gemacht haben, werden im Nationale Aktionsplan dokumentiert. – Jetzt sehe ich hier auch Frau Bentele. Sie sitzen schon die ganze Zeit da? Na, ich begrüße Sie jedenfalls auch ganz herzlich. Wir haben den Nationalen Aktionsplan letztes Jahr auf den aktuellen Stand gebracht. Er beschreibt die Handlungsfelder und unsere jeweiligen Maßnahmen. Ein großer Schritt – auch wenn ich weiß, dass es darüber eine sehr kritische Diskussion gibt – ist unser Bundesteilhabegesetz. Es steht für einen grundlegenden Systemwechsel: weg von reiner Fürsorge, hin zur Teilhabe. Menschen mit Behinderung sollen, so gut es geht, ihr Leben selbstbestimmt in die Hand nehmen können. Um ihnen hierfür mehr Spielraum zu verschaffen, haben wir die Freibeträge beim Einkommen erhöht. Auch die Vermögensfreigrenze für Bezieher von Eingliederungshilfe steigt. Was Ehe- oder Lebenspartner auf dem Konto haben, wird nicht angerechnet. Es gibt nun auch das sogenannte Budget für Arbeit. Es erleichtert Arbeitgebern, Bewerber mit Behinderung einzustellen. Denn deren Beschäftigungssituation ist alles andere als zufriedenstellend. Insgesamt haben wir also einige Verbesserungen erreicht. Aber ich weiß, dass sich der Sozialverband Deutschland an manchen Punkten mehr erhofft hat. Aber wie bei allen Sozialleistungen müssen wir natürlich auch auf die Kosten schauen. Es geht um das Geld der Steuerzahler. Wir bleiben natürlich auch immer weiter im Gespräch. Ihr Verband wird heute 100 Jahre alt; und Sie werden auch in den nächsten Jahren das Wort ergreifen, wann immer Sie finden, dass etwas nicht zufriedenstellend geregelt ist. Meine Damen und Herren, wir wollen natürlich auch gezielt investieren. Dazu will ich ein Beispiel nennen, das für Sie auch von großer Bedeutung ist, nämlich den Wohnungsbau. Gestiegene Mieten und Baupreise machen vielen Bürgerinnen und Bürgern zu schaffen. Wir haben daher das „Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen“ eingerichtet und auch eine Wohnungsbau-Offensive gestartet. Wir stellen günstiges Bauland aus öffentlicher Hand zur Verfügung und stärken den Ausbau von sozialem Wohnraum. Der Bund hat die finanziellen Mittel für soziale Wohnraumförderung immerhin verdreifacht. Derzeit unterstützen wir die Länder mit 1,5 Milliarden Euro jährlich; und wir stellen 2017 zusätzlich noch 790 Millionen Euro für die Städtebauförderung zur Verfügung. Man kann schon sehen, dass die Maßnahmen greifen. Wir werden in dieser Legislaturperiode insgesamt mehr als eine Million Wohnungen fertigstellen. Natürlich ist dies nicht allein die Aufgabe des Bundes, sondern hierbei sind auch Länder und Kommunen besonders gefordert. Aber in jedem Fall ist es gut, auch mit Ihnen als Sozialverband Deutschland einen engagierten Partner zu haben. Im Übrigen – auch das will ich an dieser Stelle erwähnen und mit einem wirklich großen Dank verbinden – sind Sie ein toller Partner, wenn es auch um Flüchtlinge geht, die zu uns gekommen sind und einen Anspruch auf Schutz haben. Sie versuchen, ihnen eine angemessene Unterkunft zu bieten und sie zu integrieren. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön. Wir wissen, Integration ist nicht immer einfach. Sie ist alles andere als ein Selbstläufer. Sie braucht Zeit, Geduld und Anstrengung auf allen Seiten. Daher noch einmal ein herzliches Dankeschön an all die Ehrenamtlichen, die zunächst spontan und nun doch schon über eine lange Strecke hinweg helfen und geholfen haben. Ich denke, das ist ein gutes Beispiel für das Miteinander in unserem Land. Was die öffentliche Hand anbelangt, so findet der Zusammenhalt den wohl stärksten Ausdruck in unseren sozialen Sicherungssystemen. Die Rente ist das beste Beispiel. Da tritt eine Generation für die andere ein. Umso wichtiger ist es, dass das System ausgewogen ist. Dabei hilft uns im Augenblick eine gute Arbeitsmarktlage. Denn die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse ist so hoch wie nie. Sie sorgt zum einen dafür, dass der Rentenbeitragssatz in den nächsten Jahren stabil bleiben kann. Zum anderen ist am 1. Juli wieder eine spürbare Rentenerhöhung möglich. Wir haben in dieser Legislaturperiode mehrere Verbesserungen, teils nach sehr kontroverser Diskussion, verabschiedet: für Mütter, deren Kinder vor 1992 geboren wurden; für langjährig Erwerbstätige, die die Rente mit 63 in Anspruch nehmen können; und für diejenigen, die Erwerbsminderungsrente beziehen. Es gibt auch mehr Geld für Rehabilitationsleistungen. Natürlich wissen wir, dass der demografische Wandel eine starke Herausforderung für unsere sozialen Sicherungssysteme ist. Deswegen bauen wir bei der Rente auf das Drei-Säulen-Modell. Neben die gesetzliche Rente muss verstärkt die betriebliche und private Vorsorge treten. Gerade mit Blick auf die betriebliche Rente hoffe ich, dass das geplante Gesetz bald verabschiedet werden kann. Damit setzen wir weitere Anreize. Ich nenne als Beispiel nur den geplanten Freibetrag in der Grundsicherung im Alter für zusätzliche freiwillige Vorsorge. Er sendet das Signal, dass sich das Sparen fürs Alter in jedem Fall lohnt. In dieser Legislaturperiode haben wir auch einen klaren Schwerpunkt auf das Thema Pflege gesetzt. Denn wir wissen: wenn die Zahl derer, die älter sind, steigt, dann steigt auch die Zahl derer, die Hilfe brauchen. Wir haben die Pflegeversicherung an die sich verändernden Gegebenheiten angepasst und die Leistungen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen deutlich verbessert. Ich denke, die größte Veränderung ist die Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Im Zentrum steht jetzt der individuelle Unterstützungsbedarf zur Förderung und zum Erhalt der Selbständigkeit. Damit haben alle pflegebedürftigen Menschen – egal, ob sie unter geistigen oder körperlichen Einschränkungen leiden – einen gleichberechtigten Zugang zu allen Leistungen. Wir haben vorher darüber lange diskutiert und haben jetzt mit Ihrer Hilfe und der Hilfe vieler anderer den Übergang in die Praxis, denke ich, recht gut geschafft, obwohl ich weiß, dass es viel Arbeit ist und dass noch viel zu tun ist. Meine Damen und Herren, das 100. Jubiläum Ihres Verbands lädt natürlich auch zu einer Rückschau ein. Deshalb finde ich es folgerichtig, dass anschließend Professor Guido Knopp die Geschichte noch genauer betrachten wird. Zu welchen Zeiten auch immer – soziale Verantwortung lässt sich nicht einfach verordnen, sondern setzt auch eigenes Engagement voraus. Daher brauchen wir auch die entsprechenden Organisationen, in denen Menschen mitmachen können. Der Sozialverband Deutschland ist ein gutes Stück dieser Organisationen. Sie leben Engagement vor. Sie fördern es und fordern es durchaus auch von anderen ein. Sie richten Ihren Blick gezielt auf diejenigen, die Hilfe brauchen. Chancen auf ein Leben in Würde zu haben und nutzen zu können – das ist vor allem eine Frage der Menschlichkeit. Wie diese Frage im Einzelnen zu beantworten ist – darüber lässt sich trefflich streiten. Darüber muss, im guten Sinne, gestritten werden. Dass wir offen und konstruktiv miteinander streiten können, das macht unsere lebendige Demokratie und unsere offene und auch immer wieder lernfähige Gesellschaft aus. So wünsche ich mir, mit Ihnen auch weiterhin kompetente Mitstreiter zu haben, die sich mit Herz und Verstand für soziale Belange einsetzen. Ich darf Ihnen das offene Ohr der Bundesregierung jedenfalls auch für die Zukunft zusagen. Herzlichen Glückwunsch und alles Gute. Herzlichen Dank jedem einzelnen Mitglied, das sich täglich vor Ort einbringt. Danke schön dafür.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim VIII. Petersberger Klimadialog am 23. Mai 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-viii-petersberger-klimadialog-am-23-mai-2017-in-berlin-321122
Tue, 23 May 2017 11:11:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Premierminister, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Hendricks, meine Damen und Herren, gestatten Sie, dass ich aus aktuellem Anlass einige Worte zu dem sage, was wir aus Manchester in der vergangenen Nacht gehört haben. Mit Trauer und Entsetzen verfolge ich die Berichte aus Manchester. Es ist unbegreiflich, dass jemand ein fröhliches Popkonzert ausnutzt, um so vielen Menschen – jungen Menschen – den Tod zu bringen und ihnen schwere Verletzungen zuzufügen. Meine tiefe Anteilnahme gilt allen Opfern und Betroffenen sowie den Angehörigen in ihrer Trauer und Verzweiflung. Dieser mutmaßliche terroristische Anschlag wird nur unsere Entschlossenheit stärken, weiter gemeinsam mit unseren britischen Freunden gegen diejenigen vorzugehen, die solche menschenverachtenden Taten planen und durchführen. Den Menschen in Großbritannien versichere ich: Deutschland steht an Ihrer Seite. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns anlässlich dieser tragischen Ereignisse eine kurze Minute Stille halten. – Danke schön. Sehr geehrter Herr Premierminister, sehr geehrte Frau Ministerin, meine Damen und Herren, wir haben uns wie in den Vorjahren in Berlin versammelt, um die nächste und nunmehr 23. UN-Klimakonferenz vorzubereiten. – Ich freue mich natürlich, dass auch der Generalsekretär der OECD heute unter uns ist. Er hat uns etwas übergeben, zu dem ich gleich noch etwas sagen werde. – Anders als sonst wird dieses Jahr die Weltklimakonferenz selbst ebenfalls in Deutschland stattfinden, nämlich in Bonn. Die Präsidentschaft hat allerdings ein anderes Land – damit betreten wir sozusagen ein interessantes Neuland –: Das ist die Republik Fidschi. Deshalb heiße ich alle Gäste von der anderen Seite unseres Globus besonders willkommen. Ich begrüße Sie mit einem herzlichen „Bula“. Das heißt „Willkommen“ auf Fidschi, wie ich gelernt habe. Mit Deutschland und der Republik Fidschi arbeiten zwei Staaten zusammen, die geografisch zwar weit auseinander liegen. Uns einen aber die Überzeugung und der Wille, dass wir die Folgen des Klimawandels so gut wie möglich eindämmen müssen. Gleichwohl blicken wir aus sehr verschiedenen Perspektiven auf die Erderwärmung. Der Klimawandel bedroht einen Staat viel unmittelbarer, wenn er aus über 300 Inseln besteht und im tropischen Klima des Südpazifiks liegt. Deutschland hingegen liegt inmitten Europas in einer gemäßigten Klimazone. Als hochentwickeltes Industrieland sind wir für einen relativ hohen CO2-Ausstoß mitverantwortlich. Dementsprechend hoch ist natürlich auch unsere Verantwortung für ein Umsteuern. Wir sind uns, denke ich, alle einig, dass die Weltgemeinschaft eine geradezu historische Weichenstellung vorgenommen hat, als sie das Pariser Abkommen beschlossen hat. Wir haben uns dazu verpflichtet, die Erderwärmung unter zwei Grad zu halten und möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen. Gerade der letzte Teil, nämlich die Begrenzung auf 1,5 Grad, war den Inselstaaten ein großes Anliegen. Denn mit jedem Temperaturanstieg steigt der Meeresspiegel. Paradiese von heute drohen zu verschwinden. Daher war es sehr wichtig, dass das internationale Klimaabkommen verabschiedet wurde und rasch in Kraft treten konnte. Von den 197 Unterzeichnerstaaten haben inzwischen rund 150 das Abkommen ratifiziert. Der genaue Stand: Am 18. Mai 2017 waren es 146 Staaten. Beschlüsse sind richtig und wichtig. Aber jetzt kommt die Probe aufs Exempel; jetzt müssen auch die entsprechenden Schritte folgen. Von der Vertragsstaatenkonferenz in Marrakesch im vergangenen Jahr ging das klare Signal aus, dass wir auf dem eingeschlagenen Weg vorankommen wollen. Dazu wurde ein Fahrplan verabschiedet, um die Beschlüsse von Paris konkreter zu fassen und Initiativen zu fördern. Die entscheidende Frage war und ist, wie wir gewährleisten, dass alle Staaten ihren nationalen Beitrag zur Minderung der Treibhausgase leisten und leisten können. Klar ist: Industriestaaten und größere Schwellenländer müssen dabei vorangehen. Entwicklungsländer müssen Unterstützung erhalten – sei es in finanzieller oder technologischer Hinsicht. Daher hat Deutschland gemeinsam mit Marokko, dem Gastgeberland der letzten UN-Klimakonferenz, die NDC-Partnerschaft ins Leben gerufen. Ihr gehören mittlerweile fast 60 Staaten an. Bei der UN-Konferenz in Bonn wird es um ein detailliertes Regelwerk für die Umsetzung des Pariser Abkommens gehen. Wir brauchen zum Beispiel einheitliche Standards, damit nationale Minderungsbeiträge und die Berichterstattung über sie tatsächlich vergleichbar sind; das ist aus meiner Sicht ein ganz, ganz wichtiges Thema. So entstehen dann auch Transparenz und eine solide Grundlage dafür, dass Staaten einander vertrauen und sich wirklich austauschen. Wir stellen uns vor, dass wir in Bonn so weit kommen, dass wir dann bei der UN-Konferenz 2018 in Polen die notwendigen Beschlüsse fassen können. Zudem wollen wir uns auf den sogenannten „facilitative dialogue“ im nächsten Jahr vorbereiten. Er dient allen Staaten dazu, ihre Ziele zu überprüfen. Zugleich ist er ein Probelauf für die globale Bestandsaufnahme im Jahr 2023. Die Präsidentschaft der Republik Fidschi lenkt außerdem die Aufmerksamkeit auf die Staaten, die der Klimawandel am härtesten trifft. Angesichts ihrer Situation ist schnelles Handeln unabdingbar. Da ist Zeit nicht nur eine Frage des Geldes, sondern es ist wirklich eine Existenzfrage. Das muss man sich immer wieder vor Augen führen. In die Anpassung an den schon stattfindenden Klimawandel fließt bereits die Hälfte unserer internationalen Klimafinanzierung, mit der Deutschland andere Länder unterstützt. Wir haben während unserer G7-Präsidentschaft vor zwei Jahren die Initiative ergriffen, um Versicherungen für vom Klimawandel besonders betroffene Entwicklungsländer zu schaffen. Dieses Vorhaben möchten wir nun während unserer G20-Präsidentschaft gern zu einer globalen Partnerschaft ausbauen. Wenn die verschiedenen Regierungen an einem Strang ziehen, wäre schon viel gewonnen. Allein aber stünden wir natürlich auf verlorenem Posten. Wir brauchen immer viele Akteure, die mitziehen. Daher werden zur Klimakonferenz in Bonn zum Beispiel auch Kommunen, NGOs und Unternehmen eingeladen sein. Sie werden verschiedenste Ansätze und Maßnahmen zum Klimaschutz präsentieren, um voneinander zu lernen und auch um über ihren Kreis hinaus Nachahmer zu finden. Denn klar ist: Wir brauchen ein globales Bündnis aller Staaten, in das zudem sämtliche gesellschaftliche Bereiche einbezogen sind. Es geht um eine umfassende Transformation hin zu einem möglichst nachhaltigen Lebensstil – in sozialem, ökologischem und wirtschaftlichem Sinne. Deshalb ist das Pariser Klimaabkommen auch eng mit der Agenda 2030 verbunden. Unsere neu gefasste Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie greift die globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung auf. Wir stellen uns mit ihr dem Anspruch, Wirtschaft, Umwelt und Soziales zusammenzudenken und Interdependenzen in unseren Entscheidungen zu berücksichtigen. Das sind Entscheidungen, die sich vom Kauf von Alltagsgütern bis hin zu langfristigen privaten und öffentlichen Investitionen erstrecken – ob es zum Beispiel um die Modernisierung von Infrastrukturen geht oder den Umbau der Energiesysteme. Die OECD – ein Dank an Herrn Gurría und an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – hat eine Studie erarbeitet zum Thema „Growth, Investment and the Low-Carbon Transition“. Danach müssen wir weltweit in den nächsten 15 Jahren die Investitionen in nachhaltige Infrastrukturen – Verkehr, Energie, Wasser, Telekommunikation – um etwa zehn Prozent erhöhen, um das Zwei-Grad-Ziel einzuhalten. Laut OECD lassen sich diese Mehrausgaben kompensieren. Denn wir sparen durch effizientere Technologien Kosten ein. Hinzuzurechnen ist natürlich auch die Kostenvermeidung durch weniger Lasten infolge des Klimawandels. Die OECD kommt sogar zu dem Ergebnis, dass wir durch eine gemeinsame Klimapolitik aller G20-Staaten mehr Wachstum erreichen könnten. In Deutschland machen wir bereits die Erfahrung, dass Wohlstand und Nachhaltigkeit durchaus Hand in Hand gehen können. Das zeigt sich unter anderem am Beispiel verschiedenster Effizienztechnologien, mit denen viele unserer Unternehmen zu den Weltmarktführern zählen. Trotzdem geht es immer noch um enorme Summen, die erst einmal für ein verstärktes Umsteuern hin zu nachhaltigen Investitionen aufzubringen sind. Die staatliche Ebene allein gerät dabei schnell an ihre Grenzen. Deshalb brauchen wir auch mehr private Investitionen. Je mehr dabei mitmachen, desto schneller kommen wir auf dem Weg zu einem besseren Klimaschutz voran. Die Energiewende in Deutschland zeigt: Es lohnt sich, trotz großer Anstrengung voranzugehen. Ist ein Anfang geschafft, ist der Durchbruch einer neuen Technologie erfolgt, dann gehen die Kosten zurück. Das ist eine wichtige Lehre. Von dem gewonnenen technologischen Know-how können dann auch ärmere Länder profitieren, denen es heute noch an eigenen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten fehlt. Die Erfolge sind sichtbar: Weltweit ist der Preis für Strom aus erneuerbaren Energien deutlich gesunken. Ich nenne als Beispiel die Vereinigten Arabischen Emirate. Dort werden Solaranlagen gebaut, die Strom für drei US-Cent pro Kilowattstunde liefern. Ähnlich sieht es in Marokko bei Windparks aus. In Deutschland setzen wir bei der Förderung erneuerbarer Energien mehr und mehr auf Ausschreibungen. Bei Photovoltaikanlagen zeichnen sich weitere deutliche Kostensenkungen ab. Die erste Bieterrunde für Windparks auf See hat unsere Erwartungen weit übertroffen. Hier kommen manche Gebote sogar ganz ohne Förderung aus. Wenn ich mir überlege, wie wir noch die ersten zehn Gigawatt gefördert haben, dann sehe ich, welche Spielräume wir haben. Wir können jetzt sagen, dass wir rund ein Drittel des Stroms, den wir in Deutschland verbrauchen, aus erneuerbaren Energien erzeugen. Trotz deren rasanten Ausbaus bleibt die Versorgungssicherheit gewährleistet. Ich will allerdings nicht verhehlen, dass wir auch ein paar Herausforderungen haben. Wir haben mehr Möglichkeiten, Energie zu erzeugen, als Energie zu speichern und weiterzuleiten. Das heißt, bei uns ist sozusagen der bottleneck nicht mehr die Frage der Erzeugung, sondern bei uns ist der bottleneck eindeutig die Frage: Wie bekomme ich die Energie an den Ort, wo sie gebraucht wird; und wie kann ich Energie besser speichern? Diejenigen, die im Bereich der Speicherung in Zukunft reüssieren, haben eine breite Anwendungspalette. Fortschritte brauchen wir natürlich nicht nur im Energiebereich, sondern auch in allen anderen Bereichen – bei Gebäuden oder im Verkehr. Hier eröffnet uns die Digitalisierung neue Chancen. Vernetzte Mobilität im öffentlichen Nah- und Fernverkehr, Car-Sharing, autonomes Fahren – das alles kann nachhaltige Mobilität voranbringen. Intelligente Stromzähler helfen Verbrauchern, ihren Stromverbrauch besser zu kontrollieren und zu steuern. Der ökologische und ökonomische Mehrwert solcher neuen Technologien liegt auf der Hand. Die Nachfrager verbrauchen weniger Energie und Ressourcen und sparen sich Kosten. Für die Anbieter ergeben sich daher große Marktchancen. Allerdings will ich jetzt auch kein Idealbild malen. Jede Erneuerung muss auch in einem hochentwickelten Land wie Deutschland mühselig durchgesetzt werden. Beim intelligenten Stromzähler wird die Frage gestellt: Was alles weiß der Energielieferant über mich; wie ist es mit dem Datenschutz? Wir haben Fragen zur Wärmedämmung, bei der wir Jahr und Tag über Förderinstrumente diskutiert haben und nie durchgreifend erfolgreich waren. Aber es geht – manchmal langsam, manchmal etwas schneller – durchaus voran. Deshalb kann ich alle nur ermutigen, sich auf diesen Weg einzulassen. Der Ausbau erneuerbarer Energien schreitet weltweit weiter voran. Aus vielen Staaten gibt es erfreuliche Entwicklungen zu berichten. Ich nenne nur einige Beispiele. China investiert weltweit am meisten in den Ausbau erneuerbarer Energien. Indien hat kürzlich den Bau von 50 weiteren Solarparks beschlossen. Damit kommt das Land seinem Ziel näher, 175 Gigawatt aus erneuerbaren Energien bis 2022 zu erreichen. Kenia baut derzeit einen Windpark mit 365 Windrädern, die bis zu 20 Prozent des kenianischen Energiebedarfs decken können. Für zwei Drittel der Bevölkerung wurde nunmehr der Zugang zu Strom ermöglicht. Wenn ich mir die Zahl der afrikanischen Länder anschaue, in denen der Zugang zu Strom bei unter 25 Prozent liegt, dann stelle ich fest, dass gerade der Bereich der Solar- und Windenergie eine Riesenmöglichkeit ist, auch dezentral Strom zu erzeugen und damit der Bevölkerung erstmals den Zugang zu elektrischem Strom zu gewährleisten. Das Beispiel Kenias freut mich natürlich ganz besonders. Denn wir hatten unter deutscher G7-Präsidentschaft dafür geworben, den Ausbau erneuerbarer Energien in Afrika konsequent zu fördern. Auch in der G20 richten wir unser Augenmerk jetzt verstärkt auf Afrika. Wir wollen dort mehr private Investitionen mobilisieren, um nachhaltige Entwicklung zu fördern. Aber ganz ohne Strom sind die Investitionen schwer zu mobilisieren. Insofern ist es wichtig, dass das Hand in Hand geht. Auch wenn der Technologiefortschritt die Kosten für den Ausbau erneuerbarer Energien erheblich gesenkt hat und auch wenn Strom aus erneuerbaren Energien in vielen Ländern billiger ist als Strom aus fossilen Brennstoffen, so braucht es gleichwohl immer Startkapital, um erneuerbare Energien und klimafreundliche Investitionen allgemein weiter voranzubringen. Deshalb sind Geberländer, Finanzinstitutionen, Entwicklungsbanken und private Akteure gefragt. Gerade auch die privaten Akteure brauchen natürlich Planungssicherheit für ihre Investitionen. Deshalb sind Langfriststrategien so wichtig, wie sie das Pariser Abkommen einfordert. Denn sie können Investoren Orientierung und im Idealfall maximale Offenheit für neue Technologien bieten. Mittlerweile haben insgesamt sechs Staaten ihre Langfriststrategien verabschiedet und bei den Vereinten Nationen hinterlegt. Darunter ist mit Benin auch ein afrikanischer Staat vertreten. Wir sind auch dabei. Mit unserem Klimaschutzplan haben wir die nächste Etappe bis 2050 festgelegt: bis 2030 eine Reduktion der Treibhausgase um mindestens 55 Prozent und bis 2050 um 80 bis 95 Prozent. Allerdings haben wir noch eine Menge an Detaildiskussionen zu diesem Klimaschutzplan zu führen. Wir achten darauf, diese Ziele technologieoffen und kosteneffizient anzugehen. Das Ganze ist ein Prozess. Das heißt, es gibt regelmäßige Überarbeitungen. Wir müssen auch hierbei so herangehen – wie bereits bei der Erarbeitung dieses Klimaschutzplans –, dass wir möglichst viele Akteure mit einbeziehen. Die Europäische Union hat ebenfalls ein konkretes Ziel: Die Treibhausgasemissionen sollen bis 2030 um mindestens 40 Prozent gegenüber 1990 sinken. Jeder Mitgliedstaat muss dazu seinen Beitrag leisten. Dabei ist ein zentrales Instrument der Emissionshandel, den wir stärken wollen. Parallel dazu müssen wir natürlich auch auf die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft achten. Denn es hilft uns nicht weiter, wenn die Produktion einfach in andere Teile der Welt verlagert wird. Emissionen schaden dem Klima – unabhängig davon, an welchem Ort der Welt sie entstehen. Deshalb kann ich nur begrüßen, dass China mit seinem nationalen Emissionshandel noch in diesem Jahr starten wird. Dann haben wir sozusagen zwei große Regionen – die Europäische Union und China –, die dieses marktwirtschaftliche Instrument ausprobieren. Das Beste wäre natürlich, wenn der Ausstoß schädlicher Emissionen weltweit seinen Preis hätte. Ein globaler Kohlenstoffmarkt würde Anreize für eine möglichst effiziente Produktion setzen und zugleich Wettbewerbsverzerrung ausschließen. Daher haben wir während der deutschen G7-Präsidentschaft vor zwei Jahren eine Plattform ins Leben gerufen, um enger zusammenzuarbeiten. Auch dieses Thema kann sehr gut auf die G20 erweitert werden. Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt – die Bundesregierung ist es auch –: Wir können uns nicht herausreden; Klimaschutz geht uns alle etwas an. Einerseits bekommen wir alle die Folgen des Klimawandels zu spüren. Andererseits kommen uns allen die Fortschritte beim Klimaschutz zugute. Wir sind verantwortlich füreinander. Wir haften füreinander. Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft. Wir haben für unsere G20-Präsidentschaft – der Gipfel wird in Hamburg stattfinden – ein Symbol aus der Seefahrt gewählt, einen Kreuzknoten. Dieser Kreuzknoten hält umso besser, je mehr man an ihm zieht, je größer also die Belastungen werden. Unser Motto heißt: „Eine vernetzte Welt gestalten.“ Die Vernetzung können wir nicht leugnen, wir können sie nicht infrage stellen. Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft. Der Geist, der bei der Verabschiedung des Klimaabkommens in Paris herrschte, muss auch heute da sein – bei der Umsetzung in Europa, im Kreis der G7- und G20-Staaten, bei den Vereinten Nationen. Ich versuche also, auch Zweifler noch zu überzeugen. Da bleibt immer Arbeit. Aber erst einmal danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Grundsteinlegung zur Erweiterung der Deutsche Accumotive GmbH & Co. KG am 22. Mai 2017 in Kamenz
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-grundsteinlegung-zur-erweiterung-der-deutsche-accumotive-gmbh-co-kg-am-22-mai-2017-in-kamenz-457790
Mon, 22 May 2017 14:52:00 +0200
Kamenz
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Stanislaw Tillich, sehr geehrter Herr Zetsche, sehr geehrter Herr Blome, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, Herr Landrat, liebe Kollegin Maria Michalk und alle Abgeordneten, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, in Kamenz kennt ihn sicher jeder: Gotthold Ephraim Lessing. Seine Werke verfasste der bekannte Sohn dieser Stadt im 18. Jahrhundert. Sie finden aber auch heute noch viel Anklang – nicht zuletzt als Quelle für Zitate. Aus diesem zeitlosen Fundus möchte auch ich zitieren: „Der aus Büchern erworbene Reichtum fremder Erfahrung heißt Gelehrsamkeit. Eigene Erfahrung ist Weisheit. Das kleinste Kapital von dieser ist mehr wert als Millionen von jener.“ Das Unternehmen Accumotive baut seit 2009 auf ein solches Kapital, indem es eigene Erfahrungen sammelt; und zwar bei der Entwicklung und Produktion von Batterien für E-Mobile. Das scheint tatsächlich eine Frage der Weisheit zu sein. Zumindest darf man sagen: Es ist eine Wissenschaft für sich. Denn da kommt es auf Größe an, auf Kapazität, Effizienz, Ladegeschwindigkeit und nicht ganz zuletzt auch auf den Preis. Vom Gesamtergebnis hängt sehr viel ab. Denn eine leistungsfähige Batterie ist von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung der E-Mobilität und für den Durchbruch dieser Technologie. Deshalb bin ich sehr dankbar dafür, dass ich heute hier in Kamenz mit dabei sein darf. Ich nehme auch weitere Einladungen gerne an und schaue, ob ich kommen kann. Aber heute bin ich da. Denn mich hat es schon interessiert, was das für eine Investition der Daimler AG am Standort Kamenz ist. Es zeigt sich: Es ist eine bedeutende Investition in die Zukunft elektrisch angetriebener Fahrzeuge. Für einen Ort wie Kamenz ist das eine wirklich große Investition. Auch für Sachsen ist es eine große Investition. Und auch weltweit kann sich diese Investition sehen lassen. Vor dieser wegweisenden strategischen Entscheidung habe ich deshalb gehörigen Respekt und bin sehr gern hierhergekommen. Ich habe aber auch deshalb Respekt, weil ich weiß, wie schwierig es sein kann, sich immer wieder ambitionierte Ziele zu setzen. Wir haben uns in Deutschland mit der Elektromobilitätsplattform vor einigen Jahren das Ziel gesetzt, 2020 eine Million Elektroautos auf unseren Straßen zu haben. Wir wissen, dass dieses Ziel sehr ambitioniert ist. Aber ich denke, dass zumindest der Anspruch da ist, Elektromobilität auf die Straße zu bringen; und zwar in breiter Palette. Daimler zeigt das hier. Kamenz steht dafür. Wir werden mit Nachdruck weiter am Hochlauf der Elektromobilität arbeiten. Denn wir wissen: Es gab auch in anderen Technologien sehr schleppende Anfangsphasen, bevor plötzlich ein sehr kräftiger Entwicklungsschub einsetzte. Dann ist natürlich genau derjenige im Vorteil, der gut vorbereitet und auf dem neuesten Entwicklungsstand ist. Denken wir einmal an Konrad Zuse. Der erste Computer wurde zwar in Deutschland gebaut. Die Erfolgsgeschichte des Computers nahm dann aber vor allem andernorts ihren Lauf. Das sollte uns eine technologiepolitische Lehre sein. So etwas wollen wir nicht wieder erleben. Deshalb wollen wir das, was für die Elektromobilität spricht, auch in Deutschland nutzen: weniger CO2-Ausstoß, weniger Feinstaub, weniger Verkehrslärm. Das hat sehr viel mit Lebensqualität zu tun. Diese können wir auch dadurch verbessern, dass wir erneuerbare Energien mehr und mehr auch für den Verkehr nutzen. Herr Zetsche hat darauf hingewiesen. Wir brauchen erneuerbare Energien. Das heißt also: E-Mobilität ist auch ein wesentlicher Teil unserer Energiewende. Aus vielen guten Gründen unterstützt daher die Bundesregierung den Markthochlauf der E-Mobilität mit verschiedenen Maßnahmen. Das reicht von Anreizen für den Kauf eines Elektroautos … (Motorengeräusch von außen) – Das könnte der Hubschreiber sein, in dem ich hergekommen bin. Es kann aber auch etwas anderes sein. Es standen noch mehr Flugzeuge auf dem Flugplatz. Ich glaube, es war eher ein Flugzeug als ein Hubschrauber. – Das reicht also von den Anreizen für den Kauf eines Elektroautos – jetzt kann ich die Kaufprämie doppelt erwähnen; das tut auch gut, da wir lange damit gekämpft haben – bis zum Ausbau der Ladeinfrastruktur, der von allergrößter Wichtigkeit ist, auch in psychologischer Hinsicht. Nun wollen wir zur Entwicklung einer neuen Generation von Batterien kommen. Wir haben seitens des Bundes hierfür Fördergelder bereitgestellt. Deutsche Unternehmen sind gut darin, Batterien im Auto zu verarbeiten. Wir haben enorme Stärken bei der Industrie 4.0 und der Vernetzung von Produktionsprozessen. Herr Blome hat uns das gezeigt. Wir haben sehr viel zu bieten im Maschinenbau und in der Robotik. All das kann hier zum Einsatz kommen. Insofern ist das ein wesentlicher Schritt und ein, so denke ich, oft unterschätzter Teil der Produktion. Viele sind auf die Zelle fokussiert. Wir haben hier auch über das Verhältnis von Zelle zu Batterie gesprochen. Beim Rundgang hier ist mir, ehrlich gesagt, noch einmal bewusst geworden, von welch entscheidender Bedeutung die Batterie ist und wie viel Arbeit doch zwischen der Verwendung der Zelle und der Formung des Korpus, der mit dem Roboter so schön eingesteuert wurde, liegt. Darin liegt viel Know-how. Für solche Projekte, inklusive der Frage, ob wir uns der Zellproduktion zuwenden wollen oder nicht, brauchen wir langfristige Perspektiven und Unternehmen, die sich dem Neuen stellen und immer wieder in die Zukunft investieren. Die Investitionen in Elektromobilität sind eine der wichtigen Zukunftsinvestitionen. Deshalb bin ich der Daimler AG sehr dankbar dafür, dass sie rund 500 Millionen Euro allein am Standort Kamenz investiert, aber eben auch sehr viel mehr insgesamt in die Elektromobilität. Dass Sie auch Sachsen, dass Sie auch die neuen Länder in Ihrem Fokus haben, ist von allergrößter Wichtigkeit. Ich denke, ich darf sagen – ich habe Herrn Zetsche eben gefragt –: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier sind ein wirklich guter Teil der Daimler AG. Darauf können Sie richtig stolz sein. Wir als Bundesregierung sind an solchen Investitionen sehr interessiert. Wir haben nicht umsonst die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Ich will immer wieder daran erinnern: Wir haben ein Verfassungsziel, demnach wir für gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland kämpfen müssen. Wenn man hier die jungen Leute, aber auch die älteren Facharbeiterinnen und Facharbeiter sieht, dann weiß man, dass diese Region genauso leistungskräftig wie alle anderen Regionen in Deutschland ist. Wir können auch sagen, dass in Kamenz nun neue attraktive Arbeitsplätze entstehen und sich das auch auf die gesamte Region ausweiten wird. Die Automobilbranche ist in Deutschland ein wichtiger Arbeitgeber. Rund 800.000 Beschäftigte machen uns zur weltweit viertgrößten Nation in der Automobilproduktion. Dass die deutschen Automarken weltweit bekannt und beliebt sind, davon kann man sich auf Auslandsreisen wirklich überzeugen. Das liegt vor allem in der Innovationskraft der Branche begründet, die 2015 über 21,7 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investierte. Man muss sich das vorstellen: Das ist rund ein Drittel der Innovationsausgaben der deutschen Wirtschaft insgesamt. Die Automobilindustrie hat also wirklich eine strategische Funktion; und diese strategische Funktion besteht eben auch in der Rolle als Innovationsmotor. Innovationen müssen schnell auf die Straße gebracht werden, damit wir dann auch wirklich weltweit an der Spitze mitfahren. Herr Zetsche hat es in seiner Darstellung von „CASE“ gezeigt: Hier geht es nicht nur um Innovationen in der Antriebstechnologie, sondern auch um vernetztes Fahren, um automatisiertes Fahren und darum, dass es mit Blick auf die Mobilität insgesamt Veränderungen in der Eigentümerschaft geben wird. Deshalb darf man sagen: Die Automobilindustrie insgesamt steht vor einer richtig großen Aufgabe. Daher ist es gut, dass sie von einer guten Ausgangsposition aus startet. Dazu trägt natürlich auch bei, dass wir ein solides Wachstum haben. Wir haben auch recht solide öffentliche Haushalte. Die Bundesregierung hat jedenfalls in den Haushalten dieser Legislaturperiode jeweils keine neuen Schulden ausgewiesen. Das ist für unsere Zukunftsfähigkeit von allergrößter Bedeutung. Wir können auch sagen: Seit 2005 hat sich die Zahl der Arbeitslosen nunmehr annähernd halbiert. Millionen von Menschen haben einen neuen Arbeitsplatz bekommen. Dabei spielt die Automobilindustrie und alles, was damit zusammenhängt, eine große Rolle. Wir müssen Innovationen zielgerichtet vorantreiben. Deshalb haben wir auch seitens des Bundes in den letzten zwölf Jahren die Forschungsgelder, die wir zur Verfügung stellen, mehr als verdoppelt. Wir müssen auch immer wieder darauf hinwirken, dass Marktreife erlangt wird. Es ist wichtig, dass auch Elektromobilität den Weg zur Marktreife möglichst schnell geht – sowohl mit Blick auf staatliche Unterstützung als auch auf das Eigeninteresse der Unternehmen. Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ich möchte Sie persönlich ansprechen und noch einmal sagen: Sie legen mit Ihrem Wissen und Können in der Batterieproduktion und allem, was damit zusammenhängt, den Grundstein für künftige Erfolge. Der Grundstein für künftige Erfolge wird jetzt wohl auch noch ganz handfest gelegt, damit die neue Fabrik entstehen kann. Ich wünsche mir, dass dieser Bau reibungslos vorankommt und dass er sachgerecht, termingerecht und kostengerecht seiner Bestimmung übergeben werden kann. Mit einer Einladung in der Tasche kann ich dann ja schon wieder von dannen fahren. Mit der Zusage warte ich einmal, bis sich ein bisschen was zeigt. Herzlichen Dank, alles Gute und viel Erfolg.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung des G20-Gesundheitsministertreffens am 19. Mai 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-eroeffnung-des-g20-gesundheitsministertreffens-am-19-mai-2017-in-berlin-800184
Fri, 19 May 2017 13:53:00 +0200
Berlin
Gesundheit
Meine Damen und Herren, sehr geehrter, lieber Hermann Gröhe, sehr geehrte Kolleginnen und Kolleginnen von Hermann Gröhe aus den G20-Staaten und aus den Partnerstaaten, sehr geehrte Frau Generaldirektorin, liebe Margaret Chan, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der internationalen Organisationen, auch ich möchte Sie hier sehr herzlich begrüßen. Dies ist, ehrlich gesagt, das einzige Ministertreffen, an dem ich als Bundeskanzlerin teilnehme – vielleicht auch deshalb, weil es das erste der Gesundheitsminister ist. Deshalb möchte ich Sie hier auch von meiner Seite aus sehr herzlich willkommen heißen. Als Gastgeber des diesjährigen G20-Treffens in der Bundesrepublik Deutschland haben wir Hamburg als Ort für das Treffen der Staats- und Regierungschefs ausgesucht. Passend zur Hafenstadt Hamburg ist das Symbol, das Sie hier überall sehen, ein Symbol aus der Schifffahrt. Das ist ein sogenannter Kreuzknoten, der die Eigenschaft hat, dass er, je mehr man an ihm zieht, desto stärker wird und seine verbindende Wirkung entfaltet. Unser Motto heißt: „Eine vernetzte Welt gestalten.“ Ich möchte zunächst China danken. China war Gastgeberland des vergangenen G20-Treffens. Wir haben schon damals den Grundstein für das heutige Treffen gelegt, indem wir zum ersten Mal das Thema internationale Gesundheit im Kommuniqué der Staats- und Regierungschefs verankert haben. Ich beginne gleich mit einer Bitte an Argentinien; denn Argentinien wird die nächste G20-Konferenz abhalten. Wir wünschen uns, dass das Thema Gesundheit nicht wieder in Vergessenheit gerät, sondern so aktuell bleibt, wie es ist. Ich finde, dieses Thema hat in einer vernetzten Welt einen Platz auf der Agenda der G20 verdient. Warum? Es ist eine Frage der Menschlichkeit, dass sich jeder und jede auf ein funktionierendes Gesundheitssystem verlassen kann. Dazu brauchen wir dringend eine bessere Kooperation – natürlich ganz besonders bei Krankheiten, die übertragbar sind. Diese Krankheiten machen nicht vor Ländergrenzen halt. Die weltweit zunehmende Mobilität erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich solche Krankheiten verbreiten. Besonders aggressive Erreger können eine globale Bedrohung auch der Wirtschaftskreisläufe darstellen. Der Präsident der Weltbank, Kim, weist immer wieder darauf hin: Wenn sich die Spanische Grippe, die es zu Anfang des 20. Jahrhunderts gab – sie war extrem aggressiv und breitete sich mit hoher Geschwindigkeit aus –, heute noch einmal ausbreiten würde, dann wären wir heute wahrscheinlich noch nicht ausreichend darauf vorbereitet. Angesichts vielfältiger Interdependenzen hat sich die Themenpalette der G20 in den vergangenen Jahren verbreitert. Das ist auch eine logische Folge der Globalisierung. Ohnehin reicht das Bruttoinlandsprodukt allein nicht aus, um inklusives Wachstum zu beschreiben, um das es uns eigentlich gehen muss. Ich denke, dass es eine Frage sowohl der ökonomischen Vernunft als auch der sozialen Vernunft ist, dass wir Herausforderungen, die global sind, auch gemeinsam angehen. Ausgangspunkt waren die verheerenden Folgen der Ebola-Krise vor wenigen Jahren. Viele haben geholfen. Aber die Hilfe kam spät; sie war langsam, sie war unkoordiniert. Es wäre eigentlich zynisch, aus einem solchen Ereignis keinerlei Lehren zu ziehen. Dann würde man sagen, dass es sich um ein schweres Versagen der Politik handeln würde. Spätestens beim nächsten Ausbruch einer solchen Krankheit würde die Frage lauten: Haben wir genug getan, um dies zu verhindern? – In diesen Tagen haben wir schon wieder von neuen Ebola-Fällen im Kongo gehört. Deshalb habe ich vor über zwei Jahren im Rahmen der Berliner Wiederauffüllungskonferenz der Impfallianz GAVI die Defizite benannt, die uns die Ebola-Epidemie aufgezeigt hat. Seitdem haben wir gemeinsam vieles auf den Weg gebracht. Es wurden Reformvorschläge unterbreitet – unter anderem von der Hochrangigen Kommission der Vereinten Nationen. Die Maßnahmen, die dieses Panel ausgearbeitet hat, sind Grundlage für einen Bericht an den Generalsekretär der Vereinten Nationen geworden und dann wiederum Grundlage für viele Reformprozesse, die derzeit im Gange sind. Das betrifft erstens unsere Reaktionsfähigkeit bei Gesundheitskrisen. Wir haben dazu Veränderungen auf der Ebene der Vereinten Nationen initiiert. Die Weltgesundheitsorganisation hat sich darangemacht – ich möchte der Generaldirektorin ein ganz herzliches Dankeschön sagen –, klar gegliederte Notfallstrukturen aufzubauen. Das ist sehr wichtig und zu begrüßen. Das muss jetzt umgesetzt werden, um Handlungsfähigkeit sicherzustellen. Ich selbst habe die Weltgesundheitsorganisation besucht. Ich weiß, eine Generaldirektorin kann nur so gut sein, wie die Mitgliedstaaten, die sie sozusagen in ihrem Ensemble hat, auch mitarbeiten. Ehrlich gesagt, ist das gar nicht so einfach, denn die einzelnen Regionalorganisationen haben eine sehr hohe Eigenständigkeit. Deshalb möchte ich Margaret Chan ganz herzlich dafür danken, dass sie durch Überzeugungsarbeit dazu beigetragen hat, dass die Verantwortlichkeit zwischen der WHO-Spitze und den Regionalorganisationen stark gewachsen ist und dass heute ein sehr viel besseres Miteinander besteht. Man muss sich ja auch vorstellen: Wenn in einer Region, zum Beispiel in Liberia und anderen Ländern Afrikas, eine Pandemie auszubrechen droht, dann weiß ja jedes Land, und es sind oft sehr arme Länder, was das für die Reputation der ganzen Region bedeutet. Also gibt es natürlich auf der einen Seite den Impuls, möglichst nicht darüber zu sprechen, weil das ökonomisch schwerwiegendste Folgen haben kann. Auf der anderen Seite weiß man aber, dass die Dinge nicht besser werden, wenn man nicht darüber redet. Ich glaube, das, was jetzt in der WHO geschaffen wurde, nämlich dass es einen koordinierten Ablauf im Krisenfall gibt, wird eine zentrale Rolle spielen. Aber das setzt auch voraus, dass an zentraler Stelle Hilfe zur Verfügung gestellt wird – das heißt: Einsatzkräfte, Material oder Finanzmittel. Im Austausch erwarten wir als Mitgliedstaaten natürlich auch Transparenz und Rechenschaft über das, was mit den Leistungen passiert ist. Das ist sehr wichtig. Wir brauchen also erstens eine rasche Reaktionsfähigkeit. Wir brauchen zweitens einen koordinierten Ablauf, bei dem die Weltgesundheitsorganisation eine zentrale Rolle spielt. Wir brauchen drittens neue Mechanismen für schnelle finanzielle Hilfen. Da haben wir etwas erreicht: Das ist zum einen der „Contingency Fund for Emergencies“ bei der Weltgesundheitsorganisation, der CFE; und das ist zum anderen die „Pandemic Emergency Financing Facility“, die PEF. Dahinter steht nun wiederum die Weltbank. Der CFE hat seine Funktionsfähigkeit bereits bewiesen. Zur Bekämpfung lokaler Krankheitsausbrüche konnten schon Mittel eingesetzt werden. Allerdings lässt die finanzielle Ausstattung des Fonds noch etwas zu wünschen übrig. – Gesundheitsminister Hermann Gröhe nickt. Wer sich also im Rahmen auch dieser Tagung davon überzeugen kann, dass noch eine etwas bessere Ausstattung nötig ist, der ist herzlich eingeladen, dazu beizutragen. Gleiches gilt für die PEF, die in diesem Sommer starten soll. Da gehen wir einen sehr interessanten Weg: Können sich Staaten gegen Epidemie-Risiken versichern? Das heißt, sie müssen dann nicht mehr um Hilfe ersuchen, sondern sie könnten im Fall der Krise auf ihren Versicherungsschutz zurückgreifen und wären nicht in die Rolle eines Bittstellers gedrängt. Nun weiß ich – auch die Weltbank kann davon berichten –, dass sich viele theoretische Fragen auftun: Kann man überhaupt richtig bestimmen, wie hoch das Risiko eines Auftretens einer Pandemie in einem von über 190 Ländern ist; und wie hoch muss der Versicherungsschutz sein? Ich glaube aber, dass es sich lohnt, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen, um dann auch wirklich Sicherheiten für betroffene Länder herzustellen. Aber das Allerbeste ist natürlich, es kommt gar nicht erst zu einem Versicherungsfall. Deshalb brauchen wir – viertens – starke Gesundheitssysteme. Margaret Chan und Hermann Gröhe haben darüber gesprochen. Wir stehen als G20-Staaten in der Verantwortung, sowohl bei uns selbst anzusetzen als auch Unterstützung für diejenigen Länder zu leisten, die aus eigener Kraft ihre Gesundheitssysteme noch nicht verbessern können. Denn es ist ja unser aller Interesse, dass bestimmte Krankheiten gar nicht erst ausbrechen oder wenigstens frühzeitig erkannt werden können. Deshalb ist die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung so wichtig, die mit einem der 17 Ziele das Recht auf universelle Gesundheitsversorgung benennt. Dies ist wiederum eng mit ökonomischen Fragen verknüpft. Durch das Engagement für starke Gesundheitssysteme entstehen neue Arbeitsplätze und Beschäftigung. Menschen bleiben länger gesund. Sie können im Arbeitsprozess verlässlicher eingesetzt werden. Investitionen in Gesundheitssysteme erweisen sich als Investitionen in Wirtschaftssysteme und verbessern die Perspektiven aller Länder, ganz besonders auch der Schwellen- und Entwicklungsländer. Um mit Blick auf das Ziel der Agenda 2030 voranzukommen, müssen wir uns möglichst gut abstimmen. Wir sollten uns also in den Grundzügen darüber einig sein, was genau jeweils vor Ort nötig ist, welche Strukturen schon vorhanden sind, die man weiter ausbauen sollte, wie Behandlung und Medikamente für die Bevölkerung bezahlbar bleiben und wie man die Ausbildung des medizinischen Personals besser organisieren kann. Ich glaube, dass das Rahmenwerk „Healthy systems für universal health coverage“ dafür eine gute Antwort bietet und eine gute Grundlage ist, um ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln, wie wir weiter vorangehen können. Ich möchte allen danken, die mit uns darauf hingearbeitet haben, dass dieses Rahmenwerk Gestalt annimmt. Ich möchte in diesem Zusammenhang – natürlich neben den deutschen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – besonders der WHO, der Weltbank und auch Japan ganz herzlich danken. Ich lade alle ein, sich an der internationalen Partnerschaft für universale Gesundheitsversorgung zu beteiligen. Auf gute Zusammenarbeit von Industrie- und Entwicklungsländern kommt es auch an, wenn es um die Erforschung und Entwicklung neuer Mittel und Methoden zur Vorbeugung, Diagnose und Behandlung von Krankheiten geht. Für medizinischen Fortschritt stehen die Industriestaaten in einer besonderen Verantwortung. Sie haben die Forschungskapazitäten, die ärmeren Ländern fehlen. Dies ist mein fünfter und letzter Punkt. Seit Anfang des Jahres gibt es die Initiative CEPI. Die Abkürzung steht für „Coalition for Epidemic Preparedness Innovations“. Dabei handelt es sich um eine Koalition aus öffentlichen und privaten Partnern. Daran beteiligt sind einzelne Staaten und die Europäische Union sowie Stiftungen und Unternehmen. Natürlich braucht es Zeit, bis neue Arzneien oder Impfstoffe Verbreitung finden. Der Initiative fehlen auch noch Mittel. Aber ich glaube, wir sind vom Prinzip her auf einem guten Weg. Ich danke allen Beteiligten wirklich von Herzen für den unermüdlichen Einsatz – an dieser Stelle vor allem den Kollegen aus Norwegen und Indien. Alle, die noch über eine Beteiligung nachdenken, ermuntere ich: Machen Sie mit. Jeder Beitrag hilft. Sie sehen, dass wir dem Spruch folgen: „There is no free lunch in this world.“ Dauernd werden Sie aufgefordert, bei irgendetwas mitzumachen. Aber es ist für einen guten Zweck. Auf die Erforschung und Entwicklung neuer Wirkstoffe kommt es unter anderem im Kampf gegen antimikrobielle Resistenzen an – der zweite Punkt, der von meinen Vorrednern auch schon erwähnt wurde. Die Entwicklung neuer Antibiotika – Margaret Chan hat das eben sehr eindrücklich dargestellt – ist einerseits ein mühseliges und kostenintensives Unterfangen, aber sie ist auch dringend notwendig. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir uns hierbei eng abstimmen. Wir müssen mehr unternehmen, damit die Mittel, die wir haben, auch in Zukunft wirksam bleiben. Dafür brauchen wir einen verantwortlichen Umgang mit Antibiotika, damit sich Resistenzen nicht noch schneller und stärker als ohnehin schon ausbreiten. Ich setze darauf, dass die Gesundheitsminister uns Staats- und Regierungschefs in ihrem Kommuniqué einen klaren Auftrag geben. Das Interessante ist, dass das einerseits für die Humanmedizin gilt, aber auch in der Landwirtschaft. Die Vernetzung von Mensch und Tier und Natur ist ganz offensichtlich. Deshalb haben sich bereits zu Beginn des Jahres die Agrarminister der G20-Staaten auf einen Aktionsplan verständigt. Wir finden, dass das ein sehr schöner Erfolg ist. Daran wollen wir weiter anknüpfen. Denn ich glaube, wenn wir bei diesen Themen Fortschritte erzielen, dann fördern wir auch in der Zivilgesellschaft die Akzeptanz des G20-Prozesses, weil die Menschen begreifen, dass es um ihr Leben, um ihre Gesundheit geht. Ohnehin ist Gesundheit ein ressortübergreifendes Thema. Das spiegelt sich auch in unseren zivilgesellschaftlichen Dialogforen wider. Ich habe bereits aus dem Dialogforum Wissenschaft, in dem die nationalen Akademien unserer Länder zusammenarbeiten, viele hilfreiche Empfehlungen zu Gesundheitsfragen bekommen. Erst gestern hat auch eine Gesundheitsveranstaltung der G20-Wirtschaft stattgefunden. Meine Damen und Herren, werden wir unserer Verantwortung für globale Gesundheit gerecht? Haben wir also genug getan? Um der Antwort näherzukommen, haben Sie als Gesundheitsminister Ihre eigene Form gefunden. Fast bin ich ein bisschen traurig, dass ich nicht dabei sein kann; denn Sie werden eine Simulation durchführen. Ich bin gespannt auf die Resultate. Ich hoffe, dass wir sie so visualisieren können, dass wir sie dann den Staats- und Regierungschefs präsentieren können, um zu sehen, wo wir stehen und was noch getan werden muss. Die Ergebnisse dieser Simulation werden uns genauso interessieren wie die Ergebnisse Ihrer Diskussion. Deshalb wünsche ich Ihnen, dass Sie einen intensiven Gedankenaustausch haben, dass Sie gute Resultate erzielen und gute Erfahrungen bei den praktischen Übungen machen. Ich habe gelesen: Wer Lust hat, kann heute Abend noch den Reichstag besichtigen und auf Berlin schauen. Auch das kann ich Ihnen nur empfehlen. Wir sitzen meistens unten und sehen hoch in die Kuppel. Sie können dann wahrscheinlich heute von der Kuppel aus sehen, wo wir unsere Reden halten. Auf jeden Fall: Herzlich willkommen in Berlin, in Deutschland. Alles Gute und einen schönen Aufenthalt.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen der gemeinsamen Jahrestagung der Verbände Die Familienunternehmer und Die Jungen Unternehmer am 19. Mai 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-der-gemeinsamen-jahrestagung-der-verbaende-die-familienunternehmer-und-die-jungen-unternehmer-am-19-mai-2017-in-berlin-458568
Fri, 19 May 2017 11:30:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Goebel, sehr geehrter Herr Porschen, sehr geehrter Herr von der Hagen, meine Damen und Herren, ich bin Ihrer Einladung gerne gefolgt, auch wenn ich weiß, dass wir durchaus ein konstruktiv-kritisches Verhältnis zueinander haben. Aber das belebt das Geschäft. „Mehr Wirtschaft wagen“ – das ist Ihr Motto, und dieses Motto richtet sich vielleicht gleichermaßen an die Politik, ist aber auch Ermutigung für Sie alle. Ich weiß, dass das Wagnis zur Eigeninitiative, der Mut, unternehmerische Risiken einzugehen, natürlich die Grundvoraussetzung ist. Ich habe es gestern auf der #cnight der CDU auch noch einmal im Zusammenhang mit der Digitalisierung gesagt. Dies alles kann man nicht gesetzlich verordnen: dass Menschen Ideen haben, dass Menschen den Mut zum Risiko aufbringen, dass sie ein Unternehmen gründen, dass sie dieses Unternehmen – und das ist ja das Wesen der Familienunternehmen – über Generationen fortführen. Deshalb sind wir darauf angewiesen, dass Unternehmerinnen und Unternehmer, jüngere und ältere, Lust auf Unternehmertum haben und immer wieder Wirtschaft wagen. Natürlich ist die Politik gefordert, die Unternehmerinnen und Unternehmer zu bestärken, diesen Mut immer wieder aufs Neue zu beweisen, sie auch zu ermuntern, nicht nur mehr Wirtschaft zu Hause, sondern auch mehr Weltwirtschaft zu wagen. Sie sind ja zu großen Teilen nicht nur hier in Deutschland aktiv, sondern auch in der Europäischen Union und stehen im internationalen Wettbewerb. Da heißt es natürlich immer wieder, sich mit dem Standard zu Hause auseinanderzusetzen, aber auch mit den internationalen. Ich bin sehr dankbar, dass sich viele Familienunternehmen auf das globale Parkett gewagt haben und viele so etwas wie Hidden Champions in der Welt geworden sind. „Made in Germany“ ist gerade auch mit dem, was Familienunternehmerinnen und -unternehmer auf den Weg bringen, ganz eng verbunden. Die weltwirtschaftliche Integration hat rasant zugenommen. Immer wieder haben sich neue Märkte erschlossen. Wir haben im Augenblick eine Debatte darüber, wie wir diese globale Wirtschaftsordnung gestalten wollen. Ich will noch einmal deutlich machen, dass wir als Bundesregierung, aber auch ich als Bundeskanzlerin, zutiefst davon überzeugt sind, dass der freie Welthandel, der offene Handel, der offene Wettbewerb die richtige Antwort sind. Immerhin haben wir es geschafft, die Armut in den vergangenen Jahren zwischen 2000 und 2015 im Zusammenhang mit den Millenniumszielen weltweit zu halbieren. Das ist im Wesentlichen dem wirtschaftlichen Aufschwung in Asien zu verdanken. Gerade dort haben Öffnungen der Volkswirtschaften in Richtung eines weltweiten Handels ihren Beitrag dazu geleistet. Trotz dieses wirtschaftlichen Aufschwungs vieler asiatischer Länder ist es nicht so gekommen, dass unsere Unternehmerinnen und Unternehmer darunter leiden. Sondern wir können sagen, dass unsere Unternehmen profitiert haben. Wir haben 2016 Waren und Dienstleistungen im Wert von fast der Hälfte des Bruttoinlandsprodukts exportiert. Viele deutsche Exportschlager, zum Beispiel im Investitionsgüterbereich und im Anlagenbau, beruhen auf Vorleistungen aus anderen Ländern. Wir teilen unseren Erfolg also auch immer wieder mit anderen. Ich habe zum Beispiel bei meinem Besuch in den Vereinigten Staaten von Amerika beim neuen Präsidenten Donald Trump am Beispiel von BMW darauf hingewiesen, dass BMW sein größtes Werk in South Carolina und nicht in Bayern hat und dass die Exportzahlen bei Autos von BMW dort höher sind als die Zahl der Exporte von GM und Ford zusammen. Das heißt, dieses deutsche Automobilwerk in den Vereinigten Staaten von Amerika ist mit der Weltwirtschaft sehr, sehr intensiv verwoben. Deshalb setzen wir uns gegen protektionistische Tendenzen zur Wehr und versuchen, einen regelbasierten und auch wirklich offenen Handel zu forcieren. Deshalb werden wir als Europäische Union auch weiter verhandeln. Nach dem Abschluss des Freihandelsabkommens mit Kanada steht jetzt der Abschluss eines solchen Abkommens mit Japan auf der Tagesordnung. Das ist eine gute Botschaft. Wir haben natürlich auch intern immer wieder zu werben. Die Durchsetzung von CETA, des Freihandelsabkommens mit den Kanadiern, war kein einfacher Weg. Deshalb bitte ich Sie einfach auch um Unterstützung, damit wir den regelbasierten internationalen Handel, sei es über die Welthandelsorganisation oder bilaterale Abkommen, voranbringen. Meine Damen und Herren, es geht also nicht darum, sich kurzfristig Vorteile zu erkaufen, indem man sich abschottet, sondern es geht darum, langfristig Nachteile zu verhindern. Sie als Familienunternehmer sind nun wirklich prototypisch dafür, dass Sie in langen Zeiträumen denken, dass nicht die kurzfristige Gewinnoptimierung im Vordergrund steht, sondern die nachhaltige, langfristige Existenz. Das ist etwas, was wir von politischer Seite nicht nur zu schätzen wissen, sondern – da haben Sie völlig recht, Herr Goebel – auch durch berechenbare Konditionen sicherstellen müssen. Um noch auf der internationalen Bühne zu bleiben: Wir haben dieses Jahr die Präsidentschaft in der G20 inne. Die G20 wird in Hamburg am 7. und 8. Juli tagen. Themen wie Klimawandel und Handel stehen dort auf der Tagesordnung. Die G20 hat sich auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs in den Zeiten der internationalen Finanzkrise konstituiert. Wir wissen, das haben wir damals gelernt, wie wichtig es ist, dass wir koordiniert vorgehen. Nur so konnten wir diese Krise einigermaßen überwinden. Aber die G20 muss eben auch das Gremium sein, das auf nachhaltige Wachstumspfade setzt und dafür auch regelbasierte Mechanismen international durchsetzt. Dazu gehört natürlich auch die Regulierung der Finanzmärkte. Wir haben damals nach der großen Finanzkrise gesagt: Kein Finanzmarktprodukt, kein Ort und kein Akteur darf ohne Regeln bleiben. Wir sind vorangekommen, aber wir sind noch nicht am Ende der Arbeit. Deshalb werden auch das Thema Schattenbanken und ihre Regulierung sowie die Umsetzung der entsprechenden Maßnahmen weiter auf der Tagesordnung der G20 stehen. Wir können vieles nur erreichen, wenn wir unsere Kräfte bündeln. Dafür steht auch die Europäische Union. Sie ist sozusagen konstitutiv für den Wohlstand in Deutschland. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Nur, wenn es Europa gut geht, wird es auf Dauer auch Deutschland gut gehen. Deshalb müssen wir alles tun, um die Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen, auch eine stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitiken für diejenigen, die eine Währung haben, aber nicht auf dem Mittelmaß aller Länder, sondern orientiert an der internationalen Wettbewerbsnotwendigkeit. Das beschäftigt uns natürlich sehr. Wir sind in der Europäischen Union in einem schwierigen und jetzt auch sehr entscheidenden Stadium dahingehend, dass Großbritannien erklärt hat, dass es die Europäische Union verlassen will. Wir werden die Verhandlungen zum Ausscheiden Großbritanniens in den Tagen nach der britischen Parlamentswahl beginnen. Meine Bitte an uns alle hier im Saal ist, dass wir koordiniert auftreten als Europäische Union der 27. Denn die Frage des freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehrs ist absolut wesentlich für die Existenz des Binnenmarktes und für die Existenz der Wirtschafts- und Währungsunion. Deshalb werden wir mit Großbritannien natürlich fair verhandeln, auch in dem Geist verhandeln, dass wir ganz enge Wirtschaftsbeziehungen haben und weiter haben wollen. Aber das Ausscheiden aus der Europäischen Union hat auch einen Preis. Wenn man nicht bereit ist, die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes zu akzeptieren – und so, wie es jetzt aussieht, ist Großbritannien nicht bereit, den freien Personenverkehr zu akzeptieren –, muss man schauen, wie man das dann ausbalanciert. Wir werden unsere zukünftigen Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich sehr sorgsam verhandeln müssen. Denn man muss sich vorstellen: Wenn wir am Tag eins nach dem Ausscheiden Großbritanniens noch ein nahezu gleiches Regelwerk haben, dann kann sich Großbritannien vom Tag des Austritts an entscheiden, im Umweltrecht, im Verbraucherschutz, in vielen anderen Standards neue, eigene Wege zu gehen. Damit verzerrt sich das Wettbewerbsfeld natürlich. Wir müssen Mechanismen entwickeln, wie wir darauf reagieren. Im Grunde verhandeln wir sozusagen ein Freihandelsabkommen rückwärts, wobei man bei Freihandelsabkommen zum Beispiel mit Dienstleistungen noch gar keine Erfahrung hat. Gerade die Dienstleistungsbranche ist ja in Großbritannien sehr stark. Uns stehen also noch sehr spannende, wichtige Verhandlungen ins Haus. Ich bin dankbar, dass bisher – und Herr Goebel hat eben, glaube ich, auch genickt – diese gemeinsame Auffassung, wie wir diese Verhandlungen führen sollten, zwischen der deutschen Wirtschaft und der Politik gehalten hat. Ich bin auch sehr froh, dass wir innerhalb der 27 Mitgliedstaaten sehr einheitliche Marschrouten vereinbart haben. Ich bin genauso froh darüber, dass es uns gelungen ist, mit der Erklärung zu „60 Jahre Römische Verträge“ und vorher mit dem Treffen in Bratislava deutlich zu machen: Wir können jetzt nicht nur zwei Jahre Verhandlungen mit Großbritannien über den Austritt führen, sondern müssen an unserer eigenen Wettbewerbsfähigkeit arbeiten, zum Beispiel an der Schaffung eines digitalen Binnenmarktes. Das drängt, das eilt. Herr Goebel hat auch schon auf die Frage der Infrastruktur hingewiesen. Meine Damen und Herren, Sie als Familienunternehmer haben immer wieder darauf hingewiesen: Ihre Existenz haben Sie auch der Sozialen Marktwirtschaft zu verdanken. Ludwig Erhard hat mit seinem Kartellrecht wesentliche Pflöcke eingeschlagen, dass es bei uns nicht zur Monopolbildung gekommen ist, sondern wir die Chance hatten, über Jahrzehnte eine sehr diversifizierte Wirtschaft von großen, mittleren und kleineren Unternehmen zu entwickeln. Deshalb interessieren Sie die Regelwerke, die wir Ihnen national und europäisch präsentieren und in deren Rahmen Sie sich entwickeln können und müssen. Nun kenne ich die Kritiken, die Sie angebracht haben. Zur Rente mit 63 möchte ich nur der Ordnung halber sagen, dass sie aufwächst auf eine Rente mit 65 und nur für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gilt, die 45 Versicherungsjahre aufzubieten haben. Aber ich glaube, wir werden Sie nicht davon überzeugen, dass das ein richtiger Schritt war. Es war ein Kompromiss im Rahmen der Koalitionsverhandlungen. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir auf dem Gebiet der Rente auch noch etwas anderes getan haben, was schon wichtig ist. Das ist die Flexi-Rente, die zusätzlichen Spielraum schafft und die es leichter möglich macht, länger zu arbeiten. Wir sollten sowieso immer wieder auch flexible Instrumente durchsetzen. Wir haben sehr hart mit der SPD verhandeln müssen. Insofern möchte ich es wenigstens erwähnen, weil das aus meiner Sicht auch Ihnen gefallen müsste. Ich will noch ein Wort zur Energiewende sagen, die natürlich Probleme aufwirft, um die ich gar nicht herumreden möchte. Aber wir haben in dieser Legislaturperiode das Erneuerbare-Energien-Gesetz zweimal verändert, und die zweite Veränderung ist von wirklich großer Wichtigkeit. Sie ist ein Paradigmenwechsel, den Sie heute noch nicht so erleben können, der aber ab 2018 eintritt, weil wir von da an Ausschreibungen haben werden, Ausschreibungen in festgelegten Mengen für die erneuerbaren Energien. Wir sehen schon an den ersten Erfahrungen mit Ausschreibungen für die Windenergie, dass wir erhebliche Preissenkungen haben. Wir haben das schon bei dem Pilotverfahren für die Solarenergie gesehen. Wir sind jetzt auf dem Weg weg von dem Anspruchsdenken, dass es einfach ein Einspeiserecht gibt, also das Recht darauf, alles einzuspeisen. Wir haben Gebiete, in denen der Leitungsausbau nicht so vorangekommen ist, wie es hätte sein sollen, jetzt mit weniger Mengen ausgestattet, weil wir es uns eben nicht leisten können, immer wieder zu negativen Strompreisen zu kommen. Das heißt, dass vieles noch sehr entfernt von einem marktwirtschaftlichen Funktionsmechanismus ist. Aber wir haben in den letzten vier Jahren deutliche Schritte in diese Richtung unternommen, in diesem Falle muss ich sagen, sogar angefeuert von der Europäischen Union. Ich weiß nicht, ob wir national, zwischen Bund und Ländern, die Kraft gehabt hätten, diese Ausschreibungen durchzusetzen. Insofern hat uns die Europäische Union wirklich geholfen, in Richtung Wettbewerbsfähigkeit zu gehen. Wir haben beim Arbeitsrecht einige Deflexibilisierungen, wie Sie es genannt haben, im Zusammenhang mit der Leiharbeit und im Zusammenhang mit den Werkverträgen vorgenommen. Ich muss Ihnen allerdings auch sagen: Diese gesetzlichen Anstrengungen werden teilweise dadurch befördert, dass wenige in der Wirtschaft die Dinge zum Teil sehr, sehr ausnutzen und damit Negativbeispiele liefern, die dann sehr bekannt werden, während sich die Mehrzahl der Unternehmerinnen und Unternehmer wirklich regelkonform und auch nicht maßlos verhält. Das will ich ausdrücklich sagen. Aber wenige schwarze Schafe in einer Branche können große Wirkungen entfalten. In der Fleischproduktion war das, wie man feststellen konnte, wenn man sich die Werkverträge angeschaut hat, nicht in Ordnung. Da kann die Politik nicht einfach zugucken. Da bitte ich auch um Ihr Verständnis. Wo wir in dieser Legislaturperiode aus meiner Sicht wirklich riesige Schritte nach vorn gemacht haben, ist die ganze Frage der Digitalisierung der Wirtschaft. Wir müssen weitermachen, da haben Sie recht. Das Gigabit-Zeitalter erfordert einen flächendeckenden Ausbau mit Breitbandanschlüssen. Wir werden 2018 die Situation haben, dass alle Haushalte an das Breitband mit mindestens 50 Megabit pro Sekunde angeschlossen sind. Aber als Unternehmen können Sie in der Industrie 4.0 mit 50 Megabit pro Sekunde natürlich nichts anfangen. Sie brauchen viel mehr. Deshalb widmen wir uns jetzt auch den Gewerbegebieten. Wir fördern die Digitalisierung in den ländlichen Regionen. Wir haben vor allen Dingen mit unseren Plattformen auch versucht, gerade für den Mittelstand und für die Industrie 4.0 Standards voranzubringen und Hilfestellung zu leisten. In dem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass wir seit 2005 unsere Ausgaben für Forschung und Entwicklung mehr als verdoppelt haben, was dem Forschungsstandort Deutschland sehr geholfen hat. Wir wissen: Forschung und Innovation hängen ganz eng mit der Möglichkeit zusammen, immer wieder wirtschaftliche Erfolge und neueste Produkte zu erzeugen. Wir werden – das ist für Sie, die Sie sehr stark mittelständisch geprägt sind, eine wichtige Nachricht – auch die steuerliche Förderung für mittelständische Unternehmer für Forschungsaufgaben durchsetzen. Wir haben darüber jahrelang diskutiert, aber inzwischen ist die Einsicht gewachsen, dass die großen Unternehmen das nicht so stark brauchen, aber dass die kleinen und mittelständischen Unternehmen einen unbürokratischen Zugang brauchen. Das wird mit Sicherheit realisiert werden. Es wird in unserem Wahlprogramm stehen. Es gibt jetzt schon Gespräche. Ich weiß nicht, ob es jetzt schon etwas wird oder ob wir es dann später machen. Aber es sind inzwischen fast alle Parteien davon überzeugt, dass das richtig ist. Da wir gerade bei den Steuern sind. Mit uns können Sie sicher sein, wenn ich jetzt einmal als CDU-Vorsitzende spreche, aber das kann ich auch als Bundeskanzlerin sagen, dass es selbstverständlich keine Vermögenssteuer geben wird. Wir haben uns auch sehr im Zusammenhang mit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil und dem Erbschaftssteuerrecht engagiert. Das waren lange mühselige Verhandlungen. Sie haben sich auch individuell oft sehr, sehr intensiv eingebracht, weil die Fallkonstellationen verwickelt sein können. Wir haben zum Schluss etwas hingebracht, bei dem wenigstens kein Aufschrei zu hören ist. Das ist manchmal ja schon eine Menge. Dass man dafür Lob erhält, erwarte ich von Ihnen nicht, aber wir haben jedenfalls lange und viel daran gearbeitet. Wir haben uns einem weiteren Thema gewidmet, das für Sie von großer Bedeutung ist, weil in den nächsten Jahren das Thema Fachkräftemangel uns alle sehr beschäftigen wird. In diesem Zusammenhang ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wichtig, der Ausbau der Kindertagesbetreuung, insbesondere für die Null- bis Dreijährigen. Wir werden in den nächsten Jahren sicherlich verstärkt noch einmal Wert auf Kinderbetreuung in der Grundschule legen müssen, wenn keine Ganztagsschulen angeboten werden. Es hat sich gezeigt, dass gerade die Zunahme der Beschäftigung in den letzten Jahren im Grunde zu einem Drittel daraus entstanden ist, dass Menschen länger arbeiten. Das heißt, die Lebensarbeitszeit wird besser ausgeschöpft. Das ist eine ganz wichtige Sache mit Blick auf die demografische Entwicklung. Der zweite Punkt ist, dass wir mehr Frauen in der Erwerbstätigkeit haben. Das macht das zweite Drittel aus. Das dritte Drittel des Beschäftigungszuwachses kommt im Grunde über die Mobilität aus dem europäischen Arbeitsmarkt. Auch da ist in den letzten Jahren sehr viel passiert. Wir werden im Jahre 2030 weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter haben als heute. Das bedeutet, dass wir unsere eigenen Erwerbsfähigkeitspotenziale wirklich heben müssen. Dazu sind wir zumindest einige Schritte vorangegangen. Wir haben sehr stark daran gearbeitet, die Länder zum Teil zu entlasten, auch was die Ausbildung anbelangt. Wir haben den Länderanteil des BAföG übernommen, was dazu geführt hat, dass die Universitäten durch die Länder besser ausgestattet werden können und damit der Abstand zwischen den nichtuniversitären und universitären Forschungseinrichtungen geringer geworden ist. Wir haben vonseiten unseres Bildungs- und Forschungsministeriums auch vielerlei Anstrengungen im Bereich der digitalen Bildung und im Bereich der Lehrerschulung unternommen, um möglichst schnell im digitalen Zeitalter anzukommen. Das, was da noch geleistet werden muss, ist immens. Es geht im Grunde nicht nur um den Breitbandausbau. Das ist die eine Voraussetzung. Die andere Voraussetzung ist, dass wir genügend Fachkräfte haben, dass die Kinder in der Schule mit dem 21. Jahrhundert wirklich mithalten können. Da liegen wir noch ziemlich weit entfernt von dem, was man eigentlich erwarten müsste. Herr Goebel hat gesagt: Ja, wir haben das alles geschafft und einen ausgeglichenen Haushalt in all den Jahren dieser Legislaturperiode hinbekommen. Wir werden dafür manchmal ein wenig verspottet – außerhalb dieses Raumes, nicht von Ihnen, das weiß ich. Schon dieses Wissen allein rechtfertigt meine Anwesenheit, ist aber nicht das einzige. Außerhalb dieses Raums wird oft gesagt, dass wir irgendwelche Zahlenfetischisten seien oder uns mit der schwarzen Null besonders wohlfühlten. Sie aber wissen besser als alle anderen, dass die Frage, welche Investitionsspielräume unsere Kinder und Enkel noch haben, wie viel Schulden wir sozusagen zu schultern haben, eine der entscheidenden Fragen auch für den Zukunftsoptimismus ist. Das Interessante, was wir erlebt haben, ist im Grunde, dass die Wachstumspfade solider, nachhaltiger sind, dass das Wachstum auch inklusiver ist, wenn ich es schaffe, mit soliden Finanzen zu arbeiten, weil die Menschen individuell den Eindruck haben, es verläuft vernünftig, und damit auch eher bereit sind zu konsumieren, als wenn sie ständig den Eindruck haben, von einer Krise in die andere zu schliddern. Wenn man sich einmal anschaut, woher wir 2005 kamen, als ich Bundeskanzlerin wurde, dann ist es einfach so, dass wir auf den Reformen aufbauend, die die Regierung Schröder durchgeführt hat, es geschafft haben, die Zahl der Arbeitslosen von fünf Millionen auf 2,57 Millionen im April zu reduzieren, also nahezu zu halbieren, was natürlich ein immenser Wohlstandsgewinn ist und auch der Grund, warum die Ungleichheit, wenn man sich den Gini-Koeffizienten anguckt, in Deutschland gerade nicht gewachsen ist, sondern viele an diesem Wohlstand teilhaben. Unsere sozialen Sicherungssysteme befinden sich in einem besseren Zustand, als wir prognostiziert hatten, zum Beispiel das Rentensystem, auch bezüglich des voraussichtlichen Rentenniveaus 2030. Das heißt, dass das A und O im Grunde ist, Erwerbstätigkeit zu fördern. Deshalb haben wir wirklich die Aufgabe, das auch in den nächsten vier Jahren deutlich zu machen. Ich wage es gar nicht, davon zu sprechen, Herr Goebel, dass wir auch Bürokratie abbauen. Wir haben den Bürokratiekostenindex sogar unter 100 gesenkt. Wir haben jetzt in der Bundesregierung die Maßgabe „one in – one out“. Wer ein neues Gesetz einführt, muss auch etwas abschaffen. Das bezieht sich, um jetzt ganz präzise zu sein, auf alle Gesetze, die Berichtspflichten und Bürokratiepflichten für Unternehmen hervorrufen. Ich darf Ihnen erzählen, dass wir bei hunderten Gesetzen, in denen Unterschriften gefordert sind, versucht haben voranzukommen, damit in Zukunft auch digitale Signaturen möglich sein werden. Es war ein harter Prozess, ein Drittel der Unterschriften digitalisierungsfähig zu machen. Wir müssen noch unglaublich viel in diesem Zusammenhang machen, inklusive eines Bürgerportals. Das wird auch für die nächste Legislaturperiode wichtig sein, damit die Menschen alle staatlichen Dienstleistungen, ob auf der kommunalen Ebene, auf der Landesebene oder der Bundesebene, über ein einheitliches Bürgerportal abrufen können. Das vereinbaren wir im Zusammenhang mit dem Bund-Länder-Finanzausgleich, weil wir dafür eine Grundgesetzänderung brauchen, dass Bund und Länder in diesem Zusammenhang gemeinsam agieren. Diese Grundgesetzänderung wird in der nächsten Sitzungswoche, so hoffe ich doch, auch verabschiedet. Meine Damen und Herren, dass Sie zusammen in einem Verband Ihre Interessen immer wieder formulieren, für uns benennen und wir auch Ihre Anliegen kennen, ist ein Wert an sich. Die Digitalisierung fördert die Individualisierung sehr stark. Deshalb danke ich allen, die auch Verbandsarbeit leisten. Ich tue das auch deshalb, weil heute bei Ihnen, kaum dass ich um die Ecke bin, noch ein Wechsel ansteht. Ich habe schon einmal vorsichtshalber ein Bild mit dem Noch-Präsidenten und eines mit dem incoming president gemacht und hoffe, damit alles richtig gemacht zu haben. Ich danke Herrn Goebel für die sechs Jahre Arbeit als Präsident und darf Ihnen versichern: Natürlich gibt es auch ein Wirtschaftsprogramm der CDU für die nächsten vier Jahre. Ich wünsche Herrn von Eben-Worlée alles erdenkliche Gute bei seiner verantwortungsvollen Arbeit.Danke, dass Sie mich eingeladen haben. Alles Gute und danke für Ihre Arbeit für unser Land. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 12. Berliner Abend der deutschen Feuerwehren des Deutschen Feuerwehrverbandes (DFV) e. V. am 17. Mai 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-12-berliner-abend-der-deutschen-feuerwehren-des-deutschen-feuerwehrverbandes-dfv-e-v-am-17-mai-2017-in-berlin-799566
Wed, 17 May 2017 19:07:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident Ziebs, sehr geehrter Herr Bundesminister de Maizière, sehr geehrter Herr Landesbranddirektor Gräfling, sehr geehrte Präsidiumsmitglieder, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und vor allem: sehr geehrte Vertreter der Feuerwehren, wer kennt nicht die Redewendung „pünktlich wie die Feuerwehr“? Denn sie ist da, wenn es brennt – im wörtlichen wie inzwischen auch verstärkt in übertragenem Sinne. Ihre Einsatzpalette ist breit: Mal ist ein Brand zu löschen, mal ein Mensch aus einem verunglückten Fahrzeug zu befreien, mal ein Notfallpatient ins Krankenhaus zu bringen. Der Kampf gegen Hochwasser gehört genauso dazu wie technische Hilfeleistung. Nicht zuletzt gilt ihr Augenmerk – auch dafür sei Dank – der Vorsorge, damit es möglichst gar nicht erst zum Notfall kommt. Den vielfältigen Aufgaben stellen sich rund 1,3 Millionen – ich wiederhole die Zahl: 1,3 Millionen – Angehörige unserer Feuerwehren im ganzen Land. Die meisten davon arbeiten ehrenamtlich. Das ist gute Tradition. Viele örtliche Feuerwehren entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts. Dass wir diese Tradition bis heute erhalten konnten, dafür danke ich Ihnen allen. Es ist ein gutes Stück Deutschland, dass wir eine solche Struktur haben; sie ist ziemlich einzigartig – ich will nicht übertreiben, aber ich glaube, fast einzigartig auf der Welt. Ehrenamtliche Verantwortung bedeutet damals wie heute, sich auf Übungen und Einsätze zusätzlich zum eigentlichen Arbeitsalltag einzulassen und Freizeit und andere Interessen zurückzustellen – immer mit dem Ziel, dem Gemeinwohl zu dienen. Ob ehren- oder hauptamtlich – die Feuerwehren sind zur Stelle, wenn Not am Mann oder Not an der Frau ist. Sie sind in der Regel die ersten, die am Ort des Geschehens eintreffen und schnell und kompetent Hilfe leisten. Um andere aus Gefahren zu retten, nehmen sie oft selbst Gefahren für sich und ihr Leben in Kauf – das ist nun wirklich alles andere als selbstverständlich. Das ist auch der Grund dafür, dass ich sehr gerne heute zu Ihnen gekommen bin und Ihnen von Herzen Dank sage – natürlich genauso im Namen des Bundesinnenministers und der gesamten Bundesregierung –: Danke für Ihre Arbeit; wir wissen sie zu schätzen. Geben Sie diesen Dank deshalb bitte auch weiter. Weil diese Arbeit so wertvoll ist, verdient sie natürlich auch Unterstützung vonseiten der Politik. Das gilt auch mit Blick auf die Ausrüstung. Denn Ihre Aufgaben erledigen Sie nicht allein mit gutem Willen, Sie brauchen auch eine entsprechende Ausstattung. Was den Bund anbelangt, so kann man sagen, dass der Bund einen erheblichen Beitrag für eine moderne technische Ausstattung der Feuerwehren leistet. Wir sorgen zum Beispiel dafür, dass den Bundesländern Einsatzfahrzeuge für den Zivil- und Katastrophenschutz zur Verfügung gestellt werden – Herr Ziebs ist auf das entsprechende Programm schon eingegangen. Derzeit sind über 300 neue Löschgruppenfahrzeuge und fast 100 neue Schlauchwagen zur Beschaffung ausgeschrieben. Es werden über 92 Millionen Euro sein, die der Bund in den nächsten Jahren in die Feuerwehrausstattung investiert. Eine gute Ausstattung ändert aber wenig an den enormen physischen und psychischen Belastungen, die mit Ihren Einsätzen verbunden sind. Sie sind immer wieder – Herr Ziebs hat davon gesprochen – schlimmen Bildern von schwerverletzten Menschen oder von Menschen, die ums Leben gekommen sind, ausgesetzt. Das muss jeder Einzelne erst einmal verkraften. Umso wichtiger ist es, dass wir vonseiten der Politik auch den vielen Außenstehenden deutlich machen, was für eine Verantwortung Sie übernehmen und wie wichtig es ist, dass diejenigen, die nicht betroffen sind, auch ermöglichen, dass der Einsatz ungehindert erfolgen kann. Ich glaube, man kann sagen, dass der Einsatz der Feuerwehren in der deutschen Bevölkerung nach wie vor ein unglaublich hohes Ansehen genießt. Es gibt aber zunehmend Beispiele, in denen Respekt und Rücksicht ihnen gegenüber einfach abhandengekommen sind – und zwar in einer erschreckenden Weise. Das fängt an mit denen, die unbeteiligt sind, sich aber als Schaulustige an Unfallorten drängeln, alles ganz genau verfolgen wollen und dadurch Einsatzkräfte oft erheblich behindern. Manche lassen sich dazu hinreißen, Rettungskräfte verbal oder gar tätlich zu attackieren. Das heißt, mit Sensationsgier kann man das Leben anderer gefährden; das müssen wir auch ganz deutlich ansprechen. Solches Verhalten ist inakzeptabel. Und deshalb haben wir auch gesetzlich gehandelt. Der betreffende Bundestagsbeschluss sieht unter anderem Freiheitsstrafen vor, wenn Hilfeleistende der Feuerwehr, des Katastrophenschutzes oder der Rettungsdienste im Einsatz absichtlich behindert oder tätlich angegriffen werden. Denn jede einzelne solcher Taten erschwert nicht allein die Hilfeleistung im konkreten Fall, sondern ist zugleich ein Angriff auf die öffentliche Sicherheit. Wir hoffen, dass die Strafverschärfung nun auch dazu führt, dass das Wissen darum zu mehr Besonnenheit Anlass gibt und dass die Sensibilität der Menschen dadurch wächst. Wir brauchen mehr Bewusstsein dafür, dass die Würde eines Opfers verletzt wird, aber auch die Möglichkeiten eines Retters eingeschränkt werden, wenn so agiert wird, wie ich es beschrieben habe. Das heißt nichts anderes, als dass wir mehr Akzeptanz gegenüber Einsatzkräften brauchen, die den Dienst der Allgemeinheit zuliebe leisten. Ich glaube, das beginnt ganz früh. Deshalb war ich sehr gerne auch bei der Jugendfeuerwehr im Berliner Wedding zu Besuch. Die Mädchen und Jungen, die dort mitmachen, wissen schon in jungen Jahren sehr viel über den Umgang mit Gefahren. Sie machen sich schlau und kennen sich aus mit dem Löschen von Bränden und Erster Hilfe. Ich finde es wunderbar, wenn schon junge Leute mitbekommen, was Ehrenamt bedeutet. Sie sehen das dann auch als Teil ihres Lebens, sie spüren viel Freude – es macht Freude, mit vereinten Kräften etwas zu bewegen – und sie erkennen, dass derjenige, der etwas gibt, dadurch oft auch für sich und seine Persönlichkeit eine Menge gewinnt. Diese Erfahrungen bleiben erhalten, wenn die jungen Menschen erwachsen werden. Deshalb ist Nachwuchsarbeit so wichtig. Ich habe mir natürlich auch darstellen lassen, dass das gar nicht so einfach ist, sondern dass man auch in die Schulen gehen und bewusst Kontakte knüpfen muss. Deshalb möchte ich auch noch ein zweites Mal danke sagen – danke dafür, dass Sie sich nicht nur selber einbringen, sondern dass Sie auch immer wieder bei der Jugend schauen, wer sich mit einbringen könnte. Das ist toll. Der Bund versucht auch hierbei unterstützend tätig zu werden. Es ist eigentlich gar nicht so schwer, Kinder zu begeistern, wenn man einmal mit ihnen ins Gespräch kommt. Der Puppenfilm „Rettet die Retter“ richtet sich bereits an Kindergartenkinder. Ein anderes Projekt ist die Internetseite „Max und Flocke Helferland“, die vor allem Grundschulkinder ansprechen soll. Viele Jugendfeuerwehren versuchen auch Kinder aus Migrantenfamilien für ihre Arbeit zu begeistern. Dies hilft beiden Seiten und ist auch ein Beitrag zur Integration. Ich kann es deshalb nur begrüßen, dass die Feuerwehren auch Flüchtlinge und Asylsuchende ausbilden und in ihre Arbeit einbinden. Ob das neu erworbene Wissen dann hierzulande zum Einsatz kommt oder vielleicht auch nach der Rückkehr in die eigene Heimat hilfreich ist – in jedem Fall ist das Ausbildungsengagement ein Gewinn für alle Beteiligten. Die Feuerwehren waren mit die ersten Organisationen, die zur Stelle waren, als im Herbst 2015 so viele Flüchtlinge zu uns kamen. Sie haben geholfen, die Ankommenden mit dem Nötigsten zu versorgen. Wir sind natürlich auch heute unverändert für diesen Einsatz dankbar. Sagen Sie das bitte auch wirklich an alle Kameradinnen und Kameraden weiter. So können wir also auf verschiedene Tätigkeiten hinweisen. Ich will hier aber nicht nur sagen, was alles gut läuft, sondern auch erwähnen, dass Sie vor ziemlich großen Herausforderungen stehen. Wir erleben einen demografischen Wandel, wir haben es mit einem veränderten Freizeitverhalten zu tun und wir haben es mit Arbeitgebern zu tun, die strenge Anforderungen an ihre Beschäftigten richten. Das heißt, wir müssen schauen, wie wir die Struktur der Feuerwehren im Zeitalter höherer Mobilität in der Berufstätigkeit, im Zeitalter eines sich verändernden Altersaufbaus und auch in einem Zeitalter sich verändernder Familienpflichten erhalten können. Durch zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen und durch die Notwendigkeit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie verändert sich natürlich auch das Freizeitkontingent aller Beteiligten. Darauf muss man Rücksicht nehmen. Deshalb versuchen wir das Ehrenamt zu unterstützen, wo wir können: durch Erleichterungen oder Vergünstigungen – etwa im steuerlichen Bereich oder auch bei bestimmten Gebühren. Der Bundesinnenminister verleiht jedes Jahr den Förderpreis „Helfende Hand“ für ehrenamtliche Initiativen im Bevölkerungsschutz. Auch mehrere Projekte von Kreis- und Ortsfeuerwehren wurden in diesem Rahmen bereits ausgezeichnet. Und dadurch wiederum wurden Menschen darauf hingewiesen, was sie tun. Meine Damen und Herren, als Rettungskräfte und Feuerwehren stehen Sie nicht nur für sich, Sie stehen auch für unseren Staat und unser funktionierendes Gemeinwesen. Das Vertrauen in Sie und in Ihre Arbeit ist hoch. Wir alle wissen, was wir an unseren Feuerwehren haben. Deshalb versuchen wir auch, so hilfreich wie möglich zu sein. Heute ist ja Parlamentarischer Abend: Auch die Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag unterstützen das natürlich. Denn allein als Regierung können wir gar nichts machen, wenn wir keine Mehrheiten im Parlament bekommen. Das will ich an dieser Stelle auch noch einmal sagen. Wir sollten die enge Kooperation zwischen den Feuerwehren und der Politik weiter aufrechterhalten. Es mag manchmal auch knirschen, wenn Sie Ihre Vorstellungen vorbringen, aber eines müssen Sie wissen: Sie haben einen festen Platz in unseren Herzen, weil wir alle natürlich gerne sicher leben wollen. Deshalb: Gerade in Zeiten, wie wir sie jetzt haben – mit völlig neuen Bedrohungen –, dürfen Sie davon ausgehen, dass wir einfach dankbar dafür sind, dass es Sie gibt. Alles Gute Ihnen. Danke dafür, dass ich bei Ihnen sein kann.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des G20-Dialogforums Gewerkschaften (L 20) am 17. Mai 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-des-g20-dialogforums-gewerkschaften-l-20-am-17-mai-2017-in-berlin-798972
Wed, 17 May 2017 15:15:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Hoffmann, sehr geehrte Frau Burrow, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der internationalen Gewerkschaftsverbände und der Gewerkschaften der Mitgliedstaaten der G20-Gruppe, meine Damen und Herren, ich freue mich, dass Sie heute hier in der Friedrich-Ebert-Stiftung zusammengekommen sind und gestern auch schon an dem Thema gearbeitet haben. Uns ist es als diesjährigem G20-Gastgeber sehr wichtig, die Zivilgesellschaft möglichst breit in die Vorbereitungen einzubeziehen. Wir glauben, dass unsere gesamte Diskussion mit den politischen Vertretern der G20 dadurch bereichert wird, dass wir auch von Ihnen Empfehlungen bekommen, dass das Ergebnis Ihrer Arbeiten einfließt, dass damit auch diejenigen, die ja, wie man sagen muss, Milliarden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der G20 repräsentieren, indirekt mit am Tisch sitzen und dass wir Ihre Themen nicht einfach wegdrücken können, sondern dass Sie bei uns Platz finden. Natürlich sind G7 und G20 unterschiedliche Formate. Aber wir glauben, dass auch in der G20 – hier unter den Gewerkschaften – einheitliche Forderungen herauskristallisiert werden können, wenngleich die jeweiligen Lebenssituationen und politischen Systeme in hohem Maße unterschiedlich sind. Sie verkörpern als Gewerkschaften eine Gruppe, die auch weiß, wie wichtig es ist, zusammenzustehen, wenn man bestimmte Forderungen durchsetzen will. Wir wissen ja inzwischen auch – damit begann ja überhaupt erst die Entstehungsgeschichte der G20 –, dass das, was in einem Land passiert, zum Schluss uns alle auf der Welt beeinflussen kann, dass Entwicklungen eng zusammenhängen und dass wir durch Zusammenarbeit stärker sind. Wir werden ja in Hamburg tagen. Wir haben uns überlegt, dass wir einen Schifffahrtsknoten als Symbol nehmen. Das ist der sogenannte Kreuzknoten. Je mehr man an ihm zieht, umso fester wird er; das ist das Schöne an diesem Knoten. Wir glauben eben, dass die vernetzte Welt auch dann kräftig zusammenhalten muss, wenn verschiedene Kräfte am Knoten ziehen. Ich freue mich – ich sehe die Vorsitzende des Deutschen Frauenrates –, dass Sie das, was bei den Frauen diskutiert wurde, aufgenommen haben und dass Sie kooperieren. So wie es in Deutschland eine umfassende Sozialpartnerschaft zwischen Wirtschaft und Gewerkschaften gibt, so gibt es eben auch viele Anliegen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die insbesondere mit Frauen zu tun haben. Deshalb ergibt sich aus den jeweiligen zivilgesellschaftlichen Veranstaltungen wieder eine eigenständige Vernetzung der Interessen; und das ist auch gut. Sie haben natürlich das Thema Arbeit im Fokus: Arbeitsbedingungen, Arbeitsmöglichkeiten. Mit der Arbeit sind ja elementare Fragen verbunden. Reicht der Lohn, um eine Familie zu ernähren? Ist es möglich, dass ich den Anforderungen, die im Unternehmen an mich gestellt werden, gerecht werde? Machen die Digitalisierung, die Modernisierung oder die Innovation vielleicht meinen Arbeitsplatz überflüssig? Oder: habe ich überhaupt einen Arbeitsplatz? Wie ist es – auch das ist ja ein ganz wichtiges Thema – mit den Umwelt- und Sicherheitsvorschriften? Deshalb geht es innerhalb der G20 seit jeher um das Engagement für stetiges und möglichst nachhaltiges Wachstum. „Inclusive growth“ – also inklusives Wachstum – gewinnt auch in der politischen Diskussion an Bedeutung. Das ist gut und richtig. Denn ohnehin ist die G20 auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs, wie gesagt, überhaupt erst aus einer Krise entstanden – nämlich aus der von Herrn Hoffmann schon genannten internationalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, die uns gezeigt hat: nur gemeinsam können wir diese Krise bewältigen. Auch wenn diese Krise wesentlich von den Vereinigten Staaten von Amerika und dem angelsächsischen Finanzraum ausgegangen ist, haben sich zum Schluss alle an der Bewältigung dieser Krise beteiligt; und das war auch richtig so. Deshalb ist unser Grunddenken auch ein Denken gegen Abschottung – der Glaube daran, dass Globalisierung gemeinsam gestaltet werden kann, aber auch die feste Überzeugung, dass es bei der Gestaltung der Globalisierung um Menschen geht und dass die Lebenschancen der Menschen verbessert werden müssen, nicht nur sozusagen die Gewinne auf den Finanzmärkten oder die Gewinne Einzelner. Wir haben das Motto „Eine vernetzte Welt gestalten“ gewählt. Diesbezüglich sind ein Thema, das wir schon im Kreis der G7 behandelt haben, die globalen Lieferketten. Sie stehen geradezu exemplarisch für die vernetzte Welt. Nach Schätzung der Internationalen Arbeitsorganisation – Herr Ryder von der ILO war ja bei Ihnen – stehen etwa 450 Millionen Arbeitsplätze direkt oder zumindest indirekt im Zusammenhang mit globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten. Beginnend bei der Rohstoffgewinnung durchläuft ein Vorprodukt die Hände vieler Arbeitskräfte in verschiedenen Ländern, bevor zum Schluss ein verkaufbares Produkt entsteht. Wer also solche Wertschöpfungsketten behindert oder gar durchtrennt, wer auf Abschottung und Protektionismus setzt, der schadet allen Beteiligten. Wir haben in aktuellen politischen Verhandlungen eine sehr spannende Diskussion darüber, was Protektionismus eigentlich ist. Wir verwenden diesen Begriff immer in einem bestimmten Sinne. Was aber bedeutet er? Wo muss man sich schützen und auf Reziprozität achten? Es kann ja nicht sein, dass die einen sich zu vollkommener Offenheit bekennen und andere sich abschotten. Das heißt also, wir müssen Chancen suchen, um umfassende und regelbasierte Erleichterungen des Handels zu finden – vorzugsweise im Rahmen von multilateralen Abkommen. Wir müssen aber auch sehen, dass es inzwischen eine Vielzahl bilateraler Abkommen gibt. Wir wissen, dass es insbesondere kleine und mittlere Unternehmen zum Teil ziemlich schwer haben, auf globalen Märkten überhaupt Fuß zu fassen, auch weil es sehr unterschiedliche Regeln gibt. Das sage ich ganz besonders mit Blick auf Betriebe in Entwicklungs- und Schwellenländern. Sie haben oft hohe Handelsschranken zu überwinden. Wir haben zum Beispiel heute im Kabinett über Staaten Afrikas gesprochen, die eine mittlere Entwicklung nehmen und denen zum Beispiel unsere europäischen Märkte nicht so offenstehen, wie es fairerweise vielleicht der Fall sein müsste. Auf der anderen Seite wissen wir: die Arbeitslosigkeit ist auch in Europa hoch. Ehe man Handelsbarrieren einreißt, muss man auch zu Hause die Diskussion führen, wie weit ich mich und unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schützen muss. Hierbei einen fairen Ausgleich zu finden, ist oft gar nicht einfach. Wir haben in einer auch in Deutschland sehr intensiven Diskussion über das EU-Kanada-Handelsabkommen gesehen, dass moderne Handelsabkommen mehr als der Abbau von Zollschranken bedeuten müssen, dass wir im Grunde auch Sozial-, Umwelt- und Verbraucherstandards mit einbeziehen müssen. Wir wollen auch Streitschlichtungsinstitutionen, die transparent sind und nachvollziehbar Streit schlichten können. Hierbei kommen wir natürlich an einen Punkt, der in Bezug auf die G20 noch sehr viel schwieriger ist: Die einen sind recht hoch entwickelt, haben zum Teil auch sehr hohe Standards und andere kämpfen noch um die Mindeststandards. Wie können wir sagen, was angemessene Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Ländern dieser Erde sind? Das ist nicht leicht zu beantworten. Gerade im Rahmen der G20 zeigt sich eine große Unterschiedlichkeit. Es ist nicht nur sinnvoll, sondern es ist unabdingbar, dass, wenn wir es mit Artikel 1 unseres deutschen Grundgesetzes ernst meinen, menschenwürdige Arbeitsbedingungen überall dazugehören. Deshalb machen wir uns für die Umsetzung internationaler Rahmenwerke stark – so zum Beispiel für die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte. Zu deren Umsetzung haben wir auch in Deutschland einen nationalen Aktionsplan aufgelegt. Es geht auch für uns darum, einen Beitrag zu menschenwürdigen Arbeitsbedingungen zu leisten; und zwar entlang der gesamten internationalen Lieferketten. Wir haben uns im Rahmen der G7 sehr intensiv mit Bangladesch und den schrecklichen Leiden von Textilarbeiterinnen befasst. Wir haben in diesem Zusammenhang den sogenannten „Vision Zero Fonds“ aufgelegt, um erst einmal das international versprochene Geld für Absicherungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einzusammeln. Das ist in Bezug auf die G7 schon eine ziemliche Anstrengung; und manchmal muss man sich fast schämen, wie leichtfertig manche Versprechen gemacht werden und wie schwierig dann die Umsetzung ist. Wir setzen die Bemühungen um die Auffüllung dieses Fonds jetzt auch in der G20-Präsidentschaft fort. Wir werben auch für Mechanismen, die es Arbeitnehmern ermöglichen oder erleichtern, sich über schlechte Arbeitsbedingungen zu beschweren. Wir wissen darüber ja oft gar nicht genau Bescheid. Transparenz aber ist hierbei sehr wichtig. Ob eine Arbeit als gute Arbeit angesehen werden kann, hängt natürlich auch von der Lohnhöhe ab. An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich auch für viele private Initiativen für Tarifverhandlungen entlang von Lieferketten bedanken. Ich kann sagen: In Deutschland haben wir mit Tarifverhandlungen gute Erfahrungen gemacht. Erstens muss sich die Politik nicht in alles einmischen; das ist schon einmal ein Vorteil. Zweitens kracht es in den Tarifverhandlungen zwar manchmal, aber unsere Erfahrung ist, dass auch eine gemeinsame Verantwortung wächst, weil auch auf Arbeitnehmerseite entschieden werden muss: Was ist uns wichtig? Ist uns zum Beispiel auch Qualifizierung wichtig? Was ist uns mit Blick auf die Ausbildung junger Menschen wichtig? Denken wir nur an die Beschäftigten, die wir heute haben, oder ist uns auch die Zukunft wichtig? So haben die Tarifverträge in den vergangenen Jahren deutlich an Vielfalt gewonnen. Wir haben gerade auch während der Krise im Euroraum gesehen, dass die Bereitschaft seitens der Gewerkschaften, Verantwortung zu übernehmen, gar nicht überall so selbstverständlich ist, wie wir es in Deutschland eigentlich kennen. Ein großes Problem für Gewerkschaften ist natürlich auch die Frage: Wie helfen wir denen, die keine Arbeit haben; wie können wir sie in den Arbeitsmarkt integrieren? Wir wissen: das Thema Bildung und Ausbildung wird immer wichtiger. Wir in Deutschland haben ein duales Ausbildungssystem, das wir aber auch immer wieder stärken müssen. Den Master-Titel kann man ohne Gebühren erwerben, für den Meister-Titel muss man noch bezahlen, selbst wenn man BAföG-Leistungen erhält. Ob das eigentlich gerecht ist, ist auch ein Thema, dem sich, denke ich, alle Parteien zunehmend widmen. Wir müssen auch schauen, dass die neuen Berufsbilder der Digitalisierung auch im Bereich der Berufsausbildung angeboten werden und nicht nur in Studiengängen. Denn die Praxisnähe der dualen Berufsausbildung ist und bleibt sehr wichtig. Wir haben in Deutschland eine spezielle Aufgabe: die Integration der vielen zu uns gekommenen Flüchtlinge auch in den Arbeitsmarkt. Wir denken dabei sowohl an die Integration im Aufnahmestaat als auch an die vielleicht eines Tages erforderliche Reintegration im Herkunftsstaat, wenn zum Beispiel im Irak der IS besiegt ist oder wenn Syrien wieder befriedet ist und sich deshalb wieder neue Situationen ergeben. Wir denken, dass Integration ein zentraler Bestandteil ist. Dabei geht es auch um Bildung: um Sprachbildung, aber auch um Berufsbildung. Das Thema der Verbesserung der Arbeitsmarktchancen von Frauen beschäftigt uns auch sehr. Die G20 hat in Brisbane zum ersten Mal ein spezifisches Ziel entwickelt, nämlich die Lücke zwischen der Beschäftigung von Frauen und Männern bis 2025 um 25 Prozent zu reduzieren. Das betrifft auch die globale Agenda 2030, in der die Situation von Frauen ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. Vor drei Wochen haben wir das G20-Dialogforum Frauen gehabt. Schon am zweiten Tag dieses Dialogforums sagten die Frauen: Wir sind sowohl bei der Wirtschaft als auch bei den Gewerkschaften eingeladen, mit dabei zu sein und mitzudiskutieren. Das hielt ich für eine sehr gute Sache. Wir haben auf diesem Dialogforum unter anderem gesagt: Wir wollen den Zugang zu Krediten gerade auch für Unternehmerinnen in Entwicklungsländern verbessern – wir arbeiten zusammen mit der Weltbank noch an einem Fonds hierzu – und wir müssen die digitalen Kompetenzen von Frauen stärken. Hierbei geht es erst einmal darum, dass Frauen Interesse daran haben. Aber dann geht es eben auch um den Zugang zu digitaler Bildung. Meine Damen und Herren, Sie alle sind viel näher an der Praxis als ich, wenn es um die Probleme in der Arbeitswelt geht. Deshalb haben wir gesagt: Wir halten hier nicht nur zwei Vorträge – einen von Herrn Hoffmann an mich und einen von mir an Sie –, sondern wir diskutieren auch miteinander. Letztendlich geht es um ein gutes Leben überall auf der Welt. Wir in Deutschland fühlen uns dafür verantwortlich, dass wir nicht ein Leben auf Kosten anderer führen, sondern dass wir uns als eine gemeinsame Welt begreifen, in der es Frieden nur geben wird, wenn wir auch die Situation aller im Blick haben. Deshalb bin ich gespannt auf Ihre Empfehlungen, auf das, was Sie mir sagen wollen, und auf das, was wir jetzt diskutieren werden. Herzlichen Dank dafür, dass ich bei Ihnen sein darf, und herzlichen Dank für Ihre Arbeit.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung des Nationalen Integrationspreises am 17. Mai 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verleihung-des-nationalen-integrationspreises-am-17-mai-2017-396072
Wed, 17 May 2017 11:05:00 +0200
Berlin
Zunächst – damit sie es noch hören – ein herzliches Dankeschön dem Oriel Quartett. Sie alle hier haben wahrscheinlich sofort erkannt, dass es der dritte Satz, „Sturm“, aus dem Violinkonzert „Der Sommer“ von Antonio Vivaldi war. Wenn Sie es nicht erkannt haben, habe ich es Ihnen jetzt gesagt. Mir war es wichtig, das zu sagen. Meine Damen und Herren, herzlich willkommen hier im Bundeskanzleramt. Das hier ist eine Premiere. Wir verleihen zum ersten Mal den Nationalen Integrationspreis. Ich möchte die Repräsentanten der 33 Institutionen, die jeweils ein Projekt nominiert haben, ganz herzlich begrüßen. Sich für eines dieser Projekte zu entscheiden, war gewiss nicht einfach. Deshalb dürfen sich alle, die hinter den ausgewählten Integrationsinitiativen stehen, heute gleichermaßen geehrt fühlen. Einige von ihnen sind hier vertreten. Ich möchte mich für Ihr Kommen ganz herzlich bedanken. Ein herzliches Dankeschön geht natürlich auch an die Jury des Nationalen Integrationspreises. Ihre Mitglieder werden uns nachher von den besten Projekten berichten. Ich freue mich natürlich auch gemeinsam mit den vielen Gästen aus Altena. Ich hoffe, ich habe den Namen richtig ausgesprochen. Denn dort, wo ich herkomme, hätte es gut und gerne auch „Alténa“ heißen können. Aber ich habe mir schon gedacht, dass das im Märkischen Kreis ein bisschen anders ist. Herr Bürgermeister Andreas Hollstein, Ihr Konzept und Ihre Arbeit haben die Jury am meisten überzeugt, wenn ich das schon vorweg sagen darf. Aber ich möchte erst noch etwas zur Geschichte dieses Integrationspreises sagen. Er ist ein Ergebnis der Klausur des Bundeskabinetts auf Schloss Meseberg vor einem Jahr. Wir haben damals ein umfassendes Integrationspaket auf den Weg gebracht. Der bekannteste Bestandteil dieses Integrationspakets dürfte das Integrationsgesetz gewesen sein, das Flüchtlingen die Aufnahme einer Ausbildung oder Arbeit erleichtert, aber auch eigenes Engagement derjenigen, die zu uns kommen, fordert. Zu diesem eigenen Engagement gehört es, unsere Angebote anzunehmen, um die Sprache zu lernen. Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich mit dem neuen Lebensumfeld vertraut zu machen. Wir wissen ja, dass viele Schutzsuchende aus anderen Kulturkreisen kommen. Sie wissen nicht und können auch gar nicht wissen, was unser gutes Miteinander hierzulande ausmacht. Sie müssen unsere Werte und Gepflogenheiten oft erst kennenlernen und verstehen lernen. Daher haben wir in den Orientierungskursen gerade darauf einen Schwerpunkt gelegt. Wir wissen, dass vieles von persönlichen Kontakten und Vorbildern abhängt, die schlichtweg unsere Werte vorleben – in der Nachbarschaft, in den Schulen, in den Unternehmen, in den Vereinen vor Ort. Wir sind überzeugt, dass Integration dort am besten gelingt, wo sich Menschen aufeinander einlassen. Von denen, die kommen, immer nur etwas zu fordern, ist nicht ausreichend, wenn diejenigen, die schon lange in unserer Gesellschaft leben, sich nicht für sie interessieren und nicht neugierig sind. Deshalb sind persönliche Begegnungen als Integrationsmotor wirklich sehr wichtig. Da setzen viele Integrationsinitiativen in Deutschland an. Dahinter steckt unglaublich viel Arbeit von Ehrenamtlichen, die alles andere als selbstverständlich ist. Aber – ich will das heute und an dieser Stelle noch einmal ganz besonders betonen – sie erweisen unserem Land damit einen ganz besonderen Dienst. Deshalb mein herzlicher Dank. Um das ein wenig sichtbarer zu machen, haben wir auf unserer Klausurtagung in der Meseberger Erklärung festgelegt, einen Nationalen Integrationspreis einzuführen. Heute ist nun die Premiere. Wir wollen damit vorbildliches Engagement auszeichnen – und zwar nicht irgendwo im stillen Kämmerlein, sondern in aller Öffentlichkeit. Denn was vorbildlich ist, das sollte auch Vorbildwirkung entfalten und weithin Schule machen können. Mitmacher und Nachahmer sind also gefragt. Deshalb wollen wir sichtbar machen, wie Integration gelingen kann und dass Integration gelingen kann. Damit wollen wir auch unterstreichen, dass sich der Einsatz trotz mancher Schwierigkeiten, die sich sicherlich auch auftun, lohnt. Einmal im Jahr soll also der Nationale Integrationspreis für ein erfolgreiches Projekt, eine beispielhafte Initiative oder ein beeindruckendes Engagement verliehen werden. Wir zeigen damit auf Bundesebene, dass wir es zu schätzen wissen, wie viele Kommunen, Organisationen, Initiativen und Einzelpersonen Erstaunliches und Herausragendes leisten, damit Zuwanderer bei uns Fuß fassen können und damit vielleicht auch ein Stück Heimat gewinnen können. Eigentlich ist diese Aufgabe für unser Land nichts Neues. Denn Zuwanderung ist wahrlich kein Phänomen, das wir erst seit wenigen Jahren kennen. Deutschland war über Jahrhunderte hinweg immer wieder sowohl Durchgangsland als auch Ziel verschiedener Einwanderungsgruppen. Besonders präsent ist natürlich die Geschichte derjenigen, die in den 1950er und 1960er Jahren als sogenannte Gastarbeiter aus Italien, Griechenland oder der Türkei nach Deutschland kamen und am deutschen Wirtschaftswunder entscheidend mitgewirkt haben; das kann gar nicht oft genug betont werden. Ich habe vor einigen Jahren Gastarbeiter der ersten Stunde hierher ins Kanzleramt eingeladen. Ich muss sagen, das war eine sehr, sehr bewegende Sache. Vielleicht haben wir viele Jahre viel zu wenig gewürdigt und herausgestellt, was damals geschehen ist. Heute leben in Deutschland rund 17 Millionen Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte. Das sind mehr als 20 Prozent der Bevölkerung. Davon hat fast die Hälfte einen deutschen Pass. Sie sprechen unsere Sprache. Sie haben deutsche Freunde. Sie sind in gemeinnützigen Vereinen aktiv. Sie gehen verschiedenen Berufen nach. Aber es gibt eben auch Beispiele dafür, dass Menschen auch nach vielen Jahren nicht richtig bei uns angekommen sind. Deshalb muss es unser politisches Anliegen bleiben, dass alle an unserer Gesellschaft teilhaben können. Deshalb müssen wir die Integration der Migranten, die in der jüngeren Vergangenheit gekommen sind, genauso im Auge behalten wie die weitere Integration derer, die sozusagen Migranten der ersten Stunde sind. Wir wissen, dass Integration eine langfristige Aufgabe ist, die Mühe erfordert. Wir wissen aber auch, dass Zuwanderung wirklich eine Stärkung unseres Landes sein kann, wenn Integration gelingt. Dafür brauchen wir auch günstige Rahmenbedingungen. Eine der Rahmenbedingungen, die im Augenblick recht gut erfüllt wird, ist die starke und wettbewerbsfähige Wirtschaft, weil unsere Arbeitsmarktlage recht gut ist. Allerdings sind wir auch eine sehr hochentwickelte Volkswirtschaft. Das heißt, einfache Tätigkeiten gibt es nicht mehr so oft, sondern sehr viel öfter komplizierte. Bevor man in einer deutschen Berufsschule alles versteht, wenn man Mechatroniker werden will, muss man schon ein ganz gutes Sprachniveau haben. Und die Universitäten: Bevor sie überhaupt jemanden hereinlassen, muss er sich schon sehr viel mit Sprachkursen herumgeplagt haben. Also: Wir versuchen, alles so einfach wie möglich zu gestalten. Die Wege mögen für jeden verschieden sein. Aber insgesamt wollen wir natürlich Fortschritte in allen Bereichen. Die Jury hatte nun also die Qual der Wahl. Sie hat sich trotzdem entschieden. Noch einmal danke dafür, dass Sie sich der Aufgabe gestellt haben, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was auszeichnungswürdig ist – ich denke, alle 33 Projekte sind tolle Beiträge –, lieber Herr Weise, liebe Frau Foroutan, lieber Herr Mansour, lieber Herr M’Barek. Petra Roth ist heute leider verhindert, aber in den Dank mit eingeschlossen. Gleich werden wir noch einiges zu den Projekten hören. Ich bin auch schon ganz neugierig darauf. Deshalb ist die Vorrede jetzt zu Ende. Jetzt geht es ans Eigentliche. Ich übergebe deshalb an Herrn Arikan, der heute der Moderator unserer Gesprächsrunde sein wird. Allen noch einmal ein herzliches Willkommen.
im Bundeskanzleramt
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des Arbeitnehmerkongresses der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am 15. Mai 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-des-arbeitnehmerkongresses-der-cdu-csu-bundestagsfraktion-am-15-mai-2017-in-berlin-448210
Mon, 15 May 2017 14:32:00 +0200
Berlin
Lieber Peter Weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, sehr geehrte Frau Hannack, Sie begrüße ich genauso wie alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer, ich begrüße sehr, dass Sie diesen Kongress zu dem wichtigen Thema, wie wir auf den Wandel in unserer Welt reagieren, organisiert haben. Alle Welt spricht vom Wandel. Jeder weiß auch, dass sich die Arbeitswelt zutiefst wandeln wird. Wir müssen versuchen, diesen Wandel zu gestalten. Dabei ist es für uns sehr wichtig, auch die Beschäftigungssituation im Blick zu behalten. Wir haben im Augenblick eine sehr gute wirtschaftliche Situation und trotzdem eine große Unruhe, weil Menschen natürlich spüren, dass sich etwas tut und dass auch in ihren Unternehmen vieles in Veränderung begriffen ist, weshalb sich jedem die Frage stellt: Was bedeutet das für mich als Beschäftigten, als Arbeitnehmer oder als Arbeitnehmerin? Die Wertschöpfungsketten verändern sich. Produktionsprozesse werden miteinander vernetzt. Sie können sozusagen miteinander kommunizieren. Man denke etwa an das sogenannte Internet der Dinge. Ich habe eine Weile gebraucht, um das zu verstehen. Aber nachdem man mir erklärt hatte, dass diese Dinge miteinander kommunizieren können, habe ich es verstanden. Es stellt sich natürlich die Frage: Welche Rolle nimmt der Mensch in diesem Prozess ein; und welche Folgen hat das insgesamt? Wenn man die dramatischen Analysen liest und hört, welche Berufe es bald nicht mehr geben werde und wie viele Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren könnten, dann stellt man, denke ich, aber fest, dass das oft eher Kassandrarufe sind, als dass dies etwas mit der Realität zu tun hat. Ich habe sehr intensiv versucht, zu verstehen, was Industrie 4.0 und Digitalisierung heißt. Im vergangenen Jahr habe ich etliche Unternehmen besucht. Überall war eigentlich klar: Ja, es verändern sich Beschäftigungsarten, aber die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die gebraucht wird, verändert sich gar nicht dramatisch. Dennoch: Die industrielle Struktur der Bundesrepublik Deutschland ist auf bestimmte Schwerpunkte ausgerichtet: Maschinenbau, Automobilwirtschaft und andere. In der Automobilwirtschaft finden im Grunde genommen drei revolutionäre Entwicklungen parallel statt – was Antriebstechnologien, das autonome Fahren und die Frage anbelangt, ob ich angesichts der vernetzten Mobilitätskonzepte noch ein eigenes Auto brauche oder ob auch Carsharing reicht? Damit sind gewaltige Veränderungen verbunden. Es ist vollkommen klar, dass sich gerade auch Menschen im Zulieferbereich und in der Automobilbranche, wenn sie zum Beispiel an den Antriebssträngen arbeiten, die Frage stellen: Was bedeutet der Durchbruch der Elektromobilität eines Tages für mich? Wir müssen versuchen, die politischen Leitplanken richtig zu setzen, um diesen Wandel möglich zu machen, aber gleichzeitig nicht das, was Sie gerade gesagt haben, zu tun – nämlich so zu tun, als ob wir die Zukunft genau kennen würden, und mit rigide verordneten Konzepten vielleicht immer haarscharf das Falsche zu tun. Ich denke, wenn man sich auf die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft besinnt, gibt es vielerlei kluge Möglichkeiten, seitens des Staates helfend einzugreifen, ohne dominierend etwas zu tun, das die Stärken der Sozialen Marktwirtschaft, auch das Miteinander von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, zerstört oder erschwert. Es ist sehr wichtig, dass wir auch weiterhin eine Partnerschaft von Arbeitgebern und Arbeitnehmern haben. Deshalb stehe ich sehr dazu, zu sagen: Überall dort, wo wir einen Betriebsrat, und überall dort, wo wir Strukturen des Miteinanders von Arbeitgebern und Arbeitnehmern haben, können wir auf manche Regulierung verzichten, weil wir das in verantwortliche Hände geben können. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch sehen, dass inzwischen in weiten Teilen gerade auch des Dienstleistungsbereichs die Tarifbindung oder die Betriebsratsbindung nicht mehr so hoch ist, wie es einmal der Fall war. Hier können wir nicht alles der allgemeinen Entwicklung überlassen. Deshalb heißt es also, die Sorgen ernst zu nehmen und das Gespräch miteinander zu suchen. Ich finde, die größte Unsicherheit besteht darin, vorauszusagen, in welchem Tempo die Veränderungen eigentlich stattfinden. Wir haben uns als Ziel eine Million Elektroautos bis zum Jahr 2020 vorgenommen. So wie es im Augenblick aussieht, werden wir dieses Ziel nicht erreichen. Wir wissen aber auch von der Verbreitung von Smartphones und anderen Produkten, dass bestimmte technische Entwicklungen ab einem bestimmten Punkt plötzlich exponentiell stattfinden. Wenn man dann in keiner Weise auf das, was sich abspielt, vorbereitet ist, dann ist es zu spät. Also: Wie können wir das Vorsorgeprinzip richtig einsetzen? Jetzt ist es das Allerwichtigste, dass wir auch politisch sehr klar machen, wie die Stellung des Menschen im Produktionsgeschehen ist. Internet der Dinge und Industrie 4.0 hin oder her – es bleibt richtig, dass weder die Arbeit ausgehen noch der Mensch die zentrale Stellung im Arbeitsprozess verlieren wird, sondern dass Arbeit für die Menschen durchgeführt wird. Das wird auch in Zukunft so bleiben. Darüber müssen wir uns keine Sorgen machen. Dennoch ist das Phänomen der künstlichen Intelligenz natürlich etwas Interessantes. Nicht nur, dass schon bereits vor 20 Jahren Garri Kasparow im Schachspiel von einem Computer geschlagen wurde. Wir sehen auch heute bei den Robotern oder auch bei den „cobots“, also bei den mit den Menschen arbeitenden Robotern, dass die Präzision, die Ausdauer und vieles andere mehr von Maschinen beachtlich sein können. Insofern ist deren Einsatz auf der einen Seite eine Erleichterung, stellt uns aber auf der anderen Seite natürlich auch vor Herausforderungen, weil Menschen mit nicht so ausgeprägter Bildung sicherlich mit Recht Sorge haben, dass einfache Tätigkeiten immer mehr ersetzt werden. Damit sind wir eigentlich bei dem politisch spannendsten Thema. Ende des nächsten Jahrzehnts, also 2030, werden wir rund sechs Millionen Menschen weniger im Erwerbstätigenalter haben als heute. Die Frage ist daher: Wie können wir das Fachkräftepotenzial so entwickeln, dass es auch stimmig ist zu dem, was an Qualifikationen verlangt und gebraucht wird? Da steht eine sehr große Aufgabe vor uns. Dazu will ich einige Punkte nennen. Der erste Punkt ist das Verhältnis von dualer Ausbildung zu Studium und Hochschulausbildung. Wir haben jetzt eine Phase durchlaufen, in der wir den Anteil derer, die einen Hochschulabschluss haben, in Richtung 40 Prozent gesteigert haben. Das ist von uns international immer wieder verlangt worden. Es mag auch sein, dass das okay ist; wir haben damit auch ein gutes Polster in Richtung des nächsten Jahrzehnts. Ich habe aber das Gefühl und den Eindruck, dass wir alles tun müssen, um auch die zweite Säule, nämlich die Facharbeiterausbildung, zu stärken und auch die Durchlässigkeit in allen Bildungsbereichen zu ermöglichen. Die große Frage ist: Wie können wir Schülerinnen und Schülern heute eigentlich nahebringen, in welchen Feldern sie ihre Berufsausbildung machen sollten, ohne damit das Prinzip der freien Berufswahl zu verletzen? Das Werben für mathematische, ingenieurwissenschaftliche, naturwissenschaftliche und technische Berufe muss weitergehen. Wir müssen immer und immer wieder sagen, dass wir hier mehr machen müssen. Ich habe im Bundeskanzleramt gerade wieder den Girls’ Day gehabt. Der Anteil der Studentinnen, die im letzten Semester ein Studium der Ingenieurwissenschaften aufgenommen haben, lag bei 24 Prozent; das ist also noch viel zu wenig. Wenn ich mir anhöre, wie viele Programmierer und Softwareleute wir brauchen könnten – gerade auch in mittelständischen Betrieben –, dann komme ich zu dem Schluss, dass wir den jungen Leuten eigentlich immer wieder sagen sollten: Versucht euch in diese Richtungen zu interessieren. Das wiederum bedeutet aber, dass wir schon in der Schule anfangen müssen – bei der Ausstattung der Schulen, bei der Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer. Denn wie soll ich Interesse an bestimmten Berufen gewinnen, wenn ich in meiner eigenen Schulausbildung nicht auch damit konfrontiert werde? Ich glaube, ein Schwerpunkt der Bundesbildungs- und -forschungsministerin wird in der nächsten Legislaturperiode auch darauf liegen, mehr dabei zu helfen, Schulen zum Beispiel Lehrclouds für die Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern zur Verfügung zu stellen. Ich glaube nicht, dass wir uns als Bund die Aufgabe der Computerausstattung in den einzelnen Schulen direkt aufladen sollten, denn damit wäre viel zu viel Servicearbeit verbunden, aber Anschubmöglichkeiten, die Anbindung der Schulen an Breitband, das Zurverfügungstellen von Lehrinhalten und die Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern halte ich für sehr wichtig. Wir haben auch in kultureller Hinsicht eine spannende Situation. Das erinnert mich ein bisschen an die Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung. Damals sind lauter jüngere Ausbilder und Umschuler aus den alten Bundesländern zu den 40-jährigen oder 45-jährigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den damaligen DDR-Betrieben gekommen; man musste plötzlich von Jüngeren etwas lernen. Das war ja kulturell nicht eingeübt, da wir eine sehr hierarchische Entwicklungsstruktur hatten. Heute müssen auch die Geschäftsführungen in Unternehmen viel lernen. Man muss sozusagen im Grunde auf die Jugend vertrauen und das nicht als Autoritätsverlust begreifen, sondern einfach als Möglichkeit lebenslangen Lernens, der wir uns alle öffnen müssen. Das müssen im Übrigen auch wir in der Politik; ansonsten wissen wir überhaupt nicht, was eigentlich abläuft, und können auch gar nicht die richtigen Gesetze machen. Der Anfangspunkt ist also die Schule; und dann auch die Berufsschule, wenn es darum geht, sich an aussichtsreichen Berufsbildern zu orientieren. Ich glaube, heute können wir die Ausbildung in vielen Berufen noch so adaptieren, dass sie auf Industrie 4.0 ausgerichtet ist. Der Beruf des Mechatronikers zum Beispiel wandelt sich natürlich auch Stück für Stück. Erst hatten wir CNC-Maschinen, also computergesteuerte Werkzeugmaschinen; heute haben wir die Vernetzung durch das Internet – aber Mechatroniker wird es auch weiterhin geben. Wenn wir aber die Anpassung der Berufsausbildung aufschieben, haben wir es natürlich mit immer revolutionäreren oder disruptiveren Prozessen zu tun. Insofern ist es richtig, das heute schon stufenweise durchzuführen. Es kann sein, dass wir in der Entwicklung neuer Berufsbilder an manchen Stellen schneller werden müssen; da sind wir nicht zu hundert Prozent überzeugend. Ich glaube, dass wir vielleicht auch noch etwas mehr tun sollten, was modulare Ausbildungsmöglichkeiten anbelangt. Das ist im Übrigen auch bei der Frage der Flüchtlingsintegration ganz wichtig; denn manchmal schreckt die gesamte Berufsausbildung ab, weil sie eben doch sehr fordernd ist. Aber wenn man sich Stück für Stück heranarbeiten kann, dann ist das gut. Mein Eindruck ist, dass die Gewerkschaften und vielleicht auch die Arbeitgeber hierbei manchmal ein bisschen zögerlich sind, weil man Angst hat, dadurch die Qualität irgendwie herunterzudrücken. Ich glaube aber, wenn es motivierend wirkt, dann sollte man sich solchen Dingen nicht widersetzen. Ich selber bin mir auch nach wie vor – obwohl wir das Meister-BAföG schon verändert und die Stellung verbessert haben – nicht ganz sicher, ob es richtig ist, dass man den „Master“ ohne jede Gebühr bekommt und den „Meister“ sozusagen immer noch selbst finanzieren muss. In einem Land, das so sehr auf Gleichwertigkeit von beruflicher Bildung und akademischer Bildung setzt, sollten wir uns vielleicht noch einmal überlegen, was wir da tun können. Wenn ich meine Berufsausbildung habe, ist dann das nächste Thema die Weiterbildung im Betrieb. Ich bin der Meinung, dass wir Mechanismen finden müssen, mit denen wir uns auf die Weiterbildung in der Beschäftigung konzentrieren und nicht erst dann mit der Umschulung anfangen, nachdem jemand seine Beschäftigung verloren hat. Das war jetzt ja auch ein Teil der politischen Auseinandersetzung. Die große Frage ist: Wie können wir das richtig anstellen? Ich glaube, es gibt wenige Zweifel daran, dass man das bei den großen Unternehmen gut bereden kann, dass das gut geplant wird und gut läuft. Es gibt herausragende Tarifverträge, die, was Weiterbildung anbelangt, geradezu wegweisend sind. Die Frage wird daher sein: Kann vielleicht auch der Staat so etwas fördern oder unterstützen; und zwar über das hinaus, was man heute hat? Zudem stellt sich die Frage: Wie weit soll die Bundesagentur für Arbeit in dem Sinne einsteigen, dass kleinere Unternehmen das vielleicht nicht können, oder weil berufliche Tätigkeiten vielleicht gar nicht mehr gebraucht werden und daher eine Umorientierung wirklich notwendig ist? Wenn ich den neuen Vorsitzenden der BA neulich richtig verstanden habe, sind wir auf dem Weg, intelligente Wege zu finden, dass Beschäftigte sich in Zukunft erkundigen können, ob ihr Beruf eine Chance hat und was sonst noch empfohlen wird. Die Bundesagentur ist dann also ein Informationsort in umfassendem Sinne. Aber ich rate davon ab, sozusagen ohne betrieblichen Rückhalt die gesamte Weiterbildungslandschaft nur auf die Bundesagentur für Arbeit zu konzentrieren. Ich glaube, wir brauchen ein Miteinander. Das muss man sich von Fall zu Fall anschauen. Damit sind wir jetzt an einem spannenden Punkt, der unser politisches Vorgehen ändert. Wir sind gewöhnt, für große Gruppen ein Gesetz zu beschließen, und zwar bitteschön für 20 Jahre; so lange sollte daran nicht mehr gerührt werden. Die Digitalisierung bringt es mit sich, dass die Menschen plötzlich individuelle Angebote bekommen. Jeder kann sich sein Müsli zusammenstellen, jeder kann sich individuelle Turnschuhe kaufen. Ich habe neulich eine interessante Geschichte gehört, dass die Turnschuhproduktion aus Schwellenländern wieder nach Deutschland zurückkommt, weil der Grad der gewünschten Individualisierung bei Turnschuhen so hoch ist, dem man nur mit digitaler Technologie gerecht werden kann. Die Menschen werden sich an individuelle Angebote gewöhnen und sagen: Was wollt ihr uns denn noch in großen Gruppen zu Millionen ansprechen? Ich bin gewöhnt, dass ich das bekomme, was genau für mich notwendig ist und was ich konkret brauche. Wie können wir Gesetze machen, deren Flexibilität so hoch ist, dass ich den individuellen Wünschen der Menschen entspreche, ohne dass es dazu kommt, dass es zum Schluss keine Kraft mehr gibt, die die Interessen der Beschäftigten auch wirklich vertreten kann? Im Bereich Bildung können wir das jetzt eigentlich schon ein Stück weit ausprobieren – indem es Institutionen gibt, indem es staatliche Zuschüsse gibt, aber indem wir nicht dirigieren und sagen „Du musst es genau so oder so machen“, sondern indem wir verschiedene Optionen anbieten, aus denen man dann jeweils wählen kann. Ich glaube, Arbeitsmarktpolitiker – ich bin ja kein Spezialist – sind sozusagen noch nicht am Ende der Diskussion, sondern brauchen immer auch die Rückkoppelung aus den Unternehmen, was gewünscht wird, was gebraucht wird und was wirklich hilfreich ist. Ich glaube, dass in dieser Legislaturperiode die Sensibilität für das, was sich abspielt, bis hinein in die kleinen und mittelständischen Unternehmen massiv gewachsen ist. Ich bin der IG Metall sehr dankbar, die sehr profund und sehr früh begonnen hat, sich mit der Arbeitswelt 4.0 zu befassen. Ich bin mir aber noch nicht ganz sicher, ob wir alle schon die Vielschichtigkeit der Arbeitswelt voll durchdrungen haben. Noch sind wir alle sehr im alten Denken verhaftet. Ich bin gespannt, wie es der Arbeitszeitrichtlinie in der Zukunft ergehen wird. Heute höre ich, dass das mit den 12 oder 13 Stunden Ruhezeit usw. kein Problem sei. Wir müssen aber aufpassen, dass wir zum Schluss nicht eine Situation haben, in der jeder mit einem Augenzwinkern weiß, dass die Dinge umgangen werden, weil es sonst anders gar nicht geht und auch gar nicht gewollt wird, aber wir nicht in der Lage sind, das dazugehörige Gesetz zu ändern. Das führt dann nämlich dazu, dass zum Schluss das ganze System zu sehr unter Druck gerät. Aber das ist sicherlich ein Thema, das wir hier heute nicht abschließend regeln können. Ich will jetzt auch nicht so zitiert werden, dass ich die Arbeitszeitregelung untergraben will und es morgen die entsprechende Schlagzeile gibt; das ist nicht mein Punkt. Deshalb bitte ich die Vertreter der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite, uns einfach auch zu helfen. Die Praxis soll nicht in Ausbeutung und permanente Verfügbarkeit ausarten, sondern muss auch den Wünschen der Beschäftigten entsprechen. Wir dürfen individuell Beschäftigte auch nicht sozusagen in die Halblegalität abwandern lassen. Vielleicht muss es auch unterschiedliche Gegebenheiten in kleinen Start-ups und in größeren Unternehmen geben. Wir brauchen jedenfalls bedarfsgerechte und bedarfsorientierte Lösungen. Wir haben bereits einige erste Schritte gemacht, was die Qualifizierung anbelangt. Der Bund fördert berufliche Qualifizierung auch in enger Kooperation mit der Wirtschaft. Es gibt die Bildungsprämie. Wir unterstützen also diejenigen, die sich mit ihrem Einkommen nicht ohne weiteres eine Weiterbildung leisten können. Einiges haben wir, wie gesagt, auch beim Meister-BAföG gemacht, wobei ich finde, dass wir diesbezüglich noch nicht am Ende der Fahnenstange angekommen sind. Der Beschluss der Arbeitnehmergruppe zur Weiterbildung im digitalen Zeitalter geht, wie ich glaube, in die richtige Richtung. Er ist ein wertvoller Beitrag und sagt uns noch einmal deutlich: Berufliche Bildung und Weiterbildung sollten vor allen Dingen im Betrieb stattfinden. Es wäre, ehrlich gesagt, geradezu absurd, wenn wir einerseits so stolz auf unser duales Ausbildungssystem sind, das die Komponenten Theorie und Praxis enthält, um dann andererseits sagen: Aber im Rahmen der Weiterbildung machen wir alles wieder außerhalb des Betriebs. Wo immer möglich sollten wir diese im Betrieb durchführen. Aber so, wie es im Bereich der beruflichen Bildung auch das Thema „außerbetriebliche Ausbildung“ gibt, kann es natürlich auch Module und Komponenten geben, die nicht im Betrieb geleistet werden können. Es kann natürlich auch Situationen geben, in denen ein klassisch produzierender Betrieb nicht allzu sehr über die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Weiterbildungsservice verfügt. Hierbei kann bzw. muss man dann also auch andere Fachleute hinzunehmen. Es stellt sich auch die Frage der Weiterbildung für Akademiker und inwieweit Fachhochschulen und Hochschulen lebenslanges Lernen mit ihren Kompetenzen noch mehr fördern können. Da müssen wir uns natürlich anschauen, dass wir nicht in den Bereichen, in denen heute schon alles überlaufen ist, noch ganz neue Möglichkeiten der Weiterbildung und des lebenslangen Lernens verankern. Aber ansonsten kann man jedenfalls noch mehr tun, als es heute schon der Fall ist. Auch E-Learning ist ein Thema. Die Digitalisierung verändert natürlich auch die Art des Lernens. Wenn ich jungen Leuten glauben darf, dann ist das sehr viel selbstverständlicher, als wir es als alte Hasen kennen, die denken, alles müsse persönlich abgefragt werden. Das ist ja heute auch sehr spannend und geht manchmal geradezu spielerisch. Auch dies muss man natürlich mit einbeziehen. Eine gewisse Unruhe, die mich hinsichtlich des ganzen Themas bewegt, beruht eigentlich auf der Zeitkomponente. Ich glaube, dass wir dabei sind, das alles richtig zu erfassen. Aber bekommen wir alles schnell genug auf die Reihe; und bekommen wir es auch in der Tiefe der kleinen und kleinsten Unternehmen auf die Reihe? Was die großen Unternehmen angeht, mache ich mir die allerwenigsten Sorgen. Deshalb ist es, glaube ich, auch eine große Aufgabe der großen Unternehmen, mit ihren Zulieferern zu sprechen – nicht nur um sozusagen Druck zu machen, dass man preislich günstig sein soll, sondern um herauszufinden, wie Bildungsmaßnahmen hinsichtlich der Vernetzung des Internets der Dinge von allen gleichermaßen genutzt werden können, damit man nicht nur auf der obersten Ebene Fachkräfte hat, sondern auch wirklich bis in die Tiefe der Produktion hinein digital gebildete Menschen hat. Letzter Punkt: Was kann der Staat – neben Unterstützungen, Förderungen, Anreizen und einer gut organisierten Bundesagentur für Arbeit, die natürlich selbstverwaltet ist, aber doch, sagen wir einmal, ein bisschen gelenkt und geleitet wird – noch tun? Ich glaube, wir müssen uns in der nächsten Legislaturperiode noch sehr viel stärker um die Frage der Langzeitarbeitslosen kümmern. Es gibt eine sehr gute Vermittlung in Arbeit im Bereich des Arbeitslosengeldes I. Bei der Langzeitarbeitslosenfrage aber sind die Gegebenheiten durch die Mischzuständigkeit bundesweit recht unterschiedlich, glaube ich; ich sage das in aller Vorsicht und mit Respekt vor den Kommunen. Bei den Optionskommunen ist es wieder ein bisschen anders. Ich sage damit nicht, dass etwas schlecht ist, aber wir müssen noch mehr Transparenz hineinbekommen. Ich bitte Sie auch noch einmal, uns Hinweise zu der Gruppe der Alleinerziehenden zu geben. Es gibt heute einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz. Es gibt heute einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Es gibt allerdings drei Jahre lang, bis das Kind drei Jahre alt ist – das ist sogar noch ein bisschen aufgesplittet –, so gut wie keine Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt. Ich will das jetzt auch nicht als Verfügbarkeit organisieren. Aber man lässt junge Mütter sozusagen drei Jahre lang – oder, wenn sie dann das zweite Kind haben, vielleicht sechs Jahre lang – quasi ohne Beratungsgespräch. In dieser Zeit ändert sich die Arbeitswelt. Daher hielte ich es für sehr vernünftig, wenn man jedes Jahr einmal ein Beratungsgespräch anbieten würde und vielleicht sagt: Guck mal, wir hätten hier eine Teilausbildung, wir hätten hier eine Teilzeitbeschäftigung, wir könnten dies und jenes machen; wir haben inzwischen auch Möglichkeiten der Kinderbetreuung. Wenn man mit zwei Kindern erst einmal sechs Jahre lang völlig aus dem ganzen Getriebe heraus ist, dann wird es nicht einfach, sich wieder in die moderne Arbeitswelt einzubringen. Ich will also niemanden zwingen, aber ich glaube, diese Gruppe einfach sich selbst zu überlassen und keinerlei gesetzliches Angebot zu haben, das könnten wir noch ändern. Das Zweite ist: Wir als Staat können den Weg der Digitalisierung natürlich dadurch fördern, dass wir selbst bessere digitale Angebote machen – angefangen mit der Gesundheitskarte bis hin zu allen Kontakten, die der Bürger mit seinem Staat hat. Ich sage einmal, wenn man sich hier in Berlin um die Termine auf dem Bürgeramt bemüht, dann hat man nur Kurzzeiterfahrung mit dem Internet, weil die Termine meistens sofort vergeben sind. Aber noch schöner wäre es natürlich, man könnte den ganzen Geschäftsgang gleich per Internet erledigen. Daher haben wir uns im Rahmen der Diskussion über die Bund-Länder-Finanzbeziehungen auch darauf verständigt, dass Bund und Länder an einem Bürgerportal arbeiten. Viele andere Länder um uns herum sind da schon weiter als wir. Ich glaube, je natürlicher wir die Digitalisierung auch in das öffentliche Leben hineinbringen, umso natürlicher werden Menschen dann auch die Veränderungen im Arbeitsleben wahrnehmen. Es ist ja heute schon so, dass Arbeitgeber zum Teil sehr gut an die Smartphone-Erfahrungen anknüpfen können, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ihrer Freizeit machen und die damit sozusagen gleich mit einem bestimmten Grundwissen einsteigen. Das soll aber nicht etwa heißen, dass sich der Mensch alles Notwendige an Wissen privat aneignen muss und dann am besten noch das modernste Smartphone mit in die Berufsschule bringen muss, weil die Berufsschule das nicht hat; das wäre auch nicht in Ordnung. Deshalb ist das Thema Ausstattung der Bildungseinrichtungen und Qualifizierung der Aus- und Weiterzubildenden aus meiner Sicht ein großer Schwerpunkt für die kommende Legislaturperiode. Insgesamt ist das ein sehr spannendes Thema, weil es auch wesentlich über unseren Wohlstand von morgen mitentscheidet. Wir als Politiker können Vorbild sein, indem wir auch dauernd lernen, um zu wissen, was überhaupt vor sich geht. Eigentlich müssten wir also immer einmal eine Schulstunde in der Fraktion oder im Parlament abhalten, in der wir dann relevante Gegebenheiten lernen. Ansonsten werden wir uns in den Betrieben eines Tages gar nicht mehr richtig auskennen. Man muss als Politiker wenigstens in der Lage sein, die richtigen Fragen zu stellen. Wenn man aber die Fachbegriffe nicht kennt und nicht weiß, worum es geht, dann kann man auch keine vernünftigen Fragen formulieren; und dann wird es irgendwie schwierig. Weiterbildung ist also ein Thema, das uns weiter beschäftigen wird. Danke für die Initiative der Arbeitnehmergruppe.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen der Veranstaltung zur Würdigung von Ehrenamtsprojekten am 11. Mai 2017 in Heidenheim
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-der-veranstaltung-zur-wuerdigung-von-ehrenamtsprojekten-am-11-mai-2017-in-heidenheim-445384
Thu, 11 May 2017 15:45:00 +0200
Heidenheim
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Ilg, sehr geehrter Herr Landrat Reinhardt, lieber Herr Kollege, lieber Roderich Kiesewetter, liebe Inge Gräßle, lieber früherer Kollege Schorsch Brunnhuber, sehr geehrter Herr Lienhard, stellvertretend für alle Wirtschaftsvertreter, und vor allem Sie, die Sie hier heute das Ehrenamt repräsentieren, Herr Kiesewetter hatte mich gekapert, muss ich sagen, mit einer Einladung, die mich gleich sensibilisiert hat; denn er fragte: Wollen wir nicht einmal etwas mit dem Ehrenamt machen? Dann kamen wir ins Gespräch, ich habe ihn ein bisschen ausgefragt – wie können wir das machen? Und daraus ist dann diese Veranstaltung geworden. Dass in Baden-Württemberg das Ehrenamt tief verankert ist, wusste ich. Aber dass hier so viele Repräsentanten des Ehrenamts zusammenkommen, übersteigt doch meine Erwartungen. Zeit ist heute gerade auch für Ehrenamtler ein knappes Gut – so, wie Zeit, die man sich füreinander nimmt, in unserer Welt überhaupt ein knappes Gut ist. Dass Sie sich die Zeit genommen haben, heute hierherzukommen, finde ich wunderbar. Und ich möchte Sie auch gleich zu Beginn bitten – Sie alle stehen ja auch für viele andere, die in Ihren Vereinen und in Ihren Initiativen engagiert sind –, jeden Einzelnen, der sich in unsere Gesellschaft einbringt, ganz herzlich zu grüßen. Sie sind ein tolles Stück Deutschland. Wenn es um das Ehrenamt geht, dann ist oft die Rede vom Kitt unserer Gemeinschaft, vom Rückgrat der Gesellschaft oder vom menschlichen Gesicht unseres Landes. Diese Formulierungen sind sicherlich alle richtig, aber sie beschreiben natürlich nur ansatzweise das, was Bürgerinnen und Bürger bei uns in Deutschland tun, um einen Beitrag für ein gutes Zusammenleben und für das Gemeinwohl zu leisten. Das lässt sich in einer Rede auch gar nicht zusammenfassen; deshalb freue ich mich auch auf die Diskussion, die nachher stattfinden wird. Es lässt sich aber durchaus ein deutliches Ausrufezeichen setzen, und zwar ein Ausrufezeichen hinter ein Wort, das mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig ist. Dieses Wort heißt: danke. Danke für das, was Sie für andere tun. Ich wage aber einmal die Behauptung, dass das auch für Sie eine Bereicherung ist. Natürlich ist es manchmal auch eine Beschwernis, aber worüber man sich manchmal nicht auch ärgert und worum man sich nicht müht, das hat man auch nicht so richtig gern. Insofern ist es, glaube ich, ein Geben und Nehmen. Auf der Einladungsliste zu diesem Termin standen über 500 Organisationen. Die Initiativen sind bunt gemischt. Sie sind eben so bunt und so vielfältig wie unser Leben. Das spiegelt sich glücklicherweise auch deutschlandweit im ehrenamtlichen Engagement wider. Herr Oberbürgermeister, Sie haben bei der Vorstellung Ihrer Stadt gesagt, dass ein solches Engagement in einer Stadt, in der auch eine solche wirtschaftliche Stärke dahintersteht, vielleicht einfacher als anderswo ist. Das ist einerseits sicherlich richtig, weil vielleicht auch das Sponsoring ein bisschen besser klappt als bei mir in Mecklenburg-Vorpommern, wie ich einmal vermute. Auf der anderen Seite ist es, wenn es den Menschen recht gutgeht und wenn sie in ihrer Arbeit gefordert sind, auch nicht unbedingt selbstverständlich, dass man sich einbringt. Das heißt, es ist sozusagen auch etwas sehr Schönes, dass zusätzlich zur wirtschaftlichen Stärke auch das Ehrenamt dazukommt. Noch eine Bemerkung zu Ihrer Vorstellung: Sie sagten, 40 Prozent seien nicht aus Heidenheim oder nicht aus Baden-Württemberg. Sie sind dann zwar auf die große Welt zu sprechen gekommen und haben gesagt, dass Sie eigentlich von China bis Indien alles repräsentieren – okay. Aber wenn wir in meinem Wahlkreis, zu dem die Hansestadt Stralsund, Greifswald und die Insel Rügen gehören, zum Beispiel eine Fachhochschule haben, die IT-Spezialisten ausbildet, dann sagen wir scherzhaft: Wir können eigentlich gleich einen Sonderzug bestellen; die eine Hälfte der Absolventen fährt nach Baden-Württemberg und lädt da die Spezialisten ab, und die andere Hälfte steigt in München aus. Insofern sind wir manchmal recht deprimiert, weil Sie unglaublich viele Fachkräfte aufsaugen. Ich vermute einmal, dass es auch viele junge Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern gibt, die sich inzwischen recht wohl in Heidenheim fühlen. Meine Bitte ist: Vergessen Sie nicht, im Urlaub ist es bei uns auch schön; und inzwischen sucht man sogar auch Fachkräfte. Wir sind aber beim Ehrenamt; und im Ehrenamt zeigt sich eine große Vielfalt. Vom Sportverein über die Altenpflege, den Beistand für sterbende Menschen, die Feuerwehr, das Technische Hilfswerk, die Kirchengemeinden, den Kulturbereich und die Kleiderkammern bis hin zu den Suppenküchen – alles lastet vor allem auf den Schultern ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer. Dass das Ehrenamt hier in Heidenheim einen besonderen Stellenwert genießt, sehen wir auch daran – es interessiert mich, nachher noch mehr darüber zu erfahren –, dass es eine Koordinierungsstelle gibt. Sie trägt den treffenden Namen: „Ich für uns“. Ich glaube, dieser Name macht auch den Kern des Ehrenamts deutlich. Es ist wirklich ein Gewinn für uns alle, für die Gemeinschaft. Natürlich verändern sich auch die Probleme in unserer Gesellschaft. Wir alle sprechen vom demografischen Wandel. Wir wissen: Es gibt weniger jüngere und mehr ältere Menschen – auch wenn das allerdings recht ungleich über die Republik verteilt ist. Wir wissen aber auch: Die Mobilität muss heute höher sein. Das führt gerade auch in ländlichen Regionen oft dazu, dass die Arbeitswege länger werden, was wiederum nicht dazu führt, dass mehr Zeit für das Ehrenamt zur Verfügung steht. Kinder arbeiten auch oft woanders als die Eltern, weshalb innerfamiliäre Unterstützung nicht mehr so natürlich ist wie früher. Deshalb ist gerade auch im Bereich des Zusammenlebens mit Älteren die ehrenamtliche Arbeit gewachsen. Wir haben als Bundesregierung mit unserem Konzept der Mehrgenerationenhäuser auf diese Entwicklung reagiert. Sie zeigen in Ihrer Stadt, dass es Ihnen beim Ehrenamt darum geht, dem, was man in den Vereinigten Staaten von Amerika vielleicht als „sorgende Gemeinschaft“ bezeichnen würde, den Weg zu ebnen. Ich finde es sehr gut, dass wir nachher noch darüber sprechen können, wie sich der Zusammenhalt der Gesellschaft auch im 21. Jahrhundert erhalten lässt. Seitens der Bundesregierung versuchen wir durch hauptamtliche Möglichkeiten Unterstützung zu geben. Wir haben in dieser Legislaturperiode zum Beispiel im Bereich der Pflege einen besonderen Schwerpunkt gesetzt. Das ist zwar auch mit Beitragserhöhungen verbunden, aber eben auch mit der Möglichkeit, Beruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren, sowie mit der Möglichkeit, die häusliche und die ambulante Pflege zu stärken und auch für diejenigen, die in Heimen als Pflegekräfte arbeiten, die Arbeit besser zu gestalten. Das alles ist ein Riesenkapitel. Schließlich geht es hierbei um einen Beitrag für eine menschliche Gesellschaft. Ich will daher einfach auch ganz besonders denen, die mit älteren Menschen arbeiten – ich sage hier allen danke, das ist klar; aber mit älteren Menschen zu arbeiten, auch das kann durch staatliche Regelungen gar nicht vollständig gelöst werden –, noch einmal extra ein herzliches Dankeschön sagen. Zu all dem, was hier noch zu tun ist und was Sie schon getan haben, kam im Jahr 2015 mit Macht noch eine neue Aufgabe hinzu. Wir hatten eine humanitäre Notlage. Ehrenamtliche zusammen mit Hauptamtlichen haben im ganzen Land dafür Sorge getragen, dass wir diese außergewöhnlich belastende und fordernde Situation bestehen konnten. Ich habe gehört, dass in Ihrem Landkreis zeitweise 1.000 Ehrenamtliche auf rund 1.400 Flüchtlinge kamen. Das ist natürlich ein total beeindruckendes Zahlenverhältnis. Viele haben, aufgerüttelt von den Nachrichten und Bildern, sehr spontan geholfen, Kleider ausgeteilt, Unterkünfte gesucht, bei Arztbesuchen und Behördengängen begleitet oder beim Ausfüllen von Formularen geholfen. Ich meine, wir haben ja eine hochentwickelte Bürokratie; und wenn man aus fernen Ländern kommt und die Sprache nicht versteht, dann stößt man natürlich auf ganz besondere Schwierigkeiten. Ich denke, dabei ist vielen klar geworden, was wir uns auch selber antun; aber gut. Jedenfalls haben Sie geholfen. Es war nicht nur eine zeitliche, sondern oft auch eine sehr emotionale Herausforderung, Menschen zuzuhören und zu erfahren, was sie erlebt haben. Inzwischen kümmern wir uns sehr viel mehr um Integration. Wir müssen zwischen denen unterscheiden, die ein Bleiberecht haben, und denen, die es nicht haben. Wir müssen auch darüber nachdenken, wie unser Zusammenleben organisiert ist und was es eigentlich ausmacht. Wir müssen denen, die zu uns gekommen sind, auch sagen, dass die Attraktivität und die Menschlichkeit unseres Landes auch auf Regeln beruhen und dass wir natürlich auch auf die Einhaltung dieser Regeln setzen müssen. Ich weiß aber, dass die vielen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren, durchaus etwas Neues aufnehmen können. Wir sind ja keine geschlossene Gesellschaft, sondern wir sind eine Gesellschaft, die auch neugierig ist. Dennoch ist die Arbeit mit denjenigen, die als Flüchtlinge zu uns gekommen sind und aus ihrer Heimat vertrieben wurden, ein ganz neues Stück Verantwortung. Aber mir war in der Vorbereitung mit meinem Kollegen Kiesewetter sehr wichtig, dass wir dieses Treffen hier nicht allein auf diese Arbeit reduzieren. Sie wurde und wird ja auch deshalb geleistet, weil wir eine lange Tradition und ein gut ausgebautes Netz von ehrenamtlichen Aktivitäten haben. Ich weiß nicht, wie es hier ist, aber bei mir im Wahlkreis sagen auch einige: Aha, nun habt ihr plötzlich so viel Zeit, für uns hattet ihr nicht so viel Zeit; oder habt ihr die jetzt auch für uns? Ich denke, wir müssen das auf alle in der Gesellschaft gleich verteilen. Deshalb ist es mir so wichtig, dass mit Ihnen sozusagen der gesamte Kranz ehrenamtlicher Aktivitäten hier im Saal vertreten ist. Was macht eine Gesellschaft lebenswert? Dazu gehören viele Dinge, die der Staat regeln muss. Mein politisches Verständnis ist, dass wir als Staat Leitplanken bauen sollten, die schützen, die aber nicht einengen – die Räume eröffnen, in denen sich Menschen mit ihren Gaben, ihren Fähigkeiten und ihren Talenten entfalten können. Deshalb wäre es auch spannend, wenn wir in der anschließenden Diskussion auch ein bisschen über das Verhältnis von Ehrenamt und Hauptamt – Sie gehen mit der Koordinierungsstelle ja einen sehr interessanten Weg – und über Verrechtlichung und Nichtverrechtlichung sprechen können. Das sind ja spannende Fragen. Wo beginnt das eine, wo endet das andere? Ich denke, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland gerade auch in der augenblicklichen wirtschaftlichen Situation mit einer vergleichsweise geringen Arbeitslosigkeit die Möglichkeiten haben, uns ehrenamtliche Aktivitäten leisten zu können. Die wirtschaftliche Lage ist derzeit relativ gut, aber wir wissen auch, dass das jeden Tag neu erarbeitet werden muss. Das ist heute hier nicht das Thema, aber das beschäftigt uns an anderer Stelle. Heute freue ich mich einfach, mit Ihnen hier zusammen zu sein. Ich freue mich natürlich auch, Herr Oberbürgermeister, dass Sie den Europatag begangen und sich noch einmal vergewissert haben, was für ein Glück es ist, dass wir in die Europäische Union eingebunden sind. Manchmal schmälern uns ja Diskussionen über die Richtlinie A, B und C die Lust an Europa ein bisschen. Aber wenn man sich in der Welt umschaut, dürfen und sollten wir nie vergessen, dass die Tatsache, dass wir seit vielen Jahrzehnten in Frieden leben, alles andere als selbstverständlich ist und dass sie ihre Grundlagen hat. Eine dieser Grundlagen ist nach meiner festen Überzeugung die Europäische Union. Selbst wenn wir uns in Europa manchmal übereinander ärgern: Das Gemeinsame, das Verbindende, die Tatsache, dass wir in Freiheit leben, Pressefreiheit haben, Meinungsfreiheit haben, Religionsfreiheit haben, uns beruflich frei betätigen können, ist ein solcher Schatz, dass wir ihn hüten, bewahren und weitergeben sollten. Sie alle tun das mit Ihrer täglichen Arbeit. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Festakt zum 100. Jubiläum des Deutschen Museumsbunds
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-festakt-zum-100-jubilaeum-des-deutschen-museumsbunds-798530
Sun, 07 May 2017 17:00:00 +0200
Berlin
Kulturstaatsministerin
Alt werden wollen wir alle – alt sein natürlich nicht. Deshalb beschäftigt die Frage, wie man frisch und fröhlich 100 Jahre alt wird, ein ganzes wissenschaftliches Fachgebiet. Das todsichere Patentrezept für einen gesunden 100. Geburtstag ist die Gerontologie uns bisher schuldig geblieben, aber wenn ich den – dank einschlägiger Ratgeberliteratur gut dokumentierten – Forschungsstand richtig überblicke, dann hat zumindest der Deutsche Museumsbund alles richtig gemacht, und dazu darf ich – auch im Namen von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, die heute leider verhindert ist – herzlich gratulieren. Wie wird man in Bestform 100 Jahre alt? Die Erkenntnisse, die Altersforscher aus den Regionen der Welt zusammen getragen haben, in denen besonders viele 100jährige leben, lassen sich über eine gesunde Ernährung hinaus auf eine einfache Formel bringen, die da lautet: Bewegung – Beziehung – Bestimmung. Und das, meine Damen und Herren, lässt sich keineswegs nur in den Bergregionen Sardiniens oder im japanischen Okinawa erforschen, wo die 100jährigen überproportional vertreten sind, sondern auch anhand der Erfolgsgeschichte eines Verbands, der unter teils schwierigen gesellschaftlichen Bedingungen ein ganzes, wahrlich bewegtes Jahrhundert durchstanden und sich – insbesondere mit dem in den 1970er Jahren einsetzenden „Museumsboom“ – als gemeinsame starke Stimme einer ebenso vielstimmigen wie vielfältigen Branche bewährt und behauptet hat. In Bewegung zu bleiben – das erste, gerontologisch bestätigte Geheimnis der Langlebigkeit –, ist dem Deutschen Museumsbund vor allem deshalb gelungen, weil er sensibel wie ein Seismograph auf die Herausforderungen der Gegenwart reagiert und sich dabei stets als gestaltende gesellschaftliche Kraft für die Zukunft verstanden hat. Dafür steht nicht nur die diesjährige Jahrestagung unter dem Motto „digital – ökonomisch – relevant: Museen verändern sich!“, auf deren Ergebnisse ich sehr gespannt bin. Dafür steht auch und insbesondere der Gewinn an gesellschaftlicher Relevanz der Museen: die Karriere einer altehrwürdigen, dabei aber keineswegs verstaubten Institution, die sicherlich nicht allein den Umständen einer orientierungsbedürftigen Zeit geschuldet ist, sondern auch der Innovationsbereitschaft der Museen, die der Deutsche Museumsbund immer wieder angeregt und unterstützt hat Das zweite wissenschaftlich untermauerte Geheimnis eines 100jährigens Lebens ist ein eng geknüpftes Netz an Beziehungen, genauer: sich um andere zu kümmern und auf andere zählen zu können. Ein „Kümmerer“, das war und ist der Deutsche Museumsbund bis heute für seine rund 3.100 Mitglieder – für die Museen, deren Interessen er vertritt, deren Qualitäten er sichtbar macht und deren Öffnung im Sinne des nach wie vor aktuellen Schlachtrufs „Kultur für alle!“ er vorantreibt. Für dieses gesamtstaatlich bedeutende Wirken kann der Museumsbund seinerseits schon seit mehr als 40 Jahren auf die Unterstützung des Bundes zählen, und diese enge Beziehung hat sich insbesondere deshalb als außerordentlich stabil erwiesen, weil beide Seiten von ihr profitieren. Die schöne Erfahrung einer verlässlichen kulturpolitischen Partnerschaft war auch mir als Kulturstaatsministerin schon mehrfach vergönnt – zum Beispiel, als es darum ging, die Folgen des nationalsozialistischen Kunstraubs zu bewältigen und die dazu erforderliche Provenienzforschung voran zu bringen, aber auch im Zusammen-hang mit dem Schutz des kulturellen Erbes in Deutschland und weltweit. Deshalb nehme ich den 100. Geburtstag gerne zum Anlass, Ihnen, lieber Herr Professor Köhnen, und Ihrem Team herzlich zu danken für die immer wieder hilfreiche, kompetente fachliche Beratung und Ihr Engagement für das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste und für das neue Kulturgutschutzgesetz. Was mit „Bestimmung“ gemeint ist – dem dritten, von Altersforschern propagierten Prinzip der Langlebigkeit -, verrät der Wortschatz einer Region, in der ganz besonders viele 100jährige leben. Auf dem japanischen Inselarchipel Okinawa kennt man interessanterweise kein Wort für „Ruhestand“; dafür gibt es aber ein Wort für das „Gefühl, etwas zu haben, wofür es sich lohnt, morgens aufzustehen“. Dieses Wort heißt – ich hoffe, ich spreche es richtig aus – Ikigai, und so etwas hat auch der Deutsche Museumsbund. Bei Ihnen, lieber Herr Professor Köhnen, heißt das schlicht und einfach „unser Auftrag“, was zwar weniger poetisch klingt, sich aber als nicht weniger wirksam erwiesen hat als das Ikigai in Okinawa. Kein Wunder, denn das Engagement für eine vielfältige und zukunftsfähige Museumslandschaft ist wahrlich etwas, für das es sich lohnt aufzustehen – und zwar nicht nur morgens, sondern – im übertragenen Sinne – auch politisch: wo immer es darum geht, die Institution Museum – „das Chamäleon im Kulturbetrieb“, wie es im Feuilleton der FAZ einmal so schön hieß – als Ort der Bildung und Selbstvergewisserung zu verteidigen. Man tritt gewiss keinem Schuppenkriechtier zu nahe, wenn man in diesem Zusammenhang feststellt, dass das „Chamäleon im Kulturbetrieb“ seine Reptilienschwester sogar noch an Wandlungsfähigkeit übertrifft – und dass eben darin seine besondere Stärke als Kulturvermittler liegt. Vom Auswandererhaus im Norden bis zum Zeppelinmuseum im Süden, von den großen Museumskomplexen in Berlin, München oder Dresden bis zu den Heimatstuben und den vielen liebenswerten, kleinen, teils skurrilen Ausstellungshäusern abseits der großen Städte: Die rund 6.700 Museen in Deutschland treten in jeder nur erdenklichen Form und Gestalt in Erscheinung – als geschichtsträchtige Gebäude wie das Deutsche Historische Museum oder versteckte Kleinode wie das Gründerzeitmuseum von Charlotte von Mahlsdorf in meinem Wahlkreis Berlin Marzahn, als Schmuckstücke und Schatzhäuser für praktisch alles, was uns lieb und teuer ist oder was Bedeutung hat für unser Zusammenleben. Dabei sind Museen prinzipiell anpassungsfähig an alle Menschen unabhängig von Herkunft, Sozialisation, Bildung und Alter und selbst für erfahrene Museumsbesucher wie mich immer für eine Überraschung gut: Mein erster Besuch als Kulturstaatsministerin im Ozeaneum Stralsund beispielsweise nahm insofern eine unerwartete Wendung, als ich mit einer Patenschaft für Olli, einen Humboldtpinguin, wieder nach Hause gefahren bin. Olli kann, nebenbei bemerkt, bis zu 30 Jahre alt werden, ein Chamäleon dagegen wird üblicherweise nicht mehr als 15 Jahre alt, und spätestens an dieser Stelle hinkt der schöne Feuilleton-Vergleich. Denn schließlich wünschen wir uns nicht nur chamäleonhafte Wandlungsfähigkeit, sondern auch Langlebigkeit für identitätsstiftende Kulturinstitutionen, die als kollektives Gedächtnis und Bewusstsein wie keine anderen unsere gemeinsamen Erinnerungen, Werte, Perspektiven auf die Welt sichtbar und erfahrbar machen. Deshalb, meine Damen und Herren, will ich meine Glückwünsche zum 100jährigen Bestehen des Deutschen Museumsbunds abschließend mit einigen Gedanken zur Zukunftsfähigkeit der Museen verbinden. Bewegung – Beziehung – Bestimmung: Um diese eingangs erwähnten Voraussetzungen für ein gesundes Altwerden geht es auch für die Museen, die im 21. Jahrhundert mehr denn je Bewegung durch Innovationskraft, Beziehungen zu verlässlichen Partnern und Förderern und eine öffentliche Auseinandersetzung mit ihrer Bestimmung brauchen. In Bewegung bleiben heißt beispielsweise, die digitalen Möglichkeiten als Fortsetzung des Bildungs- und Vermittlungsauftrags mit anderen Mitteln zu verstehen. Museen, die Kinder mitnehmen auf eine interaktive Bilderreise, die im Museumsblog oder in den sozialen Netzwerken mit gut aufbereiteten, aktuellen Informationen und Tipps junge Leute ansprechen, erreichen auch diejenigen, die die ehrfürchtige Stille und die Prunksäle der großen Museen eher „abturnt“- um es im Jugendsprech zu sagen. Das sind die Museumsbesucher von morgen, wenn man sie in jungen Jahren, möglichst schon vor dem 12. Geburtstag, erreicht. Deshalb freue ich mich über das Engagement vieler Museen, mit zeitgemäßen Formen der Kommunikation und Partizipation auch weniger kulturaffine Menschen in ihrer jeweiligen Lebenswelt abzuholen. Dafür braucht es unbedingt auch mehr Unterstützung aus der Politik: Deshalb will ich mich bei der Kultusministerkonferenz dafür einsetzen, dass die Lehrpläne unserer Schulen und Ausbildungsbetriebe mindestens einen Museumstag im Jahr vorsehen. So wie wir – aus guten Gründen – viel dafür tun, die Begeisterung für MINT-Berufe zu wecken, so müssen wir alles dafür tun, möglichst früh die Begeisterung für Museen zu wecken. Hier müssen sich nicht nur die Museen bewegen; hier müssen sich auch die Schulen und die politisch Verantwortlichen bewegen. Denn ein Museumsbesuch sagt häufig mehr als viele Schulstunden. Weil angemessene Antworten auf den digitalen Wandel natürlich nicht zuletzt eine Frage des Geldes sind, scheint mir auch die zweite Empfehlung der Altersforscher für ein langes Leben nicht verkehrt: Beziehungen zu knüpfen, eingebunden zu sein in ein Netz aus Freunden und Förderern. Im föderalen Gefüge sind die Möglichkeiten des Bundes, Museen zu unterstützen, – wie Sie wissen – beschränkt. Museumsförderung ist Angelegenheit der Länder, es sei denn, es handelt sich um Aufgaben der gesamtstaatlichen Repräsentation, wie zum Beispiel im Rahmen der Bundesverantwortung für die Hauptstadtkultur. Zum Glück gibt es viele Museen in Deutschland, die von ihrer Gründung bis heute getragen, ja geradezu durchdrungen sind vom Bürgersinn kunst- und kulturbegeisterter Zeitgenossen, wie beispielsweise das Städel in Frankfurt, dem ich vor zwei Jahren zum 200. Geburtstag gratulieren durfte. Noch mehr als bisher brauchen wir aber breite öffentliche Aufmerksamkeit und Wertschätzung für das, was unsere Museen landauf landab für unsere Gesellschaft leisten – so wie etwa im Rahmen der von mir ins Leben gerufenen Initiative „Kultur öffnet Welten“, die sichtbar macht, was Kultureinrichtungen, insbesondere Museen, zu Integration und Zusammenhalt beitragen. Der Bereitschaft in Politik und Gesellschaft, sich als Teil eines starken Kulturbeziehungsnetzwerks auf allen Ebenen für die Zukunft der Museen stark zu machen -so wie der Deutsche Museumsbund es in seinem Appell „Wir sind zum Wandel bereit!“ fordert – kann das nur nützen, genauso wie eine öffentliche Debatte über die gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Erwartungen an unsere Museen einerseits und die dafür notwendigen Ressourcen andererseits. In diesem Sinne halte ich eine Auseinandersetzung mit diesem Aufruf des Deutschen Museumsbunds für wichtig, ja geradezu für geboten. Die Bestimmung schließlich – das Gefühl, etwas zu haben, wofür es sich lohnt, morgens aufzustehen – treibt nicht nur alle leidenschaftlichen Museumsmacher vom Direktor bis zum Ausstellungsführer, von der Kuratorin bis zur Konservatorin an. Auch Museen brauchen das, was man in Okinawa „Ikigai“ und beim Deutschen Museumsbund „Unseren Auftrag“ nennt – und sie sehen sich dabei mit enormen Erwartungen konfrontiert, zu Verständnis und Verständigung beizutragen. Denn die Herausforderungen unserer Zeit – vom demographischen Wandel über den Klimaschutz bis zu Migration und Friedenssicherung – erfordern mehr denn je die Bereitschaft, unterschiedliche Perspektiven einzubeziehen. Verständigungsbereitschaft braucht es auch, um über eine Million Flüchtlinge zu integrieren, die Deutschland 2015 und 2016 aufgenommen hat. Gleichzeitig sind in vielen Ländern in und außerhalb Europas populistische Parteien auf dem Vormarsch und machen Stimmung gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Vielfalt und Freiheit. Gerade dort, wo das gesellschaftliche Klima von verhärteten Fronten geprägt ist und Verständigung kaum noch möglich scheint, ist es wichtig, dass Museen sich noch mehr als bisher als Orte des Dialogs positionieren, dass sie ihre Türen so weit aufmachen wie es nur geht und ihre Sammlungen auch daraufhin befragen, wie sie zur Verständigung in unserer Gesellschaft, zur Auseinandersetzung mit den Fragen unserer Zeit beitragen können. Genau das erwartet uns im Humboldt Forum, das 2019 seine Pforten öffnen soll. Die außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die wir hier präsentieren wollen, bieten in Verbindung mit der benachbarten Museumsinsel und deren Kulturschätzen aus Europa und dem Nahen Osten einmalige Einblicke in das kulturelle Erbe der Menschheit. Sie offenbaren, dass es ein „Wir“ jenseits kultureller und nationaler Grenzen gibt. Zukunftsweisend ist das Humboldt Forum vor allem als Ort der Verständigung: Hier soll ein Ort möglichst breiter öffentlicher Debatten entstehen – ein Museum, das die Gesellschaft nicht nur abbildet, sondern auch mitformt -, und ich lade alle Mitglieder des Deutschen Museumsbunds herzlich ein, sich künftig bei der Bespielung einzubringen. Denn es sind Ihre Einrichtungen, die jede auf ihre Weise zur Verständigung darüber beitragen, welches Land wir im 21. Jahrhundert sein wollen: sei es durch die Auseinandersetzung mit Heimat und Vergangenheit; sei es in der kulturellen Bildung und Vermittlung; sei es in der Förderung der künstlerischen Avantgarde; sei es in der Repräsentanz Deutschlands als europäisch gewachsene Kulturnation und freiheitlich verfasster, demokratischer Rechtsstaat. Älter zu werden, ohne jemals alt und antiquiert zu wirken: Dieses Kunststück, das nur wenig 100jährige so gut hinbekommen wie der Deutsche Museumsbund, möge deshalb auch seinen Mitgliedern gelingen. Vorsicht bei der Auswahl der Vorbilder und Ratgeber kann dabei nicht schaden, denn Sie wissen ja, meine Damen und Herren: Mit dem Altwerden ist das so eine Sache. Profisportler gelten schon mit 30 Jahren als alt, in der Politik dagegen zählt man mit 40 noch zu den Nachwuchstalenten, und während Frauen Falten bekommen, kommen Männer in die „besten Jahre“ – wo so mancher dann zumindest gefühlt auch für den Rest seines Lebens bleibt. Die glaubwürdigsten Vorbilder und Ratgeber sind also wohl schlicht und einfach andere 100jährige – so wie Ieoh Ming Pei, der Architekt des Erweiterungsbaus des Deutschen Historischen Museums, der erst vor wenigen Tagen seinen 100. Geburtstag gefeiert hat. „Architektur darf nicht modisch sein. Sie braucht einen langen Atem“, hat er vor 20 Jahren in Berlin gesagt, und dasselbe gilt auch für Museen, die sich in ihrer Wandlungsfähigkeit als langlebig erweisen wollen. Solche Museen dürfen nicht modisch sein. Sie brauchen einen langen Atem. In diesem Sinne wünsche ich dem Deutschen Museumsbund und allen Museen weiterhin viel Aufmerksamkeit und Erfolg, vor allem aber einen langen Atem!
Zum 100. Geburtstag eines der ältesten Museumsverbände der Welt, dankte Kulturstaatsministerin Grütters dem Deutschen Museumsbund für die „Suche nach neuen Formen der Museumskommunikation, mit denen wir auch weniger kulturaffine Menschen in ihrer jeweiligen Lebenswelt zum Dialog einladen können.“
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Eröffnung des 54. Theatertreffens der Berliner Festspiele
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-eroeffnung-des-54-theatertreffens-der-berliner-festspiele-798534
Sat, 06 May 2017 20:00:00 +0200
Berlin
Kulturstaatsministerin
Im Kulturressort hat man zwar bedauerlicherweise nicht gerade den größten Etat und die üppigste Personalausstattung – aber auf alle Fälle die schönsten dienstlichen Termine. Da kommt im Kabinett manchmal schon ein wenig Neid auf unter den Kolleginnen und Kollegen … . Wer würde nicht lieber das Theatertreffen eröffnen als – sagen wir – eine Industriemesse oder einen neuen Autobahnabschnitt? Gründe, dem Theatertreffen auch dieses Jahr wieder voller Vorfreude entgegen zu sehen, gibt es zweifellos genug – vor allem natürlich das abwechslungs-reiche Programm. Wo sonst lässt sich innerhalb weniger Tage die ganze Bandbreite des deutschsprachigen Sprechtheaters von Hamburg im Norden bis Basel im Süden, von Dortmund im Westen bis Leipzig im Osten erleben? Wo sonst sind tradierte wie auch zeitgenössische Stoffe, internationale Koproduktionen und Spielorte der Freien Szene gewissermaßen unter einem Dach vereint? Wo sonst ist Inspiration durch neue Erzählformen und experimentelle Formate garantiert inklusive? Allerdings hat das Theater in jüngster Zeit gewissermaßen Konkurrenz bekommen – und zwar ausgerechnet auf den Bühnen der Politik. Vorbei die Zeiten, in denen es das Privileg von Schauspielern war, mit außergewöhnlichen Auftritten zu unterhalten oder mit bemerkenswerten Inszenierungen zu provozieren! „Alternative Fakten“ und bizarre Szenen gehören neuerdings zum fernseh- und twitterwirksamen, politischen Repertoire … . Doch mag die Wirklichkeit das Theater manchmal auch an Wahnsinn überbieten, verehrte Damen und Herren: Künstlerische Vielfalt, wie wir sie beim Theatertreffen erleben, ist immer stärker als populistische Einfalt. Ob in Deutschland, Europa oder jenseits des Atlantiks: Nicht umsonst fürchten all jene, die ihre Macht auf diffuse Ängste und niedere Instinkte bauen, die gewaltigen Kräfte der Kunst: die Fähigkeit der Kunst, zu berühren, ihre Kraft, Schweigen und Tabus zu brechen, ihr Vermögen, die Sehnsucht nach einem anderen Leben, nach einer besseren Welt zu wecken, ihren Ehrgeiz, nicht Rädchen, sondern Sand im Getriebe der Politik zu sein. Denn im Gegensatz zu populistischen Parolen, die Ängste schüren, und „fake news“, die Verwirrung stiften, lässt die Kunst uns klarer zu sehen. „Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt.“ So hat es Pablo Picasso einmal formuliert. Das erleben wir nicht zuletzt, wenn der Vorhang sich hebt: In Zeiten des Aufruhrs und des Umbruchs wird das Theater zum Ort der Selbstbesinnung. Wo Populisten aus der Abwertung Andersdenkender, Andersglaubender und Anderslebender politischen Profit für ihre nationalistische Ideologie zu schlagen versuchen, kann auf der Bühne sichtbar und spürbar werden, was Menschen bei aller Verschiedenheit als Menschen verbindet. Wo eine lautstark pöbelnde Minderheit die schweigende Mehrheit mit ihrer Fremdenfeindlichkeit beschämt, wo zwischen verhärteten Fronten Sprachlosigkeit herrscht, können Theater als Stätten öffentlicher Verhandlung von Konflikten und gesellschaftlicher Selbstreflexion zur Verständigung beitragen und demokratischen Werten jenseits argumentativer Auseinandersetzung Gehör verschaffen. Wieviel Haltung unsere Theater in diesem Sinne zeigen, habe ich einmal mehr bei meiner jüngsten Theaterreise durch Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg vor einigen Monaten erlebt – und leider auch, wie sehr die Theater vielerorts um ihr Überleben kämpfen. Der Bund hat aus verfassungsrechtlichen Gründen keine Möglichkeit, einzelne Bühnen institutionell zu fördern oder gar ausbleibende Mittel der Kommunen und der Länder zu kompensieren. Aber eines versuchen wir immerhin – nämlich Theatern auch abseits der Metropolen Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu verschaffen. Dazu werde ich auch in diesem Jahr den Theaterpreis des Bundes vergeben – als Unterstützung und Ermutigung für kleine und mittlere Bühnen, in denen wahre Liebhaber am Werk sind und mit viel Herzblut und persönlichem Einsatz dafür sorgen, dass wir in Deutschland nicht nur in großen Städten, sondern auch in der so genannten „Provinz“ ein großartiges Kulturangebot auf hohem professionellen Niveau für alle Bürgerinnen und Bürger haben. Ein wunderbares Beispiel für die besondere Fähigkeit des Theaters, existentielle Fragen unseres Lebens und Zusammenlebens zu verhandeln, ist Anton Tschechows Drama „Drei Schwestern“: Die hoch gelobte Inszenierung des Theaters Basel, die das urmenschliche Streben nach Glück aus dem Russland des frühen 20. Jahrhunderts in unsere globalisierte Gegenwart holt, zieht uns in den Sog eines – unseres – „gähnenden Lebenslügenlochs“, wie es in einer der vielen enthusiastischen Kritiken vielversprechend hieß. Freuen wir uns also auf virtuose Schauspiel- und Inszenierungskunst! Freuen wir uns auf den Auftakt des Theatertreffens 2017 – und einmal mehr, ganz im Sinne Pablo Picassos, auf ein Fest jener ganz besonderen Lügen, die uns die Wahrheit begreifen lehren.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des Großen Übersee-Tags des Übersee-Clubs e. V. am 5. Mai 2017 in Hamburg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-des-grossen-uebersee-tags-des-uebersee-clubs-e-v-am-5-mai-2017-in-hamburg-434130
Fri, 05 May 2017 11:27:00 +0200
Sehr geehrter Herr Behrendt, sehr geehrter Herr Erster Bürgermeister, lieber Olaf Scholz, sehr geehrte Frau Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft, Exzellenzen, sehr geehrte Mitglieder des Konsularischen Korps, meine Damen und Herren, herzlichen Dank für Ihre Einladung zum Großen Übersee-Tag des Übersee-Clubs. Nur wenige andere deutsche Wirtschaftsforen können auf eine so lange und bewegende Geschichte zurückblicken wie der Übersee-Club. Vor mittlerweile 95 Jahren wurde er auf Initiative des Bankiers Max M. Warburg gegründet. Damals befand sich Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg inmitten der Umstellung von einer Kriegs- in eine Friedenswirtschaft. Wirtschaft und Gesellschaft litten unter einer hohen Inflation. Die Produktivität war gering. Das schwache Wachstum reichte nicht aus, um die von den damaligen Siegermächten geforderten Entschädigungszahlungen zu leisten. Deutschland drohte im internationalen Vergleich immer weiter zurückzufallen. Die Gründungsmitglieder des Übersee-Clubs waren Kaufleute, Industrielle und leitende Köpfe der Verwaltung, die sich durch diese Umstände nicht entmutigen ließen, sondern das Heft des Handelns in die Hand nehmen wollten. Dabei verhedderten sie sich nicht im Klein-Klein von Partikularinteressen. Das Fundament des Übersee-Clubs waren von Beginn an vielmehr grundlegende Werte: Demokratie, Freiheit, Offenheit und Toleranz. Diese Werte waren damals alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Aber auf dieser Grundlage diskutierten die Mitglieder Möglichkeiten und Wege, wie die internationale Wirtschaft gestärkt und die Beziehungen Hamburgs zu den globalen Märkten weiterentwickelt werden könnten. Diese Werte und Ziele haben sich weder nach dem Scheitern der Weimarer Republik und der Auflösung des Übersee-Clubs noch seit seiner Neugründung im Jahr 1948 geändert. Bestes Beispiel dafür ist der seit 1950 jährlich stattfindende Übersee-Tag in Erinnerung daran, dass Kaiser Friedrich I. Barbarossa im Jahr 1189 Handelsprivilegien an die Stadt Hamburg verliehen hatte. – So jedenfalls denkt man, war es. Die Liste der bisherigen Redner auf den Übersee-Tagen ist nicht nur lang, sondern auch gespickt mit herausragenden Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik aus dem In- und Ausland. Es spricht für sich, dass nicht nur alle Bundeskanzler und fast alle Bundespräsidenten Redner vor dem Übersee-Club waren. Wenn sich etwas wie ein roter Faden durch die Chronologie Ihres Forums und die bisherigen Übersee-Tage zieht, dann ist es die außerordentliche Bedeutung, die Sie Weltoffenheit und Internationalität beimessen. Das kommt auch heute in der Vergabe der Stipendien für Auslandsaufenthalte junger Wissenschaftler zum Ausdruck. Hieraus spricht die tiefe Erkenntnis, dass sich globale Herausforderungen – davon gibt es im Augenblick nachweislich viele – nicht im nationalen Alleingang, sondern nur global lösen lassen. Max M. Warburg hatte dies bereits in seiner Rede zur Gründung des Übersee-Clubs auf den Punkt gebracht. Ich möchte ihn zitieren: „Der Versuch zur Selbstbescheidung als geschlossener Handelsstaat wäre für uns Deutsche ein Selbstmordversuch, für kein Land der Welt ein Glück. […] Geschlossen müssen wir uns einsetzen für unser Ziel, den neuen Freihandel, […] der mit den Interessen des Kaufmanns zugleich die Interessen der Völker fördert.“ – Besser kann man es eigentlich auch heute nicht sagen. Meine Damen und Herren, deshalb trage ich auch Eulen nach Athen, wenn ich vor dem Übersee-Club sage: Deutschland profitiert auch und gerade heute noch in besonderem Maße vom Freihandel. Doch die Geschichte zeigt auch eindrücklich: Es gibt immer wieder Zeiten zunehmenden Protektionismus. Dagegen müssen wir anstehen und Überzeugungsarbeit leisten. Kaum ein anderes großes Industrieland ist so stabil in die Weltwirtschaft eingebunden wie Deutschland. Im Jahr 2016 hat Deutschland Waren und Dienstleistungen im Wert von fast 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts exportiert. Für viele deutsche Exportgüter – zum Beispiel aus dem Investitionsgüterbereich und dem Anlagenbau – sind wir auf Vorleistungen aus anderen Ländern angewiesen. Gerade für unsere Volkswirtschaft wäre deshalb Protektionismus besonders schädlich. Nur mit offenen Märkten und freiem Handel können wir die gute wirtschaftliche und soziale Lage unseres Landes stärken, damit die Menschen auch in Zukunft in Deutschland gut leben können. Und nur mit offenen Märkten und freiem Handel werden wir auch die Lage in Europa weiter stärken können. Deshalb hat sich die Bundesregierung stets für ein regelbasiertes multilaterales Handelssystem der WTO eingesetzt. Darüber hinaus befürworten wir als Bundesregierung mit Nachdruck den Abschluss bilateraler und regionaler Handelsabkommen der Europäischen Union. Nach den erfolgreichen Abkommen mit Südkorea und Kanada wird es jetzt insbesondere darum gehen, die Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit Japan zum Abschluss zu bringen. Der japanische Ministerpräsident hat bei seinem jüngsten Besuch anlässlich der CeBIT, auf der Japan Gastland war, diesen Wunsch von japanischer Seite erneut bekräftigt. Ich sage auch: Freihandel bleibt auch mit Blick auf die USA ein wichtiges Thema. Ich persönlich halte ein transatlantisches Freihandelsabkommen nach wie vor für ein wichtiges Vorhaben. Denn ein Abkommen zwischen der Europäischen Union und den USA würde immerhin 30 Prozent des Welthandels abdecken. Wenn wir uns einmal überlegen, was wir bei CETA, dem Freihandelsabkommen mit Kanada, an Standards setzen konnten, dann wissen wir auch, so würde auch ein solches Abkommen Standards für einen offenen und fairen Handel setzen können, an denen dann auch viele andere Abkommen weltweit nicht vorbeikommen würden. Diesen Ansatzpunkt für eine gerechte Gestaltung der Globalisierung sollten sich die Demokratien in Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika nicht nehmen lassen. Meine Damen und Herren, 2017 ist auch für Hamburg ein wichtiges Jahr, da am 7. und 8. Juli hier der G20-Gipfel stattfinden wird. Wir danken der Freien und Hansestadt und dem Senat ausdrücklich dafür, dass Hamburg dies, bei allen Problemen, die auftreten können, auch mit Vorfreude betrachtet. Sie wissen: Seit 2008, ausgelöst durch die Finanzkrise, kommen die Staats- und Regierungschefs der G20 einmal im Jahr zusammen. Bis dahin waren es nur die Finanzminister. Seitdem hat sich das Format der G20 zu einem zentralen Forum der multilateralen Zusammenarbeit und zur Gestaltung globaler Rahmenbedingungen entwickelt. Die G20 repräsentiert etwa 80 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung und zwei Drittel der Weltbevölkerung. Sie ist damit ein Beispiel für gelebte Globalisierung. Sie ist zudem ein geeignetes Forum zur Diskussion und Lösung globaler Probleme. Auch deshalb haben wir die G20-Agenda unter der diesjährigen deutschen Präsidentschaft nochmals erweitert. Neben klassischen Wirtschafts- und Finanzthemen wollen wir uns im Kreis der G20 verstärkt auch dem Klimawandel, der Armut, der wirtschaftlichen Entwicklung in unserem Nachbarkontinent Afrika, der Gesundheit und der Flucht und Migration widmen. Das sind Themen, die die Menschen bewegen – in Deutschland und außerhalb Deutschlands. Sie sind Ausdruck einer immer enger zusammenwachsenden Welt. Vor diesem Hintergrund steht auch das Leitmotiv unserer Präsidentschaft: „Shaping an Interconnected World“ – eine vernetzte Welt gestalten. Wir sind davon überzeugt, dass die globalisierte und vernetzte Welt Deutschland und den Menschen nutzt, wenn wir es richtig machen. Aber wir wissen, dass vieles, was sich entwickelt, auch für Verunsicherung sorgt. Wir wollen deshalb mit unserer G20-Präsidentschaft die Gelegenheit ergreifen, Globalisierung auf der Grundlage von Werten und klaren Regeln voranzubringen und den Bürgern dabei auch ein Stück weit Orientierung zu bieten. Unsere Agenda richtet sich an drei inhaltlichen Säulen aus: Stabilität sicherstellen, Zukunftsfähigkeit verbessern, Verantwortung übernehmen. Weltweiter Wohlstand erfordert starke internationale Zusammenarbeit und belastbare Verbindungen. Symbolisiert wird unser diesjähriges G20-Motto durch einen Kreuzknoten. Dieser verbindet insbesondere dann, wenn die Zugkräfte hoch sind. Hamburg ist ein Gipfelort, der dank des Hafens seit Jahrhunderten als Leuchtturm des freien Handels wahrgenommen wird. Daher ist Hamburg als Gipfel-Gastgeber geradezu prädestiniert. Doch der Gipfel wird der Stadt nicht nur viel internationale Aufmerksamkeit bringen. Er wird wegen hoher Sicherheitsauflagen auch Einschränkungen für Bürgerinnen und Bürger und für Unternehmen nach sich ziehen. Ich weiß das sehr wohl und bitte Sie für die Unannehmlichkeiten um Verständnis. Meine Damen und Herren, Hamburg ist vielleicht auch die Stadt, in der die Verbundenheit zwischen Deutschland und Großbritannien am stärksten zu spüren ist. Vielen gilt Hamburg gleichermaßen als die britischste Stadt auf dem europäischen Festland. Das mag nicht nur am Wetter liegen, sondern vor allen Dingen an Hamburgs Rolle als Hafenstadt und Tor zur Welt. – Ich weiß nicht, wie Hannover darüber denkt; aber das ist wieder eine andere Sache. – Ich nehme deshalb an, dass das Bedauern über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union hier in Hamburg besonders groß ausfällt. Ich selbst teile dieses Bedauern ausdrücklich. Auch das Matthiae-Mahl mit dem damaligen Premierminister David Cameron hat nicht geholfen. Aber wir müssen die Dinge nehmen, wie sie sind. Es gilt, die demokratische Entscheidung der britischen Wählerinnen und Wähler zu respektieren und mit ihr pragmatisch umzugehen. Mit dem offiziellen Austrittsgesuch der britischen Regierung am 29. März dieses Jahres läuft die zweijährige Frist, nach deren Ablauf die britische Mitgliedschaft in der Europäischen Union enden wird. Vor uns stehen ausgesprochen komplexe und intensive Verhandlungen. Je mehr man sich im Übrigen mit diesen Verhandlungen beschäftigt, umso mehr weiß man, wie vernetzt und wie verbunden wir innerhalb der Europäischen Union sind. Wir wollen diese Verhandlungen im Interesse Europas fair und konstruktiv führen, da wir Großbritannien auch in Zukunft als guten Partner brauchen und haben wollen. Mir sind bei diesen Verhandlungen drei Punkte sehr wichtig. Erstens: Wir müssen die Interessen unserer Bürgerinnen und Bürger wahren, die als EU-Ausländer in Großbritannien leben. Geschätzt sind das etwa 100.000 Deutsche – mit individuellen Biografien und persönlichen Sorgen um ihre Zukunft. Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, im Interesse dieser Menschen so schnell wie möglich Klarheit und Planungssicherheit zu schaffen. Zweitens: Wir müssen den Schaden begrenzen, den der Austritt Großbritanniens für die Europäische Union insgesamt mit sich bringen könnte, wenn Austritt und Übergang nicht gelängen. Großbritannien wird künftig weniger eng eingebunden sein als bisher, auch im Bereich der Wirtschaft. Gleichwohl wollen wir auch künftig enge und partnerschaftliche Beziehungen mit Großbritannien. Das gilt für die Wirtschaft, aber auch für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik und den gemeinsamen Kampf gegen den internationalen Terrorismus und die organisierte Kriminalität. Drittens: Wir müssen bei allen Überlegungen und Verhandlungen rund um das Thema Brexit das Wohl der Europäischen Union als Ganzes und seiner zukünftig 450 Millionen Unionsbürgerinnen und -bürger im Blick haben. Ende März haben wir in Rom den 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge gefeiert. 60 Jahre europäische Integration sind eine einzigartige Erfolgsgeschichte, die wir auch ohne Großbritannien fortsetzen wollen. Deshalb ist es wichtig, dass sich die Europäische Union der 27 in den Verhandlungen mit Großbritannien nicht spalten lässt, sondern dass sie – wie wir das in den letzten zehn Monaten seit dem Ergebnis des Referendums getan haben – in allen Fragen weiter eng zusammenarbeitet. Für den Zusammenhalt der EU ist es zudem wichtig, dass wir auch an den vielen anderen Aufgaben weiterarbeiten – Brexit hin oder her. Wir können nicht sozusagen unsere eigene Zukunftsgestaltung vergessen, weil wir gerade mit Austrittsverhandlungen beschäftigt sind. Europa muss in denjenigen Bereichen, in denen gesamteuropäisches Handeln einen echten Mehrwert bringt, schneller und entschiedener vorangehen als bisher. Wir sehen gerade, wenn wir uns auf den nächsten Sonntag konzentrieren und hoffen, dass die Wahl so ausgeht, wie wir uns das wünschen, dass auch der Zusammenarbeit von Deutschland und Frankreich in diesem Zusammenhang eine entscheidende Bedeutung zukommt. Wir Europäer leben in unsicherer Nachbarschaft. Die Nachbarschaft der EU beginnt mit Russland im Norden, geht weiter über Weißrussland, die Ukraine, Georgien, die Türkei, Syrien und den Nahen Osten bis Nordafrika. Das sind sozusagen die Nachbarn des Raums der Freizügigkeit, der freien Bewegung von Waren, Dienstleistungen, Kapital und auch der Menschen. Wir brauchen eine geeinte EU, um unsere Werte und Interessen langfristig behaupten zu können. Denn unser wirtschaftlicher Wohlstand ist nicht möglich ohne Stabilität und Frieden in Europa, aber wünschenswerterweise auch in unserer Nachbarschaft. Selten zuvor seit dem Fall der Berliner Mauer vor über 27 Jahren kam unsere Art, zu leben und zu arbeiten, so sehr unter Druck wie heute. Heute müssen wir uns stärker denn je gegen diejenigen wenden, die auf geopolitische Einflusszonen, auf Populismus und eine Ablehnung liberaler Werte ausgerichtet sind. Das erfordert von uns, dass wir für die Werte, die uns leiten, gemeinsam einstehen; und zwar auch öffentlich. Ich möchte allen danken, die das tun. Manchmal haben wir vielleicht gedacht, dass es mit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr notwendig sei, diese Werte immer wieder zu betonen. Aber es erweist sich ein Vierteljahrhundert nach diesen großartigen Ereignissen der Beendigung des Kalten Krieges und des Falls der Mauer, dass es eben wieder und wieder notwendig ist. Unser Zusammenhalt in Europa und im transatlantischen Bündnis hat eine besondere Bedeutung. Denn dieser Einbindung in das, was wir Westen nennen, verdanken wir ein Leben in Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben starke demokratische Institutionen und sind der mit Abstand wichtigste Partner Europas. Dies gilt in vielfacher Hinsicht, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch im Kampf gegen Terror und insgesamt in außen- und sicherheitspolitischer Hinsicht. Ich bin daher froh über das klare Bekenntnis des neuen US-Präsidenten Donald Trump zur NATO. Dieses Bekenntnis war sehr wichtig. Für alle NATO-Staaten ist klar, dass wir bereit sein müssen, in fairer Lastenteilung für unsere Sicherheit und die Sicherheit unserer Partner einzutreten, wie es die NATO zuletzt 2014 auf dem Gipfel in Wales beschlossen hat. Die damals beschlossene Lastenteilung innerhalb der Allianz ist in unser aller Interesse. Deutschland machte aber stets deutlich, dass es dabei nicht nur um Verteidigungsausgaben geht. Es müssen immer auch Diplomatie und Entwicklungshilfe zum Einsatz kommen. Deshalb möchte ich hier in aller Deutlichkeit sagen: Die Bundesregierung bleibt dem vernetzten Ansatz treu, der eben nicht allein auf den Einsatz militärischer Mittel verengt ist, und wird ihn weiterentwickeln. So deutlich die amerikanische Regierung das bis 2024 ausgerichtete Zwei-Prozent-Ziel für die Verteidigungsausgaben der NATO einfordert, so deutlich treten wir eben auch für das 0,7-Prozent-Ziel der Entwicklungshilfe, die sogenannte ODA-Quote, ein. Deutschland nimmt seine Verantwortung weltweit wahr: für Frieden, Sicherheit, Stabilität. Deutschlands Rolle hat sich seit der Zeit des Mauerfalls kontinuierlich verändert. Wir arbeiten mit Frankreich gemeinsam im Normandie-Format an einer politischen Lösung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine. Deutschland unterstützt die Arbeit des Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen, um unter dem Dach der Vereinten Nationen ein Ende der Tragödie in Syrien zu erzielen. Vielleicht ist ja der Ansatz von Sicherheitszonen in Syrien, der jetzt verfolgt wird, ein kleiner Hoffnungsschimmer in dieser unglaublichen Tragödie. Deutschland ist mit der Bundeswehr wie auch mit Diplomaten und Entwicklungsexperten weltweit in einer Vielzahl von Missionen und Operationen vertreten und leistet seinen Beitrag. Mehr als tausend deutsche Soldaten beteiligen sich an der Anti-IS-Koalition im Irak und in Syrien. Deutschland hat zudem eine führende Rolle bei der Stabilisierung der vom IS-befreiten Gebiete. Das ist ein sehr wichtiger Beitrag, um sicherzustellen, dass unsere militärischen Bemühungen gegen den IS auch langfristig nachhaltig wirksam bleiben. Knapp 2.000 deutsche Soldaten beteiligen sich in Mali und Afghanistan an Einsätzen, die dem Kampf gegen den Terrorismus und der Stabilisierung der jeweiligen Länder dienen. Verantwortung zu übernehmen, bedeutet auch, sich für eine Stärkung der Sicherheitsarchitektur in Europa einzusetzen. Deshalb haben wir Europäer die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger bei den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge ganz oben auf die Agenda gesetzt und uns verpflichtet, unsere außen- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit weiter zu vertiefen. Dies ist auch dringend notwendig, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass unsere jeweilige Politik gegenüber Russland, gegenüber China und anderen Regionen der Welt noch viel kohärenter ausgerichtet sein muss. Meine Damen und Herren, all das zeigt: Wir leben in einer Zeit, in der sich auf der Welt sehr vieles verändert. Ich habe deshalb auch schon von einer Welt gesprochen, die aus den Fugen geraten zu sein scheint – sei es durch die Ungewissheit, wie es mit den zunehmenden protektionistischen Tendenzen in der Welt weitergeht, sei es aufgrund der Sorgen über die vielen Kriege und Krisenherde dieser Welt. Deshalb brauchen wir mehr denn je Werte, die uns leiten. Mehr denn je brauchen wir Grundsätze, an denen wir uns orientieren. Und mehr denn je brauchen wir Kriterien, nach denen wir entscheiden. Mehr denn je brauchen wir ein gemeinsames Verständnis von Prinzipien des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens, die uns Halt und Orientierung geben. In Deutschland haben wir mit der Sozialen Marktwirtschaft ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das all diese Voraussetzungen mit Leben erfüllt. Der heutige 5. Mai ist für die Soziale Marktwirtschaft ein besonderer Tag; denn heute jährt sich der Todestag einer ihrer wichtigsten Vordenker, Ludwig Erhards, zum 40. Mal. Nach der Vorstellung Erhards sollte jeder Einzelne, der bereit ist, zu arbeiten und Leistung zu erbringen, auch in der Lage sein, zu Wohlstand zu gelangen. Zugleich ging es ihm darum, Marktmissbrauch und Monopole zu verhindern, damit Wohlstand bei möglichst allen Menschen ankommt und nicht nur Reiche profitieren. Die Soziale Marktwirtschaft verknüpft die Vorteile des freien Markts mit einem System der sozialen Sicherung für jene, die nicht aus eigener Kraft am Leistungswettbewerb teilnehmen können – also für jene, die unsere Hilfe brauchen. Längst hat sich die Soziale Marktwirtschaft als tragende Säule und Garantin für Stabilität und Entwicklung erwiesen. Heute können wir sagen, dass die deutsche Wirtschaft kontinuierlich wächst, dass die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland nie so hoch war wie heute, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten seit 2005 um fast 5,5 Millionen Menschen gestiegen ist. Die Arbeitslosenquote hat sich zwischenzeitlich annähernd halbiert; die Jugendarbeitslosigkeit ist sogar um 60 Prozent zurückgegangen. Diese außerordentlich gute Wirtschaftslage schlägt sich auch in der Stimmung der Bevölkerung nieder. Laut einer kürzlich veröffentlichten Umfrage sind 86 Prozent der Bürgerinnen und Bürger der Ansicht, unser Land stehe wirtschaftlich gut da. Aber trotz dieser guten Lage dürfen wir die Hände nicht in den Schoß legen. Um die zahlreichen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen, brauchen wir auch in Zukunft gute Rahmenbedingungen für eine starke Wirtschaft. Denn ohne eine starke Wirtschaft und ohne Wachstum wird der Wohlstand, den es zu verteilen gibt, nicht größer. Das wusste auch Ludwig Erhard, als er 1957 sein vielbeachtetes Buch „Wohlstand für alle“ vorlegte. Mit dem Titel formulierte er ein Ziel, das uns alle in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft antreiben sollte. Vor 60 Jahren muss das Ziel, eines Tages tatsächlich Wohlstand für alle zu erreichen, für viele fast wie eine Utopie geklungen haben. Heute sind wir in Deutschland dem Ziel sicherlich so nahe wie nie zuvor, aber wir müssen natürlich auch in Zukunft unsere Hausaufgaben machen. Gerade die jüngste Maritime Konferenz, die wir hier in Hamburg abgehalten haben, hat darauf hingedeutet, was allein im Bereich der maritimen Wirtschaft an Hausaufgaben zu erledigen ist. Ludwig Erhard hat die Soziale Marktwirtschaft nie rein national gedacht, sondern stets als offenes Modell verstanden – als ein Modell, dessen Erfolg ohne menschliche Freiheit und ohne Einbindung in die Welt nicht vorstellbar wäre; als ein Modell, das hier in Hamburg gelebt wird, wie in kaum einer anderen Stadt. Ludwig Erhard hat dies auf dem Übersee-Tag 1964 treffend formuliert. Ich möchte ihn zitieren: „Wenn irgendwo der Geist mich anweht, der mein innerstes Wesen ausmacht, der Geist, den ich ausstrahlen möchte, um den Menschen den Wert der Freiheit erkennen zu lassen, dann ist es eine Stadt wie Hamburg.“ Ich bin mir sicher, dass Hamburg mit seiner Weltoffenheit und Internationalität ein guter Gastgeber für den G20-Gipfel sein wird. Und ich wünsche mir, dass der Übersee-Club weiterhin eine kraftvolle Stimme für Freiheit und gegen Abschottung bleibt. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Eröffnung der Ausstellung „Foto.Kunst.Boulevard“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-eroeffnung-der-ausstellung-foto-kunst-boulevard–798522
Thu, 04 May 2017 00:00:00 +0200
Berlin
Kulturstaatsministerin
Journalisten kennen sie vom Warten auf Pressekonferenzen – der breiten Öffentlichkeit ist sie zumindest aus den Medien bekannt: Die so genannte „Kanzlergalerie“ mit den Porträts der Altkanzler ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil es sich – neben den Herrentoiletten – vermutlich um den einzigen Ort im Kanzleramt handelt, wo die Männer noch unter sich sind. Bemerkenswert ist diese Bilderreihe vor allem deshalb, weil sie davon erzählt, welches Bild von sich selbst die Kanzler a.D.–außer Dienst der Nachwelt hinterlassen wollten. Die Kohl‘sche Korpulenz beispielsweise ist in Albrecht Gehses Gemälde nur zart angedeutet – und Immendorffs „goldener Gerd“, lieber Herr Schröder, kommt im Licht der Scheinwerfer bekanntlich am besten zur Geltung. Ein wenig anachronistisch scheinen diese Porträts, weil der Fotojournalismus bald 100. Geburtstag feiert und die Porträtfotografie längst viel wirkmächtiger ist als die Porträtmalerei. Anders als in vordemokratischen Zeiten, als die Mächtigen ihr Bild für die Nachwelt ganz nach eigenem Geschmack und Gutdünken gestalten lassen konnten, sehen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sich heute mit einer Vielzahl von Bildern konfrontiert, die dokumentieren, wie sie von anderen gesehen werden. Selbstbild und Fremdbild mögen dabei nicht immer übereinstimmen, und natürlich bedienen Fotos – gerade in Boulevardmedien – bisweilen auch die voyeuristische Lust an der Sensation und am allzu Privaten. Doch der Fotojournalismus ist als Stütze der „Vierten Gewalt“ unentbehrlich. Was wäre unsere Demokratie ohne die Vielfalt der Perspektiven und Sichtweisen, die aus der Fülle unterschiedlicher Bilder spricht? Wie blass bliebe das Erinnern an historische Ereignisse ohne die Ikonen der Pressefotografie, die sich eingebrannt haben ins kollektive Gedächtnis? Wie groß wäre die Distanz zu fernen Kriegen und fremdem Leid, ohne Bilder, die dem Elend ein Gesicht geben? Wie wenig wüssten wir über die Welt, in der wir leben, ohne die Kunst des genau Hinsehens und Beobachtens, die auf Fotos die Wirklichkeit zum Sprechen bringt – ohne jene Kunst also, die das Fotografieren vom bloßen Knipsen unterscheidet? Fotografien können dokumentieren und informieren, berühren und bedrängen, irritieren und provozieren. Sie können aber auch beschönigen und verschleiern, ablenken und täuschen, propagieren und manipulieren. Grund genug, der Kraft der Pressebilder eine Ausstellung zu widmen, die hier im Martin-Gropius-Bau bestens aufgehoben ist – schließlich liefern Ihre Fotoausstellungen, lieber Herr Professor Sievernich, regelmäßig Stoff für aufschlussreiche öffentliche Debatten. Denkanstöße dürfen wir auch von der Ausstellung „Foto.Kunst.Boulevard“ erwarten, die 26 Fotografinnen und Fotografen mit ihren teils kunstvoll inszenierten, teils kurios authentischen, jedenfalls im besten Sinne fesselnden Fotografien aus den vergangenen zehn Jahren versammelt. Dass all diese Bilder im Auftrag der BILD-Zeitung entstanden sind, macht die Schau einerseits zu einer facettenreichen Illustration des Anspruchs „Das bringt nur BILD“. Sie lässt dabei andererseits aber auch erahnen, wieviel journalistische Sorgfalt die Arbeit mit der Macht der Bilder erfordert. Bilder verdichten Geschichten – und durchaus berechtigt treffen sich im künstlerischen Akt des „Verdichtens“ poetisches und pointiertes, dichterisches und dichtes Erzählen. Viel treffsicherer als Worte erreichen Bilder damit Emotionen und Instinkte; viel effektiver als Berichte und Kommentare sorgen sie für Aufmerksamkeit. Sie zahlen sich also aus in der härtesten Währung des digitalen Zeitalters –unter Umständen aber auf Kosten der differenzierten Bewertung von Sachverhalten und in der Summe, gerade im Netz, auch mit dem Risiko der Abstumpfung eines Publikums, dessen Augen mehr sehen als ein Herz an Empathie zu empfinden vermag. Denn auf Facebook, Twitter, Instagram rauschen Bilder aus den Höllen der Kriege, des Elends und der Armut im gleichgültigen Strom aus Information, Werbung und Entertainment an uns vorbei. Hier sind „alternative Wahrheiten“ und populistische Propaganda auch in Gestalt inszenierter und manipulierter Bilder immer nur einen Mausklick entfernt. Deshalb erfordert gerade die überwältigende Macht der Bilder die erklärende und einordnende Kraft der Worte. Mehr denn je braucht es sorgfältige Recherchen, ausgewogene Analysen und kritisches Hinterfragen, um die Macht der Bilder nicht nur für Auflage und Reichweite, sondern – ganz im Sinne des journalistischen Anspruchs „BILD Dir Deine Meinung“ – auch für eine informierte Öffentlichkeit, für notwendige Debatten und damit für eine lebendige Demokratie wirksam zu machen. Dass es alles andere als anachronistisch ist, diese guten, alten journalistischen Tugenden hochzuhalten, gehört im Übrigen zu den Lehren nicht nur unserer deutschen Vergangenheit, sondern auch unserer globalisierten Gegenwart. Wenn in europäischen Ländern politisch unerwünschte Meinungen durch Einschränkungen der Pressefreiheit unterdrückt werden, wenn vor den Türen Europas reihenweise Journalisten verhaftet werden, wenn der Präsident der weltweit mächtigsten Demokratie Journalisten in seinen Reden und Tweets als „Feinde des Volkes“ verunglimpft, entlarvt dies nicht zuletzt das Wissen um die Macht freier Medien – um die Macht der Bilder und die Macht der Worte. Es ist das Eingeständnis, dass journalistische Vielfalt stärker ist als populistische Einfalt – solange Pressefreiheit und journalistisches Ethos den Ton angeben. Mag die Kombination aus „Foto.Kunst.Boulevard“ in der gleichnamigen Ausstellung vor allem durch außergewöhnliche Bilder prominenter Persönlichkeiten und die Geschichten dahinter begeistern – in der Spiegelung zeitgeschichtlicher Entwicklungen weist sie weit über den Boulevard hinaus. Ich danke Ihnen, lieber Herr Diekmann, lieber Herr Smerling, lieber Herr Professor Sievernich, für diese eindrucksvolle Schau, die – da bin ich sicher – zum Nachdenken über die Macht der Bilder inspiriert. Und wer weiß: Vielleicht hält die Porträtfotografie ja irgendwann auch Einzug in die politischen Ahnengalerien unserer Demokratie und verdrängt die Porträtmalerei – je nachdem, wie die zeitgenössische Kunst sich noch entwickelt. Denn so manche Künstler-Zeitgenossen fallen – bei aller künstlerischer Gestaltungsfreiheit – als Porträtisten schlichtweg aus, wie der SPIEGEL schon 1978 hellsichtig bemerkte, ich zitiere: „Den Bundespräsidenten etwa von Joseph Beuys als Fettplastik oder von Gotthard Graubner als Farbraumkörper wiedergeben zu lassen, kann nicht ernsthaft zur Debatte stehen.“ Wer fotografieren kann, ist so gesehen klar im Vorteil – und erst recht, wer hinter der Kamera so viel künstlerische Kraft entfaltet wie die in der Ausstellung präsentierten 26 Fotografinnen und Fotografen. Ich jedenfalls wünsche Ihnen, liebe Künstlerinnen und Künstler, weiterhin viel Erfolg und Aufmerksamkeit und lasse mich gerne in den Bann ziehen von den Meisterwerken Ihrer Fotokunst!
„Um die Macht der Bilder für eine informierte Öffentlichkeit, für notwendige Debatten und damit für eine lebendige Demokratie wirksam zu machen,“ erfordere der Fotojournalismus gerade in Zeiten ‚alternativer Wahrheiten‘ sorgfältige Recherchen, ausgewogene Analysen und kritisches Hinterfragen. Dies betonte Kulturstaatsministerin Grütters bei der Eröffnung der Ausstellung „Foto.Kunst.Boulevard“ der BILD-Zeitung in Berlin.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung des Katholisch-Sozialen Instituts am 4. Mai 2017 in Siegburg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-eroeffnung-des-katholisch-sozialen-instituts-am-4-mai-2017-in-siegburg-434124
Thu, 04 May 2017 14:32:00 +0200
Siegburg
Sehr geehrter Herr Kardinal Woelki, sehr geehrter Herr Professor Bergold, sehr geehrter Herr Rosso, Herr Oberbürgermeister, (Zuruf) – heißt er nicht Oberbürgermeister? Nur Bürgermeister. Bei mir in Mecklenburg-Vorpommern wäre das bei einer so großen Stadt schon ein Oberbürgermeister, selbst wenn es eine kreisangehörige Stadt ist. Also, Herr Bürgermeister, liebe Kollegen aus dem Deutschen Bundestag – liebe Frau Winkelmeier-Becker und lieber Norbert Röttgen –, liebe Kollegen aus dem Landtag und werte Gäste des heutigen Tages, in der Tat ist es so, lieber Herr Kardinal Woelki, dass sich, wenn man wie ich mit dem Hubschrauber hier ankommt, der Blick auf diesen wunderbaren Ort auf dem Michaelsberg geradezu konzentriert. Dass man hier auf eine tausendjährige Tradition trifft, ist natürlich ganz besonders beeindruckend. Als wir eben weiter oben auf der Terrasse standen, habe ich gesagt: Dass sich Menschen vor tausend Jahren Prioritäten gesetzt haben, um Bleibendes zu hinterlassen und sich nicht nur im schnell Vergänglichen aufzuhalten, das könnte auch für uns von Zeit zu Zeit Richtschnur sein. Das darf, denke ich, nicht ganz in Vergessenheit geraten. Alles ist also auch aus der Ferne gut zu sehen und wird wahrgenommen. Eine große Tradition, ein weiter Überblick und gute Sichtbarkeit – das sind natürlich sehr gute Voraussetzungen für eine Bildungsstätte, die auch insgesamt Orientierung geben will. Deshalb ist es, nachdem die früheren Bewohner gegangen sind, natürlich eine wegweisende Entscheidung gewesen, den Michaelsberg als Heimstatt für das Katholisch-Soziale Institut zu wählen und hier sozusagen Zukunft zu schreiben. Aber an dem, was sich in den letzten Jahren hier abgespielt hat, zeigt sich eben auch, wie nahe Wehmut und Hoffnung, Abschied und Neuanfang beieinanderliegen können. Den Benediktinern – ich habe das noch einmal nachgelesen – ist es sehr schwer gefallen, sich einzugestehen, dass sie ihre geschichtsträchtige Abtei aus eigener Kraft nicht weiterführen konnten. Ihre Erklärung aus dem Jahr 2010 steht dafür. Aber die Ordensgemeinschaft trauerte nicht nur der Vergangenheit nach, sondern ganz im Gegenteil – ich zitiere sie –: „Wir möchten gemeinsam mit den Menschen nach vorne schauen und einer neuen, anderen und dennoch guten Zukunft für den Michaelsberg den Weg bereiten.“ Die Benediktiner sahen also in der Veränderung auch eine Chance – eine Chance, die es als solche zu begreifen und zu ergreifen gilt. Daraus ist Gestaltungskraft erwachsen. Ich denke, in Zeiten großer Veränderungen, in denen wir heute leben, sollten wir uns immer wieder um solche Gestaltungskraft bemühen. So stellte sich das Erzbistum Köln die Frage, wie es gelingt, den Michaelsberg als Leuchtturm des Glaubens zu erhalten. Die Antwort ist der Einzug des Katholisch-Sozialen Instituts und übrigens auch wieder einer Ordensgemeinschaft. Damit beginnt ein neues Kapitel geistlicher Präsenz und geistigen Lebens auf dem Michaelsberg. Ich sage ganz offen: Als ich eben hier angekommen bin, habe ich gesagt – man beschäftigt sich ja auch immer wieder mit Unterhaltskosten und Wirtschaftlichkeitsfragen –: Mensch, da haben Sie hier aber ein Objekt. Aber, ehrlich gesagt, nach den Worten des Kardinals muss ich sagen, dass ich doch wieder etwas kurzfristig und begrenzt gedacht habe. Ich gratuliere zur Einweihung des Umbaus und zum Jubiläum des Katholisch-Sozialen Instituts. Denn es fügt sich an diesem Ort nicht nur in eine Tradition ein, sondern bringt auch selber eine Tradition mit, die immerhin schon 70 Jahre währt. 1947 rief Kardinal Frings das Katholisch-Soziale Institut als eine der ersten kirchlichen Akademien überhaupt ins Leben. Deutschland lag damals in Trümmern – in materieller und auch in moralischer Hinsicht. Nach dem Zivilisationsbruch der Shoa und dem Zweiten Weltkrieg galt es, unser Land in umfassendem Sinne wieder aufzubauen und ein gesellschaftliches Bild zu vermitteln, das moralischen Halt und Orientierung gab. Hierbei kam den Kirchen natürlich eine ganz wichtige Aufgabe zu. Unser Leben sieht heute, 70 Jahre später, in vielen Bereichen völlig anders aus als damals. Wir leben in Frieden mit unseren Nachbarn in einem Europa, das nicht mehr in Ost und West geteilt ist. Ich habe heute in Grevenbroich, gar nicht so weit weg von hier, mit der norwegischen Premierministerin eine neue Produktionsanlage eingeweiht. Wenn man auf die Firmengeschichte schaut, auf die Kriegszeiten in Deutschland und Norwegen, dann merkt man, dass es heute schon eine sehr gute Zeit für die Menschen in unserem Land und in allen europäischen Ländern ist. Wir leben in einem Land, das mit seinen wirtschaftlichen Erfolgen und seinen sozialen Errungenschaften weltweit einen guten Ruf genießt. Was die Arbeitslosenquote anbelangt, haben wir im Augenblick eine recht gute Situation. Wir haben noch nie so viele Beschäftigte und Erwerbstätige wie derzeit gehabt. Aber wir müssen sehen, wie viele Krisen und Konflikte es in unserer Nachbarschaft und in anderen Regionen weltweit gibt. Wir müssen sehen, welche Herausforderungen wir zu bewältigen haben. Ich denke an den internationalen Terrorismus und daran, dass sich viele Menschen die Frage stellen, wie es um unsere Sicherheit bestellt ist. Bei allem friedlichen Zusammenleben haben wir auch in unserer europäischen Familie viele Sorgen und viele Fragen, wie es weitergeht, wie wir die tiefgreifenden Veränderungsprozesse meistern, die mit der Globalisierung, der Digitalisierung und dem demografischen Wandel einhergehen. Deshalb ist in einer solchen Situation aus meiner Sicht zweierlei wichtig. Das Erste ist die Einsicht, dass wir den Wandel gestalten können. Das knüpft auch an das an, was hier immer bestimmend war. Veränderungen gibt es. Es hat auch gar keinen Sinn, sich gegen sie zu stemmen. Im Übrigen wäre das Leben auch schrecklich, wenn es keine Veränderungen gäbe. Deshalb sollten wir darin auf gar keinen Fall ein schicksalhaftes Verhängnis sehen, dem wir uns tatenlos zu unterwerfen hätten. Denn damit würden wir es im Zweifel anderen überlassen, Veränderungen nach ihren Interessen zu gestalten; und das kann sehr anders sein als das, was wir uns vorstellen. Stattdessen können wir offen gegenüber dem Wandel sein, uns auf ihn einlassen und ihn mitgestalten. Ich gehöre zu den Menschen – ich denke, in diesem Raum finden wir auch keine anderen –, die diesen Weg bevorzugen. Das Zweite ist: Um immer wieder ins Neue, ins Offene, ins Unbekannte zu gehen, brauchen wir Orientierung. Orientierung auf eingelaufenen und eingefahrenen Wegen findet man leicht. Aber man weiß von sich selber – jedenfalls geht es mir so –: In unbekannter Landschaft ist es ohne Karten mit der Orientierung sehr viel schwieriger. Wir brauchen Prinzipien, nach denen wir uns richten, Kriterien, auf deren Grundlage wir entscheiden, und eine Grundlage, die dem Einzelnen Halt und der Gemeinschaft Zusammenhalt gibt. Ich denke, das christliche Menschenbild ist dafür genau das richtige. Es kommt, wenn man an die Akteure denkt, nicht von ungefähr, dass das christliche Menschenbild seine Widerspiegelung in unserem Grundgesetz gefunden hat, dass mit dem Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ der Artikel 1 unseres Grundgesetzes beginnt. Das war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht unbedingt normal. Es hätte auch anders kommen können. Aber es kam so; und das ist gut für uns. Nach dem christlichen Menschenbild ist der Einzelne zur Freiheit geboren. Diesem Menschenbild ist deshalb Gestaltungskraft sozusagen immanent. Es ist eben keine bedingungslose und auch keine bindungslose Freiheit. Es heißt also nicht „frei von etwas“, sondern es heißt „frei für etwas“ – frei dafür, Verantwortung zu tragen; für sich selbst und immer auch für andere. Der Blick auf das Wohl des Mitmenschen ist also im Freiheitsbegriff im Sinne des christlichen Menschenbilds sozusagen angelegt. Daraus ergibt sich für verantwortungsbewusste Politik der Auftrag, einen Raum der Freiheit zu gewährleisten – einen Freiraum, in dem jeder Einzelne mit seinen Gaben, Fähigkeiten und Talenten, natürlich auch Schwächen, sein Leben gestalten und seine Chancen wahrnehmen kann. Das sagt sich sehr einfach, ist aber natürlich so kompliziert wie vieles im Leben. Da stellt sich als erstes die Frage: Wo lernt ein Mensch, seine Chancen zu ergreifen und auch mit Blick auf Andere Gemeinschaft zu stiften? Die Antwort darauf liegt auf der Hand: natürlich zuallererst in der Familie. Sie ist der Ort einer Zuwendung und eines Vertrauens, wie wir politisch überhaupt nicht verordnen können. Deshalb müssen wir diesen Raum der Familie zwar schützen, aber wir dürfen ihn auch nicht immer weiter „zuregulieren“, sondern wir müssen Möglichkeiten eröffnen, aber auch nicht nur permanent Erwartungen dazu äußern, wie sich Menschen bitteschön zu verhalten hätten. Das ist ein weites Feld in der politischen Debatte. Denn manch einer, der besonders viele Freiheiten geben will, hat trotzdem ganz klare Vorstellungen davon, wie eine freie Entscheidung aussehen sollte. Das hat über viele Jahre hinweg auch in meiner Partei dazu geführt – das sage ich auch selbstkritisch –, dass wir gesagt haben: Na, so viele Kindergärten brauchen wir gar nicht, weil die freie Wahl ja schon ganz anders aussehen wird. Aber das darf auch nicht in das Gegenteil umschlagen. Deshalb glaube ich, ist es gut, dass wir heutzutage gerade auch dem Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf mehr Raum bieten. Es geht um Rollenbilder von Frauen und Männern, es geht um die Arbeitswelt und es geht – im Übrigen auch zunehmend – um Zeit. All dies betrifft eine Vielzahl politischer Regelungen. Es geht auch immer wieder um Chancengerechtigkeit und Teilhabemöglichkeiten. Damit stellen sich große Aufgaben, wenn wir zum Beispiel an Alleinerziehende denken und an viele andere Herausforderungen von Eltern mit Kindern. Deshalb muss auch in den nächsten Jahren der politischen Gestaltung unser Augenmerk auf das Thema „Familie und Zukunft für Kinder in unserer Gesellschaft“ gerichtet sein. Darüber wird es kontroverse Debatten geben; auch im Wahlkampf. Aber wir haben gehört: Politik muss ja auch der Ort von Debatten sein. Von zentraler Bedeutung dafür, dass Menschen ihre Chancen, ihre Talente, ihre Möglichkeiten überhaupt nutzen können, ist natürlich die Frage der Bildung. Wir sind hier an einem Ort, der auch symbolhaft dafür steht, dass Kirchen die Förderung von Bildung seit jeher ein großes Anliegen ist. Diese Abtei ist in umfassendem Sinne ein Beispiel dafür. Sie steht für die große Tradition der Klöster als Bildungsträger. Das Katholisch-Soziale Institut knüpft jetzt mit seiner Arbeit auf dem Michaelsberg daran an. Dass sich das Erzbistum Köln für diese Lösung entschieden hat, zeigt natürlich auch den Stellenwert, den es der Bildungsarbeit einräumt. Kardinal Woelki hat eben schon viele der neuen Trends genannt, die uns noch kräftig durcheinanderschütteln werden. Dazu zählt das Stichwort Digitalisierung. Ich glaube, die Tiefe und die Dimension der Veränderung für unser gesellschaftliches Zusammenleben, die sich durch die Digitalisierung abspielt, sind bisher noch nicht ausreichend beschrieben. Das heißt, meine Bitte an Sie wäre auch, hinzuhören, was Ihnen Menschen erzählen, und zu versuchen, Ordnungsprinzipien zu finden. Da gerät nämlich vieles durcheinander, was bislang ganz normal war; aber es wird natürlich auch vieles möglich, was bis dahin unmöglich war. Es trifft sich vielleicht ganz gut, dass das Katholisch-Soziale Institut ja bereits in den 90er Jahren zum Medienkompetenzzentrum des Erzbistums ausgebaut wurde. Ich vermute, dahinter verbirgt sich noch mehr als das von mir sehr geschätzte Domradio. – Ich habe schon gewusst, dass das jetzt komisch ankommt. Ich sage nur: Der Ausbau des Medienkompetenzzentrums in den 90er Jahren ist eine zukunftsweisende Entscheidung gewesen. Religiöse Bildung war von jeher mit der Förderung eigenständigen Denkens und kritischer Urteilsfähigkeit verbunden. Es ist, glaube ich, das Allerwichtigste, dass Sie Menschen hier in Ihrer Bildungseinrichtung ermutigen oder ihnen sozusagen die Selbstgewissheit geben, dass sie eigenständig urteilen können, in komplexen Lebenssituationen Reflexionsfähigkeit entwickeln, den Mut zum Nachdenken und zum Sich-Zeitnehmen für bestimmte Entscheidungen finden, um dadurch ein gutes Maß an Urteilsfähigkeit zu gewinnen. Wenn die Vielfalt der Informationen ja unüberschaubar und fast unendlich ist, aber sozusagen die Ordnungsprinzipien nicht mitgeliefert werden, dann ist es oft sehr schwer, bestimmte Dinge überhaupt über Tage hinweg nachvollziehen zu können. Ich weiß nicht, ob es Ihnen manchmal so geht, dass, wenn Sie sozusagen mit irgendeinem schockartigen Ereignis konfrontiert werden, wenn Sie das lesen und dann nach vier oder fünf Tagen erfahren wollen, wie die Sache eigentlich weitergegangen ist, Sie zwar von ungefähr zehn neuen schrecklichen Ereignissen erfahren, aber es Ihnen sehr schwer gemacht wird, nachzuvollziehen, was eigentlich aus der einen Sache geworden ist. Kritische Urteilsfähigkeit und Medienkompetenz werden im digitalen Zeitalter noch mehr gebraucht. Wir brauchen auch Orte, die die Begegnung zwischen verschiedenen Gruppen fördern – Orte kritischer und kontroverser Diskussion, Orte des gesellschaftlichen Diskurses. Ich glaube im Übrigen, es ist ganz wichtig, stärker zu hinterfragen: Wo ist der Diskurs im Sinne des Guten richtig; und wo beginnt der Streit? Andersherum: Wie können wir dem Wort „Streit“ wieder eine etwas positivere Konnotation ermöglichen? In der politischen Debatte ist es doch so – das geht uns ja allen so –, dass es zwei Möglichkeiten gibt: Entweder sagen wir alle sozusagen schon nach dem Aufstehen um 6 Uhr oder 7 Uhr in der ersten Radiosendung das Gleiche, was bei den unterschiedlichen Charakteren hoch unwahrscheinlich ist, oder man hat eigentlich bereits um 7.15 Uhr Streit; und der wird nicht besonders gewürdigt. Jetzt könnte man ja sagen: Liebe Bürgerinnen und Bürger, es herrscht große Freude, weil es ein neues Thema gibt, über das gestritten wird; wir werden Ihnen dann irgendwann auch das Ergebnis des Streits mitteilen. Aber so geht es ja nicht, sondern Streit wird im Grunde als Stillstand oder als rückwärtsgewandt angesehen. Diskurs und Streit im guten Sinne des Wortes gehören aber einfach zur Fortentwicklung einer Gesellschaft dazu; und deshalb müssen sie besser bewertet werden. Wir brauchen also Raum für Dialog – auch mit Andersgläubigen und Andersdenkenden; das ist in Zeiten der Globalisierung und in Zeiten der Vielfalt in unseren Gesellschaften sehr wichtig. Wir brauchen also so etwas wie ein „Auswärtsspiel“ der Kirchen, wie Sie, Herr Kardinal, es einmal beschrieben haben. Das KSI ist ein geradezu idealer Ort dafür. Wir sind auch als Bundesregierung in Bildungsfragen nicht untätig. Wir wissen, dass wir viel dafür tun müssen – das wird in den nächsten Jahren auch politisch eine große Rolle spielen –, vor allem lebenslanges Lernen als etwas ganz Natürliches anbieten zu können. Bei uns ist jedoch immer noch sehr die Tatsache verankert, dass es nur eine bestimmte Phase im Leben gibt, in der man sehr viel lernt. Diese Phase haben wir jahrelang und jahrzehntelang etwas zu spät anfangen lassen. Ich würde sagen: Die Zeit, bis wir verstanden haben, dass Bildung auch schon vor Eintritt in die Schule beginnt, hat etwas zu lange gedauert. Übrigens ist auch dieser Spruch der Deutschen „Mit dem Eintritt in die Schule beginnt der Ernst des Lebens“ eine Wahnsinnskonnotation, die Bildung nicht gerade in freudigem Licht dastehen lässt. Wenn dann sozusagen mit dem Ende der Berufsausbildung der schwerste Teil des Lebens geschafft wäre, dann wäre das ja auch schlecht. Gerade auch in Zeiten großer Veränderungen brauchen wir also wirklich Freude an Bildung und Offenheit. Man muss sich schlecht fühlen, wenn man nichts dazugelernt hat; das muss eigentlich sozusagen die Konnotation werden. Wer wüsste das alles besser als Sie am Katholisch-Sozialen Institut? Berufsbegleitende Weiterbildung war bei Ihnen schon immer ein wichtiger Schwerpunkt. Damit antworten Sie auf die dramatischen Veränderungen in der Arbeitswelt. So tritt etwas in den Vordergrund, das für Sie eine zentrale Bedeutung hat: der Wert von Arbeit. Arbeit ist mehr als Broterwerb. Sie ist Teil des Selbstverständnisses und der Selbstverwirklichung. Damit bin ich natürlich bei der katholischen Soziallehre, die den Stellenwert der Arbeit in den Mittelpunkt gerückt hat. Ich will aus der Enzyklika „Laborem Exercens“ von Papst Johannes Paul II. zitieren: „Die Arbeit ist ein Gut für den Menschen – für sein Menschsein –, weil er durch die Arbeit nicht nur die Natur umwandelt und seinen Bedürfnissen anpasst, sondern auch sich selbst als Mensch verwirklicht, ja gewissermaßen ‘mehr Mensch‘ wird.“ Ich finde, das ist eine wunderbare Definition von Arbeit. Für die katholische Soziallehre hat die Gestaltung von Arbeit immer eine Rolle gespielt – also auch Aspekte wie gerechte Entlohnung und gute Arbeitsbedingungen. Durch die Digitalisierung stellen sich natürlich völlig neue Fragen. Ich glaube, gerade auch das Thema zeitliche Autonomie wird noch viele Fragen im Zusammenhang mit der Digitalisierung aufwerfen. Ich denke, was das Zusammenleben der Menschen außerhalb der Arbeit anbelangt, ist auch über die Frage der persönlichen Zuwendung zu diskutieren. Ich habe den Eindruck, dass heute sozusagen der über Internet oder Smartphone Kommunizierende eine gewisse Priorität auf die Berücksichtigung seiner Wünsche an manch anderen Stellen legt, während derjenige, der gerade neben ihm steht, eine Sekunde warten kann, weil er ja schon da ist. Ich glaube, das ist eigentlich nicht die richtige Rangfolge für den ganzen Tag. Beim Essen oder sonst irgendwann könnte man auch einmal etwas anderes machen. Digitalisierung wirft also einige Fragen auf: Wie viel Flexibilität können wir Menschen abverlangen? Wie viel Begrenzung der Verfügbarkeit des Menschen brauchen wir? Wir können uns in diesem Zusammenhang auch an das erinnern, worauf die Benediktiner Wert legen: auf das richtige Maß zwischen Gebet und Arbeit –„Ora et labora“. Auch darüber muss wieder diskutiert werden, um einfach zu einem menschlichen Leben zu kommen. Meine Damen und Herren, das alles führt uns immer wieder zu dem, was für unser gesamtes Zusammenleben unveräußerlich ist: Das sind die Werte der Demokratie. Wir alle leben von Voraussetzungen, die wir politisch jedenfalls nicht jeden Tag schaffen können; schon gar nicht über Gesetze. Deshalb glaube ich, dass es ein Irrtum ist, zu meinen, dass es eine Art automatische Vererbung bestimmter gesellschaftlicher Grundauffassungen von Generation zu Generation gibt. Sie müssen immer wieder neu erarbeitet werden. Rechtsstaatlichkeit, Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit, Berufsfreiheit sind hohe Güter, die aber auch geschätzt werden müssen. Wenn sie sozusagen nur in Sonntagsreden thematisiert, aber nicht im Alltag geschätzt werden, ist das schwierig. Daher stellt sich nach so vielen Jahren Demokratie in unserem Land auch die Frage: Muss ich erst die Abwesenheit simulieren, um die Anwesenheit wieder schätzen zu lernen? Mir ist durch die Tatsache, dass ich in der DDR gelebt habe, eines in Fleisch und Blut übergegangen: der Schatz der Freiheit. Ich weiß nicht, ob man, wenn man ihn schon immer hatte, sich dessen Wert noch genauso gewärtig ist. Man kann ja unmöglich immer wieder sagen: Wir zeigen auch einmal, wie es ohne dem sein könnte. Wir müssen vielmehr einen Weg finden, auf dem man trotzdem von Generation zu Generation die Wertschätzung weitergeben kann. Das aber halte ich für eine ziemlich schwierige Aufgabe. Dabei ist es auch sehr wichtig, an ein Prinzip zu erinnern, das, wie ich glaube, sehr viel mit der katholischen Soziallehre zu tun hat, nämlich das Subsidiaritätsprinzip. Dieses haben wir aber leider nie so übersetzen können, dass es auf den ersten Blick den Menschen in Fleisch und Blut übergeht. Das ist locker auszusprechen, aber es ist von entscheidender Bedeutung. Ich muss, wenn ich möchte, dass Menschen Verantwortung übernehmen, zum einen selbst Freude daran haben, Verantwortung zu übernehmen, und zum anderen ihnen Räume lassen, in denen sie Verantwortung übernehmen können. Wenn ich paternalistisch – teilweise ist auch gewünscht, Verantwortung abzunehmen – alles wegnehme und mich für alles verantwortlich fühle, dann komme ich in eine Situation, in der zum Schluss anderen nichts übrig bleibt. Dann kann ich auch nicht davon reden, dass alle bitte Verantwortung übernehmen müssen. Deshalb habe ich in meiner politischen Laufbahn auch sehr oft kontroverse Diskussionen über die Frage geführt, welche Aufgaben Politiker eigentlich haben. Ich weiß noch, dass ich zu Beginn meiner politischen Arbeit gefragt wurde, wer eigentlich das Vorbild für die Kinder einer Familie sein sollte. Dann habe ich erklärt, dass ich mich dafür nicht verantwortlich fühle. Das hat eine ziemlich kontroverse Diskussion hervorgerufen. Ich habe dann hinzugefügt, dass ich mir viel Mühe gebe, sozusagen anständige Arbeit zu machen, aber dass bestimmte Fragen zur Lebensgestaltung und Orientierung mit Sicherheit nicht von der Politik allein gelöst werden können. Ich habe heute hier gar nicht über die vielen internationalen Herausforderungen gesprochen, freue mich aber, dass Brüder aus Indien in dieser Bildungsstätte mit dabei sind, weil sie mit Sicherheit auch einen Blickwinkel haben, den wir hier von Haus aus nicht unbedingt haben. Deshalb darf ich Sie bitten: Mischen Sie sich hier ein, wenn Sie glauben, dass wir zu selbstzentriert sind, dass wir uns zu sehr mit uns selbst befassen. Man kann nämlich auch Freude daran haben und einen besseren Blick auf das eigene Leben gewinnen, wenn man sich auch einmal damit beschäftigt, wie Menschen woanders leben. Der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ist weder nur auf das Rheinland oder die Bundesrepublik Deutschland gemünzt, sondern ich vermute, dass alle, die sich mit der Tiefe dieses Satzes befassen, die Menschen auf der Welt im Blick haben. So wäre mein Wunsch an das Institut, neben den Fragen, die uns in unserem Zusammenleben bewegen, auch immer den Blick nach außen zu weiten. Denn die Globalisierung bringt es mit sich, dass wir auch ein Gefühl für das Leben anderer entwickeln müssen. Gerade auch in Fragen im Zusammenhang mit Flüchtlingen ist mir bewusst geworden, wie wir einerseits die Freiheiten, die uns die Europäische Union bringt – wie etwa die Bewegungsfreiheit, die Freiheit des Warenverkehrs, der Dienstleistungen –, ganz selbstverständlich nutzen. Wir haben einen Schengen-Raum, in dem wir keine Pässe vorzeigen müssen. Andererseits haben wir angesichts der Flüchtlingssituation plötzlich gemerkt: Es gibt auch Außengrenzen, die eigentlich geschützt werden müssen. Wenn man eine Umfrage zu der Frage gemacht hätte „Zählen Sie doch bitte einmal unsere Außengrenzen auf“ – ich schließe mich mit ein –, dann würde ich sagen, dass man in der Schule zwar relativ gut lernt, wer die Nachbarn der Bundesrepublik Deutschland sind, aber dass man schon eher Schwierigkeiten hat, die Außengrenzen unseres Schengen-Raums zu nennen. Diese führen vom Nordpol und Norwegen über Russland, Weißrussland, Ukraine, Georgien, Türkei, Syrien, Libanon, Israel, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien bis nach Marokko. Es ist vielleicht nicht verkehrt, dass man sich ein bisschen darum kümmert, was man in seiner Nachbarschaft hat. Auch das könnte ein Bildungsinhalt sein. Ich habe mich sehr gefreut, sehr geehrter, lieber Herr Kardinal Woelki, dass Sie mich eingeladen haben. Ich habe gesagt „Da haben Sie mir aber eine gute Einladung geschickt“, weil ich sonst dieses Kleinod hier nicht kennengelernt hätte. Das ist etwas ganz Besonderes. Dass ich gerade auch in zeitlicher Nähe zum 50. Todestag von Konrad Adenauer heute hier bei diesem Baustein der Entwicklung des KSI mit dabei sein kann, ist mir eine große Freude und eine große Ehre. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Besuch der Hydro Aluminium Rolled Products GmbH am 4. Mai 2017 in Grevenbroich
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-besuch-der-hydro-aluminium-rolled-products-gmbh-am-4-mai-2017-in-grevenbroich-798106
Thu, 04 May 2017 11:39:00 +0200
Grevenbroich
Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Erna, sehr geehrter Herr Brandtzæg, sehr geehrter Herr Ebbesberg, sehr geehrter Herr Bundesminister und Abgeordneter Gröhe, sehr geehrter Herr Landesminister Groschek, sehr geehrter Herr Vassiliadis – ich denke, es hat auch eine symbolische Bedeutung, dass die Gewerkschaft IG BCE hier vertreten ist –, liebe Abgeordnete aus dem Landtag, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, liebe Gäste, 100 Jahre Aluminiumproduktion in Deutschland – das ist die hundertjährige Erfolgsgeschichte eines Werkstoffs. Und das Beste daran ist: diese Geschichte wird weitergeschrieben. Deshalb ist diese moderne Fertigungsanlage ein Jubiläumsgeschenk und ein Zukunftsversprechen in einem. Dafür herzlichen Dank. Aluminium ist angesichts seiner Eigenschaften sehr gefragt. Es ist in seinen Verwendungsmöglichkeiten vergleichbar mit Stahl, jedoch – das spielt auch in Ihrer Produktdarstellung eine große Rolle – um ein Vielfaches leichter. Sein Einsatz erweist sich überall dort von Vorteil, wo es auf geringes Gewicht ankommt. Das ist in der Luft- und Raumfahrt der Fall und natürlich auch in der Automobilindustrie. Da wie dort hilft das Leichtmetall, Treibstoff einzusparen und damit Treibhausgasemissionen zu verringern. Aluminium aus dem Primärrohstoff Bauxit zu gewinnen, erfordert allerdings erst einmal viel Energie. Daher kommt dem Recycling so große Bedeutung zu, zumal das – das muss ein Werkstoff erst einmal leisten – ohne Folgen für die Qualität bleibt. Die Wiederverwertung spart erhebliche Ressourcen ein. Denn dazu braucht es ja kein neues Bauxit; und außerdem bedarf es nur eines geringen Bruchteils der Energie, die zur Erzeugung von Primäraluminium nötig ist. Auch dadurch lässt sich der CO2-Ausstoß deutlich senken. Das ist so wichtig, weil Deutschland genauso wie andere Staaten verpflichtet ist, alles Mögliche zu tun, um Schadstoffemissionen zu reduzieren. Das Pariser Klimaschutzabkommen war und ist in dieser Hinsicht ein historischer Meilenstein. Dieses Abkommen weist der internationalen Staatengemeinschaft den Weg, wie wir zumindest die gravierendsten Folgen des Klimawandels eindämmen können. Hierfür muss es gelingen, die weitere Erderwärmung gegenüber dem vorindustriellen Niveau unter zwei Grad, besser noch unter eineinhalb Grad zu halten. Die Europäische Union hat hierfür ehrgeizige Ziele vorgegeben. Sie will ihre Emissionen bis 2030 um 40 Prozent verringern. Diesem Ziel dient unter anderem der Emissionshandel, der auch für die Aluminiumindustrie von hoher Bedeutung ist. Wir wollen und werden dieses zentrale Instrument der europäischen Klimapolitik stärken. Es gilt, wirksame Anreize zu setzen, damit wir unsere Ziele wirklich erreichen – und das möglichst kosteneffizient. Wir müssen auch die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft erhalten und immer wieder stärken. Dazu gehören angemessene Kompensationen, um den Aufschlag beim Strompreis auszugleichen, den der Emissionshandel mit sich bringt. Das hat in den vergangenen Jahren eine zentrale Rolle gespielt und war für Sie zeitweise auch ein Faktor der Unsicherheit, den wir jetzt, denke ich, durch mehr Sicherheit ersetzt haben. Der örtliche Abgeordnete hat dabei eine zentrale Rolle gespielt. Ich habe gelernt, dass sozusagen in Erinnerung an sein Fechten für den Standort ein Ofen in Neuss nach seinem Vornamen benannt wurde. Alle Öfen dort haben Vornamen; einer heißt jetzt Hermann. Die energieintensive Industrie muss natürlich genau hinschauen, wie viel eine Kilowattstunde kostet. Durch das ehrgeizige Vorhaben der Energiewende sind die Strompreise in Deutschland relativ hoch. Aber genau deshalb brauchen wir Ausnahmeregelungen. Denn es wäre natürlich völlig abwegig, umweltunverträglichere Produktionsstandorte irgendwo auf der Welt statt Produktionsstandorte unter den sehr guten technologischen Bedingungen in Deutschland zu haben. Deshalb tun wir alles dafür, eine Abwanderung energieintensiver Unternehmen ins Ausland zu verhindern. Ich denke, gerade auch die heutige Eröffnung hier ist ein Zeichen dafür, dass dies gelingt. Wir brauchen solche Zukunftszeichen, denn wir wollen nicht nur den Status quo erhalten, sondern natürlich auch in Zukunft Investitionen haben. Meine Damen und Herren, wir brauchen die energieintensive Industrie als Partner im Einsatz für Ressourceneffizienz und Klimaschutz. Wir brauchen sie als Teil der Wertschöpfungsketten und als Grundlage unseres Wohlstands. Und wir brauchen sie auch als Wegbereiter für die Produkte von morgen. Deshalb habe ich mich natürlich sehr über Ihre Rede gefreut, Herr Brandtzæg, in der Sie nicht nur Ihre eigene Mutter zitiert haben, sondern auch an die Mutter Erde gedacht haben. Meine Damen und Herren, die heutige Eröffnung des Erweiterungsbaus ist ein gutes Beispiel für all das. Hier sollen Spezialbleche für Kraftfahrzeuge entstehen. Automobile made in Germany genießen weltweit einen hervorragenden Ruf. Daran zeigt sich auch, dass Aluminium zwar ein Leichtmetall ist, aber ein Schwergewicht in seiner wirtschaftlichen Bedeutung. Daher freue ich mich, dass Hydro mit dieser neuen Produktionsanlage ein klares Bekenntnis zum Standort Deutschland ablegt. Damit kommt auch zum Ausdruck, dass wir zwischen Norwegen und unserem Land generell gute wirtschaftliche Beziehungen pflegen. Liebe Erna, das wird noch einmal dadurch unterstrichen, dass auch du heute hier dabei bist. Norwegen ist zwar kein Mitglied der Europäischen Union – ich würde immer „leider“ sagen; die Norweger hören das aber nicht so gerne, also sage ich es leise –, aber wir arbeiten im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraums sehr eng zusammen. Wir handeln vielfach im engen Schulterschluss – auch um weltweit Akzente für nachhaltiges Wirtschaften zu setzen. Wir wissen aber auch, dass Europa weit mehr ist als ein gemeinsamer Wirtschaftsraum. Wir sind eine Wertegemeinschaft – und als solche auch eine Verantwortungsgemeinschaft in und für Frieden, Freiheit und Wohlstand. Die enge Partnerschaft drückt sich auch darin aus, dass wir als deutsche Gastgeber für das G20-Treffen Norwegen gebeten haben, ein Partnerland zu sein. Wir werden das später in einem bilateralen Gespräch noch vertiefen. Ich finde, es hat hohen Symbolwert, dass Sie hier sagen: Wir blicken auf eine hundertjährige Geschichte zurück, aber wir wollen weitere hundert Jahre. Ich wünsche mir natürlich, dass diese weiteren hundert Jahre historisch einfacher sein werden als die vergangenen hundert Jahre. Denn der Stand unserer bilateralen Beziehungen, auch in ganz Europa, war nicht immer so gut wie heute. Vielmehr ist er das Ergebnis eines harten Ringens der Nationen mit sich und untereinander. Es gab früher zu viel nationale Selbstüberschätzung, zu viele Vorurteile gegenüber anderen, zu viele Konfrontationen und erst recht zu viele Kriege über Jahrhunderte hinweg, die das Verhältnis der europäischen Staaten zueinander bestimmt haben. Das spiegelt sich auch in der hundertjährigen Geschichte von Hydro wider. Sowohl in Deutschland als auch in Norwegen erfolgte die Aufnahme der Aluminiumproduktion in Kriegszeiten. In Deutschland wurde während des Ersten Weltkriegs, im Jahr 1917, die Vereinigte Aluminium-Werke AG gegründet. Das Ziel war, unabhängiger von Importen zu werden. In Norwegen fallen die Anfänge Ihres Unternehmens in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. 1940 wurde dort die Aluminiumindustrie unter deutscher Besatzung auf- und ausgebaut. Nach Kriegsende übernahm dann der norwegische Staat die Betriebe. In Deutschland kam die Aluminiumproduktion zunächst zum Erliegen, bevor sie dann Anfang der 50er Jahre wieder aufgenommen wurde. Auch hier lag sie zunächst in staatlicher Hand. Später erfolgte in beiden Ländern die Privatisierung. 2002 übernahm Norsk Hydro die deutschen Standorte. Grevenbroich ist das Zentrum der Walzsparte des Konzerns und damit auch das Zentrum für Band- und Folienprodukte. Die Palette der Einsatzmöglichkeiten ist breit und eindrucksvoll. Ob in der Verpackungsindustrie, im Maschinenbau, in der Elektrotechnik oder auch im Fahrzeugbau – Aluminium ist eben sozusagen ein Allround-Metall. „Made in Europe – Mit Leichtigkeit!“ – so lautet Ihr Motto. Das würde ich mir auch in der Politik gerne zu eigen machen. Aber Sie wissen ebenso gut wie ich: Leichtigkeit müssen wir uns manchmal schwer erarbeiten. Dieser neue Bau macht es Ihnen hoffentlich trotzdem leicht, hier weiterhin eine gute Heimat zu haben. Ihre Arbeit ist ja auch mit Freude verbunden, wenn das Ergebnis stimmt. Deshalb: eine freudige Jubiläumsfeier, ein herzliches Dankeschön an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier und auch an den anderen Standorten und weiterhin viel Erfolg. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim G20-Dialogforum Wirtschaft (Business 20) am 3. Mai 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-g20-dialogforum-wirtschaft-business-20-am-3-mai-2017-in-berlin-431348
Wed, 03 May 2017 13:10:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Heraeus, sehr geehrte Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, die Sie die verschiedenen Wirtschaftsverbände vertreten, liebe Frau Kollegin Hendricks, meine Damen und Herren, die G20 trägt besondere Verantwortung in globalen Wirtschaftsfragen. Sie vereint immerhin zwei Drittel der Bevölkerung der Welt, drei Viertel des Handels und über vier Fünftel des Bruttoinlandsprodukts der Welt. Wenn wir uns also im Rahmen der G20 auf bestimmte Positionen oder auf bestimmte Vorgehensweisen einigen, dann ist das von großer, man kann sogar sagen, größter Relevanz für die globale Wirtschaftsentwicklung. Die Finanzkrise, die im Jahr 2007 als Immobilienkrise begann und sich später zu einer weltweiten Wirtschaftskrise auswuchs, hat mehr als deutlich gezeigt: kein Land der Welt ist in der Lage, solche Fehlentwicklungen mit Dominoeffekt allein zu stoppen; und kein Land kann allein der Wiederholung einer solchen Krise wirksam vorbeugen. Diese Einsicht hat der G20 als Mittel zu weltweiter Kooperation zum Durchbruch verholfen. Seitdem treffen wir uns auch auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs. Bis dahin war G20 ein reines Finanzministerformat. Die G20 ist ein informelles Gremium. Es werden keine Gesetze beschlossen, keine Verordnungen erlassen. Trotzdem kann sich die G20 als Wegbereiter für die Lösung der großen Herausforderungen unserer Zeit erweisen. So haben wir – das waren die ersten Schritte – auch Lehren aus der internationalen Finanzkrise gezogen. Die G20 hat sich zum Beispiel darauf verständigt, dass Verluste im Finanzmarkt in Zukunft nicht mehr vom Steuerzahler ausgeglichen werden. Banken halten inzwischen viel mehr Eigenkapital vor. Das Thema „too big to fail“ gibt es nicht mehr. Und es gibt eine G20-Roadmap, um Schattenbanken besser zu überwachen und zu regulieren. Das ist ein Thema, das mir sehr wichtig ist, weil die Bankenregulierung allein nicht hilft, weil dann sofort Ausweichbewegungen in den Bereich der Schattenbanken festzustellen sind. Das Ziel war – wir wissen heute, wie schwierig das zu erreichen ist; die Finanzminister sind immer noch dabei –, ein sogenanntes Level Playing Field, also vergleichbare Regelungen globaler Art, zu erarbeiten sowie für jeden Finanzplatz, für jeden Finanzmarktakteur und jedes Finanzmarktprodukt Regelungen zu finden. Dabei sind wir gut vorangekommen. Damit können wir Krisen natürlich nicht hundertprozentig ausschließen, aber die Gefahr der Wiederholung einer solchen Krise ist geringer geworden. Wir sprechen uns zudem für transparente, faire und verlässliche Steuersysteme aus. Dazu gehört auch die Umsetzung von Maßnahmen, die Versuche eindämmen, Steueraufkommen unter anderem durch Gewinnkürzung oder Gewinnverlagerung zu verringern. Die Transparenzinitiative, die die Finanzminister im G20-Rahmen vereinbart haben, bedeutet schon eine große Veränderung weltweit. Wir haben die Agenda der G20 im Laufe der Jahre immer wieder erweitert. Im Grunde stand dahinter, dass wir uns nach der akuten Krisenbewältigung dem, was man in letzter Zeit immer wieder inklusives Wachstum nennt, mehr öffneten. Deshalb sind neben den klassischen Wirtschafts- und Finanzfragen auch die Themen Klimawandel, Armut, Gesundheit, Flucht und Migration sowie Entwicklung auf die Tagesordnung gekommen. Das sind Themen, die viele Menschen bewegen. Es sind Themen, die bei fortschreitender Globalisierung in allen Gesellschaften eine sehr große Rolle spielen. Es ist eine Tatsache, dass sich die Welt zunehmend vernetzt. Das bedeutet unter anderem: wir wissen mehr übereinander, wir arbeiten auch mehr miteinander. Was das eine Land tut oder unterlässt, hat manchmal sehr schnell auch Folgen für andere Länder. Das gilt auch und gerade mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung. Daher sind in Konjunktur- und Wachstumsprognosen auch immer wieder globale Indikatoren zu berücksichtigen, zum Beispiel Konflikte, Migration, Epidemien, Finanzmarktentwicklungen und wirtschaftspolitische Entscheidungen in den verschiedensten Ländern. All das ist mit Unwägbarkeiten und Unsicherheiten verbunden. Damit stellt sich die spannende Frage: Wie reagieren wir darauf? Allein die Existenz der G20 bedeutet eigentlich schon, dass Abschottung und Protektionismus Wege in die Sackgasse, aber nicht Wege nach vorn sind. Deshalb sage ich: Wer versucht, sich internationalem Wettbewerb zu entziehen, kann sich davon vielleicht kurzfristig Vorteile versprechen, aber mittel- und langfristig wird die eigene Innovationsfähigkeit geschwächt. Denn am besten können neue Ideen und Entwicklungen in einem Umfeld der Freiheit und Offenheit gedeihen. Das ist jedenfalls die Überzeugung der deutschen Präsidentschaft. In diesem Geist arbeiten wir im Rahmen der deutschen G20-Präsidentschaft darauf hin, gemeinsam einen globalen Ordnungsrahmen zu schaffen, um die Chancen der Globalisierung zu nutzen und ihre Risiken zu begrenzen. Wir brauchen dafür Richtungsentscheidungen, die für alle und möglichst mittel- und langfristig Orientierung bieten. Deshalb haben wir das Leitmotiv „Shaping an Interconnected World“ gewählt. Eine vernetzte Welt soll nicht irgendwie gestaltet werden, sondern darauf ausgerichtet, Stabilität sicherzustellen, Zukunftsfähigkeit zu verbessern und Verantwortung zu übernehmen. Wohlstand durch Offenheit – das wollen und können wir mit unseren Partnern in der Welt teilen; und zwar mit Industrieländern genauso wie mit Entwicklungsländern. Im Zentrum dessen, was wir wollen, steht natürlich immer das Wohl des Menschen. Auch das, was wir im wirtschaftlichen und im Finanzmarktbereich machen, dient keinem Selbstzweck, sondern es geht um das Wohl der Bürgerinnen und Bürger. Aber nun darf man sich natürlich nicht damit begnügen, diese Absichten zu bekunden. Unseren Worten müssen auch Taten folgen. Es ist sehr wichtig, den Dialog hierüber auch in den Gesellschaften zu führen. Deshalb danke ich Ihnen dafür, dass Sie sich seit gestern versammelt haben, um zu diskutieren, was Sie uns an die Hand geben wollen. Sie wissen als Wirtschaftsakteure natürlich, was Handel und Investitionen hemmt. Sie pflegen internationale Kontakte. Das macht Sie zu Partnern einer Politik, die darauf zielt, Globalisierung zu gestalten. Das reicht, wenn wir uns das ganze G20-Format anschauen, aber auch über wirtschaftspolitische Fragen hinaus. Wir haben neben dem Dialog mit der Wirtschaft auch andere Dialogforen ins Leben gerufen. Ich habe bereits mit Vertretern der Wissenschaft gesprochen. Es gibt einen Verbund der nationalen Akademien der Wissenschaften aller G20-Länder. Vergangene Woche haben frauenpolitische Themen auf der Tagesordnung gestanden; im Übrigen in enger Verbindung zu Fragen der Wirtschaft. Dabei ging es unter anderem um die Frage von E-Skills, also von digitalen Kenntnissen von Mädchen, und insbesondere um Unternehmensgründungen. Insofern haben Sie, glaube ich, auch eine Vernetzung mit dem Frauenforum gefunden, was ich sehr gut finde. Sie haben schon gestern und heute getagt. Nach Ihnen folgen noch die Gewerkschaften, die Nicht-Regierungsorganisationen und die Jugend. Wir haben großen Wert auf einen breit angelegten zivilgesellschaftlichen Prozess gelegt, um verschiedene Sichtweisen zu ergründen, aber auch um deutlich zu machen: G20 ist nicht irgendeine elitäre Politikveranstaltung, sondern nutzt das Wissen und die Kenntnisse in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. Vernetzung findet nicht nur auf der politischen Ebene statt, sondern sie findet eben auch unter den Wirtschaftsverbänden, unter den Frauenverbänden, unter den Gewerkschaften und anderen statt. Herr Heraeus, Ihnen und den vielen anderen herzlichen Dank für Ihr Engagement. Wir werden – ich bin mir ganz sicher – von den Ergebnissen, die Sie gefunden haben, profitieren. Wir werden versuchen, diese in unser Kommuniqué und auch in die Aktionen mit einfließen zu lassen. Nun wissen Sie: Es sind 20 verschiedene Länder mit 20 teils sehr unterschiedlichen politischen Systemen, mit 20 auch sehr unterschiedlichen Entwicklungsstufen; aber alles muss einstimmig beschlossen werden. Das ist keine ganz einfache Arbeit. Der sogenannte Sherpa-Prozess – das können Sie sich vorstellen – ist eine recht große Herausforderung. Da ist es fast einfacher, einen Sack Flöhe zu hüten, als die Leute hier zusammenzuhalten. Aber – auch das darf ich sagen – es gibt auch ein hohes Maß an gemeinsamem Willen, weil letztlich alle Akteure wissen, dass Globalisierung zu gestalten ist. Ich bin sehr froh, dass Sie von B20, also Sie als Vertreter der Wirtschaft, ein klares Bekenntnis zu offenen Märkten und einem multilateralen Handelssystem ablegen. Es gibt immer wieder Dinge, von denen man eigentlich gedacht hat, dass sie schon beschlossen sind. Aber man muss Jahr für Jahr kämpfen, um den Stand des Vorjahres wieder zu erreichen. Natürlich gibt es auch gewisse Eitelkeiten. Wir arbeiten bei G20 in einer Troika. Unser Vorgänger ist China. Wir haben mit China wunderbar zusammengearbeitet und arbeiten mit China auch heute gut zusammen. Uns folgt Argentinien. Wenn im letzten Jahr mit viel Herzblut Formulierungen zum Klimaschutz oder zum Handel erarbeitet wurden, dann gibt man sie natürlich nicht gerne auf, wenn es im nächsten Jahr wieder andere geben soll, sodass auch das Halten des Erreichten manchmal schon ein Erfolg ist. Weiter will ich mich jetzt nicht in die Details vertiefen. Ich bin jedenfalls dankbar für Ihr Bekenntnis zu offenen Märkten und zu einem multilateralen Handelssystem. Man muss allerdings sagen, dass wir, gerade was ein multilaterales Handelssystem anbelangt – die WTO nimmt ja auch an den G20-Treffen teil –, in den letzten Jahren, obwohl das G20-Format aus einer Krise heraus entstanden ist, eine Zunahme protektionistischer Maßnahmen gesehen haben. Das müssen nicht unbedingt tarifäre Hemmnisse sein; das können auch nichttarifäre Hemmnisse sein. Der Generaldirektor der Welthandelsorganisation, Herr Azevêdo, kann ein Lied von Erfindungen singen, die letztendlich nichts weiter sind als Handelsbarrieren. Nun haben wir im Zusammenhang mit der Globalisierung zunehmend das Problem mit der Frage: Es ist ja schön, dass der Wohlstand weltweit insgesamt wächst; aber wem kommt denn eigentlich der wachsende Wohlstand zugute? Damit kommt das Thema inklusives Wachstum auf die Tagesordnung. Das heißt, wir müssen auch wirtschaftlich schwächere Länder besser in die internationale Arbeitsteilung einbeziehen. Wir müssen Anreize finden, um wirtschaftliche Aktivitäten in den Ländern und in den Regionen zu erhöhen, in denen diese noch nicht so stark ausgeprägt sind. Gerade in diesem Zusammenhang sind die internationalen Organisationen, die Welthandelsorganisation, der Internationale Währungsfonds, die Weltbank, aber auch die Internationale Arbeitsorganisation, sehr hilfreich, um uns von ihrer Seite immer wieder Vorschläge zu unterbreiten. Ich treffe seit 2007 – damals war es noch die G8-Präsidentschaft, die wir erstmals hatten – regelmäßig jedes Jahr die Chefs dieser internationalen Organisationen. Man kann sagen, dass sich die Kooperation dieser internationalen Organisationen inklusive der OECD – sie hatte ich in der Aufzählung vergessen – sehr verstärkt hat und dass diese Institutionen auch wichtige Zulieferer für unsere Arbeit als G20 sind. Was eine bessere Einbindung in die Weltwirtschaft bewirken kann, sehen wir beispielsweise mit Blick auf das Millennium-Entwicklungsziel aus dem Jahr 2000, extreme Armut bis 2015 zu halbieren. Im Durchschnitt ist dieses Ziel erreicht worden. Wir haben das insbesondere dem wirtschaftlichen Aufschwung in Asien zu verdanken. Inzwischen sind wir schon über die Zeit der Millennium-Entwicklungsziele hinaus. Wir haben jetzt die Agenda 2030, die eine andere Herangehensweise hat, die ich sehr gut finde: nämlich alle in den Blick zu nehmen, egal ob es sich um Industrieländer oder Entwicklungsländer oder Schwellenländer handelt. Hierbei geht es um wirtschaftliche Entwicklung und Nachhaltigkeit. Hinzu kommt das multilaterale Klimaschutzabkommen von Paris, das einen verbindlichen Prozess festlegt, um die Erderwärmung auf zwei Grad und möglichst auf 1,5 Grad zu beschränken. Beide Abkommen sind aus meiner Sicht ein großer Erfolg globaler Politik. Aber jetzt kommt die Zeit, in der die Verpflichtungen umgesetzt werden müssen. Dafür brauchen wir auch die Mitwirkung der Wirtschaft. Meine Damen und Herren, ich bin dankbar dafür, dass Sie diesen Auftrag annehmen. Die Überschrift Ihres Dialogforums „Resilience, Responsibility, Responsiveness – Towards a Future-oriented, Sustainable World Economy” zeigt, dass Sie sich genau mit diesen Fragen auseinandersetzen. Unternehmen haben es in der Hand, Verantwortung zu übernehmen und sich auch an den Leitbildern der Nachhaltigkeit und eines inklusiven Wachstums zu orientieren. Ich denke, es ist völlig legitim, ich würde sogar sagen, hilfreich, dies auch herauszustellen – ganz gleich ob es um Fragen des Klimaschutzes und der Ressourceneffizienz, um faire Lieferketten oder Investitionen in Ländern geht, die Investitionen besonders dringend brauchen. Weil wir gesehen haben, dass einige Millennium-Entwicklungsziele, soweit sie erfüllt wurden, vor allem dadurch erfüllt wurden, dass Asien eine sehr dynamische Entwicklung durchlaufen hat, und zwar im Gegensatz zu Afrika, haben wir uns für unsere Präsidentschaft die Partnerschaft mit Afrika ganz besonders auf die Fahne geschrieben. Wir wollen die wirtschaftliche Kooperation mit unserem Nachbarkontinent stärken. Jetzt geht es im Grunde darum, einen Schritt zu finden, der uns von der klassischen Entwicklungshilfe wirklich zu wirtschaftlicher Dynamik bringt. Diese beiden Felder wurden in der Vergangenheit immer sehr getrennt gedacht. Auf der einen Seite: die klassische Entwicklungshilfe, die aber nicht unbedingt zu einem sich selbst tragenden Aufschwung geführt hat. Auf der anderen Seite verstehen wir, auch wenn wir die Agenda 2063 der Afrikanischen Union sehen, dass wir sehr viel stärker auch in Entwicklungskategorien denken müssen. Wir können herbei auch von den Schwellenländern lernen. Ich verfolge mit sehr viel Interesse zum Beispiel die Herangehensweisen Chinas, was die Asiatische Entwicklungsbank und anderes angeht, weil China, selbst aus großer Armut kommend, einen Entwicklungsprozess durchlaufen hat und weiß, worauf es ankommt. Es kommt ja oft zum Beispiel auf länderübergreifende Infrastrukturprojekte an, sodass man sich überhaupt auch innerhalb eines Landes besser bewegen kann. Länder in Afrika sollten bessere Zugänge zu Häfen bekommen. Es kommt natürlich auch auf die Elektrifizierung an. Wenn wir uns nach 50 oder 60 Jahren Unabhängigkeit vieler afrikanischer Staaten den Grad der Elektrifizierung anschauen, dann wissen wir, dass wir gar nicht als Erstes über den Aufbau von mittelständischen Unternehmen zu reden brauchen, sondern uns erst einmal über die Voraussetzungen dafür unterhalten müssen, dass sich Wirtschaft überhaupt ansiedeln kann. Allerdings – die Umweltministerin ist anwesend –: Heute kann man ganze Entwicklungsphasen, die wir als Industrieländer durchlaufen haben, überspringen – was etwa die Energieversorgung anbelangt –, weil die Sonne in Afrika sehr viel besser zur Verfügung steht als bei uns und weil die Solarenergie inzwischen in einem Maße billiger geworden ist, wie wir es uns vor zehn oder 15 Jahren noch nicht vorstellen konnten. Wir müssen darauf achten, dass nicht wieder alle Entwicklungsschritte durchlaufen werden, sondern dass bereits von neuen Möglichkeiten profitiert wird. Entwicklungssprünge sind auch dadurch möglich, dass die Digitalisierung weit vorangeschritten ist. Es ist interessant: Es gibt viele junge Menschen in Afrika, die ihre erste Bekanntschaft mit elektrischem Strom über die Solarzelle ihres Smartphones machen. Daher wissen sie aber auch, wie man woanders auf der Welt lebt. Daraus entstehen völlig neue Blicke auf die Welt. Auch deshalb muss das Thema Digitalisierung in die G20-Agenda einfließen. Wir haben unter der deutschen Präsidentschaft zum ersten Mal ein Treffen der Digitalminister gehabt. Ich glaube, das war eine richtige Antwort. Wir haben auch beim Frauenforum sehr intensiv über den Zugang für Frauen zu digitalen Technologien gesprochen, der genauso wie das große Thema Zugang zu Bildung von erheblicher Bedeutung ist. Meine Damen und Herren, deshalb hatten wir uns auch vorgenommen – das betrifft viele Ressorts der Bundesregierung; auch im Finanzminister-Prozess, bei Wolfgang Schäuble, spielt das eine große Rolle –, einen „Compact with Africa“ zu entwickeln. Die Betonung liegt zwar auf „Compact“ und natürlich auf „Africa“, aber auch auf der Präposition. Es heißt „with“ und nicht „for“. Genau das zeigt das Umdenken. Wir wollen mit afrikanischen Ländern zusammenarbeiten und haben eine erste Gruppe herausgesucht. Mit diesen Ländern werden wir über Entwicklungsprojekte diskutieren, für die diese Länder auch „ownership“, also Verantwortung, übernehmen, und ihnen dann helfen, die Rahmenbedingungen zu finden, auch Kredite und anderes, das man braucht, um die Projekte umsetzen zu können; also kein Ex-cathedra-Herangehen – wir sagen euch, was gut für euch ist –, sondern eine gemeinsame Arbeit. Ich glaube, das ist der richtige Ansatz. Wir müssen natürlich schauen, dass wir bei der industriellen Entwicklung gerade auch die Themen Nachhaltigkeit, sprich: Ressourceneffizienz und Klimaschutz, mit in Betracht ziehen. Dabei sind erneuerbare Energien im Wettstreit mit fossilen Energien von allergrößter Bedeutung. Die G20-Staaten haben insofern eine große Verantwortung, als sie ungefähr drei Viertel der weltweiten Treibhausgase verursachen. Deshalb ist es wichtig, dass wir ein Forum haben, um einen geordneten Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft zu organisieren und voneinander zu lernen. Dies wird keineswegs nur bei uns diskutiert. Ich war gerade am Wochenende in Saudi-Arabien und in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Dort weiß man sehr genau, dass man sich auf einen Pfad einstellen muss, der auch in einer Zeit, in der die fossilen Brennstoffe nicht mehr eine zentrale Rolle spielen werden, Wohlstand ermöglicht. Meine Damen und Herren, Investitionen entlang von Energie- und Ressourcenschutzpolitik ebnen den Weg in ein kohlenstoffarmes Zeitalter. Wir müssen zeigen – das war auch die Schwierigkeit bei der Entwicklung eines weltweiten Klimaschutzabkommens –, dass Ressourceneffizienz, Treibhausgaseinsparung und wirtschaftliche Entwicklung keine Widersprüche sind. Die ärmeren Länder, die Entwicklungsländer, verlangen natürlich, dass sie auch Chancen für Entwicklung haben. Deshalb ist es auch richtig, dass die hoch entwickelten Industrieländer ihren Beitrag leisten, um neue Technologien marktreif zu machen. Insofern ist die nicht überall in der deutschen Wirtschaft geliebte EEG-Umlage letztlich auch ein Entwicklungsbeitrag für viele andere Länder, die von neuen Technologien profitieren können. Meine Damen und Herren, ich könnte jetzt noch auf viele andere Aspekte unserer G20-Präsidentschaft hinweisen. Ich will noch ein Wort zum Thema Wirtschaft und Gesundheit sagen, das Herr Heraeus ansprach. Zur Gesundheit werden wir noch Empfehlungen bekommen. Wir haben das Thema Gesundheit sehr bewusst auf die Tagesordnung gesetzt. Ohne Gesundheit ist Entwicklung nicht denkbar. In diesem Zusammenhang haben wir auch die Bekämpfung von Antibiotika-Resistenzen und vernachlässigten Tropenkrankheiten auf unsere Agenda gesetzt. Mir ist auch der Aspekt, wie wir mit Pandemien umgehen, besonders wichtig. Wir werden zum ersten Mal ein G20-Gesundheitsministertreffen haben. Die Gesundheitsminister werden sich mit der Frage beschäftigen, was wir aus der Ebola-Krise gelernt haben. Sie werden zusammen mit der Weltbank und mit der Weltgesundheitsorganisation sozusagen eine erste theoretische Pandemie-Übung durchführen. Wir haben viel darüber gesprochen, weil eine Epidemie, wenn sie sich von einem Ort der Welt aus schnell ausbreiten kann, auch die Wirtschaft der gesamten Welt in Mitleidenschaft ziehen kann. Wir müssen klare Reaktionspläne haben. Wir müssen für gefährdete Länder gewisse Versicherungslösungen oder andere Lösungen haben, damit diese Länder nicht sofort ins Chaos stürzen. Denn davon, was passiert, wenn ich zugebe, dass in meinem Land eine Pandemie entstehen könnte, hängt unglaublich viel für die ganze Welt ab, aber es hängt natürlich in erster Linie sehr viel für das betreffende Land ab. Wenn das Land Angst haben muss, dass es, wenn es das zugibt, für die nächsten fünf bis zehn Jahre in ein wirtschaftliches Chaos schliddert, dann wird es das nicht zugeben. Deshalb müssen wir Absicherungsmechanismen entwickeln, damit Länder auch bereit sind, Fälle der Weltgesundheitsorganisation zu melden, sodass man schnell reagieren kann, bevor der Schaden noch größer wird. – Das ist also auch eines unserer Themen. Herzlichen Dank dafür, dass Sie sich hier alle versammelt haben. Herzlichen Dank dafür, dass Sie etwas für uns ausgearbeitet haben. Ich darf Ihnen im Namen unseres Sherpas, Herrn Röller, und unseres ganzen Sherpa-Stabs und in meinem Namen sagen: Wir werden alles tun, um möglichst viel von dem, was Sie uns sagen und was uns dann auch noch richtig erscheint – ich denke, es gibt nicht allzu viele Widersprüche –, in unsere Agenda aufzunehmen. Allen, die sich hier eingebracht haben, noch einmal danke schön; und auch danke dafür, dass Sie hierher nach Berlin gekommen sind. Sie helfen uns, den G20-Prozess in Deutschland für das Treffen in Hamburg erfolgreich zu gestalten. Danke schön.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur 67. Verleihung des Deutschen Filmpreises
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-67-verleihung-des-deutschen-filmpreises-798524
Fri, 28 Apr 2017 20:00:00 +0200
Berlin
Kulturstaatsministerin
Fantasie, Einfühlungsvermögen, Ausdrucksstärke, Mut, Experimentierfreude: Das sind Beispiele für künstlerische Qualitäten, die wir mit dem Deutschen Filmpreis ins Rampenlicht holen. Im Verborgenen dagegen bleiben die Quellen dieser Inspiration. So ist das ja immer. Wissen Sie zum Beispiel, welcher Mafiaboss Vorbild war für Don Corleone, den „Paten“? – Nicht einmal Francis Ford Coppola wusste es. Erst als der Film längst Legende war, fragte er den Autor der Romanvorlage, Mario Puzo, mit dem er das Drehbuch verfasst hatte. „Kein Mafiaboss, Francis“, war die Antwort. „Zum Paten hat mich vor allem meine Mutter inspiriert. Die hat auch immer gesagt: ‚Ich werde ihm ein Angebot machen, das er nicht ablehnen kann.'“ Um vom häuslichen Regiment der „Mamma“ direkt auf die Mafia zu kommen, braucht man möglicherweise einfach nur italienische Wurzeln. Aber aus dem Stroh des Alltags das Gold des Filmstoffs zu spinnen und mit seiner Strahlkraft ein riesiges Publikum in den Bann einer anderen Welt zu ziehen, das ist Werk und Privileg der Filmkünstlerinnen und Filmkünstler: der Drehbuchautorinnen und Drehbuchautoren, der Regisseurinnen und Regisseure, der Schauspielerinnen und Schauspieler, der Meisterinnen und Meister der Kamera, Tontechnik, Maske usw. Für diese Strahlkraft stehen einmal mehr die Filme, die für den Deutschen Filmpreis 2017 nominiert sind. Es freut mich übrigens ganz besonders, dass in diesem Jahr die Hälfte der in der Königsdisziplin „Bester Spielfilm“ nominierten Filme die Regie-Handschrift von Frauen trägt und in der Einzelkategorie „Beste Regie“ drei der vier Nominierten weiblich sind – zeigt es doch, dass Frauen auch am Filmset erfolgreich das Regiment führen. Der Deutsche Filmpreis honoriert aber nicht nur herausragende Einzelleistungen, meine Damen und Herren. Der Deutsche Filmpreis ist auch eine Hommage an den Film insgesamt, an ein Glück, das es nur in einem dunklen Kinosaal gibt: an das Glück, für kurze Zeit Teil einer Welt zu werden, die nicht die eigene ist, in eine fremde Haut zu schlüpfen, an der sich das Leben anders anfühlt, und teilzuhaben an Emotionen und Leidenschaften, die wir in dieser Intensität – wenn überhaupt – vielleicht nur einmal im wirklichen Leben empfinden. Was für ein Geschenk, was für eine Bereicherung! Mit seiner Kraft, uns fremde Schicksale vertraut zu machen, ist der Film für mich auch ein Hoffnungsträger. Wo Hass und Hetze gegen Anderslebende sich wie ein Virus verbreiten, kann die Filmkunst Köpfe und Herzen gegen dieses Virus immunisieren. Wo neue politische Kräfte in unserem Land aus der Abwertung des Anderen politischen Profit für ihre nationalistische Ideologie zu schlagen versuchen, kann die Filmkunst sichtbar und spürbar machen, was Menschen bei aller Verschiedenheit als Menschen verbindet. Ich jedenfalls glaube an die Kraft der Kunst, und ich bin überzeugt: Künstlerische Vielfalt ist auf Dauer stärker als populistische Einfalt! Nicht zuletzt deshalb liegt mir die größtmögliche Freiheit für die Entwicklung innovativer Filmprojekte so sehr am Herzen. Damit Filmschaffende als Künstler ganz „ihr Ding“ machen können, habe ich die kulturelle Filmförderung deutlich aufgestockt. Seit vergangenem Jahr stehen dafür 15 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung. Filmkünstler sollen damit einfach weniger Kompromisse eingehen müssen; sie sollen sich ganz auf die künstlerische Qualität konzentrieren können. Deutlich mehr Geld – nämlich 25 Millionen mehr in diesem Jahr, und voraussichtlich 75 Millionen mehr im nächsten Jahr – gibt es auch für den Deutschen Filmförderfonds. 2018 werden also aller Voraussicht nach 125 Millionen Euro an Fördermitteln zur Verfügung stehen. Die Erweiterung des DFFF–Deutsche Filmförderfonds macht den Filmstandort Deutschland noch attraktiver und soll der deutschen Filmbranche mehr große nationale und internationale Aufträge bescheren – nicht zuletzt, damit unsere hervorragend ausgebildeten Filmkünstler in Deutschland eine Zukunft haben und ihre Kreativität der Filmkunst „made in Germany“ widmen. Diese filmpolitischen Erfolge legen – da bin ich sicher – die Grundlage für künftige Filmerfolge. Man kann auch sagen, liebe Filmschaffende: Ich habe Ihnen ein Angebot gemacht, das Sie nicht ablehnen können. Machen Sie das Beste daraus! Auf Ihr Können vor und hinter der Kamera! Auf Glücksgefühle im Kino! Auf künstlerische Vielfalt gegen populistische Einfalt! Auf die Kraft der Kunst und auf den deutschen Film!
Der Deutsche Filmpreis sei eine Hommage an den Film insgesamt, erklärte Kulturstaatsministerin Grütters bei der Verleihung des 67. Deutschen Filmpreises in Berlin. Die Filmkunst sei ein Hoffnungsträger gegen Hass und Hetze, weil sie sichtbar mache, was Menschen bei aller Verschiedenheit als Menschen verbindet, so Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich des Filmempfangs der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-des-filmempfangs-der-cdu-csu-bundestagsfraktion-798528
Fri, 28 Apr 2017 17:00:00 +0200
Berlin
Kulturstaatsministerin
Gremiensitzungen im Deutschen Bundestag haben gewiss nicht denselben Unterhaltungswert wie ein Besuch im Kino, aber zumindest eines verbindet die Politik- und die Filmbranche – nämlich das öffentliche Lamento, dass es stetig bergab geht. Markante Persönlichkeiten und große Reden in der Politik? – Gab es gefühlt nur früher, in den guten alten Zeiten. Genauso wie großes Kino. Für Francois Truffaut beispielsweise markierte der erste Bond-Film „Dr. No“ 1962 den „Beginn der Dekadenz“. Und beinahe so alt wie das Kino selbst ist die Prophezeiung seines angeblich bevorstehenden Niedergangs. So fragte 1950 zum Beispiel die Frankfurter Allgemeine Zeitung „Ist unsere Zeit schon kinomüde?“ – und klagte, ich zitiere: „Der ‚kleine Mann‘ trägt die wenigen Mark, die ihm zur Verfügung bleiben, oft vom Munde abgespart, vielfach zum Fußball-Toto“ – während die Frauen sie – ich zitiere weiter – „lieber ins Kino oder zu einem Stück Torte ins Café getragen“ hätten. Ob nun die Frauen sich gegen die Männer durchgesetzt haben oder das Kino sich gegen Toto und Torte – fest steht: Der Freude am Filmerlebnis haben bis heute weder Sportwetten noch Fernsehen, Internet und Videospiele etwas anhaben können. Bei der Berlinale stehen die Leute stundenlang, ja teils sogar über Nacht geduldig Schlange, um ein Ticket für ihren Wunschfilm zu bekommen, und auch wenn die deutschen Kinos ihren Besucherrekord aus dem Jahr 2015 im vergangenen Jahr nicht übertreffen konnten, lag ihr Gesamtumsatz 2016 zum vierten Mal bei über einer Milliarde Euro. Kein bisschen „kinomüde“, sondern – ganz im Gegenteil – hellwach und quicklebendig präsentiert sich auch der deutsche Film, der nicht nur beim Deutschen Filmpreis heute Abend einen glanzvollen Auftritt hat. Für glanzvolle Auftritte – auch international – hat jüngst insbesondere Maren Ade gesorgt, die mit „Toni Erdmann“ beim Europäischen Filmpreis abgeräumt hat, spätestens nach der Oscar-Nominierung auf der ganzen Welt die Neugier auf den deutschen Film geweckt hat – und nebenbei noch gezeigt hat, was Frauen als Regisseurinnen und Drehbuchautorinnen drauf haben. Damit war sie nicht die einzige … Ob Komödie, Drama oder Dokumentarfilm: Viele wichtige Impulse für den deutschen Film kamen 2016 von Filmemacherinnen – ein Gewinn an künstlerischer Vielfalt, den ich mir auch vom höheren Frauenanteil in den FFA–Filmförderungsanstalt-Gremien verspreche. Deshalb habe ich mich im Zuge der Novellierung des Filmförderungsgesetzes so vehement dafür eingesetzt. Künstlerische Vielfalt, meine Damen und Herren, gehört im Übrigen auch zum Wirkungsvollsten, was wir der populistischen Einfalt entgegen setzen können. Mit seiner Fähigkeit zu berühren und seiner Kraft, uns fremde Lebensweisen und Schicksale vertraut zu machen, ist der Film ein Hoffnungsträger gerade dort, wo Hass und Hetze sich wie ein Virus verbreiten. Filme können Köpfe und Herzen gegen dieses Virus immunisieren. Sie können Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht. Sie können Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Deshalb ist Filmförderung – bei aller Bedeutung der Filmindustrie für Wachstum und Arbeitsplätze in Deutschland – mehr denn je auch Kulturförderung und nicht nur Wirtschaftsförderung. Und deshalb liegt mir die größtmögliche Freiheit für die Entwicklung innovativer Filmprojekte ebenso sehr am Herzen wie eine prosperierende Filmwirtschaft. Zu größtmöglicher Freiheit trägt die kulturelle Filmförderung meines Hauses bei, die ich 2016 und 2017 mit zusätzlichen 15 Millionen Euro ausgestattet habe. Wir haben damit die Fördermöglichkeiten für die einzelnen Filmproduktionen deutlich erhöht: von 250.000 Euro auf 500.000 Euro und in besonderen Fällen auf bis zu eine Million Euro pro Film. Wir haben das Höchstbudget der antragsberechtigten Filme von 2,5 Millionen Euro auf 5 Millionen Euro angehoben. Wir haben den zulässigen Anteil der BKM–Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien-Fördersumme deutlich erhöht – auf bis zu 80 Prozent, in Ausnahmefällen auch noch höher. Wir haben die Juryarbeit gestärkt – mit eigenständigen Jurys für den Spielfilm- und den Dokumentarfilmbereich. Und ein letztes Beispiel: Wir haben in die Entwicklung von Stoffen investiert. Wir fördern jetzt noch mehr Drehbücher im Spielfilmbereich und haben eine Stoffentwicklungsförderung für Dokumentarfilme eingeführt. Filmschaffende sollen damit weniger Kompromisse eingehen müssen; sie sollen sich ganz auf die künstlerische Qualität konzentrieren können. Deshalb bin ich nicht nur außerordentlich dankbar für die gute Zusammenarbeit mit unserer Arbeitsgruppe Kultur, die solche Erfolge möglich macht, sondern hoffe auch auf Ihre bewährte Unterstützung, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es darum geht, die zusätzlichen 15 Millionen für die kulturelle Filmförderung für die kommenden Jahre zu sichern. Lassen Sie uns daraus eine Erfolgsgeschichte machen wie beim DFFF–Deutsche Filmförderfonds, der in den vergangenen zehn Jahren entscheidend zur Stärkung des Produktionsstandorts beigetragen hat! Mit rund 50 Millionen Euro wurden aus dem DFFF–Deutsche Filmförderfonds 2016 insgesamt 112 Projekte gefördert – 5 mehr als im Vorjahr. Die Antragszahlen zeigen: Das Anreizmodell ist attraktiv. Kein Wunder: Barmittel noch vor Drehbeginn – das gibt es nur beim DFFF–Deutsche Filmförderfonds! Umso mehr freue ich mich, dass ich das Erfolgsmodell DFFF–Deutsche Filmförderfonds noch weiter ausbauen kann. 2017 stehen 25 Millionen zusätzlich zur Verfügung, und dank der Unterstützung des Bundesfinanzministers ist es mir auch gelungen, im Eckwertebeschluss für das Haushaltsjahr 2018 ein Plus von 75 Millionen Euro festzuschreiben. Die Gesamtfördersumme für den DFFF–Deutsche Filmförderfonds wird sich 2018 also voraussichtlich auf 125 Millionen Euro belaufen – 50 Millionen Euro für den bestehenden DFFF–Deutsche Filmförderfonds I und 75 Millionen Euro für den neuen DFFF–Deutsche Filmförderfonds II. Das ist eine Investition in die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Filmstandorts Deutschland, die der deutschen Filmbranche sicherlich mehr große nationale und internationale Aufträge bescheren wird – ein Grund mehr zum Feiern heute Abend bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises! Mit drei Millionen Euro Preisgeld ist er nach wie vor der höchstdotierte Kulturpreis in Deutschland. Auch diese drei Millionen fließen in die nächsten Filmprojekte – auch sie sorgen mit dafür, dass ganz gewiss keine Kinomüdigkeit aufkommt! Ein herzliches Dankeschön der Deutschen Filmakademie für ihre sachkundige und engagierte Unterstützung – ganz besonders an Sie, liebe Iris Berben! So wie wir heute Abend mit dem Deutschen Filmpreis herausragenden Filmkünstlerinnen und Filmkünstlern den roten Teppich ausrollen, so haben wir mit den jüngsten filmpolitischen Erfolgen der Filmkunst und der Filmwirtschaft den roten Teppich ausgerollt. Diese Erfolge sind Teamerfolge! Deshalb danke ich Ihnen, liebe Mitglieder des Kulturausschusses, für Ihre Unterstützung und für Ihr großes Engagement für den Film in dieser Legislaturperiode! Ob FFG–Filmfördergesetz-Novelle oder Ausbau der kulturellen Filmförderung: Wo auch immer es um die Belange der Filmschaffenden ging, hatten Michael Kretschmer als stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Marco Wanderwitz als AG–Arbeitsgruppe-Vorsitzender ein offenes Ohr – so wie auch alle anderen Kulturpolitiker unserer Fraktion, die sich mit Expertise und viel Kinoleidenschaft für den deutschen Film stark gemacht haben. Dieser gemeinsamen Begeisterung für den Film verdanken wir alle Jahre wieder auch diesen Filmempfang: Herzlichen Dank dafür auch an Volker Kauder und an die CDU/CSU-Bundestagsfraktion! Filmliebhaber, die wir alle miteinander sind, können und dürfen wir uns – auch dank unserer erfolgreichen Filmpolitik – ganz gewiss weiterhin auf großes Kino freuen! Möge der deutsche Film dafür viel Aufmerksamkeit und Applaus bekommen: nicht nur, aber ganz besonders heute Abend!
Rückblickend auf das vergangene Filmjahr 2016 freute sich Kulturstaatsministerin Grütters, dass „viele wichtige Impulse für den deutschen Film von Filmemacherinnen“ kamen. Diese Entwicklung sei ein „Gewinn an künstlerischer Vielfalt“, sagte sie beim Filmempfang der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in Berlin.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Unternehmertag Nord am 28. April 2017 in Fockbek
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-unternehmertag-nord-am-28-april-2017-in-fockbek-804880
Fri, 28 Apr 2017 12:30:00 +0200
Fockbek
Wirtschaft und Energie
Sehr geehrter Herr Wachholtz, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Albig, liebe Vertreter des Schleswig-Holsteinischen Landtags und der Landesregierung – für den Landtag erwähne ich einmal Daniel Günther als Fraktionsvorsitzenden –, lieber Herr Striewski, meine Damen und Herren, wer an den Norden denkt, der denkt oft an schöne Strände und weite Felder. Der Tourismus ist natürlich ein sehr wichtiger Wirtschaftsfaktor. Aber der Norden bietet weit mehr. Das sieht man auch an diesem Saal. Was wäre unsere exportorientierte Wirtschaft ohne die Häfen, die Tore zur Welt? Was wäre die Energiewende ohne die Windparks an der Küste? Was wären wir ohne die vielen Traditionsunternehmen, die hier ansässig sind? Lieber Herr Wachholtz, ich möchte gleich zu Beginn danke sagen, dass Sie so positiv auf die Herausforderungen der Flüchtlinge reagiert und das angesprochen haben. Das waren und sind riesige Herausforderungen. Aber wichtig ist ja auch die Frage: Wie nehmen wir solche Herausforderungen an? Ich möchte meinerseits mit einem herzlichen Dankeschön antworten auf die vielen haupt- und ehrenamtlichen Hilfen, auf das große Engagement vom ersten Tag an, in den Kommunen, in Familienunternehmen, in Unternehmen, in kommunalen Institutionen und im Land. Danke schön. Das war eine riesige Kraftanstrengung. Ich glaube, wir haben vieles hinbekommen; „schaffen“ sage ich nicht mehr so gerne. Sie, die Unternehmerinnen und Unternehmer in diesem Saal, stehen für die schleswig-holsteinische Wirtschaft. Und bei einem sind wir zu Gast. Lieber Herr Striewski, eben habe ich in einem Wohnmobil gesessen. Das hat mich an meine Urlaubstage in der vergangenen Woche erinnert. „25.000 verkaufte Wohnwagen im Jahr“ haben Sie mir gerade erklärt. Wir sind ja auch hier von Wohnwagen umrundet; und Sie haben das schön eingebettet mit Palmen. Aber man kann einen Wohnwagen, glaube ich, auch an der Ost- und Nordseeküste benutzen. Ihr Unternehmen stellt Wohnwagen und Wohnmobile seit nunmehr 50 Jahren her. Ein Unternehmen über ein halbes Jahrhundert aufzubauen und erfolgreich durch alle Veränderungen zu lenken, die sich durch die Geschmäcker und das Verhalten der Menschen ergeben, ist eine Leistung, zu der ich nur gratulieren kann. Ihnen und Ihrer Mitarbeiterschaft herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum. Alles Gute für die Zukunft. Machen Sie mit Ihren Produkten weiter so vielen Menschen eine Freude. Sie sind nicht alleine, sondern die Unternehmensverbände Nord vertreten insgesamt 41.000 Betriebe mit rund 1,5 Millionen Beschäftigten. Das ist eine tolle Größenordnung. Deshalb besitzt dieser Unternehmertag natürlich auch eine ziemlich starke Strahlkraft. Ich war in der Tat 2009 schon einmal hier und hatte schon damals einen sehr guten Eindruck. Heute ist das Haus mindestens so voll wie damals. Ich glaube, Ihr Motto „Investitionen in die Zukunft“ trifft genau das, was für Unternehmerinnen und Unternehmer wichtig ist. Nur wer ausreichend Geld in Forschung und Entwicklung, in neue Ausrüstung, in neue Maschinen ebenso wie in neue Ideen und Nachwuchskräfte steckt, der ist auch für die Zukunft gerüstet. Wir alle spüren: Wir leben in einer Zeit, in der sich unglaublich viel unglaublich schnell verändert. Deshalb lautet die Frage: Wie gestalten wir in Deutschland die Zukunft? Diese Frage stellt sich im Norden genauso drängend wie im Süden. Herr Wachholtz, mit dem Norden kenne ich mich aus. Ich komme aus dem östlichen Norden. Auch da ist es schön. Ich weiß, dass Sie es auch hier im halbwestlichen Norden, wenn ich Schleswig-Holstein einmal so nennen darf, wunderbar haben. Die Bundesregierung hat es sich nicht nur auf dem Papier vorgenommen, sondern wir haben es auch umgesetzt, dass Investitionen eine Priorität haben. Das zeigt sich auch an den Verkehrsinvestitionen. Straßen, Schienen und Wasserwege sind Lebensadern. Ich bin gerade eben, als ich mit dem Hubschrauber kam, über den legendären Nord-Ostsee-Kanal geflogen. Wir wissen, was wir da für Arbeit vor uns haben; und wir sind dabei. Am Nord-Ostsee-Kanal kann man sehen, wie lohnenswert echte Zukunftsinvestitionen sind. Die Grundsteinlegung erfolgte vor 130 Jahren. Um die knapp 100 Kilometer lange Wasserstraße zu bauen, waren mehr als 8.000 Arbeiter acht Jahre im Einsatz. Es mussten Höfe und Ortsteile weichen, Gemeinden wurden zweigeteilt, landwirtschaftliche Betriebsflächen getrennt. Da gab es auch damals sicherlich eine Menge Diskussionsstoff. Heute kann man feststellen, dass der Nord-Ostsee-Kanal immer noch die am meisten befahrene künstliche Seewasserstraße der Welt ist – noch vor dem Suezkanal und vor dem Panamakanal. Das zeigt, dass auch wir in unserer Generation immer wieder in zukunftsfähige Projekte investieren und diese Projekte am Leben erhalten müssen. Wir haben mit den Schleusenbauten begonnen, aber noch viel zu tun. Die Bundesregierung weiß, dass der Nord-Ostsee-Kanal eine so wichtige Lebensader ist, dass die Bauarbeiten parallel zum Betrieb des Nord-Ostsee-Kanals durchgeführt werden müssen. Wir stellen für 2018 mit über 14 Milliarden Euro eine neue Rekordsumme für den Erhalt und Ausbau von Autobahnen, Bundesstraßen, Schienenverbindungen und Wasserwegen zur Verfügung. Das bedeutet eine Steigerung um 40 Prozent seit Beginn dieser Legislaturperiode. Wir wollen die Investitionen auf hohem Niveau fortführen. Das ist auch im Bundesverkehrswegeplan 2030 festgelegt. Was die Mittel anbelangt, so kommt der Norden nicht zu kurz – er kommt gut weg; auch mit vordringlichen Projekten. Hamburg und Schleswig-Holstein haben ein Investitionsvolumen, das im Vergleich zum vorangegangenen Bedarfsplan um fast das Doppelte gestiegen ist. Da ist die legendäre Küstenautobahn A 20, auf der ich in Mecklenburg-Vorpommern so gern vor mich hinfahre. Sie ist schön, wenn Sie sie benutzen können. Ich wünsche Ihnen, dass Sie sie bald in Gänze genießen können. Dafür ist es natürlich wichtig – ich sage das ohne jede Polemik –, dass die Planungskapazitäten genutzt und die Verfahren schnell durchgeführt werden. Natürlich muss man den Menschen immer wieder offen sagen: Gerichtsverfahren kosten sehr viel Zeit; aber wir sind verpflichtet – dafür ist der Nord-Ostsee-Kanal ein gutes Beispiel –, auch für unsere Kinder und Enkel Infrastrukturen aufzubauen, aufzufrischen und zu hinterlassen. Das gilt genauso für die Häfen. Wenn ich an die Häfen, an die See- und Hinterlandanbindung denke, erinnere ich an die letzte Maritime Konferenz in Hamburg. Bis dahin hatten wir das Nationale Hafenkonzept weiterentwickelt. Natürlich ist der Hamburger Hafen ein Dreh- und Angelpunkt unserer gesamten Handelsstruktur. Deshalb ist die Tatsache, dass die Elbvertiefung so lange dauert, wirklich eine Herausforderung. Ich habe schon mehrere Präsidenten Panamas erlebt, die mir gesagt haben: „Frau Merkel, wenn der Panamakanal fertig ausgebaut ist“ – und der ist jetzt fertig – „und die großen Schiffstypen kommen, beeilen Sie sich mit der Elbvertiefung.“ Deshalb sind wir nun mittelmäßig froh, dass das Bundesverwaltungsgericht zwar Anweisungen gegeben hat, was noch zu tun ist, dass die Elbvertiefung dann aber wirklich stattfinden kann. Wo auch immer auf der Welt – ob in China, Lateinamerika, Afrika –, Europa gilt ehrlich gesagt nicht als Schnellbauweltmeister, sondern man macht sich dort eher Sorgen um uns. Das müssen wir ernst nehmen, wenn ich mir anschaue, welche Infrastrukturen auf der Welt gebaut werden. Man muss sich überlegen, welche Infrastrukturprojekte wirklich notwendig sind. Diejenigen, die nach langer Diskussion als notwendig eingestuft werden, müssen tatsächlich fertiggebaut werden, da wir sonst im weltweiten Vergleich zurückfallen. Dass der Hamburger Hafen als wichtiger Motor der wirtschaftlichen Entwicklung nicht nur Deutschlands, sondern auch Europas gesehen wird, unterstreicht eine Entscheidung der Europäischen Kommission. Sie hat zwei Testfelder für die mobile Datenübertragungstechnik 5G – die Nachfolgetechnologie von LTE – ausgewählt. Neben Venedig hat es der Hamburger Hafen geschafft, sich als Bewerber erfolgreich durchzusetzen. Wir wissen ja, dass der digitale Wandel die maritime Wirtschaft wie auch alle anderen Branchen erfasst. Umso wichtiger ist es, die digitale Infrastruktur auszubauen. Gerade für ein Land wie Schleswig-Holstein ist das von zentraler Bedeutung. Ich weiß das auch aus Mecklenburg-Vorpommern. Gerade Bundesländer mit einer starken ländlichen Struktur brauchen Unterstützung beim Ausbau. Mit dem DigiNetz-Gesetz haben wir daher für die Förderung des Breitbandausbaus in ländlichen Regionen einen richtigen Schwerpunkt gesetzt. Ich habe mir sagen lassen, dass auch die Kommunen und Regionen in Schleswig-Holstein davon sehr profitieren. Aber auch hierbei ist es so: Von der Aushändigung des Förderbescheids über die Beendigung der Ausschreibungsverfahren bis zum Baubeginn vergeht immer noch erstaunlich viel Zeit. Auch hierbei könnte man sich überlegen, ob und wie wir schneller werden können. Das hängt aber auch mit europäischen Regelungen zusammen. Nun geht es auch allgemein um die Frage von Investitionen in den Regionen. Da liegt sehr viel Notwendigkeit auf der kommunalen und Landesebene. Wir haben immer wieder eine Diskussion über die Frage: Wie sind die Finanzkapazitäten von Bund, Ländern und Kommunen im Vergleich ausgestattet? Ich kann nur dafür werben, dass wir die Kommunen stark ausstatten, damit sie ihre eigenen Investitionen voranbringen können. Es ist uns in schwierigsten Verhandlungen – Herr Albig weiß, wovon ich rede – gelungen, den zukünftigen Länderfinanzausgleich zu verabreden. Die Diskussionen im Bundestag laufen auf Hochtouren. Das ist auch mit Grundgesetzänderungen verbunden. Wir werden damit Planungssicherheit für alle Ebenen in den nächsten Jahren gewinnen. Das ist auch für die Wirtschaft von allergrößter Wichtigkeit. Im Übrigen ist mir im Zusammenhang mit Grundgesetzänderungen auch im Hinblick auf die Digitalisierung eines sehr wichtig: Bund und Länder – das betrifft auch die Kommunen, mit denen wir noch reden müssen – sind bereit, für die Bürgerinnen und Bürger ein gemeinsames Portal zu entwickeln, damit sie in Zukunft hierüber ihre Dienstleistungen vom Staat abfragen können. Die Menschen interessiert es nicht, ob es sich um eine Landeskompetenz handelt, eine kommunale Kompetenz oder eine Bundeskompetenz. Sie wollen einfach auch digital mit ihrem Staat kommunizieren können. Ich verspreche mir da für die nächsten Jahre sehr viel. Wir wollen nicht irgendetwas produzieren, wir wollen gute, herausragende Produkte produzieren. Deshalb haben wir von Anfang an einen Schwerpunkt auf Forschung und Entwicklung gelegt. Der Staat hat hierfür seine Rahmenbedingungen verbessert. Seit 2005 haben wir die Bundesausgaben für Forschung mehr als verdoppelt. Wir haben auch den Ländern dadurch geholfen, dass wir zum Beispiel die BAföG-Kosten übernommen haben, weshalb sie mehr Spielraum haben, um ihre Universitäten zu fördern, damit nicht nur die außeruniversitären Forschungseinrichtungen vorankommen. Wir haben seitens des Bundes zudem die Kostensteigerungen bei der Ausstattung der außeruniversitären Forschungseinrichtungen übernommen. All das sind Beispiele dafür, dass wir Forschung und Entwicklung einen wirklich hohen Stellenwert einräumen. Die deutsche Wirtschaft allerdings trägt natürlich den Löwenanteil. Die staatlichen Ausgaben machen etwa ein Drittel aus, die privaten Ausgaben zwei Drittel. Wir sind daran interessiert, auch weiterhin in einem solchen Gleichschritt leben und arbeiten zu können. Deshalb müssen wir auch immer wieder Anreize für neue Investitionen setzen. Wir müssen uns auch ansehen, was die Wirtschaft daran hindert, in Forschung und Entwicklung zu investieren. Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Ein Aspekt ist die weltwirtschaftliche Entwicklung, ein zweiter sind Bürokratie- und Steuerlasten. Ein dritter Grund, der sich immer weiter in den Vordergrund schiebt, ist der Fachkräftemangel. Ich habe mich auf dem Hinflug mit meinem Kollegen, Philipp Murmann, unterhalten. Zum Beispiel Software-Ingenieure zu finden, ist alles andere als einfach. Wir können eigentlich nur morgens bis abends durch die Schulen laufen und sagen: Leute, wenn ihr einen sicheren Arbeitsplatz haben wollt, dann wendet euch den sogenannten MINT-Fächern zu, den mathematischen, ingenieurtechnischen und naturwissenschaftlichen Fächern; dann habt ihr sehr gute Berufschancen. Mit diesen drei Punkten – Weltwirtschaft, Bürokratie- und Steuerlasten, drohender Fachkräftemangel – ist das Gebiet umrissen, in dem sich Politik in besonderer Weise engagieren muss. Natürlich fühlt sich die Bundesregierung für diese drei Punkte verantwortlich. Zum ersten Punkt, der weltwirtschaftlichen Lage. Die haben wir natürlich nicht alleine in der Hand. Das versteht sich von selbst. Aber wir haben in diesem Jahr die G20-Präsidentschaft und können mit den anderen führenden Wirtschaftsnationen vieles diskutieren. Wir tun dies aus einer Perspektive, in der wir wissen, dass Ex- und Importe zusammen bei uns in Deutschland rund 70 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts ausmachen. In den Vereinigten Staaten sind das zum Beispiel seit langem nur zwischen 20 und 25 Prozent. Das heißt, die deutsche Volkswirtschaft ist in einem Maße in die internationalen Wertschöpfungsketten eingebunden, wie wir das in der Welt selten finden. Rund jeder vierte Arbeitsplatz ist vom Außenhandel abhängig. Daher haben wir ein elementares Interesse an offenen Märkten, an freiem Handel, aber auch an fairem Handel, weil wir unseren Produkten durchaus etwas zutrauen. Wir müssen mit den Herausforderungen umgehen. Das sind nicht zuletzt Kriege und Konflikte in der unmittelbaren Nähe Europas. Ich denke an Syrien, an die Ukraine oder Nordafrika. Es stellt sich die Frage: Was bedeutet der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union? Die Verflechtungen sind gerade hier im Norden sehr hoch. Wir werden morgen ein Sondertreffen der 27 Mitgliedstaaten haben, die die Leitlinien für die Verhandlungen mit Großbritannien beschließen werden. Unser Ansatz ist folgender: Wir wollen natürlich weiterhin gute Beziehungen zu Großbritannien. Wir sind, was Verteidigungs- und Sicherheitspolitik anbelangt, voneinander abhängig. Wir sind auch wirtschaftlich voneinander abhängig. Großbritannien ist ein guter Handelspartner. Insofern werden wir die Verhandlungen aus eigenem Interesse so führen, dass unsere Wirtschaftsbeziehungen möglichst wenig Schaden nehmen und vor allen Dingen auch die Rechte der deutschen Bürgerinnen und Bürger in Großbritannien möglichst gewahrt werden. Aber eines muss auch klar sein: Wer den vollen Zugang zum Binnenmarkt nicht zulässt – das ist eine Entscheidung Großbritanniens, die wir bedauern, aber die gefällt wurde –, der kann auch nicht die gleichen Vergünstigungen und Zugänge zu allen anderen Bereichen des Binnenmarkts haben, zum Beispiel beim Austausch von Dienstleistungen. Ich bitte Sie, uns an dieser Stelle zu unterstützen. Denn es ist absehbar, dass die maritime Wirtschaft miteinander spricht, die Automobilwirtschaft miteinander spricht, dieser und jener auch, und dass jeder natürlich Partikularinteressen verfolgt. Wenn Sie das mit 27 Mitgliedstaaten multiplizieren, dann kommen Sie leicht in eine Verhandlungssituation, in der die 27 die Verlierer sein werden und nicht die Gewinner. Wir wollen niemanden über den Tisch ziehen. Wir haben uns auch gegen niemanden verbündet. Aber wir wollen unsere Interessen genauso wie Großbritannien wahren – nicht mehr und nicht weniger. Unsicherheiten bestehen natürlich auch bei Fragen im Zusammenhang mit der neuen amerikanischen Administration. Wir stehen in engen Verhandlungen und reden insbesondere über die Verflechtung der internationalen Wertschöpfungsketten. Zu meinem Antrittsbesuch bei Präsident Donald Trump in Washington habe ich drei Unternehmen aus Deutschland mitgenommen – stellvertretend für viele andere –: Siemens, Schaeffler und BMW. BMW hat sein größtes Werk nicht in Deutschland, sondern in den Vereinigten Staaten von Amerika, in South Carolina, einer Region, wo früher der Baumwollanbau dominierte. BMW exportiert aus den Vereinigten Staaten heraus mehr Autos, als Ford und GM zusammen aus Amerika exportieren. Man kann insofern eigentlich gar nicht zwischen einer deutschen Firma und einer amerikanischen Firma unterscheiden. Wir setzen uns für ein multilaterales Handelssystem ein. Wir wollen die WTO, die Welthandelsorganisation, stärken. Wir führen seitens der Europäischen Union natürlich auch unsere Handelsabkommenverhandlungen weiter. Nach langer, gründlicher, guter Diskussion haben wir das Abkommen mit Kanada abschließen können. Das ist ein sehr gutes, beispielgebendes Abkommen geworden. Wir werden jetzt daran arbeiten, das Abkommen mit Japan zu vollenden. Wir haben auch noch viele andere Fragen. Auch ein Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika sollten wir nicht aufgeben, sondern uns ansehen, welche Möglichkeiten sich ergeben. Denn wir haben erlebt, dass vor jedem Handelsabkommen – ich weiß noch, wie die Automobilindustrie mit uns über das Abkommen mit Südkorea geredet hat – zwar Bedenken bestanden. In jedem Fall hat ein Abkommen aber für beide Seiten zu mehr Austausch, zu erhöhtem Handelsvolumen, zu mehr Arbeitsplätzen geführt. Der zweite große Punkt sind bürokratische Hemmnisse sowie Steuer- und Abgabenbelastungen. Wir sind hier im Land der Energiewende oder in einem der Länder der Energiewende. Ich will weder Niedersachsen noch Mecklenburg-Vorpommern beleidigen, doch Schleswig-Holstein nimmt gerade bei der Förderung der Windenergie eine Pionierrolle ein. Die Energiewende ist durch die Bundesregierung mit zwei Gesetzen im Bereich der erneuerbaren Energien in dieser Legislaturperiode auf einen qualitativ zukunftsfähigen Pfad gebracht worden. Vorausgegangen waren aber keine leichten Auseinandersetzungen. Es geht um Onshore- und Offshore-Kapazitäten. Wir alle beginnen zu verstehen – selbst diejenigen, die in Windenergie investieren –, dass wir in Windenergie nicht mehr investieren sollten, als wir irgendwann einmal brauchen. Zwischenzeitlich brauchen wir auch Leitungen, damit der Strom dahin kommt, wo er gebraucht wird. Auch dabei haben wir ein Riesenproblem. Der Leitungsbau ist im Augenblick das Nadelöhr. Wir müssen auch die Belange der Menschen berücksichtigen, die in der Nähe von Windkraftanlagen leben und wohnen. Auch das finde ich richtig. Ich will einen Punkt nennen, der mir sehr wichtig ist. Um sich am Bedarf zu orientieren, um im Ausbaukorridor der erneuerbaren Energien zu bleiben und Planbarkeit zu bekommen, haben wir vereinbart, dass in Zukunft Ausschreibungen stattfinden, um die Mengen zu begrenzen und die Kosten zu senken. Wir haben erste interessante Erfahrungen gemacht. Bei den Pilotprojekten zur Ausschreibung von Solarenergie gab es Preissenkungen von ungefähr 25 bis 30 Prozent. Vorher aber haben viele gesagt: Ach, die Mengen sind viel zu klein; das alles wird gar keine Wirkung haben. Bei den Windparks haben wir Beispiele, bei denen wir zum Schluss 0 Cent Subventionen brauchen werden. Bei einigen wird das etwas länger dauern. Nichtsdestotrotz ist das Ausschreibungsmodell das richtige Modell; das wird die Zukunft zeigen. Wir haben uns als Bundesregierung etwas Schwieriges vorgenommen, wenn es um Berichtspflichten für Unternehmen geht. Wir haben gesagt: Wenn eine Berichtspflicht dazukommt, dann muss an anderer Stelle Aufwand in gleichem Umfang abgeschafft werden. Das ist nicht ganz einfach. Auch wenn Sie es mir nicht glauben wollen – wir liegen mit unserem Bürokratiekostenindex unter 100. Das heißt, der bürokratische Aufwand insgesamt ist nicht angestiegen, sondern gesunken. Nun weiß ich, dass es in Ihren Augen immer zu viel Bürokratie gibt und wir daher wahrscheinlich nie reüssieren. Trotzdem möchte ich Ihnen vortragen, dass wir es mit unserer Bürokratiebremse wirklich ernst meinen. Wir haben auch steuerlich einiges auf den Weg gebracht und den Schwellenwert zur sofortigen Abschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter von 410 auf 800 Euro angehoben. Uns wurde gesagt, dass das für viele Mittelständler ein wichtiger Punkt ist. Und wir haben in dieser Legislaturperiode – darauf muss ich noch einmal hinweisen – keine Mühe gescheut, aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Erbschaftsteuergesetz kein Desaster werden zu lassen. Dabei haben wir auch auf die Unternehmen gehört. Ich weiß, dass ich von Ihnen dafür kein Lob bekomme. Aber Tadel kriegen wir auch nicht mehr so richtig. Deshalb haben wir es, glaube ich, so hinbekommen, dass die Familienunternehmen für sich eine Zukunft sehen. Das war das, was mir und anderen sehr wichtig war. Familienunternehmen sind mit das Beste, das unser Land hat. Mittelständler müssen gestärkt werden. Deshalb war dies auch psychologisch eine sehr wichtige Regelung. Wir haben uns bemüht. Noch lieber wäre es mir gewesen, das Verfassungsgericht hätte es akzeptiert. Aber wir haben gehandelt. – Da es keine Pfiffe gibt, bin ich schon zufrieden. In der künftigen Legislaturperiode werden wir – jetzt betrete ich etwas vages Gelände, weil die Parteien ihre eigenen Konzepte entwickeln – in dieser oder jener Form maßvolle Steuererleichterungen ins Auge fassen; insbesondere weil wir sehen, dass der Spitzensteuersatz für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehr früh erreicht wird. Wenige Überstunden können schon dazu führen, dass man sich mit nicht allzu hohen Einkommen plötzlich im Bereich des Spitzensteuersatzes befindet. Dadurch, dass sich die Dinge gut entwickelt haben, ist die Steuerquote, obwohl wir die kalte Progression immer bekämpft haben und die Steuersätze nicht gestiegen sind, etwas gestiegen. Das wieder zurechtzurücken, halte ich für angemessen und vernünftig. Wir werden auch bei der steuerlichen Forschungsförderung – da gibt es parteiübergreifend, jedenfalls in der großen Koalition, keine Infragestellung – etwas für kleinere und mittlere Unternehmen tun, weil wir erleben, dass diese Unternehmen von den Zuschussprogrammen längst nicht so profitieren wie die größeren. Dritter Punkt: Personal. Natürlich können auch wir nicht die Menschen hervorzaubern, die Sie brauchen. Aber ich glaube, wir haben einiges geschafft. Wo liegen die Potenziale? Zum einen müssen wir unsere eigenen Potenziale heben. Hierbei ist das Thema Frauenerwerbstätigkeit wichtig. Wir haben rund 2,4 Millionen mehr Frauen in Arbeit als vor zehn Jahren. Das hat sehr viel mit dem Ausbau der Infrastruktur für Kinderbetreuung zu tun. Das waren richtige Schritte. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten länger. In diesem Zusammenhang ist wieder das magische Thema „Rente mit 63“ zur Sprache gekommen. Präzise müssten Sie sagen: Die Rente mit 63 für diejenigen, die 45 Jahre gearbeitet haben, wird Jahr für Jahr zur Rente mit 65 aufgewachsen sein, wenn die anderen die Rente mit 67 erreicht haben. Nun sehe ich ein, dass das in Zeiten von SMS und Tweets ein bisschen langwierig ist; ich wollte es nur noch einmal gesagt haben. Es gilt also nicht für jedermann. Wir müssen im Bereich Bildung sehr viel tun. Wir haben die Möglichkeit des Meister-BAföG verbessert. Wir haben das BAföG verbessert. Wir sind den Hochschulpakt mit den Ländern eingegangen. Aber wir müssen auch einen Schwerpunkt auf die berufliche Ausbildung legen. Hierbei geht es stark darum, das System der dualen Berufsausbildung in Europa abzusichern. Europa ist auf der einen Seite sehr für das System der dualen Berufsausbildung, auf der anderen Seite aber gegen jede Form von Verkammerung, von Qualitätssiegeln wie Meisterbrief und Ähnlichem. Ich versuche immer wieder zu erklären, dass beides gleichzeitig nicht geht. Ich kann nicht ohne jede Organisationsstruktur der Wirtschaft diese große ehrenamtliche Arbeit durchführen, wenn ich das alles, auch die Qualitätskriterien, abschaffe. Gute Qualität und gute Berufsausbildung gehen nur zusammen mit bestimmten nachhaltigen Qualitätsstandards, die nicht beliebig unterboten werden dürfen. Das müssen wir in Europa gemeinsam klarmachen. Wir werden uns sicherlich auch noch einmal überlegen müssen, wie wir ausländische Fachkräfte besser ansprechen können; und zwar im Sinne dessen, was an Berufsspezifikationen notwendig ist. Wir haben die Blue Card. Bei der Anerkennung von Qualifikationen sind wir viel besser geworden. Viele sagen aber, das reiche nicht. Zuwanderung, gesteuerte Einwanderung dann, wenn ein Job-Angebot vorliegt – dazu sage ich ausdrücklich Ja. Aber wir haben in der Politik schon vieles erlebt. So war etwa nach drei Jahren irgendeine Welle vorbei, dann waren viele Menschen arbeitslos; und dann hat sich dieselbe Wirtschaft über die Erhöhung der Lohnzusatzkosten beklagt, weil wir dann natürlich auch etwas tun mussten, um diesen Menschen wieder eine Zukunft zu geben oder sie zumindest sozial abzusichern. Wir müssen also die richtige Balance finden. Deshalb finde ich es richtig, erst einmal auf europäische Arbeitskräfte zurückzugreifen. Das macht im Übrigen bei der Zunahme der Arbeitsplätze in Deutschland neben dem Drittel Frauen und dem Drittel längere Erwerbstätigkeit das letzte Drittel aus, eben weil wir inzwischen sehr viele Fachkräfte aus anderen europäischen Ländern aufgenommen haben. Wir haben seit 2005 4,3 Millionen mehr Erwerbstätige und über fünf Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mehr. Sie wissen, dass sich die Arbeitslosenquote fast halbiert hat. Auch die Zahl der Unternehmensinsolvenzen lag 2016 auf dem niedrigsten Stand seit 1999. Ich will eine letzte Bemerkung machen: Für ein gutes wirtschaftliches Investitionsklima ist nach unserer Meinung auch eine solide Haushaltsführung richtig und wichtig. Wir merken, dass durch die Tatsache, dass der Bundeshaushalt in der gesamten Legislaturperiode keine neuen Schulden ausgewiesen hat, Vertrauen entstanden ist. Aus solchem Vertrauen entsteht auch ein anderes Konsumptionsverhalten. Wer einen sicheren Arbeitsplatz hat, wer glaubt, dass die Finanzen in Ordnung sind, der ist auch eher bereit zu konsumieren, Geld auszugeben. Angesichts des demografischen Wandel spart allerdings gerade auch die Generation der Fünfzigjährigen sehr stark, weil man nicht ganz genau weiß: Was erreicht mich, wenn ich 60 bin? Finde ich dann noch einen Job? Wie sieht es mit der Gesundheit aus? Brauche ich Pflegeleistungen? Deshalb sind stabile soziale Sicherungssysteme auch für ein gutes Investitionsumfeld von allergrößter Bedeutung. Wir wissen, dass wir auf die Lohnzusatzkosten achten müssen. Aber durch die hohe Zahl von Beschäftigten ist manche Entwicklung bei der Rente und beim Rentenniveau nicht so eingetreten, wie wir sie vorausgesehen haben. Daher muss es immer wieder heißen – das ist sozusagen unser Bündnis –: Wenn Sie genügend Luft haben, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einstellen zu können, sind auch der Staat und die sozialen Sicherungssysteme viel besser in der Lage, das zu liefern, was die Bürgerinnen und Bürger erwarten, nämlich soziale Sicherheit. Deshalb haben wir alle gemeinsam ein Interesse an einer prosperierenden Wirtschaft auch in schwierigen Zeiten. Einer aktuellen Umfrage unter global agierenden Unternehmen zufolge ist Deutschland im Augenblick das zweitattraktivste Land für Investitionen. Nun wissen wir auch, dass Umfragen dieses und jenes hergeben. Aber es ermutigt uns, wenn wir wissen, dass vor uns nur die USA liegen. Wir wollen weiter vorn dabei sein. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Ich bedanke mich für das, was Sie für Ihr Bundesland, aber auch für Deutschland tun. Ich freue mich, dass ich heute dabei sein kann; und das noch dazu an einem so symbolträchtigen Ort eines erfolgreichen Unternehmens. Danke schön.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Tag der Inneren Sicherheit am 26. April 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-tag-der-inneren-sicherheit-am-26-april-2017-in-berlin-801824
Wed, 26 Apr 2017 18:10:00 +0200
Berlin
Lieber Volker Kauder, liebe Gerda Hasselfeldt, liebe Kolleginnen und Kollegen aus unserer CDU/CSU-Fraktion, liebe Gäste, die Sie heute zahlreich hierhergekommen sind, ich glaube, dass die Zahl derer, die sich hier auf dieser sogenannten Fraktionsebene versammelt haben, dafür spricht, dass das Thema von großer Bedeutung ist. Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, und natürlich auch die Bundesregierung – der Bundesinnenminister hat bereits zu Ihnen gesprochen –, haben uns diesem Thema zugewandt, sind ihm verpflichtet, weil wir wissen, dass es hier um eine Kernfrage des Verhältnisses der Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Staat geht. Die Menschen erwarten – zu Recht, sage ich –, dass der Staat alles Menschenmögliche, alles Machbare tut, um für die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger einzustehen. Wir wissen, dass Freiheit nur gelebt werden kann, wenn Sicherheit weitestgehend garantiert ist. Wir sind in den letzten Monaten und Jahren, aber vor allen Dingen in der letzten Zeit sehr stark mit terroristischen Angriffen konfrontiert worden, die viele Menschen natürlich verunsichert haben, die Fragen aufgeworfen haben. Erst Anfang dieses Monats raste in Stockholm ein Mann mit einem Lkw in eine Menschenmenge. Es handelt sich also nicht nur um ein deutsches Phänomen. Wir wissen aus Frankreich und aus anderen Ländern von solch schrecklichen Anschlägen. Es gibt immer wieder viele Menschen, die deutlich machen: Wir wollen Sicherheit, wir wollen auch die notwendige Rechtsordnung dafür. Gesellschaftlicher Zusammenhalt bedeutet aber auch, dass wir der Opfer gedenken, dass wir den Verletzten und ihren Angehörigen Beistand leisten und immer wieder ein Zeichen dafür setzen, dass wir uns unsere Art, wie wir in freiheitlichen, demokratischen Gesellschaften leben, nicht kaputtmachen lassen. Immer wieder gibt es Menschen, die ein solches Zeichen setzen. Gerade auch wie die Bevölkerung in Schweden reagiert hat, war sehr beeindruckend. Einer hat gesagt: „Wenn uns die Dunkelheit umgibt, ist es wichtiger denn je, mit Licht und Wärme zu antworten.“ Das heißt also, es geht im großen Ganzen darum, dass wir als Gesellschaft Zusammenhalt demonstrieren, aber natürlich auch die richtigen Antworten auf die Herausforderungen geben. Unsere Diskussion prägt immer wieder, dass diejenigen, die unsere Sicherheit verteidigen, die sie garantieren und dafür arbeiten, von uns Unterstützung bekommen. Da geht es auf der einen Seite um die gesetzgeberische Unterstützung, aber auf der anderen Seite auch um das Werben darum, dass die ganze Gesellschaft sie unterstützt. Wenn man aber erlebt, was für Diskussionen es in einigen Bereichen und bei anders gestalteten Regierungen – auf Länderebene zum Beispiel – auch gibt, mit wieviel Misstrauen man Polizistinnen und Polizisten begegnet, dann kann ich nur sagen: Jeder soll sich einmal in die Situation von jungen Männern und Frauen versetzen, die bereit sind, für unsere Sicherheit jeden Tag auch ihr Leben in Gefahr zu bringen. Deshalb können wir nicht dankbar genug sein, dass es Menschen gibt, die sich dieser Arbeit verpflichtet fühlen, die sie gerne machen, die sie mit großem Enthusiasmus und großer Leidenschaft machen. Danke dafür. Das gilt für unsere Bundespolizei, das gilt für die Polizisten in den Ländern, das gilt auch für die Nachrichtendienste, die wir brauchen. Wir haben in den letzten Monaten und Jahren auch oft über den notwendigen Schutz individueller Daten gesprochen; auch im Zusammenhang mit den NSA-Vorkommnissen. Wir haben aber auch erkannt, wie wichtig die Dienste sind – ob es um die Auslandsdienste wie den BND, den Verfassungsschutz oder das Bundeskriminalamt geht. Deshalb auch hier ein herzliches Dankeschön. Die Arbeit findet oft im Verborgenen statt; sie muss ja auch im Verborgenen stattfinden. Tausende Menschen arbeiten mit Hochdruck an Aufklärung. Wir haben gerade auch am Beispiel des Anschlags auf den Mannschaftsbus von Borussia Dortmund gesehen, was für irrwitzige Konstellationen sich ergeben können. Deshalb auch ganz ausdrücklich unseren Sicherheitsbehörden ein herzliches Dankeschön. Sie haben heute schon im Detail über unsere Gesetzesvorhaben gesprochen, über Fragen, die mit Flucht und Migration zusammenhängen, über die Frage, wer ein Aufenthaltsrecht bei uns hat und wer nicht, über die Frage notwendiger Instrumente, die wir brauchen. Ich will beispielsweise nur die Verlängerung des Ausreisegewahrsams und die erleichterte Abschiebehaft nennen. Die Gefährderfrage, Präventionsmaßnahmen, elektronische Fußfessel – über all das haben Sie schon im Detail diskutiert. Ich will daher nur drei Säulen nennen, die für die Sicherheitsarchitektur in unserem Land sehr wichtig sind. Die erste ist: Wir brauchen genügend Menschen, die bereit sind, die Aufgabe der Garantie der Sicherheit zu übernehmen. Da haben wir seitens des Bundes Maßstäbe gesetzt, was das Haushaltsrecht und die Haushaltsmittel anbelangt, die wir zur Verfügung gestellt haben, und was den Aufwuchs in den Behörden anbelangt. Ich glaube, BKA, Bundespolizei und Bundesverfassungsschutz stehen jetzt vor der riesigen Aufgabe, geeignete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden und sie schnellstmöglich auszubilden – also die Mittel zu nutzen, die wir ihnen an die Hand geben. Ähnliche Entwicklungen haben wir glücklicherweise in vielen Bundesländern – ich sage: in den unionsregierten Bundesländern stärker als in anderen; darauf sind wir stolz. Wir sind hier ja bei einem Kongress der CDU und der CSU. Wir wollen junge Menschen ermutigen, sich im Sicherheitsbereich zu engagieren, sich zu bilden und ihre berufliche Zukunft dort zu sehen. Deshalb ist der gesellschaftliche Rückhalt für die Menschen, die in diesen Bereichen arbeiten, so wichtig. Aber Personal allein reicht nicht. Oft wird die Diskussion auf die Personalfrage verengt. Das halten wir für falsch, denn wir leben in einer Zeit, in der sich die Kommunikationsmöglichkeiten der Menschen dramatisch ändern. Jeder erlebt das an den Möglichkeiten, die Smartphones und Computer mit sich bringen. Wer aber geistig stehen bleibt bei den Auseinandersetzungen über die Telekommunikationsüberwachung im Festnetz, der gibt den Menschen, die im Sicherheitsbereich arbeiten, nicht das, was sie brauchen. Ich halte es deshalb für eine der wichtigsten Aufgaben, dass man nicht permanent ideologisch über die Fragen redet, was sein kann und was nicht sein kann, sondern an die Frage, was es heute an Möglichkeiten gibt, pragmatisch herangeht. Von der Ausstattung mit Autos bis zu Mitteln zur Überwachung des Informationsaustauschs brauchen unsere Sicherheitsbehörden die modernsten Möglichkeiten, um auch wirklich erfolgreich agieren zu können und denen, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zerstören wollen, sozusagen das Handwerk zu legen. Das ist unser Maßstab bei dem, was wir in den letzten Monaten erarbeitet haben. Ich sehe gerade den Abgeordneten Mayer, der uns in jeder Fraktionssitzung wieder neue Gesetze nennt, und Lisa Winkelmeier-Becker, die Änderungen im Rechtsbereich sozusagen in langen Linien verfolgt. Ich gebe zu, es ist gar nicht so einfach für jeden Abgeordneten, im Wahlkreis zu sagen, was die letzte Neuerung war. Aber wir werden nicht stehen bleiben können, weil sich auch die technischen Möglichkeiten permanent weiterentwickeln. Deshalb hat es gar keinen Sinn, irgendwann einen Schlussstrich zu ziehen und zu sagen, jetzt haben wir alles getan. Vielmehr müssen wir immer wieder bereit sein, den Behörden und den Menschen, die die Sicherheit garantieren, das hierfür notwendige Werkzeug an die Hand zu geben, auch um deutlich zu machen: Der Rechtsstaat lässt sich nicht auf der Nase herumtanzen, sondern er hat die Möglichkeiten, das einzuklagen, was sicherheitsbewusste Bürgerinnen und Bürger erwarten. In diesem Zusammenhang ist eben die technologische Entwicklung unser Begleiter. Deshalb müssen wir immer wieder dazulernen und auf diejenigen hören, die bestimmte Dinge brauchen. Der dritte Punkt, der uns sehr beschwert und über den der Bundesinnenminister sehr viel nachgedacht und zu dem er auch kontrovers diskutierte Vorschläge unterbreitet hat, ist die Frage: Wie erreichen wir ein einheitliches Sicherheitsniveau in der gesamten Bundesrepublik Deutschland? Die Menschen haben mit Recht wenig Verständnis dafür, dass es einen unterschiedlichen Grad an Sicherheit gibt, wenn zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen die Schleierfahndung nicht praktiziert wird, in Bayern jedoch praktiziert wird, wenn wir Unterschiede bei der Überwachung zum Beispiel von Gefährdern haben. Wie wollen wir das erklären? Deshalb werden wir uns als Bundestagsabgeordnete oder als Bundesregierung nicht damit zufrieden geben, dass wir 16 unterschiedliche Sicherheitsniveaus in 16 verschiedenen Bundesländern haben. Wir brauchen ein möglichst einheitliches Sicherheitsniveau; und zwar ein hohes. Darauf werden wir weiter drängen. Je weniger wir das haben, je weniger sozusagen die freiwilligen Absprachen funktionieren, umso stärker wird natürlich auch der Ruf nach Zentralisierung. Ich kann hierbei die Kritik der Bundesländer verstehen, die sehr gut dastehen. Aber auf der anderen Seite, wenn man aus Bundesländern kommt, die nicht ganz so gut dastehen, sagt man, es wäre doch schön, wenn wir auch mehr Durchgriffsmöglichkeiten der zentralen oder der föderalen oder der Bundesebene hätten. Diese Frage wird uns weiter begleiten. Wir haben einige gute Austauschmöglichkeiten, wenn es um Zentren für Terrorismusabwehr und anderes geht. Allerdings muss man auch darauf achten, dass die Verantwortlichkeiten klar geklärt sind. Wir brauchen zum Beispiel – das leuchtet wohl jedem ein – eine einheitliche Gefährderdefinition für die gesamte Bundesrepublik Deutschland. Wie will eine Bundesbehörde mit Ländern diskutieren, in denen unterschiedliche Gefährderdefinitionen existieren und jeweils unterschiedlich argumentiert wird? Und wenn dann etwas passiert, wird es in der Bevölkerung mit Recht kein Verständnis geben. Deshalb müssen wir immer wieder den Finger auch in diese Wunde legen. Ich glaube, dafür hat jeder Verständnis. Eine Frage, mit der sich die Bundesregierung verstärkt befasst – ich vermute, der Bundesinnenminister hat dazu auch Stellung genommen –, das ist die Frage der Sicherheit auch unserer Infrastrukturen. Hierbei geht es um Cybersicherheit, um Sicherheit in Zeiten zunehmender Möglichkeiten digitaler Cyberangriffe, um Zugriffe auf sensible Datensysteme, um Spionage und Sabotage sowohl im wirtschaftlichen Bereich als auch im Bereich staatlicher Infrastrukturen. Wir haben in Reaktion auf die verschärfte Bedrohungslage eine neue Cybersicherheitsstrategie erarbeitet und uns fachlich und organisatorisch neu aufgestellt. Wir werden zum Beispiel die Zentrale Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich – kurz: ZITiS –, für die Anfang dieses Jahres der Startschuss gefallen ist, aufbauen, um auch über Forschung und Entwicklung unsere Sicherheitsbehörden immer wieder auf dem neuesten Stand zu halten. Es ist angemessen, alle Sicherheitsbehörden an diesen Forschungsergebnissen teilhaben zu lassen. Wir brauchen in dem gesamten Zusammenhang natürlich auch eine viel stärkere Vernetzung in der Europäischen Union. Ich will das hier im Einzelnen nicht alles aufzählen, sondern nur sagen: Wir haben uns einen Raum der Freiheit geschaffen, den sogenannten Schengen-Raum. Darin können wir uns frei bewegen; Waren, Dienstleistungen und Kapital können frei fließen. Wir wollen einen digitalen Binnenmarkt. Alles richtig, aber: Ein Raum der Freiheit und Sicherheit hat Grenzen. Und wenn diese Grenzen nicht mehr die nationalen Binnengrenzen sind, dann müssen wir die Außengrenzen schützen können. Wir haben in den letzten Monaten eine doch elementare Erfahrung gemacht – ganz besonders im Jahr 2015 –, nämlich, dass der praktizierte Schutz der Außengrenzen den Anforderungen überhaupt nicht standhielt. Wir haben jetzt aber glücklicherweise – sehr stark auch durch deutsche und französische Maßnahmen –einiges erreicht, das wichtig ist: zum Beispiel eine gemeinsame Grenzschutzpolizei. Aber wir haben noch nicht all das erreicht, das wir brauchen. Daran wird mit Hochdruck gearbeitet – zum Beispiel an einem einheitlichen Einreise- und Ausreiseregister. Wir haben dies jahrelang laufen lassen, muss man sagen, weshalb nicht klar nachvollziehbar war, wer in den Schengen-Raum einreist und auch wieder ausreist. So, wie es in den Vereinigten Staaten von Amerika zum Beispiel ganz normal ist, müssen wir auch für unseren gemeinsamen Raum der Freizügigkeit Grenzschutzmaßnahmen und Transparenzmaßnahmen durchsetzen, damit man weiß, wer bei uns ist. Das wird der nächste große wichtige Schritt sein. Europa steht also vor einer zentralen Herausforderung. Diese zentrale Herausforderung haben wir noch nicht abschließend bewältigt; das will ich ausdrücklich sagen. Wir müssen auch zugeben, dass Deutschland nicht immer an vorderster Front darauf gedrängt hat, diese Herausforderung zu bewältigen. Aber daran hängt ganz wesentlich die Zukunft der Europäischen Union. Hierbei geht es um sehr viel. Es geht um die Frage, ob wir Freizügigkeit, die Freiheit der Bewegung der Bürgerinnen und Bürger, auf Dauer erhalten können oder eine schleichende Veränderung haben, mit der dann überall wieder nationale Grenzkontrollen mit immer größerer Intensität stattfinden, was natürlich gravierende wirtschaftliche Auswirkungen hätte. Aber diesen Schengen-Raum auch als den Raum, der die Außengrenzen definiert, zu akzeptieren, bedeutet, völlig neu zu denken. Dann sind unsere Nachbarschaft nicht mehr Polen, Österreich und die Schweiz, Frankreich, Luxemburg, Belgien und die Niederlande, sondern dann sind unsere Nachbarschaft – ich sage das immer gerne; Sie kennen das schon von mir – Russland, Weißrussland, Ukraine, Türkei, Georgien, Syrien, Libanon, Israel, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko und der Nordpol, weil Norwegen zum Schengen-Raum gehört. Da verläuft die Außengrenze. In dieser Kategorie müssen wir denken. Damit wird die Frage, um welche Konflikte wir uns kümmern und mit welchen Bedrohungen wir uns auseinandersetzen müssen, eine ziemlich andere sein, als wenn man mitten im Schengen-Raum sozusagen regional verankert ist und sich mit den nationalen Grenzen befasst. Aber wenn das Umdenken nicht gelingt, werden die Bürgerinnen und Bürger kein Verständnis dafür haben. Sie erwarten ein Umdenken von uns. Und deshalb ist das eine herausragende europäische Aufgabe. Jetzt habe ich sehr viel über terroristische Bedrohungen gesprochen, weniger über das, was die Menschen natürlich genauso umtreibt. Und das sind zum Beispiel Fragen des Wohnungseinbruchs oder, wie man manchmal sagt, der alltäglichen Kriminalität. Gerade Wohnungseinbrüche, das Eindringen in die private Sphäre, sind aus meiner Sicht in ihrer psychologischen Bedeutung für den Menschen nicht ausreichend betrachtet und auch nicht ausreichend wichtig genommen worden. Auf der einen Seite mit Recht sehr intensive Diskussionen etwa über Telekommunikationsüberwachung zu führen, aber auf der anderen Seite Wohnungseinbrüche fast als eine Art Naturphänomen anzusehen – damit dürfen wir uns nicht abfinden. Deshalb haben Volker Kauder und andere immer wieder darauf hingewiesen: Wir müssen Menschen helfen, sich selbst besser zu schützen. Deshalb gibt es auch ein KfW-Förderprogramm. Aber wir wollen auch, dass wir diejenigen, die Wohnungseinbrüche begehen, ordentlich verfolgen können. Dazu gehört ein erhöhtes Strafmaß. Darauf haben wir uns in der Koalition geeinigt. Dazu gehört natürlich auch, dass man die Übeltäter auch wirklich verfolgen kann. Und das heißt auch, dass man hierbei nicht den Datenschutz vorschiebt und damit sozusagen die Aufklärungsmöglichkeiten verringert. Das ist etwas, worüber wir gerade in der Koalition diskutieren. Hierbei werden wir als Union auch eine harte und klare Haltung einnehmen. Ich finde das richtig, weil wir so handeln wollen, dass es wirklich Erfolge zeitigt. Denn die Menschen leben nicht von Worten, sie leben auch nicht von den Gesetzen auf dem Papier, sondern sie leben davon, dass ihre reale Situation besser wird. Ich kann Ihnen als Bundeskanzlerin und damit auch als Verantwortliche für die Bundesregierung nicht versprechen, dass wir keine Bedrohungen zu gewärtigen haben. Diese sind da; und sie sind nicht nur national lokalisiert. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Was ich Ihnen aber versprechen kann, ist, dass wir uns vor den Herausforderungen nicht beugen, sondern sie mutig angehen – dass wir da, wo neu gedacht werden muss, bereit sind, neu zu denken; und zwar immer in dem Bewusstsein, dass Freiheit und Sicherheit aufs Engste zusammengehören und dass wir als Staat, damit Menschen in Freiheit leben können, Sicherheit gewährleisten müssen. In diesem Sinne möchte ich mich bei allen bedanken, die da mitarbeiten. Es sind schwierigste Gesetzgebungsvorhaben in kurzer Zeit bewältigt worden. Damit stehen die Sicherheitsbehörden auch vor der Aufgabe, in kurzer Zeit umfassende Erneuerungen, Umstrukturierungen und Ausbildungsgänge durchzuführen – das wirbelt solche Apparate ja auch durcheinander – und gleichzeitig immer Höchstleistungen zu bringen. Die Bundespolizei musste das Spektrum ihrer Aufgaben unglaublich erweitern, wenn man zum Beispiel an die Grenzkontrollen im Süden denkt. Viele Beamte sind permanent von zu Hause weg, schieben Überstunden und stellen sich riesigen Herausforderungen. Und deshalb ist dieser Kongress – neben der Betrachtung der Rechtslage – einfach auch Ausdruck unserer Achtung vor der Leistung derer, die das, was wir als Gesetze verabschieden, jeden Tag in die Tat umsetzen. Danke der Fraktion dafür, dass sie diesen Kongress auf die Beine gestellt hat. Danke allen, die mitgemacht haben. Danke allen, die Interesse daran haben. Wir arbeiten mit aller Intensität weiter, um das hohe Gut der Sicherheit zu schützen. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim G20-Dialogforum Frauen (W20) am 26. April 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-g20-dialogforum-frauen-w20-am-26-april-2017-in-berlin-451686
Wed, 26 Apr 2017 16:15:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte Frau Küppers, sehr geehrte Frau Bschorr, sehr geehrte Frau Bundesministerin Schwesig, meine Damen und Herren, nun nähern wir uns dem Ende des G20-Dialogforums der Frauen. Natürlich bin ich sehr gespannt, liebe Frau Bschorr und liebe Frau Küppers, was ich nachher an Empfehlungen bekomme, die dann – wenigstens in wesentlichen Teilen – in die Beratungen zu unserem G20-Gesamtkommuniqué einfließen sollen. Das bedeutet, dass unsere Verhandlungen mit den Sherpas der verschiedenen Teilnehmerländer so geführt werden müssen, dass wir Einigkeit erzielen. Denn in der G20 kann immer nur das beschlossen werden, womit alle Länder einverstanden sind. Deshalb bitte ich Sie, dass Sie als diejenigen, die aus den 20 und mehr Teilnehmerländern gekommen sind, nach diesem Gipfel der Frauen nicht die Hände in den Schoß legen, sondern auch in Richtung Ihrer Regierungen dafür eintreten, dass die jeweiligen Vertreter Ihrer Regierungen in den Sherpatreffen bereit sind, sich der Frauenagenda gegenüber weiter positiv zu zeigen. „Shaping an interconnected world“ – das ist das Motto, das wir gewählt haben. Wir haben dieses Motto gewählt, weil der Veranstaltungsort des G20-Gipfels, Hamburg, mit seinem Hafen ein Schifffahrtsknotenpunkt ist, der zeigt, wie sehr wir miteinander vernetzt sind. Da gehören natürlich die Anliegen der Frauen dazu. Politik findet ja nicht im luftleeren Raum statt. Ein Vorwurf gegenüber der G20 ist ja sehr häufig: Da treffen sich nur Politiker und bereden irgendetwas untereinander. Deshalb haben wir auf den zivilgesellschaftlichen Prozess sehr viel Wert gelegt. In diesem Zusammenhang sind die letzten beiden Tage, an denen die Frauen getagt haben, sicherlich sehr wichtig gewesen. Ich habe bereits die Empfehlungen der Wissenschaftler. Ich werde noch die Empfehlungen der „business people“ und der Gewerkschaften bekommen. Wir werden auch noch ein Jugendmeeting und ein Meeting mit den NGOs haben. So werden also verschiedene Gruppen der Gesellschaft ihre Forderungen mit einfließen lassen. Ich freue mich sehr, dass, wie ich eben erfahren habe, die W20 auch bei den L20 – also bei „Labour“, bei den Arbeits- und Sozialpolitikern – und bei den Businessvertretern zu Gast sein werden, sodass das, was Frauen bewegt und was wir ja gleich auch wieder diskutieren werden, auch auf diesen beiden anderen zivilgesellschaftlichen Foren eine Rolle spielen wird. Damit sind wir natürlich schon wieder einen Schritt hin zur Core-Agenda gekommen; das ist schon einmal ein Fortschritt. Wir arbeiten in der G20 in einer Troika zusammen. Das heißt: Vor uns war der Gastgeber China, nach uns wird der Gastgeber Argentinien sein; wir haben schon sehr vieles von der chinesischen Agenda übernommen und werden natürlich auch versuchen – und ich werde daher auch noch vor dem G20-Treffen nach Argentinien fahren –, vieles in Argentinien einzuspeisen, da wir Kontinuität brauchen. Weil es dicke Bretter sind, die wir zu bohren haben, brauchen wir diese Kontinuität in besonderer Weise. Wir haben darüber gesprochen – und werden das heute noch einmal aus neuem Blickwinkel tun –: Die politische und auch die wirtschaftliche Teilhabe von Frauen entspricht noch nicht ihrem Anteil an der Gesellschaft. Deshalb war dies auch die erste frauenpolitische Frage, die wir in Brisbane 2014 aufgenommen haben. Wir haben gesagt: Wir wollen den Gender-Gap überwinden. Heute sind nur 50 Prozent der Frauen weltweit erwerbstätig, bei den Männern sind es 76 Prozent. Diese Lücke wollen wir bis 2025 schließen. Wenn wir die Jahre von 2014 bis 2017 in den Blick nehmen, sehen wir: In Deutschland hat sich die Frauenerwerbstätigkeit erhöht. Das hat sehr viel mit dem Ausbau von Kinderbetreuung und der Verfügbarkeit von Kinderbetreuung zu tun. In anderen Ländern muss das aber noch fortgesetzt werden. Wir haben über Unternehmertum gesprochen und werden das gleich noch einmal tun. Ich kann nur das unterstreichen, was die Ministerin eben gesagt hat. Auch bei uns ist es nicht einfach, Zugang zu Krediten zu bekommen und die Geschäftsmodelle, die sich Frauen überlegen, anerkannt zu bekommen, weil diejenigen bei den Banken, die das begutachten, oft Menschen männlichen Geschlechts sind und sich das Erfolgsmodell des Geschäfts manchmal gar nicht richtig vorstellen können. Deshalb ist es so wichtig, dass auch in den Banken – das haben wir gestern auch bei der Vertreterin der Bank of America gesehen – Frauen sitzen, die dann auch darüber entscheiden, wann es Zugang zu Finanzierungsquellen gibt. Wir haben es eben schon gehört: Morgen ist der Girls’ Day. Ich habe schon heute im Kanzleramt junge Mädchen aus einer 9. Klasse empfangen. Wir haben über die Berufswahl gesprochen. Jedes Jahr gibt es eine Preisfrage. Die Klasse, deren Schülerin die Preisfrage gewinnt, wird zu einer bestimmten Besichtigungstour eingeladen. Diesmal war die Frage, wie viele Frauen anteilsmäßig im letzten Wintersemester in Deutschland begonnen haben, Ingenieurwissenschaften zu studieren. Hätte ich teilgenommen, hätte ich gewonnen. Ich hatte nämlich, ohne die Antwort zu wissen, 25 Prozent gesagt. Es sind 24,7 Prozent. Aber natürlich hat eine der Schülerinnen gewonnen. Sie hatte 23 Prozent gesagt. Es war übrigens ein Mädchen, das erst seit eineinhalb Jahren in Deutschland ist, als syrisches Flüchtlingskind zu uns kam und jetzt für seine Klasse schon den ersten Preis eingeheimst hat; auch eine schöne Sache. Es gibt auch immer einen Parcours, auf dem die Mädchen technische Berufe kennenlernen. Dabei engagiert sich eine Unternehmensinitiative in Deutschland, die Initiative D21, sehr. Dabei habe auch ich heute eine ganze Menge lernen können, was es gerade im digitalen Bereich an Berufsausbildungsmöglichkeiten gibt. Wir sehen in Deutschland, dass klassischerweise für Mädchen scheinbar nur wenige Berufe infrage kommen, weshalb es sehr, sehr wichtig ist, schon in der Schule den Blick zu weiten und zu sagen, was alles an Möglichkeiten es eigentlich gibt. Aber das heißt natürlich erst einmal: Zugang zu Grundbildung bei Mädchen. Ich weiß zum Beispiel aus unserer Migrationspartnerschaft mit dem sehr armen Land Niger, wie schwierig es in einigen Ländern ist, Mädchen überhaupt den Zugang zur Schule über das zehnte Lebensjahr hinaus zu gewährleisten. Das hat Auswirkungen auf die gesamte Lebensplanung, auch auf die Frage, wann man heiratet, wie viele Kinder man hat und wie das Bevölkerungswachstum in dem Land ausfällt. Das heißt, wir haben noch sehr, sehr viel zu tun und müssen uns gerade auch um die Schwellen- und Entwicklungsländer kümmern. Der gesellschaftliche Fortschritt in diesen Ländern ist umso besser, je mehr wir Mädchen und Frauen in diesem Wandlungsprozess mitnehmen. Es gibt also sehr viel zu tun. Wir müssen uns überlegen, wie wir vielleicht auch eine Sprungentwicklung schaffen. Das kann gerade in den Entwicklungs- und Schwellenländern der Fall sein, weil hier die digitale Entwicklung Möglichkeiten eröffnet – das haben wir gestern in den Panels schon gehört –, an Informationen und auch an Geschäftsmodelle heranzukommen, was man sonst ohne die Möglichkeiten der Digitalisierung oder des Smartphones gar nicht schaffen kann. Deshalb haben wir bei W20 ein Thema in den Mittelpunkt gestellt, das wir hier noch nicht so deutlich erwähnt haben. Das ist das Thema „#eSkills4Girls“. Es geht um drei Barrieren, die zu überwinden sind. Erstens geht es darum, dass Mädchen im Schulalter digitale Kompetenzen erwerben. Zweitens geht es um sichtbare Vorbilder – auch das ist ganz wichtig. Drittens brauchen wir innovative Ideen, wie wir Frauen auch in der digitalen Welt stärken können. In einem Monat, am 26. Mai, findet in Taormina in Italien der nächste G7-Gipfel statt. Auch bei G7, bei den Industrieländern, haben wir einen Schwerpunkt „Frauen“. Wir wissen sehr genau, dass wir auch in diesen Ländern noch nicht da sind, wo wir hinwollen. Wir versuchen auch, von der deutschen G7-Präsidentschaft viele Themen in die G20 einzubringen und eine Parallelität zu erreichen. Deshalb hoffe ich, dass auch der G7-Gipfel in Italien ein guter Beitrag zur Arbeit in der G20 wird. Ich freue mich jetzt auf die Diskussion und bin natürlich sehr gespannt auf das, was ich dann als Arbeitspaket auf die Hand bekomme. Ich darf Ihnen versprechen: Ich werde das motiviert angehen und versuchen, möglichst viele meiner Kollegen und Kolleginnen zu überzeugen. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Auftaktveranstaltung zum Girls’ Day 2017 am 26. April 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-auftaktveranstaltung-zum-girls-day-2017-am-26-april-2017-in-berlin-462432
Wed, 26 Apr 2017 11:15:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Schwaderer, meine Damen und Herren und vor allem: liebe Schülerinnen, es ist eine gute Tradition, dass wir hier im Kanzleramt den bundesweiten Girls’ Day einläuten. Dazu möchte ich Sie heute herzlich willkommen heißen. Denn morgen ist wieder dieser Girls’ Day. Zum 17. Mal öffnen Unternehmen und Forschungsinstitute, Verwaltungen, Verbände und Einrichtungen in ganz Deutschland ihre Türen für Schülerinnen. Das sind also schon 17 Jahre; und von euch sind noch gar nicht alle 17 Jahre alt. 10.000 Angebote für 100.000 junge Mädchen – der Girls’ Day ist also längst ein echter Renner; und das aus gutem Grund. Denn es ist ein Zukunftstag für Mädchen, der eben eine gute Gelegenheit bietet, einmal einen Blick in die Zukunft zu werfen – einen Blick auf spannende Arbeitsfelder und damit vielleicht auch auf die eigene berufliche Zukunft. Ihr könnt Arbeitsbereiche kennenlernen, die ihr vielleicht noch nicht so gut kanntet – Berufsfelder, die auch nicht zu den typischen Mädchenberufen gehören. Ich war vorgestern auf der Hannover Messe. Das ist die weltweit wichtigste Industriemesse. Auf dieser Messe kann man heute schon Dinge sehen, die morgen die Arbeit bestimmen werden. Sie bietet sozusagen einen Einblick in die Wunder der Technik und wie sich die Dinge ändern. Roboter spielen eine sehr große Rolle, aber keine Roboter, die den Menschen ersetzen, sondern Roboter – oder Cobots, wie sie manchmal auch genannt werden –, die mit dem Menschen kooperieren. Ganz tolle Techniken sind hierfür in der Entwicklung. Für viele solcher zukunftsträchtigen Entwicklungen spielen die sogenannten MINT-Fächer eine Rolle – also die Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technologie. Wir haben einen riesigen Fachkräftebedarf in diesen Bereichen. Das heißt, wer Lust hat, sich da zu engagieren, der hat eine gute berufliche Zukunft vor sich. Es freut uns deshalb, dass auch immer mehr junge Frauen ein Studium in solchen Fächern aufnehmen. Trotzdem ist es immer noch so, dass viele fragen: Maschinenbau, Elektrotechnik, Physik, Chemie – ist das alles nicht sehr schwierig? Dazu möchte ich eine Physikerin aus der Vergangenheit zitieren, Marie Curie. Ich weiß nicht, ob ihr sie kennt. Habt ihr schon etwas von Marie Curie gehört? Sie hat zum Beispiel das Element Polonium entdeckt. Sie hat also in der Forschung zur Radioaktivität gearbeitet. Sie ist zweifache Nobelpreisträgerin gewesen – für Physik und für Chemie. Sie hatte schon vor einem Jahrhundert eine gute Antwort parat. Sie hat nämlich gesagt: „Man muss nichts im Leben fürchten, man muss nur alles verstehen.“ Alles zu verstehen, ist natürlich nicht so einfach. Dafür muss man Wissen und Bildung in Anspruch nehmen und dann auch selber noch nachdenken. Wenn wir uns fragen, wie es mit dem Wissen und der Bildung von Mädchen heute aussieht, können wir sagen, dass sie im Durchschnitt höhere und bessere Schulabschlüsse haben als Jungen und hervorragend qualifiziert und ausgebildet sind. Nie waren die Chancen besser als heute, sich für einen Beruf zu entscheiden, der gute Entwicklungsmöglichkeiten und auch gute Verdienstmöglichkeiten mit sich bringt. Viele Frauen zeigen schon, dass sie in ihren Berufen spannende Aufgaben und Führungsverantwortung übernehmen können. Gerade auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels – also der Tatsache, dass es in unserer Gesellschaft mehr ältere und weniger jüngere Menschen gibt –, wird verstärkt Nachwuchs gesucht, weshalb es ganz wichtig sein wird, dass ihr euch für zukunftsfähige Berufe entscheidet. Also, interessiert euch auch für Forschung und Entwicklung, soweit das möglich ist, weil ihr damit auch etwas Gutes für Deutschland tut und dafür, dass unser Wohlstand bestehen und unser Leben weiter ein gutes Leben bleibt. Wir versuchen in vielfältiger Weise, eine Kultur der Neugierde zu fördern – neben dem Girls’ Day etwa auch mit dem Wettbewerb „Jugend forscht“. Wir bieten viele Einblicke. Auch die Bundesagentur für Arbeit schafft Einblicke. Natürlich verändert sich die Welt auch durch die Digitalisierung. Ihr wisst das ja auch; das Smartphone ist euer täglicher Begleiter. Aber man sollte auch verstehen, was hinter der Digitalisierung steht und was alles an Veränderungen sie mit sich bringt. Deshalb mein Aufruf: Nutzt alle Chancen, nicht nur den heutigen Girls‘ Day. An dieser Stelle möchte ich auch denjenigen, die diese Chancen bieten, danken – also den vielen Unternehmen, Einrichtungen und Schulen, die sich für den Girls‘ Day einsetzen. Dafür sehr herzlichen Dank. Dieser Dank geht natürlich vor allen Dingen auch an die heute hier vertretenen Unternehmen sowie an Sie, lieber Herr Schwaderer, als Präsident der Initiative D21. Nun geht es wie in jedem Jahr auch um einen ganz konkreten Gewinn. Ihr gewinnt sowieso etwas, weil ihr heute neue Sachen kennenlernt. Aber es ist auch wieder eine Preisfrage gestellt worden. Die richtige Antwort ist zugleich ein Ticket für einen Ausflug in das FAB Lab Berlin, in dem jeder und jede lernen kann, mit Hightech-Werkzeugen umzugehen. Konkret ist die Gewinnerin mit ihren Mitschülerinnen eingeladen zum Team-Workshop „Wir fertigen ein intelligentes Kleinfahrzeug“. Na, das ist ja eine spannende Sache. Die Frage lautete: „Wie viel Prozent der Studierenden, die im Wintersemester 2016/17 ein Studium der Ingenieurwissenschaften aufgenommen haben, waren Frauen?“ Die richtige Antwort lautet: haargenau 24,74 Prozent; also nur ungefähr ein Viertel. Gewonnen hat Sedra Al Muntaha Mustafa. Wer ist das? – Du bist in Damaskus geboren, seit anderthalb Jahren in Deutschland und kommst von der Gustav-Langenscheidt-Schule in Tempelhof-Schöneberg. Du hattest 23 Prozent geschätzt und lagst damit der Lösung am nächsten. Deshalb herzlichen Glückwunsch; und natürlich auch herzlichen Glückwunsch deinen Klassenkameradinnen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Gedenkveranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung im Deutschen Historischen Museum zum 50. Todestag von Konrad Adenauer am 25. April 2017
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Tue, 25 Apr 2017 19:50:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte Frau Werhahn, liebe Familie Adenauer, lieber Hans-Gert Pöttering, sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, lieber Fraktionsvorsitzender Volker Kauder, liebe Kollegen aus dem Kabinett, liebe Kollegen aus dem Parlament, werte Festgäste, am 19. April 1967, vor fast genau 50 Jahren, verstarb in seinem Wohnhaus in Rhöndorf der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer. – Ich freue mich, dass dort vor wenigen Tagen, genau an diesem Tag, am 19. April, auch eine Feier stattfinden konnte. – Es war ein tiefer Einschnitt. Der Trauerstaatsakt im Bonner Bundeshaus und der Gottesdienst im Kölner Dom gerieten zu einem bis dahin wohl nicht gekannten Medienereignis. Unzählige Bürgerinnen und Bürger hatten es damals verfolgt. Ich habe neulich noch einmal nachgelesen; es muss sehr bewegend gewesen sein. Die Staatsgäste wurden von Hans-Gert Pöttering schon genannt: der amerikanische Präsident, der französische Staatspräsident, der britische Premierminister – sie alle waren angereist wie viele, viele andere Ehrengäste. Tausende Menschen säumten den Rhein, als der Sarg per Schiff von Köln nach Rhöndorf überführt wurde. In dieser Anteilnahme der Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft spiegelte sich die ungeheure Hochachtung wider, die Konrad Adenauer entgegengebracht wurde. Henry Kissinger hat uns eben in beeindruckenden Worten noch einmal gesagt, was innerhalb weniger Jahre nach dem totalen moralischen Zusammenbruch Deutschlands schließlich in der jungen Bundesrepublik Deutschland gelungen war. Gleichermaßen kritisch wie ehrfürchtig würdigte damals ein Nachrichtenmagazin – ich zitiere –: „Er machte es dem Tod nicht leichter als seinen politischen Gegnern.“ Das war auf der einen Seite für einen Menschen in seinem Alter und auf der anderen Seite angesichts seiner Kampfeskraft vielleicht sehr treffendend beschrieben. Ja, Konrad Adenauer war, nach allem, was wir wissen, zäh und standhaft in jeglicher Hinsicht. Er hatte politischen Willen und politische Weitsicht. Nicht anders war und ist zu erklären, warum er wie kein anderer für die Entstehung des neuen bundesdeutschen Staates, den neuen wirtschaftlichen Aufbruch und die Westbindung stand. Und mehr noch: Nach Krieg, Gewaltherrschaft, millionenfachem Mord an den europäischen Juden, nach diesen dunkelsten Jahren war es schließlich Konrad Adenauer, der die Rückkehr der Deutschen in die Gemeinschaft der freien Völker verkörperte. Es war 1949, zur Geburtsstunde der Bundesrepublik, keineswegs absehbar, dass Konrad Adenauer das Land derart prägen würde. Mit 73 Jahren schien er den Zenit seines politischen Lebens erreicht zu haben, als er für das Amt des Bundeskanzlers kandidierte. Angeblich sei ihm ärztlich attestiert worden, fit genug zu sein, um das Amt ein bis zwei Jahre ausüben zu können. Es sollten 14 Jahre werden. Was trieb den „alten Herrn“ an, wie er oft respektvoll genannt wurde? Was verlieh ihm diese ungewöhnliche Kraft? Darüber können wir heute nur spekulieren. Aber in zahlreichen Veröffentlichungen über seine Person fehlt selten ein Verweis auf die Werteverbundenheit Adenauers als rheinischer Katholik. Seine Kanzlerschaft baute natürlich auch auf seinen vielfältigen Erfahrungen auf, die er vorher in seinem politischen Engagement über Jahrzehnte hinweg gesammelt hatte. Vor allem als Oberbürgermeister von Köln – und ich begrüße auch die heutige Oberbürgermeisterin – machte er sich einen Namen unter anderem mit dem Ausbau Kölns als Messestadt, mit der Wiedergründung der Universität und der Ansiedlung großer Unternehmen. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten geriet der überzeugte Republikaner Adenauer ins politische Aus. Verleumdet, mit einem Beschäftigungsverbot belegt und zeitweise inhaftiert, entging er zum Glück Schlimmerem. Der Politiker mit Leib und Seele, für den es zum Lebensinhalt gehörte, die Gesellschaft und ihr Umfeld mitzugestalten, wurde zum ausgestoßenen Privatier. Es ist sehr interessant, im Tagebuch von Paul Adenauer zu lesen, das jetzt auch über die Adenauer-Stiftung herausgegeben wurde, was das damals für die Familie bedeutete. Man kann das eigentlich nur aus solchen persönlichen Schilderungen erahnen. Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte auch für Konrad Adenauer persönlich eine Zeitenwende. Es eröffnete ihm das Tor zu einem zweiten politischen Leben, das er dann fest entschlossen durchschritt, um sich zunächst für einen grundlegenden parteipolitischen Neuanfang einzusetzen. Die Idee einer überkonfessionellen christlich-demokratischen Partei gab es zwar schon früher. Aber sie konnte sich unter den Bedingungen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik nicht entfalten. Für Konrad Adenauer war es entscheidend, dass sich die neue Volkspartei den Grundsätzen des christlichen Menschenbilds und als überkonfessionelle Partei einem demokratischen Grundkonsens verpflichtet sah. Das verdeutlichte er unter anderem in einer Grundsatzrede im März 1946 – ich möchte ihn zitieren –: „Demokratie erschöpft sich für uns nicht in der parlamentarischen Regierungsform. Sie ist für uns eine Weltanschauung, die ebenfalls wurzelt in der Auffassung von der Würde, dem Werte und den unveräußerlichen Rechten eines jeden einzelnen Menschen, die das Christentum entwickelt hat.“ Dieses christlich-demokratische Verständnis leitete ihn auch als Vorsitzenden des Parlamentarischen Rates, der das Grundgesetz erarbeitete. Er sah seine Aufgabe nicht in redaktionellen Feinheiten, verstand es aber meisterhaft, zwischen den verschiedenen verfassungspolitischen Auffassungen zu vermitteln. So entwickelte er sich mehr und mehr, wie Bundespräsident Theodor Heuss einmal anmerkte, zum „Sprecher der werdenden Bundesrepublik“. Nach der von CDU und CSU knapp gewonnenen Bundestagswahl wurde Konrad Adenauer am 15. September 1949 zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Wie wir schon gehört haben: Es war eine knappe Mehrheit, die wahrscheinlich einen großen Zusammenhalt der Fraktion erforderte. Volker Kauder hat heute zitiert, wie sich Konrad Adenauer in geradezu unnachahmlicher Weise zur Sitzordnung der damaligen CDU/CSU-Bundestagsfraktion geäußert hat. Er war relativ gleich- und großmütig bezüglich des Wunsches, in Landsmannschaften zusammenzusitzen, meinte aber – ich gebe das jetzt sinngemäß wieder –, wenn das dann auch noch für die Frauen gelte, für die man Vorlieben habe, wäre es zu viel des Guten; ein bisschen Ordnung müsse sein. Aber es galt, sich nicht nur mit solchen Dingen zu beschäftigen, sondern auch die Grundlagen für ein neues Gemeinwesen zu legen. Und hierfür waren die Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft und eine an ihnen ausgerichtete Wirtschaftspolitik ein wesentlicher Baustein. Auch hierbei ging es wieder um Konsens – um einen Ausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, um eine Balance aus Wettbewerb und Sozialpolitik. Wer sich zum Beispiel die Einführung eines Rentensystems, wie wir es zumindest in Grundzügen heute noch haben, und die Wiederbewaffnung vor Augen führt, der weiß, was für ein Konsens-Bauer Konrad Adenauer wirklich war. Der Weg der Sozialen Marktwirtschaft und der Konsensfindung zwischen verschiedenen Gruppen sollte sich als richtig erweisen. Es gab in den 1950er Jahren einen einzigartigen wirtschaftlichen Aufschwung in der Bundesrepublik. Dies erleichterte natürlich auch, die große Zahl der Heimatvertriebenen, Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR in die westdeutsche Gesellschaft zu integrieren. Meine Damen und Herren, neben den innenpolitischen Weichenstellungen bleibt der Name Adenauers vor allem mit seiner wegweisenden Außenpolitik verbunden. Er übte als Bundeskanzler in den Jahren 1951 bis 1955 zugleich das Amt des Außenministers aus; eine Tatsache, die heute gar nicht mehr so bekannt ist. Und hierbei trat seine eherne politische Grundüberzeugung zutage: Die feste Einbindung Deutschlands in den Kreis freiheitlicher westlicher Demokratien. Die Westbindung entsprach für Konrad Adenauer einer politischen Notwendigkeit. Nur so eingebunden würden die europäischen Nachbarn ein wiedererstarktes Deutschland akzeptieren. Nur so würde sich das von ihm gefürchtete Risiko eines weiteren Krieges beherrschen lassen. Nur so hatten die Deutschen eine Chance, sich eingedenk des von ihrem Land ausgegangenen Leids, der furchtbaren Verbrechen und der insbesondere von Konrad Adenauer immer tief empfundenen moralischen Schuld wieder eine Zukunft aufzubauen. Deshalb bemühte sich der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gleich zu Beginn seiner Amtszeit um einen Ausgleich vor allem mit den früheren Kriegsgegnern USA und Frankreich. Er suchte auch mit Moskau das Gespräch. Die Kontakte führten 1955 zu der viel beachteten Rückkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen, wie wir heute hier auch im Film gesehen haben. Sein Herzensanliegen galt aber der Westbindung. Und damit stieß Adenauer seinerzeit auf heftigen und emotionsgeladenen Widerstand; Henry Kissinger hat uns eben noch einmal daran erinnert. Aber wir wissen heute, welche Weitsicht Konrad Adenauer damals bewiesen hat. Die Westbindung ist für die Bundesrepublik Deutschland bis heute der zentrale Bezugspunkt unseres außenpolitischen Selbstverständnisses. Es ruht damals wie heute auf zwei Pfeilern: den gemeinsamen europäischen Strukturen und dem transatlantischen Bündnis. Auch wenn beides – wenn man einmal die Debatten über den Élysée-Vertrag und die Präambel verfolgt –zeitweise durchaus auch im Konflikt zueinander stand, kommen darin auch heute noch unsere gemeinsamen Wertevorstellungen genauso wie unsere Interessen zum Ausdruck. Für Adenauer ging es darum, das Verhältnis zu den europäischen Nachbarn auf eine völlig neue Grundlage zu stellen. Er arbeitete vor allem daran, Vertrauen aufzubauen, weil er überzeugt war, dass ohne Vertrauen Europa nicht zusammenwachsen könnte – ein Vertrauen, von dem die Europäische Union bis heute lebt. Und ich füge hinzu, dass wir immer wieder in dieses Vertrauen investieren müssen. Besonders markante Meilensteine waren die Gründung der Montanunion 1951 und die Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957, deren 60. Jahrestag wir im Kreis der EU-Staats- und -Regierungschefs vor wenigen Wochen feierlich begingen. Aber auch diese Unterzeichnung war damals nicht unumstritten. Konrad Adenauer war in Rom; für Frankreich war nur der französische Außenminister anwesend, wie auch auf den Bildern von damals zu sehen ist. Nach dem Scheitern der Verteidigungsunion war man sich offenbar nicht sicher, ob der Schritt der Römischen Verträge wirklich ein wegweisender sei. Man wusste auch nicht, ob Charles de Gaulle später diesen Römischen Verträgen überhaupt beipflichten würde. Aber sie haben sich als richtig erwiesen. Und so war es für uns eine Selbstverständlichkeit, den 60. Jahrestag feierlich zu begehen. Aus der Selbsterkenntnis Europas als Werte- und Schicksalsgemeinschaft eine gemeinsame Zukunft in Frieden zu gestalten – das war und das ist der europäische Auftrag, den wir gerade auch anlässlich des 50. Todestages eines so großen Europäers vor Augen haben müssen. Konrad Adenauer entwickelte mit dem französischen Präsidenten Charles de Gaulle eine enge persönliche Freundschaft. Sie legten gemeinsam die Grundlage für eine dauerhafte Versöhnung der früheren Erbfeinde Deutschland und Frankreich. Und den Élysée-Vertrag betrachtete Konrad Adenauer als eine seiner größten politischen Leistungen. Vor dem Hintergrund der Westbindung ist auch die Deutschlandpolitik Konrad Adenauers verständlich. Die sich nach dem Krieg abzeichnende deutsche Teilung war von Adenauer keinesfalls gewollt, wie ihm leider manches Mal unterstellt wurde. Das machte er unmissverständlich klar, unter anderem in seiner Ansprache nach der Schlussabstimmung über das Grundgesetz im Mai 1949 – ich möchte ihn nochmals zitieren –: „Wir wünschen die Einheit Deutschlands, wir wünschen sie von ganzem Herzen und von ganzer Seele.“ Er gab aber auch deutlich zu verstehen, dieses Ziel nicht bedingungslos verfolgen zu können. Konrad Adenauer wusste genau, dass seinerzeit eine Wiedervereinigung den Verzicht auf die Westbindung und damit die Gefahr der Unfreiheit bedeutet hätte. Dieser Preis war ihm zu hoch. Ich kann nur sagen: Die Tatsache, dass wir heute hier im Zeughaus sind, im damaligen sowjetischen Teil Berlins, und dass ich hier als jemand, der viele Jahre in der DDR gelebt hat, zu Ihnen sprechen kann, ist der Standfestigkeit von Konrad Adenauer bis zu Helmut Kohl zu verdanken und der Christlich Demokratischen Union. Ich glaube, man darf sagen, dass ohne CDU und CSU die Sache schwieriger geworden wäre; ich drücke mich einmal ganz höflich aus. Konrad Adenauer gab das Ziel der Einheit Deutschlands nicht auf, aber es stand für ihn nicht im Vordergrund, solange die Entscheidungshoheit über diese Fragen in Washington und Moskau und nicht in Bonn oder Berlin lag. Heute sehen und verstehen wir, wie Recht Konrad Adenauer mit dieser Einschätzung hatte. Erst als Ende der 80er Jahre der Kalte Krieg sein Ende fand, die Welt nicht mehr in der Konfrontation der zwei Blöcke erstarrt war, wurden Einigkeit und Recht und Freiheit für ganz Deutschland möglich. Und dafür möchte ich Helmut Kohl an dieser Stelle ein ganz herzliches Dankeschön sagen. Adenauers Prinzipientreue und Weitsicht zeigten sich nicht zuletzt in der Suche nach einer Aussöhnung mit dem jüdischen Volk und einer engen Beziehung zu Israel. Er machte sich keine Illusionen darüber, wie schwer die ersten Schritte zueinander fallen würden. Er machte sich keine Illusionen über das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen. Aber er sah es als geboten an, dass Deutschland sich zu seiner Vergangenheit bekannte und zumindest einen symbolischen Ausgleich mit den Opfern anstrebte. Das sogenannte Wiedergutmachungsabkommen zwischen Deutschland und Israel von 1952 – nur sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – war ein solcher Schritt auf dem Weg zu einer dauerhaften Aussöhnung. Meine Damen und Herren, die 14 Jahre, die Konrad Adenauer als Bundeskanzler wirkte, markieren eine Epoche voller Weichenstellungen für die Bundesrepublik Deutschland. Er war nie unumstritten. Seine Ziele und seine Mittel polarisierten zum Teil Freunde und Gegner. Er galt als kantig, pragmatisch, machtbewusst und führungsstark. Sein unschätzbares Verdienst bleibt, die Deutschen nach den Erfahrungen der Weimarer Zeit, nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Zivilisationsbruch der Shoa an die parlamentarische Demokratie herangeführt und mit ihr versöhnt zu haben. Er wusste genau um die Voraussetzungen und die Grundlagen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Er wusste aber auch um die Brüchigkeit dieser Voraussetzungen und um den Auftrag, immer wieder dafür einzustehen und zu kämpfen. Er war jemand, der Menschen Orientierung und Verlässlichkeit gab. Wir haben heute das Glück, in einem vereinigten, freien und demokratischen Deutschland zu leben, in fester Bindung an die Werte des Grundgesetzes, an Menschenwürde, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und Toleranz. Unser Land ist in der Europäischen Union fest verankert und über die NATO in ein verlässliches Sicherheitssystem eingebunden. Aus ehemaligen Gegnern wurden Bündnispartner und Freunde. Konrad Adenauers Traum eines freien und einigen Deutschlands in der westlichen Staatengemeinschaft ist in der Generation seiner Enkel Wirklichkeit geworden. Wir erinnern heute an Konrad Adenauers 50. Todestag – und das in einer unruhigen Zeit. Es gibt wieder etwas zu verteidigen. Es ist daher wichtig, nicht zu vergessen, wie hart und unter welchen Bedingungen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung erkämpft wurde. Es brauchte mutige und tatkräftige Männer und Frauen, die trotz des „Trümmerhaufens sittlicher und materieller Werte“, wie es im CDU-Gründungsaufruf im Juni 1945 hieß, an demokratische Werte und an eine Zukunft unseres Landes glaubten. Wir begehen heute feierlich den 50. Todestag von Konrad Adenauer in Berlin. Ich glaube – nicht nur, weil er heute Ehrenbürger von Berlin ist –, er wüsste es zu schätzen, dass wir in diesem ungeteilten Berlin, in dem man wieder durch das Brandenburger Tor hindurchgehen kann, an ihn denken. Wir ehren heute einen großen Staatsmann, der unserem Land mit Weitsicht und Geschick nach dem Scheitern der Weimarer Republik und den Schrecken des Nationalsozialismus wieder Perspektive und Halt gegeben hat. Wir verneigen uns in großer Dankbarkeit vor Konrad Adenauer. Wir nehmen sein Verdienst auch als Auftrag für unsere Aufgaben in einer unübersichtlichen, schwierigen Welt. Angesichts dessen, was Konrad Adenauer und seine Zeitgenossen geleistet haben, sollten wir den Mut haben, dieses Werk fortzusetzen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Präsentation der Gedenkmünzen und der Sonderbriefmarke zum Reformationsjubiläum 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-praesentation-der-gedenkmuenzen-und-der-sonderbriefmarke-zum-reformationsjubilaeum-2017-798518
Tue, 25 Apr 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Martin Luther hat mit seiner Bibelübersetzung eine markante und anschauliche Sprache geprägt, die bis heute modern ist. Die Würdigung seiner Verdienste mit einem sprachlich eher sperrigen „Sonderpostwertzeichen“ verleitet allerdings dazu, den amerikanischen Schriftsteller Mark Twain zu zitieren, der einst monierte: „Manche deutsche Wörter sind so lang, dass man sie nur aus der Ferne ganz sehen kann.“ Aus nächster Nähe können Sie, meine Damen und Herren, heute jedenfalls das Original betrachten – das Sonderpostwertzeichen „500 Jahre Reformation“ und die Gedenkmünzen in Silber und Gold, mit denen die Bundesrepublik Deutschland die Reformation als herausragendes historisches Ereignis würdigt. Zur feierlichen Übergabe dieser Marke und Münzen heiße ich Sie herzlich willkommen im Martin-Gropius-Bau! Man kann Martin Luther bewundern als Wegbereiter einer einheitlichen und einigenden deutschen Schriftsprache, als – zunächst nicht intendierten – Geburtshelfer des mündigen Bürgers und der pluralistischen Gesellschaft. Man kann ihn ablehnen wegen seiner Tiraden gegen Andersdenkende und Andersglaubende und wegen seiner antijüdischen Äußerungen. Ignorieren jedoch kann man ihn nicht. Man kommt nicht an ihm vorbei, wenn man die Entwicklung unseres gesellschaftlichen Miteinanders verstehen will. Die Errungenschaften in Folge der Reformation sind ohne Zweifel – vielfach in säkularisierter Form – zu bürgerlichen Idealen, zu demokratischen Werten geworden. Angesichts dieser gesamtstaatlichen Bedeutung der Reformation beteiligt sich die Bundesregierung gemeinsam mit Ländern, Gemeinden und in Verbindung mit der EKD–Evangelische Kirche in Deutschland an der Vorbereitung und Durchführung des 500. Reformationsjubiläums. Mein Haus koordiniert dabei die Aktivitäten des Bundes. Wir haben bisher mehr als 300 Projekte gefördert und setzen im Rahmen der Lutherdekade rund 50 Millionen Euro an Fördermitteln für das Jubiläum ein, um authentische Stätten der Reformation instand zu setzen und zahlreiche kulturelle Projekte bundesweit zu unterstützen. Eine der drei nationalen Sonderausstellungen im Jubiläumsjahr und damit Teil des zentralen staatlichen Beitrags zum Reformationsjubiläum ist die Ausstellung „Der Luthereffekt“ des Deutschen Historischen Museums hier im Martin-Gropius-Bau, die heute ein wundervoller und würdiger Rahmen für unsere Veranstaltung ist. Die Ausstellung geht der Frage nach, wie wder „Luthereffekt“ vom kleinen Wittenberg aus im wahrsten Sinne des Wortes weltbewegende Kraft weit über Kirche und Religion hinaus entfalten konnte. Sie führt uns dazu quer durch die Epochen und Kontinente und widmet sich der Vielfalt des Protestantismus wie auch den damit verbundenen Konflikten. Als führendes Geschichtsmuseum Deutschlands ist das Deutsche Historische Museum (DHM) geradezu prädestiniert, uns mit auf diese außergewöhnliche Welt- und Zeitreise zu nehmen, die schon in den ersten Tagen nach Eröffnung Tausende Besucherinnen und Besucher begeistert hat. Die ersten Tage sind immer etwas Besonderes: Da wird mir Professor Raphael Gross wahrscheinlich zustimmen, den ich bei dieser Gelegenheit herzlich in seinem neuen Amt als Präsident des Deutschen Historischen Museums willkommen heiße! Ich bin sicher, dass Sie uns mit Ihren Ideen und Visionen für ein modernes DHM–Deutsches Historisches Museum ebenso begeistern werden und wünsche Ihnen bei allen Aufgaben viel Freude und Fortune! Angesichts der enormen geistigen und politischen Prägekraft der Reformation weit über die Grenzen Deutschlands hinaus, darf man das Reformationsjubiläum getrost als „kirchliches und kulturgeschichtliches Ereignis von Weltrang“ begreifen, wie es in der grundlegenden Entschließung des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2011 heißt. Die internationale Ausstrahlung des Jubiläums bündelt sich nicht zuletzt auch auf den 4,4 x 2,6 Zentimetern der neuen Sonderbriefmarke: Als Gemeinschaftsausgabe auf Anregung Brasiliens entstanden – weshalb ich mich sehr freue, heute auch den Gesandten der Brasilianischen Botschaft, Herrn Teixeira de Avellar, zu begrüßen-, ist die Marke weithin sichtbarer Ausdruck unserer gemeinsamen Werte und einer tiefen kulturellen Verbundenheit beider Länder, die sich eben nicht nur in der Leidenschaft für den Fußball, sondern ebenso wirkmächtig mit Blick auf die Reformation und die reformatorische Geschichte erstreckt.
„Die Errungenschaften in Folge der Reformation sind ohne Zweifel – vielfach in säkularisierter Form – zu bürgerlichen Idealen, zu demokratischen Werten geworden“, erklärte die Staatsministerin. Aus diesem Grund würdige die Bundesregierung dieses herausragende historische Ereignis mit einem Sonderpostwertzeichen sowie zwei Gedenkmünzen in Silber und Gold.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zum 72. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zum-72-jahrestag-der-befreiung-des-konzentrationslagers-bergen-belsen-456036
Sun, 23 Apr 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
„15. April 1945, Bergen-Belsen. Ein Jeep fährt ein in die Unterwelt. Ein MP-Seargent mit roter Mütze, rötlichblondem Bärbeißer-Schnurrbart, lässt sich durch einen Lautsprecher vernehmen: ,Von diesem Tag an steht das Lager unter dem Schutz der Streitkräfte Seiner Britischen Majestät.‘ Ein jeder Schattenmensch fühlte sich direkt angeredet von dieser Majestät. Ein jeder, der noch einen Funken Leben hatte, vergoss oder verdrückte ein paar Dankestränen.“ So schilderte der österreichische Schriftsteller Jean Améry den Moment der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen vor 72 Jahren, und man spürt in dieser distanzierten Beobachtersprache, wie schwer es den körperlich und seelisch ausgezehrten Überlebenden – Schatten ihrer selbst – gefallen sein muss, aus jenem letzten „Funken Leben“ noch irgendeine Empfindung, und sei es auch einfach nur Dankbarkeit, aufzubringen. Für die Befreier muss die Konfrontation mit der „Unterwelt“ – wie Jean Améry es formuliert hat – ein grauenvoller, sich für ewig ins Gedächtnis brennender Anblick gewesen sein: Tausende nicht bestattete Leichen. Todkranke Menschen, zu Skeletten abgemagert. Ein britischer Sanitätsoffizier beschrieb das Lager, das anders als andere Konzentrationslager vor der Befreiung nicht evakuiert worden war, als „den entsetzlichsten Ort“, den er je gesehen habe – ein Ort, an dem Kriegsgefangene zugrunde gerichtet worden waren; ein Ort, an den ab 1943 jüdische, später auch kranke Häftlinge deportiert wurden; ein Ort, der schließlich Ziel von Räumungstransporten aus anderen Konzentrationslagern wurde; ein Auffang- und Sterbelager für politische Häftlinge, aber unter anderem auch für Sinti und Roma, Homosexuelle, polnische Häftlinge; ein Ort des Massensterbens durch Hunger, Erschöpfung und Epidemien. Der Toten wie auch der Überlebenden, die an diesem Ort der Qualen durch die Hölle gegangen sind, gedenken wir heute, da sich der Tag der Befreiung Bergen-Belsens im April zum 72. Mal jährt. Im Erinnern wollen wir ihnen, die von den Nationalsozialisten entrechtet und verfolgt, gepeinigt und ermordet wurden, Raum in unserem Leben, in unserem Denken, Fühlen und Handeln geben. Zahlreiche Überlebende haben über die Jahrzehnte den Mut und die Kraft gefunden, ihre Erinnerungen mit uns, den Nachgeborenen, zu teilen, und die „Schattenmenschen“, die Jean Améry beschrieben hat, damit ins Licht der Wahrnehmung als Menschen zurück zu holen. Ich bin dankbar, dass einige von ihnen heute mit ihren Angehörigen unter uns sind. Wie schwer mag es Ihnen fallen, meine Damen und Herren, an diesen Ort zurück zu kehren, an dem man Ihnen einst alles genommen hat bis auf die nackte Existenz! Umso mehr liegt es mir am Herzen, dass Sie wissen, wie viel uns Ihre Kraft, Zeuginnen und Zeugen der schmerzhaften, historischen Wahrheit zu sein, bis heute bedeutet. Ihre persönlichen Erinnerungen vermitteln nicht nur das notwendige Wissen, was unter nationalsozialistischer Terrorherrschaft geschehen ist, sondern sprechen in besonderer Weise auch das moralische Empfinden an. Wenn Sie erzählen, bleibt der Zivilisationsbruch des Holocaust kein Kapitel im Geschichtsbuch, sondern wird zum Blick in den Spiegel des Menschseins: zur Konfrontation mit der Unmenschlichkeit, zu der Menschen imstande sind und die deshalb jeden Menschen immer auch persönlich etwas angeht. Diese Einsicht brauchen wir, um der immerwährenden Verantwortung für die Erinnerung an die Opfer gerecht zu werden, die das von Deutschen verschuldete, unermessliche Leid und Unrecht uns auferlegt. Deshalb widersprechen wir mit aller Entschiedenheit, wenn neue politische Kräfte in unserem Land unsere Erinnerungskultur, an der unsere Gesellschaft und unsere Demokratie gereift sind, für parteipolitische Zwecke missbrauchen und aus der Hetze gegen den Umgang Deutschlands mit seiner Geschichte politischen Profit für ihre nationalistische Ideologie zu schlagen versuchen. Und deshalb werden wir auch weiterhin unser Möglichstes tun, um Menschen vor eben dieser Ideologie des Eigenen zu warnen, die in der Abwertung des Anderen Rassismus nährt, Ausgrenzung fördert, und die einst unermessliches Leid über Deutschland und Europa gebracht hat. Weil es 72 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gibt, werden Lernorte wie die Gedenkstätte Bergen-Belsen dafür immer wichtiger, gerade für die junge Generation. Sie klären auf, informieren und vergegenwärtigen das Geschehene dabei mit der Eindringlichkeit des authentischen Ortes, der sichtbar die Spuren des in Worten und Zahlen so schwer Fassbaren trägt. Deshalb erhält und fördert die Bundesregierung Gedenkstätten und Erinnerungsorte, und ich bin dankbar, dass die vor Ort Verantwortlichen – so wie Sie, lieber Herr Dr. Wagner, und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – mit viel Sachverstand, Empathie und Engagement an neuen Konzepten und Angeboten der Vermittlung arbeiten. Es freut mich, dass wir Ihre Trägerstiftung, die Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten, im Rahmen der Gedenkstättenkonzeption des Bundes in den kommenden Jahren mit zwei neuen Projektförderungen unterstützen können. Neue Wege der Vermittlung brauchen wir heute nicht zuletzt auch deshalb, weil Deutschland in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Heimat für Millionen von Menschen geworden ist, deren Wahrnehmung und Einstellungen von einem in ihren Herkunftsländern weit verbreiteten Antisemitismus geprägt sind. Die in vielerlei Hinsicht bereichernde Vielfalt einer weltoffenen Gesellschaft ist eben nicht in jeder Hinsicht unproblematisch: In der Frage der Anerkennung der Lehren, die Deutschland aus der verbrecherischen Herrschaft der Nationalsozialisten gezogen hat, darf es keine „Vielfalt“ geben – hier gibt es nur eine einzige Haltung: Die Aufarbeitung des Holocaust und die Versöhnung zwischen Deutschen und Juden sind Teil unseres Selbstverständnisses und nicht verhandelbar. Das müssen wir allen vermitteln, die in Deutschland leben wollen. Das bedeutet zum Beispiel, klare Worte zu finden und einzuschreiten, wenn jüdische Kinder in der Schule gemobbt werden oder ein Rabbiner wegen seiner Kippa von Jugendlichen auf der Straße angepöbelt, gar zusammengeschlagen wird. Deutschland darf nie wieder ein Land sein, in dem Menschen jüdischen Glaubens Gewalt und Diskriminierung von wem auch immer schutzlos ausgesetzt sind! „Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch aufhören, einmal werden wir auch wieder Menschen und nicht allein Juden sein“, schrieb Anne Frank im April 1944 in ihr Tagebuch. Sie selbst starb hier in Bergen-Belsen an Typhus, wenige Wochen vor der Befreiung. Ihr Tagebuch ist geblieben und berührt nach wie vor Millionen Menschen in Deutschland und weltweit. Geblieben ist auch ihr unerschütterlicher Glaube an Humanität und an die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens. Ihre Hoffnung, dass das Gemeinsame über dem Trennenden stehen möge, dass der Mensch wichtiger ist als seine Herkunft oder Religion, bleibt unsere immerwährende Verpflichtung!
In Bergen-Belsen hat Kulturstaatsministerin Grütters einen Missbrauch der Erinnerungskultur kritisiert. „Wir widersprechen mit aller Entschiedenheit, wenn neue politische Kräfte in unserem Lande aus der Hetze gegen den Umgang Deutschlands mit seiner Geschichte politischen Profit für ihre nationalistische Ideologie zu schlagen versuchen.“ Mit Blick auf immer weniger Zeitzeugen seien neue Wege der Vermittlung nötig. Gerade für kommende Generationen seien authentische Gedenkstätten als Lernorte wichtig.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung der Hannover Messe am 23. April 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-eroeffnung-der-hannover-messe-am-23-april-2017-451712
Sun, 23 Apr 2017 19:10:00 +0200
Hannover
Wirtschaft und Energie
Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Beata Szydło, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Weil, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrter Herr Professor Kempf, sehr geehrter Herr Professor Wahlster, sehr geehrte Kolleginnen aus dem Kabinett, liebe Frau Wanka und liebe Frau Zypries, sehr geehrte Kommissare Oettinger und Šefčovič, meine Damen und Herren, es ist der Hannover Messe nicht anzusehen, dass sie in diesem Jahr 70 Jahre alt wird. Sie eröffnete, wie wir heute schon gehört haben, im Jahr 1947 zum ersten Mal ihre Tore – nur zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das war ein Wagnis. Das Land lag in weiten Teilen noch in Trümmern; und Hannover in ganz besonderer Weise. Die D-Mark war noch nicht eingeführt, die Bundesrepublik existierte noch nicht einmal. Das Land Niedersachsen gab es damals schon. Aber der Ministerpräsident musste damals noch überzeugt werden, dass die Hannover Messe eine gute Idee sei. So habe ich es zumindest dem „SPIEGEL“ aus dem Jahr 1947 entnommen; und der schreibt ja meistens die Wahrheit. Die Gründung der Messe ging auf eine Initiative der britischen Besatzungsmacht zurück. Exporte sollten beim wirtschaftlichen Wiederaufbau helfen. Es fehlte an allem, an Unterkünften, an geeigneten Infrastrukturen. Aber es gelang in nur wenigen Wochen, das Gelände für die erste Export-Messe herzurichten. Für die Brotmarken gab es dann auch die berühmten Fischbrötchen. Schon damals kamen 1.300 deutsche Aussteller. 1.900 Exportverträge wurden geschlossen. Für damals war das ein Riesenerfolg. Die Geschichte der Hannover Messe hat sich dann auch zu einer Erfolgsgeschichte entwickelt. Ihnen, Herr von Fritsch, gratuliere ich stellvertretend für die gesamte Deutsche Messe AG und für alle Aussteller und Beteiligten. Die Hannover Messe ist ein Markenzeichen dieser Stadt und des Bundeslandes Niedersachsen. Sie ist aber auch eine Leistungsschau der Industrie aus ganz Deutschland. Sie steht seit jeher für die Weltoffenheit unserer Wirtschaft. Schon 1950 kamen aus dem Ausland nicht nur zahlreiche Besucher, sondern auch die ersten Aussteller. Inzwischen machen die Aussteller aus dem Ausland über 60 Prozent aus, also die deutliche Mehrheit der rund 6.500 Aussteller. Sie vertreten Unternehmen aus über 70 Ländern. Deshalb wird die Hannover Messe auch zum Spiegelbild der weitreichenden internationalen Verflechtungen Deutschlands. Wir freuen uns, dass in diesem Jahr mit unserem Nachbarland Polen ein Land Partnerland ist, dem wir ganz besonders eng verbunden sind. Liebe Frau Ministerpräsidentin Szydło, ich begrüße Sie, die zwei Vizepremierminister und Vertreter Ihrer Regierung sowie alle 200 polnischen Aussteller und die vielen Besucher ganz herzlich hier in Hannover. Unsere beiden Länder verbindet heute weit mehr als nur eine gemeinsame Grenze. Es haben sich vielfältige Beziehungen entwickelt – zwischen Bürgerinnen und Bürgern, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft und natürlich auch in der Politik. Die Zusammenarbeit hier inmitten Europas ist von zentraler Bedeutung für die Entwicklung unseres ganzen Kontinents. Wir sind als Nachbarn vor ähnliche Herausforderungen gestellt; und wir versuchen, sie an vielen Stellen gemeinsam zu lösen. Heute mag uns unsere Partnerschaft – manchmal mehr, manchmal weniger – zur Selbstverständlichkeit werden. Wenn wir jedoch an unsere Geschichte denken, an die vielen tragischen und schmerzlichen Kapitel dieser Geschichte, dann sollte diese Partnerschaft immer etwas ganz Besonderes bleiben. Allen, die mit ihren Visionen, ihrem Mut und ihrer Fähigkeit zur Versöhnung und Verständigung geholfen haben, Türen und Tore zu öffnen, gilt unsere ganz besondere Dankbarkeit. In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren es Polen, die wesentlich dazu beigetragen haben, dass der Eiserne Vorhang gefallen ist. Damit wurde letztlich auch der Weg zur deutschen Wiedervereinigung frei. Das werden wir nicht vergessen. Die Werte, für die die Solidarność damals gekämpft hat, sind unverändert aktuell. Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit – darauf baut das friedliche und gedeihliche Miteinander in Europa auf. Diese Werteverbundenheit und die vielfältigen Beziehungen lassen gemeinsame Herausforderungen nicht nur als solche erkennen, sondern sie machen es auch möglich, sie gemeinsam zu bewältigen. Tatsache ist, dass Polen und Deutschland heute enge wirtschaftliche Beziehungen pflegen. Unser Land ist seit über zwei Jahrzehnten der wichtigste Handelspartner Polens. Und umgekehrt ist Polen Deutschlands wichtigster Handelspartner in Mittel- und Osteuropa. Der bilaterale Warenaustausch wächst weiter. Er hat im letzten Jahr die Marke von 100 Milliarden Euro überschritten. Das ist eine wirklich beachtliche Größe. Bei den ausländischen Direktinvestitionen in Polen belegen deutsche Unternehmen mit einem Bestand von knapp 26 Milliarden Euro einen Spitzenplatz. Polen punktet mit Standortqualitäten ebenso wie mit einer innovativen Industrie. Das spiegelt sich auch im Engagement auf dieser Hannover Messe wider. Insgesamt sind 200 polnische Unternehmen auf der Messe vertreten. Das ist eine Verdoppelung gegenüber dem vorigen Jahr. Viele beweisen ihre Stärken gerade auch in den Bereichen Energietechnik und IT. Insofern können wir erwarten, dass die Hannover Messe einen weiteren kräftigen Schwung in die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen bringen wird. Ich glaube, lieber Herr Kempf, auch die Zusammenarbeit zwischen unseren Industrievereinigungen kann hierdurch weiter gestärkt werden. Meine Damen und Herren, die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen sind ein Beispiel für den Offenheitsgrad der deutschen Wirtschaft insgesamt. Unsere Außenhandelsquote – also die Summe von Exporten und Importen, gemessen am Bruttoinlandsprodukt – lag in den vergangenen Jahren in einer Größenordnung von ungefähr 70 Prozent. Das heißt nichts anderes, als dass in Deutschland fast alle Branchen in die internationale Wertschöpfungskette eingebunden sind. In vielen deutschen Exportgütern zum Beispiel aus dem Investitionsgüterbereich und dem Anlagenbau stecken Vorleistungen aus anderen Ländern. Das gilt sicherlich auch für viele Produkte, die wir hier auf der Hannover Messe sehen werden. Der Erfolg unseres Landes ist deshalb auch immer der Erfolg anderer Länder. Das ist zumindest unser Ansatz in der Betrachtung weltweiter Verflechtungen. Wir bekommen mit unserer relativ hohen Außenhandelsquote das Auf und Ab auf den internationalen Märkten deutlich zu spüren. Aber ich glaube, Deutschland ist auch ein gutes Beispiel dafür, welchen Vorteil der freie Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Kapital mit sich bringt. Nicht von ungefähr zählt Deutschland zu den stärksten Wirtschaftsnationen. Natürlich ist es anstrengend, sich immer wieder dem internationalen Wettbewerb zu stellen. Ich glaube, viele deutsche Unternehmen können das aus ihrer eigenen Firmengeschichte belegen. Trotzdem glauben wir, dass Freiheit und Offenheit die besten Marschrichtungen sind, mit denen wir alle gemeinsam erfolgreich sein können. Deshalb erteilen wir Abschottung und Protektionismus eine klare Absage, weil sie auf Dauer stets zu Verlusten führen. Wir sprechen uns als Bundesregierung deshalb klipp und klar für einen fairen Freihandel aus. Deshalb steht auch die deutsche G20-Präsidentschaft unter dem Motto „Eine vernetzte Welt gestalten“. Wir sprechen uns für eine Stärkung des multilateralen Handelssystems aus. Das bedeutet eine Stärkung der Welthandelsorganisation. Wir wollen, dass auch die Handelspolitik der Europäischen Union ein Beispiel dafür ist, dass Zugangshürden und Schranken abgebaut werden und wir uns auf gemeinsame Standards einigen, die in der Tat auch faire Produktionsbedingungen beinhalten. Ich denke, dass das Abkommen, das von der Europäischen Union mit Kanada geschlossen wurde – das CETA-Abkommen – ein gutes Beispiel dafür ist. Und ich fühle mich durch meinen Besuch in den Vereinigten Staaten von Amerika sehr ermutigt und denke, dass durchaus auch das Verhandeln der Europäischen Union mit den Vereinigten Staaten über ein Freihandelsabkommen ins Auge gefasst wird. Jetzt aber müssen wir erst einmal unsere Verhandlungen mit Japan abschließen. Japan war Partnerland auf der CeBIT. Wir werden uns den Herausforderungen eines offenen Welthandels mit Freude und Engagement stellen. Meine Damen und Herren, die polnische Ministerpräsidentin hat es schon gesagt, andere haben es erwähnt: Die Europäische Union befindet sich zurzeit in einer durchaus komplizierten Phase. Hierfür steht beispielhaft die Entscheidung Großbritanniens für den Austritt aus der Europäischen Union. Am Ende dieser Woche werden wir einen Sonderrat der 27 haben, um die Leitlinien für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union zu verabschieden. Ehrlich gesagt, einen solchen Rat hätten wir uns gerne erspart. Aber nun heißt die Aufgabe, die Verhandlungen gut zu führen. Ich denke, es ist wichtig, dass dabei alle 27 gemeinsam vorgehen. Es ist wichtig, dass wir die Qualitäten unseres Binnenmarktes verteidigen. Das ist der Markt der vier Grundfreiheiten, der erhalten bleiben muss. Wir tun dies in einem Geist, der uns Großbritannien als wichtigen Partner erhält, denn wir stehen auch vor vielen gleichen Herausforderungen. Das heißt, wir wollen auch in Zukunft mit Großbritannien gut zusammenarbeiten, allerdings auch die Vorteile des Binnenmarkts für uns erhalten. Meine Damen und Herren, wir stehen also vor einer Vielzahl von Herausforderungen, von denen wir – Deutschland und Polen sind heute Abend hier präsent – glauben, dass wir deren Lösung bewerkstelligen können. Ein Thema, das die Hannover Messe wieder durchziehen wird, ist das Schlagwort „Industrie 4.0“. Die Hannover Messe hat dies als „Integrated Industry“ bezeichnet und durch das Motto „Creating Values“ ergänzt. Das Ganze ist also nicht nur eine technische Spielerei, sondern man will damit auch etwas erreichen. Es geht nicht nur um die Zahl der Sensoren, die irgendwo angebracht sind. – Das ist gut zu wissen. Es ist ja schön, wenn man mit Sensoren viel machen kann. – Ich habe jetzt gelernt, man möchte zeigen, dass das wirklich zu etwas nutze ist, dass man Wartungszeiten anzeigen kann und vieles mehr. So haben wir es uns in der Bundesregierung eigentlich schon immer vorgestellt, als wir unsere Digitale Agenda aufgelegt und von Industrie 4.0 gesprochen haben. Wir wissen, dass wir in einem sich neu entwickelnden Bereich im Wettbewerb sind, dass es um Standardisierungen geht, dass es um die Frage geht, wie wir das alles ordnen, vor allem auch, wie wir das Zusammenspiel der großen Unternehmen mit den vielen mittelständischen und kleinen Unternehmen vernünftig organisieren. Deshalb ist das Modell RAMI 4.0, das mit Standards zu tun hat, eine interessante Entwicklung, die wir weiterverfolgen sollten. Wir haben auf der Hannover Messe oft darüber gesprochen: Natürlich bedarf das alles einer Infrastruktur. Ich glaube, dass die Frage der Echtzeitdatenübertragung immer dringlicher wird. Hierbei wird es nicht nur einen Wettbewerb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union untereinander, sondern vor allen Dingen auch einen Wettbewerb weltweit geben. Ich glaube, einen digitalen Binnenmarkt schnellstmöglich zu entwickeln, ist ein wirklich gutes Ziel, das wir als Europäische Union haben sollten. Die Tatsache, dass Günther Oettinger hier ist, hat zumindest mit seiner früheren Beschäftigung zu tun. Jetzt ist er für das Geld verantwortlich und stellt uns hoffentlich viel davon zur Verfügung, wenn es um den Ausbau der Infrastruktur geht. Aber mir ist natürlich bekannt, dass die Europäische Kommission keine Steuererhebungskompetenz hat, aber in gewisser Weise mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeitet. Ich glaube, wir sind uns einig, dass gerade mit Blick auf den Juncker-Plan, mit Blick auf die Investitionen, die wir zu tätigen haben, Europas führende Rolle in Fragen der Industrie 4.0 noch nicht gesichert ist und wir deshalb schleunigst alle Vorteile des europäischen Binnenmarkts auch dafür einsetzen sollten. Ein Punkt, der mir wichtig ist und der auch hier eine große Rolle spielt: Alle Entwicklungen von Industrie 4.0, von Integrated Industry, zeigen im Grunde, dass sich die apokalyptischen Ideen, dass Arbeitsplätze verlorengehen würden, in der Praxis nicht bewahrheiten. Vielmehr erleben wir, dass neue Tätigkeiten für den Menschen entstehen. Aber dies sind zum Teil andere und vor allem auch Tätigkeiten, die ein hohes Maß an Bildung, Erfahrung und Fähigkeiten erfordern. Deshalb – das ist eine Aufgabe für alle staatlichen Ebenen; ich schließe die Bundesregierung ausdrücklich mit ein – sind die Themen Bildung und Weiterbildung zentrale Themen. Wenn wir auf das schauen, was Unternehmen besonders bewegt, so sind dies der Fachkräftemangel und die Frage: Wo gibt es die Menschen, die die Fähigkeiten besitzen, die nun zum Teil massiv gefragt sind? Dieses Thema ist von allergrößter Wichtigkeit. Sicherlich wird auch zu beachten sein, dass die Balance der verschiedenen Fähigkeiten nicht völlig außer Rand und Band gerät. Wenn nur noch die Rede davon ist, dass Softwareleute gesucht werden, dann kann es passieren, dass die Mechatroniker und die vielen, die andere Fähigkeiten haben, sich ein bisschen zurückgesetzt fühlen. Integrated Industry bedeutet eben, alle Fähigkeiten weiterzuentwickeln, nicht nur die Softwarefähigkeiten, sondern in gleichem Maße auch die mechanischen und die industriellen Fähigkeiten. Das ist das eigentlich Spannende an dieser ganzen Entwicklung. Schon vor dem digitalen Zeitalter erwies sich die Hannover Messe regelmäßig als Schaufenster des technischen Fortschritts. Auf der ersten Messe 1947 waren unter anderem klappbare Kinderwagen für die Jüngeren, Zahnprothesen für die Älteren und nicht zuletzt der VW-Käfer für alle zu bestaunen. Heute machen sogenannte digitale Zwillinge, also digitale Abbilder realer Produkte, und kollaborative Roboter als Kollegen des Menschen von sich reden. Es gibt also wieder erstaunliche Einblicke in die Wunderwelt der Technik. Deshalb freue ich mich auf den morgigen Rundgang mit meiner Kollegin Beata Szydło, auf dem wir uns ein Bild von dem machen können, was alles heutzutage möglich ist. Denn wenn die Politiker nicht mehr mitlernen, können sie auch nicht die richtigen Leitplanken setzen. Also sind auch wir in unseren Weiterbildungsfähigkeiten sehr gefragt. Ich wünsche allen Ausstellerinnen und Ausstellern alles Gute und erfreuliche Tage. Genießen Sie die Hannover Messe, das Messegelände, die Produkte und auch die Stadt Hannover, um einen Eindruck von dem Land Niedersachsen, seiner Hauptstadt und einem Stück Deutschland zu bekommen. Herzlichen Dank und alles Gute. Die Messe ist eröffnet.
in Hannover
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters bei der Eröffnung der Ausstellung „Der Luthereffekt“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-eroeffnung-der-ausstellung-der-luthereffekt–446106
Tue, 11 Apr 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Die Kirche braucht eine Reformation, die nicht das Werk eines einzelnen Menschen ist, nämlich des Papstes, oder von vielen Menschen, nämlich den Kardinälen (…), sondern es ist das Werk der ganzen Welt, ja es ist allein das Werk Gottes.“ Diese Zeilen schrieb Martin Luther vor 500 Jahren als Augustiner-Eremit. In seinem Ringen um Gott und in der Hoffnung auf die Erneuerung der Kirche hat er sich aber wohl nicht im Entferntesten träumen lassen, welche Wirkung seine 95 Thesen weltweit entfalten würden. Dass die Reformation heute mit Fug und Recht als „Werk der ganzen Welt“ bezeichnet werden darf, ist Grund genug, das 500. Jubiläum international und weltoffen zu feiern und dabei auch der Frage nachzugehen, wie der „Luther-Effekt“ vom kleinen Wittenberg aus im wahrsten Sinne des Wortes welt-bewegende Kraft weit über Kirche und Religion hinaus entfalten konnte. Herzlich willkommen zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, die uns die Reformation als „Werk der ganzen Welt“ vor Augen führt! Sie ist eine der drei nationalen Sonderausstellungen im Jubiläumsjahr und damit Teil des zentralen staatlichen Beitrags zum Reformationsjubiläum. Der Bund hat sich hier in besonderem Maße engagiert, um die Reformation als Teil eines gewaltigen gesellschaftlichen Umbruchs und Lernprozesses zu würdigen. Die Schau, die wir heute eröffnen, führt uns dazu quer durch die Epochen und Kontinente und widmet sich der Vielfalt des Protestantismus wie auch den damit verbundenen Konflikten. Sie dokumentiert, wie Menschen unterschiedlicher Kulturen den protestantischen Glauben gelebt und geprägt haben – und welche Spuren der protestantische Glaube seinerseits in anderen Kulturen und Gesellschaften, Religionen und Konfessionen hinterließ. Vor allem aber zeigt sie, dass Kirche kulturelle Identität weit über den Kreis ihrer Mitgliedschaft hinaus schafft – mit einer Prägekraft wie sie keine zweite Institution je entwickelt hat. Als führendes Geschichtsmuseum Deutschlands ist das Deutsche Historische Museum geradezu prädestiniert, uns mit auf diese außergewöhnliche Welt- und Zeitreise zu nehmen. Ich danke Ihnen, liebe Frau Kretzschmar, liebe Frau Ziesak, und Ihrem Team für die didaktisch kluge und kenntnisreiche Vermittlung der Beispiele, die den „Luther-Effekt“ ebenso beeindruckend wie lehrreich illustrieren. Diese gelungene Ausstellung schmückt auch Ihre Interimspräsidentschaft, liebe Frau Kretzschmar. Vielen Dank, dass Sie das DHM fast ein Jahr lang mit hohem persönlichen Einsatz so klug und umsichtig geführt haben. Bei dieser Gelegenheit darf ich noch erwähnen, dass Professor Raphael Gross in wenigen Tagen sein Amt als Präsident des Deutschen Historischen Museums antreten wird. Wir also dürfen gespannt sein auf den „Gross-Effekt“: auf seine Impulse für die Weiterentwicklung und Modernisierung unseres nationalen Geschichtsmuseums! Ein Gewinn, meine Damen und Herren, ist die Reise auf den Spuren des „Luther-Effekts“ nicht nur für das Verständnis der Reformationsgeschichte. Aufschlussreich ist diese interkulturelle und internationale Perspektive, weil sie uns mit Erfahrungen konfrontiert, aus denen wir Lehren für unsere Gegenwart und Zukunft ziehen können. Dazu gehört nicht zuletzt die Einsicht, dass es eine der wichtigsten demokratischen, ja eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften überhaupt ist, das Gemeinsame über das Trennende stellen zu können – das Menschliche über die Unterscheidung zwischen gläubig und ungläubig, zwischen deutsch und nicht-deutsch, zwischen muslimisch und christlich. Gerade weil uns die Reformationsgeschichte vor Augen führt, mit wieviel Krieg, Leid und Gewalt bezahlt diese Errungenschaft doch ist, verdient es Anerkennung, dass das 500. Reformationsjubiläum Verständigung und Versöhnung in den Mittelpunkt stellt und Erfahrungen aus aller Welt einbezieht. Die Bereitschaft der Kirchen, für ein Miteinander in der Vielfalt einzustehen, macht Hoffnung gerade in einer Zeit, in der religiöse Konflikte und religiöser Fundamentalismus weltweit Angst und Schrecken verbreiten. Allen, die dazu beigetragen haben, danke ich herzlich für ihr Engagement und ihre guten Ideen – zu denen nicht zuletzt auch die Einladung des AKWABA -Gospelchors gehört. „Akwaba“ heißt „Willkommen“, trägt die Weltoffenheit aber nicht nur im Namen, sondern öffnet mit mitreißender afrikanischer Gospelmusik auch die Tür zu einer anderen Welt. Wir haben es eben gehört: Kultur öffnet Welten – und damit ist die Diplomatie der Kunst ja gelegentlich sogar wirkmächtiger als die Kunst der Diplomatie … . In diesem Sinne: Willkommen zu einem inspirierenden Abend mit musikalischem Genuss und Streifzügen durch die weltumspannende Geschichte der Reformation!
Bei der Eröffnung der ersten von drei Sonderausstellungen zum Reformationsjubiläum hat Kulturstaatsministerin Grütters die weltweite Wirkung Luthers hervorgehoben. „Die Schau führt uns die Reformation als „Werk der ganzen Welt“ vor Augen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum hundertjährigen Bestehen des Unternehmens Viessmann am 12. April 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-hundertjaehrigen-bestehen-des-unternehmens-viessmann-am-12-april-2017-798890
Wed, 12 Apr 2017 14:13:00 +0200
Allendorf
Wirtschaft und Energie
Sehr geehrter Herr Professor Viessmann, sehr geehrte Familie Viessmann, sehr geehrter Herr Minister Al-Wazir, meine Damen und Herren, vor allem liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Viessmann, ich bin heute sehr gerne hierhergekommen. Gestatten Sie mir aber aus aktuellem Anlass zunächst mit Blick auf Dortmund einige Sätze. Wir alle waren gestern entsetzt, als wir von dem Anschlag auf den Bus mit den Spielern des BVB in Dortmund gehört haben. Wir wünschen den Verletzten, dem Spieler Marc Bartra und dem Polizisten, von Herzen vollständige Genesung. Wir sind uns einig, dass es sich hierbei um eine widerwärtige Tat handelt. Der Generalbundesanwalt und die Ermittlungsbehörden tun alles, um diese Tat schnellstmöglich aufzuklären. Angesichts der Ereignisse gestern gab es eine großartige Solidarität aller – der Fans aus Deutschland, aus Dortmund, aber auch aus Monaco. Das ist ein klares Signal gegen jede Art von Gewalt. Unsere Gedanken sind heute bei den Spielern, die das Spiel nachholen werden, beim BVB und bei den Fans. Wir hoffen, dass es ein friedliches und gutes Spiel wird. Der Volksmund mahnt uns: „Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.“ Sie aber haben es immer geschafft, mit der Zeit zu gehen; und Sie haben das auch weiter vor. 100 Jahre sind eine beeindruckende Etappe. Sie haben sich immer angepasst – an die Kundenwünsche und an die technischen Möglichkeiten. Deshalb gratuliere ich Ihnen und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von ganzem Herzen zu 100 Jahren Erfolg. Ich verbinde das natürlich auch mit guten Wünschen für die nächste Zeit. Ich freue mich, mit Ihnen feiern zu können, weil uns vonseiten der Politik und von Ihrer Seite, vom Unternehmerischen her, ein Kernthema verbindet. Ob politisch oder betriebswirtschaftlich – Energieeffizienz ist uns immer ein ganz besonderes Anliegen. Schon die ersten Heizkessel aus dem Hause Viessmann überzeugten mit einem, aus damaliger Sicht, relativ geringen Brennstoffverbrauch. Im Grunde lässt sich sagen: Energiesparen hat Sie groß gemacht. Das ist eine Erfahrung, die sozusagen in den genetischen Code der Firma übergegangen ist. Man kann mit Sparen erfolgreich sein. Effiziente Geräte sind heute und gewiss auch morgen gefragt. Es geht darum, den Energieverbrauch zu drosseln, Ressourcen einzusparen, damit Kosten zu senken und zugleich dem Klimaschutz zu dienen. Dies bleibt auch angesichts des rasanten Bevölkerungswachstums auf der Welt eine Riesenaufgabe. Der Gedanke der Nachhaltigkeit war ja auch in Ihrem Film fest verankert. Es sieht so aus, als wäre das Ganze ein Selbstläufer. Aber die hundertjährige Firmengeschichte zeigt, dass es viel Erfinderreichtums und Arbeit bedarf, um Erfolge immer wieder fortzuschreiben. Über Generationen hinweg erfolgreich zu sein, kann nur gelingen, wenn man sich, an welcher Stelle auch immer, mitverantwortlich für das Unternehmen zeigt. Das Thema Verantwortungsbewusstsein zieht sich durch das ganze Unternehmen und hat auch etwas Verbindendes mit der Politik. Ich meine das Verantwortungsbewusstsein auch für unser Gemeinwesen. Ihr Unternehmen hat das immer wieder bewiesen, auch an seinem Heimatstandort. Sie sind ein Unternehmen des klassischen Mittelstands und lokal verwurzelt, wenn ich das so sagen darf. Ich komme ja aus Vorpommern. Da kann manch einer schon neidisch sein auf die Tatsache, dass ein Ort mit 6.000 Einwohnern allein 4.000 Arbeitsplätze hat. Das tut der Region sicherlich gut. Das, was Sie leben – deshalb bin ich heute sehr gerne hierhergekommen –, ist im Grunde genommen der Grundgedanke der Sozialen Marktwirtschaft. Sie beschreibt nämlich nicht nur eine Art zu wirtschaften, sondern sie ist ein Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell. Sie stellt darauf ab, dass das Unternehmertum in der Gesellschaft akzeptiert und fest verankert ist. Das wiederum ist von entscheidender Bedeutung für die dauerhafte Wettbewerbsfähigkeit eines Standortes. Sie stellt also auch darauf ab, dass sich ein Unternehmen selbst in die Gemeinschaft und in die Gesellschaft einbringt. Wir haben mit Ihnen, liebe Familie Viessmann, ein gutes Beispiel gelebter Sozialer Marktwirtschaft. Dies lässt sich vor allem am Themenspektrum der drei Viessmann-Stiftungen unschwer erkennen. Die Viessmann-Allendorf-Stiftung und die Dr.-Hans-Vießmann-Stiftung widmen sich sozialen, wissenschaftlichen und Bildungsprojekten ebenso wie der Förderung von Kunst und Kultur. Die Hans-Viessmann-Technologie-Stiftung konzentriert sich auf die ingenieur- und naturwissenschaftliche Forschung. Dabei wird vor allem die Haus- und Kältetechnik unter die Lupe genommen. Darin spiegelt sich auch die Innovationskultur wider, die bei Viessmann gepflegt wird und die auch gepflegt werden muss, damit die Produkte immer wieder erfolgreich sind. Damit sind wir bei einem weiteren Programmpunkt des heutigen Tages. Sie veranstalten ja nicht nur eine Feierstunde und einen schönen Empfang, sondern wir weihen heute auch das neu errichtete Technikum ein. Sie unterstreichen damit, welch hohen Stellenwert Sie Forschung und Entwicklung in Ihrem Unternehmen einräumen. Damit befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Die gesamte Wirtschaft in Deutschland ist – das darf ich sagen – sehr innovations- und forschungsfreundlich. Im Jahr 2015 wurde eine Rekordsumme von deutlich mehr als 62 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung gesteckt. Wir haben damit zusammen mit den staatlichen Leistungen, also den Leistungen von Bund und Ländern, zum ersten Mal das Drei-Prozent-Ziel, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, erreicht. Das heißt, wir versuchen auch seitens des Staates, vieles, das auf Innovationen ausgerichtet ist, zu fördern. Die Bundesregierung fördert Grundlagenforschung, aber auch die praktische, angewandte Forschung. Wir überlegen uns immer wieder, wie wir gerade auch mittelständische Unternehmen noch besser berücksichtigen können. Ich darf Ihnen verraten, dass wir uns jetzt auf Bundesebene auch dem Thema steuerliche Forschungsförderung nähern. Man muss ja in Anwesenheit von Landesministern beim Thema Steuern immer ein bisschen vorsichtig sein. – Herr Al-Wazir nickt. Insofern sind wir uns da schon einmal einig. Wir haben heute Morgen, passend zu Ihrem 100. Jubiläum, den jährlichen „Bundesbericht Energieforschung“ verabschiedet. Darin ist das Thema Energieeffizienz in Gebäuden und Städten ein besonderer Schwerpunkt. Hierfür gibt es eine Vielzahl von Förderprogrammen. Ein Beispiel ist die ressortübergreifende Förderinitiative „Solares Bauen/Energieeffiziente Stadt“. – Es ist sehr interessant, dass bei Ihnen schon so früh über Solarenergie nachgedacht wurde. – Mit den Förderprojekten wollen wir zeigen, wie durch Innovation und intelligente Vernetzung hochwertige, energetisch effiziente Gebäude und Quartiere entstehen können. Sie haben schon dafür gesorgt, dass sich die Jugend erst einmal gründliche Kenntnisse in Bezug auf die Digitalisierung erwirbt. Die Digitalisierung dringt in der Gebäudetechnik immer weiter vor. Es ergeben sich völlig neue Möglichkeiten der intelligenten Vernetzung und der effizienteren Aufarbeitung der Ressourcen. Wir haben ein Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende verabschiedet. Damit haben wir das Zeitalter von Smart Grid, Smart Meter und Smart Home eingeläutet. Schade, dass es diese Begriffe nicht auf Deutsch gibt. Aber Sie werden sicherlich auch so verstehen, dass es um etwas Gutes geht. Eine Schlüsselrolle spielen dabei intelligente und zur Kommunikation fähige Messsysteme, um Erzeugung, Verteilung und Verbrauch von Energie in Zukunft viel besser aufeinander abzustimmen. Das heißt aber auch: Es fließt nicht nur Energie, sondern es fließen auch Daten. Das wiederum bedeutet, die Akzeptanz neuer technischer Möglichkeiten ist nicht allein von mehr Komfort und Kostenvorteilen abhängig, sondern auch von einem hinreichenden Datenschutz. Die Menschen wollen wissen, was mit ihren Daten passiert. Auch die Politik ist gefragt; denn wir brauchen eine leistungsfähige digitale Infrastruktur. Wie man erwartet, dass Wasser- und Elektroanschlüsse gelegt sind, so erwartet man heute auch, dass es eine auskömmliche Breitbandinfrastruktur gibt. Wir setzen gerade auch für die ländlichen Regionen vier Milliarden Euro ein, damit die Breitbandinfrastruktur auch dort, wo die Situation nicht so wettbewerbsfähig ist, gut ausgebaut wird. Ich weiß jetzt nicht, wie es hier bei Ihnen ist; das werden Sie mir nachher bestimmt noch sagen. Wenn das nicht schon staatlich gemacht worden ist, dann werden Sie es wahrscheinlich privat gemacht haben. Als ich gesehen habe, dass Sie sogar einen Flughafen haben, bin ich tief beeindruckt gewesen. Ob in Privathaushalten oder in der Wirtschaft – an digitalen Anwendungsmöglichkeiten mangelt es nicht. Jetzt ist die Zeit, in der unsere digitalen Kenntnisse mit den Prozessen der realen Produktion von Gegenständen verschmelzen müssen. Das Internet der Dinge, die Vernetzung aller Dinge, wird in den nächsten Jahren sprunghaft anwachsen. Ich denke, Ihr Sohn, Herr Professor Viessmann, ist schon sehr gut darauf vorbereitet. Im Kern geht es darum, durch alle diese technischen Entwicklungen einen Mehrwert für den Menschen zu schaffen. Insofern geht es auch um Einsparpotenziale. Über 35 Prozent der Endenergie werden in Gebäuden verbraucht. Den Löwenanteil daran hat die Raumwärme. Häuser und andere Bauten verursachen in Deutschland bis zu 30 Prozent der Treibhausgasemissionen. Daher ist oft von einem schlafenden Riesen die Rede, den es zu wecken gilt. Wir haben die Aufgabe, auf der einen Seite darauf zu achten, dass Neubauten den technischen Möglichkeiten entsprechen. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch Anreize setzen, um den Bestand zu verbessern. Denn über 60 Prozent der Wohngebäude wurden noch vor der ersten Wärmeschutzverordnung 1977 errichtet. Das heißt, die Wärmedämmung lässt in vielen Fällen noch zu wünschen übrig. Ich wage es schon kaum mehr auszusprechen, dass wir eine steuerliche Förderung für die Gebäudesanierung brauchen. Wir werden aber sicherlich wieder einen neuen Anlauf dazu unternehmen. Das ist wahrscheinlich die einzige gesetzliche Initiative, die von allen Umweltverbänden, von allen Handwerksverbänden und von allen Industrieverbänden unterstützt wird. Ich will heute nichts Schlechtes sagen, aber im Bundesrat haben wir dafür noch nie eine Mehrheit bekommen. Insofern müssen wir daran weiterarbeiten. Wir wissen, im Bereich der Energieeffizienz besteht noch ein erheblicher Handlungsbedarf. Wir haben daher einen Nationalen Aktionsplan erarbeitet. Ich brauche das in Ihren Räumen hier eigentlich nicht zu predigen. Denn Sie sind völlig davon überzeugt und verfolgen schon längst Ihr eigenes Effizienzprogramm. Damit ist es Ihnen gelungen, die CO2-Emissionen am Standort Allendorf um 80 Prozent zu reduzieren. Das ist beeindruckend, muss ich ganz ehrlich sagen. Wir haben uns für 2050 das Ziel gesetzt, CO2-Emissionen für ganz Deutschland um 80 bis 95 Prozent zu reduzieren. Hier in Allendorf haben wir eine kleine Insel, in der das Ziel schon jetzt zumindest an der unteren Grenze erreicht ist. Glückwunsch auch dazu. Ein großer Teil der Maßnahmen unseres Aktionsplans zielt auf eine höhere Energieeffizienz von Gebäuden. Dabei setzen wir grundsätzlich auf dreierlei: Wir informieren, wir fördern und wir fordern auch. Die ordnungsrechtlichen Fragen sind nicht immer so einfach zu lösen. Aber alle drei Elemente sind vorhanden. Die Mittel für unser CO2-Gebäudesanierungsprogramm, das wir anstelle der steuerlichen Förderung aufgelegt haben, wurden um 200 Millionen Euro auf zwei Milliarden Euro pro Jahr erhöht. Die KfW fördert inzwischen jede zweite neugebaute Wohnung. Zudem war sie letztes Jahr an der energetischen Sanierung von 290.000 Wohnungen beteiligt. Das ist eine Menge. Aber wenn Sie an die eine Million Wohnungen in Deutschland denken, die wir brauchen, dann wissen Sie, dass wir noch einen langen Weg zu gehen haben. Wir haben aber schon einiges in Bewegung gebracht. Seit dem 1. Januar 2016 muss bei Neubauten der Jahresprimärenergiebedarf um ein Viertel niedriger liegen als bisher. Wir führen im Augenblick eine Diskussion darüber, dass eine bessere Effizienz von Gebäuden bezüglich des Energiesparens erst einmal zu höheren Preisen führt. Auf lange Sicht ist das aber nicht der Fall. Auch die Baukosten sind immer zu berücksichtigen. Ich glaube aber, es ist richtig, dass wir hohe ordnungsrechtliche Anforderungen stellen. Die Mindestwärmedämmung muss um 20 Prozent besser ausfallen. Das ist eine weitere ordnungsrechtliche Vorgabe. Ebenfalls seit Januar 2016 erhalten alte Heizkessel schrittweise das nationale Effizienzlabel. Damit wird dem Kunden vor Augen geführt, was er sparen könnte, wenn er – unter anderem bei Viessmann – eine Neuinvestition tätigen würde. Das Label soll zum Nachrechnen anregen: Lohnt sich ein Heizungstausch oder reicht eine Optimierung der Anlage? Beide Wege werden gefördert. Aber nicht nur das. Auch qualifizierte Beratung unterstützen wir, um Kunden einen Anreiz für Investitionen zu geben und sie darauf vorzubereiten. Ich hoffe, unsere Feier heute trägt dazu bei, dass noch mehr Menschen wissen, dass auch Beratung gefördert wird. Wir wollen im Übrigen alle Fördermaßnahmen technologieoffen anlegen. Welche Systeme, welche Produkte, welcher Umbau sich im jeweiligen Fall am besten eignen, wissen die Fachleute selbst am besten. Das ist nicht die Aufgabe der Politik. Sie bei Viessmann wissen natürlich auch, dass ein neues Gerät oder eine neue Anlage oft nur die halbe Miete ist. Es geht auch um Einbau, Bedienung und Wartung. Auch darauf haben Sie eine Antwort entwickelt – mit der Viessmann Akademie. Sie bietet ein umfassendes Fortbildungsangebot für Heizungsbauer, Planer, Architekten und andere Akteure auf dem Heizungsmarkt, nicht zuletzt auch für die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber eben auch darüber hinaus. Ich konnte mich schon davon überzeugen, als ich hereingekommen bin – die Auszubildenden waren gut platziert –: Ihr Unternehmen nimmt vor allem den Nachwuchs in den Blick; nicht nur was die Familie anbelangt, sondern auch die Auszubildenden. Es gibt sogar zwei Berufsschulen, die mit dem Namen Viessmann verbunden sind – eine in Hessen und eine in Bayern, wo das Unternehmen vor 100 Jahren gegründet wurde. Ich möchte an dieser Stelle ein Plädoyer für die Berufsschulen halten. Von den Antworten auf die Fragen, wie gut die Ausbildung ist, was die jungen Leute dort erleben und wie sie in den Beruf hineingeführt werden, hängt für das ganze Leben viel ab. Dass Sie sich mit der Akademie auch dem lebenslangen Lernen widmen – gerade in Zeiten, in denen wir große Umwälzungen erleben, insbesondere auch mit Blick auf das Digitale und das Technische –, ist sehr gut. Was in einer kleinen Werkstatt begann, ist heute eine global tätige Unternehmensgruppe. Dazu kann man nur sagen: Respekt vor dem Weg in diesen 100 Jahren. In elf Ländern wird produziert. Viessmann ist in über 70 Ländern vertreten. Das Unternehmen erzielt inzwischen über die Hälfte seines Umsatzes im Ausland. Man muss sich einmal vorstellen, was für eine Leistung dahintersteckt. Überall Fuß zu fassen und sich mit neuen Rechtssystemen auseinanderzusetzen, ist für die mittelständischen und Familienunternehmen nicht gerade eine Kleinigkeit. Viessmann ist ein Paradebeispiel dafür, dass der deutsche Mittelstand und die deutschen Familienunternehmen sozusagen zum Schaufenster in der Welt geworden sind und das leisten, wofür Deutschland weltweit berühmt ist. Deshalb Glückwunsch zu der Erschließung immer neuer Märkte. Die Bundesregierung unterstützt dies mit der „Exportinitiative Energie“. Von Ihnen bekommen wir auch immer wieder eine Rückmeldung, was an unseren Förderinstrumenten klappt und was besser gemacht werden muss. Auch dafür sehr herzlichen Dank. Meine Damen und Herren, wir fragen uns immer: Was macht ein gutes Leben aus? Jeder hat natürlich seine individuelle Antwort darauf. In Ihrer Unternehmensbroschüre steht: „Alles Leben braucht Energie.“ – Das ist unstrittig richtig. Weil das so ist, will ich im Sinne von Nachhaltigkeit und mit Blick auf kommende Generationen ergänzen: Nur so viel Energie zu verbrauchen wie nötig, gehört dazu, um so ein gutes Leben zu führen wie möglich. Das Ganze auf das wirklich Nötige zu beschränken, wird auch die Triebkraft Ihrer weiteren Entwicklung sein. Sie werden aber auch Kunden brauchen, die mitmachen und die entsprechenden Möglichkeiten nutzen. Deshalb wird die Kundenbeziehung in den nächsten Jahren sicherlich noch mehr an Bedeutung gewinnen. Die Entwicklung und Fertigung neuer Produkte werden immer mehr digital gestaltet. All das ändert sich durch Digitalisierung, durch die Industrie 4.0. Aber das eigentlich Spannende ist, dass man eine völlig neue Kundenbeziehung aufbauen kann. Der Kunde will individuelle Produkte. Er will wissen, wie er sein Produkt am besten nutzen kann. Ich mache mir keine Sorgen darüber, dass Sie nicht dafür sorgen, Produkte an den Mann und an die Frau zu bringen. Wir brauchen Unternehmen wie Viessmann. Wir brauchen Fachkräfte, die ihr Wissen und auch ihre Freude an der Arbeit in den Dienst des Unternehmens stellen. Dann mache ich mir keine Sorgen, dass wir auch energiepolitisch ein Land bleiben, das innovationsfreudig ist und auf seinem Weg vorangeht. Den Anspruch, dass die Firma Viessmann dabei sein will, habe ich heute schon an allen Ecken und Enden gespürt. Ich wünsche Ihnen alles Gute beim Aufbruch ins zweite Jahrhundert. Bleiben Sie so fröhlich und so engagiert bei der Sache. Wenn es einmal etwas schwieriger wird, dann machen Sie auf Ihrem Schreibtisch einfach einen kleinen Rückwärtswisch, sodass der Großvater und der Urgroßvater wieder erscheinen. Dann wird das Ganze schon wieder klappen. Auch die Menschen vor uns hatten große Aufgaben zu meistern. Dies ist heute genauso spannend und erfreulich. Ich wünsche Ihnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die auf diesem Weg mitziehen und die mit Freude bei der Sache sind – egal ob sie jünger oder schon etwas älter sind und die entsprechende Erfahrung einbringen. Alles Gute zum 100. und weiter alles Gute auf Ihrem Weg.
in Allendorf
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zu ihrem Treffen mit ehrenamtlich engagierten Flüchtlingshelferinnen und -helfern am 7. April 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zu-ihrem-treffen-mit-ehrenamtlich-engagierten-fluechtlingshelferinnen-und-helfern-am-7-april-2017-481588
Fri, 07 Apr 2017 13:02:00 +0200
Berlin
Meine Damen und Herren, lieber Chef des Bundeskanzleramts, wir haben die Rollen getauscht: Ich begrüße Sie jetzt, wie Sie sehen. Ich möchte Sie alle ganz herzlich hier im Bundeskanzleramt willkommen heißen und möchte mich vor allen Dingen noch einmal für Ihre Flexibilität bedanken. Sie waren ja schon einmal eingeladen und sind jetzt trotzdem wiedergekommen. Dafür herzlichen Dank. Sie konnten ja verfolgen, wo ich war. Ich habe keine Freizeit gehabt, sondern habe etwas Wichtiges gemacht. Bitte gestatten Sie mir, dass ich aus aktuellem Anlass einige Worte mit Blick auf das Chemiewaffenmassaker an unschuldigen Menschen in Syrien sage. Wir alle wissen, dass Chemiewaffen international geächtet sind. Wer sie einsetzt, begeht ein Kriegsverbrechen. Ich habe über die begrenzten und gezielten Luftschläge der Vereinigten Staaten von Amerika gegen einen syrischen Stützpunkt heute Morgen mit dem französischen Präsidenten François Hollande und dem italienischen Premierminister Paolo Gentiloni telefoniert. Wir sind uns darin einig, dass die alleinige Verantwortung für die Entwicklung Präsident Assad trägt. Dieser Angriff der Vereinigten Staaten von Amerika ist angesichts der Dimension der Kriegsverbrechen, angesichts des Leids der unschuldigen Menschen und angesichts der Blockade im UN-Sicherheitsrat nachvollziehbar. Gleichzeitig – und ich betone: heute mehr denn je – bleibt es richtig und wichtig, alle Kraft auf politische Gespräche im UN-Sicherheitsrat und in Genf zu setzen, um zu einer Übergangslösung in Syrien und zu einer demokratischen Beendigung des Assad-Regimes zu kommen, das den syrischen Bürgerinnen und Bürgern schon so viel Leid zugemutet hat. (Beifall) Ihr Beifall zeigt ja, dass uns das alle unglaublich berührt und dass das sehr viel mit dem zu tun hat, warum Sie heute hier bei uns sind. Es geht nicht nur um Syrien, aber es geht auch zentral um Syrien. Es geht um den Islamischen Staat und um seine Angriffe im Irak. Und es geht auch um Menschen aus anderen Teilen der Welt, die unter dem islamistischen Terror leiden. Sie sind heute stellvertretend für die vielen Ehrenamtlichen im ganzen Land hierhergekommen, die bei der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen geholfen haben und dies immer noch tun. Ich möchte durch die Einladung indirekt auch allen anderen ein ganz herzliches Dankeschön sagen. Sie haben sich von der ersten Stunde an bis heute engagiert. Sie haben viele schwere Schicksale kennengelernt. Sie haben vieles auf die Beine gestellt, was der Staat alleine nicht geschafft hätte. Sie haben Menschen geholfen; und vielleicht haben Sie auch selber für Ihr Leben wertvolle Erfahrungen machen können. Danke schön dafür. Ich glaube, man kann sagen, dass wir verschiedene Phasen der Hilfe durchlebt haben und noch durchleben. Es gab im Jahr 2015 vor allem ganz unmittelbare Hilfe. Die Bilder davon, wie an den Bahnhöfen und in den Städten schnelle Ersthilfe geleistet wurde, haben Deutschlands Gesicht geprägt. Das Bild Deutschlands hat sich an vielen Stellen in der Welt gewandelt. Es war eine organisatorische Großherausforderung, es war auch eine emotionale Herausforderung – Kleider austeilen, Unterkünfte finden, Begleitung zu Ärzten und Behörden, Ausfüllen von Anträgen. Ich meine, man kann sich ja vorstellen, wenn wir in irgendeinem anderen Land ankommen würden, wo die Rechtsordnung ganz anders ist, wie sehr auch wir auf Hilfe angewiesen wären. Dazu kommt, dass es Menschen sind, die traumatisiert waren, die wochenlang schreckliche Erlebnisse hatten. Diese Phase haben wir bewältigt. Das war eine große Anstrengung, aber wir haben sie doch bewältigt. Dann kam nach der Ersthilfe im Grunde die Phase, in der nun die Integration stärker im Vordergrund steht. Es stellen sich viele Aufgaben. Dabei geht es als Erstes um das Erlernen der Sprache. Jeder, der sich nicht ausdrücken kann, der sich nicht verständlich machen kann, ist natürlich in einer schwierigen Lage. Es geht um Schul- und Kita-Plätze für Kinder. Es geht um Arbeit, Ausbildung und Praktika. Es geht oft auch einfach ums Zuhören, ums Annehmen, ums Willkommen-heißen und darum, Wege zu eröffnen und vielleicht auch Erfahrungen, die nicht so gut sind, auszugleichen. Wir werden darüber ja nachher noch sprechen. Wir können sagen, dass auch der Staat nicht säumig war. Ich will erst einmal den kommunalen Verantwortlichen danken. In den Kommunen spielt sich das ja alles ab. Da stellten sich große Herausforderungen. Schnell kommt es natürlich auch zu der Situation, in der Menschen, die schon immer hier leben, fragen: Was ist denn jetzt eigentlich mit uns? Gab es früher nicht auch etwas zu tun, als wir noch keine Flüchtlinge hatten? – Schnell gibt es also auch so einen Wettstreit: Wer kümmert sich um wen und wie viel? Außerdem möchte ich mich bei den Bundesländern bedanken und natürlich auch bei allen in den Bundesbehörden, wo viele Dinge in einer ziemlich kurzen Zeit auf den Weg gebracht wurden. Wir hätten das alles nicht geschafft, wenn ich mich und wir in der Bundesregierung uns nicht immer wieder mit drei Gruppen getroffen hätten: mit den Bundesländern, mit den kommunalen Spitzenverbänden sowie mit Verbänden und Vereinigungen, die in der Flüchtlingshilfe engagiert sind. Gerade erst vorgestern hatten wir wieder eine solche Runde, in der wir über akute Probleme sprachen – darüber, was alles nicht läuft, und auch darüber, was läuft. Wir haben im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen riesigen Genehmigungsapparat auf die Beine stellen müssen. Es war und ist ein Glücksfall, dass beide, die Bundesagentur für Arbeit und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, in Nürnberg angesiedelt sind, dann auch noch gut zusammengearbeitet haben und weiterhin gut zusammenarbeiten. Wir haben auch die rechtlichen Rahmenbedingungen gestaltet, was Integrationskurse und vieles andere mehr anbelangt. Trotzdem gibt es überhaupt gar keinen Zweifel: Jeder Mensch ist individuell, jeder hat sein eigenes Schicksal. Nicht alles hat geklappt. Manches dauert viel länger, als man denkt. Ein großes Thema für viele Menschen, die zu uns gekommen sind, ist der Familiennachzug. Man weiß seine Angehörigen woanders. Teilweise muss man an die Schlepper noch Geld zahlen. Man steht unter großem Druck. Hinzu kommt natürlich auch eine Erfahrung, die für beide Seiten schwierig ist: Auf der einen Seite gibt es einige wenige Flüchtlinge, die kriminell sind oder schreckliche Taten vollbracht haben. Das ist für die anderen – die große Mehrzahl – eine sehr, sehr schwierige Erfahrung und bedeutet zum Teil auch eine Verunsicherung der Bevölkerung bei uns, die fragt: Was bedeutet das nun alles? – Damit haben auch Sie zu tun. Sie haben zum Teil auch mit Anfechtungen zu tun, wie ich weiß. Sie müssen sich permanent für Ihr Engagement rechtfertigen und haben manchmal gar keine Lust mehr, darüber zu Menschen zu sprechen, die das nicht verstehen können. Es gab und gibt also sehr unterschiedliche Meinungen in unserer Gesellschaft. Wir haben außerdem das Thema – das für viele, die sich mit Flüchtlingen beschäftigen, natürlich auch ein sehr schwieriges ist –, dass jeder durch eine Prozedur muss, in der festgestellt wird: Ist der Antrag auf Aufenthalt rechtmäßig oder nicht? Es kommt auch zu Ablehnungen; und darüber gibt es auch sehr kontroverse Diskussionen. Trotzdem glaube ich, dass wir denen, die unsere Hilfe brauchen, wirklich nur dann helfen können, wenn wir auch bereit sind zu sagen: Wer kein Aufenthaltsrecht hat, muss unser Land wieder verlassen. Wir versuchen, das möglichst häufig auf freiwilliger Basis zu machen. Gerade viele aus den Ländern des westlichen Balkans haben diese Erfahrung machen müssen. Ich glaube aber, es ist wichtig, dass der Rechtsstaat das großzügige Aufenthaltsrecht, das wir haben, durchsetzt, aber auf der anderen Seite in Fällen, in denen es ein solches Aufenthaltsrecht nicht gibt, auch sagt, dass man unser Land wieder verlassen muss. Wir haben viel gelernt – ich kann das auch von mir selbst sagen. Plötzlich denkt man nicht mehr in den Grenzen zwischen Deutschland und unseren Nachbarn, sondern überlegt sich: Wenn wir uns in Europa frei bewegen wollen, dann müssen wir uns einmal die europäischen Außengrenzen angucken. Dann stellt man plötzlich fest, dass man ohne Pass nach Norwegen oder nach Zypern fahren kann – das finden wir alle toll. Aber wenn man sich einmal überlegt, wer der Nachbar von Zypern ist, dann merkt man plötzlich: Das ist Syrien. Und wer ist der Nachbar von Norwegen? Da ist der Nordpol; und dann kommt schon Russland. Die Ukraine, Georgien, die Türkei, Syrien, Libanon, Israel, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko – das sind die Länder, die in der Nachbarschaft unseres Freizügigkeitsraums der Europäischen Union sind. Und plötzlich beginnen wir uns mit der Frage zu beschäftigen: Was geschieht denn dort; und wie können wir helfen, Fluchtursachen zu vermeiden? Das bedeutet, dass Entwicklungshilfe sehr viel stärker werden wird, dass wir uns viel mehr engagieren müssen, dass wir uns überlegen müssen: Wie können wir Menschen zu Hause eine Perspektive geben? Wir haben auch festgestellt – und da schließe ich mich mit ein –, dass wir nicht genau hingeschaut haben, als in Syrien, im Libanon oder in Jordanien nicht einmal mehr die Lebensmittelsätze von einem Dollar pro Tag gezahlt werden konnten, als Menschen überhaupt keine Hoffnung mehr hatten, als Kinder über fünf Jahren nicht mehr in die Schule gehen konnten. Ich habe mich gerade vor wenigen Tagen in dieser Woche mit dem libanesischen Ministerpräsidenten unterhalten – vier Millionen Einwohner, 500.000 palästinensische Flüchtlinge seit Jahr und Tag, dazu noch 1,2 Millionen syrische Flüchtlinge. Wenn wir hierzulande manchmal schon nicht wissen, ob wir das alles hinbekommen, dann muss man angesichts dieser Zahlen sagen: Das, was in Jordanien, im Libanon, aber auch in der Türkei mit ihren drei Millionen Flüchtlingen vollbracht wird, ist wirklich eine riesige Leistung. Das sollten wir nicht vergessen, wenn wir hier uns schon am Rande dessen fühlen, was wir schaffen können. Ich glaube, selten haben wir so sehr wie in den vergangenen Monaten erlebt, dass wir eine Welt sind und dass die Frage von Flucht, Vertreibung und Migration eine Frage ist, die alle angeht. Die Zahl der Flüchtlinge ist die höchste seit dem Zweiten Weltkrieg: über 60 Millionen. Das kann natürlich ein Land oder ein Kontinent allein nicht schaffen. Ich will aber auch sagen: Die Europäische Union hat 500 Millionen Einwohner, sie hat klare Werte und klare Prinzipien – Würde des Menschen; Artikel 1 unseres Grundgesetzes und auch Teil der gemeinsamen europäischen Grundwerte. Wenn man nicht in der Lage sein will, eine Million oder etwas mehr an Flüchtlingen aufzunehmen, dann wäre das kein gutes Zeugnis. Deshalb danke ich Ihnen, die Sie gezeigt haben: Für uns stehen die Werte nicht nur in der Verfassung und auf dem Papier, sondern wir versuchen, sie auch zu leben. Dafür herzlichen Dank. Und noch einmal herzlich willkommen.
im Bundeskanzleramt
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der 10. Nationalen Maritimen Konferenz am 4. April 2017 in Hamburg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-10-nationalen-maritimen-konferenz-am-4-april-2017-in-hamburg-485752
Tue, 04 Apr 2017 16:18:00 +0200
Hamburg
Sehr geehrter Herr Generalsekretär Lim, sehr geehrter Herr Erster Bürgermeister Scholz, sehr geehrter Herr Kollege Dobrindt, sehr geehrte Herren Parlamentarische Staatssekretäre, insbesondere lieber Herr Beckmeyer, sehr geehrte Minister und Senatoren, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, meine Damen und Herren, dies ist unsere zehnte Maritime Konferenz. Die Jubiläumskonferenz findet in diesem ehrwürdigen Saal statt. In jedem der fünf Bundesländer an der Küste haben inzwischen zwei solche Konferenzen stattgefunden. Demzufolge ist auch die ehrwürdige Elbmetropole Hamburg in diesem Jahr zum zweiten Mal Gastgeber. Nun brauchen wir nicht zu betonen – Sie haben das auch schon seit gestern immer wieder gesagt –, dass die Freie und Hansestadt Hamburg eine lange maritime Tradition mit großer Symbolkraft hat. Sie verdankt das, was sie ist, insbesondere dem Hafen, natürlich auch dem Fluss, der Elbe, dem freien Denken und dem freien Handel. Die Grundlage dafür legte Kaiser Friedrich Barbarossa im Jahr 1189. Denn er gewährte den Schiffen zwischen Hamburg und der Nordsee Zollfreiheit. Damit öffnete sich für die Stadt am Fluss das Tor zu den Meeren der Welt und damit zu Handel und Wohlstand. Das Schöne ist: Die Hamburger wissen dies auch zu schätzen. Sie feiern jedes Jahr ihren Hafengeburtstag. Und das ist ein wahres Fest. Allen Gästen – gerade auch Herrn Generalsekretär Lim oder dem Herrn Minister aus Griechenland – kann ich nur empfehlen: Wann immer Sie Lust haben, kommen Sie einmal zum Hafengeburtstag. Denn das ist wirklich ein wunderschönes Fest. Hamburg lebt von seiner Weltoffenheit. Der Hamburger Hafen ist der größte Seehafen unseres Landes. Er ist Deutschlands Tor zur Welt. Im europäischen Vergleich belegt er Platz drei. Er gehört wahrscheinlich zu den modernsten Häfen, wenn wir heute über Digitalisierung sprechen. Und seine Lage ermöglicht eine sehr gute Anbindung an das Binnenland. Auf der anderen Seite besteht auch einer hoher Druck, immer mehr Effizienz zu erreichen, was die Modernisierung auf ganz natürliche Weise vorantreibt. Die Routen führen in fast 180 Länder, also fast überall hin. Der Hamburger Hafen ist ein zentraler Knotenpunkt im Netz der Globalisierung. Von seiner Qualität, seiner Leistungsstärke und Effizienz profitieren viele rund um den Globus und im Übrigen wahrscheinlich auch fast alle Bundesländer in Deutschland. Internationale Arbeitsteilung und reger Warenverkehr sind Kennzeichen der Globalisierung. Sie bieten allen Beteiligten Chancen. Offene Tore lassen sich sowohl von der einen als auch von der anderen Seite durchqueren. Protektionismus dagegen hieße, Tore zu schließen oder zu Einbahnstraßen zu erklären. Dieses Konzept mag vielleicht kurzfristig Vorteile für die Unternehmen desjenigen Landes bieten, das auf diese Maßnahmen setzt. Auf Dauer jedoch wirkt sich der Mangel an Wettbewerb negativ auf die Innovationsstärke aus, ganz zu schweigen von der Preisbildung und der Produktauswahl. Alle haben also Nachteile. Deshalb geht es uns darum, dass wir Handelsbarrieren beseitigen und einen freien und natürlich auch fairen Handel ermöglichen. Dies bringt deutlich mehr Wettbewerb, der bekanntlich auch das Geschäft belebt. Die Bundesregierung hat sich deshalb immer dafür eingesetzt, das WTO-Handelssystem zu stärken und internationale Abkommen für den freien, fairen und wertebasierten Handel abzuschließen. So können wir Globalisierung gestalten. Die Tatsache, dass zum letzten Matthiae-Mahl der kanadische Premierminister Justin Trudeau in Hamburg war, der viel Geduld aufgebracht hat, damit auch alle Europäer begreifen, dass ein Abkommen mit Kanada etwas Gutes ist, zeigt, dass dieses Band hier noch einmal geknüpft wurde. Ich werbe für diese Dinge genauso im Rahmen unserer G20-Präsidentschaft. Der G20-Gipfel findet ja nicht ganz zufällig in Hamburg statt. Vielmehr findet er hier statt, weil Hamburg eine weltoffene Stadt ist. Unser Logo für diese G20-Präsidentschaft zeigt auch einen Schiffsknoten, der auf die maritime Seite Hamburgs anspielt. Wir freuen uns also, hier dann zu Gast zu sein. Und ich möchte mich auch beim Ersten Bürgermeister Scholz ganz herzlich für die Vorbereitungsarbeiten bedanken. Wir werden da noch manche Herausforderung zu bestehen haben, aber eines ist klar: Hamburg eignet sich wunderbar als Gastgeberstadt. Die großen Kräne, Kais und vielen Schlepper erinnern uns zugleich daran, wie wichtig eine gute Infrastruktur ist, um Produkte überall hin zu transportieren. Deutschland als wettbewerbsfähige Industrienation ist darauf angewiesen. Der Erste Bürgermeister hat mir gerade eben erzählt, dass er schon dargestellt hat, mit welcher Logistik es verbunden ist, etwas vom Schiff auf die Straße oder auf die Schiene zu bekommen. Das ist schon sehr beeindruckend. Von unseren Häfen hängt sehr viel ab. Das wird vielleicht manchem Bürger gar nicht jeden Tag klar sein. Sie verschaffen unseren Unternehmen Zugang zu den globalen Märkten und sichern damit den Produktionsstandort Deutschland. Sie sind effiziente Logistikdienstleister und Wachstumsmotoren unserer Volkswirtschaft. Deshalb müssen die Häfen auch mit den neuen Anforderungen Schritt halten. Nicht von ungefähr stand deshalb das Thema Digitalisierung hier heute sehr stark im Zentrum. Die Digitalisierung ermöglicht es, effizienter und kundenorientierter zu arbeiten. Da sind völlig neue Geschäftsmodelle denkbar, die weit über die klassische Hafeninfrastruktur hinausgehen. Die Bundesregierung möchte, auch mit Blick auf ihre gesamte Unterstützung der maritimen Wertschöpfung, die Häfen gerade auch bei diesen Innovationen unterstützen. Deshalb haben wir das neue Förderprogramm IHATEC ins Leben gerufen. Das Budget für fünf Jahre beträgt 64 Millionen Euro. Und es geht vor allen Dingen darum, die digitale Infrastruktur auszubauen. Unser Nationales Hafenkonzept bietet einen umfassenden Ansatz und beinhaltet einen strategischen Leitfaden für die Hafenpolitik in den kommenden Jahren. Dabei ist es unser Ziel, dass die Umschlagplätze an den Binnen- und Küstengewässern ihre herausragende Position im internationalen Wettbewerb halten. Gleichzeitig liegt uns daran – auch Generalsekretär Lim hat darüber gesprochen –, das mit einer Verbesserung des Klima- und Umweltschutzes im Warenverkehr zu kombinieren. Beides kann man miteinander vereinen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, den Ländern und Verbänden, die am Hafenkonzept mit viel Einsatz mitgearbeitet haben, ganz herzlich zu danken. Jetzt geht es natürlich darum, die gemeinsam vereinbarten Maßnahmen mit dem gleichen Tatendrang wie bei der Erarbeitung umzusetzen. Wir sind davon überzeugt, dass dies der gesamten Wirtschaft zugutekommt. Schön wäre es natürlich auch, wenn in unseren Häfen noch mehr Schiffe unter deutscher Flagge ein- und ausfahren würden. Deutschland ist nämlich eine der größten Schifffahrtsnationen der Welt mit einer sehr leistungsfähigen Handelsflotte. Und wir wünschen uns, dass sich dies auch in der Beflaggung widerspiegelt. Ich hoffe, dass jetzt auch ein paar von denen klatschen, die für die Beflaggung der Schiffe verantwortlich sind. Auf jeden Fall haben sie viel Unterstützung. Wir wissen, dass die Konkurrenz groß ist. Deshalb haben wir uns auch immer wieder mit der Verbesserung der Rahmenbedingungen beschäftigt. Als ich vor eineinhalb Jahren bei der neunten Nationalen Maritimen Konferenz war, haben wir mehrere dieser Maßnahmen in Aussicht gestellt. Das ist ein gutes Beispiel für ein Thema, bei dem man den richtigen Weg zwischen hundertprozentiger Ordnungspolitik und Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Maßstab finden muss. Wir haben den Lohnsteuereinbehalt von 40 auf 100 Prozent erhöht, und die Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung werden erstattet – das sind zwei Maßnahmen aus diesem Gesamtpaket. Wir haben damit den Reedern ein deutliches Zeichen gesetzt. Das soll sich dann eben auch in deutscher Beflaggung und Beschäftigung deutscher und europäischer Seeleute niederschlagen. Ich habe damals in der Diskussion – ich erinnere mich noch sehr genau – auch gelernt, wie viel daran hängt, dass auch eine deutsche Ausbildung auf den Schiffen stattfindet und wir junge Menschen mit unserem wirklichen Know-how für die maritime Wirtschaft im umfassenden Sinne begeistern können. Unser Maritimes Bündnis setzt sich deshalb eben auch für Ausbildung und die Sicherung von Arbeitsplätzen ein. Deshalb lohnt der Schulterschluss zwischen dem Bund, den norddeutschen Ländern und den Sozialpartnern. Das ist ja auch das Kennzeichen der Maritimen Konferenz. Und dafür möchte ich beim zehnten Mal auch einfach ganz herzlich danken. Das ist eine Gemeinschaftsleistung, nicht irgendwie nur eine Maßnahme der Politik oder der Wirtschaft, sondern alle ziehen an einem Strang in eine Richtung. Und das macht uns stark. Die Bundesregierung setzt mit ihrer Schifffahrtspolitik auf gute Rahmenbedingungen für international agierende Unternehmen, um eben auch in Zukunft ein erfolgreicher maritimer Standort zu sein. Wir gehen davon aus, dass der Seeverkehr aufgrund des zunehmenden Welthandels in den nächsten Jahren ansteigen wird. Man weiß nicht ganz genau, was der 3D-Drucker so an Folgen mit sich bringen wird, aber bis jetzt sieht man, dass wir keine Sorge haben müssen, dass auf den Weltmeeren nichts mehr transportiert werden würde. Aber wir wissen auch, dass der Wettbewerb extrem hart ist. Die deutsche Seeverkehrsbranche muss deshalb immer wieder Strukturen anpassen, technologische Entwicklungen vorantreiben und auch für innovative Neuerungen, wie sie gerade auch durch die Digitalisierung vorgegeben werden, offen sein. Das gilt nicht nur für die Seeverkehrsbranche, sondern eben auch für die Werften. Auch hier gibt es eine starke Konkurrenz aus anderen Regionen der Welt. Dies hat viele veranlasst, sich neu auszurichten und auch auf neue Fähigkeiten zu setzen, die insbesondere zeigen, dass man mehr individuelle Planung und Ausführung, technologische Spitzenleistung sowie hervorragende Systemkompetenz zu bieten hat. In diesen Stärken liegt der Mehrwert, den deutsche Werften ihren Kunden bieten. Als jemand, der einen Wahlkreis hat, in dem auch eine Werft liegt, weiß ich, was das an beständiger Anpassung bedeutet. Das ist wirklich harte Arbeit. Das ist auch viel Unsicherheit für die Beschäftigten. Wir wollen da, wo immer es möglich ist, auch helfen, dass diese Unsicherheit so weit wie möglich minimiert wird. Auch da zeigt sich nämlich: Wenn die Fachkräfte einmal weggegangen sind, dann ist es sehr schwer, eine Kompetenz wieder aufzubauen. Deshalb geht es uns immer darum, eine Kontinuität zu erhalten, um das Know-how zu erhalten und die Spezialisierung dann auch voranzutreiben. Die deutschen Schiffbauer genießen hohes Ansehen, insbesondere dann, wenn das Produkt technisch anspruchsvoll und komplex ist. Ich will nur an die Schiffe für Kreuzfahrten oder den Offshore-Einsatz erinnern. Im Fährverkehr sehen wir das, aber auch bei den Luxusyachten. Wer die Auftragswerte für einen Vergleich heranzieht, der sieht, dass die deutschen Werften aktuell ungefähr einen weltweiten Anteil von 20 Prozent haben und dass sie damit auf Platz zwei gleich hinter China liegen. Vielen Menschen in Deutschland ist es vielleicht nicht bekannt, dass das doch ein so wesentlicher Teil der internationalen Wertschöpfung im Schiffsbaubereich ist. Die Unternehmen der Branche müssen hart arbeiten, um ihren Vorsprung zu halten. Und wir dürfen wirklich mit Fug und Recht sagen: Die Bundesregierung, aber auch die Bundesländer unterstützen die Branche dabei. Es gibt Innovationsförderung für Werften. Wir haben hierbei den Anteil des Bundes von 15 Millionen auf 25 Millionen Euro erhöht. Wir haben die Regeln für die Kofinanzierung angepasst. Früher musste immer die Hälfte des Geldes von den Ländern kommen. Das neue Finanzierungsverhältnis von Bund zu Ländern beträgt zwei zu eins. Es gibt auch keine Pläne, das mit dem Eintreten des vereinbarten Bund-Länder-Finanzausgleichs wieder zurückzuschrauben. Zwei zu eins bleibt also. Der Erste Bürgermeister freut sich. Der Staat tritt teilweise auch als Auftraggeber auf, wenn wir zum Beispiel daran denken, dass kürzlich mit Norwegen eine Kooperationsvereinbarung abgeschlossen wurde, die die gemeinsame Beschaffung von U-Booten vorsieht. Die Bundeswehr braucht neue Schiffe. Die Anforderungen sind durch die Einsätze gestiegen. Ich will daran erinnern, dass wir viel über die Frage der zu uns kommenden Flüchtlinge sprechen. Wir wissen, dass dies auch sehr viel mit maritimen Grenzen zu tun hat, zum einen mit der Ägäis, wo uns das EU-Türkei-Abkommen sehr geholfen hat. Der griechische Schifffahrtsminister ist heute unter uns. Er weiß, wovon ich spreche. Griechenland trägt immer noch eine große Last im Zusammenhang mit der Betreuung von Flüchtlingen. Und ich möchte Ihrem Land dafür auch ganz herzlich danken. Wir wissen, was das bedeutet. Ich glaube, wir sind uns einig, dass es in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzen ist, dass es uns mit dem EU-Türkei-Abkommen gelungen ist, kriminellen Schleppern zwischen der Türkei und den griechischen Inseln weitgehend, noch nicht vollständig, aber weitgehend, das Handwerk zu legen. Wir haben damit ganz konkret Menschenleben gerettet. Denn allein in den ersten Monaten des Jahres 2016 sind in der Ägäis mehr als 450 Menschen ertrunken. Das waren vor allen Dingen Frauen und Kinder. Jetzt haben wir noch das große Problem vor der libyschen Küste. Im letzten Jahr gab es im Mittelmeer zwischen Libyen und Italien mehr als 4.000 Tote. Reeder und Schiffsbesatzungen haben viele Menschen retten können. Auch dafür möchte ich danken. Die Schiffsbesatzungen sind auf alles vorbereitet, nur eigentlich nicht darauf, jetzt Menschenleben zu retten. Das ist auch ein großartiger Einsatz. Aber natürlich müssen wir das auch im Rahmen von Missionen machen. Zum Beispiel ist die Deutsche Marine in der unter dem Namen Sophia bekannten Mission sehr engagiert. Wir retten im Rahmen dieser Mission nicht nur Menschenleben, sondern werden auch die Fähigkeiten der libyschen Küstenwache verbessern. Wir haben auch die Überwachung der Ägäis durch NATO-Schiffe vorangebracht. Und wir beteiligen uns an der NATO-Operation Sea Guardian. All dies sind Teile dessen, warum ich sage, dass die Marine in Deutschland in einem hohen Maße gefordert ist. Heute war der libanesische Ministerpräsident bei mir. Wir sind auch in der Mission UNIFIL engagiert. Und wir sind bei der Piratenbekämpfung am Horn von Afrika engagiert. Wenn Sie sich einmal anschauen, was allein in den letzten zehn Jahren an maritimen Operationen hinzugekommen ist, dann ist das sehr beeindruckend. Ich erinnere immer wieder daran: Wir alle leben ja gerne davon, dass wir innerhalb der Europäischen Union und weitestgehend im europäischen Binnenmarkt – ein bisschen auch darüber hinaus – die Freude der Freizügigkeit genießen, die für uns natürlich ganz wichtig ist, auch für unseren Handel und Wandel. Das bedeutet aber, dass wir im Grunde nicht mehr in dem Sinne Grenzen zwischen den einzelnen Nationalstaaten haben, sondern dass wir Außengrenzen haben. Die Außengrenzen unseres Raums der Freizügigkeit reichen, da Norwegen zum Schengen-Raum gehört, im Grunde vom Nordpol über Russland, die Ukraine, die Türkei, Syrien, den Libanon, Israel, Ägypten, Libyen, Tunesien und Algerien bis nach Marokko. Das sind unsere Außengrenzen. Das zeigt, wie anders der Horizont ist. Dieser Horizont ist ganz stark von maritimen Herausforderungen geprägt. Und das spiegelt sich eben auch in der Frage der Aufgaben unserer Marine, aber auch der gemeinsamen Grenzschutzpolizei der Europäischen Union FRONTEX wider. Sicherheit ist auch eine Frage des Know-hows. Und das gilt auch für die zivile maritime Sicherheit. Deshalb ist das Thema Meerestechnik natürlich von zentraler Bedeutung. Der Masterplan Maritime Technologien beleuchtet das gesamte Spektrum der Meerestechnik. Dieser Masterplan steht inzwischen unter dem Dach der Maritimen Agenda 2025, die die Bundesregierung Anfang des Jahres verabschiedet hat. Staatssekretär Beckmeyer weiß, wovon die Rede ist, und hat das zusammen mit anderen Ressorts auch vorangebracht. Diese Bündelung und dieser Rahmen, in dem Sie auch darauf vertrauen können, dass die einzelnen Punkte kontinuierlich weiterentwickelt und behandelt werden, dass die Vernetzung der verschiedenen Bereiche immer im Blick gehalten wird, sind das Plus, das sich bei diesen Maritimen Konferenzen auch bemerkbar macht. Wir haben im Herbst des vergangenen Jahres sogar eine eigene Geschäftsstelle für den Masterplan Maritime Technologien eröffnet. Wir wollen erreichen, dass deutsche Forschungsinstitute und Unternehmen ihre Kompetenzen nutzen, um immer wieder mit Innovationen weltweit Akzente zu setzen. Dabei gibt es viele interessante Bereiche. Ich will hier einen nennen, den Tiefseebergbau, weil er erstens langfristig zur Versorgungssicherheit mit Hochtechnologierohstoffen beitragen wird und sich zweitens für deutsche Hersteller innovative und umweltschonende Meerestechnologien viel besser vermarkten lassen. Wir verfügen über zwei Lizenzgebiete und sind dabei durchaus Vorreiter. Das ermöglicht uns, Herr Generalsekretär Lim, hohe Standards bei Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit zu setzen. In eine ähnliche Richtung zielt unser Engagement bei Offshore-Technologien. Vor der deutschen Küste sind bereits Windkraftanlagen mit einer Kapazität von über vier Gigawatt in Betrieb. Weitere Projekte befinden sich in der Umsetzung. Das Ausbauziel liegt bei sechseinhalb Gigawatt bis 2020, das wir wahrscheinlich recht deutlich überschreiten werden. In der Bundesregierung und auch schon in den Koalitionsverhandlungen haben wir sehr viel darüber geredet, wie wir denn die Stromnetzanbindung sichern können. Denn wir brauchen Synchronizität von Offshore-Windenergieausbau und Netzen. Das Thema der direkten Stromanbindung ist inzwischen relativ gut geklärt. Dann muss es aber weitergehen, weil die industrielle Wertschöpfung im Süden der Republik sehr viel stärker ist. Hier haben wir noch einige Themen des Leitungsausbaus voranzutreiben. Der Ausbau der erneuerbaren Energien hat immer auch etwas mit Kostenkontrolle zu tun. Deshalb müssen wir immer schauen, Umweltfreundlichkeit mit Kosteneffizienz zusammenzubringen, damit die Wirtschaftlichkeit der Industrieproduktion nicht leidet. Deutschland genießt recht hohes Ansehen für sein umwelt- und klimapolitisches Engagement. Aber wir müssen diesen Ruf immer wieder verteidigen, auch mit Blick auf die maritime Wirtschaft. Wir setzen uns insgesamt dafür ein, dass die Seeschifffahrt umweltfreundlicher wird. Sie ist einer der effizientesten Verkehrsträger. Aber es gibt noch viel Potenzial, zum Beispiel beim Schadstoffausstoß, der begrenzt werden muss, weil gerade die Luftqualität in Hafenstädten trotz des begonnenen Umdenkens oft noch zu wünschen übriglässt. Deshalb: Alternative Antriebstechnologien, Kraftstoffe und Energieträger eröffnen neue Möglichkeiten, um Treibhausgasemissionen zu reduzieren und die Umweltbelastung durch Schiffsverkehr zu senken. Viel hängt vom Aufbau der erforderlichen Tank- und Ladeinfrastruktur ab. Deshalb fördern wir auch hier entsprechende Pilotvorhaben, gerade auch in der Schifffahrt. Die Internationale Seeschifffahrtsorganisation hat inzwischen sehr hilfreiche Vorgaben gemacht. Wir haben dies immer aktiv unterstützt. Ich denke, ihre Anwesenheit hier zeigt auch, wie wir ihre Arbeit wertschätzen. Ab 2020 wird es einen ehrgeizigen Grenzwert für den Anteil von Schwefel in Schiffskraftstoffen geben, der dann nur noch bei maximal 0,5 Prozent liegen darf. Das ist eine enorme Herausforderung für die Branche. Aber wir sind durch die Erfahrungen, die wir auf der Nord- und Ostsee gemacht haben, ermutigt. Dort darf der Schwefelgehalt in Kraftstoffen seit 2015 nur noch maximal 0,1 Prozent betragen. Das ist der strengste Wert weltweit. Die Natur der beiden Meere zeigt allerdings auch, dass das dort notwendig ist. Ich weiß auch, dass noch andere Schiffe auf den Weltmeeren fahren als auf der Nord- und Ostsee und kann mir die Gegenargumente gut vorstellen. Aber auch hier gilt: Bei den Weltmeeren müssen wir es angehen. Die Schifffahrt hat die Vorgabe zur Nord- und Ostsee gut gemeistert. Damit haben sich die Schwefeloxidemissionen in Gebieten mit diesem Grenzwert massiv reduziert. Ein zweiter Punkt ist der CO2-Ausstoß. Wir alle haben das Klimaabkommen von Paris noch in Erinnerung, das Deutschland natürlich unterstützt hat. Ich möchte Generalsekretär Lim noch einmal dafür danken, dass die International Maritime Organization einen Fahrplan zur Reduzierung der CO2-Emissionen aufgestellt hat. Genauso wie es im Luftverkehr der Fall ist, sollten wir auch für den Seeverkehr zeitnah verbindliche Klimaschutzmaßnahmen beschließen. Deutschland wird Sie dabei unterstützen. Ich habe es schon erwähnt: Viele Einsparpotenziale bieten sich durch die Digitalisierung. Daten lassen sich intelligent miteinander verknüpfen. Dadurch können Transportketten bei Verzögerungen sehr schnell neu berechnet werden, die beste, effizienteste Route und Beladung, das beste Verkehrsmittel können ermittelt werden. Solche Lösungen tragen auch dazu bei, nicht nur insgesamt effizienter zu sein, sondern auch die Umwelt zu schonen. Der Schutz von Natur und Umwelt ist ganz besonders auch beim Kampf gegen Meeresmüll gefordert, insbesondere gegen große Mengen Plastik in den Meeren, die Tiere und Menschen gefährden. Wir haben deshalb 2015, als wir den G7-Vorsitz hatten, einen Aktionsplan gegen Müll in den Meeren beschlossen. Daran wollen wir im Rahmen unserer G20-Präsidentschaft wieder anknüpfen. Ich freue mich, dass sich die IMO auch hierbei aktiv einbringt. Ich begrüße das sehr. Meine Damen und Herren, man kann also sagen: Es bewegt sich eine Menge. Einer, dem Themen mit maritimem Bezug stets wichtig waren, ist der von mir schon erwähnte Parlamentarische Staatssekretär und Maritime Koordinator der Bundesregierung Uwe Beckmeyer. Er verzichtet auf eine erneute Kandidatur für ein Bundestagsmandat, wird also im September auch aus dem Amt des Koordinators ausscheiden. Deshalb – obwohl ich bis zum Ende der Legislaturperiode noch auf seine Arbeit setze, das ist jetzt kein Freifahrtschein, sich nicht mehr zu kümmern – möchte ich ihm von ganzem Herzen für seine Arbeit danken. Ich wünsche Ihnen, Herr Beckmeyer, alles Gute und hoffe, dass Sie den maritimen Themen auch in Zukunft verbunden bleiben. Etwas anderes kann ich mir eigentlich auch gar nicht vorstellen. Also: Danke und alles Gute. Um den Schmerz über das Ausscheiden von Herrn Beckmeyer als Koordinator vielleicht etwas abzumildern, wird die nächste Nationale Maritime Konferenz in einem Binnenland stattfinden. Damit rückt die Bedeutung der maritimen Wirtschaft auch für küstenfernere Regionen stärker in den Blick. Ich weiß noch, dass es, als Dagmar Wöhrl Koordinatorin für die maritime Wirtschaft war, ein ewiges Raunen gab, wie es sein könne, dass jemand aus Bayern eine solche Aufgabe übernimmt. Dann haben wir plötzlich festgestellt, wie viel der Wertschöpfung für den maritimen Bereich aus Bayern kommt. Es ist also nicht nur eine Küstensache. Es ist eine gute Entscheidung, weil wir eine gute Unterstützung in allen Bundesländern für die maritime Infrastruktur brauchen. Wir haben im maritimen Sektor immerhin rund 400.000 Beschäftige und 50 Milliarden Euro Umsatz, Zulieferbetriebe überall, natürlich auch viele Unternehmen in Küstennähe. Die maritime Wirtschaft ist also eine wichtige Säule für Arbeitsplätze und Wertschöpfung in Deutschland. Deshalb mein herzlicher Dank all denen, die sich im Vorfeld dieser Konferenz – die Konferenz ist ja im Grunde der Endpunkt einer längeren Arbeit – wieder für die maritimen Belange eingesetzt haben. Ihnen alles Gute bei der Umsetzung der hier gefassten Beschlüsse, insbesondere der Implementierung der Möglichkeiten der Digitalisierung. Danke schön, dass Hamburg so ein toller Gastgeber ist und dass ich dabei sein konnte. Mir ist es immer eine große Ehre, hier dabei zu sein. Ich habe es eben gesagt: Es ist natürlich nicht ganz einfach. Sie haben hier viele Stunden diskutiert und sich viele Wochen vorbereitet. Ich habe natürlich nicht an jedem Arbeitsschritt teilgenommen. Eigentlich kann ich Ihnen dann nicht etwas ganz Neues sagen. Aber die Tatsache, dass die Bundesregierung hier auf allen Ebenen vertreten ist, macht deutlich, dass uns der ganze Wirtschaftszweig sehr wichtig ist. Dieses Signal sollte Sie ermutigen, auch weiterhin so intensiv für die schöne maritime Wirtschaft zu arbeiten. Danke schön!
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der Ausstellung „Der geteilte Himmel. Reformation und religiöse Vielfalt an Rhein und Ruhr“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-ausstellung-der-geteilte-himmel-reformation-und-religioese-vielfalt-an-rhein-und-ruhr–478974
Sun, 02 Apr 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Essen
Kulturstaatsministerin
Was für eine schöne Ironie der Reformationsgeschichte! Ausgerechnet Martin Luther, dem es in seinem theologischen Ringen um Gott und um eine Revolution des Glaubens ganz und gar nicht um religiöse Vielfalt und Religionsfreiheit ging, ausgerechnet Martin Luther hat – wenn auch unfreiwillig und ohne es zu ahnen – der religiösen Vielfalt und der Religionsfreiheit den Weg geebnet. Wo ließe sich diese wunderbare Entwicklung besser nachvollziehen als an Rhein und Ruhr – in einer Region, die sich schon früh in besonderer Weise durch das Nebeneinander der Religionen und Kulturen auszeichnete und in der heute fast 250 Glaubensgemeinschaften vertreten sind? Ich freue mich sehr, lieber Herr Professor Grütter, lieber Herr Marth, dass Sie dem Zusammenhang von Reformation und religiöser Vielfalt eine Ausstellung widmen, die den Veranstaltungsreigen zur Reformation im Jubiläumsjahr um eine wichtige, zukunftsrelevante Perspektive ergänzt und die ich deshalb gerne mit Mitteln aus meinem Kulturetat unterstützt habe. Denn im Jubiläumsjahr soll deutlich werden, dass das Vermächtnis des großen Reformators Martin Luther weit über die revolutionären Veränderungen hinaus reicht, die sein Wirken innerhalb der Kirche nach sich zog. So machte ihn seine Übersetzung der Bibel zum Wegbereiter einer einheitlichen und einenden deutschen Schriftsprache. Seine Auflehnung gegen kirchliche und weltliche Autoritäten und seine Berufung auf die Gewissensfreiheit wies den Weg zum Menschenbild der Frühmoderne. Und die von ihm ausgelöste protestantische Bewegung schließlich erlaubte es den Landesfürsten und den freien Reichsstädten, sich von der katholischen Zentralmacht Roms und der Habsburger Kaiser abzugrenzen und eine größere Eigenständigkeit zu entwickeln. Der Grundsatz „cuius regio, eius religio“ im Augsburger Religionsfrieden von 1555 markierte einen historischen Wendepunkt: weg von der Idee eines universalen christlichen Kaisertums, hin zu einzelnen Landesherrschaften mit jeweils unterschiedlichen Kirchenordnungen. Das führte unter anderem zu religiös begründeten Migrationsbewegungen. Nicht mehr allein wirtschaftliche und soziale Überlegungen waren entscheidend für die Wahl des Wohnortes, sondern auch Glaubensüberzeugungen. Der damit verbundene Gewinn an Freiheit für den einzelnen gab der Entwicklung kultureller Vielfalt Raum. Die Ausstellung „Der geteilte Himmel“ macht diese Entwicklung mit einem in zeitlicher wie in kultureller Hinsicht sehr breiten Spektrum interessanter Ausstellungsstücke anschaulich, darunter zum Beispiel die Kanzel eine muslimisch-arabischen Gemeinde in Bochum, der erste gedruckte Koran weltweit, Stücke aus Tempeln und Synagogen des Ruhrgebiets und Ikonen aus dem Essener Domschatz. Sie ist der Höhepunkt eines gleichnamigen interreligiösen Projekts, das zum Reformationsjubiläum die Versöhnung und den Dialog zwischen unterschiedlichen Religionen, Konfessionen und auch Konfessionslosen in den Mittelpunkt rückt. Aktueller und zukunftsweisender hätte man einen Beitrag zum Reformations-jubiläum kaum planen können! Jedenfalls macht die Bereitschaft der Kirchen, im Sinne der Ökumene zu zeigen, dass uns viel mehr verbindet als uns trennt, Mut und Hoffnung in einer Zeit, in der religiöse Konflikte und religiöser Fundamentalismus weltweit Angst und Schrecken verbreiten, in der Rufe nach Abschottung und Ausgrenzung laut werden und öffentliche Debatten über Symbole und Rituale religiöser Minderheiten die Gemüter erhitzen. Mitmenschlichkeit und Barmherzigkeit sind allen Konfessionen und Religionen zu eigen – und diese Errungenschaften sind gefragt wie nie. Ein Gewinn ist der Blick zurück auf das Zusammenleben der unterschiedlichen Konfessionen in den vergangenen 500 Jahren deshalb nicht nur für das Verständnis der Reformation und ihrer Folgen. Aufschlussreich ist diese Perspektive, weil sie uns mit Erfahrungen konfrontiert, aus denen wir Lehren für unsere Gegenwart und Zukunft ziehen können. Dazu gehört, erstens, die Erkenntnis, dass Vielfalt ebenso inspirierend und bereichernd ist, wie sie manchmal beängstigend und verstörend sein kann. Es ist faszinierend, am Beispiel der Gegend um Rhein und Ruhr zu sehen, wie viele unterschiedliche Kulturen und Religionen, Traditionen und Träume, Lebensentwürfe und Weltanschauungen in Deutschland eine Heimat gefunden haben – und wie sehr die Region davon profitiert hat, weil mit Menschen, die auf unterschiedliche Weise ihr Glück suchten und ihre Träume verwirklichen wollten, immer wieder auch Ehrgeiz, Pioniergeist, Experimentierfreude und Innovationskraft Einzug hielten. Zu den Lehren gehört, zweitens, die Einsicht, dass Religionsfreiheit und Toleranz für den sozialen Frieden in einer pluralistischen Gesellschaft unverzichtbar sind. Im kommenden Jahr, das wir als Europäisches Kulturerbe-Jahr feiern, jährt sich der Beginn des 30jährigen Krieges zum 400. Mal und das Ende des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal. Es erinnert uns daran, dass es eine der wichtigsten demokratischen, ja geradezu eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften überhaupt ist, das Gemeinsame über das Trennende stellen zu können – das Menschliche über die Unterscheidung zwischen gläubig und ungläubig, zwischen deutsch und nicht-deutsch, zwischen muslimisch und christlich. Gerade jetzt, da so viele Menschen anderer kultureller Herkunft Zuflucht in Deutschland suchen, gerade mit Blick auf die kommenden Jahre und Jahrzehnte, in denen zusammenwachsen soll, was bisher nicht zusammen gehört – wie Bundespräsident Gauck es am 25. Jahrestag der Deutschen Einheit so treffend formuliert hat -, gerade in diesen Zeiten muss sich demokratische Kultur in Deutschland und Europa in diesem Sinne neu bewähren. Die christliche Religion und der christliche Glaube sollten, ja müssen dabei weiterhin ihren Platz im öffentlichen Leben haben. Denn Kirche schafft kulturelle Identität weit über den Kreis ihrer Mitgliedschaft hinaus – mit einer Prägekraft wie sie keine zweite Institution je entwickelt hat. Und nur eine Gesellschaft, die mit ihren Werten und Wurzeln ihre eigene Identität pflegt, kann auch dem Anderen, dem Fremden Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen. Ein dritter und letzter Punkt ist mir wichtig: Gerade weil uns die Reformations-geschichte vor Augen führt, wie schwer wir uns in Deutschland und Europa über Jahrhunderte mit religiöser Vielfalt getan haben, gerade weil wir uns erinnern, wie hart errungen – mit viel Krieg, Leid und Gewalt bezahlt – Demokratie, Säkularismus und Religionsfreiheit doch sind, gerade weil wir wissen, dass unsere demokratischen Werte geronnene Lernerfahrungen sind, sollten wir uns in aktuellen Diskussionen über Integration nicht auf die ebenso überhebliche wie demotivierende Behauptung zurück ziehen, Islam und Demokratie passten nicht zusammen. Wenn das Reformationsgedenken uns für die Zukunft eines lehrt, dann die Bereitschaft, auch anderen Religionen eine gewisse Beweglichkeit und Lernfähigkeit zuzugestehen – und unseren Teil dazu beizutragen, dass dieser Lernprozess diesmal nicht jahrhundertelang dauert. Für die Lernerfahrungen, die ein friedliches Miteinander unterschiedlicher Kulturen und Religionen erfordert, ist das Projekt „Der geteilte Himmel“ zweifellos ein großer Gewinn. Ich danke allen, die am Erfolg der gut 130 verschiedenen Veranstaltungen Anteil haben, herzlich für ihr Engagement und ihre guten Ideen, zu denen nicht zuletzt auch die Einladung des AVRAM-Ensembles zur musikalischen Begleitung der heutigen Ausstellungseröffnung gehört. AVRAM trägt die religiöse Vielfalt nicht nur im Namen, sondern vereint unterschiedliche Religionen und Kulturen auch in Gestalt der neun Musikerinnen und Musiker, die nebenbei auch noch unterschiedliche musikalische Richtungen repräsentieren. Und gerade die Musik ist ja ein Nährboden, in dem die Saat der Versöhnung aufgehen kann: Denn Musik ist eine Sprache, die mehr als jede andere des Zuhörens und Einfühlens bedarf – des Lauschens auf andere Stimmen, auf Takt und Tonart, auf laut und leise. Solche Erfahrungen sind es, die die Diplomatie der Kunst gelegentlich wirkmächtiger erscheinen lassen als die Kunst der Diplomatie. Der heutige Abend mit musikalischem Genuss und interessanten Streifzügen durch die Reformationsgeschichte kann uns da sicherlich inspirieren. Wer darüber hinaus ein weiteres Stück religiöse Vielfalt im Alltag erleben will, dem rate ich im Übrigen zu geschärfter Aufmerksamkeit in der bald beginnenden Spargelzeit. Denn angeblich lässt sich ja beim Verzehr von Spargel erkennen, ob jemand katholisch oder protestantisch ist: Katholiken essen die Spargelspitzen zuerst; Protestanten heben sie sich bis zum Schluss auf. Wie auch immer Sie Ihren Spargel essen, meine Damen und Herren: Hauptsache, gegessen wird gemeinsam an einem großen Tisch! In diesem Sinne: Auf Versöhnung und Verständigung im Jahr des Reformationsjubiläums!
Kulturstaatsministerin Grütters hat die Ausstellung „Der geteilte Himmel. Reformation und religiöse Vielfalt an Rhein und Ruhr“ mit ihrem Fokus auf Versöhnung und Dialog als Höhepunkt des gleichnamigen interreligiösen Projekts bezeichnet. „Es ist faszinierend, am Beispiel der Gegend um Rhein und Ruhr zu sehen, wie viele unterschiedliche Kulturen und Religionen, Traditionen und Träume, Lebensentwürfe und Weltanschauungen in Deutschland eine Heimat gefunden haben – und wie sehr die Region davon profitiert hat.“
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Eröffnung der Ausstellung „Wunder Roms im Blick des Nordens von der Antike bis zur Gegenwart“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-eroeffnung-der-ausstellung-wunder-roms-im-blick-des-nordens-von-der-antike-bis-zur-gegenwart–479560
Fri, 31 Mar 2017 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Paderborn
Kulturstaatsministerin
Den Wundern Roms im italienbegeisterten Deutschland eine Ausstellung zu widmen, ist nicht ganz ohne Risiken und Nebenwirkungen. Wer schon mal an der Kasse der Vatikanischen Museen Schlange gestanden hat, weiß bestimmt, was ich meine: Zweihundert Meter Besucher-Rückstau entlang der Vatikan-Mauer sind nichts Außergewöhnliches. Mit diesen Aussichten für den Markt- und Domplatz kann man der Stadt Paderborn nur eine gute Portion italienische Gelassenheit wünschen – und sich freuen, wenn man wie wir heute Abend, meine Damen und Herren, die Gelegenheit hat, die „Wunder Roms“, die hier bis 13. August zu sehen sein werden, mit weniger Anstehen zu bewundern. Herzlichen Dank für die Einladung, lieber Erzbischof Becker! Was ist es, was die „Ewige Stadt“ zu einer ewig faszinierenden Stadt macht? Die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, die viele Jahre in Rom zuhause war, hat es einmal so beschrieben: „Die Faszination: Rom als offene Stadt, keine ihrer Schichten kann als abgeschlossen betrachtet werden, […] sie hat sich nicht in diesem oder jenem Jahrhundert ausschließlich manifestiert. Das Kommen und Gehen und Wiederkommen – die Utopie in Permanenz, das geistige Heimatgefühl, das man hier empfindet, tritt an die Stelle des Gefühls von physischer Heimatlosigkeit, das in der Welt zunimmt.“ Das geistige Heimatgefühl, das man hier empfindet, hat seit dem Mittelalter zahlreiche katholische Pilger in Rom Quartier beziehen lassen. Und eben dieses Heimatgefühl hat Rom auch zur Pilgerstadt deutscher Dichter und Denker werden lassen. Ja, dieses geistige Heimatgefühl gehört mittlerweile – nicht zuletzt dank der Gedichte, der Texte und der Bilder, in denen deutsche Künstlerinnen und Künstler ihrer Liebe zu Rom ein Denkmal gesetzt haben – fast schon zum immateriellen Kulturerbe Deutschlands. Die Ausstellung des erzbischöflichen Diözesanmuseums wird allein deshalb gewiss viele Besucherinnen und Besucher nach Paderborn locken. Sie präsentiert Schätze, die teilweise noch niemals außerhalb Roms zu sehen waren, und entwirft damit ein grandioses Panorama der Rezeptionsgeschichte der Ewigen Stadt und ihrer kulturellen Attraktionen – ein Panorama, das die Wirkmacht der Antike in der abendländischen Kunstentwicklung bis in die Gegenwart eindrucksvoll offenbart. Für die großartige Initiative, all die Kostbarkeiten über die Alpen in den Norden zu holen, bin ich S. E. Kardinal Ravasi und Ihnen, verehrter Herr Erzbischof Becker, sehr dankbar. Die Ausstellung ist nicht nur eine spektakuläre Schau, die Paderborn mit Schätzen aus Rom zu einem wahren Mekka für Kunstliebhaber macht. Sie ist auch und vor allem ein inspirierender Beitrag zur notwendigen, ja angesichts aktueller politischer Entwicklungen mehr denn je überlebenswichtigen Auseinandersetzung mit unserer Identität als Europäer. Sie offenbart, dass Europa mehr ist als eine florierende Freihandelszone. Im Brüsseler Alltag verschwindet die gemeinsame Identität leider allzu oft hinter dem Kosten- und Nutzenkalkül der europäischen Partner. Und obwohl die Geburtsstunde der Europäischen Union vor fast auf den Tag genau 60 Jahren ein Ereignis ist, das man angesichts des von Deutschland verursachten Leids und Grauens zweier Weltkriege und der konfliktreichen Geschichte Europas getrost ebenfalls zu den „Wundern Roms“ zählen darf, wollte zum Jubiläumstag der Römischen Verträge am vergangenen Wochenende keine rechte Feierlaune aufkommen. Brexit, Euro- und Flüchtlingskrise, wirtschaftliche Ungleichgewichte und unterschiedliche Interessen sorgen für Katerstimmung, und vielerorts werden populistische Rufe nach Mauern und Zäunen, nach Abschottung und Ausgrenzung lauter. Dem wieder aufkeimenden Nationalismus können und sollten wir den Stolz auf die vielfältige, im Austausch mit anderen Kulturen gewachsene europäische Kultur entgegen setzen. Denn ich bin überzeugt: Eine Gemeinschaft, die sich ihrer gemeinsamen Wurzeln und Werte sicher ist und sich ihrer immer wieder neu vergewissert, kann dem Anderen, dem Fremden Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen. Und gerade in diesen Zeiten, in denen die europäische Idee an Strahlkraft verliert, kann die Beschäftigung mit dem gemeinsamen kulturellen Erbe Zusammenhalt stiften. Deshalb werden wir im Europäischen Kulturerbe-Jahr 2018 allen Bürgerinnen und Bürgern – vor allem der jungen Generation – mit einer Vielzahl an Projekten Gelegenheit geben, das gemeinsame europäische Kulturerbe neu zu entdecken. „Sharing Heritage“ lautet das Motto dieses Kulturerbe-Jahres, das ich vor zehn Tagen gemeinsam mit der Präsidentin des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz offiziell eingeläutet habe. Auch mein Haus beteiligt sich daran und fördert bereits 2017 ausgewählte „Leuchtturm“-Vorhaben mit 3,6 Millionen Euro. „Sharing Heritage“: Dazu trägt auch die im wahrsten Sinne des Wortes wunderbare Ausstellung „Wunder Roms“ bei. Sie steht exemplarisch für die zahlreichen exzellenten Kulturkooperationen, die Deutschland mit Italien und auch mit den anderen europäischen Partnern verbinden, und sie zeugt einmal mehr vom großartigen Engagement der katholischen Kirche für die Kultur und für die Pflege unseres kulturellen Erbes. Ein herzliches Dankeschön all jenen, die zur gelungenen Präsentation der „Wunder Roms“ im Erzbischöflichen Diözesanmuseum beigetragen haben, insbesondere auch den kooperierenden Einrichtungen, die Exponate als Leihgaben zur Verfügung gestellt haben! Ich wünsche der Ausstellung die verdiente Aufmerksamkeit und viele begeisterte Besucherinnen und Besucher, und ich hoffe, dass sie zu jenem lebendigen, sich seiner selbst bewussten Europa beiträgt, das mittlerweile – dank der Bürgerinitiative „Pulse of Europe“ – in mehr als 70 Städten in elf Nationen Flagge für Europa zeigt. Ja, Europas Puls schlägt laut und kräftig, wenn die Herzen der Europäer für Europa schlagen. Und das, meine Damen und Herren, wird letztlich nicht von der Höhe der Agrarsubventionen abhängen, und auch nicht allein von der Ausgestaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Es ist vielmehr unsere gemeinsame Kultur, die Herzen höher schlagen lässt – eine Kultur, zu der die großen humanistischen Traditionen von der Antike bis zur Aufklärung ebenso gehören wie nicht zuletzt auch das Christen- und Judentum, das Europa seine eigene, seine ganz besondere Prägung gab und gibt. Diese Kultur ist nicht das Ergebnis unseres wirtschaftlichen Wohlstandes; sie ist vielmehr dessen Voraussetzung. Sie ist nicht allein und auch nicht primär ein Standortfaktor, sondern sie ist vor allem eines: Sie ist Ausdruck von Humanität. Sie als „geistige Heimat“ zu verteidigen – um Ingeborg Bachmanns eingangs zitierte Worte noch einmal aufzugreifen -, ist das Beste, was wir für ein starkes Europa tun können.
Für Kulturstaatsministerin Grütters ist die Ausstellung eine spektakuläre Schau. „Sie macht Paderborn zum Mekka für Kunstliebhaber“. Die „wunderbare Ausstellung Wunder Roms“ inspiriere aber als gutes Beispiel europaweiter Kulturkooperation auch dazu, sich mit der europäischen Identität auseinanderzusetzen, gerade mit Blick auf das Europäische Kulturerbejahr 2018.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim CDU/CSU-Kongress „Mut zur Zukunft: Innovationsstandort Deutschland“ am 29. März 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-cdu-csu-kongress-mut-zur-zukunft-innovationsstandort-deutschland-am-29-maerz-2017-in-berlin-804320
Wed, 29 Mar 2017 15:53:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Vizepräsident des Deutschen Bundestags, lieber Herr Singhammer, lieber stellvertretender Fraktionsvorsitzender, lieber Michael Fuchs, lieber Michael Kretschmer, liebe Kollegin aus dem Kabinett, Frau Wanka, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber vor allen Dingen Sie, meine Damen und Herren, die Sie heute hier bei der CDU/CSU-Fraktion zu Gast bei diesem so wichtigen Kongress sind, bevor ich zu dem konkreten Thema spreche, möchte ich aus aktuellem Anlass ein paar Worte zu Großbritannien und der Europäischen Union sagen. Die britische Regierung hat nun offiziell ihre Absicht mitgeteilt, aus der Europäischen Union austreten zu wollen. Wir, Deutschland, aber auch die anderen Partner Großbritanniens in der Europäischen Union, haben uns diesen Tag sicherlich nicht gewünscht, denn wir verlieren einen starken und wichtigen Mitgliedstaat. Aber wir respektieren natürlich die demokratische Entscheidung der britischen Wählerinnen und Wähler. Mit dem Antrag nach Artikel 50 der EU-Verträge haben wir jetzt mehr Klarheit darüber, wie sich die britische Seite den weiteren Weg vorstellt und welche Ziele Großbritannien in den Verhandlungen verfolgen will. Nun liegt es an uns, den 27 anderen Mitgliedstaaten und den europäischen Institutionen, auf dieser Basis unsere eigenen Interessen und Ziele zu definieren. Wir werden deshalb in den kommenden Wochen über unsere Verhandlungsleitlinien beraten. Am 29. April, bei einem Sondertreffen des Europäischen Rates, wollen wir diese Leitlinien dann beschließen. Die Bundesregierung hat sich auf diesen Prozess gut vorbereitet und wird sich zu allen aufkommenden Fragen natürlich positionieren. Ich will hier nur einige wenige Punkte nennen, weil sie mir besonders wichtig erscheinen: Erstens: Für viele Menschen in Europa ist der angestrebte EU-Austritt Großbritanniens mit ganz konkreten Sorgen über die eigene persönliche Zukunft verbunden. Dies gilt besonders für die vielen deutschen und europäischen Staatsangehörigen, die in Großbritannien leben. Deshalb wird sich die Bundesregierung intensiv dafür einsetzen, dass die Folgen für den Alltag der betroffenen Menschen so gering wie möglich ausfallen werden. Zweitens: Wir wissen, dass zwischen Großbritannien und der Europäischen Union, natürlich auch mit Deutschland, enge Verflechtungen bestehen, die sich aus den 44 Jahren Mitgliedschaft ergeben haben. In den Verhandlungen muss zuerst geklärt werden, wie wir diese Verflechtungen nun geordnet entflechten. Dabei wird es auch um den Umgang mit den vielen Rechten und Pflichten gehen, die mit der Mitgliedschaft bisher verbunden sind. Erst wenn die Fragen dazu geklärt sind, können wir anschließend, aber dennoch hoffentlich bald über unser zukünftiges Verhältnis sprechen. Drittens: Ich wünsche mir, dass Großbritannien und die Europäische Union enge Partner bleiben. Denn für mich ist und bleibt das Vereinigte Königreich ein Teil Europas, mit dem wir vieles teilen, nicht zuletzt unsere gemeinsamen Werte. Auf Basis dieser Werte und mithilfe fairer Regeln streben wir ein ausgewogenes Verhältnis von Rechten und Pflichten an. Viertens: Die Europäische Union ist eine historisch einmalige Erfolgsgeschichte. Sie bleibt es auch nach dem Austritt Großbritanniens. Dafür tragen wir Sorge. Die Europäische Union wird in den kommenden zwei Jahren nicht nur die Verhandlungen mit Großbritannien führen. Sie wird parallel auch an vielen anderen wichtigen Aufgaben weiterarbeiten, vor denen wir als Europäerinnen und Europäer gemeinsam stehen. Dabei geht es um gemeinsame europäische Antworten auf Globalisierung und Digitalisierung, auf den internationalen Terrorismus und die Entwicklungen in unserer Nachbarschaft, auf Flucht und Migration, aber auch auf den Klimawandel. Vor wenigen Tagen haben die Staats- und Regierungschefs der 27 verbleibenden Mitgliedstaaten und die Repräsentanten der europäischen Institutionen die Erklärung von Rom unterzeichnet. Darin bekennen wir uns noch einmal ausdrücklich zu einer gewinnbringenden europäischen Zusammenarbeit. Der 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge wurde dadurch zum Zeichen großer Einigkeit. Jetzt gilt es, diesen Zusammenhalt der EU-27 beizubehalten, gerade auch in den Verhandlungen mit Großbritannien. Wir als Europäische Union werden die kommenden Gespräche fair und konstruktiv führen. Ich hoffe, dass auch die britische Regierung in diesem Geiste an die Verhandlungen herangeht. Die britische Premierministerin hat mir das gestern in einem Telefonat zugesichert. Der heutige Tag ist damit auch ein Tag des Aufbruchs. Deshalb komme ich jetzt zu dem Titel dieses Kongresses, der „Mut zur Zukunft“ heißt. Er beschäftigt sich mit dem Innovationsstandort Deutschland. Ich finde, dass das ein sehr passender Titel für die Herausforderungen unserer Zeit, aber auch für die Diskussionen ist, die wir führen. Ich will noch einmal an die Ruck-Rede von Bundespräsident Roman Herzog erinnern. Mit ihr hat er vor 20 Jahren ziemlich eindrücklich beschrieben, was unter „Mut zur Zukunft“ zu verstehen ist. Er rief uns damals ins Gewissen, und ich möchte ihn zitieren: „Die Fähigkeit zur Innovation entscheidet über unser Schicksal.“ Ich will das noch einmal wiederholen: „Die Fähigkeit zur Innovation entscheidet über unser Schicksal.“ Sehr einfach, aber es muss eben gemacht werden. Wir können heute sagen, dass wir uns in den letzten Jahren diese Mahnung zu Herzen genommen haben. Es ist eben schon von Michael Kretschmer gesagt worden: Deutschland gehört heute zu den innovativsten Ländern der Welt. Wir haben das, was sich eigentlich alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorgenommen haben, erreicht, nämlich drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben. Das haben wir dadurch erreicht, dass wir eben investiert haben und auf inzwischen über 17 Milliarden Euro im Bundehaushalt der Bundesministerin für Bildung und Forschung gekommen sind. Wir haben dieses Geld nicht einfach nur angehäuft, sondern wir haben es auch sinnvoll in neue Strukturen investiert und haben Verlässlichkeit geschaffen, also etwas, das man gerade im Forschungs- und Innovationsbereich besonders braucht. Die Hightech-Strategie ist sicherlich so etwas wie das Kernstück unserer Innovationspolitik. Es geht darum, Kräfte zu bündeln, um gezielt diejenigen Felder zu bestellen, die für unseren Wohlstand von besonderer Bedeutung sind. Wir haben zu Beginn dieser Legislaturperiode die ganze Hightech-Strategie noch einmal überarbeitet und konzentriert. In Bezug auf diese Hightech-Strategie wird jedes Mal eine Bestandsaufnahme gemacht und gesagt, wo wir stehen, um dann zu schauen, wie wir an die Spitze der Entwicklung kommen. Wir haben dabei die folgenden Bereiche identifiziert, über die Sie heute sicherlich schon gesprochen haben: digitale Wirtschaft und Gesellschaft, nachhaltiges Wirtschaften und Energie, innovative Arbeitswelt, gesundes Leben, intelligente Mobilität und zivile Sicherheit. Sie sehen also: Forschung und Innovation breiten sich in die gesamte gesellschaftliche Lebenswirklichkeit aus. Nun ist es einfach, Aufgabenfelder zu benennen, aber wir müssen natürlich auch die entsprechenden Arbeiten durchführen. Für Verlässlichkeit und Planungssicherheit sorgt hierbei unser Pakt für Forschung und Innovation, der sich mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen beschäftigt. Wir haben hier wirklich Verlässlichkeit hineingebracht: Der Etat ist wie vereinbart gestiegen, in dieser Legislaturperiode jetzt um 3 Prozent pro Jahr – und wir haben die Anteile der Länder an der Steigerung übernommen. All das haben wir immer auch mit dem Gedanken getan: Wie können wir die universitäre Forschung steigern? Denn wir haben gesehen, dass ein Auseinanderklaffen von universitärer und außeruniversitärer Forschung letztendlich auch nicht gut ist, schon gar nicht für die Ausbildung der vielen jungen Leute. Wir haben, um mit der Dualität von Bund und Ländern besser umgehen und um besser zwischen den Bildungsbereichen und den Forschungsbereichen kooperieren zu können, in dieser Legislaturperiode endlich auch Artikel 91b des Grundgesetzes geändert. Wir haben außerdem ein umfassendes Paket zur Förderung der Spitzenforschung an Universitäten vorgelegt und die Exzellenzinitiative weiterentwickelt. Der gemeinsame Hochschulpakt bringt 760.000 zusätzliche Studienplätze und sorgt für bedarfsgerechte Studienangebote, wovon natürlich die Studentinnen und Studenten profitieren. Wir tragen damit auch Vorsorge für die demografisch schwierigeren Jahre, in denen wir weniger junge Menschen haben werden. Wir haben jetzt mit unserem Tenure-Track-Programm auch noch einmal einen Akzent gesetzt, um nach dem Studium die wissenschaftliche Laufbahn besser voranzubringen. Insoweit kann man sagen, dass vieles in dieser Bestandsaufnahme sehr erfreulich ist. Ich könnte hier jetzt noch eine ganze Weile darüber sprechen, aber das Motto heißt ja „Mut zur Zukunft“ und nicht „Belobigung der Gegenwart“. Aber einfach einmal zu sagen, was wir schon geschafft haben, gibt uns natürlich eine gute Plattform, um dann zu schauen: Wo wollen und müssen wir denn hin? Wir wissen, dass lebenslanges Lernen, Weiterbildung und berufsbegleitende Qualifizierung ganz wichtig sind, und haben deshalb gerade im Bereich der MINT-Qualifikationen – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik – vieles angeschoben, was wir weiterführen müssen. Wir haben viel getan, um auch Frauen offener zu machen für die naturwissenschaftlichen Fächer. Insofern ist da doch einiges erreicht worden. Ebenfalls unter der Überschrift, was erreicht wurde: Wir vom Bund haben das BAföG übernommen. Da gab es große Diskussionen darüber, dass nun wir immer die seien, bei denen die Studenten anklopfen und sagen: Wir haben nicht genug. Es hat sich bis jetzt aber ganz gut entwickelt. Wir konnten auch schon die erste BAföG-Erhöhung durchsetzen. Nun müssen wir feststellen, dass Schweden rund 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung ausgibt und dass auch etwa in Israel und Südkorea der Wert höher ausfällt als bei uns, aber ansonsten sind wir ganz gut. Wir müssen vor allen Dingen feststellen, dass wir in einer Zeit leben, in der sich revolutionäre, manchmal sagt man disruptive, aber auf jeden Fall gewaltige, Veränderungen abspielen, getrieben durch die Entwicklung dessen, was wir Digitalisierung nennen. Das sind Entwicklungen, die nicht nur im Bereich des technisch Machbaren sind, sondern die sich mit der Vernetzung all dessen befassen, was es gibt: der Menschen untereinander, der Dinge untereinander. Diese Entwicklungen werden unsere Gesellschaft tiefgreifend verändern. Manch einer hat gesagt, das könne man mit der Entstehung des Buchdrucks vergleichen. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, ob das überhaupt als Bild ausreicht oder ob die Veränderung qualitativ nicht noch sehr viel tiefgreifender sein wird. Wenn man in einem solchen Zeitraum qualitativer Veränderungen lebt, dann ist es natürlich immer sehr schwer zu verstehen, was da eigentlich vonstattengeht. Man kann sich dann am besten einmal zurückbesinnen und überlegen, wie es war, als die Industrialisierung, also der Wandel von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft, stattfand. Bei der Mobilität wird vieles mit dem Weg von der Kutsche zum Automobil verglichen. Wenn man diese Vergleiche nimmt, dann muss man aufpassen, dass man noch positiv gestimmt ist, jedenfalls mit Blick auf die Automobilhersteller. Denn von den Kutschenbauern hat kaum einer überlebt. Und man hat nicht den Eindruck, dass die Einführung des Autos auf der Straße in Europa und in Deutschland von denen, die Pferde besessen haben und Kutschen gebaut haben, besonders gefördert wurde. Die eigentliche Herausforderung für uns in der Politik, die wir diese Veränderung technisch und gesellschaftspolitisch auch nicht besser, sondern vielleicht sogar noch schlechter verstehen können, für deren Entwicklung wir aber die Leitplanken festlegen müssen, liegt für uns nun darin, herauszufinden: Wer sind eigentlich unsere Ansprechpartner, wenn wir über diese Veränderung reden wollen? Unsere klassischen Ansprechpartner kennen wir seit 40, 50, 60 Jahren. Aber wehe, die verhalten sich wie die Kutschenbauer Ende des 19. Jahrhunderts oder Anfang des 20. Jahrhunderts. Woher wissen wir, ob die besser sind als die Kutschenbauer und Pferdebesitzer des vergangenen Jahrhunderts? Sie behaupten natürlich, sie seien das, sie wüssten das alles usw. Wir tun gut daran, gemeinsam auf eine Reise zu gehen und den Blick in die neue Welt hineinzuwerfen. Denn die Veränderungen werden sich vollziehen. Die Gefahr für Deutschland liegt darin, dass wir in der Welt der Industrialisierung sehr gut sind. Diejenigen, die nicht so gut sind, haben vielleicht schneller im Blick, zu sagen: Na ja, da liegt unsere neue Chance. Wenn sie aber im Spitzenbereich der gegenwärtigen oder kurz vergangenen Entwicklung liegen und erkennen sollen, dass jetzt noch einmal etwas ganz anderes passiert, dann liegt die Gefahr darin, dass sie selbstgenügsam sind, sich noch ein paar Monate und Jahre weiter retten und sagen „Geht doch immer noch, geht doch immer noch“ und eines Tages feststellen, dass um sie herum schon irgendetwas anderes passiert. Manchmal habe ich ein bisschen Sorge, dass wir, weil wir uns ein wenig gegen das Neue sperren, auch ein bisschen ignorant werden gegenüber dem, was anderswo passiert. Das wäre ganz fatal. Wenn man sich beispielsweise mit Blick auf die Gesundheitskarte und auf alle, die jetzt schon viel Digitalisierung im Gesundheitswesen haben, sagt „Wer weiß, ob das sicher ist, wir sind doch mit unseren Sachen ganz auf der sicheren Seite“, dann wacht man eines Tages auf, und es ist plötzlich nicht mehr nur das kleine Estland, das das besser kann, sondern dann ist das eben auch Dänemark und dann sind das vielleicht eines Tages auch BRICS-Staaten. Wenn man heute einmal um die Welt reist und fragt, wer sich mit der elektronischen Signatur so schwer tut wie die Bundesrepublik Deutschland, dann findet man nicht viele Länder. Ein paar haben noch gar nicht angefangen, andere können es, aber dass man sich jahrelang damit befasst und es dann erst einmal drei Jahre lang auf Eis legt und überlegt, ob man es wirklich kann, das kommt selten vor. Wir müssen – und das wird ein zentraler Bestandteil unserer Arbeit und auch unseres Programms für die nächste Legislaturperiode sein – als Staat erst einmal selber die Digitalisierung als Veränderung in unseres Umgangs zwischen Institutionen und Bürgern implementieren. Dazu ist uns ein bahnbrechender Schritt im Zusammenhang mit den Bund-Länder-Finanzverhandlungen gelungen. Wir haben nämlich die Länder davon begeistert, dass wir für jeden Bürger einen gemeinsamen Zugang zu seinem Staat brauchen. Der muss dann natürlich auch auf die Kommunen erweitert werden. Das heißt, der Bürger muss sich nicht darum kümmern, ob das nun eine kommunale, eine Landes- oder eine Bundeszuständigkeit ist, sondern der Bürger registriert sich und bekommt Zugriff auf alle denkbaren Leistungen. Das umzusetzen wird die Aufgabe der nächsten vier Jahre sein. Dafür müssen wir dann natürlich auch die richtige Balance zwischen Sicherheit und digitalen Möglichkeiten finden. Aber dabei sollten wir uns an den wirklich Effizientesten auf der Welt orientieren. Ich sage Ihnen voraus: Das wird noch ein großes Stück Arbeit. Wenn wir das aber machen und wenn das selbstverständlich wird, dann werden wir vielleicht auch mit noch mehr Einblick mit anderen sprechen können, in der Industrie, in der Wissenschaft, in der Forschung und mit den Start-ups, um wirklich auch diese neuen Wege beschreiten zu können. Da haben wir in dieser Legislaturperiode mit der Digitalen Agenda einen richtigen Schwerpunkt gesetzt. Wir haben eine gemeinsame Plattform entwickelt, im Rahmen derer Industrie 4.0 von großen Unternehmen bis hin zu den Mittelständlern entwickelt werden kann. Wir sind ganz gut dabei, auch zusammen mit den Vereinigten Staaten von Amerika, wenn es darum geht, uns um die Standards in diesem Bereich zu kümmern. Die Tatsache, dass Industrie 4.0 sehr viel mit dem Internet der Dinge und mit der Digitalisierung der Produktionsprozesse zu tun hat, hat sich nicht nur bei den großen Unternehmen herumgesprochen, sondern das ist auch Zug für Zug im Mittelstand klar geworden, also dass sich die gesamte Fertigungskette und vieles andere verändert, dass man etwa Entwicklungen erst digital vormacht, bevor man sie dann hinterher im Realen nachbildet. Dafür gibt es viele, viele gute Beispiele. Wo ich auch immer ein bisschen Sorge habe, und manch einer mag das von mir schon gehört haben, ist die Frage: Ist auch klar, dass sich sozusagen nicht nur die Produktionskette verändert, sondern dass sich vor allen Dingen das Verhältnis des Produzenten zu seinem Kunden dramatisch verändert? Der eigentliche Punkt liegt nämlich darin, dass der Kunde seine Wünsche über die Möglichkeiten der Digitalisierung in Zukunft völlig individuell formulieren wird und der Produzent darauf reagieren muss. Wer die Kunden-Produzenten-Beziehung in der Hand hat, wer da sozusagen die Feder führt, der wird derjenige oder diejenige sein, der oder die die Wertschöpfung in ihrem Maximum erhält, also den Gewinn sozusagen in der Hand hält und die Prozesse steuert. Deshalb ist im Augenblick nach meiner festen Überzeugung ein Wettlauf im Gange: zwischen denen, die produzieren – da sind wir stark –, und denen, die die Kundenbeziehungen besser in der Hand haben, den sogenannten konsumentenorientierten Internetzugang. Da liegen die Schwerpunkte eher in Asien und den Vereinigten Staaten von Amerika als dass sie schon bei uns liegen. Nun haben wir aber durch die Verschmelzung beider Bereiche, der Produktion und der Kundenbeziehungen, sowie auch durch die Digitalisierung der Produktion noch einmal eine Schnittstelle, an der wir andocken und wo wir unsere Fähigkeiten voll einbringen können. Die Schnittstelle müssen wir nutzen, und wir müssen sie so nutzen, dass wir nicht nur unseren Produktionsprozess verändern, sondern auch unseren Kunden-Produzenten-Prozess. Die Start-ups müssen auf geschickte Art und Weise mit unserer klassischen Wirtschaft noch besser zusammengebracht werden. Das müssen wir gut hinbekommen. Dazu brauchen wir die Start-ups, die vielen, die uns Anwendungen geben und die uns zeigen, was man mit den großen Datenmengen, die man heute von den vielen verschiedenen Kunden zur Verfügung hat, machen kann. Da darf man nicht warten, bis der klassische Industrieproduzent denn nun sein Start-up findet, sondern da muss man vielleicht auch staatlicherseits Incentives dafür setzen. Wir müssen einmal schauen, wenn wir die steuerliche Forschungsförderung machen, ob wir da einen Schwerpunkt setzen, damit die sich verkoppeln, also dass man dafür belohnt wird, dass man mit Start-ups zusammenarbeitet. Denn dieser Findungsprozess, wer wen braucht, darf nicht zu einseitig und auch nicht zu langsam stattfinden. Es müssen sich vielmehr beide Seiten gegenseitig befruchten. Wir sehen zum Beispiel auch in Israel, wie wunderbar das geht. Nun spreche ich hier über vieles, das von der Voraussetzung lebt, dass man überhaupt die IT-Möglichkeiten und die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen kann. Das heißt, man muss irgendwie Empfang haben, und man muss irgendwie eine Breitbandanbindung haben. Wir streben an, dass jedem Haushalt Internet mit einer Geschwindigkeit von 50 Megabit pro Sekunde zur Verfügung steht. Damit kann man sich in Ruhe seine Videos anschauen und dies und jenes machen. Aber damit hat man weder das Internet der Dinge noch das autonome Fahren noch die Telemedizin noch die Echtzeitübertragung von sonstigen Daten. Das heißt, 5G oder Echtzeitübertragung ist notwendig. Glasfaserausbau und 5G-Standard ausrollen – das ist das, was wir machen müssen. Das führt uns dann sehr schnell dazu, dass wir dies nicht nur in Deutschland tun müssen, sondern wir müssen es in Europa tun, um von den Vorzügen des gemeinsamen Marktes in Form eines digitalen Binnenmarktes profitieren zu können. Wir müssen dann auch das entsprechende Regelwerk einführen. Die Datenschutz-Grundverordnung ist jetzt da. Wir sind nach dem EuGH-Urteil gerade wieder beim Telemediengesetz dabei, darüber zu sprechen, wie man denn nun Zugang zu freiem WLAN bekommt. Ich sage mal: Das ist nicht Industrie 4.0, aber Neuauflage 2.0 zwischen Rechtspolitikern und Innenpolitikern auf der einen Seite und Internetpolitikern auf der anderen Seite, wie wir da am besten vorgehen. Das stellt uns jedes Mal wieder vor die Frage: Wie offen wollen wir sein, und wie risikoaffin müssen wir sein? Ich könnte mir vorstellen, dass wir, wenn wir es geschickt machen in der Europäischen Union, eine Regelung sui generis finden, dass nicht alles beliebig gesammelt und gestapelt werden kann, zumindest dass der Bürger informiert ist. Das alles führt uns zum Punkt der Bildung. Die Bundesbildungsministerin hat gerade mit Blick auf die Schulen viele gute Ideen. Wir sind manchmal erstaunt, dass unsere guten Ideen bei den Ländern gar nicht so viel Anklang finden. Aber ich denke, wir müssen schon sehen, dass auch die Lehrer gebildet werden müssen, weil sie in diese Entwicklung genauso hineinwachsen wie wir als Politiker. Wir brauchen die Infrastruktur. Wir brauchen Bildungsinhalte. Dabei kann der Bund hilfreich sein. Das werden wir in der nächsten Legislaturperiode noch einmal mit Interesse angehen. Wir werden dramatische Veränderungen in der Mobilität bekommen. Wenn man vor zwei oder drei Jahren vom autonomen Fahren gesprochen hat, dann gab es zumindest auf CDU-Versammlungen immer ein leises Lachen. Heute ist es mit dem Lachen schon weniger geworden. Man traut sich nicht mehr richtig, das zu sagen, aber die meisten denken, dass sie es doch nicht mehr erleben. Hier in diesem Saal ist es anders. Aber wenn das Durchschnittsalter der Mitglieder einer Partei bei über 60 Jahren liegt, dann hat man mit dem Phänomen schon zu kämpfen. Dabei ist es vielleicht gerade für die Älteren von besonderer Bedeutung. Vielleicht ergeben sich Möglichkeiten, die wir heute noch gar nicht vor uns sehen. Die gesamte Mobilitätskette wird sich ändern. Ich will das hier nicht alles darstellen. Unsere Autohersteller haben 2015 hierzulande fast 22 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investiert. Es passiert viel, denn die Automobilindustrie, die wirklich eine tragende Säule unseres wirtschaftlichen Wohlstands ist, hat im Grunde genommen mit drei – wie man sagt – disruptiven Entwicklungen zu kämpfen: Die Antriebstechnologien werden wahrscheinlich neu sein, die Frage des autonomen Fahrens, also die Digitalisierung im Auto, wird kommen und ebenso die Frage, ob ich ein Auto eigentlich noch selber besitzen muss oder ich mich in der Frage des Eigentums ganz anders verhalten kann. Das wird sich zuerst in den Ballungsgebieten zeigen. Das kommt erst später in den ländlichen Gebieten, völlig klar. Aber in den Ballungsgebieten sehen wir es im Grunde schon. Alle drei Entwicklungen sind miteinander verknüpft. Denn je mehr man autonom fahren kann, desto unwichtiger wird sein, welche Antriebstechnologien man hat. Dann zählt der Wert der Beschleunigung von 0 auf 100 nicht mehr ganz so stark. Wobei die Elektromotorfreunde jetzt wahrscheinlich sagen würden, dass das da auch gut geht. Jedenfalls verändern sich die Dinge rapide. Darauf müssen wir Antworten geben, von der Berufsausbildung über die Arbeitsorganisation bis zum Verständnis dessen, was wir an Parkinfrastruktur haben müssen oder was wir an Angeboten für den öffentlichen Personennahverkehr machen müssen. Damit kommen wir dazu, was ich von meinem japanischen Kollegen auf der CeBIT gehört habe, dass Japan über die Gesellschaft 5.0 nachdenkt. Damit kommen wir nämlich zu den Fragen: Was bedeutet das denn für unsere gesellschaftlichen Beziehungen? Wie gestaltet sich das mit der Arbeitszeit? Wie ist es mit der Verfügbarkeit, wenn man in Start-ups arbeitet? Wie ist es aber auch mit dem Wunsch, Eigentum zu besitzen? Wie ist es mit den klassischen Tarifverträgen, wenn alle Busfahrer jetzt in kleinere Einheiten umsteigen und wir viel individueller angepassten Verkehr organisieren? Was bedeutet das für das Selbstbewusstsein der Busfahrer? Was können wir ihnen an Beständigkeit versprechen? Ich sehe viele Chancen. Wir dürfen das nicht immer so diskutieren, als fielen jetzt alle Arbeitsplätze weg. Ich habe viele Unternehmen besucht, in denen man die Digitalisierung weit vorangetrieben hat. Sie haben vielleicht etwas andere Arbeitsplätze. Aber ich habe noch niemanden gefunden, der behauptet hat, dass sich die Zahl der Arbeitsplätze bei ihm halbiert hat. Da wird auch viel Dramatik entwickelt. Aber es wird sich vieles verändern. Deshalb ist Weiterbildung wichtig. Ich betone aus aktuellem Anlass: Weiterbildung möglichst für den, der Arbeit hat, und nicht erst warten, bis er arbeitslos ist, um dann darüber zu debattieren, wie lange er ausgebildet werden kann und wie lange er Arbeitslosengeld braucht. Das Letzte, um noch einmal auf den gesellschaftlichen Aspekt zu kommen: Wir werden vieles können, was wir bisher nicht konnten. Gerade auch im gesundheitlichen Bereich werden sich dramatische Veränderungen ergeben, die Auswirkungen bis tief in die Versicherungssysteme und auch für die Verlängerung der Lebenszeit haben können. Neue ethische Fragen werden sich stellen. Darauf sollten wir relativ früh Antworten zu geben versuchen – und dies alles in einem Bewusstsein mit Mut, nicht so sehr mit dem Mut des Verzweifelten, sondern mit einem gut fundierten, ruhigen Angang an Entwicklungen, die wir offen aufnehmen und die uns ermuntern sollten, einfach da, wo es notwendig ist, neu zu denken, aber all das, was wir an Erfahrung haben, auch mit einzubringen und keine Generation aus dem Blick zu nehmen. Das heißt auch, dass wir uns mit einer ganz neuen Gruppe von Unternehmen beschäftigen müssen. Sie sind zum Teil nicht so organisiert oder anders organisiert, als wir das kennen. Zumindest streben sie nicht sofort nach Mitgliedschaft im BDI und DIHK. Man muss sich mit neuen Verbändestrukturen auseinandersetzen. Das ist keine Kritik. Ich sage nur, dass man das feststellt. Sie streben noch nicht einmal alle nach der Mitgliedschaft im Bitkom, von dem wir dachten, dass wir damit unseren neuen Hafen gefunden hätten. Das heißt, wir müssen neue Kontakte etablieren und auch neue Fördermöglichkeiten ins Auge fassen. Wir haben uns jahrelang mit der Frage von besseren Verlustverrechnungen bei wachsenden Start-ups herumgeschlagen und von einer besseren Anfangsfinanzierung durch Venture-Capital. Dabei liegt Europa immer noch weit hinter den Vereinigten Staaten von Amerika zurück. Da müssen wir also noch vieles, vieles tun, was notwendig ist. Aber die Erarbeitung unseres Wahlprogramms gibt uns dazu zum Beispiel eine sehr gute Grundlage. Ich wünsche mir, dass sich möglichst viele an dieser Diskussion intensiv beteiligen. Eine solche Diskussion gibt es nicht oft. Wir haben sie meistens nur bei krisenhaften Entwicklungen. Als wir zum Beispiel die Bankenkrise hatten, mussten wir uns dauernd Expertise bei Banken holen, weil wir selber nicht so genau wussten, wie sich das alles mit den Derivaten und diesem und jenem entwickelt hat. Jetzt sind wir noch in der Lage, manche Dinge evolutionär vorzubereiten, Fachwissen einzuholen, uns zu überlegen, wie wir die gesetzlichen Leitplanken schaffen, wie wir Monopolbildung verhindern und auch mittelständischen Unternehmen eine Chance auf diesem Markt geben. Es ist wichtig, dass wir nicht nur ganz kleine Unternehmen haben, die anschließend von den ganz Großen aufgekauft werden. Sondern eine Stärke der deutschen Wirtschaft war immer unser Kartellrecht, das auch dem Mittelstand Luft zum Atmen gegeben hat. All das muss durchdacht werden. Damit, lieber Michael Fuchs, gibt es außer wichtigen Dingen wie der besseren Berücksichtigung von geringwertigen Wirtschaftsgütern – ich sage das ausdrücklich – noch viele andere Fragen zu bedenken, um die Zukunft zu gestalten. In diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre Anwesenheit und wünsche uns allen alles Gute.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Tagung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion „Africa meets Business“ am 28. März 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-tagung-der-cdu-csu-bundestagsfraktion-africa-meets-business-am-28-maerz-2017-in-berlin-803764
Wed, 29 Mar 2017 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Lieber Herr Fraktionsvorsitzender, lieber Volker Kauder, lieber Herr Kollege Gerd Müller aus dem Kabinett, lieber Herr Staatssekretär Thomas Silberhorn, natürlich auch lieber Herr Kollege Lämmel, lieber Herr Kollege Heinrich, liebe andere Kollegen und Kolleginnen, die hier heute mit dabei sind, liebe ehemalige Kollegen – ich sehe Hartwig Fischer, meine Damen und Herren, natürlich liebe Gäste und Exzellenzen aus den afrikanischen Ländern, wer eben kurz zugehört hat, hat schon verstanden: Afrika ist ein spannender, faszinierender Kontinent. Afrika ist unser Nachbarkontinent, was wir – wie Volker Kauder es heute schon angedeutet hat – auch immer stärker spüren und weshalb es sich aus vielerlei Gründen wirklich gut macht, wenn wir uns mehr füreinander interessieren. Wir müssen vor allen Dingen vonseiten der Europäischen Union und auch vonseiten der Bundesrepublik Deutschland noch sehr viel mehr von dem afrikanischen Kontinent kennenlernen. Es wurde eben so nett gesagt: Die Afrikanische Union hat 54 Mitglieder – plus Marokko, glaube ich, das ist wieder Mitglied. Was die Europäische Union angeht, wissen wir, dass wir 27 sind – das heißt, im Augenblick sind wir noch 28, und ein Land will uns verlassen. Das ist schon kompliziert. Aber bei über 50 ist die Sache natürlich noch einmal komplizierter. Der afrikanische Kontinent hat etwa doppelt so viele Einwohner wie die Europäische Union und hat eine der europäischen Bevölkerungsdynamik völlig entgegengesetzte Entwicklungsrichtung. Der afrikanische Kontinent wird wahrscheinlich im Jahr 2050 fast doppelt so viele Einwohner haben. Wir werden in Deutschland dagegen zum Beispiel einen demografischen Wandel haben, der besagt, dass es im Jahre 2030 mehrere Millionen Menschen weniger im erwerbsfähigen Alter geben wird. So müssen wir nicht nur schauen, dass sich die Europäische Union gut entwickelt und dass sich die afrikanischen Länder gut entwickeln, sondern dass auch unsere Sicht auf die Welt nicht zu unterschiedlich wird. Ich sage immer wieder den Menschen in Deutschland: Das Durchschnittsalter in Deutschland beträgt ungefähr 45 Jahre, das Durchschnittsalter in Mali oder Niger beträgt 15, 16 Jahre. Natürlich ist die Perspektive dieser vielen jungen Menschen auf die Welt eine völlig andere als sie es bei einem Land mit einem Durchschnittsalter von rund 45 Jahren ist. Nun stehen wir vor der Aufgabe, das auch umzusetzen, was uns von unserer Programmatik her ganz wichtig ist. Wir bekennen uns ausdrücklich zu dem ersten Artikel unseres Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Der Anspruch aus diesem Satz kann nicht an den Grenzen Deutschlands oder den Grenzen Europas zu Ende sein, sondern wir haben den Auftrag, uns dafür einzusetzen, dass er möglichst für alle Menschen gilt. Deshalb haben wir uns auch für die Agenda 2030 eingesetzt, die jetzt anders als die Millenniumentwicklungsziele nicht mehr nur Ziele für Entwicklungsländer, sondern Ziele für die ganze Menschheit sind. So, wie das Recht auf bestmögliche Gesundheit zum Beispiel ein Recht ist, das wir versuchen, in Deutschland umzusetzen, muss es auch ein Recht für die Menschen in Afrika werden. Das ist uns auch bewusst. Wir haben miteinander eine komplizierte Geschichte. Deutschland hat mit den afrikanischen Ländern eine andere Geschichte als die großen Kolonialmächte wie zum Beispiel Großbritannien und Frankreich. Natürlich ist vieles noch von dieser Geschichte geprägt, auch manche Gegebenheiten, die wir heute vorfinden. Für Deutschland liegt eine recht gute Chance darin, dass die wenigsten Länder eine koloniale Erinnerung an Deutschland haben, sondern dass die allermeisten Länder uns als ein Land verstehen, das kooperieren möchte, das auf gleicher Augenhöhe zusammenarbeiten möchte und das verstehen möchte, wie ihre Interessen sind. Ich will nicht verschweigen, dass wir manchmal etwas bedrückt sind, dass sich große Teile der Welt im letzten Vierteljahrhundert oder in den letzten 50 Jahren sehr gut entwickelt haben. Wenn wir daran denken, wie die Armutsbekämpfung in Asien vorangekommen ist und man das Ganze am Beispiel von China betrachtet, dann haben wir auf dem afrikanischen Kontinent auch Erfolge erzielt, aber längst nicht so viele Erfolge. Deshalb ist für uns die Aufgabe, die klassische Entwicklungszusammenarbeit mit der Möglichkeit zu kombinieren, dass wirtschaftliche Dynamik und wirtschaftliche Entwicklung in den afrikanischen Ländern stattfinden. Diesbezüglich will ich ganz ausdrücklich sagen, dass für mich die Tatsache, dass es eine Afrikanische Union gibt, eine sehr beruhigende Sache ist, obwohl ich weiß, dass sie alle unterschiedlich sind und jeder sich als sein Land natürlich auch identitätsmäßig geprägt fühlt. Das geht uns in Europa genauso: Wir sind die Bundesrepublik Deutschland. Wir haben unsere eigenen Vorstellungen. Und selbst innerhalb des Landes sind diese Vorstellungen sehr unterschiedlich. Man kann sagen, dass es von Bayern bis zum Norden durchaus Variationen gibt. Es kommt noch etwas hinzu, das ich als einen kleinen Einschub sagen will: Die Grenzen der afrikanischen Länder sind Grenzen, die kompliziert sind. Unsere europäischen Grenzen sind alles andere als einfach, aber die afrikanischen Grenzen sind auch kompliziert. Mir hat der Staatspräsident von Nigeria gerade vor wenigen Monaten erzählt, wo überall seine Cousins leben. Sie leben nicht im Norden Nigerias, sondern sie leben vor allen Dingen in Mali, Burkina Faso und Niger. Daran kann man erkennen, dass die Stämme und die nationalen Grenzen nicht unbedingt übereinstimmen, was natürlich noch einmal eine Aufgabe ist. Deshalb unterstütze ich sehr stark die Regionalverbünde in Afrika, also ECOWAS, die südafrikanischen Länder und die ostafrikanischen Länder. Daraus entstehen Zonen, in denen auch ökonomisch gut zusammengearbeitet werden kann, wo man Handel und Wandel treiben kann, wo man Menschen Freizügigkeit ermöglichen kann. Wir können als Europäische Union ein guter Partner sein, um Diskussionen mit ihnen zu führen, wie man sozusagen zusätzliche Effekte daraus hervorbringt. Ich sage es ganz offen: Manchmal sind wir auch etwas ratlos, wie man am besten zusammenarbeiten kann. Es ist wichtig, dass wir Sie immer wieder ermutigen, Ihre eigenen Vorstellungen auf den Tisch zu legen. Wenn Sie finden, dass man Ihnen irgendetwas aufoktroyiert hat, wenn Sie finden, dass Sie mit der Sache nichts zu tun haben, dann werden Sie sich dafür auch nicht ausreichend engagieren. Deshalb bin ich sehr glücklich, dass die Afrikanische Union Ihre Agenda 2063 entwickelt hat, und zwar zum ersten Mal mit übergreifenden Infrastrukturprojekten, weil natürlich die Entwicklungszusammenarbeit viele Jahre zu kleinteilig war. Sie hat schon vor Ort geholfen – das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Aber wir wissen natürlich in der modernen Welt: Wenn ich in Niger lebe und keinen Zugang zu irgendeinem Hafen habe, dann ist es nicht schlecht, wenn es eine Bahnlinie oder eine vernünftige Straße gibt, um irgendwo ans Meer zu kommen und meine Güter von einem Hafen irgendwo hin transportieren zu können. Interessanterweise haben mir in Mali, wo wir sehr viel über Föderalismus sprechen und sagen „Nord-Mali und Süd-Mali, ihr müsst zusammenkommen“, verantwortliche Leute gesagt: Baut doch erst einmal eine Straße von Süd nach Nord, damit wir nicht darauf angewiesen sind, dass sich nur Menschen sehen, die ein Flugticket bezahlen können, sondern dass sich vielleicht auch einmal Menschen treffen können, die nur anderweitig unterwegs sein können. Bevor wir dann ein kluges Konzept von föderalen Parlamenten und Ähnlichem machen, sollte man erst einmal sozusagen an Basisdinge denken. Und das müssen Sie uns sagen. Heute Mittag hatte ich mit Unternehmern aus Deutschland, die in Afrika arbeiten, eine Diskussion über die Wirtschaftsentwicklung in Afrika. Wir haben darüber gesprochen, wie wir unsere Hilfe besser koordinieren können, und zwar auch im Rahmen der Bundesregierung mit unseren Instrumenten. Dort ist mir noch einmal klar geworden, was mir auch bei jedem Besuch eines afrikanischen Präsidenten oder Staatsoberhaupts klar wird. Ich frage zuerst immer: Wie viel Prozent der Menschen in Ihrem Land hat Zugang zu elektrischem Strom? Bevor wir über wirtschaftliche Entwicklung im Großen und Allgemeinen sprechen, ist die Frage nicht ganz dumm. Wer keinen Zugang zu elektrischem Strom hat, kann auch schlecht einen Mittelstand aufbauen. Man muss sagen, dass es in den ländlichen Gebieten der allermeisten afrikanischen Staaten nicht gut aussieht. Es haben wahrscheinlich nur 10 bis 15 Prozent der afrikanischen Bevölkerung nachhaltig, dauerhaft und 24 Stunden pro Tag Zugang zu elektrischem Strom. Das müssen wir ändern, insbesondere in Zeiten der Solarenergie, in Zeiten der Möglichkeiten von lokalen Energieversorgung, in Zeiten, in denen Solarenergie auch billiger wird. Das kann nur durch gemeinsame Pläne der Regierungen der afrikanischen Länder entstehen. Dann ist die Frage: Wie arbeiten wir zusammen? Wir haben heute wieder darüber gesprochen – Bundesminister Gerd Müller war dabei: Welche Möglichkeiten haben wir, mangelnde Wettbewerbsfähigkeit vielleicht durch eine Kombination von Entwicklungshilfe und klassischen privaten Investitionen in den Griff zu bekommen? Dabei ist das Instrumentarium kompliziert. Deutschland gehört zu den Ländern, die immer versuchen, sich an die Regeln zu halten. Deshalb sind wir vielleicht auch nicht die Kreativsten. Aber ich begrüße sehr, dass Bundesminister Gerd Müller jetzt Versuche und erste Schritte unternommen hat, um mit einem Teil des ihm zur Verfügung stehenden Geldes die Hebelung von Privat-Public-Partnership-Projekten hinzubekommen. Ehrlich gesagt machen wir das mit der Europäischen Investitionsbank auch, wenn wir in Europa Investitionen anreizen wollen. Das müssen wir auch tun. Ein weites großes Feld ist das Thema der Garantien. Im Allgemeinen sagen uns die deutschen Unternehmer: Ihr müsst uns etwas mehr Absicherung als bei klassischen Investitionen geben, wie zum Beispiel im europäischen Ausland. Das Stichwort ist hier Hermeskredite. Dabei müssen wir dazu kommen, dass wir den Raum, den uns die OECD für solche Kredite gibt, ausschöpfen. Wir sind noch strikter, als die OECD es ist. Wir sollten die OECD-Normen einhalten. Wir wissen aber, dass zum Beispiel im asiatischen Raum in Bezug auf die BRICS-Staaten die Normen noch etwas großzügiger gefasst sind. Wir sollten wenigstens auf den OECD-Standard gehen. Dann stellt sich wieder die Frage der Finanzierung vor Ort. Eine Frage, der sich die Bundesregierung annimmt, ist die Frage: Wie können unsere Finanzinstitutionen – in Deutschland die KfW, in Europa die EIB – dabei helfen, auch afrikanische Entwicklungsbanken zu ertüchtigen und eine bessere Kooperation hinzubekommen? Wir brauchen natürlich lokale Wertschöpfung. Das eine ist, dass ein deutsches Unternehmen in Afrika arbeiten kann. Das ist schon schwierig genug. Das andere ist, dass der afrikanische Zulieferer überhaupt entstehen kann, dass er auch eine Finanzierung bekommt und aus den 14 Prozent Zinsen, von denen ich heute gehört habe, nicht noch 26 werden, sodass ein Projekt dann überhaupt nicht mehr rentabel finanziert werden kann. Dann ist der große Bereich der Verlässlichkeit zu erwähnen, der für uns politisch in den Gesprächen auch nicht einfach ist. Ich begrüße sehr, dass sich im Rahmen von NEPAD die Länder zusammengeschlossen haben, die auf eine bessere Regierungsführung setzen. Aber die Themen Transparenz und Korruption sind natürlich überall virulente Themen. Für deutsche Mittelständler ist es in der Tat das A und O, zu wissen: Wenn ich mich in die Gegebenheiten eines neuen Landes einarbeite, wenn ich vielleicht zwei, drei Jahre arbeite, muss ich wenigstens eine gewisse Verlässlichkeit haben, dass die Investitionen dann auch stattfinden können, dass ich diese ganze Zeit nicht umsonst damit verbracht habe. Das heißt: Transparenz und möglichst ein Ansprechpartner für alle Behördengänge – damit kommen Sie wirklich ganz groß heraus. Das Land, das das anbietet, hat gute Chancen, ein Plattformland zu sein. Wie wir überhaupt darüber reden sollten, dass wir die regionalen Zusammenschlüsse so gestalten, dass es immer ein Ankerland gibt, aus dem heraus dann auch in die anderen Bereiche investiert werden kann, damit man sich nicht in jedes Land neu einarbeiten muss – außer die Unternehmen, die schon überall da sind. Dann ist da die Frage: Wo können wir arbeiten? Wir können in Bezug auf die großen Infrastrukturprojekte zusammenarbeiten. Hier muss man sagen, dass uns zum Beispiel China und die Türkei schon ein ganzes Stück voraus sind. Wir haben gelernt, dass wir Finanzierungskonzepte mitbringen müssen. Wir können nicht nur ein Angebot für eine Produktion oder irgendeine Investition machen, sondern afrikanische Länder sind daran gewöhnt, dass derjenige, der kommt und investieren will, auch ein Finanzierungskonzept mitbringt. Man kann im Energiebereich, in Infrastrukturbereichen investieren. Dort haben wir oft einen Wettbewerbsnachteil, weil wir nicht die billigsten sind. Viele afrikanische Regierungschefs sagen mir auch: Ihr mit euren Ausschreibungen, ihr mit euren Rechnungshöfen, wenn ich einmal etwas schnell brauche, habe ich echt andere Ecken auf der Welt, über die ich mir mein Projekt ermögliche – auf die Europäer kann ich nicht warten. Das müssen wir also auch wissen. Auf der anderen Seite sind Sie von manchen, die nicht aus Europa kommen, inzwischen auch enttäuscht worden. Das heißt, ein deutscher Qualitätsblick auf eine Investition aus dem asiatischen Raum hilft manchmal. Aber wir wollen nicht nur die Qualitätsüberwacher sein, sondern ab und zu wollen wir auch richtig bei Ihnen investieren. Ein großer Bereich liegt darin, dass wir Ihnen helfen wollen und können, im ländlichen Raum mit Ihren Agrarprodukten Wertschöpfung zu betreiben. Das bedeutet effizientere Landwirtschaft, aber auch Verbesserung in Bezug auf die erste Verarbeitungsstufe. Denn der Handel zwischen Afrika und Deutschland ist ungefähr so groß wie der mit Japan. Hier müssen wir noch besser werden. Meistens sind die afrikanischen Produkte Produkte der unverarbeiteten oder bestenfalls der ersten Verarbeitungsstufe. Hier müssen wir besser werden. Bundesminister Gerd Müller hat im Grunde die wichtigen Säulen in seinem Marshallplan zusammengefasst. Dazu gehören natürlich auch die Handelsfragen. Was die Handelsfragen angeht, muss ich sagen, dass wir ehrlich miteinander sprechen müssen. Denn zum Teil weiß ich nicht, ob Sie für sich die Lösungen wählen, die wirklich die besten sind. Das führt jetzt an dieser Stelle allerdings zu weit. Wir müssen bei Ihnen jedenfalls höherwertige Exportmöglichkeiten schaffen. Und das bedeutet auch Verarbeitungsstufen für den landwirtschaftlichen Bereich. Diesbezüglich ist noch sehr viel zu tun. Man muss sagen, dass ein Land wie Deutschland mit 80 Millionen Einwohnern mit Sicherheit nicht in allen afrikanischen Ländern gleichermaßen aktiv sein kann, wissend, dass diese Länder völlig unterschiedlich sind. Wir müssen wieder ganz offen darüber sprechen, mit welchen Ländern wir sozusagen vorankommen sollen. Es gibt die Initiative des Bundesfinanzministers im Rahmen unserer G20-Präsidentschaft, nämlich den „Compact for Africa“. Dort versuchen wir, mit einer ausgewählten Zahl von Ländern die wirtschaftliche Zusammenarbeit voranzubringen. Wir müssen eigentlich als Europäische Union schauen, dass wir uns Afrika ein bisschen aufteilen, dass nicht alle das Gleiche machen und alle alles neu lernen, sondern dass wir auch gezielt und gemeinsam vorgehen. Das tun wir zum Beispiel bei der Bekämpfung der illegalen Migration im Rahmen unserer Migrationspartnerschaft mit Mali und Niger, und zwar gemeinsam mit Frankreich und Italien. Hier merken wir natürlich sehr schnell: Illegalität und auch Korruption können nur bekämpft werden, wenn wir wirtschaftliche Möglichkeiten für die Menschen vor Ort entwickeln. Denn von irgendetwas müssen die Menschen leben. Wenn die legalen Instrumente ihnen keine Möglichkeit im Leben geben, dann tendieren sie eben dazu, mit Schleusern und anderen zusammenzuarbeiten. Für uns wird in diesem Frühjahr ein Stück weit die Stunde der Wahrheit kommen, wenn wir Niger nicht nur Instrumente zur Bekämpfung von Schleppern und Schleusern liefern, sondern wenn wir, wie Bundesminister Gerd Müller das in Aussicht gestellt hat, auch zum Beispiel im Raum Agadez den Menschen wieder etwas zu tun geben, ihnen Chancen geben, ihr Brot und alles für ihr Leben selber zu erarbeiten. Alles in allem ist dies also ein ganz wichtiger Abend heute hier und deshalb auch mein Dank an den Afrikakreis der Bundestagsfraktion, weil wir noch sehr viel effizienter in Bezug auf das werden müssen, was wir zustande bringen. Wir müssen gemeinsam – ich freue mich, dass die Afrikanische Union darüber spricht – die demografische Entwicklung ein wenig dämpfen, weil sonst der zusätzliche Reichtum im Grunde immer wieder durch Bevölkerungswachstum aufgefressen wird und man nicht zu einer Wohlstandsverbesserung kommt. Mit welchem Präsidenten ich auch immer spreche, es heißt immer: Bildung, Bildung ist das A und O. Es ist wichtig, nicht nur Schulen zu bauen, Schulen für Mädchen – die brauchen wir auch –, und mit Mikrokrediten für die Frauen zu arbeiten, sondern auch Berufsausbildung zu fördern und nicht die blanke Akademisierung, die zum Teil überhaupt nicht in die Arbeitsmöglichkeiten hineinpasst, sondern wirklich die deutsche praktische Berufsausbildung zu fördern und dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Das ist wiederum nicht ganz einfach, weil dies ein Qualitätssystem und vieles andere mehr voraussetzt. Berufliche Bildung kann man am besten mitbringen, wenn es Investoren gibt, die in dem Land investieren können. Und da schließt sich der Kreis. Abschließend will ich noch auf ein Thema eingehen, das heute Abend zu dem Thema „Africa meets Busines“ nicht hundertprozentig passt, das aber die Voraussetzung für eine gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung der afrikanischen Länder ist. Das ist das Thema der Gesundheit. Die Möglichkeit, gesund zu leben, die Möglichkeit einer vernünftigen medizinischen Versorgung ist ein zentraler Punkt. Wir haben dieses im Rahmen unserer G20-Präsidentschaft zu einem Schwerpunkt gemacht, und zwar aus zwei Gründen. Ein Grund ist, dass wir am Beispiel von Ebola gemerkt haben, dass eine Pandemie die ganze Welt beeinflusst. Das heißt, wir können in einer global vernetzten Welt nicht mehr davon ausgehen, dass eine solche Pandemie uns in einem Land unberührt lässt. Deshalb wird es im G20-Prozess zum ersten Mal eine Gesundheitsministerkonferenz geben. Dort wird mit Hilfe der WHO und der Weltbank simuliert, wie die Weltgemeinschaft reagieren muss, wenn sich eine solche Pandemie andeutet. Das Zweite ist, dass es eine Vielzahl von vernachlässigten Tropenkrankheiten gibt, in deren Bekämpfung überhaupt nicht investiert wird, weil diese Krankheiten längst nicht so im Fokus wie unsere europäischen Krankheiten stehen. Auch hier versuchen wir, Mittel zu akkumulieren, um voranzukommen. Ein weiterer Punkt ist die Resistenz gegen Antibiotika, die gerade in den sich entwickelnden Ländern zum Teil verheerend wirkt, wo wir gemeinsam versuchen, Antworten zu finden. Alles in allem kann ich jeden nur ermutigen – hier predigt man ja sozusagen in der falschen Kirche, weil Sie alle mit Afrika schon sehr vertraut sind –, sich auch mehr für die kulturelle Vielfalt unseres Nachbarkontinents zu interessieren, sich mehr in die zum Teil wirklich bewundernswerte, fröhliche und optimistische Lebenseinstellung einzuleben, sich auch ein Stück zu gewärtigen, was für ein Schaden Afrika durch die Europäer zugefügt wurde, was es für eine Beraubung kultureller Möglichkeiten gegeben hat und damit vielleicht auch ein Stück mehr Geduld zu verbinden. Ich will Sie ermutigen, selbstbewusst zu sein und zu sagen, was Sie wollen. Das ist auch meine abschließende Bemerkung: Wir können vieles machen. Wir können Geld in die Hand nehmen. Wenn Sie das alles als etwas betrachten, was Ihnen irgendwo übergestülpt, aufoktroyiert wird, was Sie eigentlich gar nicht wollen, dann wird das nur dazu führen, dass Sie sagen: Das ist ja kein Wunder, die machen das alles wieder falsch, vielleicht meinen sie es ja gut, aber wenn sie uns kennen würden… Aber so dürfen wir nicht zusammenarbeiten, sondern wir müssen so zusammenarbeiten, dass Sie das sagen, was Sie wollen. Aber wenn Sie das gesagt haben, müssen Sie natürlich auch Verantwortung für das übernehmen, was daraus geworden ist. Ich weiß, es ist manchmal nicht so einfach, Verantwortung zu übernehmen. Wenn wir in der Politik unsere Sachen entscheiden müssen – heute war wieder Fraktionssitzung –, dann fragen uns die Bürgerinnen und Bürger auch: Was habt ihr dort beschlossen? Habt ihr euch das auch gut überlegt? Mir fällt von heute mindestens ein Beschluss ein, den Herr Lämmel nicht ganz so gut findet wie ich. Trotzdem müssen wir dazu stehen. Das ist Entwicklung. Gute Entwicklung bedeutet auch immer, dass man Rede und Antwort stehen muss, dass man auch mal Fehler macht, dass man dafür einstehen muss, dass man keinen anderen dafür heranziehen darf. Aber das Leben macht dann trotzdem mehr Spaß, als wenn man immer nur auf andere schimpfen kann. In diesem Sinne einen schönen Abend!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen am 28. März 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-jahresempfang-des-bundes-der-vertriebenen-am-28-maerz-2017-in-berlin-468862
Tue, 28 Mar 2017 18:15:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Präsident, lieber Herr Fabritius, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, Exzellenzen – ich begrüße stellvertretend den Apostolischen Nuntius sowie sozusagen den Hausherrn, Prälat Jüsten, sehr geehrte Vertreter des BdV und vor allen Dingen seines Präsidiums, meine Damen und Herren, Ihr Jahresempfang hat in meinem Terminkalender einen festen Platz, und das natürlich auch im 60. Jahr des Bestehens des BdV. Den 60. Geburtstag werden Sie erst im Herbst feiern, deshalb will ich jetzt noch nicht voreilig meine Glückwünsche aussprechen. Aber ich habe meinen Videopodcast schon genutzt, um ein bisschen auf die Geschichte hinzuweisen. Die Vergangenheit anzunehmen, sie aufzuarbeiten, Leid und Unrecht zu benennen – erst dadurch wird der Raum für Versöhnung, für Verständnis und für Vertrauen geschaffen. Und das wiederum schafft Raum für eine gute gemeinsame Zukunft. Genau das ist ein wesentlicher Kern der europäischen Idee. Und dieser europäischen Idee verdanken wir ja nun seit Jahrzehnten den Frieden und auch die Freiheit, die wir leben können. Das ist aber damit verbunden, dass wir ein lebendiges Geschichtsbewusstsein brauchen, um auch immer wieder ein feines Gespür für aktuelle Geschehnisse entwickeln zu können. Wir unterstützen deshalb – und die Staatsministerin Grütters ist hier unter uns – als Bundesregierung Gedenkstätten, Ausstellungen und Projekte, die immer wieder vor Augen führen, was einst geschah, welches Leid von Deutschland im Zweiten Weltkrieg und mit dem Zivilisationsbruch der Shoa ausgegangen ist und welches Schicksal auch die vielen Millionen Heimatvertriebenen gegen Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg zu ertragen hatten. Auch das Schicksal der zivilen deutschen Zwangsarbeiter muss Beachtung finden. Lange hat der BdV dafür gekämpft. Und ich bin froh, dass nun nicht nur der Beschluss gefasst wurde, sondern wir jetzt auch vorangekommen sind. Ich will hinzufügen: Von einer Entschädigung im eigentlichen Sinne für das, was Zwangsarbeiter durchmachen mussten, kann nicht wirklich die Rede sein, wohl aber – und das war dem BdV immer wichtig – von einer symbolischen Geste, einer Geste der Anerkennung, die als solche auch angenommen wird. Herr Fabritius hat es schon gesagt: Am 1. März 2017 lagen dem Bundesverwaltungsamt bereits über 19.000 oder fast 20.000 Anträge vor. Natürlich: Die Zahl derer, die Zwangsarbeit, Vertreibung oder Flucht erlitten und überlebten, sinkt von Jahr zu Jahr. 72 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs leben immer weniger Zeitzeugen unter uns. Umso wichtiger ist es, dass wir immer wieder darüber nachdenken, Formen zu finden, mit denen ihr Schicksal in unserem gemeinsamen nationalen Gedächtnis verankert bleibt. Unser Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung trägt diesem Anliegen Rechnung. Wir begehen ihn am 20. Juni schon zum dritten Mal. Auch hierfür musste lange gekämpft werden. Wir rufen uns vergangenes Unrecht und Leid ebenso ins Bewusstsein wie unsere heutige Verantwortung, Unrecht und Leid wo auch immer auf der Welt entschlossen entgegenzutreten. Wir wissen um unsere Verantwortung für die deutschen Minderheiten in den Staaten Mittel- und Osteuropas sowie in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Ich begrüße die Vertreter der polnischen Minderheit hier auch persönlich ganz herzlich. Wir haben uns neulich erst in Warschau gesehen. Und ich weiß über manche Beschwernis Ihrer Arbeit. Ich darf Ihnen stellvertretend für alle anderen versichern, dass wir uns für Ihre Anliegen einsetzen werden. Nach wie vor kommen Spätaussiedler oder deren Familienangehörige zu uns. 2013 hat die Bundesregierung Familienzusammenführungen gesetzlich erleichtert. In der Folge erhöhte sich der Zuzug noch einmal: 2016 kamen über 6.500 Menschen zu uns nach Deutschland. Wir haben aber auch diejenigen im Blick – ich habe es gerade am Beispiel Polens schon gesagt –, die in ihrer Heimat bleiben, und unterstützen die deutschen Minderheiten vor Ort. Wir helfen ihnen, ihre Identität zu bewahren und ihre Lebensperspektiven zu verbessern. Im Bundeshaushalt 2017 stehen dafür über 24 Millionen Euro bereit. Ich danke den Fachpolitikern, aber auch den Haushältern für die Bereitschaft, hier ein deutliches Zeichen zu setzen. Die Pflege des deutschen Kulturerbes im östlichen Europa ist uns ein besonderes Anliegen. Denn dadurch offenbart sich, wie viel uns miteinander verbindet. Wir erleben in Europa Bewegungen, die verstärkt nationalistische Tendenzen betonen. Dadurch gerät aus dem Blick, wie viele Gemeinsamkeiten wir teilen und wie nahe wir uns in vielen Fragen sind. Und dies schwächt den Zusammenhalt, den wir brauchen, um die Herausforderungen zu bewältigen, vor denen wir in Europa stehen. Auch deshalb liegt mir sehr viel an Projekten, die unser gemeinsames kulturelles Erbe unterstreichen. Es dauert noch ein bisschen, aber ein schönes Vorhaben, finde ich, ist das geplante Kant-Jahr 2024. Dann feiern wir den 300. Geburtstag von Immanuel Kant, dem herausragenden Philosophen der Aufklärung, der in Königsberg lebte und lehrte. Von seiner Heimatstadt aus hat er das Denken in ganz Europa und darüber hinaus geprägt. Seine Ausführungen über, wie er es formulierte, die reine und die praktische Vernunft und einen sogenannten ewigen Frieden können uns auch und gerade in unruhigen Zeiten wie den heutigen immer wieder als Kompass dienen. Die Vorbereitungen für das Kant-Jahr haben schon begonnen. Das Vorhaben ist im Übrigen auch Ausdruck der weiterentwickelten Konzeption zur Kulturförderung nach dem Bundesvertriebenengesetz. Die Staatsministerin hat gera-de leise vor sich hingesprochen. Viel Arbeit, aber es hat sich gelohnt. Es ist wichtig, dass die deutschen Minderheiten und Spätaussiedler ausdrücklich mit einbezogen sind. Man kann sagen, dass wir gerade dabei sind, die neue Konzeption mehr und mehr mit Leben zu füllen. Es geht um mehr Forschungsförderung. Es geht um museale Arbeit und Kulturvermittlung, um mehr internationalen Austausch und mehr Kooperation mit den östlichen Nachbarn. Die Osterweiterung der Europäischen Union war gerade auch mit Blick auf die Erforschung und Bewahrung deutschen Kulturerbes ein Glücksfall. So wurden viele Archive und Sammlungen überhaupt erst für uns zugänglich. Es erschlossen sich zahlreiche neue Wege der Zusammenarbeit. Beispielsweise wäre die Finanzierung der Stadtschreiber-Stelle in Breslau vor nicht allzu langer Zeit noch undenkbar gewesen. Bei solchen Projekten sind die Landsmannschaften und Organisationen der Heimatvertriebenen stets wichtige Partner. Mit ihrem Einsatz für Verständigung fördern sie zugleich die europäische Integration. In diesem Sinne wirkt auch die Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung – ich begrüße die Chefin. Sie hat sich der anspruchsvollen Aufgabe verschrieben, die Ursachen, Zusammenhänge und Folgen ethnischer Säuberungen im 20. Jahrhundert einem breiten Publikum nahezubringen. Ich danke allen, die sich an dieser wichtigen Bildungsarbeit beteiligen, und füge hinzu: Ich hoffe, auch die Bauarbeiten gehen voran. Wir wollen nach so vielen Jahren ja einmal etwas sehen. Jetzt kommt ein besonders komplizierter Punkt. Wo ist Hartmut Koschyk? Ist er hier? – Er ist auf Auslandsreise? Na, dann danke ich ihm in Abwesenheit. Denn er ist unser Beauftragter für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten. Er hat bereits erklärt, nicht mehr für den Deutschen Bundestag zu kandidieren. Das ist angesichts seiner jahrzehntelangen Erfahrung in der Vertriebenenpolitik ein echter Verlust. Doch auch die restliche Zeit dieser Legislaturperiode wird er gewiss noch gut zu nutzen wissen. Deshalb also an dieser Stelle – ich werde es ihm auch persönlich sagen – noch einmal mein herzlicher Dank. Meine Damen und Herren, wir versichern Ihnen – und das sage ich im Namen der ganzen Bundesregierung –, dass die Bundesregierung auch weiterhin ein offenes Ohr für die Belange des BdV und seiner Mitglieder haben wird. Mit dem Präsidium habe ich mich jüngst erst getroffen. Aber um das nicht nur vor dem Präsidium zu betonen, sondern vor Ihnen allen – denen, die zum BdV gehören oder die ihm verbunden sind –, bin ich heute Abend gerne hierhergekommen. Deshalb noch einmal danke schön, dass ich das Wort ergreifen konnte. Alles Gute.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Vorstellung des Buches von Bundesministerin a.D. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger „Haltung ist Stärke. Was auf dem Spiel steht“ am 28. März 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-vorstellung-des-buches-von-bundesministerin-a-d-sabine-leutheusser-schnarrenberger-haltung-ist-staerke-was-auf-dem-spiel-steht-am-28-maerz-2017-in-berlin-803128
Tue, 28 Mar 2017 11:03:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte Frau Bundesministerin, liebe Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, sehr geehrter Herr Rathnow, meine Damen und Herren von den Familienunternehmen und vom Verlag, „Haltung ist Stärke. Was auf dem Spiel steht“ – dieser Titel des Buches ist auch Programm. Die 200 Seiten sind deshalb vor allem ein kämpferisches politisches Plädoyer und erst in zweiter Linie eine autobiographische Schilderung eines Lebensweges. Diese Schilderung kann dennoch sehr dabei helfen zu zeigen, welche Erfahrungen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zu dem politischen Menschen geprägt haben, als den wir sie dann alle kenngelernt haben. Sie macht nachdrücklich klar, dass es ihr immer um fundierte Positionen geht, die Hand und Fuß haben und keinesfalls – mir nichts, dir nichts – aus der Luft gegriffen sind. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist bereit, für ihren Standpunkt einzustehen – mit aller Konsequenz. Die härteste war wahrscheinlich der Rücktritt vom Amt der Bundesministerin. Aber von vorn: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wurde 1951 in Minden in Westfalen als Tochter eines Rechtsanwalts geboren. Sie stammt aus einem Elternhaus, in dem politisches Engagement einfach dazugehörte. Ihr Urgroßvater hatte einst die Deutsche Volkspartei mitgegründet, und er hatte dem Weimarer Reichstag angehört. Ihr Vater war Mitglied der CDU und kommunalpolitisch aktiv. Er weckte bei seinen drei Töchtern früh das Interesse an politischen Themen und förderte, dass sie sich selbständig eine Meinung bilden. Dies heißt immer auch, in Kauf zu nehmen, dass die Positionen der Kinder anders aussehen können als die eigene. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger entschied sich für den politischen Liberalismus. Ihr akademischer Lehrer Werner Maihofer spielte dabei eine wichtige Rolle. Dazu traten verschiedene Vorbilder wie die große Liberale Hildegard Hamm-Brücher. Ich vermute einmal, die heutige Anwesenheit von Herrn Baum ist auch nicht von ungefähr. Meine eigene politische Sozialisation sah natürlich sehr anders als die von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger aus, lebte ich doch die ersten 35 Jahre meines Lebens in der DDR. Aber es gibt auch Dinge, die uns beide verbinden. Dazu gehört zum Beispiel ein Elternhaus, in dem diskutiert wird, wo die eigene Meinung zählt und ganz besonders auch die Fähigkeit und die Erwartung der Eltern, diese ordentlich zu begründen. Haltung zu zeigen und zu erkennen, dass daraus Stärke erwächst, lässt sich in unterschiedlichen Zusammenhängen erfahren, natürlich auch jenseits der Tagespolitik. Unsere beiden Lebenswege haben sich dann 1990 gekreuzt, als wir beide nach der Deutschen Einheit und der ersten gesamtdeutschen Wahl in den Deutschen Bundestag einzogen und wenig später auch beide ein Amt im Kabinett von Bundeskanzler Helmut Kohl übernahmen. Ich wurde 1991 Bundesministerin für Frauen und Jugend, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger 1992 Bundesministerin für Justiz. Sie übernahm als erste Frau dieses sogenannte klassische Ressort, wobei die Abwertung vermeintlich weicherer Themen spätestens seit der Bezeichnung „Gedöns“ endgültig dem Untergang geweiht war. Sie hat sich inzwischen durch unsere Politik erledigt. Die Diskrimination durch dieses Wort „klassisches Ressort“ war mir damals auch gar nicht bewusst, aber es ist schon so. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und ich machten also zeitgleich unsere ersten Schritte auf dem Parkett der Bundespolitik. Die 90er Jahre waren für uns beide als junge Politikerinnen gleichermaßen prägend. Wir haben viel gelernt, darf man sagen, über Macht, über politische Interessen und vieles andere mehr. Wir waren Kolleginnen und haben einander schätzen gelernt. Diese gemeinsame Erfahrung verbindet. Sabine Leutheusser-Schnarrenbergers Buch zeigt, wie lehrreich ein Blick zurück für unsere aktuellen Debatten sein kann. 1992 gab es schon einmal große Diskussionen über Flüchtlingszahlen. Wir mussten damals fürchterliche rechtsradikale Übergriffe erleben. Und wir waren damals wie heute gefordert, dem Hass, den menschenverachtenden Parolen und der Gewalt entschieden entgegenzutreten. Natürlich gibt es auch Unterschiede. Zwischen 1992 und 2017 liegt ein Vierteljahrhundert, in dem sich die Welt rasant verändert hat. Aber dass es auf eine klare Haltung ankommt, auf den Schutz der Würde und der Rechte jedes einzelnen Menschen, auf Respekt voreinander und füreinander – all dies bleibt zeitlos. Auch das Grundsatzthema, das in gewisser Weise das Lebensthema Sabine Leutheusser-Schnarrenbergers wurde und das Auslöser ihres beispiellosen Rücktritts war, ist ein gleichsam ein zeitloses. Zwar ging es 1995 konkret um den sogenannten Großen Lauschangriff, der in dieser Form heute als Maßnahme nicht mehr tagesaktuell ist. Doch die dahinter stehende Grundsatzfrage ist zeitlos aktuell, also die Frage, welche Mittel dem Staat gestattet sein sollen, um Gefahren abzuwehren, und wie die richtige Balance von Freiheit und Sicherheit stets aufs Neue bestimmt werden kann. Angesichts von Terroranschlägen wie jüngst auch wieder in London erwarten die Bürgerinnen und Bürger zu Recht, dass der Staat ihre Sicherheit in Freiheit bestmöglich gewährleistet. Dabei sollten wir stets beachten: Weder gibt es Freiheit ohne Sicherheit, noch Sicherheit ohne Freiheit, aber immer geht es darum, die Balance dieser beiden großen Werte nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu bestimmen. In ihrem Buch schreibt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger über die Umstände und Beweggründe ihres Rücktritts. Ich war und bin in der konkreten Sache selber anderer Meinung, aber ich empfinde Respekt und Hochachtung für ihre Geradlinigkeit. Mehr noch: Ich bin überzeugt, dass starke liberale Positionen Platz in unserem öffentlichen Diskurs haben müssen. Die politische Auseinandersetzung schärft den Blick für den eigenen Standpunkt. Sie fordert uns heraus, die eigene Meinung zu begründen und zu überzeugen. Dies gelingt einmal mehr, einmal weniger. Aber in jedem Falle – davon bin ich überzeugt – gewinnt die Demokratie. 2009 habe ich mich gefreut, dass die FDP Sabine Leutheusser-Schnarrenberger als Bundesjustizministerin für mein Kabinett nominierte. CDU, CSU und FDP haben in der gemeinsamen Koalition viel bewegt, vor allem angesichts der schwierigen Ausgangslage. Im Zuge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise hatten wir sehr ungewöhnliche Maßnahmen zu treffen – Sie haben darauf hingewiesen, und zwar in einem Kontext, der besagt: Wir haben nicht alles falsch gemacht. Neben vielem anderen zeigt das der Erfolg der vielen bestehenden Familienunternehmen. Dass ein politischer Mensch wie Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sich auch jenseits von Ministeramt und Bundestagsmandat dem Land verpflichtet sieht, belegt ihr Buch. Sie beschreibt darin in klarer Sprache die Gefahren für die freiheitliche Grundordnung. Sie geht auf die rasante Digitalisierung ein und unterstreicht, worauf zu achten ist, um auch angesichts dieser technologischen Entwicklung persönliche Grundrechte zu wahren. Sie fordert dazu ein eigenes Internetministerium. Der Schutz des Bürgers vor Ausspähung und vor Missbrauch von erhobenen Daten muss ohne Frage ein zentrales Anliegen der Politik sein. Insgesamt erfolgreich werden wir dabei sein, wenn es zugleich gelingt, Innovationen weiter zu fördern. Denn wir brauchen Offenheit für moderne Technologien. Dieses Abwägen zwischen wirtschaftlichen Chancen und dem Schutzanspruch der Nutzerinnen und Nutzer gehört zu den schwierigsten Aufgaben aktueller Politik. Ich habe eben schon von den beiden Werten Freiheit und Sicherheit gesprochen, die wir immer in der Balance halten müssen. Unser Rechtsrahmen kann mit der heutigen technologischen Entwicklung nicht immer und schon gar nicht immer sofort so Schritt halten, wie wir es uns wünschen. In diesem Sinne betreten wir also tatsächlich in weiten Teilen Neuland. Ein Gedanke von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger trifft dabei einen entscheidenden Kern: Wir müssen uns auch auf globaler Ebene um grundlegende Regeln für die Nutzung von Internetdiensten, von Algorithmen und Datenkompilation kümmern. Ich denke, der bevorstehende G 20-Gipfel ist dafür noch einmal eine Möglichkeit. Denn wir werden zum ersten Mal auch ein Treffen der Digitalminister haben. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ruft dazu auf, Bürgerrechte, Freiheit und Demokratie mit liberaler Besonnenheit zu verteidigen. Ich teile diese Einschätzung voll und ganz. Demokratie lebt von Teilhabe. Dies bedeutet: Sie verlangt Einsatz. Das Plädoyer, mehr Verantwortung für unsere Grundwerte zu übernehmen, mündet in ihrer Warnung, dass wir – ich zitiere sie: „sonst als Generation der Versager in die Geschichte eingehen.“ Klare Ansage. Diese Formulierung ist natürlich bewusst sehr überspitzt gewählt. Aber sie führt deutlich vor Augen, dass unsere freiheitliche Grundordnung Tag für Tag mit Leben zu füllen ist. Das ist unser gemeinsames Ziel. Dabei stelle ich mich an die Seite von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, auch wenn wir über Einzelfragen gewiss trefflich streiten können. Aber das gehört eben zur lebendigen Demokratie. Ich kann das Buch aus vollem Herzen zum Lesen empfehlen. Es zeugt von Mut, von Charakterstärke, von Standfestigkeit, von Diskussionsfreude und von Humor – ja, auch davon zeugt es. Denn Sabine Leutheusser-Schnarrenberger war Mitglied der Mindener Stichlinge, dem – wie sie in ihrem Buch wunderbar schildert – ältesten Amateurkabarett Deutschlands. Auch wenn sie dabei allerdings einräumt, nur an wenigen Aufführungen mitgewirkt zu haben, noch dazu ohne Hauptrolle, so scheint sie damals dennoch ein wenig fürs Leben gelernt zu haben. Sie schreibt – ich zitiere noch einmal: „Die Grundeinstellung, die politische Verantwortung sehr ernst, aber nicht alles in der Politik ernst zu nehmen, habe ich mir als Amateurkabarettistin angeeignet.“ Dieses Buch zeugt deshalb alles in allem von ihrer Liebe zu den Menschen, also von all dem, was Politiker von ihrer besten Seite zeigt. Ich freue mich, dass ich dieses Buch heute gemeinsam mit ihr vorstellen darf. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim G20-Dialogforum Wissenschaft (S20) am 22. März 2017 in Halle (Saale)
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-g20-dialogforum-wissenschaft-s20-am-22-maerz-2017-in-halle-saale–391250
Wed, 22 Mar 2017 14:50:00 +0100
Halle (Saale)
Sehr geehrter Herr Professor Hacker – ich schließe alle Kolleginnen und Kollegen von Ihnen aus den G20-Staaten oder deren Vertreter mit ein –, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Reiner Haseloff, meine Damen und Herren, ich danke ihnen erst einmal für die Arbeit, die Sie geleistet haben. Wissenschaft lebt von Neugier, von Forscherdrang, von der Freude am Entdecken. In der Wissenschaft knüpft der eine an die Erkenntnisse des anderen an. Genau das ist der Unterschied zur Politik. In der Politik kann man ruhig zwei oder drei Mal dasselbe sagen, weil man immer ein anderes Auditorium hat. Aber in der Wissenschaft wird erwartet, dass man das, was der Vorgänger gesagt hat, nicht wiederholt. In der Politik ist man manchmal froh, wenn zwei in einer Partei das Gleiche sagen. Reiner Haseloff weiß, wovon ich spreche. In der Wissenschaft sind Austausch und Zusammenarbeit sehr wichtig. Offenheit und Vernetzung werden geradezu selbstverständlich gelebt. Das ist auch der Grund dafür, dass sich Wissenschaft einerseits als Treiber der Globalisierung darstellt und sie andererseits durch Globalisierung gewinnt. Die Tatsache, dass es Globalisierung gibt, macht auch wissenschaftliche Tätigkeit einfacher, normaler. Vor 365 Jahren legten vier Ärzte den Grundstein für die Leopoldina, um den medizin- und naturwissenschaftlichen Austausch zu fördern. Miteinander zu kommunizieren, war damals im Zeitalter der Postkutschen noch etwas aufwendiger als heute im digitalen Zeitalter. Aber der Drang nach Wissen und Erkenntnis, der Drang, voneinander und miteinander zu lernen, war auch damals schon da. Damals wie heute galt und gilt: Nur wer sich weltoffen zeigt, wer sich über fachliche wie auch über räumliche Grenzen hinweg auf Zusammenarbeit einlässt, kann davon auch umfassend profitieren. Das gilt im Grunde für die Wissenschaft ähnlich wie für die Wirtschaft. In beiden Bereichen sehen wir uns durch weltweit zunehmende Vernetzung zusehends gleichen Herausforderungen gegenüber. Entwicklungen auf der einen Seite des Globus haben mehr und mehr auch Auswirkungen auf der anderen Seite des Globus. Das gilt im positiven Sinne genauso wie im negativen Sinne. Eines der greifbarsten Beispiele war sicherlich die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise Ende des vergangenen Jahrzehnts. Globalisierung findet statt. Wer versucht, sich ihr zu entziehen, wer auf Abschottung und Protektionismus setzt, mag sich davon vielleicht kurzfristig Vorteile versprechen. Klar ist für mich aber, dass dadurch mittel- und langfristig eine Schwächung der eigenen Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit in Kauf genommen wird. In der Geschichte finden wir dazu übrigens sehr viele Beispiele. In einer eng vernetzten Welt brauchen wir mehr denn je Antworten, die in sich stimmig sind und die sich in ihren Wirkungen nicht gegenseitig beeinträchtigen. Also: Globale Fragen benötigen auch globale Antworten. Die G20 auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs – das will ich wiederholen – ist das Ergebnis der Finanz- und Wirtschaftskrise in den Jahren 2007, 2008 gewesen. Damals haben sich die Staats- und Regierungschefs zum ersten Mal auf der Ebene der G20 getroffen. Vorher war das ein Format der Finanzminister. Wir haben damals erlebt, dass unser gemeinsames Agieren – was sowohl die Regulierung der Banken als auch die Stimulierung der Weltwirtschaft anbelangt – es doch besser möglich gemacht hat, mit dieser weltweiten Krise fertigzuwerden. Anfang Juli kommen nun die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der G20 in Hamburg zum Gipfel zusammen. Wir haben auch diesmal Gäste mit dabei. Das sind Vertreter regionaler Organisationen und Vertreter internationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen, des IWF, der OECD, der Weltbank, der Internationalen Handelsorganisation und der Internationalen Arbeitsorganisation. Auch deshalb sind G20-Gipfel immer sozusagen ein globales Treffen. Wir haben jetzt auch die Wissenschaft sowie andere Bereiche der Zivilgesellschaft in den Gipfelprozess mit einbezogen. Gruppen der Zivilgesellschaft sind diesmal von Anfang an dabei – zum Beispiel die Vertreter der Wirtschaft oder auch der Gewerkschaften. Auch wegen der guten Erfahrungen des G7- bzw. G8-Prozesses hatten wir uns entschieden, in diesem Jahr auch auf G20-Ebene den Teilnehmerkreis zu erweitern. Deshalb ist das heute sozusagen eine weltweite Premiere: das erste Treffen der Wissenschaftsakademien im Format der G20. Ich danke Ihnen für die zum Teil sehr weite und lange Anreise. Ich möchte mich bei Professor Hacker und seiner Mannschaft wie auch bei allen anderen Teilnehmern dafür bedanken, dass Sie sich entschieden haben, hier zusammenzukommen, das Treffen vorzubereiten, über die Themenpunkte nachzudenken, Schlussfolgerungen aufzuschreiben und das auch noch – dazu komme ich noch – in einer vernünftigen Sprache, die wir als Politiker verstehen können. Neben der Wirtschaft und den Gewerkschaften haben wir auch Treffen mit Nichtregierungsorganisationen, mit Think Tanks, mit Frauen und mit jungen Menschen. So wirkt dieser G20-Prozesss auch in die Gesellschaft hinein. Mit Blick auf die Wissenschaft ist klar, dass verantwortungsvolle Politik auf wissenschaftliche Empfehlung angewiesen ist. Das ist für uns in der nationalen Politik selbstverständlich. Deshalb holen wir uns auch immer wieder Rat von Wissenschaftlern. Ich würde sagen, das ist eine Bereicherung für die Politik. Ich freue mich natürlich auch, dass Ministerpräsident Reiner Haseloff hier ist und gesagt hat, dass auch seine Alltagsarbeit dadurch bereichert wird. Ich danke auch dem Land Sachsen-Anhalt dafür, dass es so ein gutes Gastland für die Nationale Akademie der Wissenschaften der Bundesrepublik Deutschland ist. Wenn das Budget schon für die nächsten zwei Jahre gesichert ist, dann ist das weitaus mehr, als ich für unsere budgetären Zusagen voraussagen kann. Also, herzlichen Glückwunsch. Ich sprach vorhin an, dass Sie eine Stellungnahme erarbeitet haben. Es ist wichtig, dass die Sprache der Wissenschaft so übersetzt wird, dass sie auch von Nichtwissenschaftlern nachvollzogen werden kann. In diesem Sinne sind Sie als Präsidenten und Vertreter Ihrer nationalen Akademien auch Brückenbauer in die Gesellschaft hinein. Denn wir können bei den vielen Aufgaben, die wir zu lösen haben, von wissenschaftlichen Erkenntnissen nur profitieren. Das gilt für das Thema Gesundheit genauso wie für andere Themen wie Digitalisierung, Klima- und Umweltschutz, Bekämpfung der Armut, die Stärkung von Frauen und die G20-Partnerschaft mit Afrika. All das ist entscheidend für die Gestaltung einer nachhaltigen Entwicklung. Wir haben die Agenda der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung bis 2030 verabschiedet. Ein Thema, das in der Agenda 2030 eine zentrale Rolle spielt, ist das Thema Gesundheit. Die Vereinten Nationen sagen in ihrer Nachhaltigkeitscharta, dass jeder Mensch auf der Welt ein Anrecht auf vernünftige gesundheitliche Betreuung hat. Schwere Krankheiten sind natürlich erst einmal für Betroffene und ihre Angehörigen ein herber Schicksalsschlag. Viele Krankheiten führen auch zu lebensbedrohlichen Situationen oder sogar zum Tod. Aber wie Professor Hacker es schon sagte: Es gibt nicht nur individuelle Auswirkungen; Krankheiten können auch ganze Regionen wirtschaftlich verwüsten. Sie können soziale Spannungen hervorrufen, sie können zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Deshalb ist die Agenda 2030 nicht umsonst eine Agenda, die dem Thema Gesundheit sehr hohe Wertschätzung einräumt. Wir haben, wie ich schon sagte, bereits im G7-Prozess die Wissenschaftsakademien dabei gehabt und Gesundheitsfragen in den Mittelpunkt gestellt. Wir wissen – ganz besonders auch durch die Ebola-Krise –, dass gesundheitliche Fragen sehr schnell und unverhofft zu einem globalen Thema werden können. Menschen reisen heute, in Zeiten der Globalisierung, von einem Ort zum anderen – und die Krankheitserreger mit ihnen. Der Präsident der Weltbank, selber ein Mediziner, weist immer wieder auf Folgendes hin: Wenn wir noch einmal eine Pandemie von der Sorte der Spanischen Grippe bekämen, wie wir sie Anfang des 20. Jahrhunderts hatten, dann würde die Welt bei der Intensität der Vernetzung, wie wir sie heute haben, sehr schnell in einen sehr, sehr schwierigen Zustand kommen. Deshalb gehört ein Thema wie Gesundheit auf die Agenda der G20. Vielleicht ist es ein großer Aufwand, den man deshalb treiben muss. Aber ich hoffe, Sie haben am gegenseitigen Kennenlernen auch Freude gehabt. Ich danke natürlich für das Kommuniqué, in dem Sie sich mit den Themen beschäftigen, die uns eben besonders beschäftigen. Herr Professor Hacker, ich stimme Ihnen zu: Das A und O sind starke Gesundheitssysteme vor Ort, um dem Ausbruch von Epidemien vorzubeugen. Viele Epidemien könnte man lokal begrenzen, wenn die Gesundheitssysteme nachhaltig und stabil wären. Das ist eine Aufgabe, die vor allem viele ärmere Länder betrifft. Wer sich nur einmal den afrikanischen Kontinent anschaut, der weiß, welch großes Stück Arbeit noch vor uns liegt. Deshalb setzt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit schon seit Jahren genau an diesem Punkt an. Allein in Afrika stellen wir bis 2020 rund 600 Millionen Euro bereit, um Gesundheitssysteme zu verbessern. Allerdings füge ich auch hinzu: Gerade in der Kooperation mit Afrika gehört auch immer eine gute Regierungsführung dazu, damit die Mittel nicht sozusagen „unnachhaltig“ irgendwo stecken bleiben, sondern daraus nachhaltige Strukturen entstehen. Wir haben außerdem zusammen mit der Weltgesundheitsorganisation die Initiative „Gesunde Systeme – gesunde Leben“ ins Leben gerufen, die dazu dient, ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln, wie wir Gesundheitssysteme nachhaltig stärken können. Ziel ist ein Handlungsrahmen mit konkreten Vereinbarungen, mit denen wir Länder bei ihren Anstrengungen für eine bessere medizinische Versorgung unterstützen. Ich werbe für dieses Projekt auch unter den G20-Partnern. Im Kreis der G7 haben wir mehrfach – auch unter deutscher Präsidentschaft – über starke Gesundheitssysteme gesprochen. Im Jahr 2015, als wir Gastgeber waren, haben sich die G7-Staaten verpflichtet, mindestens 60 Staaten Hilfe anzubieten, um die internationalen Gesundheitsvorschriften der WHO wirklich zu implementieren. Wir haben klare Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation, aber wir haben sie nicht überall eingeführt. Beim folgenden Gipfel im vergangenen Jahr in Japan haben wir dieses Ziel ausgeweitet. Auf der Liste stehen jetzt 76 Staaten, die wir beim Aufbau eines leistungsfähigen Gesundheitssystems unterstützen wollen. Die G7-Staaten tun dies. Natürlich brauchen wir auch die Eigeninitiative der betroffenen Regierung. Außerdem geht es natürlich auch immer darum, dass man die Maßnahmenumsetzung evaluiert. Ich darf sagen, dass wir eine solche Evaluierung in 30 Ländern schon abgeschlossen haben. Für weitere 30 Länder ist sie geplant. Nationale Gesundheitssysteme zu stärken, ist das eine. Das andere ist, auch international für Notfälle gerüstet zu sein, wenn trotz Präventivmaßnahmen doch eine internationale Ausbreitung von Krankheiten stattfinden sollte. Hierbei geht es vor allem um Schnelligkeit. Die Reaktionsgeschwindigkeit ist entscheidend. Medizinisches Personal, Material, mobile Labore müssen bei einer Krise rasch zur Stelle sein. Genügend Geld muss zur Verfügung stehen. Einen Punkt will ich noch ergänzen; denn er ist sehr heikel. Die Weltgesundheitsorganisation ist so aufgebaut, dass sie regionale Vertretungen hat. Diese regionalen Vertretungen haben einen relativ autonomen Status. Das heißt, es gibt keine Befehlskette von der Chefin – wie wir jetzt haben – oder dem Chef der Weltgesundheitsorganisation und keine klare Meldepflicht, wenn etwas in einer Region passiert, sondern es ist weitgehend in das Ermessen der Regionalvertretungen gestellt, darüber zu berichten. Nun gibt es natürlich so etwas wie eine Scham: Soll ich es, wenn ich in meiner Region eine sich anbahnende Pandemie feststelle, melden und damit sozusagen weltweiten Alarm auslösen mit all den Folgen, die das nach sich ziehen könnte – Einbruch des Tourismus, wirtschaftliche Folgen? Soll ich den Mut haben, mich bemerkbar zu machen, um größeren Schaden zu verhindern? In der Weltgesundheitsorganisation ist sehr viel darüber gesprochen worden. Die – sagen wir einmal – Selbstverpflichtungen wurden gestärkt. Ich bin relativ optimistisch, dass es in Zukunft besser funktionieren wird. Aber das ist natürlich ein sehr wichtiger Punkt. Denn um Alarm auslösen zu können, um eine Handlungskette anzufangen, brauche ich natürlich jemanden, der mir sagt, dass irgendwo etwas los ist – und zwar möglichst dann, wenn die Ausbreitung der Krankheit noch nicht allzu weit fortgeschritten ist. Wir müssen auch für eine funktionierende Koordination sorgen. Deshalb kommt der Weltgesundheitsorganisation in zweifacher Hinsicht große Bedeutung zu. Sie muss die Organisation sein, aus der heraus wir die Information und die Bewertung bekommen. Sie kann sich dazu der Hilfe von Fachleuten bedienen. Außerdem muss es die Möglichkeit geben, eine Handlungskette für die internationale Staatengemeinschaft auszulösen. Die Weltbank spielt in diesem Zusammenhang auch eine wichtige Rolle. Sie hat nämlich die Grundlage dafür geschaffen, dass sich ärmere Länder gegen Pandemierisiken versichern können. Das schafft die Möglichkeit, dass man in der Stunde der Not nicht allein mit einem riesigen Posten dasitzt, da eine solche Versicherung es erlaubt, von der Handlungskette, die wir noch aufbauen, Gebrauch zu machen. Zum Beispiel beteiligen sich Japan und Deutschland an diesem Notfallprogramm. Es gibt natürlich wie immer in der Wissenschaft riesige Diskussionen: Kann man sich gegen Pandemien versichern? Wer will das Risiko ausrechnen und bewerten? Wie lange kann es dauern, bis ich jemals in eine solche Lage komme? Es kann sehr lang dauern, bis der Schadensfall eintritt. Aber es kann dann sehr teuer werden, wenn der Schadensfall einmal eingetreten ist. All das sind wunderbare Themen; sie alle werden bearbeitet. Ein breites Forschungsfeld tut sich auf, wenn es darum geht, wirksame Mittel zur Vorbeugung, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu entwickeln. Auch mit Blick auf potenzielle Pandemien in Regionen, auf die unser Fokus bislang nicht unbedingt voll gerichtet war, sollten Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Sie wissen, wie lange das beim Impfstoff gegen Ebola gedauert hat. Wenn es sich um Masern gehandelt hätte, dann hätten wir ihn vielleicht schon viel früher gehabt. Wichtig ist also auch, fair zu sein und für die verschiedenen Risiken in der Welt ähnliche Möglichkeiten der Behandlung zu schaffen. In Deutschland – das will ich hier einflechten –, haben wir uns besonders in den letzten Jahren der Gesundheitsforschung sehr stark angenommen. Ich habe neulich in Bonn ein Gesundheitsforschungszentrum für neurodegenerative Erkrankungen eröffnet. Wir haben zur Gesundheitsforschung ein Rahmenprogramm geschaffen, um gegen verschiedenste Erkrankungen gut gerüstet und in der internationalen Kooperation ein guter Partner zu sein. Wir sehen aber, dass der Anreiz, in bestimmte Forschungsrichtungen zu gehen, auch geweckt werden muss. Dabei ist eine globale Betrachtung für uns alle von großer Bedeutung, um sich also nicht nur auf die Krankheiten zu konzentrieren, mit denen wir es in den Industrieländern zu tun haben, sondern auch andere Krankheiten in den Blick zu nehmen. An dieser Stelle möchte ich auf die sogenannten vernachlässigten, oft tropischen Krankheiten hinweisen, die schon während unserer G7-Präsidentschaft ein Thema waren. Das Forschungsengagement dafür scheint sich an manchen Stellen gar nicht zu lohnen. Wenn man aber bedenkt, dass bis zu einer Milliarde Menschen von solchen Krankheiten betroffen sein könnten, dann merkt man, dass das eine riesige Sache ist. Ich begrüße deshalb auch ausdrücklich, dass zu Beginn dieses Jahres – der Startschuss fiel in Davos – eine Initiative gestartet wurde, die sogenannte „Coalition for Epidemic Preparedness Innovations“, abgekürzt CEPI, mit der die Erforschung und Entwicklung neuer Mittel vorangebracht wird. Mehrere Staaten, Stiftungen und Unternehmen bringen sich hier ein. Auch Deutschland beteiligt sich an dieser Public-Private-Partnership mit zehn Millionen Euro. Herr Professor Hacker hatte schon darauf verwiesen, dass auch die Entwicklung neuer Antibiotika sowie Antibiotikaresistenzen ein riesiges Thema sind. Wir drohen, in manchen Bereichen wieder zurückzufallen, weil Antibiotika, die wir schon einmal erforscht hatten, wegen Resistenzen nicht mehr die gewünschte Wirkung zeigen. Deshalb ist das Thema eine der Säulen unseres Gesundheitsengagements in der G20. In der G7 haben wir Einigkeit darüber erzielt, dass wir uns auf den sogenannten One-Health-Ansatz stützen sollten. Das heißt, es gibt die eine Gesundheit, die Menschen und Tiere gleichermaßen betrifft. Das heißt, die Lebensmittel, die wir als Menschen zu uns nehmen, nehmen wir unter die Lupe und schauen, wie sie entstanden sind und welche Antibiotika es für die Tiere gab, die wir verzehren. Die Agrarminister des G20-Formats haben bereits getagt und sich zu dem Ziel bekannt, dass Antibiotika in der Tiermedizin ausschließlich für therapeutische Zwecke verwendet werden dürfen und nicht mehr zum Zweck der Wachstumsförderung. Aber man muss sagen, dass die Definition des therapeutischen Zwecks eine spannende Sache ist, weil zum Beispiel die Frage, wie viel Platz Hühner oder Küken in ihren Ställen haben, mit darüber entscheidet, ob man Antibiotika geben muss, um Krankheiten zu verhindern, oder ob man auf Antibiotika verzichten kann, weil der Platz groß genug ist. Wir sollten uns sehr gut überlegen, wie hoch der Preis ist, den wir zahlen, wenn es eine Resistenz gegen ein Antibiotikum gibt und wir nicht so einfach neue Antibiotika finden. Ein Erfolg in der Antibiotikaforschung in der pharmazeutischen Industrie – ich bin natürlich keine Spezialistin, habe mir das aber einmal angeschaut; Sie alle hier sind ja Fachleute – ist wie ein Fünfer oder wahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto. Das kann man sich nicht einfach vornehmen. Der Erfolg liegt nicht auf der Straße. In diesem Jahr haben nicht nur Sie aus den Wissenschaftsakademien sich getroffen, sondern wir haben auch zum ersten Mal eine Gesundheitsministerkonferenz auf der Ebene der G20, um das, was Sie uns hier sagen, noch einmal fachlich gut zu beurteilen. Wir haben die Gesundheitsminister auch darum gebeten, zum ersten Mal eine Simulation eines Ausbruchs einer Pandemie – eine Art Trockenübung – durchzuführen und Aktionspläne zu beschreiben. Wir machen ja zu Hause bei uns, national, für alles und jedes immer wieder Übungen, wie wir im Katastrophenfall agieren sollen. Aber global kennen wir solche Übungen nicht, was dazu geführt hat, dass die effizientesten Helfer gegen Ebola militärische Einheiten waren, weil sie mit klaren Befehlsketten und klaren Möglichkeiten handeln konnten, während die zivilen Strukturen überhaupt nicht darauf vorbereitet waren: Wer transportiert, wer schafft die Medikamente herbei, wie ist die Befehlskette, wer baut Krankenhauskapazitäten aus? Es gab ziemlich unterschiedliche Ansätze. Insofern wollen wir uns besser auf Krisenfälle vorbereiten. Den Staats- und Regierungschefs soll sozusagen eine Kurzversion der Simulationsübung präsentiert werden. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, wie theoretisch oder wie anschaulich die Sache wird. Ich schaue meinen Sherpa immer ganz gespannt an, wenn mir was präsentiert wird. Aber es sollte so sein, dass wir als Staats- und Regierungschefs das auch verstehen können, was uns präsentiert wird. Denn daraus erwachsen Handlungsempfehlungen, die wir in unseren Regierungen vorbereiten können. Ich halte dieses Thema wirklich für außerordentlich wichtig. Deshalb möchte ich Ihnen noch einmal ganz herzlich dafür danken, dass Sie sich dem gemeinsamen Unterfangen gestellt haben. Ich hoffe, dass es auch für Sie bereichernd war. Für uns ist es das auf jeden Fall. Herzlichen Dank, Herr Professor Hacker, auch an Ihre Kollegen. Ich habe noch eine Sache vergessen. Wir haben gesehen, wie schlecht es funktionierte, die Ebolakrise zu bewältigen. Wir haben uns dann überlegt, welche Lehren daraus zu ziehen sind – lessons learned from Ebola. Wir haben gedacht, das könnten nur die Vereinten Nationen voranbringen; die Weltgesundheitsorganisation gehört ja zu den Vereinten Nationen. Dann haben erst einmal drei Staaten – Deutschland, Ghana und Norwegen – eine Bitte an den UN-Generalsekretär formuliert, dass man sich mit der Frage befassen soll. Der UN-Generalsekretär hat daraufhin drei andere Staaten beauftragt, Handlungsempfehlungen zu erstellen. Das war etwas seltsam. Ich habe gesagt: Ich höre ja gar nichts mehr davon, weil jetzt drei andere Länder damit befasst sind. Die internationale Staatengemeinschaft ist groß, aber wir durften unsere Experten im zweiten Panel wieder einbringen. Dann wurden die Handlungsempfehlungen an den UN-Generalsekretär übergeben. Er hat daraufhin einen speziellen Verantwortlichen benannt, der das zusammen mit der WHO weiter betreut. Schließlich hat das sozusagen einen Weg in den Mechanismus der Vereinten Nationen gefunden. Damit hat man das Thema offiziell gemacht; und damit hat es auch in der UN seine Bedeutung. Jetzt darf man es nur nicht aus den Augen verlieren.
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters: Aufruf zur Beteiligung am Europäischen Kulturerbe-Jahr
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-aufruf-zur-beteiligung-am-europaeischen-kulturerbe-jahr-390920
Mon, 20 Mar 2017 00:00:00 +0100
Berlin
Kulturstaatsministerin
Schloss Charlottenburg ist nicht nur ein schöner und würdiger, sondern auch ein sehr passender Rahmen, um zur Beteiligung am Europäischen Kulturerbe-Jahr aufzurufen – als Zeugnis einer Zeit, in der ein geeintes Europa noch nicht einmal ferne Utopie war. Als Friedrich II. im Jahr 1740 den preußischen Thron bestieg und es zu seiner Residenz machte, war Preußen (fast einhundert Jahre nach dem Westfälischen Frieden) noch immer gezeichnet vom Dreißigjährigen Krieg. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war in Kleinstaaten zersplittert, umgeben von mächtigen Monarchien und aufstrebenden Handelsnationen. Das ist mehr als 270 Jahre her: Jahrzehnte und Jahrhunderte, in denen Europa vor allem schwere Konflikte und grausame Kriege prägten. Ob hier in Berlin und Brandenburg, in Sachsen oder Schleswig-Holstein, in Spanien, Frankreich oder Schweden – die bewegte Geschichte Europas ist überall sichtbar im baukulturellen Erbe, das im Mittelpunkt des Europäischen Kulturerbe-Jahres 2018 steht. Das baukulturelle Erbe erinnert uns nicht nur an Zeiten, in denen Fürstenhöfe und selbstbewusstes Bürgertum in den Städten um Architektur und Kunst miteinander wetteiferten, sondern auch an geistige Kämpfe und grausame Kriege – und daran, dass für die Verwirklichung der Idee eines geeinten Europas viel Trennendes überwunden werden, um Verbindendes sichtbar zu machen. So kann man an vielen Häuserfassaden in Berlin beispielsweise noch immer Spuren des Krieges erkennen. Viele dieser „Gesteinsnarben“ sind im Laufe der Zeit verschwunden, andere sind geblieben – auch weil es Denkmalschützer gibt, die sie bewusst erhalten und so ein Zeichen gegen das Vergessen setzen. Ein Zeichen gegen das Vergessen wollen wir auch mit dem Europäischen Kulturerbe-Jahr setzen, erscheint uns Europa doch allzu oft als natürliche Gewissheit: Lange Schlangen vor den Wechselstuben oder Staus bei der Grenzkontrolle (an die sich viele von uns noch lebhaft erinnern) sind längst Geschichte. Selbstverständlich ist dagegen heute ein spontaner Wochenend-Trip zur neuen Ausstellung im Louvre oder ein Festivalwochenende an der Polnischen Ostsee. Die Errungenschaft eines Europas der freiheitlichen Demokratien und des toleranten Miteinanders ist jedoch keine Selbstverständlichkeit, schon gar keine logische Entwicklung der Geschichte. Ganz im Gegenteil! Gerade in Zeiten des Umbruchs, in denen die europäische Idee an Strahlkraft verliert und vielerorts nationalistische Parolen laut werden, kann die Beschäftigung mit dem gemeinsamen kulturellen Erbe die Augen für den Wert eines geeinten Europas und für unsere gemeinsame europäische Geschichte öffnen. Sehen wir also hin! Dazu rufen wir im Europäischen Kulturerbe-Jahr Bürgerinnen und Bürger ebenso auf wie öffentlich und privat Engagierte, Vereine und Stiftungen, Museen und Gedenkstätten. Jede und jeder kann sich in Kulturerbe-Projekten engagieren und Teil einer Community werden, die sich unter dem Logo des „ECHY 2018“ versammelt und ab Sommer auf der Internetplattform zum Netzwerken und Diskutieren einlädt. Für die Initiative und Begleitung der „SharingHeritage“-Plattform und Ihr Engagement für das „ECHY“ danke ich Ihnen, lieber Herr Dr. Koch, und Ihrem Team herzlich! Auch der Bund wird ausgewählte „Leuchtturm“-Projekte zum Europäischen Kulturerbe-Jahr unterstützen, und ich bin den Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages dankbar, dass sie in meinem Etat bereits für dieses Jahr 3,6 Millionen Euro für bundesbedeutsame Projekte von besonderer, überregionaler Strahlkraft zur Verfügung gestellt haben. Diese Mittel sollen das Engagement von Ländern und Kommunen ergänzen. „Sharing Heritage“ lautet das Motto des Europäischen Kulturerbe-Jahres 2018 und ich finde, dieses Motto passt in die Zeit: Schließlich teilt man heute nicht nur Musik, Filme und Fotos auf sozialen Plattformen, sondern auch Autos, Apartments und sogar den Arbeitsplatz. „Teilen ist das neue Haben“, liest man immer häufiger: Teilen wir also, was wir haben, meine Damen und Herren! Teilen wir, was uns unsere Vorfahren hinterlassen haben, teilen wir die Vergangenheit mit der Zukunft und begeistern wir auch die junge Generation für unser vielfältiges kulturelles Erbe und für die europäische Idee. Setzen wir dem sich vielerorts regenden Bedürfnis nach Abgrenzung und der Sehnsucht nach einer homogenen Gesellschaft den Stolz auf die vielfältige, im Austausch mit anderen Kulturen gewachsene europäische Kultur entgegen – nicht nur, aber besonders in diesem kommenden Europäischen Kulturerbe-Jahr! In diesem Sinne hoffe ich, dass auch Sie, meine Damen und Herren, die Idee des Europäischen Kulturerbe-Jahres teilen, in Ihren Ländern dafür werben und sie in Ihren Gremien und Institutionen verbreiten! Vielen Dank.
Kulturstaatsministerin Grütters hat dazu aufgerufen, sich in Kulturerbeprojekten zum europäischen Kuturerbejahr einzubringen und sich über das gemeinsame kulturelle Erbe auszutauschen. „Gerade in Zeiten des Umbruchs, wo vielerorts nationalistische Parolen laut werden, kann die Beschäftigung mit dem gemeinsamen kulturellen Erbe die Augen für den Wert eines geeinten Europas und für unsere gemeinsame europäische Geschichte öffnen.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung der CeBIT 2017 am 19. März 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-eroeffnung-der-cebit-2017-am-19-maerz-2017-789606
Sun, 19 Mar 2017 20:42:00 +0100
Im Wortlaut
Hannover
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Abe, lieber Shinzō, sehr geehrter Herr Higashihara und herzlich willkommen allen Gästen aus Japan, Herr Ministerpräsident Weil, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundeskabinett, Herr Oberbürgermeister, Herr Dirks, meine Damen und Herren, liebe Aussteller aus nah und fern, bei der CeBIT trifft sich die Welt. Das kann man in diesem Jahr auch wieder sagen. Wir freuen uns ganz besonders, dass Japan in diesem Jahr unser Partnerland, unser Gastland ist. Ein ganz herzliches Willkommen den 118 Unternehmen, die hier im größten Ausstellungspavillon sind, der jemals auf der CeBIT gewesen ist und den wir uns morgen anschauen werden. Herzlich willkommen, liebe Minister aus Japan. Und natürlich herzlich willkommen, lieber Ministerpräsident, lieber Shinzō. Das ist ein guter Tag hier auf der CeBIT in Hannover für die deutsch-japanische Kooperation. Vor 70 Jahren fand hier in Hannover die erste Messe statt. Man muss sich das vorstellen: 1947. Ab 1950 nahmen wieder ausländische Aussteller teil. Ab dem Jahr 1961 gab es einen Pavillon, in dem man sich mit Computern beschäftigte. Die Computer wurden immer mehr. Dann hat man 1986 die Hannover Messe und die CeBIT getrennt. Seitdem gibt es die CeBIT; und jeweils wenige Wochen später die Hannover Messe. Wer war der erste Partner auf der ersten CeBIT? – Das war 1986 Japan. Damals waren die Dinge noch etwas anders und die Computer noch etwas schwerer. 1986 wurde der erste tragbare Rechner durch Japan präsentiert. Er brachte es auf ein Gewicht von rund 8,5 Kilogramm; also eher ein „Schlepptop“ als ein Laptop – eine schöne Aufgabe für die Übersetzer ins Japanische. Also: „Schlepptop“ wurde zu Laptop. Wir sehen, dass wir bis heute doch weitergekommen sind. Ich denke, lieber Shinzō, wir können sagen, dass wir in Deutschland und Japan in den letzten Jahren unsere Kooperationen sehr intensiviert haben. Wir waren aufeinanderfolgende Gastgeberländer der G7-Gipfel und haben viel an der gemeinsamen Agenda erarbeitet. Es ist ein gutes Zeichen, dass ihr auch auf dieser CeBIT dabei seid. Ich habe vor einigen Jahren im Scherz gesagt, die CeBIT müsste eigentlich wieder mit der Hannover Messe fusionieren. Ich dachte, das wäre eher ein Witz gewesen. Aber nun merke ich, dass inzwischen doch über die Eigenständigkeit der CeBIT diskutiert wird. Ich will heute Abend ein ganz klares Plädoyer dafür abgeben, dass die CeBIT doch als CeBIT erhalten bleiben sollte – auch weil man hier das Leitmotiv „d!conomy“ hat. Ich finde es fast ein bisschen bescheiden, denn es drückt nicht weniger als den Gedankengang in Richtung einer Verschmelzung der Realwirtschaft mit den Möglichkeiten der Digitalisierung aus – also auch Industrie 4.0. Aber mit dem, was hier auf der CeBIT eigentlich stattfindet, und auch mit der Vorstellung des japanischen Gesellschaftsmodells „Society 5.0“ ist ja ein viel breiterer Ansatz verbunden, nämlich ein Ansatz, die CeBIT zu einem Motor der Digitalisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen zu machen – von privaten Nutzungen bis hin zu industriellen Nutzungen, auch zur Vernetzung der Dinge. Deshalb denke ich, dass man gute Chancen hat, die CeBIT in eine breitere Richtung weiterzuentwickeln, als es die Hannover Messe jemals leisten könnte. Ich jedenfalls würde dafür plädieren, weil sich unsere gesamte Gesellschaft in der Tat verändert. Man liest, dass sich in den nächsten Jahren 50 Milliarden Dinge außerhalb der Smartphones und Computer vernetzen sollen. Die Welt hat über sieben Milliarden Einwohner. Das hieße: pro Mensch sieben Dinge. Das scheint einem in dieser Betrachtung nicht sehr viel zu sein. Wenn ich auf der anderen Seite an die Vernetzung von 50 Milliarden Dinge denke und daran, wie es ist, wenn ich durch die ländlichen Regionen Deutschlands fahre und versuche, aus einem Auto zu telefonieren, dann sagt man: Bis wir alle vernetzt sind, brauchen wir zumindest noch eine bisschen bessere Infrastruktur. Deshalb gilt es, das, was wir mit der Digitalen Agenda in der Bundesregierung beschrieben haben, in der gesamten Breite voranzutreiben – angefangen bei der Infrastruktur, die im Verantwortungsbereich von Minister Dobrindt liegt. Wir glaubten vor ein paar Jahren, dass wir schon eine Menge geschafft hätten, wenn jeder Haushalt mit 50 Megabit pro Sekunde angebunden wäre. Heute sprechen wir über Gigabit und über eine überall verfügbare Infrastruktur. Und das muss schnell realisiert werden. Gemeinsam müssen – hier nehme ich das Angebot von Shinzō Abe sehr gern auf – Standards für die Vernetzung der Dinge entwickelt werden. Ansonsten wird es sehr schwierig werden, die Offenheit unserer Gesellschaften auch wirklich leben zu können. Die erste Aufgabe haben wir, wenn ich das sagen darf, in der Europäischen Union. Wir brauchen einen digitalen Binnenmarkt in umfassendem Sinne. Wir dürfen nicht an jeder Landesgrenze sozusagen unterschiedliche Frequenzbereiche und vieles andere haben. Hier haben wir noch viel zu tun. Es ist gut, dass das EU-Japan-Freihandelsabkommen jetzt mit Nachdruck verhandelt wird. Denn das könnte ein Bekenntnis dazu sein, dass die Europäische Union – Deutschland möchte hierbei gern Motor sein – gemeinsam mit Japan ein Freihandelsabkommen abschließt, das deutlich macht: Wir wollen freie, offene Märkte. Wir wollen fairen Handel und keine Barrieren aufbauen, sondern in der Zeit der Vernetzung der Dinge sich auch unsere Gesellschaften miteinander vernetzen und sie fair miteinander kooperieren lassen. Das ist Freihandel. Deutschland fühlt sich diesen Prinzipien in diesem Jahr besonders verpflichtet, weil wir die Präsidentschaft der G20 übernommen haben und in Hamburg in wenigen Monaten die Staats- und Regierungschefs zusammentreffen werden. Die ersten Konferenzen haben schon stattgefunden. Unter deutscher Präsidentschaft wird es zum ersten Mal ein Treffen der Minister für Digitalisierung geben. Ich denke, das ist ein Zeichen dafür, dass wir die Zeichen der Zeit erkannt haben. Ich hoffe, dass der Wunsch der gemeinsamen Erarbeitung einer großen digitalen Plattform, die Regeln kennt, die den Menschen in den Mittelpunkt nimmt und nach dem Nutzen für den Menschen fragt, dazu führt, dass ein solcher Fortschritt erzielt werden kann oder dass zumindest ein erster Schritt gemacht werden kann. Lieber Shinzō Abe, was du in Bezug auf die Gestaltung einer Gesellschaft mit Blick auf die Digitalisierung und ihre Möglichkeiten gesagt hast, trifft in der Tat auch unsere Vorstellungen von einer Sozialen Marktwirtschaft. Ausgangspunkt ist die Entfaltungsmöglichkeit jedes einzelnen Menschen, aber natürlich nicht die freie Entfaltung zum Schaden vieler Menschen. Es geht also auch im digitalen Zeitalter um das Errichten von Leitplanken und die Möglichkeit eines fairen Wettbewerbs. Das heißt auf der einen Seite, dass wir nicht unbedingt Monopole, sondern dass wir eine Vielzahl von Unternehmen brauchen. Deshalb setzen Japan und Deutschland gemeinsam auf mittelständische und kleinere Unternehmen. Das bedeutet, dass auch diese Unternehmen gute Wachstumsbedingungen vorfinden. Wir brauchen neue Mechanismen der Förderung – von Wagniskapital bis hin zu Wachstumskapital. Hierfür hat Deutschland in den letzten Jahren vieles getan. Hierüber können sich Japan, Deutschland und andere sehr gut austauschen. Hier wird es für Start-ups die Möglichkeit geben, sich zu vernetzen, sich zu treffen und über Wachstumsbedingungen zu sprechen. Wir von der Politik werden das natürlich aufnehmen und überlegen, wo wir hierbei noch besser werden können. An die Vertreter der Europäischen Kommission will ich die Bitte richten, dass wir solche Möglichkeiten schnell nutzen können. Denn wir sind in unseren Entscheidungen in Europa oft zu langsam. Ich weiß, dass dahinter immer auch die Mitgliedstaaten stecken. Ich will jetzt gar kein „blame game“ betreiben. Aber 28 Mitgliedstaaten müssen sich einigen, 28 Mitgliedstaaten müssen sich entscheiden. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Netzneutralität hat nicht deshalb so lang gedauert, weil sich die Kommission nicht entscheiden konnte, sondern weil sich die Mitgliedstaaten nicht entscheiden konnten. Aber wir spüren, dass das Tempo auf der Welt hoch ist. Mit Japan haben wir einen Freund, aber natürlich auch einen Wettbewerber, der sich die Möglichkeiten der Welt der Digitalisierung durchaus zu eigen macht. Meine Damen und Herren, wir müssen das in den Mittelpunkt stellen, was in der Sozialen Marktwirtschaft der Realwirtschaft immer eine Rolle gespielt hat: der Mensch und seine Lebensbedingungen. Wir haben, sage ich einmal, in diesem Saal 2.000 begeisterte Menschen, die die Digitalisierung als Chance begreifen. Wir haben hier 3.000 Aussteller aus 70 Ländern, die nicht schnell genug vorankommen können. Wir haben aber auch Millionen von Menschen, die zum Teil noch nicht genau wissen, was sie erwartet und was alles Digitalisierung bedeutet. Ist das gut für meinen Arbeitsplatz oder ist das eine Gefahr für meinen Arbeitsplatz? Bin ich in der Lage, allen neuen Entwicklungen zu folgen? Wer gibt mir die Bildung dafür? Bin ich ein Datenlieferant, mit dessen Daten alles Mögliche gemacht wird, oder welchen Schutz und welche eigene Beeinflussungsmöglichkeit habe ich? – Solche Fragen stellen sich viele Menschen. Japan und Deutschland sind Gesellschaften, die auch einen demografischen Wandel durchlaufen. Ich denke, wir in Deutschland können von Japan zum Teil lernen, dass man der Technologie auch offen gegenüberstehen sollte. Wenn ich sehe, wie in Japan Roboter zum Beispiel in der Altenpflege eingesetzt werden und mit welcher Offenheit Menschen in Japan dem begegnen, und wenn ich dann unsere Gesellschaft sehe, die an dieser Stelle doch etwas zurückhaltender ist, dann denke ich, dass wir auch darüber sprechen, uns austauschen und Erfahrungen gegeneinander abwägen müssen. Denn ich denke, dass wir noch vieles voneinander lernen können. Also: die Menschen mitnehmen, sie mitnehmen in ein neues Zeitalter, in die Gesellschaft 5.0, wie Japan es nennt. Menschen mitzunehmen, das wird in vielerlei Hinsicht eine Aufgabe sein. Ich sage Ihnen ganz offen: Das wird die Politik nicht allein können, sondern das müssen wir mit Ihnen, den Anbietern digitaler Technologien, gemeinsam tun. Das wird heißen: neue Formen der Bildung, zum Beispiel in der Schule – Digitalisierung der Schulen, Zugriff auf Clouds, Ausstattung mit Computern und die Vermittlung der Fähigkeit zu programmieren als eine Grundfähigkeit neben Lesen, Schreiben, Rechnen. Ich sage allerdings immer dazu: Lesen, Schreiben, Rechnen bleiben notwendige Grundfähigkeiten; das Programmieren kommt aber noch dazu. Nicht dass irgendetwas anderes wegfällt; das können wir den jungen Leuten nicht versprechen. Wir müssen auch das lebenslange Lernen weiterentwickeln. Das wird eine der spannendsten Aufgaben sein: am Arbeitsplatz, aber auch für die gesamte Gesellschaft. Da haben wir in der Politik in Deutschland, denke ich, eine Bringschuld. Diese Bringschuld heißt, dass der Staat den Bürgerinnen und Bürgern eben Fähigkeiten des 21. Jahrhunderts anbietet: Bürgerportale und digitale Möglichkeiten, Leistungen zu erbringen. Wenn ich ganz ehrlich bin, dann muss ich sagen: So lange, wie wir uns mit der elektronischen Signatur und der elektronischen Gesundheitskarte schon herumschlagen, werden wir sicherlich auch dabei keinen Weltrekord aufstellen. Da ist Japan wahrscheinlich etwas schneller. Deshalb heißt die Aufgabe, in den nächsten Jahren als Staat die Digitalisierung offensiv voranzutreiben und den Bürgerinnen und Bürgern zu zeigen, was an Mehrwert da ist. Ich freue mich auf den Rundgang morgen, den wir gemeinsam mit dem japanischen Ministerpräsidenten machen werden, um Neues zu erleben. Mir konnte heute niemand sagen, ob auch wir schon mit autonom fahrenden Bussen über das Messegelände gesteuert werden oder ob man gedacht hat: Aus Sicherheitsgründen braucht man bei Regierungschefs noch einen Fahrer. Aber auf jeden Fall können viele hier schon autonom fahren. Der Vorstand der Messegesellschaft tut dies jedenfalls schon. Auf jeden Fall werden wir hier erleben, dass vieles Realität ist, was wir früher unter Science-Fiction gesehen haben. Deshalb denke ich, dass diese CeBIT ihre Wirkung entfalten wird. 200.000 Besucher werden erwartet, denen ich erfüllte Stunden zwar nicht versprechen kann, aber für die ich erfüllte Stunden erhoffe. Noch einmal ein herzliches Dankeschön an unseren Partner Japan. Ich denke, diese Kooperation auf der CeBIT wird ein weiterer Meilenstein in der Kooperation unserer beiden Länder sein. In Zeiten, in denen wir über freien Handel, offene Grenzen und demokratische Werte mit vielen streiten müssen, ist es ein gutes Zeichen, dass Japan und Deutschland darüber nicht streiten, sondern dass sie zum Wohle der Menschen die Zukunft gestalten. Herzlichen Dank und eine gute CeBIT.
in Hannover
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Demografiegipfel der Bundesregierung am 16. März 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-demografiegipfel-der-bundesregierung-am-16-maerz-2017-in-berlin-425838
Thu, 16 Mar 2017 10:51:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrte Herren Bundesminister, lieber Gastgeber Thomas de Maizière und lieber Christian Schmidt, liebe Kolleginnen und Kollegen aus Bund und Ländern, sehr geehrte Vertreter der Kommunalpolitik, der Sozialpartner und Verbände, Mitglieder der Arbeitsgruppen, meine Damen und Herren, vor allem auch liebe Jugendliche, die Sie heute da sind, bevor ich mit meiner Rede anlässlich des Demografiegipfels beginne, möchte ich aus aktuellem Anlass etwas sagen. Gestern haben in den Niederlanden Wahlen stattgefunden. Die Niederlande sind unser Partner, unser Freund, unser Nachbar. Deshalb habe ich mich sehr gefreut – und ich denke, es geht vielen so –, dass eine hohe Wahlbeteiligung zu einem sehr pro-europäischen Ergebnis geführt hat. Ein klares Signal – und das nach Tagen, in denen die Niederlande Anwürfe und Vorwürfe zu ertragen hatten, die aus der Türkei kamen und völlig inakzeptabel sind; und nach Tagen, in denen wir ihnen unsere Solidarität gezeigt haben. Ich konnte gestern meinem Kollegen Mark Rutte gratulieren. Wir freuen uns auf die zukünftige Zusammenarbeit. Ich glaube, es war ein guter Tag für die Demokratie. Meine Damen und Herren, wir sind heute hier am Berliner Westhafen zusammengekommen, der in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts zum zweitgrößten deutschen Binnenhafen ausgebaut wurde. Berlin war schon damals eine pulsierende Metropole, deren Einwohnerzahl die Vier-Millionen-Grenze überstieg. Fast 100 Jahre später leben in Berlin über 3,5 Millionen Menschen; die Tendenz ist steigend. Man kann damit rechnen, dass in den Zwanzigerjahren dieses Jahrhunderts in Berlin wieder vier Millionen Menschen leben werden. Von Bevölkerungsschwund kann also in Berlin erst einmal keine Rede sein. Aber es zeichnet sich in Deutschland insgesamt ein etwas anderes Bild ab – allerdings auch ein etwas anderes als vor fünf Jahren, als wir die Demografiestrategie verabschiedet haben. – Thomas de Maizière hat vorhin von vergangenen Sorgen gesprochen. – Damals sind wir davon ausgegangen, dass zwar die Ballungszentren weiter wachsen, aber die Bevölkerungszahl bundesweit doch abnehmen werde. Jetzt sehen wir, dass wir bezüglich unserer Prognosen leicht im Plus liegen. Gründe dafür sind vor allen Dingen die Zuwanderung aus europäischen Ländern, aus dem Raum der Freizügigkeit, und auch die vielen Flüchtlinge, die in der letzten Zeit zu uns gekommen sind. Deshalb wird Deutschland heutigen Prognosen zufolge in den nächsten 20 Jahren eine recht stabile Bevölkerungszahl haben. Sie wird in etwa auf dem Niveau von heute bleiben. Hinzu kommt, dass es uns heute – ich spreche immer von Momentaufnahmen – wirtschaftlich recht gut geht, die Erwerbstätigkeit auf Rekordniveau liegt und die Zahl der Arbeitslosen zurückgegangen ist. Dass das natürlich auch Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme hat, spüren wir jeden Tag. Vielleicht ist das Thema demografischer Wandel auch deshalb in der Gesellschaft und in der öffentlichen Diskussion im Augenblick etwas weniger präsent und wird nicht mehr als ganz so dringend empfunden; aber ich glaube, zu Unrecht. Wir sollten und müssen uns mit dem Thema beschäftigen – hier im Raum tun das natürlich auch alle –, denn auch wenn wir in den nächsten zwei Jahrzehnten voraussichtlich eine stabile Entwicklung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter haben werden, bleibt es bei der Grundtendenz, dass den Erwerbstätigen eine wachsende Zahl älterer Menschen gegenüberstehen wird. So schön eine höhere Lebenserwartung natürlich ist, so sehr stellt sie uns trotzdem vor eine Bewährungsprobe – ganz besonders auch mit Blick auf unsere sozialen Sicherungssysteme. Es ist recht interessant: Thomas de Maizière hat eben auf das Älterwerden und Ältere hingewiesen. Er hat gesagt: Niemand möchte alt sein. Ich empfinde es manchmal als ganz seltsam, dass – ich bin ja auch über 60 – man damit aus dem Blickwinkel von Enkeln und Kindern natürlich alt ist. Aber wenn man sich sozusagen unter Älteren bewegt, dann will in der Tat keiner alt sein. Ich weiß nicht, ob das richtig ist. Man sollte sich dazu bekennen, so wie man sich dazu bekennt, jung zu sein, weil das Alter in seiner ganz anderen Ausprägung als vor 100 Jahren sein Gesicht ja nur zeigen kann, wenn es auch Menschen gibt, die zugeben, dass sie alt sind. Wenn man immer erst kurz vorm Sterben alt ist, dann bekommt das Alter auch kein Gesicht. Und dieses Gesicht des tatkräftigen Älteren gehört einfach dazu. Ich würde also sagen: Mut zum Alter – im positiven, selbstbewussten Sinne. Aber ich erlebe es auch selbst: Wenn ich sage „Ich bin ja jetzt schon alt“, dann heißt es „Nein, nein, nein, keine Sorge; Sie sehen noch ganz jung aus“. Man versucht dies ja auch jeden Tag. Aber trotzdem finde ich, Älterwerden muss man einfach akzeptieren. Jetzt aber zurück zum Thema im rationalen Sinne: Die Bevölkerungsentwicklung zeigt sich regional teils sehr unterschiedlich. Nicht umsonst ist der Minister, der sich mit den ländlichen Räumen ganz besonders beschäftigt, heute auch von Anfang an hier mit dabei. Wir haben Regionen, in denen die Bevölkerung deutlich wächst, und wir haben Regionen, in denen sie abnimmt. Wir haben auch sehr unterschiedliche Durchschnittsalter in den verschiedenen Regionen Deutschlands. Ich glaube, diese Vielfalt der Regionen wird sogar noch zunehmen. Das heißt, wir stehen vor verschiedenen Herausforderungen. Deshalb war es richtig, eine Demografiestrategie zu entwickeln und den Dialog voranzutreiben. Dabei haben wir ja erlebt, dass alle gefordert sind – der Bund, die Länder, die Kommunen, die Sozialpartner, die Verbände, viele Bürgerinnen und Bürger. Denn es geht letztendlich um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Thomas de Maizière hat eben von Verlierern und Gewinnern gesprochen. Das ist ja eine permanente und beständige Sorge. Politik hat natürlich die Aufgabe, an alle zu denken, Vorschläge für alle zu unterbreiten, um den Zusammenhalt der ganzen Gesellschaft zu fördern. Aber natürlich gelingt uns das selten zu hundert Prozent. Deshalb leben wir in einem permanenten Spannungsverhältnis. Und trotzdem haben wir uns mit diesen Fragen eigentlich täglich zu beschäftigen. Gestern war ich in Bonn beim Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen. Weil bei uns viele Menschen ein höheres Alter erreichen, steigen auch die Risiken, zum Beispiel an Demenz oder an Parkinson zu erkranken. Umso wichtiger ist es, so viel wie möglich über diese Erkrankungen herauszufinden, um Prävention und Versorgung der Patienten verbessern zu können. Ich glaube, die Gesundheitsforschung ist in Deutschland in ganz besonderer Weise gut angesiedelt. Hier können wir – auch mit einer hohen Akzeptanz für eine solche Forschung – Höchstleistungen erreichen. Im internationalen Vergleich sind wir hier insgesamt sehr, sehr gut aufgestellt. Ich möchte mich bei allen bedanken, die zur Ausarbeitung der Demografiestrategie beigetragen haben – insbesondere bei den Mitgliedern der Arbeitsgruppen, die ja dann später auch noch hier diskutieren werden. Ich möchte mich auch bei den über tausend Jugendlichen bedanken, die in den vergangenen Jahren Lösungsvorschläge auch ganz konkret für ihre Heimatregionen entwickelt haben. Einige sind ja auch heute aktiv dabei. Es ist gut, dass Sie sich von jung auf an solchen Diskussionen beteiligen und einbringen. Natürlich möchte ich mich auch beim Bundesinnenministerium bedanken, das den gesamten Prozess der Erarbeitung der Strategie koordiniert. Ich möchte heute auf drei Themenschwerpunkte eingehen, die etwas mit den verschiedenen Veränderungen zu tun haben, erstens auf das Beispiel Familie, zweitens auf die Gemeinschaft vor Ort, die Kommune, und drittens auf das Thema „Arbeit und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit“, das für unsere Zukunftsgestaltung natürlich auch von großer Bedeutung ist. Familie ist dort, wo Menschen dauerhaft Verantwortung füreinander übernehmen, auch generationenübergreifend. Familie kann nicht verordnet werden, sondern Familie existiert. Menschen können sich aus einem Familienverband nicht einfach lösen, sondern sie gehören zu einer Familie. Familie ist praktisch permanent gelebte Verantwortung und Quelle unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts. Deshalb sollten wir auf politischer Seite versuchen, Familien durch Leitplanken und Maßnahmen zu schützen und sie in die Lage zu versetzen, Familie auch wirklich verantwortlich leben zu können. Dabei hat sich in den letzten Jahren herausgestellt, dass neben der finanziellen Ausstattung, die natürlich nach wie vor wichtig ist, das Thema Zeit, Zeitsouveränität, immer wichtiger geworden ist. Zeit ist oft die knappste Ressource in Familien. In der Rushhour des Lebens, wie wir in Form von Anglizismen sagen, ist alles – Arbeit, Kinder, vielleicht auch Pflege – in eine Lebensphase gepackt. Dies führt oft zu einem schwierigen Spagat zwischen beruflicher Karriere und Zeit für die Familie. Deshalb gibt es eine Vielzahl von Maßnahmen, die zum Teil auch heiß diskutiert werden. Steffen Kampeter vonseiten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände ist heute hier. Nicht über jede dieser Maßnahmen ist er unendlich glücklich, aber er hat immer viel Verständnis. – Ich hoffe, diese Bemerkung diskreditiert dich nicht in der Bundesvereinigung. Seit 2007 gibt es das Elterngeld. Wir haben das ElterngeldPlus eingeführt. Wir arbeiten daran – das finde ich sehr spannend –, Mütter und Väter gleichermaßen in die Familienarbeit einzubeziehen, weil vollkommen klar ist, dass Gleichberechtigung nicht gelebt werden kann, wenn die Frauen für Familie und Beruf zuständig sind und die Männer und Väter nur für den Beruf. Es gibt einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz nicht nur im Kindergartenbereich, sondern seit 2013 auch für den Kitabereich. Wir fördern seitens des Bundes die Betreuung der Kinder massiv. Wir schauen, dass Beruf und Pflege miteinander vereinbart werden können. Denn zwei Drittel der Pflegebedürftigen leben zu Hause bei ihren Angehörigen und werden von ihnen gepflegt. Damit Angehörige diese Pflege ausüben können, gibt es auch den Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit. Ich will zum Thema Familie noch anmerken: Die Aufgabe der Pflege ist so umfassend und so fordernd, dass der Staat Hilfeleistungen geradezu geben muss. Aber natürlich kann auch eine Familienpflegezeit kein Ersatz für das sein, was an Kraft, Mühe und auch an Liebe und Aufopferung in der Pflege aufgebracht wird. Deshalb bleibt es dabei, dass wir neben der materiellen Anerkennung auch immer sehen müssen, was für wunderbare Arbeit geleistet wird, für die wir auch ein allgemeines gesellschaftliches Verständnis haben müssen. Man kann sagen, dass sich trotzdem in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vieles verbessert hat. Interessant ist, dass der Anteil der Väter, die das Elterngeld nutzen, kontinuierlich auf inzwischen über ein Drittel gestiegen ist. Das gibt mehr Müttern auch die Chance, erwerbstätig zu sein. Das gibt auch die Möglichkeit, dass Arbeitgeber nicht mehr genau sagen können, wer sich denn Zeit für die Familie nimmt. Das verändert natürlich auch die Gesamteinstellung zum Thema Familie und Beruf. Die Geburtenentwicklung hat sich etwas verbessert. Das ist aber noch kein Grund zur Entwarnung und bietet auch keine Möglichkeit, sozusagen den Altersaufbau grundsätzlich zu verändern. Die Entscheidung für ein Kind ist eine persönliche Entscheidung. Aber gesellschaftliche Zuversicht und vernünftige Rahmenbedingungen sind sicherlich auch Faktoren, um sich für Kinder zu entscheiden. Der zweite Bereich bezieht sich auf die Frage: Wo findet Leben statt? Leben findet nicht auf der Bundesebene statt, sondern Leben findet ganz konkret in den Kommunen vor Ort statt. Das stellt uns seitens der Bundespolitik natürlich vor große Herausforderungen. Auf der einen Seite erwarten die Menschen von uns, von ihrer Bundesregierung, dass wir uns um gesellschaftliche Themen kümmern. Sie haben immer weniger Verständnis, wenn wir sagen: Wisst ihr, das ist jetzt aber eine kommunale Entscheidung; damit haben wir nichts zu tun. Auf der anderen Seite schätzen die Menschen die Vielfalt, die Entscheidungsfreiheit einer Kommune, einer Stadt, einer Region und die Unterschiedlichkeit in Deutschland. Man ist stolz auf die eigene Geschichte. Hierbei immer wieder die richtige Antwort zu finden, sich als Bund nicht in alles einzumischen, das sogenannte Subsidiaritätsprinzip gelten zu lassen und trotzdem zu helfen, wo Hilfe notwendig ist, beschäftigt uns in unserer Arbeit eigentlich täglich. Wir sehen auch hierbei wieder völlig unterschiedliche Herausforderungen. In den ländlichen Regionen – ich kenne das auch aus meinem Wahlkreis – haben wir es mit einem Rückgang der Bevölkerung zu tun. Dort stellt sich das elementare Thema der Daseinsvorsorge. Ist der Staat noch in der Lage, die tägliche Daseinsvorsorge – Einkaufsmöglichkeiten, Gesundheitsversorgung, Zugang zu Behörden, Krankenhaus usw. – zu realisieren? Wie steht es um den öffentlichen Nahverkehr? Es gibt viele, viele Probleme. Der Bundeslandwirtschaftsminister hat sich mit unser aller Unterstützung dafür entschieden, ein Programm aufzulegen, das nicht in die Rubrik „Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit“ passt, sondern es ist bewusst ein Förderungsprogramm für ländliche Regionen, das wir ausbauen werden, um einfach diese Fragen, die sich nicht nur mit Wettbewerbsfähigkeit oder Kosteneffizienz beantworten lassen, für die ländlichen Regionen besser zu beantworten. Ich sehe ähnlich wie der Bundesinnenminister, dass die Digitalisierung, die für viele heute fast noch eine Schreckensnachricht ist, trotzdem zur Verbesserung gerade auch der Lebenssituation in den ländlichen Räumen beitragen kann – vorausgesetzt, man hat erst einmal die technische Infrastruktur dafür. So, wie man Wasser- und Stromleitungen in die ländlichen Regionen gebracht hat, muss man auch den Breitbandausbau dazu nehmen. Das ist Daseinsvorsorge für die Zukunft. – Ansonsten brauchen wir von einer Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen in Deutschland nicht zu sprechen. – Und deshalb fördern wir das auch. Es geht natürlich auch darum – ich nehme die Anwesenheit des DGB-Vorsitzenden, Herrn Hoffmann, zum Anlass, dies zu sagen –, sich auf die Möglichkeiten der Digitalisierung einzustellen. Wenn man sich zum Beispiel den öffentlichen Personennahverkehr ansieht, dann kann man erahnen, dass es so kommen wird, dass vielleicht diejenigen, die heute noch Busse fahren, in Zukunft viel individuellere, kleinere und flexiblere Transportvarianten anbieten müssen. Ich glaube, wir müssen hierbei Bildung, Weiterbildung und Lernen im Bereich Technik – all das begleitend – mit einbeziehen und die Chancen sehen, die sich ergeben. Es geht in den Ballungsgebieten natürlich wieder um ganz andere Fragen, etwa um bezahlbaren Wohnraum, um Kontakte und um die Aufgabe, die Bildung von Parallelgesellschaften zu vermeiden. Ich war heute Morgen im Berliner Wedding und habe mir das Stadtteil- und Familienzentrum des Paul Gerhardt Stifts angeschaut. Es wird dort für generationenübergreifende Angebote für diejenigen, die schon lange dort leben, und für diejenigen, die erst kurz dort leben, gesorgt. Das ist eine sehr interessante und zusammenhaltstiftende Tätigkeit, die haupt- und ehrenamtlich erfolgt nach dem Motto dieses Demografiegipfels: „Jedes Alter zählt“. Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland ganz viele Antworten auf den demografischen Wandel. Quartiersmanager motivieren Bewohner, ihr eigenes Umfeld aktiv mitzugestalten. Das ist zum Beispiel auch beim Paul Gerhardt Stift der Fall. Es gibt Pflegenetzwerke, die Demenzpatienten und ihre Angehörigen unterstützen. Es gibt flexiblere und erweiterte Betreuungszeiten in Kitas. Es gibt in den ländlichen Regionen unterschiedliche Vernetzungsangebote. Ich denke, Konzepte, wie zum Beispiel die der Gemeindeschwester, tragen auch zu einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung bei und müssen dies noch zunehmend tun. Rufbusse oder Sammeltaxis ergänzen den klassischen Liniennahverkehr – ich sprach schon darüber. Und natürlich sind auch Kooperationen im Zusammenhang mit ehrenamtlicher Feuerwehrtätigkeit und anderen Vereinen und Verbänden zu erwähnen. Dennoch ist das alles nicht so einfach. Ich kenne das auch wiederum aus eigener Erfahrung. Wenn etwa die Schule weit weg ist, ist die Vereinsarbeit erschwert, weil die Kinder erst wieder am Nachmittag in ihre Wohnorte zurückkommen. Seitdem die Wehrpflicht weggefallen ist, gibt es kaum mehr einen, der die Lkw-Fahrerlaubnis erlangt. Die freiwilligen Feuerwehren haben Riesenmühe, Fahrer für ihre Fahrzeuge zu finden. Das sind praktische Probleme, auf die wir schneller Antworten finden müssen. Eine Fahrerlaubnis kostet Tausende von Euro. Und das kann sich eine freiwillige Feuerwehr nicht einfach leisten. Früher kamen Fahrer von der Bundeswehr, aber heute kommt keiner mehr. Ich glaube, wir müssen lernen, auf solche Fragen unkompliziert Antworten zu geben. Wir müssen vor allen Dingen immer mehr lernen, wie wir haupt- und ehrenamtliche Strukturen besser miteinander vernetzen. Sicherlich ist für den Bund eine der ganz großen Herausforderungen, dass wir an vielen Stellen nur Projektangebote machen können, die nie verstetigt sind. Wenn sie verstetigt und gesetzlich geregelt sind, gehen sie zu den Ländern und Kommunen über. So sind diejenigen, die von uns und unseren Projekten profitieren, in einem permanenten Antragsstellungsprozess gefangen. Ich habe dafür auch keine abschließende Lösung. Wir müssen natürlich – das sage ich, auch wenn ich nicht weiß, ob ich mich damit besonders beliebt mache – auch schauen, welche sozialen Projekte gut funktionieren und welche nicht. Es darf auch keine Versteinerung von bestimmten Projektideen geben, weil man natürlich immer wieder dazulernt. Das ist also ein Thema, mit dem wir uns noch beschäftigen müssen. Wir haben versucht – das ist trockene Materie –, durch den Bund-Länder-Finanzausgleich die Länder und damit indirekt auch die Kommunen auch nach 2019 in die Lage zu versetzen, ihre Pflichten und ihre Aufgaben im Zusammenhang mit dem Zusammenhalt der Gesellschaft gut ausführen zu können. Wir haben zum Beispiel auch die Regionalisierungsmittel, die den Personennahverkehr stärken, verstetigt. All das sind wichtige Bausteine, um Daseinsvorsorge in umfassendem Sinne zu gewährleisten. Wir haben schon darüber gesprochen, dass wir medizinische Versorgung gewährleisten müssen. Dazu haben wir ein Gesetz zur Sicherung einer guten medizinischen Versorgung verabschiedet. Dennoch: Wenn wir uns die Realitäten anschauen, dann wissen wir, dass noch viel zu tun ist. Der Gesundheitsminister wird heute ja auch noch hier dabei sein. Wir müssen den Breitbandausbau weiter voranbringen, um flächendeckend eine wettbewerbsfähige Infrastruktur sicherzustellen. Wir müssen in Bildung und Forschung investieren. Auch ein Land, in dem das Durchschnittsalter steigt, muss innovativ bleiben; das wird eine der großen Aufgaben sein. Deshalb ist lebenslanges Lernen keine Drohung, sondern eine Ermutigung, als Land, als Gesellschaft neugierig zu bleiben. Ich freue mich, ehrlich gesagt, über immer mehr Volkshochschulbesuche und Universitätskursteilnahmen von Älteren, die einfach bereit sind, noch einmal Neues aufzunehmen und sich neu zu orientieren. Wir glauben, dass mit Blick auf den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Zukunftsvorsorge auch das Thema Haushaltsführung ein wichtiger Beitrag ist. Alle Schulden, die wir heute nicht machen, und jeder ausgeglichene Haushalt sind eine Investition in die kommende Generation. Das hört sich immer so trocken an, bedeutet im Grunde aber Spielräume für zukünftige Generationen. Damit bin ich bei meinem dritten Punkt, nämlich beim Thema Arbeitswelt, Wirtschaft und Fachkräfte. Wir haben im Augenblick einen Rekord an offenen Stellen. Wir erleben, dass die fachlichen Anforderungen immer höher werden, was uns natürlich bezüglich der Schulausbildung vor riesige Herausforderungen stellt. Deshalb werden wir weiter darüber nachdenken müssen, wie auch der Bund helfen kann, zum Beispiel die Digitalisierung und ihre Möglichkeiten schneller in die Schulen zu bringen. Wir können sicherlich nicht jede Schule mit Breitband innenversorgen, aber wir können so, wie wir jeden Haushalt an ein Breitbandnetz anbinden wollen, auch sagen: Gewerbegebiete und Schulen gehören genauso dazu. Wir können auch Lehrinhalte über eine bundesweite Cloud zur Verfügung stellen. Ich glaube, neben Lesen, Schreiben, Rechnen gehört in Zukunft auch Programmieren zu den Basisfähigkeiten unserer jungen Leute. Das heißt allerdings nicht, dass man nicht mehr Lesen, Schreiben, Rechnen braucht; vielmehr kommt das Programmieren dazu. Das ist eine vierte Grundfähigkeit und ersetzt keine der anderen Grundfähigkeiten. Die Tatsache, dass einfache Tätigkeiten immer rarer werden und immer höhere Anforderungen an die Berufsausbildung gestellt werden, ist durchaus eine Herausforderung für uns. Deshalb müssen wir uns mit unserem Bildungssystem darauf einstellen. Ich möchte in den nächsten Jahren vor allen Dingen auch darauf achten, dass wir das duale Berufsausbildungssystem stärken. Dabei müssen wir aber auch noch einen harten Kampf mit der Europäischen Kommission ausfechten. Denn wir haben wieder eine Richtlinie bekommen, die unter der Maßgabe „Freifahrt und keine Barrieren für Dienstleistungen“ ganz klar darauf ausgerichtet ist, dass Verkammerung, Meisterbrief, Qualitätssicherung und duale Ausbildung sozusagen nicht gewünscht sind, weil sie irgendwie den Wettbewerb verzerren würden. Dazu kann ich nur sagen: Nachhaltigkeit ist wie in anderen Lebensbereichen auch im Handwerk und bei der Berufsausbildung eine Qualität an sich. Wir werden daher auf deutscher Seite die duale Berufsausbildung hochhalten und ihr eine Zukunft ermöglichen. Denn man kann nicht von der dualen Berufsausbildung schwärmen, aber ansonsten nichts dafür tun wollen. Ich glaube, da sind Arbeitgeber, Gewerkschaften und Politik auf einer Linie und werden gemeinsam kämpfen. Wir haben erlebt, dass im Zeitraum von 2005 bis 2015 2,3 Millionen mehr Frauen erwerbstätig sind. Das ist eine sehr erfreuliche Tatsache. Aber auch hierbei haben wir unser Potenzial noch nicht ausgeschöpft. Deutschland gehört zu den Ländern, in denen Frauen auch sehr stark Teilzeitarbeit leisten. Ich will Wahlfreiheit für alle. Aber Wahlfreiheit bedeutet eben auch, dass die Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie richtig gestaltet sind. Es gelingt uns heute besser, ältere Beschäftigte im Beruf zu halten. Ich weiß, dass hier im Vorfeld schon Kritik bezüglich der Rente mit 63 aufkam. Da bitte ich – obwohl ich, ehrlich gesagt, auch kein besonderer Befürworter dieser Maßnahme war – doch eines zu berücksichtigen: Es sind Menschen, die 45 Jahre lang gearbeitet haben, die den Anspruch haben, mit 63 in Rente zu gehen; und Jahr für Jahr wächst das Renteneintrittsalter wieder bis auf 65. Das heißt, wenn wir ein allgemeines Renteneintrittsalter von 67 haben, sind wir wieder bei der Rechtslage, die wir hatten. Das wird Ende der 20er Jahre sein, also genau dann, wenn der Fachkräftemangel und die Herausforderungen durch die Demografie besonders hoch sein werden. Es geht bei der Rente mit 63 eben um Generationen, die ganz andere Erwerbsbiografien haben, als das bei jüngeren Generationen der Fall ist. Das möchte ich wenigstens zur Berücksichtigung hinzufügen. Wir können heute sagen: Die Erwerbstätigenquote der 60- bis 64-Jährigen hat sich in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt. Das ist ein ganz wichtiger Schritt, damit diejenigen, die später als mit 65 in Rente gehen, nicht den Eindruck haben, es gehe nur um Rentenkürzung. Unser ganzes Arbeiten und Trachten muss vielmehr darauf ausgerichtet sein, dass wir das Arbeiten bis zum Renteneintrittsalter ermöglichen. Ansonsten haben wir gerade auch die Erwerbsunfähigkeitsrente besonders gestärkt. Denn Altersarmut tritt heute vor allen Dingen da auf, wo Menschen erwerbsunfähig werden. Deshalb muss man genau an dieser Stelle ansetzen. Wir haben auch mehr ausländische Fachkräfte. Wir haben damit auch einen Beitrag zur Bewältigung der großen Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union geleistet. Viele Menschen aus Spanien, Portugal und anderen Ländern haben inzwischen Arbeit in Deutschland gefunden. Das kann vielleicht nur eine temporäre Entwicklung sein, aber das zeigt, welche Möglichkeiten die Freizügigkeit bietet. Wir müssen deshalb gerade auch im Bereich der Facharbeiter noch mehr tun, um Sprachbarrieren abzubauen; das heißt, vor allem Englisch zu lernen. Fremdsprachen zu lernen, ist nicht nur etwas Wichtiges für diejenigen, die studieren, sondern es ist auch etwas Wichtiges für diejenigen, die eine duale Berufsausbildung haben. Um Erwerbstätigkeitspotenziale auszuschöpfen, ist es auch wichtig, Arbeitsplätze altersgerecht zu gestalten. Prävention ist hierbei ganz wichtig. Wir brauchen flexible Arbeitsmodelle. Ich bin auch sehr froh, dass wir jetzt die Flexibilitätsrente haben – man kann eben länger arbeiten, wenn man es möchte. Dazu gehört auch, dass wir Existenzgründern nicht dauernd bürokratische Hürden in den Weg legen, sondern bürokratische Hürden abbauen. Außerdem gehört dazu das riesige Thema Weiterbildung. Darüber wird es sicherlich noch manche politische Auseinandersetzung geben. Aber ich glaube, das Thema lebenslanges Lernen – ich würde es gerne auch „duale Weiterbildung“ nennen, weil Weiterbildung auch im Betrieb stattfinden muss – wird ein Thema sein, aus dem sich der Staat nicht völlig heraushalten kann. Das alles wird unsere Diskussion in den nächsten Jahren bestimmen. Meine Damen und Herren, wir können – Thomas de Maizière hat es gesagt – die Zukunft nicht exakt voraussagen; das ist ja auch das Schöne an der Zukunft. Wir können aber versuchen, uns auf sie vorzubereiten. Deshalb, liebe Jugendliche, ganz zum Schluss: Wir können nicht voraussagen, welche Erfahrungen Sie und Ihre Generation im Erwerbsleben machen werden. Ich finde es aber wichtig, dass auch Sie sich aktiv in die Gestaltung der Zukunft einbringen. Denn in einer Gesellschaft, in der es mehr Alte oder Ältere gibt und weniger Jüngere, besteht natürlich die Gefahr, dass diejenigen, die älter sind, an ihren Besitzständen hängen. Das liegt in der Natur der Sache. Deshalb müssen wir uns der Diskussion stellen. Deshalb brauchen wir generationenübergreifenden Austausch und Disput, der ja hier auch stattfindet. Sie müssen Ihre Wünsche selbstbewusst vorbringen – nicht im Sinne eines Kampfes gegen die Älteren, aber im Sinne einer fairen Ressourcenteilung und im Sinne dessen, dass auch Sie einmal Kinder und Enkel haben werden, an die wir auch denken müssen. Deshalb ist es eigentlich nur möglich, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu schaffen, wenn Politik vernünftige Leitplanken setzt und gleichzeitig in der gesamten Gesellschaft auch ein Gefühl für die Belange der jeweils anderen da ist. Bei allen Vorzügen der Digitalisierung – wir sehen im Augenblick manchmal Entwicklungen, bei denen sich jeder sozusagen in seiner Kommunikationsecke nur mit seinesgleichen, seiner Altersgruppe und seinen Freunden zusammensetzt. Demografischer Wandel und Zusammenhalt der Gesellschaft werden aber nur dann gut zu gestalten sein, wenn man nicht nur das Gemeinschaftliche feststellt, sondern auch einen produktiven Streit und Disput sucht. Dazu dient auch dieser Demografiegipfel als ein Ort der gegenseitigen Achtung und des gegenseitigen Respekts, aber auch der Auseinandersetzung mit verschiedenen Meinungen und der produktiven Entwicklung gemeinsamer Ideen. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag mit diesem Demografiegipfel.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Besuch des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen am 15. März 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-besuch-des-deutschen-zentrums-fuer-neurodegenerative-erkrankungen-am-15-maerz-2017-372274
Wed, 15 Mar 2017 14:31:00 +0100
Im Wortlaut
Bonn
Sehr geehrte Frau Ministerin Schulze, sehr geehrter Herr Professor Nicotera, sehr geehrte Frau Helling-Moegen, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Annette Schavan, sehr geehrter Thomas Rachel, sehr geehrte Frau Kollegin – die Lokalmatadoren und alle anderen Abgeordneten schließe ich in den Gruß mit ein –, sehr geehrter Herr Professor Wiestler, der Neubau des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen ist hier oben auf dem Bonner Venusberg kaum zu übersehen. So kann auch symbolhaft von einem Leuchtturm der Forschung gesprochen werden. Er strahlt weithin die Hoffnung aus, dass Patienten, die unter neurodegenerativen Erkrankungen leiden, in Zukunft besser geholfen werden kann. Auffällig ist das räumliche Ineinandergreifen der drei Gebäudekomplexe. Diese Architektur veranschaulicht die Zusammenarbeit verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen. Sie alle eint hier letztlich das Ziel: „Forschung für den Menschen – Für ein gesundes Leben!“ Gesundheitsforschung ist schlichtweg die Grundlage für medizinischen Fortschritt, der jedem von uns zugutekommen kann und soll. In kaum einem anderen Forschungsbereich liegt der Nutzen neuer Erkenntnisse für die breite Mehrheit so klar auf der Hand. Nun wissen wir aber auch: Erkenntnisgewinn kann nicht einfach vorprogrammiert werden. Aber er setzt zumindest verlässliche Strukturen voraus. Die Antwort der Bundesregierung darauf ist unser „Rahmenprogramm Gesundheitsforschung“. Dass es ein solches Rahmenprogramm gibt und dass die Institutionen hierfür gefunden wurden, hat sehr viel mit Annette Schavan zu tun. Dafür möchte ich ein herzliches Dankeschön sagen. Das Programm ist dann auch kontinuierlich fortgeführt worden. Ich kam selbst aus der Grundlagenforschung und habe immer gesagt: Da kannst du nichts prognostizieren; da musst du einfach Raum lassen. Aber ich habe von Annette Schavan gelernt, dass bestimmte Strukturen eher zum Erfolg verhelfen. Um diese Fragen von Struktur und Freiheit geht es eigentlich permanent und natürlich auch hier. Auf der einen Seite haben wir im Rahmenprogramm einen Schwerpunkt auf die sogenannten Volkskrankheiten gelegt, wie zum Beispiel Lungen- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder Demenz. Auf der anderen Seite geht es immer auch darum, die Anwendung der Forschungsergebnisse zu beschleunigen. Dazu haben wir die Initiative ergriffen, um Forschungskapazitäten zu bündeln. Gerade in der medizinischen Forschung ist die Frage, wann sie den Menschen auch wirklich in großer Breite zugutekommt, mindestens so wichtig wie in anderen Forschungsbereichen. Insgesamt gibt es nun sechs Deutsche Zentren der Gesundheitsforschung, die sich den bedeutsamsten Volkskrankheiten widmen. Denn die großen Fragen der Gesundheitsforschung lassen sich nur oder auf jeden Fall sehr viel besser disziplin- und einrichtungsübergreifend beantworten. Daher dürfen wir, so glaube ich, auf das breite Netzwerk aus Kliniken, Hochschulen und Forschungseinrichtungen hierzulande durchaus stolz sein. Schon jetzt lässt sich sagen: Die Verknüpfung von präklinischer und klinischer Forschung ist von großer Bedeutung. Den sechs Deutschen Zentren ist es in relativ kurzer Zeit gelungen, neue Konzepte für Diagnosen und Therapien zu entwickeln. Das hat ihnen im In- wie im Ausland bereits hohe Reputation eingebracht. Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen gibt es schon seit 2009. An neun Standorten stellen sich über 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus verschiedenen Nationen in den Dienst der Forschung. Sie überwinden dabei Instituts- und Fächergrenzen, um den Dingen auf den Grund zu gehen, von denen außer ihnen nur die Allerwenigsten etwas verstehen. Zu verstehen ist für die große Mehrheit der Laien immerhin, wie wichtig ihre Forschungsarbeit für unser aller Gesundheit ist. Lieber Herr Professor Nicotera, liebe Frau Helling-Moegen, was Sie in wenigen Jahren ins Rollen gebracht haben, aufgebaut haben, erreicht haben, ist in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug zu schätzen. Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen ist noch keine zehn Jahre alt, genießt aber schon einen ausgezeichneten Ruf. Die Qualität der Arbeit spiegelt sich in zahlreichen Fachpublikationen, in Wissenschaftspreisen wie zum Beispiel dem Leibniz-Preis oder auch in der Förderung des Europäischen Forschungsrats ERC wider. Daran lässt sich auch ablesen, wie viel Aufmerksamkeit den Forscherinnen und Forschern und ihrem Forschungsgebiet gilt. Wurden vor nicht allzu langer Zeit Demenz oder Parkinson noch mehr oder weniger als hinzunehmende Begleiterscheinungen des Alters angesehen, so hat sich diese Wahrnehmung glücklicherweise inzwischen geändert. Neurodegenerative Erkrankungen werden als die Herausforderung angenommen, die sie sind: schmerzlich für die Betroffenen und ihre Angehörigen, kräftezehrend für das Personal in Pflegeheimen und letztlich auch belastend für unser gesamtes Gesundheitswesen. Heute leben rund 1,6 Millionen Demenzkranke in Deutschland; Tendenz weiter steigend. Das liegt insbesondere daran, dass immer mehr Menschen ein höheres Alter erreichen; natürlich auch dank des medizinischen Fortschritts. So erfreulich eine höhere Lebenserwartung ist – mit zunehmendem Alter steigt aber auch das Risiko, Demenz oder andere neurodegenerative Erkrankungen zu erleiden. Diese könnten Schätzungen der WHO zufolge in wenig mehr als zwei Jahrzehnten sogar Todesursache Nummer zwei werden; gleich nach den Herz-Kreislauf-Leiden. Was für einen tiefen Einschnitt eine Erkrankung für Betroffene wie auch für Angehörige, Freunde und Bekannte bedeuten kann, darüber hat zum Beispiel Inge Jens geschrieben, die ihrem Mann, Walter Jens, der an Demenz erkrankte und dem sich die Welt der Worte und des klaren Denkens mehr und mehr verschloss, bis zuletzt beigestanden hat. In ihrem Buch vertraut uns Inge Jens an – ich möchte sie zitieren –: „Ich bin überzeugt, er hat genau registriert, wie ihm alles entglitt, wie er aufhörte, schreiben zu können, wie das Lesen und schließlich – parallel – auch das Sprechen unmöglich wurden. […] Der Verlust eines Partners, der zwar noch lebt, aber dennoch für immer entschwunden ist, hinterlässt tiefe Spuren.“ Soweit Inge Jens. Diese Worte lassen uns vielleicht ansatzweise erahnen, was Demenzkranke und ihre Angehörigen durchmachen. Mit dem fortschreitenden Verlust der Erinnerung, der Lebenserfahrung und der Möglichkeiten, sich anderen mitzuteilen, geht der Verlust einer vertrauten Persönlichkeit einher – langsam und unwiederbringlich. Dies lässt so manchen hilflos verzweifeln. Die Diagnose Demenz ist ein bitterer Einschnitt für Betroffene wie für Angehörige. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Die medizinische Forschung beginnt erst, die komplexen Ursachen von Demenzerkrankungen zu verstehen. Wir alle hoffen natürlich auf Fortschritte: angefangen bei der Grundlagenforschung zur Vorbeugung und möglichst frühzeitigen Diagnose über die klinische Forschung zur Entwicklung neuer und wirksamer Behandlungsmethoden bis hin zur optimalen Versorgung und Pflege. Es ist also ein breites Aufgabenspektrum, dem sich das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen widmet. Als ausgewiesene Experten haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Anspruch, ihre Forschungsergebnisse schnell und effizient zur praktischen Anwendung zu bringen. Hierfür ist es von besonderer Bedeutung, auch schwerstkranke Patienten in die Arbeit einbeziehen zu können. Der Bundestag hat umfassend und sehr ausführlich über diese schwierige ethische Frage beraten. Das Ergebnis ist ein Kompromiss, der auf der einen Seite dem Patientenwohl und auf der anderen Seite dem berechtigten Wunsch nach medizinischem Fortschritt Rechnung trägt, damit andere Erkrankte von den Forschungsergebnissen profitieren können. Das heißt, unter eng begrenzten Voraussetzungen wird die Forschung erlaubt, auch wenn die betroffene Person zu dem Zeitpunkt, zu dem die Forschung stattfindet, nicht mehr einwilligen kann. Dennoch wird dem Recht auf Selbstbestimmung großer Wert beigemessen. Es muss gegebenenfalls zu einem früheren Zeitpunkt eine ärztliche Beratung erfolgt sein, nach der die Bereitschaft zur Teilnahme an der Forschung klar erklärt werden musste. Fest steht: Die Lebensqualität von Erkrankten allgemein hängt in hohem Maße von der Qualität der medizinischen und der pflegerischen Versorgung ab. Ein Großteil der Pflege liegt in familiärer Hand. Sie ist außerordentlich anstrengend – körperlich wie psychisch. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren sehr viel getan, um pflegende Angehörige zu unterstützen. Wir haben die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf verbessert und die Pflegeversicherung in einem Umfang ausgeweitet, der in ihrer zwanzigjährigen Geschichte beispiellos ist. Unser erstes Pflegestärkungsgesetz hat bereits deutliche Verbesserungen für alle rund 2,7 Millionen Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen gebracht. Vor allem die Leistungen für die Pflege zu Hause haben wir angepasst, um Angehörige zu entlasten. Das zweite Pflegestärkungsgesetz ist in großen Teilen zu Beginn dieses Jahres in Kraft getreten. Die neuen Regeln stellen den jeweiligen individuellen Unterstützungsbedarf noch stärker in den Vordergrund. Es gibt jetzt fünf Pflegegrade statt der drei Stufen, die es bisher gab. Wir setzen auf Unterstützungsangebote, um Selbständigkeit zu fördern und soweit wie möglich zu erhalten. Das kommt ja auch Ihrer Arbeit zugute. Denn wir hatten bis jetzt eine Pflegeversicherung, die auf Demenzerkrankungen nicht richtig reagiert hat. Deshalb haben wir an dieser Stelle sozusagen Vorsorge getroffen für alle Forschungsergebnisse, die wir noch erwarten. Wir können bei dieser Einstufung auf die Forschungsergebnisse des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen zurückgreifen. Die Versorgungs- und Pflegeforschung ist bei Ihnen in die Arbeit der verschiedenen Disziplinen eingebunden. In enger Kooperation mit der Uniklinik Bonn arbeiten verschiedene Berufsgruppen Hand in Hand, um eine vernünftige Rundumversorgung zu ermöglichen. Das ist in dieser Form nahezu einmalig in Deutschland. Die Pflege hat durch das Engagement der Forschung, aber auch der Politik in den vergangenen Jahren mehr Raum gewonnen. Ohnehin stehen wir in Politik und Forschung grundsätzlich in der Verantwortung, drängende Fragen zum Gemeinwohl aufzugreifen. Um klarzustellen, welche für uns die Kernthemen sind, wie wir sie angehen und wo wir die Kräfte bündeln, gibt es die Hightech-Strategie, auf die auch Sie hier schon hingewiesen haben. Zu den prioritären Aufgabenfeldern, die definiert wurden, zählt eben auch gesundes Leben. Natürlich reicht es nicht, uns vordringliche Forschungsaufgaben nur bewusst zu machen. Aufgaben wahrzunehmen, heißt vielmehr auch, Ausgaben vorzunehmen. Deshalb hat die Bundesregierung ihre Forschungsmittel seit dem Jahr 2005 kontinuierlich erhöht. Der Haushalt des zuständigen Ministeriums hat sich seither mehr als verdoppelt. Das haben wir geschafft, ohne an unserem Ziel eines ausgeglichenen Bundeshaushalts zu rütteln. In diesem Zusammenhang haben wir von einer wachstumsorientierten Konsolidierung gesprochen. Das heißt, wir nutzen Spielräume, um uns gezielt Wachstumspotenziale zu erschließen. Das bedeutet, gerade auch in Forschung zu investieren, in Entwicklung zu investieren, in Innovation zu investieren. Im Bereich Gesundheit möchte ich, dass wir in den nächsten Jahren noch ehrgeizigere Ziele verfolgen. Es gilt, mit jeweils einer zusätzlichen Milliarde Euro den Kampf gegen Krebs noch erfolgreicher zu führen, das Fortschreiten der Demenz aufzuhalten und wirksame Antibiotika gegen multiresistente Keime zu entwickeln. Ich möchte auch, dass wir der Gesundheit unserer Kinder in unserer Gesellschaft einen noch höheren Stellenwert einräumen und daher der Kinder- und Jugendmedizin ebenfalls ein Deutsches Zentrum für Gesundheitsforschung widmen. Es muss ja immer weitergehen. Ich möchte, dass die Lebensqualität der Menschen noch stärker in den Mittelpunkt unserer Gesundheits- und Gesundheitsforschungspolitik rückt. Viele Menschen in jüngeren Lebensjahren sorgen sich, ob ihnen genügend gesundheitliche Versorgung zur Verfügung steht. Gegen Ende des Lebens fürchtet man manchmal auch eine Überversorgung, die zu mehr Leid und nicht zu besserer Lebensqualität führt. Ja, Über-, Unter- und Fehlversorgung müssen wir gleichzeitig minimieren. Es gilt also, überall das Optimum zu erreichen, um Lebensqualität wirklich zu sichern. Deshalb möchte ich, dass in Forschung und Krankenversorgung gemeinsam die Frage beantwortet wird: Welche Therapie nützt den Menschen wirklich? Und ich möchte, dass wir auf der Grundlage einer großen empirischen Datenbasis, zum Beispiel auch durch eine nationale Lebensqualitätskohorte – das Rheinland geht hierbei schon mit gutem Beispiel voran –, diese Frage umfassend beantworten und die Lebensqualität noch mehr als bisher zum Leitmotiv für Versorgungsentscheidungen machen, also immer nach der Lebensqualität fragen. Ich glaube, dass uns gerade auch die Verarbeitung großer Datenmengen – Sie haben in Ihrer Rede vorhin darauf hingewiesen – noch unerkannte Möglichkeiten eröffnet, Strukturen zu erkennen, mit denen wir in Zukunft sehr viel effizienter und sehr viel näher am Menschen arbeiten können. „Deutschland 2025“ – das heißt für mich auch, durch mehr Forschung die großen Geißeln der Gesundheit zu besiegen, ein auf die Lebensqualität der Menschen ausgerichtetes Gesundheitswesen. Daran wollen wir in den nächsten Jahren arbeiten. Forschung ist die Grundlage, um in Zeiten großer Veränderungen eigene Akzente setzen zu können – zum Beispiel mit Blick auf die Globalisierung, die Digitalisierung, den Klimawandel, das weltweite Bevölkerungswachstum oder die demografischen Veränderungen bei uns. Von wissenschaftlichen Erkenntnissen und ihrer praktischen Anwendung – davon bin ich überzeugt – hängt viel für unser künftiges Wohlergehen ab. Das gilt natürlich nicht nur bei uns hierzulande, sondern weltweit. Und ich sage: Gerade die Gesundheitsforschung hat eine zentrale Bedeutung auch hinsichtlich der Frage der Akzeptanz von Forschung. Wir wissen ja, dass es Forschungsgebiete gibt, bei denen die Menschen in Deutschland durchaus sehr skeptisch sind. Wir sehen am Beispiel der Gesundheitsforschung, was alles mit einfließt. Wenn Sie keine ordentlichen Geräte haben, wenn Sie keine ordentlichen Rechner haben, wenn Sie keine ordentlichen mathematischen Methoden haben, sind Sie ja auch aufgeschmissen. – Hier spricht eine ehemalige Physikerin. – Es geht also nicht nur um Medizin, sondern immer um alles, was zur Lebensqualität beiträgt. Nur so werden wir sie wirklich verbessern. Das immer wieder zu sagen, ist wichtig. Darin liegt auch eine besondere Bedeutung des heutigen Tages. Als leistungs- und forschungsstarker Nation kommt uns gemeinsam mit den anderen großen Industrieländern im Übrigen für die Gestaltung der Globalisierung eine besondere Verantwortung zu. Das betrifft gerade auch die Gesundheitsforschung. Die Staatengemeinschaft hat sich mit der Agenda 2030 unter anderem das Ziel gesetzt, jeder Frau, jedem Mann und jedem Kind auf der Welt die Chance auf ein gesundes Leben zu geben. Wir wissen, dass bis dahin noch ein sehr langer Weg vor uns liegt. Aber wir in Deutschland können mit unseren Partnern weltweit einiges in Gang bringen, um Schritt für Schritt voranzukommen. Unser Kernanliegen ist – das haben wir in unserer G7-Präsidenschaft deutlich gemacht; und das machen wir auch jetzt während unserer G20-Präsidentschaft –, globale Gesundheitsrisiken zu minimieren und den Ausbruch gefährlicher Infektionskrankheiten möglichst zu verhindern. Die Ebola-Krise haben wir alle noch vor Augen. Es gab mehr als 28.600 Erkrankte, über 11.300 Tote. Diese Zahlen sind eine eindringliche Mahnung, Lehren aus dieser Epidemie zu ziehen. Im Übrigen hatten wir bei Ebola noch Glück im Unglück, weil sich diese Krankheit relativ langsam verbreitet hat. Wenn wir an die Spanische Grippe Anfang des 20. Jahrhunderts denken, so zeigt uns dies, dass wir unter den heutigen vernetzten Bedingungen der Globalisierung ganz anders vorbereitet sein müssen. Wir haben in einem Prozess Empfehlungen erarbeitet, um die globale Gesundheitsarchitektur zu stärken. Zum einen geht es um weitreichende Prävention und zum anderen um eine schnelle, koordinierte internationale Antwort, wenn es doch wieder zu einem Ausbruch gefährlicher Infektionskrankheiten kommt. Die G20-Gesundheitsminister werden sich treffen, um zum ersten Mal anhand einer Simulation eines fiktiven Krisenfalls darüber zu sprechen, wie man einer Epidemie begegnen kann. Die Staats- und Regierungschefs werden dann auch darüber diskutieren. Wir schenken auch dem Thema Antibiotikaresistenzen erhöhte Aufmerksamkeit. Denn alle Anstrengungen für bessere Strukturen nutzen wenig, wenn die notwendigen Therapien fehlen beziehungsweise durch Resistenzen ihre Wirkung verlieren. Klar ist – das erleben Sie hier auch –: Bei all diesen Themen können nur durch eine enge internationale Zusammenarbeit wirklich Fortschritte erzielt werden. Das ist auch der Grund, warum wir im Rahmen der G20 der globalen Gesundheit einen politischen Schwerpunkt einräumen. Meine Damen und Herren, dem politischen Ziel eines gesunden Lebens können wir uns nur über eine lebendige Forschungslandschaft nähern. Dies erfordert Investitionen – auch in Gebäude. Dieser Neubau ist ein Vorzeigebeispiel der Kooperation von Bund und Ländern – in diesem Fall von Bund und Land Nordrhein-Westfalen, von dem der überwiegende Beitrag für den Bau kommt. Ich glaube, dass wir hier gemeinsam Gutes erreichen können. Hier ist einer der modernsten Forschungsbauten in Europa entstanden. Mit ihm erhält das DZNE in bildlichem wie in wörtlichem Sinne Raum für hervorragende Arbeitsbedingungen. Die Aufbruchsstimmung bei der Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen ist an diesem Ort förmlich zu spüren. Auch viele Besucher werden, glaube ich, noch vieles über diese Krankheiten lernen. – Ich finde es sehr berührend, dass Sie hier mit der Handschrift und der Farbgestaltung sozusagen den Ausgangspunkt des Verlustes von Fähigkeiten zum Ausdruck bringen bis hin zu dem, was man am Endpunkt noch erfassen kann. Wir brauchen diese Aufbruchsstimmung. Und wir brauchen Menschen wie Sie, die diese Aufbruchsstimmung leben, die Sie Ihre Erfahrungen, Ihre Ideen, Ihre Leidenschaft für die Forschung in Ihre tägliche Arbeit einbringen. Forschungsergebnisse können wir nicht staatlich befehlen. Wir können den Menschen Geld in die Hand geben, aber nicht sagen: Bitte denke dir etwas Vernünftiges aus, lass dir etwas einfallen, sei kreativ. Das kommt vielmehr von innen. Das muss natürlich durch gute Bedingungen gefördert werden, aber das ist ein Wert an sich. Ich wünsche Ihnen an der neuen Wirkungsstätte viel Erfolg, viel Freude, viele tolle Erkenntnisse, ehrlich gesagt, auch viel Arbeit – sonst macht Forschen ja keinen Spaß – und viel Geduld. Denn meistens braucht man lange; und oft entdeckt man etwas anderes, als man dachte. In jedem Fall: Alles Gute für Ihre Arbeit.
in Bonn
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verbandstagung des Verbandes kommunaler Unternehmen e.V. am 14. März 2017 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verbandstagung-des-verbandes-kommunaler-unternehmen-e-v-am-14-maerz-2017-in-berlin-322564
Tue, 14 Mar 2017 11:20:00 +0100
Berlin
Lieber Herr Ebling, liebe Katherina Reiche, liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestags und meine Damen und Herren aus der Familie der kommunalen Unternehmen, man kann es so sagen: Das Wetter in Washington hatte ein Herz für die deutschen kommunalen Unternehmen. So stehe ich also nicht im Schneesturm in Washington, sondern vor Ihnen. Das freut mich von Herzen, weil ich weiß, was auf der kommunalen Ebene geleistet wird, weil ich weiß, was Daseinsvorsorge für die Menschen in Deutschland bedeutet, und weil ich auch weiß, in welchem Umbruch Sie mit Ihren Aktivitäten im Augenblick sind. Die Herausforderungen sind groß. Deshalb ist es mir wirklich ein Anliegen, heute zu diesen Fragen zu Ihnen zu sprechen – unter dem Motto „Aufbruch in die neue Daseinsvorsorge“. Die Debatte bei Ihnen ist vor allem von der Digitalisierung und von der Energiewende geprägt. Wir sind sozusagen unentwegt miteinander verbunden, weil alles, was wir an Gesetzen im Bereich Energie, Wasser, Abfall verabschieden, für Sie jedes Mal neue Rahmenbedingungen bedeutet; es bedeutet umzudenken und sich wieder neu einzustellen. Das wirft Fragen auf – ob die Gebühren steigen und was die Menschen vor Ort sagen. Ich sage immer: Der Unterschied zwischen Kommunalpolitikern, denen, die auf der kommunalen Ebene arbeiten, und Bundespolitikern ist der, dass man als Bundespolitiker überall einmal ist, aber nirgendwo beständig, während Kommunalpolitiker am Morgen beim Bäcker oder abends beim Bier immer wieder auf die Menschen treffen, für die sie Entscheidungen fällen, die sie vor Ort rechtfertigen und für die sie argumentieren müssen. Genau das ist die Quelle, an der Vertrauen oder Misstrauen in Politik entsteht. Ich habe eben schon zu Katherina Reiche gesagt: Eigentlich ist ja das halbe Kabinett hier. Dann sagte sie: Was heißt das, das halbe Kabinett? – Alle, die Entscheidungen für die hier Anwesenden treffen; und das stimmt ja auch. Ich freue mich, dass Sie im Grundsatz die Herausforderungen, vor denen Sie stehen, beherzt anpacken. Wir müssen unter sich verändernden Rahmenbedingungen immer wieder die richtigen Leitplanken schaffen. Die Erwartungen an Sie sind groß, weil die Bevölkerung preislich erschwingliche Daseinsvorsorgeleistungen bekommen möchte, aber gleichzeitig auch einen hohen Anspruch an Qualität hat. Es ist ja nicht so, dass die Energiewende, eine ordentliche Abfallpolitik oder sauberes Wasser die Menschen nicht interessieren würden. Vorweg will ich sagen: Ich bekenne mich ausdrücklich – ich darf das, denke ich, auch im Namen der ganzen Bundesregierung sagen – zum Thema Daseinsvorsorge. In der Globalisierung stellt sich uns immer wieder die Frage, was dem reinen Wettbewerb unterstellt werden muss und was eine so breite Bedeutung hat, dass es für die Lebensqualität der Menschen so wichtig ist, dass wir andere oder zusätzliche Standards haben müssen als nur Preisgünstigkeit. Dabei ist der Schutz der Daseinsvorsorge eine Leitplanke, die ihrerseits einen gewissen Schutz verspricht, nicht alles nur der Effizienz zu unterwerfen – was aber natürlich auf der anderen Seite kein Freibrief für Sie ist, möglichst teuer zu arbeiten; das wissen Sie auch. Aber dieser Schutz ist wichtig. Wir vertreten ihn auch auf europäischer Ebene. Gerade auch mit Blick auf die ländlichen Räume und die demografischen Veränderungen wächst seine Wichtigkeit und nimmt nicht ab. Dazu bekennen wir uns. Ich will mit der Energiepolitik beginnen. Dort passiert unentwegt etwas – und Sie sind davon beeinflusst. Wir haben in dieser Legislaturperiode zwei große EEG-Novellen verabschiedet: die Novellen von 2014 und 2016. Angesichts der Tatsache, dass die erneuerbaren Energien jetzt die wichtigste Säule unserer Energieversorgung sind, haben wir versucht, mehr Berechenbarkeit und Voraussagbarkeit in die ganze Energiepolitik zu bekommen. Dazu gehört, dass wir uns zusammen mit den Ländern auf einen Ausbaukorridor von 40 bis 45 Prozent für erneuerbare Energien bis 2025 geeinigt haben. Ein solcher stabiler Ausbaukorridor ist wichtig. Er bedeutet mehr Planungssicherheit. Dennoch wissen wir, dass wir große Schwierigkeiten haben, wenn wir diesen Ausbaukorridor nicht mit Methoden unterfüttern, damit er eingehalten werden kann, weil das jetzt noch geltende EEG-Gesetz, das jedem sozusagen ein Einspeiserecht verschafft, der in die erneuerbaren Energien investiert, nicht die Planbarkeit mit sich bringt, die wir brauchen. Wir brauchen also Versorgungssicherheit, Systemstabilität, Bezahlbarkeit und dann noch die Wende bei der Energieversorgung hin zu mehr erneuerbaren Energien. Deshalb ist die Novelle von 2016 mit der Einführung von Ausschreibungen für den Großteil der Anlagen zur Gewinnung erneuerbarer Energien ein Paradigmenwechsel. Denn damit werden wir ab 2018 die Situation haben, dass Mengen ausgeschrieben werden, womit die Berechenbarkeit sehr viel besser wird. Die Kostenbegrenzung ist entscheidend für die Akzeptanz der Energiewende. Wir denken, dass wir durch Ausschreibungen mehr Kosteneffizienz haben werden. Wir haben im Bereich der Photovoltaik-Freiflächenanlagen Pilotausschreibungen vorgenommen. Damit haben wir interessante Erfahrungen gemacht. Erst hieß es: Das wird gar nichts bringen; die Menge ist viel zu klein – lasst es doch gleich sein. Interessanterweise ist bei den Ausschreibungen herausgekommen, dass der Preis um 28 Prozent gesunken ist – von 9,17 Cent pro Kilowattstunde auf 6,58 Cent pro Kilowattstunde. Wenn sich das bei den anderen Energieformen so fortsetzt, dann kann sich das, denke ich, sehen lassen. Wir wollen auch weiterhin einen breiten Energieerzeugungsmix, weil wir das Zieldreieck aus Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und Bezahlbarkeit im Auge haben. Wir wissen, dass wir nicht von einem Tag auf den anderen aus bestimmten Energieformen aussteigen dürfen. Ich finde, wir dürfen die Menschen auch nicht permanent verunsichern. Ich denke zum Beispiel an die Lausitz oder Nordrhein-Westfalen bezüglich der Braunkohle. Wir werden eine Schritt-für-Schritt-Wende haben, aber wir können hierbei nicht zu hastig vorgehen. Das brächte ganze Regionen in eine völlig inakzeptable Situation. – Ein paar aus der Lausitz und aus Nordrhein-Westfalen scheinen hier zu sein. Aber seien Sie solidarisch. Irgendwann erwischt es auch Sie. Dann ist es immer gut, man hält zusammen. Eine zentrale Herausforderung – das wissen Sie – besteht im Ausbau der Netze. Hierbei geht es erst einmal um die Übertragungsnetze. Wir brauchen vor allen Dingen angesichts des Windzubaus im Norden einen schnelleren Netzausbau von Nord nach Süd. Das stockt, zum Teil auch durch Gerichtsverfahren, für die man keine öffentliche Hand verantwortlich machen kann. Dennoch brauchen wir Übertragungsleitungen. Denn der Strom muss dahin, wo er gebraucht wird. Wir haben schon sogenannte Stromausbaugebiete definiert, in denen die Ausschreibungen für erneuerbare Energien in geringerem Umfang stattfinden werden, damit man das ein wenig kompensiert. Aber gerade im Hinblick auf die Windenergie auf See ist es dringend notwendig, dass wir die Nord-Süd-Leitungen bekommen. Wir haben noch keine ausreichende Synchronisation von Ausbau der erneuerbaren Energien und Leitungsausbau. Das muss man einfach sagen. Deshalb muss besonders am Leitungsausbau, insbesondere bei den Übertragungsnetzen, gearbeitet werden. Ein bisschen in Vergessenheit gerät in der allgemeinen politischen Diskussion manchmal das, was Sie nun auch sehr beschäftigt. Das sind die Verteilernetze, die für die Stadtwerke und Regionalversorger von großer Bedeutung sind. Daher haben wir im vergangenen Jahr den Investitionsrahmen nochmals grundlegend modernisiert. Sie als Betreiber sollen die nötigen Investitionen tätigen und zeitnah refinanzieren können. Mit dem Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende haben wir auch den Startschuss für mehr Intelligenz im Netz gegeben. Das wird die Steuerung der Netze erleichtern. Wir werden dann auch die Möglichkeiten haben, die Verbraucher – Stichwort: „Smart Home“ – besser in die Lage zu versetzen, bei sich zu Hause effizient und kostengünstig mit Strom umzugehen. Hier sehen wir, dass der digitale Wandel schrittweise auch die Geschäftsmodelle der Akteure verändern wird. Das ist theoretisch schon lange bekannt. Praktisch ist es noch nicht so richtig umgesetzt. Aber je schneller wir das machen oder je schneller Sie das machen, umso interessanter und besser wird es gehen und umso moderner und kosteneffizienter können wir auch arbeiten. Ich will an dieser Stelle einen Einschub machen, der für Sie jetzt nicht direkt wichtig ist, aber der insgesamt für das Land wichtig ist. Wir haben bei den Verhandlungen über die Bund-Länder-Finanzen aus Bundessicht einen wesentlichen Punkt erreicht. Wir haben uns nämlich mit den Ländern darauf geeinigt, dass wir ein Bürgerportal für jeden Bürger, also einen einheitlichen digitalen Zugang zur öffentlichen Verwaltung, erarbeiten werden. Das schließt dann natürlich im nächsten Schritt auch die Kommunen mit ein. Das wird natürlich auch finanzielle Herausforderungen bedeuten. Darauf werden wir dann auf Bundesseite in der nächsten Legislaturperiode reagieren müssen. Jeder Bürger, egal welche Dienstleistung er vom Staat in Anspruch nimmt, soll also einen einheitlichen Internetzugang haben – ein Portal, mit dem er arbeiten kann und über das die Dienstleistungen des Staates eben einfach auch digital angeboten werden. Warum sage ich das an dieser Stelle? Ich sage das deshalb, weil ich glaube, dass es in einer Gesellschaft, die ja im Zuge des demografischen Wandels tendenziell älter wird, ganz wichtig ist, dass auch der Staat mit den Bürgern im Rahmen digitaler Möglichkeiten kommuniziert, weil die Bürgerinnen und Bürger sonst nicht das richtige Verständnis für das haben werden, was sich da an technologischer Revolution abspielt. Wenn ich sozusagen immer noch alles per Hand ausfüllen muss, wenn ich immer noch zur Kfz-Zulassungsstelle gehen muss und mich dort anstellen darf, wenn ich einen Termin beim Bürgeramt bekomme, und der einzige digitale Zugriff ist, dass ich innerhalb von drei Minuten meinen Termin abgreifen muss, weil sonst bis zum nächsten Monat wieder nichts erreichbar ist, dann ist das keine Erfahrung, die der Bürger sonst mit Digitalisierung macht, die ihn irgendwie neugierig darauf macht, auch noch weiterzugehen. Insofern, glaube ich, wird das sehr wichtig sein. Deshalb wird die Digitalisierung natürlich auch nicht nur die großen Energieversorger in Beschlag nehmen, sondern sie wird auch für Sie auf der kommunalen Ebene von großer Bedeutung sein. Wenn wir bei der Energie sind, dann will ich noch kurz ein Wort zur Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung sagen: Wir haben das maximale Fördervolumen von 750 Millionen Euro auf 1,5 Milliarden Euro pro Jahr verdoppelt. Das waren schwierige parlamentarische Beratungen. Wir haben darüber auch eine Einigung mit der Europäischen Kommission erreicht; das war auch nicht einfach. Dass wir diese effiziente Art der Energieerzeugung erhalten und weiter ausbauen können, ist deshalb für Sie, glaube ich, eher eine gute Nachricht. Damit bin ich auch schon beim Thema Gas. Denn Gas wird weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Wir brauchen grundlastfähige Formen der Energieversorgung, wenn wir den Ausbau der erneuerbaren Energien voranbringen. Die Erdgasinfrastruktur ist in Deutschland ein wichtiger Baustein unserer diversifizierten Energieversorgung. Für mehr als 40 Millionen Menschen in Deutschland dient Erdgas zur Wärmeversorgung. Das ist die Hälfte der Bevölkerung. Deshalb müssen wir die Einspeisung von erneuerbaren Energien und den Gasbereich sehr eng zusammen sehen. Damit sind wir dann so gut wie beim Thema Klimaschutz. Das Pariser Abkommen ist Ihnen bekannt. Wir haben noch viel zu tun. Die allgemeine internationale Verabredung lautet, eine Erderwärmung von nicht mehr als zwei Grad – besser: nicht mehr als 1,5 Grad – stattfinden zu lassen. Darum geht es international, natürlich auch während unserer G20-Präsidentschaft. Es gibt aber auch ehrgeizige europäische Zielvorgaben: Bis 2030 mindestens 40 Prozent CO2-Verringerung. Für Deutschland gilt das schon bis 2020. Wir haben in Europa auch einigermaßen vernünftige Einigungen zum Emissionshandel erzielt. Der Umweltrat hat sich darauf verständigt, das Instrument zu stärken und den Abbau der Überschüsse durch die Marktstabilitätsreserve zu beschleunigen, sodass wir eher dazu kommen, einen vernünftigen Preis für CO2 zu haben. Außerdem haben wir uns anstrengen und sehr darum ringen müssen, dabei auch die Rahmenbedingungen für eine wettbewerbsfähige europäische Wirtschaft zu erhalten. Die Benchmarks, nach denen sich die kostenlose Zuteilung richtet, sollen nur sehr moderat abgesenkt werden. Das bedeutet also, dass wir für unsere Wirtschaft Gutes erreicht haben. Dann gibt es allerdings noch die Aufteilung des Ziels in dem Bereich, der nicht vom Emissionshandel erfasst ist. – Wir haben ja eigentlich tendenziell immer noch zu viele Instrumente. – Wir haben etwa den Gebäudebereich und den Verkehrsbereich, die nicht vom Emissionshandel erfasst sind. Andere Teile sind vom Emissionshandel erfasst. Dadurch müssen wir wieder ordnungsrechtliche Instrumente oder andere Instrumente anwenden. Hier müssen wir die nationale Aufteilung innerhalb der Europäischen Union noch hinbekommen; das wird noch einmal recht schwierig werden. Aber ich glaube, Sie sind daran interessiert, dass Sie auch hierbei einen klaren Ordnungsrahmen bekommen – insbesondere auch, was den Gebäudebereich anbelangt. Wir haben sehr viel über den Klimaschutzplan 2050 diskutiert. Dieser ist verabschiedet worden, hat aber noch viele Elemente, die diskutiert werden müssen. Ich glaube, es war richtig, nicht schon alles festzulegen, sondern zu sagen: Wir brauchen eine Diskussionsphase. Ich bitte Sie, sich auch daran intensiv zu beteiligen. Das gilt natürlich auch für die deutsche Wirtschaft. Wir müssen gemeinsam vorgehen, denn Vorgaben einfach so von oben helfen nicht unbedingt jedem weiter. Unser Problem ist – ich denke, da müssen wir uns in der nächsten Legislaturperiode auch einmal entscheiden –, dass wir immer sagen: Bis 2050 wollen wir technologieneutral und kosteneffizient eine CO2-Reduktion um 80 Prozent bis 95 Prozent erreichen. Aber zwischen 80 Prozent und 95 Prozent besteht natürlich ein großer Unterschied. Ob man sich bis 2050 auf 95 Prozent oder auf 80 Prozent ausrichtet, ist noch einmal eine große Frage. Ich will dem jetzt hier nicht vorgreifen, aber das muss aus meiner Sicht Anfang der nächsten Legislaturperiode entschieden werden, weil sich daran vieles aufhängt. Die nächste Legislaturperiode dauert über 2020 hinaus. Dann haben wir noch rund 30 Jahre Zeit. 30 Jahre sind eigentlich nicht viel; das ist der gleiche Zeitraum wie von 1990 bis 2020. Und deshalb muss bald Klarheit geschaffen werden. Nun geht es natürlich auch um die Frage: Was machen Sie auf der kommunalen Ebene? Hier kommen die Mitgliedsunternehmen ganz konkret ins Spiel. Sie werden diese Zielvorgaben dann eben auch in Ihre Arbeit aufnehmen. Das gilt für die erneuerbaren Energien – da liegt noch eine Menge Arbeit vor uns –, aber das gilt natürlich auch für die anderen Fragen, bei denen wir ordnungsrechtlich immer wieder Vorgaben machen, zum Beispiel für Abfall und Abwasser. Aber noch einmal zu den erneuerbaren Energien: Gerade auch der Fahrzeugpark spielt natürlich eine Riesenrolle. Darauf möchte ich das Augenmerk noch einmal kurz lenken. Ich weiß zum Beispiel, dass Städte wie Hamburg schon neue Wege gehen, was Emissionsarmut, Luftreinhaltung usw. anbelangt. Das betrifft im Grunde eben auch die Frage der CO2-Emissionen. Ich weiß, dass sehr viele Kommunen hierbei mit gutem Beispiel vorangehen, was Erdgasbusse und vieles andere anbelangt. Ich kann Sie also nur ermuntern. Wenn ich sehe, was zum Beispiel auch die Deutsche Post AG mit ihren Transportfahrzeugen gemacht hat, dann sage ich: Es geht. Seien Sie durchaus, wo immer es Ihnen Spaß macht, Vorreiter auf diesem Gebiet. Ich glaube, das wird sich auszahlen. Wir werden Ihnen auch mit unserer Nationalen Klimaschutzinitiative Hilfe leisten. Ein Stichwort neben dem Fahrzeugpark ist die Energie- und Ressourceneffizienz von Rechenzentren, ein anderes die schöne LED-Technologie. Die Straßenlampe der Zukunft kann ja fast alles. Sie ist nur, glaube ich, ein bisschen teurer als die bisherige, aber ansonsten gibt es tolle Modelle, wie ich immer wieder auf Messen sehe. – Hier vorne lacht jemand; aber das ist so. – Ich sage einmal: Wenn Sie von Ihren Kommunen viel Geld zur Verfügung gestellt bekommen würden, dann würde ich gerne einmal moderne Straßenlampen einkaufen. Was kann man damit alles machen. Natürlich geht es auch um die Minderung von Treibhausgasemissionen in stillgelegten Abfalldeponien. Das alles sind kleine Beiträge, die aber in der Summe zu sehr viel mehr Effizienz führen werden. Das zweite Thema neben der Energie ist die Wasserwirtschaft. Wir haben nach langer Diskussion die Grenzwerte verändert, was die Nitrate im Grundwasser anbelangt, und haben das Düngerecht geändert. Das war eine ewige Diskussion. Der Bundestag hat das jetzt aber beschlossen. Dann muss auch die Düngeverordnung entsprechend dem Düngegesetz angepasst werden. Es wird auch neue Anforderungen für die Lagerung wassergefährdender Stoffe geben. Alle drei Maßnahmen sollen Ende des Monats den Bundesrat passieren. Ich glaube, das ist für Sie im Grunde eine gute Nachricht, weil die Wasserqualität verbessert wird. Die Landwirte haben eher damit zu kämpfen; das liegt in der Natur der Sache. Ich glaube aber, dass Gewässerschutz und sauberes Trinkwasser durchaus ein wichtiger Bereich sind. Im Bereich der Abfallwirtschaft haben wir ein neues Verpackungsgesetz. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie Sie darüber denken. Die Freude hält sich in Grenzen, ja? Gut. Na ja, nehmen Sie es, wie es ist; und halten Sie es ein. Ich sage einmal: Seit meiner Zeit als Umweltministerin ist in der Verpackungswelt so viel passiert, dass ich durchaus manchmal Schwierigkeiten habe, nachzukommen. Sie kennen das alles aber und Sie werden den Bürgerinnen und Bürgern auch klar machen, wie sich das verändert. Das ist also auch eine Kommunikationsaufgabe. Jetzt komme ich zu etwas Schönem, nämlich zum digitalen Wandel. Neue datengetriebene Geschäftsmodelle und Plattformen erobern die Märkte. Ich vermute, dass Sie nicht über alles glücklich sind, weil sich manch einer zum Teil auch einen schlanken Fuß macht. Nur noch Plattformen und Vermarktung sind ein bisschen wenig, um eine nachhaltige Energieversorgung und eine nachhaltige Wasserversorgung sicherzustellen. Ich glaube, es gibt auch schon erste Beispiele, die zeigen, dass Menschen gelernt haben, dass der billigste nicht immer der nachhaltigste Anbieter ist. Es ist eigentlich ein schönes Beispiel für Daseinsvorsorge in ihrer ganzen Tiefe, wenn man sagt: Okay, wir wollen durchaus differenzierte Angebote haben, aber wir müssen einfach auch sehen, dass irgendjemand die Energie auch erzeugen muss und sich irgendjemand dann auch um die Leitungen kümmern muss. Dieselbe Situation haben wir im Grunde auch bei der Breitbandversorgung. – Darauf komme ich gleich noch zu sprechen. Dennoch, die Wertschöpfungsketten werden verändert. Wenn wir über Industrie 4.0 sprechen – das gilt im Grunde auch für „Daseinsvorsorge 4.0“ –, dann ist ja Folgendes zu beachten: Das eine ist die Digitalisierung in der Erzeugung des Produkts, also etwa beim Management der Abfallentsorgung, bei der Erzeugung erneuerbarer Energien, beim Wassermanagement; aber der eigentliche Punkt, bei dem wir in Deutschland nicht vorn sind – auch wenn ich die Wirtschaft insgesamt anschaue –, ist, dass sich die Beziehung zum Kunden revolutioniert. Der Kunde wird mündiger, der Kunde erwartet ein passgerechtes, individualisiertes Angebot bei allem und jedem. Und derjenige, der als erster in der Lage ist, die Wünsche seiner Kunden zu kennen und darauf am besten zu reagieren, weiß die Digitalisierung am besten zu managen. Deshalb meine herzliche Bitte: Bleiben Sie nicht dabei stehen, die Produktion, die Erzeugung oder das Management im eigenen Unternehmen zu digitalisieren. Das ist wichtig, das ist selbstverständlich und das können wir auch ganz gut. Aber der eigentliche Punkt, bei dem wir auch mit den Amerikanern und Asiaten in einen Wettbewerb treten, ist: Wer weiß am meisten über seine Kunden? Wenn Sie sich zum Beispiel die neuen Modelle im öffentlichen Personennahverkehr anschauen, dann stellen Sie fest, dass es ganz wichtig ist, über Ihre Kunden viel zu wissen. Katherina Reiche hat als erstes nach „door to door“ gefragt. Das ist jetzt ein Beispiel, ich mache aber keine Werbung für irgendjemanden; es mag andere Beispiele geben. Wenn Sie aber die Wünsche Ihrer Kunden kennen – egal, ob es in der Stadt oder im ländlichen Raum ist –, werden Sie in der Lage sein, wirklich revolutionär und effizienter diese Wünsche zu befriedigen. Und dann werden Sie zum Beispiel die „front runner“ in der Frage der Mobilität sein. Da müssen wir aber sukzessive und aufmerksam durchgehen: Was steht dem im Wege? Wenn ich jetzt einmal an einen Landkreis oder an eine Stadt denke – da gibt es beispielsweise den öffentlichen Personennahverkehr, da gibt es Tarifverträge für Busfahrer oder für Straßenbahnfahrer. Und nun kommt einer senkrecht von außen und sagt: Pass einmal auf, ich mache dir das alles ganz einfach – zwischen 20 Uhr und 5 Uhr morgens brauchst du überhaupt nichts mehr von diesen großen Angeboten, du kannst das alles individualisiert machen; und deine Leute werden doppelt so froh sein. Was sage ich dann dem Busfahrer? Wie muss ich ihn umqualifizieren? Ist er bereit, auch einen kleinen Van zu fahren und nur sechs Mann zu transportieren? Wie bekomme ich Flexibilität hin? Meine Bitte ist: Wir müssen über dieses wichtige Thema insgesamt auch mit den Gewerkschaften reden. – Jetzt sitzt gerade die Falsche hier, denn das betrifft mehr Herrn Bsirske. – Ich meine das aber ganz ernst. Wenn wir 20 Jahre brauchen, um alles umzustrukturieren, dann werden private Anbieter kommen, die alles irgendwie besser machen. Sie werden dann sozusagen alles einstellen können, weil keiner mehr den Bus nutzt, der nur alle drei, vier Stunden kommt oder morgens zur Schulzeit; und abends, wenn das Kind zurückkommt, kann auch die Großmutter noch einmal irgendwie zum Einkaufen fahren. Das jetzt so zu machen, dass die Leute keine Angst bekommen, keine Panik bekommen, und zu sagen „Okay, wir lassen uns darauf ein“ und vonseiten Ihrer Unternehmen zu sagen „Wir kümmern uns um jeden Einzelnen, wir wollen keine Arbeitsplätze vernichten, wir wollen kein Lohndumping“, das wird aus meiner Sicht ganz, ganz wichtig sein. – Sie sind so stumm, dass ich ganz unruhig werde, aber ich glaube, ich habe recht. Ich bin mir sogar ganz sicher, dass ich recht habe. Gestern hat mir auf der Handwerksmesse in München einer aus Thüringen erzählt, was alles auf seinem Gewerbegebiet nicht geht, und gesagt, dass ich mit meinen digitalen Träumen aufhören solle, denn er brauche erst einmal eine Breitbandanbindung. Das ist richtig, deshalb haben wir ja auch ein Förderprogramm und das sogenannte DigiNetz-Gesetz – auch ein komischer Name – auf den Weg gebracht, um den Ausbau mit Glasfaser besser voranzubringen. Wie Sie wissen, haben wir uns das Ziel von 50 Megabit pro Sekunde für jeden Haushalt gesetzt. Das hilft Ihnen in einem Gewerbegebiet aber gar nicht. Die Gewerbegebiete müssen auch wirklich angebunden werden. Auch die Schulen müssen angebunden werden – auch damit werden wir uns auseinandersetzen. Und die Anbindung muss so erfolgen, dass das dann auch in die 5G-Generation hineinreicht und wir Echtzeitdatenübertragung haben können, damit all die schönen, modernen Technologien dann auch wirklich nutzbar sind. Die Bandbreite muss da sein, damit man in einem Gewerbegebiet, wenn daneben noch eine Schule steht, nicht sozusagen nur stundenweise Zugang zum Internet hat, sondern permanent und verlässlich. Vier Milliarden Euro wird der Bund bis 2019 zusätzlich ausgeben, um in den ländlichen Regionen den Ausbau zu fördern. Bis Mitte des nächsten Jahrzehnts müssen wir uns dann in die Gigabit-Region hineinbewegen – und das möglichst schnell. Wir haben ja in Deutschland ein ambivalentes Verhältnis zu großen Datenmengen. Die Verfassungsrechtsprechung stellte mit Blick auf den Datenschutz immer auf Datensparsamkeit ab, aber was die Digitalisierung von uns erfordert, ist eigentlich Datenreichtum. Je besser Sie als kommunale Unternehmen die Daten und die Wünsche Ihrer Kunden kennen, umso mehr können Sie damit auch machen. Natürlich muss das auf gesetzlicher Basis geschehen, aber scheuen Sie sich nicht, die Wünsche Ihrer Kunden auch wirklich kennenzulernen. Denn das ist der Ausgangspunkt für neue Geschäftsmodelle, die Sie nutzen können. Gleichzeitig muss man natürlich auch darauf achten, dass mit diesen Daten kein Missbrauch geschieht. Viele Bürgerinnen und Bürger können sehr wohl Vorteile daraus ziehen, dass sie ihre Daten an private Anbieter herausgeben, sie also zur Verfügung stellen. In einem Privatauto wird man in Zukunft sozusagen fast alles über sein Verhalten dem Autobauer zur Verfügung stellen. Es stellt sich aber noch die Frage, wem dann was gehört. Aber Sie sollten sich nicht scheuen, denn Ihre künftigen Geschäftsmodelle sind umso besser, je besser Sie Ihre Kunden kennen. Sie sind ja vor Ort ansässig und haben eigentlich gute Möglichkeiten und gute Beziehungen, um mit Ihren Kunden darüber zu sprechen. Ich würde dabei sehr transparent vorgehen und würde, wenn ich neue öffentliche Personennahverkehrsmodelle oder Smart Grids entwickeln würde, Bürgerversammlungen abhalten, viel mit den Bürgern reden – ich glaube, das machen Sie auch schon – und damit Vertrauen aufbauen. Ich weiß nicht, ob es unter Ihren Start-up-Unternehmen auch solche gibt, die sich mit dem Thema Sicherheit beschäftigen. Wir haben heute wahnsinnige Möglichkeiten, Infrastrukturen durch Cyberangriffe lahmzulegen. Das ist in Bezug auf die Daseinsvorsorge natürlich sehr, sehr schwierig. Es gibt bereits aus der Ukraine Beispiele, die wirklich beängstigend sind. Deshalb ist Cybersicherheit von allergrößter Bedeutung. Die Bundesregierung hat daher die Cyber-Sicherheitsstrategie aktualisiert. Wir sind sehr gerne bereit, mit den Kommunen hierbei zusammenzuarbeiten, sie zu informieren, ihnen unser Wissen zur Verfügung zu stellen. Scheuen Sie sich nicht, wenn Ihnen etwas auffällt, dies dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik mitzuteilen. Es ist essentiell, darüber zu informieren, weil sonst ganze Bereiche lahmgelegt werden können. Deshalb ist aus unserer Sicht das Qualitätsmerkmal „IT Security made in Germany“ ein wichtiges Qualitätsmerkmal. Wir setzen auch mobile Teams ein, um, wenn irgendwo Angriffe passieren, solchen Vorgängen sofort nachzugehen, um daraus auch immer wieder zu lernen. Nun noch die Frage: Wie kümmern wir uns um die Kommunen? Wenn wir nicht gerade schöne Gesetze wie die, die ich jetzt alle dargestellt habe, erlassen, ist uns auch die finanzielle Ausstattung der Kommunen sehr wichtig. Das ist für Sie von großer Bedeutung, denn handlungsfähige Kommunen sind die Voraussetzung dafür, dass Sie vernünftig arbeiten können, dass Sie zufriedene Kunden haben, dass Sie Kreistage und Stadtparlamente haben, die auch vernünftige Entscheidungen treffen können. Deshalb haben wir Verschiedenes gemacht. Sie wissen, dass wir die Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung übernommen haben. Wir werden den Kommunen Anteile beim Thema Eingliederung geben, weil die Eingliederungskosten in den Kommunen massiv steigen. Es gibt den Kommunalinvestitionsförderungsfonds für finanzschwache Kommunen. Es wird natürlich auch Unterstützung im Zusammenhang mit den Flüchtlingen geleistet. Allerdings muss man sagen, dass der Weg von der Bundesebene zur kommunalen Ebene ein weiter und verschlungener Weg ist, weil die kommunalen Finanzausgleichsgesetze der Länder hoch diversifiziert sind. Wenn wir beispielsweise sagen „Wir geben den Kommunen vier Milliarden Euro“ und addieren, was zum Schluss bei den Kommunen zusammengenommen herauskommt, dann ist wahrscheinlich irgendwie eine Lücke vorhanden. Solche Lücken sind aber auch rechtmäßig. Es ist nicht so, dass man jemandem einen Vorwurf machen kann. Aber die verschlungenen Pfade des kommunalen Finanzausgleichsmechanismus der einzelnen Länder zu verstehen, ist echt schwierig; auch weil dabei unterschiedliche Prinzipien angewandt werden. Deshalb ist das für den Bund nicht einfach. Wir haben praktisch kaum eine Möglichkeit, Geld den Kommunen direkt zu geben – außer in Bezug auf KdU. Aber zumeist geht alles über Umsatzsteueranteile; und diese Umsatzsteueranteile werden immer irgendwie verrechnet. Wir werden im Zusammenhang mit dem Bund-Länder-Finanzausgleich ab 2020 noch einmal schauen, dass, wenn die Länder so sehr viel mehr bekommen, dies eben auch für die Kommunen einen Wert hat – dass Mittel nicht einfach nur von den Ländern in Anspruch genommen werden und gegebenenfalls auch kommunale Finanzausgleichsgesetze geändert werden. Es sitzen ja immer auch Ländervertreter im Saal. Deshalb hat es auch gar keinen Sinn, sich gegeneinander aufzuwiegeln. Ich glaube nur, dass wir mehr Transparenz brauchen; das gehört zur Ehrlichkeit dazu. Die Vielfalt unseres Föderalismussystems führt dazu, dass die Gegebenheiten einfach unterschiedlich sind. Aber es muss klar werden, was dabei herauskommt, weil wir sonst Unzufriedenheit erzeugen – weil sonst, wenn wir mit den Kommunen sprechen und denken, dass wir etwas Gutes tun, dann doch etwas ganz anderes passiert als wir dachten. Daran müssen wir noch weiter arbeiten, denn das ist wichtig. Ich möchte mit zwei Dingen abschließen. Das ist einmal ein Dank. Alle, die auf der kommunalen Ebene arbeiten, haben ganz besonders im Jahr 2015, aber natürlich auch bis in das Jahr 2016 hinein unglaublich viel im Zusammenhang mit der zusätzlichen Aufgabe der Aufnahme von Flüchtlingen getan – ehrenamtlich, hauptamtlich und bis an die Grenze der Belastbarkeit. Ein herzliches Dankeschön dafür. Das war alles andere als selbstverständlich. Wenn Sie neugierige junge Menschen unter den Flüchtlingen für Ihre kommunalen Unternehmen brauchen, scheuen Sie nicht die Mühe, sie vorzubereiten, sie aufgeschlossen zu machen. In meinem Redemanuskript steht ein Beispiel von Unternehmen aus Dresden, die das tun. Ich glaube, dass das nicht das einzige Beispiel ist. Es lohnt sich, in die Zukunft dieser Menschen, wenn sie denn ein Aufenthaltsrecht bei uns haben, zu investieren. Insgesamt also ein herzliches Dankeschön. Wir können Gesetze machen, wir können Geld zur Verfügung stellen. Aber daran, dass das Ganze hinterher zu einem qualitätsvollen Leben für die Bürgerinnen und Bürger beiträgt, haben Sie einen wesentlichen Anteil. Deshalb danke ich Ihnen zum Abschluss nochmals für Ihre tägliche Arbeit, die das Leben der Menschen in Deutschland wesentlich mitbestimmt. Herzlichen Dank für die Einladung.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Festveranstaltung „15 Jahre wellcome“ am 6. März 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-festveranstaltung-15-jahre-wellcome-am-6-maerz-2017-394250
Mon, 06 Mar 2017 15:10:00 +0100
Berlin
Sehr geehrte Frau Volz-Schmidt, sehr geehrte Frau Senatorin Leonhard, sehr geehrte Frau Bischöfin Fehrs, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Freunde und Unterstützer von wellcome – und dazu zählen besonders auch Sie, liebe Frau Dürig, von der Robert Bosch Stiftung! Ich möchte mich ganz herzlich bedanken, dass ich heute hier bei Ihnen bei wellcome dabei sein darf und dass wir in der Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung den 15. Geburtstag dieses wunderbaren Hilfsangebots für junge Eltern feiern dürfen. Bitte gestatten Sie mir, dass ich zunächst aus aktuellem Anlass ein paar Worte zu etwas anderem sage, nämlich zum deutsch-türkischen Verhältnis. Anlass dafür sind natürlich die jüngsten Äußerungen türkischer Regierungsmitglieder, auch die des türkischen Staatspräsidenten, mit denen die Bundesrepublik Deutschland in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt wird. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Solche deplatzierten Äußerungen kann man ernsthaft eigentlich gar nicht kommentieren. Zu rechtfertigen sind sie schon überhaupt gar nicht – auch nicht mit einem Wahlkampf für ein Referendum zur Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei. Besonders schwerwiegend – ich persönlich empfinde das einfach nur als traurig – ist das alles aber, weil NS-Vergleiche letztlich immer nur zu einem führen, nämlich dazu, dass das unfassbare Leid der Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus damit verharmlost wird. Und schon deshalb disqualifizieren sich solche Äußerungen von selbst. Traurig machen mich solche Äußerungen auch noch deshalb, weil wir eigentlich alle wissen, dass Deutschland und die Türkei in vielfacher Weise miteinander verbunden sind – über Millionen von Menschen, die sich beiden Ländern verbunden fühlen, über unsere engen wirtschaftlichen Beziehungen, darüber hinaus als NATO-Partner und im gemeinsamen Kampf gegen islamistischen Terror. Es gibt tiefgreifende Meinungsunterschiede zwischen Deutschland und der Türkei – über den Zustand der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei, über das Schicksal von weit über hundert verhafteten Journalisten, auch über das Schicksal unseres Landsmanns, des Journalisten Deniz Yücel. Für seine Freilassung setzen sich die ganze Bundesregierung mit allen in ihrer Macht stehenden Mitteln ein und viele andere Menschen mehr. Alle diese ernsten und tiefgreifenden Meinungsunterschiede mit der Türkei kommen in aller Klarheit und, was uns betrifft, auf der Grundlage unserer Werte auf den Tisch – der Meinungsfreiheit, der Pressefreiheit, der Redefreiheit, der Versammlungsfreiheit. Diese Werte gelten. Deshalb sind auch Auftritte türkischer Regierungsmitglieder in Deutschland innerhalb des Rechts und der Gesetze, die bei uns gelten, möglich, sofern sie ordnungsgemäß, rechtzeitig und mit offenem Visier angekündigt und genehmigt sind. Bei all dem werde ich mich weiter mit ganzer Kraft dafür einsetzen, dass wir unsere Grundwerte leben und so leben können, wie wir das für richtig halten. Sie machen unser Land und unsere Art zu leben aus. Nun, meine Damen und Herren, liebe Frau Dürig, noch einmal zum eigentlichen Anlass des heutigen Tages. Ich freue mich sehr, dass wir den 15. Geburtstag von wellcome hier in der Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung feiern können. Im Jahr 2011 hat die Stiftung zum 150. Geburtstag von Robert Bosch ein neues Netzwerk gebildet – aus Personen, die in der einen oder anderen Weise soziale Verantwortung übernehmen. Darunter war auch die wellcome-Gründerin Rose Volz-Schmidt. Sie hatte vor Jahren eine ebenso einfache wie geniale Idee in die Tat umgesetzt und eine Initiative ins Leben gerufen, um Eltern in der Phase nach der Geburt ihres Kindes zu unterstützen. Die Herausforderung für frischgebackene Mütter und Väter ist groß. Da ist einerseits die Freude, die Tochter oder den Sohn – oder beide; wir haben vorhin auch Drillinge gesehen – im Arm zu halten. Andererseits verändert sich das eigene Leben grundlegend. Eben wurde hier auf der Bühne gesagt, wie entscheidend die ersten Tage, Wochen und Monate für die Entwicklung eines Kindes sind. Wenn uns etwas beschäftigen muss, dann ist es ja gerade die Tatsache, dass viele Kinder nicht die Chancen haben, die andere haben, und dass sich das lebenslang auswirkt. Diese Tendenz wird ja nicht kleiner, sondern sie ist anhaltend da. Vielleicht ist die Durchlässigkeit sogar eher größer geworden. Ganz gleich, wie gut sich Eltern vorbereiten – was es wirklich bedeutet, sich um ein neugeborenes Kind zu kümmern, zeigt sich eben erst dann, wenn es da ist. Dann ist praxisnaher Rat gefragt – jemand, der im richtigen Moment zur Seite steht, der hilft und entlastet. Dies war schon immer so. Aus gutem Grund gibt es das beliebte Sprichwort: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.“ Sie haben dies bei dieser Veranstaltung zum Podiumsthema gemacht. Doch in einem solchen Dorf mit Familienanschluss, mit vielen Verwandten und guten Bekannten leben heute die wenigsten, wenn sie Eltern werden. Gerade junge Menschen verlassen häufig aus beruflichen Gründen ihren Wohnort. Sie ziehen in ein neues Umfeld. Die Familie ist oft weit weg. Also fehlt es nicht selten an Unterstützung, wenn ein Kind kommt. Hohe Belastung, das Gefühl, überfordert und der neuen Verantwortung nicht gewachsen zu sein – das waren Erfahrungen, die, wie wir gehört haben, auch Rose Volz-Schmidt selbst gemacht hatte. Im Gespräch mit anderen Eltern konnte sie dann feststellen, dass sie keine Ausnahme war, sondern dass es anderen genauso erging wie ihr selbst. Der erste Schritt war wahrscheinlich schon, dass Rose Volz-Schmidt das Gespräch gesucht hat. Manch einer sorgt sich ja auch, überhaupt darüber zu sprechen. Als ausgebildete Sozialpädagogin aber nahm sie Ursachen und Zusammenhänge in den Blick – und zog Schlüsse daraus. Das Ergebnis war die Gründung von wellcome. Wellcome – mit dem Doppel-L im Namen – steht dafür, dass Kinder willkommen sind, dass sie gut im Leben ankommen und dass sie gut im Leben vorankommen. Wellcome macht Eltern Mut – weniger mit Worten als vielmehr mit konkreten Starthilfen. So verschieden Familien sein können, so verschieden kann die Hilfe durch wellcome aussehen. In jedem Fall aber ist sie praktisch, pragmatisch und unbürokratisch. Sie ist eben nicht durch allzu viele Richtlinien und Schablonen vorgefertigt. Denn die Erfahrung ist einfach, dass alle Kinder unterschiedlich sind; und das muss eben passen – Hilfe für jeden. Das Angebot ist für alle da – unabhängig vom sozialen Hintergrund. Es dient dazu, die Lücke durch fehlende Unterstützung von Familie, Freunden und Bekannten zu schließen. Zu Recht versteht sich wellcome deshalb als moderne Form der Nachbarschaftshilfe. Ich glaube, man muss auch sagen, was wellcome nicht ist: Es geht nicht darum, Eltern ersetzen zu wollen, sondern darum, Eltern zur Elternschaft durch zeitlich begrenzte Hilfe zur Selbsthilfe zu befähigen. Mit ihrer individuellen Betreuung verstehen es wellcome-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter, immer wieder die Gratwanderung zwischen zu vermeidender Bevormundung und hilfreicher Anleitung zu meistern. Natürlich gilt es, auch Gefahren zu erkennen. Wellcome steht für eine Kultur des Hinsehens und des Handelns. Dies hat mich als Schirmherrin besonders überzeugt. Denn wir müssen besonders den Blick für die Kinder schärfen, die Gefahr laufen, vernachlässigt oder gar misshandelt zu werden. In solchen Fällen gilt es, ganz gezielt mit Hilfsangeboten auf Eltern zuzugehen – möglichst bevor etwas geschieht. Kinderschutz spielte bei wellcome von Anfang an eine wichtige Rolle. Was sich mit wellcome in 15 Jahren entwickelt hat, ist ohnehin eine beeindruckende Erfolgsgeschichte. 2002 war wellcome als lokal begrenztes Projekt gestartet. Weil die Idee so überzeugend war, gewann Frau Volz-Schmidt im gleichen Jahr beim Ehrenamtswettbewerb startsocial einen Preis. – startsocial ist hier auch vertreten; nicht alle Projekte, die Sie auszeichnen, haben eine solche Karriere gemacht. – Es spricht aber auch für Frau Volz-Schmidt, dass sie sich von Anfang an diesen Beratungen geöffnet hat. Bei meiner Übernahme der Schirmherrschaft 2007 war wellcome gerade einmal fünf Jahre alt, war allerdings aus den Kinderschuhen schon ein bisschen herausgewachsen. Denn Sie hatten damals schon den 50. Standort in Deutschland eröffnet. Inzwischen ist wellcome ein weit verzweigtes Sozialunternehmen mit rund 250 Teams in 14 Bundesländern. Auch in Österreich und der Schweiz gibt es entsprechende Angebote. 2016 haben knapp 4.300 Ehrenamtliche über 4.500 Familien betreut. Hinzugekommen ist ein neues Internetangebot: „www.ElternLeben.de“. Diese Online-Plattform bietet ein großes Angebot hilfreichen Wissens für Eltern, die sich dort untereinander und auch mit ausgewiesenen Experten austauschen können. Der Erfolg von wellcome gründet auf der einen Seite auf dem Gedanken des sozialen Engagements, der Hilfe für die Nachbarn, aber auf der anderen Seite auch auf einem Schuss Unternehmergeist. Denn selbstverständlich hängt auch die Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen von innovativen und effizienten Herangehensweisen ab. Als gemeinnützige GmbH erwirtschaftet wellcome sozialen Mehrwert, wenn man das einmal so sagen darf. Allerdings lässt sich dieser nicht so genau auf Euro und Cent messen wie die Betriebsergebnisse gewinnorientierter Unternehmen. Diesem Problem wiederum widmet sich die gemeinnützige AG Phineo. Dieses Analyseunternehmen untersucht die Wirksamkeit bestimmter gesellschaftlicher Engagements. Besonders überzeugenden Projekten wird das sogenannte „Wirkt-Siegel“ zuerkannt. In diesem Sinne positiv bewertet wurden 2011 das wellcome-Angebot „Praktische Hilfen nach der Geburt“ und 2015 das Angebot „Patenschaften für Familien in Not“. Damit wird – auch für die Öffentlichkeit sichtbar – den vielen Mithelfenden, Förderern und Helfern von wellcome schwarz auf weiß bescheinigt, dass sich ihr Einsatz lohnt und dass die Hilfe auch professionell, also fachlich gut erfolgt. Wellcome wirkt – und zwar genau dort, wo der Grundstein für unsere Gesellschaft gelegt wird, nämlich in den Familien. Was Kinder in ihren Familien erfahren und lernen oder eben auch nicht, das wird ihr ganzes Leben und damit auch unsere Gesellschaft prägen. Wenn Kinder im Kreise der Eltern und Geschwister zu selbstbewussten und verantwortungsbewussten Menschen heranwachsen, dann ist das gut für uns alle. Deshalb ist es auch so wichtig, dafür zu sorgen, dass Familien gute Rahmenbedingungen haben. Natürlich kann und soll Politik nicht vorschreiben, wie Familien ihr Leben zu führen haben. Aber Politik kann und soll Freiräume bieten, damit Familien die Chance haben, ihr Leben nach eigenen Bedürfnissen zu gestalten. Wir nennen das die Freiheit der Wahl. Daher haben wir in der Bundesregierung insbesondere dafür gesorgt, dass sich Beruf und Familie besser miteinander vereinbaren lassen – unter anderem durch die Flexibilisierung von Elterngeld und Elternzeit und natürlich durch sehr viel bessere Betreuungsangebote für Kinder, als wir sie vor Jahr und Tag hatten. Es hat lange gedauert, ehe sich die Bundesrepublik Deutschland auf diesen Weg gemacht hat. Und wir haben immer noch Schritte zu tun, wenn ich einmal an die Grundschulbetreuung denke, die noch längst nicht in dem Zustand ist, wie wir uns das wünschen. In diesem Jahr startet bereits das vierte Investitionsprogramm zum Kita-Ausbau. Damit wollen wir 100.000 zusätzliche Plätze schaffen, weil wir merken: Wenn wir Wahlfreiheit wirklich ernst nehmen und die Angebote für Kinderbetreuung vorhanden sind – auch für die Kinder unter drei Jahren –, dann werden sie häufiger genutzt. Früher hat man ja immer behauptet, es gäbe keinen Bedarf, und hat die Zahl der Angebote so klein gehalten, dass man nie nachprüfen konnte, ob es nicht noch mehr Bedarf gibt. Aber kaum sind die Plätze da, gibt es irgendwie doch Bedarf. Besonders wichtig für das Arbeitsfeld von wellcome sind verbindliche Strukturen für die sogenannten Frühen Hilfen, die wir in den vergangenen Jahren auch seitens der Politik verbessert haben. Das Netzwerk erhält über eine Bundesinitiative auch finanzielle Unterstützung. Frühe Hilfen erleichtern es Eltern, der Verantwortung für ihr Kind besser gerecht zu werden. Diese Hilfen sollen, wie es der Name sagt, frühzeitig ansetzen, wenn die Last zu groß wird, um Vernachlässigung und Missbrauch vorzubeugen. Ich erinnere mich daran – ich weiß nicht, den wievielten Jahrestag wir da gefeiert haben; vielleicht den zehnten –, dass uns ein Professor der Gynäkologie erzählt hat, wie traurig es ist, dass manchmal so wenige Kinder pro Familie geboren werden und dass immer, wenn die Eltern gerade verstanden haben, wie es mit dem Kinderkriegen und dem Erziehen ist, schon wieder alles vorbei ist. Ja, so hat er gesprochen. Deshalb ist es ja so wichtig, dass andere Angebote das dann sozusagen auch weitergeben und den knappen Schwung der Routine und des Könnens mit vermitteln. Das hat mir damals sehr eingeleuchtet. Zur Arbeit von wellcome gehört auch, dort, wo das Ehrenamt an Grenzen stößt – ich glaube und könnte mir vorstellen, das ist für Sie auch oft ein Thema im Praktischen –, zu sagen, dass dann auch ein professionelles Angebot vermittelt werden muss. Denn natürlich können auch Ehrenamtler zum Schluss überfordert sein, wenn sie zu große Aufgaben haben. Das heißt nicht, dass ein Ehrenamt unprofessionell ist. Aber die eigenen Grenzen zu kennen – wie man auch Eltern bittet, die eigenen Grenzen aufzuzeigen –, ist eine eigene Art von Professionalität. Und das wird eben bei wellcome auch sehr gut gelebt. Hier unterstützen qualifizierte Fachkräfte ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das heißt: Die Begleiter von Familien erfahren selbst auch Begleitung. Dadurch erreicht wellcome zweierlei: Einerseits sichert das Sozialunternehmen auf diese Weise die Qualität der Arbeit, andererseits entlastet es auch seine ehrenamtliche Mitarbeiterschaft. So bleibt für jeden und jede der Dienst tragbar und verantwortbar. Dies ist wichtig. Denn dadurch bleibt uns unverzichtbares Engagement auch nachhaltig erhalten. Es ist nicht nur kurzfristig, sondern das ermöglicht denen, die sich engagieren wollen, dies auch für längere Zeit zu tun. Gerade in dem so sensiblen Bereich Familie stößt natürlich auch der Staat an einigen Stellen an seine Grenze. Nähe, Anteilnahme und Herzlichkeit kann ich nicht in Gesetzestexten verordnen. Die müssen da sein. Sie entstehen eben dann, wenn Menschen füreinander da sind. Und das wird bei wellcome gelebt. Ehrenamtliches Engagement – dies ist ein Beispiel für viele, viele andere – macht unser Miteinander menschlich. Ein erfolgreiches Ehrenamt lebt von viel gutem Willen. Aber ganz ohne Geld geht es eben auch nicht. Daher hat wellcome auch den sogenannten „Club der 1.000“ ins Leben gerufen – einen Zusammenschluss derer, die jährlich mindestens 1.000 Euro spenden. Ich gehe davon aus, dass auch noch weitere Club-Mitglieder immer herzlich willkommen sind, oder? Ja, Frau Volz-Schmidt klatscht. In jedem Fall danke ich allen ganz herzlich, die wellcome auf die eine oder andere Weise, mit großen oder kleinen Beiträgen unterstützen. Natürlich danke ich auch all den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Herzen, die die wunderbare Idee, die hinter wellcome steht, jeden Tag immer wieder mit Leben erfüllen, die sich in und für Familien stark machen und sich damit um unsere Gesellschaft insgesamt verdient machen. Einige Ehrenamtliche können bei diesem Festakt dabei sein, viele andere nicht. Deshalb möchte ich die Anwesenden bitten, meinen Dank, meine Grüße und meine besten Wünsche auch Ihren Teams zu Hause zu übermitteln. Sie alle arbeiten unter dem wellcome-Logo mit dem Engel. Viele Mütter und Väter, denen Sie helfen, werden Sie genau als solche empfinden: als Engel, die in schwierigen Zeiten zur Stelle sind, die jungen Eltern zur Hand gehen, ihnen Zeit schenken und Druck von ihnen nehmen. Schon allein das Wissen, Hilfe erhalten zu können, vermag das Vertrauen von Eltern in die eigenen Fähigkeiten zu stärken. Meine Damen und Herren, in 15 Jahren wellcome wurde aus einer Initiative eine Institution. Dazu kann ich nur gratulieren. Es bleibt nur zu wünschen: Auf weitere gute und erfolgreiche 15 Jahre! – Herzlichen Dank!
in Berlin
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Parlament der Tunesischen Republik am 3. März 2017 in Tunis
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-parlament-der-tunesischen-republik-am-3-maerz-2017-in-tunis-601008
Fri, 03 Mar 2017 15:48:00 +0100
Tunis
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Präsident der Versammlung der Repräsentanten des Volkes, Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herren und nicht zuletzt sehr geehrte Repräsentanten des Volkes, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich spreche Sie ganz bewusst als Kolleginnen und Kollegen an, denn ich spreche auf der einen Seite als deutsche Bundeskanzlerin zu Ihnen, andererseits auch als Abgeordnete des Deutschen Bundestags. Wählerinnen und Wähler haben uns entweder in Deutschland oder hier in Tunesien ihre Stimme gegeben, damit wir ihre Interessen vertreten. Deshalb sind Parlamente das politische Herzstück unserer freiheitlichen Demokratien. Mir ist es eine Ehre, vor Ihnen, vor der Versammlung der Volksvertreter Tunesiens zu reden. Denn dass es sie als frei gewähltes Parlament gibt, das haben sich die Bürgerinnen und Bürger Ihres Landes mit großem Mut errungen. Über sechs Jahre ist es bereits her, als immer mehr Menschen ihre Rechte einforderten und mehr Freiheit verlangten. Wir in Deutschland haben diese Entwicklung mit großem Respekt verfolgt. Die beeindruckenden Bilder von damals haben wir noch vor Augen. Doch mindestens genauso beeindruckend war der Weg, den Tunesien seit 2011 zurückgelegt hat. Gewiss, dieser Weg war steinig. Aber er mündete schließlich 2014 in der neuen Verfassung, in der garantierten Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit und in freien Wahlen. Doch damit ist natürlich nicht das Ende des Weges erreicht. Denn die Möglichkeiten der freien Entfaltung und die Wahrung der Rechte aller – auch derer, die anders denken – sind Errungenschaften, die es jeden Tag aufs Neue zu schützen gilt. Sie in Tunesien wissen um diese Herausforderung. Sie haben in den vergangenen Jahren manche Krise meistern müssen. Ich erinnere an die politischen Morde nach der Wahl der Verfassunggebenden Versammlung. Damals geriet der gesamte demokratische Aufbauprozess in Gefahr. Es war die tunesische Zivilgesellschaft, die einen Kompromiss aller politischen Kräfte herbeiführen konnte. Der Nationale Dialog – das Quartett aus Arbeitgebern, Gewerkschaften, Menschenrechtlern und Anwälten – erzielte den notwendigen friedensstiftenden Konsens. Für diese erfolgreiche Vermittlung erhielt das Bündnis zu Recht den Friedensnobelpreis 2015. Diese Auszeichnung war nicht nur eine Anerkennung für das bisher Erreichte. Sie war und ist zugleich ein Ansporn, durch tagtägliche Arbeit das neue politische Gefüge von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung zu festigen. Dazu gehören das neue Verfassungsgericht und eine Dezentralisierung mit Kommunalwahlen. Dadurch verteilen sich Rechte und Kompetenzen; und dadurch unterstehen alle einer gerichtlichen Ordnung. Tunesien geht seinen Weg. Dabei kann Ihr Land als junge Demokratie auf unsere volle Unterstützung und Zusammenarbeit in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zählen. Beispielsweise haben wir in der Bundesrepublik Deutschland viel Erfahrung mit einem sogenannten föderalen – das heißt, einem dezentralisierten – System. Wir sind gerne bereit, darüber mit Ihnen in einen Gedankenaustausch einzutreten. Ohnehin stehen das tunesische Parlament und der Deutsche Bundestag in einem engen Kontakt. Um unsere Beziehungen zu festigen, haben wir auch Programme für junge Tunesierinnen und Tunesier geschaffen, die im Rahmen von Praktika die Arbeit unseres Parlaments, des Deutschen Bundestags, kennenlernen können. Zusammenarbeit bietet sich in vielerlei Hinsicht an – auch, weil wir ja ähnlichen Herausforderungen gegenüberstehen. Wir wissen, dass offene und der Welt zugewandte Gesellschaften verletzlich sind. Internationaler Terrorismus bedroht uns gleichermaßen – Sie in Tunesien wie auch uns in Deutschland. Wir befinden uns in direkter Nähe des Bardo-Palastes. 2015 fielen an dieser historischen Stätte Touristen einem Anschlag zum Opfer, die das weltberühmte Museum im Gebäudetrakt nebenan besuchen wollten. Ein zweiter Anschlag traf Badegäste an einem Hotelstrand in Sousse. Im Dezember vergangenen Jahres wurde auch in Berlin ein blindwütiger Terroranschlag verübt. Ich gedenke der Opfer all dieser menschenverachtenden Anschläge. Ich danke von Herzen für die berührenden Worte der Anteilnahme, die uns aus Tunesien nach der unbegreiflichen Untat in Berlin erreicht haben. So, wie wir in der Verabscheuung der Verbrechen geeint sind, so müssen wir auch unsere Kräfte im Kampf gegen Terrorismus einen. Nach den Anschlägen auf das Bardo-Museum und in Sousse habe ich Staatspräsident Essebsi zum G7-Gipfel in Deutschland eingeladen. Neben Sicherheit waren auch Fragen zur Belebung der Wirtschaft zentrale Gesprächsthemen. Denn wir wissen ja: Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung bedingen sich gegenseitig. Seit dem G7-Gipfel 2015 haben wir unsere Zusammenarbeit weiter ausgebaut – zum Beispiel im Hinblick auf die Sicherung der Grenzen Tunesiens zu Libyen. In diesem Jahr nimmt Deutschland die G20-Präsidentschaft wahr. Wir nutzen die Gelegenheit, die Aufmerksamkeit erneut auf Afrika zu lenken. Wir haben unter anderem eine Initiative gestartet, um private Investitionen zu erleichtern und den Ausbau von Infrastrukturen voranzubringen. Das liegt letztlich in unser aller Interesse: erstens, weil menschliche Würde unteilbar ist – auch in Afrika soll sich wie in Europa jeder entfalten und seine Talente nutzen können –; zweitens, weil eine bessere wirtschaftliche Lage Fundamentalisten den Boden für ihre Saat des Hasses und der Gewalt entzieht; und drittens, weil wir verhindern, dass Menschen mangels Perspektiven nur noch einen Ausweg in einer waghalsigen Flucht über das Mittelmeer nach Europa sehen. Wir sehen ja, was derzeit passiert: Skrupellose Schleuser nutzen die Verzweiflung aus. Sie kassieren hohe Summen für Fahrten in seeuntauglichen Booten. Mehr als 4.000 Menschen haben allein im letzten Jahr im Mittelmeer ihr Leben verloren. Und diejenigen, die die Überfahrt schaffen, wissen nicht genau, was sie erwartet und ob sie überhaupt Asyl erhalten. Die große menschliche Tragödie, die sich am und auf dem Mittelmeer abspielt, betrifft uns alle – moralisch, humanitär und politisch. Deutschland hat gezeigt, dass es bereit ist, Flüchtlinge aufzunehmen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen. Das Völkerrecht und unsere Asylgesetze geben die Regeln vor. Sie unterscheiden nicht nach Herkunft oder Religion. Was zählt, ist die Frage: Wer braucht unbedingt unseren Schutz und wer nicht? Wer keine Aufenthaltsberechtigung hat, muss unser Land auch wieder verlassen – notfalls mit Zwang, aber möglichst auf freiwilliger Basis. Um die Situation von Rückkehrern zu verbessern, stocken wir unsere Hilfe auf. Wir bieten ihnen Unterstützung bei der Reintegration und der Suche nach Arbeit an. Wir wissen, dass viele Migranten ihr Heil in der Flucht auch über Libyen suchen. Die Europäische Union will aus diesem Grund stärker mit dem Land zusammenarbeiten. Aber Voraussetzung ist natürlich eine handlungsfähige gesamtstaatliche Regierung. Nur sie kann die Rahmenbedingungen schaffen, um die Konflikte im Land und die illegale Migration wirksam einzudämmen. Die EU und Deutschland unterstützen daher die Arbeit des UN-Sondergesandten Martin Kobler. Er setzt sich für einen innerlibyschen Ausgleich und eine Regierung der Nationalen Einheit ein. Als Nachbarland ist Tunesien unmittelbar von der Krise in Libyen betroffen. Ich begrüße es sehr, dass sich Tunesien in die Bemühungen einbringt, unterschiedliche Gruppierungen innerhalb Libyens zusammenzubringen und gleichzeitig Brücken zwischen Partnern in der Region zu schlagen – zusammen mit Algerien und Ägypten. Natürlich wünschen wir uns auch eine engere Zusammenarbeit der Maghreb-Staaten. Diese könnte neben politischen auch wirtschaftliche Vorteile für die gesamte Region mit sich bringen. Als die Menschen vor gut sechs Jahren in Tunesien auf die Straße gegangen sind, waren sie voller Hoffnung auf einen schnellen Wandel und ein besseres Leben. Die Erwartungen waren hoch, an manchen Stellen vielleicht auch zu hoch. Auf jeden Fall hat sich schon sehr viel verändert. Die Fortschritte in Ihrem Land sind unverkennbar, aber sie erfordern auch einen langen Atem. Ich stehe hier vor Ihnen, um zu verdeutlichen: Deutschland will Ihnen auf Ihrem Weg ein guter Partner sein. Das sehen Sie auch an der Wirtschaftsdelegation, die mich auf meiner Reise begleitet, um die bilateralen Beziehungen auszubauen. Schon heute sind rund 250 deutsche Unternehmen in Tunesien aktiv. Sie investieren, sie bieten über 55.000 Arbeitsplätze, sie bilden aus und sorgen für die Fachkräfte von morgen. Junge Gesellschaften wie Ihre verlangen eine gute Berufsausbildung, die sich am lokalen Arbeitsmarkt orientiert. Deshalb wollen wir unsere erfolgreiche Kooperation in der beruflichen Bildung intensivieren. Dabei können wir an gute Erfahrungen anknüpfen, die wir in Deutschland mit einer sogenannten dualen Ausbildung – parallel in der Berufsschule und im Betrieb – sowie mit Kombinationen aus Studium und Ausbildung gemacht haben. Es ist sehr wichtig, dass Menschen, die aus der Schule kommen, nicht irgendetwas studieren, sondern eine Ausbildung erhalten, die auf den lokalen Arbeitsmarkt ausgerichtet ist. Man muss sozusagen noch bessere Brücken zwischen Schule und Arbeitsmarkt bauen. Deutschland und Tunesien haben das Projekt einer gemeinsamen Hochschule vereinbart, um eben auch die duale Bildung in den Mittelpunkt zu nehmen. Neben einem modernen Bildungswesen zählen zu den Standortfaktoren natürlich auch leistungsfähige Infrastrukturen. Um deren weiteren Ausbau zu fördern, fand Ende vergangenen Jahres die Investorenkonferenz „Tunisia 2020“ statt. Deutschland hat Förderungen für eine Meerwasser-Entsalzungsanlage sowie für Windparks zugesagt. Zudem bietet Deutschland im Rahmen seiner Entwicklungszusammenarbeit verschiedene Unterstützungsleistungen an. Wir helfen bei der Gründung von Unternehmen. Wir wollen kleinere und mittlere Unternehmen fördern. Wir helfen bei der Refinanzierung tunesischer Banken und auch beim Aufbau von Strukturen zur Arbeitsvermittlung. Ich freue mich besonders, dass Bundesminister Müller heute Vormittag das deutsch-tunesische Migrationsberatungszentrum offiziell eröffnet hat. Es dient schwerpunktmäßig der Beratung von Migrationswilligen und Rückkehrern sowie der Hilfe bei der Reintegration in den tunesischen Arbeitsmarkt. Aber wir könnten dieses Zentrum auch als Ausgangspunkt nutzen, um insgesamt die Arbeitsvermittlung in den Arbeitsmarkt in Tunesien zu unterstützen. Ich bin davon überzeugt, dass Tunesien sehr viel Potenzial hat, sich wirtschaftlich gut weiterzuentwickeln – gemeinsam mit Freunden und Partnern, aber in erster Linie aus eigener Kraft. Sie haben eine junge und zumeist auch gut ausgebildete Bevölkerung. Sie haben funktionierende Institutionen. Sie haben viele Reformen verabschiedet, die dazu dienen, das Vertrauen in den tunesischen Standort zu stärken. Meine herzliche Bitte ist auch – das ist für die Wirtschaft immer sehr wichtig –, dass, wenn Gesetze einmal beschlossen sind, diese sozusagen nicht zu schnell wieder geändert werden, weil ansonsten in der Wirtschaft Unruhe aufkommt. Deshalb möchte ich Sie ermuntern, den eingeschlagenen Weg entschlossen weiterzugehen. Denn in- und ausländische Investoren – seien es Unternehmen, Finanzinstitute oder auch Staaten – brauchen eben Verlässlichkeit. Meine Damen und Herren, sechs Jahre nach den Umbrüchen ist Tunesien für uns Europäer in unmittelbarer Nachbarschaft auch weiterhin ein Leuchtturm der Hoffnung. Ich bin heute Morgen von Kairo hierher geflogen. Wenn man Tunis auf dem Seeweg anfliegt, dann sieht man Italien, dann sieht man Sizilien, dann sieht man den Vulkan Ätna – und dann spürt man, wie nah wir beieinander liegen. Wir haben in Deutschland etwas geschafft, das ich mir vor über 27 Jahren nicht vorstellen konnte. Ich weiß, wovon ich spreche, wenn ich von Reformwillen, von Veränderung spreche. Denn ich spreche auch aus eigener Erfahrung. Als die Mauer Deutschland noch geteilt hat und Europa in Ost und West gespalten war, hatte ich es nicht für möglich gehalten, einmal – zumindest nicht vor dem Rentenalter – in einem Land mit einem frei gewählten Parlament zu leben, ja, sogar Mitglied dieses Parlaments zu sein. Auch ich durfte erfahren, was die Kraft der Freiheit zu bewegen vermag. Das ist eine Erfahrung, die wir nun miteinander teilen – Sie und ich. Wir wissen aber auch, dass Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit tägliches Engagement erfordern – dass es gar nicht so einfach ist, sich immer wieder entscheiden zu müssen; dass es gar nicht so einfach ist, nachdem man früher gegen jemanden war, der als Autokrat oder Diktator geherrscht hat – darin, wogegen man war, war man sich einig – dann aber sagen zu müssen, wofür man ist, weil plötzlich alle eine eigene Meinung haben. Das macht die parlamentarische Debatte aus; und diese muss man im Respekt voreinander führen. Da darf man nicht sagen, dass nur die eigene Meinung etwas gilt, sondern man braucht Mehrheiten für seine eigene Meinung. Man muss Kompromisse eingehen, man muss gemeinsam Lösungen finden. Das ist bei uns so in unserem Parlament; und das ist bei Ihnen so. Deshalb eint uns diese Arbeit. Deshalb erfüllt es mich mit Stolz, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf. Und deshalb wünsche ich Ihnen von Herzen alles Gute bei Ihrer weiteren Arbeit. Wir werden Ihnen helfen, wo immer wir können. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur 53. Münchner Sicherheitskonferenz am 18. Februar 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-53-muenchner-sicherheitskonferenz-am-18-februar-2017-234640
Sun, 18 Feb 2018 09:00:00 +0100
Im Wortlaut
München
Sehr geehrter Herr Ischinger, liebe Kolleginnen und Kollegen, werte Gäste dieser Münchner Sicherheitskonferenz, 1963 war die Internationale Wehrkundetagung der Startschuss für eine jährlich offene und leidenschaftliche Diskussion – eine Tagung, die jedes Jahr ihre Spuren hinterlassen hat und die heute als Münchner Sicherheitskonferenz auch weiterhin ein breit gefächertes Diskussionsforum darstellt, in diesem Jahr mit Teilnehmern aus 125 Ländern, die ich als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland alle sehr herzlich hier in München begrüßen möchte. Der bayerische Ministerpräsident wird das selbstverständlich auch noch machen, weil Bayern in Deutschland etwas ganz Spezielles ist, aber als Bundeskanzlerin möchte ich das auch sehr gerne tun. Diese Konferenz war bis 1990 vom Kalten Krieg und der entschiedenen Auseinandersetzung zweier Blöcke sowie durch die nukleare Abschreckung geprägt. Wir konnten erleben, dass durch das Zusammenhalten und die Stärke der westlichen Partner im Jahr 1990 der Kalte Krieg zu Ende ging und die wertebasierte Kooperation, gerade auch die transatlantische Kooperation, ihre Ziele erreichen konnte. – Deshalb möchte ich einmal mehr ein ganz herzliches Willkommen an die Delegation der Vereinigten Staaten von Amerika richten, insbesondere natürlich an den Vizepräsidenten und alle anderen, die aus den Vereinigten Staaten gekommen sind. Herzlich willkommen. – Seitdem hat sich die Welt dramatisch verändert. Heute, mehr als ein Vierteljahrhundert später, gibt es keine zwei Blöcke mehr. Es gibt ein neues Ordnungsmuster. Es gibt neue Kräfteverhältnisse. Die Struktur ist sehr viel multilateraler geworden, aber immer noch mit einer Supermacht, den Vereinigten Staaten von Amerika, und immer noch mit einer transatlantischen Bindung. Wir haben ein vereinigtes Europa, das 28 Mitgliedstaaten umfasst. Es gibt einen Aufstieg der Schwellenländer, insbesondere der asiatischen Länder. Um das nochmals zu verdeutlichen, habe ich mir zur Vorbereitung auf diese Konferenz angeschaut, wie sich das Bruttoinlandsprodukt der Welt entwickelt hat. Wir können sagen, dass es sich in den letzten 25 Jahren zwischen 1990 und 2015 etwa verdreifacht hat. Das Bruttoinlandsprodukt der USA hat sich auch verdreifacht. Das Bruttoinlandsprodukt der Europäischen Union, was die 28 Staaten anbelangt, hat sich nur verdoppelt. Das Bruttoinlandsprodukt Chinas hat sich verachtundzwanzigfacht. Das heißt, die EU hat heute statt einem Anteil von 31 Prozent am weltweiten Bruttoinlandsprodukt noch einen von 22 Prozent. Die Vereinigten Staaten von Amerika konnten ihren Anteil – von 26 Prozent auf 25 Prozent leicht gesunken – bei einem Viertel halten. Und der Anteil Chinas ist von zwei Prozent auf 15 Prozent angestiegen. Das ist ein Beispiel für die Verschiebungen, die wir sehen. Wir haben asymmetrische Bedrohungen zu bewältigen, insbesondere durch den islamistischen Terrorismus, beginnend am 11. September 2001. Es gibt neue Konflikte durch Bürgerkriege, durch Bevölkerungswachstum und Klimawandel. Es gibt eine wachsende Verflechtung durch Globalisierung und Digitalisierung. Das heißt also, wir haben keine feststehende internationale Ordnung. Auch trotz des Endes des Kalten Krieges ist das Verhältnis zu Russland nach wie vor noch nicht nachhaltig gut; das sage ich jetzt aus europäischer Perspektive. Ich bin überzeugt: Die Herausforderungen unserer heutigen Welt sind von keinem einzigen Staat allein zu bewältigen. Sie bedürfen gemeinsamer Anstrengungen. Daraus ergibt sich für mich die Notwendigkeit multilateraler internationaler Strukturen, die wir stärken müssen und die wir effizienter machen müssen. Das gilt für die Europäische Union, das gilt für die NATO, das gilt für die Vereinten Nationen und das gilt – ich sage das im Hinblick auf ein Forum, für das Deutschland in diesem Jahr die Verantwortung trägt – für die G20-Gruppe, in der wir die Präsidentschaft innehaben. Diese Gruppe ist auf Ebene der Staats- und Regierungschefs im Hinblick auf die internationale Finanzkrise 2008 gebildet worden. Bis dahin gab es diese nur auf der Ebene der Finanzminister. Wir haben damals diese tiefgreifende globale Krise nur gemeinsam lösen können. Das war ein gutes Beispiel dafür, dass wir auch multilateral tätig sein können. Deshalb haben wir für die G20-Präsidentschaft das Motto „Eine vernetzte Welt gestalten“ gewählt – mit der festen Überzeugung, dass gemeinsames Handeln alle stärkt. Nun müssen wir aber sehen, dass die multilateralen Strukturen an vielen Stellen nicht effizient genug sind, so dass sich unsere Bürgerinnen und Bürger in fast all unseren Ländern fragen: Ist der multilaterale Ansatz wirklich der, der die Probleme löst, oder aber gibt es ein Rückweichen in Protektionismus, in Abschottung? Ich bin der festen Überzeugung: Es lohnt sich, für die internationalen, gemeinsamen, multilateralen Strukturen zu kämpfen, aber wir müssen sie an vielen Stellen auch verbessern. Da möchte ich mit dem anfangen, was unser Zuhause ist: Das ist die Europäische Union. Die Europäische Union ist in einer ausgesprochen schwierigen Phase. Durch das Ergebnis des britischen Referendums werden wir in Zukunft nicht mehr 28 Mitgliedstaaten sein, sondern nur 27. Das ist aus meiner Sicht bedauerlich, aber es ist eine Tatsache. Umso mehr müssen sich die 27 Mitgliedstaaten fragen: Wie können wir unsere Europäische Union erfolgreich gestalten? Es gibt viele Dinge, mit denen wir nicht zufrieden sein können. Da will ich damit beginnen, dass das wesentliche Kennzeichen der Europäischen Union der gemeinsame Markt ist. Dieser gemeinsame Markt, der durch die Herausforderungen der Digitalisierung auch noch einmal erweitert werden muss, muss seinen Wert erbringen. Das bedeutet Arbeitsplätze, Wettbewerbsfähigkeit und Erfolg für die Menschen. Die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland war immer ein überzeugendes gesellschaftliches Credo, weil Wohlstand für alle das Ergebnis war. Und das ist auch der Anspruch an europäisches Handeln. Zweitens müssen wir unsere gemeinsame Währung stärken. Wir haben innerhalb der Europäischen Union zweimal tiefe Krisen erlebt und sie jeweils noch nicht vollständig überwunden, weil wir zum Beispiel, nachdem wir entschieden hatten, eine gemeinsame Währung, den Euro, einzuführen, nicht ausreichend auf Krisen vorbereitet waren und sozusagen erst im Nachhinein Sicherungsmechanismen eingesetzt haben, um diese Währung abzusichern. Daran werden wir weiter arbeiten müssen. Dasselbe haben wir jetzt im Zusammenhang mit der Freizügigkeit erlebt. Sie können sich in den meisten europäischen Mitgliedstaaten frei und ohne Grenzkontrollen bewegen. Aber wir waren nicht darauf vorbereitet, dass einmal Druck auf unsere Außengrenzen entstehen könnte, zum Beispiel durch Fluchtbewegungen, und haben im Nachhinein Vorkehrungen treffen müssen – durch eine gemeinsame Grenzschutzpolizei und vieles andere mehr –, um diese Freizügigkeit im Inneren abzusichern. Daran müssen wir auch weiter arbeiten. Das heißt, die Europäische Union muss lernen, sich mehr auf die wirklich wichtigen Herausforderungen zu konzentrieren: Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplätze, innere Sicherheit, äußere Sicherheit. Wir werden uns in den nächsten Jahren auch mehr überlegen müssen: Wo haben wir überflüssige Regelungen, die uns das Leben schwer machen, die unsere Wettbewerbsfähigkeit einschränken? Es darf nicht sein, dass der einmal gefundene acquis communautaire, wie wir ihn so gerne nennen, das letzte Wort ist, sondern wir müssen auch Veränderungen zulassen. Wir wollen das freundschaftliche Verhältnis zu Großbritannien natürlich erhalten. Wir werden auch mehr im Bereich der Verteidigungspolitik tun. Der Lissabonner Vertrag lässt eine strukturierte Kooperation der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu. Deutschlands und Frankreichs Verteidigungsminister haben die Initiative ergriffen, mehr zu tun. Ich darf sagen, dass fast alle Mitgliedstaaten sagen: Jawohl, wenn wir eine Union der Sicherheit sein wollen, dann müssen wir verteidigungspolitisch mehr tun. Die EU führt heute 16 militärische Operationen und Missionen weltweit. Sie trägt mehr als ein Drittel der Kosten der UN-Friedenseinsätze. Sie engagiert sich bei der humanitären Hilfe in Syrien als größter Geber genauso wie in Afghanistan. Aber wir müssen mehr tun, um auch die militärischen Fähigkeiten zu verzahnen. Unsere Bundesverteidigungsministerin hat gestern im Detail darüber gesprochen. Wir brauchen eine Führungsfähigkeit innerhalb der Europäischen Union, um damit auch die Möglichkeit zu haben, einen vernetzten Ansatz zu gestalten, der nicht nur militärische Fähigkeiten, sondern auch Entwicklungspolitik und gute Regierungsführung mit einschließen kann. Wir können damit auch ein Thema voranbringen, das für uns gerade auch im Umgang mit afrikanischen Staaten sehr wichtig ist, nämlich dass wir Soldaten vor Ort ausbilden und auch ausrüsten. Auch das ist etwas Wichtiges. Europäische Verteidigungsfähigkeit darf nach meiner festen Überzeugung niemals alternativ zur NATO gesehen werden, sondern sie muss sich in die Fähigkeiten der NATO einfügen. Das ist auch die Auffassung, die wir teilen. Gerade im Zusammenhang mit der Verteidigungszusammenarbeit haben deutsch-französische Initiativen immer wieder eine große Rolle gespielt. Die Deutsch-Französische Brigade mit 6.000 Mann besteht seit 1989. Wir kommen jetzt zu gemeinsamen Anschaffungsprojekten; das ist ein großer Fortschritt. Deutschland und Frankreich sind neben der militärischen Kooperation auch bei anderen Aktivitäten engstens miteinander verbunden – so bei der Gestaltung der inneren Sicherheit. Beim Schutz der Außengrenzen gibt es viele deutsch-französische Initiativen, die auch europäische Initiativen werden. Wir haben an einem essenziellen Punkt – Herr Ischinger hat eben darüber gesprochen – die Initiative ergriffen, und zwar im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland mit dem Normandie-Format. Ich weiß, dass auch hier am Rande wieder Gespräche stattfinden werden. Leider, Herr Ischinger, kann ich nicht berichten, dass wir schon alle Punkte von Minsk erfüllt hätten. Aber nach wie vor ist „Minsk“ die Grundlage für die weiteren Bemühungen. Wir müssen weiterhin daran arbeiten, nicht nur den politischen Prozess voranzubringen, sondern endlich auch einen nachhaltigen Waffenstillstand zu sichern. Denn das – wenn es diesen Waffenstillstand nicht gibt – ist etwas, das die Menschen zutiefst verunsichert. Die Situation in der Ukraine führt mich dann auch zur NATO, zu dem zweiten großen Thema, das ich ansprechen möchte. Die Bedeutung der NATO hat auf eine, wie ich sagen möchte, sehr traurige Art und Weise noch einmal an Wichtigkeit gewonnen, nämlich durch die Annexion der Krim und die Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine, wo Russland ja die Separatisten unterstützt. Warum ist das eine so große Sorge? Warum hat das zu so viel Verunsicherung geführt? Es hat deshalb zu so viel Verunsicherung geführt – das muss man sich immer wieder vor Augen halten –, weil das Prinzip, das uns in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg Sicherheit und Frieden gebracht hat, nämlich das Prinzip der territorialen Integrität, verletzt wurde. Dieses Prinzip ist etwas, worauf die europäische Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg aufbaut. Deshalb müssen wir an dieser Stelle auch so streng sein. Denn wenn das nicht mehr gilt, dann gerät die gesamte europäische Ordnung ins Wanken. Deshalb haben wir die Notwendigkeit gesehen – der NATO-Generalsekretär ist ja auch unter uns –, die östliche Flanke zu stärken. Deutschland übernimmt hierbei Verantwortung in Litauen, Großbritannien in Estland, Kanada in Lettland und die Vereinigten Staaten von Amerika in Polen. Wir tun dies im Geiste des Artikels 5 und versichern uns unserer gemeinsamen Fähigkeiten und unseres Beistands. Außerdem gibt es seit 2001 eine NATO-Aktivität in Afghanistan. Hier hat der Kampf gegen den Terrorismus im Grunde nach den Anschlägen am 11. September 2001 begonnen. Deutschland engagiert sich weiter, auch innerhalb der NATO, zusammen mit 20 anderen Nationen im Norden Afghanistans. – Ich habe gestern mit dem afghanischen Präsidenten gesprochen. – Auch hier brauchen wir weiterhin eine militärische Unterstützung. Wir brauchen aber genauso eine politische Lösung, um Afghanistan eine friedliche Zukunft zu sichern. Wenn wir über die NATO sprechen, dann sprechen wir in diesen Tagen auch sehr schnell über die finanziellen Beiträge, die jeder leistet. Ich möchte hier keinen Bogen um dieses Thema machen. Deutschland hat sich wie alle anderen Staaten auf der NATO-Konferenz in Wales verpflichtet – das war 2014 –, binnen zehn Jahren das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen. Ich darf hier genauso wie die Verteidigungsministerin sagen: Wir werden alle Anstrengungen unternehmen, wir fühlen uns diesem Ziel verpflichtet. Ich möchte allerdings auch hinzufügen, dass die NATO zutiefst im europäischen Interesse, auch zutiefst im deutschen Interesse und, so glaube ich, auch im amerikanischen Interesse ist. Sie ist ein starker Verbund von uns allen. Deshalb werden wir uns anstrengen und deshalb verlassen wir uns auch darauf, dass das ein Projekt gemeinsamen Interesses ist und bleibt. Meine Damen und Herren, es gibt als drittes eine große Bedrohung. Ich habe in Bezug auf den NATO-Einsatz in Afghanistan von der islamistischen terroristischen Bedrohung gesprochen, die in den folgenden Jahren durch IS und andere Organisationen wie Boko Haram beständig an Bedeutung gewonnen hat. Auf diese Bedrohung antwortet heute eine Anti-IS-Koalition, die aus meiner Sicht weit über die Mitgliedstaaten der NATO hinaus aktiv ist, natürlich im Irak und in Syrien. Deutschland beteiligt sich auch daran. Ich habe gerade mit dem türkischen Ministerpräsidenten gesprochen. Wir wissen, wie gerade auch die Türkei als NATO-Partner durch die Herausforderungen des islamistischen Terrorismus beeinträchtigt ist, durch Da’esh natürlich genauso wie durch den Terrorismus der PKK. Ich will hier ganz offen sagen: Allein die Europäer könnten mit dem Kampf gegen den islamistischen Terrorismus nicht fertig werden. Wir brauchen die militärische Kraft der Vereinigten Staaten von Amerika. Ich sage das deshalb, weil ja dieser islamistische Terrorismus auch sehr nah an den Außengrenzen der Europäischen Union agiert und daher auch Europa sehr stark beeinflusst. Auch deshalb ist die Kooperation mit den Vereinigten Staaten von Amerika natürlich sehr wichtig für uns. Mir ist es aber auch genauso wichtig, dass wir islamische, muslimische Staaten mit in diese Koalition einbezogen haben. Ich glaube nämlich, gerade von diesen Staaten muss der Beitrag geleistet werden, klarzumachen, dass nicht „der Islam“ die Ursache des Terrorismus ist, sondern ein fehlgeleiteter Islam. Deshalb erwarte ich mir – ich habe das an verschiedenen Stellen gesagt – auch von den religiösen Autoritäten des Islam klare Worte über die Abgrenzung zwischen friedfertigem Islam und dem Terrorismus im Namen des Islam. Dies können wir, die wir nicht Muslime sind, nicht so leisten, wie es die islamischen Autoritäten können. Meine Damen und Herren, die Auswirkungen des Terrorismus sind vielfältig. Sie münden in Flucht und Vertreibung. Ich will hier hervorheben, was Länder um Syrien herum und zum Beispiel in der Nachbarschaft des Irak geleistet haben. Die Türkei hat nahezu drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Jordanien und der Libanon sind bis an die Grenzen dessen gegangen, was machbar ist. Deshalb haben wir hierbei eine gemeinsame Verantwortung – ich will ausdrücklich sagen: auch die Europäische Union hat eine Verantwortung – für die Aufnahme von Flüchtlingen, für die Bekämpfung von Fluchtursachen und dafür, dass Menschen in Not vernünftig geholfen wird. Wir in Deutschland haben diese Verantwortung übernommen, zusammen mit einigen europäischen Mitgliedstaaten. Leider haben wir hierzu innerhalb der Europäischen Union keine gemeinsame Position. Aber wenn Sie sich einmal überlegen, dass Zypern auch ein Nachbarstaat von Syrien ist, dann sehen Sie, dass unsere Außengrenzen eben auch direkt an Syrien verlaufen. Daher können wir uns nicht sozusagen von der Frage abkoppeln, wie es denen geht, die vertrieben worden sind, die geflüchtet sind, sondern damit müssen wir uns beschäftigen. Zum Kampf gegen den islamistischen Terrorismus will ich noch eine Bemerkung hinzufügen. Ich habe am Anfang gesagt, dass wir leider – das sage ich aus meiner Perspektive – in den letzten 25 Jahren noch kein stabiles und dauerhaft gutes Verhältnis zu Russland gefunden haben. Russland liegt aber auch in der Nachbarschaft der Europäischen Union. Russland liegt an unserer Außengrenze und ist für uns Nachbar. Deshalb werde ich nicht nachlassen, immer wieder dafür zu werben, dass wir mit Russland ein gutes Verhältnis hinbekommen – trotz unterschiedlicher Meinungen in vielen Fragen. Das heißt für mich, weiterhin zur NATO-Russland-Akte zu stehen, sie nicht aufzugeben, auch wenn die Zeiten schwierig sind – ich bedanke mich beim NATO-Generalsekretär dafür, der ja auch immer wieder Russland-NATO-Treffen durchgeführt hat –, und Gemeinsamkeiten im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus zu suchen. Ich glaube, hierbei haben wir genau die gleichen Interessen und können hierbei auch zusammenarbeiten. Als Letztes möchte ich auf die Rolle der multilateralen Institutionen zu sprechen kommen, insbesondere der Vereinten Nationen. Es ist sehr gut und wichtig, wie viel die Arbeit der Vereinten Nationen auch mit der allgemeinen Sicherheit auf der Welt zu tun hat und dass der UN-Generalsekretär heute hier bei uns ist. Diese Konferenz widmet sich mittlerweile ja sowieso einem sehr umfassenden Sicherheitsbegriff, der weit mehr als die Frage der Verteidigungszusammenarbeit betrifft. Und das halte ich für richtig. Generalsekretär Guterres hat das Thema Krisenprävention ganz oben auf die Tagesordnung der zukünftigen Arbeit der Vereinten Nationen gesetzt. Ich kann das nur unterstützen. Jede Krise und jeder Konflikt, die verhindert werden und nicht stattfinden, bringen uns auch nicht in die Situation, wieder Verteidigungsausgaben zu nutzen, sondern geben uns die Möglichkeit, Entwicklungen zu fördern. Ein großer Nachbarschaftsbereich der Europäischen Union ist eben der afrikanische Kontinent. Deshalb müssen wir gemeinsam darüber nachdenken – dies wird auch ein Thema unserer G20-Präsidentschaft sein –, wie wir neben der klassischen Entwicklungshilfe endlich auch in Afrika so eine dynamische Entwicklung hinbekommen können, wie es sie in Asien in den vergangenen Jahrzehnten gab. Wir sind da noch nicht an dem Punkt, den ich mir wünsche, aber das ist so wichtig. Menschen wissen heute durch die Digitalisierung und durch die Smartphones, wie man woanders lebt. Nur wenn überall Entwicklung stattfindet, wird der Druck in Bezug auf Flucht und Vertreibung auch bewältigt werden können. Meine Damen und Herren, wir werden im Rahmen unserer G20-Präsidentschaft viele dieser Themen aufgreifen: die Frage von Flucht und Vertreibung, die Frage der Bekämpfung der Fluchtursachen, die Fragen der globalen Gesundheit, das Thema Bildung, insbesondere Bildung von Mädchen und Frauen, damit auch sie ihr Leben selbständig gestalten können. Deshalb lade ich Sie alle ein, uns auch bei dieser Gestaltung der G20-Präsidentschaft auf diese und jene Art zu unterstützen. Ich möchte mich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken. Es war mir eine Ehre und Freude, heute hier vor Ihnen zu sprechen – in einem Jahr, in dem wir alle spüren, dass es uns unglaublich herausfordert, dass sozusagen etwas auf dem Spiel steht. Werden wir weiterhin gut gemeinsam agieren können oder fallen wir alle in unsere individuellen Rollen zurück? Ich rufe uns auf und hoffe, dass wir eine gemeinsame Position finden: Lassen Sie uns die Welt gemeinsam besser machen, dann wird sie auch für jeden Einzelnen von uns besser. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich des Netzwerkerinnen-Treffens der Gruppe der Frauen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am 15. Februar 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-anlaesslich-des-netzwerkerinnen-treffens-der-gruppe-der-frauen-der-cdu-csu-bundestagsfraktion-am-15-februar-2017-793400
Wed, 15 Feb 2017 19:34:00 +0100
Berlin
Liebe Karin Maag, liebe Kolleginnen und Kollegen – Kollegen sind es ganz wenige; heute sind es vor allem Kolleginnen des Deutschen Bundestags, liebe Freundinnen der CSU, die nicht aus dem Deutschen Bundestag sind – mit Ursula Männle ist heute eine Frau hier, mit der ich schon 1990 begonnen habe, manchen Streit für die Frauen zu führen; nicht Streit mit Ursula Männle, sondern für die Frauen –, liebe Anwesende, die zu diesem Netzwerk gehören, ich freue mich, heute dabei zu sein. Netzwerke sind umso stärker, je größer die Beteiligung ist und je mehr Knoten sich bilden können. Der Begriff Netzwerkerinnen-Treffen klingt vielleicht etwas technisch. Aber wir wissen, dass Netzwerke unbedingt erforderlich sind, nicht nur für den Austausch, sondern im Falle von Entscheidungen auch oft für die gegenseitige Unterstützung und Beratung. Sie verleihen gemeinsamen Anliegen ein anderes Gewicht, als wenn jeder und jede für sich allein kämpft. Das heißt nichts anderes, als dass Netzwerke Erfolgen dienen, und zwar gemeinsamen wie – das darf man sagen – persönlichen Erfolgen. Wir kennen es auch aus der männlichen Welt, dass es nicht nur um Gemeinsamkeit geht, sondern manchmal auch um den persönlichen Erfolg. Ich denke, dass solche Netzwerke in den Zeiten ganz besonders wichtig sind, in denen manche Selbstverständlichkeit gar nicht mehr so selbstverständlich erscheint und in denen wir erkennen müssen – Karin Maag hat es schon angesprochen –, dass manche Bewegung nicht mehr unaufhaltsam in eine Richtung weist. Wenn ich zum Beispiel an die Europäische Union denke, an die Entscheidung Großbritanniens, sich mit einem Referendum aus der Europäischen Union zu verabschieden, dann muss man sagen, dass diese uns in zentralen Anliegen der Unionspolitik vor eine Bewährungsprobe stellt. Wir erleben Konflikte und Kriege auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Ich erinnere nur an die Ukraine oder an Syrien. Beide sind Länder an den Außengrenzen der Europäischen Union. Bei Syrien denkt man oft gar nicht daran, dass Zypern als Mitglied der Europäischen Union direkt an Syrien grenzt. Der internationale Terrorismus fordert uns heraus. Wir selber haben die bittere Erfahrung gemacht – in Berlin, vorher in Bayern; Würzburg und Ansbach stehen dafür –, unsere Freunde in Frankreich und natürlich vor allem die Menschen in Ländern wie Irak und Syrien. Das Gute ist, dass wir doch spüren, dass diejenigen, die unsere Lebensweise zerstören wollen – das, was uns etwas wert ist, unser Wertefundament, die Würde des einzelnen Menschen, die Meinungsfreiheit, die Vielfalt, die Pressefreiheit, die demokratischen Strukturen –, auf eine starke Zivilgesellschaft stoßen und dass sich diese Zivilgesellschaft auch zur Wehr setzt. Natürlich müssen wir auch auf staatlicher Seite – das beschäftigt uns in unseren politischen Diskussionen eigentlich täglich – Sorge für das tragen, was Menschen von politischer Tätigkeit erwarten und immer wieder einfordern: Sicherheit in umfassendem Sinne zu gewährleisten – von innerer Sicherheit bis zu sozialer Sicherheit. Wir haben viele, viele Schritte unternommen. Ich denke dabei etwa an die Stärkung unserer Sicherheitsbehörden oder daran, dass die Nutzung von Videoüberwachung jetzt besser möglich ist. Wir haben also eine Vielzahl von Lehren aus den Ereignissen gezogen, Bund und Länder an vielen Stellen auch gemeinsam, aber leider nicht immer. Ich darf, denke ich, mit Fug und Recht sagen – wir sind hier ja nicht im neutralen Raum, sondern bei der Unionsfraktion zu Gast –, dass wir Schrittmacher und Motor vieler dieser politischen Entscheidungen waren. Die Veränderungen, die wir um uns herum spüren, haben uns vor große Herausforderungen gestellt. Wenn man auf die vergangenen Jahre zurückblickt, dann kann man vielleicht sagen, dass 2015 das Jahr einer großen humanitären Bewährungsprobe war, als viele Menschen vor allem aus Syrien und dem Irak und auch aus Afghanistan zu uns kamen, als wir das EU-Türkei-Abkommen noch nicht hatten, als Schmuggler und Schlepper die Bewegung gespeist haben und als uns vor allem das Elend der Menschen vor Ort besonders bewusst wurde. Das war sozusagen das Jahr der humanitären Herausforderung. 2016 war das Jahr, in dem wir unglaubliche Fortschritte mit Blick auf Integration gemacht haben. Der Bund hatte noch nie ein Integrationsgesetz. Wie lange haben wir dafür gekämpft? – Fast, so kann man sagen, jahrzehntelang. Dass zum Beispiel die Kenntnis unserer Sprache ein essenzieller Bestandteil von Teilhabe ist, wird heute als Normalität angesehen und wird von allen eingefordert. Ich denke, es ist sehr gut, dass wir uns auch als Bund entscheiden konnten, ein Integrationsgesetz zu verabschieden. Wir haben dann im Jahr 2017, so jung es noch ist, schon wichtige Beschlüsse zwischen Bund und Ländern auch über ein Thema getroffen, das die Menschen ebenfalls bewegt: Was ist mit denen, die keinen Aufenthaltsstatus bei uns haben; und wie können wir sie besser in ihre Heimat rückführen? Wie können wir das begleiten? Wie müssen wir als Staat auch Strenge walten lassen, damit wir unsere humanitären Herausforderungen auch weiterhin bewältigen können? So kann man im Rückblick sagen: Von Humanität über Integration bis hin zur klaren Umsetzung rechtsstaatlicher Verfahren haben wir vieles geleistet. Wir haben auch viel darüber erfahren, wo Europa positioniert ist und welche Herausforderungen um uns herum auf uns warten. Ich sage es oft und will es hier wiederholen: Die Europäische Union kann und wird nur dann weiterhin Bestand haben, wenn sie das, was sie sich als Integrationsschritte vorgenommen hat, wirklich umsetzt. Das haben wir im Zusammenhang mit der Eurokrise schmerzhaft erlebt: Wir mussten erst einmal Mechanismen einbauen, um Krisen bewältigen zu können. Wir haben auch erlebt, dass der Erhalt des Schengen-Raums – des Raums der Freizügigkeit, den wir alle gern nutzen, weil wir zum Beispiel keine Pässe vorzeigen müssen, um von einem Land ins andere zu fahren – voraussetzt, dass man seine Außengrenzen schützen kann. Als plötzlich Druck auf die Außengrenzen entstand, haben wir festgestellt, dass wir dafür noch gar nicht gewappnet waren – auch nicht in Form einer gemeinsamen Grenzschutzpolizei, wie wir sie inzwischen mit Frontex haben. Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, ob jeder vor Augen hatte, wo unsere Außengrenzen verlaufen – sozusagen vom Nordpol, von Norwegen, über Russland, die Ukraine, Georgien, die Türkei, Syrien, den Libanon, Israel, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien nach Marokko. Das ist unsere Nachbarschaft. Da verlaufen unsere Außengrenzen. – Ich habe zu Präsident Obama oft gesagt: Schau dir einmal an, welch einfache geografische Lage du hast: links ein Ozean, rechts ein Ozean, oben Kanada und unten überschaubare Schwierigkeiten an der mexikanischen Grenze. – Wenn Sie sich die großen Herausforderungen anschauen, zum Beispiel die asymmetrische Bedrohung durch islamistischen Terrorismus, dann erkennen Sie, dass das alles vor unserer europäischen Haustür stattfindet. Das prägt natürlich die Herausforderungen und die Aufgaben, die wir haben, und wird sicherlich ein großer Diskussionspunkt auf der Münchner Sicherheitskonferenz sein. Dabei wissen wir natürlich – ich sage das als deutsche Bundeskanzlerin –, dass wir ohne die NATO, ohne das transatlantische Bündnis und ohne die Fähigkeiten der Vereinigten Staaten von Amerika den islamistischen Terrorismus im Irak, in Syrien, in Libyen nicht bekämpfen könnten. Das zeigt, wie wichtig es ist, dass auch wir unseren redlichen Beitrag zu den Strukturen unseres Bündnisses leisten. Das tun wir noch nicht in ausreichendem Maße. Der neue amerikanische Verteidigungsminister sagt das zur Stunde unserer Verteidigungsministerin, die sonst vielleicht auch hier wäre, sich jetzt aber mit dieser Frage auseinandersetzen muss. Wir können diese Herausforderungen im Augenblick in einer Situation bewältigen, in der die Arbeitsmarktlage und die Wirtschaftslage in Deutschland zufriedenstellend sind. Ich sage es einmal so: Mein Vorgänger hat davon gesprochen, aber erst wir haben es dann gemeinsam geschafft: Die Arbeitslosigkeit ist halbiert. Es gibt 2,5 Millionen Arbeitslose und nicht fünf Millionen. Aber das ist natürlich immer eine Momentaufnahme. Der Arbeitsplatz der Zukunft muss wieder erarbeitet werden. Deshalb spielen in unseren Diskussionen in dieser Legislaturperiode auch die Frage der Digitalisierung in all ihren Facetten und Industrie 4.0 eine wichtige Rolle. Wir werden noch eine Vielzahl an Umbrüchen erleben, hoffentlich alle gut gestaltbar. Die Digitalisierung wird unsere Arbeitswelt und unsere Art der Produktion jedenfalls dramatisch verändern. Es ist noch nicht ausgemacht, ob die Punkte, an denen die wesentlichen Teile der Wertschöpfung erfolgen, wirklich in Europa und wirklich in Deutschland liegen oder ob wir der Gefahr erliegen, der verlängerte Produktionsarm von Internetunternehmen zu werden, die die eigentliche Kundenbeziehung in der Hand haben. Das Verhältnis des Produzenten zu seinem Kunden wird ausschlaggebend für die zukünftige Diskussion sein. Wir haben sehr viel für Forschung und Entwicklung getan. Den Forschungsetat haben wir mehr als verdoppelt. Wir sind jetzt in der Lage, drei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für Forschung auszugeben. Das ist ganz wichtig. Wir haben natürlich auch einiges dafür getan – jetzt komme ich zu dem Bereich, den Karin Maag auch angesprochen hat –, dass Frauen eine wichtigere Rolle spielen. Wenn man Jahrzehnte zurückschaut und sieht, dass man noch in den 70er Jahren den Ehemann um die Erlaubnis zur Berufstätigkeit fragen musste – ich kann das immer noch gar nicht begreifen, muss ich ehrlich sagen, weil ich das aus der DDR-Perspektive nicht so wahrgenommen habe –, dann freue ich mich natürlich darüber, dass wir heute weiter sind. Ich möchte Sie ermutigen, auch heute Abend noch einmal darüber zu sprechen, wo wir stehen und was wir uns noch wünschen. Ich möchte an diesem Abend an Rita Süssmuth erinnern, die in zwei Tagen ihren 80. Geburtstag feiern wird. Sie gehört zu denen, die sozusagen Vorreiterinnen waren. Dass sich Frauen immer mehr ins berufliche und öffentliche Leben einbrachten, kommentierte Rita Süssmuth einmal folgendermaßen – ich zitiere sie –: „Die Entwicklung ist zunächst mit Ignoranz, dann mit Protest und anschließend mit Wachsamkeit und Argwohn wahrgenommen worden, erst sehr spät mit Einsicht, welche Rolle denn die Frauen im gesellschaftlichen System und für die Lösung der Zukunftsprobleme wahrnehmen.“ Ich denke, sie hat recht gehabt. Dieses Resümee stammt von 1995. Auch seitdem hat sich viel getan. Sie hat damals immerhin schon von der Einsicht gesprochen, welche Rolle denn die Frauen im gesellschaftlichen Leben einnehmen, um zur Problemlösung beizutragen. Damals lag die Erwerbstätigenquote der Frauen bei 55 Prozent. Heute liegt sie bei 70 Prozent. Wir haben hier also eine deutliche Entwicklung. Ich denke, dazu haben wir auch dadurch viel beigetragen, indem wir Gleichberechtigungspolitik – das war auch immer ein Unionsanliegen – nicht nur als Politik für Frauen gesehen haben, sondern eben auch als Politik für Männer, weil sozusagen die „Überfrau“, die alles schafft – Familienarbeit, Beruf und dabei immer auch gut auszusehen –, nicht unser Zielbild sein kann. Stattdessen muss es zu einer fairen Teilung der Aufgaben in Familie und Beruf kommen. Ich denke, dass zum Beispiel unser Elterngeld sehr dazu beigetragen hat, dass dies der Fall ist. Zu Beginn gab es viele ironische Bemerkungen. Aber es hat – so nehme ich es jedenfalls wahr – sehr dazu beigetragen, dass Väter besser verstehen, was Familienarbeit ist und daran sogar Freude haben; und das ist ja auch schön. Das Thema Zeit für Familien und Selbstbestimmtheit der Lebensführung spielt in der heutigen Zeit eine größere Rolle als in vergangenen Jahren, weshalb wir es auch mehr in den Fokus gerückt haben. Deshalb die Flexibilisierung von Elterngeld und Elternzeit. Teilzeitarbeit, Rückkehrrecht – das steht noch aus. Wir wissen natürlich – Ilse Aigner ist da –, dass wir das in Rücksprache mit den kleineren und mittleren Unternehmen in den Blick nehmen müssen. Auch wir als Bundestagsabgeordnete haben gelernt, dass wir eine Arbeitgeberfunktion haben. Jeder, der in seiner Arbeitgeberfunktion auch einmal Mütter begleitet, weiß, welche Flexibilitäten man als Arbeitgeber einsetzen muss. Aber ich denke, dass wir hier viel getan haben. Ganz wesentlich ist natürlich das Thema Kinderbetreuung. Das hat insbesondere Ursula von der Leyen als Familienministerin nach vorn gebracht. Am Anfang waren nicht alle begeistert. Über die Rolle der Kita gibt es auch heute noch immer wieder Diskussionen. Wenn gesagt wird, wir müssen noch weiter ausbauen und die Gebühren vielleicht noch etwas senken, dann heißt es sofort: Dann bringen ja noch mehr Menschen ihre Kinder in die Kita. – Ich denke, in ein paar Jahren wird das ganz normal sein. Auch die Bildungsfrage hat man in früheren Zeiten anders gesehen. Heute bezweifelt niemand mehr, dass im Kindergarten auch Bildungsaufgaben wahrgenommen werden und dass es nicht nur um reine Betreuung geht. Wer ein- bis dreijährige Kinder kennt, der weiß, dass sie auch schon ziemlich viel lernen. Er weiß vor allen Dingen, dass sie, wenn sie in Elternhäusern aufwachsen, in denen sie diese Impulse nicht bekommen, mit drei Jahren gegenüber Gleichaltrigen schon ziemlich zurück sein können. Insofern ist die moderne Hirnforschung sehr hilfreich. Bei der Möglichkeit, Familie und Beruf zusammenzubringen und dadurch auch einen besseren Zugang zu Führungspositionen zu haben, hat sich also viel getan. Ich muss sagen, dass ich persönlich gegenüber der Quote immer sehr zurückhaltend war. Vor vielen Jahren, als die CDU auf einem Parteitag das Quorum einführte und ich Frauenministerin war, sagte ich zu Bundeskanzler Kohl, dass ich eigentlich nicht dafür stimmen könne, worauf er sagte, das sollte ich aber besser tun. Um der Sache noch Nachdruck zu verleihen, musste ich zu dem Thema auch gleich noch reden. Ich muss allerdings sagen: Wenn ich mir anschaue, wie es heute in unserer Partei aussieht – ich spreche jetzt für die CDU –, dann kann ich nur sagen: Glücklicherweise haben wir das Quorum. Denn sonst würde auf manchem dritten Platz keine Frau landen und auf dem sechsten wieder keine, sondern man würde dann erst bei Platz zehn oder zwölf langsam anfangen. Als das Quorum eingeführt wurde, gab es vereinzelt auch einige, die darauf hinwiesen, dass wahrscheinlich jeweils noch ein zweites Mal gewählt werden müsse, weil sie davon ausgingen, dass das Quorum nicht zu erfüllen wäre. Auch diese sind inzwischen in der absoluten Unterzahl. Aber wenn es um die Frage geht, wie es im nächsten Deutschen Bundestag aussehen wird, haben wir wieder große Probleme. Glücklicherweise haben zwar sehr viele bei CDU und CSU in dieser Legislaturperiode einen Direktwahlkreis, was allerdings die Frage zusätzlich erschwert. Aber – Karin Maag hat es schon gesagt – zumindest bei der Landesliste müsste man doch Einsicht haben. Ein besonders bedrückendes Kapitel ist eigentlich auch die Frage, wie viele Frauen in Aufsichtsräten von DAX-Unternehmen sind. Viele Jahre freiwilliger Verpflichtungen haben zu gar nichts oder ziemlich wenig geführt. Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn man sieht, wie viele Frauen jetzt doch gefunden werden, dann ist es schon in Ordnung, dass wir das Gesetz zur Quote gemacht haben. Es gab aber über viele, viele Jahre unglaublichen Streit, in den viele Emotionen hineingeflossen sind. Nachfolgende Generationen werden sich das gar nicht mehr vorstellen können. Am Ende drohte gar die Koalition von FDP und Union auseinanderzubrechen. Nur durch die Aufnahme der Quote ins Wahlprogramm, was dann auch zu deren Umsetzung führte, konnten wir die Sache noch retten. Es musste also vieles erkämpft werden. Es ist aber auch aus vielerlei Gründen richtig, den Frauen in unserer Gesellschaft den Stellenwert zuzugestehen, den sie haben. Sie bilden die Mehrheit der Bevölkerung. In allen Bereichen sollen sie sich entfalten können. Wir schreiben nicht vor, wie jemand sein Leben zu gestalten hat. Wahlfreiheit gibt es in unserem Programm – jedenfalls bei der CDU – seit den 80er Jahren. Die kleine Hoffnung, dass Frauen von mancher Wahl keinen Gebrauch machen werden, hat sich als unrealistisch entpuppt. Deshalb kann ich nur sagen: Lassen Sie uns weitermachen. Es gibt noch viel zu tun. In vielen gesellschaftlichen Bereichen sind Frauen noch in der Unterzahl. Deshalb wünsche ich Ihnen allen heute einen guten Dialog, ein gutes Netzwerkgespräch, damit Sie sich dann, wenn wieder einmal etwas zu entscheiden ist, vernetzen können. Wir werden noch eine kleine Schlacht um das Entgeltgleichheitsgesetz schlagen müssen. Gestern haben wir wieder einen kleinen Vorgeschmack bekommen. Aber das ist jetzt derart günstig und vernünftig ausgestaltet, weshalb ich sage: Das können wir wirklich vertreten. So haben wir auch bis zum Ende dieser Legislaturperiode noch manche Schlacht zu schlagen. Seien Sie heute Abend engagiert mit dabei. Danke dafür, dass Sie mich eingeladen haben. Ich freue mich auf die Diskussion.
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters bei der Verleihung des Deutschen Drehbuchpreises
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-verleihung-des-deutschen-drehbuchpreises-398708
Fri, 10 Feb 2017 20:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Kann man zu viel von der Welt sehen?“ – mit dieser beinahe philosophischen Frage wirbt zurzeit eine deutsche Fluggesellschaft für ihr Angebot. „Nein“, werden darauf Städte-Hopper und Weltenbummler antworten und – so zumindest die Intention der Werbebotschaft – gleich die nächste Reise buchen. „Nein“, würden aber vermutlich auch Film-Fans und Serien-Süchtige sagen: „man kann nie zu viel sehen von der Welt“ – oder besser: von den Welten, die sich immer wieder neu auf Kinoleinwänden und Fernsehbildschirmen entfalten. Diese Welten eröffnen uns Drehbuchautorinnen und Drehbuchautoren in ihrer grenzenlosen Vorstellungskraft; wie Pioniere ein unbekanntes Territorium durchforsten sie ihre Phantasie nach Geschichten, die (so) noch niemand erzählt hat. Wenn dann Regisseure, Kameraleute, Produzenten und Darsteller dieses „geistige Gebiet“ übernehmen, verwischen die Spuren der Autorinnen und Autoren leider viel zu schnell. Als diejenigen, die überhaupt erst die Grundlage für einen Film geschaffen haben, stehen sie selten im Rampenlicht oder auf dem Roten Teppich. Dieser Platz ist Filmemacherinnen und Filmemacher, Schauspielerinnen und Schauspieler vorbehalten. Weil aber unsere Welt ohne Sie, liebe Drehbuchautorinnen und Drehbuchautoren, um viele Welten ärmer wäre, und weil gerade Sie Anerkennung und Applaus für Ihre großartige künstlerische Arbeit verdienen, verleihen wir heute Abend, wie jedes Jahr, den Deutschen Drehbuchpreis! Der Deutsche Drehbuchpreis ist der wichtigste und höchstdotierte nationale Preis für Drehbuchautorinnen und -autoren. Er würdigt ihre Arbeit, wenn – um im Bild zu bleiben – die Gedanken-Expedition erfolgreich abgeschlossen und die Drehbücher fertig sind. Dabei ist der Weg in eine neue Film-Welt weit und das Drehbuchschreiben ein intellektueller Kraftakt, der Beharrlichkeit und eine hohe Frustrationstoleranz erfordert. Jahre des Schreibens für Minuten des Sehens: Drehbuchschreiben ist ein schöpferischer Langstreckenflug und er dauert ein Vielfaches länger als der Dreh selbst. Hinzu kommt, dass – wie bei jeder kreativen Arbeit – manchmal auch die Triebwerke stottern, dass es nur schleppend voran geht. Der Druck aber steigt, weil Produzenten auf Ergebnisse warten oder finanzielle Reserven aufgebraucht sind. Damit Sie, liebe Drehbuchautorinnen und -autoren, in Ruhe arbeiten können, auch mal eine Durststrecke überstehen und kreative Kraft tanken können, verschaffen wir Ihnen mit der Drehbuchförderung eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit und damit mehr Zeit: Bereits im vergangenen Jahr haben wir die Drehbuchförderung aus meinem Etat für die kulturelle Filmförderung nahezu verdoppelt, das heißt, es stehen nun jährlich 600.000 Euro für die Entwicklung vielversprechender Drehbücher zur Verfügung – und statt bisher zwölf können nun 20 Drehbücher im Jahr gefördert werden. Darüber hinaus wurde die Drehbuchförderung im neuen Filmförderungsgesetz erheblich ausgebaut: Die Novelle des FFG–Filmförderungsgesetz ist – wie viele von Ihnen wissen werden – am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten und sieht neben einer erheblichen Aufstockung der Fördersummen für die Drehbuchförderung auch eine neue Spitzenförderung vor. Ziel dieser Drehbuchfortentwicklungs-Förderung ist, Autorinnen und Autoren dabei zu unterstützen, ihre Drehbücher bis zu der für einen erfolgreichen Kinofilm erforderlichen Spitzenqualität zu entwickeln. Eine entsprechende Einrichtung meines Hauses zur Drehbuchförderung hat sich bereits seit vielen Jahren bewährt: Das „Drama Department“ unterstützt Drehbuchautorinnen und -autoren sowohl bei der Entwicklung ihrer Stoffe als auch bei der Suche nach Fördermaßnahmen zur Verbesserung des Buches oder der Vermittlung an Produzenten. Dass es sich lohnt, die Entwicklung eines Drehbuchs in verschiedenen Stadien zu unterstützen, zeigen nicht zuletzt immer wieder die wunderbaren Filme, die aus geförderten oder prämierten Drehbüchern entstehen: Im vergangenen Jahr wurden gleich zwei für den Drehbuchpreis nominierte Werke mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet: „Vier Könige“ – geschrieben von Esther Bernstorff – bekam die bronzene und „Herbert“ – geschrieben von Clemens Meyer und Thomas Stuber – die silberne Lola in der Kategorie „Bester Spielfilm“. Beide Filme stehen stellvertretend für die hohe Qualität der beim Drehbuchpreis eingereichten Stoffe, die uns einmal mehr darin bestätigt, mit der Drehbuchförderung meines Hauses den richtigen Weg zu gehen; und weil wir davon so überzeugt sind, werde ich mich auch über 2017 hinaus für die Verstetigung der zusätzlichen 15 Millionen Euro für die kulturelle Filmförderung einsetzen, um künstlerisch herausragende Filme nachhaltig und langfristig stärken zu können. „Im Zögern unterscheidet sich das Denken von der Arbeit“, hat der unvergessene Publizist Roger Willemsen in seiner letzten Rede gesagt; und weiter – ich zitiere: „In der Unschlüssigkeit, der verweilenden, unabgeschlossenen Geste, in der Trägheit sogar tun sich Zustände der Sammlung auf.“ Roger Willemsen war ein leidenschaftlicher Geistesarbeiter – so wie auch Sie leidenschaftliche Geistesarbeiter sind, liebe Drehbuchautorinnen und Drehbuchautoren: Sie brauchen Zeit und Gedankenfreiheit, um Eindrücke aufzunehmen und sie zu Geschichten zu verdichten, um sich Buchstabe für Buchstabe, Satz für Satz, Dialog für Dialog die Lebens- und Gedankenwelten Ihrer Figuren anzueignen. Wir wollen, dass Sie sich diese Zeit nehmen, dass Sie zögern und verweilen, dass Sie mal träge und unschlüssig sein können – weil wir wissen, dass sich darin „Zustände der Sammlung“ auftun, und aus eben diesen Zuständen neue Film-Ideen erwachsen und schließlich Drehbücher entstehen, die uns auf berührende, mitreißende Weise daran erinnern, dass man „nie zu viel von der Welt sehen kann“. Weil wir nie genug bekommen von den Welten, die Sie uns eröffnen, unterstützen wir Sie dauerhaft mit der Drehbuchförderung meines Hauses und feiern Sie heute, liebe Drehbuchautorinnen und -autoren, liebe Nominierte und Preisträger, mit der Verleihung des Deutschen Drehbuchpreises 2017!
Mit dem Drehbuchpreis würdigt Kulturstaatsministerin Monika Grütters die „großartige künstlerische Arbeit “ deutscher Drehbuchautoren. Ohne selbst im Rampenlicht oder auf dem Roten Teppich zu stehen, „eröffnen sie uns mit ihrer grenzenlosen Vorstellungkraft Welten.“ Dass 2016 die Mittel für die Drehbuchförderung nahezu verdoppelt wurden, ist für Grütters Anerkennung für „kreatives Engagement, einen intellektuellen Kraftakt, der Beharrlichkeit und eine hohe Frustrationstoleranz erfordert“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Übergabe der 2-Euro-Gedenkmünze 2017 „Rheinland-Pfalz“ am 10. Februar 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-uebergabe-der-2-euro-gedenkmuenze-2017-rheinland-pfalz-am-10-februar-2017-400810
Fri, 10 Feb 2017 14:32:00 +0100
Berlin
Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Frau Dreyer, sehr geehrter Herr Bundesminister, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrter Herr Chochola, meine Damen und Herren, die Übergabe der 2-Euro-Gedenkmünze ist jedes Jahr ein schöner Anlass. Denn mit der Münzserie „Bundesländer“ würdigen wir seit 2006 den Föderalismus, der den Bundesländen mit ihren jeweiligen Besonderheiten Gewicht und Stimme verleiht. Der Bundesfinanzminister ist derjenige, der das Ganze gesetzlich und faktisch verwaltet. Deshalb freuen wir uns, dass wir heute zu dritt hier bei Ihnen sind. Die Gedenkmünzen zeigen jeweils ein bekanntes Motiv aus dem Bundesland, das aktuell den Präsidenten oder die Präsidentin des Bundesrates stellt. So kamen das Holstentor aus Lübeck, das Schloss Neuschwanstein, der Kölner Dom, der Dresdner Zwinger und andere einzigartige Bauwerke bereits millionenfach in Umlauf. Diese Gedenkmünzen sind also ein Gruß aus dem jeweiligen Bundesland an die Bürgerinnen und Bürger ganz Deutschlands und in alle Euroländer. Mit diesen Münzen machen wir die kulturelle Vielfalt unseres Landes deutlich und auch erlebbar. Vielleicht zieht es ja manchen an die Stätten der Gebäude, die auf den Münzen abgebildet sind. Dieses Jahr ziert ein Motiv aus Rheinland-Pfalz die Rückseite. Das ist die Porta Nigra in Trier, weshalb eben auch der Trierer Oberbürgermeister unter uns ist. Die Porta Nigra, das schwarze Tor, ist seit mehr als 1.800 Jahren Zeitzeuge unserer reichhaltigen, langen deutschen und europäischen Geschichte. Das am besten erhaltene römische Stadttor nördlich der Alpen wurde im 2. Jahrhundert nach Christus erbaut und danach vielfältig genutzt. Seit 30 Jahren gehört es zum UNESCO-Welterbe. Die Porta Nigra steht in übertragenem Sinne für Beständigkeit. Sie zeigt uns, was auf einer soliden Basis steht, was gepflegt und erhalten wird, kann Jahrhunderte überdauern. Dieser Gedanke inspiriert uns ja auch bei unserer täglichen Arbeit. Wir denken nicht unentwegt an Jahrhunderte, aber manchmal an Jahrzehnte. Ich finde die Bildseite der Münze wieder einmal sehr gut gelungen und möchte deshalb Herrn Chochola ganz herzlich danken. Vielleicht verschafft die Münze dem an Tourismus ja nicht armen Land Rheinland-Pfalz noch mehr neugierige Besucherinnen und Besucher. Nun möchte ich das Wort Herrn Schäuble übergeben.
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters bei der Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-mitgliederversammlung-der-arbeitsgemeinschaft-dokumentarfilm-792626
Fri, 10 Feb 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Arbeitspsychologen sprechen vom „Suppenkoma“, wenn sich nach der Mittagspause wohlige Trägheit einstellt, und raten, wie Sie vielleicht wissen, zu einem stabilisierenden 20-minütigen Nickerchen, neudeutsch auch „Power Napping“ genannt. Ich mache mir deshalb mit Blick auf Ihre soeben beendete Mittagspause und das gemeinsame Eintreten ins biorhythmische Nachmittagstief keine Illusionen, was die Erwartungen an meine Rede betrifft. Politikergrußworten sagt man ja bisweilen eine durchaus schlaffördernde Wirkung nach …. Suppenkoma hin oder her: Ich freue mich, hier ein – trotz des anspruchsvollen Tagungsprogramms – offensichtlich waches und interessiertes Publikum zu begrüßen. Vielen Dank für die Einladung, lieber Herr Frickel! Versprechen kann ich Ihnen auf jeden Fall schon jetzt mehr „Power“ als „Napping“: Denn bei der politischen Gestaltung guter filmpolitischer Rahmenbedingungen, von der ich Ihnen berichten will, haben wir in den vergangenen Monaten für den Dokumentarfilm eine Menge erreicht, und das ist nicht nur für Filmschaffende, sondern auch für die wachsende Fangemeinde dieser Kunstform eine erfreuliche Nachricht. Die filmpolitischen Erfolge des vergangenen Jahres sind hart erarbeitet, und zwar zunächst einmal vor allem von Ihnen, liebe Filmemacherinnen und Filmemacher, die Sie über Jahre mit einer schier unerschöpflichen Vielfalt an künstlerischen Ausdrucksformen aus dem Dokumentarfilm „großes Kino“ gemacht haben – ein Genre, das man „auf dem Schirm haben“ muss, auch in der Filmförderung. Noch vor zwanzig Jahren fristete der Dokumentarfilm ja im Kino eher ein Mauerblümchendasein … Es ist Ihr Verdienst, dass Dokumentarfilme mittlerweile gut ein Drittel der deutschen Filmpremieren ausmachen, dass diese Kunstform auf Dokumentarfilmfesten zelebriert wird, die sich zu wahren Publikumsmagneten entwickelt haben, und dass der Dokumentarfilm bei den großen Wettbewerben heute als ernst zu nehmenden Konkurrenz für den Spielfilm gilt, nicht zuletzt auf der Berlinale: Man denke nur an den Goldenen Bären für Giancarlo Rosis „Fuocoamare“ im vergangenen Jahr, oder in diesem Jahr an „Beuys“, Ihren Film lieber Andres Veiel, über die im besten Sinne revolutionäre Kraft eines radikalen Künstlers. Ich freue mich schon auf die Premiere am kommenden Dienstag: nicht nur deshalb, weil mein Haus als Förderer an der Produktion beteiligt war, sondern weil die Kraft der Kunst und die Bedeutung der Kunstfreiheit, wie ich finde, gerade jetzt ins Rampenlicht gehören – in einer Zeit, in der man selbst in Demokratien nicht davor zurück schreckt, Künstlerinnen und Künstler mundtot zu machen, wie aktuell in der Türkei, oder sie ans staatliche Gängelband zu nehmen und nationalistisch zu vereinnahmen, wie populistische Parteien es fordern. Ich bin sicher: Wer sich mit Andres Veiel auf Joseph Beuys einlässt, schaut anders auch auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen. Eben deshalb schätze ich den Dokumentarfilm so sehr: weil er unserer Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit Tiefenschärfe verleiht – und einen anderen Blickwinkel. Und mein Eindruck ist, dass die Erfolgsgeschichte dieser anspruchsvollen Filmgattung mit einem akuten Bedürfnis nach eben jener Tiefenschärfe zu tun hat – mit dem Bedürfnis, dem gleichgültigen, auf unseren Smartphones vorbeirauschenden Strom vielfach verstörender Informationen und Bilder ein Stück Wahrheit und Erkenntnis abzutrotzen. Gerade heute, da unsere Augen mehr sehen als unser Kopf an Verstand aufzubringen und unser Herz an Empathie zu empfinden vermag, gerade heute braucht es die aufwändige Recherche, das Fingerspitzengefühl, die Erzählkunst und die atmosphärisch starken Bilder, die den Dokumentarfilm auszeichnen, um Relevantes sichtbar und Wirklichkeit in ihrer Vielschichtigkeit erfassbar zu machen. Mit seinen besonderen ästhetischen Mitteln ist der Dokumentarfilm nicht nur Welterklärer; nein, er hebt die Distanz zwischen Welt und Erklärung auf, er zieht uns geradezu in seinen Kosmos hinein und macht uns, die Beobachtenden, zu Erlebenden. Das ist seine große Stärke, und es ist eine Stärke auch für die demokratische Debattenkultur, die von der Bereitschaft lebt, genau hinzuschauen und sich mit Missständen auseinanderzusetzen statt nur vorbei zu scrollen. Nicht zuletzt angesichts der populistischen Vereinfacher und ihrer dreisten Lügen, die der Welt neuerdings als „alternative Fakten“ präsentiert werden, kann man dem dokumentarischen Kino nur wünschen, dass es noch mehr als bisher ein breites Publikum erreicht! Deshalb, lieber Herr Frickel, bin ich dankbar, dass die AG DOK – und Sie persönlich als langjähriger Vorsitzender – mit derselben hartnäckigen und unerschütterlichen Ausdauer, die einen guten Dokumentarfilmer auszeichnet, für die Stärkung dieser politisch wie kulturell bedeutenden Filmkunstgattung eintreten. Ihre Expertise war nicht zuletzt bei den Beratungen zum neuen Filmförderungsgesetz sehr hilfreich – und ich denke, der intensive Austausch hat sich für den Dokumentarfilm und seine Schöpferinnen und Schöpfer ausgezahlt. Wie Sie wissen, meine Damen und Herren, ist am 1. Januar das umfassend modernisierte Filmförderungsgesetz (FFG) in Kraft getreten, mit dem wir den roten Teppich für künftige Filmerfolge ausgerollt haben. Es ermöglicht mehr als bisher qualitative Spitzenförderung – unter anderem durch eine Neuregelung beim Eigenanteil der Filmproduzenten; durch eine stärkere Konzentration der Fördermittel; durch Professionalisierung der Fördergremien; durch die neue Drehbuchentwicklungsförderung und durch die Stärkung der Kinos als Kulturorte – gerade auch abseits der Großstädte. Als Dokumentarfilmer profitieren Sie insbesondere davon, dass wir im neuen FFG die Anregung aufgegriffen haben, Experimentiermöglichkeiten für den Dokumentarfilm zu schaffen. Dokumentarfilme können jetzt auf Antrag zeitgleich oder mit geringem zeitlichem Abstand zur Kinoauswertung auf DVD und auf bestimmten VoD-Plattformen angeboten werden. Damit betreten wir filmpolitisches Neuland, und ich hoffe, dass dabei neue Geschäftsmodelle entstehen, die Ihnen allen zugute kommen.Weil es – Fördermittel hin oder her – leidenschaftliche Neugier und eine gute Portion verwegenen Muts braucht, um sich gerade dem zeit- und rechercheintensiven Dokumentarfilm zu verschreiben, will ich Ihnen nicht vorenthalten, was wir im vergangenen Jahr mit den 15 Millionen Euro erreichen konnten, die ich zusätzlich für die kulturelle Filmförderung meines Hauses bereit gestellt hatte, um – auch im Dokumentarfilmbereich – für mehr Unabhängigkeit zu sorgen. Wir haben die Fördermöglichkeiten für die einzelnen Filmproduktionen deutlich erhöht (von 250.000 Euro auf 500.000 Euro und in besonderen Fällen auf bis zu eine Million Euro pro Film). Wir haben das Höchstbudget der antragsberechtigten Filme von 2,5 Millionen Euro auf 5 Millionen Euro angehoben. Wir haben den zulässigen Anteil der BKM-Fördersumme deutlich erhöht (auf bis zu 80 Prozent, in Ausnahmefällen auch noch höher). Wir haben die Juryarbeit gestärkt – mit eigenständigen Jurys für den Spielfilm- und den Dokumentarfilmbereich. Und – um noch ein letztes Beispiel zu nennen – wir haben in die Entwicklung von Stoffen investiert und für den Dokumentarfilm eine Stoffentwicklungsförderung neu eingeführt. Die zusätzlichen 15 Millionen für die kulturelle Filmförderung haben wir auch für 2017 bereitgestellt, und so soll es, das ist mein Ziel, auch in den kommenden Jahren bleiben – auf dass daraus eine Erfolgsgeschichte wird wie beim DFFF, aus dessen Mitteln im Jahr 2016 auch 27 Dokumentarfilme gefördert wurden – „Love Boat“ (Regie: Tristan Ferland Milewski) zum Beispiel, der auf der diesjährigen Berlinale zu sehen ist. Das alles sind gute Nachrichten für die dokumentarische Filmkunst. Die beste Nachricht habe ich mir aber für den Schluss aufgehoben: Ich werde den DFFF in Abstimmung mit Bundesfinanzminister Schäuble noch im laufenden Jahr um ein weiteres Element erweitern, das sich speziell an nationale und internationale Großproduktionen wendet. Dafür wird der DFFF im Jahr 2017 in einem ersten Schritt mit einem zusätzlichen Fördervolumen von 25 Millionen Euro und einer eigenen, speziell auf Großproduktionen zugeschnittene Förderlinie ausgestattet. Den DFFF stocke ich damit also in diesem Jahr auf 75 Millionen Euro auf. Die Förderung von Filmproduktionen aus meinem Kulturetat werden dann in diesem Jahr insgesamt rund 100 Millionen Euro betragen, 75 Millionen Euro DFFF I und II und 25 Millionen Euro weitere, insbesondere kulturelle Filmproduktionsförderung. Über die Erhöhung und den Weg dazu habe ich mich bereits seit längerer Zeit mit dem Bundesfinanzministerium ausgetauscht. Für die Folgejahre ab 2018 führe ich derzeit die Haushaltsgespräche zu meinem Kulturetat mit dem Bundesfinanzminister. Ich bin, so viel kann ich jetzt schon sagen, sehr zuversichtlich, dass ich noch weitere substantielle Erhöhungen des DFFF erreichen werde. Im Ergebnis wird das auch dem Dokumentarfilm zugute kommen. Mit diesem Ausblick auf künftige, zusätzliche Fördermöglichkeiten, meine Damen und Herren, hoffe ich, nicht nur zur guten Stimmung auf Ihrer heutigen Mitgliederversammlung beizutragen, sondern Sie auch in Ihrer couragierten Suche nach Klarheit und Wahrheit bestärken zu können, die Werner Herzog, einer der berühmtesten Grenzgänger zwischen Spielfilm und Dokumentarfilm, kürzlich in einem Interview so beschrieben hat, ich zitiere: „Ich versuche einfach, ein guter Soldat zu sein, der eine Stellung hält, die von anderen aufgegeben wurde. Der sich vorwärts bewegt, ohne vor Geschützdonner zurückzuschrecken.“ Das mag etwas zu martialisch klingen für eine Kunst, die uns auch immer wieder mit der Poesie ihrer Bilder in Bann zieht. Doch der Wahrheit ein Stück näher kommen zu wollen, geht meistens nicht, ohne sich auf vermintem Gelände zu bewegen, zwischen die Fronten zu geraten oder Abwehrfeuer zu provozieren. Und deshalb braucht es tatsächlich unerschrockene Soldaten im Dienste der Wahrheit, die Stellungen halten, die von anderen aufgegeben wurden, und sich vorwärts bewegen, ohne vor Geschützdonner zurück zu schrecken. Dafür danke ich Ihnen, meine Damen und Herren, und dafür haben Sie auch weiterhin meine politische Rückendeckung!
Beim Treffen der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm hat Kulturstaatsministerin Grütters die gute Entwicklung und den politischen Wert dieser „anspruchsvollen Filmgattung“ hervorgehoben. Vom novellierten Filmfördergesetz profitiere auch der Dokumentarfilm. Auch für die Zukunft sicherte sie den Machern des Genres politische Rückendeckung zu.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters beim Empfang zur Berlinale-Reihe „LOLA@Berlinale“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-beim-empfang-zur-berlinale-reihe-lola-berlinale–793172
Fri, 10 Feb 2017 17:25:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Zu den beliebtesten Themen auf Berlinale-Empfängen gehört die Frage, wie man die Festivalnächte gesundheitlich unbeschadet, geistig zurechnungsfähig und bis zum Schluss optisch einigermaßen ansprechend, ohne Augenringe und fahlen Teint, übersteht. Ich weiß es leider immer noch nicht. Nach meinen heutigen Auftritten als Rednerin beim Berlinale-Brunch der ARD-Intendantin, bei der Mitgliederversammlung der AG DOK, bei LOLA@Berlinale und später bei der Verleihung des Deutschen Drehbuchpreises kann ich Ihnen aber immerhin sagen, wie man entspannt und gut gelaunt durch einen Tag mit vier Berlinale-Reden kommt: nämlich mit jeder Menge guter Nachrichten für die Filmbranche im Gepäck. Die will ich auch Ihnen nicht vorenthalten. Wie Sie wissen ist am 1. Januar das umfassend modernisierte Filmförderungsgesetz (FFG) in Kraft getreten, mit dem wir den roten Teppich für künftige Filmerfolge ausgerollt haben. Es ermöglicht mehr als bisher qualitative Spitzenförderung – zum Beispiel • durch eine Neuregelung beim Eigenanteil der Filmproduzenten; • durch eine stärkere Konzentration der Fördermittel; • durch mehr Fördermittel für den Kurzfilm; • durch die neue Drehbuchentwicklungsförderung – und: • durch die Stärkung der Kinos als Kulturorte, auch abseits der Großstädte. Was die Förderentscheidungen betrifft, habe ich unter anderem dafür gesorgt, dass die Förderkommissionen der FFA künftig geschlechterparitätisch besetzt werden. Natürlich hat eine Quote dort nichts verloren, wo allein künstlerische Qualität entscheiden darf. Aber es ist das Mindeste, und es war längst überfällig, dass wir den Frauenanteil in den FFA-Gremien erhöhen. Ich hoffe, dass sich damit auch mehr von Frauen geprägte Projekte durchsetzen können. Wie Sie ja mittlerweile auch wissen, liegt mir nicht nur die Chancengleichheit, sondern auch die künstlerische Freiheit besonders am Herzen. Deshalb habe ich für 2016 und auch für 2017 zusätzlich 15 Millionen Euro für die kulturelle Filmförderung bereitgestellt. Damit können wir innovative Spiel- und Dokumentarfilme mit deutlich mehr Geld fördern als zuvor. Und Sie, die Filmschaffenden, müssen bei künstlerisch herausragenden Filmprojekten hoffentlich weniger Kompromisse eingehen. Natürlich setze ich mich dafür ein, dass es auch in den kommenden Jahren bei diesem dicken Plus für die kulturelle Filmförderung bleibt. Ein dickes Plus – das ist die nächste gute Nachricht – gibt es auch für den DFFF: Ich will einen zusätzlichen Anreiz für internationale Aufträge an deutsche Produktionsdienstleister schaffen. Dafür wird der DFFF im Jahr 2017 in einem ersten Schritt mit einem zusätzlichen Fördervolumen von 25 Millionen Euro und einer eigenen, speziell auf Großproduktionen zugeschnittene Förderlinie ausgestattet. Damit stocke ich den DFFF also in diesem Jahr auf 75 Millionen Euro auf. Die Förderung von Filmproduktionen aus meinem Kulturetat werden dann in diesem Jahr insgesamt rund 100 Millionen Euro betragen, 75 Millionen Euro DFFF I und II und 25 Millionen Euro weitere, insbesondere kulturelle Filmproduktionsförderung. Über die Erhöhung und den Weg dazu habe ich mich bereits seit längerer Zeit mit dem Bundesfinanzministerium ausgetauscht. Für die Folgejahre ab 2018 führe ich gerade die Haushaltsgespräche zu meinem Kulturetat mit dem Bundesfinanzminister. Ich bin, so viel kann ich jetzt schon sagen, sehr zuversichtlich, dass ich noch weitere substantielle Erhöhungen des DFFF erreichen werde. Das alles sind gute Nachrichten zum Berlinale-Auftakt. Die beste Nachricht für den deutschen Film aber kam aus der Branche selbst. Ja, das Filmjahr 2017 hätte besser kaum anfangen können! Maren Ade, die mit „Toni Erdmann“ beim Europäischen Filmpreis abgeräumt hat, geht für Deutschland um einen Oscar ins Rennen, und macht damit gerade die ganze Welt neugierig auf den deutschen Film. Und nebenbei zeigt sie, was Frauen als Regisseurinnen und Drehbuchautorinnen drauf haben. Das sehen wir in diesem Jahr auch auf der Longlist für den Deutschen Filmpreis: Ich freue mich, dass in der beeindruckend vielfältigen Vorauswahl 14 Regisseurinnen vertreten sind. Das sind rekordverdächtige 35 Prozent – darunter neben Maren Ade zum Beispiel Anne Zohra Berrached mit „24 Wochen“ – einer der bewegendsten Wettbewerbsbeiträge der letztjährigen Berlinale, ein großartiger, einfühlsamer Film mit einer beeindruckenden Julia Jentsch, der mich lange nicht losgelassen hat. Auch in diesem Jahr ist der deutsche Film stark im Wettbewerb vertreten: Ich freue mich besonders auf die Premiere von Andres Veiels Dokumentarfilm „Beuys“ am kommenden Dienstag, und zwar nicht nur deshalb, weil mein Haus als Förderer an der Produktion beteiligt war, sondern weil die Kraft der Kunst und die Bedeutung der Kunstfreiheit, wie ich finde, gerade jetzt ins Rampenlicht gehören – in einer Zeit, in der man selbst in Demokratien nicht davor zurück schreckt, Künstlerinnen und Künstler mundtot zu machen, wie aktuell in der Türkei, oder sie ans staatliche Gängelband zu nehmen und nationalistisch zu vereinnahmen, wie populistische Parteien es – auch hierzulande – fordern. Da ist es mehr als nur ein schöner Zufall, – es ist ein Glück und eine Chance -, dass in diesem Jahr gleich fünf Berlinale-Filme im Hauptprogramm Künstlern gewidmet sind: Neben „Beuys“ und dem gestrigen Eröffnungsfilm „Django“ auch noch „Final Portrait“, „Return to Montauk“und „Maudi“. Für die Vielfalt der Filmkunst steht nicht zuletzt auch LOLA@Berlinale – mit 40 deutschen Filmen, die sich hier in bester Berlinale-Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes „sehen lassen können“. Oder um es mit Woody Allen zu sagen: „Eighty percent of success is showing up.“ Mit dieser Einstellung kommt man übrigens, wie ich finde, auch übermüdet, mit Augenringen und fahlem Teint, gut durch zehn Tage Berlinale. In diesem Sinne: auf lange Filmnächte – und inspirierende Festivaltage!
Beim Empfang anlässlich der Berlinale-Reihe LOLA@Berlinale betonte Kulturstaatsministerin Grütters, wie bedeutend die Kunstfreiheit und die Kraft der Kunst für die Demokratie sei. Neben der kürzlich verkündeten Erhöhung des Deutschen Filmförderfonds (DFFF) stellte Grütters weitere substantielle Erhöhungen in Aussicht.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Eröffnung der 67. Berlinale
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-eroeffnung-der-67-berlinale-394490
Thu, 09 Feb 2017 20:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Berlin ist die Stadt, deren Gesicht die nur langsam verblassenden Narben einer Mauer trägt, und deren Geschichte von der – Mauern überwindenden -Sehnsucht nach Freiheit erzählt. Berlin ist die Stadt, der Amerika, noch als sie in Trümmern lag, die Hoffnung auf Freiheit eingehaucht hat. Unsterblich die Worte John F. Kennedys: „Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger Berlins, und deshalb bin ich als freier Mensch stolz darauf, sagen zu können: ,Ich bin ein Berliner’!“ Seien Sie alle heute als „Berliner“ willkommen, meine Damen und Herren, zu einem Fest der Kunstfreiheit, zur Berlinale 2017! Seit es das Kino gibt, war es das Privileg der Filmkunst (- nicht der Politik -), die Welt als Schauplatz, man könnte fast sagen: als Schlachtfeld großer Emotionen erscheinen zu lassen und damit zu unterhalten oder zu provozieren, zu trösten oder zu verstören, Sehnsüchte zu wecken oder Ängste. Auch „alternative Fakten“ und bizarre Auftritte waren bisher vor allem im Film zuhause – und nicht in den Amtsstuben einer Demokratie. Und wer hätte, als die großartige Meryl Streep hier vor einem Jahr als Berlinale-Jury-Präsidentin gefeiert wurde, im Ernst gedacht, dass sie ihren wichtigsten Einsatz bei einer Filmpreisverleihung noch vor sich hat – und dass es dabei um ein reales, politisches Schauspiel (- und nicht um Schauspielkunst -) gehen würde? Ich finde, man kann Meryl Streep allein schon dafür gar nicht hoch genug schätzen! Mag die Wirklichkeit den Film im Moment auch an Wahnsinn überbieten, verehrte Damen und Herren: Wahr ist auch, dass eben jene, die ihre Macht dem bösen Spiel mit diffusen Ängsten und niederen Instinkten verdanken, ihrerseits nichts so sehr fürchten wie die gewaltigen Kräfte der Kunst: die Fähigkeit der Kunst, zu berühren, ihre Kraft, Schweigen und Tabus zu brechen, ihr Vermögen, die Sehnsucht nach einem anderen Leben, nach einer besseren Welt zu wecken, ihren Ehrgeiz, nicht Rädchen, sondern Sand im Getriebe der Politik zu sein. Im Gegensatz zu „fake news“, die den Blick vernebeln, lässt Kunst uns klarer zu sehen. „Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt.“ So hat es Pablo Picasso formuliert. Da ist es mehr als nur ein schöner Zufall, – es ist ein Glück und eine Chance -, dass in diesem Jahr gleich fünf Filme im Hauptprogramm Künstlern gewidmet sind: Final Portrait, Return to Montauk, Beuys, Maudi und Django -… das Künstlerporträt, das heute die 67. Berlinale eröffnet. „Django“, die Geschichte des legendären Jazz-Gitarristen Django Reinhardt, erzählt vom Gift des Rassismus, vom Erfolg des Gipsy-Swing und vom Versuch, Kunst als Erfüllungsgehilfin der Politik zu missbrauchen. Wieder einmal zeigt die Berlinale mit einem vielversprechenden Programm politische Haltung. Dafür danke ich Dir, lieber Dieter Kosslick, und Deinem Team! Freuen wir uns auf eine Demonstration künstlerischer Vielfalt gegen populistische Einfalt, meine Damen und Herren! Freuen wir uns auf ein Fest der Kunst – auf ein Fest jener ganz besonderen Lügen, die uns die Wahrheit zu begreifen lehren.
„Alle freien Menschen sind Bürger Berlins“: Mit Blick auf dieses Kennedy-Zitat begrüßte Kulturstaatsministerin Monika Grütters die Gäste zur Berlinale, „einem Fest der Kunstfreiheit“. Nichts fürchteten jene, die ihre Macht dem bösen Spiel mit diffusen Ängsten verdanken, mehr als die gewaltigen Kräfte der Kunst.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich des Produzententages zur Berlinale 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-des-produzententages-zur-berlinale-2017-792010
Thu, 09 Feb 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Es zeugt vom Selbstbewusstsein der Filmproduzenten, die Pole Position im Berlinale-Begleitprogramm zu besetzen und gleich früh morgens am Tag der Berlinale-Eröffnung zum Frühstücksempfang und zum ausgedehnten fachlichen Austausch einzuladen – zumal ja gilt, wie es in einer Komödie von Oscar Wilde so schön heißt: „Nur die ganz Stumpfsinnigen sind beim Frühstück schon geistreich“. Aber die Produzentenallianz wäre nicht die Produzentenallianz, wenn sie das Haus nicht trotzdem voll bekäme! Vielen Dank für die freundliche Begrüßung, lieber Herr Thies! Einen selbstbewussten Auftritt, verehrte Filmproduzentinnen und Filmproduzenten, können Sie sich nicht nur bei der Berlinale leisten, deren Programm einmal mehr ganz großes Kino mit inspirierenden Filmerlebnissen „made in Germany“ verspricht: insgesamt 84 deutsche und deutsch koproduzierte Filme, drei deutsche Wettbewerbsbeiträge – und das in einem Jahr, in dem mit „Toni Erdmann2 endlich wieder ein deutscher Film Chancen auf einen Oscar hat… . Zu einer starken und selbstbewussten deutschen Filmbranche – das darf ich, glaube ich, in aller Bescheidenheit sagen – hat auch die Filmpolitik ihr Scherflein beigetragen. Am 1. Januar ist das umfassend modernisierte Filmförderungsgesetz (FFG) in Kraft getreten, mit dem wir den roten Teppich für künftige Filmerfolge ausgerollt haben. Es ermöglicht qualitative Spitzenförderung, und es stärkt die deutsche Filmwirtschaft im internationalen Wettbewerb. Dazu sieht das FFG–Filmförderungsgesetz unter anderem vor, · ein hohes Niveau des Abgabeaufkommens zu sichern; · die Förderung effizienter zu machen; · die Drehbuchförderung deutlich auszubauen; · Kinos als Kulturorte – gerade in der Fläche – zu stärken; · und – auch das war mir sehr wichtig – den Frauenanteil in den FFA–Filmförderungsanstalt-Gremien zu erhöhen. Als Filmproduzentinnen und Filmproduzenten sollen Sie insbesondere von der Neuregelung zum Eigenanteil profitieren, den Sie in Höhe von 5 Prozent erbringen müssen – und zwar künftig nicht mehr durch Barmittel. Sogar Lizenzvorabverkäufe können jetzt berücksichtigt werden. Das erleichtert die Erbringung des Eigenanteils ganz wesentlich. Weil herausragende Drehbücher den Grundstein legen für einen hohen deutschen Markanteil, wird die neue Drehbuchentwicklungsförderung dafür sorgen, dass gute Stoffe auch tatsächlich bis zur Drehreife gedeihen. Die Förderung wird an Produzenten ausgezahlt, so dass nicht nur Autoren davon profitieren. Und weil die Hälfte derjenigen, die später die Kinokassen klingeln lassen sollen, weiblich ist, sorgt das neue FFG–Filmförderungsgesetz für einen deutlich höheren Frauenanteil in den Gremien der FFA–Filmförderungsanstalt. Wie bitter nötig eine solche Regelung ist, habe ich erst kürzlich wieder erlebt – bei der Benennung von Mitgliedern für den neuen Verwaltungsrat der FFA–Filmförderungsanstalt. Unter den Benennungen des Bundesrats war sage und schreibe keine einzige Frau. Da haben einige offenbar den Schuss nicht gehört! Ich habe mir erlaubt, meiner Fassungslosigkeit in einem Schreiben Ausdruck zu verleihen …. Last but not least: Die Heranziehung ausländischer Video-on-Demand-Anbieter ist eine Voraussetzung, um die Finanzierung der Förderung nach dem FFG–Filmförderungsgesetz langfristig zu sichern. Sie wurde im September letzten Jahres durch die Europäische Kommission genehmigt. Wie Sie wissen, verweigert Netflix die Beiträge und hat jetzt Klage vor dem Europäischen Gerichtshof eingereicht. Nur nehmen, nichts geben wollen – das ist schon einigermaßen frech! Das werden wir nicht akzeptieren. Sie können sicher sein, dass ich weiterhin alles dafür tun werde, Netflix und Co. zum Zahlen ihrer Beiträge zu bewegen. Weil mir – wie Sie wissen – nicht nur die Chancengleichheit, sondern auch der künstlerische Mut zum Experiment besonders am Herzen liegt, meine Damen und Herren, will ich Ihnen nicht vorenthalten, was wir im vergangenen Jahr unter anderem mit den 15 Millionen Euro erreichen konnten, die ich zusätzlich für die kulturelle Filmförderung bereit gestellt hatte. · Wir haben die Fördermöglichkeiten für die einzelnen Filmproduktionen deutlich erhöht (von 250.000 Euro auf 500.000 Euro und in besonderen Fällen auf bis zu eine Million Euro pro Film). · Wir haben das Höchstbudget der antragsberechtigten Filme von 2,5 Millionen Euro auf 5 Millionen Euro angehoben. · Wir haben den zulässigen Anteil der BKM–Die Beauftragte für Kultur und Medien-Fördersumme deutlich erhöht (auf bis zu 80 Prozent, in Ausnahmefällen auch noch höher). · Wir haben die Juryarbeit gestärkt – mit eigenständigen Jurys für den Spielfilm- und den Dokumentarfilmbereich. · Und – um noch ein letztes Beispiel zu nennen – wir haben in die Entwicklung von Stoffen investiert: Wir fördern jetzt noch mehr Drehbücher im Spielfilmbereich und haben eine Stoffentwicklungsförderung für Dokumentarfilme eingeführt. Die zusätzlichen 15 Millionen für die kulturelle Filmförderung haben wir auch für 2017 bereitgestellt, und so soll es, das ist mein Ziel, auch in den kommenden Jahren bleiben – auf dass daraus eine Erfolgsgeschichte wird wie beim DFFF–Deutscher Filmförderfonds,der in den vergangenen zehn Jahren entscheidend zur Stärkung des Produktionsstandorts beigetragen hat. Mit rund 50 Millionen Euro wurden 2016 insgesamt 112 Projekte (66 deutsche und 46 internationale) gefördert – 5 mehr als im Vorjahr. Die Antragszahlen zeigen: Das Anreizmodell ist attraktiv. Kein Wunder: Barmittel noch vor Drehbeginn – das gibt es nur beim DFFF–Deutscher Filmförderfonds! Sie wissen auch, dass ich die Branche nicht alleine gelassen habe, als es hieß, der Mittelansatz des DFFF–Deutscher Filmförderfonds in Höhe von 50 Millionen Euro reiche nicht aus. Ich habe für 2015 eine Lösung gefunden und statt 50 Millionen Euro letztlich über 61 Millionen Euro bewilligen können. Keine deutsche Produktion ist im Jahr 2015 am DFFF–Deutscher Filmförderfonds gescheitert – wer die Kriterien erfüllte, wurde mitgenommen. Das Gleiche gilt für 2016. Das war nicht einfach, aber ich habe das geschafft. Das alles sind gute Nachrichten für den Filmstandort Deutschland. Die beste Nachricht habe ich mir aber für den Schluss aufgehoben: Ich will einen zusätzlichen Anreiz für internationale Aufträge an deutsche Produktionsdienstleister schaffen und die deutschen Produktionsstandorte wie zum Beispiel die Filmstudios in Potsdam-Babelsberg, München oder auch Köln wettbewerbsfähig halten. Dazu werde ich den DFFF–Deutscher Filmförderfonds in Abstimmung mit Bundesfinanzminister Schäuble noch im laufenden Jahr um ein weiteres Element erweitern, das sich speziell an nationale und internationale Großproduktionen wendet. Es soll einen zusätzlichen Anreiz für große internationale Aufträge an deutsche Produktionsdienstleister setzen und dafür sorgen, dass große deutsche Produktionen nicht ins Ausland abwandern. Dafür wird in einem ersten Schritt der DFFF–Deutscher Filmförderfonds im Jahr 2017 mit einem zusätzlichen Fördervolumen von 25 Millionen Euro und einer eigenen, speziell auf Großproduktionen zugeschnittene Förderlinie ausgestattet. Den DFFF–Deutscher Filmförderfonds stocke ich damit also in diesem Jahr auf 75 Millionen Euro auf. Die Förderung von Filmproduktionen aus meinem Kulturetat werden dann insgesamt in diesem Jahr rund 100 Millionen Euro betragen, 75 Millionen Euro DFFF–Deutscher Filmförderfonds I und II und 25 Millionen Euro weitere, insbesondere kulturelle Filmproduktionsförderung. Diese Aufstockung kann ich in 2017 durch Anpassungen in der Abwicklung des DFFF–Deutscher Filmförderfonds und durch Nutzung von in meinem Haushalt neu hinzugekommenen Verpflichtungsermächtigungen möglich machen. Über die Erhöhung und den Weg dazu habe ich mich bereits seit längerer Zeit mit dem Bundesfinanzministerium ausgetauscht. Für die Folgejahre ab 2018 führe ich derzeit die Haushaltsgespräche zu meinem Kulturetat mit dem Bundesfinanzminister. Ich bin, so viel kann ich jetzt schon sagen, sehr zuversichtlich, dass ich noch weitere substantielle Erhöhungen des DFFF–Deutscher Filmförderfonds erreichen werde, um den Filmproduktionsstandort Deutschland, nicht zuletzt auch für innovative deutsche VFX-Unternehmen, nachhaltig und dauerhaft international wettbewerbsfähig zu halten. Mit diesen guten Aussichten, meine Damen und Herren, brauchen wir den „Verlust der großen Utopien“ – Leitmotiv der diesjährigen Berlinale, wie Dieter Kosslick in seinen Interviews schon mal verraten hat – zumindest für das Filmschaffen in Deutschland nicht zu fürchten. Im Kino sind der Vorstellungskraft keine Grenzen gesetzt. Im Kino sehen wir die Welt nicht nur wie sie ist, sondern auch, wie sie sein könnte. Das ist die große Verheißung des Kinos, und ich freue mich auf Filme, die dieses Versprechen mit Wagemut, Fantasie und Experimentierfreude einlösen. In diesem Sinne: Auf die 67. Berlinale und auf ein erfolgreiches Jahr für den deutschen Film!
Kulturstaatsministerin Monika Grütters setzt im Filmbereich weiter Akzente. So wird der Deutsche Filmförderfonds (DFFF) um jährlich 25 Millionen Euro aufgestockt, verriet sie nun beim Produzententag zur Berlinale 2017. „Ich will einen zusätzlichen Anreiz für internationale Aufträge an deutsche Produktionsdienstleister schaffen und die deutschen Standorte wettbewerbsfähig halten“, so Grütters.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich des Empfangs am Vorabend des 4. „Women Executives in Media“-Meetings
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-des-empfangs-am-vorabend-des-4-women-executives-in-media-meetings-792630
Wed, 08 Feb 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Ob in Politik, Wirtschaft oder Medien – wer es nach ganz oben schaffen will, sollte es mit Woody Allen halten: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Hin und wieder braucht er auch einen Drink.“ Das nennt man Networking, und mittlerweile haben wir Frauen auch in dieser Disziplin aufgeholt: Beim Wein Kontakte knüpfen und Deals an der Bar machen, das können wir auch! Mit Vergnügen sogar! Ich freue mich sehr über die Einladung zum Empfang der „Women Executives in Media“ und auf einen ersten Gedanken- und Erfahrungsaustausch zum diesjährigen Konferenzthema „Women and Politics“. Um eines habe ich Männer ja immer schon beneidet: Männer müssen sich niemals mit Themen wie „Männer und Politik“, „Männer und Wirtschaft“, „Männer und Medien“ befassen. Nein, Männer machen einfach Politik, Wirtschaft, Medien. Das wollen wir auch – und dafür braucht es noch viel gemeinsames Engagement und Networking. Schön, heute einmal mehr so viele erfolgreiche Frauen hinter diesem Ziel vereint zu sehen! Mit vereinten Kräften für mehr Gleichberechtigung – darum geht es auch beim Runden Tisch „Frauen in Kultur und Medien“, den ich im vergangenen Jahr ins Leben gerufen habe. Denn leider machen selbst diejenigen Branchen, in denen die Kreativen, die Innovativen, die Vordenker arbeiten, ihrem Ruf und ihrem Selbstverständnis als gesellschaftliche Avantgarde wahrlich keine Ehre. Die ernüchternden Ergebnissen einer von meinem Haus geförderten Studie des Deutschen Kulturrats aus dem Jahr 2016 zeigen: Chancen und Anerkennung sind auch in den kreativen Branchen sehr unterschiedlich zwischen den Geschlechtern verteilt. Das betrifft nicht nur die Teilhabe an Führungspositionen in den Kultureinrichtungen, in den Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft, in den Kulturverbänden und in den Redaktionen, wo fast ausschließlich Männer an den Schaltstellen der Macht und damit der Meinungsbildung sitzen. Auch in Gremien und Jurys, in denen über die Vergabe von Fördermitteln entschieden wird, sind Frauen deutlich in der Minderzahl. Wundert es da noch jemanden, dass Frauen insgesamt nur etwa 15 Prozent der öffentlichen Mittel zur Kunstförderung erhalten, dass Frauen seltener als Männer mit Preisgeldern und Auszeichnungen bedacht werden, dass Frauen mit ihren Werken auch am Kunstmarkt und in der Kunstszene weniger präsent sind als Männer, und dass sie im Durchschnitt deutlich weniger verdienen? Die Ursachen, auch das zeigt die Studie, sind so vielfältig wie die Kultur- und Medienbranche selbst: Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie gehören genauso dazu wie Rollenstereotype, die vor allem Männern Qualitäten wie Kreativität und Schaffenskraft, Durchhaltevermögen und Leidenschaft zuschreiben. Die eine Stellschraube, an der man nur drehen muss, um Ungerechtigkeiten zu beseitigen, gibt es nicht. Umso wichtiger ist es, überall dort hartnäckig zu bleiben, wo konkrete Veränderungen möglich sind. Deshalb bin ich dankbar, dass Initiativen wie beispielsweise Pro Quote Medien und Pro Quote Regie in Deutschland nicht locker lassen. Mein eigenes Haus sehe ich selbstverständlich in der Pflicht, Vorbild zu sein. Deshalb will ich nicht unerwähnt lassen, dass der Frauenanteil bei unseren Beschäftigten insgesamt bei knapp 53 Prozent liegt – und auf den beiden obersten Führungsebenen mittlerweile bei exakt 50 Prozent. Darüber hinaus haben wir im Erfahrungsaustausch am Runden Tisch bereits erste Lösungsansätze identifizieren können, die geeignet sind, die Chancen von Frauen in Kultur und Medien insgesamt zu verbessern. Erstens, wir brauchen mehr starke weibliche Rollenvorbilder. Zweitens, Frauen müssen noch besser auf Führungsaufgaben vorbereitet werden, etwa durch Coachings oder Mentorinnenprogramme. Drittens, der notwendige Kulturwandel in einer männlich geprägten Arbeitskultur muss vor allem von oben kommen. Nichts davon ist neu. Neu ist aber, dass wir daraus am Runden Tisch gemeinsam mit Führungskräften aus Politik, Kultur, Medien, Verbänden und Hochschulen konkrete Maßnahmen für mehr Chancengleichheit in Kultur und Medien entwickeln wollen. Unser Ziel ist, Punkt für Punkt benennen zu können, was sich ganz konkret im Sinne fairer Chancen von Frauen verändern soll: in den Kultureinrichtungen, in den Gremien und Jurys, in den Redaktionen, in den Verbänden, in der Kultur- und Kreativwirtschaft usw. Auf uns, verehrte Damen, auf uns, die wir es schon nach ganz oben geschafft haben, kommt es dabei ganz entscheidend an: Wir haben es mit in der Hand, ob Frauen (die „am wenigsten genutzte Ressource der Welt“, wie Hillary Clinton es einmal formuliert hat) in Kultur und Medien ihr Potential ausschöpfen können. Wir sind diejenigen, die für mehr Gleichberechtigung, aber auch für mehr künstlerische, kulturelle, mediale Vielfalt sorgen können. Wir sind diejenigen, die mit unserem Stil eine männliche geprägte Arbeits- und Führungskultur verändern. Ein – wohlgemerkt männlicher – Journalist hat genau das vor einiger Zeit hinreißend beschrieben. Genauer: Er hat beschrieben, wie Angela Merkel, die kaum Vorbilder in vergleichbaren Positionen hatte, „die weibliche Politik erfand“ – und was das ganz praktisch beispielsweise für die Körpersprache der Macht bedeutet. Ich zitiere: „Wie drückt eine Frau ihren Machtanspruch aus? Gewiss nicht durch das Vorschieben des Beckens. Und Lässigkeit? Sicher nicht, indem sie die Hände in die Hosentaschen steckt. Und Kameradschaftlichkeitserweise (…)? Schulterklopfen wie ein Duracell-Gorilla bietet sich da nicht unbedingt an. Ebenso wenig eignet sich für eine Frau das Herumbrüllen, Übertönen oder Ähnliches, eben alles, was auf Zweikampf hinausläuft oder auf körperliches Sichaufbauen.“ All das mag nebensächlich erscheinen, aber an solchen Nebensächlichkeiten zeigt sich, welcher Habitus mit Macht einhergeht – und warum immer noch viele Frauen sich Macht nicht zutrauen. Da braucht es Vorbilder, die Macht auf weibliche Art glaubwürdig verkörpern und anderen Frauen Mut machen. Ich sehe hier eine ganze Reihe solcher Vorbilder. Das freut mich sehr! Darauf können und sollten wir heute ruhig ein Gläschen trinken. Einen schönen Abend Ihnen allen und ein erfolgreiches „Women Executive in Media“-Meeting!
In ihrer Rede beim „Women Executives in Media“-Meeting macht Kulturstaatsministerin Monika Grütters auf die schwierige Situation von Frauen in Kultur und Medien aufmerksam. „Chancen und Anerkennung sind auch in den kreativen Branchen sehr unterschiedlich zwischen den Geschlechtern verteilt“, so Grütters. Die Kulturstaatsministerin appellierte daher an alle Frauen, ihr Potential auszuschöpfen.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters im Französischen Gymnasium Berlin zum Safer Internet Day
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-im-franzoesischen-gymnasium-berlin-zum-safer-internet-day-392076
Tue, 07 Feb 2017 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Es ist Winter in Berlin – und fast täglich zeigt er sich von einer anderen Seite: Schneegestöber, Graupelschauer oder Glatteis, dazu kommen Temperaturen „um die Null“. Ohne Schuhe mit festem Profil, ohne dicke Daunenjacke, Regenschirm, Handschuhe und Mütze kann ein winterlicher Ausflug schon mal zur Zitter- oder Rutschpartie werden. Gut beraten ist, wer zwischen November und März einen prüfenden Blick aus dem Fenster riskiert – nicht nur auf die Wetter-App -, um trocken, warm und sicher durch den Wintertag zu kommen. In der digitalen Realität des World Wide Web gibt es keinen Winter – und doch sollten wir bei jedem Ausflug ins Netz einen prüfenden Blick riskieren: Gut beraten ist, wer beim Surfen, beim Posten von Fotos und Videos, aber auch beim Kommentieren und Teilen von Inhalten sorgfältig überlegt, was gefährlich – oder zumindest unangenehm – werden könnte. Was ist dabei zu beachten? Wie kann man sich und seine persönlichen Daten schützen? Und was kann man tun, um sich auch in der digitalen Welt so sicher zu bewegen wie in der realen Welt? Darüber wollen wir heute miteinander reden, liebe Schülerinnen und Schüler! Denn auf Euer eigenes Verhalten kommt es dabei ganz entscheidend an – genauso wie draußen auf den glatten Straßen. Das Internet scheint wie eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten: Es ist Schulhof, Marktplatz, Zeitungskiosk, Kino, Einkaufszentrum, Lexikon – und ich könnte diese Aufzählung noch lange fortsetzen. Besonders viel Zeit verbringt Ihr wahrscheinlich in den sozialen Netzwerken – in Whatsapp-Gruppen, auf Instagram oder Facebook, im Chat mit Freunden. Klar, das macht Spaß, das erleichtert es, mit vielen Menschen in Kontakt zu sein. Leider sind solche digitalen Treffpunkte aber auch Plattformen für Menschen, die ihre Freiheit in der Anonymität des Internets missbrauchen, die die schnellen Kontakt- und Verbreitungsmöglichkeiten ausnutzen, um andere Menschen bloßzustellen, zu beschimpfen oder zu beleidigen, zu belästigen oder gar zu bedrohen. Lügen, Hass und Hetze können sich im Internet genauso schnell verbreiten wie neue Videos zum Hashtag MannequinChallenge. Wenn wir über Beleidigung, Bedrohung und Belästigung im Internet – also von Cyber-Mobbing – sprechen, müssen wir uns auch immer wieder klar machen: Das kann jede und jeden treffen! Der Duden definiert „cyber“ als ein – ich zitiere: „Wortbildungselement mit der Bedeutung‚ die von Computern erzeugte virtuelle Scheinwelt betreffend“. Cyber-Mobbing allerdings beschränkt sich ganz und gar nicht auf die „virtuelle Scheinwelt“. Es betrifft Euer ganz reales Leben, liebe Schülerinnen und Schüler. Und zwar stärker als beispielsweise Streit oder Spott in der Schule: Wenn jemand einen beleidigenden Spruch an eine Toilettentür schmiert, kann man den wieder abwischen – und die Zahl derer, die das Geschmier sehen, ist überschaubar. Über WhatsApp, Facebook, Instagram oder Snapchat verbreiten sich beleidigende Kommentare und peinliche Fotos dagegen rasend schnell an einen unüberschaubaren Empfängerkreis und können – wenn überhaupt – nur mit großem Aufwand wieder entfernt werden. Nun werdet Ihr vielleicht sagen: Dagegen müsst Ihr Politiker etwas tun! Und da habt Ihr einerseits Recht, und deshalb tun wir das natürlich auch. Das Internet eröffnet zwar unbegrenzte Möglichkeiten, aber das Netz ist kein rechtsfreier Raum. Auch im Internet gibt es – ebenso wie im Zusammenleben in der analogen Wirklichkeit, wie in der Schule, am Arbeitsplatz, im Sportverein – gesetzliche Grenzen: Strafbare Meinungsäußerungen – und das sind Beleidigungen ebenso wie üble Nachrede oder Hetze – sind auch im Netz verboten und können strafrechtlich verfolgt werden. Aber andererseits wisst Ihr ja selbst, dass es im Internet noch schwieriger ist als im wirklichen Leben herauszufinden, wer ein übles Gerücht in die Welt gesetzt hat. Da nützen die besten Gesetze nichts. Was also tun? – Ihr werdet vielleicht sagen: Dann müssen sich eben die Betreiber sozialer Netzwerke kümmern. Sie müssen gegen Beleidigungen, Hassbotschaften und andere strafbare Inhalte vorgehen, wenn sich ihre Nutzerinnen und Nutzer beschweren. Und auch damit habt Ihr einerseits Recht: Damit künftig transparent wird, was mit Beschwerden passiert und wie sie verfolgt werden, setze ich mich dafür ein, den Video-Bereich von YouTube, Facebook und Co. entsprechend auf europäischer Ebene gesetzlich zu regeln. Aber andererseits wisst Ihr ja auch, wie schnell sich Fotos, Videos und Botschaften aller Art im Netz verbreiten. Bis geklärt ist, ob eine Beschwerde berechtigt ist, kann ein Post, ein Tweet, ein Video schon hunderttausendmal geteilt und retweetet worden sein. Ihn aus dem Netz löschen zu wollen, ist ungefähr so aussichtsreich, wie einen riesigen Mückenschwarm einzufangen. Deshalb, liebe Schülerinnen und Schüler, kommt es auf Euer eigenes Verhalten so entscheidend an. Und deshalb liegt mir Eure Medienbildung, Eure Medienkompetenz sehr am Herzen. Denn Prävention – Vorbeugen – ist immer noch der beste Schutz. Mein Haus unterstützt verschiedene Medieninitiativen, die Euch dabei helfen, Euch die Kompetenzen anzueignen, die für Eure Sicherheit im Internet unverzichtbar sind. Für die Jüngeren gibt es zum Beispiel die Initiative „Ein Netz für Kinder“, die 2007 gemeinsam von Politik und Wirtschaft sowie Institutionen des Jugendmedienschutzes ins Leben gerufen wurde: „Ein Netz für Kinder“ bietet Euch nicht nur kindgerechte und sichere Websites zu einer riesigen Bandbreite von Themen, sondern hilft Euch in moderierten Foren auch dabei, die verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten sozialer Netzwerke in einem sicheren Umfeld auszuprobieren. Websites zum Mitmachen vermitteln darüber hinaus auch Kenntnisse der digitalen Technik, die Ihr nutzen könnt, um eigene Hörspiele, kurze Trickfilme, Homepages oder Podcast zu gestalten oder als Dichter, Tüftler, Maler und Bastler mit den eigenen Fähigkeiten und Ideen zu experimentieren. Eure Medienkompetenz fördern wir auch mit der „Nationalen Initiative Printmedien“: Hier geht es darum zu lernen, wie man an verlässliche Informationen kommt – und wie wichtig Zeitungen dafür sind. Natürlich bekommt man mit ein paar Klicks im Internet Informationen zu jedem nur erdenklichen Thema. Man muss sie aber, um wirklich informiert zu sein, von Hirngespinsten, Halbwahrheiten und haltlosem Herumgemeine trennen können, und man muss sie einordnen können in größere Zusammenhänge. Dazu braucht es Journalistinnen und Journalisten, die uns beispielsweise mit ihrer Recherche helfen, einen Sachverhalt zu bewerten. Dafür wollen wir bei jungen Leuten wie Euch ein Bewusstsein schaffen. Ein drittes Beispiel aus der Medienbildung will ich noch nennen, nämlich VISION KINO und die Schulkinowochen, die Ihr vielleicht ja selbst schon erlebt habt. Hier geht es, wie der Name schon sagt, um Filmbildung. Filmbildung heißt: die kulturelle Bedeutung des Films, den künstlerischen Wert eines Films zu verstehen. Wie die Kunst insgesamt kann, darf und soll auch die Filmkunst kritisch gegenüber gesellschaftlichen und politischen Missständen sein. Wenn sie dann auch noch unterhaltsam ist und auf diese Weise zum Nachdenken anregt, umso besser! Dazu lädt VISION KINO Kinder und Jugendliche ein. Solche Initiativen zur Medienbildung, aber auch die Auseinandersetzung mit der digitalen Welt in der Schule und im Gespräch mit Euren Eltern, machen Euch zu mündigen Internetprofis. Ich bin überzeugt, lieber Schülerinnen und Schüler, dass Ihr auf diese Weise nicht nur notwendiges Wissen über die Medien mitbekommt. Wissen macht auch selbstbewusst. Es vermittelt Euch Selbstsicherheit und Selbstvertrauen für Eure Ausflüge ins World Wide Web – und, wie ich hoffe, auch Zivilcourage. Denn wenn auf Eurer Timeline ein Shitstorm tobt oder wenn ein Freund oder eine Freundin im Netz gemobbt wird, braucht es Mut, dagegen zu halten. Das Wichtigste aber ist, dass Ihr Euch Eurer Verantwortung im Netz bewusst seid: dass Ihr wisst, welchen Schaden ein unbedachter Post anrichten kann – für Euch selbst, aber auch für andere. IHR entscheidet, was ihr über Euch selbst und andere ins Netz stellt. In diesem Sinne sollen Initiativen und Projekte wie „klicksafe“ und der „Safer Internet Day“ Euch daran erinnern, wie wichtig der prüfende Blick vor jedem Schritt in der digitalen Welt ist – bevor wir einen „Post“ absetzen, ein Foto oder ein Video teilen. Ich freue mich auf die interessanten Diskussionen und Beiträge heute und wünsche Euch allen einen spannenden und erkenntnisreichen Tag!
Beleidigung, Bedrohung oder Belästigung im Internet: Cybermobbing könne jeden treffen, so Kulturstaatsministerin Grütters. „Deshalb kommt es entscheidend auf das eigene Verhalten an“, betonte Grütters beim Besuch einer Schule zum Safer Internet Day. Initiativen zu Medienbildung und Medienkompetenz ließen Kinder und Jugendliche als mündige Internetprofis Mobbing-Attacken mutig begegnen.
Rede von Staatsministerin Grütters bei der Veranstaltung „Als der Tod kam in meine Stadt“ des PEN–Poets, Essayists, Novelists-Zentrums Deutschland
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-gruetters-bei-der-veranstaltung-als-der-tod-kam-in-meine-stadt-des-pen-poets-essayists-novelists-zentrums-deutschland-418740
Thu, 02 Feb 2017 19:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Vermutlich ist es nur ein Zufall, aber mir als Katholikin ist das natürlich sofort aufgefallen: Für diesen, der Poesie in düsteren Zeiten gewidmeten Abend haben die Organisatoren des PEN–Poets, Essayists, Novelists sich ausgerechnet Mariä Lichtmess ausgesucht, das kirchliche Fest der Kerzenweihe am 2. Februar – das Fest also, das Licht in die winterliche Dunkelheit bringt, und das, so steht es im Lukas-Evangelium, von der Hoffnung erzählt, die durch Jesus in die Welt gekommen ist. Ein schöner Zufall – und ein passender Zufall: Denn auch die Poesie kann in der Dunkelheit ein Hoffnungsschimmer sein. Und selbst Krieg und Gewalt bringen ihr Licht nicht zum Erlöschen. Deshalb freue ich mich auf diesen Abend – auch wenn er uns mit der traurigen und brutalen Realität des Todes, des Leidens und der Vertreibung aus der Heimat konfrontiert. Vielen Dank für die Einladung, lieber Herr Haslinger! Krieg und Poesie -das ist ein Paar, das nicht zusammen passt: Verrohung und Behutsamkeit, zerstörerische und schöpferische Kraft, eine Verbindung des Schlechtesten und des Besten, dessen Menschen fähig sind. „Das maßlose Leid hat das Gedächtnis jedes Syrers in ein Massengrab verwandelt“, schreibt Amer Mataraus Syrien, einer der heute Abend anwesenden PEN–Poets, Essayists, Novelists-Stipendiaten, dessen Texte vom maßlosen Leid ebenso wie vom verzweifelten Ringen nach Worten erzählen. Während die Alltagssprache im Krieg an Kraft verliert, weil gewöhnliche Worte das Grauen nicht fassen, kann die Kraft eines Gedichts den Krieg überdauern. Nicht nur, weil ästhetische Schönheit Trost und Zuflucht sein kann, sondern auch, weil die poetische Aneignung von der Qual des Gelähmtseins befreit. Es ist gerade die Poesie mit ihren eindringlichen Sprachbildern, die sich gegen den Schrecken zur Wehr setzt, die sich des Unfassbaren bemächtigt und die damit aus der Ohnmacht des Verstummens und des Schweigens herausführt. So heißt es bei Paul Celan: „Erreichbar, nah und unverloren inmitten der Verluste blieb dies Eine: die Sprache. Aber sie musste nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah. Aber sie ging durch dieses Geschehen.“ Deshalb klingt uns das Leid des 30-jährigen Krieges in Andreas Gryphius‘ Gedichten noch immer in den Ohren, deshalb ergreift uns das Grauen von Auschwitz in den Gedichten Nelly Sachs‘ oder Paul Celans. Und gerade heute, da im Internet – auf Facebook, Twitter, neben Werbung und Entertainment – die Hilfeschreie in Wort und Bild aus den Höllen der Kriege unserer Zeit an uns vorbeirauschen, gerade heute, da unsere Augen mehr sehen als unser Herz an Empathie zu empfinden vermag, gerade heute braucht es die Kraft der Poesie, um das Leid der Menschen dem gleichgültigen Strom der um die Welt zirkulierenden Informationen zu entreißen. „Ich habe die Augen eines Falken, die Flügel einer Taube, und eine Kehle aus Metall.“ Das sind die Worte der tunesischen Dichterin Najet Adouani – einer ehemaligen Stipendiatin des Writers in Exile-Programms; auch sie ist heute Abend hier in der Volksbühne. Ja, es braucht die Schärfe des Raubvogelblicks, die gefiederte Freiheit und Friedenshoffnung der Taube und dazu stahlharte Stimmgewalt, um für all diejenigen sprechen, die – ob im Krieg oder in einer Diktatur – unter Gewalt und Unterdrückung leiden. Doch eben jene „Augen eines Falken“, eben jene „Flügel einer Taube“ und eben jene „Kehle aus Metall“ bringen Schriftstellerinnen und Schriftsteller in besondere Gefahr, wo die Meinungsfreiheit eingeschränkt ist und eine Diktatur des Zeigbaren und Sagbaren Künstler in die Selbstzensur zwingen soll. Das darf uns gerade in Deutschland nicht gleichgültig sein. Die Freiheit der Kunst, die Freiheit des Wortes zu schützen und zu verteidigen, ist – nicht zuletzt unseren bitteren Erfahrungen mit zwei Diktaturen in einem Jahrhundert geschuldet – oberster Grundsatz und vornehmste Pflicht unserer Kulturpolitik. Deshalb finanziert die Bundesregierung das „Writers in Exile“-Programm, das wir gemeinsam mit dem deutschen PEN–Poets, Essayists, Novelists 1999 ins Leben gerufen haben. Es gewährt verfolgten Schriftstellerinnen und Schriftstellern vorübergehend Zuflucht und eröffnet ihnen künstlerische Freiheiten, die es in ihren Heimatländern nie gab oder nicht mehr gibt. Aktuell können wir damit sieben Stipendiatinnen und Stipendiaten das Leben und Arbeiten in Deutschland ermöglichen – aus Bangladesch, Russland, Vietnam, Kolumbien, Syrien (zwei) und dem Jemen. Ich hoffe, liebe Stipendiatinnen und Stipendiaten, dass Sie sich in unserem Land nicht nur sicher fühlen vor Gewalt und Verfolgung, sondern auch spüren, dass Sie willkommen sind und wir Ihre Arbeit wertschätzen. Dazu reicht finanzielle Unterstützung allein nicht aus. In einem fremden Land, dessen Sprache nicht die eigene ist, braucht es auch Unterstützung im Alltag. Ohne den deutschen PEN–Poets, Essayists, Novelists als zuverlässigen Partner wäre das nicht möglich. Für Ihre umsichtige und engagierte Betreuung des Programms danke ich Ihnen und dem PEN–Poets, Essayists, Novelists-Präsidium herzlich, lieber Herr Haslinger, liebe Frau Sperr. Ein herzliches Dankeschön aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Geschäftsstelle und nicht zuletzt allen PEN–Poets, Essayists, Novelists-Autorinnen und -Autoren, die verfolgten Kolleginnen und Kollegen zur Seite stehen. Ich kann Ihnen heute aufs Neue versprechen, dass die Finanzierung des Programms weiterhin gesichert bleibt – nicht allein aus historisch begründeter Verantwortung heraus, sondern weil die politischen Entwicklungen weltweit auch heute leider wenig Anlass zur Hoffnung geben, dass Demokratie und Kunstfreiheit einen globalen Siegeszug antreten. Ganz im Gegenteil… Um die Freiheit des Wortes muss man sich ja selbst mancherorts in Europa wieder Sorge machen. In Polen und in Ungarn ist die Pressefreiheit in Gefahr. Und wenn in der Türkei, wie es angesichts der aktuellen Situation zu befürchten ist, irgendwann die Totenglocke für die Demokratie läutet, dann hat das Auswirkungen weit über die türkischen Landesgrenzen hinaus. Deshalb reicht es nicht, verfolgten Künstlerinnen und Künstlern Zuflucht zu gewähren. Die Wertegemeinschaft Europa verliert an Glaubwürdigkeit und Kraft, wenn wir nicht bereit sind, für diese unsere Werte auch offen und entschieden einzustehen. Wir dürfen es nicht einfach hinnehmen, dass ein enger Partner – Mitglied der NATO und des Europarates – demokratische Grundrechte mit Füßen tritt, den Rechtsstaat außer Kraft setzt, politisch unerwünschte Meinungen gewaltsam unterdrückt und reihenweise Journalisten, Künstler und Oppositionelle verhaftet. Wo die Freiheit des Wortes beschnitten wird, wo unbequeme Künstlerinnen und Künstler verfolgt werden, wo Kunst zur Erfüllungsgehilfin der Herrschenden degradiert wird, da büßt eine Gesellschaft ihre Humanität ein! Ich bin dankbar, dass es Künstlerinnen und Künstler gibt, die sich damit nicht abfinden, die den Finger in die Wunde legen – und die mit ihrer Sprachgewalt und Vorstellungskraft verhindern, dass politische Bequemlichkeit und argumentative Phantasielosigkeit auch hierzulande die Demokratie in Lethargie versetzen. Der heutige Abend wird uns einen literarischen Eindruck davon vermitteln, was es heißt, dafür mit den „Augen eines Falken“, den „Flügeln einer Taube“ und einer „Kehle aus Metal““ zu leben, um diese prägnante Formulierung Najet Adouanis noch einmal aufzugreifen. Im Exil können erschöpfte Augen, Flügel und Kehlen neue Kraft erringen, kann das unterdrückte Wort sich wieder neu entfalten. Ich wünsche ihm viele aufmerksame Zuhörer und Leser – und Ihnen, liebe Stipendiatinnen und Stipendiaten, neben Mut und Hoffnung auch die Gewissheit, dass Ihre Worte die Welt zu einer besseren machen.
Kulturstaatsministerin Monika Grütters rief anlässlich einer Veranstaltung des PEN–Poets, Essayists, Novelists-Zentrums dazu auf „die Freiheit der Kunst, die Freiheit des Wortes zu schützen und zu verteidigen“. Diese seien oberster Grundsatz und vornehmste Pflicht unserer Kulturpolitik, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Verleihung des Eugen-Bolz-Preises am 1. Februar 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-verleihung-des-eugen-bolz-preises-am-1-februar-2017-795420
Wed, 01 Feb 2017 15:00:00 +0100
Stuttgart
Sehr geehrter Herr Bischof Fürst und sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Neher, ich darf Sie unabhängig vom Protokoll als Erste erwähnen, denn Ihre Diözese und Ihre Stadt Rottenburg am Neckar pflegen auf besondere Weise das Erbe von Eugen Bolz. Mir ist es eine große Ehre, einen Preis entgegenzunehmen, der seinen Namen trägt. Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann, auch das Land hält die Erinnerung an den aufrichtigen und gewissenhaften Staatspräsidenten hoch. Sehr geehrter Herr Kardinal Marx, Ihnen danke ich für Ihre freundlichen und durchaus bewegenden Worte. Sie werden sich wundern: Ich erinnere mich noch an unsere erste Begegnung, weil ich hart dafür arbeiten musste, überhaupt einen Termin zu bekommen. Die Terminfindung unter uns beiden ist heute einfacher als früher. Sie waren schon in Paderborn sehr beschäftigt und in Trier nicht weniger. Meinen aufrichtigen Dank für das, was Sie in Ihrer Laudatio gesagt haben. Liebe Angehörige der Familie Bolz, liebe Kolleginnen und Kollegen aus Regierungen und Parlamenten, liebe Preisträger, meine Damen und Herren, im Herbst 1944 schrieb Eugen Bolz im Gefängnis folgende Worte an seine Tochter – ich möchte ihn zitieren –: „Wenn in den kommenden Wochen die Flut der Zerstörung noch ansteigt, so wissen wir doch auch, dass auf Flut Ebbe folgt und auf Zerstörung Aufbau.“ Der ehemalige württembergische Staatspräsident bleibt selbst angesichts des drohenden Todesurteils ein Mann der Zuversicht, der seinen Liebsten Mut macht, dass sich die Zeiten wieder ändern. Er selbst erlebte das Ende des Nationalsozialismus in Deutschland und den Neuanfang nach dem Krieg nicht mehr. Am 23. Januar 1945 wurde er hingerichtet. Eugen Bolz sah sich im christlichen Glauben verwurzelt und der katholischen Soziallehre verpflichtet. So stand er bereits als junger Minister der Ideologie des Nationalsozialismus sehr fern. Dennoch schien er später zunächst davon auszugehen, dass der Nationalsozialismus nur eine kurze Phase sein würde; mehr noch, dass er angesichts der schlechten Wirtschaftslage des Landes und der Krise des Parlamentarismus vielleicht sogar manches Problem lösen könne. Dies war eine Fehleinschätzung, wie sich zeigte. Die Nationalsozialisten machten ernst. Politische Gegner waren einer Hetzjagd ausgesetzt. Auch Eugen Bolz wurde öffentlich diffamiert, erniedrigt und inhaftiert. Er zog sich schließlich ins Privatleben zurück. Deutschland begann den Zweiten Weltkrieg. Im Zivilisationsbruch der Shoa offenbarte sich der moralische Zusammenbruch eines ganzen Landes. Eugen Bolz sprach von einem – ich zitiere – „Sklavenstaat“, der verschwinden müsse. Er schloss sich Widerstandskreisen an. Einem Bekannten vertraute er an – ich zitiere ihn nochmals –: „Ich muss dabei sein.“ Der Gefahren war er sich bewusst. Die Lebensgeschichte von Eugen Bolz führt uns den Schrecken und das Leid durch ein Terrorregime vor Augen. Und zugleich öffnet sie den Blick für das Glück, in einer Demokratie, in Freiheit und in Frieden mit unseren Nachbarn in Europa leben zu dürfen. Dies verdanken wir Männern und Frauen, die ähnliche Grundüberzeugungen wie Eugen Bolz auszeichneten: eine tiefe demokratische Gesinnung und Verantwortungsbewusstsein auch und besonders im Sinne christlicher Verbundenheit mit dem Nächsten. Sie machten sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust an den Wiederaufbau – und zwar in doppeltem Sinne: in materieller wie in moralischer Hinsicht. Neben dem Aufbau zerstörter Städte und Infrastrukturen galt es, ein gänzlich neues Staats- und Gemeinwesen zu gründen, das die Würde jedes einzelnen Menschen in das Zentrum allen politischen Handelns rückt. Die schließlich im Grundgesetz verbürgten Grundrechte waren die Antwort auf den Zivilisationsbruch durch den Nationalsozialismus in Deutschland. Die neue Verfassung war also die folgerichtige Konsequenz aus dem Scheitern der Weimarer Republik, dem Demokraten wie Eugen Bolz so hilflos gegenüberstanden. In Deutschland entwickelte sich nach den Verbrechen des Nationalsozialismus und auf den Trümmern des Krieges eine stabile Demokratie – zunächst im Westen des Landes, nach dem Mauerfall auch im Osten. Eingebettet war dieser Prozess in die europäische Aussöhnung und Einigung. Aus Feinden von einst wurden Freunde. Das sagt sich so leicht. Aber das war alles andere als selbstverständlich. Das fiel gewiss nicht jedem leicht. Doch Vertrauen aufzubauen, Offenheit füreinander zu zeigen und Toleranz zu üben, sich fähig zu erweisen, sich immer auch in die Gedankenwelt des anderen hineinzuversetzen, um zu verstehen, wie man zu einer gemeinsamen Lösung kommen kann – davon lebt die Europäische Union bis heute. Heute spüren wir allerdings auch, dass gemeinsame Erfahrungen zwar wichtig, aber allein zu wenig sind, um Europa zusammenzuhalten. Als wir im Jahr 2007 „50 Jahre Römische Verträge“ feierten, stellten wir in der Berliner Erklärung einmütig fest: „Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint.“ Im März dieses Jahres begehen wir den 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge. Die Feststellung vor zehn Jahren gilt für mich nach wie vor. Aber sie wird unverkennbar auch in Zweifel gezogen. Das Referendum für einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union war und ist ein tiefer Einschnitt. Und auch sonst durchlebt Europa schwierige Zeiten. Denken wir etwa nur an die nach wie vor bestehenden Risiken im Zusammenhang mit unserer Währung, an die angespannte Situation in der Ostukraine, an die vielen Menschen, die bei uns Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen, an die mangelnde Solidarität unter den Partnern in Europa und an die Gefahren des internationalen Terrorismus. Entscheidend ist: auf diese und andere Herausforderungen können wir in Europa überzeugende Antworten finden – aber nur, wenn wir sie gemeinsam geben. Europa ist nur so stark, wie wir es wirklich zusammenhalten können. Das müssen wir – jeder Einzelne, auch wir hier in Deutschland – uns immer wieder bewusst machen. Wir stehen in der Verantwortung, Europas Bedeutung für jedes einzelne Land noch besser zu vermitteln und durch Taten erkennbar zu machen. Wir brauchen konkrete Ergebnisse, die zeigen, dass Europa funktioniert, dass es uns gute Dienste leistet und dass es auch sein Wohlstandsversprechen erfüllt. Das zeigt sich auch im wirtschaftlich starken Baden-Württemberg. Auch hier profitiert das Bundesland vom gemeinsamen Markt mit seinem freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. Aber es bleibt auch immer richtig und wichtig, dass Europa weit mehr ist als ein Binnenmarkt. Ein einiges Europa ist und bleibt unsere beste Versicherung für ein Leben in Frieden und Freiheit. – Herr Kardinal, Sie haben es gerade so wunderbar gesagt: Es geht im Grunde um Lebensmodelle in offenen, liberalen, freien Gesellschaften, in denen die Würde jedes Einzelnen respektiert und geachtet wird. Wenn wir sehen, welche Gräben nach dem Krieg die Mütter und Väter der europäischen Einigung überwunden haben, dann sollte es für uns heute – in einer unvergleichlich besseren Situation – doch möglich sein, Europa neuen Schwung zu verleihen. Ein Blick zurück lohnt sich, wenn wir uns heute manchmal überfordert fühlen. Diejenigen, die vor uns vieles für uns aufgebaut haben, mussten ganz andere Dinge leisten. Wenn wir sehen, mit welcher Courage die Gründerväter und -mütter des Grundgesetzes auf ein besseres Deutschland hingewirkt haben, dann sollten wir diese Courage auch heute aufbringen und uns für das Gemeinwohl einbringen. Jeder von uns – jedenfalls auch diejenigen, die in der Politik tätig sind; vielleicht ist es bei kirchlichen Entscheidungen auch manchmal so – weiß, dass Entscheidungen zu treffen durchaus auch bedrücken kann: Gelingt es, ist es richtig, habe ich alles bedacht? Wenn man sich nicht durchsetzt, sind die Konsequenzen einer Entscheidung ja überschaubar. Aber führen wir uns einmal vor Augen, was Eugen Bolz damals auf sich nahm. Selbst bei Todesgefahr haben Menschen wie Eugen Bolz, Dietrich Bonhoeffer und viele, viele andere die Kraft aufgebracht, Zuversicht auszustrahlen. Das sollte uns heute ein Beispiel sein, fest zu unseren Grundwerten zu stehen und nicht schon am dritten Tag zu verzagen und alles in Zweifel zu ziehen. Gewiss, das Leben von Eugen Bolz zeigt auch etwas anderes: Sich zu irren, kann auch dazugehören; sich vor der Last der Herausforderungen zu fragen, ob man ihnen gewachsen ist, gehört auch dazu. Aber wir sehen auch, welche Willenskraft werteorientierte Menschen aufbringen können und wie sie damit – wenn nicht sich selbst, so doch anderen – einen Weg in eine gute, in eine bessere Zukunft aufzeigen können. Deshalb haben wir allen Grund, die Erinnerung an Eugen Bolz wachzuhalten. Vielleicht ist es gerade auch in diesen Jahren, auch im Jahr 2017, besonders wichtig, an ihn zu erinnern. Jedes Jahr hat seine eigene Note, aber dieses Jahr ist sicherlich ein Jahr, in dem die Erinnerung besonders wachgehalten werden sollte. Dass diesem Ziel der Preis und die Arbeit der Stiftung dienen, das freut mich. Auch Straßen tragen den Namen von Eugen Bolz. Das Bischöfliche Ordinariat befindet sich am Eugen-Bolz-Platz in Rottenburg. Es gibt Schulen, die das Andenken an Eugen Bolz pflegen. Das ist besonders wichtig. Junge Menschen tasten sich über Namensgeber wie Eugen Bolz an die deutsche Geschichte heran; und zwar nicht abstrakt, sondern über ein Leben, über eine Biografie. Im besten Fall öffnet sich so für die Schüler das, was man den Zauber der Freiheit oder auch das Glück der Freiheit nennt. Max Weber sprach von einem „Zauber der Freiheit“. Wir dürfen uns heute glücklich schätzen, dass wir mit diesem Zauber ziemlich oft in Berührung kommen – vielleicht manchmal so oft, dass wir ihn gar nicht mehr richtig als Zauber erkennen. Aber es ist einer. Dass dieser Zauber Wirkung entfalten kann, das liegt an jedem Einzelnen von uns – an jedem, der hier im Raum ist, und jedem, dem wir es weitersagen. Danke noch einmal für die Ehrung. Wenn man gewöhnt ist, eigentlich seinen ganzen Tag sozusagen eher in einem Kampf zu verbringen, ist es ein bisschen komisch, wenn man wie hier eine Stunde lang so viel Gutes hört. Aber ich nehme das als Ansporn. Danke dafür, dass ich den Eugen-Bolz-Preis erhalten habe.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung des Deutsch-Schwedischen Technologieforums am 31. Januar 2017 in Stockholm
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-eroeffnung-des-deutsch-schwedischen-technologieforums-am-31-januar-2017-in-stockholm-604404
Tue, 31 Jan 2017 14:37:00 +0100
Stockholm
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Stefan Löfven, sehr geehrter Herr Minister Damberg, meine Damen und Herren, dass Schweden und Deutschland gute Wirtschaftsbeziehungen pflegen, hat eine lange Tradition. Schon zuzeiten der Hanse herrschte reger Warenverkehr quer über die Ostsee. Deutsche Kaufleute brachten Tuchsorten, Weine oder Gewürze und nahmen zum Beispiel schwedisches Eisen wieder mit zurück. Heute haben wir eine andere Handelspalette. Vor allen Dingen kann man sagen, dass sich diese Handelspalette verbreitert hat. Heute ist Deutschland der wichtigste Handelspartner Schwedens. Auch was Direktinvestitionen anbelangt, sind sich unsere beiden Länder außerordentlich nahe. Es gibt rund 900 deutsche Unternehmen mit etwa 60.000 Beschäftigten, die sich in Schweden angesiedelt haben. Umgekehrt sind sogar über 1.200 schwedische Unternehmen mit mehr als 100.000 Arbeitsplätzen in Deutschland tätig. Wir haben in unseren heutigen Diskussionen mit dem schwedischen Ministerpräsidenten natürlich auch herausgearbeitet, wie eng verbunden wir uns politisch und kulturell sind. Wir teilen demokratische Werte und Überzeugungen. Auch unsere Lebens- und Arbeitsweisen ähneln sich durchaus. Mein Wahlkreis, zu dem die Hansestadt Stralsund und die Insel Rügen gehören, stand über viele Jahre unter schwedischer Krone. Daran erinnert in Stralsund vieles, zum Beispiel auch die jährlich stattfindenden Stralsunder Wallensteintage. Ich lade Sie alle ein, Stralsund zu besuchen. Es gehört inzwischen zum Weltkulturerbe und ist in den vergangenen Jahren der Deutschen Einheit wunderbar wiederaufgebaut worden. Wir haben also sehr vielfältige und enge Beziehungen. Und das macht es uns auch einfach, gemeinsame Herausforderungen nicht nur zu beschreiben, sondern auch gemeinsam anzugehen. Dieses Deutsch-Schwedische Technologieforum ist dafür ein herausragendes Beispiel. Mit dem Motto „Digitale Transformation gemeinsam gestalten“ ist ja schon eine der großen Herausforderungen für unsere Länder beschrieben. Die Digitalisierung verändert massiv unser Leben, unser Arbeiten, unsere Kommunikation und auch unser Denken. In fast jedem Wissenschaftsbereich – von der Ingenieurskunst bis hin zu den Sozialwissenschaften – befasst man sich mit den Folgen der Digitalisierung. Auch in unserem Alltag und in unserer Arbeitswelt spielen diese natürlich eine große Rolle. Über technologische Aspekte hinaus wünschte ich mir durchaus auch eine Zusammenarbeit, die sich damit befasst, was die weitere Digitalisierung für unsere Arbeitswelt bedeutet und welche Art von Arbeitsrecht wir brauchen, denn da stehen wir im Grunde noch sehr am Anfang. Gerade auch Schweden ist ja ein Land mit einer großen Tradition der Mitbestimmung von Arbeitnehmern; in Deutschland ist das ähnlich. Wir sollten uns also über die Folgen der Digitalisierung mehr Gedanken machen. Heute geht es auf diesem Technologieforum aber erst einmal um die technische Seite. Wir sehen, dass Informationstechnik die Wertschöpfungsketten vollkommen verändert. Das Internet der Dinge, 3D-Drucker und vor allen Dingen datengetriebene Geschäftsmodelle verändern unsere Art zu wirtschaften. Wir müssen die Gefahren bzw. die Risiken deutlich sehen, dass, wenn wir diese Herausforderung nicht annehmen, wir sehr schnell zur verlängerten Werkbank derer werden könnten, die die Kundenkontakte in der Hand halten. Das dürfen wir nicht allein den Internetfirmen überlassen. Vielmehr müssen diejenigen, die die Wertschöpfungsketten heute beherrschen, das auch in Zukunft selbst in der Hand halten. Deshalb müssen wir uns anstrengen. Der Ministerpräsident und ich werben auch im Europäischen Rat oft dafür, diese Dinge ernst zu nehmen. Denn die normale Zeit europäischer Entscheidungen ist etwas zu lang, um dem Tempo der Veränderung unserer Produktions- und Arbeitswelt zu entsprechen. Das heißt, Tempo und schnelle Entscheidungen sind das Gebot der Stunde. Wir haben in Bratislava auf unserem Rat der 27 Mitgliedstaaten auch genau über dieses Thema gesprochen, also über die Frage: Wie können wir schneller zu Entscheidungen kommen? Wir sind uns einig: Der europäische Binnenmarkt mit heute noch 500 Millionen Einwohnern – nach dem Austritt Großbritanniens werden es immer noch Hunderte von Millionen Einwohnern sein – hat eigentlich die richtige Größe, wenn es darum geht, die Wirkungen der Digitalisierung sich entfalten zu lassen und die Potenziale wirklich zu heben. Wir haben auf unserem europäischen Binnenmarkt natürlich ein Sprachproblem, aber in der digitalen Welt feiert die englische Sprache ja mindestens so viele Triumphe wie in der realen. Deshalb glaube ich, dass die Entwicklung des digitalen Binnenmarkts unser Ziel sein sollte. Die Europäische Kommission hat bereits eine ganze Reihe von Vorschlägen hierzu vorgelegt, die ich sehr begrüße. Dabei geht es etwa um Fragen der digitalen Infrastruktur. Diesbezüglich gibt es auch Investitionsprogramme, denn wir müssen ja auch ländliche Regionen an die digitale Infrastruktur anbinden, um zum Beispiel Telemedizin und anderes gut entwickeln zu können. Es geht auch um andere Fragen wie das Big-Data-Management, das wir mit der Datenschutz-Grundverordnung rechtlich gezähmt haben, in der aber unbestimmte Rechtsbegriffe noch recht zahlreich sind. Daher sollten wir uns durchaus auch bei der Umsetzung zwischen Schweden und Deutschland austauschen. Darüber hinaus geht es um so schwierige Fragen wie die des Urheberrechts, die ebenfalls einer schnellen Antwort harren. Auch die Standards für die Plattformwirtschaft sind äußerst wichtig. Schweden und Deutschland müssen nach meiner festen Auffassung sehr darauf drängen, dass die digitale Agenda noch in dieser Legislaturperiode der Europäischen Kommission weitestgehend abgearbeitet wird. Wir dürfen uns hierbei keine Rückfälle leisten. Da Europa eher nach dem Prinzip vorgeht „Alles, was neu ist, muss geregelt werden“, und weniger nach dem Prinzip „Alles, was nicht geregelt ist, ist erlaubt“, haben wir sowieso einen strukturellen Nachteil zum Beispiel gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika. Deshalb müssen die Dinge schnell geregelt werden. Die Digitalisierung und der Austausch mit anderen Regionen der Welt führen auch dazu, dass wir Befürworter des freien Handels sind. Schweden ist das traditionell, Deutschland ist das auch, obgleich wir auch heiße Diskussionen hatten, wenn ich zum Beispiel an CETA denke, also an das Freihandelsabkommen mit Kanada. Ich bin sehr froh, dass es doch noch europaweit gelungen ist, ein Abkommen mit Kanada zu schließen. Es war ja ein wenig ein Stück aus dem Tollhaus, dass ausgerechnet ein Freihandelsabkommen, das zum ersten Mal auch soziale Standards, Verbraucherstandards und ökologische Standards beinhaltet, noch schärfer bekämpft wurde als ein Freihandelsabkommen, das alle diese Standards nicht beinhaltet. Ich glaube, es war durchaus ein Meilenstein, dass wir das geschafft haben. Wenn es nach mir geht, dann könnten wir auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika ein Freihandelsabkommen schließen. Aber da waren die Diskussionen noch schwieriger. Im Augenblick müssen wir ohnehin erst einmal abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Schweden und Deutschland gehören zu den innovationsstärksten Ländern der Europäischen Union. Ich habe gerade gelernt: Schweden gibt 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung aus. Wir in Deutschland geben dafür nur drei Prozent aus. Darauf waren wir bzw. war ich bis heute eigentlich stolz, aber nun muss ich sehen, dass wir aufholen müssen. Mit Bildung und Forschung legen wir die Grundlagen für unsere Produktivität und die Möglichkeit, auch künftig wettbewerbsfähige Produkte herzustellen, was wiederum die Grundlage für unseren Wohlstand ist, denn ansonsten werden wir keine hohen Löhne zahlen können. Insofern ist Forschung von entscheidender Bedeutung. Die gemeinsame Initiative der Deutsch-Schwedischen Handelskammer und der Königlich Schwedischen Akademie der Ingenieurwissenschaften dient ja genau dieser Entwicklung. Das neue bilaterale Technologieforum begrüße ich sehr. Es ist eine gute Plattform, um sich auszutauschen und das Know-how aus beiden Ländern zu bündeln. Die Wirtschaftsministerien haben erfolgreiche Gespräche darüber geführt; und ein erster Runder Tisch – der Minister hat es vorhin schon gesagt – hat heute schon stattgefunden. Diese Kooperation sollten wir kontinuierlich fortsetzen. Sie haben die Kooperationsfelder genannt. Ich denke, das Thema Mobilität ist von entscheidender Bedeutung. Die Mobilität steht ja im Grunde vor drei disruptiven Veränderungen. Diese betreffen erstens das Teilen von Eigentum, zweitens die Antriebstechnologien und drittens das autonome Fahren. Hierfür gilt es die entsprechende Infrastruktur aufzubauen. Ich denke, auch hierbei können wir voneinander lernen. Wenn unsere Länder diese Entwicklungen verpassen, dann wäre damit für unsere beiden Volkswirtschaften ein tiefer Einschnitt verbunden. Deshalb müssen wir vorne mit dabei sein. Ebenfalls von Bedeutung sind zum Beispiel die Themen Life Sciences und E-Health. Wir glauben, dass ein solches Technologieforum helfen kann, die Entwicklung noch nachhaltiger und energieeffizienter zu gestalten. Beide Länder, Deutschland und Schweden, sind den Themen Energieeffizienz, erneuerbare Energien und Klimaschutz sehr verpflichtet. Insofern ist das sehr wichtig. Insgesamt ist dieses Technologieforum also ein gutes Mittel, nicht nur im Gespräch zu bleiben, sondern auch gemeinsam Dinge voranzubringen. Ich kann nur allen danken, die sich in diese Initiative einbringen. Ich denke, wir sollten gerade auch die Kooperation der mittelständischen Unternehmen voranbringen – das ist ja auch ein klassisches Feld der Auslandshandelskammern –; denn die großen Unternehmen schaffen den Sprung in die Digitalisierung ganz gut, aber bei den kleineren bedarf es auch unterstützender Maßnahmen durch die Politik. Wir haben in Deutschland mit der Plattform Industrie 4.0 gerade auch die Mittelständler ins Visier genommen, zumal sie auch Zulieferer für die großen Unternehmen sind und genauso schnell vorankommen müssen wie andere. Danke dafür, dass ich heute hier dabei sein kann. Ich glaube, Herr Ministerpräsident, das Forum ist ein sehr gutes Beispiel praktisch gelebter Kooperation. Wenn wir an einem Tisch sitzen und uns austauschen, ist das auch schön, aber hier sieht man, dass auch außerhalb der politischen Landschaft etwas geschieht. Das begrüße ich sehr.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Verleihung des B.Z.-Kulturpreises
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-verleihung-des-b-z-kulturpreises-794270
Tue, 24 Jan 2017 20:30:00 +0100
Kulturstaatsministerin
Am Anfang einer großen Karriere steht manchmal ein kleiner Kratzer am männlichen Ego. Bei Jürgen Flimm war es die Erkenntnis: „Frauen himmeln immer den Schlagzeuger an.“ Der begnadete Schlagzeuger, der sich in die Herzen der Mädchen trommelte, war sein älterer Bruder Dieter. Und was tat der neidische kleine Bruder? Er suchte sich ein anderes Betätigungsfeld und fand es im Kasperletheater auf dem Dachboden, dichtete Dialoge für Puppen und schließlich ganze Stücke. Ob sich das damals im Wettbewerb um weibliche Gunst ausgezahlt hat, hast Du im Interview offen gelassen, lieber Jürgen. Zumindest was meine Gunst betrifft, will ich Dir aber gerne gestehen, dass ein Foto von Dir einen Ehrenplatz in meinem Büro hat: ein Foto von Dir nicht mit Kasperle, sondern als Kaspar – zwischen Barrie Kosky als Melchior und Dietmar Schwarz als Balthasar. Falls Sie sich fragen, meine Damen und Herren, welches Stück hier gespielt wird: Die drei Opernintendanten aus Berlin zierten verkleidet als die drei Weisen aus dem Morgenland im Jahr 2013 das weihnachtliche Titelbild der BZ – was den damaligen Kulturstaatssekretär André Schmitz dazu inspirierte, einen Schnappschuss der heiligen drei, vom Shooting erschöpften Könige als Weihnachtskarte zu verschicken. Diese Karte habe vermutlich nicht nur ich aufbewahrt. Denn Du weißt ja bestimmt, lieber Jürgen, was der von Dir hoch geschätzte Dramatiker Anton Tschechow einmal gesagt hat: „Am liebsten erinnern sich die Frauen an die Männer, mit denen sie lachen konnten“ Das als späte Genugtuung nach einer frühen Schmach … Mit Deiner Theaterkarriere jedenfalls ist es vom heimischen Dachboden aus weiter steil bergauf gegangen, und das hat mit Eigenschaften zu tun, die Du schon früh als Puppenspieler unter Beweis gestellt hast: mit Deiner Fantasie, mit Deiner Experimentierfreude, mit Deiner Neugier, mit Deiner Fähigkeit, sich als Künstler immer wieder neu zu erfinden und nicht zuletzt mit Deinem hohen Anspruch nach dem Motto „Ein gutes Theater ist ein volles Theater.“ – … ein Satz, für den Du einst viel Hohn und Kritik einstecken, ja Dich sogar des Populismus bezichtigen lassen musstest – und den Du zum Glück beherzt verteidigt hast. Ich darf Dich noch einmal zitieren: „Ein Theaterabend ist ein Dialog. (…) Ein Theater, das sich nicht mehr über das Publikum legitimiert, kommt in Not. Es gefährdet sich, wenn es den Dialog verweigert. (…) Wie krumm, wie hart, wie schräg auch immer ich eine Geschichte erzähle, ich muss das Publikum dafür interessieren (…).“ Genau das, lieber Jürgen, gelingt Dir seit fast 50 Jahren – und seit 2010 auch hier in Berlin. Kein Wunder, dass die Vorstellungen der Staatsoper selbst im Exil im Schillertheater fast immer ausverkauft sind! Ob als Intendant, als Regisseur oder als Festivalleiter: Du warst und bist bis heute ein ebenso begnadeter wie wagemutiger Geschichtenerzähler, der das Publikum in Bann zieht und die Bühne zu dem macht, was sie im besten Sinne immer auch sein kann: ein Spiegel des Menschseins und damit ein Ort der Selbstverständigung und Selbstvergewisserung einer Gesellschaft. Berlin, das so viel Kraft aus seiner kulturellen Vielfalt schöpft, Berlin kann sich glücklich schätzen, dass Du nach wie vor mit jugendlichem Enthusiasmus am Werk bist und dabei nicht nur das Überschreiten des gesetzlichen Renteneintrittsalters fröhlich ignorierst, sondern bisher auch der Versuchung widerstanden hast, Dich abseits der Bühne anderen Leidenschaften zu widmen. … der Kommentierung sportlicher Dramen beispielsweise: In der intellektuell gehobenen Fußballberichterstattung, etwa zum Thema „Kaisers Dämmerung – Ist Franz Beckenbauer ein tragischer Held?“, bist Du ein gefragter Analyst. … oder der Zubereitung Umbrischen Eintopfs, die Du als Gast bei Alfred Biolek zelebriert hast: Es sei die schönste Tragödie Deines Lebens, dass Deine Frau brillant kochen kann, hast Du dort zu Protokoll gegeben – als Grund, warum Du am häuslichen Herd häufiger durch Abwesenheit glänzt als Deiner Lust am Kochen zu frönen. Wir sind gespannt, lieber Jürgen, welche neuen und alten Bühnen Du bespielen wirst, wenn nach dem Rückumzug der Staatsoper ins Stammhaus Unter den Linden die längst geplante und (- in Berlin durchaus erwähnenswert! – ) die voraussichtlich undramatische Amtsübergabe an Deinen designierten Nachfolger Matthias Schulz ansteht. Im Rückblick auf Dein Wirken in Berlin jedenfalls erscheint Dein kleines Gastspiel als einer der Heiligen Drei Könige schon jetzt in neuem Licht: „Caspar“ ist persisch und bedeutet „Hüter des Schatzes“. Sein Geschenk, die Myrrhe, steht für das Menschsein, für das Leid und die Sterblichkeit des Menschen. Ja, als Intendant der Staatsoper hegst und pflegst Du einen wahren Schatz und schenkst uns mit Deinen Inszenierungen und Produktionen immer wieder berührende und bewegende, über unsere eigene Erfahrungswelt hinausgehende Vorstellungen davon, was es heißt, Mensch zu sein. Es ist mir eine Ehre, Dir den Bronzenen Bären überreichen zu dürfen. Herzlichen Glückwunsch zum BZ-Kulturpreis!
Kulturstaatsministerin Grütters hat Regisseur und Intendant Jürgen Flimm zum B.Z.-Kulturpreis gratuliert. In der Laudatio würdigte sie dessen großen Beitrag zum kulturellen Angebot der Stadt. „Berlin kann sich glücklich schätzen, dass Du nach wie vor mit jugendlichem Enthusiasmus am Werk bist“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Diözesanempfang in Würzburg am 23. Januar 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-dioezesanempfang-in-wuerzburg-am-23-januar-2017-326252
Mon, 23 Jan 2017 19:44:00 +0100
Würzburg
Sehr geehrter Herr Bischof Hofmann – wegen des Hausherrn lasse ich die protokollarische Reihenfolge einmal etwas ins Wanken geraten –, sehr geehrter Herr Kardinal Marx, sehr geehrter Herr Schuster, liebe Frau Landtagspräsidentin, liebe Barbara Stamm, Herr Staatsminister, Herr Oberbürgermeister Schuchardt, meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen für die Einladung danken und Sie auch beglückwünschen zum tollen Musizieren der Gruppe – rustikaler Name: „Blechschaden“. Ich freue mich, dass Sie so zahlreich gekommen sind. Ich hatte zuerst – deshalb mussten Sie einmal umsonst ansetzen – einen kurzen Gang in den Nachbarsaal gemacht, um dort diejenigen zu grüßen, die mich jetzt nicht persönlich erleben können. Ich freue mich, dass ich bei Ihnen sein kann zu Beginn eines spannenden Jahres 2017 – eines Jahres, in dem wir viel nachdenken werden über das, was uns leitet. Deshalb bin ich Ihnen, Herr Bischof Hofmann, auch sehr dankbar dafür, dass Sie mir ein spannendes Thema gegeben haben: „Verbundenheit in offener Gesellschaft“. Wir sind, glaube ich, gerade wieder in einer Zeit, in der wir sehr viel über Haltungen und Werte diskutieren angesichts manch neuer Herausforderung. Gewissheiten sind nicht mehr ganz so gewiss, wie wir dachten. Auch ich denke darüber nach: Wie kommt das? Ich glaube, dass jetzt, nach mehr als einem Vierteljahrhundert der Deutschen Einheit, ein historischer Abschnitt vielleicht durch einen neuen ersetzt wird. Nach 1990, nach dem Ende des Kalten Krieges, dachten wir: Das ist der Siegeszug der Freiheit; es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er den letzten Winkel der Welt erreicht hat. Das, was uns in Europa unmöglich erschien, passierte plötzlich. Das hat auch dazu geführt, dass ich heute hier vor Ihnen in einem wiedervereinten Deutschland stehen kann. Und trotzdem gibt es jetzt eine Phase der Zweifel, auch eine Phase, in der eine gewisse Rückkehr in überschaubare Lebensräume von manchen erträumt wird. Ich frage mich auch oft: Hat das auch damit zu tun, dass bald keine Zeugen der Schrecknisse des 20. Jahrhunderts mehr unter uns sind, die den Ersten Weltkrieg, den Zweiten Weltkrieg noch erlebt haben – die gewusst haben, welche schreckliche, grausame Diktatur der Nationalsozialismus war, der die Shoa mit sich gebracht hat? Wir stehen vor der Frage: Was leitet uns, was sind unsere Werte, wie erziehen wir und wie leiten wir unsere jungen Menschen? In dem Thema „Verbundenheit in offener Gesellschaft“ klingt ja so etwas wie ein Einerseits und Andererseits an. Bischof Hofmann sprach vorhin von einer Balance, die immer wieder gefunden werden muss. Man kann sich fragen: Verbundenheit und Offenheit – steckt in dieser Frage nicht ein Widerspruch? Ich glaube, nein. Es kann sein, dass diese beiden Begriffe zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Sie haben ja heute mit Ihrem Diözesanempfang hier etwas gemacht: Sie haben Türen geöffnet. Sie haben sich nicht nur unter Ihresgleichen getroffen, sondern Sie haben Gäste aus Politik und Wirtschaft, aus verschiedensten Verbänden und Organisationen eingeladen. Dieser Empfang führt also Menschen mit unterschiedlichen persönlichen Hintergründen zusammen. Aber schon allein das signalisiert ein großes Maß an Verbundenheit. Ein solcher Empfang bietet Raum für Begegnung und Dialog. Das ist ja nicht nur heute so, sondern das ist an vielen Stellen so. Die Bereitschaft, offen füreinander zu sein, sich auf andere einzulassen, die Welt auch mit den Augen anderer zu sehen – das ist eine schöne Erfahrung und erweitert ja oft den eigenen Horizont. Ich gebe zu: Das ist auch anstrengend. In Zeiten des Internets gibt es die schöne Möglichkeit, sich nur noch mit Menschen zu unterhalten, die der gleichen Meinung sind. Das Interessante ist: Es gibt immer mehr davon, als man persönlich kennenlernen kann; und irgendwann denkt man: Mensch, die denken alle so. Aber man ist dann vielleicht doch nur in einer Blase; und es gibt noch Hunderte, Tausende anderer Blasen. Deshalb ist dieses Sich-aufeinander-einlassen so wichtig. Es leitet uns doch auch – das darf ich gerade auch auf einem Diözesanempfang sagen –, dass Gottes Geschöpfe, die wir Menschen sind, unterschiedlich geschaffen sind. Es ist schön, dass das unsere Gesellschaft reich macht, weshalb wir nicht darüber klagen sollten, dass der eine dies und der andere das besser kann, sondern dass aus der Gemeinschaft mit allen Fähigkeiten und Fertigkeiten und auch Schwächen etwas entsteht, das eine menschliche Gesellschaft ist. Deshalb müssen wir uns immer wieder aufeinander einlassen. Das ist wichtig, natürlich auch in einer Zeit, in der die Welt zusammenzuwachsen scheint. Wir nennen das Globalisierung. Das, was wir heute erleben, ist nicht der erste Schub der Globalisierung in der Menschheitsgeschichte. Aber in Kombination mit der Digitalisierung ist es durchaus eine neuartige Entwicklung, die Sie ja auch an vielen Produktionslinien nachvollziehen können. Wenn Sie sich anschauen, durch wie viele Länder ein Rasierapparat oder eine Waschmaschine, oder was auch immer wir im täglichen Leben benutzen, gewandert ist, ehe das dann von uns als Produkt gekauft wird, dann sehen Sie, dass das etwas sperrige Wort „Wertschöpfungsketten“ zeigt, wie wir miteinander im Austausch leben. Die Digitalisierung bringt uns zudem quasi jede Information, an der wir interessiert sind, zu uns nach Hause. Aber damit ist ja noch kein Wertesystem verbunden. Damit weiß ich ja noch gar nicht, wie ich sämtliche Informationen einordnen soll, was für mich jetzt wichtig ist und was nicht, was ich mehr als einen Tag behalten sollte oder was ich gleich vergessen kann. Dabei habe ich noch gar nicht darüber gesprochen, dass manche Informationen, die als Fakten daherkommen, Lügen sind. Es gibt also sozusagen ein Ansturm von Impulsen auf uns, die auch ganz konkrete Veränderungen im täglichen Leben mit sich bringen. Es gibt viele, die von der Digitalisierung schwärmen. Wenn man junge Menschen sieht, wie sie mit Smartphones und Tablets umgehen, wenn man sieht, was möglich ist, wie man sich verabreden kann, wie man sich austauschen kann, wie Familien über WhatsApp miteinander kommunizieren können, dann findet man das alles wunderbar. Aber auch die Arbeitswelt verändert sich in einem dramatischen Tempo. Nicht jeder ist sich ganz sicher, ob er oder sie in dieser Welt noch einen Platz hat, ob morgen noch etwas für einen dabei ist, ob man mitkommt, wenn vieles neu zu lernen ist. Menschliches Leben wird nicht dadurch besser, dass ich dauernd alles schnell bekommen kann. Das heißt, Rhythmen und Lebenszeiten fallen auch ein Stück weit auseinander. Das schafft Verunsicherung, das erzeugt Fragen wie: Was gilt nun noch? Was wird mit mir und meinem Leben in ein oder zwei Jahren sein? Es ist ganz natürlich, dass Antworten auf solche Fragen sehr unterschiedlich ausfallen. Manch einer zieht sich zurück und will sich nur noch auf das Eigene konzentrieren. Andere sind bereit, sich auf den Wandel einzulassen, und empfinden das als eine Bereicherung. Ich lade uns ein, uns dem Wandel nicht zu verweigern, sondern sich auf ihn einzulassen, allerdings auch auf eines sehr zu achten: Der Wandel von Technik, von Information und Kommunikation dient keinem Selbstzweck, sondern ist immer auch mit der Frage verbunden, dass der Mensch selbst bestimmen können muss, dass der Mensch seine Ordnung gestalten muss. Ich sage Ihnen auch ganz offen: Das ist für uns Politiker eine Riesenherausforderung. Denn neue technische Entwicklungen, etwa auch neue Entwicklungen des internationalen Finanzmarkts müssen Sie ja erst einmal kennen, ehe Sie betreffende politische Leitplanken setzen können. Das heißt, wir müssen permanent lernen und darauf achten, dass die Gesellschaft menschlich gestaltet wird. Das fordert uns doch sehr. Aber wir sollten an die Herausforderungen mit der Haltung herangehen, dass wir offen sind für Innovationen, dass wir offen sind für einen weltweiten Wettbewerb, dass wir davon überzeugt sind, dass wir – das sind natürlich nicht nur wir Deutschen alleine –, dass die Menschheit Globalisierung gestalten kann. Wir sollten uns mit unseren Überzeugungen in diese Gestaltung einbringen. So stellt sich auch in diesen Tagen im Jahre 2017, aber auch schon länger immer wieder die Frage: Abschottung, Protektionismus? Es war sehr interessant, dass der chinesische Staatspräsident kürzlich ein sehr einprägsames Bild für Protektionismus und Abschottung verwendet hat. Er hat gesagt, das sei wie in einem dunklen Raum: Wer sich darin einschließe, der sei zwar vor Regen und Wind geschützt, aber zugleich abgeschieden von Licht und Luft. Das hat mir gefallen. Wir sprechen im Übrigen mit China auch oft darüber, wie die Bedingungen für alle gleich gestaltet werden können. Es zeigt sich zumindest, dass wir uns auf Offenheit einlassen sollten. Das würde ich auch unterstreichen. Aber wie ist das dann mit der Verbundenheit? Wir sahen uns ja im letzten und vorletzten Jahr in der Frage der Verbundenheit vor große Herausforderungen gestellt angesichts der vielen Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind. Das Schicksal der vielen Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Gewalt fliehen, hat uns gezeigt, was eine globalisierte Welt auch an fürchterlichen Katastrophen mit sich bringt. Gerade auf dem Weg hierher habe ich wieder von der fürchterlichen Situation in Aleppo gehört, aber auch von den Hilfen. Deutschland hat im letzten Jahr allein für Syrien und Nachbarländer fast 600 Millionen Euro dem Welternährungsprogramm gegeben. Das trägt auch dazu bei, dass Menschen in Ost-Aleppo und West-Aleppo eine warme Mahlzeit bekommen. Jeder zweite Syrer, der in Syrien ist, ist im Augenblick auf internationale Hilfe angewiesen. Gleichzeitig haben wir viele Flüchtlinge bei uns aufgenommen. Rund fünf Millionen Syrer zum Beispiel haben Syrien verlassen müssen. Die allermeisten von ihnen sind im Libanon, in Jordanien und in der Türkei. Wir wissen, dass derzeit mehr Menschen denn je nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Flucht sind. Die Herausforderungen für uns waren sichtbar. Ich möchte als Erstes den Kirchen, den Hilfswerken, den Haupt- und Ehrenamtlichen überall in den Organisationen, in den Stadtverwaltungen, in den Landkreisen, im Land und gerade auch hier in Bayern, weil die allermeisten hier bei Ihnen angekommen sind, noch einmal ein herzliches Dankeschön für das sagen, was sie geleistet haben. Wir haben in dieser Zeit viel gelernt. Wir mussten vieles lernen und haben erreicht, dass die Zahl der Flüchtlinge im letzten Jahr deutlich zurückgegangen ist. Dies liegt auch an verschiedenen Verhandlungen, die wir geführt haben. Ich weiß, dass das Abkommen der Europäischen Union mit der Türkei nicht so sehr beliebt ist, oft auch kritisch diskutiert wurde. Aber es war ein Weg heraus aus der Illegalität. Menschen haben sich in die Hände von Schleppern und Schmugglern begeben, die sie skrupellos in Lebensgefahr gebracht haben, von ihnen Geld verlangt und sie ausgebeutet haben. Es galt und gilt, aus dieser Illegalität herauszukommen und Abhängigkeiten zu unterbinden. Illegalität kann nicht das Handeln von Staaten sein. Wir müssen es in Legalität überführen. Denn den Menschen, die davon betroffen sind, hilft es nicht, wenn sie ihr Leben riskieren und dann doch keinen Schutz finden. Allein die Tatsache, dass vor einem Jahr in den ersten Monaten noch etwa 450 Menschen allein in der Ägäis und letztes Jahr insgesamt über 4.500 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind, zeigt doch, dass wir andere Wege der Hilfe finden müssen als illegale Wege, die aus meiner Sicht nicht akzeptabel sind. Nun stehen wir vor einer schwierigen Aufgabe, aber dieser Aufgabe müssen wir uns stellen. Wir sind ein Rechtsstaat. Ein Rechtsstaat gibt denen, die Hilfe brauchen, Hilfe und Unterstützung. Aber damit wir das weiter tun können, müssen wir denen, die nach einem rechtsstaatlichen Verfahren kein Aufenthaltsrecht bei uns haben, auch sagen, dass sie unser Land wieder verlassen müssen. Auch das gehört zum Ordnen und Steuern der Prozesse. Wir haben in der Politik gemeinsam gelernt: Je schneller wir entscheiden, umso besser ist das für die Betroffenen. Denn nichts ist schwieriger, als wenn ganze Familien jahrelang in Gemeinden oder vor Ort betreut werden, dort Beziehungen und Bindungen aufbauen, und dann kommt sozusagen die Mitteilung: Jetzt müsst ihr uns verlassen. Deshalb müssen Entscheidungen schneller getroffen werden. Für diejenigen, die ein Bleiberecht haben, gilt die große Aufgabe der Integration. Auch hierbei haben wir vieles vorangebracht, Offenheit und Bereitschaft zur Verständigung gezeigt. Diese Bereitschaft muss auf beiden Seiten da sein. Ich sage oft: Wenn ich aus Syrien oder Afghanistan in die Bundesrepublik Deutschland käme – wenn ich mir das nur vorstelle –, könnte ich wahrscheinlich auch nicht gleich verstehen, wie alles bei uns geordnet und geregelt ist. Das ist nicht so einfach, glauben Sie es mir. Es war schon nach Vollendung der Deutschen Einheit gar nicht so einfach, sofort zu kapieren, wo hier alles langgeht. Aber natürlich ist Deutschland auch ein Land, in das viele Menschen fliehen und kommen möchten, weil wir eine Ordnung haben, eine Rechtsordnung, die Recht und Menschenwürde sichert. Deshalb erwarten wir genauso, dass diejenigen, die zu uns kommen, sich an diese Rechtsordnung halten, an unser Grundgesetz, und dass sie verstehen, dass Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Schutz der Würde des Menschen nicht nur Toleranz, sondern auch Respekt vor jedem erfordern und dass nur in diesem Respekt zum Gegenüber unsere Ordnung des friedlichen Zusammenlebens überhaupt gedeihen kann. Deshalb ist es aus meiner Sicht nicht weiterführend, wenn wir versuchen, mit Polarisierung und Populismus die Probleme zu lösen, sondern sie müssen konkret gelöst werden. Aber wir müssen auch zeigen – und ich finde, wir können das zeigen –, dass wir von den Grundprinzipien unseres Landes, unserer Bundesrepublik Deutschland, überzeugt sind und dass es auch Freude macht, andere davon zu überzeugen, dass diese Prinzipien ein gutes und nachhaltiges Miteinander ermöglichen. Dann müssen wir uns – auch das ist in dieser Dimension neu – ganz eindeutig gegen diejenigen stellen, die mit Attacken auf unsere Demokratie einwirken, von woher auch immer sie kommen. Wir müssen uns damit massiv auseinandersetzen, Courage zeigen, deutlich machen, dass wir mutig sind. Das muss Politik vorleben, aber es muss auch jeder Einzelne immer wieder für das kämpfen, was unser Land so erfolgreich gemacht hat: Das ist die Offenheit, aber gleichzeitig auch die Verbundenheit mit der gemeinsamen Rechtsordnung. Meine Damen und Herren, natürlich – Sie haben das hier in Würzburg im letzten Jahr erlebt, auch in Ansbach, dann in Berlin auf dem Breitscheidplatz – ist der islamistische Terror gerade auch angesichts der schrecklichen Ereignisse bei uns eine riesige Herausforderung – eine Herausforderung, die Frankreich in unfassbarer Weise getroffen hat, eine Herausforderung, die in Belgien eine Rolle spielt. Wir sehen, dass wir uns in internationaler Zusammenarbeit dagegen aufstellen müssen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten mit Recht, dass wir Sicherheit in Freiheit für das Zusammenleben in Deutschland menschenmöglichst garantieren. Hierfür haben wir mit großer Entschlossenheit eine Vielzahl von gesetzlichen Änderungen vollzogen. Wir sind da auch noch nicht am Ende unserer Maßnahmen. Es bedeutet aber auch immer wieder politische Diskussionen. Aber ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Diejenigen, die für unsere Sicherheit ihren Kopf hinhalten, die Polizisten, etwa auch Feuerwehrleute, die Brände löschen, müssen sich darauf verlassen können, dass wir hinter ihnen stehen und dass sie ihre Arbeit machen können. Es ist auch wichtig, dass wir die Zahl derer, die in diesen Bereichen arbeiten, erhöhen, und dass wir ihnen aber auch die Instrumente in die Hand geben, um diejenigen, die unsere Art zu leben vernichten wollen, auch wirklich bekämpfen können. Das garantiert uns Freiheit. Das betrifft auch triviale Dinge. Was früher die Telefonüberwachung war, ist eben heute die Möglichkeit, zu verstehen, was in den sozialen Netzen passiert. Wenn Terroristen sich in WhatsApp-Gruppen zusammenschließen können und mit ansehen, dass der Staat das nicht überwachen kann und darauf wartet, dass sie wieder über das Festnetz telefonieren, dann telefonieren sie natürlich nicht mehr über das Festnetz, sondern kommunizieren eben weiter in der WhatsApp-Gruppe. Wir müssen also unseren Sicherheitsbehörden die richtigen Instrumente in die Hand geben. Darum kämpfen wir auf politischer Ebene. Ich glaube, das können die Menschen mit Recht erwarten. Meine Damen und Herren, der Zusammenhalt – das sei an diesem Beispiel gezeigt – ist schon auf eine harte Probe gestellt worden. Alles in allem, glaube ich, sind wir aber dabei, das doch recht ordentlich zu bewältigen und dabei wiederum eine Menge über uns zu lernen. Es zeigt sich immer wieder, dass Zusammenhalt – man kann es auch Verbundenheit nennen – in unserem Land eine große Stärke ist. Deshalb haben wir – bei allem, was wir noch lernen müssen – auch Grund zu Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen. Das zeigt sich insbesondere in der großen Zahl von Ehrenamtlichen: über 30 Millionen Ehrenamtliche in Deutschland. Das ist ein Netzwerk, das garantiert, dass dort, wo der Staat vielleicht etwas übersieht, wo er nicht alles schafft, Netze für Menschen in verschiedensten Lebenssituationen da sind, um sie in die Zukunft zu geleiten, wenn ich etwa auch an den Sport denke, oder in schwierigen Lebenslagen zu helfen. Auf dieses Netzwerk der Ehrenamtlichkeit können wir stolz sein. Danke gerade auch den Kirchen und in diesem Fall der Katholischen Kirche, was Sie an Förderung im ehrenamtlichen Bereich tun. Herzlichen Dank. Unterstützt wird Zusammenhalt auch dadurch, dass die augenblickliche wirtschaftliche Lage in Deutschland recht gut ist, dass wir derzeit die höchste Zahl von Erwerbstätigen in der Geschichte der Bundesrepublik haben, dass wir solide öffentliche Haushalte haben und aufgrund einer hohen Beschäftigtenzahl keine neuen Schulden machen müssen und somit auch Voraussetzungen dafür schaffen, dass unsere Kinder und Enkel Spielräume haben werden. Wir haben schon genug Schulden in den vergangenen Jahren gemacht. Und trotzdem weiß ich, dass viele auch mit Recht darauf hinweisen, was alles besser laufen könnte, was alles besser sein könnte. Die Soziale Marktwirtschaft wird unter den Bedingungen der Globalisierung auch künftig wieder vor viele Herausforderungen gestellt. Verbundenheit heißt ja auch Verbundenheit verschiedener Generationen. Verbundenheit heißt auch Verbundenheit der Menschen in unterschiedlichen Positionen. Das Auseinanderklaffen von Gehältern, das Auseinanderklaffen von Sicherheit im Leben beschäftigt durchaus viele Menschen. Es gab viele Jahre, in denen man mit Fug und Recht sagen konnte: Wenn meine Kinder fleißig sind, dann wird es meinen Kindern sicher besser gehen als mir. Diese Sicherheit ist heute nicht mehr so einfach gegeben, wie das früher der Fall war, weil es so viel Veränderung gibt. Was heißt „besser gehen“? Bei der Frage, wie teuer es ist, ein Häuschen zu bauen, hat sich in den letzten 30 Jahren vieles verändert. Bei der Frage, ob ich einen Arbeitsplatz bekomme, hat sich vieles verändert. Oft ist die Qualifikation der Kinder höher; und trotzdem ist ihre Sicherheit im Arbeitsleben nicht sofort höher. Es hat keinen Sinn, immer nur davon zu erzählen, wie schlimm es früher war, sondern wir haben allen Grund, die Sorgen jüngerer Menschen über ihre Lebensgestaltung, über ihre Familienplanung genauso ernst zu nehmen wie die Sorgen derjenigen, die auf Pflege oder das Krankenhaus angewiesen sind. Nur wenn wir diese Sorgen ernst nehmen, werden wir Soziale Marktwirtschaft wirklich und ehrlich gestalten können. Dabei hat Politik natürlich eine zentrale Aufgabe. Wir dürfen möglichst nichts versprechen, was wir zum Schluss nicht halten können, aber wir müssen uns um die Probleme kümmern. Offenheit in unserer Gesellschaft bedeutet, dass Politik die Dinge anpackt, dass sie Möglichkeiten eröffnet, aber gleichzeitig den Menschen nicht etwa vorschreibt, wie sie leben sollen. Das bleibt die Entscheidung jedes Einzelnen. Da sind wir sehr schnell beim Kern des Zusammenhalts einer gerade auch offenen Gesellschaft: bei der Familie. Wir – jetzt spreche ich einmal als CDU-Vorsitzende – sagen in unserem Grundsatzprogramm: Familie ist dort, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern dauerhaft Verantwortung übernehmen. Das ist etwas sehr Spannendes; das ist etwas, das Politik überhaupt nicht erzwingen kann. Politik kann viele Verantwortlichkeiten auf Zeit regeln, aber Familie bedeutet Verantwortung von Eltern für Kinder und Kinder für Eltern vom Anfang des Lebens bis zum Ende des Lebens. Da sind auch die Großeltern einbezogen. Heutzutage ist es ja ohnehin so, dass das Leben ohne Großeltern manchmal kaum zu meistern ist. Ich sage an solchen Stellen gerne etwas scherzhaft – ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel –: Mancher entdeckt überhaupt erst als Großvater, wie schön es mit kleinen Kindern ist, weil er in seinem Vaterleben gar keine Zeit dazu hatte. Auch das ist eine neue Erfahrung. Michael Glos, mein langjähriger Kollege, den ich inzwischen im Publikum entdeckt habe, nickt; so bin ich doch auch zufrieden. Meine Damen und Herren, mit Familien müssen wir also sorgsam umgehen, ihnen Unterstützung zuteilwerden lassen, wobei die Frage, wie genau diese Unterstützung aussehen kann, natürlich auch wieder Gegenstand politischer Debatten ist. Aber ich glaube, neben der Frage der materiellen Situation von Familien steht heutzutage auch die Frage der Zeit für Familien sehr stark im Mittelpunkt, die Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wir haben uns immer – Barbara Stamm stimmt mir da zu – dafür ausgesprochen, dass wir nicht vorschreiben, wie Familien ihr Leben gestalten sollen. Es darf weder so sein, dass die erwerbstätige Mutter im Fokus ist und kritisiert wird, noch darf es so sein, dass, wenn Mütter oder Väter sich ein paar Jahre Zeit für die Erziehung der Kinder nehmen und im Beruf kürzertreten, der gesellschaftliche Bann über sie ausgesprochen wird. Haben wir Mut zur freien Entscheidung. Wir wollen in der Politik helfen, das gewünschte Lebensmodell möglichst leben zu können, was dann auch, glaube ich, für die Kinder am allerbesten ist. Wir haben immer wieder das Kindergeld erhöht, das Elterngeld und die Elternzeit eingeführt, die Kinderbetreuung gestärkt. Wir haben auch sehr viel für den Bereich der Pflege getan, gerade auch in dieser Legislaturperiode. Aber bei allen staatlichen Leistungen will ich auch hier nochmals sagen: Die Hauptlast tragen in den allerallermeisten Fällen die Angehörigen. Auch das ist ein Ausdruck des Zusammenhalts unserer Gesellschaft. Wir haben die größte Hochachtung dafür, ich jedenfalls, wenn sich Menschen aufopferungsvoll für ihre Angehörigen gerade auch im letzten Abschnitt des Lebens einsetzen oder Pflegekräfte in den Pflegeheimen ihren Dienst tun. Wir haben vieles versucht, Bürokratie abzubauen, die Konzentration auf Zuwendungen zu Menschen zu verbessern, die Pflegedefinition zu verändern, damit gerade auch Demenzkranke besser berücksichtigt werden können. Aber letztlich wird man eine menschliche Pflege allein politisch nicht durchsetzen können. Deshalb auch hier ein herzliches Dankeschön an alle, die in diesem Bereich arbeiten und pflegen. Zusammenhalt und Verbundenheit spiegeln sich auch zwischen den Generationen wider. Wir haben mit den Mehrgenerationenhäusern in vielen Städten gute Orte gefunden, an denen Generationen zusammenkommen können, die heute nicht mehr auf natürliche Weise als eine Großfamilie in einem Haus leben. Ein zentrales Thema angesichts unserer demografischen Entwicklung ist natürlich das Rentensystem. Das wird auch in den kommenden Monaten wieder eine große Rolle spielen. Wie können wir im Alter Sicherheit bieten? Wir müssen bei der Analyse feststellen: Das größte Risiko für Altersarmut liegt im Grunde bei denjenigen, die bereits im Erwerbsleben erkranken und ihre Erwerbsbiografie nicht zu Ende führen können. Deshalb haben wir noch einmal die Erwerbsminderungsrente verbessert. Aber wir haben auch solche Aufgaben: Wie können wir gerecht sein zu denen, die Kinder erzogen haben? Wie spiegelt sich das im Rentensystem wider? Hier sitzt mit der Landtagspräsidentin eine Verfechterin gerade auch der Gerechtigkeit gegenüber Müttern. Wie können wir angesichts der weniger jüngeren Menschen und der größeren Zahl von älteren Menschen, ohne die junge Generation zu überlasten, Gerechtigkeit auch für die zukünftig Älteren schaffen? Das beschäftigt uns sehr. Diese Fragen haben sehr viel mit Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu tun. Das heißt also, dass die Frage der Offenheit und Verbundenheit innerhalb einer Gesellschaft sich nicht nur auf die Offenheit nach außen bezieht, sondern auch auf die Offenheit für die verschiedenen Lebenssituationen innerhalb einer Gesellschaft. Da spielt natürlich auch die Frage der Chancen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, eine Riesenrolle. Und da wiederum ist Bildung eine Schlüsselfrage. Das ist ein Thema, das im Wesentlichen bei den Bundesländern angesiedelt ist. Daher will ich mich hier bei diesem Diözesanempfang nur auf einen Aspekt konzentrieren: Ich bin der Meinung, dass Religionsunterricht in unseren heutigen Zeiten eher wichtiger als weniger wichtig ist, weil es hierbei auch um Gewissens- und Herzensbildung geht – weil es hierbei um mehr geht als nur unser eigenes Leben, sondern auch um den großen Zusammenhang unseres Lebens als, wie ich am Anfang sagte, Geschöpfe Gottes. Wir spüren in diesen Zeiten auch – ich spüre es jedenfalls –, dass wir immer wieder von Voraussetzungen leben, die wir selber nicht schaffen können, sondern die in unserer Geschichte, in unseren Überzeugungen, unserem Glauben begründet sind und die uns dann auch in die Zukunft tragen und die uns ein Stück weit aus der Ichbezogenheit herausführen. Unsere freiheitliche Grundordnung stellt ja ab auf eine Freiheit, die immer auch in Verantwortung auf den anderen gedacht ist. Und deshalb halte ich gerade auch Religionsunterricht für außerordentlich wichtig. Meine Damen und Herren, wir stehen im Spannungsfeld von Offenheit und Abschottung, von Verbundenheit und Isolation – keine Frage. Aber ich glaube, wir haben in der Geschichte unserer Bundesrepublik Deutschland gezeigt, dass wir mit dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, mit unserem Grundgesetz, in dem steht, dass die Würde jedes einzelnen Menschen unantastbar ist, einen guten Weg gestalten können. Vielleicht sind wir ein bisschen betrübt, dass es uns heute eher schwieriger erscheint als in der Vergangenheit. Aber ein Blick zurück auf die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland lohnt sich. Was war das für ein Land, aus dem diejenigen, die die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren, erst einmal wieder ein Land formen mussten? Was war das für eine Zerstörung und Zerrüttung im materiellen Sinne angesichts zerstörter Städte und im geistigen Sinne angesichts einer furchtbaren Ideologie? Und was ist daraus geworden? Nun haben wir, wenn wir heute unsere jungen Menschen sehen, unsere Kinder, unsere Enkel, doch allen Grund zu sagen: Auch wir nehmen die Herausforderungen der Zukunft an. In diesem Jahr begehen wir das Jubiläum „500 Jahre Reformation“. Da die Evangelische und die Katholische Kirche eine Vielzahl von Formen gefunden haben, die eine tiefe ökumenische Verbundenheit widerspiegeln, geben sie ja auch ein Beispiel, wie wir aus der Geschichte sozusagen Kraft schöpfen können. Ich möchte zum Schluss Papst Franziskus zitieren, der am Neujahrstag dazu aufgerufen hat, „gemeinschaftliche Orte zu schaffen und zu pflegen, die uns das Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Verwurzelung vermitteln, dass wir uns in unseren Städten zu Hause fühlen, in Gemeinschaften, die uns vereinen und uns Halt geben“. Wenn wir diesem Aufruf folgen – ich weiß nicht, ob Sie Ihr Motto vor dem Hintergrund der Neujahransprache des Papstes festgelegt haben oder schon vorher –, dann gewiss auf unterschiedliche Weise. Aber eine Form von Offenheit, auf andere zuzugehen, gehört in jedem Fall dazu. Deshalb setze ich, ganz im Sinne unseres Themas heute Abend, auf Verbundenheit in einer offenen Gesellschaft. Jeder von uns kann seinen Beitrag dazu leisten. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung des Museums Barberini am 20. Januar 2017 in Potsdam
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-eroeffnung-des-museums-barberini-am-20-januar-2017-in-potsdam-482836
Fri, 20 Jan 2017 18:10:00 +0100
Potsdam
Sehr geehrter Herr Professor Plattner, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Woidke, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Jakobs, Exzellenzen, liebe Gäste von nah und fern, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, Friedrich der Große ließ das Palais Barberini nach römischem Vorbild errichten. Der Prachtbau vervollständigte und prägte das Zentrum Potsdams. Das repräsentative Gebäude blieb stadtbildprägend, bis es im Zweiten Weltkrieg den Bomben zum Opfer fiel. Seine letzten Reste verschwanden in den Folgejahren. Jetzt ist das Palais Barberini wiederauferstanden – als Museum Barberini. Damit knüpft das Haus an einstige Traditionen als Ort der Kultur im Herzen der Stadt an. Dass und wie das möglich wurde, sagt viel über unser Land aus. Die deutsche Kulturlandschaft weist eine einzigartige Vielfalt auf. Dies wurde und ist nur möglich, weil neben staatlichem viel privates und bürgerschaftliches Engagement steht. Etliche Museen und Ausstellungshäuser mit ihren großen und kleinen Schätzen verdanken wir Sammlern und Stiftern. Sie machen Kunst und Kultur einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Ihr Wirken verleiht dem kulturellen Reichtum unseres Landes erst den richtigen Glanz. Ohne Mäzene wie Hasso Plattner wäre die Kulturnation Deutschland weitaus ärmer. Deshalb, lieber Herr Professor Plattner, möchte ich Ihnen an dieser Stelle meinen Dank für Ihr großzügiges, tatkräftiges – man hat den Eindruck, schier unerschöpfliches – Engagement sagen. Ich habe ihm vorhin gesagt: Dass er jetzt Ehrenbürger dieser Stadt geworden ist, wurde auch Zeit. Aber Sie werden schon den richtigen Zeitpunkt abgepasst haben. Kreative Menschen wie Sie, Herr Plattner, zeichnet aus, dass sie Chancen sehen und nutzen und sich nicht von Risiken abhalten lassen. Ihr Name ist ja seit vielen Jahren eng mit der Stadt Potsdam verbunden – vorneweg durch das Hasso-Plattner-Institut an der Universität. Ende der 90er Jahre kündigten Sie die Stiftung dieses Instituts für Softwaresystemtechnik an. Ich habe das sehr aufmerksam verfolgt, weil mich das Thema Digitalisierung sehr bewegt. Sie waren sich ganz sicher, Potsdam sei – ich zitiere Sie – „der ideale Standort für zukunftsorientierte Forschung und Lehre, wobei die havelländische Landschaft und das historische Erbe eine besondere Anziehungskraft ausüben.“ – Stimmt eindeutig. Diese Aussage spricht Bände. In ihr klingt nämlich die Breite Ihrer Interessen an, aber eben auch etwas von der Wechselwirkung zwischen Wissenschaft, Kultur und Landschaft. Ohne Zweifel gewinnt ein innovativer Forschungs- und Bildungsstandort auch durch eine ansprechende und geschichtsbewusste Umgebung an Kontur. Denn Kultur in all ihren Dimensionen regt den Geist an und weitet den Horizont. Und dass Sie sich auch mit Design Thinking beschäftigen, zeigt, dass Sie auch weiterdenken. Für Kulturliebhaber aus aller Welt lag die Anziehungskraft Potsdams bisher vor allem in seinem Ruf als Stadt der Schlösser und Gärten begründet. Mit dem Museum Barberini erhält die brandenburgische Landeshauptstadt einen zusätzlichen Besuchermagneten. Auch ich will noch einmal darauf hinweisen, dass vergangenes Jahr innerhalb einer Woche bereits 24.500 Interessenten die Gelegenheit genutzt haben, das leere Palais in Augenschein zu nehmen, was davon zeugt, welche Bedeutung dieses Palais für Potsdam und seine Geschichte hat. Deshalb können Sie, schon bevor Sie die Ausstellung für die Öffentlichkeit freigegeben haben, sagen, dass die Potsdamer und die Gäste das Haus bereits angenommen haben. Es bildet zusammen mit Einrichtungen wie dem Filmmuseum Potsdam oder dem Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte ein sehr attraktives Museumsquartier, das sich mit anderen namhaften Museen der Welt messen kann. Sie sind ja hier nun umgeben – auch wenn man einmal den Schritt nach Berlin wagt – von durchaus ebenfalls interessanten Museumseinrichtungen. Aber die Kunst, die hier eingezogen ist, ist etwas ganz Besonderes, wie ich nach dem Rundgang hier sagen muss. – Man schreibt ja manchmal schon vorher auf, dass man beeindruckt ist, aber ich will das sagen, weil das ja auch zutrifft. Na, es ist ja so, der Redeentwurf ist ja meistens fertig, bevor ich an Ort und Stelle bin. Oder andersherum: Ich gebe zu, dass in meinem Manuskript keine Freifläche ist, neben der steht: Bitte persönlichen Eindruck wiedergeben. Das tue ich jetzt aber. – Es ist etwas, das atemberaubend ist – in der Art der Bilder, aber auch in der Art der technischen Ausstattung, die diese Bilder zum Erstrahlen bringt, und in der Art der Komposition der Ausstellung. Dafür allen, die daran beteiligt waren, ein herzliches Dankeschön. Mit Intuition, Sachkunde und der Ihnen eigenen Entschlusskraft ist es Ihnen, Professor Plattner, gelungen, wirklich etwas Eigenständiges, eine einzigartige Kunstsammlung anzulegen. Und ich glaube, auch der Umfang und die Spannung, die zwischen den einzelnen Ausstellungen besteht, werden viele, viele interessierte Besucher ansprechen. Wir haben ja gleich drei fulminante Auftaktausstellungen. Die Öffentlichkeit bekommt Einblick in Ihre Sammlung, die durch Leihgaben ergänzt wird. Zu sehen ist die Ausstellung „Impressionismus. Die Kunst der Landschaft“. Da schließt sich der Bogen zur havelländischen Landschaft, auch wenn wir beim Impressionismus damals noch nicht vorne mit dabei waren. Aber vielleicht ist es ja auch eine Inspiration, weitere Kunstrichtungen hier im Havelländischen noch besser zu etablieren. Großartige Werke von Claude Monet werden gezeigt. Die zweite Ausstellung „Klassiker der Moderne“ zeigt Werke unter anderem von Liebermann und auch Andy Warhol. Und es gibt eine dritte Ausstellung – von ihr habe ich heute nichts mitgekriegt, aber das lädt zu weiteren Besuchen ein –, nämlich mit Gemälden aus der Zeit der DDR. Ich finde das sehr wichtig gerade für eine Stadt wie Potsdam, in der sich sozusagen die DDR und die Geschichte auf eigenwillige Art und Weise treffen. Diese drei Ausstellungen sind wirklich überwältigend. Doch dabei lassen Sie es nicht bewenden, weil für Sie neben der Liebe zur Kunst und der Begeisterung für das Schöne auch gelebte Verantwortung von großer Bedeutung ist. Deshalb möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass Sie vor dem Erwerb neuer Kunstwerke immer deren Geschichte überprüft haben, um damit den Ankauf von Kulturgütern auszuschließen, die in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus vor allem jüdischen Eigentümern entzogen wurden. Wir erfahren damit auch Unterstützung in unserem Bemühen, den Kunstraub im Nationalsozialismus umfassend aufzuarbeiten. Deshalb kommt es auch nicht von ungefähr, dass Sie im vergangenen Jahr mit dem „Preis für Verständigung und Toleranz“ des Jüdischen Museums in Berlin geehrt wurden. Sie haben das Museum Barberini unter das Motto „Das Original erleben, die Begeisterung teilen“ gestellt. Daraus spricht Ihr Selbstverständnis als Sammler, dass Sie das nicht einfach nur sich selbst zugutekommen lassen wollen, sondern vielen, und dass Sie einem offenen Diskurs über Kunst und Kultur in einer lebendigen Demokratie einen Platz geben. – Wir haben erfahren, dass dieses Haus auch noch vielfältige Veranstaltungen beherbergen wird. – Denn zum Selbstverständnis jeder freiheitlichen Gesellschaft gehört auch die öffentliche Präsentation von Kunstwerken. Dem heutigen Betrachter erschließt sich zum Beispiel kaum mehr, dass manche der hier ausgestellten Arbeiten des Impressionismus zum Zeitpunkt ihres Entstehens erbitterte Diskussionen ausgelöst haben. Und so sollten wir uns auch heute nicht um solche Diskussionen drücken. Es gibt nicht die eine Meinung und die eine Wahrheit, sondern es gibt so viele verschiedene Menschen mit so vielen verschiedenen Ideen, die erst das Schöne unserer Gesellschaften ausmachen. Diese Kunstwerke sind also auch Ausdruck des damaligen Ringens um Freiheit, um Humanität, um Individualität. Wir sehen im Rückblick den Aufbruch der Moderne. Viele Arbeiten stammen von Künstlern, die mit ihren Werken unser Verständnis von einer weltoffenen Gesellschaft beeinflusst haben. Darin liegt, glaube ich, auch eine Quelle der prägenden Kraft, die das Museum Barberini entfaltet. Somit dient das Haus der kulturellen Bildung und Vermittlung auf vorbildliche Weise. Und dass Kinder und Jugendliche unter 18 freien Eintritt genießen, halte ich für eine sehr, sehr schöne Regelung. Es gibt museumspädagogische Angebote für Kinder, für Gruppen aus Kindertagesstätten und Schulen. Und es ist vielleicht auch ein Ort, um den interkulturellen Dialog zu etablieren, mit dem wir uns im Augenblick auch sehr viel beschäftigen. Angesichts des unternehmerischen Hintergrunds des Stifters liegt es auf der Hand, dass das Museum mit der digitalen Welt über eine digitale Pinakothek, eine Barberini-App und einen Barberini-Guide verbunden ist. All das ist auch wegweisend für die Bildungsarbeit moderner Museen, aber auch die Bildungsarbeit für Kinder und Jugendliche heute insgesamt, die wir im digitalen Zeitalter leisten müssen. – Mein Blick geht zum Ministerpräsidenten, weil er zuständig ist; aber er weiß ja, dass wir auch seitens des Bundes helfen wollen. Meine Damen und Herren, draußen im Hof steht die Bronzeskulptur „Jahrhundertschritt“ des Leipziger Künstlers Wolfgang Mattheuer. Viele kennen sie aus der Sammlung von Kunst aus der DDR. Ich glaube, das Museum macht auch einen Jahrhundertschritt, indem es an das anknüpft, was vor 70 Jahren verschwunden war und indem es gesellschaftliche Herausforderungen kommender Jahrzehnte adressiert. Offenheit, Diskursfähigkeit, das Bewusstsein für den Wert der Freiheit erleiden Schaden, wenn wir sie vernachlässigen – wenn wir meinen, dies alles sei so selbstverständlich, dass es jeglicher Anfechtung standhielte. Wir spüren in diesen Tagen und Wochen, dass es so einfach leider nicht ist. Wir erleben das vielfach, wenn Vorurteile verfangen, wenn undurchsichtigen Behauptungen mehr Glauben geschenkt wird als wissenschaftlichen Fakten, wenn Raum für sachliche Auseinandersetzung verlorengeht. Aber nur wenn wir diese Werte leben und verteidigen, die uns so viel bedeuten, erhalten wir sie. Ich bin der Überzeugung: Das Museum Barberini steht für gelebte Werte, für Verantwortung, für Großherzigkeit, für Weltoffenheit und vieles mehr. Und deshalb möchte ich Ihnen und allen anderen an diesem wunderschönen Museum Beteiligten herzlich gratulieren, allen Erfolg wünschen und allseits zufriedene Besucher dieses Hauses. Herzlichen Dank.
Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Wannsee-Konferenz
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-gedenkveranstaltung-zum-75-jahrestag-der-wannsee-konferenz-759474
Thu, 19 Jan 2017 00:00:00 +0100
Berlin
Kulturstaatsministerin
Es war ein strahlend schöner Wintertag: Wannsee – ein Idyll in weiß. Vor 75 Jahren, am 20. Januar 1942 mittags um 12, trafen sich hier 15 Männer zu einer eineinhalbstündigen Konferenz. Auf der Tagesordnung stand die Umsetzung eines Vorhabens, das ebenso zynisch wie euphemistisch als „Endlösung der europäischen Judenfrage“ bezeichnet wurde: des Völkermords an den europäischen Juden. Bei Schnittchen und französischem Cognac besprach man Definitionen, Zuständigkeiten, verwaltungstechnische Abläufe – kurz: das möglichst reibungslose Funktionieren der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie, in der ein Rädchen ins andere greifen sollte. Das Protokoll, dessen widerspruchslose Kenntnisnahme über den Teilnehmerkreis hinaus führende Amts- und Funktionsträger zu Mitwissern und Mitverantwortlichen machte, dokumentiert die moralische und institutionelle Bankrotterklärung des deutschen Staatsapparates. In diesem Protokoll heißt es, ich zitiere: „Unter entsprechender Leitung sollen die Juden im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen (…) werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen (…).“ „natürliche Verminderung“ „ausfallen“ „Restbestand“ „… entsprechend behandelt werden müssen.“ In dieser Sprache sitzen Augen, die im Mitmenschen den Menschen nicht mehr sehen. Wir, die wir die Folgen nicht persönlich erleben mussten, wir können nur erahnen, was Sie empfinden – liebe Margot Friedländer, lieber Otto Dov Kulka, lieber Leon Schwarzbaum -, wenn Sie in diese Augen sehen. Wir können nur erahnen, was es bedeutet, wenn einem das eigene lebensprägende Leid in den dürren Zeilen eines Besprechungsprotokolls begegnet. Wir können nur erahnen, wie sehr eine Wunde schmerzt, die auch die Zeit nicht heilen kann. Was uns vielleicht verbindet, ist eine Scham, die Primo Levi – Auschwitz-Häftling mit der Nummer 174517 – in seinem Bericht „Die Atempause“ beschrieben hat: eine Scham, die er im beredten Schweigen der ab dem 27. Januar 1945 in Auschwitz eintreffenden sowjetischen Soldaten erkannte. Ich zitiere: „Sie grüßten nicht, lächelten nicht; sie schienen befangen, nicht so sehr aus Mitleid, als aus einer unbestimmten Hemmung heraus, die ihnen den Mund verschloss und ihre Augen an das düstere Schauspiel gefesselt hielt. Es war die gleiche wohlbekannte Scham, die uns nach den Selektionen und immer dann überkam, wenn wir Zeuge einer Misshandlung sein oder sie selbst erdulden mussten: jene Scham, die die Deutschen nicht kannten, die der Gerechte empfindet vor einer Schuld, die ein anderer auf sich lädt und die ihn quält, weil sie existiert, weil sie unwiderruflich in die Welt der existenten Dinge eingebracht ist und weil sein guter Wille nichts oder nicht viel gilt und ohnmächtig ist, sie zu verhindern.“ Wenn wir heute gemeinsam der rund sechs Millionen Juden gedenken, die der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie zum Opfer fielen, wenn wir – im Vorfeld des Jahrestages der Auschwitz-Befreiung – all jener Menschen gedenken, denen die Nationalsozialisten ihre Rechte, ihre Würde, ihre Seele nahmen, dann steht – so jedenfalls empfinde ich es – auch diese fassungslose Scham mit im Raum, die Primo Levi einst beschrieben hat: die Scham vor einer Schuld, die uns quält, „weil sie existiert, weil sie unwiderruflich in die Welt der existenten Dinge eingebracht ist“ – und weil so viele ohnmächtig waren, sie zu verhindern. Es waren und sind bis heute vor allem die Berichte der Zeitzeugen, die im Erinnern an den Zivilisationsbruch des Holocaust nicht nur Wissen vermitteln, sondern in besonderer Weise auch das moralische Empfinden ansprechen. Dieses moralische Empfinden – das Gefühl, dass das Geschehene uns nahe geht, dass es uns auch persönlich etwas angeht – brauchen wir für eine lebendige und fortdauernde Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur. Wir brauchen es, um der immerwährenden Verantwortung für die Erinnerung an die Opfer gerecht zu werden, die das von Deutschen verschuldete, unermessliche Leid und Unrecht uns auferlegt. Deshalb finde ich es unerträglich – ja, widerlich -, dass neue politische Kräfte in unserem Land, wie vorgestern in Dresden wieder geschehen, gerade unsere Erinnerungskultur, an der unsere Gesellschaft und unsere Demokratie gereift sind, gerade diesen so sensiblen Bereich für parteipolitische Zwecke missbrauchen – dass dort, wo wir einen so großen Konsens zwischen Bürgergesellschaft und Politik erleben, dass dort, wo es um die Aussöhnung mit – noch lebenden – Opfern geht, Zwietracht gesät wird. Im Umgang mit unserer bitteren jüngeren Geschichte darf nicht Hetze, sondern muss Behutsamkeit die Tonlage bestimmen. Weil es immer weniger Zeitzeugen gibt und immer mehr Menschen, die – jung oder eingewandert – die Verstrickung in den Nationalsozialismus nie als Teil ihrer Familiengeschichte erlebt haben, werden alternative Wege der Annäherung an das Geschehene immer wichtiger. Deshalb bin ich dankbar, dass die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz – nicht zuletzt mit der aus meinem Etat geförderten Entwicklung einer neuen Dauerausstellung ihrem hervorragenden Ruf als Lernort mit innovativen und differenzierten Ansätzen der Vermittlung alle Ehre macht, so wie zahlreiche andere Gedenkstätten und Erinnerungsorte. Das 25-jährige Bestehen des ersten zentralen Erinnerungsortes für den Holocaust im wiedervereinten Deutschland, lieber Herr Dr. Jasch, nehme ich gerne zum Anlass, Ihnen und Ihrem Team für Ihre großartige, engagierte Arbeit herzlich zu danken. Auf die Unterstützung durch die Bundesregierung können Sie weiterhin zählen. Durch unsere Förderung der Gedenkstättenarbeit und der Aufarbeitung wollen wir auch in Zukunft zu einer lebendigen Erinnerungskultur beitragen. Lebendige Erinnerungskultur ist mehr als rituelle Vergegenwärtigung des Vergangenen. Lebendige Erinnerungskultur heißt, dass die Erinnerung uns nahe geht, dass das Geschehene – mag es auch 75 Jahre zurück liegen – uns auch persönlich etwas angeht. Aus einem schlichten Grund: weil auch die Schuldigen Menschen waren wie wir. Und heute? Wir sehen und hören, wie Ressentiments gegen anders Denkende, anders Glaubende, anders Aussehende, anders Lebende geschürt werden. Wir spüren, wie Stimmung gemacht wird gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Vielfalt und Freiheit. Wir erleben, wie eine Sprache, deren Augen im Mitmenschen den Menschen nicht sehen, das moralische Empfinden verstümmelt. Wir, die wir heute in einem demokratischen Rechtsstaat leben, wir sind nicht ohnmächtig, all das zu verhindern. Was aber schützt uns davor, zu lange zu schweigen, vom Wegseher zum Mitläufer zu werden, und irgendwann gar Rädchen im Getriebe, wenn die Verhältnisse sich ändern? Die Erinnerung an den 20. Januar 1942 verweist nicht nur auf eine gnadenlos effiziente Tötungsmaschinerie. Sie lässt auch erahnen, wie vieler Rädchen im Getriebe es bedurfte, um diese Maschinerie zum Laufen zu bringen und am Laufen zu halten. Die schonungslose Auseinandersetzung damit ist uns lange schwergefallen – und bis heute gibt es blinde Flecken in der Aufarbeitung. Gerade einmal knapp zwei Monate ist es her, dass eine Verurteilung wegen Beihilfe zum massenhaften Mord in Auschwitz erstmals höchstrichterlich bestätigt wurde. Der Verurteilte Oscar Gröning hatte als „Buchhalter von Auschwitz“ das Geld der verschleppten Juden verwaltet und die Ankunft der Transporte mitbeaufsichtigt. Nach dem Urteil des BGH bedarf es nun in solchen Fällen für einen Schuldspruch nicht mehr des Nachweises einer Beteiligung an konkreten Morddaten. Schuldig ist auch, wer als kleines Rädchen im Getriebe zum reibungslosen Ablauf beigetragen hat. Denn die Nationalsozialisten konnten, was hier in Wannsee besprochen wurde, nur umsetzen, „weil ihnen – ich zitiere den BGH – eine derart strukturierte und organisierte industrielle Tötungsmaschinerie mit willigen und gehorsamen Untergebenen zur Verfügung stand“. So warnt uns die Erinnerung an den 20. Januar 1942 eindringlich davor, zu schweigen und still zu halten, wenn Menschen bedroht, ausgegrenzt und entwürdigt werden. Halten wir die Erinnerung lebendig! Möge sie uns schützen vor der ebenso bequemen wie verantwortungslosen Haltung, dass es auf das Handeln des einzelnen nicht ankommt!
Bei der Gedenkveranstaltung hat Kulturstaatsministerin Grütters die Verantwortung jedes Einzelnen betont. Die Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten lasse erahnen, wie vieler Rädchen im Getriebe es bedurfte, um sie am Laufen zu halten. Die Erinnerung an den 20. Januar 1942 „warnt uns eindringlich davor, zu schweigen und still zu halten, wenn Menschen bedroht, ausgegrenzt und entwürdigt werden“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Deutsch-Italienischen Wirtschaftskonferenz am 18. Januar 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-deutsch-italienischen-wirtschaftskonferenz-am-18-januar-2017-483078
Wed, 18 Jan 2017 14:23:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Paolo, sehr geehrte Minister, meine Damen und Herren, Ende März – der Ministerpräsident hat soeben darauf hingewiesen – feiern wir „60 Jahre Römische Verträge“. Die Gruppe derer, die damals, im Jahre 1957, dieses Dokument unterzeichnet haben, war noch überschaubar. Neben Deutschland gehörten Italien, Frankreich und die Beneluxstaaten dazu. Dass der Schauplatz dieser historischen Stunde damals Rom war, unterstreicht, welches Gewicht Italien für Europa hatte und hat. Bundeskanzler Konrad Adenauer sagte damals: „Europa hätte keinen bedeutsameren Rahmen für diese Konferenz finden können als diese seine ehrwürdigste Stadt.“ Als Gründerstaaten wissen Italien und Deutschland, wie umfassend wir von den Vorteilen der europäischen Integration profitieren: durch freies Reisen und freien Handel, durch eine gemeinsame Währung, durch unsere vielfältigen Beziehungen und die vielen persönlichen Begegnungen. Europa sichert uns Frieden, Stabilität und Wohlstand, wie es sich viele andere Regionen weltweit wünschen würden. Europa steht für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für eine freie und offene Welt. Bei allen Unterschieden teilen wir gemeinsame Werte. Es lohnt sich in diesen Tagen, das, was uns oft sehr selbstverständlich vorkommt, noch einmal zu wiederholen. Denn wir spüren, dass wir um das, was uns selbstverständlich vorkommt, doch wieder kämpfen müssen, das wieder erarbeiten müssen und uns dessen vergewissern müssen. Vielleicht ist es ja so, dass sich jede Generation auch wieder neu vergewissern muss: Was ist uns wichtig, was ist uns etwas wert? Ich darf aus den Gesprächen mit Paolo Gentiloni heute sagen, dass wir hierbei jedenfalls eine vollkommen gemeinsame Basis haben. Ohne die Vorteile des geeinten Europas zu leben, sollten wir uns lieber gar nicht vorstellen. Das bedeutet aber auch: Wir müssen den Blick nach vorne richten. Die Bürgerinnen und Bürger Europas sollen erfahren können, dass auch angesichts neuer Herausforderungen gilt: Zusammen geht es besser. Das bedeutet natürlich auch, dass entsprechende Ergebnisse vorliegen müssen. Dazu gehören vor allen Dingen auch zukunftsfähige und qualitativ gute Arbeitsplätze für die Menschen. Wir hören aber Zweifel. Das Referendum in Großbritannien war so etwas wie ein Weckruf für die anderen 27 Mitgliedstaaten. Wir haben gestern noch etwas mehr über die Vorstellungen gehört, was den Austritt Großbritanniens anbelangt. Mir ist es aber sehr wichtig, dass wir die nächsten Jahre nicht nur mit Austrittsverhandlungen verbringen, sondern dass wir uns auch über die Zukunft der 27 entschieden Gedanken machen. Diese heutige Konferenz ist ja ein Beispiel dafür, wie wir an die Zukunft denken. Es ist auch sehr wichtig, dass es während der Austrittsverhandlungen mit Großbritannien nicht zu einer Rosinenpickerei kommt, durch die es manch einem zum Schluss attraktiv erscheinen könnte, auch nicht mehr Mitglied in der Europäischen Union zu bleiben. Das heißt: Der Zugang zum Binnenmarkt ist vor allem an die vier Grundfreiheiten gekoppelt. Die Rede der Premierministerin Theresa May gestern hat ja gezeigt, dass man das auch auf Seiten Großbritanniens weiß. Es liegt in unseren Händen, Europa wettbewerbsstark, krisenfest und handlungsfähig zu gestalten. Wir müssen ehrlicherweise zugeben, dass wir das in der Vergangenheit nicht in allen Bereichen in ausreichendem Maße geschafft haben. Deshalb geht es darum, sich in den nächsten Jahren auf der europäischen Ebene vor allen Dingen auf die Punkte zu konzentrieren, die essenziell sind, und sich nicht zu verzetteln. Wir haben in Bratislava als Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten bereits Schwerpunkte gesetzt. Dabei geht es unter anderem um die Sicherung unserer Außengrenzen und um die gemeinsame Integrations- und Flüchtlingspolitik. In unseren Gesprächen heute war dies ein Thema und hat einen breiten Raum eingenommen – auch weil wir an die Europäische Union und an alle Mitgliedstaaten die Botschaft senden müssen, dass dies nicht eine Aufgabe von drei oder vier Staaten sein kann, sondern dass dies eine Aufgabe aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist, die an dem Freizügigkeitsmodell – das beinhaltet, dass wir keine oder nur temporäre Kontrollen der Binnengrenzen haben – auch weiterhin teilhaben wollen. Wir brauchen eine ehrgeizige Handelspolitik. Und wir brauchen natürlich auch eine Antwort auf die großen Fragen der Innovation und Entwicklung. Wir müssen angesichts von Globalisierung und Digitalisierung unter Beweis stellen, welchen Mehrwert es hat, in Europa gemeinsam zu handeln. Da ist das Stichwort „digitaler Binnenmarkt“ aus meiner Sicht ein sehr wesentliches. Italien und Deutschland werden bei der Entwicklung dieses digitalen Binnenmarkts sehr gut zusammenarbeiten. Die heutige Konferenz ist ja ein Beispiel dafür. Ich habe gerade mit Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel darüber gesprochen, dass wir auch sehr gerne dem Vorschlag Italiens folgen können, solch eine Konferenz auch zusammen mit Frankreich zu veranstalten. Wir hatten deutsch-französische Zukunftskonferenzen, wir haben jetzt eine deutsch-italienische Konferenz – und man könnte auch einmal zu dritt eine Konferenz veranstalten und die gemeinsame wirtschaftliche Stärke herausstellen. Was die Gestaltung der Globalisierung betrifft, sind Italien und Deutschland in diesem Jahr auch durch zwei Präsidentschaften verbunden: Italien hat die G7-Präsidentschaft, wir haben die G20-Präsidentschaft. Während dieser G20-Präsidentschaft wird es im Übrigen zum ersten Mal ein Digitalisierungsministertreffen geben. Auch das ist eine Antwort auf neue technologische Herausforderungen. Auch die heutige Wirtschaftskonferenz ist natürlich ein guter Weg und eine gute Möglichkeit, einmal herauszustellen, welche Potenziale der Digitalisierung vorhanden sind und wie sie von den Unternehmen genutzt werden – um den Titel dieser Wirtschaftskonferenz noch einmal aufzurufen. Genauso wie der italienische Ministerpräsident möchte ich Wert darauf legen, dass es darum geht, die Chancen der neuen technologischen Entwicklungen zu sehen und zu nutzen und die Risiken, die es natürlich auch gibt, in den Griff zu bekommen, weil sonst der Mehrwert der Digitalisierung von den Menschen nicht verstanden wird. Ich glaube, dass gerade auch Länder mit einer großen industriellen Basis – Italien hat das; und Deutschland hat das auch – besondere Stärken haben, aber auch in besonderer Weise gefragt sind, wenn es um den Einzug der Digitalisierung in die industrielle Fertigungsprozesse geht. Wir nennen das Industrie 4.0. Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren eine breite digitale Agenda bearbeitet und wird das natürlich auch weiterhin tun. Ich glaube, dass Deutschland und Italien hierbei auch Schrittmacher für andere europäische Länder sein können. Wenn wir die Möglichkeiten neuer Technologien ausloten wollen, dann sollten wir auch aus den Vorzügen eines großen Marktes, nämlich des größten Binnenmarktes der Welt, Nutzen ziehen. Deshalb ist es wichtig, dass wir, wenn wir einen digitalen Binnenmarkt schaffen, mit der Infrastruktur beginnen. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union arbeiten an einem nationalen Ausbau der Infrastruktur, aber es gibt diesbezüglich auch erhebliche Förderprogramme der Europäischen Union. Auch der Juncker-Fonds sieht solche Beiträge vor. Mein Vorschlag wäre, dass wir, gerade wenn wir den Juncker-Fonds verlängern und erweitern, den Ausbau der digitalen Infrastruktur als eine Priorität ansehen und als einen Schwerpunkt nehmen. Wenn es um die Übertragung von Daten in Echtzeit geht, brauchen wir den sogenannten 5G-Mobilfunkstandard. Da müssen wir grenzüberschreitend den gleichen Ansatz haben, ansonsten werden wir bei der Infrastruktur im Bereich der Digitalisierung wieder einen Flickenteppich haben. Das muss verhindert werden. Wir brauchen neben einer Glasfaserinfrastruktur also auch eine rasche technische Harmonisierung und eine harmonisierte Frequenzpolitik. Wenn wir über einen digitalen Binnenmarkt sprechen, dann ist ein wesentlicher Punkt, dass wir auch gleiche rechtliche Grundlagen haben, was das Verarbeiten von großen Datenmengen betrifft. In diesem Zusammenhang ist die Erarbeitung der Datenschutz-Grundverordnung ein wichtiger Punkt gewesen. Wir müssen aber aufpassen, dass wir die unbestimmten Rechtsbegriffe, die es in dieser Datenschutz-Grundverordnung noch zuhauf gibt, dann in der nationalen Anwendung gleichermaßen interpretieren. Das heißt, es wird eine sehr enge Zusammenarbeit unserer Datenschutzverantwortlichen und auch eine enge Zusammenarbeit derer geben müssen, die große Datenmengen verarbeiten. Ich plädiere auch dafür, dass wir weiter mit der Kommission darüber sprechen, ob unser Wettbewerbsrecht den Anforderungen an große digitale Unternehmen noch entspricht. Unsere Unternehmenslandschaft ist zu zersplittert im Vergleich mit anderen großen Akteuren auf der Weltbühne. Wir werden nicht müde, dies mit der Kommission immer wieder zu besprechen, denn nur schlagkräftige Unternehmen werden auch die Innovationskraft und die Investitionskraft haben, die wir in diesem Bereich brauchen. Natürlich hängen große Datenmengen und Datenschutz miteinander zusammen. Das heißt, Persönlichkeitsrechte müssen gewahrt werden, unsere Infrastrukturen und unsere digitalen Fähigkeiten müssen vor Cyberangriffen geschützt werden. Die Bundesregierung hat daher eine neue Cybersicherheitsstrategie ausgearbeitet. Auch in Sicherheitsfragen sollten wir uns sehr eng abstimmen, denn der Cyberraum ist ein Raum ohne Grenzen. Wir können sicherlich auch hierbei voneinander lernen. Es gibt Sorgen im Zusammenhang mit der Digitalisierung gerade auch bei den Menschen, die zum Beispiel in der Industrie arbeiten. Deshalb stellt sich die Frage: Wie können wir disruptive Entwicklungen verhindern; und wie können wir die Entwicklungen zukunftsfest gestalten, ohne dass Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren? In diesem Zusammenhang sind Weiterbildung, Fortbildung und lebenslanges Lernen ein Thema, das uns alle beschäftigt. Wir werden die Arbeitswelt neu durchdenken müssen. Unsere Arbeits- und Sozialministerin hat ein Weißbuch zum Thema „Arbeiten 4.0“ herausgegeben. Aber wir sind noch längst nicht am Ende unserer Diskussion, um völlig neue Anforderungen an die Arbeitswelt auch wirklich aufnehmen zu können. Weil wir eine solche Dynamik bei Innovationen haben, sind natürlich die Themen Bildung und Forschung von entscheidender Bedeutung. Kinder wachsen in ein vollkommen neues Zeitalter hinein, weshalb wir auch qualifizierte Lehrer brauchen, die den Kindern schon die Technologie der Zukunft nahebringen können. Wir müssen auch in unsere Forschungslandschaft – ob universitär oder außeruniversitär – nachhaltig und verlässlich investieren. Für Deutschland besagen die Zahlen von 2015, dass die Unternehmen mit weit über 62 Milliarden Euro so viel wie nie in Forschung und Entwicklung investiert haben. Zusammen mit den staatlichen Investitionen in Forschung und Entwicklung, die auch deutlich gestiegen sind, haben wir drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht. Das hat auch dazu geführt, dass Deutschland wieder ein attraktiver und verlässlicher Ort geworden ist, an den durchaus auch Wissenschaftler zum Beispiel aus den Vereinigten Staaten zurückkehren und sich hier in die Forschung einbringen. Ich habe schon von der Schulbildung gesprochen. Diese fällt nicht in die Kompetenz der Bundesregierung, aber wir werden hierbei helfen müssen, um eine vernünftige Infrastruktur zu schaffen, damit Schülerinnen und Schüler auch digitale Fähigkeiten erlernen können. Ich denke, dass das Programmieren so wie Lesen, Schreiben und Rechnen eine der Grundfähigkeiten wird, die Kinder beigebracht bekommen sollten, um zu verstehen, was da vor sich geht. Meine Damen und Herren, was wir in Europa anschauen müssen – auch hierbei können Italien und Deutschland voneinander lernen –, ist auch die Frage: Wie entstehen neue Unternehmen – Start-ups? Berlin hat sich in dieser Frage zu einem spannenden Platz entwickelt. Wir brauchen aber gute Finanzierungsmöglichkeiten. Es gibt zum Beispiel eine gute Zusammenarbeit der italienischen Förderbank CDP, der deutschen KfW und dem Europäischen Fonds für strategische Investitionen. Ich denke, diese Zusammenarbeit müssen wir pflegen und entwickeln und sollten aus unseren Erfahrungen lernen. Ich glaube also, dass wir mit vereinten Anstrengungen und einem engen Austausch der Wirtschaft Europa in diesem Bereich voranbringen können. Wir wissen, dass wir keine Zeit zu verlieren haben, denn in vielen Bereichen ist Europa nicht Vorreiter der Digitalisierung. Alles, was mit Konsumentenprodukten zusammenhängt, ist sehr stark von Asien und von den Vereinigten Staaten von Amerika bestimmt. Deshalb ist die Frage, ob Digitalisierung in unserer Industrie stattfindet, nicht irgendeine Frage, sondern nach meiner festen Überzeugung eine Frage des Wohlstands und der Arbeitsplätze von morgen. Denn wenn wir mit unseren industriellen Fähigkeiten in Italien und in Deutschland in die Situation geraten, verlängerte Werkbänke von großen Internetunternehmen zu werden, die die Beziehungen zu den Kunden aufbauen, dann haben wir ein strukturelles Problem. Ich glaube, wir können die Digitalisierungschancen mit unseren Wirtschaftsfähigkeiten kombinieren. Das müssen wir entschieden voranbringen. Dazu müssen wir mit unserem Mittelstand nicht nur sprechen, sondern auch Angebote der Förderung machen. Der Bundeswirtschaftsminister hat das in vielen Bereichen, was Kompetenzzentren und die Zusammenarbeit mit Wirtschaftsverbänden anbelangt, getan. Die großen Unternehmen kennen ihre Aufgaben; die kleineren haben größere Schwierigkeiten, den Strukturwandel so schnell hinzubekommen. Deshalb brauchen wir eben auch eine gezielte staatliche Förderung, um unsere Wirtschaft fit zu machen. Globalisierung und Digitalisierung sind eng miteinander verknüpft. Deshalb werden sie auch in unseren Gipfeln, sowohl bei G7 als auch bei G20, eine Rolle spielen. Ich bin mir sicher, dass die Frage der Digitalisierung und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit ein Projekt sein kann, bei dem Europa seine Stärken im Miteinander, im gemeinsamen Agieren zeigt. Aber es liegt noch viel Arbeit vor uns. Für die Staats- und Regierungschefs genauso wie für die anderen Europäischen Räte ist immer wieder von großer Bedeutung: Wir müssen uns auf das Wesentliche konzentrieren, wir müssen manche Entscheidung schneller fällen und dann auch schneller gemeinsam umsetzen. Gerade auch bei der Digitalisierung wartet die Welt nicht auf uns. Wenn wir das Thema nicht entschieden in die Hand nehmen, dann verschlafen wir viel zu viel Zeit. Deshalb freue ich mich, dass diese Wirtschaftskonferenz heute dazu beiträgt, dass Deutschland und Italien ihre Stärken zeigen und besser miteinander kooperieren. Ich danke allen, die an der Vorbereitung und Gestaltung dieser Konferenz mitgewirkt haben. Herzlichen Dank.
in Berlin
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Neujahrsempfang der Industrie- und Handelskammer zu Köln am 16. Januar 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-neujahrsempfang-der-industrie-und-handelskammer-zu-koeln-am-16-januar-2017-480326
Mon, 16 Jan 2017 19:44:00 +0100
Köln
Sehr geehrter Herr Görg, sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Reker, sehr geehrter Herr Kardinal, meine Damen und Herren, Vertreter aus allen Bereichen der Politik und vor allem natürlich der Wirtschaft, es freut mich, heute beim Neujahrsempfang der IHK zu Köln mit dabei zu sein. Die Zugkraft einer Industrie- und Handelskammer mit mehr als 150.000 Mitgliedsunternehmen erscheint einer Wahlkreisabgeordneten aus Mecklenburg-Vorpommern geradezu gigantisch. Um schon allein das einmal zu erleben, bin ich gerne hierhergekommen. Ich bin auch sehr gerne hierhergekommen, weil Köln die Stadt Konrad Adenauers ist, dessen 50. Todestag und dessen 100. Jahrestag der Wahl zum Oberbürgermeister von Köln wir in diesem Jahr begehen. Ich bin auch entzückt, dass so eine Veranstaltung in der Karnevalszeit zustande kommt und Sie bereit sind, mir zuzuhören. Das ist auch schon etwas. – Ich komme aus dem hohen Norden, nicht wahr. Außerdem, Herr Görg, habe ich natürlich schon, bevor ich hierhergekommen bin, die Erkenntnisse geprüft, die ich erst bekommen sollte. Ich weiß, dass Sie für eine bestimmte Tradition stehen, die sehr viel über diese Stadt aussagt und weit in die Vergangenheit zurückreicht – bis in die Römerzeit, als Römer und Germanen hier nicht nur einen regen Handel betrieben, sondern sogar gerne miteinander feierten. Die Kölner erlebten im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder neue Herrschaftsverhältnisse. Es kamen die Franken, es kam Napoleon, es kamen die Preußen – und mit ihnen immer wieder neue Bräuche, Traditionen und Tugenden, die die Stadt beeinflusst haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg, zur Zeit des Wirtschaftswunders, kamen dann auch Gastarbeiter, die kräftig mit angepackt haben. All das spiegelt sich im Gesicht dieser Stadt wider. Die Geschichte dieser Stadt spricht Bände über Weltoffenheit und Integrationskraft; und sie spricht vor allen Dingen über den Gewinn, der daraus immer wieder entstanden ist. Köln war immer eine Stadt, die sich dynamisch weiterentwickelte, auch weil Menschen aus unterschiedlichen Regionen hier zusammenlebten und arbeiteten. Ob als mittelalterliche Handelsmetropole am Rhein oder als moderne Medienstadt – Köln profitiert seit jeher von seiner Weltoffenheit. Dieses Gemeinsame von Weltoffenheit, lokaler Verbundenheit und starkem Zusammenhalt ist ein Markenzeichen Ihrer Stadt. Das macht es den Zugewanderten genauso wie den Einheimischen immer wieder leicht, Köln als Heimat zu bezeichnen. Deshalb möchte ich heute die Gelegenheit nutzen, mich von Herzen bei den vielen Menschen zu bedanken, die sich dafür einsetzen, dass jene, die in großer Zahl im letzten und im vorletzten Jahr zu uns nach Deutschland und auch nach Köln kamen, weil sie vor Krieg und Verfolgung geflohen sind, hier willkommen geheißen werden. Daran wurde und wird haupt- und ehrenamtlich gearbeitet. Ein herzliches Dankeschön. Genauso möchte ich mich bei allen Einsatzkräften, ganz besonders auch bei der Polizei, und allen Helfern bedanken, dass die Kölnerinnen und Kölner in diesem Jahr wieder ein friedliches Silvesterfest feiern konnten. Auch dafür ein ganz herzliches Dankeschön. Wir haben Konsequenzen aus den schlimmen Übergriffen in der Silvesternacht 2015 gezogen und auch rechtliche Veränderungen vorgenommen. Bei Delikten wie Körperverletzungen, Sexualstraftaten und Seriendiebstählen lassen sich die Täter inzwischen sehr viel leichter ausweisen. Auch eine Versagung der Anerkennung als Flüchtling ist nun leichter möglich. Ich meine, wir müssen dies tun – einerseits, um deutlich zu machen, dass wir unseren Rechtsstaat nicht nur haben, sondern dass wir ihn auch durchsetzen können, andererseits aber eben auch um der vielen Flüchtlinge willen, die wirklich aus Not zu uns gekommen sind. Beides ist gleichermaßen wichtig. Wir haben auch erhebliche Fortschritte bei der Bekämpfung illegaler Migration erreicht. In diesem Zusammenhang nenne ich nur ein Stichwort: das EU-Türkei-Abkommen. Zudem haben wir eine Vielzahl nationaler Maßnahmen ergriffen, die die Steuerung und Ordnung der Prozesse verbessern und die Asylverfahren beschleunigen. Wir wollen im ersten Halbjahr dieses Jahres alle offenen Asylverfahren abgearbeitet haben. Und wir haben bereits im Herbst des letzten Jahres die Registrierung all derer, die zu uns gekommen waren, abgeschlossen. Das heißt aber natürlich nicht, dass wir nicht mehr vor großen Herausforderungen stehen. Sie sind zweifach, wenn ich das so sagen darf. Das eine ist – das hat wieder etwas mit dem Rechtsstaat zu tun –, dass die, die nach einem rechtsstaatlichen Verfahren keine Anerkennung auf Asyl bekommen, wieder nach Hause zurückgehen müssen. Da haben wir noch viel Arbeit vor uns, auch was die Zusammenarbeit mit den Staaten anbelangt, aus denen diese Menschen kommen. Aber das ist notwendig, um auf der anderen Seite jene, die wirklich schutzbedürftig sind, in unserem Land integrieren zu können. Diese Integrationsaufgabe ist eine große Aufgabe. Ich möchte an dieser Stelle wieder auf Köln zurückkommen, auf die Erfolgsgeschichte, die sich hier an vielen Stellen zeigt, und möchte allen, die sich dafür einsetzen, noch einmal ein herzliches Dankeschön sagen. Ich bin dankbar dafür, dass die IHK zu Köln das als ein zentrales Thema erkannt hat. Ich weiß, dass das Handwerk das genauso tut – Herr Wollseifer ist heute auch hier – und dass viele zur Integration beitragen. Aber wir wissen auch: Das bedarf eines langen Atems. Diese Frage dürfen wir allerdings nicht mit dem Thema Fachkräftemangel und der Frage vermengen, was wir tun müssen, um ausreichend Fachkräfte zu haben. Herr Görg hat bereits darauf hingewiesen. Ich will nur darauf hinweisen, dass wir eine große Zahl von Fachkräften haben, die aus europäischen Mitgliedstaaten zu uns kamen. Aber wir werden weiter darüber sprechen. Wenn sich die Industrie- und Handelskammern genauso wie die Handwerkskammern mit dem einbringen, was sie sich wünschen, was sie unter einem Zuwanderungs- oder Einwanderungsgesetz verstehen, dann ist mir das herzlich willkommen. Für uns ist wichtig, dass ein Arbeitsplatz wirklich besetzt wird. Sie wissen, auch aus der Zeit der Gastarbeiter, wie schnell strukturelle Umbrüche kommen können. Sie wissen, dass es schnell dem Staat angelastet wird, wenn Menschen arbeitslos werden. Deshalb muss es auf einer nachhaltigen Grundlage beruhen, wie der Fachkräftebedarf gedeckt wird. Insofern sind wir durchaus gesprächsbereit, auch wenn – das sage ich ganz offen – meine Partei sich hierbei manchmal etwas schwer tut. Aber wir wissen durchaus, dass hinreichend Fachkräfte wirklich notwendig sind. Aber zurück zu den Flüchtlingen. Das Erlernen der deutschen Sprache – das ist in unserer hochqualifizierten Arbeitswelt natürlich eine große Herausforderung – ist notwendig. Das dauert eine gewisse Zeit. Ich werbe immer wieder dafür, sich einmal vorzustellen, man sei selber aus Afghanistan oder Syrien gekommen und stoße auf unsere hochentwickelte Bürokratie. Dann würde auch nicht sofort alles eingängig sein, was hier stattfindet. Das heißt, auch hierbei braucht man Begleitung, Hilfe und Erklärung. Vielleicht fällt uns dann auf, was wider den gesunden Menschenverstand abläuft. Insofern sollten wir ein bisschen toleranter sein und uns auch überlegen, ob wir manchmal etwas besser machen können. Aber den Zugang zum Arbeitsmarkt haben wir erleichtert. Wir haben in fast allen Arbeitsagenturbezirken die Vorrangprüfung abgeschafft. Ich kann alle, die im vergangen Jahr schon einmal versucht haben, einen Flüchtling einzustellen, nur ermuntern, das noch einmal zu versuchen, weil die Abschaffung der Vorrangprüfung wirklich eine Riesenverbesserung ist. Und wir haben nun auch, wie ich glaube, besser akzeptierte und praxisnähere Fördermöglichkeiten zur Aufnahme einer Berufsausbildung. Ich darf Ihnen sagen, dass die Bundesagentur für Arbeit sehr aufmerksam verfolgt, welche Wünsche aus der Wirtschaft an sie gerichtet werden. Wir haben Wirtschaftsvertreter bei unseren regelmäßig stattfindenden Runden Tischen, die ich selber leite, mit dabei. Sie können sich dort jederzeit einbringen, wenn ihnen etwas auffällt, was systemisch nicht richtig läuft. Denn wir wollen ja alle erfolgreich sein. Wir sind in einer Zeit, in der wir sagen können, dass die deutsche Wirtschaft relativ solide dasteht. Das ist eine Momentaufnahme; das wissen wir. Trotzdem darf man sagen: Bei knapp zwei Prozent Wachstum, einer relativ geringen Arbeitslosigkeit, der geringsten seit 1991, bei einem Rekord bei der Erwerbstätigkeit und einer soliden Haushaltslage ist der Ist-Zustand jedenfalls so, dass man darauf aufbauen kann. Aber wir wissen, dass vieles zu tun ist, weil die Momentaufnahme von heute wenig über das aussagt, was morgen und übermorgen sein wird. Sie haben von Rahmenbedingungen gesprochen, Herr Görg. Ich will darauf eingehen. Die Verkehrsinfrastruktur spielt eine große Rolle. Ich bin seit Anfang der 90er Jahre – damals war ich in Bonn – daran gewöhnt, dass der Kölner Ring nie fertig ist. Das ist vielleicht das Gleiche wie mit dem Kölner Dom. Nichtsdestotrotz könnte er „fertiger“ sein, als er es ist. Das, was wir jetzt erleben, ist in der Tat das, was auch Sie mit Blick auf Köln geschildert haben: Der Bundesfinanzminister bekommt permanent Geld zurück, weil die Investitionssummen, die wir zur Verfügung stellen, nicht gänzlich abfließen. Das gilt nicht nur für den Verkehrsinfrastrukturbau, das gilt auch für den Ausbau von Kindertagesstätten und für unsere kommunalen Unterstützungen insgesamt. Wir haben also ein Riesenproblem. Das liegt an vielen Stellen an den nicht vorhandenen Planungskapazitäten, die also wachsen müssten. Und das liegt – das will ich nicht verhehlen – zum Teil auch an einer differenzierten Betrachtungsweise, was den Bau von Verkehrsinfrastrukturprojekten angeht. Wir haben aber in der Tat einiges in die Wege geleitet. Wir haben eine Verkehrsinfrastrukturgesellschaft gegründet. Die Diskussionen mit den Ländern darüber waren mühsam, aber ich glaube, wir kommen voran. Ich bin grundsätzlich auch offen für PPP-Projekte, wenngleich man immer schauen muss, welche Haushaltsauswirkungen sie für den Bundesfinanzminister haben. Wir haben uns sehr viele Gedanken über die Frage gemacht, wie wir Instanzenwege einschränken können. Ich darf Ihnen sagen, dass der Bundesverkehrsminister die gute Idee hat, dass er Projekt für Projekt, so wie wir es bei den Projekten Deutsche Einheit hatten, schauen will, ob wir – nicht generell für alle Bundesverkehrsinfrastrukturprojekte, aber für besonders dringliche – den Instanzenweg verringern können, also bei Klagen einen Instanzenweg einsparen. Ich denke, das wäre wichtig. Die Oberbürgermeisterin hat mir, während Sie sprachen, gesagt, dass die bundesweit bekannte Rheinbrücke in Leverkusen nunmehr so gebaut wird, dass die Priorität auf einem schnellen Fertigwerden und nicht auf möglichst vielen Planänderungen liegt. Ich meine, auch das ist eine wichtige Sache. Wir setzen seitens des Bundes für die Brückenmodernisierung bis 2020 knapp drei Milliarden Euro ein. Im Augenblick haben wir wirklich das Problem, dass es kaum planungsfertige Verkehrsinfrastrukturprojekte gibt, sodass alle, die mit der Planung fertig werden, beste Chancen haben, vom Bund die entsprechende Unterstützung zu bekommen. Meine Damen und Herren, heutzutage soll nicht nur der Verkehr fließen, auch die Daten sollen fließen. Das heißt, das Thema Digitalisierung ist wichtig. Wir haben im Zusammenhang mit den Bund-Länder-Finanzverhandlungen seitens des Bundes etwas erreichen können, was ich für sehr wichtig halte, nämlich eine Grundgesetzänderung mit Blick auf das Kooperieren von Bund und Ländern und eines Tages auch mit den Kommunen, um Bürgerportale einrichten zu können. Damit soll jeder Bürger seine Geschäfte mit dem Staat so abwickeln können, dass er nicht erst fragen muss, ob jetzt die Kommune, das Land oder der Bund zuständig ist. Es soll einen einheitlichen Zugang zu allen Verwaltungsvorgängen geben, die dann digital abgearbeitet werden können. Das wollen wir in der nächsten Legislaturperiode schaffen. Eine solche Zielsetzung ist nicht nur wichtig, weil dies einfach zu einem modernen Staat gehört, sondern sie ist auch wichtig, um die Menschen mit Digitalisierung mehr vertraut zu machen. Wir sind ein Land, dessen Altersaufbau sich so ändert, dass wir im Durchschnitt älter werden. Das spricht im Allgemeinen – Anwesende ausgenommen – dafür, dass die Innovationsfreude und die Neugierde auf Neues nicht größer werden. Deshalb müssen wir schauen, dass wir unsere im Durchschnitt älter werdende Bevölkerung immer wieder mit technischen Innovationen vertraut machen – vom Schulalter an über lebenslanges Lernen bis ins hohe Alter. Das spielt für uns eine große Rolle. Wirtschaft und Digitalisierung – das ist heute nicht nur ein wichtiges Schlagwort, sondern das ist mit der Industrie 4.0 Realität. Wir haben vieles unternommen, um mit unserer Digitalen Agenda voranzukommen. Es gibt nun zum Beispiel auch Kompetenzzentren für den Mittelstand und Förderprogramme. Ich weiß, dass auch Sie sich intensiv mit dieser Herausforderung auseinandersetzen. Auch das Handwerk tut viel. Ein großes Problem aber ist die Sicherheit. Wir erleben das jeden Tag. Wir haben daher eine neue Cyber-Sicherheitsstrategie entwickelt. Staat und Wirtschaft müssen enger kooperieren. Das ist sehr wichtig, da wir eine gemeinsame Verantwortung für das Funktionieren unserer Infrastruktur und unserer Wirtschaft tragen. Wir müssen gemeinsam dem Thema Sicherheit viel Aufmerksamkeit widmen. Bei Fragen der Digitalisierung kommt auch sehr schnell Europa ins Spiel. Wir werden in Zukunft Echtzeitprozesse haben, bei denen wir weitaus bessere Netze brauchen als die 50 Megabit pro Sekunde, die wir für jeden Haushalt bis 2018 haben wollen. Wir müssen im Gigabit-Bereich denken; und das tun wir auch. Das 5G-Netz muss ausgerollt werden; und zwar nicht nur deutschlandweit, sondern grenzüberschreitend, weil ansonsten der Binnenmarkt wenig wert ist. Wenn Sie zum Beispiel das autonome Fahren im Grenzbereich immer unterbrechen müssten, würde das nicht gerade für die Europäische Union sprechen. Deshalb ist digitale Kleinstaaterei das Letzte, das wir brauchen. Wir brauchen eine schnelle Entwicklung eines digitalen Binnenmarkts. Dafür ist jetzt auch eine Vielzahl von Vorkehrungen getroffen. Ich will Sie heute mit der EU-Datenschutz-Grundverordnung usw. in Frieden lassen, aber wir arbeiten die gesamte Agenda ab. Wir brauchen – da bitte ich Sie wirklich um Mithilfe; ich komme später noch auf die Mithilfe bei Handelsabkommen zu sprechen – das Verständnis, dass nicht Datenknappheit das Merkmal des 21. Jahrhunderts ist, sondern dass Big Data, dass große Datenmengen der Rohstoff der Zukunft sind, aus dem völlig neue Produkte entstehen. Deutschland wird die Digitalisierung nur meistern, wenn auch wir neue Applikationen, neue Datenverarbeitungsprozesse, Data-Mining-Prozesse und damit neue Produkte entstehen lassen können. Das ist für ganz Europa eine riesige Herausforderung. Deshalb muss die Balance zwischen der Arbeit mit großen Datenmengen und dem Datenschutz vollkommen neu gestaltet werden. Die Zeiten, als wir noch eine Rechtsprechung im Sinne der Datensparsamkeit hatten, sind vorbei. Trotzdem brauchen wir natürlich auch einen vernünftigen Datenschutz. Ich sage das alles vor dem Hintergrund, dass sich in den nächsten Jahren entscheiden wird, ob wir – das gilt für ganz Europa; und eben auch für Deutschland, das noch einen sehr hohen Anteil industrieller Wertschöpfung hat – bei dem Verschmelzen der Digitalisierung mit der realen Produktion vorn mit dabei sind. Gelingt es denen, die Produkte herstellen, die Kundenbeziehungen genauso gut zu gestalten wie den Internetunternehmen oder werden sie zu einer verlängerten Werkbank von Internetunternehmen, die die Kundenwünsche besser kennen? Das heißt, das Verhältnis zum Kunden wird der Punkt sein, an dem sich entscheidet, ob wir vorn mit dabei sind oder eben verlängerte Werkbank für andere werden, die das Kundenverhältnis gestalten. Die Schlacht ist noch nicht entschieden; das muss man ganz offen sagen. Es gibt sehr ermutigende Beispiele, aber es ist heute gar nicht so einfach, das genau festzustellen. Es gibt doch eine Reihe qualitativ neuer Entwicklungen, wenn ich nur alleine an den großen Bereich der Automobilindustrie denke. Sie spielt ja auch hier in Köln eine große Rolle. Wir haben im Grunde drei disruptive Entwicklungen zu verzeichnen. Das eine ist die Antriebstechnologie. Da ändert sich viel, wenn sich das Ganze einmal in Richtung eines Elektro- oder Wasserstoffautos entwickelt. Das Zweite ist der Weg zum autonomen Fahren. Und das Dritte betrifft die Frage: Will überhaupt noch jeder ein Auto besitzen oder geht es sehr viel mehr um das Teilen von Mobilität? Bei allen drei Entwicklungen muss man im Grunde permanent vorn mit dabei sein. Wir sollten nicht vergessen, dass von denen, die Kutschen hergestellt haben, nur einer den Sprung zur Automobilindustrie überlebt hat. Das muss uns von der heutigen Automobilindustrie hin zum Automobil des 21. Jahrhunderts besser gelingen als damals beim Umstieg von der Pferdestärke auf das Auto. Darin sind wir uns wohl alle einig. Das alles hat viel mit dem Wohlstandsversprechen der Sozialen Marktwirtschaft allgemein zu tun, das für viele Menschen nicht mehr so selbstverständlich ist, wie es jahrzehntelang war. Dass es meinen Kindern einmal besser geht als mir selbst – das war immer wieder das Wohlstandsversprechen, das aber in weiten Teilen Europas so nicht gegeben werden kann. Damit bin ich bei der Europäischen Union. Wir – die Bundesrepublik Deutschland – haben ein elementares Interesse an ihr, weil wir unsere wirtschaftliche Stärke und auch unser friedliches Zusammenleben am besten innerhalb der Europäischen Union gestalten können. Das, was Helmut Kohl immer gesagt hat, gilt heute nach wie vor. Europa ist nach wie vor auch eine Frage von Krieg und Frieden. Ich erlebe immer wieder, wie schnell doch Vorurteile wiedererstehen, wenn man Europa nicht immer weiterentwickelt. Schnell ist gesagt: „Die Griechen, die Italiener; das haben wir schon immer gewusst.“ – Diese wiederum sagen: „Die Deutschen kannten wir auch schon immer.“ Es geht ganz schnell, dass wieder Vorurteile hervorkommen. Deshalb müssen wir für ein erfolgreiches Europa arbeiten. Aber ich glaube, hier in Köln heißt das eigentlich, Eulen nach Athen zu tragen. – Ich weiß nicht, ob Sie dafür auch ein Kölner Sprichwort haben. Sonst müsste man vielleicht eines erfinden. Wir erleben also ein Europa, das durchaus Tendenzen der Verunsicherung aufweist. Das Referendum in Großbritannien hat uns alle tief erschüttert. Das ist ein tiefer Einschnitt für die Zukunft der Europäischen Union. Wir müssen jetzt alles daransetzen, zwei Dinge zu tun. Erstens müssen wir weiterhin gute Beziehungen zu Großbritannien pflegen. Es gibt viele Gründe dafür, nicht nur Handelsverflechtungen. Wir sind Partner in der NATO. Wir sind einander freundschaftlich verbunden. Großbritannien als ein Land mit einer großen Handelstradition hat sich immer für eine offene Gestaltung der Globalisierung eingesetzt. Wir haben allen Grund, uns in vielen Bereichen weiter an Großbritannien zu orientieren. Zweitens darf aber der Austritt Großbritanniens nicht dazu führen, dass die EU der 27 in Gefahr gerät. Deshalb gilt bei aller Freundschaft: Ein vollständiger Zugang zum EU-Binnenmarkt kann nur gewährt werden, wenn die vier Grundfreiheiten – die Personenfreizügigkeit, die Freiheit des Waren-, des Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs – gewährleistet sind. Wenn sie nicht gewährleistet sind, dann müssen wir Verhandlungen mit Großbritannien führen, die keinen vollständigen Zugang zum EU-Binnenmarkt beinhalten. Ich bitte Sie als Vertreter der Wirtschaft, hierbei mit uns gemeinsam zu handeln. Denn wenn sich einmal herausstellt, dass man den vollständigen Zugang zum EU-Binnenmarkt auch bekommen kann, wenn man sich nur bestimmte Dinge aussucht, dann wird der Binnenmarkt, der unser großer Vorteil ist, als solcher sehr schnell in Gefahr geraten, weil sich jedes Land dann seine Rosinen herauspickt. Das muss verhindert werden. Deshalb müssen Politik und Wirtschaft hierbei gemeinsam agieren. Natürlich ist die Stärke Europas, der Zusammenhalt der Europäischen Union, auch wichtig mit Blick auf das Durchsetzen unserer globalen Forderungen. Wir agieren im Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten von Amerika, mit China mit einer Bevölkerung von weit über einer Milliarde Menschen, mit Indien. Nur eine gemeinsame Haltung der Europäischen Union wird unseren Forderungen auch wirklich Gewicht verleihen. Es ist in der Tat so – das ist ja auch in der Rede von Herrn Görg angeklungen –, dass wir in einer entscheidenden Phase sind. Setzen wir uns einmal etwas mehr als ein Vierteljahrhundert zurück, in die Jahre 1989/90. Wir hatten uns gefreut, dass der Eiserne Vorhang gefallen ist, dass die Deutsche Einheit gelungen ist, dass Europa wieder zusammengewachsen ist und die Freiheit auf dem Siegeszug war. Jetzt, etwas mehr als ein Vierteljahrhundert später, stellen sich Fragen wie: Ist das richtig mit der Freiheit, mit der Offenheit im Handel, in den politischen Systemen? Liberale Demokratie – ist sie wirklich wichtig oder muss man einen protektionistischen, auf bestimmte Gruppen ausgerichteten und beschränkten politischen Weg gehen? Es zeigt sich, dass Geschichte kein Selbstläufer ist, sondern dass Generation für Generation immer wieder für Ideale gestritten werden muss. Das war in der Vergangenheit immer wieder so. Geschichte war nie ein Zeitstrahl, auf dem entlang sich alles positiv weiterentwickelt hat, sondern man musste immer wieder für seine Ideale kämpfen. Ich habe den Eindruck, wir sind wieder an einem Scheidepunkt. Wenn wir an die Zeit Konrad Adenauers und der Entstehung des Grundgesetzes denken, dann wird uns auch bewusst, dass in Artikel 1 unseres Grundgesetzes eigentlich schon das Wesentliche niedergelegt ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Aus der Einzigartigkeit jedes Menschen entwickelt sich die gesamte Philosophie unserer Wertebasis, unseres Zusammenlebens, unseres Wirtschaftens. Die Menschen sind unterschiedlich. Ich habe lange genug in einem System gelebt, in dem aber das Ziel war, alle gleichzumachen. Das klappt nicht. Das haben wir eigentlich genügend ausprobiert. Alle Aufgaben, die sich der Staat vornimmt, um Vielfalt durch staatliche Vorgaben zu reduzieren, sind sehr endlich. Aber die Erfahrung mit der Sozialen Marktwirtschaft hat auch gezeigt: Damit alle eine faire Chance haben, brauchen wir durchaus politische Leitplanken. Ohne Politik geht es eben auch nicht. Spätestens die internationale Finanzkrise 2008/2009 hat uns gezeigt: Globalisierung ohne bestimmte Regeln zum Beispiel für die Finanzmärkte wird auch nicht gutgehen. Dafür haben wir alle den Preis bezahlt. Jetzt, wenige Jahre nach der internationalen Finanzkrise, sehen wir als G20, als das Gremium der 20 Staats- und Regierungschefs der größten Wirtschaftsnationen der Welt, dass man die Krise im Grunde bewältigt hat – und zwar durch Kooperation, durch Offenheit, durch Abbau von Protektionismus –, aber dass wir schon jetzt wieder an einem Punkt angelangt sind, an dem wir um Offenheit kämpfen und ringen müssen. Ich bin da sehr entschieden, aber die Zahl derer, die Zweifel anmelden, wird größer. Deshalb müssen wir alle miteinander intensiv werben. Es kann auch sein, dass man nicht sofort Erfolge sieht. Dann dürfen wir uns aber nicht entmutigen lassen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das Konzept der Offenheit – ich habe es am Anfang gesagt: Köln ist ein Paradebeispiel dafür –, das Prinzip des Sich-Auseinandersetzens mit den Wettbewerbern, des Voneinander-Lernens, des Akzeptierens von Wettbewerb und nicht das Ausschalten von Wettbewerb für die Entwicklung der Menschheit insgesamt das Beste ist – und für den Wohlstand in Deutschland eben auch. Zur Ausgestaltung des globalen Miteinanders gehören Handelsregeln – entweder über die Welthandelsorganisation für alle oder bilaterale Handelsabkommen. Ich stimme Ihnen zu, es war schon eine Kraftanstrengung erster Ordnung, allein ein Freihandelsabkommen mit Kanada zu erreichen. Ich sage einmal: Die EU hat sich dabei nicht nur mit Ruhm bekleckert. Aber irgendwie haben wir es dann ja noch geschafft. Das ist aber mindestens so wichtig mit Blick auf die Vereinigten Staaten von Amerika und mit Blick auf andere Regionen. Wenn Sie sich unser letztes abgeschlossenes Freihandelsabkommen, das mit Südkorea, anschauen, können Sie ganz genau beweisen, dass sich der Handel und damit auch die Sicherung von Arbeitsplätzen für beide Seiten erheblich verbessert haben. Wir werden diesen Weg fortsetzen. Jetzt geht es um die Argumentation. Hierbei will ich noch einmal das aufgreifen, was Herr Görg schon angesprochen hat. Früher ging es in Verhandlungen um Handelsabkommen im Wesentlichen um einen Abbau von Zöllen und sehr selten von nicht-tarifären Handelshemmnissen. Fragen zu Umweltschutz, Verbraucherschutz und sozialen Standards waren nicht Gegenstand der Verhandlungen. Ich habe das bedauert, zum Beispiel als ich Umweltministerin war, weil man beim Vergleich zum Beispiel verschiedener landwirtschaftlicher Produktionsweisen auch einmal schauen sollte, ob auch in anderen Ländern nachhaltige Landwirtschaft betrieben wird. Nun hat man aber begonnen, auf die Kritiker zuzugehen und Handelsabkommen richtigerweise für Umweltschutz, Verbraucherschutz und andere Standards zu öffnen. Doch in diesem Moment ist die Schlacht viel schwieriger geworden als zu Zeiten, in denen wir uns um diese Sachen nicht gekümmert haben. Das ist durchaus ein Paradoxon. Leider ist es so: Nachdem das Chlorhühnchen-Argument endlich entkräftet war, ist das Schiedsgericht als Thema aufgetaucht. So muss man damit rechnen, dass immer wieder neue Fragen auftauchen, weil es natürlich auch ein Stück weit ums Prinzip geht. Deshalb müssen wir mit Gewerkschaften, mit Unternehmern, mit Nichtregierungsorganisationen darüber sprechen, dass die Kombination von Finanzfragen, insbesondere Zöllen, mit nicht-tarifären Handelshemmnissen im Bereich Soziales, Verbraucherschutz und Umweltschutz genau das ist, was wir brauchen. Wenn hochentwickelte Länder wie die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada und wir in Europa gemeinsame Standards entwickeln, wird es der Rest der Welt schwer haben, unter diesen Standards zu bleiben. Deshalb ist es für mich überhaupt nicht nachvollziehbar, was für eine Schlacht wir da schlagen müssen. Aber wir müssen sie schlagen – aus Prinzip. Und ich bin dazu gerne bereit. Wie es der Zufall will, haben wir nicht nur ein in verschiedener Hinsicht interessantes Wahljahr, sondern wir haben auch die G20-Präsidentschaft inne, haben damit eine besondere Verantwortung und werden mit Blick auf den Gipfel im Juli in Hamburg alles tun, um möglichst vieles unserer Agenda erfolgreich durchzusetzen oder zumindest an manchen Stellen das Bestehende zu sichern. Auch das, muss man sagen, kann heute manchmal schon ein Erfolg sein. Aber ich bitte Sie wirklich, nicht aus kurzfristigen Opportunitätsgründen zu schnell von dem abzuweichen, was wir als grundlegend richtige und erfolgreiche Prinzipien erkannt haben. Wer nicht für seine Ideale, für seine Grundwerte eintritt, wer um des kleinen Vorteils willen kurzfristig die Grundlage aufgibt, der wird nicht dauerhaft erfolgreich sein. Uns stehen also durchaus spannende Zeiten bevor. Ich bin sehr gerne heute zu Ihnen gekommen, weil die Industrie- und Handelskammer zu Köln mit ihren Tausenden von Mitgliedern eine starke Truppe ist, um diesen Kampf gemeinsam zu gestalten – für die Menschen und für die freiheitlichen Grundprinzipien, die unser Land so erfolgreich gemacht haben. Konrad Adenauer und anderen Mitstreitern zu seiner Zeit wurde auch nicht permanent der rote Teppich ausgerollt, sondern sie mussten verdammt kämpfen. Warum soll uns das heute anders gehen? In diesem Sinne: viel Erfolg. Ihnen allen noch einen schönen Abend.
in Köln
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universitäten Gent und Löwen am 12. Januar 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verleihung-der-ehrendoktorwuerde-der-universitaeten-gent-und-loewen-am-12-januar-2017-603842
Thu, 12 Jan 2017 15:59:00 +0100
Brüssel
Sehr geehrte Rektorin de Paepe, sehr geehrter Rektor Torfs, sehr geehrter Herr Premierminister Michel, lieber Charles, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Bourgeois, meine Damen und Herren, liebe Studierende, dies ist ein sehr bewegender Moment für mich. Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen beiden, den Rektoren der beiden Universitäten, für die gemeinsame Laudatio bedanken. Es ist die erste Ehrendoktorwürde, die mir von zwei Universitäten gemeinsam verliehen worden ist – noch dazu von solch traditionsreichen Universitäten wie den Ihren. Löwen beheimatet eine der ältesten Universitäten Europas, die 1425 gegründet wurde. Die Universität Gent feiert in diesem Jahr ihr 200-jähriges Bestehen. Zu diesem Jubiläum möchte ich natürlich ganz herzlich gratulieren. Von dieser Stelle aus möchte ich auch Herman van Rompuy grüßen, der heute nicht unter uns sein kann, auch wenn er das eigentlich wollte. Ich habe ihm viel an europäischer Regierungskunst zu verdanken. In seiner Eigenschaft als Präsident des Europäischen Rates hat er alle seine politischen Erfahrungen, die er in Belgien gesammelt hat, mit eingebracht und uns aus allen Ländern Europas damit sehr geholfen, wenn ich das so sagen darf. Sie haben angesprochen, dass vieles von dem, worüber wir heute sprechen, vor dreißig Jahren nicht denkbar war. In der Tat, unser europäischer Kontinent hat in den vergangenen Jahrzehnten eine bewegende Geschichte erlebt. Der Kalte Krieg ist zu Ende gegangen. Deutschland konnte in Folge dieser Entwicklung seine Wiedervereinigung begehen, feiern und politisch gestalten. Wir haben gesehen, dass vieles, was undenkbar erschien, möglich wurde. Wir sehen heute, gut ein Vierteljahrhundert später, dass sich wieder neue Entwicklungen auftun, auf die wir unsererseits reagieren müssen. Aber natürlich will ich erst voranstellen, welche große Ehre mir heute auch als ehemaliger Wissenschaftlerin zuteilwird. Sie haben den Titel meiner Dissertation verlesen. Ich darf Sie beruhigen: Auch ich lese diese Dissertation mittlerweile eigentlich nicht mehr, sondern andere Bücher. Aber es hat damals trotzdem Spaß gemacht, das will ich ausdrücklich sagen. Naturwissenschaft ist auch schön, nicht nur Politik. Natürlich ist es für mich eine große Ehre, von zwei so renommierten Hochschulen ausgezeichnet zu werden. Ich hätte mir in der Tat nicht vorstellen können, einmal hier zu stehen. Hintergrund beider Universitäten ist die Verpflichtung dem humanistischen Ideal und der europäischen Idee gegenüber – ganz in der Tradition des großen europäischen Humanisten Erasmus von Rotterdam, der seinerzeit auch in Löwen tätig war. So können Sie, beide Universitäten, nicht nur stolz auf den Beitrag sein, den Sie in der Vergangenheit geleistet haben, sondern auch auf den Beitrag, den Sie heute zur Gestaltung unserer Zukunft leisten. Robert Cailliau, ein Alumnus der Universität Gent, hat beispielsweise einen Vorläufer des World Wide Web mitentwickelt. Seine Arbeit war bereits Anfang der 90er Jahre wegweisend für das erste webbasierte Projekt der Europäischen Kommission, das dann übrigens mit der Fraunhofer-Gesellschaft aus Deutschland durchgeführt wurde. Für mich ist die heutige Veranstaltung vor allem auch Ausdruck der Wertschätzung zwischen den Menschen in Belgien und Deutschland, zwischen Ihrem und meinem Land. Für diese besondere Geste der Freundschaft und Verbundenheit bedanke ich mich von Herzen – ganz besonders bei meinem Kollegen Charles Michel, stellvertretend natürlich auch beim Ministerpräsidenten, Herrn Bourgeois. Angesichts unserer gemeinsamen Geschichte ist es keineswegs selbstverständlich, dass eine Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland eine solche Ehre in Ihrem Land erfährt. Wir alle wissen um die Schrecken des Krieges und das furchtbare Leid, das Deutschland einst der belgischen Bevölkerung angetan hat. Dies ist tief in unser gemeinsames kollektives Gedächtnis eingeschrieben. Aber es bleibt auch unvergessen, dass nach zwei verheerenden Weltkriegen die Nationen Europas uns Deutschen die Hand zur Versöhnung gereicht haben. Versöhnung und Verständigung waren die Voraussetzung dafür, dass wir heute in Frieden, Freiheit und Stabilität auf unserem Kontinent zusammenleben. Belgien hatte und hat daran einen wesentlichen und unverzichtbaren Anteil. Gerade in einer Zeit, in der viele der Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs nicht mehr unter uns sind, ist es sehr wichtig, dass wir die Erinnerung an unsere Geschichte wachhalten, um das Richtige für die Zukunft zu tun. Heute sind Belgien und Deutschland in guter Nachbarschaft und enger Freundschaft einander verbunden. Das zeigt sich besonders in den Grenzregionen unserer Länder, etwa in der Euregio Maas-Rhein, einem der ältesten Kooperationsverbände in Europa. Und natürlich ist auch nicht zu vergessen, dass unsere beiden Länder über Jahrzehnte hinweg gemeinsam den europäischen Einigungsprozess immer wieder vorangebracht haben. Belgien spielt heute auch deshalb eine herausragende Rolle, weil mit Brüssel und den hier ansässigen Institutionen das Herz der Europäischen Union in Ihrem Land schlägt. Es gibt vermutlich keine Stadt außerhalb Deutschlands, die ich so oft besucht habe wie Brüssel. Ich bin auch sehr froh, dass ich heute zu einem bilateralen Besuch hier bin. Ich komme auch immer gern in die Gebäude der Institutionen, aber ich freue mich auch darauf, heute mit Charles Michel noch in ein richtiges belgisches Restaurant zu gehen. Wenn wir feststellen, dass Europa derzeit nicht so gut dasteht, wie wir uns das wünschen, dann sollten wir uns aber auch immer wieder bewusst machen, was wir in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gemeinsam erreicht haben, woraus wir auch Kraft schöpfen können. Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Errungenschaften Europas uns mittlerweile selbstverständlich erscheinen: Reisefreiheit, die Vorteile einer gemeinsamen Währung, die Chancen eines Auslandsstudiums. Das alles ist für Studierende inzwischen offensichtlich gelebte Praxis. Man muss auch nicht jeden Morgen dankbar dafür sein. Aber sich ab und zu zu vergegenwärtigen, dass es viele Regionen der Welt gibt, in denen es so etwas nicht gibt, ist vielleicht auch kein Fehler. Sie, die Studierenden, gehören einer Generation junger Europäer an, die zumeist ihr ganzes Leben in einem vereinten und friedlichen Europa verbringen konnten. Sie sind mit der Europäischen Union in einer historisch einzigartigen Periode des Friedens, der Freiheit, des Wohlstands und der Stabilität großgeworden. Jetzt kommt es aber darauf an, das alles nicht nur zu bewahren – Bewahren kann Stillstand und dann auch Rückschritt bedeuten –, sondern all das immer wieder weiterzuentwickeln. Denn eines ist auch klar: Die Welt um uns herum entwickelt sich weiter. Und wenn sie sich dauernd verändert, dann kann und darf auch Europa nicht einfach stehenbleiben. Wenn wir uns einen Blick auf den Globus gönnen und uns die geografische Lage Europas in der Welt bewusst machen, dann merken wir, vor welchen Herausforderungen wir stehen. Wir alle sind daran gewöhnt, den Schengen-Raum als einen Raum der freien Bewegung ohne Passkontrollen zu begreifen. Im Augenblick gibt es wieder Grenzkontrollen, aber im Großen und Ganzen ohne große Formalitäten. Aber sehen Sie sich einmal an, welche Nachbarschaften wir an den Außengrenzen von Schengen haben: Russland, Weißrussland, die Ukraine, Georgien, die Türkei, Syrien, Libanon, Israel, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko – alles Regionen, in denen das Leben zumeist ganz anders aussieht als innerhalb des Schengen-Raums. Aber es sind Nachbarschaften und nicht weit entfernte Regionen. In vielen Teilen gibt es Armut, Instabilität und politische Verfolgung. In Teilen Afrikas gibt es immer wieder große Hungersnöte. Der Krieg in Syrien, der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine – all dies geschieht in unserer unmittelbaren europäischen Nachbarschaft. Wer sich auch nur ein wenig mit den letzten zweitausend Jahren europäischer Geschichte beschäftigt hat, der weiß, dass es naiv wäre, zu glauben, dass die dortigen Entwicklungen keine direkten Folgen für unser Leben in Europa haben könnten oder haben werden. Es wäre genauso naiv, sich immer nur auf andere zu verlassen, die die Probleme in unserer unmittelbaren Nachbarschaft für uns lösen werden. Ich denke, wir Europäer sollten unsere eigene Verantwortung sehr klar erkennen. Machen wir uns nichts vor: Aus Sicht einiger unserer traditionellen Partner – ich denke hierbei auch an die transatlantischen Beziehungen – gibt es keine Ewigkeitsgarantie für die enge Zusammenarbeit mit uns Europäern. Wir als Europäer müssen uns für diese Zusammenarbeit immer wieder stark machen. Aber ich bin auch davon überzeugt, dass wir in Europa und der Europäischen Union lernen müssen, in Zukunft mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen. Hinzu kommt, dass wir uns nicht nur mit unseren europäischen Werten, sondern auch mit unserem Wirtschafts- und Sozialmodell im rasanten globalen Wettbewerb behaupten müssen. Das wird uns nur gelingen, wenn wir gemeinsam passende Antworten auf den technischen Fortschritt und die zunehmende Globalisierung und Digitalisierung finden. Natürlich sind wir es jeweils unserer eigenen Bevölkerung schuldig, das Wohlstandsversprechen zu erfüllen, das die Europäische Union insgesamt abgegeben hat: Unseren Kindern soll es möglichst besser, aber zumindest genauso gut gehen, wie es uns heute geht. Welche Entscheidungen sind hierfür zu treffen? Was brauchen wir hierfür? Wir brauchen unter anderem eine ehrgeizige Handelspolitik und einen innovationsfreundlichen europäischen Binnenmarkt. Wir müssen natürlich die viel zu hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen, in den Griff bekommen. Dafür sind Innovation und Wettbewerbsfähigkeit der Schlüssel. Die Leitplanken hierfür sind durch den Staat zu setzen. Wir haben das auch während der internationalen Finanzkrise gesehen. Wenn es keine Leitplanken für die Kräfte des Marktes gibt, dann entwickeln sie sich schnell in eine Richtung, die nicht dem Wohl der Menschen dient. Das Wohl der Menschen muss das Leitmotiv für unsere Gestaltung der Wirtschaftsordnung sein – der Sozialen Marktwirtschaft, wie wir in Deutschland sagen würden. In diesem Zusammenhang müssen wir feststellen: Europa steht heute vor einigen der größten Herausforderungen der letzten Jahrzehnte. Gerade jetzt, da wir diese Herausforderungen zu bewältigen haben, scheinen die Zweifel an diesem Europa immer lauter zu werden. Für viele ist der Ausgang des Referendums in Großbritannien ein beredtes Beispiel dafür. Ich will hier darauf hinweisen, dass vieles, was in der Diskussion in Großbritannien eine Rolle gespielt hat, sicherlich nicht immer mit den Diskussionen in Kontinentaleuropa zu vergleichen ist. Großbritannien gehört nicht zum Schengen-Raum. Großbritannien teilt nicht die gemeinsame Währung. Großbritannien nimmt an der gemeinsamen Justiz- und Innenpolitik nicht in vollem Umfang teil. Aber dennoch: Wir sollten die britische Entscheidung zum Anlass nehmen, gemeinsam daran zu arbeiten, Europa jetzt erst recht zusammenzuhalten, weiter zu verbessern und den Bürgerinnen und Bürgern auch wieder näherzubringen. Ende März wird es in Rom die Möglichkeit dazu geben, anlässlich des 60. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge zusammenzufassen, wo wir stehen und wohin wir wollen. Wir wollen als Staats- und Regierungschefs der nach einem Austritt Großbritanniens dann 27 EU-Mitgliedstaaten die Gelegenheit zusammen mit den europäischen Institutionen nutzen, um eine gemeinsame Vorstellung darüber zu erarbeiten, in welche Richtung sich die Europäische Union in den kommenden Jahren entwickeln soll. Wir wollen konkrete Entscheidungen treffen, um in den europäischen Fragen, die für die Bürgerinnen und Bürger von zentraler Bedeutung sind, voranzukommen. Denn nur so können wir sicherstellen, dass wir die Menschen in unseren Ländern davon überzeugen, dass es einen Mehrwert durch die Zusammenarbeit in Europa gibt. Ich möchte fünf Punkte nennen, die mir hierfür entscheidend erscheinen. Erstens: Wir müssen damit aufhören, uns in den Mitgliedstaaten immer nur selber zu gratulieren, wenn etwas gut läuft, und, wenn wir aber in den Mitgliedstaaten Schwierigkeiten haben, als erstes mit dem Finger auf Brüssel zu zeigen und zu sagen: Brüssel ist schuld. Zweitens: Wir sollten uns auf die Themen konzentrieren, die auf der europäischen Ebene besser als auf der nationalen und regionalen Ebene gelöst werden können. Ich denke, es gibt sehr viele solcher Themen. Dazu gehören für mich die Themen Flucht und Migration – ganz wesentlich verbunden mit dem Schutz der Außengrenzen –, innere und äußere Sicherheit und natürlich auch die Wettbewerbsfähigkeit und die Nutzung der Vorteile eines großen gemeinsamen Marktes im Wettbewerb mit Ländern wie China und Indien, die jeweils weit über eine Milliarde Einwohner haben, und auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Aber es gibt auch eine Vielzahl von Themen, bei denen Europa gerade davon lebt, dass es vielfältig ist, dass es unterschiedliche Traditionen in seinen Regionen gibt. Der Versuch, alles gleichzumachen, nur um den Erfordernissen eines gemeinsamen Marktes zu entsprechen, wird die Herzen der Menschen nicht erobern, da sie stolz auf ihre regionalen Traditionen sind, die auch zu speziellen Fähigkeiten und Fertigkeiten verhelfen. Die Summe dieser Fähigkeiten und Fertigkeiten kann auch einen Mehrwert darstellen und Motivation sein. Drittens: Wir müssen schneller zu sinnvollen und konkreten Entscheidungen kommen. Ich nenne das Beispiel eines europäischen Ein- und Ausreiseregisters. Als der Raum der Freizügigkeit, der Schengen-Raum, geschaffen wurde, kam sehr schnell die Idee auf, dass wir trotzdem wissen müssen, wer zu uns in diesen Raum hineinkommt und wer ihn wieder verlässt. Aber in den Zeiten guten Wetters, in den Zeiten, als kein Druck auf die Außengrenzen bestand, hat man von einem solchen Projekt Abstand genommen und gesagt: Das brauchen wir nicht. Ich will ausdrücklich ein Beispiel nennen, das auch Deutschland nicht vorangetrieben hat, bei dem wir Fehler gemacht haben. Wir liegen im Zentrum der Europäischen Union. Als der Schengen-Raum geschaffen wurde, haben wir gesagt: Na ja, jetzt lassen wir erst einmal die Länder an den Außengrenzen – Italien, Spanien – sich mit den Fragen der Grenzsicherung beschäftigen; wir wollen keine europäische Verantwortlichkeit für die Grenzsicherung. Später aber haben wir gemerkt, dass das doch keine gute Idee war, sondern dass die Grenzsicherung unser gemeinsames Problem ist. Wir haben dann im Parlament, in der Kommission, im Rat entschieden, eine Grenzschutzagentur mit europäischen Kompetenzen aufzubauen und dann auch auszubauen. Das war eine wichtige Entscheidung. Insgesamt betrachtet muss es aber schneller gehen, zu Entscheidungen zu gelangen. Die Welt wartet nicht auf uns. Wir wissen, wie schnell sich Dinge entwickeln, worauf wir aber manchmal zu langsam reagieren. Daran sind nicht die europäischen Institutionen schuld, sondern oft – das darf ich auch aus eigener Erfahrung sagen – Konflikte innerhalb der Koalitionen in den Mitgliedstaaten bei Fragen, zu denen wir aber eine einheitliche Position beziehen müssen und daher Abstimmungsnotwendigkeiten haben. Hierbei können wir vieles verbessern. Viertens: Wenn wir Entscheidungen getroffen haben, dann müssen wir sie auch einhalten. Wir sind innerhalb der Europäischen Union über 80 Verpflichtungen als Mitgliedstaaten eingegangen. Eine Vielzahl davon ist gar nicht mehr richtig bekannt. Manche werden nicht eingehalten. Zum Beispiel haben wir uns vor vielen Jahren – weder Charles Michel noch ich waren dabei – verpflichtet, drei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben. – Das sage ich hier in Anwesenheit von Vertretern von Universitäten. – Wir alle arbeiten noch daran; die Allerwenigsten in der Europäischen Union haben es schon geschafft. Verpflichtungen müssen aber auch eingehalten werden. Darüber müssen wir Rechenschaft ablegen. Fünftens: Wir müssen besser und verständlicher sagen, was genau wir gemeinsam in Europa erreicht haben, damit die Menschen verstehen, warum es ohne ein Miteinander in Europa schlechter wäre. Ich will sagen, dass mich durchaus auch einiges sehr optimistisch stimmt – zunächst einmal die Analyse, die wir gemeinsam in Bratislava vorgenommen haben, und auch die Tatsache, dass wir gemeinsam und geschlossen auf den Ausgang des britischen Referendums reagiert haben. Wir beide, Charles Michel und ich, wissen, wie mühsam es manchmal ist, in Europa einen Konsens herbeizuführen. Ehrlich gesagt, weiß aber jeder aus seiner eigenen Regierungsarbeit zu Hause – jedenfalls all die, die Koalitionsregierungen haben –, dass es manchmal auch zu Hause mühsam ist, Ergebnisse zu erzielen. Deshalb müssen wir kompromissbereit sein. Ein Kompromiss ist immer dann gut, wenn die Vorteile die Nachteile überwiegen. Aber ein Kompromiss wird niemals 100 Prozent dessen abbilden, was man sich allein vorgestellt hat. Kompromisse brauchen wir jetzt in drei Bereichen sehr dringend. Erstens beim Umgang mit der illegalen Migration. Wir brauchen gesamteuropäische Ansätze. Ich habe bereits von der europäischen Grenzschutzagentur gesprochen. Es geht auch darum, präventiv Verantwortung zu übernehmen und mit unseren Nachbarregionen vernünftige Beziehungen aufzubauen. Die Staats- und Regierungschefs der drei Benelux-Länder waren kürzlich in Tunesien. Deutschland hat zusammen mit Frankreich und Italien Migrationspartnerschaften mit Niger und Mali übernommen. Die Europäische Kommission baut zusammen mit anderen Mitgliedstaaten auch solche Partnerschaften auf, um Fluchtursachen zu bekämpfen. Es ist auch für unser Staatsverständnis von entscheidender Bedeutung, dass wir uns nicht von Schleppern und Menschenhändlern leiten lassen, die illegale Migration zu verantworten haben, sondern dass wir legale Wege über tragfähige Vereinbarungen mit unserer Nachbarschaft eröffnen. Um das durchzusetzen, brauchen wir natürlich auch die Fähigkeit zur Rückführung derjenigen, die illegal gekommen sind und kein Aufenthaltsrecht bei uns haben. Nur so werden wir den Schleusern und Schleppern den Boden für ihr Handeln entziehen können. Was Flüchtlinge anbelangt, die aus humanitären Gründen zu uns gekommen sind und ein Bleiberecht nach unseren rechtlichen Standards haben, brauchen wir natürlich die Fähigkeit zur Integration. Diese Fähigkeit zu beweisen, ist auch eine große Aufgabe. Die zweite Herausforderung betrifft uns auch alle gemeinsam: Das ist der Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Die Anschläge in Brüssel ebenso wie in anderen Städten, zuletzt auch in Berlin, haben auf unser Gemeinwesen und auf unsere Art zu leben abgezielt. Wir müssen alles tun, um unseren Bürgerinnen und Bürgern Sicherheit in Freiheit zu gewährleisten. Dazu gehört auch, Gefährder schneller zu identifizieren. Dazu gehört, die Informationsdateien besser und schneller zu vernetzen. Dazu gehört die Kooperation unserer Nachrichtendienste. Der dritte Bereich, den ich nennen möchte, betrifft die Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Eine Welt in Unruhe, asymmetrische Konflikte, Cyber-Attacken – all das sind Herausforderungen, vor denen wir alle in gleicher Weise stehen. Deshalb ist es notwendig, hierbei mehr gemeinsam zu handeln. Es ist klar – das wissen wir auch in Deutschland –: Wir müssen zusätzliches Geld in die Hand nehmen, damit Europa seiner globalen Verantwortung gerecht werden kann – innerhalb der NATO, aber auch innerhalb der Europäischen Union. Jedem wird einleuchten, dass uns Kleinstaaterei in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht voranbringen wird, sondern dass wir unsere Kräfte konzentrieren, in gemeinsame Verteidigungsfähigkeiten investieren und im Übrigen auch vernetzte Ansätze von Entwicklungspolitik, Sicherheitspolitik und Verteidigungspolitik, Ausbildung, Training und Ausrüstung angehen müssen. All das gehört zusammen und muss vernetzt gesehen werden. Migration und Flüchtlinge, Kampf gegen den Terrorismus, innere und äußere Sicherheit – das sind drei Beispiele gewaltiger Aufgaben, bei denen der Mehrwert gemeinsamen europäischen Handelns aus meiner Sicht sehr klar sichtbar wird. Meine Damen und Herren, nur wenn Europa geeint und mit einer Stimme spricht, werden wir uns Gehör verschaffen. Nur dann wird es uns gelingen, die Globalisierung nach den Werten zu gestalten, die uns wichtig sind, bei denen der einzelne Mensch im Mittelpunkt steht, der eigenverantwortlich und freiheitlich seine Zukunft gestalten soll. Ich bin der Überzeugung, dass uns das gelingen wird, wenn wir einheitlich auftreten. Deutschland will das auch in diesem Jahr 2017 versuchen, in dem wir die G20-Präsidentschaft innehaben. Ich hoffe, dass ich dafür auch einen breiten Rückhalt meiner Kolleginnen und Kollegen in der Europäischen Union bekomme. Ein letztes Wort an Sie, liebe Studierende. Europa, das ist nicht die Kommission oder das Parlament oder der Europäische Rat. Europa, das sind Sie und das sind wir alle. Jeder einzelne ist Europa. Sie können an den Universitäten – davon bin ich überzeugt – jeden Tag das Beste an Europa kennenlernen. Sie können dadurch, wie Sie Ihr Studium gestalten, in welchem Geist Sie miteinander diskutieren, wie Sie das Erasmus-Programm und viele andere Austauschmöglichkeiten nutzen, Europa nicht nur kennenlernen, sondern auch formen und mitgestalten – durch Ihre Neugierde, Ihr Wissen, Ihren Fleiß, Ihren Tatendrang, Ihren Austausch mit Kommilitonen und Wissenschaftlern aus aller Welt. In nicht allzu ferner Zukunft wird es die Aufgabe Ihrer Generation sein, Ihr Land und ganz Europa zu gestalten. Ich möchte Sie dazu ermutigen, das zu tun aus dem Gefühl heraus, dass unglaublich viel erreicht ist, aber auch aus dem Gefühl heraus, dass das in jeder Generation Erreichte neu weiterentwickelt werden muss. Nichts in der Geschichte ist selbstverständlich. Das zeigt der Lauf der Geschichte. Schärfen Sie deshalb Ihren kritischen Geist. Bringen Sie sich mit Vorstellungen und Ideen ein, die durchaus auch kontrovers, unterschiedlich sein können und sein müssen, weil jeder Mensch eben andere Ideen hat. Aus der Interaktion im Geist des gegenseitigen Respekts entsteht Fortschritt. Europa lebt nicht nur von Politik, sondern vom Austausch der Menschen in verschiedensten Verantwortlichkeiten. Gleichgültigkeit kann sich Europa nicht leisten. Davon bin ich überzeugt. Noch einmal: Herzlichen Dank für diese ganz besondere Stunde an diesem ganz besonderen Ort – für die Ehrung durch zwei ureuropäische Universitäten, wenn ich das so sagen darf. Herzlichen Dank auch für Ihre Aufmerksamkeit.
in Brüssel
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur dbb Jahrestagung 2017 am 9. Januar 2017
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-dbb-jahrestagung-2017-am-9-januar-2017-394948
Mon, 09 Jan 2017 15:00:00 +0100
Köln
Sehr geehrter Herr Dauderstädt, sehr geehrte Mitglieder der Bundesleitung und des Bundesvorstands, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den verschiedenen Parlamenten, insbesondere begrüße ich meine Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren, ich freue mich, dass ich hier bin. Wir haben vor geraumer Zeit darüber gesprochen, Herr Dauderstädt. Ich teile Ihre Einschätzung. Sie haben es „verdient“, hört sich ein bisschen komisch an. Das können Sie sagen, aber ich bin gerne gekommen, um zu Ihnen zu sprechen und dabei deutlich zu machen: Viele von Ihnen stehen nicht immer im Rampenlicht der Öffentlichkeit, wenn man die einzelnen Tätigkeiten betrachtet, aber fast jeder Bürger und jede Bürgerin hat Kontakt zu Ihnen. Die Art des Kontakts prägt auch das Bild der Menschen von ihrem Staat. Deshalb ist es in der Tat sehr wichtig, dass Sie Bedingungen haben, unter denen Sie vernünftig arbeiten können. Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen gleich zu Beginn ganz allgemein einfach danke zu sagen für das, was Sie jeden Tag an unterschiedlichen Stellen tun. Da Sie hier ja nur eine kleine Auswahl derjenigen sind, die in Kommunen, in Ländern und im Bund ihre Pflicht und ihren Dienst tun, sagen Sie es als diejenigen, die auserwählt sind, hier bei Ihrer Tagung dabei zu sein, bitte auch weiter: Danke für das, was Sie jeden Tag leisten. Sie geben dem Staat sozusagen ein Gesicht. Als Repräsentanten unseres Gemeinwesens sind Sie für das verantwortlich oder füllen das aus, was wir als eine gute Verwaltung und was wir als Daseinsvorsorge erachten. Diese Verantwortung kann man im Allgemeinen mit einem strikten Dienst nach Vorschrift gar nicht vollkommen ausfüllen, sondern es geht darum, sich selbst als Persönlichkeit einzubringen – wenn ich zum Beispiel an Erzieherinnen und Erzieher, an Lehrerinnen und Lehrer denke, die sich auch Kindern aus schwierigen Verhältnissen annehmen; wenn ich an Rettungssanitäter und Feuerwehrleute denke, die teils unter Einsatz ihres Lebens anderen Menschen Hilfe leisten; wenn ich an die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Bürgerämtern oder ähnlichen Behörden denke, die zumeist die ersten Ansprechpartner vor Ort sind. Es gibt natürlich auch viele, die nicht im täglichen Bürgerkontakt ihre Arbeit tun, aber dafür Sorge tragen, dass Recht und Gesetz entstehen können, umgesetzt werden können und sozusagen praktisch gelebt werden können. Dabei muss Eigenverantwortung gezeigt werden. Dabei sind ganz unterschiedliche Belastungen zu durchleben. Wie sich Deutschland aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger darstellt, hängt auch ganz wesentlich von der Arbeit derer ab, die im Beamtenbund engagiert sind. Wenn wir uns Befragungsergebnisse ansehen, dann wissen wir, dass trotz allem, was man auch an Kritischem liest, die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger recht zufrieden mit dem ist, was geleistet wird. Deshalb möchte ich hier noch einmal danke sagen. Aber ich möchte auch etwas ansprechen, das vielleicht in Zukunft leider noch an Bedeutung gewinnen wird. Wir wissen, dass Sie – man muss es sagen – oft auch mit Hass, mit Ablehnung, mit Unverständnis konfrontiert werden und dass Sie in pöbelhafter Weise verantwortlich gemacht werden für allgemeine Unzufriedenheit. Wenn man Geschichten hört von Feuerwehrleuten, von Rettungssanitätern, von Polizisten, die in ihrem Einsatz bedroht werden – man muss sich das vorstellen: da sind sie im Einsatz, um zum Beispiel einen Brand zu löschen, und werden aber bei dieser Tätigkeit behindert –, dann will ich Ihnen sagen: Nicht nur die Bundesregierung, sondern die gesamte gutmeinende Gesellschaft muss dagegen aufstehen und sagen: Danke für Ihren Einsatz. Wir werden alles tun, um ein Klima zu schaffen, in dem Ihr Einsatz möglich ist und unterstützt wird, weil davon unsere Lebensqualität abhängt. Nun haben wir eine Entwicklung, in der gerade im Bereich des öffentlichen Dienstes – da spielen Beamte ja eine zentrale Rolle – neue Anforderungen auf uns zukommen. Exemplarisch dafür steht der internationale Terrorismus. Es ist aber mitnichten die einzige Herausforderung, der wir uns öffnen müssen. Wir müssen immer wieder auf aktuelle Herausforderungen Antworten geben. Das, was Sie zu Recht erwarten dürfen, ist, dass das nicht in einem Zuständigkeitsstreit landet, sondern dass die Politik sich insgesamt – ich sage das jetzt mal für die gesamte Bundesregierung – der Anstrengung unterwirft, richtige Antworten auf neue Sachverhalte, auf neue Situationen zu finden. Das ist nicht immer ganz einfach, sondern setzt voraus, dass wir offen sind, dass wir klare Analysen vornehmen, dass wir auf Sie und Ihre Erfahrungen hören, dass wir lernfähig sind und auf die neuen Herausforderungen genauso wie auf neue technische Entwicklungen – ich sage nur das Stichwort Digitalisierung – dann auch wirklich Antworten finden, gerade angesichts der Opfer terroristischer Anschläge. Ich nenne hier ein Beispiel, das uns allen noch vor Augen steht. Der schreckliche Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin kurz vor Weihnachten mahnt uns, schnell zu handeln, richtig zu handeln, nicht nur in Ankündigungen stecken zu bleiben, sondern auch wirklich Flagge zu zeigen. Dass wir lernfähig sind, hat zum Beispiel der Polizeieinsatz in Köln gezeigt. Ich will ausdrücklich sagen, dass es richtig war, wie die Polizei in Köln und anderswo aufgetreten ist und dass dadurch möglich wurde, dass Menschen ihre Silvesterfeiern unbeschwert abhalten konnten. Ein friedliches Miteinander ist das, was wir insgesamt herstellen wollen und müssen. Deshalb ist dies auch ein Beispiel dafür, wo wir Unterstützung zeigen können – in diesem Fall für Polizisten. Aber das gilt für alle anderen Bereiche des öffentlichen Dienstes natürlich genauso. Was muss uns dabei leiten? Dabei muss uns leiten, dass wir als Staat Sicherheit garantieren wollen, dass wir alles dafür tun müssen, um Sicherheit in Freiheit zu garantieren. Wir wollen einen freiheitlichen Staat, einen offenen Staat. Deshalb bin ich auch sehr dankbar dafür – ich habe das auch in meiner Neujahrsansprache angesprochen –, dass die Menschen einen großen Willen zeigen, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu verteidigen. Es ist vielleicht auch wieder eine Zeit, in der man deutlich zeigen muss, wofür wir stehen, dass wir wissen, welche Vorteile wir haben, in unserem Land in Sicherheit und Freiheit und nicht in einer Diktatur zu leben. Ich weiß aus meinem eigenen Leben sehr wohl, worin der Unterschied besteht. Wir stehen vor großen Aufgaben. Das manifestiert sich sicherlich für viele sehr stark in der großen Zahl von Flüchtlingen, die 2015, in geringerer Zahl auch 2016, zu uns gekommen sind. Auch vor diesem Hintergrund müssen wir deutlich machen: Sicherheit und Freiheit gibt es nur, wenn wir uns bestimmten Prinzipien verpflichtet fühlen. Das heißt auch: Da, wo Recht gesetzt ist, muss dieses Recht auch umgesetzt werden. Das bedeutet zum Beispiel, dass wir denjenigen, die in einem rechtsstaatlichen Prozess die Anerkennung bekommen, für eine bestimmte Zeit bei uns bleiben zu können, weil sie schutzbedürftig sind, nicht nur ein Verbleiben hier ermöglichen, sondern dass wir auch Integrationsleistungen erbringen. Wir sind einen großen Schritt vorangekommen, als Bund und Länder gemeinsam ein Integrationsgesetz verabschiedet haben. Wir haben hierbei sehr schnell gearbeitet. Wo wir in Zukunft noch Verbesserungen brauchen werden, werden wir sie auch leisten können: bei Sprachkursen, bei Arbeitsmöglichkeiten. Ich möchte auch all denen danken, die denjenigen, die einen Bleibestatus haben, auf ihrem Weg durch die verschiedenen Ebenen unseres Landes helfen. Denn von einem dürfen Sie auch ausgehen: Wer aus Syrien oder dem Irak kommt, dem erschließt sich Deutschland in seiner föderalen Struktur und all seinen Facetten nicht umgehend. Wenn man dann auch noch die Sprache nicht versteht, ist eine gewisse Hilfe – wir haben zum Beispiel für Flüchtlingsfamilien auch Lotsen, die einem ein Stück weit helfen, durch die verschiedenen Prozeduren zu gelangen – sicherlich hochwillkommen. Eine zweite Frage betrifft Menschen, die nach einem rechtsstaatlichen Verfahren, nach Einschlagen des Rechtsweges keinen Aufenthaltsstatus bei uns bekommen. Hierbei gilt – da gibt es die gleiche Erwartung der Bürgerinnen und Bürger, von denen die Mehrzahl sagt, dass sie humanitären Verpflichtungen entsprechen wollen –, dass diejenigen, die keinen Schutzstatus haben, unser Land wieder verlassen müssen. Wir müssen ehrlicherweise zugestehen, dass in den Jahren, in denen wir wenige Asylbewerber oder Schutzbedürftige nach der Genfer Flüchtlingskonvention hatten, wir die Umsetzung beider Teile nicht so ernsthaft verfolgt haben – das gilt für alle Ebenen von der kommunalen über die Länderebene bis zur Bundesebene –, wie das nötig gewesen wäre und was aber angesichts der großen Zahlen plötzlich sehr viel drängender erscheint. Weder haben wir die Verfahren beschleunigt und die Integration so zielstrebig durchgeführt, wie es notwendig gewesen wäre, noch hat man diejenigen, die keinen Aufenthaltsstatus hatten, so behandelt, dass sie unser Land wieder verlassen müssen. Deshalb müssen wir jetzt auch diesen Teil, der diejenigen ohne Aufenthaltsstatus bei uns betrifft, verbessern. Da will ich ausdrücklich sagen: Das ist eine Aufgabe, bei der wir nicht mit Fingern aufeinander zeigen sollten. Was macht die Kommune falsch? Was macht das Land falsch? Was macht der Bund falsch? Das ist eine Aufgabe für alle. Diese Aufgabe müssen wir gemeinsam und können wir auch nur gemeinsam lösen, so wie wir andere Aufgaben auch nur gemeinsam gelöst haben. Es ist auch nicht nur eine Aufgabe für den Bundesinnenminister, jetzt Verträge mit Tunesien, Ägypten, Marokko und Algerien auszuhandeln, sondern es ist eine Aufgabe für die ganze Bundesregierung. Da ist der Außenminister genauso gefragt wie der Innenminister, da ist die Bundeskanzlerin gefragt, da ist der Entwicklungsminister gefragt, da sind alle mit ihren guten Ideen gefragt. – Der Bundesinnenminister war ja heute bei Ihnen. – Ich glaube, die Menschen wünschen es nicht, dass wir jetzt gegenseitig mit dem Finger aufeinander zeigen und Schuldige suchen, sondern sie wünschen, dass die Erfolge besser werden. Deshalb werden wir an einer nationalen Kraftanstrengung, auch was Rückführungen anbelangt, arbeiten. Ich will dazu sagen: Auch dies wird nur gelingen, wenn wir im Respekt mit den Ländern verhandeln, in die zurückgeführt werden muss. Wer keinen Aufenthaltsstatus hat, muss in sein Heimatland zurückgeführt werden. Aber das erfordert von uns auch, dass wir uns mit den Problemen dieser Länder beschäftigen und Lösungswege finden, die im beiderseitigen Interesse sind, sonst werden wir das nicht hinbekommen. Solche Gespräche laufen. Die Rückführungen nach Afghanistan zum Beispiel haben eine große gesellschaftliche Diskussion ausgelöst. Aber ich will hier ganz eindeutig sagen: Etwa 50 Prozent der afghanischen Flüchtlinge, die zu uns kommen, erhalten im rechtsstaatlichen Verfahren einen Aufenthaltsstatus und werden bei uns bleiben können. 50 Prozent erhalten diesen Status nicht. Das Signal nach Afghanistan kann aus meiner Sicht nicht sein, dass wir uns darüber hinwegsetzen, egal, was der Rechtsstaat befindet. Daher ist dies richtigerweise in einem Abkommen der Europäischen Union und einem speziellen Abkommen der Bundesrepublik Deutschland über die Rückführung von nicht anerkannten Asylbewerbern aus Afghanistan berücksichtigt. Das müssen wir jetzt Schritt für Schritt umsetzen, gekoppelt mit Hilfe für diejenigen, die zurückkehren. Es gibt immer das Angebot der freiwilligen Rückkehr prioritär zur verpflichtenden Rückkehr, weil dies für alle Beteiligten allemal einfacher und besser ist. Ich habe jetzt ausführlich über diesen Aspekt gesprochen, weil ja im Augenblick die politische Diskussion vor allem darüber stattfindet. Eine besondere Gruppe sind diejenigen, die als Gefährder eingestuft sind, von denen terroristische Gefahren ausgehen können. Wir als Bundesregierung, insbesondere der Innenminister und der Justizminister, werden in diesen Tagen darüber Gespräche führen. Ich glaube, Thomas de Maizière wird Ihnen heute dazu bereits etwas gesagt haben. Da, wo wir Handlungsbedarf haben – ich sehe solchen Handlungsbedarf ganz eindeutig –, werden wir versuchen, gemeinsame Lösungen in der Großen Koalition zu finden. Ich hoffe, dass wir dann auch die entsprechenden Mehrheiten im Bundesrat finden. Wir hätten zum Beispiel die Frage sicherer Herkunftsländer im Zusammenhang mit Algerien, Marokko und Tunesien längst klären können. Das haben wir leider noch nicht geschafft, aber wir werden weiter daran arbeiten. Oft wird gefragt: Ja, was hilft denn das? Ich kann Ihnen nur sagen: Es vereinfacht die juristischen Prozeduren erheblich. Es geht um so etwas wie eine Beweislastumkehr. Es hat sich im Zusammenhang mit den Balkanstaaten gezeigt, dass wir dadurch erheblich schnellere Verfahren haben. Jeder weiß: Die Dauer des Verfahrens entscheidet ganz wesentlich mit darüber, ob die Rückführung einfacher oder schwieriger ist. Denn wer erst einmal, oft von ehrenamtlichen Helfern gestützt, in der Kommune integriert wurde, dem fällt es dann viel, viel schwerer, zurückzukehren. Der ganzen Gemeinschaft fällt dann eine Rückführung schwerer. Deshalb ist der Faktor Zeit in diesem Zusammenhang eine herausragende Größe. Meine Damen und Herren, lieber Herr Dauderstädt, Sie haben sich das nicht ganz anspruchslose Thema „Europa – Quo vadis?“ gegeben. In diesem Zusammenhang stellen sich natürlich erhebliche Fragen zur Europäischen Union. Ich will auch noch einmal deutlich machen, worum es aus meiner Sicht mit Blick auf Europa, auf eine funktionierende Europäische Union, derzeit besonders geht. Wir schätzen Europa, wir profitieren gerade auch als Bundesrepublik Deutschland, als Exportland, von Europa – davon, dass in der Europäischen Union die vier Grundfreiheiten gelten: die Freiheit der Bewegung der Menschen, des Kapitals, der Dienstleistungen und der Produkte. Einen solchen Raum der Freiheit kann man natürlich nur erhalten, wenn man auch weiß, wo dieser Raum endet, und in der Lage ist, die Außengrenzen dieses Raums vernünftig zu schützen und zu kontrollieren. Der Druck auf die Außengrenzen durch Bürgerkriegsflüchtlinge oder Migration war früher geringer als heute. Dieser Druck hat sich bei uns in Deutschland auch deshalb nicht so manifestiert, weil wir nicht an den Außengrenzen leben, sondern ein Land im Zentrum dieses sogenannten Schengen-Raums sind. Als dieser Druck noch nicht so hoch war, hat man sich um den Schutz der Grenzen zu wenig bemüht, aber er ist die Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt in einem Raum der Freiheit in umfassendem Sinne leben können. Einer der Gründe, warum ich zum Beispiel immer sehr stark darauf bestanden habe, an den Außengrenzen die Probleme zu lösen, besteht eben darin, dass ich der Überzeugung bin, dass ansonsten die vier Grundfreiheiten nicht mehr so wie gehabt aufrechterhalten werden könnten, was eine – um es mal vorsichtig zu sagen – erhebliche Schwächung der Europäischen Union bedeuten würde. Was den Außengrenzenschutz anbelangt, haben wir erhebliche Fortschritte gemacht. Europa hat hierbei im Übrigen schnell gehandelt und Frontex als eine wirklich europäische Grenzschutzagentur neu aufgebaut. Deutschland war früher immer dagegen, zu viele Kompetenzen an eine europäische Grenzsicherung abzugeben. Wir haben unsere Position angesichts der heutigen Situation verändert und diese Grenzschutzmöglichkeiten heute sehr stark verbessert. Wir wissen aber: Die Grenzschutzmöglichkeiten stoßen vor allem da an ihre Grenzen, wo es sich um maritime Grenzen handelt. Deshalb war und ist das EU-Türkei-Abkommen eine wesentliche Komponente, eine wesentliche Säule, um sagen zu können: nur in Kooperation mit dem Nachbarland auf der anderen Seite des Meeres – in diesem Falle von Teilen des Mittelmeers, in der Ägäis – kann man wirklich sicher sein, dass wir einen Außengrenzenschutz hinbekommen, der auf Gegenseitigkeit beruht. Er ist auch aus folgendem Grunde wichtig: Es kann ja nicht sein, dass souveräne Staaten – egal, ob die Türkei oder Mitgliedstaaten der Europäischen Union – sich davon abhängig machen, wie Schmuggler und Schlepper arbeiten, wie viel Geld sie verdienen, sondern souveräne Staaten müssen miteinander Grenzschutz arrangieren können und dürfen Schleppern und Schmugglern nicht das Feld überlassen. Das gilt natürlich auch im Hinblick auf Afrika. Deshalb ist es richtig, dass die Europäische Union Abkommen mit afrikanischen Staaten verhandelt, auch um Fluchtursachen zu bekämpfen. Deshalb ist es richtig, dass wir auch mit den Küstenstaaten im Gespräch sind. Deshalb ist es wichtig und richtig, dass wir daran arbeiten, zum Beispiel für Libyen stabilere politische Lösungen zu finden, da es nicht ganz einfach ist, mit einem nicht funktionierenden Staat oder einem sehr, sehr schwachen Staat Abkommen zu schließen. Deshalb muss darauf alle Kraft gesetzt werden. Daran sehen Sie schon, dass es Aufgabe einer ganzen Bundesregierung ist – von der Außenpolitik bis hin zur Innenpolitik –, solche Dinge auch wirklich hinzubekommen. Europas große Bewährungsprobe ist also sicherlich auch: Können wir unseren Raum der Freiheit auch dahingehend schützen, dass wir Kontrolle über die Ein- und Ausreisen bekommen? Vor zehn Jahren, als Wolfgang Schäuble Innenminister war, gab es schon Vorschläge für ein Ein- und Ausreiseregister. Jetzt endlich arbeitet man mit Nachdruck daran. Es ist selbstverständlich, dass wir die Schengen-Datei und die Europol-Dateien vernetzen müssen und Kontrolle darüber bekommen müssen, um zu wissen: Wer ist bei uns, wer ist nicht bei uns? Die Vereinigten Staaten von Amerika machen so etwas seit vielen Jahren. Das führt mich im Übrigen noch einmal zurück zu innerstaatlichen Verhältnissen. Wir haben beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Kerndatensystem für Flüchtlinge aufgebaut. Dieses muss natürlich mit den Ausländerbehörden vernetzt werden, auch wenn sie in Landes- oder kommunaler Zuständigkeit sind. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Wenn Menschen mit zwölf Identitäten, wie wir jetzt gesehen haben, sich in Deutschland aufhalten können, dann muss die Möglichkeit, dass man heute biometrische Daten aufnimmt, natürlich nicht nur beim Einreise- und Aufnahmeverfahren oder beim Asylverfahren genutzt werden, sondern auch bei der Ausländerbehörde und zur Überprüfung auch bei der Sozialbehörde, über die Geld ausgezahlt wird. Ansonsten werden wir ein Land sein, zu dem man zum Schluss sagt: Na ja, das macht man in vielen Ländern der Welt schon besser als bei uns. Deshalb ist es ganz wichtig, dem öffentlichen Dienst, den Beamten auch die technischen Möglichkeiten zu geben, um auf der Höhe der Zeit operieren zu können. Das ist nicht nur eine Frage der Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir haben beschlossen, dass wir die Zahl der Mitarbeiter in vielen Bereichen aufstocken werden. Wir haben auch beschlossen, dass wir die technische Ausstattung verbessern. Die technische Ausstattung zu verbessern, bedeutet dann aber auch, sich an die neuen technischen Möglichkeiten immer wieder anzupassen. Früher stellte sich die Frage der Telefonüberwachung, heute eben auch die Frage der Überwachung im Internet. Kein Mensch wird mehr telefonieren, wenn er weiß, dass man Telefone in Deutschland überwachen darf, aber nicht die WhatsApp-Kommunikation. Das ist doch vollkommen klar. Dann wird nur noch WhatsApp benutzt; und die anderen haben das Nachsehen. Wir können doch unseren Beamten ernsthafterweise nicht zumuten, dass sie technologisch nicht auf der gleichen Höhe wie diejenigen sind, die unser System umgehen wollen. Deshalb ist es aus meiner Sicht eigentlich eine Frage des gesunden Menschenverstands, dass man mit der Fortentwicklung technischer Möglichkeiten diejenigen, die für Sicherheit und die Einhaltung der Gesetze sorgen, mit modernen technischen Möglichkeiten ausstatten muss. Wir brauchen also für ein funktionierendes Europa ein Europa, das sich um die Themen kümmert, die die Mehrwerte europäischer Zusammenarbeit deutlich machen. Da habe ich jetzt über das Thema innere Sicherheit gesprochen. Dass die Fahndungen im Schengen-Raum relativ gut funktionieren, konnten wir ja an dem Täter vom Breitscheidplatz verfolgen. Aber wir haben eben auch gesehen, dass es erhebliche Lücken gab, als der Täter von Italien nach Deutschland kommen konnte und zum Beispiel die Eintragungen im Schengen-Register zu spät erfolgt sind. Aber man muss sich unter den europäischen Partnern wirklich aufeinander verlassen können. Hinzu kommt: Wir brauchen auch eine gemeinsame Verantwortung für unsere humanitären Pflichten. Daran mangelt es in der Europäischen Union im Augenblick noch stark. Es wird kein funktionierendes gemeinsames Asylsystem geben können, wenn nicht alle Länder jedenfalls im Prinzip und grundsätzlich bereit sind, einen Teil der Pflichten zu tragen. Wenn einige sagen, wir nehmen Schutzbedürftige überhaupt nicht auf, dann ist das für mich nicht Ausdruck eines funktionierenden Europas. Ich weiß, dass das ein dickes Brett ist, aber es nutzt ja nichts, die Themen nicht mehr anzusprechen. Deshalb müssen wir an diesem Thema weiter arbeiten. Wir müssen allerdings auch sagen – deshalb mahne ich auch etwas zu Geduld –: Deutschland hat sich viele Jahre lang gegen eine Quotierung der Aufnahme von Flüchtlingen gewehrt, als wir der Meinung waren, dies sei eher ein Thema für Spanien und Italien und weniger eines für uns. Wir hatten nur das Flughafenverfahren; die Zahl war überschaubar. Da fanden wir, dass das alles noch ganz gutgeht. Daher gehört zur Ehrlichkeit dazu, dass manch andere sagen: Damals, als wir es wollten, habt ihr es abgelehnt. Jetzt tun wir uns etwas schwerer. Deshalb dürfen wir uns da nicht von unserer eigenen Vergangenheit abkoppeln, aber auf Dauer wird es nicht anders gehen. Ein funktionierendes System beruht auf Solidarität unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Was braucht Europa mehr? Europa ist vor allem in einer schwierigen Situation für die Menschen fassbar, in der sie fragen: Wo bleibt Solidarität? Wir haben im Zusammenhang mit der Stabilisierung unserer gemeinsamen Währung Solidarität gezeigt. Wo bleibt jetzt die Solidarität im Zusammenhang mit der großen Aufgabe, die Migration und Flucht vor Bürgerkrieg mit sich bringen? Diese Solidarität brauchen wir, wenn wir ein gemeinsames Europa aufbauen wollen, genauso wie wir die Einhaltung von Regeln brauchen. Wir haben vor gar nicht so vielen Jahren eine schwere Krise unserer europäischen Währung erlebt. Ende 2009, in einem Bundestagswahljahr, begann dies; 2010 kam die erste griechische Krise. Und dann ging es Schritt für Schritt weiter. Wir haben damals unter großer Sorge Rettungspakete in großer Eile verabschiedet, weil die Zinsen in einigen Ländern stiegen. Ich kann uns allen in Europa nur raten, diese Zeit nicht einfach zu vergessen, sondern sich daran zu erinnern, warum wir den Stabilitäts- und Wachstumspakt geändert und warum wir neue Regeln eingeführt haben. Wir haben dies gemacht, um uns vor zukünftigen Krisen besser zu schützen. Auch deshalb gilt für mich, dass das, was wir miteinander vereinbart haben, eingehalten werden muss. Jetzt diejenigen, die die Verabredung einhalten, dafür zu beschuldigen, dass sie sie einhalten, und mit Blick auf andere, die sie nicht einhalten, zu sagen, wir sollten mal nicht so kleinkariert sein – das halte ich für leichtfertig vor unserem Erfahrungshintergrund. Wir alle haben doch gesehen, welche schwerwiegenden Auswirkungen es haben kann, wenn die Finanzmärkte sich gegen Europa verbünden. Deshalb gehört für mich für ein glaubwürdiges Europa dazu, dass Regeln, die man gemeinsam verabredet hat, solange man sie nicht gemeinsam geändert hat, auch wirklich eingehalten werden. Die gemeinsame Währung ist für mich ein genauso konstitutiver Bestandteil unserer Gemeinschaft der Euro-Staaten, wie es der gemeinsame Grenzschutz zur Erhaltung der inneren Freiheiten für die Europäische Union ist. Das gehört in den Bereich der wichtigen Fragen, um die sich Europa kümmern muss, genauso wie um die Handelsfragen, genauso wie um die Fragen eines gemeinsamen Klimaschutzes, eines gemeinsamen Auftretens bei internationalen Konferenzen und einer möglichst kohärenten Außenpolitik. In all diesen Fragen haben wir noch sehr viel Arbeit vor uns. Angesichts des 60. Jahrestags der Unterzeichnung der Römischen Verträge im März dieses Jahres und des im gleichen Monat vielleicht stattfindenden Austrittsantrags Großbritanniens befindet sich Europa durchaus in einer besonderen Situation. Bislang hatten wir erlebt, dass die europäische Integration fortschreitet und die Zahl der Mitgliedstaaten zunimmt. Aber einen Austritt, und zwar den Austritt eines so wichtigen Partners wie Großbritannien, hat die Europäische Union noch nicht erlebt. Deshalb ist es aus meiner Sicht ganz wichtig, dass wir bei den Austrittsverhandlungen auf der einen Seite deutlich machen, dass wir gute Beziehungen zu Großbritannien weiterhin erhalten wollen – wir sind bilateral gute Partner, wir arbeiten in der NATO zusammen, wir sind Großbritannien als Bundesrepublik Deutschland freundschaftlich verbunden. Auf der anderen Seite stehen wir klar zur Aussage, dass zum Beispiel ein Zugang zum Binnenmarkt nur unter der Bedingung der Einhaltung der von mir genannten vier Grundfreiheiten möglich ist. Ansonsten muss man über Abstriche verhandeln. Man kann diese Verhandlungen nicht in Form einer Rosinenpickerei durchführen, denn das hätte fatale Folgen für die anderen 27 Mitgliedstaaten. Solche Folgen dürfen wir nicht zulassen. Deshalb plädiere ich auch sehr stark dafür – wir haben das in Bratislava begonnen; wir müssen das in Richtung des Gipfels, den wir Anfang Februar in Malta haben, und des Gipfels in Rom anlässlich von 60 Jahren Römische Verträge sehr deutlich machen –, dass wir neben den Austrittsverhandlungen vor allen Dingen auch eine positive Agenda für die weitere Entwicklung der Europäischen Union fortführen. Dazu gehören für mich in ganz besonderer Weise die Themen Arbeitsplätze und wirtschaftliche Prosperität. Diese haben wiederum sehr viel mit Digitalisierung zu tun, die unsere Wertschöpfung, unsere Arbeitswelt, unsere Lebenswelt, unsere gesellschaftliche Welt rapide und durchgreifend verändert. So, wie wir einen Binnenmarkt im Bereich der klassischen industriellen Produktion haben, sollten wir auch an einem digitalen Binnenmarkt arbeiten – angefangen bei der Infrastruktur. Dabei ist das Stichwort 5G – also die Netze, die uns sozusagen in Echtzeit Daten übermitteln – von allergrößter Bedeutung. Das wird man nicht schaffen, wenn jeder seine eigenen Frequenzbereiche hat, wenn jeder sein eigenes Ding macht, sondern das wird man nur schaffen, wenn man hierbei wirklich zusammenarbeitet. Günther Oettinger hatte hierzu die richtigen Vorschläge gemacht. Das Thema reicht natürlich weiter in Richtung Datenschutz. Auch der Datenschutz muss weitgehend vereinheitlicht sein. Wir haben jetzt die Datenschutz-Grundverordnung in der Europäischen Union, aber wir müssen aufpassen, dass die nationale Anwendung und die Auslegung der verschiedenen unbestimmten Rechtsbegriffe nicht dazu führen, dass wir anschließend wieder eine völlig zersplitterte Rechtslandschaft haben. – Herr Dauderstädt nickt und fürchtet schon das Schlimmste. – Es darf also nicht nur immer sozusagen der lokale Datenschutz eine Rolle spielen, sondern wir müssen uns das Thema auch von der Seite der Anwender aus anschauen, weil davon auch die zukünftige Wertschöpfung stark abhängen wird. Die Arbeitsplätze der Zukunft werden sehr stark durch den Umgang mit großen Datenmengen bestimmt sein. Das, was wir mal in der Verfassungsrechtsprechung hatten, nämlich dass das Prinzip der Datensparsamkeit gilt, mag für einzelne Bereiche richtig sein. Aber die Wertschöpfung der Zukunft – vom Bundesgesundheitsminister ist gerade heute ein Artikel darüber in der Zeitung zu lesen – wird nicht mehr damit auskommen, dass man möglichst wenige Daten hat, sondern es wir darauf ankommen, aus vielen Daten möglichst interessante Schlussfolgerungen und Anwendungen zu schöpfen. Da müssen wir in Deutschland sicherlich an vielen Stellen noch ein Stück weit umdenken. Damit komme ich nochmals zurück auf die Frage der europäischen Aufgaben, die wir jetzt haben und die auch mit Blick auf internationale Veränderungen, auf den neuen amerikanischen Präsidenten, auf das Verhältnis zu Russland, auf das Verhältnis zu China von großer Bedeutung sein werden. Stellt sich die Europäische Union gemeinschaftlich dar? Kommen wir in den verschiedenen Fragen – von Handel über Klimaschutz bis zu innerer Sicherheit und anderem – zu gemeinsamen Positionen? Oder kann man uns nach dem Motto „divide et impera“ spalten, so dass jeder sozusagen seine eigenen Signale sendet? Dann aber wird sich die Stärke Europas nicht entfalten können. Ich glaube, Herr Dauderstädt, Sie sind im dbb auch der Meinung, dass wir bei den großen Fragen gemeinsam agieren müssen. Denn gegenüber 1,3 Milliarden chinesischen Bürgerinnen und Bürgern und 1,2 Milliarden Indern werden wir selbst als 80 Millionen Deutsche nicht so viel auf die Waagschale bringen können, wie wir müssten, um uns durchzusetzen. Das heißt, 500 Millionen Europäer auf einer gemeinsamen Wertebasis mit einem großen Bruttoinlandsprodukt haben eine ganz andere Schlagkraft, ihre Positionen insgesamt durchzusetzen, als jedes einzelne europäische Land; und sei es die größte Volkswirtschaft innerhalb der Europäischen Union. In diesem Zusammenhang will ich allerdings sagen: Mein Verständnis und bislang auch das überwiegende Verständnis in der Europäischen Union von Globalisierung ist ein Verständnis der Offenheit, der gegenseitigen Fairness, ein Verständnis, dass es uns gemeinsam Gewinn bringt, wenn wir kooperieren. Das heißt aber nicht, dass im Föderalismus jedes Problem immer auf die höchste Ebene gehört. Aber da, wo die Probleme auf einer höheren Ebene besser gelöst werden können, sollten wir Kooperation suchen. Das ist zum Beispiel im Hinblick auf freien Handel – nach Regeln natürlich – von allergrößter Bedeutung. – Ich habe eben von Ihnen gehört, dass Sie auch Herrn Münkler hier heute zu Gast hatten. – Es ist total verständlich, dass Menschen konkrete Antworten vor Ort haben wollen, aber genauso plausible Erklärungen, wie sich diese in eine globale Entwicklung einfügen. Meine Damen und Herren, damit möchte ich noch einmal auf das Thema Digitalisierung zurückkommen, die unser Leben insgesamt verändert; genauer gesagt, auf das Thema Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Staat im Zeitalter der Digitalisierung. Ich verfolge, seitdem ich Bundeskanzlerin geworden bin, die Einführung der Gesundheitskarte in Deutschland und höre jetzt mit Freude, dass die ersten Testversuche mit geringen Datenmengen auf der Gesundheitskarte nun in einigen Regionen Deutschlands auf den Weg gebracht wurden. Ich kann nur sagen: Wenn das das Tempo der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung sein wird, dann werden wir nicht sehr erfolgreich sein, sondern in Kürze zu den Entwicklungsländern weltweit gehören. Ich persönlich glaube ja, dass die Frage, ob die öffentliche Verwaltung im Umgang mit den Bürgerinnen und Bürgern neue Technologien anwendet und Menschen daran teilhaben lässt, auch etwas über die Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft aussagt. Man kann Innovationen in Unternehmen haben, man kann sie bei Arbeitnehmern und Unternehmen haben, bei international agierenden Konzernen, bei Start-ups – alles fein. Aber wenn sich das nicht auch in der Verwaltung manifestiert, dann werden sozusagen der Umgang mit den Bürgerinnen und Bürgern auf verschiedenen politischen Ebenen und die Möglichkeit des Staates, die richtigen Gesetze zu machen, sehr darunter leiden. Deshalb bin ich sehr froh, dass es uns im Rahmen der nicht einfachen Bund-Länder-Finanzgespräche gelungen ist, zu sagen: Wir wollen jetzt auch die Digitalisierung über alle Ebenen voranbringen – und zwar nicht so, dass der Bürger wissen muss, welche Kompetenz er gerade abfragt oder ob die Handlung, die er vornehmen will, in eine Zuständigkeit auf kommunaler Ebene, auf Länderebene oder auf Bundesebene fällt, sondern indem wir dem Bürger einen einheitlichen Zugang zu allen Verwaltungsprozeduren gewähren. Hierfür muss der Staat die entsprechenden Schnittstellen zur Verfügung stellen. Das gilt gemeinhin als Mammutaufgabe, weil das zwischen Bund und Ländern grundgesetzlich zu regeln ist, damit aber noch nicht automatisch die Kommunen erfasst sind. Die Länder sagen zwar immer, dass, wenn es um eine Föderalismusreform geht, sie für die Kommunen mitsprechen. Aber was die Umsetzung anbelangt, sollte man doch noch mal extra mit den Kommunen darüber sprechen. Wir können so etwas nur gemeinsam durchsetzen. Bürgerportale zu schaffen, Bürgerkonten zu schaffen und einen vernünftigen Zugang zu Verwaltungsleistungen zuzulassen – das wird eine der zentralen Aufgaben der nächsten Legislaturperiode sein. Die grundgesetzlichen Voraussetzungen dafür haben wir jetzt geschaffen. Das Ganze wird nicht ohne finanziellen Aufwand gehen, aber es wird auch mehr Sicherheit und mehr Datentransparenz bringen. Vor mehr Transparenz mag sich manch einer bei der Gesundheitskarte fürchten; das kann ja sein. Wenn man jeden Arztbesuch auflisten kann, dann ist das für die Eigenverwaltung der Ärzte vielleicht nicht immer toll. Für die Krankenkassen ist das schon erhellender. Und für den Patienten schränkt es die freie Arztwahl noch nicht ein. Insgesamt wollen wir eine sehr viel effizientere Verwaltung ermöglichen und für den Bürger Sicherheit garantieren. Ich werde mich jedenfalls mit ganzer Kraft dafür einsetzen, dass wir ein moderner Staat in diesem Sinne sein werden. Ich bitte Sie, offen dafür zu sein und dabei mitzumachen, denn das bedeutet natürlich auch Veränderungen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und in diesem Falle auch für die Beamten. Wir alle wissen, dass damit auch viele Weiterbildungsnotwendigkeiten verbunden sind. Ich erinnere mich noch, wie es war, als die ersten Microsoft-Computer auf dem Plan erschienen. Ähnlich viel Aufwand wird auch wieder notwendig sein. Aber insgesamt betrachtet glaube ich, dass wir alle davon profitieren können. Lieber Herr Dauderstädt, meine Damen und Herren, ich schließe mit einem nochmaligen Dankeschön für das, was Sie jeden Tag leisten. Ich setze auf Sie als diejenigen, die ein Eigeninteresse daran haben, dass unser Staat ein gutes Bild abgibt. Ich weiß, dass Sie sich mit Ihren Ideen und Vorstellungen dafür einsetzen. Wir wollen dafür Sorge tragen, dass Sie nicht an zu vielen Stellen demotiviert sind. Ich weiß, dass es auch Demotivation gibt. – Leichtes Raunen im Saal. – Solche Demotivationen müssen aber offen benannt werden, um sie abstellen zu können. Wir alle haben ja nichts davon, wenn sich zum Schluss die Gesellschaft in solche, die den Staat verachten, und in solche, die immer noch verzweifelt für ihn kämpfen, aufspaltet, sondern wir müssen diejenigen, die unsere liberale, demokratische Grundordnung schätzen und in ihr gerne leben, ertüchtigen. Dafür möchte ich mich einsetzen, dafür setzen sich die ganze Bundesregierung und der Bundestag ein. In diesem Sinne auf gute Zusammenarbeit. Vielen Dank.
in Köln
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Empfang der Sternsinger am 9. Januar 2017 im Bundeskanzleramt
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-empfang-der-sternsinger-am-9-januar-2017-im-bundeskanzleramt-394592
Mon, 09 Jan 2017 11:31:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Prälat Krämer, sehr geehrter Herr Pfarrer Bingener, vor allem liebe Sternsingerinnen und -singer, klasse, dass ihr wieder da seid. Herzlich willkommen. Ich freue mich, euch hier im Bundeskanzleramt zu sehen. Vielleicht habt ihr es gemerkt, als ihr in das Bundeskanzleramt hineingegangen seid: In diesem Haus ist es meistens recht ruhig, obwohl hier mehrere hundert Männer und Frauen in den Büros sitzen. Dies ist ein bisschen wie bei einer Klassenarbeit in der Schule. Alle arbeiten angestrengt. Das hier ist eine eigene Atmosphäre. Es gibt viel zu tun. Manchmal machen wir uns viele Gedanken über wenige Sätze. Wir müssen überlegen: Was soll in einem Gesetz stehen und was nicht? Es werden Texte formuliert, um genau das erreichen zu können, was man sich vorgenommen hat. Wir überlegen, ob sich die neuen Regeln mit den alten vereinbaren lassen. Manchmal muss das auch sehr schnell gehen. Alle müssen sich konzentrieren, genau aufpassen und mitdenken. Das ist einer der Gründe, warum hier immer das herrscht, was man Arbeitsatmosphäre nennt, also eine besondere Stille. Das ist die Stimmung, wenn ihr hereinkommt. Aber wenn ihr da seid – das kennen wir schon –, dann verändert sich die Stimmung ein bisschen. Darauf freuen sich viele, die auch jetzt zuhören und zuschauen. Ihr kommt mit euren bunten Kostümen, mit euren hoffnungsvollen Liedern. Ihr seid im ganzen Haus nicht zu übersehen und nicht zu überhören. Ich habe gerade eben mit meinem Wirtschaftsberater gesprochen und habe gesagt: Jetzt muss ich weg; die Sternsinger sind da. Daraufhin sagte er: Habe ich schon gehört. Er hatte also in seinem Büro euren Besuch schon mitbekommen. Wenn wir euch sehen und hören, dann wissen wir, dass das etwas mit unserer Arbeit zu tun hat. Es geht nämlich darum, dass sich Hoffnungen erfüllen und dass wir immer wieder neue Wege in Angriff nehmen. Genau das tut ihr auch. Wir wollen, dass ihr mit euren Familien in unserem Land, in der Bundesrepublik Deutschland, gut leben könnt. Ihr sollt lernen können, in die Schule gehen können. Ihr sollt die Möglichkeit haben, einen interessanten Beruf zu ergreifen. Wir wünschen euch Gesundheit und Erfolg. Als Sternsinger macht ihr aber klar, dass es nicht nur um euch und nicht nur um die Kinder in Deutschland geht, sondern genauso um Kinder in anderen Teilen der Welt, und dass das, was ihr euch wünscht und was wir für uns umsetzen wollen, für die anderen Kinder auf der Welt auch gilt: Dass auch sie in eine Schule gehen können, dass sie als Erwachsene Arbeit finden. Deshalb kommt ihr einerseits recht fröhlich und hoffnungsvoll hierher, aber andererseits mit einer sehr ernsten und klaren Botschaft. Wie in jedem Jahr gibt es einen Schwerpunkt für eure Arbeit. Diesmal lautet das Motto: „Gemeinsam für Gottes Schöpfung“. Es geht – das habt ihr eben in dem wunderschönen Schauspiel dargestellt – um den Klimawandel. Damit habt ihr ein zentrales Thema aufgegriffen. Denn es ist in der Tat sehr perfide, dass Menschen in anderen Teilen der Welt, obwohl sie schon Not genug haben, unter etwas leiden, was sie gar nicht zu verantworten haben. Wenn man zum Beispiel diese Region in Kenia kennt, die ihr angesprochen habt, dann weiß man, dass die Menschen dort doppelte Aufgaben haben. Sie haben zum Beispiel oft nicht genug Holz, um Feuer zu machen. Gerade wurde gesagt, dass nur 1,5 Prozent einen Stromanschluss haben. Das müsst ihr euch einmal überlegen: Von 100 Menschen haben 98 keinen Stromanschluss. Deshalb ist es für sie auch sehr schwierig, zu kochen. Denn dafür müssten sie immer wieder Holz haben. Wenn überhaupt möglich, roden sie selbst das wenige ab, das sie noch haben. Auch dadurch kommt ein Kreislauf in Gang, bei dem es letzten Endes zum Beispiel in den Seen weniger Wasser gibt. Zudem müssen sie noch besonders darunter leiden, dass wir durch einen hohen Ausstoß von Kohlendioxid den Effekt erreichen, dass es immer wärmer wird, dass also noch mehr verdunstet, dass es noch weniger regnet. Das spielt sich gar nicht zuvorderst bei uns ab, sondern eben in anderen Teilen der Welt. Deshalb lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie viel Kohle, Erdöl, Erdgas wir verbrauchen, was wir damit anrichten und was das für andere bedeutet. Unser Wetter verändert sich schon etwas. Das merken wir zum Beispiel an den Dürren oder an den Unwettern, die es bei uns gibt. Aber noch viel klarer ist das in Kenia in der Turkana. Dies ist eine Region, die ihr euch vorgenommen habt. Dort zeigt sich ganz plastisch und klar, was Klimawandel für jeden Menschen, der dort lebt, bedeutet. Wir arbeiten politisch daran, dass wir das Schlimmste des Klimawandels noch aufhalten können. Ihr habt vielleicht etwas über das Klimaabkommen gehört, das Ende des vergangen Jahres in Paris geschlossen wurde. Das war eine großartige Sache, weil sich nach vielen Anläufen zum ersten Mal alle Länder der Welt geeinigt haben – jedenfalls diejenigen, die in den Vereinten Nationen zusammenarbeiten –, dass sie alle etwas gegen den Klimawandel tun wollen, aber natürlich entsprechend der jeweiligen Verantwortlichkeit. Wir in den Industrieländern haben halt schon sehr viel mehr zum Klimawandel beigetragen. Insofern müssen wir auch größere Verpflichtungen eingehen. Das heißt also, wir müssen schauen, wie wir auf der einen Seite unsere Arbeitsplätze erhalten – ich habe ja auch darüber gesprochen, dass auch ihr in Zukunft Arbeit haben wollt –, und dass wir auf der anderen Seite den technologischen Wandel, die Veränderungen so gestalten, dass wir weniger mit Benzinautos, sondern mit mehr Elektroautos fahren werden, dass wir beim Energiesparen vorankommen und dass wir Strom aus erneuerbaren Energien gewinnen – aus Wind, Sonne und Wasser. Deutschland ist hierbei durchaus Vorreiter. Manchmal wird gesagt: Das ist ja alles so kompliziert; und das kostet uns Geld. Aber das ist gut investiertes Geld, weil wir damit nämlich nicht nur uns helfen, sondern weil wir auch die Technologien und Techniken entwickeln, von denen auch andere profitieren können. Man kann zum Beispiel Sonnenenergie in Kenia viel besser als in Deutschland gewinnen, weil dort eben mehr Sonne scheint. Aber wir müssen erst einmal die Technik so weit entwickeln, dass man damit auch anderswo mehr anfangen kann. Beim Klimaschutz müssen und können alle mitmachen. Papst Franziskus hat in seiner Enzyklika „Laudato si“ gesagt: „Alle können wir als Werkzeuge Gottes an der Bewahrung der Schöpfung mitarbeiten.“ Wer diese Chance nutzen will, der macht viel richtig. Deshalb finde ich es großartig, dass ihr euch dieses Jahr dieses Thema vorgenommen habt, auch weil man damit Leben dort und Leben woanders sehr gut an Beispielen zeigen kann. Ihr unterstützt an vielen Orten der Welt Bildungsprojekte, bei denen Kinder lernen können, wie sie sich selber eine Lebensgrundlage aufbauen. Dass ihr mir eines dieser Projekte so hautnah, lebendig und plastisch vorgeführt habt, finde ich natürlich ganz toll. Deshalb hoffe ich, dass die Region Turkana in Kenia auch wirklich spürt, dass es besser wird. Ihr seid jung, aber ihr bewegt schon viel, denn ihr erzählt anderen Menschen davon, dass sie auch etwas Gutes tun, wenn sie euch helfen. Ich finde, das ist wie immer wichtig. Deshalb möchte ich mich stellvertretend für viele, viele Menschen in Deutschland bei euch nochmals ganz herzlich bedanken. Ihr macht noch etwas Zweites. Ihr kommt nicht nur hierher und macht dieses Haus etwas fröhlicher, sondern ihr gebt uns auch etwas für das ganze Jahr mit auf den Weg, wenn ihr euren Segensspruch hier im Kanzleramt aufschreibt. Das ist für uns auch sehr wichtig. Ich bin oft mit vielen Gruppen, die zu Besuch kommen, dort unten auf der Treppe, auf der ihr auch gleich sein werdet. Dann denke ich immer daran, dass in diesem Jahr schon die Sternsinger da waren und gute Vorboten für alle waren, die hier arbeiten. Auch dafür herzlichen Dank. Nun möchte ich mich natürlich auch nicht lumpen lassen und mich ein bisschen an diesem Projekt beteiligen. Deshalb hoffe ich, dass jemand mit einer Schatulle kommt. Herzlichen Dank für eure tolle Vorführung hier – wie immer professionell. Ich glaube, ihr könnt bald auch professionell Theater machen. Danke schön.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Empfang von Angehörigen von Soldaten der Bundeswehr sowie von Polizisten im Auslandseinsatz am 14. Dezember 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-empfang-von-angehoerigen-von-soldaten-der-bundeswehr-sowie-von-polizisten-im-auslandseinsatz-am-14-dezember-2016-328938
Wed, 14 Dec 2016 14:00:00 +0100
Berlin
Auswärtiges
Liebe Frau Ministerin, liebe Ursula, lieber Herr Minister, lieber Thomas de Maizière, sehr geehrter Herr Generalinspekteur, lieber Herr Wieker, aber vor allem Sie, liebe Angehörige von Soldaten und Polizisten – es sind diesmal keine Angehörigen von Soldatinnen und Polizistinnen dabei –, ich möchte Sie ganz herzlich hier begrüßen – inklusive der Kinder. Nicht immer ist unser Publikum hier im Bundeskanzleramt so jung. Es ist eine gute Tradition, die wir alle miteinander sehr gerne pflegen, dass wir hier mit Ihnen ein bisschen Zeit verbringen und dass Sie vorher schon einmal das Kanzleramt kennenlernen. Das soll stellvertretend für viele, viele Soldaten und Polizisten auch eine Anerkennung für das sein, was die Familien leisten, wenn die Väter und Söhne weg sind und gerade auch an den Weihnachtsfeiertagen nicht zu Hause sind. Ich habe heute schon in einer Videoschaltung die verschiedenen Einsatzorte sozusagen besichtigt und von einigen der dort anwesenden Soldaten hören und sehen können, wie es ihnen geht. Ich habe auch einige Grüße zu übermitteln, stellvertretend für viele andere. Die Zahl unserer Einsatzorte hat sich nicht verringert, sondern ist größer geworden – von Afrika über das Mittelmeer bis nach Afghanistan und Irak. Nach wie vor zählt auch der Kosovo dazu. Ich habe heute gesagt: Die Kosovaren könnten sich einmal mehr anstrengen, sodass wir dort dann vielleicht irgendwann unser Engagement deutlich reduzieren können und viele wieder zurückkehren können. Ich weiß, dass Sie auf ganz andere Art genauso viel wie Ihre Söhne und Ehemänner leisten, wenn Sie das Leben wie Alleinerziehende führen und alles allein mit den Kindern auf die Reihe bringen müssen. Die Frau Ministerin weiß genauso wie auch der Bundesinnenminister, der für die Polizisten verantwortlich zeichnet, dass das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie inzwischen ein sehr, sehr wichtiges ist. Aber die Arbeit bzw. die Belastung verbleibt natürlich doch in ganz erheblichem Maße bei Ihnen und muss getragen werden; bei den Eltern natürlich auch. Hinzu kommt die Sorge – weil es zum Teil auch nicht einfache Einsätze sind –, was die Gesundheit und das Wohlbefinden anbelangt. Wenn man von den Geschehnissen beim Generalkonsulat in Masar-e Scharif hört oder wenn man weiß, wie es in Mali ist, wenn man von den dortigen Entwicklungen hört oder wenn man auch sieht, was in Erbil los ist – ich habe eben unsere Piloten und Soldaten in İncirlik zu erwähnen vergessen, mit denen ich natürlich auch gesprochen habe –, dann denkt man schon auch täglich daran, auch ein Stück weit mit Bangen. Sie wissen aber, dass die Bundeswehr und die Polizei alles versuchen, um Sicherheit gut zu gewährleisten. Ich glaube, dabei sind wir Spitze. Aber es bleibt trotzdem immer auch eine nicht ganz einfache Aufgabe. Was ich Ihnen aus meinen Besuchen in Ländern erzählen kann, in denen unsere Soldaten und Polizisten stationiert sind, ist, dass es vor Ort jeweils eine unglaubliche Anerkennung gibt. Gerade die deutschen Soldaten und Polizisten werden dort sehr geachtet. Sie sind militärisch und sicherheitstechnisch gut ausgebildet. Aber auch, was die gesamte Einbettung in das jeweilige politische Umfeld angeht, versuchen wir natürlich, das Notwendige zu tun und gute diplomatische, außenpolitische Beziehungen zu diesen Ländern zu pflegen, sodass Sie und Ihre Angehörigen sozusagen Teil einer Gesamtkraftanstrengung sind, politische Lösungsmöglichkeiten zu suchen, Entwicklungshilfe zu leisten und eben auch Sicherheit durch militärische Aktivitäten zu garantieren. Ich hoffe, dass sich das Klima Ihnen gegenüber, was die deutsche Gesellschaft anbelangt, in den letzten Jahren nicht verschlechtert hat. Es ist zu bestimmten Zeiten noch rauer gewesen. Aber ich glaube, es strömen Ihnen auch manchmal Fragen entgegen wie „Warum macht Ihr Mann das?“ oder „Warum macht Ihr Sohn das?“ oder „Ist das denn nun wirklich eine Arbeit, wenn damit so viel Anstrengung verbunden ist?“. Deshalb sage ich aus vollem Herzen: Wir danken Ihnen. Die gesamte Bundesregierung dankt Ihnen dafür, dass Sie das mittragen, dass Sie Ihre Söhne und Männer nicht permanent entmutigen, diese Arbeit zu machen, sondern sagen, dass Sie sie unterstützen. Wir haben jetzt Gelegenheit, auch noch einmal ohne die Fotografen, die wir natürlich sehr begrüßen, über die einzelnen Situationen zu sprechen. Die Kinder vermissen ihre Eltern natürlich am allermeisten, glaube ich, wenn Weihnachten ist. Insofern danke ich, dass ihr heute auch mit hierhergekommen seid. Ich habe gehört, die Fregatte „Mecklenburg-Vorpommern“ begibt sich jetzt auf Heimfahrt, aber dafür ist natürlich wieder ein anderes Schiff weggefahren. Lassen Sie uns jetzt noch ein bisschen miteinander sprechen. Herzlich willkommen hier im Bundeskanzleramt.
im Bundeskanzleramt
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Deutsch-Französischen Digitalkonferenz am 13. Dezember 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-deutsch-franzoesischen-digitalkonferenz-am-13-dezember-2016-810952
Tue, 13 Dec 2016 13:41:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Staatspräsident, lieber François Hollande, sehr geehrter Herr Minister Sapin, sehr geehrte Frau Ministerin, sehr geehrter Herr Bundesminister Gabriel, meine Damen und Herren, die Sie heute an dieser Digitalkonferenz teilnehmen, dies ist die Folgekonferenz der Konferenz in Paris, die im Herbst 2015 stattgefunden hat. Wie François Hollande eben schon gesagt hat, zeigt sich damit in einem sehr praktischen Bereich, dass Deutschland und Frankreich Motoren einer Entwicklung sein wollen, dass sie von ihren jeweiligen Erfahrungen lernen wollen und dass sie sich auch vernetzen wollen, was ja im Zeitalter der Digitalisierung ein zentraler Begriff ist. Wir alle befinden uns – das sagen wir uns jeden Tag – in einer Zeit radikaler, rasanter Veränderungen, die in allen Bereichen stattfinden – in der Produktion, im Dienstleistungsbereich, in der Verwaltung – und die Einfluss auf unsere Arbeitswelt haben, die – der französische Staatspräsident hat soeben davon gesprochen – Einfluss auf unser Bildungswesen sowie auf die gesamte Kommunikation haben. Wir spüren, dass die Dynamik dieses Wandels sehr hoch ist. Wir sehen, dass einige bereits voll in dieser neuen digitalen Welt leben und arbeiten. Wir sehen aber auch, dass Teile der Gesellschaft noch Mühe damit haben, alles zu verstehen, was stattfindet. Wir haben politisch Verantwortliche und politische Parteien, die alle Hände voll zu tun haben, um diese Entwicklung zu gestalten. Wir sind es nämlich gewohnt, unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sozusagen mit Leitplanken abzusichern; in Deutschland sagen wir dazu „Soziale Marktwirtschaft“. Nun müssen aber plötzlich viele Menschen, die von der eigentlichen technologischen Entwicklung natürlich nicht so viel wie die Experten verstehen, den Gestaltungsrahmen dafür bieten, dass sich diese Entwicklung schnell und effizient, was die Wertschöpfung anbelangt, und zugleich sozusagen gesellschaftsverträglich abspielen kann. Da sind wir gefordert. Unsere erste deutsch-französische Antwort darauf ist, wo immer es möglich ist, in der Tat gemeinsame Antworten zu suchen, die auch von den Vorteilen eines europäischen Binnenmarkts leben. Das heißt eben, den digitalen Binnenmarkt innerhalb der Europäischen Union zu entwickeln. François Hollande und ich treffen uns eigentlich auch schon seit Jahren mit großen europäischen Wirtschaftsunternehmen am runden Tisch, gemeinsam mit der Kommission bzw. dem jeweiligen Kommissionspräsidenten, und diskutieren über den Rahmen der digitalen Entwicklung. Das, was dabei auffällt, ist, dass es auf der einen Seite ein großes Maß an Aufgeschlossenheit gibt, aber dass Verfahren innerhalb der Europäischen Union auch nicht überschnell ablaufen. Das gilt bei unseren eigenen Gesetzen auch. Ich sage einmal: Die Verabschiedung eines Urheberschutzgesetzes, um ein Thema dieser Woche zu nennen, dauert in Deutschland Jahre. Irgendwann muss dann aber auch eine politische Einigung gefunden werden. Deshalb war es gut, dass wir eine Datenschutz-Grundverordnung, also sozusagen das Gerüst dessen, wie wir in Europa in Zukunft mit Daten umgehen wollen, auf der europäischen Ebene verabschiedet haben. Auch hierbei haben sich Deutschland und Frankreich sehr engagiert eingebracht. Aber wir haben in unseren jeweiligen Regierungen auch gesehen, wie sehr der Datenschutz auf der einen Seite und die Notwendigkeit des Umgangs mit großen Datenmengen auf der anderen Seite in einem Widerspruch stehen. Die Datenschutz-Grundverordnung ist jetzt ein Gerüst. Sie enthält aber viele unbestimmte Rechtsbegriffe. Wir werden jetzt in unseren Ländern schauen müssen, wie wir das dann national gestalten – mit unseren Datenschutzverantwortlichen und natürlich auch mit denen, die mit großen Datenmengen umgehen und Wertschöpfung damit betreiben. Deshalb ist mein Vorschlag, dass wir, Deutschland und Frankreich, bei der Umsetzung der europäischen Datenschutz-Grundverordnung sehr eng zusammenarbeiten, damit wir über die nicht ganz klar definierten Rechtsbegriffe nicht zwei verschiedene Welten in unseren Ländern schaffen, sondern damit unsere Unternehmen vielmehr wirklich gut damit arbeiten können. Wir brauchen in dieser revolutionären Zeit eine neue Infrastruktur. Stellvertretend dafür steht sicherlich 5G als neue Generation. Jetzt geht es darum, das 5G-Netz möglichst schnell in ganz Europa auszurollen. Auch hierbei wäre es gut, wenn Deutschland und Frankreich vorn mit dabei sind. Denn wenn uns zum Beispiel beim autonomen Fahren überall an den Grenzen das passiert, was uns heute beim Mobilfunk noch passieren kann, dass man nämlich über drei Kilometer weit erst einmal keinen Empfang hat, dann kann man sich nur noch auf die autoeigenen Sensoren verlassen. Aber es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn man auch eine gute Umgebung hätte, die eine Echtzeitdatenübermittlung ermöglicht. Wir haben in Deutschland Vorkehrungen dafür getroffen. Das entsprechende Frequenznetz ist da. Aber jetzt geht es eben darum, das in ganz Europa voranzubringen. Es geht auch um Fragen des Schutzes. Jeder spektakuläre Fall von Cyberkriminalität erfährt eine große Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, was natürlich nicht zur Vertrauensbildung beiträgt, sondern erst einmal zum Nachdenken darüber, wo die Gefahren liegen. Deshalb ist es gut, dass wir mit unserem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik eine Bundesbehörde haben, die versucht, die Dinge einzuordnen, und dass wir – insbesondere der Bundeswirtschaftsminister und der Bundesinnenminister – mit unserer Wirtschaft im engen Gespräch sind. Sicherheit ist natürlich von entscheidender Bedeutung. Deutschland und Frankreich müssen sich auch darüber austauschen, wie wir die kritischen Infrastrukturen unserer Länder sichern können, auch um ein sicheres Arbeitsumfeld zu haben. Man merkt, dass gerade bei deutschen mittelständischen Unternehmen das Thema Sicherheit eine zentrale Rolle spielt; also etwa die Fragen, wo man seine Daten lagert und wo man sich vor Angriffen sicher fühlt. Das spielt eine sehr große Rolle. Es geht auch um die Frage, wie der Staat auf diese Entwicklungen reagiert. Wir haben begonnen, uns mit dem Thema E-Government intensiver zu beschäftigen. Deutschland ist hierbei nicht besonders schnell; das muss man ehrlich sagen. Wir haben viele Jahre lang versucht, eine elektronische Gesundheitskarte einzuführen, und streiten uns trefflich darüber, wie viele PIN sich ein Mensch höheren Alters noch merken kann. Wir haben jetzt mit unserem neuen Ausweis die Möglichkeit geschaffen, per Chip für Bürgerinnen und Bürger bestimmte Zugänge zu eröffnen. Wir brauchen aber mehr Anwendungen. Deshalb ist es ein großartiges Ergebnis der Bund-Länder-Finanzverhandlungen, dass wir eine Änderung unseres Grundgesetzes vereinbart haben, damit Bund und Länder in dieser Frage zusammenarbeiten können. In Frankreich ist das, meine ich, einfacher, weil es ein zentraler Staat ist. Aber auch in Deutschland mit seinen föderalen Konstruktionen ist der Bürger natürlich darauf erpicht, alle Leistungen seines Staates über ein Portal zu bekommen und nicht zuerst einmal Unterricht nehmen zu müssen, um zu wissen, welche Ebene im föderalen Gebilde für welche Dienstleistung verantwortlich ist. Ich denke, das wird ein wichtiges Thema der nächsten Legislaturperiode sein. Warum halte ich E-Government für so wichtig? Ich halte es deshalb für wichtig, weil Digitalisierung in der Beziehung zwischen dem Bürger und seinem Staat selbstverständlich wird. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, all diejenigen, die von der Digitalisierung der Wirtschaft abhängig sind, diejenigen, deren Arbeitsumfeld sich ändert, werden dies als selbstverständlich annehmen. Das wird dazu führen, dass auch die gesamte Bevölkerung in diese Technologien eingeführt wird. Gerade bei einer Bevölkerung, die tendenziell altert, wie das in Deutschland der Fall ist, ist das sehr wichtig. Zum Bildungsthema: Man muss im Grunde alle Altersschichten bilden. Dies fängt in der Schule an. Die Bundesebene hat in Deutschland eigentlich keine Möglichkeit, auf das Schulwesen zuzugreifen. Auf der anderen Seite wissen wir, wie existenziell notwendig es ist, dass unsere Kinder die Bildung bekommen, die sie brauchen, um in der digitalen Welt der Zukunft gut leben und arbeiten zu können. Wir werden dies seitens der Bundesregierung im Rahmen unserer Möglichkeiten weiter unterstützen. Der jüngste IT-Gipfel hat uns hierbei schon erhebliche Fortschritte gebracht. Es gibt viele Initiativen auch von Unternehmen im Bildungsbereich. Ich denke, dass die Fähigkeit zum Programmieren eine der Basisfähigkeiten junger Menschen neben Lesen, Schreiben, Rechnen wird. Diese werden nicht wegfallen, aber Programmieren wird dazukommen. Es geht auch um einen spannenden Prozess: Wie kann ich eigentlich über das gesamte Arbeitsleben hinweg eine Bevölkerung neugierig halten, um weiter zu lernen? Hierzu gibt es interessante Vorstellungen zum Beispiel unserer Arbeitsministerin, die sagt, dass unsere Arbeitsagentur nicht mehr nur eine Agentur sein soll, die Jobs vermittelt, sondern dass sie auch eine Agentur werden muss, die sich sehr viel mehr dem lebenslangen Lernen verpflichtet. Wir müssen die Berufsbilder anpassen. Wir müssen versuchen, disruptive Entwicklungen, also zu starke Sprünge, zu vermeiden und die Menschen in die Arbeitswelt hineinwachsen zu lassen, in der die digitale und reale Wirtschaft verschmelzen. Ein weiterer Punkt ist natürlich die Wertschöpfung. Ich glaube, bezüglich der Start-ups haben sich an vielen Stellen die Sensibilität und die Offenheit der Politik in den letzten Jahren sehr verändert – auch durch klare Stellungnahmen derer, die in Start-ups arbeiten. Wir werden aber auch noch darüber reden müssen – und damit haben wir in Deutschland auch begonnen –, was das eigentlich für die Arbeitsbedingungen, für das rechtliche Rahmenwerk der Arbeit bedeutet. Ich habe hier soeben gehört, dass jemand bei Airbus drei Monate lang Tag und Nacht, wie gesagt wurde, daran gearbeitet hat, sich sozusagen in einen Airbus hineinzuversetzen, um darin in alle Ecken zu gucken und digital die Realität zu sehen. Als ich „Tag und Nacht“ hörte, habe ich sofort an die europäische Arbeitszeitrichtlinie gedacht, die so etwas eigentlich nicht vorsieht. Nun wird man da eine bestimmte Beschäftigungsform gefunden haben. Aber wir wollen ja nicht, dass alle sozusagen zu Scheinselbständigen werden müssen, damit sie in der Arbeitswelt der Zukunft arbeiten können. Die Frage ist also: Wie organisieren wir Arbeit, ohne dass die Menschen 24 Stunden am Tag erreichbar sein müssen? Das wird noch viele Diskussionen erfordern, weil wir natürlich die beiden Welten – die alte industrielle Welt, die sich langsam transformiert, und die neue Welt der Start-ups – nebeneinander haben und wir keine der beiden Gruppen sozusagen entmutigen dürfen; weder die einen durch zu schnellen Wandel, der noch gar nicht notwendig ist, noch die anderen dadurch, dass sie nicht vorankommen, weil man in unserem Rahmenwerk nicht richtig tätig sein kann, weshalb dann alle Europa verlassen. Auch die Themen Venture Capital und Unterstützung spielen eine Rolle. Auch hierbei befinden sich Deutschland und Frankreich in einem engen Austauschprozess. Je mehr wir gemeinsam hinbekommen, umso besser. Was wir lernen, ist, dass ohne staatliche Begleitung die Entwicklung zumindest in unseren beiden Ländern nicht so gut vorangehen würde. Das heißt, wir müssen uns mit Kompetenzzentren für den Mittelstand, mit Hubs, wie sie vom Bundeswirtschaftsministerium und in Frankreich angeboten werden, mit Standardsetzung, auch mit Fragen der Kooperation etwa in der Mikroelektronik und Chipherstellung – in Dresden und Grenoble haben wir jetzt einen gemeinsamen Cluster –, und mit vielem anderen mehr beschäftigen, damit Europa strategisch sozusagen die Wertschöpfungsketten voll im Griff hat und nicht in Abhängigkeiten gerät, die uns später einmal teuer zu stehen kommen könnten. Alles in allem ist dies also eine extrem spannende Zeit – eine Zeit, die von uns Entscheidungen verlangt, die oft schneller zu treffen sind, als wir das vielleicht in einer gesättigten und langen Phase der klassischen industriellen Entwicklung tun müssten. Wir haben eine, ich sage einmal, sich aufbauende Verbändeszene, die aber noch nicht so etabliert ist wie der Bundesverband der Deutschen Industrie oder die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Es ist aber sehr wichtig, dass sich auch Start-ups – ob in Deutschland, ob in Frankreich –zusammenschließen, um der Politik zu sagen, was sie brauchen. Denn wir können natürlich nicht mit jedem Einzelnen sprechen, auch wenn jeder Einzelne ein unheimlich interessantes Projekt hat. Was mir immer wieder aufgefallen ist – und ich habe den Eindruck, auch in Frankreich ist das so –: Die Diskussion darüber, was wir an Leitplanken, an politischem Rahmen brauchen, findet längst nicht so kontrovers statt, wie wir das aus der klassischen Industrie kennen, in der jeder seinen Forderungskatalog hat. Hier aber gibt es vielmehr ein gemeinsames Ringen um die Gestaltung der Zukunft, das sehr viel interaktiver und eben auch weniger kontrovers abläuft. Diese Chance sollten wir weiter nutzen. Ich habe den Eindruck, dass diese deutsch-französischen Begegnungen auf allen Ebenen – ob auf politischer Ebene oder auf der Ebene der Start-ups – sehr zur Intensivierung dieses Prozesses beitragen. Deshalb von meiner Seite herzlichen Dank an alle, die hier mitgewirkt haben. Ein gesunder Wettbewerb zwischen unseren beiden Ländern ist hoch willkommen. Aber wir haben auch immer den Anspruch, dass Deutschland und Frankreich, wo immer etwas gemeinsam gelöst werden kann, auch gemeinsame Lösungen anbieten. Deshalb herzlichen Dank, lieber François, herzlichen Dank, liebe Minister Sapin und Gabriel, dafür, dass wir diesen Weg weitergehen. Und Ihnen allen herzlichen Dank dafür, dass Sie heute mit dabei sind.
in Berlin
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutschen Handwerkstag am 9. Dezember 2016 in Münster
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-deutschen-handwerkstag-am-9-dezember-2016-in-muenster-794306
Fri, 09 Dec 2016 12:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Wollseifer, sehr geehrter Herr Schwannecke, meine Damen und Herren, die Sie alle mehr oder weniger die deutsche Handwerkskunst repräsentieren, ich bedanke mich für die Glückwünsche zu meiner Wahl, Herr Wollseifer, darf sie aber gleich zurückgeben. Ihr Ergebnis war besser als meines. Das erkenne ich neidlos an. Herzlichen Glückwunsch. Herr Wollseifer, Sie haben kürzlich in einem Interview gesagt – ich zitiere Sie –, „Deutschland entdeckt das Handwerk gerade neu“. Ich glaube, dieser Satz sagt sehr viel darüber aus, wie das Handwerk gesehen wird, wie die Menschen auf das Handwerk schauen und wie das Handwerk sich selbst präsentiert und zeigt, was in ihm steckt. Die Bilanz der letzten Jahre fiel recht gut aus, was unser Zusammentreffen meistens relativ harmonisch gestaltet. Es gab auch schon schwierigere Zeiten. Aber wenn man sich vor Augen hält, dass das Handwerk für das Jahr 2016 einen Umsatzzuwachs von über drei Prozent erwartet, dann weiß man, dass das doch deutlich über dem Zuwachs insgesamt liegt und zeigt: Das Handwerk stellt Zukunft dar – Zukunft in vielerlei Hinsicht; und gerade auch, was Arbeitsplätze anbelangt. Das Umsatzplus geht einher mit einem Stellenplus. Dieses Jahr sollen es bis zu 15.000 neue Arbeitsplätze sein; das ist beachtlich. Die mehr als 5,3 Millionen Beschäftigten sind ein echter Beitrag zu den über 43 Millionen Erwerbstätigen. Man kann daran sehen, welchen gewichtigen Teil das Handwerk in unserer Gesellschaft bildet. Wenn man dann noch weiß, dass fast 365.000 bei Ihnen das Rüstzeug für eine berufliche Zukunft erwerben – das sind mehr als ein Viertel aller Auszubildenden in Deutschland –, kann man an dieser Stelle einmal mehr ein herzliches Dankeschön sagen. Wir müssen aber gemeinsam überlegen, wie wir die Handwerksberufe noch attraktiver machen. Denn selbst in Regionen mit relativ hoher Arbeitslosigkeit – ich weiß das auch von meinem eigenen Wahlkreis – gibt es sehr viele Ausbildungsstellen im Handwerk, die nicht besetzt werden. Wir müssen aufpassen, dass wir gerade in den Regionen mit großen demografischen Veränderungen nicht eine Entwicklung bekommen, bei der die Unternehmen in bestimmten Branchen frustriert sind, weil sie keine richtige Zukunft mehr sehen. Ich will Ihnen ausdrücklich ein Dankeschön dafür sagen, dass Sie sich aus diesem Grund auch sehr schnell mit dem beherrschenden Thema des vergangenen Jahres, das auch heute noch viele Diskussionen bestimmt, nämlich mit der Frage der vielen bei uns ankommenden Flüchtlinge, sehr intensiv auseinandergesetzt haben. Herr Wollseifer hat mir gerade etwas in die Hand gedrückt, dem ich etwas entnommen habe, das Sie alle wahrscheinlich wissen, aber ich nicht wusste: dass der beste Azubi bei den Stuckateuren ein Afghane ist, der vor fünf Jahren geflüchtet war. Dieses tolle Ergebnis bedeutet nicht, dass alle so gut einschlagen wie dieser junge Mann; das weiß ich. Aber dass es solche Einzelbeispiele gibt, ist Ermutigung, den Weg der Integration weiterzugehen. Wir haben in vielen Runden immer wieder darüber gesprochen, wie wir das Handwerk unterstützen können, um Migranten und Flüchtlingen eine Chance zu geben. Hierfür hat der Staat Voraussetzungen zu schaffen. Das ist vor allen Dingen im Zusammenhang mit dem Spracherwerb wichtig. Das ist auch im Zusammenhang mit der Frage wichtig, wie unsere Werte und das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland vermittelt werden. Darauf sind die Integrationskurse inzwischen sehr viel stärker ausgerichtet. Ich denke, durch die Kombination der Verantwortlichkeiten von Herrn Weise beim BAMF und bei der Bundesagentur für Arbeit haben wir es auch sehr gut geschafft, Integrationskurse – als ersten Schritt – und eine berufsbezogene Sprachausbildung – als einen zweiten Schritt – aneinanderzureihen. Es ist nicht ganz einfach, herauszufinden, was die Kompetenzen derer, die hier ankommen, sind. Deshalb danke ich Ihnen, dass Sie die Möglichkeiten von Praktika und andere Möglichkeiten anbieten. Aber der anschließende Sprung in die eigentliche Berufsausbildung ist nicht trivial, weil dafür schon sehr gute Sprachkenntnisse notwendig sind. Ich denke, die Herausforderungen der theoretischen Ausbildung in den Berufsschulen sind nicht zu unterschätzen. Ich erinnere mich an Russlanddeutsche, die zu mir gekommen sind und oft gesagt haben, wie schwer es sei, wenn man im Alter von 12 oder 13 Jahren nach Deutschland kommt, die Sprache lernen muss und dann bald in die Situation kommt, eine Berufsausbildung zu absolvieren. Die praktischen Fähigkeiten sind das eine, die theoretische Arbeit ist das andere. Wir müssen weiter miteinander im Gespräch bleiben. Ich denke, die 3+2-Regelung – Ausbildung plus zwei Jahre – wird allgemein gut angenommen. Ich weiß nicht, ob sich die bayerischen Probleme verringert haben. – (Zuruf) – Sie arbeiten daran. (Zuruf) – Es ist erledigt. Das ist gut. Einmal ausgesprochen; und schon vorbei. Es wäre sonst auch komisch gewesen, wenn gerade in Bayern etwas gewesen wäre. Wir haben auch für Menschen, die noch immer im Asylverfahren sind, ein Programm aufgelegt, damit sie bereits frühzeitig praktische Arbeitsfähigkeiten erwerben können. Ich weiß nicht, ob Sie diesbezüglich Kritik anzumelden haben. Meist schauen Sie ja mit Argusaugen, ob zusätzliche Arbeitsplätze wirklich zusätzliche sind oder ob dem Gewerbe einige an anderer Stelle verlorengehen. Wir brauchen, glaube ich, nicht lange darüber zu sprechen, dass Ausbildung die beste Integrationsmaßnahme ist. Wie kein anderer Bereich hat das Handwerk praktische Erfahrung mit beruflicher Integration. Ihre Initiative „Wege in Ausbildung“, die Spracherwerb, Berufsorientierung und Qualifizierung verbindet, ist eine ausgesprochen lobenswerte Initiative. Wir hören, dass man damit bis zu 10.000 jungen Menschen eine berufliche Zukunft im Handwerk erschließen kann. Das ist natürlich wichtig. Es gibt verschiedene Netzwerke, die die Bundesregierung unterstützt, wie etwa die Initiative „Unternehmen integrieren Flüchtlinge“. Es gibt „Willkommenslotsen“ bei den Kammern, die Betrieben mit praktischem Rat zur Seite stehen. Ich denke, dass wir in fast allen Arbeitsagenturbezirken die Vorrangprüfung abgeschafft haben, war auch noch einmal ein wichtiger Schritt, um voranzukommen. Nun ist das alles natürlich auch in Ihrem Interesse, denn die Nachwuchsfragen stehen ganz oben auf der Tagesordnung. Wir müssen auch immer wieder daran arbeiten, dass, wie Sie es auch gesagt haben, Herr Wollseifer, die Durchlässigkeit der verschiedenen Bildungswege, wo immer nötig, erweitert wird. Ich will an dieser Stelle auch gleich sagen: Wir schätzen den Meisterbrief, wir schätzen die Ausbildungsleistung. In Brüssel ist es aber immer wieder schwierig, deutlich zu machen, dass das System der Handwerkskammern und das System der Meisterprüfung untrennbar mit dem gesamten Ausbildungssystem der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind. Das gehört zur dualen Ausbildung dazu. Insofern ist der Parteitagsbeschluss der CDU auch ein Ausdruck der Wertschätzung, wenngleich wir wissen – wie auch der Beschluss besagt: soweit europarechtlich möglich –, dass wir bei vielen Fragen der Berufsinnungen usw. in Brüssel immer knapp an einem Vertragsverletzungsverfahren vorbeischrammen. Insofern müssen wir diesbezüglich in engem Kontakt bleiben. Das sind wir ja auch permanent und schauen, was man machen kann. Das Handwerk verzeichnet ein Plus bei den Ausbildungsverträgen – entgegen dem demografischen Trend, was eigentlich ermunternd ist. Die Bandbreite der Berufsausbildung ist groß. Ich habe keinen abschließenden Überblick darüber, aber ich kann Sie nur ermutigen, die Curricula möglichst schnell auch auf die Herausforderungen der Digitalisierung auszurichten, damit wir nachher keine disruptiven Prozesse bekommen und damit sich die Berufe evolutionär weiterentwickeln können. Noch haben wir die Chance, das gut hinzubekommen. Wenn wir staatlicherseits zu langsam sind, müssen Sie uns das sagen. Wir sind ja auch nicht immer die Schnellsten. Die Zeit drängt. Wir müssen uns auch gegenseitig beflügeln. Wir haben sehr bewusst das Meister-BAföG verbessert, um ein Zeichen für die Anerkennung und für die Bedeutung der Meister zu setzen. Wir setzen auch weiter darauf, dass Abiturienten einen Handwerksberuf erlernen können und die, die ein Studium abbrechen, zu einer Berufsausbildung finden. Ich habe mir hierzu in Aachen einmal ein Projekt angeschaut. Ich möchte Sie ermuntern, mit den Universitäten zu sprechen. Viele Universitäten haben gar keinen Überblick darüber, wer bei ihnen das Studium abbricht, weil man irgendwelche Daten nicht erfassen darf. Damit aber Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht verlorengehen und um zu verhindern, dass diese jungen Leute später keinen Berufsabschluss haben und sehr viel schlechtere Chancen haben, wenn sie einmal 40 oder 50 Jahre alt sind, muss man etwas machen. Wir haben manchmal komische Sachen in Deutschland. Die Zahl der Kröten, der Schwalben, der Störche, Kraniche und der Zugvögel insgesamt ist wahrscheinlich sehr gut erfasst. Aber wenn Sie fragen, ob ein Mensch nach der Schule wirklich in einer Berufsausbildung landet, ob erfasst ist, was aus dem Leben von Studienanfängern geworden ist, dann haben Sie Schwierigkeiten, dies herauszufinden. Ich will Sie also ermuntern, was Chancen für Abiturienten oder Studienabbrecher anbelangt, in diese Richtung weiterzumachen. Sie haben kritisch angemerkt, dass die Rente mit 63 – dankenswerterweise haben Sie die Mütterrente nicht erwähnt – aus Ihrer Sicht sozusagen in das Sündenregister der Politik fällt. Wir haben uns das nicht leichtgemacht. Ich will noch einmal daran erinnern: Rente mit 63 gibt es nur für die, die 45 Versicherungsjahre haben. Nach Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters von 67 wird auch die Altersgrenze vom 63. auf das 65. Lebensjahr angehoben sein, ab der man dann ohne Abschläge in Rente gehen kann. Diese wächst also auch schrittweise auf. Die Flexi-Rente ist meiner Meinung nach ein guter Einstieg in eine Welt, in der wir vor allen Dingen auf Freiwilligkeit setzen wollen, wenn Menschen nach dem gesetzlichen Renteneintrittsalter weiterarbeiten wollen. Hierfür haben wir eine auf fünf Jahre begrenzte Phase beschlossen, in der Arbeitgeber die Arbeitslosenversicherungsbeiträge nicht zahlen müssen für jene, die sich für diese Flexi-Rente entscheiden und ihre Rentenansprüche aufbessern wollen. Wir haben uns damit sehr schwergetan. Das muss man auch verstehen. Denn wenn wir zu große Vorteile für weiterarbeitende Menschen nach Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters geben, was die Lohnzusatzkosten anbelangt, dann könnte es das Problem geben, dass 63-Jährige aus dem Betrieb entlassen werden, um 65-Jährige wiedereinzustellen. Das kann nicht im Sinne des Erfinders sein. Also muss man vorsichtig sein und sehen, wie sich das entwickelt. Ich vermute, gute und erfahrene Fachkräfte hält man so lange als Mitarbeiter, wie das irgendwie möglich ist. Es ist auch recht interessant – ich habe neulich mit Herrn Weise darüber gesprochen: Wir haben in den letzten fünf Jahren in Deutschland rund 2,7 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. 900.000 davon entfallen auf Frauen, 900.000 auf ältere Arbeitnehmer, die länger arbeiten, und weitere 900.000 auf EU-Bürger, die in Deutschland einen Arbeitsplatz gefunden haben, woran sich zeigt, dass Deutschland mit seiner guten Arbeitsmarktlage auch einen Solidaritätsbeitrag für arbeitslose Menschen anderer EU-Mitgliedstaaten leistet. Mobilität innerhalb der Europäischen Union ist ja auch sehr wichtig. Wir haben uns nochmals die Rentenfragen angeschaut und sind in der Koalition übereingekommen, bei der Erwerbsunfähigkeitsrente einen zweiten Schritt zu gehen, weil das Thema Altersarmut im Grunde auch sehr eng mit dem Thema Erwerbsunfähigkeit verbunden ist. Wir werden die Zurechnungszeit bis 2024 schrittweise um drei Jahre von 62 auf das Alter von 65 Jahren verlängern. Ich denke, das ist sachgerecht. Familie und Beruf – Sie haben es angesprochen. Das Thema Zeit – Lebenszeit, Arbeitszeit, Familienzeit – spielt eine immer größere Rolle. Wir haben in dieser Legislaturperiode verschiedene rechtliche Regelungen getroffen. Wir haben das „Elterngeld Plus“ eingeführt, sodass auch mehr Teilzeit möglich ist. Ich weiß, dass Sie von diesen pauschalen Maßnahmen relativ wenig halten. Ich glaube auch, beim Handwerk muss ich mich jetzt nicht lange darüber auslassen, dass Sie dort, wo es sachlich möglich ist – auch wegen des Fachkräftebedarfs – weitestgehend versuchen, die Bedürfnisse der Beschäftigten und die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes zusammenzuführen. Insofern bitte ich Sie nur, dem Thema familiengerechte Arbeitszeit weiterhin eine große Bedeutung beizumessen. Ich glaube, die Attraktivität Ihrer Angebote ist nicht zu unterschätzen. Das wird sich herumsprechen. Beim Thema Digitalisierung bin ich nach wie vor der Meinung, dass es in Deutschland in der gesamten Gesellschaft noch nicht in dem Maße angekommen ist, wie es notwendig wäre. Wir haben deshalb gestern Abend, als wir die Bund-Länder-Finanzbeziehungen quasi finalisiert und über die notwendigen Grundgesetzänderungen gesprochen haben, auch über Maßnahmen gesprochen, die aus unserer Sicht zwischen Bund, Ländern und Kommunen verabredet werden müssen, damit wir auch dem Thema Digitalisierung den notwendigen Raum geben. Auf Bundesseite war es uns sehr wichtig, dass wir ein gemeinsames Portal entwickeln, auf das Bürgerinnen und Bürger zugreifen können und, unabhängig davon, welche staatliche Ebene jeweils verantwortlich ist, sozusagen ihre Geschäfte mit dem Staat abwickeln können. Das bringt ein Thema mit sich, mit dem wir uns in der nächsten Legislaturperiode sehr intensiv beschäftigen werden müssen. Die Masse der Daten fällt in den Kommunen an. Die Kommunen sind eigenständig. Daher müssen wir mit den Kommunen reden, wie wir auch die kommunale Ebene mit einbeziehen können. Denn der Bürger wird in Zukunft nicht fragen: Wende ich mich jetzt gerade an die Bundesebene, an die Landesebene oder an die kommunale Ebene? Wenn wir zum Beispiel Umzüge und Ähnliches regeln wollen, brauchen wir ein Portal für Menschen, die von Kiel nach München umziehen, genauso wie für diejenigen, die von Nürnberg nach Berlin umziehen. Ab- und Ummeldungen und vieles andere über ein zentrales Portal zu erledigen, ist heute angesichts der vielen Einzelaktivitäten auf der kommunalen Ebene überhaupt nicht möglich. Für ein modernes Land ist das aber wichtig. Ich halte E-Government und Digitalisierungsmöglichkeiten für Bürger aber noch aus einem zweiten Grund für wichtig. Wir sind ein Land, das einen demografischen Wandel dahingehend durchläuft, dass das Durchschnittsalter der Bevölkerung immer höher steigt. Damit könnte die Innovationsfreude eher sinken. Zumindest ist nicht gesagt, dass sie steigt, um einmal ganz vorsichtig zu sein. – Das ist keine Beleidigung. – Man muss jedenfalls sozusagen Incentives schaffen. Wenn der Staat Digitalisierung akzeptiert und in seinem staatlichen Handeln annimmt, dann wird das insgesamt so laufen wie eine Weiterbildungsmaßnahme für alle, weil alle dann bestimmte Möglichkeiten nutzen können. Das hilft auch Ihnen in den Betrieben, da Sie auf ein offenes Publikum stoßen und wir uns über die Balance von Datenmenge und Datenschutz vielleicht anders unterhalten, als wenn wir noch nie mit Digitalisierung in Berührung gekommen wären. Wir brauchen für alle technischen Innovationen ein innovationsfreundliches gesamtgesellschaftliches Klima. Es ist durchaus interessant: In Estland hat jeder Mensch eine digitalisierte Krankenversicherungskarte. Die erste Reaktion von Menschen in Deutschland auf eine solche Innovation ist: Niemals; wer kann dann meine Daten einsehen? – Auf der anderen Seite wissen wir heute überhaupt nicht, wer alles in den Krankenhäusern in unsere dort irgendwo abgelegten Akten schaut, während der estnische Bürger sehr wohl weiß, wer Zugang zu seinem Account hat und wenn jemand in seine Krankenakte Einsicht genommen hat. Wir brauchen also mehr Offenheit und ein innovationsfreundlicheres Klima. Zudem müssen wir natürlich die Infrastruktur anständig ausbauen. 50 Megabit pro Sekunde pro Haushalt werden wir im Jahr 2018 haben. Das ist schon ganz gut, reicht aber mit Blick auf die Herausforderungen, die wir bereits sehen, noch nicht. Wir werden in den Gigabitbereich gehen müssen. Wir haben in Deutschland die Voraussetzungen geschaffen, um das 5G-Netz auszurollen. Ich, der Wirtschaftsminister und andere aus der Bundesregierung arbeiten intensiv daran, einen digitalen Binnenmarkt zu entwickeln, damit wir die Vorteile des Binnenmarktes auch im Zeitalter der Digitalisierung nutzen können. Um die Chancen der Digitalisierung zu nutzen, ist etwa der Förderschwerpunkt „Mittelstand Digital“ für viele Betriebe ebenso wichtig wie die Kompetenzzentren, die wir eingerichtet haben und noch einrichten werden. Wo Licht ist, ist auch Schatten. So sind die Fragen von Cyber-Angriffen, von Datensicherheit und sicheren Clouds von größter Bedeutung. Die Bundesregierung hat eine neue Cyber-Sicherheitsstrategie aufgelegt. Wir haben mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik eine gute, kompetente Behörde. Ich darf und kann Sie nur bitten, sich vertrauensvoll an unsere Strukturen zu wenden, wenn etwas passiert. Denn wir sind natürlich, wenn wir gegen Angriffe vorgehen wollen, darauf angewiesen, dass wir die Art der Angriffe kennen. Es gibt manchmal noch eine falsche Scheu, dass man sagt: Wer weiß, was das bedeutet, wenn ich Opfer irgendeines Angriffs geworden bin. Aber Angriffe erfolgen bereits sehr häufig. Wir können nur lernen, uns dagegen zu wehren, wenn wir überhaupt wissen, was geschieht. Das heißt, etwas unter den Teppich zu kehren, hilft uns an dieser Stelle überhaupt nicht. Eine Maßnahme in einem ganzen Bündel von Maßnahmen ist zum Beispiel die Einführung eines Gütesiegels für IT-Sicherheit. Wir haben auch mobile Teams, die Hilfe vor Ort geben. Die Initiative „IT-Sicherheit in der Wirtschaft“ richtet sich mit ihren Förder- und Beratungsangeboten insbesondere an kleine und mittlere Unternehmen. Und für das Handwerk gibt es ein eigenes Netzwerk, das hilft, IT-Sicherheitsmaßnahmen umzusetzen. Was die eigentlichen Kernaufgaben in den verschiedenen Handwerksbereichen anbelangt, mangelt es bei Ihnen auch nicht an Herausforderungen. Das Jahresmotto Ihrer Image-Kampagne lautet: „Die Zukunft ist unsere Baustelle“. Das gilt im übertragenen wie im wörtlichen Sinne. Ich will hierbei auf einige Treiber der handwerklichen Entwicklung hinweisen. Da ist das Thema bezahlbarer Wohnraum zu nennen. Wir haben vor kurzem – erst einmal im Kabinett – eine Gesetzesnovelle beschlossen, um die Einführung eines neuen Baurechtstyps voranzubringen. Das ist das sogenannte „Urbane Gebiet“. Damit wollen wir mehr Spielräume für das Nebeneinander von Wohnungen und Gewerberäumen in Ballungsgebieten schaffen. Wir glauben, dass dadurch die Bautätigkeit vorangebracht wird. Die Mittel, die der Bund den Ländern für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung stellt, sind deutlich aufgestockt worden. Wir erleben im Augenblick das Problem, dass die Planungskapazitäten an ihre Grenzen stoßen. Im Tiefbau ist dies definitiv der Fall. Ich weiß nicht, wie es im Wohnungsbau ist. Die Länder und Kommunen haben in den letzten Jahren, als nicht so viel gebaut wurde, zum Teil massiv Stellen gestrichen. Das führt heute zu ewigen Wartezeiten – von der Grundbucheintragung bis hin zu den Planungsvorgängen. Wir reden mit den Ländern sehr intensiv darüber, bestimmte typisierte Wohnungsbaumöglichkeiten zu schaffen, damit nicht überall neue Genehmigungsverfahren durchgeführt werden müssen. Selbstverständlich geht es auch um Fragen der Kosten des Bauens. Energieeffizienz und Kosten stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis. Wir wissen, dass wir hierbei sehr bedacht vorgehen müssen, um letztlich nicht wieder einen Faktor zu haben, der das Bauen einschränkt. Wir machen uns im Augenblick sehr viele Gedanken darüber, wie wir Familien das Bauen erleichtern können. Es gibt sehr viele junge Familien, die kaum Steuern zahlen. Das heißt, steuerliche Programme wirken hier nur relativ wenig, sodass wir uns überlegen, was man außerhalb von steuerlichen Vorteilen tun kann. Das Handwerk kümmert sich sehr um den Klimaschutz. Dafür möchte ich Ihnen ganz herzlich danken. Ich weiß spätestens seit meinem letzten Podcast, dass es im Augenblick große Probleme bei der Entsorgung spezieller Styroporplatten gibt, was ein gewisses Paradoxon darstellt. Der Bund kann sagen: Wir haben, weil wir das Unheil haben kommen sehen, den Ländern empfohlen, sie sollen diese Styroporplatten nicht in die Kategorie einordnen, in die sie sie aber eingeordnet haben, weshalb sie kaum mehr für eine Verbrennungsanlage geeignet sind. Dennoch ist und bleibt diese Frage eine Länderkompetenz. Deshalb müssen wir mit den Ländern eine Übereinkunft finden. Ich habe mir sagen lassen, dass der Durchbruch bei der letzten Umweltministerkonferenz noch nicht ganz geschafft wurde. Aber ich darf Ihnen hier versprechen, dass wir an der Sache dranbleiben, weil es für Sie unangenehm ist, Styroporhalden zu haben. Nach wie vor ist Bürokratie für Sie ein Thema, das wir sicherlich auch nicht von heute auf morgen erledigen. Aber wir haben uns in der Bundesregierung vorgenommen: One in, one out. Also: Für jedes Gesetz, das neue Berichtspflichten nach sich zieht, muss an anderer Stelle der Aufwand in gleichem Maße abgebaut werden. Damit sind wir bis jetzt recht gut vorangekommen. Der Bürokratiekostenindex ist rückläufig. Ich weiß trotzdem, dass noch genug zu tun bleibt. Meine Damen und Herren, ich will Ihnen ganz herzlich danken. Sie leben jeden Tag auch bis hinein ins Wochenende das, was wir Soziale Marktwirtschaft nennen. Das macht politische Arbeit leichter, weil viele Dinge zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern geregelt werden, um die sich die Politik möglichst wenig kümmern sollte. Deshalb freue ich mich auch über all die Bereiche, in denen die Tarifbindung eine hohe Priorität hat, weil uns das dann auch vor Versuchen staatlicher Intervention schützt. Dem täglichen Leben vor Ort – von jüngeren bis älteren Menschen – eine Zukunft zu geben, kann der Staat nicht befehlen. Das ist uns bewusst. Deshalb möchten wir versuchen, Sie mit unseren Entscheidungen nicht zu entmutigen, sondern Sie ab und zu ermutigen, weiter in diesem Bereich tätig sein. Ich freue mich, dass Sie das Thema Erbschaftsteuer lobend erwähnt haben, weil es zum Schluss wirklich ein Ritt auf der Rasierklinge war. Sie wissen, dass uns das Bundesverfassungsgericht schon angedroht hatte, selbst Ausführungsformulierungen vorzunehmen. Es war auch eine Frage des politischen Ehrgeizes, doch noch voranzukommen. Ich glaube, für das Handwerk war es ganz wichtig, die Beschäftigtenzahlen noch einmal ein wenig zu erhöhen. Das ist bei Ihnen ein sehr großer Faktor. Ganz zum Schluss hat doch noch alles geklappt. Daran konnten Sie, auch mit Blick auf die Länder, sehen, dass die Kraft des Handwerks und gerade auch der Unternehmen, die langfristig über Generationen hinweg planen, doch noch so groß ist, dass keiner Lust hatte, in irgendeinen Wahlkampf zu gehen, in dem er zugeben müsste, schuld daran zu sein, dass das nicht geklappt hat. Wer die Treiber im positiven Sinne waren, möchte ich hier nicht weiter ausführen. Ich hoffe, Sie wissen das zu schätzen. Ansonsten wünsche ich Ihnen noch eine gute Tagung, gratuliere allen, die jetzt wiedergewählt wurden, und hoffe, dass wir gemeinsam auch in einer Zeit mit nicht besonders überschaubaren internationalen Herausforderungen den Erfolg fortführen können – einen Erfolg, der auch immer mit einem starken Europa und mit vernünftigen europäischen Regelungen verbunden sein wird. So viel vielleicht noch zum Abschluss: Nach dem Referendum in Großbritannien zum Verlassen der EU haben wir uns im Kreis der 27 in Bratislava zusammengesetzt und gefragt: Was müssen wir in dieser Situation lernen und besser machen? Da gibt es im Grunde einfache Sachen. Europa muss sich mehr auf das Wesentliche konzentrieren. Wir haben die Themen äußere und innere Sicherheit und das Thema Digitalisierung ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt. Europa darf nicht so viele Versprechungen machen, die man später nicht einhält. Es ist zum Beispiel versprochen worden, drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung auszugeben und über 70 andere Sachen. Wenn man aber danach fragt, wer sich unter den Mitgliedstaaten eigentlich daran hält, dann zeigt sich, dass die Liste doch sehr endlich ist. Es bringt Verdruss mit sich, wenn man dauernd Dinge verspricht, die man nicht einhält. Manchmal ist es aber auch richtig schwierig, wenn sich wieder einmal ein großes Vorhaben, eine große Verpflichtung ankündigt, zu sagen: Leute, das kann man doch gar nicht schaffen. Ich meine, wenn Länder mit Millionen arbeitsloser junger Menschen eine Beschäftigungsgarantie für Jugendliche versprechen, dann kann das nicht funktionieren. Das kann die beste Regierung nicht schaffen. Weil ich Ähnliches auch aus der Anfangszeit der Deutschen Einheit kenne, als wir hohe Arbeitslosenzahlen in den neuen Bundesländern hatten, als wir eine wirklich aktive Arbeitsmarktpolitik gemacht haben und man trotzdem wusste, wie viel man etwa mit Hilfe von ABM tatsächlich schafft, rate ich immer: Leute, seid doch bodenständig und sagt, dass ihr dies oder das wollt, aber versprecht bitte nicht jedem etwas, das zum Schluss nicht eingehalten werden kann. Also: Das, was wir uns vornehmen, auch wirklich einhalten, und in den Entscheidungsprozessen schneller werden. Da allerdings liegt es oft nicht an der Europäischen Kommission und am Europäischen Parlament, sondern an den Mitgliedstaaten, weil sich Regierungen – dazu gehört manchmal auch die deutsche – intern über bestimmte Dinge nicht einigen können, zum Beispiel beim Thema Netzneutralität oder beim Thema Roaming-Gebühren. Das hat auch in Deutschland viele Jahre gedauert. Insofern verstehen wir auch im Europäischen Rat unsere Aufgabe darin, immer wieder hinzuschauen und auch in der eigenen Regierung dafür zu sorgen, dass gemeinsame Positionen entwickelt werden. Sonst kann in Brüssel auch nichts Vernünftiges beschlossen werden. In diesem Sinne alles Gute. Ihnen noch eine gesegnete Adventszeit, ein schönes Weihnachtsfest und einen guten Beginn des neuen Jahres. Herzlichen Dank.
Rede von Staatsministerin Grütters bei einer Veranstaltung des Industrieclubs Düsseldorf
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-gruetters-bei-einer-veranstaltung-des-industrieclubs-duesseldorf-794334
Wed, 07 Dec 2016 12:30:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Gäbe es eine Auszeichnung für besondere Verdienste um den Schutz von Kulturgut, wer hätte sie 2016 zuallererst verdient? – Mit gutem Recht könnte man natürlich Museen, aber auch Sammler oder Stifter nominieren. Ich selbst erlebe bei meinen zahlreichen Besuchen in Kultureinrichtungen in ganz Deutschland immer wieder, wie sehr so manches Museum von einer jahrzehntelangen Tradition des bürgerschaftlichen Engagements und des Mäzenatentums profitiert. In Berlin können wir jetzt sogar ein neues Museum der Moderne mit 200 Millionen Euro errichten – um nicht nur die spektakulären Sammlungen der Nationalgalerie angemessen zu präsentieren, sondern auch die Angebote dreier Privatsammler – Marzona, Pietzsch, Marx – zur Überlassung ihrer Kunstwerke anzunehmen. Doch bei aller Wertschätzung für die Meriten unserer Museen und solcher Sammler: Noch preiswürdiger wäre aus meiner Sicht eine Institution, die bisher wohl kaum ein Kunstliebhaber auf dem Schirm hatte – und ich denke dabei nicht an den Deutschen Bundestag, der im Juli ohne eine einzige Gegenstimme unser neues Kulturgutschutzgesetz verabschiedet hat, obwohl auch dies zweifellos ein Meilenstein für den Kulturgutschutz ist. Nein, am meisten verdient hätte diese Auszeichnung in diesem Jahr vermutlich der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Ausgerechnet der Internationale Strafgerichtshof – ausgerechnet ein Gericht, das sich üblicherweise mit schwersten Menschenrechtsverletzungen, mit Völkermord und Kriegsverbrechen, mit Massakern und Massenvergewaltigungen befasst – hat der Weltöffentlichkeit eindrucksvoll vor Augen geführt, warum Kulturgut einen besonders hohen Schutz verdient. Der Internationale Gerichtshof hat unmissverständlich und unüberhörbar klar gemacht: Kulturgüter sind keine Luxusgüter. Kulturgüter sind, wie die Tageszeitung DIE WELT die Anklage zutreffend kommentierte, „existentiell, für Gemeinschaften, Nationen, die Menschheit“; es geht dabei, ich zitiere, „um das Lebensrecht von Gedanken und Ideen.“ Ähnlich hat sich vergangene Woche Papst Franziskus geäußert: Das kulturelle Erbe mache „eine wesentliche Dimension“ des Menschseins aus, sagte er anlässlich einer internationalen Konferenz zum Schutz von Kulturgütern in Konfliktgebieten. Die Überzeugung, dass Kulturgüter existentiell sind als Spiegel unserer Geschichte und unserer Identität, diese Überzeugung ist Teil unseres Selbstverständnisses als Kulturnation. Kultur ist, was uns definiert. Kultur ist, was uns ausmacht – als Menschen, als Europäer, als Deutsche, als Rheinländer oder Thüringer, als Bayern oder Mecklenburger, als Hamburger oder Berliner. Unsere Kultureinrichtungen – allen voran unsere Museen – geben Auskunft über unser kulturelles Gedächtnis, über unser Bild von uns selbst und der Welt. Nationale Identität erwächst zuallererst aus dem Kulturleben eines Landes. Deutschland ist dank einer staatlichen Kulturfinanzierung, die weltweit ihresgleichen sucht (- wir haben im Deutschen Bundestag gerade den Bundeshaushalt 2017 und damit eine weitere massive Erhöhung des Bundeskulturhaushalts um ganze 17 Prozent verabschiedet -), ein Land mit einer beinahe einzigartigen Dichte an Kultureinrichtungen. Allein die Hälfte aller Opernhäuser weltweit steht auf deutschem Boden. Der Journalist Ralph Bollmann hat sich vor einiger Zeit die Mühe gemacht, sie alle zu bereisen, und kam in seinem wunderbaren Buch „Walküre in Detmold“ – eine der schönsten Liebeserklärungen an die deutsche Kulturlandschaft – zu dem Schluss, ich zitiere: „Das Besondere an Deutschland ist nicht, dass es mehrere bedeutende Zentren hat. Ungewöhnlich ist, wieviel Wichtiges sich an ganz unwichtigen Orten abspielt.“ Oder, wie ich persönlich es formulieren würde: wieviel Weltläufigkeit und kulturellen Reichtum es in ganz Deutschland, ja selbst in der vermeintlichen Provinz, zu entdecken gibt. Als Spiegel unserer Identität, meine Damen und Herren, verdienen Kunst und Kultur nicht nur Förderung, sondern auch Schutz. Wer überzeugt ist, dass Kulturgüter „existentiell [sind] für Gemeinschaften, Nationen, die Menschheit“ (um noch einmal die WELT zu zitieren), kann und darf Kunst und Kultur nicht allein dem Markt, der Regulierung durch Angebot und Nachfrage, überlassen. Das Grundgesetz verpflichtet uns deshalb ausdrücklich zum „Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland“. Und das Völkerrecht verpflichtet uns, gegen den illegalen Handel mit Antiken beispielsweise aus den Kriegs- und Krisengebieten im Nahen Osten vorzugehen. Deshalb hat Deutschland 2016 sein Kulturgutschutzrecht modernisiert und das deutsche Recht an internationale und EU-Standards angepasst. Wir leisten damit zum einen- endlich! – unseren Beitrag zur Eindämmung des illegalen Handelns mit Kulturgütern und zum Schutz des kulturellen Erbes der Menschheit – nicht im (deutschen) Alleingang übrigens! Denn auch der Europarat in Straßburg arbeitet derzeit an einem „Überein-kommen über Straftaten im Zusammenhang mit Kulturgut“. Damit reiht sich auch das Strafrecht ein in die internationalen Vorgaben zum Kulturgutschutz durch die EU, durch die UNESCO, den UN-Sicherheitsrat und jetzt eben auch des Europarats, die es zu berücksichtigen und national umzusetzen gilt. Zum anderen schützen wir in den wenigen Fällen, in denen Kulturgüter emblematisch sind für unsere Geschichte und Identität, diese wenigen Stücke vor Abwanderung ins Ausland und vor Zerstörung. Was im Einzelfall als „national wertvoll“ gilt, darüber befinden auch weiterhin Sachverständige, zu denen nach wie vor zum Beispiel Museen, der Kunsthandel und auch private Sammler gehören. Die gemeinsame, staatliche wie auch bürgerschaftliche Verantwortung für den Abwanderungsschutz bewährt sich seit vielen Jahren insbesondere beim Ankauf von Kunst – ein Modell, das viel besser funktioniert als der oft gepriesene britische Ansatz. Mit der britischen Regelung, dass ein privater inländischer Käufer innerhalb von sechs Monaten ein konkretes Angebot abgeben muss, scheitert nämlich regelmäßig der Ankauf im Inland. Die Abwanderung muss dann genehmigt werden. Den „fair market value“ legt – in Deutschland undenkbar! – der Minister fest…! Großbritannien hat 2012 und 2013 Kunst für 11,3 Millionen Pfund angekauft, aber Kunst im Wert von rund 340 Millionen Pfund ziehen lassen. Günstiges bleibt, Teures geht. Ein für die Museen und für die Bürger trauriges Ergebnis… . In Deutschland dagegen hat die Kulturstiftung der Länder, 1988 zur „Förderung und Bewahrung von Kunst und Kultur nationalen Ranges“ gegründet, bisher rund 170 Millionen Euro eigene Mittel ausgegeben, aber unter Beteiligung des Bundes und privater Geldgeber für 625 Millionen Euro angekauft. Was die Kulturstiftung der Länder in den vergangenen Jahren – auch dank privater Sponsoren – geleistet hat, geht nämlich weit über die Leistungen Großbritanniens im gleichen Zeitraum hinaus. Diese Form der staatlich-privaten Zusammenarbeit in Deutschland ist ein echtes Erfolgsmodell, und nicht zuletzt aus diesen positiven Erfahrungen heraus ist es mir ein Herzensanliegen, das großartige private Engagement für Kunst und Kultur auch weiterhin zu fördern. Aus diesem Grund habe ich entschieden, die Mittel meines Hauses zum Ankauf national wertvollen Kulturguts im Jahr 2017 erst einmal zu verdreifachen. Außerdem war es mir wichtig, mit der Novellierung des Kulturgutschutz-gesetzes auch private Eigentümer, Sammler, Leihgeber einerseits und Museen andererseits besser zu stellen. Worin bestehen diese Verbesserungen konkret? Erstens: Im bisher geltenden Kulturgutschutzgesetz von 1955 gab es keine Definition dafür, was „national wertvoll“ ist. Anhaltspunkte fanden sich bisher nur in einer Empfehlung der KMK–Kultusministerkonferenz. Nach intensiven Beratungen, Anhörungen, Konferenzen und unzähligen Einzelgesprächen präzisiert das neue Gesetz die Kriterien für Werke, die in ein Verzeichnis national wertvollen Kulturguts einzutragen sind. Das sorgt für mehr Rechtssicherheit. Zweitens: Das Gesetz sieht vor, dass die Sachverständigenausschüsse, bestehend aus Vertretern von Museen, Archiven, Wissenschaft, Handel und Sammlern gestärkt werden; ihre Zusammensetzung wird veröffentlicht. Das Verfahren ist damit transparenter. Außerdem ist der Kreis derjenigen eingeschränkt worden, die ein Eintragungsverfahren beantragen können. Eigentümer von Kulturgütern werden damit auch hier stärker abgesichert als zuvor. Drittens: Leihgaben an öffentliche Museen können – natürlich mit jederzeit widerruflicher Zustimmung des Leihgebers – vorübergehend vom gesetzlichen Schutz öffentlicher Museen profitieren. Falls Leihgaben gestohlen werden und auf illegalem Weg ins Ausland gelangen, bestehen Rückgabeansprüche nicht mehr nur 30, sondern 75 Jahre. Auch das ist gut für Sammler und Leihgeber. Viertens: Im Gegensatz zum Gesetz von 1955 enthält die Novelle klare Verfahrensregeln. Sie schreibt beispielsweise ausdrücklich eine maximale Bearbeitungsfrist von zehn Tagen für die Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung vor. Für den seltenen Fall, dass ein Verfahren zur Eintragung in ein Verzeichnis national wertvollen Kulturgutes eröffnet wird, ist dies im Regelfall innerhalb von sechs Monaten abzuschließen – ansonsten gilt es ohne Eintragung als beendet. Eine solche Befristung gab es bisher nicht. Auch das stärkt Eigentümer und Sammler. Fünftens: Sammler profitieren künftig beim Kauf eines Kunstwerks davon, dass der gewerbliche Kunsthandel im Rahmen des Zumutbaren die Herkunft und Provenienz prüfen muss. Sie können damit sicher sein, dass keine Rückgabe-forderungen drohen. Und auch im Sinne der Händler schafft das neue Gesetz Klarheit und Rechtssicherheit. Es stärkt das Vertrauen in den Kunsthandelsstandort Deutschland und die Position des seriösen Kunsthandels, der damit die Konkurrenz durch „schwarze Schafe“ nicht mehr fürchten muss. Sechstens, last but not least, eine Verbesserung speziell für Museen: Sie brauchen künftig im internationalen Leihverkehr keine Einzelgenehmigung mehr, sondern können eine für fünf Jahre gültige, allgemeine Genehmigung beantragen. Das reduziert den Verwaltungsaufwand, entlastet die Museen sowie vor allem die Verwaltungen der Länder und stärkt den internationalen Leihverkehr. Das Gesetz ist also gerade kein „Bürokratiemonster“ wie es manche Kritiker behaupten, sondern entlastet um etwa 80-90 Prozent der bisherigen Anträge, die vor allem von den Museen kamen. Ich bin überzeugt, meine Damen und Herren, dass wir mit diesen Regelungen der staatlichen Verantwortung für den Schutz von Kulturgut wie auch den legitimen Interessen von Museen, Sammlern, Geldgebern und Leihgebern gerecht werden und auch deren Engagement für den Kulturstandort Deutschland stärken. In den wenigen Ausnahmefällen, in denen Kulturgüter emblematisch sind für unsere Geschichte und Identität, muss es auch in Deutschland möglich sein, diese wenigen Stücke vor Abwanderung ins Ausland und vor Zerstörung zu schützen. Wir reden hier nur über wenige, sehr wenige, besonders bedeutsame Kunstwerke, über einzelne Stücke, die als national wertvoll einzuordnen sind, über einen verschwindend kleinen Teil des riesigen Kunstmarktes. Es geht ausdrücklich nicht darum, möglichst viele Werke in diese Verzeichnisse einzutragen. Werke von Max Liebermann oder Käthe Kollwitz mögen vielleicht national bedeutsam sein. Aber ihre Abwanderung ins Ausland wäre kein unersetzlicher Verlust, weil wir ja bereits sehr viele Bilder von diesen Künstlern in den Museen haben. Es kann also überhaupt nur in ganz wenigen Fällen zu Konflikten kommen zwischen legitimen privaten Interessen und dem öffentlichen Interesse an der Bewahrung des besonderen Werts eines Werkes für Deutschland. Beides miteinander zu vereinbaren, ist uns in den vergangenen 60 Jahren aber ausnahmslos ohne nennenswerten Streit gelungen. Beim Schutz national wertvollen Kulturguts reden wir ja über gesetzliche Regelungen, die seit 60 Jahren, seit 1955, (und auch schon vorher: seit 1919) gelten und die allgemein akzeptiert und rechtlich abgesichert sind. Viele schienen das in der Debatte vergessen zu haben – wahrscheinlich, weil es seit 60 Jahren fast ausschließlich konfliktfrei funktioniert. Angesichts der zahlreichen Verbesserungen ist die Unterstützung für die Gesetzesnovelle viel breiter als die – von einigen schrillen Stimmen geprägte – öffentliche Debatte es vermuten lässt. Neben Unterstützung aus dem Bundesverband der Fördervereine Deutscher Museen für bildende Künste gab es viel Zustimmung vom Deutschen Museumsbund, vom Internationalen Museumsrat, vom Berufsverband Bildender Künstler, vom Künstlerbund, vom Deutschen Kulturrat, von zahlreichen Freundeskreisen als Vertreter von Sammlern, Leihgebern und Eigentümern. Auch bei meiner USA–United States of America-Reise Anfang März habe ich viel positive Resonanz zum Gesetzentwurf bekommen. Dort und im EU–Europäische Union-Kulturministerrat ist man regelrecht erleichtert, dass Deutschland endlich in die Reihe angesehener Kulturgutschutz-Länder aufrückt. Zu den Unterstützern zählen darüber hinaus die 18 Staaten, deren Botschafter sich bei mir persönlich für den Gesetzentwurf bedankt haben, und nicht zuletzt die Kulturminister unserer 16 Bundesländer. Der Bundesrat hat dies in seiner breiten Zustimmung zum Gesetz im Juli auch deutlich gemacht, so dass das Gesetz wie geplant Anfang August in Kraft treten konnte. Diese breite Unterstützung beruht auf dem Konsens, dass Kunst nicht nur einen Preis, sondern auch einen Wert hat, dass Kunst also keine Ware und Geldanlage ist wie jede andere – eine Überzeugung, die ja auch das mäzenatische Wirken und das bürgerschaftliche Engagement für bildende Kunst trägt. Ich kann nur davor warnen, sie leichtfertig zu relativieren oder vom Tisch zu wischen. Wir haben es doch hier in Nordrhein-Westfalen erlebt: Vor zwei Jahren verscherbelte die Landesregierung zwei Warhols, um mit dem Spekulationsgewinn Spielbanken zu sanieren bzw. zu bauen und Haushaltslöcher zu stopfen. Der zuständige Finanzminister erklärte dazu, ich zitiere: „Ein Kunstwerk hat einen Wert, wenn es zu veräußern ist.“ Und auch die Debatte um die Zukunft des Düsseldorfer Schauspielhauses hat gezeigt, was unseren Kultureinrichtungen droht, wenn das Bewusstsein für den Wert der Kunst und der Kultur – und damit auch für die staatliche Verantwortung – fehlt. Wo die Preise, die sich mit Kunst erzielen lassen, höher bewertet werden als ihr Wert, wird sie irgendwann zum dekorativen Luxus, den wir uns nur in guten Zeiten leisten und den wir in schlechten Zeiten zur Disposition stellen. Wenn wir eine solche „Kulturpolitik nach Kassenlage“ ablehnen, wenn wir uns stattdessen weiterhin eine auskömmliche Kulturfinanzierung leisten wollen – dann aus dem Konsens heraus, dass Kunst von unschätzbarem Wert ist für eine humane Gesellschaft und Kräfte entfalten kann, die jene der Politik und des Geldes bisweilen übersteigen. Diese Kräfte, meine Damen und Herren, brauchen wir auch in Zukunft. In diesen Zeiten brauchen wir sie sogar mehr denn je: in einer Zeit, in der es so viele Flüchtlinge gibt, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie der Fall war; in einer Zeit, in der vielerorts auf breiter Front Ressentiments gegen anders Denkende, anders Glaubende, anders Aussehende, anders Lebende geschürt werden; in einer Zeit, in der die Worte „Wir sind das Volk“ missbraucht werden, um Stimmung zu machen gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Vielfalt und Freiheit – und damit letztlich gegen alles, was uns definiert und ausmacht: gegen unsere Kultur nämlich; in Zeiten, in denen die europäische Idee, die uns über Jahrzehnte Frieden, Freiheit und Wohlstand beschert hat, an Strahlkraft verliert und nationalistisches Denken um sich greift. Unsere Kultureinrichtungen können, jede auf ihre Weise, zur Verständigung darüber beitragen, was für ein Land wir in diesen Zeiten sein wollen: sei es in der Auseinandersetzung mit unserer Geschichte; sei es in der kulturellen Bildung und in der Vermittlung dessen, was uns ausmacht; sei es in der Förderung der künstlerischen Avantgarde. Die Kunst hat Einfluss darauf, wie kulturelle Vielfalt in Deutschland wahrgenommen wird. Sie kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht. Sie kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Sie kann unseren Werten jenseits argumentativer Auseinandersetzung Gehör verschaffen. Kultur ist damit eben nicht nur Standortfaktor. Kultur ist Brückenbauerin und Türöffnerin, aber auch Spiegel unseres Selbstverständnisses. Ja, Kultur schafft Werte jenseits der Maßstäbe ökonomischer Verwertbarkeit. Wo, wenn nicht in der Kultur, wird nach Antworten auf letzte Fragen gerungen, auf Fragen nach den Sinn stiftenden Kräften und Werten, die unsere Gesellschaft zusammen halten? Dies zu ermöglichen, ist Aufgabe einer Kulturpolitik, die sich der Freiheit der Kultur und der Kunst verpflichtet fühlt. In Deutschland haben wir aus zwei deutschen Diktaturen in einem Jahrhundert eine Lehre gezogen, die da lautet: Kritik und Freiheit der Kunst sind konstitutiv für eine Demokratie. Wir brauchen sie, die mutigen Künstler, die verwegenen Denker! Sie sind der Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft, der verhindert, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Sie sind imstande, unsere Gesellschaft vor gefährlicher Lethargie und auch vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu schützen. Die Freiheiten dieser Milieus zu schützen, ist oberster Grundsatz, ist vornehmste Pflicht verantwortungsvoller Kulturpolitik. Kunst, Kultur, Literatur dürfen, ja sie sollen und müssen zuweilen Zumutung sein. Deshalb müssen wir alles daran setzen, ihre Freiheiten und ihre ästhetische Vielfalt zu sichern. Die staatliche Fürsorge für die Kultur und ihre Freiheit, die mit dem Mut zum Experiment natürlich auch das Risiko des Scheiterns einschließt, hat immer wieder weltweit beachtete Leistungen hervorgebracht. Ich bin überzeugt: Dieses hartnäckige Engagement für die Kultur und die Künste hat entscheidenden Anteil am mittlerweile wieder hohen Ansehen Deutschlands in der Welt. Kultur ist eben nicht das Ergebnis wirtschaftlichen Wohlstands; sie ist vielmehr dessen Voraussetzung. Sie ist nicht allein Standortfaktor, sondern auch und vor allem Ausdruck von Humanität. Sie ist der Modus unseres Zusammenlebens. Von einem der berühmtesten Söhne des Rheinlands, nämlich von Joseph Beuys, (der – obwohl in Krefeld geboren – angesichts seines Wirkens hier in der Stadt ja fast schon als Düsseldorfer durchgeht -,) stammt der schöne Satz: „Arbeite nur, wenn Du das Gefühl hast, es löst eine Revolution aus.“ Diese auf den ersten Blick etwas ungesund anmutende Arbeitseinstellung kann man durchaus auch als pointierte Beschreibung der Überzeugungen verstehen, die Künstler, aber auch Kulturförderer motiviert. Es muss ja nicht immer gleich die Weltrevolution sein. Die kleinen Revolutionen im Denken, im Wahrnehmen, im Empfinden, im Bewusstsein sind es, die jeder kleinen und großen gesellschaftlichen Veränderung vorausgehen, und in diesem Sinne tragen Kunst und Kultur immer den Keim des – im besten Sinne – Revolutionären in sich. Dass aus diesen Keimen etwas wachsen darf, dass es einen fruchtbaren Nährboden dafür gibt und ein wachstumsförderndes Klima – das macht eine vitale Demokratie aus. Genau deshalb bin ich seit 20 Jahren mit Herz und Seele Kulturpolitikerin, meine Damen und Herren, und genau deshalb appelliere ich auch hier in Düsseldorf an Sie alle, die Sie Einfluss darauf nehmen können: Geben Sie der Kultur in Ihrer Stadt so viel Raum wie nur möglich!
Kulturstaatsministerin Grütters hat in Düsseldorf die Bedeutung von Kultureinrichtungen und kulturellem Engagement betont. „Unsere Kultureinrichtungen – allen voran unsere Museen – geben Auskunft über unser kulturelles Gedächtnis, über unser Bild von uns selbst und der Welt“, so Grütters. Staatliche Verantwortung für den Schutz von Kulturgut wie auch die Unterstützung legitimer Interessen von Museen, Sammlern, Geldgebern und Leihgebern seien daher auch in Zukunft unabdingbar.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Festakt zum 200. Geburtstag von Werner von Siemens am 29. November 2016 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-festakt-zum-200-geburtstag-von-werner-von-siemens-am-29-november-2016-in-berlin-398988
Tue, 29 Nov 2016 19:46:00 +0100
Berlin
Sehr geehrte Frau von Siemens, sehr geehrter Herr Kaeser, sehr geehrter Herr Cromme, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, meine Damen und Herren, als Vordenker und Firmengründer erscheint uns Werner von Siemens förmlich als Lichtgestalt. Dies war ihm nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Er kam in einer Gutspächterfamilie am Ende eines im wörtlichen Sinne dunklen Jahres zur Welt. Denn 1816, das Geburtsjahr Werner von Siemens‘, ging als das Jahr ohne Sommer in die Geschichte ein. Schuld daran war besonders ein Vulkanausbruch in Indonesien, in dessen Folge gewaltige Aschemengen die Sonne selbst im entfernten Europa verdunkelten. Kälte, Ernteausfälle und Hungersnöte prägten dieses Jahr. Auch die Lage der Familie Siemens war alles andere als leicht. Der junge Werner ging dennoch seinen Weg, so wie er es mit knapp 40 Jahren beschrieb: „Ich habe überhaupt stets in der Zukunft mehr wie in der Gegenwart gelebt; wenn diese mir nur lächelt, so trage ich gern die rauen Seiten der selten ganz liebenswürdigen Gegenwart.“ Werner Siemens – damals noch ohne „von“ im Namen – wuchs in eine Zeit hinein, in der die Massenproduktion Fahrt aufnahm. Die erste industrielle Revolution hatte begonnen. In diesen Jahren des wirtschaftlichen wie auch gesellschaftlichen Umbruchs reifte sein Entschluss, einen praktisch-wissenschaftlichen Beruf zu ergreifen. Doch das nötige Geld für eine entsprechende Ausbildung fehlte. Daher wählte er den Weg über das Militär und besuchte die Berliner Artillerie- und Ingenieurschule, wo er umfassende naturwissenschaftliche Kenntnisse erwarb. Er legte damit den Grundstock für seine Karriere als Erfinder, Unternehmer und Wegbereiter der zweiten industriellen Revolution. Von der Entwicklung des Zeigertelegrafen 1846 war hier schon die Rede. Ein Jahr später gründete er in einem Berliner Hinterhof mit Johann Georg Halske die „Telegraphen Bau-Anstalt von Siemens & Halske“. Dies war der Anfang des heutigen Weltkonzerns, der Siemens AG. Über 40 Jahre stand Werner von Siemens – inzwischen für seine Verdienste geadelt – an der Spitze des Unternehmens. Zu seinem Lebensende arbeiteten bereits 6.500 Beschäftigte bei Siemens & Halske. Reputation verschaffte der Firma anfangs vor allem der Bau der Telegrafenleitung von Berlin nach Frankfurt am Main zur Tagung der Deutschen Nationalversammlung. Der Mann hatte ein gutes Gespür. Es folgten diverse Großaufträge im In- und Ausland. Mit der Erfindung der Dynamomaschine nahm die Elektrifizierung ihren Lauf. In der Folge schritt auch der Aufbau von Stromnetzen voran, zunächst vorwiegend in Städten. So konnten in den Fabriken zunehmend Elektromotoren als Antriebsmaschinen eingesetzt werden. 1881 brachte Siemens, Herr Regierender Bürgermeister, die weltweit erste elektrische Straßenbahn in Berlin zum Einsatz – eine Sensation, die von der Fortschrittlichkeit der Stadt zeugte. Heute bin ich davon nicht immer überzeugt, aber ich denke, die Straßenbahn hat eine gute Zukunft in Berlin. Die zukunftsweisenden Erfindungen von Siemens waren das eine. Hinzu kam sein wirtschaftlich vorausschauendes Denken. Er setzte sich unter anderem für einen erweiterten Patentschutz ein. Die Prinzipien des Gesetzes, das hierzu 1877 in Kraft trat, gelten bis heute. Weitsicht bewies Siemens auch in seinem Engagement, qualifizierte Beschäftigte an das Unternehmen zu binden. Er ließ seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter früh am Erfolg teilhaben. – Herr Kaeser hat schon darüber gesprochen. – Er setzte Leistungsanreize, indem er sie besser entlohnte als andere Unternehmer. Er zahlte nicht nur Prämien und Tantiemen, sondern legte auch kürzere Arbeitszeiten fest: die 54-Stunden-Woche. Da würde man heute wahrscheinlich, lieber Herr Huber, manchen Protestruf hören. Aber damals bedeutete das eine erhebliche Erleichterung, die alles andere als selbstverständlich war. Dasselbe gilt für die Pensions-, Witwen- und Waisenkasse, die Siemens einführte. Dies alles in einer Zeit, in der die Arbeitsbedingungen gemeinhin miserabel waren und eine vernünftige soziale Absicherung noch in weiter, weiter Ferne lag. Ich denke, Siemens hat einfach die Fachkenntnis der Arbeiter geschätzt und deshalb darauf gesetzt, vernünftige soziale Bedingungen zu schaffen. Werner von Siemens setzte eigene Akzente, was die soziale Absicherung anbelangte. Er förderte Fortschritt eben nicht nur in technologischer, sondern auch in sozialer Hinsicht. Nun herrschte auch in seinem Unternehmerleben wahrlich nicht nur Sonnenschein. Es galt Rückschläge zu verkraften – sei es beim anfänglichen Auslandsgeschäft, sei es durch die Trennung vom Gründungspartner Halske. Am Ende aber hinterließ Werner von Siemens ein hervorragend aufgestelltes Unternehmen von Weltruf. Das 20. Jahrhundert brachte dann eigene Herausforderungen mit sich: Wirtschaftskrisen, politische Umbrüche, zwei verheerende Weltkriege. Zur Wahrheit gehört, die auch heute Abend durchaus benannt werden sollte, dass auch Siemens während des Nationalsozialismus Teil des Tiefpunkts der deutschen Industriegeschichte war. Als Lieferant der Rüstungsindustrie und weltweit zweitgrößter Elektrokonzern griff das Unternehmen auf einige zehntausend Zwangsarbeiter zurück, die unter fürchterlichen Bedingungen leben und arbeiten mussten. Für viele endete dieses Martyrium mit dem Tod. Dieser Tiefpunkt der deutschen Geschichte und vieler deutscher Industrieunternehmen muss uns eine stete Mahnung sein, unsere ethischen Maßstäbe, die unser Land heute auf der Grundlage unseres Grundgesetzes prägen, niemals aus dem Blick zu verlieren. Nur so können wir eine gute Zukunft gestalten. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs, die nahezu vier Fünftel der Unternehmenssubstanz vernichtet und zu einer vollständigen Schließung der Berliner Siemens-Werke geführt hatten, zwangen das Unternehmen zu einem Neuanfang. Durch ihn fand Siemens wieder zu seinen ursprünglichen Stärken zurück und stellte sich einer neuen, also der dritten industriellen Revolution. Im Zuge dieser industriellen Revolution trieben Elektronik und Informationstechnologien die Automatisierung in der Produktion weiter voran. Digitalisierung und Vernetzung haben uns schließlich in die vierte industrielle Revolution geführt, in der sich Daten als zentraler Rohstoff erweisen. Auf der Basis riesiger Datenmengen lassen sich schier unendlich viele Geschäftsmodelle, Produkte und Dienstleistungen entwickeln. Ob in der Wirtschaft oder in der Gesellschaft allgemein – wir alle sind mittendrin in diesem digitalen Wandel. Er lässt sich nicht aufhalten, aber er lässt sich gestalten. Siemens stellt sich dieser Herausforderung. Unser Anspruch als Industrieland Deutschland muss es sein, vorne mit dabei zu sein, wenn der Fortschritt in der digitalen Welt fortgeschrieben wird. Wir können uns über bisherige Erfolge freuen, aber niemals dürfen wir uns auf ihnen ausruhen. Denn nur wer das Ohr am Puls der Zeit hat, kann frühzeitig Trends erkennen oder selber setzen. Lieber Herr Kaeser, mit der „Vision 2020“ haben Sie für Siemens Ihre Leitideen skizziert. Damit unterstreichen Sie das Selbstverständnis von Siemens als Weltkonzern, Wandel nicht nur anzunehmen, sondern ihn auch selbst zu gestalten. Zur entsprechenden Innovationskultur gehört auch eine Unternehmenskultur, die alle miteinbezieht. Da klingen die Ideale wieder an, die auch Werner von Siemens hatte. Denn er wusste um die Innovationskraft, die der Motivation und Identifikation der Mitarbeiter mit dem eigenen Betrieb innewohnt. Auch als seine Firma immer stärker wuchs, sollte unternehmerische Verantwortung nicht zu kurz kommen – eine Verantwortung, die sich insbesondere auf Weitsicht gründet: also auf dem festen Willen, den Bestand des Unternehmens langfristig zu sichern, und auf dem Antrieb – ich darf Sie, liebe Frau von Siemens zitieren –, „mit Technik Nutzen zu stiften für Menschen, für die Gesellschaft, über die Grenzen Deutschlands hinaus“. Im Sinne seines Gründers, Nutzen zu stiften, nimmt das Unternehmen auch heute zukunftsträchtige Felder in den Blick – Wachstumsfelder, die nun vor allem in der digitalen Welt liegen. Hier bieten sich gerade auch in der Elektroindustrie große Chancen, denn deren Unternehmen sind oft Entwickler, Ausrüster und Produzenten zugleich. Sie spielen somit eine Schlüsselrolle für die Fertigungs- und Prozessindustrie. Unter dem Stichwort Industrie 4.0 haben wir es mit der Verknüpfung von realer und virtueller bzw. digitaler Welt zu tun. Die Vorzüge und Möglichkeiten dieser digitalen Vernetzung sind vielfältig. Man kann mehr Flexibilität in die Großproduktion bringen, die früher ja relativ schematisch ablief. Man kann daher jedem Kunden passgenauere Lösungen anbieten. Forscher und Entwickler können durch die Möglichkeiten der Digitalisierung viel enger zusammenarbeiten und vom Wissensaustausch schneller profitieren. Verkehrsflüsse können durch intelligente Leitsysteme verbessert werden. Das Thema „autonomes Fahren“, das heute zum Teil noch eine Vision oder für viele zumindest außerhalb dieses Raumes noch nicht vorstellbar ist, nimmt Geschwindigkeit auf; und zwar schneller als gedacht. Wir können den Energieverbrauch viel besser senken. Wir können Energieeffizienz verbessern. Wir können in der Medizin individuellere und damit mehr Erfolg versprechende Behandlungen für viele Menschen ermöglichen. Auch darin liegt noch ein riesiges Potenzial. Die Beispielliste ist jetzt schon lang; man kann und wird sie weiterentwickeln. Siemens spielt eine zentrale Rolle bei der Frage, ob dies der deutschen Industrie insgesamt gelingt. Sie machen bei der Plattform Industrie 4.0 mit, mit der wir uns, denke ich, auch weltweit eine gewisse Beachtung geschaffen haben. Ich bin sehr froh, dass maßgebende Akteure aus Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften und Wissenschaften hier vereint sind. Die Chancen der Digitalisierung zu nutzen, ist natürlich nicht nur eine Herausforderung für große Unternehmen, sondern auch für kleine und mittlere Betriebe. Hierbei geht es auch darum, dass wir Kompetenzzentren bilden und – damit komme ich wieder zu Werner von Siemens zurück – dass wir eine lebendige Gründerkultur pflegen. Wir können sagen, dass sich in Berlin eine vielversprechende Start-up-Szene entwickelt hat. In manchen Hinterhöfen herrscht heute genauso ein Erfindergeist wie seinerzeit bei Werner von Siemens – allerdings ganz anderer Natur. Mit „next47“ erinnert die Siemens AG an die eigenen Anfänge 1847 und daran, was den damaligen Betrieb groß gemacht hat. Das hat wirklich wenig mit Nostalgie zu tun, sondern es geht darum, eine Start-up-Kultur zu pflegen, die die Stärken großer und kleinerer Unternehmenseinheiten miteinander verbindet. Kreative Ideen fallen in der Regel nicht einfach vom Himmel. Damals mag das bei Werner von Siemens noch ein gutes Einzelbeispiel gewesen sein. Heute funktioniert das nicht mehr so. Wir brauchen landesweit Bildung und Qualifizierung. Deshalb haben wir auch beim IT-Gipfel vor wenigen Tagen das Thema Bildung ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt. Es ist wichtig, dass wir – obwohl ich weiß, dass das in die Zuständigkeit der Länder fällt – uns gemeinsam überlegen, wie wir gesamtstaatlich die Voraussetzungen dafür schaffen können, dass die Schulen gut ausgerüstet und die Lehrer gut qualifiziert sind, damit die Kinder gut gerüstet in die neue Zeit hineinwachsen – nicht nur zu Hause mit der Nutzung des eigenen Smartphones und des eigenen Tablets, sondern auch durch geeignete Bildung. Der Bildungskanon wird sich verändern. Ich denke, neben Lesen, Schreiben und Rechnen, die weiterhin Grundfähigkeiten sein sollten, wird das Verständnis einfacher Programmsprachen notwendig sein, um jungen Menschen zu eröffnen, was die digitale Welt leitet und voranbringt. Natürlich sind wir auch gefordert – das ist ebenfalls eine staatliche Aufgabe –, Unternehmen eine gute Heimat zu geben und die notwendige Infrastruktur zu schaffen. 50 Megabit pro Sekunde sind etwas, worüber Sie lachen oder, so will ich es an einem solchen Festabend sagen, lächeln. Aber für die ländlichen Räume und die Haushalte dort sind 50 Megabit heute schon ein großer Gewinn. Ich denke, im Grunde befinden wir uns in einem Zustand, den Werner von Siemens auch kannte, als es um Elektrifizierung ging. Damals erfolgte diese auch zunächst in den Städten und erst später dann auch in den ländlichen Räumen. Wir haben heute aber in unserem Grundgesetz die Maßgabe, dass wir vergleichbare Lebensbedingungen für alle Menschen in Deutschland schaffen müssen. Zu diesen Daseinsvorsorgepflichten gehört mit Sicherheit auch die Versorgung mit Breitbandanbindungsmöglichkeiten. Meine Damen und Herren, wir wissen auch um Gefährdungen. Auch hierbei müssen wir eng zusammenarbeiten. Die Nationale Cyber-Sicherheitsstrategie, die wir jetzt aktualisiert haben, ist ein erster Schritt. Aber wir sind gemeinsam auch weiterhin sehr gefordert, weil wir in der Regierung und auch die Parlamentarier, wenn ich diese mit einbeziehen darf, nicht immer über das jüngste technische Know-how verfügen. Wenn aber nicht genau verstanden wird, was stattfindet, ist es natürlich auch nicht einfach, zweckmäßige Gesetze zu machen. Deshalb müssen wir bei Cyber-Fragen eng zusammenarbeiten. Meine Damen und Herren, wie wäre es heute um den Standort Deutschland bestellt, wenn es nicht findige und mutige Unternehmerpersönlichkeiten gegeben hätte, die sich auch immer wieder auf neue Wege wagten? Zurückhaltung und Skepsis gegenüber technischem Fortschritt sind ein altes Phänomen. Auch Werner von Siemens hatte es nicht immer leicht, andere vom Nutzen seiner Ideen zu überzeugen. Aber im Rückblick zeigt sich, dass er gut damit gefahren ist, Veränderung vornehmlich als Chance zu begreifen. Das war auch die Sichtweise, die sein Unternehmen stark gemacht hat – die Sichtweise, der das Unternehmen bis heute treu geblieben ist und die heute weltweit über 350.000 Beschäftigten gute Perspektiven bietet. Das wiederum bietet Anlass, den 200. Geburtstag des Firmengründers feierlich zu begehen. Meine Aufforderung an Sie ist: Machen Sie dem Namen Werner von Siemens weiterhin alle Ehre. Fortschritt kennt viele Namen, Siemens ist einer davon. Ich wünsche mir und Ihnen, dass das so bleibt. Viel Erfolg und herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Festakt zum 60-jährigen Bestehen des Bundesnachrichtendienstes am 28. November 2016 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-festakt-zum-60-jaehrigen-bestehen-des-bundesnachrichtendienstes-am-28-november-2016-in-berlin-393114
Mon, 28 Nov 2016 11:34:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Herr Kahl, sehr geehrte ehemalige Präsidenten, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag – sowohl aus dem Bereich der Dienste als auch aus dem Bereich der Haushälter, wie ich hier sehe; das ist eine gute doppelte Präsenz –, sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes, meine Damen und Herren, aus ihrem Alter machen nicht wenige ein Geheimnis. Auch beim Bundesnachrichtendienst unterliegt vieles der Geheimhaltung. Das muss so sein. Sein Alter aber hält der BND nicht unter Verschluss. Zum Glück, denn so kann ich heute ganz offen gratulieren: Herzlichen Glückwunsch zum 60-jährigen Bestehen des Bundesnachrichtendienstes, herzlichen Glückwunsch an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die – wie Sie eben gesagt haben, Herr Kahl – zum Teil auch unter Einsatz ihres Lebens ihren Dienst für unser Land leisten. Ich freue mich ganz besonders, dass ich bei dieser Jubiläumsfeier mit dabei sein kann und meinen Dank allen – auch denen, die nicht hier sind – überbringen kann. Ich glaube, das Umspannwerk Kreuzberg bietet für Ihr Jubiläum einen passenden Rahmen. Die alte Generatorenhalle, in der wir uns hier befinden, hat eine facettenreiche Geschichte – genau wie der BND. Hier wurde buchstäblich unter Strom gearbeitet; und auch der BND arbeitet heute oft, natürlich in übertragenem Sinne, unter Hochspannung. Bei einem runden Geburtstag, zumal einem 60. Geburtstag, käme nun eigentlich der Blick zurück, die Erinnerung an vergangene Zeiten. Das ließe sich auch hier und heute ohne Weiteres bewerkstelligen. Aber zur Geschichte des BND seit seiner Gründung 1956 sind bereits etliche Bücher geschrieben worden – Herr Kahl sprach von ziemlich vielen Bänden. Zusätzlich erhoffen wir uns von den Arbeiten der vom BND berufenen Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Frühgeschichte des BND bald ein solides wissenschaftliches Fundament, um die damalige Arbeit des BND und seine Bedeutung umfassend beurteilen zu können. Mit ihren ersten Veröffentlichungen konnte die Kommission jedenfalls bereits wertvolle Einblicke vermitteln. Ich wünsche der Kommission auch für ihre weitere Arbeit viel Erfolg. Heute aber möchte ich den Blick vor allem auf die Zukunft der deutschen Nachrichtendienste und besonders die des BND richten. Beim Bundesnachrichtendienst ist in jüngster Zeit viel in Bewegung gesetzt worden. Auch dafür ist diese Generatorenhalle Sinnbild, denn auch sie hat einen Transformationsprozess durchlaufen und ist heute Teil des modernen Berlins. Mir ist bewusst, dass die Befassung mit Nachrichtendiensten gerade in Deutschland besonders schwierig ist. Dafür gibt es aktuelle Anlässe wie auch historische Gründe – denken wir an die Gestapo in der Zeit des Nationalsozialismus und die Staatssicherheit zuzeiten der DDR. Die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgeschriebenen Grundrechte waren und sind genau darauf die Antwort des Rechtsstaats unseres Landes. In diesem Rahmen können die Nachrichtendienste heute ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Sicherheitsarchitektur sein; mehr noch: sie können das nicht nur, sondern sie müssen das auch sein. Ich möchte Ihnen zur Veranschaulichung vier kurze Beispiele geben. Erstens: Irak und Syrien. Die Lage im Irak ist äußerst prekär und die in Syrien eine einzige Tragödie. Es muss alles darangesetzt werden, dass das Sterben dort ein Ende findet. Außerdem gilt es, ein weiteres Ausbreiten des Flächenbrands in der Region zu verhindern. Zudem muss der Bedrohung unserer Sicherheit durch Dschihadisten begegnet werden, die aus dieser Region nach Europa zurückkehren. Zweitens: die Ukraine. Die Situation dort ist weiter sehr angespannt. Wir beobachten die Entwicklungen am östlichen Rand Europas mit großer Sorge und müssen die Auswirkungen aktueller geopolitischer Veränderungen auf diese fragile Region genau abschätzen können. Drittens: die Flüchtlingssituation. Sie fordert uns gesellschaftlich wie auch sicherheitspolitisch – zum Beispiel bei der Bekämpfung der Schleuserkriminalität, der Feststellung von Migrationsrouten sowie der Sicherheitsüberprüfung der Menschen, die zu uns kommen und hier leben wollen. Viertens: die Sicherheit des Cyberraums. Wir beobachten in unserer vernetzten Welt eine zunehmende Zahl von Cyberattacken auf sensible Infrastrukturen. Auch Fälle von Cyberspionage sind an der Tagesordnung. Darin liegt ein erhebliches Bedrohungspotenzial, auf das wir flexibel und innovativ reagieren müssen. (Bundesminister Altmaier betritt den Saal) – Ich begrüße ganz herzlich den Chef des Kanzleramts, der mit dem BND noch deutlich mehr zu tun hat als ich und deshalb auch schon alles weiß. – In all diesen beispielhaft skizzierten Feldern – ich könnte noch viele andere nennen; Herr Kahl hat von Afghanistan gesprochen – stehen wir vor der Herausforderung, nicht nur kurzfristige Lösungen, sondern auch langfristige Strategien zu entwickeln. Hierbei ist die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes von hoher Bedeutung. Er trägt dazu bei, dass wir – und hierbei schließe ich mich mit ein – gute, fundierte Informationsgrundlagen besitzen, um Entscheidungen treffen zu können. Zugleich leistet der BND mit seinen Erkenntnissen einen wesentlichen Beitrag zur Arbeit der anderen Sicherheitsbehörden. Beispielhaft hierfür steht seine Arbeit bei der Aufklärung des internationalen Terrorismus. Damit die Polizeibehörden im Rahmen von Maßnahmen zur Gefahrenabwehr oder Ermittlungsverfahren Zugriffe und Verhaftungen durchführen können, sind es nicht selten die Nachrichtendienste, die eine wesentliche Vorarbeit hierzu leisten. Der BND klärt terroristische Aktivitäten im Ausland auf. Er erkennt Netzwerke. Er identifiziert Gefährder. In enger Zusammenarbeit mit den Innenbehörden trägt er dazu bei, Terrorplanungen zu vereiteln. Ich betone daher nochmals: Die Arbeit der Nachrichtendienste ist für die Bundesrepublik Deutschland unverzichtbar. Wir brauchen ihre Informationen als Grundlage einer effektiven Sicherheitspolitik. Dabei – das ist selbstverständlich – müssen die Dienste die ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente stets nicht nur nach Recht und Gesetz, sondern innerhalb dessen auch mit Augenmaß einsetzen. Ebenso selbstverständlich sollte sein, dass eine nachrichtendienstlich beschaffte Information, um werthaltig zu sein und werthaltig zu bleiben, um eine wesentliche Komponente ergänzt werden muss: das ist die der Geheimhaltung. Nachrichtendienstliche Informationen verlieren ihren Wert und damit ihren Nutzen für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger, wenn sie auch denen bekannt sind, die unsere Sicherheit bedrohen. Ebenso wie Freiheit und Sicherheit sich gegenseitig bedingen, sind auch Kontrolle und Geheimhaltung zwei Seiten derselben Medaille. Geheimhaltung ohne Kontrolle ist undenkbar. Sie widerspräche unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung und würde Misstrauen schaffen. Kontrolle ohne Geheimhaltung ist ebenfalls undenkbar. Sie gefährdete die Arbeit der Nachrichtendienste und damit die Aufgabe des Staates, für die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Geheimes also muss geheim bleiben können, und zwar im Rahmen dessen, was Recht und Gesetz dafür vorsehen; das heißt, im Rahmen einer jederzeit möglichen intensiven Kontrolle des Geheimen in den dafür vorgesehenen rechtsstaatlichen Institutionen. In den vergangenen Legislaturperioden waren die Nachrichtendienste und damit auch der BND immer wieder Gegenstand parlamentarischer Untersuchungsausschüsse. Ich denke zum Beispiel an den BND-Untersuchungsausschuss in der 16. Wahlperiode, an die verschiedenen NSU-Ausschüsse in der 17. und 18. Wahlperiode, an den Kunduz-Untersuchungsausschuss in der letzten Wahlperiode oder an den aktuell laufenden NSA-Untersuchungsausschuss. Gerade der NSA-Ausschuss hat sich durch die Erweiterung des Untersuchungsauftrags zu einem echten zweiten BND-Untersuchungsausschuss entwickelt. Mir ist klar, dass Untersuchungsausschüsse für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den betroffenen Behörden stets eine erhebliche Arbeitsbelastung bedeuten, die neben der eigentlichen Kernarbeit bewältigt werden muss – insbesondere dann, wenn der Untersuchungsgegenstand lange Zeit zurückliegt. Dennoch – und das sage ich auch als Mitglied des Parlaments – sind solche Ausschüsse durchaus wichtig: zum einen, um die konkreten Vorhaltungen zu klären und daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen; zum anderen, um uns der Grundlagen unserer Arbeit stets aufs Neue zu vergewissern. Untrennbar damit verbunden ist, dass wir eine angemessene Balance zwischen dem unbestrittenen Informationsrecht der Öffentlichkeit und der Geheimhaltung sensibler Informationen finden müssen. Auch in diesem Zusammenhang hat der laufende Untersuchungsausschuss durchaus positive Effekte. So wird vielen durch diesen Ausschuss bewusst, welche Bedeutung gerade auch die internationale Kooperation hat. Zudem setzen sich viele erst durch den Untersuchungsausschuss mit dem juristischen Rahmen auseinander, der die Arbeit der Nachrichtendienste regelt. Die öffentliche Diskussion über die Arbeit der Nachrichtendienste trägt insgesamt dazu bei, dass sich mehr Menschen Gedanken darüber machen können, welchen wichtigen, ich sage: ja, unverzichtbaren Beitrag die Nachrichtendienste für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland leisten. Mein Fazit lautet: Der Bundesnachrichtendienst kann stolz auf seine Arbeit sein und muss zugleich weiter für eine ebenso kritische wie faire Begleitung seiner Tätigkeit empfänglich sein. Meine Damen und Herren, ich habe eingangs gesagt, beim BND ist gerade in den letzten Monaten viel in Bewegung gekommen, vieles ist neu. Zwei dieser Veränderungen sind deutlich sichtbar. Die erste sichtbare Neuheit ist Ihr neuer Präsident Bruno Kahl, der am 1. Juli als 13. Präsident des BND seinen Dienst aufgenommen hat. Mit Bruno Kahl hat der BND einen in politischen und Verwaltungsvorgängen ausgesprochen erfahrenen Mann gewonnen, der bereits in anderen schwierigen und verantwortungsvollen Aufgaben wertvolle Erfahrung gesammelt hat. Ich wünsche Ihnen hier auch an dieser Stelle noch einmal viel Erfolg. Die zweite völlig unübersehbare Neuheit steht in ungefähr fünf Kilometern Luftlinie von hier: Es ist der Neubau des BND in Berlin-Mitte. Mittlerweile ist der Einzug in die Chausseestraße mit sagenhaften 1.800 Lkw-Ladungen absehbar. Der Neubau wird sicherlich zur Verbesserung der Arbeitsfähigkeit des BND beitragen. Das neue Haus in der Mitte Berlins bietet dem BND darüber hinaus die Chance, seine Arbeit einer breiteren Öffentlichkeit präsentieren zu können. Der BND wird sich in einem Besucherzentrum auf dem südlichen Teil des Geländes zukünftig interessierten Bürgern öffnen. Neben diesen sichtbaren Neuheiten gibt es natürlich auch weniger sichtbare, aber nicht minder wichtige Veränderungen. An erster Stelle zu nennen ist die Novelle des BND-Gesetzes, die in Kürze im Bundesgesetzblatt verkündet werden wird. Mit diesem Reformvorhaben setzt die Bundesregierung Maßstäbe, die international bislang einmalig sind. Mit dem Ende Oktober vom Bundestag verabschiedeten Gesetz zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes haben wir in einem zentralen Bereich nachrichtendienstlicher Arbeit für Rechtssicherheit und Rechtsklarheit gesorgt. Die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes – darauf haben wir geachtet – wird hierdurch nicht eingeschränkt. Vielmehr werden die formellen und materiellen Voraussetzungen, unter denen der BND Fernmeldeaufklärung einsetzen darf, klar geregelt. Die dadurch entstandene Rechtssicherheit dient auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BND. Ich glaube, das sehen viele genauso. Gleichzeitig – das war uns auch sehr wichtig – stärkt das Gesetz die unverzichtbare Zusammenarbeit mit ausländischen Partnern durch klare Regelungen zur gemeinsamen Datenhaltung sowie zu internationalen Kooperationen. Flankiert wird das neue BND-Gesetz von einer Reform des Gesetzes zum Parlamentarischen Kontrollgremium. Die Bundesregierung hat dieses Vorhaben des Parlaments von Anfang an unterstützt. Nicht umsonst wurde bereits im Koalitionsvertrag eine weitere Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle vereinbart. Denn der Bundesregierung ist eine effektive Kontrolle der Nachrichtendienste ebenso wie die Gewährleistung der effektiven Arbeit der Nachrichtendienste ein wichtiges Anliegen. Nur auf diese Weise als Einheit verstanden lässt sich das notwendige Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihre Nachrichtendienste sicherstellen und rechtfertigen. Die Politik ihrerseits hat die Aufgabe, die Nachrichtendienste so auszustatten, dass sie ihre anspruchsvollen Aufgaben angemessen wahrnehmen können. Darum haben wir den BND in bislang nicht dagewesenem Umfang mit Mitteln zur Modernisierung ausgestattet. – Hierbei erschließt sich die Anwesenheit der Haushälter; aber ich möchte hier den Haushältern und den Fachpolitikern gleichermaßen danken für das Ergebnis einer guten Kooperation. – Circa eine halbe Milliarde Euro werden jetzt und in den kommenden Jahren in technische Entwicklungen investiert, damit der BND mit den heutigen Anforderungen auf dem Gebiet wirklich Schritt halten kann. Damit wird er auch für die internationale Zusammenarbeit noch wertvoller. Wir haben außerdem bereits für das Jahr 2016 die Stellenausstattung deutlich verbessert. Meine Damen und Herren, vieles ist also schon geschafft oder auf den Weg gebracht worden. Aber mit 60 Jahren ist der BND noch lange nicht an das Ende seiner Entwicklung gelangt. Und so, wie sich die Welt entwickelt, sieht es auch wirklich nicht danach aus. Daher muss zum Beispiel die Kooperation zwischen unseren eigenen Nachrichtendiensten weiter gestärkt werden. Ein wichtiger Schritt in diesem Zusammenhang ist zum Beispiel der geplante gemeinsame Master-Studiengang zum Nachrichtenwesen. Selbstverständlich muss auch die Zusammenarbeit mit ausländischen Diensten weiter vertieft werden. Gleichzeitig muss der BND aber auch seine eigenen Fähigkeiten weiter stärker und ausbauen. Wir können es uns nicht leisten, die Hände in den Schoß zu legen und auf die Anstrengungen anderer zu vertrauen. Doch zum Schluss möchte ich noch etwas sagen: Heute gibt es eine Ausnahme. Heute können Sie – jedenfalls ein Teil von Ihnen; ich glaube andere sind heute genauso aktiv wie sonst, und das hoffe ich auch – die Hände in den Schoß legen. Denn heute ist ein Tag zum Feiern; ein Tag, um auf 60 bewegte Jahre Bundesnachrichtendienst und auf das, was Sie geschafft haben, zurückzublicken. Dabei wünsche ich Ihnen viel Freude, sage noch einmal herzlichen Dank allen, die beim BND arbeiten, die Veränderungen auf sich nehmen, die umziehen müssen. Ich hoffe, dass in der Zukunft Ihre Arbeit genauso erfolgreich sein wird, wie das in der Vergangenheit der Fall war. Herzlichen Dank dafür, dass ich heute mit dabei sein kann.
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters beim Medien-Club München zum „Herausforderungen und Antworten der Medienpolitik“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-medien-club-muenchen-zum-herausforderungen-und-antworten-der-medienpolitik–792866
Sun, 27 Nov 2016 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
München
Kulturstaatsministerin
Nach einem Blick auf die Speisekarte, insbesondere auf die bayerisch-deftigen „Hofbräuhaus Schmankerl“ einerseits und auf die ambitionierte Agenda unseres Club-Lunchs andererseits darf ich Sie zunächst daran erinnern, dass eine schöne Schweinshaxe oder ein saftiges Almochsengulasch einer intellektuell anspruchsvollen Diskussion möglicherweise nicht förderlich ist. Jedenfalls kann ich aus Erfahrung sagen, dass sich ein gesättigtes, im Entspannungsmodus befindliches Publikum nach einem opulenten Mittagsmahl kaum für eher trockene rhetorische Kost begeistern lässt. Arbeitspsychologen sprechen in diesem Zusammenhang vom „Suppenkoma“ und raten nicht umsonst zu einem stabilisierenden 20minütigen Nickerchen, neudeutsch auch „Power-Napping“ genannt, woraus man bereits schließen kann, dass es günstigere Momente für eine Debatte über „Herausforderungen und Antworten der Medienpolitik“ gibt. Trotzdem freue ich mich sehr, lieber Herr Sinner, dass wir uns zur Vermeidung von Terminkollisionen auf ein Club-Lunch statt einen Club-Abend verständigen konnten, um über aktuelle film- und medienpolitische Entwicklungen zu sprechen. „Suppenkoma“ hin oder her: Stoff für spannende Diskussionen gibt es genug. Vielen Dank für die Einladung und den freundlichen Empfang! Die für mein Eingangsstatement vorgesehenen dreißig bis vierzig Minuten Redezeit reichen zwar aus für den Verzehr eines Krustenschweinebratens, meine Damen und Herren, nicht aber für eine komplette film- und medienpolitische Tour d’horizon. Deshalb werde ich mich darauf beschränken, ihnen – gewissermaßen häppchenweise – einen Überblick über einzelne, ganz aktuelle Entwicklungen zu geben, bevor wir uns dann in der Diskussion gemeinsam das ganze weite Feld der Film- und Medienpolitik vornehmen, angefangen bei der Filmförderung des Bundes über die aktuellen medienpolitischen Initiativen der EU-Kommission bis hin zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die die öffentlich-rechtlichen wie auch die privaten Medien betreffen. Zunächst kann ich Ihnen – brühwarm, denn es ist erst eine Woche her – von der Verabschiedung des neuen Filmförderungsgesetzes berichten, das die qualitative Spitzenförderung und damit auch die deutsche Filmwirtschaft im internationalen Wettbewerb stärken wird. Das ist ein Erfolg nicht nur für mich, sondern auch und in erster Linie für Sie. Ich will vorerst nur zwei Aspekte hervorheben – wir können in der Diskussion weiter ins Detail gehen. Da ist zunächst die Einführung einer Drehbuchentwicklungsförderung als Spitzenförderung, damit Filme, die noch „halbgar“ sind, nicht mehr abgedreht werden „müssen“, um Geld in die Kassen der Produzenten zu spülen. Stattdessen wollen wir drehreife und damit mehr tatsächlich erfolgreiche Stoffe. Davon profitieren sowohl die Drehbuchautoren als auch die Produzenten, aber auch der deutsche Film insgesamt. Außerdem zielt das neue FFG auf eine Konzentration der Fördermittel. Das bedeutet, dass die FFA künftig mit höheren Summen die Finanzierung eines Projekts voranbringen kann. Das gilt übrigens auch für die kulturelle Filmförderung meines Hauses, die wir ja um 15 Millionen Euro aufgestockt haben und die sich nun ebenfalls mit höheren Beträgen pro Film engagieren kann. Auch für den Haushalt 2017 konnte ich diese Erhöhung fortschreiben – und das ist keine Selbstverständlichkeit. Soviel in aller Kürze zur Filmpolitik. Sowohl vom FFG 2017 als auch von der kulturellen Filmförderung erhoffen wir uns eine substantielle Stärkung der kreativen Spielräume. Zugleich arbeiten wir auch weiter an einer besseren Verzahnung und Abstimmung zwischen Länder- und Bundesförderung. Nicht weniger wichtig als konkrete Maßnahmen für den Film ist der allgemeine medienpolitische Rahmen. Vordergründig geht es hier vor allem darum, angesichts der neuen technischen Möglichkeiten im digitalen Zeitalter den Ausgleich zwischen unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Interessen neu zu verhandeln: in der Urheberrechtsdebatte beispielsweise zwischen den Interessen der Künstler und Kreativen, die von geistiger Arbeit leben, den Interessen der Verwerter, die für die Verbreitung geistiger Güter sorgen und oftmals ein hohes Investitionsrisiko tragen, und schließlich den Interessen der Nutzer – der Leser, der Musikhörer, der Zuschauer -, denen das Internet nicht nur freien, sondern teilweise sogar kostenfreien Zugang zur Vielfalt kreativer Leistungen eröffnet. Um zu einem vernünftigen Interessenausgleich zu kommen, braucht es aber zunächst einmal einen Maßstab, und deshalb geht es immer auch um die Frage, wie wir als Bürgerinnen und Bürger – wir sind ja nicht nur Produzenten und Konsumenten! -im digitalen Zeitalter leben wollen, um die Frage also, was in solchen Verhandlungen nicht verhandelbare Grundlage und Richtschnur sein sollte – und warum. Um gleich beim Beispiel „Urheberrecht“ zu bleiben: Nicht verhandelbar ist hier aus naheliegenden Gründen die Freiheit, die geistige und künstlerische Spitzenleistungen überhaupt erst möglich macht. Diese Spitzenleistungen entstehen vor allem dort, wo man von geistiger, von kreativer Arbeit leben kann. Der Schutz geistiger Schöpfungen ist dafür eine notwendige Voraussetzung. Es ist dieser Schutz, der Schriftstellern, Musikern, Drehbuchautoren, Journalisten den Lebensunterhalt sichert. Es ist dieser Schutz, der unsere kulturelle Vielfalt nährt und unseren wirtschaftlichen Wohlstand fördert – und der deshalb nicht zu Disposition stehen darf. Weil die Nutzung und Verbreitung urheberrechtlich geschützter Inhalte im digitalen Zeitalter nicht an Ländergrenzen halt macht, ist es sinnvoll, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sich auf gemeinsame Regelungen verständigen. Wichtig ist mir, dass bei der europäischen Harmonisierung die bewährten Standards im Verhältnis von Urhebern, Verwertern und Nutzern nicht einseitig zu Lasten der Kreativen und der Kreativwirtschaft gesenkt werden. So habe ich mich beispielsweise von Beginn an gegen Überlegungen eingesetzt, Lizenzen für urheberrechtlich geschützte Inhalte verpflichtend europaweit auszugestalten und Geoblocking vollständig zu verbieten. Dies würde der Finanzierung kultureller und medialer Inhalte – zum Beispiel im Filmbereich – den Boden entziehen. Im Ergebnis würden wir durch eine Pflicht zur Paneuropäischen Lizenz also gerade das gefährden, wofür Europa steht, nämlich die kulturelle Vielfalt. Dass sich auf Seiten der EU-Kommission dank Kommissar Oettinger eine differenziertere Sichtweise durchgesetzt hat, begrüße ich sehr. Sowohl im Entwurf der Portabilitätsverordnung als auch in den Regelungsvorschlägen zum Geoblocking habe ich auf entsprechende Weichenstellungen hingewirkt. Nun geht es darum, diesen Ansatz im weiteren europäischen Gesetzgebungsverfahren zu verteidigen. Die Europäische Kommission hat im September weitere Vorschläge zum Urheberrecht vorgelegt, die wir im Moment noch prüfen. Ich kann aber schon heute sagen, dass die Bundesregierung die Kommission im Grundsatz in ihren Reformbemühungen unterstützt. Besonders freut mich, dass die Kommission sich auch des drängenden Problems der Verlegerbeteiligung angenommen hat. Der Bundesjustizminister und ich haben uns in Brüssel intensiv für eine Lösung auf Ebene des EU-Rechts eingesetzt, mit der die gemeinsame Rechtewahrnehmung von Autoren und Verlegern in einer Verwertungsgesellschaft auch in Zukunft möglich ist. Dieses Anliegen hat die Kommission nun auf Initiative von Günther Oettinger aufgegriffen und einen eigenen Lösungsvorschlag unterbreitet. Ohne der erforderlichen Prüfung und Diskussion vorgreifen zu wollen: Das ist ein sehr positives Signal und ein wichtiger erster Schritt. Zum EU-Urheberrechtspaket gehört auch die Einführung eines EU-weiten Leistungsschutzrechts für Presseverleger. Ich teile die Auffassung der Kommission, dass eine europaweit einheitliche Regelung wirkungsvoller ist als wenn hier jeder Mitgliedstaat seinen eigenen Weg geht, und ich werdemich in der sicherlich intensiven Diskussion für ausgewogene Lösungen im Sinne der Kultur einsetzen. Dass wir darüber auch auf europäischer Ebene verhandeln, zeigt, wie wichtig uns der Erhalt der Vielfalt unserer Presselandschaft und die Stabilisierung der Pressefreiheit sind. Ich würde mir allerdings wünschen, meine Damen und Herren, dass das deutsche und europäische Bekenntnis zur Freiheit und Vielfalt der Presse vor unserer Haustür ebenso deutlich ausfällt wie – um im Bild zu bleiben – innerhalb unserer eigenen vier Wände. Wenn in der Türkei, wie die aktuellen Entwicklungen befürchten lassen, irgendwann die Totenglocke für die Demokratie läutet, dann hat das Auswirkungen weit über die türkischen Landesgrenzen hinaus. Die Wertegemeinschaft Europa verliert an Glaubwürdigkeit und Kraft, wenn wir nicht bereit sind, für diese Werte einzustehen. Deshalb dürfen wir es nicht einfach hinnehmen, dass ein enger Partner – Mitglied der NATO und des Europarates – demokratische Grundrechte mit Füßen tritt, den Rechtsstaat außer Kraft setzt, politisch unerwünschte Meinungen gewaltsam unterdrückt und reihenweise Journalisten, Künstler und Oppositionelle verhaftet. Dass wir in der Medienpolitik immer wieder auch über den Kern unseres demokratischen Selbstverständnisses verhandeln, zeigt sich auch im Zusammenhang mit den Entwicklungen, für die sich der Begriff „Medienkonvergenz“ etabliert hat. Der Wahlkampf in den USA und der Wahlsieg Donald Trumps, der ohne die sozialen Medien wohl undenkbar gewesen wäre, hat auch hierzulande Debatten darüber ausgelöst, was die Entstehung neuer Plattformen und neuer Wege der Kommunikation und Information für die politische Willensbildung und konkret auch für den bevorstehenden Bundestagswahlkampf bedeutet. Fest steht: Wo die Grenzen zwischen Rundfunk und Internet, zwischen linearem Fernsehen und Abrufdiensten verschwinden und sich unsere Mediennutzung grundlegend verändert, verändern sich auch demokratische Meinungsbildungsprozesse. Dem Zusammenwachsen der Medien jedenfalls muss eine Konvergenz der Regulierung folgen. Die Kompetenzaufteilung zwischen Bund (Internet / Telemedien) und Ländern (Rundfunk) wird zunehmend schwieriger. Deshalb haben wir mit der Bund-Länder-Kommission Medienkonvergenz, die Malu Dreyer und ich zusammen koordiniert haben, einen richtigen und wichtigen Weg beschritten, der sicher auch noch nicht zu Ende ist. Bei manchen Fragen stehen wir noch ganz am Anfang – zum Beispiel im Umgang mit sozialen Netzwerken und neuen Gatekeepern beim Informationszugang wie etwa Google. Die gemeinsame Arbeit hat aber eines schon sehr deutlich werden lassen: Wenn wir diese Fragen auf europäischer Ebene mitgestalten wollen, dann können wir uns nicht in kleinteiligen Föderalismusdebatten verlieren. Die Kommission hatte deshalb auch die Aufgabe, die Medienregulierung von Bund und Ländern besser aufeinander abzustimmen, sie besser zu verzahnen, damit wir auch in Europa mit einer starken deutschen Stimme im Sinne fairer Wettbewerbsbedingungen für alle Medienanbieter sprechen können. Das ist uns gelungen – zum Beispiel bei der Novellierung der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-Richtlinie). Wir haben dazu im November 2015 eine gemeinsame Stellungnahme von Bund und Ländern nach Brüssel geschickt. Der im Mai vorgelegte Vorschlag der Europäischen Kommission trägt in wichtigen Punkten eine deutsche Handschrift. So soll das Herkunftsland-Prinzip für alle audiovisuellen Medien beibehalten werden. Das ist wichtig, weil es Rechtssicherheit für Unternehmen bedeutet, nur die Vorgaben eines einzigen Landes innerhalb der EU erfüllen zu müssen. Auch die Ausweitung der Richtlinie auf Videoplattformen geht in die richtige Richtung, weil die Nutzer – insbesondere Minderjährige – auf diesen zunehmend audiovisuelle Inhalte konsumieren. Deutschland hatte gefordert, grundlegende Bestimmungen – Jugendschutz, Schutz der Menschenwürde, Verbraucherschutz – auf alle audiovisuellen, geschäftsmäßig erbrachten Mediendienste auszudehnen, um auch neue Akteure auf diese wichtigen Regulierungsziele zu verpflichten. Der hohe Standard im Jugend- und Verbraucherschutz soll nun nicht nur beibehalten, sondern sogar noch verbessert werden. Dazu gehört dann beispielsweise, dass der Schutz vor Hassreden und vor Verletzung von Persönlichkeitsrechten auch von Video-Sharing-Plattformen beachtet werden muss. Wie die konkrete Ausgestaltung einzelner Regelungen aussehen wird, darüber wird derzeit verhandelt. Diskutieren müssen wir auch hier zum Beispiel den Umgang mit Social Media Plattformen. Einiges spricht dafür, zumindest auch die audiovisuellen Angebote von Social Media Plattformen wie Facebook einzubeziehen. Denn es ist nicht vermittelbar, dass man gerade dort, wo sich insbesondere die netzaffinen 14- bis 29-jährigen ihre politische Meinung bilden, ungehindert Anwerbevideos des IS oder dergleichen einstellen kann. Ein weiteres Thema, zu dem die Bund-Länder-Kommission in ihrem Bericht vom 16. Juni Regulierungsvorschläge vorgelegt hat, ist die Anpassung des Kartellrechts an das digitale Zeitalter. Das Bundeskabinett hat im September den Gesetzentwurf für ein Neuntes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen beschlossen. Dabei geht es unter anderem um die Frage, ob das Kartellrecht in einer konvergenten Medienwelt hinreichend dem fairen Wettbewerb dient, und inwieweit Aspekte der Medienvielfalt in der Entscheidungspraxis des Bundeskartellamtes berücksichtigt werden können. Der Gesetzentwurf enthält eine Reihe von Regelungen, die die wirtschaftlichen Handlungsspielräume für die Presse und den Rundfunk erweitern und die klassischen Medien im sich verschärfenden Wettbewerb stärken. So sollen beispielsweise Kooperationen zwischen Presseunternehmen unterhalb der redaktionellen Ebene vom Kartellverbot ausgenommen werden, um eine Zusammenarbeit im Anzeigengeschäft zu ermöglichen. Neben unserer abgestimmten Position zur AVMD-Richtlinie und zur Anpassung des Wettbewerbsrechts, meine Damen und Herren, soll ein weiteres Ergebnis nicht unerwähnt bleiben: Bund und Länder haben ein gemeinsames Positionspapier zum Thema Online-Plattformen abgestimmt, in dem auch wichtige Positionen der Bund-Länder-Kommission zur Medienkonvergenz zur Regulierung von Intermediären (u.a. Suchmaschinen) und Medienplattformen eingeflossen sind. Es ist der deutsche Beitrag zur EU-Konsultation zum Regelungsumfeld von Online-Plattformen. Konkret geht es dabei unter anderem um Online-Plattformen wie Google und YouTube, Facebook, Amazon, aber auch Mediatheken oder andere digitale Marktplätze, die ja längst weit mehr sind als einfach nur Plattformen. Facebook beispielsweise ist – das hat eine Studie des Pew Research Centers, eines renommierten amerikanischen Meinungsforschungsinstituts 2015 ergeben – für rund die Hälfte aller US-Bürger unter 35 (und für rund ein Drittel der über 35-jährigen) wichtigste oder wichtige Nachrichtenquelle. In Deutschland dürfte die Entwicklung ähnlich sein. Was Facebooknutzer zu sehen bekommen, sind die Ergebnisse eines Algorithmus – die Ergebnisse automatisierter Entscheidungen, ausgerichtet auf die Präferenzen des jeweiligen Nutzers und seiner Freunde, programmiert mit dem Ziel, möglichst viel „Traffic“ zu generieren – für Facebook, versteht sich. Dass dadurch Filterblasen entstehen, in denen nicht zuletzt auch rassistische Hetze, Falschmeldungen und Verschwörungstheorien besonders gut gedeihen, ist bekannt. Weniger bekannt sind die konkreten Auswirkungen auf die klassischen Medien. Für die FAZ – um bei meinem Beispiel zu bleiben – bedeutet der Facebook-Algorithmus, dass nur 15 Prozent der Inhalte, die die Redaktion auf Facebook veröffentlicht, den Nutzern auch angezeigt werden. Das heißt: 85 Prozent fallen durchs Raster. 85 Prozent werden als uninteressant aussortiert, und zwar selbst dann, wenn Nutzer ihr grundsätzliches Interesse an der Zeitung bekundet haben. Als treue FAZ-Abonnentin – ja, ich gehöre noch zu der aussterbenden Spezies von Menschen, die den Tag mit der Lektüre einer Tageszeitung beginnen! – bin ich davon nicht direkt persönlich betroffen. Aber ein paar grundsätzliche Fragen drängen sich ganz unabhängig davon geradezu auf: Was bedeutet es für eine Demokratie, wenn Journalisten im Hinterkopf haben, dass ihre Texte möglichst hohe Klickzahlen generieren müssen? Wollen wir die Verbreitung von Informationen und damit auch die Meinungsbildung in unserer Demokratie der Marktlogik der Klick-Ökonomie überlassen? Wollen wir zulassen, dass Internetgiganten wie Facebook ihre Datenmonopole zu Deutungsmonopolen und Deutungsmonopole zu Meinungsmonopolen ausbauen? Wollen wir hinnehmen, dass Algorithmen demokratische Werte und Errungenschaften aushebeln – die Vielfalt unabhängiger Medien und die journalistische Freiheit? Die Frage nach dem Verhältnis von Algorithmen und Werten betrifft natürlich nicht nur die Medien. Aber am Beispiel der Medien erleben wir alle schon jetzt besonders deutlich die Kluft zwischen der Marktlogik der Klick-Ökonomie und den ethischen und rechtlichen Standards unserer Demokratie. Die Fragen, mit denen Algorithmen uns konfrontieren, erfordern deshalb politische Antworten, nicht nur technologische und ökonomische – und mit politischen Antworten meine ich nicht „Antworten von Politikern“, sondern politische Entscheidungen auf der Grundlage öffentlicher Debatten. Auch dafür brauchen wir – nebenbei bemerkt – unabhängige Medien als Orte gesellschaftlicher Reflexion und Verständigung, als Instanzen der Vermittlung zwischen unterschiedlichen Standpunkten. Das scheint – zum Glück – einer Mehrheit der Bevölkerung bewusst zu sein: Eine aktuelle Allensbach-Studie hat jedenfalls gerade gezeigt, dass Zeitungen und Zeitschriften eine deutlich höhere Glaubwürdigkeit genießen als soziale Netzwerke, und dass die „klassischen“ Medien gerade wegen ihres Beitrags zu einer demokratischen Streit- und Debattenkultur geschätzt werden – in Zukunft natürlich zunehmend digital. Nicht zuletzt in dieser Rolle wollen wir auch Inhalteanbieter stärken. Das deutsche Positionspapier zum Regelungsumfeld von Online-Plattformen fordert deshalb unter anderem, Inhalteanbietern einen diskriminierungsfreien Zugang zu meinungsrelevanten Plattformen zu gewährleisten. Außerdem treten wir für Transparenz und für Wahlfreiheit für Nutzerinnen und Nutzer bei der strukturellen Gestaltung des Angebotes ein. Sie müssen in der Lage sein, meinungsbildungsrelevante Angebote, wie beispielsweise die öffentlich-rechtlichen und privaten Vollprogramme, einfach zu finden. Darüber hinaus ist uns mehr Transparenz bei Intermediären – bei Suchmaschinen und sozialen Netzwerken – sehr wichtig. Dabei geht es nicht um eine Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen. Aber die wesentlichen Kriterien der Algorithmen müssen bekannt sein, um unter anderem ein selbstbestimmtes Nutzerverhalten im Internet zu unterstützen und die Mechanismen der Informationsauswahl und Bereitstellung für den Nutzer nachvollziehbarer zu gestalten. Internetnutzer sollten außerdem leicht erkennen können, dass Algorithmen Anwendung finden – und eben keine Redaktion Nachrichten nach journalistischen Kriterien aussucht. Damit die Nutzerinnen und Nutzer erkennen können, welche zentralen Kriterien insbesondere bei Such- und Empfehlungsfunktionen verwendet werden, setzen wir uns für konkrete Transparenzvorschriften auf europäischer Ebene ein. Auch die Förderung von Medienkompetenz gewinnt in diesem Zusammenhang noch weiter an Bedeutung. Denn alle Transparenz nützt nichts, wenn die Nutzerinnen und Nutzer daraus nicht die richtigen Schlüsse für ihr Verhalten im Netz und für die Einordnung von Informationen ziehen. Deshalb bin ich Ihnen, lieber Herr Sinner, liebe Mitglieder des Medien-Clubs München sehr dankbar für Ihr großes Engagement, insbesondere in der Medienbildung von Kindern und Jugendlichen. Mit Blick auf die Uhr will ich es bei diesen ausgewählten Beispielen für aktuelle medienpolitische Herausforderungen bewenden lassen – auch wenn es über die Macht der Algorithmen, die Medienkonvergenz und den kostenfreien Zugang zu geistigen Leistungen hinaus zweifellos weitere Herausforderungen gibt, denen wir uns gemeinsam stellen müssen. Mich interessiert beispielsweise, wie Sie die Rolle der Medien angesichts der Rückkehr eines längst überwunden geglaubten Nationalismus und einer in Teilen der Gesellschaft zu beobachtenden Radikalisierung bewerten, was wir dem auflodernden, fanatischen Hass mitten in unserer Gesellschaft entgegen setzen können und wie wir – angesichts unsäglicher Verunglimpfungen im Nazi-Jargon, ich nenne hier nur den Begriff „Lügen-Presse“ – das Vertrauen von Menschen in demokratische Politik und kritische Medien erhalten bzw. zurück gewinnen. Das sind Herausforderungen, die sich leider nicht (allein) gesetzgeberisch bewältigen lassen. Fest steht: Der technologische Fortschritt konfrontiert uns auf allen politischen Ebenen mit der Herausforderung, die digitale Realität nach unseren freiheitlichen, rechtsstaatlichen, demokratischen und marktwirtschaftlichen Grundsätzen zu ordnen und zu gestalten – und zwar so, dass der Staat auch im Netz seiner Funktion als Garant von Freiheit, Recht, Sicherheit, unabhängiger Meinungsbildung und Medienvielfalt vollumfänglich nachkommen kann. Das ist sicherlich die allergrößte Herausforderung; es geht um die Frage, die ich eingangs schon kurz angesprochen habe – über die Frage, wie wir als Bürgerinnen und Bürger im digitalen Zeitalter leben wollen. Hier zeigt sich nicht zuletzt, wie wichtig eine starke Europäische Union ist. Denn nur, wenn Europa sein ganzes Gewicht in die internationale Diskussion einbringt, haben wir eine Chance, dass sich marktmächtige Internetgiganten an die Spielregeln halten. Gerade wir Deutschen wissen, was dabei auf dem Spiel steht: In Deutschland haben wir aus zwei Diktaturen eine Lehre gezogen: „Kunst und Wissenschaft (…) sind frei.“ So steht es in Artikel 5 unseres Grundgesetzes. Diese und andere Freiheitsrechte haben aus gutem Grund einen hohen, einen vornehmen Verfassungsrang. Sie sind nicht verhandelbar, unabhängig von analoger oder digitaler Welt. Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit, Qualität und Vielfalt der Inhalte müssen in der digitalen wie analogen Welt dauerhaft Bestand haben können. Deshalb wollen und dürfen wir nicht einigen wenigen globalen Internetakteuren die faktische Hoheit darüber überlassen, wie und worüber wir uns zukünftig informieren und wie wir miteinander kommunizieren. Frank Schirrmacher hat in diesem Sinne noch kurz vor seinem Tod im Sommer 2014 ein Machtwort in der Kulturredaktion der FAZ gesprochen: Es ging um die Frage, ob ein langer Text aus dem Feuilleton in die digitale Ausgabe übernommen werden sollte. Von der Software „Chartbeat“ – sie ermittelt die Zahl der Klicks, die sich mit Inhalten im Netz erzielen lassen – gab es dafür kein grünes Licht. Die Online-Redaktion zierte sich deshalb, was – so wird es berichtet – einen schirrmacher‘schen Wutausbruch provozierte: Es seien ja wohl immer noch die Herausgeber einer Zeitung, die deren Inhalte bestimmten, und nicht eine Klick-Zähl-Maschine! Vorrang demokratischer Grundsätze vor dem technologisch Machbaren im Sinne einer dienenden Funktion des technologischen Fortschritts – das ist die Haltung, die es auf Seiten der Medien wie auch in der Politik braucht, um den großen medienpolitischen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen: mit journalistischem Ethos wie auch mit politischem Gestaltungswillen. Beides ist unverzichtbar, und in diesem Sinne hoffe ich auf eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Medienpolitik und Medienwirtschaft. Ich freue mich auf einen anregenden Gedankenaustausch!
Mit Blick auf die Globalisierung und die Digitalisierung hat Kulturstaatsministerin Grütters in medienpolitischen Fragen für europäische Lösungsansätze, etwa beim Leistungsschutzrecht für Verleger, plädiert. „In der Medienpolitik verhandeln wir auch immer über den Kern unseres demokratischen Selbstverständnisses“, sagte Grütters. So stehe bei Online-Plattformen einem selbstbestimmten Nutzerverhalten eine „Marktlogik der Klick-Ökonomie“ gegenüber.
Rede von Staatsministerin Monika Grütters bei der Jahreskonferenz Kultur- und Kreativwirtschaft
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-monika-gruetters-bei-der-jahreskonferenz-kultur-und-kreativwirtschaft-791040
Thu, 24 Nov 2016 12:41:52 +0100
Im Wortlaut
Postbahnhof am Ostbahnhof
Kulturstaatsministerin
Anrede, Viele Geistesarbeiter schwören angeblich darauf: Ein kurzer Mittagsschlaf – neudeutsch auch „Power Napping“ genannt – soll der Kreativität ungemein auf die Sprünge helfen. Ich gehe davon aus, dass dies auch den Organisatoren der Jahreskonferenz Kultur- und Kreativwirtschaft bekannt ist, und mache mir deshalb mit Blick auf den Ablaufplan keine Illusionen, was die Erwartungen an eine Rede im biorhythmischen Nachmittagstief betrifft: Politikergrußworten sagt ja man bisweilen eine durchaus schlaffördernde Wirkung nach. Umso mehr freut es mich, ein – trotz oder wegen des anspruchsvollen Konferenzprogramms – nicht nur offensichtlich waches, sondern auch aufmerksames und interessiertes Publikum zu begrüßen. Ich verspreche Ihnen insofern eine echte Alternative zum „Power Napping“, meine Damen und Herren, als auch die politische Gestaltung guter Rahmenbedingungen, von der ich Ihnen gleich kurz berichten will, Kreativität und Innovationsfähigkeit fördert. Dem Geheimnis der Kreativität, des schöpferischen Geistes auf die Spur zu kommen, das haben bekanntlich schon viele versucht: Neurologen, Psychologen, Wirtschaftspädagogen, Kreativitätsforscher (ja, sowas gibt es!) – und natürlich all jene, die vor einem leeren Blatt Papier oder im so genannten „Brainstorming“ bei Kaffee und Konferenzkeksen vergeblich auf Inspiration warten. Googles Innovationschef Frederik Pferdt hat auf die Frage, wie man Erfindungsreichtum trainiert, in einem Interview einmal gesagt, er helfe Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, in ihre Kindheit zurückzukehren. Ich zitiere: „Die Eigenschaften von Kindern sind denen von Innovatoren sehr ähnlich: Neugierde, alles sofort ausprobieren wollen, keine Grenzen zu sehen, zu versuchen, wilde Fantasien in die Realität umzusetzen. Und auch zu scheitern, sich davon aber nicht beirren zu lassen.“ Noch prägnanter, nämlich als simple Gleichung, hat es ein Physiker formuliert: Kreativität sei Intelligenz, die Spaß macht, war Albert Einstein überzeugt. Davon, meine Damen und Herren, habe ich mir erst gestern, als ich die Kultur- und Kreativpiloten 2016 im Bundeskanzleramt empfangen habe, wieder einmal ein Bild machen können. Jede einzelne der 32 – im doppelten Wortsinn – ausgezeichneten Ideen erzählt von einer „Intelligenz, die Spaß macht“, von der Kraft der Phantasie, die wir – mein Haus in Kooperation mit dem Bundeswirtschaftsministerium – im Rahmen der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft fördern wollen. Ich bin immer wieder begeistert und beeindruckt, was aus dieser Kraft entsteht. Mit Ihren guten Ideen stehen Sie alle, meine Damen und Herren, für die Kraft der Veränderung, die unser Land voran bringt und die uns auch helfen kann, Schritt zu halten mit dem rasanten Tempo technologischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklungen im Zeitalter der Digitalisierung, der Globalisierung und – damit verbunden – der Internationalisierung, um das diesjährige Tagungsmotto aufzugreifen. Dazu ist es wichtig, dass Kreativität sich nicht nur auf „Intelligenz, die Spaß macht“ beschränkt, sondern sich auch mit unternehmerischer Weitsicht zu behaupten weiß. Deshalb unterstützt die Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft Künstler und Kreative dabei, ökonomisch erfolgreich zu sein – national wie international – , und ich freue mich sehr, dass es über die bisherige Unterstützung hinaus seit diesem Jahr auch einen eigenen Haushaltstitel in meinem Kulturetat gibt: Bisher stehen für die kulturellen Schwerpunkte der Kultur- und Kreativwirtschaft allein in diesem Jahr 1,5 Millionen Euro zur Verfügung. Von der schon jetzt auch international herausragenden Bedeutung der Branche zeugen Zahlen, die die Unesco vor einem Jahr veröffentlicht hat: Die Kultur- und Kreativwirtschaft macht weltweit mehr Umsatz als die Telekommunikationsbranche; sie schafft mehr Arbeitsplätze als die Automobilindustrie in Europa, Japan und den USA zusammen. Allerdings verrät der druckfrische Monitorbericht Kultur- und Kreativwirtschaft, dass die Exportquote der Branche in Deutschland relativ niedrig ist. Als häufigste Barrieren werden die fehlende Erfahrung oder fehlende Kapazitäten für das Management von Auslandsaktivitäten genannt. Auch hier können staatliche Institutionen helfen – und damit meine ich nicht nur das Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft, dessen neuer Träger, das u-Institut, tolle Arbeit leistet. Vielen Dank bei dieser Gelegenheit den Geschäftsführern Sylvia Hustedt und Christoph Backes. Ein kleiner Beitrag zum Wachstum und zur Internationalisierung der Branche ist das mehrsprachige Portal „touring artists“, das mein Haus seit einigen Jahren fördert. Wer grenzüberschreitende Projekte plant, erhält hier Informationen zu steuerlichen, sozialrechtlichen, versicherungsrechtlichen und administrativen Fragen. Weil es manchmal aber auch schlicht an Geld mangelt, will ich es nicht versäumen, Sie auf das EU-Programm „Kreatives Europa“ aufmerksam zu machen. Für den Zeitraum 2014 bis 2020 stehen hier fast 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung – zum Beispiel zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Künstlern und Kreativen, zur Fortbildung oder auch für Festivals und Events. Nach langer Vorbereitung steht im Rahmen dieses Programms in Kürze auch ein Bürgschaftsfonds bereit, der kleineren und mittleren Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft in der EU hilft, leichter an Kredite zu kommen. Nutzen Sie diese Chance, meine Damen und Herren! Ran an die Fördertöpfe! Europa ist übrigens der zweitgrößte Wirtschaftsmarkt für Kultur- und Kreativleistungen nach der Region Asien-Pazifik, und zwar, so die Unesco, keineswegs nur wegen bedeutender Unternehmen, sondern auch aufgrund der über 5.500 Kunstschulen, aufgrund besucherstarker Museen und aufgrund der einzigartigen Dichte des kulturellen Erbes – womit auch die volkswirtschaftliche Bedeutung der Kulturpolitik noch einmal eindrucksvoll belegt wäre. Für Sie, meine Damen und Herren, dürfte vor allem interessant sein, was die Kulturpolitik tut, um jene Freiheit zu ermöglichen, die es Ihnen – um die Worte des Google-Innovationschefs noch einmal aufzugreifen – erlaubt, in die Kindheit zurück zu kehren: neugierig zu sein, zu experimentieren, der Fantasie keine Grenzen zu setzen und sich vom Scheitern nicht beirren zu lassen. All das setzt aus naheliegenden Gründen voraus, dass man von kreativer Arbeit leben kann, wozu der urheberrechtliche Schutz kreativer Leistungen einen unentbehrlichen Beitrag leistet. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sich professionelles kreatives Schaffen auch im Zeitalter des Internets lohnt, denn dies ist die Grundlage für kulturelle und journalistische Vielfalt und für eine prosperierende Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland und Europa. Die Rahmenbedingungen müssen mit den Nutzungsmöglichkeiten im digitalen Zeitalter Schritt halten. Weil die Nutzung und Verbreitung urheberrechtlich geschützter Inhalte im digitalen Zeitalter nicht an Ländergrenzen halt macht, ist es sinnvoll, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sich auf gemeinsame Regelungen verständigen. Deshalb begrüße ich es sehr, dass die EU-Kommission nun im Rahmen ihrer Strategie für den digitalen Binnenmarkt konkrete Regelungsvorschläge zur Anpassung des EU-Urheberrechts an die Herausforderungen der digitalen Welt vorgelegt hat. Sie hat sich beispielsweise der Frage angenommen, wie Urheberund Rechteinhaber künftig angemessen an den Erlösen beteiligt werden können, die ihre Werke marktmächtigen Online-Plattformen bescheren. Auch wenn einvernehmliche Lösungen wie zuletzt bei GEMA und Youtube natürlich positiv und im Sinne der Kreativwirtschaft sind, müssen wir darüber nachdenken, wie Plattformen stärker in die Pflicht genommen werden können. Marktmächtige Online-Plattformen sind heute Teil der Wertschöpfungskette und generieren Erlöse aus kreativen Leistungen, bieten aber auch die Möglichkeit für Kreative, ihrerseits Erlöse zu erzielen. Sie haben sich insbesondere durch Werbeeinnahmen zu umsatzstarken Unternehmen entwickelt, ohne dass die Rechteinhaber (also Urheber, Künstler und Verwerter), deren Inhalte von Internetnutzern auf den Online-Plattformen hochgeladen und konsumiert werden, angemessen an den Erlösen beteiligt werden. Die Kommission hat eine Regelung vorgeschlagen, die diesen Entwicklungen entgegenwirken soll. Eine weitere Voraussetzung für die Freiheit, die Raum schafft für kreative Leistungen, ist die soziale Absicherung über die Künstlersozialversicherung. Sie muss auch in Zukunft als stabile und verlässliche Rückendeckung für den einzelnen erhalten bleiben. Das gleich zu Anfang dieser Legislaturperiode auf den Weg gebrachte Gesetz zur Stabilisierung des KSV–Künstlersozialversicherung-Abgabesatzes hat dazu beigetragen, dass der Künstlersozialabgabesatz nicht nur stabil blieb, sondern im Jahr 2017 sogar von 5,2 auf 4,8 Prozent sinken kann – ein wichtiges kulturpolitisches Signal und ein ganz entscheidender Beitrag zur breiten, öffentlichen Akzeptanz der Künstlersozialkasse. Da das nächste Panel schon auf Sie wartet, meine Damen und Herren, will ich es bei diesen Beispielen belassen – allerdings nicht ohne noch meine persönliche Antwort auf die Frage im Titel des nächsten Panels „kreativ. kooperativ. innovativ – what’s next?“ zu Protokoll gegeben zu haben. Sie drängt sich insofern geradezu auf, als Kunst und Kultur ihrem Ruf und ihrem Selbstverständnis als gesellschaftliche Avantgarde leider in Sachen Gleichberechtigung bis heute keine Ehre machen. Deshalb habe ich einen Runden Tisch „Frauen in Kultur und Medien“ ins Leben gerufen, der im Dezember zum ersten Mal tagt und praxisorientiert Ansätze zur Förderung von Chancengleichheit entwickeln soll. Immerhin: Bei den Kreativpiloten haben wir einen erfreulich hohen Frauenanteil. Deutlich mehr als die Hälfte der gestern ausgezeichneten Projekte haben eine Geschäftsführerin. Kreativ. Kooperativ. Innovativ. What’s next? – Ich finde, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern, gehört hier ganz oben auf die Agenda – und zwar allein schon deshalb, weil eine Gesellschaft an Innovationskraft, an Problemlösungskompetenz einbüßt, wenn die Potentiale von Frauen verkümmern. Deshalb freut es mich, hier bei der Jahreskonferenz Kultur- und Kreativwirtschaft so viele Frauen zu sehen – und zwar nicht nur als Tagungsgäste, sondern auch auf dem Konferenzprogramm: als Rednerinnen und Gesprächspartnerinnen bei den Podiumsdiskussionen. Ob Frau oder Mann: Kreativität ist und bleibt Intelligenz, die Spaß macht! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen heute und für die Zukunft vor allem eines: Viel Spaß!
Mit ihren guten Ideen steht die Kultur- und Kreativwirtschaft für die Kraft der Veränderung, die das Land voran bringt und die helfen kann, Schritt zu halten mit dem rasanten Tempo technologischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklungen im Zeitalter der Digitalisierung, der Globalisierung und Internationalisierung.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters auf der FAZ-Kunstkonferenz „Public Private Partnership – Beförderung und Schutz von Kulturgut?“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-auf-der-faz-kunstkonferenz-public-private-partnership-befoerderung-und-schutz-von-kulturgut–789316
Thu, 24 Nov 2016 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Gäbe es eine Auszeichnung für besondere Verdienste um den Schutz von Kulturgut, wer hätte sie 2016 zuallererst verdient? – Mit gutem Recht könnte man Museen, aber auch Sammler oder Stifter nominieren. Ich selbst erlebe bei meinen zahlreichen Besuchen in Kultureinrichtungen in ganz Deutschland immer wieder, wie sehr so manches Museum von einer jahrzehntelangen Tradition des bürgerschaftlichen Engagements und des Mäzenatentums profitiert und was Kooperationen zwischen öffentlichen Einrichtungen und privaten Geld- und Leihgebern bewirken können. Allein schon deshalb habe ich gerne die Schirmherrschaft über die FAZ-Kunstkonferenz übernommen, die diesem bewährten Miteinander ein vielversprechendes Tagungsprogramm widmet. In Berlin können wir jetzt sogar ein neues Museum der Moderne mit 200 Mio. Euro errichten – um nicht nur die spektakulären Sammlungen der Nationalgalerie angemessen zu präsentieren, sondern auch die Angebote dreier Privatsammler zur Überlassung ihrer Kunstwerke anzunehmen: Marzona, Pietzsch, Marx – noble Bedingungen, aber kein Platz … Doch bei aller Wertschätzung für die Meriten unserer Museen und solcher Sammler: Noch preiswürdiger wäre aus meiner Sicht eine Institution, die bisher wohl kaum ein Kunstliebhaber auf dem Schirm hatte – und ich denke dabei nicht an den Deutschen Bundestag, der im Juli ohne eine einzige Gegenstimme unser neues Kulturgutschutzgesetz verabschiedet hat, obwohl auch dies zweifellos ein Meilenstein für den Kulturgutschutz ist (und das nicht nur meines Erachtens…!) oder an die 200 Millionen Euro, die für das neue Museum der Moderne nötig waren. Nein, am meisten verdient hätte diese Auszeichnung in diesem Jahr vermutlich der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Ausgerechnet der Internationale Strafgerichtshof – ausgerechnet ein Gericht, das sich üblicherweise mit schwersten Menschenrechtsverletzungen, mit Völkermord und Kriegsverbrechen, mit Massakern und Massenvergewaltigungen befasst – hat der Weltöffentlichkeit eindrucksvoll vor Augen geführt, warum Kulturgut einen besonders hohen Schutz verdient. Sie erinnern sich vielleicht: Islamisten aus Mali hatten 2012 eine Moschee und neun Mausoleen in der UNESCO-Weltkulturerbestadt Timbuktu zerstört. Einer von ihnen wurde nun in Den Haag zur Verantwortung gezogen. Der Gerichtshof stufte die vorsätzlichen Zerstörungen als Kriegsverbrechen ein und verhängte neun Jahre Freiheitsstrafe. Es gehe, so die Worte der Chefanklägerin „um einen eiskalten Anschlag auf die Würde und Identität ganzer Bevölkerungen und ihrer religiösen und historischen Wurzeln.“ Die Bedeutung dieses Urteils kann man gar nicht hoch genug einschätzen in Zeiten, in denen die Vernichtung von Kulturgütern zum Mittel psychologischer Kriegsführung geworden ist und in denen Plünderungen, Raubgrabungen und auch der illegale Handel mit Kulturgut weltweit ein ungeheures Ausmaß angenommen haben. Der Internationale Gerichtshof hat unmissverständlich und unüberhörbar klar gemacht: Kulturgüter sind keine Luxusgüter. Kulturgüter sind, wie (ausgerechnet!) die Tageszeitung DIE WELT die Anklage zutreffend kommentierte, „existentiell, für Gemeinschaften, Nationen, die Menschheit“; es geht dabei, ich zitiere, „um das Lebensrecht von Gedanken und Ideen.“ Die Überzeugung, dass Kulturgüter existentiell sind als Spiegel unserer Geschichte und unserer Identität, diese Überzeugung ist Teil unseres Selbstverständnisses als Kulturnation. Kultur ist, was uns definiert. Kultur ist, was uns ausmacht – als Menschen, als Europäer, als Deutsche, als Rheinländer oder Thüringer, als Bayern oder Mecklenburger, als Hamburger oder Berliner. Unsere Kultureinrichtungen – allen voran unsere Museen – geben Auskunft über unser kulturelles Gedächtnis, über uns Bild von uns selbst und der Welt. Deutschland ist dank einer staatlichen Kulturfinanzierung, die weltweit ihresgleichen sucht, ein Land mit einer beinahe einzigartigen Dichte an Kultureinrichtungen. Allein die Hälfte aller Opernhäuser weltweit steht auf deutschem Boden. Der Journalist Ralph Bollmann hat sich vor einiger Zeit die Mühe gemacht, sie alle zu bereisen, und kam in seinem wunderbaren Buch „Walküre in Detmold“ – eine der schönsten Liebeserklärungen an die deutsche Kulturlandschaft – zum den Schluss, ich zitiere: „Das Besondere an Deutschland ist nicht, dass es mehrere bedeutende Zentren hat. Ungewöhnlich ist, wieviel Wichtiges sich an ganz unwichtigen Orten abspielt.“ Oder, wie ich persönlich es formulieren würde: wieviel Weltläufigkeit und kulturellen Reichtum es in ganz Deutschland, ja selbst in der vermeintlichen Provinz, zu entdecken gibt. Das ist nicht zuletzt auch das Verdienst privaten und bürgerschaftlichen Engagements. Es sind Sammler und Stiftungen, die durch ihr Geld oder ihre Leihgaben Kunst und Kultur in einem Umfang zugänglich machen wie das allein durch staatliche Mittel niemals möglich wäre. Schon Johann Wolfgang von Goethe fand dafür Worte der Bewunderung und der Anerkennung. Nach einem Besuch zum Mittagessen beim Ehepaar Städel in Frankfurt vermerkte er in einem Reisebericht, dass Johann Friedrich Städel, dem wir eines unserer Museen von Weltrang – das Frankfurter Städel Museum – verdanken, in seinem Haus Gemälde aller Schulen aufbewahre, dazu Handzeichnungen und Kupferstiche, kurz: eine Sammlung, die jeden Kunstfreund in Erstaunen versetze. Goethe pries die Großzügigkeit des „vaterländisch denkenden, trefflichen Mannes“, der seine Kunstschätze der Öffentlichkeit zugänglich machte, wodurch „Kunstfreude und Kunstsinn hier für ewige Zeiten die gewisseste Anregung und die sicherste Bildung hoffen können.“ Dass wir darauf auch im Deutschland des 21. Jahrhunderts hoffen und zählen können, meine Damen und Herren, hat nicht zuletzt mit der weit verbreiteten Bereitschaft zu tun, unserem Staat und unserer Gesellschaft etwas zurück zu geben. Unzählige Museen in Deutschland, viele unserer schönsten Schmuckstücke, sind (mit)getragen vom Bürgersinn kunstbegeisterter Mäzene, denen die Förderung der künstlerischen Avantgarde ebenso ein Herzensanliegen ist wie der Erhalt des kulturellen Erbes. Die zahlreichen Fördervereine deutscher Museen für bildende Kunst beispielsweise sind ein Ausdruck eben dieser Verbundenheit mit der Kunst und Kultur. Sie machen mit ihrer Unterstützung Sonderausstellungen möglich, erschließen mit Beiträgen zur kulturellen Bildung und Vermittlung neue Zielgruppen für die Museen und unterstützen diese nicht zuletzt beim Ankauf zur Ergänzung und Erweiterung der Sammlungen. Bürgersinn zeigen Kunstliebhaber auch in unseren traditionsreichen Kunstvereinen. „Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kunst“, hat Joseph Beuys einmal gesagt. Doch der Keim des im besten Sinne Revolutionären würde verkümmern, wenn er nicht auf fruchtbaren Boden fiele. Kunstvereine eröffnen der künstlerischen Avantgarde geistige und diskursive Resonanzräume, in denen die „revolutionäre Kraft“ der Kunst sich entfalten kann. Selbst Künstler, die heute zum Kanon der Moderne gehören, waren ja einst als unbekannte Zeitgenosse angewiesen auf Orte der Präsentation, auf Instanzen der Vermittlung und auf kunstbegeisterte Begleiter, die für Aufmerksamkeit sorgen. So mancher Kunstverein hat deshalb Spuren in der Kunstgeschichte hinterlassen: als Bühne der zeitgenössischen Kunst und als Wegbereiter der Avantgarde. Was für ein Gewinn für unsere Gesellschaft! – was für ein Glück für die Kulturnation Deutschland! Es sind also beide Akteure: die Bürger und der Staat, private und öffentliche Hand, die gemeinsam die große Vielfalt und die Vielzahl an Kultureinrichtungen, vor allem an Museen und Ausstellungshäusern in Deutschland möglich machen und sichern. Dass es dabei zu Konflikten kommen kann, ist evident. Wenn beide in einem Projekt aufeinander angewiesen sind, haben beide – legitime – Interessen. Diese so fein aufeinander abzustimmen, dass aus Interessen keine Konflikte werden, das ist die Herausforderung an Kommunikation, Vertragsgestaltung, professioneller Zusammenarbeit. Wenn beide Partner sich ihrer Arbeit bewusst sind, ihre Corporate Identity „geklärt“ haben, wenn sie wissen, warum sie gerade mit diesem Partner zusammengehen wollen, welche Art Image-Transfer sie anstreben durch die Zusammenarbeit, dann ist im gemeinsam erarbeiteten Ergebnis der (punktuellen oder langfristigen) Kooperation viel gewonnen. Die Rolle des Staates kann es hier nur sein, präventiv, also unter anderem durch gute Gesetze, Rahmenbedingungen, dafür zu sorgen, dass keine der zwei Seiten sich von einer anderen abhängig machen muss. Unabhängigkeit ist immer noch die beste Voraussetzung für gute Zusammenarbeit. Wir haben in diesem Sinne versucht, viel für private Sammler, also Leihgeber, und viel für Museen zu tun. Als Spiegel unserer Identität, meine Damen und Herren, verdienen Kunst und Kultur nämlich nicht nur Förderung, sondern auch Schutz. Wer überzeugt ist, dass Kulturgüter „existentiell [sind] für Gemeinschaften, Nationen, die Menschheit“ (um noch einmal die WELT zu zitieren), kann und darf Kunst und Kultur nicht allein dem Markt, der Regulierung durch Angebot und Nachfrage, überlassen. Das Grundgesetz verpflichtet uns deshalb ausdrücklich zum „Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland“. Und das Völkerrecht verpflichtet uns, gegen den illegalen Handel mit Antiken beispielsweise aus den Kriegs- und Krisengebieten im Nahen Osten vorzugehen. Deshalb hat Deutschland 2016 sein Kulturgutschutzrecht modernisiert und das deutsche Recht an internationale und EU-Standards angepasst. Wir leisten damit zum einen- endlich! – unseren Beitrag zur Eindämmung des illegalen Handelns mit Kulturgütern und zum Schutz des kulturellen Erbes der Menschheit. Zum anderen schützen wir in den wenigen Fällen, in denen Kulturgüter emblematisch sind für unsere Geschichte und Identität, diese wenigen Stücke vor Abwanderung ins Ausland und vor Zerstörung. Was im Einzelfall als „national wertvoll“ gilt, darüber befinden im Übrigen auch weiterhin Sachverständige, zu denen nach wie vor zum Beispiel Museen, der Kunsthandel und auch Sammler gehören. Die gemeinsame Verantwortung für den Abwanderungsschutz bewährt sich seit vielen Jahren insbesondere beim Ankauf von Kunst – ein Modell, das viel besser funktioniert als das so vielgepriesene britische Vorkaufsrecht. Mit der britischen Regelung, dass ein privater inländischer Käufer innerhalb von sechs Monaten ein konkretes Angebot abgeben muss, scheitert nämlich regelmäßig der Ankauf im Inland. Die Abwanderung muss dann genehmigt werden. Den „fair market value“ legt – in Deutschland undenkbar! – der Minister fest…! Großbritannien hat 2012 und 2013 Kunst für 11,3 Millionen Pfund angekauft, aber Kunst im Wert von rund 340 Millionen Pfund ziehen lassen. Günstiges bleibt, Teures geht. Ein für die Museen und für die Bürger trauriges Ergebnis… In Deutschland dagegen hat die Kulturstiftung der Länder, 1988 zur „Förderung und Bewahrung von Kunst und Kultur nationalen Ranges“ gegründet, bisher rund 170 Millionen Euro eigene Mittel ausgegeben, aber unter Beteiligung des Bundes und privater Geldgeber für 625 Millionen Euro angekauft. Was die Kulturstiftung der Länder in den vergangenen Jahren – auch dank privater Sponsoren – geleistet hat, geht weit über die Leistungen Englands im gleichen Zeitraum hinaus! Diese Form der staatlich-privaten Zusammenarbeit ist ein echtes Erfolgsmodell, und nicht zuletzt aus diesen positiven Erfahrungen heraus ist es mir ein Herzensanliegen, Public-Private-Partnership-Modelle zu stärken und das großartige private Engagement für Kunst und Kultur auch weiterhin zu fördern. Aus diesem Grund habe ich entschieden, den Etat meines Hauses zum Ankauf national wertvollen Kulturguts im Jahr 2017 erst einmal zu verdreifachen. Außerdem, meine Damen und Herren, war es mir wichtig, mit der Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes auch private Eigentümer, Sammler, Leihgeber einerseits und Museen andererseits besser zu stellen. Worin bestehen diese Verbesserungen konkret? Erstens: Im bisher geltenden Kulturgutschutzgesetz von 1955 gab es keine Definition dafür, was „national wertvoll“ ist. Anhaltspunkte fanden sich bisher nur in einer Empfehlung der KMK. Sie sprechen in Ihrer Tagung über „schützenswertes Kulturgut“. Das ist nicht banal. Denn: Welches Kulturgut gilt es zu schützen? Alles? – Nach intensiven Beratungen, Anhörungen, Konferenzen und unzählige Einzelgesprächen präzisiert das neue Gesetz die Kriterien für Werke, die in ein Verzeichnis national wertvollen Kulturguts einzutragen sind. Das sorgt für mehr Rechtssicherheit. Zweitens: Das Gesetz sieht vor, dass die Sachverständigenausschüsse, bestehend aus Vertretern von Museen, Archiven, Wissenschaft, Handel und Sammlern gestärkt werden; ihre Zusammensetzung wird veröffentlicht. Das Verfahren ist damit transparenter. Außerdem ist der Kreis derjenigen eingeschränkt worden, die ein Eintragungsverfahren beantragen können. Eigentümer von Kulturgütern werden damit viel stärker abgesichert als zuvor. Drittens: Leihgaben an öffentliche Museen können – natürlich mit jederzeit widerruflicher Zustimmung des Leihgebers – vorübergehend vom gesetzlichen Schutz öffentlicher Museen profitieren. Falls Leihgaben gestohlen werden und auf illegalem Weg ins Ausland gelangen, bestehen Rückgabeansprüche nicht mehr nur 30, sondern 75 Jahre. Auch das ist gut für Sammler und Leihgeber. Viertens: Im Gegensatz zum Gesetz von 1955 enthält die Novelle klare Verfahrensregeln. Sie schreibt beispielsweise ausdrücklich eine maximale Bearbeitungsfrist von zehn Tagen für die Ausfuhrgenehmigung vor. Für den seltenen Fall, dass ein Verfahren zur Eintragung in ein Verzeichnis national wertvollen Kulturgutes eröffnet wird, ist dies im Regelfall innerhalb von sechs Monaten abzuschließen – ansonsten gilt es ohne Eintragung als beendet. Eine solche Befristung gab es bisher nicht. Auch das stärkt Eigentümer und Sammler. Fünftens: Sammler profitieren künftig beim Kauf eines Kunstwerks davon, dass der gewerbliche Kunsthandel im Rahmen des Zumutbaren die Herkunft und Provenienz prüfen muss. Sie können sicher sein, dass keine Rückgabe-forderungen drohen. Und auch im Sinne der Händler schafft das neue Gesetz Klarheit und Rechtssicherheit. Es stärkt das Vertrauen in den Kunsthandelsstandort Deutschland und die Position des seriösen Kunsthandels, der damit die Konkurrenz durch „schwarze Schafe“ nicht mehr fürchten muss. Last but not least, eine Verbesserung speziell für Museen: Sie brauchen künftig im internationalen Leihverkehr keine Einzelgenehmigung mehr, sondern können eine für fünf Jahre gültige, allgemeine Genehmigung beantragen. Das reduziert den Verwaltungsaufwand, entlastet die Museen sowie vor allem die Verwaltungen der Länder und stärkt den internationalen Leihverkehr. Das Kulturgutschutzgesetz ist also gerade kein Bürokratiemonster! Anhand der Kulturgutschutzgesetz-Novelle kann man sehen, wie konkretes gesetzgeberisches Handeln für das Zusammenwirken von privater und öffentlicher Hand aussehen kann. Ich bin überzeugt, meine Damen und Herren, dass wir mit diesen Regelungen der staatlichen Verantwortung für den Schutz von Kulturgut wie auch den legitimen Interessen von Sammlern, Geldgebern und Leihgebern gerecht werden und deren Engagement für den Kulturstandort Deutschland stärken. Wir brauchen dieses Engagement, wir brauchen dieses hohe Ethos des Sammelns und Bewahrens, das uns als Kulturnation auszeichnet, auch in Zukunft! Denn nicht nur hier im politischen Berlin, nicht nur in unseren multikulturellen und multiethnischen Metropolen ist es notwendig, darüber nachzudenken, welches Land wir heute, im 21. Jahrhundert, sein wollen und was uns dabei Halt und Orientierung gibt – in einer Zeit, in der es so viele Flüchtlinge gibt, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie der Fall war in einer Zeit, in der vielerorts auf breiter Front Ressentiments gegen anders Denkende, anders Glaubende, anders Aussehende, anders Lebende geschürt werden; in einer Zeit, in der die Worte „Wir sind das Volk“ missbraucht werden, um Stimmung zu machen gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Vielfalt und Freiheit – und damit letztlich gegen alles, was uns definiert und ausmacht: gegen unsere Kultur nämlich in Zeiten, in denen die europäische Idee, die uns über Jahrzehnte Frieden, Freiheit und Wohlstand beschert hat, an Strahlkraft verliert und nationalistisches Denken um sich greift. Wenn es um nationale Identität geht, um den Schutz unserer Kulturgüter, die dafür stehen, dann sind es unsere Kultureinrichtungen, die jede auf ihre Weise zur Verständigung darüber beitragen: sei es in der Auseinandersetzung mit unserer Geschichte; sei es in der kulturellen Bildung und in der Vermittlung dessen, was uns ausmacht; sei es in der Förderung der künstlerischen Avantgarde. Unsere Kultureinrichtungen – unsere Museen, Theater usw. – können auf Ressentiments gebaute Weltbilder ins Wanken bringen. Sie können Einfluss darauf nehmen, wie kulturelle Identität und kulturelle Vielfalt in Deutschland wahrgenommen werden. Sie können Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht. Sie können Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Sie können unserer Kultur, sie können dem, was uns definiert, jenseits argumentativer Auseinandersetzung Gehör verschaffen. Das aber können sie nur, wenn der Staat ihre Freiheiten schützt. All das braucht auch weiterhin unser gemeinsames Engagement, meine Damen und Herren. Ich danke Ihnen herzlich für Ihre in jeder Hinsicht bereichernden Beiträge zur Förderung und zum Schutz unserer Kultur und unserer Kulturgüter und wünsche uns allen, dass die FAZ-Kunstkonferenz 2016 neue Perspektiven der Kooperation eröffnet.
Neben der staatlichen Kulturfinanzierung machten nicht zuletzt privates und bürgerschaftliches Engagement die große und vielfältige Kulturlandschaft in Deutschland möglich, so Kulturstaatsministerin Grütters. Für eine gute Zusammenarbeit bei gemeinsamen Projekten von privater und öffentlicher Hand sei „immer noch Unabhängigkeit die beste Voraussetzung“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Festakt zur 22. Jahrestagung der Leibniz-Gemeinschaft am 23. November 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-festakt-zur-22-jahrestagung-der-leibniz-gemeinschaft-am-23-november-2016-789356
Wed, 23 Nov 2016 19:07:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Professor Kleiner, sehr geehrter Herr Professor Schlüter, sehr geehrte Frau Senatorin Quante-Brandt, sehr geehrte Ministerinnen, sehr geehrter Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Frau Staatssekretärin, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Leibniz-Gemeinschaft und ihrer Institute, sehr geehrte Preisträger, meine Damen und Herren, 370 Jahre nach seiner Geburt und 300 Jahre nach seinem Tod ist der Namensgeber Ihrer Gemeinschaft noch immer in aller Munde – wegen seines Erbes, von dem wir heute noch zehren. Gottfried Wilhelm Leibniz war ein Universalgelehrter. Er sprudelte förmlich über als Quelle der Inspiration für alle, die den Dingen auf den Grund gehen wollen. Kürzlich war in den Medien sogar vom „klügsten, neugierigsten und optimistischsten Deutschen aller Zeiten“ zu lesen. Ein solches Zeugnis sucht seinesgleichen. Tatsache ist: Leibniz hatte wie kaum ein anderer Überblick über das Wissen seiner Zeit, das er auch selbst ständig fortschrieb. Er ging grenz- und fächerüberschreitend jeder erdenklichen Fragestellung nach. Er brachte unzählige Ideen und Gedanken zu Papier – und das auch noch in mehreren Sprachen. Ob als Philosoph oder als Physiker, ob als Mathematiker, Ingenieur, Jurist, Historiker, Diplomat, politischer Berater oder Erfinder – Leibniz erwies sich in vielerlei Hinsicht als Wegbereiter des Fortschritts. Was aber hat ihn selbst angetrieben? Es scheint sicher auch seine Überzeugung gewesen zu sein, dass in der Welt der Wandel zum Guten stets möglich sei. Dies kommt auch zum Ausdruck in seinem bekannten Wort von der „besten der möglichen Welten“, das Sie sich ja auch als Motto für dieses Jahr ausgesucht haben. Leibniz war der Überzeugung: „Wir sind umso freier, je mehr wir der Vernunft gemäß handeln, und umso mehr geknechtet, je mehr wir uns von der Leidenschaft regieren lassen.“ – Dies ist auch ein Zitat, über das man heute nachdenken kann; gerade auch, nachdem ich Ihnen zugehört habe, Frau Senatorin. Dieser Maxime vernunftgemäßen Handelns folgte er vor mehr als 300 Jahren, und sie hat eben nichts an Aktualität eingebüßt. Wir befinden uns derzeit inmitten großer Transformationsprozesse. Ich will nur einige Schlagworte nennen: Globalisierung, Digitalisierung, weltweites Bevölkerungswachstum – wobei sich der demografische Wandel bei uns in die entgegengesetzte Richtung vollzieht – oder Klimawandel. In all das könnten wir uns wie einem unabänderlichen Schicksal tatenlos fügen. Die Vernunft aber gebietet, solche Veränderungen nicht einfach hinzunehmen, sondern zu gestalten. Es gilt, Fakten zu analysieren und Folgen abzuschätzen, Erkenntnisse zu formulieren und anschließend Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Wie wir aber konkret von einem Ist- zu einem gewünschten Soll-Zustand gelangen – darüber müssen wir uns natürlich immer wieder austauschen. Deshalb ist es so gut, dass der offene Diskurs zur auch von Leibniz postulierten Freiheit dazugehört. Wir leben heute in einer Zeit, in der es manchmal schwierig ist, Tatsachen als solche zu vermitteln – trotz, aber auch wegen moderner Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten. Im Internet lassen sich immer auch Gleichgesinnte finden, die eigene Ansichten bestätigen, und Millionen Andersdenkende in der Anonymität des Netzes leicht ausblenden. So manches Deutungsmuster, das weit entfernt von der Realität ist, aber einer bestimmten Gefühlslage entspricht, erscheint dadurch plausibel. Das heißt, trotz unzweifelhaft großer Vorzüge und Chancen führen neue Medien mit ihren sozialen Diensten und Algorithmen auch zu einem hohen Maß an selektiver Wahrnehmung. Dies ist eine Herausforderung, der wir uns in allen Bereichen der Bildung in allen Altersklassen stellen müssen. Denn Offenheit für Sichtweisen, Erfahrungen und Erkenntnisse anderer – das zeichnet eine Wissensgesellschaft aus; eine Gesellschaft, die nicht im Stillstand verharrt, sondern sich weiterentwickeln will. Es ist durchaus interessant, dass sich innerhalb weniger Jahre die Diskussion über eine, sagen wir einmal, völlig akzeptierte Wissensgesellschaft inzwischen in eine Diskussion verwandelt hat, in der wir eben auch über eine sehr selektive Wahrnehmung sprechen. Fortschritt zu ermöglichen, Wissenschaft zum Wohle und Nutzen der Menschen zu betreiben – diesem Anspruch ihres Namenspatrons folgt die Leibniz-Gemeinschaft. Das sagt sich so leicht. Aber Sie wissen selbst am besten, was es heißt, akribische, oft langwierige Forschungsarbeit zu leisten, deren Nutzen es obendrein erst einmal zu vermitteln gilt. Doch wie oft würden wir auch in der Politik im Dunkeln tappen, wenn wir uns nicht auf die Expertise der Wissenschaft stützen könnten? Ob in der Politik, in der Wirtschaft oder in der Gesellschaft insgesamt – es ist gut, mit der Leibniz-Gemeinschaft eine verlässliche Quelle der Information und des Wissens zu haben; und das über die verschiedensten Themenfelder hinweg. Von Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften bis hin zu Lebens-, Natur- und Umweltwissenschaften ist alles vertreten. Die Leibniz-Gemeinschaft vereint 88 selbständige Forschungseinrichtungen. Diese sind dezentral organisiert. Aber sie sind nicht allein in der jeweiligen Region mit anderen Akteuren in Wissenschaft, Forschung und Innovation vernetzt. Über zahlreiche Kooperationen sind sie auch in der nationalen und internationalen Wissenschaftslandschaft zu Hause, also regional wie international gut eingebunden. Das gilt längst auch für die Forschungszentren und Forschungsinstitute in den neuen Bundesländern. Das ist Teil der Erfolgsgeschichte der Deutschen Einheit. Der Neuanfang der Einrichtungen, die vor über einem Vierteljahrhundert schon bestanden, war aber alles andere als einfach. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die meisten Einrichtungen, die vom Wissenschaftsrat seinerzeit positiv begutachtet wurden, schließlich ihren Platz in der Leibniz-Gemeinschaft gefunden haben. Heute befindet sich sogar fast die Hälfte ihrer Einrichtungen in Ostdeutschland. Die Erfolge der Institute spiegeln sich in hervorragenden Evaluierungen wider. Dahinter stecken viele großartige Einzelleistungen. Dies ist bei allen Ihren Einrichtungen so. Ich danke allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihre Arbeit – den wissenschaftlichen Angestellten ebenso wie denen, die in der Verwaltung und im technischen Service für ein gutes Forschungsumfeld sorgen. Für gute Rahmenbedingungen zu sorgen, ist natürlich auch Aufgabe der Bundesregierung. Mit unserem Haushaltsentwurf für 2017, der derzeit im Bundestag beraten wird, setzen wir erneut ein klares Signal für Bildung und Forschung. Schon in den vergangenen zehn Jahren haben wir die Mittel für das Bundesministerium für Bildung und Forschung deutlich mehr als verdoppelt. Für 2017 sehen wir im Vergleich zum laufenden Jahr eine weitere Steigerung um sieben Prozent auf insgesamt 17,6 Milliarden Euro vor – also auf einen neuen Rekordwert. Allein in die institutionelle Forschungsförderung sollen ca. 5,8 Milliarden Euro fließen. Ich darf also sagen, ohne zu übertreiben, dass sich der Bund damit als verlässlicher Partner erweist, was auch hinsichtlich der Attraktivität Deutschlands für Wissenschaftler von großer Bedeutung ist. Wir nehmen den Pakt für Forschung und Innovation sehr ernst, in dem festgeschrieben ist, dass die Förderung der Wissenschafts- und Forschungsorganisationen um jährlich drei Prozent steigt. Wir wissen, wie wichtig Planungssicherheit für die Forschung ist. Und weil das so ist, trägt der Bund den Aufwuchs der finanziellen Mittel allein, um die Länder zu entlasten. Es ist unser gemeinsames Anliegen, die Forschungsbedingungen an Hochschulen und außeruniversitären Einrichtungen sich gleichermaßen gut entwickeln zu lassen. Wir nutzen daher auch verstärkt die Kooperationsmöglichkeiten, die uns der neue Artikel 91b des Grundgesetzes bietet. Gemeinsam mit den Ländern haben wir ein Konzept zur Förderung von Spitzenforschung an Universitäten vorgelegt. Dazu gehören die neue Exzellenzstrategie, die Förderinitiative „Innovative Hochschule“ und das Programm zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. All das dient dazu, die internationale Spitzenstellung des deutschen Wissenschaftssystems weiter auszubauen. Neben Spitzenforschung und Spitzenuniversitäten haben wir natürlich auch kleinere Hochschulen und Fachhochschulen im Blick. Denn wir wollen möglichst flächendeckend für gute Bildungs- und Karrierechancen sorgen. Ziel ist und bleibt es, dass Staat und Wirtschaft insgesamt drei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung investieren. Wir haben dieses Ziel noch nicht ganz erreicht. Im europäischen Vergleich stehen wir aber recht gut da. Doch zum Beispiel mit Blick auf Südkorea und Israel wissen wir, dass es auch Länder auf der Welt gibt, die noch mehr tun. Deutschland gehört zu den leistungsstärksten und innovativsten Ländern der Welt. Damit das so bleibt, gilt es natürlich, mit dem Fortschritt weiterhin Schritt zu halten – nicht zuletzt auch mit Blick auf die Chancen, die mit der weiteren Digitalisierung einhergehen. Der digitale Wandel beeinflusst sämtliche Lebensbereiche. Wie wir arbeiten, wie wir forschen, wie wir reisen, wie wir für unsere Gesundheit sorgen, wie wir unsere Freizeit gestalten und wie wir uns austauschen – all das ist mit Digitalisierung verbunden. Deshalb sind wir heute im Museum für Kommunikation eigentlich auch am richtigen Platz. Denn wie sich die Informationsgesellschaft entwickelt hat, ist hier bestens nachvollziehbar. Aber wir wollen in der Bundesrepublik Deutschland natürlich auch an der weiteren Entwicklung mitarbeiten. Wir mögen Computertechnologie für eine Errungenschaft der jüngeren Geschichte halten, aber – die meisten von Ihnen hier wissen das natürlich – eine wesentliche Grundlage dafür hatte schon Leibniz geliefert; und das ist das binäre Rechnen. Auf dem Dualsystem baut moderne Informatik auf. Die Tragweite seiner Idee war zu Zeiten von Leibniz wahrscheinlich noch kaum absehbar, Jahrhunderte später aber revolutioniert sie die Welt. Das passt zu dem deutschen Sprichwort: Gut Ding will Weile haben. So ist es aber eben oft mit neuen Erkenntnissen: Ihr praktischer Nutzen mag kurzfristig nicht immer offensichtlich sein; zumeist entfalten sie erst nach und nach Wirkung. Umso wichtiger ist die Freiheit der Forschung. Auch die Digitalisierung wird noch vieles ermöglichen, das wir heute noch nicht einmal erahnen. Vor einer Woche war die Bundesregierung wieder beim IT-Gipfel, diesmal in Saarbrücken. Der Schwerpunkt lag auf der Frage, wie wir unser Bildungssystem in der digitalen Welt gestalten. Es gibt eine Reihe vielversprechender Initiativen. Wir haben den Startschuss für eine Smart-School gegeben, die verstärkt auf digitale Technologien im Schulalltag setzt und Beispiel für andere sein soll. Verbunden ist dies mit einer Initiative, Schülerinnen und Schüler mit Mini-Computern auszustatten, um ihnen schon im Grundschulalter das Programmieren nahezubringen. Souverän und selbstbestimmt mit digitalen Medien und neuen Technologien umgehen zu können – das muss heute einfach dazugehören. Das ist eine Basiskompetenz wie Lesen, Rechnen oder Schreiben. Sie entscheidet mit über künftige berufliche und gesellschaftliche Teilhabe. Schulen und Bildungseinrichtungen müssen sich darauf einstellen. Wir erleben einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel. Ich will hier nicht für die Länder sprechen, aber schon allein die Tatsache, dass die Kinder, die in die Schule kommen, manchmal mehr als die Lehrer wissen, ist eine Herausforderung, die wir bewältigen müssen. Auch deshalb ist lebenslanges Lernen für alle Beteiligten von allergrößter Wichtigkeit. Nun ist Bildung im Großen und Ganzen eben Ländersache, aber wir wollen uns als Bund auch mit einbringen. Wir bieten einen Digitalpakt an, im Rahmen dessen wir die Ausstattung von Schulen und Berufsschulen unterstützen wollen. Darüber werden wir noch im Detail sprechen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, auch an alle Akteure in Wissenschaft und in der Wirtschaft, in Stiftungen und Verbänden zu appellieren. Sie alle haben ein Interesse an modernen Bildungseinrichtungen und an Absolventen, die mit ihren Kompetenzen auf der Höhe der Zeit sind. Sie sind daher sicherlich auch gefragt, zur digitalen Bildung das beizutragen, was sie beitragen können. Wer mit modernen Technologien vertraut ist, dem eröffnen sich eben auch neue Zugänge zu Wissen. Internet und Datenaustausch haben auch sämtliche Forschungsbereiche revolutioniert. Wissen lässt sich schnell und günstig in der Welt verbreiten. Informationen jeglicher Art stehen in Sekundenschnelle, teils auch in Echtzeit zur Verfügung. Rund um den Globus Kontakte zu knüpfen, zusammenzuarbeiten und Erkenntnisse zu teilen, ist heute viel einfacher als früher. So profitiert einer vom anderen. Dies hat Erkenntnisprozesse erheblich beschleunigt. Das ist auch der Grund dafür, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung eine Open-Access-Strategie verfolgt. Sie dient dazu, nicht nur Wissenschaftlern, sondern jedem Interessierten den Zugang zu wissenschaftlichen Informationen zu erleichtern. Ich weiß, dass es da Diskussionsbedarf gibt, aber wir sollten uns dem stellen. Die Ergebnisse öffentlich geförderter Forschung sollen, wie wir finden, auch der Öffentlichkeit zugutekommen. Meine Damen und Herren, die Wissenschaft gewinnt permanent neue Erkenntnisse hinzu, die aber ihrerseits immer wieder neue Fragen aufwerfen. Wer wäre da nicht manchmal geneigt, an der schier unendlichen Komplexität der Realität zu verzweifeln? Aber Leibniz wäre nicht Leibniz, wenn er nicht beseelt von der Überzeugung gewesen wäre, dass alles seine Ordnung habe. Deshalb möchte ich ihn nochmals zitieren: „Es gibt […] kein Chaos, keine Verwirrung, außer einer scheinbaren; ungefähr wie sie in einem Teiche zu herrschen schiene, wenn man aus einiger Entfernung eine verworrene Bewegung und sozusagen ein Gewimmel von Fischen sähe, ohne die Fische selbst zu unterscheiden.“ Das ist im Grunde eine Einladung an uns alle: Wenn etwas unübersichtlich, chaotisch und verwirrend erscheint, dann sollten wir uns davon nicht beirren lassen, sondern unter die Oberfläche schauen und die Sache aus der Nähe betrachten. Wer genau hinsieht, dem erschließt sich eine neue Welt, die sich wieder ein Stück weit mehr erklären lässt. Von diesem Forscherdrang lebt die Wissenschaft. Sie hilft uns, uns in einer komplexen Welt zu orientieren. Sie öffnet uns die Augen für neue Möglichkeiten, uns Fortschritt und Wohlstand zu sichern. Weil das so ist, ist es auch gut zu wissen, mit der Leibniz-Gemeinschaft eine starke Institution zu haben, die den Maximen ihres Namensgebers auch heute noch folgt und damit seinem Namen alle Ehre macht. So wünsche ich Ihnen auf Ihrer Jahrestagung natürlich keine Selbstzufriedenheit, sondern gewinnbringende Anregungen und Denkanstöße. Herzlichen Dank dafür, dass ich dabei sein kann, und alles Gute für die Zukunft.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-789350
Wed, 23 Nov 2016 09:15:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! 2014 hat auf dem Lindauer Treffen der Wirtschaftsnobelpreisträger Mario Vargas Llosa vor jungen Menschen gesagt: Die Bereitschaft, mit denen zusammenzuleben, die anders sind, war vielleicht der außergewöhnlichste Schritt auf dem Weg des Menschen zur Zivilisation, ein Schritt, welcher der Demokratie vorausging und sie überhaupt erst möglich gemacht hat. Mich hat diese Aussage berührt, weil sie noch einmal auf das zurückkommt, was uns ausmacht, was wir vertreten: dass diese Bereitschaft Voraussetzung dafür ist, dass Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Achtung der Menschenwürde für jeden und jede gelten und damit die Voraussetzungen für Frieden da sind. Viele Menschen machen sich in diesen Tagen Sorgen um die Stabilität unserer so gewohnten Ordnung. Ich glaube, etwas mehr als ein Vierteljahrhundert nachdem wir alle den Fall der Mauer erlebt haben, nachdem Deutschland wiedervereint wurde, nachdem wir alle diese Werte leben konnten, nachdem die europäische Einigung mit den mittel- und osteuropäischen Ländern vollendet werden konnte, stellt sich plötzlich heraus, dass das, was wir für selbstverständlich gehalten haben, so selbstverständlich nicht ist, dass der freiheitliche demokratische Rechtsstaat, die soziale Marktwirtschaft, das Gewaltmonopol des Staates und die Bereitschaft, jeden und jede, jeden Bürger und jede Bürgerin, als Teil des Volkes zu begreifen, nicht mehr so da sind, wie das eine Weile lang ganz selbstverständlich zu sein schien. Was heißt das für uns? Das heißt für uns, noch einmal zu schauen: In welchem Umfeld findet diese Diskussion statt? Da hat sich etwas verändert. Neben der fortschreitenden Globalisierung findet diese Diskussion auch in einem völlig anderen medialen Umfeld statt. Ich glaube, wir dürfen das, was da im Zusammenhang mit dem Internet, mit der Digitalisierung passiert – und das ist Teil unserer Realität –, nicht unterschätzen. Wir haben Regelungen für alles, was Pressefreiheit ausmacht: die Sorgfaltspflicht der Journalisten und vieles andere mehr. Zugleich haben wir heute viele, die Medien wahrnehmen, die auf ganz anderen Grundlagen basieren, die weniger kontrolliert sind. Ich will darin nicht die einzige Ursache sehen, ich will nur darauf aufmerksam machen, dass Meinungsbildung heute grundsätzlich anders erfolgt als vor 25 Jahren, dass heute Fake-Seiten, Bots, Trolle Meinungsbilder verfälschen können, dass heute sich selbst regenerierende Meinungsverstärkungen durch bestimmte Algorithmen stattfinden. Wir müssen lernen, uns damit auseinanderzusetzen. Ich glaube, dies könnte auch eine spannende Frage für dieses Haus sein. Ich kann diese Debatte heute natürlich nicht führen, aber wir müssen wissen: Um Menschen zu erreichen, um Menschen zu begeistern, müssen wir mit diesen Phänomenen umgehen und, wo notwendig, sie auch regeln. Deshalb unterstütze ich auch die Ansätze von Justizminister Maas, von Innenminister de Maizière, Hassreden, Hasskommentare, vernichtende und mit der Achtung der Menschenwürde nicht in Übereinstimmung zu bringende Dinge anzusprechen und alles zu unternehmen, um das zu unterbinden, weil das unseren Grundsätzen widerspricht. Diese Sorge um Stabilität wird natürlich auch verstärkt durch das, was um uns herum passiert. Populismus und politische Extreme nehmen in westlichen Demokratien zu. Demokratische Streitkultur, die wir brauchen, die wir auch in diesem Hause praktizieren – wir haben ja gerade eben ein Stück davon gehört –, muss selbstverständlich sein, damit müssen wir uns auseinandersetzen. Aber es muss im Geiste des Respekts vor der Würde des jeweils anderen stattfinden. Das ist das Wesentliche, und das passiert eben an vielen Stellen nicht mehr. Wir haben besorgniserregende, ja alarmierende Ereignisse in der Türkei. Ich will hier ganz offen sagen: Der Putschversuch ist zu verurteilen – das hat die Bundesregierung gemacht, das hat die Europäische Union gemacht –, und gegen jede Form von Terrorismus ist vorzugehen; und das macht die Bundesregierung. Wir haben in über 4 000 Fällen Verfahren gegen PKK-Angehörige eingeleitet; aber unser Rechtsstaat kommt eben zu Urteilen, die die Politik nicht zu beeinflussen hat. Und diese rechtsstaatlichen Urteile sind dann auch zu akzeptieren. Die Bundesregierung ist jedenfalls genauso wie jeder in Europa dem Kampf gegen den Terrorismus verpflichtet, meine Damen und Herren. Dieser Kampf rechtfertigt aber nicht die Einschränkung der Pressefreiheit, die Verhaftung von Tausenden und Abertausenden von Menschen. Insofern müssen wir das deutlich kritisieren und gleichzeitig – dafür werbe ich allerdings auch – den Gesprächsfaden mit der Türkei aufrechterhalten. Ich begrüße außerordentlich die ja nicht einfache Reise des Bundesaußenministers. Auch ich werde den Gesprächsfaden mit der Türkei natürlich aufrechterhalten; denn auch wir haben ein Interesse daran, mit der Türkei in einer vernünftigen Art und Weise zu kooperieren. Das schließt aber nicht aus, dass das, was dort an alarmierenden Entwicklungen zu sehen ist, klar angesprochen wird, meine Damen und Herren. Wir haben im Zusammenhang mit der Krim und der Ukraine den Bruch des Völkerrechts und die Verletzung der territorialen Integrität eines Landes zu konstatieren. Leider sind unsere Gespräche über die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen noch nicht so weit gediehen, wie ich mir das wünschen würde. Die Situation in Syrien, insbesondere wenn man das sieht, was in Aleppo passiert, macht uns jeden Tag beklommen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Es gibt sehr viele Indizien dafür, dass hier bewusst Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen bombardiert werden. Mit Verlaub: Das ist international verboten. Das ist strafrechtlich zu verfolgen. Das muss das Assad-Regime auch wissen. Und es ist sehr bedauerlich, dass Russland dieses Regime unterstützt, meine Damen und Herren. Dennoch werden wir natürlich auch hier immer wieder alle Versuche unternehmen, um politische Lösungen zu finden, auch wenn es noch so aussichtlos erscheint wie im Augenblick. Und wir haben den internationalen Terrorismus: die große Bedrohung, neue Bedrohung, asymmetrische Bedrohung, gegen die wir ankämpfen müssen. Dieser Terror richtet sich ja nicht nur in anderen Ländern gegen die Bürgerinnen und Bürger. Vielmehr haben auch wir mit dieser terroristischen Herausforderung zu kämpfen. Er ist Teil des Alltags unserer Städte. Gegen ihn zu kämpfen, ist Teil unseres Kampfes für Freiheit. Meine Damen und Herren, in dieser Situation, die jetzt doch sehr viel unübersichtlicher und komplizierter ist, als sie es viele Jahre lang war, gibt es natürlich zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Diese Reaktionen sehen wir überall auf der Welt. Entweder ziehe ich mich auf mich und mein Land zurück, schotte mich ab und versuche, einfache Antworten auf das zu finden, was so kompliziert erscheint. Oder aber wir treten ein dafür, dass wir unsere Werte, die wir für richtig und wichtig halten, nicht nur bei uns zu Hause stärken, sondern versuchen, sie gemeinsam mit unseren europäischen Partnern, gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Amerika, gemeinsam mit Verbündeten auf der ganzen Welt in die Welt zu tragen. Ich glaube, dass wir heute bei der voranschreitenden Globalisierung darauf setzen sollten, gemeinsam zu handeln. Als Bundesrepublik Deutschland können wir selbstverständlich nicht alle Probleme lösen. Wir können weder den gesamten Hunger der Welt bekämpfen, noch können wir für 65 Millionen Flüchtlinge die Probleme lösen, noch können wir überall die politischen Ordnungen so verändern, wie wir uns das wünschen. Aber sind wir dazu bereit, mit unserer Erfahrungsgeschichte der sozialen Marktwirtschaft, einer gesellschaftlichen Ordnung, von der ich nach wie vor glaube, dass sie ein Höchstmaß an wirtschaftlicher Stärke und sozialer Gerechtigkeit mit sich bringt, in diesem Sinne für eine Schärfung, für eine Gestaltung der Globalisierung einzutreten? Oder sind wir dazu nicht bereit und ziehen uns auf uns selbst zurück? Vor dieser Frage stehen wir. Diese Frage müssen wir beantworten. Ich sage, dass wir auf Gemeinsamkeit, auf Multilateralismus, auf Gestaltung der Globalisierung zusammen mit anderen setzen sollten. Das ist das, wofür ich werbe. Liebe Kolleginnen und Kollegen, erinnern wir uns noch einmal daran, was nach der Katastrophe des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs die großartige Antwort der internationalen Staatengemeinschaft war. Es war die Gründung der Vereinten Nationen. Es war die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, der sich über 190 Staaten angeschlossen haben. Sie ist leider auch heute noch nicht vollständig umgesetzt. Angesichts dieser unglaublichen Bedrohung dieser Welt, die am Abgrund stand, hat sich die Staatengemeinschaft aber dafür entschlossen. Ich halte diese Antwort auch nach wie vor für richtig. Bei allem, was wir zu leisten haben, hat es im vergangenen Jahr zwei Dinge gegeben, die uns Hoffnung machen. Ich nenne hier die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung dieser Welt und das Pariser Klimaschutzabkommen. Deutschland wird ab dem 1. Dezember dieses Jahres die Präsidentschaft der G 20 übernehmen. Die G 20 sind auch der Versuch, mit den größten und wichtigsten Wirtschaftsländern dieser Erde Globalisierung menschlich zu gestalten und gleichzeitig für eine vernünftige Finanz- und Wirtschaftsordnung zu sorgen. Meine Damen und Herren, es gibt flagrante Steuerungerechtigkeiten. Aber wir haben dem doch nicht tatenlos zugesehen. Die Transparenzinitiative des Bundesfinanzministers, die von den 20 wichtigsten Finanzministern dieser Welt gemeinsam beschlossen wurde, ist doch ein Schritt in die richtige Richtung. Lassen Sie uns das doch wenigstens sagen. Die Tatsache, dass die Europäische Union sich mit der Frage der Steuerzahlungen von Apple und Google beschäftigt, ist doch ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn wir nie aussprechen, wo wir mal einen Schritt gemacht haben, werden die Menschen auch den Mut für den nächsten und übernächsten Schritt verlieren. Damit ist nicht eine ideale Welt geschaffen worden, aber es sind Schritte gemacht worden, die in die richtige Richtung gehen. Ich finde, es gehört zur Redlichkeit, das den Menschen in Deutschland auch zu sagen. Ein besonderer Schwerpunkt während unserer G-20-Präsidentschaft wird auch das Thema Afrika sein. Afrika ist der Kontinent, der von der wirtschaftlichen Entwicklung der gesamten Menschheit bislang am stärksten abgekoppelt ist. Wir werden gerade mit Blick auf die Migration viele Partnerschaften unternehmen, so wie wir das jetzt für Mali und Niger seitens der Bundesrepublik Deutschland zusammen mit Frankreich, Italien und der Europäischen Kommission praktizieren. Aber es darf sich nicht auf Migration beschränken, sondern die eigentliche Frage ist: Wie kommen wir von der klassischen Entwicklungshilfe zu einer wirklichen wirtschaftlichen – und auf eigenen Füßen stehenden – Entwicklung afrikanischer Staaten? Ich glaube, hier lohnt sich jede Zusammenarbeit mit der Afrikanischen Union und jeder Versuch, neue Wege zu gehen, neben dem, was wir bisher richtigerweise und guterweise gemacht haben, was aber noch keine ausreichenden Resultate gezeigt hat. In unserem Haushalt zeigen sich diese Prioritäten. Zum Beispiel ist allein in dieser Legislaturperiode der Haushalt des Entwicklungsministeriums um 2 Milliarden Euro gestiegen. Wenn wir uns die Ausgaben für die humanitäre Hilfe anschauen: Zu Beginn dieser Legislaturperiode waren es 438 Millionen Euro, heute sind es 1,3 Milliarden Euro. Damit haben wir Menschen in Flüchtlingslagern in Jordanien, Libanon und anderswo die Möglichkeit gegeben, menschenwürdig zu leben. Es ist richtig eingesetztes Geld, um Menschen in der Nähe ihrer Heimat Chancen zu geben. Deshalb sind diese Anstiege nicht nur zu rechtfertigen, sondern auch die richtige Antwort auf die Herausforderungen dieser Welt. Natürlich kann Deutschland das nicht alleine schaffen, nicht alleine lösen, sondern wir müssen sehen, dass diese Fragen – Fragen der Migration, Fragen der politischen Lösungen – internationaler Lösungen bedürfen. Dazu können wir einen Beitrag leisten. Wir haben dazu als Erstes unsere europäischen Partner. Deutschland als Teil der Europäischen Union muss seinen Beitrag leisten, aber die Europäische Union muss es insgesamt machen. Ja, wir hatten in diesem Jahr durch das Ergebnis des Referendums von Großbritannien einen schweren Einschnitt in der Geschichte der Europäischen Union. Deshalb haben wir 27 Mitgliedstaaten uns im Herbst in Bratislava getroffen und haben überlegt: Was müssen wir anders machen? Was fehlt den Menschen nicht nur in Großbritannien, sondern auch den Menschen in anderen Ländern der Europäischen Union? Oder: Was läuft nicht so, wie wir es uns eigentlich wünschen? Für mich sind das Dinge, die als Erstes mit der Frage zu tun haben: Was sind unsere Prioritäten? Ich glaube, hier wird im Augenblick Europa als Ganzes seinem Wohlstandsversprechen durch die soziale Marktwirtschaft, das wir für uns zu Hause durch eine gute Arbeitsmarktlage einlösen können, nicht gerecht. Deshalb geht es um die Frage der wirtschaftlichen Entwicklung der Zukunft. Hier haben wir insbesondere das Thema der Digitalisierung als ein zentrales Thema identifiziert. Weitere Themen sind die öffentlich-privaten Investitionen durch den Juncker’schen Investitionsfonds, wenn ich das so einmal lax sagen darf, der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit, aber nicht allein durch staatliche Interventionen, sondern durch mehr Wettbewerbsfähigkeit auch der europäischen Länder. Ohne Reformen – das haben wir auch in Deutschland mit der Agenda 2010 gesehen – kann man die Arbeitslosigkeit nicht bekämpfen. Das alles muss zusammengehen: staatliche Unterstützung mit wirtschaftlichen Reformen. Dann hat Europa eine Chance, seinem Wohlstandsversprechen zu entsprechen, meine Damen und Herren. Dann geht es um die Frage der Glaubwürdigkeit. Europa hat sich oft viel vorgenommen und sehr oft das nicht eingelöst, was es sich vorgenommen hat. Europa hat oft sehr langsame Entscheidungsmechanismen. Wenn wir uns einmal überlegen, in welcher Zeit technologischer Umwälzungen wir leben, und wenn wir daran denken, dass es manchmal Jahre gedauert hat, bis sehr einfache Themen, zum Beispiel das Thema Netzneutralität, in Europa gelöst wurden, dann kann man nur sagen: Europa hält mit den Entwicklungen der Zeit manchmal nicht Schritt. Das heißt, es muss schneller entschieden werden, und das, was entschieden wird, muss umgesetzt werden, und darüber muss Bericht erstattet werden. Das ist das, was wir in Bratislava besprochen haben und was jetzt auch eingelöst werden muss. Ansonsten leidet die Glaubwürdigkeit europäischen Handelns sehr, und das wird die Bürgerinnen und Bürger nicht überzeugen. Das Zweite sind die Fragen der Sicherheit – Sicherheit im Inneren, Sicherheit im Sinne einer äußeren Sicherheit. Meine Damen und Herren, hier bin ich sehr froh, dass sowohl die Innenminister als auch die Verteidigungsminister in den letzten Wochen und Monaten wichtige Beschlüsse gefasst haben. Auch wir, die Bundesrepublik Deutschland, mussten über unseren Schatten springen. Wir waren nicht immer für eine einheitliche europäische Grenzschutzpolizei – jetzt ist sie da. Wir waren auch nicht in der Lage, durchzusetzen, dass es ein einheitliches Einreise- und Ausreiseregister gibt. Die Idee besteht seit zehn Jahren – jetzt kommt es endlich dazu, dass die Vorschläge auf dem Tisch liegen. Ich kann nur hoffen, dass die Innenminister das sehr schnell beraten und in die Tat umsetzen; denn das ist etwas, was Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger gibt und einer der besten Schritte im Kampf gegen den Terrorismus ist. Und ja, auch die Kooperation im Verteidigungsbereich muss gestärkt werden. Der Lissabon-Vertrag lässt dies im Übrigen in Form einer strukturierten Zusammenarbeit zu. Aber auch hier gab es immer wieder Sorgen: Geht denn das zusammen mit der NATO? Meine Damen und Herren, warum soll es eigentlich nicht in Kameradschaft und Kooperation mit der NATO gehen? Es gibt doch genügend Gründe, dass die vielen – auch nicht so großen – europäischen Staaten Kompetenzen und Möglichkeiten bündeln und diese dann der NATO anbieten. Ich kann überhaupt nicht erkennen, dass es da Grund für große Diskussionen gibt. Deshalb finde ich diesen Schritt, den unsere Verteidigungsministerin ja auch sehr vorangetrieben hat, absolut richtig. Dann kommen wir zu dem Thema: Wie werden wir das zu Hause mit entsprechenden finanziellen Ressourcen unterlegen? Da bin ich einerseits sehr froh, dass im Bereich der inneren Sicherheit erhebliche Anstrengungen gemacht wurden. Es wurde gestern schon darüber gesprochen: Tausende von neuen Stellen bei den Behörden der inneren Sicherheit. Ich glaube und kann nur hoffen, dass die Angebote so attraktiv sind, dass sich auch genügend Menschen dafür entscheiden, sie wahrzunehmen; denn das ist für uns natürlich von allergrößter Wichtigkeit. Es spiegelt sich andererseits im Verteidigungsetat wider, dass wir noch nicht da sind, wo wir in der Erwartung unserer NATO-Partner sein müssten. Es gibt eine Vielzahl von kleineren europäischen Ländern, die die Zielvorgabe eines Anteils des Verteidigungsetats am Bruttoinlandsprodukt von 2,0 Prozent erfüllen und die in ziemlich wenigen Jahren ihren Verteidigungsetat so gesteigert haben. Ich weiß, dass wir ein ganzes Stück davon entfernt sind, ich will es auch nicht für die nahe Zukunft sagen, aber die Richtung muss klar sein: dass wir uns dem nähern, was wir alle miteinander übrigens – nicht nur Christdemokraten, auch Sozialdemokraten – als Beitrag zur NATO versprochen haben, und das auch durchsetzen, meine Damen und Herren. Ich bin der festen Überzeugung, dass all das, worüber ich jetzt gesprochen habe, zutiefst im Interesse der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland ist. Es gibt heute nicht mehr „Hier ist Außenpolitik, und da ist Innenpolitik“. Die Welt ist viel zu verwoben, als dass die Sicherheit, der Wohlstand, die Prosperität unserer Bürgerinnen und Bürger nicht von all dem abhängt, was wir in den internationalen Beziehungen tun, was dort stattfindet. Deshalb haben wir uns ja auch – insbesondere, wenn ich das sagen darf, die Sozialdemokraten – die Sache nicht ganz leicht gemacht, als es um den internationalen und fairen Handel ging. Ich sage ganz offen: Ich habe allergrößten Respekt davor. Ich finde es richtig und gut, dass zum Schluss der Weg gefunden wurde, dass das CETA-Abkommen, dieses Freihandelsabkommen mit Kanada, von der Europäischen Union jetzt unterzeichnet werden konnte und dann auch ratifiziert werden kann. Was steckt dahinter? Dahinter steckt doch im Grunde die Frage: Wie wird Globalisierung gestaltet? Diese Frage ist jahrelang so beantwortet worden, dass wir einfach mal Freihandelsabkommen geschlossen haben, bei denen es um die Absenkung von Zöllen ging. Als ich noch Umweltministerin war, ist immer wieder die Frage gestellt worden – bei der WTO zum Beispiel –: Was sind denn das für Freihandelsabkommen, die die Frage des Umweltschutzes, die die Frage der Produktionsbedingungen in der Landwirtschaft, die die Frage von Kinderarbeit, die solche Fragen wie Ausbeutung der natürlichen Ressourcen überhaupt nicht berücksichtigen? Und für jemanden, der soziale Marktwirtschaft als gesellschaftliches Modell denkt, konnte die Antwort nur unbefriedigend sein. Das waren keine Handelsabkommen, die uns wirklich gleiche Chancen, gleiche Möglichkeiten gegeben haben und die menschliche Gestaltung der Globalisierung auch in anderen Teilen der Welt möglich gemacht haben. Und weil wir diese Kritik aufgenommen haben, gibt es heute Handelsabkommen, die eine völlig neue Qualität haben. CETA ist das erste dieser Qualität, und ein Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika kann es auch nur auf der gleichen Qualitätsstufe geben. Dieses Abkommen entspricht nun in vielen Teilen – ich meine: was ist ideal? – und in einer völlig neuen Qualität all den Anforderungen, die wir an Globalisierung stellen. Das setzt Standards, die auch auf andere Auswirkungen haben. Und just da sind diejenigen, die damals gegen die einfachen Zollabkommen waren – von denen wir gelernt haben –, nun mindestens so entschieden gegen dieses Abkommen wie gegen die, die vorher abgeschlossen wurden, und das kann ich nicht verstehen. Ich bitte darum, die ganze Sache noch einmal zu überdenken. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich bin nicht froh, dass das transpazifische Abkommen jetzt wahrscheinlich nicht Realität wird. Ich weiß nicht, wer davon profitieren wird – ich will mich heute hier mit meinen Prognosen zurückhalten –, ich weiß nur eines: Es wird weitere Handelsabkommen geben, und die werden dann nicht die Standards haben wie dieses Abkommen und auch das angedachte TTIP-Abkommen. Meine Damen und Herren, das hat etwas zu tun mit Arbeitsplätzen in der Globalisierung, mit fairen Wettbewerbsbedingungen und mit menschlicher Gestaltung der Globalisierung. Wir sind in Deutschland im Augenblick in einer relativ guten Lage; das ist vielfach gesagt worden. Allein in den letzten fünf Jahren sind 2,7 Millionen Arbeitsplätze entstanden. Interessant ist, sich einmal anzuschauen: Wer hat mehr Beschäftigung gefunden? Das sind zu etwa einem Drittel Frauen, die stärker ins Erwerbsleben gehen, das sind zu einem weiteren Drittel Menschen, die länger arbeiten können – die Lebensarbeitszeit verlängert sich; das ist richtig und von uns gewünscht –, und zu einem dritten Drittel sind es Menschen aus der Europäischen Union, die in Deutschland Arbeit suchen, weil sie zu Hause keine finden. Auch das ist in einem Binnenmarkt eine positive Wirkung und im Übrigen ein Beitrag Deutschlands zur Lösung mancher Probleme in der Europäischen Union. Der Bund nimmt seit 2014 keine neuen Schulden mehr auf, die Reallöhne und die Renten steigen. Aber bei allem, was es noch zu kritisieren gibt – und ich weiß, dass viele Menschen Not haben, und ich halte die Zahl der Menschen, die von Arbeitslosengeld II, von Hartz IV abhängig sind, auch für viel zu hoch; daran müssen wir arbeiten –, dürfen wir sagen: Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut wie im Augenblick. Auch das muss einmal festgehalten werden. Der Bundeshaushalt 2017 setzt den Kurs fort, nicht auf Kosten der jungen Generation zu leben, sondern in sie zu investieren. Eckhardt Rehberg hat es gestern gesagt: Die Investitionsquote ist so hoch wie seit langem nicht. Mit 11 Prozent ist sie immer noch überschaubar, würde ich sagen, wenn wir an über 50 Prozent Sozialquote des Haushalts denken. Aber diese Sozialquote zeigt doch, dass es nun wirklich ein Haushalt der sozialen Marktwirtschaft ist und kein Haushalt, der sich rein auf Investitionen und die schwarze Null konzentriert. Vielmehr ist es ein Haushalt, der auch für soziale Gerechtigkeit sorgt, meine Damen und Herren. Der Haushalt für Forschung und Bildung hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Er steigt auch in diesem Jahr wieder um 7 Prozent. Der Bund engagiert sich inzwischen bei Ländern und Kommunen weit über seine Kompetenzen hinaus: sei es durch den Hochschulpakt, sei es durch Initiativen zur Lehrerausbildung, sei es durch Hilfe für kommunale Infrastruktur. Wir haben alleine für finanzschwache Kommunen ein Programm in Höhe von inzwischen 7 Milliarden Euro aufgelegt. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Punkt, der mich bei all den Verhandlungen mit den Ländern umtreibt, ist: Wie können wir eigentlich punktgenau helfen? Wir haben als Hilfsmöglichkeiten die Mehrwertsteueranteile, wir haben den Königsteiner Schlüssel, und da geht es nicht immer nach Bedürftigkeit, sondern es geht sehr oft nach Stärke. Und das führt dann, wenn wir nicht gerade den KdU-Schlüssel nehmen, der aber auch nur begrenzt sinnvoll ist in diesem Zusammenhang, immer dazu, dass wir sozusagen doch mehr mit der Gießkanne helfen als punktuell dort, wo es geboten ist. – Mit Herrn Oppermann habe ich mich im kleinen Kreis schon des Öfteren darüber auseinandergesetzt. Damit das jetzt auch öffentlich wird: Herr Oppermann findet die Verteilung der Mittel für die Kommunen nicht ausreichend zielführend. Er hat deshalb gesagt, dass die 5 Milliarden Euro, um die im Zusammenhang mit der Eingliederungshilfe die Kommunen entlastet werden, anders verteilt werden müssen, als das jetzt festgelegt wurde. Nun habe ich – ich glaube, das sagt die ganze Bundesregierung – einfach gesagt, nachdem wir Stunden und Aberstunden und noch mehr Stunden mit den Ministerpräsidenten der Länder und den kommunalen Spitzenverbänden gesprochen haben: Wenn Sie mir einen anderen und aus Ihrer Sicht – vielleicht bzw. wahrscheinlich dann sogar auch aus meiner Sicht – gerechteren Verteilungsschlüssel vorlegen und die Ministerpräsidenten damit einverstanden sind: Chapeau! Dann wird es anders gemacht. Aber, meine Damen und Herren, die Wahrscheinlichkeit, dass Herr Oppermann, den ich schätze und der vieles bewirken kann, dies schafft, erscheint mir sehr gering. – Ich meine das ganz freundschaftlich. – Den Kommunen nun gar nichts zu geben, weil man das, was einem vorschwebt, noch nicht erreicht hat, halte ich für die schlechtere Lösung. Deshalb müssen wir weiter daran arbeiten und vielleicht andere Verteilungsmechanismen ausprobieren. Es gibt einen Punkt, bei dem ich noch nicht überzeugt bin, dass wir ausreichend über ihn sprechen, und der für die Arbeit der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode aber ein wirklicher Schwerpunkt war. Ich meine die Frage: Wie gehen wir mit der Digitalisierung um, und was bedeutet Digitalisierung? Ich habe dies schon am Anfang meiner Rede als Auswirkung auf unsere gesellschaftlichen Diskussionen angesprochen, aber ich will es auch jetzt noch einmal als Auswirkung auf unsere Arbeitsplätze, unsere öffentliche Daseinsvorsorge und vieles andere mehr nennen: Wir werden nicht klarkommen, wenn wir bestimmte Dinge einfach verbieten und uns den neuen Möglichkeiten nicht öffnen. Ich kann gut verstehen, warum man Uber nicht haben will und warum die Taxifahrer sagen, das wollen sie nicht. Aber bitte glauben Sie nicht, dass wir den Möglichkeiten der Digitalisierung entgehen können. Auch hier müssen wir es wieder schaffen, sie in das, was wir öffentliche Daseinsvorsorge nennen, vernünftig einzubeziehen. Es wird vielleicht Möglichkeiten geben, den öffentlichen Personennahverkehr im ländlichen Raum viel besser zu gestalten als mit den klassischen Bus- und Zugstrukturen. Es wird Möglichkeiten geben, die viele Menschen wieder beruhigen werden. Es wird Möglichkeiten geben, wie wir unsere Städte umweltfreundlicher gestalten. Lassen Sie uns das offen angehen. Die Veränderungen werden schneller kommen, als wir denken. Wir haben uns neulich in kleinerem Kreise damit beschäftigt, welche disruptiven Veränderungen es allein in der Automobilindustrie gibt. Es werden nicht mehr alle Menschen ein Auto besitzen wollen, das Auto wird autonom fahren können, und die Antriebstechnologien werden sich dramatisch verändern. Entweder reagieren wir darauf – unsere Automobilindustrie ist dazu in der Lage, das Rahmenwerk dafür wird gestaltet, und der Bundesverkehrsminister hat hier wichtige Schritte eingeleitet –, oder wir sind zu langsam, und andere werden uns übertrumpfen. Meiner Meinung nach steht in einer von uns vielleicht noch nicht voll erfassten Tragweite – ich beziehe mich da mit ein – die Frage unserer industriellen Wertschöpfung auf dem Prüfstand, mit allen Möglichkeiten, die wir haben, als Gewinner aus dem Wettbewerb herauszukommen. Dazu gehört eine ehrliche Analyse, wo wir stehen. Ich bin sehr froh, dass wir den anderen bei der Standardisierung, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Industrie 4.0, nach Maßgabe aller ein bis zwei Jahre voraus sind; daran haben der Wirtschaftsminister, aber auch die Forschungsministerin erheblichen Anteil. Da haben wir vieles geschafft, da sind wir international spitze, und da geben wir den Ton an – aber eben nicht bei der Batterieherstellung und auch noch nicht bei der künstlichen Intelligenz. Da müssen wir nachholen. Ich glaube, wir alle sollten uns intensiv mit diesen Themen beschäftigen. Weiter haben wir den großen Bereich des Umbaus unserer Energieversorgung. Es ist ja nun viel Kritisches über den Klimaschutzplan gesagt worden. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als Regierung müssen uns schon damit beschäftigen – ich verstehe eine vorpreschende Umweltministerin natürlich in vollem Maße –, wie Klimaschutz, Arbeitsplätze und die Sorgen der Menschen in einen vernünftigen Einklang gebracht werden können. Ich glaube, Frau Hendricks war fast die Einzige, die auf der Marrakesch-Konferenz einen detaillierten Klimaschutzplan vorlegen konnte. Nun kann man national viel streiten und sagen: Das alles ist nicht genug. – Aber Fakt ist erst einmal, dass wir das Land waren, das nach der Pariser Klimaschutzkonferenz schon etwas vorweisen konnte, wie wir die nächsten Schritte angehen wollen. Deshalb sollen wir unser Licht da nicht unter den Scheffel stellen, meine Damen und Herren. Wir haben ja hier im Eingangsstatement von der linken Seite etwas über den Zustand unserer sozialen Sicherungssysteme gehört. Wissen Sie, ich glaube: Die Rentenversicherung kann angesichts des demografischen Wandels nicht solide bleiben, wenn wir nicht neben der gesetzlichen Rentenversicherung auch andere Formen der Absicherung weiterentwickeln und fortentwickeln. Dass man nun auch noch die staatlichen Zuschüsse zur betrieblichen Rente infrage stellt, halte ich für absolut falsch. Wir sollten Betriebe bzw. Arbeitgeber ermutigen, hier etwas zu machen. Und der Bundesfinanzminister sowie die Bundesarbeitsministerin haben das getan. Nun können wir ja über die Inhalte streiten. Ich halte die Fortentwicklung der betrieblichen Versorgung für richtig, ich halte die Verbesserung der Erwerbsunfähigkeitsrente für richtig, ich halte auch die private Vorsorge für richtig. Man muss sie verbessern und vereinheitlichen. Es muss klarer werden, was dort stattzufinden hat. Aber erzählen Sie den Menschen bitte nicht, dass bei veränderter Demografie alles so bleiben kann, wie es ist, ohne dass die Lohnzusatzkosten so steigen, dass es kein Mensch bezahlen kann. Wenn diese Große Koalition etwas geschafft hat, dann ist es der Riesenfortschritt im Bereich der Pflegeversicherung. Wir haben in dieser Legislaturperiode allein drei Pflegestärkungsgesetze verabschiedet oder werden sie verabschieden. Wir haben den Pflegebegriff – „endlich“, würde Ulla Schmidt sagen – so umgestellt, dass er auch Demenzkrankheiten vernünftig miteinbezieht. Wir haben die ambulante Pflege gestärkt, wir haben die stationäre Pflege gestärkt. Wir haben die Stellung derer, die Pflegearbeiten verrichten, verbessert. Ich weiß, dass das alles immer noch ein Riesenproblem bleibt – im Übrigen ein Problem, das fast in jeder Familie auf der Tagesordnung steht. Darüber wird politisch viel zu selten gesprochen, und wenn, dann vielleicht nur von den Fachministern. Aber auch hier ist es doch so: Wir haben die finanziellen Leistungen im Bereich der Pflege um 20 Prozent erhöht. Ich finde, das sollte man den Menschen auch sagen, damit sie nicht den Eindruck haben, es wird schlechter. Damit können wir deutlich machen, was uns wichtig ist, wofür wir einstehen und was wir voranbringen wollen. Meine Damen und Herren, angesichts der großen Herausforderungen des letzten Jahres im Zusammenhang mit den vielen bei uns ankommenden Flüchtlingen möchte ich – im Rückblick auf das vergangene Jahr und auch auf den vergangenen Teil dieses Jahres – sagen: Bei allen kritischen Diskussionen, die wir auch im föderalen Betrieb zwischen Bund, Ländern und Gemeinden haben, hat sich im letzten Jahr ein großartiges Maß an Zusammenarbeit und Zusammenhalt der Hauptamtlichen und der vielen, vielen Ehrenamtlichen gezeigt, auf das unser Land wirklich stolz sein kann, meine Damen und Herren. Wir haben die Dinge geordnet und gesteuert. Wir haben das EU-Türkei-Abkommen abgeschlossen. – Ja, ganz vorsichtig! Das ist Ihre Möglichkeit, sich frei zu äußern. – Ich halte die Bekämpfung der illegalen Migration, die Tatsache, den Schleusern das Handwerk zu legen, wenn sie übelste Geschäfte mit Menschen machen, sowie die Tatsache, etwas dagegen zu tun, dass wieder Menschen – in diesem Jahr waren es bisher 4 500 oder mehr – ertrinken, für eines der notwendigsten Gebote politischen Handelns. Wer auf Schlepper und Schleuser setzen muss, weil er nicht politisch gestalten kann, der macht seine Arbeit nicht in dem Sinne, wie ich mir das vorstelle. Deshalb müssen wir schauen, wo wir auch mit anderen Ländern – insbesondere mit Blick auf den Norden Afrikas, aber auch auf Afrika insgesamt – Partnerschaften eingehen können und wie wir die Lebensbedingungen dort verbessern und legale Möglichkeiten der Migration schaffen können. – Hier haben wir noch Arbeit – das ist richtig – und auch noch eine ganze Menge Streit vor uns. Wir haben ein Integrationsgesetz verabschiedet und damit ein jahrzehntelanges Versäumnis wiedergutgemacht und für die Zukunft eine bessere Regelung – Fordern und Fördern – gefunden. Wir haben klare Anforderungen formuliert und gesagt, was wir von denen erwarten, die bei uns zu Hause sein wollen oder eine bestimmte Zeit bei uns verleben. Dazu gehört das Erlernen der Sprache, dazu gehört die Akzeptanz unserer gesellschaftlichen Ordnung. Das ist ganz selbstverständlich. Angesichts der negativen Beispiele, die es natürlich gibt und die man auch nicht unter den Tisch kehren sollte, will ich ganz deutlich sagen: Es ist gut, dass sich die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge der Integration stellt und mit viel Eifer, mit viel Fleiß und viel Kraft versucht, gerade in den Integrationskursen erfolgreich zu sein. Aber die Menschen erwarten, dass das, was von unserem Rechtsstaat als gerichtliche Urteile ausgesprochen wird, vom Staat auch umgesetzt wird. Und das heißt, dass diejenigen, die kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht bei uns bekommen, die nicht als Asylbewerber anerkannt werden und die keinen subsidiären oder Flüchtlingsschutz nach der Genfer Konvention bei uns erhalten, unser Land auch wieder verlassen müssen. Ich finde, diese Erwartung der Bürgerinnen und Bürger ist gerechtfertigt. Dadurch wird auch die Bereitschaft erhöht, denjenigen zu helfen, die Hilfe brauchen. Auch hier unternehmen wir viele Anstrengungen, um das gemeinsam mit den Ländern – das sage ich ausdrücklich – zu verbessern. Ich muss allerdings sagen: Ich habe in einer Koalitionsvereinbarung, die nicht weit von hier getroffen wurde, gelesen, dass das Winterabschiebeverbot wieder eingeführt werden soll. Sie müssen einmal zur zuständigen Ausländerbehörde gehen und sich anhören, was die Menschen darüber sagen. Das ist genau das gegenteilige Signal von dem, was wir brauchen, und das führt Menschen zum Schluss in mehr Not, als wenn sie wüssten, dass sie bei uns keine Chance haben, und es hilft ihnen nicht. Das ist meine tiefe Überzeugung. Meine Damen und Herren, wir leben in Zeiten rasanter globaler Veränderungen. Wir haben die Möglichkeiten, Veränderungen schrittweise menschlich zu gestalten. Das setzt Offenheit voraus. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Offenheit wird uns mehr Sicherheit bringen als Abschottung – mehr Sicherheit im Blick auf die wirtschaftliche Situation, mehr Sicherheit im Blick auf Soziales und mehr Sicherheit im Blick auf Frieden und Freiheit. Deshalb, meine Damen und Herren: Lassen Sie uns an dieser Arbeit weiter dranbleiben. Wir haben als Bundesregierung in den letzten eineinhalb Jahren einen Bürgerdialog durchgeführt. In diesem Bürgerdialog sind Frieden und Sicherheit noch einmal als die zentralen Bedürfnisse der Menschen in Deutschland genannt worden. Deshalb ist es aller Mühe wert, im Geiste dieses Haushaltes weiterzuarbeiten und da, wo es Probleme gibt – und sie gibt es –, sie natürlich zu lösen. Herzlichen Dank.
in Berlin vor dem Deutschen Bundestag (Protokoll des Deutschen Bundestages)
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Verleihung des Deutschen Kurzfilmpreises
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-verleihung-des-deutschen-kurzfilmpreises-792140
Thu, 17 Nov 2016 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
„Eine Geschichte muss sich wie eine wohlgeformte Seifenblase vom Strohhalm des Bläsers lösen, rund und schön davonschweben als eine neue, vollständige, reine, schillernde Welt.“ Das hat die irische Schriftstellerin Elizabeth Bowen einmal gesagt, eine wahre Meisterin der literarischen Kurzgeschichte, eine gefeierte Schriftstellerin, die diesen hohen Anspruch auf nur wenigen Seiten bravourös einzulösen verstand. Auch Sie, liebe Nominierte, sind Meisterinnen und Meister dieser Kunst, die ich als Kinobesucherin ebenso aufrichtig schätze und bewundere wie als Leserin. Auch Sie sind Meisterinnen und Meister der Kunst, eine Geschichte poetisch so zu verdichten, dass sie ihre Wirkung in kürzester Zeit entfaltet. Auch Sie verstehen es, aus Beobachtungsgabe, Phantasie und Experimentierfreude „wohlgeformte Seifenblasen“ entstehen und entschweben zu lassen – eigenständige neue Welten, die in besonders leuchtenden Farben schillern, nicht obwohl, sondern weil sie der knappen, präzisen Form huldigen. Denn gerade die kurze Form fordert das künstlerische Talent: Es braucht subtile Andeutungen, Metaphern, Symbole, ja eine eigene Bildersprache, um auf kleinstem Raum eine ganze Welt herauf zu beschwören und in weniger als einer halben Stunde etwas vom Wesentlichen eines Lebens, von der Seele eines Menschen sichtbar zu machen. Nicht umsonst gilt der Kunstfilm als eigenständige Kunstform für etablierte Könner – und nicht nur als Gesellenstück begabter Filmstudierender oder als eindrucksvolle Visitenkarte talentierter Absolventinnen und Absolventen. Seine außergewöhnlichen erzählerischen, dramaturgischen und gestalterischen Mittel machen den Kurzfilm zu einem ebenso avantgardistischen wie anspruchsvollen Filmgenre – und für so manchen Cineasten zur wahren filmischen Königsdisziplin. So zeugt es von der exzellenten Ausbildung in Deutschland, dass Filmstudentinnen und Filmstudenten unserer Hochschulen international in der ersten Liga dieses Genres mitspielen. Beim Studenten-Oscar beispielsweise konnten sich auch in diesem Jahr wieder drei Deutsche – einer von ihnen studiert hier an der HFF–Hochschule für Film und Fernsehen München – gegen die internationale Konkurrenz durchsetzen. Preiswürdig jedenfalls ist die künstlerische Pionierarbeit im Kurzfilmgenre allemal und immer wieder, und deshalb freue ich mich, heute Abend den Deutschen Kurzfilmpreis 2016, den mit bis zu 275.000 Euro höchst dotierten Preis für das Genre Kurzfilm, zu vergeben – – zumal im 60. Jubiläumsjahr – zumal in einer Stadt, die als Gastgeberin des Internationalen Festivals der Filmhochschulen ohnehin gerade im Kurzfilmfieber steckt, – zumal in einer Filmhochschule, die – auch mit den klingenden Namen ihrer bekanntesten Absolventinnen und Absolventen – für die ganze Bandbreite deutscher Filmkunst und deutscher Filmerfolge steht. Schön, dass wir hier sein dürfen, liebe Frau Prof. Reitz! Ein großer Erfolg ist allein schon die Nominierung für den Deutschen Kurzfilmpreis. Dazu gratuliere ich Ihnen allen herzlich, liebe Nominierte! Applaus verdienen auch die Jurymitglieder, die – um im Bild zu bleiben – unter sage und schreibe 281 eingereichten Filmen die schillerndsten „Seifenblasen“ ausgewählt haben, ebenso die Sponsoren der Preisgala und nicht zu vergessen die Verantwortlichen für die Gestaltung des heutigen Abends – Frau Beyer, Frau Menge und ihr Team. Herzlichen Dank Ihnen allen für Ihre Unterstützung des Deutschen Kurzfilmpreises! Auf beherzte Unterstützung, meine Damen und Herren, ist der deutsche Kurzfilm nicht nur am heutigen Abend angewiesen. Mag in der Kürze auch die Würze liegen – die besondere künstlerische Strahlkraft, die Cineasten begeistert: Mit unter dreißig Minuten Spielzeit sind die Verwertungsmöglichkeiten leider begrenzt. Umso wichtiger ist die Förderung des Kurzfilms im Rahmen der kulturellen Filmförderung der Bundesregierung – sei es im Rahmen der Kinotournee des Deutschen Kurzfilmpreises, sei es im Rahmen der Produktionsförderung, sei es in Form von Unterstützung für Kurzfilmfestivals, für die KurzFilmAgentur, für die AG Kurzfilm oder für einzelne Projekte, sei es im Zusammenhang mit der Novellierung des Filmförderungsgesetzes, die der Deutsche Bundestag gerade verabschiedet hat. Das neue Filmförderungsgesetz sieht vor, dass die Kurzfilmförderung der FFA–Filmförderungsanstalt nicht mehr nur auf Formate von einer Minute bis 15 Minuten beschränkt ist. Künftig sollen auch Kurzfilme von unter einer Minute und bis zu 30 Minuten Fördermittel bekommen können. Außerdem soll die Filmförderungsanstalt künftig auch das Abspiel von Kurzfilmrollen fördern können – auf dass großartige Kurzfilme es auch auf die großen Kinoleinwände schaffen und mehr verdiente Aufmerksamkeit bekommen! Genau das wünsche ich insbesondere den Nominierten, die heute einen Preis mit nach Hause nehmen. Ich bin sicher, dass ihr pointiertes, packendes, poetisches, bisweilen auch provokatives Erzählen nicht nur den Geschmack der Jury getroffen hat, sondern auch Kurzfilm-Liebhaber begeistern und Kurzfilm-Entdeckern Appetit machen wird – auf mehr von dieser feinen Filmgattung. Herzlichen Glückwunsch, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, deren Namen ich gleich mit Vergnügen verraten werde. Viel Freude, Inspiration und Erfolg für Ihre weitere Filmkarriere! Ich bin sicher: Wir werden noch einiges von Ihnen hören – und sehen!
Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat in München den Deutschen Kurzfilmpreis verliehen. In verschiedenen Kategorien wurden Künstlerinnen und Künstler ausgezeichnet, „denn gerade die kurze Form fordert das künstlerische Talent“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 10. Nationalen IT-Gipfel am 17. November 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-10-nationalen-it-gipfel-am-17-november-2016-411456
Thu, 17 Nov 2016 11:40:00 +0100
Saarbrücken
Sehr geehrter Herr Dirks, sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Annegret, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett – Sie merken, wir könnten glatt eine Kabinettsitzung abhalten und wären beschlussfähig –, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, meine Damen und Herren, „Lernen und Handeln in der digitalen Welt“ – dieses Thema prägt nicht nur den diesjährigen IT-Gipfel, sondern mehr und mehr auch unseren Alltag. Ich glaube, dass es richtig war, dies als Schwerpunktthema des IT-Gipfels in diesem Jahr zu wählen. Ich habe auch gelernt, die Branche würde ihn in Zukunft gern „Digitalgipfel“ nennen. Dem Wunsch können wir gerne nachkommen. Es ist sogar eine gute Ergänzung, denke ich. Wir haben ja zu Beginn der Legislaturperiode versucht, unsere Digitale Agenda mit dem IT-Gipfel-Prozess zu verschmelzen. Wenn wir bei der Umsetzung der Digitalen Agenda nun zu einem Digitalgipfel und weiteren Schwerpunkten kommen, ist das, denke ich, ein gute Fortentwicklung. Wir konnten uns soeben anschauen, wie Kinder heute in spielerischer Weise lernen, was sich digital abspielt. Ich finde es ganz wichtig, dass sozusagen die Basics von Anfang an gelernt werden. Aber auch Ältere sollen Zugang zu den Möglichkeiten der Digitalisierung haben. Deshalb begrüße ich auch das sehr, was wir hier im Zusammenhang mit der digitalen Produktion gesehen haben, und dass die IG Metall mit Unternehmen zusammenarbeitet, um die digitale Arbeitswelt allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durch lebenslanges Lernen zugänglich zu machen – auch um die Kluft, die es ja doch zwischen denen, die sich Software-Ingenieure oder -Fachkräfte nennen, und denen, die die Hardware produzieren, gibt, zu überbrücken. Denn die digitale Welt bedeutet ja nichts anderes als die Verschmelzung dieser beiden Welten. Das muss sich natürlich auch in der Arbeitswelt der Menschen widerspiegeln, die sozusagen nicht auf zwei verschiedenen Planeten leben sollten. Wir sind daher schon gespannt auf das Weißbuch, das uns die Bundesarbeitsministerin demnächst vorlegen wird. Dann wird sich auch zeigen, wie wir unsere klassische Arbeitswelt Schritt für Schritt in eine neue transformieren können. Das ist aber jetzt nicht das Schwerpunktthema, sondern heute geht es um Lernprozesse, Ausbildung, Fortbildung, Weiterbildung und um Zugänge zum Wissen. An praktischen Beispielen wird gezeigt, wie wir Lehrer und Schüler besser ausbilden können. Ich finde es sehr gut, dass es hier im Saarland ganz besondere Pilotprojekte gibt. Herr Dirks, ich möchte mich bei Bitkom dafür bedanken, dass Sie eine Bildungsoffensive gestartet haben, sozusagen parallel zu unserer Bildungsoffensive seitens des Bildungsministeriums. Nun ist das aber insofern eine komplizierte Angelegenheit, als Bildungsfragen in der Kompetenz der Länder liegen. Die Länder wachen einerseits darüber, dass der Bund sich nicht in ihre Kompetenzen einmischt, andererseits sind sie auch dankbar, wenn wir gute Projekte unterstützen. Insofern hat die Bundesbildungsministerin mit ihrer Offensive und mit ihrem Angebot, die Infrastruktur an Schulen gemeinsam mit den Ländern auszubauen – das ist ein Punkt, der sich über viele Jahre hinziehen wird –, einen richtigen Punkt angesprochen. Und ich denke, wir können hier auch zu gemeinsamen Aktionen kommen. Das Thema „Smart School“, von der Wirtschaft gesetzt, ist als Pilotprojekt hoch spannend. An diesem Projekt wird man sehen können, wie bei Schülerinnen und Schülern, die sicherlich sehr offen und neugierig sind, bis hin zu den Lehrerinnen und Lehrern, die hoffentlich auch neugierig und offen sind, die Dinge in Gang kommen. Wir haben es hier ja mit Prozessen zu tun, bei denen Lehrer aufpassen müssen, dass sie genauso viel wissen wie die Schüler, die in manchem vielleicht sogar besser sind. Ich habe Ähnliches schon in den ersten Jahren der Deutschen Einheit erlebt, als plötzlich lauter junge Lehrer kamen und ostdeutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer trainiert und qualifiziert haben. So etwas ist nicht einfach, weil wir alle eigentlich darauf ausgerichtet sind, dass wir weiser werden, je älter wir werden, und dass wir hierarchisch nach oben klettern und selbst Anweisungen geben können, aber nicht am Ende unseres Berufslebens erleben, was wir alles nicht wissen. Deshalb finde ich es auch sehr interessant, dass man sich in deutschen Unternehmen, zum Beispiel bei Bosch, entschieden hat, junge Leute mit Führungskräften mitlaufen zu lassen, um diesen dann auch neue Zugänge zur digitalen Welt zu ermöglichen. Ich glaube, gerade die Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern ist ein ganz wichtiger Punkt. Denn natürlich muss jemand, der etwas vermittelt, auch Sicherheit haben in dem, was er tut, und auch deutlich machen können, wie die Prioritäten zu setzen sind. Vor uns liegt eine sehr spannende Zeit. Ich freue mich schon auf die spätere Live-Schaltung zur Bellevue-Schule hier im Saarland. Ich finde es auch gut, wenn in einer Schule junge Schülerinnen und Schüler aus allen Bereichen der Gesellschaft vertreten sind. Das Saarland ist zwar ein kleines Bundesland, aber eines, das sehr viele Kompetenzen im digitalen Bereich und in der digitalen Wirtschaft aufweisen kann. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als der damalige Ministerpräsident Peter Müller relativ mutig sagte, das Saarland werde aus dem Kohlebereich aussteigen – es war das erste Bundesland, das sich dafür entschieden hat –, und gleichzeitig zu verstehen gab: Wir müssen auf die Zukunft setzen. Heute haben sich hier von Max-Planck-Instituten bis zu Start-ups und durch die Förderung der Saarbrücker Universität erhebliche Kompetenzen angesammelt. Allein 40 Informatik-Professuren gibt es an der Saarbrücker Universität. Sie ist ein richtiger Vorzeigecampus, um den sich ein Inkubator für Start-ups bilden konnte. Das – kombiniert mit den Max-Planck-Instituten und anderen Instituten – ist richtig und wichtig. Wenn man sich den Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der Digitalen Agenda durchliest, sieht man, dass wir einiges an Rahmensetzung auf den Weg gebracht haben. Manche Dinge dauern aber sehr lange; das muss man sagen. Zum Beispiel waren die Veränderungen der Regeln zur steuerlichen Verlustverrechnung ein sehr zeitintensives Unterfangen, bis wir den Eindruck hatten, auch Brüssel und die Europäische Kommission könnten uns zustimmen. Dies ist jetzt gelungen. Ich denke, das ist eine gute Nachricht, weil risikoreiche, aber eben innovative Geschäftsideen eine bessere Chance haben. Soeben ist uns die „German Hub Initiative“ des Bundeswirtschaftsministeriums vorgestellt worden. Ich denke, dass dieses Projekt eine wirklich gute Sache ist. Weltweite Vernetzung, so wie es Minister Gabriel eben gesagt hat, ist die Grundlage dafür, dass wir nicht wieder isoliert etwas tun, sondern dass wir eben in die weltweiten Entwicklungen eingebunden sind, weshalb auch das Interesse an dem, was in Deutschland passiert, wächst. Deutschland hat eine gute Ausgangsposition, um die Chancen der Digitalisierung zu nutzen. Aber wir sind weit davon entfernt, in allen Bereichen Weltspitze zu sein. Wettbewerb ist spannend; er ist interessant und rasant. Politik muss lernen, sich schneller auf Veränderungen einzustellen, schneller Entscheidungen zu treffen, vielleicht auch bestimmte Regelungen zeitweise in Kraft zu setzen und dann zu überlegen, ob sie sich bewährt haben oder nicht. Wir müssen vor allen Dingen auch mit der Wirtschaft gut kooperieren. Das ist mit der Plattform Industrie 4.0 aus meiner Sicht gut gelungen. Sie hat international Beachtung gefunden. Diese Plattform arbeitet mit anderen Plattformen zusammen, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir haben eine gute Chance, bei der Standardisierung der Industrie 4.0 vorn mit dabei zu sein. Wir bieten Unterstützung gerade auch für den Mittelstand an. Minister Gabriel hat soeben darauf hingewiesen: Vor drei Jahren bestand noch eine erschreckende Situation. Aber ich glaube, durch die Digitale Agenda hat sich sehr viel verändert. Auch das Angebot von Kompetenzzentren hat hierbei sehr geholfen. Wenn man nun ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland auf den disruptiven Prozess des Übergangs in die digitale Welt vorbereiten will, dann ist es extrem wichtig, dass jeder Bürger und jede Bürgerin eine Chance hat, auch im Alltagsleben zu spüren, was dabei stattfindet. Sehr oft wurde uns gesagt: Ihr kümmert euch im Bereich E-Government nicht genug um die Dinge, die notwendig sind. Ich glaube, hier sind wir erhebliche Schritte vorangekommen. Auf der einen Seite gibt es jetzt mit Staatssekretär Vitt im Bundesinnenministerium einen, der nun wirklich für Digitalisierung verantwortlich ist. Ich will Ihnen die Schilderung ersparen, wie man IT-Systeme verschiedener Ministerien anpasst, Schnittstellen schafft und gemeinsam an die Zukunft denkt. Das ist extrem schwierig, weil die einen Angst haben, dass das zuständige Innenministerium vielleicht ein bisschen zu langsam sein könnte; und wenn man bei seinem IT-System einmal einen Fehlgriff getan hat, könne man davon so schnell nicht wieder wegkommen. Andere wollen sich nicht in die Karten schauen lassen. Aber ich glaube, wir haben jetzt doch ein gemeinsames Herangehen geschafft. Noch viel wichtiger ist der Sprung, den wir jetzt im Zusammenhang mit den Bund-Länder-Finanzbeziehungen gemacht haben. Wir werden das Grundgesetz ändern und, aufbauend auf Artikel 91c des Grundgesetzes, der heute schon besagt, dass man in digitalen Fragen zusammenarbeiten kann, die Grundlagen für ein Portal für die Bürger schaffen, von dem aus sie – von den Bundeskompetenzen über die Länderkompetenzen bis zu den kommunalen Zuständigkeiten – Zugriff auf alle für sie relevanten Vorgänge haben. Ich hoffe, dass wir dann Schritt für Schritt weiterkommen und dass wir die Möglichkeiten, die wir mit dem neuen Personalausweis mit Chip haben, auch wirklich umfassend für digitale Dienstleistungen nutzen können. Die Einführung der Gesundheitskarte war eine schlechte erste Initiative, die wir nicht kopieren wollen. Wir wollen vielmehr schneller vorankommen. Das setzt allerdings voraus, dass es eine allgemeine Übereinstimmung darin gibt, dass sich auch Menschen über 60 noch eine PIN merken können. Eine der großen Fragen im Zusammenhang mit der Gesundheitskarte lautete ja: Kann man von Menschen über 60 erwarten, dass sie sich beim Arzt an ihre PIN erinnern? Ich glaube, es stand eher die Befürchtung dahinter, dass man plötzlich mitbekommen könnte, wie viele Internisten man als Patient in einer Stadt schon besucht hatte, als dass sich die Leute keine PIN merken könnten. Digitalisierung schafft auch eine gnadenlose Transparenz; und manch einer, der heute in seiner Ressortzuständigkeit oder in seiner allgemeinen Zuständigkeit noch eine kleine Spielecke hat – seien es Krankenkassen oder Kassenärztliche Vereinigungen – ist gar nicht erpicht darauf, dass alles, was sich da abspielt, transparent wird. Aber ich denke, für die Effizienz der Verwaltung ist dies extrem wichtig. Wir haben im Übrigen die geradezu paradoxe Situation, in der wir auf der einen Seite ein Kerndatensystem für Flüchtlinge haben. Vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bis zur Ausländerbehörde auf der kommunalen Ebene gibt es ein gemeinsames Datensystem, das aber eben nur für Flüchtlinge existiert. Etwas Vergleichbares gibt es aber auf der anderen Seite nicht für Bürgerinnen und Bürger, die schon viele Jahre hier leben. Ich würde sagen, wir müssten eine kleine Bewegung schaffen in dem Sinne, dass der hier schon viele Jahre lebende Bürger sagt: Auch ich will Anteil an einem umfassenden Kerndatensystem haben. Dafür, dass wir dies alles inklusive der Anwendungen leben können, ist die Infrastruktur Voraussetzung. Wir haben hierbei erhebliche Fortschritte erzielt. Minister Dobrindt hat mit rechtlichen Grundlagen und Fördermitteln den Netzausbau entsprechend unserer Zielsetzung – 50 Megabit bis 2018 für jeden Haushalt – auf den Weg gebracht. Ich danke auch der Wirtschaft, die, wie Herr Dirks gesagt hat, mit 60 Milliarden Euro erhebliche Investitionen getätigt hat. Wir müssen uns jetzt auf das Gigabit-Zeitalter im nächsten Jahrzehnt vorbereiten, um Echtzeit-Datenübertragungen zu ermöglichen – sei es im Zusammenhang mit autonomem Fahren oder Telemedizin, sei es bei der Durchsetzung der Industrie 4.0 und der Vernetzung vom Zulieferer bis zum Endproduzenten. Das alles wird dringend gebraucht werden. Dafür sind der digitale Binnenmarkt in Europa und der 5G-Standard von entscheidender Bedeutung. Wir haben in Deutschland bereits und sehr schnell – dafür bin ich dankbar – die entsprechenden Frequenzbereiche freigeschaufelt, sodass wir das 5G-Netz ausrollen können. Aber die Chancen des digitalen Binnenmarkts werden natürlich nur genutzt werden können, wenn die Mitgliedstaaten an einem Strang ziehen. Ich hoffe, dass wir mithilfe der Kommission und des Rats schneller vorankommen als mit der Verabschiedung des ersten Telekommunikationspakets, für die wir Jahre gebraucht haben. Wir haben jetzt auch die rechtliche Grundlage, um das Thema Datenschutz – ich habe gehört, wir nennen das in Zukunft Datensouveränität – zu bearbeiten. Wir haben die europäische Datenschutz-Grundverordnung. Aber Minister de Maizière weist immer wieder darauf hin, dass es eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe gibt, bei denen wir aufpassen müssen, dass wir sie nicht so restriktiv auslegen, dass ein Big-Data-Management dann nicht möglich sein wird. Insofern werden die nationale Umsetzung und auch die Auslegung der Gerichte sehr interessant werden. Wir müssen uns auch überlegen: Nicht nur Lehrerinnen und Lehrer, nicht nur Politiker, nicht nur Unternehmenslenker müssen neu lernen; wir müssen auch im Bereich der Rechtsetzung und der Rechtsprechung das entsprechende Fachwissen haben, damit die Urteile entsprechend der neuen Zeit gefällt werden können. Denn das Prinzip der Datensparsamkeit, wie es vor vielen Jahren galt, kann heute nicht die generelle Richtschnur für die Entwicklung neuer Produkte sein. Wir wollen, dass „IT-Security made in Germany“ ein Qualitätsmerkmal wird. Ich denke, wir haben eine gute Chance. Wir Europäer sind dafür bekannt, dass wir auch gerne einmal Dinge verbieten. Generell muss das kein uneingeschränkter Nachteil sein. Denn wenn man etwas verbietet, besteht der Vorteil darin, dass man vorher verstanden haben muss, was man verbietet, während dort, wo alles erlaubt ist, gar nicht sicher ist, ob die Politiker überhaupt verstanden haben, was gerade stattfindet. Es geht – das war immer die Stärke der Sozialen Marktwirtschaft – um Leitplanken, um das Verhindern von Exzessen. Aber es geht auch um Freiräume, die erhalten bleiben, um neue Entwicklungen zu ermöglichen. Hierbei den richtigen Pfad zu finden, wird die Aufgabe sein, der wir uns stellen müssen und der wir uns auch stellen wollen. Ich freue mich jetzt auf das Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern der Bellevue-Schule. Vorher darf ich aber noch sagen, dass wir nicht beim thematischen Schwerpunkt „Bildung“ in diesem Jahr stecken bleiben wollen, sondern im nächsten Jahr, wahrscheinlich im Juni, in der Metropolregion Rhein-Neckar, wahrscheinlich in Ludwigshafen, den 11. IT-Gipfel stattfinden lassen – wahrscheinlich dann mit der Konzentration auf E-Health, also auf den gesamten Gesundheitsbereich. Es ist eine große Herausforderung, schon allein mit der Gesundheitskarte noch ein bisschen weiterzukommen. Ich möchte mich ganz herzlich bei denen bedanken, die den Gipfel im Saarland so toll vorbereitet haben, bei denen, die ihn in der Bundesregierung vorbereitet haben, und bei Ihnen allen, die Sie heute da sind. Das, was wir hier politisch leben – ich habe das schon oft auf diesen Gipfeln gesagt –, ist echte Plattformkommunikation. Das ist nicht mehr: Hier die Politik, da die Wirtschaft; einer gibt dem anderen die Forderungen an die Hand; und dann geht man wieder nach Hause. Stattdessen gibt es ein Ringen um gute Lösungen in Gemeinsamkeit. Dafür bin ich sehr dankbar. Herzlichen Dank.
in Saarbrücken
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutschen Arbeitgebertag 2016 der BDA am 15. November 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-deutschen-arbeitgebertag-2016-der-bda-am-15-november-2016-423774
Tue, 15 Nov 2016 10:29:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident Kramer, liebe Präsidenten der Wirtschaftsverbände, liebe Kollegen Parteivorsitzende, meine Damen und Herren, guten Morgen. Ich freue mich, heute bei Ihnen zu Gast beim Arbeitgebertag zu sein. Herr Kramer, Sie veranstalten diesen Arbeitgebertag an einem 15. November. Das ist genau der Tag, an dem vor 98 Jahren, also am 15. November 1918, mit dem sogenannten Stinnes-Legien-Abkommen eine erste Grundlage für die Sozialpartnerschaft in Deutschland gelegt wurde. Die Schrecken des Ersten Weltkriegs steckten den Menschen damals noch tief in den Knochen. Die Nachkriegszeit war von konträren Bestrebungen unterschiedlichster politischer Kräfte geprägt. In dieser turbulenten Phase der staatlichen Selbstfindung zeigten sich die Unternehmer ihrer besonderen Verantwortung für den sozialen Frieden bewusst, indem sie die Gewerkschaften als Tarifpartner akzeptierten. Das Stinnes-Legien-Abkommen ist nach dem Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes Carl Legien und dem Industriellen Hugo Stinnes benannt. Letzterer würdigte die Bedeutung des Abkommens mit folgenden Worten: „Die Gewerkschaften sagen sich ganz richtig, dass dasjenige, was jetzt zwangsweise durch eine Regierung eingeführt wird […], nicht die Bedeutung hat, wie eine freie Vereinbarung zwischen den Gewerkschaften und der Industrie. Das letzte wird bleiben, das erste ist etwas, was wieder aufgehoben werden kann.“ Die Geschichte sollte Hugo Stinnes Recht geben, auch wenn das Abkommen nur wenige Jahre Bestand hatte. Denn die Idee einer Tarifpartnerschaft, die unabhängig von der Politik ihre Belange regelt, setzte sich letztlich durch. 1949 wurde die Tarifautonomie in unserem Grundgesetz verankert. Sie ist seit Jahrzehnten gelebter Alltag. Der diesjährige Arbeitgebertag der BDA zeigt dies einmal mehr, wenngleich ich sagen möchte – darüber haben wir oft gesprochen, Herr Kramer –, dass wir alle gemeinsam versuchen müssen, die Tarifautonomie stark zu halten, gerade auch angesichts disruptiver Umbrüche, die wir durch die Digitalisierung in der Wirtschaft haben. An einigen Stellen ist es uns in der Tat gelungen, gesetzliche Regelungen zu verabschieden, mit denen die Unternehmen, die Tarifautonomie leben, anders gestellt sind als die, die dies nicht tun, wodurch mehr Verantwortung auf die Ebene der Tarifpartner gelegt wird. Das halte ich persönlich für richtig, weil das sehr viel präziser und genauer auf ein Unternehmen und die jeweiligen Belange ausgerichtet geschehen kann. Tarifpartner kennen ihre Branchen naturgemäß am besten. Wir in der Politik sind deshalb eigentlich glücklich, wenn sie Probleme, die sie haben und lösen müssen, selber regeln. Ich denke, ein Großteil des sozialen Friedens in Deutschland beruht auf der Tatsache, dass wir Tarifautonomie haben und beide Seiten Verantwortung übernehmen. In vielen Gesprächen mit unseren europäischen Partnern sehen wir, wie schwierig es ist, bei den Gewerkschaften Offenheit für die Belange der Wirtschaft zu erfahren, wenn Gewerkschaften nicht selber in die Verantwortung für Beschäftigung mit eingebunden sind. Meine Damen und Herren, ein Beispiel ist das Entgeltgleichheitsgesetz. Es hat sich gezeigt, dass Ihr Präsident – das muss ich hervorheben – in der Diskussion darüber an einer Stelle dadurch brillieren konnte, dass er das Betriebsverfassungsgesetz ziemlich gut kennt, was bei den anwesenden politischen Vertretern – das muss ich zugeben – in diesem Moment damals nicht ganz der Fall war. Seine Kenntnis hat dann zu einer wirklich verträglichen Lösung geführt. Meine Damen und Herren, wir leben im Augenblick in einer Phase der wirtschaftlichen Prosperität. Ich denke, das kann man für Deutschland so sagen. Wir haben solide Wachstumsraten. Wir haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass die Soziale Marktwirtschaft anpassungsfähig ist. Wir haben auch unsere Investitionsquote staatlicherseits gesteigert. Sie liegt über dem europäischen Durchschnitt. Unsere öffentlichen Haushalte, gerade auch der Bundeshaushalt, sind ausgeglichen. Die Arbeitsmarktbilanz kann sich sehen lassen. Das ist natürlich auch Ihnen zu verdanken. Bei über 43 Millionen Erwerbstätigen ist die Arbeitslosigkeit so gering wie seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr. Das alles sind gute Nachrichten. Ich weiß, dass wir uns auf ihnen natürlich nicht ausruhen dürfen. Wir haben daher auch versucht, Berechenbarkeit in die Bund-Länder-Finanzbeziehungen zu bringen. Wir haben die Verhandlungen abgeschlossen. Damit ist Sicherheit über das nächste Jahrzehnt hinaus gegeben. Wir versuchen mit der Gründung einer Infrastrukturgesellschaft für Verkehr die Investitionsfähigkeit zu stärken und die Investitionstätigkeit zu beschleunigen. Auf Bundesebene haben wir uns auch dafür verantwortlich gezeigt, Kommunen zu entlasten, um auch finanzschwachen Kommunen Investitionen zu ermöglichen. Denken Sie etwa auch an den Beschluss der Bundesregierung zur steuerlichen Verlustverrechnung. Auch dadurch haben wir das Umfeld für private Investitionen verbessert. Zudem lassen Steuersenkungen in Höhe von mehr als sechs Milliarden Euro in den nächsten zwei Jahren mehr Luft für Investitionen im privaten Bereich. Wenn wir in der Europäischen Union über Investitionen sprechen, dann herrscht oft das Verständnis vor, dass es staatliche Investitionen sein müssten. Ich will ausdrücklich hervorheben, dass die Aufgabe des Staates auch darin besteht – das ist mindestens ebenso wichtig –, private Investitionen möglich zu machen und nicht immer nur auf staatliche Gelder – und dann noch zum Teil auf Pump – zu rekurrieren. Ich habe mich neulich mit Herrn Weise darüber unterhalten: In den vergangenen fünf Jahren haben wir in Deutschland 2,7 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Interessant ist, dass diese Arbeitsplätze jeweils etwa zu einem Drittel auf eine stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen und von Älteren sowie von Menschen aus anderen Ländern des europäischen Binnenmarkts entfallen, die in Deutschland Arbeit gefunden haben. Dennoch haben wir das Thema Fachkräftebedarf und Fachkräftemangel. Die Zahl von sechs Millionen weniger Erwerbspersonen im Jahr 2030, die Sie, Herr Kramer, heute nochmals genannt haben, muss uns natürlich dazu veranlassen, frühzeitig darüber nachzudenken, wie wir diese Lücke schließen können. Es mag sehr gut sein, dass in fünf oder zehn Jahren die Frage steuerlicher Entlastungen weniger Gewicht hat als die Frage, woher man Facharbeiter bekommt. Deshalb meine ich, dass wir Regelungen brauchen, die auf der einen Seite die Mobilität von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Europa verbessern. Hier sehe ich vor allen Dingen Notwendigkeiten der sprachlichen Bildung, und zwar für alle Berufsgruppen. In den europäischen Ländern sollte man zumindest einer Fremdsprache mächtig sein. Wir brauchen vielleicht auch Zuwanderungsregelungen in kompakterer Art, als wir sie bisher haben – obwohl uns die OECD konzediert, dass unsere Regelungen zwar im Ausland nicht gut bekannt, aber in der Tat relativ gut sind –, um gezielte Zuwanderung in Arbeitsplätze – das will ich betonen: in Arbeitsplätze – besser zu ermöglichen. Denn wir müssen auch sehen, dass die europäischen Entsendegesetze und auch die sozialgesetzlichen Regelungen in Deutschland vorsehen, dass für jeden, der zum Beispiel nach zwei oder drei Jahren arbeitslos wird, der Staat verantwortlich ist – inklusive aller Familienangehörigen und Kinder, die eventuell auch keine Arbeit finden. Das heißt, dass wir sehr gezielt vorgehen müssen, um unsere Sozialbelastungen nicht zu vergrößern. Da sind Sie dann auch dabei und sagen: Bitteschön keine Gesamtsozialbeitragssätze über 40 Prozent. Diese Regel ist für Sie wichtig. Ich halte sie auch für wichtig. Allerdings müssen wir noch weiter über die Frage reden: Paritätisch oder nicht paritätisch? Sie addieren alle Sozialversicherungsbeitragssätze und sagen: Dann überschreiten wir demnächst die 40-Prozent-Grenze. Wir halten unseren Kopf dafür hin – das sage ich jetzt einmal als Vertreterin der CDU –, dass wir einen Teil der Gesundheitsbeiträge allein den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern angelastet haben. Das ist dann, wenn es Zusatzkosten gibt, noch die solidarischste Form – natürlich eine, die potenziell schon wieder als ein Verhandlungsmomentum über die Frage angesehen wird, wie diese zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufgeteilt werden. Das kann ich verstehen. Auf der anderen Seite: Wenn wir das alles durch Eigenkostenbeteiligung – ohne einen Prozentsatz zu nennen –, also ohne Berücksichtigung der sozialen Komponente, politisch durchstehen sollen, dann wird es auch nicht einfacher. Wir alle wissen: Ein modernes Gesundheitssystem im 21. Jahrhundert ist schwerlich zu organisieren, ohne dass es überhaupt Kostensteigerungen gibt. Es gibt Einsparpotenziale, aber es gibt bei einer alternden Bevölkerung eben auch erhebliche dynamische Elemente, die wir nicht ausblenden können. Zum sozialen Frieden gehört auch eine vernünftige, für jeden Menschen in Deutschland erreichbare Gesundheitsversorgung. Ich glaube, das wissen Sie bei den Arbeitgebern genauso wie wir in der Politik. Wir haben sehr viel miteinander über die Zukunft des Rentensystems gesprochen. Dabei ist es ganz wichtig, was die gesetzliche Rentenversicherung anbelangt, eine doppelte Haltelinie im Auge zu behalten; das heißt, sowohl die Haltelinie der Beiträge als auch die Haltelinie des Rentenniveaus, die natürlich für die Empfänger der Renten von Belang ist. Wir haben die Leitplanken bis 2030, so denke ich, richtig gesetzt. Wir werden auch über die Zeit nach 2030 nachdenken müssen. Eine sehr gute Lage auf dem Arbeitsmarkt, wie wir sie derzeit haben, kann das Absinken des Rentenniveaus natürlich am allerbesten mildern. Wir wissen schon heute, dass das Rentenniveau im Jahr 2030 nicht bis auf 43 Prozent absinken wird, sondern nach jetzigen Berechnungen bei mindestens 44,3 Prozent stehenbleiben wird. Bei einer weiterhin guten Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt werden wir noch weitere Veränderungen unserer bisherigen Prognosen erleben können. Deshalb ist das A und O natürlich, einerseits auf den demografischen Wandel zu reagieren, indem die Rente mit 67 schrittweise so eingeführt wird, wie wir dies auch vereinbart haben, und andererseits alles zu tun, um die Wirtschaftslage so gut zu halten, dass Menschen Beschäftigung haben. Nichts ist sozialer, als dass durch sozialversicherungspflichtige Beschäftigung Sozialversicherungsbeiträge von möglichst vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gezahlt werden können. Ich habe mich sehr gefreut, Herr Kramer, in unserem Gespräch über die Renten der Zukunft zu erfahren, dass der BDA auch das Thema Erwerbsunfähigkeitsrente besonders wichtig ist. Der größte Teil derer, die von Altersarmut betroffen sind, kommt aus dem Kreis derer, die relativ früh erwerbsunfähig werden. Deshalb werden wir nach dem einen Schritt zur Verbesserung der Erwerbsunfähigkeitsrenten, den wir in dieser Legislaturperiode bereits gemacht haben, innerhalb der Koalition auch darüber reden, ob wir noch einen zweiten Schritt tun. Ich glaube, das ist das effizienteste Mittel, um Altersarmut vorzubeugen. Wir haben nach langer Diskussion etwas hinbekommen, das ich auch psychologisch für sehr, sehr wichtig halte, nämlich die Flexi-Rente. Sie eröffnet neue Spielräume in der Frage, ob man vor dem Erreichen des Rentenalters im Beruf etwas kürzertreten möchte, und sie verbessert die Voraussetzungen dafür, dass man auch nach dem Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters weiterarbeiten kann. So entfallen dann, zunächst befristet auf fünf Jahre, die Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung. Das ist also auch ein Anreiz für Unternehmen, denen, die gerne länger arbeiten wollen, dies zu ermöglichen. Es wird weiter in die Rentenversicherung eingezahlt. Das heißt, es erhöht sich dann auch der jeweilige Rentenanspruch. Auch das ist ein Anreiz für ein längeres Arbeiten. Ich halte das sozusagen auch für einen Vorboten vieler Regelungen, die wir im Zeitalter der Digitalisierung brauchen werden. Wir müssen Dinge ausprobieren. Wir müssen sie vielleicht zum Teil auch zeitlich befristen. Wir müssen sie dann immer wieder bewerten, weil wir alle noch nicht wissen, wie sie wirken. Aber nichts zu tun, weil wir nicht wissen, wie etwas in der Zukunft wirken wird, wäre die falsche Antwort auf eine Zeit großer Veränderungen. Deshalb halte ich das also auch vom systemischen Ansatz her für richtig. Das kann uns auch in der Diskussion über das Weißbuch der Bundesarbeitsministerin weiterführen. Die Rentenversicherung basiert auf drei Säulen. Ich will ausdrücklich das unterstreichen, was Herr Kramer gesagt hat: Alle drei Säulen müssen ihre Bedeutung behalten – die gesetzliche Rentenversicherung und genauso die private und die betriebliche Vorsorge. Wir haben nach langen Konsultationen auch mit den Sozialpartnern einen Entwurf für ein sogenanntes Betriebsrentenstärkungsgesetz vorgelegt. Es gibt hierzu noch einige Fragen zu diskutieren; das habe ich verstanden. Aber wenn es uns gelänge, einen Weg dahin zu finden, dass auch kleinere Unternehmen stärker von Betriebsrenten Gebrauch machen würden, dann wäre das aus meiner Sicht eine gute Verbreiterung unserer Fundamente für die Rentenversicherung der Zukunft. Meine Damen und Herren, ich möchte im Hinblick auf das, worüber wir letztes Jahr auf diesem Arbeitgebertag besonders diskutiert haben, nämlich über die große Zahl der bei uns ankommenden Flüchtlinge, ein Dankeschön sagen – Ihnen, der BDA, den Mitgliedern, die sich in unglaublicher Weise engagiert haben; und zwar sowohl, was die sozusagen rationale Betrachtung der Situation anbelangt, als auch, was das Anpacken anbelangt. Ich möchte mich auch für die Gespräche bedanken, die wir im letzten Jahr immer wieder geführt hatten. Wir haben die Ordnung und Steuerung der Prozesse sehr viel besser hinbekommen. Da Herr Weise hier anwesend ist und nicht nur für die Bundesagentur für Arbeit, sondern auch für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verantwortlich ist, möchte ich ihm einmal ein ganz herzliches Dankeschön sagen. Wenn neue Herausforderungen, die wir in unserem Land immer wieder erleben werden, von allen mit genau dieser Verve angepackt und Lösungen zugeführt werden würden, dann bräuchten wir um unser Land nicht bange sein. Im Hinblick auf die Digitalisierung und die notwendige Verankerung im öffentlichen Bereich erkläre ich derzeit auch immer, dass Flüchtlinge in Deutschland jetzt eigentlich privilegiert sind, weil wir ein Kerndatensystem haben, das von einer Bundesbehörde bis zur Ausländerbehörde vor Ort, in der Kommune, Verbindungen schafft, die wir sonst für Bürger der Bundesrepublik Deutschland in Form eines Bürgerportals noch nicht haben. Insofern ist dies ein Ansporn, unabhängig von der föderalen Ebene – ob es um die kommunale Ebene, die Landes- oder die Bundesebene gehen mag – im öffentlichen Bereich dazu zu kommen, dass Bürgerinnen und Bürger ihre Anliegen vorbringen können und dann automatisch an die richtige Stelle gelenkt werden. Das ist etwas, das in den nächsten Jahren vordringlich gemacht werden muss. Das dürfen wir allerdings nicht in dem Tempo machen, in dem wir die Gesundheitskarte einzuführen versuchen; das dauert nun schon lange. Ich weiß auch nicht, ob die Arbeitgeber dabei immer auf der richtigen Seite standen, denn Transparenz im Gesundheitssystem scheint auch nicht überall so geliebt zu werden, wie ich mir das vorstelle. Ich wollte danken, nicht schimpfen, und sage deshalb: Lassen Sie uns jetzt das große Thema Integration allgemein sowie Integration in den Arbeitsmarkt weiter gemeinsam angehen. Wir wissen, dass eine gelungene Integration Zeit und Geduld braucht. Wir wissen, dass es hierfür einer Vielzahl zusätzlicher Anstrengungen bedarf. Wir haben versucht, politisch richtig zu reagieren und bestimmte Sicherheiten zu schaffen. Wir haben für mehr Rechtssicherheit während der Ausbildung und der Beschäftigung für zwei Jahre nach einer erfolgreichen Ausbildung gesorgt. Wir haben ein Programm aufgelegt, mit dem wir Arbeitsgelegenheiten für Asylbewerber schaffen, damit sie schon während der laufenden Asylverfahren Einblicke in den Berufsalltag bekommen können. Wir haben auch in den allermeisten Arbeitsagenturbezirken Deutschlands auf die Vorrangprüfung verzichtet. Ich habe den Eindruck, dass, als das alles noch nicht der Fall war, viele schon die ersten Versuche unternommen hatten, Flüchtlinge in ihre Betriebe zu integrieren, aber gescheitert sind und sozusagen die Segel gestrichen haben. Sie können es ruhig noch einmal probieren. Denn die Bedingungen haben sich wirklich verändert. Auch Leiharbeit für Flüchtlinge ist möglich. Geben Sie den Menschen daher noch einmal eine Chance. Meine Damen und Herren, wir leben, wie man heute sagt, in einer Zeit disruptiver Veränderungen. Deshalb ist das Thema Bildung von zentraler Bedeutung. Herr Kramer, man hat eben gemerkt, wie Sie mit Herzblut auch am „Chancen-Euro“ hängen. Ich finde, das ist eine ganz tolle Initiative, die vieles von dem ergänzt, das auch wir machen. Sie haben sich relativ klar dafür ausgesprochen, das Kooperationsverbot aufzuheben. Ich will dazu sagen: Wir haben in Artikel 91c des Grundgesetzes bereits eine Ausnahmemöglichkeit vom Kooperationsverbot, wenn es um Fragen der Zusammenarbeit im digitalen Bereich geht. Das eröffnet uns vielleicht auch Möglichkeiten, als Bund gerade auch bei den Investitionen in Berufsschulen stärker mit einzusteigen. Aber auf eines müssen wir bestehen: Wir als Bund müssen auch Kompetenzzuständigkeiten haben, wenn wir Geld geben sollen. Meistens geht es beim Kooperationsverbot im Wesentlichen um Geldflüsse, für die dann vonseiten der Länder keine inhaltliche Verantwortlichkeiten geboten werden; und das geht nach meiner festen Auffassung nicht. Beim diesjährigen IT-Gipfel wird das Thema Bildung das zentrale Thema sein. Der IT-Gipfel wird übermorgen in Saarbrücken stattfinden. Ich möchte Sie ermuntern, relativ zeitnah zwei Dinge zu tun. Zum einen geht es um die Anpassung bestehender Berufsbilder an die Anforderungen der Industrie 4.0. Ich nenne beispielsweise, auch wenn ich keine Fachexpertin bin, die Anpassung der Mechatroniker-Ausbildung, die kontinuierlich und auch vorausschauend erfolgen muss. Zum anderen geht es um die Entwicklung interessanter, aber nicht auf ein Studium angewiesener Berufsbilder im IT-Bereich. Diese Berufsbilder sind aus meiner Sicht zumindest noch nicht genug bekannt. Die Tendenz zur weiteren Akademisierung schreitet eigentlich gerade im digitalen Bereich sehr stark fort. Um aber unsere Säule der beruflichen Ausbildung zu stärken, brauchen wir gerade auch hier neue Anstrengungen. Darüber werden wir übermorgen in Saarbrücken auch mit der Wirtschaft intensiv diskutieren. Das Stichwort Digitalisierung bringt mich dazu, dass wir im Augenblick in einer Situation sind, in der sowohl innerhalb der Europäischen Union und unseres Landes als auch weltweit über die Frage gestritten wird: Wie wollen wir Globalisierung gestalten? Globalisierung findet statt; und wir können sie dadurch gestalten, dass wir sozusagen die multilateralen Instrumente stärken. Ich glaube, das ist uns bei den Finanzmarktregelungen ein Stück weit gelungen; das muss weiterentwickelt werden, aber da ist in den letzten Jahren viel geschehen. Die Alternative dazu ist, dass wir protektionistisch werden, uns abschotten und jeder sozusagen versucht, so viel von seinem eigenen Nationalen zu behalten wie möglich. Ich bin froh, dass Sie genauso wie auch ich der Meinung sind: Wir müssen Globalisierung multilateral gestalten. Trotz aller Kriege, trotz aller Konflikte ist es in der Tat so, dass Armut und Hunger in den letzten Jahren abgenommen und nicht zugenommen haben; und das bei einem hohen Weltbevölkerungswachstum, das ja auch anhalten wird. Diese Auseinandersetzung über Offenheit oder Abschottung wird uns in den nächsten Jahren sehr stark beschäftigen. Sie wird Gegenstand politischer Diskussionen sein – das sehen wir zum Beispiel im Zusammenhang mit Freihandelsabkommen – und sie wird auch Gegenstand der Diskussionen zwischen Wirtschaftsverbänden und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie in den Zivilgesellschaften insgesamt sein. Wir sind ja im nächsten Jahr das Gastgeberland für den G20-Gipfel. Diese Fragen möchte ich sehr bedacht mit auf die Tagesordnung setzen. Dazu gehört das Thema faire Lieferketten bei Produkten, die in verschiedenen Ländern hergestellt werden, genauso wie die Frage multilateraler Abkommen zum Beispiel im Bereich des Handels. Wir erleben im Augenblick gewissermaßen ein Paradoxon: Wir haben uns jahrelang mit dem Abschluss von Handelsabkommen befasst, die im Wesentlichen auf den Abbau von Zöllen ausgelegt waren. Es gab auch eine lang anhaltende, eigentlich Jahrzehnte dauernde Diskussion darüber – als ich noch Umweltministerin war, habe ich auch schon daran teilgenommen –, dass Zollsenkungen noch keinen fairen Handel auf der Welt ermöglichen. Das ist ja auch völlig klar. Wer unter Ruinierung der Umwelt und unter Nichteinhaltung sozialer Mindeststandards produziert, hat bessere Wettbewerbschancen als diejenigen, die soziale und ökologische Standards einhalten. Diese Kritik ist mehr und mehr aufgenommen worden. Sie ist in Abkommen wie CETA oder in den laufenden Verhandlungen zu TTIP in viel stärkerem Maße als früher berücksichtigt worden. Und just in dem Moment, als das geschehen ist, haben diejenigen, die sich für Sozialstandards und Umweltstandards verantwortlich fühlen, gesagt: Es kann doch nicht wahr sein, dass sich jetzt die Handelsleute mit etwas beschäftigen, von dem wir mehr verstehen. Das ist dann in eine größere Ablehnung umgeschlagen, was CETA und TTIP anbelangt, als bei Abkommen, die wir etwa mit Singapur und Südkorea abgeschlossen haben oder hoffentlich irgendwann einmal mit Japan oder auch Australien abschließen werden. Diese Ablehnung ist aus meiner Sicht die Umkehrung dessen, was wir brauchen, um Globalisierung zu gestalten. Nun kann man ja im Detail darüber reden, ob wir noch andere Verhandler brauchen oder ob wir eine Verbreiterung der Verhandlungsbasis brauchen. Wir können auch darüber reden, ob wir noch mehr Transparenz brauchen, obwohl es ganz untypisch ist, dass man Verhandlungen dann besonders erfolgreich führt, wenn man zu jedem Zeitpunkt alles auf den Tisch legt. Die Tarifpartner – die Gewerkschaften zum Beispiel – würden uns ausschimpfen, wenn wir sagen würden: Informiert uns bitte täglich und öffentlich über den Stand eurer Tarifverhandlungen bei der IG Metall oder bei der IG BCE; dann werden wir in öffentlichen Kommentaren sagen, was wir davon halten, und dann könnt ihr morgen weiter verhandeln. So würden die Verhandlungen wohl nie zu einem Ende kommen. Wenn wir unsere Interessen – unsere europäischen Interessen – bei Verhandlungen über Handelsabkommen wahren wollen, dann heißt es: Wenn nicht alles zu jedem Zeitpunkt bekannt ist, dann ist es ein Hinterzimmer-Deal; und den können wir nicht akzeptieren. So aber können wir aus meiner Sicht – ich predige hier ein bisschen in der falschen Kirche – gesellschaftlich nicht miteinander verfahren. Deshalb gebe ich sehr zu bedenken, ob wir als Europäer – mit Blick auf den nordamerikanischen Markt, auf Kanada und die Vereinigten Staaten von Amerika – nicht doch ein elementares Interesse daran haben, dass wir mit dem nordamerikanischen Kontinent die Standards für die zukünftige Gestaltung der Globalisierung setzen – das ist nach meiner festen Überzeugung unsere Chance – und das nicht China und anderen asiatischen Staaten überlassen, wenn sie ihrerseits Freihandelsabkommen abschließen. Natürlich geht es auch bei der Gestaltung der Globalisierung erst einmal um die Frage unseres Selbstverständnisses in der Europäischen Union. Da, müssen wir sagen, erweist sich das Votum der Briten für den Austritt aus der Europäischen Union als ein tiefer Einschnitt; das ist überhaupt keine Frage. Wir stehen jetzt vor der Frage: Was tun die 27, um Vertrauen in die Europäische Union zurückzugewinnen und auch in Zukunft gute Beziehungen zu Großbritannien zu erhalten? Denn gerade auch die deutsche Wirtschaft ist sehr stark von der britischen Wirtschaft abhängig; und umgekehrt. Aber können wir um jeden Preis Kompromisse eingehen? Da will ich nochmals darauf hinweisen – und ich bin auch dankbar dafür, dass die BDA das genauso sieht –: Die Europäische Union entfaltet ihre Vorzüge nur auf der Basis bestimmter Grundsätze; und zu diesen Grundsätzen zählen die vier Grundfreiheiten, also die Freiheit der Bewegung von Personen, von Dienstleistungen, von Gütern und von Finanzmarktprodukten. Gesetzt den Fall, wir machen für Großbritannien bei der Personenfreizügigkeit eine Ausnahme, dann würde dies bedeuten, dass wir die Grundsätze des gesamten Binnenmarkts der Europäischen Union in Gefahr bringen, weil alle anderen dann auch Ausnahmen haben wollten. Deshalb glaube ich persönlich: Wir werden uns noch einmal auf eine Diskussion mit der Kommission über Freizügigkeit einrichten müssen. Denn wenn zum Beispiel jemand im Rahmen der Freizügigkeit aus einem osteuropäischen Land nach Deutschland kommt, nur kurzzeitig erwerbstätig ist, aber hier damit einen lebenslangen Anspruch auf dauerhafte Sozialleistungen erwirbt, dann sehe ich darin schon eine Frage, über die wir noch einmal reden müssen. Denn Freizügigkeit gilt für mich in dem Sinne, dass der Arbeitnehmer das Geld, das er für sich und den Unterhalt seiner Familie braucht, auch in einem anderen Mitgliedstaat verdienen kann. Insofern muss über die Frage, ab wann lebenslange Sicherheiten nach dem Sozialstandard des aufnehmenden Landes gelten, sicherlich noch geredet werden. An der grundsätzlichen Frage der Freizügigkeit dürfen wir nach meiner festen Überzeugung aber nicht rütteln. Aber es ist wiederum ein Paradoxon, dass die Briten uns jahrelang beschimpft haben, dass wir mit Blick auf Polen und andere osteuropäische Länder Übergangsfristen in Anspruch genommen haben, und heute diejenigen sind, die darüber klagen, dass sie diese Übergangsfristen nicht in Anspruch genommen haben, und die Freizügigkeit in ganz Europa beschneiden wollen. Das geht nicht. Bevor wir faire Verhandlungen führen, muss Großbritannien allerdings auch erst einmal erklären, in welcher Weise es den Austritt wünscht, was ja nach Aussagen der britischen Premierministerin bis März nächsten Jahres erfolgen soll. Meine Damen und Herren, die gute Situation heute sagt noch nichts über unsere Situation in fünf oder zehn Jahren aus. Die Digitalisierung bedeutet einen derart tiefen Einschnitt in die Art und Weise der Produktion, des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Information und Kommunikation, dass wir die Auswirkungen noch nicht vollständig überblicken. Wir werden technische Entwicklungen in keiner Weise rückgängig machen wollen; dazu gibt es keinen Anlass. Wir müssen für sie aber Regeln entwickeln und diese so einbringen, dass sie sich zum Wohl der Menschen entfalten können. Das bedeutet allerdings, dass wir in Deutschland – das ist jetzt mehr eine Rede für den BDI, Herr Grillo – einen Wandel in der Einstellung zur Frage der Daten erreichen müssen. Datensparsamkeit, wie das Verfassungsgericht sie uns in bestimmten Urteilen auferlegt hat, ist nicht das Motto der Stunde. Vielmehr stellt sich Datenvielfalt als Wertschöpfungsmöglichkeit für die Zukunft dar. In dieser Frage weiter miteinander zu ringen, streiten, diskutieren und schließlich gemeinsam Lösungen zu finden, wird extrem notwendig sein, damit wir auch in zehn Jahren noch einen starken Anteil der industriellen Wertschöpfung an unserem Bruttoinlandsprodukt und weiter so viele Arbeitsplätze haben werden. Dafür sind noch viele Wege zu gehen. In diesem Sinne: Auf gute Zusammenarbeit, lieber Herr Kramer, lieber Steffen Kampeter und liebe Vertreter und Verbündete der BDA. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum 9. Integrationsgipfel am 14. November 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-9-integrationsgipfel-am-14-november-2016-417648
Mon, 14 Nov 2016 13:52:00 +0100
Berlin
Sehr geehrte Frau Staatsministerin, liebe Frau Özoğuz, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett und aus dem Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren Vertreter vieler Verbände, Vereinigungen und Institutionen, die Integrationsgipfel haben ja inzwischen Tradition. Dies ist schon das neunte Treffen dieser Art. Man kann eigentlich auch ein durch die Entwicklungen im letzten Jahr steil ansteigendes Interesse am Thema Integration bemerken. Dessen Stellenwert in der öffentlichen Diskussion ist höher geworden. Wir haben im vergangenen Jahr 890.000 Asylsuchende in Deutschland ankommen gesehen. Uns hat sozusagen der Respekt vor der Würde jedes einzelnen Menschen geleitet. Ich glaube, das ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit insgesamt. Wir alle mögen vielleicht viele Sonntagsreden halten, doch uns muss natürlich die Frage umtreiben, wie Menschen in Not auch wieder menschenwürdig leben können. Das heißt auch, dass wir in der Nähe der Heimat dieser Menschen mehr tun werden und schon tun. Wegzuschauen, wo es Krieg gibt, hilft nicht, sondern wir müssen uns um diese Fragen kümmern. Der kürzlich verabschiedete Haushalt ist ein Beispiel dafür, dass wir diesen Fragen Priorität einräumen und sie in den Mittelpunkt rücken. Wir alle wissen, dass uns misslungene Integration jahrzehntelang schwer beschäftigen kann. Deshalb konzentrieren wir uns auf das, was positiv möglich ist, wenn Integration gelingt. Frau Staatsministerin Özoğuz und ich haben heute ein Projekt der Jugendfeuerwehr im Wedding besucht, das uns gezeigt hat, was man schaffen kann, wenn Integration gelingt. OECD-Chef Angel Gurría hat bei einem diesjährigen Besuch in Berlin gesagt: „Das, was Sie jetzt machen, ist so etwas wie eine Anzahlung auf eine langfristige Investition, die aber eines Tages eine großzügige Dividende für die Generationen hier in Deutschland zeitigen wird.“ Ich glaube, wir lernen auch ein Stück weit aus den Fehlern und Versäumnissen der Vergangenheit, wenngleich neben mir ein gelungenes Exemplar von Integration sitzt – nicht nur neben mir, sondern hier um diesen Tisch herum, wenn ich das so sagen darf. Nun will ich mich aber gar nicht nur auf die im letzten Jahr Angekommenen konzentrieren. Dies ist ja auch bereits der neunte Integrationsgipfel. Wir haben dieses Mal die Frage in den Mittelpunkt gerückt: Wie geht das mit der Teilhabe? Ich glaube, es ist auch das Bedürfnis vieler Migrantinnen und Migranten, zu sagen: Es geht nicht immer nur um Integration und nicht immer nur um uns, sondern es geht im Übrigen auch um die Aufnahmegesellschaft – davon sind ja auch viele Vertreterinnen und Vertreter hier –, die auch bereit sein muss, offen zu sein; und es geht darum, wie wir uns in die Gesellschaft einbringen können und wie auch wir unsere Zugehörigkeit zur Einwanderungsgesellschaft zeigen können. Das sind heute unsere beiden Zielpunkte: Teilhabe und Zugehörigkeit in der Einwanderungsgesellschaft. Das sind die zwei großen Themenblöcke, die zeigen, dass Integration nicht mit Deutschlernen endet – wenngleich Sprachkenntnisse die Voraussetzung dafür sind, dass man überhaupt am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann und sich zugehörig fühlt, und sie damit sozusagen der Schlüssel für ein gegenseitiges Verständnis in der Gesellschaft sind, in die man einwandert. Es versteht sich von selbst, dass auch die Achtung des Grundgesetzes und des Wertefundaments, das unser Zusammenleben ausmacht und sozusagen konstitutiv dafür ist – um es in der Verfassungssprache zu sagen –, ein gelungenes Miteinander in einer Gesellschaft ermöglicht. So haben wir heute wieder eine spannende Diskussion vor uns. Wir haben uns im vorletzten Jahr insbesondere mit beruflicher Bildung beschäftigt, im letzten Jahr mit Gesundheitsfragen. Und in diesem Jahr beschäftigen wir uns nun mit diesem sehr allgemeinen, aber dann auch sehr spezifisch ausgestalteten Thema. Alle hier in diesem Saal tragen auf die eine oder andere Art und Weise dazu bei, dass das Miteinander gelingen kann. Wir sollten die Diskussion aber so führen, dass wir auch Probleme nicht verschweigen. Wir sitzen hier ja nicht zusammen, um uns gegenseitig auf die Schultern zu klopfen. Wir wissen, dass es an vielen Stellen auch noch viel zu tun gibt. Das sollte auch durchaus zur Sprache kommen. Deshalb freue ich mich, dass wir hier zusammen sind und übergebe das Wort an die Staatsministerin.
im Bundeskanzleramt
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung der Ohel-Jakob-Medaille in Gold am 9. November 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verleihung-der-ohel-jakob-medaille-in-gold-am-9-november-2016-794338
Wed, 09 Nov 2016 20:15:00 +0100
München
Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Charlotte Knobloch, sehr geehrter Herr Vizepräsident Chmiel, sehr geehrter Herr Oberrabbiner Lau, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Horst Seehofer, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Reiter, liebe Mitglieder der jüdischen Gemeinde, sehr geehrter Herr Botschafter, meine Damen und Herren und ganz besonders natürlich Sie, sehr geehrter Herr Rabbiner Schneier, ich bedanke mich ganz herzlich dafür, dass Sie den weiten Weg hierher auf sich genommen haben. Ich freue mich über unser heutiges Wiedersehen. Ihre freundlichen und auch aufmunternden Worte haben mich tief im Herzen berührt. Herzlichen Dank. Es ist ohnehin eine außerordentliche Ehre, dass mir die höchste Auszeichnung der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern zuteil wird – noch dazu an einem so denkwürdigen Datum wie dem heutigen. Es war vor 78 Jahren, am 9. November 1938 – es ist heute Abend noch einmal sehr eindrücklich geschildert worden –, als sich die nationalsozialistische Ideologie deutlich wie nie vor aller Augen offenbarte. Es hatte schon in den Jahren davor massive Diskriminierung und Übergriffe gegeben, doch in der Nacht vom 9. auf den 10. November zeigte sich die Gewalt nicht nur spontan, sondern generalstabsmäßig geplant in aller Öffentlichkeit. Es war besonders bedrückend und beschämend, dass die nicht-jüdische Bevölkerung all die Grausamkeiten gegen ihre jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger weitgehend gleichmütig, widerspruchslos hinnahm – ja, dass sie sie oftmals sogar begrüßte und unterstützte. Jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden verwüstet. Tausende jüdische Bürger wurden gedemütigt und misshandelt. Nicht wenige wurden getötet. Auch die ursprüngliche Ohel-Jakob-Synagoge in München wurde damals zerstört. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 waren Sie, liebe Frau Knobloch – Sie haben es selbst noch einmal gesagt – sechs Jahre alt. Für Sie gehören die Ereignisse dieser Nacht zu Ihren traumatischen Kindheitserinnerungen. Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war der Vorbote für den größten Völkermord in der Geschichte der Menschheit, für das organisierte Menschheitsverbrechen der Shoa. In der Folge sollte eine Vernichtungsmaschinerie einsetzen mit dem furchtbaren Ziel, jüdisches Leben in Deutschland und Europa systematisch auszulöschen. Heute Nachmittag wurden die Namen von Kindern und Jugendlichen aus München verlesen, die der Judenverfolgung zum Opfer fielen. Wir verneigen uns in tiefer Trauer vor ihnen und den Millionen anderen Opfern. Doch neben der Trauer über das, was war, steht heute, am 9. November 2016, auch die Dankbarkeit für das, was ist. Dass Sie, liebe Frau Knobloch, und ich, dass wir alle hier 78 Jahre danach zusammenkommen können, dass Sie mir die Ohel-Jakob-Medaille verleihen, erfüllt mich mit großer Freude. In der Begründung dieser Auszeichnung heißt es unter anderem: „Vertreibung und Heimkehr, Auslöschung und Neuanfang – das sind die zwei Seiten der Ohel-Jakob-Medaille.“ In der Tat, diese beiden Seiten sind untrennbar miteinander verbunden. So verbinden sich heute Abend das Erinnern und Gedenken mit Hoffnung und Zuversicht. Deshalb dürfen wir feiern, dass vor zehn Jahren die neue Ohel-Jakob-Synagoge eingeweiht werden konnte. Wir dürfen feiern, dass jüdisches Leben damit auch weithin sichtbar in die Mitte dieser Stadt zurückgekehrt ist. Ich konnte es erleben, als ich heute hierherfuhr, dass es die Mitte der Stadt ist. Ich konnte auch sehen, was für ein wunderbarer Ort das im Abendlicht ist. Das ist sehr berührend. Liebe Frau Knobloch, bei der Einweihung der neuen Ohel-Jakob-Synagoge im Jahr 2006 haben Sie gesagt: „Wir haben gebaut, wir bleiben, denn wir gehören hierher.“ Dieses Bekenntnis wird in vielerlei Hinsicht untermauert – bildlich und durchaus auch wörtlich. Das Gemeindeleben ist bunt und lebendig. Kürzlich hat ein jüdisches Gymnasium in München eröffnet. Grundschule, Kindergarten, Kinderkrippe gibt es schon. Diese Entwicklung steht exemplarisch für die aufblühende jüdische Vielfalt in Deutschland. Wir verdanken dies denjenigen, die sich trotz des Leids, das sie erfahren hatten, den Glauben an das Gute bewahren konnten – die ihre Hoffnung lebten, die Vertrauen in unsere Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fassten. Wir verdanken dies denjenigen, die nach dem Zivilisationsbruch der Shoa in unser Land zurückkehrten, um hier zu leben und am Neuanfang mitzuwirken – die ihre Hand zur Versöhnung ausstreckten und damit Brücken über Gräben bauten, die schier unüberwindbar schienen. Wir verdanken dies Menschen wie Ihrem Vater, liebe Frau Knobloch. Fritz Neuland hatte mit Julius Spanier kurz nach Kriegsende die hiesige Israelitische Kultusgemeinde neu gegründet. Viele sind den beiden gefolgt – auch Sie selbst – und haben mit unermüdlichem Einsatz dafür Sorge getragen, dass jüdisches Leben in Deutschland mehr und mehr wieder eine Heimat finden konnte. Insbesondere mit der Integration von Zuwanderern aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion – ich konnte mich davon auch selbst überzeugen – haben die jüdischen Gemeinden in Deutschland eine enorme Leistung vollbracht. Mit ihnen sind die Gemeinden um ein Vielfaches gewachsen. Schon allein daran lässt sich die Größe der Aufgabe ermessen. Was die jüdischen Gemeinden an religiöser Einbindung und gesellschaftlicher Teilhabe erreicht haben, ist wirklich großartig. Natürlich sind für Fortschritte auch immer wieder steinige Wege zu gehen. Oder um es mit den Worten des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, auszudrücken: „Manchmal muss um den Konsens zwischen Alt und Neu gerungen werden, aber es lohnt sich.“ Diese Botschaft können wir auf Integrationsprozesse insgesamt übertragen. Dort, wo Alt und Neu aufeinandertreffen, braucht es Verständigung über Werte, über Regeln, über Gewohnheiten, um auf einem gemeinsamen Fundament aufbauen zu können. Dies müssen wir auch bei der Integration der vielen Menschen beherzigen, die bei uns gerade auch im letzten Jahr Zuflucht vor Krieg, Terror und Verfolgung gesucht und gefunden haben. Dabei sind Spracherwerb, Ausbildung und Arbeit zentrale Schlüssel, um sich neue Perspektiven zu erschließen. Aber es braucht noch mehr, um in unserem Land wirklich Fuß zu fassen – um zu verstehen, was unsere Gesellschaft und unser Miteinander ausmachen. Dazu gehört auch, die deutsche Geschichte zumindest in Grundzügen kennenzulernen – auch und gerade einschließlich des dunklen Kapitels der Shoa. Es ist deshalb außerordentlich wichtig, wenn Gedenkstätten, Museen und andere Kultureinrichtungen dieses Wissen vermitteln und damit auch für Gefahren sensibilisieren – Gefahren durch Antisemitismus und Hass; Hass nicht zuletzt auch auf Israel, wie er in Herkunftsländern vieler Flüchtlinge im Nahen und Mittleren Osten zum Alltag gehört. Der Zentralrat der Juden wie auch die jüdischen Gemeinden in Deutschland werden mich im Übrigen auch immer an ihrer Seite haben, wenn sie die Gefahr antisemitischer Prägungen von Flüchtlingen aus einer völlig anderen religiösen und kulturellen Region benennen. Wir sind es den Opfern der Shoa wie auch uns selbst heute schuldig, das Wissen um das Geschehene von Generation zu Generation weiterzugeben und uns entschieden gegen die heutigen Bedrohungen durch Hass und Antisemitismus zu wenden. Umso mehr sollte uns zu denken geben, dass Studien unter jüngeren Deutschen ein zunehmendes Desinteresse daran belegen, über die Verbrechen Deutschlands im Nationalsozialismus historisches Wissen zu erwerben. Das mag auch mit dem wachsenden zeitlichen Abstand zusammenhängen. Mehr und mehr Zeitzeugen verstummen. Umso wichtiger ist es, die Erinnerung wachzuhalten. In Zukunft müssen wir noch intensiver über neue Formen des Erinnerns nachdenken, denn nur im Bewusstsein der immerwährenden Verantwortung Deutschlands für den Zivilisationsbruch der Shoa können wir die Zukunft gestalten. Einer, der sein Überleben und Weiterleben dem Kampf gegen das Vergessen und für die Versöhnung gewidmet hat, fehlt heute in unserer Mitte: Max Mannheimer. Eine seiner zentralen Botschaften an die jüngeren Generationen war diese: „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“ Voraussetzung dafür ist, die Werte unseres Grundgesetzes, die Werte der Freiheit, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit zu leben, zu schützen und zu verteidigen – gegen jegliche Anfechtung. Mit Sorge müssen wir jedoch feststellen, wie leicht antisemitisches, rassistisches und menschenfeindliches Gedankengut auf Resonanz stößt – und zwar bis in die Mitte unserer Gesellschaft hinein. Wir müssen erleben, wie hemmungslos Hass und Hetze gezeigt werden – nicht nur in der Anonymität des Internet, sondern auch auf offener Straße, bei Demonstrationen oder vor Flüchtlingsunterkünften. Das dürfen wir nicht ignorieren. Das dürfen wir in keiner Weise bagatellisieren. Das muss entschiedenen Widerspruch finden – in Wort und in Tat. Wir müssen klar machen: Wer Grundwerte infrage stellt, der stellt den Boden für ein Leben in einer freiheitlichen Gesellschaft infrage. Wer gegen Recht und Gesetz verstößt, der muss die ganze Konsequenz des Rechtsstaats erfahren. In unseren Tagen ist gerade auch der islamistische Terrorismus eine, wie wir alle wissen, ernsthafte Gefahr. Wir haben mit ansehen müssen, was in Kopenhagen, Paris oder Brüssel geschah. Wir haben bei uns im Land im Sommer die Attentate von Ansbach und Würzburg erlebt. Zur traurigen Erkenntnis gehört leider, dass gerade auch jüdische Einrichtungen immer wieder Zielscheibe von Anschlägen sind. Getroffen jedoch werden wir alle – unser gemeinsames Leben in Freiheit, unser friedliches Miteinander, unser respektvoller Umgang mit unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Überzeugungen. Wir als Bundesregierung tun alles, was in unserer Macht steht, um Schutz und Sicherheit in Deutschland zu gewährleisten. Wir tun dies in der Überzeugung, dass sich Demokratie und Freiheit als stärker erweisen als der Hass feiger Attentäter und ihrer Hintermänner. Diese Überzeugung ist unsere Antwort nicht nur auf den islamistischen Terror, sondern auf jegliche Form von Gewalt, auf jegliche Form von Diskriminierung und Ausgrenzung. Durch Begegnung, durch Austausch von Wissen und Erfahrung lassen sich Vorurteile überwinden und Toleranz fördern. Die Menschlichkeit einer Gesellschaft bemisst sich immer auch am Willen zum Dialog. In den vergangenen zehn Jahren haben sich gerade auch diese Synagoge und das Gemeindezentrum zu einem Ort des Dialogs und der Begegnung entwickelt. Die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern steht für Weltoffenheit und ein gutes Zusammenleben im Freistaat Bayern und in unserem ganzen Land, wenn ich den Freistaat als Teil der Bundesrepublik Deutschland betrachte. Sie baut Brücken, wo andere versuchen, Gräben auszuheben. Ich sehe dieses großartige Engagement als Zeichen des Vertrauens in unser Land – ebenso wie die Ohel-Jakob-Medaille, die Sie mir verliehen haben. Dies ist alles andere als selbstverständlich. Umso dankbarer bin ich dafür. Persönlich und als Bundeskanzlerin werde ich mich weiterhin mit ganzer Kraft dafür einsetzen, Ihrem Vertrauen – ganz besonders auch Ihrem Vertrauen, liebe Frau Charlotte Knobloch – gerecht zu werden. Ich weiß, dass es ein Schatz ist, Sie kennengelernt und mit Ihnen viele Gespräche geführt zu haben. Herzlichen Dank.
in München
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Jubiläumskonzert „70 Jahre Deutsches Symphonie-Orchester Berlin“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-jubilaeumskonzert-70-jahre-deutsches-symphonie-orchester-berlin–792146
Sun, 06 Nov 2016 00:00:00 +0100
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Die Meisterwerke der Musik geben dem Hoffnungslosen Hoffnung, dem Traurigen Mut, dem Einsamen das Gefühl, dass er doch in einer Gemeinschaft lebt.“ Mit diesen Worten hat der im vergangenen Jahr verstorbene Dirigent Kurt Masur einmal die Kraft der Musik beschrieben. Die Geschichte des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, dessen 70-jähriges Bestehen wir heute feiern, scheint Kurt Masur Recht zu geben. Sie ist eng mit der Geschichte unseres Landes und mit der Geschichte Berlins verbunden – mit den historischen Brüchen ebenso wie mit Hoffnung, Aufbruch und Veränderung. Als 1946 der Rundfunk im Amerikanischen Sektor – RIAS – als Reaktion auf den Ausschluss der westlichen Alliierten aus dem von der Sowjetunion besetzten traditionsreichen Rundfunkgebäude in der Masurenallee von den Amerikanern gegründet wurde – und mit ihm auch das RIAS-Symphonie-Orchester-, da war der Zweite Weltkrieg erst gut ein Jahr vorbei. Im zerstörten Deutschland lebten die Menschen vielfach noch zwischen den Trümmern; sie hatten mit Armut, Kälte und Hunger zu kämpfen. Freude und Abwechslung im schweren Alltag brachten vor allem – und unter diesen Umständen erstaunlich genug – Kulturangebote, so auch Konzerte und Übertragungen des RIAS-Symphonie-Orchesters. Musik, Theater, Kunst und Kultur sind eben auch – oder gerade dann – existentiell, wenn es im Grunde an allem fehlt. 1953, nicht einmal sieben Jahre nach Gründung des Orchesters, kündigten die Amerikaner die Verträge der Musikerinnen und Musiker, weil es dafür nach amerikanischem Recht keine Grundlage gab. Die Musikerinnen und Musiker mussten sich fortan notgedrungen selbst organisieren und verwalten. Das Orchester konnte sich auf dieser Grundlage dann allerdings doch nicht über Wasser halten. Und so kam es zu dem unvermeidlichen, damals noch ungewöhnlichen Schritt, dass ein Rundfunk-Klangkörper Hilfe beim Staat – hier also beim Westberliner Senat und beim Bund – suchte. Ganz offensichtlich mit Erfolg – sonst säßen wir alle heute nicht hier. Seit 1994 wird das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin von der Rundfunkorchester und -Chöre GmbH Berlin, getragen – einer Gesellschaft von Deutschlandradio, Bund, Land Berlin und Rundfunk Berlin Brandenburg. Sie ist ein stabiles Fundament für insgesamt vier Klangkörper und so soll es auch in Zukunft bleiben. Heute sind die Spitzen aller Gesellschafter hier – das ist ein schönes Zeichen der Wertschätzung! Das Orchester, dessen Jubiläum wir heute feiern, hat – ganz im Sinne Kurt Masurs – den Hoffnungslosen Hoffnung gegeben! Viele dieser Hoffnungen haben sich erfüllt, während nun anderswo die Kraft der Musik umso mehr gebraucht wird. Vielleicht kennen auch Sie aus den Zeitungen die Geschichte des Pianisten Aiham Ahmed, der sein Klavier durch die Straßen eines vom Krieg zerstörten Vororts von Damaskus schob und vor Ruinen spielte, bis Dschihadisten sein Klavier verbrannten und drohten, ihn zu töten. Er nur ist einer von Hunderttausenden Menschen, die im vergangenen Jahr in Deutschland Schutz suchten. Sie zu integrieren, ist eine Herausforderung. Eine Herausforderung, bei der die Musik, die Kultur auch heute wieder ihre Kraft entfalten kann. Musik schafft Verbindung, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren. Musik kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Musik öffnet Welten – und in diesem Sinne bleibt auch das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin weiterhin ein Hoffnungsträger. Herzlichen Glückwunsch zum 70. Jubiläum!
Die Geschichte des Deutschen Symphonie-Orchesters sei eng mit der Historie Berlins und Deutschlands verbunden, so Kulturstaatsministerin Grütters in ihrer Rede zum 70jährigen Bestehens des Ensembles. Gerade wenn es den Menschen an allem fehle, sei Musik existenziell, so Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Verleihung des Büchner-Preises, des Merck-Preises und des Freud-Preises
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-verleihung-des-buechner-preises-des-merck-preises-und-des-freud-preises-438668
Sat, 05 Nov 2016 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Darmstadt
Kulturstaatsministerin
Wenn es zutrifft, was Ralf Dahrendorf, Sigmund-Freud-Preisträger des Jahres 1989, einmal geschrieben hat, wenn es zutrifft, dass normale Zeiten schlechte Zeiten für Intellektuelle sind, dann sehen wir wohl einem Goldenen Zeitalter der Geisteskraft entgegen. Denn die gegenwärtigen Krisen und Konflikte in der Welt, das damit verbundene menschliche Leid, der Terrorismus religiöser Fanatiker, die Rückkehr eines längst überwunden geglaubten Nationalismus, der auflodernde, fanatische Hass mitten in unserer Gesellschaft – all das ist alles andere als normal. Wortmächtige Künstlerinnen und Künstler zu würdigen und auszuzeichnen, hat jedenfalls etwas Wohltuendes, ja beinahe Tröstliches in einer Zeit, in der die dunkle Macht der Worte Köpfe, Herzen und den öffentlichen Raum erobert: in den Parolen pöbelnder Horden vor Flüchtlingsunterkünften oder zuletzt in Dresden bei den Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit; in den Tiraden geistiger Brandstifter im Internet; und ja, auch das: in so mancher Metapher des politischen Sprachgebrauchs, wenn beispielsweise im Zusammenhang mit Schutz suchenden Menschen nur noch von einer „Flüchtlingswelle“ oder einer „Flüchtlingsflut“ die Rede ist. Solche Sprachbilder ent-individualisieren und ent-menschlichen, wo es um nackte menschliche Existenzen geht. Sie machen taub und blind für Not und Leid – und frei von Mitgefühl. Und sie pflastern die breiten und ebenen Wege, die dem Denken und Handeln die Richtung weisen: Schotten dicht machen, und die Welt ist wieder in Ordnung. Dass es mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung eine Organisation gibt, die die Sprache zur Rede stellt und für eine demokratische Sprach- und Debattenkultur eintritt, das ist in Zeiten, die eben diese Kultur einer harten Bewährungsprobe unterziehen, wichtiger denn je. Auch deshalb, lieber Herr Professor Detering, habe ich Ihre Einladung nach Darmstadt gerne angenommen und freue mich, mit Ihnen allen, verehrte Damen und Herren, anhand dreier leuchtender Beispiele – unserer heutigen Preisträger – zu feiern, wozu Worte im besten Sinne imstande sind. Worte sind zu allem fähig. Wer wüsste das besser als wir Deutschen, die in ihrer Geschichte im Guten wie im Bösen, in der Vollendung wie in der Verrohung, erlebt haben, wozu Worte imstande sind? Es gibt einen Ort, der diese Ambivalenz repräsentiert, und das ist Weimar: das Weimar, das mit der Weimarer Klassik für Vollendung im Ästhetischen und gleichzeitig mit der Weimarer Republik für Verrohung im Politischen steht; das Weimar, das als Stadt Goethes und Schillers Synonym geworden ist für die Kulturnation Deutschland und als Gründungsort der ihren Namen tragenden Republik Synonym für das Scheitern der ersten deutschen Demokratie. Von Weimar ist es im Übrigen nicht weit nach Buchenwald, als KZ-Gedenkstätte Fanal der Unmenschlichkeit der nationalsozialistischen Diktatur und des moralischen Zusammenbruchs unseres Landes. Es waren Künstler und Intellektuelle, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Macht ihrer Worte am Bau unseres demokratischen Gemeinwesens mitgewirkt haben, als geistige Trümmerfrauen und -männer auf den Ruinen einer auch kulturell und moralisch zerstörten Gesellschaft. Anknüpfend an Simone Weils Diktum „Das Volk braucht Poesie wie Brot“ formulierte Ingeborg Bachmann, Büchner-Preisträgerin des Jahres 1964, den selbst gesteckten Anspruch: „Poesie wie Brot? Dieses Brot müsste zwischen den Zähnen knirschen und den Hunger wieder erwecken, ehe es ihn stillt. Und diese Poesie wird scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht sein müssen, um an den Schlaf der Menschen rühren zu können.“ Wir brauchen Poesie wie Brot – so könnte man die Lehre beschreiben, die Deutschland aus zwei Diktaturen gezogen hat und die da lautet: Die Freiheit der Kunst ist konstitutiv für eine Demokratie. Wir brauchen die provozierenden Künstler, die verwegenen Denker, wir brauchen die Utopien, die sie entwerfen, die Fantasie, die sie antreibt, aber auch die Schärfe ihres Verstands! Sie verhindern damit, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Sie sind imstande, unsere Gesellschaft vor gefährlicher Lethargie und damit auch vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu bewahren. Die Freiheiten dieser Milieus zu schützen, ist deshalb heute oberster Grundsatz, vornehmste Pflicht verantwortungsvoller Kulturpolitik – nicht zuletzt auch im Vertrauen auf die Kraft der Worte. Geschichten Gehör zu verschaffen, die ansonsten unerzählt blieben, und Partei ergreifen für die, deren Stimmen ansonsten unerhört blieben, so wie einst Georg Büchner – genau das kann die Literatur. Sie ist imstande, Grenzen der Wahrnehmung zu verschieben, Gebiete jenseits unseres Erfahrungshorizonts zu erschließen und eben dadurch – im Guten wie im Bösen – den Bereich das Denk- und Vorstellbaren zu vergrößern. Wie abstoßend, wie verstörend beispielsweise empfindet man die Instrumentalisierung der Sprache durch Propaganda in Ihrem Roman Flughunde, lieber Herr Beyer – ein in jeder Hinsicht ungeheuerliches Buch; für mich eines der besten Bücher über die NS-Zeit, die ich je gelesen habe. Bisher unterbelichtete Facetten eines Themas ausleuchten und mit der Schärfe eines Skalpells den neuralgischen Punkt einer argumentativen Auseinander-setzung offenlegen, so wie einst Johann Heinrich Merck – das wiederum kann der literarische oder journalistische Essay. Ein brillanter Essay vermittelt nicht nur ein differenziertes Bild eines Sachverhalts, sondern bringt auf Fehlschlüssen und Vorurteilen gebaute Gedankengebäude ins Wanken. So hat mich, liebe Frau Passig, beispielsweise (- auch weil mir dieses Thema selbst sehr am Herzen liegt -) Ihre sensible Annäherung an das Thema Sterbehilfe, ausgehend vom Suizid Ihres engen Freundes Wolfgang Herrndorf, in Ihrem Essay „Mein Wille geschehe“ sehr beeindruckt. Denkroutinen durchbrechen, Wahrnehmungsmuster überwinden und – wie Sigmund Freud – mit analytischer und erzählerischer Kraft Weltbilder zu revolutionieren, das schließlich vermag die wissenschaftliche Prosa. Der von Ihnen und Ihrer Frau Aleida Assmann geprägte Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“, lieber Herr Assmann, hilft uns auch im politischen Diskurs, Zusammenhänge zu sehen und zu begreifen, ebenso wie beispielsweise Ihre Auseinandersetzung mit religiös motivierter Gewalt in Ihrem Buch „Exodus“, in dem Sie die These vertreten, dass Brutalität keine extremistische Entgleisung sei, sondern ein Wesensmerkmal der Monotheismus. Mit ihrem Werk und ihrer Arbeit, meine Damen und Herren, sind Jan Assmann, Kathrin Passig und Marcel Beyer Kronzeugen für die magischen Qualitäten der Worte – und damit für die Gewissheit, dass wir uns mit der dunklen Macht der Worte, mit ihrer Instrumentalisierung für Hass und Hetze, nicht abfinden müssen und dürfen. Stilistisch herausragenden Texten solche Bedeutung beizumessen mag anachronistisch erscheinen in Zeiten, in denen öffentlichkeitswirksame Botschaften in fernsehtaugliche eineinhalb Minuten oder twitterkompatible 140 Zeichen passen müssen und die Zahl der Follower über Relevanz entscheidet. Doch in ihrem souveränen Umgang mit dem unerschöpflichen Reservoir sprachlicher Möglichkeiten sind es wortmächtige Dichter und Denker, die Zweifel säen können an der allgegenwärtigen, marktschreierischen Sprache und ihrem Vokabular. Sie, lieber Herr Beyer, haben die Welt der Sprache in einem wunderbaren Text einmal mit einem Bienenvolk verglichen, und die Profession des Schreibenden mit der des Imkers. Ich zitiere: „Das Hineindenken, das Eingreifen in eine andere, auch ohne mich existierende Welt, von der ich weiß, dass ich sie niemals ganz begreifen werde. Diese ungeheure Intensität – alle Sinne werden gefordert, jede Nervenfaser ist angesprochen, da ich mich in ein Wechselspiel begebe, sei es nun mit dem Bienenvolk oder der Sprache. Die kleinste Unachtsamkeit meinerseits kann das Gefüge so empfindlich stören, dass alle Nacharbeit vergebens ist.“ Ich wünsche uns allen, ich wünsche Deutschland Dichter und Denker, die sich so souverän und feinfühlig der Sprache bemächtigen wie ein Imker seines Bienenvolks. Seien Sie gewiss, verehrte Preisträgerin, verehrte Preisträger: Es wird immer Menschen geben, die diesen Honig zu schätzen wissen.
Bei der Verleihung des Büchner-Preises hat Kulturstaatsministerin Grütters an die „Macht der Worte“ erinnert. „Worte sind zu allem fähig“, so Grütters. Mit ihren Werken seien alle Preisträger Kronzeugen, dass „wir uns mit der dunklen Macht der Worte und mit ihrer Instrumentalisierung für Hass und Hetze nicht abfinden müssen“. Nicht zuletzt im Vertrauen auf die Kraft der Worte sei es kulturpolitisch oberster Grundsatz wie vornehmste Pflicht, die Freiheit der Kunst zu schützen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Ernennung von Jürgen Klinsmann zum Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft am 3. November 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-ernennung-von-juergen-klinsmann-zum-ehrenspielfuehrer-der-deutschen-nationalmannschaft-am-3-november-2016-436174
Thu, 03 Nov 2016 18:40:00 +0100
Erfurt
Inneres
Sehr geehrte Damen und Herren – ich mache die Anrede kurz –, vor allem lieber Jürgen Klinsmann, Sie haben schon viele Pokale in der Hand gehalten und eine Reihe von Auszeichnungen entgegengenommen – darunter auch das Bundesverdienstkreuz, das ich Ihnen 2007 überreichen durfte. Es ist heute also wahrlich nicht die erste Ehrung, die Sie erfahren, aber ich denke, es ist doch eine ganz besondere. Wer hätte Ende der 70er Jahre voraussagen können, dass aus dem jungen Kicker aus Schwaben ein DFB-Ehrenspielführer wird, dass er sogar in zwei Ländern zum Fußballer des Jahres gewählt werden sollte und dass aus dem Spitzenstürmer schließlich ein Spitzentrainer werden könnte? – Ein Trainer aus Leidenschaft, der in einem Atemzug mit allen anderen großen Bundestrainern genannt wird, obgleich er diese Aufgabe nur zwei Jahre innehatte. Diese zwei Jahre jedoch waren prägende Jahre; und zwar bis heute. Aber beginnen wir von vorn. Ihre Laufbahn starteten Sie 1972 beim Turnerbund Gingen. Richtig los ging es dann in Stuttgart. Dort stiegen Sie von den Kickers in der zweiten zum VfB in die erste Bundesliga auf. Schnell fanden Sie Ihren Stammplatz in der deutschen Fußballnationalmannschaft. Sie wurden 1990 Weltmeister und 1996 als Kapitän Europameister. Auch bei der WM 1998 waren Sie Teamkapitän. Dies war dann auch Ihr letztes Jahr im Nationaltrikot. 47 Tore in 108 Länderspielen – eine großartige Bilanz, aber mitnichten das letzte Kapitel mit der Nationalmannschaft. Denn 2004 kehrten Sie als Trainer zurück. Auf Ihnen ruhte die lastenschwere Hoffnung, das DFB-Team fit für die Weltmeisterschaft im eigenen Land zu machen. Sie galten als der richtige Mann, um für Aufbruchsstimmung zu sorgen – und die Erwartungen haben Sie wahrlich nicht enttäuscht. Im Gegenteil, manch einem der gut 80 Millionen Bundestrainer in unserem Land war es vielleicht sogar zu viel Aufbruchsstimmung. Ihre neuen, modernen Trainingsmethoden sorgten jedenfalls – um es zurückhaltend zu formulieren – für Diskussionen. Sie aber hielten fest an Ihrem Kurs, den Sie im Juni 2005 in einem Interview so zusammengefasst hatten: „Wir müssen alle Rituale und Gewohnheiten hinterfragen. Und zwar andauernd – nicht nur im Fußball. Das ist doch nichts Schlimmes. Reform ist kein Prozess, der in Episoden stattfindet. Das Reformieren muss zu einem permanenten Zustand werden – nicht nur vor der Weltmeisterschaft, auch danach.“ Lieber Jürgen Klinsmann, dass Reformen und Veränderungen nicht immer und nicht jeden begeistern, das ist nicht nur im Fußball so. Als dann noch wenige Monate vor Beginn der WM die sportlichen Erfolge ausblieben und Sie in einem Testspiel gegen Italien, wie Sie es formulierten, „etwas auf die Mütze“ bekamen, war Schluss mit lustig. Besonders lebendig geführt wurde dann noch die sogenannte Wohnsitzfrage, also die zwischen Kalifornien und Deutschland. Ich erinnere mich noch gut an unser Treffen im Bundeskanzleramt wenige Monate vor Beginn der Weltmeisterschaft. Damals, im März 2006, sagte ich in unserer gemeinsamen Pressebegegnung: „Lassen wir uns doch überraschen, was in uns steckt, was alles möglich ist – gerade bei der Weltmeisterschaft 2006. […] Der Erfolg wird nicht zuletzt davon abhängen, […] ob wir hinter dieser Mannschaft stehen wollen oder ob wir zulassen wollen, dass sie schon vor dem ersten Spiel in Grund und Boden geredet und geschrieben wird.“ Und, meine Damen und Herren, was wurden wir damals überrascht – positiv. Denn der Erfolg, an den Jürgen Klinsmann immer glaubte, stellte sich tatsächlich ein. Bei der Weltmeisterschaft vor heimischem Publikum erkämpfte sich die Nationalmannschaft einen hervorragenden dritten Platz. Und was waren das für wunderbare Wochen. Seither sprechen wir vom Sommermärchen 2006. Landauf, landab war mit jedem neuen Turniertag immer mehr von der Aufbruchsstimmung zu spüren, die das ganze Team verkörperte. Vom Fußballfeld aus strömte die Begeisterung förmlich über das ganze Land, das plötzlich in ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer getaucht war. Da entwickelte sich ein fröhliches Zusammengehörigkeitsgefühl, das dem Motto der WM 2006 „Die Welt zu Gast bei Freunden“ alle Ehre machte. Dem jungen Fußballer aus Schwaben mit Wohnsitz in Kalifornien und Herzblut für die deutsche Nationalmannschaft – ihm war als Bundestrainer etwas Großes gelungen. Jürgen Klinsmann hatte ein neues Kapitel in der deutschen Fußballgeschichte aufgeschlagen. Sie, lieber Herr Klinsmann, und die ganze Nationalmannschaft haben die Deutschen nicht nur als Fußballnation, sondern als Nation insgesamt mitgerissen. Diese Erfahrung verbindet sich mit Ihrem Namen. Darin liegt – weit über die sportliche Leistung hinaus – die besondere Anerkennung begründet, die Sie genießen und die Sie verdienen. Sie und Ihr ganzes Team – natürlich auch Joachim Löw, Oliver Bierhoff und Andreas Köpke; alle von der ersten Stunde an dabei – waren Wegbereiter großartiger Erfolge. Zwar sollte es nach der Heim-WM noch ein paar Jahre dauern, bis Deutschland tatsächlich nach dem vierten Stern greifen konnte. Aber Sie haben in Ihrer Zeit als Bundestrainer schon auf Spieler gesetzt, die 2014 schließlich als erste europäische Mannschaft in Südamerika, im legendären Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro, den WM-Pokal holten. Nach der großartigen WM 2006 wurden Sie von allen Seiten ermuntert, ja, geradezu gedrängt, weiterzumachen. Dennoch entschieden Sie sich anders und übergaben die Aufgabe des Bundestrainers der deutschen Fußballnationalmannschaft nach nur zwei Jahren Ihrem bisherigen Co-Trainer Joachim Löw. Joachim Löw setzte das gemeinsam begonnene Werk fort. Er baute darauf auf, er entwickelte seine eigene Handschrift und konnte schließlich seine Arbeit 2014 mit dem WM-Titel krönen – einem Erfolg, der für immer mit seinem Namen verbunden sein wird. Diese Entwicklung von 2004 bis heute ist ohne den Teamgeist nicht denkbar, der Ihnen, lieber Herr Klinsmann, so wichtig war und ist – nicht ohne das Verständnis dafür, dass mentale Stärke und mannschaftliche Geschlossenheit ebenso entscheidend sind wie spielerische Fähigkeit und körperliche Fitness. Mit diesem Verständnis haben Sie stets mit der und für die Mannschaft gearbeitet. Um es zusammenzufassen: Sie sind ein großartiger Sportler, ein echter Sympathieträger und ein wunderbares Vorbild weit über den Fußball hinaus. Ab heute zählen Sie auch zu den wenigen DFB-Ehrenspielführern. Mit Ihnen sind es – einschließlich der Ehrenspielführerinnen Bettina Wiegmann und Birgit Prinz von der Frauen-Fußballnationalmannschaft – nun insgesamt sieben. Der erste DFB-Ehrenspielführer war Fritz Walter. Sein großer Erfolg lag zehn Jahre vor Ihrer Geburt. Aber sein Name und das Wunder von Bern 1954 sind selbst heutigen Kindern, die auf dem Schulhof kicken, noch ein Begriff. Wer weiß, vielleicht werden manche auch noch in Jahrzehnten ein wenig ins Schwärmen kommen, wenn sie an das Sommermärchen 2006 denken. Lieber Jürgen Klinsmann, in jedem Fall stehen Sie ab heute in einer Reihe mit Fritz Walter, Uwe Seeler, Franz Beckenbauer und Lothar Matthäus. Ich gratuliere Ihnen von Herzen zur Ernennung zum DFB-Ehrenspielführer.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung des Jazzfestes Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-des-jazzfestes-berlin-792148
Thu, 03 Nov 2016 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Eine der treffendsten Wahrheiten über den Jazz verdanken wir dem großen Schweizer Jazzmusiker George Gruntz: „Man kann nicht Jazz auch“, sagte der langjährige Leiter des Jazzfestes Berlin in einem Interview im Schweizer Fernsehen. Ja, Jazzer ist man nicht „auch“, nicht nebenbei. Jazz ist anspruchsvoll. Jazz erfordert uneingeschränkte Hingabe – als Musiker wie als Zuhörer. Und während er Begeisterte beflügelt und betört, bleibt er für Unerfahrene oft unverständlich und unerreichbar. Ob Kenner oder Entdecker, Liebhaber oder Laie: Das Jazzfest Berlin zieht seit mehr als 50 Jahren neugierige Besucherinnen und Besucher aus aller Welt an. Es ist – das kann man mit Fug und Recht sagen – einer der musikalischen Höhepunkte im Hauptstadtkulturkalender! In diesem Jahr will das Festival vor allem junge Menschen für den Jazz begeistern. Die Voraussetzungen dafür stimmen (wie immer): Hochkarätige Solokünstler und Bands – in bekannten und neuen Formationen – versprechen spannende „Konversationen“. Dass ich heute bei der Eröffnung dabei sein kann, freut mich besonders: Vielen Dank für die Einladung, lieber Thomas Oberender, lieber Richard Williams! „Man kann nicht Jazz auch“ – oder etwas anders: Doch auch der Bund kann Jazz, meine Damen und Herren! Das unterstreichen wir nicht zuletzt mit der Künstler- und Musikförderung meines Hauses. Eine Musik, die vom Moment lebt, von der Improvisation und vom Live-Spiel, braucht Orte, an denen sie sich entfalten und weiterentwickeln kann: Deshalb zeichnen wir mit unserem Spielstättenprogrammpreis „APPLAUS“ seit 2013 Clubs aus, die kulturell hochwertige, trendsetzende Programme machen – und die Hälfte aller Preisträger sind Jazzclubs! Allein vom Jazz leben, können Musikerinnen und Musiker oft nicht, was selten nach außen sichtbar wird: Ich hoffe deshalb, dass die jazzstudie2016, die mein Haus mitfinanziert hat, eine Diskussionen darüber anregt, wie sich die Arbeits- und Lebensbedingungen professioneller Jazzmusikerinnen und -musiker verbessern lassen. Der Bund jedenfalls trägt seinen Teil dazu bei. Bereits seit 2008 unterstützt die von meinem Haus geförderte „Initiative Musik“ viele Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker; und weil wir den nicht-kommerziellen Jazz bewusst als Genre zeitgenössischer Musik verstehen, haben Jazzer künftig auch die Chance auf Mittel aus dem Musikfonds. Er wurde vor wenigen Wochen gegründet und ist mit 1,1 Millionen Euro jährlich ausgestattet. Ein persönliches Herzensanliegen ist es mir, Frauen in der Kultur- und Kreativwirtschaft, Künstlerinnen, Musikerinnen zu stärken. Das Jazzfest Berlin hat ganz selbstverständlich zahlreiche Musikerinnen eingeladen – eine von ihnen, die wunderbare Pianistin Julia Hülsmann, werden wir gleich hören – und es ist erfreulich, dass Frauen wie sie hartnäckig am Image des Jazz als Männerdomäne kratzen. Mit Traditionen brechen, sie hinterfragen und dagegen aufbegehren – all das ist Jazz. Gerade damit trägt er zur kulturellen Vielfalt bei. Die Vielfalt des Genres – und bisweilen auch seine Unangepasstheit – machen den Jazz zu einem unverzichtbaren Bestandteil unseres Kultur- und Geisteslebens. „Man kann nicht Jazz auch“: Musik, die sich nicht mit der Nebenrolle zufrieden gibt, die man eben nicht „auch“ macht, die man nicht „auch“ hört, ist eine Wohltat gerade in unserer schnelllebigen Zeit. In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein inspirierendes Jazzfest 2016 – und dem Jazz die uneingeschränkte Aufmerksamkeit, die er braucht und verdient!
Bei der Eröffnung des Jazzfests hat Kulturstaatsministerin Grütters zugesagt, die Musikerinnen und Musiker des Genres und Jazzclubs auch künftig zu unterstützen, etwa über den kürzlich gegründeten Musikfonds oder dem Spielstättenprogrammpreis. Grütters wünschte dem Jazz „die uneingeschränkte Aufmerksamkeit, die er braucht und verdient.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Überreichung des Seoul Friedenspreises am 2. November 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-ueberreichung-des-seoul-friedenspreises-am-2-november-2016-435054
Wed, 02 Nov 2016 14:30:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Botschafter Lee, sehr geehrter Herr Generalsekretär Kim, meine Damen und Herren, ich möchte Sie zuerst nochmals herzlich im Bundeskanzleramt willkommen heißen und mich sehr herzlich für Ihre Worte bedanken, natürlich auch für die Ehre, heute den Seoul Friedenspreis entgegennehmen zu dürfen. In dieser Legislaturperiode haben wir als Bundesregierung einen umfassenden Dialog durchgeführt, in dem sich viele Bürgerinnen und Bürger zu verschiedenen Themen geäußert haben. Das Kernthema dieses Dialogs war: Was bedeutet für uns gutes Leben? Obgleich die wenigsten Menschen in Deutschland Krieg noch selbst erleben mussten – nur die Älteren haben diese schreckliche Erfahrung gemacht –, stand unter den Antworten der Bürgerinnen und Bürger auf die Frage, was gutes Leben für sie bedeutet, Frieden an erster Stelle – Frieden im eigenen Land, aber auch Frieden rund um den Globus. Wie leicht es ist, Frieden zu verlieren, und wie schwer es ist, ihn zurückzugewinnen, erleben wir Europäer auch in unserer Nachbarschaft – in der Ukraine, aber auch in Syrien und in Libyen. Das Leid in den Krisenherden, insbesondere auch in Syrien in diesen Tagen, ist unbeschreiblich. Der Einsatz von Fass- und Brandbomben, ja, sogar von Chemiewaffen wird nicht gescheut. Die Zivilbevölkerung wird ausgehungert, medizinische Einrichtungen werden angegriffen, Ärzte verlieren ihr Leben, Krankenhäuser werden zerstört. Und auch die Hilfskonvois der Vereinten Nationen sind nicht sicher vor Beschuss. Das sind schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wir dürfen nicht einfach darüber hinwegsehen. Das betrifft nicht nur Fragen des internationalen Rechts, sondern auch ganz einfach die Frage: Was ist uns menschliche Würde wert? Die Sehnsucht nach Frieden und die Sorge über die Zerbrechlichkeit von Frieden werden überall auf der Welt geteilt. Auch in der Region, aus der der Seoul Friedenspreis stammt, ist Stabilität keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Mit Nukleartests und Raketenabschüssen bedroht Nordkorea schon seit Jahren seine Nachbarn. Die Führung in Pjöngjang missachtet internationales Recht und provoziert die Weltgemeinschaft. Auch die gewachsenen Spannungen im Süd- und Ostchinesischen Meer bieten Anlass zu Sorge. Wieder einmal muss man sagen: Alle Beteiligten haben die Pflicht, sich an die global vereinbarten Spielregeln zu halten, Schritte zur Vertrauensbildung und Verständigung zu gehen und aufeinander zuzugehen. Das liegt auch uns in Europa am Herzen. Unsere Länder sind inzwischen so eng verbunden wie nie zuvor – durch Handel, durch Investitionen, durch Zusammenarbeit und Beziehungen in den verschiedensten Bereichen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Das bedeutet auch im Hinblick auf Korea: Konflikte woanders in der Welt betreffen uns sehr viel stärker, als die geografische Entfernung vielleicht erscheinen lassen mag. Jeder von uns muss seiner eigenen Verantwortung gerecht werden – auch wir in Europa mit der europäischen Idee, die uns Frieden, Freiheit und Wohlstand sichert. Diese Idee darf nicht weiter an Strahlkraft verlieren. Wir machen im Augenblick eine schwierige Phase durch. Das Ergebnis des Referendums in Großbritannien ist natürlich ein großer Einschnitt. Als Europäer müssen wir deutlich machen, wo die Vorzüge unserer Europäischen Union liegen. Gerade auch Deutschland verdankt dem europäischen Integrationsprozess sehr viel. Angesichts des unvorstellbaren Leids, das durch Krieg und den Zivilisationsbruch der Shoa von Deutschland ausgegangen war, ist uns vollauf bewusst: Die Rückkehr in die Völkergemeinschaft war alles andere als selbstverständlich. Unsere Nachbarn waren bereit, die Hand zur Versöhnung zu reichen. Es ist ein großes Geschenk, die europäische Einigung zu haben. Auch eine Partnerschaft mit Israel zu haben, ist alles andere als selbstverständlich. Oft waren es starke Persönlichkeiten, die den Weg geebnet, Widerstände gebrochen und einen Versöhnungsprozess in Gang gebracht haben. Natürlich aber braucht echte Versöhnung die breite Unterstützung einer gesamten Gesellschaft; und diese haben wir auch bekommen. Dafür bin ich als Bundeskanzlerin und persönlich zutiefst dankbar. Die Deutsche Einheit und die europäische Einigung – das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Die Bereitschaft zum Dialog und Kompromiss war immer die Grundlage dafür, dass sich Europa weiterentwickeln konnte. Und so muss auch unser Bemühen um Frieden auf der Welt angelegt sein. Ich weiß, dass Ihr Land von der Vereinigung beider Landesteile noch träumt. Wir wünschen Ihnen von Herzen – das habe ich immer wieder auch in meinen Gesprächen mit der Präsidentin gesagt –, dass Ihnen dies eines Tages auch gelingen möge. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir diesen Seoul Friedenspreis verliehen haben – auch als Ermutigung für viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, weitere Brücken zwischen unseren beiden Ländern zu schlagen und sich weltweit für Frieden und Versöhnung einzusetzen. Danke dafür, dass dieser Preis heute an mich übergeben wurde. Und alles Gute in Ihrer weiteren Arbeit.
im Bundeskanzleramt
Rede von Staatsministerin Grütters zur Konzeptvorstellung des Humboldt Forums
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-gruetters-zur-konzeptvorstellung-des-humboldt-forums-436190
Wed, 02 Nov 2016 12:30:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Das Humboldt Forum war über viele Jahre ein Kind der Kulturpolitik, um dessen Entwicklung wir – nicht zuletzt im Deutschen Bundestag – immer wieder gerungen haben. Seit heute ist klar: Das Humboldt Forum hat sich erfolgreich abgenabelt von der Politik. Das derzeit ambitionierteste Kulturvorhaben unseres Landes steht nun – mit den heute präsentierten Vorstellungen der Gründungsintendanz zur programmatischen Ausrichtung – konzeptionell auf eigenen Beinen. Es hat sich von der Politik emanzipiert – und ich kann sagen: Das war ein beglückender und sehr harmonischer Prozess. Und genauso soll es auch sein, meine Damen und Herren. Es freut mich sehr zu sehen, dass nicht nur der spektakuläre Bau ganz offen-sichtlich Gestalt annimmt, sondern auch das Programm, das diese Räume ab Ende 2019 mit Leben erfüllen soll. Herzlichen Dank für Ihre fundierte Planung und Ihre ebenso inspirierte wie inspirierende Präsentation, lieber Neil MacGregor, lieber Horst Bredekamp, lieber Hermann Parzinger! Ein „Basislager für die Weltreise“ zu schaffen, wie Sie das eben so treffend formuliert haben, das wäre gewiss ganz im Sinne der Namensgeber für dieses noble Vorhaben gewesen. Zu vermitteln, was das Humboldt Forum als Weltkulturmuseum für das Publikum leisten kann, ist der Gründungsintendanz – wie ich finde – auf sehr überzeugendende Weise gelungen. Ich hoffe sehr, dass ein möglichst breites Publikum der Einladung folgt, sich in der Ausstellung „Extreme“ ein Bild vom Potential dieses Hauses und von der Neuartigkeit seiner Herangehensweise zu machen. Allein die Erfahrung, dass Objekte ganz anders wirken, wenn sie neue Nachbarn haben und in anderen Kontexten präsentiert werden, verspricht ein Geschichts- und Kulturpanorama, das uns die Welt neu sehen und verstehen lehrt. Neu ist aber nicht nur die Methode. Neu ist auch das Selbstverständnis dieses Hauses. Ich will drei Punkte hervorheben, die ich besonders wichtig finde: – Erstens, die Überarbeitung einiger Sammlungsmodule mit Blick auf die kolonialen Kontexte der Sammlungsgeschichte: Damit setzt das Humboldt Forum Maßstäbe für die Auseinandersetzung mit der moralischen und völkerrechtlichen Dimension der eigenen Sammlungsgeschichte. Ohne eine solche Ehrlichkeit und Transparenz der eigenen Geschichte gegenüber verlieren Museen ihre Glaubwürdigkeit. Wir sollten die Entwicklung des Humboldt Forums zum Anlass nehmen, die Herkunftsgeschichten der Objekte aus kolonialen Kontexten genauso ernsthaft und systematisch zu erforschen, wie wir das mittlerweile auch bei NS-verfolgungsbedingt entzogener Kunst tun. Zu diesem Thema fördert mein Haus übrigens auch eine Arbeitsgruppe des Deutschen Museumsbundes, die Empfehlungen zum Umgang mit kolonialzeitlichem Sammlungsgut erarbeiten wird. – Zweitens, das Anliegen, Besucherinnen und Besucher nicht nur als Staatsbürger, sondern auch als Weltbürger anzusprechen – in der Vermittlung der Erfahrung, dass uns, bei allen kulturellen Unterschieden, als Menschen weltweit doch viel mehr verbindet als uns trennt. Die Humboldt Akademie ist der Ort für kulturelle Vermittlung und Teilhabe im Schloss. Die Kunstbibliothek hatte ja nach dem Auszug der Zentral- und Landesbibliothek aus der Beletage dort ohnehin ihren Sinn verloren. Ihr Auszug ist ein Befreiungsschlag nicht nur für das 1. Obergeschoss, sondern für das Humboldt Forum insgesamt. So wie Besucher durch sechs Eingänge ins Humboldt Forum gelangen können, so finden Menschen unterschiedlicher Herkunft in der Humboldt Akademie in einen gemeinsamen Diskursraum. Jeder kann und soll hier im Geiste der Brüder Humboldt Weltbürger sein. Wo könnte das besser gelingen als in einer kosmopolitischen Stadt wie Berlin? Das Humboldt Forum ist also kein Museum herkömmlichen Typs. Es ist ein Bildungs- und Verständigungsangebot, und deshalb war und ist es auch mein Wunsch, (zumindest in der Dauerausstellung) ohne Eintritt auszukommen. – Einen dritten Punkt will ich noch hervorheben, nämlich die Auseinandersetzung mit im wahrsten Sinne des Wortes welt-bewegenden Themen der Gegenwart – Grundsätzliches und Konkretes gehen hier eine Verbindung ein: Es ist – gerade mit Blick auf die Krisen und Konflikte im Nahen und Mittleren Osten, mit Blick auf die damit verbundenen Flüchtlingsströme und auch mit Blick auf die Angst, die Terroristen im Namen des religiösen Fundamentalismus verbreiten – eine richtige und zukunftsweisende Entscheidung der Gründungsintendanz, insbesondere dem Thema Religion einen eigenständigen Raum zu geben: dem Islam, dem Hinduismus und Buddhismus genauso wie dem Christentum und dem Judentum – und zwar mit Exponaten aus dem ganzen Reichtum der Berliner Museen, und eben nicht nur aus den Dahlemer Häusern. (Auch das macht übrigens den umfassenden, SPK-übergreifenden Ansatz der Gründungsintendanten deutlich.) Unsere Kultureinrichtungen sind ja nicht zuletzt auch Orte öffentlicher Debatten, die die Gesellschaft nie nur abbilden, sondern immer auch mitformen. Wie sehr wir diese Orte der Selbstvergewisserung brauchen, erleben wir gerade jetzt und gerade dort, wo eine lautstark pöbelnde Minderheit die schweigende Mehrheit mit ihrem Hass und ihrer Fremdenfeindlichkeit beschämt wie zuletzt am Tag der Deutschen Einheit in Dresden. Deshalb bin ich – das will ich hier zumindest beiläufig erwähnen – sehr dankbar, wie sehr man sich in vielen Kultureinrichtungen deutschlandweit in der Verantwortung sieht, auf gesellschaftliche Veränderungen einzugehen. Ich habe das zuletzt beispielsweise auf meiner Theaterreise in ostdeutsche Bundesländer erlebt. Was unsere Kultureinrichtungen hier leisten, wird leider vielfach nicht angemessen wahrgenommen und gewürdigt. Man darf sie gerade nicht schließen, sondern – ganz im Gegenteil: Man muss sie öffnen – in jeder Hinsicht. Das Humboldt Forum steht beispielshaft dafür. Um abschließend Ihre Hauptfrage zu beantworten, meine Damen und Herren: Die vorgesehenen Maßnahmen zur Ausstellungsoptimierung ändern zum Glück nichts am Zeit- und Kostenplan der Baumaßnahme selbst. Die Kostenobergrenze des Berliner Schlosses bleibt unverändert; die termingerechte bauliche Fertigstellung und Eröffnung ist nach wie vor für Ende 2019 vorgesehen. Herzlichen Dank den für den Bau Verantwortlichen für die reibungslose, partnerschaftliche Zusammenarbeit! Wie geht es jetzt weiter? – Im kommenden Jahr stehen für das Humboldt Forum in meinem Haushalt 9,1 Millionen Euro bereit; hinzu kommen 5,2 Millionen Euro für die Umzugsvorbereitungen der SPK. In den Folgejahren steigt das Budget für das Humboldt Forum kontinuierlich an. Wir sind mit der Fertigstellung des Humboldt Forums also auf der Zielgeraden. Bei der künftigen Bespielung können wir aus dem Reichtum all unserer Kultureinrichtungen deutschlandweit schöpfen. Alexander von Humboldt hat lange vor dem Zeitalter der Globalisierung davon gesprochen, dass „alles Wechselwirkung“ sei. Angesichts der ungeheuren Vielfalt an kulturellen Einrichtungen in Berlin und ganz Deutschland können und wollen wir Wechselwirkungen sichtbar machen und die Vernetzung des Humboldt Forums mit anderen Einrichtungen fördern. Dazu habe ich die Leiterinnen und Leiter der vom Bund deutschlandweit geförderten Kultureinrichtungen für heute Nachmittag ins Bundeskanzleramt eingeladen. Auf der Agenda steht unter anderem eine Rede der Bundeskanzlerin, deren Zusage ich als Ausdruck großer Wertschätzung für unsere Kultureinrichtungen empfinde, aber auch die Vorstellung des Humboldt Forums durch Neil MacGregor, verbunden mit der Einladung an alle Einrichtungen, sich bei der künftigen Bespielung des Hauses einzubringen. Die Vorstellungen der Gründungsintendanz bieten dafür eine Vielzahl möglicher Anknüpfungspunkte. Ich danke Ihnen für Ihre Präsentation, verehrte Herren, und wünsche Ihnen und uns allen weiterhin viel Erfolg und Enthusiasmus bei der Umsetzung!
Im Berliner Schloss haben die Gründungsintendanten ihre Pläne für das Humboldt präsentiert. Kulturstaatsministerin Grütters sagte, das Konzept zeige „auf sehr überzeugende Weise, was das Humboldt Forum als Weltkulturmuseum für das Publikum leisten kann“. Das Humboldt Forum soll 2019 eröffnet werden.
Rede von Staatsministerin Grütters zur Eröffnung des Reformationsjubiläums
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-des-reformationsjubilaeums-435538
Mon, 31 Oct 2016 16:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Wer wäre Martin Luther heute, als Bürger Deutschlands im 21. Jahrhundert? Welche Glaubensfragen würden sein Gewissen herausfordern? Wogegen würde er wortgewaltig zu Felde ziehen? Wäre er ein gefürchteter Debattenredner, ein gefeierter Autor, ein gern gesehener Gast in Talkshows? Wie viele Follower hätte er mit seinen deftigen Formulierungen bei Twitter? Würde er für seine sprachschöpferischen und stilistischen Leistungen für den Literaturnobelpreis gehandelt? Vor allem aber: Was hätte er uns heute zu sagen? Fest steht: Martin Luther irritiert, provoziert und fordert uns heraus – bis heute. Man kann ihn bewundern als Wegbereiter einer einheitlichen und einigenden deutschen Schriftsprache, als – wenn auch unfreiwilligen – Geburtshelfer des mündigen Bürgers und der pluralistischen Gesellschaft. Man kann ihn verabscheuen wegen seiner Tiraden gegen Andersdenkende und Andersglaubende und wegen seiner abstoßenden antijüdischen Äußerungen. Ignorieren jedoch kann man ihn nicht. Man kommt nicht an ihm vorbei, wenn man die Entwicklung unserer bürgerlichen Ideale und demokratischen Werte verstehen will. Mit seinem streitbaren Vermächtnis widersetzt er sich der Musealisierung ebenso wie der politischen Vereinnahmung. Er nötigt uns, Licht und Schatten der Reformationsgeschichte zu erkunden und dem reformatorischen Geist der Veränderung durch die Jahrhunderte bis heute nachzuspüren. Dieser Herausforderung haben die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Landeskirchen sich gemeinsam mit Bund, Ländern, Kommunen und Zivilgesellschaft im Rahmen der Lutherdekade zur Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum gestellt – ein Jubiläum, das man angesichts der enormen geistigen und politischen Prägekraft der Reformation weit über die Grenzen Deutschlands hinaus getrost als „Kulturereignis von Weltrang“ begreifen darf und dessen Vorbereitung Kirche, Staat und zivilgesellschaftliche Organisationen deshalb gemeinsam in die Hand genommen haben. Als Verantwortliche innerhalb der Bundesregierung und stellvertretende Vorsitzende des Kuratoriums zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums danke ich allen Mitwirkenden für ihr beeindruckendes Engagement. Wir waren – um es aus Sicht einer Katholikin in den Worten Martin Luthers zu sagen – gewiss nicht immer „ein Herz und eine Seele“ in der Bewertung des Lutherschen Vermächtnisses. Umso mehr freut es mich, dass es uns gelungen ist, die Reformation im Geiste der Ökumene und der Aufklärung als Teil eines gewaltigen europäischen Umwälzungs- und Lernprozesses zu würdigen und verschiedenen Perspektiven Raum zu geben. Das Ergebnis der Lutherdekade jedenfalls kann sich sehen lassen: Mehr als 1.000 Veranstaltungen deutschlandweit bieten Gelegenheit, sich mit der Reformation und ihren religiösen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen auf unser Land, auf Europa und die Welt auseinander zu setzen – nicht zuletzt an den historischen Stätten der Reformation, die vielfach frisch saniert in neuem Glanz erstrahlen. Als gesellschaftliches Großereignis kann und soll das Reformationsjubiläum für möglichst viele Menschen gleich welchen Glaubens Anlass sein, die reformatorischen Herausforderungen unserer Zeit öffentlich zu reflektieren: · beispielsweise die Verteidigung der hohen moralischen Standards, der grundlegenden Werte eines geeinten Europas – nicht zuletzt im Angesicht des Leids so vieler Menschen aus Kriegs- und Krisenregionen; · oder auch die Notwendigkeit, zu einer gemeinsamen Sprache zurück zu finden, wo unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen nicht imstande sind, sich zu verständigen und das Bedürfnis nach kultureller Selbstvergewisserung in Fremdenhass und Ressentiments zum Ausdruck kommt. Was hätte Martin Luther uns heute zu sagen – und was hätten wir ihm heute kritisch zu entgegnen? Seien Sie alle herzlich eingeladen, liebe Festgäste – und ich schließe hier ausdrücklich auch all jene mit ein, die als Fernsehzuschauer dabei sind -, seien Sie alle herzlich eingeladen, die Ausstellungen und Veranstaltungen zum Jubiläum zu besuchen und darüber nachzudenken, zu diskutieren und zu streiten! Das ist lebendige Erinnerungskultur. Ich jedenfalls wünsche uns allen, dass das Reformationsjubiläum zum Volksfest der Verständigung über unsere Wurzeln und Werte wird und dass wir dabei auch etwas lernen über die revolutionäre Kraft des Glaubens und ihre Bedeutung für eine Demokratie – für unsere Demokratie. „Ein Christ, der kein Revolutionär ist, ist kein Christ“: Mit diesen Worten wirbt Papst Franziskus für einen Glauben, der sich einmischt. „Ein Christ, der kein Revolutionär ist, ist kein Christ“. Martin Luther, wäre er heute Bürger Deutschlands, würde ihm gewiss zustimmen.
Am Reformationstag wurde das Reformationsjubiläum mit einem Gottesdienst und einem staatlichen Festakt in Berlin feierlich eröffnet. Es solle Anlass für möglichst viele Menschen gleich welchen Glaubens sein, die reformatorischen Herausforderungen unserer Zeit öffentlich zu reflektieren, erklärte Staatsministerin Grütters in ihrer Rede.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der Grundsteinlegung für das neue Bauhaus-Museum
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-anlaesslich-der-grundsteinlegung-fuer-das-neue-bauhaus-museum-792150
Fri, 28 Oct 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Wie es scheint, führt wieder einmal kein Weg an Johann Wolfgang von Goethe vorbei – zumal hier in Weimar. Denn auch eine Bauherren-Weisheit findet sich im Werk des großen Dichters: „Drei Dinge“ – so beginnt ein Maurer seine Rede in den Wahlverwandtschaften – „sind bei einem Gebäude zu beachten: dass es am rechten Fleck stehe, dass es wohlgegründet, dass es vollkommen ausgeführt sei.“ Den „rechten Fleck“, den besten Ort für ein Bauvorhaben zu finden, ist dabei vielleicht die größte Herausforderung – vor allem, wenn es sich um ein bedeutendes Projekt wie einen Museumsneubau handelt, bei dem aus unterschiedlichen Interessen ein gemeinsames Fundament entstehen soll. Die Frage nach dem Standort für das neue Bauhaus-Museum Weimar wurde intensiv diskutiert – und letztlich durch Land, Stiftung und Stadt zugunsten des jetzigen Standorts am Weimarhallenpark entschieden. Wir wollen den Entscheidungsträgern da jetzt auch vertrauen. Ich bin zuversichtlich: Es wird ein spannender Ort der Kultur werden. Daran, dass das neue Bauhaus-Museum hier in Weimar auf einem festen ideellen Fundament steht – dass es in diesem Sinne „wohl gegründet ist“ – hat die Klassik Stiftung großen Anteil: Als das Bauhaus noch vor allem mit Dessau – dem Bauhausgelände und den Meisterhäusern – in Verbindung gebracht wurde, erinnerte die Klassik Stiftung zum 90. Gründungtag des Bauhauses ganz selbstbewusst daran: „Das Bauhaus kommt aus Weimar“! Ja, hier legte Walter Gropius 1919 den Grundstein für die bis heute weltweit einflussreichste Bildungsstätte im Bereich der Architektur, der Kunst und des Designs. Die viel beachtete Ausstellung „Das Bauhaus kommt aus Weimar“ eröffnete im Frühjahr 2009 die Bauhausdekade mit einem Ausrufezeichen aus Weimar. Auch zum 100. Bauhausjubiläum will Weimar ein Ausrufezeichen setzen – und diesmal mit dem neuen Bauhaus-Museum. Dann wird der architektonische Entwurf von Frau Prof. Hanada „vollkommen ausgeführt“ sein – um noch einmal auf Goethe zurückzukommen. Der minimalistische Kubus wird nach außen hin einen Kontrapunkt zur NS-Architektur des Gauforums setzen und im Innern Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Schülerinnen und Schüler, Bauhaus-Fans und Bauhaus-Entdecker inspirieren und faszinieren. Ein Ort für Kultur, Wissenschaft und Bildung wird nicht nur das neue Bauhaus-Museum sein – im „Kosmos Weimar“ leuchten künftig viele Sterne. Die Themen- und Bestände-Vielfalt der Klassik Stiftung Weimar werden im Gesamtkonzept „Kosmos Weimar“ zusammengeführt. Dabei wird der Bund zu seiner Verantwortung stehen und die Klassik Stiftung im Rahmen seiner Möglichkeiten begleiten und unterstützen, etwa bei der Sanierung des Stadtschlosses oder den Sicherungsmaßnahmen der Graphischen Sammlungen – für deren herausragende Bestände ein Tiefdepot angelegt werden soll. Im kulturellen Kosmos Weimars treffen Klassik und Moderne aufeinander: Goethe und Gropius haben als herausragende „Kulturbotschafter“ unseres Landes internationale Ausstrahlung und Anziehungskraft. Weimar erinnert uns daran, dass Kulturerbestätten nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sondern einander ergänzen, zusammengehören und in ihrer Gesamtheit unsere Geschichte erzählen, und so erzählt denn auch jeder Bauhaus-Ort einen eigenen Aspekt der Bauhaus-Geschichte. Kein Ort wäre ohne den anderen möglich gewesen: Dessau nicht ohne Weimar als Geburtsstätte des Bauhauses, Berlin als Projektionsfläche nicht ohne Dessau als Ideenschmiede. Deshalb ist die Zusammenarbeit der Klassik Stiftung Weimar, des Bauhauses Dessau und des Bauhausarchivs Berlin im Bauhausverbund so wichtig und wird von meinem Haus unterstützt. Das Bauhaus war immer ein Ort für Experimente und Provokationen, für neue Formen und neue Materialien. Weltweit und über alle Jahrzehnte seit der Gründung ist das Bauhaus ein Synonym für die Moderne und ein Beleg dafür, wie innovative und starke Ideen Jahrhundertmaßstäbe setzen können. Wir werden das Jubiläum 2019 nutzen, um die Blicke der Welt auf dieses moderne Erbe und auf einen der erfolgreichsten kulturellen Exportartikel Deutschlands aus dem 20. Jahrhundert zu ziehen. Ich freue mich, dass wir dafür heute in Weimar einen Grundstein legen.
2019 wird in Weimar das neue Bauhaus-Museum eröffnet. Nun wurde der erste Stein an dem Ort gelegt, an dem Walter Gropius 1919 die weltweit einflussreichste Bildungsstätte im Bereich der Architektur, der Kunst und des Designs gründete, so Grütters in ihrer Rede.
Rede von Staatsministerin Grütters vor dem Rat für deutsche Rechtschreibung
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-gruetters-vor-dem-rat-fuer-deutsche-rechtschreibung-798250
Fri, 28 Oct 2016 19:00:00 +0200
Im Wortlaut
Ettersburg
Kulturstaatsministerin
Es gehört zu den sprachlichen Begleiterscheinungen der fortschreitenden Digitalisierung, dass man heute googelt, was man früher nachgeschaut, nachgeschlagen oder nachgelesen hätte – eine in ihrer Allgegenwart sehr dominante Kulturtechnik, die dennoch selbst den Beweis dafür liefert, dass „Googeln“ früheren Gewohnheiten der Informationssuche nicht nur semantisch unterlegen ist. So zum Beispiel, wenn man die Wortkombination „Hans Zehetmair“ eingibt. Was präsentiert uns Googles Autovervollständigung? Den Begriff „Sprachverfall“ statt, wie es der Wahrheit und den Verdiensten Hans Zehetmairs entspräche, die Worte „Sprachpflege“ und „Sprachkultur“. Das hat man also davon, lieber Hans, wenn man – wie Du – den Vorsitz eines Gremiums übernimmt, das sich dem Sprachverfall entgegen stemmt und sich einem zweifellos identitätsstiftenden Thema, ja gewissermaßen einem nationalen Kulturgut widmet: der deutschen Rechtschreibung. Spätestens seit den heftigen Kontroversen um die Rechtschreibreform wissen wir alle, was Kurt Tucholsky gemeint hat, als er feststellte: „Nie geraten die Deutschen so außer sich, wie wenn sie zu sich kommen wollen“ – zumal wenn sich, mehr noch als beim Fußball, jeder für sachkundig hält … . Nein, vergnügungssteuerpflichtig war die Mitarbeit im Rat für deutsche Rechtschreibung wohl eher nicht. Umso glücklicher dürfen wir, darf Deutschland sich schätzen, dass Du, lieber Hans, das Amt des Vorsitzenden aus Liebe und Pflichtgefühl gegenüber der deutschen Sprache übernommen und zwölf Jahre lang mit eben dieser Haltung ausgeübt hast – in weiser Voraussicht freilich unter der Prämisse, dass damit keinerlei Vorgaben verbunden sind. So konntest Du die deutsche Rechtschreibung vor Katastrophen – insbesondere vor „Katastrofen“ mit f – bewahren. So konntest Du – dafür bin ich Dir auch als Katholikin dankbar – verhindern, das man den „Heiligen Vater“ – unter Verweis auf die Kleinschreibung des Adjektivs in substantivischen Wortgruppen, die keine Eigennamen sind – seiner Größe beraubt und klein geschrieben beispielsweise mit all jenen gleichsetzt, die man heute bisweilen wie „heilige Väter“ feiert, nur weil sie zwei Monate Elternzeit nehmen. Vor allem aber konntest Du als umsichtiger Moderator, der sowohl die sprachliche wie auch die politische Klaviatur beherrscht, zwischen unterschiedlichen Auffassungen im Rat vermitteln und Vertrauen in die Arbeit des Rates schaffen – eine diplomatische Meisterleistung, die man nicht hoch genug schätzen kann! (…zumal Du gerade Deinen 80. Geburtstag gefeiert hast und Dich längst ins Private hättest zurückziehen können … Ich gratuliere Dir bei dieser Gelegenheit auch persönlich noch einmal sehr herzlich und wünsche Dir, dass Gesundheit, Tatendrang und Lebensfreude Dir weiterhin erhalten bleiben.) Die Kompromisse zwischen Tradition, linguistischen Prinzipien und Verständlichkeit, die der Rat für die Rechtschreibreform erarbeitet hat, muss man sicherlich nicht allesamt gut finden, um seine Verdienste anzuerkennen. Sie haben es nicht nur geschafft, meine Damen und Herren, die interne wie öffentliche Frontstellung zwischen Bewahrern und Erneuerern zu überwinden und den Rechtschreibfrieden wieder herzustellen. Sie haben durch Ihre Arbeit und durch die mit viel Sachverstand und guten Argumenten geführten Diskussionen auch das Bewusstsein für einen achtsamen Umgang mit der deutschen Sprache geschärft. Vor dem hohen Einsatz an Zeit und Energie, mit dem dieses ehrenamtliche Engagement verbunden ist – für viele von Ihnen schon seit 2004 -, habe ich großen Respekt, und ich danke Ihnen herzlich dafür. Wie bitter nötig die Pflege der Sprachkultur und das Engagement für einen gewissenhaften Umgang mit dem Kulturgut Sprache sind und bleiben – auch nach der Rechtschreibreform! -, das erleben wir in der Politik ebenso wie in den Medien, in den sozialen Netzwerken ebenso wie an den Schulen. – Wie gehen wir beispielsweise mit der unfassbaren Verrohung im öffentlichen Sprachgebrauch um, die sich gegen Flüchtlinge richtet, aber ganz allgemein auch gegen anders Glaubende, anders Denkende und anders Lebende? – Wie sensibilisieren wir gerade junge Leute dafür, was ihnen an individuellen Ausdrucksmöglichkeiten entgeht, wenn sie sich vorwiegend in Anglizismen, Emojis und reduziert auf die maximal 140-Zeichen-Länge eines Tweets artikulieren? – Wie schaffen wir ein Bewusstsein dafür, dass unsere Schreibschrift eine schützenswerte, der Entfaltung geistiger Fähigkeiten förderliche Kulturtechnik ist, und kein überflüssiger Unterrichtsstoff, den man mal eben aus Effizienzgründen wegrationalisieren kann? – Was setzen wir der Verdrängung des Deutschen als Wissenschaftssprache entgegen – wohl wissend, dass die Sprache Denken und Wahrnehmung prägt und mit der Vielfalt der Sprachen auch ein Stück geistige Vielfalt verloren geht? – Und nicht zuletzt: Wie reagieren wir, wenn sich selbst unter denjenigen, die allein schon aus professionellen Gründen eine besondere Verantwortung für das Kulturgut Sprache haben, Nachlässigkeit oder – um es mit einem treffenden Wort aus Deinem bayerischen Wortschatz zu sagen, lieber Hans – eine gewisse „Wurschtigkeit“ breit macht? Ich wünsche unserer reichhaltigen, die schöpferische Kraft beflügelnden Sprache – einer der schönsten Literatursprachen der Welt -, dass sich für ihre Pflege nicht nur die schreibende Zunft und auch nicht nur Gremien wie der Rat für deutsche Rechtschreibung verantwortlich fühlen, sondern alle, die zu unserer Sprachgemeinschaft hören – so wie ein FAZ–Leser aus Kassel, dessen Leserbrief mit der Überschrift „Das Kreuz mit dem Genetiv“ sicherlich auch Sie erfreuen wird, meine Damen und Herren. Es geht darin um folgenden Satz in einem FAZ-Artikel vom 11. August: „Die Bundesanwaltschaft lässt in Großrazzien die Räume von mutmaßlichen Extremisten durchsuchen.“ Im Leserbrief heißt es dazu: „So weit sind wir schon gekommen. Die Bundesanwaltschaft verfügt nicht mehr über genügend Behördenpersonal für Großrazzien und muss daher sogar mutmaßliche Extremisten anheuern, um Räume durchsuchen zu lassen …“. Oder: So weit sind wir schon gekommen: „Die Redakteure der F.A.Z. haben den Gebrauch des Genetivs verlernt, und es war gemeint: ,Die Bundesanwaltschaft lässt (…) die Räume mutmaßlicher Extremisten durchsuchen.‘?“ Soweit ein aufmerksamer Zeitungsleser. In diesem Sinne: auf den Genetiv, auf die deutsche Grammatik und natürlich auf die Orthographie – ob mit „ph“ oder „f“! Vielen Dank für Dein großartiges Engagement, lieber Hans Zehetmair! Alles Gute und viel Erfolg für Dich als Nachfolger, lieber Josef Lange!
Bei der Verabschiedung Hans Zehetmairs als Vorsitzender des Rates für deutsche Rechtschreibung würdigte Kulturstaatsministerin Grütters dessen Verdienste für die Rechtschreibung und sein Engagement für die Sprachkultur. Die deutsche Sprache sei „eine der schönsten Literatursprachen der Welt“. Mit dem Kulturgut Sprache gewissenhaft umzugehen und die Sprachkultur weiter zu pflegen, bleibe aber nötig. – Die Rede im Wortlaut
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur deutschen Erinnerungskultur im Rahmen der „Plötzenseer Abende“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-deutschen-erinnerungskultur-im-rahmen-der-ploetzenseer-abende–797750
Thu, 27 Oct 2016 19:30:26 +0200
Ökumenisches Gedenkzentrum Plötzensee
Kulturstaatsministerin
Vor einigen Monaten hat die dänische Schriftstellerin Janne Teller in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen bemerkenswerten Essay mit dem Titel „Wie das deutsche Schuldgefühl die europäische Ehre rettet“ veröffentlicht. Man könne, so beginnt sie ihre Überlegungen, man könne versucht sein, mehr als 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Frage zu stellen, wozu denn das fortgesetzte Bekenntnis zu Schuld, Sühne und Aufarbeitung gut sei. Die Antwort auf diese Frage habe die Flüchtlingskrise gegeben, schreibt Teller. Ich zitiere: „Die steigenden Zahlen der in den letzten Jahren nach Europa gekommenen Flüchtlinge haben schrittweise das wahre Maß an Menschlichkeit in Diskurs, Politik und Tun der verschiedenen europäischen Länder enthüllt.“ Deutschland liege hier – auch wenn nicht alles perfekt sei – weit an der Spitze. Einen maßgeblichen Grund für die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen und sich um eine gemeinsame europäische Lösung zu bemühen, vermutet Teller in den deutschen Lehren aus dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg. Ich zitiere noch einmal: „Die vielleicht wichtigste Lehre liegt im kostbaren Wissen um den Schaden, den man sich selbst und den eigenen Nachkommen zufügt (…), wenn man die Anderen missbraucht, erniedrigt, verletzt oder tötet – aktiv aus eigener Entscheidung oder indem man ihnen die Menschenrechte und die elementaren Mittel für ein würdiges Überleben verweigert. Die Lektion, welche die Deutschen gelernt haben, lautet: Darüber kommt man nicht hinweg. Darüber kommt man niemals hinweg.“ Ja, meine Damen und Herren, darüber können und dürfen wir niemals hinweg kommen. Die Erinnerung an den systematischen Völkermord an den europäischen Juden als Menschheitsverbrechen bisher nicht gekannten Ausmaßes, an die Schrecken und Gräuel, die unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in deutschem Namen geschehen sind – diese Erinnerung bleibt für uns Deutsche eine immerwährende Verantwortung und Verpflichtung. In den vergangenen sieben Jahrzehnten, die seit der Befreiung von Auschwitz vergangen sind, haben Holocaust-Überlebende um Worte gerungen und Worte gefunden für Erfahrungen, die alle normalen Maßstäbe des Denk- und Vorstellbaren sprengen – so wie beispielsweise der in diesem Jahr verstorbene Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz. Ihre Worte haben dazu beigetragen, hinter der schrecklich nüchternen Bilanz des millionenfachen Mordes den einzelnen Menschen sichtbar zu machen: Menschen, denen die Nationalsozialisten alles genommen haben bis auf ihr Leben; Menschen, die Eltern, Kinder und Geschwister verloren haben; Menschen, die ihrer Heimat, ihrer Zukunftsträume, ihrer Lebensfreude, ihrer Würde beraubt wurden; Menschen, die an dem Leid, das man ihnen zugefügt hat, seelisch zerbrochen sind. Je weniger Holocaust-Überlebende es gibt, die uns ihre Geschichte erzählen können, desto schwieriger wird die Annäherung an das Unfassbare, und desto wichtiger werden die authentischen Gedenkorte, um deren Erhalt sich Bund und Länder in Deutschland gemeinsam kümmern. Dazu gehört das ehemalige Strafgefängnis – heute Gedenkstätte – Plötzensee, in dem zwischen 1933 und 1945 fast 3.000 Menschen ihr Leben lassen mussten. Innerhalb dieser Mauern, die zwölf Jahre lang stumme Zeugen des Leidens und des Mordens waren, ergreift, ja überwältigt einen förmlich der tiefe Respekt für den unbeugsamen Willen zum Widerstand, der vielfach am Galgen oder unter dem Fallbeil endete. Auch die ehemaligen Konzentrationslager wollen wir als Lernorte erhalten. Wir wollen, dass künftige Generationen sich Konzentrationslager nicht als unwirkliche Hölle vorstellen, die mit dem Leben, das sie kennen, nichts zu tun hat. Wir wollen – was ja als Warnung noch viel eindringlicher ist! -, dass man die Konzentrationslager kennen lernt als Orte des Alltags, die sie eben auch waren: Orte, an denen Menschen, die zu unvorstellbarer Grausamkeit fähig waren, Mozart hörten, Briefe an ihre Familie schrieben und ihren Interessen nachgingen. Wenn wir uns heute fragen, wie normale Menschen zu Handlangern eines unfassbar grausamen Terrorregimes werden konnten, dann sollten wir nicht vergessen, was der katholische Publizist Eugen Kogon über seine Jahre als Häftling in Buchenwald und über die Notwendigkeit des Erinnerns geschrieben hat, ich zitiere: „Aus den abgründigen Zonen, die ich in sieben Jahren, inmitten Geblendeter und Verdammter, die wie besessen gegen jede Spur von Menschenwürde anrasten, durchwandert habe, lässt sich nichts Gutes berichten. Da es aber ein Ecce Homo-Spiegel ist, der nicht irgendwelche Scheusale zeigt, sondern dich und mich, sobald wir nur dem gleichen Geiste verfallen, dem jene verfallen sind, die das System geschaffen haben, muss er uns vorgehalten werden.“ Uns diesen Ecce Homo-Spiegel vorzuhalten, das bleibt auch in Zukunft Aufgabe der Gedenkstätten. Wenn Lern- und Erinnerungsorte dazu beitragen, dass wir alle darin ein erschreckendes, mögliches Spiegelbild sehen, dann ist eine Menge erreicht. Denn wer das Vergangene als das wieder Mögliche erkennt, der sieht auch die Gegenwart mit anderen Augen – der schaut nicht weg, wo Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus heute an die Anfänge eines Weges erinnern, der damals in Krieg und Vernichtung geführt hat. Aus diesen Gründen, meine Damen und Herren, kommt der Erinnerungskultur innerhalb der deutschen Kulturpolitik eine Sonderrolle zu, und zwar insofern, als die Politik sich hier nicht auf die Verantwortung nur für die Rahmen-bedingungen – den Grundsatz unserer Kulturpolitik generell – zurückziehen darf. Erinnerungskultur ist immer auch eine öffentliche Angelegenheit – das heißt in staatlicher Gesamtverantwortung. Hier berühren wir Fragen des Selbstverständnisses unserer Nation. Wir formulieren den Anspruch, auch moralisch angemessen mit der eigenen Geschichte umzugehen und nicht zuletzt dadurch ein Fundament für die Gegenwart und Zukunft zu legen. Um Ihnen einen Eindruck zu vermitteln, was das konkret bedeutet, will ich kurz und ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufzählen, was wir – über den Erhalt authentischer Erinnerungsorte hinaus – für die Förderung des jüdischen Lebens in Deutschland und für die Aussöhnung mit Israel tun. Erstens: Wir bauen und finanzieren Mahnmale, die im Herzen der Hauptstadt Zeugnis ablegen von den Verbrechen der Nationalsozialisten; ich nenne hier nur das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma und für die Homosexuellen. Zweitens: Wir finanzieren Einrichtungen, die einer breiten Öffentlichkeit die jüdische Religion, Kultur und Geschichte nahe bringen, etwa die Stiftung Jüdisches Museum Berlin, außerdem Orte jüdischer Kultur wie Synagogen und jüdische Friedhöfe. Ich setze mich beispielsweise gerade für einen Förderantrag der Synagoge Augsburg ein, die ich im Juli besucht habe. Drittens: Wir fördern die Provenienzforschung zur Aufarbeitung des NS-Kunstraubs. Auch hier geht es um die Anerkennung des Leids und des Unrechts, dem Verfolgte des NS-Regimes, insbesondere Menschen jüdischen Glaubens, unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ausgesetzt waren. Ich habe das für Provenienzforschung zur Verfügung stehende Budget deshalb mittlerweile gegenüber dem Haushaltsansatz bei meinem Amtsantritt verdreifacht -von zwei auf jetzt sechs Millionen Euro jährlich – und gemeinsam mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden die Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste ins Leben gerufen. Zu den Kernaufgaben des Zentrums gehören die Förderung der Suche nach NS-Raubkunst in Museen, Bibliotheken und Archiven sowie die Aufarbeitung des in seiner Systematik, in seinen Zielen und Auswirkungen einzigartigen NS-Kunstraubs. Viertens: Wir finanzieren und fördern den kulturellen Brückenbau zwischen Deutschland und Israel, etwa den deutsch-hebräischen Übersetzerpreis, den ich gemeinsam mit meiner israelischen Amtskollegin ins Leben gerufen habe. Meine zwei Reisen nach Israel als Kulturstaatsministerin habe ich genutzt, um die Kulturfreundschaft zwischen Deutschland und Israel zu vertiefen und eine Vereinbarung zur Kooperation in der Provenienzforschung zu schließen. Ganz persönlich am Herzen liegen mir – fünftens – auch die Begegnungen mit Holocaust-Überlebenden: mit Margot Friedlander, mit der ich mittlerweile auch befreundet bin, mit Wladyslaw Bartoszewski, dessen Buch „Mein Auschwitz“ ich mit ihm zusammen vorgestellt habe – nur wenige Monate vor seinem Tod -, mit dem mittlerweile ebenfalls verstorbenen Uri Chanoch, den ich zu einem Zeitzeugengespräch in der Stiftung Neue Synogoge Berlin getroffen habe, oder zuletzt mit Shalom Eilati, dessen Buch über die Flucht aus dem Kownoer Ghetto ich vor einigen Monaten vorgestellt habe. Zum Erbe des wiedervereinigten Deutschlands, meine Damen und Herren, zählt aber auch die SED-Diktatur in der ehemaligen DDR. Während im Westen Deutschlands nach 1945 der Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats gelang, entstand in der Sowjetischen Besatzungszone eine kommunistische Diktatur. Für all jene, die wie ich in Freiheit aufgewachsen sind, ist es kaum vorstellbar, wie das allgegenwärtige, menschenverachtende System des Ministeriums für Staatssicherheit im Auftrag der Staatspartei mit seinen Spitzeln ins Leben jedes Einzelnen eindrang – in Betriebe, Universitäten, Sportvereine, Kirchen-gemeinden, ja selbst in den privatesten Kreis der Familie. Für uns ist es kaum vorstellbar, wie zermürbend die Bespitzelung und die Schikanen im Alltag waren, die Verunsicherung und die Angst – denn die Denunzianten im engmaschigen Überwachungsnetz der Staatssicherheit waren Bekannte, Nachbarn, manchmal engste Freunde und Vertraute. Es gab willkürliche und politisch motivierte Verhaftungen, Gerichtsverfahren ohne rechtsstaatliche Standards und oft langjährige Haftstrafen. An der Berliner Mauer und an der innerdeutschen Grenze bezahlten zahlreiche Flüchtlinge für ihre Hoffnung auf ein Leben in Freiheit mit ihrem Leben. Auch daran erinnern in Deutschland zahlreiche Gedenkstätten und Erinnerungsorte, Museen und Ausstellungen – beispielsweise die Gedenkstätte Berliner Mauer, das ehemalige Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen oder auch die Gedenkstätte „Point Alpha“, einst Beobachtungsstation der amerikanischen Streitkräfte an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze zwischen Hessen und Thüringen. Sieben Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs und gut ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung Deutschlands gehört die offene und schonungslose Auseinandersetzung mit den Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten, mit den Erfahrungen zweier Diktaturen in einem Jahrhundert und mit der Verantwortung, die daraus erwächst, zu den hart erkämpften, moralischen Errungenschaften unseres Landes. Dennoch erleben wir nach wie vor, wie schwierig es ist, Vergangenheit aufzuarbeiten und dabei unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen, unterschiedlichen historischen Erzählungen wie auch unterschiedlichen persönlichen Geschichten gerecht zu werden. Geschichte vergeht ja nicht einfach. Die Art und Weise, wie wir sie erzählend vergegenwärtigen, prägt zum einen unsere Sicht auf die Gegenwart und damit auch unser Bild von uns selbst und unserer Zukunft. Der deutsche Soziologe Max Weber hat moderne Nationen deshalb einmal als „Erinnerungsgemeinschaften“ bezeichnet, und wir sehen auf europäischer Ebene, wie schwer Verständnis und Verständigung zwischen unterschiedlichen „Erinnerungsgemeinschaften“ häufig sind. Zum anderen sind historische Erzählungen immer auch Kristallisationspunkte sehr unterschiedlicher, vielfach leidvoller individueller Erfahrungen und Erinnerungen. Auch unter Deutschen hat es unzählige zivile Opfer gegeben, und auch sie beanspruchen Raum in unserer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung ist dafür ein gutes Beispiel. Seit 2008 gibt es die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ mit dem gesetzlichen Auftrag, – ich zitiere – „im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wachzuhalten.“ Das geht nicht ohne Irritationen und hier und da auch hitzige öffentliche Debatten. Es ist Teil demokratischer Aufarbeitung der Vergangenheit, solche Konflikte zuzulassen und sichtbar zu machen, so schmerzhaft das auch ist. Vergangene Woche haben wir Richtfest für den Umbau und die Sanierung des Deutschlandhauses gefeiert, das künftig das Dokumentationszentrum der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ beherbergen wird. Damit entsteht nun auch physisch jenes „sichtbare Zeichen gegen Flucht und Vertreibung“, das die Bundesregierung im März 2008 beschlossen hatte, um im Kontext der nationalistischen Expansions- und Vernichtungspolitik an die Zwangsmigrationen des 20. Jahrhunderts und die millionenfach damit verbundenen, menschlichen Schicksale zu erinnern. Ich erhoffe mir davon – gerade auch mit Blick auf die Flüchtlingsströme weltweit und auf das gemeinsame Bemühen um eine europäische Flüchtlingspolitik -, dass die Erinnerung an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert unsere Gesellschaft und hoffentlich Besucher aus der ganzen Welt sensibilisiert für Ursachen und Folgen des Heimatverlusts. Und ich hoffe, dass gerade der Erfahrungsschatz der deutschen Vertriebenen uns auch in besonderer Weise fähig macht zur Empathie mit Menschen, die heute Zuflucht suchen in Deutschland. Auch wenn man die Flucht aus Syrien, Irak oder Afghanistan aus vielerlei Gründen nicht mit der Vertreibung aus Ostpreußen, Schlesien oder Pommern vergleichen kann, so sind die Erfahrungen entwurzelter und ihrer Heimat beraubter Menschen doch vielfach ähnlich, heute wie damals. Geschichte in Bezug zu setzen zur Gegenwart, sie auf ihre Lehren hin zu befragen, eben das macht eine lebendige Erinnerungskultur aus. Dabei sollte das nationale Gedächtnis natürlich auf historischen Fakten beruhen, nicht auf Geschichtsklitterung, Legendenbildung, unzulässigen Vereinfachungen oder politischer Vereinnahmung. Unverzichtbar für das Offenlegen der Wahrheit ist deshalb neben wissenschaftlicher Expertise ein öffentlicher und kontroverser Diskurs, in dem unterschiedliche subjektive Wahrnehmungen von Betroffenen und Zeitzeugen genauso ihren Platz haben wie die ganze Bandbreite wissenschaftlicher Arbeiten und publizistischer Meinungsäußerungen. Es braucht einen „geschützter Raum für den Strom der Erzählungen“, so hat es der deutsche Historiker Karl Schlögel einmal formuliert. Das bedeutet, ich zitiere weiter: eine „Sphäre von Öffentlichkeit, die den Pressionen von außen, von gleich wem standhält, und sich die Freiheit bewahrt und die Zumutungen aushält, die in den Erzählungen präzedenzlosen Unglücks im Europa des 20. Jahrhunderts enthalten sind.“ Diesen geschützten Raum für den Strom der Erzählungen zu schaffen und zu verteidigen, ist Teil einer lebendigen Erinnerungskultur. Dahinter steht die aus unseren Erfahrungen mit der Diktatur des Nationalsozialismus gewonnene Überzeugung, dass Meinungsvielfalt, eine kritische, informierte Öffentlichkeit und ein lebendiger Diskurs die stärksten Garanten sind für Demokratie und gegen staatliche Willkür. Und ich finde, man kann die Reife einer Demokratie gut daran erkennen, wie weit sie die Entwicklung von Geschichtsbildern dem öffentlichen Diskurs anvertraut. Zu einer lebendigen Erinnerungskultur gehört nicht zuletzt aber auch, aufzustehen gegen Antisemitismus, Rassismus, Ausgrenzung und Fremdenhass, wo immer wir ihn erleben. Erinnern heißt, nicht schweigen zu können, wenn Hass gegen Juden oder Moslems, gegen Flüchtlinge und Einwanderer geschürt wird. Erinnern heißt, sich niemals zurück zu ziehen auf die ebenso bequeme wie verantwortungslose Haltung, dass es auf die eigene Stimme, auf das eigene Handeln nicht ankommt. Das Gegenteil ist richtig: Auf jeden einzelnen kommt es an! Vergessen wir nicht: Erst das Schweigen der Mehrheit machte in Deutschland die so genannte „Endlösung der Judenfrage“ möglich, die europaweite, systematische Organisation des Völkermords, die vor fast 75 Jahren (im Januar 1942) im Rahmen der „Wannsee-Konferenz“ besprochen und organisiert wurde. Das mutige und beherzte Engagement einiger weniger dagegen hat im Dritten Reich Leben gerettet und in einem geistig und moralisch verwüsteten Land Inseln der Menschlichkeit bewahrt. Die Männer und Frauen, die hier in Plötzensee ermordet wurden, folgten ihren Überzeugungen ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben. Sie wählten die Freiheit in einer von Zwang und Unterdrückung geprägten Zeit. Sie stellten sich ihrer moralischen Verantwortung, wo die schweigende Mehrheit die Augen verschloss. Da gab es die Gruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg, die mit dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 dem Terror und der Gewalt der Nationalsozialisten ein Ende setzen wollte. Es gab den „Kreisauer Kreis“, dessen Mitglieder Vorbereitungen für ein neues, ein freies und demokratisches Deutschland trafen. Es gab einfache Bürgerinnen und Bürger wie Otto und Elise Hampel, die am 8. April 1943 in Plötzensee ermordet wurden, weil sie auf Postkarten zum Sturz Hitlers und zum Widerstand aufriefen. Hans Fallada hat dem Ehepaar in seinem Roman „Jeder stirbt für sich allein“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Es gab einzelne Mitstreiter in öffentlichen Institutionen wie den Gefängnispfarrer Harald Poelchau, der den zum Tode Verurteilten – unter anderem hier in Plötzensee – seelsorgerisch beistand, der aber darüber hinaus auch Nahrungsmittel und Briefe schmuggelte und mit seiner Frau Dorothee Hilfen für Verfolgte organisierte. Er begleitete rund 1.000 Häftlinge in den Tod und scheute trotzdem nicht davor zurück, unzählige Male sein Leben zu riskieren. Zum deutschen Widerstand gehörten aber auch zahlreiche „stille Helden“. So nennen wir die namentlich oft gar nicht bekannten Menschen, die vor allem Juden in aller Heimlichkeit helfend zur Seite standen. „Sie haben alles riskiert, um ein Bett oder ihr Essen mit mir zu teilen“ – mit diesen Worten erzählt die heute über 90-jährige KZ-Überlebende Margot Friedländer immer wieder von ihren Berliner Helfern, wenn sie als Zeitzeugin Schulen besucht, um der jungen Generation mit ihren Erfahrungen den Wert von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit zu vermitteln. Nicht zuletzt auch in den beiden christlichen Kirchen, die zur Verfolgung der Juden viel zu lange geschwiegen hatten, gab es Menschen, die den Verfolgten zu helfen versuchten, und Priester, die zum Widerstand aufriefen – Clemens August von Galen beispielsweise, katholischer Bischof in meiner Heimatstadt Münster. Als wir in Berlin 2014 einen Gedenkort zur Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasiemorde feierlich der Öffentlichkeit übergeben haben, habe ich in meiner Rede an seinen Mut erinnert, mit dem er aus seinen christlichen Überzeugungen heraus gegen diese Euthanasie-Morde anpredigte. Seine eindringlichen Warnungen vor der Unterscheidung zwischen lebens-wertem und lebensunwertem Leben sind für mich auch heute noch Mahnung und Warnung: eine Warnung davor, Ausnahmen zuzulassen bei der fundamentalen staatlichen Pflicht, das Recht jedes Menschen auf Leben zu schützen; eine Warnung auch davor, angesichts des Leids Schwerstkranker das Tötungsverbot leichtfertig zur Disposition zu stellen. So verständlich das Motiv, einen kranken Menschen von seinen Qualen erlösen zu wollen, im Einzelfall auch sein mag, so unerträglich sind die Folgen für die Humanität einer Gesellschaft. Wo es die Möglichkeit der aktiven Sterbehilfe gibt, entsteht auch die Erwartung, sie in Anspruch zu nehmen, um anderen nicht durch die eigene Hilfsbedürftigkeit zur Last zu fallen. Das verändert familiäre Beziehungen, das hat Folgen für die Bereitschaft zur Solidarität mit den Schwachen und Kranken, das bleibt nicht ohne Wirkung auf das Wertegefüge, auf den Charakter einer Gesellschaft! Das ist meine persönliche Überzeugung als gläubige Katholikin – und die Lehre, die wir, davon bin ich als Politikerin überzeugt, aus unserer Vergangenheit ziehen müssen. Im Sinne unserer christlichen Werte und unseren eigenen historischen Erfahrungen bin ich Angela Merkel auch sehr dankbar, dass sie den Gedanken der Barmherzigkeit angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe im September 2015 zum Leitbild ihrer Flüchtlingspolitik gemacht hat – bei allen Risiken und Unwägbarkeiten, mit denen eine Entscheidung dieser Tragweite verbunden ist, und auch, wenn die Mühen der Integration unser aller Kraft und Engagement erfordern werden. Noch schlimmer als daran zu scheitern wäre, es nicht einmal versucht zu haben! „Ein Christ, der kein Revolutionär ist, ist kein Christ.“ Mit diesen Worten wirbt Papst Franziskus für einen Glauben, der die Welt verändert, und für eine Kirche, die sich einmischt. Die Kraft der Erinnerung, meine Damen und Herren, kann uns dabei unterstützen. Das erhoffe ich mir nicht zuletzt auch von der Feier des Reformationsjubiläums als gesellschaftliches Großereignis, dessen Beginn Sie heute Abend für die Evangelische Kirchengemeinde Charlottenburg-Nord begehen. Es kann Anlass sein, den Zustand unserer Gesellschaft und die Rolle von Kultur und Kirche als gesellschaftliche Kräfte öffentlich zu reflektieren. Religion und Glaube sind – das zeigt der Blick auf die Reformation und ihre Folgen – Teil unserer kulturellen Identität; sie sollten allein schon deshalb weiterhin ihren Platz im öffentlichen Leben haben. Denn nur eine Gesellschaft, die mit ihren Werten und Wurzeln ihre eigene Identität pflegt, kann auch dem Anderen, dem Fremden Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen. Die Geschichte der Reformation zeigt darüber hinaus, dass es die kleinen Revolutionen im Denken und im Bewusstsein sind, die jeder großen gesellschaftlichen Veränderung vorausgehen. In diesem Sinne trägt der Glaube – ebenso wie Kunst und Kultur – tatsächlich den Keim des im besten Sinne Revolutionären in sich. Dass aus diesen Keimen etwas wachsen darf, dass es einen fruchtbaren Boden dafür gibt und ein wachstumsförderndes Klima – das macht eine vitale und humane Gesellschaft aus. Es wäre schön, wenn das Reformationsjubiläum in diesem Sinne nicht nur zur Erinnerungskultur, zur vertieften Auseinandersetzung mit unserer eigenen Identität und Geschichte beitragen, sondern auch das Interesse an Religion und Kirche fördern würde. Ein Christ, der kein Revolutionär ist, ist kein Christ. Wagen wir also vor dem Spiegel unserer wechselvollen Geschichte immer wieder die kleinen Revolutionen!
„Je weniger Holocaust-Überlebende es gibt, die uns ihre Geschichte erzählen können, desto schwieriger wird die Annäherung an das Unfassbare, und desto wichtiger werden die authentischen Gedenkorte, um deren Erhalt sich Bund und Länder in Deutschland gemeinsam kümmern“ betonte Monika Grütters in ihrer Rede.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnungsveranstaltung der 30. Medientage am 25. Oktober 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-eroeffnungsveranstaltung-der-30-medientage-am-25-oktober-2016-424430
Tue, 25 Oct 2016 15:00:00 +0200
München
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Horst Seehofer, sehr geehrte Frau Staatsministerin, liebe Ilse Aigner, sehr geehrter Herr Präsident Schneider, sehr geehrter Herr Professor Wahlster, sehr geehrte Frau Hayali, meine Damen und Herren hier im Saal und anderswo, auch ich gratuliere ganz herzlich zum 30. Jahrestag der Medientage. Zur Einordnung des nicht abgelaufenen Films kann ich nur sagen: Ausnahmen bestätigen die Regel. Das heißt also: Bayern braucht an seinem Selbstbewusstsein nicht zu zweifeln. Diese Medientage – das hat Herr Präsident Schneider eben auch deutlich gemacht – sind über die Jahre deutlich gewachsen: sowohl thematisch als auch technologisch, worauf wir doch noch einmal hinweisen müssen, und auf jeden Fall mit Blick auf die Teilnehmerzahlen. Inzwischen gehören die Münchner Medientage zu den Großereignissen der Medienwelt. Kaum eine Redaktion, kaum ein Verlag und auch kaum ein namhafter Internetdienst kommt an ihnen noch vorbei. Das Programm ist ja in der Tat sehr vielfältig und damit auch ein klares Indiz dafür, dass wir uns mitten in einem tiefgreifenden Umbruch nicht nur der Medienlandschaft, sondern auch der gesamten gesellschaftlichen Kommunikation befinden. Es ist wahrscheinlich eine Zeit, in der wir noch nicht richtig überblicken, was das alles für die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland, in Europa, auf der Welt bedeutet. Es sind Kräfte der Disruption, wie man heute sagt, und der Innovation, die unsere Zukunft mit allen Chancen und Risiken prägen werden, wobei Chancen und Risiken dicht beieinander liegen werden. Ich finde auch sehr beachtenswert, was Klaus Schwab, der Chef des Weltwirtschaftsforums in Davos, sagt. Entscheidungsträger in dieser Gesellschaft seien sehr häufig traditionellen, linearen und gerade nicht disruptiven Denkmustern verhaftet. Sie würden durch kurzfristige Belange oft davon abgehalten werden, sich mit langfristigen Trends zu beschäftigen. Daher stellt sich auch die Frage – wir in Europa und in Deutschland müssen uns diese Frage sehr intensiv stellen –, ob wir in der Lage sind und den ausreichenden strategischen Weitblick besitzen, diese Dinge schnell genug einzuordnen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir uns auf der Welt umschauen, woher viele Neuerungen kommen. Ich freue mich sehr, dass die Start-up-Landschaft in Deutschland im Wachsen begriffen ist. Ich glaube, das ist ein sehr gutes Zeichen dafür, dass wir aus traditionellen Denkmustern ein Stück weit ausbrechen können. Nun habe ich den Wandel von heute angesprochen. Aber auch schon in den Anfängen der Münchner Medientage vor 30 Jahren fühlte man sich schon inmitten eines Wandels. 1987 wurden diese Medientage als Reaktion auf das Vordringen privater Programme per Kabelfernsehen gegründet. Damals erschienen Publikationen unter Überschriften wie etwa „Urknall im Medienlabor“ oder „Das Publikum verstreut sich“. Das waren Titel, die die Diskussionen vor rund einem Vierteljahrhundert widerspiegelten. Solche Überschriften sind aber auch heutzutage auf der Tagesordnung. Lieber Herr Schneider, die Bayerische Landeszentrale für neue Medien beteiligt sich intensiv an der gesellschaftlichen Diskussion. Auch für sie gilt, dass das, was ihre Gründer 1985 unter den sogenannten neuen Medien verstanden, davon zu unterscheiden ist, was wir heute darunter verstehen. Die Grundanliegen jedoch bleiben bestehen. So schauen Sie heute neben technologischen und wirtschaftlichen Aspekten des Medienwandels unverändert auch auf Fragen der Qualität und Vielfalt. Eine vielfältige, freie und qualitativ hochwertige Medienlandschaft – das ist und bleibt, wie auch Frau Hayali soeben gesagt hat, die Basis für eine informierte, kritische Bürgerschaft, für eine umfassende gesellschaftliche, kulturelle und politische Teilhabe. Das heißt ja nicht, dass man verschlossen gegenüber Kritik sein muss. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Vielfalt, Umfang und Präzision in der Medienlandschaft für die Entwicklung einer Bürgerschaft, einer freien Gesellschaft konstitutiv sind. Dazu gehört natürlich, dass uns nicht alles gefällt, was man zu lesen, zu hören und zu sehen bekommt. Aber Vielfalt erweitert unseren Horizont. Sie lädt uns ein, die Welt auch mit den Augen anderer zu sehen, was im Übrigen die Voraussetzung dafür ist, Kompromisse eingehen und gemeinsame Handlungsmöglichkeiten ausloten zu können. Deshalb denke ich, dass wir zutiefst dankbar dafür sein können, dass wir hierzulande Pressefreiheit mit einer der mannigfaltigsten Medienlandschaften in der Welt haben. Bei aller Kritik sollten wir das auch als ein Pfund, als ein positives Zeichen unseres Landes sehen. Wenn wir uns anschauen, wie wenig selbstverständlich Pressefreiheit insgesamt in internationaler Hinsicht ist, dann ergibt sich daraus automatisch die Aufgabe, Pressefreiheit immer und überall zu verteidigen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch die Arbeit der Deutschen Welle hervorheben, die den Informationsauftrag rund um den Globus erfüllt. Wir sind aber auch in Deutschland selbst gefordert, uns der Bedeutung einer freien und vielfältigen Medienlandschaft stets bewusst zu sein. Denn wir erleben in letzter Zeit verstärkt eine Art und Weise der Äußerung von Zweifeln, die mit konstruktiver Kritik in der Tat wenig bis gar nichts mehr zu tun hat. Natürlich gab es auch schon vor dem Internetzeitalter Quellen und Personen, die fast nur noch daran interessiert waren, eigene Auffassungen zu teilen und zu untermauern, sich bestätigt zu sehen und andere Meinungen generell zu verwerfen. Die digitale Technik aber hat dies noch um ein Vielfaches verstärkt. Sie hat unseren Radius einerseits ungemein vergrößert. Andererseits können Algorithmen, die auch schon im Beitrag von Herrn Schneider auftauchten und immer wichtiger werden, das Bedürfnis nach Selbstbestätigung und die Abwehrhaltung gegenüber scheinbar überfordernden Informationsfluten verstärken, indem sie dafür sorgen, dass gezielt und fast ausschließlich bestimmte Informationen angeboten werden – solche also, die an die bereits offenbarten Interessen der jeweiligen Internetnutzer oder an Empfehlungen und Kommentaren ihrer Internetfreunde anknüpfen. Diese Entwicklung müssen wir genau beobachten. Ich persönlich bin dabei auch der Meinung, dass Algorithmen transparenter sein müssen, sodass interessierten Bürgern auch bewusst ist, was eigentlich mit ihrem Medienverhalten und dem anderer passiert. Denn die eigene Bequemlichkeit, sich bestätigt zu fühlen, kann Personen natürlich auch immer wieder in Versuchung führen – ich denke, kaum einer ist davon frei –, zu meinen, dass man ja so viele Unterstützer hat, weshalb man sich um andere Meinungen überhaupt nicht mehr zu kümmern bräuchte. Wenn man sich in der eigenen Welt immer besser einrichten kann, dann kann das also Folgen für den gesellschaftlichen Diskurs haben. Die Fähigkeit und die Bereitschaft, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen, könnten abnehmen. Das ist eine Herausforderung nicht nur für politische Parteien, sondern für die Gesellschaft insgesamt. Das heißt also, dass solche Mechanismen, wenn sie nicht transparent sind und wenn nicht klar ist, was passiert, zur Verzerrung der Wahrnehmung führen können. Sie verengen den Blickwinkel. Deshalb gilt es, wirklich daran zu arbeiten, solche Mechanismen zu durchschauen. Hinzu kommt noch, dass sich die großen Plattformen mit ihren Algorithmen zunehmend zum Nadelöhr für die Vielfalt der Anbieter entwickeln. Das kann erhebliche wirtschaftliche Folgen haben, zumal sich der Zugang zu Werbeeinnahmen verengen kann. Da werden Existenzgrundlagen von Medien infrage gestellt. Das heißt also, dass wir hierbei sehr aufmerksam sein müssen. Algorithmen gewinnen sozusagen eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung. Früher hat man sich mit so etwas in Mathematik- und Physikstudien herumgeschlagen. Heute macht der Algorithmus die künstliche Intelligenz aus. Ich bin fast ein bisschen traurig darüber, dass ich den anschließenden Vorträgen nicht lauschen darf. Aber ich komme auch so wieder einmal auf Herrn Wahlster zurück, damit er mir ein bisschen von seinem Wissen erklärt und nahebringt. Künstliche Intelligenz wird eines der großen Themenfelder der Zukunft sein. Der Wettbewerb zwischen dem Menschen und seinem Assistenten wird uns noch viel beschäftigen. Wir haben neben Verengungstendenzen auf der einen Seite immer mehr Anbieter eigener Inhalte im Netz auf der anderen Seite. Das macht den Wettbewerb um Aufmerksamkeit nicht einfacher. Das macht auch die Frage nach der Qualität nicht einfacher. Natürlich ist es immer gut, Informationen aus erster Hand zu haben. Auch wir als Bundesregierung sind inzwischen auf verschiedensten Kanälen präsent, um unsere Arbeit darzustellen – so wie viele andere auch. Jeder bietet seine Inhalte an. Stars kommunizieren mit ihren Fans. Blogger kommentieren das, was ihnen wichtig erscheint. Tatortzeugen posten Bilder, wenn irgendwo etwas passiert ist. Und vieles, vieles mehr. Wenn aber zum Beispiel auf einer Videoplattform Aufnahmen von einem Ereignis erscheinen, müssen wir uns fragen, wer absichert, dass diese Bilder tatsächlich die Wirklichkeit abbilden, und wer verhindert, dass Fälschungen oder verkürzte Wiedergaben ursprüngliche Informationen oder Botschaften ins Gegenteil verkehren. Das heißt: Auf der einen Seite können Algorithmen hilfreich sein, sich in einer komplexen Welt zurechtzufinden, aber auf der anderen Seite kann die Welt, wenn wir sie fast ausschließlich mit gewissen Einschränkungen sehen, in Wahrheit weit von der Realität entfernt sein. Das wird noch manche gesellschaftliche Diskussion hervorrufen, für die die Medientage sicherlich ein sehr geeigneter Ort sind. Wenn wir uns dessen bewusst sind, was da abläuft, können wir erkennen, dass in diesen Entwicklungen auch große Chancen für den Journalismus liegen. Denn neue Medien sprudeln zwar über vor unzähligen Mitteilungen, die aber für sich genommen jeweils nur Teilinformationen darstellen. Doch erst wer verschiedene Seiten abgleicht, wer unterschiedliche Aussagen zueinander in Beziehung setzt und einzelne Teile wie in einem Puzzle zu einem Gesamtbild zusammenfügt, der kommt der komplexen Wirklichkeit näher. Das ist eine spannende Aufgabe, für die der uns bisher bekannte Journalismus, meine ich, geradezu prädestiniert ist. Nun sagt sich das relativ leicht. Doch die Fülle laufender Informationen ist ja für alle Redaktionen eine besondere Herausforderung. Die digitale Rasanz erhöht den Druck, Informationen möglichst rasch zu verarbeiten und in ihren Kontext einzuordnen. Das führt auch zu einer gewissen, von mir zum Teil belächelten Verhaltensweise, dass nämlich Ereignisse oft quasi schon kommentiert sind, bevor sie überhaupt stattgefunden haben, weil man in dem Wettlauf in der Frage, wer der Erste ist, der die Einordnung richtig gemacht hat, das Ereignis selber eben kaum mehr abwarten kann. Insofern war es eigentlich auch gut, dass der Film vorhin ausgefallen ist. Stellen Sie sich vor, einer hätte schon berichtet, welch toller Film hier gezeigt worden wäre, was dann aber nicht stattgefunden hat. Das war eine Aufforderung, die Realität doch noch ernst zu nehmen. Vielleicht war das ja der geheime Plan – neben der Fragestellung, ob Frau Hayali reaktionsfähig ist und auf unangenehme Situationen reagieren kann. Das hat sie gut gemacht. Aber unverändert gilt: Wer gründlich recherchiert, ein möglichst wirklichkeitsnahes Bild zusammensetzt und vermittelt, vermag auf Dauer zu überzeugen. Das heißt, ich glaube, dass Qualität Glaubwürdigkeit und Vertrauen stärkt. In der Vielfalt der Informationen werden sich Menschen immer wieder Anker suchen, denen sie Vertrauen schenken können. Es ist und bleibt für Medienanbieter ganz entscheidend, dass sich durch Qualität ein Vertrauensverhältnis aufbaut. Dazu gehört natürlich, dass wir auch Medienkompetenz in Zeiten solchen Wandels viel stärker vermitteln müssen, gerade auch jungen Menschen. Denn das Zurechtfinden in der Vielzahl der Angebote, das Erlernen des Einordnens und des Gewichtens ist natürlich eine sehr wesentliche Fähigkeit. Die Stärkung der Medienkompetenz im Allgemeinen und die Vorbereitung auf die digitale Arbeitswelt im Besonderen – beides ist gleichermaßen Aufgabe des Bildungssystems. Es ist übrigens ein interessanter Punkt, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch ihre Smartphonekenntnisse bereits mit einem guten Vorwissen in die Unternehmen gehen, die die Möglichkeiten der Digitalisierung und der Industrie 4.0 nutzen. Die Unternehmen können sich sozusagen diese Smartphonekenntnisse zu eigen machen, um ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an die entsprechenden Maschinen und technischen Einrichtungen der Unternehmen zu binden. Die Medienbranche ist wie auch fast alle anderen Wirtschaftszweige auf Fachkräfte angewiesen, die mit neuen Technologien umgehen können. Das ist, denke ich, insbesondere auch für öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten eine Herausforderung. Denn das klassische Beschäftigungsverhältnis steht der permanenten Zuführung neuer Fachkräfte ein bisschen im Wege. Insofern sollte auch da umgedacht und neu gedacht werden. Wir als Bundesregierung wollen mit einer Bildungsinitiative für die digitale Wissensgesellschaft die Vorbereitung junger Menschen auf die Herausforderungen der sich wandelnden Arbeitswelt unterstützen. Kinder und Jugendliche – das ist das Schöne – begeistern sich für neue Technik. In einer Umfrage im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung haben 82 Prozent der 14-bis-19-Jährigen angegeben, dass sie mit digitalen Techniken motivierter seien, Neues zu lernen. Jetzt muss man ihnen nur noch die Möglichkeit geben, das praktizieren zu können. Dazu gehören Tablets und andere digitale Möglichkeiten, um neues Wissen zu erlernen und um das Lernen besser zu lernen. Wir fördern in ziemlich breitem Maße auch die sogenannten MINT-Fächer – Mathematik, Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften, Technik –, um auch hierfür ausreichend viele Fachkräfte in unserem Land zu haben. Das ist eine tolle Sache auch für Frauen, weil man in diesen Bereichen relativ gut verdient. Aber Frauen sind dort immer noch ganz schön unterrepräsentiert. Im Übrigen – wir sprechen heute so viel über Algorithmen – denke ich, dass es auch eine der grundlegenden Notwendigkeiten ist, dass im Schulunterricht das Programmieren zumindest ansatzweise gelernt wird, damit man weiß, wie Algorithmen zustande kommen. Wir haben bei unserem diesjährigen IT-Gipfel, der im Saarland stattfinden wird, als Schwerpunkt die digitale Bildung. Es ist sehr spannend zu sehen, dass sich diese IT-Gipfel inzwischen zu einer zentralen Plattform für den Austausch von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft entwickelt haben und sie sehr gut zur Digitalen Agenda der Bundesregierung passen. Es ist auch sehr spannend, dass wir uns bei diesen IT-Gipfeln permanent auf Neuland begeben und dass die klassischen Verhaltensmuster – Wirtschaft fordert, Politik soll liefern und liefert oder liefert nach Meinung der Wirtschaft nicht – dort gar keine Rolle spielen, sondern dass es immer um neue, noch nicht bekannte Sachverhalte geht, für die wir konstruktive Lösungen finden müssen. Dort hat sich eine völlig neue Art der Kooperation herausgebildet, die ich sehr begrüße. Die Umsetzung unserer Digitalen Agenda, die vonseiten der Politik aufgelegt wurde, erfordert als Erstes eine flächendeckende Breitbandanbindung – also in allen Teilen des Landes. Wir haben dafür jetzt vier Milliarden Euro vorgesehen. Wir haben auch mit dem Ressortzuschnitt des Verkehrsministers unseren Schwerpunkt auf eine moderne Infrastruktur deutlich gemacht. Wir werden bis 2018 eine Grundversorgung mit mindestens 50 Megabit pro Sekunde erreichen. Das ist ein guter Schritt, aber er reicht nicht aus, um damit das dritte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts hinreichend zu bestehen. Denn dazu müssen wir in den Gigabitbereich vordringen. Sowohl das autonome Fahren als auch die Telemedizin und der zuverlässige Austausch zwischen Unternehmen erfordern Gigabitbreiten. Hier müssen wir handeln. Wir haben das DigiNetz-Gesetz verabschiedet, mit dem wir den weiteren Ausbau beschleunigen wollen. Zum Beispiel gehört die Verlegung von Glasfaserkabeln automatisch mit dazu, wenn neue Verkehrswege oder Neubaugebiete erschlossen werden, so wie man eben auch Strom- und Wasserleitungen verlegt. Das muss ganz normal werden. Wir arbeiten – das muss europaweit geschehen; Deutschland ist schon relativ gut dabei – an einem flächendeckenden Mobilfunknetz der fünften Generation, kurz 5G genannt, um riesige Datenmengen in Echtzeit übertragen zu können. Wir haben wenigstens schon die Frequenzbereiche weitestgehend freigeräumt. Ich bin den Medienanbietern sehr dankbar dafür, dass sie sich diesem Ansinnen der Politik geöffnet haben. Aber Südkorea rollt dieses 5G-Netz bereits aus und wird uns mehrere Jahre voraus sein. 5G ist sozusagen der Standard, den wir auch für die Entwicklung des europäischen digitalen Binnenmarkts brauchen. Hierbei geht es um nicht mehr und nicht weniger als die Frage der Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen an dem, was in Zukunft Normalität sein wird – ob es um Fragen des Wirtschaftens, der Bildung oder des gesellschaftlichen Lebens gehen mag. Deshalb haben wir eine Vielzahl von neuen Gesetzen zu verabschieden – sowohl was das Wettbewerbsrecht als auch was Verbraucher- und Datenschutz sowie den Schutz geistigen Eigentums anbelangt. Für Deutschland ist das Ganze nicht trivial. Wir haben eine Verfassungsrechtsprechung, mit der mit Blick auf das Individuum zur Datensparsamkeit aufgefordert wird. Wir leben aber auch im Zeitalter des Big Data Management oder Mining. Das heißt also, dass die Einstellung, die wir zu Daten haben – ob diese sozusagen sparsam verwendet und inwieweit sie geschützt werden müssen oder ob man fähig und in der Lage ist, aus großen Datenmengen neue Produkte zu machen –, über die Frage entscheiden wird, ob wir in Zukunft nur eine verlängerte Werkbank, was das Wirtschaften anbelangt, oder aber weiterhin ein führender Industriestandort sein werden. Sie wird also auch darüber entscheiden, wie viel Innovationskraft wir haben werden. Denn der Rohstoff der Zukunft sind die Daten. Die Europäische Union hat in einem relativ zügigen Verhandlungsprozess die Datenschutz-Grundverordnung verabschiedet. Das ist sozusagen die Rechtsgrundlage für die Datenverarbeitung in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Der Kompromiss hat aber dazu geführt, dass wir eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe haben. Ich hoffe, dass die Auslegung durch die jeweiligen Datenschützer nicht so restriktiv ausfallen wird, dass Europa bei der Art und Weise, wie große Datenmengen verarbeitet werden müssen, nicht mithalten kann. Es stellt sich auch die Frage der Nutzung von Daten in Verbindung mit dem Verwendungszweck. Er darf nicht geändert werden, wenn Daten einmal erhoben wurden. Das ist auch ein weites Feld der Auslegung. Wann verändert sich ein Nutzungszweck? Dazu werden wir also noch viele, viele Diskussionen haben. Wir gehen die Reform des Urheberrechts und ein neues Urhebervertragsrecht an. Dazu haben wir bereits einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wer die Urheberrechtsdiskussion verfolgt, weiß, dass ganze Legislaturperioden vergehen können, ohne dass es zu Entscheidungen kommt, was den Urhebern, deren Eigentum geschützt werden soll, im Grunde nicht hilft. Wir merken bei den Diskussionen über diese Gesetze auch, dass im Grunde zwei Welten aufeinandertreffen: die Welt derer, die sagen, dass Daten allen zugänglich sein müssen, und die Welt derer, die sagen, dass der Inhalt auch noch etwas zählen muss. Wir müssen vor allen Dingen darauf Wert legen, dass beide Gruppen Kenntnis von den jeweils anderen Kernkompetenzen haben, damit es überhaupt zu Kompromissen kommen kann. Viele von Ihnen, die hier im Raum sind, haben sich sehr engagiert in diese Debatten eingebracht. Ich möchte mich dafür bedanken. Das gilt auch für das Mitwirken an der Arbeit der Bund-Länder-Kommission zur Medienkonvergenz – auch Herr Schneider sprach bereits von dieser Konvergenz –, die wir natürlich rechtlich absichern müssen. Dass wir in der Bund-Länder-Kommission einen Grundkonsens darüber erreicht haben, ist sehr wichtig – auch dafür, dass wir in Brüssel mit einer Stimme auftreten können und dass nicht verschiedene deutsche Positionen vorgebracht werden. Deshalb konnten wir erreichen, dass die EU-Kommission in ihrem Vorschlag für eine neue EU-Richtlinie über audiovisuelle Medien zentrale deutsche Positionen berücksichtigt hat. Hierbei geht es im Kern darum, dass dem veränderten Medienkonsum Rechnung getragen wird. Neben dem Fernsehen gibt es Videoplattformen, die von jungen Menschen sehr stark genutzt werden. Bei diesen Diensten müssen natürlich die Regeln des Jugend- und Verbraucherschutzes, des Schutzes vor Hassreden oder vor Verletzung von Persönlichkeitsrechten genauso eingehalten werden wie bei den traditionellen Medien. Für uns in Europa wird es sehr wichtig sein, dass wir einheitliche Standards für einen digitalen Binnenmarkt schaffen. Es ist gut zu wissen, dass mit Günther Oettinger ein deutscher Kommissar daran arbeitet und dabei sehr enge Rückkoppelungen zu uns, aber auch in alle anderen europäischen Länder pflegt. Digitalisierung kennt keine Grenzen. Um uns möglichst viele Chancen zu erschließen, brauchen wir europäische Lösungen, um im weltweiten Wettbewerb überhaupt eine Chance zu haben. Das heißt also, dass die Fragen eines digitalen Binnenmarkts auch Fragen einer besseren Wertschöpfung und neuer Arbeitsplätze in der digitalen Welt sind. Sie werden darüber während Ihrer Medientage auf dem sogenannten Europatag am 27. Oktober noch eingehend diskutieren. Von der Europäischen Kommission ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen vorgelegt worden. Wir als Staats- und Regierungschefs haben uns bei unserem Treffen in Bratislava dazu verpflichtet, die Beratungen hierüber schnell voranzubringen. Mit Fragen zu Plattformen, Wirtschaft und Urheberrecht kann man Jahre und Jahre verbringen, während man Entwicklungen hat, die den gesetzlichen Arbeiten weit vorauseilen, und damit zum Teil eben auch rechtsfreie Räume, was uns auch nicht recht sein kann. Das war nur ein Ausschnitt dessen, worüber Sie hier diskutieren. Ich könnte jetzt noch über Finanzierungsbedingungen von Start-ups und vieles andere mehr sprechen. Es werden spannende, lebendige Tage – davon bin ich überzeugt. Ich bin den Organisatoren dieser Medientage sehr dankbar dafür, dass sie eine so umfassende Plattform für die Diskussion bieten und maßgebende Akteure zusammenbringen. Falls neben dem Betrachten des eigenen mobilen Geräts, das man immer zur Hand hat, noch Zeit für das persönliche Gespräch zwischen Individuen bleibt und nicht nur Selfies gemacht werden, sondern auch neue Gedanken aufgenommen werden, dann werden die Medientage ein voller Erfolg. Danke dafür, dass ich bei der Eröffnung mit dabei sein kann.
in München
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Verleihung des „APPLAUS“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-verleihung-des-applaus–796628
Mon, 24 Oct 2016 19:30:00 +0200
Köln
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort. – Anrede, Blätterte man in den vergangenen Monaten durch das Feuilleton, konnte man den Eindruck bekommen, die Musik habe die Trennung zwischen „E“ und „U“, also – vereinfacht gesagt – zwischen „ernster“ klassischer Musik und tanzbarer Unterhaltungsmusik endgültig überwunden: Im September wurde einem bekannten Berliner Techno-Club das Recht auf den ermäßigten Mehrwertsteuersatz zugesprochen, vor zwei Wochen bekam Punkrocker und Toten Hosen-Frontmann Campino den ECHO-Klassik für seine Neuauflage des Prokofjew-Klassikers „Peter und der Wolf“ und im Dezember wird der Literaturnobelpreis an einen amerikanischen Folk-Musiker verliehen. Wen aber interessiert schon ein „E“ oder „U“, wenn das Publikum sich zu euphorischen „Ahs“ und „Ohs“ hinreißen lässt – ob nun im Konzertsaal oder im Techno-Club? Viele Clubbesucher finden gerade musikalische Grenzüberschreitungen reizvoll – sie wollen Musik hören, die nicht jeden Tag im Radio läuft. Wenn man ein handverlesenes Programm sucht, Musikkultur jenseits des Mainstreams und der Multifunktionshallen erleben will – dann ist man bei den Betreibern kleinerer Clubs und Spielstätten goldrichtig: Clubbetreiber nehmen gute Unterhaltung ernst, nicht den Massengeschmack, sie bieten musikalische Delikatessen statt Fast Food. Genau deshalb würdigen wir sie heute Abend mit dem „APPLAUS“ 2016! Für die – vor allem finanzielle – Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen und der Stadt Köln bin ich Ihnen sehr dankbar, liebe Frau Ministerin Kampmann, liebe Frau Oberbürgermeisterin Reker! Dank gebührt auch der Initiative Musik, die – gemeinsam mit dem Popkultur Köln e.V. – die Verleihung heute Abend auf die Beine gestellt hat. Eine wunderbare Jury unter Deinem Vorsitz, lieber Dieter Gorny, hat unsere 64 verdienten Preisträger ermittelt – keine leichte Aufgabe bei 270 Bewerbungen! Herzlichen Dank Ihnen allen! In Nordrhein-Westfalen einen Musikpreis zu verleihen, ist für eine Kulturstaatsministerin ja gewissermaßen ein Heimspiel – und das nicht nur, weil ich in Münster geboren bin und in Bonn studiert habe. Das Land ist eben reich an Musikgeschichte und Musikgeschichten: Keith Jarrett nahm beispielsweise in der Kölner Oper das berühmte „The Köln Concert“ auf, Düsseldorf steht mit dem Ratinger Hof für die Anfänge der Punkszene in der Bundesrepublik, und auch die Popmusik hat hier einen festen Platz, was nicht zuletzt jungen Bands wie Xul Zolar zu verdanken ist, die wir gerade gehört haben. Dass Musikgeschichte oft in kleinen Clubs beginnt, trägt sicher zur Legendenbildung bei – wie etwa bei Bob Dylan, der in den 1960er Jahren quasi im musikalischen Schichtdienst in Clubs im New Yorker Greenwich Village spielte, dafür Spenden des Publikums anstatt Gagen bekam und ganz nebenbei den Hit „Blowin‘ in the Wind“ schrieb. Erzählungen wie diese romantisieren die künstlerische Realität, die für viele Musikerinnen und Musikern zum Teil lebenslange finanzielle Unsicherheit und Sorgen bedeutet. Mit dem „APPLAUS“ wollen wir daher nicht zuletzt die Auftrittsbedingungen für Musikerinnen und Musiker verbessern. Die Preisgelder können Clubbetreiber und Veranstalter gut gebrauchen, um Künstlern bessere Gagen zu zahlen, aber auch um neue Programmreihen zu entwickeln oder den alten Flügel zu ersetzen. Für Veranstalter und Clubbetreiber bedeutet ein Leben für die Musik oftmals ein Leben am Rande der Existenz, am finanziellen und körperlichen Limit. Wenn sie jungen, unbekannten Künstlern eine Chance geben, haben sie nicht in erster Linie ihre Einnahmen im Blick, sondern wollen etwas wagen, anders sein, experimentieren. Dabei riskieren sie viel für die kulturelle Vielfalt in unserem Land – und weil dem Bund die lebendige Clubszene am Herzen liegt, habe ich für sie – zusätzlich zum „APPLAUS“ – Gelder aus meinem Etat bereitgestellt: Mit 1,5 Millionen Euro für die Digitalisierung der Aufführungstechnik sind nun mehr als 200 Musikclubs in 15 Bundesländern technisch wieder auf dem neuesten Stand – und zwar nicht nur Spielstätten in den Metropolen, sondern beispielsweise auch der Bunte Hund in Zittau, der Club Bogaloo in Pfarrkirchen, das Kühlhaus in Flensburg oder der Parkclub in Fürstenwalde. „Musik bringt dich besser durch Zeiten ohne Geld, als Geld dich durch Zeiten ohne Musik bringt“, soll Bob Dylan einmal gesagt haben. Weil für Sie alle, liebe Clubbetreiberinnen und Clubbetreiber, Musik in diesem Sinne Lebenselixier ist, weil sie die Leidenschaft für Musik jeden Tag antreibt und Sie für anspruchsvolle Konzerte , neue und einzigartige Musik auf das „schnelle Geld“ verzichten, danke ich Ihnen und verleihe Ihnen heute mit großer Freude den „APPLAUS“ 2016!
In ihrer Rede erklärte Monika Grütters: „Mit dem ‚APPLAUS‘ wollen wir nicht zuletzt die Auftrittsbedingungen für Musikerinnen und Musiker verbessern. Die Preisgelder können Clubbetreiber und Veranstalter gut gebrauchen, um Künstlern bessere Gagen zu zahlen, aber auch um neue Programmreihen zu entwickeln oder den alten Flügel zu ersetzen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur 3. Konferenz „Frauen in Führungspositionen“ am 19. Oktober 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-3-konferenz-frauen-in-fuehrungspositionen-am-19-oktober-2016-414330
Wed, 19 Oct 2016 14:00:00 +0200
Berlin
Liebe Frau Bundesministerin Schwesig, meine wenigen Herren und meine vielen Damen, herzlich willkommen. Das ist die dritte Konferenz zu der Frage „Frauen in Führungspositionen“ – ein Thema, das uns ja auch in der Bundesregierung beschäftigt, aber von uns nicht ganz allein gelöst werden kann, sondern der Mitarbeit vieler bedarf. Ich brauche heute nicht darauf hinzuweisen, dass wir schon eine bewegte Geschichte zum Thema hinter uns haben. Im Mai 2013, als wir die erste dieser Konferenzen hatten, waren wir noch mitten in der Diskussion zur Frauenquote. Diese steht inzwischen im Gesetzblatt, ist vom Bundespräsidenten unterschrieben und wird auch umgesetzt. Bis jetzt hat sich für die Aufsichtsratsposten in den DAX-Unternehmen, die an Frauen zu vergeben sind, immer eine Frau gefunden. Ich denke, das geht auch bis 2020 so weiter, bis die letzte Aufsichtsratsneubesetzung durchgeführt sein wird. Das Land ist immer noch sehr fit und erfolgreich. Frau Menges ist Vertreterin eines Unternehmens, nämlich Vorstandsmitglied bei Henkel, in dem der Frauenanteil im Aufsichtsrat bereits fast 40 Prozent beträgt. Das will ich deshalb hervorheben, weil das wirklich vorbildlich, aber noch nicht die Regel ist. Für die rund 3.500 Unternehmen, die entweder börsennotiert oder mitbestimmt sind, gibt es ja so etwas wie eine Verpflichtung, sich Ziele zu setzen und damit auch ein langsames Aufwachsen der Frauen in Führungspositionen zu ermöglichen. Leider gibt es auch immer wieder Unternehmen, die sich die Zielgröße Null setzen. Da will ich in unser beider Namen sagen, dass wir dafür null Verständnis haben. Ich glaube, etwas ambitionierter kann man sein. Wir haben uns viele Monate lang auch mit einem anderen Thema beschäftigt, nämlich mit der Entgeltgleichheit. Ich finde, hierzu haben wir eine Lösung gefunden, die wenig Bürokratie, aber durchaus Wirksamkeit in sich trägt. Dass das auch ein wichtiges Thema ist, brauche ich in diesem Kreis nicht noch einmal zu betonen. Wir haben heute Sie als Führungskräfte eingeladen. Sie sind diejenigen, die das leben, was wir möchten. Wir haben auch eine ganze Reihe von Nachwuchskräften unter uns. Sie sind sozusagen die Chefinnen von morgen. Es sind neben dem Moderator auch einige Männer vertreten, die sich mit dem Thema gut auskennen, das wir beim letzten Mal unter anderem behandelt hatten, nämlich die sogenannte gläserne Decke. Ich bin sehr froh, dass es jetzt eine Initiative gibt, die das Durchbrechen dieser gläsernen Decke zur Chefsache gemacht hat. Deshalb möchte ich hier die Gründungsmitglieder der Initiative „Chefsache“, zu denen auch das Bundesverteidigungsministerium gehört, ganz herzlich willkommen heißen. Wir haben auch Staatssekretärinnen und Staatssekretäre eingeladen, die Personalverantwortung tragen, denn auch in der Bundesregierung müssen wir uns immer wieder mit diesem Thema beschäftigen. Wir haben noch Luft nach oben. Denn der Anteil weiblicher Führungskräfte belief sich im vergangenen Jahr bei den obersten Bundesbehörden auf knapp 33 Prozent. Wir liegen damit nicht viel höher als in der Wirtschaft, wo es 29 Prozent sind. Aber ich glaube, dass wir daran weiter arbeiten werden, das deutet sich an vielen Stellen an. Es ist inzwischen auch schon Normalität, dass Staatssekretärinnen berufen werden. Wir haben versucht, zu unseren Konferenzen eine gute Mischung aus Persönlichkeiten mit ganz unterschiedlichen Blickwinkeln einzuladen: Frauen in verschiedensten Führungspositionen und Frauen, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie leben. Neben mir sitzt eine Bundesfamilienministerin, die das im Augenblick in ganz besonderer Weise tut – das hat sie früher auch schon, aber inzwischen noch dazu mit einem Baby. Die Frage des Zeitmanagements – Zeit für die Familie, Zeit für den Beruf – ist wohl eine, die uns in den nächsten Jahrzehnten mit am meisten beschäftigen wird. Zeitautonomie ist etwas, das an Bedeutung gewonnen hat. Sie kennen das auch in den Unternehmen. Wir haben in Kinderbetreuung investiert, wir haben das Elterngeld flexibler gemacht, wir wollen Teilzeitbeschäftigung möglich machen; und das nicht nur für Frauen – das sage ich ausdrücklich –, sondern durchaus auch für Männer. Denn es ist klar: Je mehr Männer sich der Verantwortung in der Familie widmen, umso leichter wird es auch für Frauen. Diese kommen dann aus altbekannten Stereotypen heraus. Der Arbeitgeber weiß nicht mehr, was ihn erwartet, wenn er einen Mann oder eine Frau einstellt, die Familie haben, und wer Familienverantwortung wahrnimmt. Mann oder Frau zu sein, ist dann kein eigenes Einstellungskriterium. Und das muss eigentlich Normalität in unserem Lande werden. Heute haben Sie wieder in verschiedenen Fachforen diskutiert. Wenn man all das auch noch in deutscher Sprache ausdrücken könnte – ich bin zwar sehr global orientiert –, dann würde das vielleicht noch populärer werden und sich unter noch mehr Frauen herumsprechen. Die gläserne Decke war für mich besser zu verstehen als „Unconscious Bias“. Aber ich habe mich eingearbeitet und freue mich jetzt auf die Ergebnisse aus den Foren. Herzlich willkommen noch einmal. Und uns jetzt eine gute Diskussion.
im Bundeskanzleramt
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters zur Jubiläumsfeier der neuen Bühne Senftenberg „WIR SIND 70! Das Fest“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-jubilaeumsfeier-der-neuen-buehne-senftenberg-wir-sind-70-das-fest–798062
Fri, 14 Oct 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Senftenberg
Kulturstaatsministerin
„WIR SIND 70!“ – Diesem umarmenden „Wir“, das da so euphorisch in Versalien daher kommt, schließe ich mich heute Abend zum Abschluss meiner Theaterreise durch Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg nur allzu gerne an. Spätestens seit der Kult-Schlagzeile „WIR SIND PAPST!“ 2005 und dem Jubelschrei „WIR SIND WELTMEISTER!“ 2014 sind wir Deutschen ja geübt darin, mit einem solchen „WIR“ überschwänglich ein Höchstmaß kollektiver Freude und Begeisterung zum Ausdruck zu bringen. Dazu muss man weder katholisch noch sportlich noch 70 sein. Anlass zu Freude und Begeisterung haben wir alle, die wir das Theater lieben, heute wahrlich genug. Das Theater Senftenberg steht mit seiner 70jährigen Geschichte für hohe Professionalität, für Theaterleidenschaft, für Verbundenheit mit seinem Publikum und für den Mut zum Experiment. Hier haben bedeutende Schauspielerinnen und Schauspieler die Bretter betreten, die die Welt bedeuten, bevor sie die Theaterwelt erobert haben. Dramaturgen und Regisseure wie Michael Thalheimer und Frank Castorf konnten sich hier ausprobieren, bevor sie mit Inszenierungen, die heute als legendär gelten, Theatergeschichte schrieben. Zu Ruhm und Glanz haben aber auch all jene Künstlerinnen und Künstler beigetragen, die auf dieser Bühne mutig die Freiheit der Kunst hoch hielten, nachdem das berüchtigte 11. Plenum des Zentralkomitees der SED 1965 der Freiheit der Kunst den Kampf angesagt hatte. Auch das Überleben war manchmal ein Kampf – und leider hat nicht alles, was einmal gut war, auch überlebt. Die Abwicklung des Balletts, des Orchesters und des Musiktheaters zählt zweifellos zu den bitteren Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte. Und doch – oder vielleicht auch: gerade deshalb – ist es eine Theatergeschichte, die Mut schenkt und zuversichtlich stimmt für die Zukunft der vielen kleinen Stadttheater, die Deutschlands Theaterlandschaft in ihrer Vielfalt weltweit so einmalig machen. Die Neue Bühne Senftenberg konnte sich allen Widrigkeiten zum Trotz behaupten, weil sie ihrem Anspruch treu blieb, mit den Mitteln der Kunst immer wieder im besten Sinne Unruhe zu stiften und mit einem abwechslungsreichen Spielplan das Publikum zu begeistern. Wie wichtig, ja wie unverzichtbar Stadttheater als Orte der Selbstverständigung einer Gesellschaft sind – und zwar gerade auch abseits der Metropolen -, das zeigt sich angesichts der aktuellen politischen Lage heute vielleicht mehr denn je. Es ist beschämend und beängstigend, was wir im Moment erleben: die grölenden und pöbelnden Horden vor Flüchtlingsunterkünften oder zuletzt in Dresden bei den Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit; der Hass und die Verrohung in den sozialen Netzwerken; die Demonstrationen, auf denen Ressentiments geschürt werden gegen anders Denkende, anders Glaubende, anders Aussehende, anders Lebende und damit gegen die Freiheit und Vielfalt einer pluralistischen Gesellschaft. Unter den verschiedenen künstlerischen Sparten sind es gerade die Theater, die sich in der Verantwortung sehen, auf gesellschaftliche Veränderungen einzugehen. Theater sind Orte öffentlicher Debatten, die die Gesellschaft nie nur abbilden, sondern immer auch mitformen. Ihre „Kultur der nichtradikalisierten Diskussion“, wie Ulrich Khuon vom Deutschen Theater Berlin es einmal formuliert hat, gewinnt gerade in Zeiten an Bedeutung, in denen eine Spaltung der Gesellschaft droht, weil unterschiedliche Lager nicht imstande sind, miteinander zu sprechen und sich zu verständigen. Was Theater hier leisten, wird leider vielfach nicht angemessen wahrgenommen und gewürdigt. Deshalb habe ich im vergangenen Jahr zum ersten Mal einen Theaterpreis des Bundes für die Programmarbeit kleiner und mittlerer Bühnen ausgelobt und im Januar erstmals an zwölf Theater vergeben. Er soll künftig hoffentlich alle zwei Jahre ausgeschrieben werden und besondere Leistungen der Theater abseits der Metropolen ins Rampenlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit holen. Ich weiß, lieber Herr Soubeyrand, dass sich auch Ihr Theater mit einer – wie ich mir habe sagen lassen – sehr sympathischen Bewerbung beteiligt hat. Wenn sich die unabhängige Jury im letzten Jahr nicht für Ihr Haus entschieden hat, so lassen Sie sich bitte davon nicht entmutigen. Für die nächste Preisvergabe kann ich Ihnen natürlich keinen Jubiläumsbonus versprechen – aber den hat das Theater Senftenberg ohnehin auch gar nicht nötig. Denn es ist ein Haus, das nah an seinem Publikum ist, nah an den Themen, die die Menschen bewegen, ein Haus, das auch den Spaß, die schlichte Freude am Theaterspiel nicht gering schätzt. Ich jedenfalls wünsche der Neuen Bühne Senftenberg weiterhin viel Erfolg und ein ebenso treues wie begeistertes Publikum -Theaterliebhaberinnen und Theaterliebhaber, die „ihrem“ Stadttheater und „ihren“ Künstlerinnen und -künstlern auch im Alltag die Wertschätzung schenken, die beim so wunderbar inszenierten „Spektakel“ zum Fest überall sichtbar und spürbar ist. In diesem Sinne sagen wir heute stolz „WIR SIND 70!“ – und ergänzen es durch ein zuversichtliches „WIR WERDEN 80, 90, 100!“, mindestens! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Neue Bühne Senftenberg!
Zum 70jährigen Bestehen der Neuen Bühne Senftenberg hat Kulturstaatsministerin Grütters die Neue Bühne Senftenberg für ihre große Professionalität, Leidenschaft und Experimentierfreude gewürdigt. „Theater sind Orte öffentlicher Debatten, die die Gesellschaft auch immer mitformen“, so Grütters bei der Jubiläumsfeier. Die aktuelle politische Lage zeige, wie unverzichtbar Stadttheater abseits der Metropolen seien. – Die Rede Wortlaut:
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Parlamentarischen Abend des Deutschen Behindertensportverbandes am 18. Oktober 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-parlamentarischen-abend-des-deutschen-behindertensportverbandes-am-18-oktober-2016-433512
Tue, 18 Oct 2016 19:15:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident Beucher, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett und aus dem Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren und vor allem liebe Sportlerinnen und Sportler, es ist erst wenige Wochen her – Herr Beucher hat es gesagt; und in ihm lodert noch ein wenig die Flamme von Rio –, als wir mit den Athletinnen und Athleten bei den Paralympischen Spielen mitgefiebert haben. Ich fand es besonders erfreulich, dass die Medien über die Wettkämpfe von Menschen mit Behinderung mit großer Aufmerksamkeit berichteten. Ich denke, das ist sehr wichtig für die Akzeptanz des Sports und trägt auch der Bedeutung des Sports Rechnung. Die Leistungen sind faszinierend. Das deutsche Team hat beeindruckt und gezeigt, was in ihm steckt. 18-mal Gold, 25-mal Silber, 14-mal Bronze – eine tolle Bilanz. Hinter jeder Medaille, aber auch hinter jedem Start – ich betone das, so wie auch Herr Beucher es getan hat – in einem der Wettkämpfe steht ja eine eigene Geschichte – eine Erfolgsgeschichte des Sports und eine Erfolgsgeschichte des eigenen Lebens. Marianne Buggenhagen hat dies zum Ende ihrer Leistungssportkarriere noch einmal unterstrichen, als sie nach ihrer Silbermedaille im Diskuswerfen sagte – ich möchte sie zitieren –: „Ich habe heute noch mal gezeigt, was möglich ist, wenn man hart an sich arbeitet. Es ist nie zu spät, Sport zu treiben.“ Ein guter Satz; auch für einen selber. Sie weiß, wovon sie spricht – nach all den Jahren, in denen sie sich Auszeichnungen erkämpfte, die für eine ganze Mannschaft reichen würden. Sportlerinnen und Sportler wie Marianne Buggenhagen verstehen es, sich immer wieder Ziele zu setzen und sie beharrlich zu verfolgen. Sie sind Vorbild für uns alle und wunderbare Botschafter unseres Landes. Sie bringen so viele Menschen zusammen. Dazu hat Sebastian Dietz, Goldmedaillengewinner im Kugelstoßen, einen besonderen Beitrag geleistet. Gemeinsam mit seinem Trainer hat er zum Wettkampf fünf Jugendliche eingeladen, die in Rio de Janeiro auf der Straße leben. Ich zitiere ihn: „Ich möchte ihnen einfach einen schönen Abend machen, ein Lächeln ins Gesicht zaubern und zeigen, dass man es immer schaffen kann, wenn man kämpft.“ Tolle Sache. Daraus sprechen Leistung und Leidenschaft, also etwas, das zusammengehört, weil es sich ja auch gegenseitig bedingt. Leistung und Leidenschaft – das ist eine Botschaft, die jeder rund um den Globus versteht. Sie spricht jeden und jede an. Sie motiviert besonders auch junge Menschen, über sich hinaus zu wachsen. Es freut mich, dass sich die Nachwuchsarbeit unter dem Dach des Deutschen Behindertensportverbands so gut entwickelt hat. Bei den Schulwettbewerben gibt es zum Beispiel neben „Jugend trainiert für Olympia“ auch „Jugend trainiert für Paralympics“. Dem Verband ist es wesentlich mit zu verdanken, dass der Sport von Menschen mit Behinderung längst aus dem Nischendasein heraus ist. Auf das bisher Erreichte können alle stolz sein – neben den Verantwortlichen beim DBS natürlich auch alle, die unabhängig von einer Beeinträchtigung Sport treiben, und alle, die sie dabei unterstützen. Gemeinsam machen sie dem Grundgedanken der Teilhabe und Selbstbestimmung alle Ehre. Der Bundesregierung – das unterstreicht auch die Anwesenheit des Bundessportministers – liegt sehr daran, die Teilhabe von Menschen mit Behinderung weiter zu verbessern. Das zeigt nicht nur die Anwesenheit des Bundesministers, sondern natürlich auch der Staatssekretäre und – um die Liste zu vervollständigen – des Landesministers. Erst kürzlich haben wir uns auf den Bund-Länder-Finanzausgleich geeinigt; wir wollen jetzt mal nett zueinander sein. Mit dem neuen Bundesteilhabegesetz und den Änderungen des Behindertengleichstellungsgesetzes setzen wir die UN-Behindertenrechtskonvention um. Dabei geht es besonders auch um Barrierefreiheit. Natürlich lässt es sich über Details solcher Gesetze streiten. Aber selbst das beste Gesetz kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Teilhabe in allen Facetten nicht vorschreiben lässt. Teilhabe wird im Alltag gelebt und vorgelebt – durch persönliches und zumeist ehrenamtliches Engagement. Deshalb möchte ich allen, die dabei mitmachen, ganz herzlich danken. Das ist auch ein Grund, warum ich die Einladung zum Parlamentarischen Abend gern angenommen habe – wenn auch mit zeitlicher Beschränkung, was Sie in die Bredouille gebracht hat. Aber, Herr Beucher, Sie haben uns trotzdem schon sehr viele Beispiele des breiten Engagements aufzeigen können. Ich freue mich jetzt auf die Gesprächsrunde mit einigen Athletinnen und Athleten, die unser Land in Rio de Janeiro so wunderbar vertreten haben. Vielen Dank auch dafür. Danke all Ihnen, die Sie den Behindertensport unterstützen und in ihm großartige Leistungen vollbringen. Ihr Parlamentarischer Abend fällt immer in die zeitliche Nähe der Haushaltsberatungen. Als altem Schlachtross der Politik dürfte es Ihnen geradezu leicht gefallen sein, ein geeignetes Datum zu finden. Das ist ja auch legitim. Viele machen Lobbyarbeit, warum nicht auch Sie. Das ist nichts anderes, als was viele andere auch tun. Herzlichen Dank für die Einladung und dafür, dass ich hier mit dabei sein kann.
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters beim Richtfest für die Erweiterung des Deutschlandhauses zur Unterbringung des Dokumentationszentrums der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-richtfest-fuer-die-erweiterung-des-deutschlandhauses-zur-unterbringung-des-dokumentationszentrums-der-stiftung-flucht-vertreibung-versoehnung–430986
Mon, 17 Oct 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Vor knapp zwei Jahren widmete der ehemalige Botschafter Israels in Deutschland, Avi Primor, seine Rede zum Volkstrauertag der Frage, ob ein Jude über deutsche Gefallene und deutsche Opfer des Zweiten Weltkrieges trauern könne. „Ja“, sagte er, weil Deutschland sich verändert habe – ein Vorbild geworden sei in Sachen Erinnerung und Gewissenserforschung. Ich zitiere: „Weltweit habe ich außer Deutschland kein einziges Land gefunden, das es gewagt hat, Mahnmale zu errichten, die an die eigenen Verbrechen erinnern und die eigene Schande verewigen. Mit so einem Deutschland trauere ich gern.“ Nicht immer, meine Damen und Herren, waren die Antworten so klar im Sinne einer auch deutsche Opfer einschließenden Erinnerungskultur, wenn wir Deutschen in den vergangenen Jahren um eine angemessene Form des Gedenkens an Flucht und Vertreibung in Folge des Zweiten Weltkriegs gerungen haben. Ich kann die damit verbundenen Ängste und Befürchtungen auch sehr gut nachvollziehen. Es ist Teil demokratischer Aufarbeitung der Vergangenheit, solche Konflikte zuzulassen und auszutragen, so schmerzhaft das auch ist. Umso mehr erfüllt es mich Dankbarkeit, dass wir nun – im Bewusstsein deutscher Verbrechen, im Bewusstsein deutscher Schuld und Schande – nach vielen Jahren teils erbitterter Auseinandersetzungen auch der Erinnerung an Flucht und Vertreibung der rund 14 Millionen Deutschen im und nach dem Zweiten Weltkrieg Raum geben können. Mit dem Umbau und der Sanierung des Deutschlandhauses, das künftig das Dokumentationszentrum der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ beherbergen wird, entsteht nun auch physisch jenes „sichtbare Zeichen gegen Flucht und Vertreibung“, das die Bundesregierung im März 2008 beschlossen hat, um im Kontext der nationalistischen Expansions- und Vernichtungspolitik an die Zwangsmigrationen des 20. Jahrhunderts und die millionenfach damit verbundenen, menschlichen Schicksale zu erinnern. Die bis zuletzt kontroversen Debatten und Verwerfungen zeigen einmal mehr, wie schwierig es ist, eine all den unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen angemessene Form des Erinnerns an das unermessliche Leid zu finden, das Deutschland im 20. Jahrhundert über Europa gebracht hat. Als kaum weniger schwierig erweist sich hier in Berlin leider immer wieder auch die pünktliche Fertigstellung von Bauvorhaben. Es ist mir wichtig, hier klar zu stellen: Erstens, die zusätzlichen Kosten beim Bau des Deutschlandhauses sind nicht auf Änderungen der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ zurückzuführen. Und zweitens, die Stiftung ist nur EINE Nutzerin des Deutschlandhauses mit einem Anteil von rund 40 Prozent. Wenn wir die baulichen Probleme, die nun auch hier aufgetreten sind und über die das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) uns kürzlich unterrichtet hat, schon in Kauf nehmen müssen, dann sollten wir, wie ich finde, die Verzögerung der Bauübergabe nutzen, um der Dauerausstellung konzeptionell den letzten Feinschliff zu geben und angesichts aktueller politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen noch ein wenig nachzujustieren – freilich ohne den grundsätzlichen Konsens über das gemeinsam vom Stiftungsrat und dem wissenschaftlichen Beraterkreis erarbeitete Konzept in Frage zu stellen. Gundula Bavendamm hat dazu nach ihrem Amtsantritt als neue Direktorin der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ eine Arbeitsweise an den Tag gelegt, die den Stiftungsrat sehr beeindruckt hat. Mit Ihrem Anliegen, liebe Frau Dr. Bavendamm, den Schwerpunkt der Dauerausstellung – die Geschichte von Flucht und Vertreibung im und nach dem Zweiten Weltkrieg – einzubetten in die Geschichte der Migration und dabei auch auf die Flüchtlingsströme der Gegenwart einzugehen, schärfen Sie das Profil des Dokumentationszentrums als Lernort. Und eben das ist es, was diese überparteiliche, unabhängige Bundesstiftung leisten kann und soll: dass sie mit der Erinnerung an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert unsere Gesellschaft und hoffentlich Besucher aus der ganzen Welt sensibilisiert für Ursachen und Folgen des Heimatverlusts. Ich freue mich sehr, dass wir diesem Ziel mit dem heutigen Richtfest ein großes Stück näher gekommen sind, und danke allen, die sich dafür eingesetzt haben: den Mitgliedern des Stiftungsrates, die beharrlich zum Aufbau der Stiftung beigetragen haben und aktuell ebenso konstruktiv die Berufung des neuen wissenschaftlichen Beraterkreises vorbereiten, den Fachleuten aus Deutschland, aus ganz Europa und aus den USA im ehemaligen wissenschaftlichen Beraterkreis, deren unterschiedliche Perspektiven ein enormer Gewinn für die Stiftungsarbeit waren, dem Bund der Vertriebenen, dessen Engagement es letztlich zu verdanken ist, dass wir im Geiste der Versöhnung ein „sichtbares Zeichen“ des Gedenkens an Flucht und Vertreibung setzen können, und nicht zuletzt den beteiligten Architekten, Planern und Handwerkern, die ihr Bestes geben, damit es auf der Baustelle jetzt weiter zügig voran geht. „Wer ein Haus kauft, kauft die Nachbarn mit“, lautet ein englisches Sprichwort, und auch wenn dem Einzug des Dokumentationszentrums der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ins Deutschlandhaus kein Kauf vorausgeht, lohnt sich auch hier ein Blick auf die Nachbarn. Die anderen künftigen Mieter hier im Haus kennen wir ja alle noch nicht. Aber: In unmittelbarer Nähe finden sich andere bedeutende historische Lern- und Gedenkorte, auf deren Arbeit die Stiftung Bezug nimmt: beispielsweise die „Stiftung Topographie des Terrors“, die „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ und die „Stiftung Jüdisches Museum“. In dieser Nachbarschaft im Herzen der Hauptstadt bekommt das Gedenken an Flucht und Vertreibung, an deutsche Leidensgeschichten von Heimatverlust und Entwurzelung nicht nur den notwendigen Raum, sondern ganz offensichtlich auch seinen historisch wie politisch angemessenen Platz. In diesem Sinne: auf eine erfolgreiche Fortsetzung der Bauarbeiten!
Beim Richtfest für die Erweiterung des Deutschlandhauses hat Kulturstaatsministerin Grütters den Umbau als „sichtbares Zeichen gegen Flucht und Vertreibung“ gewürdigt. Das Gebäude soll unter anderem die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung mit ihrem Dokumentationszentrum beziehen. Grütters lobte das schlüssige Konzept der geplanten Dauerausstellung. Die Geschichte von Flucht und Verreibung durch die nationalistischen Expansions- und Vernichtungspolitik werde eingebettet in die Geschichte. Damit profiliere sich das Dokumentationszentrum als Lernort. – Die Rede im Wortlaut
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Übergabe des Gebäudes für Frieden und Sicherheit an die Kommission der Afrikanischen Union am 11. Oktober 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-uebergabe-des-gebaeudes-fuer-frieden-und-sicherheit-an-die-kommission-der-afrikanischen-union-am-11-oktober-2016-606076
Tue, 11 Oct 2016 11:35:00 +0200
Sehr geehrte Frau Kommissionsvorsitzende, liebe Dlamini Zuma, sehr geehrter Herr Premierminister, lieber Hailemariam Dessalegn, sehr geehrte Kommissare, insbesondere Herr Kommissar Chergui, sehr geehrte Botschafter, meine Damen und Herren, ich freue mich, heute hier bei Ihnen zu sein und die Repräsentanten der 54 Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union und die Kommissare in diesem Raum begrüßen zu können. Die Partnerschaft von Afrika und Deutschland baut auf gemeinsamen Interessen auf, aber vor allen Dingen baut sie auf unzähligen Kontakten auf – auf staatlicher Ebene ebenso wie zwischen unseren Zivilgesellschaften, unseren Wirtschaftsunternehmen, den Kirchen und den kirchlichen Organisationen. Unsere Zusammenarbeit ist geprägt von gemeinsamen Anstrengungen für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, für Bildung, für gute Regierungsführung, für Frieden und Sicherheit. Dass unsere Partnerschaft auch geradezu im wörtlichen Sinne Gestalt und Form annimmt, können wir heute an diesem Gebäude sehen. Es freut mich, dass wir gemeinsam das neue Gebäude der Kommission der Afrikanischen Union eröffnen können: das Julius-Nyerere-Gebäude für Frieden und Sicherheit. In der Architektur dieses Gebäudes verbinden sich lokale Traditionen mit deutscher Technologie. Damit steht das Bauwerk geradezu symbolisch für die gewachsenen und gefestigten Beziehungen zwischen der Afrikanischen Union und der Bundesrepublik Deutschland. Die Afrikanische Union wirkt nach innen wie nach außen. Seit ihrer Gründung engagiert sie sich für Solidarität und Zusammenhalt zwischen den afrikanischen Staaten und Völkern. Der Name Julius Nyerere steht exemplarisch für diesen Wunsch. Die Afrikanische Union verleiht zudem den Interessen des gesamten Kontinents internationales Gewicht und eine Stimme. Dafür gibt es viele gute Gründe. Denn angesichts der fortschreitenden Globalisierung und Vernetzung unserer Welt sehen sich immer mehr Staaten vor gleiche Herausforderungen gestellt. Gute genauso wie schlechte Entwicklungen sind oft nicht allein auf einzelne Länder beschränkt, sondern haben Auswirkungen auf Nachbarländer, auch über die Region und über Kontinente hinaus. Denken wir zum Beispiel an die Finanz- und Wirtschaftskrise, an Epidemien, wie wir sie mit Ebola hatten, an terroristische Aktivitäten oder an Flucht und Vertreibung. Solchen Herausforderungen ist eine Staatengemeinschaft viel besser gewachsen als ein einzelner Staat, der auf sich allein gestellt ist. Deshalb bin ich zutiefst überzeugt: Globale Fragen erfordern auch globale Antworten. Afrika, der Kontinent, den Sie repräsentieren, gewinnt zunehmend an globaler Bedeutung. Deshalb ist es wichtig, dass die afrikanischen Staaten in möglichst großer Einigkeit ihre gemeinsamen Interessen vertreten – mit einem anerkannten Ansprechpartner wie der Afrikanischen Union. Liebe Frau Zuma, Geschlossenheit herzustellen, fällt manchmal schwer. Dies kennen wir auch aus unserer Arbeit in der Europäischen Union – da verrate ich, glaube ich, kein Geheimnis –, obgleich wir im Übrigen nur 28 und nicht 54 Mitgliedstaaten sind. Entscheidend sind und bleiben immer die Bereitschaft und die Fähigkeit, Kompromisse zu finden und einzugehen, in denen sich die einzelnen Interessen sowohl unterordnen als auch widerspiegeln und die in der Summe als Kompromiss den Willen und das Wollen eines ganzen Kontinents widerspiegeln. Dabei bauen die Entscheidungen, die wir zu treffen haben, auf grundlegenden Werten, den Menschenrechten, auf politischer und wirtschaftlicher Teilhabe sowie guter Regierungsführung auf. Die menschliche Würde ist unteilbar. Es muss unser wichtigstes Anliegen sein, dem auch in der Politik gerecht zu werden. Wenn die Menschenwürde verletzt wird – wo auch immer –, dann fordert das uns alle heraus. Der frühere Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Horst Köhler, hat dies in seiner Rede vor der Afrikanischen Union 2004 gut beschrieben. Er sprach von der Akzeptanz des je eigenen Charakters unterschiedlicher Weltregionen. Es könne und dürfe aber nicht hingenommen werden, „wenn dieser eigene Charakter als Vorwand für Untätigkeit und als Freibrief für Unrecht und Drangsalierung der eigenen Bevölkerung herangezogen wird.“ Horst Köhler sprach damals von einer „weltbürgerlichen Verpflichtung“, solche Zustände klar zu benennen. Das gilt mit Blick auf jeden Kontinent und auf jedes Land. Wir alle sind dazu aufgerufen, untragbare Zustände nicht einfach hinzunehmen, sondern dem festen Willen Ausdruck zu verleihen, an diesen Zuständen etwas zu ändern. Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung ist ein sehr gutes Beispiel dafür. Deutschland hatte sich sehr für ihre Verabschiedung eingesetzt. Dass es im vergangenen Jahr gelungen ist, diese Agenda unter allen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zu verabschieden, und dass es nicht nur eine Agenda für die Entwicklungsländer, für die Schwellenländer oder für die höherentwickelten Länder ist, sondern dass es eine Agenda für alle ist, ist in seiner Bedeutung gar nicht zu unterschätzen. Dass wir unserer internationalen Mitverantwortung als Bundesrepublik Deutschland gerecht werden wollen, zeigt sich an vielen Beispielen. Zum Beispiel wollen wir auch mit unserer Bewerbung um einen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat für die Jahre 2019 und 2020 wieder Verantwortung übernehmen. Der Wille zur Veränderung treibt auch die Afrikanische Union an. So verbindet sich mit diesem neuen Gebäude hier ein gemeinsames Ziel: mehr Frieden und mehr Sicherheit in Afrika. Denn darin liegt die wesentliche Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben. Mit diesem modernen Gebäude bekommt die Afrikanische Friedens- und Sicherheitsarchitektur in wörtlichem wie in übertragenem Sinne mehr Raum. Die Kommission der Afrikanischen Union hat Prioritäten auf eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit gelegt, Strukturen verbessert und beachtliche Kapazitäten aufgebaut. Beim Gipfel der Afrikanischen Union in Kigali haben Sie sich der Frage einer nachhaltigen Finanzierung angenommen und eine wichtige Weichenstellung für eine stärkere Eigenfinanzierung vorgenommen. Das ist für die weitere Handlungsfähigkeit der Afrikanischen Union von allergrößter Bedeutung. Wie wichtig Handlungsfähigkeit ist, haben die Afrikanische Union und ihre Regionalorganisationen in vielerlei Weise demonstriert. Durch schnelle Reaktion und Vermittlung konnten bereits einige größere Gewaltausbrüche verhindert werden. Diese gelebte Verantwortung rettet Leben und eröffnet neue Perspektiven. So setzen sich Vermittler und Friedensstifter zum Beispiel in der Region Große Seen dafür ein, dass sich Genozid und Bürgerkriege nicht wiederholen. Ich will nicht verhehlen: Die Lage in Burundi bereitet uns große Sorge. Wir sehen die Gefahr, dass dort der alte Konflikt wieder aufflammen könnte. Das aber versuchen der Friedens- und Sicherheitsrat der Afrikanischen Union und die Ostafrikanische Gemeinschaft mit aller Kraft zu verhindern. In der Demokratischen Republik Kongo geht es darum, dass freie Wahlen stattfinden. Vor zehn Jahren haben auch deutsche Soldaten mit dafür gesorgt, dass die Präsidentschaftswahlen friedlich verlaufen konnten. Nun aber sorgen wir uns darum, dass vieles von dem, was in den vergangenen Jahren aufgebaut wurde, zerbrechen könnte. Deshalb möchte ich an die Verantwortlichen in Kinshasa appellieren, im Interesse der gesamten Bevölkerung die Verfassung einzuhalten und den Kongo vor einer tiefen Krise zu bewahren. Anlass zu Zuversicht gibt die Situation in der Zentralafrikanischen Republik. Dort lässt ein erfolgreicher demokratischer Übergang auf politische Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung hoffen. Solche Entwicklungen sind auch wichtig, um Terrormilizen den Boden zu entziehen. Denn sie versuchen ja gerade aus Instabilität, Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit Kapital zu schlagen. Ihr Einfluss reicht nicht selten über nationale Grenzen hinweg. Umso wichtiger ist es, dass sich die Afrikanische Union und regionale Zusammenschlüsse betroffener Staaten gegen menschenverachtende Terrororganisationen zur Wehr setzen. Beeindruckend ist vor allem das Engagement der Afrikanischen Union in Somalia. AMISOM ist ihre größte Militärmission. Dass trotz schwieriger Umstände bald freie Wahlen in Somalia stattfinden können, wäre ein wichtiges Etappenziel. Wir hoffen, dass das gelingt. Letztlich braucht es stabile staatliche Strukturen, um rechtsfreie Räume und Rückzugsorte für Terroristen zu beseitigen. Besondere Aufmerksamkeit gilt daher auch der Entwicklung rund um den Tschadsee. Diese Region ist nicht nur vom Klimawandel, von Dürren und wirtschaftlicher Übernutzung schwer gezeichnet. Zudem ziehen hier auch Extremisten Spuren der Verwüstung. Tausende Menschen wurden bereits zu Opfern des blutigen Feldzugs von Boko Haram. Millionen sind auf der Flucht – im eigenen Land oder in Nachbarländern. Das ganze Ausmaß dieser humanitären Katastrophe lässt sich nur schwer fassen. Immerhin hat eine multinationale Eingreiftruppe bereits einige wichtige Erfolge im Kampf gegen die Terroristen erzielt. Sie konnte zum Beispiel 700 entführte Frauen und Kinder befreien. Aber eine Fortführung des Einsatzes ist unabdingbar. Die Europäische Union wird diesen Einsatz mit 50 Millionen Euro unterstützen. Von gemeinsamem Engagement getragen ist auch die friedenserhaltende Mission in Mali. Deutschland selbst leistet dort einen eigenen Beitrag. Bis zu 650 deutsche Soldatinnen und Soldaten sind an MINUSMA beteiligt. Die Stabilität Malis zu sichern, ist von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung in ganz Westafrika. Der Blick auf den Kontinent zeigt, wohin ein Zerfall staatlicher Strukturen allzu schnell führen kann. Libyen ist ein trauriges Beispiel dafür. Umso mehr gilt es jetzt, alle Kräfte darauf zu richten, Libyen zu stabilisieren. Ich befürworte ausdrücklich, dass sich hierbei die Afrikanische Union einbringt und ihren Einfluss zur Lösung des Konflikts geltend macht. Vielleicht haben wir in der Vergangenheit zu wenig mit Ihnen darüber gesprochen; das sage ich selbstkritisch. Der UN-geführte Friedensprozess ist auf die Perspektive einer inklusiven Einheitsregierung in Libyen ausgerichtet. Eine solche Regierung wäre dann auch unser Ansprechpartner, um illegale Migration einzudämmen. Wir können und dürfen nicht hinnehmen, dass Schlepperbanden mit dem Leben anderer spielen. Der Menschenhandel muss aufhören. Viel zu viele Menschen fanden bereits den Tod im Mittelmeer. Oft machen sich insbesondere junge Menschen mit völlig falschen Vorstellungen auf den Weg nach Europa. Sie nehmen einen lebensgefährlichen Weg in Kauf, ohne zu wissen, was sie erwartet und ob sie überhaupt bleiben können. Sie werden auf diesem Weg oft sehr schlecht behandelt. Ich konnte gestern bei der Internationalen Organisation für Migration in Niger mit einigen dieser jungen Menschen sprechen. Was diese jungen Menschen schon erleben mussten, war schon sehr beeindruckend. Wir sehen aber auch: Der Großteil der Fluchtbewegungen verläuft innerafrikanisch. Es ist beeindruckend, dass Staaten, die selbst große Entwicklungsprobleme haben, Flüchtlinge aufnehmen. Ich will an dieser Stelle beispielsweise – auch in Anwesenheit des äthiopischen Premierministers – Äthiopien dafür danken, dass es ungefähr 700.000 Flüchtlingen Schutz gewährt. Deutschland finanziert umfangreiche humanitäre und entwicklungspolitische Projekte, um Menschen in Not zu unterstützen und Fluchtursachen zu minimieren. Unser Augenmerk gilt sowohl den Herkunftsländern als auch den Transit- und Aufnahmeländern. Der EU-Afrika-Gipfel auf Malta, auf dem wir den Valletta-Aktionsplan verabschiedet haben, war ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Um diesen Plan umzusetzen, hat die Europäische Union einen Nothilfe-Treuhandfonds mit 1,8 Milliarden Euro eingerichtet. Ich weiß, dass Ihre Länder jetzt zu Recht auf die Umsetzung dieser Valletta-Agenda drängen. Es geht hierbei auch wirklich um eine schnelle Umsetzung, da die Menschen in Not dringend Hilfe brauchen. Ein wichtiges Instrument sind migrationspolitische Partnerschaften mit afrikanischen Staaten. Deutschland engagiert sich zusammen mit Frankreich und Italien besonders in Mali und Niger. Das beste Rezept gegen Flucht und Terrorgefahr ist aber eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung. Afrika hat große wirtschaftliche Potenziale. Afrika hat viele natürliche Ressourcen. Und Afrika hat in vielen Ländern auch einen wachsenden Mittelstand. Afrika hat aber auch eine rasant wachsende Bevölkerung. Die Bevölkerung Afrikas ist jung, sie hat viele Hoffnungen. Das Land, in dem ich Bundeskanzlerin bin, hat ein Durchschnittsalter von ungefähr 45 Jahren. Die Durchschnittsalter der afrikanischen Länder hingegen liegen zwischen 15 und 19 Jahren. Daran können Sie auf der einen Seite sehen, wie viel Hoffnung in diesem Kontinent steckt, auf der anderen Seite aber auch, wie viel Enttäuschung entstehen kann, wenn wir diese Hoffnungen nicht gemeinsam in Realitäten verwandeln. Ich sehe deshalb drei zentrale Aufgaben. Erstens: Wir müssen für Afrika private Investitionen stärken, um nachhaltiges Wachstum und Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen und fairer Handelsbedingungen. Zweitens: Der Ausbau von Infrastrukturen muss vorankommen – in den Bereichen Verkehr, Kommunikation und Energie. Wir können inzwischen auf gute Erfahrungen bei erneuerbaren Energien verweisen. Angesichts dessen, wie viele Menschen auf dem afrikanischen Kontinent noch keinen Zugang zu elektrischem Strom haben, insbesondere in den ländlichen Regionen, wissen wir, dass es natürlich sehr schwierig ist, in diesen Regionen Wirtschaft aufzubauen. Deshalb sind Infrastrukturen von zentraler Bedeutung. Drittens: Wir brauchen eine bessere Berufsausbildung, die sich stärker am Arbeitsmarkt orientiert und damit die Chance auf einen Arbeitsplatz erhöht. Deutschland hat 2017 den Vorsitz in der Gruppe der G20-Länder. Wir werden auch die Fragen, die Sie in Afrika bewegen, zu einem der Schwerpunkte der G20-Agenda machen und deshalb auch eine umfassende Initiative mit Afrika starten. Von besonderer Bedeutung wird dabei eine Mitte des Jahres in Berlin stattfindende Konferenz sein, an der hochrangige Vertreter von G20-Staaten und afrikanischen Staaten sowie von internationalen Organisationen und aus dem Privatsektor teilnehmen werden. Vorher ist noch unser German African Business Summit geplant – diesmal in Nairobi. Es sind bereits viele deutsche Unternehmen in Afrika tätig, aber es könnten noch deutlich mehr werden. Auch dafür setze ich mich und setzt sich unsere ganze Regierung ein. Die Afrikanische Union ist der Hauptmotor auch für die wirtschaftliche Integration auf dem Kontinent. Es ist gut zu wissen, mit ihr auch in dieser Hinsicht einen zentralen Partner der Europäischen Union zu haben. Afrika ist ein Zukunftskontinent. Die entscheidenden Weichen für eine tatsächlich gute Zukunft dieses Kontinents gilt es heute, in der Gegenwart, zu stellen – und zwar von vielen; auch von uns, den Ländern Europas. Dabei stehen Deutschland und die Europäische Union gerne an Ihrer Seite. Wir stehen an Ihrer Seite in einer Art und Weise, die nicht vorschreibt, wie Sie es machen sollen. Wir wollen vielmehr Partner sein, die im Übrigen auch noch viel über Ihre Geschichte, Ihre Kultur und das, was Sie bewegt, lernen müssen. Unser Wissen in Europa über Afrika ist nicht ausreichend; das sage ich jedenfalls für mich als deutsche Bundeskanzlerin und für viele in Deutschland. Wir müssen verstehen, dass Afrikas Wohl im Interesse Deutschlands und im Interesse Europas ist. In diesem Geiste wollen wir zusammenarbeiten – auch in diesem Hause, wenn wir wieder eingeladen werden. Dieses Haus steht jetzt jedenfalls zu Ihrer Verfügung. Ich wünsche, dass es viel dazu beiträgt, dass Frieden, Versöhnung und Sicherheit für die Menschen in Afrika noch besser gelebt werden können, als das heute der Fall ist. Alles Gute, Frau Zuma, für Ihre Arbeit, und alles Gute den Kommissaren und Ihnen allen, die Sie für Frieden und Sicherheit Verantwortung tragen. Arbeiten Sie gut zusammen. Finden Sie bei der Afrikanischen Union Kompromisse. Sie können Vorbild für die Europäische Union sein, wenn wir hören, dass Sie mit komplizierten Problemen schneller fertig werden als wir. Wir können also in einen Wettbewerb treten. Herzlichen Dank.
in Addis Abeba
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Der Britische Blick: Deutschland – Erinnerungen einer Nation“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-der-eroeffnung-der-ausstellung-der-britische-blick-deutschland-erinnerungen-einer-nation–450518
Fri, 07 Oct 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Uns Deutschen eilt bis heute ein Ruf voraus, den Heinrich Heine einmal so beschrieben hat: „Die Deutschen“, konstatierte er, „haben die merkwürdige Angewohnheit, dass sie bei allem, was sie tun, sich auch etwas denken.“ Deshalb sind wir berühmt-berüchtigt als notorische Nörgler, grüblerische Geister und bisweilen auch als belehrende Bescheidwisser. Wer sich da im Ausland aufmacht, 600 Jahre deutsche Geschichte zu durchstreifen und seinen Landsleuten anhand von 200 Objekten der Kulturgeschichte die deutsche Seele nahe zu bringen, muss schon mehr als ein Deutschland-Versteher sein: Er muss ein wahrer Deutschland-Liebhaber sein. Genau das war mein Eindruck, als ich zusammen mit Neil MacGregor, damals noch Direktor des British Museum, vor ziemlich genau zwei Jahren in London die Ausstellung „Germany: Memories of a Nation“ eröffnen durfte. Mich hat damals nicht nur die Vielfalt der Exponate begeistert, die sich zu einem differenzierten Bild der Kulturnation Deutschland zusammenfügen. Sehr berührt hat mich vor allem die Haltung, die aus diesem Bild spricht: der Anspruch, ein umfassendes und ausgewogenes Bild deutscher Geschichte zu zeichnen – und das auch noch im Jahr 2014, das durch die Häufung herausragender Gedenktage zu Recht von den Erinnerungen an das unfassbare Leid geprägt war, das Deutschland im 20. Jahrhundert über Europa gebracht hat. Das British Museum holte Facetten deutscher Identität ins Licht der Öffentlichkeit, die im dunklen Schatten unserer nationalsozialistischen Vergangenheit oft unsichtbar bleiben. Deshalb freue ich mich sehr, dass die vielfach hoch gelobte Ausstellung nun unter dem Titel „Der Britische Blick: Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ leicht überarbeitet endlich auch in Berlin zu sehen ist. Sie hat in Großbritannien viel Interesse für deutsche Geschichte und Kultur geweckt, und ich bin sicher: Sie kann auch hier in Berlin zum Perspektivenwechsel beitragen und die (angesichts der gegenwärtigen politischen Lage ja gerade sehr aktuelle) Diskussion darüber bereichern, was uns als Deutsche und als Europäer ausmacht. Dafür danke ich Neil MacGregor, der heute Morgen zwar bei der Pressekonferenz geredet hat, heute Abend aber – was lange bekannt war -wegen eines Vortrags beim Wissenschaftskolleg leider nicht hier sein kann, und ich danke auch Ihnen, verehrter Herr Cook, dem Kurator der Ausstellung. Als britischer Blick auf Deutschland und als Einladung zum Perspektivenwechsel und zur Völkerverständigung steht die Ausstellung exemplarisch für die zahlreichen exzellenten Kulturkooperationen, die Großbritannien und Deutschland – zum Glück! – auch in diesen nicht einfachen Zeiten des Umbruchs in der Europäischen Union verbinden. Mir ist sehr daran gelegen, dass Deutschland und Großbritannien im regen kulturellen Austausch ihre in gemeinsamen Werten wurzelnde Freundschaft pflegen. Ein herzliches Dankeschön deshalb auch den kooperierenden Einrichtungen, die – wie beispielsweise das Deutsche Historische Museum – Exponate als Leihgaben zur Verfügung gestellt haben, und natürlich Ihnen, lieber Herr Professor Sievernich, für die gelungene Präsentation im Martin-Gropius-Bau. Ich freue mich, dass ich Sie dabei mit zusätzlichen Mitteln aus meinem Kulturetat unterstützen konnte. Der Martin-Gropius-Bau erweist sich dabei einmal mehr als Schaufenster für herausragende internationale Projekte in Berlin, die kaum irgendwo sonst in einem so großen und ihrer Bedeutung angemessenen Rahmen gezeigt werden können. Deshalb plane ich, den Etat für den Martin-Gropius-Bau um 500.000 Euro zu erhöhen. Unter den Exponaten, die Ihnen beim Rundgang durch die Ausstellung als „Erinnerungen einer Nation“ begegnen, meine Damen und Herren, sind zahlreiche Objekte, die zwar im kollektiven Gedächtnis der Deutschen gespeichert sind, die Deutschland in Großbritannien aber in völlig neuem Licht erscheinen ließen – das Wägelchen zum Beispiel, mit dem eine Flüchtlingsfamilie aus Ostpommern nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Habseligkeiten nach Westen transportierte. Vielen Briten war die Vertreibungsgeschichte der Deutschen nicht bewusst. „Dieser Handwagen“ – so formulierte es Neil MacGregor in einer Rede – „hat das frühere Deutschlandbild vertieft und nuanciert. Hat ihm eine bisher unbekannte, rein menschliche Dimension gegeben.“ Mich persönlich hat vor zwei Jahren in London ein anderes Exponat ganz besonders berührt: Ernst Barlachs „Der Schwebende“, eine Bronze-Engel mit den Gesichtszügen der Künstlerin Käthe Kollwitz, entstand 1927 zum Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs. Er wurde 1937 als entartete Kunst von den Nationalsozialisten eingeschmolzen, überlebte aber das Dritte Reich in zwei späteren Abgüssen: einer in Ost- und einer in Westdeutschland. Für mich war es ein Gänsehaut-Moment, den Barlach-Engel als Schlusspunkt der Ausstellung „Germany: Memories of a Nation“ zu sehen. Ich hätte ihn dort nicht erwartet, und doch gehört er genau dorthin mit seiner Geschichte, die das ganze präzedenzlose Leid des 20. Jahrhunderts spiegelt. Er erzählte unseren britischen Nachbarn von den Toten des Krieges, von den Schrecken einer barbarischen Diktatur, von der deutschen Teilung. Wie auch der Handwagen der Flüchtlingsfamilie trug er in London zum Verstehen deutscher Vergangenheit bei. Verstehen ermöglicht Verständnis, und Verständnis ist die Voraussetzung für Verständigung. So werden aus historischen Zeugnissen Botschafter der Versöhnung und der Hoffnung. Heute sieht sich Deutschland als Partner in Europa und der Welt. Unser Bekenntnis zu einem vereinten Europa verbinden wir mit der großen Hoffnung, dass auch und gerade Großbritannien in Europa trotz Brexit weiterhin eine starke Stimme sein möge. Wir brauchen Großbritannien mit seiner langen Tradition der Demokratie und der Freiheit, um den Kulturraum Europa mit Leben zu erfüllen. Gerade uns Deutschen ist sehr daran gelegen, denn Großbritannien hat entscheidend dazu beigetragen, dass das politisch und wirtschaftlich zerstörte und auch moralisch verwüstete Deutschland nach dem 2. Weltkrieg wieder auf die Beine kam. Das werden wir den Briten niemals vergessen! Wie gegenwärtig dieses Geschenk Großbritanniens immer noch ist, illustriert ein bemerkenswerter Bucherfolg: Der Zufall wollte es, dass in Deutschland just zur Eröffnung der Ausstellung „Memories of a Nation“ in London vor zwei Jahren ein Zeitdokument auf den Bestsellerlisten landete, das die britische Sicht auf die Deutschen aus der Perspektive der Besatzer in den 1940er Jahren offenbart. „Instructions for British Servicemen in Germany 1944“, heißt das schmale Büchlein, das vom britischen Außenministerium rund fünf Monate nach der Landung der Westalliierten in der Normandie gedruckt wurde, um den Soldaten im feindlichen deutschen Gebiet Orientierung zu geben und sie auf ihre Aufgaben vorzubereiten. Darin finden sich teils kuriose Beobachtungen, etwa diese: „Sie sehen aus wie wir, nur dass es den drahtigen Typus seltener gibt, sondern eher große, fleischige, hellhaarige Männer und Frauen (…).“ Die Deutschen wüssten nicht, wie man Tee zubereitet, verstünden aber durchaus etwas von Kaffee, heißt es außerdem, und auf Befremden stößt die deutsche Sentimentalität: „Selbst kinderlose alte Ehepaare bestehen auf ihrem eigenen Weihnachtsbaum.“ Vor allem aber, und das macht die Lektüre so berührend, wirbt diese Schrift selbst im Angesicht der Gräuel, die Deutschland zu verantworten hat, für demokratische Zivilisiertheit, für Fairness und Humanität, ich zitiere aus dem englischen Original: „It is good for the Germans (…) to see that soldiers of the British democracy are self-controlled and self-respecting, that in dealing with a conquered nation they can be firm, fair and decent. The Germans will have to become fair and decent themselves, if we are to live with them in peace later on.“ Das Gedenken und die systematische Aufarbeitung unserer Vergangenheit sind heute ein maßgeblicher Teil unserer Kulturpolitik und unseres nationalen Selbstverständnisses. Wir haben Freiheit und Demokratie in Deutschland schätzen und lieben gelernt. Großbritannien hat alles in seiner Möglichkeit stehende getan, uns dabei zu helfen. Dadurch sind unsere Nationen sich wieder nahe gekommen. Umso trauriger bin ich als glühende Europäerin, dass Großbritannien – ausgerechnet unser naher Nachbar Großbritannien! – die Europäische Union verlässt und dass Europa sich gegenwärtig so schwer tut, in Krisenzeiten zusammen zu stehen. Möge die Ausstellung uns und all ihren Besucherinnen und Besuchern bewusst machen, wie kostbar Partnerschaft und Zusammenhalt in Europa sind!
Kulturstaatsministerin Grütters lobte die Ausstellung als ein Beispiel für die exzellente Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Großbritannien in der Kultur. Sie zeichne ein umfassendes und ausgewogenes Bild deutscher Geschichte und zeige auch sonst verborgene Facetten deutscher Identität. – Die Rede im Wortlaut:
Laudatio auf Alfred Brendel anlässlich der Verleihung des ECHO Klassik für das Lebenswerk
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/laudatio-auf-alfred-brendel-anlaesslich-der-verleihung-des-echo-klassik-fuer-das-lebenswerk-799580
Sun, 09 Oct 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut: Grütters
Berlin
Kulturstaatsministerin
Mit Tönen und Worten, mit Musik und Poesie gleichermaßen zu begeistern und zu berühren – das ist nur wenigen vergönnt. Robert Schumann hatte diese literarisch- musikalische Doppelbegabung. Und einer seiner berühmtesten Interpreten hat sie auch. Wir ehren ihn heute mit dem ECHO Klassik für sein Lebenswerk. Rund 60 Jahre lang hat Alfred Brendel die überwältigende Schönheit der Klavierkompositionen Schumanns, Beethovens, Schuberts, Mozarts, Haydns, Brahms‘ und Liszts mit seinem einfühlsamen und nuancenreichen Klavierspiel in ihrer ganzen Fülle und Tiefe erstrahlen lassen. Seine zu Recht als „epochal“ gerühmten Interpretationen machten ihn zu einem weltweit verehrten Meister des klassisch-romantischen Klavierrepertoires. Die „Poesie seines Spiels“, seine Art des „Musik-Erzählens am Klavier“ – wie es in der Jury-Begründung heißt lassen schon erahnen, dass seine musikalische Kunstfertigkeit nicht nur auf den Tasten eines Klaviers, sondern auch auf der Klaviatur der Sprache ihren Ausdruck findet. So hat Alfred Brendel sich als brillanter Essayist und profunder Kritiker, als feinsinniger Dichter und souveräner Stilist einen Namen gemacht. Nicht zuletzt seine ausgeprägte Vorliebe für feine Ironie und subtile Komik machen selbst musiktheoretische Abhandlungen zum sinnlichen Lesevergnügen. So erfahren wir in einer „Anmerkung zum vierhändigen Schubertspiel“ beiläufig, dass Alfred Brendel sich einmal bei der Aufführung von Beethovens Großer Fuge im Frack Daniel Barenboims verhakte. Und in der Auseinandersetzung mit großen Komponisten und ihren Werken fasst Alfred Brendel in prägnante Worte, was einen guten Interpreten, was geniales Klavierspiel ausmacht. „Es gibt Pianisten“, schreibt er, „die parasitär auf den Stücken leben oder als Podiumshyänen Meisterwerke wie Aas verzehren.“ Geniales Klavierspiel hingegen sei eines, das – ich zitiere weiter – „richtig und kühn zugleich ist. (…) Richtiges ist auch dem Könner erreichbar. Zur Kühnheit aber gehört jene Übertragung, die das Publikum in den Bann der Persönlichkeit zieht.“ Alfred Brendel selbst gehört zweifellos zu den kühnen Meistern, die Handwerk und Charakter, Metier und Magie zu genialem Klavierspiel vereinen und uns damit immer wieder in ihren Bann ziehen. Von den Bühnen und Konzertsälen hat er sich vor acht Jahren verabschiedet. Doch in unseren Wohnzimmern – oder wo auch immer Sie privat Ihrer Leidenschaft für klassische Musik frönen, meine Damen und Herren – wird er mit seinen Konzertmitschnitten und Studioaufnahmen immer gern gehörter Gast, geliebter Interpret, verehrter Künstler bleiben. Damit darf ich mich der Jury anschließen: Wir verneigen uns vor Ihnen, lieber Alfred Brendel, und danken Ihnen, dass Sie für uns einzigartige, unvergessliche Momente der Musik geschaffen haben. Herzlichen Glückwunsch zum ECHO Klassik für Ihr Lebenswerk!
Der international gefeierte Pianist Alfred Brendel wurde für sein Lebenswerk mit dem ECHO Klassik geehrt. Er gehöre zweifellos zu den kühnen Meistern, „die Handwerk und Charakter, Metier und Magie zu genialem Klavierspiel vereinen und uns damit immer wieder in ihren Bann ziehen“, stellte Kulturstaatsministerin Grütters in ihrer Laudatio fest.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Art Dinner der Bürgerstiftung Berlin
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Thu, 29 Sep 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Wer wie Sie Geld für einen guten Zweck sammelt, tut möglicherweise gut daran, sich zur Erhöhung des Spendenaufkommens mit Erkenntnissen der Evolutionspsychologie zu befassen. Sie könnten sich damit, sagen wir es mal so, gewisse Schwächen des männlichen Geschlechts zunutze machen. Britische Forscher haben nämlich herausgefunden, dass Männer mehr Geld spenden, wenn sie mitbekommen, dass andere Männer sich bereits großzügig gezeigt haben und gleichzeitig eine attraktive Frau als Spendensammlerin auftritt. Das mag politisch nicht korrekt sein, ist aber wissenschaftlich bewiesen. Jedenfalls hat eine große deutsche Tageszeitung entsprechende Erkenntnisse aus dem Fachjournal „Current Biology“ zitiert. Im Wettbewerb um den dicksten Geldbeutel will man(n) offenbar ganz vorne mit dabei sein. Biologen nennen das „kompetitives Balzverhalten“. Zur Ehrenrettung der Männer sei fürs Protokoll festgehalten, dass es ganz offensichtlich durchaus Alternativen zum evolutionsbiologischen Ansatz gibt: Man lade ein zum „Art Dinner“ präsentiere exquisite Fotokunst zum Verkauf und kann für den guten Zweck gleich doppelt Gewinn aus gutem Geschmack ziehen – kulinarisch wie künstlerisch. Jedenfalls wünsche ich eben das der Bürgerstiftung Berlin und habe deshalb gerne die Schirmherrschaft für den heutigen Abend übernommen. Im Kleinen das Große verändern, wie es auf Ihrer Website so schön heißt, liebe Frau Dr. von Joest: Das ist Ihnen, Ihrem Team und den rund 350 Ehren-amtlichen der Bürgerstiftung Berlin in den vergangenen Jahren immer wieder gelungen, insbesondere mit Ihrer Unterstützung für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Familien, in denen kein oder kaum Deutsch gesprochen wird. In Berlin leben viele solche Familien, auch und nicht zuletzt in meinem Wahlkreis, in Marzahn-Hellersdorf: Familien, in denen die Kinder oft die einzigen sind, die morgens das Haus verlassen; Familien, in denen sich niemand dafür interessiert, ob sie gut in der Schule sind – ja, ob sie überhaupt in der Schule sind; Familien, in denen Kinder keine Zukunftsträume und Perspektiven haben, weil sie die Welt jenseits von Hartz IV schlicht nicht kennen. Damit darf eine Gesellschaft, damit dürfen wir uns nicht abfinden! Deshalb bin ich froh und dankbar, dass es Menschen gibt, die sich in der Bürgerstiftung Berlin engagieren, um Kindern und Jugendlichen Bildungs-und Teilhabechancen zu eröffnen: mit glänzenden Projektideen von der „Tomatenparade“ bis zum „Interaktiven Bilderbuchkino“ – Ideen, die einmal mehr zeigen, wieviel kreatives Potential in unserer Stadt steckt, und zwar durchaus nicht nur in der Kunst- und Kulturszene … . Ein herzliches Dankeschön all jenen, die am Erfolg der Bürgerstiftung Berlin Anteil haben! Bürgerschaftliches Engagement, meine Damen und Herren, lässt sich natürlich nicht staatlich verordnen oder gar politisch steuern. Die Politik kann dafür aber den Boden bereiten. Sie kann durch geeignete rechtliche Rahmenbedingungen dafür sorgen, dass Menschen sich für den Zustand und die Entwicklung unserer Gesellschaft verantwortlich fühlen und selbst etwas bewegen können. Aus diesen Überlegungen heraus sind die zahlreichen Privilegierungen des gemeinnützigen Sektors insbesondere im Steuerrecht entstanden. Und aus eben diesen Überlegungen heraus haben Union und FDP in der vergangenen Legislaturperiode das Gesetz zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements beschlossen, an dessen Vorbereitung ich damals noch als Vorsitzende des Kulturausschusses intensiv beteiligt war. Seit 2013 treten die Änderungen stufenweise in Kraft; sie entfalten sich also gerade erst vollständig und erleichtern die Stiftungsarbeit, etwa durch die Flexibilisierung der Mittelverwendung oder die Anhebung der Übungsleiter- und Ehrenamtspauschalen. Im aktuellen Koalitionsvertrag haben Union und SPD vereinbart, darüber hinaus auch die Voraussetzungen für ehrenamtliches Engagement weiter zu verbessern. Zu diesen Voraussetzungen gehören nicht zuletzt die öffentliche Anerkennung und Wertschätzung des ehrenamtlichen Engagements. In diesem Sinne setze ich mich dafür ein, dass ehrenamtlich Engagierte über so genannte Ehrenamtskarten ermäßigten Eintritt oder andere Vergünstigungen in öffentlich geförderten Kultureinrichtungen erhalten, so wie beispielsweise in Einrichtungen der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten und der Stiftung Jüdisches Museum Berlin. Auch Sie, meine Damen und Herren, unterstützen heute mit Ihrer Teilnahme an diesem Art Dinner, mit Ihren Spenden und vielleicht auch mit dem Erwerb einer Fotomappe das ehrenamtliche Engagement in unserer und für unsere Stadt. Herzlichen Dank dafür! Auch Sie tragen heute dazu bei, im Kleinen das Große zu verändern. Dass es sich lohnt, an die Veränderbarkeit des Großen im Kleinen zu glauben und dafür zu kämpfen, dafür steht gerade Berlin in besonderer Weise – die Stadt, in der die von DDR-Bürgerinnen und Bürgern initiierte und getragene Friedliche Revolution die Mauer zu Fall brachte. Das ist nicht zuletzt deshalb der Erwähnung wert, weil die Fotografien Günther Krügers aus dem Jahr 1962, die heute zum Verkauf stehen, die damals gerade errichtete Mauer zeigen – und weil der heutige 29. September, an dem Sie diese Fotos einmalig und in limitierter Auflage erwerben können, just der Tag war, an dem 1990 der Einigungsvertrag (- er besiegelte die staatliche Einheit Deutschlands -) in Kraft getreten ist. Vermutlich nur ein schöner Zufall, der uns aber noch einmal eindringlich vor Augen führt, was der Wille zur Veränderung bewirken kann. In diesem Sinne jedenfalls wünsche ich uns allen einen gewinnbringenden Abend, der die Kasse der Bürgerstiftung klingeln lässt und den Ehrenamtlichen beim Helfen hilft – auf dass auch junge Menschen aus bildungsfernen Familien die Zuversicht entwickeln, in ihrem Leben im Kleinen Großes verändern zu können!
Beim Art Dinner hat Kulturstaatsministerin Grütters allen gedankt, die sich in der Stiftung engagieren, Kindern und Jugendlichen Bildungs-und Teilhabechancen zu eröffnen. Sie werde sich weiter für politische Rahmenbedingungen stark machen, in denen sich bürgerschaftliches Engagement entwickeln könne. „Dazu gehört nicht zuletzt die öffentliche Anerkennung und Wertschätzung“, so Grütters. – Die Rede im Wortlaut
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Verleihung des Deutschen Buchhandlungspreises
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-verleihung-des-deutschen-buchhandlungspreises-445418
Wed, 05 Oct 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Heidelberg
Kulturstaatsministerin
„Ein Leser hat’s gut“, meinte Kurt Tucholsky, „er kann sich seine Schriftsteller aussuchen.“ Was Tucholsky womöglich nicht wusste: Ein Leser in Heidelberg hat’s noch besser! Denn in keiner anderen deutschen Stadt haben Lesebegeisterte mehr Platz vor den Bücherregalen, um sich ihre Schriftsteller auszusuchen. Hier gibt es – gemessen an der Einwohnerzahl – so viele Buchhandlungen wie nirgendwo sonst in Deutschland. Aber das ist längst nicht alles: Zahlreiche Antiquariate, Bibliotheken und Verlage sind in Heidelberg ansässig, eine lebendige Autoren-, Übersetzer- und Theaterszene sorgt ständig für literarischen Nachschub; der Clemens Brentano Preis und der Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil werden außerdem in der Neckarstadt verliehen, die zu Recht den Titel „UNESCO City of Literature“ trägt. Es könnte also kaum einen passenderen Ort für die zweite Verleihung des Deutschen Buchhandlungspreises geben als die Literaturstadt Heidelberg – zumal in diesem wunderschönen spätklassizistischen Theater! Für Ihre Gastfreundschaft im schönen Heidelberg danke ich Ihnen sehr herzlich, lieber Herr Dr. Gerner. Es ist immer wieder wunderbar, in dieser an Kultur und Geistesgeschichte so reichen Stadt zu Gast zu sein und zu sehen, dass die „Metropolregion Rhein-Neckar“ nicht nur geballte Wirtschaftskraft zu bieten hat: In fruchtbarer Nachbarschaft mit der „UNESCO City of Music“ Mannheim ist ja mindestens auch die „Kulturregion Rhein-Neckar“ entstanden. Und weil auch heute Abend die Musik nicht fehlen darf, erfreut uns einmal mehr das Ensemble Modern mit seiner Kunst. Vielen Dank den Musikerinnen und Musikern für den schönen Auftakt mit Strawinsky und Beethoven! „Wer noch liest, rebelliert“, verkündete kürzlich die Süddeutsche Zeitung. Die Rebellion der Lesenden äußere sich darin, dass sie an ihrer Leidenschaft festhalten, obwohl der Roman auf dem Nachttisch als Small-Talk-Thema längst ausgedient habe. Bei Sekt und Häppchen spreche man lieber über Fußball, das Wetter – und (amerikanische) Serien, weil heute angeblich aufgrund der Fülle an Veröffentlichungen selten dieselben oder – aus Zeitgründen – vielfach auch überhaupt keine Bücher mehr gelesen werden. Nun sollte die „Small-Talk-Tauglichkeit“ vielleicht nicht das Maß aller Dinge sein … . Dennoch ist es wichtig, dass all die „Aufständischen“, die gegen Amazon- und Netflix-Konkurrenz rebellieren, in den Buchhandlungen vor Ort ihre Komplizen finden! Komplizen der Leseleidenschaft – das sind die 118 Buchhändlerinnen und Buchhändler, die wir heute Abend mit dem Deutschen Buchhandlungspreis auszeichnen: Sie kennen Klassiker ebenso wie Neuerscheinungen, weisen Wege durch die weite Welt der Bücher, machen neugierig auf weniger bekannte Titel und Autoren, raten zu oder ab, wecken und stärken die Lesebegeisterung und leisten so übrigens einen wichtigen Beitrag zur literarischen und kulturellen Vielfalt in unserem Land. Weil diese kulturelle Vermittlertätigkeit wichtiger ist denn je in Zeiten, in denen die Konzentration auf dem Buchmarkt und die Konkurrenz des Online-Handels voranschreiten, vergeben wir heute Abend in drei verschiedenen Kategorien Preise im Wert von insgesamt 850.000 Euro – auch als Anerkennung für den Mut, sich mit Individualität und innovativen Geschäftsmodellen in einem schwierigen Markt zu behaupten, in dem der unternehmerische Spielraum für kleinere Buchhandlungen gewaltig schrumpft. Erstmals vergeben wir in diesem Jahr – auf Initiative der Partner des Preises, des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und der Kurt Wolff Stiftung, – ein undotiertes Gütesiegel. Damit wollen wir auch den Buchhandlungen zu mehr öffentlicher Wahrnehmung verhelfen, die – im Gegensatz zu den anderen Preisträgern – jährlich mehr als eine Million Euro Umsatz erwirtschaften. Für die unabhängige Jury war das mit einer Menge Arbeit verbunden, und ich bin dankbar, dass wir dabei auch hier wieder auf die „Komplizen der Leseleidenschaft“ zählen konnten. Herzlichen Dank Ihnen, liebe Frau Radisch, und allen Mitgliedern, für Ihr großes, ehrenamtliches Engagement! Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Jury es nie allen recht machen kann – schon gar nicht allen Bewerbern. In diesem Jahr gab es vereinzelt Unmut, dass einige Buchhandlungen, die sich zum zweiten Mal beworben haben, wieder nicht, andere erneut mit einem Preis bedacht wurden. Das kann man nicht der unabhängigen Jury zum Vorwurf machen, auf deren Entscheidungen ich und mein Haus selbstverständlich keinen Einfluss nehmen. Wir werden uns aber – wie üblich bei Preisen dieser Art – nach der zweiten oder dritten Preisverleihung mit der Jury treffen, um unter anderem zu diskutieren, wie wir die Regeln und Kriterien der Vergabe weiterentwickeln können. Wichtig ist mir, dass wir Buchhändlerinnen und Buchhändler unterstützen, die die den großen Ketten und dem Online-Handel mit originellen Geschäftsideen begegnen. Denn gerade sie stellen sicher, dass es auch abseits der Bestsellerlisten Aufmerksamkeit gibt für lesenswerte Bücher: für außergewöhnliche Geschichten, für ungehörte – und unerhörte – Stimmen, für neue Perspektiven. Die Wertschätzung und die Förderung dieser Vielfalt und Freiheit ist Teil unseres Demokratieverständnisses, allein schon deshalb, weil Bücher zur freien Meinungsbildung und zu einer aufgeklärten, kritischen Öffentlichkeit beitragen, aber auch, weil Demokratie – wie Jean Paul das schon vor 200 Jahren so treffend formuliert hat – „ohne ein paar Widersprechkünstler […] undenkbar [ist].“ Wir brauchen die Künstler und Intellektuellen, die Querdenker und Freigeister, deren Werke wir in den Regalen unabhängiger Buchhandlungen finden! Sie sind der Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft, der verhindert, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Nicht zuletzt kann Literatur denen eine Stimme geben, die sonst kein Gehör finden. Sie kann uns nötigen, die Perspektive zu wechseln und die Welt aus anderen Augen zu sehen. Deshalb werde ich in meinem Haus – so ist es geplant, und dafür ist auch ein entsprechendes Budget vorgesehen – ab 2017 einen neuen Förderschwerpunkt „Literatur“ setzen: Mit den zusätzlichen Mitteln wollen wir in den Bereichen „Literarisches Erbe“, „Literarische Gegenwart“ und „Sprache“ Projekte von bundesweiter Bedeutung fördern. Wichtig ist mir auch, mit Autorinnen und Autoren zu sprechen und mehr über ihre Lebens- und Arbeitssituation zu erfahren. Dabei liegt mir die Lyrik ganz besonders am Herzen: Einige Gedichtbände wurden in den vergangenen Jahren mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet – diese Aufmerksamkeit wünsche ich mir für alle Lyrikerinnen und Lyriker. Mehr Beachtung verdienen auch Übersetzerinnen und Übersetzer, die ja eine ungeheure eigenständige kreative Leistung erbringen, dafür in meinen Augen aber immer noch viel zu wenig gewürdigt werden. Walter Benjamin hat einmal gesagt: „Von allen Arten, sich Bücher zu verschaffen, wird als die rühmlichste betrachtet, sie selbst zu schreiben.“ Ich meine: Nicht weniger rühmlich ist die Buch-Beschaffung in der kleinen Buchhandlung des Vertrauens. Und deshalb wünsche ich den 118 Buchhandlungen, die wir heute auszeichnen, dass unser Preis das öffentliche Bewusstsein schärft für rühmliche und weniger rühmliche Arten, sich Bücher zu verschaffen. Denn letztlich ist es immer noch das Kaufverhalten der Kunden, das darüber entscheidet, ob sich die Buchhandlungen vor Ort erfolgreich gegen die Konkurrenz im Internet behaupten können. In diesem Sinne: Auf die Komplizenschaft zwischen Lesern und Buchhändlern! Herzlichen Glückwunsch zum Deutschen Buchhandlungspreis!
Buchhändlerinnen und Buchhändler leisteten einen wichtigen Beitrag zur literarischen und kulturellen Vielfalt, betonte Kulturstaatsministerin. Deren Arbeit als „kulturelle Vermittler“ werde zunehmend schwieriger. Die Auszeichnung mit dem Deutschen Buchhandlungspreis sei auch Anerkennung für den Mut, sich mit Individualität und innovativen Geschäftsmodellen in einem schwierigen Markt zu behaupten. – Die Rede im Wortlaut:
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Tag der Deutschen Industrie am 6. Oktober 2016 in Berlin
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Thu, 06 Oct 2016 10:30:00 +0200
Berlin
Majestät, liebe Königin Rania, sehr geehrter, lieber Herr Grillo, meine Damen und Herren, herzlichen Dank für die Einladung zum diesjährigen Tag der Deutschen Industrie. Lieber Herr Grillo, ich möchte Ihnen auch für Ihr ausdrückliches Eintreten für eine offene Gesellschaft danken. Es ist wichtig zu wissen, dass die deutsche Industrie dieses Konzept nicht nur für richtig hält, sondern auch deutlich macht, dass wir auch in stürmischen Zeiten dazu stehen. Das ist gerade auch angesichts großer Herausforderungen von größter Bedeutung. Denn vor Herausforderungen stehen wir – sei es durch die vielen Menschen, die in unserem Land Zuflucht suchen, sei es durch das Votum der britischen Wählerinnen und Wähler, die sich für ein Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union entschieden haben, sei es durch die vielen Krisenherde auch in unmittelbarer Umgebung der Europäischen Union oder auch dadurch, dass aufsteigende Länder wie zum Beispiel China die Wettbewerbssituation immer wieder verändern. Deutschland steht im Augenblick wirtschaftlich gut da. Das hilft uns bei der Bewältigung dieser Probleme. Aber wir wissen natürlich, dass das eine Momentaufnahme ist und dass dies in Zeiten dynamischer Entwicklungen Tag für Tag wieder erarbeitet werden muss. Wir wissen auch, dass die deutsche Industrie einen großen Beitrag dazu leistet, dass Deutschland gut dasteht. Das Bruttoinlandsprodukt lag im vergangenen Jahr gut 30 Prozent über dem Niveau des Jahres 2005. Überlegen Sie, welche Zeiten wir zwischendurch mit der internationalen Finanzkrise durchgemacht haben. Das zeigt, dass wir auch in krisenhaften Zeiten einen guten Pfad eingeschlagen haben. Die deutsche Industrie hat maßgeblichen Anteil daran. Die Zahl der Erwerbstätigen ist Jahr für Jahr gestiegen. Wir haben jetzt über 43 Millionen Erwerbstätige. Auch die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse ist gestiegen. Die gute Haushaltslage wirkt sich positiv aus. Wir werden jetzt kleinere Steuerentlastungen auf den Weg bringen können, die sich 2017 und 2018 dann aber doch auf über sechs Milliarden Euro summieren. Wir werden auch das Thema Kalte Progression angehen. Das ist im Augenblick durch die niedrigen Zinssätze kein zentrales Thema, aber es wird, denke ich, systemisch auch von Ihnen für richtig erachtet. Zweitens werden wir, wenn sich die wirtschaftliche Entwicklung so fortsetzt, auch für die nächste Legislaturperiode Spielräume haben, um Steuern zu senken. Das kommt gerade auch denen zugute, die heute im mittleren Einkommensbereich unter der starken Progression leiden. Ich denke, dass eine solide Haushaltspolitik auch angesichts der demografischen Veränderungen wichtig ist, denen wir entgegensehen. Die schwarze Null ist nicht, wie es manchmal dargestellt wird, eine Art Fetisch von einfallslosen Leuten, sondern sie ist die Aussage, dass wir keine weiteren Schulden auf Kosten der nächsten Generation machen. Das ist eine wichtige politische Aussage. Trotzdem haben wir Raum für deutlich mehr Investitionen als in der vergangenen Legislaturperiode – sowohl in die Verkehrsinfrastruktur als auch in die digitale Infrastruktur. Ich komme gleich darauf zurück. Aber wir haben im Augenblick durchaus eine Situation, in der es Engpässe bei den Planungskapazitäten gibt. Wir suchen schon europaweit Planungsfachleute – in Spanien, Portugal und anderswo. Das heißt, wir können das Geld, das vorhanden ist, im Augenblick gar nicht schnell genug ausgeben. Wir müssen unbedingt aufpassen, dass wir nicht weitere Zeitverzögerungen bekommen. Wir stehen vor großen Herausforderungen. Ich will das Stichwort Energiepolitik nennen. Wir sind in der Mitte einer Energiewende. Wir haben erhebliche Veränderungen vorgenommen, auch durch die jüngste Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Die Europäische Union hat uns im Grunde genommen gezwungen – richtigerweise, sonst wären wir, denke ich, dazu nicht gekommen –, uns mit den Ausschreibungsmodalitäten für den zukünftigen Ausbau der erneuerbaren Energien zu befassen. Das ist ein Paradigmenwechsel. Den spüren Sie heute natürlich noch nicht, weil das erst ab 2018 wirkt. Aber das wird die Landschaft noch einmal deutlich verändern. Wir müssen natürlich wegkommen von so etwas wie einem Rechtsanspruch auf weitere Kapazitäten bei erneuerbaren Energien und hinkommen zu mehr Marktkonformität. Wir müssen vor allen Dingen beim Leitungsausbau besser werden. Denn es hat natürlich keinen Sinn, Energie zu produzieren, um sie dann anschließend zwar zu bezahlen, aber nicht dahin zu lenken, wo sie gebraucht wird. Wir stehen auch vor großen Herausforderungen, was die Fragen der sozialen Sicherungssysteme anbelangt. Sie haben das, meine ich, heute bereits im Rundfunk angesprochen. Wir werden heute im Koalitionsausschuss darüber beraten. Auf der einen Seite sind die Lohnzusatzkosten neben den Steuern natürlich ein wichtiges Element, das die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland bestimmt. Auf der anderen Seite müssen wir als Politiker auch die Demografie und die Fragen der sozialen Gerechtigkeit immer im Auge haben. Das heißt, auch hierbei werden große Aufgaben auf uns zukommen. Herr Grillo, Sie haben den Klimaschutzplan erwähnt. Wir wollten Ihnen eine Beteiligung der deutschen Wirtschaft offiziell erst zugänglich machen, wenn wir der Meinung sind, dass das ein Werkstück ist, das man Ihnen auch präsentieren sollte. Die interne Meinungsbildung muss schon noch stattfinden. Seien Sie ganz entspannt. Das erspart viel Nervenkraft, die Sie anderswo einsetzen können. Dennoch will ich deutlich machen, dass wir uns in einer Zeit der Veränderungen befinden und dass die deutsche Exportstärke auch immer daran geknüpft war, dass wir neueste Technologien beherrschen. Wenn ich mir anschaue, wie Automobilzulassungen zum Beispiel in China funktionieren und mit welcher Verve dort die E-Mobilität vorangebracht wird, dann komme ich zu dem Ergebnis, dass es richtig gewesen ist, Zuschüsse für die Förderung der Elektromobilität zu geben, auch wenn das politisch sehr umstritten war. Aber solch ein leichter Druck in Richtung Innovation ist auch nicht schlecht. Ich weiß, in der Wirtschaft weiß man das alles auch selbst. Aber manchmal helfen auch die Rahmenbedingungen, exportfähige Produkte bei uns herzustellen. In einem entsprechend konstruktiven Miteinander werden wir auch über den Klimaschutzplan sprechen. Im Übrigen darf ich sagen: Sie haben aufmerksame Verbände, die manchmal schon wissen, was in den Stuben los ist, bevor es mich erreicht hat. Insofern: Machen Sie sich keine Sorgen, dass Sie nicht ausreichend beteiligt sind. Das geschieht schon von allein. Dass das Thema Erbschaftsteuer von Ihnen heute nur noch in einem Nebensatz gestreift wurde, war des Lobs genug und zeigt, dass wir uns für den Mittelstand und gerade für die Familienunternehmen einsetzen, was uns als Bundesregierung wirklich ein Herzensanliegen ist, weil es sich um einen wichtigen Pfeiler der deutschen Wirtschaft handelt. Die Erbschaftsteuerfrage zu klären, haben wir gerade noch zur rechten Zeit geschafft. Ich darf Sie noch darauf aufmerksam machen, dass wir in der Bundesregierung im Rahmen des Bürokratieabbaus einen Grundsatzbeschluss gefasst haben: One in – one out. Für jedes Gesetz, das neue Berichtspflichten mit sich bringt, müssen aus der Liste der bestehenden Gesetze Lasten in gleichem Maße verringert werden. Das ist eine ziemlich große Herausforderung, aber wir haben sie bis jetzt ganz gut bewältigt. Zu den politischen Aufgaben will ich nur sagen, dass wir im Augenblick intensiv über die zukünftigen Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern sprechen. Wir haben die Finanzstruktur der Kommunen sehr stark verbessert, weil wir wissen, dass leistungsfähige Kommunen eben auch das Lebensumfeld der Menschen unmittelbar bestimmen. Eine große Herausforderung für die Gesellschaft und die deutsche Wirtschaft ist mit Sicherheit die voranschreitende Digitalisierung. Wir sind auf einem Ausbaupfad, was die Infrastruktur anbelangt: 50 Megabit pro Sekunde bis 2018. Dabei wissen wir, dass das für jeden Haushalt erst mal schön ist, aber natürlich die großen infrastrukturellen Herausforderungen gerade für die deutsche Wirtschaft nicht löst, weshalb wir uns dann den Gigabitzahlen zuwenden müssen, um in der Bundesrepublik Deutschland Industrie 4.0, Telemedizin und das autonome Fahren voranzubringen. Das alles sind sehr neue und innovative, zum Teil disruptive Entwicklungen, die Deutschland mitgestalten muss. Ich habe es schon oft gesagt und will es hier wiederholen: Wir wissen, dass die nächsten fünf oder vielleicht zehn Jahre darüber entscheiden werden, ob wir bei der industriellen Leistungsfähigkeit vorne mit dabei sein werden oder ob wir durch die Digitalisierung an zu vielen Stellen eine verlängerte Werkbank werden. Diese Schlacht bzw. dieser Wettbewerb findet im Augenblick in vollem Umfang statt. Sie alle sind davon betroffen. Deshalb wollen wir mit geeigneten staatlichen Rahmenbedingungen auf jeden Fall unterstützend tätig sein. Dazu dient uns die Plattform Industrie 4.0. Wir arbeiten dort sehr gut zusammen. Das tun wir im IT-Dialog insgesamt. Demnächst wird der IT-Gipfel im Saarland stattfinden. Wir haben in den vergangenen Jahren sehr gute und, wie ich finde, auch innovative Kooperationsformen entwickelt, die nicht einfach darauf beruhen, dass der eine fordert und der andere liefert oder eben nicht liefert, sondern mit deren Hilfe man sich in einem Neuland gemeinsam zu bewegen versucht. Ehrlich gesagt: Wir brauchen dabei auch technologischen Sachverstand, weil wir sonst gar nicht die richtigen Gesetze verabschieden können. Das gilt im Grunde auch im Hinblick auf die Gestaltung eines digitalen Binnenmarkts. Aber das ist nicht die einzige Herausforderung. Die Europäische Union ist in einer schwierigen Situation; das ist richtig. Aber sie ist auch Teil vieler Lösungen. Der Austritt Großbritanniens ist ein tiefer Einschnitt. Wir wissen noch nicht genau, wie die Verhandlungen stattfinden, denn die Briten müssen erst einmal einen Antrag nach Artikel 50 EU-Vertrag stellen. Die britische Premierministerin hat dies für spätestens Ende März angekündigt. Erst dann beginnen die Verhandlungen. Es werden keine einfachen Verhandlungen werden. Ein Punkt wird uns dann beschäftigen, der von Industriesektor zu Industriesektor unterschiedlich beurteilt werden wird, nämlich die Frage, wie viel Zugang zum Binnenmarkt Großbritannien bekommt – reziprok dazu: wie viel Zugang wir zum britischen Markt bekommen – und inwieweit wir bereit sind, diesen Zugang politisch damit zu verknüpfen, dass die vier Grundfreiheiten gewährt werden. Wir müssen unsere Interessen möglichst kohärent machen, damit über die europäischen Industrieverbände nicht unentwegt Druck auf uns ausgeübt wird, auch bei Nichteinhaltung der vier Freiheiten, insbesondere der Personenfreizügigkeit, doch den vollständigen Zugang zum Binnenmarkt zu gewähren, weil das ja bequem ist. Aber wenn wir nicht sagen, dass der Zugang zum Binnenmarkt mit der Akzeptanz der vier Grundfreiheiten verknüpft ist, dann wird sich in Europa ein Prozess breitmachen, in dem jeder tut und lässt, was er will. Das wäre dann außerordentlich kompliziert. Wir haben uns als Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten kürzlich in Bratislava getroffen. Ich persönlich habe mit nahezu allen Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch in kleineren Gruppen schon während des Sommers gesprochen. Wir haben uns eine Agenda gesetzt, die erst einmal einen Bogen von heute bis hin zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge im März 2017 spannt. Wir gehen davon aus, dass Europa im Augenblick keine umfassenden Vertragsänderungen oder Kompetenzverschiebungen braucht, sondern dass die Menschen in Europa zwei Dinge vermissen. Das eine ist, dass Entscheidungen oft viel zu lang dauern. Denken wir an die Gestaltung des digitalen Binnenmarkts. Kommissarin Neelie Kroes hat geschlagene fünf Jahre damit verbracht, ein erstes Telekommunikationspaket auf den Weg zu bringen, ohne dass irgendetwas Maßgebliches passiert ist. Dann haben die Regierungschefs die Sache in die Hand genommen, weil die Mitgliedstaaten oft mit nicht abgestimmten Positionen in den Räten vertreten waren und daher natürlich keinerlei Ergebnis möglich war. Da kann die Kommission noch so gute Vorschläge machen. Dass es uns inzwischen gelungen ist, so etwas wie Netzneutralität zu definieren, dass wir auf einem guten Weg sind, die Frequenzbänder für 5G abzustimmen, dass alle Mitgliedstaaten ihren Beitrag dazu leisten – all das sind Punkte, an denen wir arbeiten und an denen wir auch weiterarbeiten müssen. Wir haben die Datenschutz-Grundverordnung verabschiedet. Sie enthält zwar noch ziemlich viele unbestimmte Rechtsbegriffe; man muss sehen, was sich daraus entwickelt. Aber die gesamte Vorschlagspalette, jetzt auch von Günther Oettinger, im Zusammenhang mit der Ausgestaltung des digitalen Binnenmarkts, was Plattformwirtschaft und Ähnliches anbelangt, betrifft Rechtsakte, die darüber entscheiden werden, ob wir uns die Vorzüge Europas nutzbar machen oder ob wir letztlich in Kleinstaaterei verharren. Die Kommission ist jetzt sogar dazu bereit, über Fusionen und darüber zu sprechen, wie viele Telekommunikationsunternehmen wir brauchen, um international wettbewerbsfähig zu sein und Investitionen tätigen zu können. Es ist also einiges in Gang gekommen. Das wollen wir als Regierungschefs zwar nicht im Detail verhandeln, aber begleiten. Und wir wollen immer wieder überprüfen, ob einzelne Nationalstaaten dabei auf die Bremse drücken oder ob wir schnell genug vorankommen. Geschwindigkeit – das ist also ein Punkt, bei dem Europa besser werden muss. Der zweite Punkt ist, dass wir das, was wir uns vornehmen, auch einhalten müssen. Wir haben an die 80 Festlegungen. Zum Beispiel sollte jedes Land drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung ausgeben. Wenn das drei Länder in der Europäischen Union tun, ist schon viel gewonnen. Man hat sich also vieles vorgenommen, vieles wurde aber oft nicht eingelöst. Das enttäuscht die Menschen. Deshalb muss Europa das, was es sich vornimmt, auch einhalten. Ich denke, dann wird das Ganze auch wieder ein etwas mehr geerdeter Prozess. Schwerpunkte sind jetzt: Arbeitsplätze, ganz besonders auch im Zusammenhang mit dem digitalen Binnenmarkt, sowie innere und äußere Sicherheit. Man hat ja gesehen, dass wir große Schwierigkeiten mit dem Schutz der Außengrenzen hatten. Wir alle stehen vor der Herausforderung des Terrorismus. Das sind Dinge, die wir vertieft bearbeiten müssen. Noch einmal zurück zum Thema Digitalisierung. Ein Besuch in Estland zeigt, dass Deutschland, was E-Government und Bürgerbeteiligung an digitalen Entwicklungen anbelangt, bestenfalls im hinteren Mittelfeld steht. Angesichts einer älter werdenden Bevölkerung ist es von entscheidender Bedeutung, die Bevölkerung mit den Möglichkeiten der Digitalisierung vertraut zu machen, auch im Zusammenhang mit dem Leben des Bürgers in seinem Staat auf allen föderalen Ebenen. Die Themen E-Government, Bürgerportale und die Frage, welche Leistungen und Behördenvorgänge sich auf allen föderalen Ebenen digital erledigen lassen, sind zentrale Herausforderungen für die nächsten Jahre. Wir werden intensiv darüber diskutieren müssen, wie wir unsere Sicherheitsvorstellungen mit den Vorstellungen leichter Prozesserledigung zusammenbringen. Wir müssen uns hierbei für moderne und zukunftsfähige Wege entscheiden. Wir müssen auch eine gesellschaftliche Debatte darüber führen, dass Daten der Rohstoff der Zukunft sind und dass das uns einst vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Prinzip der Datensparsamkeit nicht mehr zur heutigen Wertschöpfung passt. Denn heute sind Daten Rohstoffe. Daten müssen zu neuen Produkten verarbeitet werden. Wer an diesem Teil der Produktion nicht teilnimmt, wird auch nicht die Arbeitsplätze der Zukunft schaffen können. Offene Gesellschaft – das bedeutet natürlich auch: offen für globalen Handel. Herr Grillo hat es angesprochen. Bei CETA sind wir gut vorangekommen. Auch im europäischen Kontext kann man davon ausgehen, dass wir die Unterzeichnung und die Ratifizierung hinbekommen werden. Der Diskussionsprozess war intensiv und umfassend, um es vorsichtig auszudrücken. Eigentlich ist es erstaunlich: Mit allen Handelsabkommen, die wir in der Vergangenheit geschlossen haben, haben wir immer nur gute Erfahrungen gemacht. Ich sehe hier Matthias Wissmann – was haben wir uns im Zusammenhang mit Südkorea für Gedanken gemacht. Heute können wir sagen: 50 Prozent mehr Exporte. Ich höre auch nicht, dass die deutsche Automobilindustrie dabei zugrunde gegangen ist, sondern im Gegenteil. Wir haben durch Handelsabkommen, wenn wir dieses Wagnis eingegangen sind, doch eigentlich immer gewonnen. Es ist richtig, dass TTIP und CETA eine neue Qualität von Handelsabkommen darstellen, weil man sich nicht nur um Zölle und technische nichttarifäre Hemmnisse kümmert, sondern gleichzeitig um Verbrauchsstandards, Umweltstandards und Sozialstandards. Das ist ja richtig. Denn wenn wir Globalisierung gestalten wollen und wenn wir sie so gestalten wollen, dass menschenwürdige und vernünftige Arbeit möglich ist, dann ist es doch nur angebracht, auch über Standards im Zusammenhang mit Umweltfragen, Verbraucherschutz und sozialen Fragen zu sprechen. Aber genau an diesem Punkt beginnt die Skepsis. Deshalb werbe ich sehr dafür, nicht nur die Verhandlungen zu TTIP so lange weiterzuführen, wie es möglich ist und wie der Kongress der Administration von Barak Obama dazu die Möglichkeit eröffnet hat, um möglichst viel zu erreichen – ich denke, bei gutem politischen Willen könnte man ziemlich viel erreichen –, sondern auch die Chancen zu sehen, dass neben einem Abbau von Zöllen sehr viel mehr von den offenen westlichen Gesellschaften in die Gestaltung der Globalisierung eingebracht werden kann, als es geschehen würde, wenn wir es anderen überlassen, miteinander Abkommen abzuschließen. Ich sage es ganz vorsichtig: Die Tatsache, dass ein Freihandelsabkommen, das wir mit Russland verhandeln würden, wahrscheinlich nur die Hälfte aller Diskussionen mit sich bringen würde – inklusive des Verhandelns über phytosanitäre Standards und der Frage, ob man Hühnchen aus Polen nach Russland einführen darf oder nicht –, muss uns doch zu denken geben. Geht es um die Sache oder geht es um etwas ganz anderes? Das führt mich dazu, darauf hinzuweisen, dass heute der 6. Oktober ist und dass dieser Tag in den USA alljährlich als Deutsch-Amerikanischer Tag begangen wird. Herr Botschafter, wir freuen uns darüber. Vor genau 333 Jahren erreichte erstmals eine größere Gruppe deutscher Auswandererfamilien Nordamerika. Ihnen sollten im Laufe der Jahrhunderte noch Millionen Deutsche folgen. Ich spreche auch ein Dankeschön dafür aus, dass so vielen während der Zeit des Nationalsozialismus Asyl gewährt wurde. Auch deshalb lege ich ein ausdrückliches Bekenntnis zu den transatlantischen Beziehungen gerade auch am heutigen Tag ab. Wir Deutsche haben in unserer Geschichte viele Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung gemacht; bittere Erfahrungen. Deshalb ist es wichtig, dass wir zur Kenntnis nehmen, dass es heute so viele Flüchtlinge und Vertriebene gibt wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr: über 65 Millionen. Gerade auch die Anwesenheit von Königin Rania weist darauf hin, wie sehr sich Jordanien in die Flüchtlingshilfe einbringt. Ich denke, die riesige Zahl, die Sie, Herr Grillo, genannt haben, ist eigentlich noch zu klein. Ich denke auch daran, dass schon seit Jahrzehnten viele palästinensische Flüchtlinge in Jordanien leben. Nun kamen der Krieg in Syrien und der Krieg im Irak dazu. Es war richtig und wichtig, dass wir auf der Londoner Konferenz versucht haben, einen Beitrag dafür zu leisten, geflüchtete Menschen weiter zu unterstützen. Wenn Menschen in der Nähe ihrer Heimat leben können, dann hat das natürlich auch Vorteile. Aber wir haben eine Verantwortung, ihnen das Leben dort erträglich zu machen. Denn Länder wie Jordanien oder der Libanon können das unter keinen Umständen allein bewältigen. Ja, im vergangenen Jahr sind viele auch zu uns gekommen; sehr viele: 890.000, wie die Statistik zeigt. Das ist eine hohe Zahl. Das hat uns alle gefordert. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal all denen ein Dankeschön sagen, die auch in der deutschen Wirtschaft ihren Beitrag geleistet haben – in den Unternehmen oder auch durch ehrenamtliche Tätigkeit. Es gab vergangenes Jahr eine große gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung. Natürlich mussten und müssen wir die Prozesse ordnen und steuern. Die Entwicklung hat uns vor Augen geführt, dass wir auch Beiträge zur Bekämpfung von Fluchtursachen leisten müssen, damit die Zahl der bei uns Ankommenden reduziert wird. Wir haben schon sehr früh gesagt, dass auch ein starkes Land wie Deutschland nicht jedes Jahr so viele Flüchtlinge aufnehmen kann. Aber wir haben auch gelernt, dass wir uns nicht abschotten und uns nicht darum kümmern können, was vor unserer Haustür passiert. Wir haben gesehen, dass wir, wie es Wolfgang Schäuble gesagt hat, ein Rendezvous mit der Globalisierung haben, dass vor allem der schreckliche Bürgerkrieg in Syrien, die dramatische Situation, die auch in diesen Tagen wieder in Aleppo zu sehen ist, eben auch auf uns Auswirkungen hat. Deshalb war es meiner Meinung nach richtig, alles zu unternehmen, um illegale Migration zu reduzieren und möglichst weitgehend zu stoppen. Denn zuzulassen, dass sich Menschen in die Hände von Schleppern und Menschenhändlern begeben, hat schon viel zu vielen Menschen das Leben gekostet oder sie in Armut gestürzt. Das kann und darf nicht das Handeln von Staaten sein. Deshalb ist nach meiner festen Auffassung auch das EU-Türkei-Abkommen richtig, um Illegalität durch Legalität zu ersetzen und syrischen Flüchtlingen an der türkisch-syrischen Grenze zu helfen und sie zu unterstützen. Die Türkei hat immerhin drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Das ist eine unglaubliche Leistung. Es geht natürlich auch darum, ein besseres Verhältnis zu unserem Nachbarkontinent Afrika zu entwickeln. Dieser Kontinent wird uns noch viele Jahre und Jahrzehnte beschäftigen. Wir haben durch Kolonialismus sehr dazu beigetragen, dass manches in Afrika heute schwer möglich ist. Schauen Sie sich die Grenzziehungen an. Viele Grenzen sind nach Rohstoffvorkommen und nicht nach dem Zusammenleben von Stämmen und Völkern gezogen worden. Das heißt nicht, dass wir mit den afrikanischen Regierungschefs nicht auch über gute Regierungsführung sprechen müssen. Aber es heißt vor allen Dingen, dass wir eine Verantwortung haben; und zwar nicht nur eine Verantwortung im Hinblick auf klassische Entwicklungshilfe, sondern auch auf Möglichkeiten wirtschaftlicher Entwicklung. Ich bedanke mich für alle Aktivitäten der deutschen Wirtschaft in diesem Zusammenhang. Denn nur private Investitionen werden auf Dauer Wohlstand, Steuereinkommen und Prosperität in den afrikanischen Ländern bringen. Halten wir uns vor Augen: Der afrikanische Kontinent ist jung. Er wird in den nächsten 35 Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach seine Bevölkerung von annähernd 1,3 Milliarden auf bis zu 2,6 Milliarden Menschen verdoppeln, während wir in Europa bestenfalls eine konstante Bevölkerungszahl haben. Angesichts meiner bevorstehenden Afrikareise habe ich mir angeschaut, wie hoch das Durchschnittsalter in afrikanischen Ländern und bei uns liegt. Bei uns liegt es bei ungefähr 45 Jahren, genauer gesagt, bei 44,9. Damit gehören wir mit Monaco und Japan zu den drei „ältesten“ Ländern der Welt. Wenn Sie nach Niger schauen, stellen sie fest, dass es eines der Länder mit dem jüngsten Durchschnittsalter der Bevölkerung ist. Es sind 15,2 Jahre. Das ist die Situation. Niger hat ein Bevölkerungswachstum von 2,9 Prozent pro Jahr. Durch Niger kommen 90 Prozent der Flüchtlinge, die zur libyschen Küste gelangen. Dieses Land kann seinen Kindern, vor allem den Mädchen, Schulbildung bestenfalls bis zum elften Lebensjahr bieten. Sie können sich vorstellen, welche Herausforderung das darstellt. Es kann nicht sein, dass uns das nicht interessiert. Zu einer offenen Gesellschaft gehört, dass wir versuchen, eine Balance hinzubekommen, so dass junge Afrikaner, wenn sie ein Smartphone in die Hand bekommen, nicht als erstes sagen, dass sie dahin müssen, wo sie eine bessere Welt sehen, sondern in einem Heimatland leben können, in dem es zumindest schrittweise bergauf geht. Das ist unsere Aufgabe. Ich bedanke mich für alles, was Sie im Zusammenhang mit der Integration tun. Ja, wir brauchen noch mehr Integrationskurse und Sprachkurse. Wir haben im Augenblick einen Engpass bei Lehrern. Sie können sich vorstellen, dass noch nie so viele Deutschlehrer gebraucht wurden wie jetzt. Wir haben die Rahmenbedingungen verbessert. Jeder anerkannte Flüchtling hat vollen Zugang zur Zeitarbeit. Wir haben die 3-plus-2-Regelung in Bezug auf die Ausbildung eingeführt. Wir haben die Vorrangprüfung für die allermeisten Arbeitsagenturbezirke abgeschafft, so dass bürokratische Hemmnisse abgebaut wurden. Wir sind auch in einem permanenten, konstruktiven Gespräch darüber, wo weitere Hürden abzubauen sind. Lieber Herr Grillo, auch ich will darauf eingehen, dass es Ihre letzte Rede auf einem BDI-Tag war. Sie haben sich entschieden, nicht mehr als Präsident anzutreten. Ich möchte Ihnen ganz herzlich für einen immer sachbezogenen Dialog danken. Manchmal sind Sie über uns ein bisschen verzweifelt. Das gehört dazu. Manchmal sind wir über Sie ein bisschen verzweifelt. Aber ich habe die Zusammenarbeit geschätzt und wünsche mir natürlich, dass sie auch mit Ihrem Nachfolger so konstruktiv weitergeführt wird, wie es bis jetzt möglich war. Danke für viele gute Gespräche. Strahlen Sie Optimismus aus, was die Beteiligung der deutschen Wirtschaft an Gesetzgebungsvorhaben anbelangt. Es gibt immer auch Anhörungen, bei denen die Wirtschaft ihre Meinung sagen kann. Wenn Sie sich anschauen, wie viel Material wir nach dem Informationsfreiheitsgesetz herausgeben müssen, wenn wir darüber berichten, wer mit wem gesprochen hat, dann stellen Sie fest, dass es keinen Mangel an Kontakten mit der deutschen Wirtschaft gibt. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Unternehmertag des Bundesverbands Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen e. V. am 5. Oktober 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-unternehmertag-des-bundesverbands-grosshandel-aussenhandel-dienstleistungen-e-v-am-5-oktober-2016-445466
Wed, 05 Oct 2016 14:15:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Börner, meine Damen und Herren, Exzellenzen, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, es freut mich, alle zwei Jahre wieder zu Ihrem Unternehmertag zu kommen – und das erst recht in einem Jubiläumsjahr. 100 Jahre ist es her, als in Berlin die erste Vorgängerorganisation des BGA, der Zentralverband des Deutschen Großhandels, gegründet wurde. Vor 70 Jahren, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde zunächst der Wirtschaftsverband des Groß- und Außenhandels für die britische und wenige Tage später auch für die amerikanische Zone ins Leben gerufen. In der schwierigen Nachkriegszeit war gewiss kaum daran zu denken, dass sich Deutschland zu einer starken Exportnation entwickeln könnte. In den sogenannten Wirtschaftswunderjahren aber – nach der richtigen Entscheidung für das Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft, das zu einem Gesellschaftsmodell geworden ist – wurde dies möglich. Das Wachstum im Groß- und Außenhandel sowie der zunehmende Stellenwert von Dienstleistungen haben die Interessenvertretung, die der BGA vornimmt, mehr als gerechtfertigt. Der Verband hat an Bedeutung gewonnen. Die Rede von Herrn Börner gerade hat gezeigt: Die Herausforderungen mögen sich über all die Jahre hinweg verändert haben, aber das Bekenntnis zu Weltoffenheit, auch das Bekenntnis der deutschen Unternehmer zu Weltoffenheit, hat sich nicht verändert. Die folgenden Fragen bewegen Sie und bewegen uns in der politischen Landschaft immer wieder: Wie weltoffen wollen wir sein? Offen für den Handel mit Ländern weltweit? Offen für eine engere Zusammenarbeit innerhalb Europas? Ich nenne nur die Schaffung und Vollendung des Binnenmarkts, ganz besonders auch im Bereich der Digitalisierung. Wie offen wollen wir nicht nur für hochqualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland sein, sondern auch für schutzsuchende Menschen, die einen Schutzgrund haben, und wie können wir sie integrieren? In der aktuellen Diskussion – das kann man mit Fug und Recht sagen – nehmen die Fragen unserer Beziehungen in die Welt hinein einen breiten Raum ein. Sie werden in Deutschland nicht nur von den Unternehmen, sondern auch von den Bürgerinnen und Bürgern als eine große Herausforderung wahrgenommen. Sie sind auch Gegenstand großer gesellschaftlicher Diskussionen. Das ist auch nachvollziehbar angesichts von Kriegen und Konflikten – und zwar nicht irgendwo auf der Welt, sondern beispielsweise mit Syrien unmittelbar vor unserer Haustür; mit der Ukraine und dem Konflikt mit Russland unmittelbar an den europäischen Außengrenzen – und angesichts manch beunruhigender Entwicklung auf unserem Nachbarkontinent Afrika. Wenn wir uns die Gegebenheiten dort anschauen, dann muss man sagen, dass viel Arbeit auf uns und natürlich auch auf die afrikanischen Länder selbst wartet. Ich kann Sie alle nur ermutigen, Weltoffenheit vermehrt auch in Richtung dieses Kontinents auszurichten, zumal sich die Bevölkerung auf Europas Nachbarkontinent in den nächsten 35 Jahren voraussichtlich verdoppeln wird. Wir fragen uns: Was tut sich auf den internationalen Finanzmärkten? Wir spüren angesichts der Politik der Notenbanken, dass die Weltwirtschaft noch nicht so im Lot ist, wie wir uns das gerne wünschen. Geldpolitik allein kann die strukturellen Probleme der Weltwirtschaft mit Sicherheit nicht lösen. Wir fragen uns weiter: Was bedeutet der Austritt Großbritanniens für die Europäische Union? Das ist der erste Schritt, der nicht zu mehr Integration führt, sondern zu weniger Mitgliedstaaten innerhalb der Europäischen Union. Es gibt also Herausforderungen, wohin man schaut. Deshalb ist es mit Sicherheit falsch, einfach abzuwarten, was passieren wird. Vielmehr müssen wir versuchen, unsere Interessen mit gleichgesinnten Partnern sehr gut durchzusetzen. Ich stimme Herrn Börner ausdrücklich zu: Die allermeisten Herausforderungen sind supranationale Herausforderungen. Deshalb brauchen wir die Europäische Union als gemeinsamen Akteur, wenn es darum geht, Antworten auf die großen Fragen der Entwicklung der Welt zu finden. Eigentlich haben wir allen Grund zu Zuversicht. Wir sind im Augenblick in einer wirtschaftlich guten Verfassung. Der Wachstumskurs ist solide. Im Außenhandel gibt es positive Entwicklungen. Auch der private Konsum ist ein sehr starker Träger des Wachstums und bleibt Wachstumsmotor. Daraus ergibt sich eine sehr gute Arbeitsmarktlage. Die Erwerbstätigkeit mit 43,7 Millionen Menschen ist auf einem Rekordhoch genauso wie die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit über 31 Millionen Menschen. Die Arbeitslosigkeit ist auf dem tiefsten Stand seit 25 Jahren. Ich muss aber hinzufügen: Wir geben rund 40 Milliarden Euro für Hartz-IV-Leistungen aus. Allein der Gedanke, dass man die Hälfte davon für Innovationen und Investitionen ausgeben könnte, zeigt, dass es alle Mühen wert ist, insbesondere den jüngeren Langzeitarbeitslosen Zukunftsmöglichkeiten zu eröffnen. Wir haben auf der einen Seite Fachkräftemangel und auf der anderen Seite noch immer viele Langzeitarbeitslose – das kann uns nicht zufriedenstellen. Aber die insgesamt gute Arbeitsmarktbilanz ist auch für Sie ein Grund, sich zu freuen. Sie tragen erheblich dazu bei. Sie bieten rund zwei Millionen Menschen Arbeitsplätze, bilden 60.000 junge Menschen aus und geben ihnen damit gute berufliche Perspektiven. So können wir auch auf den internationalen Märkten unsere Erfolgsgeschichte fortschreiben, wenngleich man da gut hinschauen muss. Wir sehen, dass wir beispielsweise bei großen Infrastrukturinvestitionen nicht mehr so gut abschneiden, wie dies vor einigen Jahren noch der Fall war. Deshalb haben wir heute im Kabinett darüber gesprochen, wie wir unsere Investitionsangebote gegenüber anderen Mitbietern verbessern können. Es zeigt sich immer wieder, dass ein bestimmtes Zusammenspiel von staatlichen und privatwirtschaftlichen Angeboten heutzutage auf der Welt üblich ist. Aber damit tut sich Deutschland manchmal schwer. Deshalb haben wir uns heute im Kabinett auch mit unserer Exportstrategie intensiv befasst. Wir wissen, dass die Unternehmen in Ihrem Verband die Globalisierung und offene Märkte immer als Chance gesehen haben, die es zu nutzen gilt. Wenn wir zurückblicken, dann zeigt sich bei den abgeschlossenen Freihandelsabkommen – das letzte war das Abkommen mit Südkorea, das 2011 in Kraft trat – immer eine positive Bilanz. Vorher aber gab es immer große Diskussionen. Ich erinnere mich noch an die Befürchtungen der Automobilindustrie im Zusammenhang mit dem südkoreanischen Abkommen. Aber letztlich hat sich dieses bewährt. So lagen die deutschen Exporte nach Südkorea im Jahr 2015 um mehr als 50 Prozent über dem Exportniveau, das wir vor Inkrafttreten des Abkommens hatten. Mit Exporten sind natürlich auch Arbeitsplätze verbunden. Deshalb möchte ich Herrn Börner und seinen Mitstreitern ganz herzlich dafür danken, dass Sie sich immer für Weltoffenheit eingesetzt haben und sich auch heute wieder dafür einsetzen. Derzeit wird viel über das CETA-Abkommen und über das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP diskutiert. Die Diskussion ist schwieriger geworden. Warum ist sie noch schwieriger geworden, als sie es vorher schon war? Weil es nicht nur um Zollfragen geht, deren Lösung man sozusagen den Freihandelsleuten immer als Kompetenz zugetraut hat, sondern weil wir etwas machen, das eigentlich im ureigensten Sinne der Sozialen Marktwirtschaft ist. Es geht nicht nur um Zölle. Es geht auch nicht nur um klassische nichttarifäre Handelshemmnisse wie etwa technische Zulassungsstandards. Wenn wir mit unserem Modell, zu wirtschaften, wirklich vorankommen und Standards in der Welt setzen wollen – ich kann nur das wiederholen, was Herr Börner gesagt hat –, dann gehören dazu natürlich auch Sozialstandards, Verbraucherstandards und Umweltstandards. Schon als Umweltministerin habe ich mich damals sehr viel mit WTO-Fragen beschäftigt. Zusammen mit Landwirtschaftspolitikern haben wir immer gesagt: Wir brauchen ähnliche Umweltstandards und nicht zur Zollfreiheit, um faire Produktionsbedingungen zu haben. Als Umweltministerin habe ich es sogar geschafft, im Namen der Bundesregierung einen Beamten zur WTO zu senden, der sich dort mit Umweltfragen beschäftigt hat. Heute passiert etwas, das bei der WTO damals nur sehr schwer durchzusetzen war, nämlich dass solche Standards in bilateralen Handelsabkommen eine Rolle spielen. Interessanterweise ist damit die Furcht vor solchen Abkommen gestiegen statt gesunken. Aber man muss sich nur einmal überlegen: Wenn die zwei größten Binnenmärkte, die EU und die Vereinigten Staaten von Amerika, solche Standards setzen – mit Kanada ist das schon in Reichweite –, dann ist es für andere Handelspartner schwierig, hinter diesen Standards zurückzubleiben. Deshalb ist es alle Mühen wert, in großer Ruhe deutlich zu machen: CETA hat Maßstäbe gesetzt, die in keinem anderen Freihandelsabkommen jemals erreicht wurden. Beim TTIP-Abkommen, über das die Verhandlungen noch geführt werden – ich finde, sie sollten so umfassend wie möglich geführt werden –, sind jetzt viel mehr Standards in der Diskussion. Wir dürfen niemals hinter die Standards der Europäischen Union zurückfallen, die wir uns schon gesetzt haben. Wie wir an den Auseinandersetzungen mit einigen Unternehmen, zum Beispiel VW, sehen, sind die Umweltstandards in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht vernachlässigbar. Wir meinen aber oft, wir in Europa seien die Einzigen in der Welt, die irgendwelche Standards hätten. Ich glaube, wir könnten Globalisierungsgeschichte schreiben, wenn wir dies vernünftig weiterführen. Deshalb werbe ich, genauso wie Sie, um Offenheit. Ich hoffe, dass wir bei CETA den Durchbruch geschafft haben. Ich plädiere dafür, TTIP weiter zu verhandeln. Jeder, der einmal eine Tarifverhandlung geführt hat, jeder, der einmal eine Klimaverhandlung geführt hat, weiß, dass das Schwierigste nicht am Anfang einer Verhandlung gelöst wird, sondern am Ende. Zum Schluss kommt es auf das Gesamtergebnis an. Wir führen in Deutschland eine heiße Diskussion darüber. Aber auch in Luxemburg, in Österreich und zum Teil in Frankreich wird intensiv darüber diskutiert. Allerdings stehen nicht alle 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union diesem Abkommen gleichermaßen skeptisch gegenüber. Wir meinen manchmal, dass Deutschland an dieser Stelle das einzig maßgebende Land sei. Europa besteht aber aus mehr Ländern. Und viele haben eine sehr positive Einstellung dazu. Wir werden auch während unserer G20-Präsidentschaft im nächsten Jahr Themen der Gestaltung des globalen Rahmens auf unsere Tagesordnung setzen. Hierbei geht es einerseits um die Öffnung von Märkten und andererseits um internationale Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards an allen Stellen globaler Lieferketten. Wir haben beim G7-Gipfel in Elmau im vergangenen Jahr einiges vorbereitet, das wir in die G20 einbringen werden. Meine Damen und Herren, schauen wir uns einmal die wichtigsten Zielländer für Deutschlands Exporte an. Das sind die Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich und an dritter Stelle Großbritannien. Insofern ist der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union auch eine sehr bedeutsame Frage für unsere Wirtschaft. Wir müssen darauf warten – die britische Premierministerin Theresa May hat dies jetzt spezifiziert –, bis Großbritannien den Antrag auf einen Austritt aus der Europäischen Union nach Artikel 50 EU-Vertrag stellen wird. Dann werden wir verhandeln. Wir führen aber keine Vorverhandlungen, sondern sagen nur ganz allgemein: Der volle Zugang zum Binnenmarkt ist untrennbar mit der Akzeptanz der vier Grundfreiheiten verbunden. Dazu gehört auch die Personenfreizügigkeit. Ich weiß, dass in Ihrem Kreis Sektor für Sektor geschaut wird: Welchen Schaden haben wir aus einem eventuell nicht vollständigen Marktzugang Großbritanniens? Die Briten haben aufgrund ihrer Finanzwirtschaft auch andere Interessen als wir mit unserem produzierenden Gewerbe. Gerade deshalb bitte ich um Ihre Unterstützung für den Grundsatz: voller Zugang zum Binnenmarkt nur mit Reziprozität der vier Grundfreiheiten. Ein Abweichen von diesem Prinzip wäre für die gesamte Europäische Union eine systemische Infragestellung. Wenn man einmal einem Land eine Ausnahme gestattet, wenn alle Länder mit allen anderen die Freizügigkeit konditionieren, dann führt das zu einer extrem schwierigen Situation. Trotzdem nützt es nichts, darum herumzureden. Der Austritt Großbritanniens ist ein schwieriger Einschnitt für die Europäische Union. Deshalb haben sich die 27 Staats- und Regierungschefs beim Treffen in Bratislava sehr genau überlegt, worauf wir uns jetzt konzentrieren. Ich glaube, dass jetzt erst einmal zwei Dinge wichtig sind. Nicht so wichtig sind große Vertragsänderungen, Visionen usw., sondern nach meiner Auffassung sind zunächst zwei Dinge wichtig. Das erste ist, dass wir in manchen Entscheidungen schneller werden müssen. Das Tempo der Digitalisierung, die Veränderung der Unternehmensstrukturen, die Veränderung der Anwendungsmöglichkeiten und die Geschwindigkeit europäischer Rechtsetzung klaffen meilenweit auseinander. Wir müssen bei den Entscheidungen schneller werden. Südkorea rollt schon das 5G-Netz aus. Wenn wir das in Europa mit all den Vorteilen des digitalen Binnenmarkts machen wollen, dann brauchen wir schnell Übereinkommen über bestimmte Frequenzbereiche. Wir müssen diese Frequenzbereiche dann aber auch realisieren, denn wir dürfen nicht an jeder Grenze eines jeden Mitgliedstaats wieder drei Funklöcher haben. Wir haben sie ja nicht nur an den Landesgrenzen, sondern auch in anderen Teilen des Landes. Damit kann aber von einem autonomen Fahren oder von Telemedizin gerade in ländlichen Regionen nicht die Rede sein. Wir brauchen wirklich sichere Anbindungen für produzierende Unternehmen im Rahmen von Industrie 4.0. Eine verlässliche Infrastruktur ist das A und O in Europa. Wir müssen wissen, wie wir mit Daten umgehen. Wir haben jetzt Gott sei Dank die Datenschutz-Grundverordnung in Europa. Aber wir wissen auch, dass sie ziemlich viele unbestimmte Rechtsbegriffe enthält. Jetzt gilt es, diese vernünftig mit Leben zu füllen, damit ein sogenanntes „level playing field“ entsteht, damit Applikationen und Anwendungen gemacht werden können. Wir brauchen in der Plattformwirtschaft genauso gute Investitionsmöglichkeiten und Rahmenbedingungen für unsere Unternehmen – unsere Anbieter sind sehr oft auch die Infrastrukturanbieter –, wie es sie auch für große amerikanische Anbieter gibt. Meine Damen und Herren, Arbeitsplätze werden in Zukunft nicht in unendlicher Höhe wieder in der Stahl- oder der Automobilindustrie entstehen, sondern auf dem Gebiet der Anwendung von Daten. Wenn wir Rationalisierungseffekte durch neue Möglichkeiten kompensieren wollen, dann wird es vor allem auf die Verarbeitung von großen Datenmengen – der Rohstoff der Zukunft – ankommen. Dieses Thema müssen wir auch gesellschaftlich diskutieren; und das auch im Hinblick auf Datenschutz – dies sage ich ausdrücklich –, weil darin ebenfalls ein Vorteil Europas liegen könnte. Stichwort: Datenautonomie. Jeder Bürger muss wissen, was mit seinen Daten passiert, und einen Überblick darüber haben. Transparenz ist sehr wichtig. Ich sage ausdrücklich: Wir müssen natürlich auch im Bereich E-Government viel besser werden. Alle europäischen Länder müssen da besser werden. Estland und Finnland sind uns dabei voraus. Deutschland mit seinen föderalen Strukturen ist dabei nicht gerade der Setzer der Benchmarks, sondern eher im hinteren Mittelfeld, würde ich sagen. Das zweite ist, dass wir das, was wir versprechen, auch umsetzen. Europa hat sich sehr viele Ziele gesetzt, beispielsweise drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben. Nur wenige Länder haben das erreicht. In Europa haben wir ungefähr 80 Ziele, von denen die allermeisten nicht in allen Mitgliedstaaten wirklich umgesetzt werden. Das macht die Menschen misstrauisch. Deshalb sollten wir lieber etwas weniger versprechen, aber das, was wir versprechen, einhalten und möglichst schnell umsetzen. Das macht uns bei den Menschen wieder glaubwürdiger. Meine Damen und Herren, nach der internationalen Finanzkrise haben wir zwei große Herausforderungen zu meistern gehabt. Zum Teil stecken wir noch in der Umsetzung. Das ist zum einen die Stabilisierung des Euro als unsere gemeinschaftliche Währung. Hierbei haben wir riesige Fortschritte gemacht – von der Bankenunion bis zu den Rettungsmechanismen. Aber es gibt noch immer Programmländer. Es gibt noch immer manches, das fragil ist. Aber wir sind auf einem guten Weg. Zum anderen haben wir gemerkt, dass die Freizügigkeit der Waren, Güter, Dienstleistungen und Personen auf eine harte Probe gestellt wurde. Wir haben zwar das Schengen-Abkommen, wonach wir alle uns frei bewegen können. Alle finden das auch toll. Aber als es plötzlich um den Schutz der Außengrenzen ging, hat man gemerkt, dass wir da nicht so gut sind, wie die Bürgerinnen und Bürger es eigentlich erwarten. Vieles von dem, was wir im letzten Jahr erlebt haben, hing damit zusammen, dass wir keine ausreichenden Vorkehrungen für einen Schutz der Außengrenzen getroffen hatten. Der Schutz der Außengrenzen, wenn es Seegrenzen sind, ist besonders schwierig. Jeder kennt zwar die Landesgrenzen seines Mitgliedstaates. Wenn man aber einmal die Grenzen des Schengen-Raums aufmalen müsste, wäre das schon etwas komplizierter. Sie können das natürlich, weil Sie ja Exporteure sind. Die Grenzen verlaufen vom Nordpol über Russland, Türkei, entlang den Ländern des Nahen Ostens, Syrien, dem Nachbarn Zyperns, Libanon, Israel sowie von Ägypten, Libyen, Tunesien und Algerien bis Marokko. Vom Nordpol bis Marokko liegen unsere Außengrenzen mit all den Problemen, die damit verbunden sind und die uns mit Sicherheit dazu zwingen werden, eine Balance zu suchen, wenn wir nicht in einer Abschottung die Lösung suchen wollen. Eine Abschottung wird nach meiner Überzeugung nicht klappen. Wir müssen daher Vorkehrungen treffen – das ist ähnlich wie beim Euro –, die wir beim Inkrafttreten des Schengen-Abkommens nicht getroffen haben und bei denen Deutschland auch nicht Vorreiter war. Wir wollten keine Verteilungsquote von Flüchtlingen in der Europäischen Union, weil wir schon viele Flüchtlinge aus dem westlichen Balkan hatten. Nach der Osterweiterung beispielsweise haben wir gesagt: Jetzt liegen wir in der Mitte der Europäischen Union; warum sollen wir uns jetzt für eine Quote einsetzen? Wir haben Spanien und Portugal im Jahr 2005 alleingelassen, als sie sehr viele Flüchtlinge hatten. Wir haben davon gelebt, dass Herr Gaddafi zusammen mit Herrn Berlusconi die italienisch-libysche Grenze kontrolliert hat. Auch waren wir immer gegen einen europäischen Küstenschutz, weil wir gesagt haben, dies könne national besser gemacht werden. In beiden Feldern haben wir uns korrigiert. Aber nicht alle haben unsere Ideen sofort übernommen. Deshalb müssen wir weiter dafür eintreten. Wir werden über den reinen Schutz der Außengrenzen hinweg Partnerschaften entwickeln müssen – wir haben dies mit der Türkei gemacht –, um Flüchtlingen besser als bisher zu helfen, sich in der Nähe ihrer Heimat aufhalten zu können: sowohl im Libanon als auch in Jordanien und in der Türkei. In Syrien tobt ein schrecklicher Bürgerkrieg. Wir sehen jeden Tag die Bilder aus Aleppo. Auch im Irak wütet der IS. In Afrika, wo es auch sehr stark um Wirtschaftsfragen geht, werden wir mehr für Entwicklungshilfe tun müssen. Wir werden Entwicklungshilfe auch anders betreiben müssen. Wir brauchen mehr Public Private Partnerships. Wir müssen mehr für bessere Investitionsbedingungen tun. Wir müssen unsere Zusammenarbeit mehr auf gute Regierungsführung ausrichten. Denn wir müssen auch sehen, dass auch in den Ländern Afrikas das Smartphone Einzug gehalten hat und die Zivilbevölkerung versteht, was politisch los ist, und sich fragt: Wie kann ich meine Lebensperspektiven verbessern? Diejenigen, die als Migranten zu uns kommen, sind häufig nicht die Ärmsten der Armen, sondern diejenigen, die in der aufkommenden Mittelschicht plötzlich entdecken, welche Lebensmöglichkeiten man unter anderen Bedingungen in der Welt haben könnte. Deshalb brauchen wir mehr Anstrengung und Unterstützung, aber auch mehr Einforderung von guter Regierungsführung. Im letzten Jahr – der Bundesinnenminister hat es dargestellt – sind 890.000 Asylsuchende nach Deutschland gekommen. Das ist eine große Zahl. Bund, Länder und Kommunen mussten in diesem Zusammenhang vieles miteinander schultern. Ich glaube, alles in allem gab es ein hohes Maß an Kooperation. Ich möchte auch allen ehrenamtlichen Helfern an dieser Stelle nochmals ganz herzlich danken. Ihr Engagement war in dieser Zeit notwendig; und es ist auch heute noch notwendig. Man kann allen staatlichen Akteuren und allen ehrenamtlichen Helfern nur Dank sagen. Jetzt stehen zwei große Aufgaben vor uns. Die eine Aufgabe ist, dass diejenigen, die ein Bleiberecht haben, schnell integriert werden, die deutsche Sprache lernen und Arbeitsmöglichkeiten bekommen. Hierfür haben wir einiges geändert. Auch viele von Ihnen leisten dazu einen Beitrag. Wir wissen aber, dass dies seine Zeit dauert, insbesondere was Sprachqualifikationen anbelangt. Wir haben erstmals ein bundesweites Integrationsgesetz verabschiedet, das ganz klar auf das Prinzip „Fördern und Fordern“ ausgerichtet ist und daher auch bei denjenigen, die keine Bereitschaft zu Integration zeigen, Leistungskürzungen ermöglicht. Auch der andere große Block ist wichtig, nämlich dass diejenigen, die kein Bleiberecht haben – vor allem diejenigen, die aus den Ländern des westlichen Balkans kommen –, unser Land wieder verlassen, damit wir denjenigen helfen können, die vor Krieg, Vertreibung und Verfolgung flüchten und unseren Schutz wirklich brauchen. Auch die zweite Aufgabe ist sehr kompliziert. Deshalb muss alles darangesetzt werden – ich komme wieder auf das Thema Migrationspartnerschaften zurück –, möglichst vor Ort zu helfen. Situationen, die wir schon hatten, dass Flüchtlinge in jordanischen oder libanesischen Flüchtlingslagern nur elf Dollar pro Monat für Nahrung zur Verfügung haben und Kinder über fünf Jahre keine Schule besuchen, dürfen nicht wieder auftreten. Auf gar keinen Fall dürfen wir Schlepper und Menschenhändler zu den Akteuren von Migration machen, sondern wir müssen zwischen den Staaten Abkommen und Übereinkommen finden, die eine legale Migration und eine legale Hilfe vor Ort ermöglichen. Meine Damen und Herren, die gesellschaftlichen Diskussionen über die Fragen, wie viel Offenheit und wie viel Rückbesinnung auf unsere eigenen Stärken wir brauchen, werden weitergehen. Ich finde, dass wir durchaus selbstbewusster sein könnten, was unsere eigene Wertebasis, unser eigenes Fundament anbelangt. Niemand verbietet uns, christliche Weihnachtslieder zu singen. Niemand verbietet uns, uns zu unseren christlich-abendländischen und jüdischen Wurzeln zu bekennen. Niemand verbietet uns, selbstbewusst über Demokratie und Freiheit zu reden. Man muss es nur tun. Wenn andere ihren Glauben in den Vordergrund stellen, muss uns das ja nicht verzagt machen. Klar ist auch: Dass so viele Menschen gerne nach Deutschland kommen möchten, kann uns eigentlich nur Ansporn sein, zu sagen: Das, was unser Land ausmacht, können wir selbstbewusst nach außen tragen. Das heißt, dass hier Recht und Gesetz sowie unser Grundgesetz gelten. Das heißt, dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau genauso gilt wie die Religionsfreiheit, die Toleranz gegenüber anderen Religionen mit sich bringt. Vielleicht ist das eine Zeit, in der wir uns wieder unserer eigenen Wurzeln besinnen müssen; in der wir uns besinnen müssen, was unser Miteinander ausmacht. Die Welt schaut sich natürlich an, ob wir das, was wir an Wertediskussion in die Welt tragen – als Europäische Union oft auch sehr selbstbewusst –, ob wir das, was in Artikel 1 des Grundgesetzes steht, nämlich dass die Würde des Menschen unantastbar ist, nur sonntags sagen oder auch im Alltag einhalten, wenn es darauf ankommt. Sie, die Sie die Welt kennen, wissen, was Sie an Deutschland und an Europa haben. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam für unsere Prinzipien und unsere Werte werben. Herzlichen Dank dafür, dass ich hier zu Gast sein durfte.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Festakt zum 70-jährigen Bestehen der CDU-Fraktion im Landtag Nordrhein-Westfalen am 30. September 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-festakt-zum-70-jaehrigen-bestehen-der-cdu-fraktion-im-landtag-nordrhein-westfalen-am-30-september-2016-800152
Fri, 30 Sep 2016 17:30:09 +0200
Aufgaben_der_Kanzlerin
Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin, sehr geehrte Vizepräsidenten, sehr geehrter Herr Fraktionsvorsitzender, lieber Armin Laschet, sehr geehrte, liebe ehemalige Fraktionsvorsitzende, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem nordrhein-westfälischen Landtag, aus dem Deutschen Bundestag und aus dem Europäischen Parlament, Exzellenzen, meine Damen und Herren, mir ist es eine Ehre, heute hier in einer ganz anderen Atmosphäre als vor wenigen Wochen, als wir den 70. Jahrestag der Landesgründung gefeiert haben, des 70-jährigen Bestehens der CDU-Landtagsfraktion zu gedenken und an einem Pult in einem Plenarsaal zu stehen, in dem ich nicht zu Hause bin, aber eben in dem Plenarsaal des größten Bundeslandes der Bundesrepublik Deutschland. Viel ist in den vergangenen Wochen über die Geschichte Nordrhein-Westfalens gesprochen worden; das ist ja in unserer schnelllebigen Zeit auch gut und richtig. 1946 formte die britische Militärregierung aus unterschiedlichen Landesteilen eine neue Einheit: das Bundesland mit dem Bindestrich, Nordrhein-Westfalen. Die Hintergründe waren rationaler, politischer Natur; in ihnen spiegelten sich auch Ängste aus der deutschen Geschichte wider. Es war eine mutige Entscheidung. Aber es war damals nicht richtig abzuschätzen, ob die Fusion erfolgreich sein würde. Es war nicht vorherzusehen, wie schnell das Land wirtschaftlich wieder auf die Beine kommen würde, wie lange es dauern würde, die zerstörten Städte und Dörfer – davon hatte Nordrhein-Westfalen nun wahrlich viele – wieder aufzubauen und bis die Menschen wieder so etwas wie ein normales Leben führen könnten. Das heißt, es ging darum, Hoffnung und Zuversicht zu gewinnen – Vertrauen in einer Zeit zu schaffen, die viel Zerstörung nicht nur an Häusern und Fabriken, sondern auch in den Köpfen der Menschen hervorgerufen hatte. Das war eine unglaublich anstrengende und auch ambitionierte Aufgabe. Es ging darum, Ängste und Sorgen abzubauen und eine gesicherte Zukunft aufzubauen. Dafür brauchte man eine starke politische Führung. Und diese war erstaunlich schnell gefunden. Es gab 1946 Kommunalwahlen. Die CDU wurde mit 46 Prozent der Stimmen mit Abstand stärkste politische Kraft. Ich will an dieser Stelle sagen: Noch heute merkt man als CDU-Vorsitzende im Bund, dass die CDU eine Partei ist, die aus den Regionen, von der kommunalen Ebene kommt. Wenn man sich anschaut, wann erst der Bundesverband der CDU gegründet wurde, dann weiß man durchaus, dass die Wurzeln wirklich sehr stark bei den Menschen vor Ort liegen. Die CDU hatte 1946 also 46 Prozent. Die britische Militärregierung wies der Partei daraufhin 92 von 200 Stimmen im Landtag zu. – Solche Umrechnungen von Kommunalwahlen auf Landtagswahlen könnte man vielleicht heute manchmal auch machen; aber da sind wir jetzt weiter. – Die CDU-Fraktion war damit die größte Fraktion. Sie stellte mit Robert Lehr den ersten Landtagspräsidenten. Konrad Adenauer wurde Fraktionsvorsitzender. Auch 1947 behauptete sich die CDU bei den Landtagswahlen als stärkste Partei. Karl Arnold wurde zum Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens gewählt. Diese Anfangszeit war, politisch betrachtet, eine große Zeit gerade auch für die Christlich Demokratische Union. Sie meisterte die Aufbauleistung – das darf man sagen – mit großer Anstrengung und großem Erfolg. Bei der Landtagswahl 1958 holte die CDU sogar die absolute Mehrheit. In der Anfangsphase dieses Bundeslandes stellte die Christlich Demokratische Union die Weichen in Nordrhein-Westfalen; und zwar so, dass man sagen konnte: Die Wirtschaft blühte wieder auf, die Landesteile näherten sich an. Wenn wir auf die Geschichte Nordrhein-Westfalens blicken, dann gelang es der CDU insgesamt dreimal, den Ministerpräsidenten zu stellen: mit Karl Arnold, mit Franz Meyers und später mit Jürgen Rüttgers. Aber heute geht es um die Landtagsfraktion. Die Landtagsfraktion war immer eine gestaltende Kraft in der Geschichte Nordrhein-Westfalens – sei es als Fraktion der Unterstützung von Ministerpräsidenten, sei es als streitbare Oppositionsfraktion, die der Regierung auf die Sprünge hilft und neue Gedanken einbringt. Armin Laschet hat darüber gesprochen. Er und seine Fraktion haben zum 70-jährigen Bestehen dieser Landtagsfraktion ein kleines Geschichtsbuch herausgegeben. Ich habe es mir in der Vorbereitung auf diese Feierstunde hier angeschaut. Wenn man Revue passieren lässt, wer nach Konrad Adenauer Fraktionsvorsitzender war – Josef Schrage, Wilhelm Johnen, Erich Stuckel, Wilhelm Lenz, Heinrich Köppler –, dann ahnt man schon, dass es auch in dieser Phase durchaus hoch herging, immer auch sozusagen die verschiedenen Wurzeln dieses Landes reflektierend, immer auf die Fragen bedacht: Wie viel müssen wir bewahren, wie viel müssen wir nach vorne gehen, welche Möglichkeiten haben wir, Protestanten und Katholiken zusammenzubringen und Brücken zu bauen? Ein Land, das am Rhein liegt und das sich mit Brücken auskennt, hat sich dennoch nicht immer leichtgetan, die richtigen Brücken zu finden. Brücken zu bauen, war aber immer produktiv, würde ich sagen; und manchmal nicht ganz einfach – auch für die Regierenden. Heinrich Köppler hat das große Volksbegehren gegen die Schulpolitik der damaligen Landesregierung durchgeführt. Es gab 3,6 Millionen Beteiligte. Solche basisdemokratischen Bewegungen unter den Parteien wünscht man sich auch heute noch und hofft, dass sie möglich sind. Also, das ist alles nichts Neues. Es gab immer wieder Phasen in den 70er Jahren, in denen die Trennlinien wieder sichtbar wurden. Und dann gab es Phasen, in denen sich wieder Brücken ergaben. Kurt Biedenkopf wird beschrieben als der Intellektuelle, der auch außerhalb des politischen Lebens einiges auf die Beine gestellt hatte und, wie ich glaube, fordernd war für die Fraktionsmitglieder. Dies hat der Landtagsfraktion mit Sicherheit nicht geschadet. Kurt Biedenkopf hat damals etwas gesagt, das bis heute an Aktualität nichts verloren hat: Freiheit ist nicht nur ein Recht, Freiheit ist eine permanente Aufgabe, ein dauerhafter Prozess. Dann gab es wiederum vermutlich nicht ganz leichte Übergänge wie den zu dem Nachbarn von Kurt Biedenkopf, Bernhard Worms. Wenn ich mir heutige politische Dinge vor Augen halte, dann freue ich mich, dass beide heute nebeneinandersitzen. Bernhard Worms, der unter dem Titel „Der Netzwerker“ zu Wort kommt, war immer jemand – so habe ich ihn auch nach 1990 kennengelernt –, der versucht hat, zusammenzuführen und Politik bewusst aus christlicher Verantwortung zu betreiben, der uns immer wieder an das christliche Menschenbild erinnert hat. Dann wird der mir gut bekannte Helmut Linssen unter der Rubrik „Der Konsequente“ angeführt. „Ich bin ein strammer Verfechter der Sozialen Marktwirtschaft“ – das wird ihm gleich als Spruch an die Seite gestellt. Das konnte in Nordrhein-Westfalen in dieser Zeit auch nicht schaden, muss ich mal sagen – wie es überhaupt nie schaden kann, wenn man ein strammer Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft ist. Und er hat das Ganze noch mit der Anmerkung ergänzt: „Wer Schulden hat, der ist nicht frei.“ Das ist auch ein Spruch, der für Nordrhein-Westfalen leider nicht ganz unsinnig ist, würde ich mal sagen. Dann kam die Zeit, in der Laurenz Meyer – er kann aus Krankheitsgründen heute leider nicht da sein – Fraktionsvorsitzender war. Anschließend übernahm Jürgen Rüttgers bis 2005 die Fraktionsführung. 2005 bis 2010 konnte er als Ministerpräsident Politik gestalten, mit Helmut Stahl als Landtagsfraktionsvorsitzendem. In dieser Zeit ist vieles an Weichen gut und richtig für Nordrhein-Westfalen gestellt worden. Es ist hier schon auf einige Dinge hingewiesen worden, die ich später noch einmal erwähnen möchte. Nordrhein-Westfalen war in seiner Geschichte immer Schmelztiegel von Menschen verschiedener Herkunft. Es hat im Übrigen in der Landesregierung mit dem ersten Integrationsminister Armin Laschet dann auch seinen Widerhall gefunden, dass Integration eine zentrale Aufgabe ist. Heute verstehen wir das mindestens so gut wie damals. Karl-Josef Laumann hat von 2010 bis 2013 die Fraktion geführt. Er gilt als der Arbeiter. Ich glaube, es war auch viel zu arbeiten, um die Enttäuschung zu verwinden, die mit der Wahlniederlage verbunden war. Armin Laschet hat dann 2013 diese Fraktion übernommen. Wenn wir uns anschauen, dass die Geschichte dieser Landtagsfraktion auch die Geschichte Nordrhein-Westfalens und damit letztlich auch die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland widerspiegelt, dann wird uns auch die lange Wegstrecke bewusst und dass wir heute, gemessen an der Zeit vor 70 Jahren, in geradezu paradiesischen Zuständen leben. Auch das muss man ab und zu einmal sagen. Wenn es in diesen Tagen auch viel Pessimismus, viel Mutlosigkeit und viele Fragezeichen gibt, ob wir bestimmte Dinge bewältigen – um das Wort „schaffen“ nicht zu gebrauchen –, dann, glaube ich, ist ein Rückblick auf die Zeit vor 70 Jahren richtig; und zwar nicht im Sinne des Fingerzeigens, wie schlecht es sein könnte, aber doch in dem Sinne: Was ist daraus geworden, was ist gelungen, was haben Menschen vor uns auf den Weg gebracht, damit wir so leben können, wie wir heute leben? Daraus erwächst natürlich für uns die große Aufgabe, das für die kommenden Generationen genauso zu versuchen, wie es unsere Väter, Mütter, Großeltern und Urgroßeltern getan haben. Wir wissen, dass die wirtschafts- und finanzpolitischen Rahmenbedingungen und auch die Arbeitsmarktlage im Augenblick für ganz Deutschland recht gut sind. Aber wir wissen auch, dass wir in, wie man das heute nennt, disruptiven Zeiten leben, also in Zeiten großer struktureller Umbrüche. Welches Bundesland, wenn nicht Nordrhein-Westfalen, kennt sich mit großen strukturellen Umbrüchen aus? Es ist hier von der Montanunion gesprochen worden. Wir wissen, dass Kohle und Stahl heute längst nicht mehr die Rolle spielen, die sie einmal gespielt haben. Wir wissen, dass wir neue Wege gehen müssen – ob es Wege der Dienstleistungsgesellschaft sind oder Wege, die sich durch die Digitalisierung ergeben. Ich wünsche mir, dass Nordrhein-Westfalen in all diesen Fragestellungen Motor ist. Darüber lohnt sich der Streit in diesem Landtag. Dass ich finde, dass die CDU manchmal bessere Antworten hat als andere Fraktionen, wird niemanden verwundern. Aber Streit ist auf jeden Fall wichtig, weil niemand – darauf will ich hinweisen – in den heutigen Zeiten die perfekte Antwort hat auf das, was wir in den nächsten 10, 20 und 30 Jahren tun müssen. Ich darf vielleicht drei Tage vor dem 26. Jahrestag der Deutschen Einheit als jemand, der aus einem anderen Teil Deutschlands gekommen ist und der übrigens in einer Stadt an der Elbe geboren ist und deshalb findet, dass der Rhein nicht Flüsse aus allen Teilen Deutschlands vereint, sondern dass noch ein paar übrig geblieben sind, die wir der Elbe zuordnen dürfen – aber der Rhein ist schon ziemlich dominant; das darf man sagen –, also als jemand, der vor 26 Jahren in das politische Leben der Bundesrepublik Deutschland, der vereinten Bundesrepublik Deutschland, eingetreten ist, sagen, dass mir etwas auffällt, das ich aus der Perspektive der DDR nie gedacht hätte: dass Disput und Streit, den jede freie Gesellschaft braucht, weil ja jeder Mensch etwas zur Meinungsbildung beizutragen hat und beitragen soll, vorschnell als etwas Negatives abgetan werden. Ich glaube, wir alle sollten in diesen bewegten Zeiten alles daransetzen, eine gute Streitkultur zu entwickeln. Das ist das A und O einer guten Demokratie. Ich sage, in Nordrhein-Westfalen und damit auch in diesem Landtag wird, weil Nordrhein-Westfalen ein so großes Bundesland, ein Bundesland im Herzen Europas ist, nicht unwesentlich über das Schicksal Deutschlands und Europas entschieden. Dessen können und dürfen Sie sich bei all Ihren Entscheidungen bewusst sein. Die Landtagsfraktion, geführt von Armin Laschet, versammelt viel Kompetenz, viel Erfahrung, viel Sachwissen und viel politisches Geschick. Ich möchte Armin Laschet für seine Arbeit sehr herzlich danken. Er war im Europäischen Parlament, er war Integrationsminister, er verfügt über eine langjährige politische Erfahrung. Er kommt aus Aachen, was ihn sozusagen schon per se zu einem Europäer macht; das nehmen jedenfalls die Aachener – so nehme ich sie wahr – für sich in Anspruch. Deshalb treibt es ihn und uns alle um, dass die augenblicklichen Wachstumszahlen Nordrhein-Westfalens uns nicht befriedigen können. Die finanzielle Situation ist auch nicht so, dass wir uns mit Blick auf zukünftige Generationen schon sicher sein können, dass alles gut läuft. Es sind also noch etwas Streit und Debatte im guten Sinne des Wortes notwendig. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, in den nächsten Jahren – wir sind quasi schon mittendrin – wird sich entscheiden, welche Rolle Deutschland und Europa in der globalen Entwicklung spielen. Das, was wir viele Jahrzehnte lang gedacht haben, dass wir per se an der Spitze der Entwicklung der Welt sind, das ist heute – so ist es jedenfalls meine Einschätzung – nicht mehr einfach so gegeben. Das verunsichert im Übrigen nach meiner festen Überzeugung viele Menschen, die das spüren und fragen: Wie geht es weiter? Klar sind wir heute gut. Aber bleiben wir auch so? Bleiben wir gut im Sinne der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit? Bleiben wir gut im Sinne des Zusammenhalts unserer Gesellschaft – angesichts der demografischen Probleme, die wir haben, angesichts der leider weniger gewordenen Jüngeren und des sich leider auseinanderentwickelnden demografischen Gefüges? Was bedeutet die demografische Entwicklung für jeden Einzelnen? Es gibt Sorgen der Älteren: Werden die Jüngeren das leisten können, was wir brauchen, um nach jahrzehntelanger harter Arbeit einen sicheren, guten Lebensabend zu haben? Und auf der anderen Seite fragen die Jüngeren: Werden wir für unsere Kinder sorgen können; werden wir in der Zukunft Arbeit haben? Es gibt Fragen mit Blick auf die Ressourcen unserer Welt und im Zusammenhang mit dem Klimaschutz und dem Umweltschutz und natürlich auch Fragen zur Stabilität zum Beispiel unseres Kontinents vor dem Hintergrund von Entwicklungen wie die Flüchtlingsentwicklung des letzten Jahres, zu der Wolfgang Schäuble richtig gesagt hat: Das ist ein Rendezvous mit der Globalisierung. Plötzlich merken wir: Es reicht nicht, sich auf uns selbst zu konzentrieren, uns auf Deutschland und auf Europa zu konzentrieren. Unsere Entwicklung hängt mit den Entwicklungen der Welt unmittelbar zusammen. Ich sage das in einem Land wie Nordrhein-Westfalen, weil dieses Land – auch die Region, als es das Bundesland Nordrhein-Westfalen noch nicht gab –, es immer wieder geschafft hat, Balancen zu seinen Nachbarn aufzubauen und in guter Nachbarschaft mit den anderen zu leben. Aber immer, wenn man sich abgeschottet hat, ist dies letztlich in bittere Kriege ausgeartet; es war nie zum Nutzen aller, sondern immer zum Schaden sehr, sehr vieler. Wenn wir wirklich etwas aus der Geschichte gelernt haben, dann muss gerade aus Nordrhein-Westfalen der Impuls ausgehen: Lasst uns offen auf die Herausforderungen reagieren, lasst uns das Miteinander mit anderen suchen, lasst uns den Blick über die eigenen Grenzen werfen, um richtige Antworten zu finden. Zu den richtigen Antworten gehört mit Sicherheit auch, Schwerpunkte in der Politik zu verändern, so dass die eigene wirtschaftliche Stärke zum Beispiel auch mit Vorbildwirkung im Bereich der Umweltpolitik dazu genutzt wird, technologische Möglichkeiten zu erkunden, die auch anderen helfen – die helfen, die Ressourcenknappheit dieser Welt zu überwinden, oder die unserem Nachbarkontinent Afrika helfen, Menschen dort eine Perspektive zu geben, was zum Schluss auch der Sicherheit unseres eigenen Lebens dient. Das zu verstehen, ist die große Aufgabe unserer heutigen Zeit. Es geht darum, den Menschen hier vor Ort, die vielleicht große Sorgen haben, die arbeitslos sind, die nicht wissen, wie ihre Zukunft aussieht, zu sagen: Wir haben auf der einen Seite eine Verantwortung, für Arbeit bei uns zu sorgen; aber auf der anderen Seite werden Sicherheit und Wohlstand bei uns nur zu erhalten sein, wenn wir uns um mehr kümmern als um uns selber, und zwar auch um unsere Nachbarschaft. Dies ist ein Land, das an vielen Stellen seiner Geschichte gezeigt hat, dass es ein Schmelztiegel unterschiedlicher Einflüsse ist. Ob es zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele Menschen aus Osteuropa waren, ob es dann Gastarbeiter waren, die zu uns gekommen sind – hier in Nordrhein-Westfalen kann man besichtigen, was an Möglichkeiten und an Bereicherung gelungene Integration schafft. Man kann auch besichtigen, was versäumte Integration an Schwierigkeiten mit sich bringt. Deshalb sollte gerade auch von Nordrhein-Westfalen eine Offenheit für Europa, aber auch für die Welt immer wieder gezeigt werden. Jürgen Rüttgers hat das damals exemplarisch mit der privilegierten Partnerschaft Nordrhein-Westfalens mit den Beneluxländern gemacht. Als Bundespolitikerin sieht man es eigentlich wirklich nicht gerne, wenn Länder anfangen, auch noch Partnerschaften mit anderen Staaten zu gründen. Aber er hat es geschafft, das zu schaffen. Wir waren gnädig, sage ich mal. Es war ja auch zum Guten Deutschlands. Ich sage das ausdrücklich. Die Frage der europäischen Zukunft ist nicht mehr mit solcher Gewissheit zu beantworten, wie wir uns dies über viele Jahrzehnte erhofft haben. Das sagt man in Nordrhein-Westfalen mit besonderer Traurigkeit, nachdem Prinz William anlässlich der Feier zum 70. Jahrestag des Landes Nordrhein-Westfalen zu Besuch war. Dass gerade Großbritannien die Europäische Union verlassen wird, das ist ein Warnsignal an uns alle, noch einmal zu überdenken: Was haben wir an Europa; was muss sich in Europa verändern, um in den Augen der Menschen erfolgreich zu sein? Ich habe mit Herbert Reul und anderen in den letzten Wochen viel über die Frage gesprochen: Worauf müssen wir uns in Europa konzentrieren; und was alles muss vielleicht nicht auf europäischer Ebene entschieden werden? Vor allen Dingen muss Europa das, was es verspricht, tatsächlich einhalten. Viele Entscheidungen in Europa müssen schneller getroffen werden. Wir müssen nicht immer nur über neue Verträge reden, sondern wir müssen über Taten reden und zeigen, dass man Klimaschutz, dass man Herausforderungen der Wettbewerbsfähigkeit, Forschung und vieles andere mehr in Europa gemeinsam besser bewältigt als jedes Land alleine. Das gilt natürlich auch mit Blick auf die Herausforderungen durch Flüchtlinge. Wenn Europa nicht zu einer gemeinsamen Politik mit Blick auf die Türkei, wie wir es mit dem EU-Türkei-Abkommen geschafft haben, mit Blick auf Afrika, wo wir noch nicht so weit sind, mit Blick auf China und Russland und die Vereinigten Staaten von Amerika kommt, dann wird Europa als wichtiger Gestalter der Globalisierung nicht wahrgenommen werden. Deshalb lohnt sich der gesamte Einsatz dafür, uns der großen Fragen der Zukunft als Europäer gemeinsam anzunehmen. Ich glaube, die Unterstützung Nordrhein-Westfalens und der CDU-Landtagsfraktion ist uns an dieser Stelle sicher. Meine Damen und Herren, es zeigt sich: Es waren gute 70 Jahre. Und nun stehen wir am entscheidenden Anfang weiterer Jahrzehnte. Deshalb freue ich mich, dass Armin Laschet seine Rede in einem streitbaren und optimistischen Ton gehalten hat, mit der er uns alle auffordert, weiterzudenken, mutig zu sein und nicht verzagt zu sein, eigene Fachgebiete gut zu beherrschen, Spezialist zu sein und trotzdem an das Gemeinsame zu denken. Das ist ganz, ganz wichtig. In heutigen Zeiten mache ich mir sehr viele Sorgen – das will ich noch kurz sagen –, dass die technischen Entwicklungen, die unsere Gesellschaft massiv verändern, in einer solchen Geschwindigkeit voranschreiten, dass die politischen Verantwortungsträger kaum – um nicht zu sagen, wenn ich mich betrachte: nicht immer – mitkommen. Junge Menschen wachsen mit einer Selbstverständlichkeit in das digitale Zeitalter hinein, während wir in unseren Parteien ein Durchschnittsalter von über 55 Jahren haben. Das sind natürlich aufgeschlossene Erwachsene; Kurt Biedenkopf sagt immer: Wer heute 70 ist, der ist eigentlich erst 50. Aber es lernt sich schwieriger; und wir müssen vor allen Dingen vieles wieder neu lernen. Wir müssen neugierig bleiben. Deshalb meine Bitte an die CDU-Landtagsfraktion: Bleiben Sie in diesen so spannenden und interessanten Zeiten neugierig. Interessieren Sie sich für die Entwicklung der Welt. Holen Sie das Beste davon nach Nordrhein-Westfalen. Seien Sie Partner für andere in der Welt. Zur CDU-Landtagsfraktion sage ich, dass ich unterschreibe: Die Opposition von heute ist immer die Regierung von morgen. Und das ist eine gute Aussicht. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der jazzahead!-Soirée
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-jazzahead-soir%C3%A9e-800128
Wed, 28 Sep 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin, Landesvertretung Bremen
Kulturstaatsministerin
Die Jazz-Begeisterten unter Ihnen werden es bestimmt wissen: In Bremen wird immer einmal wieder Jazzgeschichte geschrieben: Eines der ersten – und vielfach ausgezeichneten – Jazz-Alben des damals gerade 28-jährigen Keith Jarrett zum Beispiel wurde bei Solokonzerten 1973 in Bremen und Lausanne aufgenommen. Eben diese Platte war es, die den Jazzmusiker Brad Mehldau im Teenageralter entdeckten ließ, dass man am Klavier nicht nur Brahms und Beethoven spielen kann. Im Sommer habe ich Brad Mehldau live erleben können – das Vergnügen bei einem Keith Jarrett-Konzert hatte ich auch – so wiederholen sich echte Highlights – und ganz ehrlich – auch Glückserlebnisse. Jazzgeschichte haben in Bremen auch Musikenthusiasten geschrieben, die „ihrer Musik“ ein Zeichen setzen wollten: die „jazzahead!“ – eine einzigartige Mischung aus Fachmesse und Festival. Längst hat sie ihren festen Platz im Kalender der deutschen und internationalen Szene gefunden; sie ist globaler Branchentreff für Austausch, Kontakte und Kooperationen – und zugleich Bühne für die ganze Vielfalt der deutschen Jazzszene und für ihre vielseitigen Künstlerinnen und Künstler. Vor allem holt sie den Jazz, der in verrauchten Clubs und auf späten Sendeplätzen oft dann doch ein buchstäbliches Schattendasein fristet, ins verdiente Rampenlicht. Der Erfolg der „jazzahead!“, die national wie international als große Bereicherung des Kultur- und Musiklebens gilt, wäre ohne Ihr Engagement, liebe Sybille Kornitschky, nicht möglich gewesen – herzlichen Dank an Sie und Ihr Team! Auch den beiden langjährigen künstlerischen Leitern, Uli Beckerhoff und Peter Schulze, ist es zu verdanken, dass die Messe jedes Jahr unvergessliche Jazzerlebnisse für ihre Besucherinnen und Besucher bereithält. Ich freue mich, dass Sie alle heute ein Stück Jazz-Begeisterung nach Berlin mitbringen und danke Ihnen für die Einladung zur Jazz-Soirée! Deutschland hat ja eine bemerkenswerte, eine international beachtete Jazzszene – das wird nicht zuletzt einmal im Jahr in Bremen sichtbar: In unserem Land leben und arbeiten herausragende Musikerinnen und Musiker, Hochschulen bilden kontinuierlich hoch qualifizierten Nachwuchs aus, es entstehen äußerst vielfältige Formationen und Ensembles. In vielen Städten gibt es traditionsreiche und innovative Festivals und eine lebendige Clubszene, oft getragen vom persönlichen Enthusiasmus öffentlich geförderter Veranstalter oder sogar vom ehrenamtlichen Engagement. Um diesen Einsatz zu würdigen, werden die engagiertesten Clubs jährlich im Rahmen des mit insgesamt einer Million Euro ausgestatteten Spielstättenprogrammpreises „Applaus“ von mir gewürdigt. Trotz allem entsteht doch immer noch der Eindruck, dass der Jazz sein volles Potential nicht überall entfalten kann, dass er nicht die öffentliche Aufmerksamkeit und Unterstützung erfährt, die anderen Genres der Musik zuteilwerden. „Wenn keiner singt, muss es wohl Jazz sein: Das glauben eine Menge Leute“, hat der Jazz-Saxophonist Branford Marsalis kürzlich in einem Interview gesagt. Jazz gilt eher als Nische für ausgewiesene Kenner und Liebhaber- ihn aus dem Schatten etablierter Gattungen ins Scheinwerferlicht zu holen und noch mehr Menschen dafür zu begeistern – dafür engagiert sich der Bund mit verschiedenen Projekten: So hat mein Haus beispielsweise eine Studie mitfinanziert, die sich vor allem mit den sozialen Bedingungen der Jazz-Musikerinnen und -Musikern befasst: Die „jazzstudie2016“ macht auf die schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen der Jazzer aufmerksam. Sie werden nach außen nämlich selten sichtbar. Doch trotz unsicherer finanzieller Zukunft entscheiden sich nach wie vor viele junge Menschen für eine professionelle Jazz-Ausbildung – vielleicht auch deshalb, weil Jazz – wie es der Schweizer Journalist Peter Rüedi einmal formuliert hat – ich zitiere: „[…] kein Handwerk [ist], sondern eine Lebensform, also eine existentielle Angelegenheit.“ Selbst wenn Jazzmusiker mehr eine Berufung denn ein Beruf ist, sollten Trompeter, Pianisten, Sänger und Bassisten von ihrer Musik leben – und nicht nur knapp überleben – können! Ich hoffe deshalb, dass die Studie Diskussionen darüber anregt, wie sich die Arbeits- und Lebensbedingungen professioneller Jazzmusikerinnen und -musiker verbessern lassen. Der Bund jedenfalls trägt seinen Teil dazu bei. Wir verstehen den nicht-kommerziellen Jazz bewusst als Teil zeitgenössischer Musik und öffnen ihm damit die Chance auf Mittel aus dem vor wenigen Tagen gegründeten Musikfonds. Für diesen neuen Musikfonds stellt die Bundesregierung jährlich 1,1 Millionen Euro zur Verfügung. Die von meinem Haus geförderte „Initiative Musik“ unterstützt darüber hinaus bereits seit 2008 viele Jazzmusiker und -projekte, so zur Zeit zum Beispiel den Trompeter und Pianisten Sebastian Studnitzky, das Berliner Jazzquartett Cyminology, das Peter Protschka Quartett oder das New German Art Orchestra. Und vielleicht wird bald neben Bremen nun auch in Berlin eine neue Jazzgeschichte geschrieben: Der Musiker Till Brönner will hier ein „House of Jazz“ errichten, das dem Genre zu mehr Sichtbarkeit und zu einer breiteren öffentlichen Aufmerksamkeit verhelfen soll. Die Initiative klingt verlockend – und wurde kürzlich in einer vom Bund mitfinanzierten Machbarkeitsstudie untersucht. Ohne den Ergebnissen der Studie – die demnächst veröffentlicht wird – vorzugreifen: Überlegenswert und reizvoll finde ich diese Idee in jedem Fall! Duke Ellington hat einmal über den Jazz gesagt: „Es ist wie ein Mordakt. Du spielst mit Vorsatz, um etwas zu begehen.“ Ob die Musiker des heutigen Abends – die großartige Anke Helfrich und ihr Duopartner, der Australier Adrien Mears – ähnliche Gelüste antreibt, verraten sie uns vielleicht später. In jedem Fall verspricht dieses Jazz-Geständnis spannende Unterhaltung und zeigt, dass der Jazz durchaus Prime-Time-fähig ist: Ich jedenfalls werde mich weiterhin dafür stark machen, dass die Musik, die Künstlerinnen und Künstler mit so viel Leidenschaft und mit Vorsatz – hochqualifiziert und talentiert wie sie sind – antreibt, um uns – ihr Publikum – mit in ihre Welt zu entführen, dass diese Musik eben auch die verdiente Anerkennung erhält. Und dass die ganz eigene Welt des Jazz zunehmend unsere gemeinsame wird – und mindestens eine „existenzielle Angelegenheit“!
Kulturstaatsministerin Grütters hat weiter Unterstützung für die Jazzmusik in Aussicht gestellt. „Deutschland hat eine bemerkenswerte, international beachtete Jazz-Szene“, so Grütters. Als einzigartige Mischung aus Fachmesse und Festival biete die „jazzahead!“ eine Bühne für die ganze Vielfalt des Jazz und ihrer Künstler. Grütters fördert das Genre mit Geldern aus verschiedenen Fonds, Programmen und Initiativen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Empfang der Preisträgerinnen und Preisträger des 51. Bundeswettbewerbs „Jugend forscht“ am 28. September 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-empfang-der-preistraegerinnen-und-preistraeger-des-51-bundeswettbewerbs-jugend-forscht-am-28-september-2016-451286
Wed, 28 Sep 2016 11:00:00 +0200
Berlin
Bildung und Forschung
Liebe Frau Bundesministerin Wanka, lieber Herr Baszio, meine Damen und Herren und vor allem: liebe junge Forscher, das Motto des Wettbewerbs lautete dieses Jahr: „Neues kommt von Neugier.“ Hinter der Neugier steckt ein menschliches Verlangen, etwas Unbekanntes zu entdecken, etwas Kompliziertes zu verstehen oder etwas auszutüfteln, was vorher noch niemand geschafft hat. Sie sind Preisträgerinnen und Preisträger von Jugend forscht und damit sozusagen die Speerspitze all derer, die sich an dem Wettbewerb beteiligt haben. Sie waren auf Ihre Art und mit Ihren Möglichkeiten und Gaben ziemlich erfolgreich beim Tüfteln, Entdecken und Verstehen. Sie haben sich nicht nur damit begnügt, neue Ideen zu entwickeln, sondern haben auch praktische Lösungen geliefert. Mit Ihrer Kreativität haben Sie die Jury, die Begleiter des Wettbewerbs und auch Frau Wanka und mich begeistert, obwohl ich zugebe, dass ich nicht jedes einzelne Projekt kenne. Sie alle sind Gewinner. Nicht nur Sie sind Gewinner, sondern das ganze Land gewinnt mit all den neuen Ideen und Erfindungen. Ich sage deshalb erst einmal: Herzlichen Glückwunsch. Dieser Empfang im Kanzleramt soll auch ein kleines Dankeschön für das sein, was Sie an Zeit und Geist investiert haben. Dieser Wettbewerb hat schon eine lange Tradition. Über ein halbes Jahrhundert gibt es ihn schon. Forschungsziele und Forschungsobjekte haben sich natürlich geändert. Aber die Neugier ist über das halbe Jahrhundert hinweg konstant geblieben. Das spiegelt sich ja im diesjährigen Motto wider. Bisher gab es 51 Wettbewerbe, an denen sich 250.000 junge Menschen – eine Viertelmillion – beteiligt haben. Man kann davon ausgehen, dass die überwiegende Mehrheit derer, die sich an Jugend forscht beteiligen, später sogenannte MINT-Fächer – also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – studieren. Mit solchen Studienabschlüssen verbinden sich im Allgemeinen sehr gute Berufschancen. Wir reden uns fast ein bisschen den Mund fusselig, dass man diese Fachrichtungen studieren soll, weil dann die Chance auf eine spätere Beschäftigung wirklich sehr gut ist. Manchmal gibt es die Sorge, dass das schwierige Studiengänge sind. Aber ein solches Studium zahlt sich aus. Aber auch insgesamt ist heute die Chance, in Deutschland eine Arbeit zu finden, wenn man eine gute Ausbildung hat, sehr gut. Der Übergang von der Schule über die Ausbildung in das Berufsleben gelingt in Deutschland sehr viel besser als in vielen anderen Ländern. Die OECD – die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – hat vor rund zwei Wochen ihren Bildungsbericht veröffentlicht. Deutschland nimmt darin eine Spitzenposition ein. Ich denke, das ist eine Anerkennung für die vielen, die dabei mitwirken, dass der Übergang von der Schule über die Ausbildung in den Beruf gut funktioniert. Bildung und Forschung sind auch in unserer Regierungsarbeit Schwerpunkte. Ich will Ihnen nur zwei Beispiele nennen. Das erste ist der Hochschulpakt, mit dem der Bund, gerade wenn jetzt noch die geburtenstarken Jahrgänge an die Universitäten gehen, bei der Finanzierung von 760.000 zusätzlichen Studienplätzen hilft. Das zweite ist, dass wir als Bund die BAföG-Leistungen übernommen und sie jetzt auch erhöht haben. Damit haben wir die Länder entlastet, die ihrerseits hoffentlich – so will ich es einmal sagen – die frei gewordenen Gelder wieder in Bildungsstrukturen stecken und helfen, dass die Ausbildung auch an den Universitäten besser sein kann. Denn wir haben derzeit ein Auseinanderklaffen zwischen der Finanzsituation der nicht universitären Forschungseinrichtungen – Max-Planck-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft usw. –, die jedes Jahr Steigerungen erhalten, und der zum Teil schwierigen Situation an den Universitäten und Hochschulen. Jetzt habe ich ein bisschen über das gesprochen, was vielleicht Ihre Zukunft ist, aber nicht Ihre Gegenwart. Sie haben also bewiesen, was in Ihnen steckt. Bei Jugend forscht gab es diesmal 12.000 Anmeldungen – also viel Wettbewerb. Diejenigen, die hier sind, haben es bis in die letzte Wettbewerbsrunde geschafft. Wir sind froh, dass viele Mädchen mitgemacht haben: 4.600. Das sind mehr als jemals zuvor. Aber bei gut 38 Prozent können wir noch ein bisschen zulegen. Immerhin kann man schon sagen: Die Richtung stimmt. Ein solch riesiger Wettbewerb mit 12.000 Anmeldungen muss natürlich erst einmal organisiert werden. Deshalb möchte ich allen ganz herzlich danken, die sich mit Rat und Tat eingebracht haben: dem Jugend-forscht-Team, den vielen Helfern und Unterstützern in den Schulen, in den Unternehmen, in den Forschungsinstituten und Wissenschaftsorganisationen. Das ist ein großartiges Engagement, bei dem junge Menschen Chancen bekommen. Das Spektrum der Themen des diesjährigen Wettbewerbs zeigt die riesigen Möglichkeiten. Dabei geht es um Klimawandel und Umweltschutz, um beschleunigte Abläufe dank digitaler Technologien, um Medizintechnik, Gesundheitstipps, Rätsel des Weltalls. All das hat Ihre Neugier geweckt. Viele Ideen münden in neue Produkte oder Verfahren. Es sind also Innovationen, die Nutzen hervorbringen, der zu Nachfrage im Markt führt, die dann wiederum zu neuen Arbeitsplätzen führen kann. Das heißt also – auch wenn es sich vielleicht ein bisschen abstrakt anhört –, dass Sie mit dem, was Sie erfunden und entwickelt haben, auch ein bisschen darüber entscheiden, wie wir morgen leben und welche Möglichkeiten wir haben. Natürlich bleiben Ideen auch immer wieder in den Kinderschuhen stecken. Das gehört beim Forschen und Entwickeln dazu. Mancher Rückschritt kann sich aber auch produktiv auswirken, weil einem dann plötzlich etwas Neues einfällt und man anders an die Sache herangeht. Nun sind Sie hier. Dieser Empfang ist mit einem Dankeschön und auch mit einem Sonderpreis der Bundeskanzlerin für die originellste Arbeit verbunden. Dieser Preis geht in diesem Jahr an Tassilo Schwarz vom Johannes-Heidenhain-Gymnasium in Traunreut. Vorneweg sage ich: Herzlichen Glückwunsch. Lieber Tassilo Schwarz, Sie richten ein besonders wachsames Auge auf Flugkörper – genauer gesagt: auf unerwünschte Drohnen. Um diese abwehren zu können, haben Sie ein Überwachungssystem entwickelt. Damit gelingt es Ihnen, die Flugbahn von Drohnen zu berechnen und ihre Position zu ermitteln. Sie haben das auch mit dem Vogelflug verglichen. Ich bin natürlich schon sehr gespannt darauf, dass Sie uns das jetzt erklären. Vielleicht ist es auch für manchen Flughafenbetreiber interessant, was Sie sich haben einfallen lassen. Jedenfalls gratuliere ich Ihnen und allen anderen ganz herzlich und freue mich auf die Darlegungen von Tassilo Schwarz.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum 70. Geburtstag des Vorsitzenden des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Herrn Romani Rose, am 27. September 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-70-geburtstag-des-vorsitzenden-des-zentralrates-deutscher-sinti-und-roma-herrn-romani-rose-am-27-september-2016-787172
Tue, 27 Sep 2016 19:45:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte Vorstandsmitglieder des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, meine Damen und Herren, bitte verzeihen Sie mir, wenn ich es angesichts der Vielzahl der Festgäste bei dieser allgemeinen Anrede bewenden lasse, um damit zugleich umso mehr denjenigen herausheben zu können, der heute im Mittelpunkt steht. Sehr geehrter Herr Vorsitzender, lieber Herr Rose, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem runden Geburtstag – nachträglich natürlich, denn Ihr tatsächlicher Ehrentag liegt bereits einen guten Monat zurück. Ich wünsche Ihnen von Herzen Gesundheit, Glück und Segen und alles erdenklich Gute – in einem Wort: persönliches Wohlergehen. Ich freue mich, dass wir gemeinsam mit Ihnen heute nicht nur das neue Lebensjahrzehnt begrüßen können, sondern dass wir aus diesem Anlass zusammengekommen sind, um auch Ihr jahrzehntelanges Engagement für die Belange der Sinti und Roma zu würdigen. Jeder Tag, der neu hinzukommt, birgt die Chance neuer Verdienste. Denn Sie wirken beharrlich darauf hin, Dinge zum Guten zu wenden. Gerade eben, als ich zu Ihnen gekommen bin und die wunderschöne Musik gehört habe, habe ich noch einmal nachgedacht: 1982 wurde der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma gegründet; Sie sind 1946 geboren – ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Von heute aus gesehen mussten Sie etwa ein halbes Leben lang warten, bis anerkannt wurde, was Ihrer Minderheit an Unrecht angetan wurde. Erst die andere Hälfte des bisher Erlebten – grob gesprochen; ich weiß schon, dass 35 und 36 einen Unterschied machen – konnten Sie darauf verwenden, denjenigen, die Ihnen wichtig sind und die Sie vertreten, eine Stimme zu geben. Das Jahr 1982 war aber auch in anderer Hinsicht von Bedeutung. Damals wurde eines der wichtigsten Ziele auf dem langen Weg der Aufarbeitung der Verbrechen Deutschlands während des Nationalsozialismus erreicht; und das war die Anerkennung des Völkermords an Sinti und Roma durch Bundeskanzler Helmut Schmidt. Wir sollten nicht vergessen, dass zwischen 1945 und 1982 fast vier Jahrzehnte lagen, in denen die klare Benennung der Verbrechen an Sinti und Roma auf sich warten ließ. Es gehört zu den traurigen Wahrheiten, dass dies erst nach unermüdlicher Vorarbeit möglich war, an der Sie, lieber Herr Rose, maßgeblich beteiligt waren. Es ist eine traurige Wahrheit, dass erst ein Hungerstreik auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau ein Umdenken auslöste und den Wendepunkt brachte. Wendepunkt heißt aber nicht: Alles ist geschafft. Oft fängt die Arbeit danach erst richtig an. So auch hier; denn Erinnerung und Gedenken mussten erst einen angemessenen öffentlichen Raum finden. Lieber Herr Rose, zusätzlich zu Ihren Aufgaben im Zentralrat nehmen Sie seit 1991 auch die Geschäftsführung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg wahr. Die Dauerausstellung, die den Völkermord an Sinti und Roma dokumentiert, ist ebenso bedrückend wie beeindruckend. Auch dass wir inzwischen endlich ein Mahnmal im Herzen der Hauptstadt haben – ich durfte bei der Einweihung dabei sein –, ist ganz besonders Ihnen zu verdanken. Es lädt mit bewegender Symbolik zum stillen Gedenken an das Schicksal der Sinti und Roma Europas ein, die während des Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden. Ich erinnere mich noch gut an die Einweihung vor vier Jahren. Damals haben Sie in Ihrer Rede darauf hingewiesen: „Es gibt in Deutschland keine einzige Familie unter den Sinti und Roma, die nicht unmittelbare Angehörige verloren haben – dies prägt unsere Identität bis heute.“ Auch Sie selbst sind nicht nur durch berufliche und ehrenamtliche Aufgaben betroffen, sondern auch privat. Denn das Leid von damals bleibt für immer Teil der Familiengeschichten – auch Ihrer eigenen. Es ist und bleibt wahr, dass wir erst im immerwährenden Bewusstsein der Schrecken der Vergangenheit eine gute Zukunft gestalten können. Mit diesem Bewusstsein pochen Sie auch darauf, weniger das Trennende in den Blick zu nehmen als vielmehr das, was uns heute verbindet. Dafür können wir unendlich dankbar sein, denn dazu müssen Sie auch jeden Tag wieder die Kraft aufbringen. Alle zusammen setzen wir uns für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein. Unablässig gilt es, gegen jegliche Form von Vorurteilen, Hass und Hetze zu kämpfen. Ein besonderes Anliegen ist der Kampf gegen Antiziganismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Hinter jedem dieser Begriffe stehen menschenverachtende Gedanken, Worte und – leider viel zu oft – auch Taten. Sie finden auch in Deutschland in einer Weise Anklang, die erschreckend ist. Denkbar falsch wäre es jedoch, sich angesichts dessen einfach angewidert abzuwenden. Wir müssen vielmehr sehr genau hinschauen. Wir dürfen nicht schweigen, wenn mahnende Worte gefragt sind. Wir müssen uns konsequent rechtsstaatlicher Mittel bedienen, wenn strafrechtlich Relevantes zu ahnden ist. Vor allem aber müssen wir aufklären, vorbeugen und verhindern, dass die Saat rassistischer und antiziganistischer Gedanken aufgehen kann. Das ist etwas, das nicht nur Sie angeht, sondern das uns alle angeht. Auch dies haben Sie, Herr Rose, treffend beschrieben: „Dieser Rassismus richtet sich vordergründig gegen unsere Minderheit, tatsächlich aber richtet er sich gegen unsere Demokratie und unsere demokratischen Werte.“ – Danke, Sie haben Recht. Jüngst hat das Bundeskabinett den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit beschlossen. Dieser Bericht gibt nicht nur über beachtliche wirtschaftliche Fortschritte Auskunft, sondern auch über die Gefahr, dass Intoleranz und Menschenhass in Deutschland um sich greifen können. Um es deshalb ganz klar zu sagen: Es sind die Mechanismen der Abgrenzung und Ausgrenzung, der Ablehnung von allem, was fremd erscheint, die unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt schwächen, ja, ihn sogar gefährden können, und die obendrein – auch das besagt der Jahresbericht zur Deutschen Einheit – die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes beeinträchtigen. Das ist ein Befund, der uns allen in Deutschland zu denken geben sollte – und natürlich auch über Deutschland hinaus. Daher begrüße ich es sehr, dass nun geplant ist, in Berlin ein Europäisches Roma Institut für Kunst und Kultur zu errichten. Dahinter steht eine gemeinsame Initiative des Europarats, der Open Society Foundations und der Allianz für das Europäische Roma-Institut. Selbstverständlich wirkt der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma ebenfalls daran mit, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Geschichte, Kunst und Kultur der Sinti und Roma sind fester Teil der Geschichte, Kunst und Kultur Europas. Sinti und Roma sind ein fester Teil unserer gemeinsamen Gesellschaft – in anderen Staaten ebenso wie hierzulande. Die Bundesregierung setzt sich für ein gleichberechtigtes Miteinander ein. Dabei steht uns auch der Beratende Ausschuss für Fragen der deutschen Sinti und Roma zur Seite. Mit ihm haben wir eine Gesprächsplattform, die gewährleistet, dass ihre Anliegen in der Bundespolitik Gehör finden. Ein aktuelles Beispiel ist ihr Einsatz für den Erhalt der Gräber von Sinti und Roma, die die Verfolgung während des Nationalsozialismus überlebt haben. Diese Gräber dienen dem ehrenden Gedenken an Familienangehörige, sollen aber auch als Mahnmale für unsere Gesellschaft Bestand haben, wofür die öffentliche Hand Sorge tragen muss. Sie wissen, dass die Bundesregierung dazu einen Vorschlag erarbeitet hat. Wir stehen darüber mit den Ländern in einer konstruktiven Diskussion. Wenn einer einmal nickt, ist schon fast alles gewonnen. Dann haben wir nur noch fünfzehn andere; aber das macht nichts. Ich rechne trotzdem damit, dass wir zu einer guten Lösung kommen werden. Lieber Herr Rose, ich möchte Ihnen ganz herzlich danken für alles, was Sie für unser Land – ich sage ausdrücklich: für unser Land – tun. Ich wünsche Ihnen weiterhin die Ausdauer und die Kraft, mit der Sie sich und mit der wir uns gemeinsam für die gelebten Grundwerte unserer Demokratie stark machen. Nun kann ich nur noch sagen – etwas traurig, weil ich bald entschwinden muss –: Genießen Sie mit Ihren zahlreichen Gästen diesen festlichen Abend. Sie haben ihn sich verdient, denn Sie machen sich schon seit Jahr und Tag um unser Land, um unser Zusammenleben verdient. Ein ganz herzliches Dankeschön dafür, dass Sie immer wieder die Kraft dazu aufbringen. Ich wünsche Ihnen viele Freunde, Unterstützer und Gleichgesonnene, um dieses Werk fortsetzen zu können. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Berliner Buchhändlerclub zum Thema „Die deutsche Politik und die Buchbranche“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-berliner-buchhaendlerclub-zum-thema-die-deutsche-politik-und-die-buchbranche–370724
Mon, 26 Sep 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Wir alle wissen, was passiert, wenn man Hunden den Futternapf immer wieder mit einer Klingel ankündigt: Irgendwann braucht es kein Futter mehr, um den Speichelfluss in Gang zu setzen – ein Klingeln reicht. Iwan Pawlow, der Entdecker des nach ihm benannten Pawlowschen Reflexes, wäre heute 167 Jahre alt geworden. Das ist hier insofern der Erwähnung wert, als auch die öffentliche Debatte um die Zukunft der Buchbranche, an die wir heute anknüpfen wollen, nicht frei von Pawlowschen Reflexen ist: Es braucht jedenfalls keine schlechten Zahlen, um kulturpessimistische Szenarien vom Niedergang des Buches, der Lesekultur und des stationären Buchhandels heraufzubeschwören. Oft reicht schon das Stichwort „Digitalisierung“, um die Zukunft der Buchbranche in düsteren Farben zu malen. Ob zu Recht oder zu Unrecht und inwieweit die Politik darauf Einfluss hat, darüber werden wir heute Abend diskutieren. Vielen Dank für die Einladung in den Berliner Fernsehturm, lieber Herr Dr. Palm! Nirgendwo in Berlin sieht man weiter – und besser – als von hier, und wenn die Wahl dieses besonderen Ortes ein Plädoyer für politische und unternehmerische Weitsicht sein soll, dann ist das hiermit schon mal angekommen. Mit unternehmerischer Weitsicht tut sich die Berliner Verlagsszene ja ohnehin schon länger hervor. „Der Laden läuft“ – hieß es dazu vor einigen Monaten trocken im Feuilleton der taz, die hier in der Hauptstadt der Autoren und der größten Verlagsstadt Deutschlands besonders kreative Ideen und Strategien für das digitale Zeitalter ausgemacht hat – in Verlagen, die mit Enthusiasmus neue Themen entdecken, Experimente wagen, Nischen besetzen und den Nerv ihre Zielgruppe treffen, aber auch in Buchhandlungen, die ihren Kunden mit vielfältigen Angeboten Lust auf Lesen machen. Darüber werden wir heute sicherlich noch diskutieren. Ich bin gespannt, was Sie aus Ihrem Arbeitsalltag berichten. Fest steht: Wir haben in Deutschland – nach den USA und China – den drittgrößten Buchmarkt und eine der lebendigsten und facettenreichsten Verlagslandschaften der Welt, die es wert ist, geschützt und verteidigt zu werden. Bei der Gesamtzahl der Veröffentlichungen gehören wir zur Spitzengruppe, bei der Titel-Zahl pro Kopf zu den Top Ten weltweit. Und viele unserer Autorinnen und Autoren machen dem Ruf Deutschlands als Land der Dichter und Denker alle Ehre. All das ist nicht zuletzt auch das Verdienst der Verlegerinnen und Verleger. Sie sind es, die das unternehmerische Risiko einer Publikation tragen. Sie sind es, die die Vorfinanzierung ebenso wie die Kosten für Herstellung und Vertrieb übernehmen. Sie sind es, die Talente entdecken und gewinnen. Sie sind es, die für die Qualität einer Publikation bürgen. Sie sind es, die sich für Werke und für Autorinnen und Autoren engagieren, von deren Gewicht und Bedeutung sie überzeugt sind. Sie sind es, die auf diese Weise sicherstellen, dass es auch abseits der Bestsellerlisten Aufmerksamkeit gibt für lesenswerte Bücher: für außergewöhnliche Geschichten, für ungehörte – und unerhörte – Stimmen, für neue Perspektiven. In diesem Sinne sind Verlage eben nicht nur Wirtschaftsunternehmen, sondern auch kulturelle Vermittler – dem Kulturgut Buch verbunden, nicht allein dem Wirtschaftsgut Buch verpflichtet. Die Wertschätzung und die Förderung dieser Vielfalt und Freiheit sind Teil unseres Demokratieverständnisses, allein schon deshalb, weil Bücher zur freien Meinungsbildung und zu einer aufgeklärten, kritischen Öffentlichkeit beitragen, aber auch, weil Demokratie – wie Jean Paul das schon vor 200 Jahren so treffend formuliert hat – „ohne ein paar Widersprechkünstler […] undenkbar [ist].“ Wir brauchen die Künstler und Intellektuellen, die Querdenker und Freigeister, deren Werke wir in vielen Verlagsprogrammen finden! Sie sind der Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft, der verhindert, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Sie schauen hin, wo andere wegsehen, und oft schreiben sie an gegen Gleichgültigkeit, Verdrängung und emotionale Abgestumpftheit. Gerade jetzt, angesichts hunderttausender Menschen, die ihre Heimat in Kriegs- und Krisenregionen verlassen haben in der Hoffnung, im friedens- und wohlstandsverwöhnten Europa Zuflucht zu finden, ist die Sensibilität für menschliches Leid und existenzielle Not auch und besonders in den Demokratien Europas ganz offensichtlich nötiger denn je. Literatur kann denen eine Stimme geben, die sonst kein Gehör finden. Sie kann uns nötigen, die Perspektive zu wechseln und die Welt aus anderen Augen zu sehen. Deshalb werde ich in meinem Haus – so ist es geplant, und dafür ist auch ein entsprechendes Budget vorgesehen – ab 2017 einen neuen Förderschwerpunkt „Literatur“ setzen. Vor allem aber ist es mein, ist es unser gemeinsames Anliegen, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Verlage wie für die Autoren stimmen – oder um es noch einmal bildlich auszudrücken: dass wir einen fruchtbaren Boden haben, in dem verlegerische Vielfalt und literarische Freiheit auch in Zukunft gedeihen können. Dafür setze ich mich im Interesse der Verlage und der Autoren ein, auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene – zum Beispiel mit der Verteidigung der Buchpreisbindung, die dafür sorgt, dass Bücher auch künftig anders behandelt werden als bloße Handelsobjekte, als Gartenmöbel oder Zahnpasta. Die im Februar vom Kabinett beschlossene und am 1. September in Kraft getretene Änderung des Buchpreisbindungsgesetzes dehnt die bisher nur für gedruckte Bücher festgeschriebene Preisbindung ausdrücklich auch auf E-Books aus und erfasst jetzt auch grenzüberschreitende Verkäufe nach Deutschland. Außerdem tritt die Bundesregierung auf meine Initiative hin im Rahmen der Verhandlungen über das Freihandelsabkommen TTIP nachdrücklich dafür ein, dass das Abkommen keine Bestimmungen enthält, die die kulturelle Vielfalt beeinträchtigen. Die Zusicherung von Handelskommissarin Malmström, „auf keinen Fall“ werde über die Buchpreisbindung verhandelt, ist für uns alle ein wichtiger Etappensieg. Meine Unterstützung hat die Buchbranche auch bei der Verbesserung der steuerrechtlichen Rahmenbedingungen. Mit der Einführung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Hörbücher sind wir in dieser Legislaturperiode schon ein gutes Stück vorangekommen. Komplizierter ist es, ihn auch für E-Books und E-Paper einzuführen. Wie Sie sicherlich wissen, bedarf es dafür einer Änderung des europäischen Umsatzsteuerrechts, der alle EU-Mitgliedstaaten zustimmen müssen. Dafür setzt sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene ein, und ich werbe auch in bilateralen Gesprächen immer wieder dafür. Allerdings gibt es Widerstände in einigen Mitgliedstaaten. Umso erfreulicher ist es, dass Kommissionspräsident Juncker sich ausdrücklich für die Einführung des ermäßigten Satzes ausgesprochen hat. Jetzt ist die Kommission am Zug. Sie hat im April angekündigt, noch 2016 einen Regelungsvorschlag zur Reform der Mehrwertsteuer für den grenzüberschreitenden elektronischen Geschäftsverkehr vorlegen zu wollen. Ein weiteres Thema für einen engen Schulterschluss zwischen Politik und Buchbranche ist der Kampf gegen die Marktmacht großer Internetkonzerne wie Amazon. Dazu habe ich beispielsweise den Deutschen Buchhandlungspreis ins Leben gerufen, der Anfang Oktober zum zweiten Mal vergeben wird. Kompetente Buchhändlerinnen und Buchhändler weisen Wege durch die weite Welt der Bücher: Sie raten zu oder ab, machen neugierig auf weniger bekannte Bücher und Autoren, wecken und stärken die Lesebegeisterung und leisten so einen wichtigen Beitrag zur literarischen und kulturellen Vielfalt. Ihre kulturelle Vermittlertätigkeit ist wichtiger denn je in Zeiten, in denen die Konzentration auf dem Buchmarkt und die Konkurrenz des Online-Handels voranschreiten und der unternehmerische Spielraum für kleinere Buchhandlungen schrumpft. Wie können die Buchhandlungen vor Ort sich gegen die Konkurrenz im Internet erfolgreich behaupten? Letztlich ist es das Kaufverhalten der Kunden, das darüber entscheidet, wie der klassische Buchhandel künftig fortbesteht. Um das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit für die Bedeutung dieser „geistigen Tankstellen“, dieser kulturellen Begegnungsorte in unseren Städten zu schärfen, vergibt der Bund den Deutschen Buchhandlungspreis – ausgestattet mit rund einer Million Euro, analog zu den anderen Branchenpreisen meines Hauses, dem Kinoprogrammpreis im Filmbereich und dem APPLAUS im Musikbereich. Für die Zukunft der Buchbranche, meine Damen und Herren, kommt es nicht zuletzt auch ganz entscheidend darauf an, dass man auch im digitalen Zeitalter von kreativer Arbeit leben kann und Investitionen in geistige Werke sich weiterhin lohnen. Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Reform des Urhebervertragsrechts soll die Position des Urhebers stärken und Kreativen eine angemessene Vergütung ermöglichen. Um diesen politischen Auftrag umzusetzen, hat die Bundesregierung im März einen Gesetzentwurf zur Überarbeitung des Urhebervertragsrechts beschlossen. Mit dem Regierungsentwurf ist, denke ich, jetzt ein Schritt getan, um die urhebervertragsrechtliche Position der Kreativen gegenüber dem Status quo zu verbessern und zugleich eine stabile Grundlage für die wirtschaftliche Betätigung der Verwerter und Produzenten kreativer Leistungen zu bewahren, die wiederum der kulturellen und medialen Vielfalt und damit auch den Urhebern zugutekommt. Bei allen Kontroversen im Detail ist mir wichtig, dass wir insgesamt einen konstruktiven, kooperativen Ansatz verfolgen. Wir dürfen das übergeordnete gemeinsame Interesse von Kreativen und Verwertern nicht aus den Augen verlieren, die ja geradezu symbiotisch aufeinander angewiesen sind und letztlich im selben Boot sitzen. Sie müssen sich zum Beispiel nicht nur dem Problem der Internetpiraterie gemeinsam stellen, sondern auch den Herausforderungen, die durch Angebote von Online-Plattformen großer und marktmächtiger Internetkonzerne und Intermediäre entstehen. Deshalb sehe ich das BGH-Urteil zur Verteilungspraxis der VG-WORT im April und seine Folgen mit Sorge. Die bisherige, bewährte Praxis der gemeinsamen Wahrnehmung der Rechte von Autoren und Verlagen in der VG WORT war wie ein Dünger für eine vielfältige Verlagslandschaft. Sie ermöglichte die Querfinanzierung zwischen Bestsellern und publizistischen Wagnissen und ebnete noch unbekannten Autoren den Weg in ein Verlagsprogramm und in den Buchhandel. Aus diesen Gründen habe ich mich bereits im Februar zusammen mit dem für das Urheberrecht federführenden Kollegen Maas an EU-Kommissar Oettinger gewandt und für eine rechtssichere Lösung auf europäischer Ebene geworben, mit der die gemeinsame Rechtewahrnehmung von Autoren und Verlegern in einer Verwertungsgesellschaft auch in Zukunft möglich bleibt. Mit Erfolg! Im Zuge der überfälligen Anpassung des EU-Urheberrechts an die Herausforderungen der digitalen Welt hat die EU-Kommission – neben zahlreichen konkreten Regelungsvorschlägen zum Urheberrecht im Rahmen ihrer Strategie für den digitalen Binnenmarkt – sich nun auch dem drängenden Problem der Verlegerbeteiligung zugewandt und einen Lösungsvorschlag vorgelegt. Künftig soll es den Mitgliedstaaten der EU ausdrücklich gestattet sein, eine Verlegerbeteiligung vorzusehen. Das ist ein sehr positives Signal und ein wichtiger erster Schritt – gerade auch für die aktuelle Diskussion in Deutschland. Die jüngsten besorgniserregenden Entwicklungen bei der VG Wort zeigen ja noch einmal die Brisanz des Themas. Partikularinteressen werden hier teilweise über die bewährte gemeinsame Rechtewahrnehmung durch Verleger und Urheber gesetzt und drohen nun die VG Wort zu beschädigen. Diese Initiative ging aber offenbar nicht von den hauptsächlich betroffenen Buchautoren aus. In dieser Situation kommen die EU-Vorschläge auch zur Verlegerbeteiligung gerade zur richtigen Zeit. Ich werde mich im Rahmen der sicherlich intensiven Diskussionen über die Vorschläge der Kommission für ausgewogene Lösungen im Sinne der Kultur und der kulturellen Vielfalt einsetzen, die mir, der leidenschaftlichen Vielleserin, nicht nur ein politisches, sondern auch ein ganz persönliches Herzensanliegen ist. Wie auch immer die Zukunft der Buchbranche aussehen wird, meine Damen und Herren: Ich wünsche dem Kulturgut Buch, dass es weiterhin Verlegerinnen und Verleger, Buchhändlerinnen und Buchhändler gibt, die mit Freude und Leidenschaft ihr Ding machen und ihre Unabhängigkeit verteidigen: vor ökonomischen Abhängigkeiten, vor falschen Kompromissen aus vermeintlichen Sachzwängen heraus und nicht zuletzt vor der Versuchung, sich allzu bereitwillig dem Massengeschmack zu unterwerfen. Denn ich bin überzeugt: Mit Verlagen und Buchhandlungen, die etwas wagen (und die dank guter politischer Rahmenbedingungen auch etwas wagen können), müssen wir uns um die Zukunft der Branche keine Sorgen machen. Denn dann gilt auch im digitalen Zeitalter, was Klaus Wagenbach, Bezug nehmend auf den Wagenbach-Autor Peter Brückner, in seiner Rede zum 50-jährigen Verlagsjubiläum gesagt hat: „Wer das Nichtstun ebenso wie die Arbeit scheut, findet leicht zum Buch.“
Insbesondere mit Blick auf aktuelle Entwicklungen im Urheberrecht will Kulturstaatsministerin Grütters auch künftig den rechtlichen Rahmen für Verlage verbessern. Auch bei steuerrechtlichen Regelungen wie bei der Markmacht des Internets sagte Grütters Unterstützung zu. Dabei seien Verlage verdienstvollerweise als kulturelle Vermittler mehr als Wirtschaftsunternehmen. Entscheidend für die Zukunft sei, „dass man auch im digitalen Zeitalter von kreativer Arbeit leben kann und Investitionen in geistige Werke sich weiterhin lohnen“.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim „Film:ReStored“ Filmerbe-Festival am 22. September 2016 im Filmhaus am Potsdamer Platz
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-film-restored-filmerbe-festival-am-22-september-2016-im-filmhaus-am-potsdamer-platz-320972
Thu, 22 Sep 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Der französische Autorenfilmer Jean-Luc Godard hat einmal gesagt: „Die Geschichte des Films ist der einzig sichtbare Teil der Geschichte, und in diesem Sinne ist es die Weltgeschichte, die zur Filmgeschichte gehört.“ Zur Filmgeschichte gehören also nicht nur all die brillanten Regisseure und Schauspieler, die fantasievollen Drehbuchautoren und versierten Kameraleute, sondern immer auch die Gegebenheiten, in denen sie wirken. Gleichzeitig sind Dramen, Komödien oder Krimis Ausdruck einer Zeit, eines Lebensgefühls, einer bestimmten Gesellschaftsordnung – Filme also das sichtbare Gedächtnis unserer Nation, das wir im Kino wachhalten können. Und weil Retrospektiven – nicht nur im Kino, aber besonders dort – immer auch eine Suche nach uns selbst sind, nach unseren Wurzeln, nach unserer Vergangenheit – sind sie für das Verständnis unserer kulturellen Identität so wichtig. In der Vielfalt der Themen und Ausdrucksformen – in der Tiefe und Bandbreite der Filmgeschichte – zeigt sich der enorme Reichtum, der auf den Filmrollen in unseren Archiven schlummert. Dieses filmkulturelle Erbe zu erhalten und in all seinen Facetten sichtbar zu machen, ist eine ehrenvolle Aufgabe, der sich der Kinematheksverbund mit ebenso viel Hingabe wie Sachverstand widmet. Dass unsere filmische Vergangenheit in den kommenden Tagen auch die Leinwände im Filmhaus am Potsdamer Platz erhellt, haben wir dem Initiator des Filmerbe-Festivals – Ihnen, lieber Herr Dr. Rother – zu verdanken. Das Festival-Programm lässt nicht nur die Herzen all jener höher schlagen, die sich mit den Möglichkeiten und Folgen der derzeitigen Digitalisierungspraxis beschäftigen: Es lädt Besucherinnen und Besucher zu einer Erkundungstour durch die deutsche Filmgeschichte und zu Kinopremieren digital restaurierter Filme der vergangenen sechzig Jahre ein. Filme von Georg Wilhelm Pabst – zweifelsohne einer der bedeutendsten Regisseure des Weimarer Kinos – werden ebenso zu sehen sein wie besondere DEFA-Produktionen von Rainer Simon und Helmut Dzuba. Dabei rückt die Festival-Auswahl auch Arbeiten aus Ost und West ins Projektorenlicht, die nicht zu den bekannten Klassikern zählen – es wird also selbst für echte Cineasten noch die eine oder andere Neuentdeckung geben. Einer der Höhepunkte dieses ersten Filmerbe-Festivals wird die Verleihung der Kinopreise an kommunale Kinos und filmkulturelle Initiativen sein. Mit der Auszeichnung werden Kinos gewürdigt, die sich – neben den gewerblichen Programmkinos – für die anspruchsvolle und vielfältige Filmkultur in Deutschland engagieren. Gerade diesen Filmeinrichtungen kommt eine wichtige Rolle zu, wenn es um den Zugang zum Filmerbe und die Filmbildung geht. Deshalb habe ich im vergangenen und auch in diesem Jahr gerne die Finanzierung des Preises mit Mitteln aus meinem Etat übernommen. Dass 2016 erstmalig ein Spitzenpreis für eine maßstabsetzende Programmarbeit vergeben wird, freut mich sehr – und es zeugt von den Ambitionen seiner Schöpfer, dass als Namensgeberin des Preises die deutsch-französische Filmkritikerin und -historikerin Lotte Eisner gewählt wurde, eine filmhistorische Pionierin, die sich schon im vergangenen Jahrhundert mit der damals noch jungen Filmgeschichte befasste. Das „Film:ReStored“-Festival macht nicht nur unsere einst auf Celluloid gebannte Geschichte sichtbar, sondern führt uns auch den fortschreitenden Stand der Digitalisierung unseres Filmerbes vor Augen: Immerhin neun digitalisierte Filme werden hier gezeigt, die – auch mit Unterstützung meines Hauses – restauriert wurden. Angesichts der Zahl der Filmtitel, die in den Archiven lagern, angesichts des enormen archivarischen Aufwands und angesichts der für ihre Digitalisierung erforderlichen finanziellen Mittel steht jedoch fest, dass die Digitalisierung des Filmerbes – eine wahre Jahrhundertaufgabe! – nur gemeinsam in Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Filmbranche bewältigt werden kann. Der Bund leistet bereits einen wesentlichen Beitrag: Seit 2012 fördert mein Haus Digitalisierungsprojekte der Einrichtungen des Kinematheksverbunds – und auch im kommenden Jahr werde ich für die Filmdigitalisierung wieder eine Million Euro bereitstellen. Auf meine Initiative hin erarbeitet mein Haus zurzeit außerdem gemeinsam mit den Ländern und der Filmwirtschaft eine langfristige Digitalisierungsstrategie, die eine zeit- und gattungsübergreifende Digitalisierung des deutschen Filmerbes in seiner ganzen Breite ermöglichen soll. Wir wollen dauerhaft eine verlässliche Summe bereitstellen, damit die Filmerbeeinrichtungen, die Filmbranche und die technischen Betriebe langfristig planen können. Noch im September wird es dazu auf politischer Ebene ein Bund-Länder-Gespräch geben. Auch bei der Fortschreibung des Filmförderungsgesetzes haben wir das Filmerbe im Blick: Der Gesetzentwurf sieht unter anderem vor, dass zukünftig auch Mittel der Absatzförderung in begrenztem Umfang für den Verleih und Vertrieb deutscher Filmklassiker gewährt werden können. Auf diese Weise wird es möglich, auch den Verleih und Vertrieb des digitalisierten Filmerbes zu fördern. Neben der finanziellen hat die Digitalisierung unseres Filmerbes auch eine inhaltliche Dimension: Teil unseres filmgeschichtlichen Gedächtnisses sind auch Bilder, die unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in Deutschland entstanden sind – Propagandafilme, wie „Hitlerjunge Quex“ und „Jud Süß“, deren Inhalte als kriegsverherrlichend, rassistisch, antisemitisch oder volksverhetzend gelten. Auch für diesen, für den dunklen Teil unseres Filmerbes übernehmen wir Verantwortung bei der Digitalisierung und haben darüber im Sommer an einem „Runden Tisch“ mit Vertretern des Zentralrats der Juden in Deutschland, Vertretern des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma sowie Filmhistorikern und Vertretern von Filmerbeeinrichtungen sehr konstruktiv beraten. Wir sind uns einig, dass eine Archivierung und Digitalisierung gerade auch dieser Filme erforderlich ist, um sie als historische Quelle zu erhalten. Die Diskussion werden wir im Herbst fortsetzen und dann auch über mögliche Formen der Veröffentlichung sprechen. Filme spiegeln die Entwicklung unserer Gesellschaft – sie als Teil unseres schützenswerten Kulturguts zu erhalten und zugänglich zu machen, gehört ebenso zu einer verantwortungsvollen Kulturpolitik wie der Erhalt schriftlicher Zeugnisse oder die Pflege nationaler Gedenkorte. Das Filmerbe-Festival zeigt einmal mehr, wie wichtig eine konsequente, kontinuierliche und umfassende Strategie für die Digitalisierung unseres Filmerbes ist. Filme, die nur analog vorhanden sind, geraten nicht nur in Vergessenheit, weil sie aufgrund der fast vollständigen Umstellung auf digitale Projektoren nur noch in wenigen Kinos gezeigt werden können. Viele Trägermaterialien drohen aufgrund ihrer Beschaffenheit sogar unwiederbringlich zu zerfallen. Gerade weil der Erhalt unseres Filmerbes so zeitkritisch ist, dürfen wir nicht riskieren, dass noch weitere Jahre vergehen. „Das Beste, was wir von der Geschichte haben“, war Johann Wolfgang von Goethe überzeugt, „ist der Enthusiasmus, den sie erregt.“ Es wäre schön, meine Damen und Herren, wenn unsere Filmgeschichte in diesem Sinne auch Enthusiasmus für die Digitalisierung unseres Filmerbes erregte. Ich jedenfalls hoffe, dass wir gemeinsam einen Weg finden, unser Filmerbe für nachfolgende Generationen zu bewahren, und werde mich weiterhin dafür einsetzen.
Bei der Eröffnung des „Film-ReStored-Festivals hat Kulturstaatsministerin Grütters den Wert des deutschen Filmerbes hervorgehoben. „Filme spiegeln die Entwicklung unseres Gesellschaft“, so Grütters, sie müssten als Teil unseres schützenswerten Kulturguts erhalten und zugänglich gemacht werden. Für die „Jahrhundertaufgabe“ der Digitalisierung des Filmerbes brauche es eine langfristige Strategie und eine Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Filmwirtschaft.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 20. Tourismusgipfel des Bundesverbands der Deutschen Tourismuswirtschaft e.V. am 26. September 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-20-tourismusgipfel-des-bundesverbands-der-deutschen-tourismuswirtschaft-e-v-am-26-september-2016-370064
Mon, 26 Sep 2016 14:30:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident Frenzel, sehr geehrte Frau Staatssekretärin, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren, der Sommer liegt hinter uns, die Haupturlaubszeit geht zu Ende. Doch nach dem Urlaub ist vor dem Urlaub. Die Herbstferien liegen schon wieder vor uns. Viele beginnen mit der Rückkehr nach Hause, schon die nächste Reise zu planen. Dabei gehen die Urlaubsgedanken heutzutage keineswegs immer in die weite Welt, liegt doch das Gute so nah. Zwischen Alpen und Nordsee bzw. Ostsee werden die vielfältigsten Urlaubswünsche realisiert. Das Urlaubsland Deutschland hat an Renommee gewonnen und durchaus einiges zu bieten. Ihre Branche ist es, die dafür sorgt, dass Urlaubsträume erfüllt werden. 2015 war ein Jahr der Rekorde. Die Übernachtungen ausländischer Gäste nahmen im Jahr 2015 im Vergleich zum Vorjahr sogar um über fünf Prozent zu. Ein Charakteristikum neben der Schönheit und der kulturellen Vielfalt, die Deutschland auszeichnen, ist, dass Deutschland auch als ein sicheres Reiseland und Reiseziel gilt. Absolute Sicherheit kann es zwar nie geben, aber wir setzen alles daran und tun alles Menschenmögliche, Risiken so gering wie möglich zu halten. Wir haben dafür zahlreiche Maßnahmen ergriffen. Bei den Sicherheitsbehörden des Bundes schaffen wir mehrere tausend zusätzliche Stellen. Für die Aufgaben der inneren Sicherheit haben wir deutlich mehr Haushaltsmittel eingeplant. Das ist auch ein Signal für den Tourismus. Unsere Gäste aus nah und fern sollen und können sich bei uns sicher fühlen. Sie sollen und können sich ungestört an ihrem Erholungs-, Erlebnis-, Kultur-, Sport-, Gesundheits- oder Wellnessurlaub erfreuen. Die Urlaubsziele in Deutschland stehen hoch im Kurs. Deshalb hält die positive Entwicklung der Tourismusbranche an. Und deshalb schauen wir wohl alle gemeinsam recht optimistisch auch auf dieses Jahr. Die touristische Anziehungskraft entspricht der Zugkraft Deutschlands als europäischer Wachstumsmotor. Denn die Wirtschaft insgesamt steht gut da. Wir rechnen in diesem Jahr mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in Höhe von etwa 1,7 Prozent. Eine verlässliche Stütze für dieses Wachstum ist der private Konsum. Die Exporte laufen auch gut, trotz mancher Unsicherheit auf den internationalen Märkten. Es gibt eine Reihe von guten Gründen, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Aber wir müssen die gute Lage nutzen und heute die Weichen für den Erfolg der Zukunft stellen. Dafür brauchen Sie hinreichend Spielraum. Herr Frenzel hat, so wie es die Aufgabe eines Verbandspräsidenten ist, schon darauf hingewiesen. Für die Bundesregierung bedeutet Zukunftspolitik auch eine solide Finanzpolitik, die dem Standort Deutschland nützt. Die Haushalte zu gestalten, ohne neue Schulden aufzunehmen und ohne an der Steuerschraube zu drehen und trotzdem inhaltliche Schwerpunkte zu setzen – das sind drei Faktoren, die sehr hilfreich sind. Aber ich weiß, dass sich immer wieder steuerrechtliche Fragen im Detail stellen. Sie haben soeben kurz ein Wort dazu fallen lassen. Sie üben Kritik daran, dass Aufwendungen für die Anmietung von Hotelzimmern und für den Kauf von Hotelleistungen der Gewerbesteuer hinzugerechnet werden. Das ist eine komplizierte Frage, bei der wir wie immer abzuwägen haben. Da sind einerseits die Kommunen, deren finanzielle Leistungskraft an vielen Stellen zu wünschen übrig lässt. Und andererseits müssen wir steuerrechtliche Maßnahmen gemeinsam mit den Ländern verabschieden, die ihre finanziellen Spielräume zum Teil auch sehr restriktiv beurteilen. Wie es so ist: Die Sache liegt beim Bundesfinanzhof. Meine Empfehlung an Sie heute ist, dass wir, bevor wir die Diskussion weiterführen, den Ausgang des Revisionsverfahrens abwarten und dann auf das Thema zurückkommen sollten. Ich will durch meine Einlassung hier nur sagen: Uns ist diese Sachfrage bewusst. Ein zweiter Punkt, der Sie belastet, sind bürokratische Lasten. Diese kosten Zeit und Geld. Beides kann man besser für eigentliche Unternehmenszwecke brauchen. Deshalb haben wir mit Bedacht vor wenigen Tagen das zehnjährige Bestehen des Normenkontrollrats gewürdigt. Wir haben schon einiges im Vorschriftendschungel durchforstet – mit dem Ergebnis, dass zum Beispiel die Berichtspflichten für die Unternehmen um ein Viertel gesunken sind. Wir haben im letzten Jahr etwas sehr Interessantes, die sogenannte Bürokratiebremse, eingeführt. Sie wirkt nach dem Prinzip „one in, one out“. Wenn man also eine neue gesetzliche Regelung mit neuen Belastungen erlässt, müssen andere Belastungen abgeschafft werden. Das gelingt bislang auch recht gut. Aber Sie können sich vorstellen, dass das nicht ganz einfach ist, zumal wir auch viele europäische Richtlinien umzusetzen haben. Das heißt, jedes Mal muss auch etwas abgeschafft werden. Wir konnten im vergangenen Jahr Entlastungen für die Wirtschaft von rund 1,4 Milliarden Euro pro Jahr auf den Weg bringen. Anfang August dieses Jahres ist das Zweite Bürokratieentlastungsgesetz gefolgt – mit weiteren Entlastungen, die typischerweise kleinen Betrieben mit zwei bis drei Mitarbeitern helfen. Das ist auch etwas, das gerade viele kleine Reisebüros im positiven Sinne betreffen kann. Deren Rundum-Service wird ja von sehr vielen Reiseliebhabern nach wie vor geschätzt. Im Zusammenhang mit meinem Podcast zu Ihrem Tourismustag habe ich gelernt, dass es an die 10.000 Reisebüros in Deutschland gibt. Diese Zahl ist eine richtig tolle Größenordnung. Das Buchungsverhalten hat sich in den letzten Jahren allerdings verändert. Das Internet ist ein wirklich großer Schlüssel geworden, um Reisen zu buchen. Aber ich glaube, die Dualität von persönlicher Beratung und Internetrecherche ist heutzutage das, was für die Kunden noch am besten ist. Der digitale Wandel erfordert auch, rechtliche Regelungen zu modifizieren. Derzeit gilt der Umsetzung der EU-Pauschalreiserichtlinie in nationales Recht eine große Aufmerksamkeit. Sie haben sich als Verband frühzeitig eingebracht. Man hört immer, wenn sozusagen die Drähte heiß laufen, was gerade wieder in Arbeit ist. Aber ich denke, dass wir die Situation des deutschen Reisemarkts und insbesondere die Lage mittelständischer Reisebüros im Blick haben. Letztlich stehen wir natürlich in der Verantwortung, den Interessen sowohl der Branche als auch der Verbraucher gerecht zu werden. Ich hoffe, dass wir in gemeinsamer Diskussion eine tragfähige Lösung finden werden. – Den vorsichtigen Applaus werte ich als anspornenden Applaus, dass wir auf Sie hören. Sie dürfen davon ausgehen, dass wir uns nicht mit der gesamten Reisebranche anlegen wollen; das wäre dumm. Aber wir dürfen uns natürlich auch nicht mit den Kunden anlegen. Das müssen Sie auch verstehen, das wäre auch nicht in Ihrem Interesse. Wir haben neue Trends wie zum Beispiel die „Sharing Economy“. Das betrifft auch Sie. Das Verhalten der Kunden ändert sich. Man will sich ein Auto oder gar eine Wohnung mit anderen teilen. Das kann man heute mit wenigen Klicks organisieren. Dahinter verbergen sich Chancen, aber natürlich auch Herausforderungen, denen sich die Reiseveranstalter sowie das Hotel- und Gastgewerbe natürlich stellen müssen. Sie stehen nicht allein vor solchen Aufgaben, sondern wir müssen insgesamt sehen, dass wir im globalen Wettbewerb um intelligente Angebote die digitalen Möglichkeiten so verwirklichen, dass wir nicht den Anschluss verlieren. Wenn Sie woanders unterwegs sind, dann wissen Sie, wie weit die Digitalisierung dort schon vorangeschritten ist. Auf Dauer werden wir uns davon nicht abkoppeln können; so viel ist sicher. Denn wir spüren ja auch, dass die Menschen die Möglichkeiten digitaler Angebote nutzen. In Deutschland – das ist erfreulich – hat sich eine vielversprechende Gründerszene entwickelt. Daraus sind auch einige international erfolgreiche Startups hervorgegangen. Auch hierbei geht es um gezielte Förderung. Wir haben neulich im Kabinett nach langer Diskussion steuerrechtliche Maßnahmen beschlossen, die ein Wachsen der Startups besser ermöglichen. Natürlich brauchen wir dafür vor allem auch immer wieder kreative Köpfe und junge Talente. Gute Ausbildung und Qualifizierung bleiben natürlich wesentliche Voraussetzungen für künftige Erfolge. Ausbildung und Qualifizierung sind auch für die Tourismuswirtschaft ein Markenzeichen. Sie haben soeben darauf hingewiesen: Ihre Betriebe geben vielen Berufsanfängern aussichtsreiche Perspektiven. Sie festigen damit auch die betriebliche Zukunftsfähigkeit. Deshalb möchte ich mich für alles bedanken, was Sie im Ausbildungsbereich leisten. Das ist für sehr viele junge Menschen der Einstieg in eine erfolgreiche Berufslaufbahn. Ich weiß, dass Sie zum Teil durchaus auch Nachwuchssorgen haben. Man wundert sich: Die Region, aus der ich komme, weist nach wie vor eine relativ hohe Arbeitslosigkeit auf, hat aber gleichzeitig viele offene Ausbildungsstellen und einen riesigen Fachkräftemangel zu verzeichnen. Insgesamt ist die Erwerbstätigenzahl in Deutschland so hoch wie nie. Wir haben deutlich über 43 Millionen Erwerbstätige. Das sind rund vier Millionen mehr als vor zehn Jahren, als ich das letzte Mal bei Ihrem Gipfel war. Das ist durchaus eine deutliche Zunahme der Beschäftigung. Fast drei Millionen der 43 Millionen sind im Tourismussektor beschäftigt. Sie haben darauf hingewiesen: Auch bei der Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt geht Ihre Branche mit gutem Beispiel voran. Das Gastgewerbe bietet im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen überproportional vielen Menschen, die neu bei uns sind, eine Arbeit an. Um nicht zuletzt die Aufnahme einer Ausbildung oder Beschäftigung zu erleichtern, haben wir vor kurzem das Integrationsgesetz verabschiedet. An erster Stelle steht der Erwerb von Sprachkenntnissen. Wir haben neulich im Kanzleramt eine umfängliche Gesprächsrunde mit Unternehmern über die Frage gehabt, wo es noch hapert. Wir haben zum einen die Möglichkeiten des Spracherwerbs in den Integrationskursen. Dabei geht es nur um ein Grundniveau. Zum anderen bietet die Bundesagentur Kurse für eine fachspezifische Sprachausbildung an. Meine Bitte an Ihren Verband ist, hierbei das enge Gespräch mit der Bundesagentur, mit dem Bundesarbeitsministerium und auch dem Kanzleramt zu suchen, um deutlich zu machen, wo es aus Ihrer Sicht hapert und was man besser machen müsste. Wir wissen natürlich, dass bei der Berufsausbildung die Berufsschule für diejenigen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, schon eine große Hürde ist. Ich habe in meinem Wahlkreis mit Jugendlichen aus Spanien, Griechenland und Portugal gesprochen, denen das Förderprogramm „MobiPro“ zugutekam. Wenn sie mir aus der Berufsschule erzählten und davon, wie sie mithilfe von irgendwelchen Sprachdiensten im Internet versuchten, Begriffe wie Kasserolle und Schnellkochtopf zu übersetzen, dann zeigte sich, wie groß die Herausforderung durchaus ist. Das heißt, wir müssen uns auch überlegen, wie wir in den Curricula die Übersetzung von Fachwörtern noch besser berücksichtigen könnten. Denn das bieten die allgemeinen Wörterbücher oft gar nicht an. Gerade bei der theoretischen Ausbildung in der Berufsschule müssen wir uns noch einiges einfallen lassen, damit die jungen Menschen die Prüfungen auch wirklich bestehen können. Wir haben ein Arbeitsmarktprogramm aufgelegt, das bis 2020 laufen soll und 100.000 zusätzliche Arbeitsgelegenheiten schaffen soll. Das dürfte für Ihre Branche im Allgemeinen nicht so sehr infrage kommen. Aber hiermit versuchen wir, Flüchtlinge erst einmal in Arbeit zu bringen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich auch sprachlich fortzuentwickeln, um dann eine bessere Chance zu haben, im betrieblichen Bereich eingesetzt zu werden. Wir haben Orientierungspraktika, die ohne Mindestlohn auskommen, um Einblicke in ein ungewohntes Arbeitsumfeld zu gewähren. Und wir haben in den meisten Arbeitsagenturbezirken – das ist ganz wichtig – die Vorrangprüfung abgeschafft. Viele von Ihnen waren in einer Zeit das erste Mal im Jobcenter oder in einer Arbeitsagentur, als die Vorrangprüfung noch galt, und sind dann etwas entnervt weggegangen. Deshalb lautet meine Bitte, jetzt, nachdem in der überwiegenden Zahl der Arbeitsagenturbezirke die Vorrangprüfung weggefallen ist, es doch noch einmal zu versuchen. Der Weg lohnt sich. Wir müssen uns natürlich erst an die neuen Gegebenheiten gewöhnen, haben aber bereits viele praxisrelevante Schritte eingeleitet. Meine Bitte, Herr Frenzel: Wenn es irgendwo knirscht und es ein systemisches Problem zu geben scheint, dann lassen Sie uns das schnell wissen. Wir sind wirklich gewillt, wo immer möglich, neue Wege zu gehen. Wir gewährleisten mit „3 plus 2“ – Ausbildung plus zwei Jahre Möglichkeit der Beschäftigung – während dieser Zeit Rechtssicherheit. Das heißt, niemand muss Angst haben, dass Flüchtlinge mit einem noch nicht dauerhaften Aufenthaltsstatus die Ausbildung abbrechen müssen. Ich möchte das Ganze damit abrunden, dass ich mich bei den vielen, die sich ehrenamtlich, zusätzlich und mit viel Leidenschaft der Integration der Flüchtlinge widmen, ganz herzlich bedanke. Das ist eine tolle gesellschaftliche Leistung. Herzlichen Dank dafür. Ich will das durch die Aussage ergänzen, dass wir alles daransetzen müssen, dass sich eine Situation wie die im Spätsommer des letzten Jahres nicht wiederholt. Es waren damals im Grunde alles Flüchtlinge, die auf dem Weg der illegalen Migration durch Schlepper, durch Schleuser nach Europa gekommen sind. Es hat unzählige Todesopfer gegeben. Menschen sind im Mittelmeer oder in der Ägäis ertrunken. Das heißt, wir haben – um der Menschen willen – auch im Kampf gegen Korruption und Schlepperei die Verantwortung und auch die Pflicht, dass wir entweder legale Wege finden, die Menschen zu uns zu lassen, oder aber Wege finden, die Fluchtursachen zu bekämpfen, bzw. dafür sorgen, dass die Menschen in der Nähe ihrer Heimat eine gute Aufenthaltsmöglichkeit haben. Das EU-Türkei-Abkommen ist ein Schlüssel, um Illegalität zu bekämpfen und der Legalität den Vorrang zu geben. Das heißt im Klartext: Wir unterstützten syrische Flüchtlinge an der türkisch-syrischen Grenze. Das heißt, wir schicken aus Europa diejenigen zurück, die illegal über die Ägäis gekommen sind, und im Gegenzug haben wir Kontingente von Flüchtlingen, die legal nach Europa kommen, sodass klar wird: Illegal habe ich keine Chance. Das sind Mechanismen, die wir auch mit Blick auf andere Länder, zum Beispiel Ägypten oder auch Tunesien, einführen müssen. Genauso wichtig ist es, dass wir deutlich machen und denjenigen, die kein Bleiberecht in Deutschland haben, sagen: Ihr müsst unser Land wieder verlassen. Das klappt inzwischen im Zusammenhang mit den Herkunftsländern auf dem westlichen Balkan recht gut. Wir müssen noch viel Arbeit hineinstecken, wenn es um die Herkunftsländer in Afrika geht, aus denen wir natürlich auch zahlreiche Migranten haben. Es ist wichtig, parallel dazu den afrikanischen Ländern, den Menschen in Afrika Perspektiven zu geben. Der afrikanische Kontinent ist unser Nachbarkontinent. Der afrikanische Kontinent hat eine demografische Entwicklung, die sich genau umgekehrt zu der unsrigen vollzieht. Ich habe es mir neulich einmal genauer angeschaut: Niger ist das Land, durch das 90 Prozent der Flüchtlinge gehen, die nach Libyen kommen und versuchen, von dort mithilfe von Schleppern nach Italien zu kommen. Die nigrische Bevölkerung hat ein Durchschnittsalter von 15,2 Jahren. Die Bevölkerung in Deutschland hat ein Durchschnittsalter von 44,9 Jahren. Niger hat ein Bevölkerungswachstum von 3,9 Prozent. Nach gegenwärtigem Stand verdoppelt sich die Bevölkerung alle 20 Jahre. Sie können sich vorstellen, vor welchen Aufgaben wir stehen. Wir müssen diesen Ländern Perspektiven geben. Wir müssen sie auch zu besserer Regierungsführung anhalten. Das heißt, wir werden mehr für Entwicklungshilfe ausgeben müssen, aber wir müssen auch die Mechanismen durchdenken, mit denen wir dann auch wirklich Erfolge erzielen. Eine Möglichkeit der wirtschaftlichen Entwicklung von afrikanischen Ländern und Ländern in anderen Regionen der Welt ist der Tourismus. Der Tourismus hat in diesen Ländern einen erheblichen Anteil an der Erwirtschaftung des Bruttoinlandsprodukts. Sie haben soeben darauf hingewiesen, wie viele Arbeitsplätze Tourismus schafft. Wir sehen am Beispiel Tunesiens und anderer Länder, was es für die wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder bedeutet, wenn Sicherheitsfragen ins Spiel kommen. Das heißt also: Die Zunahme des Tourismus birgt eine Vielzahl von Chancen, aber natürlich geht es auch um Fragen nachhaltiger Entwicklung. Themen wie Energieverbrauch, Klimabelastung, Gefahren für Ökosysteme und Biodiversität sind dabei auf der Tagesordnung. Deshalb geht es auch um einen nachhaltigen Ausbau der Branche. Wie wichtig das Thema Nachhaltigkeit ist, unterstreicht nicht zuletzt die Welttourismusorganisation UNWTO. Der Generalsekretär – Herr Frenzel hat es mir erzählt – hat auf Ihrem Gipfel schon gesprochen. Morgen ist der Welttourismustag. Ich denke, es ist wichtig, die Nachhaltigkeitsaspekte im Tourismus noch stärker in den Mittelpunkt zu rücken, als das jetzt schon der Fall ist. Die Weltgemeinschaft hat bei allen riesigen Problemen, die wir haben, im letzten Jahr zwei große Ergebnisse erzielt. Das ist einmal die Agenda 2030, mit der wir den Hunger auf der Welt abschließend bekämpfen wollen, mit der wir uns Entwicklungsziele setzen – nicht mehr nur für Entwicklungsländer, sondern auch für hochentwickelte Länder wie Deutschland. Und wir haben das Klimaschutzabkommen abgeschlossen. Das war auch ein großer Schritt. Ich denke, es ist wichtig, auch im Tourismusbereich noch mehr auf lokale Kultur, auf lokale Produkte und Dienstleistungen zu setzen, um daraus echte Entwicklungschancen zu machen. Das bedeutet für die Reiseveranstalter, dass man bei der Organisation, bei der Werbung für bestimmte Angebote neue und immer anspruchsvollere Wege gehen muss. Ich möchte den vielen, die das heute schon tun, von meiner Seite ganz herzlich danken. Sie sind in bestimmter Weise Entwicklungshelfer. Wir haben Entwicklungshilfe sowieso viel zu lange als eine staatliche, caritative Aufgabe angesehen. Für die Länder, die sich aus absoluter Armut herausgekämpft haben, war und ist der Schlüssel die wirtschaftliche Entwicklung vor allem aus eigener Kraft. Niemand wird so viel Steuergelder in die Entwicklungshilfe geben können, wie eine prosperierende eigene Wirtschaft in diesen Ländern zustande bringt. Und auf nichts kann man mehr Selbstbewusstsein aufbauen als darauf, dass diese Länder Schritt für Schritt von Hilfen unabhängig werden und selber ihre Steuereinnahmen erwirtschaften können. Wir, die Tourismusbranche und die Bundesregierung, sitzen hierbei sozusagen in einem Boot. Wir haben ein Ziel. Sie wollen Menschen neue Horizonte eröffnen, ihnen neue Einsichten gewähren und ihnen auch schöne Stunden verschaffen. Und wir haben ein Interesse daran, dass sich die wirtschaftliche Ungleichheit auf der Welt nicht dauernd verschärft, sondern dass alle Regionen der Welt Entwicklungschancen haben. Insofern: Danke für die Zusammenarbeit. Danke auch für die Einladung. Natürlich weiß auch ich als gelegentlicher Urlauber, wie gut es ist, wenn man gute Reiseveranstalter und Angebote hat. Herzlichen Dank und alles Gute.
in Berlin
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum zehnjährigen Bestehen des Nationalen Normenkontrollrats am 21. September 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-zehnjaehrigen-bestehen-des-nationalen-normenkontrollrats-am-21-september-2016-472906
Wed, 21 Sep 2016 14:30:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Ludewig, liebe Mitglieder des Nationalen Normenkontrollrats, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, Herr Staatsminister Braun, meine Damen und Herren, 2006 war die damalige große Koalition noch kein Jahr im Amt, als sie sich einer tatsächlich großen Aufgabe annahm. Am Bürokratieabbau versuchten sich schon Vorgängerregierungen, aber es blieben zumeist nur Versuche. Es war daher an der Zeit, einen Startschuss zu geben – und zwar für eine neue, durchgreifende und ebenso systematische wie umfassende Herangehensweise. Erstens galt es festzustellen, welche bürokratische Lasten überhaupt bestehen und was sie eigentlich kosten. Denn für Antworten darauf fehlte bislang die objektive Basis. Um diese Basis zu schaffen, haben wir das Standardkosten-Modell in Deutschland eingeführt. Es lieferte uns die Messergebnisse, die wir brauchten, um konkrete, überprüfbare und verbindliche Abbauziele festzulegen. In der Tat standen uns dabei auch andere Länder ein wenig Pate: die Niederlande und Großbritannien. Um den Gesamtprozess zu begleiten und voranzutreiben, haben wir zweitens den Nationalen Normenkontrollrat ins Leben gerufen. Er sollte nicht nur bestehende Gesetze auf bürokratischen Aufwand hin abklopfen, er bekam auch eine Wächterrolle. Er sollte darauf achten, dass bei neuen Gesetzesvorhaben von vornherein unnötige Bürokratie vermieden wird. Keine leichte Aufgabe. Aber zehn Jahre Nationaler Normenkontrollrat sprechen für sich. Der Kontrollrat hat sich bewährt. Vor zehn Jahren aber gab es Zweifel. Sie wurden auch dadurch genährt, dass ein solch umfassender, systematischer Ansatz, wie wir ihn gewählt hatten, naturgemäß Zeit braucht, um überhaupt Wirkung zu zeigen. Ich erinnere mich noch gut an den Chor kritischer Stimmen: Wir würden per Gesetz Bürokratie schaffen, um Bürokratie abzubauen. Aber die Diskussion unterstrich nur, wie wichtig es war, externen Sachverstand heranzuziehen. Man kann, glaube ich, sagen, dass die pauschale Kritik inzwischen verstummt ist. Wenn wir heute über Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung streiten, dann in der Sache und im Detail, aber nicht über den Grundsatz. Das ist eine Folge der überzeugenden Arbeit des Normenkontrollrats. Es gibt inzwischen ein stärkeres Bewusstsein dafür, welchen Einfluss Bürokratie hat. Nutzen und Aufwand von Normen werden viel besser als früher gegeneinander abgewogen. Ganz ohne Bürokratie geht es natürlich auch nicht. Ohne Vorschriften und Regelungen ist kein Staat zu machen. Sie schaffen Ordnung und verhindern Willkür. So haben wir in Deutschland ein hohes Maß an Rechtssicherheit erreicht. Da, wo unbestimmte Rechtsbegriffe auftauchen, sind gerichtliche Rechtssicherheitsfragen sozusagen auch nicht immer nur unbürokratisch. Unsere bewährten Standards und ihre verlässliche Anwendung sind – das darf man auch sagen – Qualitätsmerkmale des Standortes Deutschland. Aber es stellt sich immer wieder die Frage: Wie viel Bürokratie brauchen wir wirklich? Was ist notwendig und was geht darüber hinaus? Bürokratie kostet immer auch Kraft, Zeit und damit Geld, das Unternehmen für anderweitige Investitionen fehlt. Wenn Bürokratie überhandnimmt, dann bremst sie die unternehmerische und letztlich die gesamtwirtschaftliche Dynamik. Daher steht und sieht sich der Gesetzgeber in der Pflicht und Verantwortung, Freiräume zu schaffen oder zu sichern, sie jedenfalls nicht zu schmälern. Denn Unternehmen sollen sich ja auf ihre eigentlichen Aufgaben konzentrieren können. Das ist auch eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit, die ja natürlich auch die Beschäftigten betrifft. Insofern wirken Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung wie eine Art Konjunkturprogramm, das aber die öffentlichen Haushalte nicht belastet. Wir sprechen in Europa des Öfteren über Konjunkturprogramme, die vermeintlich immer erst dann gut sind, wenn sie möglichst hohe staatliche Ausgaben hervorrufen. Ich erinnere dann immer daran, dass es auch Konjunkturprogramme gibt, die nichts kosten und ähnliche Wirkungen entfalten. Nun hat es sich schon bewährt, dass wir die Chancen dieses eigenständigen Konjunkturprogramms genutzt haben. Das hat uns neben vielen anderen Maßnahmen geholfen, relativ gut durch die schwierigen Jahre der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise zu kommen. Das heißt, für uns haben Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung unverändert hohe Priorität. Sie sind eigenständige Politikziele. Mit Hilfe des Normenkontrollrats ist es uns gelungen, bestehende Regelungen zu vereinfachen und ein Viertel aller Kosten aus Informationspflichten für Unternehmen abzubauen. Dadurch werden Jahr für Jahr gut 12 Milliarden Euro eingespart. Nachdem wir das 25-Prozent-Ziel erreicht hatten, wurde der Betrachtungswinkel vergrößert. Herr Ludewig sprach von nicht immer einfachen Diskussionen, aber der Betrachtungswinkel ist heute vergrößert. Es geht um den gesamten messbaren Erfüllungsaufwand gesetzlicher Regeln. Damit war auch der Beschluss verbunden, den Normenkontrollrat auf zehn Mitglieder zu erweitern. Das heißt, wir betrachten nicht mehr nur die Spitze des bürokratischen Eisbergs, die Informationspflichten, sondern haben einen sehr viel breiteren Ansatz. Wir schauen sozusagen auch, was sich unter der Oberfläche befindet. Das heißt in der Praxis, dass die Bundesregierung Gesetze und Verordnungen vor dem Beschluss genau prüft – immer mit dem Ziel, die Lasten auf das Nötige zu reduzieren und Kosten zu senken. Wenn wir es nicht tun, dann tun Sie es, manchmal auch in Gemeinschaft mit Bundestagsabgeordneten, die sich bei Gesetzen, die nicht sofort auf hundertprozentige Zustimmung stoßen, dann mit besonderem Eifer anschauen, ob man vielleicht den Inhalt dadurch, dass man auf die Bürokratiekosten verweist, ein bisschen ad absurdum führen könnte. Das sind solche Momente, in denen beide Aspekte manchmal etwas verschwimmen. Die Quantifizierung der Kosten und die Offenlegung der Ergebnisse erfolgen durch das Statistische Bundesamt. So kann jeder nachvollziehen, in welche Richtung das Kostenpendel gerade ausschlägt. Mehr Transparenz über bürokratische Folgekosten – das haben wir immer wieder erfahren – kann im Gesetzgebungsprozess durchaus maßregelnd wirken. Jedenfalls hat sich die Arbeit in den Bundesministerien bei der Vorbereitung neuen Rechts erheblich verändert. Es hat sich sozusagen eine neue Sensibilität etabliert, bei Ideen, wie sich was regeln lässt, auch die Kosten möglichst genau abzuschätzen. Es wird heute mitgedacht, ob es noch einen einfacheren Weg gibt; und genau das war ja auch ein Ziel der Übung. Wir haben mit dem Normenkontrollrat einen Partner, der durchaus unbequem sein kann. Er wacht mit Argusaugen darüber, dass die Folgekosten von Gesetzen und Verordnungen wirklich auf das Notwendige beschränkt bleiben. Kostentransparenz schafft Kostenbewusstsein; und Kostenbewusstsein sorgt für Kostenvermeidung. Ich glaube, so lässt sich die Erfolgsformel des Normenkontrollrats vereinfacht auf den Punkt bringen. Unabhängig wie er ist, drängt der Normenkontrollrat darauf, auch unkonventionelle Wege zu gehen – insbesondere bei bürokratischen Dauerbrennern. Ein Dorn im Auge war dem Normenkontrollrat über viele Jahre der Aufwand, der Unternehmen bei der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge entsteht. Die Diskussion hatte 2006 mit der neuen Regel der Abgaben begonnen. Das Statistische Bundesamt hat im Auftrag des Normenkontrollrats nachgeforscht und den Kostenaufwand auch möglicher Alternativlösungen beziffert. Damit hatten wir als Bundesregierung eine belastbare Grundlage, um eine Neuregelung zu beschließen. Demnach sollen Unternehmen künftig ein vereinfachtes Verfahren für die Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge nutzen können. Damit entfallen aufwendige monatliche Schätzungen. Das erspart der Wirtschaft rund 64 Millionen Euro pro Jahr. Ich bin einmal gespannt, ob auch eine psychologische Wirkung eintreten wird, nachdem dieses Thema nun weitestgehend erledigt ist; das werden wir erst sehen. Aber das ist nur eine Maßnahme, die wir mit unserem zweiten Bürokratieentlastungsgesetz auf den Weg gebracht haben. Das Komplettpaket, das wir geschnürt haben, ist rund 360 Millionen Euro wert, die Unternehmen in Zukunft einsparen können. Ich glaube daher, es lohnt sich, den Weg, den wir eingeschlagen haben, weiterzugehen. Ob wir auf der richtigen Spur sind, zeigt sich auch am Bürokratiekostenindex. Er ist der Gradmesser für die Lasten, die der Wirtschaft durch Informations- und Dokumentationspflichten entstehen. 2015 ist er erstmalig seit seiner Einführung unter seinen Ausgangswert von 100 gesunken, im Juni 2016 sogar unter 99 – da ist noch ein bisschen Luft; aber mal sehen. Das heißt, die Einsparung an Bürokratiekosten ist insgesamt höher als der zusätzliche Aufwand, der mit neu verabschiedeten Regelungen einhergeht. Wenn ich sehe, was ich Woche für Woche an Kabinettsvorlagen abzeichne, dann muss ich sagen: Es ist schon erstaunlich, dass wir trotz vieler neuer Regelungen dennoch bei einem Wert unter 100 gelandet sind. Das heißt, das Prinzip „one in, one out“ funktioniert. Unsere Bürokratiebremse greift, wenngleich ich glaube, dass es auch noch viel Arbeit erfordern wird, dass es auch weiterhin so bleibt. Das alles wird im Alltag wenig wahrgenommen, aber das ist auch geradezu natürlich. Denn nicht jede Entlastung betrifft jeden. Natürlich fallen Lasten, die von vornherein vermieden werden, eben auch nicht ins Gewicht – es wird ja schon bei neuer Rechtsetzung viel besser nachgedacht. Und natürlich ist das Ganze ein permanenter, andauernder Prozess. Dass sich die Arbeit lohnt, sich die Ergebnisse im Alltag aber noch nicht richtig bemerkbar machen, könnte auch daran liegen, dass wir uns dem Thema bisher vor allem von Gesetzgeberseite aus genähert haben. Deshalb kommt es sicherlich darauf an, mehr den Blickwinkel der Bürgerinnen und Bürger einzunehmen. Sie können uns mit ihren Erfahrungen sehr wertvolle Ratschläge geben. Bürokratieabbau und Rechtsetzung sollen ja letztlich dazu dienen, unser aller Lebensqualität zu erhöhen. Deshalb haben wir auch die Lebenslagenbefragung durch das Statistische Bundesamt eingeführt. Wie die Bürokratiebremse gehört sie zu einer Fülle neuer Instrumente, die wir inzwischen nutzen. Insgesamt kann man deshalb sagen, dass in zehn Jahren ein gut ausgestatteter Werkzeugkasten für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung entstanden ist, aus dem wir uns bedienen können. Das Handwerk ist doch schon ein Stück weit gelernt. Auch die OECD bescheinigt uns, dass wir in Deutschland internationale Standards vorbildlich umsetzen. Das ist eine erfreuliche Anerkennung für alle, die sich für dieses Thema stark machen. Natürlich wissen wir, dass ein erheblicher Teil der Bürokratie durch europäische Vorgaben entsteht. Auch das gehört zur Bestandsaufnahme. Daher ist es gut, dass Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung auch in Brüssel inzwischen ihren festen Platz auf der Agenda haben. Sie sind gemeinsame Aufgaben der europäischen Organe und der Mitgliedstaaten. Daher hätte es auch keinen Sinn, sich die Verantwortung gegenseitig zuzuschieben – insbesondere wenn man weiß, wie viele Kommissionsvorschläge in der Vergangenheit auf interessanten Anregungen aus den Mitgliedstaaten beruhten. Deutschland unterstützt die EU-Programme, um geltendes europäisches Recht zu vereinfachen. Wir überprüfen auch unsere eigenen Verfahren zur Mitwirkung an der EU-Gesetzgebung, um sie gegebenenfalls effizienter zu gestalten. Die Europäische Kommission mit Präsident Jean-Claude Juncker misst dem Themenkomplex große Bedeutung bei. Er hat die Zuständigkeiten verändert. Verantwortlich für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung ist inzwischen der Erste Vizepräsident Frans Timmermans. Das ist eine institutionelle Aufwertung, die die Kommission vorgenommen hat. Die Kommission hat auch inhaltlich gehandelt und ein Maßnahmenpaket vorgelegt, um die Qualität der Gesetzgebung und auch die Qualität des Rechts selbst zu steigern. Sie hat vor allen Dingen auch eine Vielzahl an Initiativen zur Disposition gestellt. Das heißt, die Zahl der Vorschläge, die aus der Kommission das Europäische Parlament und den Rat erreichen, ist inzwischen gesunken. Es gibt eine interinstitutionelle Vereinbarung zwischen Europäischer Kommission, Europäischem Rat und Parlament. Es geht um mehr Transparenz, es geht um bessere Zusammenarbeit. Diese Vereinbarung haben die drei Institutionen zwischenzeitlich angenommen. Ich glaube, das ist ein guter Schritt. Es kommt natürlich auch auf die einzelnen Mitgliedstaaten an, die darauf zu achten haben, dass möglichst keine unnötigen Belastungen durch EU-Vorschriften auf die Mitgliedstaaten zukommen. Genau darauf wirken wir als Bundesregierung mit dem sogenannten EU-Ex-Ante-Verfahren hin. Das heißt, die Bundesministerien nehmen die Planungen und Folgeabschätzungen der Kommission von Anfang an genau in den Blick und prüfen, wie plausibel Kosten und Nutzen bewertet werden. Wenn die Kommission von ihrem Gesetzesvorschlag einen besonders hohen Erfüllungsaufwand erwartet, dann schätzt die Bundesregierung selbst ab, welcher Aufwand für Deutschland zu erwarten ist. Wir bringen uns dann in das Rechtsetzungsverfahren der EU ein. Dabei sind wir nur ein Land von 28 – wenn auch sicherlich nicht das kleinste. Und es ist immer noch der Trilog mit dem Parlament zu beachten. Da kann also noch viel passieren – zumal es die systemische Eigenheit gibt, dass sich der Deutsche Bundestag auch bei Gesetzen, die er selbst macht, sozusagen noch nicht allen Regelungen unterworfen hat. Ähnliches gilt für das Europäische Parlament; aber wir haben dort eben diese interinstitutionelle Vereinbarung. Ich glaube, man kann sagen: In den letzten zehn Jahren hat sich ein Kulturwandel vollzogen. Das ist den Mitgliedern und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Normenkontrollrats zu verdanken. Manches bürokratische Ungetüm hat nicht das Licht der Welt erblickt. Der Gesamtansatz, das gesamte Denken haben sich deutlich verändert. Es ist auch klar geworden, wie es auf sachlicher Basis funktioniert, Bürokratiekosten zu messen. Es bleibt aber auch noch viel zu tun. Herr Ludewig wäre nicht Herr Ludewig, wenn er heute nicht mit einem Beitrag über die Stellung Deutschlands im Bereich E-Government einen Stein ins Wasser geworfen hätte. Da ich in diesem Sommer – im vorauseilenden Gehorsam, könnte man sagen – Estland besucht habe, um mich darüber zu informieren, wie weit man in Sachen E-Government sein könnte, und da die ganze Bundesregierung den estnischen Ministerpräsidenten schon zur Klausurtagung im Zusammenhang mit unserer digitalen Agenda eingeladen hatte, ist mir bewusst, welche Arbeit noch vor uns liegt. Ich glaube, hierbei geht es nicht nur um Sachfragen, sondern es geht in Zeiten der Digitalisierung auch ein Stück weit um Geschwindigkeit. Wir wollen deshalb – das wiederhole ich hier gern – die Gespräche zum Bund-Länder-Finanzausgleich auch dazu nutzen, die Kooperation zwischen den föderalen Ebenen mit Blick auf E-Government zu verbessern und auch hierbei dem Lebenslagenkonzept entsprechend einen weiten Blickwinkel einzunehmen. Den Bürger interessiert es nämlich nicht, ob die Kommune, das Land oder der Bund zuständig ist, sondern er möchte ein Bürgerportal haben, von dem aus er in die verschiedenen Dienstleistungen einsteigen kann, die dann digital erledigt werden können. Wir haben im Augenblick eine sehr interessante Situation. Die effizienteste Form des E-Government findet im Zusammenhang mit Flüchtlingen statt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Länderebene und die kommunale Ebene in Form der Ausländerämter sind durch das Kerndatensystem für Flüchtlinge miteinander verbunden. Wir haben dabei einen ersten interessanten Einblick in die verschiedenen Schnittstellen bekommen. Es gibt eine hohe Variabilität auf kommunaler Ebene. Aber beim Nutzer kommt jetzt an, dass man Daten gemeinsam nutzen kann. Ich denke, dass so etwas auch anderweitig möglich sein muss, ist die Erwartung, die wir als Bürgerinnen und Bürger in Zukunft haben. Deshalb bleibt noch sehr viel Arbeit zu tun. Wenn sich der Normenkontrollrat auch dem, was im Bund-Länder-Rat für IT bearbeitet werden muss, zuwendet, dann kann es sein, dass es auch einmal zu Konflikten kommt, aber unter dem Strich wird dabei etwas Gutes herauskommen. Dessen bin ich mir ganz sicher. Ich denke also, dass dem Normenkontrollrat auch in der dritten Amtsperiode die Arbeit nicht ausgehen wird. Das Gremium hat schon immer Mitglieder mit unterschiedlichen Fachkompetenzen vereint. Das erlaubt es, das Aufgabenspektrum aus verschiedenen Perspektiven in den Blick zu nehmen, obwohl es breit angelegt ist. Ich möchte Ihnen, allen voran dem Vorsitzenden Johannes Ludewig, aber auch allen Mitgliedern des Normenkontrollrates ganz herzlich danken. Sie haben zum Teil schon über viele Jahre hinweg mitgewirkt. Danke dafür auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Besonders hervorheben möchte ich die Herren Rainer Funke und Johann Hahlen, die aus dem Normenkontrollrat ausscheiden werden. Sie haben sich intensiv eingebracht. Ich habe auch den Eindruck, die Arbeit hat Ihnen Freude gemacht. Sie haben keine Mühen gescheut, damit anderen Menschen Mühen erspart bleiben. Deshalb: Dankeschön. Den weiter amtierenden und den neuen Mitgliedern wünsche ich gutes Gelingen. Ihr Erfolg ist unser aller Erfolg. Deshalb ist dies heute auch so etwas wie eine gegenseitige Gratulationskur. In diesem Sinne: Auf weitere konstruktive, produktive und manchmal auch harmonische Zusammenarbeit.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Informationsabend „Internationaler Kulturgutschutz durch das neue Kulturgutschutzgesetz“ am 20. September 2016 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-informationsabend-internationaler-kulturgutschutz-durch-das-neue-kulturgutschutzgesetz-am-20-september-2016-in-berlin-388026
Tue, 20 Sep 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Diejenigen unter Ihnen, die aus dem Ausland kommen, haben in den vergangenen gut zwölf Monaten möglicherweise mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, wie kontrovers die Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes in Deutschland diskutiert wurde. Schließlich zählen viele Staaten, insbesondere aus dem Nahen Osten und aus Süd- und Mittelamerika, zu den Unterstützern des Gesetzes. Zahlreiche Botschafter haben sich – was mich sehr gefreut hat – mit einem Besuch bei mir im Kanzleramt ausdrücklich bedankt und dem Vorsitzenden des Kulturausschusses sowie zahlreichen Abgeordneten des Deutschen Bundestages geschrieben, dass sie diesen Gesetzentwurf zur Bekämpfung des illegalen Handelns mit Kulturgut und zum Schutz des kulturellen Erbes der Menschheit sehr begrüßen. Doch eben diese so wichtigen, zentralen Aspekte spielten leider in der öffentlichen Debatte nur eine untergeordnete Rolle. Umso wichtiger ist es mir, heute über die Bedeutung des Gesetzes für den internationalen Kulturgutschutz zu informieren und dabei die bisher wenig beachteten neuen Regelungen insbesondere zur Einfuhr von Kulturgut vorzustellen. Dazu heiße ich Sie herzlich hier im Archäologischen Zentrum willkommen, das mit seiner weltweit herausragenden Ausstattung – mit seinen Depots, seinen Forschungs- und Restaurierungswerkstätten und der Expertise seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – eine ganz zentrale Rolle für den Kulturgutschutz in Deutschland spielt und das deshalb auch aus meinem Kulturhaushalt gefördert wird. Schön, dass wir heute hier sein dürfen! Meine Damen und Herren, ausgerechnet der Internationale Gerichtshofs in Den Haag, der sich üblicherweise mit schwersten Menschenrechts-verletzungen, mit Völkermord und Kriegsverbrechen, mit Massakern und Massenvergewaltigungen befasst, ausgerechnet dieser Internationale Strafgerichtshof hat der Weltöffentlichkeit eindrucksvoll vor Augen geführt, warum Kulturgut, warum das kulturelle Erbe der Menschheit einen besonders hohen Schutz verdient. Sie erinnern sich vielleicht: Islamisten aus Mali hatten 2012 eine Moschee und neun Mausoleen in der UNESCO-Weltkulturerbestadt Timbuktu zerstört. Einer von ihnen wird derzeit in Den Haag zur Verantwortung gezogen. „Es geht“, so die Worte der Chefanklägerin Fatou Bensouda, „um einen eiskalten Anschlag auf die Würde und Identität ganzer Bevölkerungen und ihrer religiösen und historischen Wurzeln.“ Die Bedeutung dieser Anklage kann man gar nicht hoch genug einschätzen in Zeiten, in denen die Vernichtung von Kulturgütern zum Mittel psychologischer Kriegsführung geworden ist und in denen Plünderungen, Raubgrabungen und auch der illegale Handel mit Kulturgut weltweit ein ungeheures Ausmaß angenommen haben. Der Internationale Gerichtshof hat unmissverständlich und unüberhörbar klar gemacht: Kulturgüter sind keine Luxusgüter. Kulturgüter sind, wie die Tageszeitung DIE WELT die Anklage zutreffend kommentierte, „existentiell, für Gemeinschaften, Nationen, die Menschheit“; es geht dabei „um das Lebensrecht von Gedanken und Ideen.“ Diese Überzeugung, dass Kulturgüter als Spiegel unserer Geschichte und unserer Identität existentiell sind, diese Überzeugung ist Teil unseres Selbstverständnisses als Kulturnation. Dennoch hat Deutschland sich leider lange nicht gerade als Pionier hervor getan, was gesetzliche Regelungen zum Schutz von Kulturgut betrifft. Die UNESCO-Konvention zum Kulturgutschutz aus dem Jahr 1970 wurde hierzulande erst 2007 – mit 37jähriger Verspätung – ratifiziert und im Kulturgüterrückgabegesetz umgesetzt – mit relativ laxen Regelungen, was die Einfuhr und Rückgabe von Kulturgut angeht, die sich obendrein als wenig praktikabel herausgestellt haben. Das wissen wir spätestens seit dem detaillierten Evaluierungsbericht der Bundesregierung zum Kulturgutschutz vom April 2013. Obwohl es in den vergangenen Jahren zahlreiche Ersuche ausländischer Staaten gab, ist es zu keiner einzigen Rückgabe auf Grundlage dieses Gesetzes gekommen. Zwar gab es in den vergangenen Jahren freiwillige Rückgaben und Rückgaben aufgrund strafrechtlicher Vorschriften. Doch das Gesetz, das eigentlich dafür geschaffen wurde, kam nicht zum Zug. – Warum nicht? Ganz einfach: Bisher mussten Antiken in Verzeichnisse der Herkunftsländer eingetragen sein, damit der Rückgabeanspruch in Deutschland greifen konnte. Das hat ganz und gar nicht funktioniert. Staaten, die in Kriege und Krisen involviert sind – und das sind nun mal leider viele Länder mit einem besonders umfangreichen Kulturerbe -, führen in der Regel aber keine umfassenden Verzeichnisse über ihr Kulturgut, sondern schützen qua Gesetz das gesamte archäologische Erbe, das strikten Handels- und Ausfuhrbestimmungen unterliegt. Hinzu kommt, dass all das, was illegal ausgegraben wurde, natürlich aus eben diesem Grund auf keiner staatlichen Liste auftauchen kann, selbst wenn es sie gäbe. Das so genannte „Listenprinzip“ hat sich deshalb in der Praxis nicht bewährt. Ebenso wenig bewährt hat sich die bisherige Einfuhrregelung, wonach ausländische Staaten ihr Kulturgut in ein zusätzliches deutsches Verzeichnis eintragen lassen sollten, damit der deutsche Zoll diese Kulturgüter im Falle einer Einfuhr nach Deutschland beschlagnahmt. Damit ließ sich weder der illegale Handel mit Antiken beispielsweise aus den Kriegs- und Krisengebieten im Nahen Osten unterbinden noch gegen organisierte Kriminalität vorgehen. Genau dazu sind wir aber völkerrechtlich verpflichtet. Deshalb hat Deutschland 2016 sein Kulturgutschutzrecht modernisiert und das deutsche Recht an internationale und EU-Standards angepasst – nicht zuletzt mit neuen Regelungen für die Einfuhr von Kulturgut, für den Verkauf von Kulturgut im Inland durch die gesetzliche Verankerung von Sorgfaltspflichten und für die Rückgabe von unrechtmäßig ausgeführten Kulturgütern in die Herkunftsstaaten. Wir wollen damit – endlich! – unseren Beitrag zur Eindämmung des illegalen Handelns mit Kulturgütern und zum Schutz des kulturellen Erbes der Menschheit leisten, und mit „wir“ meine ich eine breite politische und auch gesellschaftliche Mehrheit: Das neue Kulturgutschutzgesetz wurde ohne Gegenstimmen im Deutschen Bundestag verabschiedet, hat auch im Bundesrat breite Zustimmung bekommen und hatte von Anfang an die Unterstützung der Bundesländer, der Museen, des Deutschen Museumsbunds, des Internationalen Museumsrats und vieler anderer Verbände und Experten. Für diese Rückendeckung im nicht immer einfachen Gesetzgebungsverfahren noch einmal ein herzlichen Dank! Was also hat sich mit dem Inkrafttreten des neuen Kulturgutschutzgesetzes am 6. August 2016 geändert? Zunächst zur Einfuhr von Kulturgut – neu ist hier vor allem eines: Unrechtmäßig ausgeführtes Kulturgut wird künftig als unrechtmäßig eingeführt behandelt. Klingt selbstverständlich. Damit haben wir aber einen längst überfälligen Paradigmenwechsel eingeläutet: Wer in Zukunft Antiken nach Deutschland einführt, braucht für jedes Stück eine gültige Ausfuhrerlaubnis des jeweiligen Herkunftslandes, die bei Einfuhr nach Deutschland vorzulegen ist, sofern der Herkunftsstaat eine solche Genehmigungspflicht für die Ausfuhr vorsieht. Das gilt im Übrigen auch für Touristen. Das sogenannte „Souvenir“ aus dem Ägypten- oder Türkeiurlaub ist eben kein „Souvenir“, sondern eine illegale Ausfuhr geschützten Kulturgutes, wenn es denn ein echtes Stück ist und keine billige Replik. Damit erkennt Deutschland die ausländischen Ausfuhr- und Schutzbestimmungen für nationales Kulturgut anderer Staaten im deutschen Recht an. In den meisten Staaten ist ja auch für die Ausfuhr von Kulturgut eine Genehmigung erforderlich. Vor allem archäologisches Kulturgut, das in vielen Staaten einem strikten Ausfuhr- und Handelsverbot unterliegt, kann auf diese Weise besser geschützt werden. In der Praxis bedeutet das natürlich, dass der deutsche Zoll und die deutschen Strafermittlungsbehörden, aber auch die deutsche Öffentlichkeit – Touristen genauso wie Händler – die Möglichkeit haben müssen, sich genau zu informieren, welche Kategorien von Kulturgütern in anderen Staaten geschützt sind, für welche im Ausland eine Ausfuhrgenehmigung beantragt werden muss und für welche ein absolutes Ausfuhrverbot besteht. Deutschland baut deshalb ein von meinem Haus getragenes Internetportal auf (www.kulturgutschutz-deutschland.de), das Auskunft gibt zu den Schutz- und Ausfuhrbestimmungen anderer Staaten. Dafür bitte ich herzlich um Ihre Mithilfe, Exzellenzen, verehrte Damen und Herren aus den Botschaften – und um die Mitwirkung Ihrer Heimatstaaten. Wir brauchen ihre Hilfe, damit das neue Gesetz in der Praxis hält, was es auf dem Papier verspricht. Dazu trägt, lieber Herr Professor Hilgert, auch Ihr gemeinsam mit dem Fraunhofer- und Leibniz-Institut initiiertes Forschungsprojekt der so genannten „Dunkelfeldforschung“ (ILLICID) bei, dessen Ergebnisse 2018 vorliegen sollen. Herzlichen Dank dafür! Darüber hinaus hoffe ich im Sinne der praktischen Anwendung des Gesetzes, dass es gelingt, ein Experten-netzwerk mit wissenschaftlichem Sachverstand aufzubauen. Denn um festzustellen, ob ein Objekt echt ist und ob die Herkunftsangabe stimmt, ist wissenschaftliche Expertise oft unerlässlich – für den Zoll, für die Ermittlungsbehörden und die Kulturbehörden der Länder. Ein herzliches Dankeschön bei dieser Gelegenheit auch an die Kolleginnen und Kollegen der Länder und an das Auswärtige Amt für die konstruktive Zusammenarbeit sowie an die Vertreterinnen und Vertreter des BKA und LKA. Ohne Sie könnten wir das Gesetz nicht anwenden und umsetzen. Soviel zur Einfuhr. Auch beim Verkauf von Kulturgut im Inland wird sich mit dem neuen Kulturgutschutzgesetz einiges ändern, meine Damen und Herren. Neue gesetzliche Sorgfaltsanforderungen verpflichten dabei künftig – im Rahmen des Zumutbaren, insbesondere der wirtschaftlichen Zumutbarkeit – zur Prüfung der Provenienz und stellen sicher, dass der Antikenhandel sich auf Objekte eindeutiger und legaler Herkunft beschränkt. Warum das nötig ist und wie die Situation bisher war, hat die Archäologin Friederike Fless, Präsidentin des Deutschen Archäologischen Instituts, vor einiger Zeit in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung sehr anschaulich beschrieben: „Niemand ginge in Deutschland davon aus, dass der Kauf eines Autos ohne Kfz-Papiere normal oder legal ist. Bei Grabreliefs aus dem syrischen Palmyra reicht es hingegen aus, dass beim Kauf eventuell der Preis ausgewiesen ist. Angaben über die Herkunft des Reliefs und ein nachprüfbarer Nachweis, wann das Relief in den Kunsthandel gekommen ist, müssen nicht gegeben werden. Wenn ein Gesetz hier Klarheit schafft, welche Papiere und Angaben ein Objekt im Handel begleiten müssen, wäre es doch eigentlich nur von Nutzen für den Käufer und Händler.“ Was wir mit den neuen Regelungen erreichen, die sich übrigens an den bisherigen Verhaltenskodizes der Kunsthandelsverbände orientieren, fasst sie pointiert so zusammen: „Es geht bei dem Gesetzentwurf also nicht darum, den ,Kunsthandel mit dem illegalen Markt (…)‘ gleichzusetzen,, sondern Klarheit zu schaffen, wann eigentlich legaler und illegaler Handel vorliegen, nicht zuletzt, damit auch die Käufer eine Chance bekommen, den illegalen Markt überhaupt zu erkennen, um nicht ein Teil dieses illegalen Handels zu werden. Das ist grundlegender Verbraucherschutz.“ So ist es, meine Damen und Herren, und deshalb profitieren auch die Sammler, weil sie sicher sein können, dass die Herkunft eines Werks, eines Kulturguts in angemessener und zumutbarer Weise geprüft wurde und keine Rückgabeforderungen drohen – eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Und auch im Sinne der Händler schafft das neue Gesetz Klarheit und Rechtssicherheit. Es stärkt das Vertrauen in den Kunsthandelsstandort Deutschland und auch die Position des seriösen Kunsthandels, der damit die Konkurrenz durch „schwarze Schafe“ am Kunstmarkt nicht mehr fürchten muss. Auf einen letzten Punkt will ich noch kurz eingehen, nämlich auf die Rückgabe unrechtmäßig ausgeführter Kulturgüter an die Herkunftsstaaten. Das neue Gesetz gibt allen mittlerweile 131 Vertragsstaaten der UNESCO-Konvention einen Rückgabeanspruch für Kulturgut, das im jeweiligen Staat als Kulturgut geschützt ist und das nach dem 26. April 2007 unter Verstoß gegen dortige Vorschriften ausgeführt wurde. Dieser etwas schräg anmutende Stichtag ist der Tag der völkerrechtlichen Bindung Deutschlands an die UNESCO-Konvention, die keine rückwirkende Anwendung vorsieht. Es liegt natürlich im Wesen des Illegalen, dass in der Praxis kaum zu ermitteln ist, wann ein illegal ausgeführtes Kulturgut illegal ausgeführt wurde. Deshalb sieht das neue Gesetz eine „Vermutungsregelung“ vor: Wenn der Besitzer in Deutschland keinen hinreichenden Nachweis erbringen kann, dass ein illegal ausgeführtes Stück oder Werk schon vor diesem Stichtag in seinem Besitz war, wird vermutet, dass es nach dem 26. April 2007 ausgeführt wurde. Dann greift auch der Rückgabeanspruch. Mit den im neuen Kulturgutschutzgesetz verankerten Einfuhrregelungen, Rückgabemechanismen und Sorgfaltspflichten, meine Damen und Herren, haben wir nun endlich auch in Deutschland einen klar abgesteckten, gesetzlichen Rahmen für die Ein- und Ausfuhr, den An- und Verkauf antiker Objekte. Damit tragen wir sowohl den völkerrechtlichen Anforderungen der UNESCO-Konvention aus dem Jahr 1970 als auch geltenden EU-Vorgaben Rechnung – genauer: der neuen EU-Richtlinie zur Rückgabe von Kulturgut vom Mai 2014, zu deren Umsetzung wir ohnehin EU-rechtlich verpflichtet sind. Vor allem aber übernimmt Deutschland damit endlich Verantwortung im gemeinsamen Vorgehen der Staatengemeinschaft gegen den illegalen Handel mit Kulturgut. Wir knüpfen damit übrigens an eine historische Entwicklung an, die vor knapp 100 Jahren ihren Anfang nahm. Die erste gesetzliche Regelung des Kulturgutschutzes in Deutschland – eine „Verordnung über die Ausfuhr von Kunstwerken“ aus dem Jahr 1919 – war der bitteren Erfahrung nach Plünderungen ungeheuren Ausmaßes im Ersten Weltkrieg in Deutschland und Europa sowie dem drohenden Ausverkauf deutschen Kulturbesitzes geschuldet. Auf den Zweiten Weltkrieg, auf leidvolle Erfahrungen mit Raub- und Beutekunst, folgte das Kulturgutschutzgesetz von 1955, das national wertvolles Kulturgut durch die Eintragung in Verzeichnisse der Länder vor Abwanderung schützte. Heute, gut 60 Jahre später, haben wir mit der umfassenden Modernisierung des Kulturgutschutzes ein Gesetz, das nicht nur unseren eigenen bitteren – selbst verschuldeten – Erfahrungen mit dem Verlust bedeutender Kulturgüter Rechnung trägt, sondern auch unserer – nicht zuletzt auch historisch begründeten – Verantwortung für den Schutz des kulturellen Erbes gerecht wird. Ich freue mich, dass wir das neue Gesetz am 26. September auf Einladung der UNESCO in Paris vorstellen können und dass Sie, lieber Herr Srong, heute für die UNESCO hier sind und eigens aus Paris angereist sind, um diesen Meilenstein im internationalen Kulturgutschutz zu würdigen. Ich danke Ihnen!
Vor internationalem Publikum hat Kulturstaatsministerin Grütters erläutert, wie internationale Kulturgüter durch das Kulturgutschutzgesetz besser geschützt werden. Mit den neuen Regelungen für Einfuhr, Verkauf und Rückgabe leiste Deutschlands seinen „Beitrag zur Eindämmung des illgealen Handels mit Kulturgütern und zum Schutz des kulturellen Erbes der Menschheit“, so Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Gala des Rates für Formgebung
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-gala-des-rates-fuer-formgebung-803854
Thu, 15 Sep 2016 20:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Zugegeben: Als Sprachästhetin kostet es mich eine gewisse Überwindung, mich für die freundliche Einladung des Rat für Formgebung zu bedanken, was nicht an mangelnder Wertschätzung für die hier versammelten, namhaften Repräsentanten deutscher Designkultur liegt – ganz im Gegenteil! Nein, es ist eher die Befürchtung, dass möglicherweise nicht nur der Dativ dem Genetiv sein Tod ist, sondern auch eigenwillige sprachliche Formgebung dem Genetiv den Garaus machen kann. Deshalb liegt mir eher ein herzliches Dankeschön für die Einladung des Rates für Formgebung auf der Zunge. Ob dekliniert oder nicht dekliniert: Unbestritten steht der Rat für Formgebung seit mehr als 60 Jahren ganz im Dienste des guten Geschmacks, was für den weiteren Verlauf des Abends – auch kulinarisch – nur das Allerbeste erwarten lässt. Ich freue mich sehr über die Einladung und bin gespannt auf die Buchvorstellung „Die großen deutschen Marken“, die mit Qualität und Design „made in Germany“ enorme Strahlkraft im In- und Ausland entfalten. Mit seinen renommierten Wettbewerben und Ausstellungen, mit Konferenzen und Strategieberatung hat der Rat für Formgebung dazu in den vergangenen Jahrzehnten in nicht unerheblichem Maße beigetragen, ganz im Sinne seines offiziellen, auf einen Beschluss des ersten Deutschen Bundestages zurückgehenden Auftrags, „die deutsche Wirtschaft bei der Implementierung von Design als Wirtschafts- und Kulturfaktor“ zu unterstützen, wie es, vielfach zitiert, in etwas schwerfälligem Bürokratendeutsch heißt. Diese eher durch nüchterne Funktionalität denn durch ästhetische Brillanz bestechende Formulierung offenbart übrigens, dass uns ein „Rat für Formgebung“ durchaus auch für eine schönere Sprache gut tun würde – aber das nur nebenbei. Die Erfahrung zeigt: Gutes Design macht Unternehmen unverwechselbar, macht Produkte verständlich, macht Marken begehrenswert. Ihre Arbeit im Sinne einer ästhetisch ansprechenden Gestaltung der uns umgebenden Gebrauchsgegenstände – lieber Herr Professor Pfeiffer, liebe Vertreterinnen und Vertreter des Präsidiums und der Geschäftsführung – macht sich dabei aber nicht nur in Exportstatistiken bemerkbar, sondern auch im Lebensgefühl. Denn Schönheit ist ja nicht einfach nur schmuckes Beiwerk, oberflächliche Dekoration. Schönheit ist ein Stück Lebensqualität, ja mehr noch: Schönheit – davon bin ich überzeugt – kann Menschen, kann eine Gesellschaft verändern. Kaum jemand, jedenfalls so weit ich weiß kein Designer, hat die politische Dimension von Schönheit so eindrucksvoll beschrieben wie die in Rumänien aufgewachsene Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller: „Die allgegenwärtige Hässlichkeit war die einzige Gleichheit im Sozialismus“, hat sie einmal gesagt, und ich zitiere weiter: „Die hässliche Gleichheit drückt aufs Gemüt, macht apathisch und anspruchslos, das wollte der Staat. (…) Kurz nach der Wende sah ich, dass die planmäßige Hässlichkeit für ganz Osteuropa zutrifft. (…) überall dieselben rumänischen Vitrinen der Elendsläden (…). So eine Vitrine ist ein Lebensgefühl. Sie ist depressiv und überträgt ihre Depression tagtäglich auf alle, die an ihr vorbei gehen. Selbst wenn sie nur gedankenlos hinsehen, haben sie diese Vitrine schon im Gemüt. Ich glaube, Schönheit gibt einem Halt, sie behütet oder schont einen. (…) Ästhetik ist nicht bloß ,Stilmittel‘, sondern Substanz. Sie bestimmt den Inhalt bei allen Dingen, nicht nur den Satz beim Schreiben.“ Ja, Schönheit verleiht Worten wie auch Dingen eine ganz besondere Kraft. Deshalb können Designer mit ihrer Formensprache das Wahrnehmen, Denken und Empfinden verändern. Nicht zuletzt solche kleinen Veränderungen im Bewusstsein sind es, die jeder großen gesellschaftlichen Veränderung vorausgehen, und in diesem Sinne trägt künstlerische Gestaltungskraft immer den Keim des Fortschrittlichen, des – im besten Sinne – Revolutionären in sich. Eine Gesellschaft, die der Gestaltungskraft Raum gibt, sie fördert, bleibt in jeder Hinsicht veränderungs- und innovationsfähig. Aus diesem Grund unterstützt die Bundesregierung im Rahmen der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft Unternehmerinnen und Unternehmer dabei, mit ihren Ideen auch ökonomisch erfolgreich zu sein. Diese Förderung, meine Damen und Herren, betrachte ich nicht nur wirtschaftspolitisch als Investition in eine Zukunftsbranche, sondern auch kulturpolitisch als Ausdruck unseres gesellschaftlichen Selbstverständnisses, als Bekenntnis zu Offenheit, Vielfalt und Experimentierfreude. Über die bisherige Unterstützung hinaus gibt es für die Förderung der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft in meinem Haus nun erstmals einen eigenen Haushaltstitel: Damit stehen für die kulturellen Schwerpunkte der Kultur- und Kreativwirtschaft rund 1,5 Millionen Euro mehr zur Verfügung. Mit diesem kurzen kulturpolitischen Exkurs will ich es mit Blick auf die Uhr und die Menükarte bewenden lassen – zumal einem an einer so schön gedeckten Tafel der Kochtopf ja dann doch näher steht als ein Fördertopf. Das war in Deutschland aber wohl nicht immer so. Jedenfalls lassen Anekdoten aus den Geschichtsbüchern vermuten, dass so manches, was einst an deutschen Tischen gereicht wurde, ebenso wenig überzeugte wie die biederen deutschen Nachkriegsprodukte bei der New Yorker Exportmesse 1949, denen der Rat für Formgebung seine Gründung und damit seine Existenz verdankt. So soll Otto von Bismarck sich bei einem Essen mit Kaiser Wilhelm II. einmal über den ungewöhnlichen Geschmack des Schaumweins gewundert haben. Das sei deutscher Schaumwein, erklärte der Kaiser, er trinke ihn aus Sparsamkeit und aus Patriotismus. Worauf Bismarck geantwortet haben soll: „Bei mir, Majestät, macht der Patriotismus kurz vor dem Magen halt.“ Heute können wir im Land der Dichter, Denker und Designer zum Glück dank hervorragender Köche und Winzer nicht nur im Geiste und im Herzen, sondern auch im Magen Patrioten wie auch Weltbürger sein. Und auch vor dem Geldbeutel muss der Patriotismus heute nicht mehr Halt machen: Deutsche Produkte können sich längst überall sehen lassen und sind überall gern gesehen. Das ist nicht zuletzt Ihr Erfolg, liebe Mitglieder des Rat für Formgebung! Ich wünsche Ihnen dafür weiterhin eine glückliche Hand und vor allem einen schöpferischen Geist und freue mich auf die gemeinsamen Geschmackserlebnisse, die uns heute Abend mindestens kulinarisch noch erwarten. In diesem Sinne: Guten Appetit für die Hauptspeise!
Kulturstaatsministerin Grüters hat den „Rat für Formgebung“ für seine Arbeit im „Dienst des guten Geschmacks“ gewürdigt. „Deutsche Produkte können sich längst überall sehen lassen und sind überall gern gesehen“, so Grütters. Mit der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft fördert die Bundesregierung auch den wirtschaftlichen Erfolg ideenreichen Unternehmertums.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Grundsteinlegung für das Sudetendeutsche Museum
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-grundsteinlegung-fuer-das-sudetendeutsche-museum-757236
Fri, 16 Sep 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
München
Kulturstaatsministerin
Es braucht natürlich, das wissen wir alle, kein Sudetendeutsches Museum, um Bekanntschaft mit dem kulturellen Erbe der Sudetendeutschen zu machen. Dieses Erbe ist nicht nur dank der ebenso vielfältigen wie engagierten Kultur- und Brauchtumspflege der Sudetendeutschen Landsmannschaft quicklebendig. Es begegnet uns auch deshalb immer wieder, weil sudetendeutsche Künstlerinnen und Künstler in vielerlei Hinsicht Geschichte geschrieben haben: Musikgeschichte wie Gustav Mahler, Literaturgeschichte wie Rainer Maria Rilke oder Marie von Ebner-Eschenbach, Kunstgeschichte wie Alfred Kubin und posthum sogar Filmgeschichte, wie Oskar Schindler, der zwar kein Künstler war, aber 1.200 Juden vor dem nationalsozialistischen Terrorregime rettete. Seine Biographie erinnert uns auch an das Schicksal der Juden in Böhmen und Mähren nach 1938, deren Anteil an Kultur und Geschichte des Sudetenlandes ebenfalls Platz im Sudetendeutschen Museum finden wird. Kurz und gut: Das kulturelle Erbe der Sudetendeutschen lebt in vielen Bereichen unserer Gesellschaft fort – ganz im Sinne eines geflügelten Wortes des im böhmischen Kalischt geborenen Gustav Mahler: „Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.“ Und dennoch – oder vielmehr: gerade deshalb – dürfen wir gespannt sein auf das Sudetendeutsche Museum, das uns jenseits der Zeitläufte auch die Alltagskultur der Deutschen in Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien nahe bringen wird – die Mohnmühle beispielsweise, die es zur Herstellung von Mohnbuchteln in jedem sudeten-deutschen Haushalt gab. Die Heimatvertriebenen vermissten sie so schmerzlich, dass sie sich hilfesuchend an die bayerischen Bäcker wandten – mit der Folge, dass man die neuen Mitbürger verdächtigte, Rauschgift herstellen zu wollen … . So sind die Mohnmühlen, die zu den Exponaten des Sudetendeutschen Museums gehören werden, zwar Symbole der alten sudetendeutschen Heimat, erzählen auf ebenso einfühlsame wie interessante Weise aber auch, wie trotz anfänglicher Ängste und Vorurteile Annäherung und Vertrauen und schließlich Zusammenhalt entstehen konnten. (Heute gibt es ja sogar die bayerischen Brezen in der sudetendeutschen Variante mit Mohn obendrauf.) Mit solchen Ausstellungsstücken, meine Damen und Herren, wird das Sudetendeutsche Museum nicht nur der sudetendeutschen Vergangenheit ein Denkmal setzen. Es gibt das Feuer weiter statt die Asche zu bewahren. Es eröffnet neue Perspektiven auf unsere (gesamt)deutsche Kultur und Identität, in der das kulturelle Erbe der Sudetendeutschen weiterlebt. Neue, zeitgemäße Formen des Erinnerns zu finden, ist nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil die Zahl der Zeitzeugen, die von der Heimat im Sudetenland, von Flucht und Vertreibung und vom Neuanfang in Bayern erzählen können, Jahr für Jahr abnimmt. Wenn der Erinnerungstransfer von Generation zu Generation nicht gelingt, werden Erfahrungen der Vergangenheit irgendwann zu den sprichwörtlichen „böhmischen Dörfern“. Deshalb übernimmt der Bund ein Drittel der Kosten – bis zu zehn Millionen Euro – für die Errichtung des Sudetendeutschen Museums, und es freut mich besonders, dass auch die mittlerweile hochbetagten Vertriebenen die Eröffnung dieses Museums, das vielen ein Herzenswunsch war, 2018 vielleicht – hoffentlich! – noch erleben dürfen. Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln, so wie es der Paragraph 96 des Bundesvertriebenengesetzes vorgibt – das war und ist fester Bestandteil der Politik der Bundesregierung, und das liegt mir auch persönlich sehr am Herzen. Wir konnten die dafür vorgesehenen Mittel immer wieder deutlich erhöhen. Mit der in diesem Jahr verabschiedeten Neukonzeption der Kulturförderung nach Paragraph 96 tragen wir unter anderem dazu bei, europäische Kooperationen zu stärken und gerade jüngeren Menschen das kulturelle Erbe unter anderem auch der Sudetendeutschen zu vermitteln. Ich bin überzeugt: Die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kulturerbe in Mittel- und Osteuropa kann in Deutschland wie auch in unseren Partnerländern nicht zuletzt auch dabei helfen, die Krisen und Konflikte besser zu verstehen, in deren Angesicht Europa sich heute neu bewähren muss. Es geht um Themen, die Deutschland und Europa heute mehr denn je beschäftigen: um Fragen des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen und Religionen, um Fragen der wechselseitigen Wahrnehmung und Anerkennung. Das verleiht der Dauerausstellung, die sudetendeutsche Geschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart erzählt, zeitlose Aktualität. Ich wünsche mir, dass unsere Haltung dabei im besten Sinne europäisch bleibt – offen, tolerant und mutig in dem Bemühen, Grenzen zu überwinden. Ein herzliches Dankeschön der Sudetendeutschen Stiftung und der Landsmannschaft – insbesondere Ihnen, lieber Herr Dr. Kotzian und Ihnen, lieber Bernd Posselt – für das jahrelange große Engagement, das die heutige Grundsteinlegung überhaupt erst möglich gemacht hat! „Nicht was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus“, hat Marie von Ebner-Eschenbach – bei Kremsier in Mähren geboren – einmal gesagt. Museen machen Erinnerungen sichtbar und erfahrbar und prägen damit, wie wir empfinden, was wir und was Generationen vor uns erlebt haben. Museen sind damit gemeinsame Bezugspunkte einer Gesellschaft, die Verständigung – Grundlage einer jeden Demokratie – möglich machen. Möge dazu künftig auch das Sudetendeutsche Museum beitragen!
Bei der Grundsteinlegung für das Sudetendeutsche Museum hat Kulturstaatsministerin Grütters das lebendige und vielfältige kulturelle Erbe der Sudetendeutschen gewürdigt. Das neue Museum sei weniger Denkmal der Vergangenheit, sondern „eröffnet neue Perspektiven auf unsere deutsche Kultur und Identität, in der das kulturelle Erbe der Sudetendeutschen weiterlebt.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim M100 Sanssouci Colloquium am 15. September 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-m100-sanssouci-colloquium-am-15-september-2016-469810
Thu, 15 Sep 2016 18:15:00 +0200
Potsdam
Sehr geehrter Herr van Dülmen, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Jakobs, sehr geehrter Herr di Lorenzo, meine Damen und Herren, ich werde gewiss nicht der Laudatio vorgreifen, die Herr di Lorenzo gleich im Anschluss an meine Rede halten wird. Aber ich kann Ihnen meine Gedanken zum Thema Ihres diesjährigen Colloquiums „Krieg oder Frieden – Die Rückkehr der Geopolitik, Desintegration und die Radikalisierung der Gesellschaft in Europa“ nicht vortragen, ohne mich zuvor an Sie, sehr geehrter Herr Saviano, den diesjährigen Preisträger des M100 Media Award, gewandt zu haben. Der M100 Media Award, an dessen Verleihung ich heute bereits zum dritten Mal teilnehmen darf, zeichnet Persönlichkeiten aus, die Spuren in Europa hinterlassen haben. Er versteht sich damit ausdrücklich als europäischer Preis. Er wird verliehen, um Verdienste um Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit zu würdigen. In Ihrem Werk, lieber Herr Saviano, kommen diese drei Aspekte zusammen: die bleibenden Spuren, das klare Bekenntnis zu Europa und die herausragenden Verdienste um die Pressefreiheit. Sie selbst haben es einmal so formuliert: „Die Pressefreiheit ist ein Recht, das nicht immer garantiert sein wird. Wenn wir es vernachlässigen, welkt es wie eine Blume, die man vergisst zu gießen.“ Dem kann ich nur zustimmen. Wir müssen die Pressefreiheit immer wieder aufs Neue verteidigen und uns immer wieder daran erinnern, wie schnell sie in Gefahr geraten kann – auch bei uns in Europa. Dabei brauchen wir nicht allein an die Medienvertreter in der Türkei zu denken, deren Lage schwierig genug ist. Can Dündar, einer Ihrer Gäste hier in Potsdam, ist ein Beispiel dafür, ein sehr wichtiges. Gerade unsere Diskussion zur Situation der Medien in der Türkei zeigt: Pressefreiheit besteht aus der Abwesenheit staatlicher Einflussnahme und Zensur. Aber das ist es nicht allein. Pressefreiheit umfasst weit mehr. Sie umfasst auch die Freiheit, Missstände aufdecken und über sie berichten zu können, ohne Nachteile oder gar Gefahren befürchten zu müssen. Um die so umfassend verstandene Pressefreiheit geht es Ihnen, lieber Herr Saviano. Um sie müssen Sie jeden Tag aufs Neue kämpfen, seit Sie vor zehn Jahren Ihr Buch „Gomorrha“ veröffentlicht haben. Wir alle können kaum ermessen, welche Ängste Sie erleiden und welche Einschränkungen Sie erdulden müssen, seit Sie ein Leben im Verborgenen führen. Wir können auch kaum ermessen, wie viel Mut es jeden Tag erfordert, dennoch beharrlich zu bleiben, nicht nachzugeben und Ihre Arbeit immer weiter fortzusetzen. Meine Damen und Herren, leider müssen wir feststellen, dass sich das Schicksal Roberto Savianos nicht an irgendeinem Ort der Welt abspielt, sondern mitten in Europa. Wir müssen auch feststellen, dass es sich selbst hier in Europa nicht um einen Einzelfall handelt, in dem ein Autor bedroht wird. Erst ein Jahr ist es her, als die französische Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ mit dem M100 Media Award ausgezeichnet wurde, nachdem ein Großteil ihrer Redaktion wenige Monate zuvor einem barbarischen Terroranschlag zum Opfer gefallen war. Im Jahr 2010 wurde der Preis an den dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard verliehen. Auch er musste in Kauf nehmen, dass seine Arbeiten massive Auswirkungen auf sein Leben hatten, die bis heute anhalten. Doch gerade für die Pressefreiheit gilt: Sie verdient diesen Namen nur, wenn sie auch gelebt werden kann. Das erfordert leider viel zu oft auch tatsächlich den Mut engagierter Journalistinnen und Journalisten, engagierter Autorinnen und Autoren. Sie, lieber Herr Saviano, verkörpern diesen Mut wie kaum ein Zweiter. Das macht Sie zu einem leuchtenden Beispiel. Und dafür gebühren Ihnen unser aller Dank und Respekt. Meine Damen und Herren, so wie sich der M100 Media Award als europäischer Preis versteht, so richtet auch das Kolloquium, in dessen Rahmen er heute verliehen wird, seinen Blick auf die Situation in Europa. Die Veranstalter haben für das Thema des diesjährigen Kolloquiums die Überschrift „Krieg oder Frieden“ gewählt. Dabei muss ich persönlich sofort an das berühmte Wort des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl denken, wonach Europa eine Frage von Krieg und Frieden ist. Aus dem Mund eines Mannes, der die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs als Kind und Jugendlicher erlebt hat, wirkt dieser Satz besonders nachdrücklich und glaubwürdig. Für viele von uns Jüngeren mag der Gedanke heute vielleicht schwer zu verstehen sein. Und doch: Der Satz hat nichts von seiner Gültigkeit verloren. Er ist richtig. Denn es geht immer auch um Krieg und Frieden bzw., um die Überschrift Ihres Kolloquiums aufzugreifen, um Krieg oder Frieden. Dabei brauchen wir gar nicht als Erstes an Gewehre und Panzer zu denken, sondern eher an schleichende Prozesse, wenn Nationalismus, Egoismus, Radikalisierungstendenzen gemeinsames europäisches Handeln erschweren oder gar torpedieren. 71 Jahre Frieden in Europa – das ist in den Augen eines einzelnen Menschen eine lange Zeit, ein Menschenleben. Im Lauf der Geschichte aber ist es nichts weiter als ein Wimpernschlag. Deshalb: Niemals dürfen wir vergessen, dass wir es maßgeblich der europäischen Integration zu verdanken haben, wenn wir heute nicht mehr auf einem Kontinent der Kriege, der Unfreiheit und der Gegensätze leben, sondern immer noch in einer Union des Friedens, der Freiheit, des Wohlstands, der Stabilität und der guten Nachbarschaft. Die Europäische Union hat in ihrer Geschichte vieles erreicht, was für vergangene Generationen kaum vorstellbar war. Auch jenseits der großen historischen Linien, in unserem Alltag, profitieren wir täglich von europäischer Integration; und zwar häufig, ohne es uns bewusst zu machen: durch freies Reisen, durch unsere gemeinsame Währung, durch unsere vielfältigen persönlichen Begegnungen. Es liegt an uns, den heute handelnden Akteuren, diese Errungenschaften jeden Tag zu verteidigen, wenn diese – wie in den vergangenen Jahren – immer wieder schweren Bewährungsproben ausgesetzt wurden. Denken wir an die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise, die auch Europa tief erschüttert hat. Denken wir an die Aggression Russlands gegenüber der Ukraine und ihre Folgen für die Menschen dort wie auch für unsere Beziehungen zu Russland. Denken wir an den tiefen Einschnitt durch die Entscheidung der britischen Wählerinnen und Wähler, die Mitgliedschaft ihres Landes in der Europäischen Union beenden zu wollen. Denken wir daran, dass wir nicht nur unser europäisches Wirtschafts- und Sozialsystem, sondern auch unser Werte- und Gesellschaftsmodell in einem harten weltweiten Wettbewerb behaupten müssen. Denken wir auch an die zahlreichen globalen Probleme, denen wir uns in Europa nur gemeinsam stellen können: an den Kampf gegen den internationalen Terrorismus, an den Klimaschutz und besonders an die vielen Menschen, die in Europa Schutz vor Krieg, Verfolgung und Not suchen. Ich übertreibe nicht, wenn ich insgesamt feststellen muss: Es ist ganz und gar nicht gut, wie Europa derzeit verfasst ist. Das schmerzt mich. Und ich setze alles daran, dass wir wieder das wecken können, wofür die Gemeinschaft einst stand: Solidarität und Wertezusammenhalt. Denn ich bin fest davon überzeugt, dass eine Abschottung Europas von den Problemen dieser Welt im 21. Jahrhundert weder unseren Werten und Interessen entspräche noch tatsächlich so möglich wäre, dass nicht auch wir gravierende Nachteile erleiden würden. Spätestens durch moderne Kommunikationstechnologien und Globalisierung müssen sich alle von der Vorstellung verabschieden, dass uns die Kriege, die Konflikte, die Armut und die Not dieser Welt nichts angehen. Sie gehen uns etwas an. Das gilt vor allem dann, wenn unsere unmittelbare Nachbarschaft betroffen ist. An die Europäische Union grenzen nun einmal nicht nur Island, Norwegen und die Schweiz, sondern auch Russland, die Ukraine, Syrien, Libyen und Ägypten. Wir müssen verstehen, dass die Situation in diesen und anderen Ländern auf Dauer sehr kompliziert sein wird und dass das nicht ohne Auswirkungen auf uns bleiben kann. Gleichzeitig müssen und können wir Europäer erkennen, dass wir dem, was um uns herum geschieht, wirklich nicht hilflos ausgeliefert sind; im Gegenteil. Je enger wir als Europäische Union zusammenstehen, je geschlossener wir gemeinsam auftreten und handeln, desto eher sind wir in der Lage, Einfluss auf globale Entwicklungen zu nehmen, diese mitzugestalten und zu verändern. Umgekehrt gilt natürlich auch: Je weniger geschlossen wir auftreten, umso weniger können wir unsere Werte und Interessen in der Welt behaupten. Ich werde deshalb niemals darin nachlassen, mich für ein geeintes Europa einzusetzen. Keinem Land in Europa wird es dauerhaft gelingen, alleine die drängenden Aufgaben unserer Zeit zu lösen und sich alleine im globalen Wettbewerb zu behaupten. Es ist heute dringender denn je, die Werte und Errungenschaften der europäischen Einigung, die uns so viele Freiheiten gebracht haben, in den immer hitziger werdenden Debatten zu verteidigen. Es ist dringender denn je, den rhetorischen Verkürzungen entgegenzutreten, den allzu einfachen nationalen Reflexen zu widerstehen und stattdessen den aufwändigeren, mühsameren, langfristig aber erfolgreichen europäischen Weg zu beschreiten. Europa muss in die Lage versetzt werden, sich immer wieder an neue Entwicklungen und Bedürfnisse anzupassen; gerade heute, in dieser schnelllebigen Zeit. Besonders die Entscheidung der britischen Wählerinnen und Wähler hat uns gezeigt, dass wir noch viel mehr tun müssen, um Europa zusammenzuhalten und weiter zu verbessern. Beim morgigen Gipfel in Bratislava wird genau das unser Thema sein. Dabei müssen wir immer im Auge behalten, dass es in Europa sehr unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, welche Verbesserungen gerade erforderlich sind und wie diese ausgestaltet werden sollten. Die vielen Gespräche, die ich hierzu in den vergangenen Wochen mit meinen Amtskollegen und den Vertretern der europäischen Institutionen geführt habe, haben das wieder sehr deutlich gemacht. Deshalb werden wir in Bratislava die Diskussion über die weitere Entwicklung Europas auch noch nicht abschließen, sondern bis zum kommenden Frühjahr weiterführen. Denn am Ende dieses Prozesses wollen wir zu Entscheidungen kommen, die einen echten europäischen Mehrwert bieten, von denen die europäischen Bürgerinnen und Bürger spürbar profitieren und die auch eine breite Akzeptanz in den verschiedenen Mitgliedstaaten und ihren Bevölkerungen finden. Dabei geht es uns nicht darum, zusätzliche Kompetenzen an Europa zu übertragen. Ein mutiges Europa, ein Europa der Freiheit, ist ein Europa, das nicht alles regelt. Es ist ein Europa, das Entscheidungen immer auf der Ebene trifft, auf der dies zu den besten Ergebnissen führt – sei es auf der lokalen, der nationalen oder der europäischen Ebene. Meine Damen und Herren, wir brauchen erstens ein Europa, das den Wohlstand seiner Bürgerinnen und Bürger fördert. Voraussetzung dafür ist, dass die Europäische Union wettbewerbs- und innovationsfähiger wird als bisher. Wir brauchen zweitens ein Europa, das junge Menschen wieder für sich gewinnen und begeistern kann. Voraussetzung dafür ist, dass die Europäische Union ihnen bessere Perspektiven bietet als bisher – bei der Förderung von Austausch und Mobilität genauso wie auf dem Arbeitsmarkt. Wir brauchen drittens ein Europa, das gemeinsam für Sicherheit sorgt und seine Bürgerinnen und Bürger schützt: vor außen- und sicherheitspolitischen Gefahren, vor organisierter Kriminalität, vor der Bedrohung durch internationalen Terrorismus, vor dramatischen Auswirkungen, die für einen mutigen Einzelnen wie Roberto Saviano in der Ausübung der Meinungs- und Pressefreiheit entstehen können. Lieber Herr Saviano, dass der Mut Einzelner, auch unter lebensbedrohlichen Gefahren die eigene Meinung zu äußern und zu verbreiten, so sehr bekämpft wird, zeigt, dass dieser Mut tatsächlich Veränderungen bewirken kann. Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Ihr Mut eines Tages damit belohnt wird, dass sich die Missstände, die Sie in Ihrem Werk beschreiben, zum Besseren verändern. Uns allen wünsche ich, dass Europa als Ganzes die Kraft aufbringt, die es braucht, um die kommenden Aufgaben gemeinsam zu bestehen und wieder das zu wecken, wofür die Gemeinschaft steht: Solidarität und Wertezusammenhalt. Beherzigen wir das, dann werden wir besser aus der gegenwärtigen Phase herauskommen, als wir in sie hineingegangen sind. Herzlichen Dank.
in Potsdam
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Internationalen Parlamentarierkonferenz zur Religionsfreiheit am Mittwoch, den 14. September 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-internationalen-parlamentarierkonferenz-zur-religionsfreiheit-am-mittwoch-den-14-september-2016-465716
Wed, 14 Sep 2016 11:45:00 +0200
Berlin
Lieber Volker Kauder, sehr geehrte Baronesse Berridge, sehr geehrter Herr Raja, Herr Botschafter Nӕss, lieber Hans-Gert Pöttering, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, meine Damen und Herren, bei drängenden politischen Fragen ist es das eine, zu kritisieren, was zu kritisieren ist. Das andere ist es, konkrete Schritte zu unternehmen, um Entwicklungen in gewünschte Bahnen zu lenken. Ein solcher Schritt war es, ein internationales Parlamentariernetzwerk zu gründen, um die Glaubens- und Gewissensfreiheit weltweit zu stärken. Binnen kürzester Zeit hat sich die Vereinigung als zentraler Akteur für dieses wesentliche Grundrecht etabliert. Oslo und dann die Konferenz im vergangenen Jahr in New York beeindruckten durch hochkarätige Beiträge. Die Konferenz in New York machte vor allem den festen Willen sichtbar, den Worten auch Taten folgen zu lassen – durch langfristige Strategien zum Schutz der Religionsfreiheit sowie durch konkrete Hilfestellungen für Menschen, deren Religionsfreiheit beschnitten oder gefährdet ist. Daran knüpft das heutige Treffen an. Ich möchte allen danken, die es auf die Beine gestellt haben. Die Gewissens- und Religionsfreiheit ist ein Grundrecht, das in Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verbrieft ist. Sie gilt gleichermaßen für alle, und zwar unabhängig von Religionszugehörigkeit und Weltanschauung. Sie beinhaltet das Recht eines jeden Einzelnen, sich zu seiner Religion zu bekennen, sie auszuüben, die Religion zu wechseln oder sich keiner Religion anzuschließen. In dieser Form ist Religionsfreiheit auch im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte festgeschrieben. Fast 170 Staaten haben diesen Pakt ratifiziert – natürlich auch Deutschland. Bei uns in Deutschland genießt Religionsfreiheit verfassungsrechtlichen Schutz. Zusammen mit den anderen Freiheitsrechten des Grundgesetzes gehört sie zum Kernbereich dessen, was unser Land ausmacht und was uns lieb und teuer ist. Ich meine unser freiheitliches Miteinander, das auf dem Respekt vor der menschlichen Würde beruht. Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes hat sich unser Land in vielerlei Hinsicht gewandelt – auch gesellschaftlich. Deutschland ist in den vergangenen Jahrzehnten ethnisch, kulturell und weltanschaulich vielfältiger geworden. Dies wirft natürlich auch ein entsprechend stärkeres Licht auf das Thema Religionsfreiheit – ein Thema, das besonders große Beachtung seit dem vergangenen Jahr findet, als viele Flüchtlinge auf der Suche nach Sicherheit und Schutz nach Deutschland kamen. Interessant sind erste Studien, die sich mit dem Blick der Flüchtlinge auf unser Land beschäftigen. Auf die Frage, was sie hier besonders schätzen, antwortet eine überwältigende Mehrheit von ihnen: Toleranz und Religionsfreiheit. Gleichwohl ist es notwendig, die umfassende Bedeutung dieser Werte zu vermitteln. Denn viele Flüchtlinge kommen aus Ländern mit eingeschränkter Religionsfreiheit. In ihrer Heimat ist verboten, was bei uns selbstverständlicher Alltag ist. In ihrer Heimat sind leider auch Antisemitismus und der Hass auf Israel allzu selbstverständlich. Dass die jüdischen Gemeinden hierzulande deshalb angesichts der vielen Flüchtlinge auch ihre Sorgen artikulieren, ist nur zu verständlich. Das müssen wir gemeinsam sehr ernst nehmen. Gleichzeitig müssen wir uns selbst stets aufs Neue den hohen Stellenwert der Religionsfreiheit vor Augen führen – auch wenn uns manch religiös motiviertes Verhalten befremden mag. Zur Religionsfreiheit gehört es, seinen Glauben öffentlich bekunden zu dürfen und das eigene Verhalten an religiösen Lehren und Traditionen auszurichten. Dies gilt zum Beispiel auch in Bezug auf Bekleidungsvorschriften. Da zeigt sich die Schwierigkeit in der Diskussion über ein generelles Verbot der Verschleierung aus religiösen Gründen. Freiheitsrechte schützen auch die Freiheit, anders zu sein, als es sich die Mehrheit wünscht oder vorstellt. Ebenso wie die Meinungsfreiheit gilt die Religionsfreiheit auch dann, wenn es unterschiedliche Auffassungen zu religiös motivierten Verhaltensweisen gibt. Ich halte eine Vollverschleierung für ein großes Hindernis bei der Integration. Daraus mache ich keinen Hehl. Denn wenn das Gesicht im Verborgenen bleibt, sind die Möglichkeiten des Kennenlernens und des Einschätzens der Persönlichkeit stark eingeschränkt. Das behindert jede Kommunikation, die eben nicht allein aus Worten besteht. Einschränkungen der Religionsfreiheit können sich aber nur aus der Verfassung selbst ergeben – also wenn die Grundrechte Dritter, Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang oder die staatliche Neutralität gegenüber den Religionen verletzt werden. Vor diesem Hintergrund setzen wir in der Frage eines Vollverschleierungsverbots darauf, präzise Handlungsvorgaben für die Bereiche zu machen, in denen eine Vollverschleierung nicht geboten ist – beispielsweise im öffentlichen Dienst oder vor Gericht. Diese Diskussion führt uns auch zu der Frage: Was genau gehört zum Glauben, zur Religion? Religiöse Bildung ist unverzichtbar zur Selbstvergewisserung – ebenso wie für ein respektvolles Miteinander der Religionen. Die Trennung von Staat und Religion ist allerdings auch Ausdruck von Religionsfreiheit. Was aber der Staat kann und was er meines Erachtens auch tun sollte, das ist, die Voraussetzungen für eine gute religiöse Bildung zu schaffen. Wir brauchen einerseits theologische Fakultäten, Institute und Zentren an den Hochschulen. Pfarrer, Rabbiner, Imame oder Religionslehrer sind Multiplikatoren. Ihre Ausbildung entscheidet wesentlich über die Qualität ihrer religiösen Bildungsarbeit. Andererseits brauchen wir Raum für die Vermittlung von Glaubensinhalten. Ich befürworte den bekenntnisorientierten schulischen Religionsunterricht, wie ihn die meisten Bundesländer in Deutschland vorsehen – zunehmend auch für muslimische Kinder. Über Glaubensinhalte Bescheid zu wissen, hilft, mündige Entscheidungen für das eigene Leben zu treffen. Zudem fällt es leichter, sich selbstbewusst mit anderen Religionen auseinanderzusetzen, sie auch verstehen und respektieren zu lernen. Ich bin fest davon überzeugt: Je besser die religiöse Bildung, desto fundierter der Dialog zwischen Glaubensgemeinschaften und desto größer das gegenseitige Verständnis. Wir leben in Gesellschaften der Vielfalt. Menschen unterschiedlicher Religion und Weltanschauung leben Tür an Tür. Dass sie einander offen begegnen, miteinander auskommen und gemeinsam Verantwortung in ihrem Lebensumfeld übernehmen, ist die Basis für unser friedliches Miteinander insgesamt. Gelebte Vielfalt ist die logische Konsequenz von Freiheit. Sie ist die Folge des guten Rechts, nach den Regeln einer Religion zu leben oder nicht, sich von einer Religionsgemeinschaft loszusagen oder von der einen zur anderen zu wechseln. Umgekehrt gilt: Vielfalt zurückzudrängen – das hätte gravierende Folgen für unsere freiheitlichen Prinzipien, die wir im Laufe der Geschichte erst mühsam erstritten haben. Ich kann nur davor warnen, mit vermeintlich einfachen Lösungen das Rad der Zeit zurückzudrehen. Aber ich kann sehr empfehlen, in Fragen der Glaubens- und Gewissensfreiheit aus der Geschichte zu lernen. So lohnt sich zum Beispiel auch ein weiter Blick zurück auf den Augsburger Religionsfrieden von 1555. Er ermöglichte für die Territorien des damaligen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation die freie Wahl der Konfession. Aber: Die Hoheit über diese Freiheit lag bei den Herrschenden. Die Fürsten konnten die Religion für ihr Gebiet festlegen. Andersgläubige erhielten lediglich das Recht, auszuwandern. Die Migration aus Glaubensgründen ist eine Geschichte voller Leid. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass es viele Beispiele religiös Verfolgter gibt, die in ihrer neuen Heimat Großes leisteten, zum Beispiel Kultur und Wirtschaft bereicherten. Ich möchte an dieser Stelle an die Hugenotten erinnern, die im 17. Jahrhundert nach Deutschland flohen. Doch die Flucht erfolgte aus großer persönlicher Not heraus. Wer in der alten Heimat blieb, musste mit dem Schlimmsten rechnen. Viele, die nicht fliehen konnten oder wollten, verloren ihr Leben. Andere starben auf dem Weg zu einem Zufluchtsort. Familien wurden auseinandergerissen. All dies passierte nur aus einem Grund: aus mangelnder Religionsfreiheit. Mit dieser Beschreibung der Vergangenheit verbinden sich leider Bilder der Gegenwart. Um Religionsfreiheit ist es auf der Welt heute immer noch teils sehr schlecht bestellt. In vielen Staaten sind Übergriffe auf religiöse Minderheiten, Diskriminierung und Verfolgung an der Tagesordnung. Ich beobachte manchmal auch eine Art Selbstzensur religiöser Minderheiten, um im betreffenden Land nicht aufzufallen und nicht permanent im Konflikt zu leben, was mir immer besonders wehtut. Staatliche Repressionen sind das eine. Dazu kommt die Gewalt fundamentalistischer Terrororganisationen. Insbesondere die Terrormiliz IS brüstet sich mit barbarischen Akten, die sich gegen Menschen aller Religionen, übrigens gerade auch gegen Muslime, richten. Das Erbe des Christentums im Nahen Osten droht, fanatischen Islamisten zum Opfer zu fallen. Viele Gläubige aus Syrien und dem Irak sahen sich in den vergangenen Jahren dazu gezwungen, aus Angst um ihr Leben ihre Heimat zu verlassen. Lieber Volker Kauder, ich weiß, wie sehr dir die Lage der Christen in der Region am Herzen liegt. Ich möchte mich dafür bedanken, dass du uns die Not der Christen, aber auch die anderer religiöser Minderheiten immer wieder vor Augen führst. Du machst das in der Überzeugung: Wo auch immer auf der Welt Religionsfreiheit mit Füßen getreten wird, geht dies uns alle etwas an. Denn Menschenrechte und die Menschenwürde sind unteilbar. An dieser Stelle danke ich auch dem Stephanuskreis der CDU/CSU-Bundestags-fraktion, in den sich nahezu 100 Kolleginnen und Kollegen einbringen. Sie thematisieren auf politischer Ebene das Schicksal derjenigen, die aufgrund ihres Glaubens verfolgt oder diskriminiert werden. Besonders im Blick sind verfolgte Christen – aber nicht allein. Es ist ein umfassendes Verständnis von Religionsfreiheit, das den Stephanuskreis leitet, wie auch sein Vorsitzender, Professor Heribert Hirte, betont – ich möchte ihn zitieren: „Der Respekt vor anderen Religionen, aber auch vor Atheisten ist da fest mit eingeschlossen.“ Mit einem solchen Engagement sendet unsere Bundestagsfraktion das deutliche Signal, dass uns Religionsfreiheit hierzulande wie andernorts ein ernsthaftes Anliegen ist, dass wir die Missstände wahrnehmen und nicht einfach hinnehmen, dass wir hilfreiche Partner sein wollen für alle, die daran etwas ändern wollen. Im Juni dieses Jahres hat die Bundesregierung den ersten Bericht zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit vorgelegt. Er beschreibt exemplarisch, wie staatliche und nichtstaatliche Akteure dieses grundlegende Menschenrecht in verschiedenen Ländern missachten. Mal fehlt ein gleichberechtigter Zugang zu öffentlichen Ämtern, mal kommt es zu willkürlichen Einschränkungen beim Bau religiöser Einrichtungen. Oder es wird massiver Druck auf Menschen ausgeübt, die sich von der vorherrschenden Religion lossagen oder konvertieren wollen. Allzu oft zeigt sich ein fließender Übergang von verschiedensten Formen der Diskriminierung hin zu Gefahren für Leib und Leben. Bestandsaufnahme und Analyse – das ist das eine. Das andere ist unser praktisches Engagement für Religionsfreiheit, das fester Teil unserer Außenpolitik und unserer Entwicklungszusammenarbeit ist. Dabei können wir auf eine gute Kooperation mit Regierungen anderer EU-Mitgliedstaaten zählen. Deutschland ist zum Beispiel in der EU-Ratsarbeitsgruppe Menschenrechte aktiv. Im Rat für Auswärtige Beziehungen haben wir an den Leitlinien der EU zur Förderung und zum Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit intensiv mitgewirkt. Diese wurden im Jahr 2013 verabschiedet. Jetzt sind wir auch an ihrer Umsetzung beteiligt. Innerhalb der OSZE legt die Bundesregierung großen Wert auf den Menschenrechtsdialog, der den Einsatz für Religionsfreiheit einschließt. Wir fördern die Arbeit des OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte. Wir entsenden Personal und finanzieren Projekte. Auch im Rahmen der Vereinten Nationen engagieren wir uns kontinuierlich für Glaubens- und Gewissensfreiheit – gerade auch mit Blick auf die Rechte von Angehörigen religiöser Minderheiten. Die Bundesregierung nutzt dabei auch das Universelle Staatenüberprüfungsverfahren im UN-Menschenrechtsrat, um im Bedarfsfall Defizite in einzelnen Staaten anzusprechen. Hinzu kommt der Dialog mit Sonderberichterstattern zur jeweiligen Ländersituation. Natürlich sprechen wir auch bilateral immer wieder die Religionsfreiheit als Teil der Menschenrechte an – Volker Kauder hat darüber gesprochen. Wir führen solche Dialoge zum Beispiel mit China, dem Iran, Pakistan und anderen Ländern. Zudem haben wir in der Entwicklungszusammenarbeit in den vergangenen Jahren verstärkt den Blick auf die Religionen gerichtet. Und das, so denke ich, aus guten Gründen. Die überwältigende Mehrheit derjenigen, die wir über Entwicklungsprojekte erreichen, bezeichnet sich als religiös oder sogar als sehr religiös. Die Gesundheitsversorgung, das Bildungssystem, soziale Dienstleistungen – all dies verantworten in den Partnerländern zum Großteil Religionsgemeinschaften bzw. ihre Hilfswerke und Organisationen. In Krisensituationen sind sie oft die einzigen, die Notleidenden zur Seite stehen. Daher ist es folgerichtig zu überlegen, wie wir Religionsgemeinschaften noch stärker in die Entwicklungszusammenarbeit einbeziehen können. Dazu hat das zuständige Bundesministerium bereits ein Strategiepapier vorgelegt. Klar ist: Eine enge Kooperation kann es nur mit Partnern geben, die Religionsfreiheit eindeutig respektieren und daher zum Beispiel auch Menschen anderer Religionen Nothilfe zukommen lassen. Noch besser ist es natürlich, wenn sie sich darüber hinaus als Mitstreiter im Einsatz für mehr Religionsfreiheit erweisen. In Deutschland haben wir eine lange Tradition der Zusammenarbeit mit den christlichen Kirchen, wenn es darum geht, bessere Lebensperspektiven zu schaffen. Sie verfügen über Kontakte in der ganzen Welt. Ja, sie sind Botschafter des Christentums. Aber sie sind eben auch Botschafter der Religionsfreiheit – eines Rechts, das der unteilbaren Würde des Menschen entspringt, der nach christlichem Verständnis zur Freiheit berufen ist. Meine Damen und Herren, schon allein die Tatsache, dass Sie – noch dazu in solch beeindruckender Vielfalt – an dieser Konferenz teilnehmen, weist auch Sie als Botschafter der Religionsfreiheit aus. Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihr Kommen und für Ihren Einsatz. Ich wünsche mir und hoffe, dass dieses Treffen Ansporn ist und Sie daraus Gewinn ziehen für Ihr weiteres Engagement für eine Sache, die das Innerste des Menschen berührt. Dass es inzwischen ein so starkes Netzwerk gibt, verleiht Kraft, Mut und Zuversicht. Deshalb sage ich einfach: Danke.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum Relaunch der Internetseite fragFINN.de
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-relaunch-der-internetseite-fragfinn-de-465738
Mon, 12 Sep 2016 11:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Als ARD-Kinderreporter vor ungefähr zehn Jahren Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu Internet und Computer befragten, verschlug es den kleinen Nachwuchsjournalisten glatt die Sprache: Einige der geplanten Fragen konnten sie den Politikern gar nicht erst stellen, weil denen schon die elementarsten Grundkenntnisse fehlten. Die wenigsten Interviewten wussten zum Beispiel, was genau sich hinter einem Browser verbirgt. Und Michael Glos, damals Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, erklärte: „Ich habe Gott sei Dank Leute, die für mich das Internet bedienen.“ Mittlerweile haben wir alle dazu gelernt. Doch selbst wenn viele Kolleginnen und Kollegen heute in den sozialen Netzwerken aktiv sind, zum politischen Tagesgeschehen twittern und gerne auch mal Fotos ihres Mittagsmenüs posten – mit den Jüngsten, den „digital natives“, können wir nur schwer mithalten, wachsen Kinder heute doch ganz selbstverständlich mit dem Internet auf, bedienen Smartphones, Tablets und Apps geradezu intuitiv. Wie sie lernen, sich in dieser digitalen Welt der unbegrenzten Informations- und Unterhaltungsangebote zurechtzufinden, das fragen sich Eltern, Großeltern und Lehrer dabei oft eher besorgt: Schließlich kursieren im World Wide Web nicht nur lustige Katzenfotos und Videos, sondern auch verstörende Bilder, sind soziale Netzwerke nicht nur Plattformen für Unterhaltungen mit Freunden, sondern auch für Mobbing, Belästigung, Gewalt und andere Abgründe. Um deshalb im Internet einen sicheren Surfraum gerade für Kinder anzubieten, hat mein Haus 2007 mit der Unterstützung durch Politik, Wirtschaft und Institutionen des Jugendmedienschutzes die Initiative „Ein Netz für Kinder“ ins Leben gerufen. Sie wird von zwei Säulen getragen: Erstens, der gleichnamigen Förderung meines Hauses und zweitens, der von Unternehmen finanzierten Kindersuchmaschine fragFINN. Das war und ist eine vorbildliche Initiative und Zusammenarbeit! Die geförderten Angebote im „Netz für Kinder“ bieten nicht nur kindgerechte und sichere Websites, sondern sie helfen Jungen und Mädchen in moderierten Chats und Communities auch dabei, die verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten sozialer Netzwerke in einem sicheren Umfeld auszuprobieren. Websites zum Mitmachen vermitteln den jungen Nutzerinnen und Nutzern darüber hinaus auch Kenntnisse der digitalen Technik: Sie können eigene Hörspiele, kurze Trickfilme, Homepages und Podcasts gestalten oder als Dichter, Tüftler, Maler und Bastler mit den eigenen Fähigkeiten und Ideen experimentieren. Auf all diese wunderbaren Internetseiten führt auch die Kindersuchmaschine „fragFINN“ – und sie findet zusätzlich Angebote, die von Medienpädagogen geprüft wurden – etwa die Seiten der Vereinten Nationen oder des Deutschen Bundestages. Dass heute eine Rundum-Erneuerung der beliebten Kindersuchmaschine an den digitalen Start geht, haben wir dem großen Einsatz der Initiatoren und Unterstützer zu verdanken, die sich mit so viel Ernsthaftigkeit und Herzblut für fragFINN engagieren. Herzlichen Dank Ihnen allen dafür! „Der Mensch soll lernen, nur die Ochsen büffeln“, hat Erich Kästner einmal gesagt. In diesem Sinne lädt fragFINN Kinder ein, die digitale Welt zu entdecken und in einem geschützten Surfraum selbständig die ersten Schritte im Internet zu tun. Mit dem Relaunch der Kindersuchmaschine – inklusive dazugehöriger App und neuer Bildersuche – ist fragFINN.de wieder richtig zeitgemäß, kann zu Hause und unterwegs, am Computer, Laptop oder Smartphone genutzt werden. Dass das nun auch barrierefrei geht, finde ich großartig! Allen Menschen, Kindern wie Erwachsenen, einen gleichberechtigten Zugang zu Kultur und Medien zu gewähren, ist mir ein Herzensanliegen. Mit fragFINN können zum Beispiel sehbehinderte Kinder mit Hilfe der Vorlesefunktion das Internet nun ebenso entdecken wie hörbehinderte Kinder dank Video-Untertitelung und Audiodeskription. Ich bin jedenfalls sehr gespannt, was fragFINN.de noch zu bieten hat und freue mich auf die weitere Zusammenarbeit mit allen Beteiligten! Der kleinen Raupe „Finn“ wünsche ich viele interessierte Besucherinnen und Besucher, vor allem aber den Kindern viel Spaß beim Erkunden der spannenden digitalen Welt und beim „Lernen ohne Büffeln“!
Beim Relaunch der Internetseite fragFINN.de hat Kulturstaatsministerin Grütters die Kindersuchmaschine als Angebot für sicheres Surfen gelobt. Kinder könnten so „selbständig die ersten Schritte im Internet tun und die digitale Welt entdecken.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Festakt „100 Jahre Deutscher Landkreistag“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-festakt-100-jahre-deutscher-landkreistag–393422
Thu, 08 Sep 2016 16:10:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident Sager, sehr geehrter Herr Professor Henneke, sehr geehrte Damen und Herren aus dem Präsidium des Deutschen Landkreistags, sehr geehrte Landrätinnen und Landräte! Ich darf vielleicht diejenigen aus meinem Bundestagswahlkreis ganz besonders begrüßen: den früheren Landrat Herrn Molkentin, den heutigen Landrat Herrn Drescher. Die Frau Landrätin, von deren Landkreis ich ein kleines Stück als Wahlkreis habe, begrüße ich natürlich auch. Ich begrüße ebenso die Abgeordneten, den Bundesratspräsidenten, lieber Stanislaw Tillich, den Herrn Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Herrn Professor Kirchhof. Meine Damen und Herren, herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum des Deutschen Landkreistags! Dass Sie ausgerechnet in einer kreisfreien Stadt feiern, hat wohl gute Gründe. Berlin ist schließlich Gründungsort des Landkreistags bzw. seiner Vorläuferorganisation. Auf den Tag genau vor 100 Jahren haben Landkreisvertreter im Preußischen Abgeordnetenhaus – das Berliner Abgeordnetenhaus hat heute Sitzung; Herr Professor Henneke hat mir gesagt, dass Sie sonst dort sein würden – ihren eigenen Verband ins Leben gerufen: den Verband der preußischen Landkreise, später Preußischer Landkreistag genannt. Heute findet sich nur wenige Straßenzüge von hier das Ulrich-von-Hassell-Haus, das Ihnen als Hauptgeschäftsstelle dient. Der Name Ulrich von Hassell ist mit den Anfängen des Deutschen Landkreistags eng verbunden. Er war der erste Direktor, als die Geschäftsstelle des Verbands im Januar 1917 ihre Arbeit aufnahm. In seinen Erinnerungen schrieb er darüber: „Ich mietete also ein Büro […], kaufte einen Schreibtisch und einiges andere und spannte meinem Schwiegervater eine gute Sekretärin aus. Nun konnte es losgehen.“ Und wie es losging. Schließlich galt es, inmitten der Not des Ersten Weltkriegs den besonderen Anliegen in den Landkreisen mehr Gehör zu verschaffen. Denn – das kann man sich leicht vorstellen – es lastete gehöriger Druck auf ihnen angesichts der Knappheit an Nahrungsmitteln und anderen Waren des täglichen Bedarfs. Auch nach dem Krieg mangelte es nicht an Bewährungsproben. Doch kaum war der Nationalsozialismus in Deutschland an der Macht, wurde die Verbandsarbeit auf gesetzliche Anordnung hin untersagt. In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals an Ulrich von Hassell erinnern. Er beteiligte sich am Widerstand. Nach dem 20. Juli 1944 wurde er verhaftet, verurteilt und hingerichtet. Beim Wiederaufbau unseres Landes in den Nachkriegsjahren kam den Landkreisen wieder große Verantwortung zu. Bundeskanzler Konrad Adenauer erinnerte 1960 bei einer Landkreis-Versammlung daran: „Als der Zusammenbruch im Jahre 1945 kam, da haben gerade die Gemeinden und die Landkreise sich als Träger des letzten Restes staatlicher Hoheit in so ausgezeichneter Weise bewährt, dass ihnen das niemals vergessen werden darf.“ Mit den sich im Lauf der Jahrzehnte ändernden Lebensumständen und politischen Verhältnissen sahen sich die Kommunen in Deutschland immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt. So spiegelt sich die wechselvolle Vergangenheit Deutschlands auch in der Geschichte des Deutschen Landkreistags wider. Kommunale Verwaltungen sind mit den jeweiligen regionalen Gegebenheiten vertraut und an den Interessen der Bevölkerung vor Ort orientiert. Zugleich bekommen sie die Folgen allgemeiner Entwicklungen und politischer Weichenstellungen im Bund und in Europa konkret zu spüren. Kurz gesagt: Sie erleben Großes im Kleinen – und können zugleich im Kleinen Großes bewirken. Darin liegt ihre Stärke. Diese Stärke haben Gemeinden, Städte und Landkreise auch bei der Aufnahme von Flüchtlingen unter Beweis gestellt. Sie haben oft weit mehr geleistet, als man von ihnen verlangen konnte. Deshalb möchte ich die Gelegenheit nutzen, um den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Kommunen nochmals für ihr außerordentliches Engagement zu danken. Etliche waren bereit, viel Freizeit einzusetzen. Ich danke auch den vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern vor Ort. Ich danke den kommunalen Politikern, die sich dem Gemeinwohl und einem guten Miteinander in ihren Heimatkreisen und Heimatorten verpflichtet sehen. Was vor allem im vergangenen Jahr und auch noch immer geleistet wird, ist wirklich beeindruckend. Jetzt stehen Fragen der Integration im Mittelpunkt. Wie gut die Integration jedes Einzelnen gelingt, hängt natürlich von ihm selbst und von seinem unmittelbaren Umfeld ab: Gibt es eine Offenheit, neue Nachbarn kennenzulernen, sich aufeinander einzulassen, sich zum Beispiel in Vereine einbringen zu können? Gelingen Behördengänge und die Aufnahme der Kinder in den Schulen? Gibt es eine Chance auf Arbeit oder Ausbildung? Um zufriedenstellende Antworten auf solche Fragen zu finden, sind alle Ebenen unseres föderalen Systems gefordert. Das ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Dementsprechend – Sie haben es eben gesagt, Herr Sager – pflegen wir – Bund, Länder und Kommunen – einen engen Austausch über dieses breite Themenfeld. Sie haben geschickterweise alle Ebenen hierher eingeladen, sodass man gar nicht übereinander lästern, sondern nur gut übereinander sprechen kann. Aber ich verrate keine Geheimnisse, wenn ich sage: Das produktive Miteinander lebt auch manchmal davon, dass es gewisse Spannungen gibt – sowohl dann, wenn der Bund den Ländern einreden möchte, dass sie die Kommunen oder die Landkreise nicht immer gut behandeln, als auch dann, wenn die Länder dem Bund sagen, dass wir mehr für sie tun müssen. Wir haben deshalb immer wieder Gespräche geführt – in den vergangenen Jahren sowieso, aber im vergangenen Jahr ganz besonders. Das, was ich an diesen Gesprächen schätze – auch wenn es unter den kommunalen Spitzenverbänden manchmal sogar unterschiedliche Meinungen gibt –, ist ihr Sachverstand, ihre absolute Vor-Ort-Kenntnis, verbunden mit der Fähigkeit, genau zu beurteilen: Was können wir leisten, was kann man am besten leisten, wie sind die Dinge aufgestellt? Dennoch will ich hier in Anwesenheit des Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts sagen, dass das föderale System es einem manchmal schwer macht, Gutes zu tun. Wir haben jahrelang über das Konnexitätsprinzip gesprochen. Gerade auch in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion – Ingbert Liebing weiß das – hat das immer eine große Rolle gespielt. Aber wenn man einmal etwas richtig Gutes tun möchte und ganz sicher sein möchte, dass dies auch auf der kommunalen Ebene ankommt, sind uns die Hände gebunden. Wir sind an den guten Willen der Länder, der natürlich vorausgesetzt wird, sozusagen gekettet – und ehrlich gesagt: in welche Richtung auch immer wir uns bewegen. Als es sozusagen noch mehr Durchgriffsmöglichkeiten für den Bund gab – mit der Folge finanzieller Belastungen für die kommunale Ebene –, war das nicht perfekt. Heute dürfen wir sozusagen gar nichts mehr richtig anrühren; und das ist auch nicht ganz perfekt. Das heißt, das föderale System zwingt um des praktischen Handelns willen eigentlich zur permanenten Kooperation. Das wird ja auch vielleicht so insinuiert. Wir sprechen bei unseren Treffen offen darüber, was gut und was weniger gut funktioniert, welche Regelungen sich bewähren. Gerade im Zusammenhang mit dem Integrationsgesetz, was Fragen der Unterbringung und vieles andere mehr anging, waren solche Besprechungen sehr wichtig. Meine Damen und Herren, wir versuchen, die Aufgaben, die sich uns mit den Flüchtlingen stellen, mit einer Verbesserung der Situation insgesamt zu verbinden. Es gibt natürlich auch Spannungen zwischen denen, die schon lange in den Landkreisen leben und auf vieles warten, und auf der anderen Seite denen, die als Flüchtlinge neu hinzugekommen sind. Wir sehen auch, dass es sehr unterschiedliche Belastungen der einzelnen Landkreise gibt. Deshalb war eine solch heikle Aufgabe wie die Frage der Wohnsitzzuweisung etwas, worüber wir sehr intensiv miteinander gesprochen haben. Ich weiß, dass noch viele Detailgespräche geführt werden müssen, damit das wirklich klappt. Ich weiß, dass wir, auch was Integrationskurse anbelangt, noch besser werden müssen. Auch hierbei gibt es eine enge Zusammenarbeit zwischen den Kommunen und dem Bund. Natürlich ist eine der brennenden Fragen der nächsten Jahre – jedenfalls in bestimmten Regionen Deutschlands – das Thema Wohnraum. Deshalb stellen wir für die nächsten Jahre erhebliche Mittel für den Wohnungsbau bereit – zusätzlich jeweils 500 Millionen Euro 2017 und 2018. Mir scheint im Augenblick mit das drängendste Problem die Frage zu sein, ob wir auch hinreichende Planungs- und Architektenkapazitäten haben. Wenn man sieht, wie Wohnungsbau mit Flächenordnung und vielem anderen zusammenhängt, dann sieht man auch, dass sich daraus schon wieder eine zum Teil sehr komplizierte Aufgabe ergibt. Das heißt also, auch unser Gespräch in drei Wochen wird nicht in Langeweile versanden, sondern wahrscheinlich ganz munter stattfinden. Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten Jahren – das betrifft die beiden großen Koalitionen und auch die Zeit der Regierung mit der FDP – Erhebliches getan, um Kommunen immer wieder zu entlasten und ihre Investitionsfähigkeit zu stärken. Wir haben dabei natürlich immer wieder Kompliziertes zu bedenken. Ich will einmal das Spannungsverhältnis nennen, das sich mit dem Königsteiner Schlüssel und der jeweiligen realen Situation vor Ort ergibt. Ich denke, dieses Spannungsverhältnis wird noch schwieriger werden, wenn der demografische Wandel voranschreitet. Wir sehen, dass die Situationen der einzelnen Landkreise natürlich teils sehr unterschiedlich sind. Es gibt solche, die an Bevölkerung verlieren und trotzdem die Leistungen der Daseinsvorsorge weiter erbringen müssen. Und es gibt andere, einschließlich vieler städtischer Regionen, die einen Zuzug haben. Das zu beachten und gerecht zu entscheiden, wer wie viel Unterstützung bekommt, ist eine schwierige Frage. Deshalb stehen wir immer wieder in einem Spannungsfeld. Sollen wir den Ländern etwas mehr Umsatzsteueranteile geben, womit sie dann sozusagen Gutes tun? Oder soll der Bund dort, wo er nach Anhörung der kommunalen Spitzenverbände etwas Wichtiges tun zu müssen glaubt, einen Weg finden, sozusagen spezifisch sektoral- und aufgabenbezogen etwas zu überweisen. Wir sehen: Sie haben einen Überschuss von insgesamt rund 3,1 Milliarden Euro. Das hören Sie nicht so gern, weil – das habe ich einmal beim Deutschen Städtetag gelernt – der Durchschnittswert der Temperatur herzlich uninteressant ist, wenn es an einer Stelle zu heiß und an einer anderen Stelle viel zu kalt ist. Aber man darf trotzdem sagen, dass es schon schlimmere Zeiten gab, als nämlich im Durchschnitt keine Überschüsse erwirtschaftet wurden. Wir wissen natürlich, dass sich die finanzielle Lage in vielen Regionen weiterhin schwierig gestaltet. Deshalb haben wir eigens einen Sonderfonds in Höhe von 3,5 Milliarden Euro geschaffen, um Investitionen in finanzschwachen Regionen zu fördern. Wir stellen Mittel für den Breitbandausbau in den ländlichen Regionen in Höhe von insgesamt 2,7 Milliarden Euro bereit. Ich denke, das kommt ganz besonders den Landkreisen zugute. Wir haben erhöhte Regionalisierungsmittel zur Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs – eine schwierige und langfristige Aufgabe, bei der wir auch eine Lösung gefunden haben. Wir haben erhebliche Hilfen beim Ausbau der Kinderbetreuung gegeben. Ich denke, der systemisch wichtigste Schritt waren die vollständige Übernahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie die Beteiligung an den Kosten der Unterkunft im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Der Anteil des Bundes an diesen Kosten wird sich künftig noch erhöhen. Ab 2018 werden sich die zusätzlichen Entlastungen auf jährlich fünf Milliarden Euro belaufen. Ich hoffe auf Ihre Zustimmung, dass Sie niemals eine Bundesauftragsverwaltung wollen. Wir müssen unter 50 Prozent bleiben. (ZURUF: Wir stimmen zu.) – Sie stimmen zu. Das nehme ich jetzt mal für die nächsten hundert Jahre als gegeben. – Wir haben ein neues Bundesteilhabegesetz beschlossen. In die Erarbeitung des Gesetzentwurfs hat sich natürlich auch der Deutsche Landkreistag engagiert eingebracht. Dafür danke ich Ihnen. Das gehört mit zu den schwierigsten Gesetzgebungsvorhaben, die man sich vorstellen kann. Auf der einen Seite geht es um Menschen mit Behinderungen. Diese Gruppe hat es schwer in unserer Gesellschaft. Wir wollen natürlich verbesserte Leistungen anbieten. Auf der anderen Seite geht es um Kostenbelastungen. Beides in eine gute Balance zu bringen, ist nicht ganz einfach. Hinzu kommt noch, dass die Kompetenzen bzw. die Finanzströme in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich geregelt sind, sodass wir auf unterschiedliche Kooperationen stoßen. Auf der einen Seite geht es also den Betroffenen um Leistungsverbesserungen. Diese gehen in der Regel nicht weit genug. Auf der anderen Seite müssen wir darauf achten, dass die Kostendynamik nicht überhandnimmt. Deshalb denke ich, dass der jetzt eingebrachte Entwurf ein tragfähiger Kompromiss ist, wohlwissend, dass mit der Entlastung der Kommunen dem Bund hohe finanzielle Bürden zukommen. Wir dämpfen die Kostendynamik für Sie schon ganz schön. Ich hoffe, dass wir konstruktive Beratungen mit dem Bundesrat haben. Wir wissen, dass dieses Gesetz dann vor allen Dingen auf der kommunalen Ebene vollzogen wird. Im Übrigen will ich an dieser Stelle sagen – Sie kennen sich ja in Ihren einzelnen Landkreisen aus –, dass die Unterschiede in der Ausgabenstruktur erheblich sind, obwohl wir gleiche Standards haben. Man lässt uns an den verschiedenen Diskussionen meistens nicht teilhaben, aber es gibt natürlich viel Spannendes, worüber Sie sich untereinander auch im Sinne von „best practice“ austauschen können. Mir ist allerdings auch bekannt, dass bestimmte Preise in den unterschiedlichen Ländern eben unterschiedlich sind. Sie, Herr Landrat Reinhard Sager, sorgen immer dafür, dass wir für die Anliegen Ihrer Kolleginnen und Kollegen im Landkreistag sensibilisiert werden. Herr Professor Henneke tut das genauso. Ich möchte Ihnen dafür danken, weil Sie es auf eine Weise tun, die immer Anlass gibt, nach konstruktiven Lösungen zu suchen. Sie wissen um die Befindlichkeiten vor Ort. Das können wir gar nicht so gut wissen. Sie wissen, was Bürgernähe ausmacht. Deshalb vermute ich, dass unser Dialog in den nächsten Jahren noch intensiviert werden muss. Wenn Bürgerinnen und Bürger mit staatlichen Behörden in Kontakt treten, dann sind dies ja zumeist kommunale oder kommunal mitverantwortete Einrichtungen. Sie haben von den Jobcentern gesprochen. Die Arbeit der Jobcenter gewährleisten die Landkreise und kreisfreien Städte in der Regel zusammen mit den örtlichen Agenturen für Arbeit. Eine begrenzte Anzahl von Kommunen verantwortet die Aufgaben der Jobcenter allein. Ich würde gern einmal Mäuschen spielen; oder vielleicht können wir auch einfach einmal darüber sprechen, welche Erfahrungswerte Sie aus den unterschiedlichen Rückmeldungen der doppelten und der einzelnen Zuständigkeiten gewonnen haben. Wir haben lange um einen politischen Kompromiss gerungen, den wir dann endlich 2010 mit der Jobcenter-Reform gefunden haben. Ich denke, insgesamt hat sich das bewährt. Aber das Wohl und Wehe und die Akzeptanz vor Ort hängen natürlich sehr stark von Ihnen ab. Natürlich kann alles noch besser werden. Oft prägt der Kontakt mit den Ämtern vor Ort das Bild vieler Bürgerinnen und Bürger von dem Staat und der Verwaltung. Deshalb wird uns das Thema Modernisierung der Verwaltung im Zeitalter der Digitalisierung noch sehr stark beschäftigen. Ich habe kürzlich Estland besucht. Das ist ein kleines Land und verfügt nicht über eine so föderale Struktur wie unser Land. Aber ich habe mir die Gegebenheiten angeschaut, die dort die Bürger haben, um Amtsgänge und Verwaltungsverfahren elektronisch abzuwickeln. Der Schlüssel bei uns kann nur – auch wenn das im Föderalismus nicht direkt angelegt ist – sein: ein Portal für den Bürger, von dem aus er auf die verschiedenen föderalen Ebenen geleitet wird. Interessanterweise haben wir aus der Not in der Verwaltung im Flüchtlingsbereich schon eine solche Vernetzung geschaffen – vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bis zu den Ausländerbehörden – und dabei auch eine ungefähre Vorstellung davon gewonnen, wie viele Schnittstellen unterschiedlicher IT-Technik man zu überwinden hat. Aber das Interessante ist, dass man sie überwinden kann. Der Bürger merkt das zum Schluss gar nicht mehr. Ich finde, wir sollten gerade auch im Zusammenhang mit dem Bund-Länder-Finanzausgleich noch einmal darüber sprechen, dass wir etwas schneller vorankommen. Denn die Welt um uns herum schläft nicht. Ich möchte wirklich nicht, dass wir eines Tages im digitalen Bereich eine Art – in Anführungszeichen – „Entwicklungsland“ werden, sondern dass wir vorne mit dabei sind. Gerade mit Blick auf die vielen notwendigen Kreisgebietsreformen und auf die Frage der Konzentration von Behörden ist es für die Menschen natürlich unglaublich wichtig, keine ewig langen Wege zu haben, sondern die Vorgänge schnell abwickeln zu können. Ich sage ganz vorsichtig: Selbst in einer Stadt wie Berlin, in der die Wege zum nächsten Bürgeramt nicht allzu lang sind, ist mir noch nicht zu Ohren gekommen, dass alles ausschließlich ganz schnell funktioniert. Also bin ich sehr froh, dass wir auch zusammen mit dem Landkreistag das Pilotprojekt „Modellkommune E-Government“ aufgelegt haben. Die Landräte aus Cochem-Zell, dem Heidekreis und dem Ortenaukreis wissen besonders gut, wovon ich spreche. Denn sie machen dabei mit. Die Modellkommunen konnten in den beiden vergangenen Jahren viele Erfahrungen sammeln, die sie nun hoffentlich weitergeben. Wir wollen jetzt die Lehren aus diesem Modellprojekt ziehen. Die Ergebnisse des Pilotprojekts zeigen aber durchaus, unter welchem Druck kommunale Verwaltungen stehen. Sie arbeiten im Spannungsfeld sehr hoher gesellschaftlicher Erwartungen und Ansprüche sowie sehr komplexer Aufgaben einerseits und begrenzter Ressourcen andererseits. Deshalb wollen wir dafür sorgen, dass wir beim E-Government schnell vorankommen und in Europa nicht zu den Letzten gehören. Meine Damen und Herren, wir haben – das verfolgen Sie auch im Ausschuss der Regionen in der Europäischen Union sehr interessiert – im Augenblick eine ziemlich schwierige Situation in Europa durch die Entscheidung der britischen Wählerinnen und Wähler für einen EU-Austritt. Das ist ein Einschnitt in der Geschichte der Europäischen Union. Wir müssen jetzt sehen, welches Verhältnis Großbritannien zur Europäischen Union bekommen will. Wir müssen vor allen Dingen auch als 27 Mitgliedstaaten – wir werden uns dazu in der nächsten Woche in Bratislava treffen – unsere Aufgaben noch besser, noch schneller und noch effizienter erfüllen. In vielen Gesprächen mit meinen Kolleginnen und Kollegen aus den Mitgliedstaaten habe ich gemerkt, dass niemals infrage gestellt wird, dass Europa ein Projekt des Friedens und der Sicherheit ist und dass wir dafür arbeiten müssen, dass es ein Projekt des Wohlstands ist. Aber wir müssen auch darauf schauen, dass die Abläufe nicht zu komplex werden und sich Europa nicht um Dinge kümmert, die, wie viele meinen, vor Ort besser gelöst werden könnten. Gerade auch Deutschland hat mit dem Subsidiaritätsprinzip gute Erfahrungen gemacht. Ich verhehle auch nicht, welche Komplexität daraus erwächst und welche Schwierigkeiten es dabei manchmal gibt. Aber Zentralisierung ist mit Sicherheit nicht die Antwort, die am bürgerfreundlichsten ist. Diesen Gedanken werden wir auch bei den zukünftigen Beratungen in Brüssel immer wieder einbringen. Meine Damen und Herren, ich darf sagen, dass der Deutsche Landkreistag für die Bundesregierung ein unentbehrlicher Partner ist. Dass Sie auf eine hundertjährige Geschichte zurückblicken, spricht für sich. Ich wünsche mir einfach: Lassen Sie uns die gute, konstruktive, manchmal auch ein bisschen kontroverse, aber immer produktive Zusammenarbeit fortsetzen. Ihnen alles Gute, viel Erfolg und jedem einzelnen Landrat und jeder einzelnen Landrätin, die heute hier ist, ein herzliches Dankeschön für Ihre tägliche Aufgabenerledigung! Ich sage immer: Wenn es gut geht, komme ich alle vier Jahre in eine bestimmte Stadt, in einen bestimmten Ort. Sie sind, um es übertragen zu sagen, vor Ort bekannt wie bunte Hunde. Sie können sich nicht wegducken. Sie werden gefragt: Was ist los, was ist passiert? – Dafür fast 24 Stunden pro Tag geradezustehen, ist eine tolle Arbeit. Danke schön!
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters in der Haushaltsdebatte
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-in-der-haushaltsdebatte-747766
Wed, 07 Sep 2016 12:10:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Jetzt kommen wir zum Bereich Kultur, der auch zum Kanzleramt gehört. In Zeiten, in denen die Kunst der Diplomatie angesichts weltweiter Krisen und Konflikte zuweilen an ihre Grenzen stößt, ist mehr denn je ‑ davon sind wir überzeugt ‑ die Diplomatie der Kunst und Kultur gefragt. Der Aufwuchs von 74 Millionen Euro im Kulturetat im Vergleich zum Regierungsentwurf des Vorjahres ist deshalb innen-, aber, ehrlich, auch außenpolitisch ein wichtiges Signal. Ich bin überzeugt: Gerade in Zeiten, in denen harte Interessenkonflikte politische Beziehungen auf große Bewährungsproben stellen, ist es nicht zuletzt, sondern gerade die Kultur, die Brücken baut. Wo Diplomaten ‑ frei nach Winston Churchill ‑ zweimal nachdenken, bevor sie nichts sagen, ist die Kunst ‑ diesmal frei nach Johann Wolfgang von Goethe ‑ gerade die Vermittlerin des Unaussprechlichen. [Video] Ein Weltkulturmuseum, das die Verständigung zwischen den Kulturen über ganz zentrale Themen des Menschseins fördert, entsteht aktuell – Sie wissen das – in der historischen Mitte unserer Hauptstadt, in Berlin, also dort, wo exakt heute auf den Tag genau vor 66 Jahren, am 7. September 1950, die Sprengung des Berliner Schlosses begann. Wir bauen es jetzt wieder auf und machen es im Zentrum zu einem Ort, an dem wir uns über die zentralen Themen der Menschheit verständigen wollen. Mit 14,3 Millionen Euro, die im Haushaltsentwurf 2017 für das Humboldt-Forum vorgesehen sind, ist es das größte und auch, glaube ich, politisch bedeutsamste Projekt und Kulturvorhaben Deutschlands. Es werden knapp 11 Millionen Euro mehr als im Vorjahr zur Verfügung gestellt, um die Bespielung vorzubereiten. Die Gründungsintendanz unter Neil MacGregor, einem ganz großer Europäer, arbeitet seit Anfang des Jahres und mit Hochdruck an einem, wie ich finde, sehr überzeugenden Konzept, das Anfang November vorgestellt wird. Auch die Unterstützung der Barenboim-Said-Akademie für junge Musikerinnen und Musiker aus dem Nahen Osten, die im kommenden Jahr aus meinem Etat dauerhaft 5,5 Millionen Euro erhalten soll, ist nicht einfach nur ein Stück Kulturförderung wie andere auch. Sie darf durchaus auch als ein Beitrag der Bundesregierung zum Friedensprozess im Nahen Osten verstanden werden. Wir vertrauen dabei auf die Sprache der Orchestermusik, also auf eine Sprache, die mehr als jede andere des Zuhörens und Einfühlens bedarf und die als einzige Sprache im Übrigen über den Verdacht einseitiger Parteinahme erhaben ist. Auf die Kraft des unabhängigen Journalismus müssen wir gerade dort bauen, wo politische Krisen mit Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit einhergehen. Wir können das täglich erleben. Die Deutsche Welle, deren Finanzierung den größten Teil meines Etats beansprucht, ist gerade in Krisenregionen und in autoritär regierten Staaten für viele Menschen die letzte Verbindung in die freie Welt. Umso irritierender und auch bedauerlicher ist es, dass die chinesische Regierung vor einigen Tagen die Akkreditierung der Deutschen Welle für den G-20-Gipfel in Hangzhou verweigert hat. Ein Land, das die freie Berichterstattung in dieser Weise einschränkt, unterstreicht allerdings genau damit, wie wichtig die Deutsche Welle als Botschafterin unseres demokratischen Rechtsstaats ist. Auch die Beschlagnahme des Materials nach einem fertiggestellten Fernsehinterview mit einem Minister wie gestern in der Türkei entspricht in keiner Weise unserer Vorstellung von Pressefreiheit. Eine solche Beschlagnahme ist in hohem Maße besorgniserregend. Deshalb ist es richtig, dass wir die Deutsche Welle in ihrem Etat und damit auch in ihrer Arbeit stetig unterstützen. Nur allein für die Programme der Deutschen Welle stellen wir 2017 zusätzlich 7,5 Millionen Euro bereit. Sie dienen ganz besonders der Berichterstattung – ich komme zu den nächsten problematischen Ländern – über die Situation in Russland und der Ukraine, aber auch der Fortsetzung der Programme für Flüchtlinge und für Menschen in den Herkunftsländern der Fluchtbewegung. Die Deutsche Welle tritt mit ihren objektiven Angeboten den vielerorts kursierenden Gerüchten entgegen, die Schlepper systematisch verbreiten, um Menschen mit falschen Hoffnungen und Erwartungen nach Europa und auch nach Deutschland zu locken. Gleichzeitig erklärt und vermittelt sie den Schutzsuchenden, die schon hier sind, unsere Werte, deren Beachtung wir erwarten. Sie unterstützt mit Onlinesprachangeboten und -kursen die Integration. Kultur ist in vielerlei Hinsicht unser stärkster Integrationsmotor. Ich bin überzeugt: Kultur öffnet Welten. Fremde Lebenswelten zugänglich machen, individuelle Gesichter und persönliche Geschichten zeigen, damit ein abstraktes Thema Gestalt annimmt, und damit dann auch ein sehr breites Publikum zu erreichen, das kann vor allem der Film. Ich freue mich deshalb, dass auch 2017 neben der Förderung durch den DFFF zusätzlich 15 Millionen Euro für die kulturelle Filmförderung, also für künstlerisch herausragende, mutige und innovative Projekte, zur Verfügung stehen. Ja, Kulturpolitik kann man durchaus – das sagt auch das Auswärtige Amt in einer sehr schönen Formulierung immer – als Fortsetzung der Außenpolitik mit anderen Mitteln verstehen, meine Damen und Herren. Selbst die auf den ersten Blick rein selbstbezügliche Erinnerungskultur und Aufarbeitung unserer Vergangenheit wirkt weit über die Grenzen unseres Landes hinaus. Sie hat nicht zuletzt großen Anteil am mittlerweile wieder sehr hohen Ansehen Deutschlands in der Welt. In diesem Zusammenhang freut es mich, dass das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste sich schon so kurz nach der Gründung zu einer etablierten Größe auch in der Provenienzforschung, in der Aufarbeitung, in Fragen der Rückgabe entwickelt hat. Es erhält 2017 1 Million Euro zusätzlich, insgesamt also über 5 Millionen Euro. – So weit zu den ausgewählten Zahlen aus dem Haushaltsentwurf 2017. Nicht weniger wichtig, allerdings weniger erfreulich sind die Zahlen aus der von meinem Haus finanzierten Studie „Frauen in Kultur und Medien“, die ich nicht nur finanziert, sondern kürzlich auch vorgestellt habe. Ich werde noch in diesem Jahr zu einem Runden Tisch „Frauen in Kultur und Medien“ einladen. Es ist mir ein Herzensanliegen, dass Frauen wie Männer die gleichen Chancen in Kultur und Medien haben: ob am Sprech- oder Notenpult, ob an der Staffelei oder am Schreibtisch, ob vor oder hinter der Bühne oder der Kamera, ob in öffentlichen Kultureinrichtungen oder in ‑verbänden – und natürlich auch in meinem eigenen Haus, wo die Frauenquote schon bei 53 Prozent und auf den beiden obersten Führungsebenen mittlerweile bei exakt 50 Prozent liegt. Im Filmbereich – um das noch kurz anzuhängen – konnte ich im Rahmen der FFG-Novelle zumindest dafür sorgen, dass der bisher geradezu blamabel geringe Frauenanteil in den Gremien der FFA und in den Kommissionen künftig deutlich erhöht wird. Hier geht es nicht nur um Fragen der Gleichberechtigung – das ist nicht wenig -; es geht vor allem um den Verlust an künstlerischer und kultureller Vielfalt dort, wo Frauen weniger Chancen haben als Männer. Deshalb verbinde ich meine Bitte um Ihre Zustimmung zum Haushaltsentwurf 2017 mit dem Appell: Suchen Sie gemeinsam mit mir und uns nach Wegen, wie wir die gleichstellungspolitische Bilanz in Kultur und Medien ebenso kontinuierlich verbessern können, wie wir den Kulturetat in den vergangenen Jahren kontinuierlich erhöht haben! Vielen Dank.
Gerade in Zeiten, in denen harte Interessenkonflikte politische Beziehungen auf Bewährungsproben stellten, sei es die Kultur, die Brücken baue, erklärte Kulturstaatsministerin Grütters im Deutschen Bundestag. So entstehe etwa mit Humboldt Forum ein Weltkulturmuseum, „das die Verständigung zwischen den Kulturen fördert“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Deutschen Bundestag
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-deutschen-bundestag-791160
Wed, 07 Sep 2016 09:15:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Erinnern wir uns an die Generaldebatte vor einem Jahr: Sie stand damals ganz im Zeichen einer großen Fluchtbewegung nach Europa. Bis August des letzten Jahres waren bereits über 400 000 Flüchtlinge in Deutschland angekommen, und am 19. August gab der Bundesinnenminister eine Prognose ab, dass bis Ende des Jahres rund 800 000 Flüchtlinge kommen werden. In meiner Rede vor einem Jahr habe ich gesagt: Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher. Wir müssen Regelungen überdenken, Abläufe verbessern, Entscheidungen schneller fällen, national, europäisch und international. Hinter uns liegt ein Jahr, in dem uns vieles abverlangt wurde, in dem viele mit angepackt haben und viele über sich hinausgewachsen sind. Deshalb möchte ich als Erstes den vielen Haupt- und Ehrenamtlichen danken, die sich so eingesetzt haben, dass wir diese Situation bewältigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, hinter uns liegt ein Jahr voller Entscheidungen. Wir haben Regelungen getroffen, um die Situation zu steuern, zu ordnen und so die Flüchtlingszahlen auf Dauer zu reduzieren. Wir haben grundlegende Abläufe im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verändert, Entscheidungen werden schneller gefällt, wir haben eine bessere Asylgesetzgebung, Stichworte sind: Asylgesetzpakete I und II. Wir haben das Ganze als nationale Kraftanstrengung bezeichnet, und wir haben mit Kommunen und Ländern gemeinsam Lösungen gefunden, bei denen der Bund die Kosten der Unterkunft für Flüchtlinge übernimmt, eine jährliche Integrationspauschale von 2 Milliarden Euro für drei Jahre zahlt. Wir geben mehr für den Wohnungsbau aus, mehr für Kindertagesstätten – im Übrigen für alle Menschen in Deutschland, nicht nur für Flüchtlinge. Wir haben zum ersten Mal ein Bundesintegrationsgesetz. Dabei geht es um das Erlernen der Sprache, um das Kennenlernen der Rechtsordnung und der Kultur unseres Landes. Es gibt Integrationskurse für Asylbewerber mit guter Bleibeperspektive. Es gibt Angebote für alle, und es gibt auch Sanktionen, wenn diese Angebote nicht genutzt werden. Wir haben darüber hinaus für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit vieles verbessert und die Sicherheitsstrukturen gestärkt. Damit hatten wir schon vor den Anschlägen von Ansbach und Würzburg begonnen. Terrorismus ist kein neues Problem, das erst mit den Flüchtlingen gekommen ist. Weil aber auch nicht jeder Flüchtling in guter Absicht kommt, werden wir weitere Maßnahmen ergreifen, um die öffentliche Sicherheit in Deutschland zu stärken. Die Menschen dürfen von uns verlangen, dass wir das Menschenmögliche tun, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Wir werden bis 2018 rund 4 200 zusätzliche Stellen bei der Bundespolizei sowie 1 000 neue Stellen für die Sicherheitsbehörden des Bundes schaffen, zusätzliche Mittel für eine vernünftige Ausstattung, zeitgemäße Technik und eine moderne materielle Ausstattung ausgeben, und wir werden noch in diesem Herbst eine neue Cybersicherheitsstrategie bis 2020 verabschieden. Dies alles sind sehr wichtige Schritte, und die Situation heute ist um ein Vielfaches besser als vor einem Jahr, und zwar für alle. Aber es bleibt natürlich viel zu tun. Ein großes Problem sind die Rückführungen, der Vollzug der Ausreisepflicht für Menschen, die nicht hier bei uns bleiben können. Und mit Recht erwarten die Bürgerinnen und Bürger von uns, dass wir denen helfen, die Hilfe brauchen, dass wir aber auch denen, die kein Bleiberecht haben, sagen: Ihr müsst unser Land wieder verlassen, sonst können wir die Aufgabe nicht bewältigen. Und natürlich sind die Herausforderungen der Integration noch nicht abgeschlossen: Integration, was Sprache anbelangt, aber auch Integration in den Arbeitsmarkt. Hier ist vieles auf den Weg gekommen, aber hier bleibt auch noch viel zu tun. Wir haben uns bei dem, was wir getan haben, nicht nur auf die nationale Ebene konzentriert, sondern haben auch europäisch und international viel bewegt. Ja, es ist richtig: Die Solidarität innerhalb Europas lässt zu wünschen übrig. Hieran müssen wir weiter arbeiten. Aber es ist auch richtig, dass wir heute einen sehr viel besseren Schutz der EU-Außengrenzen haben als vor einem Jahr, indem wir Frontex vollkommen neu aufgestellt haben; es ist jetzt wirklich eine europäische Grenzagentur. Auch Deutschland hat hier seine Position verändert. Wir haben eine NATO-Mission in der Ägäis, und ja, wir haben ein Abkommen mit der Türkei verabschiedet, ein Abkommen zwischen der Europäischen Union, also 28 Mitgliedstaaten, und der Türkei. Ich will es noch einmal ganz deutlich sagen: Wenn die Türkei Menschenrechte verletzt, dann wird das beim Namen genannt. Wenn in der Türkei ein Militärputsch scheitert, dann sagen wir, dass es gut ist, dass der gescheitert ist, und dass es richtig war, dass die Menschen auf die Straße gegangen sind. Aber ich plädiere hier dafür, dass wir über die Frage, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie wir den Schutz unserer Außengrenzen und damit die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union sicherstellen, Einigkeit erreichen, wenn wir auch die Menschen draußen überzeugen wollen. Bei maritimen Grenzen, bei Seegrenzen, geht es nicht anders, als dass man mit dem Nachbarn spricht, wenn man die Menschen nicht ertrinken lassen will und den Schleppern nicht die Hoheit über die Geschäfte lassen will. Und das dürfen wir nicht. Das EU-Türkei-Abkommen ist in beiderseitigem Interesse. Es ist gut für viele Flüchtlinge, wenn sie in der Nähe ihrer Heimat bleiben können. Es ist richtig, dass wir Geld für die Beschulung und das Leben der Flüchtlinge an der türkisch-syrischen Grenze ausgeben. Und es ist richtig, dass wir auch die Illegalität bekämpfen, weil Schlepper und Schleuser mit den Menschen ein unglaubliches Spiel spielen. Und es ist, seitdem wir dieses Abkommen haben, so gut wie niemand mehr in der Ägäis ertrunken, während das in den ersten zwei Monaten noch Hunderte Menschen waren, Frauen und Kinder. Da kann man doch nicht zugucken, da muss man doch mit dem anderen Land eine Regelung finden. Deshalb ist das Abkommen mit der Türkei ein Modell für weitere solcher Abkommen, mit Ägypten, mit Libyen, wenn es eines Tages einmal eine vernünftige Regierung haben sollte, mit Tunesien und anderen Ländern, wo immer das notwendig ist, damit nicht Schlepper und Schleuser sozusagen über uns befinden können. Meine Damen und Herren, natürlich haben wir auch viel auf den Weg gebracht – aber noch längst nicht genug – in unserer Kooperation mit Afrika. Der gestiegene Entwicklungshaushalt spricht dafür. Wir haben den Valletta-Aktionsplan. Jetzt heißt es aber auch für die Europäische Union, das Ganze umzusetzen. Wenn wir über Europa sprechen, müssen wir vielleicht sowieso nicht so viel neu erfinden, sondern einfach das, was wir schon einmal beschlossen haben, umsetzen, und zwar schneller als bisher. Dann ist schon viel gewonnen für Akzeptanz für Europa. Deutschland hat sich bereit erklärt, zusammen mit Frankreich und Italien und der Europäischen Kommission eine Migrationspartnerschaft für Niger und Mali zu übernehmen. Durch Niger kommen 90 Prozent der Flüchtlinge, die dann in Libyen in See stechen. Deshalb ist das ein sehr sinnvoller Schritt. Wir haben bei der Londoner Konferenz endlich dafür gesorgt, dass die Flüchtlinge in Jordanien, im Libanon besser verpflegt werden, dass die Welternährungsorganisation ausreichende Mittel für dieses Jahr hat, und wir werden das für nächstes Jahr wieder sicherstellen. Natürlich ist noch viel zu tun. In Libyen ist die Lage absolut unzufriedenstellend. Der schreckliche Bürgerkrieg und der Kampf gegen den IS in Syrien fordern so viele Opfer. Es ist eine grauenvolle Lage. Ich kann nur hoffen, dass Russland und die Vereinigten Staaten von Amerika vorankommen bei der Einigung über einen Waffenstillstand, dass es aufhört, dass Krankenhäuser bombardiert werden, Ärzte zu Schaden kommen und die Menschen in Aleppo so schrecklich leiden. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Liebe Kolleginnen und Kollegen, insgesamt haben wir heute eine ganz andere Situation als zu der Zeit der Debatte vor genau einem Jahr. Sie ist geordneter, Regelungen wurden überdacht, Abläufe verbessert, Entscheidungen schneller getroffen. Wir haben die Ordnung und Steuerung der Flüchtlingsbewegung in Deutschland erreicht. Wir haben die Zahl der bei uns ankommenden Flüchtlinge deutlich reduziert. Wir kommen gleichzeitig national und international unserer humanitären Verantwortung nach, und das nicht nur in Sonntagsreden. Wir haben heute im Übrigen auch einen anderen Zustand, als wir ihn Mitte März hatten, als in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz gewählt wurde. Die Wahlen vor drei Tagen in Mecklenburg-Vorpommern und die Wahlen, die in zehn Tagen in Berlin stattfinden, finden unter anderen Voraussetzungen statt als die Wahlen im März. Und dennoch mussten wir vor drei Tagen einen Wahlsonntag erleben, an dem letztlich nur die AfD gewonnen hat, und zwar zweistellig. Sie hat allen anderen Parteien Prozente abgenommen, gar nicht so sehr in absoluten Stimmzahlen, indem sie vor allem auch Nichtwähler mobilisiert hat. Das hat dazu geführt, dass die Christlich Demokratische Union im Landtag hinter der AfD liegt. Uns alle treibt die Frage um: Wie gehen wir mit einer solchen Situation um? Wählerbeschimpfungen bringen gar nichts. Das ist auch nicht angebracht. Ich habe das noch nie richtig gefunden. Politiker, die wie wir Verantwortung tragen, sollten sich sowieso in ihrer Sprache mäßigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn auch wir anfangen, in unserer Sprache zu eskalieren, gewinnen nur die, die es immer noch einfacher und noch klarer ausdrücken können. Wenn wir anfangen, dabei mitzumachen, dass Fakten beiseitegewischt oder ignoriert werden können, dann sind verantwortbare und konstruktive Antworten in der Sache nicht mehr möglich. Wenn wir anfangen, uns sprachlich und tatsächlich an denen zu orientieren, die an Lösungen nicht interessiert sind, verlieren am Ende wir die Orientierung. Jeder von uns muss sich nach Wahlabenden wie dem vom Sonntag an die eigene Nase fassen, selbstkritisch schauen, was in Zukunft anders und besser gemacht werden kann. Das versteht sich von selbst, und es gibt ja auch noch genug Probleme zu lösen. Es versteht sich auch von selbst, dass Sorgen, ob nun begründet oder unbegründet, ernst zu nehmen sind, auch indem wir zeigen, dass das Ernstnehmen von Sorgen und das Erläutern von Fakten zwei Seiten ein und derselben Medaille sind, indem wir alle gemeinsam gut daran tun, zu erkennen, dass eine Partei wie die AfD nicht nur eine Herausforderung für die Christlich Demokratische Union ist – auch wenn deren Protagonisten das munter verbreiten und andere es mehr oder weniger gerne aufgreifen, zum Teil wider besseres Wissen –, sie vielmehr eine Herausforderung für uns alle in diesem Hause ist, meine Damen und Herren. Wenn wir untereinander nur den kleinen Vorteil suchen, um zum Beispiel irgendwie mit einem blauen Auge über einen Wahlsonntag zu kommen, gewinnen nur die, die auf Parolen und scheinbar einfache Antworten setzen. Ich bin ganz sicher: Wenn wir uns das verkneifen und bei der Wahrheit bleiben, dann gewinnen wir. Wir gewinnen dann so das Wichtigste zurück, was wir brauchen: Vertrauen der Menschen, und zwar indem wir uns über die eine Frage – ich halte sie für die zentrale – klar werden, im besten Sinne auch streiten und die besten Antworten suchen. Sie lautet: Welches Land wollen wir heute, im 21. Jahrhundert, sein? Welches Land wollen wir als größte Volkswirtschaft in der Europäischen Union sein? Welche Rolle wollen wir international spielen? Wie dienen wir unserem Land in diesen Zeiten der Globalisierung am besten? Wie erhalten wir unseren Wohlstand und arbeiten an einer guten Zukunft für Deutschland? Und wie geben wir den Menschen Halt und Orientierung und geben dem Druck zu vermeintlich einfachen Lösungen, die bestenfalls Scheinlösungen sind, gleichzeitig nicht nach? Und das in einer Zeit des demografischen Wandels, in einer Zeit, in der es so viele Flüchtlinge gibt, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie der Fall war, in Zeiten der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, in Zeiten, in denen die territoriale Unversehrtheit auch in Europa keine Selbstverständlichkeit mehr ist, wie wir es im Fall der Ukraine erlebt haben, in Zeiten, in denen das Austrittsreferendum Großbritanniens ein tiefer Einschnitt für die Europäische Union ist, in Zeiten, in denen einige Kontinente ein Freihandelsabkommen nach dem anderen abschließen und wir zögern, ob es CETA oder TTIP ist, in Zeiten, in denen viele Länder gerade von Deutschland eine wichtige Rolle erwarten, wie wir es jetzt wieder bei G 20 mit Händen greifen konnten. Deutschland ist wirtschaftlich stark und stabil. Deutschland hat trotz aller Probleme einen großen sozialen Zusammenhalt, und dieser soziale Zusammenhalt ist unser größtes Pfund. Meine Antwort auf die von mir gestellte Frage lautet: Wir dienen unserem Land in diesen Zeiten der Globalisierung am besten, wenn wir uns an unseren Werten orientieren, die uns zu dem gemacht haben, was wir heute sind – das ist Freiheit, das ist Sicherheit, das ist Gerechtigkeit und das ist Solidarität –, wenn wir den Menschen eine gute wirtschaftliche und soziale Perspektive geben, wenn wir die wirtschaftliche und soziale Stärke unseres Landes weiter ausbauen. Es ist jede Mühe wert, sich dafür mit ganzer Kraft einzusetzen. Die Ausgangslage dafür ist gut, und der Haushalt für das Jahr 2017 spiegelt genau das wider. Es ist ein Gestaltungshaushalt, in dem die Schwerpunkte so gesetzt sind, dass wir damit Antworten auf die Probleme unserer Zeit geben können. Dazu gehört, dass es zum dritten Mal ein Haushalt ist, der ohne Neuverschuldung auskommt. Und wir wissen: Es ist nicht die schwarze Null, von der immer geredet wird, sie hat nicht die Bedeutung, sondern es geht um die Tatsache, dass wir denen, die nach uns Haushalte aufstellen werden, Freiräume eröffnen und nicht die Schulden ansteigen lassen. Wir haben eine gute Wirtschaftslage. Der private Konsum ist im Übrigen der Treiber unseres Wachstums. Das zeigt: Die Menschen haben Vertrauen in die wirtschaftliche Entwicklung. Der Arbeitsmarkt ist in sehr guter Verfassung. Die Zahl der Arbeitslosen ist im August 2016 die geringste seit 25 Jahren. Die Zahl der Erwerbstätigen entwickelt sich positiv; inzwischen sind es 43,7 Millionen Menschen. Immer mehr Menschen finden eine Arbeitsstelle und haben teil am gesellschaftlichen Erfolg. Die Kaufkraft der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist 2016 genauso wie 2015 gestiegen. Es gibt kräftige Reallohnzuwächse. Das spiegelt sich auch in dem Anstieg der Renten wider: Wir hatten die höchste Anpassung der Renten seit 23 Jahren. Das BAföG ist zum 1. August um 7 Prozent gestiegen, mit dem Wohnzuschlag addiert sogar um fast 10 Prozent. Wir haben die guten Einnahmen genutzt, um die soziale Sicherheit zu stärken, und die Sozialausgaben steigen erheblich, von 171 Milliarden Euro im Jahre 2017 auf 187 Milliarden Euro im Jahre 2020. Das alles ist keine Selbstverständlichkeit. Das alles spiegelt sich in Maßnahmen wider: Maßnahmen für Langzeitarbeitslose, Verbesserungen im Ärzte- und Krankenhausbereich, in der Pflege, in der Rentenversicherung. Wir werden im Herbst noch weitere Schritte in der Koalition diskutieren. Aber eines geht nicht, Herr Bartsch, nämlich dass man sagt: Okay, wir gleichen die Renten derjenigen an, die in den neuen Bundesländern Renten beziehen, aber wir nehmen keine Angleichung bei denen vor, die heute Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind. – Wem wollen Sie eigentlich in den alten Bundesländern erklären, dass die Arbeitsstunde in den neuen Ländern höher bewertet wird als in den alten Ländern, aber die Rentner in den neuen Ländern genau dieselbe Rente bekommen wie in den alten? Das wird nicht klappen; das ist Spaltung. Damit zeigen Sie, dass Sie eben nicht Gesamtdeutschland im Blick haben. So kann man die Einheit nicht gestalten. Im Osten etwas versprechen und im Westen dann damit nicht auftreten, das geht auf gar keinen Fall. Meine Damen und Herren, wir investieren in die Zukunft unseres Wirtschaftsstandorts, weil wir wissen, dass der Rest der Welt auch nicht schläft. Wir investieren in Bildung und Forschung. Die Ausgaben hierfür steigen von 21,1 Milliarden Euro auf 22,7 Milliarden Euro. Seit 2005 haben wir die Forschungsausgaben nahezu verdoppelt. Wir haben die Exzellenzinitiative neu aufgelegt. Wir investieren in Infrastruktur und Verkehr jedes Jahr 2 Milliarden Euro mehr. Wir treiben den Breitbandausbau voran. Hier haben wir erhebliche Mittel ausgegeben: 1,3 Milliarden Euro für schnelles Internet. Wir investieren in strategisch wichtige Industriebereiche, zum Beispiel gemeinsam mit anderen europäischen Ländern in die Mikroelektronik. Das ist eine ganz wichtige strategische Investition für die Zukunft. Wir konzentrieren uns auf zwei große Herausforderungen. Das eine ist die Digitalisierung, Industrie 4.0, die Digitale Agenda der Bundesregierung. Wo immer man in Europa hinguckt, merkt man: Das wird sehr genau verfolgt und auch für absolut notwendig gehalten. Wenn es darum geht: „Wo muss Europa besser werden?“, wird diese digitale Entwicklung ein Kernbereich sein. Die Bundesregierung wird ein Open-Data-Gesetz vorlegen, mit dem wir zeigen, dass der Rohstoff der Zukunft Daten sind und daher das 21. Jahrhundert entsprechend gestaltet werden muss. Wir müssen in den nächsten Jahren im Übrigen die Digitalisierung unserer gesamten staatlichen Aktivitäten voranbringen. Wir haben heute einen Zustand, dass wir es geschafft haben, innerhalb eines Jahres alle föderalen Ebenen zu vernetzen, wenn es um das Kerndatensystem für Flüchtlinge geht. Aber von einem Kerndatensystem für Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sind wir noch weit entfernt. Das muss schnellstmöglich nachgeholt werden. E-Governance ist eine der ganz wichtigen Aufgaben. Ich würde gerne im Zusammenhang mit den Gesprächen über einen Bund-Länder-Finanzausgleich auch darüber sprechen, wie viel Kooperation wir brauchen; denn der Bürger in Deutschland interessiert sich nicht dafür, welche Ebene gerade zuständig ist, sondern er will einen Zugang für sich haben, um alles digital erledigen zu können, was man früher eben nicht konnte. Meine Damen und Herren, wir werden in die zukünftigen Strukturen investieren müssen, zum Beispiel in den 5G-Mobilfunkstandard, und das nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa; denn davon wird abhängen, ob das autonome Fahren und viele andere Anwendungen wie die Telemedizin überhaupt möglich sind. Der zweite große Bereich, in dem wir weiterarbeiten müssen, aber auch vieles geschafft haben, ist das Langfristprojekt der Energiewende. Dazu gehört natürlich der Klimaschutzplan, an dem wir arbeiten. Aber es muss ein Klimaschutzplan sein, bei dem wir es schaffen, Arbeitsplätze und die Sorge um das Klima in einen vernünftigen Einklang zu bringen. Wir haben eine gewaltige Novelle zum Erneuerbare-Energien-Gesetz auf den Weg gebracht, und wir werden diesen Weg weiter beschreiten. Wir haben natürlich noch einiges zu tun: das Entgeltgleichheitsgesetz, die Fragen der Rente – das habe ich angesprochen –, die Reform der Erbschaftsteuer. Ich bitte nur darum, dass man im Bundesrat nicht blockiert, meine Damen und Herren. Die Verschonungsregel bei der Erbschaftsteuer ist eine Regel für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für die Zukunft des Mittelstandes, für Familienunternehmen, die ein ganz wichtiger Baustein deutschen Erfolgs sind, die eben nicht von einem Tag auf den anderen denken, sondern langfristig. Das ist genau das, was der globalen Wirtschaft heute fehlt. Deshalb müssen Familienunternehmer gestärkt werden. Wir haben also vieles zu tun und vieles vor uns, sowohl in der Außenpolitik als auch in der Innenpolitik. Wir wissen, dass sich die Welt in einem kritischen Zustand befindet. Wir brauchen auch nichts schöner zu malen, als es ist. Aber wir dürfen den Menschen in unserem Land auch sagen: Unsere Finanzen sind geordnet, die Wirtschaft ist stark, wir haben einen guten gesellschaftlichen Zusammenhalt, und wir zeigen Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft. Das alles ist unverzichtbar, um unsere Interessen und Werte auch angesichts der Globalisierung behaupten zu können und den Menschen in unserem Land Halt und Perspektive zu geben, und das gerade in Zeiten so gewaltiger und schnell ablaufender Veränderungen. Deutschland hat sich seit der Gründung der Bundesrepublik immer wieder verändert. Veränderung ist nichts Schlechtes. Gerade wir – wenn ich zum Beispiel mich nehme –, die wir die deutsche Einheit erlebt haben, haben gesehen, wie Veränderung zum Besseren möglich ist. Veränderung ist auch ein notwendiger Teil unseres Lebens. Dass unser Land dabei immer stark war und auch weiter stark sein wird, das beruht auf Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen spiegeln sich wider in unserer Liberalität, in unserer Demokratie, in unserem Rechtsstaat, in unserem überwältigenden Grundbekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft, einer Ordnung also, die mit wirtschaftlicher Stärke die Schwächsten in unserem Lande auffängt. Das alles, das, was ich gerade genannt habe, das wird sich nicht ändern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland wird Deutschland bleiben, mit allem, was uns daran lieb und teuer ist. Herzlichen Dank.
(Protokoll des Deutschen Bundestages)
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum Jubiläum der Kestnergesellschaft
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-jubilaeum-der-kestnergesellschaft-788562
Fri, 02 Sep 2016 17:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Viele große Erfolgsgeschichten beginnen damit, dass irgendjemand zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Anders die Geschichte der Kestnergesellschaft: Für die Gründung eines der künstlerischen Avantgarde verpflichteten Vereins war Hannover weder der ideale Ort noch war das Jahr 1916 die ideale Zeit. Bei Verdun und an der Somme tobten vor 100 Jahren die blutigsten und verlustreichsten Schlachten des Ersten Weltkriegs; Künstler – wie etwa August Macke oder Franz Marc – kämpften, litten und starben an der Front. Deutschland standen Monate des Hungerns bevor, die später als „Kohlrübenwinter“ ins kollektive Gedächtnis eingingen. Und in Hannover – von Sophie Küppers, der Ehefrau des ersten Direktors der Kestnergesellschaft, verächtlich als „stocksteife Provinzstadt“ bezeichnet – gab es bereits einen Kunstverein, und zwar einen, in dem damals reaktionäre Kräfte das Sagen hatten. Gute Startvoraussetzungen sehen wahrlich anders aus! Umso bemerkenswerter ist es, dass aus der Initiative kunstbegeisterter, weltoffener und im wahrsten Sinne des Wortes neu-gieriger Bürger einer der mitgliederstärksten und renommiertesten Kunstvereine, ja eine Institution im Bereich der Bildenden Kunst in Deutschland geworden ist – eine Institution, die als Bühne der zeitgenössischen Kunst und als Wegbereiterin der Avantgarde ihre Spuren in der Kunstgeschichte hinterlassen hat. Viele Künstler, die in den vergangenen 100 Jahren in der Kestnergesellschaft ausgestellt wurden, gehören heute zum Kanon der Moderne, zu den wichtigsten Repräsentanten der zahlreichen „-ismen“, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat – beispielsweise des Expressionismus, des Konstruktivismus, des Kubismus, des Primitivismus, des Surrealismus, des Dadaismus und wie sie alle heißen. Doch damals, als noch relativ unbekannte Zeitgenossen, waren sie angewiesen auf Orte der Präsentation, auf Instanzen der Vermittlung und auf kunstbegeisterte Begleiter, die für Aufmerksamkeit sorgten, Diskussionen anstießen und zu ihren Gunsten „Stellung nahmen“ – um das Motto des Jubiläumsprogramms und das Leitmotiv des Vereins aufzugreifen. Stellung zu nehmen, Position zu beziehen für die Kunst, das ist in einer Demokratie anspruchsvoll genug. Zu einem beinahe heroischen Akt des Widerstands wird dieser Anspruch, wenn demokratische Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt sind, wenn Gewalt und Willkür herrschen. Es zeugt deshalb von einem hohen Ethos der Kunstförderung und sagt viel über das Selbstverständnis der Kestnergesellschaft, dass sie, statt ihren jüdischen Direktor Justus Bier Anfang der 30er Jahre auf Druck der Nazis zu entlassen und sich programmatisch gleichschalten zu lassen, lieber die eigene Zwangsschließung im Jahr 1936 in Kauf nahm. Die klaren Konturen seines Profils als „Hort der Avantgarde“ – wie es in einem Zeitungsartikel einmal hieß – verdankt der Kunstverein nicht zuletzt seinen ebenso weitsichtigen wie ambitionierten Direktoren, die mit Aufsehen erregenden Ausstellungen immer wieder für Furore weit über die Region hinaus gesorgt haben. Es freut mich, dass mit Ihnen, liebe Frau Végh, im vergangenen Jahr die erste Frau diese Position übernommen hat. Das hat ganze 99 Jahre gedauert … . Ja, was Frauen in Spitzenpositionen betrifft, könnte unsere Kunst- und Kulturwelt durchaus noch etwas avantgardistischer in Erscheinung treten. Die Erfolgsgeschichte der Kestnergesellschaft trägt aber vor allem auch die Handschrift ihrer fast 4.000 Mitglieder. Sie wäre nicht denkbar ohne die beeindruckende Tradition des privaten bürgerschaftlichen Engagements und des Mäzenatentums im Geiste ihres Namensgebers, des aus Hannover stammenden Diplomaten und Kunstsammlers Georg August Christian Kestner. So erinnert die 100jährige Tradition der Kestnergesellschaft auch daran, dass Deutschland seine ungeheure kulturelle Vielfalt nicht allein einer im Vergleich zu anderen Ländern relativ großzügigen staatlichen Kulturfinanzierung verdankt, sondern auch und insbesondere einer beträchtlichen Zahl kunstinteressierter Bürgerinnen und Bürger. „Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kunst“, hat Joseph Beuys einmal gesagt, dem die Kestnergesellschaft 1975 und 1990 eine Ausstellung gewidmet hat. Doch der Keim des im besten Sinne Revolutionären würde verkümmern, wenn er nicht auf fruchtbaren Boden fiele. Bis heute ist es das Verdienst traditionsreicher Kunstvereine in Deutschland, dass sie der künstlerischen Avantgarde geistige und diskursive Resonanzräume in unserer Gesellschaft eröffnen, in der die „revolutionäre Kraft“ der Kunst sich entfalten kann. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Frau Végh, für künftige Projekte eine glückliche Hand und tatkräftige Unterstützung nicht zuletzt durch einen engagierten Vorstand – auf dass die Kestnergesellschaft weiterhin so erfolgreich Pionierarbeit für die Rezeption zeitgenössischer Kunst leisten kann. Mögen das bürgerschaftliche Engagement, die Unterstützung bekannter Hannoveraner Unternehmen sowie die Förderung durch das Land Niedersachsen diese Arbeit so zuverlässig stützen wie bisher! Herzlichen Glückwunsch zum 100-jährigen Bestehen!
Die Staatsministerin gratulierte der Kestnergesellschaft zum 100-jährigen Bestehen. Die Erfolgsgeschichte der Kestnergesellschaft wäre nicht denkbar ohne die beeindruckende Tradition des privaten bürgerschaftlichen Engagements und des Mäzenatentums im Geiste ihres Namensgebers Georg August Christian Kestner, so Grütters.
Grütters zur „Denkmalkultur in Deutschland“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/gruetters-zur-denkmalkultur-in-deutschland–387888
Mon, 05 Sep 2016 20:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Wenn ich überlege, welches Denkmal von überregionaler Bedeutung in jüngster Zeit ganz ohne kontroverse Debatten das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat, dann fällt mir spontan nur eines ein: das „Waldmops-Denkmal“ in Brandenburg an der Havel – ein Denkmal, mit dem die Stadt an ihren berühmten Sohn Vicco von Bülow alias Loriot erinnert. Zu dessen zweifellos identitätsstiftenden Verdiensten um den deutschen Humor zählt eine zoologische Theorie, den Mops und seine angebliche Abstammung vom Elch betreffend, die dazu führte, dass man ihm ein als „Waldmopszentrum“ bezeichnetes Denkmal-Ensemble widmete. Niemand Geringerer als mein Kollege Frank-Walter Steinmeier hat es 2015 in seiner Eigenschaft als Wahlkreisabgeordneter und Vorsitzender des Brandenburger Kulturvereins eingeweiht, begleitet von öffentlichem Beifall und einer durchaus wohlwollenden Medienberichterstattung. Auf so viel einhellige Begeisterung stößt ein Denkmal von nationaler Relevanz heutzutage ansonsten eher selten. Und auch relativ kurze Planungsphasen kennt man allenfalls aus vordemokratischen Zeiten, als Denkmale von den Herrschenden allein nach eigenem Geschmack und Gutdünken zur Demonstration und zur Ausübung von Macht errichtet wurden – und vielfach wieder zerstört wurden, wenn die Machtverhältnisse sich änderten. Heute, in einer aufgeklärten Gesellschaft und einem demokratisch verfassten Staat, können wir zwar die Bilder der Vergangenheit stehen lassen, weil wir sie einordnen oder entzaubern, würdigen oder kritisieren können. Wir haben aber umgekehrt ganz offensichtlich Schwierigkeiten, historischen Ereignissen selbst ein Denkmal zu setzen. Nicht zuletzt mit Blick auf das ergebnislose Ringen um ein Freiheits- und Einheitsdenkmal in Berlin und Leipzig treibt mich die Frage um, warum wir uns im 21. Jahrhundert so ungeheuer schwertun, für unser gemeinsames (nationales) Erinnern – für Freude und Stolz genauso wie für Trauer und Scham – eine Formensprache zu finden, die bei der Mehrheit der Menschen im doppelten Wortsinn ankommt und von der Gesellschaft getragen wird. Ich kenne keinen jüngeren Fall, in dem das selbstverständlich gelungen ist. Liegt es am Pluralismus der Perspektiven, am demokratischen Zwang zum Kompromiss? Hat es mit unserer Geschichte zu tun, mit ihren Brüchen und Abgründen, mit unserem ganz speziellen, deutschen Verhältnis zur Nation und allem Nationalen? Sind es vielleicht auch schlicht unsere langwierigen und komplexen Verfahren, die dafür sorgen, dass gute Ideen in endlosen Abstimmungsschleifen zirkulieren? Denken Sie nur an das neue Luther-Denkmal neben der Marienkirche, das eigentlich zum Reformationsjubiläum 2017 hätte fertig sein sollen, nun aber ein Jahr Zeitverzug hat. Oder trauen wir zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern möglicherweise gar nicht zu, national bedeutsame Ereignisse in einer Weise zu vergegenwärtigen, die die Auseinandersetzung damit fördert und im Ergebnis Identifikation schafft? Warum sonst hat Helmut Kohl eigenmächtig entschieden, ohne Wettbewerb die vergrößerte Pietà von Käthe Kollwitz in den Mittelpunkt der Neuen Wache, des Mahnmals zum Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, stellen zu lassen – sich also der Formensprache des vergangenen Jahrhunderts zu bedienen? Vermutlich wollte er nur niemanden überfordern … . Diesen Fragen wollen wir auf den Grund gehen, und dazu habe ich einige Experten zur Diskussion über „Denkmalkultur in Deutschland“ eingeladen. Siegmund Ehrmann, Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Kultur und Medien, hat viel Erfahrung mit politischen Verständigungsprozessen – der oft dissonanten Begleitmusik national bedeutsamer Denkmalvorhaben. Herr Professor Stölzl, Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums, ist als ebenso kompetenter wie eloquenter Kenner der deutschen Kultur und Geschichte ein ausgewiesener „Deutschlandversteher“. Auch er hat praktische Erfahrungen mit der Entstehungsgeschichte von Denkmälern, vor allem mit der Neuen Wache. Frau Dr. Kaminsky bringt als Geschäftsführerin der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur besondere Expertise zu den Debatten rund um ein Freiheits- und Einheitsdenkmal mit und hat unter anderem das Buch „Orte des Erinnerns“ herausgegeben, das auch die „Gedenkzeichen“ zur Diktatur in der SBZ und in der DDR behandelt. Sir Christopher Clark, Professor für neuere europäische Geschichte in Cambridge, bereichert die Diskussion mit seiner sicherlich erhellenden Außenperspektive und hat damit auch in seinen Büchern schon so manche wichtige Debatte angestoßen, etwa mit seinem Bestseller zum Ersten Weltkrieg. Herr Dr. Wiegrefe, als Redakteur beim SPIEGEL zuständig für Zeitgeschichte, wird das Gespräch moderieren. Herzlichen Dank, dass Sie alle sich die Zeit nehmen für eine wichtige und hoffentlich auch fruchtbare Grundsatzdebatte. Bevor Sie das Wort haben, will ich kurz einige Schlaglichter aus politischer Sicht auf unsere Denkmalkultur werfen, um dieses weite Feld, auf das wir uns gleich begeben werden, ein wenig auszuleuchten. Dafür lohnt sich zunächst einmal ein Blick zurück auf die Genese des Wortes „Denkmal“. Wie so oft bei besonders prägnanten deutschen Begriffen hatte auch hier Martin Luther seine Hände – oder besser: seinen schöpferischen Geist – im Spiel: „Denckmal“ stand in seiner Bibelübersetzung für „mnemosynon“, also ganz allgemein für eine Gedächtnisstütze. Tatsächlich geht es bei einem Denkmal aber auch immer um eine bestimmte Weise der geistigen Aneignung, der Interpretation und Einordnung. So schreibt der Historiker Johann Gustav Droysen – im 19. Jahrhundert einer der ersten, der eine Theorie des Denkmals entwickelte -, Denkmäler wollten, ich zitiere, „aus der Zeit, aus den Vorgängen oder Geschäften, von denen sie Überreste sind, etwas bezeugen oder für die Erinnerung fixieren, und zwar in einer bestimmten Form der Auffassung des Geschehenen und seines Zusammenhangs (…).“ Zumindest in Demokratien, in denen „eine bestimmte Form der Auffassung des Geschehenen und seines Zusammenhangs“ nicht per Dekret verordnet werden kann und soll, trägt ein Denkmal schon den Zündstoff für Konflikte und politische Auseinandersetzungen in sich. Nicht nur konkurrierende, einander vielleicht sogar widersprechende Auffassungen wollen sich wieder finden; auch individuelle, persönliche Erinnerungen erheben Anspruch auf Repräsentation. In einer demokratischen Denkmalkultur spiegelt sich deshalb unvermeidlich die Schwierigkeit, eine der Vielstimmigkeit und den unterschiedlichen Perspektiven angemessene Form des Erinnerns zu finden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wie viele Jahre – Firmenpleiten inbegriffen – hat es gebraucht, um die Brunnenplastik zum Gedenken an die ermordeten Sinti und Roma endlich mit einem Staatsakt zu eröffnen?! Es waren 15! Allein drei Bundespräsidenten haben sich in dieser Zeit an einem Text für die Inschrift versucht … . Zeitgenössische Denkmale unterscheiden sich jedenfalls allein schon wegen der notwendigen Verständigungsprozesse ikonographisch stark beispielsweise von denen, die in der neuen Spandauer Dauerausstellung „Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler“ zu sehen sind. (Da hat man jetzt, sieben Jahrzehnte nach Kriegsende, die Reste der „Siegesallee“ mit den Figuren brandenburgisch-preußischer Herrscher wieder aufgerichtet – ein Besuch lohnt sich!) Ich habe auch den Eindruck, dass die Angst vor Konflikten eine gewisse Scheu nährt, Worte, Gesten und Formen zu finden. Jedenfalls beschränken sich Denkmale, die an Katastrophen und Leid erinnern, heutzutage weltweit oft auf die reine Nennung der Opfernamen. In Deutschland kommt, was nationale Denkmale betrifft, erschwerend hinzu, dass wir unsere Geschichte – anders als über Jahrhunderte durch eine starke Zentralmacht geprägte Länder wie Großbritannien oder Frankreich – nicht in einer einzigen nationalen Erzählung darstellen können. Die Einheit der deutschen Nation gab es ja auf einem in Kleinstaaten zersplitterten Territorium zunächst nur im Geiste – in der Kultur, in der Philosophie. Und nach all dem Leid, das Deutschland im 20. Jahrhundert über Europa und die Welt gebracht hat, waren Nationaldenkmäler nach 1945 geradezu undenkbar. Dass nach 1990, als das wiedervereinte Deutschland seine Rolle in Europa und der Welt vorsichtig neu definierte, das lang umstrittene Holocaust-Mahnmal – nach mehr als zehn Jahren des Debattierens und Streitens, nach Wettbewerben mit mehreren hundert eingereichten Entwürfen und nach mehrfacher Überarbeitung des letztlich ausgewählten Projekts – zum bedeutendsten Denkmal in Berlin wurde, das hat für sich genommen schon hohe Symbolkraft. Neil MacGregor hat anhand dieses Beispiels auf eine Besonderheit deutscher Denkmalkultur aufmerksam gemacht. Er kenne, schrieb er im Buch zu seiner Ausstellung „Deutschland. Erinnerungen einer Nation“, er kenne „kein anderes Land, das in der Mitte seiner Hauptstadt ein Mahnmal der eigenen Schande errichtet hätte.“ Als eine weitere Besonderheit deutscher Denkmalkultur scheint sich nun mit dem vorläufigen Aus für ein Freiheits- und Einheitsdenkmal das Unvermögen herauszukristallisieren, prägenden freudigen und hoffnungsvollen historischen Ereignissen und Entwicklungen ein Denkmal zu setzen. Glücklich, ja vielleicht sogar stolz und selbstbewusst zurückzuschauen auf die eigene Freiheits- und Demokratiegeschichte, das fällt uns offenbar besonders schwer. Immerhin – auch das gehört ja zur Wirkmacht von Denkmälern, und zwar schon, bevor sie überhaupt existieren – hat der Beschluss, der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung ein Denkmal zu setzen, eine durchaus produktive, öffentliche Debatte über den Wert der hart erkämpften Freiheit und Einheit ausgelöst. Aber anders als – nach langen Jahren des Streitens – beim Holocaust-Mahnmal ist es (bisher) nicht gelungen, die gesellschaftliche Selbstverständigung in ein weithin sichtbares Wahrzeichen unseres Selbstverständnisses münden zu lassen. Stattdessen hat ausgerechnet das Brandenburger Tor mit seiner wechselvollen, 225jährigen Geschichte eine Symbolkraft entwickelt, die weit über seine ursprüngliche Rolle als Stadttor hinausweist. Es steht für die brutalen Brüche in unserer Geschichte, für Ideologie, Krieg, Zerstörung, Unfreiheit und nicht zuletzt für die Teilung Deutschlands und Europas. Aber viel mehr noch ist es Symbol geworden für Einheit, Freiheit und Frieden. Es steht wie kein anderes Bauwerk für das Glück der Wiedervereinigung und der wiedergewonnenen Freiheit. In gewisser Hinsicht ist es das nationale und internationale Freiheits- und Einheitsdenkmal, weil die Bevölkerung und die Besucherinnen und Besucher aus aller Welt es sich längst als solches angeeignet haben. Doch damit sind die Fragen, die sich aus dem (vorläufigen) Aus für das Freiheits- und Einheitsdenkmal ergeben, nicht aus der Welt: Sind wir Deutschen auch mit Blick auf im positiven Sinne identitätsstiftende Erinnerungen „denkmalfähig“? Sind wir in der Lage, ein Nationaldenkmal zu errichten, das unsere Freiheitstraditionen, insbesondere die Friedliche Revolution in der DDR und die Wiedervereinigung als historische Leistung vieler Bürgerinnen und Bürger, reflektiert? Kann es heute in unserer pluralistischen Demokratie noch so etwas wie ein nationales Denkmal geben – eine Formensprache, die anschlussfähig ist an unterschiedliche Standpunkte? Ist es überhaupt sinnvoll, eine nationale Denkmalkultur am Leben erhalten zu wollen, obwohl wir für die europäische Einigung eintreten und darum ringen, uns jenseits nationaler Egoismen als Europäer zu fühlen? Diese und weitere Fragen will ich unserer Gesprächsrunde überlassen, meine Damen und Herren. Fest steht: Deutschland verdankt seine heutige Identität und sein mittlerweile wieder hohes Ansehen in der Welt nicht zuletzt seiner Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. „Sie [die Bundesrepublik Deutschland] ist das Deutschland, das ich liebe“, bekannte der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani 2014 in seiner Rede zum 65. Geburtstag unseres Grundgesetzes im Deutschen Bundestag, und ich zitiere weiter: „eine Nation, die über ihre Geschichte verzweifelt, die bis hin zur Selbstanklage mit sich ringt und hadert, zugleich am eigenen Versagen gereift ist, die nie mehr den Prunk benötigt, ihre Verfassung bescheiden ,Grundgesetz‘ nennt und dem Fremden lieber eine Spur zu freundlich, zu arglos begegnet, als jemals wieder der Fremdenfeindlichkeit, der Überheblichkeit zu verfallen.“ Ja, Geschichte vergeht nicht einfach. Die Art und Weise, wie wir sie vergegenwärtigen, prägt unser Bild von uns selbst, sie prägt unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Eben deshalb lohnt sich die Auseinandersetzung mit unserer Erinnerungs- und Denkmalkultur, so zäh und mühsam solche Debatten bisweilen auch sind. Ich jedenfalls freue mich auf die Diskussion und hoffe, dass sie uns hilft, nicht nur am eigenen Versagen, am Ringen und Hadern mit der Vergangenheit zu reifen, sondern auch im Bewusstsein der eigenen Freiheitstraditionen zu wachsen.
„Sind wir Deutschen auch mit Blick auf im positiven Sinne identitätsstiftende Erinnerungen „denkmalfähig“?“ Diese Frage stellte Kulturstaatsministerin Grütters in ihrer Rede zum Auftakt einer Podiumsdiskussion zum Thema Denkmalkultur.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Eröffnung des Young Euro Classic Festivals im Berliner Konzerthaus
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-eroeffnung-des-young-euro-classic-festivals-im-berliner-konzerthaus-809204
Wed, 17 Aug 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Eine kleine Reise ist genug, um uns und die Welt zu erneuern“, diese Worte stammen aus der Feder des französischen Schriftstellers Marcel Proust. Sich selbst erneuern – sich intellektuell zu erfrischen, sich inspirieren zu lassen und seine Gedanken zu ordnen – ja, das geht besonders gut an fernen, fremden Orten. Seit Jahrhunderten schon packt Menschen, vor allem Künstler, immer wieder die Wanderlust: Georg Friedrich Händel zog es aus dem Mitteldeutschen Raum über Hannover nach London, um dort im bürgerlichen Umfeld als freier Komponist und Opernunternehmer zu wirken. Ludwig van Beethoven reiste von Bonn nach Wien, um Schüler Joseph Haydns zu werden. Der Norweger Edvard Grieg studierte in Leipzig und blieb der Stadt, in der er später Freundschaft mit Joseph Brahms und dem Russen Peter Tschaikowsky schloss, ein Leben lang verbunden. Ja, viele unserer größten Musikgenies waren Europäer, und das gilt auch für andere Künstler – man denke nur an Goethe, den Italienreisenden, oder auch an den frankophilen Heinrich Heine. Die Entwicklung der klassischen Musik jedenfalls ist ohne den geistigen Austausch fern der Heimat undenkbar. Undenkbar sind mittlerweile allerdings auch: tagelange Reisen mit der Postkutsche oder per pedes. Wie gut geht es den jungen Musikerinnen und Musikern heute, die Europa und die Welt entdecken wollen! Die „Nachfahren“ Händels, Beethovens und Griegs können ohne Visum von Barcelona nach Bukarest, von Tallinn nach Turin reisen, sind dank sozialer Medien immer und überall mit Freunden aus aller Welt verbunden – und sie treffen sich seit 16 Jahren hier in Berlin zum Young Euro Classic Festival! In diesem Jahr wird das Festival von einem ganz besonderen Orchester eröffnet: Das European Union Youth Orchestra ist seit 40 Jahren herausragendes Symbol der kulturellen Vielfalt Europas. Es ist zugleich Symbol der verbindenden Idee eines vereinten, friedlichen Europas und damit Botschafter unserer gemeinsamen kulturellen Wurzeln und Werte. Nur wenige europäische Kulturprojekte verkörpern so glaubwürdig und lebendig das europäische Prinzip der Einheit in Vielfalt. Als ich im Mai davon hörte, dass die Arbeit der jungen Musikerinnen und Musiker ab September nicht mehr weitergeführt werden kann, weil die EU-Finanzierung ausläuft, war ich erschüttert! Denn wir brauchen heute mehr denn je den Musik gewordenen europäischen Geist, die Solidarität und Begeisterung der Jugend, den völkerverbindenden Charakter der Kultur. Kultur hat – mehr als viele andere gesellschaftliche Milieus – die Kraft der Integration. Wenn es dieses europäische Jugendorchester noch nicht gäbe, müsste man es jetzt gründen! Dem Orchester die Mittel zu streichen, war das völlig falsche Signal zum völlig falschen Zeitpunkt. Deswegen habe ich mich – gemeinsam mit meinen europäischen Kollegen – dafür eingesetzt, dass wir bei den Beratungen der Europäischen Kultur- und Medienminister in Brüssel über die Finanzierung des Orchesters sprechen. Unsere Initiative war erfolgreich: In diesem Jahr stehen 600.000 Euro als kurzfristige Finanzhilfen zur Verfügung. Für die Zukunft des Orchesters wird es nun darauf ankommen, die Möglichkeiten der europäischen Förderung weiter auszuschöpfen. Das ist mir ein echtes Herzensanliegen. Denn ich bin sicher, dass die jungen Musikerinnen und Musiker mit ihrer künstlerischen Meisterschaft, mit ihrem Selbstverständnis als Europäerinnen und Europäer und mit der musikalischen Strahlkraft der Vielfalt auch andere Menschen für die europäische Idee begeistern können – ganz nach dem Young Euro Classic-Motto „Hier spielt die Zukunft!“. Dieses Motto, meine Damen und Herren, dürfen wir sicherlich nicht nur als schlichte Beschreibung der hier vertretenen Altersgruppe verstehen, sondern auch als Vision und damit vielleicht durchaus auch als Kampfansage – als Kampfansage gegen all jene, die in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern gegenwärtig auf breiter Front Ressentiments gegen anders Denkende, anders Glaubende, anders Aussehende, anders Lebende schüren. „Hier spielt die Zukunft!“, das heißt: Wir setzen dem Bedürfnis nach Abgrenzung, der um sich greifenden Fremdenfeindlichkeit, der Sehnsucht nach einer homogenen Gesellschaft und dem Ruf nach einem starken Nationalstaat den Stolz auf die vielfältige, im Austausch mit anderen Kulturen gewachsene europäische Kultur entgegen und das Vertrauen darauf, dass uns in Europa weiterhin gelingt, was in einem Orchester selbstverständlich ist: das Zuhören und Einfühlen, das Lauschen auf andere Stimmen, auf Takt und Tonart, auf laut und leise. In diesem Sinne wünsche ich dem Young Euro Classic Festival 2016 ein aufmerksames Publikum und allen beteiligten Künstlerinnen und Künstlern viel Freude und Applaus. „Musik (…) macht das Herz weich; (…) ganz still und ohne Gewalt macht die Musik die Türen der Seele auf.“ Das hat die deutsche Widerstandskämpferin Sophie Scholl einmal gesagt. Mögen diese Worte hier im Konzerthaus am Gendarmenmarkt und weit darüber hinaus Resonanz finden!
Zum Auftakt des Young Euro Classic Festivals hat hat Kulturstaatsministerin Grütters das European Union Youth Orchestra als „herausragendes Symbol der kulturellen Vielfalt Europas“ gewürdigt. „Wir brauchen den Musik gewordenen europäischen Geist, die völkerverbindenden Charakter der Kultur“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Treffen mit Vertretern der Digitalwirtschaft am 25. August 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-treffen-mit-vertretern-der-digitalwirtschaft-am-25-august-2016-609254
Thu, 25 Aug 2016 12:00:00 +0200
Tallinn
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Taavi Rõivas, liebe Kollegen aus dem Kabinett, meine Damen und Herren, ich möchte mich ganz herzlich für den freundlichen und freundschaftlichen Empfang in Ihrem Land bedanken, von dem man sagen kann, dass es Tradition und Fortschritt gleichermaßen pflegt. Als wir gestern einen Gang durch die Altstadt Tallinns gemacht haben, die zum Weltkulturerbe der UNESCO gehört, hat man die wunderbare Atmosphäre einer altehrwürdigen Hansemetropole gespürt. Man hat auch gespürt, dass Tallinn eine traditionsreiche, aber eben auch eine geschichtsbewusste Stadt ist, die modern und fortschrittlich ist. Im Showroom der estnischen Regierung konnte ich mir eben einen kleinen Ausschnitt von dem anschauen, was hier alltägliches Handeln ist. Das beruht darauf, dass Estland sehr frühzeitig die Chancen der Digitalisierung für sich erkannt hat und man mit Fug und Rech sagen kann, dass Estland eines der innovativsten Länder der Welt ist. Das ist insbesondere deshalb so, weil nicht nur im Prinzip digitale Optionen im alltäglichen Leben bestehen, sondern weil sie breitflächig in der gesamten Bevölkerung verankert sind und deshalb zum Alltag gehören. E-government, e-learning oder e-voting – das sind Selbstverständlichkeiten, während wir an anderen Stellen in Europa gerade erst die Voraussetzungen dafür schaffen. Ich sage ganz offen: Deutschland schaut mit großem Interesse auf diese bereits bestehende Situation hier. Das war auch der Grund, warum wir den Ministerpräsidenten – Dich, lieber Taavi – zur Klausurtagung der Bundesregierung eingeladen haben. Die eine Stunde, die wir ursprünglich ins Auge gefasst hatten, war schnell vorbei. Es gab viele, viele Fragen. Ich hoffe, dass daraus auch viele Handlungen entstehen. Wie ich schon sagte, waren wir gerade bei der Präsentation zum sogenannten e-Estonia. Das hat mir noch einmal bestätigt, welche Innovationskraft darin liegt. Die konsequente Anwendung digitaler Technologien spart viel Zeit, viel Geld und ist wachstumsfördernd. Wir reden in der Europäischen Union so oft über Wachstum. Hier kann man sich ganz praktisch anschauen, wie das machbar ist. Nun hat auch Estland das Thema Industrie 4.0 oder das Internet der Dinge für sich entdeckt. Gemeinsam mit estnischen Partnern engagiert sich die deutsche Botschaft dafür – hierfür möchte ich dem Botschafter sehr herzlich danken –, dass es hier stärkere Kooperationen gibt. Das Industrieland Deutschland mit einer nach wie vor sehr hohen industriellen Wertschöpfung von über 20 Prozent und der digitale Pionier Estland könnten und können viele Dinge gemeinsam machen. Das Interessante ist – das trifft sich mit den Diskussionen, die wir in Deutschland im Zusammenhang mit der digitalen Wertschöpfung im industriellen Bereich führen –, dass Estland durch die breite Anwendung sehr früh die Gefahren erkannt hat, denen eine IT-basierte Gesellschaft ausgesetzt ist. Deshalb ist das Thema Sicherheit hier von allergrößter Bedeutung. Es werden auch entsprechende Lösungen gefunden. Deshalb ist es nicht von ungefähr so, dass seit 2008 das NATO Cyber Cooperative Defence Center of Excellence in Estland existiert. Dass wir es gestern besuchen konnten, war für mich eine sehr große Freude. Wir haben als Staats- und Regierungschefs beim NATO-Gipfel in Warschau bekräftigt, dass wir die Bedrohungen für unsere IT-Systeme, für unsere Infrastruktur insgesamt sehr ernst nehmen. Ich will noch einmal aus dem NATO-Beschluss zitieren. Wir haben beschlossen sicherzustellen, dass „sich unsere Nationen im virtuellen Raum genauso gut verteidigen können wie in der Luft, auf dem Land und zur See“. Das ist ein hoher Anspruch, aber dem wollen wir auch genügen. Das macht auch noch einmal deutlich, dass wir in jeder Gefahrenlage eng zusammenstehen. Das war das entscheidende Signal, das den Warschauer Gipfel geprägt hat. Es war ein Bekenntnis zur Solidarität, wie sie in Artikel fünf des NATO-Vertrages verankert ist. Gerade für Estland ist dies in seiner exponierten geografischen Lage ein sehr wichtiges Zeichen, nämlich die Sicherheit zu spüren, dass die Allianz sich nicht spalten lässt. Deutschland leistet einen substantiellen Beitrag zur Rückversicherung des Baltikums. Beim Baltic Air Policing in Estland übernimmt die Bundeswehr gerade wieder für vier Monate Führungsverantwortung. Wir setzen uns weiter gemeinsam mit unseren Partnern für die Sicherheit Estlands ein. Mir persönlich ist dieses Bekenntnis zur Solidarität sehr wichtig. Ich weiß, dass mein Besuch mit einem bedeutenden Jubiläum in Ihrem Land zusammenfällt. In diesen Tagen erinnert Estland an seinen großen historischen Erfolg, an die erneute Erringung seiner Freiheit und seiner Unabhängigkeit vor 25 Jahren. Wir haben uns vor 25 Jahren mit Ihnen gefreut. Zwei Jahre zuvor hatten die Menschen in Ostdeutschland das Glück, Freiheit zu erfahren. Ich bin ja eine von denen, die damals völlig neue Lebensmöglichkeiten bekommen haben. Das war für die Menschen hier in Estland auch so. Die singende Revolution – wie sie genannt wurde und wird – steht für den unbändigen Freiheitswillen und den großen Mut der Menschen im Baltikum. Sie bleibt mit eindrücklichen Bildern verbunden. Die lange Menschenkette vom 23. August 1989 war ein solches Zeichen. Esten, Letten und Litauer gingen damals auf die Straßen, fassten einander an der Hand und bildeten auf diese Weise ein Band der Hoffnung und der Sehnsucht nach Freiheit quer durch das ganze Baltikum. Das Ereignis ging unter der Bezeichnung „Baltischer Weg“ in die Geschichte ein. Er war das unübersehbare Signal für das Streben nach Unabhängigkeit. Das wird auch in den Geschichtsbüchern erhalten bleiben. Das Datum der Aktion hatte seinen Grund, denn der 23. August 1989 war der 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts. Ein geheimes Zusatzprotokoll des Pakts sah vor, dass sich die Sowjetunion große Teile des baltischen Territoriums einverleiben konnte. Dass sich erst 1991 dieses Kapitel der Geschichte mit der wiedererlangten Unabhängigkeit der baltischen Staaten geschlossen hat, ist für Deutschland natürlich eine Mahnung – auch für seine Politik in der Zukunft und im Blick auf das, was wir Schreckliches in der Vergangenheit getan haben. Deutschland hat damals binnen acht Tagen die diplomatischen Beziehungen mit Estland wiederhergestellt. Das war, muss man sagen, ein ziemlich schnelles Handeln des Auswärtigen Amtes und der ganzen Bundesregierung. Damit konnten wir natürlich das Unrecht nicht revidieren, das Ihr Land von deutscher Seite erfahren hat. Aber die rasche Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen war natürlich ein Zeichen: Wir wollen gute Partner sein. So haben wir uns in den letzten 25 Jahren gegenseitig unterstützt. Deutschland hat Estland auf seinem Weg geholfen, gespeist aus den Erfahrungen der Geschichte, Lehren ziehend aus den grausamen Kapiteln des 20. Jahrhunderts, in denen unendlich viel Leid von Deutschland ausging, auch für die Menschen im Baltikum. Nun gehören wir längst gemeinsam der europäischen und transatlantischen Familie an. Wir halten wie in einer guten Familie zusammen. Das gilt für gute genauso wie für schwierige Zeiten. Ich glaube, niemand behauptet, dass die Situation für Europa im Augenblick einfach oder leicht ist. Wir erleben unmittelbar vor unserer Haustür Entwicklungen, die wir uns vor kurzem noch nicht vorstellen konnten. Ich jedenfalls konnte mir nicht vorstellen, dass Russland das Völkerrecht dermaßen missachtet und die Krim annektiert. Wer hätte damit gerechnet, dass Separatisten mit Moskaus Unterstützung den Osten der Ukraine dermaßen destabilisieren? Mit den Flüchtlingen, die bei uns in Europa Schutz suchen, rücken auch die Krisen, vor denen sie im Nahen Osten und Nordafrika fliehen, immer näher an uns heran. Schreckliche Terroranschläge, wie wir sie in einigen der Mitgliedstaaten erlebt haben, zielen auf das Herz unserer freien Gesellschaft, auf unsere Art zu leben. Zur selben Zeit findet ein neues globales Kräftemessen statt. Aufstrebende Wirtschaftsnationen zeigen, welche Potentiale in ihnen stecken. All dies fordert uns in Europa in großem Maße heraus. Wir müssen entschlossen und geschlossen handeln. Wir brauchen einen europäischen Schulterschluss, um all die Herausforderungen zu bewältigen. Deshalb sind Taavi und ich der Meinung, dass der Ausgang des britischen Referendums höchst bedauerlich ist. Es ist ein Einschnitt in die europäische Entwicklung, in die jahrzehntelange Erfolgsgeschichte europäischer Integration. Wir haben natürlich dieses Ergebnis zu respektieren. Aber wir müssen uns fragen: Was bedeutet das für uns anderen 27 Mitgliedstaaten? Sind wir stark genug, einen Schritt hin auf ein erfolgreicheres Europa, auf ein besseres Europa zu gehen? Ich bin überzeugt, es kann uns gelingen, den Entschluss Großbritanniens zu verkraften. Aber dafür müssen wir hart arbeiten. Wir haben einen sogenannten Reflexionsprozess begonnen, also einen Prozess des Nachdenkens, um auszuloten: Wo müssen wir uns vor allen Dingen weiterentwickeln? Wo hindern uns bestehende Regelungen daran, erfolgreich zu sein? Wir werden uns als 27 Mitgliedstaaten Mitte September in Bratislava treffen, noch nicht, um konkrete Entscheidungen zu treffen, aber um Themen zu definieren, bei denen wir uns voranbewegen müssen. Denn die Arbeitslosigkeit ist hoch, und wir entsprechen nicht dem, was die Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 gesagt haben, dass Europa der dynamischste, der erfolgreichste, der wissensbasierteste Kontinent der Welt sein soll, sondern hier haben wir Nachholbedarf. In diesem Geist sollten wir diese Phase des Nachdenkens auch miteinander gestalten. Das ist etwas sehr Normales. Auch Familien brauchen immer wieder Phasen, in denen man überlegt: Wie können wir etwas gemeinschaftlich tun? Wie können wir es besser machen? Ich hoffe, dass Europa diesen Mut, diese Tatkraft und auch den Teamgeist aufbringt, um erfolgreich zu sein. Estland geht mit gutem Beispiel voran. Es hat sich aufgrund des britischen Rückzugs bereiterklärt, in der zweiten Jahreshälfte 2017 die EU-Ratspräsidentschaft zu übernehmen. Das ist ein halbes Jahr früher als geplant. Estland beweist damit Flexibilität – das ist sowieso eine estnische Stärke –, aber auch eine tiefe europäische Überzeugung. Estland bringt vieles von dem ein, was die Voraussetzungen für Erfolg im 21. Jahrhundert sind: Estland wartet mit innovativen Ideen auf und gibt durch seine digitale Pionierarbeit anderen ein gutes Beispiel. Zugleich steht es zu den freiheitlichen Werten und handelt im Bewusstsein der Bedeutung, die die Europäische Union und das transatlantische Bündnis für uns alle haben. Das sind starke verbindende Elemente. Deshalb sind wir gerne bereit, wenn es gewünscht wird, Estland bei der Vorbereitung der EU-Ratspräsidentschaft zu unterstützen. Wir müssen jetzt schauen – ich werde darauf achten, wenn ich wieder zurück in Deutschland bin –, dass das, was durch unsere Botschaft vorangebracht wird, nämlich die Kooperation im Bereich des Internets der Dinge, der Industrie 4.0 und der digitalen Fähigkeiten Estlands, auch konkrete Ausprägungen bekommt. So werde ich Unternehmen ermutigen, sich von deutscher Seite stärker auf Estland zu konzentrieren. Aber ich werde auch unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Administration, in den Bundesministerien ermutigen, einmal den Showroom hier zu besuchen und sich etwas intensiver einzuarbeiten, als ich das jetzt konnte. Ich habe mir das alles angeschaut, damit wir von den digitalen Möglichkeiten der heutigen Zeit schrittweise auch so gut Gebrauch machen, wie das Estland heute bereits tut. Da kann man fast ein bisschen neidisch werden. Herzlichen Dank, dass ich heute hier bei Ihnen sein darf.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des Festakts zum 70 jährigen Bestehen des Landes Nordrhein-Westfalen am 23. August 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-des-festakts-zum-70-jaehrigen-bestehen-des-landes-nordrhein-westfalen-am-23-august-2016-479130
Tue, 23 Aug 2016 19:45:00 +0200
Düsseldorf
Königliche Hoheit Prinz William, Herr Bundestagspräsident, Frau Landtagspräsidentin, Frau Ministerpräsidentin, Herr Oberbürgermeister, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Landtag und dem Bundestag, liebe Geburtstagskinder des heutigen Tages, sehr geehrte Gäste aus dem In- und Ausland, meine Damen und Herren, vor 70 Jahren lag Deutschland in Trümmern. Es war die Zeit des Steineklopfens, der Notküchen und des Fringsens – dieser Begriff gehört dazu, wenn es um die Nachkriegszeit in dieser Region geht. Umso verdienstvoller war es, dass die britische Militärregierung sich frühzeitig Gedanken über zukünftige Strukturen machte, insbesondere auch mit Blick auf das strategisch so wichtige Ruhrgebiet. Und sie beschloss, das Land Nordrhein-Westfalen zu gründen. Damit wurden Landesteile zusammengefügt, die aus historischer Perspektive nicht zwingend zusammengehörten. Royal Highness, wir können heute im Rückblick sagen: Es war ein Glücksgriff. Das konnte man nicht immer so vermuten. Nordrhein-Westfalenvereinte fortan unter seinem Dach eine große Vielfalt: unterschiedlich geprägte Regionen, große und kleine Städte mit eigener Geschichte und Identität, verschiedene Mentalitäten und Konfessionen, eine große kulturelle Bandbreite. Auch in der Wirtschaftsstruktur spiegelte sich die Vielfalt wider: Nordrhein-Westfalen ist ebenso Agrarland wie industrielles Kernland. Deshalb lag auf dem neu gegründeten Bundesland auch von Anfang an viel Augenmerk. Seine Entwicklung war für Deutschland, für die Bundesrepublik Deutschland insgesamt von großer Bedeutung. Der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer hat es so formuliert – ich möchte ihn zitieren: „Die Entscheidung über das zukünftige Geschick Deutschlands fällt in der britischen Zone und innerhalb der britischen Zone in dem Lande Nordrhein-Westfalen.“ Einige Jahre später fand in Bonn die feierliche Verkündung des Grundgesetzes statt. Die Stadt war jahrzehntelang das politische Zentrum der Bundesrepublik. Nach der Deutschen Einheit und nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl habe ich dort acht Jahre als Bundestagsabgeordnete und als Bundesministerin gearbeitet. Ich habe mich in Bonn immer wohlgefühlt. Ich kehre gerne dorthin zurück. Und ich komme auch immer wieder gerne nach Nordrhein-Westfalen. Man kann sagen: Bonn war mein politischer Lernort. Nordrhein-Westfalenist etwas Besonderes. Es ist das bevölkerungsreichste Bundesland. Es verfügt über große wirtschaftliche Kraft. Es hat die höchste Anzahl von Vereinen in der ersten Fußball-Bundesliga. Der Volkssport Nummer eins hat hier also tiefe Tradition. Nordrhein-Westfalen ist einfach ein starkes Stück Deutschland. Dies alles ist vorneweg das Verdienst seiner Bürgerinnen und Bürger, denen ich herzlich zum Jubiläum ihres Bundeslandes gratulieren möchte. Die Menschen in Nordrhein-Westfalen haben sich einerseits ihre regionale Identität bewahrt. Sie fühlen sich nach wie vor als Rheinländer, Westfalen oder Lipper. Sie sind stolz darauf. Legendär sind auch die liebevoll gehegten Rivalitäten zwischen einzelnen Städten, Regionen und Landesteilen. Aber andererseits – das hat sich über die Jahrzehnte herausgebildet – verbindet alle eine gemeinsame Identität. Es ist ihr Nordrhein-Westfalen. Im Laufe der Jahrzehnte ist ein Gemeinschaftsgefühl gewachsen. Mit Fug und Recht lässt sich behaupten: Die Ehe zwischen den ungleichen Partnern ist geglückt. Die „Operation Marriage“ der Briten war erfolgreich. Dahinter stehen Erfahrung im Umgang mit Unterschieden und eine lange Tradition der Integration. Der Schriftsteller Carl Zuckmayer prägte die Bezeichnung vom Rhein als – ich zitiere ihn – „der großen Völkermühle“ und „Kelter Europas“. Allein in den vergangenen zwei Jahrhunderten gab es Millionen Menschen, die zuwanderten, die sich hier niederließen, die heimisch wurden. Sie kamen als Arbeitskräfte aus Polen und den östlichen Provinzen Preußens, als die Industriezentren an Rhein und Ruhr aufblühten. Sie kamen als Vertriebene und Flüchtlinge nach dem Krieg. Sie kamen als sogenannte Gastarbeiter und wirkten am deutschen Wirtschaftswunder mit. Für Nordrhein-Westfalen war die Zuwanderung ein Riesengewinn. Trotzdem wissen wir alle natürlich, dass mancherorts auch Folgen mangelnder Integration zu spüren sind. Da ist zusätzliches Engagement nötig, damit das Miteinander besser klappt. Zugleich stehen wir in Deutschland vor neuen Anstrengungen. Wir müssen die vielen Flüchtlinge, die in den letzten Jahren zu uns gekommen sind und die für eine Zeit lang oder für immer bleiben, integrieren. Da ist natürlich auch Nordrhein-Westfalen stark gefragt. Es gibt zahlreiche Bürgerinitiativen und ein breites ehrenamtliches Engagement. Da sind Familien, die unbegleiteten Minderjährigen ein neues Zuhause bieten. Da sind Lehrkräfte, die weit mehr als die deutsche Sprache vermitteln. Da sind Unternehmen, die sich darum kümmern, Flüchtlinge auszubilden oder einzustellen. Ich danke allen für ihre Bereitschaft zur Integration, zur Aufnahme und zum Engagement. Das alles, meine Damen und Herren, geschieht in Nordrhein-Westfalen parallel zu einem gewaltigen wirtschaftlichen Veränderungsprozess. Kaum eine andere europäische Region weiß besser, was Strukturwandel bedeutet. Lange Zeit kennzeichnete der Steinkohlebergbau ganze Regionen. Das Wort „Kohlenpott“ ist immer noch präsent. Wenn in wenigen Jahren die letzten Bergwerke schließen, geht eine Ära zu Ende. Dieser Abschied ist ganz sicherlich auch schmerzlich. Zugleich ist jedoch viel Neues entstanden. Statt Kohle heißt der Rohstoff heute Wissen. Insbesondere die Digitalisierung eröffnet neue Perspektiven, ermöglicht neue Verfahrenstechniken und Geschäftskonzepte. Der Weg weg von Kohle und Stahl hin zur dienstleistungsorientierten Wissenschaftsregion ist steinig. Das zehrt an den Kräften, aber es trainiert sie auch. Deshalb unterstützt der Bund Nordrhein-Westfalen auf seinem Weg. Über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ haben wir bereits Investitionen in Milliardenhöhe mobilisieren können. Wir helfen bei der Erneuerung der Verkehrsinfrastruktur. Und wir helfen bei der Erneuerung und Weiterentwicklung der Wissenschaftslandschaft. Dass sich Anstrengungen auszahlen, zeigen die vergangenen Jahrzehnte. Natürlich ist der Strukturwandel noch nicht abgeschlossen, aber Nordrhein-Westfalen hat bereits viel geschafft. Das Land verfügt über eine leistungsfähige Wirtschaft. Nach wie vor finden sich in Nordrhein-Westfalen Standorte von Energieerzeugern und klassischen Industriezweigen, aber es sind neue Bereiche hinzugekommen, innovative Betriebe und Dienstleistungsunternehmen. Die Forschungslandschaft ist gut aufgestellt, auch hier oft durch Kooperationen von Bund und Land. Nordrhein-Westfalen ist lebens- und liebenswert. Dies soll so bleiben. Der ehemalige Ministerpräsident und spätere Bundespräsident Johannes Rau hat von – ich zitiere ihn, nur er konnte es so sagen: der „Zuverlässigkeit der Rheinländer“, der „Leichtigkeit der Westfalen“ und der „Großzügigkeit der Lipper“ gesprochen, die NRW für seine Zukunft braucht. Nordrhein-Westfalen kann aus vielen guten Eigenschaften seiner unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen schöpfen. In der Wirtschaft fällt in solchen Fällen oft das Wort „Diversität“. Einfach formuliert sagt man: Die richtige Mischung macht’s. Ich wünsche Ihnen von Herzen: Erhalten Sie sich Ihre Vielfalt und Ihren Humor. Erhalten Sie sich Ihre Bereitschaft zum Wandel und Ihre europäische Gesinnung. Ich darf sagen: Deutschland braucht auch in den nächsten Jahrzehnten ein starkes Nordrhein-Westfalen. Herzlichen Dank.
Rede von Staatsministerin Monika Grütters zur Eröffnung der Internationalen Tanzmesse NRW
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-monika-gruetters-zur-eroeffnung-der-internationalen-tanzmesse-nrw-354462
Wed, 31 Aug 2016 18:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Was würden Sie tun, wenn Sie einmal die Gelegenheit hätten, einem Staatsoberhaupt oder einer Regierungschefin persönlich zu begegnen: … einmal der Bundeskanzlerin die Hand schütteln – und dann: mit ihr tanzen? Für eine Dame im stolzen Alter von 106 Jahren erfüllte sich im Februar der lang ersehnte Wunsch, US-Präsident Barack Obama zu treffen – und was tat die entzückte Seniorin vor Freude? Sie tanzte! – und steckte mit ihrer Energie den Präsidenten und die First Lady an. Das Video dieser rührenden Begegnung im Weißen Haus ging um die Welt – und die mittlerweile 107-Jährige wurde gewissermaßen zur Botschafterin für Tanz und Lebensfreude. Tanzen kann Emotionen ausdrücken, die nicht in Worte zu fassen sind, Tanzen macht glücklich und ist obendrein noch gesund! Die „internationale tanzmesse nrw“ ist einer der Höhepunkte des Tanzjahres 2016, und deshalb freue ich mich, die zahlreichen internationalen Gäste begrüßen zu dürfen, die aus Ländern aller Kontinente nach Deutschland gekommen sind. Wie schön, dass ich auch den Commercial Consul des US-Generalkonsulats Düsseldorf begrüßen kann, Mister Ken Walsh. Vielleicht auch mit dem Gedanken, mehr Menschen in Deutschland zum Tanzen zu animieren, haben der Dachverband Tanz, die Tanzplattform Deutschland, der Tanzkongress und die Tanzmesse NRW das Jahr 2016 als „Tanzjahr Deutschland“ ausgerufen, das ich als Schirmherrin gern unterstütze. Ob zeitgenössisch oder klassisch, HipHop oder Volkstanz: mit Tanz-Projekten und Workshops, Kongressen und Premieren will das Tanzjahr an 365 Tagen zeigen, wie vielfältig die Tanzkunst in Deutschland ist und welches enorme gesellschaftliche Potential der Tanz für Bildung, Kreativität, Gesundheit und Integration besitzt. Dass die Tanzmesse in Düsseldorf stattfindet, verwundert nicht. Denn wenn ein Bundesland in diesem Tanzjahr die Bezeichnung Tanzland verdient, dann Nordrhein-Westfalen: In keinem anderen Bundesland gibt es eine größere Dichte professioneller Ensembles und freier Gruppen, eine so ausgeprägte Vernetzung der Szene mit Tanzbüros und Archiven. Sie alle werden durch die Tanzförderung Nordrhein-Westfalens kontinuierlich gestärkt. Eine besonders wichtige Plattform für Tänzerinnen, Tänzer und Choreografen sind die Tanz- und Produktionshäuser, wie PACT Zollverein und das „tanzhaus nrw“, in dem wir heute zu Gast sein dürfen. Was hier in Nordrhein-Westfalen für die Tanzszene geschaffen wurde, ist die vorbildliche Umsetzung dessen, was mit dem „Tanzplan Deutschland“ intendiert war. Mit dem „Tanzplan Deutschland“ hat sich der Bund erstmals strukturell im Bereich des zeitgenössischen Tanzes engagiert: Die Länder bekamen eine Anschubfinanzierung, um die eigene regionale Tanzszene nachhaltig zu entwickeln und zu stärken – an Rhein und Ruhr hat das bestens geklappt. Düsseldorf war übrigens mit dem Projekt „Take-off: Junger Tanz.“ vertreten, das Maßstäbe für die tänzerische und tanzpädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gesetzt hat. Aber auch beim Bund hat der „Tanzplan Deutschland“ eine Menge bewegt: So finanziert mein Haus seitdem die Geschäftsstelle des Dachverbandes Tanz, das Nationale Performance Netz, das Deutsche Tanzfilminstitut in Bremen, die Tanzplattform, den Tanzkongress, das Bundesjugendballett, die Initiative „Dance On“ und das Pina Bausch Archiv. Neu ist seit diesem Jahr der Fonds „Tanzland“ der Kulturstiftung des Bundes – hier stehen Mittel für Häuser bereit, die nicht über ein eigenes Ensemble verfügen und die mit der Förderung Kompanien zu Gastspielen einladen können. Aber auch feste Ensembles, die ihre Produktionen häufiger und vor größerem Publikum zeigen wollen, profitieren von der Förderung. Ich freue mich, Ihnen heute außerdem auch mitteilen zu können, dass der Dachverband Tanz Deutschland DTD im Rahmen unserer „Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft“ einmalig 100.000 Euro für ein vielversprechendes Projekt zur Förderung der professionellen Vernetzung und Vermarktung auf Messen, Festivals sowie auf internationalen Plattformen erhalten wird. Dem Tanz zu einem größeren Publikum zu verhelfen, geht einher mit dem Anspruch an die zeitgenössische Tanzkunst, eine Kunstform zu sein, die von Zeitgenossen verstanden wird – die also „Kommunikation in der Gegenwart“ ist, wie es der große Choreograf John Neumeier einmal formuliert hat. Mit der Förderung für die besondere Kunst- und Ausdrucksform Tanz möchte der Bund genau das erreichen: nicht nur die Strukturen der freien Szene und deren Netzwerke stärken, sondern den zeitgenössischen Tanz in Deutschland sichtbarer machen, das heißt vor allem Zuversicht für und Vertrauen in zeitgenössische Ausdrucksformen vermitteln. Denn es lohnt sich, neugierig und offen zu sein – auch für etwas, das neu ist, das uns irritiert, das ungewohnt ist, das vielleicht provoziert, uns eventuell auch verunsichert. Die choreografischen Handschriften in Deutschland sind außerordentlich vielfältig, die künstlerischen Themen des Tanzes vielseitig. Dabei geht es auch im zeitgenössischen Tanz immer um das, was wir aus der Literatur, aus dem Theater kennen – um die ganz großen Geschichten des Lebens nämlich. Vor allem aber ist der Tanz eines – und das sehen wir heute wieder einmal ganz eindrücklich: Er ist so international, wie kaum eine andere Kunstsparte! Dass die Körpererfahrungen aus den unterschiedlichsten Regionen der Welt in einer modernen Kompanie zusammenfließen, ist einfach wunderbar! Tanz schafft Verbindung, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren. Tanz kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Tanz kann uns aber auch nötigen, die Perspektive zu wechseln und die Welt aus anderen Augen zu sehen. Ja, Tanzkultur öffnet Welten. Mich beeindruckt es immer wieder zu sehen, wie Tanz – wie Kunst ganz allgemein – Grenzen überwindet und Menschen integriert. Pina Bausch hat einmal sehr emotional beschrieben, worin das Verbindende des Tanzes besteht, als sie in ihrer Rede zur Verleihung des Kyoto-Preises 2007 über die Arbeit auf der Bühne und die Möglichkeiten künstlerischer Annäherungen an große, letzte Fragen sprach: „Es ist so, als bekämen wir dadurch ein Wissen zurück, das wir zwar immer schon haben, das uns aber gar nicht bewusst und gegenwärtig ist. Es erinnert uns an etwas, das uns allen gemeinsam ist. Das gibt uns eine große Kraft.“ Tänzerinnen und Tänzer sind in besonderer Weise dazu in der Lage, mit dem Instrument des Körpers und der Sprache des Tanzes das auszudrücken, was uns gemeinsam ist: Mit ihren Bewegungen erinnern sie uns an die menschliche Sehnsucht, in Bewegung umzusetzen, was uns bewegt. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen einen schönen Abend mit guten Gesprächen und inspirierenden Begegnungen, die bewegen und die Dinge in Bewegung bringen!
Die „internationale tanzmesse nrw“ ist einer der Höhepunkte des Tanzjahres 2016. Mit der Förderung für die besondere Kunst- und Ausdrucksform Tanz wolle der Bund nicht nur die Strukturen der freien Szene und deren Netzwerke stärken, sondern den zeitgenössischen Tanz in Deutschland sichtbarer machen, erklärte Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der Messe.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum Abschluss der Restaurierung und Sanierung von Schloss und Park Babelsberg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-abschluss-der-restaurierung-und-sanierung-von-schloss-und-park-babelsberg-419742
Tue, 16 Aug 2016 11:00:00 +0200
Im Wortlaut
Potsdam
Kulturstaatsministerin
Als sich 1832 der Landschaftsarchitekt Hermann von Pückler-Muskau dem Preußischen Kronprinzenpaar Wilhelm und Augusta für die Vollendung des Parks Babelsberg empfahl, versicherte er, „dass der Babelsberg als organisches Ganzes, etwas sehr Gediegenes und in künstlerischer Hinsicht alle anderen Anlagen seiner Art in der Potsdamer Gegend übertreffen wird…“. Dabei stellte Pückler an seine potentiellen Auftraggeber folgende Bedingungen: „[…] man muss mir freie Hand lassen und tun, was ich sage, sonst kann ich die künstlerische Verantwortung nicht dafür übernehmen. Knickern aber darf man gar nicht, denn umsonst ist nur der Tod und unnütze Verschwendung wird unter meinen Leuten nie vorfallen, aber das Notwendige muss geschaffen werden …“. Die Opulenz des Parks ist also wohl der Tatsache zu verdanken, dass Pückler ausschließlich „unnütze Verschwendung“ ablehnte. Die kunstvollen Fontänen, die romantischen Pfade und der üppige Baumbestand lassen keinen Zweifel daran, dass hier nicht etwa nur das „Notwendige“, sondern etwas Einzigartiges geschaffen wurde. Ich freue mich sehr, dass wir nach umfangreichen Restaurierungsarbeiten nun wieder die künstlerische Gesamtkomposition von Schloss und Park Babelsberg erleben können. Dafür danke ich besonders dem Masterplan-Team der Stiftung Preußischer Schlösser und Gärten und stellvertretend dessen Leiter Ayhan Ayrilmaz! Der Park Babelsberg zeigt sich uns heute „als organisches Ganzes“ wie es Pückler einst erdachte. Das war nicht immer so: Der Park Babelsberg ist nicht nur ein Zeugnis glorreicher preußischer Zeiten, sondern auch ein Zeuge der deutsch-deutschen Teilung: Für ein „freies Sicht- und Schussfeld“ im Grenzgebiet ließ das SED-Regime die geschwungenen Wege und sanften Hügel mit Planierraupen plattwalzen. Stacheldraht und Beton schnitten tiefe Wunden in das landschaftsarchitektonische Meisterwerk. Die Zerstörung des Parks und die Restaurierung nach der Wiedervereinigung dokumentiert übrigens zurzeit die Ausstellung „Gärtner führen keine Kriege“ im Schloss Sacrow, die unter anderem von der Stiftung Aufarbeitung und meinem Haus gefördert wird. Ein ungewöhnlicher, ein spannender Blick auf die Zeitgeschichte! Es war schließlich auch diese einmalige Verbindung von Kunst, Kultur und Geschichte, die das UNESCO-Welterbekomitee 1990 davon überzeugte, die Berlin-Potsdamer Schloss- und Parklandschaft in die Liste des Welterbes der Menschheit aufzunehmen. Mehr als 25 Jahre sind seitdem vergangen, die Schlösser und Parks an der Havel, in Potsdam und in Glienicke sind buchstäblich wieder zusammengewachsen. Doch nicht zuletzt unsere Geschichte mahnt uns, das einmalige Erbe der Gartenkünstler, die hier gewirkt haben, zu bewahren. Die Pflege dieses Erbes ist intensiv, der Erhalt der Schlösser und Gärten kostet Zeit und Geld: 5,9 Millionen Euro für die Wiederherstellung des Bewässerungs-netzes im Park Babelsberg verdeutlichen die Dimensionen dieser Aufgabe. Dass die Brunnen wieder sprudeln und die Fontänen im Park zum Leben erwecken, ist einer Geldquelle mit sperrigem Namen zu verdanken: dem Sonderinvestitionsprogramm für die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten. Von meinem Haus initiiert, haben sich der Bund, Brandenburg und Berlin im Jahr 2008 darauf verständigt, bis 2017 für die Sanierung der Schloss- und Parkanlagen insgesamt 155 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Das Programm ist – das kann man im neunten Jahr schon einmal sagen – ein voller Erfolg: Nicht nur der Park Babelsberg mit seinen wunderbaren Wasserspielen wurde saniert, auch die Außenhülle des Schlosses erstrahlt in neuem Glanz. Theodor Fontane, der große Brandenburger, hat einmal gesagt: „Courage ist gut, aber Ausdauer ist besser.“ In diesem Sinne wollen wir die komplexe und langfristige Aufgabe der Sanierung der Schloss- und Parkanlagen weiterführen. Ziel ist eine Fortsetzung des Sonderinvestitionsprogramms, über die wir gerade verhandeln. Das neue Programm soll auf 15 Jahren angelegt sein und – wenn es nach dem Willen des Deutschen Bundestages geht – mit 200 Millionen Euro allein von Seiten des Bundes ausgestattet werden. Der Erfolg des ersten Programms und die gute Zusammenarbeit zwischen Bund und den zwei Ländern stimmen mich zuversichtlich, dass wir die Stiftung Preußischer Schlösser und Gärten auch künftig dabei unterstützen werden, ihren großen Sanierungsmasterplan abzuarbeiten. Dass alle Kraftanstrengung und Ausdauer sich lohnen, zeigt sich hier und heute.
Nach Ende der umfangreichen Restaurierungsarbeiten sagte Kulturstaatsministerin Grütters, sie freue sich sehr, „dass wir die künstlerische Gesamtkomposition von Schloss und Park Babelsberg wieder erleben können“. Um das „einmalige Erbe der Gartenkünstler zu bewahren“, stellte Grütters eine dauerhafte finanzielle Unterstützung des Bundes in Aussicht.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Eröffnung des 20. Thomas-Mann-Festivals in Nidden (Litauen)
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-eroeffnung-des-20-thomas-mann-festivals-in-nidden-litauen–423004
Sat, 16 Jul 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Nida
Kulturstaatsministerin
Man muss schon sehr diszipliniert sein, um hier im idyllisch gelegenen, landschaftlich so einzigartig schönen Nida als Sommerurlauber seiner Arbeit nachzugehen. Thomas Mann war bekannt für seine eiserne Arbeitsdisziplin – daran hat auch der wunderbare Blick über das Haff vom Ferienhaus der Familie Mann aus nichts geändert. 1930 arbeitete er hier unter anderem an einer Rede: an der „Deutschen Ansprache“, die er als „Ein(en) Appell an die Vernunft“ – so ihr Untertitel – verstanden wissen wollte. Darin heißt es über Aufgabe und Selbstverständnis des Künstlers, ich zitiere: „Dennoch gibt es Stunden, Augenblicke des Gemeinschaftslebens, wo (…) der Künstler von innen her nicht weiter kann, weil unmittelbarere Notgedanken des Lebens den Kunstgedanken zurückdrängen, krisenhafte Bedrängnis der Allgemeinheit auch ihn auf eine Weise erschüttert, dass die spielend leidenschaftliche Vertiefung ins Ewig-Menschliche, die man Kunst nennt, (…) das zeitliche Gepräge des Luxuriösen und Müßigen gewinnt und zur seelischen Unmöglichkeit wird“. Thomas Mann hielt diese Rede, begleitet von Tiraden und Tumulten der SA, am 17. Oktober 1930 im Berliner Beethoven-Saal: ein leidenschaftlicher Appell an die Deutschen, sich abzuwenden von den Nationalsozialisten angesichts der – wie Thomas Mann es formulierte – „orgiastische(n) Verleugnung von Vernunft, Menschenwürde, geistiger Haltung“. Das 20. Thomas-Mann-Festival unter dem Motto „Menschenwürde“ bietet – neben einem beeindruckenden künstlerischen Programm – eine Menge Gelegenheiten, über das politische Vermächtnis Thomas Manns zu diskutieren: über seine Wandlung vom Demokratieskeptiker zu einem ihrer glühendsten Verteidiger und über sein Eintreten für Überzeugungen, die wir heute als „europäische Werte“ bezeichnen. Vor allem aber ist es ein wunderbares Fest der deutsch-litauischen Freundschaft und der Völkerverständigung in Europa. Deshalb ist es mir eine große Freude, dieses herausragende Festival zum Abschluss meiner Reise nach Estland, Lettland und Litauen zu eröffnen. Ich danke Ihnen herzlich für die Einladung, lieber Herr Minister Birutis. Zuletzt haben wir uns im Mai in einem Brüsseler Sitzungssaal gesehen – viel schöner ist es natürlich hier in Nida in wunderbarer Festival-Atmosphäre. Als Thomas Mann 1930 seine Gedanken über die „seelische Unmöglichkeit“ der Kunst in Zeiten „krisenhafter Bedrängnis der Allgemeinheit“ zu Papier brachte, meine Damen und Herren, stand er unter dem Eindruck eines von Fanatismus und Nationalismus aufgeheizten gesellschaftlichen Klimas in Deutschland. Die Stimme zu erheben, politische Position zu beziehen im Sinne der Menschenwürde, war gefährlich. Ganz anders heute, in einem vereinten Europa, das seinen Bürgerinnen und Bürgern – uns allen – demokratische Rechte und Freiheiten scheinbar selbstverständlich garantiert! So hart wir auch darum ringen, welche konkreten Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen sich aus dem Bekenntnis Europas zur Menschenwürde ergeben – etwa gegenüber Menschen aus Kriegs- und Krisenregionen, die Zuflucht suchen in Europa -, und so schwierig die Verständigung auf eine Politik im Einklang mit unseren Werten auch sein mag: Jenen politischen Mut, den Thomas Mann 1930 in seinem „Appell an die Vernunft“ bewies, muss heute zum Glück niemand an den Tag legen, um öffentlich die Menschenwürde zu verteidigen. Und doch wäre es ebenso trügerisch wie gefährlich anzunehmen, dass die Menschenwürde keine Verteidiger mehr braucht. In Deutschland haben wir aus zwei Diktaturen – aus der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten und aus dem kommunistischen Regime in der DDR – eine Lehre gezogen, die da lautet: Kritik und Freiheit der Kunst sind konstitutiv für eine Demokratie. Kreative und Intellektuelle sind das Korrektiv einer Gesellschaft. Wir brauchen sie, die provozierenden Künstler, die verwegenen Denker, die unbequemen Schriftsteller, wir brauchen die Utopien, die sie entwerfen, die Fantasie, die sie antreibt, ihre Sehnsucht nach einer besseren Welt! Sie sind der Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft, der verhindert, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Sie sind imstande, unsere Gesellschaft vor gefährlicher Lethargie und damit auch vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu bewahren. Die Freiheit und Vielfalt der Kunst und Kultur zu sichern und so jedem neuerlichen Totalitarismus, jeder neuerlichen Abkehr von der Menschenwürde vorzubeugen, das ist deshalb oberster Grundsatz unserer Kulturpolitik in Deutschland. Vom Wert der Kunst und der Rolle des Künstlers erzählt auch die Geschichte des Thomas-Mann-Hauses, das sich in der Zeit des Sozialismus zu einem Refugium litauischer Intellektueller entwickelte – zu einem Ort unabhängigen Denkens und kontroverser Debatten, oftmals ausgehend von Essays oder Briefen des einstigen Hausherrn. Was für ein Glück – ja, was für ein Wunder -, dass der Geist des Thomas-Mann-Hauses die Zeit der deutschen Besatzung und die Zeit der sozialistischen Sowjetrepublik Litauen überstanden hat! Damit ist auch das Thomas-Mann-Haus ein Zeugnis politischen Mutes: des Mutes litauischer Bürgerinnen und Bürger, sich in der Diktatur geistige Freiräume zu erhalten. Über die vielfältigen Verbindungen hinaus, die sich aus der einstigen Nachbarschaft Deutschlands und Litauens und aus dem gemeinsamen kulturellen Erbe entwickelt haben, sind es auch solche Erfahrungen, auf die wir die deutsch-litauische Freundschaft und das gemeinsame Eintreten für Frieden und Freiheit in Europa bauen können. Deshalb bin ich all jenen von Herzen dankbar, die Thomas Manns Vermächtnis über all die Jahre in Ehren gehalten haben, die zum Erhalt des Thomas-Mann-Hauses beigetragen und es zu einem Ort der Begegnung und des Austauschs gemacht haben. Man müsse, schrieb Thomas Mann 1938 in seinem Vortrag „Vom kommenden Sieg der Demokratie“, man müsse „die Demokratie als diejenige Staats- und Gesellschaftsform bestimmen, welche vor jeder anderen inspiriert ist vom Gefühl und Bewusstsein der Würde des Menschen“. Diesen im christlichen Menschenbild wurzelnden Anspruch hoch zu halten in festlichen Reden – erst recht in einer so schönen, alten Dorfkirche! -, das ist heute zum Glück sehr einfach. Ihm gerecht zu werden in den Niederungen des demokratischen Alltags, im Ringen um einen vernünftigen Ausgleich unterschiedlicher Interessen, das bleibt so schwer wie eh und je. Nicht zuletzt braucht Europa dafür die Kraft der Erinnerung an seine wechselvolle Geschichte: an seine glücklichsten wie an seine dunkelsten Stunden, an seine schmerzlichen Erfahrungen mit Nationalismus und Fanatismus wie auch an seine gewachsenen Freiheitstraditionen. Möge Thomas Mann dafür weiterhin unser gemeinsamer Kronzeuge sein! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und allen Besucherinnen und Besuchern ein inspirierendes Thomas-Mann-Festival – dieses Jahr im Geiste dessen, was uns die Menschenwürde bedeutet.
Kulturstaatsministerin Grütters hat das Thomas-Mann-Festival im litauischen Nidden eröffnet – ein „Fest der deutsch-litauischen Freundschaft und der Völkerverständigung in Europa“. Die Menschenwürde, so das Motto der 20. Ausgabe des Festivals, müsse auch heute noch verteidigt werden. Das Thomas-Mann-Haus an der kurischen Nehrung, zeuge auch „vom Mut der litauischen Bürger, sich in der Diktatur geistige Freiräume zu erhalten“.
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters beim Festakt zum 20jährigen Bestehen der Ostdeutschen Sparkassenstiftungen
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-festakt-zum-20jaehrigen-bestehen-der-ostdeutschen-sparkassenstiftungen-796736
Mon, 11 Jul 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Leipzig
Kulturstaatsministerin
Vermutlich haben die Organisatoren schlicht und einfach den ersten verfügbaren Sommertag nach der Fußball-EM für die heutige Feier gewählt – eine pragmatische Entscheidung, um ganz sicher zu gehen, dass der 20. Geburtstag der Ostdeutschen Sparkassenstiftungen sich die verdiente Aufmerksamkeit nicht mit dem Live-Ticker der Sportschau-App teilen muss. Fußballfans sind da ja schmerzfrei. Trotzdem drängt sich ein historischer Bezug auf, wenn man ausgerechnet an einem Montag und ausgerechnet in Leipzig auf 20 Jahre erfolgreiche Arbeit zurück schaut. Denn in Leipzig formierten sich die Montagsdemonstrationen für Freiheit und Demokratie in der DDR, später auch für die Wiedervereinigung. Aus Leipzig stammt deshalb eines der bekanntesten Museumsexponate aus dem Jahr 1989, das es nicht nur ins Deutsche Historische Museum nach Berlin, sondern 2014 – als Exponat der international gefeierten Ausstellung „Germany: Memories of a Nation“ – sogar ins British Museum nach London geschafft hat: ein schwarz-rot-gelb bemaltes Pappschild in Form des vereinten Deutschlands, darauf die Worte „Wir sind ein Volk“. Und eben damit beginnt gewissermaßen, Jahre vor der Gründung, auch die Geschichte der Ostdeutschen Sparkassenstiftung. Sie ist ein Kind der deutschen Wiedervereinigung und der damit verbundenen Wiederbelebung des Stiftungswesens in Ostdeutschland. Gleichzeitig hat sie die deutsche Einheit, das Zusammenwachsen von Ost und West, mit ihrem Beitrag zur Kunst- und Kulturförderung in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt mitgestaltet und mitgeprägt – gerade auch abseits der städtischen Zentren, im ländlichen Raum, dort also, wo die kulturelle Grundversorgung keine Selbstverständlichkeit ist. Die etwa 80 Millionen Euro, die in den vergangenen 20 Jahren Museen und Denkmälern, der Musik und der Literatur, der bildenden und der darstellenden Kunst zugute kamen, haben nicht nur zum Wiederaufblühen der reichen, über viele Jahrhunderte gewachsenen Kulturlandschaft in Ostdeutschland beigetragen. Sie haben für viele Menschen auch spürbar und erfahrbar gemacht, was 1989 auf dem Leipziger Demonstrationsplakat zu lesen war: „Wir sind ein Volk“. Denn es ist unsere Kultur, in der eben dies zum Ausdruck kommt. Das 20jährige Jubiläum Ihrer Kulturstiftung, verehrte Mitglieder der ostdeutschen „Sparkassen-Familie“, nehme ich deshalb gerne zum Anlass, am Beispiel der OSS die Bedeutung der Kulturförderung auf dem Weg vom wiedervereinigten zum – auch gefühlt – wiedervereinten Deutschland nachzuzeichnen. Schon im 19. Jahrhundert hatte die Kultur hierzulande eine ganz besondere Bedeutung für die Ausprägung einer nationalen Identität. Eine der pointiertesten Beschreibungen dieses Unterschieds zwischen Deutschland und anderen Nationen stammt aus dem Gedichtzyklus „Deutschland – ein Wintermärchen“ von unserem großen Dichter Heinrich Heine. Er schrieb im Jahr 1844: „Franzosen und Russen gehört das Land, Das Meer gehört den Briten, Wir aber besitzen im Luftreich des Traums Die Herrschaft unbestritten. Hier üben wir die Hegemonie, Hier sind wir unzerstückelt; Die andern Völker haben sich Auf platter Erde entwickelt.! Heinrich Heine spielt mit diesen im Jahre 1844 geschriebenen Zeilen auf den deutschen Idealismus an, in dem die Einheit der deutschen Nation im Geiste, also in der Philosophie und in der Kultur, beschworen wird. Eben weil Deutschland im Gegensatz zu anderen europäischen Nationen zu dieser Zeit noch in Kleinstaaten zersplittert war und erst die Revolution 1848 die Verwirklichung der Idee eines deutschen Nationalstaats aufschimmern ließ, spielte die Kultur in den vergangenen Jahrhunderten immer eine besondere Rolle. Sie war das geistige Band gerade in jenen Zeiten, in denen die staatliche Einheit noch nicht verwirklicht war. Deutschland war zuerst eine Kulturnation und dann eine politische Nation. Es war und ist die Kultur, die Identität und Zusammenhalt stiftet. Auch in den Jahren der deutschen Teilung war das einigende Band zwischen Ost und West neben der Sprache und den zahlreichen familiären Verbindungen die gemeinsame Kultur. Kant, Goethe, Brecht – sie wurden in beiden Teilen Deutschlands gelesen. Beethoven, Schumann, Eisler – sie wurden in beiden Teilen Deutschlands gespielt und gehört. Doch erst seit der Realisierung des Einigungsvertrags können wir gemeinsam – Ost und West, öffentliche und private Kulturförderer – unser kulturelles Erbe pflegen. Artikel 35 des Einigungsvertrags erlaubte es uns, zur Erhaltung und Entwicklung national relevanter Kulturstätten Bundesmittel in die Hand zu nehmen. Die Idee dabei: Die neuen Bundesländer sollten im schwierigen Übergang vom Zentralismus der DDR zur für sie neuen Kulturhoheit der Länder Luft zum Atmen haben. Zu diesem Zweck wurden kulturpolitische Förderprogramme aufgelegt und je nach Verlauf immer wieder angepasst. Kultur-Milliarden sind seit der Wiedervereinigung in den Osten Deutschlands geflossen; Kulturinstitutionen von internationaler Strahlkraft beispielsweise in Dresden, Weimar, Stralsund und natürlich auch hier in Leipzig wurden nicht zuletzt damit wieder aufgebaut und haben so zu alter Strahlkraft zurück gefunden – eine Leistung, auf die wir, man kann es nicht oft genug sagen, in ganz Deutschland stolz sein dürfen! Dabei haben wir über viele Jahre außerordentlich positive Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit der Ostdeutschen Sparkassenstiftung gemacht. Ich denke zum Beispiel · an die gemeinsame Finanzierung von Rückkäufen bzw. Ankäufen für Museen und Stiftungen, · an die Kofinanzierung von Ausstellungen, wie aktuell zum bevorstehenden Reformationsjubiläum, · an gemeinsame Förderungen beim Programm InvestOst · oder an gemeinsame Projektförderungen der von meinem Haus institutionell unterstützten Kulturstiftung des Bundes und der Ostdeutschen Sparkassenstiftung im so genannten Fonds Neue Länder für die Weiterentwicklung der Kulturarbeit in Ostdeutschland. Auch das Museum der bildenden Künste – unser heutiger Gastgeber – ist ein wunderbares Beispiel für das erfolgreiche Zusammenwirken zwischen öffentlicher und privater Kulturförderung. Der Bund hat den 2004 fertig gestellten Museumsneubau zu 25 Prozent mitfinanziert; außerdem erhält das Museum in diesem Jahr 94.000 Euro aus dem Förderprogramm InvestOst. Es gehört – auch dank der international viel beachteten Ausstellungen, die zusammen mit dem Ostdeutschen Sparkassenverband realisiert wurden – zu den kulturellen Leuchttürmen im Osten Deutschlands. Diese wenigen Beispiele, meine Damen und Herren, vermitteln einen Eindruck davon, was wir der Ostdeutschen Sparkassenstiftung verdanken. Ohne ihr konstantes Engagement, ohne ihre Impulse auch für das Engagement der Ortssparkassen, hätten viele Kulturprojekte in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt nicht realisiert werden können. Die OSS hat dabei nicht nur kulturelle Schätze in neuem Glanz erstrahlen lassen, sondern auch zur kulturellen Bildung und zur Auseinandersetzung mit unserer Identität beigetragen. Gerade hier prallten ja nach 40 Jahren unterschiedlicher Sozialisation Welten aufeinander. Davon erzählt, Sie erinnern sich bestimmt, der Film Good Bye Lenin – eine wunderbare Tragikkomödie über den irrwitzigen Versuch eines jungen Mannes, für seine stramm sozialistische, im Sommer 1990 aus dem Koma erwachte Mutter die Lebenswelt der DDR aufrecht zu erhalten: mit holländischen Essiggurken, die in Spreewaldgurkengläser umgefüllt werden, oder mit fingierten Nachrichtenbeiträgen der Sendung „Die aktuelle Kamera“, in denen Coca Cola kurzerhand zur sozialistischen Erfindung erklärt wird – und die gesamtdeutsche Wirklichkeit auf der Straße zur Folge einer Massenflucht von Bürgern der Bundesrepublik in die DDR. „Eine kleine Familie, bei der die Historie wie ein unangemeldeter Gast hereinplatzt“ – so hat der Drehbuchautor Bernd Lichtenberg die Protagonisten seines großen Filmerfolgs beschrieben. Ein Vierteljahrhundert, nachdem die Historie wie ein unangemeldeter Gast in die Filmfamilie Kerner und in unzählige, real existierende DDR-Familien platzte, ist etwas gelungen, was damals vielen undenkbar schien: Der unangemeldete Gast ist mittlerweile nicht nur weitestgehend akzeptiert. Man hat ihn sogar ins Herz geschlossen. Und das, obwohl er Ruhe und Ordnung gestört und nebenbei auch noch höchste Ansprüche gestellt hat! Dieser historisch einmalige Wandel des gesamten gesellschaftlichen Gefüges in Ostdeutschland und die damit verbundenen Veränderungen auch in der alten Bundesrepublik offenbaren, was „Wiedervereinigung“ bedeutet. Wie die Einheit in den Alltag einzog und wie die äußerst robuste und vielfach beklagte „Mauer in den Köpfen“ allmählich anfing, porös zu werden und zu zerbröseln, das ist ein Wandel, der – auch – die Kraft, die Macht der Kultur offenbart. Das lässt sich nicht zuletzt am Beispiel der Erinnerungskultur nachvollziehen. Geschichte vergeht ja nicht einfach – die Art und Weise, wie wir sie erzählend vergegenwärtigen, prägt unsere Sicht auf die Gegenwart und damit auch unser Bild von uns selbst und unsere Zukunft. Der Soziologe Max Weber hat moderne Nationen deshalb einmal als „Erinnerungsgemeinschaften“ bezeichnet. Historisches Erinnern ist zwar – gerade in Deutschland – eine öffentliche Angelegenheit und das heißt in staatlicher Verantwortung. Gleichwohl lässt sich gemeinsames Erinnern natürlich nicht amtlich verordnen oder behördlich regeln. Eine lebendige Erinnerungskultur, die zur Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit und zur Verständigung über unterschiedliche Erfahrungen, Wahrnehmungen und Perspektiven einlädt, braucht auch das zivilgesellschaftliche Engagement. Auch hier hat sich die Ostdeutsche Sparkassenstiftung verdient gemacht. Ich erinnere mich beispielsweise noch gut an die Aufführung von Beethovens Freiheitsoper „Fidelio“ im Zuchthaus Cottbus 2014 im Zusammenhang mit dem Jubiläum des Mauerfalls – ein im „Fonds Neue Länder“ gemeinsam von der Kulturstiftung des Bundes und der Ostdeutschen Sparkassenstiftung gefördertes Projekt. Ein Zuchthaus, in dem unter der NS-Terrorherrschaft und unter der SED-Diktatur viele politische Gefangene inhaftiert waren, wurde zur Theaterkulisse für Beethovens „Befreiungsoper“, und zwar als Höhepunkt eines großen Freiheits- und Demokratiefestes ehemaliger politischer Gefangener, die die Haftanstalt gekauft und mit Unterstützung vieler – auch des Bundes – zur Gedenkstätte entwickelt haben. Mich hat die Aufführung an diesem geschichtsträchtigen Ort sehr beeindruckt. Ich bin überzeugt: Wir brauchen solche Anregungen zur Selbstvergewisserung und zur Verständigung. Kunst und Kultur halten der Gesellschaft den Spiegel vor, sie reflektieren glückliche historische Ereignisse ebenso wie Schuld und Traumata, sie konfrontieren unsere Werte mit der Wirklichkeit, sie sorgen dafür, dass eine Gesellschaft sich auch ihren Defiziten und Widersprüchen stellt. All das ist heute vielleicht wichtiger denn je in Zeiten, in denen der Ruf „Wir sind das Volk“ – der zweite Ruf der Montagsdemonstrationen – missbraucht wird, um gerade im Osten Deutschlands auf breiter Front Ressentiments gegen anders Denkende, anders Glaubende, anders Aussehende, anders Lebende zu schüren – und damit auch gegen die Freiheit, Vielfalt und Rechtsstaatlichkeit einer pluralistischen Demokratie. Die Angst vor der vermeintlich drohenden Dominanz kultureller Minderheiten, die populistischen und nationalistischen Bewegungen Zulauf beschert, offenbart aus meiner Sicht das große Bedürfnis nach Vergewisserung unserer eigenen kulturellen Identität. Gleichzeitig ist kulturelle Teilhabe eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass Zuwanderer in der Fremde heimisch werden. Es ist deshalb nicht zuletzt eine kulturpolitische Herausforderung, Menschen zu integrieren, die ihre Heimat in Kriegs- und Krisenregionen verlassen haben in der Hoffnung, im friedens- und wohlstandsverwöhnten Deutschland Zuflucht zu finden. Mehr denn je rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie Politik und Zivilgesellschaft den Zusammenhalt in einer pluralistischen Gesellschaft zielgerichtet fördern können. Deshalb habe ich den Kulturförderfonds des Bundes, zu denen auch die Stiftung Kunstfonds gehört, Sondermittel in Höhe von bis zu einer Million Euro für kulturelle Projekte mit Flüchtlingen zur Verfügung gestellt. Durch die vielfältigen Kooperationen der Kulturförderfonds wird dieser finanzielle Beitrag meines Hauses auch die Stiftungsarbeit weiter stärken. Als Angebot der Zusammenarbeit habe ich darüber hinaus die Initiative „Kultur öffnet Welten“ ins Leben gerufen. Im Rahmen einer Aktionswoche, die erstmals im Mai 2016 stattgefunden hat, haben Kultureinrichtungen in ganz Deutschland – Museen, Theatern, Konzerthäuser usw. – sich daran beteiligt. Es geht mir dabei um den Beitrag, den Kultureinrichtungen zum Gelingen kultureller Vielfalt leisten können – und den sie de facto vielfach auch bereits leisten. Es geht mir darum, diesen Beitrag sichtbar zu machen – als Ausdruck des Selbstverständnisses einer weltoffenen Gesellschaft und als Einladung für interkulturelle Begegnungen vor Ort. Nicht weniger wichtig ist und bleibt das bürgerschaftliche Engagement, gerade auch in der Kultur: Ein schönes Beispiel dafür aus Ostdeutschland ist die Dresdner Brass-Band „Banda Internationale“, in der deutsche Musiker und geflüchtete Musiker aus aller Welt zusammen Musik machen und die ich gerade mit einem neuen „Sonderpreis für kulturelle Projekte mit Flüchtlingen“ meines Hauses ausgezeichnet habe. Solche Initiativen zeigen, was Kunst – was Musik, Tanz, Literatur, Film, Theater oder auch bildende Kunst – zu leisten imstande ist: Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren; sie kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt; sie kann uns aber auch nötigen, die Perspektive zu wechseln und die Welt aus anderen Augen zu sehen. Ja, Kultur öffnet Welten und überwindet Grenzen, so dass wir sagen können: Wir schaffen das! Dass Sie, lieber Herr Dr. Ermrich, liebe Vertreterinnen und Vertreter der OSS, mit Ihren Projekten schon seit 1996 im Osten Deutschlands zur Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen und zur kulturellen Bildung beitragen – zu einem Umfeld, in dem Menschen Verantwortung übernehmen und sich engagieren, wie die heute zu vergebenden Ehrenamtspreise zeigen -, hat unsere Demokratie gestärkt, und ich hoffe, dass wir auch hier weiterhin auf Ihr Engagement zählen können. Meine Damen und Herren, von Joseph Beuys stammt der schöne Satz: „Arbeite nur, wenn Du das Gefühl hast, es löst eine Revolution aus.“ Diese auf den ersten Blick etwas ungesund anmutende Arbeitseinstellung kann man durchaus auch als pointierte Beschreibung der Überzeugungen verstehen, die Künstler und Kreative, aber auch Kulturförderer und Kulturpolitiker motiviert. Es muss ja nicht immer gleich die Weltrevolution sein. Die kleinen Revolutionen im Denken, im Wahrnehmen, im Empfinden, im Bewusstsein sind es, die jeder kleinen und großen gesellschaftlichen Veränderung vorausgehen, und in diesem Sinne tragen Kunst und Kultur immer den Keim des – im besten Sinne – Revolutionären in sich. Dass aus diesen Keimen etwas wachsen darf, dass es einen fruchtbaren Nährboden dafür gibt und ein wachstumsförderndes Klima – das macht eine vitale Demokratie aus. Herzlichen Dank, dass Sie, lieber Herr Dr. Ermrich – und auch Sie, lieber Herr Dr. Hoppenstedt, als „Gründungsvater“ der OSS – gemeinsam mit vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern so viel Geld, Zeit und Energie in diesen fruchtbaren Nährboden und in ein wachstumsförderndes Klima investiert haben. Wir sehen heute: Es lohnt sich! Deshalb verbinde ich meine herzlichen Glückwünsche zum 20jährigen Bestehen der Ostdeutschen Sparkassenstiftung mit einer Bitte: Bleiben Sie Ihrem Motto „Bewahren. Stärken. Begeistern“ treu und bringen Sie damit, gemeinsam mit uns – den Kulturpolitikerinnen und Kulturpolitikern – weiterhin die revolutionäre Kraft der Kultur zur Entfaltung.
Bei der Feier hat Kulturstaatsministerin Grütters das Engagement der Kulturstiftung in den neuen Ländern hervorgehoben. Als Kind der deutschen Wiedervereinigung habe die Stiftung „das Zusammenwachsen von Ost und West mitgestaltet und mitgeprägt“ und die Einheit spürbar gemacht. Grütters erinnerte auch an den identitätsstiftenden Charakter der Kultur in der Geschichte Deutschlands.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Jahresempfang für das Diplomatische Corps am 11. Juli 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-jahresempfang-fuer-das-diplomatische-corps-am-11-juli-2016-411224
Mon, 11 Jul 2016 18:20:00 +0200
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Nuntius, sehr geehrte Exzellenzen, meine Damen und Herren, ich freue mich, Sie gemeinsam mit dem Bundesaußenminister, dem Staatsminister im Kanzleramt und einigen Staatssekretären ganz herzlich in Meseberg begrüßen zu können. Ich hoffe, Sie alle haben gut hergefunden. Als es noch kein GPS gab, war es noch schwieriger. Heutzutage geht das doch etwas besser. Schon im vorigen Jahr und vor zwei Jahren wollten wir Sie hierher einladen, aber leider war das Wetter schlecht, sodass wir Ihnen das nicht zumuten wollten. „Gut Ding will Weile haben“ oder „Aller guten Dinge sind drei“ sagt man im Deutschen – und beim dritten Mal hat es jetzt geklappt, ohne dass uns das Wetter einen Strich durch die Rechnung macht. Ich will Sie durchaus einladen, auch später einmal nach Meseberg zu kommen. Hier ist es wunderbar. Man kann um den See laufen, man kann im benachbarten Hotel wunderbar essen und übernachten. Wenn Sie also vonseiten der Botschaft einmal eine Landpartie machen wollen, dann bietet sich Meseberg als guter Reiseort an. Meine Damen und Herren, im Vergleich dazu, einen diplomatischen Empfang zu verlegen, ist es im Alltag der Diplomatie oft weitaus schwieriger, immer wieder angemessen zu reagieren, wenn etwas anders als gedacht kommt. Sie alle sind erfahren darin, immer wieder neue Wege zu suchen. Es braucht an vielen Stellen viel Geduld und Fingerspitzengefühl, um trotz mancher Differenzen immer wieder im Gespräch zu bleiben und nach Lösungen zu suchen. Aber Bereitschaft und Fähigkeit zum Dialog sind ein Wert an sich. Das wissen wir auch vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte nur allzu gut. Vor wenigen Wochen haben der französische Präsident François Hollande und ich an den Gräbern der Soldaten gestanden, die in der Schlacht von Verdun vor 100 Jahren ihr Leben gelassen haben. Der Erste Weltkrieg war die Folge diplomatischen und politischen Versagens. Solche Besuche erinnern uns alle immer wieder daran, lieber einmal mehr zu versuchen, im Gespräch zu bleiben, als einmal zu wenig. Dass wir – damit meine ich Deutschland und Frankreich – heute gemeinsam und in Freundschaft vereint der Toten gedenken können, ist diplomatischem Geschick und politischer Weitsicht zu verdanken, die die Väter und Mütter der europäischen Einigung bewiesen haben. Für mich ist und bleibt die Einigung Europas ein unschätzbares Glück, dem wir ein Leben in Frieden und Freiheit sowie auch ein Leben auf einem hohen Wohlstandsniveau zu verdanken haben. Gemeinsam als Europäische Union sind wir für große Aufgaben unserer Zeit stärker gewappnet, als es jedes einzelne Mitgliedsland allein sein würde. Daran ändert auch das Referendum in Großbritannien nichts. Dass sich aber eine Mehrheit im Vereinigten Königreich für einen EU-Austritt ausgesprochen hat, bedauere ich und bedauert die ganze Bundesregierung zutiefst. Die Entscheidung ist ein herber Einschnitt. Doch ich bin fest davon überzeugt, dass die Europäische Union stark genug ist, um auch diese Zäsur zu verkraften. Nun liegt es an Großbritannien, seinen Austrittswunsch der EU offiziell mitzuteilen. Erst dann kann das Verfahren beginnen. Darauf haben wir uns auch beim jüngsten Europäischen Rat verständigt. Das Vereinigte Königreich wird rasch klären müssen, wie es denn in Zukunft sein Verhältnis zur Europäischen Union gestalten will. Ich kann von deutscher Seite aus nur werben: Großbritannien ist ein wichtiger Partner, dem wir auch in Zukunft eng verbunden bleiben wollen. Natürlich müssen aber auch die EU und die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten ihre Interessen wahren. Wer etwa freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt haben möchte, wird im Gegenzug auch alle Grundfreiheiten einschließlich der Freizügigkeit von Personen akzeptieren müssen. Wir können nach dem Referendum in Europa sicherlich nicht einfach zur gewohnten Tagesordnung übergehen. Wir müssen uns gemeinsam überlegen, welche Lehren wir für den weiteren europäischen Einigungsprozess ziehen. Dazu wird es zunächst ein Sondertreffen in Bratislava im September geben. Natürlich fragen viele, ob die Antwort in „mehr“ oder in „weniger“ Europa liegt. Meines Erachtens greift eine solche Diskussion zu kurz. Wir brauchen ein erfolgreiches Europa. Das ist das Ziel, das wir verfolgen müssen. Wir müssen Europa wettbewerbsfähiger machen und Forschung und Innovation stärken, um in zukunftsträchtigen Wirtschaftsbereichen nicht nur Anschluss zu halten, sondern als Europäer auch selbst Maßstäbe zu setzen. Das ist auch die Voraussetzung dafür, dass wir jungen Menschen bessere Perspektiven als heute bieten können. Denn viel zu viele sind in Europa im Augenblick von Arbeitslosigkeit betroffen. Wir brauchen strukturelle Reformen. Wir brauchen solide Finanzen. Und wir brauchen vor allem Kraft und Tatkraft, Innovationen wirklich nach vorne zu bringen. Als wir uns vor einem Jahr in diesem Kreis gesehen haben, kam ich tags zuvor aus Brüssel zurück. Wieder einmal hatten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs mit der sogenannten Eurokrise befasst. Allen war klar, dass es keinen einfachen Lösungsweg geben kann. Aber wir haben uns damals doch auf einen Weg geeinigt. Und ich darf heute sagen, dass wir durchaus vorangekommen sind. Gemeinsam geht es besser – diese Überzeugung trägt Europa. Vor einem Jahr bahnte sich bereits eine neue Herausforderung an, die eben diesen europäischen Gemeinschaftsgeist auch wieder auf die Probe stellte: Zahlreiche Flüchtlinge haben aufgrund von Krieg, Gewalt und Perspektivlosigkeit ihrer Heimat den Rücken gekehrt, um woanders Schutz zu suchen oder gar ein völlig neues Leben zu beginnen. Im August 2015 kamen erstmals über 100.000 Flüchtlinge über die Türkei auf den griechischen Inseln an. Dies war der Beginn einer beispiellosen Flüchtlingsbewegung über die sogenannte Westbalkanroute nach Mittel- und Nordeuropa. So viele Menschen in so kurzer Zeit aufzunehmen und zu versorgen, war ein enormer Kraftakt. Das wissen wir in Deutschland aus eigener Erfahrung. Unser Land bietet hunderttausenden Männern, Frauen und Kindern Schutz. Wir konnten und können uns dabei auf viele haupt- und ehrenamtliche Helferinnen und Helfer stützen, die förmlich über sich hinausgewachsen sind. Aber ich will an dieser Stelle auch all den Ländern danken, die gerade auch in der Nachbarschaft von Syrien und dem Irak Flüchtlinge aufgenommen haben. Europa hat nicht die meisten Flüchtlinge aufgenommen, sondern es sind Länder wie die Türkei, der Libanon und Jordanien, die in ganz besonderer Weise betroffen sind. Wir haben im letzten Jahr allerdings auch erlebt, dass wir mit unseren Kräften haushalten müssen. Das heißt, wir müssen uns auf die Menschen konzentrieren, die wirklich schutzbedürftig sind. Deshalb habe ich von Anfang an unseren Zieldreiklang betont: Wir wollen die Zahl der Flüchtlinge spürbar und dauerhaft reduzieren; wir wollen illegale durch legale Migration ersetzen und dem menschenverachtenden Geschäft der Schlepper die Basis entziehen; und wir wollen dazu eine gemeinsame Lösung schaffen. Die EU-Türkei-Vereinbarung erfüllt diesen Anspruch. Seit ihrer Umsetzung machen sich weitaus weniger Flüchtlinge auf den gefahrvollen Weg über die Ägäis. Aber damit ist das Problem natürlich nicht aus der Welt. Im Gegenteil: Die Zahl der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen weltweit hat ein neues trauriges Rekordniveau erreicht. Schätzungen des Flüchtlingshilfswerks UNHCR zufolge sind es weltweit mittlerweile mehr als 65 Millionen. Schon allein diese unvorstellbare Zahl macht deutlich: Da sind wir als Weltgemeinschaft gefragt. Deutschland hat daher zusammen mit Großbritannien, Kuwait, Norwegen und den Vereinten Nationen Anfang dieses Jahres eine Syrien-Konferenz abgehalten. Das Treffen in London hat neue Maßstäbe der internationalen Unterstützung gesetzt. Wir konnten einerseits mehr als zwölf Milliarden US-Dollar einwerben, um die Lage syrischer Flüchtlinge zu verbessern. Andererseits hat die Konferenz auch Veränderungen in den Aufnahmeländern der Region angestoßen. Sie haben schrittweise ihre Arbeitsmärkte für Flüchtlinge geöffnet und Kindern Schulplätze angeboten. Was die Türkei, der Libanon und Jordanien – ich sagte es schon – hierbei leisten, verdient wahrlich Respekt. Deutschland hat im Zuge der Syrien-Konferenz 2,3 Milliarden Euro zugesagt – 1,3 Milliarden Euro davon allein für 2016. Deutschland war damit größter Geber, aber es haben auch viele andere Staaten großzügige Hilfen angekündigt. Aber es kommt nun vor allen Dingen darauf an, dass das Geld bei den Menschen ankommt. Wir haben erlebt, dass es für Familien kaum auszuhalten war, als die Mittel für Lebensmittelrationen von 30 Dollar pro Person und Monat, was schon wenig ist, auf 13 Dollar gesenkt wurden. Noch besser, als die Folgen von Flucht und Vertreibung abzumildern, ist es natürlich, die Ursachen zu beheben. Daher richten sich unsere Anstrengungen nach wie vor auch darauf, den Konflikt in Syrien zu befrieden. Unser Bundesaußenminister ist daran intensiv beteiligt. Grundlage für einen politischen Transformationsprozess ist, dass die vereinbarte Waffenruhe eingehalten wird und die Millionen Binnenflüchtlinge Hilfe bekommen können. Es muss Schluss sein mit dem Einsatz geächteter Kampfmittel wie Fassbomben. Es muss Schluss sein mit gezielten Angriffen auf Krankenhäuser und humanitäres Personal. Es muss Schluss sein mit der Politik des Aushungerns. Wir haben durch die russische Intervention an der Seite des Assad-Regimes eine veränderte Lage in Syrien. Wir erwarten deshalb natürlich auch von Moskau, dass es sich intensiv daran beteiligt, eine tragfähige politische Lösung zu finden. Die Gespräche laufen glücklicherweise. Es gibt auch Abstimmungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Ich hoffe, dass wir, wenn wir im nächsten Jahr wieder einen solchen Empfang durchführen werden, eine bessere Situation in Syrien haben werden als derzeit. Ob in Syrien oder anderswo – der Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat wird weitergehen. Wir müssen seinen Anhängern systematisch jeglichen Boden entziehen, damit die Saat des Hasses nicht mehr aufgehen kann. Dazu mahnen uns auch die Opfer der jüngsten Anschläge in Saudi-Arabien und Bangladesch, in Bagdad und Istanbul. Ich möchte an dieser Stelle auch nochmals an die Opfer der feigen Attentate in Brüssel und Paris erinnern. Frankreich hat sich nach den Terrorakten in seiner Hauptstadt auf die EU-Beistandsklausel berufen. Es war das erste Mal, dass ein Mitgliedstaat diese Möglichkeit des Vertrags von Lissabon genutzt hat. Infolgedessen wurde das militärische Engagement gegen den IS auch auf deutscher Seite ausgeweitet. Der IS hat mittlerweile große Teile seines Territoriums in Syrien und im Irak wieder verloren. Wir unterstützen die irakische Regierung dabei, die Rückkehr von Flüchtlingen in die befreiten Gebiete zu ermöglichen. Dabei geht es vor allem darum, lebensnotwendige Infrastrukturen wiederherzustellen. Zugleich müssen wir verhindern, dass sich Terrorbanden die instabile Lage in Libyen zunutze machen, um sich dort auszubreiten. Deutschland und die Europäische Union setzen sich mit Nachdruck dafür ein, dass sich in dem leidgeplagten Land feste staatliche Strukturen etablieren können. Das politische Abkommen vom Dezember vergangenen Jahres war ein wichtiger Etappenerfolg. Vermittelt hat es der UN-Sondergesandte Martin Kobler. Noch aber ist die Lage im Land äußerst angespannt. Wir brauchen mehr Anerkennung und Unterstützung für die Einheitsregierung. Das gilt natürlich auch mit Blick auf den Aufbau einer neuen Sicherheitsarchitektur. Kaum ein Staat lässt sich heute noch isoliert betrachten. Daher richtet sich unser Blick über Libyen hinaus auf die gesamte Region. Die Flüchtlingsströme aus verschiedenen Ländern über das zentrale Mittelmeer sind dafür nur ein Grund mehr. Wenn wir sehen, wie viele Menschen im Mittelmeer schon ertrunken sind, obwohl wir uns mit dem Retten von Menschenleben allergrößte Mühe geben, dann zeigt uns das, wie sehr die Zeit drängt. Deutschland und die Europäische Union werden ihre Migrationspartnerschaften in Afrika ausweiten. Dazu gehört zweierlei – zum einen eine bessere Sicherung der Grenzen, eine wirksame Eindämmung von Menschenschmuggel und illegaler Migration sowie erleichterte Rückführungen. Zum anderen müssen wir helfen, die Perspektiven für die Menschen in ihren Heimatländern zu verbessern. Wir sind dazu bereit, erwarten aber von unseren Partnern – wenn ich das so sagen darf – verantwortungsvolle Regierungsführung und den Willen zu guter Kooperation. Die Europäische Union ist durch ihr weltweites breitgefächertes Engagement inzwischen ein international anerkannter Akteur. Sie kann aber ihrer gewachsenen Verantwortung noch besser gerecht werden. Ein Dreh- und Angelpunkt ist dabei unsere europäische Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Sie lässt sich noch wirksamer und stärker ergebnisorientiert gestalten. Wir müssen sowohl die zivilen als auch die militärischen Fähigkeiten weiterentwickeln. Das ist nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zur NATO zu sehen. Es war auch sehr gut, dass die EU und die NATO auf dem letzten NATO-Gipfel in Warschau ein Kooperationsabkommen geschlossen haben. Das Nordatlantische Verteidigungsbündnis ist und bleibt für uns von zentraler Bedeutung. Die Mitglieder stehen gemeinsam für die Werte und Prinzipien ein, die unsere Nachkriegsordnung geprägt und die uns ein Leben in Frieden und Freiheit gesichert haben. Vorgestern sind wir vom zweitägigen NATO-Gipfel in Warschau zurückgekommen. Es gab drei starke Botschaften. Erstens haben wir die Solidarität im Bündnis unterstrichen. Sicherheit ist unteilbar. Dieses Bekenntnis ist der zentrale Pfeiler der euroatlantischen Sicherheitsarchitektur. Zweitens haben wir uns dazu verpflichtet, unseren Teil zu leisten, um Herausforderungen wie Staatenzerfall, Terrorismus und Bürgerkrieg zu bewältigen. Die Allianz hat ein ureigenes Interesse daran, dass sich die Lage in der Nachbarschaft Europas stabilisiert. Drittens hat die NATO ihre Dialogangebote an Russland bekräftigt. Ja, es gibt Differenzen. Aber umso wichtiger ist es, dass wir uns darüber austauschen und nicht übereinander, sondern miteinander reden. Wir sind an ernsthaften, ergebnisorientierten Gesprächen interessiert. Es ist gut, dass am Mittwoch auch ein NATO-Russland-Rat stattfinden wird. Dieses Gespräch gilt natürlich ganz besonders der Ukraine und dem Ukraine-Konflikt. Dieser Konflikt ist militärisch nicht lösbar. Aber er ist lösbar mit politischen, friedlichen und diplomatischen Mitteln. Die Vereinbarungen von Minsk zeigen nach wie vor hierzu den Weg auf. Jetzt kommt es auf die Umsetzung an. Einige Schritte sind gegangen, aber viele liegen noch vor uns. Als Partner im Normandie-Format unterstützt Deutschland zusammen mit Frankreich die Arbeit der trilateralen Kontaktgruppe. Wir versuchen, weiterhin zu vermitteln. Deutschland nutzt zudem seinen OSZE-Vorsitz in diesem Jahr, um tragfähige Lösungsansätze herauszuarbeiten. Sicherheitspolitische Fragen spielen auch im Rahmen unserer Arbeit als G7 und G20 eine Rolle. Das sind zwar traditionell wirtschafts- und finanzpolitische Foren, aber globale Herausforderungen wie geopolitische Konflikte oder auch der Klimawandel und Epidemien haben ohne Zweifel eben auch Auswirkungen auf wirtschaftliche Entwicklungen und Perspektiven. Angesichts vieler Interdependenzen kommt es darauf an, nicht nur auf Fehlentwicklungen zu reagieren. Es gilt auch, Risiken möglichst früh zu erkennen, absehbare Folgen zu analysieren und wirksame Vorkehrungen zu treffen. Entsprechend wichtig ist es, einen internationalen Rahmen mit Prinzipien und Regeln zu schaffen sowie Institutionen zu stärken, die diesem Rahmen Geltung verschaffen. Deutschland wird Ende des Jahres von China die G20-Präsidentschaft übernehmen. Ein zentrales Anliegen wird sein, den Kerngedanken der Sozialen Marktwirtschaft aufzugreifen. Das heißt, wir wollen wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und soziale Verantwortung stärker als Einheit unterstreichen, denn beides bedingt sich in Ausprägung und Entwicklung gegenseitig. Neben ordnungspolitischen Grundsatzfragen werden wir thematisch natürlich auch tiefer ins Detail gehen. Dabei wollen wir auch einige der Initiativen aufgreifen, die wir bereits unter deutscher G7-Präsidentschaft angestoßen haben. Dazu zählt etwa der Themenbereich Gesundheit. Wir denken unter anderem an die Durchführung einer Pandemie-Übung. Uns ist auch an einem gemeinsamen Vorgehen gegen Antibiotikaresistenzen gelegen. Wir werden auch über das Querschnittsthema Digitalisierung diskutieren. Denn die zunehmende Vernetzung wird noch viele tiefgreifende Veränderungen nach sich ziehen – in der Produktion, im Handel, in der Arbeitswelt, in der Mobilität oder auch beim Verbraucherschutz. Beim G7-Gipfel in Elmau waren wir uns einig, dass sich international anerkannte Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards besser durchsetzen müssen, und zwar an allen Stellen der globalen Wertschöpfungs- und Handelskette. Dieses Thema wollen wir auch beim G20-Gipfel aufgreifen. Einen globalen Schulterschluss brauchen wir nicht zuletzt für die praktische Umsetzung des Pariser Klimaabkommens und der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. In einem Jahr wird in Hamburg das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs stattfinden. Dem wird vorher eine Reihe von Ministertreffen sowie Treffen mit der Zivilgesellschaft und mit anderen Akteuren vorausgehen. Wie in der G20 üblich werden wir auch internationale Organisationen und einige Gastländer einladen. Deutschland nutzt mit dem Vorsitz in der G20 seine Chance, internationale Verantwortung wahrzunehmen wie in diesem Jahr auch mit dem OSZE-Vorsitz. Wir möchten unseren Partnern in der Welt vermitteln, dass auf uns Verlass ist. Gestern ging die Fußball-Europameisterschaft zu Ende. Ich gratuliere Portugal sehr herzlich. Wir freuen uns mit Ihnen. Wir möchten auch Frankreich für die Gastgeberrolle in nicht einfachen Zeiten danken. Es war ein wunderbares Fest des Sports. Wir werden heute Abend vielleicht in kleinen Gesprächsrunden auch noch das Lecken von Wunden vonseiten derjenigen erleben, die weder Gastgeber waren noch alle Spiele gewonnen haben. Jedenfalls wissen wir: Fußball verbindet, Fußball begeistert. Und manchmal ist man auch gemeinsam enttäuscht. Ich möchte Sie alle nochmals sehr herzlich hier willkommen heißen. Danke dafür, dass Sie die weite Anfahrt auf sich genommen haben. Wir hoffen, dass Sie nicht enttäuscht sein werden. Ich wünsche uns allen noch einen schönen Abend.
in Meseberg
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutschen LandFrauentag am 6. Juli 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-deutschen-landfrauentag-am-6-juli-2016-446426
Wed, 06 Jul 2016 14:20:00 +0200
Erfurt
Sehr geehrter Frau Präsidentin Scherb, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrte Kollegen aus dem Kabinett, sehr geehrte Frau Staatssekretärin, Frau Bentele, sehr geehrte Vertreter der Parlamente, der Landesregierung, liebe Landfrauen, hier in diese Messehalle zu kommen, ist schon ein Erlebnis von geballter Power. Ich freue mich, heute bei Ihnen zu sein. Als Erstes möchte ich Frau Geilert, stellvertretend für alle Thüringer Landfrauen, die heute den 25. Geburtstag Ihres Verbands feiern, einen herzlichen Geburtstagsglückwunsch sagen. Ich möchte meinerseits auch herzliche Grüße von Ministerin Schwesig ausrichten; Herr Staatssekretär Kleindiek wird das nachher auch noch tun. Im Parlament wird heute nicht über die Mütterrente geredet – die haben wir, hoffentlich zu Ihrer Zufriedenheit, schon beschlossen –, sondern über den Mutterschutz. Auch das ist etwas Wichtiges. Meine Damen und Herren, liebe Landfrauen, ich bin sehr gerne hier, um danke für Ihre Arbeit in über 12.000 Ortsvereinen zu sagen. Mit einer halben Million Mitglieder setzen Sie sich für ein gutes Leben und Arbeiten im ländlichen Raum ein. Herzlichen Dank, Frau Scherb, auch für die Mitwirkung der Landfrauen bei unserem Bürgerdialog, für den Einsatz für soziale und wirtschaftliche Teilhabe von Frauen auf dem Land, für eine gute Bildung und vieles andere mehr. Sich für etwas einzusetzen, heißt für Sie als Landfrauen – das zeichnet Sie aus –, nicht nur zu fordern. Das gehört zwar auch dazu; und das ist richtig. Der Verband ist eine wichtige Stimme für die Anliegen der Frauen, er macht ihre Interessen sichtbar, er vertritt diese Interessen auch mit Nachdruck. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Denn sich einzusetzen, heißt für Sie als Landfrauen eben auch, mit anzupacken, selbst etwas auf die Beine zu stellen und das Lebensumfeld mitzugestalten. Ihr diesjähriges Motto lautet – typisch für Sie – „LandFrauen tragen Verantwortung“. Das ist nichts Neues, sondern das gilt seit Jahrzehnten. Deshalb möchte ich hier noch einmal sagen: Landfrauen fördern den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, sie fördern Integration, sie vermitteln Erfahrung und Wissen. Kurzum: Sie sind für das gesellschaftliche Leben auf dem Lande unverzichtbar. Was mich schon immer beeindruckt hat, auch schon in meiner Zeit als Frauenministerin – gestern haben wir „30 Jahre Frauenministerium“ gefeiert –, ist, dass sich Landfrauen als Vertreterinnen aller Berufe und aller Altersklassen engagieren. Mit unterschiedlichen persönlichen Hintergründen und vielfältigen Qualifikationen machen sie eine starke Gemeinschaft aus. Natürlich gehören viele Frauen dazu, die in der Landwirtschaft arbeiten oder einen sehr engen Bezug zur Landwirtschaft haben. Was wären die ländlichen Räume ohne bäuerliche Betriebe? Bäuerliche Betriebe sind und bleiben das Markenzeichen. Dafür kämpft ja auch unser Minister Schmidt. Wenn er etwas will, ist er immer leidenschaftlich. Das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Der diesjährige Bauerntag fand in einer schwierigen Zeit für die Landwirtschaft statt. Wir sprechen sehr häufig darüber: Gerade auch niedrige Milchpreise und entsprechend geringe Ertragsaussichten gefährden die Existenz landwirtschaftlicher Betriebe elementar. Deshalb will ich Ihnen ganz deutlich sagen: Der Bundesregierung ist das bewusst; und der Bundesminister arbeitet buchstäblich auf allen Ebenen – von Brüssel bis zu unserem Finanzminister – und auch mit Blick auf die Lieferkette derer, die die Milch verarbeiten. Denn – das muss man sagen – auch hier muss noch mehr Fairness gegenüber der Leistung der Landwirte einkehren. Bundesminister Schmidt hat dabei meine ganze Unterstützung. Wir wissen auf der einen Seite, dass Politik den Markt nicht ersetzen kann und wird. Aber wir haben eine Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft. Dementsprechend müssen wir Leitplanken setzen. Wenn wir davon überzeugt sind – das sind wir –, dass das Markenzeichen der ländlichen Räume eben auch bäuerliche Betriebe sind, dann müssen wir uns auch um deren Erhalt kümmern und ihnen Existenzmöglichkeiten auch angesichts der harten Arbeit, die dort geleistet wird, schaffen. Es geht im wahrsten Sinne des Wortes um unser tägliches Brot, um es einmal platt zu sagen. Die Landwirtschaft erzeugt Nahrungsmittel. Sie sorgt für nachwachsende Rohstoffe – sei es zur Gewinnung von Energie oder auch für die industrielle Produktion. Sie betreibt Landschafts- und Kulturpflege, bietet hunderttausenden Menschen Arbeit. Sie prägt die Sozialstruktur auf dem Land. Und sie bringt Menschen natürliche Kreisläufe nahe, was ich in unserer Zeit für ausgesprochen wichtig halte. Wir reden viel von Nachhaltigkeit, wir reden auch viel von natürlichen Lebensgrundlagen, aber sie zu erleben, auch die Gewalt der Natur zu erleben, den Lauf der Natur zu erleben und in ihm etwas zu schaffen, ist und bleibt etwas ganz Besonderes und ist für das Leben einer Gesellschaft aus meiner Sicht unverzichtbar – ganz gleich, ob man die meiste Zeit in der Stadt oder auf dem Land verbringt. Das heißt, die Landwirtschaft ist ein wesentlicher Faktor für die Anziehungskraft des ländlichen Raums. Davon hängt wiederum ab, ob Familien für sich eine Zukunft auf dem Lande sehen oder ob sie doch in die Städte ziehen. Gerade der demografische Wandel, dem unsere Gesellschaft ausgesetzt ist, bringt noch eine besondere Problematik mit sich. Wir werden weniger in Deutschland und im Durchschnitt auch älter. Deshalb ist zu fragen: Wie schaffen wir es, die Lebensbedingungen in Deutschland, in Stadt und Land, so zu gestalten, dass alle Lebensräume attraktiv sind? Das ist eine der zentralen Fragen nicht nur der Gegenwart, sondern auch der nächsten Jahre. In vielen Gemeinden geht es um elementare Fragen der Daseinsvorsorge: Welche Einkaufsmöglichkeiten gibt es in der Nähe? Wie weit ist die nächste Feuerwehr, die nächste Arztpraxis entfernt? Findet sich ein Kindergarten, eine Schule, eine Apotheke in der Nähe, ohne eine halbe Weltreise machen zu müssen? Diese und viele andere Fragen, die mit der Entwicklung der Einwohnerzahl und der Altersstruktur verbunden sind, beschäftigen Sie natürlich auch als Landfrauen. Ich kann Ihnen versichern, dass dies Fragen sind, die sich auch die Bundesregierung nicht nur stellt, sondern denen wir uns auch widmen. Ich weiß sehr wohl um die Bedenken, dass ländliche Sorgen in der Politik zu wenig präsent sein könnten, weil sie sich vielleicht eher auf große Städte konzentriert. Aber ich darf Ihnen versichern: Viele von uns – auch ich – kommen aus Wahlkreisen, die ländliche Strukturen aufweisen. Im nördlichen Vorpommern ist die Besiedelungsdichte auch sehr gering. Deshalb ist das Thema Stadt-Land-Unterschiede eines, das mich auch persönlich immer wieder über die Wählerinnen und Wähler erreicht. Stadt-Land-Unterschiede waren für Landfrauen von Anfang an ein Thema. Die Gründerin und erste Vorsitzende Ihres Verbands nach dem Krieg, Gräfin Leutrum von Ertingen, äußerte damals folgende Kritik – ich zitiere: „Für Arbeiter, Angestellte und Beamte werden moderne Wohnungen gebaut, aber die armen Bauernbuben können ihre Kameraden im Winter nicht mit heimbringen, weil nur die Küche geheizt ist, aber der Rest kalt bleibt.“ Ich weiß nicht, warum sie sich als Vorsitzende der Landfrauen so sehr auf die Buben kapriziert hat. Wir nehmen die Mädchen mit hinein, weil sie damals wahrscheinlich auch schon zur Schule gegangen sind. Nun sind in der Tat die Wiederaufbauprogramme der Anfangsjahre der Bundesrepublik Geschichte, aber um gleichwertige Lebensbedingungen geht es nach wie vor. Es macht für die Daseinsvorsorge einen Unterschied, wie dicht eine Region besiedelt ist, also wie viele Menschen auf Angebote zurückgreifen können. Denken wir etwa an den Einzelhandel oder den öffentlichen Personennahverkehr. Wenn es an solchen Angeboten mangelt, weil sie sich für mögliche Betreiber eben nicht rentieren, dann ist Kreativität gefragt, um solche Defizite auszugleichen. Umso wichtiger sind Hilfsnetzwerke vor Ort, um sich gegenseitig zu unterstützen – zum Beispiel auch, was Fahrgemeinschaften angeht. Hilfreich sind natürlich auch digitale Netzwerke. Über das Internet einzukaufen, Behördengänge per Mausklick zu Hause zu erledigen oder über Telemedizin Rat vom Facharzt einzuholen – all das wird immer selbstverständlicher. Aber auch dafür müssen wir gute Bedingungen schaffen. Deshalb ist der Ausbau einer leistungsfähigen Infrastruktur einer unserer Schwerpunkte. Die Bundesregierung fördert den weiteren Breitbandausbau. Wir stellen 2,7 Milliarden Euro zur Verfügung, um unser nächstes Etappenziel zu erreichen. Das heißt: Bis 2018 flächendeckend, also für jeden Haushalt, schnelles Internet mit mindestens 50 Megabit pro Sekunde. Das wird für die Telemedizin nicht ausreichen, aber das reicht erst einmal für das Hantieren mit bewegten Bildern recht gut. Der Breitbandausbau ist zwar eigentlich Aufgabe der Telekommunikationsunternehmen, aber in manchen ländlichen Regionen rechnet sich dieser Ausbau wirtschaftlich nicht. Genau da setzt unsere staatliche Förderung an, um Investitionsanreize zu setzen. Die Anbindung an das schnelle Internet, das immer wieder neue Anwendungen und Geschäftsmodelle ermöglicht, ist längst ein wichtiger Standortfaktor geworden. Deshalb brauchen wir eben auch in dieser Hinsicht gleichwertige Lebensbedingungen für Stadt und Land. Daher ist der Netzausbau in ländlichen Regionen auch Teil der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“. Im April hat Bundesminister Schmidt im Kabinett vorgestellt, wie er diese Aufgabe ausweiten möchte. Künftig wollen wir auch Investitionen in nicht-landwirtschaftlichen Kleinstbetrieben fördern – also für den Handwerksbetrieb, die Sozialstation oder andere Dienstleister. Wir wollen damit die Nahversorgung mit Alltagsprodukten und Dienstleistungen vor Ort verbessern. Ich denke, das ist eine sehr gute Erweiterung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“. Mit dieser Gesetzesinitiative bauen wir die Gemeinschaftsaufgabe zu einem wirklich starken Entwicklungsprogramm für den ländlichen Raum aus – ganz besonders auch mit dem Ziel, jungen Menschen die ländlichen Räume attraktiver zu machen und ihnen dort Zukunft zu bieten. – Einsamer Beifall von der Landjugend; sehr gut. Das ist oft leichter gesagt, als getan, auch weil ländliche Regionen in Deutschland sehr unterschiedlich aussehen. Es gibt welche, die haben besonders mit dem demografischen Wandel zu kämpfen, mit einer Abwanderung aus Mangel an Arbeitsplätzen. Andere Regionen wiederum stehen wirtschaftlich sehr stark da – mit kleinen und mittelständischen Unternehmen bis hin zu Weltmarktführern. Dieser Unterschiedlichkeit müssen Sie in Ihrer Arbeit und müssen wir in unserer Politik natürlich auch gerecht werden. Viele Menschen leben gerne auf dem Land. Sie lieben die Natur, sie hängen an ihrem Dorf oder an ihrer Kleinstadt. Und sie sind auch bereit, sich dort einzubringen, die Lebensqualität dort zu erhalten oder möglichst noch zu steigern. Dies zeigt nicht zuletzt der Bundeswettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“, der in diesem Jahr schon zum 25. Mal durchgeführt wird. Morgen geht die Finalrunde zu Ende. Insgesamt haben sich mehr als 2.400 Dörfer aus ganz Deutschland beteiligt, um eine der begehrten Auszeichnungen zu erhalten. – Heute gibt es ja auch noch Auszeichnungen. Ich habe mit Interesse vernommen: Der eine Minister zeichnet aus, der andere wird ausgezeichnet. Das ist auch eine schöne Arbeitsteilung. – Jedenfalls kann man sagen, dass hinter den Auszeichnungen des Bundeswettbewerbs „Unser Dorf hat Zukunft“ tausende Bürgerinnen und Bürger stehen, die ihre Vorstellungen eines attraktiven Dorflebens gemeinsam verwirklichen. Darunter sind natürlich nicht zuletzt sehr viele Landfrauen. Zweifellos braucht es auch ein breites bürgerschaftliches Engagement, um den ländlichen Raum als attraktiven Lebensraum zu erhalten. Das Gute daran ist: Die Bereitschaft, ehrenamtliche Verantwortung zu übernehmen, ist bei uns in Deutschland ausgesprochen ausgeprägt. Das zeigt sich an vielen Beispielen, nicht zuletzt auch am Beispiel der Aufnahme vieler Menschen, die bei uns Zuflucht und Schutz suchen. Der Zuzug dieser Menschen ist zugleich ein Beispiel dafür, wie Konflikte in anderen Weltregionen uns auch hierzulande direkt berühren. Zeitweilig kamen im vergangenen Jahr täglich Tausende über die deutsche Grenze. Sie alle brauchten ein Dach über dem Kopf, Kleidung, etwas zu essen und zu trinken. Sie mussten registriert und auf die Länder und Kommunen verteilt werden. Das hat uns alle vor große Herausforderungen gestellt. Ohne die vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer hätten wir das nicht bewältigen können. Ich sage auch den Landfrauen ein ganz herzliches Dankeschön für das, was sie gemacht haben und was sie weiter tun. Inzwischen haben wir viel gearbeitet. Herr Ramelow wird es bestätigen. Er ist immer noch nicht ganz zufrieden. Morgen gibt es wieder eine Sitzung. Auch wenn wir schon einiges auf den Weg gebracht haben, auch wenn im Augenblick weniger Menschen kommen, fängt aber in vielen Fällen die eigentliche Aufgabe, die Integration, jetzt erst an. Ich will ganz deutlich sagen: Erfolgreiche Integration ist eine Frage des gegenseitigen Gebens und Nehmens. Auf der einen Seite stehen Angebote wie etwa Integrationskurse, Praktika in Unternehmen oder auch die Einladung, beim Dorffest mitzumachen. Auf der anderen Seite muss vor allem die Bereitschaft stehen, die deutsche Sprache zu lernen sowie unsere Rechts- und Werteordnung kennenzulernen und einzuhalten. Hierbei darf es keine Toleranz geben. Das müssen wir einfach verlangen. Der Ansatz des Gebens und Nehmens, des Förderns und Forderns, liegt auch unserem Integrationsgesetz zugrunde, das in dieser Woche im Deutschen Bundestag verabschiedet und dann hoffentlich auch im Bundesrat abschließend beraten wird. Mit ihm schaffen wir verlässliche Angebote, fordern aber zugleich auch eigene Bemühungen ein. Aber auch Integration lässt sich nicht einfach verordnen. Entscheidend ist immer, was vor Ort im direkten Lebensumfeld geschieht. Gerade ländliche Regionen bieten gute Chancen. Meistens ist hier Wohnraum etwas leichter verfügbar, sodass man schneller aus Sammelunterkünften herauskommen und mehr Privatsphäre gewinnen kann. Neuankömmlingen fällt es leichter, sich zu orientieren, einen Überblick zu bekommen. Damit wird es vielleicht auch in Bezug auf das Sicherheitsgefühl für alle Beteiligten leichter im Vergleich zum etwas anonymeren Leben in Städten. Allerdings will ich auch ganz deutlich sagen: Wir müssen immer wieder für die ländlichen Räume werben, weil Flüchtlinge oft nicht davon überzeugt sind, dass sie mehr Chancen im ländlichen Bereich haben. Aber in funktionierenden Dorfgemeinschaften hat man natürlich auch einen guten Blick dafür, wo Not am Mann und an der Frau ist. Gerade auch das ausgeprägte Vereinsleben bietet gute Anknüpfungspunkte für persönliche Kontakte. Alle, die sich dafür einsetzen, sollen noch einmal ein ganz herzliches Dankeschön bekommen. Es gibt auch eine Menge Probleme. Darum wollen wir gar nicht herumreden. Aber ich stelle mir manchmal vor: Man kommt aus einem fernen Land, aus einem anderen Lebensumfeld, man kann die Sprache nicht und trifft auf die deutsche Bürokratie, darauf, wie wir uns alles geordnet haben. Sich da zurechtzufinden, ist, glaube ich, nicht ganz einfach. Da müssen wir manchmal auch ein bisschen Nachsicht üben. Wenn ich das kurz einflechten darf, weil wir heute auch 25 Jahre Landfrauenverband in Thüringen feiern: Ich war im Zuge der deutschen Wiedervereinigung der Auffassung, dass ich nunmehr in den Teil Deutschlands komme, in dem alles nach gesundem Menschenverstand geregelt ist. Ich habe dann versucht, mir alles Mögliche zu erklären: Warum ist das Gesundheitssystem so und das Rentensystem so? Aber wenn man anfängt, sich einzuarbeiten, merkt man, dass die Ausnahme doch ein markantes Wesensmerkmal auch systemischer Regelungen ist. Insofern ist es gar nicht so einfach, alles zu begreifen. Herzlichen Dank für Ihre Offenheit, die Sie zeigen, für Ihre Bildungsarbeit, die Sie leisten, für Ihre Orientierungsarbeit. Das ist ein wertvolles Bauen von Brücken in eine neue Zukunft. Sie vermitteln Wissen, Sie vermitteln Erfahrung – auch in Alltags- und Lebensfragen. Das Spektrum der Themen reicht von Frauen und Familie über Landwirtschaft und Hauswirtschaft bis hin zu neuen Medien. Ich kann mir vorstellen, dass dabei vieles erlebt wird. Aber noch einmal: Wir brauchen einen langen Atem, wir brauchen klare Richtlinien. Es muss die Bereitschaft bestehen, Deutsch zu lernen. Es muss die Bereitschaft bestehen, sich auf die Gesellschaft einzulassen. Das ist eben eine Gesellschaft, in der es Religionsfreiheit gibt, in der es Meinungsfreiheit gibt, in der es ein Gewaltmonopol des Staates gibt und in der man seine Konflikte friedlich miteinander löst. Ein wichtiges Entscheidungskriterium für Familien mit Kindern, auf dem Land zu bleiben, ist die Antwort auf die Frage: Wie steht es mit der Kinderbetreuung, wie steht es mit der Schule? Wir haben viel Geld in die Hand genommen, um Länder und Kommunen beim Ausbau der Kinderbetreuung zu unterstützen. Zahlreiche Angebote sind ausgeweitet worden oder neu entstanden. Auf verlässliche Kinderbetreuung kommt es ganz besonders dann an, wenn beide Elternteile Familie und Beruf miteinander vereinbaren wollen. Immer mehr Väter und Mütter wünschen sich das. Ich will ganz deutlich sagen: Es ist nicht Aufgabe der Politik, Menschen ein Lebensmodell vorzuschreiben. Aber das schöne Wort „Wahlfreiheit“ muss natürlich auch eine wirkliche Freiheit zur Wahl beinhalten. Da ist die Wahl, zu Hause zu bleiben, die Kinder zu erziehen, sich ehrenamtlich zu engagieren, relativ einfach zu treffen. Aber die Wahl, Erwerbstätigkeit und Familie zusammenzubringen, bedarf eben bestimmter Voraussetzungen. Dazu gehören auch Angebote zur Kinderbetreuung. Deshalb gibt es Wahlfreiheit nur dort, wo es eben Wahlmöglichkeiten gibt, wo es eine gute Infrastruktur für Familien gibt. Wir haben zum Beispiel gestern Abend bei der Veranstaltung „30 Jahre Frauenministerium“ darüber gesprochen, dass Wahlfreiheit nicht nur Frauen zukommen sollte, sondern natürlich auch Vätern und Männern, die Teil der Familie sind. Als wir vor zehn Jahren das Elterngeld und Vätermonate eingeführt haben, gab es noch viel Hohn und Spott. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass Vätermonate zum Teil sehr gerne angenommen werden. Ich würde sagen, dass seitdem die Hochachtung von Vätern für das, was Frauen bei der Kindererziehung leisten, eher gestiegen ist. Warum soll man Vätern dieses schöne Erlebnis erst bei den Enkeln zukommen lassen? Es kann ja auch bei den eigenen Kindern schon gut funktionieren. Nun will ich hier nicht darüber sprechen, ob es in der Stadt oder auf dem Land schwieriger ist, sich die Arbeit zwischen Männern und Frauen partnerschaftlich zu teilen, sodass die Kindererziehung auch zu einer Männerdomäne wird. Darüber gibt es in manchen Familien sicherlich auch drastische Diskussionen. Aber das ist eben Teil des gesellschaftlichen Lebens. Sie als Landfrauen sind ja Manns genug, Ihre eigenen Tätigkeiten schon seit Jahren auszuüben, auch wenn die Männer vielleicht manchmal traurig darüber sind, dass sie das Essen nicht direkt auf den Tisch gestellt bekommen, wenn Sie unterwegs waren. Aber das haben die meisten Männer heute auch gelernt. – Ich sehe leichtes Schmunzeln. Das scheint doch ab und zu ein Thema zu sein. Natürlich geht es auch um das Einkommen. Es gibt ein Projekt der Koalitionsvereinbarung, das wir noch nicht umgesetzt haben, das Frau Schwesig heute wahrscheinlich noch drastischer als Herr Kleindiek vertreten hätte. – Aber er wird es auch gut machen. – Das ist das Thema Lohngerechtigkeit; die Frage, wie wir Lohnunterschiede aufdecken können und was wir hierfür tun können. Hierbei ringen wir noch um die richtige Lösung. Aber dass dies ein Thema ist, wird in der Bundesregierung allgemein akzeptiert. Liebe Landfrauen, wir wissen genau: Was Sie auf dem Land, was Sie in unserem Land und für unser Land leisten, das können wir gar nicht hoch genug schätzen. Sie machen sich im wahrsten Sinne des Wortes um unser Gemeinwohl verdient. Sie tun das vor Ort, nicht durch Reden, sondern durch Handeln und tatkräftiges Anpacken. Sie bewegen viel Gutes, Sie stärken den Zusammenhalt. Und Sie geben wie auf diesem LandFrauentag Anregungen, formulieren Forderungen und verschaffen Positionen weithin Gehör. Auch deshalb sind Medien so wichtig; das will ich an dieser Stelle auch erwähnen. Ich darf ganz einfach sagen: Sie tun unserem Land gut. Dafür möchte ich Ihnen von Herzen danken. Wir wissen das, was Sie tun, zu schätzen. Die Tatsache, dass wir hier in so starker Formation aufgetreten sind, zeigt das auch. Und auch die Tatsache, dass wir den ländlichen Raum als politischen Schwerpunkt haben, zeigt dies einmal mehr. Lassen Sie uns in einem intensiven Dialog bleiben. Formulieren Sie Ihre Forderungen ruhig ziemlich scharf. Ansonsten hört keiner hin. Wissen Sie, an uns werden so viele Forderungen aus so vielen gesellschaftlichen Bereichen gestellt. Manche, die vieles von uns fordern, haben dafür eine richtig gute Startposition und werden schon jahrzehntelang gehört. Sie sind so viele; und Sie tun so viel. Deshalb sage ich aus voller Überzeugung: Sie müssen sich wirklich Gehör verschaffen. Ich kann nicht versprechen, dass alles umgesetzt wird, aber es ist allemal wert, dass man Sie hört, sodass dann auch manches umgesetzt werden kann. Herzlichen Dank und Ihnen eine tolle Tagung hier im wunderschönen Erfurt.
in Erfurt
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Sommerempfang „30 Jahre Bundesfrauenministerium“ am 5. Juli 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-sommerempfang-30-jahre-bundesfrauenministerium-am-5-juli-2016-444188
Tue, 05 Jul 2016 19:20:00 +0200
Berlin
Familie Senioren Frauen und Jugend
Sehr geehrte Frau Bundesministerin, liebe Frau Schwesig, liebe Kolleginnen aus dem Fachbereich – wenn auch mit unterschiedlichen Titeln; angefangen bei Rita Süssmuth bis heute zu Manuela Schwesig. Ich freue mich, dass so viele heute kommen konnten. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag – stellvertretend begrüße ich ausnahmsweise einen Mann, nämlich Thomas Oppermann als SPD-Fraktionsvorsitzenden. Ohne Männer hätten wir ja manches nicht geschafft; sie müssen ja auch irgendwann im Bundestag die Hand heben, wenn ein Gesetz durchgeboxt wird. Liebe Gäste dieses Empfangs, ich finde, es ist eine sehr gute Idee, dass diese 30 Jahre gefeiert werden. Ich weiß auch noch, wie ich meinen 30. Geburtstag gefeiert habe; und das schien mir hier bei allen der Fall zu sein. Auf jeden Fall habe ich damals noch nicht gedacht, dass ich wenige Jahre später die Deutsche Einheit erleben würde; so viel ist sicher. Das hat dann in der Tat ja auch Einiges bewegt. Aber noch einmal ein Blick weiter zurück: Seit 1949 steht im Grundgesetz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Dieser Satz war keinesfalls selbstverständlich. Vielmehr war es dem außerordentlichen Engagement von Frauen zu verdanken, dass er überhaupt ins Grundgesetz kam. Deshalb möchte ich an diesem Tag auch all denen einfach ein Dankeschön sagen, die sich in der Frauenbewegung – wo auch immer – engagiert haben. Ohne sie wäre es nicht zum Frauenministerium in Deutschland gekommen. Herzlichen Dank an die, die heute mit dabei sind. Elisabeth Schwarzhaupt war 1961 – zwölf Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes – die erste Bundesministerin, die am Kabinettstisch Platz nehmen durfte. Dazu bemerkte sie: „Vorausgegangen war eine energische Demarche einiger Frauen der Fraktion, […] die von Adenauer verlangte, dass endlich eine Frau ins Kabinett aufgenommen würde.“ Wir haben heute Rita Süssmuth unter uns, die 1986 das Wort „Frauen“ in den Namen ihres Ministeriums aufnahm; damals kam es unter anderem zum großen Bereich Gesundheit dazu. Das war mehr als eine Umbenennung, denn Rita Süssmuth hat nicht einfach nur ein Wort aufgenommen, sondern hat sich dann auch für frauenpolitische Anliegen eingesetzt. Das war nicht immer populär – jedenfalls in meiner Partei; bei der SPD war das bestimmt ganz anders. Aber sie hat sich auch durchgesetzt. Es gab durchaus auch immer wieder Männer, die sich für Belange der Frauen eingesetzt haben. Bevor ich nach der deutschen Wiedervereinigung als Frauen- und Jugendministerin zur Debatte stand, war eine Teilung des Ministeriums vorausgegangen. Frau Lehr weiß das, denn sie übergab ihr Ressort sozusagen dreimal: an das Gesundheitsministerium, an das Ministerium für Familie und Senioren und an das Ministerium für Frauen und Jugend. Ich will einmal sagen: Liebe Hannelore Rönsch, wenn wir nicht zwei Frauen gewesen wären, die sich geschworen hatten, sich wirklich gut zu vertragen, dann wäre diese Teilung im Desaster geendet. Ich weiß nicht, ob zwei Männer das hinbekommen hätten, denn es gab wirklich sehr viele Überschneidungen und sehr viele gemeinsame Themen. Wir haben dennoch tapfer vier Jahre lang die Auffassung vertreten, dass es absolut sinnvoll sei, die wichtigen Bereiche Familie und Senioren sowie Frauen und Jugend jeweils einem eigenen Ministerium zuzuordnen, nur um dann nach vier Jahren – aber mit einer kleinen Pause dazwischen – mit ähnlicher Inbrunst zu sagen: Es war doch gut, dass die Ressorts wieder in einem Ministerium gebündelt wurden. Das muss man auch erst einmal schaffen. Seitdem haben wir ein gesellschaftspolitisches Ministerium. Davon haben dann ja auch unsere Nachfolgerinnen profitiert. Dem Bereich Gesundheit blieb ein eigenes Ministerium, was, wie ich glaube, auch gut ist. Man könnte über einen Teil der Arbeit des Ministeriums, in dem jetzt seit 30 Jahren das Wort Frauen vorkommt, schreiben: Gut Ding will Weile haben. Frau Schwesig, ich hatte mir schon überlegt, das zu sagen, bevor Sie anfingen, vom Gesetz über Lohngerechtigkeit zu sprechen. Und dann habe ich darüber nachgedacht, ob ich es jetzt noch sagen darf. Ich sage es trotzdem: Gut Ding will Weile haben. Ich kenne den Koalitionsvertrag, Frau Schwesig; und ich hoffe, wir schaffen auch das noch. Wenn man auf die 30 Jahre zurückblickt, muss man aber auch sagen, dass doch manches passiert ist. Ich glaube, Rita Süssmuth und andere mussten sich in der Arbeit der gesamten Bundesregierung noch ziemlich stark durchkämpfen. Heute, glaube ich, weiß man, dass man, wenn die Frauenministerin einen Wunsch hat oder die Familienministerin eine Vorgabe macht, daran nicht einfach vorbeikommt. Ich will aus meiner Zeit als Frauenministerin nur sagen, dass die Zeit kurz nach der deutschen Wiedervereinigung natürlich eine sehr spannende war. Vielleicht haben sich nirgends sonst so viele Fragestellungen und unterschiedliche Herangehensweisen abgespielt als in dem ganzen Bereich Frauen und Familie. Mein größtes Nightmare-Erlebnis hatte ich, als ich in Pulheim fröhlich auftrat, dann aber eine Frau fragte, warum Frauen im Osten so viel Rente bekommen, und ich voller Selbstverständlichkeit sagte: Die haben ja auch gearbeitet. Da war natürlich was los im Saal. Ich hatte sozusagen unterschiedliche Lebensentwürfe von Ost und West in Sekunden internalisiert. Ich habe dann aber natürlich sofort gesagt, dass es in all den vielen Jahren in der alten Bundesrepublik nicht dazu gekommen ist, dass Familienarbeit in ähnlicher Weise gewürdigt wird wie andere Formen von Arbeit. Es ist ja bis heute noch ein Thema, dass wir ihr niemals in Heller und Pfennig voll gerecht werden können. Diese Frage führt uns aber in die Tiefe des gesamten Problems: Wer trägt was zum Familienleben bei und was resultiert daraus an staatlicher Unterstützung und auch für das Rollenverständnis von Männern und Frauen? Bis heute ist für mich das Thema Elterngeld – ich glaube, Renate Schmidt hatte es vorbereitet – ein sehr wichtiges Thema. Ich weiß, dass manche sagen, dass sich das ja sehr dynamisch entwickelt und daher durchaus auch zu einem erheblichen Kostenfaktor geworden ist. Aber mit dem Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit haben wir zum ersten Mal zwei Dinge gemacht, die ich nach wie vor wichtig finde: Erstens wird mit dem Elterngeld – unabhängig vom Einkommen bzw. viel unabhängiger von Einkommen als Sozialleistungen – eine Leistung dafür gewährt, dass man sich für Familie entscheidet. Zweitens ist es mit den Vätermonaten möglich geworden, dass sich in der Kleinkindphase viel mehr Väter für die Betreuung und Erziehung des Kindes entscheiden. Ich glaube, das ist von unschätzbarem Wert. Was hat man früher nicht alles gehört, nach dem Motto: Was werden die Männer wohl machen, wenn sie den ganzen Tag bei den Kindern sind? Das hat sich sehr gewandelt. Deshalb, finde ich, sind diese Vätermonate sehr wichtig. Sie führen dazu, dass das viel normaler wird. Die Vätermonate haben zu etwas Weiterem geführt: Der Arbeitgeber kann nicht mehr einschätzen, was passiert, wenn eine Familie ein Kind bekommt. Bleibt die Frau zu Hause, bleibt der Mann zu Hause? Das ist eine nicht mehr zu berechnende Sache. Deshalb wandelt sich auch die Einstellung zu Frauen, die Kinder bekommen. Ich darf in diesem Zusammenhang auch aus dem Kanzleramt berichten. Ich will hier ja heute nichts schlechtmachen, aber als ich Bundeskanzlerin wurde, wurde noch jede schwangere Frau ins Mutterhaus, wie es hieß – oder Stammhaus, wenn man es neutral sagen will –, geschickt. Heute darf man auch im Kanzleramt schwanger sein, Kinder kriegen und wiederkommen – und die Welt bricht nicht zusammen; es funktioniert trotzdem. Man kann auch in Teilzeit arbeiten. Es gibt viele Dinge, die man arrangieren kann. Meine Damen und Herren, ich will hier nicht auf alle Dinge eingehen, aber ich will noch eine Sache erzählen, die damals, als ich Ministerin wurde, auch sehr spannend war. Norbert Blüm, der heute nicht da ist, hatte immer gesagt, er wäre ein großer Freund der Frauen gewesen. Ich dachte mir dann: Du musst dich mit dem Mann verbünden; der hat in seinem Ressort so viel Geld und du ja so wenig. Ich wollte mich ihm vorstellen, bekam dann aber ausgerichtet: So wichtig sei mein Ressort nun auch nicht, dass er Zeit hätte, sich länger mit mir zu befassen. Das fand ich damals doch komisch. Peter Hintze als frauenbewegter Mann hat mir dann aber die Tür geöffnet. Als ich dann bei Norbert Blüm vorstellig wurde und sagte, ich hätte wegen der vielen arbeitslosen Frauen in den neuen Bundesländern gerne eine Änderung im Sozialgesetzbuch, und zwar dergestalt, dass Frauen entsprechend ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit auch an den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen beteiligt werden müssen, guckte er mich völlig entsetzt an und fragte, ob ich mich jetzt in seine Bereiche einmischen wolle oder was ich eigentlich wolle. Ich hatte damals mitbekommen: Wenn in Deutschland die IG Metall, die zumeist männliche Beschäftigte vertreten hatte, irgendetwas sagte, dann wurde das immer schnell umgesetzt – dann wurden ABM und dieses und jenes gemacht. Aber wenn die Textilindustrie Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern abbauen musste, war die dahinter stehende Gewerkschaft – ich denke, sie nimmt es mir nicht übel, wenn ich das sage – nicht ganz so stark. Deshalb, so dachte ich, müssen wir als Gesetzgeber etwas tun und einen solchen Satz ins Sozialgesetzbuch aufnehmen. Ich habe zum Schluss anstatt des „müssen“ ein schlappes „sollen“ bekommen. So heißt es, glaube ich, heute noch im Sozialgesetzbuch. Man kann aber etwas daraus machen. Das Beispiel zeigt jedenfalls auch, dass Frauenpolitik im Grunde in alle Bereiche hineingreift. Deshalb ist es gut, wenn wir möglichst viele Verbündete haben. Frau Schwesig hat soeben über das Sexualstrafrecht gesprochen. Das ist auch nur ein Beispiel für all die Fragen, die nicht allein im Bereich des Frauenministeriums geregelt werden können, sondern einen gesamtpolitischen Ansatz brauchen. – Da Frau Peschel-Gutzeit hier ist, fällt mir gerade noch ein: In dieser Woche war in einer von mir jetzt nicht zu nennenden Zeitschrift eine sehr interessante Geschichte über die Familiengerichtsbarkeit zu lesen; ein irres Thema, bei dem natürlich auch das Thema Frauen eine große Rolle spielt. Ich sage all denen, die seit 30 Jahren oder auch noch nicht so lange mitwirken, einen herzlichen Glückwunsch und herzlichen Dank. Ich glaube aber, es bedarf noch eines weiteren Engagements von Ihnen allen. Deshalb ist es gut, dass Sie alle, die viel Gleiches verbindet – manchmal auch Streitiges –, heute Abend zusammen sind und diskutieren können. Das will ich abschließend noch sagen: Wenn es einmal zwischen Frauen hoch herging, habe ich immer angemerkt: Frauen sind auch Menschen; sie haben auch das Recht auf unterschiedliche Meinungen, auf unterschiedliche Vorstellungen. Es ist also auch eine Art von Diskriminierung, wenn man sagt, Frauen müssten immer alles gleich denken – und wehe, sie haben einmal besondere Ausprägungen. Auch Kristina Schröder hat darunter ja viel zu leiden gehabt. Wenn sie nicht das gesagt hat, von dem man glaubte, dass sie es sagen müsste, aber vielleicht doch etwas Interessantes gemeint hat, dann ging es sofort gegen sie los. Es ging vielen von uns schon einmal so. Ohne Gegenwind geht es eben auch nicht. Den wird es auch in Zukunft geben, aber es muss auch nicht zu viel davon sein. Alles Gute und danke für die gute Idee, hier heute Abend zu feiern.
in Berlin
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum VII. Petersberger Klimadialog am 5. Juli 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-vii-petersberger-klimadialog-am-5-juli-2016-444298
Tue, 05 Jul 2016 10:30:00 +0200
Berlin
Umwelt Naturschutz Bau und Reaktorsicherheit
Sehr geehrter Herr Minister Mezouar, sehr geehrte Frau Ministerin El Haite, liebe Frau Bundesministerin Hendricks, meine Damen und Herren, Exzellenzen, ich freue mich, auch in diesem Jahr dabei zu sein. Ich erinnere mich noch an das vergangene Jahr. Da waren wir uns unsicher, mit welchem Ergebnis wir uns nach einem Jahr wieder treffen werden. Heute darf man ein großes Dankeschön allen Beteiligten sagen, vor allem der französischen Regierung, die das Pariser Klimatreffen wunderbar vorbereitet hat – mit sehr viel Geschick, mit sehr viel Einsatz, mit großer diplomatischer Erfahrung. Wir waren sehr froh, dass auch die deutsch-französische Zusammenarbeit eine wirklich gute Rolle gespielt hat. Als Minister Mezouar soeben Christiana Figueres gedankt und Patricia Espinosa alles Gute gewünscht hat und als mein Blick zu den Umweltministerinnen aus Marokko und Deutschland schweifte, habe ich mir gedacht: Die Gleichberechtigung ist in Bezug auf den Klimaschutz schon ganz schön weit fortgeschritten und der Anteil der Frauen am Gelingen gut ausgeprägt. Ich hoffe, Minister Mezouar kann vertragen, dass ich das sage. Auch ich wünsche der neuen Generalsekretärin des Sekretariats der UN-Klimarahmenkonvention natürlich alles, alles Gute und danke noch einmal Christiana Figueres ganz herzlich für die geleistete Arbeit. Ich habe es schon zu Frau Hendricks gesagt: Ich bin ein bisschen neidisch, dass sie die Reise nach Marrakesch – dort war ich noch nie in meinem Leben – vor sich hat. Ich glaube, Marokko wird ein wunderbarer Gastgeber sein. Wir befinden uns jetzt – bei den nunmehr siebten Petersberger Gesprächen – in einer neuen Ära, denn jetzt gibt es ein weltweit verbindliches Klimaabkommen. Neben den vielen Schwierigkeiten im vergangenen Jahr war es wirklich eine gute Nachricht, dass das gelungen ist. Wir können festhalten: In Paris hat sich zum ersten Mal die gesamte Weltgemeinschaft dazu verpflichtet, den Klimawandel einzudämmen. Alle Staaten haben sich zu dem Ziel bekannt, die Erderwärmung unter zwei Grad zu halten und sie möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen. Alle Staaten haben sich bereiterklärt, dazu ihren Beitrag zu leisten. Diese Beiträge werden alle fünf Jahre überprüft und mit Blick auf das globale Ziel angepasst. Damit erweist sich das Abkommen von Paris als eine historische Wegmarke im internationalen Klimaschutz. Es ist ein Zeichen der Hoffnung. Es kann die Lebensbedingungen von Milliarden Menschen positiv beeinflussen. Die Mütter und Väter dieses Abkommens können wirklich stolz sein. Es ist viel Herz und Verstand in die Verhandlungen der vergangenen Jahre eingebracht worden. Ich möchte auch hervorheben, dass große Akteure, die sich viele Jahre lang nicht so aktiv beteiligt haben – ich will an dieser Stelle die Vereinigten Staaten von Amerika und China nennen –, sehr mitgeholfen haben, dass dieses Abkommen zustande gekommen ist, und auch viele andere mitgerissen haben. Insofern stimmen die Zeichen in dieser Situation doch recht optimistisch. Wie sagt man im Fußball so schön: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Der Prozess geht also weiter. Wir haben eine neue Etappe vor uns. Wenn man das genau durchdenkt, wird die Sache jetzt noch ernster. Es wurden Verpflichtungen eingegangen. Und nun müssen diese auch eingelöst werden. Da wir uns gerade innerhalb der Bundesregierung in der Abstimmung über unseren Klimaschutzplan befinden, erahne ich, dass das auch vielen anderen noch eine ganze Menge abverlangen wird. Aber wir können erst einmal festhalten: Noch nie wurde ein internationales Abkommen so rasch von so vielen Staaten unterzeichnet wie das von Paris. Am 22. April dieses Jahres hatte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon zu einer feierlichen Zeremonie in New York geladen. Diese Gelegenheit wurde von mehr als 170 Staaten dazu genutzt, die Unterzeichnung zu vollziehen. Das Abkommen tritt aber erst in Kraft, wenn 55 Staaten das Abkommen ratifiziert haben, die für mindestens 55 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich sind. Einige Staaten – vor allem bedrohte Inselstaaten – haben bereits bei der New Yorker Zeremonie die Ratifikation vorgenommen. Weitere Länder – darunter die USA und China – haben diesen Schritt noch für dieses Jahr angekündigt. Das ist sehr wichtig. Wir als Bundesregierung befassen uns morgen im Kabinett mit dem Gesetzentwurf zur Ratifizierung des Pariser Abkommens. Wir wollen versuchen, den gesamten Prozess noch vor der Klimakonferenz in Marrakesch abzuschließen. Die Ratifikationsurkunde wollen wir anschließend zusammen mit der Europäischen Union und den anderen Mitgliedstaaten übermitteln und damit das klare Signal senden, dass Europa die Ergebnisse von Paris umsetzt und beim Klimaschutz an einem Strang und dann auch noch in eine Richtung zieht. Nicht nur bei uns, sondern in allen Regionen der Welt gibt es sehr viel Bewegung. Die globale Transformation hat bereits begonnen. Vor allem der Ausbau der erneuerbaren Energien entwickelt sich mit hoher Dynamik. Im vergangenen Jahr haben die globalen Investitionen ein neues Rekordhoch von 286 Milliarden US-Dollar erreicht. Damit wurde in erneuerbare Energien mehr als doppelt so viel investiert wie in die Stromproduktion mit fossilen Brennstoffen. Das ist durchaus ein deutliches Signal. Der erfreuliche globale Trend resultiert aus besseren Rahmenbedingungen, geringeren Kosten und konkreten Ausbauzielen. Jetzt geht es natürlich darum, diesen Trend zu verstetigen. In Deutschland ist die Richtung mit der Energiewende ohnehin klar vorgegeben. Wir werden im Übrigen in dieser Woche die zweite und dritte Lesung im Deutschen Bundestag zum Erneuerbare-Energien-Gesetz 2016 haben. Mit diesem Gesetz wird eine neue Phase beginnen. Die erneuerbaren Energien sind bereits die wichtigste Säule der Energieerzeugung in Deutschland. Wir werden von staatlich festgelegten Unterstützungspreisen zu Ausschreibungsverfahren übergehen. Das ist ein qualitativer Sprung. In Deutschland haben wir uns ehrgeizige Ziele gesetzt. Allerdings erweist sich bei uns als ein Flaschenhals der Ausbau neuer Leitungen, der einer sehr hohen Akzeptanz auch durch die Bevölkerung bedarf. Dabei haben wir noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Wir sind nicht die einzigen, die sich ehrgeizige Ziele gesetzt haben. Indien zum Beispiel will 175 Gigawatt erneuerbare Energien bis 2022 aufbauen – darunter 100 Gigawatt Solarenergie. Das Land hat auch eine Verdopplung der Steuer auf Kohlegewinnung angekündigt. Die Einnahmen sollen in Umweltprojekte fließen. China wird seine Solarkapazität bis 2020 verdreifachen. Wir sind sehr auf den 2017 einzuführenden Emissionshandel in China gespannt. Das Gastgeberland der nächsten COP, Marokko, will bis 2020 den Anteil erneuerbarer Energien an seiner Stromkapazität auf 42 Prozent hochschrauben. Das ist auch ein sehr ehrgeiziges Ziel. Man kann also sagen: Es geht voran. Aber wir brauchen nicht nur im Bereich Energie Fortschritte, sondern in allen Sektoren: in der Wirtschaft, im Verkehr, in Privathaushalten. Dabei sind aus meiner Sicht drei Aspekte des Pariser Klimaabkommens besonders wichtig: Wir müssen langfristige Strategien erarbeiten, wir müssen die Klimabeiträge regelmäßig weiterentwickeln und wir müssen schlüssige Antworten auf Fragen der Finanzierung und Anreizsetzung geben. Zum ersten Punkt: Dass wir Langfriststrategien brauchen, liegt auf der Hand, weil wir festgelegt haben, dieses Jahrhundert zu einem Jahrhundert der Dekarbonisierung zu machen. Dabei kommt es insbesondere auf langfristige Investitionen an – öffentliche wie private. Die Globale Kommission für Wirtschaft und Klima schätzt, dass bis zum Jahr 2030 weltweit mehr als 90 Billionen US-Dollar in Infrastrukturen unter anderem für Energie, Verkehr und Wasser investiert werden. Es geht darum, diese Investitionen klimafreundlich zu gestalten. Interessant ist, dass damit eigentlich nur geringe Mehrkosten verbunden sind. Schätzungen zufolge sind es 0,3 bis maximal vier Prozent, die zu den Investitionskosten hinzukommen. Aber dafür haben wir dann auch klimafreundliche Investitionen. Ich will diese Mehrkosten nicht kleinreden. Aber wir wissen spätestens seit dem Stern-Report, dass sie sich langfristig – eigentlich schon mittelfristig – bezahlt machen. Wenn wir sehen, wie viele Folgen des Klimawandels wir ansonsten zu gewärtigen haben, dann wissen wir, dass sich das allemal lohnt. Das heißt, der Erfolg von Paris wird sich in der Praxis sehr stark daran entscheiden, welche Investitionen in den nächsten Jahren getätigt werden. Die G7-Staaten haben sich Ende Mai bei ihrem Gipfel in Japan darauf verständigt, in Bezug auf diese Frage eine Führungsrolle zu übernehmen und ihre jeweiligen Strategien deutlich vor 2020 vorzulegen. Die Arbeiten dazu haben bereits begonnen. Ich erwähnte schon den Klimaschutzplan, den wir in Deutschland erarbeiten und der die Schritte bis zum Zielwert von minus 80 bis 95 Prozent der Emissionen im Jahr 2050 gegenüber 1990 beschreibt. 2050 ist ja gar nicht mehr allzu weit entfernt. Wir haben jetzt das Jahr 2016; es sind also keine 35 Jahre mehr bis dahin. Wenn man sich die Lebensdauer von Kraftwerken und vielem anderen vor Augen führt, weiß man, dass diese Zeitspanne oft nur ein Investitionszyklus ist. Nun ist in der Zielsetzung von 80 bis 95 Prozent eine ziemlich große Marge enthalten. Genau darum drehen sich die politischen Diskussionen, die die Bundesumweltministerin im Augenblick zu gewärtigen hat. Wir haben uns auf EU-Ebene darauf verständigt, dass wir möglichst bis 2018 eine Klimastrategie für die nächsten Jahrzehnte entwickeln. Auch in den USA und Kanada laufen bereits die Arbeiten an langfristigen Plänen. Letztlich sind alle Staaten dazu aufgerufen, Langfriststrategien zu entwickeln – nicht allein mit Blick auf den Klimaschutz, sondern auch mit Blick auf künftige Wachstums- und Wohlstandschancen. Denn letztlich geht es beim Klimaschutz auch um die Frage, ob wir überhaupt erfolgreich wirtschaften können. Deshalb hängen das Klimaabkommen und die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, auf die sich die Staatengemeinschaft ebenfalls letztes Jahr verständigt hat, auf das Engste zusammen. Neben langfristigen Strategien sind natürlich schon ziemlich bald konkrete Klimabeiträge gefragt. Das ist der zweite Punkt, auf den es ankommt, um das Pariser Abkommen mit Leben zu füllen. Es ist sehr erfreulich, dass alle Staaten freiwillige Klimabeiträge geboten haben. Wie der Außenminister schon sagte: Diese reichen aber in der Summe noch nicht aus, um die Zwei-Grad-Obergrenze einzuhalten. Deshalb haben wir sehr darauf gesetzt, dass es alle fünf Jahre eine Revision gibt. Diese Revisionen werden sicher auch schmerzlich werden, weil man sehr gut sehen wird, wie weit wir gekommen sind. Ich habe mir jüngst noch einmal den CO2-Anstieg der weltweiten Emissionen angeschaut. Die Zahlenreihe von 1900 bis in die heutige Zeit sieht wirklich bedrohlich aus. Deutschland und Europa stehen zu einem ambitionierten Mechanismus. Wir sind bereit, besser zu werden. Wir haben uns in der Europäischen Union das Ziel gesetzt, unsere Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken. Das haben wir als Mindestziel formuliert. Wir lassen also durchaus offen, dass wir nach weiteren Überprüfungen diesen Beitrag nochmals ändern. Allerdings will ich sagen: Schon das Erreichen von minus 40 Prozent ist durchaus ambitioniert. Wir werden nochmals Diskussionen über das „burden sharing“ auf der Grundlage der Vorschläge der Kommission haben, die sie erarbeitet. Ziele sind fein, aber sie müssen auch mit einer vernünftigen Finanzierung unterlegt werden. Das ist der dritte Aspekt. Das Abkommen nimmt uns in die Pflicht, Finanzflüsse mit einer emissionsarmen, klimaschonenden Entwicklung in Einklang zu bringen. Ausgangspunkt ist das, was von der Konferenz in Kopenhagen positiv übrig geblieben ist, nämlich die Zusage, aus öffentlichen und privaten Quellen ab 2020 jährlich 100 Milliarden US-Dollar für ärmere Staaten bereitzustellen. Diese Zusage wurde in Paris bestätigt und bis 2025 verlängert. Dann muss ein neues Finanzierungsziel vereinbart werden. Eine Roadmap, wie diese 100 Milliarden Dollar bis 2020 erreicht werden, wird derzeit in einer Arbeitsgruppe der Industrieländer erarbeitet. Ich will an dieser Stelle auch sagen, dass uns die OECD bei all diesen Fragen in vielen Aspekten sehr unterstützt. Mit zahlreichen Finanzzusagen und Initiativen sind die Industriestaaten bereits auf einem guten Weg. Auch die G7 spielt dabei eine vernünftige Rolle. Als wir in Deutschland im vergangenen Jahr Gastgeber der G7 waren, haben wir den Startschuss zu einigen konkreten Initiativen gegeben. Deutschland will seinen Beitrag bis 2020 gegenüber 2014 verdoppeln. Aber wir wissen natürlich, dass staatliche Beiträge nur das eine sind. Wir müssen sie klug mit privaten Investitionen vernetzen. Hierbei spielen Entwicklungsbanken eine zentrale Rolle. Die Weltbank, die Asiatische, Afrikanische und Interamerikanische Entwicklungsbank und nicht zuletzt die Europäische Investitionsbank – sie alle wollen den Beitrag zur Klimafinanzierung in ihren Portfolios erheblich erhöhen. Insofern sind Entwicklungsbanken sozusagen auch strategische Wegbereiter für private Investitionen. An dieser Stelle möchte ich deutlich hervorheben, dass für alle betroffenen Länder, insbesondere für kleine Inselstaaten, am Ende zählt, dass das Geld auch wirklich ankommt. Irgendwann schlägt die Stunde der Wahrheit. Dann ist es vorbei mit dem theoretischen Jonglieren von Finanzsummen. Projekte brauchen Realisierung. Wir müssen wirklich das erbringen, was wir versprochen haben. Eine Vielzahl von privaten Investoren handelt aus eigenem Antrieb. Ich möchte in diesem Zusammenhang das Beispiel des „Carbon Disclosure Project“ nennen, das von mehr als 820 institutionellen Investoren mit einem Vermögen von mehr als 95 Billionen US-Dollar unterstützt wird. Diese sogenannte CDP-Initiative fordert weltweit von Unternehmen die Offenlegung ihrer CO2-Emissionen und Klimarisiken. Eine Arbeitsgruppe des Financial Stability Board, also des internationalen Gremiums zur Überwachung des Finanzsystems, arbeitet derzeit an Empfehlungen für eine Offenlegung von Klimarisiken. Ich finde, das ist auch ein sehr spannender Beitrag. Wenn man bisher vom FSB gesprochen hat, dann hat man sich im Allgemeinen mit systemrelevanten Banken beschäftigt oder mit Schattenbanken. Aber dass sich dieses Gremium jetzt auch mit Klimarisiken beschäftigt, zeigt: Klimaschutz findet auch Eingang in die breite Frage des globalen Finanzsystems. Da uns das globale Finanzsystem ja schon viele Bürden hinterlassen hat, wäre es schön, das globale Finanzsystem würde bei der Frage des Klimaschutzes eine positivere Rolle spielen als während der Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009. All das sind sehr gute Ansätze. Einiges ist in Bewegung gekommen. Über 90 Staaten, die für 61 Prozent der globalen Emissionen verantwortlich sind, wollen auch nationale oder internationale Marktmechanismen nutzen, indem Kohlenstoff mit einem Preis versehen wird. Ich denke, dass wir hierbei voneinander lernen werden, wie diese Systeme gestaltet werden können. Wir wissen aus europäischer Erfahrung, wie schwierig das sein kann und wie eng das mit der Wirtschaftsentwicklung zusammenhängt. Was man vielleicht vor 20 Jahren als ein automatisch funktionierendes System erwartet hat, bedarf natürlich trotzdem einer klugen Verknüpfung mit der wirtschaftlichen Entwicklung. Ich will hier noch einmal sagen: Ich halte das für einen richtigen Ansatz. Ein Kohlenstoffpreis lenkt Investitionen in kohlenstoffarme Infrastrukturen, Technologien und Produkte. Ein solcher Preis sorgt dafür, dass Emissionen dort reduziert werden, wo dies besonders kosteneffizient möglich ist. Zudem werden öffentliche Einnahmen gewonnen, die für die Klimafinanzierung sowohl im In- als auch im Ausland verwendet werden können. Natürlich stellen sich in diesem Zusammenhang sehr schnell Fragen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Deshalb verfolgen wir auch mit großem Interesse, was China tut. Deshalb wünschen wir uns, dass andere Länder, mit denen wir im Wettbewerb stehen, ähnliche Wege gehen. Deshalb müssen wir mittel- bis langfristig einen globalen Kohlenstoffmarkt haben, damit wir wirklich faire Wettbewerbsbedingungen haben. Im Finanzbereich nennt man das ein „level playing field“. Das brauchen wir auch, wenn es nicht zu permanenten Nachjustierungen und Ausnahmeregelungen kommen soll. Wir werden uns damit noch sehr viel auseinandersetzen. Wir haben im letzten Jahr im Rahmen der deutschen G7-Präsidentschaft eine Plattform gegründet, die den internationalen Dialog zwischen Regierungen fördert, um Kooperationen zur Entwicklung eines globalen Kohlenstoffmarkts auszuloten. Ich möchte an dieser Stelle die Aktivitäten der Weltbankgruppe und des Internationalen Währungsfonds zur Förderung einer globalen Kohlenstoffbepreisung hervorheben, die ich gerne unterstütze. Sie merken es schon: OECD, Weltbank, das Financial Stability Board – alle sind inzwischen in diese Aktivitäten eingebunden. Das war vor Jahren nicht so. Und das zeigt durchaus, dass diese Entwicklung sehr viel stärker vorangehen wird. Beim internationalen Verkehr werden Preisanreize eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Die Entwicklung der Weltbevölkerung deutet darauf hin, dass wir ein weiteres Wachstum im Verkehrsbereich zu erwarten haben. Deshalb stehen wir auf der Versammlung der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation ICAO im Herbst dieses Jahres vor einer wichtigen Entscheidung. Wir wollen eine globale marktbasierte Maßnahme verbindlich beschließen, durch die das weitere Wachstum der Luftfahrt ab 2020 klimaneutral wird. Dies soll durch einen projektbezogenen Ausgleich der Emissionen – ein sogenanntes Offsetting – erreicht werden. Daneben sollten wir den Schwung aus Paris für ein zweites Großprojekt in diesem Jahr nutzen und unter dem Montreal-Protokoll auch die Reduzierung klimawirksamer teilfluorierter Kohlenwasserstoffe vereinbaren. Das wäre auch ein signifikanter Beitrag, um die in Paris gesetzten Vorgaben einzuhalten. Insgesamt betrachtet können wir Folgendes feststellen: Es hat sich gelohnt, dass wir auch nach der enttäuschenden Kopenhagener Konferenz 2009 am multilateralen Ansatz festgehalten haben. Klimaschutz ist eine globale Aufgabe, die sich eben nur global bewältigen lässt. Dabei ist uns natürlich bewusst, dass wir in unterschiedlichem Maße für den Klimawandel verantwortlich sind, dass seine Folgen uns unterschiedlich treffen und dass wir unterschiedliche Möglichkeiten haben, dieser Herausforderung zu begegnen. Das ist nach wie vor die Philosophie – vom Kyoto-Protokoll bis heute. Trotzdem hat sich seitdem, auch wenn wir die globale Rolle von Volkswirtschaften sehen, dramatisch viel verändert. Deshalb ist es so wichtig, dass die großen Wirtschaftsnationen eine Führungsrolle übernehmen. Den damit verbundenen Fragen werden wir uns auch und besonders während der G20-Präsidentschaft Deutschlands annehmen. Im nächsten Jahr wird Deutschland Gastgeber des G20-Gipfels sein. Hierbei werden wir auch wieder sehr eng mit der OECD zusammenarbeiten. Als Weltgemeinschaft insgesamt sind wir darauf angewiesen, dass auch die Schwellen- und Entwicklungsländer den Pfad der Transformation gehen oder gehen können. Hierbei wollen wir mit einer von Deutschland initiierten globalen Partnerschaft besonders den Entwicklungsländern zur Seite stehen. Ich freue mich, dass Umweltministerin Barbara Hendricks und Entwicklungsminister Gerd Müller diese Initiative gestern offiziell ins Leben gerufen haben. Es geht darum, dass Regierungen aus aller Welt und internationale Institutionen die Entwicklungsländer bei der Erarbeitung und Umsetzung ihrer nationalen Klimastrategien unterstützen. Diese nationalen Klimastrategien dienen gleichzeitig dem Ziel, Armut zu überwinden und sich neue wirtschaftliche Perspektiven zu erschließen. Erste Gespräche im Frühjahr haben gezeigt, dass es Interesse auf allen Seiten gibt – bei Gebern, multilateralen Organisationen und den Ländern selbst. Das ist erfreulich. Erste konkrete Ergebnisse zur Gestaltung der globalen Partnerschaft sollen schon in Marrakesch präsentiert werden. Deutschland hat zugesagt, ein Sekretariat zu finanzieren und auch personell zu unterstützen. Es soll vom World Resources Institute geleitet werden und Sitze in Bonn und Washington haben. Zudem wollen wir die neue Partnerschaft mit unserer „Internationalen Klimaschutzinitiative“ sowie im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit unterstützen. Meine Damen und Herren, das Pariser Abkommen weist uns den Weg. Ich habe deutlich zu machen versucht, dass dieser Weg zwar ausgewiesen, aber noch nicht beschritten wurde, dass wir beim Begehen viele Partner haben, aber auch noch viele Hürden zu überwinden haben. Es geht darum, Wohlstand zu schaffen und zu sichern – und dies nicht auf Kosten unserer Lebensgrundlagen, sondern auf einem nachhaltigen Weg. Es ist nicht übertrieben zu sagen: Klimaschutz ist nicht mehr und nicht weniger als eine Frage des Überlebens. Lassen Sie uns deshalb das Klimaabkommen mit Leben erfüllen. Herzlichen Dank.
in Berlin
Rede von Staatsministerin Grütters auf der Konferenz „Den Opfern einen Namen geben“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-gruetters-auf-der-konferenz-den-opfern-einen-namen-geben–435754
Wed, 29 Jun 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Schon der lange und im zweiten Teil doch relativ sperrige Titel der heutigen Tagung verrät, dass wir uns ein in jeder Hinsicht – rechtlich wie ethisch – anspruchsvolles Thema vorgenommen haben: Herzlich willkommen zur Fachkonferenz „Den Opfern einen Namen geben – Gedenken und Datenschutz im Zusammenhang mit der öffentlichen Nennung der Namen von NS-Opfern in Ausstellungen, Gedenkbüchern und Datenbanken“! „Name ist Schall und Rauch“, heißt es in Goethes Faust, was so viel bedeutet wie: Er ist vergänglich, ohne Bedeutung, ohne Konsequenz. Für die allermeisten unter uns dürfte diese Redewendung allerdings nicht der eigenen Wahrnehmung entsprechen. Vielmehr erscheinen uns unsere Namen als Teil unserer Identität. Sie kennzeichnen uns als Individuen, sie heben uns aus der Masse hervor. Thomas Mann, bekannt für die sprechenden Namen seiner Romanfiguren, formulierte es so: „Der Name ist ein Stück des Seins und der Seele“. Die Opfer der Nationalsozialisten wurden dieses Stücks ihres Seins und ihrer Seele beraubt. Sie wurden Teil einer anonymen Masse von „Juden“ oder „Homosexuellen“ – um nur zwei Beispiele zu nennen. In den Konzentrationslagern bekamen sie anstelle ihres Namens eine Nummer. Vor diesem Hintergrund legen wir heute Wert darauf, der Opfer als Individuen zu gedenken – beispielsweise im „Raum der Namen“ (er gehört zum Ort der Information im Denkmal für die ermordeten Juden Europas) oder in Form der in vielen KZ-Gedenkstätten erarbeiteten, so genannten Totenbücher. Die Konfrontation mit Einzelschicksalen hilft uns auch, die Dimension des unendlichen Leids, das die nationalsozialistische Vernichtungspolitik verursacht hat, zumindest ansatzweise zu begreifen. Von einem Menschenleben, von einem Einzelschicksal zu erzählen, heißt, es der monströsen und unfassbaren Abstraktheit reiner Zahlen („sechs Millionen Juden“) zu entreißen. Deshalb ist die Diskussion über die namentliche Nennung von Opfern des Nationalsozialismus, insbesondere von Opfern der NS-„Euthanasie“, so wichtig. Im Kern geht es um die Frage, ob Namen und weitere Daten von Opfern des Nationalsozialismus zugänglich gemacht und veröffentlicht werden dürfen und sollen – und wenn ja, wie und in welchem Umfang. Einerseits wollen wir den Opfern ihre Identität und ihre Würde zurückgeben und damit unserer immerwährenden Verantwortung für ein würdiges Gedenken gerecht werden. Andererseits dürfen wir dabei die legitimen und schutzwürdigen Interessen insbesondere der Angehörigen nicht ausblenden. So traurig es ist: Die Zugehörigkeit eines nahen Verwandten zu einer bestimmten Opfergruppe – zu den Opfern der NS-„Euthanasie“, zu den von den Nazis als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ bezeichneten Gruppen – kann bis heute mit einer gewissen Stigmatisierung verbunden sein. Umso wichtiger ist es, dass wir uns fundiert und differenziert mit diesen Fragen auseinander setzen und unsere Erinnerungskultur auch immer wieder reflektieren. Ich bin dankbar, dass wir dafür auf dieser von meinem Haus initiierten und finanzierten Konferenz so viele kompetente Redner und Diskutanten aus der Wissenschaft, aus Gedenkstätten und Archiven versammeln konnten. Vielen Dank, meine Damen und Herren, dass Sie diesem Spannungsfeld unserer Erinnerungskultur die Aufmerksamkeit schenken, die es verdient. Wir alle wissen nur zu gut, wie lange – viel zu lange! – es in Deutschland gedauert hat, bis wir auch dem Gedenken an die Opfer der „Euthanasie“-Morde öffentlich Raum gegeben haben. Die Ermordung kranker und behinderter Menschen, insbesondere die so genannte „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ – bewusst verharmlosend als „Euthanasie“ bezeichnet -, war Teil der nationalsozialistischen Rassenideologie. Die „Aktion T4“ – benannt nach der Tiergartenstraße 4 in Berlin, der Adresse der für die Planung und Organisation der Morde zuständigen Dienststelle – richtete sich gegen Menschen mit geistiger Behinderung und psychisch Kranke, gegen Menschen mit körperlicher Behinderung oder chronischen Krankheiten, gegen Menschen, die an Epilepsie, Alterssenilität oder Geschlechtskrankheiten litten sowie gegen unangepasst lebende Menschen, so genannte „Asoziale“. Es waren einmal mehr bürgerschaftliche Initiativen, die wesentlich dazu beigetragen haben, den Weg zu bahnen für ein würdiges Gedenken. Ehemalige Tötungsanstalten der Aktion „T4“ erhalten Bund und Länder zwar schon länger als Gedenkorte. Denn die 2008 fortgeschriebene Gedenkstättenkonzeption des Bundes schließt die Opfer der nationalsozialistischen Morde an Behinderten ausdrücklich in das nationale Gedenken ein. Doch erst im November 2011 fasste der Deutsche Bundestag den Beschluss, den Opfern der „Euthanasie“-Morde auch am historischen Ort in der Tiergartenstraße einen sichtbaren Gedenkort zu geben. Im September 2014 schließlich haben wir den Gedenkort „T4“ (Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde) als viertes zentrales Denkmal für Opfer des Nationalsozialismus in Berlin eingeweiht. Endlich setzen wir uns auch an diesem Ort in angemessener Weise mit einem Denken auseinander, das sich anmaßt, den Wert des einzelnen Lebens zu beurteilen! „T4“ zeigt uns, was es heißt, die Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens an einer so genannten „Nützlichkeit“ und „Brauchbarkeit“ für die Gesellschaft zu bemessen. Umso trauriger, dass die damalige Bewertung von Krankheit und Behinderung bis heute ein Stigma sein kann – ein Stigma, mit dem der eigene Familienname nicht in Verbindung gebracht werden soll. Ich kann mir vorstellen, welch emotionalen Konflikten die Angehörigen von Opfern der Nationalsozialisten sich damit ausgesetzt sehen. Ihnen liegt es ja ganz besonders am Herzen, dass ihre Mütter und Väter, Großmütter und Großväter, Tanten und Onkel und andere Verwandte als die Menschen, die sie waren, in der Erinnerung präsent bleiben. Hinzu kommt, dass es sich beispielsweise bei den im Bundesarchiv verwahrten Krankenakten der „Euthanasie“-Opfer“ um Unterlagen handelt, die innerhalb eines mit menschenrechtswidrigen Methoden arbeitenden Systems angelegt worden sind – auch diesen Aspekt dürfen wir nicht außer Acht lassen. Gerade weil Deutschland so ungeheure Schuld auf sich geladen hat, gerade weil es unsere Pflicht und Verantwortung bleibt, das Geschehene niemals zu vergessen, werden wir Widersprüche und Spannungen als Folgen einer intensiven Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit immer wieder aushalten müssen. Falsch wäre, sie zu verdrängen. Richtig ist, sich ihnen zu stellen – in Diskussionen und ruhig auch kontroversen Debatten. Deshalb habe ich diese Konferenz zur Frage des Umgangs mit den personenbezogenen Daten von NS-Opfern und ihrer Verwendung in Ausstellungen, Gedenkbüchern und Datenbanken, aber auch ganz grundsätzlich in der Wissenschaft, Archiv- und Gedenkstättenarbeit angeregt. Ich danke den Stiftungen Denkmal für die ermordeten Juden Europas und Topographie des Terrors sowie dem Bundesarchiv, dass sie diesen Vorschlag so schnell und beherzt angenommen haben. Das zeigt, wie sehr das Bedürfnis, angemessen zu erinnern – in einer Weise, die den Opfern und ihren Angehörigen gerecht wird -, viele Menschen bewegt, die im Archivwesen, in der Forschung oder in Gedenkstätten beruflich damit befasst sind. Der heutige Tag soll Ihnen, verehrte Damen und Herren, ein Forum bieten, um gemeinsam über das Spannungsverhältnis zu diskutieren, das zwischen dem Wunsch und dem Auftrag, „den Opfern einen Namen [zu] geben“ einerseits und andererseits den dabei zu berücksichtigenden schutzwürdigen Bedürfnissen und Belangen Dritter besteht. Berichte aus der Perspektive von Wissenschaft und Forschung sowie aus der Praxis des Bundesarchivs und der Gedenkstättenarbeit werden die Relevanz und Problematik des Themas dabei sicherlich ebenso verdeutlichen wie die natürlich ebenfalls zu Wort kommende Perspektive der Opfer und ihrer Angehörigen. Fest steht aus meiner Sicht schon jetzt, dass es einfache, gar schematische Antworten dabei nicht geben kann. Die Entscheidung über den Umgang mit personenbezogenen Daten erfordert in den Fällen, um die es heute geht, eine sensible Bewertung des jeweiligen Einzelschicksals. Vielleicht gelingt es dennoch, gemeinsam Grundlagen zu erarbeiten, die konkret und doch so verallgemeinerungsfähig sind, dass ein für alle Seiten konsensfähiger Umgang mit den Namen und Daten der NS-Opfer möglich wird – und zwar sowohl mit Blick auf die künftige Benutzungspraxis im Bundesarchiv als auch mit Blick auf die Verwendung der Daten in der Arbeit der Gedenkstätten. Das jedenfalls hoffe ich, denn es wäre hilfreich und wertvoll für die gesamtdeutsche Erinnerungskultur, in der Namen – ganz im Sinne Thomas Manns – „ein Stück des Seins und der Seele“ der Menschen sind. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen gute und konstruktive Diskussionen und bin sehr interessiert an den Ergebnissen der heutigen Konferenz.
Experten haben auf einer Fachkonferenz über Gedenken und Datenschutz von NS-Opfern in Ausstellungen, Gedenkbüchern und Datenbanken diskutiert. Kulturstaatsministerin Grütters plädierte in ihrer Rede für einen differenzierten Umgang mit der öffentlichen Nennung von NS-Opfern, insbesondere von Opfern der NS-„Euthanasie“.
Rede von Staatsministerin zur Vorstellung der Studie „Frauen in Kultur und Medien“ des Deutschen Kulturrats
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-zur-vorstellung-der-studie-frauen-in-kultur-und-medien-des-deutschen-kulturrats-434778
Tue, 28 Jun 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Herzlich willkommen im Bundeskanzleramt zur Vorstellung der Studie „Frauen in Kultur und Medien“! Sicher ist Ihnen hier im ersten Stock die so genannte „Kanzlergalerie“ aufgefallen – vermutlich der einzige Ort im Kanzleramt (neben den Herrentoiletten), wo die Männer noch unter sich sind. Und raten Sie mal, wer die Bilder unserer Altkanzler von Adenauer bis Schröder gemalt hat … – genau, es waren ausschließlich Männer. Damit ist die „Kanzlergalerie“ durchaus repräsentativ: Was die Gleichberechtigung von Frauen und Männern betrifft, machen Kunst und Kultur ihrem Ruf und ihrem Selbstverständnis als gesellschaftliche Avantgarde nämlich wahrlich keine Ehre. Kein Wunder! Ungleiche Chancen haben ja auch hier eine lange Geschichte. Künstlerische Fähigkeiten wurden Frauen über Jahrhunderte schlicht abgesprochen; von der künstlerischen Ausbildung waren sie lange ausgeschlossen; bis ins 20. Jahrhundert waren sie vielfach unerwünscht. So fürchtete Walter Gropius, als das Staatliche Bauhaus in Weimar 1919 seine Pforten öffnete, die große Anzahl von Frauen – 84 Frauen und 79 Männer hatten sich eingeschrieben – könnte dem Ansehen des Bauhauses schaden. Und Gerhard Marcks, Formmeister der Töpferei, plädierte dafür, „öglichst keine Frauen in die Töpferei aufzunehmen, beides ihret- und der Werkstatt wegen“. Ähnlich besorgt gab man(n) sich in der grafischen Druckerei und in der Metallwerkstatt. Im Gegenzug wurde die Weberei zur Frauenklasse erklärt, was den Maler Oskar Schlemmer, ebenfalls einer der Bauhaus-Pioniere zum Dichten veranlasste: „Wo Wolle ist, ist auch ein Weib, das webt, und sei es nur zum Zeitvertreib.“ Ironie der Bauhausgeschichte, dass ausgerechnet die Weberei – die Frauenklasse!- zu einer der künstlerisch produktivsten und auch noch kommerziell erfolgreichsten Werkstätten wurde … aber das nur nebenbei. Dass Anerkennung und Chancen auch im Kunstbetrieb des 21. Jahrhunderts noch sehr ungleich zwischen den Geschlechtern verteilt sind, zeigt die von meinem Haus mitfinanzierte Studie „Frauen in Kultur und Medien“ des Deutschen Kulturrats, deren Ergebnisse Frau Schulz und Herr Zimmermann Ihnen gleich vorstellen werden. Ich will der Präsentation nicht vorgreifen, nur so viel: Von Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern, wie sie in Artikel 3 unseres Grundgesetzes festgeschrieben ist, kann leider auch in Kultur und Medien noch keine Rede sein. Die Ursachen dafür sind vielfältig; es sind Ursachen, wie wir sie auch aus anderen gesellschaftlichen Bereichen kennen: Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie gehören genauso dazu wie Rollenstereotype, die vor allem Männern relevante Qualitäten wie Kreativität und Schaffenskraft, Durchhaltevermögen und Leidenschaft zuschreiben. Künstlerinnen können ein Lied davon singen … – oder auch einen Text dazu schreiben. Ich bin gespannt und freue mich auf den Impulsvortrag einer Schriftstellerin zu unserem Thema. Vielen Dank dafür, liebe Nina George! Mir ist es – nicht allein im Sinne der Gleichberechtigung, sondern auch im Sinne der künstlerischen und kulturellen Vielfalt – ein echtes Herzensanliegen, dass Frauen wie Männer die gleichen Chancen in Kultur und Medien haben: ob am Sprech- oder Notenpult, ob an der Staffelei oder am Schreibtisch, ob vor und hinter Bühne oder der Kamera, ob in öffentlichen Kultureinrichtungen oder Kulturverbänden …und natürlich auch in meinem eigenen Haus, wo die Frauenquote bei knapp 53 Prozent liegt – und auf den beiden obersten Führungsebenen (das heißt: Abteilungsleitung und Gruppenleitung) mittlerweile bei exakt 50 Prozent. Im Filmbereich – um noch ein weiteres Beispiel zu nennen – konnte ich im Rahmen der FFG-Novelle dafür sorgen, dass der bisher geradezu blamabel geringe Frauenanteil in den Gremien der FFA und in den Kommissionen künftig deutlich erhöht wird. Gönnen wir uns, bevor wir uns weiteren Zahlen zuwenden, ruhig auch noch einen Blick über den kulturpolitischen Tellerrand hinaus auf das derzeitige Thema Nummer 1, nämlich den Fußball: Auch wenn es im Moment wieder mal Jogis Jungs sind, die von sich reden machen, darf ich kurz an einen durchaus bemerkenswerten Sieg der Frauen erinnern, die sich ihre Rechte in dieser klassischen Männerdomäne hart erkämpft haben. Heute weiß kaum noch jemand, dass bis 1970 ein Frauenfußballverbot des DFB galt. Aus – ich zitiere – „grundsätzlichen Erwägungen und ästhetischen Gründen“ waren Fußballspiele mit weiblicher Beteiligung unter Androhung heftiger Strafen für die Vereine untersagt. Kein Scherz! Die theoretische Untermauerung lieferten Publikationen wie die 1953 veröffentlichte Studie eines niederländischen Psychologen und Anthropologen. Darin heißt es, ich zitiere: „Das Fußballspiel als Spielform ist wesentlich eine Demonstration der Männlichkeit. Es ist noch nie gelungen, Frauen Fußball spielen zu lassen, wohl aber Korbball, Hockey, Tennis und so fort. Das Treten ist wohl spezifisch männlich, ob das Getretenwerden weiblich ist, lasse ich dahingestellt. Jedenfalls ist das Nichttreten weiblich.“ Das, meine Damen und Herren, würde heute vermutlich niemand mehr leichtfertig behaupten – und das liegt gewiss nicht nur an den zwei WM- und den acht EM-Titeln der deutschen Frauen-Nationalmannschaft. Da wäre es doch gelacht, wenn die Erfolgsgeschichte weiblicher Emanzipation sich nicht auch für Kultur und Medien weiter erzählen ließe! Stoff genug und gute Ideen gibt es auf den knapp 500 Seiten, deren Lektüre ich nur empfehlen kann. Ein herzliches Dankeschön an den Deutschen Kulturrat für eine aufschlussreiche und sicherlich inspirierende Studie zu „Frauen in Kultur und Medien“! SCHLUSSWORT NACH VORSTELLUNG DER STUDIE Herzlichen Dank für diese Schlaglichter auf die Situation von Frauen in Kultur und Medien, liebe Frau Schulz, liebe Frau George, lieber Herr Zimmermann! Ganz offensichtlich gibt es nicht die eine Stellschraube, an der man nur drehen muss, um Frauen in allen Sparten und auf allen Ebenen der Kultur die gleichen Chancen zu eröffnen wie Männern. Die Fachbereiche meines Hauses werden die noch druckfrische Studie deshalb jetzt für alle Themenfelder sorgfältig auswerten. Auf dieser Grundlage will ich mit Kultur- und Medienverantwortlichen nach Möglichkeiten suchen, wie wir im Sinne fairer Chancen für Frauen und Männer in verschiedenen Bereichen schrittweise etwas verändern können. Einige Empfehlungen aus der Studie sind auf den ersten Blick gut – darüber lohnt es sich zu diskutieren: Zu begrüßen ist die Selbstvermarktung als Ausbildungsinhalt in Hochschulen und im Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes. Nachdenken sollten wir über Preise und Förderungen für Künstlerinnen ab einem bestimmten Alter in verschiedenen künstlerischen Sparten. Wir müssen außerdem vertieft erforschen, warum Frauen bislang selten von Künstlerförderprogrammen profitieren. Und ein letztes Beispiel: Nach dem Vorbild „Tanzplan“ sollte die Kulturstiftung des Bundes zum Beispiel ein Programm fördern, wie Frauen stärker präsent sein im Kulturbetrieb und höhere Einkommen erwirtschaften können. Um diese und andere Themen zu besprechen, werde ich zu einem Runden Tisch „Frauen in Kultur und Medien“ einladen. Einladen will ich Sie, meine Damen und natürlich auch die (wenigen) Herren, jetzt aber erst einmal ins Foyer vor der Kanzlergalerie. Wenn Ihnen nach den vielen Zahlen, Diagrammen und Tabellen der Kopf schwirrt, kommt ein stabilisierendes Glas Wein ja vielleicht gerade recht. Ich hoffe, dass Sie noch ein wenig Zeit haben, und freue mich, persönlich mit Ihnen ins Gespräch zu kommen!
Auch im Kunstbetrieb seien Anerkennung und Chancen für Frauen und Männer ungleich verteilt, bilanzierte Kulturstaatsministerin Grütters das Ergebnis der Studie „Frauen in Kultur und Medien“. Auf Grundlage der Studie wolle sie nach Möglichkeiten suchen, „wie wir im Sinne fairer Chancen für Frauen und Männer in Verschiedenen Bereichen etwas verändern können.“
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Bundestagsdebatte zum Kulturgutschutzgesetz
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-bundestagsdebatte-zum-kulturgutschutzgesetz-430876
Thu, 23 Jun 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Spätestens heute wissen wir, was Karl Valentin gemeint hat, als er mal seufzte: „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.“ Ja, es war ein steiler und sogar steiniger Weg. Deshalb bin ich umso dankbarer, dass wir nach einem Jahr intensiver Diskussion gemeinsam doch so weit gekommen sind. Union und SPD haben im Koalitionsvertrag für eine Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes votiert. Ich hoffe, dass wir heute sagen können: Die erste Etappe ist mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages geschafft. Der Kulturgutschutz ist eine im Grundgesetz festgeschriebene Aufgabe. Dahinter steht die Überzeugung, dass Kunst einen Wert hat, nicht nur einen Preis. Als Spiegel unserer Geschichte und Identität darf Kunst staatliche Förderung, aber auch staatlichen Schutz erwarten. Das gilt erstens bei der Einfuhr. Deutschland muss endlich seinen Beitrag zur Eindämmung des illegalen Handels mit Kulturgütern leisten. Hier geht es nämlich um nicht weniger als um den Schutz des kulturellen Erbes der Menschheit. Zweitens gilt das bei der Ausfuhr, beim Schutz unseres eigenen kulturellen Erbes. In den wenigen Fällen, in denen Kulturgüter wirklich emblematisch sind für unsere Geschichte und Identität, muss es meiner Meinung nach möglich sein, sie vor Abwanderung ins Ausland und auch vor Zerstörung zu schützen. Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass mehr als 130 Staaten dieser Erde die UNESCO-Konvention zum Kulturgutschutz aus dem Jahr 1970 ratifiziert haben. Alle diese Staaten haben ein gemeinsames Grundverständnis vom Schutz von Kulturgütern im Allgemeinen und natürlich von ihrer jeweils eigenen Kunst im Besonderen. Es steht auch Deutschland sehr gut an, sich immer wieder selbst zu vergewissern, was hier national wertvoll ist und sein soll. Für die wenigen Fälle, in denen Kulturgüter für unsere Geschichte und Identität – sie ist schwierig genug – von herausragender Bedeutung sind, gibt es schon seit 60 Jahren – es handelt sich hier um eine Novelle und nicht um ein neues Gesetz – ein Verfahren, das weitgehend konfliktfrei praktiziert wird. Ich bin sicher, dass das auch in Zukunft gelingen wird, zumal die neuen Regelungen sowohl Museen als auch private Eigentümer, Sammler und Leihgeber in vielen Punkten deutlich besserstellen als die bisherigen Regelungen. Worin bestehen die Verbesserungen? Ich will sie kurz benennen, weil bei vielen Sammlern – das ist Ihnen nicht verborgen geblieben – der Eindruck erweckt wurde, sie könnten künftig nicht mehr frei über ihr Eigentum verfügen. Das ist falsch. Gerade Sammler profitieren sogar von der Novellierung dieses Gesetzes. Erstens. Im aktuell geltenden Kulturgutschutzgesetz aus dem Jahr 1955 gibt es keine Definition dafür, was national wertvoll ist. Anhaltspunkte fanden sich bisher nur in einer Empfehlung der KMK. Nach intensiven Beratungen gerade zu diesem Punkt, nach Konferenzen, nach Anhörungen und nach unzähligen Einzelgesprächen präzisieren wir im Gesetzentwurf erstmals Kriterien für Werke, die in ein Verzeichnis national wertvollen Kulturguts einzutragen sind. Das sorgt für deutlich mehr Rechtssicherheit. Zweitens. Der Entwurf sieht vor, dass die Sachverständigenausschüsse, die diese Prüfung vornehmen – es ist ja nicht die Politik, sondern es sind die Sachverständigenausschüsse, die prüfen müssen, ob ein Kunstwerk als national wertvoll einzustufen ist -, aus Vertretern von Museen, Archiven, Wissenschaft, Handel und Sammlern gestärkt werden. Das Verfahren wird zukünftig deutlich transparenter. Eigentümer von Kulturgütern werden damit viel stärker abgesichert als bisher. Drittens. Leihgaben an öffentliche Museen können – natürlich mit jederzeit widerruflicher Zustimmung des Leihgebers; dass man das anfügen muss, ist schon kurios – vorübergehend vom gesetzlichen Schutz öffentlicher Museen profitieren. Niemand muss seine Bilder abhängen. Falls Leihgaben gestohlen werden und auf illegalem Weg ins Ausland gelangen, bestehen Rückgabeansprüche künftig nicht mehr nur für 30 Jahre, sondern für 75 Jahre. Auch das ist gut für Sammler und für Leihgeber. Viertens. Im Gesetz von 1955 gibt es keine Verfahrensregeln. Diese haben wir nun in die Novelle aufgenommen. Sie schreiben beispielsweise ausdrücklich eine maximale Bearbeitungsfrist von zehn Tagen für die Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung vor. Für den seltenen Fall, dass eine Eintragung als national wertvolles Kulturgut erfolgt, ist dieses Verfahren im Regelfall innerhalb von sechs Monaten von den Sachverständigen abzuschließen. Auch diese Fristen gab es bisher nicht. Ich glaube, dass eine solche Befristung im Wesentlichen Eigentümer und Sammler stärkt. Fünftens. Sammler profitieren künftig beim Kauf des Kunstwerkes davon, dass der gewerbliche Kunsthandel im Rahmen des Zumutbaren die Herkunft und Provenienz eines Werkes prüfen muss, das er verkauft – eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Sechstens. Eine Verbesserung speziell für Museen ist, dass sie künftig im internationalen Leihverkehr keine Einzelgenehmigungen mehr brauchen, sondern eine fünf Jahre gültige allgemeine Genehmigung beantragen können. Das reduziert in großem Stil den Verwaltungsaufwand für die Museen, aber natürlich auch für die Länder, die uns gegenüber angegeben haben, dass der Genehmigungsaufwand bisher zu fast 90 Prozent den Leihverkehr betrifft. Wir können den zukünftigen Bürokratieaufwand, über den ja viel gesprochen worden ist – auch die Länder spekulieren zurzeit darüber -, nicht verbindlich beziffern. Deshalb wollen wir ihn auch schon in zwei Jahren evaluieren. Ich bin überzeugt, meine Damen und Herren, dass wir mit der Gesetzesnovelle, über die wir heute abstimmen, dank der intensiven Diskussion der vergangenen Monate jetzt die richtige Balance gefunden haben zwischen unterschiedlichen, jeweils sehr legitimen Interessen. Ich bin dankbar, dass wir einen breiten Konsens all derer erreicht haben, die Kulturgüter vor illegalem Handel und unrechtmäßiger Ausfuhr im Interesse des Gemeinwohls schützen wollen. Zu den Unterstützern zählen unter anderem der Deutsche Museumsbund, der Internationale Museumsrat, der Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler, der Deutsche Kulturrat und viele andere mehr. Zu den Unterstützern zählen insbesondere auch viele Staaten aus dem Nahen Osten und aus Süd- und Mittelamerika, deren Botschafter sich mit einem Besuch bei uns im Kanzleramt ausdrücklich bedankt haben. Sie haben im Übrigen dem Deutschen Bundestag, also Ihnen allen, geschrieben, wie sehr sie auf einen solchen Gesetzentwurf gewartet haben und dass sie ihn ausdrücklich begrüßen. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die öffentliche Auseinandersetzung und die Kommunikation waren nicht immer einfach; das gehört zur Wahrheit dazu. Aber bei Kunst und Kultur liegt es quasi in der Natur der Sache, dass Leidenschaften den Austausch kühler Sachargumente und Fakten gelegentlich auch einmal überlagern. Die parlamentarischen Beratungen, lieber Siegmund Ehrmann als Vorsitzender des Kulturausschusses – das möchte ich ausdrücklich sagen -, fand ich wohltuend sachorientiert und angesichts dieser komplexen und wirklich sehr sensiblen Materie entsprechend konstruktiv. Mit dem neuen Kulturgutschutzgesetz erkennt Deutschland, wenn auch mit jahrzehntelanger Verspätung, endlich internationale UNESCO- und europäische Standards an, die in fast allen Staaten Europas längst gelten. Herzlichen Dank also an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, an die Berichterstatterinnen und Berichterstatter, dass Sie in vielen, wie ich fand, sehr hilfreichen Diskussionen dazu beigetragen haben. Lassen Sie uns heute auch für Deutschland ein Kulturgutschutzgesetz beschließen, das einer Kulturnation würdig ist. Vielen Dank.
Das neue Kulturgutschutzgesetz habe „die richtige Balance gefunden zwischen den unterschiedlichen Interessen“, betonte Kulturstaatsministerin Grütters im Bundestag. Damit leiste Deutschland seinen Beitrag, den illegalen Handel mit Kulturgütern einzudämmen. Zum Schutz des eigenen kulturellen Erbes müsse es auch möglich sein, Kulturgüter vor Abwanderung und auch vor Zerstörung zu schützen.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der Ausstellung „Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion 1941 – 1945“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-ausstellung-vernichtungskrieg-gegen-die-sowjetunion-1941-1945–426628
Tue, 21 Jun 2016 10:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Es war ein Krieg mit dem Ziel der Vernichtung – ein Krieg, brutaler und barbarischer als je ein Krieg zuvor: Schier unfassbar die Zahl der Menschen, die ihm zum Opfer fielen: 27 Millionen Sowjetbürger, überwiegend Zivilisten – ermordet von Deutschen, verhungert oder erfroren. „Unternehmen Barbarossa“: Unter diesem Decknamen begann in den Morgenstunden des 22. Juni 1941, was der Historiker Joachim Käppner in seinem gerade erschienenen Buch über das Schlüsseljahr 1941 als „Angriff auf die ganze Welt“ bezeichnet. „Überall entlang der 1800 Kilometer langen Grenze“ -schreibt Käppner, „brüllten die Motoren der Panzer und Lastwagen auf. 3,3 Millionen deutsche Soldaten und Hunderttausende verbündete Finnen, Rumänen, Slowaken und Ungarn stießen nach Osten vor.“ Als „Angriff auf die ganze Welt“ erweist sich der deutsche Überfall auf die Sowjetunion nicht nur im Rückblick – in der Ausweitung des von den Nationalsozialisten 1939 mit dem Angriff auf Polen entfesselten Krieges zu einem Weltkrieg Ende 1941. Der Eroberungsfeldzug im Osten, den Hitler als seine wahre „Mission“ bezeichnete, war – nach den Verbrechen der Wehrmacht und der SS unter anderem in Polen – ein weiterer Angriff auf die Menschlichkeit und damit auf die ganze Welt: ein Angriff, motiviert durch völkisch-nationalistische Großmachtfantasien, rassebiologisch gerechtfertigt als Kampf um „Lebensraum im Osten“, wie es die Nazis formulierten, und ideologisch begründet mit dem Ziel der „Zerschlagung des Bolschewismus“. Die Ausstellung, die uns Herr Professor Morsch gleich vorstellen wird, dokumentiert diesen Krieg anhand zahlreicher Fotos und anderer Zeitzeugnisse. Sie erzählen von der unbegreiflichen Grausamkeit der deutschen Besatzer. Sie berichten von den unermesslichen Qualen der etwa 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen. Sie lassen das unvorstellbare Leid unschuldiger Menschen erahnen, verursacht durch Terror, Hunger, Seuchen und bittere Kälte – die Auswüchse eines Krieges, an denen so viele Männer, Frauen und Kinder körperlich und seelisch zugrunde gingen. Dafür steht insbesondere die 900 Tage währende Belagerung Leningrads – des heutigen Sankt Petersburgs -, an die der Schriftsteller Daniil Granin 2014 in seiner bewegenden Rede am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag erinnert hat, ich zitiere: „Ich (…) konnte es den Deutschen sehr lange nicht verzeihen, dass sie 900 Tage lang Zivilisten vernichtet haben, und zwar auf die qualvollste und unmenschlichste Art und Weise getötet haben, indem sie den Krieg nicht mit der Waffe in der Hand führten, sondern für die Menschen in der Stadt Bedingungen schufen, unter denen man nicht überleben konnte. Sie vernichteten Menschen, die sich nicht zur Wehr setzen konnten. Das war Nazismus in seiner ehrlosesten Ausprägung, ohne Mitleid und Erbarmen und bereit, den russischen Menschen das Schlimmste anzutun.“ Was Deutsche, meine Damen und Herren, Sowjetbürgern angetan haben, dürfen wir in Deutschland nie vergessen. Die Erinnerung an die Verbrechen und Gräuel wach zu halten, die unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in deutschem Namen geschehen sind, bleibt für uns Deutsche eine immerwährende Verantwortung und Verpflichtung. Dazu gehört auch die Erinnerung an den barbarischen Vernichtungskrieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion, der bei uns – auch das gehört zur Wahrheit – aus vielerlei Gründen bis heute keinen angemessenen Platz im öffentlichen Bewusstsein hat. Das soll sich ändern, und ich hoffe, dass diese aus meinem Etat finanzierte Ausstellung dazu einen kleinen Beitrag zu leisten vermag – so wie bisher schon das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst, ein einmaliges Projekt deutsch-russischer Erinnerungskultur. Herzlichen Dank Ihnen allen – den Mitgliedern der Ständigen Konferenz der Leiter der NS-Gedenkorte im Berliner Raum -, dass Sie mit dieser Freiluft-Ausstellung vielfach verdrängte Erinnerungen im wahrsten Sinne des Wortes mitten ins Leben, mitten ins Herz der deutschen Hauptstadt, zurückholen! Hier am Potsdamer Platz, meine Damen und Herren, verlief die Mauer, die infolge des Zweiten Weltkriegs die Spaltung Deutschlands und Europas zementierte. Hier haben wir vor einem Vierteljahrhundert einen der glücklichsten Momente deutscher Geschichte erlebt: Freiheit und Einheit, das Ende des Kalten Krieges, den Beginn der Aussöhnung mit den Staaten des ehemaligen Ostblocks. Ich empfinde große Dankbarkeit für die Versöhnungsbereitschaft und das Vertrauen, das Deutschland damit – auch von russischer Seite – erfahren hat. Doch dort, wo 1941 deutsche Soldaten nach Osten vorrückten – dort, wo zahlreiche Bilder der Ausstellung entstanden, die wir heute eröffnen -, dort kann von Frieden und Versöhnung keine Rede sein. In der Ukraine, die schon die nationalsozialistische Terrorherrschaft, die sowjetkommunistische Diktatur und die Verwerfungen nach dem Zerfall der Sowjetunion durchlitten hat, dauern die blutigen Konflikte an, die wir längst überwunden glaubten. Umso wichtiger ist es, aus dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion vor 75 Jahren Lehren für die Zukunft zu ziehen. Dazu gehört die Einsicht, dass es ohne die Überwindung des Nationalismus, der einst im barbarischen Eroberungsfeldzug Hitlers im Osten gipfelte und der heute vielerorts wieder im Aufwind ist, keinen dauerhaften Frieden in Europa geben kann. In diesem Sinne wünsche ich der Ausstellung viele interessierte Besucherinnen und Besucher aus dem In- und Ausland! Möge die Erinnerung an das präzedenzlose Leid, das Deutschland im 20. Jahrhundert über Europa gebracht hat, der Saat des Nationalismus den Boden entziehen und die Kraft zur Verständigung fördern!
Am 22. Juni 2016 jährt sich zum 75. Mal der Überfall deutscher Truppen auf die Sowjetunion. Bei der Eröffnung einer Freiluftausstellung, die diese Gräueltaten dokumentiert, erinnerte Kulturstaatsministerin Grütters an die vielen Opfer. Mit Blick auf den Ukraine-Konflikt sei es umso wichtiger, Lehren für die Zukunft zu ziehen. „Dazu gehört die Einsicht, dass es ohne die Überwindung des Nationalismus keinen dauerhaften Frieden in Europa geben kann.“
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Zukunftswerkstatt Künstlersozialversicherung
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-zukunftswerkstatt-kuenstlersozialversicherung-801068
Tue, 14 Jun 2016 14:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Ich seh’s schon, wenn ich von der Malerey leben müsste, ging’s mir schlecht“, schrieb der Maler Carl Spitzweg 1836 an seinen Bruder, und mit dieser Einschätzung dürfte er richtig gelegen haben. Jedenfalls hat er selten mehr als zehn Bilder im Jahr verkauft, und die Genugtuung hoher Verkaufspreise wurde ihm zu Lebzeiten nicht mehr zuteil. Zum Glück, das darf man heute wohl sagen, musste Carl Spitzweg dank einer Erbschaft nicht von der Malerei leben – und auch nicht vom erlernten Apothekerberuf. Ironie der Kunstgeschichte, dass wir ausgerechnet diesem Umstand den Armen Poeten verdanken: das berühmte Ölgemälde, das einen Dichter in seiner zugigen Dachkammer unter einem Regenschirm sitzend zeigt – ein ins Groteske überzeichnete Sinnbild der prekären Künstlerexistenz. Dass die Lebenswirklichkeit der meisten Künstler und Kreativen im Deutschland des 21. Jahrhunderts mit Spitzwegs Gemälde wenig zu tun hat, ist nicht zuletzt einem stabilen Fundament der sozialen Absicherung zu verdanken – der Künstlersozialversicherung, eingeführt vor 33 Jahren. Seitdem können selbständige Künstler und Publizisten sich weitgehend wie Angestellte versichern: mit hälftiger Finanzierung von Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung durch ihre – die künstlerischen oder publizistischen Leistungen verwertenden – Auftraggeber und durch den Staat. Und doch steht der „arme Poet“ den über 180.000 KSV-Versicherten gefühlt gewiss näher als sein Schöpfer – der durch eine Erbschaft aller finanziellen Sorgen enthobene Maler Carl Spitzweg. Das durchschnittliche Jahreseinkommen der versicherten Künstler und Publizisten beträgt gerade mal gut 15.000 Euro, und die Kopier- und Vervielfältigungsmaschine Internet birgt – bei allen positiven Aspekten und Chancen, die die digitale Entwicklung mit sich bringt – die Gefahr, dass kreative Leistungen zum kostenfrei verfügbaren Allgemeingut werden. Hinzu kommt, dass immer mehr Kreative selbständig tätig sind und der Arbeitsmarkt Kultur (das wurde in der Gesprächsrunde eben über „hybride Erwerbsbiographien im Kulturbetrieb“ deutlich) in vielen Fällen ein hohes Maß an Flexibilität, Eigenverantwortung und Enthusiasmus – oder weniger euphemistisch ausgedrückt: nicht selten die Bereitschaft zur Selbstausbeutung – verlangt. Grund genug, gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir die soziale Absicherung von Künstlerinnen und Künstlern zukunftsfest machen und sie als stabile und verlässliche Rückendeckung der Solidargemeinschaft für den einzelnen auch in Zeiten erhalten können, in denen die Zahl der Versicherten (und damit die Höhe der Leistungsansprüche) steigt und in denen die Digitalisierung das Modell „Künstlersozialversicherung“ möglicherweise auf eine Bewährungsprobe stellt. Ich bin meiner Kollegin Andrea Nahles sehr dankbar, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einem konstruktiven und ergebnisoffenen Austausch Raum bietet und nutze gerne die Gelegenheit, deutlich zu machen, worauf es dabei aus kulturpolitischer Sicht ankommt. Anders als der Begriff „Zukunftswerkstatt“ im Veranstaltungstitel es vielleicht vermuten lässt, haben wir auch in der Vergangenheit – in den gut zweieinhalb Jahren, die seit der letzten Bundestagswahl vergangen sind – schon intensiv gewerkelt und unser Erfolgsmodell „Künstlersozialkasse“ mit den zur Verfügung stehenden, politischen Werkzeugen bearbeitet. Das gleich zu Anfang der Legislaturperiode auf den Weg gebrachte Gesetz zur Stabilisierung des KSV-Abgabesatzes hat dazu geführt, dass der Künstlersozialabgabesatz seitdem nicht gestiegen ist – ein wichtiges kulturpolitisches Signal und ein ganz entscheidender Beitrag zur breiten, öffentlichen Akzeptanz der Künstlersozialkasse. Die verschärften Prüfpflichten der Deutschen Rentenversicherung stellen außerdem sicher, dass Verwerter kreativer Leistungen sich nicht um die Abgabe drücken können. Davon profitieren nicht nur die Versicherten, sondern auch all jene Verwerter in der Kultur- und Medienbranche, die bisher schon ehrlich ihre Beiträge entrichtet haben. Sie sollten nicht die Zahlmeister sein, auf deren Kosten andere sich ihren Pflichten entziehen können. Das ist eine Frage der Fairness, aber auch Voraussetzung dafür, dass das Modell Künstlersozialkasse auf Dauer funktionieren kann. Soweit der Blick in die großkoalitionäre Werkstatt, meine Damen und Herren, in der mein Haus und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales vertrauensvoll und konstruktiv im Sinne der Künstler und Kreativen zusammen arbeiten. In die „Zukunftswerkstatt“ begeben wir uns gemeinsam mit Ihnen, den Künstlern und Kreativen, um heraus zu finden, ob und inwieweit die Digitalisierung den Einsatz weiterer politischer Werkzeuge erfordert. Wenn die zunehmende Selbstvermarktung der Künstler und Kreativen mit Hilfe neuer technischer Möglichkeiten im Internet dazu führt, dass künstlerische und publizistische Leistungen an etablierten Verwertungswegen vorbei einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, dann drohen strukturelle Finanzierungslücken, weil sich die Kluft zwischen den Einkommen der Künstler und den künstlersozialabgabepflichtigen Honorarsummen der verwertenden Unternehmen vergrößert. Im Moment können wir das noch nicht abschätzen. Es gibt gute Beispiele – denken Sie an die Musikbranche -, die zeigen, dass klassische Verwerter sich durch Anpassung ihrer Geschäftsmodelle weiterhin unentbehrlich bei der Vermarktung kreativer Leistungen machen können. Damit wäre die Tragfähigkeit der Künstlersozialversicherung in ihrer bisherigen Struktur auch für die digitalisierte Verwertung gesichert. Diese Veränderungen klarer zu sehen und zu verstehen, ist wichtig, um politisch und rechtlich an den richtigen Stellen nachjustieren zu können. Deshalb erhoffe ich mir von dieser Zukunftswerkstatt – von Ihrer Fachkompetenz und Ihrer Expertise, meine Damen und Herren – neue Erkenntnisse für mich, für mein Haus und für die Kulturpolitik insgesamt. Welche Veränderungen auch immer sich dabei am Horizont abzeichnen: Auch im digitalen Zeitalter sollten wir nicht vergessen, warum es im allgemeinen Interesse ist, die Künstlersozialversicherung als kulturpolitische Errungenschaft zu verteidigen. „Kunst und Wissenschaft (…) sind frei“, heißt es nicht umsonst in Artikel 5 unseres Grundgesetzes. Die Erhebung der Kunstfreiheit in den Verfassungsrang ist eine Lehre aus unserer jüngeren Geschichte. Aus zwei deutschen Diktaturen in einem Jahrhundert haben wir eine Lehre gezogen, die da lautet: Die Freiheit der Kunst ist konstitutiv für eine Demokratie. Kreative und Intellektuelle sind das Korrektiv einer Gesellschaft. Wir brauchen experimentierfreudige Künstler und unbequeme Denker! Sie sind der Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft, der verhindert, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Sie sind es, die unsere Gesellschaft vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu schützen imstande sind. Sie sind es auch, die mit ihrem „avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen“ (Jürgen Habermas), mit künstlerischen Kernkompetenzen wie Empathie, Ausdrucksvermögen, Neugier und Weltoffenheit notwendige Veränderungen anstoßen und Innovationen aller Art den Weg bereiten. Wir erleben es aktuell bei der Integration der Menschen, die Zuflucht suchen in Deutschland und zu deren Integration Künstler und Kreative mit ihren Ideen beitragen – wie zum Beispiel die Dresdner Brass-Band „Banda Internationale“, in der deutsche Musiker und geflüchtete Musiker aus aller Welt zusammen Musik machen und die ich dafür gerade mit einem neuen „Sonderpreis für kulturelle Projekte mit Flüchtlingen“ meines Hauses ausgezeichnet habe. Sie zeigen, was Kunst – was Musik, Tanz, Literatur, Film, Theater oder auch bildende Kunst – für unsere Gesellschaft zu leisten imstande ist: Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren; sie kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt; sie kann uns aber auch nötigen, die Perspektive zu wechseln und die Welt aus anderen Augen zu sehen. Ja, Kultur öffnet Welten und überwindet Grenzen, so dass wir sagen können: Wir schaffen das! Künstlerische Arbeit, meine Damen und Herren, dient also nicht nur der individuellen Selbstverwirklichung und nützt auch nicht nur den so genannten Verwertern. Wir alle profitieren davon! Das ist der Grund, warum der Bund die soziale Absicherung selbständiger Künstler und Kreativer mitfinanziert. Daran hin und wieder zu erinnern, ist nicht minder wichtig als die Arbeit in der Zukunftswerkstatt, für die ich Ihnen und uns allen fruchtbare Diskussionen und interessante Erkenntnisse wünsche. „Arbeite nur, wenn Du das Gefühl hast, es löst eine Revolution aus“, hat Joseph Beuys einmal gesagt. Diese auf den ersten Blick etwas ungesund anmutende Haltung kann man, wie ich finde, durchaus als pointierte Beschreibung künstlerischen und kreativen Schaffens beschreiben. Es muss ja nicht immer gleich die Weltrevolution sein … . Die kleinen Revolutionen im Alltag, im Denken und im Bewusstsein sind es, die jeder gesellschaftlichen Veränderung vorausgehen, und in diesem Sinne tragen Kunst und Kultur immer den Keim des – im besten Sinne – Revolutionären in sich. Dass aus diesen Keimen etwas wachsen darf, dass es einen fruchtbaren Boden dafür gibt und ein wachstumsförderndes Klima – das macht eine vitale Gesellschaft aus. Dafür einzutreten, ist aller Anstrengung wert, und deshalb können Sie auf meine Unterstützung zählen, wo immer es darum geht, die Zukunft der Künstlersozialkasse zu sichern.
Bei der „Zukunftswerkstatt Künstlersozialversicherung“ hat Kulturstaatsministerin Grütters den Wert künstlerischer Arbeit für Demokratie und Gesellschaft hervorgehoben. Mit der Künstlersozialversicherung gebe es für die Selbständigen ein „stabiles Fundament der sozialen Absicherung“, so Grütters. Auch mit Blick auf die Digitalisierung wolle sie die „kulturpolitische Errungenschaft“ Künstlersozialversicherung als stabile und verlässliche Rückendeckung erhalten.
Rede der Kulturstaatsministerin Grütters bei der Eröffnung der neuen Dauerausstellung „Revolution und Mauerfall“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-eroeffnung-der-neuen-dauerausstellung-revolution-und-mauerfall–464214
Wed, 15 Jun 2016 11:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Nur fünf Kilometer Luftlinie und elf Minuten Fahrzeit mit den öffentlichen Verkehrsmitteln liegen zwischen Alexanderplatz und Normannenstraße. Und doch könnte die gefühlte Distanz zwischen diesen beiden Orten angesichts ihrer DDR-Vergangenheit größer nicht sein: Hier der hermetisch abgeriegelte Maschinenraum staatlicher Macht, von dem im Auftrag der SED Überwachung und Unterdrückung durch das Ministerium für Staatssicherheit ausgingen. Dort ein öffentlich Platz, an dem Menschen aufbegehrten gegen den Unrechtsstaat, ein Schauplatz zweier friedlicher Demonstrationen, die im kollektiven Gedächtnis bleiben werden: der gescheiterte Volksaufstand am 17. Juni 1953 – damals wurde unter anderem am Alex demonstriert – und die erfolgreiche Alexanderplatz-Demonstration am 4. November 1989, die größte systemkritische Demonstration der DDR-Geschichte, ein Meilenstein der Friedlichen Revolution. Wenn wir heute hier im Innenhof der ehemaligen Stasi-Zentrale die neue Open-Air-Dauerausstellung „Revolution und Mauerfall“ der Robert-Havemann-Gesellschaft eröffnen – eine Neugestaltung der erfolgreichen Präsentation, die 2009 und 2010 auf dem Alexanderplatz zu sehen war -, rückt stärker als bisher das Verbindende zwischen diesen beiden Orte ins Blickfeld. Verbindend ist, dass gerade diejenigen, die als Oppositionelle in der DDR gegen den Unrechtsstaat der SED gekämpft und friedlichen Demonstrationen unter anderem auf dem Alexanderplatz den Weg bereitet haben, dem von der Normannenstraße aus verwalteten und gesteuerten Bespitzelungssystem der Stasi und deren Einschüchterungs- und Zermürbungsstrategien permanent und ungeschützt ausgesetzt waren. Verbindend ist, dass aufgebrachte DDR-Bürger nicht nur am Alexanderplatz und anderen Orten demonstrierten, sondern im Januar 1990 auch die Stasi-Zentrale stürmten und damit das endgültige Ende des Staatssicherheitsdienstes besiegelten – jenes auf kalte Effizienz getrimmten Repressionsapparats, der jedes Infragestellen staatlicher Autorität im Keim erstickt und dem SED-Regime auf diese Weise die Macht gesichert hatte. Verbunden sind diese beiden Orte damit in der Rückschau als Stationen jener deutschen Freiheitsgeschichte, die von den dramatischen Ereignissen 1953 über die Massenflucht in den Westen Deutschlands bis zum Mauerbau 1961, den demokratischen Aufbruch im Sommer und Herbst 1989, den Fall der Mauer im November 1989 bis zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 reicht. Die neue Dauerausstellung „Revolution und Mauerfall“ macht diese Verbindungen sichtbar und erweitert die Bedeutung des authentischen Gedenkortes in der Normannenstraße, so wie im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD vereinbart. Sie trägt zur Profilierung dieses authentischen Erinnerungsortes als Ort der Aufklärung über Diktatur und Widerstand bei. Dafür danke ich Ihnen, lieber Herr Sello, und allen, die an der Vorbereitung der neuen Dauerausstellung beteiligt waren. Es ist das Verdienst der Robert-Havemann-Gesellschaft und ihrer Ausstellungen, Veranstaltungen, Publikationen und Bildungsprojekte, dass all jene DDR-Bürgerinnen und -Bürger nicht in Vergessenheit geraten, die den umfassenden Machtanspruch der SED in Frage gestellt haben, die dafür hohe persönliche Risiken in Kauf genommen haben und häufig auch Nachteile und Einschränkungen, zermürbende Schikanen, Haft und Gewalt ertragen mussten. So wie es keinen Schlussstrich unter die Aufarbeitung des SED-Unrechts und unter das Gedenken an das Leid der Opfer geben darf, so darf nicht aus dem Blickfeld geraten, wem wir die Friedliche Revolution verdanken – den Sturz einer Diktatur allein durch massenhafte Mobilisierung gewaltfreier Proteste. Wir verdanken sie der Zivilcourage der Menschen, die sich ihre innere Unabhängigkeit trotz aller Repressalien nicht nehmen ließen und der Diktatur die Stirn boten – die, um es frei nach Reiner Kunze zu sagen, für sich auch in der Unfreiheit eine Wahl sahen, und sei es, sich denen nicht zu beugen, die ihnen ihre Wahl nahmen. An den Mut, den kritischen Geist und den Freiheitswillen dieser aufrechten Bürgerinnen und Bürger erinnert die Havemann-Gesellschaft. Deshalb freue ich mich, dass mein Haus nicht nur zur Finanzierung der neuen Dauerausstellung beiträgt, sondern nun auch die langfristige finanzielle Absicherung der Havemann-Gesellschaft ermöglichen wird. Ich konnte das Land Berlin für eine gemeinsame, dauerhafte Förderung gewinnen, und wenn die Haushaltsgesetzgeber auf Bundes- und Landesebene zustimmen, können die bisherigen, zeitlich begrenzten Projektförderungen durch eine institutionelle Förderung abgelöst werden. Außerdem haben wir – auch diese erfreuliche Nachricht soll nicht unerwähnt bleiben – sicherstellen können, dass das kostbare Schriftgut des Archivs der DDR-Opposition weiterhin gut untergebracht bleibt. Nachdem die Havemann-Gesellschaft an ihrem Standort in der Schliemannstraße kurzfristig die entsprechende Etage räumen muss, hat der Bund in kürzester Zeit die Weichen für eine Interimsunterbringung gestellt. Das Archiv kann in die Normannenstraße – und zwar in Haus 22 -einziehen, wo es bleiben kann, bis das endgültige Quartier in Haus 7 bezugsfertig ist. Herzlichen Dank allen Unterstützern und Kooperationspartnern vor allem bei der BImA und der BStU! Ich hoffe nun auf ein zügiges Genehmigungsverfahren durch den Bezirk Lichtenberg und auf Ihre Unterstützung, liebe Frau Monteiro. Wir haben im Sinne der Nutzung des Gesamtgeländes zur Aufarbeitung der Stasi-Geschichte ja auch bisher schon hervorragend zusammengearbeitet- nicht zuletzt durch die gemeinsame Förderung der Open-Air-Ausstellung. Dafür herzlichen Dank! Auch wenn für uns heute der Gedenktag 17. Juni im Mittelpunkt der Erinnerung steht, meine Damen und Herren: Es ist ein interessanter Zufall, dass wir die Eröffnung der Ausstellung „Revolution und Mauerfal“ ausgerechnet heute feiern – auf den Tag genau 55 Jahre, nachdem Walter Ulbricht auf einer Pressekonferenz erklärte, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten. Zwei Monate später begannen bekanntlich die Arbeiten für den Bau der Mauer, die 28 Jahre lang die Eingrenzung und Unterdrückung der Bürgerinnen und Bürger zementierte, bis der Ruf „Wir sind das Volk“ seine revolutionäre Kraft entfaltete. Die Erinnerung an Oppositionelle und Bürgerrechtler und an das Bewusstsein für den Wert demokratischer Freiheiten lebendig zu halten – das ist der Anspruch, mit dem wir die ehemalige Stasi-Zentrale zum Ort der Aufklärung über Diktatur und Widerstand entwickeln. Die Auseinandersetzung mit unserer jüngsten Geschichte – vor allem mit der SED-Diktatur, aber auch mit der Oppositions- und Bürgerrechtsbewegung, die 1989 Bürgerinnen und Bürger aus allen Altersgruppen und sozialen Schichten zum Eintreten für demokratische Rechte ermutigt hat – ist wichtiger denn je. Sie ist wichtiger denn je in Zeiten, in denen der Ruf der Montagsdemonstrationen „Wir sind das Volk“ missbraucht wird, um auf breiter Front Ressentiments gegen anders Denkende, anders Glaubende, anders Aussehende, anders Lebende zu schüren – und damit auch gegen die Freiheit, Vielfalt und Rechtsstaatlichkeit einer pluralistischen Demokratie. Möge die Ausstellung „Revolution und Mauerfall“ ihren Besucherinnen und Besuchern vermitteln, wie hart erstritten und erkämpft diese demokratischen Errungenschaften sind – und dass es sich immer wieder dafür zu streiten und zu kämpfen lohnt!
Kulturstaatsministerin Grütters hat bei der Ausstellungs-Eröffnung an die mutigen Bürgerinnen und Bürger erinnert, deren Zivilcourage „wir die Friedliche Revolution verdanken.“ Deren Verlauf wird im Innenhof der ehemaligen Stasi-Zentrale nachgezeichnet. Mit der Ausstellung profiliere sich der authentische Gedenkort als „Ort der Aufklärung über Diktatur und Widerstand“ so Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters beim „Kultursalon unter der Kuppel“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-beim-kultursalon-unter-der-kuppel–453380
Wed, 08 Jun 2016 16:30:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Veranstaltungen der CDU/CSU-Fraktion „unter der Kuppel“ heißen in der Regel „Fraktionssitzung“ und tragen zugegebenermaßen vielleicht nicht immer zur Kultivierung jener Kunst des gepflegten Gesprächs in geselliger Atmosphäre bei, die man gemeinhin als „Salonkultur“ bezeichnet. Es fehlt an Genussmitteln, man sitzt im Licht der Neonröhren doch etwas ungesellig nebeneinander in langen Reihen, die Redezeiten sind begrenzt und die Themen sperrig: Zu Wortungetümen wie „Künstlersozialabgabestabilisierungsgesetz“ hebt man nicht im Geiste mal eben die Welt aus den Angeln – so wie die deutschen Dichter und Denker, die einst in den berühmten Berliner Salons verkehrten. Einer von ihnen war der Dichter Jean-Paul. Von ihm stammt der schöne Satz „Entwirf bei Wein, exekutiere bei Kaffee“ – eine Devise, die sich vielleicht auch für den „Kultursalon unter der Kuppel“ anbietet. Vielen Dank für die Einladung, lieber Marco Wanderwitz, und für ein abwechslungsreiches Programm, das der Salonkultur alle Ehre macht! Exekutiert werden muss heute Abend zum Glück nichts mehr; umso mehr können wir Kulturpolitikerinnen und Kulturpolitiker uns freuen, bei einem schönen Glas Wein mit Ihnen, den Künstlerinnen und Künstlern, den Kreativen und Kulturverantwortlichen ins Gespräch zu kommen und dabei vielleicht auch – im Sinne Jean Pauls – den einen oder anderen Plan für die Zukunft zu entwerfen. Themen, die uns unter den Nägeln brennen, gibt es ja beiderseits genug. Mir liegt vor allem eines am Herzen (und offenbar auch vielen von Ihnen, wenn ich die hohe Zahl der Anmeldungen zum Podium 1 „Kultur als Mediator und Motor der Gesellschaft“ richtig deute): nämlich dass Kunst und Kultur in besonderer Weise zur Integration der Menschen beitragen können und sollten, die zu Hunderttausenden Zuflucht in Deutschland suchen. Das ist die größte politische Herausforderung der nächsten Jahre – und es ist nicht zuletzt auch eine kulturpolitische Herausforderung. · zum einen, weil die Angst vor der vermeintlich drohenden Dominanz kultureller Minderheiten, die populistischen und nationalistischen Bewegungen Zulauf beschert, das große Bedürfnis nach Vergewisserung unserer eigenen kulturellen Identität offenbart. · zum anderen, weil kulturelle Teilhabe eine grundlegende Voraussetzung dafür ist, dass Zuwanderer in der Fremde heimisch werden. Das Bedürfnis nach kultureller Selbstvergewisserung einerseits und der Anspruch auf kulturelle Teilhabe andererseits stecken den Bereich der Mitverantwortung der Kulturpolitik und der Kultureinrichtungen für Integration und Zusammenhalt ab. Kultur ist dabei Brückenbauerin und Türöffnerin, aber auch Ausdruck und Spiegel unserer Identität. Wie viel unsere Kultureinrichtungen in diesem Sinne landauf landab zum Gelingen kultureller Vielfalt beitragen, ist uns leider nicht immer bewusst. Umso wichtiger ist es, ihren Beitrag stärker sichtbar zu machen: als Einladung zu interkulturellen Begegnungen vor Ort, aber auch als Ausdruck des Selbstverständnisses einer weltoffenen Gesellschaft. Deshalb habe ich zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern und Kommunen und mit zivilgesellschaftlichen Organisationen die Initiative „Kultur öffnet Welten“ ins Leben gerufen. Am 21. Mai, dem UNESCO-Tag der kulturellen Vielfalt, haben wir den Startschuss für eine bundesweite Aktionswoche gegeben, in der unsere Kultureinrichtungen ihre Aktionen, Programme und Konzepte zur kulturellen Integration präsentiert haben. Nicht weniger wichtig für eine Kultur des Ankommens in Deutschland ist und bleibt das bürgerschaftliche Engagement: Da gibt es zum Beispiel das Projekt „Multaka“, das Geflüchtete aus Syrien und dem Irak zu Guides in Berliner Museen ausbildet. Da gibt es die Dresdner Brass-Band „Banda Internationale“, in der deutsche Musiker und geflüchtete Musiker aus aller Welt zusammen Musik machen. Da gibt es „Kino Asyl“, ein Filmfestival in München, dessen Programm jugendliche Geflüchtete mit Filmen aus ihren Heimatländern gestalten. Diese drei Initiativen habe ich gerade mit einem neuen „Sonderpreis für kulturelle Projekte mit Flüchtlingen“ meines Hauses ausgezeichnet. Sie zeigen, was Kunst – was Musik, Tanz, Literatur, Film, Theater oder auch bildende Kunst – zu leisten imstande ist: Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren; sie kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt; sie kann uns aber auch nötigen, die Perspektive zu wechseln und die Welt aus anderen Augen zu sehen. Ja, Kultur öffnet Welten und überwindet Grenzen, so dass wir sagen können: Wir schaffen das! Künstlerinnen und Künstler sind dafür unsere wichtigsten Botschafter: Sie sind kommunikativ: Ihr größtes Talent ist ihre Ausdrucksstärke. Sie sind empathisch: Mit ihrem Einfühlungsvermögen können sie uns das Fühlen, Denken und Handeln anderer Menschen und Charaktere näher bringen. Sie sind neugierig und experimentierfreudig, leben weltoffen und arbeiten international. Damit sind sie Vorbilder in einer pluralistischen Gesellschaft, und ich bin dankbar, dass viele Künstler und Kreative auch persönlich Haltung zeigen für ein weltoffenes Deutschland – für ein Deutschland, das Menschen Schutz gewährt vor Krieg und Gewalt. Die Mühen der Integration werden unser aller Kraft erfordern. Schlimmer als daran zu scheitern wäre allerdings, es nicht einmal versucht zu haben. Vielleicht, meine Damen und Herren, entstehen dafür ja heute Abend mit all der Expertise und den unterschiedlichen Nationalitäten, die hier vertreten sind, neue gute Ideen. Die brauchen wir auch in Zukunft, denn leider ist die Lösung von Integrationsproblemen nicht immer so einfach wie einst für den eingangs zitierten Jean Paul – einen Bayern, der sich zwar in den literarischen Salons Berlins durchaus als integrationsfähig erwies, für den die Weltoffenheit aber an der Getränketheke aufhörte. Das Bier in Berlin lehnte er als schlicht ungenießbar ab und orderte regelmäßig Nachschub aus der oberfränkischen Heimat. An einen Freund schrieb er einmal, ich zitiere: „Sollte das Bier schon unterwegs sein – was Gott gebe – so bitt ich Sie herzlich, sogleich neues nachzusenden, weil der Transport vom Fass in mich viel schneller geht als von Bayreuth nach mir!“ Angesichts einer breiten Auswahl bayerischer Biere auch außerhalb Bayerns muss das heute zum Glück niemand mehr befürchten – womit dann auch unmittelbar einleuchtet, dass Vielfalt nicht das Problem, sondern die Lösung ist (oder zumindest die Lösung sein kann). Darüber jedenfalls lohnt es sich zu diskutieren. Für welches Getränk auch immer Sie sich entscheiden, meine Damen und Herren: Ich wünsche Ihnen einen inspirierenden Abend im „Kultursalon unter der Kuppel“ und uns allen Salonkultur im besten Sinne – geistreiche Gespräche, gesellige Runden und Freiraum für unkonventionelle Gedanken und Ideen!
Beim „Kultursalon unter der Kuppel“ hat Kulturstaatsministerin Grütters den Wert der Kultur als Integrationsmotor herausgestellt. „Kultur ist dabei „Brückenbauerin und Türöffnerin, aber auch Ausdruck unserer Identität“, so Grütters. Neben dem Engagement vieler Künstlerinnen und Künstler würdigte sie auch die Arbeit der Kultureinrichtungen und das Engagement vieler Bürger.
Ansprache von Bundeskanzlerin Merkel bei der Verleihung des startsocial-Sonderpreises der Bundeskanzlerin am 15. Juni 2016
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Wed, 15 Jun 2016 11:45:00 +0200
Berlin
Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer, erst einmal möchte ich allen, die schon einen Preis bekommen haben, ganz herzlich gratulieren. Natürlich freue ich mich, dass ich jetzt auch noch den Sonderpreis verleihen kann. „Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft“ – das hat uns Wilhelm von Humboldt vor langer Zeit mit auf den Weg gegeben. Diese Erkenntnis von – wie ich glaube – zeitloser Gültigkeit beherzigt heute ein noch junger, aber beeindruckender Verein. Diejenigen, die ihn gegründet haben und weiter ausbauen wollen, eint eine große Tugend: Sie können zuhören, sich auf Lebensgeschichten anderer einlassen und sich einfühlen. Sie wollen diese bewahren, weitergeben und somit lebendig halten. Diese Fähigkeit stellen sie in den Dienst jener Zeitzeugen, die die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte überlebt haben, denen in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland unsägliches Leid widerfahren ist und die sich nach dem Ende des Zivilisationsbruchs der Shoa dennoch ein neues Leben aufbauen konnten. Diejenigen, die noch davon erzählen können, sind heute hochbetagt. Damit ihre Geschichte in Erinnerung bleibt, zeichnet der Verein die Erzählungen auf und verbreitet sie dann weiter. Die wichtigste Zielgruppe sind Schülerinnen und Schüler, die die Einzelschicksale auf eine ganz persönliche Art erleben und so zu Zweitzeugen werden. Als Zweitzeugen erzählen sie ihrerseits die Geschichten weiter. Viele von ihnen schreiben Briefe an ihre Zeitzeugen, die zeigen, wie sehr sie die Schicksale dieser Menschen berührt haben. Der Blick in die Vergangenheit hilft auch, die Zukunft verantwortungsbewusst zu sehen und sie gut zu gestalten. Für dieses Ziel und für den Plan, das zu erreichen, verleihe ich den startsocial-Sonderpreis 2016 an den Verein „Heimatsucher“. Liebe Frau Hüttenberend und liebe Frau Damm, ich gratuliere ganz herzlich.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Preisverleihung des 12. Wettbewerbs startsocial am 15. Juni 2016
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Wed, 15 Jun 2016 11:00:00 +0200
Berlin
Jetzt ist es an mir, Sie zu begrüßen, und damit meine ich die Wettbewerbsteilnehmerinnen und -teilnehmer, Herrn Düsedau, die Coaches, diejenigen in der ersten Reihe, die die Hauptsponsoren vertreten, und natürlich alle Gäste. Mein allererster Dank geht an die Initiative „mitKids Aktivpatenschaften“, die sich gerade eben präsentiert hat. Sie ist ein schönes Beispiel dafür, was Patenschaften bewirken können. Wer sich auf die einzelnen Lebensgeschichten einlässt, der kann nur immer wieder begeistert von Projekten wie diesen sein – schon allein, weil darin so viel menschliche Wärme und Aufgeschlossenheit mitschwingen. Das ist das Wesensmerkmal auch aller Projekte, die hier vertreten sind, und die es wirklich wert sind, Unterstützung zu erfahren. So verschieden die Inhalte und Ziele all dieser Projekte auch sind, sie zeigen eines, nämlich wie positiv sich freiwilliges Engagement auswirken kann – und zwar für alle Beteiligten. Dass das viele in Deutschland erkannt haben, haben wir gerade auch im letzten Jahr erlebt. Viele Bürgerinnen und Bürger bringen sich mit wunderbaren Ideen in unsere Gesellschaft ein und können sehr viel Gutes bewirken. Es sind oft Organisationen mit einer schon sehr langen Tradition und etablierten Strukturen. Aber – und das ist genauso schön – es gibt auch immer wieder neue Initiativen. Da müssen die Strukturen erst noch aufgebaut und gefestigt werden. In einer solchen Phase kann man Rückenwind brauchen. Genau da kommt startsocial ins Spiel. Liebe Wettbewerbsteilnehmer, Sie haben es ja relativ weit gebracht – und das trotz großer Konkurrenz. Es gab insgesamt rund 400 Bewerbungen. Das war im Übrigen eine Rekordzahl. Ein bisschen werben müssen wir noch in den neuen Bundesländern; wir haben gerade eben darüber gesprochen, wie wir das hinbekommen. Herr Düsedau sagte, er würde sich freuen, wenn ich ihn dabei unterstütze. Vielleicht können wir uns gemeinsam überlegen, wie wir alle uns weiter unterstützend einbringen können. Auf jeden Fall haben wir trotzdem eine Rekordzahl in diesem Jahr. Jeder, der hier in der Endrunde mit dabei ist, darf sich durchaus als Gewinner fühlen, auch wenn am Ende nicht jeder einen Scheck in der Hand halten wird. Aber dass Sie hier sind, ist ein Gewinn. Sie bereichern unser Land mit Herz, Verstand und Tatendrang. Dass ein solches Engagement unglaublich wertvoll ist, wissen wir. Gerade im letzten Jahr hat sich das auch am Beispiel der Aufnahme von Flüchtlingen gezeigt. Das war eine ganz besondere Demonstration der Kraft unseres Ehrenamtes. Es kamen ja innerhalb kurzer Zeit hunderttausende Schutzsuchende zu uns. Buchstäblich von jetzt auf gleich haben sich viele Bürgerinnen und Bürger dazu entschlossen, zu helfen. Sie haben nicht lange überlegt, sondern haben Essen verteilt, Kleider gesammelt, sich um Kinder gekümmert, Erwachsene bei Behördengängen begleitet und vieles andere mehr getan; und das findet ja auch weiterhin statt. Es ist schön, dass sich so manche Initiative verstetigt hat und dass nach wie vor so viele Ehrenamtliche Enormes leisten, damit sich Flüchtlinge bei uns zurechtfinden. Ich sage an dieser Stelle immer: Auch uns selbst – das erfahren Sie ja selbst auch dann, wenn Sie eine Initiative gründen – fällt es nicht ganz leicht, den Weg durch unseren gut ausgebildeten Sozialstaat zu finden und immer an die richtige Ansprechstelle zu kommen. Jetzt stelle man sich noch vor, dass man die Sprache nicht kennt, dass man schwere Monate hinter sich hat und dass man dann sofort alles sozusagen herausfinden soll. Ich weiß nicht, wie wir uns woanders auf der Welt anstellen würden, wenn so etwas auf uns zukäme. Deshalb ist es so schön, dass so viel Hilfe angeboten wird. Aber es war im letzten Jahr auch wichtig, hier heimischen Menschen, denen schon länger geholfen wird, nicht zu sagen: Passt einmal auf, um euch kümmern wir uns nicht mehr; jetzt gibt es nur noch das Thema Flüchtlinge. Es wird natürlich gerade auch in diesen Zeiten sehr genau darauf geachtet, wie es den Schwächeren und Schwächsten in unserer Gesellschaft geht, die auch Unterstützung brauchen. Also müssen wir versuchen, möglichst alles zu schaffen. Die Bereitschaft zu so etwas kommt nicht aus dem Nichts. Das Ehrenamt hat bei uns in Deutschland eine lange Tradition. Wir haben bürgerschaftliches Engagement schon immer groß geschrieben. Das ist ein Schatz, den sich unsere Gesellschaft bewahren sollte und der von Generation zu Generation immer wieder weitergegeben werden sollte. Da, wo es Unterstützung braucht, da muss sie gegeben werden. Und das ist ja auch gerade das, was startsocial auszeichnet. Das Kernanliegen dieses Wettbewerbs ist – Sie wissen es und haben es erlebt; aber den Journalisten sage ich es nochmals –, dass Profis und Ehrenamtliche zusammengebracht werden, damit aus guten Ideen auch gute Projekte werden. Startsocial hilft also den Helfern, ihre Kraft effektiver und zielstrebiger einzusetzen. Das heißt, es gibt Berater, die sich auf Projekte einlassen. Das ist nicht das normale Geschäft dieser Berater. Sie beschäftigen sich sonst auch mit anderen Dingen. So führen wir also zwei Welten zusammen; und das zum gegenseitigen Vorteil. Für die Berater bedeutet das: Sie müssen offen dafür sein, sich einem solchen Engagement zu stellen. Für die Ideengeber von ehrenamtlichen Projekten bedeutet das, dass sie sich vielleicht auch kritische Fragen gefallen lassen müssen. Das Gute zu wollen, bedeutet nicht immer zu hundert Prozent, das Gute schon gemacht zu haben. Man muss also auch offen sein und Fragen beantworten. Manchmal findet man das vielleicht auch ein bisschen lästig und sagt: Sie merken doch, dass ich es gut meine. – Okay, das ist auch schön; aber noch besser ist, wenn es gut gemacht ist. Viele haben diese Offenheit als Bewerber unter Beweis gestellt. Es gibt mittlerweile mehr als 1.200 ehrenamtliche Initiativen, denen Beratungsstipendien zugutegekommen sind. Heute ist bereits die zwölfte Preisverleihung für vorbildliche Projekte. Nun werden Sie hier vielleicht sagen: Schön, dass die Frau zu uns spricht; aber noch schöner wäre es, wenn wir wüssten, wer gewonnen hat. Deshalb will ich Sie jetzt auch nicht mehr lange auf die Folter spannen. Ich schließe mit einem Dank an alle Wettbewerbsteilnehmer, an die Sponsoren, an die Coaches und Juroren, an Herrn Düsedau, der der Erfinder von startsocial ist, sowie an das ganze startsocial-Team von Frau Engelbrecht für die hervorragende Organisation. Bleiben Sie so begeisternd und so ansteckend in Ihrem Engagement für mehr Engagement. Ganz zum Schluss werde ich auch noch einmal die Möglichkeit haben, einen Sonderpreis zu verleihen. Bis dahin kommt die Spannung jetzt erst einmal zu ihrem Höhepunkt. Herzlichen Dank. Und herzlich willkommen.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Tagung „Kunst, Provenienz und Recht – Herausforderungen und Erwartungen“ in Bonn
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Mon, 13 Jun 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Bonn
Kulturstaatsministerin
Was für ein schöner, kleiner Zufall, dass Sie sich für Ihre Tagung zu „Kunst, Provenienz und Recht“ ausgerechnet den Namenstag des Heiligen Antonius ausgesucht haben! Das ist mir natürlich sofort aufgefallen, und hier im katholischen Rheinland bin ich damit sicher nicht allein. Schließlich ist Antonius einer der bekanntesten und beliebtesten Heiligen, auf dessen Fürsprache man vertraut, wenn etwas verloren gegangen ist – oder ganz allgemein, wenn man auf ein Wunder hofft. Um sehr große, um schwerwiegende Verluste geht es auch in der Provenienzforschung, nämlich um Kulturgutverluste; und lange – viel zu lange! – mussten Eigentümer und rechtmäßige Erben tatsächlich fast auf ein Wunder hoffen, um Werke wieder zu bekommen, die sich einst in Familienbesitz befanden und die von den Nationalsozialisten geraubt wurden. Wir wissen seit langem, dass zahlreiche Sammler von Kunst- und Kulturgütern, vor allem jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, während der national-sozialistischen Gewaltherrschaft ihr Eigentum verloren haben: Sie wurden von den Nationalsozialisten verfolgt, sie wurden beraubt, sie wurden enteignet. Andere mussten ihren Besitz unter Wert veräußern oder bei Flucht und Emigration zurücklassen. Doch viele Jahre fragte niemand nach der Herkunft von Kunstwerken – auch beim Erwerb für öffentliche Sammlungen nicht. Das hat sich erst mit der Washingtoner Erklärung aus dem Jahr 1998 geändert, deren Grundsätze durch die „Gemeinsame Erklärung“ von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden aus dem Jahr 1999 für Deutschland umgesetzt worden sind – ein leider sehr spätes Bekenntnis zur rückhaltlosen Aufarbeitung des nationalsozialistischen Kunstraubs. Und es sollte noch weitere Jahre dauern, bis sich allmählich ein breiteres Bewusstsein für die moralische Verpflichtung Deutschlands zu Provenienzforschung und Restitution entwickelte. „Kunst, Provenienz und Recht“ – das Thema Ihrer Tagung – ist deshalb bis heute ein Spannungsfeld, auf dem die Herausforderungen ebenso überwältigend groß sind wie die Erwartungen. Es abzustecken und zu vermessen, ist die Voraussetzung für verantwortliches politisches Handeln, und deshalb freue ich mich, dass die Provenienzforschung an der Uni Bonn so viel Aufmerksamkeit erfährt – zumal ich selbst unter anderem Kunstgeschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität studiert habe und allein schon deshalb immer wieder gerne hierher komme. Ich nutze heute gerne die Gelegenheit, Ihnen zu erläutern, wie wir politisch mit den Herausforderungen und Erwartungen im Spannungsfeld „Kunst, Provenienz und Recht“ umgehen. Unser Land – und damit meine ich Staat und Verwaltung genauso wie Wissenschaft, Organisationen, Einrichtungen und Privatpersonen – darf keinen Zweifel daran lassen, welche immense Bedeutung für uns alle die rückhaltlose Aufarbeitung des nationalsozialistischen Kunstraubs hat. Hinter einem entzogenen, geraubten Kunstwerk steht immer auch das individuelle Schicksal eines Menschen. Diesen menschlichen Schicksalen wollten wir nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch gerecht werden. Es geht um die Anerkennung der Opferbiografien, um die Anerkennung des Leids und des Unrechts, dem Verfolgte des NS-Regimes, insbesondere Menschen jüdischen Glaubens, unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ausgesetzt waren. Dazu ist es zunächst einmal notwendig, staatliche Mittel für die Provenienzforschung bereit zu stellen. Die Mittel des Bundes für die dezentrale Suche nach NS-Raubkunst wurden deshalb immer wieder erhöht. Ich habe das zur Verfügung stehende Budget verdreifacht gegenüber dem Haushaltsansatz bei meinem Amtsantritt. Wichtig ist außerdem, die Rahmenbedingungen für Provenienzforschung und Restitution zu verbessern. Spätestens mit dem Schwabinger Kunstfund vor zweieinhalb Jahren war klar: Wir brauchen für die rückhaltlose Aufarbeitung des nationalsozialistischen Kunstraubs einen zentralen Ansprechpartner – eine Institution, die die Aktivitäten zur Suche nach NS-Raubkunst bündelt und koordiniert. Im Februar 2014 habe ich deshalb die Gründung eines Deutschen Zentrums Kulturgutverluste vorgeschlagen, das wir – Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände – in Rekordzeit von weniger als einem Jahr im engen kulturföderalistischen Schulterschluss aufgebaut haben. Die Suche nach NS-Raubkunst in Museen, Bibliotheken und Archiven und die Aufarbeitung des in seiner Systematik, in seinen Zielen und Auswirkungen einzigartigen NS-Kunstraubs zu unterstützen – das sind die Kernaufgaben des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste. Den wissenschaftlichen Hochschulen kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, und deshalb war die Verankerung der Provenienzforschung in Forschung und Ausbildung an wissenschaftlichen Hochschulen von Anfang an ein wesentlicher Gesichtspunkt, der Niederschlag in der Satzung des DZK gefunden hat. Denn ohne Ihre Expertise, meine Damen und Herren, ohne wissenschaftliches Know-how ist es nahezu unmöglich, die Herkunft eines Kunstwerks über Jahrzehnte zurück zu verfolgen und zweifelsfrei zu klären. Gerade weil es um so viel geht – um Menschenleben und Menschenwürde – bedarf es der Standards der Wissenschaft. Provenienzrecherche ist eben oft mehr als Handwerk. Wissenschaftliches Know-how brauchen wir aber nicht nur an den Universitäten, sondern auch in der Praxis: in Museen, Archiven, Bibliotheken, im Umgang mit privaten und öffentlichen Sammlungen und auch im Kunsthandel. Deshalb müssen das erforderliche Wissen und die Sensibilität für die Aufgabe schon im Rahmen der wissenschaftlichen Ausbildung vermittelt werden. Nur so stärken wir die Provenienzforschung nachhaltig. Wie kann das gehen? Die Universität Bonn macht es vor – mit der Einrichtung der bundesweit ersten Stiftungslehrstühle auf den Gebieten „Provenienzforschung“ und „Kulturgutschutz“. Es war die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, die vor gut einem Jahr mit der Idee auf mich zukam, Stiftungsprofessuren für dieses wichtige Thema einzurichten; und natürlich freut es mich sehr (und macht mich als ehemalige Studentin dieser Universität auch ein klein wenig stolz), dass meine Alma Mater, die Universität Bonn, sich mit der bereits zugesagten dauerhaften Weiterführung der Lehrstühle, ihrer erfolgsversprechenden interdisziplinären Ausrichtung und einer zusätzlichen Junior-Professur für Provenienzforschung nicht nur als ideale Kooperationspartnerin, sondern auch als Vorreiterin für ein Thema erweist, das mir so sehr am Herzen liegt. Dabei ist völlig klar, dass Hochschulen auf Drittmittelfinanzierung und bürgerschaftliches Engagement angewiesen sind, wenn sie sich der Provenienzforschung und den damit verbundenen Herausforderungen widmen wollen. Hier kann und soll das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste als Kooperationspartner für Stiftungslehrstühle und die akademische Welt insgesamt vermittelnd unterstützen – so wie bei der geplanten Einrichtung einer Juniorprofessur „Provenienzforschung“ am Hamburger Kunsthistorischen Seminar, finanziell gefördert von einer Hamburger Stiftung. Weitere Schritte in dieser Richtung sind geplant. Darüber hinaus gehört das Thema Provenienzforschung endlich auch in die Weiterbildung. Deshalb unterstützt das Zentrum sowohl finanziell als auch konzeptionell die Entwicklung eines praxisorientierten „Weiterbildungsmoduls Provenienzforschung“ an der FU Berlin als Angebot beispielsweise für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Museen und Kunsthandel oder für Kunstsammlerinnen und Kunstsammler. Nicht zuletzt, meine Damen und Herren, erhoffe ich mir von der Arbeit des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste eine stärkere Vernetzung des Wissens. Davon profitieren vor allem die kleinen Museen, weil es oft deren einzige Chance ist, Forschung zu etablieren und ihrer Mitverantwortung für die Aufarbeitung des nationalsozialistischen Kunstraubs wie auch den Erwartungen einer zunehmend kritischen Öffentlichkeit gerecht zu werden. Spätestens seit dem Fall „Gurlitt“ werden die deutschen Museen eben nicht mehr nur an ihrer Ankaufs- und Ausstellungspolitik gemessen, sondern auch und nicht zuletzt daran, wie sie mit ihrer Geschichte und der ihrer Sammlungen umgehen – und das ist auch gut so. Während so manches große Museum (etwa das Frankfurter Städel Museum oder – unter Uwe Schneede – schon sehr früh die Hamburger Kunsthalle) eigens eine Stelle für die Provenienzforschung eingerichtet hat, sind kleine Häuser dazu bisher häufig personell nicht in der Lage. Derartige Schwierigkeiten lassen sich nur lösen, wenn wir es schaffen, Projekte zu vernetzen und die Zusammenarbeit zwischen großen und kleinen Häusern – etwa in Forschungsverbünden – zu verbessern. Deshalb haben wir uns darauf verständigt, am DZK eine Forschungsdatenbank einzurichten und zu finanzieren. Mir ist wichtig, dass das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste sich perspektivisch zu einer Austauschplattform für alle relevanten Daten der Provenienzforschung entwickelt. Insbesondere die Bereitstellung von Forschungsdaten, die im Rahmen der vom Zentrum geförderten Projekte erhoben werden, kann dazu einen Beitrag leisten. Sie soll über die Forschungsdatenbank erfolgen, an deren Konzeption gerade intensiv gearbeitet wird. Die Datenbank wird Forschern mehr Möglichkeiten zum Austausch bieten, die Effektivität der Forschung erhöhen und dabei helfen, überflüssige Doppelrecherchen zu vermeiden. All das stärkt die Provenienzforschung und die Aufarbeitung unserer Geschichte nachhaltig. Deshalb unterstütze ich ausdrücklich – auch finanziell – das Vorhaben des Zentrums, diese Forschungsdatenbank jetzt aufzubauen. Ich bin überzeugt, meine Damen und Herren: Mit diesen Maßnahmen und einem insgesamt stimmigen Konzept zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Provenienzforschung in Deutschland wird das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste die Aufarbeitung des NS-Kunstraubs in den nächsten Jahren ein gutes Stück voran bringen. Als Kunsthistorikerin weiß ich natürlich nur zu gut, wie mühsam, langwierig und ungeheuer schwierig es oft ist, die Herkunft eines Kulturguts über Jahrzehnte zurück zu verfolgen und zweifelsfrei zu klären. Als Politikerin kann ich die Ungeduld der vielfach schon hochbetagten Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung und ihrer Nachkommen verstehen, die die Rückgabe unrechtmäßig entzogener Kunstwerke noch selbst erleben wollen. Dieser Zielkonflikt zwischen wissenschaftlich gebotener Gründlichkeit einerseits und der im Interesse der Opfer und ihrer Erben gebotenen Schnelligkeit andererseits lässt sich nicht auflösen. Doch jedes einzelne Werk, dessen Provenienz zweifelsfrei geklärt und das vielleicht sogar restituiert werden kann, ist ein Mosaikstein der historischen Wahrheit, zu deren Aufarbeitung Deutschland moralisch verpflichtet ist. Das sind und bleiben wir den ihres Eigentums und ihrer Rechte beraubten, von den Nationalsozialisten verfolgten und vielfach ermordeten Menschen schuldig. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine erkenntnisreiche Konferenz und danke Ihnen herzlich für Ihr herausragendes Engagement auf dem Gebiet der Provenienzforschung!
Bei einer Fachtagung hat Kulturstaatsministerin Grütters bekräftigt, sich weiter für bessere Rahmenbedingungen für Provenienzforschung und Restitution stark zu machen und diese in Forschung, Lehre sowie Aus- und Weiterbildung zu verankern. Den menschlichen Schicksalen hinter den Kunstrauben „wollen wir nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch gerecht werden“, so Grütters. Sie verwies auf das neu gegründete Deutsche Zentrum Kulturgutverluste und auf die bereits deutlich erhöhten Mittel.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Spatenstich für das Romantik-Museum in Frankfurt am Main
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Sat, 13 Jun 2015 14:00:00 +0200
Im Wortlaut
Frankfurt am Main
Kulturstaatsministerin
Nach all den Höhen und Tiefen, Volten und Wendungen, Abwegen und Umwegen auf der langen Strecke zum heutigen ersten Spatenstich reibt man sich fast ein wenig verwundert die Augen, dass es nun tatsächlich so weit ist: Die Romantik bekommt endlich ihr Museum in Frankfurt. Viel verwunderlicher aber als die Gewissheit, dass hier in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft der Erweiterungsbau des Freien Deutschen Hochstifts stehen wird, ist freilich die Tatsache, dass es ein Museum für die geistige Bewegung der Romantik bisher nicht gibt – während Aufklärung, Klassik und Moderne in Wolfenbüttel, Weimar und Marbach ja in Museen von Weltrang längst ihre eigenen Erinnerungsorte in Deutschland haben. Verwunderlich, meine Damen und Herren, ist dieses offensichtliche Defizit in der Pflege unseres literarischen Erbes nicht nur deshalb, weil es um nichts weniger als eine Schlüsselepoche der deutschen, ja der europäischen Geistesgeschichte geht und weil über 1.000 Archivkästen mit Schätzen aus dieser Zeit – mit Handschriften, Briefen, Grafiken, Bildern und anderen Besitztümern romantischer Geistesgrößen – bisher in einem Frankfurter Keller lagern. Verwunderlich ist diese national wie international wahrgenommen Lücke in der Museumslandschaft vor allem deshalb, weil die Romantik, weil das Romantische gerade im Ausland die deutsche Kultur schlechthin verkörpert und die künstlerischen Werke und Zeugnisse aus dieser Epoche zu Recht als Schlüssel zum Verständnis der „deutschen Seele“ gelten. Und nicht nur der „deutschen Seele“: das „Romantische“ ist dem Humanum inhärent. Jean Paul – Grenzgänger zwischen Romantik und Klassik (ein Dichter, den ich persönlich sehr schätze und mit dem ich während meines Germanistik-Studiums viel Zeit verbracht habe) – hat die Sehnsucht nach der Romantisierung des Weltlichen so formuliert: „Da aber die Endlichkeit nur an Körpern haftet und da in Geistern alles unendlich ist oder ungeendigt: so blühte in der Poesie das Reich des Unendlichen über der Brandstätte der Endlichkeit auf.“ Dass wir diese blühenden Geisteslandschaften im „Reich des Unendlichen“ bald angemessen präsentieren können, ist ein Gewinn nicht nur für die Stadt Frankfurt, sondern für ganz Deutschland: eine Bereicherung unserer Museumslandschaft und unseres kulturellen Lebens, von unschätzbarem Wert für unser Selbstverständnis als Kulturnation. Deshalb freut es mich sehr, dass der Bund mit Unterstützung der Abgeordneten des Deutschen Bundestages zur Finanzierung des Neubaus beitragen wird. Dass wir dem ehrwürdigen Freien Deutschen Hochstift – dem Initiator und Träger des Romantik-Museums – damit auch helfen, seine weit über die Grenzen Frankfurts hinaus bedeutenden Bildungs- und Vermittlungsangebote entscheidend zu verbessern, führt die lange Tradition staatlicher Förderung durch den Bund fort, die bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland, ja bis in die 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück reicht. Tradition hat hier in Frankfurt aber auch das bürgerschaftliche Engagement, das die Kulturschätze der Stadt mehrt und zum Strahlen bringt. Es sind nicht zuletzt Stiftungen, Banken und zahlreiche Einzelspender, denen Deutschland sein Romantik-Museum verdankt. Auch darauf kann Frankfurt stolz sein, meine Damen und Herren! Heimatverbundenheit gehört sicher zu den Motiven der Unterstützer und Spender: ein Gefühl, das uns – passenderweise – die Romantiker geschenkt haben. Sie waren es, die „Heimat“ als Sehnsuchtsort beschworen (man denke nur an Gedichte Joseph von Eichendorffs, Adalbert von Chamissos oder Bettina von Arnims), und die den Begriff der „Heimat“, den es übrigens nur im Deutschen gibt, damit emotional aufgeladen haben. So entsteht hier also ein deutsches „Heimatmuseum“ im besten Sinne: ein Museum, in dem wir erfahren, wo einst die Wiege des deutschen Nationalstaats stand, nämlich im „Luftreich des Traumes“ (Heinrich Heine); ein Museum, das uns daran erinnert, dass die Kultur schon Heimat war in einer Zeit, in der Deutschland noch in Kleinstaaten zersplittert war; ein Museum also, das von der Kraft der Literatur, der Kunst und Kultur erzählt; ein Museum, das wir deshalb nicht nur als Schaufenster unseres kulturellen Erbes brauchen, sondern vielleicht auch, um Antworten zu finden in einer Zeit, in der viele Menschen in Deutschland eine neue Heimat suchen. Ich bin jedenfalls sehr gespannt auf diesen besonderen Erinnerungsort – und auch wenn es dafür in dieser Wüste aus Lehm und Bauschutt noch sehr viel Phantasie braucht: Ich freue mich schon heute auf die Eröffnung!
Mit dem Romantik-Museum gebe es auch für diese „Schlüsselepoche der deutschen Geistesgeschichte“ einen eigenen Erinnerungsort, so Kulturstaatsministerin Grütter. Beim Spatenstich in Frankfurt am Main dankte sie allen Unterstützern, die den Bau ermöglicht haben. Das Museum werde die Museumslandschaft und das kulturelle Leben bereichern, ein Museum, „das von der Kraft der Literatur, der Kunst und Kultur erzählt“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutsch-Chinesischen Forum für wirtschaftliche und technologische Zusammenarbeit am 13. Juni 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-deutsch-chinesischen-forum-fuer-wirtschaftliche-und-technologische-zusammenarbeit-am-13-juni-2016-605982
Mon, 13 Jun 2016 15:00:00 +0200
Peking
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Minister, sehr geehrter Herr Staatssekretär, meine Damen und Herren, auch ich freue mich, dass ich heute beim Deutsch-Chinesischen Forum für wirtschaftliche und technologische Zusammenarbeit dabei sein kann, das nun schon zum achten Mal tagt und das in zeitlicher Nähe zu den Regierungskonsultationen und den Konsultationen der Wirtschaft stattfindet. Das ist gut, weil wir damit auch einen Gesamteindruck über die Intensität unserer deutsch-chinesischen Zusammenarbeit gewinnen. Wir sehen bei solchen Konsultationen natürlich immer nur einen kleinen Ausschnitt eines großen Werks. Der Handel Chinas mit der Europäischen Union ist inzwischen auf ein Volumen von 520 Milliarden Euro angewachsen. Deutschland freut sich, dass es davon fast ein Drittel stellt. Das heißt, fast ein Drittel des Handels zwischen China und der Europäischen Union ist deutsch-chinesischer Handel. Aber wir wissen, dass wir uns gegenseitig weit mehr sind als nur Absatzmärkte. Es geht auch um gemeinsame Entwicklungen. Es geht um technologischen Fortschritt und um technologische Innovationen. Das Thema Innovationen ist für Sie sehr wichtig, aber auch für uns. Denn wir wissen: Wenn wir nicht Schritt halten würden und nicht innovativ wären, dann würde auch das Interesse der chinesischen Partner an deutschen Unternehmen sinken. Wenn umgekehrt Sie auf deutsche Märkte kommen, was Sie jetzt ja vermehrt tun, dann überlegen Sie natürlich auch, wo Sie einen Beitrag zu Innovationen beisteuern oder wo Sie vielleicht noch etwas lernen können. Wir leben in einer Transformationsphase, getrieben durch die Digitalisierung. Deshalb hat das Thema „Industrie 4.0“, wie wir es in Deutschland nennen, oder „Made in China 2025“ in unseren Gesprächen heute immer wieder einen großen Raum eingenommen. Hierbei brauchen wir, denke ich, eine sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit, weil wir neue Sicherheitsfragen zu klären haben. Das Thema Cybersicherheit ist eine wichtige Grundlage, um vertrauensvoll im Bereich Industrie 4.0 und intelligente Fertigung zusammenarbeiten zu können. Fragen notwendiger Standardsetzungen werden uns ebenfalls begleiten. Dieses Thema ist auch für die deutsche Wirtschaft sehr wichtig. Wenn wir alle unsere eigenen Standards erarbeiten und jeder bei seinem Joint Venture oder bei seiner Tochterfirma in China wieder einen anderen Standard anwenden muss, dann wird das große Komplikationen nach sich ziehen in einer digitalen Welt, die eigentlich darauf ausgerichtet ist, dass so etwas wie das Internet global funktioniert. Deshalb sollten wir bei Innovationen von Anfang an darauf achten, dass die Frage der Standards vernünftig gelöst wird. Wir haben jetzt eine neue Stufe interessanter Kooperationsprojekte erreicht, die dieses Mal eine große Rolle gespielt haben. Das betrifft gemeinsame Aktivitäten auf Drittmärkten. China hat riesige Fortschritte in bestimmten Bereichen gemacht. Ich denke zum Beispiel an den Bereich des Baus von Zügen. Deutschland hat hierbei eine lange Erfahrung. Manches kann man in China sehr gut und vielleicht noch etwas kostengünstiger produzieren. Anderes kann man vielleicht noch nicht so gut tun. Wenn wir uns aber zusammenschließen und dann auf Drittmärkten in Afrika oder auch auf asiatischen Märkten tätig werden, dann kann das ein Mehrgewinn für uns alle sein und für uns alle eine Stärkung bedeuten. Ähnliches gilt auch in politischer Hinsicht, indem wir zum Beispiel sagen: Wir werden in Afghanistan den Bergbau entwickeln. Wir werden dort den Katastrophenschutz entwickeln. Wir können auch in Mali gemeinsam auftreten, wo die deutsche Bundeswehr im Einsatz ist, wo aber auch Entwicklungsarbeit zu leisten ist. Das heißt also, je mehr Vertrauen in unseren Beziehungen wächst, je transparenter die Dinge sind, je mehr auch deutsche Unternehmen gleiche Entwicklungschancen in China haben, desto mehr wird es gelingen, aus der Synergie unserer beiden Stärken qualitativ neue Potenziale zu entwickeln. Premierminister Li hat heute immer wieder klar gemacht, dass sich China auf einem dynamischen Entwicklungsweg befindet und dass die Grenzen, die es heute gibt, morgen vielleicht gar nicht mehr da sind. Ich kann nur bestätigen – wenn ich mir nur allein die Zusammenarbeit in der Finanzbranche ansehe –, dass sich hier in den vergangenen Jahren viel getan hat. Es reicht uns alles noch nicht, aber wir werden diesen Weg weitergehen. Ich bedanke mich für die Möglichkeiten, dass wir sehr intensiv und sehr ehrlich und konstruktiv miteinander reden können. Tun Sie das in Ihren Arbeitsgruppen und in Ihren Foren ebenfalls, dann wird dies zum Wohle unserer beiden Länder und darüber hinaus sein. Herzlichen Dank dafür, dass wir heute dabei sein durften.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Nanjing am 12. Juni 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verleihung-der-ehrendoktorwuerde-durch-die-universitaet-nanjing-am-12-juni-2016-605968
Sun, 12 Jun 2016 16:30:00 +0200
Peking
Sehr geehrter Herr Präsident Professor Bai Chunli, sehr geehrter Herr Minister Professor Hao Ping, sehr geehrter Herr Professor Chen Jun, Präsident der Universität Nanjing, ich grüße auch die Präsidentin der Universität Göttingen ganz herzlich, sehr geehrter Herr Präsident Professor Ding Zhongli, sehr geehrte Studierende, sehr geehrte Damen und Herren, zuallererst möchte ich mich ganz herzlich dafür bedanken, dass ich den Ehrendoktortitel der Universität Nanjing bekommen habe. Ich möchte vor allem die Professoren und die Studierenden in Nanjing sehr herzlich grüßen. Ich bin heute ja nur bis Peking gekommen und nicht bis Nanjing, habe aber noch eine sehr gute Erinnerung an meinen Besuch in der Universität. Es war sehr lebendig, wir hatten intensive Diskussionen unter anderem auch über Frauen in der Politik und in der Wissenschaft. Ich gebe Ihnen meine besten Wünsche mit auf Ihren weiteren Weg. Ein Ehrendoktortitel steht für zweierlei: für den Bestand enger Verbindungen und auch für den Wunsch, diese Verbindungen weiter zu vertiefen. Ich nehme gern die Ehrendoktorwürde der Universität Nanjing an, die Sie mir im Namen der Volksrepublik China hier in der Universität der Chinesischen Akademie der Wissenschaften verleihen. Ich werte das als ein Zeichen der persönlichen Verbundenheit und auch der guten Beziehungen unserer beiden Staaten. Es ist ein Zeichen der Zuversicht auch im Hinblick auf eine zukünftige Vertiefung dieser Beziehungen. Wenn ich so viele junge Studierende vor mir sehe, dann fühle ich mich ein wenig in frühere Zeiten versetzt, als ich selbst noch Seminare und Vorlesungen besucht habe. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass der Weg zu neuen Ansätzen und Erkenntnissen damit beginnt, dass man das, was man bisher weiß, erst einmal infrage stellt und sich überlegt, was man darüber hinaus noch erkennen kann. Dieses Infragestellen ist nur möglich in einer Umgebung der Freiheit, der Kreativität und der Diskussion. Das sind zentrale Eigenschaften, die aus meiner Sicht Orte der Wissenschaft auszeichnen. Wer also Fortschritt will, muss Freiräume schaffen und erhalten – in der Forschung, in der Lehre, in den Akademien genauso wie in den Universitäten. Durch Kooperation kann man solche Freiräume noch vergrößern. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir offen dafür bleiben, Wissen über Grenzen hinweg auszutauschen und miteinander, aber auch voneinander zu lernen. Einer der berühmtesten deutschen Naturforscher, Alexander von Humboldt, hat einmal gesagt: „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.“ Eingedenk dessen unterstützt heute die deutsche Alexander von Humboldt-Stiftung den Austausch bedeutender Forscherinnen und Forscher aus aller Welt. Ich habe mich eben sehr gefreut, zu hören, dass intensive Beziehungen zu Max-Planck-Instituten, zur Fraunhofer-Gesellschaft, zur Helmholtz-Gemeinschaft und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen Deutschlands bestehen. Das ist eine gute Sache. Das ist ein fester Teil unserer strategischen Partnerschaft zwischen Deutschland und China, die wir inzwischen in einem breiten Aktionsrahmen mit über 100 Projekten immer weiter vertiefen. Die jetzt stattfindenden deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen dienen dazu. Die Regierungskonsultationen haben übrigens den Vorteil, wenn man sich regelmäßig trifft, dass man die Projekte fortführen, zu Ende führen und immer wieder Rechenschaft ablegen muss. Das hat die Zusammenarbeit sehr vertieft. Ich denke, wir alle können gar nicht früh genug damit beginnen, Weltoffenheit und grenzüberschreitendes Lernen zu fördern. Deshalb haben wir das Jahr 2016 zum deutsch-chinesischen Jahr des Schüler- und Jugendaustauschs gemacht. Wir fördern nicht nur Schulen, die Kurse zum Erlernen der jeweiligen Partnersprache anbieten, sondern auch gegenseitige Besuche, Aufenthalte in Gastfamilien und vieles mehr, was uns voneinander lernen lässt. Zahlreiche Angebote verdanken wir nichtstaatlichen Einrichtungen – Forschungsinstitutionen und Handelskammern ebenso wie Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen. Sie alle tragen zu Verständigung und Verständnis bei. Aus gegenseitigem Verständnis wächst dann auch Schritt für Schritt Vertrauen. Damit solche Arbeiten Wirkung entfalten können, braucht es natürlich einen rechtlichen Rahmen, der hinreichend Freiraum bietet. Deshalb werde ich mich dafür einsetzen, dass es auch im Hinblick auf die Anwendung des neuen chinesischen NGO-Gesetzes – des Gesetzes für Nichtregierungsorganisationen – möglich sein wird, dass zivilgesellschaftliche Organisationen weiterhin unsere bilateralen Beziehungen bereichern können – Beziehungen, die vom Austausch auf allen Ebenen und in verschiedensten Bereichen leben. Jedes Mal, wenn ich nach China komme, staune ich über die rasante Entwicklung des Landes – über das wachsende Netz der Verkehrsinfrastruktur und der Bildungsinfrastruktur, über die Dynamik der Megastädte. All dies bedeutet Jahr für Jahr auch Verbesserungen der Lebensbedingungen für viele Menschen. Chinas Weg – das darf man sagen – ist einzigartig. Ohne Zweifel war es eine außerordentliche Leistung, das Land für die Kräfte des Marktes zu öffnen, von anderen zu lernen, sich selbst zu erneuern und somit inzwischen rund 500 Millionen Menschen Wege aus extremer Armut heraus zu eröffnen. Das hat Chinas Aufstieg gefördert. Diese Dynamik ist auch die Grundlage unserer Zusammenarbeit. Große Herausforderungen, vor denen auch China steht, erfordern verlässliche Partnerschaften. Deutschland möchte ein verlässlicher Partner für China sein. Deshalb treffen wir uns seit 2011 regelmäßig zu Regierungskonsultationen. Morgen werden es die vierten sein. Eine verlässliche Partnerschaft setzt voraus, grundlegende Prinzipien und Überzeugungen zu teilen. Dazu gehört die Rechtsstaatlichkeit. Sie ist in Deutschland ein maßgebendes Verfassungselement. Während meiner Chinareise 2007 habe ich auch das Deutsch-Chinesische Institut für Rechtswissenschaft besucht. Ich fand es sehr beeindruckend, dass die Universitäten Nanjing und Göttingen dieses Institut bereits 1989 eingerichtet haben. Es fördert nicht nur den Dialog zwischen der chinesischen und deutschen Rechtskultur, sondern bildet auch Studierende aus unseren beiden Ländern aus. Angesichts der Akzeptanz des Instituts und der Kontinuität seines Wirkens ist diese Kooperation etwas ganz Besonderes. Daher ist sie auch Teil unseres bilateralen Rechtsstaatsdialogs. Dieser Dialog findet seine Ergänzung durch unser Rechtsstaatsprogramm, mit dem wir chinesische Richter, Rechtsanwälte und Notare ausbilden. Deutschland hat viel Erfahrung etwa mit dem Aufbau einer modernen Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Pflege des Petitionswesens. Dieses Wissen teilen wir gern mit unseren Partnern in der chinesischen Regierung. Der Rechtsstaatsdialog bietet uns ein Forum, um über unser Rechtsverständnis zu diskutieren, Erfahrungen auszutauschen und konkrete Projekte auf den Weg zu bringen. Besonders wichtig ist uns in Deutschland der Menschenrechtsdialog, der jährlich stattfindet. Hier können wir unsere Auffassungen in Menschenrechtsfragen darlegen. Zum Teil sind es auch unterschiedliche Auffassungen. Wir können versuchen, Lösungen zu finden oder gemeinsam Verbesserungen zu erarbeiten. Kern aller Rechtsstaatlichkeit ist, dass die Stärke des Rechts gilt und nicht das Recht des Stärkeren. Dazu gehört, dass die Justiz allein nach Recht und Gesetz, also unabhängig von der Politik, entscheidet. Dazu gehört auch, dass vor dem Gesetz alle gleich sind. Dazu gehören auch transparente Verfahren und Entscheidungen. Unser Verständnis ist eines des „rule of law“, nicht lediglich eines „rule by law“. Rechtsstaatlichkeit in diesem Sinne stärkt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in staatliche Institutionen und ihre Entscheidungen – und damit auch die gesellschaftliche Stabilität eines Landes. In diesem Zusammenhang ist es im Übrigen auch sehr wichtig – das ist eine deutsche Erfahrung –, dass Rechtsverfahren nicht nur gründlich sein müssen, sondern dass sie auch in bestimmter Zeit abgeschlossen werden müssen. Denn wenn man zu lang darauf warten muss – in Deutschland gibt es zum Teil sehr lange Wartezeiten –, dann hilft es einem nicht mehr, wenn man zwar Recht bekommt, aber der Sachverhalt gar nicht mehr aktuell ist. Sich auf einen verlässlichen Rechtsrahmen stützen zu können, ist im Übrigen auch für jedes Unternehmen, das kalkulieren und planen muss, sehr wichtig – sei es im Inland oder im Ausland. Deutsche Unternehmen – die Mitglieder der Unternehmensdelegation sind hier auch anwesend – haben in China inzwischen rund 60 Milliarden Euro investiert. Das zeigt, wie wichtig natürlich auch eine klare rechtliche Grundlage ist. Umgekehrt ist auch das Interesse chinesischer Investoren am Standort Deutschland weiter gewachsen. Darüber gibt es inzwischen auch schon sehr lebendige Diskussionen. Aber ich will noch einmal betonen: Das ist die Reziprozität, die wir haben. Natürlich werden auch chinesische Unternehmen in den deutschen Markt kommen. Angesichts unserer intensiver gewordenen Wirtschaftsbeziehungen haben die Fragen zur Rechtssicherheit natürlich zusätzlich an Gewicht gewonnen. Im Übrigen haben wir inzwischen auch sehr viele Fragen chinesischer Unternehmen in Deutschland nach dem deutschen Rechtssystem, das vielleicht nicht immer ganz einfach zu durchschauen ist und in das man sich erst einarbeiten muss. Nach unserer Meinung wird ein Rechtsrahmen auch danach beurteilt, inwieweit ausländische Unternehmen mit inländischen gleichgestellt sind – zum Beispiel bei öffentlichen Ausschreibungen – und Markenrechte, Patente und Daten wirksam geschützt werden. Verlässliche und transparente Regeln sind besonders für innovationsstarke Unternehmen von allergrößter Bedeutung – zum Beispiel in Bereichen, die wir in Deutschland unter dem Begriff Industrie 4.0 zusammenfassen. Die Zusammenarbeit in der Hochtechnologie ist weitgehend eine Frage des Vertrauens. Dazu brauchen wir klare Regeln und einen sehr effektiven Rechtsschutz, den rechtsstaatliche Strukturen mit unabhängigen Gerichten schaffen können. China und Deutschland arbeiten daran, vereinbarte Absprachen zum gegenseitigen Verzicht auf Wirtschaftsspionage im Cyberraum umzusetzen. Ich denke, je mehr Fortschritte wir hierbei erreichen, desto besser können wir enge Kooperationen im Bereich Industrie 4.0 auf den Weg bringen. Der enge Zusammenhang zwischen Rechtsstaatlichkeit, der Einhaltung etablierter Regeln und einer vertrauensvollen, gedeihlichen Zusammenarbeit zeigt sich im Grunde auf jeder Ebene – innerstaatlich ebenso wie zwischenstaatlich. So ist auch die Bindung an völkerrechtliche Normen durch regelkonformes Verhalten das Fundament des internationalen Systems. Nur die Selbstverpflichtung souveräner Staaten und ein entsprechendes Verhalten wirken vertrauensbildend zwischen größeren und kleineren, reicheren und ärmeren Ländern. China hat das moderne Völkerrecht mitgeprägt. Das Land bringt sich aktiv in die Vereinten Nationen mit ein und ist ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates. China ist Mitglied des Internationalen Währungsfonds ebenso der Weltbank und seit 2001 auch der Welthandelsorganisation. China ist Signatarstaat vieler multilateraler Abkommen. Ich denke, man kann sagen, dass China einerseits selbst von der Stabilität des etablierten internationalen Rechtsrahmens profitiert hat. Auf der anderen Seite hat das Land Zug um Zug, parallel zu seinem wirtschaftlichen Aufstieg, sein Engagement in internationalen Gremien weiter ausgebaut. Wir begrüßen das ausdrücklich. Derzeit hat die Volksrepublik China den Vorsitz der Gruppe der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer. Wir alle werden im Herbst nach Hangzhou kommen und dort die Konferenz der Staats- und Regierungschefs abhalten. China hat sich eine anspruchsvolle Agenda gesetzt. Wir sind sehr daran interessiert, mit China in diesem Prozess zusammenzuarbeiten. Deutschland wird nächstes Jahr Gastgeber des G20-Treffens sein. Deshalb wollen wir Teile der Agenda weiterführen und somit eine enge Zusammenarbeit kreieren. Dem gewachsenen ökonomischen Gewicht Chinas muss international Rechnung getragen werden. Es gab eine lange Diskussion über die Veränderung der Stimmrechte im Internationalen Währungsfonds. Deutschland hat die Erhöhung von Chinas Stimmrechten im IWF und in der Weltbank unterstützt, weil das eine Antwort auf die größere ökonomische Kraft ist. Wir haben uns für die Aufnahme des Renminbi in den Währungskorb der Sonderziehungsrechte im IWF ausgesprochen, die am 1. Oktober erfolgen wird. Nicht zuletzt sind wir der größte außerregionale Anteilseigner der Asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank, die auf eine Initiative Chinas hin gegründet wurde. Dass sich China international konstruktiv einbringt, ist für uns also nichts weiter als die logische Konsequenz der gestiegenen ökonomischen Stärke. Mit der ökonomischen Stärke wächst die Verantwortung. Ein Blick auf die Weltkarte zeigt ja, wie viele Konflikte wir weltweit zu bewältigen haben. China wird als Stütze der etablierten internationalen Ordnung gebraucht. Dies zeigte sich zum Beispiel in den E3+3-Verhandlungen zur Nuklearvereinbarung mit dem Iran, die wir nach vielen Jahren erfolgreich abschließen konnten. Es zeigt sich auch in den Sechs-Seiten-Gesprächen mit Nordkorea, bei denen wir aber noch nicht so viele Erfolge haben. Warum aber sollten wir nicht auch bei anderen Herausforderungen, die wir gemeinsam zu bewältigen haben, noch enger zusammenarbeiten? Das gilt zum Beispiel mit Blick auf Afghanistan. Es freut mich, dass wir auch sehr praktisch in gemeinsamen Projekten am Wiederaufbau dieses geschundenen Landes mitwirken werden. In der Pilotphase ist geplant, zusammen Aufbauhilfe beim afghanischen Katastrophenschutz zu leisten und in der Bergbauausbildung zu kooperieren. Auch in Afrika ist China stark engagiert – und zwar nicht allein wirtschaftlich, sondern zunehmend auch mit humanitären und friedenserhaltenden Maßnahmen. Hierbei bietet sich zum Beispiel eine deutsch-chinesische Kooperation insbesondere in Mali an, zu der wir gerne bereit wären, weil wir selber in Mali engagiert sind. China hat in letzter Zeit internationale Verantwortung im Klimaschutz stark wahrgenommen. Das Pariser Klimaabkommen wäre nicht zustande gekommen, wenn nicht die USA und China sehr intensiv zusammengearbeitet hätten und China nicht einer der Schreiber eines solchen Abkommens gewesen wäre. Der Abschluss der Klimakonferenz im Dezember des vergangenen Jahres ebenso wie die Vereinbarung der Vereinten Nationen zu nachhaltigen Entwicklungszielen sind zwei große multilaterale Erfolge, die wir jetzt intensiv umsetzen müssen. Diese Beispiele des chinesischen Engagements haben Vertrauen entstehen lassen, das es weiter zu untermauern gilt – auch bei Spannungen, die wir im Augenblick sehen, zum Beispiel im Ost- und Südchinesischen Meer. Ich freue mich, dass wir im Rahmen unserer Dialogs auch sagen können: China und Deutschland bekennen sich zur Aufrechterhaltung der maritimen Ordnung auf Basis des Völkerrechts, einschließlich des UN-Seerechtsübereinkommens und der darin verankerten Freiheiten der Schifffahrt und des Überflugs. Die Aufrechterhaltung dieser Ordnung und der Stabilität in der Region ist im Interesse aller Länder. Beide setzen sich für eine friedliche Lösung von territorialen Streitfragen und von Fragen maritimer Rechte ein – im Sinne des Völkerrechts, der regionalen Vereinbarungen und bilateraler Abkommen. Ich sage es ganz offen: Wir auf deutscher Seite würden uns freuen, wenn es zum Beispiel zu einem verbindlichen Verhaltenskodex mit den ASEAN-Staaten und China kommen würde. Meine Damen und Herren, wir haben also viel zu tun. Viele Aufgaben liegen vor uns. Viel Vertrauen ist gewachsen. Viel Intensität an Zusammenarbeit gibt es. Wir verstehen unsere Partnerschaft als eine Win-win-Situation für Deutschland und für China. Das sollte uns auch in die Lage versetzen, dort, wo es noch unterschiedliche Meinungen gibt, pragmatische Lösungen anzustreben. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie mich heute hier im Vorfeld der deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen empfangen haben. Ich sage den Initiatoren aus Nanjing noch einmal danke, die mir diese Ehrendoktorwürde verliehen haben, und freue mich jetzt auf eine muntere Diskussion mit den Studierenden und den hier Anwesenden. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum „Tag des deutschen Familienunternehmens“ der Stiftung Familienunternehmen am 10. Juni 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-tag-des-deutschen-familienunternehmens-der-stiftung-familienunternehmen-am-10-juni-2016-799620
Fri, 10 Jun 2016 11:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Professor Hennerkes, sehr geehrte Herren Botschafter, meine Damen und Herren, ich freue mich, auch beim diesjährigen Tag des deutschen Familienunternehmens wieder dabei zu sein. Es ist ja in der Tat so: Die hier versammelte Gruppe von Menschen trägt zum Wohlstand, aber auch zur Charakterisierung Deutschlands durch das Thema Familienunternehmen in gutem Sinne bei. Wenn wir gute Wirtschaftsdaten haben, dann hängt das sehr stark auch mit Ihnen, mit jedem einzelnen von Ihnen, zusammen. Wir haben über 43 Millionen Erwerbstätige in Deutschland. Das ist eine Rekordzahl. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist auf Rekordniveau. Aber wir wissen natürlich, dass wir uns darauf nicht ausruhen dürfen, sondern immer wieder für Bedingungen sorgen müssen, dass in Deutschland investiert und produziert wird. Das geht ohne starke Familienunternehmen nicht. Einen Lackmustest für Sie, was unsere Worte in der Praxis bedeuten, ist immer wieder das Thema Erbschaftsteuer. Ich weiß, wie sensibel es ist. Es ist aufgrund der Vielfalt der Unternehmen auch gar nicht so einfach, Lösungen zu finden, die für alle vertretbar sind. Sie wissen, dass das Schönste gewesen wäre, das Bundesverfassungsgericht hätte die Erbschaftsteuer so gelassen, wie sie war. Daran hatten sich alle gewöhnt. Aber diesen Gefallen hat uns das Bundesverfassungsgericht nicht getan. Das heißt, wir müssen jetzt eine Lösung finden, die den Bedenken oder den Beschwernissen des Bundesverfassungsgerichts Rechnung trägt. Wir müssen darauf achten, dass die Unternehmer, die Familienunternehmer, nicht beliebig von der Erbschaftsteuer freigestellt werden können. Das macht uns erhebliche Probleme. Bei den größeren Familienunternehmen stellt sich die Lage völlig anders dar als bei den kleineren Unternehmen. Wir dürfen bei den kleineren Unternehmen nicht so viele herausnehmen, dass zum Schluss quasi keine Unternehmen mehr übrig bleiben. Jetzt gibt es auf der Zielgeraden noch einmal ein Ringen um eine faire Lösung. Sie haben – sachkundiger als ich – das Thema beim Bundesfinanzminister platziert, wahrscheinlich auch noch bei vielen Ministerpräsidenten, sodass ich mir keine Sorgen mache, dass die Beschwernisse nicht bekannt sein könnten. Wenn Sie sich auch ein bisschen mit den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten befassen, dann ist das sicherlich für die Einigkeit in der großen Koalition sehr hilfreich. Dabei will ich es einmal belassen. Ich glaube, unter dem Strich ist es besser, uns jetzt nicht auf einen Weg zu begeben, auf dem wir gar keine Einigung finden, und darauf zu warten, dass das Bundesverfassungsgericht das Thema für uns regelt. Das kann man auch machen; man kann lange genug warten. Dann wird aber wieder einer klagen und dann gibt es eine Ausführung durch das Gericht. Ich weiß nicht, ob uns damit mehr gedient ist. Deshalb haben sich die Beratungen – das wird Herr Professor Hennerkes vielleicht auch zugestehen – in den letzten Wochen eigentlich nicht in eine schlechte Richtung entwickelt. Wenn wir diesen Trend anhalten lassen könnten, dann wäre das, glaube ich, schon eine halbwegs gute Nachricht. Mehr reüssieren kann ich mit dem Thema heute nicht. Deshalb gebe ich das dann auch in die Hand derer, die von der Materie sehr viel mehr verstehen als ich. Ich bin heute bei Ihnen in einer Zeit durchaus großer Turbulenzen und großer Herausforderungen. Das hängt auch mit einer Vielzahl von internationalen Konflikten zusammen. Ich will die Anwesenheit des russischen Botschafters nutzen, um deutlich zu machen, dass wir – Frankreich und Deutschland zusammen mit der Ukraine und Russland – jetzt wieder in einer sehr intensiven Phase sind, das Minsker Abkommen qualitativ noch ein Stück weiter umzusetzen. Wir haben nach wie vor eine sehr fragile Situation. Ich glaube, das Minsker Abkommen ist nach wie vor das beste Stück – es ist auch das einzige Stück –, auf das wir uns geeinigt haben, das wir jetzt umsetzen müssen. Es gibt sehr intensive Gespräche mit Vertretern der russischen und der ukrainischen Seite. Meine Hoffnung ist immer noch, dass wir im Monat Juni ein klares Stück vorankommen. Ich weiß, dass viele von Ihnen auch Beschwernisse mit den Sanktionen haben. Die Sanktionen haben wir durch die Europäische Union verhängt im Zusammenhang mit der Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine. Einerseits gibt es die sogenannten Sanktionen im Zusammenhang mit der Krim, andererseits gibt es die Sanktionen im Zusammenhang mit den Vorgängen in Donezk und Lugansk. Ich will ganz deutlich sagen: Sanktionen sind kein Selbstzweck. Sie sind verhängt in einem bestimmten Zusammenhang. Das Minsker Papier ist sozusagen die Grundlage, auf der wir die Voraussetzungen schaffen können, diese Sanktionen wieder aufzuheben. Ich habe vielfach – und das will ich auch hier wieder betonen – gesagt: Gute Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland sind in unser aller Interesse. Unser Langfristziel muss sein, dass wir eine sehr viel größere Annäherung bekommen. Also, an der Idee eines gemeinsamen Wirtschaftsraums von Wladiwostok bis Lissabon – wie ja auch der russische Präsident sagte – sollten wir schrittweise arbeiten. Dann möchte ich mich noch einmal kurz auf die Probleme im Zusammenhang mit der Europäischen Union konzentrieren. Wir werden ein Referendum in Großbritannien haben. Das ist eine Entscheidung der britischen Bürgerinnen und Bürger. Trotzdem will ich auch in diesem Kreis nochmals deutlich machen, dass aus meiner Sicht ein Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union für uns alle das Beste und Wünschenswerteste ist. Wir haben in vielen Fragen eine sehr enge Kooperation mit Großbritannien und würden diese natürlich gern im Rahmen der Europäischen Union fortsetzen. Wenn ich von dieser Kooperation spreche, dann komme ich gleich zu einem Thema, das uns im Augenblick in der Europäischen Union ebenfalls sehr beschäftigt. Das ist die Frage der Freihandelsabkommen. Wir haben gesehen, dass sich das Abschließen von Freihandelsabkommen immer positiv für beide Seiten ausgewirkt hat. Das letzte Beispiel ist das Freihandelsabkommen mit Südkorea. Hierzu gab es eine Vielzahl von Bedenken, insbesondere auch in der deutschen Automobilindustrie. Herausgekommen ist aber, dass wir unsere Exporte steigern konnten – auch die Zulieferer von Automobilteilen – und sich die Handelsbeziehungen mit Südkorea erheblich intensiviert haben. Wir sind in der Schlussrunde, was das Freihandelsabkommen mit Kanada anbelangt – das sogenannte CETA-Abkommen. Die Chancen stehen sehr günstig, dass wir das im Herbst finalisieren können. Wir haben eine große gesellschaftliche Debatte um die Frage eines Freihandelsabkommens mit den Vereinigten Staaten von Amerika – die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft –, das im Augenblick in seinen Grundzügen noch verhandelt wird. Ich weiß nicht, ob ich in diesem Kreis werben muss. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir durch ein solches Abkommen zwischen dem Europäischen Binnenmarkt und dem großen amerikanischen Markt sehr viel mehr Vorteile haben können als wir Nachteile zu befürchten haben. Das Abkommen ist deshalb so umstritten, weil es tiefer als andere Freihandelsabkommen geht. Bislang hat man mit den Freihandelsabkommen im Wesentlichen Zölle abgebaut. In diesem Fall aber geht man auch an die nichttarifären Hemmnisse heran. Bei den nichttarifären Hemmnissen spielen auch Schutzstandards eine Rolle – ökologische Standards, Verbraucherschutzstandards, soziale Standards. Hier setzen die Befürchtungen an. Deshalb will ich nochmals wiederholen: Es wird keiner dieser Standards, die in der Europäischen Union vereinbart sind, angetastet, sondern diese Standards bleiben erhalten. Es wird auch dafür Sorge getragen, dass bei der Fortentwicklung europäischer Standards diese dann auch jeweils wieder als Standards im Handelsabkommen gelten. Wenn wir uns anschauen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika mit Staaten im pazifischen Raum ein Freihandelsabkommen fertiggestellt haben, dann müssen wir uns auf europäischer Seite fragen: Wollen wir bei der globalen Standardsetzung mithelfen oder wollen wir solche bilateralen Handelsabkommen anderen überlassen und im Grunde nur zuschauen? Wenn ich mir anschaue, wie hoch die Arbeitslosigkeit in vielen europäischen Ländern ist, wie sehr wir Impulse für Wirtschaftswachstum brauchen, dann kann ich nur dafür plädieren, alles daranzusetzen, um für uns in Europa ein gutes, ein zufriedenstellendes Abkommen hinzubekommen, und die Arbeit, die durch die Kommission geleistet wird, deutlich zu unterstützen. Wir haben in den letzten Jahren, Herr Professor Hennerkes, oft über den Euroraum und über die Stabilisierung des Euroraums gesprochen. Wir sind hierbei erheblich vorangekommen. Wir haben nach wie vor intensive Gespräche mit Griechenland. Auch da ist das letzte Programm jetzt einigermaßen umgesetzt worden. Die Voraussetzungen sind dafür gegeben, dass eine nächste Tranche ausgezahlt werden kann. Wir sehen eine deutliche Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in einigen Ländern – Portugal, Spanien und Irland –, die solche Programme durchlaufen haben. Und wir haben uns eine sehr viel bessere Architektur für die Eurozone insgesamt geschaffen. Wir sind also krisenfester geworden. Wenn Sie sich einmal anschauen, was in den letzten Jahren passiert ist, dann wissen Sie, dass Europa im Grunde sehr häufig von globalen Kräften getestet worden ist. Nach der internationalen Finanzkrise kam zuerst die Eurokrise. Man hat gefragt: Wie sicher ist eigentlich eure gemeinsame Währung? Ihr seid ein Zusammenschluss von 19 Staaten mit sehr unterschiedlichen Wirtschaftspolitiken. Ihr habt zwar einen Stabilitäts- und Wachstumspakt, aber wie weit seid ihr eigentlich bereit, für diese gemeinsame Währung einzutreten? Diese Anfragen kamen aus den internationalen Finanzmärkten. Sie haben uns vor die Aufgabe gestellt, die Eurozone krisenfester zu machen und nicht einfach zu einer Vergemeinschaftung von Schulden und Lasten zu kommen, sondern zu sagen: Da, wo Eigenanstrengungen unternommen werden, sind wir bereit zu helfen. Aber diese Eigenanstrengungen muss es geben – und sie müssen zu einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit führen. Wir können und dürfen nicht mit völlig unterschiedlichen strukturellen Ansätzen ganz unterschiedliche Wirtschaftspolitiken betreiben, die nicht zu einer Konvergenz führen, aber letztlich die Lasten und die Schulden vergemeinschaften. Das war ein harter Kampf. Dieser Kampf wird in gewisser Weise auch immer weitergehen. Aber ich glaube, dass wir auf dem eingeschlagenen Weg eine Menge erreicht haben. Im vergangenen Jahr ist etwas anderes passiert. Wieder gab es eine Art Anfrage an die Europäische Union – diesmal mit Blick auf die Freizügigkeit innerhalb dieser Europäischen Union –: Seid ihr in der Lage – in eurem Gebilde, das ja kein Staat ist, sondern ein Zusammenschluss von Staaten, die einige Kompetenzen weggegeben haben –, im Schengen-Raum eure Außengrenzen zu schützen? Jedes Gebilde, das Freizügigkeit im Inneren hat, muss auch in der Lage sein, seine Außengrenzen zu schützen. Dieser Druck ist im Grunde entstanden durch Bürgerkriege – durch den IS im Irak und in Syrien – und durch die vielen Flüchtlinge vor allem aus Syrien. Das alles hat einen erheblichen Druck entfaltet. Vorher hatten wir schon viele Flüchtlinge bzw. Asylbewerber aus den Staaten des westlichen Balkans. Dieses Problem haben wir dann ja schrittweise gelöst. Aber danach kam eben dieser große Druck durch Flüchtlinge, die nach Europa im Wesentlichen über die Türkei kamen und – so, wie wir es jetzt im Augenblick erleben – auch aus Libyen. Der Schengen-Raum ist ein von uns allen geschätzter Raum, der uns Niederlassungsfreiheit, Bewegungsfreiheit und Reisefreiheit zwischen den allermeisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ein paar anderen Staaten ermöglicht. Die Grenze dieses Schengen-Raums beginnt quasi am Nordpol und führt zunächst an Russland und Weißrussland vorbei zur Ukraine. Gegenüber Bulgarien am Schwarzen Meer liegt Georgien. Dann kommen wir zur Türkei. Nach der Türkei kommt Syrien; Syrien wiederum ist Nachbar von Zypern. Dann geht es weiter über Libanon, Israel, Ägypten, Libyen, Tunesien und Algerien bis nach Marokko. Die Außengrenze des Schengen-Raums verläuft also von Norwegen bis nach Marokko. Damit haben wir sozusagen eine ziemlich geballte Ladung von nicht unkomplizierten Nachbarschaften. Das zeigt, wie sehr es auch im Interesse Europas ist, all die Konflikte, die im mediterranen Raum bestehen, zu lösen und uns einfach auch aktiv – und wahrscheinlich in Zukunft noch aktiver – einzumischen. Denn dadurch, dass keine große Abhängigkeit von Erdöl und Erdgas aus diesem Raum mehr besteht, wird das Interesse der Vereinigten Staaten von Amerika an diesem Raum auch nicht gerade zunehmen. Nun erweist sich die Kontrolle von Außengrenzen dort, wo man eine Landgrenze hat, noch als relativ einfach. Die Kontrolle von Außengrenzen dort, wo man eine Wassergrenze hat, erweist sich hingegen als komplizierter. Ohne Hilfe der Nachbarschaft lassen sich Wassergrenzen sehr schwer kontrollieren. Das heißt, man muss Abmachungen treffen. Deshalb ist die Abmachung mit der Türkei – die Professor Hennerkes hier heute, glaube ich, kritisiert hat – eine Abmachung, die ich für zwingend halte. Im Übrigen haben Spanien und Portugal schon seit Jahren Abmachungen mit Senegal, Marokko und Algerien wie auch Italien Abmachungen noch zu Gaddafis Zeiten mit Libyen hatte – das haben wir nur kaum bemerkt –, um sozusagen eine faire Lastenteilung zwischen den jeweiligen Nachbarn im Zusammenhang mit Flüchtlingskrisen zu bekommen. Jetzt haben wir eine besondere Situation in Syrien. In Syrien ist wahrscheinlich etwa die Hälfte der Bevölkerung auf der Flucht – 22 Millionen Einwohner hatte Syrien, etwa elf Millionen sind auf der Flucht, davon ungefähr sechs Millionen innerhalb Syriens und fünf Millionen außerhalb Syriens. Diese fünf Millionen Flüchtlinge außerhalb Syriens – mindestens fünf Millionen, wahrscheinlich sogar eher sechs Millionen – verteilen sich im Wesentlich auf die Türkei mit fast drei Millionen Flüchtlingen sowie auf Libanon und Jordanien. Der Libanon hat knapp fünf Millionen Einwohner und hat zeitweise über 1,5 Millionen Flüchtlinge gehabt. Die Europäische Union hat sich über Jahre für dieses Thema nicht interessiert. Wir haben auch Fehler gemacht. So mussten zum Beispiel die Rationen gekürzt werden. Sie müssen sich das einmal vorstellen: Eine Lebensmittelration vom Welternährungsprogramm kostet im Monat pro Flüchtling 27 bis 30 US-Dollar. Wenn das auf 13 US-Dollar gekürzt wird und außerdem die Kinder keine Schulbildung bekommen, und das vielleicht schon seit fünf Jahren, dann verwundert es nicht, dass Menschen unruhig werden und sich überlegen: Was kann ich für mich und meine Familie tun? Europa hat auch im letzten Jahr noch keine Million Syrer aufgenommen – 500 Millionen Europäer und keine Million Syrer –, während andere Anrainerstaaten ganz andere Lasten geschultert haben. Ich glaube, niemand verlässt leichtfertig seine Heimat. Ich glaube, dass es gut ist, wenn Flüchtlinge in der Nähe ihrer Heimat bleiben können. Deshalb ist es richtig, der Türkei drei Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen, damit sie an der türkisch-syrischen Grenze vernünftige Lebensbedingungen für die vielen syrischen Flüchtlinge schaffen kann. Ich glaube, dass es absolut richtig und im Übrigen auch im gegenseitigen Interesse ist, dass Schmuggler und Schlepper nicht darüber bestimmen, wer für viel Geld und geringen Schutz irgendwohin fliehen kann. Vielmehr muss es der Anspruch von Staaten sein – immerhin sind die Türkei, Griechenland und wir alle in einem militärischen Bündnis –, legale Lösungswege zu finden und auf legalem Wege Lastenteilungen durchzuführen. Illegale Machenschaften von Schleppern dürfen nicht darüber bestimmen, wie viele Menschen zu uns kommen und wie viele nicht. Im Übrigen haben allein im Januar und Februar dieses Jahres, als das Türkei-Abkommen noch nicht richtig funktioniert hat, rund 400 Menschen in der Ägäis – auf dieser kleinen Meerenge – ihr Leben verloren; in den letzten beiden Jahren waren es bereits über 10.000 Menschen auf dem Weg von Libyen nach Italien. Ich glaube, allein das zeigt, dass es alle Anstrengungen wert ist, dass nicht Schlepper bestimmen, wann einer weggeht, sondern dass wir das an unserer Außengrenze mit den Nachbarn hinbekommen. Natürlich muss dieser Prozess geordnet und gesteuert werden. Und natürlich müssen wir daran arbeiten – und wir haben ja auch daran gearbeitet –, dass sich die Zahl der zu uns kommenden Flüchtlinge reduziert. Es stellt sich nur die Frage: Wie machen wir das? Ich habe immer gefragt – und darüber gab es ja eine Kontroverse –: Machen wir das an der deutsch-österreichischen Grenze, machen wir das an der mazedonisch-griechischen Grenze? Das hat dann nur den Nachteil, dass die Flüchtlinge in Griechenland sitzen. Griechenland hat zehn Millionen Einwohner. In Griechenland sind in den Monaten zwischen der Finalisierung des EU-Türkei-Abkommens und der Schließung der mazedonisch-griechischen Grenze von mazedonischer Seite aus 50.000 Flüchtlinge angekommen. Das müssen Sie mit acht multiplizieren, damit Sie auf die gleiche Zahl an Flüchtlingen pro Einwohner in Deutschland kommen; das wären dann also 400.000 in einem Monat. Unsere höchste Zahl in einem Monat war 211.000. Sie können sich also vorstellen, was das für Griechenland bedeutet. Griechenland ist Teil des Schengen-Raums. Griechenland ist auf Freizügigkeit angewiesen – ich denke nur an die vielen Urlauber –, auch wirtschaftlich. Auch wenn wir nach Italien blicken, stellt sich wieder die Frage: Ist eine europäische Lösung eine Lösung am Brenner? Ich würde sagen: Nein. Wir müssen also versuchen, eine Lösung an den Außengrenzen des Schengen-Raums zu bekommen und nicht an irgendeinem Ort innerhalb des Schengen-Raums, sonst ist es keine europäische Lösung. Meine These ist – und deshalb war es richtig, zu warten und trotzdem daran zu arbeiten, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren –, dass eine gemeinsame Währung und ein gemeinsamer Binnenmarkt nur dann funktionieren können, wenn wir auch wirklich die Außengrenzen schützen und im Inneren Freizügigkeit lassen. Das ist in unserem tiefsten wirtschaftlichen Interesse; und darum ging und geht es. Gleichzeitig müssen wir die Fluchtursachen bekämpfen und legale Wege finden, wie Menschen zu uns kommen können – aber über von Staaten bestimmte, und nicht von Schleppern determinierte Wege. Jetzt werden wir das, was wir mit der Türkei getan haben, auch mit vielen anderen Ländern tun müssen. Die Europäische Kommission hat einen entsprechenden Vorschlag gemacht. Wir müssen mit afrikanischen Ländern reden, mit Ägypten und auch mit Libyen – das schließt dort das Werben um eine Einheitsregierung mit ein –, etwa auch mit dem Niger und anderen Ländern, über die oder aus denen Flüchtlinge kommen, so dass klar wird: Wir als Staaten bestimmen, wer zu uns kommt, welche humanitären Kontingente es gibt und wo es in unserem Interesse ist, Einwanderung von Fachkräften zu haben. Es bestimmen aber nicht Schlepper und Schmuggler über diese Themen. Das hat jetzt einige Monate gedauert, ja, aber ich glaube, es war den Einsatz wert. Wir sind auch noch nicht am Ende dieser Arbeit. Denn gerade, was die afrikanische Küste anbelangt, haben wir noch sehr viel zu tun. Die Bedingungen dort sind hinreichend kompliziert. Außerdem wissen heute per Handy eigentlich alle Menschen, wie es woanders ist und wie sie ihr Leben gegebenenfalls auch anders führen könnten. Wir werden mehr für Entwicklungshilfe ausgeben müssen, wir werden uns um die Konflikte in unserer Nachbarschaft stärker kümmern müssen, wir werden mit dafür sorgen müssen, dass Menschen dort, wo sie geboren sind und wo sie leben, vernünftiger leben können als heute, und wir werden mit unseren afrikanischen Kollegen verstärkt über gute, transparente Regierungsführung und vieles andere mehr sprechen. Das gesagt habend, kann ich mich noch kurz und stichpunktartig einigen innenpolitischen Dingen zuwenden. Über den Arbeitsmarkt habe ich gesprochen. Wir investieren nach wie vor viel in Innovation und Forschung – wir sind mit unseren Ausgaben für Forschung und Entwicklung nahe an drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts –, müssen allerdings sagen, dass es inzwischen Länder wie Korea oder Israel gibt, die vier Prozent ausgeben. Das heißt, wir müssen bei den Innovationen sehr stark dranbleiben. Wir haben das große Thema erneuerbare Energien. Mit der letzten Gesetzesnovelle sind wir ein ganzes Stück vorangekommen; der Kabinettsbeschluss ist diese Woche gefasst worden. Von der staatlichen Festsetzung von Preisen für die Vergütung von Strom aus Windenergie oder Biomasse gehen wir jetzt zu Ausschreibungen über. Das heißt, wir machen einen kräftigen Schritt in Richtung marktwirtschaftlicher Mechanismen. Das ist eine gute Botschaft. Wir erleben allerdings auch, dass die Koordinierung von Netzausbau und dem Anwachsen möglicher Leistungen im Bereich der erneuerbaren Energien nicht gut funktioniert. Deshalb haben wir im Erneuerbare-Energien-Gesetz jetzt auch zum ersten Mal eine Verbindung zwischen Netzausbau und Ausschreibungsmengen insbesondere im Norden hergestellt. Das hat die Bundesländer im Norden nicht so erfreut, aber es hat ja keinen Sinn, Strom zu produzieren, der zum Schluss nicht bei denen ankommt, die ihn auch wirklich verbrauchen. Die Tatsache, dass uns die Europäische Kommission sozusagen angehalten hat – ich sage es einmal vorsichtig –, Unbundling zu betreiben, das heißt, Stromerzeugung und -netze voneinander zu entkoppeln, hilft uns beim koordinierten Ausbau von Netzen und Energiekapazität nicht richtig. Wir müssen das aber lernen. Und deshalb muss die Politik hierbei eine steuernde Funktion einnehmen. Darüber wird auch noch manche Schlacht im parlamentarischen Verfahren zu schlagen sein. Jedenfalls ist das Thema Kostengünstigkeit – oder Kostenvertretbarkeit, sage ich einmal – beim Strom natürlich ein zentrales für Ihre Unternehmen. Meine Damen und Herren, Sie sehen also: Es ist im politischen Bereich weiterhin viel zu tun. Es gibt viele kontroverse Diskussionen. Gerade auch das Thema Flüchtlinge hat viele solcher Kontroversen ausgelöst. Ich habe Ihnen meine Sicht der Dinge dargestellt, möchte aber nicht schließen, ohne den vielen Menschen – die es sicherlich auch unter Ihnen und in Ihren Betrieben gibt –, die mit Hand angelegt haben und die geholfen haben, ein herzliches Dankeschön zu sagen. Trotz aller Aufgaben, die durch die vielen zu uns gekommenen Menschen zu leisten sind, ist nach wie vor eine sehr große Prozentzahl der Deutschen bereit, Menschen, die wirklich vor Not fliehen, die wirklich vor Krieg fliehen, Hilfe zu leisten. Dafür mein herzliches Dankeschön. Ansonsten könnte ich jetzt noch lange über Integrationsaufgaben sprechen; das mache ich aber nicht. Wir werden weiter auf Sie setzen, also darauf, dass Sie Familienunternehmer sind, die sozusagen zum Charakter unseres Landes gehören, und werden versuchen, Ihnen im Rahmen unserer Anstrengungen erträgliche bis gute Wirtschaftsbedingungen zu geben. Dazu gehört auch die politische Stabilität in unserem Land. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Veranstaltung „Kultursalon unter der Kuppel“ der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am 8. Juni 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-veranstaltung-kultursalon-unter-der-kuppel-der-cdu-csu-bundestagsfraktion-am-8-juni-2016-453394
Wed, 08 Jun 2016 19:05:00 +0200
Berlin
Meine Damen und Herren, lieber Volker Kauder, liebe Gerda Hasselfeldt, liebe Staatsministerin Monika Grütters, liebe Kolleginnen und Kollegen – insbesondere möchte ich Marco Wanderwitz heute auch ganz herzlich danken –, und Sie alle, die Sie sich in Kunst und Kultur zu Hause fühlen, dass heute Abend die Gelegenheit genutzt wird, einfach in Kontakt zu treten, zeigt ja die gut gefüllte Fraktionsebene, auf der man normalerweise ein bisschen über die Kolleginnen und Kollegen lästert oder Journalisten Interviews gibt. Die seriöseren Beratungen finden eher in den dahinterliegenden Räumen statt. Die Fußball-Europameisterschaft nähert sich. Dass Deutschland eine Fußballnation ist, das ist bekannt. Aber – in diesem Kreis brauche ich es nicht zu betonen – Deutschland ist auch eine Kulturnation. Darauf sind wir stolz. Es bedarf aber auch der Akteure aus den verschiedenen Bereichen, die uns Kultur nahebringen. Deshalb danke ich allen, die heute gekommen sind, um sich dem Dialog mit der Politik zu stellen. Wir können Ihnen ein bisschen zuhören und lauschen. Ich werde nachher noch einmal kurz auf das, was ich verstanden habe, zurückkommen. Daniel Barenboim mit seiner Frau, der er hier eben Rede und Antwort gestanden hat und der uns mit einem Teil seines Orchesters auch noch eine Kostprobe geben wird, möchte ich ganz besonders begrüßen. Er zeigt mit seinem Orchester der Vielfalt, dass Kunst eine unglaublich integrative Kraft haben kann. Die Frage der Integration ist ja in unserer Gesellschaft in vielerlei Hinsicht eine sehr, sehr spannende. Ich will jetzt nicht darüber philosophieren, wie die Globalisierung und wie die Digitalisierung unser Leben verändern. Aber klar ist: Unsere Welt wächst enger zusammen, wir tauschen uns viel mehr aus. Wir freuen uns natürlich, dass Berlin ein Ort ist, an dem dieser Austausch in ganz besonderer Weise stattfinden kann. Jetzt spreche ich nicht über Orchester und nicht über Theater, sondern über das entstehende Humboldt Forum. Wir freuen uns natürlich, dass ein Protagonist hier ist. Die anderen habe ich nicht gesehen. Ich weiß nicht, Herr MacGregor, ob noch andere hier sind, auch Herr Parzinger? – Ja, alle sind da. Gut, ich nehme keinen aus. Das Triumvirat, das sich um das Humboldt Forum kümmert, ist also hier anwesend. Dessen Aufbau ist eines der spannenden Projekte in und für Berlin. Die traditionsreiche Museumsinsel wartet auf Ergänzung durch Bauten des 21. Jahrhunderts. Berlin hat viele Kunstschätze. Berlin wird viel Kooperation angeboten, um dieses Globalisierungsprojekt auf künstlerischer Ebene durchzuführen. Ich bin dafür bekannt, dass ich Angst davor habe, dass nur ein Völkerkundemuseum entstehen könnte. Aber ich bin inzwischen davon überzeugt: Das wird es nicht, sondern es wird mehr werden; vielleicht auch ein Ort, an dem Debatten über die Globalisierung und ihre Auswirkungen stattfinden können. Wir spüren: Diese Zeit des Zusammenwachsens, der großen Neugierde aufeinander und des Alles-erfahren-Könnens über verschiedene Regionen der Welt ist auch eine Zeit der Sorgen, der Ängste, der Fragen – Was ist meine Heimat? Was ist meine Herkunft? – und leider auch der Ressentiments. Die Schlacht um ein Gelingen der Globalisierung muss jetzt geschlagen werden. In dieser Schlacht, wenn ich das einmal so sagen darf – natürlich hoffentlich mit friedlichen Mitteln –, muss jeder versuchen, seinen Beitrag zu leisten, um zu zeigen: Wo gehören wir hin? Wo kommen wir her? Was können wir zu einem Kulturerbe beitragen? Was wollen wir aufnehmen? Worauf sind wir neugierig? Dass wir viel lernen müssen, erleben wir, glaube ich, alle Tage – wir in der Politik und auch Sie in der Kunst. Wir können uns heute über vielfältige Beiträge freuen – von Musik über Tanz bis hin zu anderen Bereichen – und darüber, dass Vertreter aus Film, Malerei, Literatur und Theater hier sind. Was können wir als Politiker tun? Ich glaube, dass sich Kunst immer Bahn bricht. Aber wenn man eine Kulturnation sein möchte, dann erwartet man heute von der Politik zum einen Leitplanken, die den Rechtsraum definieren, in dem Kunst frei stattfinden kann, und zum anderen auch Unterstützung. Um Unterstützung bemühen wir uns auch auf Bundesebene, wobei wir normalerweise gar nicht zuständig sind. Das hat sich aber in der Praxis herausgebildet. Heute sind, glaube ich, die Länder manchmal sogar dankbar dafür, dass der Bund ein bisschen was macht. Wir haben den Kulturhaushalt des Bundes und auch das Selbstverständnis der Staatsministerin oder des Staatsministers für Kultur sich sukzessive entfalten lassen. Daraus ist auch ohne eindeutige grundgesetzliche Kompetenz einiges in den verschiedenen Bereichen entstanden. Das kann man, glaube ich, so sagen. Ob sich das alles systemisch korrekt und der jeweiligen künstlerischen Sektorenbedeutung entsprechend entwickelt, kann vielleicht irgendwann einmal in einem Assessment festgestellt werden. Im Augenblick ist es jedenfalls so: Wer sozusagen klare, gute Projekte hat, der hat auch eine Chance auf Gehör. Wir haben eine Vielzahl von Dingen in Gang gebracht, die über klassische Aufgaben hinausgehen. Die Filmförderung ist heute schon positiv erwähnt worden. Ich glaube, sie hat dem deutschen Film einen wirklich großen Schub gebracht. Es gibt jetzt auch eine ganze Reihe von neuen Preisen, um zum Beispiel die Arbeit kleiner und mittlerer Theater anzuerkennen und vorbildhaft geführte Buchhandlungen zu würdigen. Sie ergänzen bereits bestehende Auszeichnungen zum Beispiel für die Programmgestaltung von Kinos und Musikclubs. Wenn wir von Deutschland als Kulturnation sprechen, dann müssen wir bei allen Problemen, die wir haben, anerkennen: Eine solche Breite des kulturellen Angebots in unseren kleinen und mittleren Städten bis hin zur Hauptstadt sucht in vielen, vielen anderen Ländern dieser Welt ihresgleichen. Und das wollen wir auch zu erhalten versuchen. In Zeiten, in denen sich Medienlandschaft und künstlerische Landschaft rasant verändern, ist das Thema Urheberrecht eines der zentral umkämpften Themen. Wir müssen gemeinsam immer wieder deutlich machen, dass Inhalte nicht zum Nulltarif zu haben sind. Inhalte sind das Ergebnis eines geistigen Prozesses, das Ergebnis von Arbeit. Und das muss gewürdigt werden. Die Ansichten darüber gehen aber oft weit auseinander. Die Konfliktlinien verlaufen quer durch Parteien und Fraktionen. Am besten wäre es, wenn jeder, der sich zum Urheberrecht äußert, einmal selbst irgendetwas Künstlerisches zu Papier, zu Ton oder zu irgendetwas bringen würde. Er würde viele Stunden daran sitzen und schwitzen; und anschließend würde das Ergebnis einfach kostenlos verbreitet werden. Ich glaube, das wäre – auch für Abgeordnete – eine heilsame Erfahrung, die wir sozusagen als Voraussetzung für eine Mitsprache festlegen sollten. Na ja, wir haben jedenfalls noch Arbeit zu leisten. Jetzt komme ich zu einem schwierigen Thema, der Künstlersozialabgabe. Darüber ist ja hier schon ausführlich gesprochen worden. Wissen Sie, wir sind guten Willens, was natürlich nicht reicht, weil wir das Ganze natürlich erst durch das Kabinett und anschließend noch durch das Parlament bringen müssen. Unser Problem ist eine Definitionsfrage: Wer ist ein Künstler? Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten. Es kann sehr leicht passieren, dass die Definition zum Schluss so unscharf ist, dass viele, die keine acht Stunden Normaltätigkeit ausüben, die durch einen Tarifvertrag im klassischen Industriesinne beschrieben wird, sagen, dass sie der gleichen Definition entsprechen. Die Abgrenzungsfragen sind extrem schwierig. Deshalb formuliere ich jetzt einfach einmal eine Idee: Definieren Sie sich selbst oder nehmen Sie einen Juristen an die Hand und definieren mit ihm einmal den Begriff Künstler. Dann werden wir vorankommen, was die Künstlersozialabgabe angeht. Das hört sich jetzt ein bisschen witzig an, aber das ist es gar nicht. Wir müssen natürlich aufpassen, dass unsere Sozialsysteme sozusagen nicht völlig zerfließen. Dass die beiden Damen und der Herr, die vorhin auf der Bühne standen, glücklicherweise für sich in Anspruch nehmen können, dass sie Künstler sind, ist evident. Aber die juristischen Klagen finden in den Grenzbereichen statt. Wenn wir diese Grenzbereiche nicht gut definieren, dann haben wir ein richtiges Problem. (Zuruf aus dem Publikum: „Dann haben wir lauter Künstler!“) Dann haben wir lauter Künstler; und deshalb ist das unser Problem. Wir wissen, dass wir im Grunde etwas zustande bringen müssen. Das immerhin haben Sie schon geschafft. Die Staatsministerin wird sich sicherlich freuen, wenn ich noch etwas zum Kulturgutschutzgesetz sage. Dazu will ich sagen: Das ist durchaus eine sinnvolle Sache, nicht nur wegen des Kampfs gegen Illegalität, sondern auch wegen der Frage, was von herausragender nationaler Bedeutung ist. Dieser Frage muss man sich stellen. Deshalb werden wir auch weiter daran arbeiten. Ich sage einmal: Es gibt einen Raum auf dieser Ebene, hinter dem sich eine Fraktion verbirgt, die plötzlich keine Lust mehr darauf hat, dieses Gesetz zu machen. Aber ich will jetzt nicht schlecht über Koalitionspartner reden; und deshalb schweige ich an dieser Stelle einmal. Auf jeden Fall haben sehr viele europäische Mitgliedstaaten ein solches Gesetz; so gut wie alle. Aber manchmal fühlt man sich ja auch toll, wenn man anders als die anderen ist. Auf jeden Fall freue ich mich, dass ich heute Abend hier mit dabei sein kann. Ich möchte Ihnen allen, die Sie sich auf unterschiedliche Art und Weise für die Kultur und für die Kunst in diesem Land einbringen – sei es durch politische Arbeit, sei es durch den Genuss von dem, was Künstlerinnen und Künstler zustande bringen und anbieten, sei es durch eigene Aktionen in unterschiedlichen Bereichen von Kunst und Kultur –, dafür danken, dass Sie heute Abend bei uns sind. Dies ist in der Tat eine sehr, sehr gute Chance, miteinander ins Gespräch zu kommen, aufeinander zu hören und miteinander nachzudenken. Ich gehöre zu den Menschen, die nur schwer verstehen können, dass wir in einer Zeit leben, in der wir spüren, dass sich wahnsinnig viel verändert. Nicht nur der Kalte Krieg ist zu Ende, Berlin ist geeint, Deutschland ist geeint, Europa ist wieder zusammengewachsen, sondern wir haben auch einfach durch die Digitalisierung völlig neue Möglichkeiten. Die Welt wächst enger zusammen. Und so spüren wir auch das Elend und die Not vieler Menschen hautnäher. Wir gehören zu denen, die eine Demokratie haben und die die Würde jedes einzelnen Menschen schützen. Das ist unser Kernartikel im deutschen Grundgesetz; und da bitte ich auch einfach um Unterstützung. Die Menschen sind natürlich unterschiedlich. Deshalb ist es höchst unwahrscheinlich, dass eines Morgens alle aufwachen und zu einem Thema eine Meinung haben, die die gleiche ist. Leider besteht die Gefahr, dass, wenn zwei Menschen oder Gruppen unterschiedlicher Meinung sind, dies immer unter „Streit“ oder „Eklat“ verbucht wird, aber nicht unter „Produktivität einer geistigen Auseinandersetzung“. Ich glaube, eine Gesellschaft verstummt und verkrustet, wenn sie nicht in der Lage ist, ein zivilisiertes Streitgespräch zu führen. Das aber ist das, was ich mir für Deutschland wünsche. In diesem Sinne wünsche ich einen schönen Abend.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Jahreskongress des Zentralverbandes der Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e.V. (ZVEI) am 8. Juni 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-jahreskongress-des-zentralverbandes-der-elektrotechnik-und-elektronikindustrie-e-v-zvei-am-8-juni-2016-446284
Wed, 08 Jun 2016 15:05:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Ziesemer, meine Damen und Herren, wenn Sie um Nachwuchs für Ihre Branche werben, dann tun Sie das mit den Worten „Jobs mit Spannung“. Diese Spannung im doppelten Sinne bieten Sie nicht allein in Ihren Unternehmen, sondern Sie übertragen sie auch auf andere Wirtschaftszweige. Denn die Elektroindustrie verfügt über Schlüsselkompetenzen, die überall zum Einsatz kommen: in Fabriken und Büros, in Kliniken und Hotels ebenso wie in privaten Haushalten. All das, was Sie herstellen und leisten, ist aus unserem Alltag nicht wegzudenken. Sie sind immer wieder Schrittmacher des Fortschritts. Innovationsfähigkeit ist Ihr Markenzeichen und zugleich Grundlage für jede dritte Innovation des Verarbeitenden Gewerbes insgesamt. 850.000 Beschäftigte, ein Jahresumsatz von 180 Milliarden Euro – das lässt sich sehen; das heißt, die Branche ist eine tragende Säule unseres Wirtschaftsstandorts. Daher ist es mir eine Freude, hier mit dabei zu sein. Ich freue mich natürlich, dass Sie Ihre Tagung heute auch mit französischen Gästen durchführen. Ich glaube, dies ist ein wichtiges Zeichen dafür, dass wir uns den neuen Herausforderungen gemeinsam stellen. Sie investieren in die Zukunft. Es waren allein im vergangenen Jahr 15,5 Milliarden Euro, die die Elektroindustrie in Forschung und Entwicklung angelegt hat. Herr Kaeser hat soeben aus seiner Perspektive auch zu den Herausforderungen der Innovation gesprochen. Die Weiterentwicklung liegt natürlich vor allen Dingen im digitalen Bereich. Deshalb glaube ich, dass Ihr Thema sehr richtig gewählt ist. Die digitale Entwicklung ist eine Schicksalsfrage – da stimme ich Herrn Kaeser zu. Davon wird es abhängen, ob diese Branche auch in zehn oder fünfzehn Jahren noch genauso selbstbewusst nach vorne schauen kann wie in einem solch guten Entwicklungszustand wie heute. Ich glaube, wir haben seitens der Bundesregierung diese Herausforderung erkannt und haben in der Großen Koalition die Digitale Agenda aufgelegt und damit auch die Aktivitäten der verschiedenen Ressorts sehr gut gebündelt. Wir versuchen, die Leitplanken, die Sie brauchen, um in einem sicheren Umfeld zu agieren, mit zu entwickeln und unsere Kraft auch in die Europäische Union einzubringen, um die notwendigen Weichenstellungen vorzunehmen. Plattform Industrie 4.0 heißt das, das wir als Kompetenz-Netzwerk geschaffen haben. Anderswo spricht man vom Internet der Dinge. Industrie 4.0 ist sicherlich eine Untermenge des Internets der Dinge, die eben auf den industriellen Bereich begrenzt ist. Wir sind recht froh, dass es gelungen ist, nicht weiter sozusagen solitär zu arbeiten, sondern dass die Plattform Industrie 4.0, auf der auch über Standardisierung und Normierung gesprochen wird, und das Industrial Internet Consortium eine Zusammenarbeit vereinbart haben. Ich glaube, das ist vernünftig. Bei der Gründung dieser Plattform haben wir erkannt, dass manches deutsche Unternehmen schon ganz woanders auf der Welt unterwegs ist und sich einbringt. Die neue Kooperation ist sehr wichtig, um gleiche Standards zu setzen. Wir wissen: Wer Standards setzt, hat dann auch ein Stück weit die Möglichkeit, Bedingungen zu definieren. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir auch offen sind für Handelsabkommen. Sie haben soeben nochmals die Voraussetzungen definiert, die Sie sich für den Abschluss eines Freihandels- und Investitionsabkommens mit den Vereinigten Staaten von Amerika wünschen. Wir müssen auf der einen Seite die Aufgabe sehen, ein ambitioniertes Abkommen zu entwickeln. Auf der anderen Seite gilt es, die Erwartungen nicht in die lichtesten Höhen zu schrauben. Wir müssen auch sehen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika inzwischen ein pazifisches Handelsabkommen abgeschlossen haben, dass andere Regionen der Welt miteinander Handelsabkommen abschließen und dass wir nun selbst eine Abwägung vornehmen müssen: Überwiegt der Nutzen für uns, überwiegen die interessanten Dinge, die man noch nicht erreichen konnte, oder ist das nicht so? Dann können wir eine sehr selbstbewusste Entscheidung treffen. Natürlich muss es für uns von Vorteil sein. Da wir aber insgesamt schon eine sehr große Skepsis haben, muss man die Skepsis im Augenblick nicht noch vergrößern, sondern man muss vor allen Dingen den Wind in die unterstützende Richtung wehen lassen, damit ambitioniert verhandelt wird. Dabei würde ich mir wünschen, dass auch Sie in Ihren Unternehmen mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sprechen, was die Vorteile sind, warum es auch für uns gut ist, Geld in Innovation stecken zu können und uns nicht weiter damit auseinandersetzen zu müssen, dass wir, was nichttarifäre Handelshemmnisse anbelangt, ständig Geld für Doppelentwicklungen und -zulassungen und vieles andere mehr ausgeben müssen. Ich will aber zurück zur Industrie 4.0 kommen. Wir sind in klassischen Industriekompetenzen stark – sowohl in den großen als auch in den mittelständischen Unternehmen. Aber diese klassischen Industriekompetenzen treten jetzt sozusagen in einen akuten Wettbewerb mit denen ein, die klassischerweise Kompetenzen im Datenmanagement haben, nämlich mit Internetunternehmen. Die Frage ist: Wer ist in der Lage, Datenverarbeitung und Big-Data-Management kundenorientiert zu nutzen und wer hat zum Schluss die Wertschöpfung in der Hand? Ist das derjenige, der klassischerweise Industriegüter produziert, oder ist es derjenige, der aus dem Internetbereich kommt und das Industriegut als Produkt einer verlängerten Werkbank betrachtet? Wir haben gute Chancen, die Schlacht zu gewinnen. Aber die Risiken sind nicht unerheblich. Wir wollen natürlich, dass Deutschland vorne mit dabei ist. Nun heißt das, vor allen Dingen die Chancen zu sehen. Die Elektroindustrie ist einer der Treiber dieser Entwicklung. Sie haben ja auch das Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0 entworfen. Dies kann man sich als eine Art Schablone vorstellen, die Aufschluss darüber gibt, welche digitalen Anforderungen auf den verschiedenen Ebenen des Geschäftsprozesses zu erfüllen sind. Es ist sicherlich richtig, dass man sehr offen darüber spricht, was neu entsteht, was verschwindet oder ersetzt wird. Ich glaube, dass, wenn wir das Neue wirklich in vollem Umfang akzeptieren, unter dem Strich die Chancen größer als die Risiken sind. Das setzt aber voraus, dass wir auch Fähigkeiten, Fertigkeiten und Möglichkeiten haben, in das Management der Daten mit einzutreten. Die eigentliche große Aufgabe sehe ich darin, ein Umfeld zu schaffen – das ist mit der europäischen Datenschutz-Grundverordnung schon relativ gut gelungen –, in dem Big-Data-Management auch in Europa zu vernünftigen Bedingungen stattfinden kann und in dem wir Wettbewerbsgleichheit zwischen den verschiedenen Anbietern haben, was heute zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Europäischen Union noch nicht der Fall ist. Umso wichtiger ist es, dass nicht nur die Bundesregierung ihre Hausaufgaben macht, sondern dass Europa ein „level playing field“, wie man so schön sagt, schafft, also ein gleichmäßiges Wettbewerbsumfeld, in dem wir die Vorteile des europäischen Binnenmarkts nutzen können, in dem alle Anbieter ähnliche Konditionen vorfinden und in dem wir eine gute Balance von individuellem Datenschutz und Möglichkeiten des Datenmanagements hinbekommen. Das wird nicht ganz einfach, wenn ich nur daran denke, dass die Datenschutz-Grundverordnung, die wir jetzt glücklicherweise verabschiedet haben, eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe enthält, die in den 28 Mitgliedstaaten wiederum unterschiedlich ausgelegt werden können. Wir müssen sehr darauf aufpassen, dass das nicht in eine Flut von Zerstückelung ausartet, sondern dass der Binnenmarkt auch in diesem Bereich wirklich sichtbar bleibt. Ich glaube, die Herausforderung wird von den großen, aber auch von vielen mittleren Unternehmen nicht nur erkannt, sondern auch angenommen, was – wenn ich an meine Besuche in Unternehmen denke, die sich der Industrie 4.0 widmen – auch bedeutet, dass sich die gesamte Architektur von Unternehmen verändert. Die Hierarchien werden eher flacher, die Netzwerke intensiver. Die Interoperabilität, die Kommunikation zwischen den verschiedenen Bereichen muss da sein. Ich glaube, dass man stärker als bisher einen Blick auf den Kunden haben muss und dass man dem Kunden den Mehrwert dessen erklären muss, was man tut, und dass man ihn dazu einladen muss, diesen Mehrwert auch wirklich zu nutzen. Ansonsten wird die Entwicklung nicht ausreichend betrieben werden. Es ist sicherlich ganz wichtig, dass auch Sie in Ihrem Verband darauf achten, dass alle Unternehmen mitgenommen werden. Ich denke, dass die Zulieferer sozusagen von ihren Bestellern dazu eingeladen werden, sich am digitalen Wandel zu beteiligen. Aber es kann eigentlich nicht schnell genug gehen, dass man das gesamte System auch ein Stück weit neu denkt. Wir versuchen, dem Mittelstand auf diesem Weg zu helfen, indem wir „Mittelstand 4.0-Kompetenzzentren“ anbieten. Zehn sind vorgesehen, die ersten haben bereits die Arbeit aufgenommen. Sie beraten, sie bieten Anschauungsmaterial und die Gelegenheit, neue Industrie 4.0-Anwendungen zu erproben. Ich glaube, dass das für neue oder junge Unternehmen spannend sein kann. Wir hoffen, dass daraus eine bestimmte Dynamik entsteht. Wir wissen, dass eine ganz entscheidende Rolle auch das Bildungssystem spielt. Wir müssen das Thema „digitale Bildung“ im Bildungssystem noch sehr viel besser verankern. Das ist eine Aufgabe von Bund und Ländern. Schülerinnen, Schüler und Auszubildende müssen sich auf die Anforderungen der digitalen Arbeitswelt und der neuen Wissensgesellschaft vorbereiten. Der Bund, obwohl für die Schulen nicht zuständig, versucht vor allen Dingen, in der Lehrerbildung Anstöße zu geben, weil natürlich nur Lehrer, die firm sind, digitale Kompetenzen vermitteln können. Wir werden uns bei der Fort- und Weiterbildung auf neue Notwendigkeiten einstellen und das lebenslange Lernen verwirklichen müssen. Die Unternehmen machen das zum Teil; zum Teil ist das in den Tarifverträgen verankert. Wir haben neulich bei unserer Kabinettsklausur in Bezug auf die Digitale Agenda auch darüber gesprochen, ob zum Beispiel auf die Bundesagentur für Arbeit im Hinblick auf die Qualifizierung neue Aufgaben zukommen. Digitale Kompetenzen müssen also sozusagen in den Alltag einziehen. Deshalb wird das Thema Bildung beim nächsten IT-Gipfel, der im Saarland stattfinden wird, eine zentrale Rolle spielen. Wir müssen Menschen begeistern, sich in dieser neuen Welt wohlzufühlen. Damit komme ich auf MINT-Berufe zu sprechen, wie sie so schön heißen – also mathematische, ingenieurwissenschaftliche, naturwissenschaftliche und technische Berufe. Hierzu sind insbesondere Mädchen noch stärker einzuladen. Wir haben zwar gewisse Fortschritte gemacht, aber angesichts unserer demografischen Entwicklung brauchen wir mehr Mädchen etwa in den technischen Berufen. Ich danke allen, die sich darum bemühen, Mädchen Mut zu machen. Eigentlich braucht man ihnen gar keinen Mut zu machen. Ich habe es auch irgendwie geschafft. Man muss aber einen kleinen Anschub geben und auch darauf hinweisen, dass die Möglichkeiten, lebenslang eine qualifizierte Stelle einzunehmen und auch vernünftig zu verdienen, eigentlich sehr gut sind. Herr Kaeser hat, soweit ich gehört habe, bereits über die Organisation der Arbeit gesprochen. Hierbei werden wir zwei Aufgaben haben. Die eine ist: Welche Art von Flexibilisierung brauchen wir? Stichwort ist die Selbstbestimmtheit in der Berufsausübung mit all ihren Chancen, auch für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Da passt manches zum Beispiel im Arbeitszeitbereich nicht gut zusammen. Darüber haben wir auch gesprochen. Jetzt müssen wir schauen, was zu tun ist. Die elfstündige Ruhezeit, die es, glaube ich, nach dem europäischen Arbeitsrecht gibt, kann mancher Betätigung im Weg stehen. Auf der anderen Seite müssen wir darauf achten, dass es nicht die 24-Stunden-Verfügbarkeit jeden Arbeitnehmers und jeder Arbeitnehmerin gibt, weil man ja so gut erreichbar ist und weil es sich anbietet, dass man dauernd etwas sehr Dringendes zu tun hat. Das heißt also, wir werden vielleicht auch mit verschiedenen Regelungen für verschiedene Berufsbilder leben müssen, also mit mehr Vielfalt und mehr auf die jeweilige Tätigkeit ausgerichtete Arbeitszeitmöglichkeiten. Es wird auch große Herausforderungen für unsere sozialen Systeme geben. Die Vielfalt der Betätigungen an dieser Stelle wird dazu führen, dass wir überlegen müssen, wo man Pflichten für Versicherungen einführen muss, damit bis ins Alter nicht Biografien entstehen, die nicht mehr einer klassischen Rentenbiografie entsprechen, weshalb staatliche Leistungen in Anspruch genommen werden müssen, obwohl man das gesamte Arbeitsleben über eigentlich ganz gut verdient hat. Es gibt also eine Vielzahl von Herausforderungen. Die öffentliche Hand muss natürlich auch in Wissenschaft und Forschung investieren. Herr Kaeser hat ein so phänomenales Modell entwickelt, weshalb ich raten würde, dem Finanzminister einen Brief darüber zu schreiben, wie er die wundersame Geldvermehrung vorantreiben kann. Ich vermute einmal, dass Sie das bei Siemens so machen und bei dieser Billigzinspolitik derzeit einige Wechsel auf die Zukunft aufnehmen. Dabei kann man ja gar nichts verlieren. Zuruf (akustisch unverständlich) Das war keine Kritik an Siemens. Ich werde mir das anschauen. Wir haben jedenfalls in den letzten zehn Jahren unser Engagement in Bezug auf Investitionen in Forschung und Innovation stetig vergrößert. Ihnen ging es aber auch um Infrastrukturinvestitionen. Hierbei ist in der Tat eine ganze Menge zu tun. Wir müssen nur aufpassen, dass die Investments nachhaltig tragfähig sind. Natürlich sind die Fragen des Datenmanagements, des Datenschutzes und der Datensicherheit ein großes Thema. Ich glaube allerdings, dass auch die öffentliche Hand in Deutschland noch sehr viel mehr Angebote machen und die Möglichkeiten, die sich im digitalen Zeitalter bieten, besser nutzen muss. Es gibt inzwischen Ausweise mit einem Chip, der im Grunde eine Identifikation jeder Person möglich macht. Die Anwendungsbereiche sind allerdings ausgesprochen begrenzt. Das zu ändern, könnte natürlich ein riesiges Bildungsprogramm sein. Wir haben den estnischen Ministerpräsidenten zu Gast gehabt. Es ist in Estland von der Gesundheitsakte über Wahlen bis hin zu vielen anderen Bereichen ganz selbstverständlich, digitale Möglichkeiten zu nutzen. Auch wir müssen jeweils Risiko- und Chancenabwägungen vornehmen. Bei unserer Diskussion hat uns der estnische Ministerpräsident sehr umfangreich zum Beispiel von der individuellen Gesundheitsakte erzählt, die jeder hat und bei der auch jeder zum Beispiel kontrollieren kann, welche Daten er verschiedenen Ärzten zugänglich macht. Eigentlich war es immer so, dass wir gefragt haben: Aber es muss doch einmal etwas schiefgegangen sein? Er hat uns aber unentwegt davon erzählt, welche Chancen damit verbunden sind. Das war eine sehr spannende und aufschlussreiche Diskussion. Ich denke, wir müssen uns solchen Fragen in den nächsten Jahren noch sehr viel entschiedener stellen. Die Einführung der Gesundheitskarte ist noch kein Beispiel dafür, wie schnell man das Zeitalter der Digitalisierung erreicht. Zuruf (akustisch unverständlich) Passen Sie auf: Jede Art von Lobbyismus ist dann auch begrenzt, denn der Vorteil der Digitalisierung ist ja schonungslose Transparenz. Ich bin nicht auf einem Gesundheitskongress. Deshalb will ich das hier nicht weiter ausführen, weil sonst die Ärzte sagen: Warum kommen Sie nicht zu uns und wir sprechen darüber? Wenn die Dinge sichtbarer werden, dann kann man zum Beispiel wegen einer Krankheit eben vielleicht nicht mehr zu drei Ärzten gehen. Damit sind dann natürlich auch sozusagen Errungenschaften, die man sich im Laufe seines Lebens durch kluge Verbandsarbeit erarbeitet hat, ein bisschen gefährdet. Aber die Bereitschaft zum Wandel muss man haben. Mir ist jetzt nicht ganz klar, wo bei Ihnen die intransparenten Ecken sind; leider habe ich mich darauf nicht vorbereitet. Ich werde mich noch einmal erkundigen. Jetzt begebe ich mich auf schwieriges Terrain. Deutschland ist zum Beispiel im gesamten Dienstleistungsbereich nicht das effizienteste Land in Europa, weil wir unter Hinweis auf hohe Standards eine Vielzahl sehr regulierter Berufe haben, die Effizienz sicherlich nicht so zum Strahlen kommen lässt, wie es sein könnte. Ich wollte jetzt aber über etwas Einfacheres sprechen, nämlich über Sicherheitsfragen. Die kritische Infrastruktur muss gesichert werden. Der estnische Ministerpräsident hat uns über die schwierigen Lernerfahrungen Estlands durch Cyber-Angriffe berichtet. Daraus kann man lernen. Das setzt aber auch wieder Transparenz voraus. Ich glaube, dass das IT-Sicherheitsgesetz, das wir verabschiedet haben, ein guter und kooperativer Ansatz ist. Wir suchen gemeinsam mit der Wirtschaft nach Lösungen, um Cyber-Angriffen Herr zu werden, sie zu erkennen, zu melden, abzuwehren und zu verfolgen. Wir müssen eine gute Zusammenarbeit mit der Wirtschaft haben. Manch einer mag Sorgen haben, dass es auch ein Reputationsverlust sein könnte, wenn man Ziel einer Attacke wird. Da das aber sehr häufig passiert, muss man ganz einfach sagen, dass es viel wichtiger ist, dass wir lernen, wie wir damit umgehen. Wir brauchen einen europäischen Ansatz. Wir brauchen an vielen Stellen sogar einen globalen Ansatz. Die Kooperation mit den Vereinigten Staaten von Amerika ist hierbei sehr wichtig. Wir brauchen natürlich auch eine vernünftige Infrastruktur. Unser Ziel ist erst einmal, in Bezug auf das Internet bis 2018 flächendeckend Anschlüsse mit mindestens 50 Megabit pro Sekunde zu schaffen. Danach baut sich natürlich eine ganz andere Aufgabe auf. Diese wird eher im Gigabit- als im Megabit-Bereich pro Sekunde liegen, wenn wir autonomes Fahren wollen, wenn wir Telemedizin unter zuverlässigen Bedingungen wollen, wenn wir das Internet der Dinge wirklich erlebbar machen wollen. Dann geht es nicht um den Anschluss von einzelnen Haushalten, sondern dann geht es um eine durchgängig verfügbare Bandbreite über die gesamte Fläche. Man kann sich vorstellen, dass das noch erhebliche Notwendigkeiten mit sich bringen wird, insbesondere auch – darauf achtet unser Kommissar Günther Oettinger glücklicherweise – eine möglichst internationale Zusammenarbeit bei der Einführung der nächsten Stufe von 5G. Wir müssen die Frequenzbereiche in Europa grenzüberschreitend sehr viel besser ordnen, sonst wird 5G überhaupt nicht anwendbar sein. Wir haben viele Monate darauf verwandt, um in Europa zum Beispiel einen gemeinsamen Stecker für das Elektroauto zu akzeptieren. Wir müssen schneller werden, auch im Punkt Standardisierung, denn sonst wird es keinen digitalen Binnenmarkt geben. Damit sich die verschiedenen Bereiche – Mobilität, Maschinenbau, Datenübertragung, Telemedizin – wirklich gut entwickeln können, ist es also wichtig, dass der Staat für die Infrastruktur und für die geeigneten rechtlichen Rahmenbedingungen sorgt. Wir werden vieles neu denken müssen. Beispielsweise muss man sich das Auto ohne Fahrer denken müssen. Von der Versicherungswirtschaft bis zu Definitionen in der Straßenverkehrsordnung werden viele rechtliche Dinge zu überarbeiten sein. Wir werden einen riesigen Wandel auch im Bereich der Energiewirtschaft haben. –Sie haben hier auch das Thema Erneuerbare-Energien-Gesetz kurz gestreift. – Parallel zu Ihnen tagt der BDEW, bei dem ich heute schon war, wo ich natürlich ausführlicher über Energie gesprochen habe. Intelligente Netze sind natürlich etwas, was auch für Sie von großer Bedeutung ist. Stichwort: Smart Meter; damit gibt es auch sehr viel mehr Effizienzmöglichkeiten. Wir werden erleben, dass der digitale Wandel unser persönliches Leben und unser gesamtes gesellschaftliches Leben verändern wird. Die Individualisierung der Produkte führt natürlich auch dazu, dass sich individuelle Ansprüche sehr viel stärker entwickeln werden. Was das für den Solidaritätsgedanken, für die Frage der gesamten Versicherungsbereitschaft und -akzeptanz und für die Frage der Verbands- oder Parteistrukturen in unserer Gesellschaft bedeutet, werden wir alles schrittweise erleben. Die sozusagen lebenslängliche Bindung an eine Struktur ist etwa durch die leichte Wechselmöglichkeit in der WhatsApp-Gruppe heute schon etwas ins Wanken geraten. Wer mir nicht mehr gefällt, mit dem muss ich ja nicht kommunizieren. Ich kann mir meine Gruppe aussuchen. Man findet immer genügend Gleichgesonnene. Was das dann aber für die Notwendigkeit kontroverser gesellschaftlicher Debatten bedeutet – Wer setzt sich dem noch aus? Wie bleiben wir kreativ? Wie bleiben wir produktiv? –, damit werden wir uns noch eingehend auseinandersetzen müssen. Lange Rede, kurzer Sinn: Es ist eine absolut wichtige, entscheidende Zeit. Ich hoffe, dass wir, angesichts der Schnelligkeit, in der der Wandel vonstattengeht, die richtigen politischen Antworten darauf finden, dass wir die Antworten schnell und nicht immer erst zu spät finden. Das erwarten die Bürgerinnen und Bürger, auch um Rechtssicherheit zu haben. Ich hoffe, dass wir in Europa verstehen, dass in der globalisierten Welt Rechtsetzung nicht allein nach europäischen Befindlichkeiten erfolgen kann, sondern sich auch in das Gesamtumfeld der Welt einordnen muss, denn der Kunde wird sich dorthin wenden, wo es bessere Regeln gibt, und sich nicht mit komplizierten Regeln abfinden wollen. Deshalb hängt meiner Meinung nach für Europa in diesen Jahren sehr viel davon ab, ob wir diese Herausforderung meistern und damit unseren Wohlstand sichern oder nicht. Ich glaube, dass der European Round Table, in dessen Rahmen der französische Präsident und ich über diese Fragen zusammen mit der Europäischen Kommission diskutieren, ein gutes und richtiges Format ist, aber dass wir in Europa insgesamt noch selbstkritischer unseren Stand und unsere Position in der Welt analysieren müssen. Es gibt Bereiche, in denen wir sehr gut sind, in den auch Sie einen davon repräsentieren. Es gibt aber auch Bereiche – Internetwirtschaft, Softwareunternehmen –, in denen wir nicht so gut sind. Das muss uns unruhig stimmen, vielleicht sogar unruhiger, als wir heute sind. Ihnen herzlichen Dank dafür, dass Sie sich dieses Themas annehmen. Das Gute an so einem Thema ist, dass man einfach bis ins hohe Alter immer wieder etwas Neues lernt. Es ist ja auch schön, wenn sich nicht einfach immer nur die Schraubengröße oder das Ventil ein bisschen verändern. Bei diesem Thema haben wir es vielmehr mit richtig disruptiven Innovationen zu tun. Das hält jung. In diesem Sinne auf gute Zusammenarbeit.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Jahreskongress des Bundesverbandes Energie- und Wasserwirtschaft e.V. am 8. Juni 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-jahreskongress-des-bundesverbandes-energie-und-wasserwirtschaft-e-v-am-8-juni-2016-798928
Wed, 08 Jun 2016 11:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Kempmann, sehr geehrter Herr Kapferer, sehr geehrter Herr Kommissionsvizepräsident, lieber Herr Šefčovič, liebe Kolleginnen und Kollegen des Bundestags, meine Damen und Herren, Ihr diesjähriger Kongress steht unter dem Motto „Change“ – kein amerikanisches Wahlkampfmotto, sondern ein deutsches Kongressmotto. Es ist in der Tat so, dass sich für die Branche sehr viel verändert. Das liegt zum einen an der Vorreiterrolle Deutschlands beim Umstieg auf erneuerbare Energien. Das liegt aber auch am neuen Verständnis der Rolle des Verbrauchers, der inzwischen auch Maßstäbe für Ressourcen- und Energieeffizienz setzt. Und das liegt – auf Ihrem Kongress ja auch ein ganz wichtiges Thema – am digitalen Wandel, der die Branche ergriffen hat. Ich finde es sehr wichtig, dass der BDEW kürzlich eine eigene digitale Agenda für seine Mitgliedsunternehmen veröffentlicht hat. Diese Agenda zeigt Wege für die Energie- und Wasserwirtschaft auf, die sich sozusagen von einem Getriebenen des Wandels hin zum Treiber des Wandels bewegt. Ich glaube, dass es richtig ist, die Gestaltungsaufgabe des digitalen Wandels anzunehmen und dies gegebenenfalls auch anzumahnen. Der globale Prozess des digitalen Wandels findet statt – ob wir das wollen oder nicht. Wir müssen ihn mitgestalten; und das bedeutet letztendlich auch Globalisierung mitzugestalten. Das heißt, Globalisierung und Digitalisierung – oder Globalisierung getrieben durch Digitalisierung – sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Wenn zum Beispiel Menschen in geografisch fernen Regionen dieser Welt Zugang zu sauberem Wasser fehlt, wenn sie Gewalt ausgesetzt sind und keine Perspektiven haben, dann geht uns das – das haben wir vor allem im letzten Jahr erfahren – eben auch etwas an. Denn wir wissen davon dank moderner Informationstechnologien. Und wir werden mit den Folgen direkt konfrontiert, wenn wir nur an die vielen Menschen denken, die vor Krieg, Verfolgung und auch vor wirtschaftlicher Notlage bei uns Zuflucht suchen. Das ist eine riesige Herausforderung. Das haben wir erlebt. Das erleben wir noch. Ich finde, die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, genauso auch die Hauptamtlichen, haben vieles und Großartiges im letzten Jahr geleistet und tun das heute noch. Hierfür kann ich nur danke sagen. Mein Dank geht auch ganz konkret an den BDEW und an viele Mitgliedsunternehmen, die geholfen haben, wenn es zum Beispiel darum ging, Liegenschaften für die Unterbringung bereitzustellen, Energie- und Wasserversorgung von Unterkünften zu gewährleisten und Informationen zu erteilen. Ich erinnere an das Faltblatt für Flüchtlinge über die Trinkwasserversorgung in Deutschland. Ein Teil des Erlöses ging als Spende an die „Aktion Deutschland hilft“. Also tolle Initiativen – dafür herzlichen Dank. Sie wissen, dass hinter uns Monate liegen, in denen die Bundesregierung zusammen mit den Ländern mit Hochdruck daran gearbeitet hat, den Zuzug von Flüchtlingen besser zu steuern, zu ordnen und ihre Zahl zu reduzieren. Wir haben in kürzester Zeit mit Kommunen und Ländern zusammen eine Vielzahl von Maßnahmen auf den Weg gebracht, die mehr und mehr Wirkung entfalten. Ich will mich auch ausdrücklich bei der Kommission bedanken, bei Kommissar Šefčovič, der nicht nur in seiner Eigenschaft als energiepolitisch Verantwortlicher, sondern eben auch als Vizepräsident hier ist. Die Agenda, die gestern vorgestellt wurde zur Bekämpfung von Fluchtursachen und zur Kooperation mit afrikanischen Staaten, ist genau das, was in die Zukunft weist. Die Abmachung mit der Türkei ist nur ein erster Schritt gewesen. Im Hinblick auf die Fluchtroute Libyen-Italien müssen wir genau auf diesem Weg weitergehen. Deshalb sind wir der Kommission sehr dankbar dafür, dass sie diesen Stein jetzt ins Wasser geworfen hat. Es wartet noch viel Arbeit auf uns. In Deutschland geht es jetzt um die Integration derer, die dauerhaft oder für eine bestimmte Zeit bei uns bleiben. Wir müssen natürlich nicht nur Gesetze entwerfen, sondern wir müssen sie auch mit Leben erfüllen. Und dabei ist bürgerschaftliches Engagement natürlich auch wieder von allergrößter Bedeutung. Derzeit haben wir ein anderes Thema, das Ihren Aufgabenstellungen schon etwas näher liegt. Wir haben es mit verheerenden Folgen von Hochwasser zu tun – lokal, aber doch in vielen Bundesländern. Ich möchte ausdrücklich sagen – wir haben gerade auch vorhin im Kabinett darüber gesprochen –, dass unsere Gedanken bei den Menschen sind, die völlig unerwartet Hab und Gut verloren haben. Wir denken natürlich auch an diejenigen, die in den Fluten sogar ihr Leben verloren haben. Wir sind ein Land, in dem die Katastrophenhilfe schnell anläuft. Bundeswehr, Technisches Hilfswerk und Bundespolizei helfen neben den Verantwortlichen aus den Ländern mit. Für die Energie- und Wasserversorger war und ist es natürlich wieder ein Kraftakt, in den überfluteten Orten die Strom- und Wasserversorgung sicherzustellen. Dafür ein großer Dank denen, die da rund um die Uhr im Einsatz sind. Wenn wir uns mal von unseren heimischen Problemen lösen und auf die Wasserversorgung weltweit blicken, dann sehen wir, dass gerade der Zugang zu sauberem Wasser ein zentraler Punkt des Mangels ist. Es sind weltweit über 660 Millionen – so schätzt man –, die keinen Zugang zu sauberem Wasser haben. Deshalb ist in der im Herbst letzten Jahres verabschiedeten Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung das Thema „sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen“ als eigenständiges Ziel verankert. Das Thema hat auch im Kreis der G7 an Bedeutung gewonnen. Denn auch und besonders die Mithilfe der G7-Länder ist gefragt, wenn es darum geht, in den ärmsten Ländern für eine bessere Wasserversorgung zu sorgen. Wir in Deutschland haben diese Sorgen nicht. Bis auf Ausnahmen wie Hochwasser können wir sagen, dass der Zugang zu einwandfreiem Trinkwasser gewährleistet ist. Aber: Für die Instandhaltung und Modernisierung der Infrastruktur zur Wasserversorgung und Wasserentsorgung sind erhebliche Investitionen notwendig. 2014 waren es immerhin 7,3 Milliarden Euro. Man vergisst leicht, dass das permanent zu erfolgen hat. Aber das ist natürlich ein Riesenthema. Diese Investitionen müssen finanziert werden. Das heißt, sie müssen möglichst so finanziert werden, dass die Gebühren und Beitragszahler nicht überfordert werden. Wasser muss auch in Zukunft bezahlbar sein und trotzdem eine hohe Qualität haben. Deshalb arbeitet die Branche an der Gestaltung differenzierter Tarife und Gebühren. Es ist immer wieder eine Gratwanderung, Qualität und Bürgerfreundlichkeit gleichermaßen im Auge zu haben. Es gibt auch Handlungsbedarf mit Blick auf Schadstoffeinträge. Zu bekannten Substanzen kommen immer wieder neue hinzu – neben Mikroplastik etwa auch Arzneimittel. Hinsichtlich der europäischen Vorgaben zur Nitratbelastung müssen wir eine Lösung finden, die einerseits die Umwelt schützt, andererseits für die Landwirtschaft praktikabel bleibt. Hierbei sitzt die Bundesregierung schon eine ganze Weile auf einem ungelösten Problem. Aber zur Schaffung von Rechtssicherheit ist es wichtig, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Wir haben als Bundesregierung bereits ein umfangreiches Regelungs- und Maßnahmenpaket zum Gewässerschutz geschnürt. Dazu gehört zum Beispiel die Oberflächengewässerverordnung, die unter anderem Umweltqualitätsnormen festlegt. Zudem achten wir darauf, dass die Kommunen die Aufgaben der Daseinsvorsorge wie bisher wahrnehmen können. Dazu gehört explizit die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung. Auch internationale Übereinkommen müssen so gestaltet sein, dass sie diesem Ziel nicht entgegenstehen. Das ist aber kein Argument gegen internationale Abkommen an sich, denn in unserer eng vernetzten Welt müssen wir entsprechend eng kooperieren. Globale Herausforderungen können wir nur global am besten bewältigen. Das heißt, wir müssen in allen Bereichen immer wieder die Weichen für mehr Nachhaltigkeit stellen. Das ist sozusagen ein Motto, unter dem auch Ihr Verband arbeitet und arbeiten muss. Manchmal finden Sie die Auflagen, die wir machen, sicherlich nicht so toll, aber ich glaube, langfristig sind sie doch richtig. Das globale Jahrhundertprojekt der nachhaltigen Entwicklung zwingt uns, vieles von der Art, wie wir leben, schrittweise zu verändern. Wir haben hierbei durchaus internationale Erfolge zu verzeichnen. Trotz aller Konflikte, die wir im letzten Jahr hatten, ist nicht nur die Nachhaltigkeitsagenda mit den Entwicklungszielen für 2030 verabschiedet worden, sondern auch das internationale Klimaschutzabkommen. Wir wollen die Erderwärmung möglichst unter zwei Grad halten und damit wenigstens die schlimmsten Folgen des Klimawandels beherrschbar machen. Alle Staaten haben sich entschieden, dazu beizutragen, dieses Ziel zu erreichen, auch wenn es natürlich unterschiedliche Verantwortlichkeiten gibt. Wir wollen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts Treibhausgasneutralität erreichen. Das betrifft natürlich auch den Energiesektor. Ich weiß, dass die verschiedenen Branchen natürlich mit mehr oder weniger Freude diese Zielsetzung sehen, aber wir müssen sie als Zielsetzung erst einmal gemeinsam annehmen. Wir wissen, dass wir als Industriestaaten vorangehen müssen. Ich denke, dass Kommissar Šefčovič hier die europäischen Prioritäten schon genannt hat. Ich finde es sehr, sehr gut, dass der Kommissar hier auf dieser Branchentagung anwesend ist, weil das die Kommunikation darüber, was die Vorgaben auf europäischer Ebene sind und was wir national tun, verbessert. Wir wollen eine Energieunion in Europa. Auf dem Weg dahin sind Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und Bezahlbarkeit gleichermaßen die Leitlinien. Dieses Zieldreieck Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und Bezahlbarkeit leitet uns auch hierzulande. Wir haben uns ehrgeizige Ziele gesetzt mit Blick auf die Energiewende und den Ausbau der erneuerbaren Energien. Wir wollen 2025 einen Anteil der erneuerbaren Energien von 40 bis 45 Prozent unseres Bruttostromverbrauchs haben. Diesem Ziel nähern wir uns mit großen Schritten. Der Korridor beim Ausbau der erneuerbaren Energien wurde in den letzten Jahren eher überschritten, was uns vor Augen führt, dass die regelmäßigen Kassandrarufe, mit der nächsten Gesetzesnovelle würde der Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland zum Erliegen kommen, absolut falsch sind. Wir haben immer das Ergebnis gehabt, dass der Zubau erneuerbarer Energien, insbesondere im Windbereich, größer war als vorausgesagt. Wir haben bereits einen Anteil von rund einem Drittel erreicht. Wir müssen jetzt also von etwa 33 Prozent auf 45 Prozent im Jahr 2025, also in knapp zehn Jahren, kommen. Mit diesem Anteil von einem Drittel sind die erneuerbaren Energien längst dem Nischendasein entwachsen und bereits zur wichtigsten Stromquelle geworden. Das heißt natürlich, dass wir sie zum Markt hinführen müssen. Hierbei geht es um das Thema Bezahlbarkeit. Die Akzeptanz und das Gelingen der Energiewende hängen eben wesentlich von einer bezahlbaren Energieversorgung ab. Heute komme ich – und später auch der Wirtschaftsminister – frisch aus dem Kabinett, in dem wir die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes verabschiedet haben – ein Paradigmenwechsel von staatlich festgelegten Preisen für die Erzeugung erneuerbarer Energien hin zur Ausschreibung der Energiemengen. Das heißt, wir werden einen Schritt in Richtung wettbewerblich generierter Fördersätze und fester Ausschreibungsmengen machen. Sie können sich vorstellen, dass hierbei natürlich ein sehr großes Ringen stattfindet, was die verschiedenen Formen der Energieerzeugung und den Zugriff zu bestimmten Ausschreibungsmengen anbelangt. Am härtesten umkämpft ist immer noch die Frage der Windkraftanlagen an Land. Wir werden von 2017 bis 2019 jedes Jahr 2.800 Megawatt, also 2,8 Gigawatt, ausschreiben. Ab 2020 dann 2,9 Gigawatt. Bei Offshore-Anlagen erwarten wir für 2020 einen Zuwachs von 7,7 Gigawatt und dann einen kontinuierlichen Ausbau von 2021 bis 2030 um jährlich 730 Megawatt. Bei Photovoltaik sollen es 600 Megawatt pro Jahr für Freiflächen und große Anlagen sein. Die Diskussion darüber, was eine große Anlage ist, war eine schwierige Diskussion. Wir haben uns dann auf einen Schwellenwert von 750 Kilowatt bezogen, unterhalb dessen keine Ausschreibung notwendig ist. Für Biomasse startet 2017 die erste Ausschreibungsrunde. Das zentrale Thema neben der Ausschreibungsfrage bei den einzelnen Energiearten war auch die Verknüpfung des Ausbaus erneuerbarer Energien mit dem Netzausbau. Ich zweifle ja selten an der Weisheit der Europäischen Kommission, aber die Tatsache, dass wir sozusagen zum Unbundling verpflichtet wurden, macht uns das Thema Synchronisation von Netzausbau und Ausbau erneuerbarer Energien noch sehr viel schwieriger. Darauf muss ich einfach hinweisen, weil wir völlig unterschiedliche Akteure haben, die auf den Staat warten, der sie irgendwie zusammenbringen muss. Wir haben die Situation, dass wir Windstrom aus dem Norden – das wird mit dem Ausbau der Offshore-Anlagen noch sehr viel dramatischer werden – nicht dorthin leiten können, wo der Strom auch wirklich gebraucht wird. Deshalb haben wir zum ersten Mal eine Verknüpfung mit dem Netzausbau vorgenommen. Diese Verknüpfung ist bei denen, die Windstrom sehr effizient erzeugen können, nicht besonders beliebt, aber sie war absolut richtig. Wir haben jetzt sogenannte Netzausbaugebiete definiert, in denen der Ausbau der Windenergie reduziert werden muss. Im parlamentarischen Verfahren werden wir uns noch sehr intensiv mit der Frage der Anbindung der Offshore-Windenergieparks an das Gesamtstromnetz beschäftigen müssen. Wir haben es jetzt geschafft, dass von der Plattform bis zur Küste die Netzanbindung gut klappt. Aber von dort an gibt es ja praktisch einen Einspeisezwang; wenn allerdings keine Leitung da ist, kann nichts weitergeleitet werden. Wir können und dürfen nicht beliebig hohe Kosten per Erneuerbare-Energien-Gesetz erzeugen, wenn der Strom praktisch überhaupt nicht genutzt werden kann. Mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien sind neue Anforderungen an den Strommarkt verbunden. Er muss den wachsenden Anteil von Strom aus Sonne, Wind und Biomasse aufnehmen können. Unsere Planungszeiten, unsere Bauzeiten sind lang – wir haben in diesen Tagen neue Daten zur Fertigstellung von bestimmten Energieleitungen gesehen –, auch weil wir in einigen Bereichen Erdleitungen präferieren. Das war allerdings einer ernüchternden Abwägung geschuldet, ob Gerichtsverfahren bei Klagen länger dauern als lange Bauzeiten bei der Erdverkabelung. Wir sind zu der Überzeugung gekommen, dass es zum Schluss schneller geht, wenn man sich nicht bei jeder Leitung durch alle Instanzen durchklagen muss. Trotzdem müssen wir schauen, wie wir schneller werden. Die gesamte Frage der Verknüpfung schlägt sich dann auch im Strommarktgesetz nieder. Wir müssen auch die Frage der Versorgungssicherheit beantworten. Hierbei haben wir uns entschieden, in begrenzter Weise Reserven zur zusätzlichen Absicherung vorzuhalten. Auch bei dieser Frage wurden immer wieder harte Kämpfe ausgefochten. Unser Strommarktgesetz sieht die schrittweise Stilllegung von Braunkohlekraftwerken mit einer Gesamtleistung von 2,7 Gigawatt vor. Sie werden zunächst für vier Jahre in eine Sicherheitsbereitschaft überführt und dann endgültig stillgelegt. Das ist ein wichtiger Beitrag, um einerseits Klimaziele zu erreichen und auf der anderen Seite Versorgungssicherheit sowie eine gewisse Abpufferung bei dem zu erreichen, was Energieversorger durch den Wandel zu stemmen haben. Es wird nicht nur eine Kapazitätsreserve geben, sondern es wird auch eine Netzreserve geben. Diese spielt wiederum eine zentrale Rolle, um eine zuverlässige Stromversorgung in Süddeutschland zu gewährleisten. Ich sprach schon über die zusätzlichen Kosten; diese liegen im Augenblick bei über einer Milliarde Euro, weil der Netzausbau nicht Schritt gehalten hat mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien. Hierbei geht es um Übertragungsnetze. Oft unterschätzt wird die Frage der Verteilernetze. Auch hierbei brauchen wir Anpassungen, denn der Großteil der dezentral erzeugten Strommengen aus erneuerbaren Energien muss von den Verteilernetzen aufgenommen werden. Wir haben in der letzten Woche im Bundeskabinett die Neufassung der Verordnung zur Anreizregulierung beschlossen. Die Betreiber von Verteilernetzen sollen die für die Energiewende notwendigen Investitionen vornehmen und zeitnah refinanzieren können. Dabei setzen wir verstärkt Anreize für möglichst effiziente Investitionen. In Zukunft werden wir auch Besonderheiten besser berücksichtigen können – zum Beispiel den unterschiedlichen Ausbaubedarf von Netzen auf dem Land und in der Stadt. Am Ende jedes Verteilernetzes steht der Verbraucher. Er ist auch in die Energiewende einbezogen. Anstelle des passiven Konsumenten, der Energie zum Einheitspreis bezieht, tritt der bewusste Energienutzer, der seinen Verbrauch mithilfe digitaler Technologien kontrolliert und steuert. Dennoch sind auch Zweifel angebracht, was selbstbewusstes Verbraucherverhalten anbelangt. Wir hatten neulich den estnischen Ministerpräsidenten zu Gast, der uns erzählt hat, wie Estland von verschiedensten digitalen Möglichkeiten Gebrauch macht. Bei uns hingegen überwiegt zumeist die Frage, was zum Beispiel der Versorger über mein Verhalten zu Hause weiß – also die Frage des Datenschutzes gegenüber der Frage, welchen Nutzen ich von digitalen Möglichkeiten habe. Ich glaube, wir müssen in Deutschland noch ein bisschen mehr die Chancendiskussion führen, statt uns zu sehr auf die Risikodiskussion zu konzentrieren. Also, die sogenannten Smart Meter sind nicht als neueste Attacke des Staates auf den Kunden zu verstehen, sondern als intelligente, kommunikationsfähige Stromzähler zu belobigen, die man endlich zu Hause haben will. Es ist ja unstrittig, dass wir dadurch Angebot und Nachfrage flexibler zusammenführen können – also Erzeugung, Verteilung und Verbrauch von Strom besser aufeinander abstimmen können. Das ist dann genau das, was wir wollen, wenn wir von Energieeffizienz sprechen. Die Effizienzgewinne, die wir noch machen können, sind natürlich immer besser, als wenn man überhaupt erst einmal Strom erzeugen muss. Alles, was man nicht erzeugen muss, ist ein mit Blick auf Nachhaltigkeit sinnvolles Verhalten. Deshalb muss Energieeffizienz sozusagen eine neue Säule im gesamten Versorgungsbereich werden. Deshalb haben wir einen Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz entwickelt. Viele Maßnahmen sind bereits umgesetzt, viele brauchen auch ihre Zeit, um sich durchzusetzen. Die Energieeffizienz-Netzwerke zum Austausch von Unternehmen sind gut angelaufen. Sie dienen dazu, sich gegenseitig beim Festlegen und Umsetzen konkreter Einsparziele zu unterstützen. Wir haben gerade erst das Förderprogramm „STEP up!“ gestartet. Es richtet sich an Betriebe aller Branchen. Über wettbewerbliche Ausschreibungen sollen die Maßnahmen mit den höchsten Einsparungen pro Euro Förderung ermittelt werden; und dann bekommen diese Projekte den Zuschlag. Ich möchte auch das Projekt erwähnen, das unter dem Motto „Deutschland macht’s effizient“ läuft. Das ist eine breit angelegte Informationsoffensive rund um das Energiesparen einschließlich Fragen der Förderung. Ob Unternehmen, Kommunen oder Privathaushalte – Adressat dieser Informationskampagne ist im Grunde jeder. Das Gelingen der Energiewende, so ist auch der Grundgedanke, hängt ja auch von jedem Einzelnen ab. Meine Damen und Herren, unser Handeln auf nationaler Ebene ist als Teil des europäischen und internationalen Engagements zu sehen. Ich weiß nicht, was der Kommissar gesagt hat, ob er über die Klagen unserer Nachbarländer gesprochen hat, die manchmal der Meinung sind, wir gehen einen zu eigensinnigen Weg. Wenn es aber um die Verteilung von CO2-Einspartonnen geht, dann findet man es immer ganz toll, dass Deutschland ehrgeizige Klimaziele hat. Wenn es hingegen um die Frage geht, wie man es findet, dass wir unsere erneuerbaren Energien sehr schnell ausbauen, ist die Begeisterung nicht ganz so groß. Aber beim Burden-Sharing innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union werde ich daran erinnern, wie gerne wir da in Anspruch genommen werden, um gute Ziele auf europäischer Ebene einzugehen. Die Agenda 2030 – ich will daran nochmals erinnern – steht unter dem Titel „Transformation unserer Welt“. Das ist im Grunde mit Ihrem Motto „Change“ vergleichbar, nur dass wir das irgendwie noch auf Deutsch übersetzt haben. Wir haben künftige Generationen im Blick. Was Ihren Verband anbelangt, so sind Sie ja sozusagen zweifach dabei, indem Sie zum einen Energiefragen und zum anderen Wasserfragen in den Blick nehmen, die in Deutschland angesichts aktueller Diskussionen vielleicht ein bisschen im Schatten zu sein scheinen, die aber weltweit extrem sensible Fragen sind und ganz klar mit dem Klimawandel verknüpft sind. Wenn wir uns etwa nur an die Trockenheit in vielen afrikanischen Staaten erinnern, dann wissen wir, dass auch das eine Fluchtursache ist, die es zu bekämpfen gilt. Es war im Grunde ziemlich weitsichtig, dass Sie mit Ihrer Verbandskonstruktion Energieversorgung und Wasserversorgung zusammen betrachten. Wir werden Ihnen weiter Wandel zumuten; daran geht kein Weg vorbei. Wir müssen aber schauen, dass diejenigen, die die Grundversorgung sichern, nicht zusammenbrechen unter den Lasten, die sich aus der Energiewende ergeben. Gleichermaßen müssen wir dafür Sorge tragen, dass nicht manch einer zu sehr vom Ausbau der erneuerbaren Energien profitiert. Sozialverträglichkeit wird wichtig sein. Wenn Sie als Verband auch Ihren Teil dazu tun, Menschen zu überzeugen, dass wir für die Energiewende, die im Grundsatz sehr populär ist, auch irgendwie auf absehbare Zeiten noch eine Leitung brauchen, um Strom zu transportieren, dann bin ich Ihnen sehr dankbar. Man kann es zwar durch Induktion schaffen, ganz geringe Übertragungen ohne Leitung vorzunehmen, aber bis wir damit Hunderte von Kilometern überbrücken, vergeht, glaube ich, noch ein bisschen Zeit – um nicht zu sagen, das wird wahrscheinlich nicht möglich sein. Insofern wird die Leitung also weiterhin eine Hauptrolle spielen. Ich wünsche Ihnen gute Beratungen. Herr Präsident und auch Herr Kapferer, halten Sie schön die unterschiedlichen Interessen zusammen. Ich stelle mir die Präsidentschaft und Geschäftsführung in so einem Verband ganz munter vor. Da ist eine Koalitionsregierung wahrscheinlich eine einfache Sache im Vergleich. Insofern wünsche ich Ihnen ein glückliches Händchen, viel Erfolg. Zusammen sind Sie stärker – auch gegenüber der Politik. Daran sollten Sie immer denken. Alles Gute und viel Erfolg bei Ihrer Arbeit.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur ersten Lesung des Filmförderungsgesetzes
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-ersten-lesung-des-filmfoerderungsgesetzes-753434
Fri, 03 Jun 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Entwurf unseres neuen Filmförderungsgesetzes rollen wir quasi künftigen Filmerfolgen den roten Teppich aus. Qualitative Spitzenförderung zu ermöglichen und dazu die deutsche Filmwirtschaft im internationalen Wettbewerb zu stärken, das sind die Ziele der Gesetzesnovelle, über die wir heute in erster Lesung beraten. Sie soll dem deutschen Film, den man als eine Art Aushängeschild unserer Kulturnation bezeichnen kann – im Ausland wird er sehr viel gesehen –, nationale und internationale Strahlkraft verleihen. An Strahlkraft hat es zumindest in den vergangenen Wochen und Monaten nicht gefehlt. Mit ihrem Film Toni Erdmann, übrigens gefördert mit Mitteln der Filmförderungsanstalt, des DFFF und der kulturellen Filmförderung meines Hauses, war Maren Ade bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes der echte Liebling der Filmkritik, und zwar der internationalen. Manche haben sie auch als „Siegerin der Herzen“ bezeichnet. Mit 27,5 Prozent Marktanteil hat der deutsche Film 2015 das beste Ergebnis seit Erfassung der Besucherzahlen erzielt. Solche Erfolge zeigen immerhin: Wir sind mit unserer Filmförderung auf dem richtigen Weg. Damit künstlerische und wirtschaftliche Wagnisse auch in Zukunft möglich bleiben, sieht der Regierungsentwurf des Filmförderungsgesetzes unter anderem vor, ein hohes Niveau des Abgabeaufkommens zu sichern, die Filmförderung effizienter zu machen, die Drehbuchförderung deutlich auszubauen, die Leistung der Produzenten noch stärker zu honorieren, Kinos als Kulturorte vor allem in der Fläche, also jenseits der Metropolen, zu stärken und – daran hänge ich sehr – Kurzfilme mehr als bisher zu fördern. Wir wollen zudem die Entscheidungsstrukturen effizienter gestalten und dabei nicht zuletzt – ich glaube, das ist die Voraussetzung für ein gutes Ergebnis – den Frauenanteil in den FFA-Gremien signifikant erhöhen. Lassen Sie mich ganz kurz auf diese Punkte eingehen, zuerst auf das Abgabeaufkommen. Wenn das neue FFG qualitative Spitzenförderung ermöglichen soll, dann brauchen wir deutlich mehr Mittel aus der Branche selbst. Insbesondere die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten werden deshalb künftig zu einem Abgabesatz von 3 Prozent verpflichtet. Aber ARD und ZDF haben darüber hinaus sogar ihre Bereitschaft erklärt, freiwillig 4 Prozent zu leisten, also aufzustocken; das war nicht immer so. Das ist ein echter Erfolg. Auch die Abgaben der anderen Einzahler werden moderat angepasst, sodass wir eine gute Balance zwischen den Abgabezahlern erreichen. An der Abgabepflicht der ausländischen VoD‑Anbieter halten wir natürlich fest. Ich habe am Dienstag an der Kulturministerratssitzung in Brüssel teilgenommen. Dort hat die Kommission ihren ersten Entwurf einer AVMD-Richtlinie vorgelegt, in der erstmals dieses Prinzip implementiert wird. So weit waren wir noch nie. Ich habe Kommissar Oettinger, der daran maßgeblich mitgewirkt hat, gedankt. Es ist nicht nur für den deutschen Filmstandort wichtig, dass es keine Abgabeoasen mehr gibt. Gleichzeitig wollen wir die Förderung effizienter gestalten, indem wir uns bei der Vergabe der Fördermittel auf wenige, aber vielversprechendere Projekte konzentrieren, um diese mit höheren Summen zu fördern. Der Gesetzentwurf sieht deshalb für die Auswahl der Projekte im Rahmen der Projektfilmförderung detailliertere Vorgaben als bisher und eine gesetzliche Mindestförderquote vor. Außerdem sollen durch die Abschaffung der sogenannten Erfolgsdarlehen künftig mehr Mittel für die erneute Vergabe durch die jeweiligen Kommissionen zur Verfügung stehen. Es gibt also künftig auch mehr Begünstigte. Um Spitzenqualität geht es auch beim Ausbau der Drehbuchförderung. Mit der neuen Drehbuchfortentwicklungsförderung, die nicht nur am Anfang greift, sondern auch dann, wenn ein Stoff weiterentwickelt wird, und der Erhöhung der Mittel wollen wir dafür sorgen, dass gute Stoffe tatsächlich bis zur Filmreife gelangen. Das ist leider nicht immer so. Wir glauben, dass wir mit diesem mittleren Förderschritt deutlich mehr Drehbüchern dazu verhelfen, zum echten Film zu werden. Die Drehbücher gelten zu Recht als DNA eines hohen deutschen Marktanteils. So haben es zumindest die Drehbuchautoren selber einmal formuliert. Stärker honorieren wollen wir künftig auch die Leistung der Produzenten, wie ich eingangs gesagt habe, zum Beispiel mit Erleichterungen beim vom Produzenten zu erbringenden Eigenanteil und mit der Einführung des 25‑Prozent-Bonus, der wirksam wird, wenn der Film erfolgreich ist und die Einnahmen an der Kinokasse die Herstellungskosten übersteigen. Ein weiterer Punkt ist die Förderung des Kurzfilms. Von seiner kompositionellen Raffinesse, von den anspruchsvollen Dramaturgien, von der knappen, präzisen Erzählweise – das sind die Charakteristika eines Kurzfilms – profitiert die Filmkunst insgesamt. Deshalb sieht die FFG-Novelle vor, dass künftig auch Kurzfilme von unter einer Minute und bis zu 30 Minuten – das war bisher die Eingrenzung – Fördermittel bekommen können. Es wäre doch zu schade, Experimentierfreude in ein zu starkes Minutenkorsett zu zwingen. Deshalb weiten wir die Kurzfilmförderung deutlich aus. Weil Filmkunst nicht nur Leinwand oder Bildschirm, sondern auch eine Bühne braucht, wollen wir Kinos als Kulturorte deutlich stärken, gerade abseits der großen Städte. Kinos profitieren von der Anhebung der für den konkreten Abgabesatz maßgeblichen Umsatzschwellen. Außerdem soll es bei den bisherigen Sperrfristen bleiben. Die garantieren – das System der Sperrfristen wird immer wieder diskutiert –, dass ein Film zumindest in der Regel sechs Monate exklusiv dem Kino vorbehalten bleibt, bevor er zum Beispiel auf DVD zu haben ist. Auch das finde ich wichtig. Es gibt diesbezüglich immer wieder die eine oder andere Erwägung, aber ich glaube, das ist wirklich im Interesse der Kinos. Das betrifft vor allen Dingen die Kinos jenseits der großen Städte. Für die ist das ein wichtiger Punkt. Ein letzter Punkt. Wir wollen die Gremien der FFA verschlanken und professionalisieren. Dass das dringend nötig war, können alle die bestätigen, die die bisherige Zusammensetzung kennen. Künftig soll es nur noch drei Förderkommissionen mit maximal fünf Mitgliedern aus einem Pool von Experten geben, die in wechselnder Besetzung tagen. Auf diese Weise können sich die Kommissionsmitglieder die Projekte bzw. die Filme genauer anschauen, sodass herausragende Ideen nicht in der Masse der Antragsteller untergehen. Im Rahmen der Gremienbesetzung will ich für mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Filmbranche sorgen. Man kann das im künstlerischen Bereich nicht erzwingen. Das Potenzial ist aber da. Wie wir in diesem Jahr gesehen haben, waren drei ganz tolle Regisseurinnen unter den Gewinnern des Deutschen Filmpreises. Aber in den Gremien, wo wir ausdrücklich Einfluss ausüben können, war das nicht gegeben. Es kann nicht sein, dass zwar unser höchstdotierter Filmpreis einen Frauennamen trägt – die Lola –, unsere hochdekorierten Filmemacher in der Regel aber nicht. Künftig werden mindestens zwei Frauen in den Fünferkommissionen an den Förderentscheidungen beteiligt sein. Ich bin zuversichtlich, dass sich damit auch mehr von Frauen geprägte Projekte durchsetzen können. Der aktuelle Entwurf des Filmförderungsgesetzes ist das Ergebnis mehrfacher Branchenanhörungen, großer runder Tische – viele von Ihnen haben daran teilgenommen – und unzähliger Gespräche auch und gerade mit Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Für den konstruktiven Austausch – das war bei dem Filmförderungsgesetz wirklich wohltuend – bin ich allen Beteiligten sehr dankbar. Es freut mich vor allem, dass wir gemeinsam Wege gefunden haben, um künstlerische Aspekte bei der wirtschaftlichen Filmförderung doch noch ein bisschen stärker zu betonen. Wie der Beifall klingt, wenn deutsche Filmkunst überzeugt, haben wir in den vergangenen Wochen dank Toni Erdmann gehört. Dieser Film erreicht die Sterne, vermerkte Le Figaro. Oder: Originell bis ins Absurde, kommentierte Deutschlandradio Kultur. Ein Werk von großer Schönheit, großen Gefühlen und großes Kino, hat die New York Times diesen Film genannt. Er kommt im Juli in die Kinos. Solche Zeilen wünschen wir, die wir die Filme lieben, uns doch alle. Wir würden sie gerne öfter hören und lesen. In diesem Sinne hoffe ich auf Ihre Unterstützung für den Entwurf unseres neuen Filmförderungsgesetzes.
Vor dem deutschen Bundestag hat Kulturstaatsministerin Grütters den Regierungsentwurf zur Novellierung des Filmförderungsgesetzes vorgestellt. Mit einer ausgewogenen Finanzierung, einer effizienteren Förderung und mehr Mittel für Drehbuchautoren und Kurzfilme will sie eine qualitative Spitzenförderung ermöglichen und den deutschen Film international wettbewerbsfähiger machen, „damit künstlerische und wirtschaftliche Wagnisse auch in Zukunft möglich bleiben.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 4. Nationalen MINT-Gipfel 2016 am 2. Juni 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-4-nationalen-mint-gipfel-2016-am-2-juni-2016-443744
Thu, 02 Jun 2016 11:40:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte Frau von Siemens, sehr geehrter Herr Sattelberger, Herr Höttges, Herr Schuster – ich sehe noch viele andere bekannte Gesichter –, meine Damen und Herren, ich freue mich, dass ich hier dabei sein kann. Ich will vorwegschicken: Eine Eigenschaft hat die MINT-Bildung: Sie veraltet extrem schnell. Wenn man sich den einen Dingen hingibt, dann versäumt man ziemlich viel, was an anderer Stelle stattfindet. Ich habe 2008 gern die Schirmherrschaft über die Initiative „MINT Zukunft schaffen“ übernommen. Vielen war der Begriff MINT bis dahin eher als Geschmacksrichtung vertraut. Inzwischen kennen vielleicht die allermeisten das Kürzel MINT. Aber sicher bin ich mir nicht, was eine repräsentative bundesweite Umfrage dazu als Ergebnis bringen würde. Aber ich würde sagen: In den Fachkreisen hat es sich herumgesprochen. Ich tue auch gern etwas zur weiteren Verbreitung. Wenn man die Geschmacksrichtung einerseits mit den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik andererseits zusammenbringen will, dann kann man vielleicht sagen, dass eine solche Initiative für frischen Wind sorgt. Ich denke, dass es richtig ist, dass die Arbeitgeber und acatech gesagt haben: Wir dürfen die Frage der Attraktivität von MINT-Fächern und MINT-Berufen nicht dem Zufall überlassen, sondern wir müssen früh anfangen, um junge Menschen zu begeistern, und ihnen die Möglichkeit geben, in der Zeit, in der man sich für einen Beruf entscheidet, auf einem profunden Wissensstand zu sein. Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Initiativen, um Begeisterung zu wecken – von Schülerlaboren über Techniktage, persönliche Begleitung durch MINT-Botschafter oder Praktika in Unternehmen. Es gibt auch das Haus der kleinen Forscher, das bereits im Kindergartenalter ansetzt. Das Nationale MINT Forum und die Initiative „MINT Zukunft schaffen“ haben besonders viel auf die Beine gestellt; und zwar in Verbänden, in Stiftungen, in Unternehmen, in Hochschulen und Forschungseinrichtungen – also bei allen, die potenziell die Bildung in mathematischen, ingenieurwissenschaftlichen, naturwissenschaftlichen und technischen Fächern voranbringen können. Für die Vielzahl von Initiativen möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Ich möchte mich aber nicht nur bedanken, sondern Sie in Ihrem Engagement auch bestärken, weil es mit Sicherheit eine Daueraufgabe ist. Das Spektrum möglicher Berufe ist groß und vielfältig. Das Interesse an Naturwissenschaften und Technik muss aber in jedem Jahrgang neu geweckt werden. Ich denke im Übrigen auch, dass man in der Biografie keine Brüche entstehen lassen sollte. Der Kindergarten ist noch ganz gut im Fokus. Auch in den Grundschulen wird viel gemacht. Dann gibt es die Zeit der Pubertät, in der man manches, was man in der Frühphase toll fand, wieder verlernen kann. Das heißt, gerade dann, wenn es am schwierigsten ist – in dieser Zeit setzt ja „Jugend forscht“ an –, muss man intensiv am Mann und an der Frau bleiben, um zu verhindern, dass bestimmte Dinge verschüttet werden. Das Interesse junger Menschen ist ja da. Es beginnt mit den vielen Warum-Fragen der Kinder. Wir Erwachsene sind ja, ehrlich gesagt, nicht immer in der Lage, auf alle Warum-Fragen qualifizierte Antworten zu geben. Das heißt, im Blickfeld sollten auch die Eltern kleinerer Kinder sein, die lieber noch einmal nachlesen und ihre vielleicht schon verschüttete Begeisterung für Naturwissenschaft und Technik wieder auffrischen sollten, als zu sagen: Ich kann nicht erklären, warum der Regenbogen bunt ist und der Himmel blau, warum Wasser nach unten fließt, warum die Sterne leuchten, warum die Pflanzen grün sind. Das alles sind solche Warum-Fragen. In dem Alter, in dem sich ein Kind entwickelt und Sehnsucht nach Verstehen hat, kann man noch sehr spielerisch daran anknüpfen. „Früh übt sich, was ein Meister werden will“ – das ist eines unserer bekannten Sprichwörter. Deshalb kooperieren wir als Bundesregierung in verschiedenen Initiativen mit vielen Partnern in Wissenschaft, Wirtschaft und anderen Bereichen. Ich will einige Beispiele nennen. Das Haus der kleinen Forscher habe ich schon angesprochen. Seit mittlerweile zehn Jahren werden Pädagogen aus- und fortgebildet, um die MINT-Bildung in Kitas und Grundschulen auf stärkere Beine zu stellen. Ich meine, daran muss man kontinuierlich weiterarbeiten. Es gibt viele Schülerwettbewerbe – etwa „Jugend forscht“ und Olympiaden in Mathematik, Physik und Chemie. Diese bieten Schülerinnen und Schülern auch außerhalb des üblichen Unterrichts die Chance, Ideen zu entwickeln und ihre Fähigkeiten untereinander zu messen. „Jugend forscht“ hat in den vergangenen fünf Jahrzehnten fast 250.000 Teilnehmer gehabt, die sich als relativ findig, interessiert und wirklich kreativ dargestellt haben. Ich habe jedes Jahr die Möglichkeit, einen Spezialpreis bei „Jugend forscht“ zu vergeben. Es macht immer wieder Spaß, wenn man sich die Projekte der jungen Menschen anschaut. Eine beständige Frage ist die nach dem Anteil von Mädchen und Jungen. Der Anteil der Mädchen lag 1966 bei acht Prozent. Beim aktuellen Wettbewerb, 50 Jahre später, sind es immerhin 38 Prozent. Das ist ein signifikanter Fortschritt. Der langfristige Trend stimmt. Aber wir haben noch viel Luft nach oben, wenn wir die MINT-Begeisterung von Mädchen bei der Berufswahl fördern wollen. Daher haben wir etwa auch den Girls’ Day. Einige Mädchen kommen jedes Jahr zu mir ins Kanzleramt. Wir reden auch über naturwissenschaftliche und technische Berufe. Es gibt auch immer eine Preisfrage, wie viel Prozent derjenigen, die ein Studium eines bestimmten MINT-Fachs beginnen oder abschließen, Mädchen sind. Ehrlich gesagt, ich bin jedes Mal erschüttert, wenn das Ergebnis irgendwo zwischen zehn und 20 Prozent, also noch weit von den 38 Prozent im Falle von „Jugend forscht“ entfernt liegt. In diesem Jahr haben rund 100.000 Mädchen die Chance genutzt, um am Girls’ Day Einblicke in naturwissenschaftliche oder technische Berufe zu gewinnen. Ich hoffe, dass viele darüber nachdenken, später tatsächlich einen solchen Beruf zu ergreifen. Der Nationale Pakt für Frauen in MINT-Berufen „Komm, mach MINT.“ zielt in eine ähnliche Richtung – auch mit Erfolg. Immer häufiger entscheiden sich Frauen für ein Studium in einem solchen Fachgebiet. Der Frauenanteil unter den Studierenden in Fächern wie Maschinenbau, Verfahrenstechnik, Elektrotechnik oder Informatik ist in den vergangenen 20 Jahren deutlich gestiegen. Aber man kann, wie gesagt, noch mehr erreichen. Ich denke, gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ist es sehr begrüßenswert, wenn Frauen auch solche Fächer für sich entdecken. Wir haben alle Mühe und müssen alle Kraft darauf lenken, dass sich Deutschland als innovativer Standort weiterhin bewähren kann. Ehrlich gesagt: Zunehmend rücken Fachkräftefragen in den Fokus. Während man früher vielleicht mit noch mehr Leidenschaft über Steuerfragen diskutiert hat – ich weiß, die steuerliche Förderung von Forschung ist auch ein Thema –, ist nun die Fachkräftefrage eine sehr, sehr wichtige Frage. Bei uns ist heute die Zahl der weltmarktrelevanten Patente in Relation zur Bevölkerungszahl noch fast doppelt so hoch wie in den USA. Daran zeigt sich, dass viel Know-how im Lande ist. Wir haben in den vergangenen zehn Jahren die Marke von drei Prozent bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung nahezu erreicht, wobei man wissen muss, dass zwei Drittel der Ausgaben von der Wirtschaft getätigt werden und ein Drittel von staatlicher Seite. Die Arbeit an einem guten Umfeld dafür, dass die Forschungsaktivitäten der Mittelständler, der kleineren, aber auch der größeren Unternehmen weiterhin bei uns im Lande stattfinden, wird sich in den nächsten Jahren in ihrer Dringlichkeit verschärfen. Davon bin ich sehr überzeugt. Von China oder Indien weiß man, dass die Regierungen dort nicht mehr zufrieden sind, wenn die Unternehmen nur mit Produktion kommen, sondern sie wollen zunehmend auch die Entwicklung bei sich haben. Auch deshalb ist ein geeignetes, forschungsfreundliches Umfeld in Deutschland natürlich sehr wichtig. Wie spannend MINT sein kann, ist natürlich am besten vor Ort in der Praxis zu erfahren. Ich nenne zum Beispiel das Schülerlabor des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt, das ich neulich besucht habe. Man muss sagen, dass die Kinder um Köln und Bonn herum wahrscheinlich etwas bevorzugt sind. Was dort an Arbeit geleistet wird, welche Experimente ganze Schulklassen dort machen können, ist wirklich beeindruckend. Sie konnten zum Beispiel aus Eis und Mineralien so etwas wie einen Kometen herstellen, der dann in einer Vakuumkammer von einer künstlichen Sonne beschienen wurde. Ich denke, wenn man solche Dinge einmal praktisch machen kann, vergisst man sie nicht. MINT-Kenntnisse bieten für das berufliche Fortkommen des Einzelnen große Chancen. Das muss man auch immer wieder sagen. Denn ehrlich gesagt, manch einer denkt, bevor er mit einem solchem Studium oder einer solchen Ausbildung beginnt, dass man dabei viel lernen muss. Dass können wir, denke ich, auch nicht in Abrede stellen. Manch einer überlegt sich, ob er einfacher zu einem vernünftigen akademischen Abschluss kommen kann. Ich finde, das sollte man aber auch mit dem notwendigen Selbstbewusstsein sagen. Wenn ich auf meine eigene Biografie zurückblicken darf: Ich habe unter anderem auch deshalb ein Physikstudium absolviert, weil es mir gar nicht so einfach gefallen ist. Aber das Erfolgserlebnis, wenn man etwas verstanden hatte, war so schön, dass daraus auch wieder Kraft erwuchs. Ich finde, so etwas sollte man nicht negieren. Man muss den Dingen schon auf den Grund gehen wollen. Natürlich hat die ganze Palette der MINT-Fächer durch die Digitalisierung weiter an Bedeutung gewonnen. Was man jemandem sagen kann, der in diesem Bereich einen guten Abschluss gemacht hat, ist, dass man mit großer Wahrscheinlichkeit eine gute Berufsperspektive hat und dass man auch vergleichsweise gute Verdienstmöglichkeiten hat. Ich sage einmal: Sich lieber am Anfang ein bisschen quälen, um dann eine große Sicherheit für das eigene Leben zu haben. Angesichts der Durchdringung der realen Welt mit digitalen Technologien ist aber damit zu rechnen, dass wir in Deutschland eher zu wenige als zu viele Menschen haben, die in diesem Bereich tätig sind. Ich begrüße es deshalb sehr, dass Sie diesen 4. MINT-Gipfel zu einem Gipfel 4.0 – mit dem Motto „Digitale Chancen ergreifen – Digitale Spaltung meistern“ – gemacht haben. Wir sind ja inzwischen von digitalen Technologien schon in hohem Maße abhängig geworden. Wenn einmal der Akku im Smartphone leer ist, wenn man keinen Internetzugang hat, dann wird man ja zunehmend unwillig. Der Internetzugang ist so etwas Normales geworden wie Tatsache, dass wir heute davon ausgehen können, überall in Deutschland Wasser zu bekommen oder ausreichend Tankstellen zu haben. Weit über die MINT-Berufe hinaus sind Menschen heute mit Digitalisierung befasst. Das bedeutet natürlich auch, dass wir lernen müssen, souverän mit den neuen Technologien und Möglichkeiten umzugehen. Daraus erwächst ein völlig neuer Anspruch an das gesamte Bildungssystem. Vor allen Dingen ist es wichtig, dass wir immer wieder daran denken, Lehrer zu qualifizieren. Die Schüler kommen heute relativ neugierig und durch eigene Erfahrung schon relativ gestählt aus der Freizeit in die Schule. Es ist eher so, dass sich die Schule der Notwendigkeit gegenübersieht, dann auch mit dem entsprechenden Know-how reagieren zu können. Interessant ist im Übrigen auch Folgendes; ich weiß nicht, ob es das schon einmal gab: Wenn man in Unternehmen geht, die heute den Weg zur Industrie 4.0 beschreiten, dann sieht man, dass sie ganz bewusst die Fähigkeiten ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nutzen, die diese aus dem privaten Umgang mit dem Smartphone haben, und daran andocken. Ich darf gar nicht daran denken, wie viele Schulungen wir früher durchgeführt haben, als die Microsoft-Systeme für unsere Sekretärinnen und die Referenten in den Ministerien eingeführt wurden, und wie viele Debatten es darüber gab, ob man einen neuen Weg mit den ganzen Word-Programmen usw. gehen soll. Heute können die Leute ganz selbstverständlich mit einem Computer umgehen und würden es eigentlich auch als komisch empfinden, wenn man sagte: In deiner Arbeitswelt wollen wir das nicht nutzen. Trotzdem geht es um einen souveränen Umgang mit den Medien. Auch das ist Teil der Bildungsaufgabe. Wir müssen die Sicherheitsrisiken benennen und Missbrauch erkennen. Der bewusste Umgang mit eigenen Daten muss gelernt werden. Auch das macht Medienkompetenz aus. Dazu gehört auch, ein gewisses Verständnis dafür zu entwickeln, wie die Dinge ablaufen. Beim letzten Girls’ Day im Kanzleramt wurde zum Beispiel gezeigt, wie leicht man Viren einschleusen kann, wie solche Programme entstehen und dass diese gar nicht kompliziert sein müssen. Es ist zwar fraglich, ob man das nun jedem beibringen muss, aber ich glaube, im Zweifelsfalle ist es richtig, weil man sonst keine Ahnung davon hat, was andere machen. Es gibt eine Vielzahl von guten Beispielen für digitale Bildung: Grundschulen mit verpflichtendem Computerunterricht, Tablet-Klassen mit einem umfangreichen Konzept zur Medienbildung, Berufsschulen mit digitalen Plattformen, Hochschulen, an denen Studierende die Vorlesungen zu Hause am PC verfolgen können oder sogar Prüfungen auf digitalem Wege ablegen können. Das alles gibt es. Das alles nimmt zu. Aber es gibt sehr unterschiedliche Geschwindigkeiten, mit denen das stattfindet. Die Möglichkeiten für junge Menschen sind also sehr unterschiedlich und abhängig vom jeweiligen Schulort, an dem sie sich befinden. Das unterscheidet uns – jetzt kommt wieder ein schwieriger Punkt – von Ländern, die jetzt neu anfangen, die eine sehr hohe Entwicklungsgeschwindigkeit haben, die also von einem Entwicklungsland zu einem Schwellenland werden und die sofort – ohne dass das alteingefahrene Bildungssystem schon auf dem Niveau wäre, das wir haben – mit neuen Dingen beginnen können, also eine ganze Entwicklungsstufe überspringen. Da müssen wir aufpassen, dass wir nicht eines Tages sozusagen wunderbare Inseln der Bildung haben, aber kein flächendeckendes System, das die gleiche Qualität hat wie in anderen Ländern, die ihre Entwicklung erst später begonnen haben. Nun begebe ich mich hier sukzessive in ein Gebiet, das mich nichts angeht, nämlich in ein Hoheitsgebiet der Länder. Da sind wir im Rahmen des Föderalismus natürlich umsichtig und vorsichtig. Aber auch die Fragen der Lehrerqualifikation, des Lehrerstudiums und der Veränderung der Bildungsgänge hat sich die Bundesbildungsministerin durchaus auf die Fahne geschrieben; und das finde ich auch richtig so. Die digitale Bildung wird auch Schwerpunkt unseres diesjährigen IT-Gipfels in Saarbrücken sein. Der gesamte Gipfelprozess dient ja der Umsetzung der Digitalen Agenda. Ich glaube – das spüren wir auch in Gesprächen mit Vertretern anderer Länder –, wir können nicht zufrieden sein, aber wir haben die richtige Entscheidung getroffen, einen ressortübergreifenden Rahmen aufzubauen, in dem wir handeln können und in dem diese Digitale Agenda umgesetzt wird. Natürlich müssen nicht nur die Lehrer und die Schüler lernen, sondern auch die Politiker. Die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, ist eine wichtige politische Aufgabe. Sie bedeutet, dass auch wir uns in völlig neue Welten einarbeiten müssen. Wir werden natürlich keine Digital Natives mehr, aber – im Zusammenhang mit Migranten sprechen wir ja auch immer von Integration – auch wir als Entscheidungsträger müssen uns sozusagen als Digital Migrants in diese neue Welt integrieren. Inzwischen gibt es auch in Unternehmen interessante Beispiele dafür, dass auch die, die in der Führungshierarchie recht hoch angesiedelt sind, durchaus bereit sein müssen, von Jüngeren zu lernen, Dinge aufzunehmen und sich beraten zu lassen. Im Übrigen – das wird auch Einfluss auf die Politik haben – werden auch die Unternehmensstrukturen und -hierarchien dort, wo Industrie 4.0 angewendet wird, tendenziell vernetzter und tendenziell flacher werden. Diesen Weg zu gehen, wird genauso notwendig sein, wie individuelles Sachwissen zu haben. Wenn man die Strukturen der alten Zeit einfach beibehält und das Individuum aber neue Fähigkeiten hat, dann wird das miteinander nicht funktionieren, weil die Art des Denkens, des Handelns und der Vernetzung eine ganz andere ist. Das stellt uns auch in der Politik vor große Herausforderungen. Deshalb hatten wir gerade in der vergangenen Woche eine Kabinettsklausurtagung, auf der wir uns mit verschiedenen Aspekten der Digitalisierung beschäftigt haben. Um zu wissen, was noch vor uns liegt, haben wir den estnischen Ministerpräsidenten eingeladen, der uns davon berichtet hat, wie die Digitalisierung in Estland in alltägliche Vorgänge und Bereiche Einzug gehalten hat – vom Gesundheitssystem und individuellen Krankenakten über das Wahlsystem, im Rahmen dessen man selbstverständlich digital abstimmen kann, bis hin zu Sicherheitsfragen. Das war eine wirklich interessante Erfahrung. Man kann sich natürlich damit herausreden, dass das ein Land ist mit nicht einmal zwei Millionen Einwohnern; wir haben 80 Millionen. Wir haben ein föderales Gebilde; dort ist es einfacher. Aber wenn ich mir einmal anschaue, in welcher Geschwindigkeit wir die Gesundheitskarte einführen, dann kann ich nur sagen: So kann es nicht weitergehen, sondern da muss noch einmal ein gewisser qualitativer Sprung kommen. Interessant war übrigens, dass der geschwindigkeitsbestimmende Faktor oder der Durchbruchsfaktor in Estland die Tatsache war, dass man den Ausweis mit einem Chip, den wir inzwischen auch haben, mit der Nutzung für Bankgeschäfte kombiniert hat. Die Banken haben gesagt: Wir arbeiten nicht mehr mit TAN-Nummern für digitales Banking, sondern mit diesen Chips. Damit sind die Bürgerinnen und Bürger dann sozusagen an den Punkt gekommen, dass sie das auch nutzen mussten. Ich vermute, hierzulande habe nicht nur ich einen neuen Ausweis mit einem Chip, den ich aber nicht benutze, weil ich nicht ganz genau weiß, was ich damit machen kann und was nicht. Man muss sozusagen eine Massenanwendung für eine Ausrüstung finden. Alle MINT-Begeisterten können sich jetzt also als erstes einmal damit beschäftigen, wie sie den Chip in ihrem Ausweis sinnvoll nutzen und die Landes-, Bundes- und sonstigen Regierungen in Bezug darauf, dass sie Anwendungen dafür haben wollen, unter Druck setzen. Dann wird es vielleicht bei dem einen so sein, dass er froh ist, wenn er verstanden hat, wie er die Anwendung nutzen kann, und der andere will verstehen, wie der Chip aussieht; und schon ist man auf dem MINT-Pfad. Seien Sie neugierig, engagieren Sie sich, ermutigen Sie Menschen, dass man neue Möglichkeiten wirklich hinbekommen kann und dass es auch nicht so schwer ist, diese zu nutzen. Das alles ist keine Hexerei, sondern äußerste Logik. Das Schönste ist: Man kann immer wieder nachprüfen, ob man sich etwas Richtiges ausgedacht hat, weil manches dann funktionieren muss oder sich manches experimentell bestätigen muss, wenn ich einmal an meine Zeit als theoretische Physikerin denke. In welchem Beruf hat man das schon, dass man gleich einmal nachprüfen kann, ob man mit seinen Gedanken auf der richtigen Seite ist? Herzlichen Dank dafür, dass Sie mich eingeladen haben.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung des Gotthard-Basistunnels am 1. Juni 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-eroeffnung-des-gotthard-basistunnels-am-1-juni-2016-605298
Wed, 01 Jun 2016 14:45:00 +0200
Pollegio
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Damen und Herren Bundesräte, Exzellenzen, sehr geehrte Festgäste, zumeist ist von Brücken die Rede, wenn man etwas Verbindendes zum Ausdruck bringen will. Ein Tag wie heute aber lässt uns unseren Sprachgebrauch noch einmal überdenken. Denn in diesem Fall ist es ein Tunnel, der Entfernungen schrumpfen lässt und uns einander näherbringt – und was für ein Tunnel: ein wahres Wunderwerk der Technik, ein Bauwerk der Superlative. Deshalb möchte ich zu Beginn allen danken, die an diesem Bauwerk mitgewirkt haben: den Architekten, den Planern, den Bauarbeitern, den Konstrukteuren der Bohrmaschinen, den Sprengmeistern und denen, die 28 Millionen Tonnen Geröll weggefahren haben. Aber wir wissen auch: Ein solches Bauwerk lässt sich nicht ganz ohne Unfälle errichten. Deshalb möchte ich an diesem Tag auch derer gedenken, die bei diesem Bau ihr Leben verloren haben, und möchte den Angehörigen Trost zusprechen. Der neue Gotthard-Basistunnel ist der längste Eisenbahntunnel der Welt. Er erhöht das Tempo, mit dem Menschen und Waren quer durch Europa gelangen. Er erhöht den Takt unserer Zusammenarbeit und unseres Zusammenlebens. Er schafft neue Dimensionen der Freizügigkeit. In diesen Monaten sprechen wir viel über Grenzen in Europa. Wir müssen unsere Außengrenzen schützen, aber wir erleben auch, dass unsere Binnengrenzen wieder an Bedeutung gewinnen. Durchlässige Binnengrenzen aber sind ein Kernelement der europäischen Integration und der Belebung unseres gemeinsamen Marktes. Ich wünsche mir, dass wir Verbindendes sehen und dass wir das Verbindende zu nutzen verstehen. Dafür steht symbolhaft der Gotthard-Basistunnel. Neben der hohen Symbolkraft des Tunnels für das Schweizer Selbstverständnis ist er weitaus mehr. Das ist in Ihrem offiziellen Prospekt wunderbar beschrieben: „Norden und Süden gehen aufeinander zu: Mittelmeer trifft mitteleuropäische Industrielandschaften, Fellini-Figuren stoßen auf strenge Leistungsträger, Monteverdi auf Bach, Tarantella auf Alpentänze, Montanara auf Gloria.“ Schöner kann man es nicht sagen, wenn wir davon sprechen, dass unser europäisches Selbstverständnis immer die Vielfalt ist, die uns vereint – und so soll es auch bleiben. Meine Damen und Herren, in die Entscheidung für dieses Jahrhundertprojekt waren in bester Schweizer Tradition die Bürgerinnen und Bürger direkt eingebunden. Dem Tunnelbau selbst kamen auch beste Schweizer Werte wie Innovationsstärke, Präzision und Zuverlässigkeit zugute. Wir in Deutschland wissen – das sage ich als deutsche Bundeskanzlerin –, dass wir noch Aufgaben zu erledigen haben. Eine Zeitung schrieb zum Gotthardtunnel: „Das Herz ist da, aber die Aorta nicht fertig.“ Es gibt auch ein Stück deutsche Aorta. Und wir werden – gerade in diesem Moment entdecke ich unter den Festgästen auch unseren Verkehrsminister aus Deutschland – mit noch mehr Elan an unseren Aufgaben arbeiten. Es bleibt mir nur noch zu sagen: Danke schön, dass wir heute hier dabei sein durften. Dies ist ein Freudentag, so wie es auch der Bundespräsident gesagt hat. Dafür, dass wir uns mitfreuen dürfen, danken wir allen Schweizer Verantwortlichen. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum 30-jährigen Jubiläum der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-30-jaehrigen-jubilaeum-der-arbeitsgemeinschaft-literarischer-gesellschaften-und-gedenkstaetten-798414
Sat, 28 May 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut: Grütters
Berlin, Akademie der Künste
Kulturstaatsministerin
Gönnen wir uns einen Blick auf das Jahr 1986, das Gründungsjahr der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten: Boris Becker gewinnt zum zweiten Mal das Tennisturnier in Wimbledon. Prinz Andrew heiratet Sarah Ferguson. Telefone haben Wählscheiben. Und die Saatkrähe ist Vogel des Jahres. Heute schreibt Boris Becker längst keine Sportgeschichte mehr. Prinz Andrews Ehe mit „Fergie“ ist geschieden. Wählscheibentelefone sieht man nur noch im Museum. Und nach der Saatkrähe kräht vermutlich kein Hahn mehr. Ja, in 30 Jahren hat sich viel geändert. Doch die Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten (ALG) hat Bestand – und das, obwohl neue Technologien deutschen Dichtern und Denkern digitale Konkurrenz bescheren. Wie hieß es mal in einer Glosse: „Vergessen Sie endlich Goethe, Heine und Mann. Die hatten nicht einen einzigen Follower.“ Das gilt, soweit ich weiß, auch für die ALG, doch wer braucht schon Follower, wenn die Zahl der Mitglieder sich über die Jahre fast verzehnfacht hat – von damals 26 auf heute 247 Mitgliedseinrichtungen, die das ganze literarische Spektrum und deutsche Literaturgeschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart abdecken. Mit Ihrer Arbeit, Ihrer Expertise und Ihrem Netzwerk haben Sie, lieber Herr Professor Wißkirchen, und Ihr Team im Vorstand und in der Geschäftsstelle sich für die zahlreichen literarischen Einrichtungen in Deutschland unentbehrlich gemacht, vor allem für die kleineren. Sie sind vielfach allein von bürgerschaftlichem Engagement getragen und können dank der ALG auf professionelle Unterstützung zählen. Kein Wunder also, dass die ALG sich bis heute erfolgreich als „Lobby für Literatur“ in Deutschland und als einziger Zusammenschluss dieser Art in Europa behaupten kann. Die überzeugendsten Lobbyisten für literarische Vielfalt sind aber vielleicht gar nicht Sie und Ihr Team, lieber Herr Professor Wißkirchen J. Es sind auch nicht Ihre Mitgliedseinrichtungen, die großartige Arbeit leisten und literarischen Ausnahmekünstlern eine Bühne geben – sei es durch den Erhalt und die Präsentation authentischer Orte literarischen Wirkens, sei es durch die intensive Auseinandersetzung mit ihren Werken, sei es durch Projekte, die gerade auch der zeitgenössischen Literatur die verdiente Aufmerksamkeit verschaffen. Nein, die überzeugendsten Lobbyisten für literarische Vielfalt und für die Förderung der Literatur sind die Dichter und Denker, die Dichterinnen und Denkerinnen, deren Stimmen dank der literarischen Gesellschaften und Gedenkstätten präsent und lebendig bleiben. Was also liegt näher, als heute zur Feier Ihres Jubiläums wenigstens ein paar von ihnen in den Zeugenstand zu rufen für den Wert und die weltbewegende Kraft der Literatur? Heinrich Heine zum Beispiel – in der ALG gleich dreifach repräsentiert in Gestalt des Heine-Hauses, der Heinrich-Heine-Gesellschaft und des Heinrich-Heine-Instituts – Heinrich Heine hat einmal gesagt: „Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die Gewaltigste.“ In Deutschland – dem Land mit dem immerhin zweitgrößten Buchmarkt und einer der lebendigsten und facettenreichsten Verlagslandschaften der Welt -dürfen wir diese Worte zwar durchaus auch quantitativ verstehen. Schließlich reden wir, wenn wir über die Welt der Bücher reden, hierzulande immerhin über rund 87.000 Neuerscheinungen pro Jahr. Gewaltig ist die Welt der Bücher aber vor allem, weil schon ein einzelnes Buch in ferne Welten führen und die Welt verändern kann. Man denke nur an die Bücher, die über nationale, kulturelle und religiöse Grenzen hinweg seit Generationen gelesen, zitiert, interpretiert und geliebt werden und zum kulturellen Erbe der Menschheit gehören, an Goethes „Faust“ zum Beispiel. Johann Wolfgang von Goethe bleibt nicht nur dank des Frankfurter Goethe-Museums und der Goethe-Gesellschaft Weimar präsent Das faustische „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“ kennt man auf der ganzen Welt. Faust und Mephisto haben immer wieder Künstlerinnen und Künstler inspiriert und tun es bis heute. Wendungen wie „der Weisheit letzter Schluss“ und „des Pudels Kern“ sind geflügelte Worte in unserem Sprachgebrauch. Ja, man darf mit gutem Recht sagen: Goethes Faust gehört zu den Büchern, die das Denken weit über den Kreis sowohl ihrer Zeitgenossen als auch ihrer Leserschaft geprägt haben. Die Wertschätzung der Literatur und ihrer Vielfalt ist dabei aber weit mehr als Liebhaberei. Sie ist Teil unseres Demokratieverständnisses, weil Bücher zur freien Meinungsbildung und zu einer aufgeklärten, kritischen Öffentlichkeit beitragen, aber auch, weil Demokratie – wie Jean Paul das schon vor 200 Jahren so treffend in seinen „Politischen Fastenpredigten“ formuliert hat – „ohne ein paar Widersprechkünstler […] undenkbar [ist].“ Wir brauchen die Künstler und Intellektuellen, die Querdenker und Freigeister, deren Worte im wahrsten Sinne Welt-bewegend sind! Sie sind der Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft, der verhindert, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Nicht zuletzt sind es auch die Künstlerinnen und Künstler, die um Antworten auf letzte Fragen ringen. Wie heißt es so schön bei Else Lasker-Schüler, die (auch) dank der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft nicht in Vergessenheit gerät: „Der Künstler trägt die Zeit nicht, zwischen zwei Deckel gelegt, bei sich an einer Kette; er richtet sich nach dem Zeiger des Universums, weiß darum immer, was die Urkuckucksuhr geschlagen.“ So sind es oft die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die hinschauen, wo andere wegsehen, die anschreiben gegen Gleichgültigkeit, Verdrängung und emotionale Abgestumpftheit. Gerade angesichts hunderttausender Menschen, die ihre Heimat in Kriegs- und Krisenregionen verlassen in der Hoffnung, im friedens- und wohlstandsverwöhnten Europa Zuflucht zu finden, ist die Sensibilität für menschliches Leid und existenzielle Not auch und besonders in den Demokratien Europas heute ganz offensichtlich nötiger denn je. Literatur jedenfalls kann denen eine Stimme geben, die sonst kein Gehör finden. Sie kann uns nötigen, die Perspektive zu wechseln und die Welt aus anderen Augen zu sehen. Sie ist imstande, Grenzen zu verschieben: den Bereich das Denk- und Vorstellbaren zu vergrößern, Gebiete jenseits unseres Erfahrungshorizonts zu erschließen und eben dadurch die Grenzen unserer Empathie zu weiten – indem sie uns Fremdes vertraut macht und uns auf diese Weise zum Mitgefühl befähigt. Nicht zuletzt in diesem Sinne ist es eine wahrhaft staatstragende und zukunftsweisende Aufgabe, die Freiheit der Literatur und die literarische Vielfalt zu fördern. Deshalb unterstützt mein Haus neben Leuchttürmen des literarischen Lebens in Deutschland wie die Klassik Stiftung Weimar, das Deutsche Literaturarchiv in Marbach oder das Goethe-Geburtshaus und -Museum in Frankfurt seit vielen Jahren auch die Arbeit der ALG, und ich kann Ihnen versprechen: Dabei bleibt es auch und erst recht, wenn wir in meinem Haus ab 2017- so ist es geplant – einen neuen Förderschwerpunkt „Literatur“ setzen. Heute, meine Damen und Herren, soll es aber nicht nur um geistige Nahrung gehen – schließlich haben Sie allen Grund zum Feiern! Als Kronzeugen der Trinkkultur darf ich in diesem Zusammenhang ein zweites Mal Jean Paul zitieren. Immerhin ist die Jean-Paul-Gesellschaft ALG-Gründungsmitglied; außerdem bleibt Jean Paul uns nicht nur als Literat, sondern auch als Liebhaber flüssiger Genussmittel im Gedächtnis. Er arbeitete nach der Devise „Entwirf bei Wein, exekutiere bei Kaffee“, und weil er viel auf Reisen war und ihm das Bier in Weimar, Berlin und im Ausland nicht mundete, orderte er regelmäßig Nachschub aus der oberfränkischen Heimat. An einen Freund schrieb er einmal, ich zitiere: „Sollte das Bier schon unterwegs sein – was Gott gebe – so bitt ich Sie herzlich, sogleich neues nachzusenden; weil der Transport vom Fass in mich viel schneller geht als von Bayreuth nach mir!“ Das wird uns heute Abend sicher nicht passieren, verehrte Damen und Herren. Die Wege zum nächsten Kaltgetränk sind glücklicherweise kurz, und ich freue mich, mit Ihnen anzustoßen auf drei Jahrzehnte Lobbyarbeit für die Literatur. Herzlichen Glückwunsch zum 30-jährigen Jubiläum, lieber Herr Professor Wißkirchen, liebe Frau Kussin, und viel Erfolg weiterhin – auf dass die literarische Vielfalt in Deutschland auch in Zukunft wachsen und gedeihen möge!
Kulturstaatsministerin Grütters dankte der Arbeitsgemeinschaft für ihre vielfältige, erfolgreiche „Lobbyarbeit für die Literatur“. Gerade für die vielen kleinen literarischen Einrichtungen sei solch professionelle Unterstützung unentbehrlich. Literatur sei, als Beitrag zur freien Meinungsbildung, „Teil unseres Demokratieverständnisses“, so Grütters. Für die Freiheit der Literatur und ihre Vielfalt sagte sie weiterhin Unterstützung zu.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen der 16. Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung am 31. Mai 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-der-16-jahreskonferenz-des-rates-fuer-nachhaltige-entwicklung-am-31-mai-2016-467844
Tue, 31 May 2016 11:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrte Frau Thieme, sehr geehrte Ratsmitglieder, meine Damen und Herren, ich freue mich darüber, hier zu sein und dass Sie es mir ermöglicht haben, an einen neuen Ort in Berlin zu gehen. Der Ort selber ist nicht neu, aber ich kannte ihn noch nicht. Insofern habe ich noch mehr dazugelernt als nur aus Ihren Worten. Ich begrüße Sie alle natürlich auch meinerseits ganz herzlich. Wir können sagen, dass sich der Rat für Nachhaltige Entwicklung in institutioneller Hinsicht inzwischen auch selber gewissermaßen der Nachhaltigkeit nähert. Er ist jetzt 15 Jahre alt und hat uns, die Bundesregierung, in all den Jahren begleitet – oft kritisch, aber vor allen Dingen immer kompetent und konstruktiv. Dafür möchte ich danke sagen und zum 15. Jahrestag herzlich gratulieren. Das Wort „nachhaltig“ hat längst einen festen Platz im politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Dialog ebenso wie im alltäglichen Umfeld, etwa beim Einkauf. Wer darauf achtet, wie oft der Begriff auftaucht, der merkt: Nachhaltigkeit ist ein allgemeiner Anspruch an unser Handeln geworden. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich das in den kommenden Jahren noch weiter durchsetzen wird. Das ist das Verdienst vieler, aber besonders auch das Verdienst des Rates für Nachhaltige Entwicklung. 1992 zum Beispiel war das noch anders. Damals haben die Staaten der Welt auf der UN-Konferenz in Rio de Janeiro die Idee der nachhaltigen Entwicklung erstmals als globales Leitbild verankert. Seitdem hat sich viel verändert, auch wenn die Welt weiterhin vor großen, vor sehr großen Herausforderungen steht. Prognosen zufolge werden 2050 mehr als neun Milliarden Menschen auf der Welt leben. 2100 sollen es sogar mehr als elf Milliarden sein. Sie alle haben einen Anspruch auf Entwicklung und ein gutes Leben. 2100 – das scheint zeitlich noch in weiter Ferne zu liegen. Doch wer heute zum Beispiel in Deutschland geboren wird, hat, statistisch gesehen, durchaus eine realistische Chance, den Beginn des 22. Jahrhunderts zu erleben. Das heißt, wir reden nicht über abstrakte Zukunftsvorsorge, sondern wir reden über eine Welt, wie sie bereits für die Jüngsten heute und deren Kinder Realität werden wird. Das Nachhaltigkeitsprinzip stellt uns deshalb vor die Frage: Sind unsere Entscheidungen enkeltauglich oder zumindest kindertauglich? Denn schon dies verlangt, bis zum Ende des Jahrhunderts zu blicken. Der Autor Ulrich Grober beschreibt Nachhaltigkeit, wie ich finde, treffend „als einen Kompass, als unser Navigationsgerät für eine Reise in ein unbekanntes Territorium – die Zukunft“. Mit einem solchen Navigationsgerät können wir uns vornehmen, immer wieder ganz konkrete Ziele zu erreichen. Dafür hat – bei allen schlechten Nachrichten des vergangenen Jahres – die Weltgemeinschaft eine gute Nachricht gesetzt, als sie sich auf die Verabschiedung der Agenda 2030 geeinigt hat. Das ist ein ganz wichtiger Meilenstein. Mit unseren Vereinbarungen belassen wir es eben nicht beim Bekenntnis zu nachhaltiger Entwicklung, sondern nehmen das gesamte Spektrum von Umwelt, Wirtschaft und sozialem Leben in den Blick. Die Agenda ist umfangreich geworden. Die Millennium-Entwicklungsziele hingegen waren überschaubar. Aber ich erinnere mich, dass es allen, die an der Agenda 2030 mitgearbeitet haben, wichtig war, den anvisierten Umfang mit 17 Zielen und 169 Unterzielen beizubehalten. Wir werden sicherlich Schritt für Schritt lernen, mit diesen vielen Zielen umzugehen und entsprechende Initiativen in Gang zu setzen. Dazu gehört natürlich der Kampf gegen Armut, Hunger und Diskriminierung von Frauen. Dazu gehört Bildung für alle. Dazu gehören der Schutz des Klimas und der Biodiversität sowie mehr Engagement für Frieden und Rechtsstaatlichkeit, um nur einige Beispiele zu nennen. Dass sich alle 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen auf gemeinsame Nachhaltigkeitsziele verständigen konnten, ist an sich schon ein Riesenerfolg. Aber zum Tragen kommt er erst, wenn wir diesen Zielen auch wirklich Schritt für Schritt näherkommen. Wir wissen, dass wir schon von den Millennium-Entwicklungszielen nicht alle bis 2015 umgesetzt haben. Das heißt, wir wissen, dass wir uns mit Blick auf die neuen Ziele sehr anstrengen müssen. Jetzt geht es darum, die nächsten Schritte konkret und die Ziele allgemein verständlich zu machen. Denn je mehr Menschen sich angesprochen fühlen, desto besser können wir das Gemeinschaftswerk zum Gelingen bringen. Alle anzusprechen, heißt: nicht nur die Regierungen, nicht nur die Wirtschaft, nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Zivilgesellschaft insgesamt. Daher sehe ich uns in der Politik und, wenn ich das sagen darf, auch Sie im Nachhaltigkeitsrat – aber Sie tun das auch sowieso – in der Pflicht, nachhaltiges Handeln als persönliche Aufgabe eines jeden Einzelnen in unserer Gesellschaft zu vermitteln. Wenn man sich einmal vor Augen führt, wie wertvoll etwa der Zugang zu sauberem Wasser ist, dann fängt man an, mit dieser Ressource anders umzugehen. Wer weiß, dass mancherorts Fabrikarbeiter ihre Gesundheit riskieren, fragt viel eher nach: Woher kommt eigentlich das Produkt, das ich einkaufe? Wer sieht, wie heute allein der Geburtsort über Lebenschancen entscheidet, der denkt dann auch anders über Entwicklungshilfe nach. Eine umfassende, globale Nachhaltigkeitspartnerschaft lebt von kleinen wie von großen Beiträgen. Beispiele hierfür sind Klimarisikoversicherungen oder die Pandemic Emergency Facility der Weltbank, um Staaten im Fall von Epidemien schnell Unterstützung zuteilwerden zu lassen. Ich denke im Übrigen, dass Versicherungslösungen methodisch sehr wichtig sind, weil sie den Vorteil haben, dass sie die Menschen, die von bestimmten Entwicklungen betroffen sind – sei es von Epidemien oder von Schäden infolge des Klimawandels –, aus der Bittstellerrolle heraus in eine Anspruchsrolle auf Ersatz für Schäden bringen. Ich denke, das ist sehr wichtig. Wir haben etwa über Klimarisikoversicherungen mit der Afrikanischen Union diskutiert. Es gibt also erfolgreiche Ansätze. Ich denke, diese Methode hat Zukunft. Das sind innovative Initiativen, die ich für wichtig halte ebenso wie eine bessere institutionelle Ausrichtung der Vereinten Nationen an der Agenda 2030. Ich kann sowohl vom G7-Gipfel in Japan als auch vom humanitären Gipfel in Istanbul berichten, dass das Denken in institutionellen Zusammenhängen zunimmt und versucht wird, viele vereinzelte Projekte besser zu bündeln. Ich habe zum Beispiel die Initiative des UN-Generalsekretärs für den ersten humanitären Gipfel in Istanbul für sehr wichtig gehalten, weil es nicht mehr nur darum geht, Regierungen einzuladen, sondern weil auch Nichtregierungsorganisationen eingeladen werden, weil Datenbanken, weil Transparenz und Effizienz geschaffen werden sollen, weil man sich damit auseinandersetzen muss, was gut klappt und was vielleicht weniger gut klappt. Denn wir alle sind Lernende in der Frage, wie wir uns engagieren sollen. Deshalb finde ich es richtig, dass das sogenannte Hochrangige Politische Forum für nachhaltige Entwicklung eingesetzt wurde, damit es die Agenda-Umsetzung begleiten und kontrollieren kann. Die Bundesrepublik Deutschland ist bereit, dieses Gremium zu stärken. Wir haben uns als eines der ersten Länder bereit erklärt, über unsere nationale Umsetzung zu berichten. Wir wollen aufzeigen, wie wir die Vorgaben angehen und wo auf unserem Weg wir uns befinden. Wir tun das aus Überzeugung und denken, dass ein transparentes Monitoring insgesamt sehr wichtig zur weltweiten Zielerreichung ist. Denn es ermöglicht, von den Beispielen anderer zu lernen und die verschiedenen Aktionen besser aufeinander abzustimmen. Dies gilt bei den Vereinten Nationen auch für den entwicklungspolitischen Bereich. Ich bin Professor Klaus Töpfer sehr dankbar, dass er sich hierfür als Experte zur Verfügung gestellt hat. Ziel ist eine möglichst reibungslos funktionierende vertikale Integration. Das heißt, die Maßnahmen aller Ebenen müssen ineinandergreifen – von den Vereinten Nationen über die regionale und nationale Ebene bis hin zu den Kommunen. Hierfür muss die Agenda 2030 in allen politischen Tagesordnungen fest verankert werden. Ich denke, dies gilt besonders für die G7-Mitgliedstaaten. Denn ihnen kommt als führenden Industrieländern eine besondere globale Verantwortung zu. Deshalb bin ich froh, dass wir beim Gipfel in Elmau während der deutschen G7-Präsidentschaft im vergangenen Jahr viele wichtige Pflöcke eingeschlagen haben. Ich nenne nur die Themen Gesundheit und Gleichstellung von Frauen. Diese Themen haben wir in Japan weiter behandelt. Im kommenden Jahr wird Deutschland die G20-Präsidentschaft übernehmen. Diese G20-Präsidentschaft wollen wir ausdrücklich auch dafür nutzen, konkrete Nachhaltigkeitsziele fest in den Blick zu nehmen. Wir engagieren uns für die Umsetzung der Agenda 2030 auch im Rahmen der Entwicklungspolitik – sowohl bilateral als auch multilateral. Wir bekennen uns zu unserer Mitverantwortung, globale Herausforderungen wie den Klimawandel, Gesundheitsrisiken oder Fluchtbewegungen zu bewältigen. Dies spiegelt sich auch in der Zunahme unserer öffentlichen Entwicklungsleistungen gemessen am Bruttonationaleinkommen wider. Die ODA-Quote haben wir von 0,36 Prozent auf immerhin 0,52 Prozent gesteigert. Allerdings muss man sagen, dass die nationalen Ausgaben für Flüchtlinge mit dazuzählen. Ob das systemisch ganz lupenrein ist, weiß ich nicht. Aber eine Quote von 0,52 Prozent hört sich jedenfalls gut an. Zur Systematik, was zur ODA-Hilfe zählt und was nicht, kann man sowieso ganze Seminare durchführen. Wir helfen auf jeden Fall sehr stark, die Ursachen von Flucht einzudämmen. In Deutschland erleben wir derzeit direkt, was es bedeutet, wenn Menschen vor Krieg, Verfolgung und Perspektivlosigkeit fliehen. Wir können dankbar sein, dass wir ein Land sind, das eine sichere Zuflucht bietet. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, allen ehren- und hauptamtlichen Helferinnen und Helfern von Herzen für das zu danken, was sie geleistet haben und was nach wie vor noch geleistet wird. Wie oft haben wir schon darüber gesprochen – Sie, die Sie der Nachhaltigkeit verpflichtet sind, allemal –, dass etwas, was anderswo geschieht, auch auf uns Auswirkungen hat? Aber wirklich erlebt haben wir so etwas erst im vergangenen Jahr, als der Bürgerkrieg in Syrien und der Terror des IS im Irak auch zu konkreten Auswirkungen bei uns geführt hat. Seitdem gestaltet sich unser Interesse an der politischen Lösung solcher Konflikte oder an der Bekämpfung des IS ganz anders. Wir erleben diese Dinge viel intensiver. Wir arbeiten dafür, dass wir präventiv wirksam werden. Ich denke, die ganze Agenda 2030 hat eine hohe präventive Bedeutung, wenn es gerade auch darum geht, Fluchtursachen nachhaltig einzudämmen. Das ist natürlich auf eine längere Frist ausgerichtet. Kurzfristig müssen wir die Situation derjenigen bedenken und in den Blick nehmen, die bereits auf der Flucht sind. Deswegen hatten wir zu Anfang dieses Jahres die Londoner Geberkonferenz. Deutschland hat sich dort mit dem höchsten Einzelbeitrag beteiligt – auch wegen unserer Erfahrungen im vergangenen Jahr. Wir stellen bis 2018 2,3 Milliarden Euro bereit. Dank dieser Mittel erhalten die Menschen in den Flüchtlingslagern der Region inzwischen wieder volle Nahrungsmittelrationen. Ich denke, wir haben die Mechanismen jetzt so geordnet, dass es uns nicht wieder passieren wird, dass wahnsinnige Kürzungen der Rationen, wie sie es dort gegeben hat, überhaupt nicht mitverfolgt werden. Man muss sich das vorstellen: Eine volle Nahrungsmittelration bedeutet etwa 27 bis 30 Dollar pro Monat. Gekürzt war das Ganze auf 13 Dollar. Wenn nur 13 Dollar pro Person und Monat gegeben werden, dann kann sich jeder vorstellen, was das für Menschen bedeutet. Das wichtige Thema Bildung für Kinder müssen wir ebenso im Blick behalten. Wer sich vor Augen führt, welche Hilfe die Nachbarländer von Syrien leisten, der entwickelt auch einen anderen Blick für die Verantwortung Europas. Nebenbei gesagt: Wenn Sie sich einmal den Schengen-Raum anschauen, stellen Sie fest, dass er nicht nur bis zum Nordpol reicht, sondern dass er auch Syrien als Nachbarland hat, nämlich als Nachbarland von Zypern. Zypern gehört zum Schengen-Raum. Wir sind Nachbarn und nur durch einen kurzen Seeweg von Syrien getrennt. Wenn ich daran denke, dass der Libanon mit fünf Millionen Einwohnern 1,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat, dass aber bis heute in der Europäischen Union mit ihren 500 Millionen Einwohnern wahrscheinlich nicht einmal eine Million Syrer aufgenommen wurde, dann muss ich sagen: Wir sehen, was im Libanon, in Jordanien und auch in der Türkei mit drei Millionen Flüchtlingen geleistet wird. Natürlich verursacht die Aufnahme von Flüchtlingen Aufwand und kostet Geld. Es gibt aber auch gute Gründe, den Menschen eine Perspektive zu geben – auch mit Blick auf unsere eigene demografische Zukunft. Wir wissen: Selbst wenn jemand nach dem Bürgerkrieg wieder in seine Heimat zurückkehrt, nützt ihm eine gute Aus-, Fort- und Weiterbildung, weil er sein Wissen auch in seinem Land anwenden kann. Das ist also im wahrsten Sinne des Wortes auch Entwicklungshilfe – Hilfe zur eigenen Entwicklung. Im Übrigen weitet es auch unseren Blick auf die Welt, wenn man persönliche Kontakte hat und persönliche Schicksale kennenlernt. Wir haben in der letzten Woche ein Integrationsgesetz auf den Weg gebracht, mit dem der Bund die Verantwortung für Fordern und Fördern von Integrationsanstrengungen zum ersten Mal explizit benennt und den Zugang zu Sprach- und Integrationskursangeboten sowie zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt verbessert. Damit zeigen wir, dass wir aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben. Diejenigen, die wir früher als Gastarbeiter bezeichnet haben, haben sich zumeist dann doch als Menschen erwiesen, die viel länger als gedacht bei uns geblieben sind. Wir lernen daraus, dass sofortige Integration besser ist. Daher werden wir auch 100.000 zusätzliche Arbeitsgelegenheiten mit Bundesmitteln für leistungsberechtigte Asylbewerber schaffen. Wir glauben, dass es ein Gewinn in jeder Hinsicht ist, wenn Integration gelingt. Wir sind eine der erfolgreichsten Exportnationen weltweit. Unsere Unternehmen überzeugen auf den Weltmärkten mit forschungs- und entwicklungsintensiven Hightech-Angeboten. Diese Innovationsstärke ist natürlich auch eine unserer Grundlagen für Wohlstand und soziale Sicherheit. Deshalb ist die Förderung von Forschung und Entwicklung aus unserer Sicht ein wichtiger politischer Beitrag der Bundesregierung. Die Hightech-Strategie, die sich auf globale Kernfragen konzentriert, ist aufs Engste verbunden mit dem Ziel einer nachhaltigen Entwicklung. Diese erfordert letztlich einen Wandel in sämtlichen Lebens- und Wirtschaftsbereichen. Denn wir brauchen Innovationen, die wirtschaftlichen, sozialen und Umweltbelangen gleichermaßen dienen. Das setzt Offenheit gegenüber neuen Technologien und Offenheit gegenüber nachhaltig erzeugten Gütern voraus. Wirtschaftliche Veränderungen im Sinne von mehr Nachhaltigkeit sind nur mit einem gesellschaftlichen Wandel zu erreichen – das heißt, mit einer breiten Kultur der Nachhaltigkeit. Wenn ich auf die Entwicklungen der vergangenen Jahre blicke, dann bin ich optimistisch. Denn Nachhaltigkeit ist als ein Entscheidungskriterium in Alltagsfragen – wenn auch sehr langsam und noch nicht bei allen – viel selbstverständlicher geworden. Viel mehr Menschen wollen heute wissen, unter welchen Arbeitsbedingungen ihre neuen Jeans genäht wurden, sie achten darauf, mit welchem Siegel Nahrungsmittel versehen sind, und sie fragen nach nachhaltigen Anlagemöglichkeiten für Erspartes. Wir als Bundesregierung unterstützen das Umdenken und diesen Wandel auch ganz praktisch. Der „Qualitätscheck Nachhaltigkeitsstandards“ ist ein Beispiel dafür. Er verschafft Verbrauchern einen besseren Durchblick im Dschungel der Gütesiegel im Handel. Mit dem „Forum Nachhaltiger Kakao“ setzen sich Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam für bessere Lebensumstände der Bauern und den Schutz natürlicher Ressourcen in den Anbauländern ein. Es gibt viele, viele Möglichkeiten, sich konkret für nachhaltige Entwicklung zu engagieren. Dies zeigen auch die Aktivitäten im Rahmen der aktuellen „Europäischen Nachhaltigkeitswoche“, an der 38 Länder beteiligt sind. In Deutschland hat der Nachhaltigkeitsrat die Koordinierung übernommen. Rund 1.800 Veranstaltungen sind angemeldet – deutlich mehr als die 1.200 im vergangenen Jahr. Dazu möchte ich den Rat herzlich beglückwünschen. Da haben Sie sich selbst ein schönes Geschenk zum 15. Geburtstag gemacht. Das ist ein großartiges Engagement. Ob in der Produktion, im Handel, im Konsum, bei der Energiegewinnung oder beim Energieverbrauch – Nachhaltigkeit lässt sich überall noch besser verankern. Frau Thieme, Sie haben soeben darauf hingewiesen: Heute Abend findet eine Ministerpräsidentenkonferenz zum Thema Zukunft des Erneuerbare-Energien-Gesetzes statt. Ich weiß nicht, ob ich alles richtig verstanden habe, aber ich nehme es als Ermutigung, dass wir die Energiewende schaffen wollen. Es kann aber nicht sein, dass sozusagen eine Art der Energiegewinnung nur einem Selbstzweck dient; vielmehr gehören die Dinge zusammen. Die Energiewende findet nur statt, wenn der Strom, der produziert wird, zum Schluss auch durch eine Leitung dahin transportiert werden kann, wo er gebraucht wird. Wir sind uns ja einig, dass Strom, der nicht gebraucht wird, eigentlich nicht produziert werden sollte. Wir sehen jetzt: Die erneuerbaren Energien sind aus der Nische herausgekommen und sind inzwischen die stärkste Säule unserer Energieerzeugung. Jetzt müssen wir sie natürlich auch in ein marktwirtschaftliches Umfeld führen. Dabei haben wir heute verschiedenste Interessenausgleiche zu bewältigen. Wenn uns Ihre guten Wünsche dabei begleiten, dann haben wir schon viel gewonnen. Den Rest müssen wir alleine machen. Internationale Partner sehen Deutschland in etlichen Bereichen durchaus als Vorreiter der Nachhaltigkeitspolitik. Dazu gehört unsere Klimapolitik. Wir haben sehr ehrgeizige Ziele: Senkung der Treibhausgasemission um mindestens 40 Prozent bis 2020 und dann um 80 bis 95 Prozent bis 2050 – jeweils gegenüber dem Referenzjahr 1990. Das erste Etappenziel 2020 soll mit dem „Aktionsprogramm Klimaschutz 2020“ erreicht werden. Wir haben schon einen klaren Eindruck davon bekommen, wie schwierig das doch wird. Ich sage einmal: Nach der deutschen Wiedervereinigung hat sich das gut entwickelt, aber jede weitere Tonne CO2, die in einem weiteren Entwicklungsschritt anfällt, ist immer schwieriger zu vermeiden. Außerdem bereiten wir jetzt auch einen Klimaschutzplan bis 2050 vor. Wir haben natürlich – das war die zweite gute Nachricht des letzten Jahres – mit dem Klimaschutzabkommen von Paris einen großen internationalen Auftrag. Es war ein großer Erfolg, dass wir das geschafft haben. Wir als Deutsche wollen weiter mit gutem Beispiel vorangehen. Auch was die nationale Umsetzung der Agenda 2030 betrifft, haben wir mit der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie bereits eine solide Grundlage. Der Staatssekretärsausschuss dient der Gesamtsteuerung dieser Strategie. Sie wissen ja, dass das Ganze im Kanzleramt angesiedelt ist und der Chef des Bundeskanzleramts die Leitung dieses hochrangigen Gremiums innehat. Zudem haben wir den Parlamentarischen Beirat, der sich um Nachhaltigkeitsanliegen im Bundestag kümmert. Er kontrolliert, dass die Bundesregierung ihrer Pflicht zur Nachhaltigkeitsprüfung aller Gesetze nachkommt. Das heißt, die Bundesregierung muss Antworten auf die Frage geben, welche Auswirkungen ihre Gesetzesvorschläge mit Blick auf die Ziele, die Indikatoren und das Management der Nachhaltigkeitsstrategie haben. Nicht zuletzt haben wir den Rat für Nachhaltige Entwicklung, der uns mit fachkundiger Expertise, aber auch sachkundiger Kritik zur Seite steht. Sie im Rat haben sich von Anfang an für konkrete Nachhaltigkeitsziele und Nachhaltigkeitsindikatoren eingesetzt, die es ermöglichen, Fortschritte auch wirklich zu messen und etwaige Fehlentwicklungen aufzuzeigen. Es ist gut, dass das Statistische Bundesamt alle zwei Jahre über den Stand der Entwicklung unabhängig berichtet. So sehen wir, was gut läuft und woran wir vielleicht weiter anknüpfen können oder wo wir gegensteuern müssen. Die letzte Überarbeitung der Nachhaltigkeitsstrategie ist 2012 erfolgt; und die nächste steht in diesem Jahr an. Wir haben pünktlich zum heutigen Konferenztag ein Zwischenergebnis vorgelegt. Der Entwurf wird heute veröffentlicht. Nun sind Sie eingeladen, sich dazu mit Anregungen und Stellungnahmen zu äußern. Auf Basis der Rückmeldungen soll der Entwurf dann überarbeitet und ergänzt werden. Es zeichnet sich bereits ab, dass die Nachhaltigkeitsstrategie die weitreichendsten Änderungen seit der ersten Fassung im Jahr 2002 erfahren wird. In den Dialog um die Neuauflage haben wir so viele Verbände sowie Bürgerinnen und Bürger eingebunden wie noch nie. Das ist auch ganz im Sinne des partizipativen Charakters der Agenda 2030. Es haben bundesweit fünf große Konferenzen stattgefunden. Das Interesse daran war sehr groß. Es gab viele engagierte und richtungsweisende Beiträge. Dafür möchte ich allen Beteiligten danken. Wir müssen ja nicht alles neu erfinden, sondern können an Bewährtes anknüpfen. Wir werden natürlich den Schwung mitnehmen, den uns die Agenda 2030 gebracht hat. Das zeigt sich schon allein daran, dass wir unsere nationalen Ziele und Maßnahmen an den 17 globalen Vorgaben der Agenda 2030 ausrichten. Das ist ja auch mehr als vernünftig; es wäre wahnsinnig, wenn wir das nicht täten. Das heißt, wir stellen uns der internationalen Vereinbarung in der ganzen Breite. Wir sparen da nichts aus. Wir stellen uns also viel stärker als je zuvor unserer globalen Verantwortung. Interessant ist auch, dass es bei den Millennium-Entwicklungszielen die Frage gab: Wie viel Geld gebt ihr, damit diese Ziele irgendwie umgesetzt werden können? Jetzt sind wir Teil des Ganzen; und jeder kann auch Einsicht gewinnen, an welchen Stellen wir mehr tun müssten. Ich glaube, das wird auch die Balance im Dialog zwischen Entwicklungs- und Industrieländern sehr verbessern. Das Spektrum der neuen Strategie erweitert sich also; und sie stellt Aspekte heraus, die speziell für Deutschland sehr wichtig sind – entweder weil der Handlungsbedarf besonders groß ist oder weil Deutschland an bestimmten Punkten sehr viel beitragen kann. Wir prüfen derzeit auch, welche Änderungen in der Architektur der Nachhaltigkeitspolitik sinnvoll sind. So stellt sich etwa die Frage, ob es neuer Formate der Zusammenarbeit im Sinne einer globalen Partnerschaft bedarf. Auf Ebene der Europäischen Union setzt sich Deutschland dafür ein, den Anspruch der Agenda 2030 voll umzusetzen. Wir glauben, dass es die beste Option ist, eine neue EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung zu entwickeln. Unsere nationalen Erfahrungen sprechen jedenfalls dafür. Viele neue Wege sind möglich – und das Beste daran ist: Sehr viele werden auch beschritten. Zum Beispiel ist das Engagement von umweltpolitischen und entwicklungspolitischen Verbänden verzahnter denn je. Die Wirtschaft befasst sich in Veranstaltungen damit, welche Bedeutung die Agenda 2030 für Unternehmen hat. Dieser Frage widmet sich insbesondere das „econsense – Forum Nachhaltige Entwicklung der Deutschen Wirtschaft“. – Wir haben versucht, den Begriff „sustainability“ aus allem herauszuhalten; und nun heißt es also „econsense“. Sie werden damit bestimmt lockerer umgehen können. Auch die Bundesländer setzen sich mit der Agenda 2030 auseinander. Die ersten von ihnen haben die globalen Ziele in ihre eigenen Nachhaltigkeitsstrategien schon eingearbeitet. Die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder betonen in einer aktuellen Stellungnahme: „Zur Umsetzung der 2030-Agenda ist nach Überzeugung der Länder ein abgestimmtes, gemeinsames Handeln notwendig, sowohl zwischen Bund und Ländern als auch bei der Zusammenarbeit mit Kommunen, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Kirchen.“ Diese Zusammenarbeit wollen und können wir intensivieren. Die Bundesregierung ist dazu natürlich bereit – nicht zuletzt mit Hilfe des Nachhaltigkeitsrats. Er richtet sogenannte „Regionale Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien“ ein, um vor Ort praktische Ideen zu bündeln und konkretes Engagement zu koordinieren. Meine Damen und Herren, wir müssen die Chancen zur Stärkung des Nachhaltigkeitsgedankens wie auch die Bereitschaft, selbst etwas zu tun – die ich als sehr wertvoll einschätze –, nicht nur erkennen, sondern auch wirklich nutzen. Vor 200 Jahren lebte der Förster und Wissenschaftler Gottlob König. Er hat gesagt: „Der Fall des ersten Baumes war bekanntlich der Anfang, aber der Fall des letzten ist ebenso gewiss das Ende der Zivilisation. Zwischen diesen zwei Grenzpunkten des Völkerlebens bewegen wir uns. Die Zeit des letzteren liegt in unserer Hand.“ Nun sieht die Welt heute anders aus als zu Zeiten von Gottlob König. Das Industriezeitalter hatte damals noch gar nicht richtig begonnen. Heute leben ungleich mehr Menschen auf der Welt, es gibt aber auch ungleich mehr Möglichkeiten zur Lebensgestaltung. Doch es ist nicht vorgezeichnet, wie lebenswert die Welt ist, die wir einmal unseren Kindern und Enkelkindern hinterlassen. Wir können uns nicht herausreden. Denn wir wissen um die Notwendigkeit, dem Nachhaltigkeitsprinzip wie einem Navigationsgerät zu folgen. Wir kennen die Ziele der Agenda 2030 und wir finden sie richtig. Deshalb gibt es nichts anderes, als sich auf den Weg zu machen und das zu tun, was unsere Verantwortung ist. Herzlichen Dank für die Zusammenarbeit. Herzlichen Dank für Ihr Engagement. Alles Gute für Ihre Tagung.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen der Gedenkfeier „100 Jahre Schlacht um Verdun“ am 29. Mai 2016 vor der Nationalnekropole von Douaumont
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-der-gedenkfeier-100-jahre-schlacht-um-verdun-am-29-mai-2016-vor-der-nationalnekropole-von-douaumont-607002
Sun, 29 May 2016 16:20:00 +0200
Verdun
Sehr geehrter Herr Präsident, lieber François Hollande, sehr geehrte Damen und Herren Regionalpräsidenten, Ministerpräsidenten, Eminenzen, Vertreter der jüdischen und muslimischen Gemeinden, sehr geehrter Herr Präsident des Europäischen Parlaments, sehr geehrter Herr Präsident der Europäischen Kommission, sehr geehrte Damen und Herren, nicht zuletzt auch liebe junge Gäste, kaum älter als Sie war der französische Leutnant Alfred Joubaire, als er vor 100 Jahren unweit von hier im Schützengraben lag. Er vertraute seinem Tagebuch an, dass „nicht einmal die Hölle so furchtbar sein könne“. Diese Worte waren der Versuch, dem Grauen Ausdruck zu verleihen – der Versuch eines jungen Menschen, der eigentlich noch ein langes Leben vor sich haben sollte. Doch kurze Zeit später war Alfred Joubaire tot – eines der unfassbar vielen Opfer von Verdun. Hinter uns befindet sich das Beinhaus mit den sterblichen Überresten von mehr als 100.000 namentlich unbekannten Soldaten. Wir sind hier umgeben von einem Gräbermeer. Noch heute finden sich im Erdreich menschliche Knochen von jungen Franzosen und Deutschen, die um ihr Leben betrogen wurden. Die gesamte Landschaft ist nach wie vor von den Kämpfen gezeichnet. Hier ist die Geschichte beklemmend nah. Verdun lässt uns nicht los. Verdun kann und darf uns nicht loslassen. Verdun steht für die Grausamkeit und Sinnlosigkeit des Krieges schlechthin. Zugleich aber ist uns Verdun ein Symbol der Sehnsucht nach Frieden, der Überwindung von Feindschaft und der deutsch-französischen Aussöhnung. Selbst inmitten der Kämpfe gab es bewegende Gesten der Menschlichkeit. Wilhelm Ritter von Schramm wurde vor Verdun Zeuge, wie deutsche und französische Soldaten einander zuwinkten und sich gegenseitig Vorräte zuwarfen – ich zitiere: „Die Franzosen waren großzügiger als wir. Vor allem haben sie uns eins herübergereicht, was für uns das Wichtigste war, Wasser. So weit ging damals die Verbrüderung, es war die erste Verbrüderung, die ich in meinem Leben erlebte, sie steht in keinem Kriegstagebuch, denn wir hüteten uns wohl, das bekannt werden zu lassen.“ Diese Begebenheit könnte uns die Absurdität des Krieges kaum anschaulicher vor Augen führen – nicht allein deshalb, weil selbst in einer Hölle wie auf den Schlachtfeldern von Verdun Menschlichkeit nie ganz ausgelöscht werden kann, sondern, weil Krieg möglich ist, auch wenn sich im Innersten der meisten Menschen eigentlich alles dagegen sträubt. Dessen sollten wir stets gewahr sein, um wachsam zu bleiben und den Anfängen zu wehren. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es zwar Bemühungen um eine möglichst dauerhafte friedliche Koexistenz in Europa. Aristide Briand und Gustav Stresemann, die Außenminister beider Länder, erhielten für ihr Engagement 1926 sogar den Friedensnobelpreis. Doch die Stimme der Vernunft und der Verständigung war noch zu schwach, um sich nachhaltig Gehör zu verschaffen. Wir wissen alle nur zu gut, welch dunkle Jahre schließlich folgen sollten. Das nationalsozialistische Deutschland brachte Europa unsägliches Leid. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust kam es einem Wunder gleich, dass sich mit dem Élysée-Vertrag von 1963 das Tor zu Annäherung und Aussöhnung öffnete. Das Band des Vertrauens, das Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer geknüpft haben, ist uns ein Erbe, das kaum wertvoller sein könnte. Über zwei Jahrzehnte später standen Staatspräsident François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl Hand in Hand vor den Gräbern in Verdun. Diese Geste sagte mehr als jedes Wort. Sie war und ist Ausdruck tief empfundener Zusammengehörigkeit. So gedenken wir auch heute gemeinsam der vielen Toten von Verdun. Sie alle sind gleichermaßen Opfer geworden: von Engstirnigkeit und Nationalismus, von Verblendung und politischem Versagen. Wir bewahren den Opfern vor allem dann ein ehrendes Gedenken, wenn wir uns die Lehren, die Europa aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gezogen hat, immer wieder bewusst machen. Das sind die Fähigkeit und die Bereitschaft, zu erkennen, wie lebensnotwendig es ist, uns nicht abzuschotten, sondern offen füreinander zu sein. Natürlich mag es manchmal auch Kraft kosten, aufeinander zuzugehen und sich in die Sichtweisen anderer hineinzudenken. Aber nur wer sich aufeinander einlässt, kann voneinander lernen und voneinander profitieren. Das ist es, was ein erfolgreiches Europa ausmacht. Das spüren wir gerade in dieser Zeit, in der wir auch Schwächen unserer Gemeinschaft erfahren müssen. Und dennoch: Gemeinsame Herausforderungen des 21. Jahrhunderts lassen sich nur gemeinsam bewältigen. Mit der Einigung Europas haben wir die Gräben der Feindschaft hinter uns gelassen. Wir haben Frieden und Wohlstand gewonnen. Wir haben manche Krise gemeistert, in der wir um das Einheitswerk fürchteten, dem wir so viele Errungenschaften zu verdanken haben. Präsident François Hollande hat kürzlich nach dem deutsch-französischen Ministerrat gesagt: „Wir haben es immer geschafft, die Hindernisse zu überwinden.“ Genau dies lässt uns auch heute trotz aller Mühen und mancher Rückschläge zuversichtlich nach vorne blicken. In der Europäischen Union werden wir auch künftig immer wieder unterschiedliche Auffassungen in bestimmten Fragen haben. Das liegt in der Natur der Sache. Aber ein Gewinn für uns alle wird das, wenn wir am Ende immer wieder auch unsere Fähigkeit zum Kompromiss, zur Einigung beweisen. Rein nationalstaatliches Denken und Handeln hingegen würde uns zurückwerfen. So könnten wir unsere Werte und Interessen weder nach innen noch nach außen erfolgreich behaupten. Das gilt für die Bewältigung der europäischen Staatsschuldenkrise oder den Umgang mit den vielen Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, wie auch für alle anderen großen Herausforderungen unserer Zeit. Unser gemeinsames Bekenntnis zu den grundlegenden Werten Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit muss täglich unter Beweis gestellt werden – Werte, für deren Bewahrung Frankreich und Deutschland inmitten Europas eine besondere Verantwortung tragen. Französische und deutsche Soldaten stehen in der NATO Seite an Seite. Sie sind auch gemeinsam im Einsatz – in Mali, im Mittelmeer oder im Rahmen der internationalen Koalition, die gegen die Terrororganisation IS kämpft. Die deutsch-französische Brigade, die auch diese Gedenkfeier begleitet, verkörpert unsere enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Meine Damen und Herren, in der Schlacht von Verdun schien es, als würde das Herz Europas aufhören zu schlagen. Aber geht uns heute nicht das Herz auf, wenn wir sehen, wie sich hier, auf dem ehemaligen Schlachtfeld, gerade auch viele junge Frauen und Männer aus Frankreich und Deutschland zusammenfinden und der überwundenen Feindschaft die heutige Freundschaft unserer Länder entgegensetzen? Dies ist ein Ort des Gedenkens und zugleich ein Ort der Hoffnung auf eine gute gemeinsame Zukunft. Lieber François Hollande, von Herzen danke ich für die Einladung zu diesem gemeinsamen Gedenken. Die Bereitschaft der Französischen Republik zum gemeinsamen Innehalten an diesem geschichts- und symbolträchtigen Ort ist eine Geste, die uns in Deutschland tief berührt. Drei Flaggen wehen nun an diesem Ort: die französische Trikolore, das deutsche Schwarz-Rot-Gold und die gemeinsame Europaflagge. Uns trennen keine Gräben mehr. Als Freunde gedenken wir gemeinsam der Vergangenheit und gestalten miteinander unsere Zukunft. Denn wir sind zu unserem Glück vereint. Möge es so bleiben. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des Besuchs der Stadt Verdun am 29. Mai 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-des-besuchs-der-stadt-verdun-am-29-mai-2016-607008
Sun, 29 May 2016 11:30:00 +0200
Verdun
Sehr geehrter Herr Präsident, lieber François Hollande, sehr geehrter Herr Bürgermeister, Herr Präfekt, Herr Senator, sehr geehrte Präsidenten des Regionalrates und des Rates des Départements, sehr geehrte Abgeordnete und Stadträte, meine Damen und Herren, nicht zuletzt: liebe Schülerinnen und Schüler, Verdun – das ist mehr als der Name Ihrer Stadt. Verdun – das ist auch eine der fürchterlichsten Schlachten, die die Menschheit erlebt hat. Erbittert kämpften hier vor 100 Jahren Franzosen und Deutsche gegeneinander. Vor diesem Hintergrund ist Ihr freundlicher, freundschaftlicher Empfang für mich als deutsche Bundeskanzlerin alles andere als selbstverständlich – trotz der inzwischen vielen Jahre, in denen sich unsere beiden Nationen in Freundschaft einander verbunden fühlen. Die Einladung von Staatspräsident François Hollande zum gemeinsamen Gedenken in Verdun ist eine große Ehre für mich und für die Menschen in unserem Land. Deshalb möchte ich mich für die vielen herzlichen Gesten und Worte bedanken, mit denen Sie mich begrüßt haben. Es ist schön und alles andere als selbstverständlich, in freundliche Gesichter blicken zu dürfen an einem so geschichts- und symbolträchtigen Ort wie diesem. Auch wenn es viele Jahre her ist, dass so Schreckliches geschehen ist – dass es heute so ist, wie es ist, bedeutet mir viel. Es gibt in Frankreich wohl kaum eine Familie, die nicht mit dem Grauen des Krieges in Berührung gekommen ist. Das gilt erst recht für diejenigen, die in Verdun beheimatet waren oder sind. Trotz der Evakuierung der Zivilbevölkerung fanden damals 500 Söhne und Töchter dieser Stadt den Tod. So ist ganz sicher auch unter Ihnen hier der eine oder andere, der von einem leidvollen Kapitel in der eigenen Familiengeschichte zu berichten weiß. Selbst in der Landschaft rund um die Stadt hat der Krieg bis heute seine Spuren hinterlassen. Die Erinnerung ist allgegenwärtig. Wir alle sind dazu aufgerufen, Erinnerung auch künftig wachzuhalten. Denn nur wer die Vergangenheit kennt, kann auch Lehren aus ihr ziehen und eine gute Zukunft gestalten. Daher ist es François Hollande und mir wichtig, gemeinsam mit Schulkindern von hier die Gedenkstätte für die Toten der Stadt zu besuchen. Nach Verdun kamen 1984 auch Staatspräsident François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl. Sie gedachten der Toten Hand in Hand. Dieses Bild hat sich tief in das Gedächtnis unserer Nationen eingebrannt. Diese Geste unterstrich die Worte, die die beiden Staatsmänner damals stellvertretend für uns alle gewählt haben: „Wir haben uns versöhnt. Wir haben uns verständigt. Wir sind Freunde geworden.“ Sehr geehrter Herr Bürgermeister, Ihnen, den Leiterinnen und Leitern der Gedenkstätten in und um Verdun sowie dem Organisationsteam um Botschafter Joseph Zimet danke ich für die Vorbereitungen auf den heutigen Tag und auf das Gedenkjahr insgesamt. Sie verbinden ein würdiges Gedenken mit einem heiteren Zusammentreffen gerade auch junger Leute, das uns zukunftsfroh stimmt. Genau dies macht Verdun aus: Der Name steht für die unfassbare Grausamkeit und Sinnlosigkeit des Krieges wie auch für die Lehren daraus und die deutsch-französische Versöhnung. Daher halte ich es für ein schönes Zeichen, dass der Adenauer-de-Gaulle-Preis in diesem überaus denkwürdigen Jahr an die Stadt Verdun geht. Mit dieser Auszeichnung würdigen wir besondere Verdienste um die deutsch-französische Freundschaft. Mir ist es eine Ehre, den Preis heute gemeinsam mit Staatspräsident Hollande überreichen zu dürfen. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Verleihung des 8. Musikautorenpreises
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-verleihung-des-8-musikautorenpreises-801010
Thu, 12 May 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut: Grütters
Berlin
Kulturstaatsministerin
Genie, das ist bekanntlich „ein Prozent Inspiration und neunundneunzig Prozent Transpiration“. Da geht es Komponisten und Textdichtern sicher nicht anders als dem Erfinder Thomas Alva Edison, dem diese pointierte Feststellung zugeschrieben wird. Die Entstehungsgeschichte des legendären Gitarrenriffs im Rolling Stones-Hit „I can’t get no satisfaction“ ist also wohl eher untypisch: Es überkam Keith Richards gewissermaßen, als er nachts im Hotel völlig ermüdet auf der Gitarre herum improvisierte. Er nickte dabei ein und fand beim Aufwachen – ich zitiere aus einem Buch über berühmte Songzeilen und ihre Geschichten – „ein Band mit zwei Minuten Gitarrenspiel und 40 Minuten Schnarchen“. Wie auch immer Ihre Werke entstanden sind, liebe Musikautorinnen und Musikautoren: Die öffentliche Anerkennung für die Urheber musikalischer Geniestreiche steht meist in keinem Verhältnis zur Arbeit, die hinter dieser Leistung steckt. Den verdienten Applaus bekommen in der Regel diejenigen, die damit auf der Bühne stehen – die Musikerinnen und Musiker. Umso wichtiger ist es, die Komponisten und Textdichter aus dem Schattendasein ins Rampenlicht zu holen. Genau das gelingt der GEMA nun schon zum achten Mal mit ihrem Musikautorenpreis, für den ich auch in diesem Jahr gerne die Schirmherrschaft übernommen habe. Nicht weniger wichtig als solche Lorbeeren ist die Freiheit, die künstlerische Spitzenleistungen überhaupt erst möglich macht. Wertschätzung dafür reicht nicht aus. Sie müssen uns auch etwas wert sein, müssen auch finanziell honoriert werden, damit Künstlerinnen und Künstler von ihrer Arbeit leben – und nicht nur knapp überleben! – können. Der Schutz geistiger Schöpfungen ist dafür eine notwendige Voraussetzung. Deshalb setze ich mich unter anderem für ein modernes Urheberrecht ein, das Ihnen, den Schöpferinnen und Schöpfern musikalischer Werke, auch im digitalen Zeitalter einen fairen und angemessenen Anteil am Ertrag aus Ihrer Leistung sichert. Von solchen Erträgen können gerade junge Künstlerinnen und Künstler oft nur träumen. Der Nachwuchspreis, den ich gleich vergeben darf, ist deshalb als einziger Preis des heutigen Abends mit 10.000 Euro dotiert: eine schöne Chance für noch nicht etablierte Musikautorinnen und Musikautoren, freier von finanziellem Druck ihren Weg zu gehen! Nominiert ist, erstens, die Komponistin Anna Korsun: Sie wurde in der Ukraine geboren, studierte in Kiew und München und hat sich auf zahlreichen internationalen Konzerten und Festivals einen Namen gemacht. Das Urteil der Jury, ich zitiere: „Ihre Musik schöpft aus dem Reichtum des Innern“. Anna Korsun hat einen „feinen, fast autonomen Klangkosmos geschaffen“. Nominiert ist, zweitens, Jagoda Szmytka: Sie hat sich, so die Jury, mit „ihrem Mut und ihrem unübersehbaren Willen zum Anders-Denken als eine der interessantesten Komponistenpersönlichkeiten der jungen Generation etabliert“. Zahlreiche Auszeichnungen für die in Polen geborene und in Frankfurt am Main lebende Komponistin bestätigen das. Nominiert ist, drittens, der Komponist Vito Žuraj, der an der Hochschule für Musik in Karlsruhe und an der Musikakademie Ljubljana unterrichtet und die traditionelle Musik seiner Heimat Slowenien in seine Kompositionen einfließen lässt. Was sagen die Juroren? „Indem er kulturelle Räume und Grenzen überschreitet, gewinnt seine Musik neue Dimensionen und macht neue Energien unmittelbar spürbar“. Schauen wir – Trommelwirbel, Tusch! -, wie die Jury sich entschieden hat: Den Deutschen Musikautorenpreis 2016 in der Kategorie „Nachwuchsförderung“ gewinnt … – Jagoda Szmytka! Liebe Frau Szmytka, Sie haben die Tätigkeit des Komponierens einmal mit Vampirismus verglichen: Denn Komponisten seien wie Vampire einsame Wesen, eher Nachtgestalten, die ihrer Tätigkeit weitgehend im Verborgenen nachkommen. Was für den Vampir das Blut ist, meine Damen und Herren, das ist für Jagoda Szmytka die Auseinandersetzung mit dem grundlegend Menschlichen: mit der Frage, was den Menschen zum Menschen macht, wie Identität und Zusammengehörigkeit entstehen und wie moderne Kommunikationsformen Erfahrungswelten prägen und inszenieren. Wir haben es bei unserer Gewinnerin – die neben Musiktheorie und Komposition auch Kunstgeschichte und Philosophie studiert hat – mit einer am Puls der Gegenwart experimentierenden Musikautorin zu tun, deren interdisziplinäre Musikkunst in der Philosophie und in der Medientheorie wurzelt und mit Selbstinszenierung, mehrdimensionaler Wirklichkeitserfahrung und verschiedenen Identitäten spielt. Jagoda Szmytka vermittelt damit auch, was im Kern – jenseits ökonomischer Verwertbarkeit – ganz allgemein den Wert künstlerischen Schaffens ausmacht: Künstlerinnen und Künstler sind Unruhestifter im besten Sinne. Sie fragen nach den Sinn und Zusammenhalt stiftenden Kräften in unserer Gesellschaft und stoßen mit dem ihnen eigenen, feinen Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen Diskussionen und Veränderungen an. Das kann auch die Musik, wie Jagoda Szmytkas Kompositionen zeigen. Denn, so haben Sie selbst, liebe Frau Szmytka, es einmal gesagt: „Klang ist nicht nur eine Angelegenheit des Ohres, sondern betrifft ebenso das Auge, den Körper, das Denken.“ In diesem Sinne bescheren Sie uns unerhörte akustische, visuelle, körperliche und geistige Klangerlebnisse. Das verdient die Auszeichnung mit dem Deutschen Musikautorenpreis. Herzlichen Glückwunsch!
Bei der Vergabe des Nachwuchspreises betonte Kulturstaatsministern Grütters, wie wichtig öffentliche Anerkennung für Musikautorinnen und – autoren seien. Künstlerische Spitzenleistungen müssten aber auch „finanziell honoriert werden, damit Künstler von ihrer Arbeit leben können“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Leaders’ Roundtable im Rahmen des World Humanitarian Summit am 23. Mai 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-leaders-roundtable-im-rahmen-des-world-humanitarian-summit-am-23-mai-2016-606502
Mon, 23 May 2016 11:30:00 +0200
Istanbul
Herr Generalsekretär Ban, Herr Präsident Erdoğan, wir wollen natürlich alles tun, um humanitären Krisen und Katastrophen vorzubeugen. Das ist das gemeinsame Ziel. Nun geht es um die Frage: Wie können wir gemeinsam handeln? Ich denke, dass wir lernen müssen, Frühwarnung, Prävention, Stabilisierung, Friedenskonsolidierung und nachhaltige Entwicklung sowie die jeweiligen Instrumente zusammenzudenken. Wir müssen natürlich die Lasten auch international fair teilen. Das ist heute von Präsident Erdoğan auch schon gesagt worden. Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung ist Friede. Das heißt, Krisenprävention ist die entscheidende Aufgabe. Gleichzeitig müssen wir aber auch in der Lage sein, auf gewaltsame Konflikte zu reagieren. Denn es wäre blauäugig und illusionär, zu glauben, dass es gar nicht mehr zu Krisen käme. Auch Naturkatastrophen wird es weiterhin geben. Es wird immer Menschen in akuten Notsituationen geben. Wir müssen lernen, humanitäre und politische Handlungsoptionen besser aufeinander abzustimmen. Ich nehme zum Beispiel das Thema Stabilisierung einer Region. Wenn es Anstrengungen zur Konfliktlösung gibt – heute wurde darüber gesprochen, dass sich einige Länder, auch die Türkei, mit Mediation beschäftigen –, dann muss das dadurch unterfüttert werden, dass die betroffenen Menschen einen Mehrwert erkennen, eine Friedensdividende gewinnen und Möglichkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung erhalten. Das heißt, es geht um neue Perspektiven etwa durch Beschäftigungsförderung und Bildung, durch den Aufbau von Basisinfrastrukturen und Katastrophenschutz. Das bedeutet also, Friede auf der einen Seite und nachhaltige Entwicklung auf der anderen Seite bedingen einander. Keine nachhaltige Entwicklung ohne Frieden, aber auch kein Friede ohne nachhaltige Entwicklung. Was heißt das? Das heißt, dass wir die Dinge gut aufeinander abstimmen müssen: Zugang zu humanitärer Hilfe, Mediation und politische Konfliktlösung. Hier will ich, was politische Konfliktlösung anbelangt, ganz offen ansprechen, dass wir in Gesprächen mit Politikern aus den Ländern, in denen Konflikte herrschen, auch stärker gute Regierungsführung einfordern müssen. Es nützt nichts, wenn wir uns international um politische Gespräche bemühen, aber aufgrund intransparenter Regierungsführung bei den Menschen nichts von dem ankommt, was wir als Ziele festlegen. In Zeiten der Digitalisierung, in Zeiten des Internets, wissen junge Menschen auch in den Ländern, die von Konflikten, von Hunger, von Klimawandel betroffen sind, im Grunde alles und kennen jede Information – auch über ihre eigenen Regierenden. Es muss gelingen, die Zivilgesellschaft besser in die Konfliktlösung einzubeziehen – allen voran Frauen, die sehr viel stärker Ressourcen für ihre Familien, für die Kinder und für das Zusammenleben vor Ort einsetzen –, indem subsidiäre Strukturen geschaffen werden, mit denen den Kommunen mehr Gewicht zukommt und die gesamte Gesellschaft auf dem neuen Weg des Landes mitgenommen wird. Auch hierbei müssen wir von guten Beispielen lernen. Das bedeutet nicht etwa, dass die Industrieländer immer sagen, wie man das machen soll. Viel interessanter und spannender hingegen sind die guten Beispiele aus der jeweiligen Region, an denen andere lernen können, wie es besser geht. Wenn wir diesen Weg gehen, dann haben wir, denke ich, auch eine Chance, Krisenprävention und Krisenlösung besser hinzubekommen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen der Plenarsitzung beim World Humanitarian Summit am Montag, 23. Mai 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-der-plenarsitzung-beim-world-humanitarian-summit-am-montag-23-mai-2016-606500
Mon, 23 May 2016 11:00:00 +0200
Istanbul
Sehr geehrter Herr Generalsekretär Ban, sehr geehrter Herr Präsident Erdogan, meine Damen und Herren, Konflikte und Katastrophen verursachen unermessliches Leid und stellen die humanitäre Hilfe vor neue Herausforderungen. Die Wahrheit ist: Wir haben heute noch kein zukunftsfähiges humanitäres System. Viele Menschen verfolgen daher unser Treffen hier in Istanbul sehr aufmerksam. Deshalb möchte ich dem UN-Generalsekretär dafür danken, dass er den Finger in die Wunde gelegt und nach einer langen Vorbereitung für diesen Gipfel heute den Startschuss gegeben hat. Ich möchte der Türkei für die Gastfreundschaft und die Möglichkeit danken, diesen Gipfel hier in Istanbul durchzuführen. Was brauchen wir? Erstens: Wir brauchen einen erneuerten globalen Konsens über die humanitären Prinzipien. Eigentlich ist es eine Katastrophe, dass man darüber sprechen muss, dass das Völkerrecht eingehalten wird. Trotzdem erleben wir in Syrien, im Jemen und anderswo, dass systematisch Krankenhäuser bombardiert, Gesundheitszentren zerstört werden und Ärzte ihr Leben verlieren. Da wird flagrant gegen die humanitären Prinzipien gehandelt. Es muss gelingen, dass Hilfe dort ankommt, wo sie gebraucht wird. Es muss gelingen, dass humanitäre Arbeit vor Ort geleistet werden kann. Dafür müssen wir uns alle gemeinsam einsetzen. Zweitens muss es darum gehen, für eine möglichst reibungslos funktionierende Hilfe zu sorgen. Wir dürfen nicht von Ereignis zu Ereignis, von Katastrophe zu Katastrophe arbeiten, sondern wir brauchen ein in sich geschlossenes System der humanitären Hilfe. Wir brauchen vor allem auch Verlässlichkeit derer, die humanitäre Hilfe unterstützen. Viele Zusagen werden gemacht, aber das Geld kommt schlussendlich bei den Projekten nicht an. Das muss sich ändern. Deutschland unterstützt den Vorschlag, das Volumen des Central Emergency Response Fund auf eine Milliarde US-Dollar anzuheben. Auch wir auf deutscher Seite werden selber mehr Geld für humanitäre Hilfe ausgeben. Wir brauchen gefüllte Krisenfazilitäten und nicht immer erst Aktionen, wenn eine Katastrophe passiert. Drittens geht es um neue Wege. Hierbei müssen wir voneinander lernen. Wir müssen immer wieder die effizientesten und besten Wege nachvollziehen und implementieren. Ich möchte dafür werben, dass wir auch Versicherungsmodellen neben den klassischen Finanzierungen eine Chance geben, zum Beispiel Versicherungsmodellen im Zusammenhang mit den Risiken des Klimawandels oder globaler Epidemien. Das hat den Vorteil, dass schnell Abhilfe geleistet werden kann. Wer einen Versicherungsanspruch hat, wird nicht mehr als Bittsteller wahrgenommen, sondern als jemand, der eben Ansprüche hat. Deshalb können Versicherungsmodelle wirklich einen Wechsel herbeiführen. Viertens geht es darum, dass wir unsere Aktivitäten vernetzen. Vorbeugung, Entwicklungszusammenarbeit und die Umsetzung der Agenda 2030, die im vergangenen Jahr verabschiedet wurde, müssen Hand in Hand gehen. Konflikte sind heute nicht mehr durch eine Ursache zu erklären, sondern durch viele Ursachen – vom Klimawandel über Hunger, Bürgerkriege und vieles andere mehr. Deshalb müssen wir an mehreren Stellen ansetzen. Und deshalb müssen die Instrumente ineinandergreifen. Heute erfolgt nicht mehr und nicht weniger als der Startschuss zur Implementierung eines inklusiven Systems globaler Aktionen, um Menschen in Not zu helfen und deutlich zu machen: Wir alle leben auf einem Planeten, jeder Mensch hat ein Leben, jeder hat das Recht, dieses Leben nachhaltig und sinnvoll zu verleben. Dafür müssen wir jedem Chancen geben. Diese Chancen haben zu viele heute nicht. Herzlichen Dank für die Organisierung dieses Gipfels.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Eröffnungsveranstaltung von „Kultur öffnet Welten“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-eroeffnungsveranstaltung-von-kultur-oeffnet-welten–448176
Sat, 21 May 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut: Grütters
Berlin
Kulturstaatsministerin
Vielleicht sind Sie Ihnen aufgefallen: die Gesichter der Menschen, die gegenüber der Bühne zu sehen sind. Es sind Flüchtlingsportraits des Künstlers Guillaume Bruère, gezeichnet in einer der vielen Turnhallen, die (auch) hier in Berlin in den vergangenen Monaten zu Notunterkünften umfunktioniert wurden. Und vielleicht ging es Ihnen wie mir, als ich diese Zeichnungen vor einigen Monaten zum ersten Mal gesehen habe: Sie ziehen einen sofort in ihren Bann, wahrscheinlich auch deshalb, weil der Flüchtling in der öffentlichen Debatte oft gesichts- und geschichtslos bleibt – Teil einer anonymen Masse, die administriert werden muss. Heute Abend stehen Menschen im Mittelpunkt, die – wie Guillaume Bruère für seine berührenden Zeichnungen – Gesichter sehen, wo andere vor allem oder ausschließlich einen vielfach als bedrohlich empfundenen Flüchtlingsstrom wahrnehmen: In den 150 Projekten, die für den erstmals von mir ausgelobten „Sonderpreis für Projekte zur kulturellen Teilhabe geflüchteter Menschen“ vorgeschlagen wurden, begegnen Einheimische und Neuankömmlinge sich von Angesicht zu Angesicht und knüpfen persönliche Verbindungen über Theater, Musik und Kunst. Es ist beeindruckend, an diesen herausragenden Beispielen bürgerschaftlichen Engagements zu sehen, was Kunst und Kultur zu leisten imstande sind: Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren; sie kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Kunst kann uns aber auch nötigen, die Perspektive zu wechseln und die Welt aus anderen Augen zu sehen. Ein herzliches Dankeschön an die Jury, an alle Mitglieder und ihre Vorsitzende, Frau Ferhad, die die 150 Vorschläge gesichtet und dafür viel Zeit und Energie investiert haben! Der jeweils mit 10.000 Euro dotierte Sonderpreis, für den zehn Projekte nominiert sind, soll die Kraft der Kultur als Integrationsmotor sichtbar machen. Vor allem aber soll er Anerkennung und Wertschätzung für die Unterstützung bei einer großen gesellschaftlichen Zukunftsaufgabe zum Ausdruck bringen. Es war richtig, und ich bin dankbar dafür, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel die europäischen Menschenrechtsstandards im September 2015 angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe zum Leitbild ihrer Flüchtlingspolitik gemacht hat – bei allen Risiken und Unwägbarkeiten, mit denen eine Entscheidung dieser Tragweite verbunden war. Die Mühen der Integration werden unser aller Kraft erfordern. Schlimmer als daran zu scheitern wäre allerdings, es nicht einmal versucht zu haben. Mit Ihren Ideen und Ihrem Engagement, liebe Nominierte, bringen Sie die Grenzen überwindende Kraft der Kultur zur Entfaltung, so dass wir sagen können: Wir schaffen das! Natürlich bleibt die Integration geflüchteter Menschen aber in erster Linie eine politische Herausforderung – und zwar nicht nur eine innenpolitische, eine sozialpolitische und eine bildungspolitische, sondern auch und gerade eine kulturpolitische Herausforderung: zum einen, weil die Angst vor der vermeintlich drohenden Dominanz kultureller Minderheiten das große Bedürfnis nach Vergewisserung unserer eigenen kulturellen Identität offenbart. Zum anderen, weil kulturelle Teilhabe eine grundlegende Voraussetzung dafür ist, dass Zuwanderer in der Fremde heimisch werden. Das von meinem Haus maßgeblich geförderte und 2012 erschienene Interkulturbarometer belegt, dass Menschen mit Migrationshintergrund ihre Lebenssituation in Deutschland vor allem dann als positiv empfinden, wenn sie in das kulturelle Geschehen vor Ort eingebunden sind. Das Bedürfnis nach kultureller Selbstvergewisserung einerseits und der Anspruch auf kulturelle Teilhabe andererseits stecken den Bereich der Mitverantwortung der Kulturpolitik und der Kultureinrichtungen für Integration und Zusammenhalt ab – übrigens nicht nur für Menschen, die in Deutschland Zuflucht suchen, sondern beispielsweise auch für sozial benachteiligte, bildungsferne Bürgerinnen und Bürger. Kultur ist dabei Brückenbauerin und Türöffnerin, aber auch Ausdruck und Spiegel unserer Identität. Wie viel unsere Kultureinrichtungen landauf landab zum Gelingen kultureller Vielfalt beitragen, ist uns leider nicht immer bewusst. Umso wichtiger ist es, den Beitrag der Kulturinstitutionen stärker sichtbar zu machen: als Einladung zu interkulturellen Begegnungen vor Ort, aber auch als Ausdruck des Selbstverständnisses einer weltoffenen Gesellschaft. Deshalb bin ich froh und dankbar, dass meine Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern und Kommunen sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen meiner Anregung gefolgt sind, in einer gemeinsamen Initiative sichtbar zu machen, was es in unseren Kultureinrichtungen bereits an Aktionen, Programmen und Konzepten zur kulturellen Integration gibt. Darum geht es bei „Kultur öffnet Welten“. Herzlichen Dank an all jene, die dazu beigetragen haben, dass wir heute, am UNESCO-Tag der kulturellen Vielfalt, den Startschuss für eine bundesweite Aktionswoche geben können, insbesondere an – die Vertreterinnen und Vertreter der Länder, der kommunalen Spitzenverbände und der Zivilgesellschaft, die aus einer guten Idee eine überzeugende Initiative für ganz Deutschland gemacht haben – das „netzwerk junge Ohren“, das die Initiative bundesweit koordiniert und mit seiner Expertise großartige Arbeit leistet – die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ), die uns bei der Verständigung über die Namensrechte unterstützt hat – das Haus der Kulturen der Welt, das in kürzester Zeit eine Website für „Kultur öffnet Welten“ und die zugehörigen Initiativen entwickelt hat – unsere heutigen Gastgeber, das Deutsche Historische Museum, das nicht nur für einen schönen Rahmen gesorgt hat, sondern ganz nebenbei als Museum auch daran erinnert, wie stark die deutsche Geschichte seit jeher von Migration geprägt ist und nicht zuletzt an alle anderen, die im Beirat und in der Steuerungsgruppe der Initiative den Weg zum Erfolg geebnet haben Mit dieser breiten Unterstützung, meine Damen und Herren, kann und soll aus einer kulturpolitischen Idee und aus einzelnen Aktionen vor Ort eine Kulturinitiative mit bundesweiter Strahlkraft werden, die sowohl kulturelle Identität als auch kulturelle Teilhabe in Deutschland zu stärken vermag – ganz im Sinne des Philosophen Karl Jaspers, der einmal gesagt hat: „Heimat ist da, wo ich verstehe und verstanden werde.“ Denn ich bin überzeugt: Eine Gesellschaft, die zur Auseinandersetzung mit ihrem kulturellen Erbe und ihrer kulturellen Vielfalt einlädt, stärkt das Verstehen und Verstanden werden und kann unterschiedlichen Kulturen eine Heimat sein.
Die Initiative „Kultur öffnet Welten“ solle die vielfältigen Aktionen, Programme und Konzepte zur kulturellen Integration sichtbar machen, so Kulturstaatsministerin Monika Grütters in ihrer Rede. „Die Integration geflüchteter Menschen ist auch und gerade eine kulturpolitische Herausforderung“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Festakt zum zehnjährigen Bestehen des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) am 20. Mai 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-festakt-zum-zehnjaehrigen-bestehen-des-deutschen-olympischen-sportbundes-dosb-am-20-mai-2016-457980
Fri, 20 May 2016 12:40:00 +0200
Frankfurt am Main
Sehr geehrter Herr Präsident Bach, sehr geehrter Herr Präsident Hörmann, sehr geehrte Festgäste aus dem In- und Ausland, vor nunmehr zehn Jahren wurde der Deutsche Olympische Sportbund gegründet. Auch ich erinnere mich noch genau daran. Diese zurückliegenden zehn Jahre waren reich an sportlichen Höhepunkten und Erfolgen. Deshalb möchte ich im Namen der ganzen Bundesregierung herzlich gratulieren. Über 27 Millionen Vereinsmitgliedschaften sprechen eine eigene Sprache: Sport ist in Deutschland eine Volksbewegung im besten Sinne des Wortes. Ein Drittel der Gesamtbevölkerung engagiert sich also im und für den Vereinssport. Wenn wir auch all die anderen dazuzählen, die sportlich aktiv sind oder Sportereignisse mitverfolgen, dann ist es nicht übertrieben zu sagen, dass Sport zum Leben einfach dazugehört. Fast jeder begeistert sich für irgendeine Disziplin. Der Fußball steht ganz vorn. Schon er allein hat Millionen Fans in Deutschland. Deutschland ist eine begeisterte und begeisternde Sportnation. Angesichts einer unglaublichen Vielfalt an Angeboten findet sich für jeden eine Lieblingssportart. Dies gilt auch für den paralympischen Sport. Mit oder ohne Beeinträchtigung – Sport tut einfach gut. Er entfaltet körperliche, soziale und emotionale Kräfte. Er baut Berührungsängste ab und bringt Menschen zusammen. Deshalb ist Sport auch ein ausgezeichneter Integrationsmotor. Kaum jemand weiß dies besser als Sie in den Vereinen und Verbänden. Mehr als 25 Jahre reichen die Wurzeln des bundesweiten Programms „Integration durch Sport“ zurück. Dass der Name auch wirklich Programm ist – dafür sorgt heute der Deutsche Olympische Sportbund, unterstützt vom Bundesministerium des Innern und vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Dieses Programm hat sich bewährt. Daher haben wir es auch für Asylbewerberinnen und Asylbewerber geöffnet und die Bundesmittel für 2016 mehr als verdoppelt – auf insgesamt über elf Millionen Euro. Ich halte das für eine sehr lohnende Investition. Denn in einem Sportverein mitmachen zu können, macht es Neuankömmlingen leichter, erste Kontakte zu knüpfen, unser Land besser kennenzulernen und einen guten Platz in unserer Gesellschaft zu finden. Allen, die dabei hilfreich zur Seite stehen, möchte ich herzlich danke sagen. Die wohl wichtigste Stütze des Sports ist und bleibt das ehrenamtliche Engagement. Überall in unserem Land finden sich unzählige Sportfreunde, die sich in ihrer freien Zeit um die Organisation des Vereinslebens kümmern, Turniere veranstalten oder den Nachwuchs trainieren. Sie packen mit an und sind da, wenn sie gebraucht werden. Ohne sie wäre der Sport in seiner Breite undenkbar. Sie sind das Rückgrat des Breitensports. Und ohne diese Grundlage sind auch Erfolge im Spitzen- und Leistungssport in Deutschland kaum denkbar. Zumeist nehmen erfolgreiche Sportkarrieren bereits im Kindesalter ihren Lauf. Das heißt, Eltern spielen eine entscheidende Rolle. Aber gewiss nicht allen behagt der Gedanke, dass sich ihre Kinder als Möchte-gern-Profis auf die Ausübung einer Sportart konzentrieren. Denn wer weiß schon genau, wie sich das auf die Schulbildung und auf die künftige berufliche Perspektive auswirkt. Zweifellos aber macht es Kindern viel Freude, sich mit anderen zu messen und sportliche Erfolge einzufahren. Dies kann der Beginn einer wunderbaren Laufbahn im Leistungssport sein. Aber Tatsache ist auch: Der Weg ist hart. Bis Nachwuchssportler zur Spitze vorstoßen, sind neben sportlichen auch viele andere Hürden zu überwinden. Vor allem Bildung, Ausbildung und Studium mit Leistungssport zu vereinbaren, ist für viele ein Drahtseilakt. Zum Glück engagieren sich viele Sportvereine und -verbände, damit dieser Drahtseilakt gelingt. Dabei kooperieren immer mehr Vereine direkt mit Schulen. Sie bieten AGs an oder schicken ihre Trainer in den Sportunterricht. In Berlin zum Beispiel gibt es das Projekt „Profivereine machen Schule“. Davon haben alle Seiten etwas: Der Schulsport verbessert sich; und die Vereine gewinnen Nachwuchs. Alba Berlin hat sogar eine eigene Grundschulliga gegründet. Daneben brauchen wir natürlich auch engagierte Eltern. Viele Mütter und Väter sind erfreulicherweise bereit, ihren Kindern das Training und die Teilnahme an Wettkämpfen zu ermöglichen. Das fängt mit dem Hinfahren und Abholen an und führt über den Kauf von Sportkleidung und -ausrüstung bis hin zur Übernahme von Aufgaben im Verein. Das alles machen sie, weil sie sehen, was ihre Kinder gewinnen. Damit meine ich nicht nur Pokale, sondern vor allem auch soziale Werte wie Ausdauer und Disziplin, Teamgeist, Fairness und Toleranz – also Eigenschaften, die nicht nur im Sport, sondern in allen Lebensbereichen zählen. Aber ich will auch nichts schönreden, denn eine Karriere in Sport und Beruf verlangt einiges ab. Die Herausforderung, Höchstleistungen in beidem zu erbringen, ähnelt der viel zitierten Quadratur des Kreises. Daher endet manch vielversprechende Sportkarriere aus Sorge um die Zukunft vorzeitig. Oft ist der Verdienst aus dem sportlichen Erfolg zu gering, um damit auch für die Zeit nach der Profi-Ära vorzusorgen. Einige Stars in populären Sportarten verdienen ausgezeichnet. Viele andere hingegen haben es dagegen deutlich schwerer, sportlichen Erfolg in finanzielle Sicherheit umzusetzen. Da braucht es andere Quellen der Motivation. Umso bemerkenswerter ist eine Einstellung, wie sie zum Beispiel der Ringer und amtierende Weltmeister Frank Stäbler zum Ausdruck brachte – ich möchte ihn zitieren: „Mir war immer bewusst, dass ich mit Ringen nicht reich werde. Ich habe das Ziel, dass ich innerer Millionär werde.“ – Zitatende. In jedem Fall ist es Gold wert, dass es zum Beispiel die Initiative „Sprungbrett“ gibt. Damit bietet die Bundesregierung gemeinsam mit der Stiftung Deutsche Sporthilfe ehemaligen Spitzenathletinnen und -athleten Unterstützung an, wenn sie ihre beruflichen Chancen verbessern wollen. Wir brauchen junge Menschen, die Ja zum Leistungssport sagen, die die Mühe jahrelangen Trainings auf sich nehmen und vieles andere zurückstellen – für den eigenen Erfolg, aber auch für den Erfolg unseres Landes. Denn unsere Athletinnen und Athleten sind auch unsere Botschafter in der Welt. Sie treten bei internationalen Wettbewerben für Deutschland an, repräsentieren unser Land und geben ihm ein Gesicht. Topsportler sind auch Botschafter ihrer Disziplin und als solche gleichsam leuchtende Vorbilder. Steigt ihr Stern, steigen oft auch die Anmeldungen in den Vereinen. Im Grunde ist es ein Kreislauf: Erfolg weckt Begeisterung; Begeisterung sorgt für Nachwuchs; und mit dem Nachwuchs wachsen die Chancen auch auf künftigen Erfolg. Spitzensport beflügelt also den Breitensport. Und dieser wiederum ist die Quelle des Spitzensports. Spitzen- und Breitensport sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Diese Medaille glänzt aber nur dann, wenn sportliche Erfolge wirklich ehrliche Erfolge sind. Sport entfaltet seine vielen positiven Effekte nur, wenn seine Integrität gesichert ist. Manipulation, Doping und Korruption hingegen machen Siege zur Farce. Sie zerstören jede Glaubwürdigkeit. Sie haben im Sport nichts zu suchen. Eine verbesserte gesetzliche Grundlage ermöglicht eine angemessene Sanktionierung krimineller Verhaltensweisen. Strafgesetze können aber nur ein Baustein sein, um Sport sauber zu halten. Dazu braucht es vor allem auch das gemeinsame Engagement der Vereine und Verbände, der Trainer und Betreuer, der Fanclubs und natürlich der Sportler selbst. In der Präambel zur Satzung des DOSB heißt es – ich zitiere: „Der DOSB tritt ausdrücklich für einen humanen, manipulations- und dopingfreien Sport ein.“ Dieser Anspruch muss uns alle – im Sport wie in der Politik – leiten. In diesem Sinne gilt es, eine Sportkultur zu pflegen, die einer ungetrübten Sportbegeisterung dient. Meine Damen und Herren, was kann man sich für das Jubiläumsjahr 2016 mehr wünschen als viele großartige sportliche Erfolge? In dieser Hinsicht wurden wir bislang wahrlich nicht enttäuscht. Denken wir nur an die medaillenträchtigen Wettbewerbe im Wintersport, an den EM-Titel unserer Handballer oder jüngst an die deutschen EM-Erfolge der Kanuten, Ruderer, Wasserspringer und nicht zuletzt der Schwimmer mit Behinderung. Hier an alle Sternstunden allein der ersten Monate dieses Sportjahres zu erinnern, würde den Rahmen sprengen. Die meisten fiebern nun bereits der Fußball-Europameisterschaft in Frankreich entgegen. Wenig später stehen die Olympischen und Paralympischen Spiele in Rio auf dem Programm. Bei aller gebotenen diplomatischen Zurückhaltung auch mit Blick auf unsere internationalen Gäste – ich drücke trotzdem allen deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Daumen. Das Sportjahr 2016 insgesamt lässt uns kaum zum Atmen kommen. Aber wir wollen es auch nicht anders. Als Sportnation wollen wir uns und anderen immer wieder beweisen, was in uns steckt. Wenn es stimmt, dass der Sport ein Spiegelbild der Gesellschaft ist, dann kann sich unser Land wirklich sehen lassen. Großen Anteil daran haben auch der DOSB und alle seine Mitglieder. An ihrem unermüdlichen Einsatz für ein in umfassendem Sinne sportliches Miteinander lässt sich ihr Stellenwert in unserer Gesellschaft ermessen. Daher kommt es wirklich von Herzen, wenn ich Ihnen Dank für Ihren Einsatz ausspreche und auch für die nächsten zehn Jahre große Erfolge wünsche. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Wiedereröffnung des Europäischen Hauses am 12. Mai 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-wiedereroeffnung-des-europaeischen-hauses-am-12-mai-2016-339532
Fri, 12 Feb 2016 15:25:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Parlamentspräsident, lieber Martin Schulz, sehr geehrter Herr Kommissionspräsident, lieber Jean-Claude Juncker, sehr geehrter Herr Piplat, sehr geehrter Herr Kühnel, sehr geehrter Herr Professor Brückner, liebe Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, liebe Europäerinnen und Europäer, ich freue mich sehr, dass ich bei der Wiedereröffnung des Europäischen Hauses dabei sein kann. Ich glaube, die Neugestaltung – man kann schon etwas von Interaktivität und einem Nachbau des Europäischen Parlaments ahnen – machen uns alle gespannt darauf, wie sich die europäischen Institutionen hier in Berlin präsentieren. Eines steht für mich jetzt schon fest: Die Investitionen des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission hier an dieser Stelle sind richtige Investitionen, und zwar sowohl in räumlicher Hinsicht – die unmittelbare Nähe zum Brandenburger Tor mit seiner Symbolkraft spricht für sich – als auch in thematischer Hinsicht. Denn je größer die Aufgaben für Europa werden, desto stärker müssen wir die Bürgerinnen und Bürger einbeziehen, mit ihnen ins Gespräch kommen, mit ihnen diskutieren. Ich glaube, es kann ein Ort der gegenseitigen Bereicherung sein. Wir alle neigen ja manchmal dazu, über Europa in Kürzeln und in bestimmten Wortformen zu sprechen. Die Nachfrage der hierherkommenden Menschen – Was bedeutet was? – könnte auch durchaus helfen, eine verständlichere Sprache zu sprechen. Wir haben riesige Aufgaben: die Stabilisierung des Euroraums, die Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus, die Freihandelsabkommen, über deren Sinn und Wichtigkeit es eine intensive Diskussion gibt, der Umwelt- und Klimaschutz und der Umgang mit den vielen Flüchtlingen, die zu uns kommen und in Europa Schutz suchen. Bei all diesen Fragen zeigt sich, dass wir dann, wenn Europa geeint ist, wenn die Vertreterinnen und Vertreter der 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger Europas zu gemeinsamen Beschlüssen kommen können, auf der Welt stärker auftreten und das, was uns wichtig ist, besser durchsetzen können. Natürlich ist Europa oft kompliziert. Manchmal sind die Mitgliedstaaten uneins, manchmal sind sich die Parlamentarier im Europäischen Parlament nicht eins. Nur die Europäische Kommission kommt immer mit gemeinsamen Beschlüssen; da hört man nicht viel von Differenzen. Ich vermute aber, dass im Innern wahrscheinlich auch diskutiert wird. Europa lebt jedenfalls von offenen Debatten. Die Suche nach Kompromissen ist nicht die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern sie ist die einzige Möglichkeit, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen, in denen sich jeder wiederfinden kann. Oft sind die Ideen, die alle einbringen, auch der Grund, warum ein Ergebnis stärker ist, als wenn sich nur einer zu hundert Prozent durchsetzen könnte. Wir müssen als Politiker unser Handeln erklären. Wir müssen Fragen beantworten. Das gilt in den Mitgliedstaaten genauso wie in den europäischen Institutionen. Dass sich das Europäische Parlament und die Kommission dieser Aufgabe stellen, zeigt dieses Haus hier. Es versteht sich als eine zentrale Anlaufstelle für Menschen aus Deutschland, aber auch für die vielen Touristen, die hier entlanggehen. Es ist so etwas wie ein permanenter Bürgerdialog, der hier stattfindet. Der Standort zeigt, dass dazu eine große Bereitschaft besteht. Man hätte sich in irgendeinen Winkel der Stadt verziehen und sagen können: Dann kommen nicht ganz so viele vorbei. Hier aber ist vollkommen klar, dass jeder den Eingang finden wird, der daran interessiert ist, etwas über Europa, über seine Werte und seine Interessen zu erfahren. Ich denke, wir müssen deutlich machen, dass wir im globalen Wettbewerb in einer Welt, die immer mehr zusammenwächst – in einer Welt, in der man über das Smartphone weiß, wie es überall aussieht –, unsere Werte und unsere Interessen stets aufs Neue gemeinsam behaupten müssen. In der aktuellen Debatte um die Flüchtlingsfragen und das EU-Türkei-Abkommen bedeutet das zum Beispiel, dass wir erkennen müssen, dass wir ein solches Abkommen mit der Türkei brauchen und dass es alle Anstrengungen wert war, ein solches zu verhandeln, auch wenn Schwierigkeiten auftreten. Denn selbst wenn es in Europa keinerlei Diskussion über die Verteilung von Flüchtlingen geben würde, müssten wir immer noch gemeinsam mit der Türkei, mit Jordanien, mit dem Libanon Fluchtursachen bekämpfen und dafür Sorge tragen, dass Menschen näher an ihrer Heimat bleiben können, dass sie nicht den gefährlichen Weg über die Ägäis oder das Mittelmeer nehmen müssen. Ein Beispiel: Über 350 Flüchtlinge haben von Jahresbeginn bis zum 20. März beim Überqueren des Weges von der Türkei nach Griechenland ihr Leben verloren, ganze sieben – immer noch sieben zu viel – seit dem 20. März bis heute. Das allein zeigt schon, dass wir nicht zulassen dürfen, dass sich Menschen in die Hände von Schleppern und Schmugglern begeben, sondern dass wir mit anderen Nachbarstaaten Regelungen sowohl zur Bekämpfung der Fluchtursachen als auch in Bezug auf die Wahrnehmung unserer humanitären Verpflichtungen finden müssen. Es ist ganz einfach, aber man muss es wissen: Was aus Europa wird, wie sich Europa entwickelt, liegt in unser aller Hände. Wir haben das in der Hand. Dass es uns wichtig ist, für dieses Europa zu kämpfen, ist auch in den Reden, die heute hier gehalten wurden, angeklungen. Ich möchte ein herzliches Dankeschön für die Entscheidung des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission sagen, in so ein Europa-Haus zu investieren und sich damit den Fragen und Anliegen der Menschen zu stellen. Alles Gute, möglichst viele Besucher – und dass Ihnen keiner zu viel werde.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei Präsentation und Lesung des Buchs „Am anderen Ufer der Memel – Flucht aus dem Kownoer Ghetto“ des Zeitzeugen Shalom Eilati
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-praesentation-und-lesung-des-buchs-am-anderen-ufer-der-memel-flucht-aus-dem-kownoer-ghetto-des-zeitzeugen-shalom-eilati-798852
Tue, 10 May 2016 00:00:00 +0200
Berlin
Kulturstaatsministerin
„Wenn ein Überlebender spricht, dann spricht er von Herzen. Das tut weh.“ Diese Worte stammen von Uri Chanoch – auch er ein Holocaust-Überlebender, dem Sie zu Beginn Ihres Buches eine Danksagung gewidmet haben. Ich erinnere mich gut an die bewegende Begegnung mit ihm im Januar 2015 bei einem Zeitzeugengespräch hier in Berlin, etwa ein halbes Jahr vor seinem Tod: Er hat mich mit seiner offenen, warmherzigen Ausstrahlung, seiner Weisheit und seinem unerschütterlichen Lebensmut tief beeindruckt. Immer wieder bewegend und beeindruckend ist aber vor allem die Kraft der Überlebenden, von den Schrecken der nationalsozialistischen Terrorherrschaft zu erzählen – so wie Sie, lieber Shalom Eilati, in Ihrem Buch „Am anderen Ufer der Memel – Flucht aus dem Kownoer Ghetto“. Wie weh es tut, um Worte für das Unfassbare zu ringen, wie schmerzhaft es ist, die Last des Erlebten und Erlittenen zu tragen, das können wir Nachgeborenen nur erahnen. Zum Beispiel, wenn wir in Ihrem Buch lesen, wie Sie selbst das Schweigen Ihres Vaters empfanden, seine Sprachlosigkeit im Bann der Trauer und der durchlittenen Qualen. Ich zitiere: „[Ü]ber Mutter und meine Schwester sprach er kein einziges Wort, nie erwähnte er sie auch nur. Nie sprach er mit mir über seinen Schmerz, die Sehnsucht nach seiner Frau und seiner Tochter, die er verloren hatte. 50 Jahre vergingen, ehe Vater seiner ältesten Enkelin gegenüber zugab, dass er ganz einfach nicht in der Lage war, auch nur die Namen seiner Lieben beim Yizkorgebet zu Jom Kippur zu nennen (…). Ihm machte der Gedanke zu schaffen, dass ich, sein Sohn, vielleicht glauben könnte, er hätte sie vergessen, doch selbst darüber mit mir zu sprechen, stand nicht in seiner Macht.“ [S. 266] Sie, lieber Shalom Eilati, haben trotz allem die Kraft gefunden, Ihre Erinnerungen mit uns zu teilen. Dafür sind wir von Herzen dankbar: dankbar, weil es das Mindeste ist, was wir für die Überlebenden tun können: Ihnen zuzuhören und Sie mit Ihren Erinnerungen nicht allein zu lassen; dankbar aber auch, weil wir wissen, dass die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus nur dann eine Zukunft hat, wenn hinter der schrecklich-nüchternen Bilanz des millionenfachen Mordes der einzelne Mensch sichtbar wird und sichtbar bleibt. Die offene und schonungslose Auseinandersetzung mit den Menschheits-verbrechen der Nationalsozialisten und das breite gesellschaftliche Bewusstsein für die Verantwortung, die daraus erwächst, gehören heute – auch dank der Schilderungen persönlicher Schicksale durch Zeitzeugen – zu den hart erkämpften, moralischen Errungenschaften unseres Landes. Es sind die Stimmen der Zeitzeugen, die die Folgen des nationalsozialistischen Rassenwahns und die grauenhaften Auswüchse eines totalitären Staates eindringlicher als jedes Geschichtsbuch und jedes Museum vermitteln. Es sind die Stimmen der Zeitzeugen, die der monströsen Abstraktheit der Opferzahlen Namen, Gesichter und Lebensgeschichten gegenüber stellen. Es sind die Stimmen der Zeitzeugen, die gerade jungen Leuten helfen, eine Antwort auf die Frage zu finden: Was geht mich das heute an? Aus diesen Gründen waren und sind Zeitzeugen auch für die politische Bildung, insbesondere für die Vermittlungsarbeit der Gedenkstätten zum NS-Unrecht in Deutschland beinahe unentbehrlich. Und doch müssen wir einen Weg finden, uns dem Unfassbaren künftig ohne ihre Begleitung zu nähern. Das bedeutet zunächst einmal, Sorge dafür zu tragen, dass ihre Stimmen nicht verstummen. Die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas leistet hier schon seit Jahren vorbildliche Arbeit, so zum Beispiel mit dem Projekt „Sprechen trotz allem“. Unter diesem Motto hat die von meinem Haus finanzierte Stiftung für ihr Videoarchiv in der Dauerausstellung eine Vielzahl berührender Interviews mit Überlebenden nationalsozialistischer Verfolgung, darunter auch mit Uri Chanoc, aufgezeichnet – mit dem Ziel, möglichst vielen Opfern wieder ein Gesicht zu geben und ihre Identität sichtbar zu machen. Für Ihr Engagement im Dienste einer lebendigen Erinnerungskultur danke ich Ihnen, lieber Herr Neumärker, und Ihrem Team sehr herzlich. Authentische Gedenkorte aus der NS-Zeit, um deren Erhalt sich Bund und Länder in Deutschland gemeinsam kümmern, stehen aber auch deshalb vor enormen Herausforderungen, weil es immer mehr Menschen gibt, die – da jung oder nach Deutschland eingewandert – die Verstrickung in den Nationalsozialismus nie als Teil ihrer Familiengeschichte erlebt haben. Die Gedenkstätten müssen deshalb heute eine Sprache finden, mit der sie Menschen unterschiedlicher Herkunft, Bildung und kultureller Prägung ansprechen und in ihrer Lebens- und Erfahrungswelt erreichen können. Dabei können sie selbstverständlich auf die Unterstützung der Bundesregierung, auf die Unterstützung meines Hauses zählen. Denn – das ist meine, das ist unsere Hoffnung: Wer sich intensiv mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands beschäftigt, der sieht auch die Gegenwart mit anderen Augen – der schaut nicht weg, wo Antisemitismus, Rassismus, Antiziganismus und Ausgrenzung heute an die Anfänge eines Weges erinnern, der damals in Krieg und Vernichtung geführt hat. Ich danke Ihnen, lieber Shalom Eilati, dass wir dabei auch auf die Kraft Ihrer Erinnerungen vertrauen können, die Sie uns, den Nachgeborenen, mit Ihrem bewegenden Buch geschenkt haben. „Es tat weh“, schreiben Sie darin über die 20 Jahre, die Sie daran gearbeitet haben, „es tat weh, alte Verbände herunterzunehmen, die längst mit dem Fleisch verwachsen waren. Doch als das Buch schließlich fertig war, konnte mein Körper endlich wieder atmen.“ Wir alle sind dankbar, dass Sie den Schmerz nicht gescheut haben und heute wieder atmen können, selbst hier in Berlin, das Sie vor 70 Jahren in Schutt und Asche liegend kennen gelernt haben – als zwölfjähriger Junge, mutterseelenallein mit all dem Leid, das Ihnen und Ihren Lieben in deutschem Namen zugefügt wurde. Danke, dass Sie bei uns sind! Möge Ihr Buch viele interessierte, vor allem auch junge Leserinnen und Leser finden, die der Stimme eines so beeindruckenden Zeitzeugen lauschen!
Bei der Lesung der Autobiographie Shalom Eilatis zeigte sich Kulturstaatsministerin Grütters beeindruckt von der Kraft des Holocaust-Überlebenden, seine Erinnerungen zu teilen. „Es sind die Stimmen der Zeitzeugen, die die Folgen des nationalsozialistischen Rassenwahns eindringlicher als jedes Geschichtsbuch und jedes Museum vermitteln“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 10. Deutschen Stiftungstag am 11. Mai 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-10-deutschen-stiftungstag-am-11-mai-2016-447052
Wed, 11 May 2016 15:30:00 +0200
Leipzig
Sehr geehrter Herr Professor Göring, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Stanislaw Tillich, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Jung, sehr geehrte Stifterinnen und Stifter, liebe Gäste des Deutschen StiftungsTages, meine Damen und Herren, Deutschland ist ein starkes Land. Die Gründe dafür sind vielzählig. Da sind die ökonomische Stärke, die vielen historischen Stätten und schönen Landschaften sowie unzählige kulturelle Werke und Werte, die unser Land prägen. Doch nichts davon wäre so, wie es heute ist, ohne unsere lebendige Zivilgesellschaft. Diese Lebendigkeit haben wir nicht zuletzt einer vielfältigen Stiftungskultur zu verdanken. Ohne gesellschaftlichen Einsatz für Bildung hätten wir weit weniger qualifizierte und motivierte Fachkräfte. Ohne bürgerschaftliches Engagement für Naturschutz wäre mancher Naturschatz längst verloren. Ohne privates Kapital zum Erhalt historischer Bauwerke wäre mancher Ort weniger einladend. Ich glaube, Ihr Veranstaltungsort Leipzig ist ein herausragendes Beispiel dafür. Ich habe in dieser Stadt studiert. Ich habe sie damals schon sehr wertgeschätzt. Aber seither – der Oberbürgermeister wird mir Recht geben – erscheint manches in neuem Glanz. Nicht nur das Messegelände ist dazugekommen. Leipzig insgesamt hat sich zu einer ansehnlichen und einer, wie auch der Ministerpräsident dargestellt hat, dynamischen Metropole entwickelt. Ich habe gehört, dass Sie am StiftungsTag zwar in Arbeitskreisen arbeiten sollen, aber vielleicht bleibt auch ein bisschen Zeit zum Ausschwärmen. Der Oberbürgermeister würde das sicherlich begrüßen. Das heißt also, Leipzig bietet sich nicht nur als attraktiver Veranstaltungsort an, sondern bietet auch mit Blick auf das Thema Ihres StiftungsTages ein gutes Beispiel. Denn Leipzig hat Erfahrung mit demografischen Veränderungen. Nach jahrzehntelangem Bevölkerungsrückgang ging es nach der Jahrtausendwende mit der Einwohnerzahl wieder aufwärts. Während sich Leipzig über einen positiven Trend freuen kann, muss man allerdings in den neuen Bundesländern – das trifft auch den Freistaat Sachsen – insgesamt mit einer abnehmenden Einwohnerzahl und einem ansteigenden Durchschnittsalter rechnen. Wir sehen, dass die Anziehungskraft von Ballungsräumen und die Abwanderung aus ländlichen Gegenden bundesweit typische Facetten unseres demografischen Wandels sind. Das heißt, die Lebensqualität in den ländlichen Räumen wird gerade auch in den nächsten Jahren eine große Rolle spielen. Es kommen natürlich auch neue Entwicklungen hinzu. Darüber wurde eben schon berichtet. Sehr viele Menschen sind nach Deutschland gekommen, um bei uns Zuflucht vor Krieg und Verfolgung zu suchen. Ich möchte dem Oberbürgermeister, dem Freistaat, aber auch Ihnen allen, die Sie in diesem Bereich gearbeitet haben, gleich zu Beginn ein herzliches Dankeschön sagen. Das Flüchtlingsdrama, das sich derzeit weltweit abspielt, zwingt uns in den reicheren Ländern mehr denn je, auch über den eigenen Tellerrand zu blicken. Die Weltbevölkerung wächst rasant. Vor allem in Südasien und Afrika nimmt die Zahl der Menschen stark zu. Der Migrationsdruck aus diesen Teilen der Welt wird steigen, wenn es nicht gelingt, gegen die Fluchtursachen vor Ort wirksam vorzugehen. Das Spannende ist ja: Wir haben es mit dem Phänomen zu tun, dass Menschen, die wir aus absoluter Armut herausholen können, was ja eine große Leistung ist, sich mit Hilfe des Smartphones heute sehr viel besser als früher orientieren können, wie man anderswo auf der Welt lebt. Das heißt, es ist eine weitsichtige Entwicklungspolitik gefragt: für die Armutsbekämpfung, den Klimaschutz, für neue und bessere wirtschaftliche Perspektiven. Ich füge hinzu: Es ist auch eine Entwicklungspolitik gefragt, die sich noch stärker mit der Bekämpfung von Korruption und Intransparenz sowie der Förderung von guter Regierungsführung auseinandersetzt. Denn junge Menschen, die in den afrikanischen und anderen Ländern aufwachsen, fragen auch in dieser Richtung nach Lebensqualität. Ein Beispiel für einen neuen entwicklungspolitischen Ansatz ist die Agentur für Wirtschaft und Entwicklung, die die Bundesregierung vor zwei Wochen eröffnet hat. Hier finden sich Ansprechpartner für Unternehmen, die sich in Entwicklungs- und Schwellenländern engagieren wollen. Viel Aufmerksamkeit verdient dabei auch die berufliche Bildung, denn qualifizierte Arbeitskräfte sind ein entscheidendes Kriterium für Investitionen, die in ärmeren Ländern ja so dringend notwendig sind. Es ist natürlich klar, dass besonderer Migrationsdruck dort entsteht, wo Kriege und Konflikte viele Opfer fordern und die Zukunftsperspektiven von Menschen zerstören. Der Bürgerkrieg in Syrien hat laut UNHCR 4,8 Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht. Die meisten von ihnen haben Zuflucht in den Nachbarländern Türkei, Libanon und Jordanien gefunden. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass auch Zypern nicht sehr weit entfernt, sondern nur durch eine schmale Wassergrenze von Syrien getrennt ist – und Zypern gehört zu unserem europäischen Raum der Reise- und Bewegungsfreiheit, zum Schengen-Raum. Wenn wir sehen, was diese Länder leisten – die Türkei mit knapp 80 Millionen Einwohnern und fast drei Millionen Flüchtlingen, Jordanien mit rund sieben Millionen und der Libanon mit nicht einmal fünf Millionen Einwohnern und zusammen über 1,7 Millionen Flüchtlingen –, dann verändert sich natürlich auch der Blick auf den Beitrag, den Europa mit seinen immerhin 500 Millionen Menschen bisher erbracht hat. Mir ist es wichtig, dass wir uns diese Relation vor Augen führen, insbesondere weil wir als Europäer ja für Werte wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der Welt werben und weil wir dabei auch glaubwürdig sein müssen. Aber Deutschland kommt seiner Verantwortung nach. Wir wissen, dass nach den vielen Menschen, die im letzten Jahr gekommen sind, jetzt die Schlüsselfrage der Integration derjenigen, die eine Bleibeperspektive haben, ganz oben auf der Tagesordnung steht. Integration muss möglichst früh beginnen. Das ist eine Lehre aus den Fehlern, die wir in Deutschland in der Vergangenheit mit Gastarbeitern, wie sie damals genannt wurden, deren Familien inzwischen schon in der vierten Generation bei uns leben, gemacht haben. Dass wir Lehren ziehen, zeigt sich nicht zuletzt an dem gemeinsamen Konzept, das Bund und Länder Ende April beschlossen haben. Auf Bundesebene ist ein Integrationsgesetz geplant, das sich am Grundsatz „Fördern und Fordern“ orientieren wird. Wir werden unsere Sprach- und Integrationskurse ausweiten, Ausbildungsangebote machen und Arbeitsmöglichkeiten verbessern. Und wir werden neue Anreize für Integrationsanstrengungen setzen, zum Beispiel indem wir Fortschritte mit der Niederlassungserlaubnis verbinden. Ich sage dies, um zu verdeutlichen, dass das ehrenamtliche Engagement nicht ganz allein dasteht, sondern sich auch der Staat seiner Verantwortung bewusst ist. Ich weiß aber, für Stiftungen ist Integration ein zentrales Wirkungsfeld – für einige schon seit Jahrzehnten. Viele sind jetzt dazugekommen. Die Otto Benecke Stiftung zum Beispiel fördert seit Mitte der 60er Jahre die Aus- und Weiterbildung von Migranten. Inzwischen befasst sich gut ein Viertel aller Stiftungen mit Fragen der Integration. So arbeiten Stiftungen unter anderem mit Analysen und Studien die Ansatzpunkte guter Integration heraus. Die Robert Bosch Stiftung ist dafür ein Beispiel. Die von ihr eingesetzte Expertenkommission hat jüngst ihren Bericht zur Flüchtlingspolitik unter dem Titel „Chancen erkennen – Perspektiven schaffen – Integration ermöglichen“ vorgelegt. Ich weiß, dass, wenn ich einzelne Stiftungen nenne, viele andere ungenannt bleiben; es sollten sich aber alle angesprochen fühlen. Stiftungen sind nicht nur wissenschaftlich, sondern in vielerlei Hinsicht auch praktisch aktiv. Sie begleiten Flüchtlinge bei ihren ersten Schritten in unserem Land, beim Bewältigen des Alltags und beim Erlernen unserer Sprache. Es gibt Förderprogramme für Patenschaften und vieles mehr. Sehr geehrter Herr Professor Göring, herzlichen Dank auch für Ihre Mitwirkung am Runden Tisch der Zivilgesellschaft, dessen Mitglieder sich regelmäßig treffen, um über die weiteren Schritte miteinander zu diskutieren. Nicht zuletzt werben Stiftungen – auch das möchte ich hier nochmals hervorheben – für Offenheit, Pluralität und Toleranz, für einen engen Zusammenhalt in unserem Land. Für dieses großartige Wirken, für diese mitunter anstrengende und zum Teil durchaus auch im gesellschaftlichen Streit stattfindende Arbeit möchte ich allen Beteiligten von Herzen danken. Sie haben das Bild Deutschlands im letzten Jahr ganz wesentlich mit geprägt. Denjenigen – Herr Professor Göring hat auch von einem Zustand der Erschöpfung gesprochen, der sich breitgemacht hat –, die die Durchhaltekraft aufbringen und heute und morgen weiter tätig sind, gilt natürlich ein ganz besonderer Dank. Integration kommt letztlich uns allen zugute, wenn sie gelingt – auch angesichts des demografischen Wandels in unserem Land und im Übrigen auch mit Blick auf unsere Offenheit, die notwendig ist, um Globalisierung zu verstehen. Diese Neugierde, diese Offenheit sollten wir uns bei allen Problemen immer bewahren. Zuwanderung kann auf demografische Herausforderungen allerdings nur eine Antwort unter vielen anderen sein. Das zeigt sich am Beispiel der Fachkräftesicherung. In einigen Branchen wird händeringend nach geeigneten Arbeitskräften gesucht. Aber wir sind weit davon entfernt, diese Lücken mit Hilfe von Migranten schließen zu können. Wir brauchen nämlich für die allermeisten Flüchtlinge erst einmal eine langwierige Qualifizierung. Dies aber ist eine Investition, die sich mittel- und langfristig lohnt. Auch für diejenigen, die wieder in ihre Heimat zurückkehren werden, sobald es die Situation erlaubt, ist dies eine lohnende Investition im Hinblick auf die Bekämpfung von Fluchtursachen. Für uns heißt das also: Zuwanderung und Integration können demografische Probleme abmildern helfen, reichen aber nicht aus, um sie zu bewältigen. Um uns Wohlstand und leistungsfähige soziale Sicherungssysteme zu erhalten, ist es deshalb entscheidend, viele und qualifizierte Fachkräfte zu haben. Und dazu müssen wir alle vorhandenen Potenziale noch besser nutzen. Das fängt mit guter Schul-, Aus- und Weiterbildung an. Jeder soll seine Fähigkeiten und Talente bestmöglich entfalten können; unabhängig von sozialer oder familiärer Herkunft. – Jeder weiß, was für eine Aufgabe in diesem Satz enthalten ist. – Dazu muss unser Bildungssystem noch durchlässiger und anschlussfähiger werden. Auch wenn für Bildung in weiten Teilen die Bundesländer zuständig sind und sie ihre Aufgaben selbstverständlich auch sehr, sehr gut erfüllen – Sachsens Stand im PISA-Ranking kann sich wirklich sehen lassen –, fühlt sich der Bund in der Mitverantwortung. Denn junge Menschen – das ist immer wieder unsere Erfahrung – fragen nicht, wer gerade für welche Lebenssituation zuständig ist, sondern sie fragen nach Chancen. Daher unterstützen wir die Länder bei der Initiative Bildungsketten und dem Berufsorientierungsprogramm für Schülerinnen und Schüler. Wir unterstützen mit Stipendien, mit denen wir talentierten und leistungsbereiten beruflichen Fachkräften den Zugang zu Fortbildung und Studium eröffnen. Wir unterstützen mit dem Hochschulpakt und der Fortsetzung der Exzellenzinitiative, mit denen wir die Hochschulen und den wissenschaftlichen Nachwuchs stärken. Stiftungen ist die Förderung von Bildung seit jeher ein großes Anliegen. Dabei zählte schon für den Unternehmer und Stifter Robert Bosch neben dem wirtschaftlichen Erfolg „auch die Möglichkeit, politisch richtig zu handeln und Irrlehren als solche zu erkennen.“ So begann Robert Bosch, sich für Hochschulen, Begabtenförderung und Erwachsenenbildung zu engagieren. Seinem Beispiel sind viele gefolgt. So sind Stiftungen heute als Bildungsträger, Ideenstifter und Geldgeber für Bildungsprojekte nicht mehr wegzudenken – lokal und zum Teil auch überregional. Gute Bildung und Ausbildung sind zwar ein Wert an sich, aber Wissen und Können tragen erst dann richtig Früchte, wenn sie auch in die Arbeitswelt eingebracht werden. Ich glaube, da haben wir durchaus noch Defizite, wie sich zum Beispiel mit Blick auf immer noch zu viele Frauen zeigt, die zumeist gut ausgebildet sind, im Berufsleben aber oft unter ihren Möglichkeiten bleiben: Mütter, die in den Beruf zurückkehren wollen und es schwer haben, eine adäquate Stelle zu finden; Teilzeitkräfte, die weniger arbeiten, als sie möchten oder könnten; Frauen, die den Beruf aufgeben, weil sie die Pflege von Angehörigen übernehmen. An all dem ist abzulesen, wie wichtig es ist, Familie und Beruf besser miteinander vereinbaren zu können. Das gilt für Frauen genauso wie für Männer. In den vergangenen Jahren hat sich vieles bewegt. Das Elterngeld, die Elternzeit – beides haben wir flexibilisiert. Wir haben die Kinderbetreuung ausgebaut. Wir haben zahlreiche Initiativen auch von Unternehmen für eine familienfreundlichere Arbeitswelt. Hierbei gilt gerade auch dem Mittelstand ein herzliches Dankeschön. Ein Baustein sind die lokalen Bündnisse für Familien. Sie entwickeln – unterstützt von Stiftungen – praktische Lösungen für mehr Familienfreundlichkeit. Sie helfen uns im Übrigen auch dabei, am Beispiel von Modellprojekten zu lernen, was gut funktioniert und was nicht gut funktioniert. Ich denke, das ist in Deutschland immer noch ein Gedanke, der eher noch verstärkt werden kann: Wo haben wir die besten Erfahrungen gemacht, was können wir aus Erfahrungen lernen? Neben Eltern und jungen Familien müssen wir in einem Land mit einer tendenziell alternden Bevölkerung natürlich auch die Älteren in unserer Gesellschaft in den Blick nehmen. Die Lebenserwartung ist heute höher als je zuvor. Entsprechend höher sind auch viele Chancen, die ein längeres Leben mit sich bringt. Aber richtig verinnerlicht haben wir das noch nicht. So ist auch im Programmheft des StiftungsTages zu lesen: „Die Tatkraft, die besonderen Kompetenzen und die Lernfähigkeit älterer Menschen werden gemeinhin weithin unterschätzt.“ Ich denke, es ist richtig, dass Sie sich dieses Themas annehmen. Auch in der Wirtschaft sind Routine und Erfahrung Gold wert. Natürlich kann und darf es nicht darum gehen, dass jeder bis ins hohe Lebensalter arbeiten muss. Aber wir sollten auch niemanden daran hindern, länger zu arbeiten, wenn er im Beruf Sinn und Lebenserfüllung findet. Deshalb haben wir uns in der Koalition gerade gestern darauf geeinigt, einen noch flexibleren Eintritt ins Rentenalter zu ermöglichen. Das kommt auch Unternehmen entgegen, die immer größere Schwierigkeiten haben, geeigneten Nachwuchs zu finden. Ich denke, deshalb ist diese neue Möglichkeit für alle gut. Und es beruht auf Freiwilligkeit, diese zu nutzen – nicht dass hier falsche Botschaften nach außen dringen. Es ist in vielerlei Hinsicht eine gute Nachricht, dass wir auf dem Weg zu einer sogenannten integrierenden Beschäftigungskultur ein gutes Stück vorangekommen sind. Denn das Rekordniveau bei der Erwerbstätigkeit beruht auch auf den wachsenden Beschäftigungsquoten von Frauen, von Migranten und von Älteren. Natürlich ist Erwerbstätigkeit nicht die einzige Möglichkeit, mitten im Leben zu stehen. Viele ältere Menschen, die noch mobil und gesund sind, unterstützen nach Kräften die eigene Familie oder engagieren sich ehrenamtlich für andere. Diese aktive Gestaltung des dritten Lebensabschnitts fördern viele Stiftungen. Auch das ist eine unglaubliche Bereicherung unserer Gesellschaft. Zur Lebenswirklichkeit gehört aber auch, dass mit zunehmender Zahl der Älteren tendenziell auch die Risiken von Krankheit, Hilfs-, und Pflegebedürftigkeit anwachsen. Ich bin deshalb sehr froh, dass wir in dieser Legislaturperiode spürbare Leistungsverbesserungen für Pflegebedürftige und für pflegende Angehörige vornehmen konnten. Dazu zählt die Unterstützung beim Umbau von Wohnungen und beim Aufbau lokaler Hilfsnetzwerke. Damit kommen wir dem Wunsch vieler Menschen entgegen, in den eigenen vier Wänden bleiben zu können, wenn es irgendwie geht. Stiftungen wie etwa die Bertelsmann Stiftung oder die Körber-Stiftung arbeiten ebenfalls an der Frage, wie sich Städte und ländliche Räume demografie- und altersgerecht gestalten lassen. Die VW-Stiftung unterstützt die Grundlagenforschung zum Wandel und zu den Perspektiven im Umgang mit dem Älterwerden. Sie werden also nicht nur anstrengende, sondern auch anregende Diskussionen während Ihres StiftungsTages haben. So verschieden die Herangehensweisen auch sind, sie alle zielen darauf ab, ein lebenswertes Umfeld zu schaffen. Das soziale Verantwortungsbewusstsein ist eine Grundlage der Stiftungsgeschichte. Schon lange vor den ersten Sozialgesetzen Ende des 19. Jahrhunderts kümmerten sich Stiftungen um die Pflege Älterer, Kranker und Behinderter. Diese Praxis setzen traditionsreiche Trägerstiftungen wie zum Beispiel das Evangelische Johannesstift oder die Stiftung Liebenau fort. Ich kann es nur begrüßen, dass Stiftungen ihre Praxiserfahrung auch immer wieder in die öffentliche Diskussion einbringen. Derzeit diskutieren wir zum Beispiel über eine nationale Demenzstrategie. Die Ergebnisse wollen wir auf einem Demografiegipfel im kommenden Jahr vorstellen. Mit der Demografiestrategie der Bundesregierung von 2012 hat ein breiter Dialogprozess von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft eingesetzt, um in verschiedenen Schwerpunktthemen Lösungsansätze zu entwickeln. Ein Kernsatz aus der Demografiestrategie lautet: „Handlungsfähigkeit setzt solide Staatsfinanzen voraus.“ In diesem kurzen Satz kommt zum Ausdruck, dass Sparen keinem Selbstzweck dient. Es geht vielmehr darum, Finanzspielräume zu bewahren, damit der Staat auch in Zukunft seinen Aufgaben gerecht werden kann. Dass der Bund erstmals nach Jahrzehnten 2014 und 2015 wieder einen ausgeglichenen Haushalt hatte, ist daher ein gutes Zeichen. Wir werden alles daransetzen, den Weg solider Finanzen weiterzugehen. Auch Sie brauchen für Ihre Arbeit hinreichende Freiräume. Dazu gehört natürlich ein geeigneter Rechtsrahmen. Was Rahmenbedingungen allgemein anbelangt, so ist vorhin darauf hingewiesen worden: Die sehr niedrigen Zinsen sind eine Belastung für Stiftungen. Sie sind noch mehr von Spenden abhängig, als das ohnehin schon der Fall ist. Wir müssen – das gilt für Deutschland und für alle EU-Mitgliedstaaten, gerade auch im Euroraum – darauf achten, dass wir wieder mehr Wachstumskräfte freisetzen, damit die Inflationsrate ansteigen kann und dann auch die Möglichkeit besteht, wieder zu einem höheren Zinsniveau zurückzukehren. Die Europäische Zentralbank hat als Aufgabe eben auch Geldwertstabilität; und dazu gehört eine bestimmte Mindestinflationsrate. Das Stiftungszivilrecht haben wir in letzter Zeit reformiert, aber es ist noch immer geprägt vom Nebeneinander von Bundes- und Landesgesetzen. Deshalb prüft derzeit eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe Möglichkeiten, das Stiftungsrecht zu vereinheitlichen und zu verbessern. Sie haben als Bundesverband Deutscher Stiftungen bereits Ihre Vorschläge vorgelegt. Dafür bin ich sehr dankbar. Denn Sie haben Praxiserfahrung. Ich schaue einmal in Richtung des Ministerpräsidenten. Wir haben ja Unglaubliches geschafft, zum Beispiel mit der Einführung eines einheitlichen Ankunftsnachweises für Flüchtlinge, die von der Kommune über das Land bis zum Bund den Datenaustausch ermöglicht und verbessert hat. Vielleicht hilft uns das ja auch in Fällen außergewöhnlicher Belastung, mit denen wir uns schon jahrelang beschäftigen, besser im Sinne der Betroffenen zusammenzuarbeiten und damit zurande zu kommen. – Durch einen Beifall könnten Sie uns sehr ermutigen. Ich möchte aber meinen Dank durchaus noch weiter fassen. Ich danke allen, die sich in der einen oder anderen Stiftung starkmachen. Wenn Sie Projekte aussuchen und fördern, tun Sie das nicht nur für sich persönlich oder im Namen der Stifter, sondern weil Sie sich damit um das Gemeinwohl verdient machen. Das lässt sich so leicht dahinsagen, aber es ist oft alles andere als leicht. Man muss erst einmal die Mittel bereitstellen. Man muss Ideen haben. Man muss sachkundig beurteilen. Man muss sich entscheiden können. So vieles könnte man machen. Manch einer verharrt lebenslang in dem Zustand, zu denken, was man alles machen könnte, wenn man die Möglichkeit hätte. Sie aber entscheiden sich und tun etwas. Deshalb sage ich: Es ist eine Tatsache, dass wir in unserer Gesellschaft um vieles ärmer wären, wenn wir Sie nicht hätten. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen interessanten Deutschen StiftungsTag mit vielen guten Anregungen für Ihr weiteres Wirken und einen schönen Aufenthalt in meiner früheren Studienstadt, die sicherlich auch vieles zu bieten hat, das Sie anregen kann. Herzlichen Dank dafür, dass ich dabei sein konnte, und alles Gute für die nächsten Tage.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 42. Kongress Deutscher Lokalzeitungen am 10. Mai 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-42-kongress-deutscher-lokalzeitungen-am-10-mai-2016-339602
Tue, 10 May 2016 11:20:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Dunkmann, sehr geehrter Herr Botschafter, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, meine Damen und Herren, vielen Dank für die Einladung und die freundliche Begrüßung. Ich freue mich, hier in der britischen Botschaft zu Gast zu sein. Ich glaube, Sie haben mit Ihrem Veranstaltungsort eine gute Wahl getroffen. Der deutsche Schriftsteller Theodor Fontane, der einige Jahre seines Lebens in London verbrachte, verfasste ein Gedicht mit der Überschrift „Zeitung“, in dem es unter anderem heißt: „Und nichts kann mich so tief empören, als auf Zeitungsschreiber schimpfen zu hören.“ Im Folgenden lässt Fontane die schimpfwütigen Kritiker die vermeintlichen Phrasen aufs Korn nehmen, um dann aber selbst den Schluss zu ziehen: „Aber nehmt uns die Phrasen auch nur auf drei Wochen, so wird der reine Unsinn gesprochen.“ In diesen Worten, so meine ich, steckt viel Wahres. Es gefällt uns nicht immer alles, was in den Zeitungen steht. Dennoch weiten Zeitungen ohne jeden Zweifel den eigenen Horizont. Sie helfen uns, eine differenzierte, abgewogene Meinung zu bilden. Deshalb können wir uns glücklich schätzen, in Deutschland eine vielseitige Zeitungslandschaft zu haben. Es gibt in Deutschland rund 350 Tageszeitungen – viele davon mit verschiedenen Lokalausgaben. Insgesamt werden rund 16 Millionen Tageszeitungsexemplare verkauft, von denen mit ca. 12 Millionen der weitaus größte Anteil auf lokale und regionale Blätter entfällt. Die klassische Lokalzeitung ist ein Basismedium, das seine Leserinnen und Leser auf dem Laufenden hält – in der Regel auch über das nationale und internationale Tagesgeschehen, vor allem aber über Ereignisse vor Ort. Wer fühlt sich da nicht angesprochen? Denn wer weiß nicht gerne Bescheid darüber, was sich im näheren Lebensumfeld tut und was einen vielleicht auch direkt und persönlich betreffen könnte? Mit ihrer regionalen Verwurzelung ist die Lokalzeitung Teil des Alltags von Millionen von Menschen. Damit stärkt sie auch Identität. Nicht zuletzt darin liegt wohl der hohe Zuspruch begründet, den Lokalzeitungen auch und gerade im Zeitalter zunehmender Globalisierung genießen. Die Bedeutung der Globalisierung und die Bedeutung anderer Kulturen nehmen auch hierzulande für den Einzelnen und unsere Gesellschaft erheblich zu. Das gilt zum einen mit Blick auf die Chancen. Denken wir zum Beispiel nur daran, dass wir in Deutschland einen großen Teil unseres Wohlstands einem regen Außenhandel zu verdanken haben. Oder denken wir an die Möglichkeiten zu reisen – wohin auch immer – und zu lernen – wo auch immer. Zum anderen teilen wir als Weltgemeinschaft auch mehr Risiken als vor einigen Jahrzehnten. Entwicklungen anderswo auf der Welt betreffen immer mehr auch uns. Das heißt, immer mehr Länder und Regionen sehen sich vor gleiche Aufgaben gestellt – in der Wirtschaft, beim Klimaschutz, bei Sicherheit und Stabilität. Der grausame Krieg in Syrien zum Beispiel schien uns hierzulande vor fünf Jahren noch sehr weit weg zu sein. Aber spätestens mit seinen Folgen in Form des Flüchtlingsdramas ist uns dieser Krieg sehr nahe gerückt, buchstäblich bis vor unsere Haustüren. Globale Aufgaben erfordern globale Antworten. Diese zu finden, ist oft sehr schwierig und sehr langwierig. Denken wir nur daran, wie kompliziert es manchmal ist, uns allein in unserem Land auf einen Lösungsweg zu verständigen. Wenn man sich überlegt, dass wir auf der Welt knapp 200 Länder haben, dann kann man sich vorstellen, wie kompliziert es wird, wenn sich diese Länder verständigen müssen. Die Welt scheint also immer komplexer und unübersichtlicher zu werden. Mit solchen Veränderungen und damit verbundenen Verunsicherungen in unserer Lebenswelt wächst das Bedürfnis nach Orientierung und nach Überschaubarkeit. Zwar ist heute der Zugang zu Informationen leichter denn je, aber auch die Vielfalt an Informationen ist größer denn je. Daher ist die Gefahr, sich gegen eine solche Informationsflut abschotten oder sich nur auf sehr wenige Informationskanäle beschränken zu wollen, nicht zu unterschätzen. Das heißt, wir müssen Medienkompetenzen entwickeln. Wir müssen lernen, Wichtiges von weniger Wichtigem zu trennen. Es sind verständliche und alltagstaugliche Erklärungen, klare Hintergrundanalysen und Orientierungshilfen gefragt. Darin liegt nach meiner festen Überzeugung eine große Chance für Zeitungen. Daher steht außer Frage, dass wir eine vielfältige, freie, unabhängige und meinungsstarke Presse brauchen. Infrage gestellt aber wird der Mehrwert einer vielfältigen Medienlandschaft bereits dann, wenn leichtfertig und pauschal die Journalisten, die Zeitungen oder die Verlage kritisiert werden. Wie schnell Kritik unsachlich werden kann, war etwa auf einigen Demonstrationen in jüngster Zeit zu erleben, bei denen Reporter, Fotografen und Filmteams beschimpft, bedroht und attackiert wurden. Das ist beschämend für ein Land, das sich als aufgeklärt ansieht. Dass dies vorgekommen ist, ist auch einer der Gründe dafür, dass wir in der Rangliste der Pressefreiheit herabgestuft wurden. Besonders aggressive Hetze erleben wir im Internet. In der Anonymität dieses Mediums scheint die Hemmschwelle sehr leicht zu sinken. Journalisten und Redaktionen können davon ein Lied singen. Auch Online-Foren von Zeitungen werden immer wieder für Anfeindungen genutzt, die mehr als die Grenzen des guten Geschmacks überschreiten. Der Moderationsaufwand ist für manchen Forenbetreiber kaum noch zu bewältigen. Einige Tageszeitungen – vor allem lokale Zeitungshäuser – haben darauf reagiert und die Kommentarfunktion auf ihren Internetseiten eingeschränkt oder ihre Online-Foren ganz eingestellt. Dies ist nachvollziehbar, aber es ist eben auch schade, denn wir brauchen auch im Internet eine Kommunikationskultur – und zwar eine, die die Würde des Menschen achtet, wie es in unserem Grundgesetz steht. Ich kann an alle Beteiligten nur appellieren, Online-Foren verantwortungsvoll, tolerant und im Respekt vor anderen zu nutzen. Vor einer Woche, am 3. Mai, war der internationale Tag der Pressefreiheit. Wer sich weltweit umschaut, der sieht, dass in vielen Ländern Journalistinnen und Journalisten die Möglichkeit fehlt, frei und unabhängig zu arbeiten. In etlichen Staaten ist die Pressefreiheit eingeschränkt. In manchen ist sie überhaupt nicht gegeben. Mancherorts sind journalistische Recherchen nur unter staatlicher Beobachtung möglich. Interviewpartner und Informanten werden eingeschüchtert. Es geht so weit, dass Verfolgung, Gefängnis oder gar Tod drohen. Wer angesichts solcher Gefahren trotzdem für eine freie Berichterstattung einsteht, der hat meinen ganz besonderen Respekt. Meine Damen und Herren, Pressefreiheit ist elementare Voraussetzung, aber allein natürlich noch nicht hinreichend für tatsächlich guten Journalismus, der von gründlicher und unabhängiger Recherche, von investigativen Fragen, präzisen und ansprechenden Texten, von sachlich fundierten Kommentaren und klaren Standpunkten lebt. Das heißt, Qualität fängt mit Qualifikation an. Die Ausbildung zum Print-Journalisten ist immer noch so etwas wie die Hohe Schule der Medienbranche. Auch viele Lokalzeitungen beteiligen sich daran. Sie fordern den Intellekt ihres Nachwuchses heraus. Sie fördern Begeisterung und Neugier. Sie lehren, kritisch auf das Geschehen zu blicken, Missstände aufzudecken und die Ergebnisse von Recherchen verständlich aufzubereiten. Gute Journalisten sind und bleiben das wertvollste Kapital von Zeitungen. Das dürfte unstrittig sein. Strittig ist eher die Frage, ob sich die Arbeit von Journalisten für sie selbst in finanzieller Hinsicht als lohnend erweist. Autoren, auch freiberufliche, sind ebenso wie andere Kreative auf eine faire Vergütung ihrer Leistungen angewiesen, wenn sie davon leben wollen. Genau das ist Gegenstand der geplanten Reform des Urhebervertragsrechts. Die Bundesregierung hat inzwischen einen Gesetzentwurf beschlossen, um eine angemessene Teilhabe von Urhebern an der Wertschöpfung aus ihren Werken sicherzustellen. Aber die Beratungen sind – das können Sie sich leicht vorstellen – nicht trivial. Einerseits geht es darum, die Position der Kreativen zu stärken. Andererseits brauchen wir eine verlässliche Grundlage auch für die Verlage. Sie müssen wirtschaftlich arbeiten können. Dem trägt, so meinen wir, unser Reformvorschlag Rechnung. Da Sie nicht kritisch darauf eingegangen sind, ist es vielleicht auch aus Ihrer Perspektive nicht so schlimm. Zweifellos aber ist es ein harter Wettbewerb, in dem sich Verlage behaupten müssen. Dabei kommt es natürlich auf geeignete Geschäftsmodelle an, die eine ausreichende Finanzierungsgrundlage bieten. Wir haben viele Diskussionen zum Beispiel über die Verbreitung und den Vertrieb geführt. Ich weiß, dass das ein schwieriges Kapitel ist. Ob und inwieweit zum Beispiel Angebote im Internet etwas kosten dürfen, ist genau zu prüfen. Sicherlich bleibt aber das Anzeigengeschäft als Einnahmenquelle der Verlage wichtig. Angesichts des Stellenwerts der Medienwirtschaft in unserer Demokratie will die Bundesregierung die Verlage mit all ihren betrieblichen Herausforderungen nicht alleinlassen. Daher haben wir schon in der vergangenen Legislaturperiode Fusionen von Presseunternehmen erleichtert. Durch Zusammenschlüsse lässt sich eine bessere wirtschaftliche Basis schaffen. Wir haben immer auch ein Auge auf die kleinen Verlage geworfen. Geplant ist nun außerdem, betriebswirtschaftliche Kooperationen von Verlagen unterhalb der redaktionellen Ebene zu erleichtern. Ich weiß, dass sich im Zeitungsgeschäft die Freude über den Mindestlohn in Grenzen hält. Ich bitte deshalb nicht zu übersehen, dass wir mit der Übergangsregelung für Zeitungszusteller eine der wenigen Ausnahmen beschlossen haben. Der Mindestlohn in voller Höhe gilt für diese Berufsgruppe erst ab 2017. Angesichts vieler Abonnementkunden kommt diese Ausnahme besonders den Verlagen von Lokal- und Regionalzeitungen entgegen. Aber die Zeit vergeht. Ich habe verstanden, dass dann eine Herausforderung auf Sie wartet. Ich hoffe trotzdem, dass Sie die Übergangszeit gut nutzen. Bei den steuerrechtlichen Rahmenbedingungen für die Medienbranche sind wir einen großen Schritt vorangekommen. So gilt bereits für Hörbücher der ermäßigte Mehrwertsteuersatz. Gleiches wollen wir auch für E-Books und E-Paper erreichen. Das betrifft das europäische Umsatzsteuerrecht, das entsprechend geändert werden muss. Das heißt, dass die EU-Kommission einen Vorschlag machen muss, dem alle Mitgliedstaaten zustimmen müssen. Vor einem guten Jahr haben die zuständigen Ministerinnen und Minister Frankreichs, Polens, Italiens und Deutschlands eine gemeinsame Erklärung zur Gleichbehandlung gedruckter und elektronischer Werke abgegeben. Darin heißt es prägnant – ich zitiere –: „Ein Buch ist ein Buch, ganz gleich, wie es beschaffen ist.“ Es gilt auch: Ein Paper ist ein Paper. Aber weil wir mehr Deutsch sprechen, habe ich jetzt auf das Buch abgestellt. Das lässt sich genauso zu Zeitungen sagen. Erfreulich ist, dass sich inzwischen auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker für eine erweiterte Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes ausgesprochen hat. Für dieses Jahr ist ein Vorschlag zur Modernisierung und Vereinfachung des Mehrwertsteuersystems angekündigt. Mit Blick auf elektronische Medien und neue digitale Angebote spielt natürlich auch der Datenschutz eine wichtige Rolle. Mit der Datenschutz-Grundverordnung haben wir nun endlich einen EU-weit einheitlichen Rechtsrahmen. Dieser verknüpft Schutzstandards mit vernünftigen Bedingungen für datenbasierte Geschäftsmodelle. Dass das Management großer Datenmengen, das Big Data Mining, eine wichtige Quelle neuer Geschäftsmodelle und Wertschöpfungen wird, ist bekannt. Auch bei der Datenschutz-Grundverordnung waren natürlich Kompromisse notwendig. Das liegt in der Natur der Dinge. Es kommt darauf an, die unternehmerische Freiheit in Einklang zu bringen mit dem Schutz von Daten, der gleichermaßen im Interesse von Unternehmen und Verbrauchern liegt. Jetzt stehen wir vor der Aufgabe, das nationale Recht an die Vorgaben der europäischen Datenschutz-Grundverordnung anzupassen. Dabei behalten wir das Presseprivileg fest im Blick. Daran werden wir nicht rütteln. Das ist ein Gebot der freien Berichterstattung. Dass wir den Datenschutz in Europa vereinheitlichen, bringt uns auch in Richtung eines digitalen Binnenmarktes voran. Dieses Vorhaben der EU-Kommission unterstützt die Bundesregierung ebenfalls. Denn einheitliche Regelungen helfen uns, Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden und über mehr Rechtsklarheit letztlich auch die Chancen der Digitalisierung besser zu nutzen. Mit dem digitalen Wandel ist für Zeitungsverlage von Anfang an die Aufgabe verbunden, zeitgemäße Geschäftsmodelle zu entwickeln. Auch lokale Printmedien finden längst ihre Ergänzung durch Apps und Internetangebote. Davon – das wissen Sie besser als alle anderen – fühlen sich vor allem auch jüngere Lesergruppen angesprochen. Insgesamt sind rund 45 Prozent der Bevölkerung über 14 Jahren auf den Internetseiten der Zeitungsverlage unterwegs. Etwa 65 Prozent greifen zur gedruckten Zeitung. Es gibt also eine Annäherung. Das heißt, die Rechnung vieler Verlage geht auf, die auf ein Miteinander und Nebeneinander gedruckter und elektronischer Angebote setzen. Die Erfahrung ist also, dass klassische Medien von neuen Medien zwar bedrängt, aber keineswegs verdrängt werden. Der Wettbewerb führt vielmehr zu einer Differenzierung bisheriger Angebote und schließlich zu einer Koexistenz der verschiedenen Medien, die sich bezahlt machen kann. So ermöglicht das Internet traditionellen Zeitungen eine neue Reichweite. Und umgekehrt gewinnen digitale Angebote durch die Qualität der Zeitungsredaktion. Auch wenn ich mich wiederhole: In der sich wandelnden Medienwelt bleibt guter Journalismus ein wichtiger Erfolgsfaktor und als solcher eine unverzichtbare Konstante. Diesen Erfolgsfaktor zeichnen nicht nur intellektuelle und handwerkliche Qualitäten aus, sondern auch ein klares Berufsethos. Dies umfasst Seriosität, Unbestechlichkeit, Gründlichkeit der Recherche ebenso wie eine klare Trennung redaktioneller Inhalte und Werbung. Zu Kommunalpolitikern sage ich oft, dass es gar nicht so einfach ist, Kommunalpolitiker zu sein, weil man mit seinen Handlungen immer wieder zum Beispiel beim Bäcker oder im Gasthaus direkt zur Rede gestellt werden kann. Ähnliches gilt sicherlich auch für viele Lokalredakteure, die stadtbekannt oder ortsbekannt sind und sich auch dauernd rechtfertigen müssen. Das heißt also, Unbestechlichkeit und Unabhängigkeit bei täglicher Begegnung mit seinen Lesern zu wahren, ist manchmal sicherlich ebenso schwierig wie für Bürgermeister. Aber es geht letztlich um Glaubwürdigkeit. Ich freue mich deshalb darüber, dass gleich das Thema Ihrer „Medienpolitischen Stunde“ das „hohe Gut der Glaubwürdigkeit“ sein wird. Das kann ich nur begrüßen. Denn wir müssen uns in der Tat der Frage stellen, woher so manches Misstrauen gegenüber bewährten demokratischen Institutionen kommt und wie wir es abbauen können. Vor dieser Aufgabe stehen wir in der Politik ebenso wie Sie in den Medien. Deshalb wünsche ich Ihnen gute, anregende Diskussionen und einen guten Verlauf Ihres Kongresses. Nutzen Sie die Gegebenheiten einer so schönen Botschaft, ohne die Botschaft am Arbeiten zu hindern. Ich wünsche in der gebotenen Unabhängigkeit von Politik und Lokalmedien alles Gute. Ich denke, diese guten Wünsche sind noch keine Einmischung in Ihre unabhängige Tätigkeit. Alles Gute für die Zukunft.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Eröffnung des 53. Theatertreffens im Haus der Berliner Festspiele
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-eroeffnung-des-53-theatertreffens-im-haus-der-berliner-festspiele-326852
Fri, 06 May 2016 00:00:00 +0200
Berlin
Kulturstaatsministerin
Trotz Ihres freundlichen Beifalls mache ich mir keine Illusionen, was Ihre Präferenzen für den weiteren Verlauf des Abends im Allgemeinen und einen baldigen Beginn des Bühnengeschehens im Besonderen betrifft. Weniger diplomatisch ausgedrückt: Eine Politikerrede vor einem mit Spannung erwarteten, noch dazu knapp dreieinhalbstündigen Theaterstück – das ist natürlich eine Herausforderung. Herausforderungen darf man sich im Theater zwar erlauben, wie der langjährige Intendant des Schauspielhauses Bochum, Saladin Schmitt, bei der Premiere von Goethes „Iphigenie“ einmal auf sehr undiplomatische Weise deutlich gemacht hat: Angesichts eines grummelnden, offenbar gelangweilten Publikums trat er zwischen zwei Akten auf die Bühne und erklärte: (Ich zitiere:) „Sollte sich im Hause Amüsierpöbel befinden, so möge er doch heimgehen.“ Das wird heute sicher nicht passieren. Das Publikum hat bei inzwischen 53 Theatertreffen immerhin 537 Inszenierungen von 217 Regisseurinnen und Regisseuren aus 72 Theatern aus dem deutschsprachigen Raum erleben können. Und was uns beim Theatertreffen, auch heute, erwartet, ist ja viel mehr als ein Theaterabend. Jenseits der beeindruckenden künstlerischen Leistungen, die in den nächsten Tagen im Rampenlicht stehen, ist es vor allem die Vielfalt des Theaters, die hier wie vielleicht nirgendwo sonst eine Bühne bekommt. Unter den zehn Inszenierungen, die die Jury aus insgesamt knapp 400 ausgewählt hat, sind große und kleinere Häuser vertreten, Theater aus den Metropolen und aus kleineren Städten, Mehrfacheingeladene und Neulinge, altbekannte Dramentexte ebenso wie zeitgenössische Stücke, hochmusikalische und hochpolitische Beiträge. Die Jury wolle es allen recht machen, hieß es prompt – was vor allem zeigt, dass man es manchen Kritikern eben nie recht machen kann. Einhellig für gut befunden wurde allerdings, dass das Festival insgesamt jünger und – längst überfällig! – auch weiblicher geworden ist – auf jeden Fall ein Gewinn in puncto Vielfalt! Dass die Wertschätzung für das Theater in seiner ganzen Bandbreite so zelebriert wird, wie Sie es hier erleben dürfen, liebe Künstlerinnen und Künstler, das ist allerdings leider eher die Ausnahme als die Regel. Unsere Bühnen sind vielerorts in ihrer Existenz bedroht. Von „Theaterkrise“ ist die Rede, ein – wie ich finde – irreführender Begriff! Denn: Was gibt es nicht für eine grandiose Vielfalt: vom kuratierten Theater bis zur Bürgerbühne, von großartigen Ensembles bis zu unzähligen freien Gruppen – und einer immer wieder beglückenden Zusammenarbeit dieser Akteure (die wir bundesseitig mit dem Programm „Doppelpass“ fördern). Nein, wir haben keine Krise des Theaters, wir haben es vielmehr, wenn überhaupt, mit einer Krise der kommunalen Haushalte zu tun, die (zum Glück nicht überall…!) auf Kosten der Kultur saniert werden sollen. Und Bühnen sind nun mal die größten Posten in jedem Kulturetat. Der Bund hat aus verfassungsrechtlichen Gründen keine Möglichkeit, einzelne Bühnen institutionell zu fördern. Er kann und er darf die Leistungen der Kommunen, der Regionen und Länder für ihre Theater nicht ersetzen oder gar ausbleibende Mittel kompensieren. Dennoch und gerade deshalb fühle ich mich als Kulturstaatsministerin sehr wohl mit angesprochen, wenn zum Beispiel Ensembles in Rostock oder Neustrelitz um ihre Existenz kämpfen, wenn in Plauen/Zwickau, Duisburg oder Dinslaken Theater mit Kommunen, Landkreisen oder Ländern um ihre Zuschüsse ringen. Auch deshalb habe ich im vergangenen Jahr zum ersten Mal einen Theaterpreis des Bundes ausgelobt: Er soll Bühnenerfolge abseits der Metropolen ins Rampenlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit holen und auf diese Weise das Bewusstsein dafür schärfen, wie unverzichtbar Theater als Fundament unseres kulturellen Selbstverständnisses und als Seismographen für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen sind. Wir haben diesen Ermutigungs-Preis im Januar erstmals an zwölf Theater vergeben. Das waren sehr bewegende Momente. Ich kann mir bei dieser Gelegenheit den Hinweis nicht verkneifen, dass es selbstverständlich nicht möglich ist, das Preisgeld des Bundes mit der kommunalen Zuwendung zu verrechnen, so wie man sich das offenbar in Stendal vorgestellt hatte – ein verblüffend absurdes Ansinnen. Der Bund ist nicht Reparaturbetrieb, wo Kommunen und Länder sparen! Das Preisgeld soll den Theatern helfen, nicht den Stadtkämmerern! Denn die vielen kleinen Theater, die mit Leidenschaft und Idealismus dafür sorgen, dass es auch abseits der Großstädte Inszenierungen auf hohem professionellem Niveau gibt, sind es allesamt wert, erhalten zu werden! Deutschlands Ruf als Kulturnation liegt – auch – in der einzigartigen Vielfalt dieser vielen Hundert Bühnen begründet. Die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft wurde im vergangenen Jahr deshalb in die (nationale) Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen; andere Länder beneiden uns darum. Diese weltweit höchste Theaterdichte und Theatervielfalt zu bewahren, mag aufwändig und teuer sein. Und dennoch ist es kein dekorativer Luxus, den wir uns leisten, sondern gerade in einer pluralistischen Gesellschaft, gerade in Zeiten des Umbruchs, wie wir sie im Moment erleben, ein unverzichtbarer Beitrag zur Orientierung, zur Selbstvergewisserung und zur Verständigung. Theater sind als Vexierspiegel unserer Gegenwart Unruhestifter im besten Sinne. Es sind Orte demokratischer Öffentlichkeit, an denen eine Gesellschaft ihre Werte mit der Wirklichkeit konfrontiert, ihre glücklichen Ereignisse und Konflikte verhandelt und sich ihren Defiziten und Widersprüchen stellt. Theater sind Orte öffentlicher Debatten, die die Gesellschaft nie nur abbilden, sondern immer auch mitformen. Wir brauchen diese Orte der Selbstvergewisserung – heute mehr denn je. Denn Kultur schafft Identität. Kultur ist unser stärkster Integrationsmotor – gerade auch angesichts hunderttausender Menschen, die ihre Heimat in Kriegs- und Krisenregionen verlassen in der Hoffnung, im friedens- und wohlstandsverwöhnten Europa Zuflucht zu finden. Was können wir dabei vom Theater erwarten? Luc Perceval hat es in einem Interview einmal so formuliert: „Das Theater ist einer der wenigen Räume, der sich dem Lärm entziehen kann. Wir brauchen eine Konzentration, damit man sich mit den Dingen in der Tiefe auseinander setzen kann.“ Das Theatertreffen eröffnet uns solche Räume. Freuen wir uns auf das einmal mehr so aktuelle „Schiff der Träume“!
Zum Auftakt des Theatertreffens hat Kulturstaatsministerin Grütters die Theater als unverzichtbaren Beitrag zur Orientierung, Selbstvergewisserung und Verständigung gewürdigt. „Deutschlands Ruf als Kulturnation liegt auch in der einzigartigen Vielfalt vieler Hundert Bühnen begründet“, so Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Jahrestagung der Asiatischen Entwicklungsbank am 2. Mai 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-jahrestagung-der-asiatischen-entwicklungsbank-am-2-mai-2016-321132
Mon, 02 May 2016 19:30:00 +0200
Frankfurt am Main
Sehr geehrter Herr Präsident Nakao, ich möchte Sie stellvertretend für alle Vertreter der ADB hier in Deutschland ganz herzlich willkommen heißen. Wir freuen uns, dass wir die Jahrestagung in diesem Jahr in Deutschland abhalten können. Ich glaube, es ist aber auch wirklich an der Zeit, dass Deutschland einmal Gastgeber ist. Natürlich möchte ich mich ganz herzlich bei Bundesminister Gerd Müller und dem Parlamentarischen Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel bedanken, dass sie – so habe ich den Eindruck – alles getan haben, damit Sie sich hier wohlfühlen können. Natürlich freue ich mich, dass hochrangige Gäste hier sind. Ich möchte den Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, ganz herzlich begrüßen. Ich glaube, Herr Oberbürgermeister, dass Sie stellvertretend für alle Bürgerinnen und Bürger der Stadt Frankfurt ein guter Gastgeber sind. Sie sind tagungs- und messeerprobt. Aber Sie haben auch eine große Konkurrenz. Sie wissen, wie dynamisch sich die asiatischen Länder entwickeln. Frankfurt muss sich anstrengen, damit es mit all den Standorten in anderen Ländern mithalten kann, in denen die hier anwesenden ADB-Mitarbeiter auch Erfahrungen sammeln. Ich möchte alle Vertreter des Deutschen Bundestages und der Parlamente ganz herzlich begrüßen, natürlich auch den Lokalmatador Heinz Riesenhuber, den ich sehe und damit stellvertretend für alle anderen Abgeordneten begrüße. Meine Damen und Herren, die große Teilnehmerzahl zeigt, dass wir mit großer Anstrengung daran arbeiten, die Welt nachhaltig zu entwickeln, Ungleichheiten auf der Welt Schritt für Schritt zu beseitigen und lebenswerte Bedingungen für alle Menschen auf der Welt zu schaffen. Das sind immerhin inzwischen über sieben Milliarden Menschen. Das 21. Jahrhundert wird ja oft als ein asiatisches Jahrhundert bezeichnet. Wenn wir uns die erreichten Fortschritte, die wir mit Blick auf die Millennium-Entwicklungsziele erreicht haben, anschauen, dann wissen wir, dass diese Fortschritte ohne Asien überhaupt nicht denkbar wären. Es ist uns gelungen – das ist einmal eine gute Nachricht in einer Welt, in der wir jeden Tag so viele schlechte Nachrichten hören –, seit dem Jahr 2000 weltweit die Armut zu halbieren. Das haben wir ganz wesentlich auch dem wirtschaftlichen Aufschwung in Asien zu verdanken. Aber angesichts der teilweise rasanten Bevölkerungsentwicklung und des rasanten Wirtschaftswachstums stehen die Fragen im Raum: Wie muss Entwicklungszusammenarbeit ausgerichtet sein? Was ist noch notwendig? Sollte sich das Engagement nicht eher auf andere Regionen richten oder ist Asien immer noch im Fokus? Wir müssen uns vor Augen führen, dass heute – je nach Berechnungsart – bis zu zwei Drittel der Menschen, die von Armut betroffen sind, in Asien leben. Das heißt also, Armutsbekämpfung ist auch für Asien kein Thema von gestern, sondern es ist ein aktuelles Thema. Wenn wir daran denken, dass wir uns 2015 ein weiteres ambitioniertes Ziel gesetzt haben, nämlich bis 2030 die absolute Armut zu beseitigen, dann wissen wir, dass dies ohne den Beitrag Asiens nicht geleistet werden kann. Weil Asien in den vergangenen 15 Jahren in Bezug auf die Halbierung von Armut so erfolgreich war, wollen wir und wollen Sie von der ADB natürlich, dass Asien auch in den nächsten 15 Jahren so erfolgreich bei der Umsetzung der Entwicklungsziele ist. Wenn die wirtschaftliche Entwicklung dynamisch verläuft, verändern sich natürlich auch die Punkte, an denen wir bei der Entwicklungsarbeit ansetzen müssen. Es ist nämlich nicht nur so, dass die asiatischen Länder bereits heute ein Drittel zur Wertschöpfung des Bruttoinlandsprodukts der Welt beitragen, sondern sie tragen auch ein Drittel zum Beispiel zu den CO2-Emissionen bei. Das heißt, der Klimawandel, die Frage, wie wir auf dem Weg hin zu einem kohlenstofffreien Leben im Laufe dieses Jahrhunderts vorankommen, betrifft die asiatischen Länder in ganz besonderer Weise. Eine weitere gute Nachricht des letzten Jahres war ja, dass wir in Paris zu einem internationalen Abkommen gekommen sind. Damit hat die Arbeit begonnen, dieses Programm umzusetzen. Daher setzen wir auch in unserer Entwicklungszusammenarbeit sehr stark auf das Thema Klimaschutz und die Beherrschung des Klimawandels; das heißt, auf die Erreichung des Zwei-Grad-Ziels. Wir haben zum Beispiel im vergangenen Jahr im Rahmen unserer Regierungskonsultationen in Indien eine Unterstützung von 1,5 Milliarden Euro zugesagt. Davon fließt eine Milliarde Euro in die Entwicklung erneuerbarer Energien in Indien. Solche Formen der Kooperation wollen wir ausbauen. Wir haben als Industriestaaten insgesamt zugesagt, ab 2020 jährlich 100 Milliarden US-Dollar für den Klimaschutz in ärmeren Ländern einzusetzen. Die Bundesrepublik Deutschland will die Klimafinanzierung bis 2020 verdoppeln. Die Asiatische Entwicklungsbank hat angekündigt, dies auch zu tun. Das heißt, es gibt eine große Übereinstimmung unserer Ziele. Gemeinsam haben wir heute die Asia Climate Financing Facility auf den Weg gebracht. Damit wollen wir die Entwicklung von Klimaschutzprojekten, Klimarisiko-Versicherungen, die wir für sehr wichtig halten, und vor allen Dingen auch die private Klimafinanzierung voranbringen. Wir hatten im vergangenen Jahr die G7-Präsidentschaft inne und haben unter anderem versucht, eben auch Klimaschutzprojekte zu unterstützen. Wir haben eine G7-Initative auf den Weg gebracht, die das Ziel hat, bis zu 400 Millionen Menschen in den ärmsten Weltregionen vor den Folgen des Klimawandels abzusichern. Solche Versicherungslösungen – davon bin ich zutiefst überzeugt – werden in Zukunft eine große Bedeutung haben. Wir müssen ohnehin mehr in die Richtung denken, dass eine Kombination von staatlichen Anstrengungen mit privaten Anstrengungen der Weg der Lösung ist. Wir werden niemals die gesamte Finanzierung aus öffentlichen Mitteln stemmen können, sondern wir müssen mit Hilfe öffentlicher Gelder intelligente Wege staatlicher Anreize, multilateraler Anreize für private Investitionen finden. Darüber, sehr geehrter Herr Präsident Nakao, haben wir gerade eben auch gesprochen. Die ADB und andere Entwicklungsbanken – zum Beispiel auch die AIIB – können Standards setzen, haben das Know-how, können Entwicklungen vorantreiben, haben die Expertise. Das Ganze muss mit privaten Anstrengungen kombiniert werden. Die Asiatische Entwicklungsbank ist die weltweit größte regionale Entwicklungsbank. Sie hat durch die Reform des Asiatischen Entwicklungsfonds an Handlungsfähigkeit gewonnen. Ich glaube, das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Herr Präsident Nakao, Sie haben sich persönlich für diese Veränderungen stark gemacht. Dafür möchte ich Ihnen sehr herzlich danken. Denn die Bank ist nun in der Lage, sich noch konsequenter auf die vereinbarten Klima- und Nachhaltigkeitsziele auszurichten und dabei genau das zu machen, worüber ich eben sprach, nämlich private Banken an ihre Seite zu holen. Ich denke, wir sollten uns immer wieder darüber austauschen, wie wir den Privatsektor besser einbeziehen können. Wir haben auch darüber gesprochen, wie wir die Projekte, die von der ADB finanziert werden, nachhaltiger gestalten, langfristiger auslegen können. Sie müssen natürlich auch der Trendsetter sein und sozusagen Benchmarks bei der Frage setzen, wie lange solche Projekte lebensfähig sind. Kurzfristiges Agieren reicht heute nicht mehr. Ich darf Ihnen sagen: Deutschland steht als Partner bereit. Was können wir Ihnen als Partner bieten? Wir wissen in Deutschland aus eigener Erfahrung, dass man Wachstum und Energieverbrauch voneinander entkoppeln kann. Wir sind davon überzeugt, dass wir Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit miteinander vereinbaren können und dass das keine Gegensätze sind. Wir glauben, dass sich strukturelle Reformen für den Klimaschutz langfristig und auch schon mittelfristig rechnen. Wir haben auch gezeigt, dass mit effizienteren Technologien Arbeitsplätze entstehen können. Das heißt, dass daraus auch Beschäftigung und dann wieder Wohlstand resultieren. Wir spüren ja in vielen Ländern, die eine sehr dynamische Wirtschaftsentwicklung haben, dass die Menschen, die aus der Armut herauskommen, die eine neue Mittelklasse bilden, wieder neue Ansprüche haben, was die Lebensqualität anbelangt. Gute Lebensqualität wird sich letztlich nur mit gutem Umweltschutz wirklich durchsetzen. Nach unserem Verständnis muss Wirtschaftswachstum im 21. Jahrhundert sozial und ökologisch nachhaltig sein. Sie wissen, dass wir aus dem Land der Sozialen Marktwirtschaft kommen. Ludwig Erhard steht für diese Soziale Marktwirtschaft. Sie hat sich aus einer ökonomischen Theorie in ein praktisches Gesellschaftsmodell, in ein Modell des gesellschaftlichen Zusammenlebens verwandelt, in dem alle Verantwortung tragen – nicht nur die Unternehmer, sondern auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ich glaube, das ist ein Modell, das zukunftsfähig ist und das wir auf die ökologische Dimension genauso anwenden können. Natürlich wird in einer Sozialen Marktwirtschaft immer auch die Frage aufgeworfen: Wie können wir menschenwürdige Arbeitsbedingungen schaffen? Deshalb haben wir uns – und ganz besonders auch Bundesminister Müller – eines Themas angenommen, das sicherlich ein sehr dickes Brett ist, das zu bohren ist. Es geht darum, internationale Lieferketten zu betrachten, also zum Beispiel die Kette von der Baumwolle bis hin zu den T-Shirts, die in den reichen Industrienationen dieser Erde verkauft werden. Lieferketten sind so etwas wie Brücken zwischen ärmeren und reicheren Ländern. Da wir alle wissen, dass das Zeitalter der Digitalisierung, das Zeitalter des Internets, ein Zeitalter der Transparenz ist, können wir fest davon ausgehen, dass es auf Dauer nicht möglich sein wird, schlechteste Arbeitsbedingungen in einem Produktionsland vor den Käufern in einem reichen Abnehmerland zu verbergen. Käufer in reicheren Ländern fragen zunehmend danach, unter welchen Bedingungen ein Produkt hergestellt worden ist. Das Thema Lieferketten ist eines, das wir nach der G7-Präsidentschaft auch in die G20-Präsidentschaft hineintragen wollen und das wir jetzt schon mit unseren chinesischen Kollegen besprechen, weil wir ja in einer Troika zusammenarbeiten. Ich glaube, wir sollten uns nicht entmutigen lassen. Eine gute Nachricht, die ich heute gehört habe, ist: Alle Projekte der ADB werden sich in Zukunft an den Standards der Internationalen Arbeitsorganisation, die im Hinblick auf Lieferketten vereinbart sind, ausrichten. Damit geht die ADB mit gutem Beispiel voran und macht diese Standards bekannter. Diesen Weg müssen wir fortsetzen. Ein letzter Punkt, den ich ansprechen möchte, ist das Thema berufliche Ausbildung und Fachwissen, das im Zusammenhang mit dem Thema Lieferketten an Bedeutung gewinnen wird. Ich freue mich, dass es auch hierbei eine Kooperation zwischen der deutschen Regierung und der ADB gibt. Wie gut Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgebildet sind, wie gut ihr Fachwissen ist, wie gut sie mit neuen Entwicklungen mithalten können, wie gut sie gegen Arbeitsunfälle geschützt sind – ich glaube, solche Fragen werden in den nächsten Jahren zunehmen. Deutschland ist gerne bereit, in dem Punkt duale berufliche Ausbildung, wie wir das in Deutschland nennen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Meine Damen und Herren, allein die Herausforderungen, die ich eben genannt habe – Klimaschutz und Umweltqualität besonders auch in großen Städten, die Fragen der Lieferketten, des fairen Handels, die Fragen der Transparenz der Arbeitsbedingungen, die Fragen des fairen Teilens und die Fragen der Bildung der Menschen in allen Ländern –, zeigen, dass Sie vor großen Herausforderungen stehen, aber dass Sie diese Herausforderungen auch annehmen und dass Sie sich ihnen stellen. Deshalb hoffe ich, dass durch diese Tagung auch viele private Banken stärker auf Sie aufmerksam werden und bereit sind, zu kooperieren, und dass die ADB in ihrer regionalen Arbeit für Asien und natürlich auch über ihre Brücken zu den nicht regionalen Unterstützern – und dazu gehört Deutschland gerne – einen hilfreichen Erfahrungsaustausch durchführen kann. Ich wünsche Ihnen alles Gute und intensive Beratungen. Alles, was Sie tun, jedes Projekt, das Sie auf den Weg bringen, hilft dazu beizutragen, dass wir Armut bekämpfen können, dass wir mehr Menschen an Erfolgen teilhaben lassen können. Deutschland hat angesichts der vielen Flüchtlinge, die bei uns angekommen sind, die Erfahrung gesammelt: Wenn wir die Ursachen von Flucht nicht bekämpfen, wenn wir nicht überall für Entwicklung sorgen, dann werden sich Menschen auf Wege machen, die für sie noch viel gefährlicher sind und die für uns alle viel komplizierter sind. Deshalb wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen viel Erfolg und eine gute Tagung hier bei uns. Genießen Sie auch ein bisschen Frankfurt und seine Lebensqualitäten. Einmal müssen Sie, glaube ich, grüne Sauce gegessen haben. Das ist hier zu empfehlen. Das hat nichts mit Umweltschutz zu tun, sondern ist etwas mit Kräutern. Also fragen Sie, wann immer Sie wollen, nach grüner Sauce und den dazugehörigen Ingredienzien. Alles Gute und herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Weiterentwicklung der Konzeption zur Erforschung, Bewahrung, Präsentation und Vermittlung der Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-weiterentwicklung-der-konzeption-zur-erforschung-bewahrung-praesentation-und-vermittlung-der-kultur-und-geschichte-der-deutschen-im-oestlichen-europa-443976
Fri, 29 Apr 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut: Grütters
Berlin
Kulturstaatsministerin
Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht kennen Sie das schmale Büchlein „Reisende auf einem Bein“, das Herta Müller nach ihrer Flucht aus Rumänien vor 28 Jahren veröffentlicht hat. Es ist ein Buch über das Gefühl des Fremdseins fern der Heimat, über das Aufbrechenmüssen und das nicht Ankommenkönnen, über den Verlust des Gleichgewichts, wenn man mit dem Standbein noch im früheren Leben steht. „Reisende auf einem Bein“ waren die Heimatvertriebenen und später auch die deutschstämmigen Aussiedler aus dem östlichen Europa. Die Pflege des Kulturguts ihrer Herkunftsgebiete ‑ im Bundesvertriebenengesetz fest-geschrieben als eine gemeinsame staatliche Aufgabe von Bund und Ländern ‑ half ihnen dabei, mit beiden Beinen in der neuen Heimat anzukommen. Bis heute ist es ein wichtiges Anliegen , das reiche kulturelle Erbe der Deutschen im östlichen Europa zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln, so wie Paragraph 96 des Bundesvertriebenengesetzes es vorsieht. Die Mittel dafür kommen unter anderem Archiven, Museen, Forschungsinstituten und mittlerweile vier Juniorprofessuren zugute. In meinem Etat hat die Förderung mit zuletzt rund 23,7 Millionen Euro im Jahr 2015 eine Höhe erreicht, die auch monetär unsere hohe Wertschätzung für das gemeinsame kulturelle Erbe im östlichen Europa zum Ausdruck bringt. Nicht zuletzt angesichts der EU–Europäische Union-Beitritte der östlichen Nachbarstaaten und der neuen Qualität der Zusammenarbeit geht es nun darum, die Förderkonzeption aus dem Jahr 2000 im europäischen Geist weiterzuentwickeln. Darauf haben sich die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag geeinigt. Wir wollen sie auf eine Grundlage stellen, die im demografischen Wandel Bestand hat und die getragen ist von unseren gewachsenen Bindungen in Europa. Dabei geht es, erstens, darum, den Erinnerungstransfer von einer Generation zur nächsten sicher zu stellen: Je weniger Zeitzeugen es gibt, desto wichtiger wird eine professionelle und zeitgemäße Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Es geht, zweitens, darum, neue Partner zu finden und neue Zielgruppen zu erschließen: Neben Vertriebenen und Flüchtlingen sind die Spätaussiedler eine starke gesellschaftliche Kraft. Ihre Bedeutung soll sich unter anderem in der Erforschung und Vermittlung ihrer Kultur und Geschichte in regionalen Museen spiegeln. Es geht, drittens, darum, europäische Kooperationen zu stärken: Sie wissen selbst um die Situation in vielen Ländern des östlichen Europas. Wer mit Partnern vor Ort kooperieren möchte, muss selbst Geld mitbringen. Deshalb werden wir mehr Geld in die Hand nehmen für unsere bundesgeförderten Museen, die Vermittlungs- und Forschungseinrichtungen. Und schließlich geht es, viertens, darum, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen: Wir wollen eine digitale Infrastruktur für die Wissenschaft und die Museen entwickeln. Guter Wille allein reicht natürlich nicht aus, um all das umzusetzen, was wir uns im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung von Paragraph 96 vorgenommen haben. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben mir bereits für das Jahr 2016 zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt hat, die zum Teil auch in diesen Politikbereich fallen. Dafür danke ich Ihnen sehr! Doch wir brauchen mehr als ein einmaliges Signal: Wir brauchen einen dauerhaften Aufwuchs, um den gesamten Förderbereich zukunftsorientiert aufzustellen. Dafür setze ich mich ein – … ebenso wie für die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Am 1. April hat die promovierte Historikerin Gundula Bavendamm ihr Amt als neue Direktorin angetreten, und ich bin sicher, dass sie als durchsetzungsstarke, erfahrene und erfolgreiche Museumsmanagerin das Know-how mitbringt, um den weiteren Aufbau des Ausstellungs-, Informations- und Dokumentationszentrums mit der notwendigen Überzeugungskraft engagiert und zügig voran zu treiben. Meine Hoffnung ist, meine Damen und Herren, dass die deutschen Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung uns auch in besonderer Weise fähig machen zur Empathie mit Menschen, die heute Zuflucht suchen in Deutschland. Auch wenn man die Flucht aus Syrien, Irak oder Afghanistan aus vielerlei Gründen nicht mit der Vertreibung aus Ostpreußen, Schlesien oder Pommern vergleichen kann, so sind die Erfahrungen der „Reisenden auf einem Bein“ doch vielfach ähnlich, heute wie damals. Gerade die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kulturerbe in Mittel- und Osteuropa kann helfen, nicht nur die Geschichte ganz Europas besser zu verstehen, sondern auch die Krisen und Konflikte, in deren Angesicht Europa sich heute neu bewähren muss. Es geht um Themen, die Deutschland und Europa heute mehr denn je beschäftigen: um Fragen des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen, um Fragen der wechselseitigen Wahrnehmung und Anerkennung. Die Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundesvertriebenengesetz ist damit aktueller denn je. Mit ihrer Weiterentwicklung sorgen wir dafür, dass sie auch in Zukunft einen Beitrag zum Zusammenhalt in Deutschland und in Europa leisten kann.
Vor dem Bundestag hat Kulturstaatsministerin Grütters den Wert der Kulturpflege hervorgehoben. Das „reiche kulturelle Erbe der Deutschen im östlichen Europa zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln“, sei ein wichtiges Anliegen, so Grütters. Für die Förderung sei eine dauerhafte Finanzierung nötig.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der Ausstellung „Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-ausstellung-enthuellt-berlin-und-seine-denkmaeler–478370
Wed, 27 Apr 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut: Grütters
Berlin
Kulturstaatsministerin
Schon der Titel der Ausstellung verspricht ja etwas Spektakuläres, etwas Unerwartetes – dabei sind Enthüllungen üblicherweise Politikmagazinen oder Boulevard-Blättern vorbehalten. Doch auch Kunsthistoriker und Geschichtswissenschaftler betätigen sich zuweilen gern investigativ und können viel Verborgenes zu Tage bringen: Mit der Schau „Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler“ machen Sie, liebe Frau Theissen und Ihr Team, vergessene Monumente sichtbar, die einst das Bild der Stadt prägten. Die Ausstellung zeigt aber auch, dass Denkmäler nicht eine abgeschlossene, eine sprichwörtlich „in Stein gemeißelte“ Geschichte erzählen, sondern dass sie sich – ähnlich wie die Frage nach einer modernen, heutigen, zeitgemäßen Denkmalkultur – im Wandel der Zeit bewegen und verändern. Ob Berlinerinnen und Berliner die ausgestellten Denkmäler, die Standbilder und Statuen geschätzt haben, als sie noch einen sichtbaren Platz auf Berlins Straßen einnahmen? Ob sie diese ansprechend oder abstoßend fanden, ob sie ins Stadtbild gepasst oder wie Fremdkörper gewirkt haben? All das haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für die Ausstellung in Erfahrung gebracht. Mit Hilfe multimedialer Elemente sind die vergessenen Monumente (wieder) in ihrem zeithistorischen Kontext erlebbar, in der Zitadelle Spandau – der künftigen „Geschichtsinsel“ wird Historie lebendig. Vielen Dank dafür an alle Beteiligten und besonders an den Leiter des wissenschaftlichen Beirats, Herrn Professor Nachama. Ebenso wie der Blick auf die Geschichte, auf Persönlichkeiten und Ereignisse, verändern sich im Laufe der Zeit die Wahrnehmung und Wertschätzung für Denkmäler, die an Persönlichkeiten und Ereignisse erinnern. Denkmäler legen immer Zeugnis einer bestimmten Zeit ab, und besonders diejenigen, die im Auftrag totalitärer Regime – während des Nationalsozialismus oder in der DDR – entstanden sind, müssen heute mehr denn je erklärt und wissenschaftlich in ihren Kontext eingeordnet werden. Wie Kunst für die Interessen der Machthaber in Dienst genommen wurde, zeigt die Ausstellung an vielen Stellen – nicht nur am Beispiel des mittlerweile berühmten „Lenin-Kopfes“. Um das Wissen über die Entstehungszeit und die Wirkungsgeschichte dieser Zeitzeugnisse weiterzugeben, müssen die Stücke gezeigt, „enthüllt“ werden – ebenso wie die sie umrankenden Mythen. Die beachtliche Schau aus 300 Jahren Berliner Denkmalgeschichte versucht genau das – was nicht zuletzt dem großen Engagement des Bezirks Spandau, besonders Ihnen, lieber Gerhard Hanke, zu verdanken ist. Die kritische Auseinandersetzung mit der Denkmal- und Erinnerungskultur dient jedoch nicht nur der so wichtigen Aufarbeitung unserer Geschichte. Sie weist auch in die Zukunft, weil sie nicht zuletzt die Frage nach einer geeigneten ästhetischen Formsprache für heutige Denkmäler aufwirft. Wie schwierig es ist, eine zeitgemäße Annäherung an die Erinnerung zu schaffen, haben wir gerade erst wieder in der Debatte um das Freiheits- und Einheitsdenkmal erlebt. Während der je beiden Wettbewerbe in Berlin wie in Leipzig wurde sehr deutlich, dass sich Deutschland offenbar schwer damit tut, sich in Denkzeichen angemessen öffentlich und im Einklang mit einem breiten Publikum auszudrücken – und das gilt sowohl für Mahnmale, die an die bitteren Abgründe unserer Geschichte erinnern wie für die, bei denen es um die großen Freiheitstraditionen geht. Ich selbst habe immer auf die zentrale Bedeutung von Mahn- und Denkmalen hingewiesen. Viele davon erinnern an die dunklen Seiten deutscher Geschichte. Das Freiheits- und Einheitsdenkmal wäre endlich ein Ort gewesen, der sich den positiven Aspekten unserer Vergangenheit verpflichtete. Umso mehr gilt unsere Aufmerksamkeit aber jetzt der Mitte unserer Hauptstadt: Das Brandenburger Tor ist das internationale Symbol für die Teilung der Welt in Freiheit und Unfreiheit und ihre glückliche Überwindung vor 26 Jahren. Wir müssen es „nur“ angemessen würdigen und entsprechend pfleglich mit seinem Umfeld umgehen. Umso mehr bleibt die Frage, wie wir auch künftig an prägende, identitätsstiftende Ereignisse erinnern wollen – auch und gerade, wie wir freudigen und hoffnungsvollen Momenten unserer Geschichte „ein Denkmal setzen“ können. „Vielleicht gibt diese Ausstellung einen Impuls, über unsere aktuelle Denkmalkultur nachzudenken, über Gestalt und Wirkung und auch über künstlerische Ausdrucksformen. Das Äußere eines Denkmals ist elementar, unabhängig davon, wie edel der Grund seiner Errichtung war oder ist. Wenn nicht nachfolgende Generationen dem provokanten Satz Robert Musils zustimmen sollen, der einst schrieb: „Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre, wie Denkmäler“ – wenn Denkmäler also sichtbar sein sollen, wenn sie Menschen erreichen, mit ihrer Botschaft berühren und zum Innehalten anregen sollen – dann brauchen auch wir heute neue, mutige Darstellungsformen.“ Doch zunächst einmal feiern wir die Eröffnung dieser wunderbaren Schau, die den Blick auf die Vergangenheit buchstäblich enthüllt. Ich wünsche der Ausstellung viel Beachtung und zahlreiche interessierte Besucherinnen und Besucher aus Berlin und ganz Deutschland!
Die Ausstellung mache vergessene Monumente sichtbar, die einst das Bild Berlins prägten, so Kulturstaatsministerin Grütters. Sie sieht die Schau als möglichen Impuls, über die aktuelle Denkmalkultur nachzudenken. Im Wandel der Zeit würden Denkmäler unterschiedlich wahrgenommen, vor allem jene, die im Auftrag totalitärer Regime entstanden, müssten erklärt und eingeordnet werden.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Besuch des neuen Kompetenzzentrums Kultur- und Kreativwirtschaft
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-besuch-des-neuen-kompetenzzentrums-kultur-und-kreativwirtschaft-479342
Thu, 28 Apr 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort.- Eigentlich hätte ich erwartet, dass unser geselliges Beisammensein heute Nachmittag einen Hauch des Improvisierten hat, den Charme des Provisorischen, mit der einen oder anderen Umzugskiste als Kulisse. Schließlich sind Sie, liebe Frau Hustedt, lieber Herr Backes, mit dem Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft gerade erst in die neuen Räume eingezogen, und bis zur offiziellen Eröffnung am 7. Juni (an der ich leider nicht teilnehmen kann) ist ja noch ein bisschen Zeit. Ich jedenfalls habe für alle Fälle mein Stehpult „to go“ mitgebracht: ein Qualitätsprodukt deutscher Kultur- und Kreativwirtschaft, mit dem ich auch unter widrigen Umständen immer sprechfähig bin – selbst im Umzugschaos. Ich verdanke es (wie einige von Ihnen schon wissen) einem Vortrag bei der Jahreskonferenz der Branche an einem Rednerpult, dessen steile Auflage sich als ungeeignet erwies, auch nur ein Blatt Papier zu halten – was eine 20minütige Rede nicht unbedingt einfacher macht. Bei meinem anschließenden Rundgang – genauer: beim Besuch am Stand von „room in a box“ – wurde dann zwischen allerlei Pappmöbeln die Idee geboren, ein der Lesbarkeit des Rede-Manuskripts zuträglicheres Rednerpult zu entwickeln, das man überallhin mitnehmen kann. Ehrensache, dass es auch heute mit dabei ist! Das ist mein ganz persönlicher Beitrag, um die Kultur- und Kreativwirtschaft noch sichtbarer zu machen. Die Kultur- und Kreativwirtschaft noch sichtbarer zu machen: Das ist ein Anliegen, das wir auch mit dem neuen Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes verbinden. „Unsichtbar“ kann man die Branche mit fast 250.000 Unternehmen, über einer Million Beschäftigten, einem Umsatz von 146 Milliarden Euro und einer Bruttowertschöpfung von 67,5 Milliarden Euro zwar nun wirklich nicht nennen. Aber um ihre volkswirtschaftliche und ihre gesellschaftliche Bedeutung zu erkennen, muss man schon genauer hinschauen: Sie liefert den immateriellen Rohstoff für Innovationen in allen Bereichen unserer Gesellschaft, indem sie uns in die Lage versetzt, die Perspektive zu wechseln und neue Verbindungen herzustellen. Um es bildlich auszudrücken: Die Künstler und Kreativen tragen die Fackel, an der viele andere das Feuer eigener schöpferischer Kraft entzünden. Das ist keineswegs neu, auch wenn Kreativität gerne als der „Rohstoff des 21. Jahrhunderts“ gepriesen wird und Ideen als wichtiges, wenn nicht sogar als wichtigste Wirtschaftsgut in einer rohstoffarmen Gesellschaft gelten. Doch schon Albert Einstein, einer der größten Verteidiger der Phantasie unter den Naturwissenschaftlern, hat zutreffend bemerkt, dass Probleme sich niemals mit derselben Denkweise lösen lassen, durch die sie entstanden sind. Künstler und Kreative haben insofern immer schon zum gesellschaftlichen Fortschritt und zu wirtschaftlichem Wachstum beigetragen, indem sie ihre Zeitgenossen die Wirklichkeit neu sehen lehrten. Heute brauchen wir ihren Mut zum Experimentieren, zum Regelbruch, ihren „avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen“ – eine griffige Formulierung von Jürgen Habermas – mehr denn je, um Schritt halten zu können mit dem rasanten Wandel im Zeitalter der Digitalisierung und des globalen Wettbewerbs. So entstehen ungeahnte, spannende neue Kooperationsformen. Dass beispielsweise ein Unternehmen der Medizintechnik zur Lösung eines Problems Rat sucht bei Games-Entwicklern, ist heute nicht abwegig, sondern zielstrebig. Deshalb unterstützt die Bundesregierung im Rahmen der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft Unternehmerinnen und Unternehmer dabei, mit ihren Ideen auch ökonomisch erfolgreich zu sein. Die Initiative hat sich über die Jahre zu einer erfolgreichen Kooperation zwischen meinem Haus und dem Bundeswirtschaftsministerium entwickelt. Zu den zentralen Projekten der Initiative gehören das Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft als Plattform für Information, Dialog und Vernetzung und der Branchenwettbewerb „Kultur- und Kreativpiloten Deutschland“. Beides sind Angebote, die gut angenommen werden und kreativen Köpfen vielerorts mehr Sichtbarkeit, mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung bescheren. Über die bisherige Unterstützung hinaus gibt es für die Förderung der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft künftig in meinem Haus einen eigenen Haushaltstitel: Damit stehen für die kulturellen Schwerpunkte der Kultur- und Kreativwirtschaft nun 1,5 Millionen Euro zur Verfügung. Seit dem 1. Januar 2016 ist das u-institut der neue Träger des Kompetenzzentrums für Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes und damit Teil der Initiative der Bundesregierung. Ich gratuliere Ihnen – den Geschäftsführern, liebe Frau Hustedt, lieber Herr Backes – ganz herzlich und freue mich auf die gute Zusammenarbeit! Einen sehr inspirierenden gemeinsamen Termin hatten wir ja schon vor einem halben Jahr im November beim Empfang der ausgezeichneten „Kultur- und Kreativpiloten“ im Bundeskanzleramt. Und das werden wir in diesem Jahr wiederholen: Die Gewinner des Wettbewerbs sind auch 2016 herzlich zu einem Empfang ins Kanzleramt eingeladen! Wie Kulturunternehmer mit ihrer Arbeit in ganz unterschiedliche Bereiche unserer Gesellschaft hinein wirken und welche neuen kreativwirtschaftlichen Wirkungsfelder dabei entstehen, zeigt sich am eindrucksvollsten am konkreten Beispiel. Deshalb freue ich mich heute sehr auf die Ausstellung „Kunst jenseits des Kunstbetriebs“ mit Projekten, bei denen mich schon die Namen neugierig machen – „Wimmelforschung“, „DAS unSICHTBARE THEATER“ -, und ich bin gespannt auf die Präsentationen von Frank und Patrik Riklin, von Leonie Pichler und von Norbert Krause. Wir alle wollen von Ihnen, liebe Künstlerinnen und Künstler, aus erster Hand zu erfahren, wie Methoden, die wir aus der Kunst kennen – Inszenierung und Komposition, aber auch die Art der Produktion – ihre Kräfte jenseits des Kunstbetriebs entfalten. Von Joseph Beuys stammt der schöne Satz: „Arbeite nur, wenn Du das Gefühl hast, es löst eine Revolution aus.“ Diese auf den ersten Blick etwas ungesund anmutende Haltung kann man, wie ich finde, durchaus als pointierte Beschreibung künstlerischer Tätigkeit wie auch kultur- und kreativwirtschaftlichen Unternehmertums beschreiben. Es muss ja nicht immer gleich die Weltrevolution sein. Die kleinen Revolutionen im Alltag, im Denken und im Bewusstsein sind es, die jeder gesellschaftlichen Veränderung vorausgehen, und in diesem Sinne tragen Kunst, Kultur und Kreativität immer den Keim des – im besten Sinne – Revolutionären in sich. Dass aus diesen Keimen etwas wachsen darf, dass es einen fruchtbaren Boden dafür gibt und ein wachstumsförderndes Klima – das macht eine vitale Gesellschaft aus, und in diesem Sinne werden wir Sie, liebe Künstlerinnen und Künstler, weiterhin unterstützen.
Am 7. Juni wird das neue Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes in Berlin einweiht. Kulturstaatsministerin Grütters informierte sich vorab. „Heute brauchen wir ihren Mut zum Experimentieren, zum Regelbruch, ihren „avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen“, wandte sie sich an die anwesenden Künstler und Kreativen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Zukunftskongress „Deutschland 2050 – Gesellschaft, Mobilität, Arbeit“ der Jungen Gruppe der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag am 28. April 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-zukunftskongress-deutschland-2050-gesellschaft-mobilitaet-arbeit-der-jungen-gruppe-der-cdu-csu-fraktion-im-deutschen-bundestag-am-28-april-2016-806066
Wed, 27 Apr 2016 17:40:00 +0200
Berlin
Liebe Gerda Hasselfeldt, lieber Steffen Bilger, liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages, insbesondere die aktuellen Mitglieder und die früheren Mitglieder der Jungen Gruppe, auch ich finde es schön, dass Sie sich entschieden haben, den 25. Geburtstag so zu feiern, dass dabei auch etwas an geistigem Gewinn herauskommt, und dass Sie sich so präsentieren, wie Sie sich auch verstehen, nämlich als Menschen, die sich über die Zukunft Gedanken machen, die verantwortungsvolle Entscheidungen fällen – und das naturgemäß mit einer anderen Perspektive, als es 60-Jährige, 50-Jährige oder vielleicht auch 40-Jährige vielleicht können. Ich freue mich, dass auch Julia Klöckner hier ist. Ich bin ein wenig beeindruckt von der Bandbreite Ihrer Themenstellung. Wenn man mitten im täglichen Kampf steht – Auftritt beim Sparkassenverband, Diskussion über die Förderung der Elektroautos, Befassung mit dem Bildungsbericht im Kabinett; um nur einige Termine heute zu nennen –, dann muss man mit Blick auf das Jahr 2050 erst einmal nachdenken. Ich werde auf die genannten Themen noch eingehen, will aber zunächst Folgendes sagen. Sie sind diejenigen, die Verantwortung übernehmen, die gestalten müssen – und das in einer Phase, in der die Wiedererlangung der Deutschen Einheit bald 26 Jahre her ist und sozusagen immer mehr zur Geschichte wird. Für Sie ist sie natürlich viel mehr Geschichte als für mich, die ich mein Leben bis zum Grenzalter der möglichen Mitgliedschaft in der jungen Gruppe noch in der DDR verbracht habe. Meine Lebenserfahrung in der freiheitlichen Gesellschaft ist jetzt etwas älter als Ihre Existenz in der Jungen Gruppe. Insofern haben Sie einen Blick, der sehr in die Geschichte geht. Die einen waren noch nicht geboren, die anderen waren vielleicht zehn Jahre alt – insofern war an Gestaltung der damaligen Gesellschaft noch nicht viel zu denken. Jetzt, über 25 Jahre später, empfinde ich die heutige Zeit in vielerlei Hinsicht als eine Zeit, in der wir durch die Digitalisierung und die immer spürbarer werdende Globalisierung in eine neue Etappe hineingehen, die auch dadurch geprägt ist, dass etwas Zweites passiert, dass nämlich diejenigen, die den Zweiten Weltkrieg und die Zeit des Nationalsozialismus noch selber erlebt haben, bald nicht mehr unter uns sein werden. Das sind diejenigen, die davon erzählen konnten, wie es war, als nach dem Zweiten Weltkrieg die Europäische Union entstanden ist, und wie es war, als Deutschland und Frankreich noch verfeindet waren. Wir werden in wenigen Tagen der Schlacht von Verdun vor 100 Jahren gedenken. Ich erinnere mich noch daran, als der letzte Teilnehmer des Ersten Weltkrieges gestorben ist. Jetzt kommen wir mit Blick zurück auf den Zweiten Weltkrieg noch einmal in einen ähnlichen Zeitabschnitt. Deshalb ist meine Bitte an Sie als erstes: Bei allem, was sich ändert und was auf uns immer wieder neu zukommt, fragen Sie sich ab und an auch, was für Sie unveräußerlich ist, was Sie aus dem Erbe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unbedingt übernehmen wollen, wovon Sie glauben, dass die, die noch älter sind als ich, dafür gekämpft haben, und was davon nicht infrage gestellt werden sollte. Ich sage das jetzt auch angesichts mancher Diskussion in der Europäischen Union, die mir – das will ich unverhohlen sagen – manchmal auch ein bisschen Sorgen macht. Die Frage meiner Kompromissfähigkeit und der Kompromissfähigkeit jedes Einzelnen hängt unglaublich stark von der Frage ab: Für wie wichtig halte ich das Gesamtgebilde? Ich denke, Sie werden Menschen sein, die noch viel stärker in dem Geist denken müssen, dass einerseits Nationen, auch unser Land, Deutschland, andererseits die Europäische Union und auch die Welt eigentlich verschiedene Seiten ein und derselben Medaille sind, die man eben als Gesamtgebilde im Kopf haben muss, sonst werden Sie, meine ich, nicht die richtigen Entscheidungen treffen können. Ich merke bei manchen Diskussionen, die wir in diesen Wochen und Monaten führen, dass die europäische Dimension nicht immer so intensiv mitgedacht wird, wie es, so glaube ich, getan werden sollte, wenn ich mir die Probleme auf der Welt und die Lösungsmöglichkeiten anschaue. Sie wachsen in eine Welt hinein, die überhaupt nichts mehr von dem hat, was Ältere noch erlebt haben: den Kalten Krieg, die vermeintlich klare Einteilung in Gut und Böse. Manchmal neigt man ja dazu, zu sagen: Eigentlich war es ganz schön einfach, als die Abschreckung so gewirkt hat, dass sich beide Seiten zurückgehalten haben, weil sich keine der beiden Seiten im Kalten Krieg umbringen wollte. Heute haben wir es unentwegt mit Gefährdungen zu tun, bei denen Menschen, die sich zum Beispiel auf den Dschihad berufen, überhaupt nichts dabei finden, sondern es noch für besonders erstrebenswert halten, auch sich selber zu opfern, um andere umzubringen. Das ist eine völlig neue Herausforderung, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Auf diese Herausforderung haben wir noch keine abschließende Antwort. Das muss uns umtreiben, weil Sicherheit eine notwendige Rahmenbedingung für Freiheit ist. Ohne Sicherheit lebt es sich in der Freiheit nicht richtig frei. Diese Welt – das ist sicherlich richtig – ist eine multipolare Welt. Das heißt, es wird viel mehr Pole der Entscheidungsmöglichkeit und Macht und mehr Gewichtsverteilung geben. Was wird in dieser Welt ein Kraftzentrum sein? Ich denke, dass in einer solchen Welt ein Kraftzentrum sein kann, wer wirtschaftlich stark ist, wer dafür bekannt ist, dass er für seine Sicherheit sorgen kann, und vielleicht ab und zu so stark ist, dass er auch noch anderen helfen kann, die auch Sicherheit brauchen und ähnliche Ideale teilen oder sich zumindest auf den Weg zu ähnlichen Idealen begeben. Deshalb müssen sich Deutschland und Europa die Frage stellen: Wollen wir in einer solchen multipolaren Welt ein solches Kraftzentrum sein? Und glauben wir, dass wir das allein sein können? Ich glaube es nicht. Wir sind 80 Millionen. Das sieht nicht gut aus bei heute bereits über sieben Milliarden Einwohnern der Erde. Aber können wir es als Europa mit 500 Millionen? Schon eher. Der amerikanische Präsident hat auch aus Sorge um Europa vor drei Tagen in Hannover eine Rede über Europa, über die Europäische Union gehalten und sinngemäß gesagt: Mein Gott, muss man eigentlich von außen kommen, um euch zu sagen, was ihr geschafft habt? Das war schon beeindruckend. Jedenfalls müssen wir definieren, was wir können müssen, um all das, worüber wir dann noch sprechen – die Mobilität, die Rente, die Arbeitsplätze, die Familie –, überhaupt so leben zu können, ohne den ganzen Tag abgelenkt zu sein und uns mit unserer Sicherheit beschäftigen und fragen zu müssen, was wir da leisten können. Die Gewichte auf der Welt verschieben sich. Bedingt durch die demografische Entwicklung nimmt unser Anteil an der Weltbevölkerung und auch am Bruttoweltprodukt ab. Die Gewichte werden sich stärker in Richtung Pazifik verlagern. China ist auf einem aufsteigenden Weg. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind nach wie vor sehr stark, sehr dynamisch und haben auch nicht solche demografischen Herausforderungen wie wir. Sie haben es sehr gut geschafft, immer wieder neue Gruppen in die Bevölkerung aufzunehmen. Die Vereinigten Staaten sind in der Welt auch etwas einfacher positioniert, was die Geografie anbelangt. Auch das muss man sich vor Augen führen. Sie haben im Norden eine Grenze zu Kanada. Das ist ein Freund. Sie haben in Ost und West jeweils einen großen Ozean und nur in Richtung Zentralamerika eine komplizierte Grenze. Wenn wir uns unser Gebilde anschauen, den Schengen-Raum, den Raum unserer Reisefreiheit, den Raum unserer Wertegemeinschaft, dann stellen wir fest, dass der sicherste Abschnitt heutzutage in Richtung Grönland und Nordpol liegt. Ich sage das deshalb, weil wir oft gescholten werden, dass wir uns nicht um die arktischen Routen kümmern. Denn wenn der Klimawandel fortschreitet und diese Routen schiffbar werden – China interessiert sich mehr für die Arktis, als wir das gemeinhin tun –, dann wird das eine hoch spannende Zone. Dann kommen Russland, Weißrussland, die Ukraine, Moldau, gegenüber am Schwarzen Meer Georgien, die Türkei. Dann kommt Syrien als unser Nachbar. – Nur zur Erinnerung: Zypern und Syrien sind Nachbarn und nur durch eine relativ kurze Seestrecke getrennt. – Dann kommen der Libanon, Israel, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko. Uns gegenüber liegt der afrikanische Kontinent – unser Nachbarkontinent. Wenn Sie sich die Fluchtrouten dieser Erde – auch von Bangladesch, Pakistan und durch ganz Afrika – und die Stabilität der politischen Regionen einmal anschauen, dann sehen Sie, dass wir mit unserem Schengen-Gebiet in einer Nachbarschaft liegen, die – sagen wir einmal – vielfältiger ist als zum Beispiel die der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben es in den vergangenen fünf Jahren geschafft, vom Erdgas und Erdöl aus der Region, die unsere Nachbarschaft ist, quasi unabhängig zu werden. Damit ist es auch nicht mehr naturgegeben, dass das strategische Interesse der Vereinigten Staaten von Amerika naturgemäß in Europa liegt. Es liegt dort, solange wir stark sind, wirtschaftlich interessant sind und unseren Beitrag zur Sicherheit leisten, auch weil wir eine Wertegemeinschaft sind. Aber es ist nicht so, dass wir es sozusagen als naturgegeben nehmen können, dass sich die Vereinigten Staaten auch die nächsten 20, 30, 40 Jahre damit beschäftigen. Wir haben ein genauso großes Interesse daran, mit all den Herausforderungen des islamistischen Terrors fertigzuwerden, und müssen uns durchaus fragen, was davon wir eigentlich allein können und was nicht. Diese Frage wird drängender. Früher habe ich eher theoretischerweise junge Außenpolitiker gefragt, wen sie, wenn sie einmal die Welt beschreiben, eher zu unseren Freunden und eher zu unseren Gegnern zählen würden, wenn uns das nicht die Amerikaner sagen würden. In den nächsten 20 Jahren kann es geschehen, dass wir das sehr viel mehr selber tun müssen. Ich glaube, dass zum Beispiel Ursula von der Leyen gestern eine sehr zukunftsrelevante Entscheidung getroffen hat, indem sie im Bereich Cybersicherheit im Grunde eine neue Teilstreitkraft gegründet hat, die es bei uns noch nicht gab. Das wird eine richtige Einheit. Das ist richtig, weil sich militärische Auseinandersetzungen nicht mehr nur zu Lande, zu Wasser und in der Luft abspielen werden, sondern eben auch in der digitalen Welt. Deshalb ist es meine Bitte, wenn wir uns in Richtung 2050 orientieren, das eigene Interesse an einer transatlantischen Partnerschaft immer wieder zu artikulieren, weil wir uns nicht mehr so verhalten können werden, als würden sich die Amerikaner noch aus Gründen, die sie im Kalten Krieg hatten, weil die Trennlinie des Kalten Krieges eben genau durch Europa ging, um Europa kümmern. Denn viel Interessantes auf der Welt – ich sage es ganz vorsichtig – kann man auch außerhalb Europas erleben. Europa ist unter Druck. Die letzten Jahre zeigen im Grunde, dass die Welt Europa testet: Was ist das eigentlich für ein Gebilde? Zuerst war die Währungsunion dran: Haltet ihr zusammen oder haltet ihr nicht zusammen? Es gibt genügend Kräfte auf der Welt, die nicht wollen, dass wir zusammenhalten. Der zweite Druckpunkt, den wir jetzt bestehen müssen, ist die Frage: Könnt ihr eure Außengrenzen schützen? Seid ihr dazu in der Lage oder fallt ihr wieder zurück in den Schutz der nationalen Grenzen? Deshalb habe ich sehr viel Kraft darauf verwandt, dass wir lernen, unsere Außengrenzen zu schützen, weil ansonsten der Binnenmarkt und die Europäische Union in Gefahr sind, da nationalstaatliches Denken schneller wiederauferstehen kann, als man sich das vorstellt. Jetzt müssen wir dieses Gebilde, von dem ich hoffe, dass es als starke Währungsunion eben an einer einheitlichen Währung festhält und dass es als Europäische Union lernt, die Außengrenzen zu schützen, mit Leben erfüllen. Es muss ein Gebilde des Wohlstands und der Stärke sein, das auf die Herausforderungen unserer Zeit Antworten geben kann. Durch die Digitalisierung wird unser Leben nun massiv verändert. Ich denke, wir müssen bei den Jüngeren sehr stark hinhören, weil wir im fortgeschrittenen Alter das nicht mehr so erfühlen können. Nicht umsonst gibt es die „digital natives“ und die „digital immigrants“. Integration kann auch bei diesen „immigrants“ stattfinden, aber die Integration wird kaum eine solche Tiefe erreichen, als wenn man sozusagen von Kindesbeinen an in diese Welt hineingewachsen ist. Dieses Hineinwachsen – ich bin jetzt noch gar nicht bei den Sachfragen – bedeutet erst einmal, dass Sie alle möglichen Informationen haben können, mit dem Nebeneffekt, dass Sie auf jede Frage aber auch gleich eine Antwort geben sollen. Sie bekommen individualisierte Angebote. In den Zeiten, als ich groß geworden bin, war klar, dass man zwei Fernsehprogramme im Westen hatte. Wenn man DDR-Fernsehen nicht gesehen hat, hat man eben darüber gesprochen, ob man ZDF oder ARD gesehen hat. Damit war schon ein gemeinsamer Gesprächsstoff für den nächsten Tag da. Heute können Sie bestenfalls noch bei einem Nationalmannschaftsspiel oder, wie heute, Halbfinalspiel der Champions League davon ausgehen, dass Sie morgen ziemlich viele Leute treffen, die über das Gleiche reden, weil sie am Abend das Gleiche erlebt haben. Ansonsten ist alles individualisiert. Was bedeutet das für den Zusammenhalt von Gruppen, die politisch gemeinsame Werte teilen und Politik gestalten wollen? Wir werden – ich sage das ohne Klage – damit rechnen müssen, dass wir viele ausgefaserte Interessen zum Beispiel auch der einzelnen Abgeordneten, die sozusagen Antennen haben, mit denen sie ein Stück der Gesellschaft individuell wahrnehmen, immer wieder mit der Frage verbinden müssen: Was zeichnet uns denn noch gemeinschaftlich aus? Die Zeit, in der es vier Flügel in der CDU gab, wird einmal als sehr übersichtlich gelten, obwohl es schon schwierig war, etwa den Sozialflügel und den Wirtschaftsflügel zusammenzubringen. Aber heute wird das viel, viel schwieriger. Wie viel Bereitschaft gibt es eigentlich noch in einer Welt, in der ich mir zu jedem Thema hinreichend viele Leute gleichen Geistes zusammensuchen kann, sich lebenslang in einer politischen Gruppierung aufzuhalten und zu sagen: Das ist meine politische Familie; und da stimme ich mit, da mache ich auch einmal bei etwas mit, das mir gar nicht passt – das kommt ja auch vor; das war heute auch schon wieder der Fall. Ist der Mehrwert, auf Dauer gemeinsam zu agieren, überhaupt noch ausreichend gegenüber einem Zustand, sich permanent mit einer Interessengruppe zusammenzutun? Meine Bitte ist, dass Sie sich auch mit dieser Frage beschäftigen, weil es, wenn wir auf diese Frage keine Antwort geben, zu einer schleichenden Erosion von dem führen kann, was unsereiner sozusagen mit der politischen Muttermilch aufgesogen hat – eine Fraktionsgemeinschaft –: dass man eben nicht gegeneinander abstimmt, dass es Gewissensfragen gibt. Ansonsten hebt man im Plenum genauso die Hand, wie man sie in der Fraktion hebt. Ich glaube, es gibt heute junge Leute, die sagen: Warum eigentlich? Wie komme ich dazu? Ich fühle mich doch meinen Bürgerinnen und Bürgern im Wahlkreis viel mehr verpflichtet, als dem, was mir hier in Berlin erzählt wird. Was mache ich eigentlich, wenn jede meiner Meinungsäußerung in zwei sitzungsfreien Wochen sozusagen schon inventarisiert ist und nie wieder aus dem World Wide Web gelöscht wird und bekannt ist, was ich dazu irgendwann einmal gesagt habe, und dann werde ich damit konfrontiert? Früher ist ja nicht alles gespeichert worden. Dass man sagen kann, was man will, hat ja auch seine Nachteile, wenn alles bleibt und man dauernd mit sich selbst verglichen wird und begründen muss, warum man in welchem Kontext später eine andere Meinung hat, sodass das politische Leben schon schwieriger geworden ist. Volksparteien wie die CDU und die CSU werden nur zusammenstehen können, wenn es den Zusammenhalt der Generationen gibt, wenn es den Zusammenhalt der verschiedenen Interessen gibt. Wie weit lässt sich das heute in dieser Frage noch spannen? Damit meine Rede nicht zu länglich wird, will ich auch etwas zu den aufgeworfenen Themen sagen. Arbeit wird sich verändern, und zwar, wie ich glaube, mit allen Chancen und Risiken. Die Chancen liegen darin, dass verschiedene Lebensbereiche sich sehr viel besser miteinander verbinden lassen und individueller gestaltet werden können. Ich werde meine Arbeitszeiten besser einrichten können, ich werde Beruf und Familie besser zusammenbringen können. Es wird also wunderbare Chancen und Möglichkeiten geben. Im Gegenzug wird aber auch vieles wegfallen, was vielen Menschen früher Halt gegeben hat. Wenn du ganztägig für dich verantwortlich bist, wenn du die Freizeit für dich und deine Kinder selbst gestalten musst, wenn du nicht sagen kannst „Das macht schon die katholische, die evangelische Kirche oder diese Gruppe oder jene Gruppe für mich; die wissen das und haben schon 20 Generationen von jungen Leuten groß gezogen; das wird schon klappen“, wenn immer mehr von diesen Angeboten, die gegolten haben und die Menschen durch Lebenszeiten geführt haben, wegfallen und du alles alleine designen musst, ist das ja auch anstrengend. Das kann gut gelingen, aber manch einem wird es auch schwer gelingen. Wie schaffen wir es, denjenigen, die sich damit schwer tun, auch Angebote zu machen, die nicht den Eindruck einer Zwei-Klassen-Gesellschaft erwecken? Es wird darauf ankommen, sich sehr viele Gedanken darüber zu machen, was wir von unserem Arbeitsrecht erhalten wollen und was mit Blick auf die Frage neuer Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitsgegebenheiten flexibilisiert werden muss. Ich sage ganz ehrlich, dass wir darauf noch keine abschließende Antwort haben. Die Sozialministerin macht hier sehr viel, auch im Rahmen eines großen gesellschaftlichen Prozesses. Ich empfehle, sich einmal das Grünbuch anzuschauen, das jetzt in Richtung eines Weißbuchs weiterentwickelt wird. Meine Bitte an die Junge Gruppe ist: Beschäftigen Sie sich damit, und zwar so, dass wir möglichst viele mitnehmen. Ein zweiter Punkt ist die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme. Ich habe die mahnenden Worte wohl verstanden. Die Fragen müssen ja sozusagen bohrend kommen, da es ja langwirkende Systeme sind. Ich habe deshalb auch selbst darauf hingewiesen, dass wir sicherlich auch über die Rente jenseits 2030 sprechen müssen. Es muss nur in einer kommunikativen Atmosphäre ablaufen, in der nicht die Hälfte der Bevölkerung Angst bekommt. Man muss wissen: Wenn das Wort „Rente“ fällt, fühlt sich meistens der junge Mensch nicht angesprochen, aber immer derjenige, der heute Rente bezieht. Der versteht alles, was rational richtig ist, emotional ganz anders. Darauf müssen wir achten, weil ein Thema, das mit Alterssicherheit, mit Gesundheit im Alter, mit der Frage „Was habe ich zu erwarten, wenn ich schwächer werde?“ zu tun hat, unglaublich sensibel ist. Hierbei kann man viel Angst erzeugen, die überhaupt nicht gewollt ist. Deshalb muss diese Diskussion behutsam und möglichst immer im gesamten Kontext geführt werden. Man sollte lieber einmal zu oft als zu wenig sagen, dass es um die Zukunft geht, damit man nicht falsch verstanden wird. Ein Thema, das ich mindestens als so schwierig ansehe wie die Rente, sind die Fragen der Gesundheit, weil die medizinischen Möglichkeiten so unglaublich werden, aber auch die Kosten zu berücksichtigen sind. Es sagt sich schnell, dass wir keine Zwei-Klassen-Medizin wollen. Aber gerade im hohen Alter wird das eine immer drängendere Frage werden. Deshalb muss über das Thema Gesundheit, auch wegen der wissenschaftlichen Dynamik, mindestens genauso intensiv wie über das Thema Rente gesprochen werden. Auch das Thema Mobilität ist zu nennen. Es waren heute entsprechende Experten anwesend. Man wird einfach nicht mehr vom Verkehrsträger aus denken, sondern auch wieder vom Individuum aus: Wie will man wohin gelangen, was ist der geschickteste Weg? Das Besitzen eines Autos zum Beispiel als Statussymbol wird längst nicht mehr die Bedeutung haben wie früher – auf dem Lande vielleicht noch etwas länger als in der Stadt –; da tut sich schon sehr viel, was Veränderungen angeht. Es wird zum Schluss darauf ankommen, dass man sich so fortbewegt, dass man möglichst schnell, sicher und „in time“ irgendwo ankommt und dass man während seiner Bewegung möglichst viel von dem tun kann, was einem selber wichtig ist. Vor fünf Jahren habe ich über autonomes Fahren noch gar nicht nachgedacht. Inzwischen denke ich: Mensch, wenn du jetzt älter wirst, ist es vielleicht für dich eine Option, länger Auto zu fahren, weil es das ja dann selber macht. Ich wünsche mir inzwischen eigentlich einen schnelleren technischen Fortschritt, überlege auch schon, wie man vielleicht Heimroboter einsetzen kann. Ich versuche, dazu eine offene Einstellung zu haben, weil man später vielleicht zum Beispiel selbst keine Zitrone mehr auspressen kann, weil die Hände nicht mehr so stark sind. Es tun sich also viele Chancen auf. Lasst uns in Form von Chancen über solche Dinge reden. Aber das wird schon toll sein, wenn man den höchsten Versicherungsbeitrag dafür zahlen muss, dass man noch selber an das Steuer will, weil alles andere als sicherer gilt. Es ist wichtig, sich in die Frage hineinzudenken – Sie haben ja heute VW hier zu Besuch gehabt –, was das bedeutet. Wenn man in den Megacities sehr lange im Stau steht – das sind, wie ich neulich gelernt habe, im Durchschnitt 33 Tage im Jahr –, ist die wichtigste Frage: Wie kann die Mobilitätsindustrie einen Beitrag dazu leisten, dass der Mensch sich in diesen 33 Tagen auch noch wohlfühlt und am besten auch noch viele Daten abgibt, aus denen man wieder etwas Schönes machen kann? Mobilität wird also völlig neu gedacht. Wir werden bis 2050 klare Vorstellungen davon haben, wie wir weitestgehend ohne Kohlenwasserstoffe auskommen. Die Energieversorgung wird sich vollkommen verändern. Nur so wird es möglich sein, die dann vielleicht acht, neun oder zehn Milliarden Menschen auf der Welt vernünftig leben zu lassen und nicht einen Migrationsdruck zu bekommen, der unerträglich wird. Auch deshalb wird die Frage des Teilens oder des Aufbaus von Wohlstand und Sicherheit um das Schengengebiet herum sehr wichtig sein. Je weiter wir diese Kreise ziehen können, umso friedlicher wird unser Leben sein und wir müssen auch nicht übermäßig Kraft für die Grenzsicherung aufwenden. Ich habe neulich einen Beitrag über die chinesische Mauer gesehen, der sehr interessant war. Es gab Zeiten, in denen man so viel Kraft auf den Schutz und die Stabilisierung der chinesischen Mauer verwendete – die besten Ingenieure, die besten Leute mussten sich allein mit der Festigung der chinesischen Mauer befassen –, sodass China nach innen geistig verarmte, nur weil die intellektuelle Hauptherausforderung war: Wie schotten wir uns ab? Die Sicherung der eigenen Grenzen dergestalt, dass man mit seiner Nachbarschaft in einer guten Art und Weise auskommt, wird ganz wichtig sein. Dabei wird neben vielem anderen auch Entwicklungshilfe eine große Rolle spielen. Ich messe ihr auch deshalb eine so große Bedeutung zu, weil auch wir hierzulande eben nur in einem sicheren Umfeld vernünftig forschen, entwickeln, bilden, leben, Familienzeit verbringen können. Daher bitte ich Sie, auch darüber nachzudenken, was wir bei der Entwicklungshilfe noch falsch machen. Angesichts der Summe aller Gelder, die die Welt für Entwicklungshilfe ausgibt, und wenn afrikanische Staats- und Regierungschefs in Bezug auf Elektrifizierung sagen, dass 39 Prozent der Menschen oder 50 Prozent oder 60 Prozent der Menschen elektrischen Strom in ihren Ländern haben, von denen Sie eigentlich denken, dass es ihnen schon gutgeht, auch weil gerade kein Bürgerkrieg herrscht, dann kann man aber mit dem Ergebnis nach Jahrzehnten der Entwicklungshilfe nicht zufrieden sein. Ich habe darauf auch keine abschließende Antwort. Aber ich denke, wir müssen manchmal in einem größeren Design planen. Wenn die erste Begegnung mit elektrischem Strom das Smartphone ist und man ansonsten nie erlebt hat, dass man nach Sonnenuntergang noch Schularbeiten machen kann, dann kann das auf Dauer in dem Gefälle gegenüber uns nicht gut sein. Deshalb meine Bitte: Austausch, Austausch, lernen und interessiert sein, neugierig sein, wie andere woanders leben, um auch ein Gefühl dafür zu bekommen – das ist wahrscheinlich aus Ihrer Perspektive wirklich jemand, der schon recht alt ist, der so etwas sagt –, wie gut es bei uns ist trotz allem, das bei uns noch nicht ideal ist. Das können Sie nur erahnen, wenn Sie sich auch einmal außerhalb des eigenen Wirkungskreises, außerhalb Europas aufhalten. Dann bekommt man ein Gefühl dafür. Das führt einen dann vielleicht auch wieder dazu, manche Diskussionen mit etwas mehr Demut zu führen. Ich weiß, dass wir als Europäer kein Anrecht und null Rechtsanspruch haben – den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz konnten wir uns in das Gesetz schreiben; wir können uns auch ein gutes Rentensystem entwickeln –, dass wir im Vergleich zu anderen auf der Welt einen hohen Wohlstand behalten. Deshalb ist die Frage, bei welchen Neuheiten wir eigentlich dabei sein wollen, schon sehr wichtig. Da habe ich wieder eine Bitte: Wir sind in vielen Bereichen sehr, sehr gut. Was wir machen, das machen wir schon ziemlich gut. Aber man vergisst leicht, was es alles gibt, das wir gar nicht mehr machen. Ich rede jetzt nicht über die Kernenergie. Ich glaube, das ist zu verschmerzen. Was aber die Fusionstechnologie angeht, bin ich froh, dass wir noch dabei sind. Aber es geht zum Beispiel auch um Biotechnologien oder um künstliche Intelligenz. Es gibt vieles im Bereich der künstlichen Intelligenz, bei dem wir, glaube ich, nicht allzu weit vorne mit dabei sind. Die Gentechnologie haben wir einmal großzügig beiseitegeschoben und sie anderen überlassen. Es kann der Tag kommen – ich weiß es nicht und kann das auch nicht voraussagen –, an dem sich von uns getrennt betrachtete Wissenschaftsdisziplinen plötzlich zu einem neuen Projekt vereinigen. Wenn uns dann die Hälfte aller Bausteine fehlt, weil wir keinen Spezialisten mehr für diese Hälfte haben und dann die beiden Hälften nicht zusammenbringen können, dann kann es eben sein, dass man von einer Entwicklung abgeschnitten wird. Wir müssen natürlich davon ausgehen, dass außer uns 500 Millionen Europäern und den 320 Millionen US-Amerikanern alle anderen auf der Welt auch interessiert sind, in gutem Wohlstand zu leben. Die soziale Sicherung ist immer erst die Folge eines erarbeiteten Wohlstands. Deshalb sind die Themen Bildung, Forschung, Entwicklung und Innovation extrem wichtig. Deshalb gilt es, Neugier zu bewahren. Da ja im Zuge des demografischen Wandels die Jüngeren nicht mehr werden, müssen Sie, was Neugierde, neues Lernen, neues Aufnehmen, neues Verstehen anbelangt, länger jung bleiben. So, mit all diesen Anregungen, Beschreibungen und Ausführungen würde ich Sie dann gerne dem vielleicht gemütlichen Teil Ihrer Feier überlassen – oder auch nicht. Jedenfalls würde ich sagen, dass ich meinen Beitrag in Richtung 2050 jetzt abgeschlossen habe. Herzlichen Dank und der Junge Gruppe alles Gute.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 25. Deutschen Sparkassentag am 27. April 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-25-deutschen-sparkassentag-am-27-april-2016-475730
Wed, 27 Apr 2016 14:30:00 +0200
Düsseldorf
Lieber Georg Fahrenschon, sehr geehrter Herr Breuer, – ich glaube, Günther Oettinger ist schon weg; nicht, dass ich ihn nicht begrüße, wenn er hier noch irgendwo sitzt – sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren, ich freue mich, beim Deutschen Sparkassentag wieder dabei zu sein, und begrüße Sie alle. – Ich möchte am liebsten fragen, wo die Vertreter aus Vorpommern, aus Rügen und Greifswald sitzen. – Dass Sie in Düsseldorf auf dem Messegelände zu Gast sind, hat durchaus symbolische Bedeutung. Denn Sie zeigen damit, dass der Erfolg der Sparkassen aufs engste mit der Wirtschaft, insbesondere mit dem Mittelstand, verbunden ist. Über 40 Prozent aller Unternehmenskredite werden von den Sparkassen vergeben. Sie sind da, wenn es darum geht, den oft langen Weg von der Idee hin zu einem marktfähigen Produkt überhaupt begehbar zu machen. Trotz eines nicht ganz einfachen Umfeldes hat die Finanzgruppe auch 2015 wieder ein gutes Ergebnis erwirtschaftet. Die Sparkassen konnten ihr Kreditneugeschäft mit Unternehmen und Selbständigen um rund 17 Prozent steigern; das kann sich sehen lassen. Damit festigen die Landesbanken, Sparkassen und Verbundunternehmen ihren Stand als verlässliche Stütze des deutschen Finanzmarkts. Das zeigt sich auch daran, dass deutschlandweit 325.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in rund 20.000 Geschäftsstellen für ihre Kunden da sind – für Unternehmer genauso wie für Sparerinnen und Sparer. Sie verwalten auch etwa die Hälfte aller Spareinlagen in Deutschland. Das ist letztlich nur möglich, weil den Sparkassen ein unglaublich hohes Maß an Vertrauen entgegengebracht wird. Wir wissen alle: Gerade wenn es ums Geld geht, ist Vertrauen unverzichtbar. Für das Funktionieren des gesamten Finanzsystems ist Vertrauen eben auch eine wesentliche Voraussetzung. Und nur mit einem funktionierenden Finanzsystem ist die Kapitalversorgung der Wirtschaft auch wirklich gewährleistet. Vor diesem Hintergrund – das will ich heute noch einmalwiederholen, obwohl es eigentlich auf jedem Sparkassentag gesagt wird – ist zu verstehen, warum sich die Bundesregierung auch weiter für den Erhalt des Drei-Säulen-Modells ausspricht. In diesem Jahr ist es weniger notwendig, dies zu sagen, als in manchem Jahr vorher, aber man hört es trotzdem, glaube ich, immer wieder gern. So verschieden die einzelnen Säulen auch sind, so sehr verpflichtet das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger im Grunde alle Akteure im Finanzwesen gleichermaßen zur Verantwortung – zum einen in Form einer soliden Geschäftspolitik. Gerade in Zeiten niedriger Zinsen bedeutet das, nicht jeder geschäftspolitischen Versuchung nachzugeben werden und zum Beispiel nicht zu hohe Risiken bei der Kreditvergabe einzugehen. Zum anderen geht es um das Schaffen zukunftsfähiger Strukturen. Dabei denke ich mit Blick auf Ihre Finanzgruppe vor allem auch an die Konsolidierung im Landesbankenbereich, die ja auch stattfindet. Der Weg, den die Bundesregierung mit ihren Finanzmarktreformen eingeschlagen hat, war kein einfacher. Aber wir können inzwischen festhalten, dass wir gut vorangekommen sind – und dies nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch europa- und weltweit. Ein leistungsfähiger Finanzmarkt, wie ihn Wirtschaft und Anleger brauchen, muss zumindest drei Kriterien besser gerecht werden: der Stabilität, der Integrität und der Effizienz. Auf alle drei Kriterien möchte ich eingehen. Zur Stabilität. Ich habe mich seit Beginn der Finanzmarktkrise dafür eingesetzt, dass in Zukunft kein Finanzmarkt, kein Finanzmarktakteur und kein Finanzprodukt ohne angemessene Regulierung und Aufsicht bleiben. Ich glaube, wir können heute sagen, dass wir zwar noch nicht am Ende des Weges angekommen, aber vorangekommen sind. Ich will drei Beispiele dafür nennen. Erstens: Banken sind heute deutlich robuster als vor der Krise, weil wir unter anderem die Kapitalanforderungen erhöht haben – und zwar risikoorientiert und damit auch differenziert. Damit haben wir uns in Basel und auf europäischer Ebene erfolgreich auch für die Interessen kleiner, risikoarmer Kreditinstitute eingesetzt. Jeder erinnert sich noch: Das war nicht einfach. Zweites Beispiel: Wir haben eine neue Aufsicht in Europa eingeführt. Auch dabei hat die Bundesregierung darauf gepocht, den Anliegen kleiner und mittlerer Institute Rechnung zu tragen. Wir haben bereits über ein Jahr lang Erfahrungen mit der neuen europäischen Bankenaufsicht sammeln können. Wir sehen, dass sie sich zu bewähren scheint, auch wenn sicherlich noch einiges verbessert werden kann – zum Beispiel mit Blick auf Transparenz und effiziente Entscheidungsstrukturen. Transparenz ist ganz wichtig in diesem Bereich. Mein drittes Beispiel: Wir haben auch die Regelungen zur Insolvenz von Banken überarbeitet. Ich habe mich stets dafür eingesetzt, Risiko und Haftung als Einheit zu sehen. Wer also Chancen auf Gewinn hat, muss auch das Verlustrisiko tragen. Denn es darf nicht wieder passieren, dass Steuerzahler für Banken einspringen müssen, nur weil diese zu groß sind, um pleitezugehen. Das haben wir immer und immer wieder gesagt. Wir sind jetzt auf dem Weg, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass das nicht wieder passiert. Im Übrigen muss das natürlich ebenso im Schattenbankenbereich geschehen. Wir haben in Deutschland bereits im Jahr 2011 einen Bankenfonds zur Restrukturierung und Abwicklung von Banken eingeführt. Weitere gesetzliche Schritte zur Sanierung und zur Abwicklung folgten. Nun ist genau geregelt, wer wann und wie an den Kosten einer Bankeninsolvenz beteiligt wird. Damit hat sich die Bundesrepublik Deutschland in Europa als Vorreiter erwiesen. Mittlerweile ist die Abwicklungs- und Sanierungsrichtlinie in nahezu allen EU-Staaten vollständig umgesetzt. Wir sind im Euroraum noch einen Schritt weiter gegangen, indem wir hier mit einer gemeinsamen Abwicklungsbehörde einen einheitlichen Abwicklungsmechanismus eingerichtet haben. Auch darüber gab es harte Diskussionen. Unser Denken war: Vor allen Dingen müssen erst einmal national die Hausaufgaben gemacht werden. Auch dafür war es gut, dass Deutschland Vorreiter war. Es zeigt sich aber weiterer Reformbedarf. Die Risiken sind nach wie vor zu hoch. Es gibt noch zu viele schwache Banken in Europa. Und die niedrigen Zinsen – der Präsident hat ja schon davon gesprochen – werden dieses Problem über die nächsten Jahre tendenziell noch verstärken. Deshalb will ich auch ein Wort dazu sagen. Wenn man sich die Zinsen anschaut, dann kann man verstehen, dass darüber eine breite Diskussion geführt wird. Ich denke, sie muss auch geführt werden. Es hat ja keinen Sinn, das nicht zu thematisieren. Wenn wir uns allerdings Realzins und Gewinnspanne anschauen, dann sehen wir, dass sie sich mit Blick auf frühere Zeiten nicht ganz so unterschiedlich darstellen wie die absoluten Zahlen der Zinsen. Die niedrige Inflationsrate ist natürlich auch für die Kaufkraft von großer Bedeutung. Was können wir jetzt machen? Die Notenbanken, auch die Europäische Zentralbank, sind unabhängig. Deshalb muss die Kraft der Politik aus meiner Sicht darauf gelenkt werden, Wachstum wieder anzukurbeln – und zwar nicht Wachstum durch Verschuldung, sondern Wachstum durch Strukturreformen. Das heißt, nicht nur auf staatliche Investitionen zu setzen, sondern vor allen Dingen ein gutes Umfeld für private Investitionen zu schaffen, weil dieses Wachstum dann auch die Inflationsrate wieder in Bereiche bringen wird, die es ermöglichen, dass die Notenbanken eine andere Politik betreiben. Jeder sollte sozusagen seinen Aufgabenbereich sehen. Diese Diskussion müssen wir vor allen Dingen auf europäischer Ebene führen, aber auch bei uns zu Hause. Ich versuche realistische Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Dabei muss ich mich auf dem Feld bewegen, auf dem ich etwas ausrichten kann. Die Deutschen waren immer diejenigen, die die Unabhängigkeit der Notenbanken hochgehalten haben. Die Inflationsrate von zwei Prozent ist übrigens auch von einem Deutschen einmal als Richtwert genannt worden. Das ist keine Erfindung der neuesten Zeit. Wir müssen also, wie gesagt, versuchen, ein günstiges Investitionsumfeld zu schaffen, um wieder in diesen Bereich zu kommen. Ich habe den Reformbedarf erwähnt. Wir müssen also weiterarbeiten und werden stets darauf achten, dass bei Regulierungen nicht alles über einen Kamm geschoren wird, sondern dass kleine und große Banken in Europa differenziert betrachtet werden. Denn die Betrachtung muss risikoorientiert sein. Deshalb gibt es auch eine gemeinsame Initiative des deutschen und des britischen Finanzministers, wonach überprüft werden soll, an welchen Stellen weitere regulatorische Erleichterungen für kleine Banken angebracht sind. Sehr wichtig ist eine saubere Trennung von Staatsrisiken und Bankenrisiken. Die Bundesregierung spricht sich daher für eine risikoadäquate regulatorische Behandlung von Staatsanleihen in Europa aus. Das kann nicht in einem Schritt erfolgen, sondern das ist ein schrittweises Vorgehen, bei dem wir alle Risiken in den Blick nehmen müssen. Die EU-Kommission hingegen möchte eine einheitliche europäische Einlagensicherung schaffen. Wir glauben nicht, dass dieser Zeitpunkt gekommen ist. Vielmehr muss jetzt darauf geachtet werden, Risiken nicht weiter zu vergemeinschaften, sondern Risiken abzubauen. Das ist das Gebot der Stunde. Insoweit ist noch viel zu tun. Angesichts weltweiter Finanzströme und -verflechtungen reicht es nicht, wenn wir uns nur auf Europa konzentrieren. Denn die Finanzkrise war eine internationale und wahrlich nicht nur eine europäische Krise, wenngleich sie dazu geführt hat, dass ein globaler Test unserer gemeinsamen Währung, des Euro, stattgefunden hat, für dessen Sicherung wir dann ja auch viele Maßnahmen durchführen mussten. Wir brauchen also weitere Schritte bei der internationalen Regulierung – aus Gründen der Stabilität und auch fairer Wettbewerbsbedingungen. Ich denke, wir spüren, dass das ein permanenter Prozess sein wird. Denn wir erleben, dass selbst internationale Absprachen, die wir treffen, in der Umsetzung wieder zu Unterschieden führen können, was das sogenannte level playing field anbelangt. Hierbei muss also Europa möglichst mit einer einheitlichen Stimme sprechen. Wir werden uns während der deutschen G20-Präsidentschaft im nächsten Jahr dafür einsetzen, dass die laufenden Reformvorhaben konsequent umgesetzt und abgeschlossen werden. Wir wollen den deutschen G20-Vorsitz auch für eine Analyse nutzen, wie die neuen Regeln wirken und wo wir stehen. So viel zum Stabilitätskriterium. Jetzt zum zweiten Kriterium, dem der Integrität der Finanzmärkte. Die Bedeutung von Vertrauen für funktionierende Finanzmärkte habe ich bereits betont. Es gab auch nach der Finanzkrise genügend Entwicklungen, die gewiss nicht vertrauensstiftend wirkten. Denken wir zum Beispiel an bekannt gewordene Manipulationen von Referenzzinssätzen, an Cum-Ex-Geschäfte oder auch an die Umgehung von Sanktionen. Die mögliche Verwicklung einiger Banken in Offshore-Geschäfte über Briefkastenfirmen in Panama ist nur das letzte Beispiel, das eine Menge Fragen aufwirft. Die Vorkommnisse zeigen einmal mehr, dass Anonymität und Intransparenz für Steuerbetrug, Geldwäsche und illegale Finanzströme ein geradezu idealer Nährboden sind. Wir müssen genau da ansetzen, um kriminellen Geschäftspraktiken den Boden zu entziehen. Deshalb werden wir wie alle EU-Staaten ein Register der wirtschaftlich Berechtigten von Unternehmen einrichten, mit dem wir innerhalb der Europäischen Union mehr Transparenz über die Hintermänner von Briefkastenfirmen schaffen können. Der Bundesfinanzminister hat – das ist Ihnen bekannt – einen 10-Punkte-Plan vorgestellt, in dem es unter anderem um stärkere Sanktionsmöglichkeiten gegen Unternehmen geht. Wir wollen, dass staatliche Sanktionen entweder von vornherein abschreckend wirken oder im Falle des Falles im Nachhinein greifen. Aber natürlich wünsche ich mir, dass die Marktteilnehmer von sich aus stärker Verantwortung für die Integrität ihrer Märkte übernehmen. Wir führen ja oft diese Diskussion: Kaum, dass wir eine Regulation eingeführt haben, heißt es, es ist zu viel davon. Aber Sie müssen auch uns in der Politik verstehen. – Jetzt bin ich vielleicht gerade am falschen Veranstaltungsort. Wir sagen ja nichts Schlechtes über jemanden, aber die Landesbanken waren auch nicht immer ganz gefeit vor verschiedenen Dingen. – Jedenfalls sind wir gezwungen, politisch zu handeln, weil es auch kein Verständnis dafür gäbe, wenn wir nichts regulieren würden. Der Bundesfinanzminister unterstreicht in seinem 10-Punkte-Plan noch einmal, auch auf internationaler Ebene zu handeln, um gegen Steuerbetrug, Geldwäsche und illegale Finanzströme vorzugehen. Immerhin hat auf deutsche Initiative nun auch die G20 beschlossen, daran zu arbeiten, den Steueroasen das Wasser abzugraben und einen globalen Datenaustausch über die wirtschaftlich Berechtigten von Briefkastenfirmen zu ermöglichen. Das sind deutliche Fortschritte, die man sich vor einigen Jahren noch nicht hätte vorstellen können. Jetzt zum dritten Kriterium, nämlich einem effizienten Finanzmarkt. Effizienz heißt für mich an dieser Stelle, dass man möglichst passgenaue Produkte möglichst günstig anbieten kann – ob es nun um Investitionsmittel für Unternehmen geht oder um Möglichkeiten der Altersvorsorge für private Sparer. Ich denke, dass wir in Deutschland relativ gut dastehen. Es gibt eine breite Palette von Angeboten an Finanzprodukten. Die Kredite hierzulande sind günstig. Aber natürlich wissen wir, dass Gutes immer noch besser werden kann. Es gibt im Augenblick eine Diskussion über Produkte der Altersvorsorge. Wir könnten uns vorstellen, dass manche Produkte noch etwas preiswerter sein könnten, denn die Niedrigzinsen kommen den Sparern ohnehin relativ teuer zu stehen. Meine Damen und Herren, auch Jahre nach der Finanzkrise bleibt immer noch sehr viel zu tun, was die Regulierung und die Anpassung an sich verändernde Marktbedingungen betrifft – sowohl hier bei uns als auch international. Das hat auch – damit beschäftigen Sie sich ja auch auf diesem Sparkassentag – sehr viel mit neuen technologischen Möglichkeiten zu tun, wie sie die Digitalisierung mit sich bringt. Diese stellt auch auf den Finanzmärkten manch etabliertes Geschäftsmodell infrage. Ich denke, es war eine weise Entscheidung, das Thema Digitalisierung auf diesem Sparkassentag in den Mittelpunkt zu rücken. Was Digitalisierung bedeutet, lernen wir, die wir schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel haben, etwas langsamer als die, die noch jung sind. Ich finde, es ist eine tolle Idee, dass die Auszubildenden hier in großer Zahl vertreten sind und in einen solchen Sparkassentag hineinschnuppern können, aber sicherlich auch selbst eine bestimmte Atmosphäre hineinbringen. Die Leichtigkeit, mit der sie mit der Digitalisierung umgehen, macht einen manchmal sprachlos und ist auch wunderschön. Wir müssen einfach verstehen, dass sich sozusagen die Herangehensweisen der Menschen durch die Verschmelzung täglicher Dinge mit neuen digitalen Möglichkeiten sehr verändern werden. Es ist auch gerade wieder auf der Hannover Messe zu sehen: Im Grunde hat ein Wettlauf eingesetzt, in dem es für unsere gesamte Wirtschaft um die Frage geht, ob wir eines Tages die verlängerte Werkbank von Unternehmen sind, die nur mit Hilfe von Daten den Kunden und seine Wünsche bedienen, oder ob es unsere Unternehmen unter Nutzung digitaler Möglichkeiten schaffen, Kunden genauso nah bei sich zu halten und auch als Industrieunternehmen ihre differenzierten Wünsche zu bedienen. Das bedeutet, Daten über Kundenwünsche, Daten, die bei der Nutzung von Dingen anfallen, müssen unmittelbar ins Unternehmensgeschehen eingebunden werden. Daraus entstehen völlig neue Produkte. Das heißt, Daten werden selbst zum Rohstoff und vielleicht zu einem wesentlichen Teil der Wertschöpfungskette. Ich denke, dass wir das schon ganz gut beherrschen, wenn man sich das im Zusammenhang mit dem Internet der Dinge betrachtet. Ein Fahrstuhl beispielsweise akkumuliert sehr viele Daten, woraus man etwas Gutes machen kann, zum Beispiel die Notwendigkeit der Wartung des Fahrstuhls anpassen. Das alles ist langsam „state of the art“. Aber in der Frage, wie wir das Ganze mit individuellen Käufer- oder Kundenwünschen zusammenbringen, ist die Schlacht noch nicht geschlagen. Der Wettlauf findet weiter statt. Deshalb ist ein geeigneter regulatorischer Rahmen sehr wichtig. Er ist genauso wichtig im Industriebereich wie er für Sie und Ihre vielen Kundenbeziehungen wichtig ist. Wir müssen jetzt aufpassen – Günther Oettinger wird Ihnen darüber berichtet haben –, dass wir in Europa die richtige Balance zwischen individuellem Schutzbedürfnis, Datenschutz und der Fähigkeit, Kundenwünsche zu bedienen, finden. Wir müssen uns realistisch eingestehen, dass wir beim Big Data Mining, bei der Verarbeitung großer Datenmengen, noch nicht an der Weltspitze sind, dass die größten Internetfirmen ihren Sitz nicht in Europa haben – das gilt nicht nur für Deutschland – und dass wir deshalb auf industrieller Seite sehr schnell aufholen müssen, um Anschluss zu bekommen. Das gilt für Sie im Bankenbereich natürlich auch. Zum Thema Sicherheit. Derzeit erarbeiten wir in der Bundesregierung eine neue Cyber-Sicherheitsstrategie. Hierbei geht es auch um den Schutz sogenannter kritischer Infrastrukturen. Dazu zählen die Energieversorgung, der Verkehr, das Gesundheitswesen und eben auch der Finanzsektor. Wir haben das IT-Sicherheitsgesetz unter anderem mit verbindlichen Mindestanforderungen an die IT-Sicherheit auf den Weg gebracht. Ich bitte Sie, Verständnis zu entwickeln. Denn es ist für uns mit Blick auf kritische Infrastrukturen wirklich sehr wichtig, dass wir eng zusammenarbeiten. Es ist kein Makel, wenn die Sicherheit von außen angegriffen wurde – das geschieht unentwegt – und wenn man das auch bekanntgibt. Denn es ist absolut notwendig, dass wir lernen, unsere kritischen Infrastrukturen zu schützen. Würde das verschwiegen, dann könnten wir auch nicht lernen, wie auf Angriffe zu reagieren ist, was eines Tages zu dramatischen Ergebnissen führen könnte. Es ist aber auch klar, dass angesichts der scheinbaren Grenzenlosigkeit des Internets nationale Regelungen allein nicht ausreichen. Das heißt, wir brauchen in vielen Fragen zumindest europäische Lösungen. Es ist ein großer Erfolg, dass wir uns in Europa auf eine Datenschutz-Grundverordnung verständigen konnten. Damit vermeiden wir auf der einen Seite Wettbewerbsverzerrungen innerhalb Europas, auf der anderen Seite sind wir mit unserem Binnenmarkt ein wirklich guter Ansprechpartner für internationale Investitionen. Wir müssen jetzt aber aufpassen, dass diese Datenschutz-Grundverordnung, die ja unmittelbar gilt – natürlich mit Übergangsfristen –, mit den vielen unbestimmten Rechtsbegriffen, die darin enthalten sind, nicht immer nur zugunsten des Datenschutzes, sondern vielmehr auch zugunsten der Datenoffenheit interpretiert wird. Deshalb wird das noch viel Arbeit bei der Implementierung mit sich bringen. Natürlich müssen wir überhaupt erst die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Chancen der Digitalisierung genutzt werden können. Das heißt, wir brauchen flächendeckende Hochgeschwindigkeitsnetze. Alle sind, glaube ich, einverstanden, dass wir bis 2018 mindestens 50 Megabit pro Sekunde für jeden Haushalt haben wollen. Das ist für heutige Anwendungen schon recht gut. Aber wir alle wissen: Das wird natürlich absolut nicht ausreichen. Wir müssen auch für die Zeit nach 2018 klare Ausbauziele definieren. Wir haben jetzt erst einmal durch die Versteigerung von Frequenzen einen großen Schub für ein Förderprogramm vor allem für ländliche Regionen bekommen. Dieses Förderprogramm mit insgesamt 2,7 Milliarden Euro für den Breitbandausbau wird also gerade auch denen zugutekommen, die außerhalb von Ballungszentren wohnen. Wir haben auch ein Gesetz für einen effizienten Netzausbau auf den Weg gebracht. Es gibt vor allem beim Tiefbau viele Sparpotenziale, die wir nutzen müssen. Jetzt haben wir die leistungsfähige Infrastruktur, wir haben den rechtlichen Rahmen – nun muss man auch sämtliche Möglichkeiten nutzen. Das heißt, wir brauchen auch das entsprechende Personal, wir brauchen die Fachleute dafür. Ich bin sehr erfreut darüber, dass wir sowohl bei der Ausbildung in Berufen, die in Bereichen der IT-Technologie angesiedelt sind, durchaus Fortschritte verzeichnen als auch eine sich gut entwickelnde Start-up-Szene haben. Die Entwicklung der Start-up-Szene fördert die Bundesregierung mit verschiedenen Maßnahmen. Wir haben jetzt gerade zwei neue Instrumente zur Wachstumsfinanzierung mit einem Fördervolumen von insgesamt 725 Millionen Euro eingeführt. Wir ergänzen damit bereits bestehende Programme wie zum Beispiel den High-Tech-Gründerfonds. Meine Bitte an Sie: Seien Sie offen gegenüber Start-ups. Es besteht ja ein kultureller Unterschied zum Vorgehen in den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir werden nur dann, wenn wir es schaffen, Start-ups auch wirklich einen kulturellen und gesellschaftlichen Rückhalt zu geben, mit Entwicklungen in anderen Kontinenten, in Amerika und auch in Asien, mithalten können. Die Bundesregierung hat ihre Mittel für Forschung und Entwicklung in den vergangenen gut zehn Jahren kontinuierlich erhöht: seit 2005 insgesamt um 65 Prozent. Wir lassen uns vom Drei-Prozent-Ziel leiten. Drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollen also in Forschung und Entwicklung investiert werden. Ein Drittel kommt dabei aus dem staatlichen Bereich. Dem jüngsten Ranking des Weltwirtschaftsforums zufolge hat sich die Position Deutschlands verbessert, was die Wettbewerbsfähigkeit anbelangt. Wir sind nun die Nummer vier der weltweit wettbewerbsfähigsten Standorte. Aber ich glaube, jedem von Ihnen fällt etwas ein, das wir noch besser machen könnten. Wir können im Augenblick zufrieden sein. Georg Fahrenschon hat das auch gesagt. Die wirtschaftliche Lage präsentiert sich als stabil. Wir rechnen mit einem Wachstumsplus von 1,7 Prozent für dieses Jahr. Wenn man sich aber überlegt, wie niedrig der Erdölpreis ist, wenn man sich überlegt, wie breit angelegt die Geldpolitik ist, dann scheinen 1,7 Prozent Wachstum nicht überragend zu sein, so wie auch die Wachstumsraten der anderen europäischen Länder nicht überragend sind. Deshalb kann man durch Bürokratieabbau und viele andere Dinge sicherlich noch einiges tun. Unser Arbeitsmarkt ist wirklich stabil – 31 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigte, rund 43 Millionen Erwerbstätige. Die Momentaufnahme zeigt auch eine gesunkene Schuldenstandsquote und einen annähernd ausgeglichenen Staatshaushalt. Wir haben die Mittel zur Investition in Infrastrukturen, in Bildung und Ausbildung, in Forschung und Innovation erheblich erhöht. Der Ist-Zustand ist also recht gut. Aber wenn wir uns die Risiken der Zukunft anschauen, wenn wir uns die Dynamik anderer Regionen anschauen, wenn wir uns verdeutlichen, was ich über die Digitalisierung und die Industrie 4.0 oder das Internet der Dinge gesagt habe, dann wissen wir, dass große Aufgaben vor uns stehen, auch wenn heute keiner genau sagen kann, wie es in zehn Jahren aussehen wird. Hinzu kommt der demografische Wandel. Wir spüren auch alle, dass gerade in puncto Sicherheit die Situation sehr ernst geworden ist. Es geht um Sicherheit vor terroristischen Bedrohungen; es gibt neue Bedrohungen, asymmetrische Bedrohungen. Der IS ist eine große Herausforderung für uns alle – sowohl innerhalb Europas als auch außerhalb Europas. Wir müssen Fluchtursachen eindämmen. Das heißt zum Beispiel, mehr für Klimaschutz und im Bereich der Entwicklungspolitik zu tun. In der Entwicklungspolitik gilt es, vielleicht ab und zu auch neue Wege zu gehen. Denn wenn wir uns gerade mit Blick auf afrikanische Länder die Effekte anschauen, die wir über Jahrzehnte erreicht haben, dann muss man sicherlich auch noch einmal über die Effizienz von Entwicklungspolitik nachdenken. Wir müssen die globale Handels- und Finanzmarktarchitektur verbessern. Wir haben – so stellen wir es jedes Jahr auf den G20-Treffen fest – auf der einen Seite mehr Handelsabkommen – dabei ist natürlich auch das geplante Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika ein wichtiger Punkt –, aber wir haben auf der anderen Seite im nichttarifären Bereich eine Vielzahl protektionistischer Maßnahmen, die nicht gerade dazu beitragen, dass die Wachstumsmöglichkeiten voll genutzt werden. Wir müssen auch die europäische Wirtschafts- und Währungsunion stärken und damit, wie ich schon sagte, eben auch die Voraussetzungen für eine weniger lockere Geldpolitik schaffen. Das heißt also, es mangelt auch nicht an Herausforderungen, die wir nur im europäischen Verbund stemmen können. Allerdings müssen wir dann auch darauf achten, dass die richtigen Entscheidungen gefällt werden. Dabei ist insbesondere die Verquickung von Haftung und Risiko, die unmittelbare Verbindung von beidem, sehr wichtig. Wir wissen: Wir werden unsere Werte, die uns so viel bedeuten, nur leben können, wenn wir auch eine starke Wirtschaft haben. Eine starke Wirtschaft ist auch die Voraussetzung dafür, dass nach uns kommende Generationen auf unserem Wohlstand aufbauen und ihn mehren können. Da das ohne funktionierende Finanzmärkte nicht möglich ist, kommt natürlich auch den Sparkassen eine zentrale Bedeutung zu. Globalisierung auf der einen Seite, aber eben auch Bindung an die Region, Bindung an die Heimat, Verständnis für die Tradition, Verständnis für die individuelle Firmengeschichte oder auch die Situation der privaten Kunden – das ist essenziell, um Globalisierung vernünftig gestalten zu können. Dazu würde ich sagen: Wer kann das besser als Sie? Jedenfalls gehören Sie zu der Spitze absolut dazu. Ich bin sehr gerne heute beim Sparkassentag wieder dabei, weil die Säule unseres Finanzsystems, die Sie verkörpern, eine Säule ist, die nah am Menschen steht, mit all den Herausforderungen, die auch Sie haben. Aber warum sollten die Sparkassen keine haben? Sonst wäre es ja ungerecht im Leben verteilt. Ihre Herausforderungen haben Sie in der Vergangenheit ja immer gut bewältigt. Ich wünsche Ihnen eine gute Hand auch für die jetzt anstehenden Entscheidungen und uns weiterhin kritisch-konstruktive Diskussionen. Das Gute ist: Wenn die Sparkassen ein bisschen kritisieren, dann hört die Politik sehr genau hin, weil Ihre Verbundenheit zum politischen System – sei es auf lokaler, sei es auf Landes-, sei es auf Bundesebene – immer gegeben ist. Für unsere Anliegen in Europa werben, müssen wir gemeinsam. Und wir müssen vor allen Dingen auch – das sage ich mit Blick auf einige Vorhaben in Europa – immer mit einer Zunge sprechen. Es hat keinen Sinn, wenn man zu Hause für das eine ist und in Europa etwas anderes verkündet. Das gilt aber nicht für Anwesende im Raum. Alles Gute und herzlichen Dank für die Einladung.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim „Verleger-Podium“ zu „Verlage (in) der Zukunft“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-verleger-podium-zu-verlage-in-der-zukunft–472116
Tue, 26 Apr 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut: Grütters
Berlin
Kulturstaatsministerin
Verlegerinnen und Verleger haben es heutzutage auch nicht leicht. In den Feuilletons wird seit Jahren kulturpessimistisch der Niedergang des Buches in der Epoche des Tablets beschworen. Längst wird mehr gebloggt, gepostet und getwittert als auf Papier geschrieben. „Vergessen Sie endlich Goethe, Heine und Mann. Die hatten nicht einen einzigen Follower“, hieß es vor einiger Zeit ironisch in einer Tageszeitung. Und dann das Wortungetüm „stationärer Buchhandel“ zur Abgrenzung vom Online-Buchhandel: Klingt das nicht so, als wäre der Buchladen um die Ecke – und mit ihm das gute alte Buch – ein Pflegefall, ein Fall für die „stationäre Behandlung“? Und doch werden Sie, meine Damen und Herren, heute hoffentlich nicht der Versuchung erliegen, in den nostalgischen Chor derer einzustimmen, die schwarzsehen für die Zukunft der Verlage. Über die „Verlage der Zukunft“ zu reden, scheint mir jedenfalls mit Blick auf die Zukunftsaussichten der Verlage die deutlich bessere Alternative zu sein – auch wenn das BGH-Urteil zur Verteilungspraxis der VG-WORT vergangene Woche verständlicherweise für erhebliche Unruhe gesorgt hat. Ich teile Ihre Sorgen, meine Damen und Herren. Die bisherige, bewährte Praxis der gemeinsamen Wahrnehmung der Rechte von Autoren und Verlagen in der VG WORT macht den Nährboden mit aus, auf dem eine vielfältige Verlagslandschaft gedeihen kann. Deshalb habe ich mich bereits im Februar zusammen mit dem für das Urheberrecht federführenden Kollegen Maas an EU-Kommissar Oettinger gewandt und für eine rechtssichere Lösung auf europäischer Ebene geworben. Selbstverständlich werden wir unsere Handlungsspielräume prüfen, sobald die Urteilsbegründung des BGH schriftlich vorliegt. Erst dann können wir abschätzen, wie eine Regelung aussehen könnte, die auch in Zukunft eine gemeinsame Rechtewahrnehmung für Autoren und Verlage ermöglicht. Fest steht: Wir haben in Deutschland den zweitgrößten Buchmarkt und eine der lebendigsten und facettenreichsten Verlagslandschaften der Welt, die es wert ist, geschützt und verteidigt zu werden. Bei der Gesamtzahl der Veröffentlichungen gehören wir zur Spitzengruppe, bei der Titel-Zahl pro Kopf zu den Top Ten weltweit. Und viele unserer Autorinnen und Autoren machen dem Ruf Deutschlands als Land der Dichter und Denker alle Ehre. All das ist nicht zuletzt Ihr Verdienst, liebe Verlegerinnen und Verleger. Sie sind es, die das vollständige unternehmerische Risiko einer Publikation tragen. Sie sind es, die die Vorfinanzierung ebenso wie die Kosten für Herstellung und Vertrieb übernehmen. Sie sind es, die Talente entdecken und gewinnen. Sie sind es, die für die Qualität einer Publikation bürgen. Sie sind es, die sich für Werke und für Autorinnen und Autoren engagieren, von deren Gewicht und Bedeutung Sie überzeugt sind. Sie sind es, die auf diese Weise sicherstellen, dass es auch abseits der Bestsellerlisten Aufmerksamkeit gibt für lesenswerte Bücher: für außergewöhnliche Geschichten, für ungehörte – und unerhörte – Stimmen, für neue Perspektiven. In diesem Sinne sind Sie eben nicht nur Wirtschaftsunternehmen, sondern auch kulturelle Vermittler – dem Kulturgut Buch verbunden, nicht allein dem Wirtschaftsgut Buch verpflichtet. Es ist unser gemeinsames Anliegen, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Verlage wie für die Autoren stimmen – oder um es noch einmal bildlich auszudrücken: dass wir einen fruchtbaren Boden haben, in dem verlegerische Vielfalt und literarische Freiheit auch in Zukunft gedeihen können. Die Wertschätzung und die Förderung dieser Vielfalt und Freiheit ist Teil unseres Demokratieverständnisses, allein schon deshalb, weil Bücher zur freien Meinungsbildung und zu einer aufgeklärten, kritischen Öffentlichkeit beitragen, aber auch, weil Demokratie – wie Jean Paul das schon vor 200 Jahren so treffend formuliert hat – „ohne ein paar Widersprechkünstler […] undenkbar [ist].“ Wir brauchen die Künstler und Intellektuellen, die Querdenker und Freigeister, deren Werke wir in vielen Verlagsprogrammen finden! Sie sind der Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft, der verhindert, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Deshalb setze ich mich für die Verteidigung der Buchpreisbindung ein, die dafür sorgt, dass Bücher auch künftig anders behandelt werden als bloße Handelsobjekte, als Gartenmöbel oder Zahnpasta. Der im Februar vom Kabinett beschlossene und im parlamentarischen Verfahren befindliche Gesetzentwurf zur Novellierung des Buchpreisbindungsgesetzes dehnt die bisher nur für gedruckte Bücher festgeschriebene Preisbindung ja ausdrücklich auch auf E-Books aus und wird zukünftig auch grenzüberschreitende Verkäufe nach Deutschland erfassen. Außerdem tritt die Bundesregierung auf meine Initiative hin im Rahmen der Verhandlungen über das Freihandelsabkommen TTIP nachdrücklich dafür ein, dass das Abkommen keine Bestimmungen enthält, die die kulturelle Vielfalt beeinträchtigen. Die Zusicherung von Handelskommissarin Malmström, „auf keinen Fall“ werde über die Buchpreisbindung verhandelt, ist für uns alle ein wichtiger Etappensieg. Meine Unterstützung haben Sie auch bei der Verbesserung der steuerrechtlichen Rahmenbedingungen. Mit der Einführung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Hörbücher sind wir in dieser Legislaturperiode schon ein gutes Stück vorangekommen. Komplizierter ist es, ihn auch für E-Books und E-Paper einzuführen. Wie Sie wissen, bedarf es dafür einer Änderung des europäischen Umsatzsteuerrechts, der alle EU-Mitgliedstaaten zustimmen müssen. Dafür setzt sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene ein. Und auch im Kampf gegen die Marktmacht großer Internetkonzerne wie Amazon können Sie auf mich zählen: Deshalb habe ich beispielsweise den Deutschen Buchhandlungspreis ins Leben gerufen, der die inhabergeführten Buchhandlungen vor Ort dabei unterstützen soll, sich gegen die Konkurrenz im Internet erfolgreich zu behaupten. Es sind die Buchhandlungen, die Literatur nicht nur als geistige, sondern auch als sinnliche Freude erlebbar machen – sei es beim Stöbern und Schmökern in den Bücherregalen, sei es beim Zuhören in Lesungen, sei es bei persönlichen Begegnungen mit Autoren und Dichtern. Sie, lieber Herr Lendle, haben in Ihrer wunderbaren Rede bei der Verleihung des ersten Deutschen Buchhandlungspreises im September vergangenen Jahres von der „vielstimmigen Stille“ der kleinen Buchhandlungen geschwärmt, von der „Versammlung von Versprechen“ auf ihren Tischen, von den Büchern, „die man nicht mitnehmen wollte und die man dann doch mitnimmt, weil [Buchhändler] sie einem vor Augen legen oder ans Herz.“ Eben diese Liebe zum Buch, diese Lust am Lesen will ich mit dem Buchhandlungspreis fördern. Nicht zuletzt ist es unser gemeinsames Anliegen, meine Damen und Herren, dass man auch im digitalen Zeitalter von kreativer Arbeit leben kann und Investitionen in geistige Werke sich weiterhin lohnen. Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Reform des Urhebervertragsrechts soll die Position des Urhebers stärken und Kreativen eine angemessene Vergütung ermöglichen. Um diesen politischen Auftrag umzusetzen, hat die Bundesregierung im März einen Gesetzentwurf zur Überarbeitung des Urhebervertragsrechts beschlossen. Wir haben zuvor intensiv darüber diskutiert, wo und wie es der Stärkung der Urheber bedarf, um die gerechte Teilhabe des Urhebers an der Wertschöpfung aus seinem Werk sicherzustellen, und an welcher Stelle aber möglicherweise auch schädliche Belastungen der Kreativwirtschaft entstehen, wenn deren Investitionen und Kalkulationen übermäßig beeinträchtigt werden. Mit dem Regierungsentwurf ist, denke ich, jetzt ein Schritt getan, um die urhebervertragsrechtliche Position der Kreativen gegenüber dem Status quo zu verbessern und zugleich eine stabile Grundlage für die wirtschaftliche Betätigung der Verwerter und Produzenten kreativer Leistungen zu bewahren, die wiederum der kulturellen und medialen Vielfalt und damit auch den Urhebern zugutekommt. Bei den kontroversen Diskussionen, die uns im Zuge der parlamentarischen Beratungen sicher noch bevorstehen, ist mir wichtig, dass wir einen konstruktiven, kooperativen Ansatz verfolgen. Wir dürfen das übergeordnete gemeinsame Interesse von Kreativen und Verwertern nicht aus den Augen verlieren, die ja geradezu symbiotisch aufeinander angewiesen sind und letztlich im selben Boot sitzen. Sie müssen sich zum Beispiel nicht nur dem Problem der Internetpiraterie gemeinsam stellen, sondern auch den Herausforderungen, die durch Angebote von Online-Plattformen großer und marktmächtiger Internetkonzerne und Intermediäre entstehen. Sie alle, meine Damen und Herren, kann ich nur einladen, sich weiterhin engagiert, konstruktiv und mit konkreten Vorschlägen an den Debatten zu beteiligen. In jedem Fall werde ich mich weiterhin für Rahmenbedingungen einsetzen, mit denen auch die Buchbranche gut leben kann – im Sinne der kulturellen Vielfalt, die mir, der leidenschaftlichen Vielleserin, nicht nur ein politisches, sondern auch ein ganz persönliches Herzensanliegen ist. Wie auch immer die „Verlage (in) der Zukunft“ aussehen werden, meine Damen und Herren, über die hier gleich auf dem Podium diskutiert wird: Ich wünsche dem Kulturgut Buch, dass es weiterhin Verlegerinnen und Verleger gibt, die mit Freude und Leidenschaft ihr Ding machen und ihre Unabhängigkeit mit unternehmerischem Sachverstand und verlegerischem Herzblut verteidigen: vor ökonomischen Abhängigkeiten, vor falschen Kompromissen aus vermeintlichen Sachzwängen heraus und nicht zuletzt vor der Versuchung, sich allzu bereitwillig dem Massengeschmack zu unterwerfen. Denn ich bin überzeugt: Mit Verlegerinnen und Verlegern, die etwas wagen (und die dank guter rechtlicher Rahmenbedingungen auch etwas wagen können) müssen wir uns um die Verlage der Zukunft – und um die Zukunft der Verlage – keine Sorgen machen. Denn dann gilt auch im digitalen Zeitalter, was Klaus Wagenbach, Bezug nehmend auf den Wagenbach-Autor Peter Brückner, in seiner Rede zum 50-jährigen Verlagsjubiläum gesagt hat: „Wer das Nichtstun ebenso wie die Arbeit scheut, findet leicht zum Buch.“
Vor Verlegerinnen und Verleger hat Kulturstaatsministerin Grütters deren Arbeit als Unternehmer wie auch als „kulturelle Vermittler“ hervorgehoben. Im Sinne der kulturellen Vielfalt werde sie sich auch weiterhin für die Buchbranche einsetzen. Mit Verlegern, „die dank guter rechtlicher Rahmenbedingungen auch etwas wagen können“ sehe sie für Zukunft der Verlage kein Grund zur Sorge.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung der Hannover Messe 2016 am 24. April 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-eroeffnung-der-hannover-messe-2016-am-24-april-2016-803808
Sun, 24 Apr 2016 19:15:00 +0200
Hannover
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Weil, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Schostok, sehr geehrter Herr Ziesemer, sehr geehrte Kollegen aus dem deutschen Kabinett, sehr geehrte Secretary Pritzker, meine Damen und Herren und natürlich – last but not least – sehr geehrter Herr Präsident, lieber Barack Obama, ich denke, ich kann im Namen aller hier Anwesenden sagen, dass wir uns sehr freuen, dass Du, lieber Barack, heute hierhergekommen bist und bei der Eröffnung der Hannover Messe dabei bist. Danke. Du gibst ein starkes Zeichen der Verbundenheit unserer beiden Länder und ihrer Menschen. Ich danke Dir auch ganz persönlich dafür. Diese gemeinsame Eröffnung der Hannover Messe ist doch eine weitere Gelegenheit dafür, mit engen Freunden zusammen zu sein und über alle – und das sind nicht wenige – spannenden Fragen sprechen zu können. Es ist mir natürlich eine große Freude, Dich gemeinsam mit allen amerikanischen Gästen hier in Hannover begrüßen zu können. Herzlich willkommen bei Freunden – welcome to Germany. Meine Damen und Herren, über die transatlantische Partnerschaft wird viel und oft gesprochen – zu Recht und aus unzähligen Gründen. Aber hier auf der Hannover Messe wird eben nicht nur darüber gesprochen. Hier wird diese einzigartige Partnerschaft auch direkt erlebbar und erfahrbar – wie wir gehört haben, mit dem E-Auto und mit dem 3D-Drucker sogar unmittelbar erfahrbar. Hier zeigen sich die deutsch-amerikanische, die transatlantische Partnerschaft von ihrer praktischen Seite. Von Anfang an waren die Vereinigten Staaten von Amerika ein wichtiger Partner dieser Industrieschau. In übertragenem Sinne, aber auch tatsächlich gab es schon sehr bald einen kurzen Draht zueinander. Denn schon 1948, also im zweiten Jahr der Hannover Messe, gab es eine Telefonleitung vom Messegelände hier nach New York. Ab 1950 zeigten auch Aussteller aus den USA ihre Neuheiten. In diesem Jahr sind die Vereinigten Staaten von Amerika nach 1996 wieder Partnerland der Hannover Messe. Dies ist ein schönes Zeichen unserer engen Zusammenarbeit. Jeder wird sich an den kommenden Messetagen davon überzeugen können. Es kommen mehr als 400 Aussteller aus den USA. Das sind viermal so viele wie normalerweise, was sich wahrscheinlich auch mit dem Partnerland-Status erklärt. Aber Sie, liebe amerikanische Freunde, haben jetzt Maßstäbe gesetzt. Da ja alles mehr werden sollte, erwarten wir nächstes Jahr wieder eine deutliche, gute Präsenz. Lieber Barack, wir haben oft darüber gesprochen: Die hohe Ausstellerzahl der amerikanischen Unternehmen spiegelt vor allem auch eines wider, nämlich die Bedeutung der Industrie, die während Deiner Präsidentschaft und nach der großen Finanz- und Wirtschaftskrise in den Vereinigten Staaten wieder strategisch neu entwickelt wurde. Wir wissen das; und wir sind gewappnet. Wir lieben den Wettbewerb, aber wir gewinnen auch gerne. Deutschland kann – allem Wandel vergangener Jahrzehnte zum Trotz – nach wie vor auf eine starke Industrie bauen. Der Anteil an der Wertschöpfung lag 2015 bei fast 23 Prozent – das ist im internationalen Vergleich also sehr hoch. Die deutsche Industrie ist außerdem mit anderen Bereichen sehr stark vernetzt. Deshalb gilt unsere Industrie auch als Motor unserer Volkswirtschaft. Die Hannover Messe ist traditionell das Schaufenster für die Leistungs-, Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Sie ist die weltweit größte Industriemesse überhaupt. Die ohnehin engen deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen – der Präsident hat es eben gesagt – zeigen sich auch darin, dass wir seit 1960 wieder mit den USA den wichtigsten Handelspartner haben; und das mit einem Handelsvolumen von über 173 Milliarden Euro. Deutsche Unternehmen exportierten in die USA Waren im Wert von knapp 114 Milliarden Euro. Wir wissen, dass die Bilanz nicht ganz ausgeglichen ist. Das wollen wir aber sozusagen nicht in den Verhandlungen dauernd vorgehalten bekommen. Wenn, dann muss es durch fairen Wettbewerb ausgeglichen werden. Ich will jetzt hier bestimmte Worte gar nicht nennen, aber „Buy German“ ist auch schön. In unseren beiden Ländern wissen wir uns gegenseitig auch als attraktive Investitionsstandorte zu schätzen. Der Bestand der unmittelbaren deutschen Direktinvestitionen in den USA lag 2014 bei rund 224 Milliarden US-Dollar. Die US-amerikanischen Direktinvestitionen bei uns beliefen sich auf 115 Milliarden US-Dollar. Diese Zahlen – auch das hat der Präsident eben schon gesagt – bedeuten: 620.000 Arbeitsplätze sichern deutsche Unternehmen in den USA und 800.000 Arbeitsplätze sichern US-Unternehmen in Deutschland. Das ist etwas, das für die Menschen zählt, das sie täglich erleben. Das ist das, was wir weiterentwickeln wollen. Deshalb wollen wir das einzigartige Zeitfenster nutzen, wenn es um das große Projekt des Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaftsabkommen, das TTIP, geht. Meine Damen und Herren, wir alle kennen die Vorbehalte, die Sorgen, die Ängste. Wir alle wissen, welche Schwierigkeiten noch zu überwinden sind. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt: Wenn wir es richtig machen, wenn wir die Zeit, die wir haben, nutzen, wenn wir den Menschen wieder und wieder sagen, dass die Standards nicht abgesenkt werden, sondern dass sie bleiben oder erhöht werden, wenn wir sagen, dass wir mit diesem Abkommen im ökologischen Bereich, im sozialen Bereich, im Bereich des Verbraucherschutzes Globalisierung gestalten können und müssen und nicht mehr anderen hinterherlaufen, die vorne dran sind, wenn wir das gemeinsam tun – und meine Bitte an Sie, die anwesenden Unternehmer, ist: tun Sie es, auch gegenüber Ihren Belegschaften –, dann können wir noch in diesem Jahr einen großen Erfolg erzielen. Wir, die Bundesregierung, wollen das – ich will das hier ausdrücklich sagen – und werden in Europa dafür werben, dass auch die Europäische Union insgesamt eine starke Verhandlungsdynamik hier hineinbringt. Wir wissen, dass das transpazifische Abkommen bereits fertig verhandelt ist. Der amerikanische Präsident hat darauf hingewiesen. Die Arbeitslosigkeit in Europa ist im Augenblick hoch. Die wirtschaftliche Dynamik ist nicht so groß, wie wir uns das wünschen. Jedes von der Europäischen Union abgeschlossene Handelsabkommen hat in den vergangenen Jahren gezeigt, dass die Dynamik der Wirtschaft gewachsen ist. Denken wir etwa nur an das EU-Südkorea-Abkommen. Dieses Abkommen, TTIP, ist ein Abkommen, das in ganz besonderer Weise Standards setzt. Deshalb will ich mich auch hier deutlich dafür aussprechen, das Zeitfenster zu nutzen, die Chance zu nutzen, die so schnell nicht wiederkommen wird. Deshalb lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten. Meine Damen und Herren, noch aus einem anderen Grund ist das Jahr 2016 ein spannendes Jahr, das für die Anwesenheit eines amerikanischen Präsidenten und das Gastland Vereinigte Staaten von Amerika auf der Hannover Messe spricht. Wir kennen auf der einen Seite die Stärken der amerikanischen Unternehmen im Bereich des Internet, im Bereich der digitalen Wirtschaft. Wir kennen auf der anderen Seite unsere beiden Stärken im industriellen Bereich. Deutschland weiß um die Wichtigkeit, auch die digitale Wirtschaft zu entwickeln. Die Start-up-Szene hat sich gut entwickelt. Wir können viel von den Vereinigten Staaten von Amerika lernen. Aber jetzt befinden wir uns in einem ganz besonderen Moment – in einem Moment, in dem sozusagen die digitale Agenda mit der industriellen Produktion verschmilzt, was wir Industrie 4.0 oder Internet der Dinge nennen. Was passiert? Alle Gegenstände, alle Maschinen, alle Autos, alle Motoren, alle Ventile, alle Fahrstühle, alle möglichen Produkte liefern Daten. Diese Daten werden verarbeitet; das sogenannte Data Mining findet statt. Aus diesen Daten entsteht ein Mehrwert, entstehen intelligente Systeme. Diese Systeme geben uns vollkommen neue Chancen. In diesem Prozess vorne mit dabei zu sein, in diesem Prozess die Standards zu setzen, sollte der Anspruch der Europäischen Union gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Amerika sein. Deutschland hat es geschafft – ich halte das für einen großen Fortschritt –, dass die „Plattform Industrie 4.0“, die wir in der Bundesregierung entwickelt haben, jetzt mit dem „Industrial Internet Consortium“ kooperiert. Gemeinsam können Standards entwickelt werden, die dann auch für die Entwicklungen auf der Welt bestimmend sein können. Wir wissen, dass für die Europäische Union in der digitalen Entwicklung, in der Zeit des Internets der Dinge riesige Chancen verborgen liegen, aber, wenn wir es nicht schaffen, diese zu nutzen, auch die Gefahr, die Vorteile des europäischen Binnenmarkts – eines Binnenmarkts mit 500 Millionen Menschen mit einem guten Lebensstandard –, einzubüßen und viele Chancen zu vergeben. Deshalb ist dies eine Zeit, in der die Zukunftsweichen über die Stärke der großen Industriestandorte in der Welt gestellt werden. Wir haben diese Schlacht – das sage ich für die europäische, für die deutsche Seite – noch nicht gewonnen, auch wenn wir gute Ausgangspositionen haben. Deshalb schätzen wir den Austausch auf dieser Messe ganz besonders. Meine Damen und Herren, etwas Ähnliches gilt für den Bereich Energie. Die USA und Deutschland haben ein gemeinsames Interesse an stabilen, offenen, transparenten Energiemärkten. Deutschland begibt sich auf einen sehr speziellen Pfad der Energiewende. Wir glauben, dass wir für die Energieproduktion der Zukunft für die Welt gute Beiträge liefern können. Ich möchte mich an dieser Stelle auch dafür bedanken, dass es uns gelungen ist, ein Klimaabkommen in Paris fertigzustellen. Wir alle kennen die Frustration von Kopenhagen; aus dieser Frustration ist eine Dynamik erwachsen. Lieber Barack, ich möchte mich ganz herzlich bei Dir bedanken. Es ist in der Vergangenheit nicht selbstverständlich gewesen, dass sich amerikanische Präsidenten an die Spitze der Bewegung für Klimaabkommen gestellt haben. Danke. Ohne die Vereinigten Staaten von Amerika wäre das nicht möglich gewesen. Das gemeinsame Bekenntnis zum freien Handel, die gemeinsame Ausarbeitung der Industrieproduktion der Zukunft, eine Gemeinsamkeit in der Gestaltung einer Energiepolitik, die globalen Energiekonsum möglich macht, ohne dass wir unsere Natur ruinieren – das allein sind schon drei Gründe für eine starke transatlantische Partnerschaft. Wir haben heute Nachmittag auch über andere Punkte gesprochen. Denn eine gute wirtschaftliche, industrielle Entwicklung ist für uns alle nur möglich, wenn wir in Sicherheit leben können, wenn es möglich ist, den Gefahren der Welt zu begegnen. Das bedeutet, dass wir dort zusammenarbeiten, wo Sicherheit gefährdet ist – ob das in Afghanistan ist, ob es um den Kampf gegen den internationalen Terrorismus geht, ob es um den Kampf gegen die Ursachen von Flucht und Vertreibung geht, also um den Kampf dafür, dass Menschen weltweit in Sicherheit leben können. Deshalb weiß ich, dass der Präsident der Vereinigten Staaten, Barack Obama, die Europäische Union und ihre Herausforderungen klar im Blick hat und dass er zutiefst der Überzeugung ist, dass wir nur gemeinsam diese Herausforderungen bewältigen können, was natürlich ein verstärktes Engagement der Europäischen Union bedeutet, um die transatlantische Partnerschaft zu kräftigen. Ich glaube, diese Gründe zeigen, von welch strategischer Bedeutung der Besuch von Barack Obama hier in Deutschland und gerade auch auf dieser Messe ist, weil es – viele Jahre, Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, 25 oder 26 Jahre nach Ende des Kalten Krieges in einer Welt, in der wir völlig neuen Herausforderungen begegnen, in einer Zeit, in der sich die Welt mit all ihren Komplikationen, aber auch all ihren Chancen neu orientiert – nun auch an der Zeit ist, ein neues Bekenntnis zur transatlantischen Partnerschaft abzulegen. Dieser Besuch hier ist dazu eine gute Möglichkeit. Deshalb, meine Damen und Herren, freue ich mich, dass die Vereinigten Staaten von Amerika Gastland sind, dass der Präsident hier bei uns ist, dass wir morgen einen gemeinsamen Rundgang machen werden, um deutlich zu machen: Das alles sind nicht nur Worte, das alles sind auch Ergebnisse gemeinsamer Zusammenarbeit. Wir werden morgen auch interessante Produkte sehen, bei denen wir miteinander im Wettbewerb stehen. Lassen Sie uns die Chance der Hannover Messe nutzen. Und damit erkläre ich die diesjährige Hannover Messe für eröffnet.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Festveranstaltung „500 Jahre Reinheitsgebot“ am 22. April 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-festveranstaltung-500-jahre-reinheitsgebot-am-22-april-2016-802380
Fri, 22 Apr 2016 11:30:00 +0200
Ingolstadt
Sehr geehrter Herr Präsident Eils, lieber Kollege Christian Schmidt – seines Zeichens amtierender Botschafter des Bieres –, ich grüße natürlich auch die früheren Botschafter des Bieres, Volker Kauder und Cem Özdemir. Ich weiß nicht, ob auch Frauen Botschafter des Bieres werden können. Ach, Ilse Aigner war es auch – dann kann Gerda Hasselfeldt ja vielleicht auch noch etwas schaffen –; und sie grüße ich jedenfalls auch. Ich grüße alle Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag und aus dem Bayerischen Landtag – natürlich vor allem dich, liebe Ilse, Frau Staatsministerin – und den Herrn Oberbürgermeister, Herrn Lösel, ganz herzlich. Meine Damen und Herren, natürlich freue ich mich, heute hier mit dabei zu sein. Ich habe ja als Bundeskanzlerin tagtäglich mit neuen Gesetzen, Reformen und Verordnungen zu tun. Aus dieser Perspektive kann ich nur anerkennend sagen: Das muss ein Gesetzgeber erst einmal schaffen – eine Vorschrift zu treffen, die auch 500 Jahre später im Kern noch gilt und dann sogar noch groß gefeiert wird. Das Reinheitsgebot ist ein solcher Ausnahmefall. Bier ist, kann man in modernen Worten sagen, ein Beispiel für Nachhaltigkeit. Deshalb grüße ich auch ganz herzlich Max Straubinger – das habe ich eben vergessen –, der zusammen mit Christian Schmidt wesentlich dazu beigetragen hat, dass ich die Reise hierher angetreten habe. An einem Morgen haben Sie mich überzeugt: Es geht gar nicht anders, als dass ich an diesem kulturellen Ereignis teilnehme. Danke für die Überzeugungsarbeit. Im April 1516 – genauer: am 23., wie überliefert ist – verkündeten die bayerischen Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig X. ihre Regeln zur Herstellung von Bier und zu seinem Verkauf. Interessant ist, dass dieser Verkündung auch schon jahrhundertelange Diskussionen darüber vorausgingen, welche Regeln man für das Bier machen könnte. Mir ist aufgefallen, dass in Augsburg bereits 1156 in der „Iustitia Civitatis Augustensis“ noch nicht von gutem Bier die Rede war, aber davon, dass es kein schlechtes Bier geben darf und dass man, was heute auch noch Bedeutung hat, genug davon ausschenken muss und beim Einschenken nicht zu viel einsparen darf. Die Sache hat sich dann fortentwickelt. Und man sieht, dass Bayern sozusagen schon immer die Fortentwicklung des Bieres bestimmt hat, eben bis zum Höhepunkt durch den Erlass des Reinheitsgebots. Von da an hat sich so gut wie nichts mehr geändert. Wir zehren also heute noch von diesem Erlass. Deshalb ist es natürlich richtig und wichtig, dass hier in Ingolstadt tagelange Jubiläumsfeiern stattfinden und sich alle, die mit Bier zu tun haben, sozusagen auch noch mit Ingolstadt beschäftigen können. Vor 500 Jahren war es schon sehr wichtig, ausufernden und teilweise lebensgefährdenden Experimenten ein Ende zu setzen. Ich habe mir einmal durchgelesen, was alles früher in das Bier hineingemacht werden durfte; die Liste reicht bis hin zu Narkotika. Dann hat man aber doch mehr auf die Gesundheit der Menschen geachtet. Die Politik hat damals das Bier verträglicher gemacht. Ob allerdings umgekehrt das Bier sozusagen die Politik verträglicher gemacht hat, ist immer noch eine offene Frage. Reichskanzler Bismarck hat seine Zweifel geäußert, als er seinerzeit meinte: „Es ist ein Grundbedürfnis der Deutschen, beim Biere schlecht über die Regierung zu reden.“ Auch das hat sich einigermaßen gehalten, glaube ich – außer natürlich, wenn es um die Bayerische Staatsregierung geht. Allerdings: Bier und Politik bilden nicht selten eine Liaison, wenn auch eine spannungsgeladene. Zum Stammtisch gehört Politik genauso wie Bier zum politischen Aschermittwoch. Politische Entwicklungen und Äußerungen bieten seit jeher Anlass, bei einem Bier näher erörtert zu werden. Vielleicht erinnern sich manche noch: Sogar der Bierdeckel war einmal Gegenstand steuerrechtlicher Reformvorschläge. Vielleicht würde ohne die schiere Endlosigkeit immer neuer politischer Fragen das eine oder andere Bier weniger getrunken werden. Aber diese Themenvielfalt allein reicht natürlich nicht aus, um den Bierkonsum zu erklären. Sonst müsste die Entwicklung des Pro-Kopf-Verbrauchs anders aussehen. Der Bierabsatz stagniert hierzulande – wenn auch auf hohem Niveau. Allerdings ist festzuhalten, dass der Export für die deutschen Bierbrauer an Bedeutung gewonnen hat. Immerhin fließen schon fast 17 Prozent ins Ausland. Es gibt in vielen Wirtschaftszweigen ähnliche Trends. Das heißt, die deutsche Wirtschaft insgesamt profitiert von der Globalisierung und treibt sie inklusive des Biers zugleich mit voran. Das ist nur möglich, weil unsere Unternehmen mit Qualität auf den Weltmärkten zu überzeugen wissen. Und das gilt auch für deutsches Bier, das Weltruf genießt. Dabei stehen die europäischen Partner ganz vorne. Also ist die EU auch für deutsches Bier der größte Binnenmarkt der Welt. Es erfreut sich aber auch außerhalb Europas wachsender Beliebtheit. Daher ermuntere ich die Kritiker von Freihandelsabkommen, noch einmal genau nachzudenken, welche Chancen sich doch auch im Bierhandel ergeben. Ich weiß, dass es insgesamt durchaus Fragestellungen im Hinblick auf die Vereinigten Staaten von Amerika gibt. Zwischen den USA und der EU bestehen zwar bereits enge Handelsbeziehungen, aber wir könnten sie durch ein Partnerschaftsabkommen noch besser gestalten. Es bestehen Zölle und vor allem auch bürokratische Hürden. Man könnte es mit deren Abbau doch ermöglichen – so meine Überzeugung –, dass viele mittelständische Brauereien, die heute noch kaum Möglichkeiten haben, auf dem amerikanischen Markt Fuß zu fassen, bessergestellt werden würden. Schon Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, vertrat die Ansicht: „Bier ist der überzeugendste Beweis dafür, dass Gott den Menschen liebt und glücklich sehen will.“ Wenn das kein gewichtiger Grund für ein transatlantisches Abkommen ist. Es geht dabei nicht allein darum, den Handel über den Atlantik hinweg zu erleichtern, sondern es geht auch darum, weltweit neue Chancen für Wachstum und Beschäftigung zu finden. Es geht angesichts der Größe des transatlantischen Wirtschaftsraums auch darum, gemeinsam Standards zu entwickeln und dafür zu sorgen, dass sie global durchgesetzt werden. Das gilt im Hinblick auf Lebensmittel insgesamt. Und das gilt eben auch dafür, immer wieder für das Reinheitsgebot zu werben. Wir wollen in Zeiten der Globalisierung natürlich auch die Frage der geografischen Herkunftsangaben vorantreiben – uns wie vielen anderen europäischen Partnern ist daran sehr viel gelegen –, denn es schwingt darin natürlich ein Stück Kulturstolz auf ortstypische oder regionale Eigenheiten mit. Das gilt auch für das Markenzeichen Bier, das sich in jüngster Zeit mit einer unglaublichen Vielfalt regional entwickelt hat. Ich finde, das ist ein Beispiel dafür, dass Menschen Heimat brauchen, Unterscheidbarkeit brauchen und Bindung brauchen. Und dazu leistet das Bier einen guten Beitrag. Wer sich die Liste der bisher geschützten geografischen Angaben für Biere anschaut, stellt fest, dass sich bayerische Brauereien ihrer Heimat offenbar besonders verbunden fühlen. So war es auch eine bayerische Brauerei, die sich Ende der 90er Jahre als erste um ein solches Gütesiegel bemühte. Auch heute sind es vor allem Biere aus Bayern, die eine geschützte geografische Angabe auszeichnet. Mit dem Export steigert so mancher Ort seinen Bekanntheitsgrad weltweit. Und wenn das dann noch mit Gestühl, Gläsern und Umrahmungen wie landestypischer Musik verbunden ist, dann kann man (…) Der Schwerpunkt lag auf Musik. Allerdings habe ich erst bei der Ankündigung gesehen, dass es sich um ein lokales Orchester handelt. Es stellt sich immer auch die Frage, wenn man sich an das Reinheitsgebot hält: Bedeutet das Einschränkungen oder bedeutet das Vorteile gegenüber Konkurrenten? Es gibt durchaus Spielraum angesichts der Vielfalt, die deutsche Biere, die nach dem Reinheitsgebot gebraut werden, entwickelt haben. Es zeigt sich viel Kreativität in dem, was aus wenigen Ingredienzien gemacht wird. Vier Substanzen und trotzdem so eine Variabilität – das zeigt, dass der Deutsche Brauer-Bund, der ja von mehr als 5.500 heimischen Biermarken spricht, doch dafür Sorge trägt, dass sich für jeden Geschmack etwas findet. Wir wissen ja, dass selbst Wasser nicht gleich Wasser ist. Wir wissen, dass alles, was auf dem Boden wächst, eben auch je nach Boden den Geschmack beeinflusst. Außerdem ist ja die Konzentration von allem immer auch eine Möglichkeit der Variation. In den letzten Jahren erlebten wir einen regelrechten Boom bei kleinen Brauereien. Sie zeichnen sich auch durch Experimentierfreude aus, was etwa die sogenannten Craft-Biere anbelangt – und das unter Beachtung des Reinheitsgebots. Die Innovationsfähigkeit spiegelt sich nicht nur im Endprodukt Bier wider, sondern neben der Sortenvielfalt auch im Produktionsablauf. Dabei sind auch Brauer von den Vorteilen und Möglichkeiten des modernen Wirtschaftens zum Beispiel durch die Digitalisierung tangiert. Eine Vernetzung kompletter Produktions- und Lieferketten kann den Herstellungsprozess effizienter machen. Deshalb versucht die Bundesregierung natürlich gute Rahmenbedingungen für alle Bereiche der Produktion und der Lieferkette – von den Produzenten der Rohstoffe, den Landwirten, den Bäuerinnen und Bauern bis hin zum Kunden – zu schaffen. Auch in der Landwirtschaft, die eng mit der Bierfrage verbunden ist, werden immer wieder neue Konzepte entwickelt. Der Landwirtschaftsminister weiß das. „Precision Farming“ ist ein Schlagwort – das wollen wir allerdings dann auch auf Deutsch haben, denn bei Bier und 500 Jahren Reinheitsgebot verbieten sich Anglizismen eigentlich; also Präzisionslandwirtschaft. Ein bisschen mehr Beifall könnte es in Bayern geben. Es geht ja auch immer wieder darum, Tradition und wirtschaftliche Effizienz zusammenzubringen. Meine Damen und Herren, wir vertrauen darauf, dass unsere Nahrungs- und Genussmittel in Ordnung sind, dass wir sie frei von Gefahren für unsere Gesundheit genießen können. Dieses Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher ist entscheidend. Das wissen natürlich auch die Brauer, denn Verlässlichkeit ist Kernpunkt des Reinheitsgebots. Hinzu kommt noch die moderne Lebensmittelaufsicht. Sie ist wirkungsvoll. Das gilt auch in der gegenwärtigen Diskussion um Glyphosat im Bier. Da muss man doch wiederum über die Konzentration und die Dosis reden. Ich habe mir vor Augen geführt, dass man irgendwie 1.000 Liter Bier am Tag trinken müsste, um in Bereiche zu kommen, in denen die Sache diskussionswürdig werden würde. Da, glaube ich – bei aller Hochachtung vor dem Bier –, würden vorher andere gesundheitsschädliche Wirkungen auftreten, es sei denn vielleicht, es wäre alkoholfrei. Als vor vielen Jahren der Ruf nach alkoholfreiem Bier laut wurde, haben deutsche Brauereien diese Nachfrage schnell und professionell bedient. Ich habe von Christian Schmidt gelernt, dass jetzt auch die entsprechende Kennzeichnung möglich ist. Alkoholfreie Biere führen längst kein Nischendasein mehr und verbessern auch die Tagesaktivitäten, weil man manches parallel machen kann: Bier trinken und noch vernünftige Dinge von sich geben. Mit oder ohne Alkohol, Genießer des Gerstensafts können ohnehin sehr wählerisch sein, gerade weil sie eine große Wahlfreiheit haben – dank der Bierbrauer, die es verstehen, den Wandel der Zeiten und Geschmäcker richtig aufzunehmen. Eines muss man nämlich sehen: Die Gabe des Bierbrauens will gelernt sein. Das System der dualen Berufsausbildung und die Qualifizierung an unseren Hochschulen sichern den Fachkräftenachwuchs. Ilse Aigner hat ja eben auch darüber gesprochen. Meine Damen und Herren, die Welt hat sich ohne jeden Zweifel in den vergangenen 500 Jahren sehr gewandelt, das Reinheitsgebot aber war und ist in seinem Kern von Bestand. Es ist Teil der Erfolgsgeschichte des Bieres, vielleicht sogar die wesentliche Voraussetzung für diese Erfolgsgeschichte. Das ist eine Erfolgsgeschichte, hinter der fraglos viel Leidenschaft und viel Arbeit steckt – auf den Feldern, in den Hopfengärten, in Mälzereien, in Brauereien, im Verkauf und im Ausschank. Deshalb feiern wir nicht nur eine 500 Jahre alte Vorschrift als Eckpfeiler deutscher Brautradition, sondern wir feiern auch all diejenigen, die aus dieser Regelung das Allerbeste machen. Denen sei an diesem Tag auch einmal in umfassendem Sinne herzlich gedankt. Als Protestantin sei mir noch ein Hinweis auf Martin Luther erlaubt, der ja zur Zeit des Reinheitsgebots gelebt hat, allerdings die Reformation erst danach stattfinden ließ. Die erste Revolution passierte schon mit dem Reinheitsgebot. Nach 500 Jahren Reinheitsgebot werden wir nächstes Jahr auch 500 Jahre Reformation feiern. Beides hat zwar mit Sicherheit sehr wenig miteinander zu tun. Trotzdem ist manche Aussage bemerkenswert, die von Martin Luther überliefert ist, wie etwa: „Wer kein Bier hat, hat nichts zu trinken.“ Das brauchen wir wahrlich nicht für bare Münze zu nehmen, dennoch können wir heute, ein halbes Jahrtausend später, feststellen, dass wir unseren vielen und guten Brauereien dankbar sein können. Denn sie zeigen, dass es ihre Stärke ist, Überliefertes und Fortschrittliches, Tradition und Innovation erfolgreich zu verbinden. Notwendige Veränderungen haben die deutschen Brauer stets erfolgreich vorgenommen. Beharrlichkeit und Innovationskraft waren und sind wesentlich. Ich sehe die deutschen Brauer daher auch für die zukünftigen Herausforderungen gut gerüstet. Dass es sich bei der Brautradition auch noch um ein immaterielles Kulturgut handelt, wie man in Bayern sagt, unterstreicht dies noch einmal. Ich wünsche weitere 500 erfolgreiche Jahre Reinheitsgebot und damit auch für das Brauwesen. Setzen Sie sich weiter tapfer dafür ein und ermuntern Sie die Menschen, dabei mitzumachen, indem sie das Bier dann auch trinken. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung des Four Freedoms Award der Roosevelt-Stiftung am 21. April 2016 in Middelburg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verleihung-des-four-freedoms-award-der-roosevelt-stiftung-am-21-april-2016-in-middelburg-607062
Thu, 21 Apr 2016 11:45:00 +0200
Middelburg
Majestäten, Herr Ministerpräsident, lieber Mark, sehr geehrte Preisträgerinnen und Preisträger, königliche Hoheit, meine Damen und Herren und vor allem auch: sehr geehrter Herr Bürgermeister Bergmann! Ich möchte mich für den freundlichen und warmherzigen Empfang, den Sie und die Bürgerinnen und Bürger von Middelburg mir bereitet haben, ganz herzlich bedanken. Ihnen, sehr geehrter Herr Polman, danke ich für Ihre bewegenden Worte, die Sie eingangs an uns gerichtet haben. Ich möchte natürlich den Preisträgern, die mit mir einen Award bekommen haben, ganz herzlich gratulieren. Es ist unglaublich bewegend zu hören, was Sie tun, wie Sie arbeiten und unter welchen Umständen Sie arbeiten müssen. Auch die Klarheit von Human Rights Watch wissen wir im Grunde zu schätzen, selbst wenn es manchmal nicht ganz einfach ist. Mein Dank gilt natürlich auch der Roosevelt Stiftung und den Mitgliedern der Familie Roosevelt. Für mich persönlich ebenso wie für mein Land und seine Bevölkerung ist die Verleihung des International Four Freedoms Award eine große und außergewöhnliche Ehre. Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, das Freisein von Not und das Freisein von Furcht hat Präsident Roosevelt am 6. Juni 1941 in seiner Rede zur Lage der Nation als unverzichtbare Freiheiten für alle Menschen überall auf der Welt bezeichnet. Roosevelts Vision sollte keine Theorie bleiben. Aber wir wissen auch, mit welchem Blutzoll diese Freiheiten damals erkämpft werden mussten. Es ist und bleibt unvergessen, was die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Alliierten im Zweiten Weltkrieg auf sich nahmen, um Europa von den von Deutschland begangenen Schrecken des Krieges und des Holocaust zu befreien und den Weg zu einem Leben in Freiheit und Frieden zu ebnen. Deutschland, das einst unsagbar viel Leid über die Welt brachte, ist heute geachtetes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft. Wir haben unseren festen Platz in Europa. Dafür sind wir immer dankbar. Das Verhältnis zwischen Niederländern und Deutschen ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass Wandel zum Guten trotz allen Leids möglich ist. Denn zu unserer gemeinsamen Geschichte gehören für immer auch die furchtbaren Kapitel der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs. Middelburg etwa wurde damals fast vollständig zerstört. Das ist heute angesichts des liebevoll restaurierten historischen Stadtbildes kaum mehr zu erkennen. Aber die Erinnerung bleibt; und sie muss bleiben. In wenigen Wochen, am 5. Mai, feiern Sie hier in den Niederlanden den Nationalen Befreiungstag. Ein Tag des Gedenkens geht über in einen Tag des Feierns, in ein Fest der Freiheit. Vor vier Jahren war der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck als erstes ausländisches Staatsoberhaupt eingeladen, die Rede zu diesem Nationalen Befreiungstag zu halten. Dies zeigt, wie nah sich unsere Länder heute stehen, wie verbunden wir in der Verantwortung sind, unser Leben heute und in Zukunft in Frieden und Freiheit gemeinsam zu gestalten. Wir tun dies mit einem gemeinsamen Verständnis grundlegender Werte – der universellen Menschenrechte und der Toleranz, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Freiheit. Darauf baut unsere vertrauensvolle Partnerschaft auf. Sie ist für uns Deutsche ein großes Geschenk. Mark Rutte und ich zählen auf diese Partnerschaft auch in vielen, manchmal schier endlosen Sitzungen – allein auf 15 Europäischen Räten seit Beginn des Jahres 2015. Und immer wieder finden wir Ergebnisse. Majestäten, Sie tragen in besonderer Weise zum guten Miteinander unserer Nationen bei. Sie hatten schon vor fünf Jahren Königin Beatrix bei ihrem Staatsbesuch begleitet und dabei – genauso wie bei ihrem Antrittsbesuch 2013 – einen wunderbaren Eindruck in meinem Land hinterlassen. Vor wenigen Tagen erst waren Sie in Bayern. Sie haben dort sogar ein ganzes Stadion zum Leuchten gebracht – in fröhlichem Orange natürlich. Natürlich zeichnet sich auch in der bilateralen Arbeit der Regierungen immer wieder aus, dass wir einen kurzen Draht zueinander haben, dass wir uns kennen. Heute Nachmittag werden wir in Eindhoven zu Regierungskonsultationen zusammentreten und über Innovationen und das, was wir für die Gestaltung der Zukunft unserer Länder brauchen, sprechen. Eine Vielzahl unserer Themen hat einen gesamteuropäischen Kontext. Die Niederlande führen derzeit die EU-Ratspräsidentschaft – und das in einer überaus bewegten Zeit. Lieber Mark, ich möchte dir für deine Arbeit sehr herzlich danken. Ganz besonders gehört dazu, eine überzeugende Antwort auf die Flüchtlingsfrage zu finden. Diese Herausforderung berührt in besonderer Weise unsere Grundwerte, auf die wir uns in Europa berufen. Das vor vier Wochen vereinbarte EU-Türkei-Abkommen bietet eine reale Perspektive, dem abscheulichen Schleuserunwesen in der Ägäis das Geschäftsmodell zu entziehen. Es ermöglicht, die irreguläre Migration aus der Türkei nach Europa deutlich und nachhaltig zu reduzieren, und eröffnet Flüchtlingen zugleich die Chance, auf legalem Weg – und damit ohne Gefahr für Leib und Leben – in Europa Aufnahme zu finden. Viel zu viele Menschen fanden auf ihrer Flucht bereits den Tod. Die EU-Türkei-Vereinbarung kam daher wirklich nicht zu früh zustande. Wichtig ist nun, dass wir unsere Anstrengungen fortsetzen, insbesondere mit Blick auf die solidarische Verteilung von Flüchtlingen in Europa und unser gemeinsames Vorgehen gegen die Ursachen von Flucht und Vertreibung. Die vier Freiheiten, die Präsident Roosevelt nannte, geben uns die Richtung vor: die Freiheit, seine Meinung zu sagen, die Freiheit, eine Religion zu wählen und zu leben, das Freisein von Not und das Freisein von Furcht. Dies überall auf der Welt zu erreichen, hielt Präsident Roosevelt für die Aufgabe seiner Generation. Das Erreichte war und ist nachfolgenden Generationen Erbe und fordernde Verpflichtung zugleich. Denn Freiheit ist alles andere als selbstverständlich. Freiheit ist zerbrechlich. Freiheit ist nicht vor Missbrauch gefeit. Denn die Freiheit des einen stößt immer auch auf die Freiheit des anderen. Aus Freiheit erwächst neue Verantwortung – für sich, für andere und für das Gemeinwohl. Sich dieser Verantwortung bewusst zu sein, schließt mit ein, das Erleben von Freiheit und die Verteidigung von Freiheit als zwei Seiten ein und derselben Medaille zu sehen. Auch für uns in Europa gilt: Zum Einfordern von Freiheit gehört auch der eigene Einsatz für Freiheit. Nur so bleiben wir glaubwürdig und können auch nach außen Strahlkraft entfalten. Warum das so wichtig ist, liegt in einer Welt, die immer kleiner zu werden scheint, auf der Hand. Denn wo immer auf der Welt Freiheit bedroht oder angegriffen wird, wird auch an den Fundamenten aller freiheitsliebenden Völker und Nationen gerüttelt. Ganz deutlich zeigt sich dies am Beispiel der Terrormiliz IS. Sie fordert uns im Nahen und Mittleren Osten heraus, aber auch inmitten Europas, wie wir zuletzt mit den Terroranschlägen in Paris und in Brüssel einmal mehr schmerzlich erfahren mussten. Solche menschenverachtenden Anschläge treffen die Opfer, ihre Angehörigen und Freunde. Sie treffen uns alle. Und wir alle begegnen ihnen entschlossen. Wir begegnen den Feinden unserer Freiheit mit den Mitteln und der ganzen Konsequenz eines wehrhaften Rechtsstaats. Wir begegnen ihnen aber nicht, indem wir zentrale Freiheiten selbst infrage stellten. Wir sind und bleiben offene Gesellschaften und schützen unsere freiheitliche Art zu leben. Mit dieser Entschlossenheit engagieren wir uns auch mit unseren Partnern in den Krisenregionen vor den Toren Europas: im Rahmen des internationalen Einsatzes gegen den IS, mit der Ausbildungsmission im Irak, mit der Unterstützung unserer französischen Freunde im Mittelmeer und beim Einsatz in Mali. Die Verleihung der Four Freedoms Awards an Preisträgerinnen und Preisträger aus Zentralafrika, Kongo und Syrien zeigt, wie sehr überall auf der Welt Frauen und Männer für Freiheit kämpfen. Ihre Geradlinigkeit, ihr Mut, ihre Bereitschaft, auch unter großer Gefahr für ihre Werte einzustehen, verdienen allen Respekt und große Anerkennung. Mit Worten allein kann man gar nicht ausdrücken, was sie täglich leben. Daher freue ich mich über das Zeichen, das ihre heutige Ehrung setzt. Denn so wird vielen von uns bewusst, wie viele für Freiheit arbeiten. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Allen Rückschlägen zum Trotz vermag es die Freiheit, sich immer wieder Bahn zu brechen. Ich bin davon auch deshalb überzeugt, weil ich selbst miterleben durfte, was die Kraft der Freiheit zu bewirken vermag. Der Fall der Mauer, der schließlich den Weg zur Deutschen Einheit freigab, zählt zu den glücklichsten Momenten der deutschen und europäischen Geschichte. Die Sehnsucht nach Freiheit wohnt dem Menschen zutiefst inne. So wie Freiheitsrechte Menschenrechte sind, so steht auch ganzen Völkern und Nationen das Recht auf Freiheit zu. Wir in Europa brauchen in diesem Zusammenhang zum Beispiel nur an die Ukraine zu denken. Die Schlussakte von Helsinki und die Charta von Paris als Gemeinschaftsgut ihrer Unterzeichner müssen uneingeschränkt gültig bleiben. Allein dieses Beispiel zeigt, wie aktuell die Rede von Präsident Roosevelt auch nach 75 Jahren ist. Sie wird uns auch weiterhin in Pflicht und Verantwortung nehmen, dass wir uns für Meinungsfreiheit weltweit einsetzen und sie dort, wo sie errungen ist, immer wieder aufs Neue schützen. Wir müssen uns auch für Religionsfreiheit weltweit einsetzen und sie dort, wo sie errungen ist, schützen. Dazu gehört, dass Christen in muslimisch geprägten Ländern ebenso wie Muslime in christlich geprägten Ländern ihren Glauben leben können. Dazu gehört die Absage an Pauschalurteile über eine Religion, auch wenn sich Fanatiker und Terroristen für ihre Verbrechen auf sie berufen. Wir müssen uns weltweit dafür einsetzen, dass die Menschen frei von Not und Furcht leben können, und diesen Wert schützen. Dazu gehört, dass wir als internationale Staatengemeinschaft die beschlossene Agenda 2030 nicht nur auf dem Papier stehen lassen, sondern dass wir sie uns zu eigen machen und sie umsetzen. Dazu gehört, Bedrohungen wie dem Klimawandel entgegenzuwirken. Dazu gehört auch, um politische Lösungen für Kriege und Konflikte zu ringen. Unser Einsatz für Frieden und Freiheit hat viele Facetten. Umso dankbarer bin ich allen, die sich im steten Bemühen vereint sehen, dem anspruchsvollen Vermächtnis Präsident Roosevelts alle Ehre zu machen. Herzlichen Dank! Hartstikke bedankt!
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der neuen Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-neuen-dauerausstellung-in-der-gedenkstaette-buchenwald-460998
Sun, 17 Apr 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut: Grütters
Weimar
Kulturstaatsministerin
Es war ungefähr gegen vier Uhr nachmittags, als der Kasten endlich knackte und uns nach einem kurzen Knistern und etlichen Blasgeräuschen mitteilte, hier sei der Lagerälteste, hier spreche der Lagerälteste. ‚Kameraden‘, sagte er, hörbar mit einem Gefühl kämpfend, das ihn in der Kehle würgte, was seine Stimme einmal abbrechen, dann wieder zu scharf werden, beinahe schon in ein Pfeifen übergehen ließ, wir sind frei!‘“ Mit diesen Worten schilderte der kürzlich verstorbene Literaturnobelpreisträger und Buchenwald-Überlebende Imre Kertész in seinem „Roman eines Schicksallosen“ den Moment der Befreiung des KZ Buchenwald vor 71 Jahren – eines Konzentrationslagers, in dem fast 280.000 Menschen inhaftiert waren und über 56.000 Menschen an Folter, medizinischen Experimenten und Auszehrung zu Tode gekommen sind: insbesondere Juden, Sinti und Roma, politisch Andersdenkende, so genannte „Asoziale“, so genannte „Berufsverbrecher“, Homosexuelle sowie Widerstandskämpfer aus Deutschland und den besetzten Ländern. So unbegreiflich den Überlebenden damals die Aussicht auf eine Rückkehr ins Leben schien, so unfassbar scheint uns heute die Existenz eines solchen Konzentrationslagers mitten im Leben, mitten in der deutschen Gesellschaft – unvorstellbar gerade hier in Weimar, Hauptstadt der deutschen Klassik, Kristallisationspunkt deutscher Kultur- und Geistesgeschichte. Es gibt kaum einen anderen Ort, an dem Glanz und Schande der deutschen Geschichte so beklemmend nah beieinander liegen. Die neue Dauerausstellung, die wir heute eröffnen, ist eine Annäherung an das Unfassbare: Sie beschränkt sich nicht auf das Grauen des Lageralltags, sondern widmet sich auch der erschreckenden Normalität von Konzentrationslagern als Teil des gesellschaftlichen Alltags im nationalsozialistischen Deutschland. Es wird wohl das letzte große Ausstellungsprojekt zum Nationalsozialismus sein, an dem Überlebende so aktiv und in so großer Zahl mitwirken konnten. Für Ihren Beitrag gebührt Ihnen, den ehemaligen Häftlingen, unser aller Dank und tiefer Respekt. Ich freue mich sehr, dass so viele von Ihnen heute mit Ihren Angehörigen unter uns sind und die teils sehr weite Anreise auf sich genommen haben. Nicht nur aus Deutschland, sondern auch als Belarus, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Israel, Italien, Norwegen, Polen, Rumänien, Russland, Serbien, Slowenien, Spanien, Tschechien, der Ukraine, Ungarn und den USA sind Sie gekommen – jede und jeder einzelne von Ihnen mit der Last des Erlebten und Erlittenen, mit vielleicht noch immer lebendigen Schreckensbildern eines Ortes, an dem man Ihnen alles genommen hat bis auf die nackte Existenz. „Nichts hat mich je so sehr erschüttert wie dieser Anblick“, hat der Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte, Dwight D. Eisenhower, über die Menschen gesagt, die – Schatten ihrer selbst – am Tag der Befreiung Buchenwalds noch am Leben waren. In den 71 Jahren, die seitdem vergangen sind, haben viele Überlebende den Mut und die Kraft gefunden, über ihre Qualen zu berichten. Es sind Worte, für die wir zutiefst dankbar sind – dankbar, weil es das Mindeste ist, was wir für die Überlebenden tun können: ihnen zuzuhören und sie mit ihren Erinnerungen nicht allein zu lassen; dankbar aber auch, weil unsere Erinnerungskultur nur dann eine Zukunft hat, wenn hinter der schrecklich-nüchternen Bilanz des millionenfachen Mordes der einzelne Mensch sichtbar wird und sichtbar bleibt. Die Erinnerung an Menschheitsverbrechen bisher nicht gekannten Ausmaßes, an die Schrecken und Gräuel, die unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in deutschem Namen geschehen sind – diese Erinnerung bleibt für uns Deutsche eine immerwährende Verantwortung und Verpflichtung. Doch je weniger Überlebende es gibt, die uns ihre Geschichte erzählen können, desto schwieriger wird die Annäherung an das Unfassbare, und desto wichtiger werden die Zeugnisse und die authentischen Gedenkorte aus dieser Zeit, um deren Erhalt sich Bund und Länder in Deutschland gemeinsam kümmern. Auf der Grundlage der Gedenkstättenkonzeption des Bundes fördern wir auch die Gedenkstätte Buchenwald und die Erneuerung ihrer Dauerausstellung. Als Lernorte gewinnen Gedenkstätten auch aus einem weiteren Grund an Bedeutung: In Deutschland leben immer mehr Menschen, deren Wurzeln außerhalb Deutschlands liegen – sei es, weil ihre Eltern oder Großeltern einst als Einwanderer nach Deutschland kamen, sei es, weil sie gegenwärtig Zuflucht suchen vor Krieg und Gewalt in ihren Heimatländern. Ihnen fehlt nicht nur die persönliche, die familiäre Verbindung zur deutschen Vergangenheit; sie schauen oft auch aus einer anderen Perspektive auf den Terror und die Verbrechen der Nationalsozialisten: mit eigenen Ängsten, oft auch mit eigenen Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung und vielfach leider auch mit antisemitischen Vorurteilen und Hass, gespeist nicht zuletzt aus den Konflikten im Nahen Osten. Gedenkstätten müssen deshalb heute eine Sprache finden, mit der sie Menschen unterschiedlicher Herkunft, Bildung und kultureller Prägung ansprechen und in ihrer Lebens- und Erfahrungswelt erreichen können. Die stetig steigenden Besucherzahlen nicht nur in Buchenwald zeigen, dass das schon sehr gut gelingt – eine schöne Anerkennung Ihrer engagierten Arbeit, lieber Herr Prof. Knigge, und der Ihres Teams. Mit der neuen Dauerausstellung, zugeschnitten auf Wissen und Sehgewohnheiten heutiger Besucher, setzen Sie Maßstäbe gerade in didaktischer Hinsicht, und ich bin froh, dass wir auch dort auf Ihre Expertise zählen können, wo es darum geht, Migrantinnen und Migranten stärker in unsere Erinnerungskultur einzubeziehen. Wenn wir uns heute fragen, meine Damen und Herren, wie normale Menschen zu Handlangern eines unfassbar grausamen Terrorregimes werden konnten, dann sollten wir nicht vergessen, was der katholische Publizist Eugen Kogon über seine Jahre als Häftling in Buchenwald und über die Notwendigkeit des Erinnerns geschrieben hat, ich zitiere: „Aus den abgründigen Zonen, die ich in sieben Jahren, inmitten Geblendeter und Verdammter, die wie besessen gegen jede Spur von Menschenwürde anrasten, durchwandert habe, lässt sich nichts Gutes berichten. Da es aber ein Ecce Homo-Spiegel ist, der nicht irgendwelche Scheusale zeigt, sondern dich und mich, sobald wir nur dem gleichen Geiste verfallen, dem jene verfallen sind, die das System geschaffen haben, muss er uns vorgehalten werden.“ Uns diesen Ecce Homo-Spiegel vorzuhalten, das bleibt auch in Zukunft Aufgabe der Gedenkstätten. Wenn Lern- und Erinnerungsorte dazu beitragen, dass wir alle – auch junge Deutsche, auch Deutsche mit ausländischen Wurzeln, auch Einwanderer – darin ein erschreckendes, mögliches Spiegelbild sehen, dann ist eine Menge erreicht. Denn wer das Vergangene als das wieder Mögliche erkennt, der sieht auch die Gegenwart mit anderen Augen – der schaut nicht weg, wo Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung heute an die Anfänge eines Weges erinnern, der damals in Krieg und Vernichtung geführt hat. Möge die neue Dauerausstellung in Buchenwald in diesem Sinne dazu beitragen, dass die Keime menschenverachtender, totalitärer Ideologien in Deutschland nie wieder einen Nährboden finden!
Die Existenz eines Konzentrationslagers wie Buchenwald mitten im Leben und der Gesellschaft, scheine heute unfassbar, so Kulturstaatministerin Grütters. Die neue Dauerausstellung widme sich „der erschreckenden Normalität als Teil des gesellschaftlichen Alltags.“ Die Erinnerung an Menschheitsverbrechen, Schrecken und Gräuel unter NS-Herrschaft bleibe immerwährende Verantwortung.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel auf der Veranstaltung zur Würdigung der Arbeit der Einsatzkräfte des Technischen Hilfswerks (THW) und des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) am 18. April 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-auf-der-veranstaltung-zur-wuerdigung-der-arbeit-der-einsatzkraefte-des-technischen-hilfswerks-thw-und-des-bundesamts-fuer-bevoelkerungsschutz-und-katastrophenhilfe-bbk-am-18-april-2016-393224
Mon, 18 Apr 2016 16:45:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Bundesminister, lieber Thomas de Maizière, sehr geehrte Herren Präsidenten und Vizepräsidenten und vor allem Sie, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie alle, die Sie dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe sowie dem Technischen Hilfswerk alle Ehre machen. Ich habe Sie im Sommer 2014 an Ihrem Standort Bonn besucht. Da war von den Herausforderungen, über die wir heute sprechen, noch nichts zu sehen. Da haben wir danke gesagt für andere Einsätze, über die ich mich sachkundig machen konnte, was ich sehr gut in Erinnerung behalten habe. Wir haben über Erfahrungen bei der Bewältigung von Flutkatastrophen, Erdbeben, Unglücken gesprochen. Die Herausforderung, die jetzt hinter Ihnen liegt und zum Teil noch besteht, ist eine Herausforderung ganz anderer Art: die vielen Menschen, die in unser Land gekommen sind. Ich weiß noch, wie Ende August bei meinem Besuch der vom DRK betreuten Erstaufnahmeeinrichtung in Heidenau mir jemand seinen persönlichen Eindruck schilderte: „Wissen Sie was? Das ist Auslandseinsatz im Inland, was wir hier gerade machen.“ – So war die Situation auch an vielen anderen Stellen. Deshalb sage ich Ihnen heute erst einmal danke dafür, dass Sie sich an diese Riesenaufgabe gemacht haben, dass viele von Ihnen bis zur Erschöpfung gearbeitet haben; auch an Wochenenden und an Feiertagen. Thomas de Maizière hat eben die riesige Zahl an Stunden genannt. Es war eine im Grunde flächendeckende Einbeziehung, wenn 600 Ortsverbände dabei waren. Viele waren ehrenamtlich im Einsatz; und das parallel zum Arbeitsalltag. Viele haben ihre privaten Interessen, Freizeitinteressen zurückgestellt, um in einer humanitär wirklich herausfordernden Situation mit anzupacken. Ich weiß nicht, was Sie sich alles von Ihren Familien fragen lassen müssen; das ist ja sicherlich auch der Fall. Letztlich ist es mir auch deshalb ein tiefes Bedürfnis, Ihnen danke zu sagen für das, was Sie getan haben. Sie waren so etwas wie der erste Eindruck, den viele Menschen, die zu uns kamen, von Deutschland hatten. Sie haben Deutschland alle Ehre gemacht. Nun sind heute nicht alle hier, die geholfen haben. Deshalb meine Bitte, auch denen, die zu Hause sind, ein herzliches Dankeschön zu sagen – genauso wie Ihren Familien und Freunden, die teilweise auf Sie verzichten mussten. Unseren Dank haben wir an anderer Stelle auch schon Bundespolizisten übermittelt. Natürlich stellen sich viele Fragen, denn die vielen ankommenden Flüchtlinge haben auch zu einer Polarisierung in unserer Gesellschaft geführt, zu gesellschaftlichen Diskussionen, zum Teil auch zu großen Auseinandersetzungen. Auf der einen Seite gibt es eine große Hilfsbereitschaft, auf der anderen Seite durchaus Zweifel und auch, wie schon gesagt wurde, Anwürfe, Pöbeleien, die Sie ertragen mussten, und auch Angriffe auf Unterbringungsmöglichkeiten. Ich glaube, wir können heute sagen, dass wir inzwischen viel erreicht haben. Ich will das noch einmal kurz Revue passieren lassen. Wir mussten uns ja selbst erst einmal mit dieser ungewohnten Lage vertraut machen. Wir hatten seit 2014 viele Flüchtlinge, die über Italien und Österreich nach Deutschland kamen. Im Jahr 2013 waren es 100.000, im Jahr 2014 bereits 200.000. Wir hatten die Ahnung, dass es 2015 deutlich mehr werden würden. Der Bundesinnenminister hat seine Prognose im Laufe des Jahres mehrfach verändern müssen. Wir haben dann eine völlig neue Fluchtroute gesehen, über die im Januar des Jahres 2015 1.000 Flüchtlinge pro Monat kamen, deren Zahl sich jeden Monat erhöhte, die im Juli bereits auf 54.000 angewachsen war, im August auf 102.000, im September auf 147.000 und im Oktober auf 211.000 – das war der Höhepunkt. Wenn Sie sich diese Entwicklung Monat für Monat einmal aufmalen, stellen Sie fest, dass wir jetzt im Grunde im Sinne einer Gaußkurve im März des 2016 wieder da sind, wo wir im Februar des Jahres 2015 waren. Dazwischen lag harte Arbeit. Worum ging es? Das will ich noch einmal deutlich machen. Es ging letztendlich um die Frage: Wie gehen wir damit um und wie gehen wir vor, wenn an unserer Außengrenze – das ist die gedachte Grenze des Schengen-Raums – eine solch geballte illegale Migration auftritt? Wie versucht man, mit diesem Problem umzugehen? Im Wesentlichen standen zwei Antworten im Raum. Die eine Antwort war: Wir sind die Bundesrepublik Deutschland; wir müssen Antworten an der deutsch-österreichischen Grenze geben. Die andere Antwort bezog sich auf die Frage: Schaffen wir es, den gesamten Raum der Reisefreiheit, den sogenannten Schengen-Raum, zu verteidigen, und lernen wir, unsere Außenhülle zu schützen? Diese Außenhülle des Schengen-Raums, des Raums der Reisefreiheit, reicht vom Nordpol, von Grönland und Norwegen bis nach Marokko mit allem, was dazwischen liegt – Russland, Weißrussland, Ukraine, Moldau, Georgien, Türkei. Gegenüber Zypern liegt Syrien; wir sind im Übrigen auch ein Nachbar-Gebilde Syriens, wenn man es so sagen will. Dann kommt alles, was Probleme hat: Libanon, Israel, daneben auch Jordanien, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko. Da zeichnet sich die Aufgabe ab, vor der wir stehen. Landgrenzen kann man relativ gut schützen. Da, wo Seegrenzen sind, ist es komplizierter. Wir haben auch gemerkt: Es kommen nicht nur die, die Schutz brauchen. Etwa 40 Prozent der bis zum Juli des vergangenen Jahres zu uns gekommenen Flüchtlinge stammten aus den westlichen Balkanstaaten. So gut wie alle davon hatten keine Bleibeberechtigung. Bis wir aber diese Länder im politischen Prozess zu sicheren Herkunftsländern erklärt haben, hat es Monate gedauert. Als wir das endlich geschafft hatten, als wir mit dem Asylpaket I und dem Asylpaket II die notwendigen Voraussetzungen auch dafür geschaffen hatten, die Rückkehr zu beschleunigen, hatten wir sehr schnell, nachdem wir die notwendigen politischen Weichenstellungen vorgenommen hatten, eine nahe bei Null liegende Ankunftsrate von Menschen vom westlichen Balkan. Das hat uns gezeigt: Durch richtige Maßnahmen können wir Migration steuern. Dann kam die große Zahl der Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten, insbesondere aus dem Irak und Syrien. Dazu will ich Folgendes sagen: In diesen vergangenen Monaten hat sich ja auch viel über die Frage entschieden, wie man sich verhält, wenn in unserer Nachbarschaft – wie ich bewusst sage – wie in Syrien ein Krieg, ein Bürgerkrieg wütet und wenn von einst 20 Millionen Einwohnern des Landes sechs Millionen im Land und sechs Millionen außerhalb des Landes auf der Flucht sind – eine humanitäre Katastrophe. Wenn man dann sieht, dass ein Land wie der Libanon 1,5 Millionen Syrer aufnimmt, ein Land wie Jordanien fast eine Million, ein Land wie die Türkei – mit 75 Millionen Einwohnern – 2,7 Millionen, dann ist die Frage, ob 500 Millionen Europäer, die im Schengen-Raum leben, vielleicht auch eine Million aufnehmen können, natürlich nicht völlig außerhalb aller Reichweite. Was die Schwierigkeit ausgemacht hat, ist, dass es nur ganz wenige Länder gab – im Wesentlichen Österreich, Deutschland und Schweden, in gewisser Weise auch Finnland, Dänemark; aber schon mit Abstrichen –, die sich dieser Aufgabe gestellt haben. Das hat eine gewisse Enttäuschung produziert. Wie wir damit weiterarbeiten, wie wir das Dublin-System weiterentwickeln, werden wir noch lernen müssen. Wir haben eine Vielzahl politischer Schritte unternommen, gerade auch nachdem im August der Bundesinnenminister die Prognose von 400.000 auf 800.000 erhöht hatte. Ich will einmal sagen, angesichts eines so ungewöhnlichen Vorgangs war die Prognose ja nicht so schlecht, wenn man das Ergebnis sieht: 800.000. Wir haben zu überlegen begonnen: Wie können wir angesichts der Illegalität, in der Migration zumeist stattfindet – illegaler Grenzübertritt wird von Schmugglern und Schleppern sozusagen stimuliert –, zwischen zwei Ländern wie der Türkei und Griechenland, die beide zur NATO gehören, also eigentlich gemeinsamen Werten verbunden sind, das politisch so steuern, dass es besser funktioniert, den illegalen zu einem legalen Vorgang ohne Schlepper und Schmuggler umzuwandeln? Die erste Aussage war: Fluchtursachen bekämpfen, Lebensmittelrationen in Jordanien und im Libanon sichern, Schulausbildung sichern. Der Bürgerkrieg in Syrien dauert jetzt fünf Jahre. Viele Flüchtlinge haben Kinder. Die Kinder haben zum Teil fünf Jahre lang keine Schulausbildung gehabt. Die Ersparnisse sind aufgebraucht. Und wenn dann die Lebensmittelrationen pro Kopf von 30 Dollar pro Monat auf 13 Dollar gekürzt werden, kann sich jeder vorstellen, dass man in eine Situation kommt, die wirklich sehr schwierig ist. Daher haben wir damit begonnen, sowohl die Ausstattung der UN-Hilfsorganisationen zu verbessern als auch eine Lastenteilung mit der Türkei zu vereinbaren und ihr Geld zu geben, damit Kinder unterrichtet werden können. Die Türkei hat im Gegenzug auch Arbeitsmöglichkeiten für syrische Flüchtlinge eingeräumt. Wir haben uns überlegt, wie wir gemeinsam illegale Migration bekämpfen können und uns, wenn das gelungen ist – und in dieser Phase sind wir gerade –, auch dazu bereit erklären können, auf legalem Wege – je nach Situation in Syrien – Kontingente festzulegen und entsprechend viele Flüchtlinge aufzunehmen. Dieser Prozess wird jetzt gerade umgesetzt. Ich bin insbesondere Herrn Broemme sehr dankbar, der vor Ort mit geballter logistischer Erfahrung dazu beiträgt, dass die entsprechenden Vorkehrungen getroffen werden. Die Rückführung ist für viele Flüchtlinge menschlich sicherlich relativ hart, aber auf der anderen Seite dürfen wir nicht Schmugglern und Schleppern die Ägäis überlassen. Ich glaube, das ist einzusehen. Und wenn man weiß, dass dieses Jahr schon über 400 Menschen ihr Leben auf diesem schmalen Stück Meer verloren haben, dann darf man nicht einfach zugucken. Wir haben gewaltige organisatorische Dinge in Gang gebracht. Sie wissen, was da an Logistik gelaufen ist im Zusammenhang mit der Unterbringung, mit der Verpflegung, mit allem, was angesichts vieler menschlicher Bedürfnisse zu tun war. Es sind ja auch Menschen zu uns gekommen, die eine überaus strapaziöse Flucht hinter sich haben. Wir müssen alle Flüchtlinge registrieren. Wir haben dazu auch unverhoffte politische Maßnahmen durchführen können. Wenn Sie nach deutschem Datenschutzrecht Daten von der Kommune irgendwie zum Land und zum Bund transferieren wollen und jeder, der Zugriff braucht, auch Zugriff haben soll, dann ist das normalerweise ein Jahrhundertprojekt. Aber angesichts der großen Zahl an Flüchtlingen wurde der Ankunftsnachweis eingeführt, den wir relativ unbürokratisch durchgebracht haben. Ich will auch sagen: Bei allen Auseinandersetzungen und widerstrebenden Interessen, die wir zwischen Kommunen, Ländern und Bund haben – Deutschland hat sich auch mit seiner föderalen Struktur wieder einmal als seiner Aufgabe gewachsen gezeigt. Alles in allem arbeiten wir gut und kameradschaftlich zusammen – in dem Geist, dass wir auch diese Aufgabe gemeinsam bewältigen wollen. Jetzt geht es um die Umsetzung des Abkommens mit der Türkei. Und es geht darum, dass der Europäer mit seinen vielen anderen Nachbarn umzugehen lernt. Da will ich nicht verhehlen: Besondere Sorge macht uns die Situation in Libyen. In Libyen versuchen wir zu helfen, dass eine Einheitsregierung gebildet wird. Diese Einheitsregierung ist noch nicht parlamentarisch legitimiert. Es ist hier natürlich nicht so einfach, wie mit der Türkei eine Verhandlung zu führen und eine Lastenteilung zu erreichen. Viele Flüchtlinge aus Afrika sind ja in Libyen. Bei uns hier in Deutschland steht bei im Augenblick sehr geringen Ankunftszahlen das Thema Integration ganz oben auf der Agenda. Der Bundesinnenminister hat zusammen mit der Bundesarbeitsministerin Eckpunkte oder wesentliche Punkte eines Integrationsgesetzes identifiziert. Das ist ein Schritt ins Neuland. Der Bund hatte noch nie ein Integrationsgesetz. Damit aber werden nun die gesamten Bemühungen zusammengefasst, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge unternimmt und die wir mit den Integrationskursen und mit den Sprachkursen unternehmen. Es werden die Aktivitäten der Bundesagentur mit denen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge enger verzahnt. Damit versuchen wir sozusagen auch aus der Perspektive des einzelnen Flüchtlings die Prozesse bis hin in den Arbeitsmarkt und vieles andere mehr vernünftig zu ordnen, was sicherlich wichtig ist. Wir stehen hierbei vor einer riesengroßen Aufgabe; das ist keine Frage. Aber ich glaube, dass wir auch bei dieser Aufgabe manches lernen und diese Aufgabe bewältigen können. Flüchtlinge haben einen Aufenthaltsstatus gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention. Wir wissen, dass Menschen aus dem Irak, aber auch aus Syrien gern wieder in ihre Heimat zurückgehen würden. In Syrien ist die Situation derzeit nicht dementsprechend. Was den Irak betrifft, gibt es, wenn Städte vom „Islamischen Staat“ befreit sind, durchaus Iraker, die den Rückweg antreten. Das heißt, wie die Zukunft genau aussieht, wissen wir nicht. Aber eines wissen wir: Wir können Menschen nicht jahrelang ohne jede Integration hier in Deutschland lassen. Ein schönes Projekt ist – das haben sich der Bundesinnen- und der Bundesaußenminister ausgedacht –, dass das THW auch jungen Syrern Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt, die sie eines Tages auch in ihrem Land nutzen können, wo, wie man weiß, wenn man die Fernsehbilder sieht, viel Aufbauarbeit zu leisten ist. So geht die Arbeit vielleicht etwas anders weiter; und sie muss jetzt vor allen Dingen auch in Griechenland weitergehen, wo wir die notwendigen Voraussetzungen schaffen müssen. Griechenland steht vor den verschiedensten Aufgaben. Eine dieser Aufgaben ist, das EU-Türkei-Abkommen abzuwickeln. Und dass auch das THW dort wieder hilft, ist ein gutes Zeichen. Ich habe Ihnen jetzt das Ganze einmal aus politischer Sicht gesagt. Sie arbeiten handfest und mit vielen Menschen zusammen. Viele haben in kürzester Zeit unglaublich ranklotzen müssen. Und deshalb schließe ich so, wie ich begonnen habe: mit einem ganz herzlichen Dankeschön. In solchen Lagen bewährt sich, was wir in Deutschland über viele Jahrzehnte aufgebaut haben: ein sehr spannendes und bewährtes Miteinander von Haupt- und Ehrenamt. Ich bin mir ganz sicher: Viele Flüchtlinge werden noch in vielen Jahren davon berichten, welche guten Erfahrungen sie mit Ihnen machen konnten. Ich sage danke – auch im Namen der ganzen Bundesregierung. Und bitte geben Sie diesen Dank auch weiter. Herzlichen Dank.
in Berlin
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Richtfest für die James-Simon-Galerie auf der Museumsinsel
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-richtfest-fuer-die-james-simon-galerie-auf-der-museumsinsel-387624
Wed, 13 Apr 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut: Grütters
Berlin
Kulturstaatsministerin
Wenn die Zahl von Richtfesten für Kulturprojekte nationalen Ranges ein Indikator für den kulturpolitischen Fortschritt ist, dann geht es zweifellos voran in der Hauptstadtkulturpolitik. Innerhalb von nur zehn Monaten ist es heute das dritte Mal, dass wir hier in Berlins Mitte einen Richtkranz aufs Dach heben – nach den Richtfesten im vergangenen Sommer für das Humboldt-Forum im Berliner Schloss gegenüber und für die Barenboim-Said-Akademie ganz in der Nähe. In Sachen Baustellen-Routine kann ich es zwar lange nicht mit der Kollegin Hendricks aufnehmen, habe aber mittlerweile doch auch schon eine recht beachtliche Zahl an Baustellenbegehungen mit Helm und Reflektorenweste hinter mir. Deshalb kann ich aus eigener Anschauung sagen: Was wir heute feiern, ist nicht nur die Fertigstellung eines weiteren Rohbaus im Herzen Berlins. Es ist auch Teil einer logistischen Meisterleistung. Seit 1999 werden auf der Museumsinsel vier einzigartige Solitäre aus den Jahren 1843 bis 1930 aufwändig saniert und instandgesetzt – wohlgemerkt bei laufendem Betrieb und Publikumsverkehr auf der Insel. Die Alte Nationalgalerie, das Neue Museum und das Bode-Museum sind fertig, tatsächlich allesamt im Zeit- und Kostenrahmen. Bis 2025 wird auch das größte und anspruchsvollste Projekt – das Pergamonmuseum – vollendet sein. So wird der Masterplan Museumsinsel zur Erfolgsgeschichte. Wer auf dem Bau oder in der Politik aktiv ist, weiß nur zu gut, dass das nicht jedem Plan vergönnt ist. Die einzigartigen Sammlungen wie auch die großartige architektonische Wirkung ihrer Einzelbauten und die Strahlkraft des Ensembles begründen die Bedeutung der Museumsinsel als UNESCO-Weltkulturerbe. Um diese Pracht für künftige Generationen zu pflegen und zu bewahren, finanziert der Bund den Masterplan Museumsinsel mit insgesamt 1,4 Milliarden. Auch ist sich der Bund seiner Gesamtverantwortung für die SPK bewusst und übernimmt deshalb jedes Jahr die Gesamtfinanzierung ihrer Baumaßnahmen. Dass sämtliche Sanierungs- und Instandhaltungsmaßnahmen bei laufendem Betrieb stattfinden müssen, macht diese Aufgabe nicht nur für den Bauherrn – die SPK -, sondern auch für die beteiligten Architekten, Planer und Handwerker zu einer enormen Herausforderung. Umso größer ist mein Respekt für ihre Leistung. Herzlichen Dank der SPK und ihrer Bauabteilung, aber auch dem Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung und allen am Bau Beteiligten für die kompetente Umsetzung dieses anspruchsvollen Bauprogramms! Mit dem heutigen Richtfest für die James-Simon-Galerie stehen wir nun vor der architektonischen und funktionalen Vervollständigung der Museumsinsel. Die James-Simon-Galerie verbindet die einzelnen Bauten und formt das Entrée für die Begegnung mit Kunst und Kultur aus mehreren tausend Jahren Menschheitsgeschichte. Welche Bereicherung wir uns davon erhoffen können, lässt sich mit den Worten Karl Friedrich Schinkels vielleicht so beschreiben: „[H]ier muss der Anblick eines schönen, erhabenen Raumes empfänglich machen und eine Stimmung geben für den Genuss und die Erkenntnis dessen, was das Gebäude überhaupt bewahrt.“ Das schrieb der große Baumeister Preußens im Jahr 1823 über die Rotunde im Alten Museum. Auch wenn das Erhabene bei David Chipperfield zweifellos etwas sachlicher daher kommt als bei Schinkel: Mit ein bisschen Fantasie entsteht aus Schinkels Worten eine Vision des neuen Eingangsgebäudes zur Museumsinsel: Hier wird der Anblick eines schönen, erhabenen Raumes empfänglich machen für die Schätze der Museumsinsel. In diesem Sinne: Auf eine erfolgreiche Fortsetzung der Bauarbeiten und auf die Eröffnung !
Mit der James-Simon-Galerie stehe die Museumsinsel vor der architektonischen und funktionalen Vervollständigung, so Staatsministerin Grütters beim Richtfest. Die Galerie verbinde die Bauten auf der Museumsinsel und forme das „Entrée für die Begegnung mit Kunst und Kultur aus mehreren tausend Jahren Menschheitsgeschichte“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des Jahresempfangs des Deutschen Caritasverbands e.V. am 14. April 2016 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-des-jahresempfangs-des-deutschen-caritasverbands-e-v-am-14-april-2016-in-berlin-389730
Thu, 14 Apr 2016 18:00:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Prälat Neher, sehr geehrter Herr Kardinal Marx, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung, aber vor allen Dingen Sie, meine Damen und Herren, die Sie von der Caritas oder für die Caritas oder als Freunde der Caritas heute hier mit dabei sind, dieser Jahresempfang steht unter der Thematik, mit der Sie sich schon gestern und auch heute beschäftigt haben, nämlich dem demografischen Wandel. Aber wie kann es einen Jahresempfang geben, ohne dass wir nicht auch über die Aufgabe sprechen, die wir in dieser Form heute noch vor einem Jahr gar nicht so vor uns gesehen haben: die Aufnahme der vielen Flüchtlinge, die zu uns nach Deutschland gekommen sind. Ich möchte nicht nur für den Dank danken, sondern den Dank auch zurückgeben, denn wir hätten das nicht geschafft, wenn es nicht so viele zupackende Hände und offene Herzen gegeben hätte – ganz wesentlich auch gerade bei Ihnen als Hauptamtliche und Ehrenamtliche in der Caritas. Ein herzliches Dankeschön für das, was Sie geleistet haben und nach wie vor leisten. Wir haben oft davon gesprochen und sprechen noch davon, was für eine unglaubliche Aufgabe wir zu leisten haben. Ein Blick in andere europäische Länder zeigt auch, dass das im Vergleich zu anderen sicherlich so ist. Ein Blick auf die Landkarte und ein Blick darauf, was der sogenannte Schengenraum, also der europäische Raum der Reisefreiheit, ist, zeigt auch, wenn wir uns einmal unsere Nachbarschaft anschauen, dass einer der Nachbarn des Schengenraums nicht nur gegenüber Griechenland die Türkei ist, sondern dass gegenüber Zypern auch Syrien ein Nachbar ist. Schauen wir uns einmal an, was die Nachbarn von Syrien geleistet haben – Entwicklungsminister Gerd Müller ist auch hier –: ein Land wie Libanon mit knapp fünf Millionen Einwohnern hat 1,5 Millionen Flüchtlinge, ein Land wie Jordanien mit sieben Millionen Einwohnern hat eine Million Flüchtlinge, ein Land wie die Türkei mit 75 Millionen Einwohnern hat 2,7 Millionen Flüchtlinge. Im Vergleich dazu scheint die Leistung der 500 Millionen Europäer mit wahrscheinlich etwas weniger als einer Million Flüchtlingen aus Syrien überschaubar zu sein. Dies ist eine Perspektive, die ich jetzt einfach nur einmal einnehme, um zu sagen, wo die Herausforderungen liegen, wo aber auch die Glaubwürdigkeit liegt, wenn wir durch die Welt reisen und Menschen erklären, was Demokratie, Solidarität, Gerechtigkeit, individuelle Freiheit und Würde des Menschen anbelangt. Diese Werte müssen uns leiten. Ich weiß, dass Sie das hier in diesem Raum auch so sehen. Wir müssen aus den Erfahrungen, die wir gemacht haben, vieles lernen. Wir leben in einer Welt – wir haben das oft gesagt; Sie bei der Caritas wahrscheinlich noch öfter als wir in der Politik. Diese eine Welt ist kein theoretisches Gebilde, sondern fordert uns ganz praktisch zum Handeln heraus. Entweder bekämpfen wir die Fluchtursachen – durch politisches Handeln, durch kluge Entwicklungshilfe und andere Maßnahmen – oder aber der Druck der Migration wird größer werden. Das heißt, wir werden viel mehr über unseren europäischen Tellerrand schauen müssen, um sowohl unsere Sicherheit als auch die Sicherheit unserer Umgebung zu garantieren; einmal durch Hilfe hier und auf der anderen Seite und – das will ich ausdrücklich sagen – auch durch Bekämpfung von Illegalität. Es kann nicht sein, dass Schlepper und Schmuggler sozusagen den Umfang unserer humanitären Taten bestimmen, sondern wir müssen versuchen, Menschenleben zu retten – allein in diesem Jahr sind schon 400 Menschen in der Ägäis umgekommen – und, indem wir legalem Handeln Vorschub leisten, unserer Verantwortung gerecht zu werden. Das wird in den nächsten Jahren viele Diskussionen mit sich bringen. Wenn wir unsere Nachbarschaft anschauen – vom Nordpol über Russland, Weißrussland, Ukraine, Moldau, Georgien, Türkei, Syrien, Libanon, Israel, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko –, dann wissen wir, dass es in dieser Nachbarschaft viele Konfliktpotentiale gibt und dass auch wir einen politischen Beitrag leisten müssen, um sie zu lösen. Dabei ist die gesamte Europäische Union gefragt. Wenn wir uns auf der anderen Seite anschauen, welche großen Mitspieler der Globalisierung wir haben – Indien mit über einer Milliarde Einwohnern, China, die starken Vereinigten Staaten –, dann wissen wir auch: Wenn die Europäische Union es nicht schafft, zusammenzustehen, für gemeinsame Werte zu kämpfen und auch ein Stück weit sichtbar werden zu lassen, was wir unter einem christlich-jüdischen Abendland verstehen, dann wird manches an Weltentwicklung an uns vorbeiziehen. Deshalb ist dies jetzt auch eine Zeit, in der sich viel über Glaubwürdigkeit entscheidet. Ich möchte, weil wir gestern Abend viele Stunden im Koalitionsausschuss zusammengesessen haben, die Gelegenheit nutzen, um Ihnen von unseren neuesten Ergebnissen zu berichten, weil wir nämlich etwas ganz Wichtiges gemacht haben. Wir haben daran gearbeitet und uns nun entschieden, ein Integrationsgesetz auf den Weg zu bringen. Integration – das ist die Aufgabe der Gesellschaft, in die Flüchtlinge kommen, offen zu sein. Das ist aber auch die Aufgabe derer, die kommen, sich auf unsere Gesellschaft einzulassen – mit ihren Erfahrungen, aber eben auch auf der Grundlage unserer Gesetze. So wird das Integrationsgesetz ein Gesetz des Forderns und Förderns mit neuen Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge werden. Wir werden die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir für hunderttausende Flüchtlinge sehr schnell Arbeitsplätze schaffen können. Wir wollen – und zwar je nach Bleibeperspektive der Flüchtlinge – unterschiedliche Bildungsangebote machen: von der Vorbereitung auf Ausbildung bis hin zu Ausbildungsmodulen und einer sicheren Berufsausbildung mit der Möglichkeit, anschließend zwei Jahre in Deutschland zu arbeiten, und auch für Flüchtlinge mit einer geringen Bleibeperspektive Orientierungskurse und Möglichkeiten des Lernens, die ihnen auch bei einer Rückkehr in die Heimat zugutekommen. Wir werden die Sprachkurse verbessern und intensivieren und vor allen Dingen dafür Sorge tragen, dass jeder schneller Zugang zu einem Sprachkurs bekommt. Wir werden Anreize dafür setzen, dass die Bleibeperspektiven besser werden, wenn man sich im Rahmen der Integration engagiert. Auf der anderen Seite werden wir natürlich deutlich machen, dass, wenn Pflichten verletzt werden, dann auch Abstriche bei den Integrationsangeboten notwendig sind. Das alles, also Fördern und Fordern, soll den Rahmen dieses Integrationsgesetzes bestimmen. Wir gehen damit einen neuen Weg. Es gibt bis jetzt kein solches Gesetz. Wir haben aber auch in den letzten Jahrzehnten gemerkt, dass es nicht gut war, dass wir nicht von Anfang an den Fokus auf Integration gerichtet haben. Nun zu Ihrem zweiten großen Thema hier beim Jahresempfang. Es ist richtig und wichtig, auch die Probleme, die wir haben und die wir hatten, als es noch nicht so viele Flüchtlinge gab, in den Blick zu nehmen. Dazu zählt das Thema Generationengerechtigkeit, wenn sie den demografischen Wandel betrachten. Ich möchte der Caritas ganz herzlich dafür danken, dass das nicht sozusagen alarmistisch, nicht unter Benennung aller denkbaren Risiken passiert, die Menschen zum Teil entmutigen, sondern dass die Diskussion Mut machen soll. In diesem Geist führen Sie diese Diskussion. Das ist wichtig, und zwar für alle Altersgruppen. Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft wird bei der Veränderung der Stärke der einzelnen Generationen das große Thema sein. Wenn Generationen erst einmal misstrauisch aufeinander schauen, dann kann gesellschaftlicher Zusammenhalt eben nicht gelingen. Deshalb versuchen wir auch vonseiten der Bundesregierung, alle Generationen in den Blick zu nehmen und dementsprechend – so ist die Aufgabe – gesetzliche Vorkehrungen zu treffen. Was die Älteren im Bereich der Pflege angeht, die ganz besonders vom Bundesgesundheitsminister, aber auch von der ganzen Bundesregierung in dieser Legislaturperiode in den Blick genommen werden, ist der neue Pflegebegriff ganz wichtig. Demenzkranke können jetzt einen Platz in der Pflege finden, der angemessen und richtig ist. Ebenso wichtig sind die Fragen der Verbesserung der Leistungen für diejenigen, die pflegen – ob zu Hause oder professionell im Pflegeheim –, sowie der altersgerechte Umbau von Wohnungen, die Stadtplanung und vieles andere mehr. Kardinal Marx hat die „Woche für das Leben“ eröffnet und das Altern in Würde herausgestellt. Kardinal Lehmann hat über das Alter gesagt: „Diese Annahme des Alters bringt es mit sich, dass das Älterwerden und erst recht das Altsein nicht als bloßer Verfall, sondern als eine ursprüngliche Form positiven Lebens wahrgenommen wird, das eine eigene Produktivität entfalten kann.“ Das sollten wir bei allen Beschwernissen des Alters immer wieder im Blick haben. Menschen in der Mitte des Lebens, die weder sozusagen die ganz Kleinen aufmerksam betrachten, noch die, die am Ende des Lebensbogens stehen, werden auch die Mitte des Lebens nicht voll erfassen können. Deshalb ist der Zusammenhalt der Generationen so wichtig. Es gibt in diesem Jahr eine erhebliche Rentensteigerung. Das sagt aber noch nichts darüber aus, dass das Thema Rente für diejenigen, die heute 40 oder 45 Jahre alt sind, bereits gelöst ist. Wir haben gestern Abend im Koalitionsausschuss gesagt: Wir müssen uns diesem Thema noch einmal widmen – möglichst gemeinsam und mit den gesellschaftlichen Gruppen. Es hat ja keinen Sinn, wenn sozusagen zu viele politische Schlachten ausgetragen werden. Wir haben natürlich Familien und Kinder im Fokus. Sie in der Caritas wissen, wie viele Familien auch zu kämpfen haben. Wir haben verschiedene Leistungen – vom Kindergeld über die Unterstützung von Alleinerziehenden und vieles andere mehr – verbessert. Aber auch hierbei reicht es nicht aus, einfach Leistungen zu verbessern, sondern es muss auch Ermutigung geben, es muss ein gesellschaftliches Klima geben, in dem Ja zu Kindern, Ja zu Mutter- und Vaterschaft, Ja zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie gesagt wird. Familienbedürfnisse müssen im gesellschaftlichen Leben einen festen Platz haben. Dabei sind wir ja vorangekommen, wenn ich sehe, wie die Elterngeldzeiten inzwischen auch von Vätern in Anspruch genommen werden. Manche Revolutionen passieren einfach. Man merkt oft erst im Rückblick, dass sie stattgefunden haben. So viel Begeisterung hat man von Vätern, die auch von der Sorge um kleine Kinder erfüllt sind, früher nicht gehört. Es ist aber auch weiterhin viel zu tun, auch viel mit dem Herzen zu tun. Wir machen Gesetze, wir diskutieren oft sehr theoretisch über Probleme. Sie packen an, Sie stehen in der Praxis. Manches, was wir an Sonntagen sagen, ist für Sie gelebter Alltag. Es wird, auch wenn es um Leistungen geht, eine bleibende Aufgabe sein, diejenigen, die den Menschen dienen, die mit den Menschen arbeiten, nicht zu vergessen und nicht nur an diejenigen zu denken, die mit den Maschinen arbeiten. Es ist noch viel zu tun, um eine gerechte Welt zu erreichen. Auch ich möchte mit einem ganz herzlichen Dank schließen. Es gibt an vielen Stellen ein gutes und partnerschaftliches Miteinander der Bundesregierung und der Caritas. Danke schön vor allem Ihnen, die Sie heute beim Jahresempfang hier in Berlin dabei sind. Tragen Sie diesen Dank bitte zu denen, die auch über diese Kongresstage hinweg vor Ort tätig sind – immer wieder mit großer Leidenschaft und mit großem Engagement. Unsere Gesellschaft wäre nicht das, wenn es diese Menschen nicht gäbe. Herzlichen Dank der Caritas.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen am 12. April 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-jahresempfang-des-bundes-der-vertriebenen-am-12-april-2016-370322
Tue, 12 Apr 2016 18:30:00 +0200
Berlin
Inneres
Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Herr Fabritius, lieber Herr Bundesminister Schmidt, lieber Herr Bundesbeauftragter Koschyk – ich wiederhole die Begrüßung jetzt aber nicht noch einmal in der Formvollendung, wie es eben geschehen ist –, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und den Landesparlamenten, natürlich liebe Frau Ehrenvorsitzende, liebe Erika Steinbach, Exzellenzen, meine Damen und Herren, sehr geehrter Herr Prälat Jung, auch von mir einen ganz herzlichen Glückwunsch zur Verleihung der Ehrenplakette. Wir haben es eben gehört: Über Jahrzehnte hinweg haben Sie sich der Anliegen der deutschen Vertriebenen angenommen – insbesondere auch in Ihrem Amt als Großdechant. Es ist wohl nicht übertrieben, wenn ich hier sage, dass Sie die deutsch-polnische Verbundenheit geradezu leben. Sie haben ein ums andere Mal gezeigt, worauf es in einer guten Nachbarschaft auch und besonders ankommt: auf Versöhnung und auf Verständigung – nicht irgendwie, sondern, wie Sie es eben auch gesagt haben, im Bewusstsein der eigenen Geschichte, die unsere Identität mehr prägt, als uns im täglichen Leben oft bewusst ist. Wenn ich mir manche Entwicklungen auf der Welt gerade in diesen Monaten anschaue, dann stelle ich fest: Es ist gut, wenn man ein bestimmtes geschichtliches Grundwissen hat. Ein friedliches und gedeihliches Miteinander der Völker und Nationen lässt sich nicht einfach verordnen. Es wird vielmehr von vielzähligen Partnern getragen, die sich aufeinander einlassen und die auch Meinungsverschiedenheiten nicht davon abbringen, Kontakte zu pflegen. Den Vertriebenen, ihren Familien und Verbänden kommt seit jeher eine Schlüsselrolle im europäischen Dialog zu. Ihre guten Kontakte, ihre Verbundenheit zur Heimat und ihr Interesse an dortigen Entwicklungen machen sie zu Brückenbauern in einem Europa, das letztlich nur so stark ist, wie es auch einig ist. Genau daran lässt sich ermessen, wie wertvoll in und für Europa das vertrauensbildende Wirken der Vertriebenen und ihrer Organisationen ist. Dafür sind und bleiben wir in der Bundesregierung Ihnen ganz herzlich zu Dank verpflichtet. Danke schön. Deshalb versuchen wir, Sie auch zu unterstützen. Unsere Unterstützung zeigt sich nicht zuletzt in der finanziellen Förderung des vielfältigen verständigungspolitischen Engagements. Der Verständigungsgedanke leitet uns auch in der Unterstützung der Deutschen, die in ihrer Heimat außerhalb unserer heutigen Landesgrenzen geblieben sind. Dabei geht es längst um mehr als um Bleibehilfe und Verbesserung der Lebensumstände. Als Bundesregierung wollen wir heute vor allem helfen, die Sprache, die Kultur und damit die Identität der deutschen Minderheiten zu bewahren. Hierfür haben wir die Mittel im Bundeshaushalt 2016 deutlich erhöht – aus guten Gründen. Denn die Geschichte der Deutschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa birgt einen über Jahrhunderte gewachsenen kulturellen Schatz. Dazu gehören Erfahrungen eines friedlichen Miteinanders verschiedener Völker und Religionen. Sie sind Teil unseres kollektiven Gedächtnisses. Sie prägen unser Selbstverständnis als Europäer, die in Vielfalt geeint sind. Daher war es uns wichtig, die Konzeption der Kulturförderung unter Betonung der europäischen Integration weiterzuentwickeln. Ich danke allen, die dabei beratend zur Seite standen und dafür sorgten, dass die Neufassung fraktionsübergreifend gutgeheißen wurde. Ein wichtiger Ansatzpunkt der überarbeiteten Konzeption ist zum Beispiel, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen, um wissenschaftliche Erkenntnisse einer möglichst breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und um auch künftig die Erinnerungsweitergabe von einer Generation zur nächsten zu gewährleisten. Nicht zuletzt wollen wir auch die jüngere Generation der Spätaussiedler, die ihre eigenen Erfahrungen mitbringen, besser in der Kulturförderung berücksichtigen. Nach wie vor kommen Angehörige deutscher Minderheiten und Familienmitglieder zu uns nach Deutschland. Es sind in den letzten Jahren sogar wieder etwas mehr geworden: 2015 waren es rund 6.000 Personen. Das liegt sicherlich auch an der Gesetzesänderung 2013, mit der wir die Zusammenführung von Spätaussiedlerfamilien erleichtert haben. Ein anderes Anliegen, das dem Bund der Vertriebenen seit langem – ich darf sagen: wirklich seit langem – am Herzen lag, war und ist die Entschädigung der zivilen deutschen Zwangsarbeiter. Der Deutsche Bundestag hat beschlossen, dafür in den nächsten drei Jahren Haushaltsmittel in Höhe von 50 Millionen Euro bereitzustellen. Dabei kann es nur um eine symbolische Anerkennung persönlichen Leids gehen – dennoch ein, wenn auch spätes, wichtiges Zeichen, dass uns das erlittene Schicksal vieler Menschen bewusst ist. Herr Fabritius hat eben die nächsten Schritte skizziert. Das Geld muss ja auch bei den Betroffenen ankommen. Die Zeit drängt. Deshalb werden wir alles daransetzen, dass das zügig geschieht. Meine Damen und Herren, die Vergangenheit lässt sich nicht auf Ausschnitte reduzieren. Erst wer sich mit ihr bewusst befasst, vermag auch die Gegenwart besser zu verstehen und einen klaren Blick für die Aufgaben zu gewinnen, vor denen wir heute stehen. Daher ist und bleibt auch der Zweck der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ein zentrales Anliegen der Bundesregierung. Mit der neuen Direktorin – auch ich begrüße Sie ganz herzlich; bislang konnte ich Sie noch nicht kennenlernen –, Frau Gundula Bavendamm, konzentriert sich die Stiftungsarbeit weiter auf den Aufbau der Dauerausstellung und des Informations- und Dokumentationszentrums. Dazu wünsche ich von Herzen viel Erfolg und eine gute Kooperation mit der Bundesbauverwaltung. Angesichts der aktuellen Flüchtlingsproblematik gewinnen die Themen der Stiftung zusätzliche Bedeutung. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Ursachen und Folgen von Zwangsmigration kann helfen, auch derzeitige Entwicklungen besser nachzuvollziehen und vielleicht auch Ansatzpunkte zur Bewältigung heutiger Herausforderungen zu liefern. Ohne Zweifel sind die Gründe, der kulturelle Hintergrund und die Hoffnungen der Menschen, die heute ihre Heimatländer verlassen und in Europa Zuflucht suchen, andere als die der deutschen Heimatvertriebenen vor rund 70 Jahren. Das Verbindende aber liegt in der Erfahrung, alles zurückzulassen und einen Weg ins Ungewisse zu gehen. Daher sei in diesem Zusammenhang auch daran erinnert, dass die Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg einen bedeutenden Beitrag zum Wiederaufbau Deutschlands in West und Ost geleistet haben. Ihnen haben wir zu einem guten Teil zu verdanken, dass Deutschland das ist, was es heute ist: eine in vielerlei Hinsicht erfolgreiche, weltoffene und selbstbewusste Nation. Man kann das gar nicht oft genug sagen. Ehrlich gesagt, gerade auch die heutige Beschäftigung mit Migration bringt wieder Lebensgeschichten zutage, über die wir selten gesprochen haben, auch weil man, wenn man in der DDR lebte, die alte Bundesrepublik nicht kannte. Integration war ja nicht so einfach, wie man nach ihrem Gelingen heute vielleicht meinen könnte, sondern es war ein schwieriger Weg. Umso mehr muss ich sagen: Dass sie gelungen ist, dass keine Verbitterung überwogen hat, sondern dass die Bereitschaft zum Mitmachen überwogen hat, ist ein Teil und ein Glücksfall der deutschen Geschichte. Das ruft uns noch einmal in Erinnerung: Gelungene Integration ist stets auch eine Frage des gegenseitigen Nehmens und Gebens. Wer heute neu zu uns kommt, braucht erst einmal Hilfe, um unsere Sprache zu lernen und um sich für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren, aber auch, um unser Land und unser Leben, unsere Gesellschaft und Werte kennenzulernen, zu verstehen und – was wir auch erwarten – zu respektieren. Sicherlich werden viele wieder in ihre Heimat zurückkehren, sobald es die Situation erlaubt. Auch dann können ihnen die neu erworbenen Kenntnisse helfen. Für diejenigen, die bleiben, gilt es, so schnell wie möglich auf eigenen Füßen zu stehen, sich neue Existenzen aufzubauen, sich Perspektiven zu schaffen. Meine Damen und Herren, die Lebensgeschichten vieler Heimatvertriebener erzählen, wie schwer ein Neuanfang ist – ich sagte es eben. Sie erzählen aber auch von den Erfolgen, in neuer Umgebung Fuß gefasst zu haben. Ich erinnere mich daran, dass Erika Steinbach in einer Rede darauf hingewiesen hatte, wer alles eine Vertriebenengeschichte in Deutschland hat und wie das unsere Nation bereichert. Diese Erfahrung sollte uns zuversichtlich machen, heute auch ganz andere Herausforderungen als damals bestehen zu können. Denn alles in allem haben wir heute eine friedliche Situation in Deutschland und in Europa. Wir spüren aber auch, dass wir jeden Tag wieder neu dafür arbeiten müssen, dass das so ist. Ich denke, wer einmal seine Heimat verloren hat und vertrieben wurde, der wird dieses Gespür vielleicht noch intensiver haben als die, die eine solche Erfahrung nicht machen mussten. Deshalb bitte ich Sie: Seien Sie eine deutliche Stimme in den täglichen Diskussionen. Danke für das, was die Vertriebenen für unser Land getan haben. Herzlichen Dank.
in Berlin
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Forschungsgipfel 2016 am 12. April 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-forschungsgipfel-2016-am-12-april-2016-346462
Tue, 12 Apr 2016 10:30:00 +0200
Berlin
Sehr geehrter Herr Professor Barner, sehr geehrter Herr Professor Hacker, sehr geehrter Herr Professor Harhoff und alle, die hier im inneren und in den äußeren Zirkeln sitzen, ich freue mich, dass ich heute dabei sein kann. Wir alle wissen, dass wirtschaftlicher Erfolg auf wissenschaftlichem Erfolg aufbaut. Dies gilt spätestens seit Beginn der Industrialisierung. Wir feiern in diesem Jahr den 200. Geburtstag von Werner von Siemens. Bereits er hat gesagt: „Die Industrie eines Landes wird niemals eine international leitende Stellung erwerben und sich erhalten können, wenn dasselbe nicht gleichzeitig an der Spitze des naturwissenschaftlichen Fortschritts steht.“ Soweit die Erkenntnis von Menschen, die vor 200 Jahren geboren wurden. Zwar hat sich an der Art der Erkenntnis manches geändert, aber an der Grundlage im Grunde nicht. Wir zählen zu den weltweit erfolgreichen Exportnationen, weil wir mit forschungs- und entwicklungsintensiven Hightech-Angeboten auf den Weltmärkten überzeugen können. Unseren Wohlstand werden wir uns nur erhalten können, wenn wir diese Innovationskraft weiter behalten. In einer Zeit, in der wir auch wieder disruptive Entwicklungen erleben, in der sich neue Qualitäten der industriellen Produktion durch Digitalisierung entwickeln, wird es von großer Bedeutung sein, ob wir innovationsfreudig bleiben, neuartige Produkte in möglichst großer Breite anbieten können und damit weiterhin eine führende Stellung behalten, oder ob uns das nicht gelingt. Ich würde ganz einfach sagen: Die Schlacht ist noch nicht geschlagen. Wir sind nicht ohne Möglichkeiten, aber wir müssen realistisch sein: Sie ist nicht geschlagen. Ich habe auch den Eindruck, wegen zum Teil definitorischer Probleme, wegen Dingen, die manchmal wie ein Fundament noch nicht richtig sichtbar sind, ist es im Augenblick nicht so ganz einfach, überall zu sagen, wie und wo wir stehen – Herr Professor Barner hat es eben für einige Bereiche gesagt; bei der Industrie 4.0, okay. Aber insgesamt betrachtet ist es nicht ganz einfach, weil auch sehr viele Forschungsgebiete ineinandergreifen – das Internet der Dinge, die künstliche Intelligenz, die biologischen Möglichkeiten, die sich auch synthetisch ergeben. Ich sage es hier ganz offen: Mir ist nicht ganz klar, in welchen Bereichen wir wirklich top sind, in welchen Bereichen wir uns Wissen dazukaufen müssen, wie sich die Verwebung verschiedenster Bereiche eines Tages darstellen wird und ob wir dann alle strategischen Fähigkeiten in unserer Hand haben, die wir brauchen, um wirklich vorn mit dabei zu sein. Das war jetzt aber auch schon der zweifelndste Teil meiner Rede. Ansonsten werde ich über das Gute sprechen, weil ich denke, dass wir in den vergangenen Jahren wirklich vorangekommen sind, auch was die Verlässlichkeit der Finanzierung im Forschungsbereich anbelangt. Seitens der staatlichen Institutionen gilt das in hohem Maß, was auch dazu geführt hat, dass viele Wissenschaftler wieder nach Deutschland zurückgekehrt sind. Man kann sich im außeruniversitären Bereich darauf verlassen, beständige Finanzzusagen zu haben. Wir haben uns – natürlich zusammen mit der Wirtschaft – dem Drei-Prozent-Ziel recht gut genähert. Wir haben auch mit unserer Hightech-Strategie, die wir in dieser Legislaturperiode neu verbreitert und auch mehr mit den einzelnen Ressorts verwoben haben, ein erfolgreiches Innovationssystem mit ständiger Nachverfolgung, wo wir stehen und wo wir nicht stehen. Wir brauchen natürlich ein sehr enges Zusammenwirken der verschiedenen Akteure. Deshalb legt die Bundesregierung mit ihrer Digitalen Agenda sehr viel Wert darauf, die verschiedenen Ressorts in enger Kooperation, in beständigem Austausch zu haben. Ich würde sagen, das funktioniert heute deutlich und weitaus besser als in vergangenen Jahren, was absolut von Vorteil ist. Das spiegelt sich auch in unserem Innovationsdialog wider. Ich denke, die gesamte Digitalisierung veranlasst uns sowieso, auch in anderen Netzwerken zu arbeiten. Das gilt auch für Regierungen. Sie veranlasst uns auch, mit flacheren Hierarchien zu arbeiten. Das ist für administrative Körper keine ganz einfache Sache. Dem werden wir uns im Regierungshandeln weiter stellen müssen. Aber das gelingt in Ansätzen bereits sehr gut. Wir haben also mit der Digitalen Agenda eine systematische Vorgehensweise. Wir wissen allerdings, dass wir auch auf europäische Initiativen angewiesen sind. Die Europäische Kommission hat die Wege zu einem digitalen Binnenmarkt skizziert. Es sind deutliche Fortschritte gemacht worden, unter anderem mit Teilen der Umsetzung des Telekommunikationspakets, das ja viele Jahre gedauert hat und erst in letzter Zeit umgesetzt werden konnte. Es ist eine gute Nachricht, dass die Datenschutz-Grundverordnung verabschiedet wurde. Es wird allerdings bei den vielen unbestimmten Rechtsbegriffen noch sehr viel Kraft darauf gelenkt werden müssen, wie wir sie mit Leben erfüllen. Hierbei wird es vor allen Dingen auch darauf ankommen, dass die einzelnen Mitgliedstaaten wirklich ein gemeinsames „level playing field“ haben und die Auslegung in den einzelnen Ländern nicht wieder sehr unterschiedlich ausfällt. Wir haben uns eine sehr gute Ausgangsposition beim Thema Industrie 4.0 erarbeitet – Herr Professor Barner hat darauf hingewiesen. Hierbei geht es ja um verschiedene Aspekte, zum einen um eine veränderte Fertigung von Dingen und zum zweiten natürlich auch um die veränderten Produkt-Kunden-Beziehungen. Ich glaube, dass wir bei der Veränderung der Fertigung relativ gut dastehen und dass wir das, was andere das Internet der Dinge nennen, mit Industrie 4.0 auch recht gut abbilden. Was das Denken vom Kunden her und die Veränderungen im Marketing anbelangt, dürfen wir nicht nachlassen. Da haben wir vielleicht noch nicht immer die abschließende Lösung gefunden, aber Sie werden heute sicherlich darüber sprechen: Kann das die traditionelle Industrie auch noch mitmachen oder braucht man dazu sozusagen Menschen, die aus dem Leben des Internets kommen und die das dann sozusagen gemeinsam mit den Fertigern tun? Deutschland hat mit einem sehr starken industriellen Wertschöpfungsanteil natürlich ein hohes Interesse daran, nicht zur verlängerten Werkbank von anderen zu werden. Hierbei muss man sehr realistisch sehen: Die geringe Zahl ausschließlicher Internetunternehmen, die also von der Software-Seite her kommen, ist durchaus ein strategischer Nachteil, den man – darüber muss diskutiert werden – sicherlich wieder gutmachen kann, aber an dem wir hart arbeiten müssen, um nicht in die Hände von Unternehmen zu gelangen, die sich eben im Wesentlichen mit dem Management von Daten beschäftigen. Dazu, und das will die Bundesregierung sehr gerne tun, müssen wir sozusagen eine positive Einstellung der Menschen zum Big Data Management erzeugen. Daten sind Rohstoffe; sie dürfen nicht irgendwie per se mit einem negativen Hautgout behaftet werden. Natürlich geht es darum, wie man sie so einsetzt, dass Schutz persönlicher Daten und vieles andere mehr gewährleistet sind. Aber die Menschen werden ein hohes Interesse an Produkten durch Big Data Mining, wie man so schön sagt, haben. Und deshalb müssen wir aufpassen, dass sie diese Produkte nicht woanders als bei uns erwerben. Wir haben eine Vielzahl an Förderinstrumenten gerade auch für die Gründerszene. Das ist ein großes Thema. Hierzu muss man sagen: Wir haben in letzter Zeit vieles getan, aber wir sind nicht am Ende unserer Bemühungen. Wir werden auch bei der Kabinettsklausur im Mai wieder darauf schauen. Ich bin nach wie vor ein bisschen betrübt darüber, dass wir mit der Europäischen Kommission bei allem, was die Fördermöglichkeiten und gerade auch die Verlustvorträge und den Umgang bei einem Eigentümerwechsel in Start-ups anbelangt, doch nur sehr schwer vorankommen. Wir haben auch nach wie vor strategische Nachteile in Europa – ich nenne das jetzt einfach so –, was die Zerklüftung des europäischen Telekommunikationsmarktes anbelangt. Die Fusionsmöglichkeiten sind geringer als in anderen Regionen der Welt, in China oder den Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn wir im globalen Wettbewerb stehen, dann müssen wir versuchen, auch diese strukturellen Schwierigkeiten zu überwinden. Es ist kein Geheimnis, dass sehr lange auf die Konsumentenpreise geachtet wurde und dass dadurch die Investitionssummen, die den Unternehmen zur Verfügung stehen, im Vergleich mit anderen Regionen der Welt auch nicht übergroß sind. Wir werden uns auch immer wieder anschauen müssen: Wie arbeitet man in den führenden asiatischen Ländern, wie arbeitet man in den Vereinigten Staaten von Amerika? High-Tech-Gründerfonds, EXIST, INVEST – das alles sind Dinge, mit denen Insider vertraut sind; also mit Möglichkeiten der steuerlichen und sonstigen Förderung. Jetzt sind noch einmal zwei neue Instrumente aufgelegt worden: Der „coparion“ genannte Fonds ist einer dieser seltenen Fälle, ebenso die ERP/EIF-Wachstumsfazilität. Wir hoffen, dass wir damit auch vorankommen. Dass wir den Standort Deutschland für Start-ups attraktiver machen wollen, aber auch müssen, das haben Sie, lieber Herr Professor Harhoff, immer wieder unterstrichen – einmal mehr im aktuellen Gutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation: „Innovative Geschäftsmodelle der digitalen Wirtschaft werden derzeit insbesondere von jungen Unternehmen aufgegriffen und treiben das Wachstum der Internetwirtschaft voran.“ Also muss hier viel Kraft hineingelegt werden. Ich habe den Eindruck, dass neben London inzwischen auch Paris, also Frankreich, gewaltige Schritte nach vorne gemacht hat. Und was in diesen beiden Ländern in Europa möglich ist, sollte eigentlich auch bei uns möglich sein. Denn Sie geben im Gutachten nämlich auch zu bedenken: „Für etablierte Unternehmen, die dieser Entwicklung nicht folgen, besteht die Gefahr, dass sie ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren.“ In diesem Zusammenhang will ich kurz einen Blick auf den Mittelstand werfen, der ja in Deutschland sehr weit und breit definiert ist. Es wird sehr stark darauf ankommen, dass sozusagen die großen Zugpferde die mittelständischen Unternehmen mitnehmen und dass wir auf breiter Front die Notwendigkeiten der Digitalisierung verankern. Daran wird sich auch ganz wesentlich mit entscheiden, ob wir die Zeichen der Zukunft wirklich ausreichend erkennen, eben weil ja der Mittelstand das Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist. Um dem Transfer von digitalem Know-how auf die Sprünge zu helfen, richten wir als Bundesregierung sogenannte Kompetenzzentren ein. Ich glaube, dass wir hiermit eben auch kleineren und mittelständischen Unternehmen eine gute Möglichkeit geben, Fachwissen aufzunehmen, neue Entwicklungen kennenzulernen und selbst zu testen. Ich glaube, das ist ein vernünftiger Schritt. Die Sicherheitsfragen – Datenschutz auf der einen Seite, Cybersicherheit auf der anderen Seite – spielen eine große Rolle. Die Bundesregierung überarbeitet derzeit ihre Cybersicherheitsstrategie. Wir sind hierbei mit Sicherheit nicht das führende Land der Welt, aber es wird von allergrößter Bedeutung sein, vor allem auch eigene Infrastrukturen wirklich absichern zu können. Deshalb ist die Arbeit hieran von großer Wichtigkeit. Ein weiterer Bereich, über den Sie heute auch sprechen werden, ist die automatisierte und vernetzte Mobilität. Wir sind ein Hightech-Autoland, insofern ist auch dieses Thema für unsere Volkswirtschaft von entscheidender Bedeutung. Wir schauen, dass wir die Rahmenbedingungen in diesen Jahren verbessern – das Pilotprojekt „Digitales Testfeld Autobahn“ auf der A9 ist ein Beispiel dafür. Aber wenn man sich international umschaut, dann sieht man, dass wir bei Weitem nicht die einzigen sind, die sich mit autonomem Fahren beschäftigen. Neben Mobilität und Verkehr geht es auch in vielen anderen Bereichen um autonome Systeme und Assistenzsysteme. Ich habe manchmal, wenn wir in unseren Parteien diskutieren, die im Deutschen Bundestag vertreten sind oder die die Koalition tragen, den Eindruck, dass die Dynamik der Entwicklung noch nicht bei jedem Mitglied angekommen ist. Wir müssen auch sehr viel Lernarbeit unter den Abgeordneten, unter den Vertretern auch in den verschiedenen Parlamenten in den Ländern und in den Gemeinden leisten, denn bestimmte Entwicklungen werden schneller kommen, als wir uns das vielleicht vor fünf oder zehn Jahren noch vorgestellt haben. Wir müssen vor allen Dingen auch die Chancen sehen. Das will ich auch mit Blick auf den Bereich Robotik ganz deutlich sagen. Wenn man sieht, was Roboter und insgesamt das ganze Thema Mensch-Maschine-Beziehung schon heute ausmachen, dann kann man sagen, dass auch hierbei die innere Einstellung sein muss, dass das noch zu unseren Lebzeiten eine große Rolle spielen könnte. Diese Einstellung ist noch nicht durch alle Bevölkerungsschichten hindurch gewachsen, die Mensch-Maschine-Beziehung entwickelt sich trotzdem rasant. Es ist für den Menschen ja auch nicht immer ganz einfach zu erkennen, dass Maschinen manche Dinge einfach sehr gut und fehlerfrei machen können. Dieser Prozess, dass der Mensch dann andere Fähigkeiten entwickeln muss, aber nicht mehr die Routinefähigkeiten übernehmen muss, wird natürlich in der Arbeitswelt große Probleme oder – sagen wir es positiv – Aufgaben mit sich bringen. Die Bundesarbeitsministerin hat diesen Prozess „Arbeiten 4.0“ auch mit einer Plattform, mit Kongressen, mit einem Grünbuch und mit der Erarbeitung eines Weißbuchs klar in den Blick genommen. Die entscheidenden Schritte stehen natürlich noch an: Wie schaffen wir es, die gesamte Breite der Tätigkeiten so zu ordnen, dass auf der einen Seite genügend Freiraum bleibt, der gefordert wird, den die Menschen wollen – ich nenne das Stichwort Individualisierung – und auf der anderen Seite genügend Leitplanken da sind, um nicht sozusagen eine 24-Stunden-Verfügbarkeit von jedem, der einmal eine gute Idee hat, zu erzwingen. Insofern werden noch harte Diskussionen über die Zukunft der Arbeitswelt stattfinden. Wir wissen, dass, um die zukünftige Fachkräfteversorgung sicherzustellen, Bildung eine zentrale Rolle spielt. Wir werben seit Jahren für die MINT-Fächer – durchaus mit ein bisschen Erfolg. Zum Girls‘ Day gibt es immer eine Quizfrage, wie viele Mädchen denn unter den Berufsanfängern in bestimmten Berufen sind. Ich bin dann selbst immer erschrocken, dass wir beim Anteil der Mädchen meistens noch irgendwo unter 20 Prozent landen. Es wäre schön und gut, wenn sich Mädchen auch den MINT-Fächern mehr öffnen könnten, zumal diese Fächer auch sehr gute Verdienstmöglichkeiten mit sich bringen. Die Offenheit für Naturwissenschaften, für technische Entwicklungen muss da sein. Wir müssen auch immer wieder jedem, der die Möglichkeiten der digitalen Entwicklung ganz selbstverständlich nutzt, deutlich machen: Ohne Fachkräfte, die das alles entwickeln, wird es nicht gehen. Insofern ist Bildungsarbeit von größter Bedeutung. Ich darf als Bundeskanzlerin über Schulen nicht sprechen, weil ich dafür nicht zuständig bin, aber ich sage einmal: Die Methodik des Lernens muss sich natürlich auch verändern. Weil wir teilweise disruptive Entwicklungen haben, ist es auch ganz wichtig, das Thema Lehrerbildung immer wieder anzusprechen. Hierbei unternimmt das Bundesbildungsministerium einige Aktivitäten, um zu versuchen, auch das Mitlernen des Lehrers zu verbessern; denn es ist vielleicht nicht ganz selbstverständlich, wenn die Schüler dem Lehrer etwas erklären. So viel an Impulsen von meiner Seite. Ich freue mich, dass Sie hier in so breiter Runde über die Dinge diskutieren. Ich glaube, nur schonungslose Analysen werden es uns ermöglichen, wirklich voranzukommen. Wir werden in wenigen Tagen auf der Hannover Messe den amerikanischen Präsidenten mit einer großen Industriedelegation aus den Vereinigten Staaten von Amerika zu Besuch haben. Da wird es sich zeigen, dass es sozusagen auch ein bisschen ein Kräftemessen gibt, wer denn auf dem Weg in die Industrie 4.0 welche Karten im Spiel hat. Andere auf der Welt sind eben auch ehrgeizig. Ich freue mich, dass Sie jetzt zwischen den Standardisierungsorganisationen – also auch zwischen dem amerikanischen System IIC und der Plattform Industrie 4.0 – zusammenarbeiten. Ich glaube, das bringt uns alle voran. Wir wissen: Wer die Standards setzt, hat auch gute Chancen der zukünftigen Verbreitung. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Festbankett zum 50jährigen Jubiläum des Zonta-Clubs
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-festbankett-zum-50jaehrigen-jubilaeum-des-zonta-clubs-786936
Sat, 09 Apr 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut: Grütters
Berlin
Kulturstaatsministerin
Vor einiger Zeit hat uns Deutschlands größte Boulevardzeitung erhellende Erkenntnisse der amtlichen Statistik zur Lebenssituation der Hauptstadt-Frau präsentiert: Die durchschnittliche Berlinerin braucht demnach 28 Minuten im Badezimmer und kramt ganze 67 Tage ihres Lebens in der Handtasche. Keine Ahnung, wie man so etwas als Wissenschaftler des Statistischen Landesamtes seriös ermittelt, aber eines steht fest: Männer haben ganz offensichtlich mehr Zeit, die sie ihrem beruflichen Fortkommen widmen können. Dass die Statistiken immer noch schlechtere Aufstiegschancen und geringere Einkommen von Frauen im Vergleich zu Männern ausweisen, wird aber vermutlich nicht nur daran liegen – auch wenn es durchaus Zusammenhänge zwischen weiblicher Mode und weiblicher Mobilität in Beruf und Gesellschaft gibt. Vielleicht auch diesen Zusammenhängen haben Sie sich, verehrte Berliner Zontians, heute Nachmittag bei Ihrem Ausflug in die Modegalerie des Kunstgewerbemuseums gewidmet. Passend jedenfalls wäre es: Ein Artikel des Tagesspiegel zum 50. Jubiläum des Berliner Zonta-Clubs jedenfalls stand unter der treffenden Überschrift „Raus aus dem Korsett“. Raus aus dem Korsett: Dafür steht Ihr Club, und gemeint sind nicht die Fischbeinkorsetts, die einst eine schmale Frauentaille formten – nein, gemeint sind Normen, Konventionen, Nachteile und Vorurteile, die der Entfaltung von Frauen Grenzen setzen. So verschieden die Frauen sind, die den Berliner Zonta-Club seit 1966 geprägt haben – eines haben sie alle gemeinsam: Es sind Frauen, die gleichstellungspolitisch Verantwortung übernehmen und dazu beitragen, Korsetts dorthin zu verbannen, wo sie hingehören: ins Museum: sei es, indem sie selbstbewusst ihren eigenen Weg gehen, sei es, indem sie Frauenkarrieren fördern, sei es, indem sie schlechter gestellten Frauen zu einem selbstbestimmten Leben verhelfen. Der Umstand, dass wir Frauen uns heute nicht mehr in enge Korsetts zwängen müssen, trägt nicht nur zur Entfaltung von Begabungen bei, sondern ganz profan auch zum unbefangenen kulinarischen Genuss. Da ist es nur konsequent, 50 erfolgreiche Jahre mit einem opulenten Abendessen zu feiern. Herzlichen Dank für die Einladung an diesen reich gedeckten Tisch zum Festbankett, liebe Annett Hoffmann-Theinert! Falls Sie die Auswahl Ihrer Festrednerin mit der Erwartung verknüpft haben, dass Kunst und Kultur gewiss auch in Sachen Gleichberechtigung Speerspitze des gesellschaftlichen Fortschritts sind, dass es aus Kunst und Kultur also besonders Inspirierendes, gar Ermutigendes im Sinne der Gleichberechtigung zu vermelden gibt – muss ich Sie allerdings leider enttäuschen. Die Kunst hat ihrem Ruf und ihrem Selbstverständnis als gesellschaftliche Avantgarde in Sachen Geschlechtergerechtigkeit bisher leider keine Ehre gemacht. Schauen wir zurück: Künstlerische Fähigkeiten wurden Frauen schlicht abgesprochen, von der künstlerischen Ausbildung waren sie lange ausgeschlossen. Wo es Frauen dennoch gelang zu reüssieren, bremsten gesellschaftliche Konventionen die weibliche Schaffenskraft. So stellte der Kunsthistoriker Wilhelm Lübke 1862 mit Befriedigung fest: „Sie haben über Pinsel und Palette nicht die Sorge für die Kinder und den Mann, über den Farbtöpfen nicht die Kochtöpfe […] vergessen […]. Solange sie so treffliche Töchter, Gattinnen und Mütter sind, mögen wir, dünkt mich, es leichter ertragen, wenn sie keine Raffaels und Michelangelos werden.“ Zwar gab es zum Glück zu allen Zeiten Frauen, die sich nicht damit begnügten, „treffliche Töchter, Gattinnen und Mütter“ zu sein – und die auch noch den Mut hatten, ihren eigenen Stil zu finden statt Raffaels oder Michelangelos sein zu wollen. Doch ihr enges Korsett, das die Entfaltung und die Anerkennung ihrer Talente verhinderte, wurden sie trotzdem nicht los. So schrieben sich im Jahr 1919 – im Gründungsjahr der Konföderation der Zonta-Clubs -, als das Staatliche Bauhaus in Weimar seine Pforten öffnete, zwar 84 Frauen und 79 Männer für ein Studium ein, und Walter Gropius verkündete zunächst „absolute Gleichberechtigung“. Doch schon bald bekamen die Bauhaus-Meister kalte Füße: Die große Anzahl von Frauen, fürchtete Gropius, könnte dem Ansehen des Bauhauses schaden. Gerhard Marcks, damals Formmeister der Töpferei, plädierte dafür, „möglichst keine Frauen in die Töpferei aufzunehmen, beides ihret- und der Werkstatt wegen“. Ähnlich besorgt gab man(n) sich in der grafischen Druckerei und in der Metallwerkstatt. Im Gegenzug wurde 1920 großzügigerweise die Weberei zur Frauenklasse erklärt, was den Maler Oskar Schlemmer, ebenfalls einer der Bauhaus-Pioniere, zum Dichten veranlasste: „Wo Wolle ist, ist auch ein Weib, das webt, und sei es nur zum Zeitvertreib.“ Ironie der Bauhausgeschichte, dass ausgerechnet die Weberei – die Frauenklasse!- zu einer der künstlerisch produktivsten und auch noch kommerziell erfolgreichsten Werkstätten wurde … aber das nur nebenbei. Als Indiz dafür, dass die Anerkennung für weibliche und männliche Leistungen auch im Kunstbetrieb des 21. Jahrhunderts noch sehr ungleich verteilt ist, darf der relativ geringe Anteil der Bilder weiblicher Künstlerinnen in Museen, Sammlungen und Galerien gewertet werden. Hier heißt es für uns Frauen – wie übrigens auch in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Medien – : hartnäckig bleiben! Dass es vereinzelt immer noch Männer gibt, die Frauen bescheinigen, nicht malen zu können, wie Georg Baselitz dies vor nicht allzu langer Zeit zum wiederholten Male in einem Interview zu Protokoll gab, sollte uns dabei nicht weiter irritieren. Mit dieser Meinung haben sich schon andere blamiert. Anton von Werner beispielsweise war wie Georg Baselitz der Meinung, dass Frauen nicht malen können; 1904 verweigert er als Berliner Akademiedirektor 200 Künstlerinnen den Zugang zum Studium. Eine dieser Frauen war Käthe Kollwitz. Ein kleines Aquarell von ihr kostet heute zehnmal so viel wie ein großformatiges Ölbild von ihm – eine späte Genugtuung, aber eine Genugtuung, die zeigt, dass es sich lohnt, für die Chancen und Rechte von Frauen zu kämpfen, so wie die Zontians. Vor allem aber zeigt dieser kleine Exkurs in die bildende Kunst, dass die alten Rollenkorsetts leider längst noch nicht alle ins Museum gewandert sind. Rein rechtlich sieht es heute natürlich deutlich besser für uns Frauen aus als im Gründungsjahr des Zonta-Clubs Berlin, als Frauen überhaupt nur unter der Bedingung erwerbstätig sein durften, dass dies – ich zitiere aus dem so genannten „Gleichberechtigungsgesetz“ von 1957 – „mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar“ war. Aber machen wir uns nichts vor: Von fairen Chancen für beide Geschlechter kann noch lange keine Rede sein. Gleichberechtigung ist deshalb ein Ziel, für das es sich auch heute zu streiten und zu kämpfen lohnt. Ich denke dabei nicht nur an Aufstiegschancen und gleiches Geld für gleiche Arbeit; ich denke auch nicht nur an überkommene Rollenvorstellungen, die Frauen (und übrigens auch Männer, wenn auch in anderen Bereichen) heute noch an der Entfaltung ihrer Potentiale hindern. Ich denke auch an die Menschen, die Zuflucht suchen in Deutschland und die aus den Kulturen ihrer Herkunftsregionen ein anderes Verständnis der Geschlechterrollen mitbringen. Es war richtig, und ich bin dankbar dafür, dass Angela Merkel die europäischen Menschenrechtsstandards angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe im September 2015 zum Leitbild ihrer Flüchtlingspolitik gemacht hat – bei allen Risiken und Unwägbarkeiten, mit denen eine Entscheidung dieser Tragweite verbunden ist. Doch die Mühen der Integration werden unser aller Kraft erfordern – gerade auch in gleichstellungspolitischer Hinsicht. Schlimmer als daran zu scheitern wäre allerdings, es nicht einmal versucht zu haben. Ihr Engagement für Gleichberechtigung und Emanzipation, liebe Zontians, ist jedenfalls heute wichtiger denn je! Nicht zuletzt deshalb wünsche ich dem Zonta-Club Berlin auch weiterhin viel Erfolg, gesellschaftliche Gestaltungskraft und vor allem viele engagierte Mitglieder! Leuchtende Vorbilder haben wir ja hier in Berlin zum Glück genug; erst kürzlich habe ich in der Zeitung gelesen, dass Berlin deutschlandweit Vorreiter für Frauen in Führungspositionen ist: Jede vierte Führungskraft ist weiblich, und jedes dritte Unternehmen wird von einer Frau gegründet. Gönnen wir uns zum Schluss trotzdem einen Blick über den Horizont der Wirtschaft und auch der Kultur hinaus auf den Sport. Bemerkenswerterweise haben Frauen ihre Rechte nämlich selbst in einer klassischen Männerdomäne durchgesetzt – im Fußball. Wussten Sie, dass noch im Gründungsjahr des Zonta-Clubs Berlin – genauer: bis 1970 – ein Frauenfußballverbot des DFB galt? Aus – ich zitiere – „grundsätzlichen Erwägungen und ästhetischen Gründen“ waren Fußballspiele mit weiblicher Beteiligung unter Androhung heftiger Strafen für die Vereine untersagt. Kein Scherz! Die theoretische Untermauerung lieferten Publikationen wie die 1953 veröffentlichte Studie eines niederländischen Psychologen und Anthropologen. Darin heißt es, ich zitiere: „Das Fußballspiel als Spielform ist wesentlich eine Demonstration der Männlichkeit. Es ist noch nie gelungen, Frauen Fußball spielen zu lassen, wohl aber Korbball, Hockey, Tennis und so fort. Das Treten ist wohl spezifisch männlich, ob das Getretenwerden weiblich ist, lasse ich dahingestellt. Jedenfalls ist das Nichttreten weiblich.“ Das, meine Damen und Herren, würde heute vermutlich niemand mehr leichtfertig behaupten – und das liegt gewiss nicht nur an den zwei WM- und den acht EM-Titeln der deutschen Frauen-Nationalmannschaft. Da wäre es doch gelacht, wenn die Erfolgsgeschichte weiblicher Emanzipation sich nicht auch in Zukunft weiter erzählen ließe! Sie, die Berliner Zontians, werden dazu ganz sicher, so wie bisher, ihren Beitrag leisten: als Mentorinnen, als Netzwerkerinnen, als Vorbilder und vor allem als erfolgreiche und durchsetzungsstarke Unternehmerinnen und Führungspersönlichkeiten. Gut, dass wir Sie haben! Herzlichen Glückwunsch zum 50-jährigen Jubiläum und – von Frau zu Frau – ein herzliches Dankeschön für Ihr gleichstellungspolitisches Engagement!
Zum Jubiläum des Zonta-Clubs würdigte Kulturstaatsministerin Grütters das Engagement der Mitglieder für Gleichberechtigung und Emanzipation. Auch in Kunst und Kultur gelte es bei der Gleichstellung für Frauen: „hartnäckig bleiben!“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des Treffens mit Vertreterinnen und Vertretern der bei der Flüchtlingsaufnahme engagierten Verbände und gesellschaftlichen Gruppen am 8. April 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-des-treffens-mit-vertreterinnen-und-vertretern-der-bei-der-fluechtlingsaufnahme-engagierten-verbaende-und-gesellschaftlichen-gruppen-am-8-april-2016-321830
Fri, 08 Apr 2016 11:00:00 +0200
Berlin
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett, Sie sehen, wenn ich das unseren Gästen sagen darf, dass die Bundesregierung nach wie vor in großer Breite dabei ist. Wir freuen uns, dass wir uns heute wieder bei einem Treffen mit Vertretern von Verbänden, Organisationen und Religionsgemeinschaften sehen. Ich bedanke mich bei allen, die sich Zeit genommen haben, um heute mit dabei zu sein. Die Tatsache, dass wir hier in so breiter Runde sitzen, zeigt, in welcher Breite auch die Gesellschaft als Ganzes mit der Frage und der Bereitschaft, Schutzsuchenden zu helfen, gefordert ist, wie sehr sie aber auch bereit ist, dieser Forderung nachzukommen. Deshalb ist es nach wie vor ein sehr schönes Zeichen, dass wir hier nicht nur um einen runden Tisch sitzen, sondern dass sich daraus auch eine große Gemeinsamkeit ergibt. Ich denke, wir sind heute in unserem Treffen gut beraten, über zwei Dinge zu sprechen – zum einen über die aktuelle Situation. Wir alle spüren auch angesichts der geringer werdenden Zahlen der zu uns Kommenden, aber auch angesichts der großen Zahl derjenigen, die schon bei uns sind, dass zum anderen das Thema Integration immer stärker in den Vordergrund rückt und Platz greift. Wir haben in der Nacht vom 31. Dezember zum 1. Januar leider einen negativen Eindruck davon bekommen, was nicht gelingende Integration an Verunsicherung, Ängsten und Sorgen hervorrufen kann. Auch deshalb nehmen wir das Thema Integration natürlich sehr ernst. Wir wissen, dass Integration viele Facetten hat. Ich hoffe, dass wir heute Zeit und Gelegenheit haben, diese Facetten etwas genauer zu beleuchten. Die Tatsache, dass wir über Integration sprechen, führt auch dazu, dass die Staatsministerin für Kultur, Monika Grütters, und der Chef des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, heute zum ersten Mal dabei sind. Das heißt, wir spannen einen Bogen von rechtlichen Fragen der Integration bis hin zu Fragen der kulturellen Bedeutung von Integration. Wir alle sind uns vom ersten Tag an einig gewesen, dass eine wichtige Facette die Frage ist, wie wir den Prozess steuern und ordnen können, und dass wir Fluchtursachen bekämpfen. Hierbei ist in den vergangenen Monaten einiges geschehen. Wir hatten die Konferenz in London, die in den wesentlichen Fragen der finanziellen Ausstattung der in Jordanien, im Libanon, im Irak und auch in der Türkei lebenden Flüchtlinge Fortschritte erbracht hat. Hinzu kommt der politische Prozess, der wesentlich auch vom Bundesaußenminister begleitet wird – zum Beispiel die Verhandlungen in Syrien. Die Tatsache, dass wir seit einigen Wochen einen zwar fragilen, aber immerhin einen Waffenstillstand in Syrien haben, hat durchaus auch zu einer gewissen Beruhigung der Lage im Augenblick geführt, zumindest nicht zu der Angst, Hunderttausende neuer Flüchtlinge zu bekommen. Wir haben unsere Entwicklungszusammenarbeit, unsere Zusammenarbeit mit den Nachbarn Europas verstärkt und intensiviert – sowohl auf der Seite der Europäischen Union als auch auf deutscher Seite. Der Bundesinnenminister zum Beispiel war in Marokko, Tunesien, Algerien und Ägypten. Es lohnt sich ein Blick auf die Landkarte. Ich habe mir eine Landkarte erstellen lassen, in der der Schengen-Raum in einer Farbe und die Nachbarländer in einer anderen Farbe dargestellt sind. Sie sehen, dass Europa mit vielen Nachbarn gesegnet ist – von Grönland über Russland, die Ukraine und Georgien bis zur Türkei und interessanterweise – das ist mir persönlich gar nicht so klar gewesen – dazu, dass ein Nachbar von Zypern, das ja auch zum Schengen-System gehört, Syrien ist. Das heißt, Syrien ist direktes Nachbarschaftsland des Schengen-Raums. Von da an wird es dann sozusagen noch interessanter – mit dem Libanon, mit Israel, mit Ägypten, mit Libyen, mit Tunesien, mit Algerien und mit Marokko. Dann sind wir ungefähr einmal um Europa herum. Dann kommt ein Stück Atlantik. Mit Blick auf die Kanarischen Inseln können Sie die Westsahara noch hinzuzählen. Das ist die Nachbarschaft Europas. Wenn man sozusagen die Außenhaut des Schengen-Raums schützen will, dann muss man Wege dafür finden, ansonsten wird jeder wieder anfangen, sich seine eigene Grenzsicherung aufzubauen – mit all den negativen Implikationen, die das auch zur Folge hat. Das heißt, wir werden unsere Nachbarschaftspolitik noch einmal ganz anders ausrichten müssen und uns überlegen müssen: Wie können wir eben auch bei unseren Nachbarn – sozusagen in einem konzentrischen Kreis um die Europäische Union herum – für Stabilität und für Frieden sorgen? Eine große, neue Aufgabe neben Syrien stellt sich uns in Libyen, wo wir an der Festigung einer Einheitsregierung arbeiten, die es jetzt immerhin bis Tripolis geschafft hat und die wir unterstützen. So werden wir noch viele, viele Probleme haben. Im Zentrum der gegenwärtigen Diskussion steht – das ist ja einer der Beiträge, die geleistet wurden, um die Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, stark zu reduzieren – die Abmachung mit der Türkei. Sie wird hoch diskutiert. Ich glaube, dass es im Sinne der Lastenteilung richtig war und ist, diese Absprache mit der Türkei zu treffen. Die Türkei beherbergt 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge und noch 300.000 Flüchtlinge aus anderen Ländern. Dass das Land finanziell von der Europäischen Union unterstützt wird, ist, glaube ich, unstrittig. Dass man versucht, die Anbindung an die Europäische Union zu festigen, ohne damit gleich die Vollmitgliedschaft vor Augen zu haben, die Beitrittsprozesse voranzubringen und über Visafragen sowie Visafreiheit zu sprechen, ist bei allen Problemen, die es dabei gibt, auch richtig. Deutlich zu machen, dass wir uns der illegalen Migration entgegenstemmen, ist nach meiner festen Auffassung auch richtig. Wir dürfen nicht vergessen, dass allein in diesem Jahr schon 400 Menschen in der Ägäis umgekommen sind. Es kann eigentlich nicht sein, dass man zuschaut, wie Schlepper und Schmuggler dort sozusagen das Wort und die Feder führen, und dass wir als Staaten – im Übrigen zwei Staaten, die auch NATO-Mitglieder sind und sich auf bestimmte gemeinsame Werte berufen – dem einfach zusehen und sagen: da können wir halt nichts machen. Das kann so nicht sein. Jeder Migrant wird eine individuelle Prüfung bekommen. Wir sind mit den NGOs in einem, sagen wir einmal, kritischen Dialog, aber durchaus in einem Dialog, damit möglichst viel Zusammenarbeit erfolgen kann. Wenn wir Illegalität gestoppt haben werden – vor allem darum geht es im Augenblick –, wird die Frage natürlich sein: Zu was ist Europa bereit, wenn es darum geht, auf freiwilliger Basis Flüchtlinge auch weiterhin aufzunehmen? Das Ergebnis kann ja nicht heißen, dass sich – egal, wie viele Flüchtlinge in der Türkei sind – der Nachbar Syriens, also Europa mit seinen 500 Millionen Einwohnern, überhaupt nicht beteiligt. Ich habe das jetzt etwas ausführlicher dargelegt, damit wir dann gleich zu den Innenwahrnehmungen kommen können. Wir haben zwischendurch auch eine NATO-Mission eingesetzt – die Bundesverteidigungsministerin hat daran sehr intensiv mitgearbeitet –, um die türkische Küstenwache zu unterstützen. Dabei haben wir auch gelernt, wie viele Probleme es zwischen Griechenland und der Türkei heute noch gibt. Vielleicht hilft die Herausforderung ja auch dabei, dass die Kooperation zwischen diesen beiden Nachbarn besser wird. Es gab jedenfalls sehr hoffnungsvolle bilaterale Regierungskonsultationen der türkischen Regierung und der griechischen Regierung. Auch das hilft sicherlich der Stabilität der Region. Ich bedanke mich noch einmal dafür, dass Sie gekommen sind. Ich glaube oder hoffe, dass es Ihre Zustimmung findet, dass wir jetzt als Teil 1 über die aktuelle Situation sprechen, wozu ich zuerst dem Bundesinnenminister das Wort geben würde, und dass wir uns dann in einem zweiten und etwas länger andauernden Teil mit dem Thema Integration mit all seinen Facetten und dem befassen, was in Arbeit ist und in den nächsten Wochen, hoffe ich, sozusagen das Licht der Welt erblicken wird – sowohl gesetzliche als auch staatliche Maßnahmen. Ihnen allen noch einmal herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der Ausstellung „Moderne Meister. ‚Entartete‘ Kunst im Kunstmuseum Bern“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-ausstellung-moderne-meister-entartete-kunst-im-kunstmuseum-bern–346578
Wed, 06 Apr 2016 00:00:00 +0200
Im Wortlaut: Grütters
Bern
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort. – Anrede, In einem kurzen, weniger bekannten Aufsatz setzt sich der Philosoph Walter Benjamin mit der Erwerbungsgeschichte einer Sammlung auseinander – seiner eigenen Büchersammlung, die er leidenschaftlich pflegte. Laut Benjamin ist, ich zitiere, „eigentlich Erbschaft die triftigste Art und Weise zu einer Sammlung zu kommen“. „Denn“, so Benjamin weiter, „die Haltung des Sammlers seinen Besitztümern gegenüber stammt aus dem Gefühl der Verpflichtung des Besitzenden gegen seinen Besitz. Sie ist also im höchsten Sinne die Haltung des Erben. Den vornehmsten Titel einer Sammlung wird darum immer ihre Vererbbarkeit bilden.“ [Quelle: Walter Benjamin, „Ich packe meine Bibliothek aus“] Diese Haltung dem eigenen Besitz gegenüber ist es, die in der Maxime „Eigentum verpflichtet“ im deutschen Grundgesetz anklingt. Wir erwarten sie aber – zu Recht – nicht nur dort, wo es um Eigentum geht – sondern auch dort, wo ererbter Besitz zu Fragen Anlass gibt. Deshalb freue ich mich, dass Sie, lieber Herr Bucher, mit der Ausstellung, die Sie heute eröffnen, einen ungewöhnlichen Weg gehen – dass Sie Haltung zeigen in einer unbequemen Frage: Woher stammen die modernen Gemälde und Kunstwerke, die zwischen 1937 und 1945 Teil der Sammlung des Kunstmuseums Bern geworden sind? In der Sonderschau „Moderne Meister. ‚Entartete‘ Kunst im Kunstmuseum Bern“ steht erstmals die Erwerbungsgeschichte Ihrer Sammlung Klassischer Moderne im Mittelpunkt, und bei der Vorbereitung der Ausstellung haben Sie wahrscheinlich erlebt, dass die Vererbbarkeit einer Sammlung eben nicht nur das – wie Walter Benjamin sagt – „Vornehmste“ ist, sondern auch das Schwierigste sein kann. Denn Museumsdirektoren sind ja in gewisser Weise auch Erben: Sie können die Ankaufspolitik eines Hauses steuern. Geht es aber um den Werkbestand, der oft durch Schenkungen und Leihgaben über Jahrzehnte gewachsen ist, werden sie zu kunsthistorischen Nachlassverwaltern. 1. „Entartete Kunst“ Mit der Sammlungsgeschichte des Kunstmuseums Bern zwischen 1937 und 1945 ist ein besonders schändliches Kapitel der nationalsozialistischen Kunstpolitik verbunden – die so genannte Aktion „Entartete Kunst“. Moderne Künstler, zumeist Expressionisten, wie Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee, Otto Dix oder Franz Marc, diskreditierten die Nazis als „krankhafte Phantasten“ und „geisteskranke Nichtskönner“. Ihre Werke passten nicht zum Kunstverständnis der Nationalsozialisten, die avantgardistischen Ausdrucksformen konterkarierten das Schönheitsideal ihrer vermeintlich „heilen Welt“. Als „entartet“ und „jüdisch zersetzt“ diffamiert, wurden die Werke aus staatlichen Museen und Sammlungen entfernt, eingelagert oder verbrannt. 650 der rund 16.000 beschlagnahmten Kunstwerke gaben die Nazis in der Schandausstellung „Entartete Kunst“ dem Gespött und der Verleumdung preis – 1937 erst in München, später in zwölf weiteren Städten. Gleichzeitig wurde die als „verwertbar“, das heißt als devisenbringend absetzbar, eigenstuften Gemälde zum Verkauf an vier Kunsthändler übergeben. Die spektakulärste Auktion fand 1939 unter dem Titel „Moderne Gemälde aus Deutschen Museen“ in der Galerie Fischer in Luzern statt. Dass einer der vier Kunsthändler der Nazis Hilderbrand Gurlitt war, dessen Sohn Cornelius 2014 verstarb und ausgerechnet ein Schweizer Museum – nämlich das Kunstmuseum Bern – als Erben seiner Sammlung eingesetzt hat, ist eine der so oft ungewöhnlichen Wendungen unserer Geschichte: Für Deutschland jedenfalls ist mit der Sammlung Gurlitt, die 2013 als sogenannter „Schwabinger Kunstfund“ weltweit bekannt geworden ist, jedenfalls eine ungeheure historische Verantwortung und Verpflichtung verbunden. 2. KMB als Vorbild für den Umgang mit der eigenen Sammlungsgeschichte Die Folgen der sogenannten „Entsammlung“ im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst“ spüren wir noch immer: Viele der betroffenen Kunstwerke sind auch heute nicht dort, wo sie einst von den Nationalsozialisten – nicht selten übrigens unter bereitwilliger Mithilfe einiger der damaligen Museumsdirektoren – entfernt wurden. Und dann der „Fall Gurlitt“ – er hat die Museumswelt einmal mehr aufgerüttelt: Spätestens seit Bekanntwerden dieses Falles werden Museen und öffentliche Sammlungen nicht mehr nur an ihrer Ankaufs- und Ausstellungspolitik gemessen, sondern vor allem daran, wie sie mit ihrer Geschichte und mit der ihrer Sammlungen umgehen. Man könnte es auch mit den Worten Walter Benjamins sagen: Die heutige Auseinandersetzung mit der Sammlungsgeschichte unserer Museen ist eine Frage der Haltung denjenigen gegenüber, die als Künstlerinnen und Künstler, aber auch als Kunstsammler und Eigentümer Opfer der nationalsozialistischen Kunstpolitik der nationalsozialistischen Verfolgung und Barbarei geworden sind. Das Kapitel „Entartete Kunst“ aufzuschlagen, ist schmerzhaft. Denn die Verhöhnung der Kunstwerke steht stellvertretend für die Verletzung der Persönlichkeiten der Künstlerinnen und Künstler – und für die Verletzung der Menschen, ja, der Menschlichkeit. Die Initiative für die Ausstellung „Moderne Meister. ‚Entartete‘ Kunst im Kunstmuseum Bern“ beweist Mut und Haltung der Verantwortlichen; sie verdient daher Aufmerksamkeit und Anerkennung. Sie ist ein Vorbild für den Umgang mit der Sammlungs- und Erwerbungsgeschichte. 3. Aufarbeitung des Gurlitt-Nachlasses in Deutschland Die Haltung, auch schmerzliche Erkenntnisse der Provenienzforschung offenzulegen, transparent zu machen, ist und bleibt eine Leitlinie der Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Es ist unerträglich zu wissen – oder zumindest nicht ausschließen zu können -, dass auch heute noch Kunstwerke in deutschen Museen lagern, die ihren rechtmäßigen Eigentümern geraubt wurden. Nach Bekanntwerden des „Schwabinger Kunstfundes“ habe ich daher alle Bundesmuseen aufgefordert, in ihren jährlichen Museumsberichten Rechenschaft über den Stand ihrer Provenienzrecherche abzulegen. Darüber hinaus finanziert mein Haus die weitere Erforschung der Werke aus dem Gurlitt-Konvolut, bei denen ein NS-Raubkunstverdacht bisher nicht ausgeschlossen werden konnte. Diese wurden und werden auf der Lost Art-Datenbank zugänglich gemacht, ebenso wie die Erkenntnisse der Provenienzforschung sowie andere wichtige Dokumente, wie etwa die Geschäftsbücher Gurlitts, soweit sie verfügbar sind. Für den kommenden Winter ist eine Ausstellung in der Bundeskunsthalle in Bonn geplant, die Kunstwerke zeigen wird, bei denen nicht auszuschließen ist, dass es sich um NS-Raubkunst handeln könnte. Die Ausstellung soll an die Opfer erinnern, den Berechtigten die Möglichkeit geben, ihre Ansprüche geltend zu machen, aber auch die Öffentlichkeit für das Thema sensibilisieren. Die Präsentation der Gurlitt-Werke steht natürlich unter dem Vorbehalt, dass bis dahin der Rechtsstreit über das Erbe entschieden ist. Ich bin dem Kunstmuseum Bern dankbar, dass parallel zu der Schau in Bonn hier Werke des Nachlasses von Cornelius Gurlitt ohne Raubkunstverdacht gezeigt werden, insbesondere gerade solche, die zur „entarteten“ Kunst zählen. Es freut mich sehr, dass deutsche und schweizerische Museumsfachleute bei der Vorbereitung der Ausstellungen eng und gut zusammenarbeiten, nicht zuletzt bei der Konzeption eines gemeinsamen Ausstellungskatalogs. 4. Dauerhafte Verantwortung für die Biografien der Opfer Es ist eine Frage der Haltung – um noch einmal auf das Eingangszitat von Walter Benjamin zurückzukommen -, wie wir als Erben – als Kulturpolitiker, als Museumsdirektoren, als Kuratoren – mit den von den Nationalsozialisten geraubten und verfemten Kunstwerken umgehen. Dabei geht es nicht nur um ein politisches Bewusstsein vom Missbrauch der Kunst durch die Indienstnahme für politische Zwecke, vom Missbrauch avantgardistischer Meisterwerke für Ideologie und Propaganda. Es geht bei Raubkunst vor allem auch um die Anerkennung der Opferbiografien. Hinter all diesen Werken steht ein individuelles Schicksal – stehen Menschen, denen unendliches Leid widerfahren ist. Diesen menschlichen Schicksalen müssen wir nicht nur rechtlich, sondern in erster Linie moralisch gerecht werden. Bern und Bonn, die Schweiz und Deutschland haben eine je eigene Geschichte und werden ihren je eigenen Weg im Umgang mit den Folgen der NS-Kunstpolitik weitergehen und finden. Dass das schweizerische Bundesamt für Kultur seit diesem Jahr Museen und Sammlungen bei der Provenienzforschung unterstützt – und zwar bis 2020 mit insgesamt zwei Millionen Franken -, das ist sehr erfreulich. Es ist ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung des Leids und das Unrechts, dem Verfolgte des NS-Regimes und insbesondere Menschen jüdischen Glaubens unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ausgesetzt waren. In vielen Museumssammlungen sind Fragen aufbewahrt – es ist unsere Pflicht, sie zu stellen und nach Antworten zu suchen. Die hemmungslose „Aktion Entartete Kunst“ der Nazis sollte uns eine immerwährende Mahnung sein. Deshalb, meine Damen und Herren, wünsche ich dieser Ausstellung viel öffentliche Aufmerksamkeit – auf dass jenes „Gefühl der Verpflichtung des Besitzenden gegen seinen Besitz“, das Walter Benjamin so eindringlich beschrieben hat, zu unser aller Haltung wird.
Als Vorbild für den Umgang mit der Sammlungs- und Erwerbungsgeschichte würdigte Kulturstaatsministerin Grütters die Sonderschau „Moderne Meister. ‚Entartete‘ Kunst im Kunstmuseum Bern“. Die Verantwortlichen bewiesen „Mut und Haltung“. Erkenntnisse aus der Provenienzforschung offenzulegen, bleibe auch für die Deutsche Kulturpolitik eine Leitlinie.
Ansprache von Bundeskanzlerin Merkel bei der Trauerfeier für Bundesaußenminister a. D. Guido Westerwelle
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/ansprache-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-trauerfeier-fuer-bundesaussenminister-a-d-guido-westerwelle-482134
Sat, 02 Apr 2016 12:00:00 +0200
Köln
Sehr geehrte Trauergäste, liebe Familie Westerwelle, lieber Michael Mronz, diese Rede gehört definitiv nicht zu den Ansprachen, die ich jemals halten wollte. Denn dass wir hier zusammengekommen sind, um um Guido Westerwelle zu trauern, das ist sehr schwer zu akzeptieren. Zu fassen ist es schon gar nicht. Als wir, lieber Michael, am Freitag vor zwei Wochen miteinander telefonierten, traf mich die Todesnachricht vollkommen unvermittelt, mitten hinein in die Beratungen beim Gipfel der Europäischen Union mit der Türkei in Brüssel. Sie traf mich unvermittelt – allen Sorgen und Befürchtungen seit der niederschmetternden Diagnose Leukämie und seit Beginn des Kampfes gegen die Abstoßungsreaktionen des Körpers zum Trotz. Ich habe nicht glauben können und glauben wollen, dass es Guido Westerwelle tatsächlich nicht vergönnt sein sollte, sein zweites Leben – das nach der Politik, in seiner Stiftung, mit seinem Mann Michael Mronz – leben zu dürfen, genießen zu können, auszukosten, wie er es sich erträumt hatte. Nach der Bundestagswahl 2013 haben wir uns nicht aus den Augen verloren. Wann immer wir in den letzten zwei Jahren miteinander gesimst oder uns am Telefon gesprochen haben oder uns sogar sehen konnten – wir haben nie nur über die in 2014 so aus dem Nichts getroffene Krankheit gesprochen, nie nur über die Torturen der Behandlung und das Leid anderer Betroffener, das ihn sehr berührte. Wir haben uns immer auch über das Leben ausgetauscht, so wie es auch rund um diese schöne Kirche St. Aposteln im Herzen dieser Stadt pulsiert, während hier drinnen das Leben stillzustehen scheint. Wir haben natürlich auch über Politisches diskutiert, denn Guido Westerwelle war und blieb ein homo politicus, der sich für die Lage in der Ukraine interessierte, für Europa und den Euro, für Europa und seinen Umgang mit den vielen Menschen, die hier Zuflucht suchen, und vieles andere mehr. Das waren gar nicht immer lange Gespräche oder ausführliche SMS-Kontakte, aber sie waren regelmäßig. Wir dachten aneinander. So war es auch für den 8. November letzten Jahres geplant gewesen. Wir wollten uns am frühen Abend bei mir im Büro im Kanzleramt für eine gute Stunde treffen. Ich hatte danach noch einen offiziellen Termin und er am späteren Abend einen Fernsehauftritt zu seinem Buch „Zwischen zwei Leben. Von Liebe, Tod und Zuversicht“, dem er die Widmung „Für Michael, den Mann meiner zwei Leben“ voranstellte. Die Buchvorstellung am Vormittag war anstrengend gewesen. Guido Westerwelle musste dann kurzfristig auf den Termin verzichten, um Kraft zu sammeln für die Diskussionen am Abend im Fernsehen. Ein anderes Mal, sagten wir uns. Doch ein anderes Mal für ein solches Treffen, das sollte es nicht mehr geben. Wie beeindruckend Guido Westerwelle dann seinen abendlichen Fernsehauftritt gemeistert hatte, das zeigten gerade auch die vielen Menschen, die sich nach dieser Sendung als potenzielle Knochenmarkspender registrieren ließen. Deutschland hatte den Menschen Guido Westerwelle hinter dem Politiker entdeckt. Und genau deshalb erschüttert sein Tod sie jetzt so sehr. Meine Anteilnahme gilt vor allem Dir, lieber Michael. Deinen Schmerz können wir nur erahnen. Meine Anteilnahme gilt auch Ihnen, liebe Familie Westerwelle, wie auch allen Angehörigen und Freunden. Deutschland hat einen besonderen Menschen und Politiker verloren. Als ich 1990 aus der Wissenschaft in die Politik ging, war Guido Westerwelle bereits ein erfolgreicher Nachwuchspolitiker. Seit 1996 waren wir im Deutschen Bundestag. Näher kennengelernt haben wir uns, als wir beide Generalsekretäre waren und dann Vorsitzende unserer Parteien wurden und beide die Mühen der Oppositionsarbeit teilten. Er verteidigte die liberalen Grundwerte und wich keinem politischen Schlagabtausch aus – auch nicht, wenn er wie beim „Projekt 18“ seiner Partei später zugeben musste, es übertrieben zu haben. Er schaffte es im Übrigen auch problemlos, mich, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, manchmal zur – ich kann es nicht anders sagen – Weißglut zu bringen. Dann wieder konnten wir gemeinsam lachen – wie bei unserer berühmt-berüchtigten Cabrio-Fahrt in Berlin vor fünfzehn Jahren. Oder wir waren gemeinsam verwundert, so zum Beispiel über die eine oder andere Reaktion, nachdem Guido Westerwelle und Michael Mronz zum Empfang zu meinem 50. Geburtstag erstmals offiziell als Paar gekommen waren. Unser wichtigstes gemeinsames politisches Ziel erreichten wir 2009: die Bildung einer christlich-liberalen Bundesregierung. Wie sein großes Vorbild, Hans-Dietrich Genscher, wurde Guido Westerwelle Außenminister und Vizekanzler. Mit tiefer Trauer haben wir gestern vom Tode Hans-Dietrich Genschers erfahren müssen. Ich weiß, wie sehr Guido Westerwelle ihn als Staatsmann und persönlichen Ratgeber verehrte. In allem, was Guido Westerwelle in seinem Amt als Außenminister tat, folgte er wie sein Mentor der Überzeugung, dass es die Menschen mit ihrer schöpferischen Kraft sind, die den Gang ihres Gemeinwesens festlegen sollten, nicht politische Systeme oder gar selbstherrliche Machthaber. Deshalb glaubte Guido Westerwelle an den Willen und das Werk der Menschen auf dem Maidan in Kiew ebenso wie auf dem Tahrir in Kairo und setzte sich mit aller Leidenschaft für den Wandel ein. Aber er verlor auch nicht den Blick für die Risiken. Als das Regime Gaddafis in Libyen zu taumeln begann, machte er aus seiner Skepsis gegenüber Luftschlägen in Libyen kein Hehl. Gemeinsam trafen wir die Entscheidung zur Enthaltung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die Idee der europäischen Einigung war ihm eine Herzensangelegenheit. Ihm war immer bewusst, dass Europa nicht an der Oder endet. Seine allererste Auslandsreise, am Tag seines Amtsantritts, führte ihn deshalb auch nach Warschau. Guido Westerwelle war durch und durch ein leidenschaftlicher Liberaler in der Tradition von Theodor Heuss, Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff. Sein viel zu früher Tod ist ein herber Einschnitt. Über all die Jahre haben Guido Westerwelle und ich erfahren können, dass uns unabhängig von gemeinsamen Zielen, heftigen Meinungsunterschieden und unterschiedlichen Temperamenten etwas trägt, das er in einem Buch so auf den Punkt bringt – ich zitiere: „Nicht ein einziges Mal ist aus unseren Gesprächen etwas an die Öffentlichkeit gedrungen, was nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Wir konnten uns immer aufeinander verlassen.“ – Zitatende. Diese Fähigkeit zu schweigen, wenn es erforderlich ist, sich aufeinander verlassen zu können, sie ist rar. Doch sie macht das wirklich offene Wort überhaupt erst möglich, das so überlebenswichtig ist – zwischenmenschlich wie politisch. Ich werde Guido Westerwelle nicht nur als überzeugten Anwalt des Liberalismus vermissen, einen der besten Redner, die der Deutsche Bundestag erlebt hat. Ich werde Guido Westerwelle nicht nur als deutschen Patrioten und überzeugten Europäer vermissen, der mit Herz und Leidenschaft für Frieden und Menschenrechte gekämpft hat. Lieber Guido, ich persönlich werde dich als Menschen und Vertrauten vermissen. Nicht ein einziges Mal ist aus unseren Gesprächen etwas an die Öffentlichkeit gedrungen, was nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Wir konnten uns immer aufeinander verlassen. Du warst streitbar, empfindsam, nachdenklich, verlässlich, treu. Du wirst sehr fehlen.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Frühjahrstagung des Bundesverbands
der Fördervereine Deutscher Museen für bildende Kunst e.V.
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-fruehjahrstagung-des-bundesverbands-der-foerdervereine-deutscher-museen-fuer-bildende-kunst-e-v–783184
Mon, 21 Mar 2016 10:00:00 +0100
Wilhelmshaven
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort. – Anrede, Als Kulturstaatsministerin komme ich landauf landab ja wirklich weit herum, aber leider nur selten bis an die deutsche Küste. 2014 kam ich nach einem Besuch des Deutschen Meeresmuseums und des Ozeaneums Stralsund mit einer Patenschaft für Olli, einen Humboldtpinguin, wieder nach Hause. Das ist von Wilhelmshaven natürlich in zoologischer Hinsicht kaum zu toppen. Was aber die bildenden Künste betrifft, bin ich wieder einmal begeistert, welch kulturellen Reichtum es in allen Teilen Deutschlands auch abseits der Metropolen zu entdecken gibt – ein so dichtes Netz kultureller Erlebnisorte wie kaum irgendwo sonst auf der Welt. Das verdanken wir nicht allein einer im Vergleich zu anderen Ländern großzügigen staatlichen Kulturfinanzierung, sondern auch der langen Tradition bürgerschaftlichen und privaten Engagements für Kunst und Kultur in unserem Land, die sich vielerorts – so wie hier in der Kunsthalle Wilhelmshaven – in den Kunst- und Kultureinrichtungen zeigt. Viele dieser Schmuckstücke sind getragen vom Bürgersinn kunstbegeisterter Mäzene, denen die Förderung der künstlerischen Avantgarde ebenso ein Herzensanliegen ist wie der Erhalt des kulturellen Erbes. Die zahlreichen Fördervereine deutscher Museen für bildende Kunst sind Ausdruck dieser Verbundenheit mit der Kunst und Kultur. Sie machen mit ihrer finanziellen wie persönlichen Unterstützung Sonderausstellungen möglich, erschließen mit Beiträgen zur kulturellen Bildung und Vermittlung neue Zielgruppen für die Museen und unterstützen nicht zuletzt beim Ankauf zur Ergänzung und Erweiterung der Sammlungen. Was für eine Bereicherung der Museumsarbeit, was für ein Gewinn für unsere Gesellschaft, was für ein Glück für die Kulturnation Deutschland! Da ist der Weg an die Küste wahrlich nicht zu weit, um Ihnen, meine Damen und Herren, den Partnern der Kulturpolitik, bei der Mitgliederversammlung Ihres Bundesverbands auch einmal von Herzen „Danke!“ zu sagen für Ihr Engagement! Darüber hinaus will ich die Gelegenheit nutzen, Ihnen den Entwurf für die Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes vorzustellen – und dabei hoffentlich auch einige Missverständnisse und Falschmeldungen auszuräumen, die in der leider vielfach von Unsachlichkeit und bisweilen auch Hysterie geprägten Debatte der vergangenen Monate durch die Medien gegangen sind. Der Regierungsentwurf zur Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes ist Teil einer historischen Entwicklung, beginnend mit der ersten gesetzlichen Regelung des Kulturgutschutzes – einer „Verordnung über die Ausfuhr von Kunstwerken“ aus dem Jahr 1919. Sie war der bitteren Erfahrung von Plünderungen ungeheuren Ausmaßes im Ersten Weltkrieg in Deutschland und Europa sowie dem drohenden Ausverkauf deutschen Kulturbesitzes geschuldet. Auf den Zweiten Weltkrieg, auf leidvolle Erfahrungen mit Raub- und Beutekunst, folgte das Kulturgutschutzgesetz von 1955, das national wertvolles Kulturgut durch die Eintragung in Verzeichnisse der Länder vor Abwanderung schützt und das wir heute, gut 60 Jahre später, novellieren wollen. Zwischenzeitlich – nämlich mit der UNESCO–Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur-Konvention zum Kulturgutschutz von 1970 – ist der Schutz des kulturellen Erbes der Menschheit auch international ein wichtiges Thema geworden. Ausgerechnet Deutschland hat die UNESCO–Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur-Konvention aber erst mit 37jähriger Verspätung ratifiziert – nämlich 2007. Die EU wiederum hat 1992 Bestimmungen für die Ausfuhr von Kulturgütern in Drittstaaten eingeführt. Als eines der letzten von 28 EU-Ländern zieht Deutschland nun endlich auch für den Binnenmarkt nach – also auch hier wieder mit deutlicher Verzögerung. Trotz unserer eigenen – selbst verschuldeten – Erfahrungen mit dem Verlust von Kulturgut und trotz unserer – auch historisch begründeten – Verantwortung für den Schutz des kulturellen Erbes fristet der Kulturgutschutz bei uns seit Jahrzehnten ein Schattendasein, meine Damen und Herren. Deutschland hinkt der europäischen und internationalen Entwicklung weit hinterher. Zwar haben sich viele Regelungen zum Kulturgutschutz bewährt: zum Beispiel, dass es für die Eintragung von national wertvollem Kulturgut einer fachkundigen Einschätzung durch Sachverständige unter anderem aus Museen, dem Kunsthandel und aus den Reihen der privaten Sammler bedarf. Andere Regelungen aber haben sich als unbrauchbar erwiesen. Die bisherigen Einfuhrregelungen zum Beispiel: Sie laufen de facto ins Leere und sind nicht geeignet, den illegalen Handel mit Antiken beispielsweise aus den Kriegs- und Krisengebieten im Nahen Osten zu unterbinden und gegen organisierte Kriminalität vorzugehen. Genau dazu sind wir aber völkerrechtlich verpflichtet. Deshalb haben sich Union und SPD im Koalitionsvertrag für eine Novellierung des Kulturgutschutzes ausgesprochen: für ein Kulturgutschutzgesetz, das einer Kulturnation würdig ist, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens bei der Einfuhr: Deutschland muss endlich seinen Beitrag leisten zur Eindämmung des illegalen Handels mit Kulturgütern. Hier geht es um den Schutz des kulturellen Erbes der Menschheit. Zweitens bei der Ausfuhr, beim Schutz unseres eigenen kulturellen Erbes: In den wenigen Ausnahmefällen, in denen Kulturgüter emblematisch sind für unsere Geschichte und Identität, muss es möglich sein, diese wenigen Stücke vor Abwanderung ins Ausland und vor Zerstörung zu schützen. In diesen wenigen Fällen kann es zu Konflikten kommen zwischen dem legitimen privaten Eigeninteresse an einem möglichst hohen Verkaufspreis und dem öffentlichen Interesse an der Bewahrung des besonderen Werts eines Werkes für Deutschland. Wenn es in der Vergangenheit durch die Eintragung eines Werkes als „national wertvoll“ wirklich zu finanziellen Problemen gekommen ist, haben wir mit Beteiligung meines Hauses, der Kulturstiftung der Länder und engagierter Stiftungen faire und angemessene Lösungen gefunden. Das ist uns in den vergangenen 60 Jahren ausnahmslos ohne nennenswerten Streit gelungen. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass uns das auch in Zukunft gelingen wird – zumal die neuen Regelungen im Regierungsentwurf sowohl Museen als auch private Eigentümer und Sammler in vielen Punkten deutlich besser stellen als die bisherigen Regelungen zum Kulturgutschutz. Worin bestehen diese Verbesserungen? Ich will sie mal Punkt für Punkt benennen, weil sie in der Debatte bisher kaum wahrgenommen wurden und es mir wichtig ist, Vertrauen wieder zu gewinnen. Denn bei vielen Sammlern ist der Eindruck erweckt worden, sie könnten künftig nicht mehr frei über ihr Eigentum verfügen. Erstens: Im aktuell geltenden Kulturgutschutzgesetz von 1955 gibt es keine Definition dafür, was „national wertvoll“ ist. Anhaltspunkte dafür fanden sich bisher nur in einer Empfehlung der KMK. Der Regierungsentwurf präzisiert erstmals die Kriterien für Werke, die in ein Verzeichnis national wertvollen Kulturguts einzutragen sind. Das sorgt für mehr Rechtssicherheit, weil die Länder künftig noch stärker als bisher einheitliche Entscheidungsmaßstäbe bei der Entscheidung über die Eintragung anlegen müssen. Zweitens: Der Regierungsentwurf sieht vor, dass die Eintragung als national wertvolles Kulturgut von der Zustimmung eines aus Vertretern von Museen, Archiven, Wissenschaft, Handel und Sammlern zusammengesetzten Sachverständigenausschusses abhängig ist. Bisher musste er nur angehört werden. Eigentümer von Kulturgütern werden damit viel stärker abgesichert als zuvor. Drittens: Leihgaben an öffentliche Museen können – mit jederzeit widerruflicher Zustimmung der Leihgeber – vorübergehend unter deren Schutz gestellt werden. Falls sie gestohlen werden und auf illegalem Weg ins Ausland gelangen, bestehen deutlich verbesserte Rückführungsmöglichkeiten. Rückgabeansprüche nach Diebstahl werden von 30 auf 75 Jahren erhöht. Auch das bedeutet Rechtssicherheit für Sammler. Herr Baselitz hat offenbar übersehen, dass das eine Regelung zu seinen Gunsten ist – zumal Werke lebender Künstler auch in ein Verzeichnis national wertvollen Kulturguts nur ausdrücklich mit ihrer Zustimmung eingetragen werden können. Viertens: Im Gegensatz zum Gesetz von 1955 enthält die Novelle klare Verfahrensregeln: Sie schreibt beispielsweise ausdrücklich eine maximale Bearbeitungsfrist von zehn Arbeitstagen für eine Ausfuhrgenehmigung in den Binnenmarkt vor. Und für den seltenen Fall, dass ein Verfahren zur Eintragung in ein Verzeichnis national wertvollen Kulturgutes tatsächlich eröffnet wird, ist dies im Regelfall innerhalb von sechs Monaten abzuschließen – ansonsten gilt es ohne Eintragung als beendet. Eine solche zeitliche Befristung gibt es bisher nicht. Wenn ein Verfahren ohne Eintragung beendet wurde, kann ein neues Verfahren künftig nur bei wesentlicher Änderung der Umstände eingeleitet werden. Last but not least – fünftens: Sammler profitieren künftig beim Kauf eines Kunstwerks auch davon, dass der gewerbliche Kunsthandel – im Rahmen des Zumutbaren – die Herkunft prüft. Darüber hinaus gibt es noch zwei Verbesserungen speziell für Museen: Sie brauchen zum einen künftig im öffentlichen Leihverkehr auch ins Ausland keine Einzelgenehmigung mehr, sondern können eine für fünf Jahre gültige, so genannte „allgemeine offene Genehmigung“ beantragen. Das reduziert den Verwaltungsaufwand und entlastet die Museen ganz massiv – genauso wie die Kulturbehörden der Länder. Zum anderen sollen öffentliche oder überwiegend von der öffentlichen Hand getragene Häuser mit ihren Sammlungen pauschal als „national wertvoll“ eingestuft werden. Das ermöglicht wie oben genannt einen neuen Rückgabeanspruch mit einer 75-jährigen Verjährungsfrist. Sollte Kulturgut aus Museen gestohlen werden und auf illegalem Weg ins Ausland gelangen, hat der Staat einen völkerrechtlichen bzw. einen EU-rechtlichen Rückgabeanspruch. Angesichts dieser Verbesserungen ist die Unterstützung für die Gesetzesnovelle viel breiter als die – von einigen schrillen Stimmen geprägte – öffentliche Debatte es vermuten lässt. Neben Unterstützung aus dem Bundesverband der Fördervereine Deutscher Museen für bildende Künste habe ich auch die Zustimmung des Deutschen Museumsbunds, des Internationalen Museumsrats (ICOM), des Berufsverbands Bildender Künstler, des Künstlerbunds, des gesamten Deutschen Kulturrats, der Kulturstiftung der Länder und zahlreicher Freundeskreise als Vertreter von Sammlern, Leihgebern und Eigentümern. Auch bei meiner USA-Reise Anfang März habe ich viel positive Resonanz zum Gesetzentwurf bekommen. Dort und im EU-Kulturministerrat ist man regelrecht erleichtert, dass Deutschland endlich in die Reihe angesehener Kulturgutschutz-Länder aufrückt. Zu den Unterstützern zählen darüber hinaus die 18 Staaten, deren Botschafter sich bei mir für den Gesetzentwurf bedankt haben, und nicht zuletzt die Kulturminister unserer 16 Bundesländer. Der Bundesrat hat die Zustimmung der Länder in seiner Stellungnahme im Dezember bekräftigt. Diese breite Unterstützung beruht auf dem Konsens, dass Kunst nicht nur einen Preis, sondern auch einen Wert hat, dass Kunst also keine Ware und Geldanlage ist wie jede andere – eine Überzeugung, die auch das mäzenatische Wirken und das bürgerschaftliche Engagement in den Fördervereinen deutscher Museen für bildende Kunst trägt und die sich hoffentlich im parlamentarischen Verfahren durchsetzt. Ich kann nur davor warnen, sie leichtfertig zu relativieren oder vom Tisch zu wischen. Wir haben es doch in Nordrhein-Westfalen erlebt: Wo die Preise, die sich mit Kunst erzielen lassen, höher bewertet werden als ihr Wert, wird sie irgendwann zum dekorativen Luxus, den wir uns nur in guten Zeiten leisten und den wir in schlechten Zeiten zur Disposition stellen, um Haushaltslöcher zu stopfen oder Casinos zu bauen. Wenn wir eine solche „Kulturpolitik nach Kassenlage“ ablehnen, wenn wir uns stattdessen weiterhin eine auskömmliche Kulturfinanzierung leisten wollen – dann aus dem Konsens heraus, dass Kunst von unschätzbarem Wert ist für eine humane Gesellschaft und für eine lebendige Demokratie, dass Kunst Spiegel unserer Geschichte und unserer Identität ist und Kräfte entfalten kann, die jene der Politik und des Geldes bisweilen übersteigen. Ich freue mich, darüber mit Ihnen zu diskutieren und Ihre Sicht der Dinge zu hören, und ich bin zuversichtlich, dass wir uns – als Kunstliebhaber und Museumsfreunde, die wir alle sind – konstruktiv dazu verständigen können. Erfahrungsgemäß nimmt die bisher in der Kulturgutschutz-Debatte durchaus vorhandene Neigung, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, ja auch signifikant ab, wenn Kaffeetassen darauf stehen. In diesem Sinne: Auf eine gutes Diskussion!
„Die zahlreichen Fördervereine deutscher Museen für bildende Kunst sind Ausdruck dieser Verbundenheit mit der Kunst und Kultur. Sie machen mit ihrer finanziellen wie persönlichen Unterstützung Sonderausstellungen möglich, erschließen mit Beiträgen zur kulturellen Bildung und Vermittlung neue Zielgruppen für die Museen und unterstützen nicht zuletzt beim Ankauf zur Ergänzung und Erweiterung der Sammlungen. Was für eine Bereicherung der Museumsarbeit, was für ein Gewinn für unsere Gesellschaft, was für ein Glück für die Kulturnation Deutschland!“ lobte Monika Grütters in ihrer Rede.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters auf der Stiftungsfachtagung der Sparkassen-Finanzgruppe
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-auf-der-stiftungsfachtagung-der-sparkassen-finanzgruppe-792868
Wed, 16 Mar 2016 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort.- Wer sich, wie Sie, schon seit längerem mit der Herausforderung wachsender Aufgaben bei niedrigen Zinsen konfrontiert sieht, tut möglicherweise gut daran, sich zur Erhöhung des Spendenaufkommens mit Erkenntnissen der Evolutionspsychologie zu befassen. Sie könnten sich damit, sagen wir es mal so, gewisse Schwächen des männlichen Geschlechts zunutze machen. Britische Forscher haben nämlich herausgefunden, verehrte Herren, dass Männer mehr Geld spenden, wenn sie mitbekommen, dass andere Männer sich bereits großzügig gezeigt haben und gleichzeitig eine attraktive Frau als Spendensammlerin auftritt. So stand es im Fachjournal „Current Biology“. Im Wettbewerb um den dicksten Geldbeutel will man(n) offenbar ganz vorne mit dabei sein. Wissenschaftler nennen das „kompetitives Balzverhalten“. Ein Blick in Ihr Programm sagt mir aber, dass Sie dank der hier vertretenen Expertise nach zwei Konferenztagen sicherlich mit Alternativen zum evolutionsbiologischen Ansatz nach Hause fahren werden. Zu den Impulsen für Ihre Stiftungsarbeit will ich gerne einige Überlegungen und Anregungen aus kulturpolitischer Sicht beisteuern. Vielen Dank für die Einladung, lieber Herr Fahrenschon, die ich sehr gerne angenommen habe. Schließlich war ich selbst lange Vorsitzende des Vorstandes der Stiftung „Brandenburger Tor“, einer Sparkassenstiftung, die dankenswerterweise die Herbsttagung des von mir ins Leben gerufenen Deutschen Zentrums Kulturgutverluste unterstützt hat. Auch bei der Präsentation der Villa Massimo-Stipendiaten in Berlin können wir seit vielen Jahren auf die Unterstützung des Sparkassen-Kulturfonds zählen. Vielen Dank für dieses Engagement des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands, lieber Herr Fahrenschon! Darüber hinaus habe ich, wie auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines Hauses, über viele Jahre außerordentlich positive Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit privaten Stiftungen gemacht, mit der Deutschen Stiftung Musikleben etwa: Mit dieser Stiftung hat der Bund 1994 einen Deutschen Musikinstrumentenfonds gegründet, der die Entwicklung vieler junger Ausnahmekünstler begleitet. Ein weiteres Beispiel ist die gemeinsame Projektförderung der von meinem Haus institutionell unterstützten Kulturstiftung des Bundes und der Ostdeutschen Sparkassenstiftung im so genannten Fonds Neue Länder für die Weiterentwicklung der Kulturarbeit in Ostdeutschland. Was Stiftungen leisten, erlebe ich im Übrigen auch bei meinen zahlreichen Besuchen in Kultureinrichtungen in ganz Deutschland, zum Beispiel beim Festakt zum 200jährigen Jubiläum des Städel-Museums im vergangenen Jahr – ein Haus von Weltrang, über viele Jahrzehnte getragen von der Tradition des bürgerschaftlichen Engagements und des Mäzenatentum im Geiste der 1815 gegründeten Stiftung. Dass Stiftungen in diesem Maße zum Erhalt des kulturellen Reichtums in Deutschland und auch zur Förderung der künstlerischen Avantgarde beitragen, ist keineswegs selbstverständlich – allein schon deshalb, weil es hierzulande eine langen Tradition der öffentlichen Kulturförderung gibt, die weltweit ihresgleichen sucht. Um die Freiheit der Kunst zu gewährleisten, um die künstlerische Avantgarde zu fördern und unser kulturelles Erbe zu sichern, finanziert der deutsche Staat seine Kultur mit ca. 9,4 Milliarden Euro jährlich. Nach dem Grundgesetz gilt, was wir „Kulturhoheit der Länder“ nennen, dass nämlich für die Kulturförderung primär die Länder verantwortlich sind. Diese finanzieren folglich auch einen Großteil der öffentlich geförderten Kultur mit 41,9 Prozent, aber die Kommunen tun sogar noch mehr: Mit 44,8 Prozent liegen sie trotz der Wirtschafts- und Finanzkrise, die die Städte und Gemeinden ja ordentlich mitgenommen hat, noch vor den Ländern. Der Bund konzentriert sich mit einem Anteil von 13,3 Prozent auf Aufgaben von überregionaler, gesamtstaatlicher Bedeutung. Dafür stehen mir als Kulturstaatsministerin des Bundes in diesem Jahr 1,4 Milliarden Euro zur Verfügung. Deutschland, das Land der Dichter und Denker, ist nicht zuletzt dank dieser auskömmlichen Finanzierung nach wie vor das Land mit der höchsten Theaterdichte der Welt, und das gilt ebenso für die Museen, Orchester, Literaturhäuser, Archive, Bibliotheken, Festivals. Die Hälfte aller Opernhäuser weltweit steht auf deutschem Boden. Rund 116 Millionen Menschen kamen 2013 in deutsche Museen und Ausstellungshäuser, das sind beinahe 10mal so viele Gäste wie alle Fußball-Bundesligaspiele der Saison Besucher hatten. Knapp 35 Millionen Zuschauer aller Altersgruppen besuchen in Deutschland Jahr für Jahr fast 105.000 Theateraufführungen und 7.400 Konzerte. Jedes zweite Profiorchester der Welt spielt auf deutschem Boden, und allein Berlin hat mehr Museen als Regentage. Zu unserem Selbstverständnis als Kulturnation gehört neben der staatlichen Kulturförderung aber auch eine lange Tradition bürgerschaftlichen und privaten Engagements für Kunst und Kultur, die sich nicht nur in den Kunst- und Kultureinrichtungen vor Ort zeigt. Über 21.000 zivilrechtliche Stiftungen gibt es in Deutschland – etwa doppelt so viele wie 2001, und über 30 Prozent dieser Stiftungen haben sich (auch) die Kultur als Stiftungszweck auf die Fahnen geschrieben. Es ist beeindruckend, welche Vielzahl und Vielfalt an Stiftungen allein unter dem Dach der Sparkassen-Finanzgruppe gedeihen und wie diese Stiftungen mit Verantwortungsbewusstsein und Ideenreichtum ihren Beitrag zum Gemeinwohl leisten. Was für ein Reservoir an Engagement, Know-how und Kreativität für das kulturelle Leben in Deutschland! Und was für ein Gewinn für unsere Gesellschaft! Dieses bürgerschaftliche Engagement lässt sich natürlich nicht staatlich verordnen oder gar politisch steuern. Die Politik kann dafür aber den Boden bereiten. Sie kann durch geeignete rechtliche Rahmenbedingungen dafür sorgen, dass Menschen sich für den Zustand und die Entwicklung unserer Gesellschaft verantwortlich fühlen und – so beschreiben viele Stifterinnen und Stifter ihr Motiv – ihrem Land etwas zurückgeben wollen. Aus diesen Überlegungen heraus sind die zahlreichen Privilegierungen des gemeinnützigen Sektors insbesondere im Steuerrecht entstanden. Und aus eben diesen Überlegungen heraus haben Union und FDP in der vergangenen Legislaturperiode das Gesetz zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements beschlossen, an dessen Vorbereitung ich damals noch als Vorsitzende des Kulturausschusses intensiv beteiligt war. Seit 2013 treten die Änderungen stufenweise in Kraft; sie entfalten sich also gerade erst vollständig und erleichtern Ihnen sicherlich die Stiftungsarbeit, etwa durch die Flexibilisierung der Mittelverwendung oder die Anhebung der Übungsleiter- und Ehrenamtspauschalen. Im aktuellen Koalitionsvertrag haben Union und SPD vereinbart, darüber hinaus auch die Voraussetzungen für ehrenamtliches Engagement weiter zu verbessern – ein Thema, das für die Stiftungsarbeit ja ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Zu diesen Voraussetzungen gehören die öffentliche Anerkennung und Wertschätzung des ehrenamtlichen Engagements. In diesem Sinne setze ich mich dafür ein, dass ehrenamtlich Engagierte über so genannte Ehrenamtskarten ermäßigten Eintritt oder andere Vergünstigungen in öffentlich geförderten Kultureinrichtungen erhalten, so wie aktuell bereits in Einrichtungen der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten und der Stiftung Jüdisches Museum Berlin. Vor kurzem haben auch die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn und die Deutsche Nationalbibliothek entsprechende Vergünstigungen eingeführt. Erwähnen will ich noch die avisierte Reform des Stiftungsrechts, auch wenn ich Ihnen dazu leider noch nichts Konkretes sagen kann. Wie Sie sicherlich wissen, befasst sich derzeit eine Arbeitsgruppe von Bund und Ländern mit dem Reformbedarf; auch mein Haus ist beteiligt. Ihr Auftrag ist, ergebnisoffen zu prüfen. Im vergangenen Herbst hat sie einen Zwischenbericht vorgelegt, der die Handlungsfelder benennt. Die AG widmet sich intensiver unter anderem der Möglichkeit von Satzungsänderungen oder auch den Zu- und Zusammenlegungen von Stiftungen und ergänzenden Regelungen zum Stiftungsvermögen. Jede Überlegung zur Liberalisierung des Stiftungsrechts muss sorgfältig abgewogen werden mit dem hohen Gut der dauerhaften Selbständigkeit einer „Stiftung“. Auch ist es keine leichte Aufgabe, nachvollziehbare Bedürfnisse der Stiftungsorgane in eine Balance mit der Überordnung des Stifterwillens und der Ewigkeit einer Stiftung zu bringen und diese Balance schließlich im Gesetz abzubilden. All das braucht leider seine Zeit, auch wenn Ihnen diese Themen angesichts der strukturell schwierigen Lage in der nun so lange andauernden Niedrigzinsphase verständlicherweise unter den Nägeln brennen. Gerade habe ich eine Studie gelesen, wonach 82 Prozent der Stiftungsverantwortlichen angesichts rückläufiger Einnahmen in den nächsten vier bis fünf Jahren mit einem Rückgang ihrer Fördermöglichkeiten rechnen und eine Mehrheit davon ausgeht, dass es künftig häufiger zu Abwicklungen und Zusammenlegungen von Stiftungen wird kommen müssen. Keine Frage: Es ist ein harter Boden, den Sie im Moment beackern. Die aktuelle Situation verlangt ein enormes Maß an Kreativität, Spürsinn und Mut: Kreativität bei der Suche nach neuen Betätigungsfeldern im Rahmen des Stiftungszwecks; Spürsinn bei der Suche nach neuen Finanzquellen; dazu den Mut, neue Wege einzuschlagen, etwa was die Vermarktung oder die Wahl der Kooperationspartner angeht. Dabei können neben guten rechtlichen Rahmenbedingungen auch staatliche Kooperationsangebote unterstützen. Mir ist es jedenfalls vor dem Hintergrund der guten Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit im Miteinander von staatlichem und privatem Engagement gemacht haben, ein dringendes Anliegen, Projekte zu initiieren und zu fördern, an die private Initiativen andocken können. Zukunftsperspektiven dafür sehe ich vor allem mit Blick auf drei Entwicklungen, die unsere Gesellschaft langfristig prägen und verändern werden: erstens, im Zusammenhang mit der Integration geflüchteter Menschen; zweitens, in Folge des demografischen Wandels; und drittens, im Kontext der Digitalisierung. Am offensichtlichsten ist der Bedarf gemeinsamer Anstrengungen sicherlich in der Flüchtlingspolitik. Über eine Million Menschen haben im vergangenen Jahr Zuflucht gesucht in Deutschland – über eine Million Menschen, die mit nicht viel mehr als mit ihrer Hoffnung auf Sicherheit und Frieden bei uns angekommen sind. Ich persönlich gehöre zu denen, die Angela Merkel sehr dankbar sind, dass sie die europäischen Menschenrechtsstandards angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe im September 2015 zum Leitbild ihrer Flüchtlingspolitik gemacht hat – bei allen Risiken und Unwägbarkeiten, mit denen eine Entscheidung dieser Tragweite verbunden ist, und auch, wenn die Mühen des Helfens unser aller Kraft und Engagement erfordern, dazu langwierige und schwierige Verhandlungen auf allen politischen Ebenen, national und international. Schlimmer als daran zu scheitern wäre aber, es nicht einmal versucht zu haben! Geflüchtete Menschen aufzunehmen, sie menschenwürdig unterzubringen und zu versorgen, ihnen Zugang zu verschaffen zu Bildung, zu Arbeitsplätzen – das ist nicht nur eine innenpolitische, sozialpolitische und bildungspolitische Aufgabe. Es ist in besonderem Maße auch eine kulturpolitische Herausforderung: zunächst einmal, weil kulturelle Teilhabe eine grundlegende Voraussetzung dafür ist, dass Zuwanderer in der Fremde heimisch werden – aber auch, weil die Angst vor dem Fremden, wie wir sie mancherorts erleben, das große Bedürfnis nach Vergewisserung unserer eigenen kulturellen Identität offenbart. Mehr denn je rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie Politik und Zivilgesellschaft den Zusammenhalt in einer pluralistischen Gesellschaft zielgerichtet fördern können. Deshalb habe ich den Kulturförderfonds des Bundes, zu denen auch die Stiftung Kunstfonds gehört, gerade Sondermittel in Höhe von bis zu einer Million Euro für kulturelle Projekte mit Flüchtlingen zur Verfügung gestellt. Durch die vielfältigen Kooperationen der Kulturförderfonds wird dieser finanzielle Beitrag meines Hauses auch die Stiftungsarbeit weiter stärken. Als Angebot der Zusammenarbeit habe ich darüber hinaus die Initiative „Kultur öffnet Welten“ ins Leben gerufen. Im Rahmen einer Aktionswoche, die erstmals im Mai 2016 stattfindet, werden Kultureinrichtungen in ganz Deutschland – Museen, Theatern, Konzerthäuser usw. – ihre Türen und Tore öffnen. Es geht mir dabei um den Beitrag, den Kultureinrichtungen zum Gelingen kultureller Vielfalt leisten können – und den sie de facto vielfach auch bereits leisten. Es geht mir darum, diesen Beitrag sichtbar zu machen – als Ausdruck des Selbstverständnisses einer weltoffenen Gesellschaft und als Einladung für interkulturelle Begegnungen vor Ort. Diese Idee braucht viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter, um am Ende zu einer großen, möglichst flächendeckenden, deutschlandweiten Aktion zu werden. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, dass sich sowohl der Kulturausschuss der Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) als auch der des Städtetages dieses Themas intensiv angenommen und sehr schnell ihr grundsätzliches Interesse signalisiert haben, diese Initiative mitzugestalten. Nicht weniger wichtig ist die Unterstützung der künstlerischen Dachverbände, in denen sich die Museen, Theater und Orchester zusammengeschlossen haben, sowie der bundesweit maßgeblichen Akteure der Zivilgesellschaft. Auch hier zähle ich auf die Unterstützung privater Stiftungen, die sich vielfach schon lange auf vorbildliche Weise für integrative Projekte engagieren. Nebenbei bemerkt: Auch an guten Ideen seitens der deutschen Wirtschaft mangelt es nicht – wie beispielsweise die neu geschaffene Plattform „Wir zusammen“ zeigt, auf der Unternehmen ihre Integrationsinitiativen vorstellen. Gerade sie haben angesichts des Fachkräftemangels ein vitales Interesse an der Integration der Menschen, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, und es freut mich, wenn daraus solche Initiativen entstehen. Mit dem Stichwort „Fachkräftemangel“ bin ich auch schon bei der zweiten gesellschaftlichen Herausforderung, aus der sich Perspektiven für die Zusammenarbeit von Staat und privaten Stiftungen im kulturellen Bereich ergeben – beim demographischen Wandel, der gerade in den ländlichen Regionen Veränderungen in der Kulturentwicklungsplanung erfordert. Dazu gehören konkrete Schwerpunkte, neue Ideen der Publikumsgewinnung und das heißt auch: innovative Ansätze kultureller Bildung und Vermittlung. Zur Entwicklung neuer Strategien für die kulturelle Infrastruktur im ländlichen Raum wird mein Haus in diesem Jahr in Kooperation mit den Ländern Brandenburg, Hessen und Sachsen ein Pilotprojekt fördern. Es freut mich sehr, lieber Herr Fahrenschon, dass wir in den ländlichen Regionen auch auf das Engagement der Sparkassen-Finanzgruppe zählen können, die hier eine Vielzahl von Stiftungen unterhält. Viele dieser Sparkassenstiftungen fördern vor Ort das bürgerschaftliche Engagement für Kunst und Kultur und sind verlässliche Partner, wenn es um den Erhalt der kulturellen Infrastruktur in Zeiten des demographischen Wandels geht. Neue Perspektiven der Stiftungsarbeit ergeben sich schließlich, damit bin ich beim dritten Punkt, im Zuge der Digitalisierung. Die Digitalisierung eröffnet Stiftungen nicht nur neue inhaltliche Betätigungsfelder; sie kann ihnen auch die Arbeit erleichtern. Allein die Tatsache, dass es dank digitaler Kommunikationswege so einfach ist wie nie zuvor, eine Vielzahl an Menschen anzusprechen und um Unterstützung zu werben, macht Stiftungen zu Profiteuren des digitalen Wandels. Stiftungen können heute über die sozialen Netzwerke mit wenig Aufwand auf sich aufmerksam machen und das Interesse potentieller Geldgeber wecken. Und während die niedrigen Zinsen Stiftungsverantwortlichen die Arbeit schwer machen, entwickeln sich im Internet neue Möglichkeiten der Finanzierung. Mit der Schwarmfinanzierung, dem Crowdfunding, gibt es eine vielversprechende Form des digitalen Mikro-Mäzenatentums, und erste erfolgreiche Beispiele etwa im Medienbereich zeigen, was für ein enormes Potential sich hier auftut. Das Internet bietet neue Chancen im Übrigen nicht nur für die Stiftungsfinanzierung, sondern auch für die Vernetzung mit geeigneten Kooperationspartnern. Mein Haus arbeitet bei der Digitalisierung von Kulturgut bereits hervorragend mit Stiftungen zusammen und investiert hier erhebliche finanzielle Mittel – sei es für die Digitalisierung des nationalen Filmerbes (2016 fließen für Digitalisierungsvorhaben je 250.000 Euro an die Stiftung Deutsche Kinemathek, die DEFA-Stiftung, die Murnau-Stiftung und das Deutsche Filminstitut), sei es für die Deutsche Digitale Bibliothek (DDB), das gemeinsam von Bund und Ländern betriebene Zugangsportal zu digitalen Objekten aus Kultur und Wissenschaft in Deutschland. Dafür haben wir bis Ende 2015 knapp 30 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Trotz der öffentlichen Grundfinanzierung ist die DDB offen für Kooperationen mit privaten Partnern. Welche Strategien und Perspektiven auch immer Sie heute und morgen für Ihre Stiftungsarbeit diskutieren, meine Damen und Herren: Sie können sicher sein, dass Stiftungen im Zeitalter der Digitalisierung an Bedeutung gewinnen. Denn unabhängig vom Stiftungszweck motivieren sie Menschen, aktiv zu werden und Verantwortung für unser Gemeinwesen zu übernehmen statt sich auf digitale Aktivitäten, auf Posts, Tweets und Likes für Kampagnen im Netz, zu beschränken. „Ich kann die Welt nicht verändern, aber einen einzelnen Menschen, mich selber“ – im Sinne dieser berühmten Worte eines berühmten Stiftungsgründers, nämlich Karlheinz-Böhms, der heute seinen 88. Geburtstag gefeiert hätte, tragen Stiftungen dazu bei, dass Menschen sich als gesellschaftliche Mitgestalter im Kleinen wie im Großen verstehen. Die Verleihung des DAVID-Nachwuchspreises – besonders engagierten und insbesondere kleinen Stiftungen gewidmet – präsentiert uns dafür sicher überzeugende Beispiele. Die Kulturnation Deutschland braucht diesen Willen zur Mitgestaltung, braucht eine starke Bürgergesellschaft, braucht Stiftungen und braucht Unternehmen, die sich als gute Bürger – als „Corporate Citizens“, wie man auf neudeutsch so schön sagt – verstehen und die in ihrem Engagement für die Kultur ja auch von der Strahlkraft der Kultur profitieren. Kultur ist – das sollte uns immer bewusst sein – nicht das Ergebnis von wirtschaftlichem Wohlstand; sie ist vielmehr dessen Voraussetzung. In diesem Sinne, verehrte Damen und Herren, wünsche ich Ihnen zwei inspirierende Konferenztage mit wertvollen Impulsen für Ihre Arbeit, die Ihnen nicht nur durch die Niedrigzinsphase helfen, sondern weit in eine gute Zukunft weisen!
Das Thema „Wachsende Aufgaben, niedrige Zinsen – Impulse für die Stiftungsarbeit“ stand im Mittelpunkt der Rede, die Kulturstaatsministerin Grütters auf der Stiftungsfachtagung der Sparkassen-Finanzgruppe gehalten hat.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel auf der Vollversammlung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages e. V. am 16. März 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-auf-der-vollversammlung-des-deutschen-industrie-und-handelskammertages-e-v-am-16-maerz-2016-792394
Wed, 16 Mar 2016 16:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Schweitzer, Herr Wansleben, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich freue mich, dass ich heute hier sein kann. Im letzten Jahr musste ich wegen der schrecklichen Germanwings-Katastrophe absagen. In diesem Jahr hätte ich beinahe wieder absagen müssen, weil ich heute eine Regierungserklärung zum morgigen und übermorgigen Europäischen Rat zu halten und auch andere Termine wahrzunehmen hatte. Aber ich habe doch noch einen Weg gefunden, denn es soll ja nicht nach systemischen Absagen aussehen, was die wirklich guten konstruktiven Beziehungen zwischen dem DIHK und der Bundesregierung und zu mir als Bundeskanzlerin konterkarieren würde. Deshalb freue ich mich, dass ich heute hier sein kann. Ich will nur stichpunktartig einige Themen anreißen, weil wir noch Zeit für die Diskussion haben wollen. Deshalb kann ich jetzt nicht in aller Ausführlichkeit über alles und jedes Thema sprechen, würde dann aber bei den Fragen, die Sie mir stellen, auf Ihre Schwerpunkte zu antworten versuchen. Thema Nummer eins, das ich ansprechen möchte: Flüchtlingspolitik. Wir setzen auf eine europäische Lösung. Ich freue mich, dass auch die Wirtschaft das unterstützt, denn die Bewegungsfreiheit, die Reisefreiheit, die Vorzüge des Binnenmarkts in der Europäischen Union sind uns gewissermaßen schon zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Es ist Teil des wirtschaftspolitischen Mehrwerts der Europäischen Union, die Chancen dieses Binnenmarkts voll ausschöpfen zu können. Es wäre daher auf Dauer eine sehr fragile Angelegenheit, wenn die Länder mit einer gemeinsamen Währung wieder Schlagbäume zwischen sich einrichten würden. Deshalb ist es wichtig, dass wir den Schengen-Raum erhalten. Das heißt, die Außengrenzen müssen geschützt werden. Und das wiederum heißt: Wir müssen auch da, wo es sich um Seegrenzen handelt, Wege finden, um mit unseren Nachbarn zu annehmbaren Ergebnissen zu kommen. Das ist im Fall der Ägäis, der Hauptfluchtroute der letzten Monate, im Grunde noch eine relativ einfache Variante dahingehend, als mit der Türkei Absprachen getroffen werden können. Wenn wir an das Mittelmeer zwischen Nordafrika und Italien denken, dann wissen wir, dass so etwas mit Libyen, wo wir immer noch keine Einheitsregierung haben, wo auch der IS durchaus vorhanden ist, sehr, sehr viel schwieriger ist. Aber die Hauptfluchtroute verläuft jetzt über die Türkei; und wir tun jetzt alles, sie auch dadurch einzudämmen, dass wir mit der Türkei Absprachen treffen und dahingehend auch, hoffe ich, auf dem jetzt anstehenden Europäischen Rat vorankommen. Ich habe dazu gerade auch im Deutschen Bundestag ausführlich Stellung genommen. Wir sollten nie vergessen: Wenn wir eine nachhaltige Lösung erreichen wollen, ist natürlich das Allerbeste, bei der Bekämpfung der Fluchtursachen anzusetzen. Deshalb werden die Politikbereiche Entwicklungspolitik und die Suche nach diplomatischen Lösungen in der Außenpolitik, aber zum Teil auch militärische Beiträge im Kampf zum Beispiel gegen den IS sehr viel stärker als früher Teil unserer zukünftigen Arbeit sein. Denn wir sehen, in unserer Umgebung – und Syrien ist nicht sozusagen hinter Australien, sondern mehr oder weniger vor der Haustür Europas – erreichen uns Konflikte in viel stärkerer Weise, als wir uns das vielleicht noch vor ein paar Jahren vorgestellt haben. Wir werden am Freitag wieder mit dem türkischen Ministerpräsidenten zusammenkommen und dann, hoffe ich, eine Abmachung treffen, mit der wir vor allen Dingen auch die illegale Migration bekämpfen können, da im Augenblick die Ägäis in der Hand von Schleppern und Schmugglern ist. Es kann und darf nicht der Weg sein, Menschen in Not dadurch zu helfen, dass diese mithilfe von viel Geld in mafiösen Strukturen Schutz suchen müssen. Allein im vergangenen Jahr sind 800 Menschen in der Ägäis ertrunken, in diesem Jahr waren es schon 320. Das ist ein wirklich gefährlicher Weg. Ich möchte mich bei der Wirtschaft dafür bedanken, die ihren Beitrag zur Integration leisten möchte. Wir haben heute im Kabinett wieder darüber gesprochen. Die Beiträge der Wirtschaft sind noch sehr punktuell. Die verschiedenen Anbieter und Beiträge sind auch noch nicht so geordnet, wie wir das vielleicht noch machen müssten. Das aber, was jetzt in der Anfangsphase geleistet wird, ist auch gut. Wir müssen Erfahrungen sammeln und uns fragen: Was lehrt uns das? Was bedeutet das für die Ausbildungsgänge? Muss man andere, modulare Ausbildungen anbieten? Was bedeutet das für die Art der Sprachausbildung, die wir brauchen? Wir müssen die Sprachausbildung der Bundesagentur für Arbeit und die Sprachausbildung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge besser einander annähern. Wir werden auch Menschen haben, die vielleicht erst überzeugt werden müssen, dass eine berufliche Ausbildung richtig und gut ist, obwohl man mit einfacher Arbeit erst einmal mehr Geld verdienen könnte. Oft stehen ja auch Familien dahinter, die Erwartungen an die jungen Menschen haben, die vielleicht arbeiten gehen. Das heißt also, wir haben viel Arbeit. Aber ich glaube, dass die Bundesarbeitsministerin, der Bundeswirtschaftsminister und auch wir alle miteinander lösungsorientiert arbeiten und deshalb auch sehr bereit sind, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Vielen Dank für das große Engagement seitens der Wirtschaft. Wo immer ich hinkomme, höre ich davon. Das ist auch alles andere als selbstverständlich. Aber damit wir uns gegenseitig nicht enttäuschen, müssen wir eben auch bei diesen Fragen in einem engen Austausch stehen. Ich unterstütze Ihr Aktionsprogramm „Ankommen in Deutschland – Gemeinsam unterstützen wir Integration“ aus ganzem Herzen – und nicht nur aus dem Herzen, sondern auch mit dem, was wir einbringen können. Wir haben – Sie haben es beschrieben, Herr Schweitzer – eine ordentliche, sehr gute Beschäftigungslage. Wir haben eine vernünftige wirtschaftliche Situation. Das Wirtschaftswachstum ist nicht schlecht, aber es ist auch nicht überragend gut, muss man sagen. Wenn ich mir überlege, dass der Erdölpreis historisch niedrig ist, dass die Europäische Zentralbank sozusagen auch eine Politik macht, die Investitionen anregen soll, dann, würde ich sagen, dass das Wirtschaftswachstum noch nicht so ist, wie es sein könnte. Wir kommentieren das Handeln der Europäischen Zentralbank politischerseits nicht; ich will es bei diesem Satz bewenden lassen. Mir sind auch alle negativen Effekte sehr bewusst. Ich will nur sagen: Eigentlich müsste, wenn man die Zielstellung sieht, mit der das alles gemacht wird, und den niedrigen Ölpreis noch dazunimmt, das Wirtschaftswachstum eher größer sein, als es jetzt ist. Das heißt, wir können die Situation so nehmen, wie sie ist, aber sie kann uns nicht total beruhigen. Im Grunde will ich also Herrn Schweitzer zustimmen. Das Ganze findet in einer Phase statt, in der im Bereich der industriellen Wertschöpfung eine massive Veränderung der Wirtschaftsweise stattfindet: Industrie 4.0, das Internet der Dinge. Ich war gestern auf der CeBIT. Wir werden auch bald die Hannover Messe haben. Ich habe jüngst wieder zwei große mittelständische Unternehmen besucht: Festo und Aesculap. Dort sieht man, wie sich die Produktionsweise verändert, was sich in den Betrieben tut, was an Automatisierung dazukommt. Wir stehen eben vor großen Herausforderungen. Was passiert mit denen, die Güter produzieren, und was passiert mit der Kundenbindung? Wie schieben sich sozusagen Internetunternehmen zwischen Kunden und Hersteller? Schaffen wir es als Produzenten und Nation einer starken Industrie und Wirtschaft, die Kontakte zum Kunden auch in die Zeit des Big-Data-Managements zu übernehmen? Ich glaube, daran entscheidet sich sehr, sehr viel. Ich denke, das ist auch im Mittelstand inzwischen angekommen. Wir müssen auch bei diesen Fragen die Vorteile der Europäischen Union nutzen. Natürlich müssen wir auch den Breitbandausbau vorantreiben. Ich glaube, hierbei macht die Bundesregierung mit 50 Megabit pro Sekunde bis 2018 zumindest ein ordentliches Angebot. Aber für alles, was Sie brauchen, um die Vernetzung des Internets der Dinge wirklich leben zu können, reicht das natürlich nicht aus. Wir brauchen breitflächigen Glasfaserausbau. Wenn Sie sehen, in welch atemberaubendem Tempo sich zum Beispiel das automatische Fahren entwickelt, dann erkennen Sie, dass wir es mit Entwicklungen zu tun haben, die nach diesem riesigen Technologieschub innerhalb der nächsten zehn Jahre darüber entscheiden werden, wo Deutschland künftig wirtschaftlich stehen wird. Deshalb ist es schon sehr, sehr wichtig, dass wir auf Investitionen hinarbeiten, dass wir auf Flexibilität auch in der Arbeitsgestaltung hinarbeiten. Und deshalb stehe ich aus voller Überzeugung auch dazu, dass Neuregelungen der Zeitarbeit und Werkverträge entsprechend der Koalitionsvereinbarung umgesetzt werden und dass daraus nicht mehr wird. Für die Politik heißt es, mehr zu investieren – vor allen Dingen in die Infrastruktur. Ich habe Breitband genannt. Auch Mobilität, also Straßen und Schienen, sind von allergrößter Bedeutung. Im Zusammenhang mit niedrigen Zinsen gibt es natürlich eine Reihe von Herausforderungen für Sie, was zum Beispiel Pensionsrückstellungen anbelangt. Da haben wir versucht, Lösungen anzubieten. Aber natürlich sind das alles immer die zweitbesten Lösungen. Noch besser wäre es, wir kämen wieder in eine Balance, in der sich Inflation und Zinsen wieder vernünftig entwickeln. Wir sehen natürlich, dass im Augenblick unsere Konjunktur im Wesentlichen durch Binnenkonsum getragen wird. Das Außenhandelsumfeld ist für die meisten von Ihnen sehr unsicher, glaube ich. Wir haben zwar eine relativ stabile Konjunktur in den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir haben aber Unsicherheiten im Zusammenhang mit China, das sich in einer Umstrukturierungsphase befindet. Die weltwirtschaftlichen Gegebenheiten sind eben nicht so, dass man von ganz sicheren Erwartungen ausgehen kann. Umso wichtiger ist es, dass wir im Lande versuchen, unsere Stabilität zu halten und nicht Enttäuschungen zu produzieren. Dazu gehört in Ihren Kreisen das Thema Erbschaftsteuer. Ich freue mich, Herr Schweitzer, dass Sie schon ein bisschen Licht am Ende des Tunnels sehen. Ich habe vor vielen Monaten auch schon andere Kommentare von Ihnen gehört. Jetzt kommt es wirklich darauf an, dass wir eine Lösung finden, bevor es zu spät ist, denn Ende Juni läuft die Möglichkeit aus. Und wenn das Bundesverfassungsgericht das Thema wieder in die Hand bekommt, dann kann es sein, dass die Verschonungsregelungen insgesamt infrage gestellt werden. Wir wissen es nicht; ich will auch nicht spekulieren. Wir haben jedenfalls einen politischen Auftrag, bis Ende Juni die Sache voranzubringen. Letzter Punkt: Der amerikanische Präsident wird nach Deutschland kommen, um die Wirtschaftsdelegation der Vereinigten Staaten von Amerika anzuführen, die dieses Jahr Gastland der Hannover Messe sind. Die Amerikaner werden mit einer großen Zahl an Wirtschaftsunternehmen kommen und sozusagen ihre Ambitionen zeigen – sie sind auf der einen Seite gut bei Internetfirmen, haben aber auch Anspruch bei produzierenden Firmen. Wir werden noch einmal verdeutlichen können, dass wir die Chance haben, mit einem riesigen Markt, mit einem Markt, der stabil wächst, mit einem Markt, der mit unserem auch von den Grundlagen des Wirtschaftens her sehr viel Gemeinsamkeit hat, die Gemeinsamkeit zu verstärken. Deshalb werde ich mich auch dafür einsetzen, dass wir in der Zeit des amerikanischen Präsidenten Barack Obama noch die wesentlichen Grundzüge des Freihandelsabkommens mit den Vereinigten Staaten hinbekommen. Denn was man hat, hat man. Positiv ist, dass wir beim Freihandelsabkommen mit Kanada jetzt auch bezüglich der Schiedsgerichtsverfahren einen großen Schritt gemacht haben. Ich glaube, das ist sozusagen die Voraussetzung, dass CETA gelingt, bevor wir dann das Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika endgültig voranbringen können. Deutschland wird sich da jedenfalls sehr aktiv einbringen. Das ist auch gut. Wenn wir sehen, wie viele Freihandelsabkommen auch im asiatischen Bereich geschlossen werden, tun wir gut daran, das auch zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Markt hinzubekommen. Insofern also: Themen noch und noch. Innovation und Forschung könnte ich noch hinzusetzen; das sind natürlich auch wichtige Themen. Wir haben Chancen, sollten aber immer gewahr sein, dass der Wettbewerb auf der Welt unheimlich hart geworden ist und dass wir durch die demografische Veränderung in den nächsten Jahren ohnehin eine ganze Reihe von Lasten tragen. Deshalb sind wir auch, wenn wir immer wieder aufgefordert werden, unseren Außenhandelsüberschuss zurückzufahren, doch ein bisschen kritisch. Ich habe es mir noch einmal angesehen: Innerhalb des Euro-Raums haben wir eine relativ ausgeglichene Handelsbilanz. Und wenn der Euro infolge der Geldpolitik so weit abgewertet wird, dann darf man sich natürlich nicht wundern, dass unsere Exporte eher zunehmen. Ich finde, man kann nicht uns dafür verantwortlich machen, dass andere Gegebenheiten so sind, wie sie sind. Deshalb sind wir auch ein Stück stolz darauf, was wir leisten. Und das – will ich abschließend noch einmal sagen – kann auch so bleiben.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der Ausstellung „Berlin – Stadt der Frauen“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-ausstellung-berlin-stadt-der-frauen–399746
Wed, 16 Mar 2016 00:00:00 +0100
Berlin
Kulturstaatsministerin
Vor einiger Zeit hat uns Deutschlands größte Boulevardzeitung erhellende Erkenntnisse der amtlichen Statistik zur Lebenssituation der Hauptstadt-Frau präsentiert: Die durchschnittliche Berlinerin besitzt demnach 13 Paar Schuhe, braucht 28 Minuten im Badezimmer und kramt ganze 67 Tage ihres Lebens in der Handtasche. Keine Ahnung, wie man so etwas als Wissenschaftler des Statistischen Landesamtes seriös ermittelt, aber eines steht fest: Solange die Statistiken darüber hinaus auch schlechtere Aufstiegschancen und geringere Einkommen von Frauen im Vergleich zu Männern ausweisen, kann eine Extra-Portion Aufmerksamkeit für das weibliche Geschlecht nicht schaden – und zwar nicht nur am Equal Pay Day kommenden Samstag. Deshalb freue ich mich, dass das Stadtmuseum Berlin in Zusammenarbeit mit dem Lette Verein uns mit der neuen Ausstellung „Berlin – Stadt der Frauen“ eine beeindruckende Hommage an die „Hauptstadt-Frau“ präsentiert. Es steht zwar längst fest, lieber Herr Spies, dass mein Haus die Stiftung Stadtmuseum – genau gesagt: die Sanierung und Modernisierung des Märkischen Museums als Teil der Stiftung – in den nächsten Jahren mit 32 Millionen Euro unterstützen wird. Schließlich gehört das Stadtmuseum Berlin mit seinen rund 4,5 Millionen Objekten und der Vielfalt seiner Bestände zu den bedeutendsten stadthistorischen Sammlungen Deutschlands und Europas. Aber auch diese Ausstellung – das kann ich nach unserem Rundgang sagen – zeigt die Klasse Ihres Hauses, auch mit dieser Ausstellung bei mir punkten können! So unterschiedlich die Herkunft, die Lebensumstände, die Talente und Berufe der 20 Berlinerinnen sind, die uns in „Berlin – Stadt der Frauen“ begegnen – eines haben sie alle gemeinsam: Es sind Frauen, die man heute wohl als „Powerfrauen“ bezeichnen würde. Frauen, die ihren eigenen Kopf durchgesetzt haben, die ihr Schicksal in die eigene Hand genommen haben und ihren eigenen Weg gegangen sind; Frauen, die sich dafür über Konventionen hinweg gesetzt und zu ihrer Zeit und in ihrem Metier Pionierarbeit geleistet haben; Frauen, die für Emanzipation, Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe gekämpft haben und die damit zum Vorbild für andere Frauen wurden; Frauen, denen das weltoffene Berlin – ganz nach dem Ausstellungsmotto „Werde, die Du bist“ – Chancen der Selbstverwirklichung geboten hat und die, sich selbst verwirklichend, in den vergangenen 150 Jahren ihrerseits zur Strahlkraft Berlins beigetragen haben. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wieviel Kampfgeist, Sturheit und Courage es dafür noch vor nicht allzu langer Zeit brauchte, reicht ein Blick in die Gründungsresolution des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“ (ADA) aus dem Jahr 1863: Die Frau, so hieß es darin, sorge für „die Reproduktion der Familie, versorge den Haushalt, ziehe die Kinder auf und biete dem Mann einen kompensatorischen Ausgleich für den Kampf ums tägliche Brot.“ Nebenbei bemerkt: Auch die Kunst hat ihrem Ruf und ihrem Selbstverständnis als gesellschaftliche Avantgarde in Sachen Geschlechtergerechtigkeit wahrlich keine Ehre gemacht, wie die Biographien der in der Ausstellung vorgestellten Künstlerinnen zeigen. Künstlerische Fähigkeiten wurden Frauen schlicht abgesprochen, von der künstlerischen Ausbildung waren sie lange ausgeschlossen. Wo es Frauen dennoch gelang zu reüssieren, bremsten gesellschaftliche Konventionen die weibliche Schaffenskraft. So stellte der Kunsthistoriker Wilhelm Lübke 1862 mit Befriedigung fest: „Sie haben über Pinsel und Palette nicht die Sorge für die Kinder und den Mann, über den Farbtöpfen nicht die Kochtöpfe […] vergessen […]. Solange sie so treffliche Töchter, Gattinnen und Mütter sind, mögen wir, dünkt mich, es leichter ertragen, wenn sie keine Raffaels und Michelangelos werden.“ Zum Glück gab es zu allen Zeiten Frauen, die sich nicht damit begnügten, „treffliche Töchter, Gattinnen und Mütter“ zu sein – und zum Glück gab es auch Männer, die ihrer Zeit weit voraus waren, so wie der preußische Abgeordnete Wilhelm Adolf Lette, der 1866 mit immerhin 300 Unterstützern einen „Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts“ ins Leben rief und – so würden wir es heute sagen – auf Emanzipation durch Bildung setzte. Zum 150. Gründungsjubiläum im Februar, liebe Frau Madyda, gratuliere ich Ihnen nachträglich sehr herzlich! Sie und die beteiligten Schülerinnen und Schüler Ihrer Bildungseinrichtungen haben mit Ihrem Beitrag zur Ausstellung nicht nur fünf Frauen aus dem Lette Verein ein verdientes Denkmal gesetzt. Sie erinnern auch daran, dass Gleichberechtigung und Chancengerechtigkeit Errungenschaften sind, für die es sich auch heute zu streiten und zu kämpfen lohnt. Ich denke dabei nicht nur an die Reste der alten Rollenkorsetts, die Frauen (und übrigens auch Männer, wenn auch in anderen Bereichen) heute noch an der Entfaltung ihrer Potentiale hindern. Vor allem denke ich an die Menschen, die Zuflucht suchen in Deutschland und die aus den Kulturen ihrer Herkunftsregionen ein anderes Verständnis der Geschlechterrollen mitbringen. Ich gehöre zu denen, die Angela Merkel sehr dankbar sind, dass sie die europäischen Menschenrechtsstandards angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe im September 2015 zum Leitbild ihrer Flüchtlingspolitik gemacht hat – bei allen Risiken und Unwägbarkeiten, mit denen eine Entscheidung dieser Tragweite verbunden ist, und auch, wenn die Mühen des Helfens unser aller Kraft und Engagement erfordern, dazu langwierige und schwierige Verhandlungen auf allen politischen Ebenen, national und international. Schlimmer als daran zu scheitern wäre aber, es nicht einmal versucht zu haben! Dazu braucht es Pioniergeist und Idealismus – wie vor 150 Jahren, als Adolf Lette seinen Verein gründete. Die Geschichte des Lette Vereins ist eine Geschichte, die Mut macht und die Hoffnung weckt: die Zuversicht, dass wir über die Chancen, die unser Verständnis von Gleichberechtigung und unsere Erfahrungen mit Emanzipation durch Bildung Frauen eröffnen, auch die kulturelle Integration voran bringen können. In diesem Sinne wünsche ich dem Verein und seinen Einrichtungen weiterhin viel Erfolg und gesellschaftliche Gestaltungskraft! Leuchtende Vorbilder haben wir ja, das zeigt die Ausstellung, wahrlich genug, und erst gestern habe ich in der Zeitung gelesen, dass Berlin deutschlandweit Vorreiter für Frauen in Führungspositionen ist: Jede vierte Führungskraft ist weiblich, und jedes dritte Unternehmen wird von einer Frau gegründet. Gönnen wir uns zum Schluss trotzdem einen Blick über „Berlin – Stadt der Frauen“ hinaus: Bemerkenswerterweise haben Frauen ihre Rechte nämlich selbst in einer klassischen Männerdomäne durchgesetzt – im Fußball. Heute weiß kaum noch jemand, dass bis 1970 tatsächlich ein Frauenfußballverbot des DFB galt. Aus – ich zitiere – „grundsätzlichen Erwägungen und ästhetischen Gründen“ waren Fußballspiele mit weiblicher Beteiligung unter Androhung heftiger Strafen für die Vereine untersagt. Kein Scherz! Die theoretische Untermauerung lieferten Publikationen wie die 1953 veröffentlichte Studie eines niederländischen Psychologen und Anthropologen. Darin heißt es, ich zitiere: „Das Fußballspiel als Spielform ist wesentlich eine Demonstration der Männlichkeit. Es ist noch nie gelungen, Frauen Fußball spielen zu lassen, wohl aber Korbball, Hockey, Tennis und so fort. Das Treten ist wohl spezifisch männlich, ob das Getretenwerden weiblich ist, lasse ich dahingestellt. Jedenfalls ist das Nichttreten weiblich.“ Das, meine Damen und Herren, würde heute vermutlich niemand mehr leichtfertig behaupten – und das liegt gewiss nicht nur an den zwei WM- und den acht EM-Titeln der deutschen Frauen-Nationalmannschaft. Da wäre es doch gelacht, wenn die Erfolgsgeschichte weiblicher Emanzipation sich nicht auch in Zukunft weiter erzählen ließe! Der Ausstellung „Berlin – Stadt der Frauen“ wünsche ich in diesem Sinne viele interessierte Besucherinnen und Besucher, die sich von den 20 Frauenbiographien inspirieren lassen.
Das Berliner Stadtmuseum stellt in einer Ausstellung die Lebenswege von 20 außergewöhnlich engagierten und kreativen Frauen vor. „Sie erinnern auch daran, dass Gleichberechtigung und Chancengerechtigkeit Errungenschaften sind, für die es sich auch heute zu streiten und zu kämpfen lohnt“, erklärte Kulturstaatsministerin Grütters bei der Eröffnung der Schau.
Laudatio von Kulturstaatsministerin Grütters zur Verleihung des „Kulturgroschens“ an Wolfgang Thierse
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/laudatio-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-verleihung-des-kulturgroschens-an-wolfgang-thierse-792226
Tue, 15 Mar 2016 00:00:00 +0100
Im Wortlaut: Grütters
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort.- Es muss an Deinem berühmten, zauseligen Vollbart liegen: Bis vor kurzem war ich der festen Überzeugung, dass Du ein waschechter Berliner bist – als „Ossibär“ ebenso urberlinerisch wie das lokale Wappentier. Und dann Deine Kampfansage an „Wecken“ und „Zwetschgendatschi“, Dein beherzter Versuch, zumindest die „Schrippe“ und den „Pflaumenkuchen“ vor der Gentrifizierung zu bewahren, Deine verbale Auflehnung gegen den Einzug der schwäbischen Kehrwochen-Kultur am Kollwitzplatz! So viel Berliner Schnauze legt die Vermutung nahe, dass Du hier aufgewachsen bist. Ich als zugereiste Münsteraner Katholikin habe mich deshalb der schönen Illusion hingegeben, wenigstens einen katholischen Preußen zu kennen (noch dazu einen, der sich mit mir zusammen für die Hedwigs-Kathedrale einsetzt …). Da ließ sich dann auch leichter verschmerzen, dass Du Sozialdemokrat bist. Nun wissen wir beide, dass der Glaube zwar Berge versetzen, aber keine Munzinger-Einträge verändern kann. Ich habe also zur Kenntnis nehmen müssen, dass Du in Breslau geboren bist und erst zum Studium nach Berlin kamst. Aber so wie die Spätberufenen / die Konvertiten oft die strengsten Gläubigen sind, so sind die Zuzügler oft die größten Berlin-Patrioten – mich selbst eingeschlossen, auch wenn mir das Wort „Schrippe“ bis heute nicht über die Lippe kommt. (Im Münsterland sagt man ganz einfach „Brötchen“). Breslau also: Diese Geburtsstadt hast Du mit einem Mann gemeinsam, zu dessen politischen Urenkeln Du gehörst und dessen Bekenntnis zum klaren Wort Du teilst – mit Ferdinand Lassalle, dem Vater der deutschen Sozialdemokratie. „Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.“ Mit Lassalles berühmten, kämpferischen Worten sind Deine Haltung, Dein Werdegang und Deine politischen Verdienste im Grunde schon treffend beschrieben. Um ein offenes Wort und einen eigenen Standpunkt warst Du nie verlegen: – nicht in jungen Jahren in der ehemaligen DDR, als Deine Zeit als Mitarbeiter des Kulturministeriums 1976 nach nur einem Jahr ein jähes Ende fand, weil Du im Zusammenhang mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns durch – ich zitiere – „unbotmäßige Reden“ – aufgefallen bist; – nicht in Deinem Engagement als Bürgerrechtler, als Stimme für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte, die 1989 auch im Neuen Forum und 1990 in der neu gegründeten SPD-Ost Gehör fand, unter anderem mit der damals eher unüblichen Botschaft an Deine Landsleute, dass sie mit dem Beitritt zur Bundesrepublik „nicht ins Paradies, aber auch nicht in die Hölle“ kämen; – und schließlich auch und erst recht nicht in den 23 Jahren, in denen Du dem Deutschen Bundestag angehört hast, sieben Jahre davon als dessen Präsident. Berühmt und berüchtigt, geschätzt und gefürchtet warst Du als „Vater Courage“ (als solcher hat die Süddeutsche Zeitung Dich einmal gepriesen) und als wortgewaltiger Redner, der seine Argumente mit der Stringenz eines Mathematiker und der Leidenschaft eines Weltverbesserers vorzutragen wusste, letzteres nicht immer zur hellen Freude meiner Fraktion… . Trotzdem war ich froh, Dich als Mitstreiter im Kulturausschuss zu haben, denn Du warst immer wieder Garant für fruchtbare, erhellende, ja manchmal auch beglückende Debatten – lebender Beweis für die Vermutung, dass es im Deutschen Bundestag nicht nur Klugheit, sondern auch Weisheit gibt. Weise, lieber Wolfgang, das warst Du vor allem dort, wo Fronten verhärtet waren und die Gräben zwischen unterschiedlichen Standpunkten unüberwindbar schienen. Nicht mit dem Kopf durch die Wand, sondern mit Köpfchen durch Türen zu gehen, die Du als zäher Verhandler und als empathischer Vermittler geöffnet hast – auch das zählt neben Deinem herausragenden Engagement für Kunst und Kultur, für Künstlerinnen und Künstlern zu Deiner kulturpolitischen Lebensleistung, die wir heute ehren. So sehr Du mit Deinen Worten anecken konntest, so sehr konntest Du mit Deinem sprachlichen Gespür auch vermitteln und versöhnen. Das gilt vor allem für Dein Lebensthema und Herzensanliegen, die Erinnerungskultur. Ich denke da zum Beispiel an die beharrliche Überzeugungsarbeit, die Du für das Denkmal für die ermordeten Juden Europas geleistet hast, für eine im Herzen der Hauptstadt präsente Mahnung „die Menschenrechte nie wieder anzutasten, stets den demokratischen Rechtsstaat zu verteidigen, die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz zu wahren und jeder Diktatur und Gewaltherrschaft zu widerstehen“, wie es im Beschlusstext des Deutschen Bundestages heißt. Ich denke aber auch an die salomonische Lösung, mit der Du die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung““ zu einem gesamtstaatlichen Projekt gemacht und ihr trotz jahrelanger erbitterter Auseinandersetzungen den Geist der Versöhnung eingehaucht hast: So ist die Vertreibung der Deutschen für die Stiftungsarbeit laut Konzeption nur ein Schwerpunkt, aber in der Dauerausstellung ist sie der Schwerpunkt. Ja, manchmal macht ein Satz den Unterschied – und manchmal sogar nur ein Wort. Genau wie Du bin ich deshalb reflexhaft an die Decke gegangen, als ich zum ersten Mal von dem Vorschlag gehört habe, das Gelände des einstigen DDR-Ministeriums für Staatssicherheit zum „Campus der Demokratie“ zu machen. „Campus für Demokratie“, muss es natürlich heißen, wenn überhaupt, ein Ort der Aufklärung über Diktatur und Widerstand, der der Verpflichtung zur schonungslosen Aufarbeitung und zur kritischen Auseinandersetzungen mit der Diktatur ebenso gerecht wird wie der Situation der Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR, insbesondere der Opfer von Stasi und SED-Diktatur. Beides war für Dich immer eng miteinander verbunden. Das kleine Wörtchen „für“ zeigt hier jedenfalls einmal mehr, wie sehr es in der Politik auf Sprache ankommt – und auf Politiker wie Dich, die nicht nur den Mut, sondern auch das sprachliche Gespür haben, um – im Sinne Ferdinand Lassalles – auszusprechen, was ist. Glaubwürdig warst Du in Deinem leidenschaftlichen, kulturpolitischen Engagement für Demokratie und Freiheit aber nicht nur kraft Deiner Lebenserfahrung, lieber Wolfgang, sondern auch kraft Deiner Verwurzelung im Glauben. Dass ein demokratischer Staat auf die Religion als Wertereservoir nicht verzichten kann, hast Du in Reden und Interviews immer wieder hervorgehoben; auch diese Überzeugung verbindet uns. Ethisch zu argumentieren und nicht rein pragmatisch, Ideale zu haben und nicht nur Ziele – das ist in der demokratischen Praxis ebenso unbequem wie es für die Verteidigung demokratischer Werte unverzichtbar ist. Wenn ich mir die gegenwärtige Weltlage anschaue, dann bedauere ich es deshalb umso mehr, dass Deine Stimme im Deutschen Bundestag nicht mehr zu hören ist. Denn die überzeugten Humanisten und moralischen Autoritäten brauchen wir in und für Europa heute mehr denn je. Otto von Bismarck – auch ein Freund der klaren Worte und des geschliffenen sprachlichen Stils, der nebenbei bemerkt nicht nur den Begriff „Realpolitik“, sondern auch den Begriff „Zivilcourage“ geprägt hat … – Otto von Bismarck also hat einmal gesagt: „Prinzipien haben heißt, mit einer Stange quer im Mund einen Waldlauf zu machen.“ In diesem Sinne, lieber Wolfgang, darf ich Dich dazu beglückwünschen, dass Du Deine kulturpolitischen Ziele nie aus den Augen verloren hast und mit der Stange im Mund immer wieder angekommen bist! Herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung mit dem Kulturgroschen!
Der Deutsche Kulturrat hat den früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse mit dem „Kulturgroschen“ ausgezeichnet. In ihrer Laudation unterstrich Kulturstaatsministerin Grütters Thierses „leidenschaftliches, kulturpolitisches Engagement für Demokratie und Freiheit“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der 3. Interparlamentarischen Konferenz zur Bekämpfung von Antisemitismus am 14. März 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-3-interparlamentarischen-konferenz-zur-bekaempfung-von-antisemitismus-am-14-maerz-2016-392924
Mon, 14 Mar 2016 15:10:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Sehr geehrter Herr Vorsitzender Mann, sehr geehrte Frau Bundestagsvizepräsidentin Pau, sehr geehrter Herr Klein, sehr geehrter Herr Kommissar Timmermans, sehr geehrte Ministerinnen und Minister, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, meine Damen und Herren, es freut mich sehr, Sie, nachdem Sie in London und Ottawa waren, in Berlin zur nunmehr dritten Interparlamentarischen Konferenz zur Bekämpfung des Antisemitismus begrüßen zu können. Ich sage es aus vollem Herzen: Dies ist ein außerordentlich wichtiges Thema in Deutschland, in Europa, aber eben auch in anderen Teilen der Welt. Hier im Deutschen Bundestag sprach vor gut eineinhalb Monaten Ruth Klüger, eine Überlebende des Holocaust, zum diesjährigen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, also am 27. Januar – dem Tag, an dem 1945 das Konzentrationslager Auschwitz befreit wurde. Ruth Klüger berichtete uns von ihrem Leid. Sie erzählte, wie sie als 12-Jährige nur knapp ihrer Ermordung im Konzentrationslager entgangen sei, indem sie angegeben habe, schon 15 Jahre alt zu sein und damit die Anforderungen für den Arbeitsdienst zu erfüllen. So kam sie in ein anderes Lager, in dem Schwerstarbeit auf sie wartete. Trotz widrigster Bedingungen schaffte sie es zu überleben. Ruth Klüger berichtete uns auch darüber, wie sie die ersten Jahrzehnte nach 1945 in Deutschland erlebt habe – wie sie darunter gelitten habe, dass zu viele Menschen in Deutschland zu den Verbrechen im Nationalsozialismus geschwiegen haben. Sie schilderte, wie sie zufällig auch einen ihrer Peiniger aus dem Lager wieder getroffen und erkannt habe und wie sie wieder Worte der Hetze aus seinem Mund habe hören müssen. Allein sich diese Situation vorzustellen, ist schier unerträglich. Meine Damen und Herren, zu viele Jahre vergingen, bis Ruth Klüger und die anderen Überlebenden der Shoa endlich mehr und mehr Gehör fanden – bis eine bewusste Auseinandersetzung mit der Geschichte Deutschlands im Nationalsozialismus begann. Wer sich einmal auf die Grauen der Shoa einlässt, indem er sich zum Beispiel ein ehemaliges Konzentrationslager anschaut, wer sich mit den vielfältigen Zeugnissen einer unseligen Leidenszeit befasst, der wird davon tief im Innersten berührt. Genau das ist lebendig gehaltene Erinnerung. Sie ist es, die uns bewegt und dazu mahnt, auch unsere heutige Welt stets mit offenen Augen zu betrachten. Sie ist es, die uns die Pflicht und Verantwortung deutlich macht, auf das gesagte Wort des „Nie wieder!“ auch Taten folgen zu lassen, wenn die Würde des Menschen bedroht oder verletzt wird – wie und wo auch immer. Sich der unantastbaren Würde eines jeden Menschen bewusst zu sein, gebietet, gegen jede Form von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit entschlossen vorzugehen – zivilgesellschaftlich, durch Bildung und, wenn nötig, mit der ganzen Konsequenz eines Rechtsstaats. Wir können den Überlebenden der Shoa gar nicht dankbar genug dafür sein, wenn sie von den Schrecken im Nationalsozialismus und ihrer leidvollen Erfahrung erzählen. Die meisten Zeitzeugen sind inzwischen gestorben, doch ihre Berichte und Erzählungen bleiben in unserem Gedächtnis fest verankert. Dies ist umso wichtiger, als Antisemitismus leider auch im heutigen Alltag präsent ist. Antisemitismus zeigt sich in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Er äußert sich in Vorurteilen, entlädt sich in verbalen Attacken und mündet oft in Gewalt. Wir dürfen uns niemals damit abfinden, sondern müssen deutlich machen: Wenn Grabsteine auf jüdischen Friedhöfen geschändet werden, dann wird unsere Kultur geschändet; wenn Synagogen zum Ziel von Hass und Gewalt gemacht werden, dann wird an den Fundamenten unserer freiheitlichen Gesellschaft gerüttelt. Deshalb nehmen unsere Sicherheitsbehörden jeden Übergriff auf Juden und jüdische Einrichtungen ernst. Antisemitische Straftaten werden konsequent mit allen rechtsstaatlichen Mitteln verfolgt. Der Kampf gegen Antisemitismus ist unsere gemeinsame staatliche wie bürgerliche Pflicht. Ich finde es deshalb außerordentlich wichtig, dass Sie sich auf dieser Konferenz zum Beispiel auch mit antisemitischen Vorfällen im Sport befassen, insbesondere im Fußball. Wie notwendig das ist, das zeigen zum Beispiel die Übergriffe auf Spieler des jüdischen Turn- und Sportvereins Makkabi in Berlin, die wir weder verharmlosen noch hinnehmen dürfen. Deshalb bin ich allen Fußballvereinen und Fangruppen dankbar, die dieses Thema entschlossen angehen. Und es freut mich auch, dass Vertreter des Deutschen Fußballbundes und der UEFA ihre Teilnahme an dieser Konferenz zugesagt haben. Denn Sport ist ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Lebens. Er vermag, aufbauend auf Werten wie Fairness und Toleranz, kulturelle Vorbehalte abzubauen. Für alle gelten ja die gleichen Regeln. Deshalb ist die Rolle, die der Sport im Kampf gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit wie auch für Integration spielt, von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Sport kann wie nur wenige andere Bereiche unseres Lebens Brücken bauen. Er kann damit auch helfen, Vorurteile abzubauen. Das ist zum Beispiel auch mit Blick auf Menschen wichtig, die in ihren Heimatländern in einem Kulturkreis geprägt worden sind, in dem Antisemitismus und Hass auf Israel von Kindesbeinen an zum Alltag gehören. Hiermit verbundene Sorgen hat vor einigen Wochen der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, öffentlich geäußert – Sorgen, die ihn angesichts der vielen Menschen umtreiben, die vor Krieg und Verfolgung in ihrer Heimat im Nahen und Mittleren Osten fliehen und bei uns Schutz suchen. Josef Schuster sagte unter anderem, dass es nicht darum gehe „eine Abneigung gegen Menschen zu schüren, die aus Gebieten kommen, wo es israelfeindliche Bilder gibt. Es geht um die Sorge, dass diese Bilder nach Deutschland transportiert werden könnten und hier zu einem Antisemitismus führen, der das Wertegefüge in eine Richtung brächte, die wir alle nicht wollen.“ Josef Schuster wurde für diese Worte zum Teil heftig kritisiert. Ich jedoch finde es völlig legitim, wenn er seine Sorge vor Antisemitismus bei Menschen äußert, die mit israelfeindlichen und judenfeindlichen Prägungen aufgewachsen sind. Entscheidend ist jedoch, welche Schlussfolgerungen wir aus dieser Sorge ziehen. Sie lauten für mich so: Jedem, der in Deutschland lebt, ob als Alteingesessener oder neu Hinzugekommener, muss klar sein, dass Antisemitismus und Vorurteile gegenüber anderen Menschen bei uns keinen Platz haben dürfen. Jedem muss klar sein, dass jeder Versuch, unsere grundgesetzlich verbürgte Glaubens- und Religionsfreiheit oder die Gleichbehandlung von Mann und Frau infrage zu stellen, das freiheitliche Gemeinwesen unseres Landes insgesamt infrage stellt und von uns nicht toleriert wird. Jedem muss klar sein, dass Offenheit, Respekt und Toleranz auf Gegenseitigkeit beruhen. Menschlichkeit bemisst sich auch am Willen zum Dialog und daran, wie wir mit dem jeweils anderen umgehen, auch wenn er uns fremd erscheint. Das ist also eine Aufforderung an uns. Meine Damen und Herren, auf Ihrer Konferenz thematisieren Sie auch die Rolle des Internets bei der Verbreitung antisemitischer und extremistischer Vorurteile. Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Akzent Ihrer Konferenz. Schon der Beschluss der Londoner Erklärung Ihrer Konferenz von 2009 hat auf die Herausforderungen hingewiesen, die durch neue Kommunikationsformen entstehen. Ich denke, dieser Beschluss ist nach wie vor gültig, zumal die Verbreitung des Internets weiter zunimmt. Er zeigt wichtige Ansatzpunkte zur Auseinandersetzung mit Antisemitismus, ganz gleich ob wir damit im Internet oder auf anderen Wegen des Austauschs zu tun haben. Dabei nehmen sich die Abgeordneten mit der Erklärung selbst in die Pflicht. Das begrüße ich außerordentlich. Denn in der Erklärung heißt es unter anderem – ich zitiere –: „Parlamentarier sollten politische Akteure, die Hassgefühle gegen Juden zeigen und den Staat Israel als jüdische Einheit bekämpfen wollen, entlarven, ihnen die Stirn bieten und isolieren.“ – Zitatende. Leider wissen wir jedoch, dass der Hass auf Juden und der Hass auf Israel zu oft eine unheilvolle Allianz bilden. Menschen werden angepöbelt, bedroht und angegriffen, wenn sie sich als Juden zu erkennen geben oder wenn sie für den Staat Israel Partei ergreifen. Wenn wir also Antisemitismus in Deutschland und Europa verurteilen, dann gilt das für jede Form von Judenfeindlichkeit. Das umfasst auch alle antisemitischen Äußerungen und Übergriffe, die als vermeintliche Kritik an der Politik des Staates Israel daherkommen, tatsächlich aber einzig und allein Ausdruck des Hasses auf jüdische Menschen sind. Es muss unmissverständlich klar sein: Wer vollkommen legitime Kritik am politischen Handeln – sei es dem unseres Landes oder dem des Staates Israel – zum Beispiel auf Demonstrationen nur als Deckmantel nutzt, um seinen Hass auf Juden auszuleben, der missbraucht unsere so wertvollen Grundrechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Meine Damen und Herren, vor mittlerweile über 50 Jahren nahmen Israel und die damalige Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen auf. Heute stehen zahlreiche Wissenschaftler, Unternehmer und Künstler beider Länder in einem in vielerlei Hinsicht gewinnbringenden Kontakt. Viele junge Menschen aus Israel sehen gerade auch in Berlin eine Stadt, die nicht nur eine Reise wert ist, sondern in der sie sich auch ihre Zukunft aufbauen wollen. Vor vier Wochen fanden hier die 6. Deutsch-Israelischen Regierungskonsultationen statt, die unsere enge Zusammenarbeit auch im politischen Bereich dokumentieren. Die enge deutsch-israelische Zusammenarbeit scheint uns heute selbstverständlich zu sein. Doch mit Blick auf den von Deutschland begangenen Zivilisationsbruch der Shoa ist sie das nicht. Deshalb muss das Vertrauen, das Deutschland heute entgegengebracht wird, uns Deutschen eine Verpflichtung sein, eine gute Zukunft nur im Bewusstsein unserer immerwährenden Verantwortung für die Vergangenheit gestalten zu können. Das heißt für uns: Wo und in welcher Form auch immer sich Antisemitismus zeigt, müssen die gesellschaftliche Selbstkontrolle und unser Rechtsstaat greifen. Das gilt, wenn Sportler Anfeindungen ausgesetzt sind, weil sie einem jüdischen Verein angehören oder Juden sind. Das gilt, wenn sich Hassparolen per Internet verbreiten. Das gilt bei Anschlägen auf Synagogen und andere jüdische Einrichtungen. Das gilt, wenn legitime Kritik an der Politik des Staates Israel zum Deckmantel für den Hass auf jüdische Menschen wird. Dass Sie sich als Parlamentarier dem Kampf gegen Antisemitismus verschrieben haben, ist von großer Bedeutung. Sie können Ihre politischen Mandate und Ämter für dieses so wichtige Anliegen nutzen und sich mit dem gleichen Akzent auch über unterschiedliche Formen des Antisemitismus in den verschiedenen Regionen unserer Welt austauschen. Dass Sie das tun, zeigt nicht nur die zahlreiche Teilnahme hier, sondern, wie mir Frau Pau sagte, auch die unglaubliche Konzentration, mit der Sie sich heute schon seit vielen Stunden diesem Thema widmen. Deshalb möchte ich Ihnen weiter eingehende Beratungen wünschen – das Thema Sport hatten Sie schon, das Thema Einwanderung kommt noch – und auch, dass diese in weiterführende Ergebnisse münden. Ich würde mich freuen, wenn ich über diese Ergebnisse informiert werde. Ich wünsche, dass die Botschaft dieser Konferenz weithin Gehör findet, und hoffe, dass Sie sich so gut verstehen, dass Sie auch Berlin ein bisschen genießen können. Ich denke, Frau Pau, stellvertretend für alle Bundestagsabgeordneten, wird eine gute Gastgeberin hier in Berlin sein. Herzlichen Dank.
in Berlin
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters beim Jahresempfang des Verbands der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS) zum Thema „Reden über Flüchtlinge. Wie Worte Wahrnehmung verändern.“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-beim-jahresempfang-des-verbands-der-redenschreiber-deutscher-sprache-vrds-zum-thema-reden-ueber-fluechtlinge-wie-worte-wahrnehmung-veraendern–789342
Thu, 10 Mar 2016 19:00:00 +0100
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort. – Anrede, Eins ist klar: Wer sich als politischer Redner, als politische Rednerin auf einen Empfang des Redenschreiberverbands wagt, darf sich rhetorisch nichts zuschulden kommen lassen: eine umständliche Passivsatzkonstruktion – und die Augenbrauen gehen hoch; eine Entgleisung ins Bürokratendeutsch – und die Gesichter versteinern; eine abgedroschene Floskel – und das Schweigen wird eisig. Da gehört jedes Wort auf die Goldwaage, dachte ich mir. Deshalb habe ich – um Ihren geschulten Ohren im weiteren Verlauf meiner Rede die Monotonie von Wortwiederholungen zu ersparen – nach Synonymen für „Redenschreiber“ suchen lassen. „Keine Synonyme gefunden“, vermeldete ein Online-Wörterbuch, versehen mit einem hilfsbereiten: „Aber meinten Sie vielleicht Radaumacher“? „Radaumacher“ für „Redenschreiber“, nun ja … Geschmackssache, vielleicht für Seehofer und Söder … Unter „Ghostwriter“ finden sich übrigens auch keine besseren Alternativen. Da heißt es ebenso lapidar: „Keine Synonyme gefunden. „Aber meinten Sie vielleicht: ,Gastritis, Gastarbeiter, Gagtöter‘“? Das klingt zumindest nach einem spannenden Berufsfeld, meine Damen und Herren. Und nebenbei nach einem ersten Beispiel, wie Worte Wahrnehmung verändern: Welcher Redenschreiber, welche Redenschreiberin lässt sich schon gerne aufs rhetorische „Radaumachen“ reduzieren? Wer sich an diesen Beruf wagt, muss die leisen ebenso wie die lauten Töne beherrschen, braucht Empathie und Fingerspitzengefühl und dazu stilistische Virtuosität, um die Persönlichkeit, die Gedankenwelt, die emotionalen wie die rationalen Beweggründe eines Redners, einer Rednerin in feinen sprachlichen Nuancen abbilden zu können – nicht zu vergessen natürlich politisches Gespür, um einschätzen zu können, wann und wen man mit „Radaumachen“ überzeugt – oder auch nicht -, und mit welchen Risiken und Nebenwirkungen eine bestimmte Art der Rhetorik verbunden ist. Redenschreiberinnen und Redenschreiber, die auf der ganzen Klaviatur der Sprache spielen, sind eben nicht einfach Radaumacher, die für die Anliegen ihrer Auftraggeber trommeln. Vielmehr arbeiten sie, um im Klang-Bild zu bleiben, mit an der Komposition manch öffentlich wahrgenommener Wortbeiträge und haben damit auch Einfluss darauf, welche Töne die öffentliche Debatte bestimmen. Dass es mit dem Verband der Redenschreiber deutscher Sprache eine Organisation gibt, die sich als Lobby demokratischer Rede- und Debattenkultur versteht, ist in Zeiten, die eben diese Kultur auf eine harte Bewährungsprobe stellen, wichtiger denn je. Deshalb habe ich Ihre Einladung gerne angenommen, mit Ihnen gemeinsam darüber nachzudenken, wie Worte Wahrnehmung beeinflussen und Wirklichkeit vereinnahmen können, wie Worte vielleicht auch Politik machen, konkret: wie Worte Flüchtlingspolitik machen. Worte sind Wegweiser des Denkens, und das gilt erst recht in einer politischen Ausnahmesituation, wie wir sie im Moment erleben. Ich persönlich gehöre zu denen, die Angela Merkel sehr dankbar sind, dass sie die europäischen Menschenrechtsstandards angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe im September 2015 zum Leitbild ihrer Flüchtlingspolitik gemacht hat – bei allen Risiken und Unwägbarkeiten, mit denen eine Entscheidung dieser Tragweite verbunden ist, und auch, wenn die Mühen des Helfens unser aller Kraft und Engagement erfordern, dazu langwierige und schwierige Verhandlungen auf allen politischen Ebenen, national und international. Schlimmer als daran zu scheitern wäre, es nicht einmal versucht zu haben! Natürlich sehe ich aber auch die Gefahren, nicht zuletzt mit Blick auf die Ergebnisse bei den Kommunalwahlen in Hessen vergangenes Wochenende und auf die Prognosen für die bevorstehenden Landtagswahlen am kommenden Sonntag. In einer Situation, in der Mitgefühl mit den Entwurzelten auf Ablehnung der Fremden trifft, in der sich zwischen überwältigender Hilfsbereitschaft auf der einen Seite und hasserfüllter Hetze auf der anderen Seite Verunsicherung, Misstrauen und Zukunftsangst breit machen, in dieser Situation wiegen Worte umso schwerer, vor allem dann, wenn sie Übersichtlichkeit und Sicherheit versprechen. Eine solche Ausnahmesituation ist die Stunde der Populisten, der schlichten Weltbilder, der einfachen Lösungen. Ich will hier gar nicht näher eingehen auf die geistigen Brandstifter, die ihre fremdenfeindlichen Ressentiments ganz unverhohlen zur Schau stellen und mit menschenverachtenden Parolen gegen anders Lebende, anders Aussehende, anders Glaubende und anders Denkende hetzen. Verrohung beginnt immer in der Sprache. Sie beginnt dort, wo selbst ernannte „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ die Werte der Kultur, die sie zu verteidigen vorgeben, durch ihre jeder Menschlichkeit spottenden Worte mit Füßen treten. Verrohung breitet sich aus wie ein Virus, wenn Begriffe, die ihre Wurzeln in diesem Nährboden aus Vorurteilen und Demokratiefeindlichkeit haben, in den demokratischen Diskursraum hineinwuchern und dort neue Blüten treiben. Der Begriff „Lügenpresse“ – einst von den Nationalsozialisten verwendet, um unabhängigen Journalismus zu diffamieren und Einschränkungen der Pressefreiheit zu rechtfertigen – hat es nicht umsonst zum Unwort des Jahres 2014 gebracht. Er wird salonfähig, wenn tatsächliche oder auch nur vermeintliche Fehler und Versäumnisse in der Medienberichterstattung von seriösen Politikern zu den Machenschaften eines „Schweigekartells“ erklärt werden. Er verändert die Wahrnehmung, weil Medienkritik damit nicht mehr dem konkreten Einzelfall gilt, sondern dem Mediensystem, den „gleichgeschalteten Systemmedien“, den „Mainstreammedien“ – um die gängigen Begriffe aufzuzählen, mit denen zum Angriff gegen Journalisten geblasen und Stimmung gegen die Pressefreiheit und damit gegen die Demokratie gemacht wird. Das ist brandgefährlich. Nicht weniger gefährlich als in Form der Einwanderung solcher Kampfbegriffe in den öffentlichen Sprachgebrauch scheint mir die Macht der Worte dort, wo sie auf subtile Weise, ohne dass wir es bemerken, Einfluss nimmt auf unser Wahrnehmen und unser Denken, wo sie sich „auf leisen Sohlen ins Gehirn“ schleicht. So hat ein amerikanischer Professor für kognitive Wissenschaften die „heimliche Macht der politischen Sprache“ beschrieben. Um eine leise Ahnung von dieser Macht zu bekommen, muss man keine der zahlreiche Studien von Hirnforschern und Psychologen gelesen haben, die zeigen, wie Worte Wahrnehmung und Denkmuster prägen – ja, gleichsam die Brille sind, durch die wir die Welt sehen. Es reicht, genauer hinzu schauen, wie wir über Flüchtlinge reden. Wenn beispielsweise im Zusammenhang mit Schutz suchenden Menschen – wie so oft – metaphorisch von einer „Flüchtlingswelle“ oder einer „Flüchtlingsflut“ die Rede ist, vom „Zustrom“ aus Slowenien, der größer sei als der „Abfluss“ nach Deutschland, wenn führende deutsche Intellektuelle von der „Überrollung Deutschlands“ und von einer „Flutung des Landes mit Fremden“ reden, dann ist damit eben nicht nur kurz und bündig die Tatsache umschrieben, dass es täglich Tausende sind, die über die Grenze kommen. Solche Metaphern lassen ein umfassendes Bild der Wirklichkeit entstehen. Zu diesem Bild gehört das Gefühl der Bedrohung, denn eine Flut überschwemmt alles, wenn man nicht in einem Akt der Notwehr Dämme und Schutzwälle errichtet. Zu diesem Bild gehört das Ausblenden von Schuld, denn für eine Flut trägt niemand Verantwortung. Zu diesem Bild gehört die apokalyptische Stimmung, die Hysterie und Panik schürt. Gleichzeitig bleiben uns die Schutzsuchenden fremd, wenn sie uns nur als Gesichts- und Geschichtslose begegnen: als „Flüchtlingsstrom“ – wie eine Naturkatastrophe, die über Deutschland und Europa herein gebrochen ist. Das Verschwinden der einzelnen Schicksale in der Masse entmenschlicht, wo es ums nackte Überleben geht – und auch um das Überleben der Menschlichkeit. Es macht taub und blind für Not und Leid. Es befreit vom Mitgefühl. Für manche legitimiert es vielleicht sogar Gewalt. Und es legt eine sehr einfache Lösung nahe: Schotten dicht machen, und die Welt ist wieder in Ordnung. So pflastern Worte mit der Macht der Sprachbilder – der Metaphern – die breiten und ebenen Wege, die dem Denken und Handeln die Richtung weisen. Es geht dabei, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, nicht um Fragen der „Political Correctness“. In einer Demokratie müssen wir – im Rahmen geltender Gesetze – die Spannungen aushalten zwischen der Freiheit des Wortes, der Freiheit der Meinung einerseits und Verleumdung, Verachtung und Vorurteilen andererseits, ganz im Sinne Voltaires: „Ich mag verdammen, was Du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass Du es sagen darfst.“ Deshalb bringt es wenig, einzelne Worte zu stigmatisieren und gleichsam sprachpolizeilich anzuordnen, dass bitteschön statt von „Flüchtlingen“ von „Geflüchteten“ zu sprechen sei. Solche Reaktionen halte ich sogar für kontraproduktiv. Sie stärken letztlich diejenigen, die sich als Klartext-Redner und Kämpfer gegen die Unterdrückung der Wahrheit inszenieren und ihre rhetorische Wirkung nicht zuletzt einem zum Akt des Widerstands aufgeplusterten „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ verdanken. Die Macht der Worte bekämpft man als Demokrat mit der Macht der Worte – nicht mit der Sprachpolizei oder mit der Zensurbehörde. Sich diesem Kampf zu stellen, heißt zunächst einmal, sich bewusst zu werden, dass bestimmte Sprachbilder den Blickwinkel verengen, dass Lösungen nur deshalb alternativlos scheinen, weil die Wahl der Worte die Lösung des Problems vorgibt – „Dämme“ gegen „Fluten“ beispielsweise. Das sollte gerade jenen bewusst sein, die politische Lösungen entwickeln, vermitteln und beurteilen – Politikerinnen und Politikern, Redenschreiberinnen und Redenschreibern, Journalistinnen und Journalisten. Wer das scharfe Schwert der Sprache schwingt, sollte verbreitete Sprachbilder nicht unreflektiert übernehmen. Aber geht das überhaupt: in den Begriffen die Wegweiser zu erkennen und sprachlichen Irrwegen mit alternativen Vokabularien zu begegnen? Ja, ich denke schon. Ich selbst glaube dabei – und zwar nicht nur von Amts wegen, als Kulturstaats-ministerin, sondern aus persönlicher Erfahrung – nicht nur an die Macht der Worte, sondern auch und vor allem an die Kraft der Kunst, der Literatur, des Theaters oder auch des Films im politischen Diskurs. Es sind die Künstlerinnen und Künstler, die verhindern, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern! Es ist die Kunst, die uns auf neue Pfade abseits der ausgetretenen Wege politischer Rhetorik führen kann! Romane, Filme, Theaterstücke zeigen den einzelnen Menschen: zeigen Gesichter und Geschichten, offenbaren die zutiefst menschliche Sehnsucht nach Glück und Suche nach Heimat, machen Unbegreifliches verständlich – die Motive des Familienvaters etwa, der mit zwei Kleinkindern und seiner hochschwangeren Frau in einem überbesetzten Schlauchboot die Fahrt übers Mittelmeer antritt. Sie zwingen uns zum Perspektivenwechsel. Dabei gilt die Erkenntnis des Philosophen Ludwig Wittgensteins: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Vielleicht, ja wahrscheinlich, sind vor allem Literatur, Theater, Film – und sicher auch journalistische Reportagen – imstande, diese Grenzen zu verschieben: den Bereich das Denk- und Vorstellbaren zu vergrößern, Gebiete jenseits unseres Erfahrungshorizonts zu erschließen und eben dadurch auch die Grenzen unserer Empathie zu weiten – indem sie uns Fremdes vertraut macht und zeigt, dass uns als Menschen mehr verbindet als uns als Angehörige unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Sprachen trennt. In diesem Sinne erwarte ich von einer politischen Redenschreiberin, von einem politischen Redenschreiber neben einer schnellen Auffassungsgabe, worum es mir als Politikerin geht, vor allem eines: Kreativität, Inspiration und die Bereitschaft, mit mir zusammen an kraftvollen Sprachbildern zu arbeiten wie Künstler an ihren Kunstwerken. Winston Churchill, Literaturnobelpreisträger und zweifellos einer der ganz Großen in der Geschichte der Rhetorik, hat die Tätigkeit des Redenschreibens in seinem einzigen Roman einmal so beschrieben, ich zitiere: „Er kritzelte einen groben Satz, strich ihn aus, feilte ihn, und schrieb ihn wieder. Der Klang würde ihrem Ohr gefallen, der Sinn ihren Geist fördern und anregen. Was für ein Spiel dies war! Sein Kopf enthielt die Karten, die er zu spielen hatte, die Welt den Einsatz, um den er spielte … .“ Der guten alten Rede solche Bedeutung beizumessen, mag anachronistisch erscheinen in Zeiten, in denen politische Botschaften in fernsehtaugliche eineinhalb Minuten oder twitterkompatible 140 Zeichen passen müssen und die Zahl der Follower vielen wichtiger scheint als aufmerksame Zuhörer. Doch ich bin überzeugt, dass politischer Fortschritt auch in Zukunft politischer Führung und damit rhetorischer Wagnisse bedarf. Dazu brauchen wir im Kopf die Karten, die zu spielen sind, und in der Welt ein Ziel, für das es sich zu spielen lohnt – Worte und Werte also. Beide zusammen können die Welt verändern, vielleicht sogar mit einem einzigen Satz: „Wir schaffen das!“
„Worte sind Wegweiser des Denkens, und das gilt erst recht in einer politischen Ausnahmesituation, wie wir sie im Moment erleben. Ich persönlich gehöre zu denen, die Angela Merkel sehr dankbar sind, dass sie die europäischen Menschenrechtsstandards angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe im September 2015 zum Leitbild ihrer Flüchtlingspolitik gemacht hat – bei allen Risiken und Unwägbarkeiten, mit denen eine Entscheidung dieser Tragweite verbunden ist, und auch, wenn die Mühen des Helfens unser aller Kraft und Engagement erfordern, dazu langwierige und schwierige Verhandlungen auf allen politischen Ebenen, national und international. Schlimmer als daran zu scheitern wäre, es nicht einmal versucht zu haben!“ sagte Monika Grütters in ihrer Rede.
Kulturstaatsministerin Grütters zu den aktuellen Herausforderungen im Kulturgutschutz
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kulturstaatsministerin-gruetters-zu-den-aktuellen-herausforderungen-im-kulturgutschutz-421592
Fri, 04 Mar 2016 00:00:00 +0100
Im Wortlaut: Grütters
German House, New York
Kulturstaatsministerin
„Man kann Menschen einer ganzen Generation auslöschen, man kann ihre Häuser niederbrennen, aber irgendwie kommen sie wieder zurück. Aber vernichtet man ihre Errungenschaften, ihre Geschichte, ist es, als hätten sie nie existiert. Wie Asche, die verfliegt.“ Diese Worte stammen von Leutnant Frank Stokes. Sie kennen den fiktiven Charakter aus dem Film „Monuments Men“ von George Cloony vielleicht. Im Gegensatz zur Figur „Frank Stokes“ sind die Monuments Men keine Fiktion: Sie riskierten im Zweiten Weltkrieg ihr Leben für eben diese menschlichen Errungenschaften – unsere Geschichte und Kultur. Sie schützten Denkmäler vor Kriegszerstörung und brachten wertvolle Sammlungen aus Museen, Bibliotheken und Kirchen in Sicherheit. Auch heute brauchen wir – im übertragenen Sinne – Monuments Men and Women, die für den Schutz unseres kulturellen Erbes eintreten. Mit Ihren Aktivitäten in der Antiquities Coalition tun Sie genau das! Dass auch Deutschland zum Schutz des kulturellen Erbes der Menschheit beitragen kann und muss, ist unbestritten. Denn dort, wo Staaten in Kriegs- und Krisensituationen – wie zurzeit vor allem im Nahen Osten – nicht mehr in der Lage sind, ihre Kunstschätze zu schützen, steht die internationale Staatengemeinschaft in der Verantwortung. Wir sind schockiert angesichts der Bilder aus Syrien und dem Irak, die zum Teil gezielte Zerstörungen von Welterbestätten zeigen. Jahrhunderte, Jahrtausende alte Zeugnisse menschlicher Entwicklung, wie in Palmyra, Hatra oder Mossul werden binnen Sekunden dem Erdboden gleich gemacht, unwiederbringlich ausgelöscht. Die Bilder zeigen die Zerstörungen, sie zeigen aber nicht, wie Terrororganisationen, etwa der so genannte Islamische Staat, systematisch archäologische Stätten und Museen plündern und die wertvollen Antiken über Mittelsmänner auf dem internationalen Kunstmarkt verkaufen. Dennoch gilt der illegale Kunsthandel als eine der einträglichsten Finanzquellen der Terrororganisation. Was können wir tun, um diese Finanzquelle auszutrocknen und so auch der Zerstörung und Plünderungen von Kulturstätten die Grundlage zu entziehen? Für den wirksamen Schutz von Kulturgut braucht es in erster Linie klare Gesetze zur Ein- und Ausfuhr sowie Regelungen zu Sorgfaltspflichten beim An- und Verkauf antiker Objekte. Mit der Novelle zum Kulturgutschutz, die wir gerade in die parlamentarische Beratung eingebracht haben, wollen wir in Deutschland diese Regelungen verbindlich verankern. Nicht zuletzt aufgrund eigener – selbst verschuldeter – Erfahrungen mit dem Verlust von Kulturgut steht, historisch bedingt, gerade Deutschland besonders in der Verantwortung für den Schutz des kulturellen Erbes. In Deutschland führten die bitteren Erfahrung von Plünderungen ungeheuren Ausmaßes im Ersten Weltkrieg sowie der drohende Ausverkauf deutschen Kulturbesitzes zu einer ersten gesetzlichen Regelung zum Kulturgutschutz im Jahr 1919. Nach den grausamen Jahren der NS-Diktatur folgte im Jahr 1955 das Kulturgutschutzgesetz. Aufgrund der leidvollen Erfahrungen mit NS-entzogenem Kulturgut jüdischer Mitbürger und der Wegnahme deutscher Kunstwerke durch die Sowjetarmee am Ende des Zweiten Weltkriegs sollten, wie bereits 1919, durch die Eintragung national wertvollen Kulturguts in Verzeichnisse bedeutende und identitätsstiftende Kunstwerke vor Abwanderung ins Ausland geschützt werden. Die bisherigen Regelungen zur Einfuhr von Kulturgut nach Deutschland liefen jedoch in der Praxis de facto ins Leere. Sie sind nicht geeignet, den illegalen Handel mit Antiken beispielsweise aus den Kriegs- und Krisengebieten im Nahen Osten zu unterbinden und gegen organisierte Kriminalität vorzugehen.Genau dazu sind wir aber völkerrechtlich verpflichtet, nicht zuletzt durch die Unterzeichnung der UNESCO-Konvention zum Schutz von Kulturgut von 1970. Mit der Novellierung des Kulturgutschutzes in Deutschland wollen wir endlich unsere völkerrechtliche Verpflichtung einlösen und unseren Beitrag zur Eindämmung des illegalen Handels mit Kulturgütern leisten. Der illegale Handel mit Kulturgütern ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein schweres Verbrechen. Einige Kritiker halten die Regelungen zur Einfuhr von Kulturgütern für wenig sinnvoll, weil nicht bewiesen ist, dass in Deutschland und Europa mit geplünderten und illegal eingeführten Kunstschätzen und Antiken gehandelt wird. Dabei ist es illegalen Machenschaften immanent, sie nicht oder nur schwer beweisen zu können. Die geplünderten archäologischen Stätten in Syrien und Irak, die auf Satellitenbildern wie Mondlandschaften aussehen, sprechen jedoch für sich und belegen, dass es einen illegalen Handel mit Kulturgut gibt. Würde es ihn nicht geben, würden Raubgrabungen nicht stattfinden, sie würden sich schlichtweg finanziell nicht lohnen. Um kulturpolitisch gegen den illegalen Handel mit Kulturgütern aktiv zu werden, reicht die erschütternde Tatsache aus, dass es einen florierenden Markt für illegal beschaffte und geschmuggelte Antiken und Artefakte gibt, dessen Volumen das FBI auf mehrere Milliarden US-Dollar schätzt. Allein der Verdacht, Deutschland könne sich als internationale Drehscheibe für Hehlerware eignen, ist mit unserem Selbstverständnis als Kulturnation im Herzen Europas nicht zu vereinbaren. Klare Gesetze zu Ein- und Ausfuhr und Sorgfaltspflichten bei An- und Verkauf von Kulturgut sieht nun das neue Kulturgutschutzgesetz vor: Wer in Zukunft Antiken nach Deutschland einführt, braucht für jedes Stück eine gültige Ausfuhrgenehmigung des jeweiligen Herkunftslandes, das bei Einfuhr vorzulegen ist. Das ist im Grunde kein Novum, da die meisten Staaten, die prädestiniert sind, Opfer von Raubgrabungen und Schmuggel wertvoller archäologischer Objekte zu werden, eine Ausfuhr dieser Objekte nur mit einer entsprechenden Ausfuhrgenehmigung erlauben. Neu ist die erstmalige Verankerung einer solchen Praxis in einem deutschen Gesetz, gekoppelt mit ebenfalls verstärkten Rückgaberegelungen für ausländische Staaten. Darüber hinaus appellieren wir auch an die öffentlichen Museen und den Kunsthandel, ihren Sorgfaltspflichten nachzukommen. Denn Kulturgut verpflichtet – und zwar alle, die mit Kulturgut zu tun haben. Händler und Sammler, aber auch Museen und andere Kultureinrichtungen sind gefordert, ihre Bestände sorgfältig auf Provenienz hin zu überprüfen. Helfen können hierbei auch die Roten Listen, die der Internationale Museumsrat ICOM für Staaten erstellt, deren kulturelles Erbe bedroht ist. Sie dienen vor allem Behörden, der Polizei und dem Zoll, aber auch Touristen als „Warnhinweis“, um für die jeweilige Region typische Objekte schneller zu identifizieren und eine Einfuhr zu verhindern. Deutschland ist nun das erste Land überhaupt, das die Roten Listen der ICOM gesetzlich verankert und erhöhte Sorgfaltspflichten für Kulturgut vorsieht, das aus Ländern stammt, für die eine solche Rote Liste erstellt wurde. Die Novelle zum Kulturgutschutz in Deutschland ist kein nationaler Alleingang, sondern Teil verstärkter gemeinsamer Anstrengungen auf EU-Ebene. Es gibt einen breiten Konsens zwischen den EU-Kulturministern, dass nicht nur jeder EU-Mitgliedstaat Verantwortung für unser kulturelles Erbe trägt, sondern dass wir EU-weit in der Pflicht stehen. Die offenen Grenzen im EU-Binnenmarkt seit 1993 sind allerdings nicht nur Vorteil, sondern erschweren Regelungen gegen illegale Handelsströme im Binnenmarkt. Daher haben wir, gemeinsam mit Frankreich und Italien, eine Initiative zur Schaffung einer EU-weiten, einheitlichen Einfuhrregelung für den Binnenmarkt gestartet. Für den Irak und für Syrien bestehen im EU-Recht bereits strikte Ein- und Ausfuhrregelungen sowie Handelsverbote. Eine generelle Einfuhrregelung fehlt jedoch bisher und muss daher schnellstmöglich auch auf EU-Ebene geschaffen werden. Darüber hinaus wollen andere EU-Staaten ihre nationalen Anstrengungen ebenfalls intensivieren. Frankreich etwa: Staatspräsident Hollande hat im Herbst vor der Generalversammlung der UNESCO in Paris das Vorgehen gegen den illegalen Handel mit Kulturgut, auch unter dem Aspekt der Terrorismusfinanzierung, als eine seiner Prioritäten hervorgehoben. Bei all diesen Überlegungen und Vorhaben eint uns die Überzeugung, dass Kulturgüter als Spiegel unserer Geschichte und unserer Identität besonders schützenswert sind. Kunstwerke sind eben keine Handelsobjekte wie jede anderen auch, wie Gartenmöbel oder Autoreifen. Kulturgüter haben nicht nur einen (Markt-)Preis, sie haben einen Wert – einen immateriellen Wert. Dabei geht es nicht nur um die Kunstschätze jedes einzelnen Staates, sondern um das kulturelle Erbe der Menschheit in seiner Gesamtheit. Dieses Menschheits-Kulturerbe ist unser aller Erbe und daher sollten wir uns immer wieder bewusst machen, dass alle Staaten ihren Beitrag zum Erhalt und zum Schutz des kulturellen Erbes der Menschheit leisten können und müssen – sozusagen als vereinte Monuments Men and Monuments Women. Hier sind vor allem die reichen Staaten – wie die USA, die EU, aber auch die Golfstaaten – gefragt, die zwangsläufig als Absatzmarkt für illegal gehandeltes Kulturgut dienen. Kulturelles Erbe ist nicht auf Staatsgrenzen beschränkt. Wir sind nicht nur verpflichtet, den Kölner Dom, die Hamburger Speicherstadt oder die Bauhaus-Stätten in Dessau und Weimar zu erhalten. Es trifft uns auch zutiefst, wenn Tausende Kilometer entfernt eine antike Oasenstadt mutwillig in Schutt und Asche gelegt wird. Denn – ich zitiere aus der Haager-Konvention – „…jede Schädigung von Kulturgut, gleichgültig welchem Volke es gehört, [bedeutet] eine Schädigung des kulturellen Erbes der ganzen Menschheit, weil jedes Volk seinen Beitrag zur Kultur der Welt leistet.“
Das neue deutsche Kulturgutschutzgesetz sieht klare Gesetze zu Ein- und Ausfuhr und Sorgfaltspflichten bei An- und Verkauf von Kulturgut vor. Dies sei kein nationaler Alleingang, sondern Teil gemeinsamer Anstrengungen auf EU-Ebene, betont Kulturstaatsministerin Grütters. Darüber gebe es einen breiten Konsens zwischen den EU-Kulturministern.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Veranstaltung „100 Jahre Chemiestandort Leuna“ am 3. März 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-veranstaltung-100-jahre-chemiestandort-leuna-am-3-maerz-2016-336730
Thu, 03 Mar 2016 11:30:00 +0100
Leuna
Sehr geehrter Herr Günther, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Reiner Haseloff, Herr Landtagspräsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, Frau Bürgermeisterin, Herr Landrat, sehr geehrter Herr Vassiliadis, meine Damen und Herren, 100 Jahre Chemiestandort Leuna stehen für Forscherdrang, Erfindergeist und für manch neues und erstaunliches Verfahren und Produkt. 100 Jahre Chemiestandort Leuna erzählen von viel unternehmerischem Geschick und Erfolg, aber auch von Misswirtschaft und Umweltsünden sowie deren langjähriger Aufarbeitung. In den 100 Jahren Chemiestandort Leuna spiegeln sich schlichtweg Höhen und Tiefen deutscher Industriegeschichte wider. Es beginnt mit der Auswahl des Standorts Anfang des 20. Jahrhunderts – mitten im Ersten Weltkrieg. Vor 100 Jahren tobte die Schlacht von Verdun. Sie sollte zum Synonym für den Wahnsinn und die unsäglichen Schrecken des Ersten Weltkriegs werden. Die Nachfrage nach Munition war groß und damit auch nach Salpetersäure. Die chemische Industrie war technologisch in der Lage, sie zu liefern – und zwar durch Ammoniaksynthese, die eigentlich zur Herstellung von Dünger für die Landwirtschaft dienen sollte. Die Entscheidung der BASF, ein neues Werk zu bauen, fiel auf Merseburg – aus Gründen des Luftschutzes also weit weg von der französischen Grenze. Damit war der Grundstein für den Chemiestandort Leuna gelegt. Nach dem Ersten Weltkrieg wuchs der Standort um eine Produktionsanlage nach der anderen. Leuna reifte vom Dorf zum industriellen Ballungszentrum heran. Mit einer Anlage zur Kohleverflüssigung begann hier die Ära der Mineralölindustrie. 1923 gelang erstmals die Herstellung von Methanol im Hochdruckverfahren. Einige Jahre später wurde der Grundstoff für Perlon hergestellt. 1942 – also mitten im Zweiten Weltkrieg – startete die weltweit erste industrielle Produktion synthetischer Tenside. Aber auch das gehört zur Geschichte der Leuna-Werke: Tausende Zwangsarbeiter mussten unter fürchterlichen Bedingungen die Produktion während des Krieges am Laufen halten. Bei geringstem Anlass drohten drakonische Strafen. Allzu viele kamen entkräftet zu Tode oder wurden ermordet. Wo auch immer Zwangsarbeitern großes Leid widerfuhr, bleibt es unsere Pflicht, daran zu erinnern. Ich bin froh, dass es viele Initiativen zur Auseinandersetzung mit diesem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte gibt. Wir haben zum Beispiel die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“, an der auch die deutsche Wirtschaft maßgeblich beteiligt ist. Nach Kriegsende war Leuna weiterhin als Chemiestandort gefragt. Die DDR sah in diesem Chemiestandort geradezu einen Hort des Fortschritts. Aber es war ein sehr fragwürdiges Verständnis von Fortschritt, wie sich nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung recht schnell herausstellte. Denn der Standort konnte aus dem Blickwinkel des Wettbewerbs technologisch, aber vor allem auch ökologisch nicht mithalten. So wurde Leuna zu einem Symbol für die riesigen Probleme, aber auch für neue Lösungswege beim Aufbau Ost. Das alles war nur mit einem riesigen Kraftakt möglich. Ich erinnere mich noch genau an meine Besuche in der Region und daran, dass die Menschen damals auf der einen Seite voller Hoffnung angesichts der Deutschen Einheit und auf der anderen Seite aber deprimiert waren. Denn aus subjektiver Sicht hatte man herausragend gearbeitet, bei jeglicher Kalamität und Unvollkommenheit eine perfekte technische Lösung zu finden versucht. Man hatte den Betrieb immer am Laufen gehalten, immer darauf geachtet, dass unter schlechten technischen Bedingungen nichts Dramatisches passierte. Trotz aller Anstrengung und Fachbildung war dann aber die Sorge vor Arbeitslosigkeit groß. Doch wir können froh sein, dass wir als gesellschaftliches System der Bundesrepublik Deutschland das haben, was wir Soziale Marktwirtschaft nennen, der das Bekenntnis zugrunde liegt, dass wirtschaftliche Vernunft und soziale Belange zusammenkommen müssen und in der Kombination mit politischen Entscheidungen wettbewerbsfähige Strukturen hervorzubringen sind. Ich erinnere mich an ein Zweites in der damaligen Zeit, nämlich dass viele Menschen gesehen haben, dass die großen Kombinate im Grunde nicht mehr zu halten waren, und gar kein Glaube daran war, aus vielen kleinen Einheiten, sozusagen Mosaiksteinen, könne etwas Wettbewerbsfähiges entstehen. Es ist richtig, hier waren früher fast 30.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt. Aber dass es bis heute wieder 9.000 sein könnten, konnte nach der Wiedervereinigung auch niemand glauben. Die Entscheidungen, die in der viel kritisierten Treuhandanstalt gefällt wurden, kamen zustande auch aufgrund eines sehr klaren politischen Bekenntnisses von Helmut Kohl. Ich sage einmal in Klammern: Vielleicht war es ein Glücksfall, dass Helmut Kohl selbst in einer Chemieregion groß geworden ist und deshalb wusste, von welch großer Bedeutung auch für die Wertschöpfung eines Landes die chemische Industrie ist und wie wichtig es ist, dass es eine chemische Industrie nicht nur in der alten Bundesrepublik gibt, sondern dass sie auch in den neuen Bundesländern eine Chance hat. Das alles ist gut zusammengekommen und hat nun diesen Chemiepark hervorgebracht. Hinzu kam ein deutliches Bekenntnis aller kommunalpolitisch Verantwortlichen zu diesem Industriegebiet, zur Umweltsanierung, zu einer Zukunft der Industrie in dieser Region. Das wird auch von den Menschen breit mitgetragen. Heute ist also auch ein Tag des Danks an Helmut Kohl, der in jener Zeit von blühenden Landschaften in Mitteldeutschland sprach, die damals alles andere als blühend aussahen. Ich habe es an anderer Stelle neulich gesagt: Ich war mir damals noch nicht immer ganz sicher gewesen, ob es blühende Landschaften werden, habe aber tapfer immer wieder davon gesprochen. Ein herzliches Dankeschön auch an die Gewerkschaften, die damals in eine völlig neue Rolle hineinkamen. Es ging darum, Arbeitsplätze zu erhalten, Bildungsarbeit zu leisten und auch von Notwendigkeiten der Verantwortungsübernahme zu sprechen. Herr Vassiliadis, ich denke, die IG BCE hat hier in den vergangenen Jahren der Deutschen Einheit wirklich Herausragendes geleistet. All das hat dazu geführt, dass wir heute in diesem Kulturhaus nicht nur der Geschichte gedenken, sondern, Herr Günther, auch sagen können: Wir sprechen über die Zukunft; wir sprechen über InfraLeuna mit einer wettbewerbsfähigen Struktur. Nun gibt es die Möglichkeit, 100 Jahre nach der Gründung wieder Vorreiter zu sein. Die Vorbehalte gegenüber Bereiche der Chemie sind in der Bundesrepublik Deutschland durchaus immer wieder entwickelt gewesen, aber ich denke, die chemische Industrie hat selber sehr viel dazu beigetragen, dass die Akzeptanz der chemischen Industrie besser geworden ist. Natürlich haben wir auch eine Vielzahl von Regelungen eingeführt, zum Teil nach sehr kontroversen Diskussionen. Ich denke etwa an das europäische System REACH. Als ich Umweltministerin war und mich damit noch näher befassen musste, stieß die Verordnung nicht immer und überall auf große Gegenliebe. Aber ich denke, man hat einen einigermaßen richtigen Weg gefunden zwischen Kosteneffizienz und Vorsorge. Ich denke, die Wirtschaft hat inzwischen eingesehen, dass Verantwortung ein ganz wichtiger Baustein ist, um Industrie in Deutschland auch für die Zukunft fit zu machen. Dass hier die ostdeutschen – die mitteldeutschen, wie man ja hier sagt – Chemieregionen ein Taktgeber für die Zukunft sind, ist hervorragend. Es ist, wie Reiner Haseloff ja gesagt hat, auch ein wunderschönes Zeichen europäischen Zusammenwachsens, dass hier nicht nur deutsche Investoren vertreten sind, sondern auch Investoren aus Frankreich, aus Belgien und aus anderen Ländern, sodass wir hier einen internationalen Standort haben. Wir haben Aufgaben zu erledigen, zumal wir nicht allein auf dieser Welt sind. Damit wir auch in 25 und 50 Jahren sagen können, dass dies ein zukunftsfähiger Chemiestandort ist, muss immer wieder darauf geachtet werden, dass die Wettbewerbsfähigkeit erhalten bleibt und unsere politischen Rahmenbedingungen und die technischen Möglichkeiten dies erlauben. Ich denke zum Beispiel an die Energiekosten. Sie sind ein zentraler Kostenfaktor für alle, die in der chemischen Industrie tätig sind. Deshalb müssen wir in Europa immer wieder deutlich machen, dass die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen und der deutschen Industrie Voraussetzung dafür ist, dass sie eine Zukunft hat, und dass wir uns nicht damit abfinden, dass durch Abwanderung anderswo auf der Welt, wo die Umweltbedingungen viel schlechter sind, Arbeitsplätze entstehen könnten. Daher müssen wir auf dem Grat auch weiterhin gemeinsam gehen und die Energiewende und die Zukunftsfähigkeit der chemischen Industrie zusammenbringen. Ich glaube, das ist eine Aufgabe, die man schaffen kann, aber es ist keine triviale Aufgabe. Wir wissen auch, dass wir, wenn es um bessere Energieeffizienz geht, immer wieder auf technische Lösungen angewiesen sind. Da hilft keine politische Vorgabe. Es muss umgesetzt werden. Deshalb freue ich mich, dass wir nicht nur einen nationalen Energieeffizienzplan haben, mit dem die Bundesregierung zahlreiche Maßnahmen und Programme, die sich an die Wirtschaft richten, bündelt, sondern dass sich die Unternehmen am Chemiestandort Leuna bereits im vergangenen Jahr zu einem der ersten Energieeffizienz-Netzwerke zusammengeschlossen haben. Sie haben durch die Chemieparkanlage die Möglichkeit, bestimmte Dinge zu koordinieren und gemeinschaftlich besser zu nutzen. Leuna ist bei der Rohstoffnutzung ein herausragendes Beispiel für innovatives und umweltbewusstes Handeln. Die Entwicklung alternativer Verfahren zur Rohstoffnutzung ist fester Bestandteil hiesiger Unternehmen. Ein wichtiger Motor ist hierbei das Fraunhofer-Zentrum für Chemisch-Biotechnologische Prozesse. Ich war 2012 zur Eröffnung hier und erinnere mich noch sehr gut daran. Es ist eine erstklassige Anlaufstelle für alle, die stärker auf nachwachsende Rohstoffe in der chemischen Industrie setzen wollen. Carl Bosch, mit dessen Namen die Anfänge des Chemiestandorts Leuna verbunden sind – ich habe eben gesehen, dass hier ein Saal nach ihm benannt ist –, war der Ansicht – ich zitiere –: „Gute Technik ist organisierte Wissenschaft.“ Daran zeigt sich: Wissenschaft und Forschung haben in der chemischen Industrie eine große Tradition. Heute investiert die Branche in Deutschland mehr als zehn Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung jährlich. Sie ist damit Innovationstreiber nicht nur für die chemische Industrie, sondern auch für weitere Wirtschaftszweige. Die Entwicklungen aus der Chemieindustrie helfen beim Klima-, beim Umwelt-, beim Ressourcenschutz. Sie helfen uns, Speicherfähigkeiten zu entwickeln und den Verbrauch von Energie viel besser zu gestalten. Das Know-how der Branche fließt in unzählige Produkte mit ein, mit denen wir täglich zu tun haben. Ich denke, darüber müssen wir auch immer wieder mit den Bürgerinnen und Bürgern sprechen, weil sie zum Teil dazu neigen, das in der Hand befindliche Produkt von der abstrakten Chemie zu trennen. Aber die Tatsache, dass Moleküle und Atome überall vorkommen, scheint im Unterricht nicht immer vollkommen klar vermittelt zu werden, wenn ich das so sagen darf, oder nach dem Besuch der Schule in Vergessenheit zu geraten. Jedenfalls ist Chemie die Grundlage des Lebens. Es kommt nur auf die Dosis an, darüber kann man dann sprechen. Aber ohne Chemie ist nicht viel. Die Palette der Produkte reicht von Medikamenten über Putzmittel bis zum Dünger, der aus der Landwirtschaft nicht mehr wegzudenken ist. Im Übrigen wird die Bedeutung der Ammoniaksynthese für die Möglichkeit des Wachstums der Weltbevölkerung im vergangenen Jahrhundert oft unterschätzt. Düngemittel werden auch künftig ein wesentlicher Teil sein, um die weiter wachsende Bevölkerung der Welt überhaupt ernähren zu können. Im September vergangenen Jahres haben die Vereinten Nationen die Agenda 2030 verabschiedet. Darin geht es um Nachhaltigkeit und um nationale und internationale Nachhaltigkeitsziele. Ich denke, für die Erreichung dieser Ziele, zum Beispiel die Beseitigung des Hungers auf der Welt bis zum Jahr 2030 auch bei wachsender Weltbevölkerung, wird die Chemie eine zentrale Rolle spielen. Ich begrüße es deshalb sehr, dass sich die Chemiebranche mit der Initiative „Chemie³“ klar zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise bekennt. Viele Unternehmen zeigen dies. Ich denke, dass wir damit auch Akzente im internationalen Wettbewerb und bei der Schaffung internationaler Standards setzen können. Wir in den entwickelten Industrieländern haben die Verantwortung, die Verfahren der Zukunft zu entwickeln, sie effizient zu entwickeln und dann weltweit zu verbreiten. Einen zweiten Aspekt der Chemieindustrie möchte ich noch nennen. Sie ist weltweit vernetzt und Teil des weltweiten Handels. Wir in der Bundesrepublik Deutschland sind mehr als andere darauf angewiesen, dass Handel ohne Barrieren und unter fairen Wettbewerbsbedingungen stattfinden kann und dass es einen freien Zugang zu den Ressourcen der Welt gibt. Deshalb spreche ich mich hier auch nochmals für Handelsabkommen aus. Wir sind vorangekommen, was das Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada anbelangt. Ich spreche mich auch – ich weiß gar nicht, wie die IG BCE darüber denkt – für die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika aus. Ich vermute, wenn sie einer positiv sieht, dann die IG BCE. Wir werden jedenfalls darauf achten, dass die Umweltstandards, zu denen wir Handel treiben, gut sind. Die Chemiebranche gehört im Übrigen zu den Branchen, die viele zukunftsfähige und auch gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen. Fast 450.000 Arbeitsplätze – damit ist die Chemiebranche einer der größten Arbeitgeber in der Bundesrepublik Deutschland. Leuna ist mit 9.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine der Topadressen für die Beschäftigung in der chemischen Industrie. Ich gratuliere allen, die hier an diesem Standort mitarbeiten. Ich gratuliere allen, die den großen Umbruch Anfang der 90er Jahre mitgestaltet haben. Ich denke auch an die, die damals ihre Arbeit verloren haben und heute vielleicht mit etwas Wehmut an 100 Jahre Leuna zurückdenken. Ihnen allen sage ich danke. 100 Jahre und dynamischer denn je – die Chemie macht’s möglich. Herzlichen Glückwunsch. Einen guten Start ins zweite Jahrhundert, Herr Günther.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters in der Stanford-University
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-in-der-stanford-university-421588
Tue, 01 Mar 2016 00:00:00 +0100
Im Wortlaut: Grütters
Stanford, USA
Kulturstaatsministerin
In Stanford zu studieren, wo die „Luft der Freiheit weht“, davon träumen auch in Deutschland viele junge Leute. Wenn man sich darauf keine Hoffnungen mehr machen kann, so wie ich, dann gibt es nur eines, was darüber hinweg trösten kann: nämlich in Stanford einen Vortrag halten zu dürfen. Vielen Dank für die freundliche Einladung, lieber Herr Prof. Naimark! Ihre Arbeiten zur osteuropäischen Geschichte, zur Zeit des Stalinismus und zur Geschichte der Zwangsmigrationen tragen zum weltweit hohen Ansehen der Stanford University bei. Es ist mir eine Ehre, mit Ihnen und Ihren Studentinnen und Studenten heute über die deutsche Erinnerungskultur zu diskutieren – und über die Frage, was eine lebendige Erinnerungskultur ausmacht. „Die Luft der Freiheit weht“: Ja, heute kann man wieder an Deutschland denken, wenn man diesen schönen Satz des Humanisten Ulrich von Hutten hier in Stanford als Universitätsmotto liest. Doch Deutschlands Weg zur Freiheit, zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit war lang, steil und steinig. Er war geprägt von Rückschlägen und Irrwegen. Und er führte im 20. Jahrhundert durch den dunkelsten Abgrund der Geschichte, der auch hier in den USA sichtbar und gegenwärtig ist. Das United States Holocaust Memorial Museum in Washington, das ich über-morgen besichtigen werde, führt uns die Shoa vor Augen. Das Schicksal der Emigranten, die Zuflucht in den USA gefunden haben – darunter zum Beispiel der Historiker Fritz Stern – offenbart, was Deutschland mit der Ausgrenzung der deutschen Juden verloren hat. Gedenkorte für die GIs, die für die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus ihr Leben gegeben haben, zeigen, wie hoch der Einsatz der USA für die Freiheit im Zweiten Weltkrieg war. Nicht zuletzt mit Blick auf die Abgründe der eigenen Geschichte kommt der Erinnerungskultur innerhalb der deutschen Kulturpolitik eine Sonderrolle zu, und zwar insofern, als die Politik sich hier nicht auf die Verantwortung nur für die Rahmenbedingungen – den Grundsatz unserer Kulturpolitik generell – zurückziehen darf, sondern den Gegenstand selbst prägt. Nationales Erinnern und Gedenken lassen sich natürlich nicht amtlich verordnen; sie sind aber auch nicht rein bürgerschaftlich zu bewältigen. Erinnerungskultur ist deshalb immer auch eine öffentliche Angelegenheit – das heißt in staatlicher Gesamtverantwortung. Hier berühren wir Fragen des Selbstverständnisses unserer Nation. Wir formulieren den Anspruch, auch moralisch angemessen mit der eigenen Geschichte umzugehen und nicht zuletzt dadurch ein Fundament für die Gegenwart und Zukunft zu legen. Die Erinnerung an den systematischen Völkermord an den europäischen Juden als Menschheitsverbrechen bisher nicht gekannten Ausmaßes, an die Schrecken und Gräuel, die unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in deutschem Namen geschehen sind – diese Erinnerung bleibt für uns Deutsche eine immerwährende Verantwortung und Verpflichtung. Wir sind dankbar, dass Holocaust-Überlebende in den sieben Jahrzehnten, die seit der Befreiung von Auschwitz vergangen sind, Worte gefunden haben für Erfahrungen, die alle normalen Maßstäbe des Denk- und Vorstellbaren sprengen. Denn ihre Worte haben dazu beigetragen, hinter der schrecklich- nüchternen Bilanz des millionenfachen Mordes den einzelnen Menschen sichtbar zu machen: Menschen, denen die Nationalsozialisten alles genommen haben bis auf ihr Leben; Menschen, die Eltern, Kinder und Geschwister verloren haben; Menschen, die ihrer Heimat, ihrer Zukunftsträume, ihrer Lebensfreude, ihrer Würde beraubt wurden; Menschen, die an dem Leid, das man ihnen zugefügt hat, seelisch zerbrochen sind. Je weniger Holocaust-Überlebende es gibt, die uns ihre Geschichte erzählen können, desto schwieriger wird die Annäherung an das Unfassbare, und desto wichtiger werden die authentischen Gedenkorte, um deren Erhalt sich Bund und Länder in Deutschland gemeinsam kümmern. Wir erhalten insbesondere Konzentrationslager als Zeitzeugnisse für künftige Generationen. Auch zahlreiche Museen und Denkmäler – etwa das Denkmal für die ermordeten Juden Europas im Herzen der Hauptstadt Berlin – legen Zeugnis ab von der Singularität des Holocaust, dem systematischen, auf völlige Vernichtung zielenden Völkermord an sechs Millionen Juden als Menschheitsverbrechen bisher nicht gekannten Ausmaßes. Zum Erbe des wiedervereinigten Deutschlands zählt aber auch die SED-Diktatur in der ehemaligen DDR. Während im Westen Deutschlands nach 1945 der Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats gelang, entstand in der Sowjetischen Besatzungszone eine kommunistische Diktatur. Für uns, die wir in Freiheit aufgewachsen sind, ist es kaum vorstellbar, wie das allgegenwärtige, menschenverachtende System des Ministeriums für Staatssicherheit im Auftrag der Staatspartei mit seinen Spitzeln ins Leben jedes Einzelnen eindrang – in Betriebe, Universitäten, Sportvereine, Kirchen-gemeinden, ja selbst in den privatesten Kreis der Familie. Für uns ist es kaum vorstellbar, wie zermürbend die Bespitzelung und die Schikanen im Alltag waren, die Verunsicherung und die Angst – denn die Denunzianten im engmaschigen Überwachungsnetz der Staatssicherheit waren Bekannte, Nachbarn, manchmal engste Freunde und Vertraute. Es gab willkürliche und politisch motivierte Verhaftungen, Gerichtsverfahren ohne rechtsstaatliche Standards und oft langjährige Haftstrafen. An der Berliner Mauer und an der innerdeutschen Grenze bezahlten zahlreiche Flüchtlinge für ihre Hoffnung auf ein Leben in Freiheit mit ihrem Leben. Auch daran erinnern in Deutschland zahlreiche Gedenkstätten und Erinnerungsorte, Museen und Ausstellungen – beispielsweise die Gedenkstätte Berliner Mauer, das ehemalige Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen oder auch die Gedenkstätte „Point Alpha“, einst Beobachtungsstation der amerikanischen Streitkräfte an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze zwischen Hessen und Thüringen. Sieben Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs und gut ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung Deutschlands gehört die offene und schonungslose Auseinandersetzung mit den Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten, mit den Erfahrungen zweier Diktaturen und mit der Verantwortung, die daraus erwächst, zu den hart erkämpften, moralischen Errungenschaften unseres Landes. Dennoch erleben wir nach wie vor, wie schwierig es ist, Vergangenheit aufzuarbeiten und dabei unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen, unterschiedlichen historischen Erzählungen wie auch unterschiedlichen persönlichen Geschichten gerecht zu werden. Geschichte vergeht ja nicht einfach. Die Art und Weise, wie wir sie erzählend vergegenwärtigen, prägt zum einen unsere Sicht auf die Gegenwart und damit auch unser Bild von uns selbst und unserer Zukunft. Der deutsche Soziologe Max Weber hat moderne Nationen deshalb einmal als „Erinnerungsgemeinschaften“ bezeichnet, und wir sehen auf europäischer Ebene, wie es schwer Verständnis und Verständigung zwischen unterschiedlichen „Erinnerungsgemeinschaften“ häufig sind. Zum anderen sind historische Erzählungen immer auch Kristallisationspunkte sehr unterschiedlicher, vielfach leidvoller individueller Erfahrungen und Erinnerungen. Auch unter Deutschen hat es unzählige zivile Opfer gegeben, und auch sie beanspruchen Raum in unserer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung ist dafür ein gutes Beispiel. Seit 2008 gibt es die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ mit dem gesetzlichen Auftrag, – ich zitiere – „im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wachzuhalten.“ Das geht nicht ohne Irritationen und hier und da auch hitzige öffentliche Debatten. Es ist Teil demokratischer Aufarbeitung der Vergangenheit, solche Konflikte zuzulassen und sichtbar zu machen, so schmerzhaft das auch ist. Ich bin Ihnen, lieber Herr Prof. Naimark, sehr dankbar, dass Sie als Mitglied im Wissenschaftlichen Beraterkreis Ihre Expertise in den Aufbau der Stiftung eingebracht haben und hoffe, dass Sie uns – und auch die neue Direktorin Frau Dr. Bavendamm, bisher Direktorin des Alliiertenmuseums – weiterhin unterstützen. Meine Hoffnung ist, dass der Erfahrungsschatz der deutschen Vertriebenen uns auch in besonderer Weise fähig macht zur Empathie mit Menschen, die heute Zuflucht suchen in Deutschland. Auch wenn man die Flucht aus Syrien, Irak oder Afghanistan aus vielerlei Gründen nicht mit der Vertreibung aus Ostpreußen, Schlesien oder Pommern vergleichen kann, so sind die Erfahrungen entwurzelter und ihrer Heimat beraubter Menschen doch vielfach ähnlich, heute wie damals. Was also macht eine lebendige Erinnerungskultur aus? Das nationale Gedächtnis sollte zunächst einmal natürlich auf historischen Fakten beruhen, nicht auf Geschichtsklitterung, Legendenbildung, unzulässigen Vereinfachungen oder politischen Deutungsmonopolen. Unverzichtbar für das Offenlegen der Wahrheit ist deshalb neben wissenschaftlicher Expertise ein öffentlicher und kontroverser Diskurs, in dem unterschiedliche subjektive Wahrnehmungen von Betroffenen und Zeitzeugen genauso ihren Platz haben wie die ganze Bandbreite wissenschaftlicher Arbeiten und publizistischer Meinungsäußerungen. Deshalb braucht es einen „geschützter Raum für den Strom der Erzählungen“, so hat es der deutsche Historiker Karl Schlögel einmal formuliert. Das bedeutet, ich zitiere weiter: eine „Sphäre von Öffentlichkeit, die den Pressionen von außen, von gleich wem standhält, und sich die Freiheit bewahrt und die Zumutungen aushält, die in den Erzählungen präzedenzlosen Unglücks im Europa des 20. Jahrhunderts enthalten sind.“ Diesen geschützten Raum für den Strom der Erzählungen zu schaffen und zu verteidigen, ist Teil einer lebendigen Erinnerungskultur. Dahinter steht die aus unseren Erfahrungen mit der Diktatur des Nationalsozialismus gewonnene Überzeugung, dass Meinungsvielfalt, eine kritische, informierte Öffentlichkeit und ein lebendiger Diskurs die stärksten Garanten sind für Demokratie und gegen staatliche Willkür. Und ich finde, man kann die Reife einer Demokratie gut daran erkennen, wie weit sie die Entwicklung von Geschichtsbildern dem öffentlichen Diskurs anvertraut. Zu einer lebendigen Erinnerungskultur gehört nicht zuletzt aber auch, aufzustehen gegen Antisemitismus, Rassismus, Ausgrenzung und Fremdenhass, wo immer wir ihn erleben. Erinnern heißt, nicht schweigen zu können, wenn Hass gegen Juden oder Moslems, gegen Flüchtlinge und Einwanderer geschürt wird. Erinnern heißt, sich niemals zurück zu ziehen auf die ebenso bequeme wie verantwortungslose Haltung, dass es auf die eigene Stimme, auf das eigene Handeln nicht ankommt! Das Gegenteil ist richtig: Auf jeden einzelnen kommt es an! Vergessen wir nicht: Erst das Schweigen der Mehrheit machte in Deutschland die so genannte „Endlösung der Judenfrage“ möglich, die europaweite, systematische Organisation des Völkermords, die vor 74 Jahren im Rahmen der Wannsee-Konferenz besprochen und beschlossen wurde. Das mutige und beherzte Engagement einiger weniger dagegen hat im Dritten Reich Leben gerettet und in einem geistig und moralisch verwüsteten Land Inseln der Menschlichkeit bewahrt. Um das Motto der Stanford-University noch einmal aufzugreifen: „Die Luft der Freiheit weht“ nur dort, wo Menschen bereit sind, für die Freiheit aufzustehen und einzustehen. Unsere Erinnerungskultur kann – und sie sollte! – dazu beitragen.
Was macht eine lebendige Erinnerungskultur aus? In ihrer Rede vor Studierenden und Lehrenden der US-amerikanischen Standford University ging Kulturstaatsministerin Grütters auf diese Frage ein. Es gehörte auch dazu, aufzustehen gegen Antisemitismus, Rassismus, Ausgrenzung und Fremdenhass, betonte Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Villa Massimo Nacht
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-villa-massimo-nacht-416788
Thu, 25 Feb 2016 19:40:23 +0100
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort. – Anrede, Der Träger des Preises der Leipziger Buchmesse 2015, Jan Wagner, meint, in Rom könne nach Goethe kein Dichter mehr unbefangen Gedichte schreiben. Und Lutz Seiler, der 2014 den Deutschen Buchpreis bekam, hätte in Rom fast aufgegeben, an seinem ersten Roman zu arbeiten. Dass die beiden Schriftsteller, die vor fünf Jahren Stipendiaten der Villa Massimo waren, es dann doch fertig gebracht haben, das leere Papier mit klugen Worten zu füllen, wissen wir – nicht erst seit den „Regentonnenvariationen“ und „Kruso“. Von Schreibblockaden oder Ehrfurchtsstarren möchte man ja eigentlich nichts wissen, wenn man als Künstler in den Genuss kommt, ein Jahr an der Deutschen Akademie Rom, in der Villa Massimo zu verbringen. Aber solche Phasen des intellektuellen Ringens und Zweifelns gehören zum Künstlersein genauso dazu wie die Momente der Inspiration und Schöpfung. Da wir heute Abend ja glücklicherweise nicht mehr schöpferisch tätig werden müssen, dürfen wir einen kurzen Moment, eine kunstvolle Nacht lang, ein wenig ehrfürchtig innehalten. Die Geschichte der Villa Massimo, die wir heute wieder mit dieser notte italiana feiern, gibt dazu Anlass: Die Villa Massimo, das deutsche Künstlerhaus in Italien, war ein Geschenk Eduard Arnholds. Ein wahrer Glücksfall für die deutsche Künstlerförderung! Auch heute noch, mehr als 100 Jahre später, können Künstlerinnen und Künstlern in diesem Schutzraum in Rom ungestört, fernab des Alltags an ihren Ideen arbeiten. Was in dieser Zeit entsteht, welche künstlerische Vielfalt die unterschiedlichen Disziplinen – bildende Kunst, Komposition, Literatur und Architektur – hervorbringt, werden wir gleich sehen – und hören. Ich bin mir sicher, dass Sie, liebe Künstlerinnen und Künstler, auch in diesem Jahr wahre Glücksmomente bei uns Gästen auslösen werden – denn wo sonst bekommt man an einem Ort, in einer Nacht so viele wunderbare, unterschiedliche und inspirierende Arbeiten zu sehen? Ja, Kunst macht glücklich. Aber sie macht auch nachdenklich, sie stellt Fragen, provoziert und kann verstören. Als gesellschaftliches Korrektiv ist sie genauso wichtig wie als Brückenbauerin und Türöffnerin. Die Kunst schafft Verbindungen, wo tiefe Gräben klaffen. Ob Poesie, ob Malerei, ob Film, Musik, Theater oder Tanz: Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Missverständnisse verursachen. Kunst kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Kunst kann uns helfen zu verstehen, was uns ausmacht, wer wir sind – als Individuen, als Deutsche, als Europäer. Kunst kann uns aber auch nötigen, die Perspektive zu wechseln und die Welt aus anderen Augen zu sehen. Gerade Literatur, Theater und Film sind imstande, den Bereich das Denk- und Vorstellbaren zu vergrößern, Gebiete jenseits unseres Erfahrungshorizonts zu erschließen und eben dadurch auch die Grenzen unserer Empathie zu weiten – indem sie uns Fremdes vertraut machen und uns auf diese Weise zum Mitgefühl befähigen. Nicht zuletzt in diesem Sinne ist es eine wahrhaft staatstragende und zukunftsweisende Aufgabe, Kunst und Kultur zu fördern. Im Übrigen sollten wir auch nicht vergessen: Eine Gesellschaft, die mit ihren kulturellen, auch religiös begründeten Eigenheiten ihre eigene Identität pflegt, kann dem Anderen, dem Fremden Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen. Nur wo es keinen kulturellen Kern gibt, pflegt man Feindbilder, um sich der eigenen Identität zu vergewissern. Gerade deshalb brauchen wir Kunst und Kultur als gesellschaftliche Kräfte. Es ist mir ein persönliches Anliegen, die Kraft der Kultur zu fördern – mit unserer Initiative „Kultur öffnet Welten“ zum Beispiel, und natürlich immer wieder, immer weiter durch die Förderung vieler Künstlerinnen und Künstler. Mein besonderer Dank gilt daher heute Abend den Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, die sich immer wieder dafür einsetzen, der Villa Massimo eine gute Zukunft zu sichern. Sie tragen maßgeblich auch dazu bei, dass junge und etablierte Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Komponisten, bildende Künstler, Architektinnen und Architekten diese inspirierenden und schöpferischen Monate in Rom erleben können. Dass dies ohne finanzielle Engpässe gelingt und sich die Künstlerinnen und Künstler ganz und gar auf das kreative Schaffen konzentrieren können, verdanken wir besonders dem jahrelangen Engagement des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, Ihnen lieber Herr Fahrenschon! Ihr Engagement spricht natürlich auch für die Strahlkraft der Villa Massimo, die ohne Zweifel zu den herausragenden Einrichtungen der individuellen Künstlerförderung Deutschlands gehört. Jean Paul sagte einmal: „Solang ein Mensch ein Buch schreibt, kann er nicht unglücklich sein.“ Ob das für alle Schaffensphasen gilt, könnten nicht nur Jan Wagner und Lutz Seiler sicher beantworten. Ich jedenfalls denke, dass alle Kunst großes Glück ist und wünsche Ihnen in diesem Sinne einen schönen Abend voller künstlerischer Glücksmomente!
„Es ist mir ein persönliches Anliegen, die Kraft der Kultur zu fördern – mit unserer Initiative „Kultur öffnet Welten“ zum Beispiel, und natürlich immer wieder, immer weiter durch die Förderung vieler Künstlerinnen und Künstler.“ sagte Monika Grütters in ihrer Rede.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters im Haus der Kulturverbände in Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-im-haus-der-kulturverbaende-in-berlin-793604
Tue, 23 Feb 2016 00:00:00 +0100
Im Wortlaut: Grütters
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort.- Unser geselliges Beisammensein heute Abend ist mit der Überschrift „Jahresempfang“ nur unvollständig beschrieben. Auf neudeutsch heißt das, was wir hier feiern, „Housewarming Party“: Jedenfalls gehe ich mal davon aus, dass der schöne, neue Sitzungsraum im Haus der Kulturverbände, dessen Anmietung auch mit einem Zuschuss aus meinem Kulturetat finanziert werden konnte, nach den ersten arbeitsintensiven Sitzungen heute zum allerersten Mal einer alternativen Nutzung als Ort des geselligen Beisammenseins bei Sekt und Jazz zugeführt wird. Zu einer Zeit, als „Houswarming Partys“ noch „Einweihungsfeier“ hießen, hat der Berliner Architekt Bruno Taut einmal gesagt: „Wie die Räume ohne den Menschen aussehen, ist unwichtig; wichtig ist nur, wie die Menschen darin aussehen.“ Der heutige Abend ist eine schöne Gelegenheit, den Raum in diesem Sinne wirken zu lassen. Vielen Dank für die Einladung, lieber Herr Schaub – und dem Bundverband Bildender Künstler ein herzliches Dankeschön für die Organisation des Empfangs! Politik trifft Kultur, Kultur trifft Politik – das Motto dieses Abends gilt zum Glück nicht nur für den Jahresempfang, sondern beschreibt die vielfach bewährte und kontinuierlich gepflegte kulturpolitische Praxis. Politik trifft Kultur – ja, das ist mir wichtig. Wer mich kennt, weiß, dass die Nähe zu Kunst und Kultur für mich nicht nur Pflicht und Verantwortung von Amts wegen ist, sondern auch persönliche Leidenschaft und ein echtes Herzensanliegen. Erfolge und Fortschritte lassen sich dabei natürlich nicht – oder jedenfalls nicht allein – in Geld messen. Trotzdem freut es mich, dass ich dank der Unterstützung des Deutschen Bundestages auch für 2016 wieder eine deutliche Erhöhung des Kulturetats erreichen konnte. 1,4 Milliarden Euro sind es, die mir in diesem Jahr zur Verfügung stehen. Die zusätzlichen Mittel stärken nicht nur die kulturelle Vielfalt und Infrastruktur in ganz Deutschland. Sie ermöglichen auch neue und zukunftsweisende Kulturprojekte wie das Humboldt-Forum, das über neuartige Kultur- und Kunsterfahrungen das Wissen über unterschiedliche, gleichberechtigte Weltkulturen fördert. Mit Blick auf die gegenwärtige politische Lage muss man wohl sagen: Aktueller hätte man dieses größte Projekt der Kultur in der Bundesrepublik nicht planen können. Es wird damit ganz maßgeblich unsere kulturelle Identität prägen. Allein dass wir im Herzen der deutschen Hauptstadt nicht uns selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern dass die Welt in Berlin ein Zuhause findet, dass Deutschland sich statt in reiner Selbstbezüglichkeit mit einem Blick nach außen als Partner in der Welt empfiehlt – das sagt, denke ich, viel aus über das Selbstverständnis der Kulturnation Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Kultur trifft Politik: Ja, denn Sie, meine Damen und Herren aus den Kulturverbänden, sind immer wieder gefragt als Experten, als Branchenspezialisten, als Stimme der Künstlerinnen und Künstler und der Kulturschaffenden – und damit als politische „Blickfelderweiterer“: Denn wenn man alle Ihre Perspektiven zusammen nimmt, sorgt die Arbeit der Verbände für ein umfassendes und differenziertes Bild vom Status quo (und vom „state of the art“) der Kulturnation Deutschland im 21. Jahrhundert: auf Bundesebene, in den einzelnen Bundesländern, in den Städten und Gemeinden. Beispiele guter Zusammenarbeit gibt es genug: Erst vor kurzem saß ich mit Vertretern verschiedener Kulturverbände im Kanzleramt zusammen, um über den Beitrag der Kultureinrichtungen zur Integration Hunderttausender Flüchtlinge zu sprechen. Unsere gemeinsame Initiative „Kultur öffnet Welten“, an der sich alle Bundesländer, die kommunalen Spitzenorganisationen, die künstlerischen Dachverbände und viele zivilgesellschaftliche Organisationen beteiligen, ist ein guter Anfang angesichts einer Herausforderung, die uns viele Jahre beschäftigen wird. Auch zu Gesetzesvorhaben sind wir intensiv mit den Verbänden im Gespräch – aktuell etwa mit den Verbänden der Filmwirtschaft bei der Novellierung des Filmförderungsgesetzes, mit der Initiative Urheberrecht und anderen Verbänden zur Überarbeitung des Urhebervertragsrechts durch das federführend zuständige BMJ und unter anderem mit dem Deutschen Museumsbund bei der Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes. Immer wieder liefern uns die Verbände mit ihrer Expertise auch wichtige Erkenntnisse als Grundlage künftiger Entscheidungen – so zum Beispiel die Kulturpolitische Gesellschaft im Bereich der Kulturpolitikforschung, oder auch der Deutsche Kulturrat in seinen Stellungnahmen und Empfehlungen. Besonders gespannt bin ich auf die von meinem Haus geförderte Studie mit dem Arbeitstitel „Frauen in der Kultur“, von der ich mir Auskunft über die Ursachen der „gläsernen Decke“ im Kulturbereich erhoffe – und damit auch Hinweise darauf, wie sich die Aufstiegschancen weiblicher Talente verbessern lassen. Darüber stoßen die Kulturverbände auch immer wieder notwendige Debatten an – mit Engagement für die Sache, mit profundem Wissen und mit Gespür für die Themen, die Künstler und Kreative umtreiben. Diese Aufzählung an Beispielen eines guten kulturpolitischen Miteinanders unter der Überschrift „Politik trifft Kultur, Kultur trifft Politik“, in dem auch konstruktive Kontroversen ausdrücklich erwünscht sind, ließe sich abendfüllend fortsetzen, meine Damen und Herren. Da ich aber annehme, dass die Veranstalter sich etwas dabei gedacht haben, als sie uns alle zu einem Stehempfang statt zu einer Sitzung eingeladen haben, soll heute Geselligkeit vor Gründlichkeit gehen. Deshalb mache ich die Überleitung zur nächsten musikalischen Einlage kurz: Ich freue mich, dass Kultur und Politik heute Abend auch mal bei Sekt und Jazzmusik ins Gespräch kommen, statt wie sonst bei Filterkaffee und Konferenzkeksen. Erfahrungsgemäß nimmt die in leidenschaftlich geführten Debatten durchaus vorhandene Neigung, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, ja auch ab, wenn Weingläser darauf stehen. Und leidenschaftliche Debatten, die wollen wir auf jeden Fall weiterhin. In diesem Sinne – Ihnen allen einen schönen und inspirierenden Abend. Auf weiterhin gute Zusammenarbeit!
„Politik trifft Kultur, Kultur trifft Politik“ – dieses Motto des Abends beschreibe die vielfach bewährte und kontinuierlich gepflegte kulturpolitische Praxis, erklärte Kulturstaatsministerin Grütters zu Beginn ihrer Rede. Die Arbeit der Verbände sorge für ein umfassendes und differenziertes Bild vom Status quo, so Grütters weiter.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Wirtschaftspolitischen Frühstück der IHK Berlin
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-wirtschaftspolitischen-fruehstueck-der-ihk-berlin-793678
Fri, 19 Feb 2016 00:00:00 +0100
Im Wortlaut: Grütters
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort.- Eine Politikerrede zur ersten Tasse Kaffee am Morgen – das kann auch nicht jeder Gastgeber seinen Gästen zumuten! Zumal ja gilt, wie es in einer Komödie von Oscar Wilde so schön heißt, ich zitiere: „Nur die ganz Stumpfsinnigen sind beim Frühstück schon geistreich“ – was für Frühstücksreden um acht Uhr morgens nicht das Allerbeste hoffen lässt… . Trotzdem hat sich das Wirtschaftspolitische Frühstück der IHK Berlin als beiderseits geschätzte Tradition des Austauschs zwischen Politik und Wirtschaft bewährt, und ich freue mich, dass dabei auch die Kulturpolitik zu Wort kommt. Herzlichen Dank für die Einladung, lieber Herr Dr. Schweitzer! Um die Kraft der Kreativität und die nötigen Rahmenbedingungen soll es heute gehen, und dazu will ich Ihnen zunächst von einer kuriosen Meldung aus der Welt der Wissenschaft erzählen, die es vor einiger Zeit in zahlreiche Zeitungen geschafft hat. Es ging darin um die Erkenntnisse von Anthropologen, die 1.400 Homo sapiens-Schädel untersucht haben – was vermutlich außerhalb der wissenschaftlichen Fachkreise niemanden interessiert hätte, wenn die Geschichte nicht einen interessanten Dreh bekommen hätte. Man hat nämlich aus den festgestellten Schädelveränderungen, unter anderem die so genannten Brauenwülste betreffend, auf ein Absinken des Testosteronspiegels im Blut geschlossen – zu einer Zeit, in der unsere Vorfahren nachweislich Anfänge von Kunst und Kultur entwickelt haben. Daraus wurde in vielen Zeitungsmeldungen flott die Gleichung aufgemacht „weniger Testosteron = mehr Kultur und Zivilisation“, das Ganze unter Überschriften wie „Feminin bringt Fortschritt“ (SPON, 20.8.2014), eine anthropologische Steilvorlage für – Sie ahnen es! – den Ruf nach mehr Frauen in den Chefetagen. Letzteres ist zwar zweifellos aus vielen Gründen wünschenswert, scheint mir als Schlussfolgerung aus Schädelveränderungen beim Homo sapiens dann aber doch sehr gewagt. So viel zur steilen Karriere einer relativ flachen wissenschaftlichen Hypothese. Immerhin ist es den Wissenschaftlern der University of Utah aber auf diese Weise gelungen zu illustrieren, welche Dynamik sich weit über ein Fachgebiet hinaus im öffentlichen Raum entfalten kann, wenn Puzzleteile unseres Wissens anders zusammengesetzt werden. Neue Verbindungen schaffen, Zusammen-hänge herstellen, wo es bisher keine gab – das ist ein Teil der Kraft, die wir Kreativität nennen, und die wir überall in unserer Gesellschaft brauchen, allein schon deshalb, weil sich – wie Albert Einstein, einer der größten Verteidiger der Phantasie unter den Naturwissenschaftlern – einmal zutreffend bemerkt hat – Probleme niemals mit derselben Denkweise lösen lassen, durch die sie entstanden sind. Die Kultur- und Kreativwirtschaft mit ihren fast 250.000 Unternehmen, mit ihren über eine Million Beschäftigten und ihrem Umsatz von 146 Milliarden Euro im Jahr 2014, (die sich mit einer Bruttowertschöpfung von 67,5 Milliarden Euro übrigens durchaus mit der Automobilindustrie messen lassen kann), ist insofern weit mehr als eine Branche neben anderen Branchen. Sie liefert nicht nur bestimmte Handelsgüter oder Dienstleistungen. Sie liefert den immateriellen Rohstoff für Innovationen in allen gesellschaftlichen Bereichen, indem sie uns in die Lage versetzt, die Perspektive zu wechseln und neue Verbindungen herzustellen. Um es bildlich auszudrücken: Die Künstler und Kreativen tragen die Fackel, an der viele andere das Feuer eigener schöpferischer Kraft entzünden. Dass Ideen ein wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste Wirtschaftsgut in einer rohstoffarmen Gesellschaft sind, dass Künstler und Kreative zum wirtschaftlichen Wachstum beitragen, dass ihre Arbeit den Boden bereitet für die Innovationsfähigkeit der Unternehmen, für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und dass blühende Kulturlandschaften Deutschland in vielerlei Hinsicht attraktiver machen, dass Kultur also ein wichtiger Standortfaktor ist … – all das gehört längst zu den ökonomischen und politischen Binsenweisheiten. Deshalb unterstützt die Bundesregierung im Rahmen der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft Unternehmerinnen und Unternehmer dabei, mit ihren Ideen auch ökonomisch erfolgreich zu sein. Die Initiative hat sich über die Jahre zu einer erfolgreichen Kooperation zwischen meinem Haus und dem Bundeswirtschaftsministerium entwickelt. Zu den zentralen Projekten der Initiative gehört das Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft, das eine Plattform für Information, Dialog und Vernetzung bietet und den Branchenwettbewerb „Kultur- und Kreativpiloten Deutschland“ begleitet. Beides sind Angebote, die gut angenommen werden und kreativen Köpfen vielerorts nicht zuletzt auch mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung bescheren. Das Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes sowie die Kultur- und Kreativpiloten arbeiten beispielsweise gemeinsam mit UNICEF auch an neuen Ideen und Projekten rund um das Thema Flüchtlingshilfe – ein Thema, das uns alle im Moment ja sehr bewegt. Um dieser gewaltigen Aufgabe gerecht zu werden und die Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten aufnehmen zu können, die zu Hunderttausenden Zuflucht suchen in Deutschland, brauchen wir nicht zuletzt auch unkonventionelle, neue Ideen. Deshalb freue ich mich über Projekte und Produkte unserer Kultur- und Kreativpiloten, die eine menschenwürdige Unterbringung in Flüchtlingslagern ermöglichen, geflüchteten Menschen den Neuanfang in Deutschland erleichtern und Brücken bauen zwischen Einheimischen und Neuankommenden. Es sind eben nicht zuletzt die Kreativen, die mit Unternehmergeist und Mut zum Experimentieren Undenkbares möglich machen, so dass wir sagen können: Wir schaffen das! In diesem Zusammenhang, lieber Herr Dr. Schweitzer, würde es mich sehr interessieren, inwieweit auch die Handelskammern und ihre Mitglieder eingebunden sind in Maßnahmen zur Integration der Neuankommenden, inwieweit es vielleicht sogar Kooperationsprojekte mit Kultureinrichtungen gibt. Das hat meine schwedische Amtskollegin mich am Montag bei einem Treffen mit sieben EU-Kulturministerinnen und -ministern anlässlich der Berlinale gefragt. Vielleicht können wir später in der Diskussion darauf zurückkommen. An guten Ideen der deutschen Wirtschaft mangelt es ja nicht – wie beispielsweise die neu geschaffene Plattform „Wir zusammen“ zeigt, auf der Unternehmen ihre Integrationsinitiativen vorstellen. Mir ist aber auch wichtig, dass ein Bewusstsein entsteht für den Wert geistiger Leistung jenseits der direkten ökonomischen und politischen Verwertbarkeit, meine Damen und Herren. Kultur ist ja nicht nur ein Standortfaktor, Kreativität nicht nur ein Wettbewerbsvorteil. Natürlich kann man es schlicht als kluge Investition in die Förderung des Rohstoffs „Kreativität“ sehen, dass wir uns in Deutschland eine staatliche Kulturförderung leisten, die weltweit ihresgleichen sucht. Das mag die eine oder andere Verhandlung mit dem Finanzminister erleichtern; es sollte aber niemanden dazu verleiten, Kulturpolitik als verlängerten Arm der Wirtschaftspolitik zu verstehen. Davor, meine Damen und Herren, kann ich nur warnen. „Kunst und Wissenschaft (…) sind frei“, heißt es in Artikel 5 unseres Grundgesetzes. Die Erhebung der Kunstfreiheit in den Verfassungsrang ist kein Beitrag zur Steigerung des Bruttosozialprodukts, sondern eine Lehre aus unserer jüngeren Geschichte. Unsere Demokratie ist auf den Trümmern des Totalitarismus gebaut – das sollten wir auch 70 Jahre nach der Befreiung von der Diktatur der Nationalsozialsten und 25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, mit der auch die kommunistische Diktatur auf deutschem Boden Geschichte wurde, nicht vergessen. Aus zwei deutschen Diktaturen haben wir eine Lehre gezogen, die da lautet: Die Freiheit der Kunst ist konstitutiv für eine Demokratie. Kreative und Intellektuelle sind das Korrektiv einer Gesellschaft. Wir brauchen experimentierfreudige Künstler und unbequeme Denker! Sie sind der Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft, der verhindert, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Sie sind es, die unsere Gesellschaft vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu schützen imstande sind. Dafür brauchen sie Freiraum: die Freiheit, sich dem Diktat des Marktes, des Zeitgeists und des Massengeschmacks, also den Kriterien des wirtschaftlichen Erfolgs, widersetzen zu können – die Freiheit, nicht unbedingt gefallen zu müssen. Diese Freiheit zu sichern ist Aufgabe der Kulturpolitik. Dabei geht es aus naheliegenden Gründen zunächst einmal darum, dass man von kreativer Arbeit leben kann. Ein wichtiges Instrument, um das sicherzustellen, ist die Künstlersozialversicherung, eingeführt vor 31 Jahren. Seitdem gilt: Wer künstlerische Leistungen in Anspruch nimmt, der muss auch dafür Sorge tragen, dass Künstler von ihrer Arbeit nicht nur knapp überleben können, sondern angemessen bezahlt und sozial abgesichert werden. Deshalb übernimmt der Staat einen Teil der Versicherungsleistung – um den sehr spezifischen Lebens- und Arbeitsbedingungen des künstlerischen Milieus Rechnung zu tragen. Ich bin froh, dass wir es in dieser Legislaturperiode in sehr kurzer Zeit hinbekommen haben, ein Gesetz zu verabschieden, das die KSK durch bessere Prüfpflichten der Deutschen Rentenversicherung stabilisiert. Zur Sicherung der künstlerischen Freiheit gehört auch ein modernes, an das digitale Zeitalter angepasstes Urheberrecht, das dem Urheber einen fairen und gerechten Anteil an der Wertschöpfung aus seiner kreativen Leistung sichert – und damit seine Existenzgrundlage. Das ist keineswegs trivial, wenn man bedenkt, dass diese Freiheit von zwei Seiten bedroht scheint: zum einen von Internetkonzernen, die mit ihrer schieren Marktmacht die Produktion geistiger Werke monopolisieren können; zum anderen von der Gratiskultur im Netz und der Selbstbedienungsmentalität derer, die den Schutz des Urheberrechts für eine unzulässige Einschränkung des freien Zugangs zu Wissen und Informationen halten. Geistige und kreative Spitzenleistungen entstehen aber nun mal vor allem dort, wo man von geistiger, von kreativer Arbeit leben kann. Der Schutz geistiger Schöpfungen ist dafür eine notwendige Voraussetzung. Es ist dieser Schutz, der Künstlern und Intellektuellen – Schriftstellern, Musikern, Drehbuchautoren, Journalisten – den Lebensunterhalt sichert. Es ist dieser Schutz, der kreative Tüftler für jene Pionierarbeit belohnt, der wir nicht zuletzt auch den technologischen Fortschritt verdanken. Es ist dieser Schutz, der unsere kulturelle Vielfalt nährt und unseren wirtschaftlichen Wohlstand fördert. Wir sollten diese Freiheit auch im digitalen Zeitalter verteidigen – eine Freiheit, der wir so viel verdanken und die, nebenbei bemerkt, auch hart errungen und erkämpft ist. Schließlich ist die Geschichte des Urheberrechts auch und vor allem eine Geschichte der Emanzipation von Staat und Kirche. Nach Jahrhunderten der Abhängigkeit der Künstler und Denker von weltlichen und kirchlichen Mäzenen und Gönnern eröffnete das moderne Urheberrecht die Freiheit, den Mächtigen nicht gefällig sein zu müssen. Die wirtschaftliche Autonomie der Künste, die aus dem Schutz des Urheberrechts erwächst, gehört zu unseren großen demokratischen Errungenschaften. Deshalb setze ich mich für eine kultur- und medienpolitische Handschrift der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Anpassung des Urheberrechts an das digitale Zeitalter ein. Wir müssen dafür sorgen, dass man auch im Zeitalter des Internets von geistiger Arbeit leben kann und dass sich Investitionen in kreative Werke auch weiterhin lohnen. Das geht nur, wenn zum einen Kreative angemessen an der Wertschöpfung aus ihrer intellektuellen oder künstlerischen Leistung beteiligt werden und zum anderen Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft nach Märkten differenzierte Geschäftsmodelle entwickeln können. Davon einmal abgesehen gehört es auch zu unserem Selbstverständnis als Kulturnation, dass sich in Deutschland neben massentauglichen, kulturellen Angeboten auch kulturelle Angebote für künstlerische und intellektuelle „Feinschmecker“ behaupten können. Kunst und Kultur dürfen, ja sie sollen und müssen zuweilen Zumutung sein. Insofern müssen wir Politiker alles daran setzen, ihre Freiheit und ihre ästhetische Vielfalt zu sichern – indem wir dafür sorgen, dass Kulturgüter auch künftig anders behandelt werden als bloße Handelsobjekte, als Gartenmöbel oder Staubsauerbeutel. Aus diesem Grund gibt es Regelungen wie die Buchpreisbindung, und aus diesem Grund loben wir für verschiedene Branchen auch jedes Jahr Preise und Preisgelder aus, die über die finanzielle Unterstützung und die regionale Wirkung hinaus bundesweit Aufmerksamkeit erzeugen. Dazu gehören beispielsweise die Preise für unabhängige, inhabergeführte Buchhandlungen, die ich vor einigen Wochen erstmals vergeben habe, um die Garanten der verlegerischen und literarischen Vielfalt zu unterstützen. Gerade sie stehen durch Internethändler wie Amazon unter enormem Wettbewerbsdruck. Der Deutsche Buchhandlungspreis soll das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit für die Bedeutung dieser „geistigen Tankstellen“, dieser kulturellen Begegnungsorte in unseren Städten, aber gerade auch jenseits der Metropolen schärfen. Er ist ausgestattet mit rund einer Million Euro, analog zu den anderen Preisen meines Hauses, zum Beispiel in der Musikbranche. Solche Preise wirken wie ein Dünger für eine vielfältige Kulturlandschaft, und genau darum geht es: um einen fruchtbaren Boden, in dem nicht nur der Mainstream, das am leichtesten Kommerzialisierbare gedeiht. Das wünsche ich mir auch für den deutschen Film, und deshalb sei zum Schluss – passend zur Berlinale – noch kurz erwähnt, dass ich gerade meine Eckpunkte zur Stärkung der kulturellen Filmförderung vorgestellt habe. Künstler, auch Filmkünstler, sind dann am besten, wenn sie nicht vom Publikumsgeschmack und vom Profit her planen müssen, sondern originelle Ideen entfalten können. Wenn sie damit dann auch noch Publikumserfolge feiern, umso besser! Deshalb habe ich seit meinem Amtsantritt gebetsmühlenhaft um mehr Mittel für die kulturelle Filmförderung geworben, und dieses Werben blieb zum Glück nicht unerhört: Dank der Unterstützung der Haushälter im Deutschen Bundestag durfte ich mich über 15 Millionen Euro freuen, die 2016 in meinem Kulturetat zusätzlich für die kulturelle Filmförderung zur Verfügung stehen. Damit können wir künstlerisch herausragende Spiel- und Dokumentarfilmprojekte mit deutlich mehr Geld fördern als bisher und dazu beitragen, dass die Filmschaffenden bei mutigen und innovativen Filmprojekten künftig weniger Kompromisse eingehen müssen. Darüber hinaus arbeiten wir mit der Novellierung des Filmförderungsgesetzes an Förderstrukturen, die dem Doppelcharakter des Films als Wirtschaftsprodukt und vor allem als Kulturgut gleichermaßen gerecht werden. Von Joseph Beuys, meine Damen und Herren, stammt der schöne Satz: „Arbeite nur, wenn Du das Gefühl hast, es löst eine Revolution aus.“ Diese auf den ersten Blick etwas ungesund anmutende Haltung kann man, wie ich finde, durchaus als pointierte Beschreibung künstlerischer Tätigkeit wie auch kultur- und kreativwirtschaftlichen Unternehmertums beschreiben. Es muss ja nicht immer gleich die Weltrevolution sein. Die kleinen Revolutionen im Alltag, im Denken und im Bewusstsein sind es, die jeder gesellschaftlichen Veränderung vorausgehen, und in diesem Sinne tragen Kunst und Kreativität immer den Keim des – im besten Sinne – Revolutionären in sich. Dass aus diesen Keimen etwas wachsen darf, dass es einen fruchtbaren Boden dafür gibt und ein wachstumsförderndes Klima – das macht eine vitale Gesellschaft aus. Aus dieser Überzeugung heraus bin ich seit 20 Jahren mit Leib und Seele Kulturpolitikerin, und in diesem Sinne hoffe ich, erfolgreiche Unternehmerinnen und Unternehmer wie Sie auch jenseits ökonomischer Kategorien für den Wert der Kreativität begeistern zu können.
Kulturstaatsministerin Grütters ist es wichtig, dass „ein Bewusstsein entsteht für den Wert geistiger Leistung jenseits der direkten ökonomischen und politischen Verwertbarkeit.“ Kultur sei nicht nur ein Standortfaktor, Kreativität nicht nur ein Wettbewerbsvorteil, erklärte sie in Berlin.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Matthiae-Mahl am 12. Februar 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-matthiae-mahl-am-12-februar-2016-425086
Fri, 12 Feb 2016 20:00:00 +0100
Hamburg
Sehr geehrter Herr Premierminister, lieber David Cameron, sehr geehrter Herr Erster Bürgermeister, lieber Olaf Scholz, sehr geehrte Mitglieder des Senats und der Hamburgischen Bürgerschaft, meine Damen und Herren, ich möchte mich für die Einladung zum diesjährigen Matthiae-Mahl herzlich bedanken. Als gebürtige Hamburgerin fühle ich mich besonders geehrt, an diesem traditionsreichen Mahl bereits zum zweiten Mal teilnehmen zu dürfen. Allerdings bleibt der Rekord unangefochten. Er wird mit vier Einladungen als Ehrengast von Helmut Schmidt gehalten, den wir alle schmerzlich vermissen. Ich erinnere mich noch sehr gut an mein erstes Matthiae-Mahl im Jahr 2009. Dem festlichen Rahmen zum Trotz stand dieses Mahl unter dem Eindruck der weltweiten Finanzkrise. Es folgte die europäische Staatsschuldenkrise. Heute können wir feststellen, dass wir in Europa richtige Schlussfolgerungen aus diesen Krisen gezogen haben. Wir haben sie gemeinsam in den Griff bekommen. Unser Ziel war und ist es, aus Krisen stärker herauszukommen, als wir in solche Krisen hineingegangen sind. Es ging und geht jedes Mal um mehr als nur darum, eine Krise irgendwie zu überstehen, sondern letztlich immer auch darum, dass wir uns im harten globalen Wettbewerb auch in Zukunft mit unseren Werten und Interessen, mit unserer Art zu leben, behaupten können. Das ist, wie sich immer wieder zeigt, alles andere als ein leichtes Unterfangen. Und doch: Gerade das unterstreicht sehr deutlich, wie grundlegend, ja, wie existenziell wichtig die Fähigkeit der Europäischen Union ist, immer wieder Kompromisse einzugehen und gemeinsame Antworten zu finden. Genau diese Fähigkeit hat die Stärke der Europäischen Union immer ausgemacht, mit welcher Herausforderung auch immer unsere Vorgänger oder wir uns konfrontiert sahen. Diese Fähigkeit zum Kompromiss und zu gemeinsamen Antworten ist selbstverständlich auch heute gefragt – in einer Zeit, in der so viele Menschen auf der Flucht vor Krieg und Terror Schutz in Europa suchen; und zwar zumeist Menschen, die nicht unendlich weit von Europa entfernt, sondern vor der Haustür Europas, wie zum Beispiel die Menschen in Syrien, lebten. Um diesen Menschen zu helfen und gleichzeitig die Zahl der Flüchtlinge im Vergleich zum vergangenen Jahr spürbar zu reduzieren, gilt es – das kann gar nicht oft genug betont werden –, an den Ursachen der Flucht anzusetzen und diese zu bekämpfen. Lieber David Cameron, ein Beitrag dazu hat die internationale Syrien-Geberkonferenz in London in der vergangenen Woche geleistet. Sie hat uns zu den notwendigen Mitteln verholfen, mit denen wenigstens die größte Not in Syrien und in den Flüchtlingslagern in den syrischen Nachbarländern gelindert werden kann. Wir haben dafür gesorgt, dass es in diesem Jahr wahrscheinlich und hoffentlich nicht wieder passiert, dass Lebensmittelrationen für eine Person von 30 Dollar auf 13 Dollar pro Monat gekürzt werden müssen, sondern dass wir voller Überzeugung sagen können: Für dieses Jahr sind die Lebensmittelrationen garantiert. Wir haben dafür gesorgt, dass die vielen Kinder unter den Flüchtlingen eine Chance auf Schulbildung haben. Wir haben auch dafür gesorgt, dass viele Flüchtlinge eine Chance auf Arbeit und ein eigenes Einkommen haben, was sie wiederum unabhängiger macht. Deshalb möchte ich dir, lieber David Cameron, noch einmal ganz herzlich für das Engagement für diese Konferenz danken. Ich denke, das Resultat war ein gutes. Ich bin überzeugt, dass sich die Zahl der Flüchtlinge spürbar verringern lässt, wenn wir mit verschiedenen Maßnahmen – humanitär, entwicklungspolitisch, diplomatisch wie auch militärisch – gegen die Fluchtursachen vor Ort vorgehen. Inwieweit wir dieses Ziel erreichen, wird nicht nur für das weitere Schicksal so vieler leidgeprüfter Menschen entscheidend sein, sondern es wird auch ganz wesentlich bestimmen, ob wir die europäische Errungenschaft der offenen Binnengrenzen langfristig erhalten können oder nicht. Die Freiheit des Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs ist das Lebenselixier unseres Binnenmarktes und damit eine tragende Säule der Europäischen Union. In allen europäischen Ländern würde die Wirtschaft darunter leiden, wenn wir damit anfingen, unsere Grenzen immer undurchlässiger zu machen – schlimmer noch, das wäre ein Konjunkturprogramm für Schlepper- und Schleuserbanden. Viele sagen mir in diesen Tagen: Es gab auch ein Leben vor Schengen. Ich antworte dann: Ich weiß; es gab auch ein Leben vor der Deutschen Einheit – da waren die Grenzen noch besser geschützt. Aber ob uns so etwas heute im weltweiten Wettbewerb stärken würde und ob wir unsere Vorteile einer Europäischen Union und eines Binnenmarktes kräftigen könnten, diese Frage steht im Raum. Ich beantworte sie ganz klar mit Nein. Eine tragfähige Antwort auf die Flüchtlingsbewegungen zu finden, das ist und bleibt deshalb eine europäische und natürlich auch globale Aufgabe. Denn seit dem Zweiten Weltkrieg gab es nie so viele Flüchtlinge wie jetzt. Ich weiß, dass der Weg zur Bewältigung dieser Aufgabe mühselig ist. Aber es ist eine Frage der Humanität, eine Frage der ökonomischen Vernunft und eine Frage der Zukunft Europas – eines Europas, dessen Werte und Interessen sich im globalen Wettbewerb behaupten müssen. Unsere Antwort kann nur eine gesamteuropäische Antwort sein. Daran arbeiten wir mit ganzer Kraft. Meine Damen und Herren, die Fähigkeit zum Kompromiss und zum Zusammenhalt in Europa wird auch in einer anderen, nicht minder wichtigen Frage auf die Probe gestellt – und zwar bei den Anliegen, die unser heutiger Ehrengast, David Cameron, im Namen Großbritanniens an die Europäische Union herangetragen hat. Damit werden wir uns in wenigen Tagen als EU-Staats- und -Regierungschefs befassen. Sie alle kennen meine Überzeugung. Ich wünsche mir, dass das Vereinigte Königreich auch in Zukunft aktives Mitglied in einer erfolgreichen Europäischen Union ist und bleibt. Das ist in unserem deutschen Interesse wie auch im britischen – das darf ich nur ganz leise sagen; denn die Briten werden natürlich selber entscheiden – und vor allen Dingen auch im gesamteuropäischen Interesse. Denken wir an die Wirtschaftskraft der Europäischen Union, zu der Großbritannien Beträchtliches beiträgt und von der es auch selber profitiert. Denken wir auch an die Offenheit britischen Denkens. Denken wir an die Suche nach Wettbewerbsfähigkeit, an den Abbau von Bürokratie, an das Bekenntnis zum freien Handel. Das alles bringt Großbritannien immer und immer wieder in das Gedankengut der Europäischen Union ein. Denken wir auch an den Einfluss Europas in der Welt, der ohne das außen- und sicherheitspolitische Engagement Großbritanniens erheblich an Gewicht verlieren würde. Denken wir gerade in diesem Kreis nicht zuletzt an die Freundschaft und Verbundenheit zwischen unseren beiden Ländern. Ganz besonders hier in Hamburg ist die deutsch-britische Verbundenheit zu spüren. Deshalb, Herr Erster Oberbürgermeister – Herr Erster Bürgermeister. Um Gottes Willen; auch das noch. Ich hatte schon den ganzen Abend geübt: Regierender Bürgermeister, Oberbürgermeister, Erster Bürgermeister. Aber na ja. (Heiterkeit) Also: Herr Erster Bürgermeister, herzlichen Dank für diese Einladung. Hamburg als Hafenstadt und Deutschlands Tor zur Welt versteht sich seit jeher und schon allein aus naheliegenden geografischen Gründen als Brücke zu den britischen Inseln. Über diese Brücke findet ein reger wirtschaftlicher, kultureller und persönlicher Austausch statt. Die engen Beziehungen dürften auch der Grund dafür sein, weshalb sich klassische hanseatische Tugenden kaum von dem unterscheiden, was wir in Deutschland als typische britische Eigenschaften wahrnehmen: Weltoffenheit, Pragmatismus, Aufrichtigkeit und Fairness. Weil diese hanseatischen Eigenschaften so herausragend sind, erlaube ich mir, am heutigen Abend auch im Einvernehmen mit dem Ersten Bürgermeister anzukündigen, dass Hamburg Gastgeberstadt für das 2017 in Deutschland stattfindende G20-Treffen sein wird. Ich denke, das trifft sich gut mit der Weltoffenheit Hamburgs. Weil Deutschland und Großbritannien so vieles verbindet, gehört es auch dazu, dass viele Anliegen, die David Cameron an die Europäische Union herangetragen hat, nicht nur aus unserer Sicht nachvollziehbar sind, sondern von uns auch unterstützt werden. So sind wir einer Meinung, wenn es darum geht, in der Europäischen Union deutlich mehr für Wettbewerbsfähigkeit, Transparenz und Bürokratieabbau zu tun. Ich halte es auch für selbstverständlich, dass jeder Mitgliedstaat in der Lage sein muss – wir haben einen Binnenmarkt, aber keine Sozialunion –, seine Sozialsysteme, die eben in die nationale Zuständigkeit fallen, gegen Missbrauch zu schützen. Bei den Anliegen von David Cameron geht es also keineswegs nur um britische Einzelanliegen. Ganz im Gegenteil: Wenn es uns gelingt, diese Anliegen in eine – lassen Sie es mich so sagen – europäische Form zu gießen, dann kann das Europa insgesamt zugutekommen. Der bisherige Verlauf der Gespräche stimmt mich zuversichtlich, ohne dass ich schon voraussagen könnte, wie viele Stunden ich in der Nacht von Donnerstag auf Freitag schlafen werde. Aber wir haben von Olaf Scholz ja Gutes darüber gehört, wie der Streit belebt und uns alle voranbringt. Wir sind lösungsorientiert. Ich darf im Übrigen auch darauf hinweisen, dass wir schon oft genug erlebt haben, dass sich die Mitglieder der Europäischen Union einigen konnten, auch wenn es wirklich kritisch war. Es wäre deshalb gar nicht voraussehbar, warum wir es dieses Mal nicht schaffen sollten. Deshalb meine ich, es kann gelingen. Europa braucht Großbritannien; und Großbritannien braucht vielleicht auch Europa – aber damit werden sich die Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens beschäftigen –, damit wir im globalen Wettbewerb des 21. Jahrhunderts für das, was uns so viele Jahre stark gemacht hat, für unsere Werte und Interessen, gemeinsam eintreten können. Lieber Herr Scholz, ich möchte mich für die Einladung zu genau dieser Zeit in genau diese Stadt ganz herzlich bedanken. Meine Damen und Herren, ich denke, die Tatsache, dass wir hier beim historischen Matthiae-Mahl gemeinsam über die europäische Zukunft in einer Stadt sprechen, die ein Tor zur Welt ist, könnte ein gutes Omen für die nächste Woche und vielleicht auch darüber hinaus sein. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der 66. Berlinale
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-66-berlinale-425396
Thu, 11 Feb 2016 20:00:38 +0100
Im Wortlaut
Berlinale-Palast
Kulturstaatsministerin
-Es gilt das gesprochene Wort.- Anrede, Es hat in 66 Berlinale-Jahren schon viele große Berlinale-Momente gegeben: Feste der Vielfalt und Völkerverständigung; Konfrontationen mit der Kraft des Kinos; Liebeserklärungen an die Freiheit der Kunst – … so wie zuletzt im vergangenen Jahr, als der iranische Regimekritiker Jafar Panahi für seinen Film „Taxi“ mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Doch was die Filmkunst vermag und was wir mit der Berlinale feiern, war vielleicht selten so unentbehrlich wie in diesen bewegten Zeiten. Willkommen, liebe Festivalgäste, zur 66. Berlinale, die das „Recht auf Glück“ als Motto in den Mittelpunkt stellt. Willkommen auch in einem Land, in dem derzeit Hunderttausende Frauen, Männer und Kinder aus Kriegs- und Krisenregionen Zuflucht suchen – Menschen, die mit nichts als ihrer Hoffnung auf ein besseres Leben, auf ihr Glück, zu uns kommen. Willkommen in einem Land, in dem Mitgefühl mit den Entwurzelten – sagen wir’s ehrlich – vielfach auch auf Angst vor dem Fremden trifft. Fremd bleiben uns all‘ die Schutzsuchenden, wenn sie uns in Zeitungsberichten, in Radio- und Fernsehnachrichten, in politischen Reden und öffentlichen Meinungsbekundungen nur als Gesichts- und Geschichtslose begegnen: als „Flüchtlingswelle“, als „Flüchtlingsstrom“ – wie eine Naturkatastrophe, die über Deutschland und Europa herein gebrochen ist und zu deren Bewältigung viele nach Dämmen und Schutzwällen rufen. Das Verschwinden der einzelnen Schicksale in der Masse eines Flüchtlingsstroms entmenschlicht, wo es ums nackte Überleben geht – und auch um das Überleben der Menschlichkeit. Filme dagegen – Filme zeigen den einzelnen Menschen: zeigen Gesichter und Geschichten; Filme zeigen Sehnsucht nach Glück und Aufbrüche zu neuen Ufern, zeigen Unbehaustheit und Suche nach Heimat. Solche Filme offenbaren eines: dass uns als Menschen überall auf der Welt viel mehr verbindet als uns trennt. Genau so kann Kino eine echte Insel der Menschlichkeit sein: weil es uns mitfühlen, mitleiden lässt. Es ist Dein Verdienst, lieber Dieter Kosslick, dass die Berlinale immer wieder politisch wie auch künstlerisch Akzente setzt. Position zu beziehen im Zeitgeschehen – das ist Dein Anspruch – in diesem Jahr insbesondere mit wichtigen Beiträgen zum aktuellen Thema, mit „Fuocoammare“ zum Beispiel, einem Film über die Mittelmeerinsel Lampedusa, wo gestrandete Heimatlose und sesshafte Einheimische aufeinandertreffen. Position beziehst Du aber auch, indem Du Flüchtlingen bei Berlinale-Veranstaltungen ganz selbstverständlich die Türen öffnest. Ja, Kultur öffnet Welten, und ganz besonders eindrucksvoll tut das der Film. Dir und Deinem Team herzlichen Dank für eine Weltoffenheit, die der Filmkunst und die auch Deutschland gut tut! Ein „Recht auf Glück“, liebe Festivalgäste, ist bei der Berlinale – Motto hin oder her – bisher noch nicht inklusive. Aber cineastische Glückserlebnisse zumindest … – die sind garantiert! Im besten Fall sogar mit Happy End – oder, wie Woody Allen es einmal formuliert hat, mit einem Eindruck davon, „wie es in der Welt zugehen könnte, wenn Gott nur höhere Budgets und bessere Drehbuchschreiber hätte“. Vielleicht erfahren wir das ja heute Abend im Eröffnungsfilm „Hail, Caesar!“ – einer Hommage an die Traumfabrik Hollywood. Ich wünsche Ihnen jedenfalls gute Unterhaltung, vor allem aber inspirierende Festivaltage – und das ein oder andere Glücks-Erlebnis!
Die Filmkunst sei selten so unentbehrlich gewesen wie in diesen bewegten Zeiten, erklärte Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der 66. Berlinale. Filme zeigten den einzelnen Menschen, seine Gesichter und Geschichten, erklärte sie. Und: „dass uns als Menschen überall auf der Welt viel mehr verbindet als uns trennt.“
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters beim Auftaktempfang der Produzentenallianz im Rahmen der 66. Berlinale
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-beim-auftaktempfang-der-produzentenallianz-im-rahmen-der-66-berlinale-796626
Thu, 11 Feb 2016 13:00:53 +0100
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort. – Anrede, Zu den beliebtesten Themen auf Berlinale-Empfängen gehört die Frage, wie man die Festivalnächte gesundheitlich unbeschadet, geistig zurechnungsfähig und bis zum Schluss optisch einigermaßen ansprechend übersteht. Die einen schwören auf strikte Alkoholabstinenz, die anderen auf Champagner als Aufputschmittel, und von Dieter Kosslick wissen wir, dass er jeden einzelnen Berlinale-Morgen bei Wind und Wetter eine halbe Stunde durch den Tiergarten läuft – zumindest hat er das mal in einem Interview behauptet. Worin auch immer Ihre persönliche Strategie für die kommenden Tage und Nächte besteht, lieber Herr Thies … Den Berlinale-Empfang der Produzentenallianz haben Sie jedenfalls so früh im Programm positioniert, dass das Erscheinen ausgeschlafener Gäste im Vollbesitz ihrer körperlichen und geistigen Kräfte gesichert ist – in einem Zustand also, in dem man sich für DFFF–Deutscher Filmförderfonds-Einstiegsschwellen und den Punktebonus im Rahmen der Referenzfilmförderung also noch interessiert. Unter anderem dazu hat es in den vergangenen Monaten einen engen und konstruktiven Austausch zwischen der Produzentenallianz und meinem Haus, aber auch mit dem Verband deutscher Filmproduzenten, der AG Dok–Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm e.V. und der gesamten Filmbranche gegeben. Und er hat sich, wie ich finde, gelohnt. Das gilt zunächst einmal finanziell: Es gibt in diesem Jahr mehr Geld für den Film denn je. 25 Millionen Euro mehr als im Vorjahr stehen 2016 an Mitteln für die Filmförderung durch den Bund zur Verfügung: Zu den 50 Millionen Euro im DFFF–Deutscher Filmförderfonds und den bisher rund 13 Millionen für die kulturelle Filmförderung kommen 15 Millionen zusätzlich für die kulturelle Filmförderung und zehn Millionen Euro im Programm des BMWi–Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Und auch im produktionsstarken vergangenen Jahr haben wir es mit einem einmaligen Kraftakt geschafft, alle beantragten Projekte zu fördern, obwohl das DFFF–Deutscher Filmförderfonds-Förderbudget in Höhe von 50 Millionen Euro schon im Oktober komplett beantragt war. Letztlich wurden dann insgesamt 61,3 Millionen Euro bewilligt. Wir dürfen also hoffen, dass das überaus erfolgreiche deutsche Kinojahr 2015 mit der stolzen Zahl von über 139 Millionen Kinobesuchern, mit einem Rekordumsatz von rund 1,17 Milliarden Euro und mit einem deutschen Marktanteil von über 27 Prozent nicht das letzte Rekordjahr in einer Folge von Rekordjahren war. Dabei zeigt sich übrigens einmal mehr, dass die deutschen Produzenten – und auch ihre ausländischen Koproduktionspartner – mit dem DFFF–Deutscher Filmförderfonds gut fahren. Im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich, in denen Steuerrabattmodelle zu einer späten Auszahlung oft lange nach Produktionsende führen und im Übrigen ausschließlich für ausländische Produktionen gelten, schüttet der DFFF–Deutscher Filmförderfonds Barmittel unkompliziert, kalkulierbar und schnell aus – nämlich noch vor Drehbeginn: und das natürlich nicht nur für ausländische Produktionen! Gerade für kleine und mittlere Produzenten, die über kein nennenswertes Eigenkapital verfügen und die keine Zwischenfinanzierung gewinnen, ist das ein Riesenvorteil. Das soll so bleiben. Deshalb habe ich entschieden, die Einstiegsschwellen beim DFFF–Deutscher Filmförderfonds in 2016 nicht anzuheben. Vor allem aber hat sich unser intensiver Dialog auch im Hinblick auf die laufende Novellierung des Filmförderungsgesetzes (FFG) bezahlt gemacht. Mir waren dabei insbesondere folgende Punkte wichtig: • erstens, ein hohes Niveau des Abgabeaufkommens ebenso wie Abgabegerechtigkeit zu sichern; • zweitens, die bewährte Projektfilmförderung beizubehalten; • drittens, die Drehbuchförderung zu verbessern; • viertens, Kurzfilme mehr als bisher zu fördern; • und fünftens, die Entscheidungsstrukturen effektiver zu gestalten und last but not least: den Frauenanteil in den FFA–Filmförderungsanstalt-Gremien zu erhöhen. Lassen Sie mich kurz auf diese fünf Punkte eingehen. Zunächst zum Abgabeaufkommen: Insbesondere die öffentlich-rechtlichen Fernsehveranstalter werden künftig einen Abgabesatz von 3 Prozent bezahlen, aber auch die Abgaben der anderen Einzahler werden angepasst. An der Abgabepflicht der ausländischen VoD-Anbieter halten wir natürlich fest. Im Zusammenhang mit der Projektfilmförderung will ich die Neuregelung zum Eigenanteil von fünf Prozent hervorheben: Mein Vorschlag sieht vor, dass der Eigenanteil nicht mehr durch Barmittel erbracht werden muss, dass also vor allem auch Lizenzerlöse berücksichtigt werden können. Der dritte Punkt ist der Ausbau der Drehbuchförderung: In diesem Vorhaben hat mich der Runde Tisch FFG 2017 vor drei Monaten noch einmal bestärkt. Mit der neuen Drehbuchentwicklungsförderung will ich dafür sorgen, dass gute Stoffe auch tatsächlich bis zur Drehbuchreife gedeihen. Denn Drehbücher gelten zu Recht als „die DNA eines hohen deutschen Markanteils“ Ein vierter Punkt ist die Förderung des Kurzfilms, der sich als eigenständige Darstellungsform mit hohem künstlerischem Anspruch und einer ganz eigenen, ausdrucksstarken Bildersprache etabliert hat. Von seiner kompositionellen Raffinesse, von seiner anspruchsvollen Dramaturgie und seiner knappen, präzisen Erzählweise profitiert die Filmkunst insgesamt. Deshalb sieht die FFG-Novelle vor, dass die Kurzfilmförderung der FFA–Filmförderungsanstalt nicht mehr nur auf Formate von einer Minute bis 15 Minuten beschränkt ist. Künftig sollen auch Kurzfilme von unter einer Minute und bis zu 30 Minuten Fördermittel bekommen können. Es wäre doch schade, Innovationskraft und Experimentierfreude in ein zu starres Minutenkorsett zu zwängen! Schließlich, meine Damen und Herren, noch zum fünften Punkt – zu meinem Anliegen, für mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Filmbranche zu sorgen. Ich will mich nicht einfach damit abfinden, dass zwar unser höchstdotierter Filmpreis einen Frauennamen trägt, unsere hochdekorierten Filmemacher in aller Regel jedoch nicht! Natürlich hat eine Quote dort nichts verloren, wo allein künstlerische Klasse und Qualität entscheiden dürfen. Aber es ist das Mindeste, und es ist längst überfällig, dass wir den Frauenanteil in den FFA–Filmförderungsanstalt-Gremien erhöhen. Auch dazu haben wir die FFG-Novelle genutzt – und das ist nicht nur fair, sondern auch ökonomisch klug. Schließlich ist auch die Hälfte derjenigen weiblich, die später die Kinokassen klingeln lassen sollen. Künftig werden Förderkommissionen mit maximal fünf Personen entscheiden. Mindestens zwei Frauen werden an jeder Förderentscheidung beteiligt sein. Der aktuelle Entwurf für das Filmförderungsgesetz, der jetzt mit diesen Punkten in die Ressortabstimmung geht, ist das Ergebnis mehrfacher Branchen-anhörungen und unzähliger Gespräche. Für den intensiven und sehr konstruktiven Austausch mit der Branche und natürlich auch mit der Produzentenallianz ein herzliches Dankeschön an alle Beteiligten! Es freut mich, dass wir gemeinsam Wege gefunden haben, um kreative und künstlerische Aspekte bei der wirtschaftlichen Filmförderung noch stärker zu berücksichtigen. Denn ich bin überzeugt: Langfristig zahlt es sich aus, nicht immer allein die Maximierung des Ertrags, sondern auch den Mut zum Experiment, mehr neue, gute Ideen zu fördern. Auch das kommt beim Publikum an. Kunst und Kommerz – das muss kein Widerspruch sein! Künstler, auch Filmkünstler, sind jedenfalls dann am besten, wenn sie nicht zwangsläufig gefallen müssen, wenn sie nicht vom Publikumsgeschmack und vom Profit her planen müssen, sondern originelle Ideen entfalten können. Wenn sie damit dann auch noch Publikumserfolge feiern, umso besser! Deshalb habe ich hartnäckig, ja beinahe gebetsmühlenhaft um mehr Mittel für die kulturelle Filmförderung geworben, und dieses Werben blieb zum Glück nicht unerhört: Nach den Haushaltsverhandlungen des vergangenen Jahres durfte ich mich – durften wir alle uns – über 15 Millionen Euro freuen, die in 2016 zusätzlich für die kulturelle Filmförderung in meinem Kulturetat zur Verfügung stehen. Damit können wir ausgewählte Spiel- und Dokumentarfilmprojekte mit deutlich mehr Geld fördern als bisher. Ziel ist, die künstlerische Freiheit zu stärken: Wir wollen unabhängiges Filme-machen ermöglichen, und zwar ohne künstlerische Kompromisse und ohne zwingende Regionaleffekte. Dazu wollen wir mit den zusätzlichen 15 Millionen Euro die möglichen Summen für die einzelnen geförderten Filmproduktionen deutlich erhöhen (bis zu einer Million Euro pro Film), ebenso den zulässigen Anteil der Fördersumme am Gesamtbudget (bisher bis zu 50 Prozent, zukünftig auch darüber hinaus). Außerdem soll eine Spezialisierung unseres bisherigen Juryverfahrens zu einer gezielteren Förderung herausragender kultureller Projekte führen. Dafür sollen eigene Jurys für die Bereiche Spiel- und Dokumentarfilm eingeführt werden, die häufiger im Jahr entscheiden. Die Jurys sollen außerdem ermuntert werden, für überzeugende Filmvorhaben mehr Geld einzusetzen. Darüber hinaus werden wir auch im Rahmen der kulturellen Filmförderung die Drehbuchförderung weiter ausbauen und für Dokumentar-filme erstmals eine Stoffentwicklungsförderung etablieren. Last but not least werden wir die Verleih- und Kinoförderung stärken und die Antragsvoraussetzungen dafür modifizieren, um dem künstlerisch anspruchsvollen deutschen Film mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Mutige Filme brauchen eben nicht nur mutige Filmemacher, sondern auch mutige Filmförderer und mutige Förderentscheidungen. Dafür, meine Damen und Herren, haben wir mit der Novellierung des FFG die Voraussetzungen geschaffen. Unsere Maßnahmen im Rahmen der kulturellen Filmförderung sollen Sie, die Filmschaffenden, unabhängiger machen, um bei künstlerisch herausragenden Filmprojekten weniger Kompromisse eingehen zu müssen. Das ist mir ein Herzensanliegen, und deshalb werde ich mich selbstverständlich dafür stark machen, dass der Aufwuchs für die kulturelle Filmförderung dauerhaft fortgeschrieben wird – auf dass große Ideen großes Kino werden! Ein „Recht auf Glück“ – das diesjährige Berlinale-Motto – werden Sie, liebe Filmproduzentinnen und Filmproduzenten, in den geplanten gesetzlichen Neuregelungen zwar weiterhin vergeblich suchen. Aber mein Credo ist und bleibt, dass es die künstlerische Freiheit ist, die uns im Kino Mut, Sensibilität, Ausdrucksstärke, Experimentierfreude und damit cineastische Glückserlebnisse beschert. Und wenn daran dann auch noch mehr Frauen als bisher beteiligt sind, dann ist auch die Kulturstaatsministerin glücklich. In diesem Sinne: auf die 66. Berlinale und auf ein hoffentlich wieder so ein erfolgreiches Jahr für den deutschen Film!
„Es freut mich, dass wir gemeinsam Wege gefunden haben, um kreative und künstlerische Aspekte bei der wirtschaftlichen Filmförderung noch stärker zu berücksichtigen. Denn ich bin überzeugt: Langfristig zahlt es sich aus, nicht immer allein die Maximierung des Ertrags, sondern auch den Mut zum Experiment, mehr neue, gute Ideen zu fördern.“ betonte Monika Grütters in ihrer Rede.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der dritten Arbeitssitzung „Inside Syria“ der Konferenz „Supporting Syria and the Region“ am 4. Februar 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-dritten-arbeitssitzung-inside-syria-der-konferenz-supporting-syria-and-the-region-am-4-februar-2016-604152
Thu, 04 Feb 2016 13:45:00 +0100
London
Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zu dieser Sitzung, die sich mit der Situation in Syrien befasst. Ich weiß, dass Sie alle heute schon viele Diskussionen und bilaterale Treffen hinter sich haben. Aber wir nähern uns jetzt einem ganz wichtigen Thema, denn die Frage „Wie geht es den Menschen in Syrien?“ ist natürlich die zentrale Frage. Wir wissen, dass es mindestens 6,5 Millionen Menschen gibt, die Binnenvertriebene sind. Das Leiden in Syrien ist dramatisch. Einen Eindruck hiervon gibt uns ein Film. Ich bitte darum, dass er uns jetzt gezeigt wird. (Es folgt ein dreiminütiger Film) Meine Damen und Herren, wir haben eben einen kleinen Einblick in die schreckliche Situation der Menschen innerhalb Syriens bekommen. Ich glaube, jeder ist immer wieder betroffen angesichts von Anarchie, Chaos, Not, Tod und zerstörter Infrastruktur. Aber wir müssen natürlich nach vorne schauen und die eklatanten Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht auch so benennen. Deshalb ist es so wichtig, dass in dieser schrecklichen Situation wenigstens Zugang zu humanitärer Hilfe möglich ist. Wir werden ja gleich von berufenen Personen – von Dr. Sama Bassass vom Syria Relief Network und von Peter Maurer, dem Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz – etwas aus der praktischen Arbeit hören. Der Einsatz der Helfer vor Ort in Syrien kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Wir wissen, dass sie dort sozusagen mit vollem Einsatz tätig sind, und auch, dass viele ihr Leben verloren haben. Je länger der Konflikt andauert, desto schwieriger wird es natürlich auch für die Menschen in Syrien, an eine Zukunft zu glauben. Umso wichtiger ist es, dass wir uns um die Zukunft heute schon in Ansätzen kümmern – durch Stabilisierung und sozusagen durch Inseln, mit denen man vielleicht schon zeigen kann, wie es vorangehen kann. Dabei geht es um klassische Dinge wie Infrastruktur, Wasserversorgung, Strom und Ausrüstung zur Verarbeitung von Nahrungsmitteln. Deutschland hat dabei mitgewirkt, den sogenannten Syria Recovery Trust Fund zu installieren, der Material und Know-how im Norden und Süden Syriens – in Gebieten, die von der moderaten Opposition kontrolliert werden – zur Verfügung stellt. Das heißt, eine Stabilisierung in der jetzigen Situation kann nur partiell erfolgen. Wir brauchen eine politische Lösung. Darüber ist heute Morgen schon gesprochen worden. Aber in den letzten Stunden haben wir wieder gelernt, wie schwierig das ist. Aber werden wir natürlich weiter daran arbeiten. Ganz wichtig ist jetzt, dass das Signal, das heute von dieser Konferenz ausgeht, ein Signal an alle Syrer ist – nicht nur an diejenigen, die in Jordanien, im Libanon und in der Türkei sind, sondern genauso an die Menschen, die eben noch im Lande verweilen –, dass wir alles, aber auch alles tun, um ihnen zu helfen. Dem dient diese Sitzung, wobei wir Vorstellungen davon entwickeln wollen, was wir tun können, wenn wir wieder mehr Zugang haben, und wie wir eine Stabilisierung und den Wiederaufbau des Landes voranbringen können. Dies ist also sozusagen eine Sitzung, die sich auf der einen Seite mit dem jetzigen Zustand und einem Zugang zur Hilfe befasst und auf der anderen Seite auch mit der Zukunft und der Stabilisierung. Ich freue mich, dass ich neben den beiden genannten Personen den UN-Generalsekretär und natürlich auch unseren Gastgeber David Cameron hier auf dem Podium habe. Beide werden hier dann auch etwas beitragen. Aber jetzt freue ich mich erst einmal, dass ich Ihnen, Dr. Sama Bassass – einer Ärztin, die von der Türkei aus humanitäre Hilfe in Syrien organisiert –, das Wort geben darf.
Eröffnungsrede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Konferenz „Supporting Syria and the Region“ am 4. Februar 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/eroeffnungsrede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-konferenz-supporting-syria-and-the-region-am-4-februar-2016-604154
Thu, 04 Feb 2016 11:30:00 +0100
London
Sehr geehrter Herr Generalsekretär Ban, sehr geehrter Emir al-Sabah, sehr geehrte Majestät, König Abdullah, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Salam, liebe Erna Solberg, lieber David Cameron, Exzellenzen, meine Damen und Herren, auch ich möchte mich für die Gastfreundschaft hier in London bei David Cameron und der britischen Regierung bedanken. Meine Damen und Herren, der Film, den wir zu Beginn gesehen haben, hat uns nochmals eindringlich auf die Tragödie, die sich in Syrien abspielt, hingewiesen. Wenn er mit den Worten „We must act now“ endet, dann ist das nichts anderes als eine dringende Aufforderung, der wir mit dem heutigen Tag gerecht werden wollen. Es gilt wirklich keine Zeit mehr zu verlieren. 300.000 Menschen haben bereits ihr Leben verloren. Millionen Menschen wurden entwurzelt. Die Katastrophe muss ein Ende haben. Wie der Generalsekretär der Vereinten Nationen bereits gesagt hat: Wir brauchen einen politischen Prozess. Deshalb möchte ich Ban Ki-moon und dem Sondergesandten Staffan de Mistura für die Arbeit, einen politischen Prozess voranzubringen, genauso wie allen anderen Verhandlungsteilnehmern ganz herzlich danken. Wir müssen an diesem Tag auch deutlich machen, dass die Reflektionsphase, die jetzt eingelegt wurde, genutzt werden muss, um die humanitäre Lage in Syrien – bis hin zu einem Waffenstillstand – zu verbessern – das erwarten die Menschen –, um den politischen Prozess dann wirklich voranzubringen. Dabei stehen alle in der Verantwortung, aber vor allem natürlich das Assad-Regime. Heute geht es hier darum, Not zu lindern und Perspektiven für die Menschen zu eröffnen, die in Syrien und in den benachbarten Ländern auf der Flucht sind. Es soll ein Tag der Hoffnung für die Menschen sein. Ich möchte als erstes auch ein herzliches Dankeschön für die Aufnahmebereitschaft sagen, die Länder wie Jordanien, der Libanon und die Türkei zeigen. Sie brauchen unsere Unterstützung. Was das Notwendigste betrifft – die täglichen Nahrungsmittelrationen –, so haben wir im letzten Jahr erlebt, dass Kürzungen durchgeführt werden mussten, die unerträglich waren und die Menschen zur Flucht genötigt haben. Deshalb sagt die Bundesregierung für 2016 insgesamt eine Milliarde Euro für die humanitären Hilfsprogramme der Vereinten Nationen zu. Davon möchten wir gerne 570 Millionen Euro als einen Beitrag für das Welternährungsprogramm geben – das entspricht ungefähr 50 Prozent der notwendigen Mittel, die das Welternährungsprogramm in diesem Jahr für diese drei Länder braucht –, damit wir am Ende dieses Tages hoffentlich sagen können: Um die Lebensmittelrationen müssen wir uns keine Gedanken mehr machen. Wir wollen natürlich mehr. Wir wollen für Essen, Kleidung, Unterkunft und Arbeit sorgen. Deshalb beteiligen wir uns auch an dem Programm „Partnership for Prospects“. Hierbei geht es zum Beispiel um Gemeindezentren, Schulen und Krankenhäuser, die von den Menschen, die auf der Flucht sind, selbst gebaut werden und damit in Arbeit kommen können. Deutschland wird sich 2016 an diesem Programm mit 200 Millionen Euro beteiligen, sodass unsere Leistung für dieses Jahr 1,2 Milliarden Euro betragen wird. Es geht natürlich auch darum, dass wir bereits für die nächsten Jahre ein Stück Sicherheit schaffen. Deshalb werden wir in den Jahren 2017 und 2018 weitere 1,1 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, sodass sich der deutsche Beitrag auf 2,3 Milliarden Euro belaufen wird. Ich bin auch sehr froh, dass die Europäische Union in einer Extraanstrengung vereinbart hat, der Türkei insgesamt drei Milliarden Euro für Projekte zugunsten von Flüchtlingen zur Verfügung zu stellen. Ich möchte noch einen Aspekt nennen, den wir in Gang bringen wollen: das sind Partnerschaften zwischen Kommunen. Wir werden dazu eine internetbasierte Kommunikationsplattform einrichten und in Deutschland dafür werben, dass Bundesländer oder Städte Partnerschaften mit Städten in Jordanien, im Libanon und in der Türkei übernehmen, um ihrerseits Hilfe anzubieten. Vielleicht können Sie das auch in Ihren Ländern bekannt machen. Außerdem werden wir 1.900 Hochschulstipendien für syrische Flüchtlinge anbieten, damit sie ihre Ausbildung voranbringen können. Meine Damen und Herren, wenn wir alle zusammenarbeiten, wenn wir alle unseren Teil beitragen, dann kann dies heute ein Tag der Hoffnung sein – einer Hoffnung für Menschen, die so viel Schreckliches erleben mussten und in diesen Stunden leider immer noch erleben. Dieser Tag wird den politischen Prozess nicht ersetzen, aber er kann ein Stück Humanität und ein Stück Hoffnung bringen. Ich wünsche mir, dass das gelingt. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Besuch des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik (IPP) am 3. Februar 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-besuch-des-max-planck-instituts-fuer-plasmaphysik-ipp-am-3-februar-2016-412410
Wed, 03 Feb 2016 15:15:00 +0100
Greifswald
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Herr Sellering, sehr geehrte Präsidenten – Herr Professor Stratmann, Herr Professor Wiestler – und andere Vertreter der Wissenschaftsorganisationen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den verschiedenen Parlamenten, sehr geehrte Frau Professor Günter, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier am IPP, werte Gäste, meine Damen und Herren, mit Wendelstein 7-X haben wir hier in Greifswald die weltweit bedeutsamste Fusionsanlage des Bautyps Stellarator. Wir alle erhoffen uns natürlich wichtige Erkenntnisse darüber, ob sich Anlagen dieses Bautyps eines Tages auch zur kommerziellen Energiegewinnung eignen. Hier wird nicht nur deutsche Spitzentechnik vorgeführt, sondern ein internationales und vor allem ein europäisches Projekt. Bei meinem letzten Besuch vor fünf Jahren habe ich bereits Einblicke – wahrscheinlich bessere Einblicke als heute – in die damals noch offene Forschungsanlage gewonnen. Heute ist sie fertig und beeindruckt schon allein – wir haben es auch im Film gesehen – durch ihre Ausmaße und Präzision. Frau Professor Günter sagte eben: Am spannendsten war es, beim letzten Modul zu sehen, ob alles noch passt – 20 Millionen Teile; das ist beachtlich. Ich bin gerne der Einladung gefolgt, heute gemeinsam mit Ihnen das erste Wasserstoffplasma-Experiment hier am Wendelstein 7-X zu starten. Es ist ein Startschuss für ein weltweit einzigartiges Experiment, das uns der Energiequelle der Zukunft einen entscheidenden Schritt näherbringen kann. Aber um überhaupt so weit zu kommen, bedurfte es eines langen Anlaufs. Vor fast 100 Jahren vermutete der englische Astrophysiker Arthur Eddington erstmals, dass die Energiequelle der Sonne auf Kernfusion zurückzuführen sei. Immer mehr Wissenschaftler hegten in der Folge den Traum von einer kontrollierten Kernfusion zur Energiegewinnung. In den 40er Jahren begannen in den USA, Russland und Großbritannien die Arbeiten. Der Tokamak steht seit vielen Jahren prototypisch dafür. Er schneidet auch jetzt gar nicht schlecht ab, muss man ja sagen; aber die Stellarator-Fans werden uns sicherlich auch gute Eigenschaften des Stellarators nennen können. 1960 wurde schließlich in Deutschland – und zwar in Garching – die Institut für Plasmaphysik GmbH von der Max-Planck-Gesellschaft und von Werner Heisenberg gegründet. Aber auch zu dieser Zeit war die weitere Entwicklung der Fusionsforschung noch nicht absehbar. Einen stabilen Fusionsprozess aufrechtzuerhalten, erwies sich als sehr kompliziert. Denn die Bedingungen zur Schaffung einer Kernverschmelzung sind extrem: Ein Plasma muss auf rund 100 Millionen Grad Celsius erhitzt werden und dabei in der Brennkammer schwebend eingeschlossen sein. Mit der wissenschaftlichen war auch die finanzielle Herausforderung gewaltig. Daher fiel es nicht unbedingt leicht, sich auf Dauer für Fusionsforschung zu erwärmen. Wir haben ja noch das Projekt ITER, dessen finanzielle Entwicklung ich jährlich verfolge und von dem ich bei aller Sympathie hoffe, dass man auch dort die Leitplanken einigermaßen einhält; nur um das einmal anzumerken. Ein weiter steigender Energiebedarf und die Aussicht auf eine schier unerschöpfliche Energiequelle waren und sind aber überzeugende Argumente. Daher wurde 1994 das IPP-Teilinstitut Greifswald gegründet. Der Bund, das Land Mecklenburg-Vorpommern und die EU haben beschlossen, gemeinsam in dieses Zukunftsprojekt zu investieren. Das war natürlich eine strategische Entscheidung. Denn die Distanz zwischen München und Greifswald ist ja nicht gerade die geringste in Deutschland. Ich würde einmal sagen: Viele Kollegen aus Bayern waren mit den Infrastrukturgegebenheiten am Anfang noch nicht allzu sehr zufrieden. Ich hoffe, das hat sich etwas gebessert. Aber wenn man einmal hier ist, weiß man, dass das Leben natürlich wunderbar ist. Es ging und geht also sozusagen auch um ein deutsches Einheitsprojekt. Es geht darum, Kräfte zu bündeln – und das natürlich auch in der wissenschaftlichen Arbeit. Gerade Greifswald bietet hierfür exzellente Voraussetzungen – durch die Energiewerke Nord, durch die Universität und durch vieles, was sich hier über die Jahre hinweg entwickelt hat. Ohne internationale Kooperation wäre aber auch Wendelstein 7-X kaum denkbar. Das IPP ist assoziierter Partner der Helmholtz-Gemeinschaft und in das gesamte europäische Programm zur Kernfusion eingebettet, das seitens der Europäischen Atomgemeinschaft EURATOM koordiniert wird. Rund 1.100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten an beiden IPP-Standorten des Max-Planck-Instituts. Gemeinsam mit zahlreichen Kooperationspartnern in Europa und weltweit arbeiten sie unermüdlich daran, uns in ein neues Energiezeitalter zu führen. Deshalb möchte ich Ihnen allen ganz herzlichen Dank sagen für das, was Sie im Augenblick leisten, und ebenso den vielen danken, die am Aufbau mitgearbeitet haben. Das sind Forschung und Ingenieurskunst auf höchstem Niveau. Ich möchte auch die Gelegenheit nutzen, um einen Glückwunsch zu überbringen, und zwar an Frau Professor Günter, die mit dem Emmy-Noether-Preis der Europäischen Physikalischen Gesellschaft ausgezeichnet wurde. Herzlichen Glückwunsch dazu. Es verdient wirklich Anerkennung, was Sie als IPP-Direktorin an wissenschaftlicher Exzellenz praktizieren – und das gemeinsam mit einem Erfolgsteam. Stellvertretend dafür nenne ich den Projektleiter Professor Klinger. Jeder Schritt, den wir auf dem Jahrhundertweg in Richtung Fusionskraftwerk vorankommen, ist ein Erfolg. Denn eine der drängendsten Fragen, die wir uns weltweit stellen, ist: Wie können wir dem zunehmenden Energiebedarf einer wachsenden Weltbevölkerung Rechnung tragen, ohne unsere Klimaziele zu verfehlen? Wir setzen in Deutschland auf erneuerbare Energien. Gerade auch das Umfeld hier in Mecklenburg-Vorpommern ist im Hinblick auf die Entwicklung erneuerbarer Energien hervorragend. Auch international – das hat ja die Klimakonferenz in Paris gezeigt – machen wir uns für eine kohlenstoffarme Energieversorgung stark. Dabei wollen wir als Industrienation zeigen, dass eine bezahlbare, sichere, verlässliche und nachhaltige Energieversorgung machbar ist – und zwar ohne Einbuße an Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand. Dabei liegen die Vorteile der Fusionsenergie auf der Hand: Wasserstoff als Brennstoff ist fast unbegrenzt verfügbar. – Wir haben ja schon gesehen, was man alles aus mehreren Eimern Wasser machen kann. – Die Kernfusion ist eine saubere Energiequelle ohne klimaschädliche CO2-Emissionen und langlebige radioaktive Abfälle. Damit eröffnen sich viele Anwendungsperspektiven. Deshalb haben wir uns auch für die Fortführung der Forschungsförderung ausgesprochen. Auch das Land steht dahinter – und das ist gut. Wir glauben, dass das Geld gut angelegt ist – das sagt auch das Bundesforschungsministerium. Die deutsche Fusionsforschung kann sich auch international sehen lassen. Wir erhoffen uns aus den Erfahrungen mit Wendelstein 7-X auch wertvolle Erkenntnisse für den internationalen Experimentalreaktor ITER in Südfrankreich. Dort soll dann das Verhalten des brennenden Plasmas näher untersucht werden. Am Beispiel der Kernfusion wird deutlich, wie langwierig und aufwendig Grundlagenforschung mitunter sein kann. Sie erfordert neben Wissen auch eine gehörige Portion Ausdauer, Kreativität und immer wieder Wagemut. Wer sich in bislang unerforschte Gebiete vorwagt, weiß oft nicht, wohin der eingeschlagene Weg führen wird. Es gibt manchmal Sackgassen; manchmal läuft man auch im Kreis – das ist sozusagen das Berufsrisiko eines Forschers. Aber umso schöner ist es dann natürlich, wenn sich plötzlich ein neuer Ausblick eröffnet und man etwas geschafft hat, was bis dahin noch nicht bekannt war. Wir müssen uns daher immer wieder vor Augen führen: Grundlagenforschung ist zeitlich nicht immer planbar oder sogar gar nicht planbar; und manchmal bringt sie auch Nebenerkenntnisse, von denen man gar nichts geahnt hat. Ohne Grundlagenforschung wird man bestimmte Erkenntnisse eben nicht gewinnen können. Max Planck hat das einmal so ausgedrückt: „Wer es einmal so weit gebracht hat, dass er nicht mehr irrt, der hat auch zu arbeiten aufgehört.“ – Also, warten Sie auf den nächsten Irrtum als Beweis Ihrer Arbeitskraft. Auf viele Fragen hat man schon befriedigende Antworten gefunden. Aber das Interessante ist auch, dass sich dann immer wieder neue Fragen stellen. Deshalb wird Grundlagenforschung auch nie zu einem Ende kommen, sondern es werden sich immer wieder neue Aufgaben als Forschungsgegenstände ergeben und mit jeder neuen Antwort eben auch Grundlagen für ein gutes oder besseres Leben – ob dies nun die Gesundheit, die Ernährung, die Mobilität oder eben auch die Energieversorgung betreffen mag. Oft kann man nicht genau sagen, wo man bestimmte Erkenntnisse anwenden kann. Wir wissen aus vielen Gebieten – aus der Forschung im Weltraum, zum Teil auch der Militärforschung –, dass plötzlich Ergebnisse auf den zivilen Markt kamen, mit denen man gar nicht gerechnet hatte. Das ist – auch für Deutschland – sehr wichtig. Wir wollen Erkenntnisse immer sehr schnell gewinnen, aber wir dürfen natürlich nicht verlernen, auch in langen Zeiträumen zu denken. Denn nur so erhalten wir uns die Chance, dass sich auch immer wieder ungeahnte Perspektiven eröffnen. Wir wollen ja unseren hohen Lebensstandard erhalten. Wir wollen das schaffen – anders schaffen wir es auch gar nicht –, indem wir innovativer sind als andere auf der Welt. Deshalb ist es sehr wichtig, dass sich unsere Gesellschaft offen für Naturwissenschaften zeigt und dass sie sich immer wieder auf technologische Neuerungen einlässt. Wir alle wissen, dass in unserem Land das Risiko oft sehr stark gewichtet wird. Deshalb müssen wir auch immer wieder aufs Neue die richtige Balance von Chancen und Risiken finden, um wirklich voranzukommen. Wir müssen es auch schaffen – das ist eine Aufgabe, an der gerade auch das Bildungs- und Forschungsministerium sehr intensiv arbeitet –, aus wissenschaftlichen Erkenntnissen, aus Erkenntnissen der Grundlagenforschung und aus dem Beginn praktischer Beispiele dann auch Geschäftsmodelle zu machen. Diesbezüglich kann man sagen, dass es viele Dinge gab, die in Deutschland einmal erfunden wurden – ich denke zum Beispiel an Konrad Zuse und den Computer oder an den MP3-Player –, aber die Vermarktung hat dann doch woanders stattgefunden. Insgesamt haben wir aber einen guten Ruf. Von der Grundlagenforschung bis zur angewandten Forschung: Das deutsche Innovationssystem gilt als attraktiv und wettbewerbsfähig. Ich will auch darauf verweisen, dass wir die Ausgaben für Forschung und Entwicklung von 2005 bis 2015 um rund 65 Prozent auf 14,9 Milliarden Euro gesteigert haben. Das geht einher mit Steigerungen der Forschungsaufwendungen in den Unternehmen. So können wir auch in Reichweite des Drei-Prozent-Ziels gelangen – eines Ziels, das sich im Übrigen alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union gesetzt haben. Aber leider halten sich nicht alle daran. Wir wollen natürlich versuchen, die Finanzmittel des Bundes möglichst effizient in den verschiedenen Bereichen einzusetzen. In diesem Zusammenhang hat sich die Hightech-Strategie, mit der wir die Innovationsaktivitäten der Bundesregierung ressortübergreifend bündeln, bewährt. Wir haben natürlich auch immer wieder versucht, außeruniversitäre Forschung weiter zu stärken. Wir haben den Pakt für Forschung und Innovation verlängert; und – ich hoffe, zur Freude der Länder – die Steigerungsraten werden vonseiten des Bunds übernommen. Allerdings muss ich sagen, dass auch die Länder – das habe ich in den Verhandlungen in der Koalition gerade wieder gemerkt – auf ihre außeruniversitären Forschungseinrichtungen stolz sind. Denn als ich angeboten habe, dass der Bund die Förderung der Max-Planck-Gesellschaft ganz übernehmen könnte, war das den Ländern doch nicht recht, sondern sie haben gesagt: Nein, nein, wir wissen das schon zu schätzen. Wir haben – das weiß wohl auch die Universität hier in Greifswald zu schätzen – neben anderem auch die BAföG-Kosten übernommen, um die Förderunterschiede zwischen außeruniversitärer Forschung und universitärer Forschung nicht zu groß werden zu lassen. Dadurch stehen den Ländern mehr Mittel zur Verfügung. Wir freuen uns sehr, wenn diese den Universitäten auch wirklich zugutekommen, soweit dies notwendig ist. Wenn es darum geht, der Spitzenforschung an den Universitäten immer wieder neue Impulse zu geben, hat sich die Exzellenzinitiative als wirksames Instrument erwiesen. Erst kürzlich hat die internationale Expertenkommission um Herrn Professor Dieter Imboden in einem Gutachten Zukunftsweichen vorgeschlagen. Es ist unbestritten, dass sich die Exzellenzinitiative im Großen und Ganzen bewährt hat, genauso wie der Hochschulpakt. Wir haben ein Allzeithoch an Studierenden: 2015 waren rund 2,8 Millionen junge Menschen an deutschen Hochschulen immatrikuliert – ein neuer Rekord. Wir müssen nur darauf achten, dass alle, die zu studieren anfangen, möglichst auch Abschlüsse machen. Das zu erreichen, wird natürlich nicht immer möglich sein. Daher bin ich sehr froh, dass es jetzt erste Projekte gibt, die es einem dann, wenn man das Studium nicht abschließt, ermöglichen, in eine Berufsausbildung zu gehen. Ich habe mir entsprechende Einrichtungen angeschaut. Durchlässigkeit muss es in alle Richtungen geben; das ist sehr wichtig. Der quantitative Befund, dass es heute viele Studentinnen und Studenten – oder Studierende, wie man heute sagt – gibt, bedeutet, dass die Voraussetzungen für zukünftige Forschung gut sind. Wenn wir uns zum Beispiel die Fusionsforschung anschauen, können wir feststellen: Wir brauchen vor allen Dingen natur- und ingenieurwissenschaftliches Know-how. Deshalb haben wir sehr intensiv für MINT-Fächer geworben und werden auch weiterhin versuchen, bei jungen Menschen Begeisterung für diese Fächer zu wecken. Gerade in der Wissenschaftsstadt Greifswald fällt das vielleicht ein wenig leichter als anderswo, weil es hier sehr viele Anschauungsmöglichkeiten gibt. Die Ernst-Moritz-Arndt-Universität bildet gemeinsam mit dem IPP und dem Leibniz-Institut für Plasmaforschung und Technologie ein wohl auch weltweit einzigartiges Kompetenzzentrum im Bereich der Plasmaforschung. Die Herausforderungen, die hier mit dem Bau und Betrieb der Forschungsinfrastruktur einhergehen, tragen auch zur Ausbildung von exzellentem Nachwuchs bei – und das sowohl in wissenschaftlichen als auch in Ausbildungsberufen. Hier in der Region bieten sich hervorragende Möglichkeiten, was die Berufung von Spitzenwissenschaftlern anbelangt. Das wiederum ist natürlich sehr gut für die Lehre. Dass die Errichtung von Wendelstein 7-X für die Region sehr bedeutsam ist, ist also unverkennbar; vor allem die 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am IPP in Greifswald sprechen dafür. Viele Aufträge aus den Investitionsmitteln für Wendelstein 7-X sowie zahlreiche Dienstleistungsverträge konnten lokal vergeben werden. Das sichert natürlich auch Arbeitsplätze in der Region. Der Oberbürgermeister und die Landrätin wissen: Arbeitslosigkeit ist hier immer noch ein deutlich größeres Thema als zum Beispiel in der Region München. Insofern ist das auch sehr wichtig. Ich habe nach dem Besuch des Fraunhofer-Instituts für Mikrostruktur von Werkstoffen und Systemen in Halle jetzt innerhalb von zwei Wochen schon ein zweites Forschungsinstitut in den neuen Bundesländern besucht. Das zeigt: Nach 25 Jahren Deutscher Einheit haben wir in den ostdeutschen Ländern eine attraktive Forschungslandschaft, auf die wir stolz sein können. Wendelstein 7-X ist ein großartiges Beispiel für Spitzenforschung „made in Germany“. Max-Planck-Gesellschaft und Helmholtz-Gemeinschaft haben hier gemeinsam Herausragendes geleistet; und das wollen wir uns auch gleich noch anschauen. Wer weiß, vielleicht wird dereinst, wenn man auf dieses Experiment zurückblickt, von einer Sternstunde der Wissenschaft die Rede sein – vielleicht auch von einer Sonnenstunde. Jedenfalls ist es äußerst beeindruckend, was Sie hier dazu beitragen, um das Sonnenfeuer auf der Erde zu zähmen. Ich wünsche deshalb immer wieder Fortschritte, keine Resignation bei eventuellen Rückschritten, viel Spaß an der Arbeit und gute Resultate, über die wir uns dann alle gemeinsam freuen können. Danke dafür, dass ich hier heute mit dabei sein kann.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Präsentation der 2-Euro-Gedenkmünzen „Sachsen – Dresdner Zwinger“ am 1. Februar 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-praesentation-der-2-euro-gedenkmuenzen-sachsen-dresdner-zwinger-am-1-februar-2016-793304
Mon, 01 Feb 2016 14:30:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Stanislaw Tillich, sehr geehrter Herr Parlamentarischer Staatssekretär Jens Spahn, meine Damen und Herren, ich möchte Sie alle zu einer kleinen Jubiläumsfeier willkommen heißen. Vor nunmehr zehn Jahren haben wir nämlich die erste 2-Euro-Gedenkmünze der Bundesländer-Serie in Umlauf gebracht. Seitdem wird Jahr für Jahr mit einer Neuausgabe sozusagen an den Föderalismus erinnert, der in unserer Bundesrepublik Deutschland den Ländern mit ihren jeweiligen Besonderheiten eben auch ein besonderes Gewicht und eine besondere Stimme verleiht. Die föderale Vielfalt spiegelt sich nicht nur in der Zusammensetzung des Bundesrats, sondern auch in unserem reichen kulturhistorischen Erbe wider. Daher findet sich auf jeder neuen Gedenkmünze ein Wahrzeichen des Bundeslands, das gerade die Präsidentschaft im Bundesrat wahrnimmt. Da ist nun in diesem Jahr Sachsen an der Reihe. Der Freistaat im Allgemeinen und Dresden im Besonderen sind reich an markanten Wahrzeichen. Schließlich macht die auch als Elbflorenz bekannte Landeshauptstadt als Kulturmetropole von sich reden. Daher dürfte es nicht ganz leicht gefallen sein, das richtige Münzmotiv auszuwählen. Ich weiß nicht, ob die Entscheidung per Münzwurf fiel. Sie war jedenfalls gut und richtig. Sie fiel auf den Dresdner Zwinger – genauer gesagt auf das Kronentor; ein barockes Kronjuwel. Bezeichnend ist die Perspektive des Bildes: Der Blick fällt vom Innenhof des Zwingers auf den offenen Haupteingang, also von innen nach außen. Damit wird – so könnte man es interpretieren – Weltoffenheit besonders gut zum Ausdruck gebracht. Aufgeschlossen zeigte sich ja auch bereits der Bauherr August der Starke – zumindest gegenüber Kunst und Kultur. Unter seiner Ägide entstand in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein einzigartiges Meisterwerk der Baukunst. Es ist ein barockes Gesamtkunstwerk: die Gemäldegalerie, der Porzellanpavillon, der Mathematisch-Physikalische Salon, die Gartenanlagen oder eben das imposante Kronentor. Dieses barocke Gesamtkunstwerk – eine „Poesie in Sandstein“, wie häufig gesagt wird – nimmt sich heute vor dem Hintergrund der verheerenden Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg wie ein Wunder aus. Einen Eindruck vom wiedergewonnenen Glanze Dresdens und seines Zwingers vermittelt nun auch diese 2-Euro-Gedenkmünze. Ich möchte dem Künstler, Herrn Jordi Truxa, ganz herzlich danken. Er kommt aus Neuenhagen und hat mit einem sehr gelungenen Entwurf die Bildseite der Münze gestaltet. Bevor nun aber der Augenblick kommt, da die Münze übergeben wird, hat erst einmal Jens Spahn für das Finanzministerium das Wort.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Verleihung des Theaterpreises des Bundes
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-verleihung-des-theaterpreises-des-bundes-408320
Fri, 29 Jan 2016 00:00:00 +0100
Im Wortlaut: Grütters
Berlin
Kulturstaatsministerin
Um die besonderen Bedeutung des Theaters für eine humane Gesellschaft zu unterstreichen, kann man die klingenden Namen der einschlägigen Kronzeugen Revue passieren lassen. Man kann die aristotelische Poetik bemühen, Schillers Ausführungen über „die Schaubühne als eine moralische Anstalt“ paraphrasieren, Brechts Theorie des epischen Theaters vortragen und so weiter. Man kann aber auch einfach ins Theater einladen – und dazu auffordern, Platz zu nehmen vor diesem gewaltigen Spiegel des Menschseins. Der Theaterpreis des Bundes, den ich heute zum ersten Mal vergeben darf, ist eine solche Einladung. Er soll nicht nur besondere künstlerische Leistungen würdigen – das natürlich auch! Vor allem aber soll er den Theatern insgesamt mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung verschaffen. Er soll ins öffentliche Bewusstsein rücken, dass Theater unverzichtbar sind als Fundament unseres kulturellen Selbstverständnisses und als Seismographen für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen – und zwar nicht nur in den Großstädten und Ballungsräumen, sondern auch abseits der Metropolen. Unter den verschiedenen künstlerischen Sparten sind es ja gerade die Theater, die sich in der Verantwortung sehen, auf gesellschaftliche Veränderungen einzugehen. Diese „Kultur der nichtradikalisierten Diskussion“, wie Ulrich Khuon es als Vorsitzender der Intendantengruppe im Deutschen Bühnenverein kürzlich formuliert hat, gewinnt gerade in Zeiten an Bedeutung, in denen eine Spaltung der Gesellschaft droht, weil unterschiedliche Lager nicht imstande sind, miteinander zu sprechen und sich zu verständigen – so wie aktuell angesichts Hunderttausender Menschen, die Zuflucht suchen in Deutschland. Das wird vielfach nicht angemessen wahrgenommen und gewürdigt. Während die großen Bühnen in der Regel breite öffentliche Aufmerksamkeit genießen, schaffen kleine und mittlere Theater den Sprung in die bundesdeutschen Feuilletons nur selten – und am ehesten noch mit Besorgnis erregenden Nachrichten über ihren Existenzkampf. Ich erwähne nur das Theater Rostock, das Theater Eisleben, das in Eisenach, aber auch Bühnen wie das Landestheater in Dinslaken. Doch gerade sie sind es, die mit viel Leidenschaft und noch mehr Idealismus dafür sorgen, dass es in ganz Deutschland Inszenierungen auf hohem professionellem Niveau gibt und dass auch abseits der Großstädte ein vielfältiges kulturelles Angebot existiert. Die große Zahl an Theatern – wir haben hier in Deutschland die weltweit höchste Theaterdichte! – ist ein Erbe der früheren territorialen Zersplitterung unseres Landes in viele kleine Fürstentümer, in denen man sich neben imposanten Residenzschlössern auch Gemäldegalerien, Bibliotheken und eben Theater gönnte. Deutschland war zuerst eine Kulturnation und dann eine politische Nation. Es war die Kultur, die Identität und Zusammenhalt stiftete. Die vielfältige deutsche Theater- und Orchesterlandschaft, die wir vergangenes Jahr in die nationale Liste des immateriellen Kulturerbes der Unesco aufgenommen haben, begründet bis heute Deutschlands Ruf als Kulturnation. Andere Länder beneiden uns darum. Sie zu erhalten, mag aufwändig und teuer sein. Und dennoch ist es kein dekorativer Luxus, den wir uns leisten, sondern gerade in unserer heutigen pluralistischen und im besten Sinne multikulturellen Gesellschaft ein unverzichtbarer Beitrag zur Orientierung und Selbstvergewisserung: um zu verstehen, woher wir kommen und was uns ausmacht als Deutsche, als Europäer, als Weltbürger. Ein Erbe aus der Zeit der früheren Zersplitterung in Kleinstaaten ist aber auch unser Kulturföderalismus. Nach dem Grundgesetz gilt, was wir „Kulturhoheit der Länder“ nennen, dass nämlich für die Kulturförderung die Länder verantwortlich und die bundespolitischen Gestaltungsmöglichkeiten sehr beschränkt sind. Das bedeutet konkret, dass der Bund aus verfassungsrechtlichen Gründen keine Möglichkeit hat, einzelne Bühnen institutionell zu fördern. Der Bund kann finanziell immer nur einzelne Modellprojekte – zeitlich begrenzt – zusätzlich zu den Trägern unterstützen. Er kann nicht dort Reparaturbetrieb sein, wo Kommunen und Länder sparen. Er kann und er darf die finanziellen Leistungen der Kommunen, der Regionen und Länder für die Theater nicht ersetzen, schon gar nicht ausbleibende Mittel kompensieren. Und er kann auch nicht in Strukturen eingreifen – also über Budgets, Gehälter und Arbeitsbedingungen mitreden oder sie gar verändern. Ich weise darauf deshalb explizit hin, weil ich nicht zuletzt während meiner Theaterreise im vergangenen Jahr in vielen Gesprächen von den Sorgen und Nöten erfahren habe, die den deutschen Theateralltag prägen – vor allem dort, wo aus unterschiedlichen demografischen, wirtschaftlichen oder strukturellen Gründen die Finanzlage und die Finanzplanung der nächsten Jahre besonders kritisch und angespannt sind. Viele der Herausforderungen, mit denen Theater sich dadurch konfrontiert sehen, werden wir auf Bundesebene nicht lösen können. Nur an wenigen und ganz bestimmten Schrauben können wir nachjustieren und haben das ja auch schon getan bzw. sind gerade dabei – etwa bei der Künstlersozialkasse, beim Arbeitslosengeld für Künstlerinnen und Künstler oder beim Urheberrecht. Umso wichtiger ist es, dass wir auf allen Ebenen bewusst machen, wie wichtig beständige kulturelle Angebote sind und wie unverzichtbar darin die Theater als Orte gesellschaftlicher Kommunikation, ja auch geistiger Intervention sind. Aus diesen Überlegungen heraus entstand die Idee, einen Theaterpreis des Bundes auszuloben, und ich bin sehr dankbar, dass der Deutsche Bundestag mir für die erste Runde eine Million Euro bewilligt hat. Mit 189 Bewerbungen war das Echo auf die Ausschreibung wie erhofft sehr groß. Natürlich will jeder, der sich für einen Preis bewirbt, auch gewinnen. Aber schon allein die Möglichkeit, die eigene Arbeit auch in einen überregionalen Kontext zu stellen, sozusagen bundesweit wahrgenommen zu werden, haben offenbar viele als Chancen begriffen. Umgekehrt wiederum hat die Vielzahl von Bewerbungen einen unglaublichen Facettenreichtum an Theater- und Veranstaltungsformen, künstlerischen, pädagogischen und sozialen Aktivitäten, Programmüberlegungen und an ästhetischen Experimenten und Grenzüberschreitungen zu Tage gefördert. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie schwer es für die Jury war, die herausragenden Bewerbungen herauszufiltern: das Besondere, das Einmalige, das Mut machende (und nicht nur Mut brauchende). Liebe Mitglieder der Jury – liebe Frau Behrendt, liebe Frau Mundel, liebe Frau Peter, lieber Herr Bergmann, lieber Herr Brandenburg -,. ich ahne, was mein Haus Ihnen da zugemutet hat! Herzlichen Dank für Ihre Mühe, für das Studium der dicken Unterlagen und Ihr sorgfältiges Abwägen zur Entscheidungsfindung! Ein herzliches Dankeschön verdienen auch das Zentrum Bundesrepublik Deutschland des Internationalen Theaterinstituts – besser bekannt als ITI – und hier namentlich Herr Engel, Herr Freundt und Frau Franke für die intensive Begleitung der Ausschreibung, die Aufarbeitung der Unterlagen bis hin zur Gestaltung dieser Veranstaltung. Das ITI ist vor allem international tätig, aber sein großes Ansehen in der Welt verdankt es der geballten Kompetenz der deutschen Theaterschaffenden aller Sparten und Formen, die darin vertreten ist. Das war uns eine außerordentlich wertvolle Unterstützung. Danken möchte ich auch Balbina für die musikalischen Beiträge, die so wunderbar zum Theater passen. Sie hat für uns die Arbeit an ihrer CD unterbrochen, was uns sehr ehrt. Vor allem aber freue ich mich auf Sie, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, und bin gespannt, was wir heute Abend von Ihrer Arbeit erfahren werden! Haben Sie sich, werte Gäste, selbst einmal befragt, was Sie über die Preisträger wissen? – Vom Theater mit dem Namen „Das letzte Kleinod“ zum Beispiel: Ein Theater auf Rädern, auf dem Weg zu den Geschichten der Menschen … das hat natürlich einen ganz besonderen Charme und es zeigt, dass unsere gängigen Begriffe von Theater offen für Entwicklungen sein müssen. Ich persönlich verfolge als Münsteranerin die Arbeit des Theaters in Osnabrück noch immer mit Neugier. Der fulminante Neustart des Gorki in Berlin ist vielfach schon gewürdigt worden; viel Aufmerksamkeit begleitet seit Jahren auch das Ringen des Theaters Dessau um seinen künstlerischen Fortbestand. Der Westflügel in Leipzig ist mir zumindest durch das dort beheimatete Figurentheater „Wilde & Vogel“ vertraut, das 2013 den Tabori-Preis erhalten hat. Über die Arbeitsweise des FFT in Düsseldorf habe ich im Rahmen der Theaterreise Interessantes erfahren. – … und so nimmt man einzelne Splitter, wenige Facetten wahr – auch der heute ebenfalls auszuzeichnenden Bühnen aus Oberhausen, Bremerhaven und Stendal, Hamburg, Leipzig oder Neukölln: Facetten, die allenfalls eine Ahnung davon geben, was die Theater in den Kommunen leisten, die das Theatererlebnis aber natürlich nicht ersetzen können. Zwar werden nur wenige es schaffen, als „Theatertouristen“ durch die Republik zu reisen, wie es der Journalist Ralph Bollmann für sein wunderbares Buch „Walküre in Detmold“ getan hat, das den rund 80 deutschen Musiktheatern gewidmet ist. Doch ich bin sicher, dass der Theaterpreis des Bundes Lust darauf macht, die Vielfalt der Theaterkultur in Deutschland auch außerhalb der Großstädte zu erleben. „Lorbeer allein macht nicht satt, besser wer Kartoffeln hat“, sagt ein deutsches Sprichwort. In der Küche stimmt das natürlich. In der Kultur dagegen – das weiß jede Künstlerin und jeder Künstler – können auf Lorbeer auch Kartoffeln wachsen. Das jedenfalls wünsche ich Ihnen, liebe Preisträger, und gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer Auszeichnung mit dem ersten Theaterpreis des Bundes!
Kulturstaatsministerin Grütters hat 12 kleine und mittlere deutsche Bühnen mit dem neuen Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet. Theater seien unverzichtbar als Fundament unseres kulturellen Selbstverständnisses und als Seismographen gesellschaftlicher Entwicklungen – und zwar auch abseits der Metropolen, erklärte Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Preisverleihung
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung der Ausstellung „Kunst aus dem Holocaust – 100 Werke aus der Gedenkstätte Yad Vashem“ am 25. Januar 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-eroeffnung-der-ausstellung-kunst-aus-dem-holocaust-100-werke-aus-der-gedenkstaette-yad-vashem-am-25-januar-2016-388120
Mon, 25 Jan 2016 20:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Shalev, sehr geehrter Herr Professor Smerling, sehr geehrter Herr Professor Koch, sehr geehrter Herr Diekmann, sehr geehrte Frau Kollegin, liebe Staatsministerin Grütters, Exzellenzen, meine Damen und Herren, was bleibt von einem Menschen, wenn er im Nationalsozialismus schrecklich gelitten hat oder, wie so viele, sterben musste? Heute eröffnen wir eine Ausstellung, die uns dieser Frage näherbringt. Es ist eine Kunstausstellung und zugleich eine Geschichtsausstellung, die uns – ich konnte mir eben schon einen Einblick gönnen –auf dichte Weise mit persönlichen Schicksalen konfrontiert. Durch die Kunst ist es möglich geworden, etwas von der Kraft und von dem Leiden der Menschen zu spüren und damit auch ihre Spuren ein wenig zu verfolgen, obgleich wir die Spuren so vieler nicht mehr verfolgen können. In der Ausstellung findet sich zum Beispiel ein Werk von Esther Lurie. Sie kam 1913 in Lettland zur Welt, studierte Malerei in Belgien und lebte vor dem Krieg als erfolgreiche Künstlerin im damaligen Britischen Mandatsgebiet Palästina. Nach ihrer Rückkehr nach Europa, um Verwandte zu besuchen, wurde sie 1941 bei einem Besuch in Litauen vom deutschen Überfall überrascht und dort interniert. Auf Befehl der deutschen Besatzer fertigte sie im Ghetto Kowno Landschaftsbilder und Porträts an. Nebenbei arbeitete sie heimlich an Bildern, die das Lagerleben dokumentierten. Es blieben nur wenige davon erhalten, aber diese wenigen aussagekräftigen Werke sollten später sogar im Prozess gegen Adolf Eichmann als Beweismittel der Anklage dienen. Nach dem Krieg und dem Zivilisationsbruch der Shoa wurden oft kontroverse Diskussionen über die Frage geführt, ob es nach Auschwitz überhaupt möglich sei, Kunst zu schaffen – gar eine Kunst, die sich explizit mit dem Grauen der Lager auseinandersetzt. Doch in der Ausstellung, die wir eröffnen, stellt sich diese Frage nicht. Denn sie versammelt Werke, die nicht nach, sondern in Auschwitz oder in anderen Orten des Schreckens entstanden sind. Sie zeigt Zeugnisse des Zivilisationsbruchs, die Kunst und Dokument in einem sind. Insgesamt sind es 100 Werke von 50 Künstlerinnen und Künstlern, die als Juden verfolgt, in Ghettos und Konzentrationslagern eingesperrt und gequält wurden. Viele von ihnen wurden ermordet. Die Bilder zeigen uns einen Alltag jenseits der Alltäglichkeit: Totenstille Landschaften, beklemmende Lagerszenen und immer wieder Porträts – Gesichter voller Schmerz und Trauer, aber auch voller Stolz und Hoffnung. Auch Esther Lurie zeigt sich auf ihrem Selbstporträt als ungebrochene Frau. Jedoch lassen der ernste Blick, die Schatten um die Augen und das unregelmäßige Format erahnen, unter welch erdrückenden Umständen das Bild entstanden ist. Es ist gerade diese komplexe Identität der Bilder, die dem Betrachter so nahegeht. Dass diese Bilder mehr erzählen, als uns vielleicht auf den ersten Blick bewusst wird, und dass sie uns auch heute noch ansprechen und bis ins Innerste bewegen, macht sie so überaus wertvoll. Das spürt man gleich, wenn man in der Ausstellung das erste Bild – „Der Flüchtling“ von Felix Nussbaum – betrachtet, das so einprägsam die Hoffnungslosigkeit eines Juden zeigt, der nirgendwo auf der Welt eine Heimat, nicht einmal einen Platz hat. Von den Künstlerinnen und Künstlern, die die Bilder angefertigt haben, überstand nur etwa die Hälfte die Hölle der Konzentrationslager und Ghettos – darunter auch Nelly Toll. Liebe Frau Toll, es hat mich unglaublich berührt und gefreut, dass wir uns vorhin während des Rundgangs kennenlernen konnten. Ich freue mich, auch Ihren Mann hier begrüßen zu können. Ihre Werke sind auch in dieser Ausstellung zu sehen; sie sind unglaublich beeindruckend. Als kleines Mädchen waren Sie eingesperrt. Sie aber haben Bilder gemalt von Mädchen im Feld, von Mädchen am Klavier. Sie zeigen in diesen Bildern etwas, das Sie wahrscheinlich empfunden haben. Sie haben dieses Eingesperrtsein durch Malen ausgedrückt – die Sehnsucht, aus dem Versteck herauszukommen und in die Welt einzutauchen. Sie waren noch so jung. Der Drang nach Freiheit war ungebrochen. Das spiegelt sich in diesen Bildern wider. Ganz herzlichen Dank dafür, dass Sie die weite Reise auf sich genommen haben und heute bei uns sind. Die allermeisten Überlebenden sind heute nicht mehr unter uns, aber ihre Zeugnisse leben weiter und mit ihnen die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus. Die millionenfachen Geschichten unfassbaren Leids bleiben fest im nationalen Gedächtnis Deutschlands haften – ich betone: in unserem nationalen Gedächtnis. Heutige Generationen, die Krieg und Verfolgung nicht persönlich erleben müssen, vermag – und das ist meine Hoffnung – gerade auch die Kunst an dieses außerordentlich schwierige Thema heranzuführen. Wenn man durch diese Ausstellung geht, spürt man: Da ist so viel Authentizität, da ist so viel Eigenes enthalten, sodass man sich diesen Bildern nicht entziehen kann. Es geht immer um einzelne Menschen in diesen Bildern; das führt uns den Schrecken dieser Zeit vor Augen. Die Bilder bieten uns einen Einstieg, eine nachdenklich stimmende und zum Nachdenken anregende Begleitung in der Beschäftigung mit dem schrecklichsten Kapitel der deutschen Geschichte. Ich glaube, auch deshalb ist das Deutsche Historische Museum der richtige Ort, diese Bilder zu zeigen. Ich bin froh, dass wir diese Ausstellung haben; das ist alles andere als selbstverständlich. Ermöglicht hat sie das großzügige Entgegenkommen der Gedenkstätte Yad Vashem. In dieser umfangreichen Zusammenstellung – ein herzliches Dankeschön auch den Kuratoren – waren die Werke bisher nur in Israel zu sehen. Jetzt haben wir sie erstmals in Deutschland. Danke für Ihr Vertrauen. Und natürlich geht dieser Dank ganz besonders an Sie, an Herrn Shalev, den Präsidenten von Yad Vashem. Ich habe heute in einer Zeitung die sehr anrührende Geschichte der Verpackung und des Auf-die-Reise-Schickens dieser Bilder gelesen – jedes einzelne herausgelöst aus einer großen Sammlung, liebevoll verpackt, zum ersten Mal wieder Israel verlassend und ein wenig von der Angst begleitet, was alles passieren könnte. Deshalb haben Sie auch die Bilder in zwei Gruppen nach Deutschland gebracht, damit, falls etwas passiert, nicht alles Schaden nimmt. Das hat mich sehr berührt. Ich möchte auch der Stiftung für Kunst und Kultur aus Bonn, Herrn Professor Smerling und Herrn Diekmann sehr, sehr herzlich dafür danken, dass sie an diesem Projekt drangeblieben sind und es so zum Schluss möglich wurde. Dies ist ein beispielhaftes Projekt der deutsch-israelischen Zusammenarbeit. Mittlerweile können wir auf etwas mehr als 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland zurückblicken. Es gab eine erste vorsichtige Annäherung, die Ministerpräsident Ben-Gurion und Bundeskanzler Adenauer wagten. Mit Umsicht und Weitblick gelang es ihnen, den Grundstein für eine enge Partnerschaft unserer beiden Länder zu legen. Diese ersten Schritte waren alles andere als leicht. Sie trotzdem zu gehen, kostete vielen Menschen in Israel große Überwindung. Das war nur allzu verständlich. Natürlich brauchte es Zeit und Geduld, damit Vertrauen in ein neues, ein menschliches und demokratisches Deutschland wachsen konnte. Heute pflegen wir zwischen Israel und Deutschland eine enge Zusammenarbeit. Mitte Februar werden wir hier in Berlin die Sechsten Deutsch-Israelischen Regierungskonsultationen durchführen. Daran kann man die ganze Breite und Tiefe unserer einzigartigen Beziehungen auf politischer Ebene erkennen. Auch die Wissenschaft spielt eine zentrale Rolle, der wir in der Nachkriegszeit die ersten Kontakte zwischen Israel und Deutschland zu verdanken haben. Das Engagement der Max-Planck-Gesellschaft und der Helmholtz-Gemeinschaft in Israel, viele Hochschulkooperationen – darin zeigt sich ein beständiger wissenschaftlicher Austausch. Ich möchte auch die Kultur nennen, zum Beispiel den Deutsch-Hebräischen Übersetzerpreis, und natürlich auch die Wirtschaft. Ob beruflich oder privat – Israelis und Deutsche begegnen sich auf vielerlei Weise. Dass beide Länder einander so vielfältig verbunden sind, nimmt sich angesichts der Geschichte wie ein Wunder aus. Wir in Deutschland sollten nie vergessen, dass dies eben alles andere als selbstverständlich ist, sondern ein Wunder. Die Erinnerung an den Zivilisationsbruch der Shoa wird immerwährende Verantwortung Deutschlands bleiben. Übermorgen, am 27. Januar, dem Tag, als vor nunmehr 71 Jahren das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz befreit wurde, werden wir im Deutschen Bundestag wieder der Opfer gedenken, die die Shoa gefordert hat. Diese Ausstellungseröffnung im Vorfeld des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus unterstreicht, dass wir eine gute Zukunft nur im Bewusstsein dieser immerwährenden Verantwortung gestalten können. Die hier gezeigten Bilder – jedes Bild auf seine eigene Art und Weise – mahnen uns, das, was geschehen ist, für immer im Gedächtnis zu behalten, das Andenken an die Opfer zu bewahren und uns mit ganzer Kraft für das „Nie wieder“ einzusetzen. Ich wünsche mir, dass viele Besucherinnen und Besucher kommen – jüngere und ältere –, die sich auf diese beeindruckenden Bilder einlassen. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung des Fraunhofer-Instituts für Mikrostruktur von Werkstoffen und Systemen (IMWS) am 25. Januar 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-eroeffnung-des-fraunhofer-instituts-fuer-mikrostruktur-von-werkstoffen-und-systemen-imws-am-25-januar-2016-387686
Mon, 25 Jan 2016 14:40:00 +0100
Halle/Saale
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Reiner Haseloff, sehr geehrter Herr Minister Möllring, sehr geehrter Herr Professor Neugebauer, sehr geehrter Herr Professor Hacker, sehr geehrter Herr Professor Wehrspohn, sehr geehrter Herr Professor Sträter, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Wiegand, meine Damen und Herren, ich bin Ihrer Einladung nach Halle gerne gefolgt. Halle kann sich in vielerlei Hinsicht von seiner besten Seite zeigen. Die Händelstadt ist als Kulturmetropole hochgeschätzt. Zugleich ist sie eine Stadt der Wissenschaft und Forschung. Mit der Leopoldina hat die Nationale Akademie der Wissenschaften in Deutschland hier ihren Sitz. Wir haben lange gebraucht, ehe wir eine Nationale Akademie der Wissenschaften geschaffen haben. Deshalb war ich gerne auch bei der letzten Jahresversammlung wieder zu Gast. Mit der Martin-Luther-Universität hat Halle eine der ältesten und traditionsreichsten Universitäten Deutschlands. Halle ist auch ein Innovationsstandort, an dem Forschung und praktische Anwendung Hand in Hand gehen. Genau dafür steht der Name Joseph von Fraunhofer. Der Forscher bewies nicht nur als gelernter Optiker Weitsicht. Er verstand es seinerzeit, kluge Ideen in neue und gefragte Produkte zu verwandeln. Heute werden unter dem Dach der Fraunhofer-Gesellschaft ebenfalls kluge Ideen in neue und gefragte Produkte verwandelt, aber es sind ungleich mehr kluge Köpfe, die hieran arbeiten. Rund 24.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen dem Namensgeber ihrer Einrichtungen alle Ehre. Patentreife Lösungen werden quasi am laufenden Band produziert. Deshalb bürgt der Name Fraunhofer für exzellente angewandte Forschung. Das gilt eben auch hier in Halle. Nun ist es mir eine besondere Freude, das neue Fraunhofer-Institut für Mikrostruktur von Werkstoffen und Systemen zu eröffnen. (Zuruf) – Okay, danke schön. Ich werde meiner Verantwortung gerecht und werde auf alles achten, damit Deutschland eine gute Zukunft hat. Mit der Zukunft beschäftigen wir uns auch heute genau hier. Heute also wird hier das Fraunhofer-Institut für Mikrostruktur von Werkstoffen und Systemen – kurz: IMWS – eröffnet. Damit hat Sachsen-Anhalt das zweite Fraunhofer-Institut. Wie der Ministerpräsident schon sagte, ist der Königsteiner Schlüssel für die neuen Bundesländer sozusagen überschritten, denn mit der heutigen Eröffnung gibt es – wie auch Herr Professor Neugebauer sagte – schon 15 solche Institute in den neuen Bundesländern. Nach 25 Jahren Deutscher Einheit haben wir also eine leistungsfähige und blühende Forschungslandschaft. Das ist eine Facette der Erfolge der Deutschen Einheit. Die Geschichte des Fraunhofer-Instituts für Mikrostruktur von Werkstoffen und Systemen in Halle zählt zu dieser Erfolgsgeschichte – einer Geschichte, die im wahrsten Sinn des Wortes tief blicken lässt; ich konnte mich davon überzeugen. Denn Sie nehmen hier an Ihrem Institut die Mikrostrukturen von Werkstoffen sowie Systeme in kleinsten Dimensionen in den Blick. Da sind wir ja im Nanobereich angekommen; und das ist durchaus spannend. Die Elektronenmikroskopie und die Entwicklung bildgebender Verfahren haben in Halle eine lange Tradition. Sie wurde im Wesentlichen von Heinz Bethge begründet. Der namhafte Forscher hat hier auf dem Weinberg-Campus nicht nur sein erstes Elektronenmikroskop gebaut, sondern er hat auch das Institut für Festkörperphysik und Elektronenmikroskopie der Akademie der Wissenschaften der DDR aufgebaut. Ich habe gelernt, dass hier selbst heutige Nobelpreisträger wie Professor Ertl schon damals partizipiert haben. Aus dieser Einrichtung, der Herr Bethge als Direktor jahrelang vorstand, sollte 1992 schließlich der Institutsteil Halle hervorgehen, der dem Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik in Freiburg bis 2015 angegliedert war. Es war eine Wachstumszeit, die vor allem geprägt war von einer engen Zusammenarbeit mit hier in der Region ansässigen Unternehmen, mit anderen Forschungsinstituten sowie mit der Martin-Luther-Universität. Es ist richtig: Die Fraunhofer-Institute haben sich in den neuen Bundesländern sehr schnell etabliert. Sachsen-Anhalt war vielleicht das neue Bundesland, das vom Strukturwandel am stärksten betroffen war. Umso wichtiger war es, nach großen Einheiten wieder mit kleinen Einheiten zu beginnen und dann daraus große Netzwerke zu entwickeln. Mit der Neugründung dieses Instituts sehen wir hier sozusagen exemplarisch einen solchen Vorgang. Nun ist das Institut selbständig und unterstreicht damit das Spitzenniveau, auf dem es angewandte Forschung praktiziert. Wir glauben ganz fest – das glauben ich und auch der Ministerpräsident –, dass weitere Investitionen in den Forschungsstandort Sachsen-Anhalt folgen werden. Denn es sind gerade die Vernetzung und die Kooperation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, die die Standortstärke ausmachen. Das kommt auch am Beispiel des „Leistungszentrums Chemie- und Biosystemtechnik“ zum Ausdruck. Es geht also darum, immer wieder Kompetenzen in Fachbereichen zu bündeln und Synergieeffekte zu schaffen. Dabei kann man eben sehr gut auf die jahre- bzw. jahrzehntelangen Erfahrungen in der chemischen Industrie in dieser Region aufbauen. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig Netzwerke in der Forschung und Wissenstransfer für die wirtschaftliche Nutzbarmachung sind. Die Landesregierung mit Reiner Haseloff und dem Wirtschaftsminister, Herrn Möllring, setzt ja genau darauf, das strategisch durchzuarbeiten und zu überlegen, wo man Vernetzungspunkte schaffen kann, auf die sich dann die Förderung konzentriert, sodass Schritt für Schritt eine beachtliche Industrielandschaft hervorgebracht wird. Diese wird natürlich wiederum durch Strukturwandel beeinflusst – ich denke etwa an die Solarenergie. Aber man richtet den Blick eben immer wieder nach vorne. Deshalb ist der Anteil der industriellen Wertschöpfung am Bruttoinlandsprodukt des Landes inzwischen beachtlich hoch. Es ist vor allen Dingen eine mittelständische Wirtschaft, die sich hier entwickelt hat. Das macht zum Teil auch die Kooperationsformen vielfältiger. Es gibt hier nicht die großen Konzerne, die über eigene Forschungs- und Entwicklungskapazitäten verfügen. Insofern ist die Forschungsförderung in den neuen Ländern auch immer eine, die angepasst und spezifisch sein muss. Daher müssen wir auch bei den Bundesprogrammen immer wieder Wert darauf legen, die neuen Länder adäquat zu berücksichtigen. Nun geht es nicht nur darum, dass möglichst rasch neue Ideen produziert werden; vielmehr geht es hier mindestens so sehr wie anderswo auch darum, schnell marktfähige Produkte daraus zu entwickeln, damit auch mehr Arbeitsplätze in die Region kommen. Diesbezüglich ist ja Beachtliches gelungen. Deshalb kann man sagen, dass das Wirken der Fraunhofer-Gesellschaft an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Wirtschaft sehr gelungen ist. Herr Professor Neugebauer, Sie haben in Ihrer Ansprache lange Dankpassagen gehabt – ich will auch Ihnen einfach einmal ein Dankeschön sagen. Sie haben sozusagen schon mit der Muttermilch die Strukturen eingesogen, an denen man ansetzen und die man in die Zukunft transferieren muss. Sie haben viel praktische Erfahrung. Es ist sehr gut – da bin ich mir, glaube ich, mit Reiner Haseloff einig –, dass ein Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft gerade auch die Konstruktionen hier in den neuen Ländern kennt. Nun sind Vernetzung und Kooperation nichts Neues für den deutschen Forschungsstandort und für das deutsche Innovationssystem, weshalb es auch im internationalen Vergleich in hohem Maße attraktiv und wettbewerbsfähig ist. Wir können als Exportnation vor allem deshalb so gut dastehen, weil wir mit forschungs- und entwicklungsintensiven Hightech-Gütern immer wieder auf dem Weltmarkt überzeugen können. Der frühere Bundespräsident Köhler hat immer wieder gesagt: Wir müssen um so viel besser sein, wie wir teurer sind und höhere Lohnkosten haben, wenn wir uns unseren Wohlstand erhalten wollen. Das heißt, die Triebkraft Innovation ist sozusagen der Garant für unseren Lebensstandard. Das mag vielleicht eine Binsenweisheit sein, aber man muss diese Erkenntnis immer wieder in die Bevölkerung und auch in die Schulen hineintragen. Unser Wohlstand der Zukunft hängt also davon ab, dass wir innovativer und produktiver sind als andere auf der Welt. Deshalb versuchen wir das auch seitens des Bundes in unserer Hightech-Strategie zu berücksichtigen. Sie bündelt das Engagement der Bundesregierung ressortübergreifend – vom Forschungsministerium über das Wirtschaftsministerium bis zu vielen anderen – zu einer Innovationsstrategie. Sie bringt immer wieder Akteure aus Wissenschaft und Wirtschaft zusammen. Dem dient ja auch unser Innovationsdialog, in dem wir über spannende zukünftige Entwicklungen diskutieren. Wir konzentrieren uns natürlich auf besonders zukunftsträchtige Felder, die auch von globaler Bedeutung sind – wie etwa Klimaschutz, Energie, Gesundheit, Ernährung, Industrie 4.0 und nachhaltige Mobilität. Von fast allem ist auch hier am Institut etwas zu sehen. Insbesondere nachhaltige Mobilität spielt hier eine wichtige Rolle – interessanterweise in verschiedensten Komponenten, wie ich mich überzeugen konnte; und zwar sowohl, was Karosserien anbelangt, wenn es um Kohlenstofffasern geht, als auch, was die Elektronik anbelangt, wenn es um das automatisierte Fahren geht. All das sind Bereiche mit enormen Marktpotentialen. Das Thema Werkstoffforschung ist vielleicht eines, das in Deutschland jahrelang ein bisschen unterschätzt wurde. Wir erleben bei den Werkstoffen ja geradezu eine Revolution. Insofern geht es hierbei auch um eine Schlüsseltechnologie. Deshalb hat Halle jetzt eine Schlüsselrolle, wenn es darum geht, auf Zukunftsmärkten Fuß zu fassen. Denn Werkstofftechnologien finden eigentlich in allen Industriebranchen ihre Anwendung. Dementsprechend ist bei Ihnen die Bandbreite möglicher Partner beeindruckend groß. Das Spektrum reicht von der chemischen Industrie über die Energietechnik bis zum Automobilbau und Flugzeugbau. Dem Ganzen sind keine Grenzen gesetzt. Rund 70 Prozent aller neuen Produkte basieren auf neuen Werkstoffen. Sie helfen zum Beispiel dabei, langlebigere Güter zu produzieren, Energie zu sparen, Material zu sparen – also alles, was in eine Nachhaltigkeitsstrategie hineingehört. Ihr Institut widmet sich als wissenschaftliches Schwergewicht den Leichtgewichten unter den Bauteilen. So kann etwa eine leichtere Bauweise im Automobilbereich zu geringerem Kraftstoffverbrauch beitragen, was wiederum ein Beitrag für mehr Klimaschutz ist. Überhaupt ist ein solches Institut im Umfeld des Automobilbaus sehr wichtig, denn wir erleben zurzeit doch einen starken qualitativen Wandel des Automobils. Insofern stehen Ihnen, glaube ich, auch in Zukunft viele Kooperationsmöglichkeiten offen. Ich vermute einmal, Sie haben hier eine relativ gute Ausstattung – ich habe jedenfalls keine Klagen gehört –: vom Computertomographen bis hin zu guten Elektronenmikroskopen. Aber vielleicht wollte man nur keine Klagen vorbringen. Ich weiß ja, dass die Skala bei den Ausstattungswünschen ja meist nach oben hin offen ist. Ich denke aber, Herr Professor Neugebauer achtet schon darauf, dass die Dinge vorangehen. Und wir versuchen seitens des Bundes, günstige Rahmenbedingungen zu schaffen. Wir haben verschiedene Initiativen ergriffen – auf den Pakt für Forschung und Innovation ist bereits hingewiesen worden. Da haben wir – sehr zur Freude der Länder – eine neue qualitative Stufe erreicht: Der Bund zahlt in dieser Legislaturperiode die Aufwüchse der Fördermittel alleine, was die Länder entlastet und dann zum Beispiel auch mehr Wirtschaftsförderung ermöglicht. Wir haben uns auch Gedanken über die zum Teil bestehenden Unterschiede zwischen der außeruniversitären Forschung und der Forschung an den Universitäten gemacht. Das war auch der Grund dafür, dass wir als Bund die BAföG-Kosten vollständig übernommen haben und demnächst die BAföG-Leistungen erhöhen werden. Damit leisten wir einen Beitrag dazu, dass sowohl universitäre als auch außeruniversitäre Forschung faire Chancen haben. Das wird auch hoffentlich die Martin-Luther-Universität zu würdigen wissen, auch wenn ich weiß, dass es immer noch Unterschiede gibt. Darüber hinaus haben wir die Exzellenzinitiative, die den Wettbewerb unter den Anbietern im Wissenschaftssystem stärkt, weshalb über deren Fortführung derzeit diskutiert wird. Gerade durch die Verlässlichkeit unserer Forschungsförderung in den letzten Jahren haben wir unseren internationalen Stand verbessern können. Es gibt eine Vielzahl von Forschern, die wieder aus dem Ausland nach Deutschland zurückkehren, auch weil es während der internationalen Finanzkrise und auch während der europäischen Schuldenkrise in anderen Ländern keinesfalls so war, dass man dort auf verlässliche Rahmenbedingungen setzen konnte. Die Bundesregierung aber hat verlässliche Rahmenbedingungen über die Jahre hinweg sichergestellt; und die Bundesländer haben das mit ihrer Kofinanzierung genauso. Es geht also um Rahmenbedingungen, es geht um kluge Köpfe und es geht natürlich auch um Weltoffenheit. Wir wollen alles tun, um im Wettbewerb weiter vorne mit dabei zu sein. Auch mit Blick auf die Probleme, die wir im Augenblick im Zusammenhang mit den vielen Flüchtlingen, die zu uns kommen, haben, sage ich ausdrücklich: Die Aufgabe der Integration derjenigen, die bei uns eine Bleibeperspektive haben, wird nur gelingen, wenn wir hier auch gute wirtschaftliche Rahmenbedingungen haben. Dazu gehört natürlich auch ein funktionierender Arbeitsmarkt. Deshalb möchte ich mich, auch was die Integrationsaufgabe anbelangt, dafür bedanken, dass die Fraunhofer-Gesellschaft gemeinsam mit der Max-Planck-Gesellschaft eine eigene Initiative mit dem Ziel gestartet hat, Flüchtlinge zu qualifizieren, fit für den Arbeitsmarkt zu machen und nach Möglichkeit in das Wissenschaftssystem zu integrieren. Wir fördern natürlich auch seitens der Bundesregierung Sprachkurse, Integrationskurse und wollen damit erreichen, dass es einen leichteren Zugang zu Praktika und Jobs geben kann. Meine Damen und Herren, um Innovation „made in Germany“ immer weiter voranzubringen, können wir uns glücklich schätzen, mit der Fraunhofer-Gesellschaft einen starken Motor zu haben. Ihre Institute – jedes für sich – leisten dazu ihren Beitrag. Anders ausgedrückt: Sie verstehen sich hier in Halle genauso wie Ihre Fraunhofer-Kollegen in Freiburg als „Fitnesszentrum mit Notfallpraxis für technische Werkstoffe und Bauteile“ – also Vorsorge und Nachsorge. Ich habe hier motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesehen, die an ihren Projekten mit großem Elan arbeiten. Ich vermute, das gilt für alle, die hier beschäftigt sind; denn es ist ja auch jeden Tag etwas Neues zu entdecken. Deshalb wünsche ich Ihnen, dass Sie auch in Zukunft ein Schrittmacher des Fortschritts, der wissenschaftlich-technischen Entwicklung und der Umsetzung in die Praxis sein werden. Ich wünsche der Landesregierung, dass sich die Fraunhofer-Institute hier gut bewähren und dass sich auch über ihre Kooperationen Sachsen-Anhalt als lebendiger Innovationsstandort weiterentwickelt. Wenn man auf die letzten 25 Jahre zurückschaut, kann man sagen: Es ist schon eine Menge geschafft. Insofern habe ich keinen Zweifel daran, dass es auch genauso weitergeht. Herzlichen Dank dafür, dass Sie mich zur Institutsgründung eingeladen haben.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum Thema „Barmherzigkeit und politische Kultur“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zum-thema-barmherzigkeit-und-politische-kultur–786518
Mon, 18 Jan 2016 00:00:00 +0100
Im Wortlaut: Grütters
Würzburg
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort.- „Barmherzigkeit“ und „Politik“: Diese Begriffe werden vermutlich selbst in diesem (von Papst Franziskus ausgerufenen) Heiligen Jahr der Barmherzigkeit selten in einem Atemzug genannt. Ganz im Gegenteil: Politik gilt als „schmutziges Geschäft“. Politik, so lautet ein geflügeltes Wort, „verdirbt den Charakter“. Unter allen Berufsgruppen genießen Politiker weltweit das geringste Vertrauen in der Bevölkerung. An der Spitze stehen Feuerwehrleute und Ärzte. Auch Krankenschwestern und Rettungssanitäter sind weit oben mit dabei – Menschen in helfenden Berufen also, zu denen Politiker ganz offensichtlich nicht gezählt werden. Am prägnantesten hat es wohl Julius Kardinal Döpfner formuliert, ich zitiere: „Der barmherzige Samariter unterschreibt keine Resolution, die weiter geleitet werden muss, er packt selbst an.“ So weit der nicht gerade „samariterliche“ Ruf, der Politikern im allgemeinen vorauseilt – was Sie, lieber Herr Bischof, nicht davon abgehalten hat, mich als Festrednerin einzuladen und mir eine großzügige bemessene Redezeit zum Thema „Barmherzigkeit und politische Kultur“ zu gewähren. Vielen Dank! Das berühmte Gleichnis vom barmherzigen Samariter aus dem Lukasevangelium ist ein guter Ausgangspunkt, um der Frage nachzugehen, welche Rolle Barmherzigkeit in der Politik spielen kann und spielen sollte – eine Frage, die mich persönlich als gläubige Katholikin und christdemokratische Politikerin immer wieder beschäftigt; eine Frage aber auch, die für uns alle hochaktuell ist in Zeiten, in denen Hunderttausende Menschen aus Kriegs- und Krisenregionen Zuflucht suchen in Deutschland. Jeder kennt die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Ein Mann liegt schwer verletzt am Wegrand. Zwei Männer kommen vorbei und gehen weiter. Ein Dritter sieht ihn und hat Mitleid. Er kümmert sich um den Fremden, verarztet ihn, so gut es geht, bringt ihn in Sicherheit, sorgt auf eigene Kosten für Unterkunft und Pflege. Er übernimmt die Verantwortung dafür, dass es diesem hilfsbedürftigen Menschen wieder gut geht. „Wer ist mein Nächster?“, so lautete die Frage des jüdischen Schriftgelehrten, die Jesus mit diesem Gleichnis beantwortet hat. Eine – wie wir heute sagen würden – politisch heikle Frage, aus zwei Gründen: Zum einen, weil der Schriftgelehrte damit ganz offensichtlich auf eine Abgrenzung hinaus wollte. Meine Nächstenliebe kann doch nicht allen und jedem gelten, so das Argument. Dafür muss es doch Kriterien geben (- manche würden sagen: „eine Obergrenze“). Wo ist diese Grenze? Hört der Kreis meiner Nächsten bei meiner Familie auf? Bei meinen Freunden? Bei meinen Landsleuten? Bei den Angehörigen meiner eigenen Religion? Heikel war diese Diskussion aber auch, weil der Schriftgelehrte Jesus bewegen wollte, zu einer noch grundsätzlicheren Frage Position zu beziehen: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu bekommen?“ Um die Antwort auf diese Frage wurde damals heftig gestritten, und so war der Schriftgelehrte gespannt, für welche Seite Jesus Partei ergreifen würde. Für diejenigen, die die Liebe zu Gott in einem Leben streng nach den Vorschrift des Gesetzes sahen? Für diejenigen, die der Gottesliebe im Gebet Ausdruck verliehen und dazu aufriefen, sich fern zu halten von den Versuchungen und Sünden, von der Verdorbenheit der Welt? Für diejenigen, die im Namen der Gottesliebe zum Kampf gegen fremde Unterdrücker aufriefen? Jesus lässt den Schriftgelehrten zitieren, was im Gesetz geschrieben steht – liebe Gott und liebe deinen Nächsten -, und er beantwortet die Frage, „wer ist mein Nächster?“ auf eine Weise, die die Kleinlichkeit der Gelehrtendebatten offenbart. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter gibt es keine Regel, die den „Nächsten“ und damit die Reichweite der Nächstenliebe definiert. Es ist immer der einzelne Mensch, der sich als „der Nächste“ eines Bedürftigen erkennt und der seinem Mitmenschen im Akt des Helfens zum Nächsten wird. Erst dadurch, in der Liebe zum anderen Menschen, wird die Liebe zu Gott konkret. So hat der Samariter nicht aus Gehorsam einer Regel gegenüber geholfen, nicht aus Kalkül, weil er sich davon einen Nutzen erhofft hätte, und auch nicht aus Sympathie. Der Verletzte stand ihm nicht nahe, im Gegenteil. Die damaligen Zuhörer dürfte es in ungläubiges Staunen versetzt haben, dass Jesus ausgerechnet einen Samariter als Vorbild beschreibt. Denn Samariter wurden als nicht rechtgläubige Juden verachtet; man war einander allenfalls in gegenseitiger Abneigung verbunden. Es gibt ein berühmtes Bild mit dem Titel „Der barmherzige Samariter“, auf dem der Maler Vincent van Gogh die Distanz zwischen Hilfsbedürftigem und Helfendem deutlich hervorgehoben hat: Die Blicke der beiden begegnen sich nicht. Dem Samariter steht die gewaltige Anstrengung ins Gesicht geschrieben, die nötig ist, um den Verletzten aufs Pferd zu hieven. Der Verletzte wiederum macht den Eindruck, als wolle er seinen Helfer so gut es eben geht auf Abstand halten. Die Barmherzigkeit des Samariters, das sieht man hier deutlich, hat nichts mit persönlicher Verbundenheit zu tun. Sein Erbarmen gilt dem Menschen, mit dem ihn – bei aller Distanz, die den gesellschaftlichen Umständen geschuldet ist – viel mehr verbindet als trennt. Entscheidend ist also ein dem anderen Menschen zugewandtes, mitfühlendes Herz. Daraus schöpft der Samariter die Kraft, den Fremden allen Umständen zum Trotz so zu behandeln als wäre er ein „Nächster“ im wortwörtlichen Sinne – ein ihm nahestehender Mensch. Barmherzigkeit ist damit viel mehr als Hilfsbereitschaft. Sie steht in großer Nähe zur Nächstenliebe und zur Humanität. Ein barmherziger Mensch öffnet sein Herz fremder Not und nimmt sich ihrer an. Ein barmherziger Mensch kann sich einfühlen, kann verzeihen. Barmherzigkeit heißt, auch im Fremden, ja sogar im Feind, zuallererst den Mitmenschen zu sehen. Ein hoher Anspruch! Schwierig genug, sich daran im engsten persönlichen Umfeld, in menschlichen Nahbeziehungen zu orientieren! Noch schwieriger ist es, wenn es um Politik geht! Oft genug entzünden sich politische Diskussionen an der Frage, wie viel Barmherzigkeit und Nächstenliebe wir uns als Gesellschaft leisten können und müssen – finanziell, aber auch im Hinblick auf Ausgewogenheit und sozialen Frieden. Das Jahr 2015 bot Beispiele genug: Wie viele Menschen, die Schutz suchen vor Krieg und Gewalt, können wir aufnehmen? Wie viel Geld können wir zur Verfügung stellen für humanitäre Hilfe in Krisenregionen? Wie viele Rettungspakete schnüren wir für Griechenland? Wer hat Anspruch auf Leistungen aus unserem Solidarsystem? Das sind Fragen, auf die das Gleichnis des barmherzigen Samariters keine Antworten gibt, obwohl es auch hier um hilfsbedürftige Menschen geht. Die politische Kultur im weitesten Sinne – damit meine ich politische Entscheidungen und demokratische Verfahren ebenso wie öffentliche Debatten und das menschliche Miteinander in der Politik – lässt sich nicht einfach einordnen in unsere christlich geprägten, moralischen Kategorien der Wahrnehmung. Sie scheint sich unseren moralischen Intuitionen in gewisser Weise sogar zu verschließen. Warum ist das so? Warum scheint sich das Gleichnis des barmherzigen Samariters nicht in gleicher Weise als Leitbild für politisches Handeln zu eignen wie als Leitbild für zwischenmenschliche Beziehungen? Lassen Sie mich sechs Gründe nennen – sechs Aspekte des Spannungsfelds zwischen Barmherzigkeit und politischer Kultur. Erstens: Distanz macht einen Unterschied zum Gleichnis des barmherzigen Samariters. Der barmherzige Samariter steht einem bedürftigen Menschen von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Seine Handlungsoptionen sind überschaubar: helfen oder nicht helfen. Der Politiker sieht den einzelnen hilfsbedürftigen Menschen nicht in der gleichen Weise. „Bei den Menschen“, das ist der Politiker zwar in seinem Wahlkreis. Doch als gewählter Volksvertreter ist er auch für diejenigen verantwortlich, die ihm nur in der Anonymität von Statistiken und Armutsberichten begegnen, die er nur aus der Distanz der Fernsehnachrichten und Zeitungsartikel kennt. Dabei sind seine Handlungsoptionen zahlreich und seine Ressourcen begrenzt, so dass er Prioritäten setzen, die Reichweite seiner Verantwortung bestimmen muss. Zweitens: Die Konfrontation mit einer Vielzahl an Bedürfnissen macht einen Unterschied. Die Aufmerksamkeit des Samariters gilt einem einzelnen Menschen. Der Politiker hat mit der Hilfsbedürftigkeit vieler Menschen zu tun. Selbst beim besten Willen kann er nicht allen und erst recht nicht allen gleichzeitig gerecht werden. Er kann sich auch nicht von allem Leid, das ihm begegnet, in gleicher Weise anrühren lassen. Statt sich Einzelschicksalen zu widmen, muss er sich auf die Verbesserung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen konzentrieren. Dabei kann es zu moralischen Konflikten kommen: Höhere Renten zur Vermeidung von Altersarmut sind auch höhere Lohnnebenkosten, die einen Familienernährer, eine Familienernährerin den Job kosten können. Höhere Ausgaben für die Unterbringung von Flüchtlingen sind finanzielle Mittel, die nicht zur Sanierung eines Schulgebäudes zur Verfügung stehen. Anders als der barmherzige Samariter müssen Politiker manchmal Gutes unterlassen, um Gutes tun zu können. Drittens: Der zeitliche Horizont macht einen Unterschied. Die Hilfe des barmherzigen Samariters wird sofort wirksam. Seine Hilfe lindert akute Not. Politische Maßnahmen dagegen sind oft erst einmal nur Versprechen auf eine bessere Zukunft. Es braucht Zeit, bis die erhofften Verbesserungen eintreten. Denken Sie beispielsweise an die Menschen in Griechenland, die unter den Auflagen der Europäischen Union ächzen und diese als „kalt“, als „unbarmherzig“ empfinden. Bisher ist es nur ein Versprechen, dass sich die Lebensverhältnisse für alle Griechen durch den Sparkurs bessern werden, was Erfahrungen in anderen Ländern – in Irland zum Beispiel – nahelegen. Dieses Versprechen, das uns schmerzhafte Maßnahmen als moralisch richtig erscheinen lässt, lindert aber nicht die akute Not einer griechischen Putzfrau, die ihren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst verloren hat. Viertens: Machbares und Wünschenswertes trennen zu müssen, macht einen Unterschied. Für den barmherzigen Samariter stimmt das Wünschenswerte mit dem Machbaren überein. Sollen und Können sind deckungsgleich. Für den Politiker ist genau das oft nicht der Fall – zum Beispiel angesichts der Not derjenigen, die allein wegen ihrer Hoffnung nach Deutschland kommen, Armut und Arbeitslosigkeit in ihrer Heimat zu entfliehen und ihren Kindern eine bessere Zukunft bieten zu können. Sie haben kein Recht auf Asyl. Das Grundrecht auf Asyl ist denjenigen vorbehalten, die in ihrer Heimat verfolgt werden – so sehr es uns anrührt, wenn wir in der Zeitung über eine Familie aus dem Kosovo lesen, der die baldige Abschiebung droht. Im Angesicht der Einzelschicksale erscheinen notwendige politische Standards und ihre Anwendung oft unbarmherzig. Fünftens: Der Zwang zum Kompromiss macht einen Unterschied. Der barmherzige Samariter kann seinem Herzen folgen. Er kann handeln, wie er allein es für richtig hält. Der Politiker kann das im Allgemeinen nur sehr eingeschränkt. Arbeitslosigkeit, Zuwanderung, Integration … – welches Thema auch immer Sie nehmen: Es gibt unzählige Meinungen, was zu tun ist. Ein Politiker muss deshalb um Mehrheiten werben: in der Partei, in der Fraktion, in einer Regierungskoalition, in der Abstimmung mit den Bundesländern oder auf europäischer Ebene. Was im Ringen um Kompromisse heraus kommt, ist oft der kleinste gemeinsame Nenner dessen, was die einzelnen Beteiligten für richtig halten. Persönliche Werte dienen dabei der Begründung der eigenen Sichtweise, aber für das konkrete Handeln, die Umsetzung, zählt der Kompromiss. Ohne Bereitschaft zum Kompromiss, ohne Bereitschaft zur Abweichung vom eigenen Standpunkt, auch vom eigenen Herzensanliegen, funktioniert keine Demokratie. Und schließlich sechstens: Taktisch vorgehen zu müssen, macht einen Unterschied. Der barmherzige Samariter braucht keine Strategie und keine Taktik. Ganz anders dagegen der zum Helfen entschlossene Politiker! Der Wirtschaftsnobelpreisträger James Buchanan, Mitbegründer einer ökonomischen Theorie der Demokratie, hat dafür den Begriff „Samariterdilemma“ geprägt. Damit ist gemeint, dass bedingungslose Hilfsbereitschaft in bestimmten Fällen Hilfsbedürftigkeit zementiert, weil sie Eigeninitiative verhindert oder Mitverantwortliche aus der Verantwortung entlässt. In der Politik begegnet man dem Samariterdilemma auf Schritt und Tritt: zum Beispiel, wenn Sozialleistungen ab einer bestimmten Höhe dazu führen, dass Arbeiten sich nicht lohnt. Oder wenn Regierungen von EU-Mitgliedsländern sich darauf verlassen können, dass die Europäische Union ihre Versäumnisse durch finanzielle Hilfen ausgleicht. Oder wenn – so wie wir es auf dramatische Weise gerade erleben – Deutschlands Aufnahmebereitschaft gegenüber Menschen in existentieller Not es anderen Ländern erleichtert, sich beim Engagement für einen menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen in Zurückhaltung zu üben. Taktieren für eine gute Lösung gehört deshalb zum politischen Handwerk. Unmittelbar einem moralischen Impuls zu folgen kann diesem Impuls dagegen auf lange Sicht zuwider laufen. Man kann die eingangs zitierte Aussage von Julius Kardinal Döpfner also auch umdrehen: Der barmherzige Samariter muss keine Resolution verabschieden, er kann einfach helfen. Er kann seinem Herzen folgen. Der Politiker dagegen handelt in einem Spannungsfeld, das der Soziologe Max Weber in seinem berühmten Vortrag „Politik als Beruf“ mit dem Begriffspaar „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik“ abgesteckt hat. Gesinnungsethisch betrachtet ist politisches Handeln durch ihr Motiv, durch die Gesinnung des Handelnden gerechtfertigt, während die Verantwortungsethik von den Folgen einer Handlung ausgehend moralisch urteilt – von Folgen, die man nicht allein in der Hand hat, wie in den Verhandlungen auf europäischer Ebene zur Verteilung asylsuchender Menschen auf die einzelnen EU-Länder. Wo bleibt dann in der politischen Kultur überhaupt Raum für ein mitfühlendes Herz, für Barmherzigkeit, werden Sie jetzt fragen. Kann die Botschaft der Bibel überhaupt Kompass für politisches Handeln sein? Als Politikerin bin ich mir der Umstände bewusst, die verantwortungsethisches Denken erfordern. Als gläubige Christin ist es mir ein Anliegen, meine christliche Gesinnung, meine Glaubensüberzeugungen auch in meiner politischen Arbeit zu leben. Der barmherzige Samariter ist kein Leitbild für die Politik, und dennoch – das ist meine Überzeugung: Wir brauchen Barmherzigkeit auch als politische Tugend. Wir brauchen sie als Wurzel einer der Menschenwürde verpflichteten Politik. Wir brauchen sie als Wegbereiterin für Verständigung und Toleranz. Wir brauchen sie als Begleiterin der Freiheit. Wurzel einer der Menschenwürde verpflichteten Politik ist die Barmherzigkeit insofern, als sie uns für soziale Notlagen – und damit gesetzgeberischen Handlungsbedarf – sensibilisiert. Die katholische Soziallehre verortet Gerechtigkeit, ausgehend von der Würde jedes Menschen als Ebenbild Gottes, in der Rahmenordnung der sozialen Marktwirtschaft. Diese Rahmenordnung eröffnet einerseits Raum für Freiheit und Eigenverantwortung: Jeder soll mit seinen Talenten wuchern können. Sie stellt aber andererseits auch den Ausgleich zwischen Stärkeren und Schwächeren her und spannt ein soziales Netz, das uns bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder im Alter auffängt. Die soziale Marktwirtschaft verbindet Freiheit und Eigenverantwortung mit Solidarität. Darin liegt ihre moralische Qualität nach christlichem Verständnis. Es ist eine große Errungenschaft, dass es uns gelungen ist, Gerechtigkeit über diese Rahmenordnung sicher zu stellen, so dass Menschen in Notlagen keine Bittsteller sind, sondern Anspruch haben auf die Unterstützung der Allgemeinheit. Dennoch lässt sich die Verantwortung, Leid zu lindern, nicht an die Rahmenordnung delegieren. Es gibt Menschen, die selbst ein dicht geknüpftes soziales Netz nicht auffangen kann. Es gibt Risse im Netz, es gibt Stellen, wo das Netz dichter geknüpft oder erweitert werden muss, weil die Gesellschaft sich verändert, weil neue Probleme entstehen. Politiker brauchen ein mitfühlendes Herz wie der barmherzige Samariter, um das zu erkennen. Barmherzigkeit ist motivationale Grundlage für soziales, dem christlichen Menschenbild verpflichtetes, politisches Handeln. So wie ein starker Baum gesunde Wurzeln braucht, so braucht auch eine der Menschenwürde verpflichtete politische Ordnung ein gesundes moralisches Empfinden der politisch Verantwortlichen. In diesem Sinne bin ich Angela Merkel sehr dankbar, dass sie den Gedanken der Barmherzigkeit angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe im September 2015 zum Leitbild ihrer Flüchtlingspolitik gemacht hat – bei allen Risiken und Unwägbarkeiten, mit denen eine Entscheidung dieser Tragweite verbunden ist, und auch, wenn die Mühen der Integration unser aller Kraft und Engagement erfordern werden. Noch schlimmer als daran zu scheitern wäre, es nicht einmal versucht zu haben! Ein zweiter Punkt: Barmherzigkeit als Zugewandtheit des Herzens ist auch als Wegbereiterin für Verständigung und Toleranz und damit für das Funktionieren unserer Demokratie unverzichtbar. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, in der wir – gerade in den großen Städten und Ballungsräumen – tagtäglich konfrontiert werden mit Lebensweisen, die uns fremd sind, mit Meinungen und Weltanschauungen, die wir nicht teilen, mit kulturellen Eigenheiten, die wir nicht verstehen, vielleicht sogar ablehnen. Es ist eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften, das Gemeinsame über das Trennende stellen zu können – das Menschliche über die Unterscheidung zwischen gläubig und ungläubig, zwischen deutsch und nicht-deutsch, zwischen weiblich und männlich, zwischen muslimisch und christlich. Barmherzigkeit ist die Fähigkeit, auch im Fremden den Nächsten zu sehen – und es ist nicht zuletzt diese Fähigkeit, die es braucht, um unsere Demokratie gegen ihre Feinde, gegen religiöse Fundamentalisten und politische Extremisten, zu verteidigen. Gerade jetzt, da so viele Menschen anderer kultureller und religiöser Herkunft Zuflucht in Deutschland suchen, gerade mit Blick auf die kommenden Jahre und Jahrzehnte, in denen zusammenwachsen soll, was bisher nicht zusammen gehört – wie Bundespräsident Gauck es am 25. Jahrestag der Deutschen Einheit so treffend formuliert hat -, gerade in diesen Zeiten muss sich demokratische Kultur in Deutschland und Europa in diesem Sinne neu bewähren. Ein dritter Punkt ist mir wichtig: Politische Kultur umfasst nicht nur unsere Rahmenordnung, die soziale Marktwirtschaft, und die Art und Weise, wie wir in einer pluralistischen Gesellschaft mit all ihren Konflikten friedlich zusammen leben können. Politische Kultur äußert sich auch darin, wie wir mit den Freiheiten umgehen, die die Demokratie uns gewährt. Deutschland musste sich die Demokratie in einem von der nationalsozialistischen Barbarei auch geistig und kulturell verwüsteten Land mühsam erarbeiten und hat die Kunstfreiheit dabei wie die Pressefreiheit und die Meinungsfreiheit aus gutem Grund in den Verfassungsrang erhoben. Die Kunstfreiheit – das ist die Lehre, die wir aus zwei Diktaturen gezogen haben – ist wie die Presse- und Meinungsfreiheit konstitutiv für eine Demokratie. Kreative und Intellektuelle sind das Korrektiv einer Gesellschaft. Mit ihren Fragen, ihren Zweifeln, ihren Provokationen beleben sie den demokratischen Diskurs und sind so imstande, unsere Gesellschaft vor gefährlicher Lethargie und damit auch vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu bewahren. Sie verhindern, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Die Freiheit der Kunst zu schützen, ist deshalb heute oberster Grundsatz, vornehmste Pflicht der Kulturpolitik. Dabei lässt sich allerdings nicht leugnen, dass eben diese Freiheiten es Menschen ermöglichen, andere auch zu verletzen. Als religiöser Mensch fühle ich mich oft tief getroffen, wenn – legitimiert durch die Kunstfreiheit – mein Glaube verhöhnt wird. Als Politikerin empfinde ich es als verletzend, wenn mir – legitimiert durch Presse- und Meinungsfreiheit – Verachtung entgegen schlägt. Auch der Wettbewerb der Personen und Meinungen in der Politik kann unbarmherzig sein: das Ausgesetztsein der permanenten Beobachtung von außen, die gnadenlose Bewertung durch Journalisten, die man als Betroffener oder Betroffene natürlich nicht immer als fair empfindet. Unsere demokratischen Freiheiten schließen also sogar die Freiheit jedes einzelnen mit ein, anderen seelische Verletzungen zu fügen. Doch eine Kunst, die sich festlegen ließe auf die Grenzen des politisch Wünschenswerten, eine Kunst, die den Anspruch religiöser Wahrheiten respektierte, die das überall lauernde Risiko verletzter Gefühle scheute, die gar einer bestimmten Moral oder Weltanschauung diente – eine solchermaßen begrenzte oder domestizierte Kunst würde sich nicht nur ihrer Möglichkeiten, sondern auch ihres Wertes berauben. Dasselbe gilt für die Medien. Wir müssendie Spannungen aushalten zwischen der Freiheit der Meinung und Verunglimpfung, zwischen der Freiheit der Presse und Verleumdung, zwischen der Freiheit der Kunst und verletzten (religiösen) Gefühlen. Barmherzigkeit beim Gebrauch dieser Fähigkeiten kann die Politik nicht verordnen. Verordnete Barmherzigkeit wäre erstens keine mehr und müsste, zweitens, mit Zensur einhergehen. Umso wichtiger ist es, Barmherzigkeit im Zwischenmenschlichen als Begleiterin demokratischer Freiheiten zu fördern – in Form von Herzensbildung, Nachdenklichkeit und Fähigkeit zur Empathie. Mag der barmherzige Samariter sich auch nicht als Leitbild für die Politik eignen – ich bin überzeugt: Als Wurzel einer der Menschenwürde verpflichteten Politik, als Wegbereiterin für Verständigung und Toleranz und als Begleiterin der Freiheit braucht es Barmherzigkeit auch als politische Tugend! Zwei Milieus sind es aus meiner Sicht, die imstande sind, der Barmherzigkeit ihren Platz in der politischen Kultur zu verschaffen – zwei ganz verschiedene Milieus, die eines gemeinsam haben, nämlich dass sie sich mit den existentiellen Fragen des Menschseins beschäftigen. Kunst und Kirche sind es, die uns in die Lage versetzen können, im Fremden den Nächsten zu sehen. In der Kirche ist es – das muss ich hier nicht näher erläutern – die Botschaft Jesu Christi, die uns daran erinnert, wozu wir einander als Menschen verpflichtet sind. Die Kunst wiederum baut Brücken, wo tiefe Gräben klaffen. Ob Poesie, ob Malerei, ob Film, Musik, Theater oder Tanz: Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Missverständnisse verursachen. Kunst kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Kunst kann uns helfen zu verstehen, was uns ausmacht, wer wir sind – als Individuen, als Deutsche, als Europäer. Kunst kann uns aber auch nötigen, die Perspektive zu wechseln und die Welt aus anderen Augen zu sehen. GeradeLiteratur, Theater und Film sind imstande, den Bereich das Denk- und Vorstellbaren zu vergrößern, Gebiete jenseits unseres Erfahrungshorizonts zu erschließen und eben dadurch auch die Grenzen unserer Empathie zu weiten – indem sie uns Fremdes vertraut machen und uns auf diese Weise zum Mitgefühl befähigen. Nicht zuletzt in diesem Sinne ist es eine wahrhaft staatstragende und zukunftsweisende Aufgabe, Kunst und Kultur zu fördern. Im Übrigen sollten wir auch nicht vergessen: Eine Gesellschaft, die mit ihren kulturellen, auch religiös begründeten Eigenheiten ihre eigene Identität pflegt, kann dem Anderen, dem Fremden Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen. Nur wo es keinen kulturellen Kern gibt, pflegt man Feindbilder, um sich der eigenen Identität zu vergewissern. Auch deshalb brauchen wir Kultur und Kirche als gesellschaftliche Kräfte. Als Christen sollten wir es deshalb nicht zulassen, dass Religion und Glaube in die Abgeschiedenheit des rein Privaten verdrängt werden. Wir sollten vielmehr den Mut haben, uns auch unter Andersdenkenden öffentlich selbstbewusst zu christlichen Werten und Überzeugungen zu bekennen. Ich jedenfalls hoffe, gerade auch im Hinblick auf die großen Herausforderungen unserer Zeit, dass Kirche, Religion und christlicher Glauben in unserer säkularen Kultur wieder mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfahren. In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein friedliches, glückliches und gesegnetes Jahr 2016!
Barmherzigkeit sei insofern Wurzel einer der Menschenwürde verpflichteten Politik, als sie uns für soziale Notlagen – und damit gesetzgeberischen Handlungsbedarf – sensibilisiere, erklärte Kulturstaatsministerin Grütters beim Diözesanempfang in Würzburg.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Übergabe des Abschlussberichts der Taskforce „Schwabinger Kunstfund“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-uebergabe-des-abschlussberichts-der-taskforce-schwabinger-kunstfund–326156
Thu, 14 Jan 2016 00:00:00 +0100
Im Wortlaut: Grütters
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort.- In meiner über 20jährigen politischen Laufbahn habe ich schon den einen oder anderen wissenschaftlichen Abschlussbericht entgegen genommen. Und doch ist das für mich heute alles andere als ein politischer Routinetermin: – zum einen, weil die rückhaltlose Aufarbeitung nationalsozialistischen Kunstraubs eine Bedeutung hat, die weit über die rechtliche Dimension hinaus reicht. Hinter einem entzogenen, geraubten Kunstwerk steht immer auch und vor allem das individuelle Schicksal eines Menschen. Diesen menschlichen Schicksalen wollen und müssen wir bei der Aufarbeitung des „Schwabinger Kunstfunds“ vor allem auch moralisch gerecht werden; – zum anderen, weil dabei sowohl Gründlichkeit als auch Schnelligkeit geboten sind. Als Kunsthistorikerin weiß ich nur zu gut, wie mühsam, langwierig und ungeheuer schwierig es oft ist, die Herkunft eines Kunstwerks über Jahrzehnte zurück zu verfolgen und zweifelsfrei zu klären. Als Politikerin kann ich die Ungeduld der vielfach schon hochbetagten Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung und ihrer Nachkommen verstehen, die die Rückgabe unrechtmäßig entzogener Kunstwerke noch selbst erleben wollen. Dieses Dilemma zwischen wissenschaftlich gebotener Gründlichkeit einerseits und der im Interesse der Opfer und ihrer Erben gebotenen Schnelligkeit andererseits lässt sich nicht auflösen. Hinzu kommt, dass es einen Fall wie den von Cornelius Gurlitt niemals zuvor gegeben hat – ja, dass so ein Fall wohl nicht einmal in den kühnsten Kunsthistorikerfantasien vorstellbar war. Wer hätte damit gerechnet, dass 70 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ein ungeordneter und unerschlossener privater Bestand von 1.500 Werken ungeklärter Provenienz ans Licht kommt, bei denen vor dem Hintergrund der Geschichte des Vaters Hildebrand Gurlitt der Verdacht nahelag, dass sich darunter zumindest auch NS-Raubkunst befindet? In dieser Situation, kurz vor meinem Amtsantritt als Kulturstaatsministerin, war schnelles Handeln gefragt. Die kurzfristig von meinem Haus und vom Freistaat Bayern eingesetzte und mit erheblichen finanziellen Mitteln ausgestattete Taskforce war in dieser Situation eine klare, deutliche und richtige Antwort. Aber es war eben auch eine völlig neuartige, eine beispiellose Herausforderung – ein Pilotprojekt, für das es keine Vorbilder gab. So mussten zunächst einmal einheitliche Standards, Methodiken und Darstellungsformen entwickelt werden, bevor die Taskforce sich ihrer eigentlichen Aufgabe zuwenden konnte, die wiederum nicht immer unter dem besten Vorzeichen stand. Ich nenne nur den Beginn im Rahmen eines staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens, den Tod von Cornelius Gurlitt, die komplizierten Verhandlungen zur Erbannahme durch das Kunstmuseum Bern und – bis jetzt – die Erbanfechtung durch Verwandte. Als ich im Dezember 2013 mit dem Amt der Kulturstaatsministerin gewisser-maßen auch den Fall Gurlitt übernommen habe, war mir vor allem eines wichtig: ein politisches Signal der Transparenz gegenüber den Nachkommen der Opfer zu setzen. Mir war wichtig, dass die Taskforce mit internationalen Experten, insbesondere auch mit Vertreterinnen und Vertretern jüdischer Organisationen, besetzt wird. Ihre Beiträge erwiesen sich nicht nur fachlich als unendlich wertvoll – gerade auch angesichts der Aktivitäten Hildebrand Gurlitts im damals von Nazideutschland besetzten Ausland. Sie halfen auch dabei, die Perspektive der Leidtragenden im Fokus zu behalten. Soweit in aller Kürze zur bewegten, von hohen politischen Ansprüchen, schwierigen Umständen und einem nicht auflösbaren Zielkonflikt zwischen Gründlichkeit und Schnelligkeit geprägten Geschichte der Taskforce, meine Damen und Herren. Vor diesem Hintergrund sind die Ergebnisse zu sehen, die uns Frau Dr. Berggreen-Merkel eben vorgestellt hat. Nicht nur ich, sondern vermutlich wir alle haben uns mehr Erkenntnisse in kürzerer Zeit erhofft und auch gewünscht. Doch sollten wir die Ergebnisse auch nicht auf die fünf zweifelsfrei als NS-Raubkunst identifizierten Werke reduzieren. Die Bilanz der Taskforce ist deutlich besser, als diese Zahl es vermuten lässt. Bei vielen Werken gibt es ein Zwischenergebnis, das den Verdacht bestätigt oder ihn jetzt auch ausschließen kann. Jedes einzelne dieser Werke ist ein Mosaikstein der historischen Wahrheit, zu deren Aufarbeitung Deutschland verpflichtet ist. Darüber hinaus hat die Arbeit der Taskforce eine Fülle von Erkenntnissen zum Umgang mit Kunst in der NS-Zeit zutage gefördert, die wir zu einem späteren Zeitpunkt – hoffentlich noch in diesem Jahr -veröffentlichen werden. Ich danke der Leiterin der Taskforce, Frau Dr. Berggreen-Merkel, und allen beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sehr herzlich für ihr Engagement – und auch für Ihren (gerade zu Beginn, als Cornelius Gurlitt noch lebte) oft auch sehr persönlichen Einsatz, liebe Frau Dr. Berggreen-Merkel. Ziel der Bundesregierung bleibt es, die Herkunft aller Bilder aufzuklären, die sich im Besitz Cornelius Gurlitts befanden – im Sinne der rechtmäßigen Erben von Werken, die sich als NS-Raubkunst erweisen, aber auch im Sinne der Aufarbeitung unserer NS-Vergangenheit und der Verpflichtung zu Transparenz. Seit 2015 haben wir mit dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste nun auch die dafür notwendigen Strukturen. Ich freue mich, dass das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste – und im Stiftungsrat auch Länder und Kommunen – bereit waren, diese wichtige Forschungsarbeit bis zum bestmöglich erreichbaren Ende fortzuführen. Die notwendigen Mittel dafür – zunächst gut eine Million Euro – werde ich aus meinem Haushalt zur Verfügung stellen. Bayern wird uns mit der Stelle für einen Wissenschaftler unterstützen. Ich danke Ihnen, liebe Frau Dr. Baresel-Brand, für Ihre Bereitschaft, das Folgeprojekt zu leiten und damit die Kontinuität der Arbeit und den Erhalt der wissenschaftlichen Expertise sicherzustellen. Dankbar bin ich auch, dass viele von Ihnen, liebe Taskforce-Mitglieder, weiterhin beratend zur Verfügung stehen, so dass wir auf Ihre Expertise zurückgreifen können. Damit ist gewährleistet, dass die Erfahrungen der Taskforce als internationales Pilotprojekt der Provenienzforschung sowohl dem Folgeprojekt als auch dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste und der Provenienzforschung im Allgemeinen zugute kommen. Eine Erfahrung wird uns dabei sicher auch in Zukunft nicht erspart bleiben – die Erfahrung nämlich, dass Schnelligkeit und Gründlichkeit bei der Provenienzforschung nicht gleichzeitig zu haben sind. Professor Uwe Schneede, Vorstand der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste, hat es einmal folgendermaßen formuliert, ich zitiere: „Anfangs dachte ich, das wäre in zwei, drei Jahren erledigt. Heute sehe ich: Es geht vielleicht um eine endlose Aufgabe.“ Dass wir uns dieser „vielleicht endlosen Aufgabe“ stellen, meine Damen und Herren, das sind und bleiben wir den ihres Eigentums und ihrer Rechte beraubten, von den Nationalsozialisten verfolgten und vielfach ermordeten Menschen schuldig. Deshalb habe ich über die Arbeit der Taskforce hinaus das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste ins Leben gerufen und die Mittel für die Provenienzforschung seit meinem Amtsantritt verdreifacht. Und deshalb werde ich mich auch weiterhin dafür einsetzen, dass wir uns unserer Geschichte stellen und dass unser Land – Staat und Verwaltungen genauso wie Organisationen, Einrichtungen und Privatpersonen – keinen Zweifel daran lässt, welche immense Bedeutung für uns alle die rückhaltlose Aufarbeitung des nationalsozialistischen Kunstraubs hat.
Die Taskforce „Schwabinger Kunstfund“ hat ihren Abschlussbericht vorgestellt. Die Beiträge ihrer Mitglieder bezeichnete Kulturstaatsministerin Grütters als „nicht nur fachlich als unendlich wertvoll“. „Sie halfen auch dabei, die Perspektive der Leidtragenden im Fokus zu behalten“, erklärte Grütters.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Präsentation der deutschen Fassung der „Roten Liste Irak“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-praesentation-der-deutschen-fassung-der-roten-liste-irak–336304
Thu, 14 Jan 2016 00:00:00 +0100
Im Wortlaut: Grütters
Berlin
Kulturstaatsministerin
Im vergangenen Jahr hat der Journalist Günther Wessel ein vielbeachtetes Buch veröffentlicht und in diesem Hause vorgestellt. Die meisten von Ihnen werden seine beeindruckenden Recherchen über „Das schmutzige Geschäft mit der Antike“ – so der Titel – kennen. Die Darstellung des hochkomplexen und professionellen Netzes des illegalen Antikenhandels offenbart die Tragweite einer lange Zeit verharmlosten Problematik. Der illegale Handel mit Kulturgütern ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein schweres Verbrechen – und er gilt als eine der Haupteinnahmequellen der Terrororganisationen, auch des so genannten Islamischen Staates im Irak und in Syrien. Beweise dafür sind schwer zu finden, denn wie Günther Wessel in einem Interview sagte, ich zitiere: „Der IS lässt sich dabei filmen, wie er Kunstwerke zerstört oder wie er Menschen tötet. Aber er lässt sich natürlich nicht dabei filmen, wie er illegalen Handel treibt.“ Um kulturpolitisch gegen den illegalen Handel mit Kulturgütern aktiv zu werden, bedarf es keiner Beweise, von wem das illegale Geschäft betrieben wird. Es ist erschütternd genug, dass es einen florierenden Markt für illegal beschaffte und geschmuggelte Antiken und Artefakte gibt, die zumeist aus Gebieten im Nahen Osten kommen – vor allem aus dem Irak und Syrien, wo systematisch Kulturerbe zerstört und geplündert wird. Dort, wo Staaten in Kriegs- und Krisensituationen nicht mehr in der Lage sind, ihre Kunstschätze zu schützen, steht die Staatengemeinschaft in der Verantwortung. Dass auch Deutschland zum Schutz des kulturellen Erbes der Menschheit beitragen kann und muss, ist unbestritten. Deutschland hat sich bisher aber leider nicht gerade als Pionier hervor getan, was gesetzliche Regelungen zum Schutz von Kulturgut betrifft. Die UNESCO-Konvention zum Kulturgutschutz aus dem Jahr 1970 wurde hierzulande erst 2007 ratifiziert und im Kulturgüterrückgabegesetz umgesetzt – mit relativ laxen Regelungen, was die Einfuhr von Kulturgut angeht, die sich obendrein ganz offensichtlich als wenig praktikabel herausgestellt haben. Obwohl es in den vergangenen Jahren zahlreiche Ersuche ausländischer Staaten gab, ist es – neben freiwilligen Rückgaben – bisher zu keiner einzigen Rückgabe auf Grundlage dieses Gesetzes gekommen. Deshalb wollen wir nun mit der Gesetzesnovelle zum Kulturgutschutz einen längst überfälligen Paradigmenwechsel einläuten: Wer in Zukunft Antiken nach Deutschland einführt, braucht für jedes Stück eine gültige Ausfuhrerlaubnis des jeweiligen Herkunftslandes, das bei Einfuhr vorzulegen ist. Helfen können darüber hinaus insbesondere die Roten Listen, die der Internationale Museumsrat ICOM für Staaten erstellt, deren kulturelles Erbe bedroht ist. Deutschland ist das erste Land überhaupt, das die Roten Listen gesetzlich verankert, denn die Kulturgutschutznovelle sieht erhöhte Sorgfaltspflichten für Kulturgut vor, das aus Ländern stammt, für die eine solche Rote Liste erstellt wurde. Die „Rote Liste Irak“, die ICOM bereits unmittelbar nach den Kriegshandlungen im Jahr 2003 veröffentlichte, ist aktuell umso bedeutender, da der so genannte Islamische Staat im Jahr 2015 allein im Irak die UNESCO – Weltkulturerbestätte Hatra zerstörte und wertvolle Stücke aus Nimrud im Museum in Mossul in Schutt und Asche legte. Es ist wichtig, dass die Rote Liste für den Irak nun aktualisiert und auf Deutsch vorliegt, denn allein der Verdacht, Deutschland könne sich als internationale Drehscheibe für Hehlerware eignen, ist mit unserem Selbstverständnis als Kulturnation nicht zu vereinbaren. Kulturgut verpflichtet – das gilt für alle, die mit Kulturgut zu tun haben: für Händler und Sammler, aber auch für Museen und andere Kultureinrichtungen. Sie sind gefordert, ihre Bestände sorgfältig auf Provenienz hin zu überprüfen, so wie auch im Umgang mit NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut. Die Roten Listen, die es mittlerweile für 14 Länder gibt, dienen nicht nur den Behörden, der Polizei und dem Zoll als „Warnhinweis“, um für die jeweilige Region typische Objekte schneller zu identifizieren. Sie sensibilisieren vor allem potentielle Käufer, kunstinteressierte Touristen und den Kunsthandel dafür, gefährdete Kulturgüter nicht zu erwerben, und sind somit seit Jahren ein wichtiger Bestandteil im Kampf gegen den illegalen Handel mit gefährdeten Kulturgütern und Schätzen aus Raubgrabungen – und genau deshalb sind sie so unterstützenswert. Mein Dank gilt daher Ihnen, sehr geehrter Herr Professor Hinz und liebe Frau Desmarais, die Sie bereits seit Jahren im Rahmen Ihrer Tätigkeit für den Internationalen Museumsrat – und besonders mit der Erstellung der Roten Listen – gegen den illegalen Handel mit gefährdeten Kulturgütern vorgehen und mit Ihrer Arbeit dazu beitragen, der Zerstörung und Plünderungen von Kulturstätten und Raubgrabungen die Grundlage zu entziehen. Der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, lieber Herr Professor Parzinger, danke ich dafür, dass Sie für die Überarbeitung und die deutsche Übersetzung der Roten Liste für den Irak, wertvolle wissenschaftliche und finanzielle Unterstützung geleistet haben. Auch die weitergehenden Forschungen unter dem Dach der SPK–Stiftung Preussischer Kulturbesitz, etwa im Kompetenzzentrum für digitale Kulturgutforschung, das von meinem Haus mitfinanziert wird, oder im Rahmen des von der SPK–Stiftung Preussischer Kulturbesitz mitgetragenen Projektes „ILLICID“, leisten einen wichtigen Beitrag, um die Strukturen des illegalen Antikenmarktes zu durchdringen. Dass gerade auch in Zeiten, in denen uns täglich Nachrichten über Krieg und Terror überall auf der Welt erschüttern, in denen viele Menschen um Leib und Leben fürchten, auch der Kulturpolitik eine wesentliche Rolle zukommt, erscheint nicht immer naheliegend. Wir sollten uns aber bewusst machen, dass Kultur nicht Ergebnis wirtschaftlichen Wohlstandes ist, nicht schmückendes Beiwerk für gute Zeiten sozusagen; sondern dass Kultur vielmehr die Voraussetzung dieses Wohlstandes ist. Kultur geht der gesellschaftlichen Wirklichkeit voraus; sie ist vor allem eines: sie ist Ausdruck von Humanität, sie ist geistige Heimat. Sie gerade in Krisenzeiten zu verteidigen, steht einer Kulturnation wie Deutschland gut zu Gesicht. In diesem Sinne hoffe ich, dass unsere gemeinsamen Anstrengungen gegen den illegalen Antikenhandel – sowohl das neue Kulturgutschutzgesetz als auch die Roten Listen von ICOM – mit Ihrer Unterstützung, verehrtes Publikum, und mit Ihrem Know-How, liebe Expertinnen und Experten, liebe Museumsfachleute, dazu beitragen, das kulturelle Erbe der Menschheit vor mutwilliger Zerstörung und Plünderungen zu schützen.
Der illegale Handel mit Kulturgütern, zum Beispiel auch aus dem Irak, blüht. Terrororganisationen wie der sogenannte IS nutzen ihn zu ihrer Finanzierung. Dies sei kein Kavaliersdelikt, sondern ein schweres Verbrechen, das dringend bekämpft werden müsse, erklärte Kulturstaatsministerin Grütters bei der Vorstellung der aktualisierten deutschen Fassung der Roten Liste zu den gefährdeten Kulturgütern des Irak.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Festakt zum 125. Geburtstag von Walter Eucken am 13. Januar 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-festakt-zum-125-geburtstag-von-walter-eucken-am-13-januar-2016-320988
Wed, 13 Jan 2016 18:20:00 +0100
Freiburg
Sehr geehrte Frau Marianne Eucken und Herr Christoph Eucken, sehr geehrter Herr Professor Feld, Magnifizenz, sehr geehrter Herr Professor Schiewer, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Herr Salomon, werte Festversammlung, meine Damen und Herren, ich möchte mich sehr herzlich für die Einladung bedanken und habe mich sehr gerne auf den Weg hierher gemacht. Aber bevor ich zum Anlass unseres heutigen Zusammenseins komme, möchte ich doch noch einige Worte über das verlieren, was uns alle gestern mit Schrecken erfüllt hat. Wir alle stehen noch unter dem Eindruck des schrecklichen Selbstmordattentats, das gestern im Herzen Istanbuls – wie wir inzwischen wissen – mindestens zehn Deutsche in den Tod gerissen hat. Ich trauere wie Sie um unsere Landsleute. Wir denken voller Anteilnahme an die Familien, denen mit dem Verlust eines geliebten Menschen so unermesslich viel Leid zugefügt worden ist. Wir denken genauso an die Verletzten, an ihren Schmerz und ihr Leid. Und wir hoffen, dass sie körperlich, aber auch seelisch wieder genesen mögen. Das, was wir gestern wieder gesehen haben und was an so vielen Stellen der Welt passiert, ist der internationale Terrorismus. Das Ziel des internationalen Terrorismus ist, unser freies Leben in freien Gesellschaften anzugreifen. Aber wir sind überzeugt: Unser freiheitliches Leben ist stärker als jeder Terror. Unsere Entschlossenheit, gemeinsam mit unseren europäischen und internationalen Partnern gegen Terror vorzugehen, und unsere Freiheit werden sich gegen Terrorismus durchsetzen. Davon bin ich überzeugt. Meine Damen und Herren, der Gedanke der Freiheit führt uns aber auch zu dem, wozu wir heute in Freiburg zusammengekommen sind. Diese Stadt steht für die wohl wichtigste Wirkungsstätte Walter Euckens. Wie schon gesagt wurde: In wenigen Tagen jährt sich sein Geburtstag zum 125. Mal. Wir gedenken eines überzeugten und überzeugenden Ordnungsökonomen, eines Wegbereiters der Sozialen Marktwirtschaft. Wir gedenken eines mutigen Freiheitskämpfers und großen Menschenfreunds. Das ist auch der Grund, warum ich wirklich sehr gerne hierhergekommen bin. Walter Eucken war bereits an der Universität Freiburg tätig, als die große Wirtschaftskrise der 20er und 30er Jahre über die Welt hereinbrach. Als junger Professor wollte er ihren Ursachen auf den Grund gehen. Ihn trieb dabei nicht nur sein wissenschaftlicher Ehrgeiz an. Vor allem nahm er Anteil an den Schicksalen der vielen Menschen, die die Krise und die Hyperinflation in Arbeitslosigkeit und Not getrieben hatten. Als wesentliche Ursachen dieser wirtschaftlichen Katastrophe machte Walter Eucken eine Monopolisierung und Vermachtung – also starke Konzentration bzw. Kartelle – in Wirtschaft und Gesellschaft aus. In der Tat bestimmten nach dem Ersten Weltkrieg auf der einen Seite Kartelle das Wirtschaftsgeschehen in Deutschland. So kontrollierte zum Beispiel das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat 1925 über drei Viertel der deutschen Steinkohleproduktion. Auf der anderen Seite griff der Staat in der Weimarer Republik immer stärker in die Wirtschaftsprozesse ein. Er versuchte diese einzelfallorientiert über konjunkturpolitische Maßnahmen zu steuern. Aber er versagte dabei, die Wirtschaft mit allgemeinen Regeln zu ordnen. Indem Walter Eucken an diesem Problem ansetzte, ging er zusammen mit seinen Freiburger Kollegen einen akademischen Sonderweg. Das war typisch für ihn. Er wandelte abseits der eingefahrenen Wege, ohne sich aber von Verfechtern extremer Positionen einnehmen zu lassen. Als in wirtschaftlich schwierigen Zeiten immer mehr Menschen den Versprechungen des Nationalsozialismus folgten, suchte Walter Eucken nach einem freiheitlichen Weg. Er suchte nach einer Ordnung, die eine überbordende wirtschaftliche wie auch staatliche Macht beschränkte. Es war für ihn wichtig, beides gleichermaßen in den Blick zu nehmen: wirtschaftliche und staatliche Macht. Denn für ihn kam nicht jedes Mittel in Betracht, um Kartellen und Monopolen einen Riegel vorzuschieben. Er vertrat die Ansicht, dass – ich zitiere ihn – „eine Politik zentraler Wirtschaftslenkung oder der Verstaatlichung das Problem der ökonomischen Macht nicht löst.“ Mit einer solchen Haltung widersprach und widerstand Eucken dem damaligen Zeitgeist. Er beschrieb die wirtschaftliche Wirklichkeit mit klaren, verständlichen Worten ohne Rücksicht auf politische Stimmungen – und das auch in Zeiten totalitärer Herrschaft, indem er zum Beispiel schrieb – ich zitiere ihn nochmals –: „Die Wirtschaftsordnung, wie sie heute in Deutschland vorhanden ist, wird nicht weiterbestehen. Ihr totaler Umbau wird notwendig sein.“ Das brachte Walter Eucken 1942 zu Papier. Wir sind uns alle einig: Es brauchte Mut, um solche Kritik zu dieser Zeit zu äußern. Auch nach dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg waren Euckens Ideen kaum weniger verwegen. Als er seine Ordnung der Freiheit beschrieb, konnten viele mit einem solchen Freiheitsverständnis wenig anfangen. Eine freie Wirtschaftsordnung schien vielen Deutschen zu gewagt und zu anspruchsvoll in der angespannten und von Mangel geprägten Nachkriegssituation zu sein. Doch Eucken blieb seinen Überzeugungen treu. Denn er sah die Gefahr, dass eine interventionistische Wirtschaftspolitik durch einen allzu mächtigen Staat zu weniger Freiheit führen würde. Er sah auch die Gefahr, dass fehlender Wettbewerb zu mehr privater Macht führen würde. Im Ergebnis würde die Freiheit des Einzelnen also doppelt bedroht: durch private Macht und zu viel staatliche Macht. Mit seinem ordnungspolitischen Konzept trat Eucken diesen Gefahren entgegen. Es sah staatliche Eingriffe nur in bestimmten Fällen von Marktversagen vor. Grundsätzlich aber sollte Politik nicht steuernd in die Wirtschaftsprozesse eingreifen, sondern die Wirtschaftsordnung gestalten. Das heißt im Einzelnen: Konkurrenz bzw. Wettbewerb ermöglichen, für ein funktionierendes Preissystem und Geldwertstabilität sorgen, offene Märkte schaffen, Privateigentum und Vertragsfreiheit garantieren, Haftung durchsetzen und durch eine verlässliche Politik Verunsicherung vermeiden. Walter Eucken erkannte auch die soziale Kraft, die in einer freien und fairen Wettbewerbsordnung liegt. Statt Privilegien für wenige eröffnet ein funktionierender Wettbewerb Chancen für alle. In diesem Sinne bilden seine ordoliberalen Prinzipien die Grundlage, um Wachstum und soziale Gerechtigkeit zu vereinen. Doch selbst die beste Idee trägt nur dann Früchte, wenn sie sich auch in die Tat umsetzen lässt. Man kann vielleicht sagen, dass es ein Glücksfall der deutschen Geschichte war, dass die richtigen Grundsätze Euckens nach dem Zweiten Weltkrieg auf den richtigen Politiker trafen, nämlich auf Ludwig Erhard. Das von Eucken skizzierte Wirtschaftsmodell erwies sich auch in der Praxis als feste Stütze, als die Bundesrepublik noch in den Kinderschuhen steckte. Ludwig Erhard hatte allerdings auch sehr spannende Auseinandersetzungen mit den Alliierten, als er sozusagen in Zeiten der Rationierung auf die geniale Idee kam, die Preise freizugeben und damit Knappheitssignale zu senden, um wirtschaftliche Initiativen in Gang zu setzen. Diese Grundsatzentscheidung, aus einer Verteilungs- und Rationierungswirtschaft heraus eine Kehrtwende zu machen und auf freiheitliche Aktivitäten zu setzen, erwies sich als wegweisender Paradigmenwechsel. Das Wunder geschah: Die Erfolge der Sozialen Marktwirtschaft ließen nicht lange auf sich warten. Die Warenregale füllten sich, der Wirtschaftskreislauf kam in Schwung und das deutsche Wirtschaftswunder, wie wir es heute nennen, nahm seinen Lauf. Mehr noch: Die Soziale Marktwirtschaft sollte sich über Jahrzehnte hinweg bewähren – wenngleich es auch schon zu Beginn beträchtliche Kämpfe gab, was insbesondere die Gestaltung der Sozialsysteme betraf. Auch heute ist sie der beste Rahmen für unsere Volkswirtschaft, der es – Professor Feld hat es auch gesagt – gerade auch im internationalen Vergleich im Augenblick gut geht. Wir sind auf solidem Wachstumskurs. Das sorgt auf dem Arbeitsmarkt für anhaltenden Schwung. Die Arbeitslosenquote ist so gering wie nie seit der Wiedervereinigung. Die Erwerbstätigkeit bricht einen Rekord nach dem anderen. Das ist gut für die Betroffenen, gut für die Binnennachfrage und natürlich auch gut für die sozialen Sicherungssysteme. Wir können – ohne allzu gut in die Zukunft sehen zu können – auch für das Jahr 2016 von einer ähnlichen Entwicklung ausgehen. Wir sind natürlich in einer Zeit des Umbruchs. Das, was heute unser Denken prägen muss, ist die Tatsache, dass sich die Aktionsräume verändert haben. Es werden zwar weiterhin Entscheidungen in der nationalen Politik gefällt, aber vieles muss europäisch gedacht werden und vieles auch global. Dazu gehört, dass wir internationale Zusammenarbeit hoch schätzen und als Deutsche unseren Beitrag auch zur Bewältigung globaler Herausforderungen leisten; ich will beispielsweise den Klimaschutz nennen, nachhaltige Entwicklung, Konfliktbewältigung, Sicherheit und Stabilität – ich habe ja bereits auf die Gefahren des internationalen Terrorismus hingewiesen. Wir spüren, dass sich Globalisierung bei uns in Deutschland nicht mehr nur von der Seite zeigt, die wir bislang kannten: Große und mittlere deutsche Unternehmen schwärmen aus in Schwellen- und Entwicklungsländer, gründen dort Unternehmen, machen gute Geschäfte und sichern damit auch Arbeitsplätze in Deutschland. Nun erleben wir, wie Wolfgang Schäuble so schön sagte, ein anderes „Rendezvous mit der Globalisierung“; und zwar in Form des Zustroms von Flüchtlingen. Weltweit sind wir mobiler geworden, profitieren von den Segnungen der Digitalisierung, haben Smartphones und wissen daher, wie es Menschen anderswo auf der Welt geht. Deshalb muss unser politischer Aktionsraum heute weit über unsere nationalen und auch über die europäischen Grenzen hinausgehen, wenn unsere freiheitlichen Wertvorstellungen – auch vom Wesen des Menschen – Gültigkeit haben sollen. Wir befinden uns mit Blick auf unsere eigenen Werte – von denen ich einmal annehme, dass wir sie nicht auf uns allein beziehen, sondern dass sie für alle Menschen gelten – also in einer Zeit unglaublicher Herausforderungen. In diesem Zusammenhang möchte ich einen Punkt noch kurz ansprechen. Ich kann hier jetzt keine Lektion über Flüchtlinge halten, ich will nur sagen: Ich glaube zutiefst, dass wir bei den Fluchtursachen ansetzen müssen und dass wir die Lebensbedingungen der Menschen verbessern müssen. Das können wir als Deutsche nicht allein. Wir können selbstverständlich auch nicht alle Menschen aufnehmen, die in einer schlechteren Lebenssituation sind als wir. Aber wir werden dafür Sorge tragen müssen, dass wir unserer Verantwortung nicht nur durch Aufnahme von Flüchtlingen gerecht werden, sondern vor allem auch durch unser Eintreten für die Bekämpfung von Fluchtursachen und für die Schaffung von Bedingungen, unter denen Menschen in ihrer Heimat den Eindruck haben, dass sie auch dort gute Lebenschancen haben. Das ist eine Jahrhundertaufgabe, aber in einer offenen Wirtschaft, in einer Zeit der Digitalisierung werden wir uns um diese Aufgabe nicht weiter herumdrücken dürfen. Die Aufgabenlösung kann natürlich nicht so bewerkstelligt werden, dass Flucht im Wesentlichen auf illegalen Wegen stattfindet. Vielmehr müssen wir legale Wege des Austauschs finden. Auch darum geht es bei dem Projekt, das wir zu bewältigen haben. Ein letzter Satz dazu, Herr Oberbürgermeister Salomon. Ja, ich bin auch der Meinung: Ein Land wie Syrien liegt nicht unendlich weit weg von Deutschland; es liegt jedenfalls näher an Europa als zum Beispiel an Australien. Wenn es in einem solchen Land sieben bis acht Millionen Binnenflüchtlinge gibt und fünf Millionen das Land verlassen haben, wenn wie in Jordanien – die jordanische Königin Rania war heute bei mir zu Besuch – 1,5 Millionen Syrer und insgesamt drei Millionen Flüchtlinge in einem Land von sieben Millionen Einwohnern leben, wenn im Libanon 1,5 Millionen Flüchtlinge bei fünf Millionen Einwohnern leben, wenn in der Türkei über zwei Millionen Flüchtlinge bei 75 Millionen Einwohnern leben, gleichzeitig aber ein Kontinent wie Europa mit 500 Millionen Einwohnern nicht in der Lage ist – temporär vielleicht nur –, zum Beispiel eine Million Syrer aufzunehmen, dann ist das nicht in Ordnung und mit unseren Wertvorstellungen nicht zusammenzubringen. Damit sage ich nicht, dass diejenigen, die keine Bleibeperspektive haben, unser Land nicht auch wieder verlassen müssen – wir haben rechtsstaatliche Verfahren. Aber ich will auf etwas anderes hinaus. Was bedeutet diese Herausforderung jetzt auch für uns in Europa? Wir haben nicht nur einen deutschen Binnenmarkt, sondern wir haben auch einen europäischen Binnenmarkt und eine gemeinsame Währung. Die Marktdefinition spielt ja in der Frage „Wie wende ich die ordnungspolitischen Vorstellungen von Walter Eucken an?“ eine sehr spannende Rolle – ich komme nachher noch einmal darauf zurück. Wenn unsere Marktdefinition jetzt erst einmal auf einen europäischen Binnenmarkt und auf eine einheitliche Währung in weiten Teilen dieses europäischen Binnenmarkts abstellt, dann, muss ich sagen, ist es relativ naiv zu glauben, wir könnten einfach wieder zum alten Grenzkontrollregime zurückkehren und bräuchten den Schengen-Raum nicht als Element des gemeinsamen Binnenmarkts. Der Verweis, dass wir vor 20 oder 25 Jahren ja auch schon mit Grenzkontrollen in Europa gelebt haben, greift zu kurz, weil er weder von einer einheitlichen Währung noch von der heutigen Verflechtung wirtschaftlicher Tätigkeiten ausgeht – Sie wissen das hier in Baden-Württemberg ebenso wie andere in grenznahen Regionen. Deshalb lohnt es sich, sehr intensiv für die Beibehaltung der Freizügigkeit innerhalb der europäischen Grenzen zu kämpfen. Bei einem Teil der Suche nach einer europäischen Lösung der Flüchtlingsfrage geht es heute, wenn wir eben auch wirtschaftliche Aspekte einbeziehen, also genau um die Frage des Binnenmarkts, um die Frage der gemeinsamen Währung und um die notwendigen Bedingungen, um beides auch wirklich zur Wirkung kommen zu lassen. Nun ist es unsere Aufgabe – ich will einmal nicht so viel über nationale Politik sprechen –, ordnungspolitische Grundsätze in Zeiten der Globalisierung zu verankern. Das macht ja auch eine große Diskussion aus. Ich will beginnen bei der internationalen Finanzkrise, die wir in den Jahren 2008/2009 zu bewältigen hatten. Dadurch, dass Finanzmärkte die Möglichkeiten der Globalisierung sehr schnell aufgenommen haben, waren Finanzmärkte sozusagen Vorreiter einer weiteren Globalisierung, die sich derzeit durch die Digitalisierung der Realwirtschaft weiterentwickeln wird. Auf den Finanzmärkten ist ein wesentlicher ordnungspolitischer Grundsatz völlig außer Kontrolle geraten, nämlich das Haftungsprinzip. „Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen“ – das schrieb Walter Eucken schon vor Jahrzehnten. Doch in der Finanzkrise 2008/2009 blieb der Schaden in vielen Fällen bei den Steuerzahlern hängen – zum allergrößten Teil auch noch bei den Steuerzahlern, die den Schaden gar nicht angerichtet hatten. Handeln und Verantwortung, Gewinnchancen und Haftungsrisiken fielen zu oft auseinander. Wenn das des Öfteren passiert, dann ist sozusagen ein Generalangriff auf die Politik zu erwarten. Politiker müssen dafür Sorge tragen bzw. alles dafür tun, dass das Haftungsprinzip möglichst gut eingelöst wird. Ansonsten wird das Gerechtigkeitsempfinden zutiefst gestört. Wir bemühen uns, aus den Fehlentwicklungen zu lernen. Das Zustandekommen des Formats der G20 auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs wäre ohne diese Fehlentwicklungen gar nicht denkbar gewesen. Wir bemühen uns, allgemeine Regeln zu entwickeln. Wir müssen Vorsorge treffen. Der Ansatz „too big to fail“ im Zusammenhang mit Banken – also wer zu groß ist, darf nicht untergehen und wird um jeden Preis vom Steuerzahler gerettet – darf nicht Triumphe feiern. Wir spüren aber auch, wie schwierig das ist. Wir haben für systemrelevante Banken internationale Finanzregeln gefunden. Es wird immer wieder versucht, das sogenannte „level playing field“ zu verschieben und auf jeder Seite kleine Vorteile herauszuholen. Ich würde einmal sagen: Die Marktmacht bestimmter Institutionen ist auch heute noch eine gewisse definitorische Macht. Aber insgesamt haben wir durch viel bessere Eigenkapitalvorsorge und auch strengere staatliche Kontrollen, durch Abwicklungspläne und vieles andere mehr, das für systemische Banken gilt, Verbesserungen erreicht. Sorgenkinder sind für mich aber nach wie vor die sogenannten Schattenbanken, deren Regulierung noch nicht so weit gediehen ist wie bei den klassischen Banken. Unmittelbar nach der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise kam es – im Grunde als Reaktion darauf – sozusagen zu einem Stresstest für das Euro-System und zu dem, das auch als Euro-Krise bezeichnet wurde. Wieder stand die Frage einer Krisenlösung im Raum. Im Grunde ist die Krise entstanden, weil die Grundsätze des Stabilitäts- und Wachstumspakts nicht ausreichend eingehalten worden waren, auch weil die Hoffnung bestand, dass sozusagen eigene Risiken, die ein Staat eingeht, eines Tages vielleicht von der Gemeinschaft insgesamt getragen würden, und weil auf den Finanzmärkten die Grundstruktur des Systems – wer tritt denn nun für wen ein, wer haftet denn nun für wen? – getestet wurde. So haben wir dann über viele Monate hinweg Diskussionen geführt: Warum keine Euro-Bonds; warum einerseits Solidarität, um das Finanzsystem zusammenzuhalten, aber auf der anderen Seite eigene Anstrengungen? Wir haben gesehen: Die meisten Länder sind inzwischen aus den Hilfsprogrammen herausgekommen. Griechenland ist noch im Programm drin. Aber insgesamt, würde ich sagen, hat sich der Ansatz durchaus bewährt. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, dann würde mit einer Vergemeinschaftung aller Risiken, ohne den Unterbau dazu zu haben, ohne sozusagen eine europäische Verantwortlichkeit für nationale Haushaltspolitik und für nationale Sozialpolitik zu haben, das alles wieder so auseinanderfallen, dass nach Walter Eucken völlig klar ist, dass daraus nichts Vernünftiges und nichts Gutes werden kann. Die Deutschen sind ja manchmal auch sehr kritisiert worden wegen ihrer Regelbewusstheit. Manch einer hat uns vielleicht sogar Besessenheit unterstellt. Aber ein gewisser Rahmen, ein gewisses Ordnungsprinzip, vor allen Dingen auch Haftungsnotwendigkeit, also Einstehen für die Risiken, sind aus meiner Überzeugung absolut notwendig. Ohne dieses Grundprinzip von Walter Eucken hätte man diesen Pfad gar nicht gefunden – wenngleich er in der Praxis auch immer nur mit endlicher Präzision gegangen wird; da bleiben immer noch genügend Abweichungen für diejenigen, die etwas kritisieren wollen. Wir müssen uns jedenfalls auf gemeinsame Absprachen und Verpflichtungen verlassen können; das gilt national, das gilt europäisch. Verlässlichkeit, Vertrauen – das spielt im Übrigen in der Konzeption von Eucken generell eine zentrale Rolle. Denken wir an das Ziel der Geldwertstabilität: Die Menschen sollten darauf vertrauen können, dass ihr Eigentum nicht zu sehr an Wert verliert. Oder denken wir an den Schutz des Privateigentums und an die Freiheit, Verträge abschließen zu können: Das Vertrauen darauf ist nach Walter Eucken eine grundlegende Voraussetzung für eine funktionsfähige Wettbewerbswirtschaft. Und Vertrauen seinerseits hängt wesentlich von der Befolgung des Euckenschen Prinzips einer konstanten Wirtschaftspolitik ab. Das sagt sich leicht, aber in Demokratien mit regelmäßigen Regierungswechseln, neuen Koalitionsbildungen und verschiedenen Interessen ist das durchaus eine Herausforderung. Naturgemäß gerät die theoretisch-ökonomische Wissenschaft mit der realen Politik in ein gewisses Spannungsfeld; das bleibt nicht aus. Ich glaube aber, dass es in der Bundesrepublik Deutschland über die Jahrzehnte hinweg im Großen und Ganzen immer wieder gelungen ist, sich auf bestimmte Prinzipien zurückzubesinnen. Dass wir mit Euckenscher Ordnungspolitik einen roten Faden haben, bietet, glaube ich, durchaus eine große Sicherheit. Walter Eucken ging es immer um Verlässlichkeit, Kalkulierbarkeit und Planungssicherheit. Das bedeutet aber nicht, im Althergebrachten zu erstarren. Es geht vielmehr um einen verlässlichen Kompass, mit dem man auch neue Herausforderungen bewältigen kann. Das heißt, diesen Kompass kann ich auf den nationalen Markt, auf den europäischen Markt und auf den globalen Markt anwenden. Damit bin ich auch beim Prinzip der offenen Märkte. In Europa sehen wir, dass wir in einer Zeit der Globalisierung die Binnenmarktpotenziale noch besser erschließen müssen. Wir brauchen zum Beispiel eine Kapitalmarktunion. Es ist ja ein interessanter Befund, dass in einem europäischen Binnenmarkt, in dem viele Mitgliedstaaten dieselbe Währung haben, die Kapitalmärkte im Grunde weiter separiert sind und es kaum grenzüberschreitende Kreditvergaben gibt. Das wird sich auch nur dann wirklich ändern, wenn die Risikoverteilung in den einzelnen Segmenten des Euro-Markts ähnlich verlässlich geregelt ist. Wir brauchen eine Energieunion, die europaweite Versorgungssicherheit gewährleistet. Mit den Pyrenäen haben wir quasi eine geografische Grenze, an der es noch heute kaum Interkonnektion zwischen den Energiesystemen der Iberischen Halbinsel und dem anderen Teil des Kontinents gibt. Wir brauchen einen digitalen Binnenmarkt, der die Attraktivität des Standorts Europa für digitale Akteure erhöht. In der Frage, wie wir diesen digitalen Binnenmarkt gestalten sollen, haben wir im Augenblick mit die langwierigsten Auseinandersetzungen. Es ist den Justiz- und Innenministern jetzt nach langen Diskussionen gelungen, mit dem Europäischen Parlament einen einheitlichen europäischen Datenschutz zu vereinbaren. Ob er genügend Freiheit für das Big Data Management zulässt, wird sich zeigen. Angesichts der Tatsache, dass der Rohstoff des 21. Jahrhunderts Daten sein werden, sind wir mit Sicherheit eher am unteren Ende dessen, was ich für notwendig halte. Natürlich geht es auch darum, dass sich Europa in ein freies weltweites Handelssystem einbringt. Ein klassisches Beispiel für große Diskussionen ist das geplante transatlantische Handels- und Investitionsabkommen. Interessant ist die Frage, warum es so hart umkämpft ist. Ich glaube, es ist deshalb so hart umkämpft, weil dieses Abkommen mehr regeln soll als nur den Abbau von Zöllen. Es beinhaltet vielmehr auch Regelungen von sozialen und Verbraucherschutzstandards, also von sogenannten nichttarifären Handelshemmnissen. Damit ist ein sehr interessanter Prozess verbunden, weil man natürlich – aber das fordert die Soziale Marktwirtschaft von uns – sagen muss, wie man Barrieren abbauen will, ohne sein eigenes Schutzniveau abzusenken. Mich persönlich bedrückt es, dass gerade dieses Freihandelsabkommen zwischen den größten freiheitlichen Binnenmärkten, die es auf der Welt gibt, so umkämpft ist. Denn wenn es uns gelingen sollte, Regelungen von nichttarifären Hemmnissen – die also Verbraucher-, Umwelt- und andere Schutzbereiche betreffen – in klassische Freihandelsabkommen mit einzuführen, dann hätten wir natürlich eine unglaubliche definitorische Macht für gerechtere Abkommen auf der Welt. Denn ein einfaches Zollabbau-Freihandelsabkommen ist eigentlich noch kein gerechtes Abkommen, wenn dann sozusagen um Löhne und Umweltstandards konkurriert wird. Insofern ist ein größer angelegtes Abkommen sehr viel wertvoller und könnte Maßstäbe für viele andere setzen. Deshalb werde ich mich auch weiter dafür einsetzen. Noch einmal zu einem Thema, das mich sehr beschäftigt – ohne dass ich das immer in den richtigen ökonomischen Termini ausdrücken könnte –: Welche Marktdefinition setze ich für einen fairen Wettbewerb an? Darüber gibt es eine große Auseinandersetzung in der Europäischen Union. Die Frage ist: Wie muss ich in der Globalisierung handeln, wenn ich auf der Welt sozusagen Marktmächte habe – zum Beispiel zwei oder drei große Telekommunikationsunternehmen in einem Land wie China mit über 1,3 Milliarden Menschen –, und wie definiere ich „Markt“ innerhalb der Europäischen Union, wo wir mehr als 20 Telekommunikationsunternehmen haben und trotzdem bei jeder europäischen Fusion Angst haben müssen, dass dadurch eine beherrschende Marktmacht definiert wird? Das heißt, der Raum, in dem ich sozusagen meine Marktdefinition ansetze, ist von allergrößter Bedeutung. Man weiß ja auch aus anderen Wissenschaften, dass das Randsystem die Resultate verändern kann. Ich fürchte – und darüber würde ich mich gerne einmal mit Walter Eucken unterhalten, wenn er denn noch lebte –, dass unsere Marktdefinition zu eng gefasst ist und in der Globalisierung selbst die europäische Marktdefinition nicht ausreicht, um für den weltweiten Wettbewerb die richtigen Strukturen zu schaffen. Wenn man an anderen Stellen die Euckenschen Prinzipien nicht genauso einsetzen kann wie bei uns – denn wir können ja die amerikanischen und sonstigen Märkte nicht definieren –, dann müssen wir uns aufgrund der Interdependenzen in der Globalisierung an einigen Stellen vielleicht noch mehr auf eine globale Perspektive einstellen. – Aber es muss ja auch noch etwas für das Walter Eucken Institut übrigbleiben, womit es sich beschäftigen kann. – Darauf würde ich jedenfalls gerne einmal verstärkte Forschungsanstrengungen lenken. Ich bin also fest davon überzeugt, meine Damen und Herren: Die ordoliberalen Grundsätze der Freiburger Schule haben nichts an Aktualität und Bedeutung verloren. Das Haftungsprinzip, ein funktionierendes Preissystem, Währungsstabilität, Schutz von Privateigentum und Vertragsfreiheit, offene Märkte und die Konstanz der Wirtschaftspolitik – diese Prinzipien sind und bleiben Erfolgsfaktoren für, wie Eucken es ausdrückte, „eine funktionsfähige und menschenwürdige Wirtschaftsordnung“. Es wäre auch spannend zu wissen, wie Walter Eucken auf disruptive technologische Innovationen reagiert hätte. Wie schaffe ich ein Breitband-Infrastruktursystem, das nicht unter die Daseinsvorsorge fällt, also nicht mehr einfach vom Staat investiert wird; wie oft darf ich da subventionieren und wo darf ich da subventionieren, sodass sich faire Wettbewerbsbedingungen ergeben? – Also Fragen über Fragen. Vieles, was heute aktuell ist, baut auf der Arbeit großer ökonomischer Vordenker auf, unter denen Walter Eucken zweifellos eine ganz besondere Rolle einnimmt. Seine ordnungspolitischen Grundsätze helfen immer wieder, den Blick für das Ganze nicht zu verlieren. Sie sind verständlich und geben Orientierung. Das ungebrochene Interesse an der Arbeit von Walter Eucken und an der Freiburger Schule ist daher nicht verwunderlich. Das ist vor allem auch dem Walter Eucken Institut zu verdanken, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Erbe seines Namensgebers zu bewahren und seine Vorstellungen der Ordnungspolitik in die heutige Zeit zu übersetzen. Walter Euckens Frau, Edith Eucken-Erdsiek, schrieb nach seinem Tod: „Ich bin zufrieden, wenn Walter Euckens Gedanken zu weiteren Überlegungen und zu neuer Untersuchung der Wirklichkeit anregen und wenn sie so im Laufe der Jahre und Jahrzehnte wirken.“ Ja, wir könnten Walter Euckens Andenken kaum besser in Ehren halten, als diesem Wunsch seiner Frau gerecht zu werden. Vielen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Jahresempfang der Wirtschaft 2016 am 11. Januar 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-jahresempfang-der-wirtschaft-2016-am-11-januar-2016-432908
Mon, 11 Jan 2016 18:15:00 +0100
Mainz
Sehr geehrte Präsidenten der Wirtschaftsverbände und Kammern – stellvertretend möchte ich Herrn Günster, Herrn Leverkinck und Herrn Friese nennen –, sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Frau Dreyer, sehr geehrte Mitglieder der Landesregierung, sehr geehrte Mitglieder des rheinland-pfälzischen Landtags, liebe Julia Klöckner und liebe Fraktionsvorsitzende, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und aus dem Europäischen Parlament und natürlich vor allem Sie, die Mitglieder der Kammern, liebe Unternehmerinnen und Unternehmer, es ist für mich eine große Ehre, heute bei Ihnen zu sein. Sie sind relativ einzigartig – was Rheinhessen sowieso ist – darin, wie Sie Ihren Neujahrsempfang strukturieren. Man muss nicht die verschiedenen Organisationen aufsuchen, sondern sie alle kommen zusammen, was für die Interaktion der verschiedenen Unternehmen sicherlich ebenso gut ist wie für die Besucher. Herzliche, gute Wünsche zum Jahr 2016 von meiner Seite, Gesundheit für Sie alle, Erfolg und – man muss es in diesen Zeiten sagen – uns allen ein friedliches Jahr, ein Jahr mit weniger Kriegen auf der Welt und mehr Frieden. Das würde uns allen zugutekommen. Meine Damen und Herren, für Sie beginnen die Feierlichkeiten zu 200 Jahren der Region Rheinhessen – und das angesichts einer über 2000-jährigen Geschichte. Diese Region präsentiert sich heute in voller Blüte. – Da muss ich nicht erst ein Fan werden, sondern da kann man wirklich ein Fan sein, selbst wenn man nicht hier lebt. Wo ich herkomme, ist es auch schön, aber bei uns war vor 2000 Jahren nicht so viel los, wenn es um kulturelle Entwicklung ging; das muss man sagen. – Einen großen Beitrag zur Prosperität der Region hier leisten natürlich die, die in Unternehmen arbeiten, die Arbeitsplätze schaffen, die Steuern zahlen, die diese Region stark machen und sich damit auch um das Gemeinwohl in Deutschland verdient machen. Die Wurzeln reichen also sehr lange zurück, aber erst nach dem Wiener Kongress wurde schließlich die Provinz Rheinhessen geschaffen. Sie hat sich gut entwickelt – ich sagte es schon. Fast hellseherisch schrieb zur 100-Jahr-Feier der damalige Großherzog Ernst Ludwig – ich möchte ihn zitieren –: „Die stolzen, unter meiner Regierung erbauten Rheinbrücken sind Wahrzeichen des wachsenden Verkehrs und Wohlstandes.“ Der Mann muss gewusst haben, was auch 100 Jahre später los ist. Jedenfalls spielen die Rheinbrücken auch heute noch eine beträchtliche Rolle. Ich glaube, das Thema Schiersteiner Brücke hat auf etwas aufmerksam gemacht, das uns alle in Deutschland bewegt, nämlich: Auch wenn es uns gut geht, müssen wir immer wieder an die Investitionen der Zukunft denken und einiges dazu beitragen. Es geht uns im Augenblick vergleichsweise gut: stabiler wirtschaftlicher Aufschwung, die Arbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit 25 Jahren. Wir haben über 43 Millionen Erwerbstätige. Es wird heute mehr darüber gesprochen, wo wir Fachkräfte herbekommen, als über die Fragen der Arbeitslosigkeit, obwohl ich daran erinnern möchte: Wir haben immer noch fast drei Millionen Arbeitslose, darunter sehr viele Langzeitarbeitslose. Auch das dürfen wir in Deutschland nicht vergessen. Wir kennen hierbei auch unsere staatliche Verantwortung. Fachkräftesicherung – das ist ein Thema, das Sie sehr stark beschäftigt. Bei allen Investitionen, bei allem, was wir tun, müssen wir vor allem alles daransetzen, dass wir auch in Zukunft die Arbeitskräfte haben, die notwendig sind. Auch ich werde später noch zur Digitalisierung Stellung nehmen, die den Fachkräftebedarf nochmals erheblich verschieben wird. Ich stimme auch dem zu, was soeben gesagt wurde, nämlich dass die Balance von akademischer und dualer Ausbildung eine wichtige Sache ist – nicht, dass wir eines Tages unser duales Ausbildungssystem global bekannt gemacht haben, aber in Deutschland keiner mehr eine Berufsausbildung machen möchte. Deshalb geht es sicherlich darum, dass die staatlichen Institutionen zeigen, was sie tun, um auch die berufliche Ausbildung akzeptabel zu machen. Die Verbesserung des Meister-BAföG scheint den Handwerkern noch nicht auszureichen; ich will trotzdem erwähnen, dass wir hierfür einiges getan haben. Aber ich will auch sagen: Es kommt darauf an, dass wir Erfolge haben. Wir haben zurzeit eine Entwicklung, in der zwar vielleicht nicht so viele, wie Sie wünschen, eine berufliche Ausbildung antreten, aber die allermeisten beenden dann auch die Lehre. Das aber kann man von der universitären Ausbildung nicht unbedingt sagen. Wir haben leider noch zu viele Studienabbrecher. Es wäre gut, wir hätten nicht nur viele gute Studienanfänger, sondern auch viele gute Abschlüsse. Darauf hinzuwirken, müssen wir in Zukunft noch mehr Wert legen. Meine Damen und Herren, wir werden die Potenziale, die Möglichkeiten, die wir haben, um mehr Fachkräfte zu gewinnen, ausschöpfen müssen. Da geht es erstens um gute Schulabschlüsse. Es geht zweitens um Fragen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Möglichkeiten für Frauen, heute erwerbstätig zu sein, sind in den letzten Jahren verbessert worden, aber die Frage, wie wir das weiter verbessern können, wird auch in Zukunft die politische Diskussion bestimmen. Viele von Ihnen waren nicht zufrieden mit den Beschlüssen der Bundesregierung zur Rente mit 63 nach 45 Versicherungsjahren. Deshalb haben wir in einer Koalitionsarbeitsgruppe über flexible Möglichkeiten des Renteneintritts diskutiert. Ich hoffe, dass wir diese bald in Gesetzesform gießen können. Wer möchte – ich betone ausdrücklich: wer möchte –, soll auch nach dem offiziellen Renteneintrittsalter die Möglichkeit haben, weiterzuarbeiten und dafür entsprechende Rahmenbedingungen vorzufinden. Wir werden natürlich auch weiter über den Zuzug ausländischer Fachkräfte reden müssen. Deutschland hat seine Offenheit in den letzten Jahren deutlich verbessert. Nach OECD-Aussagen stehen wir hierbei sehr viel besser da als vor einigen Jahren. Es weiß vielleicht noch nicht jeder auf der Welt, aber wir sind schon ganz gut aufgestellt. Die Bundesregierung konnte jetzt zum dritten Mal hintereinander einen Haushalt ver-abschieden, der keine neuen Schulden aufweist. Das ist mit Blick auf den demografischen Wandel natürlich etwas sehr Wichtiges, nämlich ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit. Solide Haushalte schaffen auch wieder Spielräume für Investitionen in Infrastrukturen. Wie wichtig das ist, hatte ich ja schon erwähnt. Wir werden im Verkehrsbereich und im Bereich der digitalen Infrastruktur unsere jährlichen Ausgaben bis 2018 um 40 Prozent steigern; das heißt, auf etwa 14 Milliarden Euro. Wir konnten im vergangenen Jahr die Baufreigabe für 72 Bundesfernstraßenprojekte erteilen. Rheinland-Pfalz ist auch mit dabei. Die Mittel für das Brückensanierungsprogramm werden auf zwei Milliarden Euro verdoppelt. Das wird sicherlich auch Brücken über den Rhein zugutekommen. Es geht also nicht nur um Neubau, sondern es geht vor allen Dingen auch darum, die Qualität unserer Verkehrsnetze zu erhalten. Gerade in den alten Bundesländern hat sich dieses Thema in den letzten Jahren als ein großes Thema herausgestellt. Wir haben in den neuen Bundesländern viel erreicht, aber in den alten muss auch viel getan werden. Der Bundesverkehrswegeplan wird im ersten Halbjahr des Jahres 2016 vorgelegt werden. Und dann werden wir auch Klarheit haben. Es ist heute schon vor mir, jetzt auch noch einmal von Herrn Leverkinck, darüber gesprochen worden: Was bedeutet nun die Herausforderung der Digitalisierung? Da ist in der Tat etwas im Gange, das man mit Fug und Recht revolutionär nennen darf. Ich glaube, wir müssen – vom kleinsten Unternehmen bis zum größten Unternehmen – lernen, damit zu leben, dass einer der bedeutenden Rohstoffe, wenn nicht vielleicht der bedeutendste Rohstoff des 21. Jahrhunderts, Daten sein werden. Wenn ich darüber gesprochen habe, dass Deutschland heute wirtschaftlich stark aufgestellt ist, dann ist das eine Momentaufnahme. Es findet im Augenblick ein weltweiter Wettbewerb statt, und zwar im Grunde zwischen denen, die in der Realwirtschaft führend sind – dazu gehört Deutschland, dazu gehört Ihre Region –, und denen, die heute mit ihren IT-Unternehmen weltweit führend sind. Davon gibt es leider zu wenige in Europa. Viele sind in Asien oder vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika angesiedelt. Der Kampf geht im Grunde darum, ob wir es schaffen, die Verbindung zwischen der Realwirtschaft und den digitalen Möglichkeiten selbstbestimmt bei uns stattfinden zu lassen und damit unsere Unternehmens-Kunden-Beziehung selbst aufrechtzuerhalten. Ansonsten schieben sich vor realwirtschaftliche Unternehmen digitale Firmen, die die Kundenbeziehungen aufbauen und uns mehr oder weniger – wenn ich es etwas vereinfacht sagen darf – zu einer verlängerten Werkbank werden lassen, weshalb wir nicht mehr in dem Maße wie früher an der Wertschöpfung teilhaben könnten. Das ist der eigentliche Kampf, wenn ich es mal so sagen darf. Jetzt geht es um die Frage: Was muss der Staat leisten? Dazu gehört, für die digitale Infrastruktur zu sorgen. Es ist ein bisschen skeptisch gefragt worden: Na, werden wir 50 Megabit pro Sekunde für jeden Haushalt bis 2018 schaffen? Ich glaube, auch gerade durch die Versteigerung der Frequenzen, durch die Tatsache, dass wir 2,7 Milliarden Euro Fördermittel haben, durch ein sehr gutes aktuelles Förderprogramm werden wir das schaffen. Aber, meine Damen und Herren, das allein reicht nicht. Wir werden eine weitaus besser ausgebaute Infrastruktur brauchen, wenn es dann darum geht, dass für das, das wir Industrie 4.0 oder das Internet der Dinge nennen – das heißt, wenn alle Maschinen miteinander vernetzt sind –, auch die entsprechenden Datenübertragungsmöglichkeiten bestehen. Im Augenblick lesen Sie ja jeden Tag von der Messe in Las Vegas für Konsumgüter inklusive Automobile. Da geht es nicht um 50 Megabit pro Sekunde, sondern da geht es um Übertragungsformen wie 4G, 5G. Wer hat als Erster 5G? Wer kann in Echtzeit übertragen? Wer kann Telemedizin machen? Wer kann das autonome Autofahren voranbringen? Das sind für Deutschland natürlich wesentliche Herausforderungen. Europa insgesamt muss sich hierbei besser aufstellen, aber wir als größte Volkswirtschaft müssen unseren Beitrag dazu leisten. Wir haben eine, wie ich finde, ambitionierte Digitale Agenda, aber wir müssen immer wieder rückkoppeln, weil man an vielen Stellen an mehr denken muss, als wir das vielleicht heute an einigen Stellen tun. Wir sind auf den Austausch mit Ihnen als Unternehmen unglaublich stark angewiesen. Ich sage auch ganz offen: Junge Menschen wachsen in diese Zeit hinein, haben aber noch nicht die Führungspositionen in den Unternehmen inne. Deshalb ist es so wichtig, dass sich Jüngere und Ältere in diesen Fragen austauschen, dass wir in den Unternehmen manchmal umgekehrte Hierarchien haben müssen. Ich finde es interessant, wenn ein Unternehmen wie Bosch jeder älteren Führungskraft einen Jüngeren an die Seite stellt, der ihr sagt, was es an digitalen Möglichkeiten und digitalen Herausforderungen gibt. Nur wenn wir in der großen Breite – vom Handwerksbetrieb über den mittelständischen Betrieb bis zu unseren großen DAX-Unternehmen – auch die digitale Denkweise sozusagen inkorporieren, werden wir erfolgreich sein. Ich rede darüber so, weil ich der Meinung bin, dass wir uns bereits in einem wichtigen Zeitabschnitt befinden. Ich will mich jetzt nicht festlegen, aber in den nächsten fünf bis zehn Jahren werden entscheidende Weichen gestellt. Da stellen sich auch dem Gesetzgeber erhebliche Aufgaben. Wir müssen das Auto neu definieren. Das Auto hängt am Fahrer. Wenn nun aber der Fahrer nicht mehr fährt, was ist dann noch ein Auto? Wie unterscheide ich das jetzt sozusagen von einer Einmann-Disco, die sich auf Rädern bewegt? Wir haben die ersten Teststrecken auf der A 9, aber jetzt muss das autonome Fahren auch in Städten getestet werden. Wie werden die Versicherungsfragen geklärt? Wie fälle ich bei den Algorithmen in den Autos die Entscheidungen? Wer entscheidet wann was? Wie entscheide ich mich im Fall von Risiken? Es geht um all das, was der Mensch intuitiv gemacht hat, wobei man die Versicherungsprämien danach ausgerichtet hat, wo die geringsten Schäden entstehen. Das ist natürlich beim autonomen Fahren, wenn der Mensch nicht mehr als Fahrer direkt dabei ist, eine Frage des Algorithmus. Daran sehen Sie schon, dass der Verbrennungsmotor und der Elektromotor vielleicht in Zukunft auch noch eine Rolle spielen werden, aber eine mindestens so große Rolle wird die digitale Ausstattung des Autos spielen. Wer die Software liefert, wer da der Erste ist, der bietet natürlich das Mobilitätsobjekt der Zukunft. Und wer da hinten ansteht, dem kann es schnell passieren, dass der Kunde dann nur noch sagt: Ich will jetzt einen vernünftigen Algorithmus haben, der mir das autonome Fahren ermöglicht; und es ist schön, wenn nebenbei noch jemand die Räder drangemacht und den Motor eingebaut hat. Ich sage das jetzt etwas plastisch. Ein wenig Distanz zu vielen Daten ist okay. Aber die Welt wird sich in eine bestimmte Richtung ändern. Und ich möchte, dass Deutschland auch in zehn Jahren noch ein führender Industriestandort sein wird, der die Möglichkeiten der Digitalisierung mit aufgenommen hat. Natürlich wird das auch die Arbeitswelt verändern. Die IG Metall zum Beispiel hat das bereits sehr früh erkannt. Andrea Nahles als Sozialministerin hat ein Grünbuch zur Arbeit 4.0 entwickelt. Was bedeutet Digitalisierung für die Arbeitsverhältnisse? Wo brauchen wir Flexibilität? Wie viel müssen wir dabei der betrieblichen Entscheidungsebene überlassen? Wie viel an gemeinsamen Rahmenregelungen brauchen wir? Solche Fragen werden uns in den nächsten Jahren sehr, sehr stark beschäftigen. Natürlich müssen viele Menschen neu qualifiziert werden. Es wird nicht reichen, wenn nur die jungen Nachwachskräfte die richtigen Berufsausbildungen bekommen – sicherlich müssen wir auch neue Berufsbilder zügig definieren –, sondern es wird auch darauf ankommen, dass die, die heute 30, 35, 40 sind, die Chance bekommen, neue Dinge zu lernen und mit der Entwicklung zu gehen. Das heißt, Dynamik ist gefragt. Es ist ausgesprochen wichtig, dass wir hierbei vorankommen. Ein Weiteres: Wir müssen den Binnenmarkt Europas auch zu einem digitalen Binnenmarkt weiterentwickeln. Ein zerfleddertes Datenschutzrecht von 28 Mitgliedstaaten wäre schlecht. Deshalb ist es gut, dass die Minister im Rat der Justiz- und Innenminister eine europäische Datenschutz-Grundverordnung verabschiedet haben, die dann sozusagen unser Wettbewerbsfeld ist – auch für ausländische Unternehmen –, auf dem dann in jedem europäischen Land gleichermaßen gearbeitet werden kann. Auch das, was wir bis jetzt noch nicht geschafft haben, zum Beispiel vereinheitlichte Frequenzsysteme – gerade auch Sie in den grenznahen Regionen wissen, was es bedeutet, wenn es unterschiedliche Frequenzen gibt –, wird von extremer Wichtigkeit sein, wenn wir 5G als nächsten Übertragungsstandard überhaupt handhabbar machen wollen. Das heißt, sehr viel Arbeit liegt hierbei vor uns. Meine Damen und Herren, das ist ja nicht die einzige Herausforderung. Ich will neben der Verkehrsinfrastruktur und der Digitalisierung Ihnen hier noch kurz sagen: Wir sind immer noch in intensiven Diskussionen über das Thema Erbschaftsteuer. Wir alle hätten uns gewünscht, dass das Bundesverfassungsgericht die Verschonungsregelung so akzeptiert hätte, wie wir sie im Gesetz verankert hatten. Dann hätten wir weniger Aufregung und weniger Arbeit. Das hat das Bundesverfassungsgericht aber nicht getan. Deshalb müssen wir jetzt eine Lösung finden, die Ihnen in den Familienunternehmen, den Traditionsunternehmen, den Generationenübergang möglich macht, ohne dass Sie den Eindruck haben, dass der Staat Ihnen hierbei etwas wegnimmt, das Sie für die Weiterentwicklung des Unternehmens brauchen. Dem fühlen wir uns verpflichtet. Die Zeit drängt. Im Sommer dieses Jahres müssen wir eine Lösung haben. Wir arbeiten mit Hochdruck. Wenn wir keine Lösung haben, dann ist die gesamte Verschonungsregelung weg. Auch das muss man wissen. Das fänden Sie gut? Wer es ebenfalls gut findet, soll klatschen, dann überlege ich mir alles nochmals. – Vereinzelter Beifall unter 5.000 Menschen; na ja, da kann ich noch nicht zufrieden nach Hause gehen. – Also: Wir müssen weiter daran arbeiten und dabei eben auch – in Anlehnung an Ludwig Erhards Aussage, dass Wirtschaft 50 Prozent Psychologie sei – vor allem den Familienunternehmern den Eindruck vermitteln, dass wirklich eine akzeptable Lösung für sie gefunden wird. Meine Damen und Herren, dann gibt es das Thema Energie, das Sie sehr beschäftigt. Wir kommen Schritt für Schritt auf einem Weg voran, der zu mehr Berechenbarkeit in der Energiewende führt. Wir sind auf einem Weg, die erneuerbaren Energien schrittweise an den Markt heranzuführen. Ein nächster Schritt wird in diesem Jahr zu gehen sein, wenn wir nämlich statt der bisherigen Vorgehensweise die Ausschreibung der Neubaukapazitäten für die Leistungen im Erneuerbare-Energien-Bereich gesetzlich verankern. Das ist eine ziemlich große Herausforderung, wie Sie sich vorstellen können, denn heute gibt es einfach für alles, was gebaut wird, den Vorrang der Einspeisung. In Zukunft wird es Kapazitäten geben, die ausgeschrieben werden; und dann aber auch nicht mehr. Ich vermute, dass unser föderales System dazu führt, dass eine Menge Begehrlichkeiten angemeldet werden. Aber ich glaube, über allem muss stehen, dass wir zu einem erträglichen und verträglichen Preis diese Energiewende abwickeln. Das wird uns in den nächsten Monaten beschäftigen. Außerdem haben wir alle eine ganz herausragende Herausforderung zu bewältigen. Wolfgang Schäuble hat es Rendezvous mit der Globalisierung genannt, das uns plötzlich auf eine völlig neue Art und Weise erreicht. Wir als erfolgreiche Exportnation haben Globalisierung vor allen Dingen in der Form erlebt, dass wir Arbeitsplätze woanders schaffen konnten, deutsche Unternehmen daraus Gewinne erwirtschaftet haben und damit auch Arbeitsplätze in Deutschland gesichert haben. Aber jetzt spüren wir plötzlich, dass Konflikte, die wir im Wesentlichen über den Fernsehschirm beobachtet haben, wie den schon fünf Jahre andauernden Syrienkonflikt oder den Kampf im Irak gegen islamistischen Terror, uns auch zu Hause in Form von Flüchtlingen erreichen. Wir sehen, dass wir auch Teil des Kampfs gegen Terrorismus sind. Das haben uns die terroristischen Anschläge in Frankreich gezeigt. Ich will daran erinnern, dass auch andere europäische Länder schon davon betroffen waren – Großbritannien, Spanien. Da ja schon über die Vorratsdatenspeicherung gesprochen wurde, will ich auch noch einmal daran erinnern: Sie ist eingeführt worden im Zusammenhang mit den terroristischen Anschlägen in Madrid. Man hat damals nach den Anschlägen in Vorortzügen, weil man gespeicherte Daten hatte, die Täter sehr schnell identifizieren und auffinden können. Ich glaube, wir müssen immer wieder eine sehr sorgsame Abwägung vornehmen. Aber, meine Damen und Herren, wir sind als Politiker auch gefragt zu überlegen: Was können wir tun; wie können wir uns wappnen gegen Menschen, die vor anderen Menschenleben null Respekt haben, die auf die Zerstörung unschuldiger Menschenleben aus sind und uns unsere Art zu leben austreiben wollen? Da muss man die Verhältnismäßigkeit wahren, aber ich sage Ihnen auch: Wenn in einem Land etwas passiert und bestimmte Daten nicht abgerufen werden können, dann ist die Diskussion in diesem Land – ich habe es in den Ländern, wo so etwas passiert ist, immer wieder erlebt – eine völlig andere. Ich glaube, wir haben einen guten Kompromiss gefunden. Ohne rechtsstaatliche Genehmigung können überhaupt keine Daten abgegriffen werden. Die Speicherfristen sind kurz. Aber um Täter im Zweifelsfalle rückverfolgen und ihrer schnell habhaft werden zu können, halte ich das, was wir beschlossen haben, nicht nur für vertretbar, sondern auch für geboten. Das möchte ich hier deutlich sagen. Jetzt sind wir plötzlich gefordert, weil Flüchtlinge nach Europa kommen. Wir sind verwundbar, weil wir die Ordnung, die Steuerung noch nicht so haben, wie wir uns das wünschen. Was ist da passiert; und was steht auf dem Spiel? Auch das will ich noch einmal deutlich benennen. Sie alle haben die Euro-Schuldenkrise verfolgt und mit Recht darauf hingewiesen, dass wir bis Juli letzten Jahres uns noch sehr intensiv mit Griechenland beschäftigt haben. – Jetzt beschäftigen wir uns wieder mit Griechenland, aber aus anderen Gründen. – Die Beschäftigung war im Grunde Ausdruck der Tatsache, dass sich infolge der internationalen Finanzkrise der Euro als nicht robust genug erwiesen hat, dass Verletzungen des Stabilitätspakts vorgekommen waren, dass aber auch die wirtschaftliche Kohärenz und die wirtschaftliche Entwicklung der einzelnen Mitgliedstaaten des Euroraums nicht ausreichend waren und dass daraus Friktionen entstanden sind, die sozusagen Finanzinvestoren dazu verleitet haben, zu versuchen, das ganze System zum Zusammenbruch zu bringen. Wir sind jetzt besser gewappnet – von der Bankenunion bis zu den betreffenden Rettungsfonds. Wir sind noch nicht am Ende dieses Wegs – das will ich auch ausdrücklich sagen –, denn die wirtschaftspolitische Kohäsion, und zwar ausgerichtet an den Besten und nicht irgendwie ausgerichtet am Mittelmaß der Euro-Mitgliedstaaten, haben wir noch nicht ausreichend verbindlich geschafft. Jetzt kommt eine zweite große Errungenschaft der Europäischen Union unter Druck, nämlich die Freizügigkeit der Bewegung. Der Euro und die Freizügigkeit der Bewegung über Grenzen hinweg hängen unmittelbar zusammen. Es soll niemand so tun, als ob man eine gemeinsame Währung haben kann, ohne dass man eine einigermaßen einfache Überquerung von Grenzen hat. Zumindest würde der Binnenmarkt massiv darunter leiden. Eine Überzeugung, die mich leitet und auch die Bundesregierung leitet, ist, dass wir in der größten Volkswirtschaft, die inmitten der Europäischen Union liegt, die Frage beantworten müssen: Was wird aus der Freizügigkeit der Bewegung; und schaffen wir es, unsere Außengrenzen zu schützen, oder müssen wir zu einer Variante greifen, die uns mit Sicherheit viel Kraft kostet? Diese Frage positiv zu beantworten und die Freizügigkeit der Bewegung im europäischen Binnenmarkt zu erhalten – darum geht es bei all dem, was wir jetzt tun. Zudem geht es um die Frage, wie wir eigentlich mit Krisenregionen umgehen und wie weit wir in der Lage sind, Fluchtursachen so zu bekämpfen, dass Menschen ihre Heimat nicht mehr verlassen müssen. Im Hinblick darauf kam es zu Versäumnissen – nicht nur in Deutschland, nicht nur in Europa, sondern auch bei allen anderen. Dass die Weltgemeinschaft zugeschaut hat, dass in den Flüchtlingslagern im Libanon und in Jordanien die Rationen vom UNHCR und vom Welternährungsprogramm von 30 Dollar pro Monat für eine Person – pro Monat 30 Dollar – auf 13 Dollar gekürzt wurden, hat wesentlich dazu beigetragen, dass Menschen gesagt haben: Hier halten wir es nicht mehr aus. Ich werde zum Beispiel am 4. Februar zusammen mit dem britischen Premierminister, meiner norwegischen Kollegin und dem Emir von Kuwait versuchen, wieder Geld zu sammeln, weil für 2016 gerade mal erst 54 Prozent des Etats des Welternährungsprogramms und des UNHCR für das, was benötigt wird, gedeckt sind – nicht mehr. Wir wissen, was eine Million Flüchtlinge für Deutschland bedeuten. Ich bin allen von Herzen dankbar, die sich so wunderbar eingesetzt haben – Hauptamtler, Ehrenamtler, die Wirtschaft in ganz hervorragender Weise. Danke dafür. Die Europäische Union mit 500 Millionen Einwohnern hat bis jetzt rund eine Million syrische Flüchtlinge aufgenommen. Die Türkei mit 75 Millionen Einwohnern hat zwei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Ein Land wie der Libanon mit fünf Millionen Einwohnern hat über eine Million syrische Flüchtlinge aufgenommen. Und ein Land wie Jordanien, das schon viele palästinensische Flüchtlinge hat, hat knapp eine Million Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Meine Damen und Herren, es geht hierbei auch um die Frage: Wie antwortet ein Kontinent, der nicht Tausende von Kilometern von Syrien entfernt liegt – es ist nur ein Stück Türkei dazwischen; und dann beginnt die Europäische Union –, auf eine solch dramatische Herausforderung – darauf, dass von 22 Millionen Syrern acht Millionen Binnenflüchtlinge sind und fünf Millionen außerhalb von Syrien Zuflucht gesucht haben? Ich glaube, wir mit unserem Wertesystem, wir mit dem, das wir über Demokratie, über Menschenwürde sagen, müssen einen Beitrag zur Hilfe leisten, wenn man nicht alles, das wir über unsere Werte sagen, über unsere Interessen, über das, was uns leitet, im Rest der Welt als Schall und Rauch verbuchen will. Das ist die Herausforderung. Die zweite Herausforderung ist, dies so zu tun, dass unser europäischer Bewegungsraum erhalten bleibt – aus wirtschaftlichen Gründen, aus Gründen der Kommunikation –, und dass wir den Schutz unserer Außengrenzen besser hinbekommen. Und das ist mühselig. Ich ärgere mich auch darüber. Frau Dreyer fragt mich in jeder Sitzung, bei der wir uns begegnen, wann es denn nun endlich mal was wird. Wir machen Fortschritte, aber zu langsam. Aber ich werde weiter daran arbeiten, zusammen mit vielen anderen in der Bundesregierung. Wir müssen das hinbekommen; keine Frage. Wir müssen die Fluchtursachen besser bekämpfen. Dann wird es uns auch gelingen, die Zahl der Flüchtlinge – das wollen wir in diesem Jahr – spürbar zu reduzieren. Das ist völlig klar, weil wir natürlich auch die Aufgabe der Integration leisten müssen. Wir haben gerade hier in Mainz darüber diskutiert, wie wir Integrationskonzepte am besten hinbekommen. Wir wissen nicht erst seit den schrecklichen Ereignissen in der Silvesternacht in Köln, dass zur Integration neben der Offenheit der Gesellschaft, in die Flüchtlinge kommen, auch gehört, dass Flüchtlinge bereit sind, sich an unsere Werteordnung zu halten. Es ist im Übrigen auch Teil der Genfer Flüchtlingskonvention, nach der die meisten Flüchtlinge hier ihren Aufenthaltsstatus haben, dass man im Gastland das Recht, die Gesetze und die Grundideen dieser Gesellschaft anerkennen und akzeptieren muss. Deshalb denken wir in der Bundesregierung nach dem, was in Köln passiert ist, wo so viele junge Frauen schreckliche Erfahrungen machen mussten, sehr intensiv darüber nach – wir werden sehr schnell zu Ergebnissen kommen –, was wir gegebenenfalls verändern müssen. Es kann nicht sein, dass zigmal Diebstähle, Beleidigungen von Frauen, sexuelle Nötigungen auftreten und immer noch das Gastrecht nicht verwirkt ist. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir das besser hinbekommen, damit die Menschen sehen, dass hier etwas passiert. Meine Damen und Herren, ein Letztes dazu: Wir haben in Deutschland sehr ausgeprägte rechtsstaatliche Verfahren. Darauf können wir stolz sein. Wer bei uns einen Aufenthaltsstatus bekommt – wir sehen ja, wie viele Menschen darunter sind, die vor Krieg oder Terror geflohen sind –, dem werden wir auch helfen, sich zu integrieren und eine neue oder ein Stück neue Heimat zu gewinnen. Aber, meine Damen und Herren, wenn ein Verfahren negativ ausgegangen ist, wenn ein Aufenthaltsstatus nicht gewährt werden kann, wenn das durch Gerichte bestätigt ist, dann müssen wir auch die Kraft haben, den Menschen zu sagen: Ihr müsst unser Land wieder verlassen, damit wir den wirklich Schutzbedürftigen Schutz gewähren können. Auch das gehört zu einem Rechtsstaat. Ich möchte mich ausdrücklich bei Ihnen, den Unternehmern, dafür bedanken, dass Sie bereits viele Initiativen zur Aufnahme und Integration ergriffen haben und bereit sind, noch mehr zu ergreifen. Wir werden das natürlich brauchen. Unsere Gesellschaft lebt davon, dass sich viele einbringen. Ich will auch sagen: Wir mit unserem Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier arbeiten mit Hochdruck daran, durch diplomatische Bemühungen wieder Frieden in Syrien und im Irak herzustellen. Wir beteiligen uns daran, den IS zu bekämpfen und ihn einzudämmen. Wir versuchen, in Syrien einen Waffenstillstand hinzubekommen. Dann werden wir den Menschen, die zu uns gekommen sind, auch sagen können: Wir helfen euch beim Wiederaufbau eures Landes. Nicht jeder wird sein ganzes Leben bei uns bleiben. So halte ich zum Beispiel die Initiative des Innenministers und des Außenministers für exzellent, die der Ausbildung junger Syrer dient. Das übernimmt das Technische Hilfswerk. Wir geben Geld dafür, dass junge Menschen, wenn eines Tages wieder Frieden ist, in ihr Land zurückkehren und mit unserer Hilfe dann ihr Land wieder aufbauen können. Auch das ist eine Möglichkeit der Hilfe, nachdem man hier Schutz und Unterstützung erhalten hat. Meine Damen und Herren, wir sind uns, glaube ich, einig: Wir leben in bewegten, herausfordernden Zeiten. Das heißt, zum Ausruhen ist keine Zeit. Das wissen Sie, die Sie in Unternehmen tätig sind und täglich neue Aufträge bekommen müssen und täglich neu Qualität abliefern müssen. Das wissen Sie und Ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ganz genau. Ich will Ihnen sagen: Selbst wir in der Politik haben das schon mitbekommen und wetteifern auch um die besten Konzepte. Die Rheinhessen haben in ihrer Geschichte immer wieder bewiesen: Vorankommt derjenige, der das Gute vom Alten bewahrt, ohne sich Neuem zu verschließen. 1816 behielten sie einige Errungenschaften der französischen Zeit bei. Zugleich ließen sie sich auf ihre neue rheinhessische Identität ein. Daraus ist ein wunderbares Markenzeichen geworden. Es vereint Leistung und Lebensqualität. Wer denkt da nicht gleich an den Wein aus dieser Region, mit dem es sich für die allermeisten von Ihnen auch gut anstoßen lässt, wenn die Feierlichkeiten zum 200. Jubiläum beginnen, die, wie ich höre, noch bis zum 08.07. andauern. Feiern Sie gut, arbeiten Sie gut, seien und bleiben Sie ein starkes Stück Deutschland. Wir sind stolz auf Sie in Berlin.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel auf dem Neujahrsempfang der Industrie- und Handelskammer Magdeburg am 7. Januar 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-auf-dem-neujahrsempfang-der-industrie-und-handelskammer-magdeburg-am-7-januar-2016-427690
Thu, 07 Jan 2016 18:30:00 +0100
Magdeburg
Sehr geehrter Herr Präsident Olbricht, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Reiner Haseloff, sehr geehrte Mitglieder des Kabinetts, sehr geehrter Herr Landtagspräsident, sehr geehrte Mitglieder des Landtags und des Bundestags, meine Damen und Herren, die Sie heute zu diesem Neujahrsempfang der IHK Magdeburg gekommen sind, im Gegensatz zum Ministerpräsidenten kenne ich Sie nicht alle persönlich, aber ich wünsche Ihnen ebenfalls ein frohes, ein erfolgreiches und vor allen Dingen ein gesundes neues Jahr. Lieber Herr Olbricht, herzlichen Dank für die Einladung. Ich nehme es für mich als gutes Zeichen, dass mich einer meiner ersten Termine nach Magdeburg führt. Es gibt viele gute Gründe, Sachsen-Anhalt immer wieder zu besuchen. Ein sehr freudiger Anlass war für mich das Doppeljubiläum „25 Jahre Sachsen-Anhalt – 25 Jahre Deutsche Einheit“, das wir vergangenes Jahr in Halle gefeiert haben. Mein letzter Besuch der Industrie- und Handelskammer Magdeburg liegt zwar schon fünf Jahre zurück. Aber immerhin. Denn wenn man die Vielzahl der IHK in Deutschland betrachtet, dann muss man schon sagen: Dadurch, dass sie mit 190 Jahren zu einer der traditionsreichsten Kammern gehört, rechtfertigt sich das vielleicht. Aber sagen Sie es nicht unbedingt weiter. Die Region Magdeburg hat in der Tat eine große industrielle Geschichte. Diese Geschichte wird fortgeschrieben – zum Beispiel im Maschinenbau, in der Automobilzulieferindustrie, in der Ernährungsindustrie, in der chemischen Industrie, in der Energiewirtschaft. Erfolgsgeschichten schreiben sich nun wahrlich nicht von selbst. Das wissen Sie gerade in Sachsen-Anhalt. Denn das Land hat in den ersten Jahren der Deutschen Einheit einen der tiefsten Umbrüche durchmachen müssen, den wir in den neuen Bundesländern hatten. Dieser tiefgreifende Strukturwandel hat sich erfolgreich gestaltet, wie wir heute wissen. Aber er hat auch viel Kraft gekostet. Dass das gelungen ist, hat mit unternehmerischem Mut, mit Tatkraft und mit Weitsicht zu tun. – Deshalb danke ich allen, die schon viele Jahre dabei sind; und natürlich auch denen, die sich heute in Sachsen-Anhalt niederlassen. – Zudem sind natürlich auch immer gute Rahmenbedingungen gefragt. Beides muss zusammenkommen. Aber als Erstes einmal ein Dankeschön an all diejenigen, die Mut und Innovationskraft bewiesen haben. Der Strukturwandel ist ja nicht zu Ende. Reiner Haseloff hat soeben an die Umbrüche in der Solarbranche erinnert. Deshalb ist es wichtig und richtig, dass die Landesregierung insbesondere das Thema Innovation ganz oben auf der Prioritätenliste angesiedelt hat. Immer wieder neu denken, neue Ansätze wagen – das bedeutet neben der Ansiedlung innovativer Unternehmen auch die Schaffung neuer Forschungseinrichtungen, wie zum Beispiel das „Institut für Kompetenz in AutoMobilität“, von dem die regionale Zulieferindustrie profitieren kann, oder die Erweiterung der Biowissenschaften und der Medizinforschung in Magdeburg. Man könnte viele Beispiele nennen. Reiner Haseloff hat ja gesagt, dass wir solche neuen Institutionen noch gemeinsam einweihen werden. Das Land hat dies geschafft, obwohl es zur Vorsorge für die Zukunft auch einen Konsolidierungskurs eingeschlagen hat, da Sie hier davon überzeugt sind – ich teile das –, dass sich daraus Spielräume auch für neue Investitionen ergeben. Wenn man sich die Bilanz anschaut, so stellt man fest, dass das Verarbeitende Gewerbe über 18 Prozent der gesamten Wertschöpfung in Sachsen-Anhalt ausmacht. Das ist ein Wert, der sich wirklich sehen lassen kann. Aber für die Menschen zählen ja nicht die Prozentsätze, weder beim Wachstum noch bei der Bruttowertschöpfung, sondern letztlich die Fragen: Habe ich einen Arbeitsplatz? Wie entwickelt sich die Erwerbstätigkeit? Wie entwickelt sich die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen? – Und diese Zahlen haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Das ist Ausdruck einer erfolgreichen Entwicklung. Ich will an dieser Stelle auch sagen: In Sachsen-Anhalt setzt man auf Sozialpartnerschaft. Dieses partnerschaftliche Zusammenarbeiten von Unternehmen, Betriebsräten und Gewerkschaften, auch in Zusammenarbeit mit der Politik, hat sich bewährt. Nun hört man zunehmend davon, dass es Fachkräftemangel gibt. Das gilt angesichts der demografischen Entwicklung für ganz Deutschland, aber besonders für die neuen Bundesländer. Ich weiß noch, dass Reiner Haseloff von Anfang an immer wieder dafür geworben hat, dass die, die dieses schöne Bundesland einmal verlassen haben, durchaus auch mit neuen Erfahrungen zurückkehren können. Dass die Zuwanderungsbilanz für Sachsen-Anhalt jetzt positiv ist, dass also mehr kommen als weggehen, ist auch Ausdruck der Entwicklung in diesem Lande. Dennoch droht bis 2020 – Herr Olbricht hat es dargestellt – in Sachsen-Anhalt ein Fachkräftemangel von bis zu 78.000 oder fast 80.000 Menschen. Deshalb sind natürlich die Politik und die Unternehmen gefragt, wie wir es am besten anstellen können, die richtigen Lösungen hierfür zu finden. Wir in der Bundesregierung haben es geschafft – darüber war ich sehr froh –, dass wir in der „Allianz für Aus- und Weiterbildung“ – Wirtschaft, Gewerkschaften, die Länder und der Bund – gemeinsam arbeiten und versuchen, die Weichen richtig zu stellen. Es geht natürlich darum, wo wir noch Potenziale der Erwerbstätigkeit haben und wie wir sie besser nutzen können. Dabei geht es auch um junge Erwachsene ohne Berufsabschluss, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit Behinderungen, junge Eltern, vor allem auch Mütter. Das heißt, das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie spielt auch eine wichtige Rolle. Die Bedingungen hierfür sind in Sachsen-Anhalt wie in den neuen Bundesländern insgesamt sehr gut. Es geht um die Frage flexibler Regelungen, wo immer sie möglich sind; auch was Teilzeit und Arbeitsplatzgestaltung anbelangt. Allerdings muss der Staat aufpassen – das sage ich ausdrücklich –, dass er nicht überreguliert, sondern dass er ein Stück weit darauf setzt, dass Unternehmen und Beschäftigte selbst oft die besten Lösungen füreinander finden. Wir sind ein Land mit einer alternden Gesellschaft. Das heißt, wir müssen auch ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Blick nehmen. Wir haben uns in der Bundesregierung mit einem komplizierten Kompromiss dazu entschlossen, für langjährig Versicherte die Rente mit 63 einzuführen. Herr Olbricht hat darauf hingewiesen, dass das für manches Unternehmen sicherlich auch eine Herausforderung ist. Deshalb haben wir in einer Koalitionsarbeitsgruppe darauf Wert gelegt, auch die andere Seite genauer zu betrachten und Vorschläge für flexiblere Übergänge vom Erwerbsleben in die Rente zu machen und die Hinzuverdienstmöglichkeiten zu verbessern. Zum Beispiel könnten die Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung entfallen, wenn Arbeitnehmer jenseits der Regelaltersgrenze beschäftigt werden. Die Koalitionsarbeitsgruppe hat ihre Vorschläge der Bundesregierung vorgelegt. Ich hoffe, dass wir sie jetzt auch in Gesetze umsetzen können. Denn es gibt Menschen, die länger arbeiten wollen. Ich finde, wir sollten ihnen die Möglichkeiten dazu eröffnen. Natürlich geht es, wenn wir in einer Gesellschaft mit demografischem Wandel leben, auch um die Frage, wie wir die demografischen Lasten fair und gerecht verteilen. Das ist ein Aspekt der Generationengerechtigkeit. Gerade deshalb sind solide öffentliche Finanzen so wichtig, da die Schulden von heute von den zukünftigen Generationen zurückgezahlt werden müssen. Deshalb sind Investitionen und Innovationen so wichtig. Deshalb ist es gut, dass die Landesregierung auf solide öffentliche Finanzen Wert legt und immer wieder auf das Thema Investitionen schaut. Wir in der Bundesregierung haben angesichts guter Steuereinnahmen Prioritäten gesetzt, und zwar immer auch zugunsten von Investitionen. Dazu zählen berechtigterweise die Bildungs- und Forschungsausgaben. Wir haben die Mittel für Bildung und Forschung erheblich aufgestockt und leisten damit seitens des Bundes unseren Beitrag zum Drei-Prozent-Ziel – also dazu, dass wir in Deutschland drei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung ausgeben. Wir investieren auch in bessere Datennetze. Wir können insbesondere durch die Versteigerung der Frequenzen eine Förderkulisse von 2,7 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Ich bin mir sicher, dass die Landesregierung von Sachsen-Anhalt das geschickt nutzen wird. Unser Anspruch ist, bereits bis 2018 ein schnelles Internet mit 50 Megabit pro Sekunde für alle Haushalte in Deutschland zur Verfügung zu stellen. Wir wissen, dass das nur ein erster Schritt sein kann. Das wird für viele große Anwendungen natürlich nicht ausreichen. Wenn wir etwa an Industrie 4.0 denken, wenn wir an die digitalen Herausforderungen insgesamt denken, werden wir natürlich weit mehr brauchen. Auf jeden Fall ist es gerade auch für die ländlichen Gebiete von extremer Notwendigkeit, dass wir ein schnelles Internet möglichst schnell zur Verfügung stellen können. Wir werden in dieser Legislaturperiode bis 2018 die Mittel für die Verkehrsinfrastruktur von rund zehn Milliarden auf 14 Milliarden Euro erhöhen. Das ist ein Plus von 40 Prozent in dieser Legislaturperiode. Auch Sachsen-Anhalt profitiert davon. Hier wurde bereits über den Bau der A 14 gesprochen. Für die Klagen kann der Bund nicht direkt etwas. Er kann allenfalls dafür Sorge tragen, dass die Gerichtsverfahren einigermaßen schnell vonstattengehen. Aber ich denke, gerade der Lückenschluss zwischen Magdeburg und Schwerin ist für die dazwischenliegenden Regionen eine sehr wichtige Anbindung an die europäischen Verkehrsnetze. Es ist deshalb ein gutes Beispiel. Dass mein Heimatland Mecklenburg-Vorpommern ein bisschen schneller ist als Sachsen-Anhalt, verschweigen wir hier jetzt mal. Nehmen Sie es als Ansporn, dann schaffen wir es auch hier. Der Bund hat des Weiteren für Sachsen-Anhalt 115 Millionen Euro für vier Bundesstraßenprojekte zur Verfügung gestellt. Wir wollen also staatliche Investitionen gerecht in die verschiedenen Bundesländer lenken. Aber wir wissen: Wir müssen auch ein Umfeld schaffen, um die privaten Investitionen anzukurbeln. Das heißt, wir brauchen ein investitionsfreundliches Umfeld für private Investitionen. Deshalb sind wir der Meinung, dass wir auch nach 2019, wenn der Solidarpakt II ausläuft, Unterstützung für strukturschwache Regionen brauchen. Bestimmte strukturelle Unterschiede werden sich auch in vier Jahren noch zeigen. Wir sind bereits dabei, Eckpunkte zu erarbeiten und darüber mit den Ländern zu diskutieren. Natürlich wünschen wir uns, dass uns auch noch eine Einigung zum Bund-Länder-Finanzausgleich gelingt. Unbeschadet dessen werden wir bestimmte strukturelle Förderkulissen auch nach 2019 weiter brauchen. Am Anfang dieser Legislaturperiode haben wir gesagt, dass Steuererhöhungen für uns tabu sind, weil wir sie für keine gute Idee halten. Das war auch ein Thema des vergangenen Wahlkampfs. Dabei bleiben wir. Aber an einer Stelle haben wir einen Diskussionsgegenstand. Leider hat das Bundesverfassungsgericht die Erbschaftsteuer im Hinblick auf die Ausgestaltung der Verschonungsregel als nicht verfassungskonform genannt. Das bereitet uns im Augenblick schon etwas Kopfzerbrechen – die Diskussionen laufen –, weil wir den Ansatz haben, dass wir Familienunternehmen, Traditionsunternehmen, Unternehmen, die sich auf Dauer in Deutschland ihre Heimat gesucht haben und die hier investieren, die Erbfolge leicht machen und möglichst nicht erschweren wollen. Deshalb wird die Beratung noch ein wenig dauern. Es muss möglich sein, einerseits verfassungskonform zu arbeiten und andererseits den Familienunternehmen den Generationenübergang möglich zu machen. Das ist im Detail komplizierter, als man es sich vielleicht erhofft hat. Aber ich sage Ihnen zu, dass wir alles daransetzen, eine unternehmenskonforme Lösung zu finden. Wir beschäftigen uns mit der Frage, wie man Bürokratie abbauen kann. Ich denke, das ist ein nahezu unendliches Thema. Aber ich will Sie doch über eine Sache informieren. Wir haben in der Bundesregierung beschlossen, dass seit dem 1. Juli – das war gar nicht so einfach zu diskutieren – das Regelungsprinzip „one in – one out“ gilt. Das heißt, wann immer eine Regelung mit neuen bürokratischen Lasten gesetzlich verankert wird, müssen bei anderen Regelungen Lasten im gleichen Ausmaß verschwinden. So ist die Vorgabe. Der 1. Juli ist ja noch nicht so lang her. Noch werden Sie mir nicht glauben, dass wir das einhalten. Sie werden mir schließlich vielleicht auch sagen, Sie merken immer noch nichts davon. Aber vielleicht werden wenigstens die Klagen weniger, wenn es schon kein Lob gibt. Auf jeden Fall haben wir uns das vorgenommen. Meine Damen und Herren, Sie wissen es; und wir alle spüren es ja: Wir leben in herausfordernden Zeiten. Das Jahr 2015 hat uns eine Vielzahl an Ereignissen beschert, die uns alle in Anspruch genommen haben. Heute vor einem Jahr geschah der Anschlag auf die französische Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ und einen Supermarkt für koschere Lebensmittel. Wir haben am 13. November die Terroranschläge in Paris mit bangem Entsetzen verfolgt. Wir stehen an der Seite des französischen Volks. Wir wissen, dass Terrorismus international agiert. Ich denke auch an die Opfer des Germanwings-Absturzes, auch in Frankreich, an die wunderbare Hilfe durch die französischen Helfer, aber vor allem an das viele Leid der Angehörigen, die so viele Menschen verloren haben. Wir denken an die zahlreichen Opfer von Bürgerkrieg und Terror und an diejenigen, die davor geflüchtet sind. Wir haben manchmal den Eindruck, dass die Krisen auf der Welt – ob in der Ukraine, in Syrien oder dem Irak – gar nicht mehr so weit von uns entfernt sind, sondern doch relativ nah bei uns. Auch das bringt die Globalisierung mit sich. Aber bevor ich darauf etwas mehr eingehe, möchte ich noch sagen: Es gab auch hoffnungsvolle Entwicklungen im vergangenen Jahr. Neben der guten Wirtschaftslage, die hier allseits benannt wurde und die natürlich auch künftig erarbeitet werden muss, will ich zum Beispiel erwähnen, dass sich die internationale Staatengemeinschaft – fast 200 Länder – darauf geeinigt hat, nachhaltige Entwicklungsziele in der Agenda 2030 zu verankern, und sich vor allem darauf verständigt hat, bis 2030 die absolute Armut zu beseitigen. Das betrifft Menschen, die weniger als einen Dollar pro Tag haben. Das betrifft heute noch ungefähr eine Milliarde Menschen auf der Welt. Aber wenn wir das Tempo der Entwicklungspolitik weiter so halten, dann kann uns das gelingen. Wir haben auf dem G7-Gipfel in Elmau eine Vielzahl von Beschlüssen gefasst. Wir haben uns zum Beispiel mit den Epidemien weltweit auseinandergesetzt. Ich erinnere an Ebola. Noch vor einem Jahr war das ein Riesenthema. Das haben wir jetzt einigermaßen überwunden, aber es hat die Verwundbarkeit unserer Welt gezeigt. Wenn Epidemien ausbrechen, ist die Welt heute noch nicht gut darauf vorbereitet, wirklich das Richtige zu tun. Deshalb haben wir uns vorgenommen, bis zu unserer Präsidentschaft im Jahr 2020 so etwas wie Notfallpläne im Gesundheitswesen für weltweite Epidemien zu entwickeln, damit nicht jedes Mal wieder erst von Anfang an damit begonnen werden muss. Ich bin der Leopoldina und ihrem Präsidenten Professor Hacker sehr dankbar, der bewusst dabei mitgeholfen und das Ganze mit seinem gesamten Fachwesen, das er hat, angetrieben hat. Die Weltklimakonferenz konnte erfolgreich abgeschlossen werden. Wir haben auch gewisse Fortschritte, wenn auch noch längst nicht genug, bei der Konfliktbewältigung in der Ukraine erreicht. Das bringt mich zu einem Thema, das Sie mit Recht auch angesprochen haben. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland treffen gerade auch die ostdeutschen Länder, die Landwirtschaft und andere Branchen. Sie belasten gewachsene Beziehungen. Deshalb will ich hier noch einmal betonen: Die Entscheidung für Wirtschaftssanktionen ist uns ja alles andere als leicht gefallen. Sie war eine Reaktion auf das russische Vorgehen auf der Krim und in der Ostukraine. Ich rate uns dazu, dass wir die Augen nicht zudrücken, wenn Völkerrecht gebrochen wird oder wenn wesentliche, konstitutive Elemente der europäischen Friedensordnung infrage gestellt werden. Die Integrität der Grenzen gehört dazu. Deshalb sage ich den Unternehmern, die individuell leiden, auch, dass die Respektierung von geltendem Recht natürlich auch immer etwas ist, worauf Unternehmen in ihrer gesamten Politik angewiesen sind. Wir haben deshalb – Frankreich und Deutschland – die Initiative ergriffen, um im Normandieformat zusammen mit Russland und der Ukraine diplomatische Lösungen für diesen Konflikt zu finden. Ich denke, bei gutem Willen beider Seiten – wir hatten kurz vor Neujahr noch einmal ein langes Telefonat mit dem russischen und dem ukrainischen Präsidenten geführt – könnten wir in den nächsten beiden Monaten weitere Fortschritte erzielen. Wir werden jedenfalls alles dafür tun. Weil die Sanktionen keinem Selbstzweck dienen, sondern verhängt werden, wenn bestimmte Bedingungen nicht erfüllt sind, kann eine Umsetzung der Minsker Übereinkünfte, die wir vor etwa elf Monaten gefunden haben, dazu führen, dass diese Sanktionen aufgehoben werden. Meine Bitte also an Sie in der Wirtschaft ist: Sagen Sie dort, wo Sie Kontakte nach Russland haben: Es ist unabdingbar, dass die Minsker Vereinbarungen eingehalten werden. Die Ukraine zahlt dabei auch einen hohen Preis. Denn die Regionen Donezk und Lugansk sollen einen speziellen Status, quasi eine Autonomie, bekommen. Das heißt also, es wurde schon ein Kompromissweg eingeschlagen. Aber dass ein Land wie die Ukraine wieder Zugang zu seinen Grenzen bekommen möchte, sollte man, denke ich, auch verstehen. Wenn ich beim Thema Ukraine bin, dann will ich mich auch dafür bedanken, dass kürzlich eine Auslandshandelskammer in der Ukraine errichtet wurde. Wir ermutigen die Ukraine sehr, die Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung zu verbessern. Vielleicht gibt es weitere Möglichkeiten der Kontaktaufnahme in die Ukraine. Sie braucht sicherlich auch weitere Unterstützung, auch wenn wir mittlerweile ein Freihandelsabkommen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union haben, mit dem sich die Rahmenbedingungen nochmals verbessern. Meine Damen und Herren, allein diese Themen würden unsere Arbeit im Rahmen der europäischen Kooperation und unserer europäischen Nachbarschaft schon gut ausfüllen. Aber wir haben noch weit mehr zu bewältigen. Wenn wir an die vielen Flüchtlinge denken, die wir im vergangenen Jahr aufgenommen haben, dann hat, denke ich, Wolfgang Schäuble etwas Richtiges gesagt, als er von einem „Rendezvous mit der Globalisierung“ gesprochen hat. Wir müssen lernen, uns in diese Globalisierung einzufügen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Olbricht, dass Sie sagen, dass wir offen sind und Menschen, die Schutz brauchen und Zuflucht vor Krieg und Terror suchen, aufnehmen. Das ist in vielfacher Weise geschehen. Ich möchte mich dafür bei jedem Einzelnen bedanken, der dazu seinen Beitrag geleistet hat – auch ganz besonders bei der Landesregierung und bei den Kommunalpolitikern, auch wenn sie manchmal sagen: Ein Dankeschön wollen wir nicht unbedingt hören, sondern wir wollen mehr Klarheit für die Zukunft haben. Aber ich denke, Deutschland hat schon eine wunderbare Leistung vollbracht. Ich persönlich glaube, dass niemand leichtfertig sein Leben in Gefahr bringt. Aber ich sage auch: Wir müssen die Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, spürbar reduzieren. Dazu müssen wir bei den Fluchtursachen ansetzen. Das bedeutet, dass sich Deutschland verstärkt – obwohl wir das schon seit Jahren zunehmend tun – in die Lösung von Konflikten einbringen muss und wird, zum Beispiel in die Syrienverhandlungen. Die Atomverhandlungen im Iran konnten immerhin zu einem Erfolg geführt werden. – Als ich vor zehn Jahren Bundeskanzlerin wurde, liefen diese Verhandlungen bereits. – Nach vielen Jahren ist uns das endlich gelungen, was uns auch wieder wirtschaftliche Perspektiven eröffnet. Wir müssen mit genauso langem Atem an der Bewältigung des Syrienkonflikts arbeiten. Dieser Bürgerkrieg ist bereits mehr als fünf Jahre im Gange. Er hat unendlich viel Leid gebracht. Syrien hatte 22 Millionen Einwohner. Gut elf Millionen befinden sich auf der Flucht – sieben Millionen im Lande, über vier Millionen außerhalb des Landes. Alle Kraft muss dafür aufgewendet werden, diese schreckliche Entwicklung zu beenden und endlich einen Waffenstillstand zu erreichen. Dazu ist auch der Kampf gegen den IS notwendig, genauso wie im Irak. Wir arbeiten auch mit Hochdruck an einer politischen Lösung in Libyen, wo im Augenblick überhaupt keine Staatlichkeit gegeben ist. All das macht es uns sehr schwer, die Außengrenzen von Europa zu schützen, insbesondere die meerseitigen Grenzen. Trotzdem ist es die Aufgabe der Europäischen Union, ihre Außengrenzen zu schützen, damit es uns gelingt – das ist auch für die Wirtschaft von größter Bedeutung –, die freie Beweglichkeit innerhalb des Schengen-Raums zu erhalten. Viele wissen ja gar nicht mehr ganz genau, wie es war, als wir das Schengen-Abkommen noch nicht hatten. In den neuen Ländern weiß man es besser, weil „Schengen“ erst später eingeführt wurde. Mit dem Wegfall der Kontrollen an den Binnengrenzen haben sich quer durch Europa bessere wirtschaftliche Verflechtungen ergeben, was man nicht so einfach ohne wirtschaftliche Einbußen wieder aufheben kann. Deshalb ist der Kampf um einen vernünftigen Schutz unserer Außengrenzen aus meiner Sicht von elementarer Bedeutung gerade für ein Land wie Deutschland, das mitten in Europa liegt und so viele Verbindungen zu seinen Nachbarländern hat. Wenn es uns nicht gelingt, eine faire europäische Lösung der Flüchtlingsfrage zu finden, die Außengrenzen ordentlich zu schützen und auch bei der Fluchtursachenbekämpfung voranzukommen, dann wird eine Übereinkunft wie „Schengen“ in Gefahr geraten. Deshalb lohnt sich aus meiner Sicht die Arbeit dafür. Deshalb haben wir auch ein EU-Türkei-Abkommen geschlossen. Wir sehen die Erfolge noch nicht so, wie wir es uns wünschen, aber das Abkommen ist ja noch keine zwei Monate alt. Wir brauchen eine verbesserte Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitstaaten. Und wir müssen sicherlich auch unsere Entwicklungspolitik noch sehr viel stärker auf die Interessen unserer deutschen Politik und auf unsere Nachbarschaft konzentrieren, als wir das bisher getan haben. Was die Kooperation mit der Türkei anbelangt, so werden wir drei Milliarden Euro zur Verfügung stellen, damit es den Flüchtlingen in der Türkei besser gehen wird. Ich will noch einmal darauf hinweisen: Die Türkei hat zwei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen, Jordanien über eine Million, der Libanon 1,5 Millionen. Das ist bei knapp fünf Millionen Einwohnern des Libanon ein unglaublicher Anteil. Wenn die Menschen dort von den UN-Organisationen weniger als einen Dollar pro Tag an Lebensmittelunterstützung bekommen, dann fangen sie eben an, sich auf den Weg zu machen. Deshalb ist die größte Aufgabe jetzt, dafür zu sorgen, dass die UN-Organisationen, die Flüchtlinge unterstützen, vernünftig finanziert werden. Ich werde daher mit dem britischen Premierminister, der norwegischen Premierministerin und dem Emir von Kuwait am 4. Februar eine Konferenz abhalten. Denn bis heute haben sowohl das Welternährungsprogramm als auch der UNHCR nur 54 Prozent ihrer Mittel für das Jahr 2016 bekommen. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Ich denke, darin stimmen Sie alle mir zu. Was nun unsere heimischen Aufgaben anbelangt, so geht es darum, diejenigen, die einen Schutzanspruch haben, zu integrieren. – Ich bedanke mich für die Bereitschaft der Wirtschaft, hierbei mitzutun. – Wir werden alles daransetzen, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Dazu gehören zum Beispiel Sprachförderung und Berufsqualifizierung. Ich denke, es war die richtige Entscheidung, Herrn Weise, der große Erfahrung aus der Bundesagentur für Arbeit mitbringt, den Doppelhut aufzusetzen und zu sagen: Er leitet auch das BAMF und kann damit sozusagen in einem Prozess die Integration derer, die einen Aufenthaltstitel in Deutschland haben, bis in den Arbeitsmarkt begleiten. Ich will hier keine Illusionen verbreiten. Es wird nicht möglich sein, alle leicht zu integrieren. Ich will auch ganz deutlich sagen: Die meisten dieser Flüchtlinge haben einen Aufenthaltstitel nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Das ist ein Titel von drei Jahren. Wenn eines Tages zum Beispiel in Syrien oder im Irak Frieden ist – ich hoffe, eher früher als später –, dann wollen wir natürlich, dass diese Flüchtlinge wieder nach Hause gehen und helfen, ihr Land aufzubauen. Trotzdem ist es richtig, ihnen in der Zeit, in der sie hier sind, Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten zu bieten. Das rentiert sich immer. Aber es ist nicht davon auszugehen, dass alle, die heute kommen, in Deutschland bleiben. Das war auch bei den Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien zu Anfang der 90er Jahre nicht so. Wir haben zum Beispiel eine spannende Initiative: Bundesaußenminister Steinmeier und Bundesinnenminister Thomas de Maizière haben eine Initiative für die Ausbildung von Flüchtlingen im Technischen Hilfswerk gestartet, damit diese, wenn sie wieder in ihr Heimatland zurückkehren können, in der Lage sind, beim Aufbau ihres Landes gleich mit dem entsprechenden Know-how mitzuhelfen. Allerdings muss ich auch sagen – darüber spreche ich oft mit den Ministerpräsidenten –: Denjenigen, die keinen Aufenthaltstitel bei uns haben und denen in einem rechtsstaatlichen Verfahren nicht zuerkannt wurde, bei uns zu bleiben, müssen wir sagen – auch das kann man mit einem freundlichen Gesicht tun –: Ihr müsst unser Land verlassen. Ich denke, hierbei waren wir in der Vergangenheit, weil wir wenige Flüchtlinge hatten, oft nicht streng genug, um es einmal so zu sagen. Auch die Gesetze waren nicht darauf ausgelegt. Deshalb haben wir jetzt viel Kraft darauf verwendet. Gerade was die Flüchtlingsbewegung aus dem westlichen Balkan anbelangt, haben wir deutliche Erfolge bei der Verringerung zu verzeichnen. Ich will auch ganz deutlich sagen, dass das, was sich am Silvesterabend in Köln und anderswo abgespielt hat, unter gar keinen Umständen akzeptabel ist, dass alle Fakten auf den Tisch müssen – es hilft uns überhaupt nichts, etwas zu verschweigen – und dass der Staat mit seiner gesamten Härte – da, wo mehr Härte notwendig ist, muss er diese Härte auch rechtlich ermöglichen – einschreitet. Ich möchte mich beim DIHK für die vielen Initiativen bedanken. „Ankommen in Deutschland“ ist eine davon. Ich will ausdrücklich zusagen, dass ich mich dafür einsetzen werde, das Programm „MobiPro“ weiter laufen zu lassen. Wir müssen auch schauen, ob wir es effektiver gestalten können. Denn wir müssen möglichst vielen eine Chance geben. Herr Olbricht, Sie sind auf die Sprachausbildung eingegangen. Ich weiß aus meinem eigenen Wahlkreis, dass sie manchmal nicht einfach ist. Aber wenn zum Beispiel spanische Köche ausgebildet werden und bei Google nach Kasserolle gesucht wird, dann habe ich Zweifel, ob sich dann immer sofort die richtige Übersetzung finden lässt. Dass man also fachgerechte Sprache vermittelt, ist absolut notwendig. Meine Damen und Herren, zum Abschluss meiner Rede möchte ich Ihnen sagen, dass wir in der Bundesregierung uns sehr bewusst sind, dass unsere heutige Situation, wie wir sie zu Anfang des Jahres 2016 skizzieren können und in der wir sagen können, dass wir wirtschaftlich gut dastehen, keineswegs ein Blankoscheck für zukünftige Zeiten ist. Vielmehr müssen wir uns im weltweiten Wettbewerb immer wieder aufs Neue behaupten. Ich meine, dass Deutschland starke Voraussetzungen dafür mitbringt – mit seinen Unternehmerinnen und Unternehmern, mit seinen kleinen, mittleren und großen Unternehmen, mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, mit unserer Sozialpartnerschaft und einer Politik, die sich der Sozialen Marktwirtschaft verpflichtet fühlt. Aber wir müssen immer wieder die Balance finden zwischen dem, was wir verteilen können, und dem, was wir für die Zukunft erarbeiten müssen. Ich habe heute ein Gespräch mit dem Chef des Unternehmens Cisco geführt, eines führenden Internetunternehmens. Dabei ist noch einmal deutlich geworden, dass wir uns in der Phase eines unglaublichen Umbruchs befinden. Wenn ich einen Wunsch an Sie äußern darf, Herr Olbricht, dann ist es der, dass der Deutsche Industrie- und Handelskammertag und alle Industrie- und Handelskammern der Phase der Digitalisierung unserer Welt die absolut größte Aufmerksamkeit widmen. Wir sind, was reine Internetfirmen anbelangt, nicht Spitze in der Welt – Deutschland nicht, Europa nicht. Wir haben alle Mühe, uns die Rahmenbedingungen zu schaffen – man denke an die Datenschutz-Grundverordnung der Europäischen Union –, um das Management großer Datenmengen – Big-Data-Management – überhaupt in vernünftigen rechtlichen Bahnen gestalten zu können. Sachsen-Anhalt hat große Investitionen – zum Beispiel von T-Systems. Wenn man mit Herrn Höttges spricht, wird klar: Die Digitalisierung wird alles durchdringen. Die Frage, wie wir mit Daten umgehen, wie wir daraus auch neue Produkte entwickeln, wie wir Unternehmen, Maschinen und Produktionsabläufe vernetzen, wird die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre bestimmen. Für Deutschland werden die Antworten darauf vieles entscheiden. Wir sind heute ein attraktiver Standort, gerade auch für alle, die sich mit Digitalisierung beschäftigen, weil wir hervorragende industrielle Grundlagen haben. Aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht zur verlängerten Werkbank werden und diejenigen, die die Daten haben, anschließend den wesentlichen Teil der Wertschöpfung abgreifen. Um diesen Kampf geht es. Ihn müssen kleinere, mittlere und größere Unternehmen gemeinsam führen. Deshalb haben wir seitens der Bundesregierung die Digitale Agenda aufgelegt und die Plattform Industrie 4.0. Deshalb gibt es einen intensiven Austausch zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Aber ich merke es an mir – vielleicht sind Sie alle viel gebildeter als ich –: Man muss sich durchaus in diese neue Welt einarbeiten und versuchen, darin alles zu verstehen. Die Jugend saugt das sozusagen schon mit der Muttermilch auf, um es etwas symbolisch zu sagen. Aber auch diejenigen, die heute in den Führungsstrukturen in unseren Verbänden, Kammern und anderen Einrichtungen sind, müssen offen für Neues sein. Da Sachsen-Anhalt immer offen für Neues war und da das Magdeburger Stadtwappen sogar ein offenes Tor zeigt, würde ich sagen: Bleiben Sie offen für die Neuheiten, die wir aus der Welt immer wieder aufnehmen müssen, um auch morgen ein innovatives und erfolgreiches Land zu sein. Ich danke Ihnen allen für Ihren Beitrag, den Sie dazu leisten, und für die Einladung heute. Alles Gute.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Empfang der Sternsinger am 5. Januar 2016
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-empfang-der-sternsinger-am-5-januar-2016-424408
Tue, 05 Jan 2016 11:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Prälat Krämer, sehr geehrter Herr Bingener und vor allem liebe Sternsinger – ich freue mich, dass ihr da seid. Der Empfang der Sternsinger gehört in jedem neuen Jahr zu meinen ersten Terminen, die ich wahrnehme. Ich freue mich immer sehr darauf. Es ist ein schönes Ereignis, auch wenn es natürlich immer auch um sehr ernste Themen geht, die euer Sternsingen beinhalten. Das Motto – dazu haben wir soeben dieses wunderbare Spiel gesehen – heißt in diesem Jahr: „Respekt für dich, für mich, für andere – in Bolivien und weltweit!“ Worum es geht, habt ihr wunderbar gezeigt. Und ihr habt auch wunderbar gezeigt, wie schnell man dabei ist, Vorurteile zu haben; wie schnell man irgendeine Meinung von etwas hat, bevor man überhaupt irgendetwas davon gehört hat. Deshalb gilt das mit dem Respekt für alle in der Welt und damit auch für uns hierzulande. Ich habe auch Respekt. Ihr habt mir euren Respekt bekundet, ich möchte euch meinen Respekt bekunden – und zwar dafür, dass ihr von Haus zu Haus zieht. Ihr seid ja stellvertretend hier für 300.000 Sternsinger und 90.000 Begleiter, wie wir gehört haben. Das sind unglaublich hohe Zahlen. Ich hoffe, dass euch viele Türen offenstehen, dass nicht zu viele Türen vor der Nase zugeschlagen werden, sondern dass die Menschen ein weites Herz bekommen, wenn sie sich mit euch treffen. Diese Bewegung der Sternsinger ist etwas Wunderschönes. Dazu gehört aber auch viel Vorarbeit. Ihr beschäftigt euch mit dem Sternsingerthema – klar. Aber auch an der Vielfalt, in der ihr hierhergekommen seid, sieht man, wie viel Vorarbeit geleistet wird: Man bastelt Kronen, man schaut, was man noch vorrätig hat, und man guckt sicherlich, wie die Kleidung der Könige im Vorjahr ausgesehen hat. Und so vielfältig, wie eure Kostüme, wie eure Sterne, wie eure Kronen sind, so vielfältig sind ja auch die Menschen. Jeder unterscheidet sich von anderen in bestimmten Punkten, derentwegen er auch immer wieder neugierig betrachtet werden kann. Das Sternsingen ist jedenfalls eine wunderschöne Tradition. Es gehört inzwischen zu dem, was man Kulturerbe nennt. Es ist eine christliche Tradition. Und diese wollen wir uns bewahren. Das Wort Respekt – ich weiß nicht, ob ihr darüber gesprochen habt – stammt aus der lateinischen Sprache. Darin steckt das Verb „spectare“. Es bedeutet: hinsehen, sich etwas anschauen. Das heißt, ich muss erst einmal offen sein, mir etwas Neues anzuschauen – einen Menschen, einen Gegenstand. Wenn ich mir einen Menschen anschaue, dann muss ich bereit sein, mich überraschen zu lassen und etwas zu entdecken, was ich bisher noch nicht gekannt habe. Ich muss dann auch bereit sein, dass man auch mich anschaut und dass auch ich Gegenstand einer Betrachtung bin. Dann kann ich nicht einfach weggucken, nach unten gucken oder die Augen schließen, sondern dann guckt man sich an und weicht den Blicken nicht aus. Man kennt das untereinander; man kennt das beim Blick zu den Eltern. Manchmal weiß man ja auch, wenn sie einen bestimmten Blick haben, was das bedeutet; dann braucht man gar keine Worte. Man kennt das auch bei den Lehrern. Man kennt es auch bei Freunden. Und manchmal, wenn man sich gestritten hat, wartet man einfach darauf, dass wieder ein Lächeln aufs Gesicht kommt und man dann wieder neu anfangen kann. Das heißt also, man muss etwas aufnehmen, man muss etwas wahrnehmen. Und das ist schon ein Teil dessen, was unter Respekt zu verstehen ist. Wir alle sind der Überzeugung – ihr drückt das auch aus, indem ihr heute stellvertretend aus den vielen Bistümern hierhergekommen seid –, dass wir auch alle auf der Welt, die wir nicht kennen, respektieren müssen. In unserem Grundgesetz steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das gilt nicht nur für die Deutschen oder nicht nur für die Menschen, die hier in Deutschland leben, sondern das gilt auch für die Menschen, die in Europa leben. Aber auch da endet es nicht, sondern es gilt für alle Menschen – für jeden Menschen als Gottes Geschöpf. Diesmal lenkt ihr euren Blick nach Bolivien. Bolivien ist ein sehr armes Land, auch ein Land mit sehr großen Gegensätzen. Das Geld fließt zum Beispiel in die Arbeit einer Stiftung namens Contexto, die in der Hauptstadt La Paz, in der Nachbarstadt El Alto und in ländlichen Regionen Kindertagestätten und ein Kinderheim betreibt. Hier finden Kinder Unterstützung, die keine Eltern haben oder deren Eltern sich nicht um sie kümmern. Es geht auch darum, dass Mütter, die nicht die Kraft oder die Möglichkeit haben, sich um die Kinder gut zu kümmern, etwas lernen, dass Erzieherinnen ausgebildet werden, dass man gesund leben kann, dass man wenigstens ein Mindestmaß an Hygiene hat. Das alles sind Dinge, bei denen wir es hierzulande relativ gut haben. Es ist ein wunderschönes Projekt, wenn Menschen in Bolivien, das ein sehr schönes Land ist, was seine Naturreichtümer angeht, dort auch etwas besser leben können. Ein solches Engagement hilft ganz konkret. Was die ganz großen Projekte angeht, so haben wir uns im letzten Jahr, also 2015, eine Agenda 2030 vorgenommen. Was wollen wir in den nächsten 15 Jahren erreichen? Dabei spielt eine große Rolle, dass es allen Kindern auf der Welt gutgehen soll und dass wir die fürchterliche Armut und Hunger bis 2030 bekämpfen wollen. Heute gibt es noch fast eine Milliarde Menschen, die nicht genug zu essen haben bzw. nicht das Nötigste für ein menschenwürdiges Leben haben. Deshalb gilt unser Engagement gerade auch den notleidenden Kindern. Wir wissen ja: Auch Kinder sind schon sehr stark. Sie können vieles erreichen. Kinder sind immer ein Ausdruck von Hoffnung. Deshalb seid ihr hier für mich nicht nur Menschen, denen ich Respekt zolle, sondern ihr gebt mir und uns auch Ansporn hier im Bundeskanzleramt. Ich sage das also nicht nur für mich, sondern ich sage das auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich jedes Jahr freuen, dass am Anfang des Jahres die Sternsinger zu uns kommen. Ihr wisst, dass wir wieder viel Arbeit haben werden. Das deutet sich schon in den ersten Tagen an, wenn man hört, wie viele schwierige Sachen auf der Welt passieren, wenn wir zum Beispiel an den Krieg in Syrien denken, wenn wir daran denken, dass Menschen hingerichtet werden; wir alle hier sind gegen die Todesstrafe. Viele Ereignisse werden uns dieses Jahr begleiten. Aber wir dürfen uns davon nicht treiben lassen, sondern müssen uns immer wieder gegenseitig anspornen, dass man auch etwas zum Guten wenden kann. Manche Dinge lassen sich zum Guten entwickeln. Daher möchte ich mich bei euch für eure Arbeit bedanken, denn ihr tragt dazu bei, dass man nicht nur über das Gute spricht und darüber, was passieren sollte, sondern dass auch wirklich etwas Gutes passiert. So, wie ihr darauf hingewiesen habt, welche Projekte es letztes und vorletztes Jahr gegeben hat und was daraus geworden ist, so wird ganz sicher auch aus dem diesjährigen Projekt für Bolivien wieder etwas Gutes werden. Ich freue mich, dass auch ich mich ein bisschen daran beteiligen kann. Ich begrüße euch hier noch einmal ganz herzlich. Ihr hattet einen tollen Auftritt, ein tolles Anspiel. Ihr macht vielen auch Mut, auch selbst zu den Sternsingern zu gehen. Ich möchte nochmals betonen: Die Sternsinger sind offen für alle. Auch wenn Kinder aus anderen Ländern zu uns kommen, können sie gerne bei den Sternsingern mitmachen. Danke für eure Arbeit.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Eröffnung des BBK-Symposiums „Anlass: Nachlass. Zum Umgang mit Künstlernachlässen.“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-eroeffnung-des-bbk-symposiums-anlass-nachlass-zum-umgang-mit-kuenstlernachlaessen–450628
Sat, 12 Dec 2015 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Gustave Flaubert, Edvard Munch und Frank Sinatra haben etwas gemeinsam: Erstens: Sie würden, wenn sie noch lebten, alle heute, am 12. Dezember, Geburtstag feiern: Flaubert den 194., Munch den 152. und Sinatra den 100. Zweitens: Obwohl sie nicht mehr leben, sind sie mit ihrem künstlerischen Vermächtnis immer wieder in den Feuilletons präsent, ganz nach dem Motto des heutigen Symposiums „Anlass: Nachlass“. So fand sich von Gustave Flaubert vor nicht allzu langer Zeit ein Konvolut bisher unbekannter Texte, die 2004 und 2008 zur Freude von Liebhabern der französischen Literatur auch auf Deutsch erschienen. Edvard Munch wiederum, der seinen gesamten Nachlass der Stadt Oslo vermacht hatte, wurde 2008 die Ehre eines vierbändigen Werksverzeichnisses des Munch Museums Oslo zuteil. Und auch Frank Sinatra macht posthum von sich reden: Anlässlich seines heutigen 100. Geburtstags erscheinen bisher unveröffentlichte Aufnahmen eines Auftritts im Jahr 1966 in Las Vegas – wenn auch nur als Beigabe einer nach ihm benannten limitierten Whiskey-Sonderedition, denn Whiskey war sein Lieblingsgetränk. Diese sehr spezielle Form des Andenkens mag für Freunde erlesener Spirituosen und Weine eine reizvolle Vorstellung sein. Doch die meisten Künstlerinnen und Künstler wären wohl schon mit der Gewissheit zufrieden, dass ihr Werk sie selbst überlebt – und zwar nicht in Luftpolsterfolie und Umzugskisten verpackt auf einem staubigen Dachboden oder in einem feuchten Keller, sondern so, dass es lebendig bleibt und nicht in Vergessenheit gerät. Das ist leichter gesagt als getan, und deshalb bin ich Ihnen, lieber Herr Schaub, und Ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern im Bundesverband Bildender Künstler außerordentlich dankbar dafür, dass Sie sich der Frage eines angemessenen Umgangs mit Künstlernachlässen annehmen. Dabei geht es nicht nur um die spezifischen Interessen einer Berufsgruppe, sondern um ein öffentliches Interesse und nicht zuletzt auch um unser Selbstverständnis als Kulturnation. Wie ein Land mit seinem kulturellen Erbe umgeht, sagt viel über die gesellschaftliche Wertschätzung für Künstlerinnen und Künstler und damit über die Verfasstheit einer Demokratie. Es liegt im Interesse der Allgemeinheit, Künstlernachlässe als Teil unseres kulturellen Erbes zu schützen und zu bewahren, denn darin werden unsere Erinnerungen, unsere Werte, unsere Perspektiven auf die Welt sichtbar und erfahrbar. Aus diesem Grund kann ich die Initiative des BBK, erstmals einen umfassenden Überblick zur aktuellen Situation der Sicherung von Künstlernachlässen in Deutschland zu erarbeiten, nur unterstützen. Das gehört zu einer soliden Grundlage für fachwissenschaftliche wie auch kulturpolitische Diskussionen, und deshalb hoffe ich sehr, dass dieses Kompendium mit der heutigen Tagung eine breite (Kultur-)Öffentlichkeit erreicht. Die Bildende Kunst hat hier erheblichen Nachholbedarf. Während die Nachlässe etwa der Schriftstellerinnen und Schriftsteller schon seit Ende des 19. Jahrhunderts – seit der Gründung des ersten deutschen Literaturarchivs in Weimar – Aufnahme in einem dichten Netz nationaler, regionaler und lokaler, staatlicher wie teilweise auch privater Archive finden, ist der Umgang mit Nachlässen Bildender Künstlerinnen und Künstler erst in jüngerer Zeit zu einem kulturpolitischen Thema geworden. Darüber eine breite kulturpolitische Debatte zu führen, ist auch deshalb wichtig, weil es sich dabei um eine Gemeinschaftsaufgabe handelt. Patentlösungen gibt es nicht – und auch nicht die eine Instanz, an die sich diese Herausforderung delegieren ließe. Die Museen, Sachverwalter des materiellen Kulturerbes, sind allein schon aus Gründen räumlicher Beschränktheit überfordert mit kompletten Künstlernachlässen, zu denen einerseits Schriftgut wie Briefe und Aufzeichnungen und andererseits Werke ganz unterschiedlicher Größe – das meine ich im wörtlichen wie im übertragenen, qualitativen Sinne – zählen. Sie wollen aus nachvollziehbaren Gründen nur wenige repräsentative Werke oder Werkgruppen, und kaum ein Künstler darf sich Hoffnungen machen auf ein eigenes Museum wie Edvard Munch in Oslo… . Auch Kunsthändler und Galeristen eignen sich als Garanten einer der künstlerischen Leistung angemessenen Nachlassverwaltung nur bedingt. Entscheidend ist der Marktwert eines Künstlers, einer Künstlerin, doch schützenswert und bewahrenswert ist nicht nur das, was einen Marktwert hat. „Das ist häufig der Lauf der Avantgarden“, schrieb der Schriftsteller Martin Mosebach über eine der spät entdeckten und publizierten Schrift Gustave Flauberts, „- aus den ausweglosen Verzweiflungen missverstandener Einzelgänger geboren zu werden, um nach hundert Jahren in den Strom der offiziellen Kultur einzumünden.“ So mancher Künstler ist seiner Zeit voraus, so manches Werk erfährt erst spät die verdiente Anerkennung. Deshalb ist es ein großer Fortschritt für die Bewahrung unseres kulturellen Erbes, dass in den vergangenen Jahren eine Vielzahl lokal oder regional verwurzelter und von ehrenamtlichem Engagement getragener Initiativen zur Nachlasspflege entstanden sind. Es sind Vereine, Initiativen und Einrichtungen, deren Mitglieder sich dem kulturellen Erbe ihrer Heimat verpflichtet fühlen. Sie bewahren künstlerische Vermächtnisse nicht nur vor dem Vergessen, sondern leisten auch eine Menge für die Beratung der Erben und – wenn zu Lebzeiten gewünscht – auch der Künstlerinnen und Künstler selbst. Schön, dass der BBK ihnen mit dem heutigen Symposium die Möglichkeit gibt, sich vorzustellen! Neben Museen, Kunsthändlern, Galeristen und privaten Initiativen ist nicht zuletzt auch der Staat gefordert. Das fällt zunächst und vorrangig in die kulturhoheitliche Zuständigkeit der Länder; es gibt hier keine Kompetenz des Bundes. So wird das finanzielle Engagement meines Hauses für das Archiv für Künstlernachlässe der Stiftung Kunstfonds in Brauweiler bei Köln eine Ausnahme bleiben. Denn bisher übernimmt nur dieses Archiv Nachlässe von Künstlerinnen und Künstlern, über deren nationale und internationale Bedeutung breiter Konsens besteht. Wenn das Land Nordrhein-Westfalen in gleicher Höhe fördert, werden wir 2,5 Millionen Euro für einen Erweiterungsbau zur Verfügung stellen. Zumindest zwei kulturföderalistisch erlaubte Umwege gibt es aber, über die auch der Bund zu einem für eine Kulturnation angemessenen Umgang mit Künstlernachlässen beitragen kann: Mein Haus fördert sowohl die Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) als auch den Deutschen Museumsbund – und damit zwei Institutionen, deren Unterstützung sowohl bestehende als auch in Gründung befindliche Archive zur Sicherung dokumentarischer und künstlerischer Nachlässe in Anspruch nehmen können. Jenseits ganz praktischer Aspekte des Umgangs mit Künstlernachlässen, die heute Ihr Thema sein werden – von der Finanzierung bis zur Vorsorge zu Lebzeiten -, müssen wir uns schon angesichts offensichtlicher Kapazitäts-grenzen immer wieder auch darüber verständigen, was möglich und was nötig ist, um Künstlernachlässe als Teil unseres kulturellen Gedächtnisses zu erhalten, welche Auswahl zu treffen ist und nach welchen Kriterien dies geschehen soll. Dass darüber nicht allein die Politik bestimmt, sondern dass die Verantwortung in vielen verschiedenen Händen liegt – in den Händen von Kulturpolitikern, Kunstmuseen, Kunsthändlern und Galeristen und auch von privaten, ehrenamtlich getragenen Initiativen – das ist aus meiner Sicht kein Nachteil, sondern ganz im Gegenteil ein kulturpolitischer Gewinn. Denn eine breite Auseinandersetzung mit Künstlernachlässen hilft uns nicht zuletzt, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass Kunst nicht nur einen Preis, sondern auch einen Wert hat – und dass es im so genannten Kunstbetrieb eben nicht nur um die erzielbaren Preise, sondern auch um die Bedeutung eines Œuvres für eine bestimmte Zeit, für eine bestimmte Region, für unsere Kulturgeschichte und unsere Identität geht (oder jedenfalls gehen sollte). Zum Künstlerdasein gehört, frei nach Heinrich Böll gesprochen, immer auch „eine bestimmte Art verrückten Mutes – der Wunsch, diesem unendlichen Ozean von Vergänglichkeit einen freundlichen oder zornigen Fetzen Dauer zu entreißen“. In diesem Sinne hoffe ich, meine Damen und Herren, dass das BBK-Symposium zur Auseinandersetzung mit dem Wert der Kunst und der Bedeutung unseres kulturellen Erbes in einem „Ozean der Vergänglichkeit“ anregt, und all jenen, die mit Künstlernachlässen zu tun haben, dabei hilft, diesem Ozean der Vergänglichkeit „einen Fetzen Dauer“ abzutrotzen.
Thema eines Symposiums des Bundesverbands Bildender Künstlerinnen und Künstler war der Umgang mit Künstlernachlässen. „Dabei geht es nicht nur um die spezifischen Interessen einer Berufsgruppe, sondern um ein öffentliches Interesse und nicht zuletzt auch um unser Selbstverständnis als Kulturnation“, erklärte Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Inbetriebnahme der Neubaustrecke Erfurt-Leipzig/Halle (Verkehrsprojekt Deutsche Einheit 8.2) am 9. Dezember 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-inbetriebnahme-der-neubaustrecke-erfurt-leipzig-halle-verkehrsprojekt-deutsche-einheit-8-2-am-9-dezember-2015-442140
Wed, 09 Dec 2015 13:45:00 +0100
Leipzig
Sehr geehrter Herr Grube, sehr geehrte Vorstandsmitglieder sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Deutsche Bahn AG, sehr geehrte Herren Ministerpräsidenten aus Mitteldeutschland, wenn ich das so sagen darf, also aus Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, sehr geehrter Kollege, lieber Alexander Dobrindt, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag und den Landtagen, sehr geehrte Minister und Staatssekretäre aus den Ländern, meine Damen und Herren, wir schauen dieses Jahr auf 25 Jahre Deutsche Einheit zurück – auf das, was wir in diesem Vierteljahrhundert erreicht haben, auf das Zusammenwachsen von Ost und West. Ein auch im Wortsinn bewegendes Jubiläumsgeschenk hat sich uns hier mit dem Verkehrsprojekt Deutsche Einheit 8.2 präsentiert. Ich durfte auch ein paar Minuten an dieser Präsentation teilnehmen. Andere haben heute schon längere Eisenbahnfahrten hinter sich. Verkehrsprojekt Deutsche Einheit 8.2 – das mag ein wenig sperrig klingen. Aber das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit 8 gehört zu den größten Infrastrukturprojekten, die wir in Deutschland haben. Die neue Schienenstrecke zwischen Leipzig/Halle und Erfurt erweist sich in vielerlei Hinsicht als eine Rekordstrecke mit höchsten Sicherheitsstandards, fortschrittlichsten Zugleitsystemen, modernsten Brückenkonstruktionen und sogar der längsten Bahnbrücke Deutschlands, der Saale-Elster-Talbrücke, die mit knapp 8.600 Metern Länge uns alle sehr beeindruckt. Es war ein langer Weg, so weit zu kommen. Nicht immer ging der Neu- und Ausbau so gut voran wie im letzten Zeitabschnitt. Ende der 90er Jahre wurde er sogar gestoppt. Das Projekt insgesamt stand in Frage. Aber mit ihrem vehementen Einsatz ist es den ostdeutschen Ministerpräsidenten gelungen, den weiteren Weg wieder freizumachen. So können wir uns heute über den Abschluss eines wichtigen Projekts freuen. An diesem Projekt zeigt sich aber auch, dass immer wieder Fragen aufkommen: Sind solche Großprojekte überhaupt noch zeitgemäß? Lohnen sich solche Investitionen? Sollten wir im digitalen Zeitalter nicht andere Schwerpunkte setzen? Ich bin überzeugt: Wir brauchen leistungsfähige Infrastrukturen sowohl für Verkehrsverbindungen als auch – das steht nicht im Gegensatz zueinander, sondern das gehört zusammen – für Datenverbindungen. Gerade im Verkehrsbereich lassen sich ja viele Chancen der Digitalisierung erschließen. Umgekehrt bliebe moderne Mobilität auf der Strecke, wenn keine Datenübertragung mit Hochgeschwindigkeit möglich wäre. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass die Deutsche Bahn AG eine eigene Digitalisierungsstrategie entwickelt hat. Das Spektrum reicht vom kostenlosen Internetzugang für Fahrgäste über das Organisieren von Logistikprozessen bis hin zur Steuerung der Infrastruktur. Die Strecke, die wir jetzt eröffnen, ist komplett mit digitaler Leit- und Sicherungstechnik ausgestattet. Die digitale Welt und die Verkehrswelt wachsen immer mehr zusammen. Das ist auch mit Blick auf das vollautomatisierte und vernetzte Fahren offensichtlich. Als Bundesregierung unterstützen wir im Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur diesen Trend in den verschiedenen Mobilitätsbereichen in umfassendem Sinne. Das Digitale Testfeld Autobahn auf der A 9 ist in diesem Zusammenhang ein Beispiel für den Automobilbereich. Die Symbiose von Verkehr und Digitalisierung zeigt sich auch im Internethandel. Wir haben also verschiedenste Vernetzungen. Wir sind daher als Bundesregierung gut beraten, gleichermaßen sowohl in schnellere Datennetze als auch in eine bessere Verkehrsinfrastruktur zu investieren. Wir haben deshalb Ende Oktober eine Förderstrategie für den Breitbandausbau beschlossen und stellen hierfür 2,7 Milliarden Euro zur Verfügung. Wir spielen die Dinge also nicht gegeneinander aus, sondern erhöhen auch die Mittel für die Modernisierung und den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur – und zwar von rund zehn Milliarden Euro pro Jahr auf rund 14 Milliarden Euro pro Jahr bis 2018. Das ist also ein Plus von rund 40 Prozent. Das kommt auch Schienenstrecken wie dieser zugute, die es noch über Erfurt hinaus bis nach Nürnberg – Herr Grube hat davon gesprochen – zu verlängern gilt. Damit schließen wir dann die letzte Lücke im Verkehrsprojekt Deutsche Einheit 8. Ab 2017 soll die Fahrtdauer zwischen Berlin und München von einst sieben Stunden auf dann vier Stunden zusammengeschmolzen sein. Das ist für Fahrgäste unschlagbar. Und das ist auch für den Güterverkehr eine gute Nachricht. Wir gewinnen also eine attraktive Alternative zum Auto. Natürlich nehmen wir auch den Nahverkehr in den Blick. 2016 unterstützen wir die Länder mit acht Milliarden Euro. Allerdings sind hierzu noch ein paar Diskussionen zu führen. Aber wir wissen ja, dass sich die Länder gerne einigen. Wenn es darum geht, ein besseres Netz zu knüpfen, dann müssen wir auch über die nationalen Grenzen hinaus denken. Die technischen Standards von Schienenstrecken und Bahnfahrzeugen in Europa werden jetzt endlich harmonisiert. Das ist wichtig, wenn wir transeuropäische Netze auch wirklich voll nutzen wollen. Wir brauchen faire Wettbewerbsbedingungen beim Schienennetz. Diese sind in Europa noch immer nicht gewährleistet. Immerhin sind die Beratungen schon ein gutes Stück weitergekommen. Die Bundesregierung unterstützt diesen Prozess ganz besonders. Dass wir ein dichtes und belastbares Verkehrsnetz brauchen, ist unbestritten – zumal mit dem weltweiten Handel auch das Mobilitätsbedürfnis weiter wächst. Angesichts des Verkehrswachstums müssen wir aber auch an die Belastungen für Mensch, Natur und Tierwelt denken, die damit verbunden sind. In diesen Tagen geht die Klimakonferenz zu Ende. Wir sind als Weltgemeinschaft dazu aufgerufen, den globalen Temperaturanstieg unter zwei Grad zu halten, damit wir wenigstens die schlimmsten Folgen des Klimawandels vermeiden können. Natürlich muss auch der Verkehrssektor dazu einen Beitrag leisten. Energieeffiziente Fahrzeuge, alternative Antriebe und intelligente Verkehrsleitsysteme zeigen bereits, dass wir beides können: mobil sein und trotzdem CO2 einsparen. Auch im Schienenverkehr lassen sich Einsparpotentiale finden. Es gibt noch Luft nach oben – so energieeffizient, klimaschonend und umweltverträglich das Zugfahren auch heute schon vergleichsweise ist. Die Deutsche Bahn AG setzt zum Beispiel im Fernverkehr auf Strom aus erneuerbaren Energien. Auch für den Gütertransport gibt es bereits CO2-freie Angebote. Wenn das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit 8 abgeschlossen ist, dann lassen sich über diese Strecke jährlich zusätzlich rund fünf Millionen Tonnen Güter transportieren. Auch dies ist ein Beitrag dazu, die CO2-Bilanz zu verbessern. Zunehmender Verkehr kann auch mehr Lärmbelastung bedeuten – ich betone: kann, muss aber nicht. Umso wichtiger ist, dass wir uns das Ziel gesetzt haben, die Lärmbelastung an Bahnstrecken bis 2020 deutschlandweit zu halbieren. Das ist ein wirklich ehrgeiziges und für die Menschen sehr wichtiges Ziel. Das wollen wir zum Beispiel durch weitere Schallschutzwände oder durch die Förderung lärmarmer Bremstechnik und den Austausch alter Güterwaggons durch moderne, leisere Waggons erreichen. Je geringer der Lärmpegel ist, umso mehr Akzeptanz bekommt man für den Schienenverkehr – das ist ja selbstverständlich. Deshalb brauchen wir überall dort, wo wir neu investieren, ein durchdachtes Konzept; und zwar mit Blick auf neue Technologien wie auch auf optimale Streckenführungen. Ich glaube, auch hierbei setzt unser Verkehrsprojekt Deutsche Einheit 8 Maßstäbe. Meine Damen und Herren, mit der Fertigstellung des Projektabschnitts 8.2 ist uns ein Großteil der Infrastrukturverbesserung gelungen, die wir uns Anfang der 90er Jahre vorgenommen haben. Inzwischen sind rund 35 Milliarden Euro der vorgesehenen 40 Milliarden Euro in die 17 Verkehrsprojekte Deutsche Einheit geflossen – darunter neun Schienenprojekte. Die Gesamtbilanz nach 25 Jahren kann sich sehen lassen. Wir haben heute eine moderne gesamtdeutsche Infrastruktur. Es stellt sich nicht die Frage, ob man uns erreichen kann. Es stellt sich nur noch die Frage, ob man uns in den neuen Ländern erreichen will – aber dafür werben wir sehr stark. Ost und West, Nord und Süd sind stärker zusammengewachsen. Mehr noch, Deutschland ist die zentrale Drehscheibe im europäischen Verkehr. Das ist keineswegs selbstverständlich. Deshalb sind wir sehr zufrieden, dass sich unser Land zu dieser Drehscheibe entwickelt hat. Das entspricht auch unserer geografischen Lage. Ich will aber doch noch einmal daran erinnern, vor welcher Mammutaufgabe wir vor 25 Jahren standen. Es waren nicht wenige Straßen im Osten, die den zweifelhaften Ruf von Stoßdämpfer-Teststrecken hatten. Auch mit der Bahn stand es wahrlich nicht zum Besten. Ohnehin musste die damalige Deutsche Reichsbahn erst einmal in eine gesamtdeutsche Bahnstruktur integriert werden. Alles in allem haben wir etwas geschafft, das manchem am Anfang als kaum schaffbar zu sein schien. Ob Verkehrsinfrastruktur, Wirtschaftskraft, Umwelt- und Naturschutz oder Lebensverhältnisse insgesamt – ja, manchen Schwierigkeiten zum Trotz: 25 Jahre Deutsche Einheit sind eine Erfolgsgeschichte. Daraus können wir wieder Mut schöpfen, auch heutige Herausforderungen erfolgreich bewältigen zu können. An dieser Stelle möchte ich auch ein Dankeschön an die Deutsche Bahn AG richten, was den Transport der vielen, vielen Menschen, die vor Krieg und Terror geflohen sind, anbelangt. Die Deutsche Bahn AG hat hierbei eine unverzichtbare Rolle gespielt. Herzlichen Dank all denen, die daran mitgewirkt haben. Ich richte meinen Dank gleichermaßen an das Zugpersonal wie auch an diejenigen, die an der logistischen Vorbereitung mitgewirkt und hinter den Kulissen gearbeitet haben. Wir brauchen solches Engagement immer wieder. Es zeigt, was möglich ist, wenn viele helfende Hände zusammenwirken. Wir können großartige humanitäre Projekte genauso wie großartige infrastrukturelle Projekte bewältigen. Auch auf so ein Gemeinschaftswerk wie das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit 8.2 können alle Beteiligten stolz sein. Es gibt in der Geschichte immer wieder sehr weitsichtige Menschen. Als hätte Johann Wolfgang von Goethe schon gewusst, was wir zu schaffen imstande sind, hat er seine Zuversicht einst in folgende Worte gekleidet: „Mir ist nicht bange, dass Deutschland nicht eins werde; unsere guten Chausseen und künftige Eisenbahnen werden schon das Übrige tun“. – Es ist wahr geworden, was sich Goethe erträumt hat. Meine Damen und Herren, dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen – mit Ausnahme des Danks, den ich an alle richte, die dafür gesorgt haben, dass wir diese Bahnstrecke zwischen Halle/Leipzig und Erfurt nun in Betrieb nehmen können und dass, soweit ich das sehe, auch dieser Start gut geklappt hat. Nicht zuletzt wünsche ich allen Bahngästen, die auf dieser Strecke unterwegs sein werden, eine ebenso angenehme wie zügige und sichere Fahrt. Herzlichen Dank dafür, dass ich heute hier dabei sein konnte.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Verleihung der Kinoprogramm- und Verleiherpreise
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-bei-der-verleihung-der-kinoprogramm-und-verleiherpreise-436056
Wed, 02 Dec 2015 00:00:00 +0100
Im Wortlaut: Grütters
Dresden, Hellerau
Kulturstaatsministerin
Leidenschaft und Intrigen, Verbrechen und Versöhnung, Träume und Tränen – das ist der Stoff, aus dem viele Drehbücher gemacht sind. Phantasie, Zuversicht und Beharrlichkeit sind Eigenschaften, die Sie alle, liebe Kinobetreiber und Verleiher, besitzen und einsetzen für Ihre Arbeit im Geiste der Verbreitung von kulturell anspruchsvollen Filmen. Wir Zuschauer, vor allem die Cineasten unter uns, halten es dabei, wie es der wunderbare – und leider viel zu früh verstorbene – Filmkritiker Michael Althen einmal beschrieb: „Im Grunde nähern wir uns Filmbildern […] als seien sie eine Art Tankdeckel zu einer anderen Welt, der Dämpfe entsteigen, an denen wir uns berauschen können.“ Diese Dämpfe, die da aus den Lebens- und Liebesgeschichten, aus den Dramen und Dokumentarfilmen entsteigen, beflügeln unseren Geist, inspirieren unser Denken und halten unsere Kulturnation intellektuell in Bewegung. Als Michael Althen seine Hommage an das Kino „Warte, bis es dunkel wird“ verfasste, aus der ich gerade zitiert habe, konnte er noch nicht damit rechnen, dass wir heute, (nur) 13 Jahre später, Filme überall und zu jeder Zeit ansehen können – unabhängig von Sende- und Vorführzeiten im Fernsehen und Kino. Tablets und Smart-Phones ermöglichen den räumlich unabhängigen Filmkonsum „to go“. Doch wieviel von den „Dämpfen aus anderen Welten“ inhalieren wir dabei noch, wenn während des Films auf den kleinen Bildschirmen ein Facebook-Post aufpoppt, eine Terminerinnerung erscheint oder ein Anruf eingeht? Die Eindrücke des Films – die Bilder, Charaktere und Dialoge, auf die man sich einlassen muss, damit sie den Geist anregen – verflüchtigen sich dann allzu schnell; und ganz ohne Rausch stellt sich ein Katergefühl ein, weil Filme nicht gemacht sind für das allgegenwärtige Multitasking. Ein Film ist Genuss, man sollte ihm Zeit schenken und Hingabe. Auch deswegen braucht der Kinofilm die große Leinwand – nicht mehr, aber auch nicht weniger – denn nur im Kino kann er seine ganze Kraft, seine Magie und Faszination entfalten. Sie, liebe Programmkinobetreiber und Filmkunstverleiher, wissen das. Obwohl Sie sehr häufig ein innerlich zerrissenes Dasein führen – denn in Ihrem Metier ist nicht nur die Liebe zum Arthouse-Kino gefragt, sondern auch unternehmerischer Wagemut – setzen Sie doch all Ihre Begeisterung und Ihr Engagement dafür ein, einem kulturell interessierten und intellektuell anspruchsvollen Publikum diesen Filmgenuss zu ermöglichen. Sie tragen dazu bei, dass künstlerisch anspruchsvolle Filme aus Deutschland und Europa auf viele Leinwände in unserem Land projiziert werden und dass sich Filmtheater – die nicht selten schon aufgrund ihrer architektonischen Besonderheiten Meisterwerke sind – als wertvolle Kulturstätten etablieren können. Sie alle sind Überzeugungstäter und tragen maßgeblich dazu bei, dass der Film nicht nur als Wirtschaftsprodukt, sondern vor allem als Kulturgut eine Zukunft hat. Sie „brennen fürs Kino“ – um auf das schöne Motto der diesjährigen Preisverleihung anzuspielen -, genau wie ich; und mit den Kinoprogramm- und Verleiherpreisen möchte die Bundesregierung Ihren Einsatz für den anspruchsvollen Film würdigen. Um die Verleiher mit einem abwechslungsreichen Programm zu bestücken, das die Kinobetreiber dann abspielen können, bedarf es aber zu allererst einmal eines guten Films. Ein wichtiges Standbein für die Finanzierung von qualitativ hochwertigen Produktionen ist die kulturelle Filmförderung. Mein Ziel, den entsprechenden Titel im Haushalt 2016 zu erhöhen, habe ich dank der Entscheidung des Deutschen Bundestages erreicht: Im kommenden Jahr stehen zusätzlich 15 Millionen Euro für die kulturelle Filmförderung zur Verfügung – das Budget hat sich im Vergleich zu den bisher verfügbaren Mitteln mehr als verdoppelt. Wie Sie wissen, steht zurzeit auch die Novellierung des Filmförderungsgesetzes an. Die FFG-Novelle soll dazu beitragen, dass die Rahmenbedingungen unserer Film- und Kinolandschaft auch weiterhin so ausgestaltet sind, dass qualitätsvolle und erfolgreiche deutsche Filme entstehen können. Wir wollen, dass geförderte Filme optimal ausgewertet werden können – und zwar unabhängig von der Länge des Films. Daher sieht der Gesetzentwurf vor, dass künftig auch das Abspiel von Kurzfilmrollen im Kino förderfähig sein wird. An den Sperrfristen wollen wir weiterhin festhalten, denn nur im Kino bekommen Filme die Aufmerksamkeit, die ihnen gebührt. Damit Menschen in jeder Region Deutschlands in den Genuss von guten Filmen kommen, soll die Verleihförderung künftig an die Auflage gekoppelt sein, in angemessener Zahl Kopien an Kinos in der Fläche auszuliefern. Schließlich ist ein zentrales Ziel der FFG-Novelle, ein hohes Abgabe-Niveau zu sichern. Wir beabsichtigen, neue Abgabezahler heranzuziehen und insbesondere die Abgabe der öffentlich-rechtlichen Sender angemessen zu erhöhen. Der Abgabesatz für die Kinos soll bis 2021 unverändert bleiben, weil wir wissen, dass auf die Kinos auch in den nächsten Jahren große Herausforderungen zukommen. Meine Damen und Herren, heute aber zeichnen wir 198 herausragende Kinoprogramme von Filmtheatern in ganz Deutschland aus. Prämiert werden die Kinos für ihr allgemeines Programm, aber auch für besondere Filmangebote für Kinder und Jugendliche oder Kurzfilm- und Dokumentarfilmprogramme. Die Preisgelder ergeben eine Gesamtsumme von 1,5 Millionen Euro. Darüber hinaus werden drei Verleihfirmen, die sich um die Verbreitung künstlerisch wertvoller Filme verdient gemacht haben, eine Auszeichnung in Höhe von jeweils 75.000 Euro erhalten. Aber was wäre eine Preisverleihung ohne die Menschen, die ehrenamtlich viel Zeit damit verbringen, um die Anträge fachkundig zu beurteilen und die Veranstaltung vorzubereiten? Bevor wir also die Preisträger des Jahres 2015 küren, verdienen all diejenigen einen Applaus, die dem Anlass einen würdigen Rahmen gegeben und uns diesen wunderbaren Abend beschert haben! Vor allem gilt mein Dank den Jury-Mitgliedern der beiden Preise. Unter Ihrem Vorsitz, liebe Margarete Papenhoff, hat die Jury der Kinoprogrammpreise aus fast 300 Bewerbungen die diesjährigen Preisträgerinnen und Preisträger ausgewählt. Kaum vorstellbar, wie viele Filmrollen in der Zeit, in der Sie die Anträge begutachtet haben, hätten abgespielt werden können. Aber auch die Verleiher haben es Ihnen nicht leicht gemacht, liebe Andrea Dittgen. Unter Ihrem Vorsitz hat die Jury der Verleiherpreise 24 eingereichte Jahresprogramme gesichtet und beurteilt. Herzlichen Dank, dass Sie alle diese mühevolle Aufgabe auch in diesem Jahr wieder mit viel Elan und Professionalität bewältigt haben. Nicht zuletzt verdienen auch unsere heutigen Gastgeber, die Spitzenpreisträger aus dem vergangenen Jahr, Jana Engelmann und Sven Weser, ein herzliches Dankeschön. Sie sind mit Ihrem „Programmkino Ost“ in Dresden für ein feinsinniges Programm aus anspruchsvollen europäischen Filmproduktionen und internationalem Autoren-Kino bekannt. Seit dem Umbau des Kinos vor sechs Jahren haben sich die Besucherzahlen vervielfacht. Es gibt kaum ein deutlicheres Zeichen dafür, dass sich die Dresdnerinnen und Dresdner nach einem bunten kulturellen Angebot sehnen und besondere Veranstaltungen, wie Ihre „Französischen Filmtage“ oder das „Frühstyxkino“, lieben. Die Menschen, die jeden Montag durch die Sächsische Landeshauptstadt marschieren und die Werte der Kultur, die sie zu verteidigen vorgeben, durch ihre Fremdenfeindlichkeit mit Füßen treten, versuchen ein anderes Bild Ihrer Stadt zu vermitteln. Doch eine Gesellschaft, die mit ihren Werten und kulturellen Eigenheiten ihre eigene Identität pflegt, kann auch dem Anderen, dem Fremden Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen. Der Film trägt in besonderem Maße zu dieser Identitätsstiftung bei, weil er das Denken und Fühlen einer Nation im wahrsten Sinne des Wortes „sichtbar“ machen kann. Sie und Ihr Publikum im „Programmkino Ost“ – und auch die anderen Dresdner Kinos – zeigen, dass Dresden eine Stadt ist, die sich nicht abschotten will in Angst und Vorurteilen, sondern deren Bürgerinnen und Bürger den „Tankdeckel zu neuen Welten“ öffnen möchten, um sich von Phantasie und Kreativität inspirieren zu lassen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen unterhaltsamen und anregenden Abend, ein rauschendes Fest – und vor allem noch viele berauschende Filmmomente in den ausgezeichneten Kinos unseres Landes.
Kulturstaatsministerin Grütters hat in Dresden fast 200 Kinos für ihr herausragendes Programm ausgezeichnet. Preise gab es außerdem für drei Verleihfirmen. „Sie alle sind Überzeugungstäter und tragen maßgeblich dazu bei, dass der Film nicht nur als Wirtschaftsprodukt, sondern vor allem als Kulturgut eine Zukunft hat“, sagte Grütters.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Veranstaltung „60 Jahre Gastarbeiter in Deutschland“ am 7. Dezember 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-veranstaltung-60-jahre-gastarbeiter-in-deutschland-am-7-dezember-2015-440680
Mon, 07 Dec 2015 11:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrte Frau Staatsministerin, sehr geehrte Frau Garavini und vor allen Dingen Sie, die Gästeschar heute, die – wie man damals sagte – Gastarbeiter, die Vertreter der ersten Generation sowie der zweiten, dritten und wahrscheinlich auch vierten Generation, ich heiße Sie ganz herzlich willkommen. Mir war es in der Tat ein Anliegen, heute anlässlich dieses Jubiläums wenigstens ein kurzes Grußwort zu sprechen. Sie sehen schon am Tausch der Rednerreihenfolge, dass Frau Garavini mich vorgelassen hat, weil ich gleich wieder gehen muss. Aber ich heiße Sie ganz herzlich hier im Bundeskanzleramt willkommen. Wir sind seit dem ersten Anwerbeabkommen 60 Jahre weiter. Man könnte vielleicht aus der Perspektive von manch einem von Ihnen sagen: Kinder, wie die Zeit vergeht. Manches vergeht ja wie im Fluge. Ich möchte nicht nur den Blick auf diejenigen richten, die damals in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind, sondern auch auf diejenigen, die in der ehemaligen DDR angeworben wurden. Ich erinnere mich persönlich noch sehr gut daran, dass die Angeworbenen insbesondere aus Vietnam, Mosambik und Angola extrem schwierige Lebensbedingungen hatten. Es gab Beschränkungen der Bewegungsfreiheit und vieles andere mehr. Aber auch der Start für diejenigen, die in die alte Bundesrepublik Deutschland gekommen waren, war ja alles andere als einfach. Mir ist eben durch den Kopf gegangen, dass man heute in Gesprächen mit Vertretern der deutschen Wirtschaft merkt, dass es eine gewisse Erwartungshaltung gibt, was ankommende Flüchtlinge schon können müssten. Ihnen hingegen hatte man damals ein Buch mit dem Titel „Deutsch für Fremde“ in die Hand gedrückt und gesagt: So, das wird schon irgendwie gehen. Nun weiß ich, dass sich die Arbeitsverhältnisse fortentwickelt haben, dass sicherlich die Tätigkeiten heute zum Teil viel technisierter geworden sind. Ich will aber noch einmal das sagen, was auch Frau Özoğuz gesagt hat: Wenn man bedenkt, dass Sie einfach in kaltes Wasser geworfen wurden, dass Sie arbeiten und sich bewähren mussten, dass Sie mit völlig neuen Kollegen zu tun hatten, dass Sie zum großen Teil noch ohne Familie in ziemlich spartanischen Unterkünften gelebt und wohl vor allem am Wochenende immer wieder an die Heimat gedacht haben, dann kann man auch erahnen, was Sie damals geleistet und auf sich genommen haben. Sie haben Deutschland mit seinem Wirtschaftswunder, von dem wir heute sprechen, geholfen und daran mitgearbeitet. Mit den Lohnabzügen, die Sie auf Ihren Lohnabrechnungen gesehen haben, haben Sie soziale Leistungen mitfinanziert. Diese haben Sie sich genauso wie jeder verdient, der hier in Deutschland geboren wurde. Ein herzliches Dankeschön für all das, was Sie für unser Land getan haben. Ich weiß nicht – ich habe ja an den Diskussionen nicht so intensiv teilgenommen; Rita Süssmuth könnte mir das aus der Perspektive einer aufgeklärten CDU-Frau noch einmal in allen Einzelheiten erklären –, wann das Dämmern begann und das Wort „Gastarbeiter“ in seinen verschiedenen Zusammensetzungen ins Wanken geriet; zuerst – die Ölkrise ist hier erwähnt worden – aufgrund der Tatsache, dass Arbeitslosigkeit dazukam, dass ein unglaublicher Strukturwandel einsetzte, dass Fähigkeiten, die in den 50er und 60er Jahren gefragt waren, in den 70er Jahren nicht mehr so gefragt waren. Manch einer hat diesen Übergang nicht geschafft, andere haben ihn geschafft. Ich will an dieser Stelle noch einmal den Gewerkschaften ein herzliches Dankeschön sagen. Ich weiß, dass Gewerkschaften im Grunde die ersten waren, die mit der Integration in die Unternehmen auch die Selbstbehauptung, die Gleichberechtigung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Gastländern gefördert haben, dass sie sich darum gekümmert haben, dass sie Teil der Betriebsräte werden konnten, dass ihre Anliegen vertreten wurden. Damit ist ein erster großer Integrationsschritt geschehen. Ich erinnere mich daran, als wir schon einmal Gastarbeiter der ersten Stunde eingeladen hatten, dass Herr Hambrecht, der damals noch BASF-Chef war, und ein italienischer Gastarbeiter davon erzählten, wie Herr Hambrecht ein bisschen Italienisch gelernt hat und im Gegenzug der Arbeitnehmer Deutsch gelernt hat. Man hat sich also auch gegenseitig geholfen, man hat viele Brücken gebaut. Deshalb muss man auch den deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den Betrieben von damals ein Dankeschön sagen, die sich aufgeschlossen zeigten. Aus dem Gastarbeiter ist irgendwann ein ganz normaler Bürger geworden – manche mit Übernahme der Staatsbürgerschaft, andere, indem sie ihre alte Staatsbürgerschaft beibehalten haben und trotzdem ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland gesucht haben. Wir als diejenigen, die in Deutschland geboren sind, können uns gar nicht so richtig vorstellen, wie es ist, wenn man noch nicht ganz zu dem einen Land gehört und immer wieder komisch angeschaut wird und wenn man aber auch in dem anderen Land nicht mehr so angesehen wird, als ob man von dort wäre – wenn also schon ein Stück weit Entfremdung gewachsen ist. Auch wenn es die eigenen Wurzeln sind, fragen trotzdem die Leute: Bist du jetzt noch zu hundert Prozent jemand von uns? Das auszuhalten, so zu leben und sich als Mensch und Familie doch wohlzufühlen, ist, glaube ich, eine große Herausforderung. Der Film mit dem Titel „Almanya“ zeigt das auf eine witzige Art und Weise. Aber wir machen uns darüber oft gar keine Gedanken. Eines muss ich ehrlich sagen: Als ich mit dem damaligen türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdoğan auf der Hannover Messe war und uns ein Projekt eines gemeinsam entwickelten deutsch-türkischen Traktors erklärt wurde, wobei es geradezu einen Lärm der Begeisterung gab – „Jetzt müssen Sie sich das einmal anschauen; wir haben 15 Jahre daran gearbeitet“ –, habe ich gedacht: Oh je, oh je, was machen wir eigentlich mit den ehemaligen und heutigen Arbeitern, unseren Mitbürgern, den damaligen Gastarbeitern? Wie müssen sie sich manchmal fühlen, wenn wir immer streng schauen, wenn es einfach ein bisschen lauter zugeht, weil sie ein bisschen emotionaler sein wollen, sie sich aber denken: Ach Gott, die Deutschen; jetzt sind sie schon wieder in Habachtstellung. Ich habe gerade mit Frau Özoğuz darüber gesprochen. Ich glaube, wir haben von Gastarbeitern ein wenig übernommen, dass man in Restaurants auch draußen sitzt, dass man ein bisschen lockerer an die Dinge herangeht, dass man offener sein kann und dass nicht mehr alles so sehr genormt ist. Das hat den Deutschen auch ganz gutgetan und sie haben mitgemacht. Ganz so emotional – insbesondere, wenn man aus dem Norden kommt – sind wir vielleicht immer noch nicht, aber es wird besser. Wir haben also doch gewisse Inspirationen angenommen. Eines ist klar: Das, was damals die Triebfeder für Ihr Kommen war, war die Arbeit. Das ist auch heute die beste Integrationsform, die man sich denken kann. Da, wo große Arbeitslosigkeit herrscht – wenn ich zum Beispiel an Berlin denke, wo man über mehrere Generationen nicht aus der Arbeitslosigkeit herausgekommen ist, wo es einen Strukturwandel gegeben hat, aber ohne dass Arbeitsmöglichkeiten so nachgewachsen sind, wie man sich das wünschen würde –, ist Integration natürlich extrem schwer. Natürlich müssen wir auch über die Fragen sprechen, wie viel die Frauen tun dürfen, wenn sie nicht gerade Arbeitnehmerinnen sind, und wie viele Parallelgesellschaften es an manchen Stellen noch gibt. Es gibt zwar schon seit langem Integrationskurse. Aber ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich einmal ein Integrationsprojekt in Hamburg besucht habe, dass ich damals mit Frauen vermutlich der zweiten Generation gesprochen und gesagt habe: Laden Sie doch einmal Kollegen Ihrer Männer ein, wenn Sie jetzt die Kinder erziehen und den Spracherwerb nicht fortentwickeln können, nachdem Sie den Integrationskurs absolviert haben. Dann sagten sie: Ja, aber die Kollegen unserer Männer sind auch alles Leute, die aus anderen Ländern kommen. Es ist gar nicht so einfach, in die deutsche Gesellschaft hineinzuwachsen. Manchen ist es super gelungen, bei anderen ist es nach wie vor schwierig. Wir müssen offen sein und müssen wirklich darüber sprechen. Ich habe am EU-Projekttag in diesem Jahr eine Schule in Neukölln besucht. Dort bestehen die Klassen zu 90, 95 Prozent aus Kindern mit Migrationshintergrund. Wir haben unter anderem darüber geredet, ob man einen Austausch mit einer Schule in Marzahn oder in Dahlem machen könnte, damit man sich gegenseitig ein bisschen besser kennenlernt. Zum Schluss sagte ein deutsches Mädchen, deren Eltern und Großeltern schon in Deutschland waren, dass man über sie hier gar nicht gesprochen habe; sie habe es manchmal auch nicht einfach. Das muss man auch sagen. So, wie über das Essen oder dieses und jenes im Zusammenhang mit türkischen oder italienischen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen gesprochen wurde, sagte sie, so ginge es auch ihr. Sie würde immer „Kartoffel“ genannt werden. Das fand sie nicht so schön, zumal sie gar nicht gerne Kartoffeln isst. So etwas gibt es also auch. Wir haben durchaus dazugelernt. Es gibt Integrationskurse, die ich für absolut wichtig halte. Es gibt mehr Offenheit. Wir haben auch in der Koalitionsvereinbarung – das ist CDU und CSU sehr schwer gefallen – für die Jüngeren die doppelte Staatsbürgerschaft anerkannt. Wir haben uns hierbei schwerer getan als andere, aber für manches ist eine Große Koalition auch gut. Und Sie werden heute in das Kanzleramt eingeladen. Als ich Bundeskanzlerin wurde, habe ich mir überlegt, dass es nicht schlecht wäre, wenn man die Frage der Integration im Familienministerium ansiedeln würde. Aber eigentlich betrifft das Thema Integration so viele Gebiete, dass es doch nicht schlecht wäre, eine Staatsministerin im Kanzleramt zu haben. Daran hatte damals noch keiner gedacht. Franz Müntefering, der in der damaligen Großen Koalition für die SPD die Ordnung herstellte, sagte: Ja, keine schlechte Idee; machen Sie mal. Dann hat sich das entwickelt. Frau Böhmer hat das Amt für viele Jahre übernommen. Im Rahmen der jüngsten Regierungsbildung hat Herr Gabriel gesagt: Jetzt wollen wir dort aber Frau Özoğuz platzieren. Nachdem sich am Anfang überhaupt keiner darum gekümmert hat, ob eine Staatsministerin im Kanzleramt etwas Gutes ist, gab es in dieser Koalition einen richtigen Kampf darum. Und die CDU war richtig traurig, dass sie das Amt der Staatsministerin nicht wieder besetzen durfte und dass Frau Özoğuz Staatsministerin geworden ist. Aber wir haben uns vorgenommen, dass wir uns um des Themas willen gut vertragen. So haben wir bei den Integrationstreffen zum Beispiel die Themen Ausbildung und Gesundheit bearbeitet. Ich möchte mich bei den vielen, die in Migrantenorganisationen mitarbeiten, ganz herzlich für das bedanken, was sie einbringen und an ehrenamtlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit leisten. Ich möchte denen danken, die Unternehmerinnen und Unternehmer geworden sind und Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. Ich möchte sagen: Tun Sie das weiter. Sie sind herzlich willkommen. Manchmal bin ich ein bisschen traurig darüber, warum immer wieder parallele Organisationen entstehen, so zum Beispiel ein türkischer Unternehmerverband. Dann frage ich: Warum kommt ihr nicht in den BDI? Dann wird mir gesagt: Tja, wir müssen erst einmal noch ein bisschen stärker werden; und dann werden wir vielleicht auch einmal mit anderen zusammengehen. Ich möchte Ihnen sagen: Seien Sie selbstbewusst. Sie haben allen Grund dazu. Lassen Sie sich nicht unterbuttern. Auch andere kochen nur mit Wasser. Sie sind hier herzlich willkommen und sind Teil von uns. Niemand muss seine Wurzeln in irgendeiner Art und Weise vergessen – im Gegenteil. Viele von Ihnen haben ja Erfahrungen, die wir gar nicht einbringen können. In zwei Ländern ein bisschen zu Hause zu sein – bei uns hoffentlich ganz, aber in einem anderen Land auch noch –, ist doch ein unheimliches Plus. Denn wenn wir heute über die Welt reden, dann spüren wir doch alle, wie sie zusammenwächst. Dann spüren wir doch, dass man kaum mehr damit auskommt, sich nur in einem Land auszukennen, sondern dass man sich in Europa auskennen muss und dass man sich auch in der Welt auskennen sollte. Wir müssen auch als diejenigen, deren Familien schon seit Jahrhunderten in Deutschland leben, lernen, dass Offenheit und Neugierde auf andere Kulturen uns doch nichts wegnehmen, sondern bereichern. Wenn man einmal wieder in die Bibel schauen muss, weil man mit jemandem über den Koran spricht, dann ist das auch kein Fehler. Denn so bibelfest sind viele Deutsche auch nicht mehr, wie sie manchmal tun. Das heißt also, wir müssen Integration als Bereicherung sehen, die aber die Offenheit unserer Gesellschaft, in die man kommt, ebenso erfordert wie die Offenheit derer, die zu uns kommen. Aufeinander zugehen – das wünsche ich mir noch mehr in den nächsten 60 Jahren. In diesem Sinne sage ich noch einmal: Herzlichen Dank. Haben Sie heute hier noch eine schöne Zeit mit Comedy, Sketchen, Musik und mit vielen guten Diskussionen. Alles Gute. Und noch einmal: Herzlich willkommen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Verleihung des Abraham-Geiger-Preises am 2. Dezember 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-verleihung-des-abraham-geiger-preises-am-2-dezember-2015-435648
Wed, 02 Dec 2015 18:40:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Professor Schäfer, sehr geehrter Herr Schuster, Herr Rabbiner Jacob, Herr Rabbiner Homolka, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Parlament, meine Damen und Herren und natürlich auch Sie, sehr geehrter Herr Professor Casanova, ich habe eben schon gesagt: ich möchte Ihre Rede sehr gerne schriftlich haben, damit ich sie noch einmal studieren kann. Ich möchte mich sehr herzlich für Ihre freundlichen Worte und für Ihre eben auch sehr spannende Analyse zur Rolle der Religionen in freiheitlichen, demokratischen Gesellschaften bedanken. Ich bin mir sehr sicher, dass diese Analyse voll gewinnbringender Denkanstöße für viele ist. Ganz herzlich möchte ich auch den Studierenden für ihre persönlichen Worte danken, die mich sehr bewegt haben, weil sie an einzelnen Beispielen gezeigt haben, was Sie denken und wie Sie sich einbringen möchten. Dafür ganz herzlichen Dank. Natürlich möchte ich mich beim Abraham Geiger Kolleg dafür bedanken, dass es mir den Abraham-Geiger-Preis verleiht. Ich empfinde diese Auszeichnung als eine große Ehre – für mich persönlich und gleichsam stellvertretend für unser Land. Die heutige Veranstaltung führt uns einmal mehr vor Augen, welch großes Geschenk es ist, dass es wieder ein vielfältiges und reiches jüdisches Leben in Deutschland gibt. Eigentlich ist es ein Wunder. Dessen bin ich mir gerade in diesem Jahr bewusst, in dem wir das 70. Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und nach dem Ende des Zivilisationsbruchs der Shoah begehen. 70 Jahre sind in der Geschichte keine lange Zeit, wie wir auch in dem Vortrag von Herrn Professor Casanova hören konnten. Dass Juden heute in Deutschland wieder eine Heimat gefunden haben, dass sie in diesem Land eine Zukunft sehen – das ist und bleibt alles andere als selbstverständlich. Es ist und bleibt ein einzigartiger Vertrauensbeweis in die freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Landes, wie sie in unserem Grundgesetz niedergelegt ist. Mit den darin festgeschriebenen Aussagen zur Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen, zur Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, zur Freiheit des Glaubens und des Gewissens war das Grundgesetz die Antwort auf die Unmenschlichkeit Deutschlands in der Zeit des Nationalsozialismus. Damit konnte das Fundament für ein friedliebendes und menschliches Deutschland gelegt werden. Damit konnte ein Neubeginn möglich werden – ein Neubeginn stets im Bewusstsein der immerwährenden Verantwortung Deutschlands für die Schrecken der Vergangenheit. Das Grundgesetz hat von Beginn an identitätsstiftend und integrierend wirken können – im Nachkriegsdeutschland ebenso wie 1990 im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands. Das Grundgesetz hat Deutschland zu einem Land der Freiheit gemacht. Es war das Fundament zur Bewältigung aller Herausforderungen, die unser Land seit 1949 zu meistern hatte. Und es ist das Fundament, um auch die Herausforderungen bewältigen zu können, die sich uns aktuell stellen. Das sind vorneweg die vielen, vielen Menschen, die derzeit zu uns kommen, um bei uns Zuflucht vor Krieg und Terror zu finden. Diese Herausforderung ist ganz ohne Zweifel eine Bewährungsprobe. Es ist eine Bewährungsprobe für unser Land – Herr Ministerpräsident, wir haben im Bund, in den Ländern und Kommunen oft darüber gesprochen –, eine Bewährungsprobe für Europa, eine Bewährungsprobe für die internationale Gemeinschaft. Wie stellen wir uns dieser Bewährungsprobe – national, europäisch und global? Wie schaffen wir es, die Menschen, die keine Bleibeperspektive haben, schnell wieder in ihre Heimat zurückzuführen? Wie schaffen wir es, denen schnell und umfassend zu helfen, die tatsächlich unseren Schutz brauchen? Wie schaffen wir es, diejenigen erfolgreich in unsere Gesellschaft zu integrieren, die auf Dauer bei uns bleiben werden? Und wie schaffen wir es, die Fluchtursachen so zu bekämpfen, dass immer weniger Menschen ihren letzten Ausweg in einer nicht selten lebensgefährlichen Flucht sehen? Viele Aufgaben werden wir nur gesamteuropäisch und international lösen können: die Sicherung der europäischen Außengrenzen, die Verteilung von Flüchtlingen in Europa, die Verbesserung der humanitären Lage in den Flüchtlingslagern in Jordanien, im Libanon und auch im Irak sowie der Situation der Flüchtlinge in der Türkei, die Möglichkeit legaler Migration statt illegaler Migration, die Bekämpfung der Fluchtursachen in den jeweiligen Heimatländern, vorneweg in Syrien und im Irak. All das sind äußerst wichtige Aufgaben. Sie sollen heute Abend aber nicht im Mittelpunkt meiner Gedanken stehen. Vielmehr möchte ich mit Ihnen darüber nachdenken, welche Herausforderungen sich in diesem Kontext für das Zusammenleben bei uns in unserem Land stellen; nicht logistisch – das schafft ein so starkes Land wie Deutschland, wenn es weiter alle Kräfte bündelt –, sondern mit Blick auf unsere Identität und unser Selbstverständnis als Staat und Gesellschaft. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – mit diesen Worten beginnt unser Grundgesetz. Sie sind dessen oberstes Gebot. Die Würde des Menschen ist moralische Grundorientierung aller weiteren Grundrechte. Sie steht im Mittelpunkt allen staatlichen Handelns. Daraus erwächst die Verantwortung, die Würde des einzelnen Menschen und seine Freiheit zu schützen. Konkret führt das zum Beispiel zu unserem Verständnis, dass nicht anonyme Menschenmassen zu uns kommen, sondern Individuen. Es führt dazu, dass jeder, der zu uns kommt, das Recht hat, menschenwürdig behandelt zu werden – und zwar unabhängig davon, ob er unser Land wieder verlassen muss, weil er keine Bleibeperspektive hat, oder ob er schutzbedürftig ist und hier Aufnahme finden kann. Das Grundgesetz und die Genfer Flüchtlingskonvention treffen klare Aussagen, wer ein Recht auf Schutz hat. Dieses Recht, als politisch Verfolgter oder Bür-gerkriegsflüchtling Schutz zu finden, unterscheidet nicht zwischen Christen, Muslimen, Juden, Buddhisten, Andersgläubigen oder Nichtgläubigen. Es unterscheidet nicht zwischen gut und weniger gut Ausgebildeten, zwischen Begüterten und Mittellosen. Es sieht den einzelnen Menschen; und es sieht sein individuelles Schicksal. Während ich das sage, weiß ich sehr wohl, dass uns die Aufnahme und die Integration so vieler Menschen ohne Zweifel vor große Aufgaben stellen. Es ist und bleibt deshalb gar nicht hoch genug zu schätzen, welches Gesicht unser Land seit vielen, vielen Wochen zeigt. So viele Menschen engagieren sich – Ehrenamtliche wie Hauptamtliche. So viele Menschen helfen und wachsen über sich hinaus, lassen sich auch von Widrigkeiten und – ja, auch das – von Pöbeleien und Angriffen nicht entmutigen. Überall in unserem Land erlebe ich eine überwältigende Hilfsbereitschaft. Und dafür bin ich von Herzen dankbar. Ich danke auch der jüdischen Gemeinschaft, deren Unterstützung so vielfältig, so großartig ist. Ich weiß, dass Sie die Größe der Herausforderung besonders gut ermessen können, denn Sie haben in den vergangenen 25 Jahren viele Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion aufgenommen und integriert. Ebenso weiß ich aus Briefen und Gesprächen – auch mit Ihnen, lieber Herr Schuster –, dass die vielen zu uns kommenden Menschen Sie auch fragen lassen: Sind wir dieser Herausforderung tatsächlich gewachsen – nicht nur bezogen auf akute Nothilfe, sondern auch dauerhaft? Wie werden sich die Menschen bei uns zurechtfinden, die aus völlig anderen Kulturkreisen als dem unseren kommen? Werden wir die Integration so vieler Menschen so schaffen können, dass dies das Wort Integration auch wirklich verdient? Wird sich unser Land verändern und – viel wichtiger noch – wie wird es sich verändern? Um es gleich zu sagen: Alle diese Fragen sind berechtigt. Und: Ja, unser Land wird sich verändern. Ich halte Veränderung im Übrigen zunächst einmal für etwas Selbstverständliches, eigentlich sogar etwas Notwendiges. Wir Menschen brauchen Veränderung, wenn wir nicht stehenbleiben, sondern uns weiterentwickeln wollen. Aber wie sich unser Land verändern wird, ob wir das überwinden können, was uns hindert, die globalen Herausforderungen unseres 21. Jahrhunderts erfolgreich zu bewältigen, und das bewahren, was uns in Jahrzehnten stark gemacht hat – das ist die eigentlich entscheidende Frage. Ich mache mir überhaupt keine Illusionen: Integration geschieht nicht über Nacht. Integration braucht Zeit und Geduld. Integration ist angewiesen auf die Offenheit derer, die schon hier leben, und Integration ist angewiesen auf die Bereitschaft derer, die zu uns kommen, unsere Art zu leben, unser Recht, unsere Kultur zu achten und unsere Sprache zu lernen. Konstitutiv für uns sind unsere Verfassungsordnung und die Regeln unseres Zusammenlebens. Das heißt, Menschen, woher auch immer sie kommen, müssen unsere Gesetze und unsere Verfassungsordnung anerkennen – unseren Rechtsstaat, die Religionsfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Absage an jede Form von Diskriminierung homosexueller Menschen, die Absage an jede Form von Antisemitismus. Deshalb will ich an dieser Stelle auch ausdrücklich sagen: Wir brauchen wahrlich nicht immer einig darin sein, welche konkreten Maßnahmen wir für unser Handeln auch in der aktuellen Flüchtlingsfrage als notwendig und richtig erachten und welche nicht. Aber ich werde es immer ernst nehmen, wenn Sie Ihre Sorgen vor Antisemitismus zum Ausdruck bringen – auch die, die Sie in diesen Wochen mit Blick auf die vielen Menschen aus Ländern äußern, in denen Antisemitismus und Hass auf Israel Teil des öffentlichen Lebens sind und von Kindesbeinen an vermittelt werden. Noch einmal: Es kommen Menschen mit jeweils individuellen Schicksalen und Lebensgeschichten. Darin liegt für unser Land – allen möglichen kulturellen Prägungen in anderen Erdteilen zum Trotz – eine große Chance; und zwar dann, wenn wir vermitteln, was wir mit Integration meinen: nicht das Vergessen eigener Wurzeln, sondern das Leben eigener Wurzeln auf der Grundlage und im Rahmen unserer Werte und unserer Gesellschaftsordnung, zu der der kompromisslose Kampf gegen jede Form von Antisemitismus zwingend dazugehört. Das gilt auch mit Blick auf die einzigartigen Beziehungen Deutschlands mit Israel. In diesem Jahr feiern wir 50 Jahre diplomatische Beziehungen unserer beiden Länder. Heute bestehen eine enge wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit, ein intensiver Jugendaustausch und eine Vielzahl von Partnerschaften zwischen Städten und Gemeinden. Hier in Berlin leben heute ungefähr 20.000 Israelis, darunter viele junge Menschen, und bereichern unsere Gesellschaft. Leider erleben wir aber auch immer wieder, wie antisemitische Äußerungen und Übergriffe unter dem Deckmantel vermeintlicher Kritik an der Politik des Staates Israel daherkommen, tatsächlich aber nichts anderes sind als Hass auf Juden. Wir brauchen nur an die Ausschreitungen bei den propalästinensischen Demonstrationen im Sommer des letzten Jahres zu denken. Der Kampf gegen Antisemitismus ist unsere staatliche und bürgerschaftliche Pflicht. Antisemitische Straftaten werden konsequent mit allen rechtsstaatlichen Mitteln verfolgt. Jenseits dessen braucht es Begegnung und Dialog, damit das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen auch wirklich gelingt. Begegnung und Dialog sind wesentliche Voraussetzungen für Toleranz. Abraham Geiger, an den wir heute mit diesem Preis erinnern, war ein Wegbereiter des Dialogs. Er hat den Blick für die Verwandtschaft der drei großen monotheistischen Religionen geöffnet. Besonders mit seinen Forschungen über den Islam hat er zu einer neuen, vorurteilsfreien Sicht beigetragen. Er hat zeitlebens dafür geworben, dass Religion auf Reflexion angewiesen ist. „Durch Wissen zum Glauben“ – das war sein Credo, das heute noch Leitwort des Abraham Geiger Kollegs ist. Damit hat er wegweisende Impulse gesetzt. Dazu gehört, dass wir uns unserer Gemeinsamkeiten versichern, ohne die Unterschiede zu übersehen. Dazu gehört auch die Bedeutung von Bildung und Wissenschaft für die Verständigung der Religionen. Denn durch das Verstehen der eigenen religiös-kulturellen Wurzeln wird das Verstehen einer anderen Religion erst möglich. Daran müssen wir uns vermehrt erinnern. Religiöse Bildung fördert Toleranz und schützt davor, die eigenen Überzeugungen absolut zu setzen. Sie schafft damit Voraussetzungen für Dialog. Der Bedarf dafür ist groß. Wir brauchen Orte für die Bildung von Identität, für die Vermittlung und Weitergabe fundierten Wissens, für die Forschung. In einem Wort: Wir brauchen Orte wie das Jüdische Museum oder das Abraham Geiger Kolleg. Besonders freue ich mich, dass neben der christlichen Theologie nun auch die jüdische und die islamische Theologie ihren gleichberechtigten Platz an deutschen Universitäten finden. Und ich freue mich, dass es so viele positive Dialoginitiativen gibt, die dazu beitragen können, Vorurteile abzubauen, Differenzen anzuerkennen und Wertschätzung füreinander zu entwickeln. Eine dieser Initiativen ist das Programm mit der Überschrift „Dialogperspektiven. Religionen und Weltanschauungen im Gespräch“ des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks, dem ich das mit dem Abraham-Geiger-Preis verbundene Preisgeld zur Verfügung stellen möchte. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir mit der Verleihung des Abraham-Geiger-Preises entgegenbringen. Die heutige Auszeichnung ist Ansporn und Verpflichtung zugleich, mich gemeinsam mit Ihnen und vielen anderen auch weiterhin für ein gedeihliches Miteinander in unserem Land einzusetzen, damit wir es im 21. Jahrhundert schaffen, im harten globalen Wettbewerb unsere Werte und Interessen zu behaupten. Wir haben – davon bin ich überzeugt – alle Voraussetzungen dafür. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters auf der Konferenz „Die Zukunft des Urheberrechts – 50 Jahre Urheberrecht in Deutschland“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-auf-der-konferenz-die-zukunft-des-urheberrechts-50-jahre-urheberrecht-in-deutschland–752420
Wed, 02 Dec 2015 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Es ist nicht ohne urheberrechtliches Risiko, am zweiten Konferenztag einer hochkarätig besetzten Tagung als dritte Rednerin ans Rednerpult zu treten: Schließlich ist – Karl Valentin lässt grüßen – oft schon alles gesagt, nur noch nicht von jedem, wenn Diskussionsveranstaltungen längere Zeit beim selben Thema verweilen. So gesehen ist es geradezu beruhigend, dass rhetorische Plagiate heute schon deshalb nicht zu befürchten sind, weil die mit Leidenschaft – und bisweilen auch mit Leidensdruck – geführte Debatte um die Zukunft des Urheberrechts im digitalen Zeitalter zweifellos mehr als genügend Stoff für zwei Konferenztage, drei Keynotes und unzählige Kontroversen liefert. Davon kann das Urheberrecht der Zukunft nur profitieren, und deshalb bin ich der Initiative Urheberrecht und ihren Kooperationspartnern sehr dankbar dafür, dass sie – nicht nur heute, und nicht nur mit dieser Konferenz – die sachlich fundierte Auseinandersetzung mit diesem kulturpolitisch wie wirtschaftspolitisch wichtigen Thema fördert. Vielen Dank für die Einladung, lieber Herr Prof. Pfennig! Ich nutze die Gelegenheit gerne, um zunächst einige grundsätzliche Aspekte zur Sprache zu bringen und im Lichte dieser Überlegungen zum Wert des Urheber-rechts für eine demokratische Gesellschaft einige aus kulturpolitischer Sicht sinnvolle Entwicklungen bei der Anpassung des Urheberrechts an das digitale Zeitalter zu erörtern. Vordergründig geht es in der Urheberrechtsdebatte insbesondere darum, angesichts der neuen technischen Möglichkeiten im digitalen Zeitalter den Ausgleich zwischen unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Interessen neu zu verhandeln: zwischen den Interessen der Künstler und Kreativen, die von geistiger Arbeit leben, den Interessen der Verwerter, die für die Verbreitung geistiger Güter sorgen und oftmals ein hohes Investitionsrisiko tragen, und schließlich den Interessen der Nutzer – der Leser, der Musikhörer, der Zuschauer -, denen das Internet nicht nur freien, sondern teilweise sogar kostenfreien Zugang zur Vielfalt kreativer Leistungen eröffnet und die – oft aus Unkenntnis oder auch Gleichgültigkeit – nicht immer bereit sind, dafür auch zu bezahlen oder sich mit komplizierten Rechteklärungen zu befassen. Um zu einem vernünftigen Interessenausgleich zu kommen, braucht es aber zunächst einmal einen Maßstab, und deshalb geht es in der Urheberrechtsdebatte eben nicht allein um Interessen, sondern auch um etwas sehr Grundsätzliches: um die Frage nämlich, wie wir als Bürgerinnen und Bürger – wir sind ja nicht nur „User“! -im digitalen Zeitalter leben wollen, um die Frage also, was in diesen Verhandlungen nicht verhandelbare Grundlage sein sollte – und warum. Nicht verhandelbar ist aus naheliegenden Gründen die Freiheit, die geistige und künstlerische Spitzenleistungen überhaupt erst möglich macht. Brotlose Kunst ist existentiell bedrohte Kunst. Wer keinerlei Aussicht hat, von seinen Ideen zu leben, weil diese in der Kopier- und Vervielfältigungsmaschine Internet zum kostenfrei verfügbaren Allgemeingut werden, der wird seine geistigen Ressourcen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zum Schreiben von Drehbüchern oder zur Entwicklung zukunftsweisender Innovationen nutzen. Das ist keineswegs trivial, wenn man bedenkt, dass diese Freiheit von zwei Seiten bedroht scheint: zum einen von Internetkonzernen, die mit ihrer schieren Marktmacht die Produktion geistiger Werke monopolisieren können; zum anderen von der Gratiskultur im Netz und der Selbstbedienungsmentalität derer, die den Schutz des Urheberrechts für eine unzulässige Einschränkung des freien Zugangs zu Wissen und Informationen halten. Geistige und kreative Spitzenleistungen entstehen vor allem dort, wo man von geistiger, von kreativer Arbeit leben kann. Der Schutz geistiger Schöpfungen ist dafür eine notwendige Voraussetzung. Es ist dieser Schutz, der Künstlern und Intellektuellen – Schriftstellern, Musikern, Drehbuchautoren, Journalisten – den Lebensunterhalt sichert. Es ist dieser Schutz, der kreative Tüftler für jene Pionierarbeit belohnt, der wir nicht zuletzt auch den technologischen Fortschritt verdanken. Es ist dieser Schutz, der unsere kulturelle Vielfalt nährt und unseren wirtschaftlichen Wohlstand fördert. Wir sollten die Freiheit verteidigen, der wir so viel verdanken und die – nebenbei bemerkt – auch hart errungen und erkämpft ist! Schließlich ist die Geschichte des Urheberrechts auch und vor allem eine Geschichte der Emanzipation von Staat und Kirche. Nach Jahrhunderten der Abhängigkeit der Künstler und Denker von weltlichen und kirchlichen Mäzenen und Gönnern eröffnete das moderne Urheberrecht die Freiheit, den Mächtigen nicht gefällig sein zu müssen. Die wirtschaftliche Autonomie der Künste, die aus dem Schutz des Urheberrechts erwächst, gehört zu unseren großen demokratischen Errungenschaften. Das Grundgesetz schützt diese Errungenschaft. „Kunst und Wissenschaft (…) sind frei“, heißt es in Artikel 5 unseres Grundgesetzes. Die Erhebung der Kunstfreiheit in den Verfassungsrang ist eine Lehre aus unserer jüngeren Geschichte. Unsere Demokratie ist auf den Trümmern des Totalitarismus gebaut – das sollten wir auch 70 Jahre nach der Befreiung von der Diktatur der Nationalsozialsten und 25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, mit der auch die kommunistische Diktatur auf deutschem Boden Geschichte wurde, nicht vergessen. Aus zwei deutschen Diktaturen in einem Jahrhundert haben wir eine Lehre gezogen, die da lautet: Die Freiheit der Kunst ist konstitutiv für eine Demokratie. Kreative und Intellektuelle sind das Korrektiv einer Gesellschaft. Wir brauchen experimentierfreudige Künstler und unbequeme Denker! Sie sind der Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft, der verhindert, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Sie sind es, die unsere Gesellschaft vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu schützen imstande sind. Die dafür notwendige Unabhängigkeit gibt es nur in einem Staat, in dem man die Chance hat, von kreativem Schaffen zu leben – in einer Gesellschaft, in der nicht nur für Konsumgüter und materielle Produktionsmittel bezahlt wird, sondern in der auch geistige Leistungen finanziell honoriert werden. In besonderer Weise sichtbar und auch messbar wird der gesellschaftliche Gewinn aus dieser geistigen Freiheit in unserer prosperierenden Kultur- und Kreativwirtschaft. Die hohe Wertschätzung für diese Branche ist nicht einfach ein zeitgeistiger Trend – auch wenn Kreativität gerne als der „Rohstoff des 21. Jahrhunderts“ gepriesen wird. Schon Albert Einstein, einer der größten Verteidiger der Phantasie unter den Naturwissenschaftlern, hat zutreffend bemerkt, dass Probleme sich niemals mit derselben Denkweise lösen lassen, durch die sie entstanden sind. Künstler und Kreative haben insofern immer schon zum gesellschaftlichen Fortschritt beigetragen, indem sie ihre Zeitgenossen die Wirklichkeit neu sehen lehrten. Die Kultur- und Kreativwirtschaft mit ihren fast 250.000 Unternehmen, mit ihren über eine Million Beschäftigten und mit ihrem Umsatz von 146 Milliarden Euro im Jahr 2014 ist insofern weit mehr als eine Branche neben anderen Branchen. Sie liefert den immateriellen Rohstoff für Innovationen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Um es bildlich auszudrücken: Die Künstler und Kreativen tragen die Fackel, an der viele andere das Feuer eigener schöpferischer und produktiver Kraft entzünden. Deshalb unterstützt die Bundesregierung im Rahmen der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft Unternehmerinnen und Unternehmer dabei, mit ihren Ideen auch ökonomisch erfolgreich zu sein. Die Initiative hat sich über die Jahre zu einer erfolgreichen Kooperation zwischen meinem Haus und dem Bundeswirtschaftsministerium entwickelt. Zu den zentralen Projekten gehört das Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft, das eine Plattform für Information, Dialog und Vernetzung bietet und den Branchenwettbewerb „Kultur- und Kreativpiloten Deutschland“ begleitet. Beides sind Angebote, die gut angenommen werden und kreativen Köpfen vielerorts nicht zuletzt auch mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung bescheren. Das Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes sowie die Kultur- und Kreativpiloten arbeiten übrigens bereits seit Längerem an neuen Ideen und Projekten rund um das Thema Flüchtlingshilfe. Ihre Ideen für eine bessere Welt helfen uns, die Menschen aufzunehmen, die zu Hundert-tausenden Zuflucht suchen in Deutschland – indem sie beispielsweise eine menschenwürdige Unterbringung in Flüchtlingslagern ermöglichen, geflüchteten Menschen den Neuanfang in Deutschland erleichtern und Brücken bauen zwischen Einheimischen und Neuankommenden. Oft sind es eben die kreativen Köpfe, die mit ihrem Mut zum Experimentieren Undenkbares möglich machen, so dass wir sagen können: Wir schaffen das! Staatliche Förderung allein reicht aber nicht für eine florierende Kultur- und Kreativwirtschaft. Auf die Rahmenbedingungen kommt es an, und deshalb müssen wir insbesondere beim Schutz des Urheberrechts weiter vorankommen. Das hat man zum Glück auch auf europäischer Ebene erkannt. Kommissar Oettinger hat ja gestern seine Vorhaben skizziert. Die EU-Kommission hat Anfang Mai ihre Strategie für einen digitalen Binnenmarkt in Europa veröffentlicht und erkennt darin ausdrücklich an, dass das Urheberrecht Grundlage für Europas Kultur- und Kreativwirtschaft ist. Erwogen werden deshalb unter anderem Maßnahmen zum Schutz gegen gewerbsmäßige Urheberrechtsverletzungen und zur Sicherung einer gerechten Vergütung für Urheber. Außerdem hat sich zur Frage europaweiter Lizenzen für urheberrechtlich geschützte Inhalte offenbar eine differenzierte Sichtweise durchgesetzt. Es ist nicht mehr die Rede davon, diese Lizenzen verpflichtend auszugestalten und Geoblocking vollständig zu verbieten. Das freut mich sehr, denn ich hatte mich gegen ein solches Absolutverbot eingesetzt, weil es für kulturwirtschaftliche Finanzierungsmodelle verheerende Folgen gehabt hätte. Unternehmen investieren große Summen in die Schaffung und Verbreitung von Inhalten. Sie müssen die wirtschaftliche und vertragliche Freiheit haben, Rechteerwerb und -vertrieb so zu gestalten, dass Investitionen sich lohnen. Wird diese Basis durch ein Verbot regionaler Lizenzen entzogen, geht dies zu Lasten vielseitiger Kulturproduktion und damit der kulturellen Vielfalt. In Kürze können wir mit konkreten Vorschlägen der Kommission rechnen, und ich hoffe sehr, dass bei der Harmonisierung die bewährten Standards im Verhältnis von Urhebern, Verwertern und Nutzern nicht einseitig zu Lasten der Urheber und der Kreativwirtschaft gesenkt werden. Auf nationaler Ebene hat die Bundesregierung bereits einige Vorhaben auf den Weg gebracht – mein Kollege, Bundesminister Heiko Maas, hat darüber gestern sicher bereits ausführlich berichtet. Prioritär – weil bis April 2016 fristgebunden – ist die Umsetzung der EU-Verwertungsgesellschaftsrichtlinie. Im Kabinett haben wir dazu im November einen Gesetzentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucher-schutz (BMJV) beschlossen, der die Vorteile unserer bewährten Regeln weitestgehend erhält, ohne die deutschen Verwertungsgesellschaften im europäischen Wettbewerb übermäßig zu beeinträchtigen. Insbesondere bleibt der Kultur- und Sozialauftrag der deutschen Verwertungsgesellschaften erhalten: Sie sollen auch weiterhin kulturelle und soziale Zwecke verfolgen. Dafür habe ich mich von Anfang an eingesetzt, denn Verwertungsgesellschaften waren und sind vor allem bei uns in Deutschland weit mehr als Inkasso-Unternehmen. Es sind auf solidarischer Basis gegründete Zusammenschlüsse der Urheber. Ein Erfolg im Sinne der Kultur- und Kreativwirtschaft ist auch die effektivere Ausgestaltung des Verfahrens zur Ermittlung der Höhe der Privatkopie-vergütung für Geräte und Speichermedien. Das seit 2008 geltende Verfahren hat in der Praxis dazu geführt, dass Rechteinhaber unzumutbar lange auf die ihnen zustehende Vergütung warten müssen und in der Zwischenzeit das Risiko tragen, dass manche Hersteller und Importeure vom Markt verschwinden. Auch damit trägt der Gesetzentwurf zur fairen Bezahlung der Urheber und zum Wachstum der Kultur- und Kreativwirtschaft bei. Ein weiteres wichtiges Vorhaben ist die im Koalitionsvertrag vereinbarte Überarbeitung des Urhebervertragsrechts. Sie soll die Position des Urhebers stärken und Kreativen eine angemessene Vergütung ermöglichen. Über den Entwurf aus dem BMJV habe ich mich bereits mit Bundesminister Maas ausgetauscht. Letztlich geht es um die Frage, wo es der Stärkung der Urheber bedarf, um die gerechte Teilhabe des Urhebers an der Wertschöpfung aus seinem Werk sicherzustellen, und wo möglicherweise zu vermeidende Belastungen der Kreativwirtschaft entstehen. Dabei ist mir wichtig, dass wir das übergeordnete gemeinsame Interesse von Kreativen und Verwertern nicht aus den Augen verlieren, die ja aufeinander angewiesen sind. Geistige Produktion und kulturelle Märkte funktionieren vor allem auch deshalb, weil Künstler sich auf ihr schöpferisches Tun konzentrieren können und Verwerter auf die wirtschaftlichen Aspekte – und weil Bestseller es ermöglichen, auch in Werke zu investieren, mit denen möglicherweise kein oder nur wenig Geld verdient wird. Wenn die wirtschaftliche Basis der Verwerter schrumpft, kommt nur noch auf den Markt, was hohe Erträge erwarten lässt. Das schadet den Urhebern genauso wie der kulturellen Vielfalt. Deshalb ist mir sehr daran gelegen, dass Urheber und Verwerter fair miteinander verhandeln – und sich dann im engen Schulterschluss den Herausforderungen entgegenstellen können, die durch Angebote von Online-Plattformen marktmächtiger Internetkonzerne und Intermediäre entstehen. Es sind ja gerade sie – die Intermediäre und Online-Plattformen, die sich zur klassischen Trias aus Kreativen, Verwertern und Nutzern hinzu gesellt haben -, die bestehende Vertriebswege und Erlösstrukturen verändern. Das ist eine technische Entwicklung, die wir weder aufhalten können noch wollen. Der Nutzen, der sich aus dem breiten Zugang zu kulturellen Angeboten und Medienangeboten ergibt, ist offensichtlich. An den üppigen Werbeeinnahmen, die sich durch Inhalte erzielen lassen, sollten aber nicht nur die Plattformen verdienen, sondern auch die Produzenten der Inhalte. Ich begrüße es deshalb sehr, dass die EU-Kommission in ihrer Strategie für einen digitalen Binnenmarkt angekündigt hat, sich mit dem Thema Online-Plattformen zu befassen. Diese Beispiele für notwendige Anpassungen des Urheberrechts zeigen, meine Damen und Herren: In der Urheberrechtsdebatte geht es nicht nur um Interessen einzelner Gruppen. Es geht auch um die Frage, was uns allen, was unserer Gesellschaft geistige, künstlerische, kreative Leistungen wert sind bzw. was sie uns wert sein sollten. Deshalb finde ich es wichtig, dass wir im Rausch des technisch Machbaren bewährte Grundprinzipien wie die künstlerische Freiheit nicht zur Disposition stellen. Wenn wir solche Werte, die wir in der analogen Welt als konstitutiv für unsere Demokratie und als grundlegend für unser Zusammenleben erachten, bewahren wollen, dann sollten wir uns unsere gesellschaftlichen Regeln nicht von der Technologie diktieren lassen, sondern umgekehrt nach Möglichkeiten suchen, wie sich Werte aus dem analogen Zeitalter auch im Netz bewahren lassen. Genau darum geht es auch beim Urheberrecht. Wir müssen dafür sorgen, dass man auch im Zeitalter des Internets von geistiger Arbeit leben kann und dass sich Investitionen in kreative Werke auch weiterhin lohnen. Das geht nur, wenn zum einen Kreative angemessen an der Wertschöpfung aus ihrer intellektuellen oder künstlerischen Leistung beteiligt werden und zum anderen Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft nach Märkten differenzierte Geschäftsmodelle entwickeln können. Die Alternative ist eine Welt, in der große Internetkonzerne das kulturelle Angebot bestimmen. In seinem Buch „Turings Kathedrale. Die Ursprünge des digitalen Zeitalters“ hat der amerikanische Wissenschaftshistoriker George Dyson mit folgenden Worten gewissermaßen den digitalen Teufel an die analoge Wand gemalt, ich zitiere: „Facebook sagt mir, wer ich bin; Amazon sagt mir, was ich will; Google sagt mir, was ich denke.“ Wollen wir in einer solchen Welt leben? Ich glaube nicht! Und ich glaube auch nicht, dass dieses düstere Szenario im Sinne der Unternehmen wäre. Deshalb setze ich mich für die künstlerische Freiheit und Unabhängigkeit, für den Schutz des Urheberrechts und für eine kultur- und medienpolitische Handschrift der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Anpassung des Urheber-rechts an das digitale Zeitalter ein, und ich hoffe, dass auch diese Konferenz dazu beiträgt, die Zukunft des Urheberrechts zu sichern! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen auch für den zweiten Konferenztag interessante und inspirierende Diskussionen!
Kulturstaatsministerin Grütters fordert, Künstler und Kreative angemessen an der Wertschöpfung ihrer Leistung zu beteiligen. „Wir müssen dafür sorgen, dass man auch im Zeitalter des Internets von geistiger Arbeit leben kann und dass sich Investitionen in kreative Werke auch weiterhin lohnen.“
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der 21. Konferenz der Vereinten Nationen zum Klimawandel am 30. November 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-21-konferenz-der-vereinten-nationen-zum-klimawandel-am-30-november-2015-435626
Mon, 30 Nov 2015 12:30:00 +0100
Paris
Umwelt Naturschutz Bau und Reaktorsicherheit
Sehr geehrter Herr Präsident, lieber François Hollande, sehr geehrter Herr Generalsekretär, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir treffen uns hier in Paris in unruhigen und sorgenvollen Zeiten. Nicht weit von hier haben Terroristen vor wenigen Tagen die Menschen in Paris und damit uns alle angegriffen. Wir verurteilen Terror – egal, wo er wütet. Wir zeigen durch unsere Anwesenheit: Wir sind stärker als Terroristen. Heute haben Regierungschefs aus rund 150 Ländern die Möglichkeit, bei allen Kontroversen und Interessenunterschieden ein gemeinsames und sehr konkretes Signal zu senden – ein Signal, das über die Zukunft unseres Planeten entscheidet. Es geht um die Grundlagen des Lebens der Generationen, die nach uns kommen. Wir wissen: Wir müssen heute handeln. Das muss der Anspruch dieser Konferenz sein. Das muss das Ergebnis auszeichnen, das wir in wenigen Tagen erreichen müssen. Ich möchte zu Beginn allen danken, insbesondere der französischen Regierung und den Vereinten Nationen, die an der Vorbereitung dieses Treffens beteiligt waren. Seit langem haben wir zum ersten Mal die Chance, unser Ziel, das Ziel eines Abkommens, zu erreichen. Nüchtern ausgedrückt heißt dieses Ziel nicht mehr und nicht weniger, als den globalen Temperaturanstieg unter zwei Grad, bezogen auf die Temperaturen zu Beginn der Industrialisierung, zu halten. Das ist ein notwendiges Ziel. Wir wissen aber mit Blick auf kleine Inselstaaten: Das ist immer noch kein ausreichendes Ziel. Daher brauchen wir ein UN-Abkommen, das ambitioniert ist, das umfassend ist, das fair und das verbindlich ist. Erstens: Was heißt ambitioniert? Zum ersten Mal haben über 170 Länder – Industriestaaten, Schwellenländer, Entwicklungsländer – nationale Beiträge zur Erreichung des Zwei-Grad-Ziels angemeldet. Die gute Nachricht heißt: Das betrifft 95 Prozent der CO2-Emissionen weltweit. Die schlechte Nachricht heißt: Mit diesen Anmeldungen erreichen wir das Zwei-Grad-Ziel noch nicht. Wir müssen also auf diesem Gipfel ein glaubwürdiges Signal setzen, wie wir das Ziel in den nächsten Jahren erreichen können. Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass wir im Laufe des 21. Jahrhunderts eine weitgehende Dekarbonisierung unserer Volkswirtschaften brauchen. Zweitens: Was heißt umfassend? Umfassend heißt: Es geht um eine grundlegende Transformation unseres Wirtschaftens, die alle Sektoren erfasst – die industrielle Produktion, die Mobilität, die Energieerzeugung, die Wärmedämmung, die Energieeffizienz. Deutschland hat sich klare Ziele gesetzt. Wir werden unsere CO2-Emissionen bis 2020 um 40 Prozent reduzieren. Wir wollen bis 2050 gegenüber 1990 80 bis 95 Prozent Reduktion erreichen. Wir haben schon heute ein ambitioniertes Klimaschutzabkommen mit über 100 Maßnahmen. Die erneuerbaren Energien sind in unserer Energieversorgung bereits die tragende Säule. In diesem Jahr werden es mehr als 27 Prozent sein. Drittens: Was bedeutet fair? Fair bedeutet, dass die Industrieländer, gerade was die Entwicklung von Technologien zur Dekarbonisierung anbelangt, eine führende Rolle spielen müssen. Wir haben die Emissionen der Vergangenheit hervorgerufen. Wir müssen die technologischen Entwicklungen beitragen, um die Emissionen in Zukunft zu reduzieren und auch den Entwicklungsländern eine Reduktion zu ermöglichen. Deutschland wird sich an verschiedenen Programmen beteiligen. So werden wir zum Beispiel unsere Forschungsförderung für Clean Energy verdoppeln. Zudem müssen wir den ärmsten und verwundbarsten Ländern Möglichkeiten für eine nachhaltige Entwicklung dadurch eröffnen, dass wir sie finanziell unterstützen. Hier in Paris müssen wir zeigen, dass wir das, was wir in Kopenhagen versprochen haben, einlösen und ab 2020 100 Milliarden US-Dollar jährlich, und zwar nachhaltig, zur Verfügung stellen, damit andere den Klimawandel schaffen können. Deutschland wird gemessen an 2014 bis 2020 seine öffentlichen Mittel verdoppeln. Und viertens: Was heißt verbindlich? Wir brauchen einen Rahmen für ein UN-Abkommen, das verbindlich ist. Und wir brauchen verbindliche Überprüfungen. Deutschland wünscht sich diese nach jeweils fünf Jahren, beginnend vor dem Jahr 2020. Wir wissen, dass die Beiträge der Länder freiwillig sind. Aber es ist auch wichtig, dass wir zu dem stehen, was wir gesagt haben. Keiner dieser Beiträge darf im Laufe der Zeit abgeschwächt werden, sondern die Beiträge müssen verstärkt werden. Wir brauchen eine klare Transparenz, was die Messmethoden anbelangt, damit daraus Glaubwürdigkeit entsteht. Sehr geehrte Damen und Herren, ambitioniert, umfassend, fair und verbindlich – so sollte und so muss ein globales Klimaabkommen sein. Das ist eine Frage der ökologischen Notwendigkeit und genauso der ökonomischen Vernunft. Das ist eine Frage der Generationengerechtigkeit. Das ist eine Frage der Menschlichkeit, ja, es ist eine Frage der Zukunft der Menschheit. Deutschland wird seinen Beitrag leisten, damit wir in eine gute Zukunft blicken können. Milliarden Menschen setzen ihre Hoffnung auf die nächsten Tage in Paris. Lassen Sie uns alles tun, damit wir sie nicht enttäuschen. Herzlichen Dank.
Rede von Staatsministerin Grütters bei der Bundesdelegiertentagung der Ost- und Mitteldeutschen Vereinigung
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-gruetters-bei-der-bundesdelegiertentagung-der-ost-und-mitteldeutschen-vereinigung-798506
Fri, 27 Nov 2015 15:26:44 +0100
Kulturstaatsministerin
Anrede, den Anblick eines kleinen, klapprigen Handwagens werden viele Besucherinnen und Besucher des British Museums in London wohl nie vergessen. Es war das Wägelchen, mit dem eine Flüchtlingsfamilie aus Ostpommern nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Habseligkeiten nach Westen transportiert hatte – Symbol für Flucht, Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen aus ihrer Heimat im östlichen Europa. Neil MacGregor, damals Direktor des British Museums und mittlerweile Gründungsintendant des Humboldt-Forums in Berlin, hat ihn in seiner gefeierten Ausstellung „Germany: Memories of a Nation“ als ein Schlüsselobjekt für das Verständnis deutscher Identität gezeigt. Vielen Briten sei die Vertreibungsgeschichte der Deutschen nicht bewusst gewesen, sagte er dazu kürzlich in einer Rede, und ich zitiere ihn weiter: „Dieser Handwagen, (….) das wissen wir aus vielen Berichten, hat das frühere Deutschlandbild vertieft und nuanciert. Hat ihm eine bisher unbekannte, rein menschliche Dimension gegeben.“ Flucht und Vertreibung sind Teil unserer Identität. Und doch hat es nicht nur in Großbritannien, sondern selbst in Deutschland lange gedauert, bis wir den Erinnerungen daran Raum geben konnten. Dass wir uns heute – in der Erinnerung an das präzedenzlose Leid, das Deutsche mit den barbarischen Verbrechen der Nationalsozialisten und mit dem Zweiten Weltkrieg über Europa gebracht haben -, auch mit deutschen Leidensgeschichten von Flucht und Vertreibung, von Heimatverlust und Entwurzelung auseinandersetzen können, das ist auch Ihr Verdienst, meine Damen und Herren, und ganz besonders das Verdienst Ihres langjährigen, unermüdlichen Brückenbauers an der Spitze der OMV–Ost- und Mitteldeutsche Vereinigung der CDU/CSU, das Verdienst Helmut Sauers! Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre engagierte Arbeit – nicht nur, weil Ihre Themen seit Jahrzehnten zum Kernbestand der Politik von CDU und CSU gehören, sondern auch und insbesondere deshalb, weil die Ost- und Mitteldeutsche Vereinigung – wie auch der Bund der Vertriebenen – als starke Stimme der Vertriebenen, der Aussiedler und Spätaussiedler, die für die Aufarbeitung unserer Geschichte und für die Aussöhnung mit den Ländern Mittel- und Osteuropas notwendigen öffentlichen Debatten angestoßen hat. Die OMV–Ost- und Mitteldeutsche Vereinigung der CDU/CSU hat zu Recht immer wieder darauf hingewiesen, dass Vertriebene, dass Aussiedler und Spätaussiedler die Unterstützung und Solidarität aller Deutschen verdienen. Sie hat sich schon früh stark gemacht für ein sichtbares Zeichen zum Gedenken an die deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung, das die Bundesregierung mit der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ umgesetzt hat. Sie sucht den grenzüberschreitenden Kontakt mit Deutschlands Nachbarn in Mittel-, Ost- und Südosteuropa und unterstützt damit das Zusammenwachsen Europas. Sie setzt sich ein für das Bewahren und Vermitteln des kulturellen Erbes, das die Deutschen in den früher zu Deutschland gehörenden östlichen Gebieten – zum Beispiel in Schlesien, in Pommern, in Ost- und Westpreußen -, aber auch in den historischen Siedlungsgebieten wie Rumänien und Russland zusammen mit anderen Völkern geschaffen haben. Das alles ist wichtig für Verständnis, Verständigung und Aussöhnung in Europa, und deshalb schätze ich Ihre Arbeit sehr, meine Damen und Herren! Auf der letzten OMV–Ost- und Mitteldeutsche Vereinigung der CDU/CSU-Bundesdelegiertentagung haben Sie sich bereits ausführlich mit der Förderung der Kultur der Deutschen im östlichen Europa durch die Bundesregierung auseinandergesetzt. Ihre freundliche Einladung zur Bundesdelegiertentagung 2015, lieber Herr Sauer, nehme ich gerne zum Anlass, daran anzuschließen. Geschichte und Kultur der Deutschen im östlichen Europa zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln, so wie Paragraph 96 des Bundesvertriebenen-gesetzes es vorsieht, das war und ist bis heute ein wichtiges Anliegen jeder unionsgeführten Bundesregierung. Wir haben es auch im aktuellen Koalitionsvertrag verankert und konnten die dafür vorgesehenen Mittel zuletzt deutlich erhöhen. Sie kommen Archiven, Bibliotheken, Museen, Projekten der kulturellen Vermittlung und des Denkmalerhalts, Forschungsinstituten und Akademische Förderprogrammen zugute. In meinem Etat hat die Förderung mit rund 23,7 Millionen Euro im Jahr 2015 eine Höhe erreicht, die nicht nur ideell, sondern auch monetär unsere hohe Wertschätzung für das kulturelle Erbe im östlichen Europa zum Ausdruck bringt. Ich darf hier an den absoluten Tiefpunkt von unter 13 Millionen Euro erinnern, den der gesamte Förderbereich im Jahr 2005 unter der rot-grünen Bundesregierung erreicht hatte! Nicht zuletzt angesichts der EU-Beitritte der östlichen Nachbarstaaten in den Jahren 2004, 2007 und 2013 und der dadurch entstandenen, neuen Qualität der Zusammenarbeit geht es nun darum, die zuletzt im Jahr 2000 überarbeitete Förderkonzeption nach Paragraph 96 im europäischen Geist weiterzuentwickeln – sie nicht nur zukunftsfest für den demographischen Wandel zu machen, sondern sie auch verstärkt europäisch auszurichten, und zwar in enger Kooperation auch mit den Heimatvertriebenen bzw. ihren Nachkommen, mit den Spätaussiedlern, und – soweit der durch §96 BVFG eng gesteckte Rahmen es zulässt – auch mit den deutschen Minderheiten im östlichen Europa. Dafür brauchen wir Ihre Hilfe, meine Damen und Herren, und die Unterstützung der in der OMV–Ost- und Mitteldeutsche Vereinigung der CDU/CSU vertretenen Abgeordneten. Sie gehören zu unseren wichtigsten Partnern bei diesem so wichtigen kulturpolitischen Vorhaben. Deshalb will ich Ihnen die Eckpunkte der angepassten und weiterentwickelten Förderkonzeption kurz vorstellen. Worum geht es also, wenn wir die Förderkonzeption auf eine Grundlage stellen wollen, die auch im demografischen Wandel Bestand hat und die getragen ist von unseren mit den Jahren gewachsenen Bindungen und Verbindungen in Europa? Es geht, erstens, darum, den Erinnerungstransfer von einer Generation zur nächsten sicher zu stellen: Kommende Generationen werden die Lehren aus der leidvollen Geschichte Deutschlands und seiner östlichen Nachbarn ohne Zeitzeugen, ohne eigene Erinnerungen, ohne persönliche Erfahrungen von Kriegselend, Flucht und Vertreibung ziehen müssen. Je weniger Zeitzeugen es gibt, desto wichtiger wird eine professionelle und zeitgemäße Vermittlungs-, Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Es geht, zweitens, darum, neue Partner zu finden und neue Zielgruppen zu erschließen: Seit 1950 haben wir in Deutschland 4,5 Millionen Menschen als Spätaussiedler aufgenommen, unter anderem aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und Rumänien, aber auch aus Polen. Neben Vertriebenen und Flüchtlingen sind die Spätaussiedler eine starke gesellschaftliche Kraft. Das soll sich unter anderem in der Erforschung, Präsentation und Vermittlung ihrer Kultur und Geschichte in regionalen Museen spiegeln. Es geht, drittens, darum, europäische Kooperationen zu stärken: Sie wissen selbst um die Situation in vielen Ländern des östlichen Europas. Wer mit Partnern vor Ort kooperieren möchte, muss selbst Geld mitbringen. Deshalb werden wir mehr Geld in die Hand nehmen für unsere bundesgeförderten Museen, die Vermittlungs- und Forschungseinrichtungen. Wir werden die kulturellen und wissenschaftlichen Kontakte zum östlichen Europa weiter ausbauen, damit das deutsche Kulturerbe, eingebettet in den europäischen Kontext, lebendig bleibt Darum wollen wir auch drei weitere Kulturreferentenstellen schaffen, für Oberschlesien, Siebenbürgen und die Deutschen aus Russland. Und schließlich geht es, viertens, darum, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen: Die Digitalisierung von Kulturgut ist der Schlüssel für den Zugang möglichst vieler Menschen zu unserem gemeinsamen europäischen Erbe im östlichen Europa. Sie macht es beispielsweise möglich, Archivalien zusammen zu führen, die durch Kriegsereignisse auseinander gerissen wurden, und sie sichert einzigartige Bestände, etwa aus den Nachlässen der Heimatvertriebenen und der Heimatsammlungen. Deshalb wollen wir die digitale Erschließung der vielfältigen Sammlungen und Bestände fördern und eine digitale Infrastruktur für die Wissenschaft und die Museen gleichermaßen entwickeln. Im Sinne einer zeitgemäßen Öffentlichkeitsarbeit wollen wir mit der Informationsvermittlung in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter auch jüngere Zielgruppen ansprechen. Guter Wille und beste Absichten allein reichen natürlich nicht aus, um all das umzusetzen, was wir uns im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung von Paragraph 96 vorgenommen haben, meine Damen und Herren. Deshalb bin ich froh, Ihnen mitteilen zu können, dass der Deutsche Bundestag mir für 2016 zusätzliche Mittel von insgesamt knapp 22 Millionen Euro für diesen Förderbereich bewilligt hat. Allen daran beteiligten Kollegen Abgeordneten danke ich nochmals herzlich für die Unterstützung! Damit werden wir zusätzlich beispielsweise folgende Projekte fördern: • den Bau eines Besucher- und Dokumentationszentrums und einer Akademie mit internationaler Jugendbegegnungsstätte beim Museum Friedland; • den Um- und Neubau einer „Galerie der Romantik“ im Pommerschen Landesmuseum in Greifwald; • die zeitgemäße Gestaltung der neuen Dauerausstellung im Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg mit einer deutsch-baltischen Abteilung; • und auch die Stärkung des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold als zentrale museale Einrichtung der Russlanddeutschen. Außerdem begrüße ich es sehr, dass der Deutsche Bundestag soeben beschlossen hat, in den kommenden drei Jahren 50 Millionen Euro zur Entschädigung ziviler deutscher Zwangsarbeiter bereitzustellen. Das gehört zwar nicht in meine unmittelbare Zuständigkeit, aber es ist mir wichtig, dass das Schicksal dieser Menschen Anerkennung findet, bevor es endgültig zu spät für diese Geste wäre. Die OMV–Ost- und Mitteldeutsche Vereinigung der CDU/CSU hat sich dafür seit Jahren eingesetzt – es ist also auch ein Stück weit Ihr Verdienst. Das alles sind – im Kleinen wie im Großen – höchst erfreuliche politische Fortschritte, die sicher stellen, dass das deutsche kulturelle Erbe in Osteuropa präsent bleibt und die Stimmen der Vertriebenen, der Aussiedler und Spätaussiedler und ihrer Nachkommen auch in Zukunft Gehör finden. Umso mehr ärgert es mich – das sage ich ganz offen -, dass die vor sieben Jahren ins Leben gerufene Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ im Moment nicht mit guter Arbeit, sondern mit Personalmeldungen Schlagzeilen macht. Im Moment suchen wir, wie Sie sicherlich wissen, wieder einen Nachfolger, eine Nachfolgerin für den Direktorenposten. Der vom Stiftungsrat mit großer Mehrheit gewählte, designierte Direktor Prof. Winfried Halder hat mir Anfang November nach langen Vertragsverhandlungen mitgeteilt, dass er aus persönlichen Gründen (- so nenne ich das, wenn jemand seinen Antritt an nicht erfüllbare Forderungen knüpft -) nicht zur Verfügung steht. Um sicherzustellen, dass die Stiftung ihre Arbeit strukturiert fortsetzen kann, habe ich den Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas gebeten, bis zur Neubesetzung zusätzlich die Leitung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung zu übernehmen. Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich aus den laufenden Gesprächen und Verhandlungen noch nichts preisgeben kann. Aber ich versichere Ihnen, dass wir alles tun, damit die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ baldmöglichst unter einer professionellen Führung ihrem Auftrag nachkommen kann, „im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik wachzuhalten“ – so wie es die Satzung verlangt. Das wird auch in Zukunft nicht ohne Irritationen und hier und da auch hitzige öffentliche Debatten möglich sein. Zu unterschiedlich sind die Perspektiven und Leidensgeschichten, als dass sie sich zu einer einzigen Erzählung zusammenfügen ließen! Diesen Perspektiven Raum zu geben und sie in ihrer Unterschiedlichkeit zulassen zu können, ist eine der großen Errungenschaften, die wir der vielfach schmerzhaften Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verdanken. Meine Hoffnung für die Gegenwart und Zukunft ist, dass der vielfältige Erfahrungsschatz der deutschen Vertriebenen uns auch in besonderer Weise fähig macht zur Empathie mit Menschen, die heute Zuflucht suchen in Deutschland. Auch wenn man die Flucht aus Syrien, Irak oder Afghanistan aus vielerlei Gründen nicht mit der Vertreibung aus Ostpreußen, Schlesien oder Pommern vergleichen kann, auch wenn Flüchtlinge heute nicht mehr mit dem Handwagen unterwegs sind, sondern mit einem Handy, das ihnen die Route weist, so sind es doch vielfach ähnliche Erfahrungen, heute wie damals. Wie sehr ähneln sich die Bilder von Menschen in langen Kolonnen auf dem Weg nach Deutschland, von frierenden Frauen und Männer mit weinenden Kindern auf dem Arm! Wie sehr ähneln sich Leid und existentielle Not in der Angst vor Gewalt, Unterdrückung und Misshandlungen, im Verlust der Heimat, im Verschwinden der Individualität im Flüchtlingsstrom! Wie sehr ähneln sich die Wunden und Traumata, die Kriege und Verfolgung verursachen! Als gläubige Katholikin bin ich überzeugt, dass das „C“ in unserem Parteinamen uns ganz besonders dazu verpflichtet, im europäischen Geiste – im Geiste des Friedens und der Versöhnung – christlichen Werten wie Barmherzigkeit und Nächstenliebe zur Geltung verhelfen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, brauchen wir Ihre Erfahrungen und Ihr Engagement, liebe Delegierte! Denn: Vertreibungen sind Unrecht – gestern wie heute! Gerade die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kulturerbe in Mittel- und Osteuropa, vom Baltikum hinunter zum Balkan und bis hinein nach Russland, kann sowohl in Deutschland wie auch in unseren Partnerländern helfen, nicht nur die Geschichte ganz Europas besser zu verstehen, sondern auch die Krisen und Konflikte, in deren Angesicht Europa sich heute neu bewähren muss. Denn diese Jahrhunderte zurückreichende Geschichte erzählt von kulturellem Austausch ebenso wie von Konkurrenz, Konfrontation und Kompromiss, von gegenseitiger Anerkennung und Abgrenzung, von Verbindendem und Trennendem. Es geht um Themen, die Deutschland und Europa heute mehr denn je beschäftigen: um Fragen der Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Fragen des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Sprachen, um Fragen des Austauschs und der wechselseitigen Wahrnehmung und Anerkennung. Deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa gehören zum Selbstverständnis unseres Landes und sind zugleich ein Spiegel der Vielfalt und Dynamik Europas. Sie sind wichtig für ein friedliches Miteinander, für das Zusammenleben im Herzen Europas, umso mehr für die junge Generation und für die kommenden Generationen, die ihren ganz eigenen Weg finden müssen. Ich wünsche Ihnen allen deshalb weiterhin viel Kraft und Erfolg für Ihre Engagement in der Ost- und Mitteldeutschen Vereinigung – als starke Stimme der Vertriebenen und (wie es auf Ihrer Website so schön heißt) als „unruhiges Gewissen in der CDU/CSU“!
„Gerade die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kulturerbe in Mittel- und Osteuropa, vom Baltikum hinunter zum Balkan und bis hinein nach Russland, kann sowohl in Deutschland wie auch in unseren Partnerländern helfen, nicht nur die Geschichte ganz Europas besser zu verstehen, sondern auch die Krisen und Konflikte, in deren Angesicht Europa sich heute neu bewähren muss“ so Monika Grütters in ihrer Rede.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur ersten Konferenz des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-ersten-konferenz-des-deutschen-zentrums-kulturgutverluste-798070
Fri, 27 Nov 2015 19:00:17 +0100
Jüdisches Museum Berlin
Kulturstaatsministerin
-Es gilt das gesprochene Wort.- Anrede, „Ich und van Gogh“ heißt ein Buch, das in diesem Jahr zum 125. Todestag Vincent van Goghs erschienen ist. Es zeigt Werke van Goghs aus ungewöhnlicher Perspektive. In 34 abenteuerlichen Geschichten erzählt es von ihrer Herkunft, ihrer Provenienz – und von Menschen, die nur eines gemeinsam haben, nämlich dass sie irgendwann ein Werk van Goghs ihr eigen nannten. Der Journalist Stefan Koldehoff hat dieses Buch geschrieben – ich begrüße Sie bei dieser Gelegenheit sehr herzlich, lieber Herr Koldehoff -, und er dürfte seinen Lesern damit nicht nur interessante Einblicke in die Welt der Kunstsammler gewähren, sondern ganz nebenbei auch eine leise Ahnung vermitteln, warum die Provenienz berühmter Kunstwerke nicht nur Provenienzforscher interessieren sollte: Im Weg eines Kunstwerks durch verschiedene Hände spiegelt sich oft unsere Geschichte mit all ihren Wendungen und Brüchen. Aus genau diesem Grund ist es vielfach unendlich kompliziert, die Geschichte eines Werkes lückenlos zurück zu verfolgen: so schwierig, dass sich damit eine eigene Forschungsrichtung beschäftigt – und gleichzeitig so wichtig, dass für ihren Erfolg die Politik mit in der Verantwortung steht. Um Verantwortung und um die Möglichkeiten, ihr gerecht zu werden, soll es im Rahmen der ersten Konferenz des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste gehen. Auch wenn man den Tag nicht vor dem Abend – und eine Tagung nicht vor der Abschlussrede – loben soll, wage ich die Feststellung, dass allein schon der Umstand ihres Stattfindens ein Erfolg ist: zum einen wegen der hochkarätigen Rednerinnen und Redner, die uns heute „neue Perspektiven der Provenienzforschung“ eröffnen, zum anderen, weil sie zeigt, dass Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände bei diesem wichtigen Thema an einem Strang ziehen. Wir haben es innerhalb kürzester Zeit geschafft, gemeinsam mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden wichtige Aktivitäten zur Suche nach NS-Raubkunst zu bündeln. In Rekordzeit von weniger als einem Jahr haben wir die Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste aufgebaut. Und es freut mich sehr, dass wir nicht nur für die Stiftung, sondern auch für ihre Gremien renommierte und erfahrene Persönlichkeiten gewinnen konnten, die ich hier besonders herzlich begrüßen darf! Heute tritt das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste erstmals mit einer großen Tagung ins Licht der Öffentlichkeit. Ich hoffe, dass sie dazu beiträgt, das gesellschaftliche Bewusstsein für die große, historisch begründete Verantwortung zu schärfen, die uns im Zusammenhang mit der Aufarbeitung unserer Vergangenheit zu Provenienzforschung und gegebenenfalls zur Restitution verpflichtet. Und natürlich nutze ich diese Gelegenheit gerne, um die politischen Überlegungen und Erwartungen zu erläutern, die mit der Gründung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste verbunden sind. Wir wissen seit langem, dass zahlreiche Sammler von Kunst- und Kulturgütern, vor allem jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ihr Eigentum verloren haben: Sie wurden von den Nationalsozialisten verfolgt, sie wurden beraubt, sie wurden enteignet. Andere mussten ihren Besitz unter Wert veräußern oder bei Flucht und Emigration zurücklassen. Doch viele Jahre fragte niemand nach der Herkunft von Kunstwerken – auch beim Erwerb für öffentliche Sammlungen nicht. Das hat sich erst mit der Washingtoner Erklärung aus dem Jahr 1998 geändert, deren Grundsätze durch die „Gemeinsame Erklärung“ von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden aus dem Jahr 1999 für Deutschland umgesetzt worden sind – ein leider sehr spätes Bekenntnis zur rückhaltlosen Aufarbeitung des nationalsozialistischen Kunstraubs. Und es sollte noch weitere Jahre dauern, bis sich allmählich ein breiteres Bewusstsein für die moralische Verpflichtung Deutschlands zu Provenienzforschung und Restitution entwickelte. Die Koordinierungsstelle Magdeburg mit der Lost-Art-Datenbank, die Beratende Kommission unter Leitung von Frau Prof. Jutta Limbach und die Arbeitsstelle für Provenienzforschung haben dazu mit ihrer Arbeit maßgeblich beigetragen – im Bewusstsein der Verantwortung Deutschlands für die Aufarbeitung des NS-Kunstraubs. Das gleiche gilt für die vielen verdienstvollen Forscherinnen und Forscher des Arbeitskreises Provenienzforschung, die vielfach als „Einzelkämpfer“ der ersten Stunde in ihren jeweiligen Häusern und später im Zusammenschluss Pionierarbeit geleistet haben und immer noch leisten. Sie haben die Grundlage gelegt für erfolgreiche Provenienzforschung in Deutschland! Mit dem „Schwabinger Kunstfund“ vor zwei Jahren allerdings war klar: Wir brauchen für diese gewaltige Aufgabe einen zentralen Ansprechpartner – eine Institution, die die Anstrengungen im Zusammenhang mit der Umsetzung der Washingtoner Prinzipien bündelt und koordiniert, um auf diese Weise die Rahmenbedingungen für Provenienzforschung weiter zu verbessern. Als ich dazu im Februar 2014 die Gründung eines Deutschen Zentrums Kulturgutverluste vorgeschlagen habe und im März – zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern und Vertreter der kommunalen Spitzenverbände – beim ersten kulturpolitischen Spitzengespräch im Bundeskanzleramt eine „Arbeitsgruppe Provenienzforschung“ eingesetzt habe, waren wir uns einig, dass wir geschehenes Unrecht nicht länger fortdauern lassen wollen und bessere Strukturen für die Aufklärung der Herkunft von Kunstwerken brauchen. Unser Land – und damit meine ich Staat und Verwaltungen genauso wie Organisationen, Einrichtungen und Privatpersonen – darf keinen Zweifel daran lassen, welche immense Bedeutung für uns alle die rückhaltlose Aufarbeitung des nationalsozialistischen Kunstraubs hat. Hinter einem entzogenen, geraubten Kunstwerk steht ja immer auch das individuelle Schicksal eines Menschen. Diesen menschlichen Schicksalen wollten wir nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch gerecht werden. Es geht um die Anerkennung der Opferbiografien, um die Anerkennung des Leids und des Unrechts, dem Verfolgte des NS-Regimes, insbesondere Menschen jüdischen Glaubens, unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ausgesetzt waren. Deshalb fördert der Bund die Provenienzforschung. Die Mittel des Bundes für die dezentrale Suche nach NS-Raubkunst wurden immer wieder erhöht. Ich habe das zur Verfügung stehende Budget verdreifacht gegenüber dem Haushaltsansatz bei meinem Amtsantritt. Die Suche nach NS-Raubkunst in Museen, Bibliotheken und Archiven und die Aufarbeitung des in seiner Systematik, in seinen Zielen und Auswirkungen einzigartigen NS-Kunstraubs zu fördern – das sind die Kernaufgaben des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste. Hinzu kommt die Förderung der Aufarbeitung verwerflicher Praktiken des Kulturgüterentzugs, denen Menschen in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR ausgesetzt waren – ein Thema, das morgen, am zweiten Konferenztag, mit auf der Tagesordnung steht. Außerdem kümmert sich das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste um Aufgaben im Zusammenhang mit Beutekunst. Mit dem Konzept und dem Auftrag der Einrichtung sind ganz konkrete Verbesserungen der Rahmenbedingungen für die Provenienzforschung verbunden: Erstens, eine Verbesserung des Angebots für privat getragene Einrichtungen und Privatpersonen: Bei der Konzeption des Deutschen Zentrum Kulturgutverluste bestand Einigkeit, dass wir Privatpersonen stärker als bisher für das Thema sensibilisieren und bei der Suche nach NS-Raubkunst unterstützen müssen. Ihr Engagement ist eine unverzichtbare Ergänzung zur geplanten Intensivierung der Provenienzforschung in Museen, Bibliotheken und Archiven. Der Förderbeirat wird noch in diesem Jahr Förderrichtlinien beschließen, in denen die Unterstützungsmöglichkeiten für Private näher bestimmt werden. Zweitens, ein Förderkonzept für die Aufarbeitung verwerflicher Praktiken des Kulturgüterentzugs, denen Menschen in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR ausgesetzt waren. Mit der Erarbeitung der Grundlinien ist das Zentrum bereits befasst. Drittens, die Verankerung der Provenienzforschung in Forschung und Ausbildung an wissenschaftlichen Hochschulen: Wenn das erforderliche Wissen und die Sensibilität für die Aufgabe schon im Rahmen der wissenschaftlichen Ausbildung vermittelt werden, stärkt das die Provenienzforschung nachhaltig. Deshalb gehören die Kooperation mit den Forschungseinrichtungen und der Auf- und Ausbau entsprechender Forschungsverbünde ebenfalls zum Auftrag des Zentrums Kulturgutverluste. Viertens, die stärkere Vernetzung der Provenienzforschungsprojekte: Das betrifft die Kommunikation, die Zusammenarbeit und die Auswertung und Dokumentation von Erkenntnissen aus den geförderten Projekten: Die Gemeinschaft der Provenienzforscher soll auf die gesammelten Forschungsresultate zugreifen können. Von der Vernetzung profitieren vor allem die kleinen Museen, weil es oft deren einzige Chance ist, Forschung zu etablieren. Während so manches große Museum (etwa das Frankfurter Städel Museum oder – unter Uwe Schneede – schon sehr früh die Hamburger Kunsthalle) eigens eine Stelle für die Provenienzforschung eingerichtet hat, sind kleine Museen häufig personell nicht in der Lage, Provenienzuntersuchungen durchzuführen. Solche Schwierigkeiten lassen sich nur lösen, wenn wir es schaffen, Projekte zu vernetzen und die Zusammenarbeit zwischen großen und kleinen Häusern – etwa in Forschungsverbünden – zu verbessern. Klar ist jedenfalls, dass die deutschen Museen spätestens seit dem Fall „Gurlitt“ nicht mehr nur an ihrer Ankaufs- und Ausstellungspolitik gemessen werden, sondern auch daran, wie sie ihre Geschichte und die ihrer Sammlungen aufarbeiten. Ich habe deshalb alle vom Bund finanzierten oder mitfinanzierten Museen aufgefordert, in ihren Museumsberichten jährlich Rechenschaft über den Stand ihrer Provenienzrecherche abzulegen. Und schließlich noch ein fünfter Punkt: Die Provenienzforschung soll stärker als bisher auch von Kooperation und Austausch auf internationaler Ebene profitieren. Die geraubten und entzogenen Werke sind ja in alle Welt verstreut. Deshalb kann der nationalsozialistische Kunstraub nur mit Hilfe internationaler Kooperation vollständig aufgearbeitet werden. Israel ist dabei ein besonders wichtiger Partner. Gemeinsam mit meiner damaligen Amtskollegin, der israelischen Kulturministerin Livnat, habe ich ein Memorandum of Understanding unterzeichnet, das eine enge Kooperation bei der Provenienzforschung vorsieht. Als eine große Geste der Anerkennung und des Vertrauens empfinde ich es auch, dass sich die israelische Regierung bereit erklärt hat, ein Mitglied für das Kuratorium zu benennen – nämlich Herrn Prof. Azaryahu, den ich heute ebenfalls herzlich willkommen heiße. Mit all diesen Veränderungen kann das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste neue Perspektiven der Provenienzforschung in Deutschland eröffnen und wird, da bin ich sicher, insbesondere die Aufarbeitung des NS-Kunstraubs in den nächsten Jahren ein gutes Stück voran bringen. Von Ihren Perspektiven, von Ihren Meinungen und auch von Ihrer konstruktiven Kritik, meine Damen und Herren, kann das noch junge Zentrum nur profitieren. Deshalb freue ich mich, nationale und internationale Kooperationspartner des Zentrums mit so viel wissenschaftlicher Expertise für die Diskussionen heute und morgen versammelt zu sehen. Die Zusammenführung der Koordinierungsstelle Magdeburg und der Arbeitsstelle für Provenienzforschung ist geglückt; der Übergang auf das Zentrum ist trotz aller – für eine Startphase ganz normalen – Schwierigkeiten gelungen; die Weichen für eine Stärkung der Provenienzforschung sind gestellt. Ich danke allen, die dazu in den vergangenen eineinhalb Jahren mit viel Sachverstand und Engagement beigetragen haben – nicht zuletzt den ehemaligen Leitern der „Vorläufer“-Einrichtungen, Herrn Dr. Franz und Herrn Dr. Hartmann. Sie haben mit Ihrer Arbeit eine solide Basis für die Provenienzforschung in Deutschland geschaffen, auf der wir heute weiter aufbauen können. Zu den konkreten Projekten des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste zählen die Taskforce Schwabinger Kunstfund und ab 2016 auch die Fortsetzung der Provenienzrecherche im Zusammenhang mit der Sammlung Gurlitt. Ziel der Bundesregierung ist und bleibt es, die Herkunft der Bilder aufzuklären, die sich im Besitz Cornelius Gurlitts befanden – im Sinne der rechtmäßigen Erben von Werken, die sich NS-Raubkunst erweisen, aber auch im Sinne der Aufarbeitung unserer NS-Vergangenheit und der Verpflichtung zu Transparenz. Wie von Anfang an vorgesehen, schließt die Taskforce „Schwabinger Kunstfund“ ihre Arbeit Ende 2015 ab – wenn auch leider nicht ganz so, wie wir alle es uns wohl erhofft hatten, als Bund und Freistaat Bayern sie vor knapp zwei Jahren eingesetzt haben. Dennoch danke ich der Vorsitzenden der Taskforce, Frau Dr. Berggreen-Merkel, sehr herzlich, dass Sie diese komplexe und auch komplizierte, anspruchsvolle Aufgabe übernommen hat. Damals war schnelles Handeln gefragt, weil es noch keine Struktur gab, um die Herkunft der Bilder zu klären. Seit diesem Jahr haben wir mit dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste die damals noch fehlenden Strukturen. Das von meinem Haus getragene Folgeprojekt für die Sammlung Gurlitt weiß ich deshalb beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste in besten Händen. Zu Aufarbeitung und Transparenz soll auch die für Ende 2016 geplante Ausstellung von Werken der Sammlung Gurlitt beitragen, bei denen nicht auszuschließen ist, dass es sich um NS-Raubkunst handeln könnte. Sie soll an die Opfer erinnern, den Berechtigten die Möglichkeit geben, ihre Ansprüche geltend zu machen, aber auch die Öffentlichkeit für das Thema sensibilisieren. Eine Erfahrung wird uns dabei sicher auch in Zukunft nicht erspart bleiben: Es ist mühsam, langwierig und oft ungeheuer schwierig, die Herkunft eines Kunstwerks über Jahrzehnte zurück zu verfolgen und zweifelsfrei zu klären. Sie, lieber Herr Prof. Schneede, haben deshalb kürzlich über die Provenienzforschung gesagt, ich zitiere: „Anfangs dachte ich, das wäre in zwei, drei Jahren erledigt. Heute sehe ich: Es geht vielleicht um eine endlose Aufgabe.“ Dass wir uns dieser „vielleicht endlosen Aufgabe“ stellen, meine Damen und Herren, das sind wir den ihres Eigentums und ihrer Rechte beraubten, von den Nationalsozialisten verfolgten und vielfach ermordeten Menschen schuldig. Ich danke all jenen, die uns dabei mit Ihrer Expertise unterstützen und zur Seite stehen! Ihnen allen wünsche ich einen inspirierenden Gedankenaustausch über neue Perspektiven der Provenienzforschung!
In ihrer Rede zur Konferenz „Neue Perspektiven der Provenienzforschung in Deutschland“ betonte Monika Grütters: „Wir haben es innerhalb kürzester Zeit geschafft, gemeinsam mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden wichtige Aktivitäten zur Suche nach NS-Raubkunst zu bündeln. In Rekordzeit von weniger als einem Jahr haben wir die Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste aufgebaut. Und es freut mich sehr, dass wir nicht nur für die Stiftung, sondern auch für ihre Gremien renommierte und erfahrene Persönlichkeiten gewinnen konnten.“
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Preisverleihung beim Schülerwettbewerb der „Nationalen Initiative Printmedien“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zur-preisverleihung-beim-schuelerwettbewerb-der-nationalen-initiative-printmedien–798094
Thu, 26 Nov 2015 10:00:00 +0100
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort. – Anrede, Herzlich willkommen in Berlin zur Preisverleihung der Nationalen Initiative Printmedien unter dem Wettbewerbsmotto: „Medien 2025 – wie willst Du Dich morgen informieren?“ Falls Ihr wissen wollt, wie Generationen junger Leute sich informieren wollten, bevor es das Internet gab, rate ich nicht zu Google, nein! – sondern zu Thomas Bernhards Erzählung „Wittgensteins Neffe“. Der österreichische Schriftsteller hat der Liebe zum gedruckten Wort darin ein kleines, anekdotisches Denkmal gesetzt. Da fahren zwei Freunde kreuz und quer durch Oberösterreich und Bayern, nur um die Neue Zürcher Zeitung aufzutreiben – von Salzburg über Bad Reichenhall nach Steyr und Wels, insgesamt 350 Kilometer, ohne Erfolg: Nirgendwo gibt es die Zeitung zu kaufen. Die Weiterreise nach München, Passau, Linz, Regensburg, gar direkt nach Zürich wird erwogen, jedoch aus Erschöpfung verworfen. Die Kräfte reichen nur noch für eine wüste Beschimpfung, ich zitiere: „Da wir in all diesen angeführten und von uns an diesem Tag aufgesuchten Orten die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommen haben (…), kann ich alle diese aufgeführten Orte nur als miserable Drecksorte bezeichnen, die absolut diesen unfeinen Titel verdienen. Wenn nicht einen dreckigeren. Und es ist mir damals auch klar geworden, dass ein Geistesmensch nicht an einem Ort existieren kann, in dem er die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommt. (…) Wir sollten uns nur immer da aufhalten, wo wir wenigstens die Neue Zürcher Zeitung bekommen, sagte ich, und der Paul war absolut meiner Meinung.“ So sah wahre Liebe zur Zeitung einmal aus, meine Damen und Herren: eine Liebe, für die heute, im Zeitalter des Tablets, niemand mehr 350 Kilometer fahren muss – was uns allerdings nicht verleiten sollte zu glauben, dass die Zeitung, wie wir sie schätzen, ohne unsere Anstrengung, ohne das Engagement auch ihrer Leserinnen und Leser zu haben ist. Ihr, liebe Schülerinnen und Schüler, Ihr habt schon mal keine Mühe und Anstrengung gescheut, um den Zeitungsmachern in unserer Nationalen Initiative Printmedien sehr konkrete Eindrücke davon zu vermitteln, wie Ihr Euch die Medienwelt von morgen vorstellt. Eure Wettbewerbsbeiträge laden ein zum „Kopfkino Zukunftsgedanken 2025“, informieren über das „Medienverhalten in der Berufsschule Lichtenfels“, offenbaren „die Geheimnisse der Information“ und präsentieren uns „TRIXY“ – eine Brille, die Nachrichten in das Sichtfeld des Trägers projizieren kann. Wie auch immer die Zukunft tatsächlich aussehen wird: Eure Einschätzung, Eure Erwartungen sind wichtig, denn Ihr seid es, die als Leser (oder auch als Nichtleser) schon heute über die Zeitung der Zukunft und die Zukunft der Zeitung mitentscheiden – und damit meine ich nicht die Alternative Print oder Online, Papier oder Tablet, nein, viel wichtiger! Es geht um die Frage, ob wir die journalistische Qualität und Vielfalt, wie wir sie heute kennen, auch in Zukunft aufrechterhalten können. Das hängt zum Beispiel von Eurer – von unser aller – Bereitschaft ab, für journalistische Qualität zu bezahlen. Recherchen, Analysen, Hintergrundberichte, fundierte Kommentare – das sind Stärken, mit denen Qualitätsjournalismus punkten kann, die aber nicht gratis zu haben sind, egal ob im Internet, im Fernsehen, im Radio oder in der Zeitung. Natürlich bekommt man mit ein paar Klicks im Internet Informationen zu jedem nur erdenklichen Thema. Man muss sie aber, um wirklich informiert zu sein, von Hirngespinsten, Halbwahrheiten und haltlosem Herumgemeine trennen können, und man muss sie einordnen können in größere Zusammenhänge. Wie soll das gehen ohne Journalistinnen und Journalisten, die das Recherche-Handwerk beherrschen, die auch die unterbelichteten Facetten eines Themas ausleuchten, die den Einzelfall genauso wie den gesellschaftlichen Hintergrund sichtbar machen und uns, den Lesern, auf diese Weise helfen, einen Sachverhalt zu bewerten oder vielleicht auch in neuem Licht zu sehen? Das scheint den meisten Jugendlichen bewusst zu sein: Studien belegen, dass Zeitungen – auch in der jungen Generation – mit das höchste Vertrauen genießen, wenn es um die Frage geht, wie man an zuverlässige Informationen kommt. Guter Journalismus weist den Weg in der Flut der Fakten, ordnet Informationen in Zusammenhänge ein, macht die Grautöne zwischen Schwarz und Weiß sichtbar und trägt damit zu einer informierten, aufgeklärten und kritischen Öffentlichkeit bei, die für eine funktionierende Demokratie unverzichtbar ist. Als Staatsministerin für Kultur und Medien bin ich innerhalb der Bundesregierung mit verantwortlich, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür stimmen: dass wir also, um es bildlich auszudrücken, einen fruchtbaren Boden für Qualitätsjournalismus haben, so dass dieses anspruchsvolle Pflänzchen nicht eingeht, sondern wachsen, blühen und gedeihen kann. Dafür arbeiten wir zum Beispiel an einem modernen Urheberrecht, das dafür sorgt, dass man auch im digitalen Zeitalter von geistiger Arbeit leben kann. Wie wir uns in Zukunft informieren werden, liegt aber natürlich auch in den Händen der Medienmacher selbst. Herbert Riehl-Heyse, einer der großen deutschen Journalisten, hat oft davor gewarnt, Leser nur als Konsumenten zu sehen und auf Kosten der Qualität Punkte im Wettbewerb machen zu wollen, ich zitiere: „Auf kurze Sicht kann man sehr gut verdienen mit Produkten, deren Verbraucher keine Nebensätze schätzen und denen überhaupt immer weniger gedankliche Anstrengung zugemutet wird. Auf lange Sicht könnte es sein, dass man sich so ein Publikum und die nächste Generation eines Publikums erzieht, das nicht mehr weiß, was eine anspruchsvolle Tageszeitung sein könnte.“ Das sehe ich genauso: Verleger und Journalisten, die in erster Linie auf Verkaufs- und Klickzahlen schielen und ihre Leser deshalb nicht informieren, sondern nur gut unterhalten wollen, sägen an dem Ast, auf dem sie sitzen. Klüger und weitsichtiger ist es, die Medienkompetenz und das Interesse junger Leute an Zeitungen und Zeitschriften zu fördern! Genau darum geht es in unserer Nationalen Initiative Printmedien, die mein Haus gemeinsam mit Branchenverbänden und Verlagshäusern ins Leben gerufen hat. Denn wer das Zeitunglesen – ob auf dem Tablet oder auf Papier -schon in jungen Jahren schätzen gelernt hat, wird sich diese Liebe mit hoher Wahrscheinlichkeit bewahren. Ein herzliches Dankeschön deshalb den Partnern der Initiative für ihr Engagement und für die gute Zusammenarbeit, aber auch den Lehrerinnen und Lehrern, die sich mit ihren Klassen an der Initiative beteiligen und sich trotz der Fülle an Stoff in den anspruchsvollen Lehrplänen die Zeit dafür nehmen! Ein herzliches Dankeschön vor allem aber an Euch, liebe Schülerinnen und Schüler, für Eure klugen, spannenden, inspirierenden und zukunftsweisenden Antworten auf die Frage: „Wie willst Du Dich morgen informieren?“ „Wir sollten uns nur immer da aufhalten, wo wir wenigstens die Neue Zürcher Zeitung bekommen!“, hieß es dazu einst bei Thomas Bernhard. Heute würde man wohl sagen: „Wir sollten uns immer nur da aufhalten, wo es wenigstens stabiles W-LAN gibt.“ In welcher Form auch immer Ihr Eure Zeitungs- und Zeitschriftenlektüre bevorzugt – ob digital oder analog: Ich wünsche Euch, dass Ihr die tägliche Lektüre – wie die beiden Freunde in der eingangs zitierten Erzählung – als etwas Unverzichtbares erlebt! In diesem Sinne: Auf die Zukunft des Qualitätsjournalismus – Bühne frei für Eure Zukunftsvisionen!
„Guter Journalismus weist den Weg in der Flut der Fakten, ordnet Informationen in Zusammenhänge ein, macht die Grautöne zwischen Schwarz und Weiß sichtbar und trägt damit zu einer informierten, aufgeklärten und kritischen Öffentlichkeit bei, die für eine funktionierende Demokratie unverzichtbar ist.“ erklärte Monika Grütters in ihrer Rede.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Verleihung des „Deutschen Lesepreises 2015“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-bei-der-verleihung-des-deutschen-lesepreises-2015–798110
Wed, 25 Nov 2015 18:00:00 +0100
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort. – Anrede, „Bücher lesen heißt: wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über die Sterne.“ Sie alle, ob Sie zu den Viellesern gehören oder sich zumindest gelegentlich Zeit zur vertieften Lektüre nehmen, würden den Worten Jean Pauls sicher ohne Zögern zustimmen. Denn, wandern wir mit unseren Augen über die Seiten eines Buches, eröffnen uns Geschichten und Charaktere – historische oder fiktionale – einen neuen Blickwinkel auf Geschehenes oder Erdachtes. Literatur bereichert unsere eigene Lebens- und Vorstellungswelt, weil sie auf spannende und berührende Weise unbekannte Lebensformen und Kulturen für uns erlebbar macht; sie gibt aber auch Gelegenheit dazu, Selbsterlebtes zu reflektieren, uns heimisch und verstanden zu fühlen in den Gedanken eines Autors, einer Autorin. Die Lektüre eines Romans, einer Kurzgeschichte oder einer Biografie ist immer eine sinnliche Expedition zu neuen geistigen Horizonten. Lesefähigkeit ist dafür das notwendige Reisegepäck, und sie ist Voraussetzung und Schlüssel zu kultureller Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe. Aber längst nicht alle Menschen empfinden diese von Jean Paul beschriebene literarische Wanderlust – oft, weil sie nie richtig lesen gelernt haben und sich bei dem Gedanken an mit Buchstaben bedrucktes Papier statt bibliophiler Leidenschaft eher Lesefrust einstellt. In Deutschland ist Bildung leider noch immer in hohem Maße von der sozialen Herkunft abhängig. Kinder aus Familien, in denen die abendliche Gute-Nacht-Geschichte oder die Zeitungslektüre am Frühstückstisch nicht zu den schönen Alltagsritualen gehört, haben keine Vorbilder, an denen sie im Erwachsenenalter ihr Leseverhalten orientieren können. Umso wichtiger ist es, Kindern und Jugendlichen möglichst früh den Zugang zu Bildungsangeboten zu ermöglichen und ihnen damit Teilhabechancen zu eröffnen. Genau das tun in Deutschland zahlreiche Menschen, die sich in der Leseförderung engagieren – im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit, ehrenamtlich oder bei wissenschaftlichen Untersuchungen. Sie entwickeln neue Konzepte, um Kindern und Jugendlichen beim Erlernen der deutschen Sprache zu helfen, führen Erwachsene mit Leseschwierigkeiten an passende Lektüre heran – und leisten einen großen Beitrag für die Integration der Nicht-Muttersprachler, nicht zuletzt der Menschen, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen und hier Fuß fassen wollen. Lehrerinnen, Kindergärtner, Ehrenamtliche und Wissenschaftler – sie alle sind Botschafter einer Lesekultur, die auch im Zeitalter digitaler und multimedialer Kommunikation wichtig und identitätsstiftend ist für unsere Kulturnation. Einige besonders innovative Konzepte der Leseförderung erhalten heute Abend den Deutschen Lesepreis, für den ich gerne die Schirmherrschaft übernommen habe. Mit der feierlichen Verleihung an diesem wunderschönen Ort hier im Humboldt Carré schaffen die Initiatoren des Deutschen Lesepreises nicht nur einen würdigen Rahmen, sondern vor allem ein öffentliches Bewusstsein für die Notwendigkeit der Leseförderung. Dafür danke ich Ihnen herzlich, lieber Herr Dr. Maas und liebe Frau Kießling-Taşkın, stellvertretend für die Stiftung Lesen und die Commerzbank-Stiftung. Dass Menschen überall in Deutschland „aus den Stuben über die Sterne“ wandern können, um noch einmal das Zitat von Jean Paul aufzugreifen, verdanken wir in besonderem Maße unseren Buchhandlungen. Sie fördern quer durch alle Altersgruppen die Lust am Lesen und das Gespräch über Literatur – durch kompetente Beratung und inspirierende Veranstaltungen. Mit dem Buchhandlungspreis, den ich in diesem Jahr zum ersten Mal vergeben durfte, würdigt die Bundesregierung besonders die kleinen, inhabergeführten Buchhandlungen vor Ort. Diese Garanten der verlegerischen und literarischen Vielfalt zu unterstützen, ist mir ein Herzensanliegen. So bereichernd die literarischen Reisen in der Welt der Bücher auch sind: In der Realität bewegen wir uns selten mit Romanhelden auf phantasievollen Pfaden, viel öfter jedoch auf mit Schlagzeilen gepflasterten Wegen. Gerade aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen erfordern Lesekompetenz und einen sicheren Umgang mit Informationsquellen. Angesichts der Nachrichtenfülle, die täglich auf dem Smartphone, im Fernsehen und in einer unüberschaubaren Menge an Zeitungen und Zeitschriften auf uns einwirkt, brauchen wir Handwerkszeug, das wir zu verwenden verstehen und auf das wir uns verlassen können. Lesekompetenz dient auch als Kompass in unserer multimedialen Welt, sie ist der Schlüssel zu Informationen, Wissen und demokratischer Teilhabe. Um besonders junge Menschen für die kritische Lektüre von Zeitungen und Zeitschriften zu begeistern und sie für die von der Presse behandelten politisch, gesellschaftlich und kulturell bedeutsamen Themen zu sensibilisieren, hat mein Haus schon 2008 die „Nationale Initiative Printmedien“ ins Leben gerufen, in der sich verschiedene Vertreter der Printbranche zusammengefunden haben. Im Rahmen der Initiative loben wir jedes Jahr einen Schülerwettbewerb aus – die Preisverleihung findet morgen ebenfalls hier in Berlin statt. Heute aber stehen erst einmal Sie im Mittelpunkt, liebe Preisträgerinnen und Preisträger. Sie alle unterstützen Menschen, die aufgrund ihrer materiellen oder sozialen Herkunft nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen und mit großer Kraftanstrengung die deutsche Sprache erlernen müssen. Sie schenken viel Zeit und Energie, damit auch bildungsbenachteiligte Menschen in „fernen Welten“ und „über die Sterne“ wandern und am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilhaben können. Der Deutsche Lesepreis würdigt dieses Engagement, er würdigt Vorbilder für mehr Lesefreude und Lesekompetenz in Deutschland. Das verdient nicht nur ein Dankeschön, sondern auch öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, zur Auszeichnung mit dem Deutschen Lesepreis!
„Kinder aus Familien, in denen die abendliche Gute-Nacht-Geschichte oder die Zeitungslektüre am Frühstückstisch nicht zu den schönen Alltagsritualen gehört, haben keine Vorbilder, an denen sie im Erwachsenenalter ihr Leseverhalten orientieren können. Umso wichtiger ist es, Kindern und Jugendlichen möglichst früh den Zugang zu Bildungsangeboten zu ermöglichen und ihnen damit Teilhabechancen zu eröffnen.“ betonte Monika Grütters in ihrer Rede.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Verleihung des „Deutschen Lesepreises 2015“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-verleihung-des-deutschen-lesepreises-2015–798086
Wed, 25 Nov 2015 18:00:13 +0100
Humboldt Carré Berlin
Kulturstaatsministerin
-Es gilt das gesprochene Wort.- Anrede, „Bücher lesen heißt: wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über die Sterne.“ Sie alle, ob Sie zu den Viellesern gehören oder sich zumindest gelegentlich Zeit zur vertieften Lektüre nehmen, würden den Worten Jean Pauls sicher ohne Zögern zustimmen. Denn, wandern wir mit unseren Augen über die Seiten eines Buches, eröffnen uns Geschichten und Charaktere – historische oder fiktionale – einen neuen Blickwinkel auf Geschehenes oder Erdachtes. Literatur bereichert unsere eigene Lebens- und Vorstellungswelt, weil sie auf spannende und berührende Weise unbekannte Lebensformen und Kulturen für uns erlebbar macht; sie gibt aber auch Gelegenheit dazu, Selbsterlebtes zu reflektieren, uns heimisch und verstanden zu fühlen in den Gedanken eines Autors, einer Autorin. Die Lektüre eines Romans, einer Kurzgeschichte oder einer Biografie ist immer eine sinnliche Expedition zu neuen geistigen Horizonten. Lesefähigkeit ist dafür das notwendige Reisegepäck, und sie ist Voraussetzung und Schlüssel zu kultureller Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe. Aber längst nicht alle Menschen empfinden diese von Jean Paul beschriebene literarische Wanderlust – oft, weil sie nie richtig lesen gelernt haben und sich bei dem Gedanken an mit Buchstaben bedrucktes Papier statt bibliophiler Leidenschaft eher Lesefrust einstellt. In Deutschland ist Bildung leider noch immer in hohem Maße von der sozialen Herkunft abhängig. Kinder aus Familien, in denen die abendliche Gute-Nacht-Geschichte oder die Zeitungslektüre am Frühstückstisch nicht zu den schönen Alltagsritualen gehört, haben keine Vorbilder, an denen sie im Erwachsenenalter ihr Leseverhalten orientieren können. Umso wichtiger ist es, Kindern und Jugendlichen möglichst früh den Zugang zu Bildungsangeboten zu ermöglichen und ihnen damit Teilhabechancen zu eröffnen. Genau das tun in Deutschland zahlreiche Menschen, die sich in der Leseförderung engagieren – im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit, ehrenamtlich oder bei wissenschaftlichen Untersuchungen. Sie entwickeln neue Konzepte, um Kindern und Jugendlichen beim Erlernen der deutschen Sprache zu helfen, führen Erwachsene mit Leseschwierigkeiten an passende Lektüre heran – und leisten einen großen Beitrag für die Integration der Nicht-Muttersprachler, nicht zuletzt der Menschen, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen und hier Fuß fassen wollen. Lehrerinnen, Kindergärtner, Ehrenamtliche und Wissenschaftler – sie alle sind Botschafter einer Lesekultur, die auch im Zeitalter digitaler und multimedialer Kommunikation wichtig und identitätsstiftend ist für unsere Kulturnation. Einige besonders innovative Konzepte der Leseförderung erhalten heute Abend den Deutschen Lesepreis, für den ich gerne die Schirmherrschaft übernommen habe. Mit der feierlichen Verleihung an diesem wunderschönen Ort hier im Humboldt Carré schaffen die Initiatoren des Deutschen Lesepreises nicht nur einen würdigen Rahmen, sondern vor allem ein öffentliches Bewusstsein für die Notwendigkeit der Leseförderung. Dafür danke ich Ihnen herzlich, lieber Herr Dr. Maas und liebe Frau Kießling-Taşkın, stellvertretend für die Stiftung Lesen und die Commerzbank-Stiftung. Dass Menschen überall in Deutschland „aus den Stuben über die Sterne“ wandern können, um noch einmal das Zitat von Jean Paul aufzugreifen, verdanken wir in besonderem Maße unseren Buchhandlungen. Sie fördern quer durch alle Altersgruppen die Lust am Lesen und das Gespräch über Literatur – durch kompetente Beratung und inspirierende Veranstaltungen. Mit dem Buchhandlungspreis, den ich in diesem Jahr zum ersten Mal vergeben durfte, würdigt die Bundesregierung besonders die kleinen, inhabergeführten Buchhandlungen vor Ort. Diese Garanten der verlegerischen und literarischen Vielfalt zu unterstützen, ist mir ein Herzensanliegen. So bereichernd die literarischen Reisen in der Welt der Bücher auch sind: In der Realität bewegen wir uns selten mit Romanhelden auf phantasievollen Pfaden, viel öfter jedoch auf mit Schlagzeilen gepflasterten Wegen. Gerade aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen erfordern Lesekompetenz und einen sicheren Umgang mit Informationsquellen. Angesichts der Nachrichtenfülle, die täglich auf dem Smartphone, im Fernsehen und in einer unüberschaubaren Menge an Zeitungen und Zeitschriften auf uns einwirkt, brauchen wir Handwerkszeug, das wir zu verwenden verstehen und auf das wir uns verlassen können. Lesekompetenz dient auch als Kompass in unserer multimedialen Welt, sie ist der Schlüssel zu Informationen, Wissen und demokratischer Teilhabe. Um besonders junge Menschen für die kritische Lektüre von Zeitungen und Zeitschriften zu begeistern und sie für die von der Presse behandelten politisch, gesellschaftlich und kulturell bedeutsamen Themen zu sensibilisieren, hat mein Haus schon 2008 die „Nationale Initiative Printmedien“ ins Leben gerufen, in der sich verschiedene Vertreter der Printbranche zusammengefunden haben. Im Rahmen der Initiative loben wir jedes Jahr einen Schülerwettbewerb aus – die Preisverleihung findet morgen ebenfalls hier in Berlin statt. Heute aber stehen erst einmal Sie im Mittelpunkt, liebe Preisträgerinnen und Preisträger. Sie alle unterstützen Menschen, die aufgrund ihrer materiellen oder sozialen Herkunft nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen und mit großer Kraftanstrengung die deutsche Sprache erlernen müssen. Sie schenken viel Zeit und Energie, damit auch bildungsbenachteiligte Menschen in „fernen Welten“ und „über die Sterne“ wandern und am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilhaben können. Der Deutsche Lesepreis würdigt dieses Engagement, er würdigt Vorbilder für mehr Lesefreude und Lesekompetenz in Deutschland. Das verdient nicht nur ein Dankeschön, sondern auch öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, zur Auszeichnung mit dem Deutschen Lesepreis!
„Die Lektüre eines Romans, einer Kurzgeschichte oder einer Biografie ist immer eine sinnliche Expedition zu neuen geistigen Horizonten. Lesefähigkeit ist dafür das notwendige Reisegepäck, und sie ist Voraussetzung und Schlüssel zu kultureller Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe“ betonte Monika Grütters in ihrer Rede.
Rede von Staatsministerin Grütters beim Empfang der Kultur- und Kreativpiloten 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-gruetters-beim-empfang-der-kultur-und-kreativpiloten-2015-798092
Wed, 25 Nov 2015 11:49:02 +0100
Bundeskanzleramt
Kulturstaatsministerin
-Es gilt das gesprochene Wort.- Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass hier in der so genannten Kanzlergalerie schon geschichtsträchtigere Veranstaltungen stattgefunden haben als unser heutiges Treffen und dass hier möglicherweise auch schon bedeutendere Worte gesprochen wurden als Sie sie heute hören werden. Eines aber hat es in diesen heiligen Hallen ganz bestimmt noch nie gegeben: eine Rede an einem Papp-Möbel, an einem Stehpult „to go“, an einem Produkt deutscher Kultur- und Kreativwirtschaft. Ich verdanke es meinem Vortrag vor einem Jahr bei der Jahreskonferenz der Branche an einem Rednerpult, dessen steile Auflage sich als ungeeignet erwies, auch nur ein Blatt Papier zu halten – was eine 20minütige Rede nicht unbedingt einfacher macht. Bei meinem anschließenden Rundgang – genauer: beim Besuch am Stand von „room in a box“ – wurde dann zwischen allerlei Pappmöbeln die Idee geboren, ein dem Wohlbefinden der Rednerin zuträglicheres Rednerpult zu entwickeln. Vielen Dank dafür an Gerald Dissen, Lionel Palm und ihr Team! Es spricht sich hier, so viel kann ich nach nur einer Redeminute schon sagen, ganz hervorragend: Nichts rutscht, nichts wackelt, nichts fällt – und beflügelt werden dank der ungewohnten Optik allenfalls die Gedanken, aber nicht das Manuskript. Ein bestens geeigneter Standpunkt also, um die Kultur- und Kreativpiloten 2015 zu begrüßen! In diesem Sinne: Herzlich willkommen im Bundeskanzleramt, liebe Kultur- und Kreativpilotinnen! Sie reüssieren mit Taschen, die aus Rettungswesten hergestellt wurden, mit Puppen, die in Film und Fernsehen groß raus kommen, mit einer „Erinnerungsguerilla“ im öffentlichen Raum, oder auch mit einer Schreibwerkstatt für regional-kolorierte Kurzgeschichten oder mit der Aufführung von Musik aus Videospielen in Live-Konzerten … – um nur einige Beispiele zu nennen, über die wir gleich noch mehr erfahren werden. 32 originelle Geschäftsideen haben wir – die Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft der Bundesregierung und das u-institut – im diesjährigen Wettbewerb Kultur- und Kreativpiloten aus insgesamt 704 Bewerbungen ausgewählt, um sie heute Abend feierlich auszuzeichnen. Jede einzelne Idee erzählt von der Kraft der Phantasie, um die es uns bei der Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft geht. Ich bin immer wieder begeistert und beeindruckt, wenn ich höre, sehe und erlebe, was aus dieser Kraft entsteht. Sie alle, die Sie heute Abend ausgezeichnet werden, stehen mit der Kraft Ihrer Phantasie für die Kraft der Veränderung, die unser Land voran bringt! Schön, Sie künftig im Kreis unserer nun bald 200 Kultur- und Kreativpiloten zu wissen – einer Gemeinschaft, in der Sie miteinander kooperieren und voneinander lernen können! Ihre Ideen für eine bessere Welt brauchen wir im Moment ganz besonders, um die Menschen aufnehmen zu können, die, aus Kriegs- und Krisengebieten kommend, zu Hunderttausenden Zuflucht suchen in Deutschland. Deshalb freue ich mich, dass es Projekte und Produkte unserer Kultur- und Kreativpiloten gibt, die eine menschenwürdige Unterbringung in Flüchtlingslagern ermöglichen, geflüchteten Menschen den Neuanfang in Deutschland erleichtern und Brücken bauen zwischen Einheimischen und Neuankommenden. Großartig finde ich im Übrigen auch die enge Zusammenarbeit der Kultur- und Kreativpiloten mit UNICEF. Mit der wunderbaren Aktion „Kochen für Freunde“, die daraus hervorgegangen ist, werden private Gastgeber im Freundeskreis zu UNICEF-Botschaftern. So macht Spenden doppelt Freude! Ich bin überzeugt, meine Damen und Herren, dass es vor allem die Künstler und Kreativen sind, die mit ihrem Mut zum Experimentieren Undenkbares möglich machen, so dass wir sagen können: Wir schaffen das! Das verdient Unterstützung! Deshalb gibt es die Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft der Bundesregierung, für deren Förderung es künftig in meinem Haus – über die bisherige Unterstützung hinaus – einen Haushaltstitel für die kulturellen Schwerpunkte der Kultur- und Kreativwirtschaft mit jährlich 1,5 Millionen Euro geben wird. Damit kann ich heute umso beherzter an Sie appellieren: Machen Sie weiterhin Ihr Ding – wir unterstützen Sie dabei! Alles Gute und weiterhin viel Erfolg für Ihre Unternehmen und Projekte!
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Einzelplan 04
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-einzelplan-04-798102
Wed, 25 Nov 2015 09:26:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor wenigen Tagen, am 13. November, mussten Menschen in Paris einen Albtraum von Gewalt, Terror und Angst durchleiden. Unzählige Familien trauern um ihre Liebsten. Deutschland teilt mit ihnen den Schmerz. Wir alle haben sofort verstanden: Dieser unmenschliche Angriff meint uns alle, und er trifft uns alle. Es ist ein Anschlag auf unser aller Freiheit, auf unsere Werte und Überzeugungen, ein Angriff auf all das, was uns wichtig ist und wofür Generationen vor uns in Europa gestritten und gekämpft haben: Demokratie und Menschenrechte, Gleichberechtigung und eine offene, freundliche und tolerante Zivilgesellschaft. Wir stehen solidarisch an der Seite Frankreichs in der Trauer um die Opfer. Wir stehen solidarisch an der Seite Frankreichs im Kampf gegen den Terror. Wir gedenken aller Opfer des Terrors. Ich denke an die Opfer des russischen Flugzeugabsturzes, an die Opfer in Bamako genauso wie an die Opfer gestern in Tunesien. Frankreich hat erstmals in der Geschichte die EU-Beistandsklausel des Artikels 42 Absatz 7 im Lissabon-Vertrag in Anspruch genommen. Alle EU-Staaten haben Frankreich einhellig Solidarität und vor allem auch Beistand zugesichert. Ursula von der Leyen als Verteidigungsministerin hat bereits letzten Dienstag erstmals mit ihrem französischen Amtskollegen über die Frage gesprochen, wie diese Solidarität mit Leben erfüllt werden kann. Wir sind mit unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz und helfen bei der Bekämpfung des Terrors: im Irak den Peschmerga, in Mali, indem wir unser Engagement verstärken, und in Afghanistan, indem wir unser Engagement verlängern. Heute Abend werde ich mit dem französischen Präsidenten François Hollande über die Fragen sprechen, die uns gemeinsam bewegen. Der Geist dieses Gesprächs wird davon bestimmt sein, dass wir gemeinsam mit unseren Freunden handeln werden. Wenn zusätzliches Engagement notwendig ist, dann werden wir das nicht von vornherein ausschließen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Polizei und Nachrichtendienste arbeiten in Deutschland mit Hochdruck an der Aufklärung der grausamen Anschläge und der Aufdeckung ihrer terroristischen Strukturen. Auch in Deutschland ist die Bedrohungslage hoch. Wir gehen allen Hinweisen nach und müssen natürlich – das haben wir letzte Woche Dienstag gesehen – immer wieder eine schwierige Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit treffen. Ich will hier ausdrücklich – auch im Namen der ganzen Bundesregierung – sagen: Wir haben Vertrauen in unsere Sicherheitsbehörden, dass sie mit Augenmaß handeln. Sie brauchen unsere politische Unterstützung, und die haben sie auch. Denn anders können Sicherheitsbehörden nicht handeln. Zwei Dinge sind mir sehr wichtig: Erstens. Wir müssen – da möchte ich mich auch bei der Mehrheit des Deutschen Bundestags bedanken – wachsam und wehrhaft sein. Deshalb war es richtig – das geschah schon vor den Anschlägen –, dass wir eine personelle und technische Verstärkung unserer Sicherheitsbehörden beschlossen haben. Es gibt im Jahr 2016 1 000 neue Planstellen für die Bundespolizei. Insgesamt sind bis 2018 3 000 zusätzliche Stellen vorgesehen. Bei der Bundespolizei werden sogenannte robuste Einheiten aufgebaut, die so ausgebildet und ausgestattet sein werden, dass sie terroristischen Lagen begegnen können und damit unsere Möglichkeiten in solchen Fällen deutlich – über das hinaus, was die Landespolizeien und die GSG 9 heute schon können – erweitern. Wir stärken unsere Nachrichtendienste, investieren unter anderem in die Modernisierung ihrer technischen Ausstattung. Und wir verstärken das Bundesamt für Verfassungsschutz und den Bundesnachrichtendienst personell. Zweitens. Die stärkste Antwort – und das ist ebenso wichtig – an Terroristen ist, unser Leben und unsere Werte weiter so zu leben wie bisher, selbstbewusst und frei, mitmenschlich und engagiert. Wir Europäer werden zeigen: Unser freies Leben ist stärker als jeder Terror. Ein starkes Zeichen der Einigkeit im Kampf gegen den Terrorismus ging auch vom G-20-Gipfel in Antalya unmittelbar nach den Anschlägen von Paris aus. Für mich besonders wichtig war das hier abgegebene klare Bekenntnis der Regierungschefs muslimischer Staaten, die genauso wie wir dem Terrorismus ganz klar den Kampf angesagt haben. Deshalb werden wir – so haben wir es in Antalya beschlossen – trotz ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Strukturen die Zusammenarbeit bei der Terrorbekämpfung verstärken: bei der Zusammenarbeit der Nachrichtendienste, bei der Überwachung der Internetkommunikation von terroristischen Netzwerken und – das ist ganz wichtig – bei der Kappung der Geldflüsse der Terroristen, soweit dies möglich ist. Diese Geldflüsse müssen Schritt für Schritt trockengelegt werden. Das ist eine der vornehmsten Aufgaben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns immer wieder bewusst machen: Es ist ebendieser Terror, es sind ebensolche Krisen, vor denen Menschen in großer Zahl nach Europa – und ganz besonders auch nach Deutschland – fliehen. Sie suchen Schutz und Aufnahme. Wir haben weltweit die größte Zahl von Flüchtlingen seit dem Zweiten Weltkrieg. Deshalb ist die Frage, wie wir mit dieser Sachlage umgehen, natürlich nicht nur eine nationale oder eine europäische, sondern eine globale, internationale Frage. Deutschland hat in den letzten Monaten gezeigt, wie menschlich, leistungsfähig und flexibel wir auf allen Ebenen – vom Bund über die Länder bis hin zu den Kommunen, von der Polizei über das BAMF bis hin zu den Jugendämtern – sind. Verantwortliche sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wachsen täglich über sich hinaus. Sie machen unzählige Überstunden, Nacht- und Sonderschichten. Und es gibt durchgearbeitete Wochenenden. Es geht dabei nicht nur um die vielen Stunden, sondern auch um das Engagement, die Bereitschaft und das Herz, das sie investieren. Deshalb möchte ich mich bei ihnen allen ganz herzlich bedanken. Das gilt in gleicher Weise für die unzähligen ehrenamtlichen und freiwilligen Helferinnen und Helfer. Ich weiß nicht, ob es schon jemals ein derartig großes, schnell aufgebautes und gut organisiertes Netz an privaten Helfern in Deutschland gegeben hat. Auch ihnen sage ich ein genauso herzliches Dankeschön. Sie haben einen klaren Anspruch darauf, zu wissen, nach welcher Agenda, nach welchem Plan die Bundesregierung an der Bekämpfung der Fluchtursachen, an den europäischen und den nationalen Maßnahmen arbeitet. Beginnen müssen wir bei der Bekämpfung der Fluchtursachen. Es herrscht in vielen Regionen Krieg und Terror. Staaten zerfallen. Viele Jahre haben wir es gelesen. Wir haben es gehört. Wir haben es im Fernsehen gesehen. Aber wir haben damals noch nicht ausreichend verstanden, dass das, was in Aleppo und Mossul passiert, für Essen oder Stuttgart relevant sein kann. Damit müssen wir umgehen, und das wird Veränderungen in unserer Politik mit sich bringen, zugunsten der Außenpolitik und zugunsten der Entwicklungspolitik, weil wir uns immer fragen müssen: Was bedeutet welche Maßnahme für uns hier zu Hause? Ich glaube, es ist klar, dass wir dazu einen langen Atem und Geduld brauchen. Wir brauchen vor allen Dingen auch Partner. Ich will mit dem Syrien-Konflikt beginnen. Es ist vollkommen klar, dass die eigentliche, wirkliche Lösung nur in einer politischen Lösung liegen kann. Natürlich hat sich gestern durch den Abschuss eines russischen Flugzeuges durch die Türkei die Lage noch einmal verschärft, und wir müssen jetzt alles dafür tun, eine Eskalation zu vermeiden. Natürlich hat jedes Land das Recht, sein Territorium zu sichern. Aber auf der anderen Seite wissen wir, wie angespannt die Situation im Augenblick ist, in Syrien und seiner Umgebung. Ich habe gestern mit dem türkischen Ministerpräsidenten gesprochen und darum gebeten, alles zu tun, um die Situation zu deeskalieren. Ich möchte unserem Außenminister Frank-Walter Steinmeier danken. Ich glaube, es war bei der Einbringung des Haushalts, als Ihre Reisen in den Iran und nach Saudi-Arabien bevorstanden. Ich glaube, wir haben alle gar nicht zu hoffen gewagt, dass es so schnell geht, dass jetzt Akteure an einem Tisch sitzen, die wichtig und abdingbar sind für die Lösung des Syrien-Konflikts: Russland, die USA, die Europäer, die arabischen Staaten, der Iran und die Türkei. Es gibt durchaus hoffnungsvolle Entwicklungen, die jetzt hoffentlich nicht zu weit zurückgeworfen werden durch das, was gestern passiert ist. Es gibt Ideen für einen politischen Übergangsprozess. Ich weiß, wie schwierig es ist, vor allen Dingen die Akteure in Syrien an einen Tisch zu bekommen. Aber es gibt keinen anderen Weg, der uns einer dauerhaften Lösung näherbringt. Deshalb wünsche ich weiterhin allen Teilnehmern dieser Verhandlungen allen Erfolg; wir werden sie mit aller Kraft unterstützen. Nur so wird es möglich sein, sich auch darauf zu konzentrieren, was nach meiner Auffassung im Augenblick nicht anders als militärisch zu lösen ist. Das ist der Kampf gegen den IS. Es muss ein gemeinsamer Kampf der Weltgemeinschaft sein, um deutlich zu machen: Wir erteilen dem Terrorismus und der Brutalität solcher Organisationen eine klare Absage. Mit der Bekämpfung der Fluchtursachen hat sich auch der EU-Afrika-Gipfel, der Sondergipfel, am 12. November in Valletta befasst. Wir haben einen Aktionsplan mit den afrikanischen Staaten verabschiedet, bei dem es auf der einen Seite um bessere wirtschaftliche Perspektiven afrikanischer Länder und auch um bessere Möglichkeiten legaler Migration geht. Wir zum Beispiel werden im Bereich der Zurverfügungstellung von Ausbildungsplätzen, Stipendienplätzen und anderen mehr tun. Auf der anderen Seite hat es aber auch deutliche Diskussionen darüber gegeben, dass die Zivilgesellschaften in Afrika durch ihre politischen Führungen mehr Transparenz und mehr Klarheit bekommen müssen. In Zeiten des Smartphones kann man nicht mehr so regieren, wie das früher geschehen ist. Das gilt auch für Afrika, meine Damen und Herren. Denn eines ist klar: Je mehr in Herkunftsländern dafür Sorge getragen werden kann, dass Menschen sich nicht auf den gefährlichen Weg aus ihrer Heimat machen, umso besser wird es gelingen, Fluchtursachen zu bekämpfen, sodass Flüchtlinge gar nicht mehr den Weg antreten. Wir haben zusätzlich zu unserer Entwicklungshilfe, die wir leisten – das sind etwa 20 Milliarden Euro seitens der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten der Europäischen Union –, einen Treuhandfonds von 1,8 Milliarden Euro aufgelegt, um genau diese Aufgaben zu erfüllen. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wird seinen gesamten Etataufwuchs von über 850 Millionen Euro auf die akute Fluchtursachenbekämpfung konzentrieren. Die gesamte Entwicklungszusammenarbeit mit einem Etat von 7,4 Milliarden Euro im Haushaltsentwurf 2016 arbeitet genau am Erhalt von Lebensgrundlagen und an der Schaffung von Zukunftsperspektiven. Die Bekämpfung von Fluchtursachen war auch Thema auf dem G-20-Gipfel in Antalya. Hier ist vor allen Dingen noch einmal über das humanitäre Engagement gesprochen worden. Noch haben wir es nicht geschafft, dass der UNHCR und das Welternährungsprogramm im Jahr 2016 auf einen Haushalt blicken können, der ausreicht, um die notwendigen Aufgaben zu erfüllen. Wir alle haben wieder die Warnrufe des UNHCR in diesen Tagen erlebt. Ich will deutlich machen: Die Bundesregierung hat ihre Pflicht getan. Wir haben unsere Ansätze gesteigert. Wir werden weiterhin bereit sein, das Notwendige zu tun. Europa hat sich bewegt. Aber wir werden nicht nachlassen, hier die ganze Welt in die Verantwortung zu nehmen. Es ist wirklich nicht nur eine europäische Angelegenheit, sondern die ganze Welt ist hier verantwortlich. Deshalb werde ich am 4. Februar 2016 gemeinsam mit David Cameron, der norwegischen Premierministerin Erna Solberg und dem Emir von Kuwait eine Konferenz in London durchführen, wo es genau um die humanitäre Unterstützung geht, damit wir am Ende des Jahres 2016 nicht wieder so dastehen wie am Ende des Jahres 2015. Wenn wir über internationale Anstrengungen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise sprechen, ist die Türkei ein Schlüsselpartner für die Europäische Union. Die Türkei ist unser Nachbar. Sie liegt an der anderen Seite unserer Außengrenze. Schauen wir uns einmal die Nachbarn der Türkei an. Das sind der Iran, der Irak und Syrien. Das sind Länder, die wir entweder dringend benötigen für die Lösung des Konflikts in Syrien oder in denen der IS bereits Teile des Landes beherrscht. Aus diesem Grund hat die Türkei mit mehr als 2 Millionen Flüchtlingen aus Syrien und Irak eine große Aufgabe zu bewältigen. Ich will an dieser Stelle allerdings Jordanien und den Libanon nicht vergessen. Was diese Länder leisten, ist bemerkenswert und sollte uns ab und zu nachdenklich stimmen. Ich glaube aber, gerade am Beispiel der Türkei wird klar, dass es in unserem ureigenen Interesse liegt, dass die Türkei die Bewältigung der Aufgabe, die Flüchtlinge zu beherbergen, meistern kann. Wenn wir wieder zu geordneten und rechtlichen Verhältnissen an den Außengrenzen der Europäischen Union kommen wollen, dann bedarf es einer Kooperation mit der Türkei. Donald Tusk hat zu einem EU-Türkei-Gipfel am Sonntag eingeladen. Wir arbeiten an einer gemeinsamen Agenda, die aufbaut auf dem Gedanken guter nachbarschaftlicher Beziehungen. Da spielt natürlich die Öffnung von Kapiteln im Zusammenhang mit dem Beitrittsprozess eine Rolle. Da spielt auch das Thema Visaliberalisierung eine Rolle. Für uns spielt es eine Rolle, dass wir ein Rückführungsabkommen wollen, das nicht nur zum Ziel hat, dass türkische Bürger in die Türkei zurückgenommen werden, sondern uns auch in die Lage versetzt, Bürger von Drittstaaten in die Türkei zurückzuschicken. Aber wir haben hier eine gemeinsame Verantwortung. Ich möchte daran erinnern: Gestern hat der NATO-Rat getagt angesichts des Abschusses des russischen Flugzeuges. Die Türkei und Griechenland sind NATO-Mitgliedstaaten. Aber im Verhältnis zwischen diesen beiden Partnern innerhalb der NATO herrscht im Augenblick Illegalität auf der Ägäis. Es kann uns alle nicht kaltlassen, dass die falschen Leute aus dem Elend und dem Leid der Flüchtlinge noch ein Geschäft machen. Deshalb müssen wir Illegalität durch Legalität ersetzen. Das liegt in unserem Interesse und im Interesse der Türkei. Das heißt wirksamer Schutz in Kooperation mit der Türkei an der Außengrenze, Bekämpfung der Schleuserkriminalität und Verbesserung der Perspektiven der Flüchtlinge in der Türkei, was ihre Lebenssituation angeht. Das erfordert von uns Unterstützung auf materielle Art und Weise, auch durch Geld. Die Türkei hat bereits 7 Milliarden bis 8 Milliarden Euro ausgegeben. Sie hat 700 Millionen Euro als internationale Unterstützung bekommen. Die Türkei hat gesagt: Ihr als unsere Nachbarn müsst uns bei der Bewältigung dieser Aufgabe auch helfen. – Ich finde das ist richtig. Deshalb wird das Teil der EU-Türkei-Migrationsagenda sein. Zweitens – auch das gehört dazu – wird es darum gehen, wie wir auch durch legale Kontingente einen Beitrag dazu leisten können, dass die Türkei entlastet wird. Deshalb sind solche europaweit zu vereinbarende Kontingente ein Weg, aus Illegalität Legalität zu machen, aber auch die Prozesse besser zu ordnen und zu steuern und in Kombination mit der Bekämpfung der Fluchtursachen dann auch die Zahl der bei uns ankommenden Flüchtlinge zu reduzieren. Auch das ist unser Ziel. Diese Aufgabe, wie ich sie jetzt dargestellt habe, erfordert natürlich Kraft, sie erfordert auch ein Stück Geduld, und sie erfordert Nachdruck. Das ist aber nach meiner festen Auffassung der Weg, den wir beschreiten müssen, um die Probleme zu lösen; denn die simple Abschottung wird nicht unser Problem lösen. Dazu brauchen wir die Europäische Union als Ganzes. Die Erscheinung Europas ist im Augenblick verbesserungsmöglich, sage ich einmal. Wir wissen, dass man in Europa oft einen langen Atem braucht, wir wissen, dass man oft dicke Bretter bohren muss, aber wir alle spüren: Wir stehen hier schon an einer entscheidenden Stelle. Wir haben die internationale Finanzkrise bewältigt, wir haben die Euro-Krise in großen Teilen gelöst. Wir sind noch nicht ganz am Ende; die Lehren haben wir noch nicht daraus gezogen. Jetzt ist sozusagen der zweite Pfeiler der europäischen Integration in einer sehr schwierigen Situation. Es geht um die Frage, wie wir mit den innereuropäischen Freiheiten umgehen. Dafür steht der Schengen-Raum, dafür steht, dass wir vor Jahren im Vertrauen aufeinander die eigentlichen Grenzkontrollen an die Außengrenzen der Europäischen Union abgegeben haben. Ähnlich wie bei der Wirtschafts- und Währungsunion ist man auch bei diesem Schritt, der Schaffung des Schengen-Raums, im Grunde nicht ganz bis zum Ende dessen gegangen, was man hätte politisch lösen müssen. Bei der Wirtschafts- und Währungsunion hat man zwar den Stabilitäts- und Wachstumspakt gemacht, aber wir haben uns nicht ausreichend darüber verständigt, in welche Richtung sich unsere Volkswirtschaften wirklich entwickeln wollen und welche Befugnisse die Europäische Kommission hat, wenn das in die falsche Richtung läuft. Bei der Schaffung des Schengen-Raums und der Verlagerung der Kontrollen auf die Außengrenzen hat man den letzten Schritt, nämlich sich darüber Gedanken zu machen, wie denn bei einem Bewährungsdruck, einem großen Druck auf die Außengrenzen, die Solidarität innerhalb der Europäischen Union aussieht, wie denn die Mandate aussehen, wie denn die Verteilung aussieht, nicht getan. Darüber hat man sich nicht geeinigt. Genauso wie wir für die nachhaltige Erhaltung des Euros die letzten Schritte gehen müssen, müssen wir jetzt auch hier die nächsten Schritte gehen, weil sich erwiesen hat, dass das derzeitige System allein nicht ausreicht. Deshalb ist eine solidarische Verteilung von Flüchtlingen je nach Wirtschaftskraft und Gegebenheiten, wobei die Bereitschaft zu einem permanenten Verteilungsmechanismus gegeben sein muss, nicht irgendeine Petitesse, sondern sie berührt die Frage, ob der Schengen-Raum auf Dauer aufrechterhalten werden kann. Nun frage ich aber auch: Was ist unsere, die deutsche Rolle? Ist die deutsche Rolle die, als Erster zu sagen: „Das geht nicht“? Oder ist die deutsche Rolle, als größte Volkswirtschaft in der Mitte Europas zu sagen: „Wir probieren es immer wieder und wieder“? Wir erleben die Flüchtlingsbewegung in dieser Dramatik noch nicht einmal ein halbes Jahr. Wenn wir eines Tages gefragt werden: „Habt ihr einen EU-Türkei-Gipfel versucht, habt ihr versucht, eure Außengrenzen zu schützen, habt ihr versucht, in Libyen eine Interimsregierung aufzubauen, habt ihr versucht, Hotspots aufzubauen“, und wir antworten: „Ein halbes Jahr hatten wir nicht die Kraft, ein halbes Jahr lang war uns zu lang, wir haben das nicht gemacht“, dann würde ich sagen, dass wir einen Riesenfehler gemacht haben. Das ist das, was nicht geht. Immerhin haben wir kleine Erfolge, auf denen wir aufbauen können. 160 000 Flüchtlinge, schutzbedürftige Flüchtlinge, sollen aus den Hotspots verteilt werden. Der Aufbau der Hotspots gestaltet sich schwierig, aber es wäre nicht richtig, zu sagen, es geschehe gar nichts. Wir werden von deutscher Seite, von österreichischer Seite, von schwedischer Seite hier auch noch einmal Druck machen. Wir sind im ständigen Gespräch mit der griechischen Regierung. Dafür will ich werben. Ich glaube, wir brauchen die Hotspots; ich bin überzeugt, wir brauchen sie. Sie sind inbegriffen in den Schutz der Außengrenzen. Aber wer sagt: „Ihr baut jetzt für 50 000 oder vielleicht noch mehr Menschen Unterkünfte; ihr müsst nicht nur registrieren, sondern ihr müsst von dort aus auch die Rückführung vornehmen, wenn die Bleibewahrscheinlichkeit klein ist, und ihr müsst die Verteilung durchführen“ – obwohl Griechenland nicht genau weiß, mit welcher Begeisterung die anderen europäischen Mitgliedstaaten Griechenland die Flüchtlinge abnehmen –, muss bedenken: Nur wenn die innereuropäische Solidarität wirklich sicher ist, wird man mit Engagement und Leidenschaft solche Hotspots in seinem eigenen Land aufbauen. So hängen die Dinge eben sehr eng zusammen, und trotzdem gibt es aus meiner Sicht dazu keine vernünftige Alternative. Deshalb werden wir mit Hochdruck daran arbeiten. Natürlich haben wir nationale Aufgaben. Auch da muss man im Übrigen feststellen, dass wir vieles in ziemlich kurzer Zeit zustande gebracht haben. Was leitet uns dabei? Dabei leitet uns der Grundsatz, dass die, die bei uns Schutz bekommen müssen – nach der Genfer Flüchtlingskonvention, die allerwenigsten ja nach dem Asylrecht, oder nach dem subsidiären Schutz –, von uns eine Bleibeperspektive bekommen, und zwar je schneller, umso besser, um dann auch die notwendigen Integrationsschritte einleiten zu können. Aber die Bürgerinnen und Bürger sagen mit Recht auch: Wenn wir ein Rechtsstaat sind, wenn wir ein großzügiges Asylrecht haben, wenn wir die Genfer Flüchtlingskonvention einhalten wollen, wenn wir subsidiären Schutz geben, wenn wir auch noch viele Duldungen ermöglichen, dann erwarten wir aber auch, dass diejenigen, die in einem ebenso rechtsstaatlichen Verfahren als Bewerber auf einen Schutzstatus abgelehnt wurden, das Land wieder verlassen müssen, damit die, die Schutz brauchen, diesen Schutz von uns bekommen. Darum drehen sich viele unserer Maßnahmen. Denn die Menschen werden sagen: Okay, wenn schon bestimmte rechtliche Vorschriften an der Außengrenze nicht eingehalten werden können, dann erwarten wir doch wenigstens, dass in Deutschland das, was zur Ordnung und Steuerung getan werden kann, getan wird. Deshalb war der Schritt richtig, dafür zu sorgen, dass Herr Weise das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zusammen mit der Bundesagentur für Arbeit leitet. Das ist nicht nur deshalb richtig, weil die Bearbeitungsprozesse jetzt beschleunigt werden können, da die Bundesagentur für Arbeit aus der Zeit von 5 Millionen Arbeitslosen über große Fähigkeiten und auch Erfahrungen verfügt, wie man mit einer großen Zahl von Menschen solche Prozesse vernünftig organisiert, sondern auch, weil wir damit sicherstellen, dass der Weg für die, die einen Schutzstatus haben, in die Integration in den Arbeitsmarkt sehr gut funktionieren kann, weil wir hier keine Doppelarbeit mehr machen. Ich bin sowohl Thomas de Maizière als auch Andrea Nahles sehr dankbar, dass sie ohne die üblichen Fragen „Was ist meins, was ist deins, und was könnte mir verloren gehen?“ diesem Schritt zugestimmt haben. Das war ein Beispiel für tolle, schnelle und wirklich effiziente Politik. Alle unsere Maßnahmen, die wir jetzt ergriffen haben und die wir noch umsetzen werden, haben im Grunde das Ziel, eine schnellere Abarbeitung der Asylanträge zu ermöglichen. Sie haben das Ziel, Kommunen, Bund und Ländern eine Verantwortungsgemeinschaft zu geben, so wie wir es jetzt mit der Übernahme von Kosten bei der Umsetzung des Asylbewerberleistungsgesetzes gemacht haben. Damit ist der Bund in einer völlig neuen Verantwortung, wie er sie im Zusammenhang mit Asylbewerbern nie hatte. Wir haben materielle Anreize verringert, die dazu beitragen könnten, dass Flüchtlinge hierbleiben und versuchen, immer wieder Gründe dafür zu finden, dass sie nicht ausreisen müssen. Wir haben deutliche Erfolge bei der Rückführung der Flüchtlinge des westlichen Balkans. Wir haben jetzt die ersten Rückführungen auf der Grundlage des Laissez-Passer-Verfahrens vorgenommen. Das heißt, auch wenn Pässe nicht da sind, kann eine Rückführung erfolgen. Die Balkanstaaten haben ihre Bereitschaft zur Aufnahme erklärt. Wir haben als Bund die Verantwortung übernommen und haben gesagt: Bei den Rückführungen der abgelehnten Asylbewerber wird der Bund die Passangelegenheiten regeln, weil es für die Länder zum Teil natürlich schwer ist, jeweils Pässe von Ländern wie Burkina Faso oder Bangladesch zu besorgen. All das sind notwendige Maßnahmen, genauso wie die Beschleunigung der Asylverfahren notwendig sind. Ich denke, nachdem Bundestag und Bundesrat das Asylpaket I in einem ziemlich guten Tempo beschlossen haben, werden wir uns in den nächsten Tagen auch auf das Asylpaket II, dem wir noch einige Maßnahmen hinzufügen werden, einigen können; denn auch hiermit werden wichtige Dinge geregelt. Wir müssen schon über diese Fragen sprechen. Es ist ein Unterschied, ob man 30 000 Asylbewerber hat oder 800 000. Es muss geklärt werden: Wer braucht den Schutz, und wer muss unser Land wieder verlassen? Meine Damen und Herren, deshalb ist noch etwas ganz wichtig: Es wäre ein geradezu tolles Beispiel föderaler Zusammenarbeit, wenn es gelingen würde, einen einheitlichen Flüchtlingsausweis zu haben, den der Flüchtling immer wieder vorzeigen kann – beim Antrag in der Kommune, bei Landesangelegenheiten und bei Fragen des BAMF, bei den Gerichten und bei der Bundesagentur für Arbeit –, sodass nicht doppelt, dreifach, vierfach und fünffach Registrierungen erfolgen. Das wäre vernünftig. Dass wir erst eine Flüchtlingskrise brauchen, um so etwas zu schaffen, gehört auch zu den Besonderheiten Deutschlands. Da sieht man: In Krisen können auch Chancen liegen. Das, glaube ich, wird uns auch später noch bewusst werden. Natürlich ist da noch das Thema der Integration. Wenn in Syrien einmal Frieden wäre, dann würden viele derer, die heute einen Aufenthaltsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention haben, auch wieder zurück in ihre Heimat gehen. Ich plädiere auch dafür, dass wir ihnen nicht einreden, dass sie das nicht tun sollten; denn die Idee, dass man auf der Welt nur in Deutschland gut leben kann, wird von den 7 Milliarden Weltenbürgern nicht geteilt. Das geht von ganz einfachen Fragen des Klimas bis hin zu Ausbildung, Verwandtschaft, Bekanntschaft und Freunden – niemand verlässt leichtfertig sein Land. Wenn die Bedingungen, in dieses Land zurückzukehren, wieder gegeben sind, dann haben wir und die Flüchtlinge einen Riesenerfolg gemeinsam erreicht. Deshalb gilt der Aufenthaltsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention auch erst einmal nur für drei Jahre. Aber wir wissen nicht, wie die Zukunft ist, und deshalb plädiere ich dringend dafür, schnell mit der Integration zu beginnen; denn alles, was man hier lernt, kann man in jedem Leben nutzen – sowohl bei uns als auch in Syrien. Ich sage ganz ausdrücklich: Wir machen Angebote zur Integration. Gemessen an dem, was sonst auf der Welt bezüglich der Integration von Flüchtlingen passiert, können wir, würde ich mal sagen, stolz auf das sein, was wir anbieten: Integrationskurse, Sprachkurse, Einarbeitung in die Arbeitswelt, Praktika und vieles andere mehr. Ich bedanke mich auch bei der deutschen Wirtschaft, dass sie ihre Bereitschaft, sich diesem Thema zu öffnen, von Anfang an ganz offen gezeigt hat. Aber wir müssen auch sagen: Wir erwarten von den Menschen, die zu uns kommen, die bei uns Schutz bekommen, dass sie – das steht im Übrigen schon in der Genfer Flüchtlingskonvention – unsere Werteordnung, unsere gesetzliche Ordnung akzeptieren und dass sie auch ihren aktiven Beitrag dazu leisten, sich im Land zu integrieren. Die Sprache hat dabei einen zentralen Wert. Diese Erwartung müssen und dürfen wir auch klar aussprechen. Dass wir die Flüchtlingsaufgabe stemmen können, hängt auch damit zusammen, dass wir in den letzten Jahren gut gewirtschaftet haben. Dass es trotz einer solchen Aufgabe, trotz völlig neuer Aufgaben des Bundes möglich ist, jetzt hier im November einen Haushalt für 2016 zu beschließen, der weiterhin ein ausgeglichener Haushalt ist, das spricht für unsere wirtschaftliche Stärke, und das spricht dafür, dass man gut wirtschaften soll, um nicht voraussehbare oder nicht vorhergesehene Aufgaben meistern zu können. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat gestern gesagt: Wir werden im nächsten Jahr natürlich ein Stück auf Sicht fahren. – Aber das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts, im Übrigen keine Eintagsfliege, sondern jetzt zum dritten Mal hintereinander geschafft, ist etwas, was wir nicht aufgeben sollten. Das sage ich ganz klar. Wenn es sachliche Gründe gibt, darf man sich nie einmauern, aber man darf jetzt auch nicht so tun, als ob die Flüchtlingsaufgabe ein guter Grund ist, von allen Grundsätzen von früher abzuweichen. Das wird sicherlich noch manche Diskussion erfordern. Wir haben eine Rekordbeschäftigung von 43,4 Millionen. Wir haben einen Rekord bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Wir haben ihn – das sage ich auch mit Blick auf meine eigenen Befürchtungen; daraus mache ich gar keinen Hehl – trotz des Mindestlohns, und das ist eine gute Bilanz. Dass wir die geringste Zahl von jugendlichen Arbeitslosen haben, ist auch gut. Trotzdem dürfen wir auch angesichts der Tatsache der Flüchtlinge die 2,79 Millionen Arbeitslosen in Deutschland nicht vergessen, und das kann uns nicht ruhen lassen. Gerade den vielen, die unter 30 oder auch unter 35 sind, können wir nicht sagen: Passt mal auf, die einzige Möglichkeit, die wir für euch noch im Blick haben, sind viele Jahre Hartz IV. – Deshalb unterstütze ich alle Bemühungen, auch das nicht aus dem Blick zu nehmen und immer wieder zu schauen, wie wir Menschen helfen können, in den Arbeitsprozess zu kommen, die schon lange bei uns leben. Wir müssen jetzt natürlich auch aufpassen – das haben wir oft besprochen –, dass wir nicht Konkurrenzen zwischen denen bekommen, die den Weg in den Arbeitsmarkt bei uns über Jahre nicht gefunden haben, und denen, die Flüchtlinge sind. Das ist auch ein Beitrag zum gesellschaftlichen Frieden. Deshalb müssen die Anstrengungen bei denen, die schon viele Jahre bei uns sind, im Grunde genauso verstärkt werden, wie die Anstrengungen bei der Integration der Flüchtlinge. Angesichts der großen Aufgaben, die wir haben und die uns täglich beschäftigen, geraten Dinge, die sonst geradezu revolutionär gewesen wären, etwas in den Hintergrund. Ich will an dieser Stelle nur an all die Maßnahmen erinnern, die wir im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung unternommen haben: die beiden Gesetze, den neuen Pflegebegriff – ein jahrelanges Projekt –, die Frage der Verbesserung der Palliativmedizin – nach der neulich sehr beeindruckenden Diskussion natürlich auch im Zusammenhang mit Sterbehilfe – und natürlich auch die Maßnahmen, die wir im Bereich des Krankenhauses unternommen haben; also alles Dinge, die unsere soziale Absicherung noch einmal zukunftsfester machen und die auf die Aufgaben aufgrund des demografischen Wandels eingehen. Erinnern will ich auch an die Beschlüsse – darüber haben wir neulich gerade mit Herrn Gabriel im Kabinett gesprochen –, die wir zur Energie- und Klimawende gefasst haben. Über all diese Energiebeschlüsse hätten wir sicherlich kontrovers diskutiert. Aber sie wären sozusagen ein ganz anderes Thema gewesen, weil wir hier in der Tat die Wende zu einer neuen Energiepolitik, aber auch die Annäherung an marktwirtschaftliche Mechanismen im Zusammenhang mit den erneuerbaren Energien sehr stetig, sehr beständig vollziehen. Wir werden ja im nächsten Jahr noch einmal einen schönen Kraftakt haben, wenn es um die nächste Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und um die Ausschreibung der zukünftigen Volumina geht. Das wird sicherlich noch eine harte Aufgabe werden. Wir haben eine anspruchsvolle digitale Agenda, bei der wir vorangekommen sind. Wir haben – allen Augurenrufen zum Trotz – die Frequenzen versteigert. Das war gar nicht so einfach, und es war nicht absehbar, ob das so schnell gelingt. Wir haben damit Fördermittel für den Ausbau der Breitbandanbindung. Wenn man vor ein, anderthalb Jahren noch gefragt hat: „Wird Alexander Dobrindt es schaffen, dass wir unser Ziel, 50 MBit pro Sekunde bis 2018, wirklich erreichen?“, so redet man heute darüber, dass wir mehr brauchen. Okay. Aber keiner fragt mehr, ob wir das schaffen, und das ist doch auch einmal eine gute Botschaft. Wir haben unser Wort gehalten bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Wir liegen mit 14,5 Milliarden Euro in 2015 in der Spitzengruppe der Europäischen Union. Jeder spürt ja, dass die Entwicklung eines verlässlichen Deutschlands in der gesamten Forschungslandschaft viele Forscher aus dem Ausland wieder zu uns gebracht hat, sowohl im außeruniversitären Bereich als auch im universitären Bereich. An der Stelle will ich dann doch noch sagen – Eckhardt Rehberg hat es bei der gestrigen Debatte über den Finanzhaushalt sehr ausführlich gemacht –: Unser Beitrag dort, wo es notwendig ist und wo unsere Bundesziele betroffen sind, dass zum Beispiel universitäre Forschung nicht absackt gegenüber außeruniversitärer Forschung, indem wir dann das BAföG übernommen haben, unsere Beiträge zur Unterstützung von Kommunen und Ländern sind so groß wie bei keiner Bundesregierung zuvor. Da ich weiß, dass es ja immer weitere Forderungen geben wird, will ich sagen: Wir können erst einmal stolz sein auf das, was wir machen, und sollten uns da wirklich den Schneid nicht abkaufen lassen. Es ist unglaublich, was da ging. Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen, wieder eine Rückkehr zu einem globalen Thema. Am Montag beginnt in Paris die Klimakonferenz. Die Frage, wie wir mit dem Klimawandel umgehen, wie wir ihn bewältigen, inwieweit wir eine Hoffnung haben auf die Einhaltung des Ziels, dass die Erderwärmung nicht größer als 2 Grad ist, wird für zukünftige Generationen viel zum Umgang mit der Frage von Flucht und Fluchtursachen beitragen. Wir haben eine Konferenz in Paris, die gut vorbereitet ist, besser als die in Kopenhagen. Ich möchte Frau Hendricks und ihrem Team danken. Wenn ich mit dem französischen Präsidenten spreche, wird immer wieder auch gesagt, wie gut wir hier deutsch-französische Zusammenarbeit ganz praktisch zeigen. Ich möchte auch dem Entwicklungsminister für seine Beiträge im Zusammenhang mit dem Klimaschutz danken. So wird jetzt auf dieser Pariser Konferenz 14 Tage lang sehr intensiv darüber gesprochen, ob es einen Pfad gibt, den wir dort einschlagen können und der uns glaubwürdig hin zur Erreichung des 2-Grad-Zieles führt. Wir haben Abstriche machen müssen, wenn man das Kioto-Protokoll als durchgehend völkerrechtlich verbindlichen Plan mit verbindlichen Reduktionszielen sieht. Im Gegenzug haben wir aber doch bemerkenswerte Verpflichtungen von etwa 130 Ländern – ich kenne die im Moment aktuelle Zahl nicht –, die jetzt ihren Beitrag zum Klimaschutz der Öffentlichkeit präsentieren. Der bemerkenswerteste dabei ist vielleicht der chinesische: Das erste Schwellenland macht hier deutlich, dass es bereit ist, seine CO2-Emissionen zu reduzieren. Das zielt auf das Jahr 2030; das ist noch lange hin. Aber immerhin – ich denke nur einmal an die Diskussionen vor zehn Jahren, als es noch einen unglaublichen Gegensatz zwischen Industrie- und Schwellenländern gab –, sehen wir da Fortschritte. Jetzt müssen wir es schaffen, völkerrechtlich verbindlich einen Überprüfungsmechanismus zu verabreden, damit glaubwürdig vermittelt werden kann, dass dieses Jahrhundert ein Jahrhundert der schrittweisen Dekarbonisierung ist. Deutschland wird sich hier intensiv einbringen. Ich hoffe auf einen Erfolg dieser Klimakonferenz. Sie könnte auch ein wunderbares Signal gegen Terror, gegen Krieg und zur Bekämpfung der Fluchtursachen sein. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, selten haben wir so hautnah erlebt, wie unser eigenes deutsches Handeln und Tun in eine globale Welt eingebettet ist. Dieses Jahr hat uns in umfänglicher Weise bewusst gemacht: Wir leben in einer gemeinsamen Welt. Wir können, wenn jeder seinen Beitrag leistet, in Zusammenarbeit die Probleme bewältigen. – Ich bin davon überzeugt, oder andersherum: Wir schaffen das. Aber es wird vieler Anstrengungen bedürfen und auch eines hohen Maßes an neuem Denken. Herzlichen Dank.
in Berlin vor dem Deutschen Bundestag (Protokoll des Deutschen Bundestages)
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutschen Arbeitgebertag am 24. November 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-deutschen-arbeitgebertag-am-24-november-2015-467454
Tue, 24 Nov 2015 16:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Kramer, sehr geehrte Präsidenten der Wirtschaftsverbände, sehr geehrte Frau Bouchamaoui, meine Damen und Herren, werte Gäste dieses BDA-Tags, ich freue mich, heute bei Ihnen zu sein, und möchte als erstes Herrn Kramer ganz herzlich zu seiner Wiederwahl gratulieren. Auf gute Zusammenarbeit, Herr Kramer, wie das ja auch bisher der Fall war. Meine Damen und Herren, als ich vor einem Jahr bei Ihrem Arbeitgebertag war, haben uns vor allem die Themen Ukraine und Staatsschuldenkrise in Griechenland in Atem gehalten. Obwohl das Thema Ukraine noch nicht gelöst ist, haben wir einen gewissen Fortschritt erzielt. Es gibt zumindest einen – wenn auch fragilen – Waffenstillstand infolge des Minsk-Prozesses. Was Griechenland anbelangt, ist jetzt gerade eine Etappe erfolgreich zurückgelegt worden, weshalb – so der gestrige Beschluss der Eurogruppe – eine Auszahlung erfolgen kann. Aber wir haben auch andere riesige Herausforderungen. Die Anwesenheit der Präsidentin des tunesischen Arbeitgeberverbandes zeigt das ja auch. Tunesien ist ein Land, das genauso von Terror betroffen ist wie vor wenigen Tagen die Menschen in Paris. All diese menschenverachtenden Attentate erschüttern immer wieder die Länder, in denen sie geschehen, aber sie erschüttern auch die gesamte freie Welt. Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, dass Freiheit stärker ist als Terror und Hass. Das muss uns leiten, das müssen wir deutlich machen – sowohl durch die Arbeit unserer Sicherheitsbehörden als auch durch die Haltung der Bürgerinnen und Bürger. Ob Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit oder Freiheit der persönlichen Entfaltung – das Streben nach Freiheit ist dem Menschen ureigen. Es ist auch ein wesentlicher Grund dafür, dass sich viele sogar größten Gefahren aussetzen, um fernab der Heimat ein neues, freieres und friedlicheres Leben führen zu können. Es sind Menschen, die kein Leben mit Krieg und Terror wollen und daher aus ihrer Heimat fliehen. Weltweit sind es so viele wie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Ich möchte auf der einen Seite Tunesien und den Persönlichkeiten ganz herzlich gratulieren, liebe Frau Bouchamaoui, die den Friedensnobelpreis dafür bekommen haben, dass sie es geschafft haben, eine Verfassung in Tunesien durchzusetzen, die den Gedanken der Freiheit und der Demokratie in Gesetzeskraft gebracht hat. Ich habe diesen Prozess sehr aufmerksam verfolgt. Es war ein Prozess, der von mutigen Menschen vorangetrieben wurde. Angesichts der Situation in Ihren Nachbarländern – ich will nur Libyen nennen – kann man gar nicht hoch genug schätzen, was in Ihrem Land geschafft wurde. Deutschland steht Ihrem Land bei, wenn es um die Sicherung der Grenze zu Libyen und wenn es um die Frage der wirtschaftlichen Entwicklung geht. Sie haben so viele junge Leute. Diese jungen Leute wollen Arbeit, sie wollen sich einbringen in die Entwicklung ihres Landes. Jeder Beitrag dazu, dass es in der Heimat eine Perspektive gibt, ist eine Bekämpfung von Fluchtursachen. Aus all diesen Gründen finde ich es wunderbar, dass die BDA Sie eingeladen hat. Das zeigt die Solidarität nicht nur auf politischer Ebene, sondern es zeigt einfach auch die Solidarität der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Dafür ein herzliches Dankeschön, lieber Herr Kramer. Ich weiß, dass auch viele der hier Anwesenden Unglaubliches im Zusammenhang mit ankommenden Flüchtlingen leisten und versuchen, zu helfen. Nicht umsonst haben Sie heute Herrn Weise zu Gast gehabt, der, glaube ich, in wahrscheinlich auch für Sie beeindruckender Weise geschildert hat, wie er nicht nur die Bundesagentur für Arbeit in der Vergangenheit auf Vordermann gebracht hat, sondern Gleiches jetzt auch beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge versucht. Es ist eine relativ intelligente Konstruktion, die uns die Möglichkeit bietet, die Arbeit der Bundesagentur für Arbeit von vornherein mit der Arbeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zu verzahnen. Gerade auch die Idee von Herrn Weise, alle Flüchtlinge mit einem einheitlichen Ausweis auszustatten und damit auch klassische Unverträglichkeiten der verschiedenen föderalen Ebenen der Kommunen, der Länder und des Bundes zu überwinden, könnte ein Paradebeispiel dafür sein, wie man auch manche andere Zuständigkeitsfrage in Zukunft vielleicht noch besser lösen könnte. – Ich begrüße an dieser Stelle meine Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und die Fraktionsvorsitzende, Frau Göring-Eckardt. – Wenn ich das für Sie, Herr Kramer, mitmachen darf, dann ist das vielleicht ganz vernünftig. Ich möchte jedenfalls sagen: Ich bin Ihnen von Herzen dankbar dafür, dass Sie sich in die Arbeit mit den Flüchtlingen einbringen. Aber natürlich ist auch klar: Es wird noch viel Arbeit auf uns zukommen. Wir haben mit Reinhard Göhner schon erbitterte Diskussionen darüber geführt, welche Rahmenbedingungen Sie zum Beispiel für die Berufsausbildung von Flüchtlingen und für Praktika brauchen. Ich hoffe, sie sind besser geworden. Ich wage nicht zu hoffen, dass sie gut oder schon ausreichend sind. Aber wir können auch weiter darüber im Gespräch bleiben. Wir müssen darauf achten, dass diejenigen, die sich in die Wirtschaft erfolgreich einbringen, auch wirklich eine gute Bleibeperspektive haben. Daran gibt es gar keinen Zweifel. Wir wissen auch, dass wir einerseits Übergangsstadien brauchen, also Hospitanzen und Praktika, um erst einmal herauszufinden, was in wem steckt. Ich glaube, gerade auch in der Kooperation mit der Bundesagentur für Arbeit werden hierzu alle Möglichkeiten genutzt. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch aufpassen, dass wir nicht dort Rechtsansprüche schaffen, wo Menschen der Aufgabe nicht gewachsen sind oder die betreffende Aufgabe nicht wahrnehmen wollen. Das ist eben auch ein Problem. Herr Weise hat Ihnen heute gesagt: Wir haben 150.000 abgelehnte Asylbescheide, aber wir haben 110.000 Duldungen. Für uns ist es eine der größten Aufgaben, auf der einen Seite denen, die eine Bleibeperspektive haben, die Chance auf eine möglichst gute Zukunft durch schnelle Integration zu geben, aber auf der anderen Seite – das erwarten die Bürgerinnen und Bürger auch – auch deutlich zu machen: Damit wir denen, die Schutz brauchen, helfen können, müssen diejenigen, die nach einem einwandfreien rechtsstaatlichen Verfahren kein Bleiberecht bekommen haben, wieder in ihre Heimatländer zurückkehren. Ich bin Ihnen, Herr Kramer, sehr dankbar dafür, dass Sie heute den Blick auch auf Europa gelenkt haben. Eine solche Herausforderung wie die Bewältigung der Flüchtlingskrise kann ein Land allein nicht schaffen, sondern das können wir nur gemeinsam schaffen. Das ist eine globale, eine internationale Aufgabe; und es ist eben auch eine Aufgabe der Europäischen Union. Wir haben in Europa eine Rechtslage, von der die Wirtschaft unglaublich profitiert: Das ist das Schengen-Abkommen; das ist die Möglichkeit der freien Bewegung zwischen den Nationalstaaten, die zum Schengen-Bereich gehören. Um das zu erhalten, müssen wir auf den Schutz unserer Außengrenzen vertrauen können. Natürlich hat Deutschland das Dublin-Abkommen viele Jahre lang sehr gerne zur Kenntnis genommen, weil wir eben im Zentrum Europas liegen und keine Außengrenzen haben. Deshalb hatten wir in den vergangenen Jahren auch wenige Probleme mit Migration. Aber wir müssen heute feststellen, dass aufgrund des großen Leids durch Bürgerkriege und durch den Terrorismus des Islamischen Staats und anderer Organisationen der Druck von Flüchtlingen an unseren Außengrenzen so groß geworden ist, dass der Außengrenzschutz so, wie er war, nicht mehr funktioniert und der Bewährungsprobe nicht standhält. Wir müssen daraus lernen, dass wir uns in Europa nicht von den Problemen der Welt abkoppeln können. Bislang waren der Bürgerkrieg in Syrien und der Kampf gegen den IS etwas, das man im Fernsehen verfolgt hat. Aber wir haben nur sehr wenig zur Kenntnis genommen, dass die Türkei mehr als zwei Millionen Flüchtlinge beherbergt, dass der Libanon mit nicht einmal fünf Millionen Einwohnern weit mehr als eine Million Flüchtlinge beherbergt oder dass Jordanien fast eine Million Flüchtlinge hat. Europa kann sich von diesen Entwicklungen nicht völlig abkoppeln. Auch die Europäische Union hat ebenso wie viele andere internationale Akteure die UN-Programme – das Welternährungsprogramm, das Programm der Weltflüchtlingsorganisation – nicht ausreichend ausgestattet. Mit immer schlechter werdenden Lebensbedingungen kommen dann aber auch Probleme auf uns zu. Deshalb ist die erste Lehre, die wir daraus ziehen müssen, dass wir uns mehr um unsere Nachbarschaft kümmern, dass wir uns mehr für deren Unterstützung einsetzen. Dem dient zum Beispiel auch der am Sonntag stattfindende Gipfel zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Der Grenzschutz – gerade auch bei Wassergrenzen – gestaltet sich ohne Kooperation mit dem Partner an der anderen Seite der Küste sehr schwierig. Die Türkei hat recht, wenn sie sagt, dass sie, obwohl sie über zwei Millionen Flüchtlinge beherbergt, dafür bislang sehr wenig Unterstützung von der internationalen Staatengemeinschaft bekommen hat. Deshalb gilt: Wenn wir davon ausgehen, dass niemand freiwillig seine Heimat verlässt und dass wir Flüchtlingen eine Chance geben wollen, sich menschenwürdig in der Nähe ihrer Heimat aufzuhalten, dann müssen wir mehr tun, zum Beispiel durch finanzielle Unterstützung der Türkei, um Flüchtlingen ein besseres Leben in der Türkei zu ermöglichen, aber auch durch legale Migration, durch sogenannte Kontingente oder Quoten, um Lasten zu teilen. Genau darüber werden wir sprechen. Eines ist klar: Die jetzige Art der Migration unter Inkaufnahme von Lebensgefahr – eine Migration, an der Schlepper verdienen, und zwar Milliarden, wenn wir uns die großen Zahlen derjenigen vor Augen führen, die die Ägäis und das Mittelmeer überqueren – kann und darf nicht als Modell akzeptiert werden. Flüchtlinge geraten in Lebensgefahr. Wenn sich das noch dazu zwischen zwei Mitgliedstaaten der NATO – eben zwischen Griechenland und der Türkei – abspielt, dann darf man sich nicht damit zufrieden geben, dass in dem schmalen Wasserstreifen zwischen diesen Staaten die Schlepper regieren und keine rechtliche Situation herrscht. Darüber muss gesprochen werden. Wir brauchen mehr Ordnung und mehr Steuerung. Wenn wir Fluchtursachen bekämpfen, dann werden wir auf diesem Wege auch eine Reduzierung der Flüchtlingszahlen erreichen. Ich glaube nur nicht, dass man das an der deutsch-österreichischen Grenze regeln kann, sondern ich glaube, das sollte man an den Außengrenzen regeln, um eben auch die Schengen-Freiheiten für Europa zu erhalten und das Richtige für die Flüchtlinge zu tun. Im gleichen Sinne haben wir auch auf einem EU-Afrika-Gipfel auf Malta, an dem auch der tunesische Ministerpräsident teilgenommen hat, mit afrikanischen Staaten darüber gesprochen, wie man Fluchtursachen bekämpfen kann. Dabei geht es natürlich auch um materielle Unterstützung durch die Europäische Union und bilateral durch uns. Aber das bedeutet natürlich auch ein Hinwirken auf eine bessere Regierungsführung in vielen Ländern Afrikas. In Zeiten des Smartphones und des Internets wissen Menschen in afrikanischen Ländern, wie Menschen woanders leben. Sie wissen über Freiheiten, transparente Gesellschaften und demokratische Rechte Bescheid. Deshalb ist es so wichtig, dass neben einer vernünftigen Entwicklungshilfe eben auch eine gute Regierungsführung vor Ort praktiziert wird. An dieser Stelle will ich auch sagen, wenn Sie sich mit den natürlichen Gegebenheiten in Afrika beschäftigen, dass wir bei diesem EU-Afrika-Gipfel auch über den Tschadsee gesprochen haben. Seine Wasserfläche ist in den letzten Jahrzehnten auf zehn Prozent der ursprünglichen Wasserfläche geschrumpft. Um diesen Tschadsee herum brauchen 30 Millionen Menschen Lebensraum. Außerdem ist aufgrund zunehmender Versandung der Zeitraum der Schiffbarkeit des Flusses Niger von acht Monaten auf zwei Monate im Jahr gesunken. Es gibt ein nicht nachhaltiges Wirtschaften, unglaublichen Raubbau am Wald, eine unglaublich falsche Energiepolitik, weil man zum Beispiel Holz zum Kochen und zum Wärmen braucht, woraus katastrophale Erosionen kombiniert mit Klimaveränderungen resultieren, die wiederum zu Flucht führen. Deshalb brauchen wir einen sehr langen Atem und eine Entwicklungspolitik, die an einer konsequenten Beseitigung von Fluchtursachen ausgerichtet ist. Wir brauchen auch eine Entwicklungspolitik der Ehrlichkeit, indem wir mit afrikanischen Führungspersönlichkeiten eben auch über gutes Regieren und über Demokratie sprechen. Meine Damen und Herren, Europa steht vor einer riesigen Bewährungsprobe. Es wird keine europäische Antwort sein, wenn diejenigen, die weniger Flüchtlinge bekommen, sagen: Das geht uns nichts an. Wenn wir nämlich einen gemeinsamen Schutz der Außengrenzen haben wollen, dann brauchen wir auch eine faire Lastenverteilung innerhalb Europas. In diesem Sinne muss im Rahmen der europäischen Integration sozusagen eine Vollendung einer vernünftigen gemeinsamen Asylpolitik erfolgen. Das gehört im Grunde zur Abgabe nationaler Kompetenzen zur Grenzsicherung und zur gemeinsamen Sicherung der Außengrenzen dazu. Das wird uns noch viel Kraft kosten. Das ist ein dickes Brett, das wir bohren müssen. Das ist ähnlich wie bei der Wirtschafts- und Währungsunion: Während der Krise im Euroraum haben wir immer wieder gesagt, dass die Gründungsfehler des Euro noch nicht behoben sind – die mangelnde wirtschaftspolitische Koordinierung und die gemeinsame Ausrichtung auf eine hohe Wettbewerbsfähigkeit. All das ist im Stabilitäts- und Wachstumspakt noch nicht ausreichend angelegt worden. In Krisensituationen – jetzt ist es die Flüchtlingssituation, damals waren es Spannungen auf den Finanzmärkten – erweist es sich, dass zwei Grundsäulen der europäischen Integration im Grunde noch nicht wetterfest, noch nicht krisenresistent sind. Wir müssen an beiden Baustellen weiterarbeiten – also auch an der Ausrichtung an der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Das ist ja vollkommen klar. Meine Damen und Herren, damit bin ich auch sozusagen schon bei Ihren Leib- und Magenthemen der BDA. Ich will auch gleich in medias res gehen: Das, was Sie hier unter anderem sehr beschäftigt, ist die Umsetzung des Koalitionsvertrags in Bezug auf Leiharbeit und Werkverträge. Sie haben hier ja sehr ausführlich darüber diskutiert, was die erste Halbzeit der Legislaturperiode gebracht hat. Ich war nicht dabei, als Sie geklagt haben. Aber ich sage, dass ein Ergebnis auch eine hohe Erwerbstätigenquote ist. Sie war in Deutschland noch nie so hoch wie jetzt. Aber wir wissen durchaus – auch in der Politik –, dass das eine Momentaufnahme ist und dass das noch nichts über die Zukunft aussagt. Wir wissen auch, vor welchen Schwierigkeiten wir stehen. Wir wissen, vor welchem dramatischen Wandel wir stehen. Sie haben heute auch über Digitalisierung gesprochen. Wenn Herr Höttges hier war, wird er Sie in alle Facetten der Digitalisierung eingeweiht haben. Wenn wir von den Chancen in Europa wirklich profitieren wollen, dann müssen wir einen europäischen Binnenmarkt auch für die digitalen Bereiche schaffen. In diesem Zusammenhang stehen jetzt wichtige Entscheidungen an – etwa zur Datenschutz-Grundverordnung, die darüber entscheiden wird, ob wir Big Data Management in Europa vernünftig durchführen können. Ich hoffe auf ein gutes Ergebnis des Trilogs mit dem Europäischen Parlament. Wir neigen sehr dazu – das Europäische Parlament noch etwas mehr als wir –, den Datenschutz in den Vordergrund zu stellen. Wir müssen aber darauf achten, dass wir im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig bleiben, wenn es um datenbasierte Wertschöpfung geht. Es werden vollkommen neue Wertschöpfungsketten entstehen, an denen auch wir Anteil haben müssen. Wir wissen, dass sich die Arbeitswelt in der Digitalisierung stark verändern wird. – Wie ich sehe, ist auch Herr Bsirske hier. – Darüber wird es in den nächsten Jahren noch interessante Debatten geben. Wir sprechen darüber ja auch einmal im Jahr im Rahmen des Dialogs „Arbeit der Zukunft – Zukunft der Arbeit“ in Meseberg. Die Bundesarbeitsministerin hat zu diesem Thema ein Grünbuch veröffentlicht. Wir müssen sehr darauf achten, in welche Richtung wir den Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und gleichzeitig die Flexibilität der Arbeitswelt fortentwickeln. Flexible Instrumente sind – und nun komme ich wieder zurück zu Leiharbeit und Werkverträgen – natürlich von größter Bedeutung. Es scheint unstrittig zu sein, dass das, was jetzt als erster Gesetzentwurf vorgelegt wurde, der ja in der Bundesregierung noch nicht in der Ressortabstimmung ist, über den Koalitionsvertrag hinaus geht. Sie dürfen mich jetzt einmal als Wächterin des Koalitionsvertrags verstehen – das gefällt Ihnen auch nicht an allen Stellen, aber ich sage: Wenigstens in diesem Fall werde ich darüber wachen, dass wir nicht über den Koalitionsvertrag hinaus gehen. Gerade auch mit Blick auf Werkverträge haben wir schon damals manche Abmachung recht schweren Herzens getroffen. Bei der Leiharbeit halte ich die beschriebenen Regelungen für wichtig und unstrittig; das will ich ausdrücklich sagen. Aber bei den Werkverträgen scheint die Unbestimmtheit so groß zu sein, dass man einfach auch noch vieles regeln kann, was aus unserer Sicht im Koalitionsvertrag nicht angelegt ist. Ich hoffe, dass es sowohl mit der BDA als auch natürlich innerhalb der Regierung konstruktive Gespräche gibt. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat der Branchendialog über den Gesetzestext noch nicht stattgefunden, sondern war eher allgemeiner Natur. Ich glaube, man sollte jetzt versuchen, noch einmal über die Dinge zu reden. Wie gesagt, ich verstehe mich in diesem Falle als Wächterin des Koalitionsvertrags. Was ich allerdings nicht versprechen kann und will, ist: Weil wir jetzt so viele Flüchtlinge haben, gilt der Koalitionsvertrag nicht mehr. Solche Stimmen höre ich auch. Das wird aber nicht passieren. Insofern möchte ich Ihnen hier nichts versprechen, sonst sind Sie nächstes Jahr noch mehr böse auf mich. Wir müssen also weiter miteinander reden. Wir wissen ja, dass unsere Diskussionen auch weiterführen können. Dabei denke ich zum Beispiel an die lange Debatte zum Tarifeinheitsgesetz, das wir dann doch beschlossen haben. Das führt mich zum Thema Tarifautonomie. Ich glaube, dass es ein großes Interesse von uns allen daran geben muss – nun predige ich hier in der falschen Kirche –, dass uns die Tarifbindung gerade auch in der Arbeitswelt in Zeiten der Digitalisierung weiterhelfen kann und wird. Auch als Politikerin habe ich ein elementares Interesse daran, dass wir möglichst viel Tarifbindung haben. Denn Tarifbindung macht auch Regulierungen betrieblicher Art möglich, die die Politik gar nicht so klar fassen könnte. Ich denke immer wieder, dass viele Tarifverträge heute so intelligent gestaltet sind, wie es über Gesetze kaum möglich wäre, und dass sie auf unterschiedliche Situationen der Wirtschaft Rücksicht nehmen und Flexibilitäten innerhalb von Branchen ermöglichen. Insofern kann ich angesichts dessen, wie sich die Tarifverträge in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren verändert haben, nur sagen: Lassen Sie uns gemeinsam dafür werben, möglichst viel Tarifbindung in Deutschland zu haben. Ich wundere mich gerade, dass man dafür hier bei der BDA keinen Beifall bekommt. Darf man hier auch Mitglied sein, wenn man nicht tarifgebunden ist? Das kommt einem ja irgendwie komisch vor. Oder sind die Gewerkschaften so schwierig geworden, dass Sie jetzt nur traurig daran denken, was das für eine Arbeit ist? Ich glaube, die Mitbestimmung hat sich in Deutschland in Krisenzeiten doch sehr bewährt – sonst wären wir auch aus der Finanz- und Wirtschaftskrise nicht so gut herausgekommen. Weil sie sich so bewährt hat, haben wir Ihnen auch gleich die Fortentwicklung des Mindestlohns übertragen. Dazu allerdings sage ich – und damit komme ich noch einmal auf die Wettbewerbsfähigkeit zu sprechen –: Wir haben natürlich gemeinsame Verantwortung. Politik hat auch die Verantwortung, die Lohnstückkosten nicht zu sehr steigen zu lassen, mit Augenmaß vorzugehen und keine zu starken Regelungen vorzunehmen. Ihre Verantwortung liegt im Bereich der Lohnabschlüsse. Wie diese ausfallen, wird von uns natürlich nicht kritisiert; das ist vollkommen klar. Wir freuen uns über jeden streikfreien Tag. Aber natürlich müssen sich im langfristigen Durchschnitt die Löhne dem Produktivitätsniveau entsprechend entwickeln. Ich bin sehr froh, dass in den letzten Jahren Lohnsteigerungen möglich gewesen sind. Die Inflationsrate ist niedrig, was ja auch dazu beiträgt, dass Lohnsteigerungen bei den Menschen ankommen. Aber wenn ich es richtig verstehe, was Sie bezüglich der Entwicklung des Mindestlohns verabredet haben, muss ich sagen: Die durchschnittliche Entwicklung des Lohns hat auch etwas mit der Entwicklung des Mindestlohns zu tun. Das heißt also, wir müssen darauf achten, dass auch die unteren Lohnbereiche wettbewerbsfähig bleiben. Insofern ist mein Appell an Sie, weiterhin gute Nerven bei den Tarifverhandlungen zu haben, damit wir uns auch auf dieser Seite nicht zu weit von der Produktivität wegbewegen. Meine Damen und Herren, wir stehen in Deutschland vor einer demografischen Herausforderung. Manch einer sagt: Dass jetzt gerade sehr viele junge Menschen zu uns kommen – ein großer Teil der Flüchtlinge ist unter 25 Jahre alt –, ist eine Chance. Das ist in der Tat so. Aber Herr Weise hat Ihnen auch gesagt: Der Prozentsatz derjenigen, die man unmittelbar im Beruf einsetzen kann, ist nicht unbedingt hoch. Man wird bei vielen etwas mit den bestehenden Abschlüssen machen können, aber bei vielen wird man auch Zusatzqualifikationen brauchen. Insofern tun wir gut daran, uns auf diejenigen zu konzentrieren, die bei uns in die Schule gehen oder eine Ausbildung aufnehmen. Deshalb bin ich sehr froh, dass es uns gelungen ist, die Allianz für Aus- und Weiterbildung fortzuschreiben und sie mit den Arbeitgebern und den Gewerkschaften voranzubringen. Meine Bitte an Sie ist auch, immer wieder alles zu tun, um die berufliche Bildung zu stärken. Denn gerade in Zeiten der Digitalisierung scheint die Tendenz zum Studium noch einmal zuzunehmen. Wir brauchen aber auch im Bereich der Berufsausbildung geeignete Berufsbilder und Angebote für digitale Berufe. Wir brauchen viel Ermutigung, dass eine Berufsausbildung immer noch eine sehr gute Chance für einen Einstieg in ein erfolgreiches Arbeitsleben bietet. Wir müssen auch darauf hinweisen, dass die Durchlässigkeit größer geworden ist. Das heißt, dass man erst einmal einen beruflichen Einstieg machen kann und sich im Laufe seines Erwerbslebens dann auch noch weiter qualifizieren kann. Insofern: Wo immer Sie die Möglichkeit sehen, bei uns und auch in Ländern wie Tunesien dabei zu helfen, jungen Menschen auch in der dualen Ausbildung eine Chance zu geben, sollte das auch genutzt werden. Ein weiterer Bereich, den ich ansprechen möchte, ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wenn wir mit Arbeitskräftemangel Probleme haben, dann hat das auch mit den Möglichkeiten von Frauen zu tun, erwerbstätig zu sein. Hierbei schauen Sie natürlich auf der einen Seite mit Argusaugen auf alle Regelungen, die wir machen, was die Rückkehr aus Teilzeit und ähnliches anbelangt. Auf der anderen Seite möchte ich Sie aber auch noch einmal darauf hinweisen: Wir haben in den letzten Jahren unglaublich viel in die Vereinbarkeit von Beruf und Familie investiert; und zwar dahingehend, dass wir uns unter anderem um den Kita-Ausbau und den Ausbau von Ganztagsschulen gekümmert haben. Wenn dadurch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie besser gestaltet werden kann, dann profitieren davon natürlich auch die Arbeitgeber. Nun weiß ich, dass wir in der Frage flexibler Arbeitszeitmodelle keine überbordenden gesetzlichen Regelungen finden sollten – das ist Ihr Petitum. Je mehr wir den Eindruck haben, dass auch freiwillige Regelungen funktionieren, umso weniger werden wir gesetzgeberisch tätig. Ich weiß auch, dass Sie vor Herausforderungen stehen. Allein durch das Elterngeld, das zunehmend auch von Vätern genutzt wird, ist die Ungewissheit für Arbeitgeber nochmals größer geworden. Wir finden es gesellschaftlich gesehen wunderbar, dass auch Männer wissen, was Erziehung kleiner Kinder ist und dass das auch Arbeit ist. Natürlich bringt das auch eine Unsicherheit in der Personalplanung mit sich. Ich glaube aber, dass die Chancen die Risiken überwiegen. Was ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anbelangt, so sind wir der Meinung: Wer kann und will, sollte seinen Beruf auch über die Rentenaltersgrenze hinaus ausüben können. Das ist auch angesichts der von Ihnen kritisierten Rente mit 63 für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die 45 Jahre lang gearbeitet haben, eine Möglichkeit, an einer anderen Stelle mehr Flexibilität zu zeigen. Darüber hat es aber lange Diskussionen in der Koalitionsarbeitsgruppe gegeben. Das Ergebnis ist, dass die Hinzuverdienstmöglichkeiten verbessert werden sollen und die Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung entfallen könnten. Wir werden uns die Vorschläge genau anschauen. Ich glaube, dass durchaus gewisse Fortschritte erzielt werden können. Wir versuchen, die Lohnzusatzkosten einigermaßen im Zaum zu halten. Die hohe Erwerbstätigenzahl und die hohe Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse führen dazu, dass wir im aktuellen Rentenversicherungsbericht trotz zusätzlicher Leistungen wie etwa Mütterrente von einem konstanten Rentenbeitragssatz bis 2020 ausgehen können. Sie wussten schon im Wahlkampf, dass wir eine gewisse Erhöhung der Pflegeversicherungsbeiträge ins Auge gefasst haben. Die dafür notwendigen Gesetze sind jetzt umgesetzt. Die Steigerung der Gesundheitsbeiträge liegt aber nicht im paritätischen Bereich, sondern bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Ich erwähne das hier, weil Sie nichts spüren. Aber wir in der Politik spüren, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stärker belastet sind. Wir erhoffen uns bei der nächsten Kritik im Bereich der Sozialversicherungsbeiträge eine gewisse Rückerinnerung daran, dass wir eine Entkopplung von den Arbeitgeberbeiträgen haben. Meine Damen und Herren, das sind einige wichtige Punkte. Natürlich ist für die Frage der Wettbewerbsfähigkeit auch das Thema Energie von allergrößter Bedeutung. Nächste Woche findet die Klimakonferenz in Paris statt, auf der die Energiewende, Energieveränderung und Dekarbonisierung im Laufe des Jahrhunderts einmal mehr eine große Rolle spielen werden. Es ist schon recht interessant, dass einige Länder, insbesondere China, inzwischen einen ambitionierten Pfad eingeschlagen haben. Wenn Sie mich vor fünf Jahren gefragt hätten, ob China schon im Jahr 2015 sagen würde, wann es zum ersten Mal seine CO2-Emissionen reduzieren wird, dann hätte ich das für extrem unwahrscheinlich gehalten. Dass China jetzt auch aus eigenem Erleben der Schädigungen durch bestimmte Energieträger solche Aussagen trifft und spätestens 2030 seinen Peak bei den CO2-Emissionen erreicht haben will, finde ich bemerkenswert. Allerdings ist auch richtig, dass wir als Industrieländer alleine das Zwei-Grad-Ziel gar nicht einhalten könnten. Ich glaube, bei allen Kosten, die wir durch die Energiewende haben, ist doch die Fähigkeit, bestimmte Technologien zu beherrschen, für uns eine große Chance – neben der Pflicht, die wir gegenüber Entwicklungsländern haben, unseren Beitrag im Bereich umweltschonender und energieeffizienter Technologien zu leisten. Ich hoffe, dass wir durch die Veränderungen im Erneuerbare-Energien-Gesetz den Anstieg der EEG-Umlage weiter dämpfen können – ich sage es einmal ganz vorsichtig –, insbesondere durch die nächste Runde der Reformen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, die die Pflicht beinhaltet, alle neuen Projekte auszuschreiben. Das ist eine europäische Verpflichtung, die sicherlich noch turbulente Diskussionen in Deutschland hervorrufen wird, die aber auf dem Weg zur Marktfähigkeit erneuerbarer Energien ein unumgänglicher Schritt ist. Meine Damen und Herren, Sie merken also: Nicht nur die Tatsache, dass wir viele Flüchtlinge in unsere Gesellschaft zu integrieren haben und dass wir die Fehler der Vergangenheit in Bezug auf Gastarbeiter nicht wiederholen wollen, was Sprachbeherrschung und anderes anbelangt, sondern auch die sonstigen Geschehnisse auf der Welt – die demografischen Veränderungen, die technischen Veränderungen durch Digitalisierung, die europäischen Notwendigkeiten und der Wettbewerb weltweit – deuten darauf hin, dass wir weiter intensiv im Gespräch über den Wandel in der Arbeitswelt bleiben werden. Wir wissen auch, dass, selbst wenn wir bei Forschung und Entwicklung fast drei Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt haben, wir immer noch nicht führend in der Welt sind – Länder wie Korea und andere sind vorneweg. Es ist uns bewusst, dass wir einem ständigen Veränderungsprozess unterliegen. Danke für unsere konstruktive Zusammenarbeit. Ihnen alles Gute und erfolgreiche Geschäftstätigkeiten zum Wohle der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Unternehmer. Nochmals herzlichen Dank für die Einladung.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Staatsakt für Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt am 23. November 2015 in Hamburg
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-staatsakt-fuer-bundeskanzler-a-d-helmut-schmidt-am-23-november-2015-in-hamburg-463890
Mon, 23 Nov 2015 11:40:00 +0100
Hamburg
Sehr geehrte Präsidenten und Ministerpräsidenten, sehr geehrter Herr Erster Bürgermeister, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett und den Parlamenten, Exzellenzen, sehr geehrter, lieber Henry Kissinger, liebe Trauergemeinde, vor allem: liebe Frau Schmidt und liebe Frau Loah, wir verabschieden uns heute von Ihrem Vater und Ihrem Lebensgefährten. Wir verabschieden uns von dem Staatsmann, Politiker und Publizisten Helmut Schmidt. Es ist ein Abschied, der uns bei einem Menschen seines Alters eigentlich nicht völlig unerwartet treffen sollte, der trotzdem außerordentlich schwerfällt, der irgendwie unwirklich erscheint. Denn Helmut Schmidt war auch im hohen Alter unglaublich präsent. Zu drängenden Fragen unserer Zeit äußerte er sich klar, streitbar und prägnant bis fast zuletzt. Helmut Schmidt wird fehlen – zuallererst natürlich seiner Familie. Ihnen, liebe Frau Schmidt, und Ihnen, liebe Frau Loah, gilt in diesen Stunden unser ganzes Mitgefühl. Helmut Schmidt wird seinen Freunden und engsten Weggefährten fehlen – wie sehr, das können wir nach den beeindruckenden Worten von Ihnen, lieber Henry Kissinger, ermessen, wie auch einfach durch Ihre Präsenz hier. Wir trauern mit Ihnen. Helmut Schmidt wird uns allen fehlen, den vielen Bürgerinnen und Bürgern, die seine Amtszeit als Bundeskanzler bewusst miterlebt haben – ob in der Bundesrepublik oder wie ich in der DDR –, genauso wie auch den vielen Jüngeren, die seinen politischen Lebensweg nur noch aus dem Rückblick kennen. Uns alle bewegt sein Tod. Tausende haben sich in die Kondolenzbücher eingetragen – oft nach langem Warten; einfach weil es ihnen wichtig war, einen letzten Gruß zu hinterlassen. Helmut Schmidt war eine Instanz. Er hat sich in den vergangenen Jahrzehnten über alle Partei- und Generationsgrenzen hinweg als scharfsinniger Beobachter und Kommentator größten Respekt erworben. Helmut Schmidts Tod reißt eine Lücke in die politische und publizistische Landschaft. Seine Interviews und Artikel, seine Bücher und Kommentare, seine Statements und sogar seine Randbemerkungen waren eine Klasse für sich. Sie hatten ihre eigene, meinungsstarke Note. Sein hohes Ansehen hat seinen guten Grund. Mir kommt dazu ein Wort in den Sinn: Verantwortung. Helmut Schmidt war bereit und fähig, jede Situation und jede Aufgabe, die ein Amt mit sich brachte, anzunehmen und sich ihnen zu stellen, seien sie auch noch so schwierig. Meine erste persönliche Erinnerung, an die sich diese Beschreibung knüpft, ist die von Helmut Schmidt als Senator der Polizeibehörde während der fürchterlichen Sturmflut im Februar 1962. Ich war damals sieben Jahre alt und lebte mit meiner Familie in Templin in der DDR. Meine Großmutter und meine Tante, die Schwester meiner Mutter, lebten in Hamburg – in der Stadt, in der ich 1954 geboren worden war. Durch den Mauerbau im August 1961 waren wir voneinander abgeschnitten. Und das spürten wir ganz besonders schlimm während der Sturmflut. Wir fühlten uns ohnmächtig, voller Sorge um unsere Familie in Hamburg. Im Radio konnten wir die Ereignisse verfolgen. Wir nahmen jede Nachricht auf. Helmut Schmidt koordinierte die Rettungsmaßnahmen. Seit diesen Tagen ist er tief in mein Gedächtnis eingegraben. Wir haben ihm vertraut. Wir haben vertraut, dass er die Lage unter Kontrolle und in den Griff bekommen würde. So war es dann auch, nachdem er sich dazu entschlossen hatte – obwohl verfassungsrechtlich nicht dazu befugt –, militärische Hilfe von der Bundeswehr und anderen NATO-Streitkräften anzufordern, um so die zivilen Helfer bei der Bekämpfung der Flut zu unterstützen. Damit gelang es ihm, eine noch schlimmere Katastrophe als ohnehin schon zu verhindern und Menschenleben zu retten. Damit lebte er vor, dass außergewöhnliche Situationen außergewöhnliche Maßnahmen erfordern. Und er lebte vor, was es bedeutet, in einer solchen Situation Verantwortung zu übernehmen. Wenn Helmut Schmidt überzeugt war, das Richtige zu tun, dann tat er es. Er war wirklich nicht immer einfach oder gar freundlich im Umgang; seine Gegner können davon auch ein Lied singen. Aber, und das zählt, er war bereit, selbst den höchsten Preis zu zahlen. Denn die Gefahr des Scheiterns bei dem, was er tat, war stets einkalkuliert – zuletzt selbst der Verlust seiner Kanzlerschaft. Gegen teils erhebliche Widerstände auch in der eigenen Partei und in der Bevölkerung hatte sich Bundeskanzler Helmut Schmidt für den NATO-Doppelbeschluss eingesetzt. Dieser sah die Aufstellung von Mittelstreckenraketen in Westeuropa vor. Damit einher ging ein Verhandlungsangebot an die Sowjetunion, beiderseits auf diese Waffensysteme zu verzichten. Erst seinem Nachfolger im Amt des Bundeskanzlers, Helmut Kohl, sollte es gelingen, den NATO-Doppelbeschluss durchzusetzen. Doch letztlich waren es der Mut, für eigene Überzeugungen einzustehen, und die Bereitschaft, Konsequenzen in Kauf zu nehmen, die Helmut Schmidt Achtung und Respekt bis heute eintrugen. Er war standhaft. Er war sich der Bedeutung seines Handelns für andere bewusst. Er sah es als seine Pflicht an, seine politische Gestaltungskraft auf das Gemeinwohl auszurichten. Bei allem Willen zur Tat – er war davon überzeugt, dass eine Entscheidung nur dann reif zu fällen war, wenn sie vorher durchdacht und mit Vernunft durchdrungen war. Denken und Handeln gehörten für ihn untrennbar zusammen. Zu seinem nüchternen Pragmatismus gesellte sich seine Resistenz gegenüber ideologischer Einengung. Wer kennt sie nicht, die vielzitierte Empfehlung Helmut Schmidts: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Er selbst hat die Aussage später wie folgt eingeordnet: „Es war eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage.“ Helmut Schmidt kannte die Sehnsucht nach Idealen, nach großen Entwürfen für eine gerechtere Gesellschaft. Doch er wehrte sich gegen jede Form blinder Ideologie – sicherlich vor allem aufgrund seiner Erfahrungen im Nationalsozialismus. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Helmut Schmidt und ich gemeinsam am 20. Juli 2008 am feierlichen Gelöbnis der Bundeswehr teilnahmen, das damals erstmals vor dem Reichstag in Berlin stattfand. Helmut Schmidt war bei diesem Gelöbnis der Hauptredner und sprach zu den jungen Rekruten über seine eigene Zeit als Soldat. Er beendete seine Rede mit den Worten: „Ihr könnt euch darauf verlassen: Dieser Staat wird euch nicht missbrauchen. Denn die Würde und das Recht des einzelnen Menschen sind das oberste Gebot.“ Helmut Schmidt brannte für die Demokratie und die ihr zugrunde liegenden Werte. Gleiches gilt für die europäische Idee. Er verstand früher als viele andere, dass die Welt offener wird, dass dies neue Aufgaben mit sich bringen und eine stärkere globale Zusammenarbeit erfordern wird. Seine Kanzlerschaft fiel in eine Zeit, als Deutschland geteilt war, als sich die Großmächte in Ost und West unversöhnlich gegenüberstanden und die Weltwirtschaft infolge stark gestiegener Ölpreise eine schwere Rezession erfuhr. Die Lehre aus dieser ersten Ölkrise war, die Abhängigkeit von Erdölimporten aus den OPEC-Staaten zu verringern und die Energieerzeugung auf eine breitere Grundlage zu stellen. Dass Helmut Schmidt dabei stark auf die Atomenergie setzte, lag in der Logik der Zeit. Damals wuchs auch seine Freundschaft mit Valéry Giscard d’Estaing, der in Frankreich im selben Jahr die politische Führung übernahm wie Helmut Schmidt in Deutschland. Gemeinsam bildeten sie in Europa ein starkes Band deutsch-französischer Zusammenarbeit, das sich hohen politischen Belastungen gewachsen zeigte. Gemeinsam mit Präsident Giscard d’Estaing entwickelte Helmut Schmidt Strategien zur Überwindung der Wirtschaftskrise und der Inflation. Ihrer Initiative verdanken wir die Einführung des Europäischen Währungssystems, das dazu diente, die Wechselkursschwankungen zwischen den Mitgliedstaaten zu reduzieren. Das war ein mutiger Schritt. Im Rückblick zeigt sich, dass das EWS eine wesentliche Voraussetzung für einen funktionierenden gemeinsamen Markt war. Später sollte daraus die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion hervorgehen. Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing verstetigten die Treffen der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat. Bis dahin hatte der Austausch eher sporadisch stattgefunden. Das neue Format sollte sich als wichtiger Motor der europäischen Integration erweisen. Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing waren es auch, die die Idee entwickelten, die Staats- und Regierungschefs der größten Industrienationen zu informellen Gesprächen zu versammeln. 1975 – vor 40 Jahren – fand der erste Gipfel statt. Heute kommen wir mit größter Selbstverständlichkeit regelmäßig im Kreis der G7 und inzwischen auch der G20 zusammen. Ohne diese Treffen stünden wir auf der Suche nach Antworten auf globale Fragen – etwa der Finanzmarktregulierung, der internationalen Sicherheit oder des Klimaschutzes – ziemlich verloren da. So hat sich also Helmut Schmidt mit seinem strategischen Weitblick auch als ein Gründervater unserer Gipfeldiplomatie erwiesen. Weise Vorausschau indes nützt nur wenig, wenn eine Gegenseite auf Unmenschlichkeit und Hass setzt. Die wohl größte Bewährungsprobe für den Bundeskanzler Helmut Schmidt war der Terrorismus der sogenannten „Rote Armee Fraktion“. Im Herbst 1977 erreichte er einen fürchterlichen Höhepunkt. Um elf RAF-Mitglieder freizupressen, wurde am 5. September Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer entführt. Bei der Aktion wurden sein Fahrer und drei Polizeibeamte ermordet. Die Bundesregierung mit Helmut Schmidt an der Spitze entschied sich, die Forderungen der Terroristen nicht zu erfüllen und keine RAF-Mitglieder aus der Haft zu entlassen. Sie blieb auch bei dieser Haltung, als palästinensische Terroristen ein Flugzeug der Lufthansa nach Mogadischu entführten und dieselbe Forderung stellten. Die Erpresser ermordeten den Piloten Jürgen Schumann und drohten damit, die gesamte Besatzung und alle Passagiere umzubringen. Helmut Schmidt ordnete am 18. Oktober an, die Geiseln durch die GSG 9 zu befreien. Alle 86 Geiseln wurden gerettet. Hanns Martin Schleyer jedoch wurde von seinen Entführern ermordet. Helmut Schmidt hat mehrfach ausführlich über diese Tage im Herbst 1977 gesprochen. Vor gut zwei Jahren resümierte er: „Im Laufe des Lebens haben mich drei Erlebnisse bis in die Grundfesten meiner Existenz erschüttert. Zum einen der Tod meiner Frau. Zum anderen – viele Jahrzehnte vorher – mein Besuch in Auschwitz. Und drittens die monatelange Kette von mörderischen Ereignissen, die mit Hanns Martin Schleyers Namen verbunden bleibt.“ Helmut Schmidt war davon überzeugt, dass seine Entscheidung richtig war, dass sich ein Staat nicht erpressen lassen dürfe. Aber er wusste auch, dass er Mitverantwortung für den Tod Hanns Martin Schleyers auf sich nehmen musste. Wir stehen an diesem Tag, an dem wir von Helmut Schmidt Abschied nehmen, wieder unter dem Eindruck grausamer Attentate. Unsere Gedanken wandern immer wieder nach Paris, zu den Opfern der Anschläge vor zehn Tagen, zu ihren Angehörigen und allen, die ihnen nahestanden. Die Motive sind heute andere, die Umstände auch. Aber Terror bleibt Terror. Menschenverachtende Mordtaten lassen sich durch nichts rechtfertigen. Was hätte Helmut Schmidt zu den Anschlägen gesagt? Diese Frage liegt nahe; und doch verbietet sie sich. Wir müssen selbst die gebotene Antwort geben. Wir müssen selbst zeigen, dass wir verstanden haben, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Entschlossenes Handeln ist und bleibt gefragt, ebenso der internationale Schulterschluss und die klare Botschaft: Freiheit ist stärker als Terror und Hass, Menschlichkeit ist stärker als Unmenschlichkeit. Helmut Schmidt hatte etwas zu sagen. Wir haben seine Stimme im Ohr. Sein Denken bleibt in Erinnerung. Die Spuren, die er hinterlässt, sind tief. Aus der Achtung für den Bundeskanzler Helmut Schmidt wurde der Respekt für den Publizisten, wurde die Verehrung eines Jahrhundertzeugen und Elder Statesman, wurde schließlich die Zuneigung zu einem Mann, der bis ins hohe Alter mit klarem Verstand brillierte, geschliffen formulierte und mit seinen gepflegten Leidenschaften trotzdem nahbar wirkte. Seine Urteile waren fest und sie waren sorgfältig durchdacht. Helmut Schmidt konnte andere überzeugen. Auch für diejenigen, die anderen Ansichten anhingen, war es ein Gewinn, mit ihm zu diskutieren, weil er die richtigen Fragen stellte und weil er mit prägnanten Antworten den Nagel auf den Kopf zu treffen verstand. Die Größe seiner Kanzlerschaft lag in seiner klugen und konsequenten Regierungsführung. Die Leistungen dieses Bundeskanzlers zeigten sich in den Krisen, die er zu bewältigen hatte. Helmut Schmidt bestand diese Bewährungsproben. Sie schärften seine Urteilskraft und brachten all seine Fähigkeiten zur Entfaltung. Helmut Schmidts Tod ist für uns alle eine herbe Zäsur. Ich verneige mich in tiefem Respekt vor diesem großen Staatsmann, vor einem großen Deutschen und Europäer. Ich verneige mich vor dem Politiker, dem Bundeskanzler, dem unabhängigen Geist und Publizisten. Ich verneige mich vor einer herausragenden Persönlichkeit. Lieber Helmut Schmidt, Sie werden uns fehlen.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 9. Nationalen IT-Gipfel am 19. November 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-9-nationalen-it-gipfel-am-19-november-2015-454268
Thu, 19 Nov 2015 15:10:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Dirks, sehr geehrte Frau Senatorin Yzer, sozusagen als Vertreterin des Gastgeberlandes, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett und den Parlamenten – wir sind heute viele und könnten fast beschlussfähig im Sinne der Bundesregierung sein –, meine Damen und Herren, die breite Anwesenheit von Kabinettsmitgliedern zeigt auch, dass wir ja alle wissen, dass die Digitalisierung sozusagen unser ganzes Leben durchdringt und alle Bereiche erfasst. Es ist der 9. IT-Gipfel; und immer noch habe ich den Eindruck, dass es ein kreatives Forum ist. Deshalb möchte ich mich bei allen, die die Plattform betreuen, ganz herzlich für das bedanken, was wir erreicht haben. Wir haben die Breite unserer Arbeit um die Anwenderindustrie sowie die Kreativ- und Kulturwissenschaft erweitert. Damit erweitert sich sozusagen der Gipfelhorizont. Der Gipfel dauert diesmal zwei Tage lang. Die Arbeitsstruktur hat sich verändert, weil der Gipfelprozess nun auf die Handlungsfelder der Digitalen Agenda der Bundesregierung ausgerichtet ist. Dass der IT-Gipfel in diesem Jahr in Berlin stattfindet, hat auch gute Gründe. Denn der Standort Berlin steht wie kaum ein anderer Ort für Wandel und Neuanfang. Hier, an der Arena in Treptow – nur knapp einen Steinwurf von der einstigen deutsch-deutschen Grenze entfernt, von der Mauer, die durch Berlin ging –, sieht man auch, was Geschichte bedeutet. Sie war vor 90 Jahren ein Omnibus-Betriebshof und ist heute ein Ort für verschiedenste Veranstaltungen. Hier spiegelt sich sozusagen das alte Berlin genauso wie das neue Berlin wider. Inzwischen ist Berlin Hauptstadt und ein Zentrum für Startups. Insgesamt ein Drittel aller deutschen Startups hat seinen Sitz in Berlin. Täglich kommen neue hinzu. Das ist schon eine tolle Erfolgsgeschichte. In der digitalen Wirtschaft gab es hier im Jahr 2014 80.000 Erwerbstätige mit einem Umsatz in Höhe von elf Milliarden Euro. Wir wollen mit unserem IT-Gipfel erreichen, dass die Tendenz nicht nur steigend, sondern wirklich dynamisch steigend ist. Die Wachstumspotenziale liegen ja auf der Hand. Natürlich – auch darüber haben wir heute wieder gesprochen – müssen Wachstumsmöglichkeiten auch durch Kapitalmöglichkeiten geschaffen oder realisiert werden. Berlin lockt zwar schon eine ganze Menge an Wagniskapital an – das hat uns Frau Yzer heute gesagt –, aber wir brauchen diesen Trend auch bundesweit. Und dazu brauchen wir bessere Rahmenbedingungen. Wir kämpfen zum Beispiel auf europäischer Ebene für Verlustabschreibungen. Wir haben auch eigene Verschlechterungen beim Streubesitz verhindert. Aber wir sind immer noch nicht da, wo wir hinwollen. Ich habe immer und immer wieder auch den Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker gebeten, endlich sichere Rahmenbedingungen für Wagniskapital zu schaffen, denn das können wir alleine bzw. national gar nicht machen. Dass der IT-Gipfel in Berlin auch die Möglichkeit bot, Thementouren durchzuführen, war eine spannende Sache. Das Themenspektrum reichte von Smart City über Industrie 4.0 bis zu digitalen Vernetzungen allgemein. Damit wurde besonders klar: Digitalisierung durchdringt den Alltag immer weiter – sei es an Schulen und Universitäten, im Gesundheitswesen, in der Energieversorgung, im Verkehr oder in der öffentlichen Verwaltung. Die Bundesregierung hat im Übrigen etwas realisiert, das viele aus der Wirtschaft jahrelang gefordert haben, nämlich einen Staatssekretär als Ansprechpartner für Fragen der Digitalisierung des öffentlichen Bereichs berufen. Dass unser Innenminister Thomas de Maizière dies jetzt geschafft hat, ist für die ganze Bundesregierung eine wichtige Nachricht und für Sie, die Sie einen Ansprechpartner suchen, auch. Meine Damen und Herren, die Digitale Agenda ist also die Antwort auf die Herausforderungen, vor der wir stehen. Das Motto des diesjährigen Gipfels „Innovativ, sicher, leistungsstark“ unterstreicht auch, wie wir im gesamten Themenspektrum agieren und uns positionieren wollen. Wir haben vor einem halben Jahr unsere Plattform Industrie 4.0 gestartet. Heute konnten wir uns die ersten Ergebnisse der Arbeit anschauen. Mehr als 100 gute Beispiele, aufgezeichnet auf einer Deutschlandkarte, zeigen, dass das Projekt angenommen wird. Wir wünschen uns natürlich, dass viele, gerade auch Mittelständler und kleine Unternehmen, diese Plattform nutzen. Denn wir wissen ja, dass der Einstieg und der Umstieg hinsichtlich der Akzeptanz dessen, was die Digitalisierung im Produktionsprozess, im Entwicklungsprozess und im Forschungsprozess ermöglicht, nicht für jeden ganz einfach sind. Daher ist es gut, eine Hilfestellung zu haben; eine Plattform, zu der alle Zugang haben. Dieses Angebot soll also dahingehend genutzt werden, dass man sich nicht nur theoretisch informiert, sondern – so wurde uns das heute auch gezeigt – sich auch praktische Anwendungsbeispiele anschauen oder selbst solche einbringen und bestimmte Komponenten von Industrie 4.0 testen kann. Das heißt also, damit haben wir wirklich eine gute Chance für Unternehmen geschaffen, die noch nicht so mit neuen Möglichkeiten vertraut sind. Ich würde mir wünschen, dass, wenn wir nächstes Jahr auf diese Landkarte schauen, eine deutliche Steigerung zu sehen sein wird. Die Plattform Industrie 4.0 wird auch international sehr stark beachtet. Es ist wichtig – Herr Dirks hat den Bogen gleich noch weiter gespannt –, dass wir auch Hubs, Konzentration und sozusagen Ökosysteme, wie man heute sagt – „Cluster“ sind schon zu statisch; das habe ich verstanden –, brauchen. Aber die erste Voraussetzung für einen Industriestandort, für eine Exportnation wie Deutschland ist, dass nicht nur große Unternehmen die Chancen der Digitalisierung zu nutzen verstehen, sondern dass das tief in die Breite unserer Wirtschaft geht. Wir haben nämlich viele kleine Champions, die ganz wesentlich zu unserer Wirtschaftsstärke beitragen. Wir haben eine breite Palette an Zuliefererindustrie, die sich ja auch auf neue Gegebenheiten einstellen muss. Wenn wir bei der Digitalisierung industrieller Prozesse vorne liegen, dann wird das sozusagen auch von der Psychologie her seine Wirkung gegenüber denen nicht verfehlen, die unsere Wettbewerber sind und beim Internet und bei der Software vorne liegen. Das ist dann sozusagen eine gute Wettbewerbsansage, die mir wieder Hoffnung darauf macht, dass wir dann auch die Digitalisierungsprozesse so nutzen können, dass wir in Deutschland weiterhin Champions der industriellen Wertschöpfung sind und nicht zur verlängerten Werkbank werden. Das ist nämlich im Kern der Kampf, der zurzeit ausgefochten wird. Ein Beispiel ist für uns selbstverständlich sehr wichtig, nämlich die Mobilität. Wir haben die Teststrecke auf der A9, die, glaube ich, eine Art Ökosystem werden könnte. Moderne Autos haben bereits heute viele Assistenzsysteme. Aber irgendwann übernehmen die Assistenzsysteme die Herrschaft und der Fahrer wird sozusagen zur Assistenz. Auf jedem Fall sind wir schon auf dem Weg zum automatisierten und vernetzten Fahren. Das sollten wir auch weiterentwickeln. Deshalb ist das digitale Testfeld Autobahn A9 von großer Bedeutung. Natürlich geht es auch um die Frage: Wie können wir verlässliche Übertragungsstandards sicherstellen? Denn alle Anwendungen – von der Telemedizin bis zum autonomen Fahren – möchte man sich mit Unsicherheiten bei den Übertragungsvorgängen eigentlich nicht vorstellen. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir bei der Entwicklung von neuen Standards, insbesondere von 5G, gut dabei sind, dass die Bandbreiten größer und die Übertragungsgeschwindigkeiten höher werden, sodass absolute Verlässlichkeit gewährleistet ist. Dass wir über 5G nachdenken können, hat auch damit zu tun, dass wir im Bereich der Frequenzen überhaupt sehr gut vorangekommen sind. Die Versteigerung hat für unsere Verhältnisse wirklich schnell und zügig geklappt. Ich möchte daher auch Alexander Dobrindt danken, der das zusammen mit vielen anderen möglich gemacht hat. Und ich möchte auch denen danken, die Frequenzen abgeben mussten und sich darauf eingelassen haben. Wir haben durch diese Versteigerung nicht nur mehr Frequenzbereiche zur Verfügung, sondern wir haben damit auch zusammen mit anderen Mitteln 2,7 Milliarden Euro zur Verfügung, die wir für die Förderung des Ausbaus der Infrastruktur in ländlichen Bereichen einsetzen können, sodass das Ziel von 50 Megabit pro Sekunde im Jahr 2018 für jeden deutschen Haushalt realisierbar ist. Nun werden viele unter Ihnen sagen: 50 Megabit pro Sekunde – das ist nicht so toll. Aber wenn Sie heute irgendwo im ländlichen Raum sitzen und – ich spreche einmal als Parteivorsitzende – ihren Parteifreunden eine E-Mail mit drei bewegten Bildern schicken wollen, und die müssen eine halbe Stunde lang laden, dann öffnen die die E-Mails gar nicht mehr. Das heißt also, es ist durchaus auch für viele Anwendungszwecke noch gut, mit 50 Megabit pro Sekunde arbeiten zu können. Ich weiß aber, dass wir für viele technische Anwendungen bedeutend mehr brauchen. Wir werden dann sicherlich bald auch die Ziele über das Jahr 2020 hinaus festlegen. Um die Potenziale lokaler Funknetze im öffentlichen Raum auszuschöpfen, hat die Bundesregierung das Telemediengesetz geändert. Haftungsregelungen sind klargestellt worden. Für WLAN-Betreiber schaffen wir somit Rechtssicherheit. Und wir erhoffen uns davon in Hotels, in Gaststätten und an anderen Stellen mehr öffentlich zugängliche Hotspots. Dieses Signal ist zum Beispiel auch für eine Stadt wie Berlin dringend notwendig, weil viele europäische Städte das, was wir uns noch mühsam erarbeiten, längst haben. Meine Damen und Herren, wir können in Deutschland einiges machen, aber wir sind uns einig: mehr Potenziale, auch für Europa, erschließen wir uns nur, wenn wir einen digitalen europäischen Binnenmarkt entwickeln. Ich habe mich gerade eben, Herr Dirks, als Sie gesprochen haben, mit Frau Zypries unterhalten, was man nicht tun sollte, aber es war ein zielführendes Gespräch. Wir haben über die von Ihnen erwähnten Hubs und Ökosysteme und über die Vorteile von Ländern, die noch mehr Einwohner als wir haben, gesprochen. Die sprachliche Fragmentierung der Europäischen Union macht uns natürlich auch zu schaffen. Wir haben Mühe im Wettbewerbsrecht, wobei wir jetzt immerhin so weit gekommen sind, dass die Kommission bereit ist, eine Studie in Auftrag zu geben, die feststellen soll, ob der Wettbewerbsmarkt im Telekommunikationsbereich nicht ein bisschen zu fragmentiert ist. Wenn die Studie dazu dient, eine lautlose Umsteuerung zu ermöglichen, dann, würde ich sagen, ist sie gerechtfertigt. Dass es hier insgesamt eine zu große Fragmentierung gibt, ist offensichtlich. Wir haben eben auch sprachliche Barrieren und müssen daher auch den Mut haben, wenn man sich verständlich machen will – obwohl ich die deutsche Sprache wirklich liebe; das muss ich jetzt als Bundeskanzlerin vorwegschicken –, uns bei bestimmten Anwendungen vielleicht auch auf Englisch zu einigen. Das findet ja de facto sowieso statt. Insofern könnte uns auch das noch einmal voranbringen. Wir haben in dieser Periode der Europäischen Kommission mit unserem Kommissar Günther Oettinger eine ganze Menge zu lösen – vom Urheberschutz bis zu anderen Dingen im Bereich der Digitalen Agenda. Im Augenblick steht die Frage der Vereinheitlichung der Datenschutzkulturen durch die Datenschutzgrundverordnung im Vordergrund. Hierbei wird es notwendig sein, dass der Kompromiss, der zwischen Kommission und Rat gefunden wurde, im Parlament nicht zu sehr verwässert wird. Wir müssen hohe Datensicherheit haben, aber wenn wir uns das Big Data Management, wenn wir uns die Möglichkeit der Verarbeitung großer Datenmengen durch einen falschen rechtlichen Rahmen zu sehr einengen, dann wird nicht mehr viel Wertschöpfung in Europa stattfinden. Das wäre für uns von großem Nachteil. Ich wünsche Thomas de Maizière also wirklich viel Erfolg auf dem Weg zu einem fairen und guten Kompromiss. Meine Damen und Herren, neu und spannend ist auch das Thema Wandel in der Arbeitswelt durch Digitalisierung. Ministerin Nahles hat hierzu ein Grünbuch aufgelegt. Es gibt auch eine intensive Diskussion mit den Gewerkschaften. Ohne jetzt irgendeine Gewerkschaft zurückzustufen – ich glaube, die IG Metall, die ja auch in den entsprechenden Bereichen im Maschinenbau und Automobilbau sehr stark tätig ist, hat diesbezüglich schon sehr viel gearbeitet. Ich bin sehr froh, dass diese Themen auch hier wahrgenommen werden und in diesem Jahr zum Beispiel das Thema Flexibilität am Arbeitsplatz durchleuchtet wird. Daraus ergeben sich sehr spannende und sehr interessante Erkenntnisse. Ich glaube, darüber wird im Anschluss an diese Rede auch noch einmal diskutiert. Auch hierbei ist es wie eigentlich immer in der Sozialen Marktwirtschaft: Es muss die richtige Balance gefunden werden – zum einen zwischen der Freiheit der Datennutzung und der Sicherheit der Daten, zum anderen zwischen der Flexibilität in der Arbeit und der persönlichen Souveränität über die eigene Zeit. Ich bin sehr hoffnungsvoll, dass wir mit unserer großen Erfahrung in der Sozialen Marktwirtschaft auch diese Konflikte so lösen werden, dass es für alle von Vorteil ist. Ich bin auch der Meinung, dass es in diesem Zusammenhang sehr gut ist, dass wir Tarifpartner haben, die über diese Zukunftsfragen reden können. Ich bin auch sehr froh, dass das Thema Bildung heute in den verschiedensten Bereichen – gerade auch das Thema Bildung im Bereich des Arbeitsprozesses – immer wieder eine Rolle gespielt hat. Wir haben uns überlegt, dieses Thema im nächsten Jahr zu einem Schwerpunkt zu machen. Minister Gabriel hat das vorgeschlagen. Und ich glaube, das sollten wir auch tun. Wir müssen uns des Weiteren einer Vielzahl von ethischen, juristischen und sozialwissenschaftlichen Fragen widmen. Ich denke hierbei beispielsweise auch an medizinische Anwendungen, die in Zukunft möglich sein werden. Meine Damen und Herren, ein großes Thema war auch das Thema Sicherheit im Bereich der Digitalisierung. Wir haben das IT-Sicherheitsgesetz verabschiedet und haben dabei einen kooperativen Ansatz etabliert. Mindeststandards, Prüfsysteme, Meldewege – all das wird gemeinsam mit der Wirtschaft entwickelt. Ich habe sowieso den Eindruck, dass die kooperative Entwicklungsform, wie sie sich im IT-Gipfel-Prozess in den vergangenen Jahren gezeigt hat, etwas ist, das wir in anderen Bereichen unserer Zusammenarbeit mit der Wirtschaft nicht in diesem Maße haben. Das gemeinsame Beschreiten von Neuland führt auch zu ganz neuen Formen der Interaktion. Ich finde, das macht Spaß und ist ausgesprochen erfreulich. Meine Damen und Herren, vor uns liegt viel Arbeit – Herr Dirks hat vorhin schon einmal eine Runde weiter geschaut. Ich glaube, dass wir Ansätze solcher Ökosysteme oder Hubs, wie sie angesprochen wurden, ja schon haben. Die Frage ist: Mit welchen Fördermöglichkeiten kann man das unterstützen? Wie können wissenschaftliche Institutionen, Forschungseinrichtungen, Unternehmen, Startups und Kapitalgeber möglichst gut zusammengebracht werden? – Wenn sie nicht nebeneinander sitzen, können sie sich ja digital vernetzen. Allerdings scheint es ab und zu, wenn es um richtig viel Kapital geht, auch noch notwendig zu sein, dass man sich persönlich sieht. Auch das ist ja nicht schlecht. Meine Damen und Herren, es ist viel zu tun. Wir sind allerdings auch ganz schön vorangekommen. Nächstes Jahr wird es wieder einen IT-Gipfel geben. Wir haben schon festgelegt, dass er in Saarbrücken stattfinden soll. Damit keiner enttäuscht ist, haben wir auch gleich noch den Ort für das übernächste Jahr festgelegt; dann wird der Gipfel nämlich in Rheinland-Pfalz stattfinden. Ich hoffe, so sind noch mehr Leute hier im Saal zufrieden, als wenn ich nur eine Stadt genannt hätte. Danke für Ihr Mitmachen, danke für Ihre Anwesenheit. Alles Gute. Und lassen Sie uns nach vorne schauen.
in Berlin
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutschen Handelskongress am 19. November 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-deutschen-handelskongress-am-19-november-2015-453706
Thu, 19 Nov 2015 10:20:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident Sanktjohanser, lieber Günther Oettinger, meine Damen und Herren, der Kongress, den Sie hier durchführen, dient dazu, Entwicklungen im Handel näher zu beleuchten und sich über aktuelle Herausforderungen Ihrer Branche auszutauschen. Ich denke, man kann sagen, dass der deutsche Einzelhandel insgesamt gut aufgestellt ist. Herr Sanktjohanser, Sie haben eben auch eine Zahl genannt. Dass die Zahl der Beschäftigten gestiegen ist, ist eine Entwicklung, die mich sehr freut. Sie zeigen mit dem Thema Ihres Kongresses zudem, dass Sie immer auch eine Runde weiter, an die Zukunft denken. Auch wenn der deutsche Einzelhandel und die deutsche Wirtschaft insgesamt gut aufgestellt sind, muss ich dennoch sagen: Dieser Kongress wird wie auch andere Veranstaltungen in diesen Tagen von den barbarischen Anschlägen in Paris überschattet. Wir verweilen in unseren Gedanken immer wieder bei den Opfern, bei den Verletzten, bei den Angehörigen. Wir stehen in diesen Tagen eng an der Seite unserer französischen Freunde. Denn dieser Akt der Menschenverachtung zielt auf alle, denen ein Leben und Zusammenleben in Würde, in Freiheit, in Toleranz am Herzen liegt. Wir wissen aber auch: Freiheit lässt sich nicht unterdrücken – weder von Terroristen noch von diktatorischen Regimen. Immer wieder – so hat es die Geschichte gezeigt – bricht sich Freiheit Bahn. Diese Erfahrung haben auch wir Deutschen gemacht. Denn so unfassbar wie die wiederholten Anschläge in Paris oder auch in Kopenhagen in diesem Jahr waren, so wenig wollen wir vergessen, dass wir in diesem Jahr auch auf etwas sehr Schönes zurückblicken konnten: auf 25 Jahre Deutsche Einheit. Von der Grenzöffnung am 9. November 1989 bis zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 hat es nicht einmal ein Jahr gedauert. Das war eine unglaublich kurze Zeitspanne, gemessen an der Bedeutung des historischen Schritts. Wenn man sich überlegt, was in dieser Zeit in Europa noch alles parallel stattgefunden hat, dann weiß man, dass das eine enorm dichte Phase wirklich positiver geschichtlicher Entwicklung war. Für den zügigen Vollzug der Deutschen Einheit sprachen viele Argumente. Sie resultierten auch aus vielen Facetten, die die Freiheit kennt. Dazu zählten auch – sie wurden damals manchmal verunglimpft – ökonomische Freiheiten. Ich erinnere mich noch gut an die Faszination, mit der viele aus dem Osten – ich auch – durch Geschäfte im Westen gingen. Die Vielfalt hochwertiger Produkte sprach für sich. Sie war geradezu Sinnbild für wirtschaftlichen Erfolg und Wohlstand. Aber weder wirtschaftlicher Erfolg noch Wohlstand fallen vom Himmel. Beides muss immer wieder hart erarbeitet werden. Aber um sich Wohlstand überhaupt erarbeiten zu können, braucht es wesentliche Voraussetzungen. Eines war klar: Die Zentrale Planwirtschaft war offensichtlich nicht geeignet, Wohlstand und Erfolg herbeizuführen. Die jahrzehntelange Misswirtschaft hatte in der ehemaligen DDR tiefe Spuren hinterlassen. Deshalb waren riesige Anstrengungen erforderlich, um – heute sehen wir sie – blühende Landschaften zu realisieren. Es lohnt sich, so denke ich, sich vor Augen zu führen, unter welchen Ausgangsbedingungen die neuen Bundesländer in die Einheit gestartet sind. So wird uns auch bewusst, was wir in diesem Vierteljahrhundert geschafft haben. So zeigt sich, was sich mit Mut und Weitsicht bewegen lässt. Deshalb habe ich auch die berechtigte Hoffnung und Zuversicht, dass ebenso gegenwärtige Herausforderungen bewältigt werden können, gerade auch weil wir wirtschaftlich gut dastehen. Die vielen Flüchtlinge, die derzeit zu uns kommen, gehen davon aus, dass wir ihnen helfen können. Sie sehen in Deutschland ein Land, das Kraft hat, Schutz und Perspektiven auf ein besseres Leben zu bieten. Angesichts der Dimension der Flüchtlingsproblematik müssen wir aber auch klar sagen: Wer allein aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommt, wird in sein Heimatland zurückkehren müssen. Wir brauchen unsere Kraft, um denjenigen Schutz gewähren zu können, die ihn wirklich brauchen, die vor Terror, vor Krieg und vor Verfolgung geflohen sind. Deshalb – das ist eine der großen Aufgaben, die uns im Augenblick beschäftigen – brauchen wir rasch Klarheit darüber, wer denn nun eine Bleibeperspektive hat und wer nicht. Dazu werden jetzt viele Schritte gegangen. Herr Weise als Chef der Bundesagentur für Arbeit und zugleich des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sieht die Aufgabe darin, eine schnelle Integration derer mit Bleibeperspektive zu schaffen, aber eben auch auf eine schnelle Rückführung derer ohne Bleibeperspektive zu bestehen. Ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie bereit sind, Flüchtlingen, die eine Bleibeperspektive haben, Arbeitsmöglichkeiten zu eröffnen. Dafür braucht man aber auch sprachliche Voraussetzungen. Jeder Flüchtling, der eine Bleibeperspektive hat, wird sehr schnell einen Integrationskurs, einen Sprachkurs bekommen. BAMF und Bundesagentur werden auch aufeinander abgestimmte Kurse anbieten. Dabei spielt also die Orientierung an der Erwerbsfähigkeit eine Rolle. Man kann ja vieles lernen, aber es muss auch konzentriert sein, sodass man Menschen dorthin führt, wo Arbeitsmöglichkeiten für sie bestehen. Wir werden sehr offen sein für Praktika und Hospitationen jeder Art. Wir haben einen besseren Zugang zur Leiharbeit geschaffen. Und wir geben im Zusammenhang mit jenen, die eine Ausbildung beginnen, weitgehend Rechtssicherheit, damit sie die Ausbildung dann auch beenden können. Ich denke, wir werden in den nächsten Jahren sehr intensiv im Gespräch bleiben müssen: Was klappt, was klappt nicht, wo gibt es Probleme? Insofern werden wir auch sehr stark auf die Wirtschaft hören. Wir haben eine Menge zu regeln. Wir müssen feststellen, dass die derzeitigen Rechtsetzungen zum europäischen Asyl- und Grenzsystem, dem sogenannten Dublin-System, nicht funktionieren. Wir haben einerseits freie Bewegungsmöglichkeiten durch das Schengen-Abkommen, aber wir haben andererseits keinen ausreichenden Schutz der Außengrenzen. So haben wir im Augenblick insbesondere an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland in hohem Maße Illegalität zu verzeichnen. Diese Illegalität muss durch Legalität ersetzt werden. Es kann nicht sein, dass die Ägäis, eine schmale Meerenge zwischen der Türkei und Griechenland, von Schmugglern und Schleppern beherrscht wird, aber nicht von einem vernünftigen Grenzregime. Das muss sich ändern. Deshalb brauchen wir an den Außengrenzen mehr Schutz, deshalb brauchen wir Absprachen mit der Türkei, deshalb brauchen wir eine Registrierung von ankommenden Flüchtlingen gleich an der Außengrenze; und zwar so, dass sie nach europäischen Maßstäben stattfindet. Wir arbeiten im Augenblick auf einen EU-Türkei-Gipfel hin, um sehr schnell über Lastenteilung, über Legalität zu sprechen und gegebenenfalls auch bestimmte Zahlen von Flüchtlingen mit der Türkei vereinbaren zu können, die wir dann in der Europäischen Union aufnehmen. Und wir arbeiten an einer fairen Verteilung innerhalb Europas, die leider auch noch nicht gewährleistet ist. Es geht aber nicht nur darum, ein ordentliches Grenzregime an den Außengrenzen der Europäischen Union zu haben, sondern wir müssen immer auch das Ziel im Auge haben, dass es auch darum geht, die Ursachen zu bekämpfen, derentwegen Flüchtlinge überhaupt erst ihre Heimat verlassen. Es geht um die politische Arbeit an einer Lösung des Syrien-Konflikts, um eine Verbesserung der Lebenssituation der Flüchtlinge in Jordanien und im Libanon und auch um eine Verbesserung der Situation der Flüchtlinge in der Türkei. Gerade dazu vereinbaren wir mit der Türkei europäische Hilfeleistungen, um zum Beispiel die 900.000 Kinder, die in der Türkei noch nicht alle zur Schule gehen können, besser beschulen zu können und ihnen dann Perspektiven für ihr Leben zum Beispiel in der Nähe Syriens zu eröffnen. Meine Damen und Herren, wir stehen vor gewaltigen Aufgaben, da wir nicht nur den Krieg gegen das Assad-Regime haben, nicht nur den Krieg gegen den Islamischen Staat, nicht nur eine fragile Situation in Afghanistan, sondern weil wir auch große Konflikte in Afrika zu verzeichnen haben. Vor wenigen Tagen haben wir auf einem EU-Afrika-Gipfel in Valletta auf Malta über Verbesserungen der Lebenssituation der Menschen in Afrika gesprochen. Wie kann man die Lage in den Heimatländern verbessern? Natürlich erst einmal durch Eigenanstrengungen der Länder für eine bessere Regierungsführung und für stärkere Zivilgesellschaften. In Zeiten des Internets, in Zeiten des Smartphones wissen Menschen überall auf der Welt, was man an Freiheiten haben könnte. Deshalb werden die Ansprüche an die eigenen Regierungen auch höher. Dabei können wir Unterstützung anbieten, wenn es um Konfliktvermeidung geht, wenn es um Armutsbekämpfung geht, wenn es um eine Stärkung des Bildungswesens geht. Das Flüchtlingsdrama – so muss man es bei 60 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, nennen – kann nun wirklich nicht von einem Kontinent gelöst werden, sondern ist eine globale Aufgabe. Es zeigt uns aber auch: Vor der Globalisierung können wir uns nicht abschotten. Abschottung wird nicht funktionieren. Globale Fragen erfordern vielmehr globale Antworten. Das gilt nicht nur mit Blick auf die Flüchtlinge, das gilt auch mit Blick auf den Klimaschutz, auf die Weltgesundheit, auf Fragen der Wirtschaft und Finanzen und auch auf Fragen fairer Produktionsbedingungen. Wir sehen auch, dass sich immer mehr Länder und Regionen vor ähnliche Herausforderungen gestellt sehen. Informationen wandern ja heute in Sekundenschnelle um den Globus. Es macht kaum mehr einen Unterschied, Kontakt auf der einen oder anderen Seite des Erdballs zu unterhalten. Man kann das alles in Sekundenschnelle schaffen. Das heißt, Digitalisierung durchdringt alle Lebensbereiche – ob in der Freizeit, in der Arbeit, in der Wirtschaft im Allgemeinen oder im Handel im Besonderen. „Handel 4.0“ – und dann noch mit dem kundenfreundlichen Slogan versetzt – „Vom Kunden inspiriert“; in Ihrem Kongressmotto spiegeln sich die Wandlungsfähigkeit des Handels wider, die Bereitschaft, Herausforderungen anzunehmen, der Dienstleistungsgedanke des Einzelhandels, dem Kunden die Wege zu den Waren zu bereiten, die er wünscht. Die Anwesenheit des Digitalisierungskommissars Günther Oettinger auf Ihrem Kongress zeigt ja, dass Sie sich intensiv mit der Materie beschäftigen. Immer mehr Menschen organisieren einen Großteil ihres Lebens über Smartphone, Tablet oder Laptop. Das gilt auch für den Einkauf. Studien zufolge sollen bereits 70 Prozent der Bevölkerung das Internet hierfür nutzen. Die Unternehmen Ihrer Branche haben natürlich längst darauf reagiert. Viele Händler sind nicht nur live vor Ort präsent, sondern eben auch als Online-Shop oder über Apps sehr nah am Kunden. Neue Geschäftsmodelle, um den Wünschen der Kunden entgegenzukommen und sich ihrem Konsumverhalten anzupassen, machen sich offensichtlich bezahlt. Die Zahlen sprechen für sich. Gut 300.000 Unternehmen mit mehr als drei Millionen Beschäftigten erwirtschaften rund 460 Milliarden Euro Umsatz. Das sind gewaltige, beeindruckende Zahlen. Das heißt, allem Wandel zum Trotz ist und bleibt der Einzelhandel eine bedeutsame Wirtschaftsgröße in unserem Land. Aber man darf, glaube ich, sagen: Wer nur auf das stationäre Geschäft setzt, der spürt den Strukturwandel immer deutlicher. Der Anteil des Onlineverkaufs wächst. Preisvergleiche im Internet erhöhen den Wettbewerbsdruck. Die lokalen Kundenfrequenzen sinken. Und in ländlichen Gebieten machen Abwanderung und demografischer Wandel den Ladenbesitzern das Leben schwer. Insoweit ist zu fragen: Welche Perspektiven kann man angesichts solcher Trends entwickeln? Wie kann man die Versorgung strukturschwacher Regionen sicherstellen? Wie kann man der Verwaisung von Innenstädten vorbeugen? Um Antworten darauf zu finden, haben wir als Bundesregierung die Dialogplattform Einzelhandel aufgelegt. Ich möchte Sie alle ermuntern, sich an diesem Dialog zu beteiligen. Es gibt fünf Workshop-Reihen: zum Thema lebendige Städte, zu Fragen des ländlichen Raums, zu Perspektiven für Arbeit und Berufe, zur Wettbewerbspolitik und zu technologischen Fragen, die mit der Digitalisierung verbunden sind. Die modernen Möglichkeiten, zu kommunizieren, zu arbeiten, zu produzieren und zu verkaufen bergen auch für die Zukunft Potenziale, die wir heute allenfalls erahnen können. Deshalb müssen rechtzeitig die Weichen gestellt werden. Und deshalb setzt die Bundesregierung auf eine Bündelung von Kompetenzen und auf Kooperation, also auf Vernetzung. Ein Beispiel ist der IT-Gipfel, der heute wieder stattfindet und ein bewährtes Forum für den Austausch zwischen Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft darstellt. Er findet seit 2006 regelmäßig statt. Heute ist es wieder soweit. Ich darf darauf hinweisen, dass wir dort eine neue Form der Kooperation pflegen. Es ist nicht so, wie es manchmal ist – bei uns natürlich nicht, Herr Sanktjohanser; Sie sind ein höflicher Mensch –: Die Wirtschaft hat ihre Forderungen und sagt der Politik, sie soll sie erfüllen; die Politik tut es oder tut es nicht, und so pflegt man eine bestimmte Dialogform. Aber da, wo man rechtliches Neuland betritt, da wo man in der digitalen Welt erst einmal geeignete Rahmenbedingungen suchen muss, gibt es vielmehr einen gleichwertigen Austausch, ein sachorientiertes Ringen um die beste Lösung, um die beste Verwirklichung dessen, was gemacht werden muss. Deshalb ist es sehr interessant zu sehen, wie auf diesem IT-Gipfel Wirtschaft und Politik zusammenarbeiten. Der IT-Gipfel ist mittlerweile stark auf die Handlungsfelder der Digitalen Agenda, die wir uns als Bundesregierung vorgenommen haben, ausgerichtet. Wir haben im September den ersten Fortschrittsbericht zur Umsetzung der Digitalen Agenda verabschieden können. Einiges ist vorangekommen. Wir haben durch die Versteigerung von Frequenzen die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir den Ausbau mit schnellem Internet mit bis zu 50 Megabit pro Sekunde bis 2018 für alle Haushalte schaffen. Die Frequenzversteigerung hat uns auch die Möglichkeit gegeben, den Ausbau zu fördern. Denn in ländlichen Regionen wird das allein in wirtschaftlicher Hinsicht sonst nicht klappen. Wir haben die Plattform Industrie 4.0, die sich der völlig neuen Gestaltung von Produktionsketten in der industriellen Wertschöpfung durch Digitalisierung widmet. Wir haben neben dem IT-Sicherheitsgesetz auch das Telemediengesetz beschlossen. Hierbei geht es um einen verlässlichen und sicheren Rechtsrahmen für ein öffentliches WLAN. Wir stärken damit die Möglichkeit in Hotels, in Restaurants oder auch für Einzelhändler, den Kunden einen Internetzugang anzubieten. Aber – deshalb ist ja die Anwesenheit von Günther Oettinger heute so wichtig – beim Thema Digitalisierung kann man sich nicht an nationalen Grenzen orientieren. Wir müssen vielmehr den europäischen Binnenmarkt nutzen, um für die Digitalisierung die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Wir müssen einen digitalen Binnenmarkt schaffen. Deshalb unterstützen wir alle Schritte, die die Europäische Kommission geht, um einen digitalen Binnenmarkt zu realisieren. Wir brauchen Reformen zum EU-Urheberrecht, zur Vereinfachung des E-Commerce sowie eine Analyse der Rolle von Plattformen. Wir unterstützen die Anstrengungen der Europäischen Kommission, aber wir haben natürlich auch unsere eigenen Vorstellungen. Wir brauchen auf der einen Seite einen geeigneten Rechtsrahmen, der sowohl die Sicherheit des Kunden als auch die des Einzelhändlers garantiert sowie Freiraum für neue datenbasierte Geschäftsmodelle lässt. In diesen Tagen gibt es ein sehr intensives Gespräch im sogenannten Trilog zwischen dem Europäischen Rat, der Kommission und dem Europäischen Parlament über die sogenannte Datenschutzgrundverordnung, die – natürlich mit Übergangsbestimmungen – unmittelbar geltendes europäisches Recht wird und nicht national umgesetzt werden muss. Mit der Verordnung werden die gesamten Grundlagen dafür gelegt, wie Datenmanagement, wie Datenverarbeitung, Data-Mining, wie man so schön sagt, also wie auf der Basis von Daten die Schaffung neuer Produkte und neue Wertschöpfung in Europa stattfinden kann. Davon hängt sehr viel ab. Denn wenn wir uns zu sehr reglementieren, wenn wir zu sehr den Schutz sensibler Daten in den Vordergrund stellen und zu wenig Freiraum lassen, dann werden wir sehen, dass bestimmte Produkte, die der einzelne Kunde sehr gerne möchte, bei uns nicht hergestellt werden können. Das würde zu einer Abwanderung von Kunden führen. Das heißt also: Bewährte Schutzstandards können sich einerseits als Plus für den europäischen Standort erweisen; wenn sie aber zu rigide gestaltet werden, können sie in Zukunft auch als Schwachstelle europäischer Wertschöpfung gelten. Hierbei die Balance zu finden, ist in diesen Tagen die wichtige Aufgabe. Ein Themenfeld, bei dem wir auch Standards erhalten wollen, ihnen auch vermehrt weltweit Geltung verschaffen wollen, sind die Verhandlungen über ein Transatlantisches Handels- und Investitionspartnerschaftsabkommen. Wir haben dabei auch Ihre Einzelhandelskunden im Blick. Denn zum einen können mit dem Abbau kostenintensiver Handelshürden viele Produktpreise sinken und die Sortimente wachsen, zum anderen sollen und werden unsere europäischen Verbraucherschutzstandards unangetastet bleiben – darin sehen wir uns mit unseren Partnern in Europa und in den USA einig. Das heißt, ein transatlantisches Handelsabkommen lässt nicht nur neue Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung erwarten, sondern es bietet auch die große Chance, dass unsere im Weltvergleich relativ hohen Standards weltweit mehr Vorbildwirkung entfalten können. Angesichts des riesigen transatlantischen Wirtschaftsraums wird man dann diese Standards weltweit nicht mehr einfach ignorieren. Sie wissen, dass Standards auch bei unserem G7-Gipfel in Elmau ein Thema waren. Herr Sanktjohanser hat darauf hingewiesen: Je mehr solche Standards global durchgesetzt werden, umso besser ist es natürlich für Sie hier in Deutschland. Deshalb arbeiten wir dafür, dass sich anerkannte Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards besser durchsetzen können, und zwar an allen Stellen der globalen Wertschöpfungs- und Handelsketten. Dabei kann es aber nicht darum gehen, dass der Handel die Verantwortung für die gesamte Wertschöpfungskette übernimmt. Das ist nicht unsere Absicht. Wir werden versuchen, die Arbeiten, die wir im Rahmen der G7 gemacht haben, jetzt auch in den G20-Prozess einzubringen, für den wir im Jahr 2017 die Gastgeber sein werden, um das Thema auf einer noch viel breiteren Plattform anzusiedeln. Nach unserem Verständnis brauchen wir ein sachgerechtes Verbraucherbild von Freiheit und Selbstbestimmung. Das heißt, Nachfrager sollten sich im Klaren darüber sein, unter welchen Bedingungen ein Produkt hergestellt wird, welche Inhaltsstoffe es hat. Auf der Grundlage von Informationen sollen dann die Kaufentscheidungen ganz bewusst gefällt werden können. Ob und inwieweit Konsumenten tatsächlich daran interessiert sind, Informationen einzuholen und zu berücksichtigen, ist die eine Seite. Die andere Seite ist aber, dass wir versuchen, den Kunden diese Möglichkeit überhaupt erst zu schaffen. Da kommt auch die Politik ins Spiel, wenn es darum geht, mehr Transparenz zu schaffen. Ein Beispiel dafür ist unser „Bündnis für nachhaltige Textilien“. Es zeigt, wie sich Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam für bessere soziale und ökologische Standards stark machen können. Ich freue mich, dass das Textilbündnis inzwischen über 160 Mitglieder zählt und weite Teile des deutschen Einzelhandelsmarkts repräsentiert. Ich möchte mich bei allen bedanken, die an dieser Initiative teilhaben, und ganz besonders auch dafür, dass Sie einen Beitrag dazu geleistet haben, den Rana-Plaza-Fonds aufzufüllen, obwohl die Unternehmen, die das gemacht haben, gar nicht an den schrecklichen Ereignissen in Bangladesch beteiligt waren. Ein Dankeschön für das verantwortungsbewusste Engagement. Aber das kann natürlich nicht die Normalität werden, sondern wir müssen schon noch etwas mehr beim Verursacherprinzip ansetzen. Die Bundesregierung selbst bringt sich in die Ziele des Textilbündnisses mit ein, und zwar durch nachhaltige öffentliche Beschaffung, durch Regierungsverhandlungen sowie durch Entwicklungszusammenarbeit und -partnerschaften mit und in den Produktionsländern. Natürlich sind wir uns bewusst, dass in einigen Ländern höhere Standards wegen der damit verbundenen Zusatzkosten eher als Standortnachteil und weniger als Standortvorteil gesehen werden. Umso wichtiger ist es, dass wir international ein möglichst gleiches Wettbewerbsfeld erzeugen. Deshalb war auch der Schritt von G7 zu G20 ein wichtiger Schritt. Wir brauchen ebenso – davon sind auch Sie abhängig – Standards für eine faire Unternehmensbesteuerung. Daran haben wir jetzt sehr intensiv gearbeitet; vor allem Wolfgang Schäuble als Finanzminister. Es gibt jetzt sehr viel bessere internationale Rahmenbedingungen, auch einen besseren Informationsaustausch. Faire Wettbewerbschancen zwischen Unternehmen, und zwar unabhängig davon, ob sie international oder vornehmlich auf nationalen Märkten tätig sind – das ist ganz wichtig. Die international Agierenden haben wir jetzt schon ein Stück weit in ihren Versuchen eingeengt, Steuersparmodelle durchzusetzen, die den allein inländisch operierenden Unternehmen letztlich riesige Schwierigkeiten machen könnten. Durch solche Beschlüsse werden wir eine größere Rechtssicherheit und eine bessere Wettbewerbssituation erzeugen. In Deutschland wollen wir unsere solide Finanzpolitik fortführen. Wir haben durch Beschlüsse für höhere steuerliche Freibeträge und mehr Kindergeld nicht zuletzt die Kundschaft des Einzelhandels gestärkt. Ich bleibe dabei: Auch wenn es jetzt durch die Flüchtlinge neue Herausforderungen gibt, brauchen wir keine Steuererhöhungen. Ich weiß, dass ein Thema, das einige umtreibt, die Erbschaftsteuer ist. Hier wollen wir uns auf die vom Verfassungsgericht vorgegebenen Korrekturen beschränken. Allerdings ist die Diskussion zum Teil sehr hart. Wir werden versuchen, alles zu tun, um die Wünsche der Unternehmerschaft nicht aus dem Blick geraten zu lassen. Es ist für Familienunternehmen von großer sachlicher Bedeutung, aber eben auch von großer psychologischer Bedeutung, ob es gewünscht wird, dass Unternehmen – manchmal kann man sagen – über Jahrhunderte in Deutschland gehalten werden und die Verantwortung von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das heißt, wir sind uns der Notwendigkeit, aber auch der Wichtigkeit der Aufgabe sehr bewusst. Neben Steuern spielen auch bürokratische Lasten als Kosten- und Standortfaktoren eine wichtige Rolle. Herr Sanktjohanser hat auf die Gesetzentwürfe zu Leiharbeit und Werkverträgen hingewiesen, die aber erst noch in die Ressortabstimmung gehen. Wir müssen darauf achten, dass wir bestimmte Lücken füllen. Bei der Leiharbeit gab es auch Missbrauch; das weiß jeder. Auch bei Werkverträgen gibt es das. Aber wir dürfen nicht solch hohe Hürden aufbauen, dass die Flexibilität des Arbeitsmarkts darunter leidet. Wir haben, was die Bürokratiekosten anbelangt, gute Nachrichten. Sie sind im ersten Halbjahr 2015 weiter gesunken. Das haben nicht etwa wir uns als Regierung ausgedacht – dann würden Sie mir sowieso kein Wort glauben –, sondern das hat der Nationale Normenkontrollrat mit Herrn Ludewig an der Spitze herausgefunden, der nicht dafür bekannt ist, dass er die Politik schont. Wir haben im Übrigen zum 1. Juli eine Neuerung, eine Bürokratiebremse, eingeführt. Das Motto heißt: One in, one out. Wo immer also bürokratische Erfüllungspflichten für Unternehmen durch Neuregelungen entstehen, muss an anderer Stelle ein Weg gefunden werden, irgendetwas, das sie heute belastet, abzubauen. Dieser Prozess wird sicherlich nicht immer einfach sein, aber es ist ein richtiger Prozess. Für Sie des Weiteren von Bedeutung sind die Energiekosten. Wir haben eine grundlegende Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes durchgeführt, haben dadurch mit Sicherheit den Anstieg der Energiekosten gedämpft. Aber wir werden in dieser Legislaturperiode im Zusammenhang mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz noch einen qualitativ neuen Schritt gehen müssen, und das ist die Ausschreibung von Projekten für den Bau von Anlagen erneuerbarer Energien; ganz gleich, ob im Wind- oder im Solarbereich oder anderswo. Damit wird man kosteneffizienter vorgehen können. Denn man kann sozusagen einen Umfang, ein Kontingent von Anlagen vorgeben, für das sich dann alle bewerben können. Dieses mehr marktwirtschaftlich orientierte Ausschreibungsprinzip wird noch einmal kostendämpfend wirken. Wir müssen ja die erneuerbaren Energien angesichts des großen Anteils, den sie jetzt schon an der Energieversorgung haben, Schritt für Schritt in die Marktfähigkeit hineinführen und aus der Subventionierung herausbringen. Ich will noch das für den Handel wichtige Thema Verkehr ansprechen. Sie sind darauf angewiesen, Ihre Produkte von A nach B zu bekommen. Auch in Zeiten des Internets muss irgendwann die Flasche Wasser oder das Textilpaket an irgendeiner Haustür abgeliefert werden. Insofern sind und bleiben leistungsfähige Verkehrswege sehr wichtig. Der Bundesverkehrswegeplan wird derzeit überarbeitet. Die Investitionen in den Verkehrsbereich sind deutlich höher als in der letzten Legislaturperiode. Meine Damen und Herren, wir stehen im Augenblick wirtschaftlich gut da, aber wir wissen: Das ist immer nur eine Momentaufnahme. Reisen nach Asien, Reisen in die Vereinigten Staaten von Amerika zeigen uns, dass andere auf der Welt auch nicht schlafen. Deshalb ist es so wichtig, dass Sie sich das Thema Handel 4.0 vorgenommen haben. Deshalb ist es so wichtig, dass Sie in die Zukunft schauen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir notwendige rechtliche Voraussetzungen schaffen. Deshalb werden wir auch in Zukunft in einem sehr engen Gespräch miteinander bleiben. Ich möchte allen, die Handel treiben, allen in den Handelsunternehmen ein ganz herzliches Dankeschön sagen. Vielen Millionen Menschen wird es gerade in der kommenden Adventszeit wieder eine besondere Freude sein, bei Ihnen einzukaufen. Dementsprechend wünsche ich Ihnen noch ein gutes Geschäftsjahr. Lassen Sie uns in Kontakt bleiben. Vielen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der Ausstellung „Pojednanie/Versöhnung in Progress. Die katholische Kirche und die deutsch-polnischen Beziehungen nach 1945“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-ausstellung-pojednanie-versoehnung-in-progress-die-katholische-kirche-und-die-deutsch-polnischen-beziehungen-nach-1945–798096
Wed, 18 Nov 2015 18:36:02 +0100
Kronprinzenpalais Berlin
Kulturstaatsministerin
-Es gilt das gesprochene Wort.- Anrede, die großen, alles verändernden Revolutionen haben ihren Platz in den Geschichtsbüchern. Denkmäler, Straßen und öffentliche Plätze sind ihnen gewidmet, ebenso Reden, Bücher und Debatten. Und wenn der Tag des Umbruchs sich jährt, ist dies Anlass öffentlichen Gedenkens und kritischer Würdigung. Die kleinen und leisen Revolutionen dagegen, Wegbereiter gesellschaftlicher Umbrüche, fristen vielfach ein Schattendasein im kollektiven Gedächtnis. Sie wären vielleicht längst in Vergessenheit geraten, wenn nicht bürgerschaftliche Initiativen und engagierte Einzelne sich verantwortlich fühlten, die Erinnerung gerade auch daran wach zu halten. Deshalb bin ich der Maximilian-Kolbe-Stiftung und dem Institut Erinnerung und Zukunft in Breslau sehr dankbar, dass sie auf Anregung der deutschen und der polnischen Bischofskonferenz und mit Unterstützung des Instituts des Nationalen Gedenkens in Warschau die beeindruckende Ausstellung erarbeitet haben, die wir heute parallel in Berlin und Breslau eröffnen. Sie zeichnet eine jener revolutionären Veränderungen nach, die den Boden bereiteten für die Friedliche Revolution von 1989 und das Ende der Teilung Europas. Vor allem aber ruft sie uns eindringlich ins Gedächtnis, dass Versöhnung und Frieden nicht allein und vielleicht nicht einmal in erster Linie ein Werk der Politik sind – dass es vielmehr auch und insbesondere mutiger Vordenker und Vorbilder in der Gesellschaft bedarf, um durch Veränderungen im Wahrnehmen und Empfinden Verständigung auch auf politischer Ebene zu ermöglichen. Der in der Ausstellung dokumentierte Briefwechsel zwischen den polnischen und den deutschen katholischen Bischöfen vor 50 Jahren zählt zweifellos zu den Meilensteinen im Prozess der Versöhnung zwischen Deutschland und Polen. Man muss sich die Umstände dieses Briefwechsels in Zeiten des Kalten Krieges einfach noch einmal vor Augen führen, um in aller Deutlichkeit zu hören, wieviel menschliche Größe, wieviel Mut und Weitsicht aus den Zeilen der polnischen Bischöfe sprechen, die 1965 mit einem Schreiben an ihre deutschen Amtsbrüder den ersten Schritt der Versöhnung wagten. Sie erinnerten daran, dass es zwischen Deutschland und Polen auch Zeiten guter Nachbarschaft gegeben hatte. Sie bedauerten das Leid der deutschen Vertriebenen – was für ein Tabubruch! Sie warben darum, die Bedeutung der neuen West-Gebiete und der Oder-Neiße-Grenze für Polen zu verstehen. Und sie schlossen mit den kompromisslos christlichen Worten: „Wir gewähren Vergebung und wir bitten um Vergebung“. Sie wagten dies in einer Zeit, in der die Gräuel des Zweiten Weltkriegs in den Erinnerungen der polnischen Bevölkerung noch allgegenwärtig waren, in der die Narben der Wunden aus der Zeit der deutschen Besatzung lang nicht verheilt und die Traumata in Folge millionenfachen Leids längst nicht überwunden waren – ganz zu schweigen von der Last des historischen Erbes der über Jahrhunderte nie unkomplizierten deutsch-polnischen Beziehungen. Auf Bedenken, der Inhalt des Schreibens sei zu radikal, erwiderte der Hauptautor des Briefes, Erzbischof Bolesław Kominek: „Wenn dieser Text uns durch Deutschland nach Europa und in die zivilisierte Welt führen soll, dann nur in dieser Form“. Dass polnische Bischöfe ihren deutschen Amtsbrüdern trotz allem die Hand zur Versöhnung reichten und dafür gravierende Konflikte mit der polnischen Regie-rung wie auch Verwerfungen innerhalb der Gemeinschaft der polnischen Katholiken in Kauf nahmen – das war mehr als eine große Geste. Es war eine moralische wie politische Pionierleistung, die bis dato Undenkbares – die deutsch-polnische Aussöhnung – in den Bereich des Möglichen rückte. Damals war die Zeit noch nicht reif für die Vision der polnischen Bischöfe. Heute aber sehen wir mit Dankbarkeit, dass die christliche Idee der Versöhnung in vielen Köpfen und Herzen aufgegangen ist: Deutsche und Polen leben, einander freundschaftlich verbunden, in einem geeinten und freien Europa. Der Brief der polnischen Bischöfe war ein wichtiger Impuls für den dazu notwendigen Mentalitätswandel. Der im April verstorbene, ehemalige polnische Außenminister Władysław [sprich: Wuadisuaw] Bartoszewski, der mich als leidenschaftlicher Kämpfer für die Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen immer wieder beeindruckt hat – zuletzt bei der Vorstellung seines Buches „Mein Ausschwitz“ im Januar dieses Jahres – hat dazu einmal in einem Interview gesagt: „Ich glaube, die polnisch-deutschen Beziehungen gehören zur Welt der Wunder, positive Wunder der Europäisierung der Menschen nach 1990. Die deutsch-polnischen Beziehungen haben so große Fortschritte gemacht wie keine anderen in Europa.“ Dazu hat – neben der Pionierarbeit der Katholischen Kirche – die Bereitschaft auf beiden Seiten beigetragen, die Geschichte des von Kriegen, Diktaturen, Leid, Unrecht und Gewalterfahrungen so sehr geprägten 20. Jahrhunderts aufzuarbeiten. Im Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität beispielsweise, das unter anderem von meinem Haus gefördert wird und sich an der Finanzierung dieser Ausstellung beteiligt hat, erforschen und vermitteln Deutschland, Polen, die Slowakei und Ungarn gemeinsam die Geschichte dieses wechselvollen Jahrhunderts und die unterschiedlichen nationalen Perspektiven und Erinnerungen. Zur Überwindung der Kluft hat aber auch der lebendige kulturelle Austausch zwischen unseren beiden Ländern beigetragen, dem die Ausstellung „Tür an Tür“ – gemeinsam gefördert von meinem Haus und vom polnischen Kulturministerium – vor vier Jahren im Martin-Gropius-Bau gewidmet war. Kultur baut Brücken, wo Politik und Diplomatie an ihre Grenzen stoßen, und gerade die Kunst schafft Räume für Verständnis und Verständigung. Darüber hinaus ist es mir sehr wichtig, dass wir Deutschen gerade dort, wo es um die bis heute schwierige Erinnerung an Flucht und Vertreibung geht, zu Verständnis und Verständigung bereit sind. Vor allem aber hoffe ich sehr, dass wir uns auch dann freundschaftlich verständigen können, wenn unsere Länder unterschiedliche politische Positionen vertreten, wie aktuell bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Die gemeinsame Erinnerung an das Ende des von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren, der in ganz Europa rund 50 Millionen Kriegstote und Verwüstungen ungeheuren Ausmaßes hinterließ, bleibt eine immerwährende Mahnung, für Versöhnung und Verständigung einzutreten – gerade jetzt, da Europa sich in Krisenzeiten neu bewähren muss. Möge die Ausstellung dies möglichst vielen Besucherinnen und Besuchern eindringlich ins Gedächtnis rufen! Und – dieser Wunsch sei einer gläubigen Katholikin erlaubt: Möge die Katholische Kirche auch heute, angesichts der vielen Menschen, die Zuflucht suchen in Europa, eine moralische und politische Avantgarderolle übernehmen und im Geiste des Friedens und der Versöhnung christlichen Werten wie Barmherzigkeit und Nächstenliebe zur Geltung verhelfen!
„Die Ausstellung ruft uns eindringlich ins Gedächtnis, dass Versöhnung und Frieden nicht allein und vielleicht nicht einmal in erster Linie ein Werk der Politik sind – dass es vielmehr auch und insbesondere mutiger Vordenker und Vorbilder in der Gesellschaft bedarf, um durch Veränderungen im Wahrnehmen und Empfinden Verständigung auch auf politischer Ebene zu ermöglichen“ so Monika Grütters in ihrer Rede.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Betriebsbesuch bei der Deutschen Lufthansa AG am 18. November 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-betriebsbesuch-bei-der-deutschen-lufthansa-ag-am-18-november-2015-455044
Wed, 18 Nov 2015 16:30:00 +0100
Frankfurt/Main
Sehr geehrter Herr Spohr, sehr geehrter Herr Enders, sehr geehrter, lieber Herr Minister Al-Wazir, meine Damen und Herren, vor allen Dingen liebe Lufthanseatinnen und Lufthanseaten, wie die Zeit im Flug vergeht – niemand weiß das besser als Sie, gerade auch angesichts zweier Jubiläen: Vor 60 Jahren nahm die neue Lufthansa ihren planmäßigen Linienflugverkehr auf; und seit 25 Jahren fliegt sie auch wieder nach Berlin. Dieses Jubiläumsjahr wird allerdings überschattet vom Absturz einer Germanwings-Maschine in Südfrankreich, bei dem alle 150 Insassen ums Leben kamen. Ich war vor einem Monat zu Gast in Haltern – dem Ort, aus dem die Schülergruppe stammte, die sich an Bord befand. Der Besuch der Schule dort war mir sehr wichtig, um auch im Namen der Bundesregierung deutlich zu machen: Wir denken an die Opfer und ihre Angehörigen – genauso wie auch die Lufthansa. Ich möchte auch an das Mitgefühl und die enorme Hilfsbereitschaft erinnern, die wir in unserem Nachbarland erfahren haben – von der französischen Regierung, den Behörden vor Ort, den vielen Einsatzkräften und vor allem auch von der Bevölkerung. Wie nah sich Deutsche und Franzosen sind, wie nah sich Deutschland und Frankreich sind und wie eng sie zusammenstehen – das zeigt sich gerade bei solch bitteren Schicksalsschlägen und leider auch jetzt wieder. Am Freitag – Sie hatten an diesem Tag die Helfer in das Stadion in Paris eingeladen – hat eine Welle terroristischer Gewalt Paris, Europa und die ganze freiheitsliebende Welt erschüttert. Man kann es nicht anders sagen und muss deutlich machen: Diese feigen Anschläge zielen auf unser aller freiheitliches Leben. Darauf können wir nur eine Antwort der Entschlossenheit geben. Deshalb unterstützt Deutschland Frankreich dabei, die Hintergründe aufzuklären und gegen Terroristen und Drahtzieher vorzugehen. Darüber hinaus geht es darum, auf vielfältige Art und Weise Zeichen dafür zu setzen, dass Freiheit jedem Terror trotzt. Der heutige Tag, an dem ein Airbus A380 zur Taufe bereitsteht, sollte ein Tag der Freude sein. Er ist durch unsere Trauer getrübt. Aber diese Taufe ist doch ein Zeichen der Zuversicht. Deshalb habe ich sehr gerne die Gelegenheit ergriffen, um Lufthansa an ihrer Heimatbasis zu besuchen. Ich konnte beim kurzen Rundgang einen kleinen Ausschnitt Ihres Unternehmens kennenlernen. Ich nenne nur das neue Integrated Operations Control Center. Das war sehr beeindruckend. Ich hatte eine kurze Begegnung mit Auszubildenden in einem spannenden technischen Bereich. Die Vielfalt der Ausbildung, die Sie leisten, wird durch die entsprechende Vielzahl der Auszubildenden und Ausbildenden sichtbar. Selbst ein kleiner Einblick kann doch einen Schluss auf das große Ganze zulassen – darauf, wie komplex ein gut funktionierendes Luftfahrtsystem ist und wie wichtig dieses auch für die deutsche Wirtschaft insgesamt ist. Die Bundesrepublik als Exportnation, als global vernetzte Nation, ist auf Transportmöglichkeiten sowohl für Passagiere als auch für Cargo sehr stark angewiesen. Der Luftverkehr ist ein Wachstumsmarkt. Er ist ein Markt, der nicht den Beschränkungen des Welthandelssystems unterliegt. Das macht die Wettbewerbssituation relativ kompliziert. Wir wissen, dass Sie sich in einem sehr starken Wettbewerb behaupten müssen. Wir werden uns, wo immer es geht, für gemeinsame Regeln auf dem globalen Luftverkehrsmarkt einsetzen. Aber das ist ein sehr dickes Brett, das man da bohren muss. Akzente hat das Unternehmen immer wieder selbst gesetzt, zum Beispiel beim Umwelt- und Lärmschutz. Ich glaube, dies wird für die Akzeptanz der Luftfahrt eine immer größere Rolle spielen. Deshalb ist dies gut für all diejenigen, die in die Zukunft investieren. Die Lufthansa zeigt gemeinsam mit Herstellern, mit Flughäfen und mit der Flugsicherung, was möglich ist – etwa durch leisere Flugzeuge, optimierte Abfertigungen und effiziente Flugverfahren. Mit der heutigen Taufe steht ein ganz besonderes Flugzeug im Mittelpunkt. Es ist das größte Passagierflugzeug der Welt: der Airbus A380. Es ist ein Ausweis ausgezeichneter deutscher, französischer und europäischer Spitzentechnologie. Dass das Flaggschiff auf den Namen „Deutschland“ getauft wird, bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass es ein deutlicher Botschafter Deutschlands in der Welt sein wird. Ich wünsche allen, die mit diesem Flugzeug reisen, und natürlich auch allen, die mit anderen Flugzeugen der Lufthansa reisen, einen guten und sicheren Flug. Ich wünsche den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Lufthansa Freude bei der Arbeit, reibungslose Abläufe und – ich will an dieser Stelle nicht in die Tiefe gehen – kluge Lösungen für alle anstehenden Konflikte. Ich habe gelernt: Das Flugzeug war vor kurzem noch unterwegs und muss auch bald wieder auf den Weg. Lange Tauffeiern können also nicht abgehalten werden. Aber eine kleine Taufpause ist auch etwas Schönes für ein Flugzeug. Jedenfalls freue ich mich jetzt auf die Taufe. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 8. Integrationsgipfel am 17. November 2015
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Tue, 17 Nov 2015 12:37:00 +0100
Berlin
Integrationsbeauftragte
Meine Damen und Herren, liebe Teilnehmer des Integrationsgipfels, liebe Frau Staatsministerin Özoğuz, liebe Kollegen aus dem Kabinett und aus dem Deutschen Bundestag, liebe Repräsentanten der Migrantenorganisationen und anderer gesellschaftlicher Gruppen, herzlich willkommen zum Integrationsgipfel, der zum 8. Mal in dieser Form stattfindet. Die Themen, über die wir bei den vergangenen Gipfeln gesprochen haben, waren jeweils natürlich aktuell; und so ist es auch dieses Mal. Aber in diesem Jahr fällt es uns wohl allen schwer, einfach zur Tagesordnung zurückzukehren, nachdem wir am letzten Freitag erfahren mussten, wozu menschenverachtende und gottlose Terroristen fähig sind. Ihre Taten sind Taten gegen die Menschlichkeit. Sie sind im Grunde Taten gegen das Menschsein, die sich gegen uns alle richten. Sie richten sich gegen das, worum es uns ja auch bei den Integrationsgipfeln geht, nämlich um ein gutes und gewinnbringendes Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kultur und Religion. Wir haben es in der Hand, für ein solch gutes Miteinander ein Zeichen zu setzen – für gegenseitigen Respekt und für Toleranz. Wir haben es in der Hand, für unsere Werte einzutreten, für diese Werte zu leben und sie auch anderen vorzuleben. Ich bin davon überzeugt: Freiheit ist stärker als Hass und Terror; Freiheit lässt sich nicht unterdrücken. Deshalb, weil sich Freiheit nicht unterdrücken lässt, nehmen auch so viele Menschen Gefahren für Leib und Leben in Kauf, um fernab ihrer Heimat Zuflucht zu finden. Sie wollen Terror, Krieg, Verfolgung und Perspektivlosigkeit hinter sich lassen. So verschieden ihre persönlichen Schicksale auch sind, sie alle eint die Hoffnung auf ein besseres Leben. Tag für Tag kommen viele Flüchtlinge und Asylbewerber auch nach Deutschland – und mit ihnen auch große Herausforderungen. Es gilt, die ankommenden Menschen zu registrieren, sie zu versorgen und unterzubringen. Essen, Kleidung und andere Dinge für den täglichen Bedarf müssen bereitgestellt werden. Daran wird ja auf allen Ebenen unseres föderalen Staates – in den Kommunen, in den Ländern, im Bund – gearbeitet. Zahlreiche ehrenamtliche Helfer sind unermüdlich im Einsatz. Sie leisten Außerordentliches. Sie gehen an den Rand ihrer Kräfte. Sie wachsen oft über sich hinaus. Wenn ich daran denke, genauso wie an die vielen Hauptamtlichen, dann sage ich: Das erfüllt mich mit Dankbarkeit; das erfüllt mich auch mit Stolz auf unser Land und darauf, wie wir uns präsentieren. Wir sind ein starkes Land. Wir sind eine wohlhabende Gesellschaft. Wir haben die Kraft zu helfen. Aber diejenigen, die aus wirtschaftlichen Gründen oder aus einem sicheren Land kommen, müssen unser Land auch wieder verlassen. Denn dann haben wir die Kraft, denen zu helfen, die wirklich Schutz brauchen. Diejenigen, die eine Bleibeperspektive haben, müssen die Chance erhalten, sich gut zu integrieren. Das verlangt Kraftanstrengungen von allen Seiten. Wir brauchen sicherlich einen langen Atem und auch mehr Wissen über die Kulturen, die Sitten und die Gebräuche anderer Länder. Die Voraussetzungen für Integration sind gut, denn ich glaube, wir haben ein Stück weit aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Wir werden hier im Haus in den nächsten Tagen auch Gastarbeiter der ersten Stunde empfangen. Schon das Wort drückt aus, was wir damals dachten: Arbeiter, die nur zu Gast sind. Inzwischen lebt die dritte Generation bei uns, die vierte ist geboren. Wir haben gelernt, wie wichtig Integration von Anfang an ist. Deshalb haben wir jetzt auch gesagt: sehr schneller Zugang zu Integrationskursen, sehr schneller Zugang zur Sprachförderung, sehr schneller Zugang zum Arbeitsmarkt, wo immer möglich. Wir haben glücklicherweise auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen, um das schaffen zu können. Wir haben ein solides Wirtschaftswachstum. Wir suchen an vielen Stellen Auszubildende und Fachkräfte. Das heißt, wenn Migranten die Fähigkeiten und Fertigkeiten aufweisen, die gefragt sind, dann sollten sie auch entsprechende Arbeitsmöglichkeiten nutzen können. Das heißt, wir sollten nicht nur über Lasten sprechen, die die Vielzahl der Flüchtlinge mit sich bringt, sondern auch die Chancen sehen – realistisch und ohne etwas zu beschönigen. Deshalb möchte ich auch gerade Sie hier, insbesondere die Vertreter der Migrantenorganisationen, bitten: Machen Sie mit. Sie kennen unser Land; und Sie kennen auch andere Kulturen und andere Sitten. Natürlich finden Sie daher manchmal besser einen Draht zu denen, die jetzt neu zu uns kommen, als wir, deren Familien schon seit vielen Generationen hier in Deutschland leben. Bitte sagen Sie uns, wo wir noch etwas dazulernen müssen und wo wir vielleicht Unsicherheiten überbrücken können. Denn auch wir sind manchmal unsicher, wie man sich verhalten soll. Aus Unsicherheit entsteht manchmal Distanz, aus Distanz entsteht Angst. Sorgen, Ängste und Sprachlosigkeit müssen überwunden werden – unbeschadet dessen, dass wir auch sagen: Ihr kommt in ein Land, in dem es Gesetze und Regeln gibt, an die man sich halten soll und muss. Aber auch das können viele von Ihnen vielleicht besser ausdrücken. Auf jeden Fall sage ich auch im Namen der Bundesregierung, dass wir die Integrationsaufgabe auch als Beitrag zu einem guten Miteinander von Kulturen anpacken wollen. Ich sage, dass wir mit unserem Integrationsgipfel auf einem richtigen Weg sind, weil wir die ansprechen, die dazu beitragen können, diese Aufgabe zu schultern, auch in ihrer gesamten Breite und Vielfalt. Das heißt nicht, dass wir für heute nicht wieder ein bestimmtes Thema hätten – ein spannendes Thema, auch wenn es auf den ersten Blick nicht unbedingt ins Auge sticht, nämlich das Thema Gesundheit. Wenn jemand nicht gesund ist, dann kann er sich nicht wohlfühlen. Wenn jemand gesund ist, dann geht vieles leichter im Leben. Deshalb ist es wichtig, dass wir erstens jeden, der in unserem Land lebt, in unser Gesundheitssystem integrieren, dass wir zweitens für die, die sich noch nicht so gut auskennen, Informationen über unser Gesundheitssystem zur Verfügung haben und dass wir uns drittens auch mit dem Thema befassen, dass die Zahl der über 65-Jährigen nicht nur der hier Geborenen, sondern auch der Zuwanderer zunehmen wird. Deshalb wird es mit Blick auf die Gesundheitsberufe, die Pflegeberufe und die Arbeit in den Wohlfahrtsorganisationen wichtig sein, für diese auch mehr Menschen mit Migrationshintergrund zu gewinnen. Deshalb finde ich es sehr gut, dass sich Aydan Özoğuz für dieses Thema entschieden hat. Ich war am Anfang zwar ein bisschen skeptisch, ob das Thema trägt. Sie hat mir aber vorgetragen, was alles im Rahmen der Arbeit der letzten Monate entstanden ist. Und das finde ich schlichtweg toll. Sicherlich muss noch weiter gearbeitet werden. Deshalb herzlich willkommen – und Dank all denen, die zur Vorbereitung des heutigen Treffens beigetragen haben.
im Bundeskanzleramt
Laudatio auf Bundestagspräsident Norbert Lammert zur Verleihung der „Goldenen Erbse“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/laudatio-auf-bundestagspraesident-norbert-lammert-zur-verleihung-der-goldenen-erbse–807908
Tue, 10 Nov 2015 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Berlin
Kulturstaatsministerin
Unter allen Märchenhelden, die dank der Brüder Grimm bis heute unsere Fantasiewelten bevölkern, ist das tapfere Schneiderlein weder der stärkste noch der mutigste. Er siegt mit Chuzpe, einer Mischung aus intelligenter Unverschämtheit und gewitzter Dreistigkeit. Sie erinnern sich bestimmt: Da erschlägt ein ärmlicher Schneider sieben, sich an seinem Marmeladenbrot labende Fliegen, inszeniert sich sodann mit dem fantastischen Slogan „Sieben auf einen Streich“ als unerschrockener Kämpfer, zieht damit zuversichtlich hinaus in die Welt, bringt statt mit Gewalt mit Geistesblitzen zwei Riesen, ein Wildschwein und ein Einhorn zur Strecke und erobert damit den Königsthron. Unser heutiger Preisträger zählt das tapfere Schneiderlein nicht nur explizit zu seinen politischen Vorbildern- er beherrscht dessen Waffen auch selbst ganz meisterhaft: „Sieben auf einen Streich“ erledigt er in politischen Debatten mit links. Mit seinen geistreichen Worten nimmt er – wenn auch keine Königreiche, so doch immer – sein Publikum ein, dem er nie nach dem Mund, aber oft ins Gewissen redet. Vor der Schärfe seines Intellekts und den ironischen Spitzen seiner Reden gehen zwar nicht Riesen, Wildschweine und Einhörner in Deckung, aber dafür altgediente Parlaments-Schlachtrösser, furchtlose Leithammel, imposante Salon-Löwen – und manchmal sogar Gregor Gysi. Im Übrigen kenne ich niemanden sonst, der es schafft, seine Zuhörer – wenn nötig – mit allen Raffinessen der Redekunst verbal in den Schwitzkasten zu nehmen und dafür von eben diesen Zuhörern auch noch frenetisch beklatscht zu werden – so beispielsweise, wenn er vor hochrangigen Führungskräften über Wirtschaftsethik im Allgemeinen und das Fehlverhalten manch hochrangiger Führungskräfte im Besonderen spricht. Mit dieser Chuzpe eines tapferen Schneiderlein verkörpert er das, was er selbst immer wieder leidenschaftlich verteidigt: die Freiheit des Denkens, den Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, die Kraft des besseren Arguments, die Überlegenheit des Wortes, die Fähigkeit zum Dialog im Pluralismus der Weltanschauungen, kurz: unsere Demokratie und unsere demokratischen Werte. Die „GOLDENEN ERBSE“ – ein Ehrenpreis für Menschen, die sich (wie es auf der Website so schön heißt) „wie die Märchenhelden für das Gute einsetzen“ – wäre allein dafür schon ebenso verdient wie Ruhm, Reichtum und Unsterblichkeit für Märchenhelden. Doch so wie Märchen einst als moralische Orientierungshilfen weiter erzählt wurden, so will auch das Deutsche Zentrum für Märchenkultur mit der GOLDENEN ERBSE ethische Orientierungshilfe für konkrete Situationen vermitteln- wenn auch nicht über Geschichten, sondern mit Hilfe seiner preisgekrönten Vorbilder. Ein hehrer Anspruch, der ohne Zweifel eingelöst wird. Als vorbildlich wurde völlig zu Recht das Engagement unseres Preisträgers für die UNO-Flüchtlingshilfe identifiziert, deren Schirmherr er seit zehn Jahren ist. „Auf der Flucht zu sein, heißt verletzlich zu sein und auf fremde Hilfe vertrauen zu müssen“ – um es in seinen Worten zu sagen. Es ist traurig, dass daran immer wieder erinnert werden muss, zum Beispiel, weil selbst ernannte „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ jeden Montag durch Dresden marschieren und die Werte der Kultur, die sie zu verteidigen vorgeben, durch ihre Fremdenfeindlichkeit mit Füßen treten. Umso mehr kommt es darauf an, wie unser Preisträger Gesicht zu zeigen für ein Deutschland, das Menschen aus Kriegs- und Krisenregionen Zuflucht gewährt! Einer von vielen, die Zuflucht in Deutschland gesucht und auch gefunden haben, ist der aus Damaskus stammende Schriftsteller Rafik Schami. Er floh 1971 als Student vor Zensur und Verfolgung und fand in Deutschland den Ort, seinen Traum vom Schreiben in Freiheit zu verwirklichen. Hier hat er sich – in deutscher Sprache – als großer Erzähler in der Tradition der farbenprächtigen und sinnlichen orientalischen Märchenkultur einen Namen gemacht. „Märchen sind notwendig“, hat er vor einiger Zeit in einem Gespräch über die Lage in seiner syrischen Heimat gesagt. „Märchen sind notwendig. Nicht um Illusionen zu schaffen (…). Sondern um in der Phantasiewelt Hoffnung zu geben.“ Märchen mögen ihre einstige volkspädagogische Rolle als Wegweiser verloren haben – doch nach wie vor hat Erzählkunst die Kraft, mit Fantasie Hoffnung zu nähren und damit Veränderung zu bewirken. Solche kleinen Revolutionen im Denken und im Bewusstsein sind es, die jeder gesellschaftlichen Veränderung vorausgehen. In diesem Sinne trägt die Kunst den Keim des (im besten Sinne) Revolutionären in sich. Dass aus diesen Keimen etwas wachsen darf, dass es einen fruchtbaren Boden dafür gibt und ein wachstumsförderndes Klima – das macht unsere demokratische Kultur aus. Deshalb freue ich mich sehr über die Entscheidung für einen Preisträger, der – mit der ihm eigenen Chuzpe – immer wieder als leidenschaftlicher Verteidiger der Freiheit der Kunst in Erscheinung getreten ist. Spätestens jetzt, meine Damen und Herren, dürfte klar sein: Die GOLDENE ERBSE 2015 geht an Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert! Herzlichen Glückwunsch!
Die „Goldene Erbse“ wird jedes Jahr während der Berliner Märchentage an eine Persönlichkeit verliehen, die sich „wie die Märchenhelden für das Gute einsetzen“. Kulturstaatsministerin Grütters hielt in diesem Jahr die Laudatio auf den Preisträger, Bundestagspräsident Norbert Lammert.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung des Perthes-Forums
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-des-perthes-forums-464422
Sun, 06 Dec 2015 00:00:00 +0100
Im Wortlaut
Gotha
Kulturstaatsministerin
Wenn wir heute das Perthes-Forum feierlich einweihen, dann geben wir einem Fundament unseres Wissens über Natur, Kultur und Kunst eine eher ungewohnte Öffentlichkeit: den Archiven und Depots. Unzählige Gemälde, Schriften und Gegenstände sind dort ja meist Wissenschaftlern, Bibliothekaren und Archivaren vorbehalten, jedenfalls scheuen Sie – aus gutem Grund das nicht… Das Publikum bekommt beim Museumsbesuch immer nur einen Bruchteil dieses reichen kulturellen Erbes zu sehen – Exponate nämlich, die von Kuratoren ausnahmsweise einmal zu Ausstellungs-Highlights gekürt wurden. Es gehören schon ein bisschen Mut und auch Fantasie dazu, ein repräsentatives Gebäude, wie den ehemaligen Firmensitz des Verlegers Justus Perthes – noch dazu im Zentrum Gothas gelegen – zu einem Kunstdepot zu machen. In enger Zusammenarbeit – ganz im Sinne eines kooperativen Kulturföderalismus – zwischen dem Freistaat Thüringen, der Stadt Gotha und Bundesmitteln aus meinem Hause, ist hier jetzt ein Ort für die wertvollen Sammlungen der Stadt entstanden. Er legt die Bedeutung der oft in Museumsbeständen verborgenen Schätze dann doch wieder buchstäblich offen und mahnt uns, unser Kulturerbe in seiner Gesamtheit zu würdigen und für die nachfolgenden Generationen zu bewahren. Ich freue mich deshalb sehr, heute das Perthes-Forum zu eröffnen, das sich nach den umfangreichen Sanierungsmaßnahmen selbstbewusst gegen die Klischees staubiger Archivkammern und dunkler Depoträume behaupten kann. Wie überzeugend das gelungen ist, haben wir bei unserem Besuch vorhin eindrücklich gesehen. Das Perthes-Forum wird nicht nur den Sammlungen der Stiftung Schloss Friedenstein und dem Thüringischen Staatsarchiv als Kunstdepot und Bibliothek dienen, sondern – sozusagen in einer friedlichen Koexistenz – auch die bedeutsame Sammlung seines Namensgebers beherbergen. Dass historische Aufzeichnungen durchaus für den glänzenden Auftritt geeignet sind, zeigen z.B. die hier im Thronsaal des Schlosses ausgestellten Schriften Martin Luthers. Sie sind Bestandteile der Sammlung der Stiftung Schloss Friedenstein und wurden erst vor einem Monat in das Weltdokumentenerbe der Unesco eingetragen. Eine schönere, eine bedeutsamere Auszeichnung für unser Kulturerbe gibt es kaum! Handschriften und Buchbestände aus vergangenen Jahrhunderten im Zeitalter der Digitalisierung im Original zu erhalten, mag antiquiert scheinen. Doch gerade die Sammlung Perthes mit ihren umfangreichen Beständen zur Entwicklung der Kartographie und Geographie im 19. und 20. Jahrhundert eröffnet uns den Blick in eine vergessene Zeit, in der man andere Erdteile noch per Hand vermaß und große Entdeckungen vor Ort machte. Mittlerweile, in der globalisierten Welt, holen wir uns die Welt virtuell zu uns nach Hause und sind in der Lage, jeden Ort auf unserem Planeten genauestens zu bestimmen. Wir besitzen detaillierte Informationen über fossile Gesteinsarten, haben schwindelerregende Höhen erklommen und die Lebensweisen ferner Völker studiert. Doch ohne den Abenteuergeist eines Christoph Kolumbus, eines Ferdinand Magellans, oder später den Expeditionen eines Alexander von Humboldt, wüssten auch wir Heutigen weitaus weniger von dem, was fast schon als immer gegeben erscheint. Diese „Globetrotter“ vergangener Jahrhunderte – und vor allem ihre Aufzeichnungen – erinnern uns daran, dass unser heutiges Wissen keinesfalls eine Selbstverständlichkeit ist. Sondern dass es, im Gegenteil, auf vielen Wegen und Irrwegen erst einmal errungen werden musste. Dass wir heute in einer Zeit leben, in der viele irdischen Wunder entzaubert sind – ist das alles reiner Zufall? So zumindest lässt der Autor Daniel Kehlmann in seinem Roman „Die Vermessung der Welt“ (2005) den großen deutschen Mathematiker und Astronom, Johann Carl Friedrich Gauß, philosophieren, ich zitiere: „Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Beispiel für die erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, dass man in einer bestimmten Zeit geboren und in ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft.“ Diesen „unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit“ haben wir auch Menschen wie Justus Perthes zu verdanken, der mit seiner herausragenden deutschsprachigen Landkartensammlung vielen weiteren, vor allem geografischen, Erkenntnissen den Weg ebnete, weil er die Bedeutung der Dokumentation von Erfahrungen erkannte und sie als Verleger auch noch einem breiten Publikum zugänglich machte. Darüber, ob sich unsere Vorfahren mit Vermutungen über den gegenwärtigen Erkenntnisstand bei ihren Zeitgenossen tatsächlich zum Narren machten – „zum Clown der Zukunft“, können wir nur spekulieren. Ganz sicher ist jedoch, dass die Idee der Dokumentation, Aufbewahrung und Archivierung ganz und gar nicht obsolet ist – greifen wir doch täglich auf Texte, Fotos und Musik in digitalen Archiven zu. Diese raum- und zeitlosen Datenbanken, die sogenannten „clouds“, sind die Wissensspeicher von heute, die hoffentlich auch unseren Kindern und Enkeln irgendwann einen unerhörten Vorteil verschaffen werden. Die Sammlung Perthes, unser schriftliches Kulturerbe, ist heute jedoch nicht der einzige Grund der Feierlichkeiten. Denn mit der Fertigstellung des Perthes-Forums ist auch die Realisierung des ambitionierten Projektes „Barockes Universum Gotha“ erreicht. Insgesamt haben der Bund, der Freistaat Thüringen und die Stadt Gotha in den vergangenen sechs Jahren mehr als 30 Millionen Euro für dieses Großprojekt zur Verfügung gestellt. Allen, die sich dafür mit viel Energie und Herzblut engagiert haben, danke ich herzlich – nicht zuletzt Ihnen, lieber Herr Kollege Schipanski, der Sie sich schon seit vielen Jahren für das Perthes-Forum und des Barocke Universum Gotha einsetzen – ähnlich wie Sie, lieber Herr Kollege Schneider. Die Bundesmittel stammen aus unseren Denkmalschutzprogrammen, die nicht nur unsere Kulturschätze erhalten, sondern so auch identitätsstiftend wirken. Denn so wertvoll das schriftliche Kulturerbe vor allem für die wissenschaftliche Arbeit und die Überlieferung von Erkenntnissen auch ist: Was Denkmäler als authentische Orte der Erinnerung vermitteln, kann kein Geschichtsbuch, kein noch so fundierter Vortrag eines Historikers ersetzen: persönliche Eindrücke vom Geist einer Epoche und den Lebensumständen prägender Persönlichkeiten, sinnliche Erfahrungen unserer eigenen Herkunft und nicht zuletzt auch das Gefühl der Ehrfurcht, das uns ergreift, wenn wir unserer Vergangenheit auf diese Weise nahe kommen. Und hier in Gotha finden wir ja einen wahren Kosmos des kulturellen Erbes vor. Die Stars, die Sterne dieses Universums sind so verschieden wie einzigartig: Neben dem Schloss Friedenstein, dessen wunderschöner Thronsaal uns hier einen so würdigen Raum für die Feierlichkeiten gibt, dem Herzoglichen Museum und den Sammlungen der Stiftung Schloss Friedenstein, lagern in den Depots des Perthes-Forums wesentliche Bestandteile unseres kulturellen Gedächtnisses. Es sind diese „Zeitspeicher“, die Leistungen, Erkenntnisse und Erfahrungen früherer Generationen versammeln und sie in Büchern, Autographen, Gemälden, Landkarten und Nachschlagewerken längst vergangener Epochen zu unserer heutigen Zeit ins Verhältnis setzen. Sie erfahrbar zu machen und für nachkommende Generationen zu erhalten, ist eine Aufgabe, zu der wir als Kulturerben verpflichtet sind. Ihnen allen sowie den Besuchern des Perthes-Forums und dem „Barocken Universum Gotha“ wünsche ich eine bereichernde Reise in die Vergangenheit. Nutzen wir unseren „unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit“, wie es bei Daniel Kehlmann so schön heißt, um unsere Geschichte besser zu verstehen. Denn, und hier zitiere ich noch einmal den historischen Naturwissenschaftler Gauß, „es ist nicht das Wissen, sondern das Lernen (…) was den größten Genuss gewährt.“
Das Perthes-Forum, ehemaliger Firmensitz des Verlegers Justus Perthes, ist in den vergangenen Jahren saniert worden. Mit seiner Fertigstellung ist das „Barocke Universum Gotha“ vollendet. „Ein wahrer Kosmos des kulturellen Erbes“, konstatierte Kulturstaatsministerin Grütters bei der Eröffnung des Forums.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Jahresessen des Industrie-Club Düsseldorf e.V. am 4. November 2015
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Wed, 04 Nov 2015 19:50:00 +0100
Düsseldorf
Sehr geehrter Herr Scheele, sehr geehrter Herr Grillo, meine Damen und Herren, ich möchte mich für die Einladung bedanken und bin ihr sehr gerne gefolgt. So gut gemeint die Bemerkung, dass man mich vielleicht vor zusätzlichen Belastungen hätte verschonen sollen, auch gewesen sein mag – wie das bei mir angekommen wäre, weiß ich nicht. Ich bin jedenfalls doch sehr dankbar dafür, dass ich heute hier sein kann. Der Industrie-Club Düsseldorf ist eine Institution. Er besteht seit über 100 Jahren. Das vielleicht Bemerkenswerteste ist, dass er in der Region fest verwurzelt ist und seit jeher herausragende Persönlichkeiten unter seinem Dach vereint. Ich bedanke mich bei all denen, die heute hier sind; das ist schon eine beeindruckende Kraft, die sich hier versammelt hat. Sie haben sich über die Jahre den Themen gewidmet, die die jüngere Geschichte unseres Landes widerspiegeln: der Erste Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise, der Zweite Weltkrieg, der Wiederaufbau, der industrielle Strukturwandel. Allein anhand dieser kurzen Aufzählung zeigt es sich schon, wie bewegt Geschichte ist und wie dankbar wir eigentlich sein können, in einer Zeit zu leben, in der die Geschichte Deutschlands auch ihr gutes Gesicht zeigt. Wir wissen aber, dass jede Zeit ihre Bewährungsproben bereithält – natürlich auch unsere Zeit. Herr Scheele hat schon sehr ausführlich auf die Bewährungsprobe hingewiesen, die uns seit Wochen und Monaten – im Grunde schon länger, als wir es vielleicht wahrgenommen haben – beschäftigt, nämlich dass es viele, viele Menschen gibt, die ihre Heimat verlassen, um Krieg, Verfolgung und Armut hinter sich zu lassen. Es sind weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Einige der Konflikte finden auch vor der Haustür Europas statt. Der Krieg in Syrien, der Terror des Islamischen Staates, die desolate Situation in Libyen – das alles schien bis vor kurzem für uns in Deutschland weit weg zu sein. Wir haben das im Fernsehen beobachtet; und es hat uns natürlich auch bekümmert, dass 100.000, 200.000, 250.000, inzwischen über 300.000 Menschen in Syrien gestorben sind. Aber wir haben die Folgen nicht direkt gespürt. Um Krisen erfolgreich zu bewältigen, muss man an ihren Ursachen ansetzen. Deshalb glaube ich, dass es angesichts der vielen, vielen Menschen, die zu uns kommen, ganz wichtig ist, dass wir auch hier bei den Ursachen ansetzen. Das Problem der vielen Flüchtlinge wird mit Sicherheit nicht an der deutsch-österreichischen Grenze geklärt. Die Ursachen liegen vielmehr woanders. Die Ursachen liegen in den Herkunftsländern – ich habe über Syrien gesprochen; ich könnte über den Islamischen Staat im Irak sprechen – und sie liegen in den Nachbarländern der Herkunftsländer. Wir haben gesehen, dass sich die Situation der Flüchtlinge zum Beispiel im Libanon dramatisch verschlechtert hat. Libanon hat weniger Einwohner als Hessen, knapp fünf Millionen, und beherbergt 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge. Auch Jordanien beherbergt eine sehr große Zahl an Flüchtlingen. Der Unterricht in den Schulen findet dort auch nachmittags im Zwei- und Mehrschichtsystem statt. Es war ein Versagen der internationalen Staatengemeinschaft, dass die internationalen UN-Programme – Welternährungsprogramm, UNHCR – nicht ausreichend finanziert waren. Wir haben das jetzt nachgeholt. Dass die Lebensmittelration für eine Person im Libanon und in Jordanien von 27 US-Dollar pro Monat auf 13 US-Dollar pro Monat gekürzt werden musste, ist sicherlich auch eine der Fluchtursachen. Auch in der Türkei, die jetzt schon jahrelang über zwei Millionen Flüchtlinge beherbergt, ist die Situation für die Flüchtlinge nicht leicht. Sie werden dort als Gäste bezeichnet. Die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention nur bezüglich europäischer Staaten unterschrieben, nicht aber bezüglich nichteuropäischer Staaten. Die Syrer sind dort willkommen, aber sie haben keinen Zugang zum Arbeitsmarkt und auch zu anderen Dingen nicht. Insofern ist die Situation auch dort sehr schwierig, zumal es mittelgroße türkische Städte gibt, in denen mehr syrische Flüchtlinge als Einwohner sind. Das hat natürlich auch zu Entwicklungen geführt, die den Druck auf uns verstärkt haben – zumal auch deshalb, weil dann noch der Islamische Staat auftrat. Die Hoffnung für viele Syrer, schnell in ihre Heimat zurückzukommen, ist sozusagen immer mehr geschwunden. Die Ersparnisse waren aufgebraucht. So hat sich ein Druck aufgebaut, der das Entstehen der Flüchtlingsströme unterstützt hat. Jetzt ist die Frage: Wie gehen wir mit solchen Herausforderungen um? Ich habe nicht von ungefähr zuerst von den Fluchtursachen gesprochen. Wir müssen bei den Ursachen ansetzen, um die Ströme zu ordnen, zu steuern. Wir müssen die Ursachen bekämpfen, um in der Folge auch die Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, zu reduzieren. Das ist die Aufgabe, an der wir arbeiten. Ich glaube allerdings, es wird nicht so sein, dass wir dann gar keine Flüchtlinge mehr haben. Ich finde es aber eigentlich auch unerträglich, dass das schmale Meer zwischen Griechenland und der Türkei – immerhin zwei NATO-Mitgliedstaaten – im Augenblick von Schleppern beherrscht wird und die Legalität dort keine gute Chance hat. Das heißt, wir müssen legalisieren. Dem dient zum Beispiel unser EU-Türkei-Migrationsdialog. Und wir müssen auch die Lasten teilen – finanziell; vielleicht auch mit bestimmten legalen Kontingenten an Flüchtlingen. Dazu müssen wir Gespräche führen über Erwartungen der Türkei hinsichtlich der Nachbarschaft mit der Europäischen Union und uns offen austauschen zum Beispiel über die Frage: Wie kann man wieder einen Versöhnungsprozess mit den Kurden einleiten? Denn die Zahl der Konflikte in der Türkei und um die Türkei herum ist groß. Allein die Herausforderung, die sich durch den Islamischen Staat stellt, ist eine große. Wir haben jetzt die Aufgabe, die bei uns ankommenden Flüchtlinge willkommen zu heißen und das Notwendige zu tun. Ich weiß, dass sich viele Menschen engagieren. Und das zu wissen, ist eine große Freude. Ich weiß aber auch, dass es eine riesige Aufgabe ist, dass mancher bis an den Rand seiner Kräfte gehen muss bzw. mancher vielleicht auch über sich hinauswachsen muss, um diese Arbeit zu leisten, und dass die Frage, wohin das noch führt, natürlich im Raum steht. Trotzdem müssen wir auch in einer solchen Situation wieder auf die Frage zurückkommen: Wie und wo können wir dieses Problem lösen? Was gilt für uns? Für uns gilt, dass wir natürlich bezüglich unserer Werte herausgefordert sind. In Artikel 1 unseres Grundgesetzes steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das leitet uns in Deutschland. Aber der Inhalt dieses Artikels 1 gilt natürlich nicht nur für Deutsche, sondern er gilt auch in Europa. Wir haben eine Grundrechtecharta in Europa. Nach unserem Verständnis hat jeder Mensch seine Würde, die geschützt werden muss. Das macht ja auch unsere Außenpolitik und unsere Entwicklungspolitik aus. Vor diesem Hintergrund heißt es jetzt: Wie gehen wir damit um, dass so viele Flüchtlinge zu uns kommen? Ich finde, das Allerwichtigste ist, dass wir sie – auch wenn es noch so viele sind – niemals als Masse, als große Menge bezeichnen, sondern dass wir in jedem Einzelnen eine eigene Person sehen. Das mag angesichts der vielen manchmal nicht einfach sein, aber jeder Mensch muss würdig behandelt werden, egal – damit bin ich bei meinem zweiten Punkt – ob er eine Bleibeperspektive hat oder nicht. Wir sind dazu verpflichtet, Menschen, die vor Krieg, vor Verfolgung, vor Terror fliehen, Schutz zu gewähren. Wenn wir das schaffen wollen, bedeutet das, dass wir denen, die aus wirtschaftlichen Gründen kommen, sagen müssen: Ihr müsst wieder nach Hause zurückkehren. Die Entscheidung darüber findet in einem rechtsstaatlichen Prozess statt. Was die Menschen in Deutschland mit Recht erwarten, ist: Wenn unsere rechtsstaatlichen Prozesse gut ausgebildet sind, wenn sie fair sind, wenn sie gerecht sind, wenn man gegen sie Widerspruch einlegen kann und dann die Sache noch einmal betrachtet wird, dann muss der Rechtsstaat zum einen denen, die Schutz brauchen, Schutz gewähren; er muss zum anderen aber auch denen, die keinen Schutz brauchen, verdeutlichen, dass sie zurück nach Hause müssen, und dafür sorgen, dass das vollzogen wird. Dazu muss man einfach sagen: Daran hat es in den letzten Jahren immer wieder gemangelt. Als wir wenige Flüchtlinge hatten, konnten wir letztlich doch allen oder sehr vielen von ihnen ein gewisses Bleiberecht einräumen. Jetzt müssen wir aber in der Frage der Rückführungen sehr viel klarer werden und auch den Vollzug sehr viel besser hinbekommen. Ein weiterer Punkt: Die Tatsache, dass viele zu uns kommen wollen, hat natürlich auch etwas mit unserem Land zu tun. Sie hat etwas damit zu tun, dass es hier vielleicht noch Arbeitsplätze gibt, dass es hier eine gute Behandlung gibt, dass es hier eine Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt, die besagt, dass schon nach dem Asylbewerberleistungsgesetz das Existenzminimum gewährt werden muss – nur mit geringen Abstrichen im Vergleich zu Hartz IV. Aber dieses Land ist eben auch deshalb so, weil es bestimmte Regeln hat – weil es diese Verfassung hat, weil die Würde des Menschen unantastbar ist, weil Frauen und Männer gleichberechtigt sind, weil bei uns Meinungsfreiheit herrscht. Wir müssen auch vom ersten Tag an sagen, dass wir von denen, die zu uns kommen, erwarten, dass sie sich an diese Regeln halten. Auch das muss im praktischen täglichen Leben immer wieder gezeigt und durchgesetzt werden. Dadurch kommen wir auch wieder zu einer Diskussion über unsere Werte: Was macht uns aus, was ist uns wichtig? Ich glaube, das nützt beiden Teilen: sowohl denen, die zu uns gekommen sind, als auch uns, wenn wir uns in diesen Tagen vielleicht öfters über unser Selbstverständnis unterhalten als in normalen Zeiten. Ich möchte noch eine kurze Bemerkung zur Frage der Grenzen machen. Das europäische Asylrecht, so wie es seit Anfang der 90er Jahre weiterentwickelt worden ist, ist ein Recht, das darauf beruht, dass wir den Grenzschutz im Wesentlichen an die europäischen Außengrenzen verlagert haben – jedenfalls an die Grenzen der Mitgliedstaaten, die zum Dubliner Abkommen gehören und die zum Schengen-Abkommen gehören – und dass der Nutzen, den wir aus dieser Abgabe der Verantwortung für den Grenzschutz an die Außengrenzen haben, für uns die Praktizierbarkeit des Binnenmarkts ist. Die Tatsache, dass keine Grenzkontrollen bestehen, hat zur Folge, dass der Warenverkehr in einem Maße frei erfolgen kann, wie es früher nicht möglich war. Eine Wiedereinführung aller Grenzkontrollen würde uns natürlich erheblich behindern; und zwar umso mehr, je stringenter wir sie durchführen würden. Das heißt also, die Aufgabe der Bewältigung der Flüchtlingskrise ist letztendlich eine zutiefst europäische Aufgabe. Selbst wenn einige Mitgliedstaaten sagen, dass sie an dieser Aufgabe nicht so gerne teilhaben wollen, muss man wissen: Die Abgabe der Verantwortung für den Schutz der Grenzen an die Außengrenzen der Europäischen Union war eine Abgabe von Souveränität. Unabhängig davon, dass wir temporär wieder Grenzkontrollen einführen können, war es im Grunde ein Vertrauensbeweis. Das kann nur gutgehen, wenn wir dann auch gemeinsam bereit sind, die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen, wenn dieses System nicht funktioniert. Eines ist klar: Das Dublin-Abkommen hat Schwächen, sodass wir auf jeden Fall Veränderungen vornehmen müssen. Erstens merken wir, dass bei einem Andrang von Flüchtlingen, wie wir ihn jetzt sehen, Außengrenzen landseitig zu schützen sind. Wir haben zwischen Griechenland und der Türkei einen Zaun oder einen Wall; wir haben zwischen Bulgarien und der Türkei einen Zaun. Aber meerseitig haben wir große Probleme mit dem Schutz, wenn er nur einseitig erfolgt – nicht, wenn zwei oder drei illegale Flüchtlinge kommen; aber wenn Tausende kommen, dann stellt sich das sehr, sehr schwierig dar. Deshalb bin ich zutiefst der Überzeugung: Wir brauchen die Kooperation mit dem jeweiligen Land, von dem die Flüchtlinge ablegen, um dort dann auch gemeinsam den Grenzschutz zu organisieren. Deshalb ist die Kooperation mit der Türkei an dieser Stelle so essentiell. Die Türkei sagt natürlich: Es bedarf einer Lastenteilung zwischen uns beiden. Noch schwieriger ist der Sachverhalt an der italienischen Mittelmeerküste, weil auf der anderen Seite Libyen liegt. Das funktionierte alles noch gut, als Gaddafi noch Grenzabkommen mit Italien geschlossen hatte. Aber jetzt, da in Libyen im Grunde keine Staatlichkeit mehr sichtbar ist, funktioniert das natürlich nicht mehr. Darüber, wie wir damit umgehen, muss auch gesprochen werden. Es gibt Missionen – erst einmal die Mission zur Seenotrettung von Menschen. Ich will daran erinnern, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs im Frühjahr zu einem Sonderrat zusammengekommen sind, nachdem ein Schiff mit mehreren hundert Flüchtlingen gesunken ist, die alle umgekommen sind. Damals haben wir alle gesagt: Es kann doch nicht sein, dass so etwas auf dem Mittelmeer passiert. Seitdem hat allein die Deutsche Marine 9.000 Menschen gerettet. Die weiteren Schritte der Mission bestehen darin, auch das Schlepperwesen zu bekämpfen. Auch deshalb gibt es so intensive diplomatische Bemühungen, eine Einheitsregierung in Libyen zu schaffen. Wir müssen sicherstellen, dass wir von dort aus wieder eine kooperative Grenzsicherung und einen kooperativen Kampf gegen Schlepper führen können. Ansonsten fließt viel Geld an Schlepper, aber wenig Geld in Entwicklungshilfe und legale Migration. Es ist also ein europäisches Problem – ein Problem, das sehr viel mit der Freiheit der Bewegung innerhalb des Binnenmarkts zu tun hat. Deshalb vertritt Deutschland die Haltung, dass wir in Europa zu einem fairen System zur Verteilung von Flüchtlingen kommen müssen. Dabei kann man natürlich die wirtschaftliche Kraft, die Zahl der Arbeitslosen, die Zahl der schon aufgenommenen Migranten mit einrechnen. Spanien hatte schon in den vergangenen Jahren sehr hohe Migrationsbewegungen. Damals waren wir als Bundesrepublik Deutschland sehr froh, dass wir keine Außengrenze hatten, und haben gesagt: Das ist ja ein Problem Spaniens, Portugals, Italiens oder Griechenlands, aber nicht unser Problem. Bei uns kamen nur ein paar Hundert auf dem Frankfurter Flughafen an. Jetzt merken wir: Angesichts der Zahl der Flüchtlinge ist es natürlich völlig unmöglich, dass Griechenland alleine alle aus der Türkei ankommenden Flüchtlinge aufnimmt. Das heißt, ohne faire Verteilung, die heute im europäischen Asylsystem nicht vorgesehen ist, kann es auf gar keinen Fall gehen. Wir brauchen wahrscheinlich einen europäischen Grenzschutz, Abmachungen mit unseren Nachbarn und eine faire Verteilung in Europa. Das heißt, wir brauchen eine Veränderung des bestehenden Asylsystems – eine Veränderung, die Europa stärkt, und nicht eine Veränderung, die Europa schwächt. Da die Freiheit der Bewegung im Binnenmarkt eine der wichtigen Säulen ist – neben der Säule des Euro, bei der wir ja in den letzten Jahren krisenhafte Situationen hatten –, sehen wir, dass zwei ganz wichtige Säulen Europas angegriffen wurden. Ich glaube, die Eurokrise haben wir im Griff, aber wir haben sie noch immer nicht ganz überwunden, weil wir die Gründungsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion immer noch nicht überwunden haben. Wir müssen zu einer verstärkten wirtschaftlichen Kohärenz kommen. Hierbei kann es nicht um wirtschaftliche Kohärenz im Sinne eines Mittelmaßes gehen – also eines Durchschnitts aller Wettbewerbsfähigkeiten der Euro-Mitgliedstaaten –, sondern hierbei muss es darum gehen, Wettbewerbsfähigkeit im Sinne der Besten der Welt zu definieren. Wir haben Rettungsprogramme durchgeführt, von denen man sagen muss, dass sie recht gut funktioniert haben. Irland hat heute ein Wirtschaftswachstum von sechs bis sieben Prozent, Spanien hat wieder Wirtschaftswachstum und mehr Arbeitsplätze, Portugal hat wieder Wirtschaftswachstum. Und wenn in Griechenland die Dinge erfüllt werden, die wir verabredet haben, dann können wir davon ausgehen, dass sich auch dort wieder Wirtschaftswachstum einstellen wird. Das heißt also, es geht für mich in diesen Jahren und auch in diesen Tagen nicht nur um die Frage, wie es in Deutschland weitergeht, sondern es geht auch um die Frage, wie es in Europa weitergeht. Müssen sich diejenigen, die am meisten Flüchtlinge haben – im Übrigen hat Schweden pro Kopf der Bevölkerung mehr Flüchtlinge als wir; und Österreich mindestens genauso viele wie wir –, jetzt mehr um Europa kümmern oder müssen sich die anderen mehr um Europa kümmern? Da glaube ich: Deutschland hat als größte Volkswirtschaft und als bevölkerungsreichstes Land in Europa auch eine große Verantwortung für Europa. Wir wissen: Unser Wohlstand, unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten, auf der Welt Ideen und Interessen durchzusetzen, sind mit 500 Millionen Europäern allemal größer, als wenn wir es mit 80 Millionen Deutschen alleine versuchen. Insofern ist es für eine Lösung des Problems wichtig, dass wir es uns von außen anschauen und sagen: Wir müssen es an den Ursachen packen – wissend, dass auch Europa allein die weltweiten Flüchtlingsbewegungen natürlich nicht bewältigen kann. Es bedarf der Kooperation, des Zusammenwirkens aller, ich sage einmal, demokratisch oder wenigstens friedlich ausgerichteten Kräfte dieser Welt. Wenn man das sagt, dann senkt manch einer seinen Kopf und sagt: Naja, das beobachten wir nun seit Jahr und Tag; und die Erfolge sind überschaubar. Das ist zwar richtig. Aber ist das ein Grund zu sagen, dass wir es nicht weiter versuchen? Ich glaube, die Zahl der Flüchtlinge hat jetzt dazu geführt, dass in Syrien im Augenblick Friedensbemühungen im Gange sind, die wir so in den letzten fünf Jahren noch nicht hatten. Allein dass dort am letzten Freitag von Iran bis Saudi-Arabien, Russland und Amerika alle an einem Tisch saßen, ist keine Lösung des Problems, aber immerhin ein Zeichen der Hoffnung. Wenn wir diesen Weg nicht gehen, dann wird es, glaube ich, keinen guten Weg geben. Deshalb werden wir ihn gehen müssen; und ich gehe ihn zusammen mit anderen, mit dem Bundesaußenminister und der gesamten Bundesregierung aus voller Überzeugung. Insgesamt muss man einfach sagen: Wir erleben ein Stück Globalisierung, das wir so noch nicht erlebt haben. Bislang war Globalisierung für uns, dass deutsche Unternehmen im Ausland, in Schwellenländern, in Entwicklungsländern Unternehmen gegründet haben, Arbeitsplätze geschaffen haben und damit auch Arbeitsplätze in Deutschland gesichert haben. Das war unter dem Strich in den allermeisten Fällen gut für uns. Das hat – zusammen mit der Digitalisierung – auch dazu geführt, dass es Menschen in Schwellenländern und auch in afrikanischen Ländern zum Teil besser geht. Das hat aber auch dazu geführt, dass die Menschen wissen, dass es anderen anderswo besser geht; und deshalb interessieren sie sich dafür. Da, wo es Kriege gibt, sind wir für den Schutz mitverantwortlich. Das heißt, wir sehen jetzt ein Stück Globalisierung der anderen Art. Mit dieser Globalisierung müssen wir genauso umgehen, sie also mehr als eine Chance denn als ein Risiko begreifen. Und wir müssen versuchen, Antworten zu finden – die natürlich nicht heißen können: Wir können in Europa allein 60 Millionen Flüchtlinge beherbergen oder auch nur die Probleme der 60 Millionen Flüchtlinge lösen. So, finde ich, sollten wir über dieses Thema reden. Wir sollten uns auch selbst vergewissern: Was können wir, was wollen wir, wo stehen wir? Aber Tatsache ist, dass es immer offensichtlicher wird, dass wir uns von der Welt nicht abschotten können – und dass wir auch nicht einen Schalter umlegen können und alles ist wieder so wie gestern. Ich persönlich glaube ja – auch durch das Erlebnis der Deutschen Einheit –, dass Veränderungen, neue Situationen auch immer viele Chancen in sich bergen. Ich habe bis zu meinem 35. Lebensjahr eigentlich auch nicht ernsthaft damit gerechnet, dass aus meiner Tätigkeit als Physikerin an der Akademie der Wissenschaften eine Aufgabe als Politikerin wird. Die Mauer ist aber gefallen; und, ehrlich gesagt, die damalige, die alte Bundesrepublik Deutschland war auch nicht perfekt auf diesen Sachverhalt vorbereitet, obwohl man 40 Jahre lang darüber gesprochen hat, dass er morgen eigentlich eintreten müsste. Das heißt also, auch damals mussten wir mit anpacken und neue Ideen haben. Heute haben wir ein anderes Problem; es kommen ganz andere Kulturen zu uns, es kommen ganz andere Aufgaben auf uns zu – jeder Vergleich hat seine Nachteile. Aber trotzdem haben wir in den letzten 25 Jahren auch Erlebnisse gehabt, die uns Mut machen können. Es gab Zeiten, in denen Helmut Kohl, wenn er von blühenden Landschaften in den neuen Bundesländern geredet hat, ziemlich komisch angeguckt wurde. Heute kommt einem das – zum Beispiel wenn ich in meinem Wahlkreis bin – relativ ruhig über die Lippen. Insofern bitte ich einfach, dass Sie auch versuchen, das, was uns jetzt begegnet, eher als Chance zu sehen – ohne die Risiken unter den Tisch zu kehren –, aber auch als eine große Herausforderung, bei der es um mehr geht als nur um Deutschland, bei der es auch um Europa geht und bei der es auch um die Frage geht, wie redlich wir außerhalb Europas für unsere Werte eintreten können. Der Fraktionsvorsitzende meiner Fraktion, der CDU/CSU-Fraktion, kümmert sich um verfolgte Christen in der Welt. Wir sprechen oft darüber: Wie glaubhaft können wir eigentlich dabei sein, uns um Verfolgte in anderen Ländern zu kümmern, wenn wir auf unsere Aufgaben hier nicht die richtigen Antworten finden? Auch das schwingt mit. Ich habe jetzt alles, was ich über die Energiewende, die Digitalisierung und vieles andere sagen wollte, einfach weggelassen, weil Sie, Herr Scheele, mich auch ein Stück weit angeregt haben, zu dem Thema zu sprechen, zu dem Sie auch gesprochen haben. Ich bedanke mich dafür, dass Sie mich eingeladen haben, und hoffe, dass sowohl Ihr Wirken in der Wirtschaft hier in Düsseldorf und in der Region, aber auch Ihr Wirken im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft auch weiter seine Wirkung entfaltet. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters zum 10-jährigen Jubiläum von Vision Kino
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-monika-gruetters-zum-10-jaehrigen-jubilaeum-von-vision-kino-803534
Tue, 03 Nov 2015 17:00:00 +0100
Berlin
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort. – Anrede, Die meisten von Ihnen – jedenfalls die meisten von Euch Schülerinnen und Schülern – haben bestimmt „Fack ju Göhte“ gesehen, stimmt’s? – Bankräuber Zeki Müller wird Aushilfslehrer an einem Gymnasium, um an die unter der Turnhalle vergrabene Beute heranzukommen, und erweist sich in einer Klasse mit bildungsfernen Totalverweigerern als pädagogisches Naturtalent. Warum? Weil er sich bei Chantal, Danger und wie sie alle heißen auf unkonventionelle Art Respekt verschafft, weil er ihre Sprache spricht, ihre Probleme kennt und angestaubte Klassiker wie „Romeo und Julia“ kurzerhand in ein trostloses Plattenbau-Viertel verlegt, um den Schülern die Relevanz dieses Dramas nahe zu bringen. So kann Bildungsvermittlung aussehen, wenn man junge Leute in ihrer Lebenswelt abholt. Medienkompetenz und Filmbildung auf eine Weise zu vermitteln, die Euch interessiert und neugierig macht, liebe Schülerinnen und Schüler, das war auch die Idee, als die damalige Kulturstaatsministerin Christina Weiss zusammen mit der Filmförderungsanstalt (FFA), der Stiftung Deutsche Kinemathek, den Filmtheaterverbänden und dem Verleiherverband „VISION KINO“ ins Leben gerufen hat. Wir haben für dieses Projekt der kulturellen Bildung zwar keine so – sagen wir: markanten – Persönlichkeiten wie den herumproletenden Hilfslehrer Zeki Müller, die beflissene Referendarin Lisi Schnabelstedt oder die kratzbürstige Direktorin Gudrun Gerster. Aber auch VISION KINO ist ganz gewiss eine Klasse für sich! Deshalb freue ich mich über die Einladung zum „Klassentreffen“ und über das besondere Vergnügen, das erste und vermutlich einzige Mal in meinem Leben einen Auftritt als „Rektorin“ zu haben. Das Erreichen des Klassenziels kann ich schon mal feststellen – nach Euren beeindruckenden Stummfilmvertonungen, die wir eben erlebt haben! Für den Klassentest „Film“, der uns gleich noch bevorsteht, braucht also niemand die Ansage zu fürchten, die wir von Rektorin Gudrun Gerster aus „Fack ju Göhte“ kennen: „Wer abschreibt, wird erschossen!“ Gönnen wir uns stattdessen einen kurzen Rückblick auf die vergangenen zehn Jahre. Am Anfang stand eine Filmkompetenzerklärung – Ergebnis des Kongresses „Kino macht Schule“. Filmkompetenzerklärung, das klingt nach unverbindlichen Absichtsbekundungen, aber es war auch von der Einrichtung einer zentralen Stelle die Rede, und diese zentrale Stelle – VISION KINO – wurde nicht geschaffen, um einfach nur Bestehendes zu verwalten. Sie hat der Filmbildung in Deutschland Richtung und Antrieb gegeben; sie hat politisch notwendige Maßnahmen mit angeschoben, etwa mit der Erklärung der Kultusministerkonferenz zur „Medienbildung in der Schule“ von 2012; sie hat gemeinsam mit Partnern aus den Ländern ein Filmbildungskonzept entwickelt und seine Anwendung unterstützt; und sie hat mit Projektbüros in allen Bundesländern Schulkino bis in den letzten Winkel der Republik gebracht. Das Ergebnis kann sich im wahrsten Sinne des Wortes sehen lassen: An den SchulKinoWochen nehmen mittlerweile 783 Kinos in ganz Deutschland teil (fast die Hälfte aller Kinos!), von den Löwen-Lichtspielen Kenzingen im Schwarzwald bis zum Filmtheater „Mitten im Meer“ auf Borkum. Ein herzliches Dankeschön den Länderpartnern und Projektleitern, die für die SchulKinoWochen ein perfektes Zusammenspiel von Bund und Ländern hinbekommen! Fast 800.000 Schülerinnen und Schüler haben im Schuljahr 2014/2015 mit ihren Lehrkräften einen pädagogisch begleiteten Kinobesuch mitgemacht – ein Rekord! Ich selbst habe vergangenes Jahr in meiner Heimatstadt Münster erlebt, wie VISION KINO seinem Kultur- und Bildungsauftrag mit Bravour gerecht wird, nämlich bei einer Vorführung des Ost-Roadmovies „Wir können auch anders!“ – einer meiner Lieblingsfilme! – für Schulklassen. Für die Schülerinnen und Schüler war das zwar eine Art zu erzählen, die nicht ihren heutigen Sehgewohnheiten entspricht, die sie aber ganz offensichtlich als spannend empfanden. Ein weiterer schöner und mir besonders wichtiger Erfolg der VISION KINO ist, dass die verdienstvolle Arbeit des Netzwerks kulturpolitischen wie medienpolitischen Ansprüchen gleichermaßen gerecht wird. Der Film ist ja nicht nur einfach ein Medium zur Vermittlung von Inhalten. Er ist auch ein Kunstwerk, ein Kulturgut. Filmbildung ist deshalb nicht nur Medienbildung. Filmbildung heißt auch: die kulturelle Bedeutung des Films, den künstlerischen Wert eines Films zu verstehen. Wie die Kunst insgesamt ist auch die Filmkunst avantgardistisch im besten Sinn, sie darf unbequem sein, sie gehört zum kritischen Korrektiv gesellschaftlicher Entwicklungen. Wenn sie dann auch noch unterhaltsam ist, umso besser! VISION KINO fördert das Bewusstsein dafür und damit auch die Wertschätzung für das Kulturgut Film und seinen originären Erlebnisort, das Kino – das ist pädagogisch wie kulturpolitisch ein Gewinn. Deshalb hat VISION KINO als Pilot- und Vorzeigeprojekt der kulturellen Bildung in diesem Jahr eine quasi-institutionelle Förderung in Höhe von 625.000 Euro aus den Mitteln der Filmförderung meines Hauses erhalten. Für 2016 sind 630.000 Euro vorgesehen und dazu eine wichtige Sonderförderung in Höhe von 50.000 Euro für das Erstellen einer didaktischen CD zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Außerdem – das wurde gerade erst entschieden – soll VISION KINO 2016 noch eine Sonderförderung in Höhe von 107.000 Euro für drei Projekte für und mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen erhalten. Kunst und Kultur können und müssen zur Integration der Menschen beitragen, die Zuflucht suchen und Asyl erhalten in Deutschland; deshalb liegt mir die Unterstützung solcher Projekte ganz besonders am Herzen, und ich weiß Sie bei Ihnen, liebe Frau Duve, und Ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern auch in den besten Händen. Für Ihr großes Engagement für die Filmbildung danke ich Ihnen herzlich! Danke auch all jenen, die mit Rat und Tat dazu beigetragen haben, dass VISION KINO von der Vision zu einem sehr erfolgreichen Netzwerk der kulturellen Bildung geworden ist, allen voran Dir, lieber Bernd (Neumann), der Du gleich doppelt beteiligt warst – erst als Kulturstaatsminister und nun als FFA–Filmförderungsanstalt-Präsident! Schön, dass sich auch die FFA–Filmförderungsanstalt von Beginn an ebenso stark wie BKM für VISION KINO engagiert hat. Mein Haus, das kann ich Ihnen angesichts der Erfolge der vergangenen zehn Jahre versprechen, wird die Arbeit von VISION KINO auch weiterhin politisch und finanziell unterstützen! Denn kulturelle Bildung / Filmbildung ist die Voraussetzung dafür, dass der Film nicht nur als Wirtschaftsgut, sondern auch als Kulturgut eine Zukunft hat. Thomas Edison, meine Damen und Herren, der an der Erfindung der Kinematografie nicht unwesentlich beteiligt war, hat 1913 in einem Interview gesagt: „Books will soon be obsolete in the public schools. Scholars will be instructed through the eye.“ Mit dieser Einschätzung lag der große Erfinder – zum Glück für das Kulturgut Buch! – zwar nicht ganz richtig, aber wahr ist: Die Schule des Sehens hat an Bedeutung gewonnen, und im digitalen Zeitalter brauchen wir sie mehr denn je für Medienkompetenz und in der kulturellen Bildung. Ich hoffe, dass VISION KINO auch in Zukunft Teil einer „Schule des Sehens“ ist! In diesem Sinne: Weiterhin viel Erfolg!
„Kunst und Kultur können und müssen zur Integration der Menschen beitragen, die Zuflucht suchen und Asyl erhalten in Deutschland; deshalb liegt mir die Unterstützung solcher Projekte ganz besonders am Herzen, und ich weiß Sie bei Ihnen, liebe Frau Duve, und Ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern auch in den besten Händen. Für Ihr großes Engagement für die Filmbildung danke ich Ihnen herzlich!“ betonte Monika Grütters in ihrer Rede.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Empfang der deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Berufsweltmeisterschaft „WorldSkills“ am 3. November 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-empfang-der-deutschen-teilnehmerinnen-und-teilnehmer-an-der-berufsweltmeisterschaft-worldskills-am-3-november-2015-457536
Tue, 03 Nov 2015 14:00:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Pfündner, liebes WorldSkills-Team, ich möchte Sie ganz herzlich im Bundeskanzleramt willkommen heißen. Ich habe Sie schon beim Reinfahren gesehen und habe darüber nachgedacht, ob Sie sehr frieren. Aber Sie sagen ja, dass es ein bisschen sonnig war. Insofern freue ich mich, dass Sie in Ihren tollen Deutschland-Outfits hier sind. Sie haben sich im Wettbewerb mit Auszubildenden und jungen Fachkräften wacker geschlagen, und zwar mit solchen, die zu den Weltbesten gehören. Dass Sie sich wacker geschlagen haben, ist keine Überraschung, denn Sie selber gehören ja auch zu der Gruppe, die an der Spitze der Welt steht. Die Berufsweltmeisterschaften haben diesmal in Brasilien stattgefunden. Ich kann Ihnen zu Ihren großartigen Leistungen nur herzlich gratulieren. Natürlich gilt das für alle, aber ganz besonders auch für die Medaillengewinner. Zweimal Gold, zweimal Silber, einmal Bronze – das kann sich wirklich sehen lassen. Insgesamt hatten Sie 22 Auszeichnungen im Gepäck, als Sie wieder zu uns zurückgekommen sind. Das sind nicht nur große persönliche Erfolge, sondern das ist eine tolle Bilanz für das gesamte deutsche Team. Und es ist auch eine tolle Bilanz für die deutsche Ausbildungslandschaft. Sie sind so etwas wie Botschafter unseres Systems der dualen Berufsausbildung. Wo immer ich auf der Welt hinkomme, sagt man mir, dass dieses System der dualen Berufsausbildung einen sehr guten Ruf hat. Es führt ganz offensichtlich zu großen Erfolgen. Doch dazu bedarf es natürlich auch einer längeren Tradition. Viele Länder würden es aber auch gerne einführen. Die Tatsache, dass wir im europäischen Vergleich die geringste Jugendarbeitslosigkeit haben, ist mit Sicherheit auch auf unser Ausbildungssystem zurückzuführen. Ihre Erfolge sind natürlich die beste Werbung für junge Menschen, die ihre Ausbildung begonnen haben und eines Tages auch einmal da stehen wollen, wo Sie jetzt stehen, oder auch für junge Menschen, die noch in der Schule sind, die sich noch nicht entschieden haben, in Ihre Fußstapfen zu treten. Wir haben eine beachtliche Bandbreite der Ausbildungsberufe, die auch Sie vertreten. Die Bandbreite ist so groß, dass sich eigentlich für jeden etwas finden lassen müsste. In deutschen Betrieben sind Facharbeiter mehr denn je gefragt. Für die Betriebe ist die Investition in Ausbildung immer auch eine Investition in die eigene Zukunft. Für junge Menschen ist der Abschluss einer Ausbildung auch immer eine gewisse Sicherheit, im Leben weiterzukommen. Wir wissen, dass diejenigen, die keine Berufsausbildung haben, mit einem viel höheren Risiko behaftet sind, einmal arbeitslos zu werden, während diejenigen, die eine Berufsausbildung haben, viele Wege gehen können – entweder eine Meisterprüfung ablegen oder ein Studium aufnehmen oder sogar den Weg in die eigene Selbständigkeit wählen. Das heißt, dass die Durchlässigkeit unseres Systems inzwischen auch sprichwörtlich ist, wenn es darum geht, zwischen beruflicher und akademischer Ausbildung zu wechseln. Wir sind auch stolz darauf und werden das auch weiterentwickeln, denn daraus resultiert auch Zukunftsfähigkeit. Deshalb möchte ich auch einen Dank richten an diejenigen, die Ausbildungsplätze bereitstellen. Es sind längst nicht alle Unternehmen. Deshalb umso mehr denjenigen ein herzliches Dankeschön, die das immer wieder auf sich nehmen. Ich glaube, es hält jung und es bereichert, wenn man das macht. Aber es bedarf eben auch einiger Anstrengungen und man geht manchmal auch ein gewisses Risiko ein. Ich danke daher denen, die in ihren Betrieben Ausbildungsplätze bereitstellen. Mein Dank gilt natürlich auch den Verantwortlichen bei WorldSkills, die die Teilnahme unserer Teams an den Weltmeisterschaften organisiert haben. Die Lorbeeren der Preisträger sind auch die Lorbeeren der Organisatoren. Nach jeder WM ist vor der nächsten WM. Außerdem kommt es für alle von Ihnen darauf an, dass Sie sich in Ihrem Beruf weiter gut entwickeln. Man darf sich ja auf den Lorbeeren, die man einmal erhalten hat, nie ausruhen. In diesem Sinne allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, allen Organisatoren und allen Ausbildern ein herzliches Dankeschön und viel Freude auf dem weiteren Weg zu neuen Höchstleistungen. Nochmals herzlich willkommen hier im Kanzleramt.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Tag der Deutschen Industrie 2015 des Bundesverbands der Deutschen Industrie e. V. am 3. November 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-tag-der-deutschen-industrie-2015-des-bundesverbands-der-deutschen-industrie-e-v-am-3-november-2015-457592
Tue, 03 Nov 2015 11:30:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Grillo, sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestags, liebe Botschafter, meine Damen und Herren, das Umfeld, in dem wir leben, arbeiten und wirtschaften, wandelt sich ständig. Es ist so, wie Herr Grillo schon gesagt hat: Der Postbahnhof, den Sie für den Tag der Deutschen Industrie gewählt haben, erzählt eben auch seine eigene Geschichte davon. Das Gebäude ist Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden; also in der Zeit, in der sich Deutschland zu einem modernen Industriestaat entwickelt hat. Der zunehmende Verkehr auf Straßen und Schienen sowie neue Nachrichtentechniken erleichterten die Kommunikation und den Handel. Um die anwachsenden Postmengen zu bewältigen, wurde der Postbahnhof errichtet – ein für seine Zeit riesiges Logistikzentrum. Natürlich haben sich die Zeiten geändert; die Kommunikationswege auch. Man darf aber sagen, dass Logistik und Kommunikation nach wie vor eine entscheidende Rolle spielen. Ich möchte Ihnen, Herr Grillo, zu Beginn für Ihre Rede heute danken, mit der Sie die Rolle der Wirtschaft innerhalb der Gesellschaft und auch innerhalb dessen, was in Europa und auf der Welt passiert, eingeordnet haben. Das zeigt aus meiner Sicht etwas ganz Wesentliches, nämlich dass gelebte Soziale Marktwirtschaft, das Zusammenleben in unserer Gesellschaft auf der einen Seite zwischen Wirtschaft und Arbeitnehmern und auf der anderen Seite zwischen Politik und Wirtschaft, eine besondere Qualität hat, was uns immer wieder auch in einen Diskurs über einzelgesetzliche Vorhaben hinaus eintreten lässt. Dafür bin ich sehr dankbar. Etwas scherzhaft möchte ich hinzufügen: Ob das Bild, dass Sie der Trainer seien und die Politik die Fußballmannschaft, richtig ist, muss ich doch ein wenig bezweifeln – oder zumindest müssen wir darüber noch einmal reden. Wir als Politiker reden gern vom Primat der Politik. Insofern müssen wir die Rollen vielleicht noch ein bisschen anders verteilen. Aber natürlich hat die Industrie in unserem Land einen sehr hohen Anteil an der Wertschöpfung. Dass das so bleibt, erfordert Bereitschaft zur Veränderung. Diese Veränderung findet zurzeit in der Welt in dramatischer Weise statt. Herr Hiesinger hat, bevor ich kam, hier schon über das Thema Digitalisierung und ihre Bedeutung für die Wirtschaft gesprochen. Es gibt hierbei verschiedene Aufgaben zu bewältigen. Die eine Aufgabe ist, dass wir Infrastruktur zur Verfügung stellen müssen. Dazu hat die Bundesregierung einiges auf den Weg gebracht. Wir wollen 50 Megabit pro Sekunde bis 2018 für jedermann verfügbar machen. Wir wissen, dass das als Durchschnittswert nicht schlecht ist, dass aber natürlich an vielen Stellen ganz andere Bandbreiten notwendig sind. Wir sehen auch, dass sich die Verfügbarkeit von Frequenzen verändern muss und dass wir beim Mobilfunk auf neue Geschwindigkeiten kommen müssen – 5G ist hierbei das Stichwort. Dazu brauchen wir auch länderübergreifende, also europaweite Standards. Bei all dem bewegen wir uns sozusagen in einem Spannungsfeld: Auf der einen Seite müssen wir alle Regionen Deutschlands – das ist insbesondere für den Mittelstand wichtig – mit vernünftigem Internetzugang ausstatten und auf der anderen Seite müssen wir auch die Ambitionen für zukünftige Nutzungen jetzt schon festlegen. Die Bundesregierung hat durch die Frequenzversteigerung und andere Fördermöglichkeiten 2,7 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, um den Infrastrukturausbau gerade auch in den Regionen zu fördern, in denen die Wirtschaftlichkeit nicht auf der Hand liegt. Einige sagen, das sei zu wenig. Ich sage: Lassen Sie uns das erst einmal ausschöpfen und lassen Sie uns auch die Förderbedingungen so gestalten – der Infrastrukturminister Alexander Dobrindt hat hierzu einiges auf den Weg gebracht –, dass sich diese Fördermittel auch leicht nutzbar machen lassen, dann werden wir ein gutes Stück weit vorankommen. Es geht vor allen Dingen darum, dass wir die Offenheit haben, uns auf Neues einzulassen. Nicht immer kamen im Zuge dessen, was die Digitalisierung vorangetrieben hat, die Impulse aus Europa; das muss man nüchtern feststellen. Jetzt sind wir in einer spannenden Zeit, in der die Digitalisierung mehr und mehr gerade auch in die Wirtschaft Einzug hält – deshalb Industrie 4.0, deshalb die Digitale Agenda der Bundesregierung. Es geht um viele Fragen – um Infrastrukturen, um Produktionsprozesse, um Vermarktungsprozesse, um Beziehungen zum Kunden, um das Klima bzw. die Anpassung der Bedingungen, unter denen in Zukunft Arbeit stattfinden wird, und natürlich auch um Neugründungen und darum, Startups gute Bedingungen zu bieten, damit sie sich in Deutschland entwickeln können, wozu sie auch entsprechende Finanzierungsmöglichkeiten brauchen. An allen diesen Stellen arbeiten wir. Bei manchen Dingen kommen wir sehr langsam voran – ich denke hierbei zum Beispiel an die Finanzierungsmöglichkeiten für Startups, an Verlustabschreibungen und europäische Rahmensetzungen. Wir sind problembewusst und haben aber auch einiges erreicht. Das Telekommunikationspaket in der Europäischen Union mit der Definition der Netzneutralität ist ein Fortschritt im Hinblick auf zukünftige Nutzungen. Wir haben uns hierbei seitens der Bundesregierung sehr intensiv eingebracht. Wir werden uns in gut zwei Wochen auf dem IT-Gipfel wieder zur Frage austauschen: Wo stehen wir und was müssen wir vorantreiben? Wir haben auch eine sehr gute Form der Kommunikation von Wirtschaft, Europäischer Kommission und Politik gefunden, indem der französische Präsident François Hollande und ich gemeinsam mit dem Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker regelmäßig mit dem European Round Table führender europäischer Unternehmen über die Frage sprechen: Was fehlt noch, damit in Europa der digitale Binnenmarkt endlich geschaffen werden kann? Auch hierbei geht es voran, wenngleich vielleicht aus Ihrer Sicht an einigen Stellen zu langsam. Ich will einige Dinge nennen, die für die Zukunft der industriellen Wertschöpfung in Europa aus meiner Sicht von entscheidender Bedeutung sind. Dazu gehört das Datenmanagement. Dazu wird es eine Datenschutz-Grundverordnung geben. Sie ist ausverhandelt zwischen der Kommission und dem Rat der Innen- und Justizminister. Sie ist im Augenblick Gegenstand des Trilog-Verfahrens, also der Diskussion mit dem Europäischen Parlament. Wir müssen aufpassen, dass das Element des Datenschutzes nicht zu stark ausgeprägt sein wird, sondern dass die Balance mit der Datenverarbeitung ausreichend gesichert wird. Denn wenn es richtig ist – und ich glaube, es ist richtig –, dass Daten der Rohstoff des 21. Jahrhunderts sind, dann muss es möglich sein, neue Produkte und Wertschöpfung auf der Basis von Daten zu ermöglichen; dann muss es gesichert sein, dass Europa das kann. Hierbei sind wir den Vereinigten Staaten von Amerika und anderen Wirtschaftsräumen noch nicht gleichgestellt. Wir haben kein Level Playing Field, wie man heute so schön sagt. Gerade auch das letzte Urteil des Europäischen Gerichtshofs über Safe Harbor hat uns eher Fragen aufgeworfen, als dass es Probleme gelöst hat. Es gibt im Augenblick den Zustand einer erheblichen Rechtsunsicherheit, weshalb die Mitteilung der Kommission, innerhalb von drei Monaten Klarheit zu schaffen, erst einmal eine wichtige Mitteilung ist. Deshalb auch die Bitte an den amerikanischen Botschafter: An dieser Stelle müssen wir schnell zu Ergebnissen kommen – zu Ergebnissen, die Datenaustausch und Datenverarbeitung möglich machen. Denn andere Regionen der Welt werden sich ihre Wertschöpfung nicht verbieten lassen, weil wir in Europa nicht bereit sind, sie zuzulassen. Das heißt also, die Balance von Freiheit und Sicherheit im Netz ist eine der zentralen Fragen – eine Frage, wie wir sie in ähnlicher Weise in der Sozialen Marktwirtschaft sehr häufig gehabt haben. Wir müssen zu vernünftigen Rahmenbedingungen des Big Data Managements kommen. Wir werden den Trilog recht zügig beenden, sodass dann Klarheit herrscht. Dabei geht es um eine Verordnung der Europäischen Union. Das heißt, das Inkrafttreten erfolgt unverzüglich oder mit den Fristen, die vereinbart sind, aber wir brauchen keine langwierigen nationalen Prozesse zur Umsetzung von Richtlinien, sondern es geht um eine für Europa gleichermaßen gültige Verordnung. Ich bin auch sehr froh, dass sich die Kommission entschlossen hat, die Umsetzung der verbliebenen Punkte der Digitalen Agenda im Jahr 2016 entscheidend voranzutreiben. Das ist eine Ambition, die wir lange nicht hatten. Ich darf Ihnen sagen, dass die deutsche Politik diese Ambition unterstützt, denn wir brauchen auch für unsere Telekommunikationsanbieter gleiche Bedingungen, wie sie für andere Anbieter aus anderen Ländern herrschen. Meine Damen und Herren, ich glaube auch, dass sich die deutsche Wirtschaft der Verantwortung für Industrie 4.0 bewusst ist. Ich glaube aber, dass das Hineinwirken in den Mittelstand noch verstärkt werden muss. Der deutsche Mittelstand ist ja sozusagen aufs Engste verknüpft mit den großen Unternehmen in unserem Land. Nur wenn alle gleichermaßen die Dinge umsetzen, kann hieraus eine erfolgversprechende Wirtschaftsstruktur werden. Das zweite große Thema, das ich ansprechen möchte, hängt zusammen mit der Konferenz über Klimaschutz in Paris, die 21. Vertragsstaatenkonferenz, die im Dezember stattfinden wird. Es geht um verbindliche Abkommen zu Klimaschutzzielen. Deutschland hat sich hierfür im Rahmen seiner G7-Präsidentschaft sehr stark gemacht. Dieses Jahrhundert haben wir als G7-Nationen gemeinsam als ein Jahrhundert der zunehmenden Dekarbonisierung bezeichnet. Wir sollten alles daransetzen, das Zwei-Grad-Ziel, also die Begrenzung der Erderwärmung auf zwei Grad, wirklich einzuhalten. Denn wenn wir das nicht schaffen, dann kann das ein Grund für viele, viele Fluchtbewegungen aus unterschiedlichen Regionen der Welt sein. Das scheint weit entfernt zu sein, aber der Stern-Report hat uns gezeigt, was unterlassenes Handeln im Bereich des Klimaschutzes bedeutet und wie viele zusätzliche Kosten daraus entstehen können. Diese wird man nie eins zu eins zuordnen können. Aber den Steuerzahlern wird es jedenfalls viel Geld kosten. Deshalb finde ich es sehr bemerkenswert, dass jetzt selbst China als erstes Schwellenland darauf gekommen ist, eigene Reduktionsziele vorzuschlagen – zwar erst ab 2030, aber immerhin. China ist ein Schwellenland, das sich einer solchen Ambition früher völlig verweigert hat. Das sollte auch uns in unserer Haltung zu anspruchsvollen Reduktionszielen bestätigen. Natürlich müssen wir aber auch auf unsere Wettbewerbsfähigkeit achten. Ich finde es zum Beispiel sehr ermutigend, dass China ein Emissionshandelssystem einführen wird. Ich kann uns in der Europäischen Union nur raten, sehr genau hinzuschauen, wie das dort geschehen wird, und das damit zu vergleichen, wie wir es machen, um dann gegebenenfalls wieder an einem Level Playing Field zu arbeiten. Denn unser Emissionshandelssystem hat in der letzten Zeit auch etliche Nachteile gezeigt. Wir müssen begreifen, dass das Emissionshandelssystem an das Wirtschaftswachstum gekoppelt ist. Und wir müssen vor allen Dingen begreifen, dass es keinen Sinn hat, energieintensive Industrie aus Europa in Produktionsstandorte, die in Bezug auf Umweltbedingungen schlechter sind, zu vertreiben. Die Ausnahmeregelungen vernünftig zu klassifizieren, ist im Rahmen der Regeln der Europäischen Union eine Sisyphusarbeit. Bundesminister Gabriel, der ja noch zu Ihnen kommen wird, kann stundenlang davon erzählen, wie sozusagen jede Ölmühle einzeln aus der EEG-Umlage herausgenommen werden muss. In Europa muss das Bewusstsein dafür wachsen – das sage ich ganz offen –, dass die industrielle Wertschöpfung unser Rückgrat ist, wenn es darum geht, viele soziale Belange überhaupt bewältigen zu können. Es hat keinen Sinn, hier auf noch mehr Arbeitsplätze zu verzichten. Herr Grillo hat dankenswerterweise die EEG-Reform nicht als Eigentor bezeichnet, aber sie auch nicht gelobt. Wir haben viel Kraft darauf verwendet, den Preisanstieg zu dämpfen; das ist unbestrittenerweise auch geschehen. Wir haben in den nächsten zwei Jahren aber noch einen wichtigen qualitativen Schritt vor uns; und das ist die Ausschreibung aller neuen Investitionen im Bereich der erneuerbaren Energien. Darauf besteht die Europäische Union. Es ist im Übrigen eine gute Sache, dass die Europäische Union darauf besteht, denn damit wird auch mehr Preiseffizienz sichergestellt. Dies wird aber sicherlich noch einen ziemlich schwierigen Verteilungskampf unter den deutschen Investoren im Bereich der erneuerbaren Energien bedeuten. Man darf nicht vergessen, dass ein Teil der industriellen Wertschöpfung inzwischen aufs Engste auch mit der Produktion von erneuerbaren Energien verknüpft ist. Insofern finden die Verteilungskämpfe dann auch nicht nur in der Politik statt, sondern vielleicht auch beim BDI. Aber das werden Sie natürlich locker bewerkstelligen. Meine Damen und Herren, „Made in Germany“ ist auch dank unserer Innovationskraft nach wie vor ein Marken- und Gütezeichen. Daran ändern auch die Vorfälle bei Volkswagen nichts; ich will das hier gerne noch einmal betonen. Aber wir müssen hierbei auf Transparenz und schnelle Aufklärung bestehen. Ich gehe davon aus, dass die Betroffenen selber dafür sorgen. Meine Damen und Herren, eine wichtige Rolle in der Rede von Herrn Grillo hat das Thema Europa gespielt. Dafür bin ich sehr dankbar. Angesichts der Krise im Euroraum und nun auch angesichts der Flüchtlingsbewegungen stehen wir immer wieder vor der Frage: Wie wird Europa mit solchen krisenhaften Entwicklungen fertig? Je weiter man sich von Europa entfernt, umso leuchtender erscheint die Europäische Union im Blick von Ländern und Regionen, die es noch nicht geschafft haben, ein friedliches Zusammenleben zu organisieren, die auf uns bewundernd schauen und sagen: Wie habt ihr es gemacht, über Jahrzehnte hinweg eine friedliche Entwicklung, im Großen und Ganzen eine Entwicklung zu Prosperität und eine Entwicklung des Zusammenwachsens hinzubekommen? Angesichts der großen Wirtschaftsregionen – Vereinigte Staaten von Amerika, China mit über 1,3 Milliarden Einwohnern, Indien mit fast 1,3 Milliarden Einwohnern – ist es eigentlich ganz offensichtlich, dass ein Binnenmarkt mit 500 Millionen Menschen als eine wirtschaftsstarke Region schon allein ein Wert an sich ist. Wenn dieser Binnenmarkt noch durch ein gemeinsames Wertefundament gekennzeichnet ist, wie es die Grundrechtecharta der Europäischen Union besagt, dann ist es umso wichtiger, zusammenzuhalten und Werte und Überzeugungen gemeinsam zu vertreten. Europa steht vor riesigen Herausforderungen. Wir haben, würde ich sagen, die Krise im Euroraum im Griff. Wir haben Beweise dafür, dass die getroffenen Maßnahmen, die ja nicht nur einer Austerität entsprachen, wie das immer genannt wurde, sondern vor allen Dingen der Notwendigkeit von Reformen entsprangen – Solidarität auf der einen Seite und auf der anderen Seite Anstrengungen des betroffenen Landes, um seine Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, wozu natürlich auch solide Haushaltspolitik gehört –, erste und wichtige Erfolge zeigen. In Portugal gibt es zum Beispiel ein starkes Wirtschaftswachstum. In Spanien hat sich die Beschäftigungssituation verbessert. Irland hat ein ziemlich einzigartiges Wirtschaftswachstum in Europa in Höhe von sieben Prozent. Man kann sagen: Das ist eine kleine Ausnahme. Es hat aber auch gute Freunde in Kanada und den Vereinigten Staaten von Amerika. Wie dem auch sei, jedenfalls sind das beachtliche Entwicklungen. Auch Griechenland wird, wenn es sein Programm umsetzt, ein Land sein, das wieder zu Wirtschaftswachstum zurückkehrt. Wir waren da ja schon an der Schwelle des Entstehens von Wachstum. Dennoch dürfen wir, wenn wir diese Entwicklungen sehen, nicht vergessen, dass die Möglichkeit, dass diese Krise ausgebrochen war, auch darauf beruhte, dass es bei der Gründung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion Unterlassungen gab. Man hat sich auf eine einheitliche Geldpolitik, auf bestimmte Regeln für die Finanzpolitik verständigt. Aber der Stabilitätspakt, der eigentlich die Wirtschaftsdimension und die Haushaltsdimension umfasst, ist mit Blick auf die wirtschaftliche Kohärenz in den europäischen Regeln nicht ausreichend fixiert. Deshalben werden wir uns weiterhin damit beschäftigen, wie wir diese Kohärenz der wirtschaftlichen Entwicklung mit Blick auf die beste Wettbewerbsfähigkeit – mit Blick auf die globale Wettbewerbsfähigkeit und nicht auf den Durchschnitt in Europa – stärken können. Diese Aufgabe bleibt bestehen. Die eine Krise ist noch nicht ganz überwunden; und nun erreicht uns eine zweite. Wir sehen, dass 60 Millionen Flüchtlinge auf der Welt unterwegs sind, was die größte Zahl nach dem Zweiten Weltkrieg ist. Viele dieser Flüchtlingsströme entstehen in der Umgebung Europas. Wir haben etliche Jahre gedacht, dass uns das vielleicht nur in Form von Fernsehbildern berührt. Der Syrien-Krieg hat inzwischen über 300.000 Menschenleben gekostet. Wir haben zur Kenntnis genommen, dass es in einem Land wie dem Libanon mit rund fünf Millionen Einwohnern 1,5 Millionen Flüchtlinge gibt, in Jordanien 600.000, in der Türkei über zwei Millionen. Wir haben das alles für selbstverständlich gehalten und gedacht, dass Europa davon nicht beeinflusst wird. Das hat sich als ein Irrtum herausgestellt. Deshalb haben wir jetzt eine der größten Herausforderungen zu bewältigen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir diese Herausforderungen nicht an der deutsch-österreichischen Grenze bewältigen können. Wir müssen in Deutschland das tun, was wir können – keine Frage. Aber wenn wir zu klein denken, wenn wir zu sehr auf uns bezogen denken, dann wird dies wieder eine große Gefährdung für Europa sein. Deshalb bin ich Ihnen sehr dankbar dafür, wenn Sie sagen, dass wir einen europäischen Ansatz brauchen. Und ich bitte Sie, dafür auch überall zu werben. Denn diejenigen, die heute in Europa meinen, sie seien davon nicht betroffen, werden morgen in irgendeiner Weise davon betroffen sein – und sei es dadurch, dass man die Einheit Europas infrage stellt. Wir müssen sehen, dass die Grundsteine für die gemeinsame Asylpolitik und die Bewegungsfreiheit nach Schengen Anfang der 90er Jahre gelegt worden sind. Man hat im Zuge der Rechtsentwicklung etwas gemacht, das ein unglaublicher Vertrauensbeweis an die europäische Handlungsfähigkeit war. Man hat gesagt: Wir verlagern den Schutz unserer Grenzen von unseren nationalen Grenzen auf die Außengrenzen der Europäischen Union. Das war eine wichtige Entscheidung, um innerhalb der Europäischen Union die Bewegungsfreiheit und damit den Binnenmarkt in seiner vollen Ausprägung überhaupt erst zu ermöglichen. Jetzt stehen wir vor der Frage: Können wir das erhalten? Ich will selbstkritisch sagen: Deutschland war mit dieser Regelung sehr zufrieden. Wir hatten die Erfahrung des Jugoslawien-Kriegs gemacht; wir hatten sehr viele Flüchtlinge. Plötzlich hatte man ein System entwickelt, in dem die Außengrenzen zu schützen waren und die Länder, in denen Flüchtlinge an den Außengrenzen ankamen, hatten diese Flüchtlinge auch aufzunehmen und nicht nur zu registrieren, sondern auch die Asylanträge zu bearbeiten und über sie zu entscheiden. Damit haben wir viele Jahre recht gut gelebt und hatten sehr geringe Asylbewerberzahlen. Jetzt merken wir, dass dieses System des Schutzes der Außengrenzen nicht funktioniert. Das Pendant von Europa auf der Mittelmeerseite, Libyen, ist im Augenblick ein nicht vorhandener Staat. Das Pendant auf der Seite Griechenlands, die Türkei, ist ein Land, in dem im Augenblick der Flüchtlingsdruck sehr hoch ist. Außerdem herrscht Illegalität auf der Ägäis. Es gibt illegale Einwanderung. Unilateral Küsten zu schützen, ist nicht ganz so einfach. Insofern brauchen wir neue Antworten. Die erste Antwort ist, alles daranzusetzen, mit Hilfe unserer Nachbarn die Außengrenzen zu schützen. Die zweite Antwort lautet: Selbstverständlich kann ein Land an der Außengrenze nicht alle Flüchtlinge aufnehmen, weshalb wir eine faire Verteilung der Flüchtlinge in Europa brauchen. Selbst dann, wenn wir zu einem legalen Management kommen – zum Beispiel mehr finanzielle Unterstützung der Türkei, damit sie mit ihren Lasten besser fertig wird, und gleichermaßen die Bereitschaft Europas, zum Beispiel ein bestimmtes Kontingent an Flüchtlingen legal aufzunehmen –, müssen wir darauf beharren, dass die Lasten innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union fair verteilt werden. Ansonsten wird das ganze System nicht funktionieren. Ich sage es ganz offen: Die Zeitachse spielt natürlich auch eine Rolle. Deshalb drängen wir sehr, dränge ich auch sehr darauf – und ich bin sehr froh, dass Jean-Claude Juncker uns hierbei unterstützt –, dass schnell ein Abkommen zu Fragen der Migration zwischen der EU und der Türkei geschlossen werden kann, das eine Legalisierung der Migration ermöglicht. Natürlich müssen wir uns außenpolitisch stärker einbringen. Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie gesagt haben, dass Europa in der Außenpolitik mit einer Stimme sprechen muss. Nur wenn wir mit einer Stimme sprechen, werden wir auch ein verlässlicher Partner zum Beispiel im transatlantischen Bereich sein. Die Vereinigten Staaten von Amerika erwarten natürlich mit Recht, dass andere Akteure – auch die Europäer – sich stärker an der Lösung von Konflikten vor der eigenen Grenze beteiligen, denn es geht ja auch um die eigene Sicherheit. Das, was sich in Syrien und im Irak mit dem Islamischen Staat abspielt, gefährdet unsere eigene Sicherheit. Bedauerlicherweise gehen auch noch Leute aus unseren Ländern als Kämpfer in diese Staaten. Das heißt, wir können uns von dieser Entwicklung überhaupt nicht abkoppeln und deshalb stehen wir hier vor großen Herausforderungen. Meine Damen und Herren, ich bin auch der Meinung, dass Großbritannien ein Mitglied der Europäischen Union bleiben sollte. Herr Osborne ist noch nicht hier, aber Sie können ihm auch von meiner Seite übermitteln, dass ich mich dieser Formulierung gerne anschließe. Nur entscheiden wir das natürlich nicht alleine. Letztlich müssen es die Briten entscheiden. Das Einzige, das wir zusagen können, ist: Da, wo berechtigte Anliegen bestehen, wo es um Wettbewerbsfähigkeit, um eine bessere Funktionsfähigkeit der Europäischen Union geht, sind britische Anliegen auch unsere Anliegen. Wir werden nicht in allen Anliegen zu einer Übereinstimmung kommen. Wir haben immer wieder Opt-out-Möglichkeiten für die europäische Entwicklung gefunden. Das Europa von heute ist ja längst nicht mehr ein Europa einer Geschwindigkeit. Aber für uns ist es aus vielerlei Gründen wichtig, Großbritannien als Mitgliedstaat der Europäischen Union zu haben. Deshalb werden wir unseren Beitrag dazu leisten, den wir leisten können. Den Rest müssen die Briten entscheiden. Ich hoffe, sie tun es auch in einem Sinne, der uns in Europa stärker macht. Meine Damen und Herren, damit sind wir bei einem Thema, bei dem Großbritannien immer ein guter Verbündeter ist. Das ist das Thema Freihandel. Für uns als Industrienation und Exportnation ist ein freier Handel von entscheidender Bedeutung. Selbst wenn wir bei der Verabschiedung bestimmter Freihandelsabkommen zögerlich waren – zum Beispiel in Sachen Südkorea; die Begeisterung der deutschen Autoindustrie war vom ersten Tag an nicht unendlich –, haben wir immer wieder erfahren, dass sich die Dinge letztlich doch besser entwickelten als wir dachten. Die Exporte nach Südkorea sind deutlich gestiegen. Sie lagen im ersten Halbjahr 2015 um mehr als 50 Prozent über dem Niveau, das wir vor den Handelserleichterungen hatten. Die deutschen Gesamtexporte sind im gleichen Zeitraum nur um 13 Prozent gestiegen. Nach Südkorea sind sie also um 50 Prozent und insgesamt weltweit um 13 Prozent gestiegen. Daran können Sie also sehen, wie sich die Dinge doch zum Guten wenden können. Jetzt komme ich zum Handel mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Die deutschen Exporte in die USA sind um fast ein Viertel auf rund 55 Milliarden Euro im ersten Halbjahr dieses Jahres gestiegen. Die USA waren zum ersten Mal unser wichtigstes Exportziel weltweit. Die deutschen Importe aus den USA haben sich auch um 20 Prozent auf 29 Milliarden Euro erhöht. Wir haben über kein Freihandelsabkommen jemals so große Diskussionen gehabt wie jetzt über das geplante Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Woran liegt das? Das hat vielschichtige Gründe. Ich will einen nennen, den wir gemeinsam bearbeiten können. Das Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika ist nicht nur ein Handelsabkommen im klassischen Sinne, bei dem es um Zölle geht, sondern es geht im weitaus größeren Maße als bei jedem anderen Freihandelsabkommen auch um Standards. Denn wir haben erkannt, dass wir für gleichwertige Sicherheitsanforderungen, um ihnen zu genügen, deshalb sehr viel Geld ausgeben, weil Normen und Standards unterschiedlich sind. Das betrifft den Bereich der technischen Standards – ich glaube, dieser Bereich ist noch am einfachsten zu bewältigen –, das betrifft aber etwa auch den Bereich der Umwelt- und der Verbraucherschutzstandards. Hier wird es kritisch. Vielleicht ist es auch normal, dass es hier kritisch wird, weil Umweltschutzverbände und Verbraucherschutzverbände natürlich sagen: Passt einmal auf, die klassischen Handelspolitiker mögen sich zwar mit Zollsenkungen auskennen; aber was verstehen sie von unserem Umweltschutz und von unserem Verbraucherschutz? Daher ist es erst einmal wichtig, dass wir sagen: Nichts von den Standards, die es heute in Amerika gibt, und nichts von den Standards, die es heute in Europa gibt, wird abgesenkt. Wir haben in den letzten Tagen schmerzhaft erfahren, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika die Abgasstandards für die Automobilindustrie offensichtlich auch nicht ganz unambitioniert sind. Das muss man den Deutschen auch immer wieder sagen. Da wird das Chlorhühnchen hervorgezerrt und dann wird irgendetwas gesagt. Deshalb müssen wir diese Diskussion führen und sagen: Wenn wir, die Europäische Union, als ein Hochstandardkontinent im weltweiten Wettbewerb mithalten wollen – es gibt zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Europa ein Abkommen, das auf solche Standards Rücksicht nimmt und uns damit Wettbewerbsnachteile im internationalen Handel nimmt, weil sie verbindlich werden –, dann setzen wir doch zwischen den zwei größten Handelsräumen der Welt die besten Maßstäbe, die auch auf Handelsabkommen mit anderen Teilen der Welt nicht ohne Auswirkungen sein werden, wo es viel geringere Sozial-, Verbraucherschutz- und Umweltstandards gibt. Das muss meiner Meinung nach die Argumentation sein, die wir zuzüglich zu der Argumentation anwenden, dass inzwischen das transpazifische Abkommen geschlossen wurde, weshalb im asiatischen Bereich Freihandel wirklich Triumphe feiern kann. Wenn man sich einmal die Aktivitäten Chinas anschaut, dann weiß man, wohin die Reise geht. China hat immerhin schon mit der Schweiz ein Freihandelsabkommen geschlossen. Die Europäische Union aber ist noch weit davon entfernt. Meine Damen und Herren, wir sind uns hier ja einig: Wir müssen diese Diskussion sehr offensiv führen, weil die öffentliche Wahrnehmung zum Teil konträr zur Realität ist. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass dieses Abkommen richtig ist. Ich weiß, dass es in unserem Interesse ist, das voranzutreiben. Zu warten, dass die Vereinigten Staaten von Amerika uns nachlaufen und uns darum bitten, wird nicht reichen. Wir müssen vielmehr aktiv in diesen Verhandlungen sein; und das werden wir auch sein. Meine Damen und Herren, wir wissen, dass die Wirtschaft eine verlässliche Stütze dessen ist, was uns in der Politik erlaubt, im sozialen Bereich, im Innovationsbereich, im Infrastrukturbereich und in anderen gesellschaftlichen Bereichen einiges zu ermöglichen. Wenn keine Steuereinnahmen fließen, wenn keine Arbeitsplätze geschaffen werden, dann wären viele Projekte, die es gibt, nicht möglich gewesen. Auch in der aktuellen Flüchtlingskrise können wir unsere Aufgaben deswegen schultern – im Übrigen nach den jetzigen Planungen mit einem ausgeglichenen Haushalt 2016 –, weil wir eine starke Wirtschaft haben und weil es auch eine starke Binnennachfrage gibt. Bei all diesen Dingen kann man lange darüber reden, ob die Balance richtig gewahrt ist. Aber daran hat die Politik manchmal auch ein bisschen Anteil. Aber wir müssen aufpassen, dass wir Weichen nicht falsch stellen. Eine dieser Weichen, die psychologisch von großer Bedeutung ist, ist die Erbschaftsteuer. Hier ringen wir immer noch um eine vernünftige Lösung. Die Vorgaben durch das Bundesverfassungsgericht kann die Bundesregierung nicht außer Kraft setzen. Deshalb werden wir auch weiterhin die Diskussion mit Ihnen führen, um eine akzeptable Lösung zu erreichen. Besser als der Ist-Zustand kann es, glaube ich, kaum werden. Aber wir müssen verhindern, dass Mittelständler und Familienunternehmen demotiviert werden, was den Standort Deutschland angeht. Wir sind uns in vielen Diskussionen einig. Ich bedanke mich für die Bereitschaft, gerade auch in Sachen Integration von Flüchtlingen in die Berufswelt einen Beitrag zu leisten, wissend, dass Sprachkurse und andere Voraussetzungen auch durch politische Rahmenbedingungen ermöglicht werden müssen. Wir werden insbesondere im Bereich der Innovation, wozu ich heute nicht so viel sagen konnte, eng zusammenarbeiten und tun dies auch im Innovationsdialog. Wir werden auf dem Themenfeld „Was bedeutet Industrie 4.0 für die Arbeitsrechtssetzung?“ noch viel Arbeit vor uns haben. Ich merke, dass auch die Gewerkschaften sehr intensiv darüber reden. Vielleicht kann auch gerade die Partnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern einen wegweisenden Beitrag liefern. Alles, was Sie miteinander ausmachen, brauchen wir nicht mehr gesetzlich zu regeln. Das ist meistens dann auch ganz gut. (Heiterkeit) – Nun lobe ich mal; und dann ist es auch wieder nicht recht. Was natürlich hinderlich ist – das wird uns gerade im Hinblick auf Arbeitsplätze bei Startups noch sehr beschäftigen –, ist, dass die Tarifbindung längst nicht mehr so hoch ist, wie sie es einmal war. Wie wir damit umgehen und wie wir in dieser Hinsicht vielleicht noch etwas machen können, müssen wir auch miteinander bereden. Lange Rede, kurzer Sinn: Es liegt viel Arbeit vor uns – viele nicht nur kleinere Punkte, sondern viele Aufgaben, die über die Zukunft Deutschlands, die Zukunft Europas und die Rolle Europas in der Welt entscheiden werden. Wir haben in den letzten Jahren gesehen, dass wir von Krise zu Krise gegangen sind. Europa hat noch nicht den Zustand erreicht, in dem wir sagen können: Wir können uns ruhig schlafen legen, brauchen nichts mehr zu tun; dieses Europa wird sich schon gut weiterentwickeln. Nein, gefordert sind viel Arbeit, viel Kreativität, viel Mut zur Veränderung. Ich danke Ihnen, dass Sie dabei mitmachen. Herzlichen Dank.
Monika Grütters Laudatio auf Daniel Barenboim anlässlich der Verleihung der „Goldenen Victoria“ für sein Lebenswerk
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/monika-gruetters-laudatio-auf-daniel-barenboim-anlaesslich-der-verleihung-der-goldenen-victoria-fuer-sein-lebenswerk-803530
Mon, 02 Nov 2015 19:07:27 +0100
Kulturstaatsministerin
-Es gilt das gesprochene Wort.- Anrede, Zwischen der ehrenvollen Aufgabe, Sie für Ihr Lebenswerk mit rhetorischen Lorbeeren zu bekränzen, und der ernüchternden Vorgabe, dabei keinesfalls eine „Netto-Redezeit“ von vier Minuten zu überschreiten, besteht ein offensichtlicher Widerspruch. Ihre künstlerische und politische Lebensleistung auf die Dauer einer Chopin-Etüde verdichten zu wollen, das scheint unmöglich – so unmöglich, wie die gleichzeitige israelische und palästinensische Staatsbürgerschaft, so unmöglich wie Verständigung und Versöhnung durch Musik, so unmöglich wie ein Orchester mit jüdischen, christlichen und muslimischen Musikern – so unmöglich also wie so vieles, was Ihr Leben ausmacht und womit Sie menschliches Zusammenleben prägen. „Das Unmögliche ist leichter als das Schwierige, denn an das Unmögliche sind keine Erwartungen geknüpft“, haben Sie einmal gesagt. Das ist ein Thema, das sich durch Ihr Lebenswerk zieht wie das Schicksalsmotiv durch Beethovens 5. Sinfonie: das Unmögliche möglich zu machen, das Mögliche wirklich werden zu lassen. Weniger wohlhabende, weniger gebildete, sozial benachteiligte Menschen interessieren sich nicht für klassische Musik? Mit Ihrer „Staatsoper für alle“ begeistern Sie Menschen, die man üblicherweise nicht in Opern- und Konzerthäusern sieht, und zeigen: Musik ist eine Sprache des Herzens, die jede und jeder versteht. Im Nahost-Konflikt gibt es keine Hoffnung auf Verständigung und Versöhnung? In Ihrem West-Östlichen-Divan-Orchester sitzen Israelis neben Arabern, Moslems neben Juden und Christen; sie begegnen einander im Lauschen auf andere Stimmen, auf Takt und Tonart, auf laut und leise, und finden in der Musik eine gemeinsame Sprache. Ein friedliches, von gegenseitigem Respekt geprägtes Zusammenleben der Kulturen ist utopisch? In der gerade entstehenden Barenboim-Said-Akademie, der künftigen Heimstatt des West-Östlichen-Divan-Orchesters, werden in nicht allzu ferner Zukunft 100 Stipendiaten aus den Konfliktregionen des Nahen Ostens zu Hoffnungsträgern eben dieser Utopie. Ich freue mich, dass mein Haus den Bau unterstützt. Und es ist meine feste Absicht, dieses große völkerverbindende Vorhaben ab 2017 auch dauerhaft zu fördern. Das sind nur drei Variationen Ihres großen Lebensthemas, lieber Daniel Barenboim, mit dem Sie sich – über Ihren Ruf als Jahrhundertmusiker hinaus – international höchste Wertschätzung als Wegbereiter des Unmöglichen erworben haben. Sie bringen mit Mut, Ausdauer und Leidenschaft die Grenzen überwindende, friedensstiftende Kraft der Musik zur Entfaltung – eine Kraft, die wir in Deutschland angesichts der vielen Menschen, die Zuflucht suchen vor Krieg und Verfolgung, künftig dringender brauchen werden denn je! Ihr Vorbild macht Mut, dass auch Unmögliches zu schaffen ist! Meine herzlichen Glückwünsche zur „Goldenen Victoria“ für Ihr Lebenswerk!
Im Rahmen der Publishers‘ Night des VDZ–Verband Deutscher Zeitschriftenverleger betonte Kulturstaatsministerin Grütters: „Sie bringen mit Mut, Ausdauer und Leidenschaft die Grenzen überwindende, friedensstiftende Kraft der Musik zur Entfaltung – eine Kraft, die wir in Deutschland angesichts der vielen Menschen, die Zuflucht suchen vor Krieg und Verfolgung, künftig dringender brauchen werden denn je!“.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Publishers‘ Summit des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) am 2. November 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-publishers-summit-des-verbands-deutscher-zeitschriftenverleger-vdz-am-2-november-2015-390088
Mon, 02 Nov 2015 11:15:00 +0100
Berlin
Sehr geehrter Herr Professor Burda, sehr geehrter Herr Scherzer, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, meine Damen und Herren, ja, vor 20 Jahren war all das für manche noch nicht so absehbar. Aber Sie haben, Herr Burda – das darf ich sagen –, von Anfang an auf die revolutionäre Veränderung hingewiesen und immer wieder gesagt: Die Digitalisierung wird unsere Welt so verändern, wie Gutenberg das mit seinem Buchdruck gemacht hat. In der heutigen Bundesregierung ist das auch angekommen. Unsere Digitale Agenda spricht dafür. Aber zuerst möchte ich mich für die Einladung bedanken. Verlagsunternehmen sind natürlich darauf angewiesen, dass die wirtschaftlichen Kriterien stimmen. Wirtschaftlicher Erfolg ist notwendig. Aber es geht auch um etwas, das eigentlich jeden Bürger angeht. Sie haben gesagt, 95 bis 97 Prozent der Menschen in Deutschland haben Kontakt mit Zeitschriften. Deshalb ist die Frage der verlegerischen Vielfalt und der Unabhängigkeit des Journalismus eine zentrale. Sie sind diejenigen, die Informationen für jedermann und jede Frau gewährleisten. Sie weiten den Horizont. Sie helfen Menschen, mündige Bürger zu sein. Die wesentliche Voraussetzung dafür ist die Pressefreiheit. Deshalb gehören Demokratie und freie Medien unabdingbar zusammen. Freie Medien sind ohne eine funktionierende demokratische Staats- und Gesellschaftsordnung, die dazu den Rahmen bietet, undenkbar. Deshalb freue ich mich, dass auf Ihrer diesjährigen Tagung dem Grundrecht der Pressefreiheit und damit auch der Meinungsfreiheit besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Wir haben in Deutschland Zeiten ohne freie Presse erlebt. Sie tagen hier in einem Gebäude, das vor dem Fall der Mauer auf der Seite Ostberlins stand. Ich weiß noch sehr gut, wie Zeitungen mehr oder weniger zum Sprachrohr einer Partei verkommen sind. Man hat aber auch gelernt, manches zwischen den Zeilen zu lesen. Dies ist bei den heutigen Zeitschriften nicht mehr so notwendig. Da bekommt man meist schon in der Überschrift fettgedruckt mitgeteilt, was man verstehen soll. Aber auch da lohnt es sich manchmal, zwischen den Zeilen zu lesen, doch das ist nicht mehr ganz so überlebenswichtig. Die Bundesrepublik Deutschland konnte sich glücklich schätzen, dass die nationalsozialistische Propaganda den Müttern und Vätern des Grundgesetzes eine überdeutliche Lehre war, den Missbrauch der Presse durch verfassungsrechtliche Absicherung der Medienfreiheiten zu verhindern. Und auch im wiedervereinten Deutschland haben wir jetzt 25 Jahre unabhängigen Journalismus und mediale Vielfalt. Ich glaube, wir können diesen Wert gar nicht hoch genug schätzen. Denn wenn wir in die Welt schauen, stellen wir fest, dass Pressefreiheit trotz Digitalisierung alles andere als selbstverständlich ist. Sie werden heute Daniel Barenboim ehren und ihm die Goldene Victoria für sein Lebenswerk verleihen. – Ich freue mich auch, dass der Botschafter des Staates Israel hier ist. – Barenboim hat kürzlich in einem Presseartikel geschrieben: „Freiheit ist kein Privileg, sondern ein Grundrecht aller Menschen.“ Das gilt natürlich auch für die Pressefreiheit. Sie fehlt aber in vielen Staaten bzw. steht in vielen Staaten nur auf dem Papier, sodass von unabhängigem Journalismus keine Rede sein kann. Das fängt damit an, dass Recherchen nur unter staatlicher Beobachtung möglich sind oder Interviewpartner und Informationsquellen Einschüchterungen ausgesetzt sind. Im Extremfall werden Journalisten verfolgt, eingesperrt und sogar getötet. Deshalb möchte ich an diesem Tag einfach auch allen danke sagen, die zum Inhalt Ihrer Zeitschriften beitragen und sich oft auch sehr schwierigen Situationen aussetzen, wie wir sie heute in unserem Land glücklicherweise nicht haben. Die Erfahrung zum Beispiel in der DDR oder auch in den Staaten hinter dem Eisernen Vorhang insgesamt war: Auf Dauer lässt sich das freie Wort nicht unterdrücken. Das ist nie vollends gelungen und gelingt heute angesichts der digitalen Möglichkeiten noch viel weniger. Deshalb freue ich mich, dass der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger in diesem Jahr ein besonderes Zeichen für die freie Berichterstattung setzt, indem erstmals auch eine Goldene Victoria für Pressefreiheit verliehen wird. Die Auszeichnung geht an zwei Journalistinnen und einen Journalisten, die trotz allen Drucks und aller Drohungen immer an ihren Themen dranbleiben. Ihre persönlichen Geschichten, ihre Arbeiten mögen verschieden sein, aber aus ihnen spricht eine Botschaft des Mutes und der Hoffnung: Pressefreiheit bahnt sich immer wieder einen Weg; es finden sich immer wieder mutige Menschen, die sich nicht einschüchtern lassen. Deshalb will ich nochmals betonen: Pressefreiheit und Medienvielfalt sind ein Wert an sich. Das ist auch kein Widerspruch zu dem, was ich am Anfang sagte, dass nämlich Pressearbeit bzw. journalistische Arbeit auch wirtschaftlich erfolgreich sein muss. Dazu gehören wiederum vernünftige Rahmenbedingungen, damit sich neben großen Verlagen auch kleine behaupten können. Es sind ja auch viele kleinere Verlage, die zur Medienvielfalt beitragen und die Medienlandschaft bereichern. Ich weiß, dass das Anzeigengeschäft nach wie vor eine große Rolle spielt. Werbung ist eine zentrale Quelle für Einnahmen. Das ist nicht nur für Zeitschriftenverlage so. Es gibt auch einen Wettbewerb zwischen ihnen, Fernsehsendern und Anbietern im Internet. Ich vermute, dass sich dieser Wettbewerb weiter verschärfen wird. Deshalb sind Kooperationen bei der Anzeigenwerbung und deren kartellrechtliche Erleichterung wichtige Themen für die Presseverlage. Wir prüfen als Bundesregierung derzeit, wie wir eine entsprechende Regelung am besten umsetzen können. Wir stoßen dabei aber auch auf europarechtliche Beschränkungen. An dieser Stelle will ich zum Wettbewerbsrecht in Europa insgesamt sagen: Sie haben recht; die Fragen der Reichweite des Bereichs sind wirklich notwendig. Wir haben es jetzt erreicht, dass sie überprüft werden. Wir haben nach langen Debatten in vielerlei Kontexten erreicht, dass die Europäische Kommission eine Studie darüber macht. Die Studie bietet dann vielleicht die Möglichkeit, entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen. Wir machen jedenfalls an dieser Stelle schon seit längerem Druck – und das nicht nur im Hinblick auf Presseverlage, sondern auch auf das Wettbewerbsrecht in Europa insgesamt und im Hinblick auf die Globalisierung. Wir haben auch bei Telekommunikationsunternehmen erhebliche Komplikationen, wie man feststellen kann, wenn man sich die Wettbewerbssituation anderswo anschaut. Die Vielfalt in Europa muss nicht immer ein Wert an sich sein, wenn man sich im globalen Wettbewerb durchsetzen will. Da ist aus unserer Sicht noch einiges zu tun. Und wir versuchen, das in Brüssel deutlich zu machen. Europarechtliche Beschränkungen – damit bin ich auch schon beim Thema Datenschutz. Hierbei gilt es eine grundlegende Abwägung vorzunehmen. Sie brauchen hinreichend Freiheiten, um neue Daten, um neue Möglichkeiten des Datenmanagements, des Big Data Minings oder auch die Cloud für Ihre Geschäftsmodelle zu nutzen. Ich glaube, das ist eine bis jetzt, jedenfalls in Deutschland, noch nicht richtig erkannte Form der Wertschöpfung. Daten sind Rohstoffe des 21. Jahrhunderts. Die Art der Verknüpfung und der Entstehung von neuen Produkten wird unsere Welt erheblich verändern. Wir haben auf der einen Seite Produkte, die aus anonymisierten Daten gewonnen werden können. Das funktioniert in Europa einigermaßen. Doch auf der anderen Seite, wenn es um individualisierte Daten geht, wird es recht schwierig. Aber die Menschen werden in Zukunft auch individualisierte Produkte, gleichzeitig aber natürlich auch einen Schutz ihrer Privatsphäre haben wollen. Und das wird uns noch vor viele Abwägungen stellen. Balance von Sicherheit und Freiheit im Netz – dabei stellt sich die Frage eines einheitlichen europäischen Datenschutzrechts. Wir kennen diese Frage aus der Debatte über die EU-Datenschutz-Grundverordnung, die die Innen- und Justizminister verabschiedet haben. Ich glaube, dass diese Datenschutz-Grundverordnung, so wie sie sich nach Kommissions- und Ratsberatung darstellt, relativ ausgewogen ist. Wir haben jetzt aber einen Trilog mit dem Europäischen Parlament, bei dem wir aufpassen müssen, dass der Datenschutz nicht die Oberhand über die wirtschaftliche Verarbeitung der Daten gewinnt. Alles, womit Sie uns dabei unterstützen können, nehmen wir gern auf. Wir brauchen einen Kompromiss. Die Entscheidung ist jetzt sozusagen in der heißen Phase, hat aber den Vorteil – Stichwort Grundverordnung –, dass wir dann unmittelbar geltendes Recht für ganz Europa haben. Das heißt, wir haben keine schwierige Umsetzungsphase von Richtlinien in nationales Recht, sondern einen einheitlichen Geltungszeitpunkt. Auf dem Weg zu einem modernen Rechtsrahmen gibt es die verschiedensten Anliegen. Sie haben berechtigte Geschäftsinteressen, aber es geht immer auch um Kompromisse. Da ist zum Beispiel das Thema Direktmarketing. Die Regeln im Direktmarketing sahen im ursprünglichen Kommissionsentwurf noch deutlich anders aus. Die Presseverleger haben sich sehr für Verbesserungen eingesetzt. Wir glauben, dass auch einige erreicht wurden. Ähnliches gilt für die Verkehrsdatenspeicherung. Da sind Sie allerdings nicht so sehr daran interessiert, dass möglichst viele Verkehrsdaten gespeichert werden. Das wird insbesondere von Journalisten argwöhnisch betrachtet. Das verstehe ich auch. Aber ich will noch einmal darauf hinweisen, dass das vom Bundestag im Oktober verabschiedete Gesetz aus Sicht der Bundesregierung extrem enge Grenzen für die Speicherung von Daten steckt. Das Recht auf unbeobachtete Kommunikation ist und bleibt erhalten. Die jeweiligen Telekommunikationsunternehmen erfassen die Daten. Und wenn jemand an sie herankommen möchte – also Strafverfolgungsbehörden –, wird jeweils ein richterlicher Beschluss benötigt, in dessen Rahmen der besondere Schutz bestimmter Berufsgruppen – darunter auch der Schutz der Journalisten – zu berücksichtigen ist. Im Übrigen sind die Speicherungsfristen sehr kurz. Ich glaube, das ist vertretbar. Der Richtervorbehalt macht nochmals deutlich, dass in dem sensiblen Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit die Balance gewahrt wird und die berechtigten Interessen unabhängiger Medien angemessen berücksichtigt werden. Digitale Technologien verändern die Kommunikation extrem. Wir müssen als funktionsfähiger Staat natürlich darauf reagieren. Deshalb müssen wir faire Wettbewerbschancen für alle Medienanbieter bieten. Es ist in einem Land, in dem sowohl Bund als auch Länder entscheiden, und wenn dann noch eine europäische Entscheidungsebene besteht, natürlich nicht ganz einfach, alles auf neue Füße zu stellen. Aber ich glaube, es ist richtig, dass Bund und Länder die Kommission zur Medienkonvergenz eingerichtet haben. Ihr Verband bringt da seine Stellungnahmen aktiv ein. Wir wollen mit dieser Kommission erreichen, dass der Weg für eine zeitgemäße Änderung der Medienordnung bereitet wird. Wie schon angedeutet: Die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern sind unterschiedlich. Das interessiert Sie nicht; Sie wollen einen ordentlichen Rahmen haben. Aber uns als Bundesregierung muss das natürlich interessieren. Deshalb ist diese Bund-Länder-Kommission auch die richtige Stelle und das richtige Format, um das zu erreichen. Fragen gibt es ausreichend: Wie passen Medienaufsicht und Kartellrecht zusammen? Wie wird mit Plattformen und Intermediären umgegangen? Wie stellen wir uns die Überarbeitung der EU-Richtlinie zu audiovisuellen Mediendiensten vor? Das deutet schon an: Die Konvergenz der Medien und das sich ändernde Nutzungsverhalten stellen auch das Verhältnis zwischen Rundfunk und Presseanbietern neu auf den Prüfstand. Dabei habe ich noch gar nicht davon gesprochen, dass wir öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk haben, die ja wiederum mit unterschiedlichen Interessen an die Sache herangehen. Alle haben auf den digitalen Wandel reagiert. Sie als Presseverleger haben genauso wie die Rundfunkanstalten Online-Angebote entwickelt. Sie stellen Anwendungen für die mobile Nutzung bereit. Es war ganz interessant, was heute über Videos in Zeitschriftenangeboten zu erfahren war. Man ist ja schon fast richtig enttäuscht, wenn man Online-Angebote von Zeitschriften hat, aber nicht dauernd auch ein kleines Filmchen sehen kann. Man merkt ja an sich selbst, wie sich die mediale Kommunikation verändert. Die neuen Geschäftsfelder sind natürlich längst etabliert. Wir haben heute die Wahl, Zeitungen oder Zeitschriften auf dem Tablet zu lesen, in der gedruckten Ausgabe oder manchmal in beiden Varianten. Damit komme ich zu den Mehrwertsteuersätzen. Es ist relativ schwer verständlich, warum für Bücher oder Zeitschriften als Printausgaben der ermäßigte Mehrwertsteuersatz, für E-Books und E-Paper der volle Mehrwertsteuersatz gilt. Der Gedanke der umsatzsteuerlichen Begünstigung von gedruckten Presseerzeugnissen ist natürlich der, Kulturgüter zu schützen und auf diese Weise die Zugangsschwelle für Nutzer so niedrig wie möglich zu halten. Aber ich glaube, es kann nicht das entscheidende Kriterium sein, ob ein Text oder ein Bild auf Papier gedruckt ist oder ob es elektronisch zu sehen ist, sondern entscheidend muss der Qualitätsstandard der Inhalte sein. Deshalb glauben wir, dass sowohl auf elektronische als auch auf herkömmliche Presseerzeugnisse der ermäßigte Mehrwertsteuersatz anzuwenden ist. Dazu müssen wir das europäische Steuerrecht ändern, was in Europa immer sehr schwierig ist, weil Steuerrecht nur einstimmig geändert werden kann. Aber wir werben für eine einheitliche Besteuerung. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist bereit, diesen Weg einzuschlagen, und hat einen entsprechenden Richtlinienvorschlag angekündigt. Wir sind nicht allein, sondern eine ganze Reihe an Mitgliedstaaten ist auch unserer Meinung. Aber wir müssen noch große Überzeugungsarbeit leisten. Und ich bitte Sie hier einfach, dabei mitzumachen. Nun geht es nicht nur um finanzielle Faktoren, sondern auch um die Verbreitung und damit die Auffindbarkeit von Inhalten. Die Aufmerksamkeit des Internetnutzers ist für bestimmte Medien fast eine Überlebensfrage. Da nun das Verhalten der Nutzer auch sehr an die großen Suchmaschinen gebunden ist, stellt sich natürlich die Frage: Wie wird dort die Auffindbarkeit der Medien sichergestellt? Von der Position unter den Treffern, die die Suchmaschine erbringt, hängt extrem viel ab. Es muss verhindert werden, dass marktstarke Suchmaschinenanbieter ihre dominierende Stellung ausnutzen, indem sie eigene Inhalte besser platzieren als die der anderen. Deshalb bin ich der EU-Kommission dankbar dafür, dass unabhängig geprüft wird, wie die Praktiken im Kartellverfahren konsequenter als bisher berücksichtigt werden können. Das ist auch ein sehr emotionalisiertes Terrain, aber ich glaube, die Kommission macht das mit großer Ruhe und Sachlichkeit. Und das halte ich auch für richtig. Damit bin ich nicht mehr weit entfernt vom Urheberrecht. Da wünschen Sie sich natürlich eine größere Dynamik, wenn es darum geht, das Urheberrecht an die digitale Entwicklung anzupassen. Sie, Herr Burda, haben gesagt, mit Kommissar Oettinger haben wir für all die Bereiche, die ich genannt habe, einen sehr kundigen und engagierten Ansprechpartner. Jean-Claude Juncker liebt es nicht, wenn ich von „unserem deutschen Kommissar“ spreche, sondern er möchte, dass sich alle Kommissare für alle verantwortlich fühlen und nicht nur für ein Land. Aber: Günther Oettinger macht das prima. Beim Urheberrecht zeichnen sich im Augenblick nur kleinere Schritte ab, aber es gibt eine Einigkeit darüber, dass die Richtlinie zum Urheberrecht auf den Prüfstand gehört. Es laufen drei wichtige Konsultationsprozesse: zur Satelliten- und Kabelrichtlinie, zum Geoblocking und zur Arbeit von Online-Plattformen. Diese drei Prozesse sollen dazu dienen, den Weg für gesetzgeberische Schritte hin zum geplanten digitalen Binnenmarkt in der Europäischen Union zu ebnen. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die Zeit drängt. Die Kommission hat ihre Arbeitsplanung jetzt auch ambitionierter gestaltet. Das Jahr 2016 wird ein entscheidendes sein. Wir haben auch sehr gut, wie ich glaube, die Kommission und den European Round Table, also wichtige europäische Unternehmen, zusammengebracht. Dazu hat erst kürzlich wieder eine Tagung in Paris stattgefunden. Es war bereits die vierte. Diese Kongresse, an denen auch der Kommissionspräsident teilnimmt, führen wir immer wechselseitig in Paris und Berlin durch. Wir brauchen eine bessere Entscheidungsgrundlage für unsere Regulierungsvorhaben. Wir müssen eben ein einheitliches Rechtsverständnis in Europa bekommen, sonst werden wir die Vorteile des digitalen Binnenmarkts nicht ausreichend nutzen können oder im globalen Markt sogar untergehen. Die Harmonisierung des Urheberrechts wird aber Zeit brauchen – das wissen Sie selbst –, weil die Interessen sehr, sehr unterschiedlich sind. Es wird nicht mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt, sondern alle Mitgliedstaaten müssen gleichermaßen zustimmen. Deshalb ist unser Ansatz als Bundesregierung richtig, die Urheberrechtsfrage zu einer wissenschaftlichen Frage zu machen und wissenschaftlich fundierte Wege aufzuzeigen, um möglichst viel Sachlichkeit in die gesamte Debatte hineinzubringen. Auf nationaler Ebene haben wir zwei Reformprojekte beim Urheberrecht. Auch unsere nationale Debatte ist alles andere als einfach, wenn ich das einmal vorsichtig sagen darf. Es liegt erstens ein Vorschlag zur Reform des Rechts der Verwertungsgesellschaften vor. Ich gehe davon aus, dass wir darüber bald im Kabinett entscheiden werden. Wir wollen natürlich, dass mit der Umsetzung der betreffenden EU-Richtlinie die deutschen Verwertungsgesellschaften auch weiterhin ihrem Kultur- und Sozialauftrag gerecht werden können. Das zweite Projekt betrifft das Urhebervertragsrecht. Auch da gibt es einen ersten Entwurf. Die Abstimmung innerhalb der Bundesregierung läuft. Mit den Ländern und Verbänden sind wir auch im Gespräch. Hierbei geht es darum, die Position der Urheber zu verbessern. Professionelle kreative Leistungen sollen angemessen vergütet werden. – Dazu gibt es auch die Allianz für die Inhalte, die Content Allianz. – Das haben wir schon einmal bei der Reform des Urhebervertragsrechts von 2002 versucht. Aber das Rad hat sich weitergedreht. Die digitalen Technologien haben viele neue Wege eröffnet, auf denen Inhalte zum Nutzer kommen, weshalb wir eine neue Reform brauchen. Nun stellt sich die Frage: Wie soll vor diesem Hintergrund die Vergütung zum Beispiel für ein und denselben Artikel gestaltet werden? Einheitlich oder gesondert je nach Print-Ausgabe und Online-Ausgabe? Nun wäre es schön, Sie würden alle das Gleiche sagen, soweit Sie im journalistischen Bereich tätig sind. Aber da scheiden sich die Geister; es gibt Gesprächsbedarf. Aber ich bitte Sie: Wir dürfen das übergeordnete Ziel nicht aus den Augen verlieren. Qualität und Vielfalt in unserer Kultur- und Medienlandschaft sollten uns leiten. An dieser Stelle will ich zum Level Playing Field mit den Vereinigten Staaten von Amerika und auch zur Frage Safe Harbor noch etwas sagen. Politiker haben Gerichtsurteile zwar nicht zu kommentieren. Das Safe-Harbor-Urteil des Europäischen Gerichtshofs wirft dennoch eine Vielzahl von Fragen auf und ist nicht gerade ein unmittelbarer Beitrag zur Vereinheitlichung des Level Playing Field. Wir haben jetzt relativ viel Unsicherheit für viele Unternehmen – also auch außerhalb des Journalismus – dadurch, dass keinerlei Übergangsfristen gesetzt wurden. Die Kommission verhandelt aber mit Hochdruck und will innerhalb von drei Monaten einen Vorschlag unterbreiten. Aber an dieser Stelle zeigen sich natürlich wieder die sehr unterschiedlichen Herangehensweisen auf Seiten Europas und der Vereinigten Staaten von Amerika. In Amerika gibt es die Tendenz: Was nicht verboten ist, ist erlaubt. Bei uns ist die Tendenz eher genau umgekehrt: Was nicht erlaubt ist, ist eher verboten. Hieraus ein gemeinsames Level Playing Field zu machen ist nicht ganz trivial, weil die Urimpulse unterschiedlich sind. Deshalb werden wir für ein Level Playing Field im transatlantischen Bereich sicherlich noch viele, viele Regelungen in Europa brauchen. Aber umso wichtiger ist es, dass wir die notwendigen Freiräume im Verarbeiten von Daten schaffen – siehe Datenschutz-Grundverordnung. Letzter Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die geplante Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft. Dazu muss ich auch wieder sagen: Diese geht natürlich genau in die Richtung, dass wir ein Level Playing Field zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Europa erreichen wollen. Gleichzeitig stellt sich in Ihren Kreisen die Frage, was das auch für die Kulturfrage bedeutet. Das Besondere des geplanten Handelsabkommens mit den Vereinigten Staaten von Amerika ist, dass die Zölle, die klassischen Inhalte von Freihandelsabkommen, eher eine untergeordnete Rolle spielen; sie sind auch nicht der Stein des Anstoßes. Die Diskussion dreht sich vielmehr um sogenannte nichttarifäre Handelshemmnisse, die unter anderem technische Standards berühren. Ich glaube, damit kommen wir noch gut zurande. Ob es nun um orange Leuchten oder gelbe Leuchten am Auto gehen mag – vieles muss doppelt gemacht werden; bezüglich dessen, was sicherer ist, kann man zumindest gegenseitige Anerkennung bekommen oder sich einigen, wie man gemeinschaftlich verfährt. Sehr wichtig für die Vermeidung nichttarifärer Handelshemmnisse sind neue Technologien, in denen noch gar keine Standards gesetzt worden sind – Beispiel Nanotechnologie. Da geht es darum, in Zukunft zu versuchen, in Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika gleich gemeinsame Standards zu setzen, sodass man nicht hinterher vor der Frage steht, wie man mit verschiedenen umgeht. Jetzt komme ich zu den sogenannten „weichen“ Bereichen wie Umweltschutz und Verbraucherschutz. Da gibt es große Sorgen, wie sich ein Abkommen darauf auswirken könnte. Müssen wir Abstriche von unserem bekannten Umwelt- und Verbraucherschutz machen? Dazu sage ich als Erstes: Nichts, was wir heute in Europa an Verbraucherschutz und Umweltschutz haben, wird abgesenkt. Zweitens: Wir haben am Beispiel von VW ungern gemerkt, dass die Abgasvorschriften in den Vereinigten Staaten von Amerika auch nicht so schlecht sind. Man hatte ja immer das sogenannte Chlorhühnchen als Symbol des amerikanischen Vorgehens. Das Chlorhühnchen ist raus. Es wird, wie gesagt, nichts in Europa erlaubt, was heute verboten ist. Natürlich ist das Neuland, da sich die klassischen Handelsexperten mit nichttarifären Handelshemmnissen noch nicht so viel beschäftigt haben. Aber ich sage Ihnen: Wenn Sie wollen, dass Sie ein Level Playing Field auch im Datenbereich bekommen – ich rede jetzt nicht über Kultur und Inhalte, sondern über den Datenbereich –, dann ist TTIP, ein Freihandelsabkommen, eher hilfreich, als dass es nicht hilfreich wäre. Zweitens ist die große Chance dieses Handelsabkommens, dass wir in den beiden größten Wirtschaftsräumen, die dann zusammen ein wirklich großer Wirtschaftsraum sind, Standards definieren können, an denen andere, die heute noch wenige Verbraucher- und Umweltschutzstandards kennen, nicht so einfach vorbeikommen werden. Das heißt, die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft kann dahingehend Geschichte schreiben, dass ein Abkommen nicht nur auf Zollabbau beruht, sondern auch die Frage sozialer Standards, Verbraucherstandards, Umweltstandards betrifft, was natürlich zu einer Verbesserung unserer Wettbewerbsfähigkeit führt, weil wir von all diesen Standards relativ viel haben, die auf den ersten Blick kostensteigernd wirken, aber ihre Wirkung auf der Zeitachse nachhaltig entfalten. Deshalb würden wir als Europäer einen Riesenfehler machen, wenn wir blockieren würden und hierzu nicht bereit wären. Ich erzähle das so umfassend, weil das vielleicht auch Ihr Interesse wecken könnte, in Ihren vielen Magazinen einmal Interessantes darüber zu schreiben – natürlich unter Berücksichtigung der journalistischen Freiheit. Die Bundesregierung hat vor wenigen Wochen ein Positionspapier veröffentlicht, mit dem wir unsere Haltung unterstreichen, dass das Freihandelsabkommen keinerlei Bestimmungen enthalten soll, die die Kultur- und Medienvielfalt bei uns beeinträchtigen. Die öffentliche Kulturförderung wird weiter möglich sein. Die Buchpreisbindung bleibt bestehen. Und unser gesetzgeberischer Spielraum in der Kultur- und Medienpolitik bleibt erhalten. Deshalb sollten wir das, was wir an Mehrwert haben, unter den gesetzten Rahmenbedingungen beachten und die Chancen nutzen, natürlich auch über die Risiken diskutieren, sie aber nicht gegenüber den Chancen unangemessen in den Vordergrund stellen. Bundeskanzler Adenauer sagte einmal: „Der Sinn des Staates muss sein, die schöpferischen Kräfte eines Volkes zu wecken, zusammenzuführen, zu pflegen und zu schützen.“ An diesem grundsätzlichen Anspruch hat sich für uns als gewachsene Kulturnation bis heute nichts geändert – unbeschadet der verschiedenen digitalen Technologien, mit denen wir heute arbeiten. Medien, Kunst und Kultur informieren, provozieren, inspirieren. Sie bringen uns zum Nachdenken. Auf diese geistigen und kreativen Impulse können und wollen wir nicht verzichten. Daher sieht sich die Bundesregierung in der Pflicht und in der Verantwortung, für gute Rahmenbedingungen zu sorgen, damit sich kreative Kräfte entfalten können, damit die Arbeiten der Kreativen Verbreitung und Anklang finden können. Ich habe versucht, Ihnen unsere medienpolitischen Aktivitäten in einigen Fragen nahezubringen. Ich hätte natürlich auch von den wunderbaren Inhalten schwärmen können, die in der Arbeit und Freizeit auch mich erfreuen, wenn ich eine Zeitschrift zur Hand nehme. Über Nichterfreuliches spreche ich lieber nicht. Jedenfalls nochmals ein Dankeschön dafür, dass Sie mich eingeladen haben. Wir bleiben in engem Kontakt, um den Wandel in diesen Zeiten richtig zu bewerkstelligen. Herzlichen Dank.
Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Eröffnung der Ausstellung „Einfühlung und Abstraktion. Die Moderne der Frauen in Deutschland“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-zur-eroeffnung-der-ausstellung-einfuehlung-und-abstraktion-die-moderne-der-frauen-in-deutschland–390490
Fri, 30 Oct 2015 19:35:23 +0100
Kunsthalle Bielefeld
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort. – Anrede, Es hätte ein gewaltiger Schub für die „Moderne der Frauen in Deutschland“ werden können: Als das Staatliche Bauhaus in Weimar 1919 seine Pforten öffnete, schrieben sich 84 Frauen und 79 Männer für ein Studium ein. Walter Gropius verkündete zunächst „absolute Gleichberechtigung“, aber schon bald bekamen die Bauhaus-Meister kalte Füße: Die große Anzahl von Frauen, fürchtete Gropius, könnte dem Ansehen des Bauhauses schaden. Gerhard Marcks, Formmeister der Töpferei, plädierte dafür, „möglichst keine Frauen in die Töpferei aufzunehmen, beides ihret- und der Werkstatt wegen“. Ähnlich besorgt gab man(n) sich in der grafischen Druckerei und in der Metallwerkstatt. Im Gegenzug wurde 1920 großzügigerweise die Weberei zur Frauenklasse erklärt, was den Maler Oskar Schlemmer, ebenfalls einer der Bauhaus-Pioniere (und auch in der Sammlung der Bielefelder Kunsthalle vertreten), gar zum Dichten veranlasste: „Wo Wolle ist, ist auch ein Weib, das webt, und sei es nur zum Zeitvertreib.“ Ironie der Bauhausgeschichte, dass ausgerechnet die Weberei – die Frauenklasse!- zu einer der künstlerisch produktivsten und auch noch kommerziell erfolgreichsten Werkstätten wurde … aber das nur nebenbei. Nein, meine Damen und Herren, in Sachen Geschlechtergerechtigkeit hat die Kunst ihrem Ruf und ihrem Selbstverständnis als gesellschaftliche Avantgarde bis heute leider wahrlich keine Ehre gemacht. Auf die sachlich durchaus berechtigte Frage, wie man überhaupt auf die Idee kommt, zwischen Kunst von Frauen und Kunst von Männern zu unterscheiden und ob das denn nun wirklich sein muss, eine Kunstausstellung ausschließlich mit Werken aus Frauenhand zu zeigen – auf diese Frage, die Sie bestimmt hier und da zu hören bekommen haben, lieber Friedrich Meschede, auf diese Frage kann man nur antworten: Ja, es muss sein! Nicht die Kunst – die Geschichte nötigt uns das auf. Es muss sein, weil Künstlerinnen, denen die verdiente Wertschätzung lange vorenthalten wurde, besondere Aufmerksamkeit verdienen, und weil auch die Kunstwelt das beherzte Eintreten für mehr Gleichberechtigung braucht – frei nach dem berühmten Protestplakat der Künstlerinnengruppe „Guerilla Girls“ („Müssen Frauen nackt sein, um ins Metropolitan Museum zu kommen?“): Nackt müssen Frauen nicht sein, um in die Bielefelder Kunsthalle zu kommen …- in ein Haus, dessen Strahlkraft nicht zuletzt wegen seiner exquisiten Sammlungsbestände und seiner innovativen Wechselausstellungen weit über Nordrhein-Westfalen hinaus reicht. Ehrensache also, dass ich heute mit dabei bin, um gemeinsam mit Ihnen die Ausstellung „Einfühlung und Abstraktion. Die Moderne der Frauen in Deutschland“ zu eröffnen! Vielen Dank für die Einladung! Schon zu Zeiten meines Studiums der Kunstgeschichte hatte ich ein Faible für die Bilder von Frauen, die nicht malen durften oder sollten und es trotzdem taten – Anna Dorothea Therbusch, Paula Modersohn-Becker und wie sie alle heißen. Umso mehr freut es mich, hier so viele großartige Malerinnen in einer Ausstellung vereint zu sehen! Die rund 150 Werke, die Sie, liebe Frau Dr. Hülsewig-Johnen, liebe Frau Dr. Mund, als Kuratorinnen so hervorragend ausgewählt und teils aus ihrem jahrzehntelangen Schattendasein ans Licht der Öffentlichkeit geholt haben, ergeben in ihrer Vielfalt ein bestechendes und für die Kunstgeschichte höchst aufschlussreiches Bild weiblichen Kunstschaffens im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert. Das ist umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass die Künstlerexistenz als weiblicher Lebensentwurf lange nicht nur nicht selbstverständlich, sondern kaum realisierbar war. Künstlerische Fähigkeiten wurden Frauen schlicht abgesprochen, von der künstlerischen Ausbildung waren sie ausgeschlossen – allein schon deshalb, weil es ihnen lange nicht erlaubt war, am für die großen Sujets so wesentlichen Aktstudium teilzunehmen. Wo es Frauen gelang, auf eigenen Gebieten zu reüssieren – etwa in der Portraitmalerei oder in der Landschaftsmalerei – bremsten gesellschaftliche Konventionen die weibliche Schaffenskraft. „Sie haben“, stellte der Kunsthistoriker Wilhelm Lübke 1862 mit Befriedigung fest, „sie haben über Pinsel und Palette nicht die Sorge für die Kinder und den Mann, über den Farbtöpfen nicht die Kochtöpfe […] vergessen […]. Solange sie so treffliche Töchter, Gattinnen und Mütter sind, mögen wir, dünkt mich, es leichter ertragen, wenn sie keine Raffaels und Michelangelos werden.“ Zum Glück für die Kunst gab es zu allen Zeiten Frauen, die sich nicht damit begnügten, „treffliche Töchter, Gattinnen und Mütter“ zu sein, und die den Mut hatten, ihren eigenen Stil zu finden statt Raffaels oder Michelangelos sein zu wollen! Es ist das besondere Verdienst dieser Ausstellung, solche Frauen und ihren immer noch unterschätzten Anteil an der Entstehung der Moderne hervor zu heben – und das nicht nur anhand lang bekannter Namen wie Käthe Kollwitz und Hannah Höch, sondern auch anhand von Namen, die nie bekannt waren oder längst vergessen sind und auch am Beispiel zeitgenössischer Künstlerinnen: Ich freue mich sehr, Leiko Ikemura, Karin Kneffel, Christa Näher und Sophie von Hellermann begrüßen zu können. Als Indiz dafür, dass die Anerkennung für weibliche und männliche Leistungen leider auch im Kunstbetrieb des 21. Jahrhunderts noch sehr ungleich verteilt ist, darf der Anteil der Bilder weiblicher Künstlerinnen in Museen, Sammlungen und Galerien gewertet werden. Hier heißt es für uns Frauen – wie auch in der Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Medien: hartnäckig bleiben! Dass es vereinzelt immer noch Männer gibt, die Frauen bescheinigen, nicht malen zu können, wie Georg Baselitz dies vor nicht allzu langer Zeit zum wiederholten Male zu Protokoll gab, sollte uns allerdings nicht weiter irritieren – sagt dies doch mehr über das Kunstverständnis eines Herrn Baselitz aus als über die Fähigkeiten von Künstlerinnen. Woran nämlich sieht man seiner Auffassung nach, dass Frauen nicht malen können? Nicht an ihren Bildern, nein! – am Preisschild. Unter den teuersten Künstler fänden sich ja kaum Frauen. Diese krude These wäre mir nicht weiter der Erwähnung wert, wenn eben dieses Argumentationsmuster – die Gleichsetzung von Wert und Preis eines Kunstwerks – nicht seit Wochen den Streit um ein Gesetz befeuern würde, das für uns alle wichtig ist: die Novellierung des Kulturgutschutzes. Lassen Sie mich kurz darauf eingehen; es gibt ja nur selten Gelegenheiten, Sie alle auf einmal zu erreichen – Künstlerinnen, Sammlerinnen und Sammler, Galeristinnen und Galeristen. Worum geht es? – Als Kulturstaatsministerin stehe ich in der Verantwortung, den quantitativ geringen, qualitativ aber umso bedeutenderen Teil unseres nationalen kulturellen Erbes, der für unsere kulturelle Identität emblematisch ist, vor Abwanderung ins Ausland zu schützen – so, wie es das Grundgesetz will und fordert. Wir reden hier über wenige, sehr wenige, besonders bedeutsame Kunstwerke, über Einzelstücke, die als national wertvoll einzuordnen sind, also über einen verschwindend kleinen Teil des riesigen Kunstmarktes – denken Sie beispielsweise an Holbeins Schutzmantelmadonna. Nur wenn ein Kunstwerk besonders bedeutsam und damit identitätsstiftend für das kulturelle Erbe Deutschlands ist und seine Abwanderung einen wesentlichen Verlust für den deutschen Kulturbesitz bedeuten würde, wenn also sein Verbleib im Bundesgebiet im qua definitionem „herausragenden kulturellen öffentlichen Interesse“ liegt, kann es national wertvoll sein. Um das festzulegen, bedarf es der Zustimmung (bisher nur Anhörung) eines mit Sachverständigen besetzten Gremiums in den Ländern, in dem wie bisher Museen, der Kunsthandel und auch Sammler vertreten sind. Die Möglichkeit der Eintragung eines Werks als national wertvolles Kulturgut ist geltendes Recht seit 1955 – hier ändert sich gar nichts. Um national wertvolle Einzelstücke zu schützen, braucht es Regeln – Ausfuhrregeln. Neu hinzu kommen soll allein die Pflicht, solche Ausfuhrgenehmigungen für den Verkauf ins außereuropäische Ausland – EU-weit gibt es solche Ausfuhrregeln seit 23 Jahren – künftig auch für den Verkauf innerhalb des EU-Binnenmarkts einzuholen. Konkret bedeutet das: Die EU-Vorgaben, denen Kunsthändler schon jetzt bei der Ausfuhr von Kulturgut nach New York oder Basel genügen müssen, gelten künftig auch für die Ausfuhr nach London oder Madrid. Um den Kunsthandel so wenig wie möglich zu belasten, ist in unserer deutschen Regelung die gesamte zeitgenössische Kunst überhaupt nicht betroffen. Kein Künstler, kein Eigentümer wird gegenüber der geltenden Rechtslage schlechter gestellt. Als Staatsministerin, aber auch und vor allem als Bürgerin unseres Landes ist mir der Schutz unseres gemeinsamen kulturellen Erbes wichtig, bin ich stolz auf die Leistungen der Künstlerinnen und Künstler, dankbar für die Zeugnisse unserer Geschichte, die sie uns hinterlassen haben – und ja: Beim Anblick einer Beethoven-Handschrift bekomme ich eine Gänsehaut, und eine Riemenschneider-Figur rührt mich auch mal zu Tränen. Auch Sie sind Bürgerinnen und Bürger dieser Kulturnation, viele von Ihnen haben sich in besonderer Weise um sie verdient gemacht und als Sammler ein enges Verhältnis zur Kunst gefunden. Wie wichtig das bürgerschaftliche, private Engagement für die Kunst ist und wie sehr die Kulturnation Deutschland vom Engagement privater Sammler und Mäzene profitiert, sehen wir ja gerade hier in Bielefeld: Den Bau der Kunsthalle hat Rudolf August Oetker initiiert und finanziert, zu den Trägern und Gesellschaftern der Kunsthalle gehört die Stiftung „Pro Bielefeld“, und beim Erwerb von Kunstwerken und bei Ausstellungsprojekten leistet ein hochrangig besetzter Förderkreis großartige Unterstützung. Dieses Engagement ist Ihr Ausdruck der hohen Wertschätzung für die Kunst. Deshalb hoffe ich auf Ihr Verständnis, wenn ich sage: Kunst ist keine Ware wie jede andere. Sie hat eben nicht nur einen Preis, sie hat für uns alle auch und vor allem einen hohen Wert. Wegen ihrer Bedeutung für unsere eigene, für unsere nationale Identität darf sie einerseits besondere Förderung des Staates, andererseits aber auch besonderen Schutz erwarten. Unterschiedliche Auffassungen, auch mal konkurrierende Interessen sollten dabei unter uns verhandelbar bleiben und miteinander lösbar sein, und eben deshalb habe ich in den vergangenen Wochen und Monaten unzählige Gespräche geführt, deren Ergebnisse in unsere Arbeit an der Gesetzesnovelle eingeflossen sind. Auch in Deutschland – die Hoffnung gebe ich noch nicht auf! – muss doch ein Einvernehmen möglich sein zwischen dem Gemeinwohl (dem Kulturgutschutz) und den Einzelinteressen des Handels. Bei den Regeln, die wir im Gesetz vorschlagen, orientieren wir uns an dem, was fast alle anderen europäischen Länder längst praktizieren – nur wesentlich großzügiger haben wir sie vorgesehen. Zurück zu den Malerinnen! Mag der Preis eines Kunstwerks auch nicht gleichzusetzen sein mit dem ideellen Wert, meine Damen und Herren: Mit Genugtuung darf uns Frauen freilich der Trend erfüllen, dass die Werke so mancher einst gut bezahlter Künstler heute in den Depots verstauben, während einst unter Wert gehandelte Künstlerinnen heute sehr hohe Preise erzielen. Anton von Werner beispielsweise war wie Georg Baselitz der Meinung, dass Frauen nicht malen können; 1904 verweigert er als Berliner Akademiedirektor 200 Künstlerinnen den Zugang zum Studium. Eine dieser Frauen war Käthe Kollwitz. Ein kleines Aquarell von ihr kostet heute zehnmal so viel wie ein großformatiges Ölbild von ihm – und wie gut, dass wir sie beide haben! Ihre Werke begeistern uns noch heute in Museen, sie hat sich ihren Platz in der Kunstgeschichte erobert – so wie viele andere Frauen, die wir in dieser großartigen Ausstellung in Bielefeld (neu) entdecken. Dafür will ich Ihnen die Worte der Künstlerin Paula Modersohn-Becker mitgeben: „In mir fühle ich es wie ein leises Gewebe, ein Vibrieren, ein Flügelschlagen, ein zitterndes Ausruhen, ein Atemanhalten: wenn ich einst malen kann, werde ich auch das malen“, notierte sie 1899 in einem Brief. Ich wünsche Ihnen, verehrte Damen und Herren, wenn Sie gleich durch die Ausstellung gehen, einen Sinn auch für solche Töne, für das „zitternde Ausruhen“, für das „Atemanhalten“! Viel Freude, viel Kunstgenuss beim Entdecken der „Moderne der Frauen in Deutschland“!
In ihrer Rede ging Monika Grütters unter anderem auf die Novelle des Kulturgutschutzgesetzes ein und beantwortete „die sachlich durchaus berechtigte Frage, wie man überhaupt auf die Idee kommt, zwischen Kunst von Frauen und Kunst von Männern zu unterscheiden und ob das denn nun wirklich sein muss, eine Kunstausstellung ausschließlich mit Werken aus Frauenhand zu zeigen“ mit „Ja, es muss sein! Nicht die Kunst – die Geschichte nötigt uns das auf“.
Ansprache von Bundeskanzlerin Merkel beim Festakt zum 30-jährigen Bestehen der deutsch-chinesischen Hochschulpartnerschaft am 30. Oktober 2015 an der Universität Hefei
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/ansprache-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-festakt-zum-30-jaehrigen-bestehen-der-deutsch-chinesischen-hochschulpartnerschaft-am-30-oktober-2015-an-der-universitaet-hefei-788260
Fri, 30 Oct 2015 11:00:00 +0100
Hefei
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Premierminister, lieber Ministerpräsident Li Keqiang, liebe Studierende, Professoren, Gäste der Hochschule, auch ich gratuliere erst einmal zum 30-jährigen Bestehen der Hochschulpartnerschaft und freue mich, hier mit dabei zu sein. Dass es eine so intensive Kooperation mit 17 Hochschulen in Deutschland gibt, ist eine wunderbare Sache. Ich wünsche natürlich auch alles Gute für die nächsten 30 Jahre. Ich glaube, unser Besuch findet zu einem sehr guten Zeitpunkt statt. Denn gestern haben wir im Rahmen unserer Aktivitätsplattform ein Abkommen unterzeichnet, das vorsieht, das Jahr 2016 zum Schüler-, Studenten- und Jugendaustauschjahr zwischen Deutschland und China zu machen. Heute sind wir bei einem solch guten Startprojekt. Ich unterstütze natürlich, dass der Ministerpräsident dies zu einem Pilotprojekt gemacht hat. Wir werden jetzt die 17 deutschen Hochschulen, die schon mit Ihnen kooperieren, in dieses Pilotprojekt mit einbinden. Ich werde die Bildungsministerin in Deutschland darum bitten, das zusammen mit dem Bildungsminister von China zu koordinieren. Dann kann hier der Schüler- und Jugendaustausch starten; und andere Projekte können folgen. Da Sie ja mit dem Land Niedersachsen sehr viele Partnerschaften haben, werden wir in Deutschland die Bildungsministerin des Landes Niedersachsen mit einbeziehen. Denn in Deutschland ist nicht die zentrale Regierung für die Führung der Hochschulen zuständig, sondern es sind die jeweiligen Länderregierungen. Aber mit dem Land Niedersachsen, das hier schon seit 30 Jahren mit dabei ist, werden wir organisieren, dass dessen Hochschulen sozusagen der Ausgangspunkt sind. Die anderen Hochschulen werden sich dann einreihen. Wenn ich an die vielen motivierten jungen Leute denke, die wir hier gesehen haben – die wir beim Lernen gesehen haben und diejenigen, die draußen standen und uns begrüßt haben –, dann ist mir, Herr Premierminister, nicht bange, dass es eine gute Idee war, den deutsch-chinesischen Jugend- und Schüleraustausch zu fördern. Es wird viele motivierte Chinesen geben, die nach Deutschland kommen, und es wird viele motivierte Deutsche geben, die gerne nach China kommen. Alles Gute und Ihnen viel Kraft und viel Erfolg beim Studieren. Schön, dass wir heute an diesem 30. Jubiläum dabei sein konnten.
in Hefei
Rede von Staatsministerin Grütters zur Verleihung des deutschen Kurzfilmpreises 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-staatsministerin-gruetters-zur-verleihung-des-deutschen-kurzfilmpreises-2015-800096
Thu, 29 Oct 2015 19:14:13 +0100
Filmakademie Baden-Württemberg
Kulturstaatsministerin
– Es gilt das gesprochene Wort.- Anrede, „Wir können alles – außer Hochdeutsch“, behauptet man bekanntlich selbstbewusst in Baden-Württemberg, und ja: – ganz offensichtlich hat man hier auch in der Filmbranche nicht zu unterschätzende Könner und Koryphäen. Die hiesige Filmakademie jedenfalls gehört zu den TOP 15 der Filmhochschulen weltweit, Til Schweiger ist gebürtiger Baden-Württemberger [geboren in Freiburg], und von den Studentenoscars, die in diesem Jahr alle drei von Deutschen abgeräumt wurden – was für ein großartiger Erfolg für den deutschen Kurzfilm! – ging einer an einen Regie-Absolventen der Filmakademie Baden-Württemberg. Baden-Württemberg wäre obendrein nicht Baden-Württemberg, wenn es dem „Ländle“ nicht auch noch gelänge, selbst der Berlinale noch ein klein wenig die Schau zu stehlen, und sei es mit seinen Spitzenköchen: „Berlin hat die Stars, Baden-Württemberg die Sterne“, war vor einigen Jahren provokativ auf einer mobilen Plakatwand zu lesen – na gut … dazu kann ich nur sagen: Berlin hat kulinarisch aufgeholt! Wie auch immer: Ludwigsburg in Baden-Württemberg ist offensichtlich ein sehr passendes Setting, um den Deutschen Kurzfilmpreis 2015 zu verleihen. Die Innovationskraft einer ganz besonders experimentierfreudigen Filmgattung zu feiern, ist mittlerweile zu einer ebenso schönen wie wirkungsvollen Tradition geworden. Die Aufmerksamkeit im Lichte des mit bis zu 275.000 Euro höchstdotierten Preises für das Genre Kurzfilm tut nicht nur den Preisträgerinnen und Preisträgern gut, sondern auch dem Kurzfilm selbst. Er gilt längst nicht mehr nur als „Gesellenstück“ begabter Filmstudierender, sondern hat sich als eigenständige Darstellungsform mit hohem künstlerischem Anspruch und einer ganz eigenen, ausdrucksstarken Bildersprache etabliert. Kompositionelle Raffinesse, anspruchsvolle Dramaturgie und eine knappe, präzise Erzählweise erfordern cineastische Pionierarbeit, und davon profitiert die Filmkunst insgesamt. Ich selbst habe nicht nur eine ganz persönliche Vorliebe für das Kurzfilmgenre, sondern auch für dessen Förderung, meine Damen und Herren. Die Kurzfilmförderung war mir schon als Kulturausschussvorsitzende im Deutschen Bundestag wichtig und liegt mir auch als Kulturstaatsministerin sehr am Herzen. Deshalb freue ich mich, dass unsere „Kinotournee des Deutschen Kurzfilmpreises“ für die Aufmerksamkeit sorgt, die Kreativität und Experimentierfreude verdienen, ebenso wie der deutschlandweite Kurzfilmtag am 21. Dezember, dem kürzesten Tag des Jahres, über den ich auch dieses Jahr gerne die Schirmherrschaft übernommen habe. Vor allem aber ist es mir eine ganz besondere Freude, heute nicht nur einen der Gewinner der diesjährigen Studentenoscars unter uns zu wissen, sondern mit gutem Grund auch auf künftige Oscar-Gewinner im Publikum hoffen zu dürfen – denn ich habe großartige Neuigkeiten aus Berlin nach Ludwigsburg mitgebracht: Der Deutsche Kurzfilmpreis steht ab sofort auf der „Qualifying List“ der Oscars. Das bedeutet: Die heutigen Gewinner der Kategorien „Spielfilm“ und „Animationsfilm“ sind automatisch für das Auswahlverfahren für den Kurzfilm-Oscar qualifiziert. Das lässt den Glanz des Deutschen Kurzfilmpreises noch heller leuchten – vor allem aber ist es eine großartige Chance für unsere deutschen Filmkünstlerinnen und Filmkünstler! Weil alle Strahlkraft nichts nützt, wenn großartige Kurzfilme es nicht auf die großen Kinoleinwände schaffen, soll die Filmförderungsanstalt (FFA) künftig auch das Abspiel von Kurzfilmrollen fördern können. Darüber hinaus will ich ebenfalls im Rahmen der Novellierung des Filmförderungsgesetzes dafür sorgen, dass die Kurzfilmförderung der FFA–Filmförderanstalt nicht mehr nur auf Formate von einer Minute bis 15 Minuten beschränkt ist. Künftig sollen auch Kurzfilme von unter einer Minute und bis zu 30 Minuten Fördermittel bekommen können. Es wäre doch schade, Innovationskraft und Experimentierfreude in ein zu starres Minutenkorsett zu zwängen! Schade wäre es auch, sie den Fernsehzuschauern vorzuenthalten. An die Fernsehsender kann ich deshalb nur appellieren: Zeigt mehr Kurzfilme, sie bereichern das Programm! Weil Kürze nicht nur „die Schwester des Talents“ ist, wie Anton Tschechow das einmal so treffend formuliert hat, sondern auch ein Gebot der Höflichkeit, wenn große Talente ihrer Auszeichnung harren, will ich Sie, liebe Nominierte, nun nicht mehr länger rhetorisch auf die Folter spannen. Gestatten Sie mir aber noch ein herzliches Dankeschön an all jene, die diesen besonderen Abend möglich gemacht haben: Danke unseren Gastgebern, stellvertretend Ihnen, lieber Herr Professor Schadt, für die Filmakademie Baden-Württemberg! Danke dem Studienleiter, Herrn Andreas Friedrich, und seinem Team für eine ebenso filmreife wie preiswürdige Gestaltung dieser Preisverleihung! Danke schließlich und nicht zuletzt den Jurymitgliedern, die den 227 eingereichten Beiträgen Ihre Zeit, Ihre Erfahrung und Ihre Sorgfalt gewidmet haben. Dass das Ergebnis auch noch geschlechtergerecht ist, freut mich sehr: In allen Kategorien sind gleich viele Frauen und Männer nominiert. Herzlichen Glückwunsch, liebe Nominierte, viel Freude, Inspiration und Erfolg für Ihre weitere Filmkarriere – ich bin sicher: Wir werden noch von Ihnen hören – und sehen!“
In ihrer Rede ging Monika Grütters kurz auf die „Kinotournee des Deutschen Kurzfilmpreises“ ein, würdigte die „Innovationskraft einer ganz besonders experimentierfreudigen Filmgattung“ und wies noch einmal darauf hin, dass ja die Studentenoscars in diesem Jahr alle drei von Deutschen abgeräumt wurden.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Bergedorfer Gesprächskreis am 29. Oktober 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-bergedorfer-gespraechskreis-am-29-oktober-2015-787664
Thu, 29 Oct 2015 15:00:00 +0100
Peking
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Minister Guo, sehr geehrter Herr Paulsen, sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Teilnehmer – teilweise bekannte Gesichter, teilweise natürlich neue –, das Faszinierende am Bergedorfer Gesprächskreis ist, dass man hier immer wieder versucht, die Welt mit den Augen des anderen zu sehen. So ist es auch heute, wenn wir über drängende Fragen unserer Zeit diskutieren und uns über denkbare Antworten austauschen. Dass ich die Gelegenheit dazu hier in Peking wahrnehmen kann, freut mich sehr – erst recht, da Sie sich mit nicht mehr und nicht weniger als mit der Weltordnung befassen wollen; und zwar vor dem Hintergrund aufstrebender Mächte wie das Gastgeberland China. China ist ein Land, das man nicht mit wenigen Worten beschreiben kann. Vielleicht nur so viel: Es gibt zwar nach wie vor ein deutliches Wirtschaftsgefälle innerhalb des Landes, aber es hat sich längst zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt entwickelt. China erwartet deshalb, dass sich die veränderten ökonomischen Gewichte auch in der internationalen Ordnung widerspiegeln – konkret zum Beispiel in der internationalen Finanzarchitektur, aber nicht nur dort. China hat wichtige Schritte unternommen, wenn ich etwa nur an die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank und an die Neue Entwicklungsbank der BRICS-Staaten denke. Deutschland zum Beispiel ist der AIIB beigetreten. Es hatte durchaus Diskussionen gegeben, ob wir das machen oder ob wir das nicht machen sollen. Wir haben uns dafür entschieden. Wir sind nun der größte nicht-asiatische Anteilseigner der AIIB. Wir haben zum Beispiel darauf hingewiesen und darauf hingearbeitet, dass diese Institution den allgemeinen internationalen Standards folgt. Dennoch stellt sich eine prinzipielle Frage: Soll das internationale System der multilateralen Institutionen verdoppelt werden? Haben wir eine Weltbank und eine AIIB und einen IWF und dann vielleicht eines Tages noch etwas anderes? Oder spielen regionale Gesichtspunkte eine Rolle? Allerdings ist der Anspruch der AIIB ja durchaus ein umfassender. Ich füge hinzu: Zum Teil hat das auch damit zu tun, dass die bisherigen Institutionen teilweise verkrustet sind, sich nicht richtig erweitern können. Bei der Weltbank eine Kapitalerhöhung mit allen hinzubekommen, insbesondere mit den Vereinigten Staaten von Amerika, ist sehr schwierig. Wir sehen, wie lange die Quotenreform des IWF dauert. Diese haben wir 2010 beschlossen und sie ist immer noch nicht umgesetzt. Wir sind der AIIB beigetreten, weil wir unserer Überzeugung gefolgt sind, dass China in bestehenden Institutionen und Organisationen gebührend berücksichtigt werden muss. Wir wollten nicht ausschließlich Parallelinstitutionen, bei denen wieder nur ein Teil der Länder dabei ist. Aber es ist eine durchaus interessante und spannende Frage, wie die multilaterale Struktur aussehen soll. Die Frage an die chinesischen Teilnehmer stellt sich, ob sie die gewachsene Struktur, die sie wahrscheinlich aus der chinesischen Perspektive als eine westliche Struktur akzeptieren, grundsätzlich erneuern oder noch einmal mit eigenen Anstrengungen parallelisieren wollen oder ob das Einzelfälle bleiben. Wir brauchen angesichts der zusammenwachsenden Welt insgesamt eine verbesserte multilaterale governance. Die Verflechtungen sind vielfältig. Wir werden deshalb in den wenigsten Fällen nur mit regionalen Institutionen arbeiten können, sondern wir werden an vielen Stellen eben globale Institutionen brauchen. Die Welt sieht heute natürlich auf dieses stärkere China mit anderen Augen – zum Teil mit sehr hohen Erwartungen, zum Teil durchaus mit Sorgen. Chinas Traum ist eine Vision für China. Es gibt durchaus Friktionen im asiatischen Raum; das weiß man, wenn man Vertreter anderer asiatischer Länder hört. Deshalb glauben wir, dass es eines breiten Dialogs bedarf. Denn wir sind der Überzeugung: Nur aus Verständigung, nur aus einem Miteinanderreden können auch Verständnis und das notwendige hinreichende Vertrauen erwachsen, das für ein gedeihliches Miteinander notwendig ist. In einem anderen Kontext kann man sagen, dass China in den letzten Jahren bewusst zu einem großen Akteur in der Welt geworden ist. Hier will ich das Beispiel Klimapolitik nennen. China ist durch seine wirtschaftliche Entwicklung einer der großen Emittenten von CO2 geworden. Aber China ist nach meinem Kenntnisstand auch das erste Schwellenland, das sich dazu bekennt, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt der Peak an CO2-Emissionen überschritten sein muss und eine Reduktion von CO2 erfolgen muss. Das ist ein mutiger Schritt. Wir verstehen: Das Zwei-Grad-Ziel ist nicht zu erreichen, wenn Länder wie China ihre eigenen Verpflichtungen nicht in dem Maße auf sich nehmen, dass aus diesen Verpflichtungen auch tatsächlich Reduktionsverpflichtungen werden. Die Verantwortung ist zwar eine gemeinsame, wird aber immer noch unterschiedlich wahrgenommen. Dass China 2017 ein Emissionshandelssystem einführen wird, ist beachtlich und wird uns sicherlich auch in Europa sehr beschäftigen. Daraus können dann auch Synergien erwachsen. Eine neue Herangehensweise ist auch, dass China 20 Milliarden Yuan einem Fonds beisteuert, der dazu dient, Entwicklungsländern bei Klimaschutz und Klimaanpassung zu helfen. Früher hat man die Gruppe der 77 und China in einem Atemzug erwähnt. Das war sozusagen die große Gruppe derjenigen, die sich als Entwicklungsländer verstanden haben. Jetzt ist China in eine neue Rolle hineingewachsen. Als wir die Gavi-Konferenz Anfang des Jahres ausgerichtet haben, habe ich China gebeten, einen, wenn auch nur symbolischen Beitrag zur Impfallianz beizutragen. Auch daran hat sich China beteiligt. Das heißt, es ist jetzt sozusagen der Umschwung vom Empfänger- zum Geberland zu sehen. Das heißt, dass China in vielen Bereichen an Gewicht und Stimme gewinnt. Das gilt auch für die Außen- und Sicherheitspolitik. Als ständigem Mitglied des Sicherheitsrats mit einer Vetostimme ist China sowieso eine zentrale Rolle zugeschrieben. Es gibt naheliegende außenpolitische Engagements wie zum Beispiel das in Nordkorea, wenn es um das dortige Atomprogramm geht. China hatte schon vor mehreren Jahren die Sechs-Parteien-Gespräche mit initiiert. Ohne China wird es auch zu keiner Wiederaufnahme dieser Gespräche kommen können. Wir glauben auch, dass China eine Schlüsselrolle zukommt, wenn es darum geht, auf das Regime in Nordkorea weiteren Einfluss auszuüben, damit die Spannungen auf der koreanischen Halbinsel und die Risiken militärischer Zwischenfälle gemindert werden können. Wir haben China auch in einem anderen Zusammenhang als sehr aktiven Partner gesehen, nämlich bei den Verhandlungen zur Nuklearvereinbarung mit dem Iran. Dies war ein sehr erfolgreiches Beispiel. Bis zum Erfolg aber hat es lange gedauert. Man hat über zehn Jahre verhandelt. Aber es ist doch gelungen, zu einer Lösung zu kommen. Ich habe heute in meinen Gesprächen mit Premierminister Li Keqiang auch über die Rolle Chinas in Afghanistan gesprochen. China grenzt, wenn auch nur ein kleines Stück weit, an Afghanistan. China hat sehr enge Beziehungen zu Pakistan. Pakistan wiederum hat relativ viel Einfluss auf die oder zumindest Verbindungen zu den Taliban. Wir wollen natürlich einer politischen Lösung voranhelfen Deshalb können die guten Kontakte zu Pakistan und gleichzeitig zu Afghanistan vielleicht auch einen Beitrag leisten, um zu einer Aussöhnung zu kommen. Das ist zum Beispiel eine der Erwartungen. Da wir in Deutschland im Augenblick auch relativ viele Flüchtlinge aus Afghanistan haben, einem Grenzland zu China, berühren sich trotz der großen geografischen Entfernungen unsere Interessen. Afrika als Nachbarkontinent Europas ist auch ein spannender Kontinent für China. Ich glaube, eine der ersten internationalen Missionen, an denen sich China beteiligt hat, war die UN-Mission zur Bekämpfung der Piraterie. Ich glaube, es kommt nicht von ungefähr, dass dies eine der ersten internationalen Missionen Chinas war, weil sich das Land als große Handelsnation versteht, weil es weiß, dass sichere Handelswege von größter Bedeutung sind. Man erkennt hier eine alte Seefahrernation, die sich um strategische Punkte kümmert. Das Horn von Afrika gehört ja zu den strategischen Punkten der Seefahrt. Auch alles, was sich im Südchinesischen Meer abspielt, hat etwas mit strategischen Punkten zu tun. China ist inzwischen dabei, wenn es um die robuste Blauhelm-Mission in Mali geht. China ist dabei, wenn es um Friedensvermittlung im Sudan und Südsudan geht. Auf dem Nachhaltigkeitsgipfel der Vereinten Nationen hat China angekündigt, 8.000 Polizisten für internationale Einsätze zur Verfügung zu stellen. Das ist durchaus ein sehr großes Angebot. China wird zudem die Eingreiftruppe der Afrikanischen Union mit 100 Millionen Euro finanzieren. Das deckt sich mit dem europäischen Ansatz, zu sagen: Wir können nicht in allen Konfliktregionen präsent sein – wir verstehen auch oft die Kultur der betreffenden Länder nicht ausreichend –, sondern wir helfen anderen, damit sie ihre regionalen Konflikte selbst lösen können. Ich habe den Eindruck, dass sich hierbei chinesische und europäische Sicherheitsinitiativen durchaus ergänzen. Natürlich – darüber haben wir heute auch gesprochen – besorgt uns vor allem der anhaltende Krieg in Syrien. Das Eingreifen Russlands hat erst einmal zu einer weiteren Eskalation geführt, die insbesondere im Raum Aleppo zu noch mehr Fluchtbewegungen geführt hat. Aber auch hier in meinen Gesprächen war vollkommen klar, dass die Lösung nur durch einen politisch-diplomatischen Prozess gefunden werden kann. Es gibt auch eine bemerkenswerte Übereinstimmung in der Ansicht, dass alle maßgebenden Akteure eingebunden werden müssen; natürlich auch Russland, die Vereinigten Staaten von Amerika, Türkei, Saudi-Arabien, Iran und andere lokale Akteure. Es ist von gewissen Fortschritten bei dem Versuch zu hören, wenigstens die Formate zusammenzustellen. Ich hoffe, dass das gut gelingen wird. China bietet also an vielen Stellen Hilfe an, auch wenn es um die Bewältigung von Flüchtlingskrisen geht. China setzt auf das internationale Organisationssystem, was wir ja auch sehr stark tun – auf die Vereinten Nationen, auf das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen und viele andere mehr. Wir müssen diese Organisationen stärken. Wenn wir sehen, dass das Welternährungsprogramm, der UNHCR und andere wichtige Organisationen im Bereich der UNO chronisch unterfinanziert sind, dann ist das eine sehr schlechte Nachricht und zum Teil auch eine beschämende Nachricht. Alle sagen, dass wir uns an das Völkerrecht halten müssen. Das ist ja auch die Voraussetzung, damit sich das internationale System der Vereinten Nationen überhaupt durchsetzen kann. Sich an das Völkerrecht zu halten, ist wichtig dafür, dass sich Vertrauen bildet. Deutschland hat aus schmerzhaften historischen Erfahrungen in Zeiten des Nationalsozialismus und auch des Ersten Weltkriegs gelernt, dass eine Selbstbindung an Institutionen und Regeln unbedingt notwendig ist und nicht variiert werden darf. Internationale Regeln müssen gemeinsam bestimmt werden und können nicht eigenmächtig geändert werden. Deshalb haben wir auch mit China sehr intensiv über die Ukraine gesprochen. Gerade China ist ein Land, das das Prinzip der territorialen Unversehrtheit als ein sehr wichtiges Prinzip versteht; dafür habe ich allergrößtes Verständnis. Wir wünschen uns aber auch, dass man das auch so ausspricht. Das hätte vielleicht noch klarer sein können. Immerhin haben wir jetzt in der Ukraine eine Entwicklung, die leichte Hoffnung macht. Damit ist man aber noch längst nicht am Ziel. Die Annexion der Krim ist und bleibt eine Verletzung der territorialen Integrität, die nicht akzeptiert werden kann. Ein schwieriger Konflikt ist auch der Territorialkonflikt im Süd- und Ostchinesischen Meer, der überall sehr aufmerksam verfolgt wird. Daher ist es – ich habe dazu schon viele Gespräche geführt – ein bisschen erstaunlich, warum in diesem Fall multinationale Gerichte eigentlich keine Lösungsoption sein können, warum man an dieser Stelle sagt „Nein, das wollen wir in bilateralen Gesprächen machen“, obwohl ja sonst eigentlich eine hohe Akzeptanz der internationalen Institutionen von China immer wieder eingefordert wird. Jedenfalls wünschen wir uns vor allem, dass die Seehandelswege frei und sicher bleiben, was natürlich für die gesamte Region und darüber hinaus wichtig ist. Was wir sehen, ist eine sehr strategische Politik Chinas, die in langen Zeiträumen denkt. Das ist etwas, das uns in Europa manchmal abgeht; und zwar auch wegen der kurzen Wahlperioden. Trotzdem halte ich langfristiges strategisches Denken für wichtig; auch dahingehend, dass man aus der Geschichte heraus einen Bogen zieht. Es ist für das Verständnis von Politik oft sehr wichtig, dass man nicht nur von heute aus urteilt, sondern eben auch die Geschichte versteht und damit auch Brücken über längere Zeiträume schlagen kann. Ein Beispiel dafür sind die Seidenstraßen-Initiativen: die maritime Seidenstraßen-Initiative, die kontinentale Seidenstraßen-Initiative. Wenn man die Aktivitäten der chinesischen Regierung verfolgt, die einem auf dem ersten Blick vielleicht nur punktuell vorkommen, stößt man aber in vielen Bereichen immer wieder auf die Seidenstraße. Die Seidenstraßen-Initiative ermöglicht osteuropäischen Ländern eine bessere Anbindung an den asiatischen Raum und zentralasiatischen Staaten eine bessere Anbindung an den europäischen Raum. Die Europäische Union hat sich nun eine Antwort ausgedacht, deren Namen ich gewöhnungsbedürftig finde. Ich finde es gewöhnungsbedürftig, wie man einem so schönen Wort wie Seidenstraßen-Initiative das Wort Konnektivitätsplattform entgegensetzen kann. Darauf muss man erst einmal kommen. Ich glaube, ich werde das weiterhin Seidenstraße nennen, weil es ja auch etwas mit Geschichte zu tun hat und einen schönen Klang hat. Gemeint ist aber das Gleiche, nämlich dass man eine infrastrukturelle Linie entlang der Seidenstraße zieht und darüber auch eine gesellschaftliche Debatte führt. Auch die Europäische Union will dabei eingebunden sein. Bei der Gelegenheit will ich eine Bemerkung machen: Wir sehen, dass China manchmal innerhalb der Europäischen Union Gruppen bildet, mit denen man dann spezielle Kooperationsformate bildet – mal in mittel- und osteuropäischen Ländern, mal in südeuropäischen Ländern, teils auch in Ländern, die noch nicht Mitglied der EU sind, sondern nur Beitrittskandidaten. Ich will nur sagen: Man kann auch mit der ganzen Europäischen Union reden. Allerdings ist es, wie ich glaube, für China durchaus interessant, immer wieder unterschiedliche Akzente der Europäer kennenzulernen. Wir sind aber auch selbst schuld, wenn wir in Europa nicht mit einer Stimme sprechen können. Meine Damen und Herren, ich glaube also, dass die genannten Beispiele gezeigt haben, wie auf die jahrelang doch sehr stark nach innen gerichtete Entwicklung Chinas, die zunächst einmal auf die Überwindung der Armut und den Aufbau von Wirtschaft und Infrastrukturen ausgerichtet war, eine zunehmende Einbringung in die globale Ordnung gefolgt ist, die sich laufend verstärkt, die aus meiner Sicht sehr strategisch wahrgenommen wird und die für politisch führende Persönlichkeiten ein großes Zeitbudget für Auslandsreisen erfordert. Im zeitlichen Umfeld des G20-Treffens in Australien hatte der chinesische Präsident die Inseln im Indischen Ozean – ich könnte sagen: zwischen Australien und China – besucht und sich dort lange aufgehalten. Wenn sich die deutsche Bundeskanzlerin zwei Tage lang auf den Fidschi-Inseln aufhalten würde, dann würde man suspekt fragen, ob die Frau zu Hause nichts mehr zu tun hat. Mich hat es beeindruckt, dass der Präsident eines Landes mit 1,3 Milliarden Einwohnern sehr bewusst kleinere Partner besucht hat, sich auch ihre Kultur, ihre Gepflogenheiten angeschaut hat. Wir müssen uns in Europa manchmal fragen, ob wir alles richtig machen, wenn wir die Welt verstehen wollen. Damit will ich nicht sagen, dass ich mir jetzt eine Reise auf die Fidschi-Inseln erarbeiten will. Soweit also zu meinen Eindrücken zum Thema globale Ordnung und die Rolle Chinas. Ich glaube, es gibt eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten mit europäischen Interessen. Es gibt auch eine Reihe an unterschiedlichen Dingen. Es gibt einen klaren Bezug der chinesischen Regierung zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir in Europa sind nicht das Zentrum der Welt; das wissen wir auch. Dennoch sind wir ein guter Partner in vielen Situationen. Was ich abschließend noch hervorheben will: Ich habe es sehr geschätzt, dass China sich während der Eurokrise als verlässlicher Partner herausgestellt hat. Da hat man gemerkt: Langfristiges Denken, wie es gerade auch in Wirtschaftsinstitutionen gepflegt wird, hat in der heute oft sehr hektischen Zeit riesige Vorteile, weil es Verlässlichkeit und einen langen Atem mit sich bringt. Ich habe heute mit Ministerpräsident Li Keqiang darüber gesprochen: Irland hat eine hohe Wachstumsrate, Portugal ist wieder auf einem guten Weg, Spanien ist auf einem guten Weg. Investitionen haben sich hier, wie ich glaube, auch aus chinesischer Sicht durchaus gelohnt. Aber wenn damals China ausgestiegen wäre, Anlagen aus dem Eurobereich zu kaufen, dann wäre daraus eine ganz andere Entwicklung in der Welt geworden. Insofern sind ein langer Atem und das Denken in strategischen Dimensionen durchaus sehr hilfreich. Davon können wir sicherlich auch etwas lernen. Nun freue ich mich auf die Diskussion.
in Peking
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim ASEM-Workshop „Break Barriers for Inclusive Development“ am 29. Oktober 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-asem-workshop-break-barriers-for-inclusive-development-am-29-oktober-2015-788270
Tue, 29 Dec 2015 12:00:00 +0100
Peking
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Li Keqiang, sehr geehrter Herr Staatsrat Wang, sehr geehrter Herr Lu, sehr geehrte Frau Zhang, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Teilnehmer, ich freue mich sehr, dass ich mit Ihnen diese Konferenz besuchen kann, die sich mit so wichtigen Themen wie Inklusion, Arbeit und Soziales befasst. Das sind ja wirklich wichtige Themen. Wir haben heute in unseren politischen Gesprächen schon über Innovation gesprochen. Wenn man sieht, was hier an Innovation für Menschen mit Behinderungen geschaffen wird, die wirklich mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht, dann weiß man auch, wofür Innovation notwendig ist und wozu sie praktisch möglich ist – ob das Prothesen auf dem neuesten technischen Niveau sind, die das Laufen und Greifen wieder möglich machen, oder ob das Implantate für gehörlose Kinder sind, die damit auch sprechen lernen und das Spielen von Musikinstrumenten erlernen können. Es geht also um eine ganz praktische Innovation für diejenigen, die es in unserer Gesellschaft noch nicht überall so einfach wie andere haben. China und Deutschland haben die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterschrieben. Der zentrale Gedanke ist Inklusion: Wie kann sich jeder Mensch, auch wenn er eine Behinderung hat, in die Gesellschaft einbringen? Wir erleben ja, dass dies an vielen Stellen unsere gesamte Gesellschaft bereichern kann. Wenn wir eine Gesellschaft sind, in der nur noch die Fitten, die Schnellen, diejenigen, die alles sofort umsetzen können, eine Chance haben, dann ist das keine menschliche Gesellschaft. Manchmal ist etwas mehr Entschleunigung, etwas mehr Hinschauen gut für die Kinder wie auch für die Älteren in einer Gesellschaft. Wir lernen also durch Inklusion, dass jeder seinen Beitrag leisten kann, dass wir aufeinander Rücksicht nehmen sollten und dass das dann für unsere Gesellschaft besser ist. Wir haben in Deutschland zur Umsetzung der Konvention der Vereinten Nationen einen Nationalen Aktionsplan entwickelt. Es gibt darüber sehr spannende, zum Teil auch sehr kontroverse Diskussionen, wenn es insbesondere um die Themen Schule und Arbeitsmarkt geht. Wir sind in Deutschland sehr lange Zeit den Weg gegangen, Menschen mit Behinderungen in Spezialschulen zu bringen. Heute versucht man sehr viel stärker auf Inklusion zu setzen, also auf Schulklassen mit Behinderten und Nicht-Behinderten. Man muss jedes Mal sehen: Passt das eine Modell, passt das andere Modell? Unserer Erfahrung in Deutschland nach ist für körperlich oder auch geistig Behinderte eines sehr wichtig: Man muss immer wieder Durchlässigkeit schaffen. Für den einen Behinderten ist eine geschützte Werkstatt der richtige Ort, den anderen kann man in den Arbeitsmarkt integrieren. Früher war es oft so, dass man eine feste Zuteilung vorgenommen und gesagt hat: Du kommst in eine geschützte Werkstatt und Du kannst vielleicht einen normalen Arbeitsplatz bekommen. Wir müssen lernen, immer wieder darauf zu achten, ob man Menschen wieder eine andere Chance geben kann, ob man von einem zum anderen Arbeitsplatz wechseln kann. Inklusion ist auch in Deutschland eine riesige Aufgabe. Wenn man sich selber einmal ein Bein gebrochen hat, dann kann man erahnen, was alles Behinderten schwer fällt, was alles nicht in Ordnung ist, wie schwierig es zum Beispiel ist, in eine Straßenbahn, in einen Bus, in eine Eisenbahn einzusteigen. Es gibt viele Handicaps. Das heißt, Hilfsmittel und Technologien sind wichtig. Ich freue mich, dass wir als Bundesregierung auch den chinesischen Behindertenverband als Partner haben und wir uns auch auf diesem Kongress über Möglichkeiten der Kooperation austauschen können. Der heutige ASEM-Workshop bietet herausragende Möglichkeiten. Auch über die Frage „Was bedeutet Soziale Marktwirtschaft?“ wird diskutiert. So bezeichnen wir unser Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell in Deutschland – einerseits marktwirtschaftliche Mechanismen, andererseits der soziale Ausgleich. Was heißt das gerade auch für die Beiträge für behinderte Menschen? Menschlichkeit und Solidarität müssen ein Teil sein. Deshalb freue ich mich, dass es zwischen unserem Sozial- und Arbeitsministerium und China eine Diskussion sowohl über Behinderungen im Bereich der Arbeitswelt gibt – wie kann man Behinderten hier eine Chance geben? – und dass auch über die Frage diskutiert wird, welche sozialen Leistungen notwendig sind. Ich wünsche China auf dem Weg der Inklusion natürlich sehr viel Erfolg. Bei Ihnen sind die Zahlen einfach immer so groß – 80 Millionen behinderte Menschen. So viele Einwohner hat Deutschland insgesamt. Nichtsdestotrotz bietet sich die Möglichkeit, vieles in der Praxis auszuprobieren und fortzuentwickeln. Ich freue mich, wenn ein Land mit bescheidenem Wohlstand, wie Sie immer sagen, Herr Ministerpräsident, an die Behinderten denkt und auch ihnen eine Chance gibt, besser leben zu können, als sie das früher konnten. Herzlichen Dank und alles Gute.
in Peking
Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Deutsch-Französischen Digitalen Konferenz am 27. Oktober 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-deutsch-franzoesischen-digitalen-konferenz-am-27-oktober-2015-370546
Tue, 27 Oct 2015 18:00:00 +0100
Im Wortlaut
Paris
Auswärtiges
Sehr geehrte Präsidenten, lieber François und lieber Jean-Claude, sehr geehrte Minister, lieber Herr Macron, Herr Gabriel und die anderen Minister, vor allem liebe Teilnehmer dieser Digitalen Konferenz, es ist ein sehr gutes Format, in dem wir heute dieses Treffen veranstalten. Es ist auch eine sehr gute Kombination, dass wir das Ergebnis des deutsch-französischen Ministerrats, also die Durchführung einer solchen gemeinsamen Konferenz, mit einer Diskussion mit Vertretern der europäischen Wirtschaft zusammenbringen konnten. Herzlichen Dank dafür, dass wir das alles in Anwesenheit der Kommission tun können, denn ich glaube, das ist in der Tat ein Format, das uns dem digitalen Binnenmarkt näherbringt. Es ist auch ein guter Zeitpunkt für diese Konferenz. Ich glaube, die Nachricht, dass heute das Europäische Parlament das Telekommunikationspaket verabschiedet hat, ist eine wirklich wichtige Nachricht. Ich erinnere mich an die Jahre, in denen Neelie Kroes versucht hat, ein Telekommunikationspaket durchzubekommen. Es ist dann mit der neuen Kommission, mit der italienischen Präsidentschaft und auch mit dem Vizepräsidenten der Kommission, Herrn Ansip, erreicht worden, dass das endlich vorangebracht wurde, dass der Trilog vorangegangen ist und dass wir wichtige Entscheidungen gefällt haben. In Europa haben wir ja eine etwas andere Situation, als man sie in den Vereinigten Staaten von Amerika hat. In den Vereinigten Staaten von Amerika ist alles erlaubt, was nicht geregelt ist. Bei uns ist erst einmal alles verboten, was nicht legislativ niedergelegt ist. Das heißt, wir müssen Regelungen finden, aber wir sind jetzt einen Schritt vorangekommen. Das beinhaltet zum Beispiel, dass wir jetzt eine Regelung für die Netzneutralität gefunden haben. Das Thema hat auch kontroverse Diskussionen hervorgerufen, aber wir haben uns entschieden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir jetzt auch einen Vorschlag, über den bereits im Trilog mit dem Parlament diskutiert wird, zur Datenschutz-Grundverordnung haben. Das ist sehr wichtig, denn es wird darüber entschieden, in welcher Art und Weise wir die Verarbeitung von Daten in Europa ermöglichen. Ich denke, das sogenannte Data Mining, also die Verarbeitung großer Mengen von Daten, dem Rohstoff der Zukunft, hat in Europa immer noch einen schwereren Stand als in anderen Teilen der Welt. Hier wird aber ein großer Teil der Wertschöpfung stattfinden. Die richtige Balance zwischen Datenschutz, Dateneigentum und neuen Produktmöglichkeiten zu finden – das ist so etwas wie das, was wir in Deutschland immer wieder in dem, was wir Soziale Marktwirtschaft nennen, finden mussten, nämlich eine Balance zwischen dem Schutz der Menschen einerseits und dem Ermöglichen und dem erfolgreichen Umsetzen von Wertschöpfung andererseits. Ich bin also froh, dass die Arbeit an einem einheitlichen Rechtsrahmen Gestalt annimmt. Da ist noch viel zu tun – angefangen bei den Frequenzen für die fünfte Mobilfunkgeneration, die in den Mitgliedstaaten im Augenblick noch ein Flickenteppich sind, bis hin zu gleichen Bedingungen für Internetunternehmen und auch für diejenigen, die die Infrastruktur anbieten und auch selbst Produkte anbieten. Da haben wir heute noch sehr große Ungleichheiten. Ich finde es sehr wichtig, dass sich aus Deutschland und Frankreich hier gemeinsam Startups und Unternehmen präsentieren, sich austauschen – und dass Deutschland und Frankreich ihre Möglichkeiten und Kompetenzen bündeln. Das ist ja nicht natürlich und war nicht immer so. Wir haben zwar viele deutsch-französische Kooperationen, aber wir haben durchaus auch ein Wettrennen. Hier aber sieht man jetzt, dass die Fähigkeiten und Stärken beider Seiten zusammen zu sehr innovativen Produkten führen können. Das ist auch deshalb so wichtig, weil wir durchaus ein Zeitproblem haben. Wir haben bei der Entwicklung des Internets selbst und auch bei der Entwicklung der Anwendungen für Konsumenten nicht immer die Nase vorn – um es vorsichtig auszudrücken. Jetzt aber, da digitale Möglichkeiten immer mehr Eingang in die industrielle, in die wirtschaftliche Welt finden, haben wir eine Chance, an unseren starken Industriestandorten Deutschland und Frankreich eben mit Hilfe der Digitalisierung die Unternehmen der Zukunft zu gestalten – nennen wir es Industrie der Zukunft oder Industrie 4.0 oder wie auch immer. Das, was wir uns hier heute anschauen konnten, stimmt durchaus sehr hoffnungsvoll. Deshalb bitte ich darum, dass alle mit Enthusiasmus daran weiterarbeiten. Wenn wir die Vorgaben der Kommission, unseren Anteil an der industriellen Wertschöpfung zu halten oder zu erhöhen, in Europa wirklich realisieren wollen, dann müssen wir die Digitalisierung der Produktion schaffen; ansonsten werden wir abgehängt und werden diese Zukunft nicht mitmachen. Ich freue mich, dass durch die Gründung einer Akademie auch die Diskussion gesellschaftlicher Fragen in den Mittelpunkt gerückt wird: Wie sieht die Arbeitswelt der Zukunft aus, wie sehen die Arbeitsbedingungen aus, welche Berufe brauchen wir, wie müssen wir herkömmliche Berufe umdefinieren und welche neuen Berufsbilder müssen wir schaffen? Antworten darauf zu finden, wird sehr wichtig sein. Ich habe eine Bitte an die Kommission, nämlich dass sie uns sozusagen die Eroberung des digitalen Zeitalters einfacher macht. Diesbezüglich möchte ich noch einen speziellen Punkt mit Blick auf die Finanzierung der Startups ansprechen, nämlich die Frage der sogenannten Verlustabschreibungen, mit der sich der Europäische Gerichtshof befasst. Nun hängen wir sozusagen „in the middle of nowhere“ und kommen nicht voran. Aber die Startups fragen uns, wenn sie ihre erste Finanzierung mit Business Angels hinter sich haben: Was passiert in der zweiten Stufe? Da wird es eben ganz wichtig sein, dass wir hierfür Lösungen finden. Wir haben ein großes Interesse daran, dass Standardisierungen, die nur in zwei oder in wenigen Mitgliedstaaten gelten, zu Standardisierungen aller 28 Mitgliedstaaten werden können. Wir begrüßen die Initiative der Kommission zu einer europäischen Cloud und sind auch gern bereit, daran mitzuarbeiten. Insofern bleibt mir hier heute nur noch zu sagen: Danke für die acht Punkte, die wir uns natürlich auch in der deutschen Regierung zu eigen machen werden und an denen wir ordentlich weiterarbeiten werden. Ihnen allen danke ich für das Mitmachen, denn ohne Sie als Akteure könnte die schönste Konferenz zur digitalen Wirtschaft nicht stattfinden – wir brauchen die Wirtschaft dazu. Ich habe heute schon sorgenvoll die Interviews von Herrn Macron gelesen, in denen er sagte, Frankreich habe die meisten Startups. Wir dachten immer, Berlin sei gut. Nun müssen wir einmal schauen, wie wir in einen Wettbewerb eintreten; das ist ja ein guter Wettbewerb. Ich verspreche für die deutsche Seite als Regierungschefin: Wir werden uns das, was Sie hier erarbeitet haben, zu eigen machen. Danke für diese Initiative. Und dann eines Tages willkommen in Berlin.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur deutsch-ukrainischen Wirtschaftskonferenz am 23. Oktober 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-deutsch-ukrainischen-wirtschaftskonferenz-am-23-oktober-2015-786412
Fri, 23 Oct 2015 11:00:00 +0200
Im Wortlaut
Berlin
Auswärtiges
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Jazenjuk, lieber Arseni, sehr geehrte ukrainische Delegation, sehr geehrter Herr Schweitzer, sehr geehrter Herr Cordes, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich freue mich, dass die Einladung zur deutsch-ukrainischen Wirtschaftskonferenz eine so große Resonanz gefunden hat. Das zeigt auch, dass die Ukraine trotz aller Schwierigkeiten durchaus eine Reihe guter Standortbedingungen vorzuweisen hat – unter anderem relativ wettbewerbsfähige Lohnkosten und ein hohes Qualifikationsniveau. Dies in Verbindung mit einem großen Binnenmarkt kann eine Voraussetzung für gute Entwicklung sein. Die Ukraine kann ja auch eine Reihe gut entwickelter Sektoren aufweisen. Ich denke dabei neben dem Agrar- und Nahrungsmittelbereich besonders an die Metallindustrie, den Maschinenbau und nicht zuletzt den Flugzeugbau. Auch die deutsche Bundeswehr hat für ihren Afghanistaneinsatz die ukrainische Antonow als verlässlichen Transporter genutzt. In all diesen Branchen, aber auch mit Blick auf die Modernisierung von Infrastrukturen zum Beispiel im Energie- oder im Verkehrsbereich, bieten sich deutsche Unternehmen als kompetente Partner an. Bereits heute sind über 2.000 Unternehmen aus Deutschland bzw. mit deutscher Beteiligung in der Ukraine aktiv. Die deutschen Direktinvestitionen belaufen sich auf rund 4,5 Milliarden Euro. Deutschland zählt zu den wichtigsten Handelspartnern der Ukraine. 2014 erreichte das bilaterale Handelsvolumen immerhin 5,2 Milliarden Euro. Aber – ich glaube, davon sind wir alle überzeugt – das liegt noch unter den Möglichkeiten, die es für den Handel und die Investitionen in unseren beiden Ländern gibt. Eine wesentliche Voraussetzung für den Ausbau unserer Wirtschaftsbeziehungen – das ist hier schon bei Herrn Schweitzer und Herrn Cordes angeklungen – ist, dass die ukrainische Regierung konsequent auf Reformkurs bleibt. Ich will an dieser Stelle sagen: Aus den vielen Gesprächen, die ich mit Ministerpräsident Arseni Jazenjuk geführt habe, weiß ich, dass er sich diesem Reformkurs verpflichtet fühlt. Ich ahne auch, wie schwierig es ist, aus alteingefahrenen Gleisen herauszukommen. Aber den mutigen Kurs haben der Ministerpräsident und seine Mannschaft eingeschlagen. Die ersten Reformen sind auf den Weg gebracht worden – für mehr Transparenz und leistungsfähigere Strukturen in Staat und Wirtschaft. Ob es nun um Privatisierung oder um eine Modernisierung des Rechtsstaates geht – die Ukraine weiß, dass sie sich auf Deutschland verlassen kann. Wir haben seitens der Bundesregierung eine Gruppe von Vertretern aller Ressorts zusammengestellt, die versucht, hierbei hilfreich zu sein. Aber es bleibt ein schwieriger Weg. Das gilt insbesondere mit Blick auf die Beseitigung der Korruption. Aber besonders darauf achten deutsche Unternehmen und wollen, dass es eine Gleichbehandlung mit ukrainischen Unternehmen gibt, dass es Transparenz gibt, dass Prozesse nachvollziehbar sind. Deshalb ist dies sicherlich auch der Bereich, in dem Vertrauen weiter aufgebaut werden muss. Das geht meistens so, dass erst einmal die schon ansässigen Unternehmen beginnen müssen, gut über Bedingungen zu sprechen. Dann sind deutsche Unternehmen relativ schnell dabei, auf ihre Kollegen zu hören. Und das kann einen sehr dynamischen Effekt entfalten. Für deutsche Unternehmen ist die Frage des Umfelds, der Berechenbarkeit, der Verlässlichkeit ein sehr hohes Gut. Ich weiß das auch von vielen Reisen, die ich immer wieder mit Wirtschaftsvertretern unternommen habe. Von fairen Markt- und Wettbewerbsbedingungen profitieren zum Schluss beide Seiten. Ich glaube, dass hierfür gerade auch das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine starke Impulse setzen wird, auch weil es einfach verschiedene Prozesse verlangt und die Ukraine in Prozesse einbindet, die abgearbeitet werden müssen. Ich will, wie schon so oft, auch an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen: Dieses Freihandelsabkommen richtet sich nicht gegen Russland. Im Gegenteil, wir wollen gute Wirtschaftsbeziehungen der Ukraine zur Europäischen Union, zu Deutschland, aber gleichermaßen auch zu Russland. Ich glaube, dass daraus auch Ergänzungseffekte entstehen könnten. Wir wollen in der Langzeitperspektive ein Zusammenwachsen unserer beiden Wirtschaftsräume, wie Herr Cordes es eben gesagt hat, und kein Gegeneinander. Deshalb ist es auch so wichtig, dass die trilateralen Gespräche zwischen der Europäischen Union, der Ukraine und Russland zur Umsetzung des Freihandelsabkommens konstruktiv und zielorientiert fortgeführt werden. Das ist jetzt kein Hinweis an die ukrainische Delegation. Wir verfolgen den Prozess sehr intensiv und haben über ihn auch im Rahmen des Normandie-Formats immer wieder gesprochen. Wir sehen ja, dass es auch Erfolge geben kann. Das gilt für das Winterpaket im Energiebereich. Die Ukraine und Russland haben auch unter Vermittlung der Europäischen Kommission ein tragfähiges Konzept zustande gebracht, das bis Ende März 2016 stabile Gaslieferungen aus Russland zu marktorientierten Preisen sicherstellt. Damit ist auch der Transit von russischem Gas über die Ukraine nach Mittel- und Westeuropa gesichert. Das ist ein Signal, das wir sehr gut für die Anbahnung von Wirtschaftsbeziehungen brauchen können. Denn wenn über so elementare Fragen wie über die des Gastransits dauernd aufgeregte Gespräche geführt werden müssen, beruhigt das nicht gerade die Investoren, die sich engagieren wollen. Unsere Beziehungen – die wirtschaftlichen wie die politischen – sind nach wie vor von der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der instabilen Situation in der Ostukraine überschattet. Deshalb drängen wir weiter auf die Umsetzung der im Februar getroffenen Minsker Vereinbarungen. Ich möchte hier die Bemühungen der ukrainischen Regierung ausdrücklich würdigen. Ich glaube, wir können uns in Deutschland manchmal gar nicht vorstellen, was verlangt wird und was gemacht werden muss, wenn ein Parlament gebeten wird, weitgehende Konzessionen zu machen, um die geplanten Verfassungsänderungen oder auch den Waffenabzug aus dem Konfliktgebiet zu gewährleisten. Es ist sehr viel, was gemacht werden muss. Deshalb will ich das hier ausdrücklich hervorheben. Wir werden versuchen, von Deutschland aus, aber auch gemeinsam mit Frankreich, diese Bemühungen weiter zu unterstützen. Ziel muss sein, dass die Ukraine die Kontrolle über ihre Grenzen wiedererlangt und dass der vollständige Abzug illegaler Truppen, Waffen und Söldner stattfindet. Dies ist ein sehr ambitionierter Prozess, auch ein politischer Prozess. Aber die territoriale Integrität wenigstens des einen Teils der Ukraine kann erst wiederhergestellt werden, wenn die Ukraine wieder an ihre Grenze herankommt. Zu all dem menschlichen Leid, das durch die militärischen Auseinandersetzungen hervorgerufen wurde – die Lebenssituation der Menschen in Donezk und Luhansk ist schwierig –, kommt noch die wirtschaftliche Herausforderung hinzu. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Ukraine momentan eine schwere Rezession durchläuft. Der IWF erwartet 2015 einen signifikanten Einbruch des Bruttoinlandsprodukts um elf Prozent. Aber das IWF-Programm trägt auch dazu bei, noch Schlimmeres zu verhindern. Allerdings ist dieses Programm auch ein hartes Programm. Ich habe mich ziemlich viel mit den Details beschäftigt. Wir kennen ja IWF-Programme auch in europäischen Mitgliedstaaten. Das der Ukraine übertrifft alles, was wir im Zusammenhang mit europäischen Programmen gesehen haben. Deshalb wollen wir auch versuchen, die Dinge abzufedern. Deutschland und unsere G7-Partner überlegen, was wir verbessern können. Die Bundesregierung hat auch schon etliche Maßnahmen auf den Weg gebracht. Dazu zählt insbesondere unser Kreditrahmen von 500 Millionen Euro. Damit wollen wir unter anderem die Modernisierung von Stromnetzen und die Wiederherstellung der kommunalen Infrastruktur in der Ostukraine unterstützen. Neben allem, was staatliche Stellen tun können, kommt es natürlich auch auf privatwirtschaftliches Engagement an. Anknüpfungspunkte bieten sich viele. Dieser Tag heute ist dafür ein Auftakt. Dass das Abkommen über die deutsch-ukrainische Handelskammer unterzeichnet werden kann, ist durchaus ein qualitativer Sprung. Denn jetzt ist die Institution da, über die verschiedene geschäftliche Möglichkeiten dann auch ausgelotet und angebahnt werden können. Meine Damen und Herren, Deutschland möchte – das darf ich für die Wirtschaft ebenso wie für die Politik sagen – der Ukraine ein guter Begleiter auf dem Weg hin zu Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität sein. Davon sind wir heute leider noch ein gutes Stück weit entfernt. Aber ich glaube, die große Zahl an Teilnehmern, die heute dabei sind und die sich zumindest kundig machen – nicht jeder wird schon eine Investitionsentscheidung getroffen haben, wie ich vermute –, zeigt doch: Wir stehen an Ihrer Seite. Wir wünschen uns Ihren Erfolg. Jeder wird sich auf seine Weise hierbei einbringen. Herzlichen Dank.
in Berlin
Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich des 60. Jahrestages der Abstimmung über das Saarstatut am 23. Oktober 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-anlaesslich-des-60-jahrestages-der-abstimmung-ueber-das-saarstatut-am-23-oktober-2015-354314
Fri, 23 Oct 2015 11:00:00 +0200
Im Wortlaut
Saarbrücken
Inneres
Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Annegret Kramp-Karrenbauer, Frau Landtagspräsidentin, Herr Präsident des Landesverfassungsgerichts, Herr Bundesminister, lieber Peter Altmaier, sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, meine Damen und Herren, besonders begrüße ich natürlich die Gäste aus unseren Nachbarländern. Jean-Marc Ayrault hat eben zu uns gesprochen und die Bedeutung der deutsch-französischen Freundschaft auch im Hinblick auf das heutige Jubiläum dargestellt. Ich möchte ihm ganz herzlich für seine Worte danken. Dass mein Kollege Xavier Bettel hier ist, versteht sich, wenn man die Region hier kennt. Luxemburg hat aber auch die europäische Ratspräsidentschaft inne. Damit sitzt Europa sozusagen personifiziert hier im Raum. Herzlichen Dank, dass du hierhergekommen bist. Lieber Jean-Marc Ayrault, ich möchte diese Rede nicht beginnen, ohne zunächst an die Opfer des furchtbaren Verkehrsunfalls heute in Südfrankreich zu denken. Dieser Unfall ist eine schreckliche Tragödie. Meine Gedanken, unsere Gedanken sind bei den Opfern, die so furchtbar ihr Leben verloren haben. Sie sind auch bei denen, die um ihre Lieben trauern, genauso wie bei den Verletzten, denen ich von Herzen vollständige Genesung wünsche. Wir fühlen auch in dieser Stunde mit dem französischen Volk. Meine Damen und Herren, wie es um die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland steht, war seit jeher besonders im Saarland zu spüren. Allzu oft lag es zwischen den Fronten. Allzu oft war es Gegenstand eines regelrechten Tauziehens zwischen beiden Ländern – nicht selten zum großen Leidwesen der hiesigen Bevölkerung. Frankreich und Deutschland zogen über Jahrhunderte hinweg gegeneinander in den Krieg und rangen um die Vorherrschaft in der Region und in Europa. Dies hat sich im letzten Jahrhundert endgültig und grundlegend geändert. Heute verbindet Frankreich und Deutschland eine enge Freundschaft. Gemeinsam machen wir uns für ein geeintes, freiheitliches und friedliches Europa stark. Damit sind auch die Zeiten vorbei, in denen das Saarland so etwas wie ein Zankapfel war – das Wort fiel eben auch schon bei Jean-Marc Ayrault. Anstatt zu trennen, eint das Saarland heute unsere Länder. Von hier aus ist der Weg nach Paris besonders kurz. Viele Saarländer pflegen gute Kontakte zu ihren französischen Nachbarn. Das Saarland zeigt, welche Chancen ein geeinter Kontinent bietet. Zwar stieß die staatsrechtliche Europäisierung in der Bevölkerung vor 60 Jahren auf wenig Gegenliebe, trotzdem hat sich das Saarland in vielerlei Hinsicht zu einem europäischen Musterbeispiel entwickelt. Denken wir etwa nur an die enge Kooperation im Rahmen der Saar-Lor-Lux-Region. Sie zeigt, wie gewinnbringend in vielerlei Hinsicht die verschiedenen Facetten des europäischen Integrationsprozesses sein können. Dies mag für uns heute selbstverständlich sein, aber nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs war es das keineswegs. Dennoch reifte damals langsam, aber sicher die Einsicht, dass Europa politisch und wirtschaftlich näher zusammenrücken muss, um Frieden zu sichern. Vorausschauende Staatsmänner wie Konrad Adenauer, Robert Schuman und Jean Monnet ebneten den Weg hin zu einem neuen Europa, das die alten Rivalitäten endgültig hinter sich lässt und das auf friedlichen Ausgleich und Zusammenarbeit setzt. Auf diesem Weg waren viele Hürden zu überwinden. Eine davon war die sogenannte Saarlandfrage. Die Politik in Paris zielte nach dem Krieg auf eine Loslösung des Saarlands von Deutschland und die Kontrolle über den Bergbau und die Schwerindustrie. Das Saarland erhielt eine begrenzte Autonomie, eine eigene Regierung und Verfassung. Zahlungsmittel wurde der französische Franc. Es gab in dieser Zeit sogar eine eigene Fußball-Nationalmannschaft. Darauf sind, habe ich mir sagen lassen, die Saarländer heute noch stolz. Deren Trainer war übrigens Helmut Schön, mit dem die Bundesrepublik Deutschland 1974 Weltmeister wurde. Auf den Tag genau vor 61 Jahren, am 23. Oktober 1954, vereinbarten Deutschland und Frankreich das Saarstatut. Es entstand im Kontext der Pariser Verträge und sah einen europäischen Status für das Saarland vor. Dieser umfasste die außenpolitische Vertretung durch einen Kommissar der Westeuropäischen Union, die innenpolitische Souveränität und den Fortbestand der wirtschaftlichen Anbindung an Frankreich. Konrad Adenauer musste für die Unterzeichnung des Saarstatuts viel Kritik einstecken. Der Vorwurf der Gegner lautete, er habe das Saarland preisgegeben. Mit dem Abkommen aber war auch der Weg zum Referendum vorgezeichnet, das am Ende eindeutig ausfiel. Es war wieder ein 23. Oktober, an dem Geschichte geschrieben wurde – diesmal im Jahr 1955. Genau heute vor 60 Jahren stimmte die große Mehrheit der Bevölkerung gegen das Saarstatut und sprach sich implizit für eine Perspektive als Teil Deutschlands aus. Das Großartige passierte: Frankreich akzeptierte dieses Bekenntnis. Das Ende des Zweiten Weltkriegs war noch nicht lange her, aber dies zeigte, dass ein Vertrauensprozess begonnen hatte. So gelang es unseren beiden Staaten, in einem schwierigen, aber friedlichen und demokratischen Prozess eine höchst strittige Frage zu klären. Mit dem Luxemburger Vertrag 1956 wurde die politische und wirtschaftliche Angliederung des Saarlands an die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich besiegelt. Noch im selben Jahr beschloss der Saarländische Landtag den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland, der dann am 1. Januar 1957 vollzogen wurde. Ich erinnere mich noch gut an den 50. Jahrestag, an den 1. Januar 2007. Der damalige Ministerpräsident Peter Müller und ich fuhren an diesem Tag zur Jubiläumsfeier mit dem Zug, mit dem schon Konrad Adenauer ein halbes Jahrhundert zuvor nach Saarbrücken gekommen war. Auf dieser kurzen Zeitreise konnten wir die Ereignisse noch einmal Revue passieren lassen, die der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland wegweisend – ich zitiere ihn – die „kleine Wiedervereinigung“ genannt hatte. In diesem Begriff spiegelte sich neben der Freude, dass das Saarland nunmehr ein Land der Bundesrepublik Deutschland sein würde, auch der Wunsch wider, dass ebenso der Osten Deutschlands, die damalige DDR, eines Tages einen ähnlichen Schritt wie das Saarland vollziehen könnte, dass es ein wiedervereinigtes Deutschland geben möge. Wie wir wissen, sollte sich auch diese Hoffnung erfüllen, wenn auch erst gut drei Jahrzehnte später. Dafür, dass es geklappt hat, bin ich ein lebendiges Beispiel. In beiden Fällen waren die Ausgangslagen und politischen Konstellationen selbstverständlich höchst unterschiedlich. Dennoch sind Gemeinsamkeiten festzustellen. Erstens: Deutsche in Ost und West haben sich auch nach Jahren und Jahrzehnten der Teilung als eine Nation gefühlt. Aus diesem Bewusstsein der Zusammengehörigkeit heraus entschieden sie sich für die Einheit, als sich jeweils die historische Gelegenheit bot. Zweitens: Die kleine und die große Wiedervereinigung waren nur möglich, weil unsere europäischen und internationalen Partner der Bundesrepublik Deutschland ihr Vertrauen schenkten. Sie setzten auf die Friedfertigkeit, Verlässlichkeit und Kontinuität der deutschen Politik. Dafür sind und bleiben wir von Herzen dankbar. Drittens: Beide Male spielte die europäische Perspektive eine wesentliche Rolle. In der Tat ist das Zusammenwachsen Europas das Beste, das uns nach Jahrhunderten der Kriege, des Blutvergießens, der Feindschaften und der Rivalitäten passieren konnte. Viertens: Beide Ereignisse machen Mut, auch heute schwierigste Herausforderungen erfolgreich bewältigen zu können, wie groß auch immer sie sein mögen. Dieser Zuversicht verlieh Konrad Adenauer Ausdruck, als er 1957 sagte: „Die Welt ist ungeordnet und friedlos, sie ist voll ungelöster Probleme. Die Saarbevölkerung, Frankreich und Deutschland haben gezeigt, wie es möglich ist, Konflikte, die zuerst unlösbar erschienen, doch zu lösen.“ Die Welt sieht inzwischen anders aus als damals. Aber dass sie sich vielfach „ungeordnet“ zeigt, dass sie „friedlos“ und „voll ungelöster Probleme“ ist, um Adenauers Worte nochmals aufzugreifen, das müssen wir leider auch heute konstatieren; gerade in diesem Jahr. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg waren beispielsweise so viele Menschen weltweit auf der Flucht wie heute. Wenn Menschen ihre Heimat hinter sich lassen, beschwerliche und zum Teil lebensgefährliche Wege auf sich nehmen, ohne zu wissen, was sie am Ende erwartet, dann darf uns das nicht ruhen lassen. Dann müssen wir uns, so schwierig es auch sein mag, mit den Fluchtursachen beschäftigen. Denken wir zum Beispiel an die Lage in Afghanistan. Es ist von großer Bedeutung, dass die Vereinigten Staaten von Amerika ihre militärische Präsenz in dem Land über das Jahr 2016 hinaus verlängern. Das ist auch für die weitere Präsenz der Bundeswehr und anderer Partner entscheidend. Wir zeigen damit den Menschen in Afghanistan, dass wir sie nicht vergessen, sondern dass wir sie in ihrer Heimat Afghanistan beschützen werden. Dagegen ist und bleibt die Lage in Syrien eine einzige Tragödie. Eine Lösung dort kann nur mit allen internationalen und regionalen Akteuren gefunden werden. Dafür arbeiten wir. Wir spüren hautnah, dass dieser Krieg und die von ihm ausgehende große Fluchtbewegung uns vor eine große nationale, eine europäische und letztlich eine globale Herausforderung stellen. Auf allen Ebenen müssen wir handeln – abgestimmt und ineinandergreifend. Um auch das Beispiel Ukraine zu nennen: Heute war der Ministerpräsident der Ukraine bei mir zu Gast und hat mir von den 1,5 Millionen Binnenflüchtlingen berichtet, die es bereits in der Ukraine gibt. Es ist gut, dass Deutschland und Frankreich, der französische Präsident und ich im Normandie-Format einen Beitrag dazu leisten können, diesen Konflikt zu lösen. Immerhin haben wir jetzt einen Waffenstillstand erreicht. Das heißt, wir müssen uns immer und immer wieder um politische Lösungen bemühen. Dazu gehört in der aktuellen Flüchtlingskrise, dass Europa die Situation an seinen Außengrenzen besser in den Griff bekommen muss. Denn das, was wir gegenwärtig in Europa erleben – immer und immer wieder Ertrinkende in der Ägäis; kilometerlange Schlangen von Menschen auf einer Odyssee durch Europa, umherirrend in Schlamm und Kälte; und Zäune, die kein einziges Problem wirklich zu lösen helfen –, das alles ist eine Katastrophe für Europa. Deshalb steht Europa vor einer wahrhaft historischen Bewährungsprobe, die darüber entscheiden wird, ob bzw. wie überzeugend wir auch in Zukunft unsere Werte und Interessen global behaupten können. Es war ein wichtiges Ereignis, dass der französische Präsident und ich im Europäischen Parlament über unsere gemeinsamen Werte, die uns bei der Lösung dieser Flüchtlingskatastrophe leiten, gemeinsam sprechen konnten. Ich bin fest davon überzeugt: das Ziel muss eine faire und solidarische Lastenteilung in Europa sein. Diesem Ziel dient zum Beispiel die Einrichtung sogenannter Hotspots in Italien und Griechenland, die bis November funktionsfähig sein sollen. Das wird auch Thema des Gipfels am Sonntag in Brüssel sein, zu dem wir die Länder entlang der sogenannten Balkanroute eingeladen haben. Ich bin der Kommission sehr dankbar dafür, dass sie daran arbeitet. Der Sonntag wird wieder eine wichtige Etappe sein, aber eben nur eine. Wir müssen gemeinsame Lösungen finden. Abschottung ist im 21. Jahrhundert keine Lösung, sondern eine Illusion, meine Damen und Herren. Deshalb müssen wir auch die Zusammenarbeit mit den wichtigsten Transitstaaten, insbesondere mit der Türkei, deutlich verstärken. Das Land bietet etwa 2 bis 2,5 Millionen Menschen aus Syrien und aus dem Irak Schutz. Zugleich kommen über die Türkei noch viele andere Flüchtlinge. Ich werde nicht locker lassen, bis Europa sich seiner Verantwortung tatsächlich stellt. Ich weiß, dass Frankreich und auch Luxemburg mit Xavier Bettel hier an meiner Seite und an unserer Seite sind. Nur gemeinsam können wir das schaffen. Aber wir werden es schaffen. Auf nationaler Ebene handeln wir natürlich auch. Bund und Länder haben dazu gemeinsam ein umfassendes Gesetzespaket verabschiedet. Die akute Not- und Ersthilfe ist das eine. Das andere ist die Integration derjenigen, die hierbleiben. Sie wird noch viel Zeit und Kraft in Anspruch nehmen – in der aufnehmenden Gesellschaft, aber auch bei denen, die bei uns Zuflucht gefunden haben. Von ihnen erwarten wir – wie von allen anderen auch –, dass sie sich an Recht und Gesetz halten. Wir erwarten, dass sie die deutsche Sprache lernen, um in unserem Land Fuß fassen zu können. Wir erwarten, dass sie unsere freiheitlichen Werte achten und anderen mit Respekt und Toleranz begegnen. Das ist wesentlich für ein gutes Zusammenleben. Das sage ich besonders auch mit Blick auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Annegret Kramp-Karrenbauer und Jean-Marc Ayrault bereit sind, über Fragen der Integration auch in den nächsten Monaten intensiv nachzudenken und Erfahrungen auszutauschen, die wir in unseren beiden Ländern gemacht haben. Sowohl mit Blick auf diejenigen, die schon viele Jahre als Migranten bei uns leben, als auch auf jene, die neu dazukommen, müssen wir Erfahrungen austauschen und Bewährtes weiterentwickeln. Wir sollten alle mit dabei helfen, deutlich zu machen, gerade auch den Neuankommenden, was unser Land ausmacht und was unser Land überhaupt erst stark gemacht hat. Es ist die Erfahrung, dass wir auf einer gemeinsamen Werte- und Rechtsgrundlage Weltoffenheit und Vielfalt als Gewinn für uns alle in unserem Land erleben können. Es ist die Erkenntnis, dass wir es so gemeinsam schaffen können, auch diese große nationale, europäische und globale Herausforderung zu meistern, so steinig der Weg auch sein mag. Meine Damen und Herren, das Saarland ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr sich Anstrengungen lohnen können. Zwar fand das Land nach der Eingliederung in die Bundesrepublik rasch seinen Platz, aber ihm standen wirtschaftlich harte Zeiten bevor. Der Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie führte zu hoher Arbeitslosigkeit. Ein umfassender und langjähriger Strukturwandel war nötig. Aber die Saarländer haben es geschafft. Ihr Bundesland präsentiert sich heute modern und leistungsstark. Ich weiß, dass sich die Saarländer ihrer Heimat tief verbunden fühlen. Und ich ergänze: Sie können zu Recht stolz auf Ihr Bundesland sein. Daher ist der heutige 60. Jahrestag ein Freuden- und Feiertag. Dazu kann ich Ihnen und auch uns allen in Deutschland nur gratulieren. Ich wünsche dem Saarland eine denkbar gute Zukunft, damit es bleibt, was es ist: ein lebenswertes und liebenswertes Land der Bundesrepublik Deutschland. Für das später noch zu bauende Mosaik mit den Grenzen des Saarlandes habe ich auf mein Puzzleteil geschrieben: „Ein großartiges Land, das noch Großes vor sich hat.“ Seien Sie weiterhin ein so wichtiger und guter Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland, ein guter Freund Frankreichs und ein Teil Europas. Herzlichen Dank.
Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 23. Ordentlichen Gewerkschaftstag der Industriegewerkschaft Metall am 21. Oktober 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-23-ordentlichen-gewerkschaftstag-der-industriegewerkschaft-metall-am-21-oktober-2015-326504
Wed, 21 Oct 2015 13:00:00 +0200
Im Wortlaut
Frankfurt/Main
Sehr geehrter Herr Hofmann, sehr geehrter Herr Hoffmann, sehr geehrter Herr Wetzel, sehr geehrter Herr Kramer, liebe Delegierte und Gewerkschaftsmitglieder, meine Damen und Herren, liebe Gäste des IG Metall-Gewerkschaftstags, ich freue mich, dass Sie mich auch dieses Mal wieder eingeladen haben, damit wir den Dialog zwischen Politik und Gewerkschaften nicht nur in kleinen Kreisen führen, wie wir das relativ regelmäßig tun, sondern auch hier bei Ihrem Gewerkschaftstag. So vielseitig Ihre Themen sind, so vielseitig ist auch der Ort, an dem Sie sich versammeln. Hier in Frankfurt öffnet mal eine große Industrieschau ihre Pforten, dann die Buchmesse oder es ist ein Gewerkschaftstag. Die Vielseitigkeit ist ja auch ein Kennzeichen unserer Zeit. Bei Ihnen gibt es auch Wandel und Veränderung. Um die Vorstandswahlen noch einmal in Erinnerung zu rufen: Lieber Herr Hofmann, ich gratuliere Ihnen ganz, ganz herzlich zu Ihrer Wahl zum Ersten Vorsitzenden der IG Metall. Herzlichen Glückwunsch und viel Kraft. Halten Sie die Truppe zusammen. Wenn wir von einer Gewerkschaft nur eine Meinung hören, dann haben wir es in der Politik einfacher. Es gibt zwar immer wieder viele andere, aber der DGB versucht ja, die Gewerkschaften zusammenzuhalten. Auch dafür viel Glück. Also, nochmals herzlichen Glückwunsch. Natürlich möchte ich mit Frau Benner erstmals auch eine Frau in der Führungsspitze beglückwünschen. Das ist für die IG Metall eine tolle Sache. Auch auf gute Zusammenarbeit, liebe Frau Benner. Natürlich gilt auch allen anderen gewählten Vorstandsmitgliedern mein Glückwunsch. Auf gute Zusammenarbeit. Was für den einen der Neuanfang ist, ist für den anderen der Abschied. Lieber Herr Wetzel, als Erster Vorsitzender und zuvor als Zweiter Vorsitzender haben Sie an maßgebender Stelle die Geschicke der – wie man immer wieder sagen muss – weltweit größten Einzelgewerkschaft gelenkt. Sie waren und sind Gewerkschafter mit Leib und Seele. Auch mit dem Amtswechsel lässt sich das nicht einfach wie eine Jacke ablegen, sondern ich glaube, Sie bleiben das auch. Deshalb für Ihre Zukunft alles, alles Gute. Danke für eine immer offene, faire Zusammenarbeit. Alles Gute. Dass Sie sich über die eigentliche oder reine Gewerkschaftsarbeit hinaus gesellschaftlich einbringen, zeigt auch Ihr Motto für diesen Gewerkschaftstag: „Gute Arbeit.“ So weit, so gut. Aber eben auch: „Gutes Leben.“ Das geht ja noch darüber hinaus. Deshalb zeigt sich daran auch, dass Sie den Austausch mit der Gesellschaft pflegen. Ich will ausdrücklich sagen, dass sich die Sozialpartnerschaft in Deutschland wahrlich bewährt hat – dies auch deshalb, weil Sie, die IG Metall, auch immer wieder mit geprägt haben, was gute Arbeit ausmacht. Gute Arbeit sorgt für angemessenes Einkommen. Gute Arbeit sorgt für Selbstverwirklichung und trägt damit zur allgemeinen Zufriedenheit bei. Wenn wir uns in der Welt umschauen, dann können wir mit Fug und Recht sagen, dass wir in Deutschland in jedem Fall relativ gute Arbeit haben. Die Zahlen sprechen ja für sich. Wir haben ein Rekordjahr, was die Erwerbstätigkeit insgesamt anbelangt. Ich freue mich darüber, dass wir auch ein Rekordjahr haben, was die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse anbelangt. Ich glaube, wir freuen uns alle gemeinsam – weil das für Gewerkschaften auch immer wieder ein ganz wesentlicher Punkt ist –, dass die Jugendarbeitslosenquote in Deutschland die geringste in ganz Europa ist. Dennoch dürfen wir nicht darüber hinwegsehen – das sage ich ausdrücklich –, dass wir noch fast drei Millionen Arbeitslose in Deutschland haben. Wir dürfen nicht nachlassen, auch diesen und vor allem auch den Langzeitarbeitslosen Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt zu eröffnen. Die europäische Mobilität und jetzt auch sicherlich die Zuwanderung und die Flüchtlingsströme können leicht dazu führen, jene aus dem Blick zu verlieren, die zum Teil noch in relativ jungen Jahren langzeitarbeitslos sind. Wir wissen, dass es mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit immer schwieriger wird, in eine Beschäftigung hineinzukommen. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir dies nicht aus dem Blick verlieren. Wir haben Wort gehalten, was die Frage des Mindestlohns anbelangt. Dem vorausgegangen sind viele Diskussionen, aber es hat jetzt geklappt. Es war ein Herzensanliegen der IG Metall und der Gewerkschaften insgesamt. Ich bin zufrieden, dass die Mindestlohnkommission die weitere Entwicklung des Mindestlohns begleiten wird. Darin drückt sich aus, dass wir, wie ich glaube, generell der Meinung sind, dass Lohnfindung besser bei den Tarifpartnern aufgehoben ist als bei der Politik. Das war einer der Gründe, warum ich so schwer zu überzeugen war, dass die Politik den Mindestlohn umsetzen sollte. Ich habe immer gehofft, dass die Gewerkschaften das alleine mit den Arbeitgebern hinbekommen. Wir müssen aber konstatieren, dass leider nicht mehr alle tarifgebunden sind, dass es zu viele Bereiche gibt, in denen die Tarifbindung zu schwach ist. Ich glaube, es kann ein gemeinsames Anliegen sein, die Tarifbindung eher wieder auf stärkere Füße zu stellen. Ich persönlich bin davon jedenfalls sehr überzeugt. Jetzt stehen insbesondere noch die Regelungen für Leiharbeit und Werkverträge aus. Die Bundesarbeitsministerin wird am Freitag bei Ihnen zu Gast sein und noch detaillierter darauf eingehen. Aber wir stehen auch da zu unserem Wort; das will ich ausdrücklich sagen. Ich will nicht ausschließen, dass, was die Umsetzung der Koalitionsvereinbarung anbelangt, vielleicht noch gewisse unterschiedliche Erwartungen verborgen sein könnten, aber vom Grundsatz her sind wir da auf einem gemeinsamen Weg. Es geht sozusagen in einem lernenden System auch darum, immer wieder darauf zu achten: Wo wird Missbrauch betrieben, aber wo werden auch wichtige Instrumente der Flexibilität gebraucht? Bei dieser Frage braucht man Augenmaß; darüber müssen wir diskutieren. Auch dabei ist es gut, dass es die Mitbestimmung gibt. Das deutsche Modell hat sich bewährt. Ich will dies noch einmal betonen, weil Sie gesagt haben, Herr Hofmann: „Willkommen in der Welt der Mitbestimmung.“ – Ich bestimme gerne mit, aber nur da, wo ich etwas bestimmen kann. Manche Sachen können Sie alleine mit den Arbeitgebern bestimmen. Dass Herr Kramer hier sitzt, zeigt ja auch, dass der Wille groß ist. Die Erfolge von Tarifverträgen zeigen, dass zum Teil sehr modern und sehr innovativ reagiert wurde. Wenn man sich einmal über die letzten 25 Jahre – weil wir jetzt 25 Jahre Deutsche Einheit haben – die Entwicklung von Tarifverträgen daraufhin anschaut, in welcher Art und Weise Flexibilität, aber auch gesamtgesellschaftliche Verantwortung Einzug gehalten haben, dann ist das schon beeindruckend. Ich will Ihnen auch sagen, dass wir bei EU-Vorschlägen wie etwa zur Ein-Personen-Gesellschaft das Thema Mitbestimmung immer im Auge behalten werden und so auch unsere Verhandlungspositionen ausprägen. Ich glaube, dass wir auch einig sind – wenn wir einmal über Deutschland hinaus blicken –, dass in vielen der Betriebe, aus denen Sie als Delegierte, als Betriebsräte kommen, der Außenhandel eine ganz wesentliche Rolle spielt. Dass das Gefühl für Globalisierung, das Gefühl für das, was anderswo an Entwicklung stattfindet – ob in China, in Indien, in Vietnam oder in anderen Ländern –, in Deutschland weiter verbreitet ist als vielleicht in anderen Ländern, hängt ganz wesentlich auch mit den Gewerkschaften zusammen, weil Sie in Ihren Unternehmen durch die Mitbestimmung die Entwicklungen weltweit mit verfolgen können und damit auch sehen, was woanders los ist und wie wir an vielen Stellen besser, innovativer sein müssen, um mithalten zu können mit Regionen, in denen der Lohn längst nicht so gut ausfällt wie bei uns. Deshalb haben Sie, wie wir in der Politik auch, ein Interesse an guten Arbeitsbedingungen weltweit. Wir haben dieses Thema in unserer G7-Präsidentschaft und beim Gipfel in Elmau ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt. Wir haben am Beispiel der Lieferketten das Gefühl dafür geschärft: Was passiert wo, wie sind die Umweltstandards, wie sind die Sozialstandards in anderen Ländern der Welt? Wir wollen dieses Thema jetzt auch in die G20 tragen. Da es einen Gewerkschaftsdialog der Länder gibt, soll es dort auch eine Rolle spielen. Jetzt muss ich allerdings im Zusammenhang mit der Öffnung Richtung Globalisierung und der Traktierung der Probleme in der Globalisierung noch ein Thema ansprechen, bei dem wir jetzt wahrscheinlich nicht zu einer gemeinsamen Meinung kommen. Das ist die Frage der Handelsabkommen. Ich finde, dass wir miteinander weiter darüber reden müssen, weil sich da aus meiner Sicht etwas nicht so Gutes abspielt. Sie als Gewerkschaften haben eigentlich nie großen Einspruch eingelegt – jedenfalls ist es mir nicht zu Gehör gekommen –, wenn es um Handelsabkommen ging; zum Beispiel mit Südkorea. Das war eines der letzten Abkommen, das wir verabschiedet haben. Da sind bei mir permanent Vertreter der Automobilindustrie vorstellig geworden und haben gesagt: So und so müssen wir das machen, was die Zollfragen anbelangt, damit die deutsche Automobilindustrie nicht leidet. Aber nie habe ich große gewerkschaftliche Proteste gehört. Jetzt, da wir über ein Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika verhandeln, gibt es plötzlich eine totale Ablehnung. Da wird so getan, als ob die Vereinigten Staaten von Amerika ein Land seien, von dem man das Allerschwerste befürchten müsse. Dass der Umweltschutz bei uns hochgehalten wird, ist klar. Ich will jetzt nicht in aktuellen Wunden rühren, aber dass man in Amerika zumindest auch Umweltstandards hat und Abgastests kennt, das haben wir jetzt auch gelernt. Dass diese zum Teil strenger sind als bei uns, das hätten wir vielleicht nicht erwartet, aber es ist so. Was ist das Besondere an diesem Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika? Das Besondere ist, dass wir zum ersten Mal nicht nur oder nicht ausschließlich über Zölle sprechen – meistens geht es in Abkommen über den Abbau von Zöllen –, sondern wir sprechen über mehr: Wir sprechen auch über Verbraucherschutzstandards, wir sprechen über technische Standards. Ist eine orangefarbene Bremsleuchte am Auto sicherer als eine gelbe? Sämtliche nichttarifären Handelshemmnisse – vom Verbraucherschutz über den Umweltschutz bis hin zu technischen Standards – sind Gegenstand der Verhandlungen. Damit ist dieses Abkommen breiter angelegt als jedes Handelsabkommen, das wir bisher verhandelt haben. Damit haben wir natürlich auch andere Diskussionen. Früher haben wir uns zum Beispiel nicht mit dem Verbraucherschutz und nicht mit der Frage des Umweltschutzes in Südkorea beschäftigt; sonst wäre wahrscheinlich kein Abkommen so schnell zustande gekommen. Jetzt aber machen wir das mit den Amerikanern. Das hat natürlich viele, viele Vorteile. Gerade bei nichttarifären Handelshemmnissen im technischen Bereich ist es wichtig und erspart unglaublich viele Kosten, wenn Sie nicht alle Zulassungen doppelt vornehmen müssen. Aber eben auch im Verbraucherschutz und Umweltschutz kann das von großem Wert sein. Da werden wir natürlich nicht sofort eine Angleichung bekommen, weil wir versprochen haben, dass wir mit diesem Abkommen keinen einzigen EU-Standard aufweichen werden, und weil das Abkommen vernünftige Prozeduren für den Fall vorsehen soll, wenn sich bei uns Standards ändern. Aber wenn wir auch nur den ersten Schritt, die Berücksichtigung von Standards im Freihandelsabkommen, hinbekommen, dann ist das doch immer gut für die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, weil wir dann mehr haben als nur Zollabbau. Wir haben dann auch Gleichklang oder gleiche Ansprüche in Bereichen, die kostentreibend sind. Wenn die beiden größten Wirtschaftsräume der Welt, die Europäische Union mit relativ starken Regeln im Sozialen, im Verbraucherschutz und in anderen Bereichen und die Vereinigten Staaten von Amerika – natürlich mit Unterschieden, aber nicht mit den schlechtesten Standards auf der Welt –, ein modernes Freihandelsabkommen abschließen, dann wird das Maßstäbe setzen für künftige Freihandelsabkommen, die heute aber zum Beispiel in der asiatischen Region nur über Zölle und sonst nichts geschlossen werden. Warum ausgerechnet dies das Schlimmste sein sollte, was uns im Bereich Freihandelsabkommen je untergekommen ist, das leuchtet mir nicht ein. Natürlich sind jetzt auch ganz andere Leute betroffen. Früher hat sich ein Umweltschützer überhaupt nicht für ein Freihandelsabkommen interessiert. Denn Zoll ist Zoll; und Zoll ist Handelssache. Jetzt sind mehr Bereiche der Gesellschaft interessiert. Aber dies könnte ein Schritt – ein erster Schritt natürlich nur – zu einer vernünftigen Gestaltung der Globalisierung werden. Aber ausgerechnet da haben wir so einen Kampf. Deshalb meine Bitte: Lassen Sie uns darüber wirklich noch einmal sprechen, sonst könnten wir ein echtes Eigentor schießen. Ich werde sowieso weiter verhandeln, aber ich möchte ja auch gesellschaftlichen Frieden haben. Insofern meine Bitte: Lassen Sie uns noch einmal darüber reden. – Es ist stiller als bei ver.di, insofern bin ich beruhigt. Meine Damen und Herren, das zu sagen war mir wichtig, weil wir auch weiterhin eine wettbewerbsfähige Wirtschaft haben müssen. Wir haben ja eine wettbewerbsfähige Wirtschaft. Wir haben im Augenblick mittelmäßig gute Wachstumsraten; hoffentlich bleibt es so. Die Automobilindustrie, die für die IG Metall von zentraler Bedeutung ist, ist insgesamt in einer guten Lage. Wir haben einen Sorgenpunkt bei Volkswagen. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass alles transparent und schnell auf den Tisch kommen muss, damit Glaubwürdigkeit wiedergewonnen wird und damit unser Standort Deutschland mit einem starken Unternehmen VW – ich will das ausdrücklich sagen: mit einem starken Unternehmen Volkswagen – wieder die Reputation hat, die er verdient und die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verdient haben. Ich sage das vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass vor wenigen Wochen hier in Frankfurt die Internationale Automobil-Ausstellung stattgefunden hat und jeder mit Händen greifen konnte, in welchem Umbruch sich die Automobilindustrie befindet. Dort wurde unter dem Motto „Mobilität verbindet“ vieles an digitalem Einfluss auf das Auto gezeigt – von der Entwicklung über die Produktion bis hin zum Auto, das immer mehr digitale Möglichkeiten bietet; bis dahin, dass der Fahrer irgendwann nicht mehr gebraucht wird und wir uns daher überlegen müssen, was ein Auto ohne Fahrer ist und wie man es definiert. Das ist eine große rechtstechnische Frage, weil die Definition des Autos an den Fahrer geknüpft ist. Wie dem auch sei, all das findet statt; und all das findet in einer Vielzahl von Unternehmen statt, in denen Sie arbeiten und tätig sind. Stichwort Industrie 4.0, Internet der Dinge, Big Data, Smart Services – alles wichtig und unabdingbar. Wir leben im Grunde in einer Zeit, in der sich entscheiden wird, ob der, der das Automobil baut, auch in Zukunft die wesentlichen Teile der Wertschöpfungskette für die Mobilität in der Hand hält oder ob die auf der Datenseite mit ihrem Wissen über die Kunden die Automobilindustrie sozusagen zu einem verlängerten Werkbankteil der Wertschöpfung machen und damit die wesentlichen Gewinne aus der Mobilität schöpfen. Wir können diesen Wettlauf gewinnen, weil wir in einem hohen Maße in Ihren Unternehmen dabei sind, die Verbindung von digitaler Welt und realer Welt umzusetzen. Wir können auch – davon bin ich fest überzeugt – die Veränderung der Arbeitswelt meistern, wenn – um nicht zu sagen: nur wenn – wir es lernen, mit dem Rohstoff Daten vernünftig umzugehen. Der Rohstoff Daten ist ein neuer Rohstoff. Es müsste uns eigentlich ein sympathischer Rohstoff sein, weil wir ja über nicht allzu viele alte oder natürliche Rohstoffe in Deutschland verfügen. Wenn wir uns aber verweigern, Big Data Mining, wie das so schön auf Englisch heißt, also die Verarbeitung großer Datenmengen, in mutiger Art und Weise voranzutreiben, dann werden wir auch in der gesamten Automobilindustrie ein großes Problem haben. Wir arbeiten im Augenblick in Europa massiv daran, dass die Digitale Agenda schnell umgesetzt wird. Ich denke, dass die Datenschutz-Grundverordnung eine gute Grundlage ist, um auch in Europa Big Data Management und Verarbeitung leisten zu können. Ich hoffe, dass die Diskussionen mit dem Parlament nicht zu sehr das Thema Datenschutz nach vorne rücken. Datenschutz ist notwendig, aber wir brauchen die richtige Balance. Wir müssen es schaffen, dass wir auch personengebundene Daten verarbeiten können. Die Konsumenten wollen nicht nur anonymisierte Daten verarbeitet haben, sondern sie wollen zum Beispiel auch wissen: Was ist die Mobilität, die ich persönlich in meiner Lebenssituation möchte? Es muss gelingen, dass man das in richtiger Weise ins Auto hineinbringt. Deshalb liegt da viel Arbeit vor uns. Wir können die Zahl der Arbeitsplätze nur dann vernünftig halten, wenn das, was auf der einen Seite an bisher bekannten Arbeitsplätzen durch Digitalisierung wegfällt, ersetzt wird durch neue Arbeitsplätze zum Beispiel eben im digitalen Bereich. Meiner Meinung nach kann das gelingen, aber es setzt voraus, dass wir in der Wertschöpfung der Produkte in der digitalen Welt genauso vorne mit dabei sind wie in der Wertschöpfung in der realen Welt. Das Gleiche gilt im Grunde auch für den Maschinenbau, für den Aufzugbau und vieles andere mehr. Ich möchte ein Dankeschön sagen, weil sich die IG Metall seit geraumer Zeit – Herr Hofmann, Sie ja auch ganz besonders – dafür einsetzt, frühzeitig die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt zu bedenken. Wir haben den Dialog zwischen der Bundesregierung, den Gewerkschaften und den Arbeitgebern über die Frage „Arbeit der Zukunft, Zukunft der Arbeit”. Ich glaube, das sind auch weiterführende Gespräche. Die Bundesarbeitsministerin hat jetzt ein Grünbuch aufgelegt zu der Frage: Welchen Einfluss hat Digitalisierung auf die Arbeitsgegebenheiten? Ich glaube, es wird die Gewerkschaften sehr, sehr stark in ihrer Aufgabe verändern oder ihnen neue Aufgaben stellen, einerseits den Chancen für neue Arbeitsplätze durch digitalen Wandel Rechnung zu tragen und gleichzeitig den Schutz des Arbeitnehmers weiterhin zu garantieren. Denn es kommt natürlich zu einer stärkeren Individualisierung der Arbeitsbedingungen. Wir müssen gleichzeitig aber auch dafür Sorge tragen, dass der Arbeitstag nicht 24 Stunden beträgt. Es kann nicht sein, dass man Erreichbarkeit rund um die Uhr erwartet und dass man sich entschuldigen muss, wenn man einmal vier freie Stunden hat. Insofern stehen uns da noch sehr interessante Diskussionen ins Haus. Genau für diesen Bereich wünsche ich mir starke Mitbestimmung in den Unternehmen. Deshalb macht es mir durchaus Sorge, wenn ich mir die Prozentzahlen der Tarifvertragsbindungen anschaue. Denn wenn wir alles staatlich regeln müssen, weil die Tarifbindung zu gering ist, gerade auch in dieser sich schnell entwickelnden digitalen Welt, dann wird das mit Sicherheit nicht besser. Deshalb werde ich mich auch dafür einsetzen, dass wir mehr Tarifbindung bekommen. Ich hatte es am Anfang schon gesagt. Die Digitalisierung wird unser Arbeitsleben, aber auch unser gesamtes gesellschaftliches Leben massiv verändern. Sie merken das heute schon – bei der Mediennutzung und in vielen anderen Bereichen. Die Frage des Zusammenhalts einer Gesellschaft wird sich noch einmal sehr anders und sehr neu stellen. Früher hat man in der Arbeitspause jemanden getroffen, der angesichts von zwei Programmen im Fernsehen mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent am Vorabend das Gleiche angeschaut hat. Heute sind schon allein deswegen die Gesprächsgegenstände völlig unterschiedlich, weil Sie – außer vielleicht beim „Tatort”; aber das ist jetzt keine verklausulierte Werbung – nicht mehr unbedingt davon ausgehen können, dass zwei Kollegen am Vorabend das Gleiche gesehen haben. Allein das verändert die Wahrnehmung. Insgesamt betrachtet stellen sich also auch große gesellschaftliche Fragen. Das gehört dann mehr in den Mottobereich „Gutes Leben”. Aber als Letztes zur „Guten Arbeit”: Das Thema Bildung ist natürlich von zentraler Bedeutung. Das, was wir lange Jahre immer unter lebenslangem Lernen angesprochen haben und was noch nicht so richtig fassbar geworden ist, wird jetzt für viele von Ihnen virulent. Insofern möchte ich mich bedanken, dass wir es geschafft haben, dass wir die Allianz für Aus- und Weiterbildung nun gemeinsam mit den Gewerkschaften haben. Mir hat es viele Jahre sehr leidgetan, dass Sie, obwohl Sie in der Ausbildung so viel getan haben und so viel beigetragen haben, in einer Allianz für Bildung nicht dabei waren, sodass ich sehr froh bin, dass Sie jetzt dabei sind. Ich hoffe, Sie sind genauso froh, Herr Hofmann, wie ich froh bin. Die Sache funktioniert gut. Danke für das, was Sie für junge Menschen in der Zeit der Ausbildung leisten. Und danke für das, was Sie im Bereich des lebenslangen Lernens tun. Beim Thema „Gutes Leben“ haben wir schon allein deshalb einen gemeinsamen Punkt, weil sich die Bundesregierung vorgenommen hat, im Dialog mit Bürgern darüber zu sprechen, was gutes Leben für sie bedeutet und welche Erwartungen sie haben. Für uns ganz klar – auch bevor das Thema Flüchtlinge das alles überwölbende Thema wurde – war der Wunsch nach Sicherheit – Sicherheit im Arbeitsbereich, Sicherheit im öffentlichen Leben, natürlich auch Sicherheit im Gesundheitsbereich, Sicherheit im Alter, wenn es um Pflege geht; also Themen, die auch Sie sehr bewegen. Aber jetzt stehen wir alle vor einer großen Aufgabe, die durch die vielen, vielen Menschen, die zu uns kommen, im Augenblick natürlich die politische Diskussion bestimmt. Ich möchte mich, Herr Hofmann, ganz herzlich dafür bedanken, dass Sie hier unterstützend noch einmal in Erinnerung gerufen haben, wie wir uns gegenüber Menschen, die zu uns kommen, zeigen sollten. Ich glaube, wir können gar nicht hoch genug schätzen, wie wichtig es ist, dass diese Menschen – wir haben es ja nicht mit anonymen Massen und Zahlen zu tun, sondern es kommen einzelne Menschen, Individuen, zu uns – auf eine Gesellschaft treffen, die nicht nur im Grundgesetz in Artikel 1 stehen hat: „Die Würde des Menschen ist unantastbar”, sondern die das im realen Leben, wenn ein Mensch in Not zu uns kommt, auch zeigt. Deutschland hat das gezeigt. Deshalb möchte ich Ihnen für dieses Herangehen an die Aufgabe ganz herzlich danke sagen. Wir stehen jetzt natürlich vor einer großen Herausforderung. Ich habe darüber gesprochen, wie viel Erfahrung Sie mit der Globalisierung haben. Ihre Erfahrung mit der Globalisierung – wie eigentlich von uns allen – ist im Wesentlichen erst einmal folgende gewesen: Unsere Wirtschaft geht in andere Länder, macht dort Unternehmen auf, schafft Arbeitsplätze, produziert. Das ist unter dem Strich auch gut für Arbeitsplätze in Deutschland und für unsere Unternehmen. Das ist unsere Erfahrung mit Globalisierung. Jetzt passiert plötzlich etwas Gegenläufiges. Jetzt kommen Menschen aus anderen Regionen der Welt zu uns – die Globalisierung tritt sozusagen in unser eigenes Haus hinein. Das, was wir dachten, was ganz weit weg ist – etwa der Konflikt in Syrien, der Islamische Staat im Irak und in Syrien, die Tatsache, dass Libyen kein funktionierender Staat ist – all das wird plötzlich praktisch wahrnehmbar in Form von Flüchtlingen bei uns. Wir müssen jetzt lernen, wie wir damit umgehen. Für mich ist es selbstverständlich, dass man an eine neue Aufgabe so herangeht, dass man erst einmal sagt: Wir schaffen das. Wir schaffen das, indem wir unseren Teil leisten. Deutschland ist ein wohlhabendes Land. Es gibt die Hoffnung, dass man in Deutschland vielleicht einen Arbeitsplatz bekommt. Man weiß, dass man gut behandelt wird. Deshalb ist es ja vielleicht auch nicht verwunderlich, dass Österreich, Deutschland, Schweden und noch einige andere Länder diejenigen Länder sind, in die Flüchtlinge in großer Zahl kommen. Aber ich füge hinzu: Es ist vor allen Dingen auch eine Bewährungsprobe für Europa. Europa hat die gleichen Grundwerte wie wir in unserem Grundgesetz. Europa hat eine Grundrechtecharta. Sie ist von Roman Herzog federführend in einer Gruppe von Europäern verhandelt worden. Es kann nicht sein, dass dieses Europa, das an vielen Stellen solidarisch ist, das auch einen entsprechenden Anspruch hat, das in der Welt mit diesem Anspruch auftritt und im Übrigen jedem afrikanischen Land und anderen Ländern auf der Welt erklärt, wie man die Menschenrechte einzuhalten hat, in dieser Herausforderung seinen Pflichten nicht gerecht wird. Deshalb werde ich mich weiter dafür einsetzen, eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Sonst haben wir eine Schwierigkeit. Wenn wir in diesen Tagen die Bilder der Flüchtlinge verfolgen, die aus der Türkei nach Griechenland kommen und von dort durch Mazedonien, durch Serbien, durch Kroatien, neuerdings durch Slowenien nach Österreich und zu uns und weiter nach Schweden gehen, dann erinnern uns diese Bilder ja eher an Zeiten, in denen es in Europa nicht so friedlich war. Angesichts dieser Bilder müssen wir unserer gesamteuropäischen Verantwortung gerecht werden. Das heißt auch: faire Teilung der Lasten. Wir haben ein Asylsystem in Europa. Das ist ein System, das voraussetzt, dass die Außengrenzen Europas von denen, die dort ihre Landesgrenzen haben, geschützt werden. Wenn sie das nicht schaffen, können sie uns um Hilfe bitten. Aber wir lernen in diesen Tagen auch, dass der Außengrenzenschutz insbesondere bei Wassergrenzen nicht so leicht möglich ist. Ich habe mich lange mit dem griechischen Ministerpräsidenten darüber unterhalten. Wenn ein Schlauchboot auf der Ägäis unterwegs ist, Kinder darin sitzen und einer dabei ist, der ein Messer hat und die Luft aus dem Boot lässt, dann ist der Schutz der Außengrenze oft mehr eine Rettungsmission als ein Grenzschutz. Deshalb bin ich auch kürzlich in die Türkei gereist. Denn ich glaube, dass man alleine von Griechenland aus die Grenze nicht schützen kann, sondern dass man hierbei eine Kooperation mit der Türkei braucht. Der Ministerpräsident und der Präsident in der Türkei haben mir gesagt: „Wir beherbergen seit vier Jahren über zwei Millionen Flüchtlinge. In diesen Tagen kommen aus der Region Aleppo wieder neue dazu. Ihr habt euch damit nicht richtig befasst. Wir haben 400 Millionen Euro an Unterstützung bekommen, haben selbst aber acht Milliarden Euro ausgegeben. Die Last haben wir bis jetzt alleine getragen.” Denken wir auch an Jordanien und Libanon. Ein Land wie der Libanon – etwa halb so groß wie Hessen – hat 1,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Dann kommt noch hinzu, dass das Welternährungsprogramm nicht genug Geld hat und die Ration für Verpflegung von 27 Dollar pro Monat auf 13 Dollar pro Monat kürzen muss. Insofern brauchen wir uns nicht zu wundern, dass Menschen nach einem besseren Leben Ausschau halten. Es gibt viele Gründe, illegale Migration zu stoppen, weil dabei auch Menschen in Gefahr kommen. Aber wir werden die Lastenteilung und auch ein Maß an legaler Migration akzeptieren müssen. Das wird unsere politischen Schwerpunkte verändern. Das ist praktische Globalisierung. Wir können uns in Zeiten des Smartphones, in denen man genau weiß, wie man bei uns in Europa lebt, nicht mehr einfach abschotten. Die Menschen außerhalb Europas wissen, wie wir hier leben. Wir müssen unseren Beitrag zur Globalisierung leisten. Ich sage aber auch: Wir müssen unseren Rechtsstaat durchsetzen. Das heißt, wer Schutz vor Verfolgung braucht, wird Schutz vor Verfolgung bei uns bekommen. Es wird aber im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens auch die Erkenntnis geben: Du bist nur aus wirtschaftlichen Gründen hier. Man kann die Menschen ja durchaus verstehen, aber wenn das der einzige Grund ist, dann werden wir diesen Menschen sagen müssen: Ihr müsst wieder nach Hause gehen, ihr müsst unser Land verlassen. Sonst schaffen wir es nicht, den Schutz für die, die wirklich Schutz brauchen, zu gewährleisten. Das gehört dazu, auch wenn das zum Teil schwer ist. Ich muss das noch etwas plastischer darstellen. Wenn ein Mensch aus Bulgarien, aus Rumänien, aus Polen oder aus einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zu uns kommt und hier keinen Arbeitsplatz nachweisen kann, dann hat der Bürger dieses Staates keinen Anspruch auf soziale Leistungen in Deutschland. Wenn jemand aus Serbien oder Albanien kommt – nur aus wirtschaftlichen Gründen; ich spreche nicht über Roma –, dann darf er auch keinen Anspruch auf soziale Leistungen haben. Wir können bei Asylverfahren in diesen Fällen nicht positiv bescheiden, weil wir sonst ein hohes Maß an Ungerechtigkeit produzieren. Das sind Länder, die morgen in der Europäischen Union sein wollen und dann erleben werden, dass ihre Bürgerinnen und Bürger schlechter behandelt werden als heute, wenn sie noch im Beitrittsstatus sind. Das geht nicht. Wir dürfen also aus Gründen der Gerechtigkeit nicht abweichen von diesem Prinzip, um deutlich zu machen: Wer tatsächlich Schutz braucht vor Verfolgung, vor Terror, vor Krieg, der bekommt ihn bei uns. Wir haben also insgesamt viele Probleme. Daher treten die der Haushalts-, der Finanzpolitik oder der Innovationspolitik in meiner Rede auf diesem Gewerkschaftstag etwas in den Hintergrund, auch wenn es dazu vieles zu sagen gibt. Wir müssen unsere Innovationskraft erhalten. Wir müssen an unseren demografischen Wandel denken. Das heißt, wir müssen an zukünftige Generationen denken. Das heißt, wir brauchen eine verantwortungsbewusste Haushaltspolitik und eine verantwortungsbewusste Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme. Das möchte ich hier nur noch mit Schlagworten ansprechen. Ebenso ist die Energiewende ein Riesenthema für uns. Wir sind gut, was den Ausbau der erneuerbaren Energien anbelangt. Es gibt große Chancen, auch im Bereich der IG Metall, durch Offshore- und Onshore-Betriebe. Wo wir noch nicht so gut sind, das ist der Leitungsbau. Außerdem stellt sich die Frage der Preise. In der Wirtschaft wissen Sie, wie wichtig es ist, dass man vernünftige Energiepreise hat. Die Frage der Preise kann nicht gut gelöst werden, wenn wir den Netzausbau parallel zum Ausbau der erneuerbaren Energien nicht wirklich vorantreiben. Deshalb bitte ich Sie auch dabei um Unterstützung. Meine Damen und Herren, „Gute Arbeit. Gutes Leben.“ – das ist Ihr Thema. Ich freue mich, dass ich hier sein konnte. Ich wünsche mir, dass Sie weitere gute, konstruktive Diskussionen haben. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen, Herr Hofmann, und freue mich auch auf die weiteren Gespräche mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund und den Einzelgewerkschaften. Alles Gute für Ihre Tagung. Danke auch für die Unterstützung gerade auch in Fragen zu Flüchtlingen.
Ansprache von Bundeskanzlerin Merkel an die Schülerinnen und Schüler des Joseph-König-Gymnasiums am 20. Oktober 2015
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/ansprache-von-bundeskanzlerin-merkel-an-die-schuelerinnen-und-schueler-des-joseph-koenig-gymnasiums-am-20-oktober-2015-484238
Tue, 20 Oct 2015 12:55:00 +0200
Im Wortlaut
Haltern am See
Sehr geehrter Herr Wessel, sehr geehrter Herr Klimpel, liebe Frau Löhrmann, vor allem liebe Schülerinnen und Schüler, ich bin hierher nach Haltern gekommen, um Ihre Schule, die so etwas Furchtbares erleben musste, zu besuchen. Ich habe das im April nach der Trauerfeier im Kölner Dom dem Direktor und einigen Eltern und Angehörigen gesagt, die ich natürlich auch heute sehr herzlich grüßen möchte. Ich will einfach deutlich machen, dass ich an Sie denke, dass die Bundesregierung an Sie denkt und dass auch viele Menschen in Deutschland weiter an Sie denken – Menschen, die Kinder haben, die Schülerinnen und Schüler haben und mit Ihrer Schule mitfühlen. Ich möchte mich bei den Schülerinnen und Schülern bedanken, mit denen ich heute sprechen konnte, auch bei den Eltern und Angehörigen und natürlich bei Herrn Wessel und den Lehrerinnen und Lehrern. Als ich hier hereinkam, die Bäume und das Licht gesehen habe – und diese Stahlplatte, in der etwas fehlt und in der die Namen sichtbar sind, weil eben dort kein Stahl ist –, woran Sie jeden Tag vorbeigehen, da ist mir noch einmal deutlich geworden, welche Trauer Sie auf der einen Seite hier an dieser Schule haben, aber auch mit wie viel Liebe, Mitgefühl und Gefühl diese Schule mit diesem schrecklichen Ereignis umgeht und versucht, damit fertig zu werden. Wenn man die Bilder der beiden Lehrerinnen und der Schülerinnen und Schüler sieht, dann weiß man, sie waren genauso fröhlich, sie waren genauso lernbegierig, sie waren Freunde, sie waren die Liebsten der Eltern. Jeder hat sie gekannt. Ich finde, angesichts dieses unfassbaren Unglücks ist doch die Erinnerung hier wunderbar gestaltet. Ich war auch in dem Erinnerungsraum, in dem man sehen kann, wie viele Menschen mit Ihnen gefühlt haben – buchstäblich auf der ganzen Welt. Auch heute noch haben Sie den Raum der Stille, in dem Sie daran denken können, wer heute nicht mehr bei Ihnen ist. Eben hat mir ein Mädchen, das seine Schwester verloren hat, ein kleines Buch gegeben, das es wohl auch in einer Buchhandlung in Haltern gibt. „Warum?“ steht darauf. Diese Frage „Warum?“ kann ich jedenfalls nicht beantworten. Ich glaube, sie kann keiner beantworten. Trotzdem plagt sich jeder mit so einer Frage herum. Eigentlich kann man mit so einer Frage nur zusammen fertig werden. Ich nehme das Gefühl mit, dass Sie hier versuchen, gemeinsam als Schule, als Schülergemeinschaft, damit fertig zu werden. Das gilt auch für Herrn Wessel und für alle anderen Lehrerinnen und Lehrer, natürlich die Eltern und die vielen Menschen, die in Haltern an Sie denken. Genauso wie Frau Löhrmann, die Ministerpräsidentin und die ganze Landesregierung alles tun – mit der Ministerpräsidentin war ich ja gleich am Tag nach dem Absturz an der Absturzstelle –, versuchen auch wir von der Bundesregierung das, was möglich ist, um Ihnen zu helfen. Dafür steht auch Herr Rudolph als Beauftragter. Aber zum Schluss kann man nur hier vor Ort gemeinsam das Leben gestalten, indem jeder jeden wahrnimmt, auf seine Gefühle eingeht und Verständnis hat. Vielleicht ist Haltern damit auch ein Beispiel geworden, wie man in so einer fürchterlich traurigen Situation trotzdem Gemeinschaft zeigen kann. Ich wünsche Ihnen, dass Sie mit diesem schrecklichen Erlebnis einfach auch weiter diese Gemeinschaft leben können. Das Leben ist so unberechenbar. Deswegen wird man vielleicht auch ein wenig dankbar für jeden Tag, an dem es einem gut geht, an dem man gesund ist. Natürlich erinnert jeder Tag auch wieder daran, wie schrecklich es ist, dass einige fehlen. Aber diejenigen, die fehlen, sind hier auch mit dieser Tafel und mit den Bildern noch weiter bei Ihnen. Sie erzählen von denen, die jetzt nicht mehr direkt unter Ihnen sein können. Ich möchte Ihnen sagen: Mich hat dieser Besuch sehr beindruckt, weil er ein Stück Leben in unserem Land gezeigt hat, das sozusagen nicht auf einer nur fröhlichen Seite und trotzdem so wichtig ist. Ich wünsche allen hier alles Gute, den kleineren und den größeren Schülern. Ich habe gesehen: Die Kleinsten mussten zuerst antreten und haben jetzt wahrscheinlich die kältesten Hände. Danke dafür, dass Ihr alle gekommen seid. Behaltet die, die nicht mehr mit Euch sind, in guter Erinnerung und versucht das gut zu machen, was sie jetzt nicht mehr gut machen können. Herzlichen Dank, dass ich heute hier sein durfte.
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